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BOSTON IHN SIS
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Therapeutische Monatshefte,
Herausgegeben
von
Dr. Oscar ^Liebreich
unter Redaktion von
Dr. A. Langgaard und Dr. S. Rabow.
Neunzehnter Jahrgang.
1005.
Berlin.
Verlag von Julius Springer.
1905.
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Inhalts-Verzeichnis.
o
Originalabhandliuigeii.
Über die AnwenduDg abgetöteter Typhusbazillen zur Ausführung der Gruber - Widalschen
Reaktion. Von Assistenzarzt Dr. Georg Kien (Straßburg i. E.) 1
Über tonisierende Weinpräparate. Von Oscar Liebreich 6
3. Über Methvlenhippursäure. Von Prof. Dr. Arthur Nicoiaier (Berlin) 7
4. Die Behandlung der Tuberkulose in den Sanatorien von Leysin. Von Dr. Morin 13
5. Zur operativen Eröffnung der Mittel ohrräume. Von San. -Rat Dr. Klau (Berlin) 17
6. Zur Frage der Zellmast. Von Dr. Walther Nie. Clemm (Darmstadt) 27
7. Nochmals die Behandlung der trockenen und verstopften Nase. Von Hofrat Dr. Voll and (Davos) 36
8. Beitrag zur Wirkung des Veronals. Von Dr. Kreß (Rostock) 37
9. Chemische Reaktion im Darmkanal und ihre therapeutische Verwendbarkeit. Von Dr. J. Gold-
schmidt (Paris) 37
10. Ein Fall von Vergiftung durch Chloralhydrat mit tödlichem Ausgange. Von Dr. Berliner (Berlin) 51
11. Über intravenöse Hetolinjektionen. Von Dr. R. Weiß mann 55
12. Erfahrungen über Atropinanwendung in der Frauenheilkunde. Von Oberstabsarzt Dr. Drenk-
hahn (Glatz) 57
13. Über die Behandlung schwerer blutiger Handverletzungen. Von Dr. G. W. Schiele (Naum-
burg a. S.) 61
14. Die Wetterverhaltnisse in der Nordsee in den beiden letzten Wintern. Von Dr. Edel (Wyk) . 66
15. Zar Erweiterung der Indikationen für den Kefirgebrauch. Von Dr. A. Hirsch (Riga) .... 71
16. Erfahrungen über den ,, Liquor sanguinalis Krewel". Von Sekund&rarzt Dr. Fr ick (Cöln) ... 76
17. Erfahrungen der Landpraxis mit Veronal. Von Dr. Fritz Prölss (Scheessel) 77
18. Zur operativen Eröffnung der Mittel ohrräume (Schluß). Von San.-Rat Dr. Klau (Berlin) ... 79
19. Zur Kenntnis des Stypticins. Von Prof. Dr. Martin Freund (Frankfurt a. M.) 92
20. Fibrolvsin, eine neue Thiosinamin Verbindung. Von Dr. Felix Mendel (Essen) 93
21. Eine in der Praxis leicht ausführbare Reaktion des Diabetoshames. Von Prof. Dr. C. Strzy-
zowski (Lausanne) ' 109
22. über die Formalinreaktion beim Diabetesharn. Von Prof. Dr. Rabow 109
23. Über venöse Hetolinjektionen. Von Dr. Esch (Bendorf) 110
24. Zum Problem der Ätiologie der Tabes. Von O. Rosenbach (Berlin) 111
25. Über chronische Entzündungen der Blinddarmgegend und ihre Behandlung. Von Dr. H. Herz
(Breslau) 116
26. Über Wirkungen und Nebenwirkungen des Maretins. Von Ferdinand Henrich (Berlin) . . 124
27. Über „Das Gesetz des osmotischen Gleichgewichts" im Organismus. Von Dr. Hans Koeppe
(Gießen) 127
28. Erhält unser Volk genug Fleisch? Von Dr. Gold stein (Berlin) 136
29. Bemerkungen zu dem Aufsatz des Herrn Dr. Gold stein: Erhält unser Volk genug Fleisch?
Von Dr. F. Joklik (Prag) 138
30. Duplik. Von Dr. Goldstein 140
31. Über Sanoform. Von San.-Rat Dr. Unger (Berlin) 141
32. Zu der Mitteilung von Prof. Franke über Erysipelbehandlung. Von Dr. Gustav Doberauer
(Prag) 143
33. Bemerkungen zu vorstehendem Artikel. Von Prof. Felix Franke 143
34. Die hypnotischen Eigenschaften eines neuen Polychlorals (Viferral). Von K. Witthauer und
S. Gärtner (Halle a. S.) 143
35. Über Prof. Sohleichs kosmetischen Hautcreme. Von Dr. W. Zeuner (Berlin) 162
36. Zur intravenösen Hetolinjektion. Von Dr. Weißmann (Lindenfels) 163
37. Über die Behandlung der Kehlkopftuberkulose mit Phenosalyl. Von M. W. Dempel (Jalta) . 165
38. Einige Erfahrungen mit Neuronal. Von Assistenzarzt Dr. Eni er (Erlangen) 168
39. Die balneologiscn- diätetische Behandlung der chronischen Diarrhöe. Von Dr. Edgar Gans
(Karlsbad) 170
40. Zur Therapie der Cholelithiasis. Von Dr. A. Hecht (Beuthen O.-S.) 172
41. Über Zuckerproben. Von Med.-Rat Dr. Hecker (Weißenburg) 175
42. Fibrolysin, eine neue Thiosinamin Verbindung. H. Von Dr. Felix Mendel (Essen) 177
43. Über chronische Entzündungen der Blinddarmgegend und ihre Behandlung (Schluß). Von Dr.
H. Herz (Breslau) 178
44. Zur Behandlung des vorzeitigen Haarausfalls. Von Dr. Edmund Saalfeld (Berlin) 192
iv fah^u.v«.^,^ rasay
Seite
45. Bemerkungen zu Herrn Dr. Rah na Aufsatz: Zur Kritik der Jodbader. Von San. -Rat Peli-
zaeus (Oeynhausen) 198
46. Die perkutane Jodapplikation. Von G. Wesen berg 199
47. Eine merkwürdige Wirkung der Crocusaufnahme. Von Dr. Mulert (Meißen) 217
48. Behandlung der Otitis externa mit organischen Schwefelpräparaten. Von Dr. Carl Kassel
(Posen) 218
49. Über Glassers Condurango-Elixir. Von Dr. Goliner (Erfurt) 219
50. Über Pikrins&ureTerwendung bei Hautkrankheiten, besonders ,bei Ekzem. Von Assistenzarzt
Dr. Otto Meyer (Straßburg i. E.) 221
51. Die Nervenmassage. Von Oberstabsarzt Dr. Cornelius (Meiningen) 227
52. Die erste Hilfe bei Augen Verletzungen. Von Dr. Pick (Königsberg) 236
53. Zwei neue Lokalanaesthetica in der rnino-laryngologischen Praxis. (Milchsaures Eukain, Stovain.)
Von Dr. Arthur Meyer (Berlin) 240
54. Zur medikamentösen Behandlung der Lungentuberkulose. Von Dr. Carl Stern (San Rcmo) . 243
55. Zur Methodik der Milchanalyse mit besonderer Rücksicht auf die ärztliche Praxis. Von Dr.
Theodor Lohnstein (Berlin) 248
56. Erhält unser Volk genug Fleisch? II. Von Dr. Ferdinand Goldstein (Berlin) 254
57. Bemerkungen zu dem Aufsatz von 0. Rosenbach: „Zum Problem der Ätiologie der Tabes"
in No. 3 dieser Zeitschrift. Von Dr. Wilhelm Croner 257
58. Behandlung der Leukämie und Pseudoleukämie mit Röntgenstrahlen. Von Dr. Winkelmann
(Cöln) 258
59. Über Isoform. Von Prof. B. Galli-Valerio (Lausanne) 259
60. Ein Fall von Icterus toxicus. Von Dr. Hecht (Beuthen O.-Schl.) 269
61. Die Behandlung der Kapillarbronchitis. Von Dr. Herzfeld (New York) 274
62. Eine Bemerkung zu dem Artikel: Eine bequemere Anwendungsweise des Chinin von Geb. San. -
Rat Dr. Aufrecht im Februarheft 1903 dieser Monatshefte. Von Dr. 0. Muller (Hongkong) . 27f>
68. Ein Erlebnis mit dem Wasserstoffsuperoxyd Merck (Perhydrol). Von Dr. Altdorfer (Wiesbaden) 275
64. Die Entdeckungen der Parasitologie uud die Errungenschaften der Hygiene. Von Prof. Dr. Galli-
Valerio (Lausanne) 277
65. Erfahrungen mit Theooin. natrio-aceticum und mit Ci tarin. Von Assistenzarzt Dr. Laengner
(Berlin) 283
66. Mitteilungen über Theophyllin auf Grund einer Statistik von 855 Fällen. Von Dr. M.Sommer
(Mannheim) . 285
67. Über Resultate der Fangobehandlung und über die kombinierte Sol- und Fangokur. Von Privat-
dozent Dr. E. de la Harpo (Lausanne) 289
68. Der Wert der Bäder bei Gicht. Von Dr. Eduard Weisz (Pistyan) 292
69. Die Notwendigkeit der Zufuhr Zahn und Knochen bildender Substanzen. Von Dr. F. Kl ein -
sorgen (Elberfeld) 295
70. Praktische Erfahrungen mit den Fetronpräparaten Liebreich. Von Dr. Ernst Becker (Char-
lottenburg) 298
71. Die Frage der elektromagnetischen Therapie. Von Dr. Kreß (Rostock) 300
72. Unsere elektrischen Bäder. Von Dr. 0. Schliep (Stettin) 303
73. Ein Formalin-Desinfektionsschrank. Von Dr. Mendo (Gottesberg) 307
74. Über Vulnoplast. Von Dr. Benno Müller (Hamburg) 310
75. Über die Verwendung der Flatulinpillen (Dr. J. Roos) bei Magen- und Darmerkrankungen. Von
Dr. Richard Fuchs (Bleistadt) , 314
76. Einige Bemerkungen zu H. Koeppes Arbeit: Über das Gesetz des osmotischen Gleichgewichts
im Organismus. Von Prof. H. Strauß (Berlin) * 316
77. Impfung am Faß. Von Privatdozent Dr.de la Harpe (Lausanne) 330
78. Die epidemische Genickstarre in Oberschlesien. Von Dr. A. Hecht (Beutben) 333
79. Die Verbreitung und Verhütung der Helminthen des Menschen. Von Prof. B. Galli-Valerio
(Lausanne) 339
80. Glossen zur Behandlung der akuten eitrigen Mittelohrentzündung. Von Dr. A. Eitelberg (Wien) 347
81. Die psychische Entartung und deren Verhältnis zu verschiedenen Kategorien von Sprachstörungen. ,
Von Dr. Wladyslaw Oltuszewski (Warschau) 352
82. Über die angeblichen Gegenindikationen für die Anwendung des Cbloralhydrats allein und in
Verbindung mit Morphium auf Grund eigener Beobachtungen. Von Dr. H. Kühn (Hoya) . . . 356
83. Die Behandlung der Kehlkopftuberkulose. Von Dr. Hamm (Braun schweig) 358
84. Die «physiologische Narkose14 und ihr Heil wert für die Praxis. Von Dr. F. Kleinsorgen
(Elberfeld) 362
85. Digalen. Von Oberarzt Dr. Win ckelmann (Cöln) 364
86. Vergiftung nach Gebrauch der Wismutbrandbinden. Von Kreisarzt Dr.Schaeche (Chateau Salins) 381
87. Dormiol als Antihidroticum. Von Dr. Wederhake (Elberfeld) 387
88. Die hygienische Behandlung der Fußböden. Von K. Langhann 387
89. Über Collargol (Cred6). Von Dr. R. Weiß mann (Lindenfels) 389
90. Über die Desinfektion der Hände nach Fürbringer und die wichtigsten Operatiooen in der
geburtshilflichen Praxis, auf Grund von 270 beobachteten Fällen besprochen. Von Dr. Willy
Krause (Strasburg Westpr.) 397
91. Die Behandlung der sogenannten skrofulösen Augenentzündungen. Von Dr. Rothholz (Stettin) 402
92. Über Anwendung und Wirkung der Arsen-Ferratose. Von Dr. L.Bardach (Kreuznach) . . . 406
93. Über Isoi>ral als schlafwirkendes Medikament. Von Dr. Thaddäus Pisarski 409
94. Die psychische Entartung und deren Verhalten zu verschiedenen Kategorien von Sprachstörungen
(Schluß). Von Dr. Wladyslaw Oltuszewski (Warschau) 414
95. Neueste Arbeiten über Narkose. Ein Sammelreferat. Von Dr. Th. A. Maass (Berlin) .... 418
XIX*i906[,m,l|r'] Inhaltt-Ve**eielmta. V
96. Antwort auf „Einige Bemerkungen zu H. Koenpes Arbeit: Über das Gesetz des osmotischen
Gleichgewichts im Organismusa von Prof. H. Strauß in Berlin. Von Dr. H. Koeppe . . . 423
97. Bemerkungen zu vorstehender Antwort des Herrn Kollegen Koeppe- Gießen. Von H.Strauß 425
98. Benzoylsuperoxyd , ein neues therapeutisches Agens. Von Dr. A. S. Loe venhart (Baltimore) 426
99. Die Behandlang des Abortes in der allgemeinen Praxis. Von Dr. F. Moebins (Braunschweig) 443
100. Zur Säuglingssterblichkeit in Preußen. Von Dr. Ferdinand Goldstein 445
101. Über die Desinfektion der Hände nach Fürbringer und die wichtigsten Operationen in der
geburtshilflichen Praxis auf Grund von 270 beobachteten Fällen besprochen (Schluß). Von
Dr. W. Krause 448
102. Über das „zurzeit am besten wirkende" Diureticum. Von Dr. Th. Homburger (Karlsruhe) . 452
103. Ein Beitrag zur Frage: „Gibt es gonorrhoische Exantheme?" Von Dr. Orlipski (Halberstadt) 458
104. Pankreon als Digestivum. Von Dr. E. Koch (Aachen) 465
105. Veronalismus. Von Nervenarzt Dr. Kreß (Rostock) 467
106. Die Behandlung der Tuberkulose in Leysin. Von Dr. Morin (Leysin) 493
107. Zur Wirkung der gegen Diabetes mellitus empfohlenen Medikamente. Von Dr. F le i s ch e r (Berlin) 497
108. Diphtherieepidemien und Diphtherieempfänglichkeit. Von Dr. Rosen feld (Berlin) 509
109. Bemerkungen zu dem vorstellenden Aufsatze. Von Dr. Gottstein (Berlin) 517
110. Zur Therapie der diphtherischen Larvnxstenose. Von Dr. Rudolph (Magdeburg) 518
111. Die Neurasthenie junger Ehefrauen. Von Dr. M. Porosz (Budapest) 519
112. Zur therapeutischen und prophylaktischen Wirkung des Formaldehyds bei inneren Krankheiten.
Yon Dr. J. Zwillinger (Olmütz) 520
113. Über den quantitativen Nachweis einer organischen Phosphor Verbindung in Traubenkernen
und Naturweinen. Von J. Weirich und G. Ortlieb 522
114. Zur Frage der paroxysmalen Hämoglobinurie. Von Dr. Schindler (Bern) 525
115. Bemerkungen zu der Sauerstofftherapie. Von Dr. A. Heermann (Posen) 526
116. Fetrosal. Von O. Liebreich 545
117. Kritisch -experimentelle Beiträge zur Wirkung des Nebennierenextraktes (Adrenalin). Von
Dr. S. Möller (Altona) 547
118. Theorie und Praxis in der Gichttherapie. Von Dr. Alfred Zucker 561
119. Die balneologische Behandlung alter Hemiplegien. Von Dr. Neumann (Baden-Baden) . . . 567
120. Ionenlehre und Therapie. Von San.-Rat Dr. Scherk (Bad Homburg) 572
121. Über Histosan. Von Dr. R. Stierlin 576
122. Direkte Behandlung der kroupösen Pneumonie. Yon Dr. Leopold Bayer (Hatfcfeld) .... 579
123. Einige Veränderungen des exprimierten Mageninhalts in vitro. Von Assistenzarzt Dr. Theodor
Miro n esc u (Bukarest) 580
124. Über das Zinkperhydrol, ein neues Wundmittel. Von Dr. Eduard Wolffenstoin 581
125. Bemerkung zu der Behandlung akuter und chronischer Gelenkerkrankungen nach Sondermann.
Von Dr. Weisflog (St. Gallen) 600
126. Hustenpastillen bei Pertussis, Asthma und Bronchialkatarrh. Von Dr. W. Zeuner (Berlin) . 600
127. Zur Kenntnis des ,Valofina. Von Dr. Mode (Karlshorst) 601
128. Über moderne Digitalispräparate. Von Dr. R. Freund (Danzig) 603
129. Über die therapeutische Wirkung des Styracols. Von Dr. Hellmuth Ulrici (Reiboldsgrün) 611
130. Kasuistische Mitteilungen über Collargolbehandlung. Von Stabsarzt Dr. Rau (Wreschen) . . 617
131. Eine neue Flasche für Säuglinge. Von Geh. San.-Rat Dr. Aufrecht (Magdeburg) 619
132. Zur Therapie der diphtherischen Larynxstenose. Von Dr. Hecht (Beuthen O.-S.) ..... 620
133. Kritisch -experimentelle Beiträge zur Wirkung des Nebennicronextraktes (Adrenalin). Von
Dr. S. Möller (Altona) (Fortsetzung) 622
134. Über eine neue Form der Eisenverordnung. Von Dr. Ehr mann (Berlin) 634
135. Über die Behandlung der Brandwunden mit Zinkperhydrol. Von Dr. Robert Jacoby (Berlin) 636
136. Zur Wirkung der gegen Diabetes mellitus empfohlenen Mittel. Von Felix Goldmann (Berlin) 637
137. Protosal. Von A. Langgaard 688
Neuere Arzneimittel.
Seite
1. Isophysostigmin 38
2. Fibrolysin, eine neue Thiosinaminverbin-
dung. Von Dr. Felix Mendel 93
Seite
12. Eukodin 365
13. Enesol 366
14. Lentin 366
3. Die hypnotischen Eigenschaften eines neuen 15. Benzoylsuperoxyd, ein neues therapeu-
Polychlorals (Viferral). Von K. Witthauer tisches Agens. Von Dr. A. S. Loeven-
und S. Gaertner 143 hart 426
4. Die perkutane Jodapplikation. Von G. 16. Alypin 428
Wesenberg 199 ^" ~"
ö.Stovain 207
6. Griserin 209
7. ÜberIsoform.VonProf.Dr.Galli-Valerio 259
8. Isoform 261
17. Clavin 471
18. Über das Zinkperhydrol, ein neues Wund-
mittel. Von Dr. E. Wolffenstein ... 581
19. Novocain 582
20. Protosal. Von A. Langgaard .... 638
9. Kalomelol 262 ! 21. Formicin 638
10. Digalen. Von Oberarzt Dr. Winckelmann 364 22. Parisol 639
11. Eumydrin 865 | 22. Acidol 639
VI
Inhaltt-VorMtehnls.
rTher*peutiache
L Monatshefte.
Therapeutische Mitteilungen ans Vereinen.
Seite
I. KoDgrcß der Internationalen Geseilschaft für Chirurgie 527, 583, 640
Toxikologie.
Seife
1. Ein Fall von Vergiftung durch Chloral-
hydrat mit tödlichem Ausgange. Von Dr.
Hans Berliner 51
2. Dreifacher Fall von Wurstvergiftung (Bo-
tulismus). Von Dr. G. Morelli .... 51
3. Über Atropin -Vergiftung. Von San.-Rat
Benno Holz 52
4. Verwechslung von Enzianwurzel mit Bella-
donnawurzel. Von J. Hockauf . . . . 52
5. Vergiftung nach äußerlicher Anwendung
von Kupfersulfat (Blaustein). Von Dr.
Spannbauer 52
6. Beitrag zur Kenntnis des Botulismus. Von
• M. Kob 156
7. Über Theocinvergiflung. Von Edouard
Allard 156
8. EineBeobachcung über Zirkulationsstörung
nach Veronal. Von Dr. M. Senator . . 157
9. Ein Fall von* chronischer Phenacetin Ver-
giftung. Von Dr. Max Hirschfeld . . 157
10. Was leistet Kali hypermanganicum als
Morphiumantidot? Von Dr. Aiphons
Kramer 157
11. Eine merkwürdige Wirkung der Crocus-
aufnahme. Von Dr. Mulert 217
12. Ein Fall von Icterus toxicus. Von Dr.
Hecht 269
13. Über Vergiftung mit Schwefelalkalien.
Yon E. Stadelmann 270
14. ÜberWismutvergiftung. Von Dr. W. Mahne 270
15. Vergiftung mit Isosafrol. Von Dr. Wald-
vogel ... 271
16. Vergiftung nach Gebrauch der Wismut-
brandbinden. Von Dr. Schaeche . . . 381
17. Über tödlich verlaufende Quecksilberder-
matitiden. Von Hans Meyer 382
18. Über Quecksilbersepsis. Von Hermann
Eichhorst 383
19. Ein tödlicher Fall von akuter Sublimat-
vergiftung. Von Dr. Scott Sugden . . 383
20. Über die Primelkrankheit und andere
durch Pflanzen verursachte Hautentzün-
dungen. Von Stabsarzt Dr. E. H o f f m a n n 383
Seite
21. Ein Beitrag zum Kodeinismus. Von Dr.
Pelz 384
22. Eine Belladonnavergiftung. Von Dr.
Stocker 384
23. Mitteilung von sieben Fällen von Fisch-
vergiftung an der mediz. Poliklinik Zürich
Von Dr. A. Stoll 438
24. Die Austerninfektionen. Untersuchungen
von M. Vivaldi und A. Rodella ... 438
25. Ein Fall von chronischem Veronalismus.
Von Dr. Hoppe 439
26. Über Purgenvergiftung. Von San.-Rat Dr.
Benno Holz 439
27. Arzneiexanthem nach Aspirin. Von Dr. R.
Freund .439
28. Ein Fall von Erblindung nach Atoxylinjek-
tionen bei Liehen ruber planus. Von Dr.
W. Bornemann 439
29. Über einen Todesfall nach Anwendung der
ofnzinellen Borsalbe bei einer Brandwunde.
VonDr.Dopfor 487
30. Todesfall nach Anwendung der offizineilen •
Borsalbe bei einer Brandwunde. Von
E. Harnack 487
31. Über eine Vergiftung mit Helleborus niger.
Von E.Fürth 487
32. Ein Fall von Glykosurie naeh medikamen-
töser Quecksilberverabreichung. Von Dr.
Fauconnet 487
33. Ein Fall von Jodpempbigus mit Beteili-
gung der Magenschleimhaut. Von Dr. R.
Polland 488
34. Über artefizielle Dermatitis, hervorgerufen
durch ein Haarfarbemittel. Von Dr. C.
Botac* 488
35. Ein Fall von Mesotanausschlag. Von Dr.
J.P. Wills 488
36. Ein Fall von Arsenvergiftung. Von Dr.
Meyerhoff .540
37. Eine lebenbedrohende Intoxikation bei
Anwendung einer 50 proz. Resorcinpaste.
Von Dr. Kaiser 540
Literatur.
Seite
1. Grundzüge der Ernährung und Diätetik. Von Geh.-Rat Prof. Dr. von Ley den. 2. Aufl. ... 52
2. Die inneren Krankheiten in kurzer Darstellung zum Gebrauch für Ärzte und Studierende. Von
Privatdozent Emil Schwarz 53
3. Beitrag zur Pathologie und Therapie der Pankreaserkrankungen mit besonderer Berücksichti-
gung der Cysten und Steine. Von Priv.-Doz. Dr. Paul Lazarus . . . 53
4. Diagnostik der Krankheiten des Nervensystems. Von Prof. Dr. A. Gold scheider 53
5. Erfahrungen aus einer vierzigjährigen neurologischen Praxis. Von Dr. V. von Holst .... 53
6. Die Krankheiten der warmen Länder. Von Dr. B. Sehe übe. 3. Aufl 53
7. Der Scheintod der Neugeborenen. Von Dr. Ludwig Knapp , 54
*IX'SÄ!,"ilg'] Inh«l*-V«iMlchato. VII
Seit«
8. Die Vererbung der Syphilis. Von Dozent Dr. Rudolf Matzenauer 65
9. Die Gallensteinkrankheit, ihre Häufigkeit, ihre Entstehung, Verhütung und Heilung durch innere
Behandlung. Von Dr. Walter Nie. Clemm 157
10. Prophylaxe und operationslose Behandlung des Gallen steinleidens. Von Dr. Franz Kuhn . . 157
11. Die Gallensteinkrankheit, ihre Ursache, Pathologie, Diagnose und Therapie. Von Dr. F. Schilling 157
12. Das Eindringen der Tuberkulose und ihre rationelle Bekämpfung. Von Dr. Hugo Beckmann 160
13. Die krankhafte Willensschwäche und die Aufgaben der erziehlichen Therapie. Von Dr. F. C.
R. Eschle 160
14. Die natürliche und künstliche Säuglingsernährung. Von Dr. K. Oppenheimer 160
15. The demente of Kellgren's manual treatment. Sy Edgar F. Cyriax 161
16. Vorlesungen über Physiologie. Von M. v. Frey 161
17. Hebammen-Lehrbuch. Herausgegeben im Auftrage des Kgl. Preußischen Ministers der geistlichen,
Unterrichts- und Medizinal -Angelegenheiten 161
18. Medizinische Volksbücherei. Herausgegeben von K.Wi tt hau er. Heft 1. Allgemeines über den
Krebs. Von Dr. Heinrich Mohr 162
19. Untersuchung- und Behandlungsmethoden der Kehlkopfkrankheiten. Von Dr. Th. Heryng . . 271
20. Die Gicht, inre Ursachen und Bekämpfung. Von Dr. O. Bur winke 1 272
21. Die Fermente und ihre Wirkungen. Von Dr. Carl Oppenheimer 273
22. Anatomie und physikalische Untersuchungsmethoden. Von R. Ostreich und 0. de la Camp . 273
23. Lehrbuch der speziellen pathologischen Anatomie für Studierende und Arzte. Von Prof. E.
Kaufmann 274
24. Die Otosklerose. Von Prof. Alfred Denker 274
25. Erfolge der Röntgentherapie. Von Prof. E. Schiff 274
26. Morphium als Heilmittel. Von 0. Rosenbach ^ 327
27. Die Fettsucht. Von Dr. H.Leber . . 328
28. Dritter Jahresbericht der neuen Heilanstalt für Lungenkranke zu Schömberg, O.-A. Neuenbürg,
nebst Bemerkungen zur Behandlung der Larynxtuberkulose. Von Dr. Schröder und
Dr. Nagelsbach 329
29. Das MaTariafieber, dessen Ursachen, Verhütung und Behandlung. Von Ronald Roß . . . . 329
30. Das Gechlechtsleben des Weibes in physiologischer, pathologischer und hygienischer Beziehung.
Von Med.- Rat Prof. Dr. Heinrich Kisch 329
31. Lehrbuch der Physiologie des Menschen mit besonderer Berücksichtigung der praktischen Medizin.
Von Prof. ILLandois. 11. Aufl., bearbeitet von Prof. Rosemann 330
32. Hermaphroditismus und Zeugungsunfahigkeit. Von Prof. Cesare Taruffi 330
33. Grundzüge der Hygiene unter Berücksichtigung der Gesetzgebung des Deutschen Reiches und
Österreichs. Von W. Prausnitz. VU. Auf. 384
34. Führt die Hygiene zur Entartung der Rasse? Von Prof. Max Gruber 385
35. Die Alkoholföge vom ärztlichen Standpunkt. Von Dr.W. Pfaff 885
36. Gefrierpunkts- und Leitfähigkeitsbestimmungen. Ihr praktischer Wert für die innere Medizin.
Von Dr. S. Schoenborn 386
37. Belastungslagerung. Grundzüge einer nicht operativen Behandlung chronisch -entzündlicher
Frauenkrankheiten. Von Dr. L. Pinous 386
38. Atlas und Grundriß der Verbandlehre für Studierende und Ärzte. Von Albert Hof fa . . . 386
39. Hautreizende Primeln. Untersuchungen über Entstehung, Eigenschaften und Wirkungen des
Primelgiftes. Von Prof. Dr. A. Nestler • 386
40. Die Krankheiten der Frauen. Von Prof. Dr. H. Fritsch. 11. Aufl 440
41. Lehrbuch der Vibrationsmassage mit besonderer Berücksichtigung der Gynäkologie. Von
Dr. Kurt Witthauer 440
42. Handbuch der Urologie. I. Bd. Von Dr. v. Frisch und Dr. 0. Zuckerkandl 440
43. Grundriß der Otologie. Von Geh.-Rat Schwartze und Prof. C. Grunert 441
44. Die Verletzungen des Gehörorgans. Von Geh. Med.-Rat Dr. Passow 441
45. Kursus der Zahnheilkunde. Von K. Cohn 442
46. Das Anwachsen der Geisteskranken in Deutschland. Vou Dr. M. Hack 1 *..... 489
47. Die vegetarische Diät und Lebensweise überhaupt. Von Dr. E. Singer 489
48. Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten. Von Dr. M. Josenh 489
49. Die Haarkrankheiten, speziell die Entstehung der Glatze. Von Dr. Meyer . . . 489
50. Lexikon der physikalischen Therapie, Diätetik und Krankenpflege für praktische Arzte. Von
Dr. Anton Bum 490
51. Leitfaden für den geburtshilflichen Operationskurs. Von Prof. A. Döderl ein 490
52. Für Mutter und Kind. Von Dr. Max Hackl 490
53. Was ein erwachsenes Mädchen wissen sollte. Ratschläge eines Arztes, Von Dr. Burlureaux 490
54. Taschenbuch für Ohren-, Nasen-, Rachen- und Halsärzte nebst Spezialistenverzeichnis und
Taschenkalender für das Jahr 1905/6. Von L. Jankau 491
55. Vorlesungen über klinische Hämatologie. Von Dr. W.Tür k. I.Teil . 491
56. Bakteriologie und Sterilisation im Apothekenbetriebe. Von Dr. O.Stich 491
57. Gymnastik und Massage als Heilmittel. Von Prof. Hoffa 491
58. Kurzer Überblick über die Grundzüge der Röntgen -Technik des Arztes. Von Dr. Schürmayer 491
69. Schwindsucht und Krebs im Lichte vergleichend statistisch- genealogischer Forschung. Von
Dr. A. Riffel 640
60. Grundriß der prakt. Medizin mit Einschluß der Gynäkologie. Von Prof. Schwalbe 541
61. Hygiene des Herzens im gesunden und kranken Zustande. Von Prof. Eich hörst 541
62. Ausgewählte Kapitel der klinischen Symptomatologie und Diagnostik. Von Prof. Neuss er . . 541
63. Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrankheiten für Studierende und Arzte. Von Prof. E. Lesser 542
64. Ethische Forderungen im Geschlechtsleben. Von Dr. Cnyrim 542
Vffl lnh«lti-V«r««ichiiii. PSSSSft?*
Seite
65. Die Therapie der Magen-, Darm- and Konstitutionskrankheiten. Von G. Graul 542
66. Grundriß der medikamentösen Therapie der Magen- und Darmkrankheiten einschließlich Grund-
züce der Diagnostik. Von Dr. Rodari '. . 542
67. Lehrbuch der Urologie mit Einschluß der männlichen Sexualerkrankungen. Von Dr. L. Casper 543
68. Jahresbericht über die Fortschritte der inneren Medizin im In- und Auslande. Von W.Ebstein 543
69. Die bei der dritten Deutschen Arzte -Studienreise besuchten Rheinischen, Hessischen, Lippeschen
und Waldeckschen B&der. Von Gilbert, Meißner und Oliven 543
70. Neuere Forschungen über die Verrichtung der Schilddrüse, ihre Beziehung zu Kropf, Kretinismus,
Epilepsie etc. Von C. Lindstädt 544
71. Pathologische Anatomie der Gehirnerschütterung beim Menschen. Von Dr. v. Holder .... 545
72. Beitrage zur Ohrenheilkunde. Festschrift, gewiamet August Lucae 597
73. Lehrbuch der Physiologie des Menschen mit besonderer Berücksichtigung der praktischen Medizin.
Von Prof. L. Land ois. 11. Aufl. Bearbeitet von Prof. R. Rose man n. II 598
74. Die Kinderernährung im Säuglingsalter und die Pflege von Mutter und Kind. Von Prof.
Ph. Biedert. 5. Aufl 599
75. Leitfaden zur Pflege der Wöchnerinnen und Neugeborenen. Von Prof. H. Walt her 599
76. Die Verhütung und operationslose Behandlung des Gallensteinleidens. Von Dr. F.Kuhn . . . 600
77. Zur Frage der Borwirkung. Eine Kritik des Dr. Wilevschen Berichtes an das amerikauische
Ackerbau- Ministerium. Von Dr. 0. Liebreich 654
78. Dr. Jessners darmatologische Vorträge für Praktiker. Heft 13. Die Schupp enflechten und ihre
Behandlung 656
79. Adam und Eva. Ein Beitrag zur Klärung der sexuellen Frage. Von Dr. L.Wolf f 656
80. Werden und Vergehen. Von Carus Sterne. 6. Aufl., herausgegeben von W. Bölsche . . . 657
Oi
X*
Therapeutische Monatshefte.
1905. Januar.
nalabhandlittp^en.
FEBtiH:907
Über die Anwendung abgelöteter
Typbusbazillen zur Ausfuhr
Gruber -Wldalschen Reaktion.
Von
Dr. Georg Kien,
I. Anlatent der Unlv.-Kinderklinik sa Straßburg I. E.
Gegen den diagnostischen Wert des Ag-
glutinationsphänomens wurden in letzter Zeit,
yon verschiedenen Seiten aus, Bedenken er-
hoben. Der Grund hierfür lag einmal darin,
daß das Serum von Typhuskranken nicht jeden
Typhusstamm agglutinierte1), andrerseits, daß
auch andere Infektionserreger, wie Proteus und
Staphylokokken9), und besonders der dem
Typhus verwandte Paratyphus3), Agglutina-
tion der Typhusbazillen hervorrufen konnten.
Setzen wir zu diesen Tatsachen noch die
Beobachtung hinzu, daß auch, klinisch, ganz
typische Typhusfälle verlaufen können, ohne
daß zu irgend einem Zeitpunkt im Verlaufe
der Erkrankung eine Andeutung von Agglu-
tination festzustellen ist (siehe unsern Fall 7,
Tab. B, auch Zit. 4), so werden wir uns von
einem gewissen Skeptizismus bei der Ver-
wendung der Gruber-Wi dal sehen Reaktion
am Krankenbett nicht ganz befreien können.
Wenn wir jedoch uns dieser Zufälle be-
wußt sind und die Diagnose auf Typhus
nicht ausschließlich auf den positiven Ausfall
der Agglutination begründen, so werden wir
den Wert der Widal sehen Reaktion auch
im beschränkten Umfange zu schätzen
wissen. Fällt auch einmal die Agglutination
bei einem Typhuskranken negativ aus, so
wird man bei bestehenden klinischen Sym-
ptomen diesen ihre alten Rechte voll ein-
räumen oder, falls diese im Stiche lassen,
zum Züchtungsversuch mit Blut, Stuhl und
Urin schreiten. Nur die Auffindung des
Eberth sehen Bazillus wird uns vollständige
') Kling er, Zentralblatt f. Bakteriol. 1902.
Muller, Manch, med. Wochenschr. 1903. Stern,
Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 30.
') Labowski u. Steinberg, Deutsch. Arch.
f. klin. Med. Bd. 79.
*) Brans a. Kays er, Zeitschr. f. Hygiene u.
Infektionskrankheiten, Bd. 43.
*) Brans u. Kayser, Zeitschr. f. Hygiene u.
Infektionskrankheit. Bd. 43, S. 401.
Th. M. 1903.
Klarheit'\/uber die Krankheit verschaffen,
A.^hi^ruch wieder sein Auffinden, trotz der
>esserten Kulturmethoden, manchmal ver-
sagt. (Siehe unsere Tab. A, Fall 5 und 10
und Tab. B, Fall 7.)
Die Bestimmung der Differentialdiagnose
zwischen Typhus und Paratyphus dürfte für
die Prognose5) des Falles von Wichtigkeit
sein, für die Therapie jedoch, bei der bio-
logischen Verwandtschaft beider Bakterien-
arten, kaum ins Gewicht fallen. Soll aber
die Untersuchung auf Agglutination eine voll-
ständige sein, so wäre zunächst die Agglu-
tinationsgrenze für Typhus, die bekanntlich
nicht unter 1 : 50 betragen soll, und eine
Probe mit Paratyphus, Typus A und B, an-
zustellen.
Eine Mischung beider Bakterienarten,
des Typhus und Paratyphus, vereinfacht viel-
leicht das Verfahren6). Nach den Unter-
suchungen von Bruns und Kayser7) werden
zwar die nicht spezifischen Bazillen auch
mit agglutiniert werden (Gruppenagglutination
Pfaundlers8)). Diese Agglutinationszahlen
bleiben im Tierversuch unter denen
der infizierenden Bazillen zurück. Beim
Menschen hat man jedoch bezüglich der
Gruppenagglutination an verschiedenen Tagen
unter Umständen enorm wechselnde Agglu-
tinationskurven (s. unsern Fall 6, Tab. A).
Hier ist die Möglichkeit der Einwirkung von
Misch infektionen nie völlig auszuschließen.
So interessant nun auch die Feststellung
der Agglutination ist, so schwierig war bis
jetzt ihre Ausführung für den praktischen
Arzt. Denn dazu gehörte ein Brütofen,
frischer und geeigneter Kulturnährboden und,
was von besonderer Wichtigkeit war, ein
gleichmäßig agglutinabler Typhusstamm, der
es möglich machte, die einzelnen Resultate
der Agglutination miteinander zu vergleichen.
*) Nach Brion beträgt die Mortalität beim
Paratyphus 3 Proz. Deutsche Klinik, Bd. 2, S. 531.
6) L i o n , Münch. med.Wochenschr. 1904, No. 21.
T) Zeitschr. f. Hygiene u. Infektionskrankheiten,
Bd. 43.
8) Pfaundler, Über Gruppenagglutination
u. s. w. Münch. med. Wochenschr. 1899, S. 472 ff.
1
Kien, Anwendung abgetöteter TyphutbasUleo.
rher*peutbohe
Monatuhefte.
Dieses letzte Haupterfordernis suchte
bereits Widal9) zu beseitigen, indem er ab-
getötete Typhusbazillen benutzte und die
Beobachtung machte, daß diese auch in
solchem Zustande ihre Agglutinationsfähigkeit
bewahrten. Zur Abtötung der Typhusbazillen
genügte lj2 bis 3/4 stündiges Einwirken einer
Temperatur von 57 — 60°. Später erzielte
Widal denselben Erfolg mit 1 bis 2tägigen
Kulturen, denen er Formol, im Verhältnis
von 1 : 150, zusetzte. Auf diese "Weise be-
handelt, erwiesen sich die Kulturrohröhen
noch nach Monaten gebrauchsfähig.
In neuerer Zeit wurden ähnliche Versuche
durch Pröscher") und Rolly11) wieder
aufgenommen. Pro seh er verwendet Itägige
Typhusbazillenkulturen, die durch Zugabe
von 1 Teil 40proz. Formalin auf 100 Teile
Bouillon abgetötet sind. Bei diesem Ver-
fahren bildet sich ein starker Bodensatz, der
abfiltriert wird. Die filtrierte Flüssigkeit
muß im Eisschrank aufbewahrt werden, bleibt
aber monatelang gebrauchsfähig. Beim An-
stellen der Proben wird die Flüssigkeit zu-
nächst kräftig geschüttelt; hierauf werden
je */» ccm derselben mit */a cem Serumverdün-
nung in einzelne Röhrchen gemischt. Die
Serumverdünnung wird jedesmal so gewählt,
daß das Verhältnis derselben zur abgetöteten
Kultur sich ändert und die Verdünnungen
von 1:10, 1 : 20 u. s. w. zustande kommen.
Das Verfahren von Rolly12) weicht von
dem eben erwähnten kaum ab. Es werden
große Erlen mey ersehe Kolben zu lj3 m^
gewöhnlicher, steriler Bouillon angefüllt, mit
virulenten Typhusbazillen geimpft und mit
nur losen Wattepfropfen verschlossen, sodaß
die Luft leicht durch diese in die Kolben
gelangen kann. Nach 5tägigem Verweilen
im Brütofen werden 2 — 3 so behandelte
Bouillonkulturen zusammengegossen und mit
Toluol oder Formol im Überschuß versetzt.
Die Kulturen werden sodann 5 — 10 Tage
lang wieder der Bruttemperatur überlassen
und täglich heftig umgeschüttelt. Nach dieser
Zeit sind die Typhusbazillen abgetötet, zeigen
auch keine Eigenbewegungen mehr, finden
sich jedoch, wie bei der Agglutination, in
Häufchen gruppiert. Zentrifugieren oder 2
bis 4 wöchentliches Stehenlassen genügt,
um diese Bazillenkonglomerate zu Boden
sinken zu lassen, während die anderen, iso-
liert stehenden Typhusbazillen gleichmäßig
in der Flüssigkeit suspendiert bleiben. Diese
letztere wird alsdann vorsichtig abgezogen,
1902.
•) Annales de PInstitut Pasteur, 1897, No. 5.
10) Zentralblatt f. Bakteriologie, XXXI. Bd.,
») MüDch. med. Wochenschr. 1904, No. 22.
,8) Mönch, med. Wochenschr. 1904, No. 24.
mit Toluol versetzt und ist zum Gebrauche
fertig.
Rolly glaubt, daß durch den losen Watte-
pfropfen und das öftere Umschütteln mehr
Sauerstoff zu der Bouillonkultur gelange.
Die Folge davon sei ein energischeres Wachs-
tum der Bazillen, eine weitere Zersetzung
der Bazillen und eine größere Verdunstung
von Wasser. Auf diese Weise würden die
Bazillen spezifisch leichter werden und sich
in der Bouillon schwebend erhalten.
Nach den Untersuchungen von Lion und
Rolly läßt die Bestimmung der Agglutina-
tion mittels abgetöteter Typhusbazillen an
Genauigkeit nichts zu wünschen übrig.
Die nun zu besprechende Methode von
Ficker beruht auf demselben Prinzip. F ick er
verwendet eine Flüssigkeit, welche abgetötete
Typhusbazillen und die spezifisch aggluti-
nablen Stoffe enthält. Dieses Präparat wird
unter dem Namen „Typhusdiagnoaticum" von
der ehem. Fabrik Merck -Darmstadt nach
einem besonderen, von Ficker angegebenen,
bis jetzt noch nicht bekannt gemachten Ver-
fahren hergestellt13).
Es hat den Vorzug, zu jeder Zeit ge-
brauchsfähig zu sein, was einen Vorzug be-
deutet. Dabei ist noch in Betracht zu ziehen,
daß bei den oben erwähnten Methoden, mit
Ausnahme derjenigen von Rolly, ein Mikro-
skop und ein Brütofen nötig sind. Mit dem
Ficker sehen Diagnosticum dagegen kann
man den Ausfall der Reaktion schon mit
bloßem Auge feststellen. Bei Beginn der
Agglutination entstehen kleine, schwebende
Flöckchen, die zunächst an den Wänden des
Reagensgläschens haften bleiben und nach
einigen Stunden auf den Boden desselben
fallen, während der Rest der Flüssigkeit
sich aufhellt. Die Beobachtungszeit darf nach
Ficker 20 Stunden nicht übersteigen.
Die Ausführung der Reaktion weicht von
dem üblichen Widalschen Verfahren nicht
ab. Man stellt sich eine Serum Verdünnung
von l/io her, mischt sodann in ein I. Spitz-
gläschen 0,1 von dieser Verdünnung zu
0,9 Diagnosticum, und in ein II. Spitzgläs-
chen 0,2 Verdünnung zu 0,8 Diagnosticum
u. s. w. Man erhält auf diese Weise die
gewünschten Mischungen von lln, !/ioo- Die-
selben werden im Dunkeln aufbewahrt und
nach 4—10—12—20 Stunden der Ausfall
derselben wahrgenommen.
Ich habe auf die gütige Anregung von Herrn
Prof. Kohts, gleich nach Bekanntmachung
dieses Präparates, dasselbe mit dem Serum
der in der Kinderklinik an Typhus behan-
delten Patienten geprüft. In letzterer Zeit
") Berlin, klin. Wochenschr. 1900, No. 45.
r
XIX. Jahrgang.!
Jinntr 1905. J
Klan, Anwendung abgetöteter Typhuabaslllen,
wurden die Versuche, mit Genehmigung der
Herren Professoren Forst er und Levy,
auch an dem Material der Typhusabteilung
des bakt. Instituts wiederholt. Alle Unter-
suchungen wurden immer durch Kontroll-
proben mit lebenden Typhus- und Para-
typhusbazilJen vom Typus A und B nach-
geprüft. Dieses wurde örtlich getrennt von
meinen Versuchen, ausschließlich durch die
Assistenten des bakteriol. Instituts, Herren
Dr. Kays er und Dr. Klinger, ausgeführt,
wodurch die Resultate gegenseitig absolut
unbeeinflußt waren. All diesen Herren spreche
ich für ihre rege Unterstützung meinen besten
Dank aus.
Die folgenden Tabellen geben einen Über-
blick über die verschiedenen Untersuchungen.
Auf Tabelle A sind die Typhusfälle ver-
zeichnet, die in der Kinderklinik behandelt
und bei denen die Agglutination vorgenommen
wurde. Die kurzen Angaben über den Ver-
lauf der Krankheit mußten gemacht werden,
weil auf gewisse Punkte verwiesen wird; sie
sollen auch zeigen, daß es sich jedesmal
um klinisch sicher gestellte Typhusfälle
handelte.
Auf Tabelle B finden sich Angaben über
den Ausfall einiger dem bakt. Institut zu-
geschickter Blutproben von Typhuskranken
oder Typhusverdächtigen, und Tabelle C gibt,
der Vollständigkeit halber, das Resultat der
Reaktion bei Kranken, die nicht an Typhus
litten. Dazu wurden z. T. Patienten aus der
Scharlach- und Diphtherieabteilung gewählt.
A. Untersuchung des Serums von Typhuskranken
der Kinderklinik.
1» Fall. Louise N., 8 J., aus Straßburg.
Verlauf der Krankheit: Aufnahme am
25. VIII. 8. Tag der Erkrankung. Milztumor. Erbsen-
brühartige Stühle. Diazoreaktion positiv. Puls 80.
Am 27. VIII. Roseolen. Vom 25. VIII. bis 28. VIII.
st ad. incrementi. Am 28. VIII. Akme mit 40,5°.
Stuhluntersuchung auf Typhusbazillen negativ.
(Bakt Institut) Am 29. VIII. Kollaps. Am 31. VIIL
40,2°. Roseolen abgeblaßt. Beginn des stad. de-
cremend. Am 8. IX. Typhusbazillen im Stuhl.
(Bakt. Institut) Am 9. IX. zum ersten Mal fieber-
frei. Stühle geformt. Vom 9. IX. bis 24. X. fieber-
frei. Am 22. IX. und 14. X. Stühle typhusfrei. Am
24. X. geheilt entlassen.
Untersuchung auf Agglutination.
Am 25. VIII., 8. Krankheitstag: Widal 4- Vso
und -f- Vi oo stark. Fickers ßiag. -+- Vso und
-f- Vioo stark, nach 3 Stunden.
2. Fall. Julius B., 31/, J., aus Straßburg.
Verlauf der Krankheit: Aufnahme am
6. X. 04. 2. Krankheitstag. Über den Lungen 1. h.
d. leichte Dämpfung, jedoch vesikul&res Atmen.
Hohe Temperaturen mit abendlichen Remissionen.
Am 9. Krankheitstaff Akme mit 39,9°; am 13. X.
Typhusbazillen im Stuhl negativ. (Bakt. Institut.)
Stühle geformt. Die hohen Temperaturen bleiben be-
stehen. 18. X. Roseolen, Milztumor, erbsenbrühartige
Stühle. Am 21. X. Typhusbazillen im Stuhl. Vom
23. X. ab stad. decrementi. Vom 27. X. ab fieberfrei.
Untersuchung auf Agglutination.
Am 16.X., 10. Krankheitstag: Widal -4- »/so
und -+- V,oo stark. Fickers Diag. -f- '/so und
4- Vioo stark.
8. Fall. Cleopha G., 10 J., aus Lille.
Verlauf der Krankheit: Aufnahme am
15. IX. 9. Krankheitstag. Milztumor, Roseolen,
Typhusbazillen. Akme mit 40,1°. Am 16. X. Typhus-
bazillen in Stuhl und Urin. Vom 16. X. bis 23. X.
stad. decrementi. Vom 23. X. bis 4. XI. fieberfrei.
Am 4. XI. Rezidiv. Akme derselben am 13. XL
Stad. decrementi vom 14. bis 21. XL Seit dem
21. XL fieberfrei.
Untersuchung auf Agglutination.
Am 9. Krankbeitstag: Widal + llM und + Vioo
stark. Fickers Diag. -h Vso UDd H- Vioo stark.
Am 46. Krankheitetag: Widal + Vso und*
-4-Vioo »tark. Fickers Diag. -h Vso *nd -f- Vioo
stark, schon nach Vi Stunde.
4. Fall. Dicker, Joh., 7 J., Schiltigheim.
Verlauf der Krankheit: Aufnahme am
20. IX. 5. Krankheitstag. Kein Milztumor. Ver-
stopfung. Typisches Fieber. Stad. incrementi vom
20. IX. bis 23. IX. Maximum der Temperatur 39,5°
am 23. IX. Vom 26. IX. bis 1. X. stad. decrementi.
Fieberfrei seit dem 1. X. Nur am 13. X. Typhus-
bazillen in Stuhl und Urin.
Untersuchung auf Agglutination.
Am 6. Krankheitstag: Widal 4- Vso und 4- Vioo
stark, positiv. Fickers Diag. -h Vso und + Vioo
stark, positiv.
Am 31. Krankheitstag: Widal -4- Vso ™d
— Vioo (•)? aucn mikroskopisch. Fickers Diag.
-f- Vso öJdcI — '/100 (!), auch mikroskopisch.
5. Fall. Bleu, Joseph, 10 J., Straßburg.
Verlauf der Krankheit: Aufnahme am
28. VH. 1. Krankheitstag. Vom 28. VII. bis 1. VIII.
stad. incrementi. Vom 1. bis 4. VIII. Akme mit
40,4°. Vom 8. bis 14. VIIL amphiboles stad. Vom
14. bis 21. VI IL stad. decrementi. Während der
ganzen Zeit erbsenbrühartige Stühle. Am 8. VIIL
Roseolae. Milztumor. Am 2. VIIL keine Typhus-
bazillen in Stuhl und Urin. (Bakt. Institut.) Rezidiv
am 31. VIIL Im Stuhl und Urin keine Typhus-
bazillen. (Bakt. Institut) Seit dem 8. IX. fieberfrei.
Stuhl- und Urinuntersuchungen am 11. X. und 30. X.
ergaben keine TyphusbazUlen. (Bakt. Institut.)
Untersuchung auf Agglutination.
Am 3. Krankheitetag: Widal negativ.
Am 6. Krankheitstag: Widal positiv.
Am 120. Krankheitstag: Widal Vso und Vioo
negativ. Fickers Diag. V50 und V10o negativ,
makro- und mikroskopisch.
6. Fall. A., Therese, 13 J., Straßburg.
Verlauf der Krankheit: Aufnahme am
19. X. 03. Am 8. Krankheitstag. Vollständige Taub-
heit seit 8 Tagen. Trommelfelle normal. Roseolae.
Kein Milztumor. Stühle geformt. Am 20. X. Akme.
Vom 21. X. bis 1. XI. stad. decrementi. Vom 1. XL
ab fieberfrei. Am 24. XL Hörschärfe wieder normal.
Am 27. X. 04 Typhusbazillen im Urin. Am 30. X.
Typhusbazillen im Stuhl. (Bakt. Institut.)
Untersuchung auf Agglutination.
Am 20. X. 03, 9. Krankheitstag. Agglutination
auf Paratyphus A, die des Typhus überwiegend.
(Bakt. Institut)
1*
Kien« Anwendung abgetöteter Typhusbasillen.
[Therapeutische
Monatshefte.
Am 28. X. 03, 17. Krankheitstag. Agglutination
auf Typhusbazillen, die des Paratyphus überwiegend ; ,
und zwar Typhusbazillen Viooo» Paratyphus A Y^.
(Bukt. Institut.) |
Nachuntersuchung 1 Jahr darauf, am 27. X. '
04, mit dem F ick ersehen Diagnosticum : 7&o positiv, ,
1 100 negativ, auch mikroskopisch.
Kon trollprobe nach der gewöhnlichen Methode
auf Typhus: V50 positiv, V100 negativ, auch mikro- 1
skopisen. I
7. Fall. Lucian S., 4 J., Straßburg. j
Verlauf der Krankheit: Aufnahme am I
29. 1. 04. 19. Krankheitstag. Roseolae. Milztumor.
Akme am 80. 1. Vom 30. 1. bis 4. II. stad. decre- ;
menti. Während der ganzen Zeit erbsenbrfihartige |
Stühle. Typhusbazillen im Stuhl. (Bakt. Institut.)
Untersuchung auf Agglutination.
Agglutination nach Widal am 20. Krank heits-
*aÄ: Vso uno^ V100 positiv. Bei der Untersuchung
9 Monate nachher ist die Agglutination sowohl nach
der gewöhnlichen Methode, wie nach F ick er positiv
bei 7M und negativ bei 7,00. (Bestätigt durch das
bakt. Institut.) Die Proben werden 2 mal wieder-
holt und geben nur bis V50 makro- und mikro-
skopisch positives Resultat.
8. Fall. Engel, Viktor, 6 J., Neudorf.
Verlauf der Krankheit: Beginn der Er-
krankung vor 4 Wochen. Durchfälle. Am 17. X. 03
aufgenommen mit Roseolae, Milztumor, erbsen brüh-
artigen Stühlen. Diazoreaktion positiv. Am 21. X.
Akme mit 40,1°. Vom 21. bis 27. X. 03 stad. de-
crementi. Heilung. ! stark positiv.
Untersuchung auf Agglutination.
Widal am 22. X. 33. Krankheitstag, positiv
(Bakt. Institut )
Nachuntersuchung, 1 Jahr darauf, am
5. XI. 04: Agglutination sowohl mit dem Typhus
diagnosticum, wie mit lebenden Kulturen makro-
und mikroskopisch negativ.
9. Fall. Gluntz, Fritz, 11 J., Straßburg.
Verlauf der Krankheit: Aufnahme am
18. XI. 4. Krankheitstag. Benommenheit, kaum zu
fühlender Puls. Erbsenbrühartige Stühle. Keine
Vergrößerung der Milz. Konstant hohe Temperaturen
von 40° bis 40,5°. Eiweiß im Urin. Abdomen
tympanitisch aufgetrieben. Befund in pulm. und
cor. nprmal. Am 8. Krankheitstag Auftreten von
Roseolae. Pat. steht auf der Akme.
Untersuchung auf Agglutination.
Am 6. Krankheitstag. Widal: positiv 1!b0 und
Vjoo- Fickers Diag.: positiv Vso und Vioo«
10. Fall. Bohr, August, 13 J.> Neudorf.
Verlauf der Krankheit: Aufnahme am
19. XL 3. Krankheitstag. Vom 19. XL bis 26. XL
stad. incrementi. Am 26. XL Akme mit 40,5°.
Puls 96. Am 10. Tag Roseolen, leichte Milzver-
größerung. Stuhl und Urin enthalten keine Typhus-
bazillen. (Bakt. Institut)
Untersuchung auf Agglutination.
Am 8. Krankheitstag. Widal: '/so und Vi 00
stark positiv. Fickers Diag.: Vso un(l V100 sehr
B. Untersuchung des dem bakt. Institut zugesandten Serums.
Fälle
Ergebnis
der gewöhnlichen
Widal sehen Reaktion
Ergebnis
des Fl ck ersehen
Diagno«ticums
Tag der Untersuchung
1.
2.
3.
4.
5.
6.
8.
Diebold, 16 J.,
Typhus abdominalis
Delloy, 45 J.,
Typhus abdominalis
Reeb, 10 J.,
Typbus abdominalis
Bernhardt, 30 J.,
Typhus abdominalis
Pleuraexsudat von
einem Typhuskranken
Braun, 20 J.,
Typhus abdominalis
Clabaglio, 24 J.,
Typhus, klinisch.
Hausmann, 8 J.,
typhusverdächtig
1
Vw-r-; V100.+
Yso+; V100 +
/50"i"? /100"f"
V«o+; V100 +
Vjo+J V.oo-f-
Ao — 1 /lOO
/50 — 5 /100 —
,'50 T^» /100 "T-
nach 12 Stunden
Vso-f-; V100 +
nach 4 Stunden
7a
Vioo-r-
V50 + ; V100 +
nach 4 Stunden
/50"+"» /l00"+*
nach 4 Stunden
,5o"i~> Aoo~i"
nach 12 Stunden
26. X. 04; 6. Krankheitstag
27. X. 04; 14. Krankheitstag
31. X. 04; 16. Kraukheitstag
2. XL
2. XL
5. XL ; 8. Krankheitstag
/so -
Aus den Tabellen ersehen wir, daß
sowohl die zweifellosen Typhusfälle, als auch
die klinisch nur verdächtigen, die früher an
Typhus Erkrankten, wie die, welche daran
nie erkrankt waren, mit dem F ick ersehen
Diagnosticum dieselbe Reaktion gegeben
27.X.
4. Woche der Erkrankung.
Pat. hat regelrechten Typhus
durchgemacht. Milztumor.
Roseolae. Typhusstühle. Je-
doch nie Typhusbazillen im
Stuhl. Widal war am 26.
IX., 27. IX., 18.X. negativ.
[ 15. X. 04.
Remittierendes hohes Fieber.
[ Sonstige Symptome fehlen.
haben, wie die zu gleicher Zeit mit leben-
den Bazillen angestellten Proben. Damit
wäre zur Genüge bewiesen, daß die Aggluti-
nation vermittelst abgetöteter Kulturen, resp»
mit dem F ick er sehen Diagnosticum voll-
ständig zuverlässig ist.
/50 — > /lOO
XIX. Jahrgang.!
Janoar 190f>. J
Kien, Anwendung abgetöteter Typhutbazillen.
C. Untersuchung des Serums van Nicht-
Typhuskranken.
| Fälle
Ergebnis der
gewöhnlichen
Widalsehen
Reaktion
Ergebnis des
Fiekersehen
Diagnosticum*
Tag der
Unter-
suchung
1. Engel, Viktor,
! 7 J., Diphtherie
negativ
negativ
5. XL 04
2. ' Hilge, Emilie,
v | ^ lli «*•» Diphtherie
-
-
5. XI. 04
3. Hammel, Leonie,
1 9 J., Diphtherie
-
-
5. XL 04
4. 1 Ganter, Emilie,
, 8 J., Scharlach
(SchuppuDg)
-
-
5. X. 04
5. j Fleckstein,Eugen,
1 11 J., Diphtherie
-
-
5.X. 04
6. Fink, Ludwig,
8 J., frisches
, Scharlach-
Exanthem
-
-
5. XI. 04
7. Möller, Marie,
8 J., Meningitis
tuberculosa
-
-
15. X. 04
8. Diemling, Th.,
1 32 J.,
Cholelithiasis
4. XL 04
Es war nun interessant, auch nachzusehen,
ob das Fi ck ersehe Präparat auch bei aller-
höchsten Serumverdünnungen hochwertiger
Immuneren Agglutination hervorrufen konnte,
und ob dann die Methode ebenso empfind-
lich sei, wie die bisher übliche. Zu diesem
Zwecke wurde mir von Herrn Dr. Kays er
ein Typhusimmunserum überreicht. Dasselbe
stammte von einem männlichen Kaninchen,
welches in drei verschiedenen Sitzungen je
eine intravenöse Injektion von abgeschwächten
Typhuskulturen erhalten hatte und zur Zeit
der Blutentnahme 505 g an Gewicht ver-
loren hatte. Von diesem Serum wurden 0,1
entnommen und den 13 vorzunehmenden
Mischungen untenstehende Berechnung zu
Grunde gelegt.
Auch hier zeigte sich eine vollständige
Übereinstimmung mit den Angaben, die un-
abhängig von mir, durch Herrn Dr. Kays er
mit lebenden Kulturen notiert wurden. Die
Agglutination konnte noch bis 1 : 50 000
deutlich wahrgenommen werden.
Auf Grund unserer Untersuchungen können
wir daher das F ick er sehe Diagnosticum, in
Übereinstimmung mit den Autoren14-90), die das-
selbe bis jetzt angewandt und erprobt haben,
in jeder Hinsicht den praktischen Ärzten,
besonders auch den Landärzten, anempfehlen,
denen es manchmal erwünscht wäre, schnellere
Auskunft über den Ausfall' der Gruber-
Widalsehen Reaktion zu erhalten, als es
bis jetzt möglich war.
Ergebnis der
Ergebnis
gewöhnlichen
des
Widalsehen
Fiekersehen
Reaktion
Dlagnosticums
0,2 V.
0,1 V.
0,05 V.
0,2 V.
0,1 V.
0,05 V.
0,2 V.
0,1 V.
0,06 V.
0,03 V.
0,2 V.
0,1 V.
0,05 V.
I. Verdünnung: 0,1 Serum + 0,9 Na Cl = 1,0 (Verdünnung 1 : 10 = V. a).
+ 0,8 Fickers Diagnosticum = 1,0 (Mischung 1:50 ) . . .
4-0,9 - - = 1,0 ( 1 : 100) . . .
+ 0,95 - - = 1,0 ( - 1 : 200) . . .
H. Verdünnung: 0,1 V. a + 0,9 Na Cl = 1,0 (Verdünnung 1 : 100 = V. b).
+ 0,8 Fickers Diagnosticum = 1,0 (Mischung 1 : 500 ) . .
+ 0,9 - - = 1,0 ( - 1 : 1000) . .
+ 0,95 - - = 1,0 ( - 1 : 2000) . .
III. Verdünnung: 0,1 V. b -
0,8 Fickers Diagnostcium
0,9
0,95
0,97
h 0,9 Na Cl = 1,0 (Verdünnung 1 : 1000 = V. c).
= 1,0 (Mischung 1 : 5000 ) . .
= 1,0 ( - 1 : 10000) . .
= 1,0 ( - 1 : 20000) . .
= 1,0 ( - 1 : 30000) . .
IV. Verdünnung: 0,1 V. c + 0,9 Na Cl = 1,0 (Verdünnung 1 : 10000 = V. d)
d + 0,8 Fickers Diagnosticum = 1,0 (Mischung 1:50000 ) .
d + 0,9 - - = 1,0 ( - 1 : 100000) .
d + 0,95 - - = 1,0 ( 1 : 200000) .
14) Meyer, Berl. klin.Wochenschr. 1904, No.7.
,&) Walter, Deutsche med. Wochenschr. 1904,
No.33.
16) Gramann, Deutsche med. Wochenschr.
1904, No. 22.
lT) Kasarinow, Russ. Wratsch. 1903, No. 52.
,8) Radzikowski, Wien. klin. Wochenschr.
1904, No. 10.
J9) Ehrsam, Münch. med. Wochenschr. 1904,
No. 15.
30) Rapmgnd, Zeitschr. f. Medizinalbeamte
1904, No. 17.
6
Liebreieh, Übt Ionisierende Weinprlparate.
rTherapeutiicbe
L Monatshefte.
Unsere Beobachtungen stimmen genau
mit denjenigen überein, die von verschiedenen
Seiten aus gemacht wurden1480). Nur durch
einen holländischen Autor, Vervoot*1), wird
in jüngster Zeit der Wert des F ick er sehen
Diagnosticums in Frage gestellt*). Derselbe
fand nämlich mit dem Diagnosticum in
99 Fällen 16 mal negatives und 17 mal du-
biöses Resultat, während die Proben mit
lebenden Kulturen positiv ausfielen. 6 mal
war der Ausfall mit dem Diagnosticum negativ,
mit lebenden Kulturen dagegen dubiös. Aus
diesen einzig bis jetzt bekannten Fällen läßt
sich jedoch meines Erachtens ein abfälliges
Urteil gegen das Diagnosticum nicht ziehen.
Denn zunächst wurde die Beobachtung, daß
Agglutination mit dem Diagnosticum eintrat,
während sie nach der gewöhnlichen Methode
negativ blieb, nie gemacht. Ferner könnte
man aus den Untersuchungen Yervoots den
Schluß ziehen, daß die von ihm benutzte
lebende Kultur eine ungewöhnlich hohe Ag-
glutinationsempfindlichkeit besaß, die vom
Diagnosticum nicht erreicht wurde. Es ist
aber durchaus nicht ausgemacht, ob dies ein
besonderer Vorzug jener lebenden Kulturen
ist, da eine vorzeitige Reaktion auch irre-
fuhren kann. (Gefahr der Gruppenaggluti-
nation.)
Wir dürften zum Schluß nur den Wunsch
äußern, daß ähnlich wie beim Typhus auch
für den Paratyphus, Typus A und B, ein zu
jeder Zeit brauchbares Diagnosticum her-
gestellt werde. Diesbezügliche Versuche von
Rolly92) im Mai dieses Jahres würden zu
den besten Hoffnungen berechtigen.
Über tonisierende Weinpräparate.
Von
Oscar Liebreich.
Es gibt eine Reihe tonisierender Präpa-
rate, welche aber alle in Bezug auf die Kraft
der Wirkung bis jetzt dem Chinaweine nicht
gleichkommen. Schon bei Gelegenheit der
Besprechung des Ghinaweines der Pharma-
kopoe ist meinerseits darauf aufmerksam
gemacht worden, daß beim längeren Konser-
vieren des Chinaweines eine Abscheidung des
gerbsäurehaltigen Materials stattfindet und
dadurch die Wirksamkeit des Weines beim
Lagern vermindert wird. Auch habe ich
21) Vervoot, De Waarde van het Typhus-
Diagnostik, v. Ficker vor de Praktijk, Needer-
landsch Tijdschrift voor Geneeskunde 1904, No. 21,
II. Teil.
*) Herrn Dr. Venema bin ich für die bereit-
willige Übersetzung des Artikels verbunden.
rt) Mönch, med. Wochenschr. 1904, No. 24.
darauf hingewiesen, daß durch Zusatz von
Glyzerin die eigentliche tonisierende Wirk-
samkeit des Weines aufgehoben wird. Es
können nur die geringen Quantitäten der
Chinaalk aloide zur Wirkung kommen, die ja
immerhin nützlich sein können, aber doch
nicht den vollen Wert eines frischen China-
weines erreichen, denn die Alkaloide, welche
aus 100 g Chinarinde gewonnen werden, sind
zu gering, diesen Wein als einen Chinawein
zu bezeichnen. Wenn man Chinawein brauchen
will, muß man daran festhalten, daß ein
solcher bei dem Apotheker frisch zur Her-
stellung verschrieben werden muß und in
kurzer Zeit zu verbrauchen ist.
Will man das Chinin in der Wirkung
mit dem Wein zusammen als ein Herzton icum
gebrauchen, so wird man dieses Chinaalkaloid
im Wein auflösen lassen. Allerdings tritt
hier der Übelstand hervor, daß solche Weine
durch ihren intensiv bitteren Geschmack den
Patienten leicht verleidet werden, und ferner,
daß größere Dosen alkoholischer Chininlösung
vom Magen aus häufig schlecht vertragen
werden. Will man daher tonisierende Weine
herstellen, welche diesen Übelstand nicht
besitzen, so wird man durch Zusatz anderer
Tonica zu dem Chinawein ein brauchbares
Präparat erhalten, und auch bei einem Wein,
den die Patienten als Medikament nehmen,
wird der Schmackhaftigkeit unter allen Um-
ständen Rechnung zu tragen sein.
Bei den zahlreich hergestellten Mischun-
gen handelt es sich darum, welches die
zweckmäßigste Form sein dürfte.
Ich glaube, daß man hier nicht zu neuen
Erfahrungen zu schreiten braucht, da sowohl
im Auslande als auch bei uns „Vials Wein"
eingeführt worden ist, der nach mir zugegan-
genen Mitteilungen vielfach jetzt von Ärzten
verordnet wird. Es ist hier die Frage auf-
geworfen worden, woraus dieser Wein be-
stehe. Aus den Mitteilungen, welche über
diesen Wein publiziert worden sind, ersieht
man, daß es sich um einen China wein han-
delt, bei welchem Fleischextrakt und Calcium-
lactophosphat hinzugesetzt sind.
Da ein brauchbarer Fleischextrakt für
sich schon ein sehr gut verträgliches Tonicum
ist, so kann man die Verbindung dieser Dinge
nur als eine zweckmäßige bezeichnen. Diese
Zusammensetzung ist auch insofern glücklich
gewählt, als das Präparat neben seiner Wir-
kung auch für den Genuß ein durchaus an-
genehmes ist.
Um ein Bild von der Zusammensetzung
zu erhalten, möge folgende Analyse dienen:
Spez. Gew. bis 15° 1,071
Alkohol .... 14,1 Vol.-Proz.
Säuregrad . . . 0,8625 g Weinsäure in 100 cem
XIX. Jahrgang.!
Jannar 1905. J
Nicolai «r, Ober Methylenhippurilure.
Alkaloide . . . 33,36 mg in 100 ccm(Thalleio-
chininreaktion)
Stickstoff . . . 290,64 mg in 100 ccm
P, 05 290,99 mg - 100 -
CaO 129,9 mg - 100 -
Extraktivstoff . . 25,4 g - 100 -
Zacker .... 14,54 g - 100 - (lediglich
reduzierender Zacker)
Asche .... 0,906 g in 100 ccm
Fleischmilchsäure. 53,2 mg - 100 -
Fleischsäure
(Siegfried) . . 40,33 mg - 100 -
Diese Zahlen sind auch von Nutzen, um
sich gelegentlich von der Eonstanz des Weines
zu überzeugen. Es ist überflüssig, eine Dis-
kussion der einzelnen Bestandteile, des Stick-
stoffgehaltes, des Calciumphosphate8 etc., vor-
zuführen, weil deren Nutzen als tonisierendes,
auch nährendes Material außer Zweifel steht.
Über Methylenhippursäure.
Von
Prof. Dr. med. Arthur Nicolaier in Berlin.
Bei Gelegenheit von Untersuchungen über
die Einwirkung von Formaldehyd auf Stoff-
wechselprodukte des menschlichen Organismus
habe ich eine bisher noch nicht bekannte
Verbindung von Formaldehyd und Hippur-
säure, die Methylenhippursäure, gefunden.
Ich habe die Beobachtung gemacht, daß sich
Hippursäure in kalter konzentrierter Schwefel-
säure lost, ohne sich zu zersetzen; denn
trägt man diese Losung in Eiswasser ein, so
fällt eine weiße krystallinische Masse aus,
die den Schmelzpunkt und die Reaktionen
der Hippursäure zeigt. Die Hippursäure
verhält sich also in dieser Beziehung ganz
so wie die Harnsäure.
Loste man nun Hippursäure und polymeri-
sierten Formaldehyd in bestimmtem Verhält-
nis in kalter konzentrierter Schwefelsäure
auf, so fiel beim Eintragen dieser Lösung
in Eiswasser gleichfalls eine weiße krystalli-
nische Masse aus, die, wie die nähere Unter-
suchung zeigte, aus Hippursäure und einer
Verbindung der Hippursäure mit Formalde-
hyd, der Methylenhippursäure, bestand.
Nach mannigfachem Variieren der Ver-
suche, bei denen mich Herr Dr. Hunsalz
in dankenswerter Weise unterstützt hat, er-
wies es sich am zweckmäßigsten 10 g Hippur-
säure und 7,5 g polymerisierten Formaldehyd
in 50 g konz. Schwefelsäure einige Tage bei
ge wohnlicher Temperatur stehen zu lassen
und dann die Losung auf Eis zu gießen.
Aus dem nunmehr sich ausscheidenden Ge-
misch von Hippursäure und Methylenhippur-
säure wurde die letztere in der Weise isoliert,
daß die trockene Masse mit einer kalten,
konzentrierten Losung von Natriumacetat ver-
rieben und nach halbstündigem Stehen filtriert
wurde. Die Hippursäure ging dabei in Lösung,
während die Methylenhippursäure ungelöst
zurückblieb.
Die Methylenhippursäure l) ist keine Säure,
sondern wahrscheinlich eine ätherartige Ver-
bindung der Hippursäure und hat die Kon-
stitution
C6H5CO-N-CH,-COO
CH,-
Bei der Einwirkung des Formaldehyd
auf die Hippursäure greift also der Form-
aldehydrest in die Imido- und Karboxyl-
gruppe ein.
Die Analyse ergab folgende Zahlen:
N = 7,32%
C = 62,8 -
H = 4,7 -
Berechnet für
C10n90,N:
N = 7,3%
C = 62,9 -
H = 4,7 -
Die Methylenhippursäure bildet farblose
prismatische Krystalle, die bei 161° C.
schmelzen, sie ist geruch-*) und geschmacklos
und löst sich in der Kälte leicht in Chloro-
form und in der Wärme gut in Benzol,
Essigäther und Alkohol. Schwerer ist sie
in Wasser löslich, denn es löste sich 1 g
Methylenhippursäure bei 23° C. erst in ca.
460 ccm, bei 37° C. in ca. 220 ccm Wasser,
die wäßrige Lösung hat eine neutrale Reaktion.
Prüft man eine frisch bereitete Lösung der
reinen Methylenhippursäure in kaltem Wasser
mit der Jorissenschen Probe, setzt also
zu ihr etwas Natronlauge und einige Körnchen
Phloroglucin hinzu, so entsteht eine schnell
zunehmende rote Färbung. Das Auftreten
einer Rotfärbung mit der "Jorissenschen
Probe zeigt bekanntlich freien Formaldehyd
an, doch wird man in diesem Falle aus dem
positiven Ergebnis dieser Reaktion nicht ohne
weiteres den Schluß ziehen dürfen, daß in
der wäßrigen Lösung von Methylenhippur-
säure freier Formaldehyd vorhanden ist, weil
mit der Möglichkeit gerechnet werden muß,
daß der Formaldehyd erst durch die bei
dieser Reaktion zur Verwendung kommende
1) In gleicher Weise läßt sich aus der von
Schwanert (Liebigs Annalen Bd. 112, S. 69) zu-
erst beschriebenen m-Nitrohippursäure die Methylen-
m-Nitrohippursäure darstellen. Sie ist ein gelblich-
weißes Pulver, das bei 165° C. schmilzt, ist der
Methylenhippursäure analog zusammengesetzt und
zeigt auch im tierischen und menschlichen Organis-
mus ein ähnliches Verhalten wie diese.
Die für meine Untersuchungen benutzte Me-
thylenhippursäure wurde mir von der Chemischen
Fabrik auf Aktien (vorm. E. Schering) in Berlin,
welche diese Verbindung als „Hipp ol" bezeichnet,
dargestellt. Ich gestatte mir, der Fabrik auch an
dieser Stelle dafür bestens zu danken.
2) Einzelne der mir gelieferten Proben rochen
schwach nach Formaldehyd.
Nicola i«r, Üb«r AUthyleohippurt&ur«.
("Therapeut!
L Monatshe
atbch»
Monatshefte.
Natronlauge aus der Methylenhippursäure ab-
gespalten wird. Daß das in der Tat so ist,
läßt sich leicht durch die zuerst von E. Ki-
rn ini8) zum Nachweis des Formaldehyd in
Nahrungsmitteln empfohlene, später von
Arnold und Mentzel4) etwas modifizierte
Probe nachweisen. "Während nämlich eine
freien Formaldehyd enthaltende Flüssigkeit
nach Zusatz einer geringen Menge von salz-
saurem Phenylhydrazin (in Substanz), Eisen-
chlorid und Schwefelsäure sogleich eine inten-
sive Rotfärbung gibt, bleibt sie aus, wenn
man diese Probe auf eine frisch bereitete
Lösung der Methylenhippursäure in kaltem
Wasser anwendet. Die Rotfärbung tritt aber
sofort ein, wenn vorher zu dieser Losung
etwas Natron- oder Kalilauge zugesetzt war.
Es wird also aus der Methylenhippursäure
schon in der Kälte durch Laugen Formalde-
hyd abgespalten, und deshalb eignet sich für
den Nachweis von freiem Formaldehyd in
Losungen, welche Methylenhippursäure ent-
halten, nicht die Jo rissen sehe Probe; über-
haupt sind alle Reaktionen auf Formaldehyd,
bei denen Laugen zur Anwendung kommen,
für diesen Zweck nicht brauchbar. Dazu
wird man am besten die saure Phenylhydra-
zinprobe (Arnold - Mentzel) verwenden.
Bei Einwirkung von Laugen auf Methylen-
hippursäure entsteht neben dem Formaldehyd
Hippursäure; denn fügt man zu einer Lösung
von Methylenhippursäure in verdünnter Na-
tronlauge tropfenweise Salzsäure bis zur
sauren Reaktion, so scheiden sich nadei-
förmige Kry stalle aus, die die Joris sensche
Reaktion nicht geben und den Schmelzpunkt
und die Reaktionen der Hippursäure zeigen.
Ebenso wie Laugen spalten auch Ammoniak
und kohlensaures Natron in der Kälte Form-
aldehyd ab.
Wie das negative Ergebnis der sauren
Phenylhydrazinprobe zeigt, tritt in einer wäß-
rigen Lösung von Methylenhippursäure durch
kurzdauernde Einwirkung von Säuren bei
Zimmertemperatur eine Abspaltung von Form-
aldehyd nicht ein. Sie wurde auch vermißt,
wenn kurz vor dem Anstellen der Probe zu
der Lösung Salzsäure zugesetzt war. Indes
können auch Säuren in der Kälte aus der
Methylenhippursäure Formaldehyd in Freiheit
setzen, wenn sie längere Zeit einwirken. So
beobachtete ich, daß eine wäßrige Lösung der
3) E. Rimini, Über den Nachweis von Form-
aldehyd in Nahrungsmitteln. Ref. Chem. Zentral-
blatt 1898, I, S. 1152.
4) C. Arnold und C. Mentzel, Ein empfind-
liches Verfahren zum Nachweis von Formaldehyd.
Zeitschr. für Untersuchung von Nahrangs- und Ge-
nußmitteln 1902, 5, S. 353. Ref. Chem. Zentralbl.
I, 1902, S. 1251 52.
Methylenhippursäure, die mit einigen Tropfen
Schwefelsäure angesäuert war, nach etwa
36 Stunden mit der Phenylhydrazinprobe
eine positive Reaktion gab, während dieselbe
Lösung ohne Säurezusatz nach dieser Zeit
eine Rotfärbung nicht zeigte. Übrigens zer-
setzen sich mit der Zeit auch wäßrige Lösun-
gen von Methylenhippursäure ohne Säure-
zusatz, indem sie Formaldehyd abspalten;
beschleunigt wird diese Zersetzung durch den
Einfluß der Wärme. Schon eine Temperatur
von 37° C. bewirkt im Laufe von 30 Stunden
die Abspaltung von Formaldehyd. Sie er-
folgt bald bei Einwirkung der Siedehitze;
denn destilliert man eine wäßrige Methylen-
hippursäurelösung am Kühler, dann gibt das
Destillat mit der Jo rissen sehen und auch mit
der Phenylhydrazin - Probe eine Rotfärbung,
die noch intensiver ist, wenn dieser Lösung
vor dem Destillieren Natronlauge oder
Schwefelsäure zugesetzt war.
Ich habe weiter die Wirkung und das
Verhalten der Methylenhippursäure im tieri-
schen Organismus geprüft und gefunden, daß
sie selbst in relativ großen Dosen von ver-
schiedenen Tierarten, denen sie stets per os
gegeben wurde, ohne jeden Nachteil ver-
tragen wird. So blieben Mäuse nach Dar-
reichung von 0,5 g pro die munter. Kaninchen,
denen die Methylenhippursäure in Wasser
aufgeschwemmt mit der Schlundsonde ein-
verleibt wurde, erhielten Einzeldosen bis zu
5 g, meist 2 — 4 g einmal täglich und blieben,
auch dann, als diese Dosen an mehreren
aufeinander folgenden Tagen gegeben wurden,
frei von jeglichen Krankheitserscheinungen.
Auch Hunde vertrugen die Methylenhippur-
säure sehr gut, selbst wenn sie in großen
Tagesdosen mehrere Tage hintereinander ge-
reicht wurde. So erhielt z. B. ein mittelgroßer
Hund an zwei aufeinander folgenden Tagen je
6 g, späterhin an 3 Tagen hintereinander je
8 g, ohne irgend welche Störungen in seinem
Befinden zu zeigen, insbesondere wurde auch
keine Verminderung der Freßlust beobachtet.
Bei diesem Hund waren schon vor Beginn
des Versuches geringe Mengen von Eiweiß
und auch Zylinder im Harn vorhanden, doch
nahm selbst nach der mehrere Tage fortge-
setzten Darreichung dieser großen Dosen
weder der Eiweißgehalt noch die Zahl der
Zylinder im Harn zu, sodaß die Methylen-
hippursäure auch auf erkrankte Nieren keine
schädigende Wirkung hat. Sonst blieb der
Harn beim Kaninchen und beim Hunde wäh-
rend der ganzen Versuchsdauer stets frei von
Zucker und Eiweiß. Eine Vermehrung der
Diurese wurde nicht beobachtet.
Der Harn der Kaninchen, die Methylen-
hippursäure erhalten hatten, reagierte fast
HZ Jahrgang.l
Jmbw 1905. J
Nicolaier, Über Methylenbippunflur«.
9
durchweg alkalisch und gab mit der Jo-
ris sen sehen Probe5) eine Rotfärbung. Diese
war in der ersten Harnportion, die kürzere
oder längere Zeit nach der Darreichung des
Präparates gelassen wurde, besonders stark
und blieb es, namentlich wenn etwas größere
Dosen gegeben wurden, auch bei der nächsten,
zum Teil auch noch bei der darauffolgenden,
während bei den später gelassenen die In-
tensität allmählich abnahm. Die Zeit, wäh-
rend der die Kotfärbung nachweisbar war,
schien toh der Größe der einverleibten Dosis
Methylenhippursäure abhängig zu sein. So
fand ich, daß bei einem Kaninchen nach 2 g
die Rotfärbung in dem 24 Stunden nach der
Darreichung gelassenen Harn stark, dagegen
in dem in den nächsten 6 Stunden entleerten
Harn nur noch schwach war und in den
späteren Harnportionen nicht mehr beobachtet
wurde. Bei Darreichung von 5 g wurde die
Rotfärbung im Harn noch 48 Stunden nach
der Einverleibung der Methylenhippursäure
gefunden.
Ich hatte bereits oben darauf hingewiesen,
daß die Lösungen von Methylenhippursäure
mit Phloroglucin und Natronlauge eine Rot-
färbung geben, weil aus ihnen durch die Ein-
wirkung der Natronlauge freier Formaldehyd
abgespalten wird. Deshalb wird man aus
dem Auftreten dieser Rotfärbung im Harn
auch nicht ohne weiteres folgern dürfen, daß
im Harn freier Formaldehyd vorhanden ist,
da es ja möglich ist, daß Methylenhippur-
säure unzersetzt in den Harn übergeht und da-
durch die positive Reaktion mit der Jorissen-
schen Probe entsteht. Ob in einer Lösung
neben Methylenhippursäure freier Formalde-
hyd enthalten ist, läßt sich aber, wie ich oben
dargelegt habe, mittels der Phenylbydrazin-
Eisenchlorid - Schwefelsäureprobe nachweisen,
da mit ihr eine Lösung von Methylenhippur-
säure die für freien Formaldehyd charak-
teristische Rotfärbung nicht gibt. Prüft man
nun mit dieser Probe den Harn von Ka-
ninchen nach Darreichung von Metylenhippur-
säure, so nimmt man meist gleich eine Rot-
färbung wahr, ein Zeichen also, daß im Harn
der Kaninchen freier Formaldehyd vorhanden
ist. Ich bemerke, daß ich nur dann freien
Formaldehyd als vorhanden annehme, wenn
die Rotfärbung mit dieser Probe gleich ent-
steht. Die Gegenwart von freiem Formal-
•) Die zum Nachweis von freiem Formaldehyd
benutzten Proben mit Phenylhydrazin, Nitroprussid-
oatrium oder Ferricyankalium und Natronlauge
habe ich nicht benutzt, da sie sich nach meinen
Beobachtungen zur Prüfung auf Formaldehyd im
Harn nicht eignen. Siehe darüber meine Arbeit:
Über Uro tropin, Methylenzitronensäure und me-
thylenzitronensaares Urotropin. Deutsches Archiv
für klinische Medizin Bd. 81, S. 196 ff.
Th.lC.l90S.
dehyd im Harn von Kaninchen wird weiter
auch durch sein Verhalten bei Bruttemperatur
bewiesen. Bei 37° C. aufbewahrt, blieb der
Harn klar und selbst dann trat in ihm nicht
die ammoniakali8che Harngärung auf, wenn
er mit etwas ammoniakalischem Harn infiziert
war. Die Beobachtung solcher Harne während
eines Monats hat gelehrt, daß sie auch
während dieser Zeit vor der ammoniakalischen
Harngärung geschützt blieben, nur einige
Schimmelpilzkolonien waren gelegentlich in
ihnen zur Entwicklung gekommen.
Im Harn von Hunden, der meist schwach
alkalisch, sehr selten neutral reagierte, fiel
die Jorissensche Probe stets positiv aus,
und auch bei der Phenylhydrazinprobe trat
meist erst etwa */2 Minute nach Zusatz der
Reagentien eine mehr oder weniger starke
Rotfärbung auf. Den sicheren Beweis, daß
auch im alkalischen Harn der Hunde freier
Formaldehyd vorhanden war, ergab die Be-
obachtung, daß er bei Bruttemperatur nicht
ammoniakalisch wurde, selbst wenn er mo-
natelang bei 37° C. gehalten wurde und mit
ammoniakalischem Harn geimpft war.
Bei einem mittelgroßen Hunde wurden
nach Darreichung von Methylenhippursäure
einige quantitative Bestimmungen der Äther-
schwefelsaure und des Indikans im Harn ge-
macht. Der Hund erhielt während beider
Versuchsperioden täglich je 1 Pfund Pferde-
fleisch. In der ersten, in der die Äther-
schwefelsäuren bestimmt wurden, schied der
Hund in den ersten 4 Versuchstagen, während
deren die 24 stündige Harnmenge zwischen
320 und 385 cem, das spezifische Gewicht
zwischen 1033 und 1036 schwankte, im Mittel
0,0454 g, am 5. und 6. Versuchstage, an denen
er je 6 g Methylenhippursäure erhalten hatte,
mit einer Harnmenge, die 330 bezw. 395 cem
betrug und das spezifische Gewicht 1041 und
1044 hatte, 0,0439 g Ätherschwefelsäure aus;
also selbst große Gaben des Mittels hatten
auf ihre Ausscheidung im Harne keinen Einfluß.
Das Indikan wurde nach der Methode
von Obermayer bestimmt und der aus den
Chloroformauszügen gewonnene Indigo ge-
wogen. Es ergab sich nun, daß nach Dar-
reichung von Methylenhippursäure (an zwei
Tagen je 8 g, am 3, Tage 6 g) der Indikan-
gehalt des Harnes erheblich geringer und
schließlich Indikan im Harn nicht mehr ge-
funden wurde. Die Verminderung bezw. das
Verschwinden des Indikangehalts war schon
an der Abnahme bezw. dem Fehlen der Blau-
färbung der Chloroformauszüge der mit Eisen-
chlorid und Salzsäure behandelten Harne
wahrnehmbar. Aus diesen Versuchsergeb-
nissen wird man jedoch nicht ohne weiteres
schließen dürfen, daß beim Hunde durch den
10
Nicolaler, Ober AUthylenhlppursiur«.
rherapeuti#ch«
Monatshefte.
Einfluß der Methylenhippursäure der Indikan-
gehalt des Harnes sich vermindert bezw. zum
Schwinden gebracht wird, denn, wie ich nach-
gewiesen habe, enthält der Harn beim Hunde
nach Darreichung von Methylenhippursäure
eine Formaldehydverbindung, und es ist in
ihm auch freier Formaldehyd vorhanden. Ein
relativ geringer Formal dehydgehait des Harns
vermag aber, wie Jaffc6) beobachtet hat,
störend auf die Indikanreaktion einzuwirken,
sodaß sowohl die J äffe sehe wie die Ober-
mayer sehe Reaktion selbst bei überreichem
Indikangehalt des Harnes versagt. Meines
Erachtens ist auch das Ergebnis meiner Indi-
kanbestimmungen lediglich auf den störenden
Einfluß zurückzuführen, den der freie bezw.
der aus der Formaldehyd Verbindung durch
die benutzten Reagentien erst frei gemachte
Formaldehyd des Hundeharnes auf die In-
dikanreaktion hat.
Aus den mitgeteilten Fütterungs versuchen
bei Kaninchen und Hunden ergibt sich, daß
die Methylenhippursäure bei diesen Tieren
zur Resorption kommt, denn der Harn dieser
Tiere gibt mit der Jo rissen sehen Probe die
gleiche Reaktion wie die Methylenhippursäure
selbst. Daß daneben im Harn dieser Tiere
freier Formaldehyd sein kann, zeigt außer
dem positiven Ergebnis der Phenylhydrazin-
Eisenchlorid - Schwefelsäureprobe auch die
Resistenz des Harnes gegenüber der ammo-
niakalischen Harngärung bei 37° C. Außer-
dem ließ sich im Harn der Hunde eine Ver-
mehrung der Hippursäure nachweisen. Ob
freilich in den Harnen meiner Versuchstiere
die Methylenhippursäure als solche sich findet,
ist mir zweifelhaft, weil sich, wie ich be-
obachtet habe, die Methylenhippursäure zwar
aus wässeriger Lösung, aber nicht aus dem
Harn dieser Tiere7) mit Essigäther oder Chloro-
form ausschütteln läßt. Auf Grund dieser
Beobachtung nehme ich vielmehr an, daß
sich in dem Harn dieser Tiere nicht die
Methylenhippursäure, sondern eine andere
Verbindung des Formaldehyds und der
Hippursäure findet.
Die Beobachtung, daß bei Kaninchen und
Hunden selbst nach Darreichung größerer
Tagesdosen von Methylenhippursäure keine
Störung des Befindens auftrat, gab mir Ver-
anlassung, auch beim Menschen mit ihr Ver-
suche anzustellen. Ich selbst und einige
andere gesunde Menschen haben wiederholt
«) M. Jaffe, Über den Einfluß des Formal-
dehyds auf den Nachweis normaler und patholo-
gischer Harnbestandteile. Therapie der Gegenwart
No. 4, 1902, Seite 158.
7) Nach Zusatz von Salzsäure zu dem Harn
der Hunde ging beim Ausschütteln mit Essigäther
Hippursäure in diesen über.
die Methylenhippursäure selbst in großen
Tagesdosen bis zu 9 g eingenommen und stets,
sehr gut vertragen, auch dann, als eine Ver-
suchsperson an 7 aufeinander folgenden Tagen
36 g, und zwar am ersten Versuchstage eine
Tagesdosis von 2 g, an den weiteren bis zum
fünften täglich 1 g mehr, am sechsten Ver-
suchstage 7,5 und am letzten 9 g nahm. Das
Mittel schädigte den Magen nicht, es rief
keine Reizerscheinungen von Seiten der Harn-
organe hervor und hatte auch auf das Herz
und das Nervensystem keinen nachteiligen
Einfluß. Auch bei einer Patientin mit einem
schweren Herzfehler und Nephritis, die größere
Tagesdosen, bis zu 8 g, mehrere Tage hinter-
einander nahm, traten keine Beschwerden und
keine Vermehrung des Eiweißgehaltes des
Harnes ein. Die Methylenhippursäure ist
also auch beim Menschen, selbst in größeren
Tagesdosen wiederholt gegeben, ganz ungiftig.
Der Harn der Versuchspersonen, dessen
Menge selbst bei Darreichung großer Tages-
gaben nicht vermehrt war, war stets frei von
Eiweiß und Zucker. Er zeigte eine Ver-
mehrung der Hippursäure und ließ nach Salz-
säurezusatz meist Harnsäurekrystalle aus-
fallen. Nach Gaben von 4 g Methylenhippur-
säure zeigte der Harn keine harnsäurelösenden
Eigenschaften, denn harnsaure Konkremente,
die in diesem mit etwas Karbolsäure ver-
setzten sauren Harn bei Bruttemperatur auf-
bewahrt wurden, waren auch nach 14 Tagen
vollkommen unverändert.
Der Harn gab ebenso wie bei Kanin-
chen und Hunden mit der Jorissen-
schen Probe auch dann, wenn er eine
Zeitlang bei Zimmertemperatur gestanden
hatte, eine Rotfärbung. Sie trat schon ganz
kurze Zeit nach der Darreichung der Me-
thylenhippursäure im Harn auf. Bei einem
Selbstversuch, bei dem ich 1 g einnahm,
fand ich sie schon nach 15 Minuten im Harn.
Die Zeit, während der mit der Jorissen-
schen Probe die Rotfärbung im Harn ent-
steht, kann bei der gleichen Gabe selbst bei
ein und derselben Versuchsperson verschieden
sein, und sie steht auch nicht immer im Ver-
hältnis zu der Größe der gereichten Dosis;
denn ich beobachtete bei mir, daß nach einer
Dosis von 1 g mit der Joris senschen Probe
die Rotfärbung im Harn das eine Mal nach
4, ein zweites Mal nach 6, ein drittes Mal
nach 8 Stunden, bei einer Dosis von 2 g ein-
mal nach 81/*, das andere Mal nach 9 Stunden
nicht mehr auftrat.
Während die Joris sensche Probe selbst
bei Darreichung kleinerer Dosen (0,25 g)
Methylenhippursäure sowohl im sauren wie im
alkalischem Harn des Menschen ein positives
Resultat gibt, bleibt die für freien Form-
XIX« Jahrgang .1
Jaaaar 1905 J
Nicolai «r, Übar Methylenhippurtlure.
11
aldehyd charakteristische Rotfärbung bei der
Probe mit Phenylhydrazin, Eisenchlorid und
Schwefelsäure bei saurer Reaktion des Harnes
auch nach größeren Gaben (2 g) aus, sie
wird erst beobachtet, wenn der Harn einige
Zeit (24 Stunden) bei Bruttemperatur auf-
bewahrt war. Dagegen tritt sie sofort auch
schon in dem frischentleerten Harn auf, wenn
er alkalische Reaktion hat, z. B. nach Dar-
reichung genügend großer Dosen Natrium
bicarbonicum.
Der Harn von Menschen, die Methylen-
hippursäure eingenommen haben, verhält sich
also, wenn er eine saure Reaktion hat, gegen
die Joris sensche und Phenylhydrazin-Probe,
ganz so wie eine wäßrige Losung von Me-
thylen hipp ursaure. Im Gegensatz zu dieser
läßt sich aber aus dem Harn des Menschen8)
ebensowenig wie aus dem Harn der Kaninchen
und der Hunde die Methylenhippursäure durch
Ausschütteln mit Essigäther oder Chloro-
form wiedergewinnen. Es muß also auch im
Harn des Menschen nicht die Methylenhippur-
säure als solche, sondern eine Verbindung
des Formaldehyds und der Hippursäure vor-
handen sein, die dasselbe Verhalten gegen-
über der Jori 8 senschen und der Phenyl-
hydrazin-Probe zeigt, wie die Methylenhippur-
säure, aber in Essigäther und Chloroform
nicht wie diese löslich ist. Ist der Harn
nach Darreichung von Methylenhippursäure
alkalisch, dann findet sich in ihm auch freier
Formaldehyd, da außer der Joris senschen
auch die Phenylhydrazin-Probe ein positives
Resultat gibt.
In meiner oben zitierten Arbeit über
Urotropin, Methylenzitronensäure etc. habe
ich darauf hingewiesen, daß ich den Nach-
weis von freiem oder locker gebundenem
Formaldehyd im Harn durch chemische Proben
nicht für sicher halte, vielmehr ihn erst dann
als einwandsfrei geführt ansehe, wenn fest-
gestellt ist, daß in dem Harn, auch wenn
er mit Bakterien infiziert ist, bei 37 ° C. die
Entwicklung von Mikroorganismen hintan-
gehalten wird bezw. ganz ausbleibt. Ich
habe deshalb die Harne meiner Versuchs-
personen, die Methylenhippursäure erhalten
hatten, auch nach dieser Richtung hin unter-
sucht. Es wurde der Harn gesunder Ver-
suchspersonen in den ersten 7 Stunden nach
der Darreichung der Methylenhippursäure
gewöhnlich stündlich gesammelt und je zwei
8) Auch aus dem Kot eines Mensches, der 6 g
Methylenhipparsäore pro die erhalten hatte, ließ
sich die dargereichte Bubstanz durch Aasschütteln
mit Essigäther nicht wiedergewinnen. Das Destillat
des mit Wasser verdünnten Kotes gab eine Rot-
farbung mit der Joris senschen Probe, jedoch
nicht der wäßrige Auszog derselben.
Proben von gleicher Menge bei 37° C. ge-
halten, nachdem die eine mit einem Tropfen
ammoniakalischen Harns versetzt war. Die
Harnproben wurden meist eine Woche lang
beobachtet. Es zeigte sich, daß für gewöhn-
lich in dem größten Teil der stündlich ent-
leerten sauren wie alkalischen Harnproben
das Wachstum der Mikroorganismen hintan-
gehalten wurde, sodaß sie, auch wenn sie mit
ammoniakalischem Harn infiziert waren, viel-
fach selbst bis zum 7. Beobachtungstage klar
blieben. In vereinzelten dieser Proben hatten
sich einzelne Schimmel pilzkolonien entwickelt.
Dagegen wurden Proben der 24 stündigen
Harnmenge in kurzer Zeit ammoniakalisch.
Bei den alkalischen Harnproben schien die
antibakterielle Wirkung eine intensivere zu
sein, wenigstens konnte ich alkalische Harn-
proben, die infiziert und bei 37° C. gehalten
waren, beobachten, die selbst mehrere Monate
nach der Infektion noch nicht die ammonia-
kalisch e Harngärung zeigten.
Dafür sprechen auch die Ergebnisse der
Untersuchungen, die Herr Dr. Dohrn unter
Leitung des Herrn Prof. F ick er im hiesigen
hygienischen Institut an sich selbst über die
antiseptische Wirksamkeit des Harnes nach
Darreichung von Methylenhippursäure an-
gestellt hat. Herr Dr. Dohrn, dem ich für
die freundliche Unterstützung bei den Ver-
suchen mit der Methylenhippursäure sehr zu
Dank verpflichtet bin, hat mir die Resultate
dieser Untersuchungen zur Veröffentlichung
überlassen, wofür ich ihm auch an dieser Stelle
bestens danke. Bei diesen Versuchen wurden
je 2 g des Präparates auf einmal genommen.
Der Harn, der bei einem Versuche durch ge-
nügend große Dosen Natrium bicarbonicum
alkalisch gemacht war, wurde vor und drei
Stunden nach der Darreichung der Methylen-
hippursäure steril in je zwei Portionen auf-
gefangen, je 5 ccm desselben im sterilen
Reagensglase mit 5 Tropfen einer mehrfach
verdünnten Aufschwemmung einer meist 16-
stündigen Reinkultur in Bouillon -Kochsalz
(0,75 Proz.)- Lösung gemischt. Der Keim-
gehalt der 5 Tropfen dieser Aufschwem-
mung wurde durch Aussaat auf Agarplatten
und Zählen der gewachsenen Kolonien be-
stimmt. Der Harn wurde wohlverschlossen
bei 37° C. gehalten und nach 3, 6 und
24 Stunden je 0,1 ccm auf je 2 Agarplatten
ausgesät und 48 Stunden bei Bruttemperatur
aufbewahrt. Die Kolonien wurden nach
24 Stunden mit Hilfe des Mikroskopes
gezählt, und mehrfach die Zählung nach
48 Stunden wiederholt. Für die Versuche
wurden diejenigen Mikroorganismen benutzt,
die bei der Cystitis und bei den Infektionen
des Harnes besonders in Frage kommen, und
12
Nicolaier, Ober Merthylenhippurslure.
["Therapeutische
L Monatehefte.
zwar der Staphylococcus pyogenes aureus,
das Bacterium coli, der Bacillus typhi und
der Proteus vulgaris.
Über das Resultat geben die beiden
Tabellen Aufschluß. Die Zahl der Keime ist
für 1 ccm angegeben.
Tabelle L
Staphylo- |
coccus j 132200
pyogenes .
aureus I
BaCc^liam! 102300 '
Bfcili°s I 25 300
typhi ; j
3 420400 430000
6 | 230800 241000
24 | oo 987 000
Proteus
vulgaris
213300
3
6
24
6
24
3
6
24
233 600 129000
32300 I 4700
2 240000 ] 0
fiO(D.24St.)
18000 i3300 (nach
II 48 St.)
17 600 I 0
1600 | 0
417 000
335 000
910000
360000
42 800
labelU IL
Art de«
Mlkroorge-
nlsmiu
Ausgesäte
Keime
Staphylo- 1
coccus
pyogenes
aureus
Keime In
Alk*
Keime
in alka-
lischem
i schein Methylen-
Harn |hippursäure-
i harn
210 300
246400 219000
j 515 000 0
13 300000
Bacterium
coli
Bacillus
typhi
Proteus
vulgaris
i 139 400
197 700
167 500
197 000
1590000
oo
311800
290 200
3 262 800 130000
6 ! 350500 0
24 ' 213600 I 0
68 800
2300
0
34 600
0
0
Diese Versuche zeigen, daß nach Dar-
reichung von Methylenhippursäure der Harn,
wenn er eine saure Reaktion hat, gegenüber
den untersuchten Arten von Mikroorganismen
ein verschiedenes Verhalten zeigt. Während
sich die Staphylokokken in ihm gut ver-
mehren, gehen in ihm Typhusbazillen bei
3 stündiger Einwirkung zum größten Teile,
nach 6 stündiger sämtlich zu Grunde. Eine
bakterizide Wirkung zeigt der Harn bei
6 stündiger Versuchsdauer auch gegenüber
dem Bacterium coli und dem Proteus vul-
garis, sie war indes beim Proteus geringer als
beim Bacterium coli. Nach 24 stündiger
Einwirkung des Harnes waren sämtliche
Keime beider Arten abgetötet.
In der gleichen Weise zeigt der Harn bei
alkalischer Reaktion bakterizide Eigenschaften,
die gegenüber dem Staphylococcus pyogenea
aureus, dem Bacterium coli und dem Proteus
vulgaris stärker ausgeprägt waren als im sauren
Methylenhippursäureharn. Zwar ist nach drei-
stündiger Versuchsdauer die Zahl der Keime
des Typhusbazillus im alkalischen Harn eine
größere als beim sauren, doch muß dabei
berücksichtigt werden, daß die Aussaat der
Keime in dem alkalischen Harn eine zirka
8 mal größere war. Nach 6 stündiger Ein-
wirkung des Harns sind mit Ausnahme des
Bacterium coli, dessen Keime . beträchtlich
vermindert sind, die Keime aller Mikroorga-
nismenarten vernichtet.
Nachdem festgestellt war, daß auch der
Harn des Menschen durch Darreichung von
Methylenhippursäure bakterizide Eigenschaf-
ten erhält, lag es sehr nahe, diese ungiftige
Formaldehyd Verbindung auf ihre therapeu-
tische Wirkung bei den bakteriellen Erkran-
kungen der Harnorgane des Menschen zu
prüfen. Ich habe bisher nur wenig derartige
Versuche gemacht.
In dem ersten Fall handelte es sich um
eine Blasenentzündung bei einem bis dahin
gesunden 37 jährigen Stein träger. Sie begann
Anfang August 1903 mit Schmerzen in der
Blasengegend und Beschwerden beim Urin-
lassen. Der Harn wurde trübe entleert und
soll einen eigentümlichen Geruch gehabt
haben. Etwa Mitte September nahmen die
Beschwerden so zu, daß der Patient nicht
mehr arbeiten konnte. Am 24. September 1 903
kam er zur Behandlung in meine Poliklinik.
Er klagte über starke Schmerzen in der Unter-
bauchgegend, die sich nach dem Urinlassen
noch steigerten. Der Harn war sehr trübe,
leicht rötlich gefärbt, hatte eine saure Reaktion
und einen Geruch wie geronnenes Hühner-
eiweiß. Er enthielt mäßige Mengen Eiweiß,
mikroskopisch waren in ihm, neben reich-
lichen Mengen von Eiterkörperchen, zahl-
reiche rote Blutkörperchen vorhanden. Über
die Ätiologie der Cystitis wurde nichts eruiert.
Eine Gonorrhoe hatte Patient zur Zeit nicht
und will auch früher nicht an einem Tripper
gelitten haben. Der Patient, der wegen der
Cystitis bisher noch nicht behandelt war,
erhielt 4 mal täglich 1,5 g Methylenhippur-
säure und brauchte in 6 Tagen 33 g. Am
2. Behaudlungstage ließen die Schmerzen
nach; am 4. Behandlungstage zeigte der
Harn nur noch geringen Eitergehalt. Mitte
Oktober stellte sich der Patient wieder vor,
nachdem er das Mittel etwa 14 Tage nicht
XIX. Jahrgang.*!
Januar 1905. J
Nicolaier, Obar Itethylenhlpptutture.
13
mehr gebraucht hatte. Der Harn war klar,
frei von Eiter und roten Blutkörperchen.
Ich habe dann noch die Methylenhippur-
säure bei 3 Fällen von bakterieller Erkran-
kung der Harnwege gegeben, bei denen die
lokale Therapie sowohl wie die Darreichung
von Harnantiseptici8 , wie des Urotropins,
des Neu-Urotropins bezw. des Helmitols und
des Arhovins sich erfolglos gezeigt hatte.
Einer dieser Patienten, ein 47 jähriger
Mann, litt an einer mit geringen dysurischen
Beschwerden einhergehenden tuberkulösen
Cystitis. Er erhielt innerhalb 8 Tagen 50 g
Methylenhippursäure in Tagesdosen von 6 g.
Die Beschaffenheit des Harns änderte sich
während dieser Medikation nicht, und auch
die dysurischen Beschwerden blieben be-
stehen.
Die beiden andern Patienten hatten eine
Cystitis mit ammoniakalischer Harngärung.
In dem einen Falle handelte es sich um eine
58jahrige Frau, bei der die Blasenerkran-
kung schon 6 Jahre bestand; sie hatte außer-
dem noch eine leidlich kompensierte Insuffi-
cienz und Stenose der Mitralklappe und eine
Nephritis. Die Frau brauchte mit Unter-
brechung von je einem Monat, während
welcher Zeit Urotropin, Neu - Urotropin und
Arhovin (jedes Medikament 4 Wochen lang)
ohne jeden Erfolg gegeben wurde, in Tages-
dosen von 3 — 8 g, meist von 6 g, in der
ersten Versuchsperiode 20, in der zweiten
49 g Methylenhippursäure; in der letzten
wurde 3 mal täglich ein Gemisch von 1,5 g
Methylenhippursäure und 0,5 g Urotropin
(beide geben keine Verbindung), in Summa
27 g Methylenhippursäure und 9 g Urotropin
gegeben. Die Patientin hatte also im ganzen
96 g Methylenhippursäure eingenommen.
Der andere Fall betraf einen 40 jährigen
Phthisiker, bei dem die Cystitis 2 Jahre be-
stand und nicht tuberkulöser Natur war. Der
Kranke erhielt in Tagesdosen von 3 — 5 g in
9 Tagen 39 g.
Wenn auch nach Darreichung der Methylen-
hippursäure bei diesen beiden Patienten ein-
zelne Harnportionen eine saure Reaktion
zeigten und klarer wurden, so wurde doch
nicht erreicht, daß die 24 stündige Harnmenge
eine sauere Reaktion erhielt. Bemerkenswert
ist, daß bei beiden Patienten die ammoniaka-
iischen Harne zwar mit der Joris senschen,
doch nicht mit der Phenylhydrazinprobe eine
Rotfärbung gaben. Diese trat mit der Phenyl-
hydrazinprobe sofort ein, wenn zu den Harnen
vorher Natronlauge zugesetzt war.
Von allen Patienten wurde, wie schon
oben angedeutet, die Methylenhippursäure gut
vertragen; es traten keine Reizerscheinungen
von Seiten des Magens und der Nieren auf,
und sie hatte auch keinen schädigenden Ein-
fluß aufs Herz.
Meine therapeutischen Versuche mit diesem
Mittel haben also ergeben, daß es nur bei
einem von vier Fällen bakterieller Erkran-
kung der Harnwege eine zweifellos günstige
Wirkung hatte. Die Zahl der von mir be-
handelten Fälle ist aber zu gering, um ein
Urteil abgeben zu können, ob die Methylen-
hippursäure einen therapeutischen Wert bei
den bakteriellen Affektionen der Harnorgane
hat, und auch die Frage wird offen bleiben
müssen, ob sie event. wirksamer ist als andere
Harnantiseptica, da die Zeit ihrer Anwen-
dung bei den drei sehr schweren Fällen von
Cystitis, bei denen auch die anderen Harn-
antiseptica, insbesondere das bei sehr zahl-
reichen Fällen von bakterieller Erkrankung
der Harnwege so überaus wirksame Urotropin,
keinen Erfolg gezeigt hatten, zu kurz war.
Diese Fragen werden sich erst mit Sicherheit
beantworten lassen, wenn die Methylenhippur-
säure an einem größeren Erankenmateriale
längere Zeit geprüft sein wird. Vielleicht
geben meine Mitteilungen über die Methylen-
hippursäure die Anregung zu dieser Prüfung.
Die Behandlung: der Tuberkulose
in den Sanatorien von Leysin.
(1. Mai 1903 bis 30. April 1904.)
Von
Dr. Morin.
In einer Zeit, in der sich die Ärzte so
viel mit- der Tuberkulose beschäftigen und
mit so großem Interesse die verschiedenen
Heilmethoden studieren, ist es mehr als not-
wendig, die beobachteten Tatsachen und Re-
sultate der diversen Behandlungssysteme zu-
sammenzustellen, damit ein richtiges Urteil
ermöglicht werden kann.
Zu diesem Zweck veröffentlichen wir hier
die im Jahre 1903 — 1904 (l. Mai bis
30. April) in den Sanatorien von Leysin er-
reichten Resultate.
Leysin besitzt die doppelte Eigenschaft:
erstens ein klimatischer Höhenkurort
zu sein und zweitens die Kranken in Sana-
torien aufzunehmen. Jede dieser Bedin-
gungen ist schon für sich allein ein nützlicher
Faktor in der Behandlung der Tuberkulose,
ihr gemeinsamer Gebrauch muß also die
günstigen Chancen der Behandlung ver-
mehren. Dies wird sich gewiß bei der
Prüfung der folgenden Resultate zeigen.
Da die internationale Vereinigung gegen
die Tuberkulose1) die Klassifikation von
*) Versammlung v. Kopenhagen. — Mai 1904.
14
Morin, Behandlung dar Tuberkulose.
rherapeutlsche
Monatsheft«.
Turban angenommen hat, sowohl für die
Einteilung der Tuberkulosenfalle in 3 Stadien,
als auch für die Angabe des Behandlungs-
erfolges, so werden wir uns dieses Systemes
bedienen.
Wir geben es in dem Folgenden wieder:
I. Stadium. Leichte, höchstens auf
das Volumen eines Lappens oder
zweier halber Lappen ausgedehnte
Erkrankung.
IL Stadium. Leichte, weiter als I,
aber höchstens auf das Volumen
zweier Lappen ausgedehnte Erkran-
kung oder schwere, höchstens auf das
Volumen eines Lappens ausgedehnte
Erkrankung.
III. Stadium. Alle Erkrankungen, die
über II hinausgehen.
Die Ausdrücke leichte und schwere
Erkrankung sollen auf folgende Weise ver-
standen werden:
Leichte Erkrankung. Disseminierte
Herde, leichte Dämpfung, abgeschwächtes,
rauhes, vesikuläres oder undeterminiertes
Atmen, verlängertes Exspirium, feines und
mittleres Rasseln.
Schwere Erkrankung. Kompakte In-
filtrate, Erweichungsherde und Kavernen,
starke Dämpfung, tympanitischer Schall, stark
abgeschw achtes , broncho - vesikuläres , bron-
chiales oder amphorisches Atmen, klanglose
und klingende Rasselgeräusche.
Dem Volumen eines Lappens entspricht
immer das Volumen zweier halber Lappen.
Diese Einteilung, die wir schon lange
benützen, wird gegenwärtig in allen Ländern
angenommen; es ist notwendig, daß jeder
Arzt sich mit ihr befreundet.
Die 362 Kranken, welche Leysin in dem
Zeitraum vom 1. Mai 1903 bis 30. April 1904
verlassen haben, werden eingeteilt in:
Kranke des I. Stadiums 112 = 31 Proz.
- IL - 118 = 32,6 -
- III. - 132 = 36,4 -
Man sieht, daß die Kranken im III. Sta-
dium etwas zahlreicher sind als die im IL,
deren Zahl die im I. Stadium noch übertrifft.
Dies ist eine sehr bedauernswürdige
Proportion.
Die Resultate der Behandlung sind viel
günstiger für die Kranken im I. Stadium,
und der Gedanke, daß alle die des II. und
III. Stadiums den günstigen Augenblick ver-
fehlt haben, ist traurig. Zweifellos bleiben
ihnen noch günstige Chancen für Besserung,
und selbst für Heilung für die im IL Sta-
dium. Aber diese Chancen sind viel weniger
sicher und mit wieviel mehr Zeit und mehr
Opfer verbunden!
Es wäre sehr zu wünschen, daß die
Arzte die Diagnose der Lungentuberkulose
so früh als möglich machen wollten und von
dem Kranken verlangen würden, daß er sich
sog] eich der passenden Behandlung unter-
zieht.
Meistens darf man das Wort Tuberkulose
nicht einmal aussprechen, damit man den
Kranken und seine Familie nicht erschrecke;
man verordnet ein wenig Ruhe und Land-
luft als genügend, um alles wieder in Ordnung
zu bringen. Während dieser Zeit schreitet die
Tuberkulose vorwärts und entschließt man
sich endlich zu einer wirksamen Behandlung,
so hat man schon die Hälfte der Heilungs-
chancen verloren.
Es geht daraus hervor, daß viele Kranke,
welche wohl ziemlich rasch eine gänzliche
Heilung erlangt hätten, wenn sie beim Be-
ginn ihrer Krankheit ins Sanatorium ge-
kommen wären, nun genötigt sind, lange dort
zu bleiben oder wiederholt sich dort auf-
halten zu müssen. Das bei dieser lang-
wierigen Behandlung erlangte Resultat befrie-
digt jedoch diese Kranken nicht, weil es keine
wahre Heilung ist. Alle diese Kranken
sagen uns, daß sie nicht gewußt hätten, wie
schwer krank sie gewesen sind, und daß sie
bedauern, nicht früher behandelt worden zu
sein.
Nach Turban werden die Kranken beim
Austritt aus dem Sanatorium in drei -Gruppen
eingeteilt:
1. Gebessert. Positives Resultat.
2. Nicht gebessert oder verschlimmert.
Negatives Resultat.
3. Gestorben.
Nach diesem System werden unsere 362
Kranken wie folgt eingeteilt:
labeüe L
Erfolge bei der Entlassung.
8tadinm
beim
Geheuert
Pro».
Nicht gebessert
oder
▼erschlimmert
Pros.
Gestorben
Pros.
Total
Eintritt
Positiver Erfolg
Negativer Erfolg
I
II
III
110
111
81
98,2
94
61
2
5
27
1,8
4
20,5
2
24
2
18,6
112
118
132
302
83,4
34
9,4
26
7,2
362
XIX. Jahrgang.!
Januar 1906. J
Moria, Behandlung der Tubeikuloaa.
15
Man sieht auf dieser Tabelle, daß wir ein
günstiges Resultat erreicht haben in 83,4 Proz.
der Fälle von der Gesamtzahl der Kranken,
während 9,4 Proz. gar keinen guten Erfolg
ihrer Kur erlangten oder stationär geblieben,
und daß 7,2 Proz. gestorben sind.
Wenn wir die günstigen Resultate der
gebesserten 302 Kranken nach den verschie-
denen Stadien der Krankheit betrachten, so
tut sich uns kund, daß fast die Totalität
der Kranken des I. Stadiums (98,2 Proz.)
einen Gewinn ihrer Kur erreicht hat, und
daß 94 Proz. des II. Stadiums noch einen
guten Erfolg haben. Die Kranken des
III. Stadiums bieten uns 61 Proz. günstige
Erfolge, aber bei denselben kann man nicht
mehr von Heilungen reden, es handelt sich
nur noch um mehr oder weniger ausgesprochene
Besserungen.
Wir verstehen wohl, daß die Mehrzahl
der Ärzte den Ausdruck Heilung aufgegeben
hat. Es ist ja schwer, von einem gewesenen
Tuberkulosen zu behaupten, er sei vollständig
geheilt. — Wie die Krankheit schon sehr
lange, ehe sie sich erklärte, in einem latenten
Zustande existieren konnte, ohne daß sie,
selbst bei pünktlicher Untersuchung, entdeckt
wurde, so kann sie auch fortdauern durch
die Gegenwart einiger im Innern der Gewebe
verborgener Bazillen, ohne daß es möglich
ist, sich darüber zu vergewissern.
Es sind jedoch so große 'Unterschiede in
den Stufen der Besserung, daß wir es für
notwendig halten, sie in Rechnung zu ziehen.
hygienische Lebensweise führen wollen und
können und wenn ihre Verhältnisse ihnen
erlauben, sich während einer gewissen Anzahl
von Monaten oder Jahren zu pflegen und zu
schonen. Wir sprechen hier von bemittelten
Kranken. Unsere Schlüsse können nicht so
ganz bei den Tuberkulösen der arbeitenden
Klasse in Anwendung gebracht werden.
Wir meinen auch, es sollten bei den nega-
tiven Resultaten die stationären und
verschlimmerten Kranken in zwei ver-
schiedene Kategorien eingeteilt werden. Für
viele ist in Wirklichkeit ein stationärer Zu-
stand das Maximum, welches durch eine
auch am besten geleitete Behandlung erzielt
werden kann. Dies ist ein nicht zu ver-
achtendes Resultat. Bei manchem Kranken,
dessen Tuberkulose ehemals einen pro-
gressiven Gang zeigte, sah man durch den
Aufenthalt im Sanatorium die Krankheit
stille stehen. Er hat gelernt, sich zu be-
handeln, sich zu schonen, die Ursachen der
Verschlimmerungen zu verhüten, er versteht
mit seinem Übel zu leben — und es hängt
größtenteils von ihm selbst ab, jahrelang in
diesem Zustand zu bleiben. Dieses für einen
Kranken, der seinen Lebensunterhalt ver-
dienen muß, ungenügende Resultat, kann für
viele als ein sehr befriedigendes angesehen
werden.
Indem wir uns auf diese Betrachtungen
stützen, geben wir folgende Tabelle, welche
die summarischen Angaben der obenstehen-
den ergänzt.
Tabelle IL
Stadium
beim
Blatritt
Gehellt
Proz.
Gebessert
Proz.
Stationär
Pro*.
Ver-
schlimmert
Pro«.
Gestorben
Proz.
Total
I
87
78
23
20
1
1
1
1
112
11
34
29
77
65
2
1,7
3
2,6
2
1,7
118
III
~~
~"
81
61,4
16 12,1
11
8,3
24
18,2
132
121
33
181
49
19
6
15
4
26
8
362
Der Kranke, welcher nicht mehr hustet,
keinen Auswurf mehr hat und bei welchem
die Untersuchung kein Knistern und kein
Rasseln mehr entdeckt, während er früher
deutlich Symptome von Infiltration und selbst
von ein wenig Erweichung zeigte, früher
hustete und sein Auswurf Bazillen enthielt,
dieser Kranke ist in einem viel besseren
Zustand als der, bei welchem die verschie-
denen Symptome nur eine mehr oder weniger
ausgesprochene Attenuation angaben.
Deshalb wünschen wir den Ausdruck
scheinbare Heilung beizubehalten.
Seltene Ausnahmen abgerechnet, sind
diese Gebesserten wohl Geheilte und werden
es bleiben, wenn sie eine regelmäßige und
Beim Studieren dieser Tabelle finden wir
dieses bemerkenswerte Resultat, daß 33 Proz.
von allen aus unseren Sanatorien entlassenen
Kranken die scheinbare Heilung erreicht
haben. Es ist dies exakt ein Drittel, anders
ausgedrückt: von drei Tuberkulösen ist einer
geheilt ausgetreten. Und doch haben wir
gesehen, daß die meisten unserer Kranken
im III. Stadium der Krankheit ankamen.
Nehmen wir die Fälle von Heilung bei
den Kranken des I. Stadiums, so sehen wir,
daß 78 Proz. den Zustand der scheinbaren
Heilung, die der definitiven so nahe steht,
erreicht haben und daß noch dazu 20 Proz.
eine Besserung ihres Zustandes erlangten.
Eine bedeutende Anzahl dieser letzteren
16
Morin, Behandlung d«r Tuberkulose.
rrherapeutteche
L Monatshefte.
hätte durch die Verlängerung ihrer Kur eine
Heilung erzielt. Wir konstatieren noch, daß
29 Proz. der Kranken des IL Stadiums
ebenso Heilung und 65 Proz. Besserung
erreicht haben.
Diese Statistik ist sehr ermutigend.
Sie steht über den Statistiken der ver-
gangenen Jahre, obgleich sie auf denselben
Prinzipien ruht und von denselben Ärzten
aufgestellt wurde.
Vielleicht kommt es von der merkwürdig
günstigen Witterung des ganzen vorigen Jahres
und besonders der des Winters 1903/04 her.
Diese Jahreszeit war eine der schönsten,
welche man in Leysin erlebt hat. Schreibt
man die Wirkung des Höhenklimas zum
Teil den außergewöhnlichen Lichtstrahlungen,
welche auf dem Berge herrschen, zu, so kann
man wohl sagen, daß der Aufenthalt im
Freien ein wahres Lichtbad war.
Wir schreiben die äußerst befriedigenden
Resultate, die wir so eben aufgezeichnet, der
kombinierten Behandlung des Sanatoriums
und des Höhenklimas zu. Tatsachen sind
hier beredter als alle Ansichten der Welt.
Schon das Sanatorium allein, wenn es in
der Ebene und in einer gesunden Lage steht,
liefert sehr günstige Resultate. Doch sind
sie noch weit besser, wenn das Sanatorium
in einem Höhenklima ist. Dies hat Theodor
Williams besonders bewiesen, indem er
auf frappante Art die in den Schweizer Sana-
torien erlangten Resultate mit denen der
Heilstätten in andern Ländern vergleicht.
„Durch den Vorzug der Schweizer Resul-
tate, u schreibt er, „wird die Meinung, die
ich schon seit lange verkündigt und veröffent-
licht habe, bestätigt, nämlich, daß das Höhen-
klima einen wertvollen heilenden Einfloß auf
die Lungentuberkulose ausübt. Diesen Einfluß
übertrifft keine andere Bedingung. Die ab-
surde, vor kurzem aufgestellte Meinung, es
sei dem Klima in der Behandlung der Lungen-
phthise gar kein Einfluß zuzuschreiben,
wird durch diese Erfahrung gänzlich ver-
nichtet. u
Es wurde schon früher von Williams
behauptet, daß die günstigen Erfolge auf
den Bergen schneller erreicht und auch von
längerer Dauer sind, als die im Talklima
erzielten.
Es wird uns schwer, uns in Leysin über
die Dauerresultate zu erkundigen, wie es
von den Volksheilstätten aus geschieht, wo
die Kranken beim Verlassen derselben meist
im Lande bleiben. Wir haben jedoch einen
Fragezettel aufgestellt, der an die vor einigen
Jahren aus den Sanatorien ausgetretenen
Kranken geschickt wird. Nur von einem
unserer Sanatorien können wir heute das
Resultat der erhaltenen Erkundigungen an-
geben. Es betrifft dasselbe die im Jahre
1898 — 1899 geheilt entlassenen Kranken.
Diese Kranken waren 36 an der Zahl.
Von den 36 Fragezetteln sind 25 zurückge-
kommen. Sie zeigten uns an: 1 Todesfall,
1 leichten Rückfall und 23 Heilungsfälle.
Diese 23 Geheilten erklärten sich nach fünf
Jahren noch als vollständig gesund.
Diese Tatsache übertrifft weit die besten
bis jetzt veröffentlichten Dauerresultate. Es
wird notwendig sein, diese Erkundigungen
fortzuführen, ehe man diese Zahlen als Aus-
druck von dem, was gewöhnlich geschieht,
angibt. Man muß sie jedoch mit Zufrieden-
heit und mit der Hoffnung einer späteren
Bestätigung aufzeichnen.
Obgleich die leitenden Ärzte der Sana-
torien in Leysin einstimmig darin sind, die
außergewöhnlichen, soeben aufgezeichneten
Erfolge dem doppelten Einfluß des Klimas
und des Sanatoriums zuzuschreiben, so wird
keiner von ihnen die anderen Mittel der
Heilkunde vernachlässigen. Alle Hilfsmittel
der neuesten Entdeckungen, die ihnen zu
Gebote stehen, werden mit Überlegung ver-
sucht und, wenn sie ernste Erfolgsgarantie
bieten, angewendet.
So wurde in gewissen Fällen das Tuber-
kulin gebraucht, aber immer in sehr schwachen
und langsam steigenden Dosen ; gewiß ist, daß
es, mit großer Vorsicht benutzt, bei einigen
Kranken ermutigende Resultate gegeben hat.
Das Marmorecksche Serum wurde auch
versucht, seine Wirkung, namentlich nützlich
bei fiebernden Kranken, wurde von Dr. Jaque-
rod zum Gegenstand einer besonderen Arbeit
gemacht8).
Die statische Elektrizität wurde auch
angewendet, aber ohne großen Erfolg.
Alle stärkenden, beruhigenden und fieber-
stillenden Arzneimittel, die alltäglich von
den mit den Tuberkulösen besonders beschäf-
tigten Ärzten benutzt wurden, erwähnen wir
hier nicht. Eines davon verdient jedoch
eine besondere Auszeichnung, das Thiocol,
welches unter allen Derivaten des Kreosots,
dank seiner offenbaren Wirkung auf die Se-
kretionen und seiner Unschädlichkeit
für den Magen, sich immer im Gebrauch
erhält.
Wir bleiben übrigens der Überzeugung,
welche speziellen Behandlungen uns auch die
Zukunft vorbehält, daß die hygienischen Me-
*) Jaquerod, Revue de Medecine, Paris.
Juni 1904.
X IX. Jahrgang.*]
Januar 1905. J
Klau, Oparatlv« EiÖffbung der Mittelohrräume.
17
thoden und die stärkenden Mittel immer
unumgängliche Bedingungen für das Gelingen
jeglicher Therapie bei der Behandlung der
Lungentuberkulose bleiben werden.
Wir möchten noch einige Worte beifugen
über die Jahreszeit, in welcher ein Aufent-
halt im Hochgebirge besonders passend ist.
Ein weit verbreiteter Irrtum ist es, die Höhen-
stationen als nur Winterstationen zu be-
trachten. Wir meinen und haben auch die
Erfahrung gemacht, daß die nützlichen Folgen
des Höhenklimas sich, in jeder Jahreszeit
zeigen. Es ist nicht gleichgültig für einen
Tuberkulösen, ob er seine Behandlung 2 oder
3 Monate früher oder später beginnt. Von
großer Wichtigkeit ist es im Gegenteil, daß
er, sobald seine Krankheit erkannt wird, ins
Sanatorium gehe. Man hätte sogar Unrecht,
wenn er fiebernd ist, zu warten, bis das Fieber
gefallen ist, denn der Höhenaufenthalt hat
namentlich auf das Germinationsfieber der
Tuberkulose einen sehr günstigen Einfluß.
Zur operativen Eröffnung: der
Mittelohrr&ume.
Von
San.- Etat Dr. Klau in Berlin.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die
Ohrenheilkunde in den verflossenen 10 bis
12 Jahren namentlich in operativer Beziehung
ganz bedeutende Fortschritte gemacht hat, und
daß dadurch diese Doktrin, die lange Zeit
hindurch kein besonderes Ansehen in der
medizinischen Welt genoß, sich heute der
Wertschätzung erfreut, die ihr zukommt.
Unser Handeln bei der operativen Er-
öffnung der Mittelohrräume wird ein ver-
schiedenes sein, je nachdem es sich um akute
oder chronische eitrige Erkrankung des Mittel-
ohres handelt. Während also bei akuter
Affektion der Mittelohrräume die sogenannte
typische Aufmeißelung des Warzenfortsatzes
nach Schwartze am Platze ist, erfordert
die chronische Erkrankung die Total-
aufmeißelung, die sogenannte Radikal -
Operation.
Wenn nun auch diese Grenzen bei der
operativen Behandlung der Mittelohrerkran-
kungen nicht ganz absolute sind, so gehört
es doch zu den Ausnahmen, daß einmal
auch bei der akuten Erkrankung die Total-
aufmeißelung und umgekehrt bei der chro-
nischen Mittel ohraifektion die typische Auf-
meißelung ausgeführt wird.
Die Eröffnung des Warzenfortsatzes bei
der akuten eitrigen Mittelohrerkrankung ist
indiziert bei heftigen Schmerzen am Warzen-
Th. M. 1906.
fortsatz; bei Schwellungen und Abszeßbildung
in der Umgebung des Ohres, namentlich auf
dem Warzenfortsatz; bei Vorwölbung der
oberen Wand des häutigen Gehörganges;
bei anhaltendem Fieber; bei ungewöhnlich
lange andauernder Eiterung aus dem Mittel-
ohr; bei Kopfschmerzen, Schwindelerschei-
nungen, .Brechneigung, also Hirnsymptomen;
bei Veränderungen am Augenhintergrund.
Die typische Aufmeißelung des Warzen«
fortsatzes beginnt mit einem Vertikalschnitt,
welcher unterhalb der Spitze des Warzen-
fortsatzes anfängt und senkrecht nach oben
bis über die Hohe des oberen Randes des
Ohrmuschelansatzes über die Linea tempo-
ralis hinausgeführt wird. Die Gewebe müssen
dabei schichtweise bis auf den Knochen durch*
trennt werden. Bei starker Infiltration der
Weichteile kann der Schnitt nach oben und
unten noch verlängert werden. In jedem
Falle wird auf das obere Ende dieses Längs-
schnittes ein sogenannter T- Schnitt gesetzt,
dessen Länge den lokalen Verhältnissen der
Weichteile und des Knochens angepaßt werden
muß. Bei dieser Schnittführung ist große
Vorsicht zu üben, da man immer mit der
Möglichkeit eines vorhandenen Kortikal defektes
rechnen muß. Namentlich bei Säuglingen,
wo der Knochen an und für sich sehr dünn
ist, ist jeder starke Druck zu vermeiden.
Sowohl in dem einen wie dem anderen Falle
kann es sonst sehr leicht vorkommen, daß der
Sinus sigmoideus oder die Dura mater verletzt
wird. — Grunert erwähnt einen Fall, wo
beim horizontalen Schnitt nach hinten senk-
recht auf den retroaurikularen Schnitt zwei
dicht nebeneinander liegende Emissarien des
Sinus transversus durchschnitten wurden. Es
trat eine heftige Blutung und nach 2 Stunden
der Tod ein. — Nach sorgfältiger Blutstillung
wird nun mit einem Raspatorium das Periost
nach vorn in schonendster Weise so weit ab-
präpariert, bis der hintere obere Rand des
knöchernen Gehörganges vollständig freiliegt.
Der äußerste Teil des häutigen Gehörganges
in seiner hinteren Peripherie wird ebenfalls
von seiner knöchernen Unterlage losgelöst.
Nach hinten wird das Periost bis über die
hintere Grenze des Warzenfortsatzes ab-
gehoben.
Es kommt vor allen Dingen darauf an,
den Warzen fortsatz in ausgedehntester Weise
freizulegen, um bei der folgenden Knochen-
operation allen Eventualitäten: Eröffnung der
hinteren und mittleren Schädelgrube, Aus-
führung der Radikaloperation u. s. w., be-
gegnen zu können. Stets ist die ganze Spitze
des Warzenfortsatzes freizulegen. Die hier
inserierenden Fasern des Muse, sternocleido-
mastoideus werden mit dem Messer, dessen
3
18
Klau, Operative Eröffnung der Mlttelohrraume«
rTharapentiich«
L Moiwtuhefte.
Schneide dabei immer gegen den Knochen
gerichtet ist, losgetrennt.
Die Aufmeißelung wird am besten mit
Hohlmeißeln ausgeführt, weil sich diese besser
der Rundung des zu meißelnden Kanal es an-
passen. Im Anfang der Knochenoperation
bei der Abtragung der Corticalis des Warzen-
fortsatzes benutze ich mit Vorliebe größere
Meißel von 1,6 cm bis zu 0,5 cm Breite,
•wie sie Zaufal bei der Radikaloperation
angegeben hat. Es empfiehlt sich, in jedem
Falle die Corticalis von der Linea temporalis
bis zur Spitze des Warzenfortsatzes abzu-
meißeln. Dann wird auch ein Übersehen
von Eiteransammlung in der Spitze, die häufig
vorkommt, vermieden werden, und man kann
auch sofort, wenn es notig ist, die ganze
Spitze resezieren.
Bei der schichtweisen Abtragung der
Corticalis bis hinab zur Spitze beginnt man
dicht unter der Linea temporalis, indem man
immer von hinten nach vorn gegen die hintere
Gehörgangs wand meißelt. Über die Linea
temporalis darf man im allgemeinen nicht
hinausgehen, doch muß auch die Spina supra
meatum und die obere Wand des knöchernen
Gehörganges als oberste Begrenzung berück-
sichtigt werden.
An Stellen, wo man mit der Lu ersehen
Zange herankommen kann, wird diese zur
völligen Freilegung etwaiger Hohlräume und
Fisteln benutzt. Der äußerste Teil der hin-
teren knöchernen Gehörgangswand, der schon
vorher von seiner häutigen Bedeckung ent-
blößt wurde, wird mit abgemeißelt, da auf
diese Weise die Weichteile sich später besser
anlegen, und weil ferner die durch die folgende
Ausmeißelung des Knochenkanales in ihrem
äußersten Teil oft sehr dünne Gehörgangs-
wandung zuweilen nekrotisch wird, sich als
Sequester abstößt oder später doch noch ab-
gemeißelt werden muß. Außerdem wird da-
durch die Länge des Knochenkanales erheb-
lich verkürzt und die Übersicht bis zum
Antrum mastoideum erleichtert.
Ist keine Knochenfistel und nach Ab-
meißelung der Corticalis keine Höhle vor-
handen, die uns als Wegleitung zum Antrum
dient, so muß nunmehr der Knochenkanal
bis zum Antrum mastoideum ausgemeißelt
werden. Hierbei ist eine möglichst große
Eingangsöffnung zu erstreben bis zu 12 mm
im Durchmesser, die Längsachse kann noch
größer sein. Diese Eingangsöffnung ist un-
mittelbar unter der Lin. temporalis, in der
Höhe der knöchernen oberen Gehörgangswand,
etwa 5 bis 10 mm hinter der Spina supra
meatum anzulegen. Bei dem Vordringen in
die Tiefe kommt es vor allen Dingen darauf
an, nicht die Richtung zu verlieren. Es ist,
wie Schwartze treffend bemerkt, viel leichter,
einen diagnostizierten Hirnabszeß zu eröffnen
als eine Antrumaufmeißelung regelrecht durch-
zuführen. Die ursprünglich von Schwartze
angegebene Vorschrift, bei der Ausmeißelung
des Kanales von außen hinten und oben nach
innen vorn und unten unter einem Winkel
von 45 Grad vorzugehen, die ja ihre volle
Berechtigung hat, kann leicht dazu führen,
wenn man nicht das geniale Geschick
Schwartzes besitzt, zu weit nach unten zu
gelangen am Antrum vorbei und den Nervus
facialis zu verletzen. Am besten verfährt
man, wenn man stets parallel zum
äußeren Gehörgang in die Tiefe vor-
dringt. Man muß sich immer vergegen-
wärtigen, daß das Antrum zur Lage des
äußeren Gehörganges mehr nach oben als
nach unten liegt. Tiefer als 2,5 cm darf
man wegen der Gefahr, Labyrinth und N.
facialis zu verletzen, nicht vordringen, auch
wenn das Antrum nicht gefunden ist. Im
Mittel beträgt die Länge des Kanales nach
Holmes 15 mm, das ist die Entfernung der
Spina supra meatum vom hinteren oberen
Rande des Trommelfells.
Möglichst breite Eröffnung des Antrum
mastoideum muß erstrebt werden, um sich
einen Einblick über die etwaigen krankhaften
Veränderungen daselbst zu verschaffen. Bei
dieser breiten Aufmeißelung des Warzenfort-
satzes kann es dann auch nicht vorkommen,
daß eiterh altige oder mit Granulationen an-
gefüllte Höhlen übersehen werden. Trifft
man bei der Aufmeißelung auf Fisteln, die
in die Schädelhöhle führen, so müssen die-
selben stets breit eröffnet werden, denn nur
auf diese Weise können Komplikationen in
der Schädelhöhle möglichst vermieden, schon
bestehende Erkrankungen, wie Extradural-
abszeß, Sinusthrombose, Hirnabszeß, aufge-
deckt werden.
In jedem Falle nach Zaufal die Schädel-
höhle zu eröffnen, wenn „die Knochencaries
an einer Stelle nahe an die Tabula interna
heranreicht", halte ich nicht für angebracht.
Sind Hirnsymptome bereits vor der Operation
vorhanden, so wird man in diesem Falle
selbstverständlich die Schädelhöhle eröffnen,
oder wenn eine Erkrankung des Sinus wahr-
scheinlich ist, diesen freilegen und unter
Umständen inzidieren. Finden sich aber keine
Hirnsymptome vor, so kann man nach der
Entfernung alles Krankhaften im Warzenfort-
satz erst ruhig zuwarten, wie der weitere
Verlauf sich gestalten wird.
Große Schwierigkeiten kann die typische
Aufmeißelung bei ungewöhnlich weiter Vor-
lagerung des Sinus sigmoideus bereiten. In
seltenen Fällen, wenn der Sinus soweit vor-
XIX. Jahrganff.l
J*po*r i90ft. J
Klau, Operative Eröffnung der Mittelohrrlume.
19
gelagert ist, daß er bis dicht an die hintere
knöcherne Gehörgangs wand reicht, ist die
typische Aufmeißelung unmöglich, und man
müßte nach dem Vorschlage von Karl Wolf
nach Yorklappung der Ohrmuschel und Los-
lösung der hinteren häutigen Gehörgangs wand
durch schichtweise Abmeißelung der hinteren
knöchernen Gehörgangswand die Eröffnung
des Antrums versuchen.
Nach beendeter Knochenoperation wird
der Horizontalschnitt vollständig genäht. Auch
den Vertikalschnitt kann man durch eine Naht
in seinem obersten und untersten Teil ver-
kleinern. Die ganze Wunde zu vernähen
und die Heilung unter dem feuchten Blut-
schorf (Schede) zu erzielen, ist in Fällen,
wo wegen entzündlicher Affektionen im Warzen-
fortsatz operiert wurde, entschieden zu wider-
raten, da es leicht zu einer Zersetzung des
Blutgerinnsels kommen kann.
Nach Untersuchungen von Piffl fanden
sich in dem Wundsekret: Streptokokken,
Staphylokokken und Diplokokken. Wenn
diese auch in ihrer Virulenz abgeschwächt
sind, so hat man es doch nicht mit einer
absolut reinen Wunde zu tun, und es genügt
schon eine geringe Schädlichkeit, einen eitrigen
Zerfall des Blutgerinnsels und eine profuse
Eiterung herbeizuführen. Zaufal näht die
ganze Wunde bis auf das unterste Ende des
Vertikalschnittes und legt hier etwa einen
Zentimeter tief einen Jodoformgazestreifen ein.
Aber auch dieses Vorgehen ist nicht in jedem
Falle zu empfehlen, da auch hierbei in Folge
der Neigung des gemeißelten Kanales nach
vorn unten eine Sekretverhaltung eintreten
kann. Sicherer verfahrt man jedenfalls, wenn
man die Hautwunde in der Ausdehnung der
Eingangsöffhung des Knochenk anales, nach
unten etwas darüber offen läßt und in die
Wunde ganz lose, ohne jeden Druck auf die
Wandungen, Jodoformgaze einführt, gerade
genügend, um das sich ansammelnde Sekret
nach außen gelangen zu lassen. Darüber folgt
der übliche Verband. Irrigationen der Wunde
sind unter allen Umständen zu vermeiden.
Beim Verbandwechsel, der bei normalem Ver-
lauf von 5 zu 5 Tagen, später häufiger je
nach dem Befund der Wunde erfolgen kann,
wird der einzulegende Jodoformgazestreifen
immer mehr verkürzt, sodaß die Knochen-
wunde allmählich von innen nach außen sich
schließen kann. Wenn keine Idiosynkrasie
gegen Jodoform vorhanden ist, so ist die
Tamponade mit Jodoformgaze vorzuziehen,
sonst kommt man auch mit steriler Gaze
zum Ziele. Die Heilungsdauer beträgt bei
uns im Durchschnitt 28 Tage. Das Gehör
kehrt meistenteils zur Norm zurück, es wird
cm so besser, je früher die Aufmeißelung
vorgenommen wird. Meist ist schon beim
ersten Verbandwechsel die Eiterung aus der
Paukenhöhle sistiert. Zuweilen aber dauert
sie noch an, ohne daß man deshalb nun so-
gleich Ausspülungen des äußeren Gehörganges
oder gar Durchspülungen machen müßte. Auch
hier tritt meistenteils restitutio ad integrum
ein, wenn es sich nicht etwa um konstitu-
tionelle Erkrankung oder um kariöse Affek-
tion im Mittelohr, namentlich an den Gehör-
knöchelchen, handelt, welche letztere ja auch
bei der akuten Mittelohrerkrankung vor-
kommen kann.
In diesem Falle muß, wenn durch die
typische Aufmeißelung und durch die weitere
Nachbehandlung eine Heilung nicht eintritt,
die Totalaufmeißelung vorgenommen werden,
auch in den Fällen, die gleich chronisch be-
ginnen, ohne daß vorher akute Erscheinungen
sich zeigen, und die zu Caries der Mittel-
ohrräume führen.
Es kommt auch vor, daß die Eiterung
aus der Paukenhöhle sistiert, daß aber die
Knochenwunde sich nicht schließen will. Auch
hierbei ist unter Umständen die Totalauf-
meißelung indiziert. Selbstverständlich aber
muß vorher alles versucht werden, um auf
eine weniger eingreifende und radikale Weise
Heilung zu erzielen. Es ist entschieden zu
verwerfen, in jedem Falle, wo sich die Heilung
der Knochenwunde verzögern sollte, sogleich
zur Radikaloperation zu schreiten, wie es
zuweilen geschieht. Oft sind es kleinere
oder größere Sequester, welche die Vernarb ung
verhindern. Diese sind entweder bei der
Operation übersehen worden, ein Umstand,
der bei der relativen Enge des Kanales vor-
kommen kann, oder sie haben sich erst nach
der Operation gebildet durch Ernährungs-
störungen im Knochen. Jedem beschäftigten
Ohrenarzte werden derartige Fälle vorkommen.
Es kann nicht gleichgültig sein* ob man einem
Patienten durch eine konservative Operations-
methode den äußeren Gehörapparat erhält
oder durch eine radikale Operation zerstört.
Ruhe, Geduld und Geschick in der Beobach-
tung und der Behandlung gehören vor allen
Dingen dazu.
Ich möchte hierzu einen Fall aus meiner
Praxis anführen.
Es handelte sich um einen 17jährigen Präpa-
randen A., bei welchem im September 1897 ander-
wärts die typische Aufmeißelung des Warzen fort-
satzes vorgenommen worden war. Im März 1898
war die Knochenwunde noch nicht verheilt, und
sollte Patient sich - der Totalaufmeißelung unter-
ziehen. Patient sowohl als die Eltern desselben
konnten sioh nicht dazu entschließen, weil dadurch
der zukünftige Beruf des Patienten in Frage ge-
stellt wurde, und sie gaben die erste Behandlung
auf. Als mir der' Patient zur Untersuchung vor-
geführt wurde, zeigte sich das Trommelfell ge-
3*
J
20
Klau, Operativ« Eröffnung der MitteJobrrftum«.
fTherapetitijch«
L MonatahefU.
schlössen, getrübt, etwas eingezogen. Die Luft-
dusche ergab ein etwas scharfes Geräusch, keine
Rasselgeräusche. Die Hörfähigkeit war annähernd
normal. Bei der Untersuchung des Knochenkanales
mit der Sonde stieß man in der Tiefe vor dem
Antrum mastoidenm auf rauhen Knochen. Um die
rauhe Knochenpartie dem Auge möglichst zugäng-
lich zu machen, wurden die schlaffen, leicht blu-
tenden Granulationen aus der Knochenwundo mit
dem scharfen Löffel entfernt. Es zeigte sich in der
Tiefe ein leistenförmtger, gezahnter Knocbenvor-
sprung, der nicht als Sequester angesehen werden
konnte, da er noch fest mit seiner Unterlage ver-
wachsen war. Dieser Vorsprung wurde in aus-
giebiger Weise abgemeißelt. Die Knochenhöhle
granulierte nunmehr auffallend schnell, trotzdem
kam es nicht zur Verheilung, sondern es blieb eine
eiternde Fistel zurück. 6 Wochen nach dem ersten
Eingriff wurde der ganze Knochenkanal noch einmal
vollständig freigelegt. Über der Stelle, wo der
leistenförmige Knochen Yorsprung abgemeißelt worden
war, zeigte sich eine kariös erweichte Stelle, die
mit dem scharfen Löffel vollkommen ausgekratzt
werden konnte und eine höhlenartige Vertiefung
hinterließ. Jetzt schloß sich die Knochenwunde in
4 Wochen. Ein Rezidiv trat nicht ein. Die Be-
obachtnngsdauer erstreckt sich auf 5 Jahre. Dem
Patienten blieben Trommelfell und Gehörknöchelchen
erhalten bei einer annähernd normalen Hör-
fähigkeit.
In einem anderen Falle handelte es sich um
die scharlachkranke Tochter des Beamten S. aus
Schöneberg, bei welcher am 21. 11. 1900 etwa
14 Tage nach dem Ausbruch des Scharlachfiebers
wegen einer eitrigen schweren Mittelohrentzündung
verbunden mit kariöser Mastoiditis die typische Auf-
meißel ung des Warzenfortsatzes vorgenommen wurde.
Während nach der Operation die Eiterung aus dem
Mittelohr in kurzem sistierte, schloß sich die
Knochenwunde nicht. Die Eiterung nahm vielmehr
zu, und es wurde deshalb am 10. 2. 1901 von mir
eine Nachoperation vorgenommen.
Das Operalionsterrain wurde noch einmal voll-
kommen freigelegt, die Granulationen aus dem
Knochenkanal mit dem scharfen Löffel ausgekratzt.
Aus der Tiefe des Kanales wurde ein Sequester
von 1 cm Länge und 3/4 cm Breite entfernt. Außer-
dem ließ sich ein größerer schalenförmiger Sequester
von der oberen Umrandung des Knochenkanales,
der auf die Schläfenbeinschuppe übergriff, loslösen.
Ferner hatte sich der äußerste Teil der hinteren
knöchernen Gehörgangswand als Sequester losge-
stoßen. Im übrigen schien der Knochen fest und
gesund zu sein. Aber auch jetzt schloß sich die
Knochen wunde nicht, es blieb eine eiternde Fistel
zurück. Am 18. 5. 1901 wurde deshalb von mir
der Knochenkanal nochmals freigelegt Die vorher
festen Wandungen desselben zeigten sich in größerer
Ausdehnung kariös erweicht und wurden mit dem
scharfen Löffel ausgiebig ausgekratzt, bis man überall
auf festen Knochen kam. 4 Wochen später konnte
Patientin als geheilt mit normaler Hörfahigkeit
entlassen werden, eine Radikaloperation, die
auch wir schon in Erwägung gezogen hatten, war
nicht notwendig geworden.
Derartige Fälle sind bei der Scharlach-
erkrankung nicht so selten. Namentlich ist
es die ausgesprochen gangränöse Form des
Scharlachfiebers, die große Zerstörungen in
den Mittelohrräumen verursachen und die
Vornahme der Radikaloperation notwendig
machen kann. Wie schnell oft derartige
Zerstörungen vor sich gehen, zeigt ein von
mir beobachteter Fall, der von vornherein
aussichtslos war, da bereits Meningitis be-
stand. Hier wurden beim ersten Ausspritzen
des äußeren Gehörganges Hammer und Amboß
entleert, die, wie künstlich präpariert, voll-
ständig ohne jede Bedeckung waren; und
doch bestand die Erkrankung des Ohres erst
seit wenigen Tagen.
Es ist wiederholt die Frage erörtert
worden, ob man in jedem Falle bei der Er-
öffnung des Warzenfortsatzes das Antrum
mastoideum freizulegen habe. Nach Hess ler
genügt die Ausmeißel ung der äußersten Zellen
des Warzenfortsatzes, wenn das Empyem nur
in diesen seinen Sitz hat. Zweifellos können
durch dieses weniger eingreifende und vor
allen Dingen viel leichtere operative Vorgehen
eine ganze Reihe akuter Empyeme des Warzen-
fortsatzes zur Heilung gelangen. Auch wir
haben aus unserer ersten ohren ärztlichen
Tätigkeit eine ganze Reihe von Fällen auf-
zuweisen, wo durch einfache Eröffnung des
Warzenfortsatzes Heilung eintrat, ohne daß
jemals eine Nachoperation notwendig wurde.
Bedingung ist aber hierbei immer, daß da»
Antrum mastoideum frei von Erkrankung ist.
Dies kann man aber niemals mit voller Be-
stimmtheit wissen. Deshalb ist es entschieden
vorzuziehen, in jedem Falle die Antrumer-
öffnung vorzunehmen. Damit fällt auch das
unsichere Gefühl fort, welches man bei der
einfachen Eröffnung des Warzenfortsatzes
empfindet, sobald die Erkrankung nach der
Operation nicht sofort den gewünschten Ver-
lauf nimmt. Eine nachträgliche Eröffnung
des Antrum ist aber aus verschiedenen Gründen
immer mißlich.
Ist man genötigt wegen Neuralgie im
Warzen fortsatz, die wohl immer hyste-
rischen Ursprungs ist, zu operieren, so genügt
es, einen Keil aus dem Warzen fortsatz her-
auszumeißeln, ohne das Antrum mastoideum
zu eröffnen. Ebenso kann man bei primärer
Ostitis des Warzenfortsatzes, deren Vor-
kommen allerdings noch strittig ist, auf die
Eröffnung des Antrums verzichten und sich
auf die Aufm eißel ung der erkrankten Knochen-
partien beschränken, falls die Paukenhöhle
nicht miterkrankt ist.
Bevor man sich jedoch zur Aufmeißelung
des Warzenfortsatzes bei der akuten Mittel-
ohrerkrankung entschließt, muß man selbst-
verständlich davon überzeugt sein, daß eine
konservative Methode nicht mehr am Platze
ist. Gleich ohne weiteres bei heftigen
Schmerzen am Warzenfortsatze diesen aufzu-
meißeln, ist entschieden zu verwerfen. Wenn
keine anderen Indikationen dazu kommen,,
die von vornherein die Operation fordern, so»
XIX. J«brvang.1
Jannar 19(16. J
Klan, Operative Eröffnung der Mittelohr räume.
21
kann man zunächst versuchen durch Eis-
applikation auf den Warzenfortsatz die Ent-
zündung in demselben zu bekämpfen. Gehen
nach Schwartze bei akuter, primärer und
sekundärer Entzündung des Warzenfortsatzes
unter Anwendung der Eisapplikation Schmerz,
Odem und Fieber nicht zurück, so ist die
Antrumeröffhung vorzunehmen.
Zur Eisapplikation eignet sich am besten
eine nierenförmige Eisblase, die hinter das
Ohr, direkt auf den Warzenfortsatz gelegt
wird. Dabei kann es vorkommen, daß
scheinbar unter der Anwendung des Eises
die Entzündung ruckgängig wird; Schmerzen
und Odem schwinden, bis nach kürzerer oder
längerer Zeit alle diese krankhaften Er-
scheinungen von neuem in noch heftigerer
Weise auftreten. In diesem Falle ist mit
der Aufmeißelung nicht mehr zu zögern, da
es sonst leicht zu intrakrani eilen Komplika-
tionen kommen kann. Man findet dann bei
der Eröffnung die Knochen Wandungen der
Zellen des Warzenfortsatzes meist in großer
Ausdehnung eingeschmolzen,'mit Granulationen
und Eiter oft bis in die Spitze des Warzen-
fortsatzes hinein angefüllt.
Ein derartiger von mir operierter Fall
endete durch Meningitis letal. Die Patientin
hatte bei ihrer Aufnahme verschwiegen, daß
sie kurz vorher anderweitig behandelt worden
war. Schon damals war, wie ich zu spät
erfuhr, gegen eine heftige Entzündung im
Warzenfortsatz Eis angewendet worden. Die
entzündlichen Erscheinungen waren dadurch
scheinbar zurückgegangen. Die profuse Eite-
rung aus der Paukenhöhle blieb bestehen.
Als Patientin in meine Behandlung kam, und
Schmerzen und Schwellung am Warzenfort-
satz sich bemerkbar machten, wurde einige
Tage lang Eis appliziert. Hirnsymptome
waren nicht vorhanden. Als diese sich nach
einigen Tagen unter den Erscheinungen von
ausgebreiteten Kopfschmerzen, Brechneigung
und Schwindel einstellten, wurde sofort ope-
riert. Trotzdem konnte die bereits einge-
tretene eitrige Meningitis nicht mehr rück-
gängig gemacht werden. Hätte Patientin die
vorhergegangene Entzündung am Warzenfort-
satz nicht verschwiegen, so wäre sie bei Ein-
tritt der erneuten Schmerzen sofort operiert
worden und hätte möglicherweise gerettet
werden können.
Selbst bei vollkommen abgelaufener akuter
Otitis media, auch wenn weder im Ohr, noch
sonstwo objektive Veränderungen sich nach-
weisen lassen, muß bei andauernden heftigen
Schmerzen in der betreffenden Kopfhälfte an
eine Mastoiditis (unter Umständen mit bereits
vorhandenen Komplikationen in der Schädel-
höhle) gedacht werden.
In früheren Jahren wurde gegen die
akute Mastoiditis vielfach der sogenannte
Wildesche Schnitt angewendet. Darunter
versteht man einen mindestens einen Zoll
langen auf dem Planum dos Warzenforts atzes
ausgeführten Schnitt, der Weichteile und
Periost durchtrennt.
Gradenigo tritt noch neuerdings für die
Anwendung dieses Schnittes ein. Wir wenden
den Wild eschen Schnitt gar nicht mehr an
und sind der Ansicht, daß da, wo unter An-
wendung der Kälte die Entzündung im
Warzenfortsatz nicht mehr zurückgeht, auch
durch den Wildeschen Schnitt nichts er-
reicht wird, sondern daß dann ohne Zeit-
verlust die Antrumeröffnung vorgenommen
werden muß. Vor allen Dingen aber soll
man sich nicht mehr mit diesem Schnitt auf-
halten, wenn es schon zur Abszeßbildung am
Warzenfortsatz gekommen ist. Ist diese be-
stimmt auf eine Entzündung im Warzenfort-
satz zurückzuführen, so ist nur die Aufmeiße-
lung am Platze.
In vielen Fällen von Heilungen nach dem
Wild eschen Schnitt handelt es sich nach
unserer Ansicht gar nicht um eine entzünd-
liche Affektion im Warzenfortsatz, sondern
um eine rein äußerliche Entzündung des
Periostes und der Weichteile, die sich vom
äußeren Gehörgang, resp. Mittelohr aus auf
die äußeren Bedeckungen des Warzenfort-
satzes fortgepflanzt hat. Es kann auch hier
nicht so selten zur Abszeßbildung kommen.
Wir haben sogar in vereinzelten derartigen
Fällen bei Kindern, wo der Knochen noch
verhältnismäßig weich und weniger wider-
standsfähig ist, oberflächliche Caries der Cor-
ticalis des Warzenfortsatzes bis hinauf zur
Schläfenbeinschuppe beobachtet. In zwei
Fällen reichte die oberflächliche Caries sogar
bis nach vorn zum Processus zygomaticus
des Schläfenbeins. Alle diese Fälle heilten
nach Eröffnung des Abszesses, energischer
Auskratzung der kariösen Stellen mit dem
scharfen Löffel und nach oberflächlicher Ab-
tragung des erkrankten Knochens mit dem
Meißel anstandslos aus.
Die Differential diagnose zwischen Ent-
zündungen am Warzenfortsatz, die vom äußeren
Gehörgange ihren Ausgang nehmen, mit einer
Erkrankung im Warzenfortsatz also nichts zu
tun haben, und solchen, die von einer Er-
krankung im Warzenfortsatz herrühren, kann
zuweilen recht schwierig sein. Die Schwierig-
keit der Diagnose wird noch größer, wenn
es schon zu einem periaurikularen Abszeß
gekommen ist, und um so mehr, wenn außer-
dem eine Otitis media purulenta acuta besteht.
Körner unterscheidet hierbei zwischen öde-
matöser Schwellung am Warzenfortsatz, welche
22
Klau, Operativ« Eröffnung der Mlttelohrräume.
L Monatshefte»
bei Furunkulose im äußeren Gehörgang vor-
komme, und entzündlicher Infiltration, die
durch Erkrankung im Warzenfortsatz her-
vorgerufen werde. Aus der Anamnese, aus
dem lokalen Befunde im äußeren Gehörgange
und am Trommelfelle wird sich die richtige
Diagnose stellen lassen. Ferner ist dabei
zu berücksichtigen, daß bei Furunculosis im
äußeren Gehörgange sich die größte Schwellung
bei Beginn der Entzündung am Warzenfort-
satz in der Furche hinter der Ohrmuschel
oder dicht unter dem äußeren Gehörgange
befindet, während die Spitze des Warzen-
fortsatzes frei bleibt und auf Druck nicht
empfindlich ist.
Nach Leutert kann das Fieber nach
Eröffnung des periaurikularen furunkulösen
Abszesses noch einige Tage in ziemlicher
Höhe bestehen bleiben ; wahrscheinlich ver-
ursacht durch entzündliche Infektion neu er*
öffnete r Lymphbahnen.
Die durch eine Mastoiditis hervorgerufenen
retroaurikularen Abszesse haben meist auf
dem Planum des Warzenfortsatzes ihren Sitz,
doch können sie auch über dem Warzenfort-
satz auf der Schläfenbeinschuppe oder hinter
demselben auf dem Hinterhauptsbein, ferner
unterhalb der Spitze des Warzenfortsatzes
vorkommen.
Bei einem von mir behandelten 9jährigen
Knaben, welcher an einer akuten profusen Mittel-
ohreiter uog litt, befand sich der Abszeß 3 cm hinter
der hinteren Grenze des Warzenfortsatzes auf dem
Hinterhauptsbein. Der Warzenfortsatz selbst war
vollkommen schmerzlos und frei von jeder Schwel-
lung. Trotz freien Abflusses des Eiters durch eine
groß angelegte Öffnung im Trommelfell bestand
hohes intermittierendes Fieber, welches eine Sinus-
thrombose wahrscheinlich machte. Diese Diagnose
bestätigte sich bei der vorgenommenen Operation.
Hierbei stellte es sich heraus, daß die Entzündungs-
erreger durch das Emissarium mastoideum zum
Hinterhauptsbein gelangt waren und hier den
Abszeß hervorgerufen hatten.
Es kann auch zu ausgedehnten tiefen
Senkungsabszessen kommen. Grün er t er-
wähnt einen Fall, wo die Eitersenkung bis
zur Clavicula reichte. Der Durchbruch des
Eiters war 1 cm median wärts von der In-
cisura mastoidea unter die tiefe Halsmusku-
latur erfolgt.
Wir haben die häufigsten Senkungs-
abszesse hinten unten zwischen der Spitze
des Warzenfortsatzes und dem Hinterhaupts-
bein gefunden. Es empfiehlt sich in diesen
Fällen, die Inzision in ausgedehnter Weise
vom Warzenfortsatz bis zur tiefsten Stelle
des Abszesses vorzunehmen und sich nicht
allein mit einer kleinen Gegenöffnung zu be-
gnügen.
Im Gegensatz zu diesen unter heftigen
Entzündungserscheinungen im Warzenfortsatz
einhergehenden akuten Mittelohreiterungen
beobachtet man nicht selten Fälle, die, nach-
dem das akute Stadium in der Paukenhöhle
in kurzem rückgängig geworden ist, von Seiten
des Warzenfortsatzes gar keine äußeren Er-
scheinungen machen, trotzdem man bei der
Operation, hier wie dort, ausgedehnte kariöse
Einschmelzung des Knochens vorfindet. Ver-
einzelte Fälle von Warzenfortsatzempyemen
bieten sogar in der Paukenhöhle nur die
Anzeichen eines einfachen Katarrhes dar,
und man ist bei der Operation oft erstaunt
über die vorgefundene, weit um sich greifende
kariöse Arrosion mit Granulationsbildung und
Eiteransammlung im Warzenfortsatz. Dabei
kann das Allgemeinbefinden der Patienten
längere Zeit befriedigend sein.
Ein eklatantes Beispiel hierfür aus meiner
Praxis bietet folgender Fall:
Die 4 jährige Tochter des Kaufmanns B. aus
Berlin wurde mir im September 1895 zugeführt
wegen einer Eiterung aus der Paukenhöhle. Die
Anamnese ergab, daß das Kind 10 Wochen vorher
in einem Ostseebade eine akute Mittelohrentzündung
akquirierte, die in den ersten 8 Tagen unter sehr
heftigen allgemeinen Krankheitserscheinungen ver-
lief. Darnach erholte sich das Kind wieder voll-
ständig, nur die Eiterung aus der Paukenhöhle
bestand fort.
Als ich das Kind sah, war das Allgemein-
befinden befriedigend, der Appetit gut, Fieber war
nicht vorhanden. Bei der Untersuchung zeigte sich
eine Senkung der oberen häutigen Gehörgangswand.
Das Trommelfell war perforiert, durch die Perforation
war die Schleimhaut der Paukenhöhle prolabiert
und bildete eine etwa erbsengroße, polypenartige
Prominenz, der Warzenfortsatz war auf Druck nicht
schmerzhaft, die bedeckenden Weichteile waren
normal. Nur an einer kleinen umschriebenen Stelle
auf dem Planum des Warzenfortsatzes fühlte man
unter der normalen Haut eine flache Erhabenheit,
die unter dem tastenden Finger scheinbar die An-
zeichen der Fluktuation darbot. Da nach der Ent-
fernung der durch die Trommelfellöffnung prola-
bierten Schleimhaut die Eiterung nicht nachließ, so
wurde zur Eröffnung des Warzenfortsatzes ge-
schritten.
Es fand sich in der Corticalis des Warzenfort-
satzes eine Fistelöffnung, durch welche Granula-
tionen aus den Warzenfortsatzzellen hindurch-
gewuchert waren. Eiter war unter dem Periost
nicht vorhanden, sondern die durch den tastenden
Finger hin- uud hergeschobenen Granulationen hatten
eine Fluktuation vorgetäuscht Die Zellen des Warzen-
fortsatzes waren in großer Ausdehnung bis in die
Spitze hinein zerstört, mit Granulationen und Eiter
angefüllt. Das Antrum wurde eröffnet, auch hier
fanden sich Eiter und Granulationen. Die Heilung
ging nunmehr in ca. 6 Wochen schnell vor sich.
Das Trommelfell blieb narbig eingezogen.
In einem anderen von mir operierten Falle
handelte es sich um einen 14 jährigen Knaben.
Derselbe hatte 3 Wochen vor Pfingsten ganz leichten
Scharlach akquiriert. Da sein Allgemeinbefinden
ein ganz vorzügliches war, so wurde ihm von dem
behandelnden Arzte gestattet, Pfingsten zu ver-
reisen. Durch ein kaltes Flußbad, welches er in
den Pfingstferien in' der Oder nahm, zog er sich
eine akute Mittelohrentzündung zu. Die Eiterung
XIX. Jahrgang."]
Jannar 1905. J
Klau, Operativ« Eröffnung dar Mittelohrrüume.
23
bestand wochenlang fort. Trotzdem besuchte Pat
die Schale, ohne erhebliche Beschwerden zu haben,
und badete wiederholt im Freien.
Als ich den Patienten Anfang Juli zum ersten
Male untersuchte, fand sich durch die Perforations-
öffoang im Trommelfell die Mittelohrschleimhaut
stark prolabiert; die obere Wand des häutigen
Gehörganges zeigte eine erhebliche Senkung nach
unten. Der Warzen fortsatz war nicht schmerzhaft,
die Weich teile über demselben vielleicht ein wenig
verdickt, äußerlich war keine Entzündung bemerk-
bar. Es bestanden abends hochnormale Tempera-
turen. Nach Abtragung der prolabierten Schleim-
haut mit der Schlinge besserte sich die profuse
Eiterung nicht, sodaß diese bei der starken Senkung
der oberen häutigen Gehörgangswand auf ein
Empyem im Warzenfortsatz zurückgeführt werden
mußte. Die nunmehr von mir vorgenommene Eröff-
nung des Warzenfortsatzes ergab ein überraschendes
Resultat. Der ganze Warzenfortsatz, bis in die
Spitze hinein, fand sich in kariöser Einschmelzung.
Die Corticalis war an 2 Stellen fistulös durchbrochen.
Die erheblich große Knochenhöhle war bis in das
Antrum hinein mit Eiter und Granulationen ange-
füllt Die Spitze des Warzenfortsatzes mußte
reseziert werden. Nach hinten reichte die Zerstö-
rung bis zum Sinus trän s versus, derselbe lag in
der Ausdehnung eines Quadratzentimeters frei und
war von Eiter umspült. Die Sinuswandung war
verfärbt, sonst anscheinend normal. Sofort nach
der Operation sistierte die Eiterung aus der Pauken-
höhle, die Perforation im Trommelfell schloß 6ich.
6 Wochen später war die große Knochen wunde
vernarbt, und konnte Patient mit normaler Hörfahig-
keit als geheilt entlassen werden; nur ein geringes
Sausen blieb zurück.
Man könnte meinen, daß derartige fast
symptomlose Zerstörungen im Warzenfortsatz
bei akuter Mittelohreiterung nur bei Kindern
und jugendlichen Personen Torkommen, doch
dem ist nicht so. Wir haben auch Fälle
genug beobachtet, wo bei älteren Personen
auch Eiterungen und kariöse Einschmelzung
im Warzenfortsatz eine Zeitlang keine be-
sonderen Erscheinungen machten.
Bei einem 70 jährigen Patienten aus D , welchen
ich Anfang Juni 1901 operierte, und der 6 Wochen
vorher an einer akuten Mittelohreiterung erkrankt
war, fand sich bei der ersten Untersuchung außer
einer spärlichen, aber übelriechenden Eiterung aus
der Paukenhöhle eine kaum nachweisbare geringe
Verdickung der Weichteile über dem Warzenfort-
satz. Patient fühlte sich sonst vollkommen wohl.
Bei der Antrumeröffnung zeigten sich die Zellen
des Warzenfortsatzes bis in die Spitze hinein mit
Granulationen und Eiter durchsetzt Es führte ein
fistulöser mit Granulationen angefüllter Gang nach
hinten bis zum Sinus sigmoideus. Die Sinus Wan-
dung selbst war normal. Die Heilung ging über-
raschend schnell vor sich. In 4 Wochen konnte
Patient geheilt entlassen werden. Hörfähigkeit an-
nähernd normal.
Daß es bei diesen Fällen, wenn sie nicht
rechtzeitig operiert werden, früher oder später
zu schweren Komplikationen kommen kann,
ist klar. Deshalb ist, wenn man erst ein-
mal von der Nutzlosigkeit einer konservativen
Behandlung überzeugt ist, eine frühzeitige
Operation angezeigt.
Trautmann eröffnet den Warzenfortsatz;
wenn bei akuter Mittelohreiterung trotz sach-
gemäßer Behandlung die Eiterung 14 Tage lang
in unveränderter Stärke, ohne eine Wendung
zum Bessern erkennen zu lassen, fortbesteht.
Dieser Forderung können wir nicht ohne
weiteres das Wort reden, da diese Zeitangabe
viel zu kurz bemessen ist. Jedem beschäf-
tigten Ohrenarzt werden Fälle genug zu Ge*
sieht gekommen sein, in denen die Eiterung
wochenlang unverändert fortbestand, und die
doch ohne Aufmeißelung zu vollkommener
Heilung gelangten. Die lange Dauer der
Eiterung an sich ist noch keine Indikation
zur Aufmeißelung. In dieser Beziehung lassen
sich keine bestimmten Zeitangaben machen.
Jeder Fall muß individuell behandelt werden.
Allerdings muß eine akute Mittelohreiterung,
die länger als 6 — 8 Wochen fortbesteht, wenn
konstitutionelle Erkrankung und krankhafte
Affektionen der Nase und des Nasenrachen-
raumes auszuschließen sind, den Verdacht
eines Warzenfortsatzempyems erwecken. Meist
werden sich dann aber auch noch andere
Symptome, wie Verdickung der den Warzen-
fortsatz bedeckenden Weichteile, Senkung
der oberen häutigen Gehörgangswand, nach-
weisen lassen. Namentlich das letztere Sym*
ptom, die Senkung der oberen häutigen Ge-
hörgangswand, ist ein Zeichen, daß die Eite-
rung im Antrum und Warzenfortsatz ihren
Sitz hat, und fordert die Eröffnung des An-
trums. Aber wenn selbst keine derartigen
Symptome vorhanden sind, so ist bei einer
ungewöhnlich lange andauernden Eiterung
(über 6 — 8 Wochen) eine Explorafivoperation
gerechtfertigt.
Fieber besteht bei akuter Mittelohreiterung
mit einfacher Entzündung der Cellulae mastoi-
deae meist nicht. Kommt es zur Empyem-
bildung, so fehlt das Fieber im Anfang selten.
Es kann aber übersehen werden, da es meist
nach der Bildung des Abszesses aufhört.
Jedenfalls ist bei unkomplizierter Warzen-
fortsatz affektion die Temperatur niemals ex-
zessiv hoch. Sind die akuten Entzündungs*
ersch einungen in der Paukenhöhle geschwun-
den, und besteht Fieber über die ersten acht
Tage hinaus fort, so muß die Aufmeißelung
des Warzenfortsatzes in Erwägung gezogen
werden. Auch wenn man dann oft bei der
Aufmeißelung noch keinen Eiter, sondern nur
verdickte, stark hyperämische Schleimhaut in
den Warzenfortsatzzellen vorfindet, so ist in
diesem Falle die Aufmeißelung doch gerecht-
fertigt. Auch das Resultat spricht dafür; meist
schwindet nach dem Eingriff die Eiterung so-
| fort. Die Hörfähigkeit kehrt zur Norm zurück.
! Ist Fieber vor der Operation nicht vor-
! handen, so pflegt es auch nach der Operation
24
Klau, Operative Eröffaung dar Mittalohrriume.
TTherapeutiflche
zu fehlen. Es ist immer ein mißliches Zeichen,
wenn am 2. oder 3. Tage nach der Operation
Fieber eintritt. Dasselbe ist in den meisten
Fällen durch Infektion bedingt, die entweder
von außen bei der Operation oder von einem
nicht aufgedeckten Eiterherde herstammt.
Bedeutungslos ist das sogenannte aseptische
Wundfieber, welches in den ersten 24 Stunden
nach der Operation zuweilen auftritt.
Bestand Fieber vor der Operation, so
fällt es in günstigen Fällen nach der Ope-
ration in wenigen Tagen ab. Besteht es
länger als 8 Tage nach der Operation, so
muß man an eine ernste Komplikation denken.
Dabei ist aber nicht außer acht zu lassen,
daß sensible anämische Patienten oft noch
tagelang nach der Operation fiebern können,
ohne daß eine weitere Komplikation besteht und
ein erneuter operativer Eingriff notwendig ist.
Bei den chronischen Mittelohreite-
rungen, bei denen eine Eröffnung der Mittel-
ohrräume geboten ist. kommt allein die Total-
aufmeißelung, die sogenannte Kadikai-
operation in Betracht. Nur bei sehr em-
pfindlichen Kindern könnte man ausnahms-
weise die Vornahme der typischen Aufmeiße-
lung in Erwägung ziehen, aber auch hier
nur aus dem Grunde, weil die im Anfang
oft recht schmerzhafte Nachbehandlung sich
sehr schwierig gestalten, ja zuweilen die
strikte Durchführung derselben in Frage ge-
stellt werden könnte.
„Die Radikal Operation ist indiziert, so-
bald die Diagnose der chronischen, sonst
unheilbaren Eiterung eines der 3 Räume,
des KuppÄraumes, des Aditus oder des An-
trums, feststeht, sei es nun, daß es sich um
Caries, um granulöse Ostitis, um Cholesteatom,
Nekrose oder um ein Empyem mit mehr oder
weniger erkrankten Wandungen handelt."
(Stacke.)
An und für sich ist die Hartnäckigkeit
einer chronischen Mittel oh reiterung noch keine
strikte Indikation zur Totalaufmeißelung.
Immerhin aber wird man sie in Erwägung
ziehen, wenn nach monatelanger sachgemäßer
Behandlung die Eiterung nicht zum Still-
stand kommt und man davon überzeugt ist,
daß es sich nicht um eine einfache Schleim-
hauteiterung der Paukenhöhle handelt. —
Die chronische Eiterung kann auch bedingt
sein durch eine isolierte Erkrankung des
äußersten Abschnittes der Tuba Eustachii
oder durch eine isolierte Labyrintherkrankung.
Hier wird durch eine Totalaufmeißelung direkt
nicht viel gewonnen werden, trotzdem aber
kann dadurch eine größere Übersichtlichkeit
des Krankheitsherdes und damit ein besseres
direktes Eingreifen bei der Behandlung er-
zielt werden.
Küster war der erste , welcher im
Jahre 1889 prinzipiell die Fortnahme der
hinteren knöchernen Gehörgangs wand forderte.
Zwar wurde von den Ohrenärzten in einzelnen
besonderen Fällen schon früher die hintere
Gehörgangs wand weggemeißelt; aber die strikte
Forderung, dies in jedem Falle bei der wegen
chronischer Mittelohreiterung vorgenommenen
Aufmeißelung zu tun, ist das alleinige Ver-
dienst Küsters.
Bei einer meiner ersten selbständig aus-
geführten typischen Aufmeißelungen im Jahre
1888 wurde von mir bei einem fünfjährigen
Knaben, Bruno Müller aus Schoneberg-Berlin,
die ganze hintere knöcherne Gehörgangswand
fortgenommen, weil sie fistulös erkrankt war;
die häutige hintere Gehörgangs wand war zum
größten Teil geschwürig zerstört.
In demselben Jahre wurde von mir bei
einer Frau H. aus Weißensee der größte Teil
der knöchernen hinteren Gehörgangswand
weggemeißelt und ein Teil der häutigen,
durch Eiterung und Druckusur zerstörten
Gehörgangs wand fortgenommen. Es handelte
sich hier um ein ausgedehntes Cholesteatom
des Warzenfortsatzes, welches in den äußeren
Gehörgang durchgebrochen war. Der ganze
Warzenfortsatz bis zum Antrum war durch
Druckusur in eine einzige große Höhle ver-
wandelt.
von Bergmann erweiterte die Küster-
sche Forderung noch dadurch, daß er die
hintere und obere knöcherne Gehörgangs wand
bis zur knöchernen Umrandung des Trommel-
felles wegmeißelte. Aus der Küst ersehen
Publikation geht nicht mit Sicherheit hervor,
ob er die ganze hintere und obere Gehör-
gangswand bis zur Paukenhöhle, namentlich
die Pars epitympanica (d. i. der median ste
Teil der oberen Gehörgangs wand, der zu-
gleich die Paukenhöhle in ihrem obersten
Teil nach außen begrenzt) wegnahm.
Erst den Ohrenärzten blieb es überlassen,
den Küsterschen Vorschlag für die Ope-
ration bei chronischen Mittelohreiterungen
weiter auszubauen.
Zaufal und Stacke waren die ersten,
welche den Vorschlag Küsters in die Tat
umsetzten und Operationsmethoden schufen,
die mit geringen Modifikationen heute noch
allgemein angewendet werden.
Bei der Zaufal sehen Operationsmethode
wird zunächst großes Gewicht auf die breiteste
Freilegung des Operationsfeldes gelegt, und
mit Recht, selbst auf die Gefahr hin, daß
einmal in seltenen Ausnahmefällen oberfläch-
liche Nekrose an der Schuppe des Schläfen-
beins durch zu weite Entblößung des Knochens
eintreten kann, wie es Schwartze beob-
achtet hat. Durch die ausgedehnte Schnitt-
XIX. Jahrgang.!
Januar 1905. J
Klau, Operativ« Eröffnung der Mittalobrriume.
25
fuhrung werden auch allzugroße Zerrungen
der Weichteile mit den Wundhaken ver-
mieden.
Der Hauptschnitt beginnt 2 — 3 cm unter
der Spitze des Warzenfortsatzes und wird
senkrecht nach oben über die Mitte des
Warzenfortsatzes, für gewöhnlich 2 cm über
die Linea temporal is hinaus schichtweise bis
auf den Knochen geführt.
Auf das obere Ende des Schnittes wird
dann ein 3 — 4 cm langer Horizontälschnitt
nach vorn bis auf den Knochen und ein etwa
2 cm langer Schnitt nach hinten, sogenannter
T-Schnitt, gesetzt. Wenn es nötig ist zur
vollkommenen Übersicht des Operationsfeldes,
namentlich bei starker Schwellung der Weich-
teile, bei beabsichtigter Freilegung des Sinus
sigmoideus, bei Trepanation auf den Schläfen-
lappen, wird der senkrechte Schnitt nach
oben und unten, der horizontale nach vorn
und hinten noch verlängert. Nach sorgfäl-
tigster Blutstillung erfolgt die vorsichtige
Ablösung des Periostes nach vorn so weit, bis
der obere und hintere Rand des knöchernen
Gehörganges ganz übersichtlich frei liegt, nach
hinten bis zum hinteren Rande des Warzen-
fortsatzes , unter Umständen noch weiter.
Auch die Spitze des Warzenfortsatzes muß
vollständig frei präpariert werden. Ursprüng-
lich schnitt nun Zaufal die hintere obere
häutige Gehörgangs wand ihrer ganzen Länge
nach heraus. Wir werden später sehen, daß
die Yerlustgabe eines, wenn auch noch so
kleinen Teiles des häutigen Gehörganges nicht
zu empfehlen ist. Man tut deshalb besser,
den hinteren und oberen Teil des häutigen
Gehörganges vorsichtig mit dem Ras pator iura
allmählich vom Knochen bis zur Umrandung
des Trommelfelles abzulösen und, wenn er
nicht, wie es meist der Fall ist, schon vor-
her abreißt, ihn dicht vor dem Trommelfell-
rand mit einem schmalen Skalpell schräg
nach vorn zu durchschneiden. Die vordere
häutige Gehörgangswand bleibt in ihrer Ver-
bindung mit dem Knochen. Bei der Auf-
meißelung wird der abgelöste Teil der hinteren
Gehörgangs wand mit einem schmalen stumpfen
Wundhaken nach vorn gedrückt. Zur Auf-
meißelung selber wählt man am besten Hohl-
meißel, die sich besser der Rundung des
knöchernen Gehörganges anpassen. Ich be-
nutze zur Totalaufmeißelung nach Z auf als
Vorschrift Hohlmeißel, von denen der größte
1 cm 6 mm, die kleinsten l/a cm Spannweite
haben, und die mit Griff 21 cm lang sind.
Ist man genötigt, nach Eröffnung des Antrum
mastoideum noch mit dem Meißel weiter in
der Tiefe zu operieren — in den meisten
Fällen empfiehlt hier Zaufal die Anwen-
dung der Lu ersehen Knochenzange — so
Th. M. 1906.
muß man natürlich je nach der Weite des
Operationsfeldes schmalere Hohlmeißel be-
nutzen.
Die Totalaufmeißelung beginnt damit, daß
man den größten Meißel etwa 1 cm vom
hinteren Rande des knöchernen Gehörganges
dicht unter der Linea temporalis auf dem
Planum des Warzenfortsatzes ansetzt und von
hinten nach vorn und medianwärts einen
dünnen Span bis in den äußeren Gehör-
gang hinein abmeißelt. Schichtweise wird
nun in derselben Richtung die Corticalis des
Warzenfortsatzes zugleich mit der hinteren
oberen Wand des knöchernen Gehörganges
abgetragen, indem man den Meißel bei jedem
erneuten Meißelschlage immer einige Milli-
meter weiter nach hinten ansetzt. Wird bei
der Operation eine Höhle im Warzenfortsatz
freigelegt, so werden die überhängenden Ränder
derselben mit der Lu er sehen Zange abge-
tragen, bis man die Höhle vollkommen frei
übersehen kann. Oft hängt eine solche
Höhle schon mit dem Antrum zusammen,
und man kann dann schon allein mit der
Knochenzange die hintere obere knöcherne
Gehörgangswand entfernen. Findet man keine
Höhle im Warzenfortsatz, ist derselbe voll-
ständig kompakt, so fährt man mit der
schichtweisen Abtragung des Knochens immer
von hinten nach vorn und einwärts weiter
fort und erhält so eine unter der Linea tem-
poralis verlaufende Rinne, die man gut über-
schauen kann. Selbstverständlich müssen,
je weiter man in die Tiefe vordringt, die
Meißel entsprechend dem Operationsterrain
schmaler gewählt werden. Diese Rinne, die
allmählich bis zum hinteren Rande des
Warzenfortsatzes reicht, muß nach hinten
immer seichter werden, um eine Verletzung
des Sinus sigmoideus zu vermeiden. Je weiter
man in die Tiefe vordringt, desto größere
Vorsicht ist anzuwenden. Von Zeit zu Zeit
kann man sich durch Sondierung mit einer
rechtwinklig gebogenen Sonde, die vom Aditus
ad Antrum eingeführt wird, überzeugen, ob
man noch weit vom Antrum entfernt ist. Ist
das Antrum eröffnet, so kann die äußere
Wand desselben entweder mit dem Meißel
oder mit einer schmalen geraden Lue r sehen
Zange entfernt werden. Zuletzt wird die
Pars epitympanica abgetragen. Nicht immer
gelingt dies, wie Zaufal empfiehlt, mit der
Luerschen Zange. Ich benutze deshalb jetzt
stets den in der Fläche gebogenen Stacke-
schen Meißel dazu und entferne, nachdem
ich mich mit der Sonde über die Größe der
Pars epitympanica orientiert habe, dieselbe
oft mit einem Schlage. Mit einer gekrümmten
Sonde kann man dabei die innere Pauken-
höhlenwand schützen.
4
26
Klau, Operative Eröffnung dar Mittalobrräuma.
rTberapeutiscfett
I. Monatshefte.
Die so erhaltene Höhle muß mit dem
scharfen Löffel von Granulationen gereinigt
werden. Hammer und Amboß werden, nach-
dem ihre Verbindungen getrennt sind, aus
der Paukenhöhle entfernt. Nur'in sehr seltenen
Fällen, wo die Gehörknöchelchen und die
Pars epitympanica nicht kariös erkrankt sind,
kann man sie in ihrer Lage im Mittelohr
belassen. Dadurch soll eine bessere Hör-
fähigkeit erzielt werden. Es ist aber sehr
schwer, in jedem Falle mit voller Be-
stimmtheit Caries der Gehörknöchelchen und
der Pars epitympanica auszuschließen. Aber
selbst dann, wenn keine Caries in der Pauken-
höhle besteht, kann in dem engen oberen
Paukenhöhlenraum beim Stehenlassen von
Hammer und Amboß nachträglich Eiterung ein-
treten. Dazu kommt, daß von Brieger und
Görke bei der Totalaufmeißel ung mit Er-
haltung der Gehörknöchelchen kein besseres
Resultat bezuglich der Hörfähigkeit erzielt
wurde als bei vollständiger Exzenteration der
Paukenhöhle. Man wird sich also nur in
ganz besonderen Ausnahmefällen für das
Stehenlassen von Hammer und Amboß ent-
schließen.
Bei der Stack eschen Operationsmethode
wird der umgekehrte Weg wie bei der
Z au falschen eingeschlagen, es werden die
Mittelohrräume von innen nach außen frei-
gelegt. Den Vorzug hat die Stacke sehe
Methode vor derjenigen von Zaufal, daß
sie auch bei erheblichem Tiefstand der mitt-
leren Schädelgrube, vor allem aber selbst
bei starker Vorlagerung des Sinus sigmoideo-
transversus vorgenommen werden kann, wo
die Zaufal sehe Methode unter Umständen
versagt.
Ursprünglich präparierte Stacke nicht
nur die hintere häutige Gehörgangs wand aus
dem knöchernen Gehörgang heraus, sondern
auch die vordere. Unstreitig gibt dieses Vor-
gehen eine viel bessere Übersicht des Opera-
tionsfeldes und die Operation wird dadurch
wesentlich erleichtert. Trotzdem ist es vor-
zuziehen, die vordere häutige Gehörgangs-
wand in ihrer Verbindung mit der vorderen
knöchernen Gehörgangs wand zu belassen,
wenn der äußere Gehörgang nicht abnorm
eng ist. Bei vollständiger Loslösung des
häutigen Gehörganges bleibt der medianste
Teil der vorderen knöchernen Gehörgangs-
wand nach der Reposition der häutigen Aus-
kleidung meist unbedeckt, da die dünne Haut
sich elastisch zurückzieht. Dadurch kann
Nekrose an den unbedeckten Stellen eintreten.
Nach vollzogener Ablösung der hinteren
oberen häutigen Gehörgangswand, die vor
dem Margo tympanicus, wenn sie nicht schon
vorher abreißt, schräg nach vorn durch-
schnitten wird, wird das Trommelfell resp.
der Rest desselben [am Rande umschnitten.
Mit dem in der Fläche gekrümmten Meißel
wird nunmehr zunächst die Pars epitympanica,
welche den obersten Teil der Paukenhöhle,
den sogenannten Recessus epitympanicus oder
Atticus, nach außen und unten begrenzt,
weggemeißelt, sodaß zwischen Tegmen tym-
pani und oberer Gehörgangswand mit der
Sonde kein Knochenvorsprung mehr gefühlt
wird. Hammer und Amboß werden entfernt.
Sodann wird der Stacke sehe Schützer oder
besser eine rechtwinklig gebogene Sonde
nach hinten in den Aditus ad antrum ein-
geführt und auf ihr die hintere obere
knöcherne Gehörgangswand, die zugleich die
laterale Wand des Antrum mastoideum bildet,
fortgemeißelt. Es empfiehlt sich, nicht über
den unteren Rand des Schützers resp. der
Sonde beim Meißeln hinauszugehen, um eine
Verletzung des Nerv, facialis zu vermeiden.
Nach außen kann man dann noch soviel von
der hinteren Gehörgangswand fortmeißeln,
als zur Bildung einer übersichtlichen, möglichst
glatten Knochenhöhle notwendig ist. Daran
schließt sich die Ausräumung der Knochen-
höhle. Alle Vorsprünge müssen mit dem
Meißel, dem scharfen Löffel oder der Fräse
geglättet werden; ebenso der sogenannte
„Sporn" oder Facialiswulst; darunter ver-
steht man den mediansten Teil des von der
hinteren knöchernen Gehörgangs wand stehen
gebliebenen Knochenwalles. Dieser Vorsprung
muß möglichst weit abgetragen werden, da
er sonst die Übersichtlichkeit der Knochen-
höhle sehr beeinträchtigt. Dabei ist sorg-
fältig die Gesichtsmuskulatur zu beobachten,
um bei Eintritt von Spasmen nicht weiter vor-
zugehen. Auch den Margo tympanicus poste-
rior kann man unter Beobachtung größter
Vorsicht abflachen, falls durch ihn der hintere
untere Teil der Paukenhöhle verdeckt wird.
Nach Kretschmann empfiehlt es sich auch,
den unteren Rand des Margo tympanicus,
soweit er die Übersicht über den Recessus
hypotympanicus oder „Keller" (Grüner t)
hindert, abzuflachen. Kretschmann fand,
daß der Boden der Paukenhöhle, namentlich
die oft beträchtliche Vertiefung hinter dem
Margo tympanicus inferior, der sogenannte
Keller, nach der Radikaloperation nicht zu
selten Veranlassung zur Persistenz der Eiterung
gäbe. Auch bei der Abtragung dieses unteren
Randes ist große Vorsicht zu beobachten,
damit der Nerv, facialis nicht verletzt wird.
Beim Eintritt von wiederholten Zuckungen
in der Gesichtsmuskulatur müssen wir von
einem weiteren Vorgehen abstehen. Aller-
dings kann nicht in jedem Falle eine Facialis-
paralyse vermieden werden. Zuweilen sind
XIX.JjüirKang.n
Janimr liHtt. J
Klau, Operative Eröffnung der Mittelohr rftume
21
anatomische und pathologische Verhältnisse
daran schuld.
Außer der Verletzung des Nerv, facialis
kann auch zuweilen eine Eröffnung des hori-
zontalen Bogenganges vorkommen. Deshalb
ist bei der Wegnahme des letzten Restes
der hinteren oberen knöchernen Gehörgangs-
wand größte Vorsicht geboten. Auch bei der
Glättung der Knochenhöhle muß man sich
hüten, die Prominenz des in den Aditus vor-
springenden horizontalen Bogenganges fort-
zunehmen. Ist dagegen der horizontale Bogen-
gang kariös angegriffen, so ist eine Entfernung
der kariösen Partien gerechtfertigt. Immer
tritt nach Verletzung des horizontalen Bogen-
ganges Schwindel, nicht selten auch Nystag-
mus ein, Erscheinungen, welche sich meist
bald verlieren.
Bei einem 12jährigen Knaben H. aus Berlin,
der an einer chronischen kariösen Mittelohreiterung
litt, und bei dem deshalb von mir die Totalaut-
meißelung vorgenommen wurde, zeigte sich Caries
am horizontalen Bogengänge. Bei der Auskratzung
der kariösen Stellen mit dem scharfen Löffel wurde
der Bogengang eröffnet. Der danach auftretende
Schwindel war so heftig, daß Patient selbst in
ruhender Lage die beiden ersten Tage nach der
Operation davon ergriffen war. Die Nahrung wurde
an diesen beiden Tageu wieder erbrochen. In den
folgenden Tagen behielt Patient das Genossene bei
sich, wenn er die Speisen in liegender Stellung
einnahm. Sowie er sich aufrichtete, wurde er wieder
vom heftigsten Schwindel und Erbrechen befallen.
Am 7. Tage nach der Operation war der Schwindel
beim Autrichten im Bett geschwunden. Beim
Gehen war Patient anfangs noch unsicher, doch
auch diese Gleichgewichtsstörungen schwanden nach
14 Tagen vollkommen.
Auffallend hierbei war, daß Patient trotz
Eröffnung des Bogenganges auf dem be-
treffenden Ohre nicht taub wurde. Er hört
Flüstersprache (Zahlen) in 1 Meter Entfernung.
Diese Tatsache spricht dafür, daß nicht in
jedem Falle bei Eröffnung des horizontalen
Bogenganges Taubheit eintreten muß.
In einem anderen von mir operierten Falle von
Bogengangscaries zeigten sich vor der Operation
hochgradige Schwindelerscheinungen. Patient litt
seit seiner Kindheit an einer chronischen Mitteiohr-
eiterang. Schon jahrelang vor der Operation wurde
von mir die Diagnose auf Cholesteatom gestellt.
Trotz dringenden Anratens konnte sich Patient
nicht zur Vornahme der Operation entschließen.
Im August 1902 stellten sich plötzlich starke
Schwindelerscheinungen ein, nachdem wochenlang
vorher das Allgemeinbefinden nicht befriedigend
war. Als die Sichwindelerscheinungen derartig zu-
nahmen, daß Patient nicht mehr ohne Begleitung
fehen konnte, entschloß er sich endlich zur Operation.
>ie Totalaufmeißelung gestaltete sich äußerst
schwierig, da der Warzenfortsatz bis zum Antrum
in ungewöhnlicher Weise eburnisiert war; das An-
trum war minimal klein. In demselben, im Aditus
und Atticus fanden sich zerfallene Cholesteatom-
massen. Die Prominenz des in den Aditus vor-
springenden horizontalen Bogenganges zeigte sich
kariös. Die kariösen Partien wurden mit dem
Meißel und dem scharfen Löffel vorsichtig ab
getragen. Patient fühlte sich nach der Operation
sofort besser. Merkwürdigerweise waren die
Schwindelerscheinungen beim Aufrichten im Bett
vollständig geschwunden. Auch das undeutliche
Sehen, über welches der Patient kurz vor der
Operation klagte, war gewichen. Nur beim Auf-
stehen empfand Patient Gleichgewichtsstörungen,
die sich noch monatelang bemerkbar machten,
pamentlich beim Gehen im Dunkeln. Später ver-
loren sie sich. Sie waren niemals so hochgradig,
daß Patient hätte geführt werden müssen.
[Setifugs folgt.}
Zur Frage der Zellmast.
Von
Dr. Walther Nie. Clemm,
Arzt für Verdauung*- und Stoffwechtellelden, Darmstadt.
„Über die physiologische Verbrennung in
den lebendigen Organismen tt hat Pflüg er
bereits vor 30 Jahren sich in einem Sinne
geäußert, der den modernen Anschauungen
von der Abspielung der Lebensvorgänge zum
Grundpfeiler geworden ist, auf dem besonders
Max Verworn im Sinne und Geiste der
Hack eischen Biogenlehre weitergebaut hat.
Danach ist das lebendige Eiweißmolekül
von intramolekularem Sauerstoff erfüllt; be-
seelt wird das lebende Protoplasma allerdings
nach Rieh ard Neumeisters ausgezeichneten,
leider Schluß1)*» Betrachtungen über das Wesen
der Lebenserscheinungen tt (Jena 1903 bei
G. Fischer) von Empfindungen, von denen
einerseits alle Verrichtungen im Leben ab-
hängen, und welche anderseits jenseit der
analytischen Mechanik liegen, weder im Brut-
schrank des Biologen noch im Tiegel des
Chemikers jemals werden entdeckt werden!
Unter der Herrschaft dieses vitalis tischen
Prinzipes nun spielt sich im „ lebendigen
Eiweißmolekül" (Pflüg er) oder im ,, Biogen"
(Hacke 1- Verworn) ein reger Sauerstoff-
wechsel ab, welcher in der Dissoziation der
Eiweißatome und -atomgruppen sich äußert;
und zwar geht diese unter dem Einflüsse des
Sauerstoffs stehende „innere Atmung" (Eb-
stein) sowohl in der freilebenden Zelle der
Amöbe, des Bakterium u. s. f., als in der
dem Zellstaate der höheren Tiere und des
Menschen eingegliederten einzelnen Organ z eile
vor sich.
Dadurch wird eine erkleckliche Menge von
Rohmaterial, d. h. von in der Nahrung zu-
geführtem Eiweiß, immer wieder verbraucht
um die „mit Bedarf begabte Substanz", wie
Pflüg er das „Organeiweiß" Voits treffend
benennt, ständig zu erneuern; denn dieser
innere Bedarf ist ein unaufhörlicher und noch
l) Neumo-ister hat sich von der öffentlichen
Tätigkeit gänzlich zurückgezogen und mir sowohl
Neubearbeitung seines Lehrbuches wie Mitwirkung
an einem neuen Werke abgeschlagen.
4*
28
Clemm, Zur Prag« dar Zollmatt.
rrhArftpeutteche
L Monatshefte.
gesteigerter, wenn z. B. zehrende Krankheit,
Schwäche oder Überanstrengung des Körpers
zu Zellhunger, wie ich diese Zustände be-
zeichne, geführt haben, wenn zerfallendes
Organeiweiß dem kreisenden, „zirkulierenden"
(Voit) Eiweiß Nachschub liefern (Grawitz)
mußte, ohne selbst entsprechende Erneuerung
zu finden. Diese hungernde Zelle friert als-
dann, ihr mangelt es an Brennstoff für ihre
Innenheizung, und wie der vor Hunger
frierende Mensch an seiner Leistungsfähigkeit
einbüßt, so läßt die einzelne Zelle in ihrer
Lebenstätigkeit nach und so gerät, wo der
Einzelhaushalt in Unordnung gekommen ist
und nicht mehr sich aufrecht erhalten kann,
das ganze Staatswesen der Zellrepublik in
die Gefahr des Zerfalls, der Auflösung.
Der Umstand nun, daß die Zersetzungs-
ergebnisse des Eiweißes im Körper — soweit
sie stickstoffhaltig sind — entweder selbst
das Radikal GN enthalten oder aus Cyan-
verbindungen — wie der Harnstoff — durch
Synthese künstlich können hergestellt2) werden,
veranlaßt Wilhelm Ebstein in seinen an
Franz König gerichteten Briefen „ über ver-
erbbare zellulare Stoffwechselkrankheiten"
(Stuttgart, bei Ferd. Enke, 1902) darauf
hinzuweisen, daß die biologischen Vorgänge,
welche im lebendigen Eiweißmolekül sich ab-
spielen, die natürliche Ursache der Entstehung
von Fettsucht, Gicht und Zuckerkrankheit
werden können. Dieser Hinweis besitzt eine
besondere praktische Bedeutung dadurch, daß
mit ihm die Anwendung von „Eiweiß-
sparern a, also von Kohlenwasserstoffen und
Fetten, an Stelle reichlicher Eiweiß-
zufuhr gerichtet ist.
Denn es handelt sich nicht um die durch
Verabreichung von „Eiweißsparern" beab-
sichtigte Schonung und Erhaltung der be-
stehenden Protoplasmamoleküle, der „Bio-
gene" sondern um Neuschaffung derselben
an Stelle der zerfallenden alten: Wie
der am moosigen Ufer gelagerte Beschauer
stets zwar den rauschenden Bach vor sich
sieht, und trotzdem die Tropfen, welche so-
eben noch den Wasserwirbel gebildet haben,
bereits an ihm vorbeigeglitten sind, ständig
von neuen, von anderen verdrängt, so ist
die scheinbar unveränderte lebende Zelle auf-
gebaut von diesen Lebenströpflein, die in
stetem Zerfall und in ebenso unaufhörlichem
Wiederaufbau begriffen sind! Damit der Bach
nicht übertrete oder versieche, muß ihm eine
gleichmäßige Zufuhr von der Quelle aus ge-
leistet werden; so muß auch für reichliche
2) Vgl. auch Emil Fischers „Peptidareihen,
welche aus Mono-, Oxy- und DiaminosäurcD künst-
lich hergestellt den VerdauungspeptoDen ähnliche
Erzeugnisse liefern.
Zufuhr der richtigen Baustoffe gesorgt sein,
um die Erzeugnisse des Zellzerfalls in die
rechte Bahn zu lenken und um den Neubau
der Moleküle ungestört erfolgen zu lassen,
damit nicht etwa abnorme Arbeit der „Biogene"
zur Erzeugung neuer ihre Kraft zersplittere,
sie vorzeitig erschlaffe und als Folge davon
die Zelle, das Organ und endlich den ganzen
Körper krank werden lasse. Es kann sich
hierbei sowohl um primäre, ererbte Falsch-
anlage der lebendigen Eiweißmoleküle han-
deln als um sekundäre, erst erworbene Stö-
rungen derselben, deren Folgen für den Or-
ganismus in maßgebender Weise beeinflußt
werden durch die Wahl der zur Plasma-
erneuerung dem Körper zugeführten Stoffe.
Eine große Rolle spielen im Binnenstoff-
wechsel die von der Zelle erzeugten Enzyme,
deren Unterscheidung von den organisierten
Fermenten vielfach noch wenig durchgeführt
wird; ihre Bedeutung hat bereits der große
Justus Liebig geahnt, als er mit Pastcur
den Streit aufnahm, welcher so lange Zeit
zu seinen Ungunsten entschieden schien, bis
E. Buch n er s Darstellung der Hefczymase
bezw. des aus ihr gebildeten Enzyms dem
großen Prometheus — teilweise wenigstens
— Recht gab: Denn demnach läßt sich aus
dem Leibe der Sproßpilze ein nicht be-
lebter chemischer Körper darstellen, welcher
Zucker in Alkohol und in Kohlensäure aul-
spaltet: Ein Enzym, das übrigens der Prager
Forscher J. Stokl asa nach Veröffentlichungen
im Zentralblatt für Physiologie vom 14. Febr.
und 21. November 1903, in den Berichten
der Deutschen chemischen Gesellschaft vom
19. November 1903, in Pflügers Archiv
Bd. 101, 1904, und in der Deutsch, med.
Wochenschr. No. 6 von 1904 dargestellt hat
aus der Zelle höher organisierter Tiere;
Stokl asa gebraucht für diese von ihm
isolierten „gärungserregenden Enzyme" die
Mehrzahl, da er aus verschiedenen Geweben
verschiedener Tiere solche dargestellt haben
will. Die Bestätigung dieser hochinter-
essanten Arbeiten, welche den Abbau der
Kohlenwasserstoffe zu Alkohol und Kohlen-
säure innerhalb der Zellen beweisen, steht
von anderer Seite allerdings noch aus. Zweifel-
los wäre ihre Erhärtung geeignet, unsere
biologischen Anschauungen wesentlich zu klären
und zu festigen.
Hoppe-Seylerund Willy Kühne haben
vor langem schon den Standpunkt der An-
nahme von Fermentationen in den Lebens-
pro zeßen vertreten; ich selbst war in Kühnes
Laboratorium mit der Aufsuchung zweier ver-
schiedener Enzyme bezw. Fermente betraut,
welche mein unvergeßlicher Lehrer als vor-
handen voraussetzte: Gefunden habe ich sie
XIX. Jahrgang/!
Jannar 1905. J
Clemm, Zur Prag« der Zollmaat.
29
beide nicht, doch den Trost habe ich, daß
auch heute nach 15 bezw. 16 Jahren sie
noch nicht entdeckt worden sind. — F. Hof-
meister legt diesen intrazellulär chemisch
wirkenden Stoffen ein großes Gewicht bei,
Richard Neumeister dagegen warnt vor
ihrer Überschätzung. Diese Entdeckungen
vermöchten, so schrieb er mir noch im März
ds. Js. , seine „Ansicht, daß die lebende
Substanz in erster Linie selbst die Spaltungen
besorgt, durchaus nicht zu erschüttern tt. Denn
nach seiner Auffassung stellen die Zellenzyme
avfserhalb der lebendigen Zellsubstanz in
vorbereitender Weise tätige Stoffe dar,
»während das Zellprotoplasma selbst die
betreffenden chemischen Verbindungen — im
Falle Stoklasas also Zucker — , „wenn sie
erst in seinen Besitz gelangt sind, ungleich
energischer aufspaltet, als sein Absonderung s-
produkt, die Zymase." — In dieses ver-
wickelte — und doch so einfach -natürliche
— Getriebe hinein können Störungen ge-
langen, durch welche der Ausgleich des Stoff-
wechsels aufgehalten wird und im Gesamt-
körper die Folgen der alterierten Zelltätig-
keit sich fühlbar machen.
Wenn auch entgegen Pflügers Wider-
spruch die Entstehung von Fett aus
Eiweiß angenommen wird, so ist doch die
von Lüthje, R. Cohn, Neuberg und Lang-
stein, Fried. Kraus behauptete Ent-
stehung von Zucker aus Eiweiß zwei-
fellos auf irrigen Voraussetzungen be-
ruhend. Die von Pflüg er im 103. Bd.
seines Archivs an diesen Arbeiten geübte
scharfe Kritik hat ihr Schicksal wohl be-
siegelt3); damit wissen wir aber anderseits
gar nichts Positives über diese Vorgänge:
Denn ehe die Entstehung der tierischen
Stärke oder des Zuckers aus Fett im Tier-
körper bewiesen ist, kann auch Pflüg ers
bezügliche Auffassung sich wohl nur schwer
Anhänger erwerben.
Somit ist die Entstehung von Zucker
aus Eiweiß als abgetan zu betrachten,
die von Fett aus Eiweiß nach dem Ur-
teil eines unserer größten Physiologen
mindestens zweifelhaft: Eine aus-
schließliche Eiweißernährung wird da-
her niemals und in keinem Falle be-
rechtigt und begründet erscheinen.
Der Fettleibige verbrennt weniger Sauer-
stoff in seinen Geweben und gibt weniger
Kohlensäure ab als der normale Mensch:
Dadurch wird die normalerweise öl- und
fetttröpfchenhaltige Zelle stärker damit er-
*) Trotz der Lanze, die Emil Abderhalden
soeben in der neu begründeten „Medizinischen Klinik u
(Urban & Schwarzenberg, Berlin) für diese Auf-
fassung wieder gebrochen hat.
füllt, die lebendige Eiweißsubstanz dadurch
zurückgedrängt und an der freien Entwicke-
lung und Entfaltung ihrer Lebenstätigkeiten
gehindert. Diese mangelnde COa-Ausscheidung
wird der Grund zu manchen „Konstitutions-
krankheiten", übrigens ein Wort ohne Begriff,
das Wilhelm Ebstein aus unserem Wörter-
schatz gestrichen sehen will.
Die geistvollen Theorien von der Ent-
stehung der Gicht, der Fettsucht und der
Zuckerruhr, welche Ebstein entwickelt, sind
für jede Überlegung von Stoffwechselanomalien
so mustergültig, daß ich sie in kurzem Um-
risse hier wiedergebe; durch derartige Er-
wägungen kann mancher Lichtstrahl in dunkle
Tiefen fallen, aus denen die Quellen der
Krankheiten hervorbrechen, und kluge recht-
zeitige Dammbauten können vor späterer
Überschwemmung bewahren.
Die seltene bedrohliche Form der Gicht
nennt Ebstein „primäre Nierengicht"; bei
ihr allein trifft die alte Auffassung zu, wo-
nach die Nieren als schlechtes Filter für die
Harnsäure wirken, sodaß dieselbe in den
rückliegenden Geweben massenhaft aufge-
stapelt wird. Die „primäre Gelenkgicht"
bildet die häufige Form der Gicht und diese
hat ihre Wiege im Knochenmark und in der
Muskelzelle: Aus den Kernen dieser Gewebs-
zellen entsteht neben den Nukleinbasen : Xan-
thin, Hypoxanthin, Guanin und Adenin die
Harnsäure; kommt es zu gesteigertem Zell-
kernzerfall bei gleichzeitiger Unfähigkeit
der Gewebe zur weiteren Zerlegung der'Zer-
fallsergebnisse, so ergibt sich die harn-
saure Diathese als die natürliche Folge.
Da aber anderseits die Zellkerne an Neutral-
fetten keinen Vorrat enthalten, diese viel-
mehr im Zellplasma sich finden, so gibt
letzteres nach Ebstein den Mutterboden
für die Fettleibigkeit ab.
Für sämtliche Arten der Zuckerkrank-
heit endlich, für die neurogene, die hepato-
gene, die myogen e oder die hämatogene, für
die pankreato- oder die gastroenterogene, für
die konstitutionelle oder die symptomatische
(zu welch letzterer Gruppe wohl die auf
Vergiftungen erfolgenden Formen, ehe sie
einer der anderen eingereiht sind, zu zählen
sind) — für all diese so verschieden auf-
gefaßten, in den gleichen Krankheits-Erschei-
nungen sich äußernden Erkrankungen erblickt
Ebstein den einheitlichen Grund in der
Störung der „inneren Atmung" des
Zellmoleküls. Er beweist diese Auffassung
mit der nach Narkose von ihm klinisch be-
obachteten, von Hans Winterstein unter
Max Verworns Leitung künstlich durch
Chloroform hervorgerufenen und studierten
Verminderung der Zellenergie, welche sich
30
Clemm, Zur Prag« dar Zellmatt
rTh*r»peu1
L Monatah
Monatshefte.
in einer Lähmung der Assimilation wie der
Dissimilation, des Aufbaus wie des Zerfalls
der Zelle äußert. Die gleiche Beobachtung
machte Ebstein mit Franz König zu-
sammen in zwei Fällen von schwerster Zucker-
harnruhr mit Extremitätenbrand, in welchen
die Absetzung der brandigen Glieder
das allmähliche Schwinden der sich
zuvor ständig steigernden, bereits die
Anzeichen des nahenden Endes mit Koma
etc. darbietenden Zuckerkrankheit im
Gefolge hatte: Im ganz geraden Gegen-
satze zu der herrschenden Lehre, welche
Operationen während der Verschlechterung
des Allgemeinzustandes untersagt und sie
erst in der Entzuckerungsperiode zulassen
will! Hier lag eine Selbstvergiftung vor,
welche die Zellenergie lähmte, sodaß der
aus Glykogenzer f al 1 entstandene
Zucker nicht zu Alkohol und Kohlen-
säure verbrennen konnte: Tatsächlich
scheidet der Zuckerkranke ja auch weniger
C03 aus als der Gesunde, wie Weintraud
nachgewiesen hat, während er gleichzeitig
weniger Sauerstoff in seinen Geweben aufzu-
nehmen vermag. Mit der Erklärung Eb-
steins jedoch, wonach Kohlensäure dieDiasta-
sierung pflanzlicher wie tierischer Stärke
hemmt (allerdings in neutraler oder alka-
lischer Losung) — hierdurch wird eine COa-
Anhäufung von ihm konstruiert — stehen
die neueren Penzol dt sehen Untersuchungen
im Widerspruch, welche die bessere und
schnellere Zerlegung der Amylaceen im Magen
unter Kohlensäure Wirkung dartun. Meines
Erachtens erklärt auch die weit ungezwun-
genere, von mir oben gegebene Deutung das
pathologische Auftreten des Zuckers in voll-
kommen genügender und erschöpfender Weise.
Daß der ganze Vorgang ins Wirkungs-
gebiet der einen „integrierenden Bestandteil
der Zelle" bildenden Enzyme verlegt wird,
ist ebenso unnötig nach dem oben Gesagten,
wie es als eine wesentliche, schon weiter
oben gekennzeichnete Überschätzung der Pro-
toplasmaerzeugnisse vor diesem selber er-
scheint.
Dagegen sind wichtige Diätmaximen aus
den Ebsteinschen Ausführungen zu ent-
nehmen; Fette befördern leicht das Auftreten
des diabetischen Komas, nukl einreiche Nah-
rungsmittel haben bei Gichtanlage im weiter
oben geschilderten Sinne Bedenken, daher ist
eine Einschränkung der Kohlehydrate bei
Verabreichung Stärkemehl armer Gemüse vor-
zunehmen, während die fabrikmäßige Her-
stellung einer ganzen Reihe guter Nährprä-
parate uns freier und unabhängiger in der
Diätotherapie gemacht hat, wie Ebstein mit
Recht und mit Stolz im Hinblick auf seine
bedeutenden Verdienste in dieser Beziehung
sagt. — Ich habe diese Überlegungen an-
gestellt an Hand des ausgezeichneten Schrift-
chens von Wilhelm Ebstein als ich mich
mit den Arbeiten von Karl Bornstein in
Leipzig beschäftigte. Diese erhalten durch
jene eine ganz erhebliche Festigung. Karl
Bornstein wendet sich seit einigen Jahren
gegen das Verfahren wie gegen die Be-
zeichnung der sogenannten „Mastkuren",
wie sie durch Weir Mitchell in Philadel-
phia und durch Play fair in London ge-
schaffen und besonders durch die Leyden-
sche Schule, speziell durch Klemperer, bei
uns eingebürgert worden sind. Wie auch
0. Rosenbach, so gibt Bornstein seinem
Abscheu Ausdruck, wenn von einer künstlichen
Mästung bei Menschen gesprochen wird in
der Art und Weise, wie es der Landwirt
bei seinen Schweinen oder Gänsen zur Er-
zielung eines hohen Schlachtgewichtes oder
von Lebern für die Pastetenbäcker etwa tut;
wie Rosen bach sehr zutreffend meint, ist
solches Verfahren Menschen gegenüber doch
nur bei den Menschenfressern im Märchen
gebräuchlich, und die Zeiten der Knusper-
hexe, die sich Hansel und Gretel bratfertig
zu mästen suchte, wollen wir nicht in der
klinischen Terminologie wieder aufleben lassen :
Das Abstoßend- Schauerliche bekommt dabei
einen reichlich komischen Beigeschmack! —
Wir müssen doch wissen, was wir mit „Mast-
kuren" wollen: Gewiß nicht eine Erhöhung
des Lebendgewichtes, sondern eine Erhöhung
der Zellkraft, mithin eine Zellmast; mit der
Wahl dieses Wortes kommt das Abstoßend-
Komische in Wegfall, und das Verfahren,
welches sich als das richtige ergibt, räumt
auch mit dem der alten Bezeichnung gleich-
wertigen alten Mastverfahren auf: Nicht mehr
erzwungene Trägheit, nur durch Knetun-
gen oder Kaltwasser- oder Elektrizitätsan-
wendung, wie — bis auf letztere — der
römische Schlemmer der Kaiserzeit oder der
Haremseunuch seinem erschlaffenden Leib sie
zuteil werden ließ, spärlich unterbrochene
Ruhe bei fortgesetzter Äsung bezwecken Zu-
nahme des Körpergewichts und der Kräfte,
sondern durch gesunde kräftige Bewegung
erhöhter Innenstoffwechsel macht bei geeigneter
Zufuhr von Zellbrenn- und Baustoff das Zell-
leben gesund, erhöht die innere Atmung, kurz
es führt das von Born stein- Noor den in-
auguriei%te Verfahren zvr Zelltnast durch
Eiweifsmast.
Eine solche findet beim wachsenden
Menschen ebenso wie bei dem von schwerer
Krankheit Genesenden statt. Dementsprechend,
weil bei gesunden Verdauungs- und Aufnahme-
XIX. Jahrgang. 1
Jänner 1905. J
Clemm, Zur Frage der Zellmatt.
31
Werkzeugen auch eine unzweckmäßige Zu-
sammenstellung der Nahrungszufuhr min-
destens für längere Zeit ohne Schaden er-
tragen wird, konnte in vielen Fällen ein
ausgezeichneter Erfolg von einer Weir Mit-
chellkur beobachtet werden; in einer ganz
bedeutenden Zahl derselben — nach Born-
steins Beobachtungen in der Mehrzahl so-
gar — aber leistet die Kur nichts. Da nun
in diesen letzteren Fällen Eiweißmast die
Lücke deckt, und dieselbe anderseits in
den Fällen der ersten Art gleichwertig der
Playfairkur ist, so scheint mir kein Grund
vorzuliegen, letztere überhaupt noch anzu-
wenden, ich stelle mich vielmehr auf Born-
steins Standpunkt, sie ganz und gar durch
Zellmast zu ersetzen.
Es wird ja unzweifelhaft in vielen Fällen
bei längerem Gebrauch einer „Mastkur*4 der
geschwächten Zelle neue Lebenskraft ver-
liehen durch erhöhte Eiweißzufuhr, allein es
wird auch gleichzeitig den Verdauungswerk-
zeugen eine ganz un verhältnismäßige Last
aufgebürdet, weil ihnen die notwendigen
Zwischenzeiten zwischen den einzelnen Mahl-
zeiten dermaßen verkürzt werden, daß die
Verdauungssäfte in ununterbrochenem Fluß
erhalten werden. Die Magen- und Darm-
zelle erlebt nicht den physiologischen Höhe-
punkt ihrer Tätigkeit mehr mit der darauf
allmählich folgenden behaglichen Euhe nach
getaner Arbeit, es wird ihr vielmehr ein
nimmerrastendes, immer wieder von neuem
beginnendes Schaffen aufgebürdet, das sie
nervös erregen muß; auf der anderen Seite
leidet aber auch die muskuläre Tätigkeit
der Verdauungsorgane unter dieser ständigen
Füllung Not, es erfolgt eine Erschlaffung
ihrer Kraft, der auch die Massage nicht
gänzlich zu begegnen vermag, eine atonische
Erweiterung und Senkung ihrer Wandungen
ist das nächste Ergebnis, aus dem dann end-
lich eine Ptoseodyspepsie (Achilles
Rose, New-York), eine schlaffe Sen-
kung, hervorgeht mit all ihren Folgen.
Diese Art von Kuren hat also eigentlich
nur da Berechtigung, wo es sich um ziel-
bewußten Fettansatz handelt, etwa zur
Stützung gesenkter Eingeweide nach Zu-
rückbringung der gewanderten Niere, nach
Stützung des gesenkten Magens mit der
Ros eschen Pflasterbinde oder mit meinem
„Enterophor". Dann wählt man aber viel-
mehr einen Diätplan ähnlich dem für die
Gallensteinkrankheit gültigen, wie ich ihn
auf dem letzten Kongreß für innere Medizin
in Leipzig entworfen habe, unter Zulage fett-
ansetzender Kohlehydrate. — Im übrigen
sollen aber all die Fälle, in denen höchst
unerwünschter Fettansatz die Folge der Kur
war, vermieden werden, wo vorher magere
Neurastheniker durch eine „Mastkur" zu fett-
leibigen Angstmeiern mit all ihren Qualen
mehr noch für ihre Umgebung und ihren Arzt
als für sich selber geworden sind oder noch
werden.
Diesem System hat Karl Bornstein
den Krieg erklärt und die von v. Noordensche
Schule hat sich ihm angeschlossen. Etwas gänz-
lich Neues liegt ja nicht in seinem Verfahren,
es hat Vorläufer z. B. in den Molken(kasein)-
kuren, in der Kefirkur u. s. f.; nur auf die
Nachteile weniger leistungsfähiger Heilver-
fahren und auf die vernunftgemäßeste Aus-
führung der von ihm angegebenen „Eiweiß-
mast" hingewiesen zu haben, ist sein gerade-
zu bahnbrechend wirkendes Verdienst. Wenn
freilich Bornstein sagt, das Fett sei eine
„absolut lebensunwichtige Substanz", so hat
ihn sein Eifer zu weit vorgerissen, er sieht
sich plötzlich allein und einsam von seinem
Gefolge getrennt stehen. Ist doch nach Eb-
stein selbst bei Fettleibigen mäßiger
Fettgenuß durchaus rationell. Denn
wenn auch, wie Bornstein meint, „eine
größere und bessere mit Bedarf begabte Sub-
stanz (Pflüger) sich das Nötige zur Ab-
rundung schon von selber holen wird", wenn,
mit anderen Worten eine durch reichliche
Eiweißzufuhr gefestigte Zelle auch das ihr
Dienliche sich leicht auszuwählen vermag,
so muß ihr doch wenigstens auch die
Auswahl geboten werden.
Deshalb sind auch die Wege zur Erreichung
dieses Zieles mannigfaltige, nicht nur der
eine, den Bornstein hauptsächlich betreten
hat. Ob es sich um Wiederherstellung alter
Kraft nach einer Zeit schweren Zellhungers,
oder ob es sich nur um Befristung eines
Lebens handelt, über das ein inoperabler
Krebs oder eine unheilbare Zehrkrankheit
den Stab bereits gebrochen hat, da werden
wir doch nicht nach einer Schablone er-
nähren. Denn während wir dort, unter An-
regung der Eßlust, eine möglichst gemischte
Kost rasch zu erreichen suchen, werden wir
hier unter Umständen gar eine möglichste
Freihaltung von Magen und Darm und eine
einseitige Befristung des Protoplasmastoff-
wechsels zu erstreben haben.
Pettenkofer und Voit haben nachge-
wiesen, daß einseitige Fleischfütterung beim
Hunde zu Fettansatz führt; wenn Born stein
hieraus folgert, es sei dadurch die Anschauung
herrschend geworden, daß ein Überschuß von
Muskeleiweiß für die Ernährung zwecklos
sei, da „von einem irgendwie nennenswerten
Fleischansatze wenig oder gar nicht die Rede"
gewesen sei, so muß ich dem widersprechen.
Denn nicht nur ist das Ergebnis der eben
32
Cleram, Zur Prag« der Zellmatt.
[Therapeutische
Monatshefte.
erwähnten Voit-Pettenko ferschen Versuche
ein anderes; Leopold Bleibtreu („Über die
Größe des Eiweißumsatzes bei abnorm ge-
steigerter Nahrungszufuhr". Pflügers Archiv,
Bd. XLI, 1887) hat auch in Stoffwechsel-
versuchen beim Menschen während einer Weir
Mitchell sehen Kur in Pflügers Labo-
ratorium nachgewiesen, daß ein „ganz er-
heblicher Ansatz stickstoffhaltigen Gewebes"
(nicht weniger als 7,414 kg Muskelfleisch in
44 Versuchstagen, also rund !/3 Pfd. auf den
Tag aus N nach Kjeldahl berechnet) zu er-
zielen ist. Diese Versuche waren Bornstein
offenbar nicht bekannt, als er seine Selbst-
Stoffwechselversuche anstellte und veröffent-
lichte. Dieselben sind eine glänzende Be-
stätigung der Bleib treu sehen Befunde bei
Überernährung, da eine hervorragende Eiweiß-
anlagerung bei „Eiweißmast" von ihm fest-
gestellt wurde; die belanglosen Einwendungen,
welche Albu (Berlin) immer wieder mit
Forderung einer „Nachperiode" etc. dagegen
erhebt, sind von Bornstein bereits zu wieder-
holten Malen abgetan worden, sodaß es er-
übrigt, auf dieselben auch hier einzugehen;
lediglich der Bornstein bisher entgangene
Hinweis auf die erwähnten Arbeiten meines
Freundes Bleib treu mag zur endgültigen
Erledigung solcher Gegnerschaft noch dienen.
Bei guter Muskeltätigkeit bleibt ein vor-
handenes vollkommenes Stickstoffgleichgewicht
vollkommen unverändert erhalten, ist aber
die Zelle mehr oder minder geschwächt, so
läßt sich eine vorzügliche Eiweißanreiche-
rung — ich möchte nicht mit Bornstein
stets von Eiweiß „mast" sprechen — erzielen,
welche sogar mit Fett abnähme einhergehen
kann, von Noorden sah dieses Eiweiß als
locker angelagertes „Reserveeiweiß" an, ver-
ließ aber diesen Standpunkt auf Grund einer
Reihe von Arbeiten wieder, die unter seiner
Ägide die Bestätigung der Bornsteinschen
Auffassung brachten.
Der prinzipielle Unterschied der Weir
Mitchell-Playfairkur von der Bornstein-
Nord en sehen liegt also in zwei Dingen:
Einmal wird der gewollte Nahrungsüber-
schuß in möglichst geeignetem Eiweiß ver-
abreicht, und dann wird die Zelleutrophie
(Virchow) durch körperliche Anstren-
gung dabei gesteigert, während bei der
„Mastkur" der Patient zu träger Mastruhe
verurteilt war! „Wie das Eisen durch kräf-
tiges Hämmern zu Stahl wird", sagt Born-
stein, „so wird auch die Zelle durch ver-
mehrte Tätigkeit gestählt". Allerdings dürfte
er dann nicht von einer „festeren Veranke-
rung" des Eiweißmolekels sprechen, sondern
vielmehr von einer molekularen Energiever-
dichtung des Protoplasmaeiweißes in der
arbeitenden Zelle; „verankert" wird allen-
falls das von Noorden sehe „Reserveeiweiß".
In beschleunigtem Abbau des „insuffizienten"
alten Zelleiweißes wird schneller Neuauf-
bau des Protoplasmas bei genügender
Zufuhr aus der Nahrung bewirkt. Dieser
Zellmastausdruck ist aber nicht etwa in
einem Prall werden der Bicipes oder im
Durchdrücken der Gastrocnemii zu suchen.
Im Verdauungskanal, im Herzen und den
Blutgefäßen in den Drüsenzellen und -gangen,
und wo sonst belebtes Eiweiß im Körper
wirkt und schafft, wird sich die Wirkung
des gehobenen Allgemeinbefindens weniger
augenfällig äußern als in athletischen Schön-
heiten, zu deren Erlangung die Ringbahn
und der Turnsaal unerläßlich sind.
Bei den „Mastkuren" laufen aber gerade
Herz, Leber, Magen und Darm die größte
Gefahr, wie Kischs „Mastfettherz" und die so
häufigen Erschlaffungszustande es zeigen. Zu-
dem wird unter den fortgesetzten Quälereien
dieser Kuren die Psyche der Patienten gar
übel beeinflußt.
Zur Erzielung einer Zellmast nun können
verschiedene Wege4) betreten werden. Ein-
mal wäre eine Steigerung der täglichen
Fleischmengen dazu herbeizuziehen, wie dies
z. B. in Marienbad geschieht, bei Tagesgaben
von 180—200 g Eiweiß, wozu an Fleisch
nach den Königschen Tabellen rund 1 kg
pro die nötig wäre, während Born stein
nur etwa 125 g Proteinsubstanzen im Tage
verlangt, was nur etwas über 1 Pfd. Fleisch
ausmachen würde. Aber abgesehen von der
Gefahr der Salzüberschwemmung des Blutes
durch die übermäßige Menge der Extraktiv-
stoffe, schafft nach Fried r. Müller eine
reine Fleischernährung zwar keine Fleisch-
mast — wohl aber Gicht! Da jedoch die
Engländer z. B. so ziemlich reine Fleisch-
esser sind und doch nur ein kleiner Teil
derselben gichtkrank wird, da die nur
Fleisch essenden Hunnen oder unsere
ähnlich lebenden wilden Vorfahren meines
Wissens nicht an der Gicht zu Grunde
gegangen sind, so ist dieses Wort des
Münchener Klinikers doch wohl etwas um-
zuprägen. Bei ungesunder Lebensweise,
bei herabgesetztem Zellstoffwechsel
schafft allerdings einseitige Fleisch-
ernährung Schädigungen im Stoff-
wechsel, wie ich sie nach Ebstein bereits
gezeichnet habe, durch Zufuhr eines
4) Die Verquickung seiner Kur mit Eisendar-
reichung durch Born stein halte ich für gänzlich
verfehlt. Wo etwa Eisen nötig ist, mag es gereicht
werden, zur Zellmast, zur Protoplasmaverbesserung,
im Prinzip ist dieses Reizmittel der Magen- und
Darmschleimhäute verfehlt.
XIX. Jahrgang/t
Januar 1905. J
Cl<
Zur Frage dar Zellmatt.
33
Überschusses an Nukleoalbuminen;
es gibt aber selbst heutzutage noch Menschen,
die vernünftig leben, und denen schadet
auch eine reine Fleischkost, falls sie frei
Ton ererbter Anlage sind, meines Erachtens
nichts!
Wir besitzen 3 Hauptgruppen von Eiweiß-
nähmiitteln, deren Besprechung diese Abhand-
lung beschließen soll. Es sind das:
1. Das Fleisch, die Fleischsäfte, die wir
selbst herstellen lassen oder wie sie
fabrikmäßig erzeugt werden, und die
Eier.
2. Die Milcheiweiße in der entrahmten
süßen oder sauren Milch, in Molken,
Magerkäse u. s. f., sowie die aus
Kasein fabrikmäßig hergestellten Nähr-
pulver und Kraftmehle und
3. Die Pflanzenkraftmehle.
Eine weitere große Gruppe von Eiweiß-
präparaten habe ich hier nicht mitaufgeführt,
weil ich sie als Schüler Willy Kühnes
und als Freund Richard Neumeisters
prinzipiell für die Ernährung verwerfe — wie
dies übrigens auch Bornstein tut — , ich
meine die Pepton- und Albumosenpräparate.
Ihrer Verurteilung seien einige Ausführungen
gewidmet.
Bei Erlangung der Erkenntnis, wie schäd-
lich die Peptone für den Körper seien, er-
hoben sich sofort Stimmen, welche an Stelle
der Peptone Albumosen heischten, und tat-
sächlich trat auch alsbald ein Wandel darin
ein. Das hat mein Herze um so mehr erfreut,
als ich während der Jahre 1888 und 1889/90
im Auftrage Willy Kühnes in seinem La-
boratorium einen großen Teil der sogenannten
„Pepton4* präparate, welche ihm zur Begut-
achtung zugesandt wurden, zu untersuchen
Gelegenheit hatte. Es waren sämtlich mehr
oder minder ausschließlich Albumosenge-
mische, nur Spuren von Peptonen waren da-
bei — dieselben hätten sich ja auch des
eklen Geruches und Geschmackes wegen, so-
wie der ganz unerhörten Hygroskopie der
damaligen Laboratoriumspräparate halber,
durch welche unsere Peptone harzartig klebrige
Massen darstellten, garnicht als Nährmittel
herstellen und verabreichen lassen. Es wur-
den also die „Peptone", welche gar keine
Peptone, sondern Albumosen waren, als schäd-
lich verworfen und zu Gunsten letzterer ent-
schieden! Damit ist eigentlich gesagt, was
Albumosen sind: Der Begriff „Gift u bezeichnet
Stoffe, welche in der Lage sind, den Körper
oder einzelne Teile desselben so zu schädigen,
daß entweder eine bleibende oder doch eine
länger dauernde Störung entsteht ; unter diesem
Gesichtswinkel betrachtet stellen die Peptone
und Albumosen — von denen bekanntlich
einige durch rasch fortschreitenden örtlichen
Brand die Gewebe zerstören, wie die Albu-
mosen, welche die Schlangenparotis abscheidet
— Gifte dar. Es ist daher selbstverständ-
lich, daß sie bereits vielerorts verlassen sind,
doch wenden sie leider noch dort, wo man
„ihre Kritik nicht kennt", wie Born stein
zutreffend sagt, massenhaft verwendet.
Ich habe mich, wie erwähnt, gefreut, in
Bornstein ebenfalls einen tatkräftigen Feind
dieser ebenso überflüssigen wie schädlichen
— weil ohne Gesundheitsschaden nur in ge-
ringer, enorm teuer bezahlter Menge ver-
wendbaren — Surrogate der Ernährung kennen
zu lernen. Trotzdem hat z. B. meine per-
sönliche Bemühung bei dem Fabrikanten
von „Ramogen" (nach Biederts Rahmge-
menge zusammengesetztes Milchfett) diesen
ebensowenig von dem Zusätze von — „Soma-
tose" (!) dazu abzuhalten vermocht, als meine
Vorstellungen an maßgebender Stelle der
Elberfelder Werke in dieser Hinsicht gehört
wurden: Die laufenden Nummern der „Soma-
toseab ehälter, sowie die neuen Erscheinungs-
formen, neuerdings als „flüssige Somatose"
z. B., beweisen am deutlichsten, wie tief ein-
gewurzelt dieser Trugschluß aus den großen
Entdeckungen der Verdauungsphysiologie bei
Ärzten und Laien noch ist, trotzdem ein
so gewaltiger Weckruf bereits vor 11 Jahren
(1893) in No. 36 der „Deutschen med.
Wochenschrift" von R. Neumeister er-
schallt ist. Es heißt da „Über , Somatose4
und Albumosenpräparate im allgemeinen",
welche H. Hildebrandt in den Verhand-
lungen des XII. Kongresses für innere Medizin
1893 warm empfohlen hatte als mit Um-
gehung des Magens und Darmes unmittelbar
aufnehmbare hochwertige Nahrungsstoffe, daß
sie einmal auch nicht in Spuren direkt,
d. h. mit Umgehung des Verdauungsschlauches,
assimilierbar sind und daß sie außerdem,
wenn derartig einverleibt „wie Fremdkörper"
und „ durchweg schädlich " wirken. Gerade jene
Kongreßverhandlungen, welche den maßgeben-
den Widerspruch erst nachträglich fanden,
mögen viel zu dem zähen ärztlichen Fest-
halten an dem „Nährwert" der „Somatose"
beigetragen haben. Aber auch bei der ge-
wöhnlichen Einverleibung der Albumosen vom
Munde aus verbietet sich ihre länger dauernde
Anwendung, da sie „regelmäßig Symptome
von erheblicher Reizung und Schädigung des
Darmkanals" verursachen. Deshalb sind sie
für die Ernährung Kranker „unter allen Um-
ständen entbehrlich und daher zwecklos,
dauernd in größeren Mengen verabreicht,
durchaus als schädlich anzusehen", und in
Anbetracht der Empfindlichkeit des Ver-
34
Clemm, Zur Präge dar Zsllmatt
rherapentiach*
Monatshefte.
dauungstractus bei den meisten Krankheiten
erscheint uns Neumeisters Wort nur zu
berechtigt, wonach „die Ernährung Kranker
durch Albumosen- oder Peptonpräparate
geradezu als ein roher Eingriff erscheinen"
muß. Im Neumeisterschen Sinne hat sich
auch Fritz Voit in München ausgesprochen
und einen Vortrag in No. 6 der Münchener
med. Wochenschr. 1899 abdrucken lassen.
Voit beantwortet die Frage, „ob die Albu-
mosen und Peptone dem Eiweiß gleichwertig
erachtet werden können, mit einem entschie-
denen Nein", tritt der irrigen Anschauung,
als ob der Magen-Darmkanal durch Ver-
abreichung^ aufsaugungsfertiger "Hydratations-
stufen der Eiweiße geschont würde, entge-
gen und sieht deren Wert lediglich in der
leichtreizenden "Wirkung derselben : Somatose
oder Kemmerich-, Witte-, Antweiler-
„ Pepton", oder wie sie alle heißen, sindStoma-
chica und — Abführmittel, dafür aber doch
viel zu teuer bezahlt5).
Die Pflanzenkraftmehle und Milcheiweiße
sind wie Aleuronat (Roborat), Nutrose, Sana-
togen, Plasmon, Eukasin, Hygiama u. s. f.
reizlos und werden anstandslos aufgesogen;
vom Roborat erscheint mir dies weniger, von
Tropon und von Soson nur ganz zweifelhaft
der Fall zu sein.
Aber all diese Präparate haben den großen
Nachteil, mehr oder minder unangenehm zu
schmecken — so auch das von mir und
neuerdings auch von Bornstein, wie er mir
schreibt, bevorzugte Sanatogen, mit dem ich
schon mehrfach Wochen hindurch die Lebens-
kraft aufrecht erhalten habe — und wirken
dadurch auf die Eßlust oft geradezu hemmend.
Zur eigentlichen Zellmast im Bornstein sehen
Sinne erscheinen mir in Übereinstimmung mit
anderen Autoren diese Präparate daher weniger
geeignet, da sie, dauernd genommen, die natür-
liche Ernährung häufig hemmen; für Fälle
von Magengeschwür, Krebs, Typhus dagegen
erscheinen sie, zunächst betrachtet, geradezu
ideal: Doch ist ihre zum Teil körnige Un-
löslichkeit, wie bei Roborat, Tropon etc., ihr
Geschmack, die verhältnismäßig große Menge
Flüssigkeit, welche zu ihrer Aufschwemmung
nötig ist, u. s. w. vielfach Gegenindikation.
Als Beigabe zur Milch z. B. leistet Sana-
togen Ausgezeichnetes — und doch neige
ich mehr der erstaufgestellten Gruppe von
6) Es ist daher auch ein irriger Standpunkt —
der aber gewiß für Unvoreingenommenheit spricht
— wenn die Purogesellscbaft auf der Tabelle, die
sie neben einer ausgezeichnet ausgestatteten Druck-
schrift heuer auf dem XXI. Kongresse für innere
Medizin in Leipzig verteilen ließ, „ Somatose* neben
„Plasmon" und „Tropon" als „nur Nahrungsmittel"
aufführt.
Nährmitteln zu. Die Eiweiß forschungen von
Emil Fischer, Kossei u. A. haben dar-
getan, daß die Eiweißstoffe qualitativ zwar
auffallend ähnlich zusammengesetzt sind, daß
sie jedoch quantitativ erhebliche Unterschiede
aufweisen. Zur Ernährung der lebenden
Muskelzelle ist daher dem Fleische
entstammender Nährstoff dem aus der
Milch oder aus Pflanzen entnommenen
ohne Zweifel vorzuziehen.
Eier werden ihrer blähenden Wirkung
halber und wegen des nach R. Kobert
auf die Magen -Darmschleimhaut durch ihr
Dottereisen, das Hämatogen Bunges, aus-
geübten Reizes in irgend nennenswerter
Menge zur Eiweißmast nicht in Betracht
kommen können. Eine wesentliche Erhöhung
der Fleischrationen hängt zunächst — abge-
sehen von etwaiger unbesieglicher Abneigung
gegen Fleisch, welche gänzlich auf seinen
Ersatz sinnen lassen muß — von dem Zu-
stande des Magen-Darmkanals ab und von
dem Maße der körperlichen Bewegung, welche
die Verarbeitung der Kost ermöglicht. Prak-
tischer ist da schon die Verwertung von
Fleischsäften als Zusatz zu der Nahrung.
Deren Herstellung im Haushalte ist aber
häufig eine recht schwierige und kostspielige.
Um nach Fütterers (Chicago) auf dem
XX. Kongreß für innere Medizin gegebenen
Vorschriften ungefähr l/s Liter Fleischsaft zu
erhalten, braucht man etwa 5 Pfund Fleisch;
dieser bei Brutwärme während mehrerer Stun-
den ausgelaugte Saft bietet während der mehr-
stündigen Zubereitung einen idealen — Bak-
terienwach sb öden dar, und um dieses Nähr-
substrat nachträglich keimfrei zu machen,
darf es nicht einmal gekocht werden, weil
sonst das mühsam ausgelaugte Eiweiß sofort
durch Gerinnung wertlos gemacht würde;
es ist also schlecht aufzubewahren. Der
frisch — mit der ausgezeichnet wirksamen
Kl einschen (Karl Klein, Gießen, Ztschr.
f. Krankenpflege 1898) Presse ausgepreßte —
Fleischsaft ist erklärlicherweise auch nur zu
sofortigem Gebrauche geeignet , muß also
stets in kleiner Menge hergestellt und sofort
verwendet werden; außerdem enthalten aber
beide Arten Fleischsäfte — von unrationeller
hergestellten ganz abzusehen — verhältnis-
mäßig recht wenig Eiweiß. Der Hauptvorzug
besteht darin, daß sie, als vollkommen
geschmacklos, in der von Klein ange-
gebenen "Weise zur Herstellung von nahr-
haftem Gefrorenem verwendet werden können,
was z. B. für die Behandlung des Magen-
geschwürs von mir lebhaft empfohlen worden
ist in meiner demnächst erscheinenden Be-
arbeitung dieses Kapitels für die „Würzburger
Abhandlungen". — Die fertig käuflichen
XIX.jAhrgang.1
Jannar 1905. J
Clemn, Zur Frage der Zellmmit.
35
Fleischsäfte haben die Unannehmlichkeit der
schlechten Haltbarkeit beseitigt, aber — die
älteren englischen und amerikanischen Prä-
parate stehen eher mit „Maggi" als mit Nähr-
präparaten auf einer Stufe: Sie sind vor-
zügliche Anregungs-, aber in Anbetracht
ihres minimalen Eiweißgehaltes keine Nah-
rungsmittel, wie sie Valentine, Wigeth
etc. herstellen.
Ein Präparat allein macht hiervon eine
Ausnahme, das ist der mit dem Vakuum-
verfahren eingedickte deutsche Fleischsaft
„Puroa: Vermöge seines hohen Extraktiv-
stofFgehaltes neben bedeutendem, den ge-
nannten flüssigen Fleischextrakten ums ca.
10 bis 40fache nach der erwähnten Tabelle
überlegenen Eiweißgehalte nimmt „Puro",
das durch Kräutergeschmack höchst appetit-
lich gestaltet wird, eine Sonderstellung ein,
indem es eine Ausfüllung der Lücke in der
Ernährung ebensowohl gestattet, als es die
Eßlust anregt und die ganzen Vorzüge seines
Gehaltes an Fleischbasen und -salzen mit-
bringt. In seiner Arbeit „Über Fleischsaft a
hat Martin Mendelsohn in der "Wiener
Medizinischen Presse 1900 diesem ausge-
zeichneten deutschen Erzeugnis gebührende
Anerkennung zu teil werden lassen. Neben
den anerkennenden Urteilen unserer Ersten,
wie Kußmaul, Leyden, Ziemßen u. v. a.,
liegt eine umfängliche Literatur — nach dem
erwähnten Büchlein zu schließen — über
Puro vor. Mich haben besonders interessiert
die vom bayrischen Zuchthausarzte Schäfer
in der Münchener med. Wochenschrift vor
drei Jahren bekannt gegebenen großartigen
Erfolge, welche dieser Autor bei den infolge
„ Abgegessenseins u eingetretenen Inanitions-
zuständen bei Sträflingen erzielt hat. Ich
habe daraus geschlossen, daß in allen mit
Ekel gegen die Nahrungsaufnahme ein-
hergehenden krankhaften Zuständen
das Puro vor anderen Mitteln zur
Hebung der Kräfte und zur Förderung der
normalen Verhältnisse sich eignen muß.
Es läßt sich damit Zellmast in dop-
peltem Sinne erzielen, einmal durch
Zufuhr der anreizenden Stoffe und
Hebung der allgemeinen Ernährung
und dann durch unmittelbare Eiweiß-
mast im Sinne Bornsteins. Ich verweile
deshalb gerade bei diesem Präparate besonders
ausführlich und lange, weil Born stein dasselbe
überhaupt nicht erwähnt, und fülle daher
die Lücke in seiner Reihe dadurch aus. Ich
selbst habe „Puro" 1899 kennen gelernt,
als ich in einem Falle von ungemein pro-
trahierter Atherosklerose (Marchand) mit
Gehirnerweichung Abneigung gegen die Nah-
rungsaufnahme und Unterernährung damit
bekämpfen sah: Ich selbst hatte die Kl ein-
sehe Presse eingeführt, doch der Hausarzt
ersetzte dieselbe mit besserem Erfolge durch
den eingedickten Fleischsaft, so zwar, daß
das Leben zum großen Teil damit über zwei
Jahre lang befristet wurde.
Ich habe es hernach bei Gallertkrebs des
Magens einen vollkommen zum Schatten zu-
sammengeschrumpften Mann für einige Monate
nochmals aufleben lassen sehen, ich habe es
bei schwerer Hysterie mit absoluter Nahrungs-
verweigerung, indem auf jedwede Kostform
Erbrechen eintrat, von vornherein gern nehmen
und den kritischen Zustand überwinden helfen
sehen, ich habe ihm bei schweren Ernährungs-
störungen infolge schwerer Infektionskrank-
heiten gegenüber anderen versuchten Präpa-
raten zur Erzielung der Eiweißmast den
Vorzug gegeben eben wegen seiner ungemein
anregenden Wirkungsweise, und ich neige
mich den Urteilen zu, welche den Fleischsaft
in die Behandlung des Ulcus ventriculi ein-
geführt sehen wollen: Da das „Puro" auch
vermöge seines Gehaltes an organischer Eisen-
verbindung der zumeist doch mitzubehan-
delnden Anämie Rechnung trägt, so erscheint
es mir neben den reinen Eiweißpräparaten,
neben Milch-, Eier- und Fleischdiät nebst
leichten Gemüsen in der roborierenden
Diät eine führende Rolle zu spielen be-
rufen I
Zur Zellmast sollte sich jeder entschließen,
ehe noch die Not ihn dazu drängt: Von
Zeit zu Zeit ist eine kurze Zeit die Eiweiß-
mast — einmal im Sommer und einmal im
Winter jedem zu empfehlen, der angestrengt
tätig ist — in welcher Weise auch immer.
In diesen Fällen scheint mir der Überschuß
am zweckmäßigsten mit Puro und Milch-
eiweiß zu decken zu sein, wie er bei schwer
Darniederliegenden je nach der Lage des
einzelnen Falles stets aus mehreren der ge-
nannten Präparate, unter denen seiner Sonder-
stellung halber aber das Puro niemals fehlen
sollte, zu holen ist. — Die Literatur über
diese neueren Präparate ist zahlreich wie die
Tropfen im Meere: Wer sich für weitere
Urteile interessiert, erhält dieselben von den
betreffenden Fabriken zugesandt. Es ist ein
Triumph unserer Therapie, daß wir über
lebenserhaltende Mittel verfügen, deren Mangel
in früherer Zeit Unzählige an Inanition zu
Grunde gehen ließ!
86
Voll* ad« Behandlung dar trockenen und verstopften Nase.
[Therftpenttaeb«
Moniitiihofta.
Nochmals die Behandlung der trockenen
und verstopften Nase«
Bemerkungen gegenüber Lublinski1).'
Von
Hofrat Dr. Volland in Davos-Dorf.
Es ist mir nicht im entferntesten in den
ßinn gekommen, daß ich mit meiner kleinen
Veröffentlichung3) jemand hätte zu nahe treten
können, und deshalb ist mir der gereizte
Ton Lublinskis ganz unverständlich.
Wenn ich ein Verfahren angebe, das
mir neu zu sein scheint, so kann mir es
doch niemand übelnehmen, wenn ich kurz
historisch die im Gebrauch gewesenen Methoden
angebe. Ich schreibe ja nur in der Ver-
gangenheit, z. B.: „Gegen diese verstopfte
Nase zog man nun eine Zeitlang mit Feuer
und Schwert zu Felde" u. s. w., damit ist
doch deutlich gesagt, daß man das jetzt
nicht mehr tut? Ich darf doch auch wohl
sprechen von unangenehmen Erfahrungen, die
ich mit den früheren Methoden erlebt habe?
Lublinski meint, die Salbenbehandlung
des Nasen innern sei den Sachverständigen
schon längst bekannt, und ob man dazu
Salbe oder Ol nehme, das sei vollkommen
gleichgültig. Das letztere mochte ich doch
einigermaßen bezweifeln. Öl wird durch die
Wärme des Naseninnern noch dünnflüssiger
und wird deshalb beim Schnauben sehr leicht
von der Schleimhautoberfläche wieder weg-
geblasen, während das Zinkvaselin der
Schleimhaut viel fester anhaftet, sie deckt
und für einige Tage geschmeidig erhält.
Ferner scheint das von mir mitgeteilte
Verfahren doch wohl noch nicht so ganz
bekannt zu sein. Wenigstens haben „Die
Fortschritte der Medizin" von Litten und
Guttman in Berlin, No. 26, 1904, S. 995
und 996, und „Die neue Therapie" von
Schnirer in Wien, Heft 10, 1904, S. 347
und 348, darüber ausführlich berichtet. Aller-
dings schreibt mir Kollege Wiedemann in
Memmingen, daß er das Schmieren des Nasen-
innern mit der wattierten Sonde schon seit
Jahren mit dem besten Erfolge übe. Nur
verwende er bei Verdacht auf Skrofulöse,
also speziell bei Kindern, die gelbe Augen-
salbe: Hydr. oxyd. flav. 0,1 : 10,0 Vaselin,
anstatt der Zink- und Borsalbe. Zu dem
Zweck will ich hiermit diese Salbe weiter
empfohlen haben.
Auch die gestreckte Haarnadel möchte
ich gegenüber der Sonde nochmals empfehlen.
Die Sonde habe auch ich versucht, aber man
hat nachher zuviel Mühe, die fest umwickelte
l) Therap. Mon.-Hefte, Nov. 1904.
3) Therap. Mon.-Hefte, Aug. 1904.
Watte von ihr wieder abzustreifen, der Sonden-
knopf ist dafür ein erhebliches Hindernis.
Ich habe mir dann eine Anzahl Sonden ohne
Knopf aus Messingdraht anfertigen lassen.
Die waren aber bald in alle Winde zerstreut.
Dann habe ich mir eine Zeitlang selbst dünne
Holzstäbchen geschnitzt, die ich mit Watte
umwickelte. Es ging auch damit zur Not.
Endlich kam ich auf die gestreckte Haar-
nadel, bei der ich geblieben bin. Denn sie
ist überall leicht erhältlich und billig. Aber
auch unter ihnen gibt es solche mit Knöpfen,
die sind aus dem genannten Grunde ebenfalls
unbequem.
Ich habe es nur mit der trockenen und
verstopften Nase zu tun. Dabei kommt die
von Lublinski empfohlene Massage nicht
in Frage, die ja bei Rhinitis vasomotoria
nach ihm sekretvermindernd und nasener-
weiternd wirkt. Bei der trockenen Nase aber
fehlt es an Sekret.
Zur Nasenreinigung mit der Menthol-
paraffinlösung dürfte sich statt der Ein-
träufelungen mittels eines Augentropf glases
wohl noch besser empfehlen: der amerika-
nische Olzerstäuber, der von Burroughs,
Wellcome & Co. in den Handel gebracht
wird. Diesen, anstatt mit Mentholparaffin,
mit einer schwachen Kokainlösung beschickt,
empfehle ich aufs angelegentlichste gegen
mit heftigem Niesreiz beginnenden Schnupfen.
Zweimaliges Einblasen in jedes Nasenloch
wirkt zauberhaft beruhigend.
Wenn die Rauhigkeiten, die man bis-
weilen am Boden des unteren Nasenganges
fühlt, keine eingetrockneten Schleimkrusten
sein sollen, aus was anderem sollen sie
wohl bestanden haben, wenn sie schon nach
zweimaliger Behandlung verschwunden waren?
Ich lasse mich gern belehren.
Einen einer beginnenden Lungenblutung
Verdächtigen, der sich möglichst ruhig im
Bett verhält, mit dem Nasenspiegel zu unter-
suchen, ist ganz gewiß weit beunruhigender,
als bei dem schon daran Gewöhnten die
Wattesalbennadel als Nasensonde anzu-
wenden. Das macht einem solchen nicht
die mindesten Unbequemlichkeiten. Es handelt
sich bei den in Frage kommenden Fällen nur
um geringe Blutbeimengungen zum Sputum.
Daß gleichzeitig auch einmal Nasenbluten
bei unbedeutendem Lungenbluten vorkommen
kann, ist ja wohl möglich, aber nach meinen
Erfahrungen sehr selten. So kann man immer-
hin aus dem Vorhandensein von Blutspuren
in der Nase für den Kranken eine gewisse
Beruhigung schöpfen.
Die Priorität Lublinskis betreffs der
Salbenbehandlung des Naseninnern zur Ver-
meidung der Gesichtsrose lasse ich gern gelten.
XIX. Jahrgang.!
Januar 1905. J
Kr«fl, Beitrag zur Wirkung da« VaronaU.
37
Es schadet aber gewiß nichts, wenn nach
zwanzig Jahren wieder einmal darauf auf-
merksam gemacht wird.
Ein Abgleiten der Watte von einem damit
fest umwickelten Rachenpin sei trager ist gänz-
lich ausgeschlossen. Denn man hat nachher
stets etwelche Mühe, .die Watte wieder ab-
zustreifen.
So ganz überflüssig scheint meine Ver-
öffentlichung doch nicht gewesen zu sein,
denn Kollege Wiedemann stimmt ihr voll
und ganz bei und nennt sie einen dankens-
werten Artikel. Den praktischen Ärzten ist
er aber ganz besonders gewidmet.
Beitrag zur Wirkung des Veronals.
Von
Nervenarzt Dr. Kraft in Rostock.
In einer Reihe von schweren Agrypnien
bei Neur asthenischen und Hysterischen ist
das Mittel von mir in der letzten Zeit an-
gewandt worden. Zweifellos besitzt es im
Vergleich mit unseren bisherigen Schlafmitteln
in solchen Fällen den Vorzug der durch-
schnittlich prompten Wirkung, des Mangels
unangenehmer Neben- und Nachwirkungen;
letzteres wenigstens soweit sich bis heute
darüber ein Urteil abgeben laßt. Da ich
jedoch unter zwölf Fällen von Neurasthenie
drei erlebte, bei welchen nach abendlichen
Dosen von 0,5 g Veronal schon am dritten
resp. vierten Tage eine kumulierende Wirkung
sich zeigte in Form einer pathologischen,
über mehrere Tage sich erstreckenden Schlaf-
trunkenheit mit konsekutiver, äußerst mangel-
hafter Nahrungsaufnahme und Unfähigkeit,
das Bett zu verlassen, so erscheint mir eine
gewisse Vorsicht bei der Medikation doch
dringend ratsam. Solche konsekutive Stö-
rungen indizieren bei schweren Neurasthenien
zur Genüge von diesem Hypnoticum abzustehen,
sobald die ersten Anzeichen der kumulativen
Wirkung auftreten. Letzteres ist bereits am
zweiten Medikationstage scheinbar meistens
der Fall. Ob sich eventuell durch allmäh-
liche Verringerung der Quantität und episo-
dische systematische Vergrößerung die Ku-
mulativwirkung vermeiden läßt, bei gleich-
zeitiger Erhaltung einer genügenden Nachtruhe,
habe ich bis jetzt nicht erweisen können.
Chemische Reaktion
im Darmkanale und ihre therapeutische
Verwendbarkeit. *)
Von
Dr. J. Qoldschmidt in Paris.
In diesen Monatsheften machte ich bei
der Darstellung der Europhen- Wirkung auf
Lepra1) die Bemerkung, wie wünschenswert
es sei, den durch Abspaltung von Jod in den
Darmsäften erreichten Maximal effekt, weil
in statu nascendi, auch in anderen Fällen
nachzuweisen. Ich komme nun selbst diesem
Wunsche nach durch die folgende Mitteilung:
Fräulein X., 30 Jahre alt, erhielt wegen
tuberkulöser Enteritis von sehr schleichendem
Verlaufe während vier Wochen mit verhältnis-
mäßig günstigem Erfolge täglich dreimal je
ein Gramm Ichthoform. Nie wurde irgend
welche All gemein Wirkung durch diese Medi-
kation hervorgerufen. Eine andere, zu der
bestehenden sich zugesellende Erkrankung
veranlaßte mich, dem Ichthoform dreimal täg-
lich einen Tropfen Jodtinktur beizufügen, so
zwar, daß zwischen der Einnahme je eines
dieser Mittel eine Zwischenzeit von minde-
stens zwei Stunden lag. Jodtinktur in der-
selben Dosis hatte die Kranke schon früher
ohne eine andere Wirkung, als die einer
erleichterten weil flüssigeren Expektoration
genommen. Auch will ich ausdrücklich be-
merken, daß seit Jahren die Grundkrankheit,
Lungenphthise, einen fieberlosen Verlauf ge-
nommen hatte.
Anders als die Einzel Wirkungen erwies
sich diejenige der kombinierten Ichthoform-
Jod-Darreichung! Zwei Tage schon nach
Beginn der neuen Behandlung begannen Klagen
über Frösteln, Mattigkeit wie Appetitlosig-
keit und am dritten Tage war die bisher
normale Temperatur auf 39,6° gestiegen, fiel
aber rasch wieder ab nach der Sistierung
der beiden Mittel. Irgend welche störenden
Nachwirkungen wurden nicht beobachtet.
Bei der Abwesenheit einer Neuerkrankung,
die als Veranlassung dieses akut krankhaften
Zustandes angesprochen werden konnte, mochte
der ätiologische Zusammenhang nicht lange
zweifelhaft bleiben. Bei besonders gegen
Jodoform empfindlichen Personen ruft dieses
*) Das Manuskript ist der Redaktion bereits
im September 1903 eingesandt worden.
Die Redaktion.
*) Goldschmidt, Die Behandlung und Heilung
der Lepra tuberosa mit Europhen. Therap. Monats-
hefte 1893, April. Ich benutze diese Gelegenheit,
um die Tatsache festzustellen, daß der damals als
geheilt angegebene Fall bis auf den heutigen Tag,
also über 14 Jahre, von Aussatz freigeblieben
ist. Steht der Fall auch vereinzelt da, sollte er zu
erneuten therapeutischen Versuchen doch anregen.
38
Goldtchmidt, Chemisch« Reaktion im Darmkaoale. — Iiophytostigmln.
rTherapentlach*
L Monafrhflfto.
Mittel schon in sehr kleinen Dosen, wie bei
äußerlicher wenig ex- und intensiver Anwen-
dung auf epidermisberaubter Haut, Fieber
in mehr minder hohem Grade mit allen mög-
lichen Begleiterscheinungen hervor. Mußte
man nicht in unserem Falle an die Möglich-
keit einer chemischen Reaktion denken, an
die zuerst in der alkalischen Darmflüssigkeit
erfolgte Spaltung des Ichthoforms in Ichthyol
und Formal in und sodann an die Neubildung
von Jod formal in? Die zweistündige Zwischen-
zeit, welche die Einnahme je dieser beiden
Mittel trennte, mußte begünstigend auf die
Möglichkeit einer Verbindung des freien Jods
mit dem inzwischen freigewordenen Formalin
sein. Die Menge des im Körper gebildeten
Jodformalins, eines dem Jodoform in seiner
physiologischen Wirkung gleichwertigen Kör-
pers, konnte hier nur eine sehr kleine ge-
wesen sein, enthalten doch die drei Tropfen
Jodtinktur (pharm, gall.) nur ein Zentigramm
reines Jod. Dosen von einem cg Jodform alin
(Jodoformine pharm, gall.) dreimal täglich
innerlich dargereicht, haben mir an zwei ge-
sunden Individuen' keinerlei bemerkbare Sym-
ptome ergeben. Der Nachweis von Jod im
Urin gelang nicht in diesen Fällen, dagegen
war eine deutliche, wenngleich schwache Jod-
reaktion in dem oben erwähnten Falle von
Darmtuberkulose nachweisbar. An mir selbst,
der ich gegen Jodoform eine sehr ausge-
sprochene Idiosynkrasie zeige, habe ich durch
Einnahme von 8 cg Jodoformin täglich wäh-
rend einer Woche keine Störung meiner Ge-
sundheit beobachtet, aber die kombinierte
Darreichung von Ichthoform-Jod konnte ich
nur zwei Tage durch fortsetzen wegen des
alsbaldigen Anstiegs der Temperatur auf 38°
mit begleitender Übelkeit und Mattigkeit.
Die moderne Therapie hat es sich zur
Aufgabe gestellt, mit den kleinsten Dosen der
Heilmittel die größten Wirkungen zu erzeugen.
Aus diesem Bestreben läßt sich die Ent-
stehung der Homöopathie als natürliche aber
in Absurdität ausgeartete Reaktion gegen die
ungemessenen Dosen der alten Poly-Phar-
makopie erklären; auf demselben Bestreben
beruht die subkutane Anwendungsweise von
Arzneimitteln, sowie die Darreichung der
Alkaloide anstatt ihrer Muttersubstanzen.
Der Zukunft und einer besseren Einsicht
in die im Organismus sich abspielenden
chemischen Reaktionen ist es vorbehalten, die
Bildung des gewünschten Heilmittels so oft
wie möglich im Körper entstehen zu lassen,
so wie ich es für das Jod als zweckdienlich
oder schädlich hingestellt habe. Jetzt schon
darf man sagen, daß die Heilsera keine
andere Bedeutung haben, als die Erziel ung
einer chemischen Reaktion in corpore vivo —
die Bildung oder Bindung von Stoffen, mögen
sie Toxine oder Antikörper genannt werden.
Auch noch in anderer Weise könnte die
größere Aktivität des im Körper selbst ent-
standenen Heilmittels verwertet werden! Für
die Behandlung der Epilepsie hat man eine
chlorarme Diät (Milch) während einer gewissen
Zeitperiode vorgeschlagen, damit das Brom
von dem Organismus an Stelle des verwandten
Haloids Chlor mit um so größerer Gier auf-
genommen und dergestalt vollkommen ausge-
nutzt werde, anstatt mit den Dejektionen
z. T. nutzlos zu verschwinden oder die Magen-
Darmschleimhaut wie Haut bis zur Unver-
träglichkeit zu reizen. Ähnlich könnte man
bei der Jodbehandlung der Syphilis Jod in
statu nascendi anstatt der gebräuchlichen Jod-
salze benutzen. Die praktische Ausführbar-
keit dieser Methode müßte, ich weiß es wohl,
durch zahlreiche Laboratoriumsexperimente
wie durch Beobachtungen am Kranken aus-
gelöst werden: Erneute Anregung zu solchen
Arbeiten gegeben zu haben, war der Zweck
dieser Mitteilungen.
Neuere Arzneimittel.
Isopliysostigmtn.
Aus dem alkoholischen Extrakt der Kalabar-
bohne geht nach Zusatz von überschüssiger
Sodalösung beim Ausschütteln in Äther das
Physostigmin (Eserin) über, während ein diesem
chemisch ähnliches Alkaloid, das Isophyso-
stigmin, weil schwer oder garnicht in Äther
löslich, in dem Extrakte zurückbleibt. Vom
Physostigmin unterscheidet sich das Isophyso-
stigmin ferner durch seinen Schmelzpunkt, der
beim Sulfat bei 202° liegt, während das Physo-
stigminsulfat bei 140—142° schmilzt. Das Platin-
doppelsalz des Isophysostigmins ist schwerer lös-
lich als das des Physostigmins. In den Lösungen
des Sulfates erzeugt Jodwasser keinen Nieder-
schlag.
Die physiologische Prüfung ergab, daß das
Isophysostigmin bei Kaltblütern in gleichem Sinne
wie das Physostigmin wirkt, dagegen zeigten bei
Warmblütern beide Alkaloide deutliche Unter-
schiede in der Wirkung. Das Isophysostigmin
bewirkt leichter und schon in kleineren Dosen
Darmbewegungen und normale Kotentleerung
resp. Diarrhoe als Physostigmin; da auch die
subkutane Darreichung gut vertragen wird, so
XIX. Jahrgang."]
Jannar 19«»ft. |
Referate.
39
wäre es als Eccoproticum und als Mittel zur j
Erhöhung des Darmwandtonus beim Menschen
zu versuchen. I
Wird Isophysostigmin in 0,1 proz. Lösung
in den Eonjunktivalsack geträufelt, so tritt die [
Verengerung der Pupille schneller und intensiver I
ein und hält länger an als nach Einträufelung i
von Phy 308 tigm insu lfat; die Myosis läßt sich j
ferner leichter durch Atropin beseitigen.
Für die Augenpraxis sind Lösungen von I
0,75 mg : 10 Wasser ausreichend; dieselben sind
gleichfalls gegen Licht empfindlich, daher in
gefärbten Gläsern ev. durch geringe Menge Bor-
säure angesäuert aufzubewahren.
Literatur.
Aus dem Institute für Pharmakologie und
physiologische Chemie zu Rostock. Über das
Isophysostigmin. Von Prof. Dr. Ogiu aus
Japan. Therapie der Gegenwart, November 1904.
Referate.
Ober die häusliche Behandlung der Tuberkulose.
Von Prof. Vinoenz Czerny.
Glückliche Erfolge bei schweren Formen
von Tuberkulose der Lungen, Gelenke und
Knochen lassen sich bloß durch ein zielbewußtes
Ineinandergreifen der allgemeinen mit einer
chirurgischen Lokalbehandlung erzielen und es
muß in solchen Fällen, die sich über Jahre hin-
ziehen, eine fortgesetzte häusliche Behandlung
die zeitweise notwendige Anstaltsbehandlung
unterstützen.
In erster Linie hebt Czerny die Anregung
der Hauttätigkeit zur Hebung des Allgemein-
befindens, des Appetits und der Ernährung und
zur Verminderung der Neigung zu nächtlichen
Schweißen hervor. Eantharidenpflaster , Senf-
papier, Fontanellen, Moxen, Glüheisen, Mittel,
durch die unsere Altvorderen zweifellos schöne
Erfolge erzielten, ersetzt Verf. durch methodische
3 mal wöchentliche Einreibungen von Schmier-
seife (nach K oll mann), Krankenheiler Seife
No. 2, oder Abreibungen mit Seifenspiritus mit
nachfolgendem lauen Bad oder kalten Über-
gießungen. Bei Gelenk- und Knochentuber-
kulosen, die nicht schmerzhaft und nicht ver-
eitert sind, empfiehlt sich die Jodkalisalbe in
Verbindung mit Schmierseife; die Anwendung
erfolgt in Gestalt einer leichten Effleurage, die
später zu einer mäßigen Massage gesteigert werden
kann. Wenn man bei Gelenkaffektionen der
Behandlung ein warmes Bad von 10 Minuten |
Dauer mit Zusatz von etwas Pottasche oder Soda
vorausschickt und zum Schlüsse das Glied mit
einer Trikotbinde oder bei erhöhter Lokal-
temperatur mit einem Prießnitzumschlage ver-
sehen auf einer Schiene bequem lagert, erlebt
man manchmal die Freude, daß eine fast verloren
gegebene Hand oder ein seit Wochen schmerz-
haftes und steifes Fußgelenk wieder gelenkig
und brauchbar werden. Resektionen und Ampu-
tationen pflegt Czerny nur im Notfall zu machen.
Bezüglich der Operationen, die in häuslicher
Behandlung vorgenommen werden können, be-
merkt Verf., daß er die Jodoformöl- Injektionen
fast ausschließlich bei kalten Abszessen nützlich
gefunden hat, wo also die Entleerung des Eiters
erst für die nachfolgende Injektion Platz schafft,
bei parenchymatösen Entzündungen sind l/Q bis
1% Ortho- oder Trikresol- Injektionen zweck-
mäßiger. Bei ganz umschriebenen parartikulären
tuberkulösen Knochenherden kann manchmal
eine aseptische Ignipunktur oder Punktion mit
dem Bistouri unter nachfolgender Ausschabung
des Herdes gute Erfolge ergeben und ein ge-
fährdetes Gelenk retten. Auch Knochen- und
Gelenkfisteln werden mit dem Lapisstifte oder,
wenn sie zu eng sind, durch die mit einem
Höllensteintropfen montierte Knopfsonde oder
durch Injektion mit Jodtinktur oder Höllenstein-
lösung nicht selten zur Heilung gebracht. Wenn
bei Gegenwart von Fisteln lokale oder allgemeine
Bäder gegeben werden sollen, empfiehlt sich
der Zusatz von etwa 7a % Kochsalz und etwas
Sublimat oder 1 % Lysol zum Badewasser.
Für die tuberkulöse Spondylitis gelten im
wesentlichen die gleichen Grundsätze, wie sie
für Knochen und Gelenke skizziert wurden. Nur
wird man, der Dignität des im Wirbelkanal ein-
geschlossenen Rückenmarkes Rechnung tragend,
mit einer ambulanten Behandlung doppelt vor-
sichtig sein müssen und im Beginn des Leidens,
bei starken Schmerzen, Eiterbildung und Fieber
die horizontale Lage mit Immobilisierung und
Distraktion so lange festhalten, bis diese Er-
scheinungen sich zurückgebildet haben. Eine
vorsichtige Korrektur bei gewissen noch plasti-
schen Difformitäten durch massierendes Streichen
und Distraktion kann nicht nur auf die Stellung,
sondern auch auf den Heilungsprozeß günstig
einwirken, wenn das Resultat durch einen leichten
und gut sitzenden Gipsverband eine Zeitlang
festgehalten wird. Um auch für die Spondylitis
Einseifungen und Abwaschungen der Haut nicht
zu lange zu entbehren, werden später abnehm-
bare Korsetts erforderlich. Bei der Drüsen-
tuberkulose nützt man dem Kranken, wenn die
Drüsen auf eine etwa dreimonatliche Behandlung
nicht zurückgehen oder sich Zeichen von Er-
weichung oder Fiebererscheinungen zeigen, am
meisten durch radikale Operation und nach-
folgende gute Allgemeinbehandlung im ange-
deuteten Sinne unter ständiger ärztlicher
Kontrolle.
Gegen die gleichzeitige Lungenaffektion
verordnet Czerny 2 mal täglich 15 Tropfen
Kreosot und Tinctura gentianae aa; zum Einatmen
Oleum pini pumilionis, von dem 15 — 20 Tropfen
auf kochend heißes Wasser geschüttet und früh
und abends 10 Minuten lang inhaliert werden.
Nebenher sind Gurgelungen mit Kochsalzwasser
40
Rafarate.
rTherapeutlflcha
L Monatsheft«.
oder Emser Wasser zu empfehlen. Selbstver-
ständlich dürfen die Ratschläge,Wohnung, Lebens-
weise und Diät nicht in den Hintergrund treten.
Das sonnigste und wärmste Zimmer, selbst wenn
es unter dem Dache gelegen ist, ist das beste
für den Kranken; mit dem Schlafen bei offenen
Fenstern wurden oft üble Erfahrungen gemacht.
Eine kräftige, aber leicht verdauliche animalische
Hausmannskost wird von Czerny bevorzugt, in
der Milchdarreichung die alte Form der Milch-
suppe mit Zusatz von Salz, geröstetem Weißbrot,
Maizena, Mondamin, Haferkakao u. dergl.; aus
dem Teller mit dem Löffel gegessen, nicht aus
dem Glase getrunken. Die von manchen Hydro-
therapeuten etwas zu einseitig in den Vorder-
grund gestellte Kaltwasserbehandlung ersetzt
Verf. durch die erwähnten Abwaschungen in
Verbindung mit den Seifeneinreibungen. Mit
Seebädern ist Vorsicht geboten, von den Sol-
bädern bevorzugt er Tölz, wenn auch hier die
von den dortigen Ärzten methodisch ausgeübten
Einseifungen, dio dem Bade vorausgeheu, an der
Heilung vielleicht mehr Anteil haben als der
gegenüber andern Solbädern stärkere Kochsalz-
und z. T. auch Jodgehalt des Tölzer Wassers.
(Beiträge zur Klinik der Tuberkulose, Bd. 1, H. 2.)
Eschle (Sinsheim).
(Au» dem pathol. Institut der Universität Bonn. Direktor
Geh. Med.-Rat Prof. Kost er).
Ober Ausheilung großer tuberkulöser Lungen-
kaverneo. Von Dr. med. Bernhard Fischer,
Assistent am Institut.
In dem beschriebenen Falle lag zwar nicht
eine vollständige histologische Ausheilung einer
Lungentuberkulose vor, aber es ließ sich doch
durch die makroskopische, wie die mikroskopische
Betrachtung ein sehr starker Rückgang der
tuberkulösen Veränderung fraglos feststellen.
Eine Kaverne im rechten Oberlappen, die früher
diesen ganz oder mindestens zu zwei Dritteln
eingenommen hatte, zeigte sich unter reich-
licher Bindegewebsentwickelung und Abkapselung
kleiner Herdchen in der Schrumpfung und Ver-
narbung begriffen. Nur hin und wieder zeigten
sich in den derben Bindegewcbszügen schmale
Streifen von Lungengewebe. In einem entzündlich
infiltrierten Rest desselben fanden sich noch
vereinzelte typische Tuberkel; die Lymphdrüsen
waren frei von Tuberkulose, käsiger Zerfall
fand sich nirgends, ebensowenig waren trotz
aller Bemühungen Tuberkelbazillen aufzufinden.
Mit diesem Befunde stimmt die klinische Beob-
achtung überein, daß 7 Monate vor dem unter
den Erscheinungen hochgradiger Dyspnoe und '
rechtsseitiger Hemiplegie erfolgten Tode die
Bazillen im Auswurfe schwanden und nicht i
wiederkehrten. Die Besserung der tuberkulösen
Lungenerkrankung war trotz der Komplikationen |
mit schwerer chronischer Nephritis und gleich-
zeitigem Bestehen von Syphilis und Potatorium
eingetreten. ,
Verf. glaubt nun, die eingeleitete Ausheilung I
der Kaverne auf den schon längere Zeit be-
stehenden vollständig thrombotischen Verschluß i
aller zu dem erkrankten Oberlappen verlaufen- I
den Äste der Pulmonararterie zurückführen zu ,
müssen. Ob die wandständigo Thrombose des
rechten Hauptastes der Lungenschlagader, die
sich ausschließlich in die sämtlichen zum Ober-
lappen verlaufenden Pulmonararterienäste fort-
setzte, autochthon oder embolisch entstanden
war, ließ sich nicht mit Sicherheit entscheiden.
Die Pulmonalstenose, die die Entwickelung
der Lungentuberkulose ja wesentlich begünstigt,
läßt sich nach Fischer nicht zum Vergleich
heranziehen, da eine Behinderung des Blut-
zuflusses zu beiden Lungen in jeder Hinsicht
andere Folgen haben muß, als ein völliger Ver-
schluß einzelner Gefäße der Lunge.
(Beiträge zur Klinik der Tuberkulose Bd. J, H.2)
Eschle (SinsJiciniJ.
Kochs Tuberkulin und seine Anwendung beim
Menseben. Von Dr. Joh. Petruschky, Dir.
der Hyg. Unt.-Anst. Danzig.
Verf. ist der Ansicht, daß beim Menschen
eine positive Tuberkulinreaktion bei Anwendung
von Dosen bis 0,01 g mit wissenschaftlicher
Sicherheit Tuberkulose anzeigt (wobei er heftige
und länger als 2 Tage nach der Injektion
dauernde Fieberbewegungen als nicht zur Re-
aktion gehörig betrachtet, sondern auf Mit-
wirkung anderer Ursachen, Sekundärinfektion etc.,
zurückführt!). Auf diese Weise glaubt er
54 Fälle von verdächtigen „geschlossenen* Tuber-
kulosen ohne Bazillenauswurf — auch Skrofulöse
gehört nach seiner Ansicht dazu — als tuber-
kulös diagnostiziert zu haben. Er hat sie des-
halb der Tuberkulin b eh an dl ung unterzogen
und zwar mit 100 Proz. Heilorfolg. Bei 38 Fällen
von „offener" Tuberkulose mit Bazillen auswurf
erzielte er nur 40 Proz. Heilung, was er z. T.
auf die durch Mischinfektionen hervorgerufene
Verschlimmerung schiebt. — Daß das Tuber-
kulin kein unbedingt sicheres Reagens auf Tuber-
kulose ist, daß es versagt in Fällen, wo sie un-
zweifelhaft vorliegt, während die Reaktion oft
eintritt, wo Tuberkulose so gut wie ausgeschlossen
ist, wurde schon von vielen Seiten betont (vgl.
u. a. Ther. Mon. 1904, S. 101 f., Menzer, Fort-
schr. d. Medizin 1904, No. 10 und Smidt,
Münch. med. Wochenschr. 1904, No. 18). Zur
Erklärung dieses Umstandes dienen die mehr-
erwähnten Ausführungen Rosen bachs betr. die
verschiedene Reaktion der einzelnen mensch-
lichen Organismen auf das als Fremdreiz aufzu-
fassende Tuberkulin etc. (Ref.)
(Berliner Klinik, Jahrg. 1904, H. 188.)
Esch (Bendorf).
(Ans der kgl. med. UnlversitätBpolikUnlk iu Berlin.
Direktor: Geheimrat Profexsor Dr. Senator.)
Ober den gegenwärtigen Stand der Kreosottherapie
bei Lungenschwindsucht. Von Dr. Wilhelm
Croner, J. Assistenten.
Das Kreosot übt bei Lungentuberkulose,
ohne ein Specific um zu sein, in vielen Fällen
einen günstigen Einfluß aus: das Sekret wird
vermindert, der Fortschritt des Prozesses ge-
hemmt und zugleich der Appetit und die Ver-
dauung befördert. Es ist demnach indiziert in
denjenigen Fällen, die mit reichlicher Sekretion
und darniederliegendem Appetit einhergehen und
XIX. Jahrgang."!
Jannar 1H05. J
Referate.
41
die nicht einer Freiluftbehandlung unterzogen
werden können. Während einer Haemoptoe oder
beim Bestehen von Fieber setzt Croner die
Kreosotbehandlung aus, um nicht zuviel Arznei
gleichzeitig zu reichen.
Von großer Wichtigkeit ist die Wahl eines
geeigneten Präparates Einige Präparate reizen
bei längerem Gebrauch die Magenschleimhaut.
Kreosot in Pillenform zu reichen ist unzweck-
mäßig, da die Pillen oft ungelöst abgehen. Auch
die Darreichung in Lebertran ist zu verwerfen,
weil häufig Appetitstörungen auftreten. Ein
gutes Kreosotpräparat soll möglichst lange, ohne
die Magenschleimhaut zu reizen und ohne Wider-
willen zu erregen, genommen werden können.
Zu diesen Präparaten gehören Kreosotal, Eosot,
Oeosot und Thiokol. Diesen Präparaten ist das
Pneumin an die Seite zu stellen: es ist von
geringem Geruch, kann wochen- und monatelang,
ohne Magenbeschwerden zu erzeugen, gereicht
werden und ist obendrein ein billiges Mittel,
das Verf. auf Grund mehrjähriger Erfahrung an
nahezu 200 Tuberkulösen empfehlen kann.
(BerL klin.-therap. Wochenschr. No. 49, 1904.) J.
Tuberkulose und Röntgenstrahlen. Von W. S.
Newcomet in Philadelphia.
Der diagnostische Wert der X-Strahlen zur
Erkennung von tuberkulösen Herden im Lungen-
gewebe ist anerkannt. Therapeutisch haben sich
dieselben bei Hauttuberkulose gut bewährt, jedoch
bei der Lungentuberkulose bisher nicht. —
Newcomet gibt zwei andere Indikationen für
die therapeutische Verwertung der Röntgen-
strahlen bei der Tuberkulose an, nämlich die
Kehlkopftuberkulose und die Nachbehandlung
exstirpierter tuberkulöser Lymphknoten. — Die
Strahlen werden auf den Kehlkopf von der
Außenseite des Halses her appliziert. Zwei
Patienten wurden so behandelt, und zwar in
«twas über dreißig Sitzungen. Schon innerhalb
von zwei Wochen verschwanden Schmerzen und
Dysphagie. Der eine Kranke erlag jedoch der
fortschreitenden Lungentuberkulose. — Nach der
Exstirpation tuberkulöser Lymphknoten am Nacken
•oder am Halse bleiben manchmal hartnäckig
•eiternde Sinusse übrig, die sehr schwer heilen.
In solchen Fällen hat Newcomet, allerdings
auch erst nach monatelanger Behandlung, glatte
Heilung erzielt.
(Therapeutic gasetle 1904, No.5.)
Classen (Grube i. H.J.
Serotherapie des Typhusfiebers. Von Professor
Chantemesse.
Seit 3l/a Jahren behandelt Chantemesse
seine Typhuskranken im Hospital der Bastion 29
mit dem von ihm dargestellten antityphoiden
Serum, über dessen Gewinnung er im Jahre 1897
in der Societe de Biologie und ferner auf dem
Hygienekongreß zu Madrid im Jahre 1898 de-
taillierte Angaben gemacht hat. Dasselbe Serum
worde auch im Pariser Krankenhause Bretonneau
und im Hospital zu Rouen bei im ganzen
220 Kranken angewendet, und hier ergab es eine
Mortalität von etwas über vier Proz. In vor-
liegender Arbeit gibt nun Chantemesse eine
Übersicht über die in den 3'/2 Jahren von ihm
erreichten Erfolge. . Die Durchschnittsmortalität
an Typhus in den gesamten Pariser Kranken-
häusern betrug in derselben Zeit 18 Proz. Und
ganz ebenso groß war nach den Erhebungen von
Chantemesse die Mortalität in verschiedenen
großen Krankenhäusern Deutschlands, Österreichs
und Englands. 18 Proz. betrug also ganz all-
gemein die Mortalität des Typhus, der in der
gebräuchlichen Weise mit kalten Bädern und
internen Medikamenten behandelt wurde. Dem-
gegenüber hatte Chantemesse bei seinen insge-
samt 545 Typhuskranken während der 3ya Jahre
nur 29- Todesfälle gleich vier Proz. Fürwahr ein
glänzender Erfolg. Chantemesse unterzieht nun
die speziellen Ursachen, denen die Todesfälle zur
Last zu legen waren, einer eingehenden Unter-
suchung. Wir gehen hier nur auf die wichtigste
dieser Ursachen ein, die Darmperforation. Die Sta-
tistiken aus Europa und Amerika, die darüber
existieren, zeigen, daß von 100 Kranken 2,6 eine
Darmperforation erleiden. Von den 545 Patienten
Chantemesses erkrankten an dieser Kompli-
kation nur 10 gleich 1,6 Proz. Jedenfalls spricht
also auch diese Zahl nicht zu Ungunsten des
Serums. Chantemesse betont aber, daß er niemals
eine Perforation beobachtet habe, wo das Serum in
den ersten sieben Krankheitstagen injiziert werden
konnte. Hieraus würde sich ergeben, daß man
auch diese schwere Komplikation vermeiden kann,
wenn das Serum früh genug, d. h. in der ersten
Krankheitswoche injiziert wird. Das Serum übt
nach Chantemesse eine spezifische, rapide und
energische Wirkung auf die Verteidigungsapparate
des Organismus (Milz, adenoides Gewebe, Knochen-
mark) aus, die um so augenfälliger ist, je früher es
zur Anwendung kommt, und um so weniger her-
vortritt, je mehr bereits das Nervensystem der
Kranken unter der Typhusintoxikation gelitten
hat. Die Anwendung des antityphoiden Serums
setzt eine gewisse Sachkunde und Erfahrung
voraus. Sie ist durchaus verschieden von der
des Diphtherieheilserums. Während dieses in
um so größerer Dosis injiziert werden muß, je
schwerer die Diphtherie ist, sollen gerade von
dem antityphoiden Serum um so kleinere Dosen
angewendet werden, je tiefer der Organismus von
den Toxinen des Typhus vergiftet ist.
(La Presse medic. 1904, No. 86.)
Ritterband (Berlin).
Weitere Tatsachen zu Gunsten einer infektiösen
Ursache bei der Gicht, Von Chalmers
Watson in Edinburg.
Watson demonstriert seine Ansichten an
der Hand mehrerer mikroskopischer Schnitte von
gichtischen Gelenken und Knochen. Aus einigen
ergibt sich die Richtigkeit der Ebstein sehen
Ansicht, daß nämlich die Gewebsnekrose der
Ablagerung von Harnsäure voraufgeht. In an*
deren Abbildungen sieht man rundzellige Infil-
tration in der Umgebung der nekrotischen
Stellen und das Verhältnis der Nekrose zu den
Blutgefäßen; diese sind meistens erweitert und
prall mit Blut gefüllt. Schließlich zeigen einige
Schnitte charakteristische Veränderungen des
Knochenmarks: Verdünnung der Knochen-
42
Referate.
[Therapeutische
L Monatshefte,
bälkchen, Schwund der normalen Markzellen und
deren Ersatz dnrch Fett, ausgedehnte und prall
gefüllte Blutgefäße. Dazu kommen noch gewisse
Veränderungen im Blut der Gichtkranken, auf
die Watson schon vor einigen Jahren aufmerk-
sam gemacht hatte.
Alle diese Tatsachen aus der pathologischen
Anatomie, zumal der Umstand, daß die groben
Veränderungen im Knochenmark ernster zu sein
schienen als die in den Gelenken, führten
Watson zu der Ansicht, daß bei der Gicht eine
infektiöse Ursache mit im Spiele sein müsse,
eine Ansicht, die auch durch das klinische Bild
des akuten Gichtanfalls unterstützt wird.
(British medical Journal 1904, 16. Juli.)
Glossen (Grübt i. H.J.
(Aus der medissluischen Universitätsklinik. in Marburg.
Direktor Prot Dr. R o m b e r g.)
Beobachtung über Kopliksche Diazoreaktion und
Fieber bei Masern. Von Dr. Otfried Müller,
Assistenzarzt der Poliklinik.
„Wir lernen nicht aus." Das können wir
uns nicht eindringlich genug sagen, gerade bei
den scheinbar bekanntesten Krankheiten. Daher
ist es sicherlich ein Verdienst Rombergs, an-
geregt zu haben, daß auch wieder mal die
Haupterscheinungen bei Masern einer Revision
und Kritik unterzogen werden, und dazu bot
6ich im Winter 1902/03 in Marburg eine recht
geeignete Gelegenheit. Müller stellt 215 Masern-
kranke seiner poliklinischen Beobachtung auf
und zwar Kinder aller Altersklassen betreffend,
105 Kinder waren unter 4 Jahre alt. Der
Charakter der Epidemie war ein gutartiger,
76 Proz. der Fälle verliefen ganz unkompliziert;
6 Kinder starben und zwar an Bronchopneumonie.
Bezüglich des Fiebertypus ließ sich hier
das alte vielgelehrte Wunderlichsche Schema
nicht mehr recht festhalten, wie schließlich über-
haupt die verschiedenen Epidemien verschiedene
Fieberkurven aufweisen werden. Bei unkompli-
zierten Fällen tritt allerdings im Beginne des
katarrhalischen Stadiums eine rasche Fieber-
steigerung auf, dieser folgt eine 1 — 2 tägige
Intermission und nunmehr tritt ein rasch, aber
absatzweise ansteigendes, ca. 4 Tage dauerndes
kontinuierliches Fieber ein, das meist kritisch
wieder abfällt.
Wichtig und darum genauest untersucht
ist die Frage, was als Frühsymptom für die
Masern zu verwerten ist.
Die Koplikschen Flecke sind ein Früh-
symptom, sind auch in reichlich 4/5 der Fälle
vorhanden, häufig schon am ersten Krankheits-
tage; sie sind aber für sich allein nicht patho-
gnomonisch für Masern, da sie wiederholt auch
bei Röteln beobachtet wurden. — Die Diazo-
reaktion im Harn tritt aber erst mit dem Aus-
bruch des Exanthems auf, ist dann allerdings
fast ausnahmslos nachweisbar.
(Münch. med. Wochenschr. 1904, No. 3.)
Arthur Rahn (Collm).
Die Behandlung seröser Ergüsse. Von James
Barr in Liverpool.
Barr versucht, seröse Ergüsse, die sich
nach der Punktion immer wieder ansammeln,
durch Einspritzung von Adrenalin zu be-
kämpfen. Der Gedanke, dieses Mittel anzuwenden,
kam ihm zuerst bei einem metastatischen Kar-
zinom der Pleura (der primäre Tumor saß in der
Bauchhöhle), wo die Flüssigkeit blutig gefärbt
war und sich so schnell wieder ansammelte, daß
sie alle vier Tage abgelassen werden mußte.
Nach einmaliger Einspritzung von ca. 30,0 einer
0,1 proz. Lösung bildete sich kein neuer Erguß
wieder.
Dieser Erfolg ermutigte ihn, das Mittel
zunächst in einem Falle von Ascites bei Leber-
cirrhose zu versuchen. Der Erfolg war hier,
wie zu erwarten, nur gering, höchstens sammelte
sich die Flüssigkeit langsamer als vorher wieder
an. — Günstiger war die Wirkung in einem
Falle von tuberkulöser Perikarditis bei einem
Knaben. Die Flüssigkeit war einmal abgelassen.
Als einige Tage später eine zweite Punktion
nötig wurde, wurde unmittelbar darauf 2,5 g
Adrenalinlösung eingespritzt. Alsbald trat Kollaps
ein, wahrscheinlich infolge von Kontraktion der
Coronararterien. Durch sofortige Injektion von
Nitroglyzerin und Atropin gelang es jedoch, die
Gefahr zu beseitigen. Die Perikarditis war ge-
heilt, insofern sich kein neuer Erguß bildete.
Schließlich hat Barr das Adrenalin noch
bei seröser Pleuritis bei demselben Patienten
und in einem Falle von seröser Peritonitis,
gleichfalls infolge von Tuberkulose, angewandt,
und zwar mit demselben guten Erfolg.
In diesen letzten Fällen hat er noch eine
Modifikation angewandt, nämlich die Injektion
von sterilisierter Luft unmittelbar nach dem
Adrenalin. Die Luft, die sich noch mehrere
Wochen später innerhalb der serösen Höhle
nachweisen ließ, soll die Bildung von Adhäsionen
verhindern.
Barr bedient sich zur Ausführung seiner
Methode eines besonderen Instruments, nämlich
eines Trokars, der zwei seitliche, mittels Hahn
verschließbare Ansätze enthält. An dem einen
wird der Heberschlauch zur Entleerung der
Flüssigkeit angebracht; durch den andern wird
die Adrenalinlösung sowohl wie die Luft ein-
gespritzt.
(British medical Journal 1904, 19. März.)
Classen (Grübe i. H.).
Zum Coma dlabeticnm nach Operationen. Von
Frauenarzt Sintenis in Seebad Pernau (Liv-
land).
Verf. sah sich bei einem langjährigen Dia-
betiker, welcher trotz ärztlich geregelter Diät
und Karlsbader Kuren stets große Zuckermengen
hatte, wegen eines Furunkels am Nacken zu
einer zweimaligen Inzision genötigt. Beide Ein-
griffe wurden ohne sonstige Vorbereitung unter
Schleich scher Anästhesie vorgenommen, der
erste vor eitriger Einschmelzung des Pfropfes,
der zweite bei voller Eiterung. Nach der
zweiten Operation setzte ein schweres Coma
diabeticum ein, welches in 10 Tagen zum Tode
führte.
(Deutsch, med. Wochenschrift 1903, No. 42.)
Wendel (Marburg).
XIX. Jahrgang.!
Jan aar 1905. J
Referate.
43
Die Punktion des Blinddarms und des Wurm-
fortsatzes. Von Sir William Macewen in
Glasgow.
Macewen wendet sich mit Entschieden-
heit gegen diejenigen modernen Chirurgen, die
der Ansicht sind, daß es im menschlichen Orga-
nismus überflüssige oder gar unzweckmäßige
Organe geben könne und daß man deshalb ohne
weiteres berechtigt sei, solche Organe, zu denen
Blinddarm und Wurmfortsatz gehören sollen,
mit dem Messer zu entfernen. An der Hand
der vergleichenden Anatomie zeigt er, daß bei
den fleischfressenden Säugetieren der Blinddarm
entweder gänzlich fehlt oder verkümmert ist,
weil bei ihnen die Verdauung ausschließlich im
Magen und Dünndarm vor sich geht; daß da-
gegen der Blinddarm bei den Pflanzenfressern
eine ganz außerordentlich starke Entwickelung
zeigt, also offenbar für die Verdauung sehr
wichtig ist. Da nun der Mensch sowohl von
pflanzlicher wie von Fleischkost lebt, so ist es
durchaus natürlich, daß er neben Magen und
Dünndarm auch ein Coecum besitzt.
Die Erfahrung der Chirurgen lehrt, daß
Patienten nach operativer Entfernung des Blind-
darms weiter leben können. Macewen hat
jedoch bei einigen von ihm selbst operierten
Patienten festgestellt, daß sie an Neigung zu
Durchfällen leiden, die nur bei strenger Diät
zu beseitigen ist, und daß sie trotzdem schließ-
lich in ihrer Ernährung zurückkommen. Auch
hatte Macewen mehrmals Gelegenheit, am frei-
liegenden Darm die Funktionen des Coecum,
des Appendix und der Ileocökalklappe intra
vitam zu beobachten. Er hat dabei gesehen,
daß die jperistaltischen Bewegungen des Coecum
auftreten, sobald Speise in den Magen gelangt,
also offenbar auf reflektorischem Wege zustande
kommen. Bei einem Patienten, dem die vordere
Wand des Coecum infolge einer Explosion fort-
gerissen war, hat er die Sekretion der Schleim-
haut und die Funktionen der Ileocökalklappe
genau studieren können, zumal der Kranke sich
selbst gerne zu den Beobachtungen hergab. Die
Klappe dient demnach dazu, den Abfluß des
Dünndarminhalts in den Dickdarm zu regulieren ;
sie schließt und öffnet sich auf reflektorischem
Wege; Gemütsbewegungen, wie z. B. der Empfang
schlechter Nachrichten bei jenem Patienten, wirken
hemmend auf die Sekretion der Blinddarmschleim-
haut. Der anatomische Bau der Schleimhaut
von Coecum und Appendix weist durch ihre
zahlreichen öezerni er enden Follikel darauf hin,
daß diese Organe mehr zur Verdauung als zur
Resorption zu dienen haben. Ohne die Mit-
wirkung der Blinddarmverdauung würden offen-
bar große Mengen unverdauter Speisen in den
Dickdarm übergehen.
Aus all diesem geht hervor, daß Blinddarm
und Wurmfortsatz eine wichtige Rolle in der
Verdauung zu spielen haben. Die Appendicitis
ist also nicht etwa ein Leiden, welches einer
mangelhaften Bildung der Verdauungsorgane
entspringt, sondern es entsteht, wie Macewen
am Schluß launig ausführt, durch die Gedanken-
losigkeit, mit welcher die Menschen heute so
oft die Speisen in den Magen stopfen. In der
Urzeit hatten die Menschen mühsamer um ihre
Nahrung zu sorgen, empfanden deshalb jedesmal,
wenn sie Speise zu sich nahmen, eine größere
Freude, was wiederum einen reichlicheren Fluß
der Verdauungssäfte zur Folge hatte und des-
halb Verdauungsstörungen nicht so leicht auf-
kommen ließ.
(British med. Journal 1904, 8. Okt.)
Classen (Orube i. H.J.
Zur Lehre von der diuretlschen Wirkung des
Theobromins. Von Vaclav Plavec.
Der Verfasser kommt in seiner Abhandlung
zu folgenden sehr anfechtbaren Schlüssen:
1. Das Theobromin bewirkt bloß bei den-
jenigen mit Hydrops behafteten Kranken eine
bedeutende Erhöhung der Diurese, bei denen
die Herztätigkeit eine ungenügende war.
2. Das Theobromin ist daher kein echtes
Diureticum, sondern ein Cardiacum, das auf den
Herzmuskel einwirkt und die Ausgiebigkeit
seiner Kontraktionen erhöht. Außerdem werden
die Vasomotoren durch das Theobromin in der
Weise beeinflußt, daß eine mäßige Blutdruck-
erniedrigung entsteht; dadurch wird die Arbeit
des Herzens wesentlich erleichtert und zugleich
die Erhöhung dieser Arbeit für den Beobachter
mehr oder minder verdeckt.
3. Die Steigerung der Diurese nach Theo-
bromin entsteht infolge der Erhöhung des ge-
samten Blutstromes in den Nieren, welche durch
die Erweiterung der Nieren gef äße bei der er-
höhten Arbeit des Herzens zustande kommt.
(Arch. internat. de pharmacodynamie et de therapie,
Vol XIII, p. 275.) Dr. Impens (Elberfeld).
Die Wirkung des Baldrians. Von H. Kionka.
Nach dem Verfasser hat die Droge folgende
Wirkungen:
1. Eine erregende Wirkung auf die Psyche.
2. Eine erregende Wirkung auf das Zen-
tralnervensystem in kleinen Dosen.
3. Nach großen Dosen eine zentrale moto-
rische und sensible Lähmung und auch Hebung
der Reflextätigkeit. Letztere kann gelegentlich
auch schon nach kleineren Gaben angedeutet sein.
4. Eine blutdrucksteigernde Wirkung in
kleinen Dosen, bedingt einerseits durch eine
Wirkung auf die Vasomotion, andrerseits durch
eine erregende Wirkung auf die Herztätigkeit
selbst.
5. Eine blutdrucksenkende Wirkung in
großen Dosen, bedingt durch vasomotorische
Lähmung und durch Schädigung des Herzens.
6. Kurz dauernde Senkungen des Blut-
drucks in regelmäßigen Intervallen, schon nach
kleinen Dosen. Diese sind bedingt durch mo-
mentane Erweiterungen der peripherischen Gefäße.
Die Baldriansäure besitzt diese Wirkungen
nicht. Sämtliche aus der gesamten Droge her-
gestellten Präparate zersetzen sich aber in sehr
kurzer Zeit beim Stehen an der Luft und
werden sauer. Dadurch nimmt ihre Wirksam-
keit ab und aus diesem Umstände mögen sich
wohl die häufigen Mißerfolge erklären, welche
bei Verwendung derartiger Präparate eintreten.
44
Referate.
rherapentitebe
Monatshefte.
Die synthetisch hergestellten Ester der Bal-
driansäure, wie Bornyval, Validol, besitzen die
charakteristischen Eigenschaften der Gesamtdroge.
Sie zersetzen sich aber ebenso leicht und zer-
fallen nach längerem Stehen in ßaldriansäure
und den entsprechenden Alkohol.
Die Baldriansäureamide, unter andern das
Diätlylamid oder Valyl, sind viel beständiger.
Das Valyl hat, nach Kionkas Untersuchungen,
die pharm akodynamische Wirksamkeit des Bal-
drians, und da es sehr haltbar ist, muß es als
das zur therapeutischen Verwendung brauchbarste
Präparat bezeichnet werden. (Referent möchte
hierzu bemerken, daß die Baldriansäure -Ester,
wenn sie auch mit der Zeit ein wenig sauer
werden, doch recht brauchbare Präparate sind,
da nur ein geringer Teil der Spaltung unter-
liegt. Bei der Höhe der angewandten Dosen
kann man diese Zersetzung als belanglos be-
trachten).
(Arch. iniern. de pharmacodynamie et de thcrapie,
VoL XIII, p. 215.) Dr. Impens (Elberfeld).
Pharmakologische und pharmakodynamische Sta-
dien über Succus Valerianae. (£tude pharma-
cologique et pharmacodynamique du suc de
▼aleriane.) Par le Professeur Pouchet et le
Dr. Chevalier.
Die Valeriana ofncinalis mit den in ihrer
Wurzel enthaltenen zahlreichen wirksamen Be-
standteilen gehört seit lange zu den besten
antispasmodischen Mitteln. Über den Wert und
die Bedeutung der einzelnen aktiven Bestand-
teile herrschen noch verschiedene Ansichten,
und neue Präparate tauchen fortwährend auf.
Neuerdings haben Pouchet und Chevalier ein
neues Baldrianpräparat (Succus Valerianae) her-
gestellt, das sich vor allen bekannten Präparaten
durch Konstanz und Wirkungsweise auszeichnen
soll. Dieser Saft ist aus der wildwachsenden
Pflanze, gleich nach ihrer Blütezeit (wo die
Wurzel bekanntlich am reichsten an aktiven
Stoffen ist) gewonnen. Er stellt eine klare,
gelbbraune Flüssigkeit von schwach aromati-
schem, nicht unangenehmem Geschmack dar.
36 Tropfen oder 1,0 g dieses Saftes entsprechen
genau 1,0 g der frischen Baldrianwurzel. Die
an Thieren und Menschen angestellten Versuche
ergeben, daß er allen andern Präparaten über-
legen ist, und diese Überlegenheit verdankt er
der Art der Darstellung. Man giebt 2,0 — 4,0
und selbßt 6,0 g pro die.
(Les Nouveaux Rentides 4 \ 1904.) R.
Schwarzwerden des Penis nach Antipyrin (Verge
noir par eruption antipyrinique). Von Dr.
H. Malherbe.
Auf eine noch wenig bekannte Erscheinung
nach Antipyringebrauch, das Schwarzwerden des
Penis („verge noir") hat Fournier (1890) in
der Societe de Dermatologie hingewiesen. Es
handelt sich um schwarze Flecken, die den Penis
wenige Stunden nach Aufnahme von Antipyrin
bedecken. Über einen derartigen Fall berichtet
Malherbe in der Gazette med. de Nantes vom
18. Juni. Ein 30 Jahre alter, an frischer Syphilis
leidender Mann behandelt seine häufig auf-
tretenden Migräneanfälle mit 1,0 — 2,0 g Anti-
pyrin. So nimmt er auch am 24. April gegen
Mittag 1,5 g Antipyrin, worauf die Migräne
schwindet. Abends 6 Uhr bemerkt er beim
Urinieren, daß sein Penis ganz schwarz geworden
ist. In dem Glauben, daß diese Erscheinung
eine Folge der Syphilis sei und daß der Penis
nun gangränös geworden, eilt Pat. entsetzt zu
seinem Arzte. Dieser konstatiert, daß der Penis
in Bezug auf Umfang und Aspekt normal ist
bis auf die Dorsalfläche der' Glans. Daselbst
breitet sich ein kreisförmiger blauschwarzer Fleck
von der Größe eines Zweimarkstückes aus. Trotz
dieser Verfärbung ist die Hautbedeckung von nor-
maler Konsistenz und am Körper nirgends eine
ähnliche Veränderung nachzuweisen. — Mal-
herbc erinnerte sich der diesbezüglichen Mit-
teilung von Fournier und stellte sofort die
richtige Diagnose. Derartige Eruptionen ver-
schwinden von selbst, aber sehr langsam. Die
schwarze Verfärbung ist nach Mal herbe durch
eine starke Kongestion mit nachfolgender Ekchy-
mose verursacht.
(Nach Le Progrcs med. 1904, No. 21.) R.
Ober Klyatier Verletzungen. Von Prof. Dr. A. Cahn,
Straßburg.
Cahn hält es für angezeigt, auf die Bedeutung
der Klystierverletzungen aufmerksam zu machen,
weil er recht schwere Fälle dieser Art gesehen
und beobachtet hat, daß dieselben von den Ärzten
nicht als Klystierverletzung erkannt, sondern als
etwas ganz Außergewöhnliches betrachtet wurden.
Über mehrere hierher gehörige Fälle wird ein-
gehend berichtet. In den geschilderten Beob-
achtungen sind auch die schwer befallenen Pa-
tienten schließlich mit dem Leben davongekommen.
Es steht jedoch zweifellos fest, daß derartige
Klystierverletzungen auch direkte Todesursachen
werden können. Wie viele verkannt werden
mögen, entzieht sich jeder Vorstellung. Bei
proktitischen und paraproktitischen Eiterungen
wird von^ den Ärzten gerade an diese nächst-
liegende Ätiologie nicht oder nur widerstrebend
gedacht. Es wäre gewiß eine nützliche Aufgabe,
den vielen schädlichen anderweitigen Folgen von
schlecht gegebenen Kly stieren einmal nachzu-
gehen (Proktitis und Kolitis, manche Afterfissuren
und Prolapse u. s. w.). — Man soll darauf achten,
daß eine feste Kanüle mit dem Flüssigkeitsbe-
hälter durch ein biegsames Zwischenstück ver-
bunden, niemals direkt angesetzt werde. Cahn
verbietet alle Spritzen, an welche gerade oder
gebogene Ansätze befestigt sind, selbst für die
kleinen medikamentösen (Glyzerin- etc.) Lave-
ments. Entweder es wird zwischen Kanüle und
Behälter ein Stück Gummischlauch eingeschaltet,
oder es wird eine weiche, leicht biegsame Kanüle
aufgesetzt. Was die Afterkanülen selbst anlangt,
so ist es ein Irrtum, anzunehmen, daß dünne,
enge Rohre sich leichter einführen lassen als
dicke. Es hat große Mühe gekostet, bis unsere
Instrumentenmacher uns endlich weiche, dicke
Rohre beschafften, gestaltet wie das Ende eines
Magenschlauches; eine Länge von 15 — 20 cm
genügt durchaus auch für sog. hohe Klystiere.
Steife und halbsteife Röhren gibt Cahn dem
XIX. Jahrgang.*!
Januar ltfOS. J
Referate.
45
Wartepersonal niemals in die Hand. Wenn man
harte Ansätze geben will, die sich ja entschieden
leichter einführen lassen, so wähle man dieselben
dick mit dicker Olive und kurz. Sie sollen
nicht weiter eingeführt werden, als nur ein wenig
über den äußeren Schließmuskel hinauf; das
Stück, welches draußen bleibt, soll so kurz sein,
daß an demselben nicht hin- und hergedreht
und bewegt werden kann. Gibt man dem Warte-
personal und den Patienten nur diese Weich-
gummiröhren und die kurzen, dicken Kanülen,
verbannt man die spitzen, dünnen, die knie-
förmigen und gebogenen, in ihrer Lage schwer
kontrollierbaren Ansätze so wird man keine
Verletzungen zu beklagen haben. — „Die alte
Klystierspritze aber mit ihrem festgeschraubten
dünnen Rohr gehört ins Museum."
(Straßburg. med. Zeitung, Juni 1904). R.
l, Erfahrungen über die Verwendung von Neben-
nierenanbatanzen zur örtlichen Analgeaie-
rung. Von Dr. S aleck er, Assistenzarzt in
Dieuze. Deutsche Militärärztliche Zeitschrift
No. 11, 1904. S.-A.
a. Beobachtungen über die Anwendung von
l-Eukain und Adrenalin als Mittel zur Er-
zeugung lokaler Anästhesie. (Observation on
the Use of Eucaine ß and Adrenalin as a
means of Inducing Local Anaestbesia.) By
George L. Chiene, F. R. C. S. Assistant Sur-
geon, Royal Infirmery, Edinburgh. The Scot-
tish Medical and Surgical Journal. Vol. XV,
No. 3, September 1904.
3. Ober Spinalanalgeale. Von Dr. M. Silbermark,
Assistent an der IT. chirurg. Abteilung des
k. k. Allgemeinen Krankenhauses (Vorstand
Hofrat Prof. Dr. A. Ritter von Mosetig-Moor-
hof). Wiener klin. Wochenschr. Jahrg. XVIJ,
No. 46, November 1904.
1. Dr. S alecker hat sich in etwa 40 Fällen
des Braun sehen lokalen Anästhesierung -Ver-
fahrens bedient, jedoch mit der Abänderung,
daß er statt des Kokains sich des viel weniger
(YJ toxischen, billigeren und infolge seiner un-
begrenzten Widerstandsfähigkeit gegen Siedehitze
bequemeren yS-Eukains bediente.
Die verwendete Lösung:
Rp. Eucaini ß 0,2
Natr. chlorat. 0,15
Aq. dest. 20,0
welche vor der Injektion in der Pravaz-Spritze
mit 0,1 cem einer 1 prom. Adrenalin-Takamine-
oder Suprarenin -Höchst -Lösung gemischt wird,
zeigte eine sehr prompte Wirkung, die sich in
nichts von der des Kokains unterschied. Als
höchste Grenze der schadlos zu verwendenden
Adrenalindosis muß nach Braun 0,5 mg ange-
nommen werden, Eukain ß darf, ohne zu un-
angenehmen Zufällen Anlaß zu geben, bis 0,1 g
gegen 0,03 g Kokain verabreicht werden. Verf,
beschreibt an einer Reihe von Operationen, wie
z. B. Behandlung von Panaritien, wofür aller-
dings auch das Oberstsche Verfahren gut ver-
wendbar ist, Inzision von Karbunkeln, wobei
neben der Unterspritzung auch noch eine rhom-
bu8förmige Umspritz ung des Operationsgebietes
zur Unterbrechung der Nervenleitung ratsam ist,
Entfernung eines Mammafibroms, Exstirpation
von Atheromen, kleine Knochenoperationen etc.,
die stets sehr einfache Anästhesierungstechnik.
Da sich zu der vollständigen Analgesie auch
noch fast komplete Blutleere gesellt, ist das-
Verfahren an sehr blutreichen Organen, wie dem
Penis u. a. m., ganz besonders wertvoll. Miß-
erfolge sah Verf. nur, trotz strikter Innehaltung
der hierfür gegebenen Vorschriften, bei Zahn-
extraktionen im Unterkiefer, welche er durch
den tiefen Verlauf der Nn. alveolares inff. für
erklärt hält.
Verf. prüfte auch im Selbstversuch und an
Patienten die von Braun angegebene regionäre
Anästhesie für Fuß und Hand durch Leitungs-
unterbrechung der betr. Nerven. Das vor-
liegende Material ist jedoch noch zu gering, um
Schlüsse über den Wert dieser Methode ziehen
zu können.
Üble Nachwirkungen, wie Nachblutungen
Störungen des Wundverlaufs oder allgemeine
Vergiftungserscheinungen traten niemals ein.
Der Wundschmerz war bei Anwendung der oben
angeführten isotonischen Lösung auffallend gering.
Verf. kommt durch Vergleichung mit den übrigen
bekannten Analgesierungsmethoden zu folgendem
Resultate;
„Die Eukain- Adrenalin-Anästhesie ist ein
gefahrloses Verfahren, das die soeben geschilderten
Nachteile (der anderen Methoden) nicht besitzt.
Die Analgesie ist absolut, die Wirkung geht
sowohl in Bezug auf Fläche wie Tiefe weit über
den Injektionsbezirk hinaus; bei lokaler Anwen-
dung tritt fast vollkommene Anämie des Ope-
rationsgebietes ein, ohne daß die Gefahr der
Nachblutung besteht; die Dauer der Analgesie
beträgt mehrere Stunden, die Technik ist ein-
fach, die Struktur der injizierten Gewebe bleibt
unverändert. — Will man nicht Enttäuschungen
erleben, so wird man das Verfahren auf die
chirurgische Behandlung möglichst umschriebener
Affektionen beschränken müssen. Man wird es
nicht anwenden bei flächenhaft sehr ausgedehnten
Operationen und bei den langdauernden Ein-
griffen der großen Chirurgie. Bei größeren
Knochenoperationen verbietet sich die Anwendung
aus physischen Gründen."
Verf. berichtet in einem Nachwort über
einige kleinere Knochenoperationen, Exartikula-
tion und partielle Resektion von Fingerphalangen,
welche unter obigem Verfahren schmerzlos aus-
geführt wurden, und rät zum Versuche bei
Empyemoperationen.
2. Eine solche nun wurde von G. L. Chiene
unter Eukain y9-Adrenalin- Anästhesie ausgeführt.
In einem Falle von Empyem bei einem 16jähr.
jungen Manne, bei dem schon 20 Punktionen
vorgenommen worden waren, mußte eine Rippen-
resektion ausgeführt werden. Allgemeine Nar-
kose war kontraindiziert. Verf. ging derart vor,
daß er 30 Tropfen einer Lösung, welche aus
2l/2 proz. Eukain /9-Lösung und 1 prom. Adre-
nalinchlorid-Lösung im Verhältnis 1 : 4 bestand,,
subkutan über der zu resezierenden Rippe inji-
zierte, nach 12 Minuten wurde operiert und,
nachdem das Periost noch besonders unterspritzt
worden war, der Eingriff absolut schmerzlos und
ohne Blutungen beendet. Bei anderen Eingriffen
46
Referate.
[TherapeutUefee
Monatshefte.
erwies sich obige Lösung gleichfalls als aasge-
zeichnetes lokales Anaestheticum. Als gute Form
für ein stets wirksames frisches Adrenalinpräpa-
rat, einen für dos Zustandekommen der An-
ästhesie u. s. w. wichtigen Faktor, empfiehlt Verf.
die Burough -Wellcomeschen Soloide, welche
sowohl als reines Nebennierenpräparat wie auch
gleich in verschiedenen Kombinationen mit
j#-Eukain geliefert werden.
3. Der dritte Autor, Dr. Silbermark,
schließlich liefert nach seinen Erfahrungen an
dem reichen Material der Mosetigschen Klinik
einen wichtigen Beitrag zu der viel umstrittenen
Frage der Rückenmarksanästhesie. Die Technik
des vom November 1903 bis September 1904 in
205 Fällen angewandten Verfahrens war stets
folgende: Nach gründlicher Säuberung des Ein-
stichgebietes wurde in der Position nach Tuffier
(sitzend) eine vorn halbkreisförmig abgeschliffene,
mit einem Stachel armierte Kanüle zwischen 4.
und 5. Lendenwirbel eingestochen. Die richtige
Stelle läßt sich leicht ermitteln, wenn man sich
jederseits die höchsten Punkte der Crista ilei
durch eine Linie verbunden denkt und f/3 cm
nach rechts und unten von der Mittellinie die
Kanüle nach innen und oben einsticht. Das
Durchstechen des gelben Bandes wird vom Ope-
rateur deutlich wahrgenommen.
Wenn bei diesem Vorgehen, was fast immer
eintritt, Liquor entströmt, kann zur Einspritzung
des Anaestheticums geschritten werden. Als
solches wurde mit Ausnahme von 5 Fällen, wo
Tropakokain, welches sich jedoch als weniger
wirksam erwies, Anwendung fand, erst Eukain
und, als dieses vom Markte verschwand, stets
(183 mal) y9-Eukain verwendet.
Vom Kokain wurde infolge seiner enormen
Giftigkeit von vornherein zu Gunsten dieses viel
ungiftigeren und dabei gleich wirksamen Ersatz-
mittels Abstand genommen. Das Eukain ß wurde
in 3prozentiger Lösung bis zur Menge von 2 cem,
einem völlig ausreichenden Quantum, injiziert.
Wesentlich ist es, stets frisch bereitete Lösungen
zu verwenden, da ältere Lösungen die Stärke
und Länge der bei guter Lösung bis zu 1 Stunde
45 Minuten dauernden Analgesie beeinträchtigen.
Beckenhochlagerung post injeetionem ist zu ver-
meiden, da diese zu Störungen, die auf bulbäre
Reizungen zurückzuführen sind, Anlaß geben
kann. Fünf Minuten nach der Einspritzung kann
mit der Säuberung des Operationsterrains, nach
weiteren zehn Minuten mit der Operation be-
gonnen werden. Da mit Ausnahme von drei
Fällen stets Motilität und taktile Empfindlichkeit
der beeinflußten unteren Körperhälfte erhalten
war, tritt Verf. für den Ausdruck Spinalanalgesie
gegenüber dem alten der Lumbalanästhesie ein.
Was nun Nebenwirkungen der /9-Eukain-
Spinalanalgesie betrifft, so traten solche in
159 Fällen (79,5 Proz.) überhaupt nicht ein,
die 41 mal beobachteten Störungen — in drei
Fällen nämlich konnte auf diesem Wege keine
Analgesie erreicht werden, und es mußte zur
Inhalationsnarkose geschritten werden — ver-
teilen sich auf 166 Operationen bei Männern 34,
23 bei Frauen 3 und auf 11 bei Kindern 4 mal.
Diese Störungen bestanden in 5 Kollapsfällen,
5 maligem Brechreiz, Imal andauerndem Sin-
gultus, 2 mal Muskelzittern und in sechs Fällen
von zu kurz dauernder Analgesie. Hierbei muß
sofort erwähnt werden, daß vorher eingeleitete
Spinalanalgesie keine Kontraindikation für nach-
herige Chloroformierung abgibt, sondern im
Gegenteil in solchen Fällen schon Vorhalten der
mit Chloroform befeuchteten Maske genügt, den
Patienten einzuschläfern und das erwähnte Muskel-
zittern und den Singultus zum Schwinden zu
bringen, in den Fällen nicht ausreichender Anal-
gesie vom Rückenmarkskanal aus genügte stets
die Verwendung von 5 cem Chloroform in
maximo, um gute, von postnarkotischen unan-
genehmen Zufällen freie Betäubung zu erzielen.
Tagelang andauernder quälender Kopfschmerz
und Aufregungszustände, wie sie die mit Kokain
arbeitenden Autoren schildern, wurde nach
Eukain y9- An wen düng fast nie beobachtet, nur
ein ganz verschwindender Bruchteil der Patienten
klagte überhaupt über Kopfschmerz post Opera-
tion em, eine einzige junge Patientin bezeichnete
sie als unerträglich. Von Nachwirkungen wären
noch vorübergehende Harnverhaltung und Tempe-
ratursteigerung zu erwähnen.
Die unter Spinalanalgesie ausgeführten Ope-
rationen waren:
100 Radikaloperationen von Inguinalhernien,
14 Pfeilernähte,
4 Radikaloperationen von Schenkelhernien,
1 Verlagerung von Kryptorchismus,
1 Fremdkörper-Exstirpation,
1 Lymphdrüsenexstirpation,
33 Operationen an den Geschlechtsteilen,)
19 Operationen am Anal- und Rectum-
gebiet und
42 Eingriffe (Amputationen etc.) an den
unteren Extremitäten.
Was schließlich Indikation und Kontraindi-
kation dieses Verfahrens zur Bekämpfung des
Operationsschmerzes betrifft, so gibt es nach
Erfahrung des Autors nur einen Umstand, der
die Spinalanalge6ie strikt verbietet i. e. ein Alter
des Patienten unter 10 Jahren, eine relative
Gegenanzeige ist Alter zwischen 10 und 16 Jahren
und starkes Potatorium, welche letztere ja be-
kanntlich auch für die Inhalationsnarkose gilt.
Andere pathologische Zustände, wie Arterio-
sklerose, Tabes, Vitien, Lungenerkrankungen,
hohes Alter und herabgekommene Körperkraft,
bieten durchaus keine Kontraindikation, im Gegen-
teil verläuft gerade bei alten dekrepiden Patienten
die Spinalanalgesie sehr gut und frei von
Störungen.
Verf. faßt nach kritischer Sichtung seines
Materials unter Berücksichtigung der Statistiken
über Inhalationsnarkose seine Erfahrungen mit
der Eukain ß- Spinalan algesie folgendermaßen zu-
sammen :
„1. Die Spinalanalgesie ist nicht gefähr-
licher als die Inhalationsnarkose und der Infil-
trationsmethode deshalb überlegen, weil sie die
anatomischen Verhältnisse nicht verwischt.
2. Sie kann bei allen Operationen an der
Leiste, an den Geschlechts- und Harnorganen
und den unteren Extremitäten, bei Individuen
XIX. Jahrgang.!
Jaanar 1906. J
Referate.
47
über 16 Jahre ohne jedes Bedenken angewendet
werden.
Insbesondere bei alten Leuten und dekrepiden
* Personen, sei es infolge momentan bestehender
Leiden (inkarzerierte Hernien, langdauernder
Safte verlust oder Eiterung) oder infolge vor-
handener Konstitutionsanomalien, ist sie ein un-
schätzbarer Ersatz der fast sicher schädlich
wirkenden Inhalationsnarkose.
Voraussetzung ist hierbei, daß man kein so
toxisches Präparat verwendet wie Kokain."
Aus allen drei Publikationen geht also mit
absoluter Sicherheit hervor, eine wie wesentliche
Bereicherung unser Arzneischatz durch die Ein-
führung des Eukains ß erfahren hat, welches auf
allen Gebieten der Analgesierung gegen den
früheren Alleinherrscher auf diesem Felde, das
Kokain, siegreich vordringt.
Th. A. Maaß.
Zur Frage der chirurgischen Behandlung der
chronischen Nephritis. Von Dr. Gelpke in
Liestal.
Verf. ist vor 3 Jahren, unabhängig von
Edebohls, angeregt durch die Talmasche Ope-
ration der Lebercirrhose, auf den Gedanken ge-
kommen, auch die chronische Nephritis durch
Eröffnung neuer Zirkulationswege günstig zu be-
einflussen. Der kurze Artikel ist insofern etwas
posthum, als inzwischen die Edebohlssche Ope-
ration in Deutschland, nicht zum wenigsten durch
den letzten Chirurgenkongreß, so ziemlich zu
Grabe getragen ist. Verf. verspricht die Publi-
kation seiner Tier- und Leichenexperimente.
Vorläufig erfährt man nur, daß er die ent-
kapselte Niere nicht, wie Edebohls, in die Fett-
kapsel reponiert, sondern mit dem Bauchfell,
zwecks besserer Vaskularisation, in Berührung
bringt. Über die Technik wird sonst nichts Ge-
naueres angegeben. Die Kasuistik beschränkt
sich auf vier Fälle, von denen einer schon vor
der geplanten Operation, der zweite auf dem
Operationstische starb. Von den beiden andern
ist der eine Fall noch zu frisch, um ein Urteil
zu erlauben, wie Verf. wörtlich schreibt; der
andere starb 4 Monate nach dem Eingriffe an
Pankreaskarziom. Auch über diesen Fall schreibt
Verf., „daß ihm bei der Wertschätzung der ope-
rativen Behandlung der Nephritis keine große
Bedeutung zukommen könne". Unter diesen Um-
ständen erscheint die Arbeit kaum geeignet, der
operativen Behandlung der chronischen Nephritis
durch Entkapselung der Niere neue Freunde
zuzuführen.
(Korresp.-Blatt /. Schweizer Ärzte, 1. August 1904.)
Wendel (Marburg).
Bin eigenartiger Fall ron „flottierender Niere44,
In welchem die Nephrorhaphie erfolgreich
ausgeführt wurde* Von Dr. David New mau
in Glasgow.
Man hat die Wanderniere, welche hinter
dem Peritoneum verschieblich ist, zu unter-
scheiden von der „flottierenden" Niere, welche
ein Mesenterium besitzt und sich frei innerhalb
der Bauchhöhle bewegt. Klinisch sind jedoch
beide Formen nicht sicher zu unterscheiden. Die
Diagnose wird in der Regel erst durch den
anatomischen Befund bei der Operation zu
stellen sein.
Der von New man mitgeteilte Fall, ist der
erste von flottierender Niere, welcher operativ
behandelt wurde. Es handelte sich um eine
junge weibliche Person, die von jeher viel an
Kopfschmerzen und nervösen Beschwerden sowie
an Schmerzen im Leib und Verdauungsstörungen
gelitten hatte. Die rechte Niere war innerhalb
der Bauchhöhle leicht und ausgiebig verschieblich.
Bei der Operation zeigte es sich, daß die
Niere nicht an ihrer normalen Stelle lag und
daß sie, als sie von der Bauchhöhle in den
Operationsschnitt hineingedrängt wurde, vom
Peritoneum ganz überzogen war. Dieses mußte
erst durchtrennt werden, ehe man die Kapsel
öffnen und die Niere in den Rändern der
Operationswunde vernähen konnte. Nierenfett
fehlte gänzlich. — Die Operation hatte insofern
guten Erfolg, als das Befinden der Kranken sich
allmählich besserte und die Niere an ihrer Stelle
fest verankert blieb.
(British medical Journal 1904, 18. Juni.)
Classen (Grube i. H.).
(Au Dr. J. Hertzfelds Klinik und Poliklinik für Hals- etc.
Krankheiten In Berlin.)
Die Behandlung der Ozaena mit Hartparaphin-
injektlonen. Von Dr. H. Fließ, Assistenzarzt,
Berlin.
Ausgehend von der Annahme, daß zwischen
abnormer Nasen weite und Ozaena eine Be-
ziehung vorhanden ist, haben verschiedene Autoren,
darunter auch Fließ, eine Verengerung des
Nasenkanals erstrebt. Fließ hat Paraphin-
injektionen in die untere Muschel gemacht mit
einer modifizierten Eckstein -Spritze. Zwölf
Fälle , die mit 32 Injektionen behandelt wurden,
führten zu dem Ergebnisse, daß die Behandlung
bei allen Patienten eine derartige Besserung
brachte, wie sie bisher bei keiner anderen Be-
handlung erzielt wurde.
(Berl. klin. Wochenschr. 1904, No. 10.) H. Rosin,
Ober unsere bisherigen PararBnerfolge bei Nasen-
difformitftten und retroaurikularen Defekten«
Von Dr. Sokolowsky (Königsberg i. Pr.).
Verf. berichtet über die Erfolge in Prof.
Gerbers Ohren-, Hals- und Nasenklinik. Es
wurde stets das von Gersuny empfohlene Paraffin
(cf. Referat in dieser Monatsschrift 1903 S. 169)
verwendet, anfangs mit gewöhnlicher Pravaz-
spritze, später mit der von Stein angegebenen
Spritze injiziert. Verf. berichtet über 9 Fälle
teils von Nasendeformitäten, teils von retro-
aurikularen Fisteln nach Radikal Operation der
Otitis media. Die z. T. durch Abbildungen
nachgewiesenen Erfolge sind sehr befriedigend.
Schlimme Zufälle sind nicht beobachtet, ein
Erysipel der Wange trat nach 5 Naseninjektionen
ein, ob dadurch veranlaßt, ist zweifelhaft.
(Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 42.)
Wendel (Marburg).
48
Referate.
[" Therapeutische
Die subkutane Einspritzung von hartem Paraffin
zur Beseitigung von Deformitäten der Nase
nach zwelundeinhalb jähriger Erfahrung. Von
Walker Dow nie in Glasgow.
Die Behandlang von Nasendeformitäten
mittels Paraffineinspritzungen hat sehr gute Er-
folge gehabt. In allen von Downie behandelten
Fällen hat sich die verbesserte Gestalt der Nase
erhalten. Das Paraffin war niemals resorbiert
worden, noch hatte es seinen Platz verändert;
auch Eiterung oder entzündliche Reizerscheinun-
gen waren nicht aufgetreten ; die Atmung durch
die Nase war in keinem Falle beeinträchtigt
worden. Auch ein vorübergehender Aufenthalt
in heißer Luft oder im warmen Klima hatte die
eingebettete Paraffinmasse nicht beeinflußt.
(British medical Journal 1904. 5. Nov.)
Ciasseti (Orube u H.).
Zur Paraffinnasenplastik. Von Dr. Eckstein
(Berlin).
In einem Falle von hochgradiger Sattelnase
führten Paraffininjektionen auch nach Ablösung
der narbigen Haut des Nasenrückens von der
Unterlage nicht zu dem gewünschten Resultate.
Deswegen führte Eckstein von einem 3 cm
langen Längsschnitte an der rechten Seite des
Nasenrückens aus einen entsprechend zugeschnit-
tenen Keil aus Hartparaffin von 75° Schmelz-
punkt ein. Die Wunde ließ sich nach Unter-
minierung der Ränder ohne Spannung nähen.
Die Heilung erfolgte glatt mit sehr befriedi-
gendem Resultat.
(ZentraM. f. Chirurgie 1904, Ko. 3.)
Wendel (Marburg).
Ober die Verwendung von hartem oder weichem
Paraffin zu subkutanen Injektionen. Von
Dr. Stein, Wiesbaden.
Verf. spricht sich in einer Polemik gegen
Eckstein noch einmal energisch für Verwen-
dung des weichen Paraffins zur subkutanen In-
jektion aus. Er empfiehlt ein Gemisch von
Vaselin und Paraffin von dem Schmelzpunkte
41°, welches sich durch eine Pravazspritze, deren
Kanüle durch Bajonettverschluß befestigt ist, in
pastenähnlicher Konsistenz leicht einspritzen läßt.
Man sterilisiert das Paraffin am besten im Heiß-
luftschrank bei 150°, verflüssigt es vor der In-
jektion im Wasserbade, saugt es in die Spritze
und injiziert, nachdem man die Abkühlung durch
die Luft abgewartet hat. Beim Hineinlegen in
kaltes Wasser würde das Gemisch zu hart werden
und die Kanüle nicht mehr passieren. Man soll
nur 2 — 3 ccm höchstens in einer Sitzung in-
jizieren. Sind noch größere Mengen nötig, so
soll man erst einige Wochen warten, bis die
zuerst injizierte Masse durch die Einkapselung
und Durchwachsung mit Bindegewebe etwas
konsolidiert ist. Verf. verwirft also prinzipiell
Injektionen größerer Massen, welche von anderer
Seite, bis zu 60 ccm und darüber, in einer
Sitzung vorgenommen wurden. Er beschränkt
dadurch die Paraffinmethode auf die Korrektur
kleinerer Defekte und Deformitäten, verwirft
sie für die Behandlung von Hernien, Uterus-
prolapsen u. s. w. Auch Injektionen in die
hintere Rachenwand zur Verbesserung der Sprache
nach Gaumenspaltoperationen hält er für zu ge-
fährlich. Das harte Paraffin will er nur für die-
Füllung präformierter Hohlräume, namentlich. t>
im Knochen, gelton lassen, eventl. mit Zusatz,
von antiseptischen Mitteln nach dem Vorschlage
Witzeis in der Zahnheilkunde und auch sonst
bei nicht aseptischen Prozessen. Er behauptet,
daß Embolien nur eintreten können, wenn das
Material flüssig injiziert wird, wie es bei dem
Hartparaffin natürlich erforderlich ist, oder wenn
zu große Massen injiziert werden. Man darf
also natürlich auch das weiche Paraffin nie
flüssig, sondern stets nur in Pastenkonsistens
einspritzen. Von dem Vorschlage, zur Ver-
meidung einer Embolie vorher die Anästhesie
nach Schleich einzuleiten, hält er nichts. Er
fürchtet die Auflockerung des Gewebes für das.
Gelingen des gewollten Effektes.
Dem Hartparaffin macht er den Vorwurf
der größeren Gefährlichkeit, der Möglichkeit der
Verbrennung und Erzeugung von Gangrän, ferner
der sehr schwierigen und zeitraubenden Technik.
Er kommt zu folgenden Schlußsätzen:
1. Die Methode eignet sich hauptsächlich,
zur Korrektur kleiner, nahe der Oberfläche ge-
legener Defekte, die nur geringe Mengen er-
fordern.
2. Der Schmelzpunkt soll etwa 41° be-
tragen. Härteres Paraffin ist nur zur Füllung
starrwandiger Höhlen zu verwenden, da es sonst
die Gefahr der Embolie vergrößert.
3. Einspritzung nie in flüssiger, sondern
in pastöser Konsistenz.
4. In einer Sitzung sollen höchstens 3 ccm
injiziert werden.
5. Die Masse wird nicht resorbiert, sondern
eingekapselt und von Bindegewebe durchwachsen.
Das Resultat ist also dauerhaft.
Photographien und briefliche Mitteilungen
werden zur Illustration des dauernden Erfolges
herangezogen.
(Deutsche med. Wochenschr. 1904, No. 36 u. 37.)
Wendel (Marburg).
Ober eine bisher unbekannte Wirkung der Röntgen-
strahlen auf den Organismus der Tiere. Von
Dr. Albers-Schönberg, Hamburg.
An 11 männlichen Versuchstieren — Ka-
ninchen und Meerschweinen — nahm Albers-
Schönberg systematische Röntgenstrahlungs-
Versuche vor und fand dabei, daß schon nach
einer Bestrahlungsdauer von insgesamt 195 Mi-
nuten bei verschiedenen Sitzungen eine Oligo-
Nekrospermie eintrat und bei der nächst höheren
Bestrahlungsdauer von 377 Minuten Gesamt-
bestrahlung sogar eine totale Azoospermie; die-
selbe wurde jedesmal im mikroskopischen Bilde
nach der Sektion nachgewiesen. Das körper-
liche Wohlbefinden blieb trotzdem ungestört;
bezüglich des Geschlechtstriebes und der Kopu-
Iationsfähigkoit unterscheiden sich die Tiere nicht
im geringsten von normalen, nicht bestrahlten
Exemplaren. Albers-Schönberg fordert zu
weiteren Versuchen auf, um die untere Grenze
der für Azoospermie erforderlichen Bestrahlungs-
dauer festzustellen und dus Verhalten anderer
XIX. Jahrgang 1
Januar 1906. J
Referate.
49
CO
Tierarten bezüglich ihrer Reaktion auf Röntgen-
strahlen und die Dauer dieser eigentümlichen
Wirkung zu prüfen.
(Münch. med. Wochenschr. 43, 1904.)
Arthur Rahn (CollmJ.
Über Urotropin, Methylensitronenaäure und me-
thylensltronenaaares Urotropin [Helmitol
(Bayer), Neuurotropin (Schering)]. Von Prof.
Dr. Arthur Nicolaier (Berlin).
Das als Ersatz des Urotropins empfohlene
H e 1 m i t o 1 (anhydromethylenzitronensaure Uro-
tropin) sowie das damit identische Neuurotro-
pin unterzieht Nicolaier einer eingehenden
kritischen Besprechung.
Die Methylenzitronensäure, auch Anhydro-
methylenzitronensaure oder Diformalzitronensäure
genannt, hat die Konstitutionsformel
CH, - COOH
j N»/°
CHS — COOH.
Die bei 208 ü schmelzenden Krystalle lösen
sich leicht in heißem, schwer in kaltem Wasser,
ferner leicht in Alkohol, Aceton, schwer in
Äther. In der Wärme spalten die wäßrigen
Lösungen Formaldehyd ab, ebenso beim Kochen
mit verdünnten Säuren. Überschüssiges Alkali
zerlegt die Säure sofort in Formaldehyd und
neutrales Citrat. Das Natriumsalz wird unter
dem Namen Citarin als Gichtmittel benutzt.
Tierversuche lehren, daß die Säure selbst
in großen täglichen Dosen ohne Schädigung ver-
tragen wird. Der Urin der Versuchstiere gibt zu-
weilen geringe Eiweißreaktion ; die Reaktion auf
Formaldehyd fällt bei Gaben von 1 g nach
wenigen Stunden negativ aus, es läßt sich in ihm
dagegen unzerlegte Methylenzitronensäure nach-
weisen, wenn auch nur in geringen Mengen.
Der weitaus größere Teil wird im Organismus
zunächst in Zitronensäure und Formaldehyd ge-
spalten, sodann erleiden die beiden Komponenten
eine weitergehende Zerlegung. Beim Menschen
erzeugt die Säure in Dosen von 4 g pro die
starke Durchfälle sowie papulo-vesikulöse Ekzeme.
Im Urin, der an Menge nie vermehrt, mehrfach
dagegen um !/3 hinter der normalen zurückblieb,
ließ sich nur in wenigen Fällen mit der Jo-
rissenschen Probe geringe Rotfärbung erzielen.
Der mit Mikroorganismen infizierte Harn zeigte
schon am ersten Tage die ammoniakalische Harn-
gärung. Der Formaldehyd war also auch nur
in gebundener Form, nicht frei anwesend.
Was das methylenzitronensaure Urotropin,
das Helmitol und Neuurotropin, anbetrifft, so
spalten seine wäßrigen Lösungen beim Destillieren
84 mal soviel Formaldehyd ab als wäßrige Uro-
tropinlösung. Es geht aber aus dem Helmitol nicht
mehr Formaldehyd in den Harn in freier Form über,
ab aus dem Urotropin, was durch vergleichende
Untersuchung über den Eintritt der ammonia-
kalischen Harngärung bewiesen wird. Die bak-
teriologische Prüfung ergibt daher, daß das
methylenzitronensaure Urotropin dem
Urotropin in keiner Weise überlegen ist.
Das Gleiche gilt von der klinischen Prüfung.
Beide Mittel wirken in gleicher Weise bei bak-
teriellen Erkrankungen der Harnwege, der harn-
sauren Diathese sowie der Phosphaturie. Diese
dem Urotropin identische Wirkung kommt dem
methylenzitronensauren Urotropin nur wegen
seines Gehaltes an Urotropin zu; die Methylen-
zitronensäure ist in keiner Weise an der Wirkung
beteiligt. Es ist demnach irrationell, das Uro-
tropin durch Helmitol und Neuurotropin zu er-
setzen, denn da diese beiden Mittel in doppelter
Dose wie Urotropin verordnet werden, wird die
Behandlung unnütz um das Doppelte verteuert.
(Deutsches Archiv für klinische Medizin, Bd. LXXXl.
Sonder-Abdruck.J J. Jacobson.
Ober Empyroform, ein neues Teerpräparat. Von
Dr. P. Kornfeld (Wien).
Verf. teilt seine Untersuchungsergebnisse
mit, die er mit dem neuen Teerpräparat Em-
pyroform gewonnen hat. Das Präparat, dessen
physikalische Eigenschaften bereits im Jahr-
gang 1904 dieser Hefte S. 430 mitgeteilt worden
sind, wird von allen Patienten seiner Geruch-
losigkeit wegen dem Teer vorgezogen. Seine
Anwendung erfolgt zweckmäßig in Salben (5 bis
20 proz.), Pasten (50 proz.) oder Linimenten
(5 — 15 proz.), auch als Trockenpinselung: Em-
pyroform 15,0, Talci veneti., Glycerini aä 10,0,
Aquae 20,0.
Die Wirkung ist in hervorragender Wreise
juckenstillend und austrocknend, ohne lokale
Reizerscheinungen oder Intoxikation hervorzu-
rufen. In erster Linie ist Empyroform bei
Ekzemen, und zwar bei akuten und chronischen
angezeigt. Das Präparat wird bei dieser Er-
krankung stets gut vertragen, ohne daß die
Entzündung der Haut verstärkt wird. Selbst
solche Patienten, welche gegen andere Teer-
präparate intolerant sich erweisen, vertragen
Empyroform ohne irgend welche Reaktions-
erscheinungen. Bei denjenigen Formen, welche
von beträchtlicher Infiltration, Verdickung der
Epidermis und des Rete begleitet sind, geht
unter Empyroformbehandlung zuerst die Stase
in den Hautgefäßen, die Rötung und Infiltration
zurück unter gleichzeitigem Nachlaß der jucken-
den und brennenden Schmerzen, des Spann ungs-
gefühls und der Parästhesien. Die Heilung er-
folgt in kurzer Zeit, ohne durch Rückfälle unter-
brochen zu sein. Der Juckreiz läßt sich durch
Empyroform bei den torpiden Ekzemformen eben-
falls, und zwar wie mit einem Schlage beseitigen.
Die Reizlosigkeit des Präparates ist so groß,
daß es selbst auf akut entzündlichen und nässenden
Ekzemstellen ohne Störung vertragen wird. Es
läßt sich daher mit Vorteil bei nässenden Ek-
zemen der Hände, Finger, der Vorderarme, des
Gesichtes verwenden. Diejenigen Formen, welche
sich auf seborrhoischer Grundlage entwickelt
haben, lassen sich ebenfalls in kurzer Zeit durch
Empyroform günstig beeinflussen.
Außer bei Ekzemen hat Verf. das Mittel
bei Prurigo, Psoriasis und Liehen urticatus an-
gewendet. Auch bei diesen Erkrankungen ist
die prompte entzündungswidrige und jucken-
stillende Wirkung bemerkenswert.
50
Referate.
PTherapeatlcch«
L Moiurtibefte.
öihkfß
Die absolute Reizlosigkeit des Präparates
erlaubt auch seine Anwendung in der Kinder-
praxis, ferner bei solchen Personen, welche sonst
kein anderes Teerpr¶t vertragen.
(Zentralblatt für die gesamte Therapie, Dezember 1904,
S. 617.) J. Jacobson.
Intravenöse Injektion von Merkarialsalzen bei
Syphilis. Von J. Dumont.
Dumont bespricht eine jüngst (Paris 1902)
erschienene These von Bonzitat, weche obigen
Gegenstand behandelt. Dieselbe enthält eine
genaue Beschreibung der Technik, erörtert die
Vorteile und Nachteile, die Indikationen und
Kontraindikationen, endlich die Resultate der
intravenösen Hg-Injektion bei Syphilis. In Nach-
stehendem geben wir hiervon das Wesentlichste
nach den Ausführungen D u m o n ts wieder. — Zu den
Injektionen benutzt man am besten die Lu ersehe
Glasspritze und eino Platin-IricüumnadeJ^^/AJ* '
Injektionsflüssigkeit empfehlen diemeisteiiÄjrforen
eine Sublimatlösung von 1 : 1000.
man auch 1 prozentige Cyanquecksi
(Abadie) oder benzoesaures Hg (Stuko
verwenden. Die Injektion wird am
in eine der Venen der Ellenbeuge gemacht,
legt eine elastische Binde um den Oberarm, da-
mit die Venen möglichst stark hervortreten,
desinfiziert auf das sorgfältigste, fixiert die stärkste
der Venen mit dem Daumen der linken Hand
und sticht die Nadel unter einen Winkel von
45° ein. Ist man in der Vene, so muß beim
Zurückziehen des Stempels etwas Blut in die
Spritze dringen. Zeigt sich kein Blut, so hat
man die Vene verfehlt und muß von neuem ein-
stechen. Nun wird nach vorheriger Lockerung
des elastischen Bandes die Lösung injiziert, die
Nadel zurückgezogen und gegen die Stichöffnung
für wenige Minuten ein Wattetampon gedrückt.
An den nächsten Tagen kann man an derselben
Stelle die Einspritzungen wiederholen. Zuweilen
bildet sich am Stichkanal eine leichte Härte,
davon herrührend, daß ein Teil der Flüssigkeit
in das perivenöse Gewebe gelangt ist, eine Er-
scheinung, die übrigens ohne jede Bedeutung
ist. — In den gewöhnlichen Fällen von Syphilis
injiziert man zunächst alle zwei Tage, dann alle
drei bis vier Tage 1 cem einer Iprozentigen
Quecksübercyanlösung. In pressanten Fällen
(Kopfschmerz, Hirngummi, Myelitis etc.) empfiehlt
es sich täglich einzuspritzen. Treten Intoxika-
tionssymptome ein (Salivation, Diarrhöen), so
verlängert man die Intervalle zwischen den In-
jektionen, oder setzt letztere unter Umständen
ganz aus. Wählt man Sublimat zu den Ein-
spritzungen, so injiziere man, da es doppelt so
reich an Hg ist wie das Cyanid, pro dosi nur
5 mg. Die beschriebene Methode der Syphilis-
behandlung hat nach Bonzitat folgende Vorzüge:
1. Ihre Technik ist sehr einfach. 2. Die
intravenösen Injektionen sind völlig schmerzlos.
3. Sie hinterlassen keine Knoten. 4. Sie sind,
da das Hg direkt in die Blutbahn gelangt, von
schnellerer Wirkung. 5. Ihre Wirkung ist sicherer;
denn sie beeinflussen Fälle, die anderen Behand-
lungsmethoden Trotz boten. 6. Sie erzielen mit
geringerer Dosis einen stärkeren Effekt. 7. In-
toxikationserscheinungen treten weniger häufig
auf, da das Hg schneller und leichter eliminiert
wird, als nach jeder andern Art seiner Einver-
leibung. 8. Die Methode erlaubt eine bisher
unerreichte Genauigkeit der Dosierung. S). Die
intravenösen Injektionen können öfter wiederholt
werden, als Injektionen in die Muskeln oder
unter die Haut, und auch insofern läßt sich
mit ihnen eine schnellere und energischere Wir-
kung erzielen, als mit jeder anderen Methode. —
Embolien oder Thrombosen, die man wegen der
koagulierenden Wirkung der Hg-Salze auf das
Blut nach den intravenösen Injektionen erwarten
sollte, hat Bonzitat niemals beobachtet: Die
Menge der injizierten Lösung ist im Verhältnis
zur Blutmasse eine so winzige, daß eine Koagu-
lation sich gar nicht bilden kann. Dagegen
kann nach einer schlecht gelungenen Injektion
ßiTrü schmerzhafte Induration, ein Abszeß oder
leine £h{e&iiKme sich an der Injektionsstelle bilden.
— Eigentlich Kontraindikationen existieren für
"er Syphilisbehandlung nicht, es
alle, in denen die Venen auch
fchnürung mit einer elastischen
; Binde rwedai^ gesehen noch gefühlt werden
^^önnen^frFrauen, Personen mit starkem Fett-
polster). Ihre besondere Indikation findet sie bei
schweren Syphilisformen, die von vorneherein
eine energische Behandlung erfordern, bei p hage-
dänischen Schankern, bei schwerer ulzeröser
Syphilis, bei Syphilis praecox des Nervensystems,
vor allem aber bei tertiärer Syphilis, wo sie jeder
anderen Behandlungsweise überlegen ist. Viel-
leicht sind dieser Methode auch Erfolge bei den
so gen. parasyphilitischen Affektionen, der pro-
gressiven Paralyse, der Tabes und dem Aorten-
aneurysma beschieden.
(La Presse medic. 1902, No. 67.)
Ritterband (Berlin).
Ober Inokulationaversache der Syphilis auf Ferkel.
Von Dr. Z. Sowinski.
Die vielen negativen Impf versuche auf Tiere
verschiedener Gattung mit Blut von Syphilis-
kranken brachten Verf. auf den Gedanken, daß
die Schuld an dem Mißlingen in der Benützung
von vollkommen gesunden und normalen Tieren
liegen kann. — Die Absicht ging nun dahin,
konstante Veränderungen im gesamten Nerven-
system des zu verwendenden Tieres hervor-
zurufen, der Ansicht des Prof. Pawlow ent-
sprechend, der in der Widerstandsfähigkeit des
Nervensystems die Ursache der Nichtübertrag-
barkeit des Syphilisvirus sieht. — Denn zwei-
fach ist die Möglichkeit, positive Resultate zu
erhalten: entweder wird das Virus potenziert,
oder die Widerstandsfähigkeit der Zellen ver-
mindert. Da der erste Weg unmöglich ist,
wurde zum zweiten Mittel gegriffen. 5 zwei-
wöchige Ferkel, Yorkshire Kasse, wurden
dazu verwendet. Die verminderte Widerstands-
fähigkeit wurde durch systematisches Eingießen
von Alkohol in den Magen des chloroformierten
Tieres zu erzielen gesucht. Es wurde mit 20 cem
einer 20 proz. alkoholischen Lösung begonnen,
und langsam, im Laufe von 46 Tagen, bis auf
(>0 cem einer 40 proz. alkoholischen Lösung ge-
XIX. Jahrgang.*]
Jannar 190S. J
R*fmte. — Toslkologte*
51
stiegen. Dann wurde unter strenger Einhaltung
von Aseptik 15 ccm Blut der Arnwene eines
nicht behandelten Sekundär-Luetischen entnom-
menen und dem Tiere in die Bauchhöhle inji-
ziert. Trotz aller dieser Eingriffe kamen gar
keine Erscheinungen, sei es an der Injektions-
stelle oder auf der Haut, zum Vorschein, die
auf ein Gelingen der Impfung hindeuten sollten.
(Przeglad lekarski 1904, No. 9—10.)
Gabel (Lemberg).
Toxikologie.
Ein Fall von Vergiftung durch Chloralhydrat mit
tödlichem Ausgange. Von Dr. HansBerliner
in Berlin (Originalmitteilung).
Fälle von Vergiftung durch Chloralhydrat
niit todlichem Ausgange sind bekannt, und
auch der Fall, den ich hier kurz mitzuteilen
versuche, bietet nichts Außergewöhnliches,
vielleicht ist er aber für die Ärzte, die auf
dem Lande und solchen Orten zu tun haben,
au denen sich keine Apotheke befindet, von
gewissem Interesse.
Am 13. Januar 1896 kam ein Herr W. aus
Berlin, etwa 25 Jahre alt, der allein und ohne Be-
gleitung in einer Privatvilla des Badeortes wohnte,
damals in Bad Harzburg, zu mir, um sich wegen
einiger Furunkeln im Nacken behandeln zu lassen.
Mitte Februar v. J. traten Rezidive auf, und zwar
so heftiger Art, daß der Pat. bei hohem Fieber, trotz
der geeigneten chirurgischen und antiseptischen und
antiphlogistischen Behandlung keine Ruhe fand, daß
er nachts nicht schlafen konnte und von Wahnideen
gepeinigt wurde. Den Wehklaffen und Bitten des
Pat., ihm endlich einmal ein Schlafmittel zu geben,
wonach er wirklich erquickenden Schlaf fände, gab
ich nach. Als ich ihm ein anderes Mittel verordnen
wollte, erklarte er, früher habe er auch schon Schlaf-
mittel bekommen, nichts habe ihm geholfen, außer
Chloralhydrat und zwar in der Dosis von 2 g, und
ich sollte ihm auch dasselbe verschreiben. Ich ver-
ordnete darob ein Pulver Chloralhydrat zu 2 g und
übergab das Rezept dem Patienten. Aber Herr
Doktor, wandte er ein — eine Apotheke gab es da-
mals im Winter noch nicht in Bad Harzburg, sie befand
sich von der Wohnung des Patienten eine Stunde
entfernt an dem äußersten Ende des Nachbarotes
Bündheim — es wäre doch zuviel verlangt, wenn
er, der schwer krank sei und keine Bedienung sonst
habe, für jedes Pulver in der eisigen Kälte je eine
Stunde hin- und herlaufen müßte, ich sollte ihm
doch wenigstens gleich mehrere verordnen. Die
Begründung hielt ich für berechtigt und so nahm
ich das Rezept zurück und verordnete statt dessen
5 Pulver a2,0 und signierte: ein Pulver nach Vor-
schrift zu nehmen und bat den Patienten, die andern
Pulver mir mitzubringen, da ich einem Mißbrauch
vorbeugen wollte; ganz traute ich ihm nicht. Aber
Pat. kam am selben Tage nicht mehr zu mir zurück.
Am andern Morgen wurde ich plötzlich um 10 Uhr
in seine Wohnung gerufen und fand ihn vollkommen
bewußtlos, asphyatisch, in den letzten Zügen.
Alle Versuche, ihn wieder aus dem Schlafe zu
erwecken, künstliche Atmung, Strychnininjektionen,
hatten nicht den geringsten Erfolg, etwa nach
weiteren zwei Stunden trat der Exitus letalis ein. —
Man wird vielleicht in Anbetracht des
unglücklichen Ausganges fragen, warum ich
nicht bloß allerhöchstens 6 g in drei Pulvern,
statt 10 g auf einmal dem Pat. anvertraut
: habe, indessen, wie die Umstände damals
j lagen, war ich gezwungen, den Verhält-
' nissen Rechnung zu tragen, daß der Pat., der
. keine eigene Bedienung hatte, nicht in Ver-
legenheit geriete, besonders, da ich ihm
! jedesmal ein Pulver selbst verabreichen
| wollte. Ich habe schon wiederholt bei ner-
vösen an Agrypnie leidenden Patienten große
i Mengen Schlafmittel und auch Chloralhydrat
in größerer Menge als 10 g vorgefunden,
welche ihnen von ihren Hausärzten auf Reisen
mitgegeben wurden und die mir auf meine
Verwunderung darüber erklärten, daß sie sich
längst hätten vergiften können, wenn sie es
wollten. Immerhin mahnt aber dieser Fall,
daß man Chloralhydrat nie mehr als 6 g zu
gleicher Zeit einem Pat. in die Hände gibt. —
(Au« der Nerven- und Beobachtungsabteilung des k. und k.
Garniton-Spitala No. 16 in Budapest.)
I Dreifacher Fall von Wurstvergiftung (Botalismut).
I Von Dr. Gustav Morelli, z. Z. Assistenzarzt
I an der I. internen Klinik in Budapest.
Verf. hatte Gelegenheit, drei Fälle von Bo-
tulismus bei kräftigen, gesunden Soldaten zu be-
1 obachten.
Die drei Patienten hatten von einer Wurst
gegessen und erkrankten alle drei mehr oder
| minder schwer. Die Vergiftung äußerte sich
{ zuerst 6 bis 10 Stunden nach der Infektion in
i Magendarmsymptomen: Übelkeit, Magendruck,
, Brennen im Magen, Erbrechen, geringes Ab-
fuhren und Kopfschmerzen. Die eigentlichen
Vergiftungserscheinungen traten nach 36 bis
48 Stunden auf: Alle Gegenstände erscheinen
verschwommen und doppelt, die Augen können
I wegen Lähmung der Lidmuskulatur nicht ganz
geöffnet werden; die Bewegung der Augäpfel
nach den Seiten ist beschränkt, die Pupillen sind
* erweitert und oval, reagieren nicht auf Licht und
i Akkommodation. Die Tränenabsonderung ist
! versiegt, die Schleimhäute sind trocken und un-
| empfindlich. Eine Lähmung der Muskulatur des
| Pharynx und des weichen Gaumens bewirkt
! Schluckbeschwerden resp. Unfähigkeit zu schlucken:
i die Flüssigkeiten regurgitieren durch die Nase.
| Die Trockenheit der Schleimhaut des Mundes
und Rachens erzeugt ein brennendes, kratzendes
Gefühl im Munde; die Sprache ist eintönig, das
j Sprechen schwer, gedehnt. Die Haut ist eben-
; falls trocken, stößt sich in großen Schuppen ab.
, Der Stuhl ist angehalten, das Harnlassen ist er-
| schwort, erfolgt nur unter Kraftanstrengung mit
52
Toxikologie. — Literatur.
["Therapeutische
L Monatshefte,
nachfolgendem Harn träufeln. Die große Hin-
fälligkeit und die Herzschwäche besserten sich
nach Einfuhrung von Nahrung durch das Magen-
röhr. Am zehnten Tage nach der Vergiftung
erfolgte auf hohen Einlauf ausgiebige Entleerung.
Zur Anregung der Hautsekretion wurden täglich
0,01 — 0,02 g Pilokarpin verordnet, da ein warmes
Bad zu Kollapserscheinuugen führte. Die übrigen
Symptome besserten sich langsam: am 16. Tage
schwanden die Urinbeschwerden, am 35. Tage
das Doppelsehen, am 43. die Akkommodations-
störung, am 44. die Schlingbeschwerden, aber
erst am 60. Tage die allgemeine Trockenheit.
(Wien. med. Wochenschr. 1904, No. 46, S. 2163.) J.
Über Atropin- Vergiftung. Von San .-Rat Dr. Benno
Holz, Berlin.
Im Anschluß an den von Fejer1) mitge-
teilten Fall von akuter Atropin Vergiftung be-
schreibt Holz einen Vergiftungsfall, welchen er
vor Jahren zu beobachten Gelegenheit hatte.
Einem an Conjunctivitis phlyctaenulosa
leidenden Kinde war eine O,lprozentige Atropin-
lösung zur Einpinselung in das Auge verordnet.
Am Abend erhielt das Kind aus Versehen einen
Teelöffel dieser Lösung. Zwei Stunden später
wurde das Kind unruhig; nach weiteren zwei
Stunden fand es Holz laut schreiend, im Bette
hin- und herspringend vor, wobei es um sich
schlug und biß. Pupillen ad maximum erweitert,
Haut trocken, hochrot, starker Meteorismus,
fliegende Respiration, Puls unzählbar. Auf Dar-
reichung von Morphium zweimal 0,005 g sub-
kutan innerhalb vier . Stunden trat genügende
Beruhigung ein. Die Darmgase wurden durch
Einführung einer Magensonde beseitigt und die
Darmperistaltik durch Essigklystiere angeregt.
Verf. empfiehlt, gestützt auf diese Beobachtung,
in jedem Falle von akuter Atropin Vergiftung die
Darreichung von Morphium. Es besteht ein
Doppel- Antagonismus: Morphium — Atropin und
Atropin — Morphium; freilich ist Morphium kein
Antidot in chemischem Sinne, es reizt aber die
vom Atropin gelähmten Nerven.
(Berliner klinische Wochenschrift 1904, No. 46.) J.
(Aue der K. K. Allgemeinen UntersuchungMuutalt für Lebens-
mittel In Wien.)
Verwechselung von Enzianwurzel mit Belladonna-
wurzel. Von J. Hockauf.
Drei Personen, welche nach dem Abend-
essen zusammen l/s Liter Enzianschnaps getrunken
hatten, erkrankten in der Nacht unter "Würgen
im Halse, Brechreiz, Erstickungsanfällen und
Diarrhoe. Trotz Magenausspülung hielten Schwin-
del und Magendarmbeschwerden noch einige
Tage an.
Die Untersuchung der zur Schnapsbereitung
benutzten Wurzeln ergab, daß dieselben haupt-
sächlich von Atropa Belladonna stammten. Der
Branntweinschänker hatte von Kräutersammlern
einige Tage vor Abgabe des Schnapses angeblich
Enzianwurzeln gekauft und dieselben mit Alkohol
und Wasser angesetzt.
(Wien. klin. Wochenschr. 1904, No. 31, S. 870.) J.
«) Therap. Monatsh. Oktober 1904. S. 542.
Vergiftung nach äußerlicher Anwendung von
Kupfenulfat ( Blaut teln). Von Regimentsarzt
Dr. Spannbauer (Trembowla).
Ein an heftig juckendem Ekzem am Kopfe
leidender Soldat hatte sich die Kopfhaut mit
einer Lösung von Blaustein in Milch eingerieben.
Zwei Tage später wurde er schwer krank in das
Spital gebracht: der Gesichtsausdruck war ver-
fallen und leidend, die Atmung erschwert, die
Sprache klanglos und heiser, die Pupillen weit,
träge reagierend, Extremitäten, Nase, Ohren kalt
und dunkelblau, Lippen cyanotisch, Radialpuls
nicht fühlbar, Herztöne undeutlich. Bauch ein-
gesunken, an der Magengegend druckempfindlich.
Muskelkontrakturen an den unteren Extremitäten.
Patient war unruhig, klagte über Atemnot, Übel-
keit, Durst und Schmerzen in Magen und Beinen.
Wiederholtes Erbrechen grünlich- gelber Flüssig-
keit; Anurie. In der der Einlieferung voraus-
gehenden Nacht bestand heftige mit kopiösen
Entleerungen einhergehende Diarrhoe. Die Kopf-
haut war mit eingetrockneten, blaugefärbten
Borken und Krusten bedeckt. Die Therapie be-
stand in Darreichung von Stimulantien, Frottie-
rung der Extremitäten und warmen Klysmen.
Nach einigen Stunden besserte sich der Zustand,
doch verschlimmerte sich das Befinden am nächsten
Tage wieder, 8 od aß wiederum Kampferinjektionen
notwendig wurden. Der spontan gelassene Urin
— an Menge 200 cem — war trübe, dunkel
und enthielt reichlich Eiweiß. Am 3. Tage
waren alle Erscheinungen geschwunden.
Bemerkenswert in diesem Falle waren die
geringen Mengen Kupfersulfat — 5 bis 6 g —
die zur Vergiftung geführt hatten, obendrein bei
äußerlicher Anwendung; die Dosis letalis von
Kupfersulfat beträgt intern verabreicht 10 — 20 g.
Auffällig war ferner der plötzliche Eintritt der
Intoxikationserscheinungen und ihr schneller
Nachlaß. Da im Erbrochenen Kupfersulfat sich
nachweisen ließ, wurde also das durch die Haut
aufgenommene Kupfer auf der Magen- und
Darmschleimhaut ausgeschieden, auf deren Zellen
es einen spezifischen Reiz auszuüben scheint.
(Wiener klin. Wochetxschr. Xo. 43. S. 2019, 1904.)
J. Jacobson.
Literatur.
Grundzüge der Ernährung und Diätetik. Von
Geh. Med.-Rat. Prof. Dr. vonLeyden, Sonder-
abdruck aus dem Handbuch der Ernährungs-
therapie, 2. Aufl., Leipzig 1903, Georg Tieme.
Die vorliegende kleine Monographie ist mit
Recht vom Autor und Verleger als Sonderabdruck
herausgegeben worden. Denn sie eignet sich nicht
nur zum Studium für Arzte, sondern auch für
gebildete Laien zur Belehrung und Anweisung.
Sie gibt eine eingehende Übersicht über die Er-
nährungskuren und widmet ein besonderes Ka-
pitel der Krankenkost. Das elegant ausgestattete
kleine Buch, im Preise von 2 M., wird in diesem
Sinne von großem Nutzen für Hygiene und
Volksbildung sein. H. Rosin.
XIX. Jahrgang.!
Januar 1905. J
Literatur.
53
Die inneren Krankheiten in kurzer Darstellung*
zum Gebrauch für Aerzte und Studierende.
Von Privatdozent Emil Schwarz in Wien.
I. Teil. Wien 1903, Moritz Perles. Preis 6 Mk.
Das Buch ist ein kurzgefaßter Grundriß der
inneren Medizin, der mit seinen zahlreichen Ge-
nossen auf dem Büchermarkte in Konkurrenz
tritt. Als Veranlassung der neuen Erscheinung
gibt der Autor selbst das tagliche Fortschreiten
unserer Wissenschaften an und die durch diese
bedingten steten Änderungen unserer Ansichten.
Möge es dem übersichtlich und kurz gefaßten
Lehrbuche gelingen, sich zur Geltung zu bringen
und seinen Leserkreis zu finden. h. Rosin.
Beitrag zur Pathologie und Therapie der
Pankreaserkranknngen mit besonderer
Berücksichtigung der Cysten und Steine.
Von Priv.-Doz. Dr. Paul Lazarus, Assistent
d. I. med. Univ.-Klin. Berlin. Erweit Sond.-
Abdr. a. d. Zeitschr. f. klin. Med. Mit 17 Fig.
Berlin, Hirschwald, 1904. 208 S.
Die Arbeit ist das Ergebnis fünfjähriger
klinischer experimenteller und anatomischer
Untersuchungen auf dem noch wenig bearbeiteten
und vielfache Rätsel darbiotenden Gebiet der
Pankreaspathologie. Der Umstand, daß Verf.
wahrend dieser Zeit an chirurgischen und medi-
zinischen Kliniken tätig war, ermöglichte es ihm,
eine große Reihe von Erkrankungen auf diesem
Grenzgebiet von Chirurgie und innerer Medizin
zu beobachten und zu bearbeiten. Er behandelt
vorzugsweise 2 Abschnitte aus der Pankreas-
pathologie: Cysten und Steine, und bespricht
eingehend deren Ursachen, klinische und ana-
tomische Befunde und Erscheinungen, Diagnose,
Prognose und Therapie. Esch (Bendorf).
Diagnostik der Krankheiten des Nerven-
systems. Eine Anleitung zur Untersuchung
Nervenkranker. Von Dr. A. Goldscheide r,
a. o. Professor, dirig. Arzt am städt. Kranken-
hause Moabit zu Berlin, Oberstabsarzt d. L.
3. verbesserte und vermehrte Aufl. Mit 58 Ab-
bildungen im Text Berlin, Fischers medizin.
Bachhandlung Kornfeld 1903. 268 S.
Das kleine, treffliche Buch ist bekannt und
beliebt. Die Untersuchungsmethoden sind klar
und prägen sich schnell dem Gedächtnisse ein.
Die Anordnung des Stoffes ist übersichtlich und
handlich. Daß den Fortschritten der Wissenschaft
durchweg Rechnung getragen ist, bedarf keiner
Betonung. So ist u. a. der Niveaudiagnose be-
sondere Sorgfalt gewidmet. Als Anhang ist eine
kurze spezielle Symptomatologie beigegeben, die
die einzelnen Krankheitsbilder in scharfem Relief
hervortreten läßt. Der Anfänger bedarf einer
praktischen Anleitung, um sich auf dem weiten
Gebiete zurecht zu finden, und er kann sich
keine bessere wünschen als diese. h. Krön.
Erfahrungen aus einer vierzigjährigen neuro-
logischen Praxis. Von Dr. V. von Holst,
Riga. Stuttgart, Verlag von Ferd. Enke, 1903.
8°. S.67.
Bucher, in denen viel beschäftigte, hervor-
ragende Ärzte und Forscher am Abend ihrer
segensreichen Tätigkeit das Resultat ihrer lang-
jährigen Erfahrungen aufzeichnen, sind fast immer
von Wert und Bedeutung. So auch die vor-
liegende Broschüre, deren Verfasser den so
genannten funktionellen Neurosen seit langen
Jahren sein spezielles Interesse widmet und be-
kanntlich zu den angesehensten und berufensten
Vertretern seines Faches gehört. Beherzigens-
werte Winke und Ratschläge enthält das Ein-
gangskapitel, in welchem Verfasser seine An-
sichten über die eigentliche Aufgabe des prak-
tischen Arztes und seine Tätigkeit entwickelt.
Aldann kommen interessante neurologische Be-
trachtungen zum Ausdruck, indem in drei Ab-
schnitten folgende Themata erörtert werden:
1. Über Heilanstalten für Nervenkranke. 2. Be-
merkungen zur Diagnose und Therapie der Hy-
sterie. 3. Über die Hysterie der Gebildeten und
Ungebildeten. Ein näheres Eingehen auf den
Inhalt der lehrreichen Broschüre würde zu weit
führen. Sic wird von Ärzten und Spezialisten
mit Interesse und Nutzen gelesen werden. Daher
sei sio weitesten Kreisen zur Anschaffung
empfohlen. Rabow.
Die Krankheiten der warmen Länder. Ein
Handbuch für Ärzte von Dr. B. Sehe übe.
Dritte umgearbeitete Auflage. Mit 5 geogra-
phischen Karten, 13 Tafeln und 64 Abbildungen
im Text. Jena, Verlag von Gustav Fischer, 1903.
Das bekannte Buch, das nunmehr in dritter,
den Wissensfortschritten entsprechend erweiterter
Auflage vorliegt, ist bisher das einzige seiner
Art in der deutschen medizinischen Literatur.
Ebenso wie die Bezeichnung „ Tropenkrank-
heiten u , so ist auch wohl die umfassendere
«Krankheiten der warmen Länder" nicht ganz
scharf, und sie kann es auch nicht sein. Manche
dieser Krankheiten kommen ja auch in kälteren
Gegenden vor, wenn auch meist — z. B. Lepra
— eingeschleppt.
Bei weitem das meiste, was Scheube in
seiner nmfassenden und klaren Darstellung gibt,
gehört allerdings speziell der Tropenpathologie an.
Es rangieren da neben weltbekannten Krank-
heitsformen auch viele, die den meisten Ärzten
nur sehr wenig oder gar nicht bekannt sind und
zum großen Teile noch sehr der Erforschung
bedürfen.
Scheube bringt alles, was aus der Literatur
bekannt ist, und fügt eventuell seine persönlichen
Erfahrungen und Anschauungen hinzu. Er be-
rücksichtigt neben Klinik, pathologischer Ana-
tomie, Prophylaxe und Therapie auch genau die
geographische Verbreitung und die Geschichte
der Krankheiten.
Der Stoff ist gegliedert in: Allgemeine
Infektionskrankheiten , Intoxikationskrankheiten,
Durch tierische Parasiten verursachte Krankheiten,
Organkrankheiten, Äußere Krankheiten, Die
kosmopolitischen Krankheiten in den Tropen.
Daß dem verdienstvollen Buche auch im
Auslande die gebührende Anerkennung nicht ver-
sagt geblieben, geht daraus hervor, daß im vorigen
Jahre eine englische Übersetzung desselben er-
schienen ist.
Bei den gegenwärtig schon vielfach be-
stehenden und immer stärker hervortretenden
54
Literatur.
rTherapeutiBche
L Monatsheft©.
Beziehungen Deutschlands zu den Tropen ist
das Buch nicht nur für den in den Tropen
praktizierenden und Schiffs-Arzt von größter Be-
deutung, sondern auch der in der Heimat lebende
Arzt und Forscher ist oft genötigt, sich über
eingeschleppte Tropenkrankheiten zu informieren.
Aus diesem Umstände in Verbindung mit der
Vollständigkeit des abgehandelten Stoffes und der
interessanten Darstellungsweise erklärt sich so-
wohl die weite Verbreitung des Scheub eschen
Buches, die sich durch die schnelle Aufeinander-
folge der bisherigen Auflagen auch nach außen
hin kundgibt. Edmund Saalfeld (Berlin).
Der Scheintod der Neugeborenen. Seine Ge-
schichte, klinische und gerichtsärztliche Be-
deutung. Von Dr. Ludwig Knapp, Universitäts-
professor und I. Assistent an der K. K. deutschen
Frauenklinik zu Prag. II. klinischer Teil mit
35 Abbildungen im Text. Wien und Leipzig,
Wilhelm Braumüller, K. u. K. Hof- und üni-
versitätsbuchhändler, 1904.
Nach 6 jähriger Pause läßt der Verfasser
dem ersten geschichtlichen Teil seiner breit an-
gelegten Monographie, die ja alle Gebiete der
Geburtshilfe berührt, den IL Teil folgen, den er
keinem Geringeren als B. S. Schultze zueignet.
Trotz des sichtbaren und ausgesprochenen Be-
strebens des Autors, nur das Wesentlichste und
Wertvollste aufzunehmen, hat das Buch mit
seinen vielen literarischen Quellenangaben und
zahlreichen Abbildungen einen recht großen Um-
fang angenommen, wie er freilich auch der um-
fassenden Bedeutung des bearbeiteten Themas
entspricht. Die Schwierigkeiten der gerade auf
diesem Gebiet sich häufenden Fragen erscheinen
schon bei dem ersten Versuch, eine klar um-
schriebene Definition des Begriffes „Scheintod-,
den man nach Knapp ebenso Scheinleben be-
bezeichnen kann oder Tod mit überlebendem
Herzen (nach Ahlfeld), Schwierigkeiten, deren
Größe das folgende Kapitel über die Physiologie
und Pathologie, über die Momente, die geeignet
sind, Atmung und Zirkulation intrauterin zu be-
einflussen, näherrückt; und dies umsomehr, wenn
wir wissen, daß „die meisten spontan und nor-
mal geborenen Kinder bis zum vollendeten Aus-
tritt aus dem Genitale einige Zeit darnach sich
in einem geringen asphyktischen Zustande be-
finden" (Schultze): Wie fast überall auf dem
gesamten Gebiete der Medizin, also auch hier
anscheinbare Übergänge vom pathologischen zum
physiologischen Zustande. Die schon intrauterin
möglichen, schweren dyspnoischen Zustände, wie
sie sich im Anschluß an Störungen des fötalen
respiratorischen Gaswechsels abspielen können
und in sehr seltenen Fällen vom sogenannten
Vagitus uterinus, einem Schreien des Kindes in
utero, begleitet sind, finden wir, durch kasuistische
Beiträge ergänzt, eingehend besprochen. In
gleicher Weise lesen wir von der großen Lebens-
zähigkeit der Neugeborenen, deren Sauerstoffbe-
dürfnis gleich nach der Geburt so gering ist,
daß, wie aus den literarischen Notizen ersicht-
lich, ausgetragene Kinder selbst eine viertel bis
eine halbe Stunde die Sauerstoffzufuhr entbehren
können, ehe die Herztätigkeit aufhört. Dem
entspricht denn auch die naturgemäß im vor-
liegenden Buche hervorgehobene, für das ärzt-
liche Handeln so wichtige Tatsache, daß noch
lange nach dem Tode der Mutter das Kiud über-
lebend sein kann. Den Fragen nach dem Sitze
des Atemzentrums, nach der Ursache der ersten
Atembewegungen und den Folgeerscheinungen der-
selben für den Körper gewährt der Verf. eingehende
Besprechung, umsomehr, als sich aus dem phy-
siologischen Verhalten die pathologischen Zu-
stände der Asphyxie erklären lassen. Die Frucht
besitzt zwar eine große Widerstandsfähigkeit im
Vergleich zum Erwachsenen gegenüber jenen Zu-
fällen, welche zur Asphyxie führen können, nichts-
destoweniger ist aber, wie uns die Erörterungen
und Beispiele im Kapitel der Ätiologie ausführen,
die Zahl der die Asphyxie ermöglichenden Um-
stände recht groß; Erkrankungen der Mutter,
der Übergang chemischer Substanzen von ihr
auf die Frucht und ihre Wirkung, unter be-
sonderer Berücksichtigung der Narkose, Bildungs-
fehler, Neubildungen und Erkrankungen der
Frucht selbst, Störungen im Geburtsverlauf, wie
sie teils vom Kinde selbst, teils von der Mutter
ausgehen, geben eine reiche Fülle von ursäch-
lichem Material zur Erzeugung des Scheintodes.
Wenn gleichwohl die Zahl der Scheintotgeborenen
verhältnismäßig gering ist, so muß man mit
Knapp natürliche Schutzvorrichtungen im kind-
lichen Organismus gegenüber der Entstehung
jener Störungen annehmen. Die Zahl der asphyk-
tischen Neugeborenen ist naturgemäß sehr schwan-
kend. Die bisher vorliegenden und von Knapp
soweit als möglich verwerteten Berichte lassen
brauchbare Schlüsse nur in beschränktem Maße zu.
Die bereits in utero sich abspielende Asphyxie
ist, wie es im Kapitel der „Diagnose und Symp-
tomatologie" (oder, wie es wohl logischerweise
heißen müßte, der „Symptomatologie und Dia-
gnose" Ref.), derart scharf präzisiert, daß
nach des Verf. Ansicht ein Verkennen dieses
Zustand es viel seltener ist, als die Annahme
desselben, wo ein solcher tatsächlich nicht be-
steht. Daher würden nach Knapps Meinung
viele Zangenentbindungen „wegen drohender
Asphyxie der Frucht", ebenso wie Extraktionen
derselben bei Beckenendlage mit ihren erst recht
bedrohlichen Gefahren für das Leben der Frucht
„bei ungenügender Vorbereitung der Weichteile"
bei schärferer Diagnosenstellung hinfällig und
durch diese Art weiser Zurückhaltung manchem
Kinde das Leben gerettet werden.
Der asphyk tische Zustand nach der Geburt
in seinen zwei Graden begegnet in seiner Fest-
stellung keinen besonderen Schwierigkeiten, so
wenig wie die Trennung der Asphyxie von dem
bereits intrauterin erfolgten Frucht tod an der
Hand der ausführlich vom Verf. beschriebenen
Symptome zweifelhaft sein kann. Ein in seinen
Einzelheiten recht schwieriges Gebiet betreten
wir mit dem Autor in der Frage von den un-
mittelbaren und späteren Folgen des Schein-
todes, Fragen, deren Beantwortung vereinfacht
wird durch die Möglichkeit, die Ursachen des
Scheintodes mit eben jenen Folgen in Beziehung
zu bringen. Freilich dürfte recht oft bei dem
Versuch, Ursache und Wirkung in Zusammenhang
XIX. Jahrgang. 1
Janaar 1905. J
Literatur.
55
zu führen, namentlich bezüglich der in späterem
Alter auftretenden nervösen Störungen, weit über
die Grenzen des Möglichen im Reiche der Schluß-
folgerungen hinausgegangen werden. Interessante
Hinweise hierfür liefert die vom Verf. gegebene
kasuistische Auslese.
Die Prognose des Scheintodes, von vielen
Zufälligkeiten abhängig, ist bekanntlich einer
besonders günstigen Beeinflussung durch die
Therapie zugängig, wie auch die Prophylaxe ein
recht großes Feld zur Entfaltung ihrer Aufgabe
findet, das dort vor die schwersten Probleme
führt, wo es gilt, zwischen Leben der Mutter
und des Kindes zu Gunsten eines von beiden zu
entscheiden. Die prophylaktischen Methoden
zur Anregung der Wehen tätigkeit, die in der
ärztlichen wie forensischen Beurteilung wichtigen
Indikationen zujn Kaiserschnitt, erläutert an Bei-
spielen aus der Literatur, ferner die Anwendung
der Zange, deren Gebrauch mit anderen auch
Knapp im Laufe der Jahre nicht zum Nachteil
der Geburten wesentlich eingeschränkt hat, das
prophylaktische Verhalten des Geburtshelfers bei
abnormen Lagen und Haltungen der Frucht, bei
Veränderungen des Geburtskanals und des Kindes
selbst, all dies finden wir eingehend erörtert,
eine Summe von Aufgaben, die in ihrem großen
Umfang und ihrer weitgehenden Bedeutung schon
an dem 15 Druckseiten umfassenden Literatur-
verzeichnis dieses Abschnittes erkenntlich sind.
Die Therapie des scheintotgeborenen Kindes
stellt bekanntlich an die Ruhe, Überlegung und
Geduld des Arztes, wie seiner Umgebung die
größten Anforderungen. Die klaren Darlegungen
Knapp s erleichtern das kritische Abwägen
zwischen den einzelnen zur Anwendung emp-
fohlenen Verfahren zur Wiederbelebung um ein
wesentliches. Ausführungen, die besonders da-
durch an Wert gewinnen, als sie durch zahl-
reiche recht gute Illustrationen dem Verständnis
näher gerückt werden. Neben den vielen anderen
von ihm beschriebenen Verfahren beschäftigt
sich Knapp vorzüglich mit den vor allem in
Deutschland üblichen Schultz eschen Schwin-
gungen, indem er das kritische Resume fremder
und eigener Erfahrungen ausführlich bespricht.
In gleicher Weise nehmen die Methoden des Luft-
einblasens, zur Erzeugung künstlicher Atmungen,
ferner jene der Labordeschen Zungentraktionen,
ihre Erfolge und Mißerfolge, die Anwendung
von Hautreizen und der Elektrizität und die In-
dikationen ihrer Verwertung einen breiten Raum
der Besprechungen ein.
Mit einigen Worten über die Nachbehand-
lung der Scheintotgeborenen beschließt Knapp
seine Ausführungen. Wegen seiner tiefgründ-
lichen, die Materie voll beherrschenden, klaren
Darstellungen besitzen wir in diesem Buche eine
wertvolle Sammlung der früheren und modernen
literarischen Erzeugnisse und praktischen Er-
fahrungen auf dem Gebiete des Scheintodes der
Neugeborenen. Für jeden der diesem wichtigen
Kapitel der Medizin sein Interesse entgegen-
bringt, für den praktischen Arzt, den Geburts-
helfer und Gerichtsarzt wird das Knapp sehe
Buch eine Fundgrube reicher Anregungen und
Belehrungen sein. Dr. Homburger (Karlsruhe).
Die Vererbung" der Syphilis. Von Dozent Dr.
Rudolf Matzenauer. Ergänzungsheft zum
„Archiv für Dermatologie und Syphilis". Wien
und Leipzig, Wilhelm Braumüller, 1903.
Die vorliegende Monographie macht die
Vererbung der Syphilis zum Gegenstande einer
eingehenden Besprechung. Der Verf. unterzieht
die Thesen, die über die Heredität der Lues
aufgestellt sind, einer einschneidenden Kritik
und kommt zu wesentlich anderen Folgerungen,
als den bisher gelehrten. In erster Linie leugnet
Matzenauer eine paterne Vererbung. Während
eine große Anzahl von Autoren sich der Ansicht
zuneigt, daß das Spermatozoon direkt die Syphilis
auf die Frucht übertragen kann, kommt der
Verf. zu dem Schlüsse, daß dieser Modus der
Vererbung bisher nicht erwiesen ist. Nur wenn
die Mutter mit erkrankt sei, würde die Frucht
infiziert. Daraus erfolgt auch die Umkehrung,
daß es einen Choc en retour nicht gibt. Die
Sekundärerscheinungen ohne nachweislich voran-
gegangenen Primäraffekt sind nicht auf eine
Infektion der Mutter durch die angeblich ex
patre syphilitische Frucht zu beziehen, sondern
sind durch das überaus häufige Übersehen des
Primäraffektes zu erklären, den die Frau in
gewöhnlicher Weise durch Kontaktinfektion
akquiriert hatte. Wenn daher jede — auch an-
scheinend gesunde — Mutter eines hereditär-
luetischen Kindes ausnahmslos selbst luetisch ist,
so muß sie auch immun sein; d. h. eine Infektion
durch* Säugen etc. ist ausgeschlossen, Als eins
der Hauptargumente dafür, daß die Mutter eines
hereditär-syphilitischen Kindes stets erkrankt ist,
sieht Verf. die Tatsache an, daß die Placenta
materna immer syphilitische Veränderungen auf-
weist. — Auch das Profetasche Gesetz, nach
welchem Kinder syphilitischer Eltern dauernd
immun bleiben sollen, bekämpft der Verfasser,
da eine Anzahl sichergestellter Ausnahmefälle
bekannt ist und Erfahrungen über akquirierte
Syphilis im Kindesalter bei endemischer Syphilis
vorliegen. — Matzenauer wandert somit weitab
von der großen Heerstraße, auf der wir ihm
nicht jedesmal folgen können, da er gute Be-
obachtungen in einseitiger Weise anzweifelt und
für seine Zwecke zurechtlegt; doch ist die
Lektüre des Werkes eine recht anziehende und
belehrende, da das Gebiet nach allen Richtungen
erschöpft wird. Besonders dürfte das Kapitel über
Immunität Beachtung verdienen, da in diesem
auch die Vererbung anderer Infektionskrankheiten
eine eingehende Besprechung findet und Analogie-
schlüsse auf die Syphilis in geistvoller Weise ge-
zogen werden. Edmund Saalfeld (Berlin),
Praktische H otizen
und
empfehlenswerte Arzneiformeln.
Ober intravenöse Hetolinjektionen. Von Dr. med.
R. Weißmann (Lindenfels).
In Heft 11 der Therapeutischen Monatshefte
(November) 1904 bespricht Es ch (Bendorf) eine
56
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
rherapentlsehe
Monatshefte.
Arbeit von Tovölgyis „Über den Wert der
Hetolinjektionen bei Fällen von Lungen- und
Kehlkopftuberkulose*4. Der Herr Referent meint,
daß es im Interesse der Verbreitung des Land er er-
sehen Verfahrens sehr zu bedauern wäre, wenn
die Ansicht Krauses, Berl. Klin. Wochenschr.
1902, No. 42, daß nur bei intravenöser Injektion
die heilende Leukozytose auftrete, sich bewahr-
heiten sollte.
Diese Ansicht des Herrn Referenten darf
nicht unwidersprochen bleiben. Sie beruht ledig-
lich auf der ganz unbegründeten Furcht vor
dem intravenösen Eingriff und ist geeignet, der
Verbreitung der intravenösen Hetolinjektionen
und der intravenösen Injektionen überhaupt
Hindernisse zu bereiten, die ganz unberechtigt
sind. Ich habe an anderer Stelle1) schon darauf
hingewiesen, daß die intravenöse Einverleibung
von wirksamen Arzneimitteln eine große Zukunft
haben dürfte. Keine Methode gestattet uns eine
so genaue Dosierung, bei keiner Methode sind
wir so sicher, daß die einverleibte Arznei auch
wirklich aufgenommmen wird und ihreWirkung ent-
falten kann, als bei der kinderleichten intrave-
nösen Injektion. Ich habe Tausende von In-
jektionen nicht nur von Hetol, sondern auch
von Argen tum colloidale gemacht; ich habe nie
einen Zwischenfall erlebt. — Wer sich die Mühe
geben will, die Literaturzusammenstellungen von
Cantrowitz9) und mir3) über Heilbehandlung
durchzulesen, wird finden, daß die meisten Au-
toren sich für die intravenöse Injektion aus-
sprechen und daß die Unschädlichkeit des Ver-
fahrens ausnahmslos zugegeben wird. Warum
also von einer Methode abraten, die technisch
absolut keine Schwierigkeiten hat und so un-
endlich viel leistet? Ich habe eine Reihe von
Kollegen in einer Stunde in der Technik dieser
intravenösen Injektionen unterrichtet, und alle
haben mir später berichtet, daß die Injektionen
ganz glatt gehen. Wer weiß, daß die intrave-
nöse Injektion absolut schmerzlos ist, daß aber
sofort ein brennender Schmerz auftritt, wenn
einmal die Nadel nicht in die Vene gestochen
wird, der wird mir Recht geben, wenn ich be-
haupte: Die schmerzhafte subkutane und auch
die intramuskuläre Injektion von Hetol ist ge-
eignet, der Ausbreitung des Landererschen
Verfahrens hinderlich zu sein. Namentlich würde
es unmöglich gemacht, die so dankbaren Fälle
von Drüsentuberkulose bei Kindern zu behandeln,
aber auch viele Erwachsene würden die Schmerz-
haftigkeit des Eingriffs scheuen.
Das Urteil des Herrn Kollegen Esch be-
ruht nur auf Unkenntnis der Technik. Ich glaube
sicher, daß er zu einer anderen Ansicht kommen
wird, wenn er sich mit der einfachen Technik
!) In einer in diesen Tagen erscheinenden Ar-
beit: „Die Heilbehandlung der Tuberkulose nach
Landerer" in der ärztl. Praxis.
a) Schmidts Jahrbücher, CCLXXI p. 196,
CCLXX1I p. 171.
8) Schmidts Jahrbücher, Augustheft 1904.
der intravenösen Injektion vertraut gemacht
haben wird. Daß ein jeder Arzt dieses tue, ist
durchaus notwendig, wenn wir bedenken, welch
schöne Erfolge die intravenöse Injektion von
Argentum colloidale zeitigt, wie uns die Arbeiten
Credes4), Schmidts5) und Georgis6) lehren.
Der letzte Autor schreibt wörtlich: „Überall da,
wo es darauf ankommt, eine möglichst rasche
und intensive Collargolwirkung zu erzielen, ist
die intravenöse Darreichung indiziert." Wer
hätte den Mut, angesichts einer schweren sep-
tischen Erkrankung von der intravenösen An-
wendung des Collargols abzusehen, weil er die
Technik nicht beherrscht?
Die Verwendung von Perubaltam
bei der Wundbehandlung empfiehlt angelegent-
lich F. Burger (Münchener mediz. Wochen-
schrift No. 48, 1904). Riß-, Säge- oder Quetsch-
wunden werden nach voraufgegangener Reinigung
und Durchspülung mit Sublimatlösung mit reinem
Perubalsam beträufelt und mit Gaze verbunden,
die von Perubalsam durchfeuchtet ist. Der Ver-
band wird jeden zweiten oder dritten Tag er-
neuert. Unter dieser Behandlung bilden sich
rasch üppige, straffe, nicht schlaffe Granulationen
und die Heilung erfolgt überraschend schnell.
Die Verwendung von Perubalsam empfiehlt sich
auch bei schlaffen, schlecht granulierenden Unter-
schenkel geschwüren.
Adrenalin bei der Hydrocele-Behandlung
ist von J. Rupfle (Münchener mediz. Wochen-
schrift No. 48, 1904) mit gutem Erfolge benutzt
worden. In zwei Fällen injizierte er nach der
Punktion 2 cem einer 0,02 proz. Adrenalinlösung.
Bald nach der Injektion trat brennender Schmerz
auf; in den nächsten Tagen folgten leichte ent-
zündliche Erscheinungen und unbedeutender, ent-
zündlicher Erguß, der sich innerhalb weniger
Wochen resorbierte. Die Patienten blieben
rezidivfrei, während bisher seit 10 resp. 7 Jahren
alle 2 — 3 Monate punktiert werden mußte.
Der 26. Balneologen-Koogrete
wird den 9. bis 13. März 1905 unter Vorsitz
von Herrn Geheimrat Liebreich in Berlin
tagen. Anmeldungen von Vorträgen und An-
trägen nimmt entgegen der Generalsekretär der
Balneologischen Gesellschaft, Herr Geh. San. -Rat
Dr. Brock, Berlin NW., Thomasiusstr. 24, und
der Sekretär der Gesellschaft, Herr Privatdozent
Dr. Rüge, Berlin W., Friedrich -Wilhelmstr. 15.
4) Crede, Die Behandlung septischer Erkran-
kungen mit intravenösen Collargol- (arg. coli.) In-
jektionen. Archiv f. klin. Chir. Bd. 69.
5) Hermann Schmidt, Über die Wirkung
intravenöser Collargolinjektionen bei septischen Er-
krankungen. Deutsche med. Wochenschr. 1903,
Nr. 15 u. 16.
6) Georgi, Über die Bedeutung der Silber-
behandlung für die ärztliche Praxis. Zeitschr. f.
ärztl. Fortbildung, 1904, Nr. 20.
Für die Redaktion verantwortlich : Dr. A. Langgaard in Berlin SW.
Verlag von Julius Springer in Berlin N. — rniversitäts-Buchdruckerei von Gustav Schade (Otlo Francke) in Berlin N.
Therapeutische Monatshefte.
1905. Februar.
Origmalabhandlungen.
Erfahrangren über Atropinanwendung
in der Frauenheilkunde.
Von
Oberstabsarzt Dr. Drenkhahn in Gl atz.
Das A tropin hat bei der Behandlung von
Frauenleiden bisher keine bedeutende Rolle
gespielt, obwohl es wie kein anderes Arznei-
mittel die Eigenschaft besitzt, glatte Muskeln
ruhig zu stellen und selbst tagelang in ato-
nischem Zustande zu erhalten, wie aus der
Augenheilkunde hinlänglich bekannt ist, und
obwohl die Ruhigstellung der glatten Mus-
kulatur des Uterus und der Tuben in vielen
Fällen das wichtigste Erfordernis nicht nur
zur Beseitigung von Beschwerden, sondern
auch für die Heilung ist.
Ob das Atropin auf alle glatten Muskeln
des Körpers gleichmäßig, das heißt in der-
selben Weise und Intensität wirkt, ist nicht
genügend festgestellt und kaum anzunehmen.
Daß es den Uterus prompt zur Erschlaffung
bringt, erwähnte Prof. Gusserow in seinen
Vorlesungen über Geburtshilfe, die ich im
Wintersemester 1886/87 hörte. Ich habe
mir damals notiert: „Opiate wirken bei
Krampfwehen sehr prompt, noch sicherer
wirkt Atropin; 0,001 Atropin. muriat., sub-
kutan injiziert, hat oft schon eine derartig
starke Wirkung, daß die Frau in der Nach-
geburtsperiode wegen ungenügender Kon-
traktion des Uterus verblutet." Schröder
führt in seinem Lehrbuche der Geburtshilfe,
9. Auflage, S. 501, an, daß Fränkel bei
Krampfwehen Atropin 0,001 und Morphium
etwa 0,015 zusammen mit nachfolgender
Chloroformnarkose empfiehlt. In Huse-
manns Handbuch der gesamten Arzneimittel-
lehre, 2. Auflage, heißt es S. 1086: „Nach
Bezold und Bloebaum wirkt Atropin in
sehr geringen Mengen erregbarkeitsvermin-
dernd, in größeren lähmend auf die Ganglien-
apparate des Darmkanals, der Blase, des
Uterus und der Ureteren und vielleicht auch
auf die glatten Muskelfasern selbst".
Die uteruslähmende Wirkung des Atro-
pins ist demnach längst bekannt, in der
Praxis ist diese Eigenschaft bisher aber
kaum ausgenutzt.
Th. M. 1905.
Daß die Ruhigstellung eines Organs so
ziemlich das einzige Mittel ist, das wir be-
sitzen, um einer beginnenden Entzündung
Einhalt zu tun, dürfte eine unbestrittene
Tatsache sein. v. Bardeleben erwähnte
die Wichtigkeit der Ruhe für entzündete
Organe in seinen Vorlesungen und führte
als eklatantestes Beispiel die Atropinisierung
des Auges bei Iritis an. v. Bergmann
sagt in einer Abhandlung über die Behand-
lung der Panaritien (Zeitschrift für ärztliche
Fortbildung. Erster Jahrgang, No. 1, S. 7):
„Der Patient verlangt Aufschub und möchte
gern noch etwas weniger Scharfes anwenden,
ehe er in die Operation zu willigen ver-
spricht. In solchen Fällen pflege ich nur
zu einem Mittel zu raten, zur Ruhe des
entzündeten Gliedes."
Die Wichtigkeit der Ruhe für den ent-
zündeten Uterus ist wohl zuerst von
Wilhelm Schrader (Hamburg) mit hin-
reichender Schärfe präzisiert und hervor-
gehoben. Im 95. Hefte der Sammlung
klinischer Vorträge, begründet von R. von
Volkmann, Neue Folge, herausgegeben von
v.Bergmann, Erb, v. Winckel, klingt in
seinem Aufsatze: „Woher der therapeutische
Mißerfolg der Antisepsis beim Puerperal-
fieber?" vom Anfang bis zum Ende immer
wieder der Satz durch: „Wunden soll man
in Ruhe lassen". Die Schraderschen
Grundsätze sind später von Saft (Archiv
für Gynäkologie, Bd. 52, Heft 3), Koblanck
und anderen bestätigt, doch wird auch jetzt,
10 Jahre nach ihrer Bekanntgabe, noch
keineswegs überall nach ihnen gehandelt.
Als ich Schraders Arbeit las, kam mir
gleich der Gedanke, daß das Atropin bei
der Behandlung des Puerperalfiebers und
anderer entzündlicher Zustände des Uterus
von unschätzbarem Werte sein müßte, falls
die Schradersche Lehre richtig sei. Ich
habe es seither in zahlreichen Fällen bei
Fieber im Wochenbett und nach Aborten
angewendet und bin durch eine zehnjährige
Praxis zu der Überzeugung gelangt, daß es
durch die Ruhigstellung des Uterus eine
hervorragend heilende Wirkung entfaltet, daß
5
58
Drenkhahn» Atroplnanweadiiiig In der Frauenheilkunde.
rTharipeutiach«
L Monatshefte.
es das Opium in dieser Beziehung weit
übertrifft und diesem auch deswegen vor-
zuziehen ist, weil es die Defäkation kaum
beinträchtigt, und weil man die Intensität
seiner Wirkung äußerst bequem und sicher
am Verhalten der Pupillen kontrollieren kann.
Ja, ich mochte behaupten: „Dem Atropin
gebührt in der Frauenheilkunde der-
selbe hervorragende Platz wie in der
Augenheilkunde".
Um diesen Satz zu beweisen, lasse ich
einige Krankengeschichten folgen.
Frau Vizefeldwebel Kl., 26 Jabre alt, wurde
nach normalem Verlaufe ihrer ersten Schwanger-
schaft am 21. Januar 1904 von einer gut durch-
gebildeten, sauberen und zuverlässigen Hebamme
von einem Mädchen entbunden. Die Geburt zog
sich von 6 Uhr Nachm. bis 1 Uhr Vorm. hin, verlief
im übrigen normal, doch äußerte die Hebamme,
die Eihäute seien vielleicht nicht ganz vollständig
abgegangen.
Am 23. 1. 04, dem 3. Wochenbettstage, betrug
die Temperatur vormittags 10 Uhr 38,2, am Nach-
mittage trat ein Schüttelfrost auf, gegen Abend
wurde ich gerufen, fand die Wöchnerin hoch
fiebernd, 39,3, die Lochien rötlich -grau und übel-
riechend. Ich ordnete absolut ruhige Lage und
Atropin 0,01:10,0 dreimal täglich 12 Tropfen an.
Um 2 Uhr nachts war die Temperatur auf 38,5
gesunken.
24. I. 04, 4. Wochenbettstag. Temp. Vorm.
6 Uhr 38,2. Mittags klagt die Wöchnerin über
ein leicht kratzendes Gefühl im Halse, die Pupillen
sind mittel weit und reagieren ziemlich prompt. Die
Lochien sind reichlich, rötlich gelb und äußerst
übelriechend. Da die Temperatur bald nach dem
Einnehmen des Atropins gefallen war, wurde die
. Dosis wegen des Kratzens im Halse nicht gesteigert,
obwohl die prompte Pupillenreaktion darauf hinwies,
daß die Wirkung auf die glatte Muskulatur nur
eine minimale sein konnte. Gegen Abend stieg
die Temperatur wieder, Nachmittags 6 Uhr betrug
sie 39,8, um 11 Uhr 89,4.
25. 1. 04, 5. Wochenbettstag. Vormittags 6 Uhr
Temp. 38,6, Vorm. 10 Uhr 38,5. Lochien äußeret
übelriechend, fast rein eitrig. Pupillen mittelweit,
reagieren prompt auf Lichteinfall. Kein Kratzen
im Halse.
Das abendliche Fieber und die Reaktionsfähig-
keit der Pupillen zeigten, daß die Atropindosis
unzureichend war, es wurde daher nachmittags die
Verabreichung von 18 Tropfen Atrop. sulfur. 0,01 : 10,0
sechsstündlich angeordnet.
Temperatur Nachm. 6 Uhr 39,6, Nachts 1 Uhr
38,8.
26. I. 04, 6. Wochenbettstag. Lochien noch
reichlich, eitrig, äußerst übelriechend. Kein Kratzen
im Halse, Pupillenreaktion träge.
Temperatur Vorm. 6 Uhr 37,4
- 12 - 37,1
Nachm. 7 - 38,2
- 11 - 37,5.
27. 1. 04, 7. Wochenbettstag. Temperatur Vorm.
6 Uhr 37,2, Vorm. 10 Uhr 36,6. Um 12 Uhr wurden
101 Kanonenschüsse aus Neunzentimeter - Ge-
schützen, die unmittelbar hinter der Wohnung der
Wöchnerin aufgestellt waren, abgegeben. Die
Detonationen und Erschütterungen erschreckten
und erregten sie aufs äußerste. Da sie am Morgen
im wachen Zustande irre geredet hatte, hatten die
Angehörigen das Atropin eigenmächtig ausgesetzt.
Um 1 Uhr fand ich die Kranke ziemlich ange-
griffen, aber bei vollkommen klarem Bewußtsein,
sie erzählte selbst, daß sie Personen im Zimmer
gesehen habe, die garnicht da gewesen seien. Die
Pupillen reagierten träge. Durch den vollkommenen
Abfall der Temperatur ließ ich mich verleiten, die
Atropindosis stark herabzusetzen, da das Irrereden
auf die Kranke und ihre Umgebung einen sehr be-
ängstigenden Eindruck gemacht hatte. Temperatur
Nachm. 2 Uhr 37,2, Nachm. 6 Uhr 39.9.
28. I. 04, 8. Wochenbettstag. Temp. Vorm.
8 Uhr 38,0, 12 Uhr 40,1, Nachm. 4 Uhr 40,3. Bei
meinem Besuche fand ich die Pupillen eng und
Srompt reagierend. Ich sah ein, daß die gewaltige
fervenerregung und die Verminderung der Atropin-
dosis den Zustand der Wöchnerin ungeheuer ver-
schlechtert hatten. Ich ordnete daher die kon-
sequente sechsstündliche Darreichung von 20 Tropfen
der Atropinlösung 0,01 : 10,0 an. Temperatur Nachm.
7 Uhr 404, Nachm. 10 Uhr 39,5, Nachts 2 Uhr 39,3.
29. 1. 04, 9. Wochenbettstag. Temperatur Vorm.
6 Uhr 38,3, 12 Uhr 38,3, Nachm. 6 Uhr 36,6.
Nachts 3 Uhr 38,1. Pupillen ziemlich weit, rea-
gieren träge, Sensorium vollkommen frei, kein
Kratzen im Halse, Wohlbefinden.
30. 1. 04, 10. Wochenbettstag. Temperatur Vorm.
7 Uhr 38,1, 12 Uhr 37,2, Nachm. 7 Uhr 37,8.
31. 1. 04, 11. Wochenbetts tag. Temperatur Vorm.
7 Uhr 36,5, 12 Uhr 36,6, Nachm. 9 Uhr 37,8.
1.II.04, 12. Wochenbettstag. Temperatur Vorm.
7 Uhr 36,8, 12 Uhr 36,5, Nachm. 7 Uhr 37,4.
2. II. 04, 13. Wochenbettstag. Wegen Stuhl-
verhaltung 1 Eßlöffel Oleum Ricini. Tempe-
ratur Vorm. 7 Uhr 36,7, 12 Uhr 36,8. Es erfolgen
drei reichliche Stuhlentleerungen. Tempe-
ratur Nachm. 6 Uhr 38 J, 9 Uhr 38.1.
8. II. 04, 14.Wochenbettstag. Temperatur Vorm.
7 Uhr 87,6, 12 Uhr 37,3, Nachm. 7 Uhr 37,4.
4. II. 04, 15. Wochenbettstag. Temperatur Vorm.
7 Uhr 36,7, 12 Uhr 36,9, Nachm. 7 Uhr 37,4.
Harte quälende Stuhlentleerung, darauf
wieder Hitzegefühl. Nachts 12 Uhr 39,4 Temperatur.
5. II. 04, 16. Wochenbettstag. Temperatur Vorm.
7 Uhr 37,9, 12 Uhr 37,0, Nachm. 7 Uhr 37,7.
6.11.04, 17. Wochen bettstag. Temperatur Vorm.
7 Uhr 36,2, 12 Uhr 36,5, Nachm. 7 Uhr 36,4.
Auch in den nächsten Tagen war die Tem-
peratur dauernd subnormal. Nichtsdestoweniger
fuhr ich mit der Darreichung hoher Atropindosen
fort, die außer stundenweiser Akkommodations-
lähmung keinerlei Nebenerscheinungen verursachten.
In 9 Tafjen wurden 0,06 g Atropin eingenommen,
also täglich etwa 0,006, das heißt reichlich die
doppelte Maxim aldosis. Dabei hörte auch der
Ausfluß auf, und die Involution des Uterus nahm
normalen Verlauf. Nach dreiwöchiger Behandlung
konnte ich die Wöchnerin geheilt entlassen.
Es handelt sich in diesem Falle um ein
schweres Wochenbettfieber, das unter Atro-
pinbehandlung ohne alle sonstigen Maßnahmen
in 14 Tagen günstig verlief.
Daß ein derartiger Verlauf auch ohne
Atrop in behandlung vorkommt, kann und will
ich nicht bestreiten. Auffallend ist aber jeden-
falls in der Krankengeschichte, daß jede Un-
ruhe in den Unter leibsorganen, die einmal
durch allgemeine nervöse Erregung bei un-
genügender Atropinisierung des Uterus, ein-
mal durch ein Abführmittel, einmal durch
spontanen harten Stuhlgang veranlaßt war,
regelmäßig eine erneute Temperatursteigerung
XIX. Jahrgang."!
Febrnar 1905. J
Drenkhahn, Atroplnanwendung In dar Prauaahellkunda.
59
im Gefolge hatte, die beim Wiedereintritt
völliger Ruhe jedesmal alsbald normalen
Temperaturen Platz machte, ein Beweis, daß
Infektionserreger im Uterus schlummerten,
ihre verderbliche Wirkung aber nur bei ein-
tretender Unruhe desselben auf den Organis-
mus ausübten. Ich würde diesem einen Falle
aber trotzdem keine große Bedeutung bei-
messen, wenn ich mich von der günstigen
und prompten Wirkung des Atropins nicht
auch in vielen anderen Fällen überzeugt
hätte.
Allgemein möchte ich meine Erfahrungen
in folgende Sätze zusammenfassen.
Das Puerperalfieber ist zunächst
eine Wundinfektion des Uterus, mit-
hin eine reine Gewebsmykose.
Bei völliger Ruhe des Uterus und
der anliegenden Organe bleibt es eine
Gewebsmykose, die spontan ohne An-
wendung von Spülungen und ohne
alle anderen Behandlungsweisen aus-
heilt.
Zur Ruhigstellung des Uterus ist
das Atropin das geeignetste Mittel.
Uteruskontraktionen führen zur
Toxämie und Bakteriämie.
Die in den Lymphbahnen sich fort-
bewegenden und im Blute kreisenden
Bakterien können zu Gewebsmykosen
in anderen Organen führen.
Hat schon eine Infektion anderer
Organe stattgefunden, so beeinflußt
das Atropin den Verlauf der Uterus-
erkrankung noch günstig und kann
gelegentlich auch der Toxämie Ein-
halt tun, dadurch, daß es die Re-
sorption von Giftstoffen aus der
großen Fläche des puerperalen Uterus
verhindert. Auf die sekundären Ge-
websmykosen vermag es natürlich
nicht einzuwirken.
Folgender Fall, in dem ich mit der Dar-
ereichung des Atropins zu spät kam, möge
die letzten Behauptungen praktisch illustrieren.
Frau Alma H , 26 Jahre alt, wurde am
25. Oktober 03 nach normal verlaufener erster
Schwangerschaft von einer achtzigjährigen, unzu-
verlässigen Hebamme unter Außerachtlassung aller
Regeln der Aseptik und der Sauberkeit entbunden.
Die Geburt verlief ziemlich leicht, die Wehen be-
gannen gegen 9 Uhr Vorm., um 'S" Nachmittags
erfolgte der Durchtritt des Kindes. Bei ieder
Wehe ging die Hebamme mit der ganzen Hand
in die Scheide ein, um den Kopf durchzuholen.
Am 27. Oktober 08 hatte die Wöchnerin
heftige Kopfschmerzen und fühlte sich matt und
elend.
Am 28. Oktober traten Frost und Hitze ein,
die Hebamme versicherte, es sei alles in Ordnung
und riet von der Hinzuziehung eines Arztes ab.
Ein gegen Abend eintretendes äußerst heftiges
Nasenbluten veranlaßte den Ehemann endlich,
meine Hilfe nachzusuchen. Der jagende Puls,
156 Schläge in der Minute, die hohe Temperatur,
die stinkenden, in reichlicher Menge abfließenden
graugelben Lochien und das schwere Phantasieren
— die Kranke sah fortwährend Feuer, fühlte dessen
Hitze und suchte deswegen das Bett zu verlassen —
zeigten die Schwere der puerperalen Infektion an.
Da seit 5 Tagen kein Stuhlgang dagewesen war,
verabreichte ich zunächst KalomeT 0,4 neben großen
Mengen schweren Ungarweins, worauf reichliche
Entleerungen erfolgten.
Am 29. Oktober 03, dem Ö. Wochenbettstage,
hatte sich das Krankheiubild kaum geändert. Die
Kranke erhielt 0,002 Atropin. sulfur. innerlich.
Am 30. Oktober 03, dem 6. Wochenbettstage,
wurde die Dosis auf 0,003 und am 31. Oktober,
dem 7. Wochenbettstage, auf 0,004 gesteigert, die-
selbe Dosis wurde an den nächsten Tagen gegeben.
Die weiten, kaum reagierenden Pupillen zeigten die
genügende Wirkung an. Der Allgemeinzustand
besserte sich, die Delirien hörten auf, der Ausfluß
wurde geringer und verlor seinen putriden Charakter,
die Temperatur schwankte zwischen 37,5 und 38,4.
Am 4. November, dem 11, Wochenbettstage,
zeigte sich bei einer Temperatursteigerang von
39,8 ein schmerzhaftes Oedem unter dem rechten
Auge, welches am nächsten Tage wieder ge-
schwunden war, in unzweideutiger Weise aber an-
kündigte, daß die Infektionserreger sich schon fern
vom ursprünglichen Herde angesiedelt hatten.
Während nun der Ausfluß allmählich ganz auf-
hörte, kam es in den nächsten Wochen unter un-
regelmäßigen heftigen Fiebererscheinungen nach
einander zu einer das rechte Auge zerstörenden
Pan Ophthalmie, zu parametritischen Abszessen, von
denen einer in den Darm durchbrach, einer sich
durch das Foramen ischiadicum senkte, sodaß er
durch einen Einschnitt neben dem Trochanter ent-
leert werden konnte, zu Thrombose der Yenae
iliacae mit hochgradigem Oedem beider Beine,
endlich, als das Oedem geschwunden war, zu Er-
güssen in beide Kniegelenke. Während der Re-
konvaleszenz stellte sich dann Mitte Februar 04,
also drei und einen halben Monat nach der Ent-
bindung eine Endokarditis ein, an deren Folgen
die Frau noch in Behandlung ist.
Daß dieser Fall ebenso günstig verlaufen
wäre wie der erste, wenn dem Eindringen
der Infektionskeime in die Lymphbahnen und
ins Blut gleich beim ersten Auftreten des
Fiebers durch Ruhigstellung des Uterus
mittels Atropin Einhalt getan wäre, ist
natürlich nicht zu erweisen, der gute Erfolg,
den ich vielfach von der Atropinwirkung
gesehen habe, läßt es mich aber vermuten.
Jedenfalls zeigt auch dieser Fall, daß Spü-
lungen und lokale Antisepsis zur Beseitigung
der Uterusentzündung überflüssig sind. Daß
die Delirien schwanden und auch bei dem
später auftretenden, viel höheren Fieber- (bis
40,7) nicht wiederkehrten, ist doch auch
wohl dem Aufhören der Toxämie infolge
der Ruhigstellung des Uterus zuzuschreiben.
Noch auffallender, als wenn es gilt,
Fieber zu beseitigen, ist der Erfolg des
Atropins, wenn es gilt, schmerzhafte Uterus-
kontraktionen zum Aufhören zu bringen, wie
folgender Fall mit Deutlichkeit zeigt.
6*
60
Drenkhfthn, Atropinftnwmdung in der Frauenheilkunde.
rherapenÜKhe
Monatshefte.
Frau G , 27 Jahre alt, hatte yom 13.
bis zum 18. Lebensjahre eine regelmäßige, be-
schwerdefreie Menstruation. Im 18. Lebensjahre
watete sie während der Periode bis an den Unter-
leib in kaltes Wasser und hielt sich etwa drei
Minuten lang darin auf, um Sachen aus einem
durch Schleusenbruch überschwemmten Keller zu
holen. Am folgenden Tage stellten sich heftige
Unterleibs seh merzen ein, die während der Menstru-
ation anhielten und zur Bettruhe zwangen. Diese
Beschwerden kehrten dann bei jeder Periode wieder
und waren durch große Opiumdosen so wenig zu
beeinflussen, daß jedesmal eine achttägige Bettruhe
innegehalten werden mußte. Im 22. Lebensjahre
wurde Frau G. zum ersten Male schwanger.
Während der Schwangerschaft hatte sie keine
nennenswerten Beschwerden, und die Entbindung
verlief normal. Am Tage nach der Geburt stellten
sich heftige Unterleibsschmerzen ein, die wochen-
lang andauerten, Frau G. war ein Vierteljahr wegen
Gebärmuttersenkung in ärztlicher Behandlung.
Dann war sie gesund, die Menstruationen in der
Folgezeit schmerzlos.
Ein Jahr und sieben Monate nach der ersten
Geburt begann die zweite Schwangerschaft, die
ebenfalls ohne besondere Beschwerden verlief und
mit einer normalen Entbindung endete. Auch an
diese Geburt schlössen sich unmittelbar heftige
krampfartige Unterleibsschmerzen an, welche die
Wöchnerin einen Monat ans Bett fesselten. Das
folgende Vierteljahr konnte sie wegen allgemeiner
Schwäche nicht in der Wirtschaft tätig sein. Die
Periode war in dieser Zeit regelmäßig und
schmerzlos.
Vier Monate nach der zweiten Entbindung
dritte Schwangerschaft, am 18. September 03 Ge-
burt unter äußerst schmerzhaften Wehen. Nach
dem Durchtritt des Kindes und der Entfernung
der Nachgeburt andauernd heftige Unterleibs-
schmerzen, die sich mit kurzen Zwischenräumen
zu unerträglichen krampfartigen Beschwerden stei-
gerten. Am Morgen des 20. September 03 wurde
ich zu Rate gezogen. Es bestand kein Fieber,
kein Meteorismus, die Lochien waren normal, der
Uterus gut kontrahiert. Die Wöchnerin litt augen-
scheinlich unsäglich und erklärte, sie müsse sterben.
Ich gab große Dosen Opiumtinktur ohne jeden
Erfolg. Am Abend desselben Tages setzte ich
das Opium aus und verabreichte 0,001 g Atropin,
worauf die Beschwerden geringer wurden, in den
folgenden Tagen brachte ich sie durch wiederholte
Atropingaben bald und andauernd zum Schwinden.
Wegen allgemeiner Schwäche lag die Frau drei
Wochen zu Bett. Die ersten vier Monate nährte
sie und menstruierte nicht. Bald nach dem Ab-
setzen des Kindes stellte sich die Periode ein und
zwar wieder unter derartigen Schmerzen, daß die
Frau volle acht Tage Bettruhe innehalten mußte.
Als ich dies erfuhr, gab ich ihr die Anweisung,
mich beim Eintritt der nächsten Menstruation so-
fort zu benachrichtigen. Dies geschah. Wieder
bestanden bei mäßigem Blutverlust unerträgliche
Unterleibsschmerzen. Ich reinigte die Scheide und
den äußeren Muttermund durch Abtupfen und
spritzte dann einen Kubikzentimeter einer Atropin-
lösung 0,01 : 10,0 in den Cervixkanal. Die Wirkung
war zauberhaft; nach einigen Minuten erklärte die
Frau, sie sei schmerzfrei, stand auf und ging un-
gestört ihrer häuslichen Beschäftigung nach. Auf
Befragen gab sie in den nächsten Tagen an, der
Blutverlust sei erheblicher als sonst, doch wirkte
er in keiner Weise schwächend, er dauerte acht
Tage an, ohne daß sich irgend welche Beschwerden
wieder einstellten. Beim Eintritt der nächsten
Menstruationen hatte ich keine gynäkologischen
Instrumente bei der Hand. Das eine Mal spritzte
ich mittels einfacher Spritze etwa 1 cem Atropin-
lösung 0,01 : 10,0 in die Gegend des äußeren Mutter-
mundes mit dem Erfolge, daß die Beschwerden
sofort aufhörten, am dritten Tage aber vorüber-
gehend wiederkehrten. Das andere Mal tupfte ich
die Portio mit einem Wattebausch ab, tropfte
20 Tropfen der Atropinlösung auf eine dünne
Watteschicht, die ich über die Kuppe des Zeige-
fingers gelegt hatte, und drückte dann diese gegen
den äußeren Muttermund. Der Erfolg war wieder
ein sofortiger, vollkommener und andauernder.
Wenn Theilhabers Ansicht (Münchener
Medizin. Wochenschrift 1901, No. 22 u. 23),
daß die Ursache der Menstruationskolik in
der Regel ein Krampf der Ringmuskulatur
am inneren Muttermunde ist, zu Recht be-
steht, so wird das Atropin vielen Frauen
die Schmerzen während der Periode nehmen
und die Arbeitsfähigkeit erhalten können.
Nach Entbindungen und Aborten habe ich
es noch nicht lokal angewendet, doch glaube
ich, daß man dies unbedenklich versuchen
kann.
Will man Atropin innerlich geben, so
muß man sich darüber klar sein, daß die
Maximaldosis ungeheuer klein bemessen ist.
Während 3 cg Morphium wohl auf jeden,
der nicht daran gewöhnt ist, eine deutlich
merkbare Wirkung ausüben, sind von 1 mg
Atropin oft keinerlei Folgen zu spüren, und
was von der Einzeldosis gilt, gilt auch von
der Tagesmaximaldosis.
Anfangs hatte ich die Besorgnis, größere
Dosen Atropin würden in den ersten Tagen
nach Geburten und Aborten zu starken
Blutungen führen. Diese Furcht ist nach
meinen jetzigen Erfahrungen unbegründet,
und da Fehl in g (Deutsche Medizinische
Wochenschrift 1904, No. 1) angibt, daß
nach einer Stunde schon Trombenbildung
stattgefunden habe, wohl überhaupt unbe-
rechtigt.
Auch die naheliegende Vermutung, daß
längere Atropinisierung des Uterus im Wochen-
bett die Rückbildung desselben störe, hat
sich in meinen Fällen nicht bewahrheitet.
Die Involution erfolgte bei allen Frauen, die
ich mit Atropin behandelte, ebenso schnell
und vollständig, wie im normal verlaufenden
Wochenbett.
I Außer der die Wöchnerin wenig be-
| lästigenden Akkommodationsstörung ist nach
I meinen Erfahrungen die bisweilen auftretende
| Blasenlähmung die einzige unangenehme
Nebenerscheinung der Atropinwirkung. Man
hat um so mehr Grund, hierauf zu achten
I und rechtzeitig zum Katheter zu greifen, als
die Wöchnerin die Überfüllung der Blase
I nicht empfindet; selbst wenn diese prall ge-
I spannt in halber Nabelhöhe steht, sträubt
sie sich oft noch gegen das künstliche Ab-
XIX. Jahrg ang.1
Februar 190S. J
8 eh tele, Behandlung schwerer blutiger Hand Verletzungen.
61
lassen des Urins. Kratzen im Halse und
Störungen des Sensoriums treten nur vor-
übergehend auf, es scheint, als wenn die Be-
wußtseinszentren und die sensiblen Nerven
sich rascher an die Atrop in Wirkung gewöhnen
als die glatten Muskelfasern. Die Defakation
beeinträchtigt das Atropin, wie schon er-
wähnt, kaum. — Ich kann mir daher, neben-
bei gesagt, nicht vorstellen, daß es beim
Ileus dem Opium vorzuziehen ist. —
Da das "Wochenbettfieber nicht mehr
epidemisch auftritt, können meine Versuche
mit Atropin nicht im großen Maßstabe nach-
geprüft werden. Der Kliniker wird über-
haupt wenig passende Gelegenheit hierzu
haben, da die Krankheit bei Frauen, die
einer Anstalt überwiesen werden, in der
Regel schon zu weit vorgeschritten ist. Ich
hoffe aber, daß meine Methode sich in den
Händen der praktischen Ärzte, die das
Wochenbettfieber im Beginn konstatieren und
behandeln, zum Segen für die schwer ge-
fährdeten jungen Mütter bewähren wird.
Über die Behandlung schwerer blutiger
Handverletzungren.
Von
Dr. med. Q. W. Schiele in Naumburg a. d. Saale.
1. Allgemeine Grundsätze.
Schwere Finger- und Handverletzungen
von der Art, wie sie in Häckselmaschinen,
Dreschmaschinen, Triebrädern, Drehbänken
und dergl. zustande kommen, zu behandeln,
gehört zu den verantwortlichsten Aufgaben.
Die Gefahren sind groß. Die Arbeiter-
hand ist gewöhnlich ungeheuer verschmutzt.
Vielleicht sind Gelenke und Sehnenscheiden
eröffnet. Komplizierte Fingerbruche können
auch dabei sein. Eine Phlegmone in diesen
Wunden kann den Verletzten, wenn nicht
um das Leben, so doch um die Hand bringen.
Noch dazu ist es meistens die rechte. Was
soll man tun, um ihn vor diesen Gefahren
zu retten. Denn andrerseits, wenn es ge-
lingt, die Wunde zu glatter Heilung zu bringen,
so spart man dem Verletzten eine Unmenge
von Schmerzen und der Berufsgenossenschaft
ein kleines . Kapital. Das bleibende Resultat
wird immer um ein Vielfaches schlechter,
wenn in der Hand eine Phlegmone losgeht,
als wenn es bei der ursprunglichen Unfall-
verstümmelung bleibt.
Die Prinzipien bei der Behandlung dieser
Wunden gleichen durchaus denen bei der
Behandlung offener Knochenbrüche. Man hat
eine verschmutzte Wunde vor sich und muß
sie reinigen. Aber wie macht man das?
Einstmal 8 hatte man gehofft, man könnte
diese Wunden desinfizieren, die Bakterien in
ihnen töten, wie man sie in einer Bouillon-
kultur töten kann, wenn man Sublimat zu-
setzt. Die allgemeine Erfahrung hat be-
wiesen, daß das unmöglich ist.
Nunmehr waren die angewandten Grund-
sätze folgende: Ist die Wunde verunreinigt,
so hat man sie unter solche Bedingungen
zu bringen, daß die vermutete Eiterung nicht
fortschreitend wird. Man. hat also für guten
Abfluß der Wundsekrete zu sorgen, Gegen-
Öffhungen zu machen und zu tamponieren.
Während man aus der Wunde alle Chemi-
kalien fern hält, hat man doch die Hand
gründlichst zu reinigen und zu desinfizieren,
ebenso wie die eignen Hände, damit das
bösartigste Bakterium nicht etwa durch die
Operation erat hineingetragen wird. Nun ist
es abei»unmöglich, eine verschmutzte Arbeiter-
hand zu reinigen, ohne daß man die Wunde
immer wieder mit infektiösem Material zu-
sammenbringt. Den gröbsten Schmutz nimmt
man mit Äther oder Benzin weg und streicht
dabei auch an den Rändern der Wunde ent-
lang, die es häufig am nötigsten haben. Aber das
genügt nicht. Man muß auch waschen und
seifen. Das Seifenwasser wird schwarz vor
Schmutz und läuft über die Wunde, dabei
bewegt vielleicht grade der narkotisierte Ver-
letzte die Sehne in der eröffneten Sehnen-
scheide um 2 — 3 cm hin und her; was liegt
näher, als daß er sich ein Minimum des
Schmutzes in die Sehnenscheide gepumpt
hat. Man kann schon eine halbe Stunde
waschen, ehe man eine derartige Hand rein
bekommt, und nachdem man zum Schluß mit
Sublimat nachgewaschen hat, muß man sich
sagen: rein ist sie nicht, wenn sie auch
reiner geworden; die Wunde aber ist ohne
Zweifel unreiner geworden.
Wenn man wirklich an der einmal ver-
unreinigten Wunde nichts ändern könnte, und
wenn man wirklich als wichtigste Aufgabe
anzusehen hätte, daß man nichts Neues hin-
einbringt, so wäre man berechtigt zu fragen,
ob man nicht besser täte, die Wunde in
Ruhe zu lassen. Denn sind Bakterien drin,
so kann man sie nicht wieder herausholen,
und sind keine drin, so bringt man nicht
erst welche hinein. Fängt die Wunde an
zu eitern, so weiß man wenigstens, daß man
nicht geschadet hat, und die nötigen Spal-
tungen kommen vielleicht auch nach 2 mal
24 Stunden zeitig genug, wenn man sieht,
daß doch auf die ideale Heilung verzichtet
werden muß.
So wäre es, wenn die menschlichen Ge-
webe einem Reagenzglas glichen, mit Nähr-
gelatine, worin unfehlbar die Kultur angeht,
62
Schiele, Behandlung schwerer blutiger Handverletsungen.
rrherapeatleehe
L Monatshefte.
wenn lebensfähige Bakterien hineingelegt
sind.
Aber so ist es mit den Geweben nicht.
Tatsächlich können viele und ohne Zweifel
auch virulente Bakterien hineinkommen, ohne
daß ein phlegmonöser Prozeß losgeht.
Der Bakterienkontakt macht allein noch
nicht Bakterieninfektion. Wie jede Infektions-
krankheit nicht bloß in der Gegenwart von
Bakterien besteht, sondern in dem Krank-
werden und Absterben von Zellen und Ge-
weben, so ist auch die Wundinfektion damit
noch nicht zur Tatsache geworden, daß In-
fektionserreger da sind. Es gehören noch
andere Umstände zu deren Zustandekommen,
als die Gegenwart von Staphylokokken und
Streptokokken allein. Das wichtigste Mo-
ment ist die Lebensfähigkeit des Gewebes
selber. Diese Lebensfähigkeit beruht
auf ihrem Zusammenhang und kunst-
vollen Aufbau. Durch grobmechanische
Einwirkung ist in jeder Wunde dieser Auf-
bau zerstört. Einzelne Gewebteile sind ge-
quetscht, halb zerrissen, von ihren Arterien
und Venen und Saftkanälchen getrennt, die
zugehörigen Yenen sind thrombosiert oder
werden es noch. Solche Gewebe müssen
absterben und durch Eiterung sich abstoßen.
Dieser Umstand erst läßt den Infektions Vor-
gang, die Phlegmone, anfangen. Man kann
nun mehr tun, als nur die Haut reinigen,
für Sekretabfluß sorgen und nichts hinein-
tragen.
Man wird zunächst allen groben Schmatz,
Erde, Stroh, Maschinenschmiere aus der
Wunde herausschaffen, aber nicht mit dem
Wasserstrahl, denn Wasser und andre flüssige
Chemikalien sind für die feinen Gewebe
nichts Gleichgültiges, auch nicht mit grobem
Auswischen und Tupfen, denn damit schafft
man auf den Geweben eine zerstörte Ober-
fläche, sondern mit Pinzette und Schere.
Dann besichtigt man alle Gewebe, die in
der Wunde bloß liegen, überzeugt sich, welche
Gelenke und Sehnenscheiden offen stehen.
Man findet die Gewebe zerrissen, unkennt-
lich, mißfarbig sugilliert, mit Schmutz bis in
die tiefsten Winkel belegt. Diese Gewebe
drinn lassen, heißt auf die prima inten tio
verzichten. Aber sie mit Pinzette und
Schere sauber und schonend exstir-
pieren, heißt die Bedingungen einer
reaktionslosen Heilung wiederher-
stellen. Man bringe nur die Wunde in
einen Zustand, worin sie wenigstens heilen
kann, weil gesundes, lebenskräftiges, in seinem
ernährenden Zusammenhang und Aufbau nicht
zerstörtes Gewebe aufeinander zu liegen kommt,
und man wird überrascht sein, auch grob ver-
unreinigt gewesene Wunden fast reaktionslos
heilen zu sehen. Es kommt dann eine Hei-
lung per primam zu stände, die unvollkommen,
d. h. von Stelle zu Stelle ungleich ist, aber
die doch den einen Teil der Wunde und
vielleicht grade den wichtigsten, vor den Ge-
fährdungen, die an andern Stellen entstehen,
schützt. Die klinische Erfahrung beweist,
daß lebenskräftige, unzerstörte Gewebe, wenn
sie überall durch leichten Druck glatt auf-
einander gelegt werden, wenn nichts zwischen
ihnen liegt, was ihre Vereinigung stört, weder
Blut, noch zerstörtes Gewebe, noch Schmutz,
wenn nicht eine Nachblutung sie auseinander
treibt, wenn der Verband so gut liegt, daß
die in Verklebung und Verwachsung begriffenen
Gewebe nicht gegeneinander verschoben werden
können, wenn auch beim Verbandwechsel
nicht wieder die jungen Gewebe auseinander-
gerissen werden und durch Sondieren, Tampo-
nieren, probierte Bewegungen oder einen
anders sitzenden Verband gestört werden, —
daß sie dann per primam verheilen können,
auch wenn unzweifelhaft eitererre-
gende Kokken massenhaft in den
Wunden sind.
Natürlich muß eine derartige Wunde gut
überwacht werden. Hierzu gehört auch häu-
figerer Verbandwechsel, nicht um die Sekrete
wegzuschaffen, denn falls der Versuch gelingt,
ist das Sekret unbedeutend, nicht um neue
Drainage und Tampon aden anzulegen, — denn
diese müssen, so lange es gut geht, über-
flüssig sein, sondern um mit dem Auge und
bloß mit dem Auge zu erkennen, ob und an
welcher Stelle die prima intentio mißlingt.
Da man ja die Wunde genau kennt, so weiß
man, welche besonderen Gefahren einem Ge-
lenk, einer Sehnenscheide drohen, und wird
darum schnell erkennen, wann die Wieder-
eröffnung der Wunde oder eines Teiles nötig
wird.
Die Untersuchung und Versorgung der
Wunde macht natürlich eine Narkose nötig.
Es ist unmöglich, ohne diese zur Kenntnis
aller Zerstörungen und zur Überzeugung der
Vollendung der Säuberung zu kommen. Aber
verschmutzte Hohl h and- und Fingerwunden
soll man auch nicht sich selbst überlassen.
Läßt man sie unter Tamponade von der
Tiefe aus heilen, so sind schwere Funktions-
störungen unvermeidlich. Die Hand braucht
Monate, bis sie sich wieder locker gearbeitet
hat, wenn sie nicht überhaupt dauernd einen
Ausfall an ihrer Beweglichkeit behält. Für
alle Sehnen und Gelenke, verletzte, wie un-
verletzte, hängt alles von einer schnellen
Heilung ab. Ist es möglich, die unmittel-
bare Heilung (prima intentio) in 14 Tagen
zu erreichen, so ist alles für die Brauchbar-
keit der Hand gewonnen. Dieser Erfolg ist
XIX. Jahrgang.]
Febrnar 1905. J
8chl«le, Behandlung tehwerer blutig «r Handv«rleUungeo.
63
schon eioe Narkose uod eine etwas mühsame
Operation wert; und er ist erreichbar inner-
halb der ersten 36 Standen selbst in sehr
verschmutzten Wunden, wenn man dafür
sorgt, daß nur mit dem Messer oder der
Schere geschaffene, glatte, nicht gequetschte,
nicht zerrissene, nicht beschmutzte Gewebs-
flächen aufeinander liegen.
Die Operation geschieht unter Blut-
leere, weil nur so ein genaues Besichtigen
der Gewebe und schonendes Operieren mög-
lich ist. Alle Gewebe sind so zart, wie die
Hornhaut des Auges. Sie antworten auf
vieles Tupfen ebenso, wie jene tun würde.
Man stelle sich nur vor, wir hätten die Ge-
webe unter dem Mikroskop und konnten die
Wirkungen unserer Scheren, Haken, Tupfer
und Finger beobachten. Konnten wir das,
so würden wir viel zarter mit ihnen um-
gehen. Aber unsere Phantasie sollte uns dies
Mikroskop ersetzen.
2. Ausführung im einzelnen.
Die verschiedenen Gewebe der Hand sind
von sehr verschiedener Wertigkeit. Von
manchen darf man nach Belieben weg-
schneiden, von manchen bloß mit der größten
Sparsamkeit und Überlegung.
Zu den unersetzlichsten Geweben gehört
die Haut. Wo sie fehlt, stellt sie sich in
ihrer Vollkommenheit nie wieder her. Defekte
heilen entweder dadurch, daß die Ränder
der benachbarten Haut dank dem Narbenzug
und der Elastizität der Haut sich einander
bis zur Berührung nähern, oder, wenn das
nicht möglich ist, so bildet sich ein minder-
wertiger Ersatz, indem das Epithel sich über
das Granulationsgewebe schiebt. Das ergibt
aber nicht den kunstvoll und regelmäßig ge-
bauten Papillarkörper wieder und nicht die
dichte Epithelschicht und die überaus dehn-
bare und derbe Lederhaut, sondern gibt
Narbenhaut „Glanzhaut". Ledderhose hat
darauf aufmerksam gemacht, wie hinderlich
diese für die Brauchbarkeit der Hand sein
kann durch ihre Schmerzhaftigkeit, Verletz-
lichkeit und Un verschieblichkeit. Er warnt
darum vor einer allzu konservativen Behand-
lung der Fingerverletzungen und behauptet
mit Recht, daß ein verkürzter Finger mehr
wert sein kann, als ein unverkürzter, aber
durch Narben unbrauchbar gewordener.
Man schont daher die Haut nach Mög-
lichkeit. Hautlappen, von denen man hoffen
kann, sie erholen sich, schneidet man nicht
weg. Wohl aber umschneidet man die Haut-
ränder der Wunde, um die gequetschten mit
Maschinenschmiere beschmutzten Säume zu
entfernen und um eine Schnittfläche zu schaffen,
die den Papillarkörper senkrecht zur Haut-
ebene trifft, damit man steile Wundränder
erhält, die sich nähen lassen. Gut genähte
Haut, d. h. solche, wo die steilen Schnitt-
flächen des Papillarkörpers beider Ränder
glatt aneinander liegen, hat eine enorme
Heilungstendenz. Schon nach fünf Tagen,
auch über Höhlenwunden, die sich als ver-
eitert oder als mit schokoladenfarbener
Flüssigkeit gefüllt erweisen, ist doch die
Haut regelmäßig schon so fest verheilt, daß
es Mühe macht, sie wieder zu trennen.
Schlecht genähte Haut aber, deren einer
Rand mit der Epidermisfläche unter dem
Papillarkörper des andern liegt, heilt frühestens
in 5 Wochen. Denn Epidermis auf Wund-
fläche heilt nie. Die Granulationen müssen
das richtige Niveauverhältnis erst herstellen.
Unter der Haut kommt das Fett, das
in seiner beschmutzten und blutrünstigen
Gestalt kaum kenntlich ist. Man schneidet
soviel davon weg, bis man überall frische
gelbe Fetttrauben sieht. Fett braucht man
nicht zu schonen. Im Gegenteil, weil es ein
wenig lebendiges Gewebe ist, tut es wenig
zur Heilung der Wunde. Wert hat es nur
auf der Unterseite eines allzu dünn gestielten
Hautlappens, weil es die in ihm laufenden,
zuführenden Gefäße vor Eintrocknung und
Thrombosierung schützt.
Muskulatur braucht auch nicht geschont
zu werden. Man soll davon wegschneiden,
soviel man für gut hält. Man könnte nur
dann schaden, wenn man einen unentbehr-
lichen Muskel vollkommen quer durchtrennte,
sodaß ihm die Anspannung zwischen beiden
Ansätzen, das Moment, das zu seiner Fort-
dauer unbedingt gehört, fehlen würde. An
der Hand und dem Unterarm ist aber kein
Muskel so unentbehrlich, daß seine Funktion
nicht durch eine Kombination anderer ersetzt
werden könnte, und die es sind, die sind
wiederum aus anatomischen Gründen nur in
ihren Sehnen vollkommen quer zu trennen.
Während man von den Muskeln die ge-
schädigten Teile abträgt, fangen alle, ver-
letzten Gefäße wieder an zu spritzen. Das
soll sein. Denn für die Wundheilung ist es
wichtig, daß keine Nachblutung eintritt. Eine
nochmals duchsuchte Wunde heilt gewöhnlich
schlechter. Ein Operateur, der seiner Sache
sicher sein will, verläßt sich aber lieber auf
seine Ligatur, als nur auf die Thrombose,
die das Gefäß unsicher verschließt.
Arterien und Venen sind fürsorglicher-
weise so überreichlich an der Hand vorge-
sehen, daß man im einzelnen sie nicht zu
schonen braucht. Ebenso die Nerven.
Ihr Faseraustausch vor und hinter der durch-
trennten Stelle sorgt dafür, daß ein Teil der
Sensibilität sich ersetzt. Die Motilität der
64
S oh tele, Behandlung schwerer blutiger HandrerleUungen.
[Therapeut!
L Monatshe
utiache
Monatshefte.
Hand ist ihrer Muskel- und Nervenmassc
nach am Unterarm zu Hause und kann darum
auch nur weiter zentral geschädigt werden.
Nur die Bewegungsnerven der kleinen Hand-
muskeln können am Unterarm getroffen werden.
Die Verletzung des Nervus medianus macht
einen größeren Ausfall an Sensibilität und einen
geringeren an Motilität am Daumenballen
(Opp. poll. u. 2 — 3Lumbric). Der Nerv, ulnaris
macht geringeren Ausfall an Sensibilität, aber
Ausfall der Motilität der gesamten kleinen
Handmuskulatur mit Ausnahme eines geringen
Restes am Daumenballen.
Unersetzbar sind die Sehnen. Sie
sind das eigentliche Organ des Fingers.
Ohne Sehne ist der Finger mehr eine Last,
als ein nützliches Glied.
In verschmutzter Wunde eine Sehnen-
scheide offen finden und die Sehne wohl gar
verletzt, das bedeutet: die Gefahr der Sehnen-
scheidenphlegmone steht vor der Tür, und
mit ihr die Gefahr langsamer Heilung und
der Verkrüppelung der Hand. — Sehnen
sterben leicht, aber sehr langsam stoßen sie
sich ab, und vereiteln daher unsere Be-
mühungen, eine schnelle Heilung zu stände
zu bringen. Findet man daher in der Wunde
ein zerrissenes, beschmutztes Sehnenende,
dessen Ansatzglied auch verloren gegangen
ist, so hat man zunächst die Umgebung
durch Anfrischung zu reinigen, dann zieht
man das Ende möglichst weit heraus und
trägt mit einem glatten Scherenschlage ein
möglichst großes Ende ab. Lauenstein
warnt allerdings vor diesem Vorgehen, weil
er gefunden hat, daß das zurückschnellende
Ende später Sehnenscheidenvereiterung ver-
anlaßt hat. Ich glaube aber, wenn man das
geschädigte Ende nicht abträgt, sondern in
der Wunde hin und herspielen läßt oder auch
in der Wunde fixiert, so wird man erst recht
Sehnenscheideneiterung erleben.
Unter welchen Umständen soll man eine
durchschnittene Sehne nähen? Nicht jede
Sehne muß genäht werden. Solche, die am
umgebenden Gewebe oder an den Nachbar-
sehnen so kurz befestigt sind, daß ihre durch-
trennten Enden nicht erheblich auseinander
weichen, braucht man nur mit dem Verband
in entsprechende Stellung zu bringen, wie
man es mit einer Patellar Zerreißung macht,
wenn der ligamentäre Teil des Streckapparates
unverletzt ist und die Fragmente beieinander
hält. — (Ext. digit. comm. flexor u. extensor
carpi uln.)
Man hat neuerdings Sehnen durch dicke
Seidenfäden in größerer Ausdehnung ersetzt
(Lange). Aber das wäre ein großes Wagnis
in infizierten Wunden. Hier soll man im
Gegenteil so wenig Fremdmaterial wie mög-
lich verwenden. Die Sehnennaht hat hier
nicht die Aufgabe, dem Zug des Muskels
standzuhalten, sondern nachdem ein zweck-
mäßiger und sicherer Verband den Muskel
ganz erschlafft hat, sollen dünne Seidenfaden
nur die Sehnenenden einander gegenüber ge-
lagert halten, damit die zwischenliegende
Schicht dünnen Bindegewebes möglichst breit
und kurz wird. Es ist auch erlaubt, die
Sehnenenden an der Sehnenscheide zu fixieren
oder auch an nebenliegenden in gleichem
Sinne arbeitenden Sehnen. Sie heilen doch
mit diesen zunächst in einer Narbe zusammen.
Z. B. wenn das Bündel der Beugesehnen über
dem Handgelenk teilweise durchtrennt ist,
genügt es, durch eine sparsame Naht die
durchtrennten Stränge miteinander und mit
den unverletzten Strängen zu verbinden, wo-
bei es sogar ohne üble Folgen bleiben kann,
wenn nicht zusammengehörige Enden ver-
bunden werden.
Wenn in der Hohlhand die Perforans eines
Fingers allein verletzt ist und genäht wird,
so wächst sie doch mit der allzu nah lie-
genden Perforata in einer Narbe zusammen
und behindert auch deren Arbeit. Man muß
das wissen, damit man nicht um eines so
unvollkommenen Resultates willen durch
eine Sehnennaht unter ungünstigen Verhält-
nissen die ganze Hand gefährdet. Gerade
die Sehnen, deren Verlust am meisten be-
deutet, die darum, wenn möglich, genäht
werden sollen, sind auch am gefährlichsten
zu nähen. Das sind die langen Beuger aller
Finger und besonders des Daumens. Eine
Vereiterung der Naht von diesen Stellen aus
gefährdet die ganze Hand. Will man in
Anbetracht der schweren Gefahren auf die
Naht verzichten, so wird um so wichtiger
die Fixation in zweckmäßiger Stellung. Es
wird empfohlen, wenn einer der 4 Langfinger
an der Beugesehne verletzt ist, den verletzten
Finger in Beugestellung und die anderen in
Streck Stellung zu verbinden. Dann holen
die gespannten gesunden Sehnen das zentrale
Ende der durchschnittenen hervor, weil sie
durch Stränge weite/ oben mit ihm verbunden
sind, und nähern es dem durch Beugung
herangeholten peripherischen Ende (Felizet).
Komplizierte Brüche eines Finger-
gliedes kann man konservativ behandeln.
Aber solche an mehreren Gliedern oder an
mehreren Fingern würden leicht ein schlechteres
Resultat geben, als Amputation. Die Hand
ist zum Greifen da. Eine Hand, die nicht
mehr einen Hammerstiel umgreifen kann, ist
nicht viel wert. Ein halber Finger, aber
beweglich, ist besser als ein ganzer Finger,
aber steif. Der erstere vervollständigt die
bewegliche Phalanx, der andere hindert die
XIX. Jahrgang. \
Febmar 1905. J
Schielet Behandlung schwerer blutiger Handrerletxungen.
65
andern. Darum hat man, sobald man die
Verletzung übersieht, sich klar zu werden, wie-
viel man erhalten kann, und wieviel man im
Interesse einer guten Funktion opfern
muß. Man soll so operieren, daß Heilung
in 14 Tagen wenigstens möglich, man soll
nicht funktionsunfähige Teile mit Gefährdung
der übrigen Hand zu erhalten suchen. Von
der erhaltenen Beweglichkeit darf man nichts
opfern. So darf man nicht im Mittelgelenk
exartikulieren, wenn man mit einer Amputation
im Mittelglied davonkommen kann. Denn
die Perforata, die lange Beugersehne, setzt
am Mittelglied an. Wird sie abgetrennt, so
verliert der Finger die Kraft in der Beugung.
Es bleibt ihm dann nur die Aktion der
kurzen, kleinen Handmuskeln. Wollte man
die Perforata an dem Grundglied festwachsen
lassen, so würde man damit nur einen Nach-
teil schaffen. Die so fixierte Sehne würde
ihre Schwestersehnen bei der vollen Beugung
hindern und so den Schaden auf die Nach-
barfinger übertragen. Soll das nicht ge-
schehen, so muß die Sehne an dem noch
beweglichen Mittelglied anfassen, und wenn es
auch nur noch ein Stummel ist (Riedinger).
Mit den Sehnen, Knochen und Gelenken
ist bei der Operationsfrage entscheidend der
Zustand der Haut. Ist die zur Deckung
verfugbare Haut knapp, so muß sich die
Lange des Fingers nach der vorhan-
denen Haut richten (Georgii). Überall
muß die Haut ohne Zug so gelegt werden
können, daß alles bedeckt ist, und womög-
lich die Nahtlinien nicht an die Fingerspitzen
oder an die Beugeseiten, sondern auf die
Streckseiten zu liegen kommen. Ringförmige
Defekte müssen durch Lappenplastik wenig-
stens teilweise gedeckt werden. Auf der
Beugeseite der Finger und der Hand können
bei jedem Defekt nur gestielte Lappen aus
der Nachbarschaft oder von der Brust in
Betracht kommen. Man hat auch versucht,
der skalpierten Fingerspitze die Hautkuppe
einer Zehenspitze, die ganze Bekleidung des
Endgliedes mit Einschluß des Nagels und
Nagelgliedes ungestielt, als Kr aus eschen
Lappen, aufzusetzen, und hat Erfolg gehabt.
Es ist sogar gelungen, eine ganze Zehe von
zwei Gliedern mit Haut, Knochen und Sehnen
auf einen Fingerstumpf durch Lappenernährung
zu übertragen. Es ist aber bisher fraglich
geblieben, ob auch der funktionelle Erfolg
einer so mühsamen Operation entsprechen
wird.
Hat man die Wunde so gereinigt, daß
man der Überzeugung sein kann: es ist kein
makroskopischer Schmutz mehr in der Wunde,
kein gequetschtes oder außer Ernährung ge-
setztes Gewebe, sondern überall frische blu-
Th.M.1905.
tende, glatte Wundflächen, so darf man
nähen, d. h. wenigstens so weit vernähen,
daß die Hautlappen ihre bestimmte Lage
haben, beim Verbandwechsel nicht abgerissen
werden können, und daß an Stellen, wo
mehrere Schnitte aufeinander treffen, die
Winkel wenigstens gut vernäht sind. Offenen
Knochenbrüchen gegenüber läßt man offen,
denn Kochenwunden bluten lange nach, und
führt einen schmalen Gazestreifen bis auf,
nicht bis in den Knochenspalt. An einigen
Stellen legt man ein kurzes Röhrchen, da-
mit keine Blutverhaltung eintreten kann.
Man legt dann einen sehr gleichmäßig sitzen-
den, gut komprimierenden Verband an, hält
hoch und öffnet dann erst die Gummibinde.
Blutung ist nicht zu befürchten. Freilich,
wenn man den Arcus volaris angeschnitten
hat, was man bei einigem Hinsehen auch in
der Blutleere sehen kann, so muß man ihn
vor der Naht unterbinden.
Wiedereröffnen würde ich die Wunde nur
bei lebensgefährlicher Blutung.
Hiernach wird an einer Suspensionsschiene
suspendiert. Man tut gut, alle zwei Tage
zu verbinden, um sich vom fehlerlosen Ver-
lauf zu überzeugen.
Wenn keine Phlegmone eintritt, so schadet
eine zwei Wochen dauernde Fixation der
Funktion der Hand gar nichts, und man hat
die Freude, nach 4 Wochen etwa den Schwer-
verletzten mit einer gebrauchsfähigen Hand
entlassen zu können.
These 1. Ziel bei der Behandlung schwerer Hand-
verletzungen ist: möglichst große Ge-
brauchsfähigkeit der Hand zu erreichen.
These 2. Hauptmittel ist: reaktionslose Heilung
in wenigen Wochen.
These 3. Im Interesse der glatten Heilung müssen
schwerer verletzte Teile von voraussicht-
lich geringer Brauchbarkeit geopfert
werden. Prinzipiell konservatives Ver-
fahren wäre schädlich.
These 4. Heilung perprimam oder mit nur mäfsiger
Reaktion ist auch in stark verschmutzten
Wunden möglich, wenn man die Wunde
in Narkose auf das genaueste anfrischt.
Solche Wunden kann man nähen und
erreicht dann schmale unbedeutende
Narben und ungestörte Funktion der
inneren Bewegungsorgane der Hand.
Literatur.
Bardenheyer: Die Verletzung der oberen Ex-
tremitäten. Deutsche Chir. 63.
Georgii: Über Behandlung d. Fingerverletzungen
mit bes. Berücksichtigung der Erwerbsfahig-
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Ledderhose: Über Folgen und Behandlung von
Fingerverletzungen. Volkm. Sammig. 121.
Haegler: Ober Sehnenverletzungen an Hand und
"Vorderarm. Beiträge z. klin. Chir. 16.
6
66
Edel, Wettet venhAItniMe an der Nordsee.
rherapentiaebe
Monatshefte.
Hoffa: Experimentelle Begründung der Sehnen-
plastik. Manch, med. Wocheuschr. 1901, 51.
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Thorn: Über partielle subkutane Zerreißung der
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Zentralbl. f. Chir. 1901, 41.
Rotter: Zur wandständigen Sehnennaht. Zentralbl.
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Chir. 1894.
Riedinger: Über die Wertigkeit der Finger in
Bezug auf Defekt und Vorbildung. Volkm.
Sammlung 237.
Eiseisberg: Ersatz des Zeigefingers durch die
2. Zehe. Arch. f. klin. Chir. 61.
Nicoladoni: Daumenplastik u. organischer Ersatz
der Fingerspitze. Arch. f. klin. Chir. 61.
Die Wetterverhältnisse an der Nordsee
in den beiden letzten Wintern.
Von
Dr. M. Edel, Badearzt in Wyk auf Föhr.
Während der reiche Schatz von Heil-
kräften, den das Nordseeklima in sich birgt,
für den Sommer immer mehr die verdiente
Würdigung findet, können die Winterkuren
an der Nordsee sich nur langsam Eingang
verschaffen. So ist auch jetzt wieder ein
warmer und milder Winter ungenutzt ver-
strichen, wiederum war es nur eine winzige
Zahl von Leidenden, die zur Winterkur
unsere Nordsee- Inseln aufgesucht haben.
Worin ist der Grund hierfür zu suchen?
Besteht etwa kein Bedürfnis dafür, die Kuren
an der Nordsee auch auf den Winter aus-
zudehnen und damit die therapeutischen
Kräfte, die uns die Natur im Nordseeklima
gegeben, mehr als bisher auszunutzen?
Ein kurzes Eingehen auf die speziellen
Indikationen für die Winterkuren wird das
Vorhandensein dieses Bedürfnisses sofort er-
weisen. Ich möchte zu diesem Zwecke die
Kranken, die hier in Betracht kommen, in
2 große Gruppen teilen und der ersten Gruppe
alle diejenigen zuweisen, für deren Wieder-
herstellung ein ununterbrochener Kuraufenthalt
an der See von vielen Wochen und Monaten
erforderlich ist. Es sind dies vor allen
Kinder mit Rachitis, Skrofulöse und Tuber-
kulose, besonders Knochentuberkulose.
Für diese ist die übliche Kurdauer von
etwa 6 Wochen, die im allgemeinen zur Er-
zielung eines bleibenden Erfolges schon vi%l
zu kurz ist, auch nicht im entferntesten aus-
reichend. Es werden sicherlich auch in
diesen wenigen Wochen schöne Besserungen
beobachtet, aber zu einer Heilung sind un-
bedingt weit mehr Monate nötig, als die
Kuren jetzt Wochen dauern.
Eine beredte Sprache sprechen die Zahlen,
die Hilier1) über die Resultate und die
Behandlungsdauer in den deutschen See-
hospizen und den Hospizen in Margate und
Berk-sur-Mer mitteilt. In den deutschen
Hospizen beträgt die durchschnittliche Aufent-
haltsdauer 43 resp. 46 Tage gleich 6 Wochen,
zu Margate 8 — 12 Wochen, in Berck-sur-Mer
„ist die Dauer des Aufenthaltes unbeschränkt
und im wesentlichen vom Heilungsverlauf ab-
hängig". (Hiller).
Und nun die Resultate aus diesen ver-
schiedenen Behandlungszeiten. Es wurden
erzielt:
bei Lymphdrüsenschwollungen
in Bcrck ... I 75.4 j 20.0 342
in Margate . . | 33,3 \ 64,9 90
bei Skrofulöse und Rachitis
in Norderney . | 33,6 63,6 46
bei Pottscher Wirbelerkrankung
in Berck . . . I 55,6 5,0 476
in Margate . . | 4,5 75,5 45
bei Tuberkulose der Knochen und Gelenke,
der Haut und der Drüsen
in Norderney . | 17,85 j 69,64 ] 46
Diese Zahlen gestatten zwar keine direkte
Vergleichung, da die Statistiken nicht nach
denselben Grundsätzen hergestellt sind. Aber
trotzdem beweisen sie die Notwendigkeit der
Verlängerung der Kuren an der Nordsee über
den Sommer hinaus und die Benutzung des
Winters zu Kurzwecken. Durch die vor-
zeitige Unterbrechung der Kur und die Rück-
kehr in die alten schädlichen Verhältnisse
der Heimat wird das Fortschreiten der Besse-
rung auf alle Fälle verhindert, oft genug aber
auch das im Nordseeklima bereits erzielte,
aber noch nicht genügend gefestigte Resultat
wieder völlig vernichtet. Selbst eine Wieder-
holung der Kur im nächsten Sommer kann
dann nur schwer die Schädigungen wieder
beseitigen, die während des Winters ent-
standen sind. Das jetzt gebräuchliche Ver-
fahren bringt den kleinen Patienten nicht
nur nicht den vollen Nutzen, den eine ununter-
brochen durchgeführte Kur haben würde,
sondern ist auch im höchsten Grade unöko-
nomisch. Daher muß für diese Kranken zu-
erst mit der alten verderblichen Sitte ge-
brochen werden, mit dem Ende des Sommers
auch den Kuraufenthalt an der Nordsee zu
Ende gehen zu lassen.
!) Hill er, Thalassotherapie. Goldscheider-
Jacobs Handbuch der physikalischen Therapie
Bd. I, S. 416-419.
XIX. Jahrgang.!
Febrnar 1906. J
Edel, WetterverhAItnitte an der Nordtee.
67
Während es sich bei dieser ersten Gruppe
darum handelt, eine begonnene Kur im Winter
fortzusetzen, rechne ich zu der 2. Gruppe
alle diejenigen Kranken, bei denen sich erst
im Herbst oder im Beginn des Winters Zu-
stande ergeben haben, die eine Kur an der
Nordsee wünschenswert erscheinen lassen.
Ich denke dabei vor allem an Rekon-
valeszenten von Pleuritis und Pneumonie,
chronisch gewordene Bronchialkatarrhe etc.,
bei denen das Nordseeklima nicht allein die
Krankheitserscheinungen beseitigen, sondern
gleichzeitig auch eine drohende Tuberkulose
verhüten soll. Wenn diese Kranken erst
einen ganzen Winter in rauchigen und
staubigen Städten, in engen, überheizten
Wohnungen zugebracht haben, dann kommt
.oft genug im Sommer jegliche Kur zu spät,
während ein Eingreifen zur rechten Zeit von
wunderbarer Wirkung gewesen wäre.
In diese Gruppe gehören ferner Asthma-
tiker, bei denen im Herbst oder Winter eine
Verschlimmerung ihres Leidens, eine Häufung
der Anfälle eingetreten ist. Warum sollen
sie nicht möglichst schnell einen Ort auf-
suchen, in dem sie sonst eine Erleichterung
ihres Zu Standes, ein Aufhören der Anfalle
erfahren haben, wenn die heilenden Faktoren
dieses Ortes im November oder Januar die-
selben sind wie im Juli oder August und
die klimatischen Verhältnisse eine solche Kur
nicht verbieten?
Auch für Anämische und Chlorotische
und für Neurastheniker können unter Um-
ständen Winterkuren in Frage kommen. Nur
müssen alle diese Kranken einen genügenden
Kräftevorrat besitzen, um die Wirkungen des
Klimas ertragen zu können. Aber auch wenn
in dieser Hinsicht eine sehr sorgfältige Auslese
stattfindet, bleibt noch immer eine sehr große
Zahl von Patienten, die für die Winterkuren
geeignet wären, zumal mit den gegebenen
Beispielen die Indikationen für dieselben
nicht erschöpft sind.
Da also ein Bedürfnis für die Winter-
kuren an der Nordsee nicht wohl geleugnet
werden kann, frage ich noch einmal, welches
ist der Grund, daß sie bisher so wenig An-
klang gefunden haben, daß der Gedanke der
kurgemäßen Überwinterung an der Nordsee
sich so schwer Bahn brechen kann?
Ich glaube berechtigt zu sein, als Haupt-
ursache hierfür und als Haupthindernis und
Hemmschuh für die Einführung von Winter-
kuren die Unkenntnis über die klimatischen
Verhältnisse der Nordseeinseln ansehen zu
dürfen. Man hält im allgemeinen die Nord-
seeinseln im Winter für rauh und unwirtlich
und kalt und glaubt, daß schon für einen
Gesunden eine Art Wagemut dazu gehört,
dort aus freien Stücken einen Winter zu ver-
leben, für einen Kranken aber eine Über-
winterung an der Nordsee geradezu eine Un-
möglichkeit sein müßte. Solange selbst bei
denjenigen Kollegen, die sonst der Nordsee
wohlwollend gegenüberstehen, solche Vor-
stellungen über unser Winterklima herrschen,
ist es unausbleiblich, daß auch das große
Publikum ebenso denkt und sich ablehnend
verhält. Erst wenn der Aberglaube von der
kalten Nordsee verschwunden sein wird,
können die Winterkuren an der Nordsee die
Bedeutung für die Allgemeinheit erlangen,
die sie verdienen. Es ist in den letzten
Jahren mehr als bisher gearbeitet worden,
um in dieser Hinsicht aufklärend zu wirken.
Aber daß ein altes Vorurteil nicht plötzlich
schwindet, ist selbstverständlich. Und gutta
cavat lapidem non vi, sed saepe cadendo.
Daher möchte ich mir erlauben, die
Witterungsverhältnisse der beiden letzten
Winter in Wyk an der Hand der von der
hiesigen Beobachtungsstation des Königl. Me-
teorologischen Institutes festgestellten Zahlen,
die ich der großen Liebenswürdigkeit des
hiesigen Beobachters, Herrn G. We igelt, ver-
danke, an dieser Stelle etwas eingehender zu
beleuchten.
Als Winter betrachte ich hierbei mit
Rücksicht auf die Winterkuren die Zeit von
Anfang Oktober des einen bis Ende März
des anderen Jahres. Ich habe für die beiden
Winter 1902/03 und 1903/04 die „fünf-
tägigen Mittel", das heißt die aus den mitt-
leren Tagestemperaturen berechneten Durch-
schnittstemperaturen eines Zeitraumes von je
fünf aufeinanderfolgenden Tagen, einer Pen-
tade, als Kurve gezeichnet und gleichzeitig
bei jedem Monat die festgestellte höchste
Temperatur (mit abs. 4- bezeichnet) und die
absolut niedrigste Temperatur (abs. — ) und
die mittlere Monatstemperatur angegeben.
Ich wählte die Pentadenzahlen, weil sie einen
genügenden Einblick in den Temperatur-
verlauf gewähren, ohne durch eine zu große
Menge von Daten zu verwirren, und die
Kurvenform, weil sie die schnellste Orien-
tierung gestattet.
Wenn man in einem Orte eine Über-
winterung zu therapeutischen Zwecken vor-
nehmen lassen will, so muß vor allem die
Temperatur den Aufenthalt im Freien,
Spaziergänge etc. gestatten. In wie hohem
Maße im vollsten Gegensatz zu der land-
läufigen Meinung diese Bedingung an der
Nordsee erfüllt wird, zeigt ein Blick auf die
beiden Kurven (S. 68).
Der Oktober dokumentiert sich mit
-h 19,6 resp. 17,5 höchster Temperatur und
einem Monatsmittel von 9,9 resp. 8,4° C. als
6*
68
Edel, Wetterverb<niMe an der Nordtee.
["Therapeutische
L Monatshefte.
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Kurve 2.
XIX. Jahrgang.!
Februar 1906. J
Edel, WettervarhiltnUse an der Nordsee.
69
ein durchaus warmer Monat. Allmählich be-
reitet sich der Eintritt einer kälteren Zeit
vor, bis Mitte resp. Ende November ein
Wettersturz erfolgt. Aber die Kurve erhebt
sich sofort wieder und hält sich im Dezember
und Januar, die auf dem Festlande die
kältesten Monate sind, meistens über 0° und
fallt nur einige Male und stets auf ganz kurze
Zeit unter 0°. Im Februar bleibt die Kurve
in dem einen Jahre beständig sehr hoch,
während in dem 2. Winter Ende Februar
noch ein geringer Temperaturabfall eintritt.
Im März erfolgt dann langsam der Anstieg.
Die niedrigsten Temperaturen, die über-
haupt zur Beobachtung kamen, waren in dem
einen Winter — 7,5° (Jan. 03) und in dem
anderen — 5,9° (Febr. 04), während die
Monatsmittel in diesen kältesten Monaten
-H0,5° resp. -f- 1,1° waren.
Es bedarf keines besonderen Hinweises,
daß diese Temperaturen an und für sich den
Aufenthalt im Freien nicht beschränken
können, zumal es selbstverständlich ist, daß
das Thermometer seinen niedrigsten Stand
in der Nacht erreicht, also zu den Stunden,
die für Spaziergänge in Frage kommen, noch
um einige Grade höher ist.
Ich möchte hier anschließend bemerken,
daß der Unterschied zwischen der höchsten
und der niedrigsten Temperatur eines Tages
an der See niemals besonders groß ist. Im
Winter ist diese Differenz, die in der Klima-
tologie Amplitude heißt, noch erheblich ge-
ringer als im Sommer. Während die Klein-
heit der abendlichen Abkühlung im Sommer
als eine besondere Annehmlichkeit des See-
klimas empfunden wird, ermöglicht sie im
Winter die Ausnutzung der langen Abende
zu den Zwecken der Kur. Spaziergänge am
Strand sind hier auch im Winter noch lange
nach Sonnenuntergang möglich und haben
ihren besonderen intimen Reiz.
In Verbindung mit der Kleinheit der
Amplitude steht die große Übereinstimmung
zwischen den Temperaturen zweier auf-
einanderfolgender Tage, die für das Seeklima
charakteristisch ist. Die Veränderungen der
Temperatur erfolgen allmählich, Temperatur-
sprünge fehlen fast ganz. Die Beständigkeit
der Temperatur, durch die das Klima eine
besondere Milde erhält, prägt sich am
schönsten in der zweiten Kurve aus, die nur
im November einen plötzlichen Temperatur-
sturz erkennen läßt, während in der ersten
Kurve sich außer dem Novemberabfall auch
ein plötzliches Sinken im Januar zeigt.
Es ist im allgemeinen nicht angängig,
aus einem so kurzen Zeitraum, wie dem hier
besprochenen einen Schluß auf das Klima zu
ziehen. Aber der Verlauf der Temperatur
in diesen beiden Wintern steht in so voll-
kommener Übereinstimmung zu dem, was die
Betrachtung einer Zusammenstellung der Tem-
peraturen von 10 Jahren ergibt, die ich an
anderer Stelle veröffentlicht habe*), daß die
gegebenen Kurven als typisch für die Winter-
temperatur in Wyk auf Föhr gelten und
somit als Beweis für die Möglichkeit der
kurgemäßen Überwinterung auf den Nordsee-
inseln dienen können.
In der erwähnten Arbeit habe ich die
Temperaturangaben von Wyk mit den ent-
sprechenden Zahlen von Berlin und Wies-
baden verglichen und konnte als Haupt-
ergebnis die Folgerung ziehen: der Winter
fängt auf den Nordseeinseln spät an und ist
dann milder als in Wiesbaden und bedeutend
wärmer als in Berlin. Für die beiden letzten
Winter stehen mir die meteorologischen Daten
aus den genannten beiden Städten leider noch
nicht zur Verfügung, da die Veröffentlichungen
derselben stets erst nach einigen Jahren er-
folgen. Jedoch würde diese Vergleichung
keine besonders instruktive gewesen sein.
Denn sowohl im Jahre 1902/03 als 1903/04
war der Winter überall ein warmer und von
einem warmen Winter läßt sich nur zeigen,
daß die Temperatur auf den Nordseeinseln
ebenfalls warm ist, etwas höher als auf dem
Festlande, während in kalten Wintern das
Übergewicht der Inseln ein ganz bedeutendes
ist. Das Meer dient dann als ein prompt
wirkender Wärmeregulator, der ein allzu
tiefes Sinken der Temperatur verhindert.
Daher sind die Nordseeinseln in einem kalten
Winter nicht minder zu Winterkuren geeignet
als in einem warmen.
Außer der Temperatur sind die Nieder-
schläge und der Wind von Einfluß auf das
Wohlbefinden oder Mißbehagen der Kurgäste.
Während Determann3) vom Hochgebirge
sagt: „Für den Kranken, der sich im Freien
aufhalten soll, ist es ziemlich gleichgültig,
ob es stark oder schwach regnet; die Tat-
sache des Regnens allein beschränkt ihn im
Ausgehen", macht man im Gegensatz dazu
die Erfahrung, daß an der See der Regen
den Aufenthalt im Freien fast garnicht be-
einträchtigt. Denn sofort nach einem stets
nur kurze Zrit anhaltenden Regen ist der
Boden hier wieder vollständig trocken. Man
braucht sich auch bei geeigneter Kleidung
durch einen gerade herniedergehenden Regen
3) Läßt sich das Klima der Nord^eeinseln auch
im Herbst und Winter therapeutisch verwerten?
Zeitschrift für diätetische und physikalische Thera-
pie Bd. VI (1902 03), Heft 9.
8) Das Höhenklima im Winter und seine Ver-
wendbarkeit für Kranke. Volkmanns klinische Vor-
träge No. 308, S. 477.
70
Edel, WettexvorhtltniMe an der HordtM.
rherapeutiache
IfonaUhefte.
beim Spazierengehen durchaus nicht stören
zu lassen. Meistens wird sogar die Luft an
Regentagen als besonders milde und angenehm
gerühmt. Es erübrigt sich daher ein näheres
Eingehen auf die Große und Häufigkeit der
Niederschläge.
Dagegen erfordert der Wind eine etwas
ausführlichere Besprechung. Die klimatischen
Wirkungen an der Nordsee werden zu einem
großen Teil durch den Wind hervorgerufen.
Die im Seeklima stets eintretende Vermehrung
des Stoffwechsels hat ihre Hauptursache in
dem beständig wehenden Winde, und die
Abhärtung, der Schutz vor Erkältungen, den
das Seeklima gewährt, muß gleichfalls auf
die Bewegung der Luft zurückgeführt werden.
So unentbehrlich also für unsere Zwecke
der Wind ist, so darf er doch, um den
Aufenthalt im Freien nicht unmöglich zu
machen, für gewöhnlich eine gewisse mittlere
Stärke nicht überschreiten, oder es muß ein
ausreichender Windschutz vorhanden sein.
Der Badeort Wyk liegt nun in der süd-
östlichsten Ecke der großen ziemlich genau
elliptischen Insel Föhr und ist dadurch gegen
den direkten Anprall der Winde aus Norden,
Nordwesten und Westen gut geschützt, wäh-
rend die östlichen und südöstlichen Winde
den Zugang nach Wyk frei haben. Der Ost-
wind kann öfter rauh sein, aber als unan-
genehm wird er doch erst bei größerer Heftig-
keit empfunden, während der Südwestwind
auch im Winter ein milder und weicher Wind
ist, der selbst bei einer schon ziemlich be-
trächtlichen Stärke noch sehr gut und ohne
Beschwerden ertragen werden kann.
Nach diesen erläuternden Bemerkungen
muß die Windverteilung in Wyk, wie sie
aus dem folgenden in seinen einzelnen Teilen
dem Material des Herrn G. Weigelt ent-
nommenen Tableau ergibt, als besonders
günstig für die Winterkuren bezeichnet
werden.
Die 8 Linien deuten die Windrichtungen
an, die Länge der Linien bezeichnet die
Häufigkeit des betreffenden Windes. (Milli-
meterzahl gleich beobachtete Häufigkeit bei
3 mal täglicher Beobachtung.)
Entsprechend dem von mir4) veröffent-
lichten 10 jährigen Durchschnitt aus den
Jahren 1891/1900 hatten auch in den beiden
letzten Wintern die südlichen und westlichen
Winde ein erhebliches Übergewicht über den
Ostwind. Bemerkenswert ist die dominierende
Stellung des Südwestwindes in mehr als der
Hälfte der besprochenen Monate und der
Februar 03 ganz ohne Ostwind. Mit der
einzigen Ausnahme des März 04 übertreffen
*; I. c. S. 510.
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Oktober 1902
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November 1908
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XIX. Jahrgang.!
Februar 1905. J
Edel, WetterverhlltnlMe an d«r Nordsee.
71
aber auch in denjenigen Monaten, in denen
verhältnismäßig oft Ostwind wehte, der schon
mildere Südost und die westlichen Winde zu-
sammen den Ostwind doch noch an Häufig-
keit. Aber auch diese Tage mit O.stwind
sind für die Kur durchaus nicht verloren.
Denn wenn auch, wie ich vorhin sagte, der
Ostwind freien Zugang nach Wyk hat, so
geben doch ein mit dem Strand parallel ver-
laufender, durch den Uferwall geschützter
Promenadenweg und eine Anpflanzung in der
Nähe des Ortes, der Lembkehain, der für
die Nordsee überraschend schöne und große
Bäume enthält, genügende Deckung, um auch
bei Ostwind von mehr als mittlerer Stärke
Spaziergänge machen und sich genügend lange
im Freien aufhalten zu können. Ein Ost-
sturm im Winter würde allerdings den
Fremden ans Zimmer fesseln.
Nun weist die folgende Zusammenstellung
der Sturmtage, die gleichzeitig die eminente
Seltenheit von Stürmen an unserer Küste er-
gibt, während der beiden Winter nur an
einem einzigen Tage einen Sturm aus
Osten auf.
Sturmtage in Wyk auf Föhr.
Winter 1902/3
Winter 1903/4
Oktober ....
o WSW
* WSW
1 SW
November . . .
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* WSW u
Dezember . . .
0
0 WNW
1 WSW
Januar ....
0 WSW
1 WSW
1 WSW
Februar ....
WSW
3 W 0
WSW
März
0 WSW
1 WSW
1 Ost
Dieser einzige Oststurm kam im März 04
zur Beobachtung, der überhaupt ausnahms-
weise reich an Ostwind war.
Für die Nordseeinseln ist der März kein
günstiger Monat. Während man auf dem
Festlande schon Ende März das Nahen des
Frühlings zu fühlen pflegt, kann man hier
frühestens im Mai von einem Frühling
sprechen. Ich habe daher geraten, die eigent-
lichen Winterkuren Anfang März zu beenden,
um die Patienten nicht zu einer Zeit auf
den Inseln zurückzuhalten, in der das Wetter
an der See weniger schön zu sein pflegt, als
auf dem Festlande.
Da wir also den März aus unserer Be-
trachtung ausschließen dürfen, kann ohne
Einschränkung behauptet werden, daß in den
beiden letzten Wintern, die als Paradigmata
des Winterklimas an und für sich gelten
können, weder in der Temperatur, noch in
den Windverhältnissen ein Hindernis für die
Überwinterung an der Nordsee zu therapeu-
tischen Zwecken gefunden werden kann.
Zur Erweiterung der Indikationen für
den Kefirgrebraueh.
Von
Dr. med. Arthur Hirsch, Wirkl. Staatsrat, Riga.
Im Dezemberheft der Zeitschrift Thera-
peutische Monatshefte d. J. 1903, S. 622 bis
626 erschien ein Artikel des Med. -Rats
Dr. Hecker, Kreisarzt in Weißenburg i. Eis.,
unter dem Titel „Über Bereitung von Kefir".
Der weiteren Verbreitung einer häuslichen
Zubereitung des Kefirs, für die der Verfasser
plädiert, kann ich nach meinen reichen Er-
fahrungen mit diesem Mittel nur aufs leb-
hafteste zustimmen, möchte aber diese zum
Kurgebrauch nur unter gewissen, weiter unten
zu erörternden Beschränkungen empfehlen.
Ebenso stimme ich mit dem Verfasser und
Prof. W. Podwyssotzky darin vollkommen
überein, daß die aus Kefirpulver oder den
Kefirpastillen von Heuberger in der Schweiz,
Salmon in Paris und Lehmann in Berlin
bereiteten Kefirpräparate minderwertig und
teurer sind als die aus den Kefirpilzen direkt
gewonnenen. Mit den Lehmannschen Kefir-
pastillen erhielt ich einen Kefir, der in
seinem Gehalt an den Produkten der Kefir-
gärung dem aus den Pilzen hergestellten be-
deutend nachstand. Herr Dr. Heck er will
die Indikationen für den Kefirgebrauch auf
die Phthise, Skrofulöse, Chlorose, Gicht,
Neurasthenie, Diabetes, Magen er Weiterung,
Magengeschwür, chronischen Magen- und
Darmkatarrh, Cholelithiasis , Nierenerkran-
kungen und die Rekonvaleszenz von er-
schöpfenden Krankheiten beschränken. Er
befindet sich in dieser Indikationsstellung in
vollkommener Übereinstimmung mit den bis-
her allgemein herrschenden Ansichten. Ferner
empfiehlt Dr. Heck er, weil der eintägige
Kefir bekanntlich durch seinen reichen Lak-
tosegehalt etwas abführend, der dreitägige
dagegen stopfend wirkt, für gewöhnlich den
mittelstarken, den zweitägigen Kefir zu ge-
nießen. Für die oben angegebenen Indika-
tionen halte auch ich diese Empfehlung für
ganz zweckmäßig. Jedoch glaube ich ge-
nügenden Grund zu haben, die bisher gelten-
den Indikationen für den Kefirgebrauch
erstens etwas zu erweitern und zweitens
speziell für einige von mir zu erörternde
72
Hirsch, Indikationen flir den Kefirgebrmuob.
rherapenttache
Monatshefte.
Indikationen den dreitägigen Kefir als zweck-
entsprechend zu empfehlen.
Meine Erfahrungen mit Kefir habe ich,
nachdem Dr. Dmitriew1) i. J. 1882 seine
Broschüre über Kefir veröffentlicht hatte,
vom Jahre 1883 an als jüngerer Arzt des
Kadettenkorps zu Polotzk im Witebskschen
Gouvernement (Rußland) und von 1888 bis
1902 als Oberarzt des Kadettenkorps zu
Orel gesammelt. Besonders in der Kinder-
praxis ist von mir der Kefir vielfach ange-
wandt worden. Sehr aufmunternde Resultate
habe ich namentlich in der Behandlung
des Keuchhustens sowie auch im Ini-
tialstadium des Scharlachs und wäh-
rend der Scharlachnephritis erzielt. Die
Brauchbarkeit des Kefirs bei der letztgenannten
Krankheitsform dürften bereits andere Kol-
legen gleichfalls konstatiert haben.
Ich erlaube mir, vor allem die Kranken-
geschichten dreier recht prägnanter Fälle
von Keuchhusten der Öffentlichkeit zu über-
geben :
I. Der erste Fall2), den ich im Herbst 1883
beobachtete und 1889 in der in Moskau erscheinenden
Medicinskoe Obosrenie veröffentlichte, bezog sich
auf ein 10 Monate altes Kind eines Lehrers am
Kadettenkorps, S. Das Kind war bald nach Ent-
lassung der Amme am Keuchhusten erkrankt. Nach
Ablauf des gegen 2 Wochen dauernden katarrha-
lischen Stadiums trat ein sehr intensives Konvulsiv-
stadium auf. Die Anfalle waren sehr heftig, ver-
ursachten oft starke Benommenheit und schlössen
meist mit Erbrechen ab, sodaß der Ernährungs-
zustand des Kindes bald ganz unbefriedigend war.
Es stellte sich allmählich Schlafsucht ein, unter-
brochen durch sehr häufige Hustenattacken; starker
Kräfteverfall. Während der Krankheit wurde das
Kind zunächst ausschließlich mit Kuhmilch ernährt.
Von einem Referat über die Details der medika-
mentösen Behandlung sehe ich ab und erwähne
bloß, daß die damals bestempfohlenen Spezialmittel
erfolglos in Anwendung gezogen wurden. Gegen
Ende der vierten Krankheitswoche wurde an einem
Morgen ex consilio folgender Status festgestellt:
Das Kind ist sehr unruhig, das Gesicht gedunsen,
die Skleren hyperämisch mit einzelnen Blutextra-
vasaten durchsetzt; die Lippen blau; auf den Streck-
seiten der Hände und Füße sind Ödeme zu kon-
statieren; unbedeutender Ascites; die Atmung recht
beschleunigt. Bei der Untersuchung des Thorax wird
in den unteren Teilen beider Lungen Hypostase
festgestellt; Herzdämpfung normal; der Puls sehr
beschleunigt und geschwächt, schwer zählbar; doch
beträgt die Anzahl der Pulsschläge annähernd 160
in der Minute. Der Harn dunkel gefärbt, wird
selten und nur in geringen Mengen abgesondert.
Eine Untersuchung des Harns ist unausführbar
wegen Entleerung desselben in die Betttücher. Die
Temperatur schwankte in den letzten Tagen des
Abends um 38° und war gestern abend 38,2°. Bei
dem geschilderten Status konnte die Prognose den
Eltern gegenüber nur als ziemlich ungünstig hin-
gestellt werden. Die Ordination bestand in der
*) „Kefir", Dr. Dmitriew, Jalta (Krim) 1882.
a) Dr. med. A.Hirsch, «ÜberdieAnwendungdes
Kefirs beim Keuchhusten u. Medicinskoe Obosrenie
1889, No. 15.
Beseitigung aller bisher angewandten Medikamente
und in der Verordnung von starkem, dreitägigem
Kefir, der dem Kinde 2 stündlich zu 2— 3 Eßlöffel voll
allmählich eingeflößt werden sollte, und in der
Empfehlung von Sauerstoffeinatmungen. Kefir konnte
dem Kinde sogleich verabfolgt werden, dank dem
Vorhandensein einer auf meine Initiative
hin 'ins Leben gerufenen Kefiranstalt;
Sauerstoff dagegen war erst in 2 Tagen zu be-
schaffen. Letzterem Umstände ist es nun zu danken,
daß ich eine reine Beobachtung über die Kefir-
wirkung gewann.
Am Abend desselben Tages fand ich die kleine
Patientin in ruhigem Schlaf. Die Mutter gab an,
daß das Kind die Kefirdosen mit Heißhunger ein-
genommen habe, doch habe sie nicht gewagt, mehr
als die verordneten 3 Eßlöffel voll 2 stündlich ein-
zugeben. In den Ernährungs- resp. Medikations-
pausen war das Kind mehrmals fest eingeschlafen.
Die Abendtemperatur war 37,8, der Puls langsamer
als des Morgens; an den Handrücken hatten sich
seichte Querfurchen gebildet, infolge Abnahme des
Ödems; gegen Abend war eine etwas reichlichere
Harnentleerung erfolgt. Von diesem Tage an hörte
das Kind auf zu fiebern; der Hydrops verschwand
rasch, ebenso die Hypostase; die Hustenanfalle
wurden seltener, und als am dritten Tage Sauer-
stoff zu Gebote stand, war er schon nicht mehr
nötig, weil das Stadium der Rekonvaleszenz be-
gonnen hatte. Der Kefirgebrauch wurde außer der
Milchnahrung noch circa 2 Wochen fortgesetzt und
darauf ging man allmählich auf eine mehr gemischte
Kost über,
Natürlich imponierte mir dieser Fall in
hohem Grade und veranlaßte mich, fortan
Kefir beständig schon vom Beginn der Krank-
heit an zu verordnen, sowie während des
ganzen Krankheitsv er! auf es fortzusetzen. In
allen Fällen, die rechtzeitig in Behandlung
kamen, war der Verlauf ein relativ leichter.
Ich habe in denselben weder starken Hydrops,
noch bedeutende Hypostase, noch auffallende
Cyanose, noch Lungenentzündungen oder
eklamptische Krämpfe während der Anfälle
beobachtet. Wenn ich demnach einerseits
auf Grund meiner Erfahrungen behaupte, daß
der Keuchhusten beim Gebrauch des drei-
tägigen Kefirs leichter überstanden wird, als
ohne denselben, so habe ich andrerseits nicht
konstatieren können, daß die Krankheit bei
dieser Kurmethode wesentlich schneller über-
standen wird, als bei der medikamentösen
Behandlung. Es fehlt eben am nötigen Beob-
achtungsmaterial, da das Publikum bekannt-
lich vom Arzt immer zugleich eine pharma-
zeutische Verordnung erwartet. In schweren
Fällen, deren Prognose besonders bei anti-
hygienischen Wohnungsverhältnissen oft sehr
ungünstig sein kann, dürfte der Kefir die
Krankheit verlängern, indem er gradezu den
letalen Ausgang abwendet und dem Krank-
heitsverlauf eine günstigere Richtung gibt.
Weiter unten will ich mir erlauben, aus-
einanderzusetzen, wie ich mir auf Grund des
bekannten Chemismus des Kefirs die Theorie
seiner Wirkung vorstelle.
XIX. Jahrgang."!
Februar 1906. J
Hirsch, Indikationen für den Keflrgebrauch.
73
n. Ein zweiter Fall, den ich hier im Anschluß
an den obigen mitteilen will, wurde von mir kurze
Zeit nachher auch in der Stadt Polotzk beobachtet.
Er betraf die 3 !/a jährige Tochter eines hebräischen
Elternpaares, welches in ärmlichen und antihygieni-
schen Verhältnissen lebte. Die Krankheit war zu
Beginn der 5. Woche in ein sehr kritisches Stadium
getreten. Die kleine Patientin hatte nachweisbare
Oedeme, war stark cy an o tisch, hatte Blutextra vasate
in der ganzen Ausdehnung der Gefaßhäute beider
Augen; bedeutende. Hypostase in beiden Lungen;
beschleunigte Atmung und eine recht herabgesetzte
Herztätigkeit mit sehr frequentem Pulse; blutige
Schleimabsonderung aus den Lungen während der
Anfälle, sowie häufiges Erbrechen mit Blutbei-
mengung; Harn dunkel, wird in geringen Quantitäten
entleert und zeigt beim Kochen eine opaleszierende
Trübung, die durch Essigsäurezusatz nicht schwindet;
Schlaf sehr unruhig, oft durch Hustenanfalle unter-
brochen. Ich besuchte das Kind, als der Zustand
ein so schwerer geworden war, täglich, konnte aber
mit Medikamenten nichts ausrichten. Der armen
Familie, die durch etwas wohlhabendere Verwandte
unterstützt wurde, war natürlich die Honorierung
des Arztes und die Bestreitung der Apotheker-
rechnung schwer. Nachdem ich nun bei dem Kinde
S. die günstige Kefirwirkung konstatiert hatte, er-
klärte ich der Mutter, sie solle dem Kinde täglich
eine Flasche (etwa !/4 — Va Liter) dreitägigen Kefirs
in zweistündlichen Dosen eingeben und alle übrigen
Medikamente fortlassen. Nach 2 Wochen wurde
ich wieder zur erwähnten Hebräerfamilie gebeten,
dieses Mal aber nicht mehr zu der früheren Patientin,
sondern zu einem kleineren Kinde. Auf meine
Frage, was denn die 3 7s jährige Tochter mache,
antwortete die Mutter, sie sei jetzt ganz gesund
and spiele im Hof; die Besserung sei sofort nach
Beginn der Kefirkur eingetreten. Als ich mir nun
das Kind ansah, fand ich, daß alle krankhaften
Erscheinungen völlig geschwunden waren.
III. Ein dritter Fall, den ich seiner Eigen-
artigkeit wegen noch kurz beschreiben will, wurde
▼on mir i. J. 1890 in der Familie eines Erziehers
(Dujouroffiziers) am Kadettenkorps zu Orel be-
handelt. Der 9 Monate alte Sohn des Herrn G.
wurde von »einer Mutter, einer vorzüglichen Amme,
selbst genährt, die schon 3 ältere Töchter in gleicher
Weise zu kräftigen Kindern herangezogen hatte.
Nach Ablauf des circa l1/*— 2 Wochen währenden
katarrhalischen Stadiums setzte das konvulsivische
Stadium mit starken Krankheitssymptomen ein.
Wie in den oben berichteten Fällen war auch hier
jedes Medikament erfolglos und konnten bei dem
kleinen Patienten überhaupt nur sehr geringe
Dosen in Frage kommen. Die Folge war nach
1 7j wöchentlicher Dauer starker Kräfte verfall, sehr
herabgesetzte Ernährung, große Unruhe, Schlaf-
losigkeit trotz starken Schlafbedürfnisses, beginnende
Hypostase, Ödeme etc. Daß in diesem Fall mit
dem Kefirgebrauch nicht frühzeitig begonnen wurde,
war die Schuld der Mutter, die zu diesem Mittel
keine Sympathie hatte. Schließlich entschloß sie
sich dennoch auf meinen dringenden Rat, es mit
dem Kefir zu versuchen. Ich empfahl ihr, dem
Kinde den dreitägigen Kefir 2 — 272 stündlich zu
drei Eßlöffel voll einzugeben, und zwar sollte das
Kind sich jedes Mal die Mutterbrust durch eine
vorausgeschickte Kefirdosis erst verdienen. Auch
hier war der Erfolg sehr erfreulich. Schon am
ersten Gebrauchstage hatte das Kind zwei Stunden
ruhig geschlafen, und von diesem Tage an trat eine
Wendnng des Krankheitsprozesses zur Besserung ein.
Der zuletzt beschriebene Fall ist charak-
teristisch, weil er einen Säugling betraf.
Th.3C.l905.
Man sollte meinen, daß gute Muttermilch in
allen Fällen jedem anderen Nahrungsmittel
vorzuziehen sei. Unstreitig ist das ja auch
in der Regel der Fall. Das Kind G. ging
jedoch bei der Ernährung durch die Mutter
während des Konvulsivstadiums stark ein.
Erst nach Verordnung des Kefirs hob sich
der Ernährungszustand beständig. Hieraus
gewinnen wir zugleich eine Andeutung darauf,
daß starker Kefir nicht nur nutritive, sondern
auch kurative Eigenschaften besitzt, worauf
ich weiter unten näher eingehen will.
Bezüglich des Kefirgebrauchs bei kleinen
Kindern und besonders bei Säuglingen halte
ich noch die zwei folgenden Bedingungen für
wichtig: Kefir muß bekanntlich immer an
einem kühlen Ort aufbewahrt werden. Um nun
nicht durch den Kältereiz Hustenbewegungen
auszulösen, die beim Keuchhusten oft mit
Erbrechen enden, oder gar Erkältungen
hervorzurufen, ist es nötig, die jedes-
malige Dosis vor dem Gebrauch etwas zu
erwärmen. Zu diesem Zweck wird der Kefir
in eine Obertasse gegossen, die letztere in
heißes Wasser gestellt und ihr Inhalt bis
zur Erwärmung um einige Grade bestandig
mit einem Theelöffel (Kaffeelöffel) umgerührt.
Um ferner die Aversion einiger Kinder gegen
das säuerliche Getränk zu vermindern, habe
ich es als nützlich befunden, wie auch in
Fall III zu jeder Kefirdosis etwas Puder-
zucker beizufügen. Auf diese Weise ver-
süßt, wird der Kefir von den Kindern meist
gern genommen.
Im Eruptionsstadium des Scharlachs leiden
die Patienten bei hohem Fieber oft an starkem
Durst. Dabei trinken sie viel Wasser, wäh-
rend Milch und andere Nahrungsmittel re-
füsiert werden. Es hat sich nun bei vielen
meiner Patienten herausgestellt, daß ihnen
Kefir als säuerliches Getränk sehr behagte.
In vielen Fällen baten sie überaus häufig
um die Darreichung desselben und genossen
es mit einer gewissen Gier. Wenn dieses
Getränk den Scharlachkranken im Verlauf
einiger Tage in reichlichen Dosen zugemessen
wurde, so habe ich oft beobachten können,
daß die Kinder nicht nur eine subjektive Er-
leichterung empfanden, sondern auch dieses
Krank heitsstadium leichter überwanden. Das
dürfte sich wohl fraglos durch den Kraft-
zuwachs infolge der reichlicheren Ernährung
erklären. In diesen Fällen habe ich ge-
wöhnlich den zweitägigen Kefir verordnet.
Natürlich darf dem Kefir nicht das Epitheton
eines Specificums bei Scharlach beigelegt
werden. Es ist nur ein gutes Hilfsmittel,
welches selbstredend in schweren, mit starken
Streptokokkenanginen und allgemeiner Strepto-
kokkie komplizierten Fällen versagt. Bei-
74
Hirsch, Indikationen fQr d«n Keflrgebrauch.
[TherapentUch«
M»iiRt«h*fta.
läufig will ich hier bemerken, daß ich die
letztgenannten Erkrankungsfälle mit sehr er-
freulichem Erfolge i. J. 1902 mit Marino-
rekschem Anti Streptokokkenserum behandelt
habe3).
Der Gebrauch des Kefirs bei Nephritis
ist, wie auch Dr. Heck er angibt, schon all-
gemein anerkannt. Seitdem ich mich von
der vorzüglichen diuretischen Wirkung des
Kefirs überzeugt hatte, wurden von mir viele
Fälle von Scharlachnephritis einer systemati-
schen Kefirbehandlung unterzogen. Die Re-
sultate dieser Kurmethode sind entschieden
günstiger als die bei reiner Milchkur er-
zielten. Nur in Ausnahmefällen äußerte sich
bei meinen Patienten eine unüberwindliche
Abneigung gegen Kefir. In den beobachteten
Fällen nahm die Quantität des abgesonderten
Urins von Tag zu Tag zu. Zugleich ver-
minderte sich zusehends der Eiweißgehalt,
sodaß im Durchschnitt in 2 — 27a Wochen
der Harn eiweißfrei wurde. Schädliche Folgen
des Kefirgebrauches bei Scharlachnephritis,
die vielleicht infolge des geringfügigen Alko-
holgehaltes desselben befürchtet werden
könnten, habe ich nie beobachtet. In diesen
Fällen kam stets der dreitägige Kefir wegen
seiner relativ stärkeren diuretischen Wirkung
zur Verwendung.
Endlich will ich hier noch einen Fall
von Abdominaltyphus erwähnen, in dem ich
den Ernährungszustand durch regelmäßige
Kefirdosen während des dreiwöchentlichen
Verlaufs der Krankheit eines 2 '/« jährigen
Kindes aufrecht erhielt. Wie es in vielen
Fällen beobachtet wird, so vertrug auch
meine kleine Patientin während des Typhus
nicht die dargereichte Milch. Wurde die-
selbe ihr mit einiger Gewaltanwendung ver-
abfolgt, so erbrach das Kind die Milch fast
ausnahmslos. Auch weichgekochte Eier waren
dem Kinde sehr zuwider. Von einer Er-
nährung mit Fleisch oder sonstigen kompak-
teren Nahrungsmitteln sah ich trotz der auto-
ritativen Empfehlung von Botkin ab, da,
wie ich meine, die Typhusgeschwüre leicht
durch eine derartige Ernährungsmethode in
einen Reizzustand versetzt und zu Blutungen
oder zum Durchbruch geführt werden können.
Infolgedessen veranlaßte ich die Mutter des
Kindes, dasselbe mit dreistündlich verab-
folgten Kefirdosen zu ernähren. Freilich stieß
anfangs diese Diät beim Kinde auch auf
einigen Widerstand, trotz vorheriger Ver-
süßung des Nahrungsmittels; jedoch gelang
es der energischen und um ihr Kind be-
3) A. Hirsch, Zur Behandlung der Strepto-
kokkiemit Antistreptokokkenserum. St. Petersburger
mediz. Wochenschr. 1903, No. 43 u. 44.
sorgten Mutter trotzdem, allerdings nur unter
Assistenz von zwei Gehilfinnen, die Fütterung
in der angegebenen Weise zu bewerkstelligen.
Dafür hatten wir aber auch nach Ablauf des
ohne Komplikation verlaufenden Krankheits-
prozesses die Freude, unseren Pflegling gesund
und von der Krankheit wenig geschädigt vor
uns zu sehen. In diesem Fall habe ich.
zweitägigen Kefir verordnet.
Es dürften also die Indikationen für den
Kefirgebrauch nach meinen oben mitgeteilten
Erfahrungen in der Weise erweitert wer-
den, daß:
1. der 3tägige Kefir ein wichtiges
Nahrungs- und Heilmittel bei
Keuchhusten ist;
2. daß Kefir im Initialstadium des
Scharlachs zur Verminderung der
Durstempfindung und Aufrecht-
erhaltung der Ernährung zu emp-
fehlen ist;
3. daß die Scharlachnephritis durch
starken Kefir sehr günstig be-
einflußt wird und
4. daß der Kefir im Verlauf der
akuten Infektionskrankheiten
überhaupt als leichtverdauliches
und -assimilierbares Nahrungs-
mittel Beachtung verdient.
Aus den berichteten Fällen von Keuch-
husten ist nun ersichtlich, daß die Bereitung
des Kefirs unter den geschilderten Umständen,
durchaus nicht ausschließlich zu Hause statt-
finden kann. Der Kefir muß sogleich zur
Hand sein, um nicht mit seiner segensreichen
Wirkung zu spät zu kommen. Aus diesem
Grunde hauptsächlich habe ich in den beiden
Städten, in denen ich früher meine ärztliche
Tätigkeit ausübte, die Anregung zur Grün-
dung von Kefiranstalten gegeben. Auch war
der Preis des Kefirs nicht übertrieben hoch,
12 Kopeken für eine Flasche von der Große
einer halben Mineral Wasserflasche und 10 Ko-
peken im Abonnement. In Riga wird im
Abonnement auch 8 — 12 Kopeken pro Flasche
gezahlt. Außer dem erwähnten Grunde sprechen
aber noch andere schwerwiegende Gründe oft
für die Herstellung des Kefirs in Anstalten.
Einerseits ergibt nach meinen Erfahrungen
die Kefirbereitung aus fertigem Kefir ohne
die Pilze nur ein minderwertiges Präparat.
Die ersten Portionen sind ja meist recht gut,
jedoch nimmt im Verlauf von ein paar
Wochen der Gärungsprozeß in dem so be-
reiteten Kefir in hohem Grade ab, sodaß eine
bedeutende Verminderung der Kohlen- und
Milchsäureentwicklung stattfindet. Gleich-
zeitig fehlt die Garantie dafür, daß sich
nicht mit der Zeit auch Fäulnisprozesse ent-
XIX. Jahrgang.!
Februar 1905. J
Hirsch, Indikationen für den Kefirgebraueh.
75
wickeln, sodaß der auf diese Weise her-
gestellte Kefir dann sogar schädliche Neben-
wirkungen ausüben konnte. Andrerseits ver-
stehen bei weitem nicht alle Personen, die
die Kefirbereitung übernehmen, genügend sorg-
faltig und reinlich mit den Pilzen umzugehen.
Diesen Umstand betont gewiß mit vollem
Recht Dr. Dmitriew, der Initiator des Kefir-
konsums in Rußland zu Kurzwecken. Er
hebt hervor, wie leicht sich bei unrichtiger
Behandlung der Kefirpilze eine Krankheit
derselben einstellt. Mit Herrn Dr. Heck er
stimme ich vollkommen in der Meinung über-
ein, daß die von Prof. "W. Podwyssotzky4)
.in seinem auch ins Franzosische übersetzten
Buch beschriebene Bereitung des Kefirs weit-
läufig ist. Dagegen ist eine ganz einwands-
freie Beschreibung der Herstellung des Kefirs
in der Broschüre von Dr. Dmitriew5) ent-
halten, auf die ich mir erlaube hier hinzu-
weisen. Dieselbe kann auch in deutscher
Übersetzung von Rick er in Petersburg be-
zogen werden.
Zum Schluß seien mir noch einige Bemer-
kungen über den Modus der biologischen Wir-
kung des Kefirs gestattet. Zum besseren Ver-
ständnis derselben verweise ich auf die oben be-
schriebenen Keuchhusten falle. Alle drei Kinder
wurden vor Einleitung der Kefirkur mit Milch
ernährt, das kleine Kind 6. sogar mit Mutter-
milch. Daß Milch an sich schon eine diu-
retische Wirkung hat, ist eine bekannte Tat-
sache und experimentell u. a. von Kar eil
und Imme r m an n bewiesen . Trotzdem bildete
sich der Ascites, traten Ödeme auf und
nahmen zu. Die von mir gemachte Beob-
achtung, daß die Kinder nach einigen Kefir-
dosen ruhiger wurden, einschliefen, besser
urinierten, daß der Hydrops und die Cyanose
abnahmen und schwanden, läßt sich wohl
nicht anders deuten als dur*ch die Annahme,
daß die diuretische Wirkung des Kefirs, be-
sonders des dreitägigen, die der Milch be-
deutend übertrifft. Mit mir stimmen auch
Dmitriew und Koslowsky in der Ansicht
überein, daß sie dem Kefir eine bedeutende
diuretische Wirkung zuschreiben. Dieselbe
tritt wie in mit Hydrops komplizierten Keuch-
hustenfällen auch bei der Scharlachnephritis,
wie oben erwähnt, deutlich zu Tage. Diese
diuretische Wirkung des Kefirs steht fraglos
in naher Beziehung zur leichteren Diffusi-
bilität und Assimilierbarkeit des Kefirs im
Vergleich zur Milch. Der Hauptunterschied
der chemischen Zusammensetzung der frischen
Milch und des Kefirs besteht nach den Unter-
*) W. Podwyssotzky, „Le Kefir, fermeot et
boisson thorapeutiq ue , prepare avec du lait de
vacbeu. Paris 1902.
s) Dr. Dmitriew, „Kefir". Jalta (Krim) 1882.
Buchungen des Chemikers Dr. Biel6) darin,
daß das Kasein der Kuhmilch, welches eine
chemische Verbindung des Albumins mit
Kalksalzen bildet, bei der Kefirgärung zer-
fällt und daß sodann das kalkfreie Kasein
im Kefir schon nicht mehr durch Säuren ge-
rinnt und leicht peptonisiert. Der Kefir ent-
hält demnach die Eiweißstoffe in leicht ver-
daulicher oder halb- resp. ganz verdauter
Form als kalkfreies Kasein, Hemialbumose
oder Peptone. Sodann geht bei der Kefir-
gärung ein großer Teil des Milchzuckers in
gasformige Kohlensäure und Milchsäure über
unter gleichzeitiger Bildung eines geringen
Quantums Alkohol. Diese Gärungsprodukte
finden sich im dreitägigen Kefir selbstredend
in größeren Mengen vor als in dem ein- und
zweitägigen. Es ist nun verständlich, daß
beim Vorhandensein venöser Stauungen sowie
bei der stark herabgesetzten Funktion der
nutritiven und Gefäßnerven, wie in den
zitierten Fällen angenommen werden kann,
der Magensaft und die Darmfermente nicht
in der nötigen Quantität und Qualität ab-
gesondert werden. Die mit dem Kefir in
den Magen eingeführte Milchsäure bietet
einen guten Ersatz für die fehlende Salz-
saure zur sofortigen Verdauung der noch
nicht peptonisierten Albuminate. Das Ge-
tränk kann daher unter der Mitwirkung der
freien Kohlensäure und des geringen Alkohol-
gehaltes rasch resorbiert und dadurch alle
Gewebe des bisher hungernden Organismus
vermöge des neuen Nahrungsmaterials zu er-
neuter Funktion gebracht werden. U. a. tritt
neuer Nahrungssaft in den Herzmuskel und
die in demselben enthaltenen Ganglienzellen,
in das Vagus- und Respirationszentrum im
verlängerten Mark ein. Die Folge davon ist
eine Verstärkung der Atmung und Herz-
tätigkeit, Regulierung der Blutzirkulation
sowie infolge des verstärkten Filtrations-
druckes in den Nieren eine Abnahme der
hydropischen Erscheinungen. — Neben der
durch die erwähnten Vorgänge erzielten diu-
retischen Wirkung scheint mir eine bak-
terizide Wirkung des Kefirs jm Organismus
auch sehr wahrscheinlich. Wenn durch die
„Entwicklung der symbiotischen Kefirorganis-
men bei der Kefirbereitung nach Prof. Forster
(Straßburg) schon in der Milch die anderen
in ihr vorhandenen Mikroorganismen gestört
und zu Grunde gerichtet werden", so darf
man wohl annehmen, daß im Organismus
gleichfalls durch den Kefir die Keuchhusten-
bakterien in ihrer Lebensfähigkeit gehemmt
oder gradezu vernichtet werden. Ein wich-
6) Biel, St. Petersburg, med. Wochenschr. 1885;
Pharmazeut. Zeitung 1886.
7*
76
Friek, Liquor tangulnalit Krewel.
("Therapeutische
L Monatshefte.
i
tiger Faktor der Kefirwirkung ist endlich,
wie ich meine, der narkotische. In allen
schweren Fällen von Keuchhusten habe ich
nach Verordnung yon dreitägigem Kefir Be-
ruhigung der Kinder und den Eintritt des
langentbehrten Schlafes beobachten können.
Diese Erscheinung dürfte wohl fraglos der
Beseitigung der passiven Hyperämie im
Zentralnervensystem zuzuschreiben sein, die
nach der Regulierung der Blutzirkulation
durch Kefir eintritt.
Das Wort Kefir hat beiläufig den Akzent
auf der zweiten Silbe und ist daher die Be-
tonung der ersten Silbe, wie ich es gelegent-
lich in Deutschland aussprechen gehört habe,
unrichtig.
Es würde mir zur großen Genugtuung
gereichen, wenn infolge obiger, der ärztlichen
Praxis entnommener Krankenberichte in
Deutschland eine gründliche Nachprüfung
meiner Erfahrungen bezüglich der Kefir-
anwendung bei Keuchhusten sowie auch
bei den anderen erwähnten Krankheits-
zuständen angestellt werden sollte. Meine
vor nunmehr 15 Jahren, freilich nur in russi-
scher Sprache, ergriffene Initiative dazu hat
leider bisher noch keine genügende Berück-
sichtigung gefunden.
(Am dem Anroatahotpltale zu Cöln, Abteilung
Prof. Dr. Hochhaut.)
Erfahrungren über den „Liquor sangtii-
nalls Krewel".
Von
Dr. Friek, Sekundärarzt.
Die Zahl der Eisenpräparate, welche, als
dem Bedürfnis des Praktikers besonders ent-
sprechend, in letzter Zeit empfohlen werden,
ist eine außerordentlich große, ein sicheres
Zeichen, daß die bisher vorhandenen noch
manche Mängel aufweisen. In der Tat scheint
es auch nicht so leicht, ein Mittel zu finden,
das für jedes Alter, für jede Konstitution,
für jeden Zustand der Verdauungsorgane
in gleicher Weise geeignet ist, und macht
diese Verschiedenheit der Anforderungen es
auch wahrscheinlich, daß ein Präparat allein
nicht allen Anforderungen genügen kann,
sondern daß nur eine gewisse Auswahl so-
wohl in den Mitteln selbst, wie auch in der
angewandten Form die Bedürfnisse des Prak-
tikers, der sich die individualisierende Be-
handlung zur Aufgabe macht, befriedigen
kann.
Unter den in letzter Zeit am meisten
angewandten Präparaten ist sicher das San-
guinal Krewel zu nennen. Die Anwendungs-
weise geschah meistens in Pillenform und
genügte in der größten Zahl der Fälle dem
praktischen Bedürfnis. Für manche jedoch
ist diese Art der Ordination recht schwierig
und besonders in der Kinderpraxis kaum
möglich. Deshalb hat die Firma das Prä-
parat jetzt auch in flüssiger Form hergestellt
und zwar in folgender Zusammensetzung:
95 Proz. flüssiges Hämoglobin, 2,5 Proz.
natürliche Blutsalze, 2,5 Proz. peptonisiertes
Muskelalbumin und eine Spur Mangan. Die
Flüssigkeit sieht dunkelbraun aus und
schmeckt angenehm süßlich. Die Haltbarkeit
ist eine sehr gute.
"Wir haben eine größere Anzahl von
Kranken mit diesem flüssigen Sanguinal be-.
handelt und besonders bei Kranken mit
empfindlichen Verdauungsorganen sowie bei
Kindern Resultate erzielt, die die Anwendung
des Mittels in jeder Beziehung rechtfertigen.
Im folgenden führe ich einige Beispiele aus
der ziemlich großen Zahl an:
1. Ursula S., 19 Jahre alt.
Pat. leidet seit einiger Zeit an anämischen Be-
schwerden: Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit,
Rückenschmerzen, Müdigkeit, schlechter Appetit,
unregelmäßige Periode.
Status 5. I. 04. Blasses Mädchen in mittlerem
Ernährungszustand. Schleimhäute blaß. Gor. an
der Spitze I. Ton unrein. An den übrigen Or-
ganen keine Veränderungen. Temperatur normal.
Gewicht 115 Pfd. Hämoglobin 68 Proz. (nach Sahli).
Therapie: Bettruhe, Sanguinal 3x tgl. 1 Eßlöffel.
22. T. Allgemeinbefinden besser. Appetit gut.
Gewicht 122 Pfd. Hämoglobin 72 Proz.
14. II. Das Madchen fühlt sich völlig wohl.
Gewicht 130 Pfd. Hämoglobin 98 Proz. Patientin
wird geheilt entlassen.
2« Sophie B , 19 Jahre alt.
Seit einigen Wochen bestehen bei der Patientin
Magenbeschwerden, ferner Erbrechen nach dem
Essen, Herzklopfen, schlechter Appetit, angehaltener
Stuhl.
Status 17. I. 04. Sehr blasses Mädchen in
mittlerem Ernährungszustand. Am Herzen anä-
mische Geräusche. Die übrigen Organe verhalten
sich normal, im Uiin kein Eiweiß, kein Zucker.
Gewicht 110 Pfd. Hämoglobin 37 Proz. (nach Sahli).
Das Blut zeigt mikroskopisch leichte Poikylozytose.
Ordination: Sanguinal 3 x tgl. 1 Eßlöffel, Bettruhe.
29. I. Der Appetit hat sich erheblich ge-
bessert, das Allgemeinbefinden ebenfalls. Gewicht
113 Pfd. Hämoglobin 42 Proz.
18. II. Pat. hat keinerlei Klagen mehr, sie bat
guten Appetit und fühlt sich sehr wohl. Gewicht
124 Pfd. Hämoglobin 69 Proz.
3. Wilhelmine P.
Pat. leidet seit 2 Jahren an Brustschmerzen
und anämischen Beschwerden.
Status 23. 1. 04. Mäßig kräftige Patientin, Haut-
farbe und Schleimhäute blaß. Cor. o. B. Nonnen-
sausen. Ebenso verhalten sich die übrigen Organe
normal. Gewicht 111 Pfd. Hämoglobin 55 rroz.
Ordination: Bettruhe, Sanguinal.
3. II. Allgemeinbefinden sowie Appetit gut.
Gewicht 116 Pfd. Hämaglobin 65 Proz.
4. Katharina R., 19 Jahre alt
Seit etwa 1 Jahr hat Patientin Herzklopfen
beim Treppensteigen, Magenschmerzen, Übelkeit,,
schlechten Appetit.
XIX. Jahrgang.")
Febraar lüftS. J
Frölaa, Erfahrungen der Landpraxlt mit Veronal.
77
Status 29. 1. Blasses Mädchen in mittlerem
Ernährungszustand. Am Herzen aoäroische Ge-
räusche. Lungen und Abdominalorgane o. B. Gre-
wicht 112 Pfd. Hämoglobin 28 Proz. Therapie:
Bettruhe, Sangninal 3 X tgl. 1 Eßlöffel.
10. II. Patientin fühlt sich noch immer sehr
matt. Appetit gut, Hämoglobin 45 Proz.
11. III. Das Befinden ist gut. Gewicht 115 Pfd.
Hämoglobin 57 Proz.
5. Wilhelmine R., 16 Jahre alt.
Patientin leidet _seit einigen Wochen an Herz-
klopfen, bisweilen Übelkeit, schlechtem Appetit,
Schmerzen in der linken Seite.
Status 29. J. Blasses Mädchen in mittlerem
Ernährungszustand. Schleimhäute blaß. Am Herzen
anämische Geräusche, im übrigen die Organe normal.
Gewicht 92 Pfd. Hämaglobin 45 Proz. Therapie:
Bettruhe, Sanguinal 3 X tgl. 1 Eßlöffel.
27. n. Der Zustand hat sich erheblich ge-
bessert, der Appetit ist ziemlich gut. Gewicht
103 Pfd. Hämoglobin 68 Proz.
Dieser Auszug aus einigen Kranken-
geschichten läßt erkennen, daß es vermittelst
des flüssigen Sanguinal gelang, in verhältnis-
mäßig kurzer Zeit das Allgemeinbefinden der
Kranken erheblich zu heben. Das Aussehen
und der Appetit wurden besser, der Kräfte-
zustand wurde größer, der Ernährungszustand
besserte sich sichtlich. Dabei wurde niemals
über Magenschmerzen, unangenehmes Voll-
sein, Aufstoßen und ähnliche Beschwerden
geklagt. Das Mittel wurde auch von Kindern
gerne genommen. Eine nachteilige Wirkung
wurde niemals beobachtet.
Wenn wir nun auch glauben, daß zu
unseren guten Erfolgen noch andere Faktoren
wie die Ruhe, die gute Ernährung erheblich
beigetragen haben, so war doch anderseits
die günstige Beeinflussung bei Anämie und
Chlorose in relativ kurzer Zeit durch das
flüssige Sanguinal unverkennbar.
Erfahrungen der LTandpraxis
mit Yeronal.
Von
Dr. Fritz Pröltt in Scheessel.
Nachdem in den unten zitierten zahl-
reichen Veröffentlichungen die Erfahrung der
Kliniker und Psychiater über das Schlaf-
mittel Veronal bekannt geworden, dürften
auch einige Erfahrungen des praktischen
Arztes mit diesem Mittel von Interesse sein.
Es sei der Anfang mit drei Fällen psy-
chischer Art gemacht, wenngleich solche ja
im allgemeinen mehr in Anstalten behandelt
werden, weil gerade der erzielte Erfolg dem
Praktiker in ähnlichen Fällen einen Versuch
nahe legt.
Ein Bauernsohn von 31 Jahren bot folgendes
Bild: Der sonst gesunde Mensch hat etwas schmale
Brust, ist nicht Soldat gewesen. Sonst sind körper-
liche Degenerationszeichen nicht vorhanden, keine
Sehstörungen, keine Störungen der Reflexe, keine
Sprachfehler, der Patient hat nicht geheiratet, trotz-
dem ihm ein gutes Anbauerwesen zufällt. Mit
seinem Vater in der Heide beschäftigt, geraten
beide in die Nähe eines faulenden Aases, das der
Vater mit den Holzschuhen berührt. Seitdem setzt
sich bei dem Sohn die Idee fest, die Holzschuhe
des Vaters seien unrein und durch dessen An-
näherung ans Haus werde der Brunnen verunreinigt.
Dasselbe glaubt er von dem Wagen, der in der
Nähe des Aases gefahren ist, und später glaubt er
von jeder sich dem Hause nahenden Person, sie
könne den Brunnen verunreinigen. Wiewohl man
den Brunnen mittes Zementbaues vollständig ab-
schließt, bleibt dieser Glaube und bewirkt, daß der
Patient sich von jedem Besuche, der dem Hause
naht, zurückzieht und daß es oft zu den erregtesten
Szenen und dem launischsten Benehmen gegenüber
den Eltern kommt. Nachts flieht ihn der Schlaf,
er macht Selbstmordversuche, aber ist dabei voll-
ständig arbeitsam, sparsam und orientiert.
Die Eltern wenden sich zunächst an einen be-
kannten Psychiater der Umgegend, der dem Sohne
Opium in großen Dosen gibt. Da diese ohne Erfolg
sind, gehen sie zu ihrem Hausarzt. Nach einigen
vergeblichen Annäherungsversuchen gelingt es dem-
selben, das Vertrauen des Patienten Zugewinnen; der
Kranke erzählt demselben seinen oben geschilderten
Ideenkreis und nimmt anscheinend die Belehrungen
des Arztes über Irrigkeit entgegen. Der Arzt ver-
ordnet ihm Veronal in großen Dosen, mit diesem
stellt sich Schlaf und Abklingen des ganzen Zu-
standes ein. Die Wahnidee und die Erregungs-
szenen sind seit 6 Monaten nicht wieder eingetreten.
Der zweite Fall betrifft ein junges Mädchen,
bei dem während der Menstruation starke Auf-
regungszustände auftreten. In steter Bewegung,
fortwährend sprechend, lachend, weinend und den
Arzt zitierend, verbringt sie Tag und Nacht. Opium
und seine Derivate, ebenso Brom und Chloralhydrat
bleiben ohne Wirkung.
Die Verordnung von 1,0 Veronal zu 2 bis
3 Malen am Tag bringt jedoch sofort Ruhe, Schlaf
und Rückkehr zur Norm.
Beide Male wirkte also das Veronal in
Fällen, wo nach bisherigen Veröffentlichun-
gen prompte Erfolge nicht zu erwarten waren.
Der dritte Fall betrifft eine hereditär schwer
psychisch belastete Dame mit periodischer Manie.
Wegen derselben hat sie schon zweimal mit gutem
Erfolg eine Anstalt aufgesucht. Das Herannahen
des Zustandes fühlt sie meist, in krankhaftem Be-
wegungstrieb durcheilt sie dann das Haus und den
Garten, fangt allerhand Arbeiten an und klagt
direckt dem Arzt ihre Befürchtungen. In diesem
Falle wurde abends Veronal, anfangs 0,5, dann
0,3 verabreicht und hatte die Wirkung, daß nachts
ein fester Schlaf eintrat, daß morgens Müdigkeit
den Beschäftigungstrieb ersetzte und nachmittags
statt Sorgen ein Zustand bedächtiger Gleichgültigkeit
eintrat. Damit klang dann dieses Mal die manische
Periode aus.
Wichtiger für den praktischen Arzt ist
die Verwendbarkeit des Veronals bei chirur-
gischen und inneren Fällen. Bei chirurgischen
Fällen muß es als Regel angesehen werden,
daß bei Schmerzzuständen, wie sie z. B. nach
Operationen, schweren Verletzungen, Brüchen
vorkommen, Veronal nichts nutzt entgegen-
gesetzt zu Aronheims Beobachtung. Um
in diesen häufigen Fällen Nachruhe zu erzielen.
78
PröUs, Erfahrungen dar Landpraxlt mit Veronal.
rTharapeatiMhc
L Monatshefte.
kann es die souveränen Morphiumin sjektionen
in keiner Weise ersetzen. Diese nehmen ja
nicht nur den Schmerz, sie schaffen vor allem
dem Kranken und den verletzten Gliedmaßen
die nötige Ruhelage, wie ein psychischer
Gypsverband immobilisierend wirkend, halte
ich sie geradezu für heilend. Bekanntlich
hat aber das Morphium seine sehr schechten
Nebeneigenschaften: Das Eintreten von Er-
brechen, die Stuhlträgheit, das Herabsetzen
des Appetits, die chronische Gifteinwirkung
beschränken seinen Gebrauch. Da ist es
denn von großem Vorteil in den zahlreichen
Fällen langsamer Heilungen, wo nicht der
Schmerz, sondern die Ruhelage am Tage,
die Sorge um Heilung und Zukunft den Schlaf
des Kranken stört und so ihm die Kräfte
zur Heilung nimmt, ein sicheres Schlafmittel
ohne Nebenwirkungen zu haben. Als ein
solches habe ich dann das Veronal immer
kennen gelernt, und zwar schon in Gaben
von 0,25 bis 0,5 g. Es waren dabei sowohl
leicht fiebernde als auch fieberfreie Personen,
bei allen aber konnte ich bemerken, daß nach
ein bis zwei Stunden nach Eingeben des
Mittels ein tiefer, lang bis in die Morgen-
stunden anhaltender Schlaf eintrat und den
erkrankten Körperteilen die nötige und heil-
same Immobilisierung gewährte. Der Puls
wurde in keiner Weise beeinflußt, ebenso
war in den febrilen Fällen nicht ein Einfluß
auf die Temperatur zu finden. Bei einem
lang andauernden Fall ohne Fieber jedoch
schien es mir, als ob die um etwa 0,2 herab-
gesetzte Morgentemperatur von 36,3 nach
Einnehmen von Veronal von diesem veranlaßt
sei, und zwar durch Verlangsamung des
Stoffwechsels.
Eine Dame besseren Standes war von einem
periproktitischen Fistelleiden befallen, welches nach
7 jähriger Pause wiederkam; dieselbe machte sich
über den erneuten monatelangen Verlauf desselben
viele Sorgen, war auch gezwungen, immer auf
einer Seite zu liegen, da sonst auf der gedrückten
Erkrankungsstelle Schmerzen auftraten. Infolge-
dessen verbrachte sie die Nächte schlaflos und
kam herunter, obwohl sie kein Fieber hatte, j
Morphiumeinspritzangen führten den ersehnten l
Schlaf herbei, aber der Appetit schwand und Stuhl-
verzögerungen traten ein. Hier schaffte das Veronal,
anfangs zu 0,8, später zu 0,5 und 0,3 gegeben,
sofort Hilfe. Es trat ein regelmäßiger, erquickungs-
reicher Schlaf auf, der Appetit und die Ernährung
hoben sich, und neben der körperlichen trat auch
psychische Besserung des Kräftezustandes ein.
Gleichfalls wertvoll erwies sich das Mittel
bei innern Krankheiten. Von den Schlaf-
losigkeiten, die durch Schmerzen, z. B. bei
Pneumonie, Gallenleiden, Koliken, verursacht
wurden, gilt freilich dasselbe, was oben ge-
sagt ist. War jedoch nicht gerade der
Schmerz der Störer des Schlafes, sondern,
z. B. bei Herzfehlern oder Asthma, die
Atmungsstörung oder, wie oben schon er-
wähnt, der Bewegungsmangel oder die Sorge,
oder war wie z. B. bei Neurasthenie Über-
anstrengung der Grund, so hat immer Veronal
gute Dienste geleistet. Es ist hierbei einmal
der Umstand, daß die Herztätigkeit nicht
beeinflußt wird, und dann der Umstand, daß
eine Gewöhnung nicht eintritt und zur Steige-
rung der Gaben zwingt, so ungemein wichtig
und empfehlend für das Mittel. So kann
man es eben wagen, auch bei schweren Herz-
fehlern es anzuwenden, und kann es geben, um
den Gebrauch des Morphiums abzugewöhnen.
Ungünstige Nebeneinwirkungen habe ich trotz
häufiger Verordnung bisher nicht beobachtet,
weder auf den Appetit noch auf die Haut
(entgegengesetzt der Beobachtung Wächters).
Charakteristisch für die gute Wirkung
des Mittels ist, daß kaum 1 Jahr nach seiner
Einführung durch v. Mering und Fischer
schon Fälle von chronischem Mißbrauch
(Laudenheimer) veröffentlicht werden.
Wenn das Mittel wirklich Schlaf und Sorg-
losigkeit erzeugt, also euphorisch wirkt, so
ist dieser Mißbrauch nur natürlich. Der ver-
öffentlichte Fall betrifft übrigens einen sehr
willenlosen Morphinisten. Es würde dem-
nach nötig sein, auf dem Wege der Auf-
nahme unter Tab. B. der Pharmacopöe die
freie Abgabe des Veronals in den Apotheken
und Drogenhandlungen zu unterdrücken.
Ich erwähnte schon, daß sich bei meinen
Fällen entgegengesetzt den Beobachtungen
von Jolly und Oppenheim, (veröffentlicht
durch Mendel) eine Notwendigkeit zur Er-
höhung der Dosen nicht geltend machte, ebenso
setzten sich der Abgewöhnung Schwierigkeiten
nicht in den Weg. Man kann sich deshalb
fragen, ob es nicht geeignet sei, zur Ent-
ziehung des Morphiums bez. Opiums bei Miß-
brauchenden Veronal zu verwenden. Meine
einzige Beobachtung kommt dabei mit der
Veröffentlichung M endeis und Kr on s überein,
daß es in diesen Fällen nicht den Schlaf
brachte, damit ist jedoch nicht ausgeschlossen,
daß es in andern Fällen besser hilft. Sehr
wichtig ist die relative Billigkeit des Mittels
für den Arzt, der es verordnen möchte; wie
Lilienfeld zusammenstellt, kostet nur das
Chloralhydrat (2,00 = 10,00) in beruhigender
Dosis weniger als das Veronal (0,5 = 17,5 Pf.)
Alle anderen Schlafmittel sind erheblich
teurer. Die Darreichung des Mittels in
Substanz, als Pulver in heißem Thee, macht
nicht die geringsten Schwierigkeiten, prak-
tisch erscheinen auch die Merckschen Veronal-
tabletten zu 0,5, welche leichte Halbteilung
und somit auch genaue Dosierung zu 0,25
und 0,75 ermöglichen.
Für den praktischen Arzt erscheint also
XIX. Jahrgang.*)
Febrnar I9Q&. J
Klau, Operative Eröffnung der Mittelobrrftume.
79
das Veronal als eine sehr wertvolle Bereiche-
rung seiner Armatur im Kampf gegen Krank-
heit und Gebrechen; er wird zwar nicht wie
Rene Verhoogen kumulativ Massenerfolge
berichten können (Dieser schaffte, indem er
einen sehr unruhigen Nachtstörer mit Veronal
beruhigte, einem ganzen Schlafsaal die er-
sehnte Nachtruhe !), aber er wird sich sicher
den Dank manches Patienten verdienen, der
bis dahin, jeden Glockenschlag der Nacht
zählend, die Nacht fürchtete, statt sie herbei-
zusehnen.
Benutzte Literatur.
Weber, Über Versuche mit Veronal. Deutsche
med. Wochenschr. XXIX, 40.
Fischer und v. Mering, Über eine neue Klasse
von Schlafmitteln. Therapie der Gegenwart
1903, HJ.
Schäle, Über das neue Schlafmittel Yeronal.
Therapeut Mooatsb. 1903, Mai.
Ar o n h ei m , Yeronal, ein neues Schlafmittel. Medi-
zinische Woche 1903, 3. Aug.
Laudenheimer, Über gewohnheitsmäßigen Miß-
brauch des Veronals. Therapie d. Gegenwart,
6. 1. 1904.
Mendel und Krön, Über die Schlafwirkung des
Yeronals. Deutsche medizinische Wochenschr.
1903, No. 34.
Neufeld, Mitteilungen über das neue Schlafmittel
Veronal. Ärztliche Rundschau 1904, XI.
Matthey, Mitteilungen über Veronal. Neuro-
logisches Zentralblatt 1903, XIX.
Michel und Raimann, Das Veronal. Die Heil-
kunde, VIII. Jahrgang, 1. Heft, Januar 1904.
Lilienfeld, Veronal ein neues Schlafmittel. Berl.
klinische Wochenschr. 1903, No. 21.
Verhoogen, Le Yeronal. Journal Medical de
Bruxelles 1903, No. 43.
Zur operativen Entfernung der
Mittelohrraume»
Von
San. -Rat Dr. Klau in Berlin. /Belauf:]
In den meisten Fällen ist die chronische
Mittelohreiterung mit Osteosklerose des
Schläfenbeines kompliziert. Ob durch diese
Osteosklerose ein Weitergreifen der Eiterung
auf die Schädelhöhle begünstigt wird, oder
ob sie im Gegenteil einen Schutz dagegen
bildet, darüber stehen sich die Ansichten
vorläufig noch schroff gegenüber. Nach unserer
Ansicht muß im allgemeinen die Osteosklerose
als eine ernste Komplikation aufgefaßt werden,
bei der es sich nicht um eine Schutzvor-
richtung handelt, sondern im Gegenteil durch
die übermäßige Dicke der Corticalis der
natürliche Durchbruch des Eiters nach außen
gehindert wird. Wenn diese Knochenver-
dichtung sich nicht allein auf die Corticalis
des Warzenfortsatzes beschränkt, sondern sich
auch weiter median wärts fortsetzt, so kann
das Antrum mastoideum minimal verkleinert
sein, in seltenen Fällen kann es ganz fehlen.
Diese oft weit um sich greifende Osteo-
sklerose des Warzenfortsatzes kann bei der
Total au fmeißelung bedeutende Schwierigkeiten
bereiten. Ich wende deshalb schon seit vielen
Jahren ein kombiniertes Yerfahren an,
welches sich mir sehr gut bewährt hat. In
jedem Falle bei der Radikaloperation be-
ginne . ich, wenn nicht die starke Vorlagerung
des Sinus sigmoideo-transversus von vorn-
herein die Antrumeröffnung von innen nach
außen notwendig macht, mit der Aufmeißelung
von außeu her. In ausgiebiger, schon vor-
her beschriebener Weise wird, unter der linea
temporalis beginnend, die Corticalis des
Warzenfortsatzes, bis hinab zur Spitze des-
selben, zugleich mit der hinteren knöchernen
Gehörgangs wand weggemeißelt. Finde ich
bei weiterem Yordringen in die Tiefe keine
Höhle, ist also der Warzenfortsatz in aus-
gedehnter Weise eburnisiert, so gehe ich jetzt
von innen nach außen vor, indem ich zu-
erst die Pars epitympanica fortmeißele, die
äußeren Gehörknöchelchen entferne und auf
einer durch den Aditus in das Antrum ein-
geführten rechtwinklig gebogenen Sonde die
Antrumeröffnung ausführe. Ist von der hin-
teren Gehörgangswand nach außen vom An-
trum noch etwas stehen geblieben, das den
freien Überblick und die Einheitlichkeit der
Knochenhöhle beeinträchtigt, so meißele ich
es jetzt von außen her fort. Durch dieses
kombinierte Operations verfahren wird auf der
einen Seite durch die gleich zu Anfang aus-
geführte Wegmeißelung der Corticalis des
Warzenfortsatzes und eines Teiles der hinteren
knöchernen Gehörgangswand ein viel besserer
Einblick in die Tiefe gewonnen. Auf der
andern Seite wird uns, wenn die Sklerose
des Warzen fortsatzes die Auffindung und Er-
öffnung des Antrums erschwert und die Ge-
fahr von Nebenverletzungen begünstigt, die
Fortsetzung der Operation von innen nach
außen die Schwierigkeiten leichter und sicherer
überwinden lassen. Wir können Stacke nur
beipflichten, daß es entschieden gefahrloser
ist, ein Antrum aufzumeißeln, in welchem vom
Aditus her schon die Sonde steckt, dessen
Lage also dadurch bekannt ist, als sich durch
einen sklerosierten Warzenfortsatz erst müh-
sam den Weg zum Antrum zu bahnen.
In seltenen Fällen kann es bei der Ex-
enteration der Paukenhöhle zu einer un-
beabsichtigten Entfernung des Steigbügels
kommen. Man soll deshalb auch hierbei sehr
vorsichtig zu Werke gehen, denn wenn auch
für gewöhnlich die Entfernung des Steigbügels
keine bedenklichen Folgen hat, so ist doch
von Jansen und Grüner t je ein Fall be-
obachtet worden, wo danach Meningitis ein-
trat.
80
Klau, Operative Eröffnung der Mlttelohrrlume.
[Therfcpcntiache
Monatshefte.
Findet sich aber die Labyrinthhöhle eitrig
erkrankt, so wird man heute davor mit der
Operation nicht mehr Halt machen, sondern
es ist dann gerechtfertigt, die Labyrinthhöhle
zu eröffnen.
Zuweilen kann die Blutung bei der Ope-
ration sehr stark sein, und der operative
Eingriff dadurch sehr erschwert werden. Liegt
ausgesprochene Hämophilie vor, so ist es
wohl am zweckmäßigsten, ganz von der Ope-
ration Abstand zu nehmen, da sich sonst
leicht unüberwindliche Schwierigkeiten ein-
stellen könnten. Im übrigen darf man sich
durch starke Blutung nicht von der Operation
zurückschrecken lassen.
Ich möchte hierzu einen Fall aus meiner
Praxis anführen.
Es handelt sich um einen 21jährigen Bach-
händler L. aus Schöneberg, bei welchem wegen
einer chronischen cariösen Mittelohreiterung von
mir die Radikaloperation vorgenommen werden
sollte. Patient hatte früher wiederholt an heftigem
Nasenbluten gelitten, sonst waren keine Anzeichen
von Hämophilie vorhanden. Schon bei dem äußeren
Hautschnitt am Warzen fortsatz blutete es in ex-
zessiver Weise, doch konnte hier durch Unter-
bindung und längere Tamponade die heftige Blutung
gestillt werden. Bei der Durchschneidung des
häutigen Gehörffanges — es wurde die von Zaufal
anfangs empfohlene Operationsmethode mit Ver-
lustgabe der hinteren häutigen Gehörgangswand
vorgenommen — blutete es so stark, daß die Ope-
ration zunächst aufgegeben werden mußte, da nach
Wegnahme der Tampons die Blutung immer wieder
von neuem das ganze Operationsfeld überschwemmte.
Nach 3 Tagen wurde der tamponierende Verband
entfernt, auch jetzt aber konnte die weitere Ope-
ration nicht vorgenommen werden, da die Blutung
ebenso stark war, wie am ersten Tage und sich
nur durch dauernde Tamponade stillen ließ. Erst
14 Tage nach dem ersten Eingriff konnte die
Radikaloperation vorgenommen werden. Auch hier-
bei blutete es aus der Paukenhöhle und aus dem
Knochen ungewöhnlich stark. Es wurde von innen
nach außen operiert. Nur dadurch, daß in der
Tiefe die abgemeißelten blutenden Stellen immer
wieder mit kleinen Gazestreifen tamponiert wurden,
konnte die Totalaufmeißelung zu Ende geführt
werden. Es trat vollkommene Heilung ein.
Im übrigen lassen sich die Blutungen,
abgesehen von solchen Ausnahmefällen, meist
durch vorübergehende Taraponade stillen.
Eine stärkere Blutung kann bei der Weg-
nahme des mediansten Teiles der hinteren
knöchernen Gehörgangs wand durch einen
Zweig der Arteria stylomastoidea erfolgen.
Man bringt diese Blutung zum Stehen,
indem man entweder die blutende Stelle mit
einem Raspatorium eindrückt oder auf dem-
selben mit dem Instrument stark hin und
her schabt. Ist die Operation beendet, so
sind Irrigationen der Wunde zu vermeiden.
Zeigt sich beim ersten Verbandwechsel Foetor,
so kann die Wunde mit Sublimat (1:1000,
besser noch schwächer) lauwarm irrigiert
werden. Wichtiger ist es, nach der Ursache
des Foetor zu fahnden, alle daraufhin ver-
dächtigen Stellen mit der Sonde zu unter-
suchen und gegebenenfalls mit dem scharfen
Löffel zu reinigen.
Nach vollendeter Operation wird nur der
Horizontalschnitt genäht. Die ganze retro-
aurikulare Wunde sofort zu vernähen, wie
Körner dies vorschlägt, halten wir nicht
für empfehlenswert. Körner bildet zu diesem
Zwecke aus der häutigen hinteren Gehör-
gangswand einen viereckigen Lappen, dessen
Schnittführung oben und unten bis tief in
die Concha hineingeht. Dieser Lappen wird
nach hinten auf die Knochenwunde umge-
schlagen und durch feste Tamponade vom
äußeren Gehörgang aus fixiert. Die retro-
aurikulare Wunde wird primär genäht. Durch
diese Schnittführung bis in die Concha hinein
wird die Gehörgangs Öffnung vorteilhaft ver-
größert.
Nicht so selten aber ist nach dieser
Methode Perichondritis der Ohrmuschel mit
arger Entstellung derselben beobachtet worden.
Nach unserer Ansicht ist es vorteilhafter, die
retroaurikulare Wunde nichtprimär zuschließen.
Die Übersicht über die ganze Wundhöhle,
namentlich über den vorderen Paukenhöhlen-
abschnitt, wird durch die primäre Naht
wesentlich beeinträchtigt. Ferner ist bei der
Nachbehandlung die Tamponade durch die
retroaurikulare Öffnung viel leichter vorzu-
nehmen als allein durch den äußeren Gehör-
gang, da man alle Buchten und Vertiefungen
von hier aus viel besser erreichen kann.
Auch die oft übermäßig stark wuchernden
Granulationen lassen sich von der hinteren
Öffnung aus leichter in Schranken halten.
Bei empfindlichen Kindern, wo die Nach-
behandlung an und für sich schon äußerst
schwierig ist, gehört es fast zur Unmöglich-
keit, diese allein durch die äußere Gehör-
gangsöffnung auszuführen. Direkt zu wider-
raten ist der primäre Verschluß bei Chole-
steatom, ferner bei kariösen Erkrankungen
des Warzenfortsatzes, die sich nicht auf das
Antrum beschränken, sondern lateral war ts
darüber hinausgehen; ebenso in allen Fällen,
wo der Sinus freiliegt oder freigelegt wird.
Panse berichtet über einen Fall, wo nach
einer Totalaufmeißelung der gesunde frei-
liegende Sinus sigmoideus nach sofortigem
Verschluß der retroaurikularen Wunde infiziert
wurde. Es kam zur tödlichen Septikopyämie.
Stacke hatte den glücklichen Gedanken,
aus dem abgelösten Teil der häutigen Ge-
hörgangswand einen viereckigen Lappen zu
bilden, welchen er nach hinten und unten
umschlug und auf die untere Knochenwund-
fläche auftamponierte. Dadurch wird auch
die anfangs gefürchtetc Stenosenbildung nach
XIX. Jahrgang.1
Februar 1905. J
Klau, Operative Eröffnung der Mittelohrräume.
81
der Radikaloperation vermieden. Zaufal
beobachtete Stenosen, die wohl bei ihm dar-
auf zurückzuführen waren, daß er anfangs
die häutige hintere Gehörgangswand heraus-
schnitt. Nach Stacke kann bei seiner Me-
thode eine Stenose durch nachträgliche
Knickung nur dann entstehen, wenn der Ge-
hörgangslappen zu weit in das Antrum hin-
eingezogen wird. Zweckmäßig kann man
auch aus der häutigen hinteren Gehörgangs-
wand einen oberen und unteren Lappen
bilden, indem man die hintere Gehörgangs-
wand in der Mitte durch einen horizontalen
Längsschnitt, der bis zur Concha reicht,
spaltet und hier auf den Horizontalschnitt
nach oben und unten einen senkrechten Schnitt
setzt. In den meisten Fällen genügt die
Stackesche Plastik zur vollkommenen Über-
häutung der Enochenwunde ; auch dann noch,
wenn man eine persistente retroaurikulare
Öffnung erzielen will.
Bei mangelhafter Epidermisierung der
Knochenhöhle kann mit Erfolg die Thier-
sche Transplantation Anwendung finden. Zur
Herstellung einer persistenten retroaurikularen
Öffnung kann die Stacke sehe Plastik noch
zweckmäßig dadurch unterstützt werden, daß
man aus der Umgebung der retroaurikularen
Wunde 15 — 20 mm lange und etwa 10 mm
breite unbehaarte Hautlappen formiert, die
umgeschlagen und auf die Knochenwunde
auftamponiert werden.
In diesem Falle empfiehlt es sich auch,
den Knorpelschnitt an der Ohrmuschel zu
umsäumen, indem man die Cutis der kon-
kaven Seite mit der der konvexen über dem
Knorpelschnittrande durch Nähte vereinigt.
Ragt dabei zu viel vom Ohrmuschelknorpel
hervor, so wird derselbe abgetragen.
Es würde hier zu weit führen, wollten
wir alle die verschiedenen Methoden der
Plastik weiter ausführen. Die Hautlappen
können von der hinteren Fläche der Ohr-
muschel, aus der Gegend des hinteren Wund-
randes und aus der Halsregion unter der
Spitze des Warzenfortsatzes genommen werden.
Die Wahl dieser Hautlappen wird sich da-
nach richten, in welcher Weise man die hin-
tere Geh örgan gs wand zur Plastik benutzt hat.
Handelt es sich bei der Radikaloperation
um ein Cholesteatom, so streben wir in jedem
Falle eine persistente retroaurikulare Öffnung
an. Man ist bei der Operation infolge von
Cholesteatom niemals ganz sicher, ob man
alles Krankhafte entfernt hat. auch dann
nicht, wenn alle verdächtigen Stellen und
Vertiefungen mit dem Pacquelin ausgebrannt
oder mit der elektrischen Fräse bearbeitet
werden. Rezidive aber lassen sich von der
hinteren und vorderen Öffnung aus viel leichter
Th. M. 1906.
übersehen und behandeln als allein durch die
Gehörgangsöffnung. Ferner hat es den An-
schein, als ob bei einer persistenten retro-
aurikularen Öffnung Rezidive beim Cholestea-
tom nicht so häufig auftreten, wie nach dem
Verschluß dieser Öffnung. Die etwa sich
von neuem bildenden Häute trocknen durch
den unbehinderten Luftzutritt aas und können
ohne Mühe entfernt werden, sodaß es nicht
zum jauchigen Zerfall derselben kommt, wie
es nicht so selten nach dem Verschluß der
retroaurikularen Öffnung der Fall ist.
Auch bei der Radikaloperation infolge
von Caries lassen wir die Operationswunde
möglichst lange offen, bis die Epidermisierung
des größten Teiles der Wundhöhle vollendet
ist. Es liegt ganz in unserer Hand, die
hintere Öffnung sich schließen zu lassen, in-
dem man mit der Tamponade von hinten
allmählich nachläßt. Es muß nur dafür ge-
sorgt werden, daß sich die Wundränder nicht
epidermisieren.
Die Nachbehandlung nach der Total-
aufmeißel ung erfordert dieselbe Sorgfalt und
ebenso großes Geschick wie der operative
Eingriff. Man soll ja nicht annehmen, daß
dieselbe nach einem bestimmten Schema aus-
zuführen sei; man könnte sonst leicht Fiasko
machen. Vor allen Dingen ist auf die ex-
akteste Tamponade der Wundhöhle großes
Gewicht zu legen. Alle Buchten und Ver-
tiefungen müssen auf das sorgfältigste aus-
tamponiert werden. Zu diesem Zwecke
eignen sich am besten kleine Gazetampons,
weil mit ihnen viel besser alle Ausbuch-
tungen ausgefüllt werden können als mit
langen Gazestreifen, umsomehr, als man da-
bei auch die Tamponade bis in ihre kleinsten
Abschnitte mit dem Auge verfolgen kann.
Die Tamponade wird sowohl durch den
äußeren Gehörgang, als auch von der retro-
aurikularen Wunde aus vorgenommen, je
nachdem man von der einen oder anderen
Öffnung die gerade zu tamponierenden Stellen
der Wundhöhle besser überschauen kann.
Großes Gewicht ist darauf zu legen, daß die
äußere Gehörgangsöffnung durch ziemlich feste
Tamponade möglichst weit offen gehalten
wird.
Der erste Verband kann, wenn kein Fieber
besteht, 5 bis 7 Tage liegen bleiben. Die
folgenden Verbände werden je nach der
Stärke der Sekretion häufiger gewechselt,
unter Umständen täglich. Auch das Allge-
meinbefinden ist beim Verbandwechsel zu
berücksichtigen. Für die ersten Verbände
benutzen wir zur Tamponade, wenn sonst
nichts dagegen spricht, Jodoformgaze. Hat
sich die Knochen wunde überall mit Granu-
lationen bedeckt, so ist die Jodoformgaze,
8
82
Klau, Operative Eröffoung der Mittelob träume.
rTher&peatiaclu
L Monatshefte.
da durch sie häufig allzu üppige Granula-
tionen hervorgerufen werden, durch indiffe-
rente sterile Gaze zu ersetzen. Auch Xero-
formgaze, die wir in den letzten Jahren
vorwiegend zur Tamponade benutzen, leistet
uns vorzügliche Dienste, namentlich in Fällen,
wo eine starke Wundsekretion stattfindet.
Von austrocknenden Pulvern wenden wir
Aristol nicht mehr an. Wir haben gefunden,
daß nach Anwendung desselben die Granu-
lationen leicht bluten. Besseres leistet bei
starker Sekretion die Borsäure in feinster
Pulverform. Wir wenden dieselbe in der
Weise an, daß wir zunächst die Tiefe der
Wundhöhle leicht mit Borsäurepulver be-
stäuben, darüber kommt eine Tamponschicht
von steriler Gaze oder Xeroformgaze. Auf
diese Schicht und auf die Seitenwände der
Wundfläche wird wieder Borsäure aufge-
blasen, es folgt eine neue Tamponschicht
Gaze, darauf wieder Borsäure und so fort,
bis die ganze Wundhohle in allen Teilen
austamponiert ist. Die Tamponade mit Bor-
säuregaze können wir dagegen gar nicht
empfehlen, da diese Gaze durch ihre Härte
reizend auf die Wundfläche einwirkt und
leicht zu Blutungen der Granulationen Ver-
anlassung gibt.
Unser Hauptaugenmerk muß darauf ge-
richtet sein, die Wundfläche zu epidermi-
sieren. Zu üppige Granulationen müssen in
Schranken gehalten werden. Die Granula-
tionen dürfen nicht das Niveau der sich all-
mählich vorschiebenden Epidermis überragen.
Kommt man dabei mit fester Tamponade
allein nicht zum Ziel, so können die Granu-
lationen zweckmäßig mit Acidum lacticum
purum oder mit Trichloressigsäure geätzt
werden. Auch die Galvanokaustik leistet
hierbei treffliche Dienste. Höllenstein eignet
sich gar nicht zum Atzen, da nach Anwen-
dung desselben die Granulationen meist um
so üppiger hervorschießen. Nur in seltenen
Ausnahmefällen wenden wir den scharfen
Löffel an, häufiger die kalte Schlinge.
Auch um Stenosen zu vermeiden, ist in
den ersten Wochen neben der Beseitigung
allzu üppiger Granulationen feste Tamponade
angezeigt. Später, etwa in der Mitte des
3. Monats der Nachbehandlung, ist es zweck-
mäßig, die Tamponade nicht mehr so fest
auszuführen. Es überhäuten sich dann die
letzten Reste der Wundhöhle ungleich schneller
als bei andauernd fester Tamponade. Ist
schon in einem früheren Stadium der Nach-
behandlung der Aditus ad antrum, an welcher
Stelle es am häufigsten zu Verwachsungen
kommt, überhäutet, so kann man auch schon
früher eine weniger feste Tamponade an-
wenden. Auch der Zutritt der atmosphäri-
schen Luft wirkt günstig auf eine schnellere
Epidermisierung ein. Zuweilen sieht man
keine eigentlichen Granulationen auf der
Wundfläche emporschießen, und dennoch ver-
kleinert 8 ich die Höhle zusehends, ohne sich
aber zu epidermisieren. Untersucht man
dann die Wandungen mit der Sonde, so
fühlt man, daß sich der Knochen mit einer
dicken, mehr schwartigen Granulationsmasse
bedeckt hat. Auch hier ist neben energischer
Atzung feste Tamponade geboten, denn über
einem solchen verdickten, ungesunden Granu-
lationspolster wird sich niemals eine gesunde
Epidermis bilden.
Im Gegensatz hierzu aber ist man dann
oft erstaunt, wie weit und übersichtlich eine
solche enge Knochenhöhle schließlich wird,
wenn sie sich allseitig mit einer zarten, aber
festen Epidermis überzogen hat. Es macht
oft den Eindruck, als ob sich der Knochen
scheinbar zurückgezogen hätte, so groß er-
scheint die Höhle. Allerdings kann auch
durch Bildung von Narbengewebe, welches
aus einer festen kailösen Bindegewebsmasse
besteht, eine hochgradige Obliteration der
Knochenhöhle eintreten. In solchen Fällen
ist namentlich durch sorgfältigste Tamponade
darauf zu achten, daß sich keine eiternden
Fisteln bilden, ein bedenklicher Umstand,
der leicht eintreten kann, wenn es durch
ungleichmäßige Verkleinerung der Wundhöhle
zur Stenosenbildung kommt, während in der
Tiefe die Uberhäutung noch nicht erfolgt ist.
Das günstigste Resultat ist es, wenn sich
die Wundhöhle mit einer dünnen, durch-
sichtigen, glänzenden oder auch mit einer
gelblichen, festen, glänzenden Membran über-
zieht. Anzustreben ist es auch, daß das
Ostium tympanicum sich schließt, da sonst
bei Nasenrachenkatarrhen leicht Sekretion
in die Knochenhöhle stattfinden kann.
Bleibt nach vollzogener Heilung die
Schleimhaut der Paukenhöhle erhalten, so
ist dies immer ein mißlicher Umstand, da
leicht Rezidive der Schleimhauteiterung ein-
treten können, auch wenn die Paukenhöhle
durch ein neugebildetes Trommelfell entweder
teilweise oder ganz nach außen abge-
schlossen ist.
Nekrosen, die in der Wundhöhle am
häufigsten am Facialis wul st vorkommen
können, werden nach Grunert am besten
mit Galvanokaustik behandelt.
Was das Hörvermögen nach der Total-
aufmeißel ung anbelangt, so ist bei intaktem
Labyrinth im allgemeinen eine Verbesserung
der Hörfähigkeit zu erwarten. Bei nicht in-
taktem Labyrinth bleibt durch die Operation
das Gehör meist unbeeinflußt. In einer
Reihe von Fällen kann aber auch eine ent-
XIX. Jfthrgaiig.1
Fabroar 1905. J
Klau, Operative Eröffnung der Mittelohr räume.
83
schiedene Verschlechterung eintreten. Jeden-
falls ist das Hörvermögen nach der Radikal-
operation abhängig von der Art der ursprüng-
lichen Erkrankung.
Nachdem wir im vorstehenden die ope-
rativen Methoden bei der akuten und chro-
nischen Mittelohreiterung mit Beteiligung des
Warzenfortsatzes besprochen haben, möchten
wir noch kurz eine Übersicht über die Kom-
plikationen geben, die sowohl bei akuter als
auch bei chronischer Mittelohreiterung vor-
kommen können; es sind dies die Pyämie
mit oder ohne Sinusthrombose, die Meningitis,
der extradurale Abszeß und der Hirnabszeß.
Ob es eine otitische Pyämie ohne
Sinusthrombose gibt, darüber sind die An-
sichten immer noch geteilt. Jedenfalls aber
ist es jetzt erwiesen, daß eine solche Pyämie,
wenn auch ihr Vorkommen an sich möglich
ist, eminent selten vorkommt. Auch Körner,
der früher am entschiedensten für das häufige
Vorkommen otitischer Pyämie ohne Phlebo-
thrombose, der sogenannten Osteophlebitis,
eintrat, scheint jetzt anderer Meinung zu sein.
Wenn auch nicht in jedem Falle otitischer
Pyämie bei der Operation oder Obduktion
ein Thrombus im Sinus vorgefunden wird,
so ist damit noch nicht die Annahme be-
rechtigt, daß es sich nunmehr um die Kör-
ner sehe Osteophlebitis handelt. Leutert
hat darauf hingewiesen, daß die Thrombose
wandständig sein kann, mithin leicht über-
sehen wird, oder daß der Thrombus bereits
fortgeschwemmt ist. Außerdem betont er mit
Recht, daß früher der Bulbus jugularis, welcher
erwiesenermaßen nicht so selten der Sitz der
Thrombose sein kann, sowohl bei der Ope-
ration als auch bei der Obduktion nicht ge-
nügend berücksichtigt wurde. In allen der-
artigen Fällen ist deshalb auf den Boden der
Paukenhöhle zu achten, da es bei Erkran-
kung an dieser Stelle zur Bulbusthrombose
kommen kann.
Mag man nun von dem Vorkommen einer
otitischen Pyämie ohne Phlebothrombose über-
zeugt sein, einen praktischen Nutzen hat das
Auseinanderhalten beider Pyämien nicht, denn
eine differentielle Diagnose ist nicht möglich,
und es ist geboten, bei jeder otitischen
Pyämie, wenn das Fieber nicht in wenigen
Tagen von selber schwindet, den Warzenfort-
satz zu eröffnen und unter Umständen zu-
gleich den Sinus freizulegen.
Daß durch diese Beseitigung des ursprüng-
lichen Krankheitsherdes eine Reihe von Sinus-
thrombosen ohne Eröffnung des Sinus aus-
heilen können, ist erwiesen. Ich möchte hierzu
drei eklatante Fälle aus meiner Praxis anführen.
Im ersten Falle handelte es sich um einen
16 jährigen Gymnasiasten A. aus Spandau, welcher
am 25. 4. 1893 wegen einer chronischen Ohren-
eiterung, verbunden mit Garies, in meine Behand-
lung kam. Die Eltern des Patienten lehnten zu-
nächst einen operativen Eingriff am Warzenfortsatz,
der ihnen von mir angeraten wurde, ab, da Patient
von seinem Ohrenleiden keinerlei Beschwerden hätte.
Patient ging dann mit seinen Eltern von Mitte Juli
bis Mitte August an die Ostsee, nahm dort gegen
meinen Rat kalte Bäder und kam am 16. August
mit einer heftigen akuten Entzündung des Warzen-
fortsatzes, einem subperiostalen Abszeß am Warzen-
fortsatz und hohem Fieber schwerkrank zurück.
Am 18. August wurde von mir die breite Aufmeiße-
lung des Warzenfortsatzes vorgenommen mit Er-
öffnung des Antrum mastoideum. Der Warzenfort-
satz zeigte sich in großer Ausdehnung zerstört, mit
Eiter und Granulationen angefüllt; der Sinus sig-
moideus lag in der Größe eines Quadratzentimeters
frei und war von Eiter umspült. Nach der Operation
fiel die Temperatur zur Norm herab, um aber zwei
Tage nachher wieder bis auf 40,2° zu steigen. Das
intermittierende Fieber, welches einen ausgespro-
chenen pyä mischen Charakter mit Schwankungen
bis zu 3,5° zeigte, hielt volle 21 Tage an. Es
wurden in diesen 21 Tagen 29 Schüttelfröste meist
von solcher Heftigkeit ausgelöst, daß das Bett des
Patienten und die umstehenden Gegenstände in
Erschütterung versetzt wurden. Ein erneuter ope-
rativer Eingriff mit größerer Freilegung des Sinus
sigmoideus und Eröffnung desselben wurde von den
überaus ängstlichen Eltern abgelehnt. In den fieber-
freien Intervallen fühlte sich Patient verhältnismäßig
wohl. Metastasen traten nicht auf. Die Nahrungs-
aufnahme war befriedigend. Wein wurde viel und
§ern genommen. Die Intensität des Fiebers und
er Schüttelfröste blieb sich bis zum Tage des Ab-
falls des Fiebers gleich. Der Abfall erfolgte ganz
£lötzlich; das Fieber kehrte nicht mehr wieder,
'er körperlich sehr mitgenommene Patient erholte
sich überraschend schnell.
Zweifellos handelte es sich hier um eine
bösartige Sinusthrombose. Ob durch einen
operativen Eingriff am Sinus die Heftigkeit
der Erkrankung gemildert worden wäre, kann
fraglich sein. Es sind genug Fälle von Sinus-
thrombose bekannt, bei welchen nach Er-
öffnung des Sinus mit Unterbindung der Vena
jugularis interna das Fieber noch wochenlang
fortbestand. Gerechtfertigt aber wäre die
Eröffnung des Sinus mit Unterbindung der
Vena jug. int. gewesen, und zweifellos hätte
dieser erneute operative Eingriff manche Sorge
von uns genommen in dem Gedanken., daß
nichts verabsäumt worden sei.
Der zweite Fall betraf ein 16jähriges Fräulein A.
aus Charlottenburg. Patientin kam wegen einer
akuten eitrigen Mittelohrentzündung am 13. 4. Ol
in meine Behandlung. Nach 12 Tagen war das
Trommelfell geschlossen. Patientin empfand keinerlei
Beschwerden mehr. Die Hörfahigkeit war annähernd
normal. Mehrere Tage darauf nach einer erneuten
heftigen Erkältung trat unter hohem Fieber ein
Rezidiv der Mittelohreiterung auf. Trotz sofortiger
breiter Parazentese des Trommelfelles, trotz un-
gehinderten Abflusses einer überaus reichlichen
Eitermenge blieb das Fieber, welches die Höhe von
40,2° erreichte, bestehen. Da nach sieben Tagen
keine Änderung in dem Zustande der Patientin
eintrat, so wurde am 7. 5. die breite Aufmeißelung
des Warzenfortsatzes mit breiter Eröffnung des
Antrum mastoideum vorgenommen. Gegen unsere
8»
gpra"*,"*-
84
fclau, Operative Eröffnung der Mittelohrräume.
rTherapentbehe
L MonaUhefte.
Erwartung fand sich in den Zellen des Warzen-
fortsatzes und im Antrum verhältnismäßig wenig
Eiter. Es waren allerdings einige Zellen mit Eiter
angefüllt, die Schleimhautauskleidung der Warzen-
fortsatzzellen war erheblich geschwollen, aber zu
der Schwere der Erkrankung wollte der Befund
im Warzenfortsatz nicht recht passen. Trotzdem
nahmen wir, besonders unter Berücksichtigung des
jugendlichen Alters der Patientin, in welchem
namentlich bei anämischen Personen leicht höheres
Fieber auch bei geringen Affektionen im Mittelohr
und Warzenfortsatz tagelang bestehen kann, zu-
nächst davon Abstand, die Knochenoperation weiter
auszudehnen. Als aber nach zwei Tagen das Fieber
wiederum die Höhe von 40,8° erreichte, wurde die
Freilegung des Sinus sigmoideus vorgenommen.
Der Knochen des Warzenfortsatzes nach dem Sinus
zu war außerordentlich hart. Irgend eine Weg-
leitung nach dem Sinus hin wurde nicht gefunden.
Die Sinuswandung war vollkommen normal. Es
wurde an zwei Stellen eine Punktion vorgenommen.
Dieselbe ergab reines flüssiges Blut. Zu einer Sinus-
eröffnung konnten wir uns unter diesen Umständen
nicht entschließen. Um sicher zu sein, daß es sich
nicht etwa um einen extraduralen Abszeß in der
mittleren Schädelgrube handelte, wurde diese nun-
mehr vom Warzenfortsatz aus eröffnet. Auch hier
fand sich kein Eiter. In den nächsten drei Tagen
erreichte die Temperatur des Abends die Höhe von
40,1 und 40,2°, um morgens bis unter 38° abzu-
fallen. Es wurden jetzt am Herzen die Symptome
einer Endokarditis konstatiert Am dritten Tage
nach dem zweiten operativen Eingriff trat an der
Ohrmuschel der erkrankten Seite ein Erysipel auf,
welches über das Gesicht hinweg bis zum anderen
Ohr wanderte und auch die behaarte Kopfbaut er-
griff. Nach sechs Tagen war das Erysipel ge- ,
schwunden. Ganz auffallend dabei war es, daß die
Temperatur in diesen sechs Tagen niedriger war
als vor und nach der erysipelatösen Erkrankung.
Sie überstieg nicht 39,5°. In den nächsten sechs
Tagen (13. bis 18. Krankheitstag nach der Operation)
stieg das Fieber abends wieder bis zu 40° an. Am
19. Tage betrug die höchste Temperatur 39, am
20. Tage 39,1 °. Von jetzt ab stieg die Temperatur
mit Ausnahme des 37. Krankheitstages, an welchem
Tage die Temperatur infolge eines Diätfehlers 40,2 °
erreichte, nicht mehr über 39 ° an, hielt sich aller-
dings abends in der Höhe von 38 bis 38,9° bis
zum 47. Tage. Des Morgens waren immer starke
Remissionen zu verzeichnen. Vom 48. Krankheits-
tage an bekam Patientin dreimal täglich 0,3 g
Chinin, fünf Tage lang. Die Temperatur in diesen
fünf Tagen betrug abends 37,6 bis 37,9 °. In den
nächsten drei Tagen (dem 52. bis 55. Krankheits-
tage) fiel bei täglich zweimaliger Chiningabe die
Temperatur auf 37,2 ° ab und blieb fortan unter
37 °. Während der ganzen langen Krankheitsdauer
war kein Schüttelfrost aufgetreten, die Pulsfrequenz
betrug durchschnittlich 100 bis 120 Schläge. Mit
Ausnahme der Endokarditis wurden keine Metastasen
nachgewiesen.
Jedenfalls trug die Endokarditis viel dazu
bei, die Erkrankung so beängstigend in die
Länge zu ziehen. Die Knochenwunde war
am 55. Krankheitstage vollkommen verheilt.
Die Hörfähigkeit bei fast normalem Trommel-
fell normal. Auffallend war es, daß etwa
während der ganzen zweiten Hälfte der Er-
krankung heftige Schmerzen in der Wirbel-
säule bestanden, welche nach den Beinen zu
intensiv ausstrahlten, daneben bestand eine
hochgradige lähmungsartige Schwäche in den
Unterextremitäten. Patientin war nicht im
stände, die Beine in die Höhe zu heben.
Diese Symptome waren wohl auf eine spinale
Hyperämie zu beziehen.
Dabei war während der ganzen Krank-
heitsdauer das Allgemeinbefinden im großen
und ganzen ein gutes zu nennen. Die Nah-
rungsaufnahme war befriedigend.
Auffallend war die prompte Chininwirkung.
Allerdings war das Fieber in den letzten
acht Tagen vor der Chiningabe nicht mehr
über 38,9° gestiegen. Es war aber doch
immer noch Fieber vorhanden. Sofort nach
der Chiningabe ging das Fieber unter 38°
herunter, um fünf Tage später zur Norm
herabzusinken. Vielleicht wäre es zweck-
mäßig gewesen, das Chinin schon früher an-
zuwenden. Wein wurde viel gegeben. Nach-
dem das Fieber völlig geschwunden war, er-
holte sich die Patientin verhältnismäßig schnell,
sodaß sie noch im August an die Ostsee
gehen konnte. Doch noch monatelang betrug
die Pulsfrequenz 100 bis 120 Schläge in der
Minute.
Beim dritten Falle handelte es sich um ein
18jährige8 Fräulein M. aus Schöneberg, welches
wegen einer heftigen akuten Mittelohreiterung rechter-
seits in meine Behandlung kam. Am 1. Mai 1899
wurde die Parazentese des Trommelfelles vorge-
nommen. Die Temperatur, die vorher 39,1 betrag,
fiel zunächst auf 37,6, am nächsten Tage auf 36,6 °
herab und blieb bis zum neunten Krankheitstage
normal. Am elften und zwölften Tage stieg die Tem-
peratur plötzlich bis 39,1 und erreichte am drei-
zehnten Tage die Höhe von 39,2 °. Morgens fanden
Remissionen bis unter 37° statt. Da der Warzen-
fortsatz auf Druck empfindlich war, und die Eis-
blase keine Erleichterung verschaffte, so wurde der
Wilde sehe Schnitt in ausgiebiger Weise gemacht.
Die Temperatur fiel danach zur Norm herab (37 °),
stieg aber in den nächsten zehn Tagen wieder all-
mählich bis zu 39,2° an mit ausgiebigen Remis-
sionen des Morgens bis zu 36,6 °. Am 27. Krank-
heitstage wurde, da es sich zweifellos um ein
pyämisches Fieber handelte, die breite Aufmeiße-
lung des Warzen fortsatzes mit Eröffnung des Antrum
vorgenommen. Der Warzenfortsatz fand sich in
großer Ausdehnung zerstört. Die Knochenzellen
waren zum größten Teil eingeschmolzen. Der ganze
Warzen fortsatz bis zur Spitze herab war mit Gra-
nulationen durchsetzt und mit rahmigem Eiter an-
gefüllt. Es fand sich eine Wegleitung nach dem
Sinus hin. Der Sinus wurde einen Quadratzenti-
meter groß freigelegt, er war von Eiter umspült,
seine Wandung erschien normal. Von einer Er-
öffnung des Sinus wurde Abstand genommen, da
die Punktion flüssiges Blut ergab, und erst der
weitere Krankheitsverlauf abgewartet werden sollte.
Sofort nach der Operation fiel die Temperatur auf
36,2° herab und stieg während der ganzen Nach-
behandlung nicht mehr über 37,5 °, mit Ausnahme
des 44. Krankheitstages, an welchem die Tempe-
ratur 39,1 ° erreichte. Die Temperatursteigerung
war auf einen Diätfehler zurückzuführen. Patientin
genas vollkommen mit normaler Hörfähigkeit.
Grün er t teilt einen interessanten Fall
mit, wo 81 Tage lang nach der typischen
XIX. Jahrgang.1
Februar 1905. J
Klau» Operative Eröfiaung der Mittelohriäume.
85
Aufmeißel ung des Warzenfortsatzes pyämi-
sches Fieber bestand, sechzehnmal erreichte
die Temperatur die Hohe von 40°. Es trat
Heilung ein.
Unter gunstigen Umständen kann auch
einmal eine otitische Pyämie ohne jeden
operativen Eingriff am Warzenfortsatz und
Sinus ausheilen.
Bei einem von mir im April 1899 behandeltet)
Oberst v. H. aas L., welcher an einer eitrigen
akuten Mittelohrentzündung erkrankt war, trat am
zehnten Tage nach der Parazentese des Trommel-
felles intermittierendes Fieber auf. Unter der An-
nahme, daß es sich vielleicht um eine Eiterverhal-
tung in der Paukenhöhle handeln könnte, wurde
der Trommelfellschnitt, der sich erheblich ver-
kleinert hatte, in ausgiebiger Weise erweitert.
Trotzdem bestand das intermittierende Fieber fort.
Die Temperaturen erreichten die Höhe von 39,6°,
um am Morgen unter 37 ° abzufallen. Schon wurde
von mir mit dem betreffenden Hausarzte der ope-
rative Eingriff am Warze nfortsatz in Erwägung ge-
zogen, als am zehnten Tage nach dem Einsetzen
des Fiebers die Temperatur zur Norm zurückkehrte.
Drei Wochen später war Patient geheilt. Ob es
sich in diesem Falle um eiue Körn ersehe Osteo-
phlebitiä gehandelt hat, will ich dahingestellt sein
lassen. Jedenfalls aber war das Fieber ein pyämi-
sches, dafür sprach der ausgesprochen intermit-
tierende Charakter desselben, die hochgradige
nervöse Erregung und das schlechte Allgemeinbe-
finden des Patienten.
Wenn nun auch, wie diese Fälle zeigen,
eine otitische Pyämie unter Umständen durch
Beseitigung des ursprünglichen Krankheits-
herdes ohne Eingriff am Sinus zu Heilung
kommen kann, so ist der heutige Standpunkt
doch mit Recht der, daß man in den meisten
schwereren Fällen von otitischer Pyämie den
Sinus eröffnet und die Vena jugularis interna
unterbindet. In zweifelhaften Fällen tut man
zunächst gut, nach der Aufmeißelung des
Warzenfortsatzes den Sinus freizulegen. Ist
das Aussehen desselben normal, aspiriert
man bei der Punktion flüssiges, reines Blut,
so kann man abwarten, ob das Fieber zu-
rückgeht. Auch das Allgemeinbefinden des
Patienten ist dabei zu berücksichtigen. Ist
dieses ein gutes, so kann man selbst bei
fortbestehendem Fieber, wenn es nicht ganz
ungewöhnlich hoch ist, mit dem Eingriff am
Sinus und an der Yen. jug. int. noch warten.
Läßt das Fieber nicht nach, so ist nament-
lich bei schlechtem Allgemeinbefinden der
direkte Eingriff am Sinus geboten.
Man ist berechtigt, bei der Sinusthrom-
bose eine gutartige und eine bösartige zu
unterscheiden. Es kann bei der Sinus-
thrombose sich ein derber, solider Thrombus
bilden, der sich ohne jeden operativen Ein-
griff am Sinus vollständig organisieren kann.
Hat man es nach der Eröffnung des Sinus
mit einem solchen soliden Thrombus zu tun,
so ist die vollständige Ausräumung desselben
an den Enden nicht angezeigt, da es darauf
ankommt, einen möglichst sicheren Abschluß
nach oben und unten hin zu erhalten. In
diesen Fällen ist es nicht absolut nötig, die
Vena jugul. intern, zu unterbinden. Findet
sich der Thrombus vereitert oder gar ver-
jaucht, oder kommt es nachträglich noch zur
eitrigen oder jauchigen Zersetzung des anfangs
soliden Thrombus, so ist die Unterbindung
der Vena jugul. int. geboten. Ist man von
vornherein überzeugt, daß es sich um eine
eitrige oder gar jauchige Sinus thrombose
handelt, so ist zu allererst die Vena jugul.
int. zu unterbinden, dann erst der Warzen-
fortsatz zu eröffnen, der Sinus freizulegen
und breit zu eröffnen. Es ist nämlich die
Möglichkeit nicht ganz von der Hand zu
weisen, daß durch die Meißeloperation Throm-
busteilchen losgelöst werden und in die Blut-
babn gelangen können. Dies wird durch die
vorher ausgeführte Unterbindung der Vena
jugul. int. möglichst vermieden. In allen
Fällen, wo die Eröffnung des Sinus vorge-
nommen wird, empfiehlt es sich, die vordere
Wand desselben möglichst ausgiebig zu ex-
zidieren, um eine Wiederverlegung zu ver-
hindern.
Die Unterbindung der Vena jugul. int.
wird am besten in der Höhe der Gartilago
erieoidea vorgenommen, sodaß diese zu dem
5 bis 6 cm langen Schnitte, welcher längs
des vorderen Randes des Muse, sternocleido-
mastoideus geführt wird, in der Mitte liegt.
Der freigelegte Sternocleidomastoideus wird
mit einem stumpfen Haken zur Seite ge-
schoben. Dicht unter ihm nach außen von
der Karotisjiegt die Vena jugul. int. Diese
wird stumpf drei und mehr Zentimeter je
nach den vorliegenden Verhältnissen freigelegt,
die Gefäßscheide mit einer Hakenpinzette
emporgehoben und parallel zur Gefäßwand
vorsichtig angeschnitten und die Öffnung
stumpf erweitert. Dann wird die Vene mit
einem stumpfen Instrument aus der Scheide
herausgehoben, eine Unterbindungsnadel her-
umgeführt und doppelt unterbunden. Die
obere Ligatur wird am besten oberhalb der
Einmündung der Vena faciei angelegt und
letztere selbst mit unterbunden, um so zu
verhindern, daß infektiöse Stoffe von hier
aus durch eine häufige Anastomose in die
Vena jugul. extern, und auf diese Weise in
die Blutbahn gelangen.
In den meisten Fällen von Sinusthrom-
bose bietet uns das bestehende Fieber einen
Anhaltspunkt für die Diagnose. Hohes inter-
mittierendes Fieber bei freiem Eiterabfluß
aus dem Mittelohr mit oder ohne Kopf-
schmerzen spricht für Sinusthrombose. Aller-
dings kann das Fieber bei Sinusthrombose
86
Klau» Operative BrOffaung dar Mittalohrriume.
L Monatshefte.
auch kontinuierlich sein, und ist dann die
Unterscheidung von Meningitis nicht leicht.
Wir werden später sehen, daß uns durch die
Lumbalpunktion ein Anhaltspunkt bezüglich
der Differential diagnose gegeben ist. In sel-
tenen Fällen kann das Fieber fehlen. Es
handelt sich dann entweder um eine gutartige
Thrombose, oder der Eiterherd im Sinus ist
nach oben und unten durch einen festen
Thrombus abgeschlossen. Schließlich können
bei der Sinusthrombose vollkommen fieber-
freie Intervalle vorkommen. Hieraus ist
ersichtlich, daß in manchen Fällen die Dia-
gnose der Sinusthrombose große Schwierig-
keiten bereiten kann. Man kann dabei aber
an dem Grundsatz festhalten, daß, wenn
hohes Fieber, nach Ablauf der akuten Er-
scheinungen in der Paukenhöhle, auftritt, die
Eröffnung des Warzenfortsatzes und die Frei-
legung des Sinus, resp. Eröffnung desselben
gerechtfertigt ist, wenn Meningitis und extra-
duraler Abszeß auszuschließen sind. Eine Aus-
nähme hiervon machen Kinder, da bei diesen
erfahrungsgemäß bei akuter eitriger Mittel -
ohraffektion längere Zeit Fieber bestehen
kann, ohne daß es sich um eine Sinus- oder
Hirnaffektion handelt.
Das normale Aussehen des Sinus bietet
nicht immer eine Gewähr dafür, daß keine
Thrombose besteht. Auch der Sinuspuls be-
sitzt nach Preysing nicht die geringste
diagnostische Bedeutung, da dieser nach
seiner Ansicht nicht auf dem Wege der Blut-
bahnen, sondern durch seitlich fortgepflanzte
Hirnbewegungen zu stände kommen soll.
Zur Sinusthrombose kann es auch bei
unbeabsichtigter Verletzung des Sinus kommen.
Im Allgemeinen ist die Prognose bei der
Sinusverletzung günstig. Kommt es zur
Thrombose, so handelt es sich meist um
einen gutartigen Thrombus. Allerdings kann
dieser Thrombus später infiziert werden,
weil die Wrunde nicht immer völlig aseptisch
gehalten werden kann, und es ist nicht aus-
geschlossen, daß noch drei bis vier Wochen
nach der Verletzung Septikopyämie mit töd-
lichem Ausgang eintritt, wie verschiedene
Fälle in der Literatur es zeigen. Deshalb
ist bei der Warzenfortsatzoperation die größte
Vorsicht zu beobachten. Ist der Sinus verletzt
worden, so ist die strengste Asepsis geboten,
auch in dem Falle, wo nur eine Freilegung
des Sinus ohne Verletzung erfolgte. Auch
durch Lufteintritt kann die unbeabsichtigte
Sinusverletzung verhängnisvoll werden, wenn
man auch heute diese Gefahr geringer an-
schlägt als früher.
Bei der Freilegung und Eröffnung des
Sinus ist stets der Warzenfortsatz vorher
aufzumeißeln. Bei der durch akute Ohren-
erkrankung entstandenen Sinusthrombose wird
deshalb zuerst die typische Aufmeißelung,
bei der chronischen Erkrankung die Radikal*
Operation vorgenommen. Nur bei diesem
Vorgehen ist man sicher, keine erkrankten
Partien im Warzenfortsatz zurückgelassen zu
haben. Auch wenn die akuten Erscheinungen
in der Paukenhöhle und im Warzenfortsatz
geschwunden zu sein scheinen, ist doch bei
der Sinusoperation immer der Warzenfortsatz
zu eröffnen. Auf diese Weise ist auch die
Freilegung des Sinus am leichtesten vorzu-
nehmen, indem man nach Aufmeißelung des
Warzenfortsatzes durch al lmähliches Abmeißeln
des hinteren Knochenrandes soweit vordringt,
bis die Dura freiliegt, man hat dann immer
die vordere Wand des Sinus vor sich. Je
nach dem Befunde kann man nun den Sinus
mit Meißel oder mit einer schmalen Lu er-
sehen Zange nach oben und unten weiter
freilegen, unter Umständen bis über das
obere Knie hinaus nach hinten bis zum
Torcular Herophili, nach unten über die
untere Umbiegung hinaus bis zum Bulbus
venae jugularis.
In neuester Zeit wird von Grunert und
anderen die direkte operative Eröffnung des
Bulbus venae jugularis in den Fällen empfohlen,
wo nach der Jugularisunterbindung und der
Sinuseröffnung hohes pyämisches Fieber fort-
besteht, und eine andere Ursache als Bulbus-
thrombose auszuschließen ist. Zu diesem
Zwecke wird die Spitze des Warzenfortsatzes
ganz reseziert, der Sinus sigmoideus vom
Warzenfortsatz aus soweit wie möglich nach
unten zu freigelegt. Dann dringt man stumpf
präparierend an der Schädelbasis in die Tiefe
bis zur knöchernen Umrandung des Foramen
jugulare vor. Die Weichteile müssen mit
einem stumpfen Haken stark nach vorn ge-
drängt werden, wobei es zur Quetschung und
Paralyse des Nervus facialis kommen kann.
Zuletzt bricht man die Knochenbrucke zwischen
dem freigelegten Sinus sigmoideus und dem
Foramen jugulare mit der Lu ersehen Zange
ab. Unter Umständen kann es notwendig
werden, den Processus transversus des ersten
Halswirbels mit der Lu ersehen Zange zu
resezieren. Grunert veröffentlicht einen der-
artigen Fall, wo es dabei zu einer Verletzung
der Arteria vertebralis kam. Ob es in solchen
Fällen vorzuziehen ist, durch Wegnahme des
Kuppeldaches der Bulbusgrube den Bulbus
der Vena jugularis freizulegen, wird die Zu-
kunft lehren.
Daß bei Sinusthrombose nicht immer
allein durch die Vena jugularis interna die
infektiösen Stoffe in die Blutbahn gelangen,
geht aus den Fällen hervor, in welchen nach
Unterbindung der Vene und selbst nach Aus-
XIX. Jaargaat.l
Februar 1905. J
Klau, Operative Eröffnung der Mlttelohrrlume.
87
räumung des Bulbus die Pyämie weiter fort-
besteht. Kommen solche Fälle zur Genesung,
so ist es schwer zu sagen, auf welchem Wege
das infektiöse Material in die Blutbahn ge-
langte.
Sehr wichtig bei der otitischen Pyämie
ist eine möglichst kräftige, leicht verdauliche
Ernährung. Bei Patienten, die einen ver-
hältnismäßig guten Appetit entwickeln, ist
die Prognose von vornherein günstig zu
stellen. Überhaupt spielt das Allgemein-
befinden bei der otitischen Pyämie eine wich-
tige Rolle. Alkohol ist in größeren Mengen
zu verabreichen, da derselbe sowohl ein
eiweißsparendes Mittel als auch ein hervor-
ragendes Excitans ist. Durchfälle werden
mit meist gutem Erfolge mit Tannalbin in
Pulvern (0,5 g 4 bis 5 mal täglich) behandelt.
Wenden wir uns jetzt zur kurzen Be-
trachtung der otitischen Meningitis, so
werden wir sehen, daß sich auch hier, wie
bei der Sinusthrombose, die Ansichten be-
züglich der Behandlung geändert haben.
Während früher die otitische Meningitis als
ein „noli me tangere" angesehen wurde, ist
heute der operative Eingriff unter gewissen
Umständen voll berechtigt.
Zunächst ist es die Meningitis serosa, die
durch die Aufmeißelung des Warzenfortsatzes,
Eröffnung der Schädelhöhle und Inzision der
Dura mater unter günstigen Bedingungen zur
Heilung gebracht werden kann. Verschiedene
in der Literatur beschriebene Fälle beweisen
es, wo durch Abfluß der serösen Flüssigkeit
eine günstige Wendung eintrat. Allerdings
kann es fraglich erscheinen, ob man es in
allen diesen Fällen mit einer wirklichen
Meningitis serosa zu tun hatte.
Aber nicht aliein bei der Meningitis se-
rosa, bei der sich eigentlich eine sichere
Diagnose kaum stellen läßt, sondern auch bei
beginnender eitriger Meningitis ist eine früh-
zeitige Eröffnung des Warzenfortsatzes und
der Schädelhöhie angezeigt. Selbst in Fällen,
wo schon deutliche Zeichen einer eitrigen
Meningitis vorhanden sind, erscheint der
operative Eingriff noch gerechtfertigt. Gra-
denigo beweist dies an der Hand von drei
Fällen von Leptomeningitis, die durch den
chirurgischen Eingriff am Schläfenbein und
durch die Lumbalpunktion zur Heilung kamen.
Ebenso will Macewen unter 6 Fällen von
zirkumskripter Meningitis 5 mal durch ope-
rativen Eingriff Heilung erzielt haben. Ob
es sich bei allen diesen und bei anderen in
der Literatur verzeichneten Fällen, die durch
Operation zur Heilung gelangten, immer um
eine beginnende eitrige Meningitis gehandelt
hat, mag hier dahingestellt bleiben. Jeden-
falls aber ist heute eine beginnende Lepto-
meningitis keine Kontraindikation mehr für
den operativen Eingriff. Nur bei der diffusen
eitrigen Meningitis ist die Operation zu
unterlassen, weil sie nutzlos ist. Benommen-
heit des Sensorium, klonische und tonische
Spasmen der Extremitätenmuskel oder halb-
seitige Lähmungen sprechen für diffuse eitrige
Meningitis. Dabei ist nicht außer acht zu
lassen, daß eine eitrige Meningitis auch
wochenlang latent bleiben und sich höchstens
ab und zu durch verhältnismäßig leichte
Kopfschmerzen bemerkbar machen kann, bis
plötzlich die Erkrankung in ihrer ganzen
Heftigkeit zum Ausbruch kommt. Aber selbst
bei ausgesprochener Leptomeningitis können
Tage mit relativem Wohlbefinden vorkommen.
Am konstantesten bei der Leptomeningitis
sind noch die Kopfschmerzen; meist ist auch
immer Erbrechen vorhanden, doch kann das-
selbe auch fehlen. Schüttelfröste bilden eine
Ausnahme. Die Temperatur steigt allmählich
an und ist dann meist hoch, sie kann aller-
dings auch remittierend und intermittierend
sein. Fast immer besteht Nackensteifigkeit
und wenn die Entzündung auf die Rücken-
markshäute übergegangen ist, treten heftige
Rückenschmerzen und hochgradige Steifigkeit
der Wirbelsäule auf, sodaß die Patienten sich
nicht aufrichten können. Alle diese Sym-
ptome sind aber niemals ganz konstant, und
es können die verschiedensten Variationen
vorkommen.
Auch die Entstehungs Ursache der otiti-
schen Leptomeningitis ist nicht immer sicher
nachzuweisen. Meist erfolgt allerdings die
Infektion auf dem Wege der Lymphbahnen
von dem ursprünglichen Krankheitsherde aus,
wobei nicht zu vergessen ist, daß auch durch
den Canalis caroticus die otitische Eiterung
in die Schädelhöhle gelangen kann. Es kann
über auch Meningitis eintreten bei bereits im
Ablauf begriffener Mittelohrentzündung, und
diese kann in ganz kurzer Zeit zum Tode
führen.
Zaufal spricht in diesem Falle von
hämatogener Infektion. Körner ist der An-
sicht, daß die Fälle von Meningitis, die
keinen nachweisbaren Zusammenhang mit dem
Erkrankungsherde im Schläfenbein zeigen,
auf Metastasen zurückzuführen sind.
Daraus geht hervor, wie schwierig unter
Umständen die Diagnose der diffusen eitrigen
Meningitis sein kann, namentlich die Diffe-
rentialdiagnose zwischen dieser und der Sinus-
thrombose, dem extraduralen Abszeß und dem
Hirnabszeß, denn auch bei diesen Abszessen
kann zirkumskripte eitrige Pachymeningitis
und zirkumskripte Leptomeningitis vorkommen ,
die oft das Bild einer diffusen eitrigen Me-
ningitis vortäuschen.
88
Klau» Operative Eröffnung der Mittelohrräume.
rTherapeu
L Momttah
_ eutUchc
Monatshefte.
In gewisser Beziehung bietet uns nun die
Lumbalpunktion einen Anhaltspunkt bei der
Diagnosenstellung der eitrigen Leptomenin-
gitis. Leutert wies darauf hin, daß die
Lumbalpunktion hauptsächlich zum Ausschluß,
nicht aber zur Diagnose der Meningitis ver-
wendet werden müsse. Gerade durch den
negativen Ausfall gelangt er zu dem Schluß,
daß bei deutlich vermehrter Flüssigkeits-
menge und bei gänzlichem oder fast gänz-
lichem Fehlen von polynukleären Leukozyten
eine eitrige Meningitis ausgeschlossen werden
könne. Diese Tatsache ist aber sehr wichtig,
da man bei einem solchen Ausschluß direkt
zur Operation schreiten kann. Ob dagegen
im entgegengesetzten Fall, also bei positivem
Ausfall der Lumbalpunktion, auf eine diffuse
eitrige Meningitis geschlossen werden kann,
darüber gehen die Ansichten noch ausein-
ander. Soviel aber steht nach neueren For-
schungen fest, daß Trübung des Liquor und
vermehrter Gehalt an Leukozyten allein nicht
genügen, die Diagnose auf eitrige Meningitis
zu stellen; finden sich dazu aber Bakterien
im Liquor cerebrospinalis, so ist eine eitrige
Leptomeningitis fast mit voller Bestimmtheit
anzunehmen.
Es würde hier zu weit führen, die ver-
schiedenen Ansichten des näheren auseinander-
zusetzen. Nur mag darauf hingewiesen
werden, daß auch einmal bei negativem Be-
funde in der Cerebrospinalflüssigkeit eine
eitrige Meningitis bestehen kann, wie Brieger
dies bei einem Fall von Stirnhöh lenempyem
beobachtet hat.
Auch Braun fand unter 8 Fällen von
eitriger Meningitis in der Punktionsflüssigkeit
zweimal keine Bakterien und keine Leuko-
zyten. Ebenso beobachtete Stadelmann
2 derartige Fälle.
Umgekehrt können auch einmal bei Durch-
bruch eines Hirnabszesses in die Ventrikel
Bakterien im getrübten Liquor sich vorfinden.
Man ersieht daraus, daß also nicht in jedem
Falle durch die Lumbalpunktion entweder
Leptomeningitis ausgeschlossen oder absolut
sicher angenommen werden kann.
Trotzdem besitzen wir in der Lumbal-
punktion ein wichtiges diagnostisches Mittel,
das wir niemals ganz werden entbehren
können. Immerhin aber werden wir die An-
wendung der Lumbalpunktion nur auf die
zweifelhaften Fälle beschränken und auch
hier in drohenden Fällen, wo noch geringste
Hoffnung auf Erfolg durch Vornahme der
Operation vorhanden ist, lieber sofort ope-
rieren, als durch die Lumbalpunktion und
Bakterienuntersuchung kostbare Zeit zu ver-
lieren. Es ist dieser Standpunkt umsomehr
berechtigt, als, wie wir schon im Vorher-
gehenden erwähnten, selbst bei* otitischer
eitriger Meningitis im Anfangsstadium durch
Operation eine Heilung möglich ist. Dazu
kommt, daß die Lumbalpunktion nicht in
jedem Falle absolut ungefährlich ist. Es
sind Fälle in der Literatur verzeichnet, wo
nach der Lumbalpunktion der Tod eintrat.
Auch ist die Möglichkeit nicht von der Hand
zu weisen, daß einmal durch die Lumbal-
punktion eine zirkumskripte Meningitis diffus
werden könnte. Man wird also gut tun, die
Lumbalpunktion nur da anzuwenden, wo sie
einen wirklichen praktischen Nutzen ver-
spricht.
Nach Schwartze benutzt man zur Aus-
führung der Lumbalpunktion am besten Hohl-
nadeln, die bei Erwachsenen ohne Ansatz-
stück ca. 13 cm lang sind, das Lumen
= 1,0, die Dicke = 1,3 mm. Die Punk-
tion wird zwischen dem 4. und 5. Lenden-
wirbel am unteren Rande des 4. Wirbels
vorgenommen. Die Verbindungslinie der
höchsten Punkte der Cristae ossis ilei schnei-
det den 4. Lendenwirbel in seiner Mitte,
dicht über dieser Linie ist der 3. Dornfort-
satz, dicht darunter der 4. Dornfortsatz.
Bei Erwachsenen tut man gut, ca. '/» cm
seitlich von der Mittellinie der Wirbelsäule
einzustechen und die Nadel medianwärts nach
vorn und oben zu führen, um die starken
Ligamenta apicum zu vermeiden. Stößt man
hierbei auf Knochen widerstand, so ist die
Lage der Dornfortsätze daran schuld. Man
muß die Nadel dann zurückziehen und senk-
recht auf die Wirbelsäule, unter Umständen
etwas medianwärts oder etwas nach unten,
einstechen. Bei Kindern stößt man die Nadel
senkrecht am unteren Rande des 4., 3. oder
2. Lendenwirbels in den Spinalkanal.
Eine weitere Komplikation sowohl der
akuten wie der chronischen Mittelohreiterung
ist der extradurale Abszeß. Dieser kann
seinen Sitz in der mittleren und, was häufiger
der Fall ist, in der hinteren Schädelgrube
haben. Der extradurale Abszeß erfordert
unter allen Umständen die Eröffnung des
Schädels. Am zweckmäßigsten wird dieser
Eröffnung die breite Aufmeißelung des Warzen-
fortsatzes vorausgeschickt, um den ursprüng-
lichen Krankheitsherd zu eliminieren. Es
steht fest, daß in den weitaus meisten Fällen
otogene Extraduralabszesse durch Eiterung
im Warzenfortsatz, seltener durch Atticus-
eiterung zustande kommen. Der Grund dafür
liegt in dem leichteren Abfluß des Eiters
aus dem Atticus, während der Austritt des
Eiters aus dem Warzen fortsatz meist sehr
erschwert ist. Sehr häufig findet sich dann
auch vom erkrankten Warzenfortsatz aus eine
Wegleitung in die Schädelhöhle, oft führen
XIX. Jahrgang.!
Februar 1905. J
Klau, Operative Eröffouog dar Mittelohrräume.
89
Fistelgänge zum Extraduralabszeß. Aber
auch in den Fällen, wo im Warzenfortsatz
keine Wegleitung nach der Schädelhöhle ge-
funden wird, ist bei einer Wahrscbeinlich-
keitsdiagnose die explorative Eröffnung der
hinteren oder mittleren Schädel grübe gerecht-
fertigt.
Es kann vorkommen, daß beim otogen en
Extraduralabszeß die akute Mittelohre iterung
vollständig ausgeheilt ist. Zaufal erklärt
dies dadurch, daß der Diplococcus pneumoniae
Fränkel-Weichselbaum, der meist an der Ent-
stehung des Abszesses schuld ist, nach Aus-
heilung der Paukenhöhleneiterung sich im
Antruin mastoideum einkapselt, um dann
später eine Entzündung des Warzenfortsatzes
und nachfolgenden Extraduralabszeß hervor-
zurufen. Selbst in Fällen, in denen man
beim extraduralen Abszeß keine krankhaften
Veränderungen mehr im Warzenfortsatz vor-
findet, ist doch die Eröffnung desselben an-
gezeigt, einmal weil man mit diesem Ope-
rationsweg gewissermaßen denselben Weg
verfolgt, den die Bakterien ursprünglich
genommen haben, dann aber auch aus dem
Grunde, weil in den meisten Fällen vom er-
öffneten Warzenfortsatz aus die Nachbehand-
lung am zweckmäßigsten vorgenommen werden
kann.
Zuweilen kann der Extraduralabszeß sehr
tief sitzen an der hinteren Fläche der Pyra-
mide, auch an der Spitze derselben. In
diesen Fällen ist die operative Methode
v. Bergmanns zu empfehlen: Eröffnung der
Schädelhöhle direkt über dem knöchernen
Gehörgang und Abdrängung der Dura mater
vom Felsenbein.
Die Diagnose des Extraduralabszesseskann
sehr große Schwierigkeiten bereiten. Fast
niemals ist sie ganz exakt zu stellen. Meist
wird der Extraduralabszeß erst bei der Er-
öffnung des Warzenfortsatzes diagnostiziert.
Am konstantesten ist noch das Vorhanden-
sein von Fieber und von Kopfschmerzen,
welche letzteren entweder diffus über die
ganze entsprechende Kopfhälfte verbreitet
sind, oder mehr lokal, entsprechend der Stelle
des Abszesses, empfunden werden. Dabei
bestehen fast immer gastrische Störungen:
Appetitlosigkeit, belegte Zunge, Stuhl Ver-
stopfung. In vielen Fällen kann man auf
Extraduralabszeß schließen, wenn hinter dem
Planum des Warzenfortsatzes, am angrenzen-
den Teil des Occiput, Schwellung oder sub-
periostaler Abszeß oder Knochenauftreibung
sich vorfindet. Auch Schmerzen bei Druck
und Perkussion an dieser Stelle ohne jede
Schwellung sprechen zuweilen für Extradural-
abszeß. Mitunter kommt es bei diesen letzte-
ren Fällen vor, daß der Abszeß seinen Sitz
in der mittleren, anstatt, wie nach dem
äußeren Befunde anzunehmen, in der hinteren
Schädelgrube hat. In seltenen Ausnahme-
fällen können Fieber und Kopfschmerzen
fehlen, und ist dann die Diagnose sehr schwer
zu stellen. Einen derartigen Fall aus meiner
Praxis möchte ich hier anführen, der auch
im weiteren Verlauf der Erkrankung durch
die ungewöhnlich ausgedehnte kariöse Zer-
störung von Interesse ist.
Es handelte sich um ein 11 jähriges Mädchen
M. aus Schöneberg, welches mir am 18. Januar 1901
zugeführt wurde. Nach Angabe der Mutter war
Patientin 3 Wochen vorher akut am linken Ohr
mit heftigen Schmerzen erkrankt, die nach wenigen
Tagen, als Eiterung eintrat, nachließen. Bei der
vorgenommenen Untersuchung zeigte sich der äußere
Gebörgang in der Tiefe derartig verschwollen, daß
vom Trommelfell nichts zu sehen war. Die Eiterung
aus dem Mittelohr war profus. Bei der Luftdusche
drang die Luft pfeifend durch die Trommelfellper-
foration. Hinter dem Ohr, auf der Grenze zwischen
Warzenfortsatz undOcciput,auf letzteres übergreifend,
fand sich ein großer Abszeß, der nach unten bis
über die Spitze des Warzen fortsatzes hinausreichte.
Fieber und Kopfschmerzen fehlten. Am nächsten
Tage wurde die typische Aufmeißelung von mir
vorgenommen. Zunächst wurde der Absceß in
breiter Ausdehnung eröffnet. Da dieser Schnitt
nicht zugleich auch für die Eröffnung des Warzen-
fortsatzes benutzt werden konnte, weil er zu weit
nach hinten lag, so mußte auf dem Planum des
Warzen fortsatzes ein zweiter Haut- und Periost-
schnitt ausgeführt werden. Bei der Aufmeißelung
des Warzen fortsatzes fand sich dieser in großer
Ausdehnung kariös zerstört, mit Granulationen durch-
setzt und mit Eiter angefüllt. Auch im Antrum
mastoideum fanden sich Granulationen und Eiter.
Der Knochen war erweicht, sodaß er dem Meißel
I einen schlechten Widerstand darbot und oft über
die Meißelschneide hinaus abbrach. Beim Ab-
meißeln der hinteren Grenze des Warzen fortsatzes
brach ein 1 cm langes und etwa ]/s cm breites
Knochenstück ab, wodurch der Sinus sigmoideus
freigelegt wurde. Sofort ergoß sich aus der Tiefe
des Sulcus sigmoideus ein Eiterstrom, welcher be-
wies, daß es sich hier um einen perisinuösen Ab-
szeß bandelte. Der Sinns wurde dann weiter nach
oben und namentlich nach unten zu, da hier aus
der Tiefe immer von neuem Eiter hervortrat, bis
in die Nähe des Bulbus jugularis freigelegt. Dabei
mußte die Spitze des Warze o fortsatzes vollständig
reseziert werden. Die Sinuswandung war nicht ver-
färbt. Da Fieber vor der Operation nicht bestand,
so lag kein Grund vor, irgend einen operativen
Eingriff am Sinus selbst vorzunehmen.
Meist ist bei den otogenen Extraduralabszessen
die Dura pathologisch verändert, namentlich ist dies
bei den durch chronische Mittelohreiterung ent-
standenen Abszessen der Fall. Häufig ist dabei
die Dura mater mit Granulationen bedeckt. Man
muß sich hüten, diese abzukratzen. — In unserem
Falle ging die Heilung, wenn auch langsam, so
doch glatt von statten. Die Operationswunde war
nach 2 Monaten geschlossen, die Eiterung aus dem
Mittel ohr sistiert.
Am 12. April desselben Jahres stellte sich
Patientin wieder ein mit der Angabe, daß sich
seit einigen Tagen eine äußerst schmerzhafte An-
schwellung über der Ohrmuschel gebildet habe,
und daß es aus dorn Ohre wieder eitere. Bei
näherer Untersuchung fand sich an der Schuppe
90
Klau, Operative Eröffnung der Nittelobrrlume.
rherapeutiachfc
Monatshefte.
des Schläfenbeins über dem Äußeren Gehörgang
ein Abszeß, der nach vorn bis zum Processus
zygomaticus des Schläfenbeins reichte, nach hinten
die ganze kaum vernarbte Knochenwunde in Mit-
leidenschaft gezogen hatte. Bei der Eröffnung des
Abszesses, die in weiter Ausdehnung nach vorn und
nach hinten unten um die Ohrmuschel herum aus-
geführt wurde, zeigte sich am Processus zygomaticus
oberflächliche Caries. Ferner fand sich an der
oberen Peripherie des Porus acusticus extern us bis
hinein in den äußeren Gehörgang tiefgehende kariöse
Zerstörung. Hier sowohl wie am Processus zygo-
maticus wurden die kariösen Partien zum Teil mit
dem scharfen Löffel, zum Teil oberflächlich mit dem
Meißel abgetragen und geglättet. Ende Juni war
die Wunde geschlossen, die Mittelohreiternng sistiert.
Doch auch diesmal sollte die Heilung nur von kurzer
Dauer sein. Am 19. Februar 1902 stellte sich Pa-
tientin, die inzwischen wiederholt untersucht worden
war, wieder vor mit einem retroaurikularen Abszeß,
der über den äußeren Gehörgang hinaus bis hinauf
zur Schuppe des Schläfenbeins reichte. Aus dem
Mittelohr iand profuse übelrichende Eiterung statt.
Im Trommelfell fanden sich 2 Perforationen, die
eine im hinteren unteren Quadranten, die andere
am kurzen Fortsatz des Hammers. Die sorgfältige,
an letzterer Stelle vorgenommene Untersuchung mit
der Sonde ergab Garies des Hammers. Am 20. Fe-
bruar 1902 wurde nunmehr die Totalaufmeißel ung
vorgenommen. Der knöcherne Gehörgang fand sich
sowohl an seiner hinteren als auch unteren Wand
kariös zerstört; ja sogar am medianen Ende der
vorderen knöchernen Gehörgangswand fand sich
Caries, sodaß beim Abtragen des erkrankten
Knochens daselbst das Unterkiefergelenk freigelegt
wurde. Es mag hier gleich erwähnt werden, daß
durch diese Freilegung des Kiefergelenks eine
dauernde Störung in der Beweglichkeit des Unter-
kiefers nicht eintrat. Hammer und Amboß wurden !
entfernt, sie waren kariös erkrankt, ebenso die Pars |
epitympanica. Die Überhäutung der sehr ausge-
dehnten Knochenwunde ging ungemein langsam vor I
sich. Ende Juni 1902 schien die ganze Höhle voll- j
ständig vernarbt zu sein. Schon Mitte August aber {
hob sich die Narbe an der hinteren Peripherie der i
Knochenhöhle wieder eitrig ab. Die Ursache war ein j
lern langer und 7s cm breiter Sequester, der entfernt |
wurde. Von dieser neuen Knochen wunde aus führte ein :
Fistelgang zur mittleren Schädelgrube hin, ohne
dieselbe aber zu eröffnen. Der Fistelgang wurde
mit dem Meißel genügend erweitert, die mittlere
Schädelgrube eröffnet. Es fand sich kein Eiter
und keine Veränderung an der Dura. Die Nach-
behandlung erstreckte sich von Mitte August 1902
bis Anfang Juni 1903, zu welcher Zeit Patientin
als geheilt enlassen werden konnte. Ob diese
Heilung von Dauer ist, wird die Zukunft lehren.
Zur Zeit, 5 Monate nach der Entlassung, ist die
Knochenhöhle trocken und überhäutet.
Es erübrigt, an dieser Stelle noch dem
otogenen Hirnabszeß eine kurze Betrach-
tung zu widmen. Derselbe erfordert in jedem
Falle die Eröffnung des Schädels. Ist der |
Hirnabszeß infolge einer chronisch eitrigen
Mittelohraffektion entstanden, so ist stets die
Radikal Operation vorauszuschicken; auch bei
dem durch akute eitrige Erkrankung der
Mittelohrräume entstandenen Hirnabszeß ist
es vorzuziehen, vorher die breite Aufmeiße-
lung des Warzenfortsatzes auszuführen. Bei
diesem operativen Vorgehen hat man auf der
einen Seite den Vorteil, den ursprünglichen
Krankheitsherd gründlich zu beseitigen, auf
der anderen Seite aber auch die Möglichkeit,
den Hirnabszeß unter Umständen von den
Mittel ohrräumen aus eröffnen zu können.
Die Ansichten über die Art und Weise
der Eröffnung des Hirnabszesses sind geteilt.
Während die einen den Abszeß in geeigneten
Fällen von den Mittel ohrräumen eröffnet wissen
wollen, ziehen die anderen eine neu anzu-
legende Trepanationsöffnung am Schädel vor.
Preysing namentlich befürwortet die Er-
öffnung des otitischen Schläfen läppen abszesses
vom Tegmen tympani aus, da hier die da-
zwischenliegende Hirnsubstanz höchstens 1 bis
2 mm betrage, während von der Schuppe
des Schläfenbeins die Dicke der Hirnsubstanz
nicht unter 1 cm ausmache. Die Dura der
mittleren Schädelgrube wird zu diesem Zwecke
im Bereiche des Antrum mastoideum bis zum
Tegmen tympani freigelegt etwa zehnpfennig-
stückgroß und durch einen Kreuzschnitt ge-
spalten. Dann wird ein rechtwinklig abge-
bogenes Skalpell vom Antrum aus senkrecht
nach oben in die Hirn Substanz gestoßen und
etwa einen Viertelkreisbogen nach vorn rotiert.
In geeigneten Fällen, namentlich wenn
eine Wegleitung von den erkrankten Mittel-
ohrräumen nach der Schädelhöhle führt, wird
diese Art der Eröffnung des Abszesses ganz
zweckdienlich sein. Dagegen bietet nun aber
die Eröffnung eines Schläfenlappenabszesses
von der Schuppe aus nicht zu unterschätzende
Vorteile. Diese Art der Trepanation, welche
am besten einen Querfinger breit über der
oberen Gehörgangs wand, etwas mehr nach
hinten als nach vorn in etwa Dreimarkstück-
größe vorgenommen wird, bietet zunächst
eine viel größere Übersichtlichkeit. Die
Punktion, resp. Inzision des Gehirns kann von
hier aus viel leichter und ergiebiger ausge-
führt werden als vom Tegmen tympani aus.
Ist die Diagnose des Hirnabszesses, wie sehr
oft, nur eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose,
findet man von den Mittelohrräumen aus
keinen Fistelgang nach der Schädelhöhle, so
ist die »Trepanation von der Schuppe aus
vorzuziehen. Findet sich bei diesem Vor-
gehen kein Abszeß, so hat man wenigstens
die Gefahr einer Infektion des Gehirns und
seiner Häute von den infizierten Mittelohr-
räumen aus möglichst vermieden.
Auch der Hirnprolaps wird bei dieser
Art des operativen Eingriffes nicht so störend
und überhaupt nicht so hochgradig sein, wie
bei der Eröffnung des Abszesses von Tegmen
tympani aus.
Die Punktion des Gehirns durch die Dura
mater darf nur bei ganz normaler Dura vor-
genommen werden. Ist die Dura krankhaft
XIX. J*hrc*n*.-|
Februar ISQ5 J
Klau, Operative EiOffnuiif der Mittelohrrtume.
91
verändert, so muß dieselbe zunächst gespalten
und dann erst die Punktion des Gehirns aus-
geführt werden. Von der entzündeten Dura
könnten sonst leicht Infektionskeime in den
Subarachnoidalraum und in die Hirnsubstanz
übertragen werden. Dadurch kann es dann
zur Abszedierung in den Stichkanälen und
weiterhin zur eitrigen Meningitis kommen.
Die Diagnose des otitischen Hirnabszesses
kann großen Schwierigkeit begegnen. Treffend
spricht es Schwartze aus, daß die Operation
eines otitischen Hirnabszesses leicht, das
Finden desselben aber eine Glückssache sei.
Oft werden die Kopfschmerzen an ganz ande-
ren, dem Sitze des Abszesses nicht entsprechen-
den Stellen empfunden.
Nicht bei jedem Hirnabszeß sind aus-
gesprochene Herdsymptome vorhanden. Es
können mehr allgemeine cerebrale Symptome
bestehen, die ebensogut auf eine Meningitis
bezogen werden können. Unregelmäßiger und
verlangsamter Puls, halbseitige Kopfschmerzen,
Schwindel, Gedächtnisschwäche, lokale aus-
gesprochene Perkussionsempfindlichkeit, Sopor,
Hemiplegie lassen zwar die Annahme eines
Hirnabszesses zu, doch können diese Symp-
tome auch bei einer Meningitis vorkommen.
Unkomplizierte otogene Hirnabszesse
können vollständig fieberlos verlaufen, oder
es treten zeitweise nur hochnormale oder
leicht febrile Temperaturen auf. In allen
diesen zweifelhaften Fällen aber ist es gerecht-
fertigt, auch selbst bei einer Wahrscheinlich-
keitsdiagnose die Trepanation des Schädels
und eine probatorische Inzision des Gehirns
vorzunehmen.
Nicht immer findet sich der Sitz des
otogenen Hirnabszesses ganz in der Nähe
des erkrankten Ohres, sondern er kann in
sehr seltenen Fällen erheblich weit davon
entfernt sein. Einen derartigen, sehr inter-
essanten Fall möchte ich hier noch kurz
wiedergeben :
Es handelte sich um einen 7jährigen Knaben
S. aas Stettin, bei dem im März 1887 wegen einer
chronischen Mittelohreiterung rechterseits die ty-
pische AufmeißeluDg vorgenommen wurde. Die
Totalaufmeißel ung wurde damals noch nicht geübt.
In der 4. Woche der Nachbehandlung bildete sich
auf dem rechten Scheitelbein ein subperiostaler
kalter Abszeß, nach dessen Eröffnung der rauhe
Schädelknochen in etwa Zweimarkstückgröße freilag.
Patient hatte kein Fieber und klagte nicht über
Kopfschmerzen. Das Allgemeinbefinden war be-
friedigend. Trotz sorgfältigster Behandlung wollte
die Abszeßwunde sich nicht schließen, und es
wurde deshalb unter der Annahme, daß es sich
um einen extraduralen Abszeß handelte, der Schädel
an der erkrankten Stelle aufgemeißelt. Es fand
sich aber kein Eiter zwischen Dura und Schädel-
knochen. Die Dura zeigte sich anscheinend normal,
und es sollte eigentlich die Operation abgebrochen
werden, als bei nochmaliger genauester Besichtigung
der Dura sich eine minimal verfärbte Stelle zeigte.
Probatorisch wurde hier mit einerNadel eingestochen.
Sofort entleerte sich etwa 2 Eßlöffel voll dünnflüssiger,
vollständig geruchloser Eiter, wie man ihn bei Er-
öffnung tuberkulöser Abszesse häufig findet. Ein
Stück der Dura wurde exzidiert und ein dünnes
Drainrohr eingelegt. Das Allgemeinbefinden des
Patienten nach der Operation war befriedigend.
Wie man es früher nach der typischen Aufmeiße-
lung des Warzen fortsatzes gemäß der Vorschrift
Schwartzes gewöhnt war, wurde durch den ge-
meißelten Knochenkanal vom Warzen fortsatz aus
aseptische Flüssigkeit durchgespritzt, soduß dieselbe
durch die Paukenhöhle aus dem äußeren Gehörgang
abfloß. Hierbei zeigte sich eine ganz auffallende
Erscheinung. Ein Teil der Füssigkeit nämlich lief
beim Spritzen aus der Operationswunde des Hirn-
abszesses heraus. Daraus ging hervor, dass ein
Zusammenhang des Hirnabscesses mit dem er-
krankten Ohr bestand. Wie diese Wegleitung von
den Mitteloh rräumen zum Hirnabszeß zustande
kam, konnte nicht festgestellt werden, da bei der
typischen Aufmeißelung des Warzen fortsatzes, wie
sie damals noch allgemein auch bei der chronischen
Mittelohreiterung geübt wurde, ein vollkommener
Überblick über die sämtlichen Mittelohrräume nicht
möglich war. Patient wurde dann einige Wochen
später bei befriedigendem Allgemeinbefinden nach
seinem Heimatsort zu weiterer Behandlung über-
geführt.
Am Schlüsse unserer Arbeit mag noch
darauf hingewiesen werden, daß die Unter-
suchung des Augenhintergrundes bezüglich
der Diagnose der Hirnkomplikationen von
großer Wichtigkeit ist. Deshalb ist es bei
schwereren Fällen von Otitis media suppu-
rativa geboten, den Augenhintergrund zu
untersuchen. Erhebliches Fieber braucht da-
bei garnicht zu bestehen. Mäßig erhöhte
Temperaturen (morgens 37, abends 38 Grad)
sind ein zu berücksichtigendes Zeichen für intra-
kranielle Komplikationen. Die Ansicht steht
wohl heute allgemein fest, daß bei eitrigen
Mittelohraffektionen, die auf die Paukenhöhle
und den Warzen fortsatz beschränkt bleiben,
sich niemals Veränderungen am Augenhinter-
grund nachweisen lassen. Sind aber Ver-
änderungen am Augenhintergrund bemerkbar,
so haben wir es immer mit einer Gehirn-
komplikation zu tun. Oft sind diese Ver-
änderungen das einzige Symptom für die
intrakranielie Erkrankung. Aus den Ver-
änderungen selbst läßt sich über den Sitz
und die Art der Erkrankung kein Schluß
ziehen. Selbstverständlich können auch bei
negativem Befunde am Augenhintergrund
Gehirnkomplikationen vorhanden sein. Der
positive Befund, und sollte er auch nur in
beginnender Rötung der Papille bestehen,
erfordert sofortige Eröffnung des Warzenfort-
satzes. Ob dann die Operation weiter auf
die Schädelhöhle ausgedehnt werden soll
oder nicht, darüber entscheidet der Operations-
befund, die sonstigen Symptome und ferner
auch der Weiterverlauf der Erkrankung.
92
Freund, Zur Kenntnis d«t Styptlelna.
rTher&peatlaeh«
L MoTlfttRbftft«.
Zur Kenntnis des Styptlcins.
Von
Prof. Dr. Martin Freund in Frankfurt a. M.
In einem im August 1904 in dieser
Zeitschrift veröffentlichten Aufsatz habe ich
angegeben, daß im Stypticin — dem Chlor-
hydrat des Cotarnins — 92,7 Proz., im phtal-
sauren Salz dagegen nur 78,4 Proz. des wirk-
samen Alkaloides enthalten sind. Diese
Zahlen sind von Herrn Dr. Eatz1) bemängelt
worden und ich mochte daher zur Ergänzung
folgendes ausführen:
Die Base, welche dem Stypticin zu Grunde
liegt, hat die Konstitution I und demzufolge
die Zusammensetzung C19 H,5 N04. Beim Zu-
sammenbringen mit Salzsäure geht sie unter
Abspaltung von einem Molekül Wasser, indem
Ringschluß eintritt, in Stypticin über, welchem
die Formel II und die Zusammensetzung
C19 Hu N03 . Cl zukommt. Letzteres bildet
mit Alkali wieder die Base zurück
CH,
CH,0
| CHO
' /
A
CH3
+ H Cl = H3 0 4-
CH,
CH,
CH30
| CH
NaCl =NaOH+ CH, | I!
II
■•N:
/Cl
NCH,
CH,
CH2
Demzufolge liefern 100 Teile Stypticin
92,4 Teile Base, 100 Teile des phtalsauren
Salzes (C13 H14 N08)a Ca H4 04 dagegen nur
78,4 Teile. Diese Zahlen entsprechen also den
krystallwasserfreien Salzen. In der Tat wird
auch das Stypticin von der Fabrik E. Merck
in Darmstadt wasserfrei hergestellt. Da
l) Therap. Monatshefte, Novemberheft, 1904.
dieses Produkt aber hygroskopisch ist, so
zieht es schon während des Yerpackens leicht
etwas Wasser an. Vier Präparate, welche
zu verschiedenen Zeiten im Laufe der letzten
Jahre von mir bezogen worden sind, ergaben
bei 100° getrocknet einen Gewichtsverlust
zwischen 1,5 bis 3 Proz.3). Dementsprechend
lieferten diese Präparate, anstatt der theo-
retisch berechneten 92,4 ca. 89 — 90 Proz.
Base. Das von Knoll & Co. hergestellte
phtalsaure Salz enthält nach Dr. K atz 73 Proz.
Base. Diese Angabe ist — wie ich mich
überzeugt habe — annähernd richtig. Die
Differenz im Gehalt an Base zwischen Styp-
ticin und dem im Handel befindlichen Phtalat,
beträgt also ca. 17 Proz.3), während die
früher von mir für die wasserfreien Salze
angeführten, theoretischen Werte eine Diffe-
renz von ca. 14 Proz. aufweisen. Diese
Differenz im Gehalt an Alkaloid bedingt
auch den geringen Preisunterschied. Letzterem
mochte ich indessen überhaupt keine Be-
deutung beimessen, weil ja die Preise von
den beteiligten Fabriken jederzeit geändert
werden können. Allein von Wichtigkeit ist
die Frage, ob das Phtalat, trotz seines ge-
ringeren Alkaloidgehaltes, intensiver zu wirken
vermag, als das Stypticin. Wenn dies der
Fall wäre, so müßte, wie ich früher schon
dargelegt habe, Phtalsaure für sich aliein
innerlich verabreicht, eine mächtige s typ tische
Wirkung ausüben. Zur exakten Beantwortung
dieser Frage sind Versuche mit Phtalsaure
unter Ausschluß von Stypticin unerläßlich.
Wie ich aus der Publikation des Herrn Dr.
Katz ersehe, ist derselbe mit Versuchen
nach dieser Richtung beschäftigt und es wäre
erfreulich, wenn als Resultat der hier ge-
führten Diskussion die Klärung dieser Frage
hervorginge.
') Herr Dr. Katz gibt an, daß ein von ihm
untersuchtes Stypticinpr¶t einen Gewichtsverlust
von 10 Proz. ergeben habe, welcher nahezu dem
krystallwasserhaltigen Salz C,aH14N(VCl -+- 2H,0
entspricht. Wie die Fabrik von E. Merck in
Darmstadi mir auf Anfrage mitteilte, ist anfangs
nach Einführung des Stypticins für kurze Zeit das
kry stall wasserhaltige Präparat in den Handel ge-
langt, seitdem wird aber das Stypticin ausschließ-
lich im getrockneten Zustande hergestellt.
3) In der deutsch, med. Wochenschrift 1904,
No. 52, S. 1937 ist die Differenz zu niedrig, näm-
lich zu 10 Proz. anstatt zu 17 Proz., angegeben.
XIX. Jahrgang. ]
Februar 1905. J
Mendel, Flbrolyiin, eine neue Thioiinamlnverbindung.
93
Neuere Arzneimittel.
Fibrolysin,
eine neue Thiosinaminverbindunjr.
Von
Dr. Felix Mandel Essen-Ruhr.
Obwohl Hans von Hebra bereits im
Jahre 1892 durch ausgedehnte Versuche fest-
gestellt hat, daß wir in dem Thiosinamin
(Allylsulfoharnstoff) ein Mittel besitzen, wel-
ches Lupusherde zur Ausheilung bringt und
alle, gleichgültig durch welche Ursachen ent-
standenen Narbengewebe durch Aufquellung
erweicht und beweglicher macht, alte Korneal-
trübungen aufhellt, Drüsentumoren verkleinert,
alte Residuen üb erstandener Entzündungen,
wo sie nur immer ihren Sitz haben, zur Re-
sorption anregt, so hat es doch sehr lange
gedauert, bis sich dieses neue Mittel auch
nur die Anerkennung eines kleinen Kreises
der medizinischen Welt erringen konnte.
Nicht als ob die Beobachtungen Heb ras
ernsten Nachprüfongen nicht hätten stand-
halten können, im Gegenteil, wenn auch die
angegebenen Heilungsvorgänge luposer Er-
krankungen von den übrigen Autoren nicht
bestätigt wurden, so waren doch alle Beob-
achter sich darin einig, daß dem Thiosin-
amin alle übrigen Fähigkeiten innewohnen,
welche ihm Hebra zugesprochen. Ja, die
meisten Forscher waren sogar geneigt, das
Anwendungsgebiet dieses neuen Medikamentes
noch um ein beträchtliches zu er-
weitern. Ohne auf die große über dieses
Mittel bereits bestehende Literatur näher ein-
zugehen, die schon von Juliusberg (Deutsche
medizinische Wochenschrift 1901, No. 35) er-
schöpfend zusammengestellt und nachdem von
Lewandowsky (Therapie der ' Gegenwart,
Oktober 1903) vervollständigt ist, so möchte
ich doch kurz diejenigen wichtigen Krank-
heitszustände angeben, bei welchen das
Thiosinamin bisher erfolgreich Verwendung
gefunden hat, ohne damit behaupten zu
wollen, das gesamte Indikationsgebiet dieses
Mittels geschildert zu haben. Ziemlich er-
schöpfend sind alle diese Krankheitsprozesse
in' den wissenschaftlichen Mitteilungen, von
Merck aufgeführt.
Nachdem Hebra zuerst mit Erfolg bei
Lupus und durch Lupus oder andere Ursachen
entstandenen Narbengewebe dieses Mittel
verwandt hatte, bestätigte zuerst Hanc die
narbenerweichende Wirkung des Thiosinamins,
das er auch bei Harnröhrenstrikturen
erfolgreich versuchte. Ferner Latzko und
Kalinczuk, die bei verschiedenen chro-
nischen Entzündungsprozessen der weiblichen
Genitalien, z.B. chronischen parametralen
Exsudaten, gute Erfolge erzielten. Unna
empfiehlt es als ein vorzügliches Mittel zur
Beseitigung von fibrösen Tumoren,
i (Keloiden) und fibrösen Strängen auf dem
| Boden von Varizen, Lepromen, Syphilomen
und Lupus. Juliusberg benutzte es mit
Erfolg bei Skleroderma, ebenso Lewan-
dowsky, der auf Grund eingehender Unter-
suchungen auch für dessen Verwendung bei
allen äußeren und inneren Narben, ganz
besonders aber bei Adhäsionen, Verklebun-
gen und Verwachsungen innerer Organe
untereinander und mit serösen Häuten ein-
tritt.
Ferner wird das Mittel empfohlen bei
Herzfehlern auf Grund narbiger Verände-
rungen der Herzklappen, bei Pylorusstenose,
bei Dupuytrenscher Kontraktur, bei Rhino-
sklerom und schon von Hebra bei Drüsen-
tumoren. In der Ohrenheilkunde machte
man bei Schwerhörigkeit, welche durch
narbige Veränderungen im inneren Ohr oder
fibröse Verwachsungen der Gehörknöchel-
chen entstanden, von dem Mittel Gebrauch.
In der Augenheilkunde benutzte man es
zur Aufhellung kornealer Trübungen, zur
Beseitigung iritischer Verwachsungen,
sowie bei Chorioiditis disseminata ex-
sudativa.
Wiewohl in der gesamten Pharm acopöe
kein einziges Mittel existiert, welches
auch nur annähernd dieselbe Wirkung wie
das Thiosinamin auszuüben vermag, und
keinem von allen ein so ausgedehnter Wirkungs-
kreis von den Autoren zugesprochen wird,
so hat das Thiosinamin in der allgemeinen
Praxis doch nicht diejenige Verbreitung ge-
funden, welche ihm vermöge seiner großen
praktischen Bedeutung zukommt.
Einem ausgedehnten Gebrauch dieses
Mittels steht hinderlich im Wege seine
schwere Löslichkeit in Wasser und seine
von den meisten Autoren festgestellte Unwirk-
samkeit bei innerlicher Darreichung. Aber
die von Hebra empfohlene subkutane In-
jektion einer löproz. alkoholischen Lö-
sung wird von den meisten Patienten so
überaus schmerzhaft empfunden, daß eine
länger ausgedehnte Behandlung, die nach der
Natur der Erkrankungen und der Wirkungs-
weise des Mittels meist notwendig erscheint,
undurchführbar ist. Auch der von Unna an
Stelle der Thiosinamin-Injektion empfohlene
Gebrauch von Thiosinaminseifen und
Thiosinamin-Pflastermull konnte sich
94
M«nd«l, Fibrolysio, «In« neu« Thioslniminvarblndunf.
rherapentUch«
Mnnnt«h«>4le.
nicht einbürgern, weil sie nicht selten schon
nach kurzer Applikation starke Reizerschei-
nungen hervorriefen, und ihre Anwendung
nach der Lage der Dinge selbstverständlich
nur auf äußerliche Narben und Geschwülste
beschränkt bleiben muß.
Die von Juliusberg empfohlene Lösung
in warmem Wasser und Glyzerin ist
zwar bei subkutaner Injektion nicht so
schmerzhaft wie die alkoholische Losung, sie
hat aber den Nachteil, daß das Thiosinamin
bei Erkalten der Lösung sich wieder aus-
scheidet und vor jedesmaligem Gebrauch von
neuem erwärmt werden muß. Durch das
häufige Erwärmen aber scheint nach meinen
Beobachtungen eine Veränderung des Prä-
parates einzutreten, die sich durch einen
starken Allylgeruch kennzeichnet und die
auch wohl als der einzige plausible Grund
anzusehen ist für die von vielen Autoren,
insbesondere von Lewandowsky, konstatierte
Tatsache, daß die wässerige Lösung in
ihrer Wirkung lange nicht so zuverlässig
ist wie die alkoholische Löung.
Sollte also das Thiosinamin diejenige
Verbreitung und Anerkennung finden, die es
vermöge seiner ausgedehnten, zuverlässigen
und vielseitigen Wirkung verdient, so mußte
ein Präparat geschaffen werden, welches
bei gleichen pharmakodynamischen
Fähigkeiten in Wasser löslich ist, sich
nicht zersetzt und in seiner Anwendung
für den Patienten erträglich bleibt.
Es ist mir nun nach zahlreichen vergeb-
lichen Versuchen gelungen, ein Doppelsalz
herzustellen, das in ähnlicher Weise wie das
Diu retin durch Verbindung des unlöslichen
Theobromin mit Natr. salicylicum zu
einem in Wasser löslichen Präparate ge-
worden ist, eine chemische Verbindung von
Thiosinamin und Natrium salicylicum
darstellt, und zwar verbindet sich 1 Mol.
Thiosinamin mit einem halben Mol. Natrium
salicylicum.
Diese neue Verbindung, welche nach
ihrer, dem Thiosinamin gleichen Wirkungs-
weise den Namen Fibrolysin führt und
von der Firma E. M erck - Darmstadt
fabrikmäßig hergestellt wird, stellt ein weißes
krystallinisches Pulver dar, welches in warmem
wie in kaltem Wasser leicht löslich ist.
Diese Lösungen sind aber bei Luft- und
Lichtzutritt nicht haltbar, sondern die Ver-
bindung des Thiosinamin mit Natrium sali-
cylicum löst sich bei Zutritt von Luft infolge
von Oxydations Vorgängen wieder. Es ist
deswegen für die praktische Verwendung als
zweckmäßig befunden worden, die Lösungen
zum Gebrauch fertig in zugeschmolzenen
Ampullen in den Handel zu bringen, in wel-
chen sie dauernd haltbar bleiben und gleich-
zeitig alle Garantien eines unzersetzlichen und
absolut sterilen Präparates bieten. Jede der
Ampullen, welche, um die Lichtwirkung aus-
zuschalten, aus braunem Glase hergestellt
sind, enthält 2,3 ccm einer Lösung Fibro-
lysins 1,5 : 8,5 Wasser. Die Lösungen sind
vollständig und eine Stunde lang im Auto-
klaven auf 115° erhitzt worden. Der Inhalt
jeder Ampulle entspricht 0,2 Thiosin-
amin.
Um die beste Applikationsmethode für
den praktischen Gebrauch festzustellen, haben
wir diese Fibrolysinlosung sowohl in sub-
kutaner und intramuskulärerals in endo-
venöser Anwendung versucht, während wir
von einer internen Anwendung wegen der
von den meisten Forschern behaupteten Wir-
kungslosigkeit Abstand nahmen.
Die subkutane Injektion erfolgt ent-
weder in die Rückenhaut zwischen den
Schulterblättern, oder wo es aus psycho-
logischen oder anderen Gründen indiziert er-
scheint, am Orte der Erkrankung, so bei
Parametritis chronica oder Fibroma uteri
unter die Bauchhaut, bei Ischias in die Gegend
der Glutäen, ebenso bei Hautnarben in die
nächste Umgebung derselben.
Die Injektion, welche selbstverständlich
unter strengsten antiseptischen Kau-
telen ausgeführt werden muß, wurde von
allen Patienten vorzüglich vertragen, sie
erregte nur ein leises, schnell vorübergehendes
Brennen unter der Haut und wurde schnell
resorbiert, ohne Reizerscheinungen oder gar
Abszesse hervorzurufen. Nur in ganz ver-
einzelten Fällen bildeten sich kleine In-
filtrate, die nach wenigen Tagen spurlos
verschwanden.
Noch angenehmer gestaltet sich die
intramuskuläre Injektion von Fibrolysin
in die Glutäalgegend, sie ist absolut
schmerzlos, wird ebenfalls schnell in die
Blutbahn aufgenommen und erzeugt niemals
Infiltrate oder sonstige Reizerscheinungen.
Von besonderem Interesse erschien mir
die intravenöse Applikation der sterilen
Fibrolysinlosung.
Nachdem an der Vene frisch entnommenem
Blute festgestellt war, daß die Fibrolysin-
losung keine Gerinnungen des Blutes hervor-
ruft, und die Beobachtung unter dem Mikro-
skop gezeigt hatte, daß auch die korpus-
kularen Elemente des Blutes in keiner Weise
von dem Mittel in ihrer Vitalität geschädigt
werden, war jede Gefahr einer Embolie
durch die intravenöse Injektion auszu-
schließen. Es erübrigte nur noch, nach
den von uns dargelegten Grundsätzen für
die endovenöse Therapie im allgemeinen
XIX. Jahrgang.]
F»brnar 19nf>. J
Mandel, Fibrolysin, «in« neu« Thiosinamlnverblndung.
95
(Therapeutische Monatshefte, April 1904) fest-
zustellen, wie sich das Endothel der Venen
der injizierten Flüssigkeit gegenüber verhält.
Die praktische Erfahrung zeigte nun, daß
weite Venen bei genügender Stauung die
intravenöse Injektion der Fibrolysinlösung
ohne Schädigung vertragen, sodaß sogar
wiederholte Injektionen an derselben Stelle
derselben Vene gemacht werden konnten,
ohne zu Thrombenbildung Veranlassung zu
geben. Bei engen Venen ist es jedoch in
vereinzelten Fällen zur Bildung von Thromben
an der Injektionsstelle gekommen. Wenn dies
auch nur selten geschah, so gab uns die
Möglichkeit einer Thrombenbildung doch Ver-
anlassung, diese Art der Behandlung nur auf
solche Fälle zu beschränken, bei denen 1. die
Weite der Vene eine Schädigung derselben nicht
erwarten ließ, oder 2. wo heftige Schmerzen
oder bedrohliche Erscheinungen eine möglichst
schnelle Wirkung der Medikation erheischten,
denn die intravenöse Infusion über-
trifft, wie wir das für verschiedene andere
Medikamente bereits nachgewiesen, (Thera-
peutische Monatshefte, April 1904) auch
beim Fibrolysin an Schnelligkeit und
Sicherheit der Wirkung jede andere
Art der Arzneianwendung.
Ich muß hinzufügen, daß auch in den-
jenigen wenigen Fällen, in denen eine Thromben-
bildung an der Injektionsstelle nicht verhütet
werden konnte, außer einer leichten Schmerz-
empfindung absolut keine schlimmen Folgen
für den Patienten daraus erwachsen sind.
Die intravenöse Injektion hat aber
deswegen für uns eine besondere Bedeutung,
weil sie besser als die intramuskuläre oder
subkutane Anwendung nicht nur den Beweis
liefert für die gleiche Wirksamkeit des
Fibrolysins wie des Theosinamins,
sondern weil sie uns gleichzeitig Aufklärung
darüber schafft, wie die merkwürdige spe-
zifische Wirkung dieses Präparates auf das
Narbengewebe zustande kommt.
Die intravenöse Injektion wurde so vor-
genommen, wie ich das bereits in den Thera-
peutischen Mqnatsheften 1903/1904 beschrie-
ben habe, jedoch bei der großen praktischen
Bedeutung einer richtig ausgeführten Technik
hier nochmals wiederholen mochte.
Zur Injektion wurde stets die 2 g-Spritze
von J. u. H. Lieberg in Kassel benutzt, welche
Firma auch ein sehr brauchbares Besteck
zur intravenösen Therapie zusammen-
gestellt hat.
Nachdem man die Platiniridiumnadel in
einem Reagenzglase 3 Minuten ausgekocht,
wird die stets nur für dieselbe Flüssigkeit
verwendete Pravazspritze (am besten die
Liebergsche ganz aus Glas) mit dem ge-
kochten Wasser ausgespritzt und mit der
Arzneiflüssigkeit gefüllt. Sodann wird der-
jenige Oberarm, welcher die am stärksten
ausgebildeten Venen in der Ellenbeuge zeigt,
mit der Gummibinde so fest umschnürt, daß
der arterielle Zufluß unbehindert, der venöse
Abfluß aber gehemmt ist. Zuweilen sind,
besonders bei nicht arbeitenden Frauen und
Kindern, trotz wiederholter Stauung, keine
Venen von genügender Weite in der Ellen-
beuge zu finden, es präsentiert sich dann
nicht selten auf der Streckseite des Vorder-
armes ein besonders stark ausgebildeter Ast
der Vena basilica, welcher sich zur Injektion
eignet. Um ein Ausweichen der Vene zu
vermeiden, fixiert man mit dem Daumen der
linken Hand, unterhalb der mit Äther ge-
reinigten Einstichstelle das prall gefüllte
Gefäß und sticht mit der rechten Hand die
fest auf der von jeder Luftblase befreiten
Spritze aufsitzende Nadel flach ein. Tritt
eine Blutsäule, wie es häufig der Fall ist,
in die Spritze ein, so ist das ein Beweis,
daß die Nadel sich im Lumen der Vene be-
findet, im anderen Falle soll . man nie ver-
säumen, durch Anziehen des Stempels sich
davon zu überzeugen. Steigt eine Blutsäule
in der Spritze auf, so entleert man langsam
und gleichmäßig den Spritzeninhalt in die
Vene, drückt nach Ausziehen der Nadel einen
Wattebausch auf die Einstichstelle und ent-
fernt dann die elastische Ligatur. Da der
Einstich sofort verklebt, ist ein Verband
unnötig.
Die intravenöse Injektion verläuft,
wenn sie vollkommen gelingt, absolut
schmerzlos. Besonders bemerkenswert
ist eine Erscheinung, welche sich bei allen
Patienten, aber auch nur bei der endo-
venösen Injektion wiederholt: kaum zehn
Sekunden nach derselben beschwerten sich
alle unaufgefordert über eine ganz eigen-
tümliche Geruchs- und Geschmacks-
empfindung, die ihnen aber von der Nase
auszugehen schien, einige Minuten anhielt
und welche die einen als zwiebel-, die
andern als senfartig angaben. Diese inter-
essante Beobachtung gibt uns einen Beweis
dafür, wie schnell sich das Fibro-
lysin- in seine Komponenten zerlegt,
sobald es in die Blutbahn gelangt ist, und
daß deswegen die Verbindung des Thiosin-
amins mit dem Natrium saiieylicum seine
ursprüngliche Wirksamkeit in keiner
Weise beeinträchtigt.
Ganz besonders wichtig aber für unsere
Behauptung einer gleichen Wirksamkeit
von Thiosinamin und Fibrolysin sind
diejenigen Veränderungen, welche wir direkt
nach der Injektion in einzelnen Fällen an
96
Mandel, Fibrolysin, «In« n«a« Tnlottnamiiiv«rbliiduBg.
TTherapeutistbe
L Momttahefta.
dem dem Auge zugänglichen Narbengewebe
beobachten konnten und welche uns auch
gleichzeitig über die Art der Wirkung
dieses Medikamentes Aufklärung geben.
Ausgedehnte, blaurot verfärbte Verbren-
nungsnarben, die von der Schulter bis zum
Gesäß herabreichten und durch ihre keloid-
artigen harten Stränge dem Patienten fast
jede Bewegung des Rumpfes schmerzhaft und
unmöglich machten, änderten fast direkt
nach der Injektion ihre Farbe, sie wurden
deutlich blasser und erhielten ein teigig
gequollenes, fast durchscheinendes
Aussehen. Bas ganze Narbengewebe machte
im Fühlen und Aussehen den Eindruck,
als wenn es mit einer wasserhellen Flüssig-
keit plötzlich durchtränkt worden wäre. Es
fühlte sich weniger starr an und ließ sich
auch leicht und für den Patienten weniger
schmerzhaft zusammendrücken und in Falten
heben. Auch die Bewegungen des Patienten,
welche weniger schmerzhaft und auch er-
giebiger waren, zeigten deutlich, daß schon
eine einzige Injektion durch Quel-
lung der Narben die Elastizität dieses
starren Gewebes beträchtlich gebessert
hatte. Dieser überraschende Erfolg war
allerdings kein dauernder, sondern alle durch
die Injektion aufgetretenen Veränderungen des
Narbengewebes bildeten sich im Laufe des
Tages zum allergrößten Teile wieder zurück
und erst durch wiederholte Applikation
konnte ein dauernder Erfolg erzielt
werden.
Ein ähnliches Bild gab ein Fall von
Hauttuberkulose am Daumen eines Metz-
gers. Die Mitte der von derben, warzen-
artigen Knoten halbkreisförmig umgebenen
Hautstelle war spontan ausgeheilt und zeigte
eine glatte, dunkelblaurot verfärbte Narbe.
Diese wurde sofort nach der Injektion blaß-
blau, die vorher glänzende glatte Fläche
matt teigig und gequollen.
Ahnliche Veränderungen beobachtete auch
Emil Glas (Wiener Klinische Wochenschrift
1903, No. 10) bei subkutanen Injektionen von
Thiosinamin, wenn auch nicht so akut wie
bei der intravenösen Therapie. In einem
Fall von Nasen-Rachen-Lues trat bei
einem Patienten innerhalb 14 Tagen nach
4 Injektionen einer 15 proz. alkoholischen
Lösung eine erhöhte Atemnot mit derartiger
Schwellung der subglottischen Wülste ein, daß
die Tracheotomie gemacht werden mußte; in
einem anderen Falle machte sich die Thio-
sinaminwirkung am Narben gewebe so deut-
lich wahrnehmbar, daß nach einer Thiosin-
amin-Injektion die in die Nackengegend
appliziert wurde, Schmerzen im Gaumen
und an den Tonsillen auftraten und leichte
Rötung und Schwellung des Narbengewebes
konstatiert werden konnte.
Diese makroskopische Beobachtung der
Fibrolysin- resp. Thiosinamin Wirkung ent-
spricht genau den histologischen Ver-
änderungen, welche auch unter dem Mikro-
skop an dem mit Thiosinamin behandelten
und nachher exzidierten Narbengewebe kon-
statiert werden konnten: Die Grenzen der
einzelnen Bindegewebsfasern sind auffallend
undeutlich, die einzelnen Konturen verwischt,
die Bindegewebskerne weit von einander ab-
gedrängt, der ganze Strang zeigt ein ge-
quollenes Aussehen, die Bindegewebsfasern
sind wulstig und gedehnt. (Glas 1. c.) Mikro-
skopisch wie makroskopisch betrachtet,
müssen wir also die Wirkung des Fibrolysins
auf das Narbengewebe als eine seröse
Durchflutung desselben auffassen, die in
ähnlicher Weise wie die Bier sehe Stau-
ungstherapie harte entzündliche Stränge
auflockert, abgelagerte krankhafte Produkte
erweicht und zur Resorption geeigneter macht.
Diese Annahme erklärt aufs einfachste die
so wunderbar erscheinende elektive Wir-
kung auf jedes Narbengewebe — wo
es auch immer seinen Sitz hat und auf
welche Ursachen es auch immer zurückzu-
führen ist.
Auf alle diese pathologischen Binde-
gewebe übt das Fibrolysin in thera-
peutischen Dosen einen lymphagogen
Reiz aus, während wir eine derartige Wir-
kung auf physiologisches Bindegewebe nicht
beobachten können. In toxischen Dosen
jedoch zeigt auch dieses ähnliche Ver-
änderungen wie das Narbengewebe, wie Lange
durch Experimente an Fröschen festgestellt,
die nach Thiosinaminvergiftung tage-
lang anhaltendes Anasarka bekamen
(cf. Lewandowsky, Therapie der Gegen-
wart 1903).
Damit ist gleichzeitig das große Wir-
kungsgebiet der Fibrolysinbehandlung ge-
kennzeichnet. Wer die Unsumme von In-
dikationen der Thiosinamin- Therapie über-
sieht, dem möchte es beinahe «so erscheinen,
als sei mit diesem Medikamente gleichsam
ein Allheilmittel für die verschieden-
artigsten Erkrankungen gefunden, und doch
ist es eine absolut spezifische Wirkung,
welche das Thiosinamin bei allen diesen
noch so verschiedenartig erscheinenden patho-
logischen Veränderungen der verschiedenen
Organe entfaltet. Es ist immer dasselbe
Gewebe, welches dem Fibrolysin resp. dem
Thiosinamin als Angriffspunkt dient, es ist
dies die an Stelle eines Organdefektes neu
gebildete gefäßhaltige Bindegewebssub-
stanz, mag es sich nun um einen Pannus
XIX. Jahrgang.!
Februar 1906. J
M«nd«l, Flbrolyiin, «in« neu« Thtotinaminvarbindung.
97
der Cornea, Synechien der Iris, band- oder
strangförmige Adhäsionen oder flächenförmige
Verwachsungen der serösen Häute handeln.
Ebenso sind aber auch die sehnigen Trü-
bungen, Verdickungen und Schrumpfungen
der Bindegewebshäute aufzufassen, wie wir
sie bei Endokarditis, Meningitis, Arthritis
beobachten. Auch die Wucherung des
interstitiellen Bindegewebes, wie sie
nach Untergang der spezifischen Gewebs-
zellen in parenchymatösen Organen
(Leber, Nieren, Hoden) auftritt, ist nichts
anderes, als pathologisches Bindegewebe, als
Narbengewebe. So tritt überall, wo
Teile eines Organes durch irgend welche
Schädlichkeiten zu Grunde gegangen sind,
an Stelle der ursprünglichen Organzellcn als
Narbe aufzufassendes Bindegewebe, welches
weniger wegen seiner anatomischen als seiner
funktionellen Eigenschaften dem physio-
logischen Bindegewebe bedeutend nachsteht
und deswegen so häufig Veranlassung zu
therapeutischem Eingreifen bietet.
Abgesehen davon, daß dieses Narben-
gewebe sich nicht selten über den Bedarf
hinaus im Überschuß entwickelt und sich
absolut nicht so widerstandsfähig er-
weist als das physiologische Bindegewebe,
hat es eine ausgesprochene Neigung zu
schrumpfen und diese Eigenschaft ist es,
welche zu den schlimmsten pathologischen
Zuständen führt, wie wir sie bei den Ste-
nosen, Strikturen, Ankylosen, Kom-
pressionen, Knickungen, Cirrhosen etc.
beobachten.
Die Fibrolysin -Therapie sucht nun diese
Schwächen des Narbengewebes zu
heben, den Überschuß durch Anregung der
Resorption zu beseitigen, die Wider-
standsfähigkeit der Narben zu erhöhen
und ihre Schrumpfung zu verhüten und,
wo diese bereits eingetreten ist, die Möglich-
keit zu schaffen, sie durch Auflockerung
der Bindegewebsfasern wieder zu be-
seitigen.
Damit sind auch die Grenzen der
Fibrolysinwirkung festgelegt.
Eine bereits ausgebildete Stenose wird
auch durch die energischste ■ Fibrolysinbe-
h and hing nicht erweitert, wenn nicht die
aufgelockerten Bindegewebsfasern durch
mechanische Kräfte gedehnt werden,
mögen diese nun durch das Organ selbst
und seine motorische Funktion oder durch
therapeutische Maßnahmen geschaffen
werden.
Eine bis dahin starre Harnröhrenstriktur
oder narbige Oesophagusstenose wird nach
Thiosinaminbehandlung leicht durch Bou-
gierung gedehnt werden können, aber ohne
diese auch nicht um einen Millimeter
weiter werden.
Eine narbige Pylorusstenose wird
durch Fibrolysin aufgelockert, aber diese
Auflockerung bleibt ohne Wert für den Pa-
tienten, wenn nicht die Muskelkräfte des
Magens stark genug sind, den aufgelockerten
Narbenring zu erweitern. Deswegen warnt
Baumstark (Berliner Klinische Wochen-
schrift 1904, No. 24) mit Recht davor, bei
Pylorusverengungen, wenn der Kräftezustand
außerordentlich herabgesetzt ist, allzulange
die Methode zu gebrauchen und dadurch
den richtigen Moment zur Operation zu ver-
passen. Ist erst die motorische Kraft
des Magens auf ein Minimum herab-
gesetzt, dann ist auch von der Fibrolysin-
wirkung nichts mehr zu hoffen. Narbige
Stränge zwischen den Intestinis oder Ver-
wachsungen der Pleura costalis und pulmo-
nalis werden durch Fibrolysin gelockert und
nachgiebig gemacht. Die eigentliche
Dehnung geschieht aber erst durch die
physiologische Bewegung der betreffen-
den Organe, wie die narbige Verkürzung und
Formveränderung der Herzklappen, wenn
sie mit Thiosinamin behandelt werden, erst
durch die Kräfte des Herzmuskels und
durch den Druck der Blutsäule gebessert
werden können.
Deswegen muß in allen Fällen, wo es irgend
angeht, wenn mit der Fibrolysinbehandlung
ein voller Erfolg erzielt werden soll, diese
durch mechanische, hydriatische und
elektrische Maßnahmen unterstützt und
gefördert werden, denen sie eigentlich nur
das Feld zu einer wirksamen Therapie
vorbereitet. Durch das gemeinsame Zu-
sammenwirken dieser Heilmethoden mit der
Fibrolysinbehandlung wird dann selbst in
denjenigen Fällen noch ein Erfolg erzielt
werden, in denen bisher alle unsere thera-
peutischen Maßnahmen erfolglos waren.
Was die Dosierung des Fibrolysins
anbetrifft, so haben wir stets die volle
Dosis, d. i. 2, 3g der Fibrolysinlösung, wie
sie in jeder Ampulle vorhanden ist, zur
Verwendung gebracht, sowohl bei subkutaner
als intramuskulärer als auch bei intravenöser
Applikation. Da die subkutane und
intramuskuläre Anwendung in ihrer Wir-
kung keine Differenz aufweisen, so wird
man wegen der absoluten Schmerzlosigkeit
der Injektion in die Glutäalmuskeln
den Vorzug geben, wenn nicht psycho-
logische oder andere Gründe eine subkutane
Injektion in der Nähe der Erkrankungsstelle
als zweckmäßiger erscheinen lassen.
Da das Fibrolysin erst von der Blut-
bahn aus seine Wirkung ausübt, so hat die
98
M«nd«l, Fibrolytto, «in* n«u« Thlotinaminv«rbiadung.
[ Therapeutisch«
L Monatshefte.
Stelle der Injektion auf den Erfolg der-
selben keinen Einfluß.
Am wirksamsten und zuverlässig-
sten, sowohl was die Intensität der Wir-
kung als auch die Schelligkeit des Erfolges
anbelangt, erwies sich die intravenöse
Therapie, die besonders bei schmerz-
haften Affektionen (Neuritis, schmerz-
erregende Adhäsionen etc.) oft schon nach
den ersten Einspritzungen die heftigsten
Schmerzen beseitigte, die vorher jeder
anderen Behandlung lange Zeit Trotz ge-
boten hatten. Wir haben deshalb in allen
Fällen, welche einen möglichst schnellen
Erfolg wegen der Schmerzen oder wegen
anderer bedrohlicher Folgeerscheinungen be-
sonders wünschenswert erscheinen ließen,
stets mit der intravenösen Therapie
begonnen und sind erst dann zur sub-
kutanen oder intramuskulären Injektion über-
gegangen, wenn entweder bereits eine Besse-
rung des Leidens eingetreten war, oder wenn
mangelhaft entwickelte Venen und die damit
verbundene Gefahr der Thrombenbildung die
Fortsetzung der intravenösen Therapie er-
schwerten.
Die Dauer der Behandlung schwankte
selbstverständlich je nach dem Charakter
der Erkrankung und der mehr oder weniger
intensiven "Wirkung des Fibrolysins. Der
erste Erfolg, der in den meisten Fällen
konstatiert werden konnte, war ein Nach-
lassen der Schmerzen, während die Er-
weichung und Resorption der Narbengewebe
stets einer längeren Behandlung bedurften.
Man muß sich indessen unter allen Um-
ständen davor hüten, eine einmal be-
gonnene Kur zu frühzeitig abzu-
brechen, weil sonst nicht selten bereits
erweichte Narben in die ihnen eigentümlichen
Schwächen der Starrheit und der
Schrumpfung wieder zurückfallen, son-
dern die Kur muß fortgesetzt werden, bis
die Narbengewebe an Elastizität dem
normalen Gewebe nicht mehr nach-
stehen und alle Entzündungsreste ver-
schwunden sind.
Die Zahl der Injektionen schwankte
in unseren Fällen zwischen 5 und 50. Die
Injektionen wurden je nach der Schwere
und dem Charakter der Erkrankung alle
ein bis zwei oder drei Tage wiederholt,
bis ein endgültiger Erfolg eingetreten war
oder das unveränderte Krankheitsbild die
Wirkungslosigkeit der Fibrolysin- Therapie
bewies.
Unangenehme Nebenwirkungen habe
ich nach mehr als 500 Injektionen bei
mehr als 30 Patienten nicht beobachtet,
trotz der hohen Dosen Fibrolysin, welche
zur Verwendung kamen, weder Kopfschmerzen,
noch Mattigkeit, noch Fiebererscheinungen,
auch keine Exantheme, wie sie von anderen
Autoren berichtet werden.
Dagegen konnte in den meisten Fällen,
objektiv wie subjektiv, eine überaus
günstige Einwirkung der Behandlung auf
das Allgemeinbefinden konstatiert werden,
die sich durch bessere Färbung der Haut
und der sichtbaren Schleimhäute, durch eine
gehobene Stimmung, gesteigerten Appetit
und eine nicht selten ganz beträchtliche Zu-
nahme des Körpergewichts erkennen ließ.
Auch der Warnung Lewandowskys,
in Fällen eben abgelaufener Entzün-
dung das Thiosinamin nicht oder nur mit
großer Vorsicht anzuwenden, konnte ich
nach meinen Erfahrungen nicht zustimmen,
weil wir selbst, wenn derartige Zustande
vorlagen, niemals ein Aufflammen des ent-
zündlichen Prozesses beobachtet haben.
Es würde zu weit führen, wollte ich
über alle von uns behandelten Fälle mit
Fibrolysin, über alle Erfolge und Mißerfolge
berichten, zumal die meisten alle diejenigen
Beobachtungen bestätigen, welche bereits von
anderen Autoren gemacht worden sind, nur
auf diejenigen Erkrankungen möchte ich
ausführlicher eingehen, welche der Fibro-
lysinbehandlung gleichsam ein neues, bis-
her noch nicht betretenes Indikations-
gebiet eröffnen.
Einen absoluten Mißerfolg beobach-
teten wir in einem Falle von Mitral-
insuffizienz nach Gelenkrheumatismus bei
einem 19jährigen Mädchen. Der Zustand
des Herzens bat sich trotz sechswöchentlicher
intravenöser Fibrolysinbehandlung in keiner
Weise verändert.
Trotz der schon von Hebra angegebenen
verkleinernden Wirkung des Tbiosinamins
auf Drüsentumoren, das sich uns bei skro-
fulösen Halsdrüsen in zwei Fällen auch
ausgezeichnet bewährte, blieb die Behand-
lung einer lymphatischen Leukämie ab-
solut ohne irgend welchen Erfolg; ebenso
in einem Falle von Erythrozytose und
Splenomegalie, wie sie von Zaudy
(Münchener Medizinische Wochenschrift 1904,
No. 27) beschrieben, wenn auch hier die
Schmerzen in der Milzgegend jedenfalls durch
Lockerung der Verwachsungen mit den Nach-
barorganen günstig beeinflußt wurden.
Bei einer stenosierenden Narbe am
Pylorus mit starker Dilatatio ventriculi
gaben wir die Behandlung auf und über-
wiesen den Patienten dem Chirurgen, weil
die Beobachtung eine absolute Atonie der
Magenmuscularis ergab, während eine andere,
minder hochgradige und auch nicht solange
XIX. Jahrgang .1
Fabruar 1905. J
M«nd«l, Plbrolytln, «In« n«u« Thioiinamin Verbindung.
99
bestehende Pylorus-Stenose entschieden
durch Fibrolysin gebessert wurde. Der
Patient, welcher bei flüssiger und breiiger
Ernährung sonst alle zwei Tage spontan
oder willkürlich große Massen zersetzter
Speisereste erbrach, fühlte sich nach zehn
intravenösen Injektionen bei gleichbleibender
Diät bedeutend wohl er, das Erbrechen
horte auf und er nahm beträchtlich an Ge-
wicht zu. Die Kur soll noch fortgesetzt
und auch allmählich zu konsistenter Kost
übergegangen werden.
Die energische Wirkung der intra-
venösen Fibrolysintherapie konnten wir
an den bereits oben erwähnten hochgradigen
Verbrennungsnarben beobachten, welche
von der Schulter über den linken Arm bis
zum Gesäß sich erstreckten und nicht nur
zu einer spitzwinkeligen Ankylose des
Ellbogens geführt hatten, sondern dem
Patienten auch jede Bewegung des Rückens
unmöglich machten. Das ganze Narbenge-
webe, besonders am Gesäß, war bretthart
und keloidartig aufliegend, auf Druck
schmerzhaft, so daß Patient ohne Schmerzen
sich weder bewegen, noch sitzen, noch liegen
konnte. Er war absolut hilflos und sein
Zustand trotz Bäder, Einreibungen und Mas-
sage seit drei Monaten statt besser immer
schlimmer geworden. Auch die Überhäutung
eines noch mehr als handgroßen Defektes
auf der linken Schulter war seit jener Zeit
völlig zum Stillstand gekommen. Schon
nach wenigen Injektionen verschwand
die Schmerzhaftigkeit der Narben voll-
ständig, sie wurden weicher und dehnbarer,
die Ankylose lockerte sich, sodaß Pa-
tient den Arm schon bis zu einem stumpfen
Winkel strecken konnte und schon Dach
wenigen Wochen bereits wieder im stände
war, als Schlächter zu arbeiten, während er
sich vorher nicht einmal selbst an- und aus-
kleiden konnte. Auch die Überhäutung des
noch vorhandenen Defektes machte trotz des
langen Stillstandes sichtbare Fortschritte,
aber es ist ein immer noch beträchtlicher
Defekt geblieben, der wahrscheinlich durch
Transplantation gedeckt werden, muß, obwohl
die ganze Narbenfläche, auch die in der di-
rekten Umgebung der Wunde, auffallend
glatt, weich und dehnbar geworden ist.
Trotz der Warnung Heb ras und Le-
wandowskys, bei eben abgelaufener Ent-
zündung mit der Thiosinaminbehandlung vor-
sichtig zu sein, versuchten wir diese Thera- '
pie bei einem Ulcus cruris mit dicken,
harten, kal lösen Rändern, das sich trotz
wochenlanger Bettruhe und feuchter Um-
schläge mit essigsaurer Tonerde nicht über-
häuten wollte. Unter Fibrolysinbehandlung
flachten sich die harten Wundränder ab,
wurden weicher und glatter, bis sie das Ni-
veau der Wunde erreichten, sodaß schon
nach einigen Wochen die vorher vergeblich
erstrebte Überhäutung des Geschwürs
stattfinden konnte, obwohl an der lokalen
Behandlung nichts geändert worden war.
Wir hatten keine Gelegenheit, die An-
gaben Heb ras über die heilende Wirkung
des Thiosinamins bei Lupus, welche ja
von den meisten Autoren bestritten wird, mit
unserm Fibrolysin nachzuprüfen. An unserm
bereits oben erwähnten Fall von Haut-
tuberkulose zeigte sich aufler der deutlich
lokalen Reaktion in der Narbe auch eine
merkliche Involution der die Narben um-
gebenden Tuberkel, die flacher und weicher
wurden und, wie ich glaube, durch fort-
gesetzte Fibrolysinbehandlung auch zum
Schwinden gebracht werden.
Der die Resorption befördernde Ein-
fluß bei Exsudaten der weiblichen Ge-
schlechtsorgane trat in 2 Fällen von chro-
nischer Parametritis eklatant zu Tage.
Bei einer Frau handelte es sich um einen
von einem Cervixriß ausgehenden festen
Strang im linken Parametrium, welches der
sonst gesunden Patientin viele Schmerzen be-
reitete und allen medikamentösen und physi-
kalischen Heilversuchen trotzte. Subkutane
Fibrolysininjektion in Verbindung mit bi-
manueller Massage brachte den Strang zur
Erweichung und beseitigte auch die Be-
schwerden.
Bei der anderen Patientin handelte es
sich um ein bretthartes Exsudat, das,
vom linken Parametrium ausgegangen, das
Rectum so fest umschnürte, daß die da-
durch behinderte Defäkation die größten
Schmerzen bereitete und oft zu den bedroh-
lichsten Erscheinungen führte. Spülungen,
Bäder, Katapiasma, Ichthyol-Glyzerintampons,
alles blieb ohne Erfolg. Erst durch intra-
venöse Fibrolysinbehandlung wurde der
Resorptionsprozeß eingeleitet und der struk-
turierende Ring um den Mastdarm erweicht
und das lästigste Symptom der Erkrankung,
die behinderte Defäkation, bald gehoben.
Auch bei entzündlichen Ablagerun-
gen in parenchymatösen Organen, so im
Nebenhoden nach überstandener Epidi-
dymitis gonorrhoica, erwies sich das
Fibrolysin erfolgreich, während es gegen
ein hartes, tuberkulöses Infiltrat des
Hodens nichts auszurichten vermochte.
Ein schöner Erfolg wurde bei einer
Patientin erzielt, die nach überstandener
Pleuritis nun schon monatelang bei jedem
tiefen Atemzuge über schmerzhafte Stiche in
der erkrankten Seite klagte und auch durch
100
M«nd«l, Fibrolyain, «In« n«u« Thloiinaminvarbinduog.
rherap«uü«cbe
Mon»twb.effto.
eine Badekur von diesen Beschwerden nicht
befreit worden war. Es handelte sich jeden-
falls um strangartige Verwachsungen der
Pleura costalis und pulmonalis. Fünf
Fibrolysininjektionen intravenös in Verbin-
dung mit Atmungsgymnastik beseitigten in
3 Wochen alle Beschwerden.
In einzelnen Fällen von chronischer
Arthritis, welche durch Exsudations- oder
Schrumpfungsprozesse zu Ankylosen geführt
hatten, verband ich die von mir empfohlene
intravenöse Salizylbehandlung mittels
Attritin (Therapeutische Monatshefte, April
1904) mit der Fibrolysintherapie, Der Er-
folg war, besonders wenn außer dieser kom-
binierten Behandlungsmethode noch
hydriatische, thermische und mechanische
Prozeduren angewandt wurden, in verschie-
denen Fällen ein vorzuglicher zu nennen,
die Exsudate verschwanden schneller als bei
jeder anderen Behandlung, auch lockerten
sich die Ankylosen leichter, besonders nach-
dem durch die Beseitigung der Schmerzen
nach Attritin an wen düng eine energische
physikalische Behandlung der erweichten
fibrösen Verwachsungen und der aufgelockerten
Exsudate möglich geworden.
Obwohl die fibrösen Geschwülste
keine eigentlichen Narbengewebe darstellen,
so hat diese Art des Bindegewebes mit den
Narben doch das gemeinsam, daß sie wie
diese nur eine geringe Widerstandskraft
und eine ausgesprochene Neigung zur
Schrumpfung, aber auch zur Erweichung
besitzen. Schon von Unna ist deshalb
die Thiosinaminverwendung zur Behandlung
fibröser Tumoren empfohlen und mit Erfolg
angewandt worden. Ernst (Journal de
medecine de Paris 1904, No. 48) hat sogar
bei voluminösen Lymphosarkomen zu
beiden Seiten des Halses, die nach Exstir-
pation rezidivierten, nicht nur ein Ver-
schwinden der Keloide in den Narben,
sondern auch ein rapides Kleinerwerden
der Geschwülste nach Thiosinamin beob-
achtet.
Von den 3 Fällen von Fibromen des
Uterus, die wir mit subkutaner Fibrolysin-
injektion behandelten, kann für uns nur einer
in Betracht kommen, der genügend lange in
Behandlung steht, um ein Urteil über den
Wert der Medikation zu gestatten. Es han-
delt sich um eine 69jährige Frau, die an
einem kolossalen, fast bis zum Rippenrande
reichenden Fibromyom des Uterus litt und
von dem behandelnden Arzte wegen der
großen Beschwerden, welche die Geschwulst
verursachte, dem Chirurgen zur Operation
überwiesen werden sollte. Da die alte, in
ihren Kräften sehr reduzierte Frau sich nicht
dazu entschließen konnte, so versuchte ich
die Fibrolysinbehandlung. Der Erfolg
war ein ausgezeichneter, die Beschwerden
ließen bald nach, die Geschwulst war nach
dreimonatlicher Behandlung und ca. 40 In-
jektionen um Handbreite zurückgegangen und,
was nicht zu unterschätzen ist, die vorher
leidende Frau hat während der Behandlung
um ca. 15 Pfund zugenommen und fühlt sich
heute sogar wohler als in der Zeit vor dem Auf-
treten der Geschwulst. In keinem anderen Falle
trat die eminent tonisierende Wirkung
des Fibrolysins auf das Allgemeinbefinden
so eklatant zu Tage.
Bei dem bereits besprochenen ausgedehnten
Wirkungskreise des Fibrolysins muß es fast
als gewagt erscheinen, das Indikationsgebiet
desselben noch erweitern zu wollen, und doch
hat uns dieses Mittel bei zwei Krankheits-
formen, welche jeder anderen Therapie
schwer zugänglich sind, so vorzügliche Dienste
geleistet, daß ein näheres Eingehen auf die
erzielten Erfolge wegen der großen prakti-
schen Bedeutung indiziert erscheint. Es sind
dieses Fälle von chronischer Neuritis und
einer besonderen Art von traumatischer
Epilepsie, die nicht nur nach unseren Er-
fahrungen, sondern auch auf Grund anatomi-
scher Beobachtungen in das Gebiet der
Fibrolysintherapie gehören.
Die chronische Neuritis, mag es sich
nun um eine solche des Nervus ischiadicus,
brachialis oder eines anderen peripheren
Nerven handeln, ist pathologisch-anatomisch
nicht selten als eine chronische Peri-
neuritis aufzufassen. Während sich an den
eigentlichen Nervenfasern nur ganz mini-
male, meist sekundäre Veränderungen nach-
weisen lassen, zeigt das Perineurium und
das den Nerv umgebende Bindegewebe ganz
beträchtliche, makro- und mikroskopisch nach-
weisbare Störungen. Bei geringer Gefaß-
neubildung findet man im Perineurium oft
derbe, knotige oder spindelförmige
Schwellungen. Das umgebende Bindegewebe
ist nicht selten induriert und durch fibröse
Stränge mit dem eigentlichen Nervenstamm
mehr oder weniger verwachsen. Diese Ver-
änderungen des Perineuriums sind es, die
durch Zerrungen den eigentlichen Nerv nicht
zur Ruhe kommen lassen und durch Reizung
der Nervi nervo rum den ursprünglichen
Schmerz unterhalten und bei jeder Be-
wegung des erkrankten Körperteils eine neue
Schmerzattacke hervorrufen. Es handelt sich
also bei diesen chronischen Neuritidcn mehr
um eine narbige Veränderung des den
Nerven umgebenden Gewebes als um
eine eigentliche Nervenentzündung.
Auf diese anatomischen Verhältnisse sind
XIX. Jahrgang."!
Fobmar 1*0*. J
Man dal, Fibrolytin, «in« naua Thloiinamiovarbindung.
101
auch die zuweilen glänzenden Resultate der
chirurgischen Nervendehnung zurück-
zufuhren, die der kausalen Indikation da-
durch genügt, daß sie eine Lösung des
Nervenstammes von seinen Adhäsionen und
eine Lockerung seiner Verbindung mit der
narbig entarteten Nervenscheide herbeiführt.
Dieselben anatomischen Verhältnisse er-
klären uns aber auch die überraschenden
Erfolge, welche die Fibrolysinbehand-
lung in intravenöser Anwendung in derartigen
Fällen erzielte, in welchen eine Heilwirkuog
der sogenannten antirheumatischen oder
antineuralgischen Mittel nach der Lage
der Dinge ausgeschlossen erscheint. Durch
die seröse Durchtränkung des den Nerven
umgebenden Narbengewebes, wie sie dein,
Fibrolysin eigentümlich ist, werden die vorher
starren Bindegewebsfasern aufgelockert und
dehnbar, eingelagerte Exsudationen aufge-
weicht und zur Resorption befähigt. Da-
durch wird das vorher indurierte Peri-
neurium weicher und die den Nerven
zerrenden Bindegewebsstränge nachgiebig.
So ist es zu erklären, daß gerade in alten
Fällen, in denen die eigentliche Neuritis
bereits abgelaufen ist, durch wenige intra-
venöse Fibrolysininjektionen die Schmerzen
beseitigt werden." Eklatant zeigte sich dieses
in einem Falle von hartnäckiger Ischias
scoliotica bei einem 32jährigen Landwirt,
der mir auf meinen Wunsch seine inter-
essante Leidensgeschichte folgendermaßen mit-
teilte:
Vor etwa 2 Jahren bekam ich heftige
Schmerzen in den Gesäßmuskeln, nachher
auch noch in den Oberschenkel- und Rücken-
muskeln. Ich wandte mich an Dr. W., der
Ischias feststellte. Ich mußte die betreffende
Stelle einreiben und warme Sandsäcke auf-
legen. Die Mittel blieben jedoch ohne
Erfolg. Nun wandte ich mich an meinen
Hausarzt, Dr. H. Dieser behandelte die
Ischias durch Einspritzungen in den
Oberschenkel. Doch auch hierdurch wurden
meine Schmerzen nicht gelindert, ging dann
nach Repelen zum Naturheilarzt, Herrn
Pastor Felke, durch kalte Bäder, Lehm-
umschläge und vegetarische Lebensweise wurde
die Krankheit ebenfalls nicht beseitigt, son-
dern war, trotzdem ich alles versucht hatte,
in den lVa Jahren so schlimm geworden,
daß ich nicht mehrgeradegehen konnte.
Ich war dann 4 Wochen in Neubad Burt-
scheid bei Aachen zur Kur, doch waren sowohl
die dortigen warmen Bäder (38°) als auch die
Nachkur ohne Erfolg. Ich bin jetzt seit
einigen Wochen bei Herrn Dr. Mendel in
Essen a. Ruhr in Behandlung und sind die
Serumeinspritzungen endlich von Er-
folg gekrönt. Schon nach einigen Ein-
spritzungen linderten sich die Schmerzen und
sind jetzt beseitigt, sodaß ich wieder gerade
gehen und meiner Beschäftigung nachgehen
kann.
So der Bericht des Patienten, bei welchem
der bemerkenswerte Erfolg durch 12 intra-
venöse Fibrolysininjektionen erzielt
wurde. Der Erfolg ist ein dauernder ge-
blieben.
Ebenso beweiskräftig ist der zweite
Fall. Fräulein D., 18 Jahre, fiel vor vier
Jahren bei Glatteis so heftig aufs Rückgrat,
daß die Wirbel fortsätze oberhalb des Kreuz-
beins anschwollen und lange Zeit beim Druck
und beim Liegen schmerzhaft blieben. Wäh-
lend diese Beschwerden allmählich nach-
ließen, traten ziehende Schmerzen im
linken Arm auf, die von der Halswirbel-
säule ihren Ausgang nahmen und, während
sie anfangs nur bei Anstrengungen auftraten,
allmählich immer lästiger wurden. Die Be-
handlung bestand bisher in Einreibungen;
ein Arzt empfahl Operation. Objektiv war
an dem sonst gesunden, aber etwas blaß
aussehenden Mädchen nur ein Schmerz-
punkt an der Halswirbelsäule festzustellen.
Es handelte sich hier jedenfalls um eine
traumatische Neuritis des Plexus
brachialis, welche durch narbigefibröse
Stränge im Foramen intervertebrale oder
sonstige von der Verletzung herrührende
narbige Veränderungen unterhalten wurde.
Schon nach der ersten intravenösen
Fibrolysineinspritzung ließen die
Schmerzen nach, um nach 5 Injektionen bis
auf den heutigen Tag (3 Monate nach Schluß
der Behandlung) zu verschwinden.
Ähnliche Erfolge erzielte ich in 2 an-
deren Fällen von Neuralgia ischiadica und
brachialis.
Wir wissen, daß Schädelverletzungen,
auch wenn dieselben nicht besonders schwerer
Art gewesen , zuweilen in der Großhirnrinde
und den sie bedeckenden Hirnhäuten Ver-
änderungen hervorrufen, welche zu epilepti-
schen Anfällen Veranlassung geben können.
Diese Form der Epilepsie, die man mit
Rindenepilepsie bezeichnet, und die sich
auch klinisch durch den Charakter des
Anfalles von der genuinen Epilepsie unter-
scheidet, hat schon so oft Veranlassung zu
chirurgischen Eingriffen gegeben, daß wir
über die anatomische Grundlage dieser
Krankheit, besonders durch die Arbeiten
von Bergmann s genügend unterrichtet sind.
Es sind nun nicht immer Knochensplitter,
Fremdkörper, Blutcysten oder Abszesse,
welche die Gehirnoberfläche reizen, sondern
nicht selten bestehen als einzig nachweis-
102
Mendel, Fibrolytio, eine neu« Thlosinamlnverbindunf.
rrh«rapeatbeha
L Monatshefte.
bare Veränderungen, welche als Ursache
dieser Erkrankung angesehen werden müssen,
narbige Verwachsungsprozesse zwischen
Dura und Knochen oder Dura und Arach-
noidea, zirkumskripte, fibröse Verdickungen
dieser Häute oder narbige Stränge als Resi-
duen früherer Blutextravasate.
Bei der allseitig anerkannten und be-
währten Wirkung des Fibrolysins auf der-
artige Gewebsprodukte, wo sie auch immer
ihren Sitz haben, die durch diese Therapie
erweicht, gelockert und zum Teil zur Re-
sorption gebracht werden, erschien ein the-
rapeutischer Versuch in solchem Falle
angezeigt, in welchem nach Art der Ver-
letzung und der Erkrankung eine andere Ur-
sache der Epilepsie auszuschließen war.
Die Fibrolysinbehandlung hat sich
mir bei einem derartigen Patienten so vor-
züglich bewährt, daß sich in ähnlichen
Fällen ein weiterer Versuch mit dieser The-
rapie wohl verlohnen würde.
Fr. Tr., 27 Jahre alt, Bergmann, erlitt
vor 3 Jahren durch fallendes Gestein eine
Verletzung des rechten Scheitelbeins. Ob-
wohl die Verletzung, welche die Schädelhaut
durch trennte , nur einen geringen Blutverlust
verursacht hatte, wurde Patient doch !/a Stunde
nach dem Unfall vorübergehend bewußtlos.
Ca. 3 Monate nachher bekam der sonst ab-
solut gesunde Mann einen epileptischen
Anfall, der mit einem merkwürdigen Kribbeln
und Zucken im linken Arm seinen Anfang
nahm. Seit jener Zeit haben sich diese
schweren Anfälle fast jeden Monat wieder-
holt, in der Zwischenzeit aber traten fast
wöchentlich leichtere Anfälle auf, die mit
Sausen im Kopfe, Übelkeit und Schwindel-
gefühl einhergingen, aber dem Patienten das
Bewußtsein nicht vollständig raubten.
Objektiv ist an dem Patienten nur die
6 cm lange Hautnarbe in der Gegend des
rechten Scheitelbeins von Interesse, die mit
dem Knochen nicht verwachsen und auf
Druck nicht empfindlich ist. Nach dem
ganzen Verlauf der Krankheit sind wir wohl
berechtigt anzunehmen, daß ein Bluterguß
sich zwischen die Hirnhäute ergossen hatte,
der zuerst die Bewußtlosigkeit nach dem Un-
fall hervorrief, und daß dann durch Um-
wandlung dieses Blutextravasats in Narben-
gewebe eine Reizung der Gehirnober-
fläche und dadurch die Rindenepilepsie
entstanden ist.
Vor ca. 3 Monaten wurde mit der
Fibrolysinbehandlung begonnen, und zwar
anfangs intravenös, nachher intramuskulär.
Seitdem sind sowohl die großen wie
die kleinen Anfälle ausgeblieben. Der
Patient fühlt sich absolut wohl, hat ein viel
frischeres Aussehen wie früher und hat ca.
8 Pfund an Gewicht zugenommen.
Dieser prompte Erfolg veranlaßte uns
auch, in einem Falle von genuiner Epilepsie
die Fibrolysinbehandlung zu versuchen. Ein
absoluter Mißerfolg aber belehrte uns, daß
eine Heilwirkung dieser Therapie nur bei
den geschilderten Fällen von traumatischer
Epilepsie zu erwarten ist, hier aber in jedem
einzelnen Falle versucht werden sollte, bevor
als ultima ratio zu einem operativen Eingriff
geschritten wird.
Ein weiteres wichtiges Indikations-
gebiet, wenn auch vorläufig erst nach theo-
retischen Erwägungen, bieten der Fibrolysin-
behandlung alle interstitiellen Erkran-
kungen parenchymatöser Organe, mögen
sich diese nun so entwickeln, daß der pri-
märe Untergang der parenchymatösen Zellen
eine Wucherung des interstitiellen Binde-
gewebes hervorruft oder in diesem sich zu-
erst ein entzündlicher Prozeß abspielt, der
den Untergang der spezifischen Gewebszellen
zur Folge hat. Bei beiden Arten der Er-
krankungen entwickelt sich interstitielles
Narbengewebe mit allen Schwächen, welche
diesem Gewebe eigentümlich sind, der Neigung,
sich über das notwendige Maß hinaus
zu entwickeln und dann der Schrumpfung
zu verfallen. Besonders durch letztere Eigen-
schaft wird nicht nur die Blutversorgung und
Blutzirkulation in den betreffenden Or-
ganen auf das empfindlichste geschädigt,
sondern auch bisher gesunde parenchymatöse
Zellen werden außer Tätigkeit gesetzt und
dem Untergang zugeführt. Dadurch wird
ein Circulus vitiosus geschaffen, dem-
gegenüber jede Therapie machtlos ist, die
nicht dem Schrumpfungsprozesse des inter-
stitiellen Narbengewebes Einhalt gebietet.
Leider fehlte es uns an geeigneten Fällen
von Hepatitis, Nephritis, Orchitis etc.,
an welchen wir die Wirkung des Fibrolysins
bei derartigen Krankheitsprozessen hätten er-
proben können. Nach den Erfahrungen aber,
die wir an anderen Narbengeweben gesammelt
haben, ist auch bei diesen Erkrankungen
mit einer im richtigen Stadium konsequent
durchgeführten Fibrolysinbehandlung
ein guter Erfolg zu erwarten. Wenn auch
keine Heilung im Sinne der Regeneration der
untergegangenen Gewebszellen zu erreichen
ist, so muß es doch als wahrscheinsich gelten,
daß durch unsere Therapie wenigstens der
fortschreitende Verfall aufgehalten
wird, zumal durch zahlreiche Untersuchungen
festgestellt ist, daß das Fibrolysin in keiner
Art der Anwendung eine schädliche Wirkung
auf die Gewebszellen, weder auf das Nieren-,
noch auf das Leberparenchym ausübt, nie-
XIX. Jahrgang.!
Februar 1905. J
Referate.
103
mals Albuminurie oder Ikterus her-
vorruft.
Fassen wir noch einmal die Erfolge der
Fibrolysinbehandlung und ihre Vorzüge vor
dem bisher verwendeten Thiosinamin zu-
sammen :
1. Das Fibrolysin hat dieselben phar-
makodynamischen Eigenschaften
wie das Thiosinamin, vor dem es
folgende Vorzüge besitzt:
2. Es ist sowohl subkutan, intra-
muskulär, als auch intravenös
ohne besondere Belästigung oder
Schädigung des Patienten zu ver-
wenden.
3. Es ist leicht löslich und wird des-
wegen schneller resorbiert und ist des-
halb wirksamer als das Thiosinamin.
4. Die Herstellung der Fibrolysinlösung
in Ampullen ermöglicht dem Arzte
die billigste An wendungs weise und
leistet gleichzeitig Garantie für ein
absolut steriles und unzersetztes
Medikament.
Referate.
(An» der inneren Abteilang de« Charlottenb. Krankenhaute«.)
Neuere Erfahrungen Ober die Therapie der per-
niziösen Anämien. Von Prof. Dr. E. Grawitz.
Wie bei so vielen Krankheitsformen, so hat
man sich auch bei der perniziösen Anämie viel
mit pathologisch- anatomischen Untersuchungen
befaßt, über die praktisch wichtigsten Punkte
aber, die Ätiologie und die Therapie, nichts Sicheres
zu eruieren vermocht.
Weder die histologischen Forschungen am
zirkulierenden Blut noch die Organbefunde an
der Leiche haben eine primäre Erkrankung des
Blutes selbst oder der blutbildenden Organe er-
weisen können, dagegen glaubt Grawitz auf
Grund seiner klinischen Beobachtung und Unter-
suchung, daß es sich hier um eine sekundäre
schwere Degeneration der Blutzellen (mit starker
regenerativer Tätigkeit des Knochenmarks) handelt,
die durch Gift.wirkung auf die Erythrozyten
zu erklären ist. Diese Gifte bilden sich (abge-
sehen von Blei-, CO-, Arsen-, Morphin Vergif-
tung etc.) in der Mehrzahl der Fälle im In-
testinaltraktbei fehlerhaftem Abbau der Eiweiß-
moleküle und aus Wucherung und Toxinbildung
saprophytischer und pathogener Mikroorganismen
in den Ingestis, kommen von dort zur Resorption
und wirken bei disponierten Individuen als spezi-
fische Blutgifte.
Da sie einstweilen nicht durch chemische
Analyse der Körpersäfte nachgewiesen werden
können, so muß man rein empirisch prüfen, ob
durch eine Beseitigung der supponierten Gift-
bildung im Darm die Degeneration der Erythro-
zyten zu beeinflussen resp. zu heben und die
Blutbildung zur Norm zurückzuführen ist. Diese
Prüfung ist bisher leider unterlassen worden,
sogar von Autoren, die wie v. Hößlin (M. m.
W. 1903, No. 16) und Krokiewicz (Wien. kl.
Wochenschr. 1903, No. 19) die enterogene Ent-
stehung der Krankheit anerkennen. Bloch da-
gegen (Arch. f. kl. Med. 1903, S. 177) bekämpft
sie, ohne die von Grawitz erprobte Therapie
versucht zu haben. Verf. zeigt deshalb an fünf
konkreten Beispielen die Erfolge seiner Be-
handlung.
Die typische perniziöse Anämie mit den be-
kannten Blutveränderungen, Ödemen, Hämorrha-
gien und schwerer Prostration war verbunden mit
kariösen Zähnen, Mangel freier Salzsäure und
motorischer Schwäche des Magens, den günstig-
sten Bedingungen für die intestinale Entwicke-
lung von Giften.
Die Behandlung bestand in vegetabilischer
Ernährung, Magen- und Darmspülungen, Dar-
reichung von Zitronenlimonade, Salzsäure, event.
Solut. Fowleri (nötigenfalls Eiweißzufuhr per
Rectum). Die Wiederherstellung der Patienten
von dem sonst als unheilbar geltenden Leiden
spricht für die Richtigkeit von Grawitz' An-
schauung.
(Deutsche med. Wochenschr. 1904, No. 30.)
Esch (Bendorf).
Bemerkungen zur Frage der Heilstfittenbehandlung
Lungenkranker. Von Dr. med. G. Schröder,
dirig. Arzt der Heilanstalt Schömberg.
In nüchterner und sachlicher Würdigung
des von Freunden und Gegnern der Heilstätten-
behandlung Vorgebrachten betont Verf. zunächst,
daß das Wort „Heilung" aus den Statistiken der
Anstalten verschwinden müsse, da es sich hier
nur um Hebung der Widerstandsfähigkeit und
um Erweckung des Verständnisses für eine ge-
sundheitsgemäße Lebensweise bei den Kranken
handeln könne. Er warnt sodann vor dem
Schematisieren in der Behandlung, besonders
betr. der Liegekur, unter dem Hinweis, daß die
Schonungstherapie der Privatanstalten in den
Volksheilstätten ihres Zwecks wegen zu be-
schränken sei. Dasselbe gilt von dem vielfach
getriebenen Luxus, der nicht nur überflüssig,
sondern direkt schädlich ist.
Die dort zu sparenden Mittel würden besser
für Genesungsheime, Wohnungshygiene, Fa-
milienversorgung und zur Fürsorge für
skrofulöse Kinder etc. verwandt. Besonders
kommen die (auch von Esc hie empfohlenen)
ländlichen Kolonien ev. Arbeitssanatorien in Be-
tracht.
Auch betr. der Aufnahmebedingungen wird
vor allzu schematischem Vorgehen gewarnt.
Speziell die Tuberkulindiagnostik, deren
Unschädlichkeit dem Verf. nicht einmal genügend
sichergestellt erscheint, hat den Nachteil, daß
J
104
Referate.
("Therapeutisch«
sie auch völlig latente, z. B. Lymphdrüsen-
tuberkulose anzeigt. Solange man mit ihr nicht
wirklich Kranke von nur latent Tuberkulösen
sichten kann, sollte ihre Anwendung vermieden
werden, da man sonst fast s/3 der Menschheit
internieren müßte. (Ebenso ist nach Citron,
Deutsche Med.-Ztg. No. 84 u. 89, 1903, auch die
übertriebene Forderung Sobottas zurück-
zuweisen, daß nur Leute mit Temperaturen unter
37,3° Aufnahme finden dürfen, Fortschr. d. Med.
No. 17, 1903.)
(Deutsche Med.-Ztg. No. 62, 1903.)
Esch (Bendorf ).
Die Aufnahme von Nichttuberkulösen in die
Lungenheilanstalten. Von Dr. G e o r g L i e b e.
Verf. meint: "Wenn die krankmachenden
Momente in der schlechten Wohnung, dem Alko-
holismus, dem ungesunden Beruf liegen, so kann
man entweder sagen: die Heilstätten nützen
nichts, denn nach der Kur wirken die alten
Schädlichkeiten doch wieder ein, oder man sagt:
alle die Lungenkranken, die unsere Hilfe suchen,
solche mit und solche ohne Bazillen, auf Tuber-
kulin reagierende und nichtreagierende, sind
durch dieselben Faktoren krank geworden. Was
geht sie unsere Wissenschaft, was gehen sie
unsere Bazillen, unsere — ine an. Sie haben,
wenn sie sonst in gleicher Lage sind (z. B. An-
gehörige einer Invalidenversicherung), das gleiche
Recht an uns, wieder gesund gemacht zu werden,
wenn wir die Mittel dazu haben.
Diese Mittel haben wir aber bei den Nicht-
tuberkulösen noch viel sicherer als bei den Tuber-
kulösen.
Dazu kommt, daß die beiden garnicht so
reinlich voneinander zu scheiden sind. Wenn
man in den Volksheilstätten neuerdings nur
noch Fälle mit positiver Tuberkulinreaktion auf-
nehmen will, so läuft man bei der enormen
Verbreitung der Tuberkulose (nach Nägeli,
Lubarsch, Wolff, Liebe, v. Behring bis zu
100 Proz.) große Gefahr, einen gewissen Prozent-
satz latenter Tuberkulosen zur Behandlung zu
erhalten, die auch ohne Behandlung nie erkrankt
wären. Man färbt also die Kurresultate schön.
Die Anstalten sind aber dazu da, Erkrankte zu
behandeln (Schröder). Nach Pischinger fehlt
der Beweis, daß nur Tuberkulöse und diese
immer reagieren, nach Schudt, Pickert,
Schröder etc. die genügende Sicherstellung der
Unschädlichkeit des Tuberkulins.
Andererseits ist die Befürchtung, daß die
Nichttuberkulösen in den Anstalten angesteckt
werden, nach Ritter, Rumpf, Joel (1901)
und nach Leube, Senator, Ewald, Für-
bringer, Krönig, Lazarus (Tuberkulose-
konferenz 1902), ferner nach Pischinger,
Nahm, Michaelis, Brehmer, Haupt gegen-
standslos. Verf. empfiehlt den Bakterio- und
Phthiseophoben die Schriften von Marti us,
llueppe, Riffel, Winternitz, Rosenbach,
Nauß, Schweizer.
(Ärstl. Rundschau 1904, No. 9.)
Esch (Bendorf J.
(Aus der Landes-Heil« und Pflege-Anstalt Uchtspringe.)
i. Zur Schilddrüsenbehandlung des angeborenen
Myxödems. Von K. Alt. Münchener med.
Wochenschr. 1904, No. 28.
a. Ober Behandlung des endemischen Kretinismus
mit Schilddrüsensubstanz. Von Prof. Dr.
J. Wagner v. Jauregg. Wiener klinische
Wochenschr. 1904, No. 30.
1. Der wahrhaft bewunderungswürdige thera-
peutische Effekt der Thyreoidinbehandlung bei
angeborenem myxödematösen Blödsinn, spora-
dischem Kretinismus wird an einer Anzahl von
Fällen demonstriert. Verf. gibt bei diesem Leiden,
als dessen Ursache Syphilis bezw. Tuberkulose
der Eltern verdächtig ist, nach Hebung des Er-
nährungszustandes und vorbereitender Jodkur
anfangs alle zwei Tage, später täglich eine
Tablette Thyreoidin Merck a 0,1, was bei ge-
nügender Kontrolle von Herztätigkeit und Er-
nährungszustand jahrelang fortgesetzt werden
kann.
Zur Erklärung dieser Wirkung geht Verf.
von der Annahme aus, daß die nach Ausfall der
Schilddrüsentätigkeit beim Menschen beobachteten
Vergiftungserscheinungen ausgelöst sind durch
Stockung der intermediären Eiweißspaltung, durch
aufgehäufte und am weiteren Abbau behinderte
Stickstoffzerfallprodukte. Durch anderweitige Ein-
führung von Schilddrüsensubstanz oder Bau-
mann sehen Thyreojodins wird nun die eigent-
lich einem von der Schilddrüse erzeugten
Ferment zufallende Eiweißoxydation ausreichend
ersetzt.
Betreffs der auf krankhaft gesteigerte
Schilddrüsentätigkeit zurückgeführten Basedow-
schen Krankheit schlägt Verf. Einführung stick-
stoffreicher Kost vor, da alsdann gewissermaßen
eine natürliche Verwendung für das überschüssig
produzierte Ferment stattfände, und glaubt, daß
Versuche in dieser Richtung den Vorzug ver-
dienen vor dem M ö b i u s sehen Serum bezw.
der L a n z sehen Milch thyreoidektomierter
Ziegen.
2. Verf., der die Behandlung des endemischen
Kretinismus mit Schilddrüsensubstanz von Staate
wegen geregelt sehen möchte, hat vorläufig an
72 Kranken Beobachtungen angestellt, auf Grund
deren er die Wirksamkeit dieser Behandlung be-
jahen kann. Er sah Steigerung des Längen-
wachstums, Verlust des schwammigen gedunsenen
Aussehens, der kretinischen Physiognomie, der
Kröpfe, Besserung des Allgemeinbefindens, der
Appetenz, der geistigen Regsamkeit, des Sprach-
und Gehörvermögens.
Er gab täglich eine, bei ganz kleinen
Kindern eine halbe Tablette ä 0,324 Schild-
drüsensubstanz von Burroughs Wellcome & Co.,
später in Österreich selbst hergestellte mit
gleichem Erfolg.
Esch (Bendorf).
Ober das Milzbrandserum und seine praktische
Anwendung. Von Prof. G. Sobernheim
(Halle a. S.).
Sobernheim führte die Kombination der
aktiven (Pasteur) Impfung mit künstlich ab-
geschwächten Kulturen und des schon im Jahre
\
XI2L Jafcrgmnff.1
Februar 1905. J
Referate.
105
1895 durch Sclavo und Marchoux erwähnten
Milzbrandserums ein. Die Zahl der Impfungen
belauft sich bisher auf nahezu 75000, wovon
der weit überwiegende Anteil auf Rinder ent-
fällt, während 12 000—13 000 an Schafen und
zirka 2000 an Pferden vorgenommen wurden.
In erster Linie ist an diesen Impfungen Süd-
Amerika (Argentinien und Uruguay) beteiligt,
woselbst Sobernheim Gelegenheit hatte, auf
einer Reihe größerer, von Milzbrand stark heim-
gesuchter Estancias (Farmen) die neue Schutz-
impfungsmethode unter eigener Leitung und
dauernder Kontrolle zur Anwendung zu bringen.
Eine solche Simultanimpfung wurde auch schon
bei der Rinderpest von Kolle und Turner,
und beim Rotlauf von Lorenz in ganz analoger
Weise angewendet. Das Milzbrandserum wird
zu diesem Zwecke gleichzeitig mit einer, in
ihrer Virulenz etwas abgeschwächten und etwa
dem Pasteurschen Yaccin 2 gleichkommenden
Milzbrandkultur eingespritzt. Während anfäng-
lich gleich Mischungen der beiden Impfstoffe
zur Verwendung gelangten, wurde späterhin aus
besonderen Gründen eine getrennte Injektion
von Serum und Kultur vorgezogen und alsbald
durch zahlreiche Experimentaluntersuchungen
der Beweis erbracht, daß Schafe sowohl wie
Rinder auf diesem Wege gegenüber der sub-
kutanen und stomachalen Milzbrandinfektion
sicher geschützt werden können. Bei Rindern
und Pferden wird das Serum jetzt in Mengen
von 5 ccm, bei Schafen in der Dosis von 4 ccm
angewendet, während die Kulturdosis 0,5 ccm,
bezw. 0,25 ccm beträgt.
Seit dem Jahre 1902 hat die chemische
Fabrik £. Merck die Herstellung des Milzbrand-
serums im großen übernommen und zu diesem
Zwecke eine eigene Anstalt in Halle a. S. er-
richtet.
Die Verbesserung des kombinierten Sobern-
heim sehen Serums gegenüber dem Pasteurschen
besteht darin, daß die kombinierte aktive und
passive Immunisierung bei mindestens gleicher,
wenn nicht überlegener Wirksamkeit nur eine
einmalige Behandlung der Tiere erforderlich
macht, während bei dem Pasteurschen Ver-
fahren einer ersten, rein vorbereitenden Impfung
nach etwa zwei Wochen die zweite, erst wirk-
lich immunisierende Injektion folgen muß. Es
kommt ein weiterer Vorteil der Simultanimpfung
hinzu, daß die Immunität sich schon 10 bis
12 Tage nach der Impfung einstellt, während
dies bei dem Pasteurschen Verfahren erst eben
so lange Zeit nach der zweiten Injektion, also
im ganzen 3 — 4 Wochen nach Beginn der Be-
handlung der Fall ist. Auch sprechen viele
Beobachtungen dafür, daß der Impfschutz den
der Pasteurschen Methode übertrifft. Endlich
kann das Serum auch für sich allein zu thera-
peutischen Zwecken Verwendung finden, während
die Pas teur sehe Methode eine reine Schutz-
impfung darstellt und daher lediglich über pro-
phylaktische Wirksamkeit verfügt.
(Deutsche med. Wochenschr. 1904, No. 26 und 27.)
Arthur Rahn (CollmJ.
v Ein Fall von schwerer allgemeiner Sentit mit
Antlttreptokokkeneernm gehellt. Von Dr.
Manfred Fraenkel (Berlin). Deutsche med.
Wochenschr. 1904, No. 33. Separatabdruck.
a. Ober einen Fall puerperaler Infektion, geheilt
unter Anwendung des Aronsonschen Anti-
streptokokkenserntns. Von Dr. Felix Opfer
(Berlin). Ebendaselbst 1904, No 33. Separat-
abdruck.
3. Aronsonsches Antistreptokokkenserum bei puer-
peraler Sepsis. Von Dr. Ho ff mann (Salz-
wedel). Ebendaselbst 1904, No. 46. Separat-
abdruck.
1. Fraenkel schildert einen Fall von über-
aus schwerer Sepsis, der durch Anwendung von
Anüstreptokokkenserum geheilt wurde.
Ein sechsjähriges Kind erkrankte plötzlich
unter starkem Fieber (39,5°), Kopfschmerzen,
Erbrechen und heftigen Schmerzen im Bein. Am
Knie fand sich ein markstückgroßer, oberfläch-
licher, schmierig belegter Hautdefekt, dessen
Umgebung gerötet und geschwollen war. Ein
roter Strang zog sich nach der Inguinalfalte
hin, woselbst eine pflaumengroße, stark schmer-
zende Schwellung vorhanden war. Die Infektion
war durch einen Fall vor 8 Tagen zu stände ge-
kommen. Am dritten Tage hatte sich ein typi-
sches Erysipel ausgebildet, gegen welches Un-
guentum Crede resp. Unguentum cinereum ver-
ordnet wurde. Es entwickelte sich nun das
Bild einer allgemeinen Sepsis: wiederholte
Schüttelfröste, hohe Temperatur bis 40,5°, jagen-
der Puls. Am 6. Tage der Erkrankung wurde
eine Injektion von 20 ccm Aronsonschem Anti-
streptokokkenserum vorgenommen, die im Laufe
des Tages wiederholt wurde. Am nächsten Tage
begannen die Temperatur zu sinken und die
sämtlichen Erscheinungen zurückzugehen. Die
vollständige Heilang wurde nur vorübergehend
durch das Auftreten eines Abszesses gestört, der
eine Inzision erforderlich machte.
2. Opfer beschreibt einen Fall von puer-
peraler Infektion mit Schüttelfrösten, hoher Tem-
peratur und frequentem Puls. Am dritten Tage
wurden 40 g Antistreptokokkenserum injiziert,
aber Temperatur und Puls begannen erst zu
sinken, als am folgenden Tage weitere 60 g
injiziert worden waren. Am 6. Krankheitstage
zeigten Puls und Temperatur von neuem einen
Anstieg, 8 od aß wiederum eine Injektion von 60 g
vorgenommen wurde. Ein Ausbruch von Urti-
cariaquaddeln, der unter Schüttelfrost und Tem-
peraturanstieg auf 40,3° erfolgte, war auf das
Serum selbst zurückzuführen, ebenso ein stark
juckendes Exanthem, das mit Gelenkschwellungen
am 18. Tage auftrat.
3. Der von Hoff mann beschriebene Fall
von puerperaler Sepsis betraf eine Mehrgebärende,
die am 4. Tage nach der Geburt unter Schüttel-
frost und Anstieg der Temperatur und der Puls-
frequenz erkrankte. Am 4. Tage der Erkrankung
wurden 40 g, an den beiden folgenden Tagen
je 20 g und nach eintägiger Pause wiederum
40 g Antistreptokokkenserum injiziert. In der
nächstfolgenden Nacht machte ein schwerer
Kollaps die Anwendung von Exzitantien erforder-
lich; ferner wurde am nächsten Tage eine Trans-
fusion von 500 ccm der Landererschen Flüssig-
106
Referate.
[Therapeutische
L Monatshefte.
keit (Kochsalz 3,5, Zacker 15,0, Natronlauge
gutt. I, Wasser 500) vorgenommen. Die Besse-
rung im Befinden schritt von nun an stetig vor-
wärts. Nebenwirkungen des Serums wurden in
diesem Falle nicht beobachtet.
Jacobson.
Einiges über den Gebrauch des Morphiums bei
Herzkranken. Von K. Graßmann, München.
Gr aß mann bedauert, daß außer Rosen-
bach, mit dem er in den meisten Punkten
übereinstimmt, bisher noch kein Autor sich ein-
gehender mit diesem Thema befaßt habe. Er
kommt für seine Person zu folgenden Schlüssen:
Es besteht keine Berechtigung, das Morphium
innerhalb der gebräuchlichen Dosen als Herzgift
anzusehen und deshalb seine Anwendung bei
Herzkranken prinzipiell zu verwerfen.
Die plötzlichen Todesfälle, die sich bei
morphinisierten Herzkranken dann und wann
ereignen, sind bezüglich ihrer Ursache noch
unklar, aber wenn auch nicht stets, wie Rosen-
bach will, so doch meistens auf das Grund-
leiden zurückzuführen.
Über die Indikationen des Morphiumge-
brauches bei den verschiedenen Arten der
Herzkrankheiten gehen die Anschauungen der
Autoren noch beträchtlich auseinander, und es
würde sich empfehlen, an einem großen, klinisch
beobachteten Material präzisere Indikationen
aufzustellen.
Die Anwendung des Morphiums bei Herz-
schwachen und Herzkranken mit erheblicheren
Erkrankungen der Respirationsorgane, namentlich
akuter Natur, sowie bei akuten Prozessen des
Endo- und Myokards heischt Vorsicht.
Bei rein nervösen Herzstörungen, speziell
bei nicht organisch bedingter Angina pectoris,
kann Morphium unbedenklich — im Rahmen seiner
allgemeinen Indikationen — gegeben werden.
Bei organisch basierter Angina pectoris,
bei Stenokardie sind kleine Morphiumdosen er-
laubt bezw. indiziert, eventl. vorher eine Karapfer-
injektion.
Unbedingt indiziert scheint Morphium zur
augenblicklichen Hilfeleistung bei allen
schwereren Anfällen von Asthma kardiale, wo
die Wirkung der Digitalis nicht erst abgewartet
werden kann. Bei der chronischen Dyspnoe
ambulanter Herzkranker ist es nur beschränkt
statthaft und ratsam.
Eine Indikation für Morphium besteht da, wo
Digitalis und andere Herzmittel ihre Wirksamkeit
nicht entfalten oder bereits ganz eingebüßt haben.
Eine wichtige Rolle spielt Morphium als
präparatorisches Mittel vor der Digitaliskur bei
sehr erregten, schlaflosen und heruntergekommenen
Individuen, hier genügt es direkt einer kausalen
Indikation. Es wirkt nach Rosenbach toni-
sierend auf das Herz dadurch, daß es die Erreg-
barkeit des Nervensystems für außerwesentliche
Reize herabsetzt und die Gesamtleistung ver-
mindert, indem die durch Schlaflosigkeit, Unrast,
Depression, Angst, Schmerzen bedingte Luxus-
konsumption der Kräfte gehoben wird.
(Mi'mch. med. Wochenschr. 1904, Xo. 28.)
Esch (Bendorf).
Dormiol als Hypnoticum. Von Dr. T. Zapinski.
Angewendet wurde 10 °/0 Lösung von Dor-
miol mit einem Geschmackscorrigens. Trotzdem
mußten die Kranken lange Zeit beredet werden,
um das Mittel nochmals einzunehmen, weil durch
kein Corrigens der Geschmack zu verdecken war.
Als Anfangsdosis gab Verf. in leichteren Fällen
einen Löffel, bei stärker erregten Pat. mußte
die Dosis aufs Dreifache erhöht werden.
Der Schlaf war kurz, am nächsten Tage waren
die Kranken somnolent, träge. Nach 7 — 10 Tagen
mußte die Gabe wegen der Angewöhnung erhöht
werden. Zu den unangenehmen Eigenschaften
ist hinzuzuzählen der schlechte Geruch und
Geschmack des Mittels.
(Medycyna Xo. 24, 1904.)
Gabel (Lemberg).
Erfahrungen mit einer Buttermilchkonserye als
Säuglingsnahrung. Von Priv.-Doz. H. K o e p p e
(Gießen).
Angeregt durch die He üb ner-S algeschen
Versuche mit einer Säuglingsnahrung aus frischer
Buttermilch, hat Koeppe mit einer Buttermilch-
konserve von Staudt & Co., Vilbel, seinerseits
Versuche und zwar mit Erfolg angestellt. Er
hat im Laufe der letzten zwei Jahre bei 56
kranken Säuglingen diese sog. «holländische
Säuglingsnahrung" verwandt. Davon hat er die
Resultate von 32 Fällen, die in seiner Behand-
lung blieben, aufgezeichnet. Koeppe kommt
dabei zu folgendem Schlüsse: Für atrophische
Säuglinge und solche mit chronischem Darm-
katarrh dürfte die Buttermilchnahrung die ge-
eignetste sein, die wir jetzt haben, sie ist billig
C/4 1. Fläschchen kostet 10 Pf., 2—4 Fläschchen
pro die) und haltbar. Bei fiebernden Säuglingen
mit Dyspesie oder akutem Dünndarmkatarrh
soll man die Buttermilchnahrung erst dann
geben, wenn nach vollständigem Aussetzen jeder
milch- und fetthaltigen Nahrung gleichmäßiger
Stuhl wieder vorhanden ist, aber auch die Milch
in Verdünnung noch nicht bekommt.
(Deutsche med. Wochenschr. 1904, Nr. 25.)
Arthur Rahn (Collm).
Praktische Ergebnisse aus dem Gebiete der Uro-
logie. Zur inneren Behandlung des
Blasenkatarrhs; Urotropin und dessen
Ersatzmittel. Von C. Posner.
Neben der örtlichen Behandlung der Blasen-
leiden darf die innere Therapie nicht vernach-
lässigt werden. Nicht nur alle akuten Entzün-
dungen der Harnblase, sondern auch viele chro-
nische Krankheiten werden auf medikamentösem
Wege geheilt.
Was zunächst die Mineralwässer betrifft,
so sieht Verf. bei ganz akuten Cystitiden von
ihrem Gebrauch vollständig ab; bei subakuten
Fällen verordnet er die milden Wasser (Fachingen,
Bilin, Gießhübl, Weroarzer Quelle), während bei
den chronischen Katarrhen die Wildunger Quellen
zur Verwendung gelangen: doch darf durch ihren
Gebrauch eine etwa vorhandene Alkaleszenz des
Urins nicht gesteigert werden.
Das Urotropin besitzt, wie die praktische
Erfahrung gelehrt hat, eine ausgesprochene Heil-
kraft gegenüber Cystitiden; es gilt ferner als
X
XJX. Jahrgang.!
Ftbrnar 1905. J
Referate.
107
Prophylacticum gegen die Katheterinfektion and
wirkt auch bei allgemeinen Infektionskrankheiten
v orbengend: es verhütet bei Typhus die Er-
krankung der Harnorgane und schützt bei Schar-
lach vor Nephritis. Trotz dieser Vorzüge hat
sich ein Suchen nach Ersatzmitteln bemerkbar
gemacht, weil auch Falle bekannt wurden, in
denen TJrotropin völlig versagte. Dieser Miß-
erfolg des Mittels liegt nun nicht in quantitativen
Unterschieden der Infektionsstarke, sondern an
der Beschaffenheit des Infektionserregers. Be-
sonders die Cystitiden tuberkulösen und gonor-
rhoischen Ursprungs lassen sich durch Urotropin
nicht beeinflussen. Indiziert ist dagegen die
Urotropinbehandlung bei der gewöhnlichen In-
fektion mit Colibazillen , Staphylokokken etc.,
also bei Striktaren der Harnröhre, Prostatahyper-
trophie etc. In diesen Fällen ist Urotropin das
wertvollste Mittel.
Die Kombination des Urotropins mit Me-
thylenzitronens&ure (Helmitol, Neuurotropin)
wirkt erst in doppelt so starke/- Gabe wie Uro-
tropin; es ist dies erklärlich, da in dem neuen
Produkt 40,7 Proz. Urotropin und 59,3 Proz.
Methylenzitronensäure enthalten sind, und da
die Säure selbst bei ihrem Übergange in den
Harn nur eine außerordentlich geringe des-
infizierende Kraft besitzt. Nach Helmitolgebrauch
ist übrigens recht häufig Hämaturie beobachtet
worden. Das Mittel ist demnach kein Ersatz
für Urotropin. Das Gleiche gilt vonHetralin,
das durchaus nicht besser als Urotropin wirkt
und von Griserin, das sich nicht als inneres
Desinficiens erwiesen hat. Eine Klärung des
Urins blieb nach Griserin gebrauch völlig aus.
(Berliner klin. Wochenschrift 1905, No. 2.) J. Jacobson.
Urotropin bei Scharlach zur Verhütung von
Nephritis. Von Dr. Buttersack (Heilbronn).
Verf. glaubt, an der Hand von drei Krank-
heitsbeobachtungen zu nachstehender Schlußfol-
gerung berechtigt zu sein: Die Darreichung von
Urotropin bei Scharlach zur Verhütung reep.
Bekämpfung der Nephritis in geeigneter Dosis
und Dauer (0,05 bis 0,5 drei Mal täglich, die
zitronensaure Verbindung in doppelter Dosis)
ist unbedenklich in jedem Stadium, selbst bei
frischen Nierenreizungen. Wenn das Urotropin
nicht während der ganzen Krankheitsperiode ge-
geben werden soll, so muß es unter peinlichster
Harnkontrolle sofort mit dem spurweisen Auf-
treten von Eiweiß verabreicht werden. Auf
den sonstigen Verlauf von Scharlach hat dieses
Renalmittel keine Wirkung.
(Deutsch. Arch./Ür klin. Medizin, Bd. SO.) H. Rosin.
i. Lokalanästhesie mittels Eukaln- Adrenalin. Von
Prof. Hermann Freund in Straßburg. Zentral-
blatt für Gynäkologie 1904, No. 48, S. 1481.
a. Notes on local analgesia (Bemerkungen zur
lokalen Analgesie). By Arthur E. Barker,
F. R. C. S. Prof. of surgery, University College ;
Sorgeon to University College Hospital London.
Britibh medical Journal 1904, 24. All, S. 1682.
1. Bei kleinen, an sich gefahrlosen Ope-
rationen wird der Arzt ungern zur Allgemein-
narkose greifen, da diese, nach welcher Methode
sie auch immer ausgeführt wird, doch stets eine
richtige Vergiftung und somit einen Eingriff dar-
stellt, bei dem nicht für den günstigen Ausgang
gutgesagt werden kann. Andererseits sind diese
unbedeutenden Operationen, wie sie die Gynäko-
logie mit ihren Kolporraphien, Piastiken etc.
in reichlicher Menge bietet, immerhin so schmerz-
haft, daß ein labiles Nervensystem durch ihre
Ausführung ohne irgendwelche Bekämpfung des
Schmerzes lang anhaltende Schädigungen er-
fahren könnte. Aus diesen Gründen machte
sich also gerade bei den kleinen Eingriffen der
Wunsch nach einem Verfahren geltend, das den
Operationsschmerz sicher beseitigt, ohne dabei
an sich den Patienten in Gefahr zu bringen.
Eine Analgesierungsmethode, welche das obige
Postulat erfüllt, die Schlei chsche Infiltra-
tionsanästhesie, wurde von Prof. Freund bei
einer Reihe gynäkologischer Eingriffe verwendet,
mußte jedoch für die meisten Fälle wieder ver-
lassen werden, da sich herausstellte, daß bei
plastischen Operationen an Damm, Scheide und
Gebärmutterhals das infiltrierte Gewebe dem
Erfolge der Plastik ein schwer zu überwindendes
Hindernis entgegenstellt. Verf. griff dp her mit
Freude zu einem anderen Verfahren, welchem
die Nachteile des Schlei ch sehen, i. e. die ana-
tomischen Läsionen des Operationsgebietes, nicht
anhafteten, nämlich der Braun sehen Kokain-
Adrenalin-Anästhesie. Die zur Einspritzung
verwendete Lösung, bestehend aus 9 Teilen 1 proz.
Kokainlösung und 1 Teil 1 proin. Adrenalin-
lösung, erzeugte in Mengen von 1 oder da, wo
an der vorderen und hinteren Scheidenwand ge-
arbeitet werden mußte, von 2 cm3 stets nach
Verlauf von 5 — 15 Minuten eine völlig aus-
reichende Unempfindlichkeit des Operations-
terrains. Beunruhigend wirkten folgende bei
den ersten 5 unter dieser Methode operierten
Patientinnen (4 Scheiden-Dammplastiken, 1 Ex-
zision einer Scheidennarbe) eintretende Zufälle:
Sofort nach der Operation wurden die Pat. un-
ruhig, ängstlich, griffen mit den Händen in die
Luft, atmeten schnell und hatten Kältegefühl;
der Pols war dabei beschleunigt, ohne im übrigen
seine Qualität wesentlich zu ändern. Wenn auch
diese Symptome meist — nur in 2 Fällen
klagten die Pat. noch den ganzen Tag über
Kopfschmerzen — nach 2 — 3 Minuten ver-
schwanden, so hatten sie doch als Erscheinungen
von Intoxikationen durch direkt in den Blut-
strom gelangendes Kokain etwas recht Bedroh-
liches an sich.
Wenn nun auch spätere Erfahrungen lehrten,
daß man diese Zufälle durch äußerst langsames,
vorsichtiges Injizieren und durch ängstliches
Vermeiden der im subvaginalen Gewebe so über-
reichlich vorhandenen kleinen Gefäße ausschalten
kann, wendete Verf. doch in Zukunft lieber das
bedeutend weniger toxische, gleich wirksame
und nebenbei auch billigere Surrogat des Kokains,
das Eukain/9, an. Unter Innehaltung all der
Vorsichtsmaßregeln, welche einerseits für eine
subkutane Injektion überhaupt, andererseits für
die Einführung eines natürlich nicht ganz in-
differenten Stoffes an sich maßgebend sind, hat
Verf. bei Anwendung dieses Mittels stets be-
108
Referate.
rTfa«r*peati*chA
L Monatshefte.
friedigende Erfolge und niemals unerwünschte
Nebenwirkungen gesehen. Verf. verwendet das
Anästhesierungsgemisch in zwei verschiedenen
Zusammensetzungen, nämlich entweder 1 Teil
1 prom. Adrenalinlösung auf 9 Teile 1 proz.
/9-Eukainlösung, oder dort, wo es auf eine be-
sonders stark an anvisierende Wirkung ankommt,
2 Teile der Adrenalin- auf 8 Teile Eukainlösung.
Daß natürlich die durch diese Lösung erzeugte
Ischämie bei den Operationen im Gebiete der
so blutreichen weiblichen Geschlechtsteile für
Schnelligkeit und Exaktheit des Eingriffs, z. B.
Plastiken, enorme Vorteile bietet, liegt auf der
Hand; eventuell zu befürchtende Nachblutungen
lassen sich durch sorgfältige Gefäß Versorgung
völlig ausschalten. Die nicht an allen Teilen
des Genital apparats in gleicher Weise eintretende
Gefühllosigkeit und Blutleere ist doch stets aus-
reichend, sodaß Verf. im Laufe des letzten
Jahres alle nicht zu komplizierten Prolapse, alle
Dammplastiken, mehrere Auslöffelungen von
Cervix- und Scheidenkarzinomen, Exzisionen von
Narben und Portioamputationen, soweit nicht die
Pat. direkt nach Einschläferung verlangten, unter
Eukain- Adrenalin- Anästhesie operieren
konnte. Nach Betrachtung derjenigen operativen
Vorgehen, welche Allgemeinnarkose wünschens-
wert erscheinen lassen, z. B. Kauterisierung von
Karzinomwundflächen, kommt Freund zu dem
Schluß, daß das Adrenalin -Eukain ein
äußerst schätzenswertes lokales Anaesthe-
ticum bei Scheiden-Dammoperationen
wäre, welches er besonders bei Prolaps-
operationen und Dammplastiken nicht
mehr entbehren möchte.
2. Eine wie ungeahnt weite Ausdehnung
die lokale Anästhesie auch bis in das Gebiet
der sogenannten großen Chirurgie hinein erfahren
kann, beweist die Mitteilung von Prof. Barker.
Die Erreichung des Zieles, größere Gebiete auf
längere Zeit schmerzunempfindlich zu machen,
wurde bis vor kurzer Zeit durch zwei Faktoren
vereitelt, deren erster die, bei den hier in Frage
kommenden Mengen, zu starke Giftigkeit des
Kokains war und deren zweiter darin bestand,
daß für all die Körperregionen, wo die Oberst-
sche Abschnürung unmöglich war, die normale
Zirkulation das eingeführte Anaestheticum zu
schnell vom Orte, wo es seine Wirksamkeit
entfalten sollte, entfernte und statt dessen an
die Stellen des Organismus schleppte, wo es
statt der erwünschten analgesierenden Wirkung
die höchst unwillkommene toxische entfaltete.
Diesen beiden Übelständen ist die moderne
Wissenschaft durch Entdeckung zweier neuer
Mittel, des Adrenalins und /9-Eukains, siegreich
entgegengetreten. Während nun. das Adrenalin,
wie bekannt ist, die Ob er st sehe Konstriktions-
binde in einer Art und Weise ersetzt, wie eben
die auf alle, auch die begrenztesten Gebiete zu
lokalisierende Injektion das Anlegen eines von
den morphologischen Verhältnissen abhängigen
Apparates übertreffen kann, stellt das yS- Eukain
einen Vertreter des Kokains dar, der, wie schon
oft hervorgehoben, nur in einer Wirkung
schwächer ist als letzterer, und das ist in der
Giftwirkung.
So konnte denn Bark er von der "von ihm
verwendeten Lösung:
yff-Eucaini 0,2
Natrii chlorati 0,8
Sol. Adrenalini hydrochlor. 1 : 1000 gutt. X
Aquae destill atae ad 100,0
bis zu 200 cm3 injizieren, das heißt, dem
Patienten 0,6 g /9-Eukain einverleiben, ohne
jemals bedrohliche Erscheinungen zu sehen. Das
Verfahren, dessen sich der Verf. bediente, läßt
sich am besten als Kombination der lokalen mit
der regionären, i. e. der Injektion im Gebiete der
das Operationsgebiet sensibilisierenden Nerven,
bezeichnen. Die sich aufdrängende Frage, welche
Vorzüge dies Verfahren vor der Schleichschen
Methode hätte, beantwortet sich von selbst, wenn
erwähnt wird, daß die ganze Anästhesierung,
selbst bis in die Tiefe der Bauchhöhle, von
der unverletzten Haut aus geschieht*), daß der
geeignete Zeitpunkt zum Operieren innerhalb
der Zeit von 30 Minuten bis 2J/a Stunde nach
der Injektion, also in einer Periode, wo der
anatomische Effekt der Einspritzung (Infiltration
etc.) längst verwischt ist, liegt und schließlich,
daß die Analgesie 3 — 4 Stunden dauert. Bei
solchen Operationen, wo der Schmerz des Ein-
griffs rein mechanisch auf andere und zu weite
Gebiete übertragen wird, namentlich bei Bauch-
operationen, wo Zerrungen nicht zu vermeiden
sind, genügt es, während dieser meist kurzen
Phase der Operation ein allgemeines Narcoticum
zu reichen und alles übrige unter Eukain-Adre-
nalin auszuführen. Eine interessante Beobach-
tung ist es ferner, daß die Injektion keine
Anästhesie, sondern nur eine völlige Analgesie
zuwege bringt, sodaß die Patienten oft angeben
konnten, ob gerade ein Messer oder eine Nadel
oder dgl. an ihrem Körper zur Verwendung
kam, ohne dabei irgend welche Schmerzempfin-
dung zu haben.
Über die allgemeine Verwendbarkeit des
Verfahrens gibt am besten die Tabelle der in
letzter Zeit vom Verf. unter Eukain -Analgesie
ausgeführten Operationen Aufschluß:
Laparotomien 8
Hernien 23
Amputationen ö
Varizen 12
Tumoren der Thyreoidea . 3
Orchidektomien 3
Operationen im Kniegelenk 3
Bursae praepatellares . . 3
Maligne Tumoren .... 4
Papilloma axillac 1
Fistula ani 2
Große Lipome 3
Ulcus rodens 2
Empyem 1
Ulcus-Inzisionen 5
Hydrocele 1
Varikocele 1
Cyste der Brust 1
Adenom an der Brust . . 2
Kleinere Operationen ..." 8
*) Über näheres, betreffend die hierzu nötige,
relativ einfache Technik und Apparatur, verweise
ich auf das illustrierte Original. [Der Ref.]
XIX. Jahrgang.!
Februar 1905, J
Referate«
109
Auf Grund seiner Resultate mit /9-Eukain
kommt Verf. zu dem Schluß, daß es ihm kaum
verständlich sei, wie heute noch jemand
Kokain anwenden könnte, welches bei
seiner fraglos viel größeren Gefährlich-
keit wohl kaum bessere Resultate als die
hier mit Eukain erreichten liefern könnte.
Th. A. Maaß.
Zur Behandlung der Hornhautgeschwüre. Von
Dr. Colasuono.
Verf. hat Versuche mit Thigenol (dem
Natriumsalz der Sulfosäure, eines synthetisch
hergestellten Sulfoöles) bei Hornhautgeschwüren
gemacht, wozu es besonders geeignet sei, weil
es einerseits eine schützende Decke über den-
selben bildet, andererseits in die Schichten der
Hornhaut eindringt, und hatv Resultate damit
erzielt, welche alle Erwartungen übertreffen.
Verf. führt einen Fall von schwerem Ulcus
serpens an (Geschwür der Hornhaut über %
der Oberfläche, dabei starkes Hypopyon), bei
dem durch Anwendung des Thigenols (neben
Atropin, Verband) eine so vollkommene Heilung
des Geschwürs erzielt worden ist, daß keine
Spur von Hornhautflecken zurückblieb. Das
Thigenol wird entweder rein oder ana mit Glyzerin,
mittels eines reinen Glasstabes 1 bis 2 mal
täglich auf das Ulcus aufgetupft.
(Neue Therapie, November 1903.)
Pich (Königsberg u Pr.J.
Über Behandlung der granulösen Augenentsttn-
dnng. Von Kreisarzt Dr. Post (Strasburg,
Westpr.).
Post empfiehlt bei Granulöse die Irrigation
der erkrankten Bindehautstellen mit physiologi-
schor Kochsalzlösung von Körpertemperatur, der
er Sublimat (auf 3 1 */3 g) hinzusetzte. Die
Höhe des Irrigationsgefäßes über den Augen soll
1 — 1,20 m betragen. Er bedarf für diese Be-
handlung der Assistenz uud eines besonderen
Quetschhahns. Nach meiner Meinung ist dies
für einen Spezialisten nicht nötig. Die Behand-
lungsmethode ist nicht neu; sie verdient Beach-
tung. Ob sie, wie Post sagt, die operative
Behandlung der Körner ersetzt, erscheint mir
fraglich.
(Deutsche med. Wochenschr. No. 1, 30. Jahrg.)
Dr. P. Schultz.
Bemerkungen zur Trachominfektion. Von Doz.
Dr. L. Schmeichler, Brunn.
Schmeichler polemisiert gegen Peters,
welcher für die Infektion mit Trachom eine
Disposition voraussetzt. Er erkennt die Dispo-
sition nicht an. Er ist der Meinung, daß nur
das sezernierende Trachom ansteckend sei und
die Infektion nur dann zustande komme, wenn
das Trachomsekret in den Bindehautsack gelange.
Da nun diese Übertragung von vielen Zufällig-
keiten abhinge, ließe sich dadurch leicht die
Tatsache erklären, warum viele Menschen vom
Trachom verschont blieben. Die Prophylaxe sei
in der Bekämpfung des Trachoms das Wichtigste.
Schmeichler ist der Ansicht, daß im Ver-
ständnis für hygienische Fragen die Kulturvölker
am Ende des 20. Jahrhunderts so weit gekommen
sein werden, daß unsere ärztlichen Epigonen
dann ein Trachom als ein seltenes, interessantes
Vorkommnis betrachten werden. Eine herrliche,
aber, wie mir scheint, zu kühne Prognose!
(Wiener klinische Wochenschr. No. 45, 16. Jahrg.)
Dr. P. Schultz.
Praktische Hotisen
und
empfehlenswerte Arzneiformeln.
Eine In der Praxis leicht ausfahrbare Reaktion
des Diabetesharnes. Von Prof. Dr. Casimir
Strzyzowskiin Lausanne (Originalmitteilung).
Setzt man zum Zuckernharn 5 Proz. offizi-
elles Formalin, so entsteht in vielen Fällen
nach 24 bis 48 Stunden eine grün fluoreszierende
Färbung, die um so intensiver erscheint, je mehr
der Harn abnorme Stoffwechselprodukte enthält
(Aceton, /9-Oxybuttersäure, Acetessigsäure u.s.w.).
Während bei Zimmertemperatur die grüne Verfär-
bung nach 24 bis 48 Stunden zum Vorschein kommt,
tritt dieselbe bei höherer Temperatur (50—60°)
etwas früher, bei niedrigerer (0 — 10°) etwas später
ein. Zahlreiche Beobachtungen haben mich zu
der Annahme geführt, daß das Fehlen dieser
Reaktion auf die leichte Form des Diabetes
mellitus schließen läßt, während das Vorhanden-
sein derselben von übler Bedeutung ist. Be-
merkenswert erscheint hierbei noch, daß die
Ursache der genannten Reaktion durchaus nicht
auf das Vorhandensein der oben erwähnten ab-
normen Stoffwechselprodukte zurückzuführen ist.
Ober die Formalinreaktion beim Diabetesharn.
Von Prof. Dr. Rabow.
Nach dem Bekanntwerden der von Strzy-
zowski angegebenen Reaktion hatte ich in
letzter Zeit in 2 geeigneten Fällen Gelegenheit,
mich von der Exaktheit und eventuellen pro-
gnostischen Bedeutung derselben durch den
Augenschein zu überzeugen.
In dem einen Falle handelte es sich um
einen mir bekannten diabetischen, 56 Jahre
alten Herren, aus dessen Urin der Zucker bei
zweckmäßiger Diät und ruhiger Lebensweise
zu verschwinden pflegte. Beim Nichtein halten der
vorgeschriebenen Diät und infolge von Auf-
regungen machte sich gewöhnlich ein starker
Zuckergehalt seines Urins bemerkbar. Letzteres
war kurz vor Weihnachten der Fall. Beim Unter-
suchen seines Urins fand ich einen erheblichen
Zuckergehalt. Nun stellte ich auch die von
Strzyzowski angegebene Reaktion an, indem
ich einer Menge von 100 ccm dieses Harns 5 ccm
des offizineilen Formaldehyds hinzusetzte und den
Harn mehrere Tage stehen ließ. Derselbe
blieb in seiner Farbe unverändert. — Der
betreffende Herr hielt wieder die vorgeschriebene
Diät ein und befindet sich seithor bei bestem
"Wohlsein. —
Der andere Fall betrifft eine Frau, die
sich wegen schweren Diabetes mellitus in der
medizinischen Klinik befand und infolge ihres
Schwächezustandes das Bett hüten mußte. Der
110
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
rTherapentitclM
L Monatshefte.
1
Urin enthielt auch bei zweckmäßiger Diät mehrere
Prozent Zucker. Auf Zusatz von 5 Proz. Formal in
zeigte dieser Urin nach etwa 86 Stunden eine
auffallend grüne, fluoreszierend«, anhal-
tende Färbung. Die Frau ging einige Tage
später im Koma zu Grunde.
Weiteren klinischen Beobachtungen dürfte
es vorbehalten bleiben festzustellen, ob der so
leicht ausfuhrbaren „Strzyzowskischen Re-
aktion" die ihr vindizierte prognostische Be-
deutung zukommt. Nach meiner Beobachtung
scheint dies in der Tat der Fall zu sein.
Ober Intravenöse Hetolinjektionen
betitelt Weiß mann in No. 1 der Therap. Mon.
einen Angriff auf meine in No. 11 des vor. Jahr-
ganges ausgesprochene Ansicht. Darauf habe ich
folgendes zu erwidern:
S. 422 sagte ich bereits: „Die Heilbehand-
lung würde sicher weit mehr Anhänger finden,
wenn man statt der intravenösen die u. a. von
Katzenstein (M. m. W. 02) Lowski, White,
Bernheim (Indep. med. 1899) mit gleichem
Erfolg ausgeführten subkutanen bezw. intra-
muskulären Injektionen anwendete, denn „die
geringfügige Verzögerung der Resorption" wird
reichlich dadurch aufgewogen, daß die letztere
Methode einfacher und harmloser erscheint".
Wenn ich mich nun S. 596 in gleichem
Sinne äußerte, so war damit für den Unvorein-
genommenen doch nur die unbestreitbare
Tatsache hervorgehoben, daß der Arzt sich
leichter zur Nachprüfung eines neuen Verfahrens
entschließt, wenn er dabei eine ihm bereits als
einfach und ungefährlich bekannte und ge-
läufige Technik anwenden kann,
Dieser allgemeinen Wahrheit gegenüber lag
meines Erachtens für Weißmann durchaus kein
Grund vor, sich mit meiner Person zu beschäf-
tigen und mir ohne jede Veranlassung Unkenntnis
der Technik oder Überschätzung ihrer Schwierig-
keit vorzuwerfen. Das war um so unangebrachter,
als ihm ebensogut wie mir bekannt sein dürfte,
daß wohl kaum ein Arzt die intravenöse
Injektion technisch für besonders
schwierig hält. Wohl aber scheint sie vielen
im Gegensatz zu der subkutanen etc. gewisse
Gefahren zu besitzen, und deshalb vertrat ich
die obenerwähnte Anschauung, indem ich mit
den genannten Autoren die gleiche Wirksamkeit
beider Verfahren annehme.
Wenn Weiß mann nun die intravenöse
Injektion für allein wirksam erklärt, so wäre
das Nächstliegende gewesen, diese Behauptung
zu beweisen. Er hat aber bei seinem Angriff
auf mich weder die von mir angeführte An-
schauung der betreffenden Autoren widerlegt,
daß die geringfügige Verzögerung der Resorption
nicht genüge, um die intravenöse Injektion über
die andere Methode zu stellen, noch Katzen-
steins Feststellung entkräftet, daß die Schmerz-
haftigkeit des subkutanen bezw. intramuskulären
Verfahrens vermeid bar ist. „ . _ . m
Esch (Bendorf).
Ein schmerzlotes Nähen von Wanden
läßt sich nach H. Fischer (Therapie d. Gegen-
wart, Januar 1905) mit Hilfe von An äst hol
auf bequeme Weise erzielen. Aus einer Ent-
fernung von 30 — 40 cm läßt man einige Sekunden
auf Wunde und Wundlippen den Anästholstrahl
bis zur vollständigen Anämie einwirken und
führt dann die Nadel durch den mit der Pinzette
gefaßten Wundsaum. Da die Gewebe erhärtet
sind, kann man selbst Wunden in der Nähe
der Augen ohne Zerrung nähen. Bei Kindern
lassen sich auf diese Weise Wunden aller Art
mit Ausnahme von Lidwundon schließen; man
spart zugleich an Zeit, da allgemeine Narkose
unnötig wird. Schließlich scheint die Kälte auch
antibakteriell durch Hemmung des Wachstums
der Keime zu wi?ken.
Eucainum lacücum,
welches wegen seiner größeren Löslichkeit dem
salzsauren Eukain, besonders für Schleimhaut-
anästhesie, und im allgemeinen seiner geringeren
Giftigkeit wegen dem Kokain vorgezogen wird,
wird zweckmäßig nach folgenden Formeln ver-
ordnet :
Rp. Eucaini lactici 0.2
Solut. Natrii chiorati (0,6 Proz.) ad 10,0
M. D. S. Zum Einträufeln in das Auge.
Rp. Eucaini lactici 0,1—0,2
Solut. Adrenalini (1 : 1000) gtt. V— X
Solut. Natrii chiorati (0,6 Proz.) ad 10.0
M. D. S. Zur Injektion für regionäre An-
ästhesie, für Zahnextraktionen.
Rp. Eucaini lactici 0,1—0,2
Solut. Adrenalini (1 : 1000) gtt. V— X
Solut. Natrii chiorati (0,8 Proz.) ad 100,0
M. D. S. Zur Injektion für Infiltrations-
anästhesie.
Rp. Eucaini lactici 1,0 — 1,5
Aquae destillatae ad 10,0
M. D. S. Zum Pinseln und zum Tränken
von Tampons für Schleim hautanästhesie.
Rp. Eucaini lactici 1,0 — 1,5
Solut. Adrenalini (1 : 1000) gtt. XXX
Aquae destillatae ad 10,0
M. D. S. Zum Pinsein und Tränken von
Tampons für Schleimhautanästhesie.
Rp. Eucaini lactici 1,0
Mentholi 0,2
Olei Olivarum 2,0
Lanolini s. Fetroni ad 10,0
M. f. unguentum. D. S. Äußerlich zum Ein-
reiben.
Jucken stillende Salbe bei Hämorrhoiden,
Pruritus ani, etc.
Für die Redaktion verantwortlich: Dr. A. Langgaardin Berlin BW.
Verlag von Juli in Springer in Berlin N. — Universitäts-Buchdruck erei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin N.
Therapeutische Monatshefte^
1905. MÄrz.
Originalabhandlungen.
Zum Problem der Atlologrie der Tabes.
Von
0. Rosenbach in Berlin
„Die Rolle, die die Syphilis bei der
Tabes spielt, kann man am besten vergleichen
mit der eines Ferments bei einer chemischen
Verbindung. Es ist gewissermaßen der
Tropfen, der den Stein ins Rollen
bringt."
Der hier gesperrt gedruckte Satz steht
nicht etwa in einem Briefe des weit berühmten
Kriegsberichterstatters Wippchen, sondern in
einer von W. Croner in der Berl. klin.
Woch. 1904, Nr. 49 veröffentlichten Arbeit:
„Über familiäre Tabes dorsalis und ihre
Bedeutung für die Ätiologie der Erkrankung. "
Es liegt mir natürlich fern, aus stilistischen
Brouillements oder Flüchtigkeiten Schlüsse auf
den Inhalt einer Arbeit zu ziehen; aber der
zitierte Satz gab mir doch Veranlassung, nicht
bloß die Schlußfolgerungen des Autors, sondern
vor allem die Grundlagen dafür, d. h. sein
klinisches Material, einer besonders gründlichen
Betrachtung zu unterwerfen. Sie hat leider
den Beweis geliefert, daß Herr Croner glaubt,
seinen Lesern Angaben, die nur auf Hören-
sagen beruhen, und eigene Vermutungen als
klinische Beobachtungen und wissenschaftliche
Beweise vorfuhren zu dürfen. Da sein Thema
besonders wichtig und aktuell ist, so kann
ich eine solche Art und Weise, in den Streit
der Meinungen einzugreifen, unmöglich mit
Stillschweigen übergehen; denn sonst ist zu
furchten, daß gerade die vorliegende Mit-
teilung ohne Bedenken als wertvoller Beitrag
akzeptiert wird, weil sie, um auch einmal
nach bewährten Mustern zu schreiben, durch
„die Flagge einer klinischen Stellung ge-
deckt" ist.
Nach der modernen Art Arbeiten zu lesen und
zu referieren wird ja gewöhnlich nur das Schluß-
ergebnis, das die subjektive Meinung des Autors zum
Ausdruck bringt, berücksichtigt, und die angeblichen
Beweise werden nur wegen der stolzen Bestimmt-
heit der Behauptungen ohne Prüfung auf Treu und
Glauben hingenommen. Arbeiten solcher Art lassen
sich ja leider leicht auch zu einem recht kurzen
Referat venlichten und erhalten gerade dadurch
besondere Publizität, während püe Vertreter anderer
Th. M. 1905.
Anschauungen um so weniger zur Geltung kommen,
je mehr ihre gut begründeten und erwogenen Aas-
führungen der apodiktischen Form entbehren, so-
daß sie erst bei gründlicher Verfolgung des Ge-
dankenganges verständlich werden können. Es liegt
aber doch wohl auf der Hand, daß in wissenschaft-
lichen Dingen nicht das glatte Resultat und selbst
die Autorität, von der eine Meinung stammt, sondern
erst die Belege dafür und die Kraft der Gründe
und Gegengründe maßgebend sein können. Diese
selbstverständliche Ansicht habe ich immer wieder
und auch dem Tabes- Syphilisproblem gegenüber
vertreten, ohne Gehör zu finden; jedenfalls ist die
Arbeit von Herrn Croner ein weiteres schlagendes
Beispiel dafür, mit welchen Mitteln man heut die
Wissenschaft zn fördern glaubt.
Daß Herr Croner die von mir ver-
tretene Ansicht über die Bedeutung der „an-
erzeugten Disposition" für die Entstehung
der Tabes gerade auf Grund seiner Fälle
anzuerkennen gezwungen ist, und daß er zu
dem Schlüsse kommt, daß die familiäre Dis-
position, „ ebenso wie die Syphilis, ein Trauma,
eine hartnäckige Erkältung1) oder dergleichen
(sie!) ebenfalls auf das Rückenmark wirken
können a — diese Zustimmung zu meiner Auf-
fassung kann mich nicht abhalten, seinen Ver-
such, angeblich auf Grund eigener Beobach-
tungen, der familiären Disposition des Nerven-
systems eine wichtige Rolle bei der Entstehung
der Tabes einzuräumen, hier kritisch zurückzu-
weisen; denn er hat meiner Arbeit nur das
Schlagwort entnommen und versucht, mit fehler-
haftester Methode 7 d. h. mit unzulänglichen
Mitteln, die .Meinung zu stützen, daß die
familiäre Disposition die Hauptsache sei, und
*) Ich möchte hier noch einmal darauf hin-
weisen, daß ich die Wirkung grober Einwirkungen
der oben geschilderten Art für die Ätiologie der
Tabes und anderer Erkrankungen wesentlich ge-
ringer einschätze, als den Einfluß kleinster, aber
dauernder Schädigungen resp. der Lebens- und
Arbeitsbedingungen im weitesten Sinne. Um nur
von den mechanischen Einflüssen zu sprechen, so
ist das grobe Trauma, auf das heut sowohl die
typische traumatische Neurose, als auch eine Reihe
von Organstörungen zurückgeführt wird, viel seltener
die wirkliche Ursache der Erkrankung, als die
Kinetose, die dauernde Einwirkung kleinster
mechanischer Schädlichkeiten. Das Trauma ist oft
nur als letzter Anstoß zu betrachten oder, wie
Herr Croner lieber sagt, der „Tropfen, der den
Stein ins Rollen bringt".
112
Rotenbach, Zum Problem der Ätiologie der Tabe«.
rTherftpentfoehe
L Monatshefte.
„die Lues nur gleichsam die Bedeutung eines
Ferments" habe, dessen Wirkung von den
variablen Substraten der Körpergewebe, also
in letzter Linie von einer lokalen Disposition
des Rückenmarks, abhängt.
So sehr gerade ich die Fälle von fami-
liärer Tabes als bedeutungsvolle Stütze meiner
Ansicht9) ansehe und so erfreulich für mich
die Unterstützung durch Berichte über zweifel-
lose Fälle ist, so sehr muß ich gegen eine
solche nichtssagende Art der klinischen Bericht-
erstattung Protest erheben, da es mir eben
nicht auf die Behauptung meiner Ansicht um
jeden Preis, sondern vor allem auf wissen-
schaftliche Beweise dafür und dagegen an-
kommt.
Ich bin ja weit davon entfernt zu leugnen,
daß ein mit Lues Infizierter an Tabes er-
krankt; ich leugne nur 1., daß die Lues eine
größere Disposition dafür schafft, als irgend
eine andere Erkrankung, 2., daß in 90 Proz.
und mehr aller Fälle bei Tabikern eine lue-
tische Anamnese konstatiert werden kann,
und daß 3. die Tabes eine spezifische
Wirkung des Luesgiftes darstellt, die dem
Systematiker erlaubt, von ihr als von einer
meta- oder parasyphilitischen Erkrankung zu
sprechen.
Gewiß sind z. B. nach Masern chronische und
käsige Veränderungen der Lungen relativ häufig,
aber nicht etwa weil der ätiologische Faktor der
Tuberkulose eine spezifische Ähnlichkeit mit dem
der Masern hat, sodaß man den käsigen Prozeß
nach Analogie der „metasyphilitischen Tabes Ä als
metamorbillöse Pneumonie zu bezeichnen wagen
dürfte, sondern weil im Verlaufe der Masern der
Respirationsapparat and vor allem die Schleimhäute
in besonders starker Weise affiziert werden und
hier eine Schwäche geschaffen wird, die bei ohnehin
schwacher Anlage der Apparate ebenso oft [zur
Tuberkulose führt, wie Anämie, schwere Dyspepsie
und intensive akute Erkrankung.
Was ich also von jedem, der an der
Diskussion teil nimmt, verlange, ist nicht ein
beliebiges Sentiment des Berichterstatters
über seine Auffassung, sondern eine ausführ-
liche und objektive Schilderung der zum
Beweise der klinischen Besonderheit heran-
gezogenen Fälle. Was der Patient in Form
eines — vom Arzte oder dureh Lektüre
übernommenen — Schlagwortes angibt, ist
für mich durchaus nicht maßgebend. Wenn
er nicht klare Symptome schildern kann,
sondern nur den Ausspruch eines Arztes re-
produziert oder als positivsten Beweis die Tat-
sache anzuführen vermag, daß ihm mehr oder
') 0. Rosenbach, Das Problem der Syphilis
und die Legende von der spezifischen Wirkung
des Quecksilbers und Jods, Berlin 1903. — Ist
für die Entstehung der Tabes die Syphilis oder
die Anlage und ein sozialer Faktor maßgebend?
Diese Zeitschrift 1904, Heft 3 u. 4.
weniger Quecksilber einverleibt worden ist,
so ist für mich das wissenschaftliche Ergeb-
nis der Anamnese gleich Null. Ebensowenig
beweiskräftig ist die Mitteilung, daß ein
praktischer Arzt oder sogar ein Spezialist
— diese Steigerung bitte ich nur stilistisch
und nicht etwa als Ausdruck meiner Wert-
schätzung dieser beiden Kategorien von Ärzten
aufzufassen — ein Geschwür für „hart3)"
erklärt hat; denn hier handelt es sich, was
man nicht vergessen sollte, um ein subjek-
tives Urteil und nicht um eine objektive
Angabe, weil der eine Beobachter leichter
geneigt ist als der andere ein Geschwür für
hart zu erklären. Dagegen kann über die
Natur eines Roseolaexanthems oder der
feuchten Papeln nicht leicht ein Streit der
Meinungen entstehen, und die Differenz ist
auch in zweifelhaften Fällen auf das geringste
Maß zurückzuführen, wenn die Beschaffenheit,
die Ausbreitung und der Sitz des fraglichen
Befundes genau angegeben wird. Jeder
Zweifel würde überhaupt in zweck-
mäßiger Weise vermieden werden,
wenn dem Patienten im Ausblick auf
die Zukunft von dem behandelnden
Arzte jedesmal sofort genaue Infor-
mationen über Ort und Art der cha-
rakteristischen Symptome gegeben
würden.
Auch als Krankengeschichten sollten stets nur
fenaueste Schilderungen mitgeteilt werden, da mir
'alle bekannt sind, wo zwei oder drei Flecke
zweifelhaften Charakters als Roseolaexanthem be-
zeichnet und andere, wo die bekannten weißen
Flecke der Wangenschleimhaut, die schon vor der
Infektion vorhanden waren, als sichere Lokalisationen
der Lues betrachtet wurden. Für eine wissenschaft-
liche Betrachtung oder Statistik genügt zweifellos
die bloße Angabe nicht, daß Patient an Lues ge-
litten, oder gar die gewöhnlich als voller Beweis
betrachtete, daß er Hg -Kuren durchgemacht hat;
ich wenigstens würde nur auf solche Angaben hin,
bei sonst zweifelhaften Erscheinungen, z. B. Er-
krankungen innerer Organe, niemand für luetisch
durchseucht erklären, ebensowenig wie ich jemand
ohne weiteres für herzkrank erklären würde, weil
er nach Aussage des Arztes an Herzschwäche ge-
litten und sogar Digitalis genommen hat.
*) Wem diese Auffassung zu rigoros erscheint,
dem möchte ich folgende Erfahrung aus der jüngsten
Zeit vorführen. Em Patient gab mir, als ich eine
genaue Anamnese erhob, an, daß der ihn zuerst
behandelnde Arzt vor mehreren. Fachgenossen er-
klärte, daß sich eine Entscheidung über die Natur
des Geschwüres nicht treffen lasse, daß man aber
doch am besten tue, es als hart anzusehen und
demgemäß eine Hg-Behandlung einzuleiten. Damit
war das Urteil für alle Zeiten gesprochen; denn
obwohl nach Angabe des Patienten keine sekun-
dären Erscheinungen aufgetreten waren , so erklärte
ihn doch — ohne weitere anamnestische Fragen —
i'eder der späteren Ärzte, die er aus Ängstlichkeit
konsultierte, für luetisch, eben weil er mit Hg be-
handelt worden war.
XIX. Jahrftng.l
Mir« 1905. J
Rosenbach, Zum Piobtom der Ätiologie der Tab«*,
113
Was aber schon für die Praxis gilt, muß
doch in weit höherem Maße dort gelten, wo
die Forderungen der exakten Wissenschaft in
Frage kommen. D. h. nur eine ganz genaue
unvoreingenommene Schilderung der Sym-
ptome kann als Basis für die sich anschlie-
ßende subjektive Betrachtung oder Schluß-
folgerung (des Berichterstatters selbst oder
der Leser) dienen; die eingehende objek-
tive Sohilderung ist das einfache, aber
unerläßliche Postulat wissenschaftlicher
Forschung. Und ob sie erschöpfend ist,
ergibt am besten der Umstand, daß die
Leser oder Hörer einer Krankengeschichte
gleichsam gezwungen sind, die Auffassung
des Berichterstatters zu teilen und seine
Schlüsse anzunehmen. Das gilt ebenso für
die Tabes wie für andere Krankheiten.
Wenn jemand bei Behandlung von so and so
vielen Fällen von Diphtherie einen Erfolg von
einem Mittel gesehen hat, so muß er, wenn er
wissenschaftlich verwendbares Material liefern will,
genau die Art und Weise des Belages, die Art der
Drüsenschwellung, die Dauer der Erkrankung bis
zur völligen Heilang, den Fiebertypus etc. schildern.
Sonst tappt der wissenschaftliche Forscher, der
solches Material verwerten möchte, im Dunkeln oder
wird direkt irregeführt. Am günstigsten liegt hier
noch der Fall, wenn das subjektive Material des
Berichterstatters mit den Tatsachen der gewöhn-
lichen Erfahrung in allzu großem Widerspruch
steht, wie das bei Mitteilungen therapeutischer
Enthusiasten gewöhnlich der Fall ist Z. B. kann
man oft genug erfahren, daß durch irgend ein
Mittel Fälle von Diphtherie in 24—48 Stunden
völlig geheilt worden sein sollen, eine Möglichkeit,
die mir allerdings in meiner eigenen Praxis noch
nicht vorgekommen ist.
Die von Herrn Croner angeführten Daten
nun genügen auch den allergeringsten An-
forderungen nicht, wie jeder mir ohne weiteres
zugeben wird, der die folgenden wenigen,
aber das gesamte Material enthaltenden,
Zeilen aus der Mitteilung des genannten
Herrn lesen will. Die von Herrn Croner
gegebene Beschreibung (?) seiner sogenannten
2wei(!) Gruppen von Fällen und seine so-
genannte Begründung der ätiologischen Dia-
gnose resp. der familiären luetischen Tabes
lautet nämlich in wahrhaft lakonischer Fas-
sung folgendermaßen:
„In beiden' der von mir beobachteten Gruppen
handelt es sich um 3 Brüder, die an Tabes dorsalis
gelitten haben, bezw. leiden.
Von der ersten Gruppe ist mir nur(!) der
eine (! !) Bruder, ein 68 jähriger Lithograph, bekannt.
Derselbe stellte sich in der kgl. med. Universitäts-
Poliklinik vor, mit deutlichen Symptomen von
Tabes. Er gab an, daß sein Vater, 74 Jahre alt,
an Influenza gestorben sei, die Mutter, 56 Jahre
alt, an Kopfrheumatismus. Ein Bruder, der Offizier
war, starb, 48 Jahre alt, an Tabes, ein anderer
Binder, Kaufmann, 38 Jahre alt, an derselben
Krankheit. Der eine Bruder war 14, der andere
12 Jahre älter als Patient. Eine Schwester starb,
50 Jahre alt, plötzlich an einem Schlaganfall und
war vorher sehr aufgeregt und nervös. Der altere
der Brüder war unverheiratet, der andere war ver-
heiratet und hatte gesunde Kinder (!). Ob die
Brüder syphilitisch waren, vermag Patient
nicht anzugeben (! !), doch waren beide
„ Freunde der Liebe « (sie. !). Er selbst hat 1876
einen harten (?)*) Schanker gehabt, spater einen
Ausschlag auf der Stirn- und Kopfhaut, der von
einem Arzt mit Jodkali erfolgreich bekämpft wurde.
Die von mir vorgenommene Lumbalpunktion ergab
reichliche Mengen Leukozyten und Lymphozyten *).«
„Die 3 Brüder der zweiten Gruppe, die jetzt
sämtlich tot sind, stammeu aus der Privatpraxis
(sie. !). Der Vater starb in hohem Alter, die Mutter,
ca. 60 Jahre alt, an Urämie. Ein vierter Bruder
starb jung an Typhus abdominalis, eine Schwester
an Diabetes mellitus! eine andere an Miliartuber-
kulose."
So unzureichend also sind die vermeint-
lichen Tatsachen beschaffen, mit denen Herr
Croner zu einer überaus wichtigen Frage
Stellung nimmt, und an diese Tatsachen
schließt sich das in seiner lapidaren Kürze
völlig verblüffende Resume: „In der einen
Gruppe handelt es sich also um 3 Brüder,
die nach voraufgegangener Lues an Tabes er-
krankt sind, bei der anderen Gruppe ist es
(sie!) mit Sicherheit nur bei dem einen
Bruder festzustellen. tt
Wo findet sich denn nun in den wenigen
angeführten Zeilen eine Angabe darüber,
daß „3 Brüder einer Gruppe nach vorauf-
gegangener Lues" an Tabes erkrankt sind,
und wo findet sich der angeblich sichere
Beweis für die Lues des einen Kranken
der ersten Gruppe? Ich sehe auch darin
keine Entschuldigung für eine solche Ver-
öffentlichung, daß der Verf. uns auf eine
demnächst erscheinende Dissertation verweist,
in der die Krankengeschichten ausführlich
veröffentlicht werden sollen. Wenn erst die
Dissertation das notwendige Material bringen
soll, dann hätte er seine Apercus so lange
unveröffentlicht lassen sollen, und wenn er
durchaus schon jetzt das Gewicht seiner
Ansicht in die Wagschale werfen wollte,
dann hätte er eben auch die Tatsachen im
vollen Umfange veröffentlichen müssen, da
der Forscher auf Ansichten, selbst wenn sie
die Herrn Croners sind, weniger Wert
legen darf, als auf das nackte Faktum, das
für sich selbst spricht. Croners Fälle nun
*) Das Fragezeichen steht im Original; sie!
und ! ! habe ich hinzugefügt.
*) Ich habe den hier folgenden Satz der
besseren Verständlichkeit wegen herausgenommen,
um ihn erst später zu kritisieren, da in ihm
— entgegen der allgemein angenommenen und
darum in allen diagnostischen Kursen für Anfänger
zuerst gelehrten Vorschrift, daß subjektive Angaben
resp. Urteile in die objektive (rein referierende)
Darstellung der Krankengeschichte nicht gehören —
schon in der Krankengeschichte ein Schluß ge-
zogen wird.
9*
114
Rosenbach, Zum Problem der Ätiologie der Tabes.
rTher&peutteebe
L Monatshefte.
beweisen also nicht einmal, daß es sich um
familiäre Tabes gebandelt hat; denn selbst-
verständlich sind die bloßen Aussagen von
Laien wertlos, da meines Erachtens für eine
wissenschaftliche Feststellung sogar nicht ein«
mal die Wiedergabe einer (nicht motivierten)
ärztlichen Ansicht, daß es sich um Tabes
gehandelt habe, ausreicht.
Für den Forseber ist eben (neben der sub-
jektiven Anamnese) die Schilderung des gesamten,
der Diagnose als Basis dienenden, Symptomen-
komplexes das erste Postulat Ich wenigstens habe
genug Fälle der verschiedensten Formen von
Rückenmarks- und sogar Gehirnerkrank ung ge-
sehen, die meiner Untersuchung nach mit Unrecht
unter der Diagnose Tabes gingen, Fälle, — wo die
unrichtige Auffassung beim ersten Blicke klar auf
der Hand lag und, wie ich für Skeptiker hinzu-
fugen möchte, eine nicht gar kleine Anzahl, in der
meine Auffassung durch die Sektion bestätigt
wurde, von den Patienten im Initialstadium ganz zu
schweigen, wo die Diagnose lange Zeit hindurch
wenigstens zweifelhaft blieb. Solche diagnostischen
Differenzen werden jawohl für jeden , der auf dem
Gebiete der Nervenkrankheiten Bescheid weiß,
nicht gerade verwunderlich sein.
Ferner habe ich schon in einer früheren
Arbeit6) darauf hingewiesen, daß man nicht
das Recht hat, früheste Stadien der Er-
krankung oder Fälle, wo nur einzelne Symp-
tome, wie Pupillendifferenz, Fehlen oder
Schwäche des Patellarreflexes, schwaches
Rombergsches Symptom, vorhanden sind,
schon als Tabes, als Vernichtung des
Parenchyms, d. h. als den Zustand der
Atrophie gewisser Teile des Nervensystems,
zu bezeichnen, der nur mit dem irrepara-
blen Endstadium identisch ist. Zwischen
der muskulotonischen Insuffienz nach
meiner Bezeichnung und der ausgesprochenen
Tabes ist ein so großer Unterschied, wie
zwischen Mageninsuffizienz und Magendila-
tation, Spitzenkatarrh und Phthise, relativer
Herzinsuffizienz und dauernder (absoluter)
Herzdilatation. Man muß nicht aus dia-
gnostischer Spitzfindigkeit, sondern im wahr-
haften Interesse der Patienten und
aus wissenschaftlichen Gründen diese
Unterschiede berücksichtigen, da doch der
dauernde Stillstand der Funktions Veränderung
und selbst der Gewebsprozesse im Früh-
stadium nicht ausgeschlossen ist.
Ich wenigstens kenne einige charakteristische
Fälle von — in diesem Sinne — falschlich dia-
gnostizierter Tabes, d. h. Fälle, die einige der oben
geschilderten Symptome seit 15-20 Jahren in
derselben Stärke bieten, ohne daß sich die Er-
scheinungen wirklicher Tabes (resp. das ganze
Syndrom) eingestellt haben, sodaß man annehmen
muß, daß auch der Prozeß, der som>t zur völligen
Atrophie führt, stillstehen kann, und daß diesen
6) 0. Rosenbach, Zur Lehre von der spinalen
(muskulotonischen) Insuffizienz (Tabes dorsalis).
Deutsche med. Wochenschr. 1899, No. 10—12.
leichten Formen nur funktionelle Störungen oder
eine streng lokalisierte, wenig intensive, Gewebs-
erkrankung zu Grund liegt
Und was soll man erst dazu sagen, daß
Verf. von den drei Brüdern der zweiten
Gruppe außer einer kurzen Angabe über
die Todesursache der Eltern und Ge-
schwister nichts mitzuteilen für nötig
hält, als das teils traurige, teils erhebende
Faktum, daß „sie tot sind und aus der
Privatpraxis stammen u? (S.o.) Herrn Croners
diagnostische Kunst und anamnestische In-
quisition sfahigkeit in Ehren; aber hier ist
doch auch nicht der Schatten eines verwend-
baren Materials vorhanden, und darum kann
der Versuch, bei so vollkommenem Fehlen
jeder greifbaren Unterlage einen weitgehen-
den Schluß in der Tat auf einem Nichts auf-
zubauen, nicht scharf genug gerügt werden.
Wenn so die Mitteilung Croners schon
keinen Beweis für die familiäre Natur der
Tabes bietet, so muß man den allerschärfsten
Protest dagegen erheben, daß er mit solchen
Brocken anspruchsvoll in die Diskussion über
die luetische Natur der Tabes eingreifen, ja
sie geradezu als Beweise wenigstens für die
Mitwirkung des luetischen Faktors angesehen
wissen will. Er begnügt sich ja nicht mit
dem Hinweise auf die familiäre Entstehung,
sondern will evident der Lues neben der
anerzeugten Disposition die maßgebende Rolle
vindizieren. In den wahrhaft kümmerlichen,
von ihm überlieferten Daten fehlt aber wunder-
barerweise jede objektive Notiz über Sym-
ptome luetischer Erkrankung, ja selbst in
dem einzigen Falle, der hier in Betracht
kommen könnte, steht der Forscher Croner
mit dem Croner des Resumes in unüber-
brückbarem Gegensatz. Während im Resume
angegeben wird, daß nur bei einem Patienten
der ersten Gruppe Syphilis mit Sicherheit
festgestellt ist, versieht der Verfasser die
Angabe, daß dieser Patient ein Ulcus durum
gehabt hat, eigenhändig mit einem Frage-
zeichen, und den Umstand, daß bei dem
Kranken von einem anderen Arzte ein Ex-
anthem der Stirn- und Kopfhaut erfolgreich
mit Jodkali behandelt worden ist, wird —
angesichts eines so umstrittenen Problems —
doch niemand als ernsthaftes Argument für
die Existenz der Syphilis ansehen können,
ganz abgesehen davon, daß wir nicht einmal
hören, zu welcher Zeit dieses Exanthem auf-
getreten ist, und ob nicht daneben schon.
Symptome der muskulotonischen Insuffizienz
bestanden. Von den Patienten der zweiten
Gruppe aber erfahren wir — in einer nicht
ganz glücklich gewählten Ausdrucks weise —
sogar nur, daß sie „aus der Privatpraxis
8tammena und tot sind.
XIX. Jfthrgang.l
Mär« ia»»ft. J
Rosenbaeh, Zum Problem der Ätiologie der Tab«*.
115
Wahrhaft erheiternd wirkt bei dieser, für den
ernsthaften Forscher sonst überaus traurigen, Sach-
lage nur die Angabe, daß beide Brüder „Freunde
der Liebe" gewesen seien. Dieser Grund, über den
man in der Ätiologie der Tabes doch langst zur
Tagesordnung übergegangen ist, hat zwar mit dem
Problem der luetischen Tabes nicht das geringste
zu tun; aber er ist charakteristisch für die heutige
Methode, ätiologische Zusammenhänge zu kon-
struieren; denn nach dieser modernen Betrachtungs-
weise wird, allerdings mit nicht gerade zwingender
Beweiskraft, gefolgert, daß „Freunde der Liebe"
auch besondere Gelegenheit zur Infektion finden
und so doppelt zur Entstehung der Tabes disponiert
sind. Daß Herr Groner diese auf Hörensagen
basierende Notiz von „den Freunden der Liebe"
als Iodicium für die luetische Natur der Tabes
verwandt wissen will, vermag ich aus seinen Apho-
rismen allerdings nicht ganz sicher zu entnehmen;
aber er wäre auch damit nur in die Fußstapfen
anderer getreten.
Ebenso charakteristisch ist die weitere
Folgerung, daß der einzige Patient der ersten
Gruppe, den Herr Croner kennt, an luetischer
Tabes leiden müsse, weil die „Lumbalpunktion
reichliche Mengen Leukozyten und Lympho-
zyten ergab". „Denn", sagt der Verf. „nach
der übereinstimmenden Ansicht der Autoren,
mit der auch meine, allerdings noch nicht
sehr zahlreichen Erfahrungen über diesen
Gegenstand im Einklang stehen, ist dieser
Befund charakteristisch für vorauf gegangene
Syphilis und dürfen wir so bei unserem
Patienten annehmen, daß er syphilitisch in-
fiziert gewesen ist". Hier wird gerade der
logische Fehler, den ich in meiner Kritik der
Fourni er- Erb sehen Theorie7) am schärfsten
verurteilt habe, wiederholt. Das, was erst
bewiesen werden soll, wird schon als be-
wiesen angenommen, und dadurch, daß ein
Anhänger dieser Lehre sofort die Ansichten
der ersten Verkünder des Dogmas als
Wahrheiten proklamiert, wächst natürlich
die Zahl der Scheinbeweise rapid. Und doch
muß sich auch jeder, der nie einen Fall von
Tabes seziert und mikroskopiert hat, schon
aus theoretischen Gründen klar darüber sein,
daß die Anwesenheit von entzündlicher Dural-
flüssigkeit resp. von Leukozyten nicht etwa
von der spezifischen Systemerkrankung
Tabes, sondern nur von der mehr oder weniger
entzündlichen Natur des Prozesses im Rücken-
mark abhängt, daß also Leukozyten im Rücken-
mark bei Tabes ebenso wie bei jeder anderen
Kückenmarkserkrankung gefunden und nicht
gefunden werden können, je nach der Art
und dem Stande des Prozesses. Woher sollten
denn sonst die bei chronischer Erkrankung
der Nervenzentren nur selten vermiete Menin-
gitis spinalis resp. ihre Residuen (Verdickung,
f) Ist für die Entstehung der Tabes die Syphilis
oder die Anlage und ein sozialer Faktor maßgebend?
Therap. Monatsh. 1904, H. 3 u. 4.
Verwachsung oder Trübung der Häute) her-
rühren? Je früher man eben das Nerven-
system eines Tabikers zu untersuchen Gelegen-
heit hat, desto eher werden sich in den Nerven
und im Rückenmark noch die Zeichen der
akuten oder subakuten Entzündung zeigen,
während sich in späten Stadien nur die
Erscheinungen der Degeneration resp. der
Atrophie des Parenchyms nachweisen lassen;
ganz abgesehen davon, daß die tabische Er-
krankung von vornherein mehr durch ent-
zündliche oder mehr durch originär degenera-
tive Prozesse bewirkt sein kann, worüber ich
mich schon in einer vor 25 Jahren veröffent-
lichten Arbeit geäußert habe8).
Wenn schließlich Herr Croner, der doch
wirklich nicht gezeigt hat, daß er die objek-
tive Beobachtung und das klinische Sehen
würdigt, sagt, „daß der Arzt, der nur einige
Erfahrung über diesen Gegenstand (1) (sc. die
Beziehungen von Lues und Tabes) besitzt,
blind sein oder mit absichtlich verschlossenen
Augen einhergehen muß, der einen Zusammen-
hang beider Krankheiten ableugnet; denn es
gibt keine andere Erkrankung, bei der so
häufig, sei es durch nachweisbare Verände-
rungen, sei es durch die sorgfältig aufgenom-
mene Anamnese voraufgegangene Lues kon-
statiert werden kann, als bei Tabes", —
wenn also Herr Croner so über die durch
ernsthafte, umständliche und langjährige Be-
obachtung zu anderen Schlüssen kommenden
Forscher urteilt, so gebe ich ihm sofort zu,
daß es besser ist, in diesem Sinne blind
zu sein, als etwas zu sehen, was nicht vor-
handen ist, und ohne Unterlage Schlüsse
zu machen, wie die seinigen.
Und wenn er mich auffordert, meine Sta-
tistik über die syphilitisch gewesenen oder
wegen angeblicher Syphilis mit Quecksilber be-
handelten Tuberkulösen zu publizieren, nach-
dem die Gegenprobe bei andersartig Erkrank-
ten gemacht ist, so hat er weder meine all-
gemeinen Erörterungen über die Methoden und
Fehlerquellen der Statistik noch über die
Beweiskraft sogenannter Gegenproben gelesen
oder verstanden. Ich müßte mir selbst untreu
werden, wenn ich eine solche Untersuchung,
etwa nach der Methode von Erb, deren
Fehlerquellen ich deutlich genug dargelegt
habe, publizieren wollte. Solche Untersuchun-
gen stellt man eben für sich, aber nicht für
andere an, nur um einen ungefähren Ver-
gleich zu haben und auf die Fehlerquellen,
die solchen Statistiken anhaften müssen, auf-
merksam zu werden. Doch ich will den Leser
*) 0. Rosenbaoh, Experimentelle Unter-
suchungen über Neuritis. Arch. f. experim. Path. u.
Pharmak. 1877, Bd. VIII.
116
H*rs, Chronische EntsQndunfen dmt Blinddarmgofend.
L Monatshefte.
mit Auseinandersetzungen über dieses Thema
nicht langweilen, da ja jeder leicht Gelegen-
heit nehmen kann, meine Erörterungen über
diesen Punkt zu lesen9); mir kommt es ja
hier nur darauf an zu zeigen, wie Kranken-
geschichten und Folgerungen, die zur
Entscheidung wichtiger Probleme
dienen sollen, nicht beschaffen sein
dürfen.
Über chronische Entzündungen der
Blinddarmgegrend und ihre Behandlung.
Von
Dr. H. Herz, Breslau.
Das Vorkommen chronisch-entzünd-
licher Prozesse, die vom Wurmfortsatz
und Blinddarm ausgehen, findet noch
lange nicht die Beachtung, die es verdient.
Gewiß, nach Überstehen einer akuten Peri-
typhlitis bleibt die Blinddarmgegend für Arzt
und Kranken Gegenstand sorgfaltiger Beob-
achtung. Aber schon vorher muß, wie die
Autoskopie ergibt, in zahlreichen Fällen ein
chronischer Prozeß sich lange abgespielt haben.
Und bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit
findet man über Erwarten häufig chronische
Entzündungen der betreffenden Darmteile, ohne
daß je eine akute Eruption stattfindet.
Das Studium dieser Affektionen ist von
höchster praktischer und theoretischer Wich-
tigkeit. Von praktischer, weil nur bei Kennt-
nis aller Formen der Erkrankung eine wirk-
lich rationelle Prophylaxe und Therapie mög-
lich ist, gleichviel ob man das Heil nur in
der operativen oder in einer mehr konser-
vativen Behandlung sieht. Die (zunächst)
theoretische Wichtigkeit liegt in der Er-
kenntnis, die sich übrigens, wenn auch weni-
ger deutlich, bei der Beobachtung zahlreicher
akuter Fälle gewinnen läßt, daß die Appen-
dicitis resp. Typh litis nach Ätiologie, Sympto-
matologie und Ausgang nicht als gleichsam
isoliertes Krankheitsbild zu betrachten ist;
es ergeben sich sehr bedeutsame Beziehungen
zu allgemeinen Darmprozessen, zur Blut- und
zur nervösen Versorgung der Unterleibsorgane,
zu allgemeinen Stoffwechsel Störungen u. a. m.
Trotz zahlreicher Einzelbeiträge von großer
Wichtigkeit werden diese chronischen Er-
krankungen in den Lehrbüchern nur im Ver-
lauf oder am Schluß einer Abhandlung über
die akuten Formen beiläufig erwähnt. Auf
Grund einer nicht ganz unbeträchtlichen Er-
fahrung möchte ich diese Fälle etwas aus-
führlicher behandeln, wie sie sich dem Prak-
tiker, oft in der Sprechstunde, darstellen.
9) Therap. Monatsh. 1904, Heft 3 u. 4.
Das Verdienst hauptsächlich der Chirurgen
ist es, daß wir über die anatomischen Ver-
hältnisse, wie bei den akuten, so auch mehr
und mehr bei den chronischen Fällen auf-
geklärt werden. Der Internist kann aber in
anderer Richtung manches zur Erkenntnis
beitragen.
Die Häufigkeit der chronischen Appen-
dicitis geht viel mehr, als aus klinischen
Befunden, aus den Erfahrungen der Opera-
teure und Anatomen hervor.
Die Befunde der Chirurgen (chronische
Schleimhaut- und Peritoneal Veränderungen,
Kotsteine etc.) zeigen sehr oft, daß der akuten
Eruption ein chronisches Stadium vorher-
gegangen ist. Auch wo in der Tat heftige
akute Erscheinungen schon den Beginn der
anatomischen Läsion begleiten, etwa im An-
schluß an akute Enteritis, als Begleiterschei-
nungen anderer Infektionen (Angina, Influenza,
Typhus, Ruhr etc.), gestaltet sich der Ver-
lauf oft genug chronisch. Dazu kommen
dann die dauernd chronischen Fälle. — Gynä-
kologische Operateure fanden nach Angaben,
die ich E. Fränkel1) entnehme, bei Lapa-
rotomieen in etwa 3 — 10 Proz. und mehr der
Fälle Appendicitis oft hohen Grades; wenn
auch eben gerade wegen der Wechselbezieh-
ungen zwischen ihr und Genitalerkrankungen
dieses Verhältnis keineswegs dem durch-
schnittlichen bei gesunden Frauen entspricht,
so ergibt sich doch, wie jener Autor hervor-
hebt, daß gerade die chronische und larvierte
Form der Wurmfortsatzentzündung viel häu-
figer ist, als gewöhnlich angenommen wird.
Auch ist wohl klar, daß bei weitem nicht
alle diese Fälle zur akuten Perityphlitis ge-
führt hätten.
Dasselbe ergeben Untersuchungen an der
Leiche. Finkel stein (bei Sonnenburg)
fand unter 100 aufeinanderfolgenden Obduk-
tionen ohne Auswahl siebenmal pathologische
Veränderungen in der Ileocökalgegend, eine
erstaunlich hohe Zahl. Andere Autoren haben
die Prozentzahl noch größer gefunden. Dazu
kommen dann noch die mit zunehmendem
Lebensalter sich mehrenden Ribbertschen
Obliterationen. Zahlreiche Autoren (Lanz8),
Meisel3) u. a.) neigen, wohl mit Recht,
dazu, sie wenigstens vorwiegend als Ent-
zündungsprodukte anzusprechen. Ribbert
!) Ernst Fränkel, Die Appendicitis in ihren
Beziehungen zu den Erkrankungen der weiblichen
Sexualorgane, v. Volkmanns Samml. kl in. Vortr.,
N. F. No. 323.
*) Otto Lanz, Die pathologisch-anatomischen
Grandlagen der Appendicitis. Beitr. z. klin. Chir.,
Bd. 38, 1903.
*) P. Meisel, Über Entstehung und Verbrei-
tungsart der Bauchfellentzündungen. Beitr. z. klin.
Chir., Bd. 40, 1903.
XIX. Jahrgang."»
Mär« 1905. J
Hers, Chronisch« Entzündungen der Blinddermfegend.
117
selbst, der diese Veränderungen erst als In-
volutionsprozesse beschrieb, gibt neuerdings4)
allerlei Übergangsformen zu, Fälle, in denen
durch Toxinwirkung die deutlichen Zeichen
der Entzündung und klinisch leichtere, nur
mit gelegentlichen Schmerzen rezidivierende
Erkrankungen resultieren. An der Häufig-
keit derartiger chronischer Entzündungen ist
also kein Zweifel.
Dem gegenüber erscheint die klinische
Ausbeute spärlich. Untersucht man aber
methodisch die Blinddarmgegend aller
Kranken, besonders natürlich der über irgend-
welche Unterleibsbeschwerden klagenden, so
findet man bei einiger Übung zahlreiche
„ verdächtige" Fälle. Von da bis zu einiger-
maßen sicherer Diagnose ist ja noch ein
ziemlicher Weg, aber auch diese läßt sich
nicht so selten stellen; gerade das Sprech-
stundenmaterial liefert zahlreiche chronische
oder wenigstens subakute Fälle.
Seit 1895, wo ich über 121 Fälle aus
dem Allerheiligenhospital in Breslau berichtet
habe5), sind mir in meiner Privatpraxis und
Poliklinik ca. 260 Fälle begegnet, in denen
ich irgend eine Form von Appendicitis resp.
Typhlitis zu diagnostizieren Veranlassung
hatte. Über 130 davon — die Grenze ist
ja nicht scharf zu ziehen — befanden sich
in chronischem resp. subakutem Stadium.
Von diesen Fällen hatten 93 nie eine schmerz-
und fieberhafte Unterleibsentzündung, eine
„Blinddarmentzündung" durchgemacht, wie
solche bei den übrigen mit mehr oder minder
großer Sicherheit in der Anamnese nachzu-
weisen war.
Die Zahlen sind nicht ganz exakt. Die
an sich erfreuliche Tatsache, daß ein ana-
tomischer Befund nur in einer relativ geringen
Anzahl von Fällen aufgenommen werden
konnte, läßt hier und da Zweifel an der
Diagnose zu. Es sind ja bei dem ausge-
sprochenen Bilde der Appendicitis acuta ge-
legentlich nach Eröffnung der Bauchhöhle
scheinbar gesunde Verhältnisse vorgefunden
worden, der Wurmfortsatz fehlte womöglich
ganz; man hat von Pseudoappendicitis ge-
sprochen (Küttner6). Um wieviel mehr
muß die Möglichkeit von Irrtümern bei chro-
nischen Formen zugestanden werden. Auf
Verwechslungen mit Erkrankungen benach-
barter Organe (Adnexe, Nieren, Ureter etc.)
braucht nur hingewiesen zu werden; bei
nervösen Personen und sog. Ptose bestehen
*) Ribbert, Zur Pathologie des Wurmfort-
satzes. Deutsche med. Wochenschrift 1903, No. 23.
*) EL Herz, Zur Behandlung der Typblitiden.
Therapeutische Monatshefte 1896, April.
•) Küttner, Über Pseudoappendicitis. Beitr.
z. klin. Chir., XXXVII, 1 u. 2, 1903.
noch andere diagnostische Schwierigkeiten
(s. u.). Aber das sind doch Ausnahmen;
im allgemeinen dürfte, wie auch Boas7) an-
gibt, die Diagnose selten auf größere Schwie-
rigkeiten stoßen, wenn man sich auf die
Feststellung einer krankhaften Veränderung
an oder um den Appendix und, wie ich
hinzufügen möchte, an oder um das Typhlon
beschränkt. Die Diagnose der speziellen
anatomischen Veränderungen ist allerdings
sehr schwer; hier immer weitergehende dia-
gnostische Hilfsmittel zu finden, ist eine
wichtige Aufgabe klinischer Forschung.
Auf Grund des erwähnten Materials und
der in der Literatur niedergelegten Erfahrun-
gen will ich hier über Krankheitsbild und
Verlauf, Prognose und Therapie der chro-
nischen Entzündungen der Blinddarmgegend
einiges sagen.
Auf das anatomische Bild dieser Er-
krankungen möchte ich nur ganz kurz ein-
gehen, es kann von berufenerer Seite besser
geschildert werden.
Die Appendixschleimhaut kann sich in
den verschiedenen Formen und Graden der
Entzündung befinden. Es genüge, die Appen-
dicitis chronica simplex, follicularis, granu-
losa haemorrhagica, atrophicans, hypertrophi-
cans, polyposa, obliterans aufzuführen. Dazu
kommt nicht selten die Geschwursbildung
durch eitrige Infiltration der Schleimhaut,
durch Schleimhautdecubitus bei Kotsteinen,
oder infolge Perforation eines follikulären
Abszesses (Lanz 1. c), oder auch durch
Thrombose einer Wurzel vene (P. Meise 1 1. c).
Im Inneren findet man Kot, Schleim, seröse
Flüssigkeit, Eiter, event. auch blutig fibri-
nöses Exsudat (dies allerdings mehr bei
akuten Fällen), ferner die viel besprochenen
Kotsteine und selten eigentliche Fremdkörper
oder Würmer.
Es erscheint nicht zweifelhaft, daß schon
diese Prozesse, ohne Beteiligung der Serosa,
die selbst bei tiefgreifender Geschwürsbildung
frei bleiben kann, zu Krankheitserscheinungen
führen können. Das ergeben u. a. die beiden
Fälle von Appendicitis chronica haemorrhagica
bezw. ulcerosa, die Lenzmann8) operierte,
und bei denen heftige und anhaltende Be-
schwerden bestanden. Es ist in diesen und
zahlreichen anderen Fällen nicht möglich,
immer eine Resorption der peritonealen
Krankheitsgebilde anzunehmen.
Weitere Beschwerden sind die Folge ana-
tomischer Heilvorgänge. Narbenbildung,
T) J. Boas, Diagnostik und Therapie der
Darmkrankheiten. Leipzig 1899.
8) R. Lenzmann, Weitere Beobachtungen über
Appendicitis chronica. Deutsche med. Wochen-
schrift 1902, No. lö.
118
Hers, Chronische Entzündungen der Blinddarmgegend.
tTherapeutiteh«
Monatshefte.
1
Cirrhose und Rigidität der Wand schädigen
die Kontraktilität des Organs. Der Oblite-
rationsYorgang , oft zum totalen Verschluß
führend, kann bei nur ringförmigem Auf-
treten wiederum zum Ausgange neuer Stö-
rungen werden, wenn es dahinter zu Sekret-
stauung, zu Cystenbildungen, ja zum Empyem
kommt. Merkwürdigerweise sollen auch total
obliterierte Appendices noch Beschwerden
hervorrufen (Riedel9) u. a.).
Noch häufigere und oft charakteristischere
Störungen entstehen durch Periappendicitis,
durch Verwachsungen von sehr verschiedener
Stärke und Ausdehnung, wodurch Funktions-
störungen und Schmerzen seitens des Darm-
tractus, auch seitens der Blase, der weib-
lichen Genitalorgane hervorgerufen werden.
Durch diese Adhäsionen, durch narbige Re-
traktion des Mesenteriolum, kombiniert mit
den Narben der Wand des Appendix, kommen
die verschiedenartigsten Krümmungen zu-
stande. Retentionen und Rezidive einerseits,
mehr oder minder vollständige Hemmung der
Darmpassage infolge Abschnürung oder etwa
infolge Eindringens einer Darmschlinge in
Verwachsungsringe können die Folge sein.
Eiterherde neben dem Appendix oder
auch abgekapselt an entfernten Stellen der
Bauchhöhle kommen wohl mit verschwin-
denden Ausnahmen nur als Residuen akuter
eitriger Perityphlitis vor.
Rezidive treten bei den intermittierenden
Formen entweder durch Wiederaufflackern des
noch nicht abgeschlossenen Prozesses auf,
oder ihr Eintreten wird durch die geschil-
derten Residuen hervorgerufen resp. befördert.
Aber auch nach völliger Heilung eines An-
falls kann ein Rezidiv eintreten, wenn die-
selben Schädigungen auf das disponierte,
vielleicht durch die vorangegangene Entzün-
dung noch in gesteigerter Disposition befind-
liche Organ wirken.
Heilbarkeit der chronischen Appendicitis
in klinischem Sinne ist nicht zu bezweifeln.
Aber auch eine anatomische Restitution der
leicht erkrankten Schleimhaut ist wahrschein-
lich. Auf die nachträgliche Lösung von
peritonealen Verwachsungen, die in weitem
Umfange und spurlos verschwinden können,
hat P. Meisel (1. c.) mit Nachdruck hin-
gewiesen.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Frage,
ob der Wurmfortsatz der alleinige Ausgangs-
punkt aller dieser chronischen, in der Blind-
darmgegend sich abspielenden Entzündungs-
prozesse ist, ob nicht das Typhlon zugleich
oder auch allein erkrankt sein kann.
Zweifellos ist der Appendix das gefährdetste
Organ und bei der akuten „Blinddarment-
zündung" der gewöhnliche Ausgangspunkt.
Aber so exklusiv, wie manche wollten, gilt
das nicht, vom Coecum ausgehende Entzün-
dungen waren schon zur Zeit meiner ersten
Veröffentlichung über Blinddarmentzündungen
sichergestellt und sind auch seitdem vielfach
beschrieben10). Was aber für die perforativen
Formen gilt, gilt wahrscheinlich in noch viel
höherem Maße für chronische Prozesse ohne
Neigung zum Durchbruch der Wand. Klini-
sche Erfahrungen sprechen dafür, daß hier
das Typhlon relativ häufiger in Gemeinschaft
mit dem Appendix oder allein befallen ist;
wir kommen darauf noch zurück.
Klinisch können wir bei der Unmöglich-
keit, die pathologisch-anatomischen Vorgänge
im Einzelfalle mit genügender Exaktheit zu
beurteilen, die Fälle am besten nach der
Verlaufsart gruppieren. Ich unterscheide:
1. Die latente Form der chronischen
Appendicitis.
2. Die chronische Appendicitis mit inter-
mittierenden Beschwerden, wobei es
dahingestellt bleibt, ob in der Zwischenzeit
immer alle Erscheinungen völlig verschwinden.
Bei der einen Unterart treten nur leichtere
Erscheinungen und besonders Koliken auf,
bei der anderen kommt es von Zeit zu Zeit
zu deutlichen, ja selbst zu den heftigsten
entzündlichen Eruptionen.
3. Die chronische Appendicitis mit im
ganzen kontinuierlichen Beschwerden.
Bei der einen Unterart stehen All gern ein-
erscheinungen, bei der anderen die örtlichen
Beschwerden im Vordergrunde. Eine be-
sondere Abart der letzteren Form ist dann
noch die Periappendicitis chronica pro-
gressiva (adhaesiva, plastica).
Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen,
daß diese Verlaufsarten in praxi nicht immer
streng geschieden sind n).
Die latente Form ist bei weitem die
häufigste. Ich denke hier nicht an die sog.
9) Riedel, Vorbedingungen und letzte Ur-
sachen des plötzlichen Anfalles von Wurmfortsatz-
entzündung. Arch. f. klin. Chir., LXVI, 1902.
10) S. u. a. den Sitzungsbericht der Academie
de Medecine in Paris, Febr. 1900. Ferner Jordan,
Über prim&re akute Typhlitis. Arch. f. klin. Chir.,
Bd. LXIX.
n) J. Koch (Erfahrungen über die chronische
rezidivierende Perityphlitis auf Grund von 200
Radikaloperationen. Arch. f. klin. Chir., LXVII,
1902) kennt 3 Gruppen: 1. mehr oder minder
akute Anfalle bei freier Zwischenzeit, 2. dieselben
Anfalle, aber in der Zwischenzeit Beschwerden,
3. die Fälle mit nur chronischen Beschwerden.
Die Einteilung von Rose (Die offene Behandlung
der Bauchhöhle bei der Entzündung des Wurm-
fortsatzes. Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. LVU,
LV1II, L1X) wird den chronischen Formen zu wenig
gerecht.
XIX. Jahrgang, i
M&nc 1905. J
Herz, Cbroniache Entzündungen der Blinddtrmgegend.
119
larvierte Appendicitis (Ewald), bei der
allerlei Beschwerden bestehen, die zunächst
nicht auf den Wurmfortsatz hinweisen, wo
man aber doch im allgemeinen bei auf die
Blinddarmgegend gerichteter Aufmerksamkeit
die Diagnose stellen kann. Ich meine viel-
mehr Erkrankungen, deren Träger sich über-
haupt nicht krank fühlen und also auch den
Arzt nicht aufsuchen. Es unterliegt keiner
Frage, daß die meisten leichteren Schleim-
hautprozesse derart latent verlaufen, und
selbst ziemlich tiefgehende Geschwüre brauchen
hier, wie an anderen Stellen des Darms,
keine subjektiven Beschwerden, keine Funk-
tionsstörungen zu verursachen. Verwachsungen
entstehen allerdings nach Meisel (1. c.) nur
ausnahmsweise symptomlos; nach manchen
in der Literatur niedergelegten Einzelbeob-
achtungen aber ist auch dies Ereignis nicht
so ganz selten, und jedenfalls kann die ein-
mal, vielleicht in der Jugend, erworbene
Adhäsion ganz latent bestehen.
Kommt aus irgendwelchen gründen der
Arzt zur Untersuchung solcher Fälle, so
wird er ebenfalls oft nichts Deutliches fest-
stellen können, sei es, daß die charakte-
ristischen palpatorischen Veränderungen an
sich zu gering sind, sei es wegen Verlagerung
der in Betracht kommenden Organe oder
wegen erschwerter Untersuchungsbedingungen.
Das sind die Fälle, deren Residuen man
dann zufällig bei der Obduktion findet.
Anderseits gehören hierher die Beobachtungen
von scheinbar ganz akuter Blinddarment-
zündung, wo die Autoskopie deutliche ältere
Veränderungen ergibt. Gerade gewisse, schnell
zum Tode führende perforative Formen ge-
hören hierher, und ich fürchte schon des-
wegen, daß das trostreiche Wort eines fran-
zösischen Klinikers, kein Mensch brauche an
Appendicitis zu sterben, immer unerfüllt
bleiben wird.
Läßt sich nichts tun, um das Gebiet der
latenten Appendicitis einzuschränken? Ich
habe längere Zeit methodisch jeden Kranken,
aus welchem Grunde er mich auch kon-
sultierte, aufs genaueste bezüglich seiner
Blinddarmgegend untersucht und nicht ganz
selten, in 9 — 10 Proz. der Fälle, verdächtige
Symptome gefunden. Doch waren dieselben
nie derart, daß ich gewagt hätte, eine be-
stimmte Diagnose zu stellen. Praktische
Forderungen lassen sich wohl kaum an-
schließen.
Nur bezüglich des Vorkommens latenter
chronischer Appendicitis nach akuter Blind-
darmentzündung scheinen mir Fortschritte bei
genauester Beachtung aller subjektiven und
objektiven Symptome möglich. Nicht die
Art, wohl aber das Vorhandensein erheb-
Th. M. 19C5.
licher Residuen ist nach meinen Erfahrungen
immer feststellbar. Mäßige Endoappendicitis,
vereinzelte peritoneale Stränge vermögen sich
natürlich der Erkenntnis zu entziehen. Aber
schon / tief ergeh ende Schleimhautprozesse
werden nach Ablauf des ersten Anfalls der
sorgfältigen Palpation sich verraten; daß gar
progrediente Entzündungsprozesse, abgesackte
Eiterungen „latent" bleiben können, in dem
Sinne, das alle Krankheitserscheinungen fehlen,
ist wenig wahrscheinlich, Ausnahmen können
ja auch hier einmal vorkommen, sind aber
doch wohl meist nur scheinbar, durch Nicht-
beachtung geringfügiger Symptome erzeugt.
Das wichtigste Symptom der Fälle mit
intermittierenden und kontinuierlichen Be-
schwerden ist der schmerzhafte Tumor
dar Blinddarmgegend. Zwar kann er
gelegentlich ganz, öfter noch zeitweise fehlen,
im ganzen aber gestattet erst sein Vor-
handensein eine einigermaßen sichere Diagnose.
Es ist bekannt, wie schwer Blinddarm-
entzündungen oft zu erkennen sind, wenn sie
an atypischer Stelle sitzen; wie vorsichtig
man anderseits auch bei dem gewöhnlichen
Sitz gerade in sub akuten und chronischen
Fällen sein muß. Schon die Affektionen der
Bauchdecken, vor allem auch die eigentüm-
lichen, manchmal streifenförmigen Kontrak-
turen der Bauchmuskeln, durch welche
täuschend Tumoren nachgeahmt werden,
ferner Erkrankungszustände einer ganzen
Reihe von intra- und retroperitonealen Or-
ganen kommen differentialdiagnostisch in
Betracht. Auch kann die in der Blind-
darmgegend sitzende Geschwulst karzinomatös,
tuberkulös, aktinomykotisch sein. Alle diese«
Punkte sind mit genügender Ausführlichkeit
in den Lehrbüchern besprochen und können
hier übergangen werden.
Seltener und ungenügend ist der Versuch
gemacht, die Charaktere des palpatorischen
Befundes, nach Ausschluß der obengenannten
Affektionen, für die Differentialdiagnose
einzelner Formen der Appendicitis
und Typhlitis zu verwerten. Es herrscht
bezüglich der Möglichkeit dieser Verwertung
ein großer und nicht völlig unberechtigter Pessi-
mismus. Genährt wird derselbe vor allem auch
durch die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit
der speziellen Diagnose in akuten Fällen
von Perityphlitis. Bei chronischen ist die
Sachlage aber doch wesentlich günstiger.
Man kann viel ausgiebiger und öfter unter-
suchen, bei gut entleertem Leibe und in
wechselnden Stadien der Füllung desselben
und der Entzündung. Dazu kommt, daß
auffällig viele unserer Kranken wenig Fett-
polster und schlaffe Bauchdecken besaßen.
Ich halte daher die Verwertung der Pal-
10
120
H«rs, Chronische EDtettadnngM dar
rTherapentUehe
L Manatobefte.
pationsresultate nicht für derart völlig aus-
geschlossen, wie manche glauben, zumal man
bei großer Übung vielerlei fühlen lernt, was
man früher kaum für möglich gehalten hat.
Daß große Vorsicht notig ist, daß man oft
wichtige Befunde (z. B. hinter dem Coecum)
nicht erheben kann, andere falsch deuten
mag, wird jedem klar sein, der sich die
Anatomie vor Augen hält. Das hindert aber
nicht, die positiven Befunde möglichst auf
gewisse innere Zustande zu bezieben; da ich
glaube, daß sich durch Zusammentragen von
Einzelerfahrungen doch auch sicherere Kriterien
ergeben werden, möchte ich hier den Blind-
darmtumor nach dieser Seite analysieren.
Es handelt sich um eine auf Druck
schmerzhafte Resistenz. Fühibarwerden
des kontrahierten oder aufgetriebenen Coecums
tesp. Appendix beweist noch gar nichts.
Ersteres Organ fühlt man ja recht oft; und
wenn ich auch weit entfernt bin zu glauben,
daß man den gesunden Wurmfortsatz so oft
fühlen kann, wie das amerikanischerseits an-
gegeben worden ist, so habe ich ihn doch
unter besonders günstigen Bedingungen mit
großer Deutlichkeit unter den Fingern gehabt.
Gerade bei Fällen, die ich als chronische
Typhlitis ansprach, gelang es manchmal, von
dem erkrankten Darmstück nach unten
ziehend, das enge, drehrunde, gar nicht
druckempfindliche Anhängsel zu fühlen.
Einen reizlosen Tumor kann man nur dann
auf eine Entzündung beziehen, wenn seine
Form sehr auffallig ist, oder wenn andere
deutliche Zeichen jener Erkrankung (akute
Attacken u. s. w.) da sind. Entstehen kann
bei ihr die vermehrte Resistenz durch größere
Füllung, durch Schleimhautschwellung, durch
chronische Verdickung der Wand des Organs
inkl. der Serosa, von schwereren Verände-
rungen der letzteren abgesehen; vor allem
aber spielt die Hyperämie und die eigen-
tümliche „Auf steif ungtt des Organs durch
muskuläre Spannung mit, die man so oft
bei akuten Fällen sieht und die das Wechseln
der Symptome erklärt.
Auch Druckempfindlichkeit der be-
treffenden Gegend allein, ohne Tumor, be-
weist nicht viel, da es zahlreiche Personen
gibt, bei denen die hintere Bauch wand diffus
oder an einzelnen Stellen (Nervenpunkten?)
recht schmerzhaft ist; auch eine derartige
Druckempfindlichkeit ist also nur mit anderen
Symptomen zusammen zu verwerten. Charak-
teristisch ist eben nur — und auch das erleidet
bei nervösen Personen Ausnahmen ; s. u. — der
schmerzhafte Tumor. Manchmal geben Pa-
tienten, die über unbestimmte Unterleibs-
beschwerden klagen, bei Berührung der be-
treffenden Stelle ganz bestimmt an, daß da-
durch ihre typischen Beschwerden ausgelöst
werden. Nach meinen Erfahrungen besteht
zwischen spontanen Beschwerden und Druck-
empfindlichkeit ein Zusammenhang: beide
sind in der Regel zugleich vorhanden,
während in anderen, oft schwereren Fällen
unerklärlicherweise alle Symptome, event.
bis zum Durchbruch, fehlen. Daß die ver-
schiedensten Erkrankungen der Schleimhaut
und Serosa zu Schmerzen führen können, ist
schon oben erwähnt.
Die Intensität der Druckempfindlichkeit
scheint von keiner diagnostischen Bedeutung,
da die subjektive Reaktion auf schmerz-
machende Reize zu verschieden ist. Die der
Serosa näheren Prozesse sind durchaus nicht
immer die schmerzhafteren, wie man wohl
angenommen hat; nur wenn die Serosa
parietalis erreicht wird, steigt der Schmerz
meist sehr. Im Verlauf des Leidens ändert
sich in der Regel die Druck empfind iichkeit
je nach dem Stadium erheblich, sehr oft
bleibt sie in geringem Maße länger als alle
anderen Symptome bestehen.
Die Lage des Tumors ist auffällig oft
durch den Mac Burney sehen Punkt be-
stimmt; doch kommen kleine Abweichungen
nach allen Seiten vor. Auf die erheblichen
Verlagerungen *— am häufigsten wohl unter
die Leber und in die rechte Beckenhälfte —
gehe ich aus den erwähnten Gründen nicht
ein. Erwähnen will ich nur, daß der appen-
dicitische und der typhlitische Tumor — beide
kommen auch zusammen vor — sich u. A.
durch die Lage unterscheiden lassen. Der
erstere zieht in mindestens 80 Proz. der
Fälle sebräg medialwärts und nach unten,
etwa in der Richtung zum unteren Rande
der Synchondrosis sacroiliaca; der letztere
hat die Neigung, sich nach oben und etwas
nach hinten, manchmal bis weit hinauf über
das Colon ascendens, auszudehnen.
Wichtige diagnostische Handhaben gibt
die Umgrenzung und Form der Ge-
schwulst.
Diffuses Übergehen in die Umgebung,
bei chronischen Prozessen im ganzen selten,
spricht für ein Überschreiten der Grenzen
des einzelnen Darmteils. Bekanntlich kommen
bei akuten Prozessen derartige Tumoren
durch Anschwellung des Peritoneums, des
Netzes, auch der Bauchdecken, durch Zu-
sammenballen von z. T. verdickten Därmen
unter eventuellem Zutritt von Gas- und Kot-
stauungen zustande, auch wo große Eiter-
herde fehlen. Ich habe zweimal sehr in-
struktive einschlägige Fälle operieren sehen;
im ersten Falle, wo septische Erscheinungen
uns zur Operation drängten, fand sich der
Appendix garnicht, während der scheinbare
XIX. Jahrgang."!
Mir» 1906. J
Hers, Chronische Entsflndungeo der Blinddarmfegend«
121
Tumor unter den Händen des Operateurs zu
verschwinden schien; im zweiten fand sich
leichte Appendicitis simplex, mit geringer
Stenosenbildung im Organ. Auch in den
chronischen Fällen wird bei diffus abge-
grenzten Tumoren immer die Frage zu stellen
sein, ob es sich um die eben geschilderte
Entstehung oder um alte Abszesse, vielleicht
auch seröse Flüssigkeitsansammlungen in oder
am den Appendix handelt. Temperatur, Puls,
Allgemeinbefinden müssen die Entscheidung
geben. Ob die Kurve der Leukozyten, die
ja nach Cur seh mann bei den akuten Pro«
zessen so wichtig ist, auch bei gut abgekap-
selten Abszessen eine hohe bleibt, darüber
fehlen mir noch genügende Erfahrungen.
Die Probepunktion halte ich nicht für ge-
fährlich, aber man hat wenig Chance, den
oder die meist kleinen und versteckten Herde
zu treffen. In zweifelhaften Fällen bleibt
also die Inzision das einzig sichere dia-
gnostische Mittel.
Bei weitem die meisten chronischen Tu-
moren sind umschrieben und geben bessere
diagnostische Handhaben. Ich unterscheide
a) zylindrische, b) strangartige, c) unregel-
mäßig gestaltete, aber allseitig gut abge-
grenzte Tumoren.
Die ersteren stellen allein wohl 90 Proz.
aller chronischen Anschwellungen der Blind-
darmgegend dar. Sie entsprechen einem er-
krankten Darmstück, das stark gefüllt, durch
Schwellung seiner Wand verdickt, durch
(präkontraktile) Spannung seiner Muskulatur
verhärtet, von Schwarten umhüllt sein kann.
Große Abszesse können natürlich auch ein-
mal wur8tförmige Gestalt annehmen, doch
habe ich solche von chronischem Verlauf
(im eigentlichen Sinne) nie in dieser Form
gesehen.
Wichtig ist die Frage, um welches Darm-
stück es sich handelt; in Betracht kommen
wesentlich Appendix und Coecum. Außer
der Lage und noch zu erwähnenden Punkten
kann die Dicke des Tumors in extremen
Fällen zur Unterscheidung dienen. Ein kaum
bleistiftdick erscheinendes, drehrundes, hartes
Gebilde entspricht wohl in der Regel dem
Appendix, ein anderes Darmstück, so sehr
es sich auch kontrahieren mag, bleibt doch
meist entschieden massiver. Sicherer noch
läßt sich sagen, daß sehr dicke, wurstformige
Tumoren dem Typhlon angehören. Bei
mittlerem Umfang läßt sich natürlich wenig
schließen, da auch der Appendix mit Inhalt
und Auflagerungen eine recht anständige
Geschwulst darstellen kann.
Gelegentlich soll man am Appendix ört-
liche Auftreibung, eine rosenkranzartige Form
fühlen können.
Strangförmige Gebilde sind viel seltener,
manchmal aber ganz deutlich zu palpieren;
natürlich muß man sich vor Verwechslungen
mit Strängen in der Bauchwand hüten,
Rektal- resp. Vaginaluntersuchung zu Hilfe
nehmen u. s. w. Es handelt sich fast immer
um periappendicitische Stränge; in einem
Falle meiner Beobachtung mit Stenosen-
erscheinungen fand sich das gefühlte Gebilde
genau entsprechend im Operationsfelde wieder.
Selten kann wohl auch der Wurmfortsatz
selbst so dünn ausgezogen und angespannt
sein, daß er sich wie ein einfacher Strang
anfühlt.
Die unregelmäßig umschriebenen Gebilde
sind, wenn von kleiner Ausdehnung, immer
verdächtig. Es handelt sich um sehr stark
gefüllte Appendices (Hydrops oder Empyem)
oder um periappendicitische Abszeßchen,
seltener nur um Schwarten. Große Tumoren
mit deutlichen Umrandungen kommen bei
einer besonderen Form, der Periappendicitis
resp. Perityphlitis adhaesiva progressiva (plas-
tica) vor und beruhen auf Schwartenbildung,
Verdickung des Netzes und der Darm Wan-
dungen, Zusammenballen und Vollstopfung
der Därme.
Die meisten dieser Tumoren sind nicht
eigentlich beweglich; indem man die Teile
über ihnen verschiebt, hat man nur oft den
Eindruck, als ob das Gebilde unter den
Fingern rollt. Die seltenen, wirklich be-
weglichen Tumoren dieser Art entsprechen
natürlich Wurmfortsätzen, bei denen keine
Verklebungen bestehen.
Die Konsistenz ist meist eine recht
harte, manchmal knorpelharte, und zwar gilt
dies nicht nur von Wurmfortsatztumoren,
sondern auch von jenen, die aus der Cökal-
gegend wurstförmig bis in die Bahn des
Colon ascendens sich erstrecken. Weichere
Konsistenz, Knetbarkeit ist das Zeichen der
Koprostasierung im Typhlon, sehr selten auch
im Appendix. Ein eigentümlich schwappen-
des Gefühl bei der Palpation, verbunden mit
Gurren, weist in Fällen, wo ein großer
eventl. gashaltiger Abszeß auszuschließen ist,
auf Erschlaffung der Darmwand bei gleich-
zeitiger Füllung mit Luft und Flüssigkeit.
Unter besonders günstigen Umständen ist
es möglich, den Übergang des Darmes
in den viel dünneren Anhang zu kon-
statieren. So konnte ich in einem Falle,
den ich als Typhlitis stercoralis ansprach
(s. u.), nachdem die Entleerung begonnen
hatte, außer dem stark gefüllten Blinddarm
einen von ihm ausgehenden, durchaus dem
Appendix entsprechenden, ganz reizlosen
zylinderförmigen Tumor fühlen. In einem
anderen Falle konnte ich mich bei wieder-
10*
122
Hers, Chronisch« Entzündungen der Blinddarmgegend.
rTherapeatiacbe
L Mon»t«ta*ft*.
holten Untersuchungen deutlich davon über-
zeugen, wie das stark gefüllte, harte, ziemlich
druckempfindliche Typhlon sich deutlich gegen
einen nach unten und innen verlaufenden
bleistiftdicken Strang absetzte, dessen Be-
rührung enorm schmerzhaft war.
Alle diese Erscheinungen wird man bei
wiederholten Untersuchungen sich erst
recht deutlich machen, wird das Resultat
der einen mit dem der anderen vergleichen.
Man wird aber bei genauem Verfolgen der
Geschwülste auch finden, daß dieselben nicht
nur allmählich heilen oder auch wachsen
können, sondern daß sie auch viel schnellere
«Änderungen durchmachen, bald deutlich, bald
weniger deutlich, ja nicht fühlbar sind.
Das liegt zum Teil an den Tumoren
selbst. Durch Änderungen im Inhalt und
in dem Schwellungszustand der Schleimhaut,
vor allem aber durch veränderte Blutfülle
und veränderte muskuläre Spannung kann
sowohl der appendicitische wie der typhliti-
sche Tumor auffällig schwanken. Es muß
sich dann wohl immer um einen Prozeß
handeln, der wesentlich noch auf die Darm-
wand beschränkt ist; Schwarten und Eiterun-
gen können im allgemeinen derartigem Wechsel
nicht unterliegen. — Ja selbst ganz plötz-
liche Schwankungen kommen vor. In einem
Falle verdünnte sich ein Darmstück, das ich
lange für den kontrahierten Blinddarm gehalten
hatte, während der Untersuchung plötzlich
derart unter meinen Fingern, daß ich eine
Eontraktion des Appendix annehmen mußte.
Außerdem aber wechselt, auch bei gleich-
bleibender örtlicher Affektion, die Fühlbar-
keit an verschiedenen Tagen, neben anderem
vor allem infolge der wechselnden Füllung
der Därme mit Kot und Gas. Bei den nicht
so seltenen Fällen z. B., wo der Wurmfort-
satz hinter dem Coecum liegt, ist gründliche
Entleerung des Darmes besonders wichtig —
allerdings auch noch lange nicht immer ge-
nügend, um den tiefliegenden Prozeß der
Palpation zugänglich zu machen. In reiz-
losen Fällen kann man versuchen, einen
Wechsel der Situation durch künstliche Auf-
blähung vom Mastdarm her zu erzielen, ein
Mittel, das ich nur selten und mit großer
Vorsicht, aber manchmal mit unleugbarem
Erfolge angewendet habe. Bei einem Kranken
z. B. sah ich eine empfindliche Eesistenz,
die nicht weit unterhalb des Leberrandes,
aber von diesem abgrenzbar, lag, bei der
Aufblähung so deutlich als Anhängsel des
sich blähenden Darmes erscheinen, daß ich
eine Erkrankung des Appendix trotz sonst
sehr unbestimmter Symptome annahm; die
Zeichen der Appendicitis wurden später
immer deutlicher.
Auf die Palpationstechnik möchte ich
nicht näher eingehen; es ist wohl überflüssig
zu bemerken, daß in verschiedenen Lagen,
daß auch per rectum und vaginam etc. unter-
sucht werden muß. Es ist zu hoffen, daß
sorgfaltige klinische Analyse die spezielle
Diagnose doch noch genauer gestaltet, als
es zur Zeit der Fall ist.
Wir kehren jetzt zur Besprechung der
Verlaufsarten zurück.
Bei der chronischen Appendicitis
mit intermittierenden Beschwerden
sind meistenteils nur die dem Kranken zum
Bewußtsein kommenden Erscheinungen inter-
mittierend; bei genauester Untersuchung läßt
sich in der Blinddarmgegend auch in solchen
Fällen viel häufiger etwas Krankhaftes nach-
weisen, als meist angenommen wird. Daß
die Intensität dieser Befunde natürlich auch
nach dem Stadium der Erkrankung wechselt,
ist bereits erwähnt In s/4 der sog. inter-
mittierenden Fälle sind klinisch doch irgend-
welche Residuen nachweisbar.
Ist im Intervall wirklich nichts mehr zu
konstatieren, so kann es an sehr ungünstigen
Palpationsbedingungen liegen (sehr dicken
Bauchdecken, versteckter Lage des Appendix).
Gewöhnlich aber besteht dann nur einfache
katarrhalische Appendicitis mit Neigung zu
Exacerbationen, vielleicht gelegentlieh auch
nur eine Disposition des sonst gesunden
Organs zu immer frischen Entzündungen,
Zustände, die solchen an anderen Darmteilen
ganz analog sind.
Die Anfälle bei der intermittierenden
Form können ohne erkennbare Ursache zu-
stande kommen; öfter noch sind körperliche
Anstrengungen, leichte Traumen, Diätfehler
(Biergenuß!), Obstipationen, Erkältungen an-
zuschuldigen, auch psychische Affekte sind
nicht ohne Einfluß. Bei Frauen stellt die
Periode mit ihren veränderten Zirkulations-
verhältnissen in abdomin e eine häufige Ge-
legenheitsursache zum Aufflammen der Ent-
zündung oder wenigstens zum Eintreten eines
Schmerzanfalles dar.
In leichteren Fällen handelt es sich um
sog. Wurmfortsatzkoliken, Anfalle oft heftigster
Art, um den Nabel beginnend, später oft,
aber nicht immer, in der rechten Seite lokali-
siert. Andere Lokalisationen, z. B. in der
Magengegend, kommen vor, sind wohl meist
auf das Quercolon zu beziehen (s. u.). Nach
wenigen Tagen, höchstens Stunden ist ohne
Fieber, ohne sonstige Erscheinungen der
Schmerz vorüber. Die Diagnose ergibt sich
durch Untersuchung der Blinddarmgegend:
auch in den erwähnten Fällen, wo dieselbe
einige Zeit nach dem Anfall gesund erscheint,
läßt sich in der Regel während und noch
XIX Jahrring."!
Mär« liH». J
Hers, Chronische Entzündungen der Blinddarmgegend.
123
eioige Tage nach der Kolik der charakte-
ristische Tumor fühlen. Fehldiagnosen kommen
natürlich vor; ich habe in einem Falle mangels
anderer diagnostischer Anhaltspunkte wegen
heftiger Schmerzanfälle mit gleichzeitiger
Druck empfiodlichkeit in der Ileocökalgegend
eine Appendicitis angenommen, während die
Operation eine rechtsseitige Steinniere ergab.
In manchen Fällen gesellen sich zu den
Koliken andere Symptome: mäßiger Meteo-
rismus,, subjektiv und objektiv vermehrte
Peristaltik der Därme, Durchfälle oder
andererseits mangelnder Abgang von Flatus
and Kot. Dazu können noch deutliche
Symptome peritonealer Reizung kommen,
Übelkeit, Erbrechen, Druckempfindlichkeit
des Leibes, ernstere Beteiligung des All-
gemeinbefindens.
Das sind die Übergänge zu der schwereren
Unterabteilung, wo deutliche Anfälle von
(meist fieberhafter) Appendicitis und Peri-
appendicitis, wenn auch in sehr verschiedener
Starke, das Krankheitsbild beherrschen: die
vielbeschriebene rezidivierende Appendicitis
sensu strictiori. Nur bei der Behandlung
dieser Fälle hat der von Chirurgen geprägte
Ausdruck „Intervalloperation" Berechtigung,
der weder nach einmaligem Anfall, noch bei
der bald zu besprechenden dritten Form er-
laubt ist. Auf das- Krankheitsbild gehe ich
nicht ein. Ich hebe nur hervor, daß peri-
typhlitische Abszesse bei der rekurrierenden
Appendicitis zwar vorkommen, aber recht
selten sind. Im allgemeinen werden über-
haupt, wenn eine schwere Attacke über-
standen i3t, die Rezidive leichter, wie ich
in Übereinstimmung mit Treves18), Boas u. a.
gegenüber andersartigen Ansichten behaupten
muß.
Bei ungünstigem Verlauf können die An-
fälle sich derart häufen, daß die inter-
mittierende in die kontinuierliche Form
übergeht.
Zu dieser, bei welcher die zwar an Hef-
tigkeitwechselnden Beschwerden doch wochen-,
monate-, jahrelang nie so aufhörten, daß man
an Genesung denken konnte, gehört die
größere Hälfte der ca. 130 Fälle, die ich
in chronischem Zustande in Behandlung be-
kam, etwa 78 gegen einige 50 der inter-
mittierenden Form. Ganz exakt sind ja
solche künstliche Abgrenzungen nie. Die
Erscheinungen können sich an einen akuten
Anfall anschließen (Postappen dicitis, relapsing
Appendicitis), öfter aber entstehen sie all-
mählich, und dann ist die Diagnose schwie-
riger. Jederzeit kann eine akute Peri-
,J) Treves, Perityphlitis and its varieties.
London 1897.
typhlitis das Krankheitsbild unterbrechen
oder gar zum Tode führen; doch habe ich
gerade bei den chronisch verlaufenden Fällen
ein solches gefahrdrohendes Intermezzo nur
bei 3 Kranken gesehen, die übrigens alle
genasen. Als Grundlage des Zustandes sind
alle die im anatomischen Teil geschilderten
Krankheits- und z. T. Heil ungs Vorgänge zu
betrachten. Manchmal kontrastiert allerdings
der recht geringe anatomische Befund auf-
fallend mit der Heftigkeit der beobachteten
Erscheinungen; wir kommen darauf noch
zurück. '
Die Symptome sind vorwiegend abdomi-
nelle, bei manchen Patienten stehen all-
gemeine im Vordergrund. Zu den ersteren
zählen vor allem unregelmäßig eintretende,
bald mehr nörgelnde, bald heftige, kolik-
artige Schmerzen an den verschiedensten
Stellen des Leibes, oft schon in der Ruhe
vorhanden, manchmal durch eine gewisse
Lage befördert, meist durch heftige Bewe-
gungen und Anstrengung verstärkt. Die
Palpation der Blinddarmgegend sichert ge-
wöhnlich die Diagnose; bei der geringen
Sorgfalt, mit welcher diese Untersuchungs-
methode in chronischen Fällen vielfach noch
ausgeführt wird, werden oft alle möglichen
Diagnosen: auf Gallen- und Nierensteine,
Magengeschwüre , Darmkoliken , hysterische
Beschwerden, Adnexerkrankungen eher gestellt,
als die richtige.
Zu den Schmerzen kommen dann Zeichen
gestörter Darmfunktion: sehr oft Neigung zu
Flatulenz, Diarrhoeen, manchmal mit Ver-
stopfung wechselnd, ebenso oft nur Obsti-
pation, bald mehr von spastischem, bald mehr
von paretischem Charakter. Auffällig kon-
trastiert oft die starke Anfallung der rechten
Bauchseite mit Fäkalmassen, durch vermehrte
Resistenz und Dämpfung daselbst angezeigt,
die nach Entleerung verschwinden, gegen-
über dem laut tympanitischen Schall der
linken Bauchseite; bei gewöhnlicher Ver-
stopfung liegen die Verhältnisse meist um-
gekehrt. Manchmal stehen deutliche Stenosen-
erscheinungen im Vordergrunde, oft durch me-
chanische Hindernisse (peritonitische Stränge,
Abknickungen etc.) bedingt. In einem meiner
Fälle konnten Patient und Arzt deutlich
hören und fühlen, wie in Pausen von wech-
selnder Länge Gas- und Flüssigkeitsmassen
sich durch eine enge Stelle hindurchzwängten;
die Operation beseitigte mit dem Appendix
auch den umschnürenden Strang.
Auch Magenbeschwerden sind nicht selten,
entweder solche atonischer Art (Druck- und
Unlustgefühle nach dem Essen, Ekelgefühl,
verlangsamte Entleerung des Inhalts), oder
„Magenkrämpfe" zweifelhafter Diagnose und
124
H«rx, Cbroniteb« Entsfln4usf«D der BUnddann£«f«ti4.
rThcrapeuti
L Monatihe
Monatsheft«.
1
Genese. Appetitlosigkeit ist häufig. Brech-
reiz und Erbrechen, vielleicht manchmal
durch peritoneale Reizung bedingt, sind im
ganzen selten zu beobachten.'
Mit diesen abdominellen Symptomen ver-
bunden, manchmal aber sehr im Vordergründe
stehend begegnen allgemeine Erscheinungen:
schlechtes Aussehen, Sinken der Ernährung,
Status nervosus; ja ein fast kachektischer
Zustand kommt vor. Manche Kinder bleiben
auffallig in der Ernährung zurück. Rätsel-
hafte Fiebererscheinungen von unbestimmtem
Charakter können sich hinzugesellen.
Schließen sich diese Zustände an eine akute
Perityphlitis an oder sind wenigstens aus-
geprägte Symptome abdomineller Art da, so
wird ja die Aufmerksamkeit bald auf die
betreffende Gegend hingelenkt, sonst ist die
Diagnose schwieriger. Jedenfalls sollte man
stets bei unaufgeklärten Schwächezuständen
und Fiebererscheinungen die Blinddarmgegend
genau untersuchen. Ich habe in zwei der-
artigen Fällen, wo zunächst wenig für eine
abdominelle Genese zu sprechen schien, eine
chronische Entzündung der Blinddarmgegend
feststellen können.
Eine besondere Unterart ist die Peri-
appendicitis chronica progressiva
[plastica; Peritonitis adhaesiva diffusa infolge
von Appendicitis nach Earewski18)]. Sie
erinnert an die sog. deformierende Peritonitis
und gibt auch, wie diese, eine recht ernste
Prognose, selbst wo Tuberkulose und Aktino-
mykose ausgeschlossen sind. Meist besteht
von vornherein die Neigung zu plastischen
Ablagerungen, ganz gleich, ob der Anfang
ein akuter oder, wie gewöhnlich, ein schlei-
chender ist; entweder muß also wohl ein
plastischer Reiz oder eine besondere Neigung
des Bauchfelles zu derartigen Bildungen an-
genommen werden.
Die Symptome setzen sich zusammen
aus denen der chronischen mehr oder minder
lokalisierten Bauchfellentzündung mit auf-
fällig großer Tumorbildung und aus Stenosen-
erscheinungen sehr verschiedenen Grades.
Es ist manchmal bei Autoskopieen wunder-
bar, durch was für verengerte Darmteile
noch eine Passage des Stuhls möglich war.
Auch die Urinentleerung kann schwierig
werden. Die Tumoren können schließlich
bei ihrem Wachstum die ganze Bauchhöhle
erfüllen, sodaß der Ausgangspunkt nicht
mehr festzustellen ist und das Bild der all-
gemeinen chronischen Peritonitis entsteht.
Aus der Klinik von v. Jak seh14) sind
l3) Karewski, Über diffuse adhäsive Perito-
nitis infolge von Appendicitis. Arch. f. klin. Chir.,
LXVUI, p. 144, 1902.
2 Fälle beschrieben, wo anscheinend tuber-
kulöse Peritonitis sich bei der Sektion als
zu der eben geschilderten Form von Peri-
tonitis gehörig erwies.
Alle diese chronischen Prozesse, nicht
von der unmittelbaren Lebensgefahr bedroht,
welche bei akuten den Blick des Arztes vod
scheinbaren Nebendingen ablenkt, gestatten
ein langes und sorgfältiges Studium ihrer
Erscheinungen; wenn die operative Behand-
lung die Anatomie der Erkrankung wesent-
lich geklärt hat, so ist aus diesen chronischen
Prozessen viel zu lernen für die Patho-
genese des Leidens und die Bedeutung
vieler seiner Symptome. Nur von möglichst
breiter Basis aus ist vieles bei ihm zu ver-
stehen. [8cfU^$ fotgCJ
(Aas der inneren Abteilung de« St. M&rlen-Krmkenhenena
su Berlin. Oberarzt Dr. Bd. Ret eh mann.)
Über Wirkung und Nebenwirkungen
des Maretins.
Von
Ferdinand Henrich.
Maretin wurde kürzlich von den Farben-
fabriken vormals Friedrich Bayer & Co. als
„vortreffliches Antipyreticum" in den Handel
gebracht. Es wird als entgiftetes Antifebrin
bezeichnet und ist Karbaminsäure-m-Tolyl-
hydrazid. Über die chemischen Verhältnisse
des Maretins wurde s. Z. von Barjansky
aus der III. medizin. Universitätsklinik zu
Berlin ausfuhrlich genug berichtet1), sodaß
hier von einer nochmaligen Besprechung der-
selben abgesehen werden kann.
Bei uns wurde Maretin in 13 Fällen mit
nahezu 300 Dosen angewendet. Unsere seit-
herigen Erfahrungen damit, fassen wir in
folgendem zusammen.
Bei mittleren Fiebertemperaturen der
Phthisiker wurde die Temperatur durch Dar-
reichung von Maretin meistens prompt her-
untergesetzt. Auf die Dauer blieb die Ent-
fieberung nicht immer gleichmäßig. Gelegent-
liche Exacerbationen kamen vor; jedoch
bewegte sich im allgemeinen die Temperatur
in mäßigen Grenzen, insbesondere, wurden
die täglichen Temperaturschwankungen oft
erheblich verringert. Daß der Temperatur-
abfall in der Tat auf die Maretinwirkung
zurückzuführen ist und nicht etwa eine der
häufigen, anscheinend unmotivierten Schwan-
w) Hermann, Prag. Med. Wochenschr. 1899.
Rubritius, Mitteilungen aus den Grenzgeb. der
Med. u. Chir., 1902. v. Jak seh, Bemerkungen
zu dem von Dr. H. Rubritius veröffentlichten Fall
von Perityphlitis. Ebenda.
*) cf. ßerl. klin. Wochenschr. 1904, Xo. 23.
XIX. Jahrgang. 1
Mir« 1905. J
Henrich, Wirkung und N«b«nwlrkung«n das Maratini.
125
kungen bei Phthisikern bedeutet, glauben
wir mit Bestimmtheit annehmen zu sollen,
da nach probeweisem Aussetzen des Mittels
häufig die Temperatur auffallend anstieg.
Mit dem aus nebenstehender Kurve
(Fig. 1) Ersichtlichen stimmt der Verlauf in
andern ähnlichen Fällen im wesentlichen
überein. Patientin Marie W., 44 Jahre alt,
wurde am 24. Mai bei uns aufgenommen.
Es handelt sich um Phthisis pulmonum in
begonnen, doch zeigt es sich nunmehr, daß
die Dosen von 0,25 nicht mehr ausreichen,
wohingegen dann aber 2 mal täglich 0,5 g
die Temperatur wieder auf das gewünschte
Niveau bringt.
Auf die Pulskurve wirkten Dosen von
0,25 und 0,5 g Maretin so gut wie gar nicht
ein. Ein geringer Unterschied macht sich
entsprechend der Temperaturerniedrigung in
der Frequenz der Pulse bemerkbar, wie aus
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1
vorgeschrittenem Stadium. Die Temperatur
hatte sich bisher zwischen 37 und 39° ge-
halten.
Maretin wurde im allgemeinen 2 mal täg-
lich gegeben und zwar um 11 Uhr vor-
mittags und um 3 Uhr nachmittags. Von
den auf der Kurve angegebenen je 4 Tages-
temperaturen entsprechen immer die 1. und
4. den Temperaturen morgens und abends
um 8 Uhr, die 2. und 3. sind 1 — 3 Stunden
nach Darreichung des Pulvers resp. an Tagen,
wo kein Pulver gegeben wurde, zu ent-
sprechenden Zeiten gemessen. — Gleich die
erste Dosis Maretin erzielte, wie die Kurve
zeigt, eine Temperaturerniedrigung, und Pat.
blieb unter dem Einfluß von Maretin weitere
4 Tage fieberfrei. Aussetzen des Mittels
hatte am folgenden Tage sofort eine Steige-
rung bis 38,9Ü zur Folge. Dosen von je 0,25
an den beiden folgenden Tagen (2. — 3. Juni)
beeinflussen die Temperatur nicht bedeutend,
auch probeweise dargereichtes Gitrophen 0,5
ergibt nicht das gewünschte Resultat; da-
gegen ist es auffallend, wie am 7. Juni die
Temperatur nach 1 maliger Dosis von 0,5
Maretin des Abends auf 36,9 abfällt. Tom
10. — 15. Juni hält sich die Temperatur
wieder in mäßigen Grenzen, um nach Aus-
setzen des Maretins wiederum hoch anzu-
steigen. Am 18. wird wieder mit Maretin
den Fig. 2 und 3 hervorgeht. Die Kurve
Fig. 2 ist aufgenommen, bevor Maretin ge-
geben ist, die Kurve Fig. 3 1 lj9 Stunde nach
Einnehmen des Mittels.
Fig. 3.
Die einzigen, sicher beobachteten, un-
angenehmen Nebenwirkungen waren Schweifl-
ausbrüche, die sich allerdings häufig auch
prompt einstellten und zuweilen sehr lästig
wurden. — Ob ein einmal beobachteter
Kollapseintritt in einem Falle, wo das be-
stehende Leiden (Phlebitis) durch Myokarditis
kompliziert wurde, die Folge zweier Dosen
Maretin zu je 0,25 g gewesen ist, ist zum
mindesten sehr zweifelhaft, vorsichtshalber
wurde aber Maretin bei dem betreffenden
Pat. nicht mehr angewandt.
126
Henri ob, Wirkung und Nebenwirkungen de« Maretins.
TTherapentlacbe
L Momit*b«fte.
1
Da Litten in seinen Ausführungen im
Verein für innere Medizin (Sitzung" am
6. VI. 04) a) schon wegen der Schweißaus-
brüche allein das Maretin verwirft, so mögen
auch unsere Erfahrungen in dieser Beziehung
hier ausführlicher mitgeteilt werden.
Die Schweiße zeigten sich in besonderer
Heftigkeit, wenn Maretin bei sehr hohen
Temperaturen angewendet wurde ; dabei wurde
dann aber fernerhin auch beobachtet, daß die
Schweiße bei verminderter Temperatur sehr
viel weniger lästig wurden. In einem Falle
trat auch nach etwa 14tägiger Darreichung
so vollständige Gewöhnung ein, daß die Pat.
überhaupt nicht mehr schwitzte. Sie bat
deshalb, das Maretin unausgesetzt zu be-
kommen, da, sobald man es wegließ, sich
alsbald wieder Schweißausbrüche einstellten.
Stieg dann wieder die Temperatur zu er-
heblicher Höhe, so waren aucji anfänglich
während der erneuten Darreichung die Schweiße
wieder da, bis die Temperatur einige Tage
lang dauernd unten gehalten war. Im An-
fang hatte sie öfters um Aussetzung des
Mittels gebeten, weil sie glaubte, ihr Magen
vertrüge es nicht — Pat. litt seit 13 Jahren
an Magenbeschwerden. Sie meinte einige
Male nach Einnehmen des Pulvers Appetit-
mangel und Druckgefühl in der Magengegend
zu verspüren. Die Klagen hat die Patientin
aber später nie wiederholt. Sie vertrug das
Mittel vom Magen aus immer sehr gut, wie
auch sonst keinerlei Magenbeschwerden nach
Maretin je beobachtet wurden.
In einem weiteren Fall vorgeschrittener
Phthise wurden .bei Darreichung von 2 mal
täglich 0,25 g Maretin bei einer Temperatur
von 38,6° anfänglich keine Schweiße beob-
achtet, vielmehr bat der Pat., als wir das
Mittel nach 3 tägiger Darreichung probeweise,
aussetzten, bereits am folgenden Tage wieder
um das Pulver, da er danach ruhiger ge-
schlafen habe und der Kopf ihm weniger
eingenommen gewesen sei. Später traten
allerdings auch Schweißausbrüche auf, die
aber durch gleichzeitige Darreichung von
Atropin 0,0005 g, wenn auch nicht völlig,
so doch insoweit hintan geh alten wurden,
daß sie den Kranken wenig oder gar nicht
belästigten. Bei diesem Pat. genügte eben-
falls eine 2 malige Darreichung von 0,25 g
auf die Dauer nicht; die Temperatur stieg
"wieder und Pat. schwitzte noch dazu. Darauf
setzten wir das Mittel aus. Damit wurden
die Schweiße geringer, ohne völlig zu ver-
schwinden. Als wir dann aber nach mehr-
tägiger Pause 2 mal täglich 0,5 g Maretin
2) cf. Deutsche med. Wocheoschr. Jahrg. XXX,
No. 26: Vereinsbeilage.
gaben, konnten wir beobachten, wie die
Temperatur ausgezeichnet herabgesetzt wurde,
ohne daß lästige Schweißsekretion eintrat.
Übrigens waren die Schweißausbrüche,
die, wie aus vorher Gesagtem ersichtlich, in
recht wechselndem Maße auftraten, in keinem
Falle so heftig, daß die Patienten sich ge-
weigert hätten, das Mittel zu nehmen.
Außer bei Phthisis pulmonum wurde
Maretin noch angewandt bei einem Fall
von Beckentuberkulose. Eine wesentliche
dauernde Beeinflussung der Temperatur konnte
hier nicht festgestellt werden, da die fort-
währenden Stauungen des eitrigen Sekrets
das Bild störten. Sowohl bei Darreichung
von 0,5 wie von 0,25 g trat im Anfang be-
reits nach 10 — 15 Minuten starkes Schwitzen
auf. Pat. gewöhnte sich aber ebenfalls
wenigstens soweit an das Mittel, daß die
Schweißausbrüche allmählich wesentlich ge-
ringer wurden, auch nicht mehr nach jeder
Dosis auftraten und den Kranken daher nicht
mehr belästigten.
Bei einem Fall von Pneumonie, ferner
einer Pat. mit Erysipel sowie einer Pat. mit
septischer Endokarditis blieb die Anwendung
von Maretin resultatlos. In beiden erst-
genannten Fällen traten starke Schweiße auf,
außerdem will der erste Pat. nach dem Pulver
starkes Herzklopfen bekommen haben. In
dem 3. Fall wurde trotz Temperatur von
39,0° Schweißausbruch überhaupt nicht be-
obachtet. Bei einem weiteren Kranken mit
akutem Gelenkrheumatismus beobachteten wir
eine Temperaturherabsetzung um einige Zehn-
tel; Schweiße waren gering und nicht lästig.
Nach unsern Beobachtungen würden wir
das Maretin also dahin beurteilen, daß es
Fiebertemperaturen der Phthisiker im all-
gemeinen gut herabsetzt und die Temperatur
bei regelmäßiger Darreichung des Mittels
ziemlich konstant in mäßigen Grenzen hält,
wobei manchmal eine zweimalige tägliche
Dosis von 0,25 g genügte, öfters aber auf
2 mal 0,5 g gestiegen werden mußte.
Bei hohen Temperaturen tritt neben der
Temperaturerniedrigung zunächst Schweiß-
bildung auf, die mehr oder weniger lästig
werden kann, durch gleichzeitige Darreichung
eines Antihidroticums aber anscheinend günstig
zu beeinflussen ist.
Bei fortgesetztem regelmäßigen Gebrauch
kann man erwarten, daß auch anfangs sehr
lästige Schweißausbrüche wesentlich geringer
werden bezw. schließlich ganz wegbleiben.
Wir erblicken daher in dem Maretin ein
Antipyreticum, das im allgemeinen bei Phthisis
gut und sicher wirkt, auch gut vertragen
wird und daher wohl Empfehlung verdient.
XIX. JahrgftBf .1
Mir« 1906. J
Ko«pp«, Geiets de« osmotischen Gleichgewichts.
127
'Über „Das Gesetz des osmotischen *
Oleichgewichts" im Orgranismus.
Von
Dr. Hans Koeppe in Gießen.
(Nach einem Vortrag, gehalten bei der 25. Ver-
sammlung der Balneologischen Gesellschaft
in Aachen.)
Ein jeder Wanderer hält nach einer Zeit
rüstigen Ausschreitend an, nicht allein um zu
rasten, sondern öfter noch um einmal zurück-
zuschauen, an dem zurückgelegten Weg sich
zu erfreuen und dann vor wärt 8 schauend aus
den Erfahrungen, welche er auf der über-
wundenen Wegstrecke sammelte, Vorteile für
die folgende zu gewinnen. Auch auf den
Wegen wissenschaftlicher Forschung sind
solche Rückblicke von Nutzen und lehrreich.
Vor noch nicht 10 Jahren waren die
Meinungen von dem Werte der physikalischen
Chemie für die Medizin noch recht geringe,
und wer sich einmal hinreißen ließ, eine viel
weiter gehende Wichtigkeit der neuen Theorien
zu behaupten, als die Untersuchungsresultate
unmittelbar ergaben, konnte mitleidigem
oder spottischem Lächeln nicht entgehen.
Bezeichnend für die Auffassung, die man als
damals allgemeine bezeichnen kann, ist eine
Äußerung des bekannten Baseler Physiologen
Mi escher in einem von Jaquet1) veröffent-
lichten Briefe aus dem Jahre 1895. Es
heißt da: „Ihre Ansicht, daß die experi-
mentelle Physiologie auf dem Trocknen ist
und neuer belebender Säfte bedarf, teile ich
schon längst. Um aber Genaueres prophezeien
zu können, wie und woher Besseres kommen
soll, müßte man schon selbst derjenige sein,
welcher die Wünschelrute, d. h. die richtigen
befruchtenden uud belebenden Ideen in der
Tasche hat. Jedenfalls, glaube ich, fehlt es
nicht nur da und dort an neuem Handwerks-
zeug aus der physikalischen Chemie oder
Elektrizitätslehre etc., das kann ja alles im
einzelnen viel Nutzen stiften; aber weder
Hamburger mit seinen isotonischen
Blutkörperchen noch Emil Fischer mit
seinen Heptosen und Nonosen wird die
Physiologie reformieren. Der Haupt-
fehler ist, daß über die Ziele der physiolo-
gischen Forschung überhaupt vielfach Un-
klarheit besteht; namentlich werden dieselben
mit denen der experimentellen Pathologie
zusammengeworfen, wenn nicht gar die phy-
siologischen Objekte einfach zu Übungsauf-
gaben für Präzisionstechnik ohne irgend
einen klaren theoretischen Hintergrund miß-
braucht werden.
*) Korrespondenzblatt für Schweizer Ärzte,
No. 21, 1895.
Wie in der Physiologie war es auch
sonst in der Medizin mit der Würdigung
der physikalischen Chemie bestellt.
Wollen Sie, m. H., den Unterschied
zwischen einst und jetzt in unserem Spezial-
gebiet, der „ Balneologischen Forschung ", sich
einmal so recht zum Bewußtsein bringen, so
bitte ich Sie zwei Reden zu vergleichen:
die eine aus dem Jahre 1903, „Über die
Beeinflussung pathologischer Anschauungen
durch die physikalische Chemie", die Geh.
Rat Prof. Kraus8) voriges Jahr auf der Fest-
sitzung der Balneologischen Gesellschaft hielt,
und die andere, die akademische Antrittsvor-
lesung von Prof. W. His jun.8) im Jahre 1897,
„Über den Heil wert der Mineralwässer".
1903 und 1897, ein Zwischenraum von
nur 6 Jahren! Aber welche Wandlung der
Anschauungen, welche Fülle von Arbeiten,
welcher Gewinn, an positiven Forschungs-
ergebnissen, welcher Fortschritt in der Ent-
wickelung in solch einer kurzen Spanne Zeit!
Die vorjährige Festrede mit ihrer rück-
haltlosen Anerkennung der Bedeutung der
physikalischen Chemie, ihrer einheitlichen
klaren Übersicht der Forschungsresultate,
ihren wertvollen Anregungen und Ausblicken
auf die zukünftige Forschung, ihrer gerechten
Anerkennung der Arbeit der Baineologen
und ihrem wiederholten Hinweis auf den
begonnenen wissenschaftlichen Ausbau der
Balneologie — all das ist Ihnen noch in
lebhafter Erinnerung.
Was wußte dagegen im Jahre 1897 der
Kliniker von dem Heilwert der Mineral-
wässer zu sagen? Zwar die Zeit der absoluten
Negation eines spezifischen Heilwertes der
Mineralwässer, deren Wortführer Leichten-
stern war, ist vorüber; unumwunden wird
von His ihr Heilwert anerkannt, aber — in
Bezug auf die Wirkungsweise der Heilwässer
bewegt sich His in vollkommen altem Geleise
(1. c. p. 11 u. 14): „Die Wirkungen setzen
sich zusammen aus zwei Komponenten, der
des Wassers und derjenigen der gelösten und
absorbierten Salze und Gase." „Bei manchen
Mineralwässern kommt tatsächlich allein diese
Was 8 er Wirkung in Betracht, und wenn sie
dem gewöhnlichen Quell- und Leitungswasser
überlegen sind, so rührt das davon her, daß
sie infolge höherer Temperatur oder ihres
Gas- und Salzgehaltes vom Magen leichter
ertragen und daher in größerer Menge ge-
Th. >f. 1905.
*) Fr. Kraus,_ Deutsche Medizinalzeitung,
19. März 1903: Über die Beeinflussung patho-
logischer Anschauungen durch die physikalische
Chemie.
») W. His jun., Leipzig, S. Hirzel, 1897: Die
heutigen Ansichten über den Heilwert der Mineral-
wässer. Akademische Antrittsvorlesung.
11
128
Ko«pp«, GeMts de« osmottfch«o QMefegowiehts.
rrten]
L Moni
ptutlaefc«
1
nossen werden können. Bei den Trinkkuren
kommt aber zur "Wasserwirkung noch der
mächtige Einfluß der Gase und Salze u. s. f."
Diese Anschauungen bedürfen keines
Kommentars, sie muten uns heute an, als
fehlte ihnen jede Logik. — Von einem Aus-
blick auf die Zukunft der balneologischen
Forschung finden wir bei His nicht viel:
einen kurzen Hinweis, daß die Chemie der
Körpersäfte einer Revision auf Grund der
modernen physikalisch -chemischen Anschau-
ungen zu unterwerfen sei, und einen matten
Versuch bei der Besprechung des Unter-
schiedes zwischen natürlichen und künstlichen
Mineralwässern, Liebreichs Hinweis auf die
verschiedenen Dissoziationsverhältnisse zu
entkräften.
Diese Stellung von His jun. nimmt um-
somehr wunder, als damals schon be-
achtenswerte "Untersuchungen ' vorlagen, aus
denen sehr wohl ein deutlicher Fortschritt
unserer Erkenntnis zu erschließen war.
Geradezu lawinenartig aber nimmt die Zahl
der Arbeiten in den folgenden Jahren zu,
und es würde nicht schwer fallen, dieselben
in verschiedene Kategorien einzuteilen, um auf
Grund dieser Einteilung zu versuchen, eine
Übersicht derselben zu geben. Schwer frei-»
lieh wäre es, schon zwischen den verschie-
denen Arbeiten einen innern Zusammen-
hang zu erkennen oder die tieferen Be-
ziehungen derselben zueinander klar dar-
zulegen. Das den meisten dieser Arbeiten
der letzten Jahre Gemeinsame ist die Be-
nutzung der physikalisch -chemischen Me-
thoden. Eine Fülle von Zahlen ist ge-
wonnen, kaum gibt es noch eine Körper-
flüssigkeit physiologischen oder pathologischen
Ursprungs, deren Gefrierpunktserniedri-
gung noch nicht bestimmt wäre, auch die
elektrische Leitfähigkeit ist schon von
vielen bekannt, dazu kommt neuerdings die
Bestimmung der Dampftension. All diese
große, umfassende Detailarbeit war notwendig
und mußte besorgt werden — ihr gegenüber
mußte naturgemäß die Deutung der Unter-
suchungsresultate und ihre Zusammenfassung
zu allgemeinen einheitlichen Theorien zu
kurz kommen oder mangelhaft ausfallen.
Jetzt ist es aber an der Zeit, allgemein
gültige Regeln oder Gesetze, an deren
Hand sich die Einzelforschung ver-
tiefen kann, aufzustellen oder schon auf-
gestellte ans Licht zu ziehen und auf ihren
Wert und ihren Geltungsbereich zu prüfen.
Voriges Jahr hat Geh. Rat Prof. Kraus
die Bedeutung der Gibbsschen Phasen-
regel besonders hervorgehoben und ihre
Beachtung empfohlen. Ohne Zweifel würde
diese Regel für unsere Zwecke, Gleich-
jgewichtsverhältnisse im Organismus zu stu-
dieren, von der größten Wichtigkeit sein
— allein es fehlen dazu so gut wie alle
Grundlagen; wir wissen noch nicht, in welchen
Fällen im Organismus „vollständige hete-
rogene Gleichgewichte" bestehen, in welchen
Fällen wir dagegen „unvollständige hete-
rogene Gleichgewichte" vor uns haben; für
die vollständigen heterogenen Gleichgewichte
gilt die Phasen regel, für die unvollständigen,
und das werden die meisten und wichtigsten
sein, sagt die Phasenregel nichts aus (Nernst,
Lehrbuch, p. 679).
Praktisch ungleich wichtiger, obwohl oder
gerade weil es nur ein beschränktes Gebiet
umfaßt, welches wir aber jetzt einigermaßen
übersehen können, erscheint mir das Gesetz
des osmotischen Gleichgewichts, wie
wir jetzt häufiger in der neuesten Literatur
die allgemeine Zusammenfassung der osmo-
tischen Erscheinungen im Organismus kurz
bezeichnet finden.
Sie werden erstaunt sein, m. H., wenn ich
Ihnen jetzt sage, daß dieses Gesetz des osmo-
tischen Gleichgewichts (allerdings nicht unter
dieser Bezeichnung) schon im Jahre 1896
veröffentlicht worden ist und zwar gleich-
zeitig in Frankreich und in Deutschland.
J. Winter*) in Frankreich formulierte
dasselbe folgendermaßen:
„L'ensemble des resultats cryoscopiques
nous montre l'organisme en equilibre osmo-
tique ou nous le montre oscillant constamment
autour «Tun equilibre limite realise par le
serum sanguin".
Ausführlicher und umfassender insofern,
als auch gleichzeitig die Ursachen, welche
das osmotische Gleichgewicht beeinflussen,
mit angegeben werden, ist von mir5) in
demselben Jahre 1896 dieses allgemeine
Gesetz ausgesprochen worden:
„Alle Zellen des Körpers sind — wenn-
gleich einzelne nur in einer Richtung — für
Wasser durchgängig. Wenn im Körper weder
eine Zufuhr noch eine Abgabe von Salzen
stattfände, so würde nach einer gewissen Zeit
durch Wasseraufnahme oder -abgäbe nicht
nur in allen Zellen derselbe osmotische Druck
herrschen, sondern es würden auch alle
freien Flüssigkeiten im Körper eben diesen
Druck haben. Überall würde zwischen Zell-
flüssigkeit und der die Zelle umspülenden
4) J. Winter» Archives de Physiologie V,
1896, p. 287: De l'equilibre moleculaire des humeors.
— Idem, Archivos de Physiologie V, 1896, p. 114:
De la concentration moleculaire des liquides de
l'organisme.
5) K o e p p e , Archiv f. d. ges. Physiol ogie, Bd. 62,
S. 573, 1896: Über den osmotischen Druck des
Blutplasmas und die Bildung der Salzsaure im
Magen.
XIX. Jfthrgug.-l
Mira 1905. J
Ko«pp«, GtoMts da« OMBOtlMli«n Glrtcbf «wicht*.
129
Flüssigkeit ein Gleichgewichtszustand be-
stehen, nachdem der Austausch zwischen
Wasser und ev. Salzteilchen beendet ist. Es
würde dies ein Moment der absoluten Ruhe
sein, da jede Bewegung der Teilchen voll-
endet ist.
Dieser Zustand absoluten Gleichgewichts
des osmotischen Druckes innerhalb des ganzen
Organismus hört aber und zwar für das ganze
System sofort auf, wenn an einer Stelle der
osmotische Druck sich ändert, indem neue
Moleküle in Losung gehen oder aus der
Losung ausfallen. Wenn der osmotische
Druck in der Zelle infolge einer Zunahme
der gelösten Moleküle erhöht wird, so können
folgende Erscheinungen hervortreten: 1. Wenn
die Zell wände vollkommen durchlässig sind
für die Salzmoleküle, so werden diese, in
ihrem Bestreben sich auszudehnen, aus der
Zelle in deren Umgebung wandern, sich also
vom Orte höherer Konzentration nach
solchen niedrigerer begeben — bis allent-
halben wieder Gleichgewicht herrscht; 2. Wenn
die Zellwand für die Moleküle undurchgängig
ist, dann werden sie, um sich auszudehnen,
auf die Wand einen Druck ausüben, und
Wasser wird aus der Umgebung in die Zelle
dringen. Dadurch wird die Flüssigkeit in
unmittelbarer Nähe der Zelle konzentrierter
und wirkt nun in gleicher Weise wieder
wasserentziehend auf ihre Umgebung, und so
entsteht eine Bewegung, des Wassers, die
sich weiter fortpflanzt, bis die Druckunter-
schiede so klein geworden sind, daß die
Bewegung erlischt. Noch ist ein dritter Fall
denkbar, nämlich der, daß die Zellwand für
die Salzmoleküle nicht absolut, sondern nur
unvollkommen durchgängig ist: dann wird
gleichzeitig eine Auswanderung von Salz-
molekülen aus der Zelle und ein Einströmen
von Wasser stattfinden.
Für den einfachsten Fall, für die einzelne
Zelle, hat demnach eine Änderung des osmo-
tischen Drucks ihres Inhalts eine Bewegung
zur Folge. Für einen Zellenkomplex werden
sich nun die Ströme der einzelnen Zellen
summieren, wenn sie gleichsinnig verlaufen,
sie werden sich gegenseitig schwächen oder
aufheben, wenn sie in entgegengesetztem
Sinne einwirken. Demnach müssen wir
uns den ganzen Organismus von un-
zähligen Strömen und Gegenströmen
durchsetzt denken, die sich in un-
zähligen Variationen verstärken oder
aufheben. Ein Augenblick vollkommenen
Gleichgewichts wird während des Lebens
niemals eintreten können, aber jederzeit
herrscht im Organismus das Bestreben,
dieses Gleichgewicht zu erreichen. So
können wir von vornherein wohl er-
warten, daß der osmotische Druck ver-
schiedener Eörperflüssigkeiten zwar
annähernd der gleiche, aber doch
keinesfalls vollkommen der gleiche ist;
desgleichen auch wird der osmotische
Druck derselben Körperflüssigkeit
nicht immer der gleiche sein, aber
doch auch nur in engen Grenzen
schwanken/
Wenngleich mir bei der Aufstellung der
eben geschilderten Gesetzmäßigkeiten, jetzt
kurz „Gesetz des osmotischen Gleich-
gewichts" genannt, schon 18,96 eine Anzahl
experimenteller Zahlenbelege zur Verfügung
standen, so haben doch dabei ebensoviel,
wenn nicht noch mehr theoretische Über-
legungen Anteil daran.
Es erscheint deshalb ebenso notwendig
wie interessant, jetzt auf Grund der zahl-
reichen inzwischen gesammelten Unter-
suchungsergebnisse etwaige Bestätigungen,
Abweichungen, Widersprüche etc. mit diesem
„Gesetz" festzustellen und zu diskutieren.
1. Zahlen für den osmotischen Druck
der verschiedenen Körperflüssigkeiten
desselben Individuums liegen nur in ge-
ringer Zahl vor und immer nur für wenige
— 2 — 3 — - Flüssigkeiten.
Die ersten derartigen Untersuchungen
dürften meine aus dem Jahre 1898 sein6),
die Zahlen finden sich in meiner Abhandlung
„Physikalische Chemie in der Medizin"7)
1900 erschienen, S. 93, sie betreffen Milch
und Serum desselben Tieres. Ich fand
i
Ziegenmilch J = 0,611
Serum derselben Ziege . J = 0,611
2 3 4
Kuhmilch J = 0,540 0,560 0,556
Serum derselben Kuh J = 0,535 0,570 0,556.
In einem 5. Falle untersuchte ich dreierlei
Körperflüssigkeiten einer Kuh und fand den
Gefrierpunkt
der Milch . . . . J = 0,510
des Serums . . . . J = 0,570
des Fruchtwassers . J = 0,57&.
Nagelschmidts8) Untersuchungen be-
stätigen die relative Gleichheit des osmo-
tischen Drucks von Blut und Milch des-
selben Individuums (der größte Unterschied
zwischen Gefrierpunkt von Blut und Milch
betrug einmal 0,03°).
6) H. Koeppe, Jahrbuch f. Kinderheilkunde
1898: Vergleichende Untersuchungen über den Salz-
gehalt der Frauen- und Kuhmilch.
9 H. Koeppe, Alfr. Holder, Wien, 1900:
Physikalische Chemie in der Medizin.
*) F. Nagelschmidt, Zeitschrift f. klinische
Medizin 42, 1901: Über alimentäre Beeinflussung
des osmotischen Drucks des Blutes bei Mensch
und Tier.
11*
130
Ko«ppe, Get«ts dm osmotischen Gleichgewichts.
fTliArapeiitisch«
LMonatdiafta.
l
Yeit9), Kronig und Fueth10) verglichen
mütterliches und kindliches Blut, die letzteren
fanden in 20 Fällen Gleichheit in Bezug auf
den osmotischen Druck beider.
üb b eis11) untersuchte mütterliches und
kindliches Blut sowie das Fruchtwasser bei
Rindern:, mütterliches und kindliches Blut
fand sich in osmotischem Gleichgewicht, das
Fruchtwasser verhielt sich verschieden, doch
in engen Grenzen.
Zangemeister und MeiBl19) bestimmten
den Gefrierpunkt von mütterlichem und
kindlichem Blute sowie Fruchtwasser des-
selben Falles beim Menschen unter normalen
Verhältnissen und kamen unter Berück-
sichtigung des Gesetzes vom osmotischen
Gleichgewicht im Organismus zu höchst
interessanten Schlüssen über den Stoff- und
Salzaustausch zwischen Mutter und Kind,
sowie den Stoffwechsel, insbesondere die
Urinabgabe des Fötus.
Von anderen Flüssigkeiten wären noch
anzuführen :
Leathes 1S) fand die Gefrierpunktserniedri-
gung für das Serum J = 0,605, für die
Lymphe J = 0,610° beim Hunde.
Nolfu) fand bei Hunden Pleura- und
Peritonealflüssigkeit von etwas höherem osmo-
tischen Druck als das Blut desselben Tieres.
Das Ergebnis ist entsprechend dem ersten
Teil unseres Gesetzes:
Bei demselben Individuum stehen die
verschiedenen Körperflüssigkeiten innerhalb
schwankender aber geringer Grenzen im os-
motischen Gleichgewicht.
2. Noch geringer ist die Zahl der Unter-
suchungen über den osmotischen Druck
von derselben Körperflüssigkeit des-
selben Individuums zu verschiedenen
Zeiten unter verschiedenen Bedingungen.
Die ersten derartigen Untersuchungen
sind für das Blutplasma von mir 1896
veröffentlicht worden (1. c. S. 582 u. f.). Sie
') J. Veit, Zeitschrift f. Geburtshilfe u. Gynä-
kologie 42, 1900.
lü) Krönig u. Fueth, Zeitschrift f. Geburts-
hilfe u. Gynäkologie 13, 1901: Vergleichende Unter-
suchungen über den osmotischen Druck im mütter-
lichen und kindlichen Blute.
ll) D. G. Ubbels, Diss., Gießen, 1901: Ver-
gleichende Untersuchungen von mütterlichem Blute,
fötalem Blute und Fruchtwasser.
,2) W. Zangemeister u. Meißl, Münch. med.
Wochenschrift 1903: Vergleichende Untersuchungen
über mütterliches und kindliches Blut und Frucht-
wasser nebst Bemerkungen über die fötale Harn-
sekretion.
13) J. B. Leathes, Journal of physiolog. 19,
1895: Some experiments on the exchange between
the blood and tissues.
") P. Nolf, Extrait des Bull, de l'Acad. roy. de
Belgique 12,« 1901: Technique de la cryoscopie du
sang.
zeigten, daß der osmotische Druck des Blut-
plasmas desselben Individuums nicht absolut
konstant ist, sondern gewissen Schwankun-
gen unterliegt. Diese Untersuchungsresultate
sind zwar 1898 von A. v. Koranyi15) heftig
bestritten worden, obwohl er selbst über
eigene Untersuchungen dieser Art nichts be-
richtet, doch erkennt später Hamburger16)
(1902) ausdrücklich die Schwankungen im
wasseranziehenden Vermögen des Serums an.
Die Untersuchungen von Engelmann17) und
die von Grube18) bestätigen vollkommen
meinen Befund: der osmotische Druck des
Blutplasmas derselben Person unterliegt
ständigen Schwankungen durch mancherlei
Einflüsse, welche später erörtert werden.
Die gleichen Schwankungen des osmoti-
schen Druckes derselben Körperflüssigkeit
desselben Individuums konnte ich 1898 bei
Untersuchungen der Frauen- und Kuhmilch
nachweisen, nämlich bei 3 Frauen (9, 6 und
6 Bestimmungen), sowie bei 4 Kühen (zwei-
mal je 2, zweimal je 3 Bestimmungen).
Diese Befunde wurden von Nagel-
schmidt8) 1901 bestätigt (1. c. S. 19).
Ziegenmilch J = 0,52 — 0,60.
Von anderen Flüssigkeiten sind noch die
Galle und der C h y 1 u s untersucht.
H. Strauß30) fand für den menschlichen
Chylus (den er von einer Patientin mit
einer Fistel des Ductus thoracicus sammelte)
Werte der Gefrierpunktserniedrigung, die
während dreier Tage zwischen 0,51° und
0,56° schwankten.
Fritz Engelmann jun.3*) fand für die
1&) A. v. Koranyi, Zeitschrift für klinische
Medizin 33, 1898: Physiologische und klinische
Untersuchungen über den »osmotischen Druck
tierischer Flüssigkeiten. S. 105: „Außerdem fand
Eoeppe, daß der osmotische Druck des Blut-
plasmas veränderlich ist, eine Behauptung« welche
mit allem auf diesem Gebiete bis jetzt Bekannten
in grellem Widerspruch steht. Die Ursache dieser
falschen Ergebnisse der Untersuchungen von
Koeppe liegt in der Methode" u. s.w.
16) Hamburger, Osmotischer Druck und
Ionenlehre, Wiesbaden, J. R. Bergmann, 1902,
S. 459: „Wenn man auch Ober den absoluten
Wert der aus Koeppes Hämatokritversuchen ab-
geleiteten Zahlen für den osmotischen Druck des
Serums Zweifel zu hegen berechtigt ist, so scheint
doch ans seinen Experimenten unwiderleglich her-
vorzugehen, daß die Nahrung zeitliche Scnwankun-
fen im wasseranziehenden Vermögen des Serums
erbeiführt."
n) Fr. Engel mann sen., Deutsche Med.- Ztg.
1902: Einfloß der Kreuznacher Quellen auf die Be-
schaffenheit des Blutes. — Derselbe, Deutsche
Med.-Zeitung 1903: Blutuntersuchungen mittels des
Hämatokrit.
18) K. Grube, Deutsche Med.-Zeitung 1902:
Über den Einfluß einfachen und salzhaltigen Wassers
auf die Blutbeschaffenheit. — Derselbe: Deutsche
Med.-Zeitung 1903: Weitere Untersuchungen über
den Einfluß vera Mineralwässern auf das Blut.
XIX. Jahrgaaf .1
Mira 1906. J
Ko«pp«, GtoMts de« otmofl<eh«n Gleichgewichte.
131
innerhalb 24 Stunden aus einer Gallenfistel
ausfließende Galle Werte für 4 = 0,570
bis /t = 0,610.
Die Befunde bestätigen den zweiten Teil
unseres Gesetzes:
Der osmotische Druck derselben Körper-
flüssigkeit desselben Individuums ist nicht
immer der gleiche, sondern unterliegt
Schwankungen.
Bei der Untersuchung von menschlichem
Chylus, der aus einer Fistel des Ductus
thoracicus ausfließt, findet H. Strauß die Ge-
frierpunktserniedrigung desselben 4 relativ
konstant (0,51 — 0,56°) trotz einer Gabe
einmal von 10 g Na Gl in 500 ccm Wasser,
ein anderes Mal von 100 g Traubenzucker
in 500 ccm Wasser und stellt auf Grund
dieser Befunde „den Satz auf, daß der
menschliche Organismus unter den von ihm
gewählten Versuchsbedingungen in hohem
Grade die Fähigkeit besitzt, den osmotischen
Druck des Chylus alimentären Angriffen
gegenüber konstant zu erhalten u. Dagegen
laßt sich nichts einwenden — aber nicht
klar ist es, wie Strauß diese Befunde am
Chylus verwertet zu einer allerdings etwas
unklaren Polemik gegen andere Untersucher,
welche eine Beeinflussung des Blutplasmas
resp. dessen osmotischen Druck durch die
Nahrung konstatieren konnten. Eine Arbeit
von Großman,8b), der unter Strauß1 Leitung
und Kontrolle arbeitete, gibt einen Anhalts-
punkt: Großmann sagt in derselben, daß
in 8 ein er Arbeit über den Chylus Strauß
zu Resultaten „gekommen sei in vollem
Gegensatz zu den Autoren, welche fanden«
daß der osmotische Druck des Blutes deut-
liche Schwankungen erfährt bezw. einen be-
trächtlichen Anstieg unter dem Einfluß von
Kochsalzzufuhr " .
In keiner Weise wird weder von
Strauß noch von Groß man erklärt,
warum das Ausbleiben der Chylus Schwan-
kungen beweisend sei, dafür, daß auch
Schwankungen des Blutplasmas nicht vor-
kommen können infolge Salzzufuhr [obwohl
solche doch mehrfach beobachtet wurden]!
Den Beweis, daß Chylus und Blutplasma
sich gleich verhalten, sodaß die an dem
einen erhobenen Befunde ohne weiteres auf
das andere übertragen werden können, diesen
Beweis wird Strauß schwerlich er-
bringen können. Entgegen diesen Behaup-
tungen von Strauß und Großman aus dem
Jahre 1902 stehen die von Strauß und
Nagelschmidt 1901. Strauß sagt 1902:
18 b) Großman, Deutsche med. Wochenschrift
1902: Über den Einfluß von Trinkkuren mit Mineral-
wässern auf den osmotischen Druck des mensch-
lichen Blutes.
„Mit diesen meinen damaligen Erfahrungen
stehen nun meine neuen, am menschlichen
Chylus erhobenen Beobachtungen in voller
Übereinstimmung, indem sie nach meiner
Ansicht überzeugend dartun, daß der osmo-
tische Druck des menschlichen Chylus unter
den Ton mir gewählten Versuchsbedingungen
weder durch eine gewöhnliche Mahlzeit,
noch durch den Genuß von */» Liter Wasser,
noch durch die Zufuhr von 10 g Kochsalz
in 500 ccm Wasser in einer der Ingestion
entsprechenden Weise verändert wird."
Die damaligen Erfahrungen finden sich
bei Nagelschmidt 1901 wie folgt:
S. 21. „Erst nachdem diese Vorversuche
gezeigt hatten, daß tatsächlich eine deut-
lich beobachtbare Beeinflussung der
molekularen Konzentration der Milch
auf alimentärem Wege möglich ist,
haben wir untersucht, inwieweit ein Paralle-
lismus quantitativ und zeitlich mit der Kon-
zentration des Blutserums nachweisbar ist."
S. 23. „Danach erscheint es berechtigt,
die molekulare Konzentration der Milch
eines Tieres auch bei künstlicher Ver-
änderung der molekularen Konzentration der
Gewebsflüssigkeiten als Indikator für die
zur selben Zeit vorhandene molekulare Kon-
zentration des Blutes desselben Tieres zu
betrachten."
Diese sich widersprechenden Schluß-
folgerungen 1901 und 1902 in den Strauß-
schen Arbeiten und denen seiner Mitarbeiter
zu klären, ist mir nicht möglich, wohl
aber erscheinen mir die Versuchsresultate im
Lichte des Gesetzes vom osmotischen Gleich-
gewicht wohl miteinander vereinbar.
3. Ziehen wir nun noch zur Ergänzung
der bisher erwähnten Zahlen für den osmo-
tischen Druck verschiedener Körperflüssig-
keiten auch solche heran, welche als Einzel-
beobachtungen an verschiedenen Individuen
gewonnen wurden, so vervollständigen sich
unsere Erfahrungen noch mehr.
Es wurden gefunden für
f J = 0,500-0,560
CerebrospinaMössigkeit86)31) . J =0,600—0,710
| J = 0,580-0,710
Humor aqueus»)») . . . . ( * = g_0,610
Glaskörper 19) *>) J = 0,555-0,650
Galle19)84) J = 0,540-0,560
Milch") J = 0,512-0,586
19) Dreser, Arch. f. exp. Pathol. u. Pharm.
XXIX, S. 303, 1892: Über Diärese.
*°) J. J. Kunst, Inaug.-Diss., Freiburg i. B.,
1895: Beiträge zur Kenntnis der Farbenzerstreuung
und des osmotischen Druckes einiger brechender
Medien des Anges.
*') J.Winter, Arch. d. physiol. V, 1896: De
la concentration moleculaire des liquides de l'or-
ganisme.
182
Ko«pp«, Qe«*U de« ocaotiMh«a Ql«lehg«wiehts.
Seröse Flüssigkeiten»1) . . . J = 0,500-0,570
Ascitesflüssigkeit") .... J = 0,530— 0,640
Pleuriti8exeudat*,) J = 0,490— 0,600
Cystenflüssigkeit") .... J = 0,570— 0,610
Chylus») J = 0,510-0,560
Sputum ") J = 0,340-0,580
Speichel")»)»)") .... J = 0,070-0,840
Schweiß») J = 0,130— 0,640
Faeces ») J = 1,1
Harn M) J « 0,010-4,4
(Diese Zusammenstellung beansprucht
nicht, vollständig zu sein, wie auch die
Literaturbelege bei weitem nicht alle um-
fassen.)
Selbstverständlich kann diese Übersicht
des osmotischen Drucks verschiedener
Korperflüssigkeiten, weil die letzteren
von verschiedenen Individuen nicht nur, son-
dern auch von verschiedenen Tierspezies
stammen, für oder wider das Gesetz vom
osmotischen Gleichgewicht im Organismus
nur sehr bedingt herangezogen werden. Da-
gegen ist sie in anderer Beziehung von
großem "Werte für dieses Gesetz.
Wohl können wir auf die Wirkung des
Gesetzes schließen beim Betrachten der Zählen
der Gefrierpunktserniedrigung der Körper-
flüssigkeiten, welche längere Zeit innerhalb
des Körpers verweilen, die Grenzwerte 0,490
und 0,710 liegen gar nicht so weit aus-
") H. S t r a u ß , Wiesbadener Kongreß für innere
Medizin 1900: Zur Funktion des Magens.
n) M. Oohn, Deutsche med. Wochenscbr. 4/5,
1900: Untersuchungen über den Speichel und seinen
Einfluß auf die Magen Verdauung.
u) Wolf, Archives de Biologie XVIII.
*5) Bönniger, Arch. f. exp. rathol. u. Pharm.
L, 1903: Über die Resorption im Magen und die
sogenannte Verdünnungssekretion.
M) Achard, Loeper und Laubry, Arch. d.
med. experiment., S. 567, 1901: Contribution k la
cryoscopie du liquide cephalo-rachidien.
*T) Sabrazes et Mathis, La semaine medi-
cale 26, 1901: Cryoscopie de quelques expectora-
tions.
«) H.Hotz, Diss., Zürich, 1902: Physikalisch-
chemische Untersuchnngen über Kuhmilch. (Daselbst
Übersicht von 10 vorausgehenden Publikationen.)
*9) H. Strauß, Fortschritte der Medizin XIX,
21, 1901: Über die molekulare Konzentration des
Schweißes.
*°) H. Strauß, Deutsche med. Wochenschr.
37/38, 1902: Über osmotische und chemische Vor-
gänge am menschlichen Chylus.
»') Zanier, Zentralbl. f. Physiol. 1896: Über
die osmotische Spannkraft der Cerebrospinalflüssig-
keit.
w) Domenico Pace, Napoli 1903: Ricerche
sperimentali cliniche sulla pressione osmotica dei
liquid i organici.
3a) H. K o e p p e , Handbuch der Urologie,
Alfr. Holder, Wien 1903: Physiologie der Harn-
absonderung. (Daselbst Seite 204 Literatur von
24 Arbeiten.)
S4) Fr. Engelmann, Mitteil. a. d. Grenzgeb.
d. Med. u. Chir. 12, 23, 1903: Beiträge zur Lehre
von dem osmotischen Drucke und der elektrischen
Leitfähigkeit der Körperflüssigkeiten.
i
einander, wenn wir damit die Zahlen für
die Ausscheidungen des Organismus ver-
gleichen — 0,01 bis 4,4 — , nämlich die
Gefrierpunktserniedrigungen Ton Sputum, Spei-
chel und Schweiß, sowie Harn und Faeces.
Speichel, Schweiß und Harn weisen die
niedrigsten Zahlen auf, Harn und Faeces die
höchsten.
Im Speichel, Schweiß und Harn werden
demnach unter Umständen recht beträchtliche
Mengen Wasser ausgeschieden, dadurch kann
einerseits ein allgemein niedriger osmotischer
Druck im Organismus auf den durchschnitt-
lichen gebracht oder ein normaler Druck über
den Durchschnitt erhöht werden. Reich-
liche Speichel-, Schweiß- oder Harnaus-
scheidung muß demnach (wenn nicht noch
besondere andere Umstände mitwirken, auf die
noch eingegangen werden wird) im allgemeinen
immer eine Erhöhung des osmotischen Drucks
innerhalb -des Organismus zur Folge haben
gegenüber dem vorher bestehenden osmo-
tischen Druck. Das letztere ist wohl zu
beachten, denn gar nicht selten findet man
in der Literatur Angaben, daß nach irgend
einem Experiment oder diätetischen Eingriff
der osmotische Druck des Blutes z. B.
j = 0,560° gefunden wurde, folglich (! ?)
eine Erhöhung des Druckes infolge des Ein-
griffes nicht erfolgt sei! Eine Erhöhung
oder Erniedrigung kann doch stets nur durch
2 Zahlen nachgewiesen werden.
Neben der Wasser abgäbe in flüssiger
Form spielt aber auch die Was s er aus -
Scheidung in Dampfform durch die Lunge
•und Haut eine wichtige Rolle, auch durch
diese kann der osmotische Druck des Blutes
erhöht werden. Ein Steigen des osmotischen
Drucks im Organismus, ohne daß größere
Mengen Speichel, Schweiß oder Harn entleert
wurden, ist danach wohlverständlich und
darf beim Studium der einschlägigen Ver-
hältnisse niemals übersehen werden
Im Gegensatz zu den niedrigen Werten
weisen die beobachteten hohen Werte der
Gefrierpunktserniedrigung des Harns (für
Faeces liegt nur eine einzige Beobachtung
vor) darauf hin, daß auf diese Weise auch
ein hoher oder zu hoher allgemeiner osmo-
tischer Druck der Körpersäfte herabgesetzt
werden kann. Auch hier dürfen wir nicht
vergessen, daß die Perspiratio insensibilis
durch C09-Abgabe im gleichen Sinne wirken
kann.
Eine Änderung des osmotischen
Drucks im Organismus kann also her-
beigeführt sein 1. durch eine Ausfuhr
von Wasser oder Salzen. 2. kann aber
auch der interne Stoffwechsel Einfluß auf
den osmotischen Druck der Körpersäfte aus-
XIX. Jahrgang.!
Ulys 1906. J
Ko«pp«, G«Mts dM osmotisch«!! Gleichgewichts.
133
üben. Direkte Untersuchungen nach dieser
Richtung liegen noch nicht vor. Auf diesen
Modus habe ich35) schon einmal hingewiesen,
jetzt können wir nicht näher darauf eingehen.
Die 3. Art der Verschiebung osmotischer
Gleichgewichts Verhältnisse im Organismus er-
folgt durch. Zufuhr von Nahrung, von
Wasser und Salzen. Diese ist natürlich
für den Baineologen, der täglich so und so
viel Becher von Wasser mit mehr oder
weniger Salz verordnet, von besonderem
Interesse. Eine Reihe von Untersuchungen
hierüber sind schon angestellt und haben
zu teilweise lebhaften Kontroversen geführt.
Scheinbar von selbst und höcht einfach er-
gab sich ja die Versuchsanordnung: hier
Blut (als Repräsentant der Körpersäfte) im
Gleichgewicht, dort Salzwasser, das Gleich-
gewicht störende Moment. Von beiden läßt
sich der osmotische Druck leicht bestimmen,
ebenso die Differenz zwischen beiden, alsdann
mußten im Versuche Änderungen des einen
mit der Zufuhr des anderen in ursächlichen
Zusammenhang zu bringen sein.
Soweit lag die Sache sehr einfach, doch
mit der Zahl der Untersucher und, was nicht
zu vergessen und weit wichtiger ist, der
Untersuchten fanden sich auch nicht über-
einstimmende Resultate. Auf Grund solcher
nicht übereinstimmenden Untersuchungsresul-
tate Polemiken über den Wert der Unter-
suchungsmethoden und dgl. zu führen, ist
ein überflüssiges unfruchtbares Beginnen, so-
lange wir nicht mit Sicherheit den Nachweis
liefern können, daß in beiden Versuchen
absolut dieselben Versuchsbedingungen be-
standen. Solchen Nachweis zu liefern, ist
unmöglich, deshalb ist es richtiger, aus der
Nichtübereinstimmung zu schließen, daß
noch andere Momente als die angenommenen
ins Spiel kommen und das Resultat beein-
flussen können. Aus rein theoretischen Über-
legungen habe ich36) im Anschluß an einige
Versuche, welche den Einfluß von Wasser-
resp. Salzzufuhr auf den osmotischen Druck
des Blutes darlegen sollten, besonders her-
vorgehoben, daß unter anderen Bedingungen
derselbe Versuch ein anderes, ja ein ent-
gegengesetztes Resultat ergeben kann.
Die Salz- resp. Wasserzufuhr zum Organis-
mus ist eben nicht allein auf eine Änderung
des osmotischen Drucks der Körperflüssig-
keiten von Einfluß, sondern gleichzeitig
wirken mit die Bedingungen der Ausscheidung,
nicht allein der durch die Nieren, sondern
auch durch die Lungen. Erfolgt die Unter-
*5) H. Koeppe, Berl. klin. Wocheoschr. 1901fr
Zar Kryoskopie des Harns.
**) H. Koeppe, Physikalische Chemie in der
Medizin , p. 86.
suchung an einem geistig oder körperlich
arbeitenden Individuum, so ist nicht dasselbe
Resultat wie bei einem im Bett liegenden
zu erwarten — Aufenthalt im Freien oder
im Krankenhaus, Untersuchungen im Sommer
oder im Winter — alles das sind wohl zu
erwägende Momente, welche das Resultat
beeinflussen müssen.
Anscheinend noch einfacher liegen die
Bedingungen und Untersuchungsverhältnisse,
wenn wir eine Lösung bekannten osmotischen
Drucks in den Magen eines Individuums
gießen, von dessen Blut wir gleichfalls den
osmotischen Druck bestimmen können , und
nach bestimmter Zeit den Mageninhalt
wieder aushebern. Ich sage, anscheinend sind
das ja ganz einfache Bedingungen: zwei
Lösungen bekannten osmotischen Drucks
kommen in Berührung mit einander, das
Ergebnis muß sich nach den Gesetzen des
osmotischen Drucks berechnen lassen. Allein
hier spielen doch noch wichtige Verhältnisse
mit, welche die Rechnung komplizieren. Zu-
nächst kommt die Durchlässigkeit der
trennenden Membran — die Magenwand —
in Betracht. Die Magenwand ist verschieden
durchlässig für die einzelnen Salze und die
einzelnen Ionen. Bestimmen wir z. B. von
einem Mineralwasser den osmotischen Druck,
so 'kommt im Magen dieser Druck nur zu
einem Teil als solcher zur Geltung. Von
vornherein ist der Anteil der Kohlensäure
am osmotischen Druck so gut wie vollständig
und zwar von Anfang an auszuschalten, nicht
nur da ein großer Teil der Kohlensäure
als Gas entweicht und durch Aufstoßen aus-
geschieden wird, es hat sich auch gezeigt,
daß die Kohlensäure sehr rasch aus dem
Magen durch die Magenwand hindurch ver-
schwindet. Aus diesem Grunde habe ich
bei Bestimmung des osmotischen Drucks resp.
der Gefrierpunktserniedrigung von Mineral-
wässern stets noch den Gefrierpunkt des
Mineralwassers ohne die freie Kohlensäure
mit bestimmt. Wie für die Kohlensäure ist
auch für alle andern Bestandteile des Mineral-
wassers der Partial druck derselben in
Betracht zu ziehen. Mineralwässer gleichen
osmotischen Drucks können sich im Magen
verschieden verhalten, wenn ihre Bestand-
teile verschiedenes Diffusions vermögen für
die Magen wand haben.
Im allgemeinen wird bei Mineralwässern
wohl stets als wirksamer osmotischer Druck
ein kleinerer in Frage kommen, als ihn
das Mineralwasser selbst hat.
Wesentlich anders verhalten sich aber
unsere Nahrungsmittel im Magen; hier steigen
die Schwierigkeiten noch mehr durch die
Komplikationen, welche durch den Ver-
134
Ko«pp«, Q«Mf* d— draiotl«eh«n Gleichgewichte.
rnurmpentieelM
L Monatshefte.
dauungsprozeß entstehen. Selbst eine so
einfache Nahrung wie die Milch bietet
schon recht erhebliche Schwierigkeiten. (Wie
steigern sich diese wohl bei einem Diner
von so und so viel Gangen?)
Wie aus Untersuchungen37)88) in meinem
Laboratorium hervorgeht, ändert sich os-
motischer Druck und Leitfähigkeit der Milch
unter dem Einfluß der Verdauungsfermente
(Pepsin, Trypsin) in vitro, der osmotische
Druck wird größer. Damit ist aber nun noch
nicht erwiesen, daß auch im Magen der er-
höhte osmotische Druck zur Geltung kommt,
denn wenn die durch die Fermente entstan-
denen Zersetzungsprodukte leicht diffusibel
sind, werden sie auf die Magen wand keinen
Druck ausüben: also wurde in diesem Falle
trotz zeitweilig erhöhtem osmotischen Druck
im Magen dieser Druckzuwachs nicht dazu
verwandt, Wasser in den Magen strömen,
sondern die gelösten Moleküle aus dem Magen
hinaus wandern zu lassen,. Alle diese Um-
stände wirken erschwerend und machen es
erklärlich, daß die direkten Bestimmungen
des osmotischen Druckes vom Mageninhalt
zu verschiedenen Zeiten nach Eingießung be-
stimmter Lösungen nicht einheitliche Resultate
ergeben. Als sicher erscheint bisher nur,
daß Lösungen von höherem osmotischen Druck
bald auf niedrigem gebracht werden, nämlich
den des Blutes, bestritten wird das Ergeb-
nis der ersten Untersuchungen, daß im Magen
der osmotische Druck des Mageninhalts auch
unter den Druck des Blutes sinken kann.
Daß hier das Gesetz des osmotischen Gleich-
gewichts eine bedeutende Rolle spielt, ist
zweifellos, sicher ist aber auch, daß Momente
mit in Frage kommen, welche ein absolutes
Gleichgewicht nicht eintreten lassen, ja direkt
auch bedeutende. Unterschiede des osmotischen
Drucks von Mageninhalt und Blut sogar her-
beiführen können.
Nachdem ich schon 189539) darauf hin-
gewiesen hatte, daß der osmotische Druck
unserer Nahrungsmittel eine gewisse Be-
deutung hat und dadurch die berichteten
Blutuntersuchungen auch einen praktischen
Wert erlangen können, habe ich sodann
1896*°) ausführlich dargelegt, in welcher
Weise Mageninhalt und Blutplasma in os-
") ELHotz, Diss., Zürich 1902: Physikalisch-
chemische Untersuchungen über Kuhmilch.
M) 0. Buchinger, Diss., Gießen 1902: Über
den Einfluß des Pepsins auf die elektrische Leit-
fähigkeit der Milch.
89) H. Koeppe, Deutsche med. Wochenschr.
34, 1895: Über Osmose.
*°) H. Koeppe, Arch. f. d. ges. Physiol. 62,
1896, S. 584 f.: Über den osmotischen Druck des
Blutplasmas und die Bildung der Salzsäure im
Magen.
motische Beziehungen zueinander treten und
welche Folge, welche Erscheinungen durch
das Wirken des osmotischen Drucks eintreten
können. Nicht nur theoretisch habe ich diese
Verhältnisse klargelegt und erörtert, sondern
auch über experimentelle Beobachtungen be-
richtet. Insbesondere habe ich schon damals41)
(1896) S. 8 darauf aufmerksam gemacht, daß
der osmotische Druck des Mageninhaltes im
Verlaufe der Verdauung unter den osmotischen
Druck des Blutes sinken kann.
Ich glaube dieses betonen zu müssen
gegenüber den Angaben, daß J. Winter41)
als erster diese Beziehungen untersucht habe.
Gleichzeitig und unabhängig, von J. Winter
sind von mir die gleichen Beobachtungen
publiziert worden.
In der nächsten diesbezüglichen Arbeit
von Roth und Strauß43) werden meine theo-
retischen Darlegungen (S. 6 u. 7) vollinhaltlich
wiedergegeben (ohne Hinweis auf meine Publi-
kationen), nur fehlt der von mir gegebene Hin-
weis auf den Einfluß, welchen eine einseitig
durchlässige Wand bedingt. Diese An-
nahme einer einseitig durchlässigen Wand
wurde von mir auf Grund der v. Meringschen
bekannten Versuche aufgestellt und ist für
die Bedeutung der einschlägigen Verhältnisse
von großer Wichtigkeit. Dadurch, daß Roth
und Strauß diesen Faktor nicht in Betracht
ziehen, kommen sie auf Grund ihrer Unter-
suchungen, welche meine vereinzelte Beob-
achtung bestätigen, daß der osmotische Druck
des Mageninhalts unter den des Blutes
sinken kann, zu Schlüssen, welche eben des-
halb nicht absolut zwingend sind. Roth und
Strauß schließen folgendermaßen:
Weil der osmotische Druck des Magen-
inhalts unter den des Blutes sinkt, „so be-
deutet das: daß der osmotische Gleichgewichts-
zustand durch Eingreifen eines neuen Faktors,
einer Kraftquelle, welche nicht in der os-
motischen Spannkraft der beiderseitigen
Lösungen, sondern außerhalb dieser liege, eine
Verschiebung erfahren hata. . . . Der Magen
„übt eine ganz spezifische Aktion aus, welche,
wie es scheint, keiner andern Resorptionsfläche
im Organismus zukommt". „Diese Aktion muß
einer vitalen Arbeitsleistung der Epithelzellen
der Magenschleimhaut zugeschrieben werden.*
Und S. 25: „Diese Wasserabscheidung, welche
von der Magenwand her in eine isotonische
41) K. Koeppe, Naturforscherversammlung in
Frankfurt a. M. 1896: Bedeutung der Salze als
Nahrungsmittel.
*a) J.Winter, Archives de Physiol. V, 1896,
S. 114: De la concentration moleculaire des liquides
de l'organisme.
«) Roth und Strauß, Zeitschr. f. klin. Med.
37, 1899: Mechanismus der Resorption und Sekre-
tion im menschlichen Magen.
III. Jahrgang .1
Mir» 1905 J
Ko«ppe, GeMts de« otmotlichmi Gleichgewichts.
135
Lösung hinein stattfindet, muß, da physi-
kalische Triebkräfte zur Erklärung nicht
vorhanden sind,- als Folge einer aktiven
sekretorischen Tätigkeit der Zelle auf-
gefaßt werden." Diese vitale Tätigkeit nennt
Strauß „Verdünnungssekretion14.
Durch meine Annahme einer „einseitig
halbdurchlässigen Wand" werden die
Schwierigkeiten, die beobachtete Verdünnung
des Mageninhalts physikalisch zu erklären,
erheblich verkleinert, sodaß theoretisch ab-
solut keine Notwendigkeit vorliegt, vitale
Kräfte zu Hilfe zu rufen, noch eine spezi-
fische Verdünnungssekretion des Magens an-
zunehmen.
Als absolut unzulässig muß es aber be-
zeichnet werden, von dieser angenommenen
(nicht nachgewiesenen) vitalen Tätigkeit der
Zellen nun die vitale Arbeitsleistung der
Epithelzellen der Magenschleimhaut
zu berechnen und diese berechnete Arbeits-
leistung in Gegensatz zu dem Blutdruck der
Aorta zu bringen. Strauß folgt hierbei ein-
fach den Angaben von Dreser, welcher 1892
die osmotische Arbeitsleistung der Nieren
berechnete. Nun ist aber einmal durchaus
nicht notig, ja noch garnicht wahrscheinlich,
daß die Verhältnisse in der Niere sich mit
denen im Magen in Parallele setzen lassen;
aber auch die Dreser sehe Berechnung, zwar
physikalich richtig, läßt sich auf biologische
Verhältnisse nicht direkt übertragen, wie ich
▼erschied entlich nachgewiesen habe.
So sehen wir, daß wir noch recht weit
davon entfernt sind, die physikalisch -che-
mischen Vorgänge im Magen klar zu durch-
schauen45)46)47), eben weil die Eigenschaften und
das Wesen der halbdurchlässigen Mem-
branen noch nicht aufgeklärt sind. Auch
die Physiko- Chemiker haben noch keine be-
stimmten Anschauungen über das Wesen der
künstlichen halb durchlässigen Membranen,
und es ist nicht ausgeschlossen, daß sich
noch andere künstliche Membranen herstellen
lassen, welche noch weitere' besondere
Eigenschaften, wie z. B. die einseitige
Durchlässigkeit, besitzen. Diese zur Zeit
bestehende Möglichkeit des weiteren Aus-
baues der physikalischen Chemie durch bio-
**) H. Strauß, Verhandl. d. 18. Kongr. f. innere
Medizin, 1900: Zar Fraktion des Magens.
4i) Pfeiffer und Sommer, Arch. f. exp. Path.
43, 1899: Über die Resorption wässeriger Salz-
lösungen aas dem menschlichen Magen anter phy-
siologischen und pathologischen Verhältnissen.
*) Pfeiffer, Arch. f. ext). Path. 1902: Über
die Resorption wässeriger Salzlösungen aus dem
menschlichen Magen.
**) Kraus, Deutsche Medizinal. -Ztg. 1908:
Über die Beeinflussung pathologischer Anschauun-
gen durch die physikalische Chemie.
Th. M. 1906.
logische Forschungen muß uns vor allem
Torsichtig machen und warnen, vorschnell
die Hilfe bei vitalen Kräften zu suchen,
wenn etwa physikalische nicht ausreichen.
Wie schwer es ist, sich in physikalisch-
chemische Verhältnisse hineinzudenken, wenn
man jeden Flüssigkeitsaustausch zwischen
Zellen und umgebender Flüssigkeit als eine
Sekretion auffaßt, geht aus einer Arbeit
über den gleichen Gegenstand von Bönniger*8)
hervor, in welcher sich folgende Stelle findet:
„Nun werden aber wohl auch Roth und
Strauß kaum annehmen, das die Zellen
destilliertes Wasser sezernieren". Dieser Satz
erscheint selbstverständlich in dieser Fassung
und beweist doch nicht, was er beweisen
soll. Allerdings, behaupte ich, können
Zellen destilliertes Wasser an die sie
umgebende Flüssigkeit abgebenl und
das ist schon vollkommen bewiesen und dieser
Satz in dieser Fassung wird nicht bestritten
werden, obwohl er im Grunde dasselbe aus-
sagt wie der vorhergehende.
Wichtig erscheint mir in Bönnigers Ar-
beit der Hinweis auf den wesentlichen Ein-
fluß der Anfangskonzentration der in
den Magen gebrachten Flüssigkeit. Wie ich
schon mehrfach hervorgehoben habe, kommt
es eben nicht auf absolute Werte an, sondern
stets sind die Unterschiede des osmotischen
Druckes zweier Flüssigkeiten maßgebend.
Wir wissen jetzt positiv, daß der osmotische
Druck des Blutes nicht allein bei demselben
Individuum schwankt, sondern auch größere
Unterschiede aufweist bei verschiedenen Per-
sonen, infolgedessen müssen wir bei der Be-
urteilung der Resorption und Sekretions Ver-
hältnisse im Magen auch den osmotischen
Druck des Blutes mit in Rechnung setzen,
dieser ist bei einschlägigen Versuchen gleich-
falls und zwar gleichzeitig mit zu bestimmen.
Je feinere Unterschiede berücksichtigt werden
sollen, je eingehender die zu ziehenden Schlüsse
Details berücksichtigen, um so wichtiger ist es
bei Anstellung derartiger Versuche, die ob-
waltenden Versuchsbedingungen bis in alle
Einzelheiten festzustellen. Wenn Kraus47) in
Bezug auf diese Untersuchungen sagt: „ Eine ein-
heitliche Auffassung der bei der Salzresorption
im Magen sich abspielenden Vorgänge scheint
also auf Grund des vorliegenden Tatsachen-
materials kaum möglich. Die mehrfach be-
sprochene Verdünnung als Sekretionsvorgang
gedeutet, dürfte aber kaum den endgültigen
Abschluß dieses Problems bedeuten tt, so möchte
ich den letzten Satz dahin erweitern, daß
") Bönniger, Arch. f. exp. Path. L, 1903:
Über die Resorption im Magen und die sogenannte
VerdunnungsseKretion. >
12
136
Golditein, Erhält uottr Volk g«nug Fleisch?
rTlkerftpeiitladto
L Monatshefte,
theoretisch die Verdünnungssekretion anzu-
nehmen nicht notwendig erscheint, daß anderer-
seits das Gesetz des osmotischen Gleichge-
wichts selbst mit diesen Tatsachen nicht in
"Widerspruch steht und vorläufig für die Er-
klärung der Erscheinungen ausreicht. Aller-
dings bedarf aber die Annahme halbdurch-
ist, so kann man der Berechnung seines
notwendigen Konsums die Berechnung des
notwendigen gesamten Eiweißkonsums zu
Grunde legen. Letzterer hängt beim ein-
zelnen Menschen vom Alter, Geschlecht
und der zu leistenden Arbeit ab. Er be-
trägt bei
Personen von
über
arbeitenden männlichen
weiblichen
allen männlichen
weiblichen
0
2
6
15
15
65
65
bis unter
täglich
2 Jahr 36,60 g
über
6
15
65
65
100
100
50,85 -
80,00 -
105,00 -
90,00 -
92,00 -
80,00 -
jährlich
13,35 kg
18,56 -
29,20 -
38,32 -
32,85 -
33,58 -
29,20 -
lässiger Wände besonderer Art noch weiterer
Stützen. Immerhin können wir hoffen, für
diese ebenso gute Aufschlüsse mit der Zeit
zu erlangen, wie wir für die halbdurchlässigen
Wände z. B. der roten Blutscheiben den
Nachweis erbringen konnten, daß sie wirklich
existieren, aus einem fettähnlichen Stoff be-
stehen oder einen solchen enthalten, und daß
sie den Inhalt der roten Blutscheiben mem-
branartig umschließen.
Erhält unser Volk genug: Fleisch?
Von
Dr. Goldstein in Berlin.
In der Zeit der Viehsperren und Fleisch-
zölle und der in Aussicht stehenden weiteren
Männliche Personen
Weibliche
Männliche
Weibliche
6
15
15
65
65
100
Um bei diesen Verschiedenheiten den
Eiweißbedarf der Bevölkerung zu ermitteln,
muß man zunächst den der einzelnen
Altersklassen berechnen. Das Alter wird
bei den Volkszählungen für jedes Geschlecht
besonders erhoben. Multipliziert man dem-
nach den für die einzelnen Altersstufen
in der vorstehenden Übersicht angegebenen
jährlichen Eiweißbedarf mit der Zahl der
Personen, die zu den einzelnen Alters-
stufen gehören, so erhält man für jede
den jährlichen Eiweißbedarf, und addiert
man alle Altersstufen, so erhält man
den jährlichen Gesamteiweißbedarf der ge-
samten Bevölkerung. In der folgenden
Übersicht ist diese Berechnung unter Zu-
grundelegung der bei der Volkszählung vom
Jahre 1900 ermittelten Altersklassen aus-
geführt.
Jährl. Gesamteiweißbedarf
in Tonnen zu 1000 kg
41 268,6
104342,4
318327,8
639 262,7
569024,1
41 187,5
44 496,9
Altersklassen Zahl
0 bis unter 2 Jahr 3 091 284
über 2 - - 6 - 5 621901
15 - 10901637
65 - 16680046
65 - 17 321892
über 100 - 1226 551
1 523 867
Zusammen 56 367178
1 757 910,0
Verteuerung des Fleisches dürfte die Frage,
ob unser Volk genug Fleisch erhält, von
großer Bedeutung sein. Ich habe sie in
der „Sozialen Praxis" einer Untersuchung
unterzogen und gebe hier, einer Anregung
des Herrn Herausgebers dieser Monatshefte
folgend, ihren Inhalt wieder.
Von den drei Nährstoffen des Menschen:
Eiweiß, Kohlehydraten und Fetten, können
sich die beiden letzteren bis zu einem ge-
wissen Grade vertreten, das Eiweiß dagegen
kann nicht vertreten werden, da es der ein-
zige Nährstoff ist, der Stickstoff und Schwefel
enthält. Da das Fleisch zwar nicht der
einzige, aber der wichtigste Eiweißrepräsen-
tant unter den menschlichen Nahrungsmitteln
Der Kopf der Bevölkerung beansprucht
demnach im Jahr 81 kg Eiweiß.
Nach der Schätzung des Statistischen
Reichsamts konsumiert der Kopf der deut-
schen Bevölkerung im Jahr 40 kg Fleisch1).
Da der Gehalt des Fleischs an Eiweiß im
Durchschnitt 20 Proz. ausmacht, so sind in
den 40 kg 8 kg Eiweiß enthalten, und von
den verlangten 31 kg sind nur 25,8 Proz.
durch Fleischeiweiß gedeckt. Daß das sehr
wenig ist, läßt sich schon aus dem Umstände
schließen, daß die menschliche Natur der des
Karnivoren näher steht als der des Herbi-
*) Die Deutsche Volkswirtschaft, herausgeg.
vom Kaiserl. Statist. Amt, S. 56.
XIX. JahrgangZl
Mir» 1905. J
Goldatein, Erhält unter Volk g«nug Fleisch?
137
voren, wie der Eckzahn beweist, die saure j
Reaktion des Urins und das Unvermögen,
vegetabilisches Eiweiß in demselben Maße
zu verdauen wie animalisches; ersteres wird
nur zu 70 Proz., letzteres dagegen zu fast
100 Proz. assimiliert.
Es bleibt demnach nach Abzug des
Fleischeiweißes ein Defizit von 23 kg pro
Kopf und Jahr. Zu seiner Deckung ist zu-
nächst das im Brot enthaltene Eiweiß ver-
fugbar. Nach den Erhebungen der Keichs-
statistik kommt auf Kopf und Jahr der Be-
völkerung rund 180 kg Brotgetreide3), ent-
sprechend 145 kg Brot. Der Gehalt desselben
an Eiweiß beträgt durchschnittlich 6,5 Proz.,
in 145 kg Brot sind also 9,4 kg Eiweiß
enthalten, wovon 70 Proz., also 6,5 kg, assi-
milierbar sind. Durch das Broteiweiß wird
also das Defizit von 23 kg auf 16,5 kg ver-
mindert.
Eine weitere Eiweißquelle bilden die
Kohlehydratnahrungsmittel. Um zu ermitteln,
wieviel Eiweiß durch sie dem Kopfe der
Bevölkerung zugeführt wird, muß der Gesamt-
bedarf an Kohlehydraten auf Kopf und Jahr
genau so, wie es beim Eiweiß geschehen ist,
berechnet werden. Die Berechnung des Ei-
weißbedarfs als solche erfährt dadurch also
eine Unterbrechung. — Der Kohlehydrat-
bedarf beträgt bei
fruchte (Erbsen, Bohnen, Linsen) in Frage.
Da der Zweck der Berechnung die Ermitte-
lung des verfugbaren Eiweißes ist, das Brot-
eiweiß aber schon berücksichtigt ist, so muß
von dem Gesamtbedarf an Kohlehydraten die
in den 145 kg Brot steckende Menge der-
selben vorweg abgezogen werden. Der Kohle-
hydratgehalt des Brotes beträgt rund 50 Proz.,
in 145 kg Brot stecken also 72,50 kg Kohle-
hydrate, es bleiben demnach nach Abzug
dieses Quantums von den 130 kg des Ge-
samtbedarfs 57,50 kg übrig, die durch die
anderen Kohlehydratrepräsentanten, also Reis,
Kartoffeln und Hülsenfrüchte, geliefert werden
müssen.
Von Reis wurden im Jahre 1900 290554
Tonnen importiert, auf den Kopf kamen also
5 kg mit 0,35 kg Eiweiß und 3,87 kg Kohle-
hydraten. Nach Abzug der letzteren bleiben
53,63 kg, die durch Kartoffeln und Hülsen-
früchte zu decken sind.
Es hat mir keine geringe Mühe gemacht,
ihren Konsum mit einiger Zuverlässigkeit zu
berechnen, denn Erhebungen gibt es darüber
nicht. Ich habe als Maßstab für das Ver-
hältnis ihres Verbrauchs ihren Preis gebraucht.
Im Jahre 1900 war der Durchnittspreis für
100 kg Hülsenfrüchte 5,6 mal so hoch wie
der für 100 kg Kartoffeln, es müßten also,
wenn der Nährwert beider Nahrungsmittel
Personen von
über
Männlichen
Weiblichen
Männlichen
Weiblichen
0 bis anter
1 - -
2 - -
6 - -
15
15
65
65
- aber
6
15
65
65
100
100
tu glich
jährlich
46,68 g
17,03 kj<
96,41 -
35,18 -
145,30 -
53,00 -
270,00 -
98,50 -
500,00 -
182,50 -
400,00 -
146,00 -
350,00 -
127,70 -
300,00 -
109,50 -
Hiernach ist der Konsum der Alters-
klassen und weiter der der Bevölkerung an
Kohlehydraten auf Kopf und Jahr zu be-
rechnen.
Altersklassen
Männliche
Weibliche
Männliche
Weibliche
Personen über 0 bis unter
. i .
. 2 -
- 6 -
- 15
- 15
- 65
- 65
2
6
- 15
- 65
- 65
über 100
- 100
derselbe wäre, 5,6 mal so viel Kohlehydrate
in Kartoffeln gekauft werden wie in Hülsen-
früchten. Tatsächlich ist aber der Wasser-
gehalt der Kartoffel viel größer und ihr
Jährlicher Gesamtbedarf
Zahl an Kohlehydraten in Tonnen
zu 1000 kg
27 794,7
51 333,9
297 960,7
1 073 811,2
3 044 108,3
2 528 996,2
156 630,5
1523 867 166 863,4
1 Jahr 1 632 103
1459181
5621901
10 901637
16680046
17 321892
1226551
Zusammen 56 367 178
7 347 498,9
Der Kopf der Bevölkerung verlangt da-
nach jährlich 130 kg an Kohlehydraten. Bei
seiner Deckung kommt bei Volksernährungen
nur Brot, Reis, Kartoffeln und die Hülsen-
*) a. a, 0. S. 44.
Kohlehydratgehalt viel kleiner als der der
Hülsenfrüchte, ihr Nährwert ist also geringer.
Dem Volke ist das wohl bekannt, es sagt,
„Kartoffeln halten nicht vortt. Der Kohle-
hydratgehalt der Kartoffel beträgt 20,6 Proz.,
der der Hülsenfrüchte 51,5 Proz., die Kar-
12*
138
Qo Idstein, Erhllt unter Volk genug Fleisch?
rTherapttitiad»
L MonatRhefta.
1
toffel enthält also nur dco 2,5. Teil des in
Hülsenfrüchten enthaltenen Kohlehydrats.
Demnach werden nicht 5,6 mal so viel Kohle-
hydrate in Kartoffeln gekauft werden, wie
man nach Maßgabe des Preises erwarten
5 6
sollte, sondern -^' = 2,24 mal so viel. Zu
decken sind 53,63 kg Kohlehydrate, und
verteilt man diese in der Weise, daß auf
Kartoffeln 2,24 mal so viel kommen wie auf
Hülsenfrüchte, so erhält man für Kartoffel-
kohlehydrat 37,07 kg, für Kohlehydrat aus
Hülsenfrüchten 16,55 kg, und wenn man
diese Zahlen auf die Nahrungsmittel um-
rechnet, so fallen auf Kopf und Jahr der
Bevölkerung 180 kg Kartoffeln und 32 kg
Hülsenfrüchte.
Nach dieser Abschweifung können wir
zur Berechnung des Eiweißes zurückkehren.
Das errechnete Defizit betrug 1 6,5 kg. Durch
Reis waren 0,35 kg gedeckt, durch Kartoffeln
(Eiweißgehalt 2 Proz.) und Hülsenfrüchte
(Eiweißgehalt 24,5 Proz.) 11,44 kg, wovon
aber nur 8 kg assimilierbar sind. Zieht man
diese 8,35 kg vom Defizit ab, so vermindert
es sich von 16,5 kg auf rund 8 kg.
Durch das Eiweiß aus Milch und Käse
erfährt diese Zahl eine weitere Verminderung.
Die erste Altersklasse zieht ihren gesamten
Eiweißbedarf, wie überhaupt die gesamte
Nahrung, aus Milch, die zweite zum größten
Teil, die dritte zum großen Teil, während
die Milch für die folgenden Altersklassen
immer mehr an Bedeutung als Eiweißquelle
verliert, zumal sie älteren Menschen bald
widersteht. Für die erste Altersklasse liefert
die Milch 100 Proz. des Eiweißbedarfs, für
die zweite etwa 80 Proz., für die dritte etwa
50 Proz. Den Bedarf der beiden ersten
Altersklassen an Eiweiß habe ich nach
Flügge, Grundriß der Hygiene, S. 249 be-
rechnet, während für die dritte Weyls Hand-
buch der Hygiene maßgebend war8). Die
Zahl der Personen, die bei der Volkszählung
im Jahre 1900 zu der ersten Altersklasse
gehörten, betrug 1632103, die der zweiten
1459181, die der dritten 1462 409. Be-
rechnet man für sie den gesamten jährlichen
Eiweißbedarf, so erhält man 18 328,5 bezw.
22 573,5 bezw. 26 688,9 Tonnen. Hiervon
deckt die erste Altersklasse 100 Proz., die
zweite 80 Proz., die dritte 50 Proz. durch
Milch, sodaß die drei Altersklassen zusammen
jährlich 49 731,7 Tonnen Eiweiß aus Milch
ziehen, und verteilt man diese auf die Be-
völkerung, so erhält man auf Kopf und Jahr
*) Der tägliche Bedarf an Eiweiß beträgt bei
der ersten Altersklasse im Jahresdurchschnitt
30,79 g, bei der zweiten Altersklasse 42,41 g, bei
der dritten 50,00 g.
0,88 kg Milcheiweiß. — Für die höheren
Altersklassen bildet der Käse eine Eiweiß-
quelle. Die inländische Produktion an Käse
ist gering, der Fehler also, den die Un-
möglichkeit, ihren Umfang zu bestimmen,
herbeiführt, kann das Endresultat nicht
wesentlich beeinträchtigen. Der Import von
Käse betrug im Jahre 1900 15479 Tonnen,
da sein Gehalt an Eiweiß durchschnittlich
30 Proz. beträgt, so wird durch den Käse-
import dem Kopf der Bevölkerung 0,08 kg
Eiweiß geliefert. Milch und Käse zusammen
liefern also 0,88 kg H- 0,08 kg = 0,96 kg
oder rund 1 kg Eiweiß. Das Defizit wird
dadurch auf 7 kg reduziert.
Endlich ist der Heringsverbrauch zu be-
rücksichtigen. Die inländische Fischerei liefert
nur ganz wenig für den Gesamtverbrauch,
im Jahre 1897 nur 6 Proz., bei weitem die
meisten Heringe werden importiert, im Jahre
1900 waren es 1137 303 Faß zu 150 kg.
Das macht auf den Kopf der Bevölkerung
rund 2,5 kg mit einem Eiweißgehalt von
0,5 kg. Zieht man diese von den obigen
7 kg ab, so ergibt sich als Schlußresultat
ein Eiweißdefizit von 6,5 kg, für das keine
Deckung da ist. Wollte man es durch Fleisch
liefern, so müßten an Stelle von 40 kg, die
heute auf den Kopf der Bevölkerung treffen,
72,5 kg konsumiert werden. Dazu ist die
Bevölkerung zu arm, sie greift infolgedessen
zur Branntweinflasche, denn die wechselseitige
Abhängigkeit von Fleisch- und Branntwehi-
konsum ist durch die französische Statistik
festgestellt worden.
Bemerkungren zu dem Auftatze
des Herrn Dr. Goldstein: Erhält unser
Volk genug Fleisch?
Von
Dr. F. Joklik in Prag.
Die Berechnungen, welche Dr. Gold stein
anstellt und aus welchen er mangelhafte
Ernährung der Bevölkerung Deutschlands
deduziert, durften wohl kaum den Tatsachen
entsprechen, wenigstens nicht in der an-
gegebenen Schärfe.
Richtig ist der Bedarf an Eiweiß auf
31 kg und an Kohlehydraten auf 130 kg pro
Kopf und Jahr angegeben. An Kohlehydraten-
nahrung besteht kein Mangel, wie Dr. Gold-
stein zugibt, es handelt sich also nur um
die Eiweißnahrung. In dieser Beziehung sind
die Zahlen, welche Dr. Goldstein für die
Deckung berechnet, keineswegs in Ober-
einstimmung mit der Statistik. Dr. Gold-
stein läßt von dem Eiweißbedarf von 31 kg
XIX. Jahrgang.*]
Mir» 190&. J
Joklik, Erhält unter Volk genug Fleisch?
139
decken: durch Fleisch 8 kg, durch Brot 6,5 kg,
durch Reis 0,35 kg, durch Kartoffeln und
Hülsenfrüchte 8 kg, durch Milch und Käse
1 kg, durch Hering 0,5 kg und konstatiert
demnach ein Defizit von 6,5 kg Eiweiß
pro Kopf und Jahr, welchen er den Alko-
holismus verschulden läßt.
Allein gegen diese Berechnungen ist fol-
gendes einzuwenden:
1. Die Menge des durch Fleischnahrung
gedeckten Eiweißes, 8 kg, muß ich gelten
lassen, da es an jedweder Handhabe fehlt,
um zu kontrollieren, ob die diesbezüglich an-
genommene Grundlage richtig ist, daß auf
den Kopf der Bevölkerung in Deutschland
nur 40 kg Fleisch (nur 10a/3 Deka täglich!)
entfallen.
2. Entschieden zu niedrig ist dagegen
die Zahl für die Menge des aus Brot re-
sultierenden Eiweißes angesetzt. Nach dem
„Statistischen Jahrbuch f. d. Deutsche Reich"
25. Jahrg. 1904, S. 194 Kap. X Verbrauchs-
berechnungen waren „zum Verbrauch für
Mensch und Tier und für gewerbliche Zwecke"
im Deutschen Reich verfügbar i. J. 1900/01
u. a. Roggen 8,23 Mill. Tonnen, auf den Kopf
147,6 kg, Weizen 5,13 Mill. Tonnen, auf den
Kopf 91 kg, Kartoffeln 34,1 Mill. Tonnen, auf
den Kopf 604,6 kg. Es sind also an Brotgetreide
nicht 180 kg, sondern ca. 240 kg vorhanden
gewesen, das entspricht 193 kg Brot, worin
12,5 kg Eiweiß enthalten sind, von welchen
8,75 kg assimilierbar sind. Allerdings wird
nicht sämtliches Getreide als menschliche Nah-
rung verbraucht, allein was auf andere Zwecke
entfällt, ist gewiß ein geringfügiger Bruchteil ;
so werden z. B. in der Branntweinindustrie
(cit. S. 54) nur 364 000 Tonnen Getreide
verarbeitet, also nicht einmal 3 Proz. der
oben angeführten Getreidearten. Es ist also
die obige Zahl von 8,75 kg höchstens auf
8 kg zu reduzieren.
3. Was den Reis anbelangt, so vergißt
Dr. Goldstein von der Einfuhr von 290554
Tonnen die Ausfuhr mit 129 810 Tonnen
abzuziehen. Ich lasse jedoch die bezügliche
(geringfügige) Zahl von 0,3 kg Eiweiß aus
Reisnahrung gelten.
4. Die Menge der verzehrten Hülsen-
früchte ist statistisch nicht genau zu ermitteln.
Die von Dr. Goldstein angenommene Menge
von 32 kg pro Kopf, d. i. von 87,5 g täglich,
ergibt 5,6 kg Eiweiß, welche Zahl vielleicht
eher zu hoch, als zu niedrig gegriffen ist1).
5. Die Menge des Kartoffelkonsums ist
mit 180 kg pro Kopf entschieden viel zu
niedrig angesetzt. Ich verweise auf die
*) In Österreich werden z. B. nur 12 1 Hülsen-
früchte pro Kopf geerntet.
zitierte Zahl der amtlichen Statistik, wo-
nach 1900/01 über 600 kg Kartoffeln auf
den Kopf entfielen. Von der Gesamtmenge
von 34,1 Mill. Tonnen wurden zur Brannt-
weinerzeugung 2,8 Mill. Tonnen verwendet,
d. i. 8,2 Proz. Ein beträchtlicher Teil wird
sicherlich auch zur Viehfütterung verwendet,
wieviel, ist nicht festzusetzen, jedenfalls wird
man kaum fehlgehen, wenn man annimmt,
daß mindestens 9/3 der gesamten Kartoffel-
menge menschlicher Ernährung zugeführt
werden, das ist 400 kg pro Kopf, was an
assimilierbarem Eiweiß 5,6 kg ergibt.
6. Die weiteren Zahlen, nämlich 1 kg
Eiweiß aus Milch und Käse und 0,5 kg aus
Hering lasse ich unangefochten.
Es würden sich also folgende Eiweiß-
mengen ergeben: Aus Fleisch 8 kg, aus Brot
8 kg, aus Reis 0,3 kg, aus Hülsenfrüchten
5,6 kg, aus Kartoffeln 5,6 kg, aus Milch und
Käse 1 kg, aus Heringen 0,5 kg, zusammen
29 kg, sodaß sich von den oben angesetzten
31 kg nur ein Abgang von 2 kg ergäbe. Und
dieser Abgang wird sicherlich ersetzt. Denn
Dr. Goldstein hat viele Nahrungsmittel
außer Ansatz gelassen, so u. a. Eier (mit
13,5 Proz. Eiweißgehalt)2), Gemüse, welches
gleichfalls, wenn auch sehr wenig, Eiweiß ent-
hält (z. B. Blumenkohl 0,2 Proz.), Fische,
Obst u. dgl. An Eiern allein wurden 1900
bloß eingeführt 118 170 Tonnen, d.i. 2kg
pro Kopf, also bloß aus eingeführten Eiern
ergibt sich eine Eiweißmenge von 0,27 kg,
welche unter Berücksichtigung der heimat-
lichen Produktion auf mehr als 1 kg zu er-
höhen ist.
Völlig unzutreffend ist die Schlußfolgerung
Dr. Goldsteins, daß Mangel an Nahrung
den Alkoholismus verschulde. Wie ausge-
lührt, existiert tatsächlich kein Nahrungs-
mangel. Die Resultate, zu denen Dr. Gold-
stein gelangt, würden bittere Not und
Hunger bedeuten und diese müßten sich in
massenhafter Auswanderung äußern. Die Aus-
wanderung jedoch ist minimal (i. J. 1900 nur
22 309 Personen = 0,4 % der Bevölkerung,
1903: 36 310 = 0,62 %, dagegen 1891:
120 000 = 2,4 °/on; Ungarn jetzt z. B. über
100 000 = über 5 °/oo). Tatsächlich existiert
aber auch kein Alkoholismus im Deutschen
Reiche, wenigstens nicht als allgemeine
soziale Massenerscheinung, wenn auch nicht
zu leugnen ist, daß er sporadisch als
soziales Übel auftreten mag, und zwar in
größerem Maßstabe, als wünschenswert ist.
Nach unserer statistischen Quelle (Jahrbuch
S. 195) wurden im Deutschen Reiche 1900
') Siehe Landois, Lehrbach der Physiologie
2. Aufl., S. 450.
140
Joklik, Erhilt unter Volk genug Plelich?
rTherapeutleclM
L Monatshefte.
1
an Bier verbraucht 125 1 pro Kopf (1902
nur 116 1), das ist, die jüngste Bevölkerung,
welche nicht trinkt, in Abzug gebracht,
höchstens !/a 1 Pr0 Tag — das kann doch
niemand Alkoholismus oder wenigstens Alko-
holismus der gesamten Bevölkerung nennen.
Und noch etwas. Nach physiologischen An-
gaben (Landois S. 450) enthält Bier 1,5 Proz.
Eiweißstoffe, es werden also mit den ver-
brauchten 125 1 dem Körper beinahe 2 kg
Eiweiß zugeführt — so viel, wie oben als
möglicher Abgang berechnet wurde. An
Branntwein wurden nur 4,3 1 jährlich pro
Kopf genossen (S. 194), was sicher auch
keinen Alkoholismus bedeutet.
Wenn sich nun auch aus diesen Berech-
nungen ergibt, daß derzeit von einem Nah-
rungsmangel in Deutschland keine Rede sein
kann, so ist daraus dennoch zu folgern, daß
das Reich im Punkte der Ernährungstüchtig-
keit beinahe an der Grenze des Erreichbaren
angelangt sein dürfte. Wenn auch jetzt keine
Not herrscht, so steht sie doch vor der Türe
und wird sicher nicht ermangeln anzuklopfen,
wenn der jetzige enorme, beinahe schwindel-
erregende Bevölkerunggzuwachs von 1,5 Proz.
pro Jahr (Jahrbuch S. 2) noch lange an-
halten wird. Deutschland hat, was Intensität
der Bodenwirtschaft anbelangt, einen Grad
erreicht, wie wohl nur wenige Länder der
Erde, einen Grad, der kaum noch gesteigert
werden kann. Eine kleine Yergleichung mit
Österreich (Cisleithanien) wird dies klar
machen. Nach Jahrbuch S. 34 wurden in
Deutschland i. J. 1903 von 1 ha Boden im
Durchschnitt geerntet: Roggen 16,5 q (q =
100 kg), (Braunschweig bis 23,6 q!), Weizen
19,7 q (Braunschweig bis 26,9 q!), Gerste
19,5 q (Anhalt 28,3 q!), Kartoffeln 132,5 q
(Anhalt 172,3 q). Dagegen lieferte in Öster-
reich3) 1903 1 ha Boden im Durchschnitt
Roggen nur 11,4 q (Maximum 17,3), Weizen
11,9 q (Maximum 18,7), Gerste 13,3 (Maxi-
mum 18,3), Kartoffeln 85 q (Maximum 102,3).
Wir sehen also, daß in Österreich das länder-
weise Maximum von geernteten Nahrungs-
mitteln meistens nicht einmal den Durch-
schnitt des deutschen Reiches erreicht, daß
in Deutschland durchschnittlich um */3 in-
tensiver ge wirtschaftet wird. Und dabei ge-
hört Österreich keineswegs zu den armen
Ländern und hat Landstriche, die wegen
ihrer Fruchtbarkeit berühmt sind. Aber
heute ist es dahin gekommen, daß in der
Mark Brandenburg, der „Streusandbüchse
Europas" vom ha Boden 16,4 q Roggen,
23,2 q Weizen, 149,1 q Kartoffeln geerntet
*) öster. statistisches Handbach 22. Jahrgang,
S. 152.
werden, im „reichen" und fruchtbaren König-
reich Böhmen aber nur 12,7, beziehungsweise
15,2, 88 q. Es ist unausbleiblich, daß unter
solchen Umständen der Boden Deutschlands
bald erschöpft sein muß, und was dann nach-
folgen wird, ist unabsehbar.
Duplik.
Obige Ausführungen erklären, 180 kg
Brotgetreide auf Kopf und Jahr seien „ent-
schieden zu niedrig", und verlangen 240 kg
entsprechend 193 kg Brot. Auf die nähere
Begründung gehe ich nicht ein, denn die
Reichsstatistik hat ermittelt, daß auf den
Kopf der Bevölkerung rund 180 kg (genau
178,8 kg) entfallen. Wenn diese Zahl, auf
die ich mich stütze, falsch ist, so hätte
Joklik das beweisen müssen. Das hat
er aber nicht getan.
An Kartoffeln verlangt Joklik 400 kg
auf Kopf und Jahr, „da man jedenfalls kaum
fehlgehen wird, wenn man annimmt, daß
mindestens 9/3 der gesamten Kartoffelmenge
menschlicher Ernährung zugeführt werden ".
Diese durch nichts bewiesene Behauptung
kann ich nicht als Grund gelten lassen, mit
demselben Rechte könnte man sagen, daß
man kaum fehlgehen wird, wenn man */a oder
3/4 der gesamten Kartoffel menge auf mensch-
liche Ernährung rechnet. Aber selbst wenn
Joklik recht hätte, und auf den Kopf der
Bevölkerung 193 kg Brot und 400 kg Kar-
toffeln kämen, so wäre das eine ganz un-
zweckmäßige Ernährung, da dadurch der
menschliche Organismus mit Kohlehydraten
überlastet würde. Joklik gibt selber zu,
daß die von mir errechneten 130 kg Kohle-
hydrate auf Kopf und Jahr zutreffend sind,
aber mit seiner Brot- und Kartoffel menge
würden dem Kopf der Bevölkerung schon
176 kg zugeführt werden, und addiert man
dazu das Kohlehydrat aus Hülsenfrüchten,
so erhöht sich diese Zahl auf 192 kg. Da-
durch erhielte der Kopf der Bevölkerung
rund 50 Proz. Kohlehydrat mehr, als vom
Standpunkt einer rationellen Ernährung ge-
fordert werden muß.
Dagegen hat sich in die Reisberechnung
der von Joklik gerügte Fehler einge-
schlichen. Der Überschuß des Imports über
den Export betrug im Jahre 1900 bei Reis
160 734 Tonnen oder auf den Kopf der Be-
völkerung 2,85 kg mit 0,14 kg an resorbier-
barem Eiweiß und 2,20 kg an Kohlehydraten.
Meine Rechnung hatte also bei Eiweiß 0,21 kg
und bei Kohlehydraten 1,67 kg zu viel er-
geben. Verrechnet man die letzteren auf
Kartoffeln und Hülsenfrüchte nach der für
sie ermittelten Proportion, so sind auf Kopf
und Jahr noch 5,53 kg Kartoffeln und 1 kg
XIX. Jahrgang. 1
Mira 1905. J
Joklik, Erhalt unter Volk genug Flelteh?
141
Hülsenfrüchte erforderlich, die 0,24 kg resor-
bierbares Eiweiß liefern, also fast genau so
viel mehr, wie durch den Reisexport der Be-
yölkerung entzogen wird. Das Schlußresultat
wird also durch die Vernachlässigung des
Reisexports nicht beeinflußt.
Durch den Eierimport, den ich unberück-
sichtigt gelassen hatte, werden dem Kopf der
Bevölkerung 2 kg Eier zugeführt. Das Ge-
wicht eines Eis beträgt im Durchschnitt 55 g,
wovon 6 g auf die Schale kommen1). Be-
rechnet man danach die Eiweißmenge, die
auf den Kopf der Bevölkerung kommt, so
erhält man 0,25 kg, und ich habe nichts da-
gegen, wenn man das Eiweißdefizit in meiner
Rechnung um diese Zahl erniedrigt. Wenn
aber Joklik die Eierproduktion Deutsch-
lands dreimal so groß annimmt wie den Im-
port, so setzt er sich in Gegensatz zu den
Tatsachen, denn die inländische Hühner-
zucht ist ganz unbedeutend, wie für Preußen
durch die Zählungen im Jahre 1897 und
1900 ermittelt worden ist.
Fische (außer Heringe) habe ich in meiner
Rechnung absichtlich nicht in Ansatz ge-
bracht, denn sie haben für das Volk den
Wert einer Delikatesse, nicht eines Nahrungs-
mittels. Durch den Fischimport werden dem
Kopf 0,16 kg Eiweiß zugeführt, und wer es
für nötig hält, mag auch diese Zahl von
meinem errechneten Eiweißdefizit abziehen.
Völlig unbegreiflich ist mir, wie Joklik
das Bier als Eiweißquelle anführen konnte.
Bier ist ein Genußmittel, und nur wenn
es in sehr großen Mengen konsumiert
wird, kann es in die Reihe der Nahrungs-
mittel einrücken. Ob das bei 125 1 schon
der Fall ist, kann ich nicht entscheiden,
aber wenn ja, dann ist es doch natürlich ein
Kohlehydrat-, kein Eiweißnahrungsmittel,
denn sein Gehalt an Kohlehydraten beträgt
nach König 5,78 Proz., an Eiweiß aber nur
0,44 Proz.9). Man müßte also zunächst die
Menge Kohlehydrate, die durch Bier dem
Kopf zugeführt wird, vom Kartoffel- und
Hülsenfruchtkohlehydrat in Abzug bringen,
den gleichzeitig dabei entstehenden Eiweiß-
verlust berücksichtigen und ihn durch das
Biereiweiß ersetzen. Tut man das, so wird
das Eiweißdefizit eher vergrößert als ver-
kleinert; ich tue es nicht und betrachte nach
wie vor Bier als Genußmittel.
Als „völlig unzutreffend" bezeichnet
Joklik meine Schlußfolgerung, daß durch
') Handbuch der Hygiene Bd. III, S. 205.
*) Joklik nimmt die Eiweißmenge des Biers
mit 1,5 Proz. an und beruft sich auf Landois; in
der mir zur Verfügung stehenden fünften Auflage
seines Lehrbuchs Kanu ich diese Angabe nicht
finden.
die schlechte Ernährung unseres Volkes der
Alkoholismus gefördert wird. Wenn das
wirklich „völlig unzutreffend u ist, so bin ich
hier der französischen Statistik zum Opfer
gefallen, wie bei der Brotberechnung der
deutschen. Aber wer auf dem Lande gelebt
hat, weiß, welche außerordentlichen Quanten
Branntwein dort von der männlichen wie der
weiblichen Bevölkerung getrunken werden,
und daß es in städtischen oder Stadt ahn liehen
Gemeinden nicht besser steht, haben die Er-
hebungen des Kollegen Goldfeld in Schöne-
berg bewiesen. Selbst schulpflichtige Kinder
leiden dort schon unter dem Genuß von
Branntwein. Für „völlig unzutreffend " kann
ich also meine Schlußfolgerung nicht halten.
Dr. Goldstein.
über Sanoform.
Von
Sanitätsrat Dr. Unger, Berlin.
Das Sanoform, der Dijodsalizylsäure-
methylester von der Formel
C6H,J2(OH)COOCH3,
von den Herren Dr. Gallinek und Dr.
Courant im Jahre 1895 dargestellt, ist ein
weißes Pulver, welches sich durch seine ab-
solute Geruchlosigkeit auszeichnet. Aus den
Versuchen von Bamberg1) in der Frauen-
klinik von Straßmann geht hervor, daß das
Sanoform durchaus ungiftig ist, sich, mit
lebendem Gewebe in Verbindung gebracht,
unter langsamer Abspaltung von Jod und
Salizylsäure löst und, da sein Schmelzpunkt
bei 110,5° C. liegt, sterilisierbar ist. Auf
der Abspaltung von Jod und Salizylsäure
beruht seine therapeutische Wirkung. Es
kann gleich dem Jodoform als Streupulver,
als Gaze, in Salben u. s.w. verwendet werden.
Den zahlreichen Veröffentlichungen von
Bamberg, Mraczek, Neumann, Gold-
schmidt u. a. über die günstigen Wirkungen
des Sanoforms will ich meine Erfahrungen mit
diesem Mittel, welche sich auf einen Zeit-
raum von über acht Jahren erstrecken, an-
reihen.
Es wurde in fast 500 Fällen, welche
zum überaus größten Teile der „kleineren
Chirurgie", zu einem geringeren der Gynä-
kologie angehören, angewendet.
Behandelt wurden damit Panaritien, Phleg-
monen, Haut- und Lymphdrüsen -Abszesse,
Ulcera crurium, Furunkel, ferner frische Riß-,
Quetsch- und Schnittwunden, Wunden nach
Entfernung von Fremdkörpern, wie Nadeln
und Holzsplitter, und nach Exstirpation
») Berl. klin. Wochenschr. 1903, No. 38.
142
Ungar, Ober Sanoform.
kleinerer Geschwülste, wie Atherome, Li-
pome, Wundflächen nach Exstirpation ein-
gewachsener Nägel, Mastitiden, Ulcera mollia
und endlich Gangraena senilis sowie Gangrän
bei Diabetes. In der gynäkologischen Tätig-
keit wurde die lOproz. sterilisierte Sanoform-
gaze zur Tamponade der Vagina und des
Uterus bei Aborten und profusen Blutungen
infolge von Uterusmyomen in Anwendung
gezogen.
Der Verlauf der Heilung bei den chirur-
gischen Erkrankungen war ein durchaus
günstiger. Die Granulationsbildung war
eine normale; Granulations Wucherungen, die
eine Ätzung notwendig machten, kamen über-
aus selten vor. Auffallend war die schnell
eintretende Einschränkung der Sekretion bei
eitrigen Prozessen.
Die bei der Tamponade der Scheide und
des Uterus verwendete Gaze war nach
24 Stunden noch völlig geruchlos, nur nach
48 Stunden zeigte sich ein Geruch, wie er
bei jeder länger liegenden Tamponade vor-
kommt.
Das Sanoform hat vor dem Jodo-
form so gewichtige Vorzüge, daß eine
weitere Prüfung dieses Mittels in chi-
rurgischen und gynäkologischen Kli-
niken wohl angebracht sein dürfte.
Diese Vorzüge sind:
1. Es ist durchaus geruchlos.
2. Lokale Nebenwirkungen, wie akute
Ekzeme und Erytheme, sind niemals beob-
achtet worden. In Fällen, wo durch Jodo-
formgebrauch derartige Erkrankungen ent-
standen waren, verschwanden diese verhältnis-
mäßig schnell beim Ersatz desselben durch
Sanoform.
3. Allgemeinintoxikationen sind selbst
bei sehr ausgiebigem und langandauerndem
Gebrauch nie eingetreten.
Nachstehende Fälle, welche ich aus der
großen Zahl der von mir behandelten heraus-
greife, mögen zur Begründung der sub 2 und
3 angeführten Sätze dienen.
Fall 1. Frau M., % Jahre alt. Am 1. Janaar
18% Gangrän der Haut, ungefähr fünfmarkstückgroß,
über dem linken Trochanter major, Trockeo ver-
band mit 10 proz. Sanoformgaze, anfänglich täg-
licher Verbandwechsel; Gangrän dehnt sich nicht
weiter aus. Vom 6. 1. an wird der Verband nur
jeden 8. Tag gewechselt. Am 22. I. ist das gan-
gränöse Hautstück abgestoßen, die reine granu-
lierende Wundfläche heilt unter dem Gebrauch von
10 proz. Sanoformvaseline bis zum 5. März voll-
kommen. Patientin ist 100 7t Jahr alt geworden.
Fall 2. Kind A. H., 4 Jahre alt Hoch-
gradige Skrofulöse. Großer Drüsenabszeß an
der Innenfläche des rechten Oberarms. 4. IX. 1900
lnzision und Auslöffelung der Drüsenreste, Ein-
streuen von Sanoformpulver, Tamponade mit Sano-
formgaze. Nach 3 Tagen Verbandwechsel, Sekretion
mäßig. Am 10. abermaliger Verbandwechsel, Wand-
sekret gering, gut aussehende Granulationen,
Heilungs verlauf in 8 Wochen.
Fall 3. Frau L. Sehr ausgedehnte, die ganze
Mamma einnehmende Mastitis in puerperio. Am
4. September 1900 in Narkose ausgiebige Spaltung,
Tamponade mit 10 proz. Jodoformgaze. Infolge der
starken Eiter- und Milchsekretion mußte der Ver-
band taglich gewechselt werden. Bereits am 5. Tage
nach der Operation stellte sich in der Umgebung
der großen Wundhöhle eine ekzematöse Dermatitis
mit leichter Temperatursteigerung (38,2° C.) ein.
Die Sekretion war gleich stark geblieben. Die
Wundhöhle wurde, da augenblicklich kein anderes
Verbandmaterial zur Verfügung stand, wieder mit
Jodoformgaze ausgestopft Beim Verbandwechsel
am nächsten Tage konnte ein Weiterschreiten der
Dermatitis festgestellt werden. Es wurde nunmehr
Sanoformgaze, die unterdessen angeschafft worden
war, angewendet, die Reizerscheinungen ließen
alsbald nach, gleichwie die Sekretion. Alsdann
normaler Verlauf, Heilung in ungefähr 3 Monaten.
Fall 4. Frau B. Partus am 23. Juni 1899.
Oberflächlicher Dammriß, der keine Suturen er-
fordert, Aufstreuen von Jodoform, Einlegen eines
Jodoformgazestreifens. Bereits am Nachmittage des-
selben Tages stellte sich allgemeines Unbehagen,
Übelkeit, starker Kopfschmerz, häufiges Niesen ein.
Keine Temperatursteigerung. Die Untersuchung
bezüglich einer Puerperalerkrankung ergab ein
negatives Resultat. Es konnte nur eine „Jodo-
formidiosynkrasie* angenommen werden. Das Jodo-
form wurde möglichst entfernt und durch Sano-
form, welches ich damals vorrätig hatte, ersetzt.
Am nächsten Tage bereits normales Allgemein-
befinden. Sanofoim wurde gut vertragen.
Fall 5. Frau T., 68 Jahre alt. Mittelgroßes
Atherom der Kopfhaut. Exstirpation desselben
am 6. Juli 1899, 3 Suturen, Jodoform gaze verband.
Am 9. klagte Pat. beim Verbandwechsel über hef-
tiges Jucken der Kopfhaut. Haut der Stirn leicht
geschwollen und gerötet, keine Temperatursteige-
rung. Nach Entfernung des Verbandes zeigt sich
eine ausgedehnte ekzematöse Dermatitis, die bereits
auf die Stirn haut übergreift. Erst am nächsten
Tage konnte Sanoformgaze als Ersatz angewendet
werden. Die Dermatitis ließ mit dem Aussetzen
des Jodoforms nach und der Heil verlauf wurde ein
normaler.
Fall 6. Frau K., 63 Jahre alt. 6. Mai 1902
ausgedehntes Ulcus crnris mit kailösen Rändern,
starker fötider Sekretion, sehr schmerzhaft Nach
gründlicher Reinigung und Desinfektion wurde das-
selbe mit Orthoform verbunden. Die Schmerzen
ließen nach. Der Veiband wurde täglich erneuert.
Nach 8 Tagen oberflächliche Gangrän, wie sie
zuweilen beim Gebrauch von Orthoform beob-
achtet worden ist. Ersatz desselben durch Sano-
form, unter welchem sich nach Abstoßung der gan-
gränösen Fläche und unter Bildung guter Granu-
lationen die Heilung in 8 Wochen vollzieht.
Fall 7. Herr L., 58 Jahre alt, kommt am
29. Dezember 1903 in die Sprechstunde. Die Unter-
suchung ergibt an beiden Füßen symmetrische
Hautgangrän, an den Fersen etwas über fünfmark-
stückgroß; eine weitere ungefähr nickel große Stelle
am Ballen der rechten großen Zehe. Die Unter-
suchung des Urins ergab 6,8 Proz. Zucker. Die
Therapie bestand in Hochlagerung, Trocken verband
mit 10 proz. sterilisierter Sanoformgaze und diäte-
tischen Maßnahmen. Die Gangrän schreitet nicht
fort und bleibt unter dem Verbände, der alle
2 Tage gewechselt wurde, vollkommen trocken.
Die Zuckermenge geht bis zum 16. Januar 1904
XIX. Jahrgang.!
Mir« 1906. J
Doberauer, Erytlpelbehandlung. — Fraoke, Bemerkungen.
143
auf 1,8 Proz., bei einer 24 ständigen Urinmenge von
etwas über 2 1, herunter. Am 19. Jannar ist eine
Temperatnreteigerung auf 38,3° G. zu konstatieren.
Pat., der sieb bis dabin wohlbefand, fühlt sich sehr
abgeschlagen, klagt über Appetitlosigkeit, Trocken-
heit im Monde u. s. w., außerdem über Schmerzen
und Brennen 'auf dem Dorsum des rechten Fußes.
Nach Abnahme des Verbandes zeigt sich daselbst
eine blaurote Verfärbung, die Haut wird gangränös
und trocknet anter der Sanoformgaze ein. Die
Gangrän schreitet auf die vordere Fläche des
rechten Unterschenkels fort in einer Breite von
3—4 cm. Bs gelingt, dieselbe unter dem Gebrauch
des Sanoforms trocken zu erhalten. Es waren in-
dessen die ersten Symptome des Coma diabeticum
hinzugetreten, an welchem Pat. am 31. Januar zu
Grunde ging.
Das Resultat meiner Beobachtungen und
dieser Auseinandersetzungen ist folgendes :
Das Sanoform hat, abgesehen von
dein großen Vorteil der Geruchlosig-
keit, bei seiner Anwendung alle Vor-
züge des Jodoforms, ist aber frei von
allen Nebenwirkungen desselben.
Zu der Mitteilung: von Prof. Franke
Aber Erysipelbehandiungr*
Von
Dr. Gustav Doberauer,
Assistent der ohlrnrg. Klinik des Prof. Dr. A.Wftlflor in Prag*.
Im Hefte 11 des Jahrganges 1904 der
Therapeutischen Monatshefte berichtet Prof.
Franke über ein von ihm seit 12 — 13 Jahren
geübtes Verfahren der Erysipelbehandlung,
bestehend in Abgrenzung durch die Lymph-
bahnen der Haut komprimierende Heftpflaster-
streifen und, wo die Applikation derselben,
wie am Kopfe, nicht gut angängig, durch
Aufpinselung von Kollodium, was denselben
Effekt gibt.
Ich erachte es als Pflicht, darauf hinzu-
weisen, daß diese Methode von meinem Chef,
Prof. Wolf ler, schon im Jahre 1888 in den
Mitteilungen des Vereins der Ärzte in Steier-
mark publiziert wurde. Weitere Beiträge zu
der Frage enthalten die Nummern 23 — 25 der
"Wien. klin. Wochenschr. 1889 und die Mit-
teilungen des Vereins der Ärzte in Steier-
mark aus dem Jahre 1891.
Das Verfahren "Wölflers, welches auch
an der Prager Klinik seit langem mit Erfolg
geübt wird, stimmt so gut wie ganz mit dem
von Franke überein, der kleine Unterschied,
daß Franke die Streifen nicht ganz zirkulär
legt, sondern eine freie Stelle läßt, welche
durch einen zweiten Streifen gesichert ist,
der die freie Stelle auf der entgegengesetzten
Seite hat, fällt so wenig ins Gewicht wie
der Gebrauch von Traumaticin bei Wolf ler
gegenüber dem Kollodium bei Franke.
Die erwähnten Zeitschriften, welche
Wolflers Mitteilungen enthalten, mochten
schließlich Herrn Prof. Franke entgehen; ich
erlaube mir aber darauf hinzuweisen, daß
Wolf] er s erste Mitteilung im Zentralbiatt
für Chirurgie 1888, No. 39 ziemlich ausführ-
lich, wenn auch nicht ganz genau, referiert
ist; ich glaube mit dieser Feststellung be-
rechtigt zu sein, auf das Prioritätsrecht
Wolflers in der bezüglichen Frage hinzu-
weisen.
Bemerkungren zu vorstehendem Artikel.
Von
Prof. Felix Franke.
Ich lianke Herrn Kollegen Doberauer
für den Hinweis auf die Tatsache, daß Herr
Prof. Wolf ler das Erysipel schon vor mir
auf gleiche Weise und mit gleichem Erfolge
behandelt hat wie ich, und gestehe Herrn
Prof. Wolf ler neidlos die Priorität zu. Ich
bedauere aber nicht, daß mir das Referat im
Zentralbl. für Chirurgie entgangen ist, denn
sonst hätte ich vielleicht meine Veröffent-
lichung unterlassen, ohne Zweifel zum
Schaden der Sache; wäre doch dann auch
nicht die Mitteilung des Herrn Doberauer
erfolgt, daß das Verfahren jetzt noch mit
Erfolg in der Prager Klinik angewandt wird.
Nun ist zu hoffen, daß es Nachahmung findet
und der Vergessenheit entzogen bleibt.
Neuere Arzneimittel.
EMe hypnotischen Eigenschaften eines
neuen Polychlorals (Yiferral).
Von
K. Wirthauer und S. Gärtner in Halle a. S.
Man hätte heute ^weniger Ursache, sich
nach neuen Schlafmitteln umzusehen, wenn
das Chloralhydrat alle Forderungen, die an
ein ideales Hypnoticum gestellt werden müssen,
. in dem Maße erfüllt hätte, wie man von ihm
| gleich nach seiner Einführung in die Therapie
; im Jahre 1869 erwartete.
Die Erfahrung weniger Jahre lehrte aber
! schon, daß seine Anwendung als Schlafmittel
I mit mehreren unangenehmen Nebenwirkungen
; verbunden ist, die seiner bedingungslosen
1 Verwendung entgegenstehen.
144
Witthau«r und Glrtatr, Polychloral (Vifwal).
fTlwraptal
L Monatsh
Monatshefte.
Man hat daher eine Reihe neuer Schlaf-
mittel eingeführt in der Erwartung, daß sie
keine schädlichen Nebenwirkungen zeigen
und aus diesem Grunde das Chloralhydrat
von seinem Platze verdrängen würden. Diese
Voraussetzung hat sich bisher in allen ge-
nügend studierten Fällen ausnahmslos als
irrig erwiesen, sodaß die Aussicht, einüniversal-
Schlafmittel zu entdecken, immer mehr
schwindet. Es bleibt dem Arzte daher nichts
weiter übrig, als in jedem einzelnen Falle
dasjenige Schlafmittel zu wählen, unter dessen
Nebenwirkungen der betreffende Patient am
wenigsten zu leiden hat.
Auch das jüngst erst als Schlafmittel
eingeführte Veronal hat, obwohl ein end-
gültiges Urteil über seine Brauchbarkeit jetzt
noch verfrüht wäre, schon lästige Neben-
wirkungen gezeigt, die seine Verwendung er-
heblich einschränken. Es sei hier bloß daran
erinnert, daß man es nur in relativ kleinen
Mengen verabreichen kann, da sich sonst all-
zulange Nachwirkungen einstellen.
Angesichts dieser Tatsachen gewann eine
Beobachtung, die ich gelegentlich meiner
Untersuchungen über Chloralaminverbindun-
gen1) machte, an Wert. Ich hatte bemerkt,
daß wasserfreies Chloral durch Pyridin in
eine neue polymere Modifikation übergeführt
wird, die möglicherweise gleich dem Chloral-
hydrat hypnotische Eigenschaften haben
konnte, ohne zugleich auch die unangenehmen
Nebenwirkungen dieses Schlafmittels zu be-
sitzen. Diese Annahme stützt sich auf fol-
gende Überlegungen:
Führt man einen einfach zusammengesetzten
Korper in eine polymere Modifikation über,
so finden sich seine ursprünglichen Eigen-
schaften nur in abgeschwächter Form am
Polymerisationsprodukt wieder, weshalb oft
nur die milder wirkenden Polymeren besonders
für therapeutische Zwecke verwendbar sind,
da die nicht polymerisierten Glieder zu giftig
wirken. Einen solchen Fall haben wir z. B.
beim Acetaldehyd, der als Schlafmittel un-
brauchbar ist, während seine polymere Modi-
fikation, der Paraldehydi als solches schon
lange Verwendung findet.
Ein ähnliches Verhältnis konnte zwischen
dem Chloral und seinen Polymeren voraus-
gesetzt werden, da es als dreifach gechlorter
Acetaldehyd diesem sehr nahe steht.
Diese Voraussetzung schien sich aber
zunächst nicht zu bestätigen, da die
hypnotischen Eigenschaften des einfachen
Chlorals nicht festgestellt werden können
und die bisher bekannten Polychlorale ent-
weder gar keine oder nur so schwache hypoo-
') Lieb. Ann. 332, 226; 336, 229.
tische Eigenschaften besitzen, daß sie als
Schlafmittel nicht in Betracht kommen2).
Warum diese Polychlorale nicht genügend
stark hypnotisch wirken, erklärt sich dadurch,
daß sie alle aus sehr hochmolekularen
Modifikationen des Chlorals bestehen, die
in allen Lösungsmitteln unlöslich und dem-
entsprechend wenig reaktionsfähig sind.
Da sich das oben erwähnte, aus Chloral
und Pyridin darstellbare Poly chloral chemisch
von den bekannten Chloralmodifikationen er-
heblich unterscheidet, war es möglich, daß
es auch physiologisch anders wirke. Damit
angestellte, weiter unten beschriebene Tier-
versuche bewiesen seine ausgesprochene
hypnotische Wirkung. Es blieb nun nur
noch übrig festzustellen, ob bei Verwendung
dieses neuen Präparates als Schlafmittel die
beim Chloralhydrat beobachteten störenden
Nebenwirkungen wegfallen. Die Untersuchung
hat diese Frage bejaht.
Was zunächst die relative Giftigkeit der
beiden Mittel anbelangt, beweisen die fol-
genden Versuche, daß das Viferral weit un-
schädlicher ist als das Chloralhydrat.
1. Versuch: Ein 4 kg schweres Kaninchen
erhielt per os 2 g Chloralhydrat, in wenig
Wasser gelöst. Dasselbe starb nach 30 Mi-
nuten unter Vergiftungserscheinungen*).
2. Versuch: Ein 4 kg schweres Kaninchen
erhielt per os 2,5 g Viferral. Nach " 30 Mi-
nuten trat tiefer Schlaf ein, der ohne Unter-
brechung 14 Stunden anhielt. Dann wachte
das Tier auf und war ebenso munter wie
vor dem Schlafe. Es fraß mit gutem Appetit.
Außer diesen beiden Versuchen sind noch
mehrere in dieser Richtung mit gleichem
Erfolge ausgeführt worden. Aus ihnen geht
hervor, daß man die Dosis des Viferrals
dem Chloralhydrat gegenüber bedeutend er-
höhen kann, ohne schädlich zu wirken.
Besonders betonen möchte ich hier,
daß infolge der Polymerisation die
stark ätzenden Eigenschaften des
Chlorals beim Viferral verschwunden
sind und eine Reizwirkung auf die
Magenschleimhaut nie beobachtet
worden ist.
Schließlich möchte ich hier noch er-
wähnen, daß das Viferral auch bezüglich des
Einnehmens vor dem Chloralhydrat im Vor-
*) Vergl. Minko Balewski, Dias. Halle a. S.
1902.
*) Das Resultat dieses Versuches ist nicht in
Übereinstimmung mit allen bisherigen Erfahrungen.
Wahrscheinlich erklärt sich dies abnorme Verhalten
dadurch, daß ein Teil das Chloralhydrates in die
Trachea gelangt ist, was bei Kaninchen leicht vor-
kommen kann. Infolgedessen ist auch die Schluß-
folgerung über die relative Giftigkeit der beiden
Präparate hinfällig. Liebreich.
XIX. Jahrgang .1
Mir« 1906. J
Wltthaucr und Glrtntr, PoljehJoral (Viferral).
145
teil ist. Während letzteres nicht in Oblaten
genommen werden kann, nimmt sich das
Viferral sehr bequem darin, wodurch der
bittere Geschmack umgangen wird. Außer-
dem wird das Einnehmen auch dadurch sehr
erleichtert, daß das Viferral in Tabletten
genommen werden kann.
Im Viferral8) haben wir demnach ein in
allen Eigenschaften verbessertes Chloralhydrat
vor uns.
Es ist ein weißes Pulver, schmilzt bei
153 — 155° nach vorherigem Sintern von
150° an und beginnt zugleich zu destillieren.
In kaltem Wasser lost es sich nur langsam,
in siedendem aber völlig auf. Wichtig ist,
daß es von schwach mit Salzsäure ange-
säuertem Wasser, also unter Bedingungen,
wie sie im menschlichen Magen vorhanden
sind, nicht merklich angegriffen wird. Von
den vielen in dieser Richtung unternommenen
Versuchen seien bloß zwei hier aufgeführt.
An-
Verhalten gegen 20 ccm
gewandte
Substanz
siedendes Wasser
allein
siedendes Wasser und
1 Tropfen Salzsaare
ig
Nach 1 Stunde trat
völlige Lösung ein
ßatte sich nach drei-
tägigem Erhitzen
nicht gelöst
Eine Umwandlung im Magen in Chloral-
hydrat ist also ausgeschlossen4).
Nachdem Herr Dr. Gärtner über die
chemischen Eigenschaften des Viferrals be-
richtet hat, gebe ich von meinen Versuchen
an dem Krankenmaterial des Diakonissen-
hauses und in meiner Privatpraxis Kenntnis.
Ich entschloß mich zu Versuchen mit dem
neuen Chloral präparat um so lieber, als ich
dem alten Chloralhydrat in vielen Fällen
trotz der vielen neuen Schlafmittel treu ge-
blieben bin, wenn ich auch seine mancherlei
Nachteile durchaus nicht verkenne. Nachdem
ich die Wirkung an mindestens 50 Kranken
verschiedenster Art erprobt habe, halte ich
mich zu einem Urteil für berechtigt.
Als der Tierversuch die Unschädlichkeit
des Mittels erwiesen hatte, begann ich vor-
sichtig die Anwendung beim Menschen mit
*/4 g pro dosi, ohne Wirkung. Nach 0,5
schlief ein Kranker mit chronischem Magen-
katarrh, der ganz schlaflos war, 2 Stunden,
ein zweiter, der an Rheumatismus mit Vitium
cordis litt, 4 Stunden, eine Neurasthenica
mit nervöser Dyspepsie 5 Stunden, eine
*) Es ist im Handel unter dem Namen Viferral
von Dr. Simon Gärtner, Halle (Saale), zu be-
ziehen.
*) Näheres über Darstellung und die chemischen
Eigenschaften des Viferrals soll demnächst an an-
derem Orte veröffentlicht werden.
Hysterica 7 Stunden; alle schliefen sehr bald
nach Einnehmen des Mittels ein. Andere
Patienten spürten aber gar keine Wirkung,
sodaß ich die Dosis auf 0,75, später auf 1,0
steigerte.
Nun wurde ein gleichmäßigerer Einfluß
festgestellt.
Frau H., 38 J. Parametritis exsudativa mit
geringem Fieber; nach 0,75 nach 2 Stunden ein«
geschlafen, schlief 8 Stunden gut und fest und er-
wachte frisch und ohne irgend eine Beschwerde,
ebenso am nächsten Abend.
S., 28 J. Nervöse Dyspepsie; nach 0,75 wird
Pat. etwas unruhig, schläft nach 4 Stunden ein,
2 Stunden Yang: am nächsten Abend 1,0, schlaft
die ganze Nacht.
R., 45 J. Chronische Arthritis; schläft nach
0,75 rasch ein, 5 Stunden lang; nach 1,0 7 Stunden.
T.f 23 J. Polyarthritis rheumat, Pericarditis,
nervöse Unruhe; schläft wiederholt nach 1,0 die
ganze Nacht und fühlt sich am nächsten Tag ge-
kräftigt und wohl.
B., 60 J. Lumbago, schlaflos; schläft nach
1,0 „bedeutend besser".
H., 55 J. Nervöse Aufregungszustände; abends
2 £ Brom, dann 1,0 Viferral, nicht geschlafen, un-
luhiff. Am nächsten Tag 3 mal 2 g Brom, abends
1,0 Viferral mit wenig Erfolg. Nun am Morgen
0,75 Viferral, 3 mal täglich 2 g Brom, abends
1,0 Viferral, wird bald ruhig und schläft gut.
Frau P., 33 J. Pbthisis pulmon.; 0,75 und
1,0 Viferral, ohne Wirkung. Nach 1,5 nach
1 '/) Stunden eingeschlafen , die ganze Nacht hin-
durch, wacht erfrischt auf.
Frau H., 42 J. Karzinose der Bauchorgane;
nach 1,5 mehrmals gut geschlafen.
Frau R., 48 J. Beginnende Paralyse; nach
1,6, 3 Tage hintereinander, n bedeutend besser als
vorher, nach 1,5 ganz gut" geschlafen.
F., 29 J. Cbron. parenchymat Nephritis mit
Aufregungszuständen; wird nach 1,0 viel ruhiger,
schläft aber nicht anhaltend.
Fr. P., 71 J. Emphysema pulmon., Myocarditis;
nach 1,0 mehrfach gut geschlafen.
S., 53 J. An Pleuraempyem operiert; nach
1,0 besser, nach 1,5 bis auf Hustenstörung ganz
gut geschlafen, ohne jede unangenehme Nach-
wirkung.
B., 60 J. Seit langen Jahren krank; Arthritis
der Wirbelsäule, hypertrophische Leber c irr hose,
Myocarditis, ist an starke Schlafmittel, z.B. 2g
Chloralhydrat und 2 g Brom, Morphium 3 '/» cg sub-
kutan, Bromidin 3Theelöffel, gewöhnt; er tchläft
'nach 1,0 Viferral 5 Stunden, doch maß die Dosis
allmählich auf 2 g gesteigert werden. Erwacht
ohne Benommenheit, während er nach Chloral oft
längere Zeit wirr war und über Kopfschmerzen
klagte.
Frl. F. Chlorose, dauernde Schlaflosigkeit;
schläft nach 1,5 ausgezeichnet.
Fr. B., 38 J. Nervöse Dyspepsie. Hysterie;
schläft nach 1,0 gut.
Ich will die Leser nicht noch weiter mit
Krankengeschichten ermüden und nur noch
einige Bemerkungen anschließen:
Es ist schon einmal von Balewski über
ein von Dr. Erdmann-Halle erfundenes poly-
meres Chloral, das Metachloral, berichtet
worden, dasselbe erwies sich jedoch als ziem-
146
Referate.
rTherapautiielM
L Monatshefte.
lieh unwirksam. Das Viferral ist dagegen
ohne Zweifel ein gutes Hypnoticum, welches
ich dem Trional, Sulfonal, Veronal und
Hedonal getrost an die Seite stellen möchte;
dabei ist es viel billiger! Es macht nach
meinen Erfahrungen nicht die geringsten
Nebenerscheinungen und speziell Störungen
der Herztätigkeitkonntenniebeobachtet werden,
obwohl ich es bei schweren Klappenfehlern
anwandte. Nur ganz selten klagten die
Patienten am nächsten Morgen über geringen
Kopfdruck. Auch der Magen wurde nie
ungünstig beeinflußt, was ja nach den
Ausführungen des Herrn Dr. Gärtner nicht
Wunder nimmt.
Die Patienten schliefen meist ziemlich
rasch ein; der Schlaf war tief und erquickend.
Der Geschmack des Mittels ist kein an-
genehmer; das Viferral wird aber nicht in
Wasser gelost, sondern in Oblate genommen,
sodaß der Geschmack nicht in Frage kommt,
oder man spült es in Tablettenform rasch
mit einem Schluck Wasser oder noch besser,
mit Zitronenwasser hinunter. Durch saure
Losungen wird es nicht oder nur sehr lang-
sam zersetzt. Der Erfinder wird voraussicht-
lich das Mittel in Tabletten zu 1 g abgeben.
Als Minimaldosis für Erwachsene würde
ich 0,75 bis 1,0 bezeichnen, doch empfiehlt
es sich, im Fall nicht genügender Wirksam-
keit, auf 1,5 bis 2,0 g zu steigen. Höhere
Dosen habe ich nicht versucht, glaube aber,
daß man nötigenfalls mehr geben darf.
Bei längerem Gebrauch scheint eine ge-
wisse Gewöhnung an das Mittel einzutreten,
sodaß es sich empfiehlt, es nicht lange Zeit
hintereinander zu geben.
Indiziert ist das Viferral bei allen Formen
der nervösen Schlaflosigkeit, bei welchen
keine starken Aufregungszustande und keine
Schmerzen vorhanden sind. Es scheint ja,
als wenn wiederholte Dosen auch auf
stark aufgeregte Kranke günstig wirkten,
doch fehlte mir das Material zu weiteren
Versuchen.
Der Preis wird ein relativ geringer
sein; 10 Tabletten zu 1 g werden 1,25 M.,
6 Tabletten zu 1 g etwa 75 Pf. kosten, so-
daß das Mittel jedermann zugänglich ist.
Meine kurzen Ausführungen sollen die
Kollegen auf dies neuere Schlafmittel auf-
merksam machen und zur Nachprüfung an-
regen; ich hoffe, daß es sich in unserm
Arzneischatz einbürgern wird.
Referate.
l. Der Einfloß der Krankenvertorfung auf die
Bekämpfung der Tuberkulose alt Volkskrank-
heit. Von Prof. Dr. Ludolf Brauer (Heidel-
berg).
a. Anzeigerecht, Anzeigepflicht und Morbiditätt-
statistik der Tuberkulose. Von Prof. Dr. Ludolf
Brauer (Heidelberg). Beiträge zur Klinik der
Tuberkulose, Bd. II, Heft 2, 1904.
Brauer bezeichnet sich selbst als „nichts
weniger denn einen orthodoxen Bakteriologen"
und ist in der Tat entschieden der letzte, dem
Faktor der Disposition gegenüber der Infektion
nach Maßgabe mehr oder weniger berühmter
Muster jede Bedeutung abzusprechen. Wenn er
dem Ref. in dieser Hinsicht nicht weit genug
geht, indem er praktisch in der Verhinderung
der Infektion das ausschlaggebende Moment in
der Bekämpfung der Tuberkulose als Volks-
krankheit sieht, so steht Brauer, der sich mit
schonungsloser Offenheit gegenüber dem ver-
hätschelten Lieblingskinde der modernen Wohl-
fahrtsbestrebungen die Frage vorlegt: „Was will
die heutige Heilstuttenbewegung ? was leistet
sie? was kaon sie leisten?", doch hoch über
dem Verdachte, durch einen der heute so beliebten
seichten Kompromisse der Entscheidung für eine
oder die andere der sich bekämpfenden Meinungen
aus dem Wege zu gehen. Und wenn den vom
Standpunkte des hochgeschätzten Autors sich
folgerichtig ergebenden Konsequenzen gegenüber
der Referent manches schwerwiegende Bedenken
zu äußern nicht unterlassen kann, so verhehlt
er sioh auf der anderen Seite die Notwendigkeit
nicht, die Diskussion über die von jenem an-
geregten strittigen Fragen nicht zur Ruhe kommen
zu lassen, ehe wir uns in der Illusion wiegen,
im Besitze jener Wahrheit zu sein, die, über
den entgegengesetzten Meinungen schwebend,
vielleicht erst kommenden Generationen das
Dunkel, das über diesen Gebieten lagert, zu
erhellen vermag.
Nach den Ausführungen des Verf. fehlt uns
bisher jede Unterlage für ein Urteil darüber,
ob und inwieweit nach Maßgabe des jetzigen
Aufnahmematerials von einer Heilwirkung der
Heilstätten überhaupt gesprochen werden kann.
Vielmehr ist es trotz der entgegenstehenden
Behauptungen nicht zu bezweifeln, daß von den
ganz initialen Fällen ein Teil auch ohne oder bei
der einfachsten Behandlung ausheilt und nicht
selten sogar unter recht ungünstigen äußeren
Verhältnissen nie zu einer erwerbsbeschränkenden
Erkrankung für den befallenen Menschen wird.
Andererseits sieht Brauer einen Nutzen
der Heilstätte für die noch nicht Erkrankten
einmal darin, daß etwa ]/3 der an bazillen-
haltigem Auswurf leidenden Kranken (20 bis
40 Proz. der Aufgenommenen) während der Kur
bazillenfrei werden, und dann auch darin, daß
die anderen 2/3 dieser Kategorie infolge des
XIX Jahrgang/1
Mira 1905. J
Referate.
147
erzieherischen Einflusses der Heilstätte später
eine weit mindere Gefahr für die Umgebung
bilden. Denn diese besteht eben in den Augen
des Verf. bei langem und engem Zusammensein
mit Schwindsüchtigen in der Familie wie im
Berufsleben, indem die Infektionen, die als
gelegentliche den Erwachsenen im Durchschnitt
wenig gefährden, bei ständiger Wiederholung
die Widerstandskraft des Organismus schwächen
und eine Entwicklung der manifesten Erkrankung
herbeiführen.
Von diesem Standpunkt aus sieht er auch
bei der Erfolglosigkeit jedes Versuches, unter
den heutigen Verhältnissen durch Hebung der
sozialen Lage oder Änderung der Lebensgewohn-
heiten die Disposition, die ihm übrigens wesent-
lich als mangelnde Giftfestigkeit erscheint, zu
beschränken, in der Verringerung der An-
steckungsmöglichkeit die wesentliche Aufgabe der
auf Ausrottung der Tuberkulose als Volkskrank-
heit gerichteten Bestrebungen, im allgemeinen
und der Heilstätten, die der zeitgemäße Ausdruck
jener sind, im besonderen.
In diesem Sinne muß nach Brauer ebenso
eine zu rigorose Ablehnung der ernster Er-
krankten, wie auch eine zu liberale Aufnahme
— Fehler, in die man nach beiden Richtungen
hin heute verfällt — vermieden werden. Man
wird, auch wenn man die Verhältnisse von einem
ganz anderen Gesichtspunkte aus betrachtet, diesen
Forderungen unbedingt zustimmen können. Die
Heilstätten der Landesversicherungsanstalten nun,
deren sogen. Dauererfolge sich darauf stützen,
daß der Eintritt einer Erwerbsunfähigkeit der
Pfleglinge unter ein Maß von 3373 Froz. einst-
weilen hinausgeschoben ist, entsprechen den
Zielen eines „Volksschutzmittels.", wie es Verf.
im Auge hat, überhaupt nicht, solange sie nicht
Mittel und Wege gefunden haben, die Interessen
der Versicherungsanstalten mit denen der öffent-
lichen Wohlfahrt in dem erwähnten Sinne in
Einklang zu bringen.
Den Zwecken der Belehrung und Erziehung
auf der einen, der Abtrennung von der Um-
gebung auf der andern Seite aber wird in weit
vollkommenerer Weise durch Unterbringung aller
Schwerkranken in geschlossene Pflege, durch
die altbewährte Erankenhausbehandlung (selbst-
verständlich unter Schaffung besonderer Tuber-
kulosestationen) und durch Verweisung aller
leichter Erkrankten in Heimstätten Rechnung
getragen, welche letztere mit größter Einfachheit
in Einrichtung, Betrieb und Verpflegung und
nicht zu großer Einschränkung der Bewegungs-
freiheit nach außen verbunden sein müßten.
Brauer hält es für sehr förderlich, daß
man diejenigen Kranken, welche aus dem Hause
oder aus geschlossenen Fabrikräumen entfernt
werden sollten, mit ihrem Einverständnis schon
vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit invalidisieren
dürfte und daß alsdann die Versicherungsanstalt
als Äquivalent für diese vorzeitige Zuwendung
von den Kranken die Übersiedelung in eine
Heimstätte, resp. den Übergang in einen Beruf
verlangen würde, in welchem sie die Gesundheit
nicht gefährden. Verf. plaidiert für eine möglichst
große Zahl auf die verschiedenen Gemeinden
verteilter und dementsprechend kleiner Heim-
stätten, um den Kranken einen gewissen Konnex
mit den Ihrigen und ihrem Berufe zu ermög-
lichen. Die ärztliche Leitung derselben sollte
dem Arzte des Ortes übertragen werden.
Die Schwerkranken will Brauer einerseits
durch zweckmäßige Versorgung der Familien,
andererseits durch einen behördlich auszuübenden
Zwang der Pflege in einer geschlossenen Kranken-
anstalt zuführen. Das in einzelnen Bundesstaaten,
wie z. B. in Baden, statuierte Anzeigerecht der
Ärzte für Tuberkulosefälle scheint . dement-
sprechend in eine Anzeigepflicht verwandelt
werden zu sollen ! Gegen diese praktische
Konsequenz möchte sich Ref., so sehr er sich
der ernsten und durchdachten Auffassung der
Situation seitens des Autors gerecht zu werden
bemüht, aufs äußerste sträuben. Durch ihre
opferfreudige Mitarbeit an der praktischen Aus-
führung der sozialen Gesetzgebung ist ja die
auf einer gewissen geheiligten Tradition be-
ruhende Anschauung von dem wahren Wesen
und Kern des ärztlichen Wirkens den Vertretern
unseres Standes verloren gegangen, denen jetzt
zwei Seelen in der Brust wohnen, die des für-
sorglichen Helfers, Beraters und Freundes des
Kranken, d. h. des Arztes im früheren Sinne —
und die des Medizinalbeamten, oder sagen wir,
des Medizinalpolizisten. Beide mögen ein und
demselben erhabenen Ziele, der Förderung der
menschlichen Wohlfahrt, zustreben — aber, um
des Himmels willen, reinliche Scheidung ! Vereint
schlagen, aber getrennt marschieren ! Der letzte
Rest von Vertrauen zum Arzt wäre dahin, und
das Doppelbewußtsein würde unendliche seelische
Konflikte heraufbeschwören ! Trotzdem aber an
idealen Aufgaben der heutigen sozialen Medizin
mitzuarbeiten wird eine derartige Auffassung
seines Berufes den Arzt nicht hindern, wenn er
von dem Streben beseelt ist, seinen Kranken
nicht nur ein verschwiegener Freund, sondern
auch ein Lehrer und Erzieher zu sein.
Eschle (Sinsheim).
(Aus der med. Universitätsklinik in Greiftwald.)
Zar Heilbehandlung der Tuberkulose. Von Dr.
Oscar Prym, ehemaligem Assistenten der
Klinik.
Die Frage nach dem Werte der Heil-
behandlung ist noch unentschieden, da die viel-
fachen Nachprüfungen bisher keine übereinstim-
menden Resultate ergeben haben. Daher dürften
weitere zuverlässige Beobachtungen willkommen
sein. In der Greifswalder Universitätsklinik hielt
man sich hinsichtlich der Technik der intra-
venösen Injektion und der Höhe und Aufeinander-
folge der Dosen an die Vorschriften Landerers.
Als Maximaldose hat man zunächst 25 mg,
später nur 8 — 15 mg betrachtet. Mit Hetol be-
handelt wurden 22 Fälle, davon 19 Fälle von
Lungentuberkulose und 3 von Blasentuberkulose.
Besserung wurde während der Hetolanwendung
in 5 Fällen konstatiert. In 9 Fällen war keine
Wirkung zu erkennen, und bei den übrigen
8 Fällen traten geradezu ungünstige Erscheinun-
gen während der Behandlung auf. Die Technik
der intravenösen Applikation des Mittels ist
148
Referate.
nrherftpeutleclie
L Monatsheft«.
nach Verf. Ansicht ohne Schwierigkeit and an
8 ich ungefährlich. Eine potentielle Wirkung des
Hetols auf tuberkulöse Prozesse ist zweifellos;
doch ist dieselbe keineswegs ausschließlich eine
günstige. Nicht ganz selten hat man auch den
Eindruck eines schädlichen Einflusses.
(Münch. med. Wochenschr. 44, 1904.) R.
Zur Behandlung der Lungentuberkulose nach
Landerer. Von Dr. F. Schräge (Timmel).
Schräge wendet die intravenösen Hetol-
injektionen seit dem Jahre 1900 an. Er hat
gefunden, daß das Hetol ein Mittel von hohem
therapeutischen Werte ist, welches auch durch
Anwendung in der Sprechstunde eine Anzahl
von Phthisen zu heilen vermag. Auf die Aus-
wahl der Fälle kommt, namentlich für die am-
bulatorische Behandlung sehr viel an. Letztere
soll sich beschränken auf beginnende Phthisen.
Selbst kleine Kavernen ohne Fieber sind nicht
von der ambulatorischen Behandlung ausge-
schlossen. Nicht geeignet dafür sind Fälle von
galoppierender Schwindsucht und alle weiter
vorgeschrittenen Fälle, welche ausschließlich in
Sanatorien behandelt werden sollten. Vorsicht
ist bei vorhandener Neigung zu Haemoptoi'* ge-
boten. Die Hauptsache für eine erfolgreiche
Heilbehandlung ist also unbedingt die möglichst
frühzeitige Diagnose. Zur Begründung seiner
Ansicht über den günstigen Einfluß der Heil-
behandlung führt Schräge einige Kranken-
geschichten an.
(Münch. med. Wochenschir. 44, 1904.) R.
(Ans der medizinischen Klinik der Universität Zürich.)
Indikationen und Methodik der Digitalistherapie.
Von Prof. Dr. Hermann Eichhorst.
In einem klinischen Vortrage setzt Eich-
horst in anschaulicher Weise seine Ansichten
über Indikationen und Methoden der Digitalis-
therapie auseinander.
Digitalis ist das Herzmuskel tonicum, welches
weitaus am schnellsten und sichersten den er-
matteten' Herzmuskel stärkt. Es ist daher das
souveräne Mittel bei allen Arten von Herz-
muskelschwäche infolge von Erkrankungen der
Herzklappen und des Herzmuskels, des Herz-
beutels, der Herzarterien, der Aorta. Ein theo-
retisch konstruiertes Verbot der Digitalisanwen-
dung bei Erkrankung der Aortenklappen ist
nicht begründet. Ferner kann Herzmuskel-
schwäche die Folge von chronischer Erkrankung
der Respirationsorgane (Emphysem, chronischer
Bronchialkatarrh) oder der Niere (Schrumpfniere)
sein; auch hier ist die Digitalistherapie von
günstigstem Erfolge, ebenfalls, wenn durch Toxin-
wirkung bei Infektionskrankheiten Herzmuskel-
schwäche eingetreten ist. Die Digitalis ist auch
dann am Platz, wenn allgemeine Körperschwäche,
wenn Gifte, z. B. übertriebener Kaffee-, Thee-,
Alkohol- , Tabakgenuß oder psychische Erre-
gungen den Herzmuskel geschädigt haben.
Ob der Digitalis ein Einfluß auf die Herz-
nerven zuzuschreiben ist, ist zweifelhaft; jeden-
falls sind die Erfolge der Digitalistherapie bei
nervösen Herzerkrankungen höchst unsicher.
Ist der Herzmuskel bereits stark anatomisch
verändert, ist er fettig oder bindegewebig ent-
artet, so wird von der Digitalistherapie nicht
viel zu erwarten sein; trotzdem wäre es un-
richtig, in jedem Falle von vornherein auf das
Mittel zu verzichten, erfährt man doch nicht
selten durch die Obduktion, daß auch ein ana-
tomisch stark erkrankter Herzmuskel lange Zeit
und häufig den Einflüssen der Digitalis ge-
folgt ist.
Ein spezifischer Einfluß der Digitalis auf
gewisse Krankheiten, z. B. fibrinöse Pneumonie,
ist nicht vorhanden. Hier wirkt sie nur dann,
wenn Anzeichen von Herzmuskelschwäche vor-
liegen.
Auf der Züricher Klinik gelangt die Digi-
talis seit Jahren nur als Blätterpulver in folgen-
der Formel zur Verwendung:
Rp. Foliorum Digitalis pulverat. 0,1
Diuretini 1,0
Sacchari 0,3
S. Dreimal täglich ein Pulver zu nehmen.
Die Wirkung tritt nach den Erfahrungen
Eichhorsts viel schneller, sicherer und freier
von unangenehmen Nebenwirkungen ein, als
wenn die anderen Zubereitungen: das Infus, die
Tinktur, das Fluidextrakt, das Golazsche Digi-
talisdialysat verordnet werden. Über das Digalen
Cloetta fehlen noch Erfahrungen. Auch von
der Wirkung der Digitalisglykoside hält Verf.
nicht viel und kann ihren Nutzen dem des
Blätterpulvers nicht gleichsetzen.
In der Gabe soll man nicht zu vorsichtig
sein; 0,1 g 3 mal täglich erscheint für den Er-
wachsenen als zweckmäßigste und ausreichendste
Menge. Kleinere Gaben sind häufig unwirksam
und gewöhnen den Herzmuskel auch vielfach an
das Mittel. Höhere Dosen können nicht selten
Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen hervor-
rufen.
Im Durchschnitt kann man 30 Pulver, also
10 Tage lang hintereinander verabreichen, doch
kann diese Zahl auch ohne Bedenken über-
schritten werden. Bei vielen Herzmuskelkranken
(Alkohol-, Tabak-, Gichtherz, Arteriosklerose der
Kranzarterien) ist der chronische Digftalisgeb rauch
von ganz besonderem Vorteil, doch wird man —
oft viele Wochen lang — nur zwei oder ein Digi-
talis-Diuretinpulver pro die nehmen lassen. Eine
kumulative Wirkung hat man nicht zu fürchten,
wenn man diese Dosen einhält.
Unangenehme Nebenwirkungen bleiben auch
bei dieser Verordnung nicht immer aus, doch
lassen sie sich auch bei empfindlichen Kranken
vermeiden, wenn man das Pulver in Oblaten-
kapseln eine Stunde nach der Mahlzeit reicht
und Kaffee mit etwas Kognakwasser nachtrinken
läßt. Auch das Cloe Masche Digalen ist keines-
wegs frei von dieser üblen Nebenwirkung.
Die Wirkung macht sich oft schon in den
ersten 24 Stunden bemerkbar. Ist nach 48
Stunden kein Erfolg zu erkennen, so ist es
zweifelhaft, ob überhaupt Digitalis von Nutzen
ist. Zuweilen wirkt indes die Digitalis erst bei
dem folgenden, ja bei dem dritten oder vierten
Versuch. Ein geschwächter, überdehnter Herz-
muskel ist erst nach anhaltender Bettruhe im
stände, auf Digitalis zu reagieren.
XIX. Jftbrgaaf .1
Mir» 190R. J
Referate.
149
Zuweilen, bei hochgradiger Cyanose und
Atemnot, ist Digitalis mit Exzitantien: Kognak,
Wein, Champagner oder Kampfer zu verordnen.
Der Kampfer wirkt sicherer als Oleum oampho-
ratum subkutan, als wenn er in Pulverform dem
Digitalispulver beigemischt wird. Bei Infektions-
krankheiten ist Digitalis bei bedrohlichen Graden
von Herzmuskelschwache mit Koffein zu kom-
binieren :
Rp. C offein o-Natrii salicylici
Glycerini
Aquae destiilatae «a 5,0
S. 1 — 3 Spritzen subkutan.
Der Erfolg der Digitalistherapie äußert sich
zuerst im Ansteigen der Harnmenge, zugleich
schwinden die Hautödeme und die ödem at Ösen
Ansammlungen in den serösen Höhlen. Der
Herzschlag wird langsamer, regelmäßiger, der
Puls größer und kräftiger.
Steigt die Harnmenge sAnell auf eine be-
deutende Höhe, so können Resorptionsdelirien
auftreten : es werden im Überschuß toxische
Stoffe in das Blut aufgenommen, die nun zu
einer Art von Autointoxikation führen.
In jedem Falle ist der Kranke während des
Digitalisgebrauches vom Arzte sorgfältig zu über-
wachen. Sinkt, der Puls unter 60 Schläge in
der Minute, so ist die Darreichung sofort zu
unterbrechen, da sonst Angst- und Ohnmachts-
anwandlungen, Muskelzuckungen und Cheyne-
Stokesschcr Atemtypus auftreten können. Auch
bei Herzbigeminie, namentlich im Verlauf von
Mitralklappenfehlern, kommt es leicht zu Hirn-
erscheinungen, weshalb auch hier sofort Digitalis
auszusetzen ist.
(Deutsche med. Wochenschrift No. 2, 1905.)
Jacobson.
Kasuistischer Beitrag zur therapeutischen An-
wendung des Dr. Aronaonschen Antistrepto-
kokkenseruma. Von San. -Rat Dr. R. Klein
(Berlin).
Zwei Fälle von schwerer allgemeiner Sepsis,
in denen die lebensrettende Wirkung des Aron-
son sehen Antistreptokokkenserums evident zu
Tage trat, teilt Klein mit.
Ein Knabe von 8 Jahren war an Pneu-
monie erkrankt. Am 5. Krankheitstage traten
profuse, aashaft stinkende, dünnflüssige Stühle
und Meteorismus auf; zugleich war das Sen-
sorium getrübt, der Puls klein und frequent,
häufig aussetzend, die Zunge trocken, die Lippen
waren mit Borken bedeckt, das Hautkolorit
nahm gelblichen Ton an, die Gesichtszüge ver-
fielen. Es wurden nun 30 g Antistreptokokken-
serum injiziert und diese Injektion am folgenden
Tage wiederholt. Am nächstfolgenden Tage war
das Sensorium frei, die Zunge feucht, der Puls
kräftig und die Temperatur, die bisher 40° und
mehr betragen hatte, fiel von nun an innerhalb
zweier Tage bis zur Norm. Zugleich war die
Diarrhöe geschwunden und das Allgemeinbefinden
hatte sich wesentlich gebessert. Die Pleuro-
pneumonie bestand weiter fort und war erst
nach Ablauf von 4 Wochen geheilt.
Der zweite Patient litt an Blasenblutungen
infolge eines Blasenpapilloms. Ohne erweisbare
Ursache trat plötzlich eine Epididymitis mit
Fieber auf, welche in wenigen Tagen zurück-
ging. Es entwickelte sich darauf unter erneutem
Temperaturanstieg bis 39,3° eine Orchitis; der
Puls wurde frequent und schnellend, leichte Be-
nommenheit, wiederholtes Erbrechen galliger
Massen. Am folgenden Tage glich das Krank-
heitsbild einem schweren septischen Zustand:
tiefe Somnolenz, träge reagierende weite Pupillen,
gelbliche Hautfarbe, verfallene Gesichtszüge,
trockene Zunge, Meteorismus, Puls 120. Am
Nachmittage erhielt Pat. 100 g Serum mit dem
Erfolge, daß am nächsten Tage das Sensorium
völlig frei, das Fieber geschwunden, die Zunge
feucht war und der Meteorismus nachgelassen
hatte; Puls 80. Einige Tage später trat von
neuem ein Temperaturanstieg auf, 38,8°, unter
gleichzeitigen doppelseitigen pleuritischen Er-
scheinungen. Auf eine Injektion von 60 g
Antistreptokokkenserum erfolgte lytischer Ab-
fall; am 9. Tage war Pat. fieberfrei.
Auf Grund dieser beiden Fälle empfiehlt
Verf. bei schweren Infektionszuständen,
die klinisch selbst nur ein dem septi-
schen Charakter ähnliches Bild zeigen,
angelegentlich das Aronsonsche Serum.
(Berliner klin. Wochenschrift No. 3, 1905.)
J.Jacobson.
Weitere Berichte aber das Collargol. Von Dr.
Stachowski, Kotterbach.
Verf. sah nach Injektionen von 0,05 Col-
largol, die meist einmal wöchentlich gegeben
wurden, günstige Erfolge bei Sepsis, akuten Pneu-
monien und bei hochgradiger Tuberkulose. Den
Effekt bei der letztgenannten Krankheit führt er
auf Bekämpfung der Mischinfektion zurück. Er
empfiehlt streng aseptische intravenöse Einfüh-
rung des Mittels.
(Pester mcd.-chirurg Presse 1904, No. 32.)
Esch (Bendorf).
Die Prophylaxe der Malarja.
Auf der diesjährigen Versammlung der
British Medical Association zu Oxford stand die
Prophylaxe der Malaria auf der Tagesordnung
der Sektion für Tropenkrankheiten. Ein be-
sonderes Interesse beanspruchten die Experi-
mente, welche in Mian Mir in Indien an-
gestellt waren, um die Malaria im großen zu be-
kämpfen. Die Herren James und Christoph er s
vom indischen Sanitätsoffizierkorps, welche jene
Versuche in den Jahren 1902 und 1903 aus-
geführt hatten, berichten selbst darüber; die
Herren Stephens, Roß und Sewell fügen
weitere Mitteilungen und kritische Bemerkungen
hinzu.
Mian Mir ist ein von Malaria stark heim-
gesuchter Distrikt von vier (engl.) Quadrat-
meilen im Pundschab. Der Feldzug, den James
und Christophers gegen die Malaria eröffneten,
bestand darin, daß die Bewässerungskanäle ge-
reinigt, ihre Ufer geebnet, alle Vegetation daraus
entfernt wurde; stehende Wassertümpel wurden
entweder ausgetrocknet oder ausgefüllt; wo sich
Larven von Anopheles im Wasser fanden, wurden
sie durch Aufgießen von Petroleum vernichtet.
150
fTherftpeatUcfc*
L Monatshefte.
Es wurden auf diese Weise nachweislich Mil-
lionen von Larven abgetötet. Derartige in großem
Maßstabe angelegte Versuche waren bisher noch
niemals ins Werk gesetzt worden. Man mußte
deshalb auf das Ergebnis sehr gespannt sein.
Dieses war aber nur äußerst gering, ja fast ganz
negativ: die Zahl der Erkrankungen an Malaria
war im nächsten Jahre nicht wesentlich geringer
als vorher. Die Referenten suchten die Gründe
für das Mißlingen zu ermitteln; ein Hauptgrund
war offenbar der, daß die Anopheliden in zu
großer Menge von anders woher wieder herbei-
strömten, sodaß die getöteten bald ersetzt waren.
Jedenfalls lehrt dieser, wenngleich negative
Erfolg, daß zur Bekämpfung der Malaria durch
Abtötung ihrer Keime und deren Träger in einem
durchseuchten Gebiet in den Tropen noch weit
umfassendere und für längere Zeit durchzu-
führende Maßregeln erforderlich sind.
(British tnedical Journal 1904, 10. Sept.)
Classen (Qrube i. H.J.
Die Behandlung des Diabetes. Klin. Vorträge von
Prof. Enrico de Reusi, Direktor der ersten
med. Klinik zu Neapel.
Der Autor findet sich bezüglich des Wesens
des Diabetes mit der Anschauung ab, daß zu
den Affektionen mit verlangsamtem Stoffwechsel
ferner Bradytrophismus zu zählen sei, wozu
auch Gicht und Fettleibigkeit gehören, also die
von Epstein sogenannte Trias, miteinander zu-
sammenhängende Stoffwechselerkrankungen. Da-
nach sind die Vorschriften der Behandlung für
den Autor relativ einfach, umsomehr, als er den
Diabetes durch Alteration des Pankreas und
„ anderer Organe" völlig beiseite stellt.
* Von diesem Standpunkt aus empfiehlt er
einfach eine Einschränkung der Ernährung im
ganzen genommen, wie dies denn auch schon
vielfach von anderen Autoren, zuletzt bei
schwerem Diabetes von N a u n y n empfohlen
worden ist. Und dann tritt er besonders für
die grünen Gemüse ein, die, obwohl nicht kohle-
hydratarm, doch ungemein gut von Diabetikern
vertragen werde. Außerdem hat er die Erfah-
rung gemacht, daß dnrch die Lävulose, wie früher
schon Külz und andere fanden, besser als sonst
Zucker assimiliert werden. Auch Obst gestattet
er in verhältnismäßig großer Menge, nicht aber
Kartoffeln. Er ist ein Gegner der internen Be-
handlung, auch des Jambuls, nur vom kohlen-
sauren Natron, aber in großen Dosen, will er
einen günstigen Einfluß auch auf die A cid ose
gesehen haben. Von der Einschiebung eines
Fasttages bei schweren Fällen verspricht Reusi
sich nicht viel, an solchen Tagen sollten wenig-
stens grüne Gemüse zugelassen werden.
(Berl klin. Wochenschr. 1904, No. 46.) H. Rosin.
Ober die Behandlung des Keuchhustens mit Ari-
stochin. Von Dr. A. Bargebuhr (Hamburg).
Bargebuhr hat Aristochin, ein Chinin-
derivat, in 32 Fällen von Pertussis angewandt.
In 26 Fällen hat er gute Erfolge zu verzeichnen
gehabt. Es handelte sich um Kinder von
3 Mon. bis zu 6 Jahren, in einem Falle um eine
28jährige Frau, die 3 mal 0,5 erhielt und bei
der eine ausgezeichnete Wirkung eintrat. Es
wurde 0,1 bis 0,2 bis zur Wirkung aufsteigend,
dann wieder abfallend, in dos Getränk gemischt
oder mit gleichen Teilen Zucker von den Kindern
gern genommen. Üble, den anderen Chinapräparaten
eigentümliche Nebenwirkungen hat Bar gebühr
niemals wahrgenommen; er empfiehlt daher
dieses Präparat angelegentlichst zur Nachprüfung,
zumal da es differentialdiagnostisch für die
Anfangsstadien des Keuchhustens und für ein-
fache Bronchitis verwertbar ist, denn die Bron-
chitis wird von Aristochin nicht beeinflußt.
(Deutsche med. Wochenschr. 1904, Nr. 27.)
Arthur Rahn (Collm).
Weitere Erfahrungen mit dem Sirupus Colae
compositus Hell, Von Dr. Julius Flesch.
AufGrund dreijährig er Erfahrungen empfiehlt
Flesch von neuem den Sirupus Colae com-
pos. Hell. Was* die Kontraindikationen anbe-
langt, so läßt Verf. nur die arteriosklerotischen
Zustände gelten, während das Präparat bei Nei-
gung zu Hämoptoe entgegen den früheren An-
schauungen des Verf. nicht nur ohne Schaden,
sondern sogar mit Nutzen bei den hier nicht
selten auftretenden funktionellen nervösen Reiz-
zuständen gereicht werden kann; unter seinem
Gebrauch wird die Herzaktion ruhiger, die
Palpationsgefühle schwinden, eine Blutdruck-
steigerung ist nicht zu befürchten.
Vorzügliche Erfolge sind mit dem Sirup
bei allen anämisch- chlorotischen Zuständen im
Pubertätsalter zu erzielen: der Hämoglobin gehalt
steigt, die Appetenz hebt sich und das Körper-
gewicht nimmt zu. Ganz besonders deutlich
wird der Erfolg, wenn sein Gebrauch mit Liege-
kur und Überernährung kombiniert wird. Ebenso
sicher ist die Wirkung des Kolasirupes bei
allen Formen der nervösen Agrypnie. Die per-
manenten Kopfschmerzen und die Schlaflosigkeit
verlieren sich schon innerhalb weniger Tage.
Als Normaidosis sind drei Kaffeelöffel pro
die zu bezeichnen, doch kann die Dosis auch
auf vier gesteigert werden. Kinder sollen vor
Ende des zweiten Lebensjahres den Sirup nicht
erhalten, ältere Kinder nehmen dreimal täglich
sovielmal 5 Tropfen, als sie Jahre zählen, am
besten in Fruchtsaft oder Zuckerwasser gelöst.
Zur Bekämpfung der nervösen Zustände von
Diabetikern hat Verf. Pilulae Colae compositae
Hell herstellen lassen, von denen eine jede
0,0015 g Strychnin, 0,05 g Chininum ferro-
citricum, 0,5 g Kolaextrakt und 0,5 g Glyzerin-
phosphat enthält. Dosis 3 bis 4 Pillen pro die.
(Wiener klinisch-therapeut. Wochenschr. No. 30, 1903.)
Jacobson.
Petroleum als Heilmittel nach dreißigjähriger Er-
fahrung. Von Dr. A. D. Binkerd in West-
Monterey (Pennsylv.).
Binkerd hat das Petroleum zuerst rein
empirisch als Linderungsmittel in einem Falle
von trockenem Bronchialkatarrh mit Atembe-
schwerden gegeben und zwar mit sehr gutem
Erfolg: der Stridor beim Atmen verschwand,
ebenso die Cyanose und sogar das Fieber. —
Die besten Erfahrungen hat Binkerd jedoch
XIX. Jahrgang.!
Mar« IHQfi. J
Referate.
151
mit dem Petroleum als innerem Antisepticum an
sich selbst gemacht. Durch täglichen Gebrauch
Ton rohem Petroleum, einige Tropfen mehrmals,
bald vor, bald nach den Mahlzeiten, gelang es
ihm, eine chronische Verdauungsstörung mit
Durchfällen, Blähungen, Hämorrhoiden und
Mastdarm Vorfall, die bereits zu Herzschwäche
und allgemeiner Erschlaffung geführt hatte,
völlig zu beseitigen. Das Petroleum wurde von
dem Magen ohne jegliche Beschwerden ver-
tragen, trotzdem daß Verf. es zwei Jahre hin-
durch täglich ' eingenommen hatte. Es wird
nicht resorbiert und assimiliert, sondern es
passiert unzersetzt den Darmkanal und erscheint
wieder in den Faeces in unverminderter Menge.
Mikroorganismen irgendwelcher Art sollen in
Gegenwart von Petroleum sich nicht entwickeln
können. Es wäre demnach, nach Binkerds
Behauptung, ein sicher wirkendes intestinales
Antisepticum.
Ähnliche Erfahrungen hat Binkerd seit-
her auch bei anderen Kranken gemacht, stets
mit demselben guten Erfolg. Auch beim Typhus
soll es vortrefflich wirken. — Binkerd gibt
stets rohes Petroleum einer bestimmten Quelle,
das nicht trübe ist und keinen besonders üblen
Geruch hat. Die verschiedenen Sorten können
von verschiedener Zusammensetzung und daher
auch von verschiedener Wirkung sein.
(Therapeut* gazette 1903, No. 12.)
Glossen (Grübe i. H.J.
(Ans der medizinisch«! Klinik der Unirersität Göttin gen.)
Ober die im Exodln (Schering) enthaltenen wirk-
samen ekkoprotischen Substanzen. Von
Wilhelm Ebstein.
Das Exodin ist ein Gemisch aus Diacetyl-
rufigallussäuretetramethyläther mit Acetylrufi-
gallussäurepentamethyläther und Rufigallussäure-
hexamethyl&ther. Die ekkoprotische Wirkung
des Exodins soll nach Zernik dem letzten Körper
zuzuschreiben sein, während die andern beiden
wirkungslos zu sein scheinen. Ebstein hat nun
in einer Reihe von Versuchen die Zernikschen
Angaben nachgeprüft und zwar mit chemisch
reinen Präparaten, die ihm von der Schering-
schen Fabrik zur Verfügung gestellt wurden.
Der Rufigallussäurehexamethyläther erwies
sich bei Gaben von 1 g völlig wirkungslos, der
Diacetylrufigallussäuretetramethyläther wirkte in
einzelnen Fällen zwar abführend, doch erscheinen
größere Dosen erforderlich, als vom Exodin.
Eine entschieden abführende Wirkung wurde
beim Acetylrufigallussäurepentamethyläther fest-
gestellt, doch war der Stuhlgang häufig von
stärkeren kolikartigen Schmerzen begleitet.
Nach seinen Erfahrungen hält daher Ebstein
da« Exodin für eine sehr glückliche Mischung,
in der der schwächer wirkende Tetram ethylät her
durch Beimischung von Pentamethyläther ver-
stärkt ist, ohne daß die Kolik erzeugende Wir-
kung des letzteren zur Geltung kommt.
(Deutsehe med. Wochenschrift No. 2, 1905.) J.
(Ans dem Franz-Josefsspital, Wien. Prof. Schesinger.)
i. Über die Wirkung der gebräuchlichsten physi-
kalischen Heilmethoden auf die Magenfunk-
tionen. Von Dr. A. Neumann, Wien-Gainfarn.
(Aus der hydrother. Anstalt der Unir. Berlin. Geh. Rat
Brieger.)
a. Versuche über die Wirkung von hydriatischen
Prozeduren auf die Magensekretion. Von Dr.
A. Gilardoni.
Beide Forscher konnten eine praktisch ver-
wertbare Wirkung der physikalischen Heil-
methoden (Massage, warme und kalte Duschen,
Umschläge etc., Elektrizität) auf Sekretion und
Motilität nicht konstatieren. Die zweifellosen
therapeutischen Erfolge dieser Maßnahmen be-
ruhen nach Neumann 8 Ansicht wohl mehr
auf reflektorisch durch das Zentralnervensystem
erzeugter Herabsetzung der krankhaften Sensa-
tionen, während Gilardoni ein definitives Urteil
noch nicht abgeben will.
(Zeitschr.f. diätei. u.physikaL Ther. 1904, No. 10-12.)
Esch (Bendorf).
Ober den Einfluß des Kauens auf die Sekretion
des Magensaftes. Von Dr. J. May bäum.
In sechs Fällen konnte Verf. beim Vergleiche
der ausgeschiedenen Salzsäure nach einem Probe-
frühstück, welches einerseits durch natürlichen
Kau Vorgang, anderseits durch Eingießen mit der
Sonde in den Magen hineingelangte, stets eine
vermehrte Salzsäureabsonderung unter Anwen-
dung des ersten Modus konstatieren, woraus der
Einfluß des Kauens im Sinne der Anregung der
Salzsekretion aufzufassen wäre.
(Medycyna No. 38, 39, 1904.)
Gabel (Lemberg).
(Ans der medizinischen Klinik su Straßburg i. E.)
Untersuchungen Ober Addose. Von Dr. Julius
Baer.
Einen Beitrag zur Kenntnis der Acidose
liefert Baer durch eine Untersuchung, die sich
mit der Stickstoffausscheidung und Acidose,
so wie ihrer Beeinflussung durch verschiedene
Ernährung beim durch Phiorhidzindarreichung
glykosurisch gemachten Hunde beschäftigt.
Die aus einer Reihe derartiger Versuche
vom Verf. gewonnenen Resultate sind folgende:
1. Ein Hund mit Phlorhidzinglykosurie zeigt
keine Acidose, solange er sich im N-Gleichgewioht
befindet.
2. Bei N -Verlust infolge der Glykosurie
tritt Acidose auf, trotzdem dem Hund noch ein
beträchtlicher Kalorienwert an Fett und Eiweiß-
resten nach Abzug des ausgeschiedenen Zuckers
verbleibt.
3. Die Acidose nimmt bei gleichbleibendem
Stickstoffzerfall und Zuckerverlust während der
Phlorhidzindiabetes trotz Fütterung zu. Sie ver-
schwindet, sobald sich das Tier im N- Gleich-
gewicht befindet, im Hunger, sobald kein Zucker
mehr ausgeschieden (also auch aus Körpereiweiß
gebildet) wird.
4. Zucker verhindert, in nicht allzugroßer
Menge zugeführt, zwar die Acidose, nicht aber
vollständig den N-Verlust (sekundäre Verbren-
nung gebildeter Acetonkörper).
152
Referate.
tTherap«niliehe
5. Es scheint, daß Eiweißgruppen, die bei
der Zuckerbildung aus Körpereiweiß leicht zer-
fallen, aber auch schnell wieder restituiert wer-
den, eine spezifische Bedeutung für die Ver-
hinderung der Acidose haben, entweder indem
sie die Entstehung der Acetonkörper verhindern,
oder, was nicht vollständig ausgeschlossen wer-
den kann, nur deren Verbrennung begünstigen.
(Ar eh. f. experim. Pathologie u. Pharmakologie Bd. 51,
H.4 — 6, 8. 271 u.f.) Th. A. Maaß.
Die innere Behandlung der Gallensteinkrankheit
Von Prof. Dr. B. Stiller (Budapest).
Nach 20jähriger Erfahrung glaubt Verf.
behaupten zu dürfen, daß kein Mittel imstande
ist, einen Zyklus sich wiederholender Kolik-
anfalle so sicher abzubrechen, oder, genauer aus-
gedrückt, die Steine in den Ruhezustand zu bringen,
wie das Salizylsäure Natron. Das von manchen
Autoren zur Kupierung des Kolikanfalles emp-
fohlene Antipyrin h< er für ganz unzweck-
mäßig. Zur Koupierung des Anfalles gibt es
nur ein Mittel, die Morphininjektion, und diese
ist nur in Dosen von 2 — 3 Zentigramm wirksam.
Diese Erfahrung ist sogar diagnostisch zu ver-
werten. Wenn ein Pat. über vorausgegangene
Kardialgien klagt, die durch kleinere Morphin-
dosen kupiert werden konnten, so kann ange-
nommen werden, daß es sich nicht um Gallen-
steine, sondern um eine andere Form von kar-
dial gischen Schmerzen handelte.
Verfassers Behandlungsweise ist die fol-
gende. Er verordnet das Salizylsäure Natron
nur in der anfallsfreien Zeit zu 0,50 g viermal
t&glich, indem er es in Lösung (5,0 auf 150,0
täglich 4 Eßlöffel) oder in Pulver, in einem halben
Glase eines alkalischen Säuerlings aufgelöst,
nehmen läßt. Der Kranke wird immer bis zur
eintretenden Besserung im Bett gehalten, wo
es sich um sehr gehäufte Anfälle handelt; in
milderen Fällen im Zimmer so lange, bis die
Druckempfindlichkeit der Leber geschwunden ist.
Auf die Lebergegend werden morgens und abends
2 — 3 Stunden lang warme Leinsamenumschläge
appliziert. — Die Kost bleibt einige Tage eine
sehr strenge, vorwiegend flüssige; als Getränk
ein alkalischer Säuerling, 2 — 3 mal wöchent-
lich ein warmes Bad. — Kranke mit heftigen
und gehäuften Anfällen sofort nach Karlsbad
zu schicken, ist unzweckmäßig. Dieselben sollen
eret eine 3 — 4 wöchentliche Salizylkur durch-
machen. Nach erreichter Beruhigung wirkt die
die Zukunft sichernde Karlsbader Kur um so wohl-
tätiger.
Die empirisch bewährte Wirkung des Salizyl-
salzes läßt sich auch theoretisch begründen. Es
ist ein mächtiges Cholagogum, indem es eine
reichliche, dünnflüssige Gallentlut produziert,
welche geeignet ist, eingeklemmte Steine abzu-
bröckeln und zu mobilisieren. Dazu kommt die
antisep tische Wirkung. Bei der Bedeutung der
Infektion und Entzündung für die Entstehung
der Gallensteinkolik ist diese Wirkung wohl am
höchsten anzuschlagen. Endlich kommt beim
Salizylat noch seine analgetische Wirkung hinzu,
welche die Reflexerregbarkeit der Gallenwege
und der Blase beschwichtigt. — Zur Erhöhung
der analgetischen Wirkung des Salizylats setzt
Stiller jeder Dosis desselben 0,01 Extr. Bella-
donnae oder in Lösung 3 — 4 Tropfen der Tinktur
hinzu, in der Absicht, den spastischen Zustand
der durch die Steine gereizten Blase oder der
Gallengänge günstig zu beeinflussen. — Nach
der ersten 3 — 4 wöchentlichen Salizyl-Belladonna-
kur, der eine nachträgliche Kur in Karlsbad
folgen kann, wo es die Umstände des Kranken
erlauben, läßt Stiller im Laufe desselben Jahres,
selbst bei vollem Stillstand des Leidens, noch
2 — 3 mal eine mehrwöchentliche, meist noch
mildere reine Salizylkur folgen, etwa 3 mal tag
lieh 0,50 g, dabei ohne Beschränkung der Be-
wegung oder der Diät. Bei Unbemittelten wird
So Karlsbad in wirksamster Weise ersetzt. Min-
destens 90 Proz. der Gallensteinkranken sind
nicht in der Lage, jahrelang oder auch nur
einmal nach Karlsbad zu gehen, während sie
durch die Salizylkur ebenso sicher geheilt werden
können.
(Wien. med. Wochenschr. 1905, No. 1.) R.
(Au der med. Klinik in Straftburg (Direktor: GMi.-R.
Prof. Naunyn).)
Beitrag zur Lokallsation der Hemichorea. Von
Dr. Aufschleger, Assistenzarzt.
Die Hemichorea, bei der choreatische Be-
wegungen der Extremitäten und der GesichU-
muskulatur, aber nur in einer Körperhälfte, das
Krankheitsbild beherrschen, tritt meist infolge
eines cerebralen Insultes als H. posthemiplegica,
seltener vor dem Auftreten der halbseitigen
Lähmung als H. praehemiplegica auf. In dem
von Aufschleger geschilderten Falle schien
die Hemichorea bei der betreffenden phthisischen
Patientin, die später an tuberkulöser Meningitis
verstarb, an Stelle der Hemiplegie aufzutreten.
Der Fall war auch durch das Fehlen der sonst
in der Regel beobachteten Hemianästhesie, die
sogar durch eine leichte Erhöhung der Empfind-
lichkeit für Tast- und Schmerzempfindung er-
setzt war, bemerkenswert. Die Obduktion ergab
neben den für die Meningitis tuberculosa charak-
teristischen Veränderungen, die für das in Rede
stehende Symptom nicht in Betracht kommen,
einen alten, in den Thalamus opticus hinein-
ragenden apoplektischen Herd (apoplektische
Cyste) an der oberen Wölbung des rechten
Seiten Ventrikels. Da ein Druck auf gewisse
Bündel der Pyramidenfasern, den man ätiologisch
verantwortlich gemacht hat, nicht angenommen
werden konnte und die 5 jährige Krankheitsdauer
gegen eine rein funktionelle Störung der Pyra-
midenfasern bei völligem Intaktsein der Rücken-
markspyramidenstränge sprach, so dürfte der
Befund eher zu Gunsten der Anschauung ver-
wertet werden, die in einer Läsion der großen
grauen Kerne, insbesondere des Thalamus opticus,
die Ursache der Hemichorea erblickt.
(Zeitschr. f. Hin. Medizin, Bd. 51, ff. 3 u. 4.)
(Eschle Sinsheim).
Ausscheidung von Chloroform durch den Brech-
akt. Von Dr. Gelpke (Liestal).
Ebenso wie subkutan beigebrachtes Morphin
und Brechweinstein vom Magen ausgeschieden
XIX. Jahrgang .1
Mir» 1905. J
153
und erbrochen werden (Mayen die, Hermann)
und wie bei manchen akuten Krankheiten, bei
Migräne, Nephritis, Tabes, Gravidität, Sepsis oft
Brechen (und Diarrhoe) eintritt, ist auch das
Brechen nach Chloroformnarkose als ein Exkre-
tionsakt des Magens aufzufassen, dem stellenweise,
ahnlich wie Nieren, Haut, Lungen, die Aufgabe
zufallt, den Körper zu entgiften.
Aus diesem Grunde ist das Bekämpfen des
Brechens nach der Narkose mit Eis, Kokain,
Orexin, Trinkverbot — abgesehen von gewissen
Abdominaloperationen — ebenso irrationell wie
das gewaltsame Herunterdrücken jeder Tempe-
ratursteigerung, das Stopfen jedes Durchfalls,
das Unterdrücken eklamptischer Konvulsionen
durch Narkotika, während andererseits ein Brech-
mittel hin und wieder gute Dienste leisten kann.
Der Nachweis von Chloroform in den er-
brochenen, vor Verdunsten geschützten Massen
gelingt nach Bunge durch Zusatz von einem
Tropfen Anilin und etwas Natronlauge zu dem
nitrierten Mageninhalt, dann Kochen: Es tritt
ein charakteristischer stechender Geruch nach
Isonitril auf.
(Korr. /. Schweizer Arzt« 1904, No. 13)
Esch ( Bendorf J.
(Ans dar mwUsln, Klinik In Lemberg. Prof. Glu«iaiki.)
Quantitative Bestimmung des Stickstoffe und El-
welßgehalte* der Magenspalfittasigkeit bei Car-
cinoma ventricnli nach Salomon. Von Dr.
Marek, Reichenstein.
Die Angaben Salomons über vermehrten
Stickstoff- und Eiweißgehalt der Magenspulflüssig-
keit bei Carc. ventr. als Ausdruck vermehrter
Sekretion der Neubildung wurde vom Verf.
in etwas abweichender Form auf der Klinik
nachgeprüft. Tags vorher nahmen die Kranken
bloß flüssige Diät ein ; um 8 Uhr abends wurde
der Magen mit physiologischer Kochsalzlösung
mit Hilfe des Jaworskischen Aspirateurs so
lange ausgewaschen, bis klare Spülflüssigkeit
abfloß.
Am nächsten Tage früh wird der Magen mit
400 ccm erwärmter physiologischer Kochsalz-
lösung zweimal ausgespült, indem man ein und
dieselbe Flüssigkeit zweimal in den Magen hin-
einlaufen laßt. In so erhaltener Spülflüssigkeit
wurde Stickstoff nach Kjeldahl, Eiweißgehalt
nach Eßbach bestimmt.
In 3 Fallen mit normaler Magenschleimhaut
betrug 4er N-Gehalt in 100 ccm 6— 12 mg, Eß-
bach negativ. 4 Fälle von Ulcus ventriculi er-
gaben N-Gehalt in 100 ccm zwischen 9 — 19 mg,
Spuren von Eiweiß.
In 7 Fallen von Carc. ventr. betrug der N-
Gehalt bloß zweimal 6 und 15 mg, ergab dagegen
in 5 Fallen bedeutend höhere Werte, wie z. B. im
Falle HI sogar 74 mg in 100 ccm Flüssigkeit,
im Falle IV 68 mg, Eiweiß von l/8 — 1,2%,,.
Soweit würden die Ergebnisse mit denen Salo-
mons übereinstimmen.
Nun aber fiel dem Verf. auf, daß in manchen
Fallen von Carc. ventr. — speziell in jenen mit
sehr hohem N-Gehalt der Spülflüssigkeit — trotz-
dem abends außerordentlich große Mengen von
Flüssigkeit zur genauesten Reinigung der Magen-
schleimhaut (50 1 einmal) verwendet wurden und
trotzdem der Inhalt, nicht wie von Salomon,
bloß ausgehebert, sondern aspiriert wurde, der
Magen morgens niemals rein vorgefunden, son-
dern Speisereste vom vorhergehenden Tage kon-
statiert wurden, welche Reste gewiß zur Höhe
des N-Gehaltes beigetragen haben. Der schein-
bare Widerspruch in dem Verhalten des N-Ge-
haltes bei Ulcus ventr., wo doch geringere
Mengen Stickstoff gefunden wurden, bei vor-
handener Möglichkeit einer ebensolchen Verenge-
rung des Pylorus wie bei Carc. läßt sich dadurch
erklären, daß bei Ulcus ventr. die sezernierte
Salzsäure die vorhandenen Speisereste verdaut,
der Magen sich der Reste teilweise entledigt, so-
daß der morgens ausgeheberte Mageninhalt einem
leeren Magen entstammt. Sitzt aber das Carc.
nicht am Pylorus, ist die Passage frei, so kann
der N- und Eiweißgehalt niedrigere Werte liefern,
wie Verf. an einem Karzinomfall demonstriert,
woselbst N- Werte von bloß 7— 8 mg und Eiweiß-
gehalt minimal (opaleszierend) nachgewiesen
wurden.
Demgemäß kann der Methode Salomons
eine absolute diagnostische Beweiskraft nicht
zugesprochen werden.
(Przeglad Ukarski No. 37, 1904.)
Oabel (Lcmberg).
Experimentelle Untersuchungen aber Adrenalin.
(Recherches experimentales sur l'Adrenaline).
Von J. Lesage.
Die Dosis letalis des Adrenalins beträgt 0,1
bis 0,2 mg pro kg bei intravenöser Einspritzung
für Hunde, Kaninchen und Meerschweinchen.
Die Katze ist viel weniger empfindlich diesem
Gifte gegenüber; bei ihr beträgt die tödliche
Dosis 0,5 bis 0,8 mg pro kg. Die Morphin-
und Chloroformanästhesie vermag nicht die Dosis
letalis zu beeinflussen, verändert aber den Ver-
lauf der Vergiftung, indem sie die Atmungs-
beschleunigung und die Dyspnoe verhindert und
bei der Katze den Tod verzögert.
Beim Hund tritt nach Adrenalin der Tod
sehr schnell ein, ob das Tier anästhesiert ist
oder nicht; bei der Katze kommt er nur lang-
sam im normalen Zustand — und noch viel
langsamer, wenn das Tier anästhesiert ist.
Die Ursache des Todes ist beim Hunde in
dem Herzstillstand, bei der Katze in der Er-
stickung zu suchen.
Bei der Katze zeigt das Herz eine prompte
Angewöhnung an Adrenalinwirkung; einige Mi-
nuten nach der Einspritzung ist sie schon vor-
handen.
Das Adrenalin muß als ein Nervengift be-
trachtet werden.
(Arch. internat de pharmac. et de therapie Vol. XIII,
p. 245.) Dr. Impens (Elberfeld).
Beitrag zur experimentellen Untersuchung das
Adrenalins. (Contribution ä l'etude expeü-
mentale de l'Adrenaline). Von V. Neujean.
Der Verfasser hat folgende Tatsachen fest-
gestellt:
1. Die Pulsbeschleunigung nach Adrenalin-
injektion wird durch eine Exzitation sowohl der
154
[^Therapeutische
Monatshefte.
zentralen wie der peripherischen akzeleratorischen
Nervenelemente des Herzens verursacht. Die
Beschleunigung kann aber auch zustande kommen
ohne Beteiligung der zentralen Elemente.
2. Adrenalin verengert die Gefäße des Ge-
hirns, genau wie diejenigen des ganzen Körpers.
3. Die Zunahme des Gehirnvolums, welche
man nach Adrenalineinspritzung beobachtet, ist
wahrscheinlich einer venösen Stauung zuzu-
schreiben.
4. Das vasomotorische Zentrum ist nur
sekundär an der Blutdrucksteigerung beteiligt,
und zwar durch die Blutleere, welche die Gefäß-
verengerung im Gehirn hervorruft.
5. Die temporäre Pulsverlangsamung, welche
der Beschleunigung vorangeht, ist einerseits einer
direkten Beeinflussung der Hemmungszentren des
Herzens, andrerseits einer Reizung dieser Zentren
durch die Gehirnanämie zuzuschreiben.
6. Das Adrenalin wirkt auch auf die intra-
kardialen Endigungen des N. Vagus.
7. Es wirkt hemmend auf das Atmungs-
zentrum.
8. Die Tatsache, daß Adrenalin im Orga-
nismus durch Oxydation zerstört wird, ist nicht
bewiesen.
(Arch. Internat de pharmacodynatnie ei de therapie
Vol. XIII, p. 45.) Dr. Impens (Elberfeld).
.Überanstrengung beim Schreiben und Musizieren.
Von Prof. Dr. Zabludowski, Leiter der
Massageanstalt der Universität Berlin.
Oft ist es nicht das Zuvielschreiben und
-musizieren an sich, was die Überanstrengungs-
erscheinungen hervorruft, sondern die Fehler-
haftigkeit von Sitz, Haltung, Instrumenten etc.
Verf. empfiehlt deshalb sowohl prophylaktisch
wie therapeutisch zweckentsprechenden Sitz, rich-
tige Körperhaltung, rationelle Auswahl der
Schreibutensilien. Außerdem ist oft auch Lage-
veränderung des ganzen Arms von Nutzen, um
schädliche Angewohnheiten zu beseitigen.
Die, zuweilen wenig erfolgreiche, Behand-
lung des ausgebildeten Schreibkrampfs besteht
in Massage, Tragen von Gummibändern und
Hülsen, Gebrauch besonders konstruierter Feder-
halter, bei denen früher unbenutzte Muskelgruppen
in Anspruch genommen werden. Alle diese
Maßnahmen werden an klaren Abbildungen de-
monstriert.
In ähnlicher Weise wie beim Schreiben ist auch
beim Musizieren auf die Leistungsfähigkeit der
Hand Rücksicht zu nehmen durch Auswahl ge-
eigneter Aufgaben und Instrumente.
CZeiUchr. f. diät und phys Ther. 1904, No 11 u 12.)
Esch (Bendorf).
Vaaelln- oder Hartparaffinprothesen? Von Dr.
Eckstein (Berlin).
Der Artikel ist eine Antwort auf den im
Januarheft d. J. S. 48 referierten Artikel Steins.
Er weist die dem Hartparaffin gemachton Vorwürfe
zurück. Nach Aufzählung und kurzer Besprechung
der publizierten Fälle von Embolie nach Paraffin-
injektion sucht Verf. nachzuweisen, daß sämt-
liche Fälle nur bei Verwendung des weichen
Materiales eingetreten seien. 45° scheine die
Grenze der Gefährlichkeit zu bilden. Das härtere
Paraffin erstarre eben im Körper so schnell, daß
es nicht zur Embolie kommen könne. Verf.
bleibt bei seinem Hartparaffin, mit dem er
gerade in den von Stein als ungeeignet für
die Paraffinbehandlung bezeichneten Fällen vor-
zügliche Resultate gehabt habe.
(Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 52.)
Wendel (Marburg).
Ober die künstliche Reifung der unreifen senilen
Katarakt mittelst Reibung (Trituration). Von
Prof. Malcolm M. Mo Hardy in London.
I Hardy berichtet über die Erfolge der
I Förster sehen Methode der künstlichen Reifung
der Katarakt auf Grund seiner eigenen zwanzig-
jährigen Erfahrungen. Nachdem seine ersten
Versuche noch unsicher und mangelhaft aus-
gefallen waren, hat er die Operation seitdem
mit steigender Sicherheit ausgeführt, sodaß er
es sich jetzt zur Regel macht, jedem Patienten
mit beginnender Katarakt die „Trituration* zu
empfehlen. Die Zahl der Mißerfolge ist sehr
gering. Hardy teilt drei Fälle mit, in denen
wegen besonderer Komplikationen der Verlauf
ungewöhnlich und die Heilung mangelhaft war,
und beschreibt dann die Operation ausführlich.
Nachdem vorläufig, die Iridektomie ausgeführt
worden und das Kammerwasser aus der Horn-
hautwunde ausgeflossen ist, wird die Hornhaut
mit der konvexen Seite eines feinen silbernen
Löffels gegen die Linse gedrückt und diese unter
strahlenförmig nach außen gerichteten Bewegun-
gen des Löffels gerieben. Die Iris zieht sich
dabei unter dem jedesmaligen Druck des Löffels
nach dem Rande zurück. Falls sie dieses nicht
glatt tut, sondern an einigen Stellen zwischen
Hornhaut und Linse hängen bleibt, so ist es
ein ungünstiges Zeichen, welches den Heilungs-
verlauf komplizieren kann. Ferner ist es durch-
aus notwendig, daß kein Kammerwasser zwischen
Hornhaut und Linsenkapsel zurückbleibt, was
manchmal nicht leicht zu erreichen ist, da unter
dem Druck des Löffels von neuem Kammer-
wasser sezerniert wird. In der Regel ist die
Linse vierzehn Tage nach der Operation reif
zur Extraktion; diese geht stets ohne Schwierig-
keiten, ja sogar in .der Regel besonders leicht
von statten. Nur in seltenen Fällen war Hardy.
genötigt, die Extraktion früher oder gleich bei
der Trituration vorzunehmen. — Zum Schluß
gibt Hardy eine statistische Zusammenstellung
aller von ihm bis jetzt auf diese Weise be-
handelten Fälle von Katarakt. Es erhellt daraus
der außerordentlich geringe Prozentsatz der Kom-
plikationen und der Mißerfolge.
In der Diskussion, welche sich an diesen,
auf der diesjährigen Versammlung der British
medical association zu Oxfort gehaltenen Vor-
trag anschloß, fand Hardy nur geteilten Beifall.
Während einige Ophthalmologen zwar auf
Hardy s Seite traten, hatten andere gar keinen
Erfolg von der Trituration gesehen und die
Methode wieder verlassen.
(British medical Journal 1904, 12. Nov.)
Ciaseen (Grube L HJ.
XIX. Jahrgang.!
Mir« 1*0*. J
155
Ober chronische Dermatitis infolge von Röntgen-
strahlen. Von J. Hall-Edwards in Bir-
mingham.
Hall-Edwards berichtet nach eigener Er-
fahrung über die Röntgen-Dermatitis, da er selbst
daran seit Jahren schwer zu leiden hat. Schon
wenige Wochen nach Röntgens erster Publi-
kation hat er dessen Versuche nachgeprüft und
Anfangs des Jahres 1896 viermal zum Zweck
öffentlicher Demonstrationen seine Hände stunden-
lang durchleuchten lassen. Zwei oder drei
Wochen danach bemerkte er zuerst, daß die
Haut ringsum die Fingernägel rot und schmerz-
haft wurde. Später wurden die Nägel rissig
und 8p rangen auf; einzelne Nägel verdickten
sich und stießen sich schließlich als unförmige
Massen ab. Mittlerweile wurde die Haut auf
dem Handrücken trocken und runzelig, es
bildeten sich darauf warzige Wucherungen. Die
Haut sprang stellenweise auf und die Risse
waren sehr schmerzhaft. In der Haut war fast
andauernd ein brennendes und juckendes Gefühl.
Befeuchten der Hände mit Wasser steigerte die
Beschwerden. Das Waschen war nur in heißem
Wasser mit stark fetthaltiger Seife erträglich.
Das Leiden hatte im Laufe der Jahre nur
wenig nachgelassen. Selbst monatelanges Fern-
halten von jeglicher Berührung- mit Röntgen-
licht führte nur zu geringer Besserung. Die
pathologische Grundlage der Krankheit besteht
im wesentlichen in Zerstörung der Talg- und
Schweißdrüsen.
Die Therapie ist sehr wenig dankbar.
Hall-Edwards hat die verschiedensten da-
gegen empfohlenen Mittel versucht ohne nach-
haltigen Erfolg. Das Wichtigste ist vor allem
größte Vorsicht beim Umgehen mit Röntgen-
strahlen. Kurze Einwirkung selbst auf große
Entfernung kann das Leiden sofort außerordent-
lich verschlimmern. Bei den aufgesprungenen
Stellen war das Bepinseln mit einer Lösung von
Silbernitrat in Spiritus aetheris nitrosi (0,1 : 6)
von angenehmer Wirkung. Sonst brachte eine
Salbe von Acidum salicylicum (0,2), Menthol (0,2),
Kokain (0,01) und Lanolin (6,0) einige Lin-
derung.
Eine weit günstigere Prognose als die chro-
nische gibt die akute Röntgen-Dermatitis. Hall-
Edwards hat von Waschungen mit kochendem
Bleiwasser zugleich mit völliger Ruhe der er-
krankten Hände schnelle Heilung gesehen.
(British medical Journal 1904, 15, Okt.)
Classen (Grube i. H.J.
Hodenveranderungen bei Tieren nach Röntgen-
bestrahlungen» Von Dr. F r i e b en , Hamburg.
In Anlehnung an die kurz vorher von
Albers -Schönberg bei Versuchstieren nach
Röntgenbestrahlung zuerst gefundene Tatsache
der Azoospermie untersuchte F rieben die auf
obige Weise steril gemachten Kaninchen und
Meerschweine und fand zur Erklärung dieser
Funktionsstörungen folgendes bei der anatomi-
schen und mikroskopischen Untersuchung: Bei
den sonst an den inneren Organen gesunden
Tieren war schon makroskopisch eine Verklei-
nerung des Hodens bis auf ]/3 bezw. i/Q seines
Volumens zu erkennen. Die mikroskopische
Untersuchung ergab eine hyaline Degeneration
der Harnkanftlchen - Epithel ien; somit also war
das Ausbleiben der Spermatogenese erklärt. Die
Röntgenbestrahlung hatte zu diesem Epithel-
schwunde geführt.
(Manch, med. Wochenschr. 52, 1903.)
Rahn (CoUm i. 8.J.
(Am der chirurgischen Klinik In Leipzig.)
Zur Kenntnis der Wirkung der Radiumstrahlen
auf tierische Gewebe, Von Dr. Heineke
(Leipzig).
Heineke hat eine Reihe von Versuchen
angestellt, um festzustellen, welcher Einfluß auf
die blutbereitenden Organe von den Radium-
stfahlen ausgeübt wird. Die Radi umstrahlen
wirken ähnlich wie die Röntgenstrahlen auf das
lymphoide Gewebe ein; innerhalb weniger Stunden
zerfallen die Lymphozytenkerne in allen von
Strahlen getroffenen Organen; die Veränderungen
treten in der Hauptsache in den ersten 24 Stunden
auf. Die Zellen der Milzpulpa zeigen innerhalb
dieser Zeit noch keine Veränderungen. Die
Radiumstrahlen vermögen ebenfalls durch die
intakte Haut hindurch auf das lymphoide Ge-
webe zu wirken. Noch empfindlicher erweist
sich das lymphoide Gewebe bei näherem Kontakt
der Radiumstrahlen, wie Heineke experimentell
nachgewiesen hat, indem er durch Laparotomie
die Milz eines Kaninchens den einwirkenden
Strahlen direkt aussetzte, ebenso direkt bestrahlte
er eine Pey ersehen Plaque einer Dünndarm-
schlinge.
(Münchn. med. Wochenschr. 1904, Jfo. 31.)
Arthur Rahn (Collm).
(Au dem Hygienischen Institut fDir.: Prof. Dr. Pfeiffer]
und der UnirersUltspollkltntk für Hantkranke [Dir.: Prof.
I. Caspar y] In Königsberg I. Pr.)
Ober die Wirkung der Röntgen- und Radium-
Strahlen. Von Priv.-Doz. Dr. W. Scholtz.
Der Vorzug der Radiumstrahlen besteht* in
einer leichteren Applikationsmöglichkeit, als es
bei .den Röntgenstrahlen der Fall ist. Z. B.
wird beim Lupus der Schleimhaut die in Gutta-
percha gehüllte Radiumkapsel an einem ent-
sprechend gebogenen Draht auf die kranke
Stelle direkt aufgelegt. Das Endresultat war
in allen Fällen eine fast normal aussehende
Schleimhaut. Ferner berichtet Scholtz von
einem inoperablen Karzinom der Haut in der Um-
gebung des rechten Auges bei einem 60jährigen
Manne, welches jeden 2. — 3. Tag an einer an-
deren Stelle mit Radium etwa 10 — 15 Min. be-
strahlt wurde; die Kapsel wurde mittels Pflaster
bis auf eine schwer zugängliche Stelle im Augen-
winkel der Haut direkt aufgelegt. Nach 5 Mon.
ist das Karzinom bis auf die oben erwähnte
Stelle im Augenwinkel abgeheilt. Zum Schluß
berichtet er noch von der Azoo- und Nekro-
spermie verursachenden Wirkung der Röntgen-
und Radiumstrahlen.
(Deutsche med. Wochenschr. 1904, No. 25.)
Arthur Rahn (CoUm).
156
Referat* — Toxikologie.
/ (Therm]
L Moni
Monatshefte.
Experimentelle Untersuchungen Qber die Wirkung
einiger Silbtrpräparate auf die Harnröhre
des Kaninchens. Von Hi Lohnstein (Berlin).
Lohnstein stellte experimentelle Unter-
suchungen über die Wirkung einiger Silber-
präparate auf die Harnröhre des Kaninchens an
und kam zu dem Schlüsse, daß die organischen
Silberpräparate keine intensivere Tiefenwirkung
entfalten, als das Argen tum nitricum. Im Gegen-
teil, abgesehen von dem Ichthargan, ist die
Anzahl der in der Mucosa und Submucosa ge-
fundenen Silberniederschläge bei keinem der
untersuchten Präparate so groß gewesen, wie
nach Höllensteinspülungen. Beim Protargol
wurden sie sogar bis auf geringe Ausnahmen
vermißt. Keines der untersuchten Präparate er-
füllte gleichzeitig sämtliche Forderungen, die
an ein ideales Antigonorrhoicum zu stellen sind.
Daher darf man sich nicht auf eins der Silber-
präparate bei der Behandlung der Gonorrhöe
beschränken, sondern muß im konkreten Falle
nach den sich ergebenden Indikationen ihrer
besonderen Wirkungsweise entsprechend wechseln.
(Monatsberichte für Urologie. 1904, Heft 8.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
Toxikologie.
Aub der Univerait&tBklinik für Kinderkrankheit«! In Berlin.)
Beitrag zur Kenntnis des Botullsmus. Von M. Kob.
Verf. teilt folgenden Fall von Botulismus
mit: Zwei Erwachsene und zwei Kinder hatten
von einem unverdächtigen Schinken gegessen.
Eine Frau erkrankte am andern Tage mit Er-
brechen und Doppeltsehen, Ikterus, Stuhl Ver-
stopfung und verstarb am 7. Tage. Die Mutter
der Kinder, die nur wenig Schinken genossen
hatte, wies nur leichte Diarrhöe auf. Von den
beiden Kindern erkrankte der Knabe nach einigen
Tagen mit Sehstörungen; die Augen konnten
nur schwer geöffnet werden und es bestanden
Doppelbilder.
Das 11jährige Mädchen konnte am folgen-
den Tage schlecht sehen; in den nächsten Tagen
traten Schluckbeschwerden auf, die Flüssigkeit
floß beim Trinken aus der Nase ab, die Augen
konnten schwer geöffnet werden.
Bei der Aufnahme am 7. Tage der Erkran-
kung wurde von Kob folgender Befund erhoben :
Haut von leicht gelblichem Farbenton, Gesicht
und Unterschenkel leicht gedunsen. Das Kind,
das schläft, reagiert träge auf Anrufen und Haut-
reize, gibt aber richtige Antworten. Sprache
näselnd, aphonisch. Augen geschlossen, leichter
Strabismus. Die Augen werden mit Hilfe der
Finger geöffnet. Doppeltsehen. Zunge, Gaumen
und Rachen erheblich trocken. Stillstand des
Gaumensegels beim Phonieren; bei größeren
Schlucken fließt die Flüssigkeit durch die Nase ab.
Am folgenden Tage erfolgte auf Kalomel
Stuhl, am Nachmittag Erbrechen, das sich auch
am folgenden Tage einstellte. Doppeltsehen war
nicht mehr vorhanden, doch bestand noch hoch-
gradige Schwäche. Aderlaß und Kochsalzinfusion.
Unter dauernder Darreichung von Strychnin-
nitrat 0,001 g subkutan und Abführmitteln
besserte sich der Zustand allmählich, 8 od aß Pat.
nach 6 Wochen geheilt entlassen werden konnte.
Die Diagnose Botulismus konnte nur aus
dem klinischen Befunde gestellt werden, da die
bakteriologische Prüfung des Schinkens negativ
ausgefallen war. • Differential diagnostisch kommt
wegen der Lähmung der Akkomodation der
Augen- und Schlingmuskulatur allein die post-
diphtherische Lähmung in Betracht, jedoch hat
das Krankheitsbild auch Ähnlichkeit mit der
Atropinvergiftung : Mydriasis, Trockenheit der
Rachengebilde, Lähmung der Peristaltik, auch
Schlafsucht und Muskelschwäche.
Die Ähnlichkeit der Krankheitssymptome
mit denen der postdiphtherischen Lähmung gab
Anlaß zu interessanten Versuchen. Von dem aus
dem Aderlaßblute gewonnenen Serum wurden
je 2 ccm Meerschweinchen eingespritzt. Die
Tiere gingen nach 3 Tagen zu Grunde, blieben
aber am Leben, wenn sie die gleiche Dosis
Serum und 500 J. E. Diphtherie -Antitoxin er-
hielten. Die Obduktion ergab die für Botulis-
mus charakteristische Stauung der Galle und
des Harns, es fehlte jedoch die bei Diphtherie-
toxinwirkung stets vorhandene Rötung und
Schwellung der Nebennieren sowie das Pleura -
transsudat. Immerhin zeigt die toxische Wir-
kung des Serums große Ähnlichkeit mitDiphtherie-
toxin. Schon B rieger und Kempner schlössen
aus dem chemischen Verhalten der Toxine resp.
Antitoxine des Löffl ersehen Diphtheriebazillus
und des van Ermen gemschen Bacillus Botulinus,
daß sich beide außerordentlich nahe stehen. Kob
glaubt für diese Ähnlichkeit nunmehr auch den
| biologischen Beweis erbracht zu haben. Ob das
| Diphtherieheilserum mit Erfolg bei der Behand-
1 lung des Botulismus wird herangezogen werden
können, wird erst die Zukunft lehren.
(Medizinische Klinik No. 4, 1905.)
Jacobson.
(Am der med. Klinik in Greifrwald. Direktor: Profeetor
MorHs)
Ober Theodnvergiftung. Von Edouard Allord,
Assistenzarzt der Klinik.
Zwei Fälle werden vom Verf. beschrieben,
die freilich sehr schwer . erkrankt waren und
kaum noch lange leben konnten, bei denen der
Tod mit dem Theocin in Verbindung gebracht
wird. Im ersten Falle lag ein Herzleiden, im
zweiten ein Nierenleiden vor, kompliziert durch
. Lnngenemphysem und Herzinsuffizienz. Bei beiden
; traten kurz vor dem Tode epileptische Anfälle
| auf. Auch in den bisher von Schlesinger und
| von Strosz beschriebenen Fällen, die freilich
; nicht wie die des Verf. mit dem Tode endigten,
' waren Krämpfe aufgetreten. Bei der Obduktion
jener beiden Fälle wurden Schleimhautgeschwüre
mit Blutungen in den Magen gefunden. Eine
XIX. JafcrrsBf .1
Mlrm 190*. J
ToxUcotofte. — Literatur.
167
an diese Beobachtungen angeschlossene Reihe
Ton Tierexperimenten führte ebenfalls zum Auf-
treten von Krämpfen und Affektionen der Magen*
Schleimhaut. Nach diesen Erfahrungen wurde
auf der Greifswalder Klinik die weitere thera-
peutische Anwendung von Theocin nicht l&nger
als zulassig erachtet.
(Deutsch. Archiv für klin. Mediain, Bd. 80.)
H. Rosin.
Eine Beobachtung Ober Zirkulationsstörung nach
VeronaL Von Dr. M. Senator (Berlin).
Bei einer 40 jährigen, neurasthenischen, an
Influenzapneumonie erkrankten Dame entwickelte
sich im Verlauf der Erkrankung eine mit starker
Erregung und Angstzuständen einhergehende
Psychose. Zur Bekämpfung der hinterbliebenen
neurasthenischen Schlaflosigkeit wurde von
Senator Verona! verordnet, und zwar 1 g um
8 Uhr und, da die Wirkung ungenügend blieb, ein
zweites Gramm um 10 Uhr. Nach 20 Minuten trat
ruhiger, fester Schlaf ein, aus dem Pat. jedoch um
2 Uhr unter Oppressionsgefühl, Präkordialangst
und Schwächeempfindungen erwachte. Am Herzen
ließ sich außer schwacher, frequenter und leicht
unregelmäßiger Herztätigkeit nichts Anormales
nachweisen; der Puls war klein, jagend (120),
unregelmäßig. Dieser Zustand ging bald vor-
über, erneuerte sich jedoch nach unregelmäßigen
Pausen bis gegen Abend; die Dauer der einzelnen
Anfälle betrug etwa 15 Minuten. Daß diese
Zirkulationsstörung auf das Verona! zurück-
zuführen ist, hält Senator für sicher, weil das
Herz früher und im Verlauf der Influenzapneu-
monie stets als gesund befunden worden war,
weil es andere Narcotica — Morphium, Chloral-
hydrat, Trional — gut vertragen hatte und weil
schließlich die Störungen bald nach der Verona!-
einnähme auftraten und einen begrenzten Verlauf
nahmen.
(Deutsche med. Wochenschr. No. 31, 1904.)
/•
Ein Fall von chronischer PhenacettaTergiftung.
Von Dr. Max Hirschfeld (Berlin).
Verf. teilt folgenden eigenartigen Fall einer
chronischen Phenacetinvergiftung mit. Eine Frau
litt seit zwei Monaten an einem Hantausschlag.
An den beiden Unterschenkeln bestanden zahl-
reiche pnnkt- und streifenförmige Petechien,
welche an einzelnen Stellen zu Extravasaten
Ton Zehnpfennig- bis Zweimarkstückgröße kon-
fluierten. In der Mitte dieser bräunlich-schwarzen,
sehr schmerzhaften Flecke entwickelten sich ober-
flächliche, schmierig belegte Ulzerationen mit
unregelmäßigem Rande. Die Ätiologie der Er-
krankung blieb eine Zeitlang dunkel, die Therapie
erfolglos, bis Verf. als Ursache das Phenacetin
erkannte, das Pat. seit langer Zeit gegen Migräne
gebrauchte. Sowie das Mittel ausgesetzt wurde,
blaßten die Petechien ab und heilten die Ulcera
innerhalb 4 Wochen. Als Pat. nach einiger Zeit
wieder 1,5 g Phenacetin einnahm, traten in einer
"Woche neue Blutungen und ein neues Ulcus auf.
Da Hauterkrankungen nach Gebrauch von
Phenacetin nur selten beobachtet worden sind
(beschrieben sind Urticaria, Akne, makulöse Ex-
antheme, Erytheme, Miliaria alba und Haut-
schwellungen), so handelt es sich bei diesem
schweren Fall jedenfalls um eine erworbene Idio-
synkrasie. Eine Ursache, warum die Erkrankung
der Hautgefäße sich gerade an den Unterschen-
keln etablierte, war nicht zu erkennen.
(Deutsche med. Wochenschr. No. 2, 1905.) J.
j Was leistet Kali hypermanganicum alt Morphlum-
I antidot? Von Dr. Alp hon s Krämer (Dorpat).
, Die Behandlung der Opium- und Morphium-
; Vergiftung mit Kaliumpermanganat, die von 0 vid
Moor in diesen Heften Jahrgang 1903, S. 562
eingehend begründet worden ist, empfiehlt
Kram er angelegentlich auf Grund eines von
ihm beobachteten Falles von Morphiumvergiftung.
Ein Student hatte infolge starker psychischer
Depression ca. 1,2 — 1,5 g Morphium hydro-
chloricum in Substanz genommen. Von Haus-
genossen waren dem Pat. Kaffee und Tannin
gereicht worden, er wurde aber apathisch und
somnolent und Verf. fand ihn — etwa 4 Stunden
nach Einnahme des Giftes — im starken Kollaps:
Cyanose, stärkste Myosis, Trismus, flache, ver-
langsamte und stertoröse Atmung, fadenförmiger,
jäh wechselnder Puls, Benommenheit. Auf Dar-
reichung von 1,5 g Kaliumpermanganat in Lösung
erfolgte in kurzer Zeit heftiges Erbrechen braun-
gefärbter Massen; es wurden wiederum 0,5 g
eingeflößt und nun besserte sich das Allgemein-
befinden: die Cyanose schwand, die Atmung
wurde tiefer und regelmäßiger, das Sensorium
wurde freier. Unter weiterer halbstündlicher
Darreichung von 0,1 g Kaliumpermanganat so-
wie von Kognak gingen die Intoxikations-
symptome immer mehr zurück. Am folgenden
Tage bestand nur etwas Mattigkeit und an
Stelle der sonst vorhandenen Hypermetropie
starke Myopie, die aber auch in einigen Tagen
wich.
Kramer bezeichnet angesichts dieses
schweren Falles das Kaliumpermanganat als das
einzig wirksame Morphium antidot, das auch die
mehrfach tödliche Dosis unwirksam zu machen
im stände ist.
(St Petersburger med. Wochenschr. 1904, No. 5, S. 44.)
Literatur«
1. Die Gallensteinkrankheit, ihre Häufigkeit,
ihre Entstehung, Verhütung' und Heilung
durch innere Behandlung. Von Dr. Walther
Nie. Clemm in Darmstadt. Berlin 1908.
Gg. Klemm.
2. Prophylaxe und operationslose Behandlung
des Gallensteinleidens. Von Dr. Franz Kuhn,
Oberarzt am Elisabethkrankenhaus Kassel. Ber-
liner Klinik, März und Juni 1903.
3. Die Gallensteinkrankheit, ihre Ursache.
Pathologie, Diagnose und Therapie. Von
Spezialarzt Dr. F. Schilling. Leipzig 1904.
Härtung u. Sohn.
1. Clemm hält die Behandlung der recht-
zeitig erkannten Cholelithiasis nach seiner Me-
thode für durchaus sicher und will nur be-
158
Literatur.
j'Therftpentteb«
sondere und vernachlässigte Fälle dem Chirurgen
überantwortet wissen. Da die Steinbildung auf
einen Katarrh der Gallen wege infolge von In-
fektion mit Mikroorganismen zurückzufuhren ist,
dessen En£wickelung- durch Hemmung des Gallen-
flu ss es begünstigt wirdx so empfiehlt Verf. sowohl
zur Vermeidung als zur Heilung der Gallenstein-
krankheit
a) Sorgetragen für normale Beschaffenheit
des Verdauungstractus, da bei Katarrhen des-
selben, besonders bei Obstipation, die Entzün-
dung leicht auf die gallebereitenden Wege über-
tragen wird.
b) Verhinderung von Gallestauung durch
Unterhaitang ausgiebiger Zwerchfellatmung, ge-
eignete Kleidung, Bewegung, Massage u. s. w.
c) Geeignete Diät. Eine leicht verdauliche,
eiweißfettreiche Nahrung wird als besonders
galletreibend angesehen (W. Kühne, Bar b er a).
d) Galletreibende und gallensteinlösende
Medikamente. Die Trinkkuren (Karlsbad, Neuen-
ahr u. s. w.) deren unzweifelhafte Heilwirkung
bisher noch nicht erklärt ist, wirken jedenfalls
sicher entzündungslindernd. Von arzneilichen
Maßnahmen sind manche wirkungslos, ja schädlich,
andere unsicher. Verf. kann von ihnen allen
nur die Behandlung mit Seife zu fuhr ins
Gallen8jstem empfehlen. Diese wirkt nach
seiner experimentell (nach Vorgang von Hoppel,
Naunyn etc.) und empirisch begründeten An-
schauung (entzündungswidrig und) cholestearin-
lösend. Er benutzt dazu das von Blum in den
Arzneischatz eingeführte Eunatrol (in 20proz.
Lösung auch Cholelysin genannt) und gibt es
bei ausgebildeter Krankheit 3 mal, später 2 mal
täglich in der Dosis von 1 g in Verbindung mit
Bewegung, Tiefatmen, Trink-Liegekur, heißen
Umschlägen und geeigneter Diät.
Bei dieser Behandlung soll es nach Clemm
zu den schweren Formen der Cholelithiasis nicht
mehr kommen können.
2. Während Clemm Erörterungen über
Geschichte, Anatomie, Physiologie, Pathologie
und Diagnostik ein breites Feld einräumt, be-
schäftigt Kuhn sich eingehend mit den pro-
phylaktischen Maßnahmen und den verschiedenen
Behandlungsmethoden. Nachdem er einleitend
die Errichtung von Spezialsanatorien für Gallen-
steinleidende als wünschenswert hingestellt hat,
bespricht er die mechanische, diätetische und
medikamentöse Prophylaxe dieser Krankheit, die
besonders für dazu Prädisponierte, d. h. Leute
mit sitzender Lebensweise, Fettsucht, Hänge-
bauch, Mehrgebärende, von Wichtigkeit ist, aber
auch bei leichteren Krankheitsfällen zur Geltung
kommt.
Von Leibesübungen empfiehlt er den Sport
mit Ausnahme des Velozipedfahrens, die Gym-
nastik in ihren verschiedenen Formen, die Mas-
sage (unter den nötigen Kautelen). Bei der
Kleidung wird vor allem die Korsett- und Leib-
bindenfrage gewürdigt. Kuhn will nicht das
Korsett an sich, sondern nur das unzweckmäßige
Korsett verwerfen, während er das dem Körper
angepaßte amerikanische mit Achselbändern und
Anknüpfvorrichtung für die Röcke befürwortet.
Unter den vielen Arten von Leibbinden hält er
die mit halbkreisförmiger Feder versehene Lyra-
binde für die beste. (Dem absprechenden Urteil
über die Ostertagsche Monopolbinde kann
Ref. nicht beipflichten, da er mit ihr sehr gute
Erfahrungen gemacht hat: sie hebt den Leib
und rutscht nicht, erfüllt also das von ihr Ver-
langte vollständig.)
Zur Anregung der Verdauung bei Obsti-
pation kommt nach Kuhn eventuell vegetarische
Diät in Betracht, die von Dujardin-Beaumetz
für die Gallensteinkrankeit allgemein empfohlen
wird wegen Vermeidung des durch die Fleisch-
eiweißfäulnis oft erzeugten Gastroduodenalkatarrhs.
Dies führt zur diätetischen Prophylaxe und
Behandlung. Während früher karge Ernährung
verordnet wurde, weil man die üppige Lebens-
weise für die Hauptschädlichkeit hielt, hat man
jetzt die Gallestauung als das wichtigste Moment
erkannt und legt deshalb den Nachdruck auf
galletreibende Diät, als welche man besonders
relativ reichliche, nicht zu seltene Mahlzeiten
betrachtet. Im Gegensatz zu Clemm legt
Kuhn dabei mehr Wert auf das Eiweiß als auf
das Fett, dessen galletreibenden Wert er nicht
anerkennt. Kohlehydrate will er bei Neigung
zum Fettwerden eingeschränkt sehen und ist
mit Clemm einig im Verbot der schwerver-
daulichen Fleischsorten und Leguminosen.
Von hydrotherapeutischen Maßnahmen er-
wähnt er Abreibungen, warme Voll- und kühle
Sitzbäder,. Darmspülungen, örtlich ev. Heiß-
wasserkompressen, Fango-, Breiapplikation u. s.w.
Unter den vielen medikamentösen Mitteln,
die er anführt, empfiehlt er außer den Trink-
kuren vor allem das Salicyl, das er im Gegen-
satz zu Clemm wegen seiner galletreibenden
und desinfizierenden Wirkung besonders als
Prophylacticum schätzt, bei ausgebildeter Krank-
heit rät er in erster Linie zu Eunatrol, jedoch
steht er dem Mittel skeptischer gegenüber als
Clemm.
Dieses alles gilt jedoch nur für die
leichteren Fälle. Bei den schweren Erkran-
kungen, die sich durch die Heftigkeit oder
Häufigkeit der Erscheinungen auszeichnen, er-
klärt Kuhn statt langem, den Patienten gefähr-
dendem Zuwarten den operativen Eingriff für
das einzig Richtige, selbstverständlich unter
strengster Individualisierung des Einzelfalles.
Zum Schluß sei noch das Diätschema für
leichte und mittelschwere Fälle, in dem Clemm
und Kuhn übereinstimmen, mitgeteilt:
7 Uhr morgens nüchtern: 1,0 Eunatrol = 1 Kaffee-
löffel Cholelysin = 4 g Eunatrolpillen (wenn
nötig), dann J/4 1 40grädiges Wasser mit
einer Messerspitze Kochsalz — auch Ori-
ginalbrunnen — , y4 stündiger Spaziergang,
Stuhlgang (ev. Klystier).
8 Uhr: Frühstrück nach engl. Art, kleine Ruhe-
pause, !/4 stündiger Spaziergang.
9 — 12 Uhr: Bei stärkeren Beschwerden N au nyns
Bettliegekur: Vor- und nachmittags 3 Std.,
nach S Tagen 2 Std. mehrere (ca. 4) Wochen
lang, so lange der Leberrand (Boaspunkt)
schmerzhaft ist. Hierbei wird in der ersten
XIX. Jahrgang.*!
Mir« 1906. J
Literatur.
159
Stunde !/3 1 heißes Karlsbader Wasser ge-
trunken. Auf die Leber kommt dabei ein
heißer Fango- oder Leinsamenaafschlag.
12 Uhr: 1,0 Eunatrol, dann Milch oder Fleisch-
brühe. 50 tiefe Atmungen (ohne Korsett).
1 Uhr: Mittagessen: Fleischbrühe, leicht ver-
dauliches Fleisch, and Gemüse, Obst, Apfel-
wein, Rotwein mit kohlensaurem Wasser.
J/2 stündige Ruhe, womöglich in linker
Seitenlage, dann Spaziergang bis zu einer
Stunde.
ca. 3 — 6 Uhr: Liegekur wie oben.
7 Uhr: Abendbrot, Fleisch (Braten, Schinken)
mit Butterbrot, Thee.
8 oder 9 Uhr: 1,0 Eunatrol mit Va l Milcn und
50 Tiefatmungen.
Nach der Liegekur event. noch 1 — 2 Monate
lang morgens und abends Eunatrol, später statt
dessen morgens event. 1 Löffel Ossin (Glemm).
3. Schilling will dem beschäftigten Prak-
tiker einen Überblick über den heutigen Stand der
Wissenschaft auf diesem wichtigen Grenzgebiet
zwischen innerer Medizin und Chirurgie geben,
um ihm einerseits ein ersprießliches handin-
handgehen mit dem Operateur zu ermöglichen
und andererseits übertriebene Erwartungen von
chirurgischer Hilfe auf ihr rechtes Maß zurück-
zuführen.
Betreffs der Entstehung der Gallenstein-
krankheit teilt er die herrschende Ansicht, daß
sie auf einen infektiösen Katarrh der Gallen-
wege zurückzuführen ist, dessen Eintreten durch
Hemmung des Gallen flusses begünstigt wird (bei
Schnürleber, Enteroptose, sitzender Lebensweise
u. s. w.). Er betont aber, daß als drittes noch
eine Umsetzung der Gallenbestandteile hinzu-
kommen muß und daß wir von den diesbezüg-
lichen Vorgängen im Leberparenchym noch
wenig Kenntnis besitzen. (Nach Glaser ist an
Funktionsstörung der Sekretionsnerven zu
denken. Ref.)
Dagegen ist unsere Kenntnis der patholo-
gischen und auch der normalen Anatomie der
Lebergegend besonders durch die Operateure
Riedel, Kehr, Löbker, Körte etc. wesentlich
erweitert und vertieft und das Krankheitsbild
weit vielgestaltiger geworden. Während man
früher nur Steinkolik, Hydrops, Empyem und
Karzinom der Gallenblase kannte, wird jetzt be-
sonders die Cholecystitis in den Vordergrund
geschoben (von Riedel sogar zu sehr, wie
Schilling meint), wir haben ferner die Cholan-
gitis, die auf die Umgebung übergreifende Peri-
cholecystitis und -angitis kennen gelernt, die
das Leiden leicht zu einem allgemeinen um-
gestalten, weiter wird von Steinen in der Leber,
in den intrahepatischen Gängen, im Cysticus und
Hepaticum, den verschiedensten Dilatationen,
Fistel- und Abhäsionsbildungen — Adhäsions-
koliken — gesprochen.
Die Schwierigkeiten, die sich der Diagnose
dieser Unterarten sowohl, wie auch der Diffe-
rentialdiagnose gegenüber anderen Krankheiten
entgegenstellen, würdigt Verf. eingehend. Kehr 8
Versuch, ein Schema dafür aufzustellen, hält er
wegen der vielen Komplikationen für ein miß-
liches Ding. Was die Radioskopie betrifft, so
weist sie selten deutlich Steine, höchstens Kalk-
steine nach.
Prophylaktisch und therapeutisch empfiehlt
er die bekannten, gegen Indigestion und Gallen-
stauung gerichteten Maßregeln: Regelung von
Ernährung und Verdauung, Hautpflege, Kleidung
und Bewegung; von Medikamenten: Im Anfall
außer der Morphininjektion eventuell l/9 — 1 mg
Atropinzasatz wegen der krampfwidrigen Wirkung;
wird Morphin nicht vertragen, so kann Chloral-
hydrat 0,25 2 — 3 stdl. oder Suppositorien von
Opium und Belladonna gegeben werden, dazu
heiße Umschläge und Bäder. Von den soge-
nannten galletreibenden Mitteln würde er statt
Fei tauri, Natrium salicylicum etc. lieber das
alte italienische Volksheilmittel für die Gallen-
steinkrankheit, das Olivenöl, anwenden (Ersatz
auch durch Mohn- und Mandelöl, Lipanin, Butter)
weil es Linderung des Spasmus und Anregung
des Stuhlganges herbeiführt und nach Resorption
von der Leber als überflüssiges Gallenfett aus-
geschieden wird. Eunatrol, Magenspülung mit
1 — 2 proz. Soda- oder 1 prom. Argentum nitricum-
Lösung wird erwähnt, von mechanischen Maß-
nahmen, wie Kneten und Streichen der Leber-
gegend, abgeraten.
Von operativem Eingriff im akuten Anfall
will er mit Kehr, Naunyn etc. im Gegensatz
zu Riedel nur ausnahmsweise, z. B. bei
drohender Allgemeininfektion, Gebrauch machen,
stete aber bei Perforationsperitonitis nach Blasen-
ruptur u. 8. w.
Bei der chronischen, irregulären Chole-
cystitis soll zunächst Naunyns Liegekur mit
Trinkkur kombiniert in Karlsbad, Bertrich,
Neuenahr, Vichy, Homburg oder mit dem be-
treffenden Wasser zu Hause angewandt werden.
Das alte Dur an de sehe Mittel hält Verf. für
nutzlos, Glasers Chologen steht er abwartend
gegenüber. Erst wenn die innere Medikation
wirkungslos geblieben ist und der Patient einem
qualvollen Siechtum, Morphinismus u. 8. w. ent-
gegensieht, oder sich in Lebensgefahr befindet,
soll zur Operation geschritten, andrerseits aber
auch nicht gewartet werden, bis er zu dekrepide
geworden ist.
Die an die Operation geknüpften Erwar-
tungen dürfen nicht zu hoch gespannt werden,
weil oft nicht alle Steine enfernt werden können,
und auch echte Rezidive nicht ausgeschlossen
sind, und weil postoperative Verwachsungen mit
Adhäsionskoliken etc., Bauchhernien, Gallenfisteln
auftreten können, von den primären, die Ope-
ration erschwerenden Komplikationen ganz ab-
Der chirurgische Eingriff ist indiziert bei
akuter Lebensgefahr, schwerem Allgemeinzustand
und bei Erwerbsfähigkeit und Dasein erschweren-
den Koliken und Komplikationen. Von den je
nach Lage des Falles einzuschlagenden Methoden
bespricht Verf. die Cholecystektomie, Cholecysto-
stomie, Choledocho-Hepatico- und Cystikotomie,
Anastomosierung, Hepaticusdrainage und den
Fistelschluß.
Esch (Bendarf ).
160
Literatur.
fTberspenttocbc
L Monatshefte.
i
Das Eindringen der Tuberkulose und ihre
rationelle Bekämpfung. Nebst kritischen
Bemerk engen zuE. v. Behrings Tuberkulose-
bekämpfung. Von Dr. Ha go Beckmann in
Berlin. S. Karger, Berlin 1904.
Bei der heute dominierenden Neigung zu
blindem Autoritätsglauben und zu einer bedin-
gungslosen Gefolgschaft gegenüber einzelnen Wort-
führern auch da, wo nur Theorien als Beweis-
mittel für behauptete Tatsachen herangezogen
werden können, muß jede Äußerung unabhängiger
Regungen und jedes selbständige Durchdenken
der schwierigen* Probleme freudig und mit Ge-
nugtuung begrüßt werden.
Mit Recht wendet sich Verf. — wenn auch
natürlich nicht als erster (es sei hier nur
0. Rosenbach erwähnt) — gegen die über-
triebene Bewertung des Tierexperimentes und
gegen die Unterschätzung der Disposition bei
Beurteilung der Ätiologie der Lungentuberkulose.
Beckmann geht zunächst von der Tat-
sache aus, daß die für den Tuberkelbazillus
Empfänglichen auch in besonderem Maße für die
Infektionen mit gewöhnlichen Eiterkokken, den
Strepto- und Staphylokokken und den Pneumo-
kokken, zugänglich, sind und sieht die Rachen-
mandel, die durch einen akuten eitrigen Schnupfen,
einen solchen Kehlkopfkatarrh, eine akute Otitis
media oder eine typische Angina lacunaris in
einen entzündlichen Zustand versetzt wird, als
die hauptsächlichste Eintrittspforte an, durch
die der tuberkulösen Invasion die Ausbreitung-
im menschlichen Organismus ermöglicht wird.
Beim Kinde gelangen die Tuberkelbazillen von
der Rachenmandel in die Halsdrüsen und von
hier auf dem Lymphwege in die Bronchialdrüsen,
wo sie entweder liegen bleiben oder nach Durch-
brechung der Drüsenkapsel sich bald auf die
Nachbarschaft, besonders Brustfell und Lunge,
verbreiten, bald in die Blutbahn gelangen und
Metastasen oder Miliartuberkulose veranlassen.
Auch die Skrofulöse beruht nach Beckmann
auf dem Zusammenwirken der durch Vermitt-
lung der Rachenmandel aufgenommenen Eiter-
kokken und Tuberkelbazillen. Dem Mangel an
Widerstandskraft gegen diese beiden Infektionen
entspricht die allgemeine Disposition zur Tuber-
kulose, die sich besonders in der gewaltigen
Reaktion des Lymphdrüsen apparates äußert. Die
Tuberkulose gelangt, unterstützt durch den ver-
änderten Atemtypus, bei den Disponierten auf
direktem Wege von der Rachenmandel über die
Halsdrüsen zur Lungenspitze. Die Gefährlichkeit
der Tuberkulose für den Erwachsenen glaubt
Verf. daher weniger in der Neuaufnahme der
Bazillen, als in der Mobilisierung alter Drüsen-
herde durch akute Rachenmandelinfektionen und
deren Verschleppung in die Lungenspitze oder
in der Reaktivierung alter Lungenprozesse sehen
zu müssen.
Ref. erscheint es nun zweifelhaft, ob die
Tuberkelbazillen bei Jahrzehnte währender Be-
schränkung auf einen abgekapselten Herd ihre
Invasionskraft zu bewahren vermögen, die sich
aus dieser Anschauung ergebende therapeutische
Maxime Beckmanns, auf operativem Wege und
durch spezialistische Behandlung bestehender
Ohren- und Nasenleiden auf die Rückbildung der
Lymphdrüsen einschließlich der Mandeln hinzu-
wirken, muß aber durchaus konsequent erscheinen.
BscMe (Sinsheim).
Die krankhafte Willensschwäche und die Auf-
gaben der erziehlichen Therapie. Von Dr.
med. F. C. R. Eschle, Direktor der Kreis-
pflege ans talt Sinsheim. Berlio, Fischer, 1904.
Bei der selbständigen Leitung bezw. Reor-
ganisation größerer Anstalten haben günstige
Erfahrungen den Verfasser veranlaßt, das Prin-
zip der Erziehung der Kranken zur Arbeit weiter
auszubauen. Die Ergebnisse seiner eingehenden
theoretischen und praktischen Studien auf dem
Gebiet der psychischen Therapie, der erziehlichen
Beeinflussung psycho- und neuropathischer Per-
sonen hat er in dem vorliegenden Werke zu-
sammengefaßt.
Nach einleitenden psychologischen Vorbe-
merkungen bespricht Eschle zunächst theore-
tisch die Neuro- und Psychomechanik des Willens-
aktes und unterzieht darauf die einzelnen Formen
seiner Störungen, der abulischen Insuffizienz,
einer eingehenden Erörterung.
Im praktischen Teil behandelt er dann die
therapeutische Beeinflussung der Wülensstörungen
auf Grund seiner in der psychiatrischen und so-
zialmedizinischen Praxis gemachten Beobach-
tungen und Erfahrungen. Bei der hygienischen
Therapie der Willensstörungen und ihren Be-
ziehungen zur psychischen Therapie wird u. a.
die Wichtigkeit der Regelung von Arbeit und
Ruhe und der Vereinfachung der Lebenshaltung
betont; die psychische Therapie gipfelt in der
erziehlichen, wobei die belohnende der diszipli-
nierenden Form vorzuziehen ist. Den Haupt-
wert aber legt Verf. auf die Erziehung zur
Arbeit, auf die Arbeit als therapeutischen
Faktor. Seine diesbezüglichen Ausführungen,
die wir teilweise schon aus den früheren Publi-
kationen des geschätzten Autors kennen, ver-
dienen in höchstem Maße eingehende Beachtung
und Würdigung. Das Werk schließt mit dem
Wunsche, daß unser Stand immer mehr im
Sinne Rosenbachs zur Erkenntnis seiner
wahren Aufgaben gelange und, sich abwendend
von der ausschließlichen Bewertung formaler
Veränderungen, vom Schema und der Schablone,
es lerne, seinen Schutzbefohlenen ein Freund
und Helfer, ein Lehrer und Erzieher zu sein.
Esch (Bendvrf).
Über natürliche nnd künstliche Säuglingser-
nährnng. Von Dr. K. Oppenheimer, Kinder-
arzt in München. Wiesbaden, Bergmann, 1904.
32 S.
Verf. hat zwei seiner im ärztlichen Fort-
bildungskurs 1903 gehaltenen Vorträge veröffent-
licht, einerseits, um wieder einmal eine Lanze
einzulegen für das Stillen der Mütter, anderer-
seits, um einen größeren Kreis von Ärzten für
die von ihm erprobte Vollmilchernährung
zu interessieren.
Er erkennt mitHeubner als absolute Kontra-
indikation gegen das Stillen nur Tuberkulose
ZIZ.JahrffUig.-l
Mir« 1*05. J
Literatur.
161
der Mutter an, empfiehlt, das Kind nur alle
3 Standen anzulegen, weil dann erst der Magen
wieder leer ist, und warnt vor dem Überfüttern
der Stillenden. Dasselbe gilt von der Amme.
Um bei ihr Lues ausschließen zu können, ist
die Inspektion ihres Kindes sehr wichtig.
Bei der künstlichen Ernährung steigt Oppen-
heimer schon in 2—4 Wochen von 2/3 Wasser-
zusatz auf unverdünnte Kuhmilch. Die sonst
übliche Art der Verdünnung, die den Überschuß
der Kuhmilch an Kasein ausgleichen soll, die
Fett- und Zuckerzufuhr aber zu sehr vermindert
und außerdem Herz, Nieren etc. durch Über-
arbeitung sch&digt, wollte man u. a. durch
Biederts Nahrungszusatz, Escherichs volume-
trische Methode und Heubners Ersatz des Fetts
durch Vermehrung des Milchzuckers verbessern.
Diese Maßnahmen sind jedoch alle überflüssig,
weil die Kuhmilch trotz ihrer Verschiedenheit
von der Frauenmilch ihr doch an kalorischem
Gehalt fast gleichwertig ist, 62,7 : 63,9, und weil
feststeht, daß das Kasein der Verdauung und
Ausnntzung leicht zugänglich ist. Der beste
Beweis aber ist die praktische Erfahrung: das
Gedeihen der Kinder.
Beobachtungen mit Vollmilchernährung ge-
sunder Säuglinge sind bisher außer von
Schlesinger, Breslau , nicht veröffentlicht
worden. Verf. kann nun aber auf Grund 4 jähriger
Erfahrung, namentlich in der Privatpraxis, ver-
sichern: Das Nichtgedeihen eines mit Voll-
milch ernährten, gesnnden Säuglings ge-
hört zu den Seltenheiten.
Wegen des dickflockigen Gerinnens der Kuh-
milch ist dabei strenge an 3 stündigen Pausen
und nicht zu großen Gaben festzuhalten. Vom
2. Monat an soll die tägliche Nahrungszufuhr
17 Proz. vom Körpergewicht betragen und in
jedem Monat um ca. 1 Proz. fallen.
Oppenheimer betont dann noch, daß die
Trockenfütterung nicht die wichtige Rolle spielt,
die man ihr meist beimißt, stammt doch die
berühmte Alpenmilch nur vom Weidevieh, daß
vielmehr reinliche Gewinnung und kühle Auf-
bewahrung der Milch gesunder Kühe die beste
Garantie für gute Beschaffenheit bietet.
Statt des unnötigen und schädlichen Sterili-
sierens empfiehlt Oppenheimer das Pasteuri-
sieren, was sich bei Gebrauch eines von ihm
konstruierten Apparates (Kronenapotheke Dresden)
im Haushalt ermöglichen läßt.
Esch (Bendorf).
Die Grundsätze der mechanischen Behandlung
naeh Kellgren. (The elements of Kellgren's
man aal treatment) Von Edgar F. Cyriax in
Stockholm. London, John Bale, Sons and
Danielsson Ltd., 1903.
Kellgrens mechanische Behandlung ist
eine weitere Ausbildung der bekannten von Ling
begründeten schwedischen Heilgymnastik. Kell-
gren war, wie aus der geschichtlichen Einleitung
su ersehen, ein Schüler Lings. Verf. 6elbst,
wieder ein Schüler Kellgrens, dem er dieses
Buch gewidmet hat, beabsichtigt, den praktischen
Arzt, der die Methode nicht an den größeren
Heilanstalten, selbst studieren kann, mit den
Grundlagen so weit vertraut zu machen, daß er
dieselben selbst in seiner Praxis anwenden kann.
Man muß sagen, daß dieser Zweck durch das
vorliegende, 483 Textseiten umfassende Werk in
vortrefflicher Weise erreicht ist. Es zerfällt in
einen theoretischen und in einen praktischen
Teil. In jenem werden die sämtlichen in Be-
tracht kommenden aktiven und passiven Bewe-
gungen und sonstigen Manipulationen genau be-
schrieben und größtenteils zugleich durch photo-
graphische Abbildungen veranschaulicht. Im
zweiten Teile wird deren Verwertung in den ver-
schiedenen Krankheitszuständen erklärt, wobei
sich Verf. fast überall auf eigene Beobachtungen
bezieht. Man erkennt daraus, wie außerordentlich
mannigfaltig sich die mechanische Behandlung
anwenden läßt. Abgesehen von den Erkran-
kungen des Muskel- und Nervensystems, gibt es
kaum irgend eine Krankheit, die nicht irgendwie
eine Indikation böte. Auf Einzelheiten einzu-
gehen, würde zu weit führen; es sei nur noch
hervorgehoben, daß die übersichtliche Anordnung
des Stoffes und das ausführliche Inhaltsverzeichnis
die praktische Brauchbarkeit des Werkes noch
erhöhen. Glossen (Grübe i. H.J.
Vorlesungen über Physiologie. Von M. v. Frey.
Verlag von Julius Springer, Berlin, 1904.
Das Buch, welches, wie in der Vorrede
betont ist, au6 dem Wunsche der Hörer des
bekannten Physiologen, eine ungefähre Wieder-
gabe seines mündlichen Vortrages zu besitzen,
entsprungen ist, bringt auf 392 Seiten einen
Führer durch das Riesengebiet der gesamten
Physiologie. Daß bei diesem gedrängten Räume
alles Beiwerk weggelassen werden mußte, ist
ganz selbstverständlich. Die hieraus sich ent-
wickelnde Gefahr, mit dem Unwesentlichen auch
Wesentliches zu übergehen, hat Verf. außer-
ordentlich geschickt vermieden, und es wird
niemand nach irgend einer wichtigen Tatsache
der Physiologie in dem v. Frey sehen Buche
vergeblich suchen. Für eine Neuauflage hält es
Ref. für wünschenswert, daß der Stoffwechsel-
lehre etwas mehr Raum gewidmet wird, vielleicht
auf Kosten einiger für ein kurzes Lehrbuch
etwas breit behandelter Kapitel der speziellen
Nerven- und Muskel -Physiologie.
Nach dem, was der Verf. durch geschickte
Anordnung und Behandlung der Materie, durch
viele wertvolle Literaturangaben und sehr über-
sichtliche Sach- und Namenregister geleistet hat,
kann das Buch sowohl dem Praktiker, der
wieder einmal seine physiologischen Kenntnisse
auffrischen und ergänzen will, als auch dem
Studierenden als Repetitorium warm empfohlen
werden. Die sehr gute Ausstattung des Buches
verdient noch besonders hervorgehoben zu werden.
Th. A. Maaß.
Hebammen -Lehrbuch. Herausgegeben im Auf-
trage des Kgl. Preußischen Ministers der geist-
lichen, Unterrichts und Medizinal -Angelegen-
heiten. Berlin, Verlag von Julius Springer,
1904.
Das neue Hebammen - Lehrbuch, dessen
Entwurf von M. Runge (Göttingen) aufgestellt
162
Literatur.
tTher&pentteche
Monatshefte.
und das alsdann in einer Kommission von Fach-
leuten seine jetzige Fassung erhalten hat, zeichnet
sich vorteilhaft von der jetzigen Ausgabe durch
genauere Schilderung der Anatomie und Physio-
logie des weiblichen Körpers aus; diesem Kapitel
schließt sich eine Schilderung der allgemeinen
Krankheitslehre an, die in dem bisherigen Lehr-
buch fehlte, die aber erforderlich schien, da
das neue Lehrbuch bestimmt ist, einem besser
vorgebildeten Material von Hebammen als Unter-
weisungsmittel zu diesen. Trotzdem sind die
Befugnisse, die den Hebammen bei notwendigen
Operationen zustehen, nicht erweitert, vielmehr
eingeschränkt worden, die Extraktion ist ver-
boten, und nur die Lösung der Arme und die
Extraktion des Kopfes erlaubt, falls der herbei-
gerufene Arzt nicht zeitig genug erscheinen
kann. Auch die Vornahme einer Wendung ist
nur in bestimmten Bezirken, in denen ärztliche
Hilfe schwer zu erhalten ist, erlaubt. Als Des-
infektionsmittel ist im allgemeinen Sublimat zu
verwenden, zu dem eine Reinigung mit Alkohol
hinzukommen muß, falls die Hebamme infektiöse
Stoffe berührt hat. — Zur Tamponade sind
sterilisierte Jodoformgazetampons zu verwenden.
Während durch diese Vorschriften schon die
Kosten, welche den Hebammen erwachsen, nicht
unbedeutend vergrößert werden, wird denselben
durch die Forderung der vermehrten Zahl von
Wochenbettbesuchen eine weitere Pflicht auf-
erlegt, für welche sie schwerlich bei der üblichen
Honorierung eine genügende Entschädigung er-
halten werden. In § 254 heißt es, daß es er-
wünscht ist, daß die Wochenbettbesuche min-
destens 3 Wochen hindurch erfolgen, und in
§ 25 der besonderen Berufspflichten werden für
die ersten 10 Tage, wenn möglich, 2 tägliche
Besuche gefordert, während im alten Lehrbuch
nach § 153 nur für die ersten 8 Tage, wenn
möglich, tägliche Besuche gewünscht werden.
Auf die Einschränkung der inneren Untersuchung
wird in dem Lehrbuch mit Recht großer Wert
gelegt, die äußere Untersuchung wird durch die
so klaren Leopoldschen Zeichnungen veran-
schaulicht, ohne daß die Forderung des sächsi-
schen Lehrbuches, die innere Untersuchung auf
ganz bestimmte Fälle zu beschränken, in denen
alsdann ärztliche Hilfe zu Rat zu ziehen ist,
durchgeführt wird. Im allgemeinen zeigt das
neue Lehrbuch namentlich durch die ausführ-
liche Schilderung von Wundkrankheit und Wund-
schutz einen weiteren Fortschritt im Kampfe
gegen das Wochenbettfieber. Möge es dieses
Ziel erreichen helfen, möge es der erste Schritt
für die notwendige Hebammenreform sein, welche
aber nur möglich wird, wenn bei den erhöhten
Pflichten auch eine Besserung der sozialen Lage
der Hebammen erfolgt. Falk.
Medizinische Volksbücherei. Laienverständliche
Abhandlungen, herausgegeben von Oberarzt
Dr. Kurt W i 1 1 h a ü e r , Halle a. S. Heft 1.
Allgemeines über den Krebs. Von Dr.
Heinrich Mohr.
In einem Vorwort sagt Witt hau er, was
die medizinische Volksbücherei bezweckt. Sie
soll aufklärend und belehrend wirken, die Leser
sollen lernen, wann sie die Hilfe eines Arztes in
Anspruch nehmen sollen; sie sollen dauernd
wieder das Vertrauen zum Ärztestand gewinnen,
das ihnen wenigstens teilweise durch das Treiben
der Kurpfuscher verloren gegangen war. Es ist
kein Zweifel, daß die Bestrebung, durch eine
solche medizinische Volksbücherei belehrend auf
das Volk zu wirken und damit dem Kurpfuscher-
wesen entgegenzutreten, eine sehr dankenswerte
ist, und daß man den Wunsch haben muß, daß
ein solches Unternehmen Erfolg haben möge.
Abgesehen von anderen Dingen, gehört hierzu,
daß die Mitarbeiter, die Verfasser der Artikel,
es verstehen, gemeinverständlich und klar zu
schreiben, daß sie nicht nur wissenschaftliche,
sondern auch bis zu einem gewissen Grade
schriftstellerische Fähigkeit besitzen. — Von
diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, muß das
1. Heft als ein wohl gelungenes betrachtet werden.
Es ist Mohr entschieden geglückt, in klarer
Weise die Entstehung, den Verlauf und die Be-
handlung der Krebskrankheit zu schildern. Seine
eindringliche Schilderung der Gefahren, welche
die Vernachlässigung und die kurpfuscherische
Behandlung der Krankheit für den betreffenden
Menschen nach sich zieht, wird ebenso wie der
Hinweis auf eine aussichtsvolle, sachgemäße, vom
Arzte vorgenommene Behandlung nicht verfehlen,
auf den Laien großen Eindruck zu machen.
Mögen die folgenden Abhandlungen, von
denen bereits 6 erschienen sind, in gleicher
Weise dem guten Zweck der Hefte gerecht
werden. Westenhoeffer.
Praktische If otlsem
und
empfehlenswerte Araneifoi
ieln.
Ober Prof. Schleich* kosmetischen Hautcreme«
Von Dr. W. Zeuner in Berlin (Original-
mitteilung).
An guten kosmetischen Präparaten ist kein
Überfluß und darum wird wohl vielen Ärzten
ein Hinweis auf obigen Hautcreme willkommen
sein. Er besteht hauptsächlich aus Wachspaste,
die beliebig viel Wasser und Fett aufzunehmen
im stände ist und der etwas Zinkoxyd zugesetzt
ist. Liebreich erkannte, daß einer der wich-
tigsten Körper unsrer Hautabsonderung das
Wachs darstellt, dieses ist ein Träger der Ge-
schmeidigkeit und befördert die Haarbildung.
Hierauf fußend erfand Schleich als erster ein
Verfahren, reines Bienenwachs mit Wasser zu
mischen. Vom Wachs weiß man, daß dasselbe
zu den Epidermis bildenden Mitteln gehört und
auf die Haut einen sehr wohltätigen Einfluß
ausübt. Die Wachspaste dient daher zur Aus-
heilung kleinster Wunden, Schrunden and
Hautrisse.
Da obiger Hautcreme einen sehr hohen Ge-
halt an Wachs besitzt, so eignet er sich vor-
züglich zur Hautpflege nicht nur bei Ärzten
nach Desinfektion und chirurgischer Beschäfti-
gung, um Sprodigkeiten und die äußerst lästigen
XIX. Jahrgang.!
Mlrs i»«iÄ. J
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
163
Ekzeme der H&nde und Arme zu verhüten,
sondern aoch bei jedermann, der infolge häufigen
Waschens in der kalten Jahreszeit an aufgesprun-
genen Händen leidet. Mancher Gynäkologe,
Anatom oder Chirurg mit strapazierter, reizbarer
Haut bedarf eines solchen Mittels, um ungestört
seinem Berufe obliegen zu können.
Aach bei Rauhigkeiten der Gesichtshaut
hat sich mir Schleiche Hautcreme in einer
ganzen Reihe von Fallen bei Damen bewährt,
die nach kraftiger Abseifung mittels Seifenspiritus
an Stelle des bisher gewohnten, die Poren ver-
stopfenden Puderna den rosig gefärbten Creme
gern benutzten und dadurch bald eine schönere
Haut erzielten. Ein besonderer Vorzug ist es,
daß dieser Hautcreme nicht unangenehm fettet
und doch der Haut einen schönen Glanz ver-
leiht. Er ist im Gebrauch sehr sparsam, die
Haut bleibt darnach, wenn er verrieben ist,
reizlos.
Bei Kindern verhütet seine fortgesetzte An-
wendung die Entstehung der intertriginösen
Ekzeme. Bei Frauen empfiehlt er sich als
Lippenpomade, sowie bei Rhagaden der Brust
und bei Wundsein der Vulva, wobei er das
Jucken und Brennen beseitigt. Er hat sich mir
bei weitem besser bewährt als die meisten anderen
Cosmetica und ist überall da indiziert, wo sonst
die verschiedenen Fette, wie Vaselin, Coldcream,
Byrolin, Lippenpomaden u. s. w. gebraucht
worden.
Schleich 8 Hautcreme ist in Tuben ä 50 Pf.
und 1 M. zu haben und wird hergestellt vom
Hofapotheker Dr. Laboschin, Berlin, Friedrich-
straße 19.
Zor Intravenösen Hetolinjektion. g*
Gegenüber Esch1) will ich nur bemerken,
daß nach Krause (Berl. kl. Wochenschr. XXXIX,
42, 1902) die durch das Hetol verursachte
Leukozytose nur bei intravenösen Injektionen
in erheblichem Grade auftritt, weil nach Baum-
garten die Leukozyten aus den in der nächsten
Umgebung des Tuberkels befindlichen Blut-
gefäßen stammen. Esch nennt die subkutane
Injektion einfach und ungefährlich und meint,
daß wohl kaum ein Arzt die intravenöse In-
jektion technisch für besonders schwierig halte,
dagegen scheine sie vielen Ärzten gewisse
Gefahren zu besitzen. Das ist es ja eben, was
ich bestreite. Die intravenöse Injektion ist ganz
ungefährlich, wie außer mir eine ganze große
Reihe von Autoren bezeugen. Ich habe nirgend
eine Äußerung Katzensteins entdecken können,
daß die Schmerzhaftigkeit des subkutanen Ver-
fahrens vermeidbar sei, Katzenstein behauptet
vielmehr und immerhin mit einer gewissen Ein-
schränkung, daß die Patienten von der intra-
muskulären Injektion im allgemeinen keine
schmerzhaften Empfindungen haben. Ein hie
und da entstehender geringfügiger Schmerz gehe
in wenigen Minuten zurück, — ist aber nach
meinen Erfahrungen geeignet, dem Patienten
das Wiederkommen zu verleiden. Im übrigen
») Therap. Monatshefte 1905, Heft 2, S. 110.
möchte ich Esch auf eine in dieser Zeitschrift
demnächst erscheinende Arbeit über Collargol
hinweisen. Er findet in derselben, was über
intravenöse Injektionen noch zu sagen wäre.
Weißmann (Lindenfels).
Pur da« beste Mittel gegen Schlingschmerzen bei
Kehlkopftuberkulose
hält Prof. Nikitin (St. Petersb. med. Wochenschr.,
45, 1904) die Pulverisation von Kokain mit
Morphin und Glyzerin
Cocaini muriat.
Morphini muriat. aa 0,25
Glycerini 4,0
Aq. destill. 160,0
und die Einspritzung 1/i proz. Nirvaninlösung
mit nachfolgender Einblasung von Orthoform,
oder noch besser von Dijodoform. Nach dieser
Manipulation hört der Schlingschmerz bei den
tuberkulösen Kranken mitunter für 12 bis
24 Stunden auf.
Bei Hordeolum
empfiehlt Michail owsky (Russ. med. Rundschau,
4, 1904) folgende Verordnungs weise:
Rp. Olei Eukalypti global, rectif. 4,0
Lanolini puriss. Liebreich
Vaselini flavi m 7,5
M. f. ungt. D. S. mehrere Male das Gersten-
korn damit einzureiben.
Ulcus crurto
hat Dr. Cebe (Allg. med. Centr.-Ztg., 3, 1905)
mittels Xeroform wiederholt zur Heilung ge-
bracht. Bei einer 83jährigen Frau, die mit
verschiedenen Mitteln erfolglos behandelt worden
war, wurde das Fußgeschwür täglich mit Sublimat-
lösung ausgewaschen und mit Xeroform ziemlich
dick bestreut. Vollständige Heilung des sehr
tiefen Geschwürs, das einen Durchmesser von
7 cm hatte, trat bereits nach 10 Tagen ein.
Bei einem alten Manne heilte ein ebenso be-
handeltes Ulcus cruris schon in 8 Tagen.
Pur die Behandlung schwerer veralteter Fuß-
geschwüre
hat Petretto in der med. Abteilung des Kranken-
hauses der barmherzigen Brüder in Graz (Münch.
med. Wochenschr. 52, 1904) sich der nachstehenden
Salbe mit bestem Erfolge bedient:
Rp. Argenti nitrici 0,3
Baisami peruviani 6,0
üngt. simpl. 90,0
M. f. üngt.
Dieselbe wird, in Ausdehnung des Fuß-
geschwürs auf Gaze oder Leinwand gestrichen,
aufgelegt.
Selbstleuchtender Zungentpatel. Von Dr. A x m an n ,
Erfurt.
Die Glasfabrik von Fr. R. Kirchner Erfurt-
Ilversgehofen hat einen nach Ansicht von
Dr. A x m a n n - Erfurt (Deutsche med. Wochen-
schrift, 1904, No. 25) praktischen selbst-
164
Praktisch« Notisan und •mpfehl*nswt>rte Arzneiformeln.
fTherapentüchs
L Monatshefts.
leuchtenden Zungenspatel angefertigt. Es ist
dies ein aus Milchglas mit entsprechender
Biegung hergestelltes Instrumont, an der Spitze
mit einem durchsichtigem Glasfenster versehen,
in die Höhlung kann eine kleine Glühlampe
gesteckt werden. Der ganze Apparat mit
Element wiegt 500 g. Ob er sich wirklich so
hervorragend für die Praxis eignen wird, mag
die Erfahrung lehren.
Nitropropioltabletten »Je Reagens auf Zucker im
Harn.
In diesen Heften: war in der M&rznummer
1902, S. 168 darauf hingewiesen, daß sich mit
Hilfe der Nitropropioltabletten auf bequeme Weise
Harnzucker nachweisen läßt. Wie nun Am rein
(Korrespondenzblatt für Schweizer Ärzte No. 2,
1905) zeigt, kann diese Probe, wenn sie ohne
gewisse Kautelen angestellt wird, leicht zu Irr-
tumern Veranlassung geben.
Die Reaktion beruht darauf, daß die Ortho-
nitrophenylpropiolsäure bei Gegenwart von
kohlensaurem Natrium in der Wärme durch
Traubenzucker unter Bildung von Kohlensäure
in Indigo übergeführt wird:
2C6H4(NOs)C = C-C00H-+-4H =
CI6H10N202 + 2CO, H- 2H,0.
Diese Indigobildung tritt auch in vielen
Fällen dann ein, wenn alle anderen Harnproben
die Abwesenheit von Traubenzucker erwiesen
haben. Welche Körper diese Indigoreaktion
geben', konnte bisher nicht ermittelt werden,
es gelingt aber, sie zu entfernen, wenn man den
zu prüfenden Harn mit Bleiessig schüttelt.
Um zu ein wandsfreien Resultaten zu ge-
langen, ist daher die Probe in folgender Weise
anzustellen: Etwa 5 ccm Harn werden mit 5
bis 6 Tropfen gewöhnlicher Bleiessiglösung ver-
setzt, kalt geschüttelt und durch gutes Filtrier-
papier filtriert. Von diesem Fi 1 trat werden
10 Tropfen zu 10 ccm Wasser, in dem eine
Nitropropioltablette gelöst ist, hinzugesetzt und
die Mischung nun erhitzt. Das Kochen ist
längere Zeit, 5 bis 6 Minuten, zu unterhalten,
da die Blaufärbung oft erst spät auftritt.
Die Empfindlichkeit der Probe kommt der
Nyl and ersehen Wismutprobe gleich, es lassen
sich mit Sicherheit noch 0,05 Proz. Trauben-
zucker nachweisen.
Der aa. Kongreß für innere Medizin
findet vom 12. — 15. April 1905 zu Wiesbaden
statt unter dem Vorsitze des Herrn Geheimrat
Erb (Heidelberg). Als Verhandlungsthema des
ersten Sitzungstages ist bestimmt: Über Ver-
erbung. 1. Referat: Über den derzeitigen Stand
der Vererbungslehre in der Biologie: Herr
H. E. Ziegler (Jena), 2. Referat: Über die Be-
deutung der Vererbung und der Disposition in
der Pathologie mit besonderer Berücksichtigung
der Tuberkulose: Herr Martius (Rostock). Vor-
träge haben angemeldet: Herr A. Hoff mann
(Düsseldorf): Über Behandlung der Leukämie
mit Röntgenstrahlen; Herr Paul Krause (Bres-
lau): Über Röntgenstrahlenbehandlung der Leu-
kämie und Pseudoleukämie; Herr Schütz (Wies-
baden): Untersuchungen über die Schleimsekretion
des Darmes; Herr M. Matthes (Jena): Über
Autolyse; Herr Glemm (Darmstadt): Über die
Bedeutung der Heftpflasterstützverbände für die
Behandlung der Bauchorgane; Herr Siegfried
Kaminer und Herr Ernst Meyer (Berlin):
Experimentelle Untersuchungen über die Bedeu-
tung des Applikationsortes für die Reaktionshöhe
bei diagnostischen Tuberkulininjektionen; Herr
A. Bickel (Berlin): Experimentelle Unter-
suchungen über den Einfluß von Kochsalzthermen
auf die Magensaftsekretion; Herr August La-
queur (Berlin): Mitteilungen zur Behandlung
von Herzkrankheiten mit Wechselstrombädern;
Herr Aufrecht (Magdeburg): Erfolgreiche An«
Wendung des Tuberkulin bei sonst fast aus-
sichtslos kranken fiebernden Phthisikern ; Herr
Hornberger (Frankfurt a. M.): Die Mechanik
des Kreislaufes; Herr Rumpf (Bonn): Über
chemische Befunde im Blute und in den Organen
bei Nephritis; Herr L. Gürisch (ParchwiU):
Die tonsülare Radikaltherapie des Gelenkrheuma-
tismus (mit Demonstrationen) ; Herr Rothschild
(Soden a.T.): Der angeborene Thorax paralyticus;
Herr O. Hesel (Wiesbaden): 1. Beitrag zu den
Frühsymptomen der Tabes dorsalis; 2. Über
eine gelungene Nervenpfropfung, ausgeführt zur
Heilung einer alten stationär gebliebenen Läh-
mung einiger Muskeln aus dem Gebiete des N.-
peroneus; Herr Bernh. Fischer (Bonn): Ober
Arterienerkrankungen nach Adrenalininjektionen:
Herr Gerhardt (Erlangen): Beitrag zur Lehre
von der Mechanik der Klappenfehler; Herr
Lüthje (Tübingen): Beitrag zum experimentellen
Diabetes; Herr Kohnstamm (Königstein i. T.):
Die zentrifugale Strömung im sensiblen Nerven;
Herr Goldman (Brennburg -Sopron): Neuere
Beiträge zur Eisentherapie bei Chlorose und
Anämie; Herr Friedel Pick (Prag): Über In-
fluenza; Herr Turban (Davos): Demonstration
und Erläuterung mikroskopischer Präparate:
1. Tuberkelbazillen: Kern- und Membranbildung;
2. Elastische Fasern: Fettorganisation und Doppel-
färbung; 3. Geheilte Kaverne; 4. Tuberkulose
und Karzinom.
Mit dem Kongresse ist die übliche Aus-
stellung von Instrumenten, Apparaten und Prä-
paraten, soweit sie für die innere Medizin von
Interesse sind, verbunden.
Anmeldungen von Vorträgen und für die
Ausstellung sind zu richten an Geheimrat Dr.
Emil Pfeiffer, Wiesbaden, Parkstr. 13.
Ärztliche Studienreise 1905.
Wie wir vernehmen, wird die diesjährige
ärztliche Studienreise am 13. September beginnen.
Von München ausgehend und in Meran, dem Ort
der diesjährigen Naturforscher -Versammlung,
endend, sollen folgende Bade- und Kurorte in
die Reise einbezogen werden : Ischl, ReichenhaJl,
Berchtesgaden, Gastein, Gossensaß, Levico, Ron-
cegno, Riva, Gardone, Solo, Arco, Meran.
Für die Redaktion verantwortlich: Dr. JLLanggaard in Berlin SW.
Verlag von Julius Springer in Berlin N. — Universitats-Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin tf.
Therapeutische Monatshefte.
1905. April.
Originalabhandlungen.
Über die Behandlung der Kehlkopf-
tuberknlose mit Phenosalyl.
Von
M. W. Dempet,
Chefarzt de* Jaltasehen Sanatoriums,
gegründet xnm Andenken an Kaiser Alexander III.1)
Im Jahre 1900 hat S. F. v. Stein über
seine Beobachtungen über die Wirkung des
Phenosalyls bei Kehlkopftuberkulose berichtet
und sich über das Mittel sehr günstig aus-
gesprochen. So soll die schmerzhafte Dys-
phagie schon nach der ersten Applikation
des Phenosalyls bedeutend nachlassen und
nach der dritten bezw. vierten Applikation
vollständig verschwinden. Desgleichen will
v. Stein von der Anwendung des Pheno-
salyls günstige Resultate bei Infiltrationen,
Geschwüren, bei Aphonie etc. gesehen haben.
Das Phenosalyl, welches in die Praxis
von Dr. Christmas eingeführt worden ist,
nimmt seiner bakteriziden Kraft nach, trotz-
dem es weniger giftig ist, nach Sublimat die
zweite Stelle ein (in Bezug auf den Staphylo-
coccns). Um in einer Minute Anthraxbazillen
zu toten, ist eine 3proz., zur Abtötung des
Pneumobazillus und des Bacillus tuberculosis
eine 4 proz., zur Abtötung der Typhus- und
Diphtheriebazillen eine 5 proz. Phenosalyl-
lÖ8ung erforderlich.
Um das Phenosalyl auf seine Wirkung
zu prüfen, habe ich es in der Privatpraxis
sowohl, wie auch in sämtlichen mir zugäng-
lichen Anstalten fast ausschließlich anzu-
wenden begonnen8). Nur in wenigen, nicht
mehr als in zehn, Fällen habe ich andere
Mittel gebraucht. Diese Fälle betrafen Kranke
mit sehr ausgedehnten Kehlkopfaffektionen,
*) Autorisierte Übersetzung von M.Lubowski-
Berlin.
*) Verf. hat zunächst ein einheimisches, von
F errein- Moskau bezogenes Präparat, dann aber
das von den Höchster Farbwerken hergestellte
Phenosalyl verwendet. Ob die beiden Präparate
identisch sind, hat Verf. anscheinend nicht mit
Sicherheit festzustellen vermocht. Jedenfalls käme
für Deutschland das Höchster Präparat in Betracht,
welches genau nach den Vorschriften von Dr. Chris t-
mas hergestellt wird und aus Karbolsäure, Salizyl-
säure, Benzoesäure, Zitronensäure, Glyzerin und
ätherischen ölen zusammengesetzt ist. (Anmerk.
des Übersetzers.)
Th M. 1905.
wo eigentlich schon nichts mehr in er-
wünschtem Maße half.
Zunächst verwendete ich das Phenosalyl
den Vorschriften v. Steins gemäß in 3 bis
5 proz. Glyzerinlösungen nach vorangehender
Kokainisierung der Schleimhaut (Cocaini
muriatici 0,5, Antipyrini 0,5, Acidi car-
bolici 0,1, Aquae destill atae 10,0), dann be-
gann ich ausschließlich eine 3 proz. wäßrige
Lösung anzuwenden, und zwar aus dem
Grunde, weil vielen Kranken das Einhüllungs-
gefühl unangenehm war, welches nach der
Applikation der Glyzerinlösung zurückblieb
und nicht selten Brechreiz verursachte; des-
gleichen nahm ich von der Anwendung kon*
zentrierterer Lösungen Abstand, weil die
Applikation solcher Lösungen schmerzhaft
war. Letzteres gilt übrigens hauptsächlich
für konzentrierte wäßrige Lösungen, während
Glyzerinlösungen von gleicher Konzentration
etwas milder wirken. Die Bepinselungen
wurden 2 — 3 mal wöchentlich ausgeführt;
in manchen Fällen mußten dieselben täglich
stattfinden. Waren die spontanen Schmerzen
gering, so war eine vorangehende Kokaini-
sierung der Schleimhaut nur kurze Zeit, un-
gefähr 3 — 4 mal, erforderlich. Dann wirkte
schon das Phenosalyl selbst in genügendem
Maße schmerzstillend. In ernsteren Fällen
mußte man die Schleimhaut längere Zeit kokaini-
sieren, während man in schweren Fällen ohne
Kokain überhaupt nicht auskommen konnte.
Aus dem mir zur Verfugung stehenden
Material greife ich nur diejenigen Fälle heraus,
die nicht weniger als 1 Monat unter meiner
Beobachtung gestanden haben. Nach dieser
Einschränkung verteilt sich mein Material
folgendermaßen :
1. Ulcus (excoriatio) chordae vocalis verae . 5
2. Ulcera (excor.) chordarum v. verarum . . 7
3. Ulcus in spatio interarytaenoideo ... 2
4. Ulcus epiglottidis 2
5. Chorditis unilateralis 7
6. Chorditis bilateralis 7
7. Infiltratio chordae voc. spuriae .... 2
8. Infiltrationes chordarum v. spuriarum . . 1
9. Infiltratio in spatio interarytaenoideo . . 13
10. Infiltratio cartilaginis interar 1
11. Infiltrationes cartilaginum interar. ... 2
12. Infiltratio epig lottidis et ligam en t. aryepiglot. 5
54
13
166
Dempel, Behandlung d«r Kehlkopftub«rkulot«.
r'harapeutiache
Monatshefte.
Bei 23 Patienten waren verschiedene
Kombinationen der oben erwähnten Formen
von tuberkuloser Kehlkopfaffektion vorhanden,
bei den übrigen 23 bestand eine diffuse
Affektion des ganzen Kehlkopfs.
Die von mir gewonnenen Resultate lassen
sich folgendermaßen formulieren:
Am besten zeigt sich die Wirkung des
Phenosalyls bei seichten Geschwüren und
Erosionen. Die Heilung vollzieht sich bis-
weilen frappierend rasch: nach 3 — 5 Pinse-
lungen und vollständig unabhängig vom Grade
der Affektion der Lungen und vom Allgemein-
zustand. Tiefere Geschwüre erheischten eine
längere Behandlungsdauer (1 — 2 Monate) und
verheilten häufig überhaupt nicht.
Mäßige Infiltrationen machten zwar eine
beharrliche Phenosalylanwendung erforderlich,
boten aber nichtsdestoweniger im Sinne einer
Heilung ziemlich dankbare Formen. Bedeu-
tende Infiltrationen trotzten meistenteils der
Behandlung und ließen nur in gewissen Fällen
an Umfang etwas nach. Am schwierigsten
bildeten sich bedeutende Infiltrationen des
Spatium interarytaenoideum und Schwellungen
der Knorpel zurück.
In denjenigen Fällen, in denen neben In-
filtrationen Geschwüre vorhanden waren, war
der Ausgang hauptsächlich durch die Tiefe
der letzteren bedingt: je tiefer die Geschwüre
waren, desto aussichtsloser war die Behand-
lung, selbst wenn Kürettement angewendet
wurde.
Heiserkeit und Aphonie verschwanden,
wenn sie durch Erosionen an den Rändern
der wahren Stimmbänder oder durch kleine
Geschwüre bedingt waren, bei Verheilung der
letzteren vollständig. In anderen Fällen trat
Besserung weit seltener ein.
Was den Einfluß des Phenosalyls auf die
Schmerzen beim Schlingakt betrifft, so halte
ich denselben immerhin für sehr wohltuend,
wenn ich auch nicht in der Lage bin, mich
der Ansicht v. Steins voll und ganz an-
schließen zu können. Gewiß kommt in diesen
Fällen auch der vorangehenden Bepinselung
mit 5proz. Kokainlosung eine wesentliche Be-
deutung zu; man muß aber anerkennen, daß
die Kokainwirkung bei der Anwendung des
Phenosalyls gesteigert wird und anhaltender
ist, als in denjenigen Fällen, in denen das
Phenosalyl nicht angewendet wird.
Alles in allem glaube ich sagen zu können,
daß wir im Phenosalyl ein ziemlich gutes
Mittel zur Behandlung der Kehlkopf tuber-
kulöse haben, welches jedenfalls nicht schlech-
ter ist, als die bis jetzt vorhandenen Mittel.
Die Wirkung des Phenosalyls ist auch keines-
wegs etwas Unerwartetes, wenn man in Be-
tracht zieht, daß dasselbe aus Ingredienzen
besteht, weiche, wie Karbolsäure, Milchsäure
und Menthol, sich in der gegebenen Richtung
am meisten bewährt haben. Zu den Vor-
zügen des Phenosalyls rechne ich die voll-
ständige Schmerzlosigkeit der Applikation
von Lösungen der angegebenen Konzentration,
die Steigerung der Wirkung des Kokains und
die Billigkeit des Mittels ; es sind dies alles
Momente, die meiner Meinung nach von nicht
geringer Bedeutung sind.
Im nachstehenden zähle ich die Fälle
auf, in denen, wie mir scheint, eine voll-
vollständige Heilung der Kehlkopftuberkulose
erzielt worden ist.
Ohne die Frage von dem unmittelbaren
Einfluß des Phenosalyls auf die erzielte Hei-
lung a priori zu lösen und die gewaltige Be-
deutung der Steigerung der Lebensenergie des
Organismus, welche unter dem Einflüsse
unseres Klimas, sowie des hygienisch-diäte-
tischen Regimes Platz greift, durchaus an-
erkennend, glaube ich doch darauf hinweisen
zu müssen, daß ich nicht nur Fälle von be-
deutender Besserung, sondern auch solche
von vollständiger Genesung von Kehlkopf-
tuberkulose zu einer Zeit erzielt habe, zu
der der Allgemeinzustand des Organismus
sich immer mehr und mehr verschlimmerte
und der Kranke dem sicheren Tode entgegen-
ging. In solchen Fällen kann man, meine
ich, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die
erzielte Heilung auf das betreffende Mittel
zurückfuhren, wenn auch andererseits allge-
mein bekannt ist, daß die Ausheilung eines
bestimmten tuberkulösen Herdes Hand in Hand
mit der Ausbreitung des tuberkulösen Pro-
zesses in der nächsten Nachbarschaft gehen
kann, und daß der Allgemeinzustand, sowie
die Vitalität sowohl von der Bedeutung des
erkrankten Organs und dem Grade der Affek-
tion desselben, wie auch von der Vergiftung
des ganzen Körpers mit Toxinen abhängen.
1. Fall. Friseur S., Lungentuberkulose zweiten
Grades. Krank seit 2 Jahren. Temperatur steigt
täglich bis 37,5— 38,5. Erkrankung des Halses seit
14 Tagen : Heiserkeit, zeitweise Aphonie und leichter
Schmerz beim Schlucken. Infiltration beider falschen
Stimmbänder, besonders des rechten, und mäßige
Schwellung, sowie Rötung der beiden wahren Stimm-
bänder. Am Rande des linken wahren Stimmbandes
befindet sich ein oberflächliches Geschwür, welches
ca. % der Länge des Bandes einnimmt. Die Pinse-
lungen mit Phenosalyl wurden täglich 2 Vi Monate
lang angewendet. Nach 1 Monat wurde die Stimme
reiner; die Schmerzhaftigkeit beim Schlucken blieb
etwas länger bestehen. Gegen Ende der Behand-
lang zeigte der Kehlkopf normales Aussehen. Der
Prozeß in den Lungen schreitet fort, der Patient
fühlt sich aber bedeutend wohler und ist arbeits-
fähig. Temperatursteigerungen finden selten statt
Der Patient befand sich unter meiner Beobachtung
mehr als 2 V, Jahr.
Derselbe Patient klagte über häufige Hämoptoe.
Letztere geht rasch vorüber und hat auf den All-
XIX. Jabrgang.l
April 1905. J
D«mpel, Behandlung dar Kehlkopftuberkulose.
167
gemeinzustand nur geringen Einfluß, abgesehen
natürlich davon, daß sich bei dem Patienten dabei
Depression und Todesangst einstellt. Wegen dieser
Blutungen wurde der Patient häufig ins Bett ge-
schickt und der üblichen Behandlung nebst ent-
sprechender Di&t unterworfen. Bei der Unter-
suchung des Nasenrachenraumes fand ich bedeu-
tende adenoide Wucherungen, die bei Berührung
leicht bluteten. Als letztere entfernt wurden, kam
die Hämoptoe nicht mehr wieder, woraus man
schließen kann, daß eben die Adenoiden die Ur-
sache der Hämoptoe waren.
2. Fall. Eisenbahnbeamter. Lungentuberkulose
zweiten Grades, krank seit 2 Jahren, klagt über
Heiserkeit, die vor kurzem aufgetreten ist. Mäßige
Schwellung und ziemlich starke Rötung beider
wahren Stimmbänder. Erosionen an den Processus
vocales der Knorpel. Phenosalyl. 8 Tage lang
tägliche Pinselungen, dann 3 Wochen lang solche
einen Tag um den anderen. Vollständige Genesung.
Der Kehlkopf zeigt normales Aussehen. Beob-
achtungsdauer 10 Monate.
3. Fall. Heilgehülfin G. Lungentuberkulose
zweiten Grades. Heiserkeit seit 1 Monat. Infil-
tration des linken falschen Stimmbandes (das
wahre Stimmband ist fast nicht zu sehen) und
leichte Schwellung des Spatium interarytaenoideum.
Phenosalyl. IV, Monate lang Pinselungen 2 — 3 mal
wöchentlich. Die Stimme wurde reiner, Infiltra-
tionen und Schwellung verschwanden spurlos. Der
Prozeß in den Lungen besserte sich zunächst, nahm
aber dann etwas zu. Beobachtungsdauer ca. 1 Jahr.
4. Fall. Lehrerfrau. Tuberkulose ersten Grades.
Die Patientin klagt über Druckgefühl im Halse und
belegte Stimme. Infiltration des rechten falschen
Stimmbandes (das wahre Stimmband ist fast nicht
zu sehen) und Unebenheit des Spatium interary-
taenoideum. Phenosalyl -Pinselungen einen Monat
lang einen Tag um den anderen. Die Infiltration
verschwand fast vollständig und blieb am vorderen
Ende des wahren Stimmbandes kaum ausgesprochen.
Im übrigen zeigt der Kehlkopf normales Aussehen;
die Stimme ist reiner. Beobachtungsdauer 2 1/2 Jahre.
5. Fall. Musiklehrerin. Lungentuberkulose
dritten Grades. Die Patientin klagt, daß es ihr
schwer fällt, wenn sie zu sprechen anfängt, und
daß ihre Stimme nicht ganz rein ist. Mäßige In-
filtration des Spatium interarytaenoideum. Pheno-
salylbehandlung 1 Monat lang, Pinselungen 2 mal
wöchentlich. Hierauf wurden letztere zufallig für
die Dauer eines Monats ausgesetzt, und gegen
Ende dieses Monats stellte sich bei der Patientin
Aphonie ein. Bei der Untersuchung fand man ein
seichtes Geschwür am linken Processus vocalis.
Wiederaufnahme der Pinselungen, und nach einem
Monat hatte der Kehlkopf wieder normales Aus-
sehen. Die Patientin gewann ihre Stimme wieder,
was für sie allerdings der einzige Trost war; ihr
Gesundheitszustand verschlimmerte sich immer mehr
und mehr, und nach 3 Monaten erlag sie ihrem
Leiden. Die Stimme blieb aber bis zum Tode rein,
und die Patientin hatte von seiten des Kehlkopfs
keine Beschwerden.
6. Fall. Rechtsanwalt Lungentuberkulose
ersten Grades. Heiserkeit. Der Patient wurde
mir mit der Diagnose „Kehlkopftuberkulose u zu-
gewiesen. Die Untersuchung ergab Schwellung
und ziemlich hochgradige Rötung des linken wahren
Stimmbandes. Phenosalylbehandlung 11/* Monate
lang, Pinselungen einen Tag um den anderen. Die
Stimme wurde wieder normal, und auch das Band
bekam sein normales Aussehen. Beobachtungs-
dauer 4 Monate.
7. Fall. Student des orientalischen Instituts
zu Wladiwostok. Lungentuberkulose dritten Grades.
Heisere Stimme und dann Aphonie, welche letztere
sich erst in Jalta eingestellt hat. An Heiserkeit
litt der Patient auch früher, jedoch nicht häufig
und nur vorübergehend. Die Untersuchung ergab
Schwellung und Rötung beider wahren Stimmbänder
und ziemlich tiefe Erosionen an deren Rändern.
Der Patient wurde 2 Monate lang mit Phenosalyl-
Pinselungen behandelt. Gegen Ende der Behand-
lung wurde die Stimme reiner. Gegenwärtig zeigt
der Kehlkopf vollständig normales Aussehen. Beob-
achtungsdauer 9 Monate.
Der 8. Fall kann augenscheinlich als Beispiel
von dauernder Besserung gelten. Der Patient,
Mitglied der Hof kapeile, wurde aus Petersburg
mit der Diagnose „ Kehlkopftuberkulose u nach Jalta
geschickt. Lungen gesund. Der Patient klagt über
geringe Heiserkeit und Schmerzhaftigkeit beim
chlucken. Infiltration der Epiglottis (0,8 cm dick)
und Unebenheit des Spatium interarytaenoideum
mit zirkumskripter Rötung der Schleimhaut des
linken Knorpels. Der Patient wurde 1 Monat lang
mit Phenosalylpinselungen (einen Tag um den
anderen) behandelt. Das Spatium interarytaenoideum
und die Schleimhaut haben normales Aussehen
bekommen; dio Stimme wurde rein. Die Schwellung
der Epiglottis ließ nach, aber unbedeutend. Im
folgenden Monat machte ich unter Beibehaltung
der Pinselungen Inzisionen. Die Epiglottis wurde
zweimal so dünn wie zuvor. Hierauf brach ich die
Behandlung ab und schlug dem Patienten vor, sich
selbst zu pinseln, zunächst mit Phenosalyl, dann
mit 20 proz. Lösung von Menthol in ÖL Der Patient
befindet sich 1 Va Jahre unter meiner Beobachtung,
und ich habe bis jetzt eine Veränderung in den
Konturen der Epiglottis nicht wahrgenommen. Der
Patient erfreut sicTi gegenwärtig einer vorzüglichen
Gesundheit, hat keine Beschwerden und sieht
blühend aus.
Wohl jeder begreift die Schwere der Er-
krankung an Lungentuberkulose. Es ist aber
nicht minder bekannt, daß die gleichzeitige
Affektion des Kehlkopfes mit demselben Pro-
zeß die Lage des Patienten in sehr bedeu-
tendem Grade verschlimmert. Wenn man
schon nicht selten äußerst kleinmütigem und
hoffnungslosem Verhalten der Kranken und
deren Angehörigen bei Erkrankungen der
Lungen begegnet, namentlich wenn sie von
dem wahren Charakter der Krankheit zum .
ersten Mal erfahren, so wird diese Erschei-
nung in Bezug auf die Kehlkopftuberkulose
auf Schritt und Tritt beobachtet. Die Pa-
tienten sind dermaßen von dem traurigen
Ausgang der Krankheit überzeugt, daß der
Arzt ein nicht kleines Quantum an Beharr-
lichkeit und Geduld aufwenden muß, um in
den Patienten Hoffnungen wachzurufen. Die
Furcht vor „Kehlkopf seh windsucht" und vor
dem damit verbundenen „Hungertode" ist
sehr groß, und man muß zugeben, daß die-
selbe auf ziemlich ernsten Gründen beruht.
Die Initialformen der Kehlkopftuberkulose
verlaufen, falls sie keine Schmerzen oder
keine besonders auffallenden Veränderungen
der Stimme, wie dies auch in sehr zahl-
13*
168
Demp«l, Behandlung dar Kehlkopftuberkuloie.
rTher*p«titi«chA
L Monatahefte.
reichen Fällen zu sein pflegt, hervorrufen,
latent. So kann es 1, 2 und noch mehrere
Jahre gehen, sodaß man sich an den Spezial-
arzt nur dann wendet, wenn sich der Zu-
stand des Patienten in hohem Grade ver-
schlimmert und der Prozeß im Kehlkopf
eine hochgradige Exazerbation aufweist. Wenn
nun der Spezialarzt erklärt, daß der Kehl-
kopf seiner Meinung nach schon seit längerer
Zeit erkrankt sei, staunen der Kranke sowohl,
wie dessen Angehörige und versichern das
Gegenteil. Ich bin einem solchen Verhalten
mehrere Male selbst bei durchaus intelligenten
Personen begegnet, und auch augenblicklich
habe ich 2 solche Patienten in Behandlung.
Bei dem einen besteht ein Geschwür der Epi-
glottis, welches fast das ganze mittlere Drittel
derselben bis zur Zungenwurzel zerstört hat,
wobei der Patient auch nicht die geringste
Ahnung von der Existenz des Geschwürs
hatte; bei dem zweiten wurde die geschwollene
Epiglottis, um dem Prozeß Einhalt zu tun,
exstirpiert, wobei der Patient gleichfalls in
hohem Maße überrascht war, als er von der
Erkrankung seiner Epiglottis erfuhr. In dieser
Tücke des Verlaufs der Krankheit liegt übri-
gens die Erklärung für die Angst, von der
ich im vorstehenden gesprochen habe. Die
Patienten erfahren von der Erkrankung erst
dann, wenn es schon wirklich zu spät ist.
Infolgedessen hat im. Publikum die Ansicht
Platz gegriffen, daß Kehlkopftuberkulose stets
letal verlaufen müsse.
Indem ich über Fälle von Genesung be-
richtet habe, bin ich natürlich weit davon
entfernt, den günstigen Einfluß ausschließlich
auf das Phenosalyl zurückführen zu wollen,
und will hauptsächlich noch einmal bestätigen,
daß die Kehlkopftuberkulose heilbar ist. Ge-
wiß weiß man es auch ohne mich, ebenso
wie das, daß in manchen Fällen Heilung
spontan eintritt; immerhin meine ich, daß,
je mehr günstige Beobachtungen veröffentlicht
werden würden, desto sicherer der Arzt vor-
gehen und desto fruchtbarer seine Arbeit sein
würde.
Als ich meine Fälle von geheilter Kehl-
kopftuberlose sammelte, war ich bestrebt,
möglichst vorsichtig zu Werke zu gehen, und
habe nur diejenigen mitgeteilt, die für mich
außer Zweifel standen. Wenn man diese Fälle
durchsieht, kann man die Wahrnehmung machen,
daß unter den genesenen Patienten keine vor-
handen sind, bei denen eine Affektion der
Knorpel bestanden hätte. Ich meine, daß
diese Erscheinung keine zufällige ist und
als Bestätigung der Ansicht betrachtet werden
kann, daß die Erkrankung der Knorpel die
Prognose in hohem Grade verschlimmert.
In meinem Aufsatz spreche ich ausschließ-
lich von Genesung und vermeide absichtlich
von denjenigen Fällen zu sprechen, die man
als mehr oder minder bedeutende Besserungen
bezeichnen könnte. Ich habe so gehandelt,
weil es leichter und bedeutend objektiver
und infolgedessen der Wahrheit näher ist,
von Genesung zu sprechen, wenn eine Unter-
suchung des Kehlkopfes normales Aussehen
desselben zu Tage fördert und keine irgend-
wie ernste Zweifel darüber aufkommen läßt,
als wenn man über relative Genesung oder
Besserung spricht. Dem letzteren Modus
haftet stets etwas Subjektivität an und macht
meiner Meinung nach behufs Vermeidung un-
willkürlicher Irrtümer eine längere Beobach-
tung erforderlich.
Aus der Kreislrrenanttalt Erlanget».
(Dir.: MediKlMlrat Dr. Warichmldt.)
Einige Erfahrungen mit Neuronal.
Von
Dr. Euler, Assistenzarzt
Die günstigen Resultate mit Neuronal,
von denen E. Schultze1) auf der Versammlung
des Deutschen Vereins für Psychiatrie in
Göttingen zu berichten wußte, haben inzwischen
zu weiteren Versuchen mit dem neuesten
Schlafmittel geführt. So berichtet Becker8)
über 50 Fälle von Neuronalbehandlung in der
Anstalt Grafenberg, bei denen sich das neue
Hypnoticum als ein recht brauchbares und
durchaus unschädliches Schlafmittel erwies.
Ebenso hat es Deiters3) in einer Reihe von
Fällen zum Teil längere Zeit hindurch gegeben
und zwar gleichfalls mit recht befriedigendem
Resultat. Die beiden genannten Autoren
stimmen ebenso wie Siebert*), der die in
der Bonner Heil- und Pflegeanstalt gesam-
melten ausgedehnten Erfahrungen mit Neu-
ronal publiziert hat, darin überein, daß dem
neuen Mittel keinerlei schädliche Neben*
Wirkungen anhaften; auch wurde von keinem
Autor eine kumulierende Wirkung gesehen;
die Dosen bewegten sich zwischen 0,5 und
3,0 g; die Wirkung setzte meist rasch ein;
ein vollständiges Ausbleiben derselben wurde
selten beobachtet.
Ganz so befriedigend waren die Er-
fahrungen nicht, die in der hiesigen Kreis-
irrenanstalt mit Neuronal gemacht wurden«
Das neue Mittel fand seine Anwendung bei
*) Sv Münchner med. Wochenschr. 1904, No. 25»
') „Über Versuche mit Neuronal." Psychiatrisch-
neurolog. Wochenschr. 1904, No. 18.
3) Referiert Zentralblatt für Nervenheilkunde
und Psychiatrie 1904, No. 174.
4) Über die hypnotische Wirkung des Neuronais.
Psychiatrisch- neurolog. Wochenschr. 1904, No. 10.
XIX. Jahrgang."!
April 1906. J
Euler, Erfahrungen mit Neuronal.
169
ca. 40 Fällen der verschiedensten Krankheits-
formen und wurde bei mehreren Kranken
teils mit kurzen Unterbrechungen, teils täglich
bis zu zwei Wochen gegeben. Die erstmalige
Dosis betrug, falls es sich nicht um stärkere
Aufregungszustände handelte, fast durchweg
0,5. Doch war es nur eine verschwindend
kleine Zahl, und zwar hauptsächlich Frauen,
bei denen die genannte Menge zu einem
positiven Ziel führte, sodaß in den weitaus
meisten Fällen auch von einfacher Schlaf-
losigkeit zu einer größeren Dosis gegriffen
werden mußte; je nach dem Grade der Auf-
regung stieg dann die Menge bis zu 3,0 als
Einzel- und 6,0 als Tagesdosis. Die Form
der Darreichung war dieselbe, wie sie auch
von andern angegeben wurde: bei einsichtigeren
Kranken in Oblaten, bei weniger einsichtigen
und erregteren Kranken in Flüssigkeit gelost.
Die letztere Art hat jedoch insofern ihre
Nachteile, als der Geschmack des Neuronais
vielfach als sehr unangenehm empfunden wird
und das Mittel im Wasser sich nur schwer löst.
Die Darreichung von mehr als 2,0 Neu-
ronal auf einmal kam indessen im weiteren
Verlaufe der Versuche nur mehr selten vor;
denn es zeigte sich schon nach kurzer Zeit, daß
fast in allen Fällen, in denen 2 g und weniger
von Anfang an keine Wirkung zu erzielen
vermochten, eine weitere Steigerung nutzlos
war, da solche Patienten auf Neuronal über-
haupt nicht reagierten oder zum mindesten
nicht ruhiger wurden. Leider erwies sich
nun nach unsern Erfahrungen die Zahl der
gegen Neuronal intoleranten Personen wesent-
lich größer, als dies bei andern Mitteln der
Fall ist, eine Beobachtung, die um so be-
dauerlicher erschien, als in den weitaus meisten
Fällen, in denen das Mittel seine volle Wir-
kung entfalten konnte, das Einsetzen dieser
Wirkung eine überraschend schnelle war.
Und darin liegt unzweifelhaft ein großer Vor-
zug des Neuronais vor manchen andern Nar-
coticis. Hiefur einige Beispiele:
Ein Epileptiker, der psychische Äquiva-
lente in Gestalt von hochgradigen Angst-
und Erregungszuständen hatte, während deren
er sich und andern gleich gefährlich war,
erhielt in einem solchen Zustande 2 g Neu-
ronal. Während sonst der Paroxysmus selbst
bei Anwendung größter Dosen andrer Nar-
cotica eine Stunde und länger dauerte, war
er diesmal bereits nach einer Viertelstunde
abgeklungen und in ruhigen Schlaf über-
gegangen. In der Folge wurden dann dem
Patienten 2 g Neuronal gegeben, sowie sich
die ersten Zeichen eines herannahenden Sturmes
bemerkbar machten, und es gelang auch wirk-
lich eine Zeit lang, den Erregungszustand zu
kupieren.
Mehrere an Dementia praecox leidende
Patienten, die besonders nachts trotz großer
Dosen von Narcoticis ständig unruhig waren,
erhielten teils 1,5, teils 2,0 Neuronal. Eine
Viertelstunde später waren sie bereits wesent-
lich ruhiger und ungefähr eine halbe Stunde
später lagen sie sämtlich in tiefem Schlaf.
Von zwei leicht erregten Paralytikern,
die beide 1,0 erhalten hatten, schlief der eine
bereits nach 10 Minuten, der andere nach
etwa V4 Stunde.
Ahnliche Beispiele ließen sich noch mehr
anführen. Daß indessen, um dies gleich hier
zu erwähnen, gewiße Erregungszustande be-
sonders günstig von Neuronal beeinflußt
wurden, wie solches Becker (s. 1. c.) z. B.
bei Paralytischen und Imbezillen gefunden
hat, fand bei unserm Krankenmaterial keine
Bestätigung, wenigstens was die Paralytiker
anlangt. Bezüglich der Imbezillen konnten
mangels geeigneter Fälle keine weiteren Ver-
suche angestellt werden. Auch die Epilep-
tiker, für deren Behandlung man sich von
dem Neuronal bei seinem hohen Bromgehalt
(41 Proz.) besonders günstige Resultate ver-
sprechen könnte, reagierten nicht anders auf
das Mittel wie sonstige Krankheitsformen
sowohl nach der hypnotischen wie nach der
sedativen Seite. Ein im Status epilepticus
befindlicher Patient z. B., der wegen voll-
ständiger Nahrungsverweigerung mit der Sonde
ernährt werden mußte, erhielt mehrere Tage
lang jedesmal in der Fütterung 1,5 Neuronal,
ohne daß irgend eine Wirkung sich gezeigt
hätte. Zwei andere Epileptiker mit häufigen
Anfällen bekamen täglich 4,5 Neuronal eben-
falls ohne bemerkenswertes Resultat, zwei
weitere Fälle dagegen, sonst ständig erregt,
waren auf Neuronal meist ruhig, ohne zu
schlafen. Eine Verminderung der Zahl der
Anfälle auf Neuronal wurde bei keinem Epi-
leptiker beobachtet.
Der durch Neuronal erzielte Schlaf dauerte
durchschnittlich 5 — 6 Stunden, in einzelnen
Fällen auch länger; in etwa einem Drittel
der Fälle war er mehrfach unterbrochen;
doch verhielten sich solche Kranke auch wäh-
rend der schlaffreien Pausen ruhig. Bemerkens-
wert erschien, daß zur Herbeiführung solcher
Wirkungen bei Frauen wesentlich geringere
Dosen nötig waren als bei Männern; im all-
gemeinen genügten hier 1,0 bis höchstens
1,5 g, um denselben Effekt zu erzielen, wie
dies bei an gleichen Krankheiten bezw. Er-
regungszuständen leidenden Männern 2 g taten.
Eine Gewöhnung an das Mittel, von
Becker in vereinzelten Fällen konstatiert,
wurde bei unsern Kranken recht häufig beob-
achtet. Sie äußerte sich teils in völligem
Ausbleiben der Wirkung, teils in kürzerem
170
Euler, Erfahrungen mit Neuronal.
[~ Therapeutische
L Monatshefte.
Schlafe oder in häufigeren Unterbrechungen
desselben. Ein Beispiel für das vollige Ver-
sagen der hypnotischen Kraft bei längerem
Gebrauche ist der zuerst erwähnte Epileptiker.
Nachdem das Mittel 6 Tage lang mit gutem
Erfolg gegeben worden war, versagte es am
7. vollkommen; eine Steigerung der Dosis
von 2,0 auf 3,0 blieb gleichfalls ohne Wir-
kung. Es wurde nun einige Tage ausgesetzt
und dann von neuem gegeben, diesmal mit
ganz geringem Erfolg.
Ein Maniacus erhielt abends 1,5. Zwei
Nächte lang schlief er darauf sehr gut; am
3. Tage war er die ganze Nacht unruhig; am
4. Tage erhielt er abends 2,0 und schlief
darauf 3 Stunden; am 5. Tage wieder 2,0,
diesmal ohne jede Wirkung.
Ein Paranoiker erhielt am 1. Tage 1,0
und schlief darauf etwa 6 Stunden; am
2. Tage wieder 1,0: kaum 2 Stunden Schlaf;
am 3. Tage 1,5; Resultat: die ganze Nacht
durch geschlafen; am 4. Tage wieder 1,5:
Schlaf schlecht, mehrfach unterbrochen; am
5. Tage 2,0: Schlaf etwas länger und ohne
Unterbrechung; in den folgenden Tagen blieb
die Wirkung ganz aus. Es wurde nun einige
Zeit abends ein anderes Schlafmittel gegeben
und dann wieder 2,0 Neuronal gereicht;
Resultat: ungefähr 4 stundiger Schlaf. Und
dergleichen Beispiele mehr. Im ganzen mußten
von 40 Fällen von Neuronalbehandlung 12
mit mehr weniger rascher Gewöhnung ver-
zeichnet werden. Andrerseits hat eine ganze
Reihe von Kranken bei stets gleichbleibender
Dosis während der ganzen Behandlungszeit
in unveränderter Weise reagiert. So erhielten
zwei weibliche Patienten, von denen die eine
an Melancholie, die andere an Paranoia litt,
allabendlich 16 Tage lang 1,0 Neuronal mit
stets befriedigendem Erfolge. Als nach dieser
Zeit das Mittel einmal abends ausgesetzt
wurde, waren beide während der ganzen
Nacht unruhig.
Etwas größer als dies sonst angegeben
wird, war bei dem hiesigen Krankenmaterial
die Zahl von unangenehmen Nebenwirkungen
bei Neuronalbehandlung. So trat relativ
häufig Erbrechen ein (bei 4 weiblichen und
1 männlichen Patienten, von denen eine
Kranke 0,5, die übrigen 1,0 Neuronal er-
halten hatten); über allgemeines Unwohlsein
klagten drei andere; mit Durchfall reagierten
zwei Patienten (einmal wurde dies auch von
Siebert beobachtet). Bei einem der ge-
nannten zwei Patienten war es besonders
charakteristisch: er erhielt an einem Abend
1,0 Neuronal; kurze Zeit darauf trat Durch-
fall ein; es wurde nun mit dem Mittel aus-
gesetzt und strenge Diät auch dann noch
einige Zeit eingehalten, als die Diarrhöe nach
einem Tage verschwunden war. Dann er-
hielt der Patient wieder 1,0 Neuronal und
wieder trat nach kurzer Zeit Durchfall ein.
Unsicherer taumelnder Gang wurde in 4 Fällen
beobachtet. In einem dieser Fälle war der
betr. Patient nach 1,5 Neuronal so unsicher
auf den Beinen, daß er geführt werden mußte.
Er gab an, es sei ihm, wie wenn er einen
rechten Rausch hätte.
Gegen Schmerzen wurde Neuronal nur in
zwei Fällen, einmal bei einer Geistesgesunden
und einmal bei einem Geisteskranken, ge-
geben; beide Male blieb jede Wirkung aus.
Ähnliches berichtet auch Becker, der gleich-
falls zweimal gegen Schmerzen Neuronal gab
und in beiden Fällen nur kurzen und keines-
wegs festen Schlaf herbeiführen konnte.
Eine deutliche kumulierende Wirkung
wurde, um diesen Punkt noch zu erwähnen,
bei unseren Versuchen in keinem Falle kon-
statiert.
Um zum Schlüsse die in der hiesigen
Kreisirrenanstalt gesammelten Erfahrungen
mit Neuronal kurz zusammenzufassen, so hat
sich bei unseren Versuchen das neue Hyp-
noticum als ein Mittel erwiesen, mit dem
eine ganze Reihe unverkennbarer Erfolge er-
zielt wurde. Die letzteren wurden jedoch
dadurch stark beeinträchtigt, daß viele Pa-
tienten auf Neuronal überhaupt nicht rea-
gierten oder sich sehr rasch daran gewöhnten,
daß ferner eine nicht unerhebliche Anzahl
Kranker unter Nebenerscheinungen zu leiden
hatte.
Die balneologisch-diätetische
Behandlung der chronischen Diarrhöe.
Von
Dr. Edgar Qans in Karlsbad.
Je weniger die chronische Diarrhöe durch
die Arzneimittel im engeren Sinne beeinflußt
wird, um so mehr ist diese Erkrankung Gegen-
stand balneologisch- diätetischer Behandlung
geworden; die letztere besteht im innerlichen
Gebrauch von Mineralwässern, in äußerlicher
Anwendung von Wärme in Form von Bädern,
Duschen und Umschlägen, Eingießungen in
den After, Regelung der Bewegung und der
geistigen Arbeit und vor allem in einer be-
stimmten Diät.
Im alllgem einen gelten für die Diätetik
der chronischen Diarrhoe folgende Prinzipien:
I. Erhaltung, bezw. Förderung des Kräfte-
zustandes durch reichliche, individuell
angepaßte Ernährung.
II. Bevorzugung
a) der gut assimilierbaren Substanzen:
Eiweißkörper, Fett — in Form von
XIX. Jahrgang. 1
April 1905. J
Gant, Behandlung dar chronischen Diarrhöe.
171
frischer Butter, — Kohlehydrate mit
Ausnahme von Zucker;
b) derjenigen Nahrungs- und Genußmittel,
die durch ihren Tanningehalt adstrin-
gierend wirken: Heidelbeerpräparate,
Eichelkakao, Eichelkaffee, Rotwein;
c) derjenigen Substanzen, welche die
Fermentation beschränken : Saccharin.
III. Vermeidung
a) schwer assimilierbarer Substanzen:
alle Fette mit Ausnahme von frischer
Butter, also Schmalz, fette Haut, fette
Saucen, Paniertes, Käse, fette Fische,
Krustaceen, fettes Fleisch, ferner ge-
räucherte Fische, geräuchertes Fleisch,
Wurst, sowie fettsäurehaltige Öle;
b) aller die Darmperistaltik anregenden
Ingesta: Flüssigkeiten mit Ausnahme
der tanninhaltigen, also auch gewöhn-
liches, namentlich aber in Eis gekühltes
Wasser; Kochsalz in größeren Mengen,
salzige Fische, salziges Fleisch; Ge-
würze, wie Pfeffer, Paprika, Senf;
also grobe Fasern, Hülsen, Schalen etc.,
unpassierte Gemüse, Salate, Gurken,
Kümmel, Grahambrot, Schwarzbrot,
Schwämme, Trüffeln ; organische Säuren,
also rohes und gekochtes Obst mit
Ausnahme von Heidelbeerpräparaten,
Gurken, Essig; endlich alle durch
Gasentwicklung ausgezeichneten In-
gesta, also kohlensaure Getränke,
Kohlarten, Sauerkraut, Kaffee und
Zucker in jeder Form, sowie Eier-
dotter. Ganz besonders möge hier
die Schädlichkeit des Zuckers betont
und für alle jene Fälle, in denen ein
Bedürfnis nach Süßstoff vorliegt, das
Saccharin als Ersatz empfohlen werden.
Wie ich schon 1889 (Berliner klinische
Wochenschrift No. 13), in Bestätigung
anderer Versuche, durch ein einfaches
Experiment bewiesen habe, besitzt
das Saccharin die beachtenswerte
Eigenschaft, die Entwicklung aroma-
tischer Substanzen im Darmsaft (Ska-
tol, Indol etc.) wesentlich zu behindern
resp. aufzuheben. Schon damals habe
ich wiederholt Gelegenheit gehabt,
den günstigen Einfluß des Saccharins
auf chronische Diarrhöen zu beobachten.
Seitdem konnte ich in wachsendem
Maße diese günstigen Resultate immer
wieder bestätigen, so daß ich das
Saccharin nicht nur als einen unschäd-
lichen Ersatz für die schädlichen
Zuckerarten, sondern als ein direktes
Heilmittel dringend empfehlen kann.
Bei der großen Mannigfaltigkeit, welche
die einzelnen Fälle der chronischen Diar-
rhöen nicht nur unter sich, sondern auch
in ihren häufig wechselnden Erscheinungen
an und für sich zeigen, muß der Arzt oft
täglich mit dem Patienten über Menge, Tempe-
ratur und zeitliche Verteilung des zu trinken-
den Mineralwassers, sowie alle äußerlichen
Applikationen, über Aufstehen und Zubett-
gehen, sowie über Qualität, Quantität, Be-
zugsquelle und Zubereitung der Nahrungs-
mittel sprechen — zumal es zwischen den
zu bevorzugenden und den zu vermeidenden
Speisen und Getränken eine ganze Reihe gibt,
wie z. B. Milch und Sahne, die von den ver-
schiedenen Kranken ganz verschieden vertragen
werden — und so lange ändern, bis der
Zweck der Kur, d. i. Aufhören der Diarrhöe
und des Schmerzes bei Erhaltung eines guten
Allgemeinbefindens erreicht ist.
Mit der durch das oben Gesagte gegebenen
Einschränkung fasse ich meine bei der Be-
handlung der chronischen Diarrhöe gemachten
Erfahrungen in folgendes Schema zusammen.
7 — 8 Uhr morgens: Aufstehen, 200 g
Karlsbader Sprudel mit 30 Minuten Zwischen-
pause auf zweimal bei langsamer Bewegung
im Freien getrunken.
8 — 10 Uhr vormittags: Frühstück eine
Stunde nach dem Brunnentrinken, bestehend
aus Dr. Michaelis' Eichelkakao, in Wasser
oder Milch gekocht, oder russischer Thee mit
Rotwein (Bordeaux, Cumarite, Süddalmatiner
etc.) zu gleichen Teilen, mit Saccharin ge-
süßt, Zwieback mit frischer Butter, Prager
Schinken ohne Fett, ev. gehackt.
10 — 11 Uhr vormittags: Irrigation mit
!/i Lit. Karlsbader Sprudel, wenn möglich,
V2 Stunde behalten.
11 — 12 Uhr mittags: Bettruhe mit Moor-
umschlag auf dem Abdomen, so heiß, wie er
dem Patienten angenehm ist.
12 — 1 Uhr nachmittags: geistige Arbeit,
Briefe schreiben, Zeitung lesen.
1 — 2 Uhr nachmittags : Mittagessen : Frische
Austern, ungesalzener Kaviar. — Schleim-
suppen (reine Brühe von Geflügel, Kalb
oder Rind), wenig Grünzeug, möglichst
wenig Salz, mit Reis, Gries, Graupen,
Sago, Tapioka, Perles de Japon, Pate de
Genes , Hafermehl , Leguminosenpräparaten,
Arrowroot mäßig dick eingekocht und mit
frischer Butter legiert — Hecht, Zander,
Schlei, Forelle, Kabeljau, Seezunge, Fogosch,
in Salzwasser gekocht, mit frischer Butter —
Kalbsmilch — Huhn, Taube, Kalb, Hammel-
kotelett. Reh, Rebhuhn, Fasan (ohne haut-
goüt), Beefsteak, alles sehr weich, eventuell
faschiert, ohne Fett, ohne Haut, ohne Pa-
nierung, ohne Zwiebel, mit frischer Butter
gebraten — grüne Erbsen, Karotten, Kastanien,
Kartoffeln in Pureeform — Reis, Nudeln,
172
H«cht, Therapie dtr ChoUlithUaU.
fTharapOTiHarh«
L Monatahgft«.
Maccaroni in Bouillon oder frischer Butter
— Pudding aus Reis, Gries, Tapioka, ohne
Eigelb, ohne Zucker, mit etwas Eiweiß und
Mehl, Saccharin und ev. Heidelbeersaft —
Heidelbeergelee mit Saccharin — Zwieback
— Heidelbeerwein, Rotwein, Heidelbeerab-
kochung.
2 — 4 Uhr nachmittags: Bettruhe.
4 — 6 Uhr nachmittags: Vesper: Eichel-
kakao oder Thee mit Rotwein (s. o.), Zwieback
— Spaziergang.
6 — 7 Uhr nachmittags: 200g Sprudel, 8. o.
7 — 8 Uhr abends: Abendessen, möglichst
nur 1 — 2 Speisen (s. Mittagessen) oder kalter
Aufschnitt, bestehend aus fettlosem Prager
Schinken, Kalbsbraten oder Huhn, Zwieback,
frischer Butter, Getränke wie mittags.
8 — 10 Uhr abends: Zubettgehen mit einem
Prießnitz Umschlag auf dem Leib. Ich ziehe
jene Umschläge vor, die nur den Bauch be-
decken.
Eurdauer 4 — 6 Wochen.
Bei der Kur ist jede heftigere Bewegung,
längeres Spazierenfahren und Sport zu ver-
bieten, Tabakgenuß möglichst einzuschränken
und als gewöhnliches Getränk außerhalb der
Mahlzeiten Heidelbeerabkochung oder Heidel-
beerwein in beliebiger Menge zu gestatten.
Während die in den letzten zwei Dezen-
nien vielfach geübte Irrigation mit Karls-
bader Wasser nach meinen Erfahrungen häufig
nicht den gehegten Erwartungen entspricht,
besitzen wir in der innerlichen Darreichung
des Karlsbader Sprudels in kleinen Mengen
ein fast ausnahmslos wirksames Mittel gegen
die chronische Diarrhöe, eine Tatsache, die
an Ort und Stelle seit ca. 50 Jahren bekannt
ist, ohne daß die Kenntnis hiervon in alle
ärztliche Kreise gedrungen wäre. Ob die
Wirkung eine lediglich antikatarrhalische ist
und auf welchen chemischen und thermischen
Faktoren sie beruht ist vorläufig nicht zu
sagen, was schon aus der Tatsache hervor-
geht, daß gerade bei der chronischen Diar-
rhöe das Karlsbader Wasser mit dem Ver-
luste seiner natürlichen Wärme auch seine
Wirksamkeit verliert und bei Kuren außer-
halb Karlsbads selbst dann versagt, wenn
alle sonstigen Kurbedingungen, wie Regelung
der Diät, Ruhe, Entfernung von allen Ge-
schäften und Aufregungen etc. erfüllt sind.
Zur Therapie der Cholelithiasia.
Von
Dr. A. Hecht in Beathen O.-S.
Das Oktoberheft dieser Monatsschrift ent-
hält (S. 535) ein Referat über „Strychnin als
Abführmittel", in welchem auf eine Eigen-
schaft dieses Alkaloids aufmerksam gemacht
wird, welche bisher noch wenig Beachtung
gefunden hat, ich meine die anregende Wirkung
des Strychnins auf die glatte Muskulatur des
Darmkanals. Diese Mitteilung verdient des-
wegen Beachtung, weil sie die gleichlautenden
Empfehlungen Martins1), Grub es9) und
Jaffas3) zu bestätigen geeignet ist. Diese
Autoren vermochten wiederholt bei schweren
Magen- und Darmlähmungen, wie sie nach
großen Operationen infolge Chloroform Wirkung
eintreten, durch Strychnininjektionen von mehr-
mals 0,003 die Peristaltik wieder hervor-
zurufen und so den Ileus zu heilen.
Erweist sich in solchen Fällen das Strych-
nin von geradezu lebensrettender Wirkung,
so sind die anderen Nux vomica- Präparate,
das Extr actum und die Tinctura Strychni
geeignet, Assimilation und Resorption zu
fördern, erstere, indem durch Anregung der
Peristaltik eine gleichmäßige Durchtränkung
des Ghymus mit den Verdauungssäften er-
möglicht wird, letztere, indem die Blut-
strömung in den Gefäßen der Darmwand
beschleunigt wird, sodaß stets neue Blut-
massen dem Darminhalt gegenüberstehen; in-
folgedessen kann niemals ein Ausgleich der
Konzentration zwischen Darminhalt und dem
in den Darm gef äßen kreisenden Blute zu-
stande kommen. Daher ist das Resorptions-
vermögen eines schlaffen Darmes geringer
als das eines kräftig bewegten. Dagegen
geht den Nux vomica-Präparaten ein Einfluß
auf die Absonderung der Darmdrüsen gänz-
lich ab. In dieser Hinsicht können sie mit
den Abführmitteln, welche gleichfalls die
von der Darmmuskulatur entwickelte Kraft-
leistung zu steigern vermögen, ich meine vorab
die Mittelsalze, das Kalomel und die vege-
tabilischen Abführmittel, nicht verglichen
werden.
Dieser sekretionsanregenden Eigenschaft
verdanken viele Abführmittel ihre Empfehlung
gegen die Gallensteinkrankheit. „Jedoch
sollen dieselben nach Angaben von Ruther-
ford nur dann gallentreibend wirken, wenn
sie nicht in abführenden Dosen gegeben
werden. Tritt Durchfall ein, so hört ihr
Einfluß auf die Gallen Sekretion auf. Nun
ist die abführende Dosis beim Menschen sehr
von den individuellen Verhältnissen abhängig,
sodaß es nicht ganz leicht ist, hier das
richtige Maß zu treffen, und, wo es gelingt,
da erzeugen jene Mittel nicht selten Darm-
koliken, sodaß sie den an und für sich schon
schmerzgeplagten Patienten höchst unangenehm
>) Jahrb. d. pr. Mediz. Jahrg. 1902, S. 31.
3) Zentral bl. f. Gynäk. 1901, No. 25. — 1903,
No. 17.
») Zentralbl. f. Gynäk. 1903, No. 33.
XIX. J«fcrg&Bf .1
April üTpS. J
H«cht, Tharapte dar Chotelifhlaaif.
173
sind, ein Übelstand, der nicht einmal durch
eine prompte Wirkung kompensiert wird."
(Rosenberg4).) Das Gleiche gilt vom Ka-
lome). In der von Sacharjin5) empfohlenen
Weise angewendet, erzeugt es diarrhoische
Stuhlentleerungen, welche die Zufuhr des
Quecksilbers zur Leber und damit eine Ein-
wirkung desselben auf das Leberparenchym
unmöglich machen (Rosenbach6)). In kleinen
Dosen gegeben, ist es geeignet, der Obstipa-
tion, an welcher Gallensteinkranke fast immer
zu leiden pflegen, Vorschub zu leisten. Um
dem vorzubeugen, empfiehlt es sich, wie ich
empirisch gefunden habe, das Eaiomel mit
Extr. Strychni zu kombinieren. Auf diese
Weise gelingt es auch in Fällen, wo Obsti-
pation die Regel war, die Stuhl entleerung
in einer für den Kranken nicht unangenehmen
Weise zu regeln. Bleibt trotzdem einmal
der tägliche Stuhlgang aus, so hat der Patient
darunter in keiner Weise zu leiden. In solchen
Fällen genügen 1 bis 2 der später zu er-
wähnenden Podophyllinpillen , um eine nor-
male Ausleerung herbeizuführen. Anderer-
seits konnte ich mit dieser Medikation wieder-
holt Diarrhoen, selbst chronische, dauernd
beseitigen.
Der Zusatz des Extractum Strychni ent-
spricht aber noch einer anderen Indikation.
Es ist Naunyns Verdienst, nachdrücklich
darauf hingewiesen zu haben, daß zum Zu-
standekommen einer infektiösen Entzündung
der Gallenblase eine Hemmung des normalen
Gallenstromes notwendig ist. lehret7) und
Stolz konnten wirklich durch ausgedehnte
experimentelle Untersuchungen an Tieren
nachweisen, daß eine Infizierung der Gallen-
blase nur dann zur Entzündung führt, wenn
durch Schädigung ihrer Motilität der normale
Gallenstrom gehemmt ist. Je beträchtlicher
die motorische Insuffizienz der Gallenblase
ist, umso geringer brauchten Virulenz und
Menge der eingebrachten Kulturen zu sein.
Hierbei spielt eine bedeutsame Rolle die
„ Residualgalle a, das ist der Rest von Galle,
welcher in den Zwischenräumen der Kon-
krementansammlungen und in ihren Kapillar-
räumen zurückbleibt. Hier haben eingedrun-
gene Keime reichliche Gelegenheit zu unge-
störter Entwicklung. Aber selbst dann, wenn
die Gallenblase keine Konkremente bezw.
Fremdkörper beherbergt, gelang es, lediglich
durch Schädigung der Motilität der Gallen-
blase, eine Entzündung der letzteren und
der Gallen gänge hervorzurufen. Damit ist
der Beweis erbracht, daß die im Darme stets
*) Therap. Monh. 1889, S. 546.
5) Berl. klin. Wochenschr. 1891, No. 21.
«) Therapie d. Gegenw. 1903, S. 101.
7) Berl. klin. Wochenschr. 1902, No. 1.
Th. M. 19T.S.
vorhandene Infektionsgelegenheit im Zu-
sammenhange mit voraufgegangener Behinde-
rung des Gallenstromes zum Zustandekommen
einer Cholecystitis und Cholangitis genügen
kann.
Da die ätiologischen Momente, welche
für die Entstehung der Atonie des Magen -
und Darmkanal 8 in Betracht kommen, auch
für die motorische Insuffizienz der Gallen-
blase Geltung haben, wird uns die Bedeutung,
welche funktionelle sowie organische Er-
krankungen des Zentralnervensystems für die
Entzündung der Gallenblase besitzen, ver-
ständlich. Hieraus erklärt sich insbesondere
die häufig zu beobachtende Komplikation
der Cholelithiasis mit Hysterie. Letztere
kommt als ätiologisches Moment besonders
in solchen Fällen in Betracht, wo seelische
Erregungen, wie Ärger, Schreck u. dgl., die
Anfalle auslösen. Hier spielt die perverse
Reaktionsfähigkeit der sensiblen Fasern der
Gallenblase, deren Reizbarkeit durch die
Entzündung der Gallenblasenschleimhaut eine
Steigerung erfahren hat, die ausschlaggebende
Rolle. Ebenso lernen wir die Bedeutung
kachektischer Zustände, wie sie u. a. auch
dem höheren Alter8) eigen, sowie diejenige
erschöpfender Krankheiten für das Zustande-
kommen der Cholecystitis gebührend würdigen.
Immer wieder ist es die motorische Insuffizienz
der Gallenblase und Gallengänge, welche durch
Hemmung des Gallenstromes eingedrungenen
Infektionskeimen die Möglichkeit zur Fort-
entwickelung verschafft.
Wenn ich diese gleichfalls als Indikation
zur Anwendung des Extr. Strychni betrachte,
so stütze ich mich hierbei auf die durch die
Erfahrung gegebene Anschauung, „ wonach eine
träge Darmperistaltik häufig mit Trägheit
der muskulären Austreibungskräfte der Gallen-
wege verbunden ist, und daß Mittel, welche
die Darmperistaltik anregen, auch auf die
Bewegungen der Gallenblase und die Aus-
treibung der Galle fördernd einwirken".
(Leicht en8tern9).)
Schließlich stellt dieses Mittel ein aus-
gezeichnetes Stomachicum dar, welches eine
reichliche Nahrungszufuhr ermöglicht. Letztere
ist aber Gallensteinkranken insofern dienlich,
als eine quantitativ reichliche, gemischte Kost
die Gallenabsonderung am intensivsten an-
regt und dadurch den Gallenstrom be-
schleunigt. Auf diese Weise wird einer Se-
dimentierung der Galle sowie einer Konkre-
mentbildung am wirksamsten vorgebeugt.
-; JN oiiinagel, Spoz. Pathol. und Therap.
Bd. 18, S. 202.
9) Pentzold-Stintzing, Hdb. der spez.
Therapie innerer Krankheiten. I. Aufl., Bd. IV,
Abt. IV b, S. 31.
14
174
Hecht, Therapie der Choleltthlaait.
rherajxratUche
Monatuhefte.
Dieser Indikation genügt ferner die Ver-
ordnung des Kalomels. Zwar haben physio-
logische Versuche eine Förderung der Leber-
sekretion nicht ergeben, nachdem jedoch
Kliniker, wie Huchard10), Sacharjin u. a.
das Kalomel bei hypertrophischer Leber-
cirrhose, bei Cholelithiasis und katarrha-
lischem Ikterus empfohlen haben, kann die
Frage nach der gall entreibenden Wirksamkeit
des Kalomels nicht als erledigt betrachtet
werden. Wiederum gibt es Autoren, ich
meine Rutherford, Prevost und Binet,
denen sich neuerdings Wassiiief") an-
schließt, deren Ansicht dahin geht, daß Ka-
lomel bei den genannten Krankheiten sich
weniger vermöge seiner gallentreibenden, als
vielmehr vermöge seiner antiseptischen und
antiphlogistischen Eigenschaften bewährt.
Aber wie dem auch sei, nachdem Versuche
am Krankenbette gunstige Resultate ergeben
haben, kann der Anwendung des Kalomels
bei genannten Affektionen wissenschaftlicher
Wert nicht mehr abgesprochen werden.
Das Verdienst, die Kalomelbehandlung der
Gallensteinkrankheit in Aufnahme gebracht
zu haben, gebührt zweifellos Dr. Glaser19)
in Muri (Aargau), wenn er auch Anregung
von anderer13) Seite empfangen hat; indessen
hat es an Größe dadurch eingebüßt, daß
letzterer bemüht war, diese Behandlungs-
methode lukrativ auszubeuten. Zu diesem
Zwecke ließ er „ 3 verschiedene Kombinationen
von Hg mit aromatischen Pflanzenstoffen aus
den Gruppen der abführenden und zugleich
gallen treibenden Mittel (Podophyllinum) und
der blähungtreibenden und krampfstillenden
Gewürze und Öle (Melisse, Kampfer, Kümmel)"
in Form seiner Chologentabletten No. 1 , 2
und 3 fabrikmäßig herstellen. Hierdurch wird
dem denkenden Arzt die Möglichkeit, sich
von seinem Tun und Lassen Rechenschaft zu
geben, benommen, da er nicht weiß, was er ver-
ordnet. Infolgedessen kann er auch seine Ver-
ordnungen der Individualität des Kranken nicht
anpassen, zumal Glaser selbst eingesteht:
„Es gibt auch keine einzelne Kombination,
die allen individuellen Verhältnissen ent-
spräche". Schließlich reichen seine Cholo-
gentabletten zur Beseitigung der Beschwerden
nicht einmal aus; schreibt der Erfinder doch
in seiner Anweisung für den Gebrauch der
Tabletten: „Bei Appetitmangel, Druck im
Magen nach dem Essen, bei Anzeichen un-
genügender H Cl - Absonderung und unge-
I0) cf. sab 2.
»») Berl. klin. Wochenschr. 1894, No. 6.
1J) Sep.-Abdr. a. d. Korresp.-Blatt f. Schweizer
Arzte 1903, No. 3.
13) Handb. d. Arzneimittellehre v. Nothnagel
u. Roß b ach 1894.
nügender Motilität des Magens ist der Ge-
brauch einer Mixtur von
Rp. Acidi muriatici 2,0
Tincturae Strychni 1,0
Vini Condurango 30,0
Aq. destillatae ad 200,0
MDS. Zum Mittag- und Nachtessen 1 Eß-
löffel voll zu nehmen
angezeigt und empfehlenswert."
Zur wirksamen Behandlung der Choleli-
thiasis ist es unbedingt erforderlich, daß man
sich vorher über die dem Leiden zugrunde
liegenden, pathologischen Vorgänge Klarheit
verschafft. Wollte man Glasers Behandlungs-
methode nach der Theorie beurteilen, die er
derselben zugrunde gelegt hat, dann müßte
sie jeglicher Wirkung entbehren. Nach seiner
Ansicht ist nämlich für die Infektion der
Gallenblase eine abnorme Zusammensetzung
der Galle, insbesondere ein Mangel an gallen-
sauren Salzen anzuschuldigen. Letzterer wird
für das Ausfallen des Cholestearins14) verant-
wortlich gemacht, welches infolge Erkrankung
der Sekretionsnerven der Leber (Vagus- und
Sympathicusfasern) in relativ zu großen Mengen
abgesondert wird. Ganz abgesehen davon,
daß eigentliche sekretorische Nerven für die
Leber bisher nicht nachgewiesen sind, ent-
behren auch seine Anschauungen von dem
Zustandekommen der Gallenblasenentzündung
jeder wissenschaftlichen Begründung. Insbe-
sondere ist es absolut unbegreiflich, wie der
Mangel an gallensauren Salzen eine Infektion
der Galle begünstigen solle. Diese Ansicht
kann schon ' deswegen nicht zu Recht be-
stehen, weil sie in der gesamten Pathologie
ein Analogon nicht aufzuweisen hat. Lehrt
doch die Pathogenese der Cystitis und Gastr-
ektasie, daß der Inhalt dieser Hohlorgane
Zersetzungen erst dann unterliegt, wenn der-
selbe infolge muskulärer Insuffizienz nicht
völlig ausgetrieben werden kann. Zur Stag-
nation des Inhalts muß sich als zweites
Moment eine Infektion desselben gesellen,
soll anders eine Zersetzung die Folge sein.
Diese beiden Momente sind auch bei der
Entstehung der Cholecystitis fast ausschließ-
lich wirksam. Die Therapie muß also in
erster Linie auf die Gallenstauung ge-
richtet sein.
Wofern letztere nicht durch Tumoren
der Nachbarorgane, Parasiten, Abknickungen,
H) Anm. bei der Korrektur. Diese An-
schauung über die Herkunft des Cholestearins ist
durchaus irrig, da das Cholestearin der Gallen-
steine niemals in der Galle gelöst gewesen ist,
sondern aus degenerierten Epithelien, besonders
der Gallenblase, hervorgegangen ist. Die Aus-
scheidung des Cholestearins ist demnach die Folge
der Gaüenblasenentzündung, welche durch Zer-
setzung der Galle hervorgerufen worden ist.
XIX. Jahrgang.l
April 1905 J
H«cbt, Therapi« d«r Cbolelltbiatit.
175
Zerrungen seitens der rechtsseitigen Wander-
niere, Gravidität etc. bedingt ist, wird die
Aufgabe der Behandlung darin bestehen,
durch Änderung der Lebensweise und Diät
sowie durch Regulierung der Darmperistaltik
den normalen Gallenstrom wiederherzustellen.
Für diesen Zweck aber eignet sich von medi-
kamentösen Mitteln das Extractum Strychni
ganz besonders.
Was das zweite ätiologische Moment,
die Infektion, betrifft, so wird dieselbe wirk-
sam durch Kalomel bekämpft. Wie Ver-
suche von Prevost und Bin et dargetan
haben, geht Kalomel, per os genommen, in
die Galle über und entfaltet in den Gallen-
gängen antiseptische und antiphlogistische Wir-
kungen, deren günstiger Einfluß auch auf die
Gallenblasenschleimhaut sich ausdehnt. Letz-
tere ist nach meinen Beobachtungen darauf
zurückzuführen, daß die Galle bei Kalomel-
gebrauch erheblich mehr diluiert wird, als
es normalerweise der Fall ist, und infolge-
dessen leichter abfließen kann.
Was die Dosierung des Kalomels be-
trifft, so verordnet es Huchard in der an-
fallsfreien Zeit in Tagesdosen von 0,02 g in
Verbindung mit 0,002 g Opium, während die
Patienten Dr. Glasers „während ihrer drei-
bis viermonatlichen Chologenkur zusammen
0,5 — 1,0 g Hg bekommen". Ich selbst gab
es Ä Tagesdosen von 0,026—0,05 g.
Demgemäß verordne ich kolikfreien Kran-
ken:
Rp. Hydrargyri chlorati
Extracti Strychni m 0,4—0,5
Pulveris aromatici s. Rhei
Extracti Rhei aa 1,5
M. f. pil. No. 30.
Consp. D. S. 2 — 3 mal tägl. 1 Pille zu
nehmen.
Bei dieser Verordnung habe ich weder
Diarrhoen noch Darmkolik beobachtet. Da-
gegen sah ich Magenbeschwerden, wie Magen-
drücken nach dem Essen, Aufstoßen, Gefühl
von Völle und Aufgetriebensein im Leibe,
Obstipation, Diarrhoen, Gelbsucht und Appe-
titlosigkeit schwinden. Auch asthmatische
Beschwerden, welche im Gefolge des Gallen-
steinleidens auftreten, sistierten in zwei Fällen
ohne besondere Behandlung.
Bei Gallensteinkoliken verordne ich außer
Morphium subkutan folgende Pillen:
Rp. Podophyllini 0,2
Hydrargyri chlorati 0,4
Extracti Strychni
Extracti Belladonnae »»0,3
M. f. pil. No. 20.
Consp. D. S. Beim Anfall 2-stdl. 1 Pille
bis zur Wirkung zu nehmen; hernach 1 bis
2 Pillen tägl.
Sollten diese Pillen bei weiterem Ge-
brauch Diarrhöen hervorrufen, so sind sie gegen
die ersteren zu vertauschen.
Beiden Pillensorten wohnt die Eigenschaft
inne, wofern die Gallenblase Steine oder
Gries beherbergt, Leberkoliken hervorzurufen,
wie dies durch die Krankengeschichten be-
wiesen wird, welche ich anderen Ortes ver-
öffentlicht habe.
Indiziert ist die Kalomelbehandlung in
allen Fällen, wo die üblichen Behandlungs-
methoden im Stiche lassen. Ferner ist sie
da angezeigt, wo die Patienten in ihrer Er-
nährung sehr heruntergekommen sind, wie
bei Greisen und Tuberkulösen. Schließlich
ist sie in allen Fällen von akuter Chole-
cystitis ein dringendes Bedürfnis, wenn es
gilt, eine frische Infektion zu bekämpfen, z. B.
nach Appendicitis, Typhus abdominalis etc.
Über Zackerproben.
Von
Med.-Rat Dr. Hacker,
Kretiarst in Welitonburg i. Bis.
Die von den Ärzten mit am häufigsten
angewendete Zuckerprobe ist die Tromm er-
sehe. Dieselbe hat aber den Nachteil, daß
man zunächst zwei verschiedene Lösungen
dem Urine zuzusetzen hat. Außerdem ent-
hält schon der normale Urin eine Reihe
reduzierender Körper (Harnsäure, Kreatinin,
Glykon, Gallenfarbstoffe), welche eine störende
Rotfärbung geben können. Dann aber kann
die Reaktion noch beeinflußt werden, wenn
dem Körper Arzneistoffe (Rhabarber, Senna,
Terpentin, Jod, Salizyl) einverleibt worden
sind. Bei weniger als 0,5 Proz. Zucker
enthaltendem Urine gibt die Probe keine
Reaktion.
Die Probe mit Fehiingscher Lösung
vermeidet den Zusatz mehrerer Flüssigkeiten,
indem nur eine solche erforderlich ist. Sie
ist dabei aber von beschränkter Haltbarkeit
und dies kann sehr leicht zu Täuschungen
Veranlassung geben.
Im übrigen leidet diese Probe an den
gleichen Mängeln wie die vorige.
Ein weiterer Nachteil beider Proben
ist noch der, daß man eine ziemlich be-
trächtliche Menge von Urin kochen muß,
wobei die stark alkalische Flüssigkeit durch
ihren Geruch das Zimmer oft recht unan-
genehm verpestet.
Die Nylandersche Probe ist weit emp-
findlicher, indem sie im gewöhnlichen Urine
noch einen Zuckergehalt von 0,05 Proz., bei
konzentriertem einen solchen von 0,1 Proz.
mit Sicherheit nachweist.
176
H«eker, Über Zactatproten.
fTherapeatbclM
L Monatshefte.
Ein Nachteil dieser Probe bestellt aber
darin, daß Arzneikörper (Rhabarber, Senna,
Antipyrin, Salizylsäure, Terpentin), dem Kör-
per einverleibt, Wismutoxyd bis zu einem
gewissen Grade reduzieren und so Zucker-
gehalt vortäuschen können.
Prof. Riegler in Jassy gibt folgende
neue, sehr empfindliche Zuckerprobe an:
„Man gießt in eine etwas größere Eprou-
vette 1 cc Urin und 10 cc Wasser, fugt
eine Messerspitze oxalsaures Phenylhydrazin
(Merck) hinzu, kocht unter öfterem Um-
schütteln bis zur Lösung und stellt das Rea-
genzglas bei Seite; in ein 2. Reagenzglas
gibt man einen Würfel von J g Kaliumhydr-
oxyd und 10 cc Wasser, schüttelt gelinde, bis
dasselbe gelöst ist, gießt diese Lösung zur
ersten und schließt mit einem Gummistopfen.
Nach einigem Schütteln tritt eine schöne,
rotviolette Farbe auf, falls Zucker vorhanden
ist. Eine später auftretende Färbung ist
nicht maßgebend.
Die Empfindlichkeit dieser Probe, welche
durch die Anwesenheit von Eiweiß nicht ge-
stört wird, gestattet, den Zucker noch in
einem Lösungsverhältnis von 0,05 Proz. als
solchen nachzuweisen.
Ein Nachteil aber auch dieser Probe ist
der, daß man mehrere Lösungen nötig hat.
Den Vorteil größester Empfindlichkeit
mit einer nicht zu Übertreffenben Einfachheit
verbindet nun die Zuckerprobe mit den Nitro-
Propioltabletten nach Teusch (Fabrik phar-
mazeutischer Präparate, Köln-Ehrenfeld, Ge-
sellschaft mit beschränkter Haftung). Die
Reaktion beruht darauf, daß ortho-Nitro-
phenylpropiolsäure durch Erwärmen mit
Traubenzucker bei Gegenwart von Soda in
Indigo übergeht:
2 C6H4 (N02) C = C - COOB + 4 H =
C16H10N,02 + 2 00,-1-211,0.
Eine Nitro-Propioltablette, in 10 cc Wasser
gelöst und mit 10 Tropfen eines diabetischen
Urins mindestens 3 — 5 Minuten lang mäßig
gekocht, gibt eine indigoblaue Färbung. Läßt
man die Probe einige Zeit stehen, so setzt
sich am Boden des Reagenzglases ein Nieder-
schlag von Indigo ab. Ein wesentlicher Vor-
teil gegenüber der Fehlingschen, aber auch
der Nyl and ersehen Probe ist der, daß die
Reaktion weder beeinflußt wird durch Harn-
säure, Kreatinin, Glykonsäure, Gallenfarbstoff,
noch wenn dem Körper Arzneistoffe, als Rha-
barber, Senna, Terpentin, Jod, Salizyl, ein-
verleibt werden. Dabei ist die Probe so
empfindlich wie die Nyl an der sehe und
Riegler sehe, indem sie 0,05 Proz. Trauben-
zucker noch mit Sicherheit nachweist. So-
gar bei noch geringerem Zuckergehalte tritt
bereits eine charakteristische Andeutung der
Blaufärbung ein. Ein Fläschchen, 25 Tabletten
enthaltend, kostet 60 Pfg. Jedem Fläschchen
ist eine Gebrauchsanweisung beigefügt.
Wenn so diese Probe für den qualitativen
Nachweis von Zucker im Urine weitaus den
Yorzug verdient wegen der Sicherheit und
leichten Ausführbarkeit, welche ihre Anwen-
dung auch in der Wohnung des Patienten
gestattet, ist bezüglich des quantitativen
Nachweises von Zucker die Gärungsprobe
unbedingt die einfachste und sicherste.
Die Gärung88accharometer von Einhorn
und Fi e big lassen sich nun nach dem Ge-
brauche sehr schwer reinigen. Diesen Übel-
stand vermeidet der Präzisions -Gärungssac-
charometer nach Dr. Th. Lohnstein (D.R.
G.M. No. 94 599), bei welchem eine aus-
giebige Reinigung leicht möglich ist.
Alle diese 3 Gärungssaccharometer sind
aber nur für Urine verwendbar, deren Zucker-
gehalt 1 Proz. nicht überschreitet. Bei
stärkerem Zuckergehalte muß der Urin erst
verdünnt werden. Um diesen Umstand, der
ja auch wieder eine mögliche Fehlerquelle
ausmacht, zu vermeiden, hat Lohn stein
noch einen anderen Präzisions- Gärungssac-
charometer für unverdünnte Urine (D.R. G.M.
No. 119 945) angegeben.
Bei einiger Übung kann man aus der
Intensität der bei der Nitro - Propiolprobe
entstehenden Blaufärbung schon mit ziem-
licher Sicherheit entscheiden, ob der Urin
mehr oder weniger als 1 Proz. Zucker ent-
hält und welchen Saccharometer man also
zu nehmen hat.
Für geringe Zuckermengen ist der erste
Saccharometer geeigneter, da dessen Gradu-
ierung für die Werte bis 1 Proz. selbstver-
ständlich sehr viel genauer ist.
Als einziger Nachteil der Gärungsprobe
ist anzuführen, daß — namentlich bei Kälte
und bei geringen Zuckermengen — das Er-
gebnis erst nach 18 — 20 Stunden feststeht.
Um diesem Übelstande abzuhelfen, habe ich
den nebenbei abgebildeten kleinen Apparat
anfertigen lafcsen. Nachdem das Gefäß zu
3/4 mit lauwarmem Wasser gefüllt ist, wird
der beschickte Gärungssaccharometer hinein-
gestellt und das darunter befindliche Nacht-
licht angezündet. Die durch letzteres er-
zeugte Wärme genügt vollkommen, um das
Wasser bei der gleichen lauwarmen Tempe-
ratur zu erhalten. Die Gärung tritt unter
diesen Umständen schnell und sicher ein, wenn
die Flüssigkeit auch nur Spuren von Zucker
enthält, und ist nach wenigen Stunden be-
endet.
Zu bemerken ist aber, daß man das Er-
gebnis an der Skala erst ablesen darf, nach-
XIX. JafcrfMf .1
» April 1906b J
H«eker, Ober Zuck«rprob«D.
177
dem der aus dem Wasserbade genommene
Saccharometer wieder Zimmertemperatur an-
genommen hat.
Eine genaue Gebrauchsanweisung ist
beiden Saccharometern beigefügt.
Eine weitere sehr einfache Methode, die
auch auf dem Prinzipe der Gärung beruht,
aber nur bei einem Zuckergehalte von min-
destens 0,5 Proz. sichere Resultate ergibt,
hat Roberts angegeben (Praktikum der
klinischen chemisch-mikroskopischen und bak-
teriologischen Untersuchungsmethoden von
Dr. Klopstock und Dr. Kowarsky S. 159).
Derselbe hat festgestellt, daß die Ver-
minderung des spez. Gewichtes um 0,001
einem Zuckergehalte von 0,230 entspricht.
Man läßt nun 100 — 200 ccm Urin, dessen
spez. Gewicht bei 15° C. festgestellt wurde,
unter Zusatz eines haselnußgroßen Stückchens
Hefe in einem Kolben während 24 bis
36 Stunden vergären.
Nachdem die Nitropropiol-Probe ergeben
hat, daß der Zucker vollkommen ver-
schwunden ist, wird das spez. Gewicht von
neuem bei 15° C. genau bestimmt.
Aus dem Unterschiede des letzteren vor
und nach der Gärung ergibt sich dann der
Zuckergehalt. Z. B.
spez. Gewicht vor der Gärung 1,03
nach - - 1,02
Unterschied 0,01
Der Urin enthält demnach 0,230 !>< 10 =
2,3 Proz. Zucker.
Zum qualitativen Nachweise von Zucker
im Urin benutzt man nach obigen Ausfüh-
rungen am zweckmäßigsten die Nitropropiol-
Tabletten.
Zur quantitativen Bestimmung desselben
dient bei einem Zuckergehalte bis zu 1 Proz.
der kleinere Gärungssacharometer nach Lohn-
stein, während bei 1 Proz. und mehr die
Gärungsprobe nach Roberts vorzuziehen ist.
Fibrolysin,
eine neue ThiosinaminTerbindung.
Von
Dr. Felix Mendel in Essen (Ruhr).
IL
Durch die Liebenswürdigkeit des Herrn
Prof. Julius Pohl in Prag wurde ich auf
eine Reihe interessanter, aber mühevoller
Untersuchungen dieses Forschers aufmerksam
gemacht, deren Resultate in den Arbeiten
des pharmakologischen Instituts der deutschen
Universität Prag II Reihe 1904 veröffentlicht
sind und nicht nur den Beweis liefern, für
die gleiche pharmakodynamische Wirk-
samkeit des Thiosinamins und des von mir
(Therap. Monatsh. Febr. 1905) angegebenen
und empfohlenen Fibrolysins, sondern auch
Aufklärung geben über die eigentümliche Ge-
ruchs- oder Geschmacksempfindung,
welche ich wenige Sekunden nach der intra-
venösen Injektion, der Fibrolysinlösung bei
meinen Patienten beobachten konnte.
Bei dem allgemeinen Interesse, welches
sowohl das Thiosinamin als auch sein mit
besonderen Vorzügen ausgestatteter Ersatz,
das Fibrolysin, für den Praktiker als Heil-
mittel beanspruchen können, dürfte es sich
wohl verlohnen, etwas näher auf diese Unter-
suchungen einzugehen.
Nach den Untersuchungen Pohls gehört
das Thiosinamin zu den wenigen bisher be-
kannten Stoffen, welche im tierischen Orga-
nismus eine sog. Aikylsynthese eingehen,
und es ist, was für die praktische Ver-
wendung dieses Mittels besonders bedeutungs-
voll erscheint, nach ihm der einzige dieser
Stoffe, welcher im Gegensatz zu allen bisher
als Alkyl bindend erkannten Körpern als
völlig ungiftig bezeichnet werden kann.
Reicht man unsern gewöhnlichen Versuchs-
tieren (Hunden, Katzen, Kaninchen) 1 — 2 g
Thiosinamin per os, subkutan oder intravenös,
so nimmt die Ezhalationsluft allmählich
einen eigentümlich rettig- oder lauchartigen
Geruch an, der stunden- ja tagelang andauert.
Obwohl der Thioharnstoff schon vielfach auf
sein physiologisch -chemisches Verhalten hin
untersucht worden ist, z. B. von K. Lange
(Über das Verhalten der Schwefelharnstoffe im
tierischen Körper, Rostock 1892), so ist doch
bisher noch niemals auf diese merkwürdige
Erscheinung aufmerksam gemacht worden.
178
Mandel, Fibrolysin.
PTherapentliche
L Monatshefte.
Die präzisen chemischen Reaktionen
des Exhalats, welche Pohl untersuchte, auf
die wir aber hier nicht näher eingehen wollen,
sprechen eindeutig für die Gegenwart eines
Alkylsulfids. Die Mengen sind natürlich
minimal im Vergleich zum eingeführten Thio-
sinamin. In der 24 -stündigen Ausatmungs-
luft findet man ca. 3 — 4 mg Sulfid und zwar
handelt es sich, nach dem Gerüche zu ur-
teilen, jedenfalls um Äthyl sulf id. Der
übrige Teil des gegebenen Thiosinamins geht
unverändert in den Harn über, nur der
kleinste Teil geht die Synthese ein.
Injiziert man Thioharnstoff intravenös
und läßt das Tier im Moment deutlich wahr-
nehmbarer Sulfidausscheidung verbluten, so
findet man das Sulfid im Blute, aber nicht
in den Organen mit Ausnahme des Muskel-
gewebes, in welchem aber erst nach Zusatz
einer zweiprozentigen Fluornatriumlösung all-
mählich der Sulfidgeruch wahrnehmbar wird.
Diese Untersuchungen an Tieren liefern
uns zunächst den Beweis für die Un-
giftigkeit des Fibrolysins in thera-
peutischen Dosen. Des weiteren geben sie
uns Aufklärung über die nach einer Fibro-
lysininjektion auftretende eigentümliche Ge-
schmacks- und Geruchsempfindung,
die durch die Exhalationsluft hervorgerufen
wird und für Thiosinamin spezifisch ist.
Auffallend bleibt, daß trotz der weit-
verbreiteten Anwendung dieses Mittels bisher
kein Forscher darauf aufmerksam wurde.
Denn man findet diesen Exhalationsgeruch
nicht nur nach intravenösen Injektionen,
wie ich selbst ursprünglich annehmen zu
müssen glaubte, wenn er auch hierbei am
intensivsten erscheint, sondern bei genauer
Beobachtung auch nach intramuskulärer
und subkutaner Anwendung. Selbstver-
ständlich tritt das Äthylsulfid nach dieser
Art der Applikation später und weniger in-
tensiv in die Erscheinung, die Geruchs-
empfindung hält aber dafür um so länger an.
Nach intravenöser Injektion wird sie
fast sofort von dem Patienten wahrgenommen
und ist auch für andere durch einen merk-
würdigen lauchartigen Geruch der Exhalations-
luft bemerkbar, sie ist aber bei den ge-
bräuchlichen therapeutischen Dosen (l Am-
pulle Fibrolysinlösung = 0,2 Thiosinamin)
nach wenigen Minuten wieder verschwunden,
ein sicherer Beweis, daß sich das Fibrolysin
sofort beim Eintritt in die Blutbahn in seine
beiden Komponenten (Thiosinamin — Natr.
salicyL) spaltet.
Bei der intramuskulären Injektion in
die Glutäalgegend macht sich bei gleicher
Dosis das Äthylsulfid erst nach ca. 20 Mi-
nuten bemerkbar und hält dann fa9t eine
Stunde an. Noch langsamer und deswegen
von dem Empfänger fast unbemerkt verläuft
die Äthylsulfidausscheidung bei der sub-
kutanen Injektion.
Damit ist auch der wissenschaftliche Kach-
weis dafür erbracht, was die praktische Er-
fahrung schon vorher gelehrt hatte : Die am
meisten zu empfehlende Anwendungs-
weise des Fibrolysins ist die intramus-
kuläre Injektion, die an Wirksamkeit die
subkutane Anwendung übertrifft und der
intravenösen in vielen Fällen nur wenig
nachsteht. Vor der subkutanen Injektion
hat sie dabei den Vorzug der absoluten
Schmerzlosigkeit, vor der intravenösen den
der Einfachheit in der Ausführung.
Ob diese interessante Alkyl Synthese für
die therapeutische Wirkung des Fibrolysins
von irgend welcher Bedeutung ist, läßt sich
natürlich nicht feststellen. Jedenfalls liefert
uns die exakte Untersuchung Pohls einen
weiteren unumstößlichen Beweis dafür, daß
sich das Fibrolysin dem menschlichen Orga-
nismus gegenüber genau so verhält wie das
Thiosinamin, also auch dieselben pharmako-
dynamischen Fähigkeiten wie dieses besitzen
muß, vor dem es aber in der praktischen
Verwendung große Vorzüge besitzt: Es ist
in Wasser löslich, absolut schmerzlos in
der Anwendung und wird besonders von den
Muskeln aus sehr schnell in die Blutbahn
aufgenommen.
Aus diesen Vorzügen kann, auch nach
den Untersuchungen Pohls, mit Recht auf
eine entschieden größere Wirksamkeit
des Fibrolysins gegenüber dem Thiosin-
amin geschlossen werden.
Über chronische Entzündungen der
Blinddarmgegend und ihre Behandlung.
Von
Dr. H. Herz, Breslau.
(Schlu/t.J
In erster Reihe bedürfen die Bezieh-
ungen der Appendicitis und Typhlitis
zum gesamten Darmtractus sorgfältige
Berücksichtigung; die Störungen seiner Funk-
tion, bei den meisten Fällen nachweisbar,
sind in ihrer, Stellung zu den örtlichen
Affektionen zu untersuchen. Sind alle jene
Symptome nur Folgeerscheinungen der Appen-
dicitis, oder ist als primär resp. als Begleit-
erscheinung gleicher Wertigkeit eine allge-
meine Darmerkrankung anzunehmen?
Im allgemeinen herrscht besonders bei
den Chirurgen die Neigung, die Appendicitis
derart in den Mittelpunkt zu rücken, daß
die begleitende Darmaffektion, etwa ein
XIX. Jahrgaag.1
April lBOS. I
Herz, Chronisch« Entzündungen der Blinddarmgegend.
179
Dannkatarrh, nur nebenbei unter den ätio-
logischen Faktoren erwähnt wird. In drei-
facher "Weise kann man versuchen, von diesem
Standpunkt allgemeinere Darmsymptome zu
erklären.
Erstens kann eine dauernde Ozaena des
Wurmfortsatzes resp. Typhlons durch ihre
Sekrete reizend auf die übrige Darmschleim-
haut wirken. Oft allerdings besteht gar kein
derartig infektiöses Sekret, oder es gelangt
wegen Verschluß des Appendix resp. wegen
Unfähigkeit desselben zur Entleerung nicht
in den Darm. — Auch der Blutweg steht
ja den eventuellen Giften offen, besonders
bei der viel besprochenen Cavite close; aber
sollten jene wirklich so oft nur auf den
Verdauungstractus, nicht auf andere Systeme
wirken, die gerade bei den chronischen
Fällen nur in einer Minderzahl Störungen
aufweisen ?
Zweitens ist bei tiefergreifenden Entzün-
dungen peritoneale Reizung möglich und be-
sonders bei den intermittierenden Formen
auch sicher nicht selten. Oft bleibt aber
das Bauchfell ganz unbeteiligt, noch öfter
entsprechen die Symptome in keiner Weise
den bekannten peritonealen Reizphänomenen.
Drittens die Annahme einer Nerven-
wirkung, auch wo jene Möglichkeiten nicht
diskutierbar sind. Lenzmann (1. c.) z. B.
spricht von zwei Arten nervöser Vermittlung.
Starke Obstipation, bei welcher Defakation
nur unter heftigen Leibschmerzen zustande
kommt, soll auf einer reflektorischen Hem-
mung durch den Splanchnicus vom Appendix
her beruhen. Andere Beschwerden erklärt
er durch einen Reizzustand, der, von der
Erregung der Nervenenden im entzündeten
Wurmfortsatz ausgehend, sich auf das obere
Bauchgeflecht des Sympathicus überträgt;
von dort entständen die neuralgischen An-
falle in der MageD gegen d und anderwärts,
die sich dann nach der Operation eventuell
erst allmählich verlieren.
Ohne verkennen zu wollen, daß auch
dieser dritte Erklärungsmodus für manche
Erscheinungen eine' recht plausible Erklärung
bietet, glaube ich im ganzen, daß man sich
die Rolle des übrigen Darmtractus doch zu
passiv vorstellt, und zwar einerseits, weil in
der Typhlongegend die meisten Gefahren
drohen und den Blick auf sich lenken,
andererseits, weil nach der Exstirpation des
Wurmfortsatzes so viele Heilungen verzeichnet
werden. Das war der Hauptgrund, die er-
wähnten, wohl nicht immer ungezwungenen
Erklärungsm öglichkeiten auf z ustell en .
Nun spielen bei der Heilung abdomi-
neller Affektionen nach Laparotomie — man
denke an die tuberkulöse Peritonitis — noch
verschiedene, nicht allzu genau bekannte
Faktoren mit, auch der bedeutende psychische
Einfluß der Operation bei den zum großen
Teil nervösen Kranken, die Bettruhe u. s. w.
sind nicht zu unterschätzen. Dann wird
eben doch ein schwer affizierter Teil, der
viele örtliche Beschwerden macht, entfernt,
und so erklärt es sich, daß eine ganze Reihe
von Kranken sich nach der Operation wohler
fühlen. Aber erst eine viel längere Beob-
achtung — die meisten Operationsresultate
sind sehr frisch veröffentlicht — , ein viel
genaueres Eingehen auf die Beschwerden
wird lehren, ob die Darmfunktionen wirklich
derart tadellos sind, daß man von Heilung
im strengsten Sinne sprechen kann. Jeden-
falls verfüge ich über Beobachtungen, wenn
auch spärliche, wo nach der Operation eine
sehr sorgfältige Behandlung des Darmtractus
erst einsetzen mußte, um alle Beschwerden
zu beseitigen. Auch von Chirurgen werden
solche Fälle mehr und mehr beachtet.
„Manchmal sind die Patienten nach der
Radikaloperation recht verstimmt, weil ihre
alten Beschwerden, also namentlich zeit-
weilige Koliken, fortbestehen" [Hochen-
egg")]-
Dazu kommt nun noch manchmal ein
auffälliges Mißverhältnis zwischen den kli-
nischen Symptomen und dem anatomischen
Befund. Ganz verödete Appendices, sehr
geringe Schleimhauterkrankungen sollen, wie
die Erfahrungen der Chirurgen zu erweisen
scheinen, heftige Erscheinungen abdomineller
und allgemeiner Natur, wie sie oben erwähnt
sind, hervorrufen können.
Ist es wirklich nötig, alles aus einem
Punkte zu erklären ? Ich habe in über . 3/4
der von mir beobachteten Fälle von chroni-
scher Appendicitis häufige Schleimabsonde-
rungen mit dem Stuhl beobachtet, meist in
großen, mit bloßem Auge deutlich nachweis-
baren Mengen, ein wohl sicherer Beweis eines
chronischen, nicht auf ein kleines Anhängsel
beschränkten Darmkatarrhs. Auch sonst be-
stehen bei ungezwungener Betrachtung zahl-
reiche Zeichen eines solchen, insbesondere
eines Dickdarmkatarrhs. Wie dieser ent-
steht, ob die Schädigungen öfter von der
Schleimhaut her oder hämatogen oder noch
anders wirken, darauf will ich nicht ein-
gehen: aber so viel scheint mir sicher, daß
nicht nur die Entstehung, sondern auch die
Symptomatologie eine viel klarere wird, wenn
man für viele, vielleicht die meisten
Fälle, die Erkrankung der Blinddarm-
15) Hochenegg, Sitzungsber. der k. k. Ge-
sellschaft der Ärzte in Wien. Wiener klinische
Wochenschr. 1904.
180
Chronische Entzündung«! <Ur Blloddarmgtf «nd.
fThcrap«ntiieh«
L Monatriurfte.
gegend als Teilerscheinung eines chro-
nischen diffuseren Katarrhs des Darms
betrachtet. Dieser beherrscht in mehr oder
minder ausgesprochener Weise öfter das
Krankheitsbild, wie übrigens auch Lanz
(1. c.) erwähnt. Ungemein häufig läßt sich
verfolgen, daß Besserungen und Verschlim-
merungen des allgemeinen und des örtlichen
Prozesses Hand in Hand gehen. Nicht zum
mindesten hat mich endlich die Erfahrung,
daß man durch Behandlung des allgemeinen
Darmkatarrhs auch den örtlichen Herd aufs
günstigste beeinflußt, zu der Überzeugung
gebracht, daß jener oft gewissermaßen die
Führerrolle spielt, dieser nur die gefährdetste
Position in dem Kampfe darstellt. Zahl-
reiche Fälle sind wohl einfach als chronische
Darmkatarrhe geführt, behandelt und geheilt
worden.
Daher also so häufig Verstopfung, Diar-
rhoe oder der Wechsel von beiden, Flatulenz,
Meteorismus und eine Reihe von kolikartigen
Zuständen, die ganz sicher direkt mit dem
Appendix nicht zusammenhängen; besonders
im Colon transversum kommen Koliken vor,
die man nicht nur nach den Angaben der
Kranken, sondern auch objektiv durch das
Auftreten spastischer Stellen am Darm und
örtliche Peristaltik oberhalb derselben gut
lokalisieren kann. (Zahlreiche „ Magen-
krämpfe u hier wie anderwärts kommen so
zustande.)
Ebenso ist die schlechte Ernährung, die
mangelhafte Entwicklung (bei Kindern) als
Folge eines diffusen Darmprozesses leicht
verständlich, gleichviel ob man, je nach der
herrschenden Mode, mangelhafte Assimilation,
mangelnde Hämatopoese in der Darmwand
oder Autointoxikation anschuldigen will; die
Erkrankung eines kleinen Bezirkes, des
Appendix, oft ohne nennenswerte Retention,
ohne große örtliche Beschwerden genügt viel
weniger zur Erklärung.
Ich schiebe hier die sehr wichtige Be-
merkung ein, daß auch bei der akuten Peri-
typhlitis die Rolle sehr unterschätzt wird,
die eine begleitende katarrhalische Affektion
anderer Darmteile nicht nur für die Ent-
stehung, sondern auch für die Symptomato-
logie in manchen Fällen spielen kann. Was
bei der typhösen, der dysenterischen Appen-
dicitis niemand bezweifeln wird, daß es sich
nur um eine besonders gefahrliche Lokalisa-
tion der ausgedehnteren intestinalen Infektion
handelt, gilt auch für zahlreiche andere Fälle.
Am wichtigsten ist wohl die gleichzeitige
Erkrankung des Coecums; Lanz z. B. hat
ein solches stark verdicktes Co ecum bei einer
Frühoperation am dritten Tage direkt beob-
achtet, während der Appendix nur leicht ge-
staut war. Bei dem „Tumor" spielt diese
Affektion sicher eine Rolle. Aber auch Er-
scheinungen von Dünn- und Dickdarmkatarrh
kommen vor; so schwer es natürlich oft ist,
sie von anderweitig entstandenen zu unter-
scheiden, so ist es doch manchmal möglich
und bei Behandlung einzelner Symptome
(z. B. des Dickdarmmeteorismus) wichtig.
Auch leichtere septische Erscheinungen, be-
sonders wo die Bauchfellerscheinungen mäßig
sind, gehen oft vom Darmtractus aus; ich
habe sie nach Exstirpation des Wurmfort-
satzes bei freiem Bauchfell weiterbestehen
und unter Behandlung mit Darmirrigationen
heilen sehen.
Der gewöhnliche chronische Darmkatarrh
ist nicht der einzige Darmprozeß, der in Be-
ziehungen zur Appendicitis steht.
Ich erwähne hier zunächst die Komplika-
tion einer Enteritis membranacea mit
Appendicitis resp. Typhlitis, die ich 4 mal
beobachtet habe. Dreimal kamen diese Affek-
tionen erst nach jahrelangem Bestehen der
Schleimkoliken hinzu; nur einmal traten zu-
gleich mit einem Anfall von Appendicitis
zahlreiche Gerinnsel im Stuhl auf, doch be-
stand im Verlauf keine Koinzidenz der mehr-
fachen Rezidive von Wurmfortsatzentzündung
und Enteritis membranacea. Bei Reclus18),
Boas (1. c.) und anderen finde ich diese Kom-
plikation bereits erwähnt.
Wahrscheinlich hierher gehört die nicht
seltene und meist relativ gutartig verlaufende
Appendicitis bei Tuberkulösen — von
der Appendicitis tuberculosa wohl streng zu
trennen, obgleich Mischformen möglich sind.
Bei mehreren derartigen Fällen, die ich sah,
bestanden stets deutliche enteritische Erschei-
nungen, wie sie ja bei Tuberkulösen so ge-
wöhnlich sind. Das ungemein häufige Vor-
kommen von Appendicitis mit recht geringen
Symptomen gerade bei Tuberkulösen ist auch
Sonnenburg aufgefallen.
Endlich gehört hierher — viel umstritten
— die Kotstauung in der Typhlon-
gegend. Daß die Typhlitis stercoralis,
eine im ganzen gutartige -und meist subakute
(selten sogar chronische) Affektion, früher
für ungemein viel häufiger und wichtiger ge-
halten wurde, als sie ist, dürfte kein ge-
nügender Grund sein, ihre Existenz nun ganz
zu leugnen. Sie ist anatomisch nachgewiesen
(s. Jordan 1. c, Sick17) u. a.) und kann ge-
legentlich zur Perforation, zu schweren peri-
typhlitischen Entzündungen führen. In den
langsamer verlaufenden Fällen, mit denen
16) P. Reclus, Pathogenie de l'appendicite.
La semaine medicale 1897, p. 237.
17) P. Sick, Primäre akute Typhlitis (sterco-
ralis). Deutsche Zeitschr. für Chir. Bd. 70, 1903.
XIX. Jahrgang.!
April 1906, J
H«rs, Chronisch« Entzündungen der Blinddarmg«g«D<L
181
wir hier zu tun haben, entsteht, meist auf
der Basis alter Verstopfung, ein Tumor mit
allen Charakteren des Kottumors, vor allem
der eigentümlichen Knetbarkeit; es ist oft recht
interessant, das Fortschreiten der Stuhlmassen
bei der (stets nur mit Vorsicht zur bewirken-
den!) Entleerung durch das Colon trans-
yersum und weiterhin zu verfolgen. Fieber
fehlt oder ist gering. Ich habe eine der-
artige Affektion sich monatelang bei einer
psychisch kranken Dame infolge erschwerter
Stuhlverhältnisse wiederholen sehen; als nach
Heilung des melancholischen Stadiums die
letzteren sich regeln ließen, trat nie wieder
ähnliches auf. Ungezwungen lassen sich
manche Prozesse — sehr häufig sind sie
nicht — nicht anders deuten, obgleich natür-
lich Vorsicht in der Diagnose immer notig
ist. Verwachsungen des Appendix mit dem
Coecum z. B. können ähnliche Bilder er-
zeugen.
Die Koprostasierung spielt sich im Typhlon
ab. Bei sehr gunstigen Bedingungen gelingt
es, den Appendix deutlich als dünnen Strang
von jenem gefüllten Darmteil abzugrenzen.
Manchmal ist auch der Appendix mit gefüllt
(Lympius18) u. a.). Übrigens kommen ja
auch in tieferen Darmteilen (z. B. im S Ro-
manum), wo Koprostasierung häufiger, die
Entleerung aber leichter ist, analoge Entzün-
dungen vor.
Gelangen wir so zu der Annahme, daß
wohl bei der Mehrzahl der chronischen und
auch bei vielen akuten Fällen der Darm-
tractus in größerer Ausdehnung unter der-
selben Schädigung steht — auf die Art der-
selben können wir hier nicht eingehen — ,
so erhebt sich die Frage, warum gerade
in der Blinddarmgegend ungleich
häufiger als an anderen Stellen des
Darms so schwere Gefahren drohen.
Warum — um einiges herauszugreifen —
hier gerade die Bildung von Granulations-
gewebe (Appendicitis granulosa Riedel), oft
mit Blutaustritten, die Geschwürsbildung, die
Kotsteinbildung, die Thrombophlebitis der
Wurzelvenen mit nachfolgender Infarcierung
(nach Meisel)?
Die Antwort sucht man gewöhnlich in
gewissen anatomischen Verhältnissen (Enge
des Rohrs, Reichtum an Follikeln etc.) und
in dem rudimentären Charakter des Wurm-
fortsatzes. Wenn jene oft erörterten anato-
mischen Verhältnisse zweifellos mit Recht
ins Feld geführt werden, so erscheint mir
die rudimentäre Natur eines so reich mit
") Lympius, 4 bemerkenswerte Fälle von
Appendicitis. Vereinigung niederrheinisch-westfali-
scher Chirurgen in Düsseldorf XI und XII. Vers.
Referiert Deutsche Medizinische Wochenschr. 1902.
Th. M. 1905.
Lymphapparaten ausgestatteten Organs durch-
aus zweifelhaft. Nach manchen Biologen,
denen ich mich entschieden anschließe, erscheint
überhaupt das Vorkommen rudimentärer Or-
gane ohne jede Funktion nicht erwiesen.
Daß wir die Funktion eines Organs nicht
genau kennen, beweist nicht, daß es keine
hat; übrigens produziert der Wurmfortsatz
ein wäßriges Sekret, und seine Leistung wird
gerade in letzter Zeit wieder diskutiert. Die
Variabilität teilt der Wurmfortsatz mit vielen
Abschnitten des Darms, die Ersetzbarkeit
der Funktion durch andere Organe ohne er-
sichtliche Störung z. B. mit der Milz. Wenn
der Appendix, was bestritten wird, sich ohne
eigentlich pathologische Vorgänge in der
zweiten Hälfte des Lebens oft involviert, so
beweist auch das nur, daß er in jener Zeit,
ähnlich wie die Thymus und gewisse Formen
des Knochenmarks, nicht mehr gebraucht
wird.
Dagegen scheint mir die Tatsache viel
zu wenig beachtet, daß die Darmpartieen in
der Umgebung der Ileocökalklappe von den
verschiedensten chronischen und akuten Schä-
digungen am stärksten verändert werden. An
dieser Stelle, wo auch normalerweise höchst
wichtige Vorgänge, die Überführung der Dünn-
darm- in die Dickdarmverdauung, sich ab-
spielen, erhebt sich auch augenscheinlich,
wie bei Halserkrankungen an den Mandeln,
der heftigste Kampf gegen eindringende feind-
liche Mächte. Ob es einen Zweck hat und
welchen, daß ein Teil dieses Kampfes in
einen Nebenraum, wie Coecum und Appendix,
verlegt wird, muß die Zukunft lehren; jeden-
falls tobt er hier am heftigsten. Verfüttert
man Tieren Streptokokken und Bacterium
coli, so findet man im Darmkanal nur Schwel-
lung der Pey ersehen Plaques, aber im Appen-
dix tiefgehende Veränderungen (N i c o -
laysen19)). In der ungeheuren Mehrzahl
der Fälle bleibt die bedrohte Darmpartie
siegreich, in bedingtem Grade auch dann
noch, wenn dabei der gefährdete Darmteil
durch entzündliche Obliteration für spätere
Kämpfe verloren geht. Nur selten kommt
es zu den schweren Erkrankungen, zur akuten
Perityphlitis in ihren verschiedenen Formen,
jedenfalls nicht nur wegen der durch anato-
mische Verhältnisse bedingten Schwäche der
Position, sondern auch wegen der besonders
heftigen Reaktion dieser Gegend auf Schädif
gungen aus funktionellen, noch nicht genügend
im einzelnen bekannten Gründen.
Neben diesen wichtigen Beziehungen zum
Darmtractus spielen alle übrigen eine ge-
19) Nicolaysen, Experimentelle Appendicitis.
Nord. med. ark. 3 F. II Afd. I 4. No. 24, 1901.
Referiert nach Schmidts Jahrbuchern 1903, Heft 6.
15
182
H«rs, Chronische Entzündungen dar Blinddmrmgegand.
rTherapentiaehe
L Monatshefte.
ringere, wenn auch keineswegs zu unter-
schätzende Rolle.
Hierher gehören die Zirkulations-
verhältnisse im Unterleibe. Ob mangel-
hafte arterielle Blutversorgung gerade bei
gewissen sehr schweren akuten Formen von
Appendicitis eine Rolle spielt, wie behauptet
worden, haben wir hier nicht zu untersuchen;
bei den chronischen Fällen habe ich nichts
gesehen, was auf ihre Entstehung durch
Anämisierung hinweisen konnte. Dagegen
scheinen passiv hyperämische Zustände dabei
nicht ganz ohne Bedeutung zu sein, was mit
mancherlei experimentell gewonnenen Tat-
sachen (de Klecki20) u. a.) übereinstimmt.
Ich sah zweimal bei Herzleidenden mit großer
Stauungsleber Erscheinungen von chronischer
Appendicitis; einmal auch bei Pfortader-
stauung infolge Leberanschoppung (l. Stadium
der Cirrhose bei einem Alkoholiker). Die
Annahme liegt nahe, daß es sich auch hier
um allgemeinere sog. Stauungskatarrhe han-
delte; die Stauung verhindert wohl in der
Hauptsache nur die Heilung des anderweitig
akquirierten Katarrhs und damit auch der
begleitenden Appendicitis. Ob bei jenen
Kranken noch andere Verhältnisse, etwa die
Veränderung der Leberfunktion, in Betracht
kommen, läßt sich nicht sagen. Die aktive
Hyperämie endlich kann gelegentlich als aus-
lösendes, wenn nicht als ursächliches Moment
eines Anfalls bei intermittierender Appendi-
citis bezeichnet werden. So z. B. bei der
Periode der Frauen; bei dem Krankheitsbild
der Plethora abdominalis, das ich ander-
weitig81) ausführlich beschrieben habe, kom-
men periodische Kongestionen nach dem
Unterleibe vor, die in zwei Fällen mit deut-
lichen Erscheinungen leichter Blinddarm-
reizungen verknüpft waren.
Wichtiger noch als Störungen der Zir-
kulation sind solche der nervösen Versor-
gung der Unterleibsorgane bei der Ent-
stehung der Appendicitis. Nach Seh au -
mann98) zeigen 75 Proz. aller Fälle nervöse
Disposition; in den chronischen Fällen, die
Lenzmann 1. c. beschrieb, mußte ein nicht
gerade krankhaftes, aber doch erethisches
Nervensystem angenommen werden. Auch bei
meinen Kranken war die ererbte oder auch
erworbene Grundlage auffällig oft nachzu-
weisen.
* 30) Ch. de Klecki, Pathogenie de Pappendicite.
Annale 3 de FInstitut Paste ur 1899.
ai) H. Herz, Die Störungen des Verdauungs-
apparates als Ursache und Folge anderer Erkran-
kungen. Berlin 1898, S. Karger.
*') Ossian Schaumann, Sind irgendwelche
genetischen Beziehungen zwischen den allgemeinen
Neurosen und der Appendicitis denkbar? Deutsche
med. Wochenschr. 1900, No. 44.
Nach meinen Erfahrungen bestand in den
meisten dieser Fälle ein Krankheitsbild, das
man bei beträchtlicher Ausprägung gewisser
Symptome als „Senkung*4 der Unterleibs-
organe bezeichnet, aber besser als nervöse
Erschlaffung und Überempfindlichkeit der-
selben bezeichnen sollte: große Neigung zu
atonischen Zuständen glatter und quer-
gestreifter Muskeln, Erschlaffung der peri-
tonealen und anderer Haltbänder (sodaß Ver-
lagerungen zu stände kommen können, aber
nicht müssen), Hyperästhesie gegen äußeren
Druck und innere Reize bilden die Sympto-
matologie dieses Leidens. Es ergibt sich
daraus, wie schwer es ist, Druckempfindlich-
keit in der Blinddarmgegend, ja auch das
Auftreten einer druckempfindlichen zylindri-
schen Geschwulst daselbst für die Diagnose
der Appendicitis zu verwerten, wenn jene
Hyperästhesie besteht, die bei verschiedenen
Individuen und bei demselben Individuum zu
verschiedenen Zeiten sehr wechselnd sein
kann. In manchen Fällen bleibt man dauernd
zweifelhaft, in anderen ergibt längere Beob-
achtung, die Zuhilfenahme anderer Kriterien
(manchmal hilft Vergleich mit der ent-
sprechenden Stelle links!) doch die sichere
Diagnose. Manche übertriebenen Angaben,
z. B. die von Edebohls83), der chronische
Appendicitis für das konstanteste einzelne
Symptom oder die konstanteste Folge der
Symptome erzeugenden rechten Wanderniere
hält, finden ihre teilweise Erklärung in
solchen diagnostischen Irrtümern. Aber auch
nach Abzug der zweifelhaften Fälle konnte
ich in der knappen Hälfte meiner Beob-
achtungen von Appendicitis alier Art die ge-
schilderte Affektion der Unterleibsorgane zu-
gleich mit nervöser Disposition, welche
zweifellos die Grundlage jener darstellt, nach-
weisen.
Wie diese Zustände die Erkrankung des
Wurmfortsatzes begünstigen können, darüber
sind die Akten nicht geschlossen. Edebohls
macht venöse Stauung, verursacht durch den
Druck der herabsteigenden Niere auf den
Pankreaskopf und indirekt auf die Vena
mesenterica superior als ursächliches Moment
geltend, eine wenig wahrscheinliche Hypo-
these, zumal derartige Stauungszustände
keineswegs zum Krankheitsbild der Ptose ge-
hören. Schaum ans nimmt an, daß die
Lageveränderungen als solche, eventuell auch
Eigentümlichkeiten in der feineren Struktur
des Organs die Disposition zur Entzündung
geben. Beachtenswert erscheint die Angabe
M) G. M. Edebohls, Wanderniere und Appen-
dicitis; deren häufige Koexistenz und deren simul-
tane Operation mittels Lumbal schnitt Zentr.-Bl.
f. Gynäkol. 1898, No. 40.
XIX. Jahrgang.!
April 1906. J
H«rs, Chronisch« Entzündungen der Blinddarmgegend.
183
von Adler54), daß durch die nervöse Grund-
lage die Darmmuskulatur zur Insuffizienz
neigt, wodurch die Entwicklung von Ent-
zündungen begünstigt wird. Wenn man, wie
oben geschehen, die sog. Ptose mit der Nei-'
gung zu atonischen Zuständen als wesent-
lichstes Bindeglied zwischen nervöser Dis-
position und Appendicitis betrachtet, wenn
man die besonderen Schwierigkeiten für den
Transport der Inhaltsmassen in der Blind-
darmgegend im allgemeinen und im Wurm-
fortsatz im speziellen bedenkt, so wird jeden-
falls leicht Gelegenheit zur Stagnation, zum
Haftenbleiben von Schädigungen gegeben er-
scheinen.
Sehr interessant, allerdings noch recht
dunkel erscheint der Zusammenhang zwischen
chronischen Stoffwechselstörungen und
Appendicitis.
Mehrfach sind Fälle von Gicht beschrieben,
wo ein Anfall von Perityphlitis gleichsam als
Äquivalent einer Gichtattacke einmal oder
mehrmals aufgetreten sein soll. Mangels
eigener Erfahrungen verzichte ich auf eine
Diskussion dieser Angaben. Dagegen habe
ich sehr auffallige Beobachtungen über ein
in der Literatur meines Wissens kaum be-
achtetes Zusammentreffen von Zuckerharnruhr
mit Perityphlitis gemacht. Ich habe das-
selbe viermal gesehen, habe diese 4 Fälle
jahrelang beobachten können. Einmal han-
delte es sich nur um einen vereinzelten An-
fall von Blinddarmentzündung, in den drei
anderen Fällen aber um die intermittierende
Form. Ich würde vielleicht zufallige Koin-
zidenz annehmen, wenn nicht in allen Fällen
zugleich ein enormes Ansteigen der Zucker-
produktion, in zwei Fällen auch das Auf-
treten von Aceton und Acetessigs&ure, die
sonst nicht vorhanden waren, einen näheren
Zusammenhang dokumentiert hätten. Nach
Überstehen der meist sehr schmerzhaften,
aber sonst nicht schweren Anfälle war der
Urinbefund recht bald wieder der alte.
Eigentümlich war noch bei diesen Zucker-
kranken das Auftreten spastischer Erschei-
nungen an verschiedenen Stellen des Darms
während des Anfalls, sodaß in ganz merk-
würdiger Weise zugleich und nacheinander
unbestimmte Tumoren bald hier, bald da zu
konstatieren waren. Die Fälle machten auch
in ihrem Gesamthabitus zuweilen den Ein-
druck einer Intoxikation, es lag nahe, an
eine akute Stoffwechselstörung im Verlauf
des Diabetes mit Krampf zuständen im Darm
zu denken.
Endlich resultieren noch aus der benach-
u) Adler, Über Appendicitis in „nervösen"
Familien. Neorol. Zentr. Bl. 1901, No. 4.
harten Lagerung und aus gewissen Beziehun-
gen der Kreislaufsapparate beider Organ-
systeme sehr wichtige Zusammenhänge zwi-
schen den Erkrankungen der weiblichen
Genitalien und denen des Wurmfortsatzes.
So häufig und bedeutsam diese Verhältnisse
sind, kann ich mich doch kurz fassen, da
sie von gynäkologischer Seite in letzter Zeit
ausführlich und erschöpfend behandelt sind
(E. Fränkel 1. c. u. a.).
Aus meinem Material möchte ich nur die
relative Häufigkeit erwähnen, mit der ich bei
jungen Mädchen (von zweifelloser Virginität)
Dysmenorrhoe und intermittierende Appen-
dicitis gesehen habe. Die Anfälle der letz-
teren traten oft, aber durchaus nicht immer,
im Zusammenhange mit der Periode auf.
Einige Patientinnen vermochten den dysmenor-
rhoischen und den appendicitischen Schmerz
nach Art, Intensität und Sitz deutlich zu
unterscheiden. Nur einmal sicher, ein an-
deres Mal in zweifelhafter Weise konnte ich
das Überstehen ernsterer Blinddarm- resp.
Bauchfellentzündung in früher Jugend nach-
weisen. Die Fälle kamen bei geeigneter
interner Behandlung zur Heilung.
Die Voraussage der chronischen Appen-
dicitis kann quoad vitam bei geeignetem Ver-
halten des Kranken und geeigneter Behand-
lung als günstig bezeichnet werden. Quoad
sanationem ist zu bemerken, daß manche
Fälle der inneren Therapie jahrelang trotzen;
doch kommen auch sie schließlich, eventuell
unter Zuhilfenahme der chirurgischen Be-
handlungsmethoden, fast immer zur Heilung.
Unter meinem ganzen Material von über
130 Fällen, die mir im subakuten • resp.
chronischen Zustande in Beobachtung kamen,
ist meines Wissens nur ein Fall ad exitum
gekommen, und auch dieser wohl nur durch
ungeeignetes Verhalten im Beginn der akuten
Exazerbation. Es handelte sich um einen
Herrn, der sich nach zweimaliger Konsultation
in meiner Sprechstunde — die Piagnose war
nur mit Wahrscheinlichkeit zu stellen —
meiner Behandlung entzog; er starb ca.
1 Jahr später an einer akuten Perforations-
peritonitis, nachdem er zuverlässigen Be-
richten nach in den ersten Tagen der heftig
aufflackernden Erkrankung in übertriebenster
Weise von Abführmitteln Gebrauch gemacht
hatte. Von den anderen Fällen habe ich
zwar nicht alle, aber den größten Teil jahre-
lang im Auge behalten oder kenne doch
wenigstens den Ausgang ihres Leidens. Einige
wenige Fälle haben noch immer mehr oder
minder große Beschwerden: sie haben weder
zu energischer interner Behandlung die Aus-
dauer, noch zur chirurgischen den Mut. Alle
anderen sind, soweit sie nicht noch als relativ
15*
184
H«rs, Chronische Entzündungen der Bllnddarmgegend.
fTharapral
L Monjitah
frisch in meiner Behandlung sind, geheilt
oder, wenn wir uns 'vorsichtiger ausdrücken
wollen, in ein schon lange anhaltendes latentes
Stadium übergegangen, größtenteils auf in-
ternem Wege, 16 Fälle durch chirurgische
Hilfe.
Dieser günstige klinische Verlauf kon-
trastiert einigermaßen mit dem Befund bei
den in den letzten Jahren so zahlreich aus-
geführten Exstirpationen des Wurmfortsatzes;
grade im Hinblick auf die große Reihe dieser
gruslig aussehenden Präparate, bei welchen
eine Naturheilung gar nicht oder doch hur
unter ganz besonders glücklichen Umständen
möglich sei, plaidieren zahlreiche Chirurgen
jetzt für möglichst radikales Vorgehen gegen
ein so gefährliches Organ. Und nicht nur
der Befund, auch der Verlauf sei eine War-
nung. „Wie häufig kommt es vor, daß die
gewiegtesten Ärzte, die erfahrensten Kliniker
einen fieberlos und ohne schwere allgemeine
Erscheinungen verlaufenden Fall trotz ihrer
bewährtesten Heilmethoden plötzlich mit ört-
licher oder ausgebreiteter Peritonitis auf die
„einfache", „katarrhalische" Appendicitis
reagieren sehen, wie oft endet eine „Colica
appendicularis" binnen wenigen Tagen mit sep-
tischer Bauchfellentzündung" (Karewski*5).
Ja, wie häufig kommt das den gewiegtesten
Ärzten vor, die Frage ist in der Tat wichtig.
Daß Todesfälle durch diffuse Peritonitis, In-
toxikation, Abknickungen , Pylephlebitis etc.
trotz aller Sorgfalt nicht immer zu vermeiden
sind, ist nicht zu bezweifeln, und jeder Arzt,
dem ein solcher Fall vorgekommen ist, wird
ihn als warnendes Exempel immer deutlicher
vor sich sehen, als die zahllosen geheilten
Fälle. Ich glaube auch, daß ich bei meinem
Material Glück gehabt habe, wenn ich selbst
die guten Erfolge in etwas auf frühe Dia-
gnose und vorsichtigste Behandlung zurück-
führen darf; das Beobachtungsmaterial des
einzelnen ist eben gewöhnlich einseitig, bald
auffällig gut, bald auffällig schlecht. Aber auch
wenn mir einige Fälle mehr gestorben wären,
ich müßte immer zu dem Schlüsse kommen,
daß die Appendicitis eine ungemein häufige
und bis auf einige Proz. gutartige Erkran-
kung ist, besonders gutartig, seitdem die
Chirurgen bei gewissen Formen ihre Hilfe
leihen.
Auf Grund der höchst zahlreichen Heilun-
gen, selbst schwerer chronischer (und nicht
minder schwerer und komplizierter akuter)
Fälle, die in der Literatur niedergelegt sind
(siehe die Heilungen der Typhlitis stercoralis,
,5) Karewski, Anatomische Befunde bei der
Wurmfortsatzentzündung etc. Berl. Klin. Wochen-
schrift 1904, No. 10.
die in der Regel hierher gehört, in der
älteren Literatur) und die ich selbst beob-
achtet habe, muß ich die Überzeugung aus-
sprechen, daß die Vis medicatrix naturae
"hier unendlich unterschätzt wird. Nicht nur
gelegentlich einmal, sondern in der Mehrzahl
der Fälle — das ergibt der Vergleich der
Operationsbefunde bedenklicher Art mit den
wirklich beobachteten Unglücksfällen —
kommt es zur Ausheilung; nicht nur der
Schleimhautprozeß kann durch Restitution
oder Narbenbildung gut abheilen, auch am
Bauchfell kommen, z. T. wohl vermöge des
epithelialen Charakters seiner Bekleidung,
zahlreiche regenerative Veränderungen zu
stände, wie das Meisel (1. c.) auseinander-
gesetzt hat. Die Gefahren der chronischen
Appendicitis sind von vielen Seiten und mit
Recht betont worden; es scheint mir an der
Zeit, auch den trotz jener Gefahren über-
wiegend günstigen Verlauf ins rechte Licht
zu setzen.
Für den Einzelfall lassen sich nicht un-
wichtige prognostische Anhaltspunkte aus der
Beschaffenheit des Tumors und aus der
Verlaufsart gewinnen.
Von den Geschwülsten haben die zylin-
drischen und auch die strangförmigen die
beste Prognose. Unregelmäßig gestaltete sind
nach dem oben Gesagten verdächtig, beson-
ders wenn noch andere Momente (gelegent-
liche Fiebersteigerungen, schlechte Ernährung,
Widerstand gegen die therapeutischen Maß-
nahmen) hinzukommen. Es handelt sich oft
— nicht immer — bei ihnen um Flüssig-
keitsansammlungen in oder um den Appendix
oder das Typhlon. Auf die Prognose der
großen, gut abgegrenzten Tumoren bei der
progredienten adhäsiven Form kommen wir
gleich zurück.
Fehlen eines Tumors bei sonst günstigen
Palpationsbedingungen in Fällen, wo deut-
liche Erscheinungen von Perityphlitis vor-
handen sind, wird als recht bedenklich an-
. gesehen. Im akuten Anfall halte ich diese Er-
scheinung auch nicht für günstig, wohl weil
dabei die örtliche schützende Reaktion des
Bauchfells zu gering ist; bei chronisch inter-
mittierenden Formen habe ich keine üblen
Erfahrungen gemacht, wenn der Tumor fehlte
oder im Intervall zurückging.
Endlich ist langsames ständiges Wachsen
der Geschwulst wohl ein schlechtes Zeichen,
während ein mäßiges Schwanken der Tumor-
größe, oft in kurzen Fristen, ohne Bedeu-
tung ist.
Was die Verlaufsart anlangt, so hat die
latente Form im allgemeinen eine sehr
günstige Prognose, wie der Obduktionsbefund
bei aus anderen Ursachen Verstorbenen be-
XIX. jAhrganff.1
April 1905. J
Hers, Chronisch« Entsfindungen d«r Blinddarmgegend.
185
weist. Aber in seltenen Fällen kommen
gerade hier die fürchterlichsten Komplika-
tionen vor, die schwersten Perforationsperito-
nitiden oder auch Ileusfälle durch Abknickung
oder Einklemmung verschiedener Art. Die
tödlichen Fälle von schwerstem akuten Ver-
lauf gehören vielfach hierher. Immer mehr
Fälle früh zu erkennen und früh zu behan-
deln, wenn nicht gleich operativ, doch intern,
ist eine der wichtigsten Aufgaben.
Bei den Fällen mit intermittierenden Be-
schwerden bietet die leichte Gruppe, bei der
nie eine deutliche Perityphlitis zu stände
kommt, quoad vitam wie quoad sanationem
auch bei interner Therapie sehr gute Chancen.
Es gelingt in der Regel, nach nicht allzu
langer Zeit der Erscheinungen Herr zu
werden, nachdem die Attacken einen immer
leichteren Charakter angenommen haben.
Entwicklung perityphlitischer Abszesse ist ja
natürlich noch in späteren Stadien möglich,
auch durch Beispiele aus der Literatur be-
legt, aber zweifellos sehr selten; Perforation
in die freie Bauchhöhle ist kaum bekannt.
Doch habe ich zweimal den Übergang in die
kontinuierliche Form gesehen.
Bei der zweiten Unterabteilung mit deut-
lichen perityphlitischen Attacken liegen die
Verhältnisse etwas ernster, aber doch ähn-
lich. Im allgemeinen werden die Rezidive
leichter, erhebliche Eiterbildung ist bei häufig
rezidivierenden Fällen selten. Aber es kom-
men eben doch noch bei den späteren An-
fallen größere Abszesse mit all ihren Ge-
fahren vor. Perforation in die freie Bauch-
höhle ist bei geeignetem Verhalten jedenfalls
äußerst selten. Sind doch im allgemeinen
genügend Schutzapparate entwickelt, die nicht
nur rein mechanisch einen Wall gegen die
allgemeine Infektion bilden: das Bauchfell
wird auch sonst durch häufigere Attacken
resistenter.
Von besonderer Wichtigkeit erscheint
z. Z. die Frage, wie groß die Chance
eines Menschen, der eben eine akute
Perityphlitis überstanden hat, ist, an
einem Rückfall zu Grunde zu gehen.
Verlangen doch besonnene Chirurgen jetzt
jeden Fall nach überstandener Blinddarm-
entzündung1 zur Operation. Wie stehen nun
jene Chancen? Als das größte und zuver-
lässigste Material der Neuzeit erscheint mir
das von Sahli") durch Sammelforschung bei
den Schweizer Ärzten zusammengebrachte.
Danach beträgt die Gefahr eines Rezidivs bei
interner Behandlung 20,8, d. h. von 100 Ge-
nesenen erkrankten 20,8 nochmals. Nehmen
*) Sahli, Verhandlungen des Kongresses für
innere Medizin 1895.
wir die Mortalität der Rezidive als gleich
groß, wie die der ersten Anfälle, so sterben
8,8 Proz. von diesen 20,8, also 1,83. Also
von den 100 vorhin erwähnten Genesenen
haben 1,83 das Mißgeschick, im folgenden
Anfall zu sterben. Die dritten und folgenden
Rezidive werden schon viel seltener und er-
höhen die Mortalitätschancen jener 100 Ge-
nesenen nicht sehr erheblich, wie sich durch
analoge Rechnung ergibt. »
Ähnliches zeigt eine Statistik von Riedel:
23,57 Proz. Rezidive, davon noch 6,4 Proz.
Todesfälle, das sind von 100 Genesenen
1,5 Todeskandidaten. Die höchsten mir zu
Gebote stehenden Zahlen, die ich für un-
richtig halte, sind 40 Proz. Rezidive, 12 Proz.
Mortalität im Anfall: das ist nach obiger
Rechnung eine Mortalitätschance von 4,8 Proz.
So bei interner Therapie. Es ist aber
gar nicht zu bezweifeln, daß diese Prozent-
zahlen, an sich gering, sehr herabzudrücken
sind, wenn man die besonders gefährdeten
Fälle auf Grund der bald zu erörternden
Indikationen bei Zeiten operieren läßt. Ich
glaube, daß man mit Hilfe des Chirurgen
auch ohne durchgängige Operation die Mor-
talität auf ein Minimum herabdrücken kann.
Von allen Fällen, die ich nach Überstehen
eines akuten Anfalls zum guten Teil noch
jahrelang beobachtet habe, ist meines Wissens
kein einziger an Folgezuständen gestorben.
Unter den Fällen, die ich (1. c.) aus dem
Allerheiligenhospital veröffentlicht habe und
deren weiteres Schicksal P. Cohn*7) zu
eruieren suchte, fanden sich zwar recht reich-
liche Rezidive, aber kein sicherer Todesfall
an Appendicitis; (in einem Falle, der ge-
storben war, ist Unterleibsentzündung als
Todesursache berichtet worden ; doch war bei
der Diagnose schon die Möglichkeit einer tuber-
kulösen Perityphlitis angenommen worden).
Endlich die Entzündungen mit konti-
nuierlichem Verlauf. Ihre Prognose quoad
vitam ist auch recht günstig. Nur Fälle mit
häufigem und unregelmäßigem Fieber sind
höchst suspekt und gehören sicher dem Chi-
rurgen. Quoad sanationem ist ein Teil dieser
Fälle hartnäckig. Zwar habe ich auch hier
in den meisten Fällen, selbst recht veralteten
und schwer aussehenden, gute Resultate ge-
sehen, aber manche Zustände verhalten sich
dauernd refraktär gegen innere Therapie.
Man kann manchmal schon sehr bald, durch
die ganze Art des Verlaufes, das unaufhalt-
same Ansteigen, erkennen, daß man es mit
einer intensiven Affektion zu tun hat.
*7) Paul Cohn, Beitrag zur prognostischen
und therapeutischen Beurteilung der Perityphlitis.
Inaug.-Dissert. Breslau. Dez. 1896.
186
Hers, Chronisch« Entzündungen der BHnddarmfftgend.
rThwmpen
L Moiuttefa
entliehe
MonJttehefte.
"Während bei den gewöhnlichen Fällen
dieser Gruppe wenigstens die Operation
günstige Aussichten bietet, ist die Voraussage
bei der progressiven plastischen Form immer
dubia. Manchmal sieht man ja selbst bei
großen Tumoren dieser Art überraschend
günstige Erfolge; ich sah einen kindskopf-
großen Tumor der betreffenden Gegend unter
Moorumschlägen und Brunnenbehandlung
schwinden. Aber nicht selten gehen doch
die Kranken bei dieser im ganzen seltenen
Erscheinungsform oft durch Entkräftung, all-
gemeine Bauchfellentzündung, Ileus zu Grunde.
Leider sind auch die Operationsresultate bei
großer Ausdehnung dieser Erkrankungsherde
nicht gerade günstige, wie die Fälle von
Jaffe58), Karewski (1. c.) und vielen an-
deren beweisen.
Bezüglich der Behandlung könnte ich
mich im Sinne der meisten Chirurgen wohl
recht kurz fassen: jeder Wurmfortsatz, der
Beschwerden macht oder gemacht hat, muß
operativ entfernt werden, das ist wohl jetzt
die immer mehr vordringende Anschauung.
In erster Reihe erstreckt sich diese Forderung
ja auf die Kranken, die einen Anfall von
akuter Perityphlitis hinter sich haben. Nun
ist aber die akute Attacke sehr oft etwas
gewissermaßen Zufälliges, ein Intermezzo im
Verlauf einer chronischen Erkrankung, und
es ist nicht sicher, daß nach solchem Inter-
mezzo die Gefahr der Erkrankung so wesent-
lich erhöht ist. In jedem Fall von chroni-
scher Appendicitis besteht eben die mehr
oder weniger groß geschätzte Gefahr schwerer
und selbst tödlicher Komplikationen. Es ist
also die Frage des chirurgischen Eingriffs
für alle Fälle diskutabel. '
Die oben skizzierte Indikationsstellung
hat den Vorzug der Einfachheit; auch zweifle
ich nicht, daß sich auf diese Weise in der
Regel zufriedenstellende Resultate erreichen
lassen.
Ob dieselben aber besser sind, als bei
einem individualisierenden Verhalten, das von
allen Mitteln der Therapie Gebrauch macht,
scheint mir keineswegs erwiesen.
Die vornehmste Aufgabe der operativen
Therapie ist die Heratdrückung der Mortali-
tätsquote; die Hoffnung, daß sie je gleich
Null wird, halte ich schon wegen der vielen
latenten oder auch undiagnostizierbaren Fälle
für eine Utopie. Nun ist aber die Mortalität
bei chronischen Fällen, wie ich oben selbst
bei den relativ schweren, mit akuten Attacken
einhergehenden nachzuweisen versuchte, eine
M) Max Jaffe, Zur Exstirpation des Wurm-
fortsätze* im freien Intervall. Zentr.-Bl. f. Chirurgie
1901, No 31.
geringe, nur einige Prozent betragende. Von
den betreffenden Todeskandidaten wird sich
ein großer Teil dem kundigen Auge alsbald
als hilfsbedürftig erweisen: es handelt sich
um die gleich zu erörternden Fälle, die aus
innerem oder äußerem Grunde die Operation
erheischen. Bleiben also nur die Kranken
zu retten, in denen trotz relativ sehr leichter
oder zur Zeit fehlender Krankheitserschei-
nungen nach konservativem Verhalten der
Exitus erfolgt: ein Ereignis, das vorkommt,
das ich aber anderweitigen Behauptungen
gegenüber doch für sehr selten halten muß,
wenn man die Fälle ausnimmt, in denen die
Diagnose nicht gestellt, oder die Behandlung
in recht nachlässiger Weise geführt wurde.
Sind nun wirklich alle Unglücksfälle
durch ausnahmsloses Operieren zu vermeiden?
Das ist nicht der Fall. Die Herausnahme
des Appendix in der anfallsfreien Zeit ist
zweifellos in der Regel gefahrlos. Manchen
Operateuren ist es geglückt, Hunderte von
Fällen ohne Todesfall zu operieren; andere
haben schlechtere Resultate zu verzeichnen.
Im ganzen dürfte vielleicht die von
Sprengel") berechnete Zahl: 0,86 Proz.
Mortalität das Richtige treffen. Ileus, Em-
bolie, Pneumonie, Erschöpfung, die Narkose
figurieren als Todesursachen. Natürlich sind
besonders gefährliche Formen der chronischen
Appendicitis, z. B. die progrediente adhäsive
Periappendicitis , bei diesen Operationen
ä froid nicht mitgerechnet. Ob bei Ent-
fernung des Wurmfortsatzes durch kleinen
Schnitt latente Eiterherde zu übersehen sind,
ist nicht bekannt.
Bedenkt man nun die ungeheure Zahl
der Kranken, bei denen sich eine chronische
Entzündung in der Blind darmgegend nach-
weisen läßt, so ist bei relativ geringer Ge-
fährlichkeit der Operation der absolute Ver-
lust an Menschenleben doch nicht so gering.
Ich bin erstaunt, daß auch solche Operateure,
die Todesfälle zu beklagen* hatten, ihn „gleich
Null" setzen*). Die Mortalität der rein
intern behandelten chronischen Appendicitis
ist wohl schlechter, beträgt mehrere Pro-
zent; ob aber bei geeigneter Auswahl der
Operationsfälle mehr Unglücksfälle passieren,
als bei ausnahmslosem Operieren, das ist
nicht zu beweisen; die Unterschiede dürften
M) Sprengel, Archiv für klin. Chir. LXVHI,
1902.
*) Beliebt ist in der Praxis der Vergleich der
Operationsgefahr mit der einer Eisenbahn fahrt;
diese, wird dem Patienten gesagt, unternehme er
doch auch ganz sorglos. Zur Charakterisierung
dieses Vergleichs führe ich nur an, daß in England
nach einem Durchschnitt von 13 Jahren von
72,8 Millionen Eisenbahnreisenden einer getötet
wurde.
XIX. Jahrgang.1
April 1905. J
Hers, Cbronttche EotzQndungftn der Blinddarmgegend.
187
jedenfalls gering sein. — Übrigens mußte
bei Ausdehnung unserer diagnostischen Fähig-
keiten der latenten Form gegenüber die Zahl
der Operationen ins Ungemessene wachsen.
Sind aber die Erfolge der exklusiv ope-
rativen und die der auswählenden Methode
die gleichen oder nur unbedeutend verschieden,
so erscheint es mir nicht ärztliche Aufgabe,
das Individuum, das meinen Rat aufsucht,
einem Unglücksfall durch Operation auszu-
setzen, damit ein oder meinetwegen selbst
zwei andere Individuen einem natürlichen
Unglücksfall entgehen. Dazu müßten die
Chancen auf beiden Seiten viel verschiedener
sein.
Endlich erwähne ich noch, daß sich unter
meinen Kranken auch solche mit Arterio-
sklerose, mit Stauungszuständen, mit Diabetes
und anderen Krankheiten befanden, Leute,
bei denen erfahrungsgemäß die Operations-
gefahren größer sind, als bei sonst Gesunden.
Abgesehen von der Lebensgefahr, nach
meinen Erfahrungen öfter als diese, sind es
die Beschwerden der Kranken, welche die
Operation indizieren. Zweifellos ist sie in
dieser Beziehung sehr oft eine höchst dank-
bare. Aber auch hier muß "Wasser in den
Wein geschüttet werden. Die Operation als
solche kann neue Beschwerden schaffen, und
vor allem sind durchaus nicht immer die
Kranken nach Entfernung des Appendix von
allen ihren früheren Beschwerden befreit.
Krankheitszustände als Folge der Ope-
ration ä froid sind im ganzen wohl selten.
Langanhaltende Venen thrombosen sind be-
schrieben. Auch Fistelbildungen kommen
vor (s. Mühsam30)). In der Regel werden
diese Zustände wohl zur Heilung zu bringen
sein. Bauchbrüche sollen durch die neuere
Technik fast ausnahmslos zu verhüten sein,
erst die Zukunft kann lehren, ob wirklich
alle diese Narben halten werden. Aufmerk-
sam machen möchte ich auf 2 Fälle, die mir
bekannt geworden sind, wo die Kranken
längere Zeit an heftigen (neural gif ormen?)
Schmerzen in der Narbe litten.
Die Frage wenigstens möchte ich schließ-
lich noch stellen — erst jahrzehntelange
Beobachtung eines größeren operierten Ma-
terials kann sie entscheiden — , ob die wurm-
fortsatzlosen Individuen gegen alle vom Darm
wirkenden Schädigungen ebenso widerstands-
fähig sind wie die anderen? Bis jetzt sind
allerdings wohl keine Schädigungen durch
Verlust des Appendix beobachtet.
Viel wichtiger ist, daß leider nicht in
w) Richard Mühsam, Die im Verlaufe der
Blinddarmentzündung auftretenden Fisteln. Mitteil.
aas den Grenzgebieten der Med. a. Ghir. XI, 1903.
allen Fällen Aufhören der Beschwerden nach
der Operation garantiert werden kann. Bei
dem Zusammenhang, in dem nach obigen
Ausführungen die örtliche Erkrankung mit
diffuseren Darmkatarrhen, mit allgemeiner
Ptose u. 8. w. steht, bei der Häufigkeit zu-
rückbleibender peritonealer Verwachsungen
etc. ist es ja auch schwer verständlich, daß
die Exstirpation des Appendix nun alle Be-
schwerden plötzlich beheben soll. Vielmehr
ist es auffällig, wie oft das geschieht, selbst
wenn es sich z. B. um ganz obliterierte Or-
gane handelt. Der momentan günstige Er-
folg beruht dann oft mit auf den oben schon
geschilderten Verhältnissen (allgemeine Wir-
kung der Eröffnung der Bauchhöhle und der
Wegnahme eines besonders erkrankten Teils,
psychische Beeinflussung, Bettruhe, vielleicht
auch Nervendurchschneidung etc.). Sicher be-
stimmbar ist also der Erfolg nicht; manch-
mal treten nach einiger Zeit die Beschwerden
wieder sehr hervor, während sie in anderen
Fällen glücklicherweise doch einige Zeit nach
der Operation verschwinden.
In der Freude über die gelungene Ope-
ration scheinen manche Chirurgen diesen Zu-
ständen wenig Beachtung geschenkt zu haben;
„völlige Heilung" ist bei ihnen der gewöhn-
liche Erfolg. Andere, wie Ho che n egg (s. o.),
sind weniger begeistert, suchen aber den
Patienten klar zu machen, daß nach Ent-
fernung ihres Appendix allen diesen Sym-
ptomen weniger Bedeutung beizulegen sei,
als früher, wo man immer einen akuten Aus-
bruch der Perityphlitis befürchten mußte.
Übrigens ist das Auftreten von Typhi itis und
Perityphlitis nach Amputation des Wurm-
fortsatzes durchaus nicht völlig ausgeschlossen
(Fisch l31)), vielleicht durch alte Verwachsun-
gen begünstigt. Die Bedeutung der letzteren
betont besonders Knud Faber39); er sah
öfters alle Symptome wieder sich einfinden,
wenn wieder Adhäsionen sich gebildet hatten.
Auch mir ist ein Fall bekannt, wo sogar der
Leib nochmals geöffnet werden mußte, weil
ein zurückgebliebener Strang Stenosenerschei-
nungen verursacht hatte. Zweimal sah ich
nach der . Operation Symptome chronischen
Darmkatarrhs unentwegt fortbestehen; erst
eine mühsame interne Behandlung beseitigte
denselben.
Es liegen also die Verhältnisse nicht so,
daß man einem Kranken sagen kann: „Lassen
Sie sich operieren, die Operation ist ganz
•') Fischl, Typhlitis nach Amputation des
Wurmfortsatzes. Prag. med. Wochenschr. 1904,
No. 7.
M) Knud Faber, Über Appendicitis obliterans.
Mitteil, aus den Grenzgebieten der Med. u. Chir.
Bd. XI, 1903.
188
Hers, Cnxonltche Entzündungen der Blinddarmgegend.
rrherapentltche
L Monatshefte.
1
gefahrlos und Sie sind damit alle Gefahren
und Beschwerden sicher los". Auch kann
man schwerlich die Operation in allen Fällen
als „unbedingt notwendig" bezeichnen. Unter
diesen Umständen muß man dem Patienten
nach ruhiger Erörterung der Sachlage ein
gewisses Mitbestimmungsrecht einräumen.
Der eine, nicht gewohnt, sich zu schonen,
von Natur energisch, verlangt bald gesund
zu sein, auch wenn er im Moment ein ge-
ringes Risiko eingeht; der andere, geängstigt
durch ständige Furcht vor schwerem Kranken-
lager, kommt zu demselben Schluß. Natür-
lich wird auch -der Arzt in solchen Fällen
ceteris paribus eher zur Operation schreiten.
Andere Patienten, und unter meinem Beob-
achtungsmaterial sind das bei weitem die
meisten, verlangen, daß erst innere Methoden
versucht werden, ehe sie sich zu der ge-
fürchteten Operation entschließen. In den
gewöhnlichen Fällen kann man diesem Wunsch
nachgeben. Es empfiehlt sich durchaus nicht,
solch' operationsscheuen Leuten die Gefahren
des Abwartens allzu schwarz zu schildern:
der konsultierte Kurpfuscher feiert sonst even-
tuell die schönsten Triumphe, kann auch wohl
das schlimmste Unheil anrichten.
Viel wichtiger noch als der Wille
der Kranken ist bei der Indikations-
stellung die Frage, ob der Kranke sich
genügend schonen und der nötigen Be-
handlung unterwerfen kann. Bei körper-
lich schwer arbeitenden Personen, bei
schlechter Vermögenslage ist der Eingriff viel
öfter erwünscht. Auch bei Kindern, bei
denen es schwer ist, die nötigen Vorsichts-
maßregeln bei der Bewegung u. s. w. längere
Zeit zu treffen, welche als „Angstkinder"
in ihrer ganzen Entwicklung gestört sind,
tritt die Frage der Operation näher heran.
Dies vorausgeschickt, läßt sich die erste
Indikation so normieren, daß die Operation
immer dringender wird, wenn Zeichen
einer größeren Lebensgefahr, als sie
gewöhnlich bei Appendicitis unkom-
plizierter Art vorhanden ist, deutlicher
werden.
Auf solche Zeichen ist bereits hinge-
wiesen; sie sind teils örtlich, z. B. auf der
Gestalt des Tumors beruhend, teils allgemein:
unregelmäßige Fieberbewegungen sind vor
allem verdächtig. Mehr noch ergibt der Ver-
lauf. Wenn bei der intermittierenden. Form
die Anfälle gegen die Regel immer schwerer
werden, wenn bei der kontinuierlichen ein
unaufhaltsames Steigen der Symptome trotz
geeigneten Verhaltens eintritt, so soll man
nicht zu lange mit dem Eingriff warten.
Auch bei der progredienten adhäsiven
Periappendicitis ist natürlich einzugreifen,
sobald das Fortschreiten sich als unaufhaltsam
erweist. In diesen Fällen dürfte übrigens
manchmal die Darmausschaltung bessere Re-
sultate geben, als die eventuell sehr schwierige
und recht gefährliche Exstirpation.
Daß überall, wo ein chronischer Abszeß
mit mehr oder minder großer Sicherheit
nachgewiesen ist, die Operation dringend in-
diziert ist, erscheint wohl selbstverständlich.
Häufiger ist nach meinen Erfahrungen
die zweite Indikation: die Beschwerden
und Funktionsstörungen erreichen trotz
Behandlung eine solche Höhe, daß ein
Eingriff nötig wird. In der Mehrzahl der
Fälle heilt ja der Prozeß wenigstens klinisch
mehr oder minder schnell aus. Aber be-
sonders bei sensiblen Kranken kann die in-
terne Therapie auch mißlingen.
Bei der kontinuierlichen Form sind es
besonders Fälle, wo mechanische Hinder-
nisse, fixierende Netzstränge, peritoneale Ad-
häsionen die Hauptrolle spielen, die hier in
Betracht kommen. Zuweilen wird aber auch
ohne derartige Komplikation das Leben un-
erträglich, wie in den von Lenz mann (1. c.)
beschriebenen Fällen, trotz aller Bemühung
fehlt jede Neigung zur Besserung. Solche
im ganzen seltenen Zustände sind recht oft
günstige Objekte operativen Verfahrens.
Immer wiederkehrende Attacken der inter-
mittierenden Form führen wohl noch häufiger
zur Operation. Oft genug ist dabei, wie
auch die Autoskopie zeigt, gar keine beson-
dere Lebensgefahr, die Veränderungen am
Appendix sind gering, oder derselbe ist gut
in peritoneale Schwarten eingewickelt. Daß
der einzelne Anfall noch keine strenge Indi-
kation zum Eingreifen darstellt, wenn man eben
nicht für ausnahmsloses Operieren in allen
chronischen Fällen ist, ergibt sich aus obigem.
Daß auch nach sehr zahlreichen Anfallen
Spontanheilung möglich ist, steht fest. Der
Moment, in dem man eingreifen wird, hängt
auch hier wieder von zahlreichen Überlegun-
gen ab: von der Stärke und Art der Anfalle,
ihrem Stärker- oder Schwächerwerden, dem
Wunsch des Patienten u. a. m.
Endlich ergibt sich noch eine dritte Reihe
von Indikationen aus der Bedrohung der
weiblichen Genitalien durch den appen-
dici tischen Prozeß. Als unmittelbare Indi-
kation werden hochgradige Beschwerden
während der Schwangerschaft, sodaß Partus
praematura oder Abort droht, angegeben
(Borchardt). Beim deutlichen Auftreten
schwerer Tubooophoritis im Anschluß an
Appendicitis muß ebenfalls die Operation
wünschenswert erscheinen, besonders wenn
es gilt, die linksseitigen Adnexe bei ge-
schlechtsreifen Frauen vor der Erkrankung
XIX. Jahrgang.!
April 1905. J
Her«, Chronisch« Entzündung*!» der Blinddarmgegend.
189
zu bewahren. Bei dem so häufigen Zu-
sammentreffen von Dysmenorrhoe mit Appen-
dicitis, bei mäßigen Verwachsungen der Or-
gane, wie sie nicht selten vorkommen, scheint
mir die Operation nicht ohne weiteres indi-
ziert, nur bei einer gewissen Höhe der Be-
schwerden und Erfolglosigkeit sonstiger The-
rapie. — Bei Laparotomien aus anderen
Gründen den so oft krank befundenen
Appendix mit zu entfernen, dürfte wohl an-
gezeigt erscheinen.
Wie man sieht, ist die Indikation zum
operativen Eingriff mit wenigen Ausnahmen
nicht so streng, daß nicht bei günstigen
äußeren Verhältnissen ein Versuch interner
Heilung zu machen wäre ; natürlich bleibt immer
die Operation in Reserve. Den richtigen
Zeitpunkt derselben zu bestimmen, dazu be-
darf es der Beurteilung des ganzen Zustandes
und des Milieus. Ich gebe zu, daß diese
Aufgabe schwieriger ist, als auf eine be-
stimmte anatomische Diagnose mit der Prä-
zision eines Automaten durch ein und die-
selbe radikale Therapie zu reagieren. Je
weiter wir, wie zu hoffen, in der diagnosti-
schen Differenzierung der Prozesse der Blind-
darmgegend kommen werden, um so be-
stimmter werden sich auch die therapeuti-
schen Indikationen sondern lassen.
Schließlich möchte ich kurz die Grund-
züge der internen Behandlung skizzieren.
Die Notwendigkeit ihrer Kenntnis wird selbst
der begeistertste Anhänger der Operation für
die Fälle zugeben, in denen jeder Eingriff
entschieden abgelehnt wird oder durch schwere
Arteriosklerose, enorme Fettleibigkeit u. s. w.
kontraindiziert erscheint.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die
Heiltendenz zahlreicher Fälle an sich eine
recht große ist ; mehr oder minder chronische
Residuen nach akuter Perityphlitis, zahllose
latente oder auch Beschwerden verursachende
Entzündungen des 'Wurmfortsatzes resp. Blind-
darms heilen unter günstigen Umständen ohne
weitere gewissermaßen aktive Maßnahmen.
Wünschenswert ist dazu allgemeine Kräfti-
gung des Organismus durch die bekannten
Mittel; ferner Erleichterung der Arbeits-
leistung des Verdauungskanals durch leicht
bekömmliche Diät, geregelte Bewegung, bei
den meisten Menschen durch kurze Ruhe-
pausen im Beginn der Verdauungsperiode etc. ;
endlich durch Vermeidung aller jener oben
aufgezählten Schädigungen, welche bei der
intermittierenden Form die Attacken auszu-
lösen pflegen, bei der kontinuierlichen den
Entzündungsprozeß unterhalten oder gar ver-
schlimmern. Recht genaue Vorschriften nach
allen diesen Richtungen sind für jeden der-
artigen Kranken nötig.
Th.M.1906.
Ich glaube aber, daß wir dem Krank-
heitsprozeß viel unmittelbarer zu Leibe gehen
können, ich habe so oft lange bestehende,
gar nicht oder ungeeignet behandelte Fälle
bei zweckmäßigen Verordnungen besser werden
und — vielfach allerdings erst nach wieder-
holten Kuren — im klinischen Sinne heilen
sehen, daß ich an der Wirksamkeit gewisser
Methoden nicht zweifeln möchte. Es handelt
sich besonders um zwei Reihen von Maß-
nahmen, erstens solche, welche die oben
geschilderten allgemeineren Krank-
heitserscheinungen, besonders den be-
gleitenden Darmkatarrh, günstig beein-
flussen, zweitens um die sog. resorptiven
Methoden.
Gerade die Erfolge, die ich in Fällen,
wo ein diffuserer Darmkatarrh nachzuweisen
oder zu vermuten war, durch sorgfältige Be-
handlung desselben erzielte, haben mich in
meiner Ansicht, daß oft die chronische Appen-
dicitis resp. Typhlitis nur Teilerscheinungen
jenes Prozesses darstellen, bestärkt; auch sind
zweifellos viele Fälle, bei denen die Diagnose
gar nicht gestellt war, als chronische Darm-
katarrhe behandelt und geheilt worden.
Im einzelnen auf die Therapie derselben,
die recht verschieden ist und ein genaues
Studium des Falles erfordert, einzugehen,
habe ich nicht die Absicht; nur die Maß-
nahmen, die sich mir gerade bei Beteiligung
der Blinddarmgegend bewährt haben, will
ich hervorheben.
Ich beginne die Behandlung am liebsten
mit einer Durchspülung des Darmkanals von
oben und von unten. Von einem Kochsalz-
brunnen, etwa Kissinger Rakoczy, lasse ich
täglich 2 — 3 Becher in lauem Zustande ge-
nießen. Bei Neigung zu Stuhlverstopfung
ist Homburger Elisabethquelle oder Karls-
bader Mühlbrunnen (kalt, ebenfalls 2 bis
3 Becher, ev. unter Zusatz von Salz) ge-
eignet, bei Neigung zu Diarrhoe ganz kleine
Quantitäten, etwa 50 g, des letzteren Brunnens
in gewärmtem Zustande 2 — 3 — 4 mal täglich.
Auch Kinder vertragen diese Brunnen in ent-
sprechend verringerter Dosis sehr gut. Natür-
lich lassen sich auch andere Quellen mit ähn-
licher Zusammensetzung, eventuell auch künst-
liche Salzgemische verwenden.
Zu gleicher Zeit muß — ich lege Wert
auf diese gleichzeitige Behandlung — der
Dickdarm von hinten her behandelt werden,
gleichviel wie die Stuhl Verhältnisse sein
mögen. Am einfachsten sind Eingüsse von
1 Liter (und mehr) lauem Kamillenthee alle
1 — 2 Tage; sie wirken bei Neigung zur Ob-
stipation oft (nicht immer) auch stuhlbeför-
dernd, mildern bei Diarrhoeen den Reiz. Sind
letztere stark, so kann man adstringierende
IG
J
190
Hers, Chronische Eatattndnngoii der Blinddarmgegend.
fTbentpenti
L Monatohe
UtiSCllc
Monatshefte.
Losungen (z. B. Tanninlösungen 1 : 1000)
verwenden; bei hartnäckiger Verstopfung gebe
man zu Kly stieren mit Wasser, mit Salz-
wasser, mit Seifenwasser (letzteres reizt
manchmal!) über. Auch die Emulsion von
Rizinusöl und Lebertran (je 2 Eßlöffel auf
*/4 L. Wasser mit etwas Soda unter tüch-
tigem Rühren hergestellt) hat sich mir be-
währt.
Diese Vorschriften kombiniere ich noch
mit einer der unten zu erwähnenden resorp-
tiven äußerlichen Maßnahmen. Verordnung
einer dem chronischen Darmleiden ent-
sprechenden Diät ist selbstverständlich; die-
selbe muß den Bedürfnissen und auch den
Erfahrungen der Kranken angepaßt werden.
Erwähnen will ich nur, daß mir gerade bei
etwas tiefer sitzenden Erkrankungen des
Verdauungskanals die gute Zubereitung, Zer-
kleinerung, Einspeichlung der Ingesta fast
wichtiger scheint, als allzu energisches Ver-
bieten ganzer Kategorieen von Nährmitteln.
Die Brunnenkur ist durch 4 — 6 Wochen,
die Eingüsse durch 2 — 3 Monate durchzu-
führen. Manchmal muß man sich mit einer
von beiden Methoden begnügen, wenn die
andere aus irgend welchen Gründen, zuweilen
psychischer Art, nicht vertragen wird oder
nicht anwendbar scheint. Eine Wiederholung
ist selbst bei günstigstem Erfolg, natürlich
umsomehr bei Wiederauftreten mehr oder
weniger starker Beschwerden, beim Deutlich-
bleiben der schmerzhaften Geschwulst er-
forderlich. Man kann dann die verschiedenen
Heilverfahren passend variieren. Jedenfalls
tut man gut, jedem Kranken alsbald zu
sagen, daß der chronische Zustand chronische
Behandlung, zum mindesten Beaufsichtigung
erfordert.
Die dauernde Regelung der Stuhlverhält-
nisse, während der erwähnten Kuren durch
•zweckmäßige Modifikation fast immer erreich-
bar, macht nach Ablauf derselben oft Schwie-
rigkeiten.
Neigung zu Diarrhoeen besteht nur in
einer Minderzahl der Fälle von chronischer
Appendicitis. Bei sehr akuten Attacken ist
ein Decoctum Ratanhiae mit Opium, in den
meisten leichteren Tannin (1,0 zu 200,0
Emulsio amygdalina, eßlöffel weise), ev. auch
Tannigen und Tannalbin zu empfehlen. Zu
chronischerem Gebrauch eignet sich vor allem
das Wismut, ev. mit gelegentlichem Opium-
zusatz. In glücklicherweise sehr seltenen
Fällen hilft nichts, als eine sehr diffizile,
lange Zeit fortgesetzte Diät, die allerdings
bei jahrelanger Dauer auf Psyche und Er-
nährungszustand nicht immer günstig wirkt.
Viel häufiger ist bei chronischer Appen-
dicitis die Verstopfung. Sie ist auch viel
ud günstiger für den Krankheitsverlauf, der
Beschwerden wird man in vielen Fällen nur
Herr, wenn der Darm gründlich entleert ist.
Mit Diätvorschriften allein ist oft nichts dabei
auszurichten, da man den kranken Darm
natürlich nicht reizen darf; nur vorsichtig
wird man einen Versuch mit Honig, Kefir,
Milchzucker, Obst u. s. w. machen dürfen.
Massage ist meist kontraindiziert, kaltes
Wasser wird in der Regel schlecht vertragen.
Eingüsse wirken manchmal nicht, erschöpfen
sich oft in ihrer Wirksamkeit und entleeren
vor allem nicht gründlich genug. So bleibt
also in der Tat in vielen Fällen nichts an-
deres übrig, als zu Abführmitteln zu greifen.
Bei irgend welchen Zeichen akuterer Reizung
des örtlichen Herdes habe ich sie nie ge-
geben — obwohl sie im Anfange der akuten
Erkrankung immer wieder empfohlen werden33).
Jedenfalls muß man dem Kranken einschärfen,
den Darm mit weiterem Abführen zu ver-
schonen, sobald eine mäßige Dosis eines er-
probten Mittels versagt; werden doch be-
kanntlich akute Entzündungen besonders
heftig durch Drastica oder Häufung sonst
unschuldiger Purgantien. Bei dieser Vorsicht
aber habe ich nie Exazerbationen gesehen.
Ebensowenig konnte ich mich überzeugen,
daß der chronische, ev. jahrelange Gebrauch
von Abführmitteln, zu dem man sich natür-
lich nur im Notfall entschließt, so schädliche
Wirkungen hat, wie manche Autoren fürchten ;
Wechseln mit der Art des Abführmittels ist
allerdings dabei sehr zu empfehlen. Ihre
Wirkung ist in manchen Fällen von chroni-
scher Appendicitis und Typhlitis eine ganz
vorzügliche auf Befinden und Rückgang der
örtlichen Symptome. Welches Mittel man
wählt, wenn es nur nicht allzu drastisch ist,
das ist nicht besonders wichtig. Jedes versagt
bei einer Reihe von Kranken, während es
anderen vorzügliche Dienste leistet. Manch-
mal findet man nur durch Herum probieren
das geeignete heraus.
Im ganzen zu wenig beachtet, übrigens
auch in den akuten Fällen, ist die Anhäufung
von Gasen, besonders im Dickdarm. Sehen
wir von der ominösen Lähmung der Darm-
wand, die bei der chronischen Form kaum
vorkommt, ab, so handelt es sich um ver-
mehrte Bildung oder erschwerte Fortschaffung
der Gase. • Das Symptom ist nicht nur
quälend, sondern wirkt auch zweifellos schäd-
lich, da die passiv gespannte Darmwand sich
unter höchst ungünstigen Arbeitsbedingungen
befindet. Man muß daher bei den mit chro-
33) 0. Rosen b ach, Beitrage zur Pathologie
und Therapie der Verdauungsorgane. Berlin 1895,
S. Karger. S. 29.
XIX. Jahrgang.!
April 1905. J
Hots, Ohroniteh* Eatsa&dungM der BUnddaimgegend.
191
nischer Appendicitis einhergehenden Dann-
katarrhen mehr noch als bei anderen vor
blähenden Ingestis (Hülsenfrüchten, Kohl-
arten, frischem Brot, kohlensäurehaltigen Ge-
tränken; bei manchen Kranken wirkt schon
die geringste Menge Hefe auffällig stark)
warnen. Eingüsse wirken oft gut gas-
entleerend, auch bei geringem Effekt auf den
Stuhl. Fenchelthee mit Kümmel, Soda-Mint-
Tabloids, in einzelnen Fällen eine Mischung
vom Tinct. cannab. indic. mit Tinct. bella-
donnae und strychni haben mir bei Austrei-
bung der Gase gute Dienste geleistet.
In fielen Fällen sind die Beschwerden
so groß, daß man ohne Narcotica nicht aus-
kommt. Für etwas längeren Gebrauch emp-
fiehlt sich das Kodein, bei stärkeren Schmerzen,
die mit vermehrter Peristaltik einhergehen,
Opium ev. mit Belladonna. Bei heftigen
Attacken ist eine Morphiuminjektion das ge-
ratenste.
Auf die übrige Behandlung des Darm-
katarrhs, insbesondere mit Medikamenten,
gehe ich nicht näher ein. Erwähnen möchte
ich nur das Argentuni nitricum, das mir in
Pillen und noch mehr in Lösung (0,2 bis
0,4 : 150,0, 3 mal täglich 1 Eßlöffel) nicht
selten, und das (meist wirkungslose) Ichthyol,
das mir gelegentlich auffällige Erfolge ge-
bracht hat.
Wie der Darmkatarrh, so erfordern natür-
lich auch die anderen oben geschilderten
Komplikationen der chronischen Appendicitis
und Typhlitis entsprechende Beachtung. Bei
der sog. Ptose ist Anwendung nervenstärken-
der Maßnahmen und Tragen einer guten
Binde, bei schlechten Zirkulationsverhältnissen
ist möglichste Verbesserung der Kreislaufs-
bedingungen nötig; ev. muß der Genital-
apparat behandelt werden u. s. f.
Gegen den Erkrankungsherd direkt wendet
sich eine Reihe von Maßnahmen, welche die
Resorption begünstigen sollen. Auf die
Theorie der in Betracht kommenden Vor-
gänge kann ich leider hier nicht eingehen,
auch dürfte eine Einigung über viele Punkte
nicht zu erzielen sein. Das Wesentliche der
Wirkung liegt in veränderten Zirkulations-
verhältnissen des Blutes und der Lymphe in
dem erkrankten Teil, wie sie durch Tempe-
raturdifferenzen, Druck u. a. m. zu erzielen
sind. Hervorheben möchte ich nur die von
mir schon anderweitig betonten sehr wichtigen
Beziehungen, welche zwischen inneren Organen
und der sie bedeckenden Hautpartie nicht
nur auf dem Gebiete der nervösen, sondern
auch der Blutversorgung bestehen, und welche
allein ein Verständnis für manche resorptiven
Wirkungen von der Haut her ermöglichen.
Wie aber auch die Theorie sich entwickeln
mag, die tatsächliche Wirksamkeit wenigstens
vieler dieser Methoden halte ich für er-
wiesen.
Am wichtigsten, möglichst früh in allen
chronischen Stadien anzuwenden sind warme
Umschläge, mindestens durch 4 — 5 Stunden
täglich. Leinsamenumschläge gebe ich am
liebsten, doch sind auch der Thermophor,
heiße Wasserumschläge und andere Wärme-
prozeduren empfehlenswert. Ist die Blind-
darmgegend nicht zu sehr gereizt, so kann
man die Wärmewirkung passend mit einer
gewissen Druckwirkung verbinden, wie sie
Sandsäcke, Moor- oder Fangoumschläge ge-
währen, deren sonstige Wirkungen ich hier
nicht diskutieren möchte. Bei recht groben
Veränderungen sieht man oft unter Wärme-
wirkung erstaunlich gute Rückbildung.
Warme Wasserprozeduren wirken wohl
in ähnlicher Weise; am einfachsten sind Sitz-
bäder mit Zusatz irgend eines Salzes. Bei
widerstandsfähigen Kranken ist eine allge-
meine Schwitzkur manchmal von vorzüglicher
Wirkung. Von Kaltwasserbehandlung habe
ich bei der chronischen Appendicitis keine
Erfolge gesehen.
Unterstützend wirken mäßige Hautreize:
Jodeinpinselungen, Ichthyolumschläge, Capsi-
cum- oder Hydrargyrumpflaster.
Endlich die Massage, zweifellos eine nur
mit äußerster Vorsieht anzuwendende Me-
thode. Wo irgend * heftigere Reizzustände
noch vorliegen, ist sie zu vermeiden, und in
jedem Falle nur durch die Hand des Arztes
auszuführen. So war sie mir früher in ein-
zelnen Fällen ein ausgezeichnetes Unter-
stützungsmittel, in letzter Zeit habe ich sie
nicht mehr ausgeübt.
Außer der Behandlung der zugleich be-
stehenden allgemeineren Erkrankungen und
den resorptiven Methoden steht dem Inter-
nisten in allen heftigeren und hartnäckigeren
Fällen noch ein sehr wichtiges Mittel zu Ge-
bote: die Bettruhe. Manchmal genügen schon
wenige Tage, manchmal 1 — 2 Wochen, um
eine auffällige Veränderung des Krankheits-
bildes herbeizuführen. Ausdauernde Patienten
kann man auch wohl länger liegen lassen,
doch habe ich eine solche Ruhekur nie über
4 — 5 Wochen ausgedehnt. Ganz blande
Diät unterstützt noch die Wirkung der
Ruhelage.
Mit all' diesen Hilfsmitteln kann der
Internist den chronischen Prozessen in der
Blind darmgegend ruhig entgegentreten, wenn
ihm nur der Chirurg die Fälle abnimmt, die
besonders gefährlich oder allzu hartnäckig
erscheinen.
16«
192
Saalfeld» Behandlung 4m vorseltigan Haarauifallt.
rTh&rmpmaÜu&a
L MonAtebefte.
Zur Behandlung des vorzeitigen
Haarausfalls.
Von
Dr. Edmund Saalfeld, Berlin.
Erst verhältnismäßig kurze Zeit ist dem
vorzeitigen Haarausfall, der Alopecia prae-
matura s. praesenilis, vom wissenschaftlichen
Standpunkt aus Aufmerksamkeit entgegen-
gebracht worden. Hauptsächlich war es Pohl -
Pincus, der durch grundlegende Arbeiten
diesem Kapitel die gebührende ärztliche
Dignität schaffte. Durch äußerst mühsame
und exakte Untersuchungen brachte er Klar-
heit in die Frage über das Wachstum der
Haare, ihre Lebensdauer und ihre patho-
logischen Verhältnisse. Ihm verdanken wir
die Möglichkeit, gegebenenfalls auch schon
frühzeitig angeben zu können, ob der Haar-
ausfall als normal zu betrachten ist, oder ob
er die Grenze des normalen Verhaltens über-
schreitet. Nicht die Menge des täglich beim
Kämmen entfernten Haares allein ist für
dieses Moment maßgebend, zumal der physio-
logische Haarausfall bei den einzelnen Indi-
viduen innerhalb weitester Grenzen schwankt.
Da Pohl -Pincus' Angaben noch heute ihren
Wert besitzen, möchte ich dieselben bei ihrer
Wichtigkeit für die Diagnose sowie für die
Kontrolle bei der Behandlung hier wörtlich
wiedergeben1). „ — Daß das erste Stadium der
chronischen Haarleiden die Dicke des Haares
gar nicht und damit auch die Stärke des
ganzen Haarwuchses nicht auffällig angreift
— dieser Umstand ist schuld, daß die Pa-
tienten von dem Bestehen der Krankheit
keine Ahnung haben. Die Verkürzung des
Haares bemerken sie nicht, und sie wissen
auch nicht, daß auf diese Verkürzung nach
einer gewissen Frist eine Verdünnung des
einzelnen Haares folgt. Das Übel kommt
ihnen erst zur Erkenntnis, wenn das zweite
Stadium eingetreten ist. Dann ist qs, wie
bereits erwähnt, meist zu spät, der beginnenden
Kahlköpfigkeit Einhalt zu tun. Auf frühe
Erkenntnis des Übels kommt es also an.
Das bequemste Mittel zu dieser möglichst
frühen Erkenntnis ergibt sich aus dem früher
angegebenen Entwicklungsgesetze des Haupt-
haares: man sammle daher an drei auf
einander folgenden Tagen den Haar-
ausfall beim Morgen- und Abend-
frisieren und sondere (bei langer Haar-
tracht) die Haare über 6 Zoll (16 cm)
von den kürzeren; findet sich, daß die
Zahl der kürzeren ein Drittel des Ge-
*) Das Haar, die Haarkrankheiten, ihre Be-
handlung und die Haarpflege. Von Dr. J. Pohl.
Fünfte, neu bearbeitete und erweiterte Auflage.
Stuttgart und Leipzig 1902, S. 63.
sammtausfalles beträgt, so liegt ein
Haarleiden vor, das ärztliches Ein-
schreiten erfordert. Bei kurzer Haar-
tracht (Männer; Frauen mit kurz ab-
geschnittenem Haar) sondere man die-
jenigen Haare, die die Spur der Schere
zeigen, von den Spitzenhaaren: die Zahl
dieser Spitzenhaare darf bei einer
Länge der Haartracht von 4 bis 5 Zoll
(11 bis 13 cm) nur ein Fünftel oder
Viertel des Gesamtausfalles betragen. tt
Bei einiger Übung ist dieses Verfahren
leicht ausführbar, und der Arzt hat ebenso
wie der Patient bei der Ausführung desselben
einen Maßstab, sich über den Erfolg oder
Mißerfolg einer Kur zu orientieren.
Ich möchte gleich an dieser Stelle auf
einen Umstand hinweisen, der nicht nur von
den Patienten, sondern auch nicht selten
von Ärzten falsch gedeutet wird. Bei einer
Konsultation wegen vorzeitigen Haarausfalles
bringen die Patienten gewöhnlich eine Probe
des ausgegangenen Haares mit und weisen
mit besonderer Betrübnis auf die manchmal
zahlreichen Haare hin, die mit der „Wurzel"
ausgegangen sind. Der Ausdruck „Wurzel",
d. h. die kleine am untersten Teil des Haar-
schaftes befindliche Anschwellung, der Bulbus,
gibt der Annahme Raum, daß die Haarwurzel
ein Analogon zu einer Baumwurzel darstellt.
Dem ist aber nicht so. Die Verhältnisse
liegen hier wesentlich anders. Der Teil, von
dem aus das Haar wächst, ist die Haar-
papille und diese kann, wie ein Blick auf
den mikroskopischen Durchschnitt eines Haares
mit seiner Umgebung ohne weiteres lehrt,
niemals ausfallen. Wenn ein Haar mit seiner
„Wurzel" ausgegangen ist, so ist das ein
Zeichen dafür, daß seine Lebensdauer sein
Ende erreicht hat, natürlich vorausgesetzt,
daß das Haar die normale Länge besitzt.
Beim ersten Stadium des Haarausfalles zeigt
sich, wie Pohl-Pincus nachgewiesen (s. o.),
eine Verkürzung der Lebensdauer des Haares
und dementsprechend eine Verkürzung des
Haares selbst. (In dem von ihm als zweiten
Stadium bezeichneten Zustand tritt zu der
Verkürzung des Haares noch ein Dünner-
und Feinerwerden des einzelnen Haares hinzu.)
Von den Ursachen, die für die Alopecia
praematura seit alters her verantwortlieh
gemacht werden, nimmt die Heredität eine
der ersten Stellen ein; und in der Tat muß
diese Annahme als zu Recht bestehend an-
gesehen werden. Fragen wir nun nach den
näheren Umständen, wie die Hereditat ihre
Einwirkung ausüben kann, so müssen wir
auf das anatomische Verhältnis der Kopfhaut
zu ihrer Unterlage, zur Galea, und zum
Schädel rekurrieren. Während die Haut der
j
XlX.J*hrg*Bg.n
April 1906. J
Saatfeld, Behandlung da« vorzeitigen Haarausfall!.
193
seitlichen Teile des Kopfes sowie der unteren
Partien des Hinterkopfes sich auch in weit
vorgeschrittenen Fällen von Haarausfall gegen
ihre Unterlage noch immer leicht verschieben
und in Falten abheben läßt, ist das Abheben
in Falten bei den haarlosen Partien nicht
möglich und die Verschiebbarkeit der Unter-
lage ist auch auf ein geringes Maß herab-
gesetzt. Die straffe Anspannung an die Unter-
lage vermindert die Ernährung des Haar-
bodens dadurch, daß ihm nicht genügend
Blut zugeführt wird; und daß an Stellen,
die längere Zeit hyperämisch sind, das Haar-
wachstum gefordert, an blutlosen dagegen
vermindert wird, zeigen die Versuche von
Sigmund Mayer'); deren Richtigkeit ich3)
experimentell nachweisen konnte. Ohne auf
Details über die Wirkung der straffen An-
haftung der Kopfhaut an die Galea einzugehen,
auf deren Bedeutung zuerst von Pohl-Pin-
cus4) und in letzterer Zeit auch von Schein5)
hingewiesen ist, müssen wir an der Tatsache
festhalten, daß hierdurch ein wichtiges Moment
für den vorzeitigen Haarausfall gegeben ist,
namentlich wenn wir berücksichtigen, daß
das "Wachstum der Kopfmuskulatur gerade
zu der Zeit, wenn der vorzeitige Haarausfall
auftritt, besondere Fortschitte macht. In der
Vererbung der Schädelform sowie des Ver-
haltens der Kopfmuskeln zu ihrer Bedeckung
sowie zu der Galea liegt eine Erklärung für
die Heredität des vorzeitigen Haarausfalles.
Dieser Faktor allein aber genügt nicht,
das in Frage stehende Leiden zu erklären.
Sehen wir von den Fällen ab, in denen das-
selbe durch eine Infektionskrankheit oder
eine Intoxikation bedingt ist, Falle, in denen
nach Hebung des Grundleidens auch auf der
Kopfhaut gewöhnlich spontan eine Restitutio
ad integrum eintritt, so war man einige Zeit
geneigt, bakterielle Ursachen für die Alo-
pecia praematura heranzuziehen. In einer
früheren Arbeit konnte ich6) nachweisen, daß
die Versuche, die aus der Anfangsperiode
der bakteriellen Forschung stammten, einer
späteren Kritik nicht standhalten konnten,
und daß die therapeutischen Erfolge, die in
einer Reihe von Fällen bei einer antibak-
') Sigmund Mayer in Hermanns Handbach
der Physiologie Bd. II, 1. Teil, S. 258.
*) Ein Beitrag zur Lehre von der Bewegung
und der Innervation der Haare. Von Edmund
Saal fei d in Berlin. Archiv für Anatomie und Phy-
siologie. Physiologische Abteilang 1901, S. 428 ff.
*) 1. c. S. 62.
*) Über die Entstehung der Glatze. Von
Dr. Moriz Schein (Budapest). Wiener klinische
Wochenschrift 1903, No. 21.
•) Ein Beitrag zur Lehre von der Alopecia
praematura. Von Dr. Edmund Saalfeld in Berlin
Virchows Archiv 1899, 157. Band, S. 77 ff.
teriellen Behandlung zu verzeichnen waren,
auf andere Weise sich leicht erklären ließen.
Ein weiterer Faktor, der bereits seit
langer Zeit für die Entstehung des vorzeitigen
Haarausfalles verantwortlich gemacht wurde,
ist die Seborrhoe des behaarten Kopfes.
Man unterschied hier zwei Formen: die
Seborrhoea oleosa und die Seborrhoea sicca.
Bei der ersteren, seltener auftretenden bleibt
das Fett längere Zeit als öliger Überzug auf
der Kopfhaut oder an den Haaren haften,
bei letzterer wird es zwar auch in flüssiger
Form abgeschieden, zeigt hier aber ein
größeres Bestreben, sich bald nach seiner
Entleerung aus den Haarfollikeln zu Schuppen
zu verdichten. Schließlich kommt noch eine
dritte Form vor, die als ein Übergang zwischen
den beiden ersteren bezeichnet werden kann.
Die Rolle, welche die Seborrhoe als ver-
anlassendes Moment für den Haarausfall
spielt, erklärt man sich folgendermaßen:
„Wenn in den (sc. übermäßig sezernierenden)
Talgdrüsen rasch und für den physiologischen
Zweck unvollkommen (chemisch abnorm) Epi-
dermisschuppen produziert und abgelöst wer-
den, so werden auch die in Kontinuität
mit den Drüsenzellen stehenden Haarwurzel-
scheiden gelockert, abgestoßen . ." (Kaposi)7).
Des weiteren möchte ich aber noch auf das
Verhältnis der Haare und Talgdrüsen zu
einander hinweisen. Die Talgdrüsen finden
sich am ganzen Körper mit wenigen, hier
nicht in Betracht kommenden Ausnahmen
stets in Verbindung mit Haaren, und zwar
besteht in ihrem gegenseitigen Verhältnis ein
gewisser Antagonismus. Da, wo das Haar
im Vordergrund steht, wie es bei dem Voll-
haar der Fall ist, stellt die Talgdrüse den
Appendix dar und umgekehrt, wo letztere
den prävalierenden Teil bildet, repräsentiert
das Haar das Anhangsgebilde, wie es beim
Lanugo der Fall ist. Je mehr die Talgdrüse,
wie bei der Seborrhoe, sezerniert d. h. arbeitet
und dementsprechend durch eine Aktivitäts-
hypertrophie an Umfang und Größe zunimmt,
umsomehr tritt das Haar in den Hintergrand.
Und so kehrt sich schließlich das Verhältnis
(bei frühzeitigem Haarausfall) Haar — Haupt-
bestandteil, Talgdrüse — Anhangsgebilde in
das Gegenteil um, und diesen Zustand sehen
wir in extremstem Maße bei der ausgebildeten
Glatze. Vielfach wird fälschlich angenommen,
daß bei Bestehen von Lanugo noch Aussicht
auf Wiederwachsen der Haare vorhanden sei.
Es besteht die Meinung, daß, wenn Haare
überhaupt noch sichtbar sind, diese in ihrer
T) Pathologie und Therapie der Hantkrankheiten
in Vorlesungen für praktische Ärzte und Studierende
?on Prof. Dr. Moriz Kaposi, K. K. Hofrat. Fünfte
Auflage 1899, S. 726.
i
J
194
Saalfeld, Behandlung da« ▼orsaitlgan Haaraoa&lla.
fTharapaatbche
L Monatehefte.
Wachstumsenergie angefacht und so wieder
ein volles Wachstum erzielt werden könne.
Aus der eben gegebenen Darlegung der ana-
tomischen Verhältnisse leuchtet aber ohne
weiteres ein, daß diese Folgerung nur ein
Trugschluß ist.
Bei der Behandlung von Patienten mit
vorzeitigem Haarausfall war mir nun die
Verschiedenartigkeit des Fettreichtums der
Haare aufgefallen, ferner daß die Menge
sowie Größe der Schuppen außerordentlich
variiert und daß die Kleidung mancher Pa-
tienten mit Schuppen bestäubt war, wäh-
rend die anderer nicht; dann der Umstand,
daß manche Patienten über Jucken klagten,
andere dagegen gar keine Empfindung auf
der Kopfhaut spürten. Über diese Differenzen
in den einzelnen Erscheinungen waren die
Autoren fast sämtlich bisher mit Stillschweigen
hinwegegangen, eine Tatsache, welche die
Erfolglosigkeit der üblichen Therapie in vielen
Fällen erklärlich erscheinen ließ. Auch die
Angabe von Pincus, daß die Schuppen 3/5
aus Fett und 3/5 aus Epidermismassen be-
ständen, schien mir in ihrer Allgemeinheit
nicht richtig.
Um einen Schritt vorwärts zu kommen,
war es daher geboten, den Fettgehalt der
Haare sowie der Schuppen einer näheren
Betrachtung zu unterziehen. Und da stellte
sich dann zu meinem Erstaunen heraus, daß
über den quantitativen Fettgehalt der Haare
nirgends Angaben zu finden waren. Infolge*
dessen untersuchte ich eine große Reihe von
Haarproben von Menschen mit normalem,
sowie von pathologischem Haarausfall auf
ihren Fettgehalt. Ich möchte auf die Einzel-
heiten dieser Untersuchung an dieser Stelle
nicht eingehen, da sie anderweitig publiziert
werden soll, möchte darüber hier nur kurz
folgendes berichten. Die Untersuchungen
wurden so vorgenommen, daß die Betreffenden
angewiesen wurden, während einer Woche
nach der letzten Waschung jede Einölung oder
Waschung der Kopfhaut oder des Haares zu
unterlassen und dann für eine weitere Woche
die Haare zu sammeln. Oder aber es wurden
unter Berücksichtiguug der eben angegebenen
Maßnahmen die abgeschnittenen Haare unter-
sucht. Das Ergebnis war, daß der Fettgehalt
unter normalen Verhältnissen bei Kindern
geringer war als bei Erwachsenen. Bei ersteren
schwankte er zwischen 1 — 3 Proz., bei letzteren
zwischen 5 — 6 Proz.
Von früheren Autoren war nur ganz ver-
einzelt auf das Faktum hingewiesen worden,
daß bei der — allgemein gesagt — Pityriasis
capitis nicht nur die Seborrhoe, sondern
auch der M an ge 1 an Fett, ein veranlassendes
Moment ist, ein Zustand, der durch eine über-
mäßige Verhornung und sich daraus ergebende
exzessive Abstoßung der Epidermis bedingt
wird. Die Richtigkeit dieser von Au spitz
und Unna zuerst gegebenen Darstellung
konnte meine Untersuchungen über den Fett-
gehalt der Haare und Schuppen bestätigen.
Dieses Minus an Fett kann nun, wie meine
Beobachtungen mir zeigten, ein primärer oder
ein sekundärer Zustand sein, und zwar kommt
der letztere nicht selten durch eine unzweck-
mäßige Behandlung der Kopfhaut zustande,
nämlich durch übermäßiges Waschen, durch
die zu häufige kritiklose Anwendung von
Franzbranntwein und anderen, mehr oder
weniger große Mengen von Alkohol enthal-
tenden Haarwässern. Daß deren allgemeiner
Gebrauch ebenso wie die Anwendung einer
bestimmten Haarkur falsch ist, geht aus
meinen obigen Auseinandersetzungen ohne
weiteres hervor, und so mußte das Resultat
einer Fettgehaltuntersuchung zu einer Kritik
der bisherigen Behandlung des Haarausfalles
herausfordern.
Wie in der ganzen Therapie kommt auch
bei der Frage des vorzeitigen Haarschwundes
der Prophylaxe eine große Bedeutung zu.
Schon im Kindesalter soll auf die Qualität
der Haare bei der Pflege desselben Rücksicht
genommen werden und namentlich dann, wenn
sich Schuppenbildung zeigt, eine entsprechende
Behandlung einsetzen. Man soll die Kopf-
haut des Kindes unter normalen Verhältnissen
nicht zu häufig waschen, namentlich sei vor
einer täglichen Waschung der Kopfhaut ge-
warnt. Da die normale Kopfhaut des Kindes
gewöhnlich ziemlich fettarm ist, so soll, um
einer übermäßigen Trockenheit vorzubeugen,
nach dem Waschen der Kopf mit einem indiffe-
renten Fett, am besten nicht ranzigem Olivenöl,
eingefettet werden. Zeigen sich dagegen die
ersten Anfänge von Schuppenbildung, so ist
eine genauere Untersuchung notwendig und
zwar muß man hier eruieren, ob das Haar
trocken und glanzlos oder übermäßig fettig
erscheint. In ersterem Falle worden wir
Fett zuführen, in letzterem die übermäßige
Fettabsonderung zu vermindern suchen. Dieses
Prinzip gilt auch als Hauptgrund satz für die
Behandlung der Alopecia praematura beim
Erwachsenen. Da dieses Leiden gewöhnlich
schleichend auftritt und der Patient meist
erst dann zum Arzt kommt, wenn der Haar-
ausfall exzessiv geworden und der Haarboden
schon mehr oder weniger gelichtet ist (s. o.)
— eine Zeit, die Pincus als das zweite
Stadium der Alopecia praematura bezeichnet
— so kann nicht genug die Wichtigkeit der
Prophyaxe im Kindesalter und zur Zeit der
Pubertät hervorgehoben werden.
Bei der Behandlung der übermäßigen
XIX. Jahrgang."]
April 1905. J
Saalfeld, Behandlung de« vorzeitigen Haarausfall*.
195
Schuppenbildung haben wir zwei Indikationen
zu genügen. Zuerst müssen die vorhandenen
Schuppen entfernt und dann ihrer Wieder-
kehr Einhalt getan werden. Der ersteren
Anforderung genügen im allgemeinen Seifen-
waschungen, nur in den seltenen Fällen, wo
es zu dickeren Auflagerungen gekommen, ist
es notwendig diese durch hydropathische
Ölumschläge zu erweichen und dann durch
Seifenwaschungen zu entfernen. Aber auch
auf die Auswahl der Seifen muß je nach der
Qualität der Schuppen Rücksicht genommen
werden. So ist bei der Form der Schuppen-
bildung, die durch Seborrhoe bedingt ist,
die Anwendung von Teerseife nicht zweck-
mäßig, hier empfiehlt sich Schwefelseife. Ist
dagen die Schuppenbildung weniger durch
Fett als durch die Abstoßung von übermäßig
verhornter Epidermis bedingt, so werden wir
Teerseife anwenden. Statt der Schwefelseife
ist auch die Verwendung des Spiritus saponato-
kalinus Hebrae in vielen Fällen zu empfehlen.
Bei Mangel an Fett wird eine Waschung nur
zur Beseitigung der Schuppen notwendig sein,
ferner um die gleich zu erwähnenden Salben
von der Kopfhaut zu entfernen. Es wird im
allgemeinen hierzu eine einmal wöchentliche
Seifenwaschung ausreichen. In exzessiven
Fällen werden wir dann täglich eine Ein-
salbung des Kopfes mit Mitteln, welche die
übermäßige Verhornung verringern, anwenden.
Bei Besserung des Zustandes werden wir
die Einsalbung progressiv seltener eintreten
lassen.
Anders liegen die Verhältnisse bei einer
Seborrhoe des Kopfes. Hier ist eine häufigere
Seifen waschung notwendig, nicht nur um die
eventuell angewandten Salben wieder zu ent-
fernen, sondern auch um die sich wieder
zeigenden Schuppen zu beseitigen. Selbst-
verständlich wird die Anwendung von Salben
bei der Seborrhoe des Kopfes auf ein Minimum
zu beschränken sein. Da zu dem schon
übermäßig produzierten Fett durch letzere
noch neues künstlich hinzugefügt wird, werden
wir in solchen Fällen möglichst zu Mitteln
greifen, welche zur Enfettung der Kopfhaut
dienen, ohne selbst Fett zu enthalten.
Nach diesem Prinzip muß der frühzeitige
Haarausfall behandelt werden und ich mochte
an dieser Stelle betonen, daß bei einer jeden
„ Haarkur u Konsequenz in der Durchführung
das erste und oberste Prinzip sein muß, wenn
überhaupt ein Erfolg erzielt werden soll.
Man muß die Patienten auch bei Beginn einer
jeden Haarkur darauf aufmerksam machen, daß
zuerst bei konsequent durchgeführten Waschun-
gen oder Einreibungen, sei es von Salben, sei es
von Flüssigkeiten anscheinend mehr Haare aus-
gehen als früher. Es rührt dies daher, daß
die locker sitzenden und demnach dem Unter-
gang geweihten Haare durch diese mechanische
Manipulation entfernt werden. Der stärkere
Haarausfall im Anfang der Behandlung ist
also nur ein scheinbarer.
Bei jeder Behandlung ist, wie erwähnt,
in erster Reihe notwendig, daß wir uns über
den Zustand des Haarbodens und der Haare
selbst bezüglich ihres Fettgehaltes Klarheit
verschaffen. Am zweckmäßigsten wäre es in
jedem Falle, in der oben angedeuteten Weise
die Untersuchung in chemisch exakter Weise
vorzunehmen. Allein hierzu mangelt es ge-
wöhnlich an Zeit, da ungefähr 2 — 3 Wochen
zu einer solchen Untersuchung notwendig
sind, weil die Patienten meist mit frisch-
gewaschenem Kopf den Arzt aufsuchen, um
nicht den Eindruck der Unsauberkeit zu er-
wecken. Man muß sich daher im großen
und ganzen auf die Angaben der Patienten ver-
lassen, wenn man sie nicht dazu bewegen
kann, nach 8 Tagen — in denen alle Mani-
pulationen zu unterlassen sind — wieder-
zukommen, resp. wenn man die Patienten
bewegt, sich die Zeit bis zum Beginn der
Behandlung zu nehmen, um die Haare und
Schuppen auf ihren Fettgehalt untersuchen
zu lassen. Nehmen wir an, es handle sich
um einen Patienten, bei dem eine übermäßige
Trockenheit mit übermäßiger Abstoßung von
Epidermisschuppen besteht, so werden wir
ihn die Schuppen durch Waschungen mit
Teerseife entfernen lassen und alsdann ein
Mittel geben, welches imstande ist, die über-
mäßige Verhornung zu beseitigen, außerdem
die exzessive Trockenheit der Kopfhaut zu
verringern. Im großen und ganzen kommt
man mit wenigen Mitteln bei diesem Zustande
ebenso wie bei der Seborrhoe aus. Hier wirkt
der Schwefel in Form einer ganz schwachen
Konzentration recht gut. Man kann ihm
des weiteren als K eratoly ticum Salizylsäure
zusetzen, außerdem aber wird das Tannin in
schwacher Mischung die Wirkung der beiden
genannten Mittel erhöhen. Ich habe nun in
letzter Zeit in einer Tannin-Brom- Verbindung,
die unter dem Namen Tannobromin bekannt
ist, Versuche bei der Behandlung des Haar-
ausfalls in 60 Fällen gemacht und habe ge-
funden, daß dem Mittel außer seiner Eigen-
schaft, in schwacher Konzentration die Hyper-
keratose, in stärkerer die Seborrhoe zu heben,
noch die Eigenschaft, juckstillend zu wirken,
in hohem Maße zukommt, ein Faktor, der
gerade hier von besonderer Bedeutung ist.
Da ich nach meinen Beobachtungen an-
nehmen darf, daß das Tannobromin bei der
Behandlung des vorzeitigen Haarausfalles
auch in der Zukunft mit Erfolg angewandt
werden wird, so möchte ich an dieser Stelle
196
Saalfeld, Behandlung 4m vorzeitigen HaaiautCtUa.
pTborapavtlKhe
L Monatshefte.
kurz auf meine mit dem Mittel gesammelten
Erfahrungen eingehen.
Tannobromin ist die Formaldehydverbin-
dung des Dibromtannin8. Gegenüber dem
Bromokoll, der Leim Verbindung des Dibrom-
tannins, unterscheidet sich das von Dr. Alt-
schul zuerst hergestellte Tannobromin vor
allem durch seine Löslichkeit in Alkohol.
Das Tannobromin stellt ein bräunliches
Pulver dar und enthält ca. 30 Proz. Brom.
Der Vorteil des Präparates liegt darin,
daß es ebenso wie der Schwefel in ver-
schieden starker Konzentration für beide ge-
schilderten Arten des Haarausfalles zu be-
nutzen ist, daß dem Schwefel gegenüber aber
die Löslichkeit in Spirituosen Vehikeln ins
Gewicht fällt.
Tannobromin wurde von mir, wie er-
wähnt, in 60 Fällen zur Anwendung ge-
zogen, und zwar handelte es sich hier um
eine Reihe von Patienten, bei denen der
Haarausfall mit gesteigerter Fettsekretion ein-
herging, bei einer zweiten Reihe von Fällen
war dagegen die Fettsekretion herabgesetzt.
Soweit eine Besserung oder Heilung zu
erzielen möglich war, konnte ein Erfolg kon-
statiert werden. Natürlich wurde das Prä-
parat zuerst ohne Salizylsäure- oder Schwefel-
zusatz verwendet. Das Resultat der Tanno-
brominbehandlung war: Nachlassen der
Schuppenbildung und des Juckens, sowie
Verminderung des Haarausfalles: kurz, eine
Abnahme des ganzen Krankheitsbildes. Daß
in weit vorgeschrittenen Fällen nur eine Besse-
rung, keine komplette Heilung erzielt wurde,
ist selbstverständlich, da das Mittel — wie
aus der obigen anatomischen Auseinander-
setzung hervorgeht — nicht im stände ist,
bei der Seborrhoe die übermäßig vergrößerten
Talgdrüsen zu ihrer ursprünglichen Norm
zurückzubilden und die einmal entstandenen
Lanugohaare wieder zu Vollhaaren zu ver-
wandeln. Ob dieses Postulat durch eine
energische Schälkur, wie sie Unna8) vor-
schlägt, oder durch Skarifikation der Talg-
drüsen nach dem Vorschlage von Morel-
Lavallier9) voll und ganz erfüllt ist, ent-
zieht sich meiner Beurteilung. Der prak-
tische Arzt wird diese Methoden für die
nächste Zeit wohl schwerlich in Anwendung
ziehen, er muß sich daher vorläufig auf ein-
fachere Behandlungsweisen beschränken und
8) Allgemeine Therapie der Hautkrankheiten
von Dr. P. S. Unna in Hamburg. Einzel -Abteilung
aus dem Lehrbuche der allg. Therapie und der
therapeutischen Methodik, herausgegeben von Geh.
Med.-Rat Prof. Dr. A. Eulenburg und Prof. Dr.
Samuel. Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien
1899, S. 889.
») ibid. S. 888.
für diese scheint mir die Einführung des
Tannobromins in den Arzneischatz von er-
heblicher Bedeutung zu sein.
Nachdem der Nutzen des Präparates
durch die Versuche festgestellt war, ent-
schloß ich mich, zur Erhöhung der Wirksam-
keit der Behandlung und zur schnelleren Er-
zielung des Effektes dem Tannobromin in
geeigneten Fällen Salizylsäure oder Schwefel
oder beide Präparate zusammen in entsprechen-
der Konzentration zuzusetzen.
Kehren wir nunmehr zu den Fällen von
vorzeitigem Haarausfall zurück, bei denen
eine Verminderung des Fettgehaltes besteht,
so würden wir hier verschreiben:
Rp.
Tannobromini
Vaselini flavi
1,0
29,0
oder
M. f. unguentum
Rp.
Tannobromini
Lanolini
Paraffini liquidi
Fetroni
1,0
» 2,0
ad 30,0
oder
M. f. unguentum
Rp.
Tannobromini
1,0
Bals. Peruviani 2,0
Adipis colli equini ad 30,0
M. f. unguentum.
Eine Vorschrift für die einen Zusatz von
Salizylsäure und Schwefel enthaltende Tanno-
bromin-Salbe würde lauten:
Rp. Acidi salicylici 0,5 — 0,75
Tannobromini
Lactis sulfuri8
Tincturae cantharidum S 1,0
Adipis benzoati recen-
ter parati ad 30,0
M. f. unguentum
oder
Rp. Acidi salicylici 0,5 — 0,75
Tannobromini
Lactis sulfuris
Tincturae cantharidum »» 1,0
Paraffini liquidi 2,0
Fetroni ad 30,0
M. f. unguentum
oder
Rp. Acidi salicylici 0,5 — 0,75
Tannobromini
Thigenoli
Tincturae cantharidum Ja 1,0
Ol. ros. gtt. I
Medullae ossis bovini ad 30,0
M. f. unguentum.
i
i
I
XIX. Jahrgang.'!
April 1905. J
Saalfald, Bahandluog 4et vorsaltigan Haarauafall*.
197
Das Rosenöl im «letzten Rezept ist als
Parfüm bei Verordnung in der besseren Praxis
zugesetzt. Demselben Zwecke dient der Peru-
balsam, der aber gleichzeitig noch die Indi-
kation erfüllt, ein Ranzigwerden des Adeps
colli equini zu verhüten. Letzteres, das
Pferdekammfett, ist, ebenso wie die Medulla
ossis bovini, Rindermark, seit undenklichen
Zeiten ein beliebtes Volksmittel, das auf den
Haarwuchs günstig einwirken soll.
Die Eantharidentinktur in den letzten
Vorschriften ist hinzugefügt einerseits, um
der Salizylsäure als Lösungsmittel zu dienen,
andererseits in der seit langem bestehenden
Annahme, daß auch die Kanth ariden einen
Einfluß auf das Haarwachstum ausüben sollen.
Eine dieser Salben lassen wir die Pa-
tienten dreimal in der Woche einreiben, und
zwar müssen sie angewiesen werden, das
Haar mit einem weiten Kamm in eine große
Reihe von Scheiteln zu zerlegen und auf die
zu Tage tretende Kopfhaut die Salbe ent-
weder mit einem Borstenpinsel oder besser
dem Finger selbst einzureiben oder durch
eine andere Person einreiben zu lassen. Um
die ihrer Unterlage zu fest anliegende Kopf-
haut zu mobilisieren und ihr gleichzeitig
mehr Blut zuzuführen, empfiehlt es sich, die
Einreibungen mit einer leichten Massage der
Kopfhaut zu verbinden, wozu zweckent-
sprechender der Finger als ein Borstenpinsel
benutzt wird. Da diese Prozeduren gewöhn-
lich des Abends vorgenommen werden, sind
die Patienten, um eine Beschmutzung des
Kopfkissens zu vermeiden, darauf aufmerksam
zu machen, den Kopf in geeigneter Weise,
am besten mit einer Badekappe, zu bedecken.
Können wir nach einiger Zeit eine Besserung
konstatieren, die durch Zählung der ausge-
kämmten Haare sich kundgibt, so werden
wir die Einreibung nur seltener, vielleicht
zweimal wöchentlich, vornehmen lassen. Die
Zählung der Haare wird so vorgenommen,
daß dieselben ungefähr 2 cm von ihrem Ende
entfernt zusammengebunden werden nach Art
eines Blumenstraußes. Es empfiehlt sich, diese
Zählung ungefähr alle 14 Tage vornehmen
zu lassen. Ist eine Besserung eingetreten,
so kann die exakte Zählung fortfallen, und
nun kann man sich über die Größe des Haar-
ausfalls durch Schätzung orientieren.
Handelt es sich um Personen mit hellen
Haaren, so wird allerdings auf die Anwen-
dung des Tannobromins oder Thigenols ver-
zichtet werden müssen, da durch dessen Ge-
brauch leicht eine Verfärbung des hellen
Haares eintritt. «Hier werden wir nur die
anderen obengenannten Bestandteile in den
Salben, Salizylsäure und Schwefel, wirken
lassen.
Der letztere ebenso wie das Tannobromin
in höherer Konzentration erweisen sich
in ihrer Anwendung auch vorteilhaft bei den
mit übermäßiger Fettabsonderung einher-
gehenden Zuständen des Haarausfalls, bei
der Seborrhoea capitis. Der Schwefel wirkt
hier außerordentlich günstig ein, doch ist
sein Nachteil, daß er nicht in Lösung ge-
geben werden kann. Es war daher ein Fort-
schritt, als es gelang, schwefelhaltige Prä-
parate herzustellen, die in Lösungen ange-
wandt werden können. Zu diesen Präpa-
raten gehört u. a. das Thigenol. Aber auch
das Tannobromin hat sich hier von günstigem
Einfluß erwiesen. Patienten mit Seborrhoe
des behaarten Kopfes weisen wir an, die
Kopfhaut häufiger zu waschen, und zwar ent-
weder mit Schwefelseife oder dem Hebra-
schen alkalischen Seifen spiritus. Je nach
dem Grade des vorliegenden Falles werden
hier Waschungen im Anfang täglich und
später seltener vorzunehmen sein. Nachdem
die Kopfhaut und das Haar getrocknet ist,
werden wir die Antiseborrhoica anwenden,
und zwar bei dunkleren Haaren eine Lö-
sung von
Rp.
oder
Thigenoli
Spirit.
M. D. S.
2,5—6,0
ad 100,0
Äußerlich
Rp.
Tannobromini 2,5 — 5,0
Spirit. ad 100,0
M. D. S. Äußerlich
Rp.
Tannobromini
Thigenoli
£ 2,5
Spirit.
ad 100,0
M. D. S.
Äußerlich
oder
Rp.
Thigenoli
2,5—5,0
Spirit. dilut.
ad 100,0
M. D. S.
Äußerlich
oder
Rp.
Tannobromini
2,5-5,0
Spirit. dilut.
ad 100,0
M. D. S.
Äußerlich
oder
Rp.
Tannobromini
Thigenoli
£ 2,5 — 5,0
Spirit. dilut.
ad 100,0
M. D. S.
Äußerlich.
In leichteren Fällen von Seborrhoea ca-
pitis genügt die Anwendung einer 5 proz.
Chloralhydratlösung in Wasser und Spiritus
(zu gleichen Teilen); eventl. kann das Chloral-
198
Saalf«ld, Behandlung 4m vorzeitigen Haarausfalls.
rTherapeatlschfe
L Monatsheft«.
hydrat in derselben Konzentration auch der
Tannobrominlösung hinzugefügt werden:
Rp. Chlorali hydrati 5,0
Aquae dest.
Spiritus " ad 100,0
M. D. S. Äußerlich
oder
Rp. Tannobromini 2,5 — 5,0
Chlorali hydrati 5,0
Aquae dest.
Spiritus £ ad 100,0
M. D. S. Äußerlich.
Behufs Parfümierung ersetzt man ein
Drittel des Spiritus resp. des Spiritus dilutus
durch Spiritus melissae compositus (Karme-
litergeist).
Die ersteren Lösungen, die keinen Wasser-
zusatz enthalten, kommen da zur Verwen-
dung, wo der Fettgehalt der Kopfhaut ein
sehr hoher ist; die letzteren Lösungen mit
'Wasserzusatz da, wo der Fettgehalt von
vornherein nicht so exzessiv war oder in-
folge der Behandlung etwas vermindert wurde.
Analog liegen die Verhältnisse bezüglich der
Konzentration der Lösung bezw. der Häufig-
keit ihrer Anwendung.
Bei fortschreitender Besserung kann man
die Anzahl der Waschungen, ebenso die der
Einreibungen verringern. Die Flüssigkeiten
werden so benutzt, daß die Haare ebenfalls
mit einem weiten Kamm in eine Anzahl von
Scheiteln zerlegt werden und auf die so frei-
gelegte Kopfhaut die Flüssigkeit vermittelst
einer Tropfflasche geträufelt wird, die am
besten durch Benutzung eines Parfümflaschen-
stöpsels, der die Flüssigkeit in Tropfen aus-
treten läßt, hergestellt wird. Ist nun durch
diese entfettenden Prozeduren eine gewisse
Trockenheit der Kopfhaut und Rauhigkeit
der Haare eingetreten, so werden wir zwischen
die Waschungen und Flüssigkeitseinreibungen
die Applikation einer 10 proz. Tannobromin-
oder Schwefelsalbe einschieben. Letztere
kommt auch bei Personen mit hellem Haar
in Betracht. Um die Schädlichkeit, welche
durch das Fett als solches bei der Seborrhoe
verursacht wird , zu vermindern , \ müssen
häufigere Waschungen angeordnet werden,
als dies bei der Benutzung von Spirituosen
Flüssigkeiten sonst notwendig ist.
In der Konzentration der genannten Mittel
werden wir ebenso wie in der Häufigkeit
ihrer Applikation, worauf ich bereits oben
hinwies, eine Änderung eintreten lassen, je
nachdem das Leiden sich bessert.
In den Fällen, in welchen der Haarausfall
durch Seborrhoe bedingt wird, ist für letzteren
nicht selten eine Chlorose Veranlassung, und
namentlich finden wi* dieses Leiden bei
jungen Mädchen in der Entwicklungsperiode.
Hier werden wir auch mit einer internen Be-
handlung die Seborrhoe zu bekämpfen suchen ;
es kommen hier die Eisenmittel und das
Arsenik in Frage. Des weiteren konnte ich10)
in einer früheren Arbeit nachweisen, daß sich
für derartige Fälle der Gebrauch von
Oophorin bewährt hatte, und diese Erfahrung
fand ich seitdem in weiteren Fällen bestätigt.
Wenn ich mich jetzt kurz resümiere, so
möchte ich noch einmal hervorheben, daß
wir von jeder Schematisierung bei der Be-
handlung des vorzeitigen Haarausfalls ab-
sehen und uns in erster Linie über den Zu-
stand des Haarbodens Klarheit verschaffen
müssen. Wir werden dann unter Berück-
sichtigung dieses Momentes bei der Behand-
lung der Alopecia praematura oft Erfolge er-
zielen, wenn das andere Prinzip, auf das
ich oben bereits hinwies, genügend gewahrt
wird, nämlich die Ausdauer, Konsequenz und
Energie in der Behandlung von Seiten des
Arztes wie besonders der Patienten.
Bemerkungen zu Herrn I>r. Kahns
Aufsatz „Zur Kritik der Jodbäder".1)
* Von
San. -Rat Pelizaeus in Bad Oeynhausen.
Nur die Unterstellung des Herrn Dr.
Rahn in seiner Kritik meiner Arbeit3), daß
ich mit meinen Ausführungen ein Konkurrenz-
bad Oeynhausens hätte herabsetzen wollen,
und die weitere, es habe „so lange" ge-
dauert, bis man entdeckt habe, daß 1000 Liter
einzelner Quellen noch nicht eine gebräuch-
liche Tagesdosis Jod enthielten, zwingt mich
zu einer Erwiderung. Ich weiß nicht, aus
welchen Abhandlungen über die Balneo-
therapie oder eigenen Erfahrungen Herr
Dr. Rahn die Anschauung gewonnen hat,
Oeynhausen sei ein Konkurrenzbad von Tölz,
jedenfalls ist sie nicht begründet und ich
muß diese Äußerung als durchaus überflüssig
zurückweisen. Was die zweite Behauptung,
daß ich der Entdecker der Tatsache sei, daß
die Erfolge der sogenannten Jodbäder nicht
von dem Jodgehalt der ' Quellen abhängig
sind, so muß ich die Ehre leider zurück-
weisen. Hätte Herr Rahn meinen Aufsatz
mit einiger Aufmerksamkeit gelesen, so würde
er eine solche Behauptung nicht aufgestellt
haben, habe ich doch auf Braun 1868 und
10) Kurze therapeutische Mitteilung; ein Beitrag
zur Oophorinbehandlung. Von Dr. Edmund Saal-
feld. Berl. klin. Wochenschrift 1898, No. 13.
!) Novemberheft 1904.
*) Juliheft 1903.
XIX. Jahrgang.*)
April 1905. J
P«lisa«ua, Kritik der Jodbftdar.
199
Leichtenstem 1880 mit wörtlichen Zitaten
hingewiesen. Es sind ja auch keine eigenen
Erfahrungen oder kritische Bemerkungen,
sondern nur Wiederholungen derselben Be-
hauptungen, die ich angegriffen habe, die
Herr Rahn vorbringt. Ich befinde mich
aber mit meiner Kritik in sehr guter Ge-
sellschaft und unter Verzicht auf das,
was sich sonst in den Lehrbüchern der
klinischen Medizin und der Balneotherapie
befindet, möchte ich nur wörtlich anfuhren,
was 6 lax in seiner Bäderlehre, die wohl
überhaupt das gediegenste balneotherapeu-
tische Werk ist, und für die nächsten Jahr-
zehnte bleiben wird, sagt.
Er sagt: „Die Bromverbindungen in den
Kochsalzwassern sind für die Therapie ge-
wiß vollkommen gleichgültig. Dasselbe gilt
aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die
Jod Verbindungen. Nur die Wasser von Vit-
torio und Heilbronn enthalten bei einer Zu-
sammensetzung, welche nahezu einer physio-
logischen Kochsalzlösung entspricht, Mengen
von Jod, welche bei der Möglichkeit, größere
Quantitäten dieser Wasser zu genießen, nicht
ganz ohne Einfluß auf den Organismus sein
mögen." Und gesperrt, als Endresultat, fügt
er dann hinzu: „Vorläufig müssen wir die
unzweifelhaft großen Erfolge, welche bei dem
innern Gebrauch jodhaltiger Kochsalzquellen
bei der Skrofulöse und den Exsudationen
erzielt werden, ausschließlich dem Chlor-
natrium zuschreiben. Leichtenstem,
Braun, Schmiedeberg, Nothnagel, Roß-
bach leugnen jede Wirkung so geringer Jod-
mengen, andre, Niebergall, Flechsich,
Kisch, verhalten sich nicht ganz so ab-
lehnend, während einige wenige, gestützt auf
die Erfahrungen der Ärzte in den Badeorten,
die Wirkung zugeben." Was speziell die
Therapie der Lues anlangt, so spricht sich
Glax folgendermaßen aus: „Bedenken wir,
daß bei ulzerösen Prozessen der Haut immer-
hin die Möglichkeit der Resorption von Jod
aus dem Badewasser3) gegeben ist, und daß
durch die Kombination der Badekur mit
einer Trinkkur dem Organismus auch inner-
lich Jod zugeführt werden kann, so erscheint
es nicht unwahrscheinlich, „daß der anerkannt
günstige Erfolg der Jodwasser in der Lues-
Therapie wenigstens zum Teil von dem Jod-
gehalt dieser Quellen abhängig ist. Keines-
falls aber sind die Jodmengen so groß, daß
sie die auf andere Weise mögliche Jod-
behandlung ersetzen können." Aber wenige
Seiten später sagt Glax von de^Oranien-
quelle in Kreuznach, „sie enthält nahezu
kein Jod, nämlich nur 0,0014 g im 1", das
ist aber immerhin noch etwas mehr als die
Jodtrinkquelle von Tölz, die 0,00124 ent-
hält. Ich denke, das genügt, um zu beweisen,
daß auch nach Glax diese Quellen nur so-
genannte Jodquellen sind. Beobachtungen
in Kurorten und Bädern über einzelne Heil-
faktoren sind niemals rein, sie sind aber
ganz wertlos, wenn zu bestimmten Quellen
und Bädern noch Zusätze gemacht werden.
Die Frage, ob geringe Mengen irgend eines
Stoffes in einer Quelle eine spezifische Wir-
kung haben, wird niemals an Ort und Stelle
beim Gebrauch einer Bade- oder Trinkkur
entschieden werden können. Aber Herr
Dr. Rahn könnte sich ein dauerndes Ver-
dienst erwerben, wenn er bei unzweifelhafter
Lues seinen Kranken statt 2 — 3 g pro die
mal 1 — 2 mg Jod als Jodwasser verord-
nete, vorausgesetzt, daß er annimmt, er könne
seinen Kranken damit heilen. Auf die Kritik
der Wirkung minimaler Jodmengen bei Kropf
oder gar auf die Entstehung der Basedow-
schen Krankheit durch Jodmengen von 0,02 g
pro die einzugehen, ist hier nicht der Platz,
ich mochte nur daran erinnern, daß man
jodhaltige Trinkwässer geradezu als Ursache
des endemischen Kropfes bezeichnet hat, daß
in der Nähe solcher Quellen4) respektable
Kröpfe vorkommen und neusten s in Eng-
land4) durch Trinken von destilliertem Wasser
in einigen Wochen große Kröpfe beseitigt
sein sollen.
Neuere Arzneimittel.
Die perkutane Jodapplikation.
Von
Q. Wesenberg.
Die interne Darreichung der Jodsalze,
als welche vor allem das Jodkalium und
Jodnatrium in Betracht kommen, ruft bei
3) In Tölz würden in einer Wanne von 300 1
0,36 Jodnatr. sein, bei Sublimatbädern nimmt man
0,5—3,0 auf ein Kinderbad.
sehr vielen Patienten, selbst bei Einfuhrung
nur geringer Dosen, sehr bald eine derartig
starke Magenverstimmung, Appetitlosigkeit
u. s. w. hervor, daß die Anwendung oft für
längere Zeit ausgesetzt werden muß. Als
Ersatz für das Jodkalium sind daher die
4) Eule nb arg, Realenzyklopädie XIX, 1887,
S. 237 u. 244.
*) Lancet, Juli 1903.
200
W«a«nb*rf , Perkutan« Jodapplikmtlon.
fThent]
L Moni
Monatsheft«.
Jod fette — unter ihnen besonders bekannt
wohl das Jodipin — eingeführt worden,
deren Geschmack indessen den Patienten
häufig widersteht und deren Gebrauch nach
Angabe verschiedener Autoren (Wanke1),
Welander8) u. a.) auch bald Verlust des
Appetites verursacht. Man hat daher ver-
sucht, durch äußerliche Anwendung von Jod-
präparaten eine Einverleibung dieses in so
vielen Fällen unersetzbaren Heilmittels zu
erzielen: am nächsten lag da die Verwendung
von Jodtinktur, welche aber nur in sehr
geringem Maße resorbiert wird, ganz ab-
gesehen davon, daß nach mehrmaliger Appli-
kation derselben die Haut sich in Fetzen
abzulösen pflegt. Ebenso versagen Jod-
kalium-Bäder in den meist gebrauchten
Konzentrationen: Scbwenkenbecher3) ba-
dete weiße Mäuse stundenlang in verschieden
starken Jodkaliumlösungen und prüfte dann
den Harn der Tiere auf Jod; er fand nach
4 bezw. 7 Stunden langem Aufenthalte in
öproz. KJ- Lösung starke Jodreaktion, nach
6 bezw. 8 stündigem Bade in 2proz. Lösung
deutliche Reaktion, während aus lproz. Lö-
sung, in 2 Versuchen von je 6 Stunden Dauer,
Jod im Harn nicht nachweisbar war. Die
Jodkali um -Salben werden ebenfalls, wie
namentlich die Untersuchungen von Lion4),
von Hirschfeld und Pollio5), sowie von
Heffter6) zeigen, verhältnismäßig schlecht
resorbiert; allerdings konnten Hirsch feld
und Pollio im günstigsten Falle nach Auf-
tragung von 50 g lOproz. Jodkalium -Vaselin,
welche als Dauerverband 3 Tage lang liegen
blieb, während dieser Zeit insgesamt 0,81 g EJ
im Harn ermitteln; praktische Anwendung
dürften aber derartige ausgedehnte Dauer-
verbände, wie sie zur Erzielung einer etwas
größeren Resorption erforderlich sind, wohl
1) Wanke, Erfahrungen über die Anwendung
des Jodipins (Merck). Korr.-Bl. d. alig. ärztl. Ver.
in Thüring. 6. 7. Ol. Ref. Schmidts Jahrb. 1901,
Bd. 272, S. 160.
2) Edvard Wel an der, Über Jodkalium (Jod-
natrium), Jodalbacid und Jodipin. Arch. f. Dermatol.
u. Syphil. 1901, Bd. 57, S. 63.
*) A. Scbwenkenbecher, Das Absorptions-
vermögen der Haut. Habilit. Tubingen. (Veit &
Comp. Leipzig.) 1904.
*) Victor Lion, Die Resorptionsfähigkeit der
Haut für Jodkali in verschiedenen Salbeogrund-
lagen. Festschr. zu Ehren von M. Kaposi. Sonder-
abdr. 1900.
*) Hirchfeld und Pollio, Über die Resorp-
tion von Jod aus Jodkali-Salben. Arch. f. Dermat
u. Syphil. 1904, Bd. 72, S. 163.
6) A. Heffter, Bemerkungen zur Abhandlung
der Herren Dr. Hirsch feld und Dr. Pollio.
Ebenda S. 171. — A. Heffter, Über die Zer-
legung des Jodkaliums durch Fette. Schweiz.
Wochenschr. f. Chemie u, Pharm. 1904, No. 24,
Sonderabdruck.
nur in den seltensten Fällen finden können.
Heffter erklärt die Resorption des J aus
Jodkalium-Salben derart, daß bei der Autoxy-
dation des Hauttalges aus dem Wasserdampf
der Luft sich Wasserstoffsuperoxyd bildet,
welcher aus dem Jodkalium Jod freimacht;
dieses letztere vereinigt sich dann mit den
Eiweißkörpern der Haut und gelangt so in
den Organismus. Bei einem 4 tägigen Dauer-
verbande mit einer Jod-Jodkalium-Salbe
(0,2 g Jod, 2 g Jodkalium, 10 g Adeps) er-
mittelte Xylander7) im Harn am ersten
Tage kein Jod, am zweiten Tage 0,0321,
am dritten Tage 0,0623 g, am vierten und
fünften Tage 0,0999 bezw. 0,1543 g Jod,
während am sechsten Tage nur noch Spuren J
im Harn nachweisbar waren, welche Tags
darauf verschwunden waren; von den ins-
gesamt aufgelegten 1,73 g Jod (0,2 g als
freies und 1,53 g als gebundenes Jod) waren
also 0,3487 g, entsprechend 20,2 Proz., resor-
biert worden. In einem zweiten ganz analogen
Versuche wurden nur 0,2159 g (an den
einzelnen Tagen 0,0356, 0,0424, 0,1073,
0,0144, 0,0121 bezw. 0,0041 g) Jod, ent-
sprechend 12,48 Proz., wieder ausgeschieden.
Über die Einverleibung des Jodipins
von der Haut aus spricht sich Winternitz8),
der bekanntlich das Jodipin eingeführt hat,
wie folgt, aus: „Die perkutane Einreibung
des Jodipins zu therapeutischen Zwecken ist
physiologisch nicht gerechtfertigt. Versuche,
welche Sessous auf meine Veranlassung ge-
macht hat, haben gezeigt, daß auch bei
energischer Verreibung in die Haut eine
Resorption von Jodipin nicht erfolgte, zu
gleichem Resultat kam Kind ler. Auch wenn
man die Einreibungen in größerem Umfange
längere Zeit hindurch fortsetzt, erfolgt keine
Resorption, der Harn bleibt jodfrei: die
normale Haut ist für Fette vollständig un-
durchlässig. "
Das Jodvasogen und die sonstigen Jod-
vasolimente werden von der Haut aus
gleichfalls nur schlecht resorbiert; S zu 1 is-
la wski9) fand nach Einreibung von 0,3 g
Jod als Jodvasogen im Harn nur einmal
deutliche Jodreaktion, während in 6 anderen
Versuchen überhaupt kein Jod oder doch
nur undeutliche Spuren desselben nachweisbar
waren. Ich selbst konnte bei mir nach dem
7) 0. Xylander, Über die Ausscheidung von
Jod im Haro nach Applikation von Jodsalben.
Dissert. Würzburg. 1899. „
8) H. Winternitz, Über die physiologischen
Grundlagen der Jodipintherapie. Manch, med.
Wocbeoschr. 1903, No. 29, S. 1241.
9) A. Szulislawski, Über die Anwendung
der Jodvasogene in der Augenheilkunde und ihre
Resorption durch die Haut. Ref. Malys Jahresber.
1899, S. 484.
XIX. Jahrgang. 1
April 1905. J
W«a«nb*f g, Perkutan* Jodapplikatioa.
201
kräftigen Verreiben auf der Brust von 3 g
lOproz. Jodvasogen (aus frisch geöffneter
Originalflasche) im Speichel nach 1 bis 8'/j
Stunden nur undeutliche Mengen Jod, im
Harn dagegen überhaupt kein Jod erkennen.
Bei einer anderen Versuchsperson (R. J.)
ließ sich nach dem Verreiben von 4,5 g des-
selben Jodvasogens auf Brust und Leib Jod
im Speichel überhaupt nicht nachweisen; im
Harn war innerhalb 3 Stunden Jod ebenfalls
nicht nachweisbar, wohl aber sehr schwach
nach etwa 16 Stunden (über Nacht); diese
Reaktion wurde auch nicht stärker (ver-
schwand sogar nach 24 Stunden vollständig),
obwohl dann abermals 4 g eingerieben wurden
(insgesamt also in 16 Stunden 8,5 g Jod-
vasogen mit 0,85 g Jod); selbst dann blieb
bei dieser Versuchsperson der Speichel noch
immer ohne Jod. Die qualitative Jod-
reaktion stellte ich bei meinen Versuchen
stets derart an, daß ich zu 10 bis 15 ccm
Harn bezw. 3 bis 5 ccm Speichel etwas
Schwefelsäure, einige Tropfen Schwefelkohlen-
stoff sowie ein Paar Körnchen Natriumnitrit
hinzu fugte und nach dem Umscbütteln die
Färbung des Schwefelkohlenstoffs beobachtete.
Daß gelegentlich, namentlich nach längerer
Anwendung, größere Mengen Jod aus Jod-
vasogen resorbiert werden können, lehrt z. B.
der von Li p mann -Wulf10) mitgeteilte Fall
von Auftreten eines universellen Exanthems
nach lokaler Anwendung von Jodvasogen.
Schließlich ist als Ersatz für die interne
Darreichung der Jodalkalien hier noch die
subkutane Anwendung des Jodip.ins zu
erwähnen, auf welche Weise durch Ein-
spritzung größerer Jodipinmengen ein für
Monate reichendes Depot von Jod im Körper
angelegt werden kann, da nach den Ver-
suchen von Winternitz11) die Resorptions-
größe selbst im günstigsten Fall über 2 — 3 g
Jodfett pro die nicht hinausgeht. Die sub-
kutane Applikation einer größeren Menge
Jodöl stellt aber immerhin schon einen un-
bequemen Eingriff vor, der von vielen Pa-
tienten wegen der mit der Einspritzung ver-
bundenen Schmerzen nur ungern zugestanden
wird.
Die vorstehenden kurzen Ausfüh-
rungen lassen erkennen, daß das so
wichtige Problem der Jodapplikation
unter Umgehung des Magen-Darm-
kanals in zufriedenstellender Weise
10) Lip mann- Wulf, Über Auftreten von uni-
versellem Exanthem nach lokaler Anwendung von
Jodvasogen. Dermat Zeitschr. 1899, S. 499. Ref.
Schmidts Jahrb. 1900, Bd. 266, S. 20.
n) H. Winternitz, Zur Frage der subkutanen
Fetternährung. Zeitschr. f. klin. Med. 1903, Bd. 50,
S. 80.
bislang noch nicht gelöst war. Ich be-
nutzte daher gern die Gelegenheit, ein neues
epidermal anzuwendendes Jodpräparat, das
Jothion der Farbenfabriken vorm. Friedr.
Bayer & Co., Elberfeld, auf seine Resorbier-
barkeit und Ausscheidung eingehend zu unter-
suchen*).
Das Jothion, mit welchem Namen das
Dijodhydroxypropan kurz belegt ist, stellt
eine gelbliche öl artige Flüssigkeit dar von
dem spezifischen Gewicht 2,4 bis 2,5; es
löst sich in Wasser etwa 1:75 — 80, in
Glyzerin etwa 1 : 20, in Olivenöl 1 : l1/«,
während es mit Alkohol, Äther, Chloroform,
Benzol, Yaselin, Lanolin u. s. w. in jedem
Verhältnis mischbar ist; in Benzin erwies es
sich als so gut wie unlöslich. In wäßriger
Lösung wird das Jothion nur sehr langsam
zersetzt, ebenso bei Gegenwart von Säuren;
Alkalien dagegen, selbst doppelkohlensaures
Natron von der Stärke der Blutalkaleszenz
(0,5 Proz.) führen das organische Jod rasch
in die anorganische Form über („Verseifung"),
worauf ich an anderer Stelle (Archiv für
Dermatol. u. Syphil.) näher eingehe. Seinen
Jodgehalt ermittelte ich in 2 verschiedenen
Proben zu 71,74 bezw. 72,06 Proz.; ein mir
neuerdings, unmittelbar vor dem Abschluß
meiner Versuche, welche sich wegen der
zwischen den einzelnen Versuchen notwen-
digerweise einzuhaltenden Zwischenpausen
über 1 Jahr hinzogen, zur Verfügung ge-
stelltes Jothion enthielt nach meiner Analyse
79,60 Proz. Jod ; bei dieser Gelegenheit wurde
mir von den „ Farbenfabriken tt mitgeteilt,
daß in Zukunft das Jothion einen Jodgehalt
von etwa 79 — 80 Proz. aufweisen würde. Zur
Jodbestimmung erhitzte ich das Jothion mit
überschüssiger 33 proz. Kalilauge am Rück-
flußkühler im Wasserbade 5 — 6 Stunden lang,
schüttelte dann in bekannter Weise nach
dem Ansäuern mit Schwefelsäure und Zusatz
von Natriumnitrit mit Schwefelkohlenstoff
wiederholt aus und titrierte dann die Jod-
Schwefelkohlenstofflösung nach dem Waschen
mit Wasser in bekannter Weise mit Natrium-
thiosulfatlösung unter Zusatz von Natrium-
bikarbonat.
Das Jothion ist bei Körpertemperatur in
geringem Grade flüchtig; läßt man nämlich
durch ein mit Jothion beschicktes U-Rohr,
*) Über die praktische Anwendung des
Jothions haben inzwischen berichtet: B. Lip-
schütz, Über perkutane Einverleibung von Jod-
präparaten bei Syphilid, Wiener med. Wochenschr.
1904, No.28, und E.Schindler, Erfahrungen mit
einem neuen Jodpräparat, „Jothion", Prager med.
Wochenschr. 1904, No. 39. Besonders betont
sei, daß das Jothion für interne oder sub-
kutane Anwendung nicht geeignet ist.
202
Weaenberg , Perkutan« Jodapplikation.
fTh«rap«ttiicln
L Monatahefte.
welches im Wasserbade auf 40° erwärmt
wird, einen Luftstrom hindurchgehen und
leitet diesen dann durch Barytlauge, so er-
hält man nach kurzem Erwärmen der Lauge
im Wasserbade, nach dem Ansäuern und
Zusatz von Natriumnitrit und Schwefelkohlen-
stoff bezw. Chloroform, eine deutliche Jod-
reaktion; in offener Pe tri- Schale 15 Stunden
lang im Brütschrank bei 37° gehalten, ver-
loren 2,302 g Jothion 0,?22 g an Gewicht,
entsprechend 9,65 Proz. ; gleichzeitig auf einem
Falterfilter von 9 cm Durchmesser gleich-
mäßig verteilte 2,70 g unseres Präparates
hatten während 15 Stunden bei 37° sich
um 0,29 g — gleich 10,74 Proz. — ver-
mindert.
Verreibt man Jothion auf der Haut,
z. B. auf der Brust, so erscheint sehr bald,
meist nach 40 — 60 Minuten, im Harn und
Speichel die erste Jodreaktion, welche an-
fangs schwach, nach einer Stunde meist sehr
deutlich ist; je nach der eingeriebenen Menge
ist dann Jod meist 3 — 4 Tage lang nach-
zuweisen, wobei die Reaktion in der letzten
Zeit natürlich an Intensität abnimmt. Selbst
beim Verreiben nur sehr geringer Mengen
des Präparates, z. B. von 0,42 g in alkoho-
lischer Losung, welche Menge 0,3 g Jod
entspricht, tritt bald Jod im Harn und
Speichel auf, während bei der Anwendung
derselben Jodmenge in Form des Jodvasogens,
wie wir oben gesehen haben, die Jodaus-
scheidung fast gleich Null ist. Das Protokoll
eines diesbezüglichen Selbstversuches sei hier
kurz wiedergegeben: Eingerieben 0,42 g
Jothion (0,3 g Jod).
Im Speichel
Im Harn
Jod
Jod
Nach 45 Min.
sehr schwach
kein
- 1 Std.
schwach
schwach.
- l'/4 Std.
deutlich
deutlich
- 2V, -
-
ziemlich stark
- 5»/3 -
-
stark
- 24 -
-
-
- 48 -
-
deutlich
- 72 -
kein
kein
Um die Jodausscheidungskurve nach ein-
maliger Jothion-Einreibung festzustellen, be-
diente ich mich bei den ersten 3 Versuchen
der von Anten19) angegebenen Untersuchungs-
methode, welche, auf der kolorimetrischen
Bestimmung des Jods beruhend, bei einiger
Übung genügend genaue Resultate gibt, wie
ich mich durch eine Anzahl Analysen von
Harnproben, denen bekannte Mengen Jod-
kalium zugesetzt waren, überzeugte; allerdings
sind diese kolorimetrischen Untersuchungen
für das Auge äußerst ermüdend, auch gibt
es, wie ich zu beobachten Gelegenheit hatte,
eine ganze Reihe von Personen, deren Augen
nicht fähig sind, feine Farbintensitätsunter-
schiede wahrzunehmen. Das Verfahren selbst
gestaltet sich kurz folgendermaßen : 20—50 cem
des Harnes werden in einer Nickelschale
mit jodfreiem Ealihydrat verkohlt und dann
mit Salpeter bei möglichst niedriger Tempe-
ratur weiß gebrannt; die farblose, filtrierte
wäßrige Lösung, ev. ein aliquoter Teil der-
selben, wird in einer H o w a 1 d sehen l3) Schüttel-
flasche nach dem Ansäuern mit Schwefelsäure
mit genau 10 cem Schwefelkohlenstoff gut
durchgeschüttelt. In einer zweiten Howald-
schen Flasche wird eine der Harnaschen lösung
entsprechende Menge gesättigter Natriumsulfat-
lösung mit je 10 Tropfen verdünnter Schwefel-
säure und 1 proz. Natriumnitritlösung versetzt
und dann ebenfalls genau 10 cem Schwefel-
kohlenstoff hinzupipettiert; aus einer Bürette
läßt man dann in kleinen Mengen solange
eine Jodkaliumlösung, die genau 0,2 g EJ
im Liter enthält, hinzufließen, bis in beiden
Röhren der Schwefelkohlenstoff gleiche Jod-
färbung aufweist. Die Howald sehen Schüttel-
flaschen sind weite zylindrische, etwa 200 cem
fassende Gefäße mit ganz kurzem Hals und
eingeschliffenem Glasstopfen, die unten in
ein 10 cm langes, etwa 12 mm weites Rohr
mit flachem Boden endigen; der Durchmesser
dieses Rohres muß natürlich bei beiden Ge-
fäßen, die man zur Bestimmung nötig hat,
gleich sein. • In einigen Fällen gelang es
mir auch bei wiederholter Veraschung nicht,
eine nach dem Absetzen blanke Schwefel-
kohlenstoff-Jod-Mischung zu erzielen, die-
selbe war vielmehr derartig getrübt, daß ein
sicherer kolorimetrischer Vergleich unmöglich
war; in solchen Fällen erhielt ich stets eine
blanke, brauchbare Schwefelkohlenstoffschicht,
wenn ohne Salpeter verascht wurde; die nach
dem Filtrieren angesäuerte Aschelösung muß
dann aber kurze Zeit aufgekocht werden, um
daß gebildete Cy an Jodid zu zerstören, da
dieses nach Guerbert14) durch Nitrit nicht
zersetzt wird, wovon ich mich durch Kontroll-
versuche überzeugen konnte; nach dem Er-
kalten wird dann mit einigen Tropfen Nitrit
versetzt und wie sonst weiter verfahren.
I. Versuch. R. J., zuverlässiger Laboratoriums-
diener, verreibt morgens 8 Uhr 3 g Jothion (mit
71,74 Proz. J) auf der Brust; von 8 '/a Uhr an wird
der Harn möglichst quantitativ gesammelt.
ia) H. Anten, Über den Verlauf der Aus-
scheidung des Jodkaliums im menschlichen Harn.
Arch. f. exp. Path. u. Pharm. 1902, Bd. 48, S. 330.
13) W. Howald, Vorkommen und Nachweis
von Jod in den Haaren. Zeitscbr. f. physiol. Chem.
1897, Bd. 23, S. 209.
") M. Guerbert, Über eine Fehlerquelle bei
dem Nachweis von Jod in Harnen. Journ. Pharm.
Chem. 1903, Bd. 17, S. 313. Refer. Chem.-Ztg.
Repert. 1903, S. 111.
r
XIX Jahrgang.1
April 1906. J
W»a«nb»rf , Perkutan* Jodappllfcaüoa.
203
Zeit Stundenzahl
8,30-11,30 3
11,30-2,30 3
2,30-7 4% (10'/,)
7—12 nachte 5
12-7 vormittags 7 (221/,)
7—12 5
12—6,30 abends ...... 6y3
6,30-12,30 nachts 6
12,30—7,30 vormittags ... 7_ _ (47)
7,30—12,30 5
12,30-6,30 abends 6
6,30 abends bis 7,30 morgens 13 (71)
7,30 morgens bis 6,30 abends 11
6,30 abends bis 7,30 morgens 13 (95)
Von den eingeriebenen 2142 mg Jod
waren also innerhalb etwa 4 Tagen
552,9 mg Jod wieder ausgeschieden
worden, entsprechend 2öy82 Proz.
ILYersiich. Selbstversuch. Morgens 9 Uhr wer-
den 2 g Jothion auf der Brust verrieben; kaum wahr-
nehmbares Brennen und danach sehr geringe Rötung.
-nmenge
ccm
Ausj
während der
Versachszeit
mg
geschiedene Jodmenge
in Proz. pre
der Gesamtmenge
175
120
275
36,0
52,2
92,6
6,52
944
16J4 (32,70)
280
520
74,5
85,9
13,46
15,54 (61,70)
390
380
500
910
33,9
41,9
34,9
29,0
6,13
7,58
6,32
5,25 (86,98)
245
310
605
15,6
14,8
20,7
2,82'
2,67
3,74 (96,21) .
600
625
12,1
8,8
552,9
219
1^59 (100,00)
Nach 30 Min.
- 45 -
- 60 -
- 24 Std.
- 32 -
- 48 -
Harn
Jodreaktion
zweifelhaft
deutlich
sehr stark
stark
stark
schwach
1 Stande
mg
12,0
17,4
20,6
14,9
12,3
63
6,4
5,8
4,1
3,1
2,5
1,6
1,1
0,68
Speichel
Reaktion
keine
deutlich
sehr stark
stark
stark
schwach
1. Tag.
2. Tag.
3. Tag.
Zeit
10-12,30
12,30-3
3-6 . .
6-10. .
10—6 morgens
6—6 abends .
6—6 morgens
6 — 6 abends .
Stundenzahl
»V.
«V.
3
4 (12)
_8 (20)_
12
12 (44)
12
Harnmenge
ccm
140
215
170
290
290
640
600
620
Ansgeschiedene Jodmenge
während der . n
m Proz.
Versuchszeit
mg
14,4
28,0
33,8
34,3
41,9
32,6
9,7
5,1
199,8
der Gesamtmenge
7,20
14,00
16,90
17,15 (55,25)
20,95 (76,20)
16,30
4,8 (97,35)
2,55
99,90
pro 1 Stande
mg
5,7
11,2
11,3
8,6
5,2
2,7
0,8
0,4
Von den eingeriebenen 1435 mg Jod
waren also während der Versuchszeit
200 mg Jod, entsprechend 13,93 Proz.,
mit dem Harn wieder ausgeschieden
worden.
III« Versuch. Etwa 5 Wochen nach dem ersten
Versuche reibt R. J. wieder Jothion, diesesraal
aber nur 2 g auf der Brust ein. Jodreaktion im
Zeit Stundenzahl
I.Tag. 12—3 3
3—6 3
6-12 _6 (12)
2. Tag. 12-6 6
6-12 6 (24)
12-6 6
6 abends bis 6 morg. 12
3. Tag. 6-6 12 (54)
6 abends bis 6 morg. 12
4. Tag. 6-6 12
6 abends bis 6 morg. 12
Speichel: nach 40 Minuten negativ, nach 50 Mi-
nuten schwach, nach 60 Minuten bis 48 Stunden
bei allen Prüfungen stark, nach 70 Stunden schwach,
78 Stunden sehr schwach, 92 Stunden negativ.
Jodreaktipn im Harn: nach 40 Minuten negativ,
50 Minuten deutlich, nach 1 bis 48 Stunden stark,
70 Stunden deutlich, 78 Stunden schwach, 92 Stunden
sehr schwach.
Eingerieben 1VL Uhr, Harn gesammelt von
12 Uhr ab.
Harnmenge
Versuchszeit
ccm
mg
200
41,6
225
63,3
825
66,6
560
64,4
310
60,0
320
47,8
435
49,0
540
27,8
425
23,7
610
15,7
1460
6,4
Ausgeschiedene Jodmenge
während der D
in Proz.
466,3
der Gesamtmenge
8,93
13,58
14,28 (36,79)
13,80
12,87 (63,46)
10,25
10,51
5,96 (90,18)
5,08
3,37
1,37
100,00
pro 1 Stunde
mg
13,9
21,1
11,1
10,7
10,0
8,0
4,1
2,3
2,0
1,3
0,53
204
w«
rg, Perkutane Jodapplikation.
rTharapentlflcbt
L MonatAefte.
Eingerieben waren mit den 2 g
Jothion 1435 mg Jod, davon wurden
mit dem Harn wieder ausgeschieden
466 mg Jod = 32,29 Proz.
Der besseren Übersicht halber mag der
Verlauf der 3 Versuche in Kurvenform
(Kurve I — III) wiedergegeben sein.
rtyJ
zs
20
15
fO
1-
—
*
rn
i —
i —
10 2O30W506O70S0SO 1O0*
Kurve I.
Stündliche Jodausscheidung (in mg) nach einmaliger Ein-
reibung von 8 g Jothion. Versuch I (R. J.).
Kurve II.
Stündliche Jodausscheidnng (in mg) nach einmaliger Ein-
reibung von 2 g Jothion. Versuch II (G. W.).
--
\ — i 1
1—
1 iO ä
9 &
0 *
V Sl
9 *
7*
mgJ
2S\
ts
fO
s
W 20 30
70 80 90 WO*
W SO SO
Kurve III.
Stündliche Jodausscheidung (in mg) nach einmaliger Ein-
reibung^ von 2 g Jothion. Versuch III (R, J.).
Während zu den vorstehenden Versuchen
ein Jothion mit 71,74 Proz. Jod benutzt
wurde, fand zu den nachfolgenden Versuchen
ein solches mit 72,06 Proz. Jod Verwendung.
IV. Versuch. Selbstversuch. 2,4 g Jothion
werden auf der Brust verrieben; nach 30 Minuten
Harn und Speichel jodfrei, nach 45 Minuten im
Harn und Speichel deutlich Jod. 53 Stunden lang
wird der Harn gesammelt und ein aliquoter Ten
des Gesamtharns zur Jodbestimmung gebracht. Ein-
gerieben waren 1729 rag Jod, ausgeschieden
260,4 mg Jod = 15,06 Proz.
Die Ergebnisse der vorstehenden 4 Ver-
suche mögen kurz zusammengestellt sein:
R. J.
Eingeriehen
g Jothion mg J
Versuch I 3,0 2142
III 2,0 1435
G.W.
U
IV
2,0
2,4
1435
1729
Autgeschieden
mg J Proz.
553 25,8
466 ^23
Mittel 29,1
200 13,9
260 15,1
Mittefl4,5
Von R. J. werden also im Durch-
schnitt 29,1 Proz., von G. W. nur
14,5 Proz. des im Jothion eingeriebenen
Jods mit dem Harn wieder ausge-
schieden. Nach den Versuchen von Anten15)
und anderen Autoren18) wird von dem per os
eingeführten Jodkalium im Durchschnitt nur
etwa 75 Proz. (Antens Versuche ergaben
zwischen 65 und 85 Proz. schwankende
Werte) mit dem Harn wieder ausgeschieden,
die übrigen 25 Proz. (15 — 35 Proz.) werden
von dem Körper zurückgehalten und später
unmerklich wieder abgegeben. Wir gehen
daher wohl nicht fehL, wenn wir dieselbe
Retention des Jods auch nach äußerlicher
Jothion -Anwendung annehmen; es würden
also obige im Harn wiedergefundene Jod-
werte nur etwa 3/4 derjenigen Jothionmengen
entsprechen, welche in Wirklichkeit von der
Haut aus zur Resorption gelangt sind; es
berechnet sich danach also als wirklich
resorbiert:
Pro«. Pro*.
R. J. Vers. I 25,8 + 8,6 = 34,4
- III 32,3 4- 10,8 = 43,1 Mittel 38,75
G.W. - II 13,9+ 4,7 =JL8,6
- IV 15,1 + 5,0 = 20,1 Mittel 19,35
Nach Anten findet nach einer ein-
maligen Dosis von 0,5 g Jodkalium die
höchste stündliche Jodausscheidung in der
2. Stunde statt, nur ausnahmsweise in der
ersten oder dritten Stunde; bei der äußer-
lichen Anwendung des Jothion s wird also
die Aufnahme des Jods, wie dies ja auch
leicht erklärlich ist, um einige Stunden ver-
zögert. Nach 24 Stunden sind nach den 3 Ver-
suchen Antens 59,3, 61,3 bezw. 69,1 Proz.
der Gesamtjodmenge des Harnes ausgeschieden ;
in meinen Versuchen hat R. J. (Versuch I)
entsprechend nach 221/» Stunden 61,7 Proz.,
in dem anderen Versuche (III) nach 24 Stunden
63,5 Proz., W. (Versuch II) nach 20 Stunden
76,20 Proz. der gesamten Harn-Jodmenge von
sich gegeben; durch nachträgliche raschere
Ausscheidung ist also die anfänglich verzögerte
Jodabgabe 24 Stunden nach Jothion -Ein-
reibung ungefähr dieselbe wie nach interner
Jodkalium-Darreichung.
») 1. c.
16) Vergl. die Literaturangaben bei An ten (1. c).
r
XIX Jahrfug.l
April 1W6. J
W*8enb*r(, Perkutan« Jodapplikation.
205
V. Versuch. Nach mehrmonatlicher Pause,
wahrend welcher die Versachsperson weder extern,
noch intern Jod genommen hat, reibt R. J. an
4 aufeinander folgenden Tagen je 1 ccm (== 2,4 g)
Jothion auf der Brust ein; der Harn wird während
der ganzen Versuchszeit gesammelt und in 24 stan-
digen Portionen die Harnasche znr Titration in der
sonst üblichen Weise, welche oben kurz skizziert
wurde gelegentlich der Jodbestimmung im Jothion,
mit Natiumthiosulfat gebracht^ also nicht kolorime-
trisch bestimmt.
a v j Proz. der ein-
Auageschieden geriebeneii Menge
mg J (1729 mg J)
1. Tag 216 12,49
2. - 502 29,03
3. - 533 30,55
4. - 664 38,40
5. - (Nachtag) . 216 (12,49)
2131
Innerhalb der 4 Tage wurden ins-
gesamt eingerieben 6916 mg Jod davon
wurden in 5 Tagen 2131 mg wieder aus-
geschieden?, entsprechend 30y88 Proz.
Die resorbierte Menge ist aber noch erheb-
lich großer, da am dritten Tage nach der
letzten Einreibung der Harn und auch der
Speichel noch ziemlich starke Jodreaktion
zeigte, welche erst am vierten Tage im
Harn geringer wurde.
Um festzustellen, ob durch Alkohol-
zusatz bezw. durch Mischen des Jo-
thions mit Lanolin bezw. Lanolin-
Vaselin die Resorption des Jothions
verlangsamt oder sonstwie beeinflußt
wird, wurden die nachstehenden Ver-
suche vorgenommen.
VI. Versuch« R. J. verreibt an 5 hintereinander-
folgenden Tagen je 2 ccm einer Jothion-Alkohol-
M 18 c hang, welche nach der Analyse 1229 mg Jod
enthielten, auf der Brast. Es wurden mit dem
Harn ausgeschieden:
Proz. der
eingeriebenen
mg J Jodmenge
Am 1. Tage .... 181,0 entsprechend 14,73
- 2. - ... .317,5 - 25,83
- 3. - ... .342,9 - 27,90
- 4. - . . . 381,0 - 31,00
- 5. - ... .485,8 - 39,53
72 Stunden nach der letzten Einreibung
ist im Harn noch sehr stark Jod vorhanden,
nach 96 Stunden ist dasselbe im Harn nicht
mehr nachweisbar. Das Jothion wird
also durch Alkoholzusatz in seiner
guten Resorbierbarkeit nicht beein-
flußt.
VII« Versuch« Nach längerer Pause verreibt
R. J. täglich 3 g einer Salbe aus gleichen Teilen
Jothion und Lanolinum anhydricum auf der
Brust. Im Harn erscheint nach 40 Minuten deut-
lich Jod; im Speichel trat die erste Jodreaktion
nach 75 Minuten deutlich auf.
Eingerieben
mg J
Am I.Tag 1081
2. - 1081
Ausgeschieden
mg J Proz.
117,4 10,88
242,9 22,50
Eingerieben Ausgeschieden
mg J mg J Proz.
Am 3. Tag 1441 (4 g Salbe) 298, 5 21,14
4. - 1081 327,0 30,28
5. - 1081 387,3 35,87
6. - 1081 454,0 42,04
7. - 1081 nicht gesammelt, da Sonntag
8. - 1081 335,1 31,72
9. - 1081 304,8 28,20
10. - 1081 177,8 16,45
11 - 1081 nicht gesammelt,
nachmittags warmes Bad.
Da durch den langen Gebrauch des Lanolins
die Brust offenbar vollständig verschmiert war, so-
daß die Resorption beträchtlich vermindert war,
wurde nunmehr reines Jothion auf der Brust weiter
verrieben.
Auf die Brust Aasgeschieden
g Jothion mg J Proz.
Am 12. Tag 1,5 184,2 17,04
13. - 1,5 175,4 15,86
14. - 1,5 nicht gesammelt, da Sonntag
15. - 1,5 196,8 18,21
auf den Oberschei
ikel
16. - 1,5
231,6
21,44
17. - 1,5
247,6
22,91
Dieser scheinbar unregelmäßige Verlauf
des letzten Versuches entbehrt nicht des
Interesses; zuerst sehen wir, daß durch die
Mischung des Jothion mit dem Lanolin die
Resorption des ersteren fast garnicht beein-
flußt wird, da der sechste Tag das Maximum
der Ausscheidung mit 42,04 Proz. bringt
der darauf eintretende Abfall in der Jod-
ausscheidung deutet darauf hin, daß durch
die lange Einwirkung des Lanolins die Haut
derart mit Lanolin durchtränkt ist, daß ein
tieferes Eindringen des Jothions nicht mehr
statthaben kann; daß die Salbe tatsächlich
von der Haut zum allergrößten Teile auf-
genommen worden war, geht daraus hervor,
daß mit Hilfe von mit Alkohol und Äther
befeuchteter Watte vor dem Bade nur geringe
Mengen der Salbe von der Haut wieder ab-
genommen werden konnten, wie die Jod-
bestimmung in der betr. Watte (gefunden
wurden nur 5,1 mg Jod) ergab; bemerkt sei,
daß das Unterzeug kaum Fett angenommen
hatte. Auch die auffallend niedrige Jodaus-
scheidung bei der darauffolgenden Verwendung
von reinem Jothion auf der Brust, welche
erst dann wieder anstieg, als die Einreibungen
auf der Innenseite der Obersohenkel vor-
genommen wurden, spricht für die Berechti-
gung meiner Annahme. Es kann daher bei
der Anwesenheit nicht unbeträchtlicher Jothion-
Lanolinmengen in der Brusthaut nicht wunder-
nehmen, daß sich dementsprechend dieses-
mal die nach der letzten Einreibung stets
zu beobachtende langsame Jodausscheidung
recht lange hinzieht: noch 5 Tage nach der
letzten Einreibung zeigt der Speichel deut-
lich Jod, nicht aber mehr nach 6 Tagen;
der Harn ergab — direkt geprüft — nach
206
Wesen b*rg, Perkutan« Jodapplikation.
rrhentpeotlMht
L MoTiftfrhefle.
9 Tagen ziemlich starke, nach 12 Tagen
deutliche Jodreaktion, nach 16 Tagen gelang
in der Asche von 100 ccm Harn der Jod-
nachweis noch gut, um bei der nächsten
Prüfung nach 19 Tagen ebenfalls zu ver-
sagen.
In dem folgenden Versuch VIII sollte
ermittelt werden, erstens ob die Mischung
mit Lanolin und Vaselin die Resorption des
Jothions beeinflußt und zweitens, wie sich
die Jodausscheidung nach Verreibung regel-
mäßiger kleiner Dosen Jothion (0,75 g) ge-
staltet. Zu diesem Zwecke verreibt unsere Ver-
suchsperson R. J. täglich 3 g einer Salbe aus:
Jothion . . . . 25,0
Lanolini anhydr. . 37,5
Vaselini amer. . 37,5
abwechselnd auf der Brust und der Innenseite der
Oberschenkel, sodaß täglich 540 mg Jod aufgerieben
werden. •
u Ausgeschiedene
Eingerieben auf "a™«nge j0dmenge
ccm mg J Proz.
1. Tag Brust 1200 76,2 14,13
2. - linker Oberschenkel 2010 95,3 17,65
3. - rechter Obersch. . 1280 111,2 20,58
4. - Brust 1625 111,2 20,58
5. - beide Obersch. . . 2150 123,8 22,95
6. - Brust 1360 146,2 27,05
7. - beide Obersch. . . 2050 146,2 27,05
An den folgenden Tagen wurde dann reines
Jothion (0,75 g) in ak oho lischer Lösung eingerieben
auf die Brust.
Eingerieben auf die Brust
ccm mg J Proz.
8. Tag 1400 117,5 21,75
9. - 1550 130,3 24,15
10. - 1770 130,3 24,15
11. - 1350 127,0 23,56
12. - 1270 152,3 28,26
Am 4. Tage nach der letzten Einreibung
erwies sich der Speichel, am 5. Tage der
Harn — bei direkter Prüfung — als jodfrei.
Aus diesem Versuch VIII ergibt sich,
daß 1. das Maximum der Jodausscheidung
durch diese Lanolin -Vaselin -Salbe etwas
langsamer erreicht wird, als bei Verwendung
reinen Jothions, nämlich am 6. Tage, also
genau so wie bei der Mischung des Jothions
mit Lanolin im vorigen Versuche; 2. daß
scheinbar vom Körper stets eine bestimmte
Jodmenge zurückgehalten wird, gleichgültig
ob mehr oder weniger Jod eingeführt wird,
sodaß also bei kleineren Mengen Jothion die
Retention des Jods im Körper prozentuell
größer ist als bei größeren Mengen Jothion;
in den früheren Versuchen betrug nämlich
das Maximum der Jodausscheidung bis etwa
42 Proz. der mit 1,5 — 2,4 g Jothion ein-
geriebenen Jodmenge, während in diesem
Falle, bei Verwendung von nur 0,75 g Jothion,
nur bis 28,3 Proz. ermittelt wurden. Weiter
lehren diese beiden letzten Versuche, daß es
bei längerer Anwendung von Jothion- Salben
ratsam ist, den Applikationsort im regel-
mäßigen Turnus zu wechseln, um eine mög-
lichst vollständige Resorption der Salbe bezw.
des Jothions zu ermöglichen.
Versuch IX sollte dazu dienen festzustellen,
ob das Jothion von der derberen Haut des
Unterarmes ebenso gut resorbiert würde,
als von der feineren Haut der Brust bezw.
der Innenseite der Oberschenkel; zu diesem
Zwecke verrieb R. J. an 4 hintereinander folgenden
Tagen je 970 mg Jod als Jothion auf den Unter-
arm : in den auf die letzte Einreibung folgenden
24 Stunden wurde der Harn wieder gesammelt und
zur Analyse gebracht; es ergab sich, daß von den
täglich aufgeriebenen 970 mg Jod mit dem Harn
an diesem Tage nur 122 mg Jod eliminiert wurden,
entsprechend 13,12 Proz., während an dem ent-
sprechenden Tage in den übrigen Versuchen be-
trächtlich höhere Werte erzielt wurden, nämlich
im Versuch V 38,4 Proz., Versuch VI 31,0 Proz.,
Versuch VII 30,3 Proz., Versuch VIII 20,6 Proz.
Die Versuche V bis VIII haben gezeigt,
daß bei wiederholter Einreibung von Jothion
nach 4 — 6 Tagen — je nachdem ob es rein
als solches oder mit Fett vermischt zur An-
wendung gelangt — ein Maximum der Jod-
ausscheiduug erreicht wird, welches bis zu
42 Proz. der eingeriebenen Jodmenge steigen
kann; unter Berücksichtigung der im Körper
stattfindenden Jodretention erhöht sich diese
Zahl der Jothionresorption natürlich noch
um einen nicht unbeträchtlichen Teil, da nach
den Untersuchungen von Ehlers, Doux,
Lafay17) selbst bei längerer Darreichung
großer Jodmengen nur etwa 82 — 91 Proz.
des eingeführten Jods mit dem Harn wieder
ausgeschieden werden; wir geben daher wohl
nicht fehl, wenn wir sagen, daß von unserer
Versuchsperson R. J. bei längerer
Jothionanwendung bis zu etwa 50 Proz.
des Jothions zur Resorption gelangten.
Es konnte wohl mit Recht davon Abstand
genommen werden, durch Tierversuche fest-
zustellen, an welchen Stellen des Organis-
mus . das zurückbehaltene Jod abgelagert
wird, da uns ja über den Verbleib des
Jodalkalis im Körper Winternitz18) ein-
gehende Auskunft gibt; dieser Forscher
fand nach längerer Darreichung von Jod-
kalium an Hunde in den Atherextrakten
von Muskeln, Leber und Knochen kein Jod,
dagegen ergaben die nach der Fettextraktion
veraschten Organe deutliche, z. T. reichliche
Jodmengen; das ausgeschmolzene Fett ver-
schiedener Stellen enthielt keine Spur von
Jod, ebensowenig die Ätherextrakte des ge-
1T) Zitiert nach Anten (a. a. O.).
18) H. Winternitz, Über Jodfette und ihr
Verhalten im Organismus, nebst Untersuchung über
das Verhalten von Jodalkalien in den Geweben
des Körpers. Zeitschr. f. physiol. Chem. 1898, Bd. 24,
S. 424.
r
XIX. Jahrgang .1
April 190S. J
Wesen berf, Perkutane Jodapplikation.
207
trockneten Fettgewebes, während auch hier
die bindegewebigen Rückstände deutliche
Jodmengen enthielten; nur in der Milchdrüse
und in den Haaren, wo auch Howald19)
Jod nachgewiesen hat, scheint eine Addition
des Jods zu Jodfett stattzuhaben. Auch in
den etwa 3 Wochen nach der letzten Jothion-
einreibung geschnittenen Haaren unserer
Versuchsperson R. J. ließen sich nach
dem Veraschen deutliche Mengen Jod
nachweisen.
Das Vermögen des Jothions, die Haut
in so reichlichem Maße zu durchdringen,
legt nun die Frage nahe, wie es gegenüber
den verschiedenen Mikroorganismen,
welche auf der men schlichen Haut anzu-
treffen sind, wirkt; als solche kommen vor
allem die Eitererreger und die verschiedenen,
Haarkrankheiten verursachenden Fadenpilze
in Betracht. Ich stellte daher einige Des-
infektionsversuche mit Staphylococcus
aureus, Bacillus pyocyaneus, Tricho-
phyton tonsurans, Achorion Schoen-
leinii und Mikrosporon Audouini an.
Die Ergebnisse dieser Versuche seien hier
nur ganz kurz mitgeteilt:
24 stündige Bouillonkulturen von Sta-
phylococcus aureus wurden durch Zusatz
von 1 Vol.-Proz. Jothion, sodafi also ein kleiner
Teil des Jothious ungelöst blieb, innerhalb
3 Minuten abgetötet. Der Bacillus pyo-
cyaneus erwies sich nach 3 Minuten langer
Einwirkung von Jothion — unter den glei-
chen Verhältnissen, wie beim Staph. aur. an-
gegeben — als nicht beeinflußt, nach 6 Mi-
nuten machte sich deutliche Entwicklungs-
hemmung bei der Übertragung in frische
Bouillon bemerkbar, während nach 10 Minuten
Abtötung erfolgt war. Die Fadenpilze Tricho-
phyton tonsurans, Achorion Schoen-
leinii und Mikrosporon Audouini,
welche nach dem Zerreiben der Agar- Ober-
flächenkulturen mit sterilem Sande mit der
gesättigten Jothionlösung übergössen wurden,
waren bereits nach 5 Minuten langer Ein-
wirkung völlig abgetötet, obwohl sie reich-
lich Sporen gebildet hatten.
Die Versuche bezüglich der entwick-
lungshemmenden Wirkung des Jothions
gegenüber Staphylococcus aureus bezw. Pyo-
cyaneus ergaben, daß deren Wachstum in
Bouillon, welche mit 1 : 1000 Jothion ver-
setzt ist, in keiner Weise beeinflußt ist; bei
einem Gehalt von 1 : 600 macht sich beim
Staph. aur. eine geringe, beim Pyocyaneus
eine deutliche Entwicklungshemmung bemerk-
bar, während beide Bakterien bei 1 : 500
starke Verlangsamung ihres Wachstums zeigen,
um sich bei 1 : 400 überhaupt nicht mehr
zu vermehren.
Diese bakteriologischen Versuche
lassen eine eingehende Prüfung des
Jothions bezüglich seiner Anwendbar-
keit bei Erkrankungen der Haut und
der Haare berechtigt erscheinen.
Aus den vorstehend berichteten chemi-
schen Versuchen ergibt sich, daß in dem
Jothion ein Jodpräparat vorliegt, wel-
ches bei perkutaner Applikation die
Einführung nicht unbeträchtlicher
Mengen Jod in den Organismus ge-
stattet, indem es bis zu etwa 50 Proz.
von der Haut aus zur Resorption ge-
langen kann. Bei einzelnen Personen
mit besonders empfindlicher Haut ruft
es nach der Einreibung im unver-
dünnten Zustande mitunter leichtes,
vorübergehendes Brennen hervor, wel-
ches aber durch Verdünnen mit Ol,
Vaseiin oder Lanolin — ohne daß da-
durch die gute Res orbierb ar k ei t
wesentlich beeinflußt wird — völlig
aufgehoben werden kann. Selbst bei
längerer regelmäßiger Anwendung des
Jothions in größeren Dosen sind Stö-
rungen des Magen-Darmkanales nicht
oder doch nur in verschwindend ge-
ringem Maße beobachtet worden selbst
bei Personen, welche gegen kleinste
Dosen Jodalkalien (der Berichterstatter
bereits gegen 0,1 — 0,25 Na J pro die) so-
fort mit starken Magenverstimmungen
reagieren. Es ist also durch das Jo-
thion das Problem der Joddarreichung
unter Vermeidung von Störung des
Magen-Darmkanales in durchaus be-
friedigender Weise gelöst.
Stovain.
Das von Frankreich aus zu uns gekommene
lokale Anastheticum, das Stovain, wurde zuerst von
Fourneau dargestellt. Nach seiner chemischen
Konstitution ist es das salzsaure Salz des Di-
methylaminobenzoyldimethyläthylcarbinol. Seine
Formel
c2h5n
CH3
/
CO.COC6H5
CH2
») 1. c.
N
/\
CH3 CH,
zeigt gewisse Ähnlichkeit mit der des Kokains
oder Eukains, mit denen es die substituierte
Aminogruppe und die benzoylierte tertiäre oder
sokundäre Alkoholgrnppe gemein hat. Einen
wesentlichen Unterschied zeifjt die Zusammen-
208
Stovain.
fTherapeiittelit
L Monatshefte
setzuDg des Stovains von der des Kokains und
Eukains dadurch, daß diese beiden Substanzen
einen ringförmigen Aufbau zeigen, also als
Körper der aromatischen Reihe anzusprechen sind,
während das Stovain eine Kohlenstoffkette ent-
hält, also als aliphatischer Körper anzusehen
ist. Die physiologische Untersuchung ergab, daß
das Stovain in größeren Mengen ein Krampfgift
— wie das Kokain — ist. Außerdem bewirkt
es eine peripherische Gefäßerweiterung und starke
Temperaturherabsetzung. Seine tödliche Dosis
verhält sich zu der des Kokains wie 2 zu 1;
Vorgiftungserscheinungen wurden erst nach Dosen
gesehen, welche dreimal so groß wie die gleiche
Erscheinungen hervorrufende Kokaindosis waren.
Das neue Mittel nimmt also in Bezug auf Giftig-
keit eine Mittelstellung zwischen dem giftigeren
Kokain und dem bedeutend ungiftigeren /9-Eu-
kain ein.
Die klinische Prüfung des Mittels wurde
von verschiedenen französischen Autoren, sowie
ganz neuerdings von Sonnenburg in Berlin
vorgenommen und erstreckt sich auf seine Ver-
wertbarkeit als lokales Anästheticum sowie als
Mittel zur Herbeiführung der Lumbalanästhesie.
Chaput berichtet über 18, teils der großen, teils
der kleinen Chirurgie angehörende Eingriffe,
die er unter lokaler Anästhesie mit 0,5-proz.
Stovainlösung ausführte und bei denen er bis zu
0,2*g Stovain verbrauchte. Der Verlauf war bis
auf einen Fall, wo sowohl die Anästhesie (Knie-
gelenk) ungenügend war, als auch nach der Ope-
ration unangenehme Nachwirkungen (Erregung)
auftraten, ein günstiger. Zur lumbalen Anästhesie
verwendete Chaput das Stovain in 30 Fällen,
meist in Verbindung oder Mischung mit Kokain.
Diese Anwendungsart war daher nötig, weil in
der verwendeten 10-proz. Lösung des reinen
Stovains durch die Alkalinität der Lumbalflüssig-
keit die Substanz niedergeschlagen* wurde und
somit nicht in Wirksamkeit treten konnte. Durch
Verwendung verdünnterer Lösungen und Zusatz von
NaCl soll sich dieser Übelstand vermeiden lassen.
Als besonderen Vorteil des Mittels preist
dieser Verfasser seine schon vorhin erwähnte
Eigenschaft, gefäßerweiternd zu wirken und so-
mit keine Gehirnanämie zu machen, welcher
Umstand es zum Beispiel gestattet, am aufrecht
sitzenden Patienten zu operieren. Die obere
Grenze der anästhetischen Zone ist sehr ver-
schieden, sie erstreckte sich in einem Falle nicht
einmal über die ganze untere Extremität, wäh-
rend sie in anderen Fällen bis zur Clavicula
und den oberen Extremitäten ging.
In allen 30 Fällen war, soweit aus der
kurzen Mitteilung zu entnehmen ist, die Anästhesie
eine ausreichende. Über unerwünschte Neben-
oder Nachwirkungen wird nichts berichtet.
Über ein größeres Material, nämlich 64 Fälle
von lumbaler Anästhesie mit Stovain (Rachi-
stovainisation) , verfügen Kendirdzy und
Bertheaux. Die Anästhesie stellte sich nach
Injektion von 0,04 g Stovain in 10-prozentiger
Lösung in 5 Minuten ein und währte ungefähr
40 Minuten. Unangenehme Nebenwirkungen
wurden wiederholt beobachtet, nahmen jedoch
keine beängstigenden Dimensionen an. Die von
anderen Autoren nach Kokainisierung des Rücken-
marks wiederholt beobachtete sterile Meningitis
konnte nirgends mit Sicherheit nachgewiesen
werden, da in dem einen Falle, in dem die
Spinalflüssigkeit Zellelemente enthielt, die« auch
eine Folge einer Allgemein erkranknng des Pa-
tienten (Lues) sein konnte.
Einen etwas weniger günstigen Eindruck,
als aus den bisher erwähnten französischen Sto-
vainarbeiten, gewinnt man aus der einzigen bis-
her vorliegenden deutschen, nämlich der von
Sonnenburg. Um gleich mit einem wesent-
lichen Punkte zu beginnen, scheint die aus den
französischen Arbeiten hervorgehende Sicherheit
der Stovainwirkung keine allzugroße zu sein.
Sonnenburg hatte unter 56 lumbalen Stovain-
injektionen in 11 Fällen, d. i. in 19,6 Proz.
keine ausreichende Anästhesie erzielen können,
und hatte außerdem den Verlust eines Falles
(/,# Proz.) an aufsteigender eitriger Meningitis zu
verzeichnen.
In den übrigen Fällen waren jedoch auch
die Resultate dieses Autors recht zufrieden-
stellende. Die verwendeten Mengen Stovain be-
tragen 0,04—0,07 g, im Durchschnitt 0,05 g,
welches in 10-proz. Lösung in Verdünnung mit
aspirierter Spinalflüssigkeit verwendet wurde.
Die Injektion wurde meist unterhalb des dritten
Lendenwirbels vorgenommen, unter Befolgung
aller für subdurale Injektionen überhaupt gel-
tenden Regeln (vergl. Ther. Monatsh., Februar
1905 S. 107). Besonders zu beachten ist:
1. Genügend tiefes Einstechen der Nadel.
2. Vermeidung von Blutungen.
3. Gute Mischung der Lösung und Spinal-
flüssigkeit in der Spritze.
4. Entfernung jeder Spur Sodalösung aus
der Spritze.
Nebenwirkungen sah Sonnenburg selten,
eine Kontraindikation bietet zu jugendliches
Alter (unter 14 Jahr) der Patienten.
Will man aus den bisher mit Stovain ge-
machten Erfahrungen einen Schluß ziehen, so
würde sich dieser folgendermaßen gestalten.
Das Stovain ist ein lokales Anästheticum,
welches durch seine geringere Toxizität bei
gleicher Wirksamkeit dem Kokain überlegen ist.
Dem Eukain gegenüber weist das Stovain, in-
folge seiner, diesem Körper gegenüber stärkeren
Giftigkeit, keine Vorteile auf. Auch in Bezug
auf seine Verwendbarkeit zur lokalen als auch
lumbalen Anästhesie ist es dem Eukain nicht
überlegen.
Literatur.
Note de E. Fourneau, Com. rend. de Pacad.
Bd. 138, p. 766, 1904.
L. Launoy et F. Billon, Sur la toxicite du chlor-
hydrate d'amy leine. Com. rend. de Pacad.
Bd. 138, p. 1861, 1904.
F. Chaput, La stovalne anästhesique locale. Soc.
de biol. 1356, p. 770, 1904.
Chaput, Valeur de la stovatne comparee a la
cocalne. Soc. de biol. Bd. 66, p. 722, 1904.
Kendirdzy et Bertheaux, Presse medicale 1904,
No.38.
E. Sonnenburg, Rückenmarksanästhesie mittels
Stovain. D. med. Wochenschr. 1905, No. 9.
r
XIX. Jahrg&ng.l
April 19Q5. I
Grltaiin.
209
Griserin.
Über das Griserin ist bereits im November-
heft vorigen Jahres von uns berichtet worden.
Es i6t als ein inneres Desinficiens empfohlen
worden, als sicheres Heilmittel bei allen durch
Bakterien hervorgerufenen Krankheiten. Der
Schloß unseres Berichtes lautete: »Die nicht
ausbleibenden Nachprüfungen werden indes wohl
bald die hochgespannten Erwartungen auf ein
sehr bescheidenes Maß her abdrücken." Diese
Vermutung hat sich vollauf bestätigt. Die vor-
liegenden Mitteilungen sind nicht sehr zahlreich
und die Zeit der Beobachtung ist relativ kurz,
aber die Resultate der experimentellen Unter-
suchungen und die klinischen Erfahrungen stimmen
so überein und sind so eindeutig, daß ein Urteil
über den Wert des Griserins als Heilmittel jetzt
schon sehr wohl möglich ist.
Es sind zunächst zwei experimentelle
Arbeiten zu erwähnen: aus der hygienischen
Untersuchungsanstalt der Stadt Danzig von
Prof. Petruschky und aus dem Königl. Hygieni-
schen Institut der Universität Königsberg von
Dr. E. Friedberger und Dr. W. Oettinger.
Petruschky fand, daß von allen unter-
suchten Spaltpilzen der Milzbrandbazillus gegen-
über Griserin besonders empfindlich ist. Eine
entwickelungshemmende Wirkung macht sich
außerhalb des Organismus bereits bei einer Ver-
dünnung von 1 : 10 000 — 1 : 8000 geltend.
Hiernach müßte, falls die gleiche Verdünnung
auch im Tierkörper entwickelungshemmend wirkt,
1 — 1,2 mg Griserin pro 10 g Tierkörper ge-
nügen, um auch in diesem eine Entwicklungs-
hemmung der Milzbrandbazillen zu erreichen.
Die Versuche ergaben jedoch eine derartige
entwickelungshemmende Wirkung nicht und
Petruschky kommt zu dem Schluß, daß die
Frage, ob durch Griserin eine innere Desinfektion
des lebenden Körper erreicht werden könne, für den
anscheinend am günstigsten liegenden Fall (Milz-
brand) in negativem Sinne zu beantworten ist.
Friedberger und Oettinger kamen zu
dem gleichen Resultate. Weder nach intra-
peritonealer Infektion mit Choleravibrionen bei
Meerschweinchen, noch bei der Pneumokokken-
Infektion bei Mäusen, noch bei Milzbrand bei
Kaninchen, noch endlich bei tuberkulöser Infek-
tion bei Meerschweinchen zeigte Griserin irgend
eine günstige Wirkung.
In Übereinstimmung mit diesen Resultaten
konnte auch bei Versuchen im Pharmakologischen
Institut der Universität Berlin eine Beeinflussung
der tuberkulösen Infektion bei Meerschweinchen
durch Griserin nicht beobachtet werden.
Ebenso ungünstig wie die experimentellen
Untersuchungen sind die Erfahrungen bei
Kranken ausgefallen.
Deneke, welcher das Griserin im Allge-
meinen Krankenhause St. Georg- Hamburg bei
13 Fällen von Lungentuberkulose anwandte, sah
niemals nach dem Mittel eine Vermehrung des
Auswurfes und allgemeines Wohlbefinden, wie
Küster es angibt. Einige Patienten klagten
vielmehr über eine besonders zähe, breiige Be-
schaffenheit des Auswurfs bei Griserin gebrauch.
Eine günstige Beeinflussung der Temperatur,
der Nachtschweiße , Besserung des Appetits
wurden nicht beobachtet. Das Verhalten des
Körpergewichts ließ in keinem Falle einen Schluß
zu gunsten der Griserinwirkung zu. Die Tuberkel-
bazillen verschwanden niemals aus dem Sputum,
verminderten sich auch nicht in merklicher
Weise. Auch ein Rückgang der physikalischen
Erscheinungen war nicht zu beobachten, dagegen
traten häufig Durchfälle nach Griserin auf.
Deneke kommt zu dem Schluß, daß,
abgesehen von der ungünstigen Beeinflussung
des Auswurfs, die einzige Wirkung des Griserins
bei seinen Patienten die eines Abführmittels war,
und zwar eines sehr unzuverlässigen.
Die gleichen Erfahrungen machte Schom-
burg im Städtischen Krankenhause zu Bremen.
Niemals wurde eine günstige Einwirkung auf
den tuberkulösen Prozeß beobachtet, auch bei
wochenlanger Darreichung des Mittels nicht.
Konstant waren dagegen Erscheinungen von
Darmreizungen, die meistens gutartig waren, in
einigen Fällen stellten sich jedoch stärkere Durch-
fälle ein, die zum Aussetzen des Mittels zwangen.
Brühl wandte Griserin in der Heilanstalt
für Lungenkranke zu Schömberg, O.-A. Neuenburg
bei 9 Fällen von Lungentuberkulose an. In allen
Fällen traten Erscheinungen von Darmreizung
mit Leibschmerzen und Durchfall auf, hiermit
verbunden Appetitverminderung und dement-
sprechend in den meisten Fällen Gewichts-
abnahme. Eine günstige Beeinflussung des Fiebers
fand nicht statt. Der Husten wurde trocken,
der Auswurf geringer als Folge des Wasser-
verlustes durch den Darm.
Wir können, so äußert sich Brühl, „in
dem Griserin ein Heilmittel der Phthise nicht
erblicken, müssen vielmehr vor seinem Gebrauch
dringend warnen, da es nicht nur jeden günstigen
Einfluß vermissen läßt, sondern sogar recht un-
günstige Wirkungen zu entfalten vermag, die
geeigoet sind, die wirksame Anwendbarkeit der
anerkannt rationellen hygienisch - diätetischen
Heilfaktoren in Frage zu stellen und dadurch
eventuell in sonst aussichtsvollen Fällen die
Heilungschancen erheblich zu verschlechtern.2
Für die Gesamtheit der Erfahrung gilt, was
Friedberger und Oettinger am Schlüsse
ihrer Mitteilung sagen: „Aber unsere Resultate
sind doch so eindeutig negativ, daß danach dem
Griserin die Bedeutung eines inneren Desinficiens
unbedingt abgesprochen werden muß."
Literatur.
1. Prof. Petruschky. Kann durch „ Griserin"
eine „innere Desinfektion* bewirkt werden?
Berl. klin. Wochenschr. 1904, No. 50.
2. Dr. E. Friedberger und Dr. W. Oettinger.
Versuche über die desinfizierende Wirkung
des Griserins. Berl. klin. Wochenschr. 1905,
No. 7 u. 8.
3. Dr. Schomburg. Beitrag zum therapeutischen
Wert des Griserins. Berl. klin. Wochenschr.
1905, No. 1.
4. Dr. Th. Deneke. Über das angebliche „innere
Desinfektionsmittel Griserin". Münch. Med.
Wochenschr.. 1905, No. 3.
5. Dr. Brühl. Über Erfahrungen mit Griserin bei
der Behandlung der chronischen Lungentuber-
kulose. Münch. Med. Wochenschr. 1905, No. 8.
210
Referat«.
L Monatshefte
Referate«
Mängel in der psychischen Konstitution unserer
Zelt. (Buttersack, Monatsschrift f. soziale
Medizin, Bd. I, 1904.)
Nachdem, wie der Naturwissenschaft über-
haupt, so besonders der ärztlichen Wissenschaft
über einer detaillierten Durchforschung aller
materiellen Substrate des menschlichen Organis-
mus gewissermaßen das Bewußtsein von der
Existenz eines psychischen Faktors, der innerhalb
gegebener Grenzen das körperliche "Werkzeug
nach einer höheren Norm lenkt, abhanden ge-
kommen war, konnte eine Reaktion nicht aus-
bleiben und daraus erwuchs der fast ein Jahr-
hundert lang in Vergessenheit gekommenen
psychischen Therapie neues Leben, die dem
seelischen Moment in der hochkomplizierten
menschlichen Organisation wieder zu ihrem Rechte
verhalf. Aber erst lange, nachdem 1890
0. Rosenbach als erster auf die Wichtigkeit
der seelischen Behandlung neben der körperlichen
hingewiesen hatte, fanden sich „einige vorge-
schobene Pioniere aus dem naturwissenschaft-
lichen Lager, die Brücken nach dem philosopisch-
psychologischen Gebiet hinüberzuschlagen" ver-
suchten. Zu diesen Vorkämpfern zählt in erster
Reihe Buttersack, der immer wieder und wieder
das erziehliche Moment bei der psy-
chischen Therapie in den Vordergrund stellt *).
Auch in seiner neuesten Veröffentlichung
hebt dieser nicht minder durch Beobachtungs-
gabe, wie durch umfangreichste Kenntnis der
verschiedensten Literaturgebiete sich auszeich-
nende Arzt die Erhaltung psychischen Gleich-
gewichts, d. h. der Uarmanie zwischen den ein-
zelnen Komponenten des Seelenlebens, als den
einzigen Weg hervor, auf dem der Kranke —
wie nicht minder der Gesunde — zur Geduld und
damit zur Zufriedenheit und zum Glück erzogen
werden kann.
Die moderne Ausbildung des heranwachsen-
den Geschlechts — so führt Buttersack aus
— ist seit Dezennien vorzugsweise auf die in-
tellektuelle Seite hin gerichtet gewesen; beinahe
systematisch züchtete man Menschen mit mög-
lichst viel Kenntnissen und ließ dabei die Ideale
zu kurz kommen. Scheitern bei solch einer
Generation dann die Unternehmungen des In-
tellekts, so entfällt jede Möglichkeit, auf die
Hilfe der anderen wenig oder garnicht gepflegten
Seelenvermögen zu rekurrieren. Selten ist und bleibt
ja allerdings ein Mensch derartig in sich aus-
geglichen, daß er als absolut zufrieden bezeichnet
werden könnte, wie wir ja auf der andern Seite
auch schwerlich einem Organismus begegnen, an
dem ein gewissenhafter Anatom gar nichts aus-
zusetzen fände. Aber wie * es auf somatischem
Gebiete eine gewisse Breite der Gesundheit gibt,
') Vergl. Buttersack, Nichtarzneiliche Thera-
pie innerer Krankheiten. 2. Aufl. A. Hirsch wald,
Berlin 1903. — Derselbe, Der Wert der Beschäfti-
gung in der Krankenbehandlung. Zeitschr.f. diätische
und physikalische Therapie, Bd. III, Heft 8, 1900.
innerhalb deren allerlei Abweichungen hinsicht-
lich des „Quäle" und „Quantum" der Organe
und Funktionen erlaubt sind, ohne daß man
deshalb von Krankheit spräche: so sind auch
im Bereich des Seelischen die Übergänge fließend.
Bei dem einen mag die Energie des Wollen*
vorherrschen, bei dem andern die Feinheit des
Empfindens: wir werden jeden in seinen Eigen-
schaften zwar nicht für einen idealen, wohl
aber für einen normalen Menschen erklären.
Nur sei ein jeder auf seiner Hut und setze den
Frieden, die Harmonie seiner Seele nicht durch
schwächliches Nachgeben und einseitige Ent-
wicklung eines bestimmten Triebes aufs Spiel.
Freilich muß für diese Seite der Erziehung
frühzeitig die Grundlage geschaffen werden nnd
nur eine Macht gibt es, die dieser schwierigen
Aufgabe gewachsen ist: die Mutter mit ihrem
wachsamen Auge, ihrem warmen Herzen und
ihrer weichen Hand! „Wissen ist Macht; aber
keineswegs die größte. Nicht aus der Studier-
stube, sondern aus der Kinderstube wird die
Welt regiert." Eschle (Sinsheim).
(Au der UnWer^tlttkUnlk für Ohren-, Naeen- and Hai»
kranke in Marburg.)
Ein Beitrag zur Behandlung des Morbus Bate-
dowli mit Antithyreoldinserum (Möbius).
Von Dr. H. Hempel, Assistent der Poliklinik.
Bei einer 55 Jahre alten Arbeitersfrau hatten
sich seit etwa einem Jahre sämtliche Symptome
des Morbus Basedowii eingestellt. Die Störungen
von Seiten des Herzens beherrschten das ganze
Krankheitsbild. Die Behandlung bestand darin,
daß vom 21. XI. 03 vorläufig jeden 3. Tag 5,0 g
Antithyreoidinserum per 08 verabreicht wurden.
Das Mittel wurde rein, ohne Zusatz von Wein
oder Himbeersaft, gegeben. Nach kurzer Zeit
erhielt Patientin jeden 2. Tag 5,0 g. Am
31. XI. 03 wurde die Medikation ausgesetzt;
Patientin hatte bis dahin in 16 Kationen 90,0 g
Serum bekommen. Schon bald nach Beginn der
Behandlung gab die Kranke an, daß sie nicht
mehr an Herzklopfen leide, daß die Unruhe
nachgelassen habe, daß sie sich wesentlich ge-
bessert fühle. Objektiv konnte festgestellt werden,
daß der Exophthalmus wesentlich zurückgegangen
war, ebenso ließ sich eine Verkleinerung des
Kropfes nachweisen, auch war die Schilddrüse
weicher geworden. Die Pulszahl war von 120
bis 140 auf 96 heruntergegangen. Das Körper-
gewicht hatte 3 Pfund zugenommen. Patientin,
die sich nach 4 Monaten wieder vorstellte, war
mit ihrem Zustande zufrieden.
(Münch. med. Wochenschr. 1, 1905.)
R.
(Aas dem städtischen allgem. Krankenbaase Nttrnberf.
1. med. Abteilang.)
Einige Beobachtungen aber Moebius' Antithyreol-
dln. Von Dr. K. Thienger.
Thienger hat in den letzten Monaten
4 Basedowkranke, 3 Frauen und 1 Mann, mit
dem Möbiusschen Serum behandelt. Die Kranken
r
XfX. Jahrgang.!
April 1905. J
Referate.
211
erhielten jeden 2. Tag 5 ccm Serum in Süßwein.
Bei den 3 weiblichen Kranken war das Resultat
der Behandlung hauptsächlich eine subjektive
Besserung des Allgemeinbefindens. Von objek-
tiven Zeichen der Besserung wurde Zunahme
des Körpergewichts und Sinken der Pulsfrequenz
beobachtet, dagegen behielt die Struma die an-
fangliche Größe, ebenso blieb der Exophthalmus
unverändert. Auffallend gunstig war der Erfolg
der Serumbehandlung bei dem vierten Falle,
einem jungen Manne, der mit ausgesprochenen
Basedowsymptomen, sehr elend, fast in extremis
auf die Abteilung kam. Das Leiden hatte rasch
eingesetzt, nach Art einer Infektionskrankheit.
5 Tage vor seinem Eintritt in das Krankenhaus
bemerkte Patient die ersten Krankheitssymptonie.
4 Tage nach seinem Eintritt zeigte er hoch-
fiebernd alle Folgen der relativen Wirkungen
des Basedowstoffwechselgiftes. 4 Tage nach Be-
ginn der Serumbehandlung entschiedene Besse-
rung. Er wurde völlig geheilt. Bis zu seiner
Entlassung hatte er im ganzen 120 ccm Serum
erhalten.
(MüncK med. Wochenschr. 1, 1905.) R.
Kampferölinjektionen bei Lungentuberkulose. Aus
der Bosler Heilstätte in Davos. Von Dr. E.
Nienhaus.
Nienhaus schließt aus seinen Erfahrungen
folgendes:
1. Kampferölinjektionen, in den von Alex-
ander angegebenen Quantitäten werden von
Phthisikern auch im III. Stadium gut ertragen,
2. Sie wirken bei Lungentuberkulose nur
als Tonicum auf das Herz (Verminderung der
Pulsfrequenz), nicht als Specificum.
3. Erhöhte Temperatur setzen sie nicht
herab, der Blutdruck wird nur unwesentlich
erhöht.
4. Kontraindikationen bilden höchstens abun-
dante Lungenblutungen.
5. Die Injektionen können das (durch die
bei vorgeschrittener Lungentuberkulose vermehrte
Arbeitsleistung) überanstrengte Herz kräftigen
und so eventl. das Leben verlängern.
Dann kommen aber sicher größere Quanti-
täten als die von Alexander empfohlenen in
Betracht, der tgl. 0,3 des lOproz. Ol. camphorat.
oder 4 Tage je 1,0 mit 8tägigen Pausen injiziert.
(Zschr. f. Tuberkul u. Heilst. Okt. 1903, V.J.
Esch (Bendorf).
Erfahrungen Aber die Verwertbarkeit de« Borny-
val«. Von Dr. S. Boß (Straßburg i. E.).
Auf Grund seiner an 15 geeigneten Fällen
gemachten Erfahrungen spricht Boß sich sehr
günstig über das neue Baldrianpräparat Bornyval
aus. Dasselbe stellt eine wasserklare, nach Bal-
drian und Kampfer riechende Flüssigkeit dar.
Es wird wegen seines etwas brennenden Ge-
schmackes in Gelatinekapseln von 0,25 g Inhalt
geliefert. Dosis: 3 — 4 Kapseln täglich. Boß
bezeichnet Bornyval als das beste Analepticum.
Dasselbe entfaltet bei neurasthenischen und
hysterischen Zast&nden eine stets gute Wirkung
und scheint nervöse Herzbeschwerden in fast
spezifischer Weise zu beeinflussen.
(Med. hlittik 7, 1905. ) R.
Behandlung der Diphtherie mit Myrrhentinktur.
(140 Fälle mit 3 Todesfällen.) Von Dr. St roll
(München).
Nachdem S troll bisher 140 Fälle behandelt
und nur 3 Todesfälle zu verzeichnen hatte, glaubte
er seine Behandlungsmethode bei Diphtherie emp-
fehlen zu können. Er bedient sich seit einer
Reihe von Jahren der Myrrhentinktur. Seine
Verordnung lautet:
Rp. Tinct. Myrrhae
Glycerini aa 8,0
Aqua dest. ad 200,0
S. Nach Bericht.
Von dieser Arznei läßt er Tag und Nacht
eingeben, nämlich bei Tage 1 stündlich (in
schweren Fällen */9 stündlich), bei Nacht 2 stünd-
lich (in schweren Fällen 1 stündlich), und zwar
bei Kindern in den ersten 2 Jahren 1 Kaffee-
löffel (5,0 g), nach vollendetem 2. Lebensjahre
bis zum vollendeten 15. Jahre 1 Kinderlöffel
(10,0 g), vom 16. Jahre an sowie bei Erwachsenen
1 Eßlöffel (15,0 g). Sobald deutlich sichtbare
Besserung eingetreten, wird die Arznei bei Tag
2 stündlich, bei Nacht nur 3 stündlich gereicht.
Die günstige Wirkung der Myrrhentinktur
soll darin bestehen, daß sie die Leukozyten ver-
mehrt und so der Organismus eine bessere Mög-
lichkeit erhält, gegen die Einwanderung der
Diphtheriepilze und gegen deren Toxine anzu-
kämpfen.
(Allgenu med. ZentraUeitung 46, 1904. )
R.
Erfolgreiche Behandlung eines Falles von Ery-
sipel mit Argent. colloldale. Von Dr. Feld-
mann.
Unter heftigem Schüttelfrost war bei einer
frisch entbundenen Frau die Temperatur binnen
24' Stunden auf 41,8° gestiegen, worauf sich
innerhalb 15 Minuten ganz plötzlich das charak-
teristische Erysipelexanthem entwickelte. Am
5. Krankheitstage erhielt die Patientin, deren
Temperatur 40,8° betrug und die wegen des
kleinen, zeitweise aussetzenden Pulses mit Exzi-
tantien behandelt werden mußte, 2,5 g Unguentum
Argenti colloidalis eingerieben. Am folgenden
Tage war die Temperatur auf 39,1° und nach
einer erneuten Einreibung derselben Dosis Tags
darauf auf 37,3° gesunken, worauf sie sich dauernd
unter 37,5° hielt, obwohl das Erysipel noch in
einzelnen Schüben weiter wanderte. Die Pat.
erholte sich rasch. Eine puerperale Infektion als
Ausgangspunkt des Erysipel schien ausgeschlossen.
Bemerkenswert findet der Verfasser an dem ge-
schilderten Fall das plötzliche Auftreten des
Exanthems und die nachhaltige Wirkung des
Argentum colloidale, das mit einem Schlag das
Krankheitsbild dauernd veränderte.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 3.)
R.
Praktische Lehren aus der Beobachtung von
aber hundert Fällen von Eklampsie. Von
Barton Cooke Hirst in Philadelphia.
Hirst wendet sich zunächst gegen die Be-
hauptung, die auf Grund statistischer Erhebungen
aufgestellt war, daß nämlich Frauen mit Nephritis
nicht besonders disponiert zu Eklampsie sein
sollen. Er hält diese Ansicht für entschieden
212
Ratbtatt.
r
Therapeutisch«
falsch udcI irreführend. Wenn es bei Frauen
mit Nephritis selten zur Eklampsie komme, so
liege der Grand darin, daß die Schwangerschaft
meistens durch Abort oder Frühgeburt ihr Ende
finde, und ferner darin, daß solche Frauen in
der Regel schon längere Zeit hindurch unter
vorsichtiger diätetischer Behandlung ständen. —
Das wichtigste Warnungszeichen bei drohender
Eklampsie ist stetig zunehmende Albuminurie.
Die Fälle, in denen der Harn unmittelbar vor
Ausbruch der Krämpfe kein Eiweiß enthält, sind
zu selten, um charakteristische Bedeutung zu
haben. — In der Behandlung ist Hirst von
der unbedingten Ausführung des Accouchement
force allmählich zurückgekommen; da er dabei
einige Male tödlichen Ausgang durch Shock hat
eintreten sehen. Er beschränkt sich zuerst da-
rauf, die Elimination der Toxine durch ab-
führende und schweißtreibende Mittel, auch
durch Aderlaß, zu befördern und die Krämpfe
durch Chloralhydrat zu stillen. Erst wenn der
Muttermund spontan einigermaßen geöffnet ist,
schreitet er zur Entleerung des Uterus. — Um
die arterielle Spannung herabzusetzen, verwendet
Hirst Veratrum viride und hat damit gute Er-
fahrungen gemacht. Auch empfiehlt er, Schild-
drüsentabletten zu demselben Zwecke zu ver-
suchen.
(Therapeut™ gazette 1904, JVb. 2.)
Classen (Grube i. H.).
Zur Prophylaxe and Therapie dea Schreib- und
Musikkrampfes. Von Prof. Dr. J. Zablu-
dowski (Berlin).
Im letzten Jahre mehrte sich die Zahl der-
jenigen Personen, welche in der Massageanstalt
wegen Schreib- beziehentlich Musikkrampfes
Hilfe suchten. Einerseits waren es junge Kauf-
leute und ältere Bureaubeamte, andererseits
Schülerinnen der verschiedenen Berliner Musik-
konservatorien. Die Zahl der männlichen Musik-
kranken war im Vergleich zu derjenigen der
weiblichen eine nur geringe. Wir wissen zwar,
daß im allgemeinen eine nervöse Disposition bei
den Schreibkrampf kranken vorliegt, aber dennoch
sind eine ganze Menge von Umständen, die die
Erschöpfung und den Krampf einerseits ver-
schulden, aber andererseits auch gut machen
können, zu berücksichtigen, und es verlohnt sich,
der Gewohnheit des einzelnen näher nachzu-
forschen und auf Ablenkung von den und jenen
Gewohnheitsfehlern zu sehen. Wie manchem
Schreiber schon der Gebrauch eines vierkantigen
Federhalters statt eines runden, eines dicken
statt eines dünnen, eines rauhen statt eines
glatten hilft, so hilft es dem Geiger, der „sich
die Nerven durchgespielt hat" and Stiche in den
Fingerspitzen der linken Hand, den Daumen
ausgenommen, beim Spielen bekommt, wenn auf
die meistbeteiligten Finger ein Schutzfingerling
gezogen wird. Namentlich auch pädagogische
Maßnahmen gehören dazu, um durch kleine
Tricks im Hinsetzen, im Papierhalten, im Arm-
halten, im Halten des Halters den Schreibenden
in passendere Gewohnheiten zu bringen. Für
die Schüler höherer Schulen empfiehlt sich vor
allen Dingen die Erlernung der Stenographie,
zum mindesten für den „Hausbedarf"; und für
die Prophylaxe ist die Schreibmaschine von
höchstem Nutzen. Denn beim Maschinenschreiben
kommt eine ganze andere Gruppierung der ar-
beitenden Muskeln zu stände als beim Schreiben
mit der Feder. In Sonderheit für den mit der
Feder Schreibenden wird das Maschinenschreiben
zu einer Heilgymnastik. (Die Möglichkeit der
physischen und geistigen Abwechslung gerade
bei der Zuhilfenahme der Schreibmaschine ist
der Empfehlung einer solchen sehr dienlich. Ref.)
Kommt man bei dem Beeinflussen der ersten
Anfänge des Schreibkrampfes nicht mehr weiter
mit der verbesserten Hand- und Körperhaltung,
so empfiehlt es sich, einen Teil der Mittelhand
und des Handgelenkes mit einer elastischen
Schnur, und zwar am besten mit einem Schlauch,
zu umschnüren. Ganz besonders nützlich erweist
sich in Fällen, in welchen sich der Krampf da-
durch äußert, daß nach dem Schreiben von
wenigen Zeilen der Zeigefinger sich krümmt und
um einige cm sich von seiner Anfangslage am
vorderen Ende des Federhalters zurückzieht, die
von Zabludowski empfohlene Zusammenbindung
des Zeigefingers mit dem Federhalter. Aus-
nahmsweise kann für kurze Zeit auch mal die
linke Hand herangezogen werden.
Um die Muskel&pannungen der jugendlichen
und gar noch kindlichen Hand beim Klavierspiel
zu schonen, veranlaßte Zabludowski (Über
Schreiber- und Pianistenkrampf, Leipzig 1901,
Breitkopf & Härtel) den Bau von Klavieren,
deren Klaviatur eine kleinere ist, und zwar ist
die Breite der einzelnen Tasten eine kleinere;
solche Klaviere nannte Zabludowski Jugend-
klaviere. Auch das Virgil-Technik-Klavier und
die Resonanzverstärkung des Klaviers behufs
nachdrucksvolleren legato- Spieles durch den
Seminarlehrer Dr. Moser für die Unterstützung
der sog. Selbsttechnik und der musikalischen
Pädagogik sind noch zu beachten. Die Wirkung
der Massage als stoffwechselfördernden Mittels
erweist sich in allen Fällen von Übermüdung
als eine günstige.
(Prag. Med. Wochenschr. 1904, No. 16 u. 17.)
Arthur Rahn (CoUmJ.
Beil rag zur Frage der gemisohten Hedonal-Chloro-
formnarkose. Von E. D. Podhoretzki.
In der gynäkologischen Klinik von Feno-
menoff (St. Petersburg) wurde nach den gün-
stigen Erfahrungen, welche Krawkow mit der
Hedonai- Chloroformnarkose gemacht hatte, don
zu chloroformierenden Frauen 1 Stunde vor der
Operation 2,0 Hedonai in Tablettenform mit
durchaus günstigem Resultate gegeben. Die
Narkose trat schneller ein und unter Verbrauch
einer geringeren Chloroformquantität, als bei allei-
niger Anwendung von Chloroform. Unangenehme
Wirkung auf Herz und Atmung wurde mit
Ausnahme einer vorübergehenden Asphyxie nicht
beobachtet. Erbrechen trat selten ein. Aller-
dings ist die Zahl der vorgenommenen Narkosen
(50) eine kleine, welche ein endgültiges Urteil
nicht gestattet.
(Deutsch, med. Wochenschr. 1904, Ho. 50.) Falk.
XIX. Jahrgang. 1
April 1906. J
Raffcrate.
213
Watserzufahr vor Beginn der Chloroformnarkose.
Von M. Deuuce.
Durch reflektorische Schluckbewegungen ge-
langen bei jeder Chloroformnarkose nicht un-
bedeutende Mengen von Chloroform in den Magen
und üben auf dessen Schleimhaut einen Reiz aus,
der sich, in Erbrechen während und nach der
Narkose äußert. Um diesem Übelstand zu be-
gegnen, ist Denuce auf den Gedanken ge-
kommen, jeden seiner Patienten vor Einleitung
der Narkose eine bestimmte Menge Wasser
trinken zn lassen, um die verschluckten Chloro-
formdämpfe zu verdünnen und so den Reiz der-
selben auf die Magenwandungen zu vermindern.
Er ging in der Weise vor, daß er iya Stunden
vor der Operation ein großes Glas frischen
Wassers und nach jeder weiteren halben Stunde
bis zur Einleitung der Narkose dieselbe Menge
trinken ließ. Das letzte Glas nahmen die Pat.
unmittelbar vor Aufgießen des Chloroforms.
Sie erhielten insgesamt 4 große Gläser, d. i.
800 g Wasser. Die von Denuce ausge-
führten Operationen dauerten gewöhnlich 10 bis
25 Minuten, einige eine Stunde und länger.
Der Erfolg war stets ein vorzüglicher. Kein
Patient hatte jemals während oder nach der
Operation Erbrechen oder die geringste Nausea,
und auch das getrunkene Wasser behielten die
Patienten stets bei sich.
(La Presse medic. 1904, No. 105. Oazette hebdoma-
daire des sciences med. d. Bordeaux 1904, No. 52.)
Ritterband (Berlin).
Die Leberdralnage. Von Dr. John B. Deaver,
vom deutschen Hospital in Philadelphia.
Deaver hat auf der diesjährigen Versamm-
lung der British medical association zu Oxford
den gegenwärtigen Standpunkt der Gallenblasen-
chirurgie kurz dargelegt. Nach einleitenden Be-
merkungen über die Ursachen der Cholelithiasis,
welche in letzter Linie stets in einer Infektion
zn suchen sind, bespricht er die Indikationen
für den chirurgischen Eingriff und die einzelnen
Operationsmethoden. Die früher für die ideale
Methode gehaltene einfache Cholecystotomie ohne
Drainage wird jetzt meistens verworfen und
durch die Cholecystostomie, d. h. die Eröffnung
der Gallenblase mit Drainage ersetzt. Deaver
vernäht nur dann die Ränder der Öffnung in
der Gallenblase mit dem Peritoneum, wenn das
Drainrohr lange Zeit liegen bleiben soll. In
anderen Fällen begnügt er sich damit, . das Drain-
rohx in die eröffnete Gallenblase einzustülpen
und dort mittels einer Beutelnaht zu befestigen.
Eine andere Methode der Drainage besteht in
der Cholecystenterostomie , d. h. in der Her-
stellung einer Anastomose zwischen Gallenblase
und Darm. Am besten geeignet ist dazu natur-
gemäß das Duodenum; falls dieses jedoch nicht
günstig liegt, so läßt sich auch das Ileum, ja
sogar der Dickdarm dazu verwenden, ohne daß
nachteilige Folgen, wie etwa eine aufsteigende
Infektion, zu befürchten wäre. Bei der Choledocho-
ektotomie, der Drainage des Ductus choledochus,
zur Entfernung von Konkrementen im Ductus
hepaticns begnügt sich Deaver mit der Be-
festigung des Drainrohrs im Choledochus und
führt es nicht bis in den Hepaticus hinauf; in
der Regel schließt er jedoch die Cholecystostomie
gleich an diese Operation an. — Die Chole-
cystektomie oder völlige Entfernung der Gallen-
blase ist nur indiziert bei Hydrops der Gallen-
blase oder chronischer Entzündung mit Schrump-
fung, abgesehen von Gangrän, Empyem oder
Karzinom. — Die Hepatotomie, ohne daß ein
Abszeß vorhanden ist, verwirft Deaver völlig
als nutzlos und zu gefährlich wegen der Blutung.
(British medical Journal 1904. 1. Okt.)
Classen (Grube i. H.).
Die „Choledochnsfege". Von Prof. Kehr, Halber-
stadt.
Kehr veröffentlicht ein Verfahren, welches
sich ihm in drei Fällen zur Entfernung von
Gallensteinen und Steinbröckeln aus dem retro-
duodenalen Teil des D. choledochus gut bewährt
hat. Nach Entfernung der Gallenblase und Spal-
tung des Cysticus und Choledochus bis an das
Duodenum heran sucht er zunächst die im retro-
duodenalen Teile festsitzenden Steine leberwärts
zu verschieben, um sie mit geeigneter Zange zu
entfernen. Hierbei kann die Ablösung des Duo-
denum nach Kocher von Vorteil sei». Gelingt
es aber nicht, den Stein zu verschieben, so macht
Verf. die Duodenotomie, spaltet die Papille und
führt eine Klemme durch die Papille in den
Choledochus ein. Mit der Klemme wird ein
feiner feuchter Mullstreifen duodenalwärts her-
ausgezogen und so der Choledochus „ausgefegt".
Di es muß unter Umständen mehrmals wieder-
holt werden, da Steinbrocken, welche sich der
Palpation entzogen, stets entleert werden. Nach-
dem dann ein feines Gummirohr in den Chole-
dochus bis an die Papille gelegt ist, wird das
Duodenum wieder durch Naht geschlossen und
die Nahtlinie durch Netz gesichert. Zum
Schlüsse wird auch der Hepaticus drainiert. Die
drei derartig operierten Fälle verliefen glatt.
(Zentralbl. f. Chirurgie 1904, No. 28.)
Wendel (Marburg).
(Ans dem städtischen K ranken haoi am Urban In Berlin.)
Ober die chirurgische Verwendbarkeit von Per-
hydrollösongen (Mercksches Wasserstoff-
superoxyd). Von Dr. Alfred Frank (Char-
lottenburg).
Das Wasserstoffsuperoxyd Merck wurde im
städtischen Krankenhaus am Urban (Berlin) in
1 proz., 3 proz. und 10 proz. Lösung vorwiegend
bei schweren Phlegmonen, stark sezernierenden
Osteomyelitiden , putriden Empyemen, Karbun-
keln, Drüsen Vereiterungen, übelriechenden Mittel-
ohreiterungen u. s. w. angewandt. Besonders bei
Uteruskarzinomen hat es sich nicht nur als ein
gutes Desinficiens und Desodorans, sondern in
gewissen Grenzen auch als Haemostaticum er-
wiesen. Die Verbandstoffe sind für Wasserstoff-
superoxyd nicht ganz unempfindlich; so zerreißt
Leinwand, die längere Zeit in Ha03- Lösungen
getaucht ist, sehr schnell. Zum Schutze der
Bettwäsche ist daher ein Umhüllen der Ver-
bände mit wasserdichtem Stoff notwendig. Das
Wasserstoffsuperoxyd hat sich als ein sehr wert-
volles Verbandmittel bewährt. Es kann bei
214
TThara]
L Moni
kpeattekc
allen schweren Eiterungen und besonders zur
gleichzeitigen Beseitigung übler Wundgerüche
empfohlen werden.
(Allgem. med. Zentralzeitung 47, 1904.) R.
Ober die Abreißungen der Scheide und des musku-
lösen Beckenbodens als Ursachen von Genital-
prolaps. Von Prof. Schatz (Rostock).
Schatz sucht in der entweder ohne Verletzung
des Scheidenrohres oder mit einer seitlichen
Schlitzung der Scheide erfolgenden Abreißung
der seitlichen Befestigung der Scheide Tom Arcus
tendineus, besonders aber in den bei schweren
Zangengeburten erfolgenden Quetschungen und
Abreißungen des Levator ani von seinem Ansatz
eine der häufigsten Ursachen des Scheidenvorfalles.
Da diese Abreißungen durch zu vorzeitiges
Pressen verursacht werden, ferner durch zu frühe
Anlegung der Zange oder bei früher Extraktion
am Steiß, so wird er diese beiden letzteren
Eingriffe vermeiden, eventuell soll man bei
Steißlage schon während der Schwangerschaft
die Wendung auf den Kopf vornehmen. Frühes
Mitpressen, besonders aber der schädliche Ge-
brauch von Gurten zum Zwecke des leichteren
Pressens, ist zu verbieten; falls eine Abreißung
der Scheide zu befürchten, macht Schatz außer
einer prophylaktischen Damminzision eine Inzision
der Scheide bis mindestens zur halben Höhe
in der Verlängerung der Inzision der Vulva,
und zwar hinten- seitlich (Paraproktalschnitt),
um so die seitliche Abreißung der Scheide zu
vermeiden. Schatz bemerkt aber selbst, daß
für den Praktiker, der nicht geübter Spezialist
ist, die Operation weniger in Frage kommt als
für den Kliniker.
(Münch. meä\ Wochenschr. 1903, No. 44) Falk.
Ober die Anwendung hoher Dosen von Seeale
cornutum in der Geburtshilfe. Von Dr. Fritz
Burger (Koburg).
Burger huldigt der Ansicht, daß die meisten
Arzte bei der Verordnung von Seeale cornutum
zu ängstlich vorgehen und viel zu kleine Dosen
verschreiben. Er selber verordnet seit 11 Jahren
in jedem Falle geburtshilflicher Tätigkeit meist
vor Beginn des operativen Eingriffes 0,5 — 1,5
Ergotinum dialysatum in Lösung per os, nach
beendeter Geburt aber immer ein Infus von
Seeale cornutum 35,0 : 180,0 Aq. dest. mit 20,0
Sirup. Rubi idaei, stündlich ein Eßlöffel zu geben.
Selbst in den schwierigsten und ungünstigsten
Fällen hatte er bei dieser Medikation in seiner
ausgedehnten Praxis keinen letalen Ausgang zu
verzeichnen. Trotz dieser hohen Seealedosen
konnte er auch niemals irgend welche Erschei-
nungen von Ergotismus beobachten.
(Münch. med. Wochenschr. 35, 1904.) R.
Die Therapie der Otitis media acuta. Von Dr.
K. Spira.
Die konservative Behandlungsart Z auf als,
mit der Trommelfellparazentese bis zum 7 oder
8 Krankheitstage zu warten, findet an dem Verf.,
der auf Grund langjähriger Erfahrung urteilt,
keinen Verfechter. Wenn man die akute nicht
eitrige von der akuten eitrigen Mittelohrent-
zündung scheidet, so verfährt Spira bei der
letzteren folgendermaßen:
Da es sich um einen Entzündungsprozeß
handelt, wird Antiphlogose angewendet in Form
von 2 — 4 Blutegeln hinter dem Ohre, kalten
Umschlägen. In das Ohr wird Karbolglyzerin
oder Phenolsalyl mit Glyzerin (1 : 10 — 15) event.
unter Zugabe von Kokain eingeträufelt. Innerliche
Salizylpräparate, bei starken Schmerzen Lakto-
phenin, Antipyrin.
Ist nach dreitägiger Behandlungsdauer das
Fieber nicht mäßiger, der Schmerz geringer, die
Hervorwölbung des Trommelfells kleiner ge-
worden, dann wird unbedingt zur Parazentese
geschritten. Von diesem Eingriff sah Verfasser
niemals üble Folgezustände, sodaß er Jansen
vollkommen beipflichtet, besser einmal zu viel
als einmal zu wenig die Parazentese zu vollführen.
Zu diesem vom Verf. beobachteten stets guten
Endausgange gehört aber, sich nach durchge-
führter Parazentese jedweder Polypragmasie zu
enthalten, wie öfteres, zu frühes und zu intensives
Ausspülen des Ohres, Einträufeln von Ohrtropfen,
Lufteinblasungen u. s. f.
In den ersten Tagen ist vollkommen kon-
servativ zu verfahren, speziell die Lufteinblasungen
sind ganz zu unterlassen; sind einmal akut-ent-
zündliche Erscheinungen und die Schmerzen
vorüber, dann kann erst zum Ausspülen des
Ohres geschritten werden.
(PrzegUul lekarski Xo. 31, 1904.)
Gabel (Lemberg).
Ober die Hautkrankheiten im Säuglingsalter und
ihre Behandlung. Von Dr. Eugen Neter
und Dr. Hanns Roeder, ehem. Assist am
Kaiser Friedrich- Krankenhaus in Berlin (Prof.
Dr. A. Baginsky).
Die Verfasser behandeln im Zusammenhange
die wichtigsten Hautkrankheiten der Säuglinge.
Den breitesten Platz nimmt die Beschreibung
der Therapie ein. Zwei vernachlässigte and
doch therapeutisch außerordentlich wichtige
Punkte werden bei den einzelnen Abschnitten
genau erörtert, nämlich die Art der Applikation
der Medikamente, dann der Zusammenhang der
meisten Hautkrankheiten mit intestinalen Ver-
änderungen.
(Berliner Klinik, Heft 189, Doppelheft Mär» 1904.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
(Auf Dr.Unnai Dermatologicam in Hamburg.)
Ober Hefeseifen. Von Dr. Dreuw (Hamburg).
Die therapeutischen Erfolge der Hefeprä-
parate bei den verschiedensten Erkrankungen
haben Dreuw veranlaßt, die Hefe in einer
ökonomischen und angenehmen Form zu appli-
zieren, wie es besonders in der Dermatologie
erwünscht ist, und zwar als überfettete Hefeseife
mit anderen medikamentösen Zusätzen, als:
Salizylsäure, Schwefel, Ichthyol, Borax and
Benzoe. Als Hauptindikation hebt er hervor
die Anwendung bei Akne des Gesichtes, des
Halses und des Rückens, bei Follikulitiden
und Furunkelbildung, namentlich in Form der
Salizyl- Schwefel -Hefeseife. Die Wirkung läßt
XIX. jAlurgang.1
April 1905. J
Referate.
215
sich abstufen: Am schwächsten bei gründlichem
Einseifen und nachherigem Abspülen, stärker
ist sie, wenn man die Seife eintrocknen läßt,
am energischsten wirkt sie, wenn man nach
Auftragen der Seife die Hautstelle mit einem
wasserdichten Stoff bedeckt. Ferner kann man
noch mit der Seife Massage Tornehmen.
(Deutsche med. Wochenschr. 1904, Nr. 27.)
Arthur Rahn (CoUm).
Kasein-Albumoseseife. (Eine neutrale und auch
beim Gebrauche neutralbleibende Seife.) Von
Dr. Ernst Delbanco (Hamburg).
Selbst die besten neutralen Seifen erleiden
bei der Hydrolyse eine Abspaltung freien Alkalis,
welches auf empfindliche, ganz besonders auf
ekzematöse Haut eine unangenehme Reizwirkung
ausübt. Delbanco teilt nun die Herstellung
einer Seife mit, welcher durch Hinzufügung von
Kasein-Albumose die Eigenschaft verliehen wird,
das beim Gebrauch frei werdende Alkali sofort
zu binden. Die Darstellung geschieht folgender-
maßen: Rindertalg, dem ]/s des Gewichtes
Olivenöl beigemischt ist, wird mit Natron- und
Kalilauge (im Verhältnis von 66,6 : 33,3 ge-
mischt) von 12 — lö°Beaume verseift. Die Kern-
seife wird mit Chlorkalium ausgesalzt, sodann
wird der Seife Kasein-Albumose zugefügt; nach
eingetretener neutraler Reaktion wird bis zu
7 Proz. überfettet. Die Vorzüge dieser Seife
bestehen darin, daß dieselbe 1. als solche neutral
ist, 2. das bei der Hydrolyse frei werdende
Alkali bindet, 3. weil überfettet, der Haut das
beim Waschen entzogene Fett ihr wieder zu-
führt, 4. wegen ihres Gehaltes an Kasein-Albu-
mose vorzüglich schäumt, und zwar 5. ebensogut
in kaltem, wie warmem Wasser. Zugleich wird
durch den Kasein-Albumosegehalt die Konsistenz
der Seife erhöht; der Seifenschaum besteht zum
großen Teile aus geschlagenem Eiweiß. Die
Kasein-Albumoseseife erlaubt die Einverleibung
wichtiger Medikamente, vor allem des Teers und
der Balsame. Die Herstellung einer flüssigen
ebenfalls mit 5 — 6 Proz. überfetteten Kasein-
Albumoseseife wird in Aussicht gestellt.
(Monatshefte für prakt. Dermatologie Bd. 38, No. 11.)
Ober die Verwertung dea Styptidns In der uro-
logischen Praxis. Von Dr. Eduard Kögl
(Wien).
Bei einem 79 jährigen Mann , der seit
20 Jahren an den Erscheinungen der Prostata-
hypertrophie mit konsekutiver schwerer Cysto-
pyelitis litt und zuletzt viermal täglich wegen
kompletter Retention katheterisiert werden mußte,
trat plötzlich stark blutig verfärbter Harn auf,
vermutlich infolge parenchymatöser Blutung aus
der Prostata. Spülungen mit kaltem Wasser
blieben erfolglos. Nach rektaler Applikation
von 2,5 g Antipyrin wurden die Blasenspülungen
mit 10 proz. Stypticinlösungen fortgesetzt. Als
das Spülwasser nur noch schwach blutig tingiert
zurückfloß, wurde ein Gelatinestäbchen mit 0,03
Stypticin in die Urethra prostatica eingelegt;
weiterhin bekam Pat. je 2 Stypticintabletten
3 stündlich innerlich. Nachdem an den beiden
folgenden Tagen noch zweimal mit einer 5 proz.
Lösung des Mittels gespült war, war am dritten
Tage nicht nur die Blutung völlig erloschen,
sondern der vorher stets trübe Harn war jetzt
auch völlig aufgehellt.
Ebenso konnte Verf. durch interne An-
wendung von 6 Stypticintabletten pro die durch
Blasenpolypen verursachte Blutungen in 24 Stun-
den erheblich mildern und am 2. oder 3. Tage
völlig zum Schwinden bringen.
Prompt wirkte das Mittel auch bei Hämaturien
zweier Frauen, die an chronischer Cystopyelitis
nachHarnretention und Katheterismus im Wochen-
bette litten, nicht minder gegen die terminalen
Blutungen bei Urethritis acuta posterior.
(Monatsberichte für Urologie 1904, 9. Band, 2. Heft.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
Ober den diagnostischen Wert der Uroskople
bei den chirurgischen Erkrankungen der
Harnorgane. Von Dr. S. Grosglik.
Verf. bespricht in erster Reihe den dia-
gnostischen Wert der Thompson sehen zwei
Gläser-Methode und hebt die Schwierigkeit der
Lokalisation des Krankheitsprozesses bei trüber
zweiter Harnportion hervor. Speziell das Vor-
handensein von geschwänzten Epithelien — früher
als Diagnosticum eines Nierenbeckenleidens an-
gesehen , — hat nach den diesbezüglichen Unter-
suchungen Bizzozeros ganz an Bedeutung ver-
loren.
Akuter Beginn, terminale Hämaturie, Stö-
rungen hauptsächlich seitens der Blase deuten
— besonders wenn in der Anamnese Gonorrhöe
oder Katheterismus zu finden ist — für den Sitz
des Leidens in der Blase. Ist aber Blut oder
Eiter beiden Harnportionen zugemengt bei
fehlenden vorherrschenden Blasensymptomen, ist
der Beginn des Leidens ein mehr chronischer,
dann muß an eine Erkrankung der Niere oder
des Nierenbeckens gedacht werden. Die Cysto-
skopie, der Ureterenkatheterismus, event. dos ge-
sonderte Auffangen beiderseitiger Harnportionen
unter Anwendung des Urinseparators weisen auf
die krankhafte Nierenseite hin.
Wichtiger aber für den Chirurgen ist es
zu erfahren, ob die als gesund angesehene Niere
so weit funktionsfähig ist, daß an eine Exstir-
pation der krankhaften gedacht werden kann.
Die Beantwortung dieser Frage gehört durch-
aus nicht zu den leichtesten Problemen, denn
wie einerseits ein Fehlen von abnormen Bei-
mischungen wie Eiweiß, Eiter, Blut absolut
nicht von der vollkommenen Funktionsfähigkeit
der betreffenden Niere zeugt, so kann anderseits
die Niere trotz Vorhandensein dieser abnormen
Beimischungen vollkommen funktionsfähig sein,
da diese Bestandteile dem Nierenbecken oder
bloß einem kleinen Nierenabschnitt entstammen
können, wobei in letzterem Falle der andere
Teil der Niere kompensatorisch eingreift.
Zwei Punkte sind es, worauf man seine be-
sondere Aufmerksamkeit richten muß, erstens
auf die Dichtigkeit des Harnes, indem gesunde
Nieren in ein und derselben Zeiteinheit ein
gleiches Quantum vollständig gleichartigen Urins
sezernieren, — event. wenn die dazu notwendige
216
Referate.
rTherapeutijche
L Monatsheft«.
Harnmenge (50 cm3) nicht erhältlich ist — auf
die Gefrierpunktsbestimmung des Harnes nach
Koranyi und zweitens auf die Eliminations-
fähigkeit der Niere gegenüber fremdartigen ad
hoc in den Blutkreislauf eingeführten Substanzen,
das ist die Methylenblau- und Phloridzinprobe.
Alle diese Methoden sprechen aber bloß
von den eliminierten, nicht aber von der Quanti-
tät und Qualität der im Blute zurückbehaltenen
Teile. Hier träte die Bestimmung des Blut-
gefrierpunktes in ihre Rechte. Doch diese
Methode versagt manchmal, wie Verf. einen
Fall zitiert, wo trotz evidenter Erniedrigung
des Blutgefrierpunktes (8 = 0,73) die Ent-
fernung der krankhaften Niere von vollem Er-
folg begleitet war. Denn nach Entfernung der
kranken Niere verschwindet im Organismus die
Quelle gefährlicher Toxine, welche, solange sie
ins Blut übergehen, das Gewebe der gesunden
Niere vergiften und auch auf die Blutkonzen-
trationen wesentlich bestimmend einwirken.
Schließlich weist der Yerf. darauf hin, daß
man niemals den allgemeinen Zustand des
Kranken übersehen darf.
Medycyna No. 40, 41, 1904.)
Oabel (Lemberg).
Zur Abortiv -Behandlung der akuten Gonorrhoe.
Von Prof. S. Bettmann, Heidelberg.
Bis anf Blaschko sind die meisten Autoren
von der Abortivbehandlung abgekommen, weil
sie öfter unangenehme Zufälle, Verschlimmerungen
und Komplikationen im Gefolge hatte. Das gilt
sowohl vom 'Argent. nitr. wie von der Janet-
schen Kalipermang.-Spülung. Außerdem sollen
die Gonokokken so rasch in die Tiefe dringen,
daß ein antibakterielles Mittel sie auch sehr
wenige Tage nach der Infektion nicht mehr er-
reichen könne.
Dem letzteren Einwand gegenüber betont
Bett mann, daß bei der frischen Gonorrhoe in
den ersten Tagen die Kokken doch noch wesent-
lich intraepithelial zu finden sind, andrerseits
aber Protargol und ähnliche Mittel auch eine
gewisse Tiefenwirkung ohne Gewebskoagulation
ausüben und durch Anregung stärkerer seröser
Transsudation tiefer gedrungene Keime ausge-
stoßen werden können. Letzteres erreicht er
durch Glyzerinzusatz.
Die ersterwähnten üblen Zufälle glaubte Verf.
nach den günstigen Erfahrungen bei der Gonor-
rhoe prophy laxe durch Anwendung der 20 pro-
zentigen Auflösung von Protargol in Glyzerin-
wasser vermeiden zu können1) und er fand diese
Vermutung auch durch die Erfahrung — fast
50 Proz. Abortivheilungen — bestätigt.
Mit diesem Medikament pflegt er die Urethra
bis zu sechs Tagen je einmal täglich gründlich
auszupinseln und zwar mit einem in Metall-
hülse gesteckten Haarpinsel, was er für wirksamer
hält als das Einspritzen.
*) 10 g Protargol werden auf 45 g kaltes
Wasser in einer flachen Porzellan schale aufge-
schichtet und ruhig bis zur völligen Lösung stehen
felassen. Dann Zusatz von Glyzerin ad 100,0.
>er Pinsel ist jedesmal zu erneuern.
Bei dieser Methode, die übrigens auch bei
vollentwickelter Gonorrhoe noch Erfolg hat, haben
die Patienten keine Beschwerden. Die erste Aus-
pinselung pflegt eine ziemlich intensive dünn-
flüssige Sekretion anzuregen, die aber schon vom
zweiten Tage an verschwindet.
In seine Statistik hat Verf. nur Erstinfek-
tionen aus den ersten drei bis fünf Tagen auf-
genommen, die bisher nicht behandelt und frei
von Komplikationen waren, um reine Beobach-
tungen der Abortivheilung zu erhalten.
Auch die negativen Kesultate zeigten milden
Verlauf ohne jede Komplikation. Aus diesen
Gründen hält Verf. weitere Prüfung seines Ver-
fahrens, das der Argentum nitricum- und der
Jan et sehen Behandlung überlegen ist, für empfeh-
lenswert, da es bei Beschränkung auf geeignete
Fälle gute Aussicht auf Erfolg bietet9).
(Münch. med. Wochenschr. 1904, No. 28.)
Esch (Bendorf).
(Aut der Universitätsklinik für Syphilis und Hautkrankheiten
in Breslau.)
Zincum «ulfuricum oder Sllberaalze bei der Go-
norrhöebehandlung? Von Dr. M. Julius-
berg.
Nachdem Neißer darauf hingewiesen hat, daß
das Argentum nitricum, wie überhaupt die Silber-
salze, zu den besten gono kokkentötenden Mitteln
gehört, hat es trotz der vielen zum Ersatz em-
pfohlenen Mittel seinen Platz in der Gonorrhöe-
therapie behauptet. In der Breslauer Klinik, in
der gewöhnlich das Protargol für die Fälle von
Gonorrhoea anterior bevorzugt wird, kommt das
Argentum nitricum vorzugsweise zur Behand-
lung der Gonorrhoea anterior (mit Zuhilfenahme
Guyonscher Instillationen in 1/i proz. Lösung)
in Anwendung.
Trotz aller Empfehlungen der Silbersalze
und anderer gonokokkentötender Mittel spielen
aber doch immer noch das alte Zincum suifuricum
und ähnliche Adstringentien eine große Rolle in
der Therapie der Gonorrhöe. Dabei ist jedoch
sicher festgestellt, daß fast immer die so be-
stehenden Erfolge der Zincum suifuricum -Be-
handlung nur Scheinerfolge sind und daß mit
dem Aussetzen der Behandlung sehr häufig das
Leiden in wenigen Tagen rezidiviert. Die thera-
peutisch verwendbaren Zincum suifuricum -Lösun-
gen wirken weder entwicklungshemmend noch
abtötend auf Gonokokken. — Um sich von neuem
ein Urteil über den Wert des Zincum suifuricum
zu bilden, hat Juliusberg dasselbe neuerdings
s) Der Behandlung mit antibakteriellen Mitteln
fegen über betont v. Bergmann (Ärztl. Fortb. 1904,
Ib. 1) : „Innerhalb lebenden Gewebes kann man
keine Bakterien abtöten. Das Mittel tötet viel
eher die menschlichen Zellen als die Bakterienzelle.
Aber wenn es nicht vernichtend und ätzend wirkt,
lähmt es die Gewebe und damit auch diejenigen
Stoffe und schützenden Körper in ihnen, die der
Bakterien Vegetation hemmend entgegentreten. Als
Ersatz für die Injektionsbehandlunc hat Ref. den
u. a. von Die hl (Der Prießnitz. München 1904)
empfohlenen, hyperämisierend und osmotisch wir-
kenden Guttaperchaprießnitz als sehr wirksam er-
probt.
XIX Jahrgang."]
April 1906. J
Referate. — Toxikologie.
217
bei einer größeren Anzahl von Tripperkranken
versucht, and er ist dabei zu dem Resultate
gelangt, daß der Gebrauch dieses alten Mittels
bei Gonorrhöe durchaus nicht zu empfehlen ist.
Wenn auch vielleicht Zincum sulfuricum zur
Nachbehandlung des Katarrhs der Harnröhre
nach Torausgegangener Behandlung mit einem
gonokokkentötenden Mittel verwendbar ist, so
ist es für das Anfangsstadium der Gonorrhöe
durchaus unbrauchbar.
Den Praktikern darf immer noch am meisten
die Protargolbehandlung empfohlen werden, und
zwar in Form von Injektionen von i/A — !/a Proz.
Protargol (mit Zusatz von 3 Proz. Antipyrin)
drei- bis viermal taglich, je 10 — 15 Minuten
in der Harnröhre zu behalten. Die Protargol-
lösungen müssen „frigide et recenter" her-
gestellt werden; die Injektionsspritzen müssen
mindestens 15 ccm enthalten, und der Patient
muß lernen, wirklich einzuspritzen und die
Harnröhre zu füllen.
(Münch. med. Wochenschr. 4, 1905.) R.
Die Verminderung der Finnenkrankheit. Von
J. Hirsch berg, Berlin.
Wahrend in der Mitte des vorigen Jahr-
hunderts die Finnenkrankheit des Auges bei
uns recht häufig war, sodaß ein Fall auf 1000
kam, so ist seit beinahe einem Jahrzehnt von
Hirschberg kein Fall mehr beobachtet worden.
Die Finnenkrankheit entsteht bekanntlich durch
den Genuß von rohem oder ungenügend ge-
kochtem Schweinefleisch oder, was jedenfalls
nicht ausgeschlossen ist, und falls der Schweine-
bandwurm vorhanden ist, durch Selbstinfektion
mit Bandwurmeiern.
Es ist für Hirschberg kein Zweifel, daß
das fast völlige Erlöschen der Krankheit durch
die gründliche Fleischschau in Berlin zu er-
klaren ist. Anderseits läßt sich nicht verkennen,
daß die Finnenkrankheit beim Schwein sich um
das Doppelte vermindert hat, vielleicht weil die
auslandischen Tiere, die starker durchseucht
sind, strenger untersucht werden.
(BerL klin. Wochenschrift 1904, No. 25.) H. Rosin.
Toxikologie.
Eine merkwürdige Wirkung der Crocusaufnahme.
Von Dr. Mulert in Meißen (Originalmitteilung).
In Lewins „ Nebenwirkungen der Arznei-
mittel" findet sich unter Crocus folgende
Angabe: „Bestritten wurde die alte Mitteilung,
daß eine Schwangere, die sehr lange Crocus
genommen hatte, zwei gelbgefärbte Kinder
geboren habe und daß experimentell sich
Ähnliches von einer trächtigen Hündin habe
erweisen lassen. So unwahrscheinlich die
Angabe auch klingt, so kann sie richtig sein,
da andere Farbstoffe Ähnliches veranlassen."
Da ich Gelegenheit hatte, einen ähnlichen
Fall zu beobachten, halte ich es für ange-
bracht, denselben zu veröffentlichen:
Frl. X., am Ende der Gravidität (letzte Men-
struation 23. Juni) kommt am 28. März in Behand-
lung, weil plötzlich ein Schüttelfrost aufgetreten
ist T. 38,0. Objektiv laßt sich kein Grund für
das Fieber finden. Ordination: Bettruhe.
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29. März. Wieder ein Schüttelfrost, T. 38,5.
Objektiv nichts nachweisbar. Über Nacht Beginn
der Wehen.
Am 30. März Entwicklung eines in Schädel-
lage befindlichen Kindes mittels Ritt gen sehen
Handgriffes. Leichter Dammriß. Naht desselben.
Auffallend ist, daß sowohl das Frucht-
wasser, wie das Innere der Placenta und
die Haut des Kindes goldgelb gefärbt ist.
Patientin gesteht, daß sie im Anfang der Schwanger-
schaft mehrfach Safran genommen hat. Nachmittag
tritt wieder ein Schüttelfrost auf (T. 39,0). Zu der-
selben Zeit sieht auch das Kind etwas dyspnoisch
aus, zittert und hat eine Temperatur von 38,0.
31. März. Zwei äußerst heftige Schüttelfröste
mit Temperaturen bis 41,8, die nach einigen Stunden
unter Schweißausbruch wieder zur Norm abfallen.
Weder an den Lungen, noch am Herzen, noch am
Abdomen irgend etwas Krankhaftes nachweisbar.
Ordin.: Chinin, sulf. 0,8, in Kapseln, dreimal
täglich.
6. April. Die Fiebersteigerangen sind täglich
geringer geworden und seit heute ganz verschwun-
den (siehe Kurve).
Irgend eine das Fieber bedingende Krankheit
hat sich nicht herausgestellt. Der Dammriß ist
glatt geheilt. Das Kind ist am dritten Tage schnell
verstorben.
Die Erklärung dieser Beobachtung ist
nicht ganz leicht. Sie hängt innig zusammen
mit der Frage nach dem Ursprung des Frucht-
wassers. Dieses wird wohl heute allgemein
als ein Transsudat aus dem mütterlichen
Blute angesehen, wenn auch nicht bezweifelt
werden kann, daß sich in der letzten Zeit
der Schwangerschaft Urin des Fötus bei-
mengt. Auf beiden Wegen wäre es an sich
möglich, daß der Farbstoff des Crocus in das
Fruchtwasser gelangt wäre, also entweder
als direktes Transsudat aus dem mütter-
lichen Blute durch die Eihäute oder durch
den Plazentarkreislauf und die fötalen Nieren
im Harn ausgeschieden. Ich will nun zu-
nächst auseinandersetzen, warum mir dieser
letztere Weg durch den Fötus wenig wahr-
scheinlich ist. Zahlreiche Autoren haben die
Frage des Überganges von Farbstoffen aus
218
Toxikologie.
rTherftpeutbehe
L Mon&tahefto.
dem mütterlichen Blute durch die Placenta
auf den Fötus untersucht. Die meisten von
ihnen, wie Hoffmann und Langerhans1),
Zassinsky9), Ahlfeld3), Fehling4), sind
hierbei zu einem negativen Resultate ge-
kommen. Immerhin stehen diesen auch einige
positive gegenüber: A. Mars6) stellte im
Jahre 1880 Versuche an trächtigen Kaninchen
an, denen er teils suspendierte Farbstoffe,
teils Fett, teils mikrokokkenhaltige Flüssig-
keiten in den Kreislauf injizierte. In der
Zeit von 15 Minuten bis 5 Stunden konnte
er die geformten Elemente im Blute des
Fötus nachweisen. Er ist der Ansicht, daß
die meisten früheren Versuche deshalb negativ
waren, weil man zu spät nach der Injektion
untersuchte, wo sich der Farbstoff bereits in
den Organen abgelagert hatte. Reiz6) fand
nach der Injektion von Zinnober in die Vena
jugularis eines trächtigen Kaninchens den
Farbstoff in den Blutcoagulis des Herzens
und in den Gehirnkapillaren des Fötus.
Wenn also auch die Möglichkeit zugegeben
werden kann, daß Farbstoffe durch die Pla-
centa in den fötalen Kreislauf übergehen, so
ist es doch in diesem Falle unwahrscheinlich,
daß der Crocusfarbstoff auf diesem Wege in
das Fruchtwasser gelangt ist. Denn die
Safranaufnahme der Mutter fand hier nur in
den ersten Wochen der Schwangerschaft statt,
wo ein Funktionieren der fötalen Nieren aus-
geschlossen ist. Es bleibt also nur übrig,
daß der Crocusfarbstoff durch Transsudaten
aus dem mütterlichen Blute in das Frucht-
wasser gelangt ist.
Der Safran enthält erstens ein wahr-
scheinlich giftiges ätherisches Öl und zweitens
den Safranfarbstoff „Crocin". Die genannten
Stoffe haben in diesem Falle, obwohl die
Schwangere häufig Safran gegessen hat, zu-
nächst keine Vergiftungserscheinungen erzeugt.
Ebensowenig haben sie den Abort hervor-
gerufen. Wahrscheinlich sind die Einzeldosen
zu gering gewesen. Infolgedessen sind die
Gift- und Farbstoffe wohl teilweise wieder
ausgeschieden, teilweise aber auch im Frucht-
wasser deponiert und so zunächst für die
Mutter unschädlich gemacht worden. Auch
dem Fötus haben die geringen Mengen, die
er etwa mit dem Fruchtwasser verschluckt
hat, während des intrauterinen Lebens nicht
geschadet. Bekanntlich treten nun schon
einige Tage vor der Entbindung für die
') Virchows Archiv, Bd. 48.
3) Virchows Archiv, Bd. 40.
3) Zentralbl. f. Gynäkologie 1877.
*) Archiv f. Gynäkologie, Bd. XI, p. 529.
5) Przeelad lekarskie, August 1880, No.33— 35.
Referat im Zentralbl. f. Gynäkologie 1881, No. 1.
6) Bericht d.Wien. Akademie, math.-naturw. Kl.
1868, Abt. LVII, 8-10.
Schwangere unmerkliche Wehen auf. Viel-
leicht haben diese eine Lockerung und ein
Undicht werden der Eihäute verursacht, wo-
durch ein Teil des Giftstoffes in den mütter-
lichen Kreislauf überging. Dadurch entstanden
die Temperatursteigerungen vor der Entbin-
dung. Während der Entbindung nun wurde
massenhaft Giftstoff in die eröffneten Venen
aufgenommen, wodurch dann die heftigen
Steigerungen entstanden, die erst allmählich
durch Ausscheidung des Giftes abklangen.
Die gelbe Farbe des Kindes ist wohl durch
den monatelangen Aufenthalt in der Farbstoff-
lösung zur Genüge erklärt. Daß das Kind
selbst ähnliche Vergiftungserscheinungen zeigte
und am dritten Tage verstorben ist (leider
habe ich es nicht mehr gesehen), kann wohl
so erklärt werden, daß es bei oder kurz vor
der Entbindung mehr Fruchtwasser verschluckt
hat. Über die Giftwirkung des Crocus findet
sich bei Binz7), daß bei Tieren nach In-
jektion starker Grocusinfuse nachhaltige Wärme-
steigerung und mäßige Betäubung eintrat,
eine Tatsache, die man wohl zur Erklärung
meiner Beobachtung heranziehen darf.
Praktische Jf otlsen
und
empfehlenswerte Anneifo]
ein.
Behandlung der Otitis externa mit organischen
Schwefelpräparaten. Von Dr. Carl Kassel,
Posen. (Originalmitteilung).
Vor einigen Monaten wurde mir ein Patient
überwiesen, der seit Wochen an Furunkulose
des äußeren Gehörganges litt und bei dem die
bisherige Behandlung nicht zur Heilung geführt
hatte, trotzdem sie durchaus lege artis geleitet
war. Ich versuchte nun eines der organischen
Schwefelpräparate, Thigenol, und zwar führte
ich Wattetampons, die mit ihm getränkt waren,
zweimal täglich ein. Dabei beobachtete ich
nun die überraschende Wirkung, daß die Schmerz*
haftigkeit sofort aufhörte, daß die schon abs-
zedierten Furunkel in kürzester Zeit zur Heilung
kamen und daß die Abszedierung weiterer bei
der ersten Untersuchung vorhandener Infiltrate
schmerzlos erfolgte. Der äußere Gehörgang war
in kaum einer Woche geheilt. Rezidive sind
seither nicht eingetreten. — Ein anderer Patient
konsultierte mich wegen stechender Schmerzen
in einem Ohr, die bei jedem Öffnen des Mundes
sich ins Unerträgliche steigerten. Der äußere
Gehörgang zeigte keine Rötung und Schwellung;
die hintere Wand war auf Druck schmerzhaft
Es lag eine tief sitzende, äußerlich noch nicht
sichtbare Infiltration vor. Ich legte einen Thiol-
Tampon ein, den ich nach 24 Stunden entfernte.
Die Schmerzen waren verschwunden. Ich ver-
7) Binz, Grundzüge der Arzneimittellehre 1891.
XIX. Jahrgang.!
April 1905. J
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
219
ordnete ihm nun Thiol als Ohrtropfen, zweimal
täglich einzugießen, und sah ihn nach einer
Woche wieder. Nun lag ein spontan geöffneter
Abszeß der Hinterwand des äußeren Gehörganges
vor, die Abszedierung war ohne jeden Schmerz
erfolgt. Die Heilung trat jetzt in wenigen
Tagen unter Tamponbehandlung ein. —
Ich behandelte seitdem 20 Falle von Otitis
externa circumscripta und diffusa mit den ver-
schiedenen organischen Schwefelpräparaten (Ich-
thyol, Thiol, Thigenol und Isarol). Sie sind in
ihrer Wirkung alle gleich trotz ihres verschieden
Gehaltes an Schwefel. Da aber schon der dritte
von mir behandelte Patient aussagte, daß die
Schmerzen nur wenig nachließen — es war schon
Abszeßbildung eingetreten — , setzte ich seitdem
mit gutem Erfolge 10 Proz. Anästhesin zu.
Eine Resorption von Infiltraten habe ich
zweimal beobachtet, alle anderen führten zur
Abszedierung. Diese aber erfolgte schnell nnd
meist ganz schmerzlos. Die Heilung erfolgte
dann rasch.
Diabetes lag in keinem der Fälle vor.
Der Tamponbehandlung gebe ich den Vor-
zug vor der Anwendung der Präparate als
Tropfeneingießungen ; denn jene ist zwar mehr
oder weniger schmerzhaft bei Einführung der
Tampons, scheint mir aber den Prozeß abzukürzen.
Bemerkung bei der Korrektur. Seit
Einsendung dieses Referates hat sich meine Ver-
suchsreihe bedeutend vergrößert. Ich bin mit
den Erfolgen der Tamponbehandlung mit 10-proz.
Zusatz von Anästhesin zu Thigenol etc. andauernd
zufrieden.
Über Glassers Conduraogo-Elixir. Von Dr. Go-
liner, Erfurt. (Originalmitteilung.)
Es gibt eine sehr häufige Form der Dys-
pepsie, bei welcher eine übermäßige Bildung von
Säuren im Magen krankhafte Erscheinungen her-
vorruft, wie Druck oder Schmerz in der Magen-
gegend und Sodbrennen. Dieser Dyspepsie mit
saurem Mageninhalt liegen abnorme Gärungs-
vorgänge zugrunde. Die im Magen enthaltenen
Kohlehydrate gehen einerseits die Buttersäure-
gärung ein, bei welcher als Hauptprodukte Milch-
säure, Butter- und Kohlensäure sowie Wasserstoff
auftreten. Leube vermutet, daß trotz des stark
sauren Mageninhaltes ein Mangel an Säure der
Gärung zugrunde liege. Der gestörte Verdauungs-
chemismus, welcher bekanntlich im Geleite fast
sämtlicher Magenkrankheiten als besonderes
Symptom hervorzutreten pflegt, beruht nicht
allein auf einer Funktionsstörung der Magensaft-
drüsen, sondern auch auf mangelhaften Bewe-
gungen des Magens, wodurch nicht alle Teilchen
des Speisebreies mit dem Magensaft in innige Be-
rührung kommen. Ferner kann ein Stagnieren
des Mageninhaltes, sei es wegen Verengerung
des Pylorus, sei es infolge mangelhafter Re-
sorption, Anlaß zu Verdauungsstörungen geben,
indem das Liegenbleiben der für die Aufsaugung
fertigen Peptone im Magen die Umwandlung
weiterer Eiweißstoffe verhindert. Bei völlig
darniederliegender Resorptionskraft des Magens
kommt es oft genug zur Anhäufung enormer
Mengen flüssigen Mageninhaltes und gleichzeitig
zur Magenerweiterung. Die genossenen Speisen
werden oftmals nach tage- oder wochenlangem
Verweilen im Magen in wenig geändertem Zu-
stande erbrochen, oder es kommt zu Zersetzungen
unter Entwickelung von Fäulnisgasen. Manche
Sekrete wirken störend auf die Verdauung ein,
namentlich eine reichliche Schleimbildung bei
Magenkatarrhen, durch welche die gleichzeitige
Produktion eines sauren Magensaftes eingeschränkt
und die von Schleim umhüllten Speisen dem
Magensaft nicht mehr zugänglich sind. Infolge
des Brechaktes gelangt oft Galle in den Magen,
welche die Verdauung durch Fällung des Pepsins
aufhebt. Die Kranken klagen zumeist über das
Gefühl von Abspannung und Ermüdung, Auf-
steigen von Gasen, Appetitlosigkeit, aufgetriebenen
Leib und üble Geschmacksempfindung auf der
Zunge. Diese Erscheinungen begleiten sehr häufig
den chronischen Magenkatarrh, welcher bekannt-
lich die Gesamternährung ungünstig beeinflußt.
Eine Disposition zu Magenkatarrh wird gegeben
durch alle Krankheiten, bei welchen die Blut-
zirkulation in derMagenschleimhaut beeinträchtigt
ist, so namentlich durch Stauungen im Pfortader-
gebiet, wie sie bei Lebercirrhose vorkommen, und
ebenso bei allgemeiner Stauung im großen Kreis-
lauf bei Herzkrankheiten und manchen Lungen-
leiden.
Bei der Behandlung dieser krankhaften Zu-
stände kommt es in erster Linie darauf an, neben
einer sorgfältig geregelten Diät die Dyspepsie
zu beseitigen, die Tätigkeit der Verdauungsdrüsen
anzuregen und die Atonie der Magenschleimhaut
zu bekämpfen. Diese therapeutische Aufgabe zu
erfüllen, ist nicht immer leicht, wie die Erfahrung
lehrt. Alle bekannten alkalischen Mittel, alle
Amara, Tonica und Stomachica werden oft ohne
nennenswerten Erfolg gebraucht; Dyspepsie und
Appetitlosigkeit wollen nicht weichen. Seitdem
jedoch Friedreich in Heidelberg auf die Con-
durangorinde aufmerksam gemacht hatte, hat
die erfolgreiche Therapie der dyspeptischen Zu-
stände einen Fortschritt aufzuweisen. Die Con-
durangorinde erwies sich als ein gutes Tonicum
und Stromachicum; doch verleidete ihr bitterer
Geschmack manchem Patienten den Gebrauch
der üblichen Abkochung der Rinde. Viel zweck-
mäßiger erweist sich das Codurango-Elixir,
wie es neuerdings vom Apotheker J. Gl aas er
hergestellt wird. Dieses Präparat enthält alle
wirksamen Bestandteile der Condurangorinde ge-
löst in altem spanischen Malagawein in Verbin-
dung mit Chinarinde und aromatischen Substanzen.
Das Elixir wird in zwei Formen hergestellt: mit
und ohne Eisen. Ich habe beide Arten des
Glass ersehen Elixirs bei verschiedenen Magen-
affektionen und anämischen Zuständen einer
Prüfung unterzogen und bin von dem Erfolge
sehr befriedigt. — Ein 20 jähriges Mädchen litt
seit längerer Zeit an chronischem Magenkatarrh
auf anämischer Grundlage. Schmerz und Span-
nungsgefühl in der Magengegend, gänzlicher
Appetitmangel, alle Speisen, auch Milch, werden
sofort erbrochen. Patientin erhielt dreimal täg-
lich 1 Likörglas voll Condurango-Elixir Glasser
cum ferro und schon nach zwei Tagen begann
der Appetit sich zu regen, Milch und Bouillon
220
Praktische Notizen und empfehlentwerte Arzneiformeln.
tTherapeatiaehe
Monatshefte.
wurden nicht mehr erbrochen, auch weiche Eier
wurden gut vertragen. Acht Tage später konnte
die Kranke unter Fortgebrauch des Elixir Glasser
cum ferro schon leichte Fleischspeisen genießen.
Nach einigen Wochen besserte sich das Allgemein-
befinden derart, daß Patientin ihrer täglichen
Beschäftigung nachgehen konnte. Sie lobt den
guten Geschmack des Glass ersehen Elixirs, den
sie wie „guten Weingeschmack" beschreibt.
In drei anderen wochenlang beobachteten Fällen
von chronischem Magenkatarrh, die mit den
verschiedensten Medikamenten erfolglos behandelt
wurden, gab ich Elixir Gondurango Glasser
sine ferro, weil es sich hier nicht um anämische
oder chlorotische Zustände handelte. Die lästigen
Symptome des Magenkatarrhs — Druck und
dumpfe Schmerzen nach dem Essen, Aufstoßen,
Sodbrennen u. s. w. — gingen schon nach Ge-
brauch einer halben Flasche des Elixirs erheblich
zurück; die Einzelgabe betrug auch hier 1 Likor-
glas voll, y2 Stunde vor jeder Mahlzeit zu nehmen.
In einem Falle von heftigem Darmkatarrh bei
einer durch mehrere schwere Wochenbetten her-
untergekommenen 40 jährigen Frau erzielte ich
durch den mehrwöchentlicheo Gebrauch von
Eisen-Condurango-Elixir nicht allein ein Auf-
hören des Darmkatarrhs, sondern auch eine er-
hebliche Besserung des Allgemeinbefindens. Die
vorher blaß und elend aussehende Frau zeigte
eine gesunde Gesichtsfarbe, hatte guten Appetit
und nahm allmählich an Körpergewicht zu. Auch
Kinder vertragen das Condurango-Elixir ganz
gut, und zwar beträgt die Einzelgabe 1/2 Likör-
gläschen, vor dem Essen zu nehmen. Der an-
genehme Geschmack erleichtert das Einnehmen
selbst bei sonst widerspenstigen Kindern, welche
den gewöhnlichen Condurangonwein oder die
Abkochung der Kinde beharrlich zurückweisen.
Bei Skrofulöse, Rhachitis und Magendarmkatarrh
der Kinder erwies sich das Elixir Glasser mit
Eisen als vortreffliches therapeutisches Agens,
welches namentlich auf die Verdauung einen
nicht zu unterschätzenden günstigen Einfluß aus-
übt. Für die Therapie der Magen-Darmaffektionen
sowie der auf veränderter Blutmischung beruhen-
den konstitutionellen Krankheiten ist das Condu-
rango-Elixir Glasser ein schätzbares Mittel.
Bei der schweren Kapillarbronchitis mit Asphyxie
der kleinen Kinder
hat 0. Heubner (Therapie d. Gegenw. Jan. 1905)
häufig recht günstige Erfolge mit folgendem
Verfahren erzielt: Mit Senfmehl enthaltendem
Wasser (!/3 kg auf ungefähr iy9 1 warmen Wassers,
10 Minuten rühren) wird ein Leinentuch im-
prägniert, das Kind wird damit eingepackt, mit
einer Wolldecke eingeschlagen, die am Halse
fest schließt. Nach etwa 10 — 15 Minuten wird
Pat., dessen Haut rot geworden ist, heraus-
genommen, in ein warmes Bad gebracht und
dann bis zur Schweißbildung in einen lauen
Wickel eingeschlagen. Bei starker Kongestion
oder intensiver Schweißbildung kommt ein zweites
warmes Bad und eventuelle Übergießung mit
kühlem Wasser in Anwendung. Alsdann Trocken-
legung und Ruhe. (Eine ähnliche revulsive Be-
handlungsmethode bei Kollapszuständen, Asphyxie,
Lungenödem mittels Species aromaticae findet
sich seit 30 Jahren in den verschiedenen Auf-
lagen von Rabows «Arznei Verordnungen" unter
Species aromaticae (Seite 86) angegeben. Dort
heißt es u. a.: „Eine Handvoll (20—30,0 g)
Species arom. mit Essig (1 — 2 1) gekocht. Das
noch warme Dekokt auf eine Flanelldecke zn
gießen, diese auszupressen und um den Kranken
zu wickeln*.)
Gegen die Anfälle des Keuchhustens
empfiehlt Dr. Münz (Neue Therapie 7, 1904)
von der folgenden Mixtur:
Rp. Antipyrini
Veronal £ 1,0
Aquae destillatae 100,0
Sirupi Cinnamomi 20,0
morgens und mittags 1 Theelöffel und eine
halbe Stunde vor dem Schlafengehen und beim
Schlafengehen wieder 1 Theelöffel zu nehmen.
Zur Behandlang des akuten Schnupfens
gibt Prof. Henle (Deutsche med. Wochenschr. 6,
1905) eine neue Methode an, die er an sich
und an 4 Patienten mit schnellem Erfolge er-
probt hat. Es handelt sich hierbei um die An-
wendung der Bierschen Stauung am Kopfe.
Die Stauungsbinde wird um den Hals gelegt,
und die Stauung ist 2 bis 3 Stunden nach ein-
ander anzuwenden. Zu starke Konstriktion des
Halses wird durch Gebrauch des von Henle
angegebenen Hohlschlauches vermieden. Letzterer
erlaubt eine genaue Dosierung der Stauung.
Der an den Extremitäten erforderliche Druck
von 50 — 60 mm Hg. wird am Halse nicht ver-
tragen; man erreicht jedoch schon mit 25 mm
Quecksilber eine genügende venöse Stauung.
Ober Stillvermögen
macht Dr. G. Martin (Arch. f. Gynäk. 74. Bd.,
Heft 3) praktisch wichtige Mitteilungen. Die
übliche Ansicht von der Abnahme des Still-
vermögens ist durchaus nicht stichhaltig. In
der Landes-Hebammenschule in Stuttgart haben
von 10 178 Müttern, die vom 1. Januar 1884
bis 31. Dezember 1903 mit lebenden Kindern
entlassen worden sind, 8974 (= 88,2 Proz.) ge-
stillt und in den letzten Jahren war die Still-
fähigkeit eine noch erheblich günstigere. Fast
jede Frau vermag ihr Kind so an der Brust zu
ernähren, daß es dabei besser gedeiht, als bei
Verabreichung von Brust und Flasche oder gar
Flasche allein. „Neigung oder Notwendigkeit
zum Stillen gibt jeder Frau das Vermögen zum
Stillen."
Incontinentia urlnae
hat Dr. Etterlen (Contrexeville) mittels inner-
licher Verabreichung von Acidum boricum
(2 bis 3 X täglich ein Pulver zu 0,50 g) bei
3 Kindern mit bestem Erfolge behandelt.
Für die Redaktion verantwortlich: Dr. A-Langgaardin Berlin 8W.
Verlag von Julius Springer in Berlin N. — Universitäts-Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin M.
Therapeutische Monatsheftee
1905. Hai.
Originalabhandlungen.
(An* der UnireraltaUkUnlk für Hautkrankheiten su Straß-
burg 1. B. Direktor Prof. Dr. W o 1 f f.)
Über Pikrinsaureverwendung'
bet Hautkrankheiten, besonders bei
Ekzem. ')
Von
Dr. med. Otto Meyer, Assistenzarzt.
Bei der großen Anzahl neuer Präparate,
welche unsere chemische Industrie mit mehr
oder minder Reklame alljährlich auf den
Markt wirft, ißt es für die dazu berufenen
Kreise eine Unmöglichkeit geworden, über
Wert oder Unwert jedes einzelnen eigene
Erfahrungen zu sammeln. Manchem älteren
Mittel ist es dazu bei diesem Ansturm be-
schieden, allmählich in Vergessenheit zu ge-
raten; erheben sich dann nach einer kürzeren
oder längeren Spanne Zeit Stimmen, welche
für seine Rehabilitierung oder Neuanwendung
auf anderem Gebiete eintreten, so findet
dieser Ruf allzu häufig nicht gebührende
Beachtung, da es gar manchem nicht leicht
wird, an ältere, sei es mit oder ohne Absicht
fallen gelassene Mittel vorurteilsfrei heran-
zutreten. Gehen diese Empfehlungen noch
dazu vom Auslande aus, und sind sie dem-
gemäß in fremder Sprache niedergelegt, so
geschieht es noch leichter, daß Jahre ver-
gehen, bis man sich zu eingehenderer Nach-
prüfung entschließt.
Dies ist in kurzen Zügen auch das Schicksal
der Pikrinsäure. Lange Jahrzehnte gehört
sie schon dem deutschen Arzneischatze an.
Jahrzehnte ist sie schon aus ihrem ursprüng-
lichen Anwendungsgebiete, der internen Medi-
zin, durch andere Präparate so gut wie voll-
ständig verdrängt. In den letzten Dezennien
vom Auslande, besonders Frankreich und
England, wieder ans Licht gezogen und wieder-
holt mit den wärmsten Empfehlungen anfangs
nur gegen Verbrennungen, später auch gegen
andere Hautleiden, speziell gegen Ekzem
ausgestattet, scheint sie dennoch bei uns in
Deutschland nur vereinzelten Eingang und
*) Nach einem Vortrage in der Sitzung des
nntereUässischen Ärztevereins vom 17. Dezember
1904.
Th. IL 1906.
noch lange nicht entsprechende Beachtung
gefunden zu haben.
Die Rolle, die sie in der Mitte des
vorigen Jahrhunderts bei innerer Anwendung
gespielt hat, will ich nur kurz streifen. In
der Therapie der Malaria, der Trichinosis
und der verschiedenartigsten Darmschmarotzer,
wo man von ihr hauptsächlichsten Gebrauch
machte, dürfte sie dieselbe vollkommen und
dauernd ausgespielt haben, durch rationellere
Präparate aus dem Felde geschlagen.
Die Empfehlung ihrer externen Verwen-
dung ging von Frankreich aus, wo sie zuerst
im Jahre 1876 von Curie, etwas später von
Chiron und Vi gier zur Behandlung von Ver-
brennungen herangezogen wurde. Bald wieder
der Vergessenheit anheimgefallen, traten erst
von 1884 ab von neuem der Chirurg Thie>y
und seine Schüler mit großer Wärme für sie
ein. Und bis zum heutigen Tage hat sie
auf diesem Gebiete reiches Lob und vielseitige
Anerkennung gefunden. Neben französischen
sind es vor allem engliche Autoren, welche
über ausgiebige Erfahrungen mit ihr berichten
und ihr wenigstens bei den leichteren Formen
der Verbrennung (jenen ersten und zweiten
Grades) ganz besondere "Verzüge vor anderen
Medikamenten nachrühmen. Nach Thiery,
Power, Ssila-Novitzky, Loschzilow,
Mac Donald, Miles, Mac Lennan, M. See
und anderen bestehen diese in Herabsetzung
beziehungsweise Beseitigung der Schmerz-
empfindung, in einer schwachen, aber doch
zuverlässigen desinfizierenden Wirkung, zu
der sich noch eine besondere sekretions- und
entzündungswidrige Eigenschaft geselle, indem
sie — also ein gutes Adstringens — Eiweiß
koaguliere und mit Epithel- und anderen
Gewebstrümmern zusammen feste Schorfe
bilde. Ohne jede oder wenigstens jede nennens-
werte Eiterung sollen sich unter diesen glatte,
weiche Narben bilden, wie kaum bei einer
beliebigen anderen Behandlungsweise. Da-
neben führt man noch die für die Praxis
nicht zu unterschätzende Billigkeit derselben
ins Feld, da der erste Verbandwechsel erst
nach drei Tagen stattfinden und meist ein
zweiter oder dritter Verband zur vollstän-
17
222
Meyer, Plkrinsäureverwenduiif bei Hautkrankheiten.
digen Abheilung genügen solle. Allgemein
empfiehlt man wässerige oder — der leichteren
Löslichkeit halber — -wässerig-alkoholische
Lösungen in ljA — 1 proz. Konzentration, als
Form der Applikation lokale Bäder, Kom-
pressen, Aufpinselungen und feuchte Verbände.
Bei dieser Tecknik und der Verwendung nur
bei oberflächlicheren Prozessen von nicht zu
großer Ausdehnung mit Umgehung des Kindes-
alters will man nur vereinzelte, vorüber-
gehende störende Begleiterscheinungen zu Ge-
sicht bekommen haben, bestehend in Steigerung
der Schmerzhaftigkeit und in vesikulösen
Dermatitiden der Umgebung, niemals aber in
ausgebreiteteren Erythemen und allgemeinen
Vergiftungserscheinungen. Allen diesen un-
erwünschten Zufällen will D e b a c q , ein
Schüler Thierys, dadurch aus dem Wege
gehen, daß er für Bäder, Kompressen und Ver-
bände nur 1 promill. wässerige, für Einpinse-
lungen 1 proz. alkoholische Lösung vorschlägt
und eindringlich vor ' jeder Anwendung der
Pikrinsäure in Substanz oder als Zusatz zu
Fetten, also in Salbenform, warnt; ebenso
energisch weist er den Gebrauch imperme-
abler Stoffe zu feuchten Verbänden zurück.
Im deutschen Sprachgebiete ist man den
Pikrinsäureempfehlungen bei Brandwunden
im allgemeinen recht kühl entgegengetreten.
Die große Mehrzahl unserer gebräuchlichsten
Lehrbücher tun seiner bei diesem Kapitel
überhaupt keiner Erwähnung, andere drücken
sich recht zurückhaltend aus. Als Beispiel
dafür will ich am besten Jarischs Ansicht
hier wörtlich wiedergeben, die lautet : „ Trotz
dieser günstigen Wirkung der Pikrinsäure und
trotz der Versicherung Thierys, daß eine
Allgemeinintoxikation nur infolge technischer
Fehler (der Anwendung in Pulver- und Salben-
form) möglich sei, wird man doch den Um-
stand, daß die Pikrinsäure ein Blutgift ist,
welches die roten Blutkörperchen zerstört
und Hämoglobinurie verschulden kann, nicht
aus dem Auge verlieren und demnach zu
deren Anwendung vorläufig nur mit großer
Vorsicht schreiten dürfen."
Weit günstiger sind die Urteile, die
Leistikow und vor allem Neiß er hierüber
fallen. Sie heben beide die angeführten
analgetischen, antiseptischen und kerato-
plastischen Eigenschaften lobend hervor. In
*/a promill. Lösung verwandt, will letzterer
nie eine schädliche Einwirkung durch Re-
sorption beobachtet haben. Als unangenehm
empfindet er dagegen die gelbe Verfärbung,
die sich auf der gesunden Oberhaut einstellt
und mit der auch wir uns später noch ein-
gehender zu befassen haben werden.
Weniger breite Verwendung fand die
Pikrinsäure bei einer ganzen Reihe von
rTherapeutiMhe
L Monatahflft*.
Affektionen, auf welche wir aber, wenn auch
die Zahl ihrer Anhänger hier nur eine be-
schränkte geblieben ist, der Vollständigkeit
halber kurz eingehen müssen.
Mit ihrer Empfehlung bei Gonorrhöe steht
Frankreich wieder an der Spitze. Bei den
verschiedensten Lokalisationen und Stadien
derselben hat man bei beiden Geschlechtern
die verschiedensten An wendungs weisen in
Vorschlag gebracht. Auch Katarrhe post-
blennorrhoischer Natur, ja Urethritiden tuber-
kulösen Charakters mit mildem Verlaufe
sollen 8 ich für die Pikrintherapie eignen.
Empfohlen werden Injektionen */a proz. oder
1 proz. wässeriger oder wässerig-glyzerinischer
Lösung in Harnröhre und Uterus, Eingießun-
gen von Salben nach Tommasoli und end-
lich 1 — 2 proz. Instillationen in den hinteren
Harnröhren abschnitt mittels der Gujon sehen
bezw. Ultzmann sehen Spritze. Hier preist
man vor allem ihre antiseptische Kraft, ohne
daß sich gleichzeitig eine kaustische Wirkung
auf die Schleimhaut geltend mache, was ein
Eindringen bis in die tiefsten Schichten des
Epithels ermögliche; in zweiter Linie hebt
man Unschädlichkeit, Billigkeit und leichte
Herstellungsmöglichkeit der Lösungen hervor.
Nur über ihre analgetische Fähigkeit gehen
die Ansichten weit auseinander und stehen
sich teilweise schroff gegenüber.
Balanitiden verschiedener Ursache sollen
einer vorzüglichen Beeinflussung fähig sein,
vor allem aber phagedänische Ulzerationen,
wie sie sich unter anderem besonders im
Verlaufe der Helkose unseren Augen präsen-
tieren. Auch hier sollen heiße, gesättigte
Lösungen, zu lokalen Bädern, zu Kompressen
und feuchten Verbänden verwandt, die besten
Resultate zeitigen. %
Auch andere harmlosere, aber nichts desto
weniger recht hartnäckige geschwürige Pro-
zesse, vor allem Ulcera cruris, hat man durch
schwache Lösungen von Pikrinsäure günstig
zu beeinflussen verstanden.
Einzelne Erfolge will man weiter nicht
nur bei Lupus und tuberkulösen Affektionen
aufzuweisen haben, sondern auch in der Be-
handlung von Epitheliomen. Dort streut man
nach Auskratzen der kranken Bezirke mittels
des scharfen Löffels die Pikrinsäure in Pulver-
form auf die Wundfläche auf, um einige Tage
später nach Abfall der Schorfe auf die nicht
mehr schmerzhaften granulierenden Flächen 5
bis 10 proz. Salben zu applizieren. Hier beim
Epitheliom sollen 2 proz. Einspritzungen in
die Knoten eine rasche Rückbildung der Neu-
bildung im Gefolge haben, bei inoperablen
Fällen mit geschwürigem Oberflächenzerfall
Aufpinselungen rasche Reinigung zu erzeugen
imstande sein. Bei den Injektionen, die ver-
XIX. Jahrgang.!
Mal 1905. J
Meyer, Fikrinsiureverwendung bei Hautkrankheiten.
223
suchs weise nur an Tieren gemacht wurden,
hat man wiederholt unangenehme Blutungen,
sogar mit letalem Ausgange, beobachtet, wes-
halb diese Art der Behandlung der ent-
schiedensten Zurückweisung wohl nicht näher
bedarf.
Schmerzhafte, eitrige Paronychieen, ein-
gewachsene Nägel und entzündete Hühner-
augen sollen durch Pikrinsäurelosungen eben
so günstig beeinflußt werden wie Erysipele,
in deren Verlauf man außer von der lokalen
Applikation auch von der internen Verab-
reichung entschiedene Vorteile beobachtet
haben will.
Hauptsächlich ihrer schmerzlindernden
Eigenschaft wegen legen ihr eine Reihe meist
französischer Berichterstatter eine vorzügliche
Wirkung bei Herpes zoster bei. Auch hier
erfolgt die Anwendung in den wiederholt
angeführten Formen und Konzentrationen.
Allein, wie schon erwähnt, konnte die
Pikrinsäure mit Ausnahme der Verbrennungen
auf keinem der angeführten Gebiete festen
Fuß fassen, da uns hier weit überlegene
Mittel zu Gebote stehen. Auch in der Therapie
des Ekzems, und zwar bei den fast aus-
schließlich in Betracht kommenden nässenden
Formen, war es ihr bis zum heutigen Tage
noch nicht möglich, sich einen unbestrittenen
Platz zu erobern, wenn sie auch in den letzten
Jahren besonders in Frankreich bedeutend an
Terrain gewonnen hat, und bereits eine kleine
Literatur über ihren Wert in der Ekzembe-
handlung vorliegt.
Hier ging ihre erste Empfehlung von
dem Italiener Cerasi aus; im Jahre 1888
berichtet dieser über sieben, mit glänzendem
Resultate behandelte Fälle von impetiginösem
Ekzem, und zwar wandte er hier Pik rin salbe
neben wässerig-ätherischer Lösung an. Ihm
folgte 1896 der Engländer Mac Lennan,
der über günstige Erfolge im akuten, nässenden
Stadium, auch im Gesicht und auf dem Kopfe
bei jugendlichen Individuen, zu berichten
wußte. Er pinselt gesättigte, wässerige Lö-
sung wie Farblosung auf, hält auch die gleich-
zeitige Inangriffnahme ausgedehnterer Haut-
flachen für absolut gefahrlos und hebt eine
günstige Beeinflussung des Juckreizes neben
ihrem desinfizierenden und adstringierenden
Werte lobend hervor.
In Frankreich machten Leredde, Gaucher,
Aubert, Brousse, Debacq, Brocq und
eine Reihe anderer Autoren von ihr mehr
oder weniger ausgiebigen Gebrauch und legten
ihre Resultate in einer so großen Anzahl von
Mitteilungen nieder, daß es ganz unmöglich ist,
auf alle einzeln hier einzugehen. Besnier
gibt darüber in der Pratique dermatologique
and Thi^ry auf dem XIII. internationalen
Kongreß zu Paris ausführliche Referate.
Hier möchte ich nur in Kürze über die Art
und Weise des Vorgehens, welches einige
der namhaftesten Berichterstatter empfehlen,
und über ihre Indikationen zu demselben be-
richten.
Gauch er bezeichnet als solche nässende
Schübe von mäßiger Ausdehnung, pinselt
wiederholt nach jedesmaligem Eintrocknen-
lassen gesättigte, wässerige Lösung auf und
appliziert zum Schlüsse einen Wattedeck-
verband.
Auch Brousse sieht in nässenden Formen
die hauptsächlichste Anzeige zur Pikrinan-
wendung, empfiehlt sie aber außerdem bei
8eborrhoisch-krustösem Ekzem des Kindes-
alters. Seine Technik ist die Thi£ry£,
also möglichst trockene Anwendung und Ver-
meidung impermeabler Stoffe zu den Ver-
bänden. Auch bei trockenen, chronischen, ja
lichenifizierten Fällen sah er einen günstigen
Einfluß auf den Juckreiz.'
Brocq empfiehlt wieder Aufpinselung mit
folgendem Deckverband oder solchen nach
Auflegen von mit Pikrinsäure getränkten, aber
dann gut ausgedrückten Kompressen. Mit
Vorliebe läßt er aber auch nach Eintrocknen
der Lösung, die je nach der Toleranz der
Haut mehr oder weniger stark sein darf,
Decksalben verwenden. Indiziert sieht er
die Pikrinsäurebehandlung bei nässenden,
akuten Eruptionen ohne allzu starke ent-
zündliche Erscheinungen, bei akuten Nach-
schüben chronischer Fälle und bei nässendem,
seborrhoischem Ekzem, wo ihre Vorzüge be-
sonders in den Vordergrund treten sollen.
Außer in der Benutzung undurchlässiger Stoffe
zum Verbände erblickt er die Ursache für
bisweilen beobachtete Mißerfolge in indi-
viduellen Sonderheiten, also einer Art Idio-
synkrasie.
Thiery selbst, den wir ja schon als
warmen Anwalt der Pikrinsäure von den Ver-
brennungen her kennen, ist so felsenfest von
ihrer Ud Schädlichkeit auch beim Ekzem,
natürlich unter Beobachtung der Technik,
überzeugt, daß er so weit geht, nicht allein
jede durch das Präparat hervorgerufene lokale
Reizerscheinung zu leugnen, sondern es im
Gegenteil gerade gegen Eruptionen zu emp-
fehlen, wie sie nach Jodoform-, Salol-, Sub-
limat- etc. Gebrauch häufig zur Beobachtung
gelangen. Mit gleicher Wärme tritt sein
Schüler Debacq für ihre Verwendung gegen
Arzneiexantheme ein.
In der deutschen dermatologischen Lite-
ratur konnte ich nur ganz vereinzelte Hinweise
auf die Pikrinsäure in der Ekzembehandlung
finden. Jarisch, Joseph, Lesser, Leisti-
kow, Wolff erwähnen dieselbe bei diesem
17*
224
Meyer, Pikrinslureverwendung bei Hautkrankheiten.
("Therapeut
L Monateb
Monatsheft«!.
Kapitel nicht, ebensowenig tut dies Riehl
in Penzold und Stintzings Handbuch. Da-
gegen spendet ihr Neißer im Handbuch der
praktischen Medizin von Ebstein und Schwalbe
wiederholt reichliches Lob. Er empfiehlt bei
frischen, nässenden Fällen häufigen Wechsel
feuchter Umschläge mit '/spromill. Pikrinsäure-
lösung und erklärt diese auch recht brauchbar
zu Dauerverbänden, ja selbst ohne Ausschluß
von Impermeabeln ; im Gegenteil hält er letztere
bei chronischen Fällen für kaum entbehrlich
zur Erweichung der Honischich t und Resorption
des Infiltrates. Gute Erfolge sah er weiter von
Pikrinsäurezusatz zu trocknenden Aufpinse-
lungen, Tor allem aber yon lokalen Bädern.
Hier sind es besonders die manchmal mit
nahezu unerträglichem Juckreize einhergehen-
den After- und Genitalekzeme, die durch
Sitzbäder aufs gunstigste beeinflußt werden
sollen. An ihre Seite stellt er die meist
beruflichen chronischen Händeekzeme, die auf
heiße Lokalbäder „trotz der gelben Färbung",
wie er sich ausdrückt, vortrefflich reagierten;
je nachdem der Fall gelagert, läßt er hier
nach dem Bade feuchte oder Salben verbände
anwenden, eventuell auch zu Pflastern greifen.
Im Verlaufe der letzten Monate haben
auch wir auf Anregung unseres hochverehrten
Chefs bei verschiedenen Arten von Ekzem
uns versuchsweise der Pikrinsäure bedient
und damit recht beachtenswerte Resultate
erzielt sowohl bei stationärer als auch bei
ambulanter Behandlung in der Poliklinik. Ich
möchte dies Besnier gegenüber betonen, der
die Ansicht ausgesprochen, daß man nur bei
der Möglichkeit einer sorgfältigen Überwachung
der Behandlung von ihr Gebrauch machen
solle.
Im Gegensatz zu dem Gros der früheren
Berichterstatter und trotz der warnenden
Stimmen vor Anwendung der Pikrinsäure in
Verbindung mit Fetten, zu denen sogar ihr
Vorkämpfer Thiery gehört, setzten wir es
zu */a — 1 Proz. unserer gewöhnlichen Zink-
Amylum-Paste zu, die ja unter Lassars
Namen sich allgemeinster Verbreitung erfreut.
Öfters machten wir diesen Zusatz auch zu
einer Grundlage, die aus einem Gemische
von stearinsaurem Zink und flüssigem Paraffin
im Verhältnis von 1 : l( — 2) bestand und bei
sehr empfindlicher Haut meist viel besser
vertragen wird als jene. Ausnahmsweise be-
nutzten wir auch eine aus gleichen Teilen
Vaselin und Lanolin bestehende Salbe, oder wir
gaben heiße Lokalbäder mit l\A — 1j91?toz. Pikrin-
säurezusatz; diese wurden zweimal am Tage,
jedesmal 10 Minuten lang verordnet, hinterher
Einpuderung oder gewöhnlicher Pastenverband.
Eine ganze Reihe von meist nässenden
Ekzemen bei Erwachsenen und auch bei
Kindern gaben uns den Boden für unsere
Versuche ab. Bei jugendlichen Individuen
gingen wir vorsichtig zu Werke, was die
Ausdehnung der auf einmal damit in Be-
handlung genommenen Oberfläche betrifft,
bei Erwachsenen scheuten wir uns dagegen
nicht, recht ausgedehnte Affektionen zu gleicher
Zeit in Angriff zu nehmen. Wiederholt be-
handelten wir Personen, bei denen gut ein
Drittel der gesamten Körperoberfläche er-
krankt war.
In Ätiologie und Lokalisation boten unsere
Fälle ein recht buntes Bild. Außer banalen
akuten, nässenden Formen zogen wir chronische
Unterschenkelekzeme heran, chronischeHände-
ekzeme auf meist professioneller Grundlage
und impetiginöse , fast durchweg auf den
Kopf lokalisierte Formen des Kindesalters.
Ein kleineres Kontingent stellten andere
Affektionen, die durch Sekundärinfektion mit
Eitererregern ekzematisiert waren, wie z. B.
eine ausgedehnte Trichophytie des Stamme«
und eine Pityriasis rosea Gibert, ein recht
umfangreiches hingegen der Typus des sebor-
rhoischen Ekzems. Eine Anzahl dieser Fälle
stand schon lange in unserer Behandlung,
ohne daß bei ihnen bisher ein dauernder
Erfolg zu erzielen gewesen wäre. Nach
Reinigung der kranken Körperteile mittels
Öles oder Vaselin von Krusten etc. legten
wir unsere Pasten- beziehungsweise Salben-
verbände an, nur in einigen Fällen von Hände-
ekzemen gaben wir heiße Lokalbäder.
Meistens sahen wir schon nach 2 — 3 Ver-
bänden, öfters bereits am nächsten Tage,
einen unverkennbaren Fortschritt, der sich in
Verminderung der Sekretion, die vielfach nach
einigen Tagen vollkommen sistierte, äußerte,
und womit eine rasch fortschreitende Epidenni-
sierung Hand in Hand ging. Die auf sicherer
Infektion beruhenden Arten, die kompli-
zierenden und seborrhoischen Ekzeme, legten
daneben ein beredtes Zeugnis ab von der
desinfizierenden Kraft der Pikrinsäure ; weniger
ausgesprochen trat uns die Juckreiz lindernde
Eigenschaft entgegen; wohl konnten wir uns
in verschiedenen Fällen von einer derartigen
Wirkung überzeugen, in anderen dagegen
versagte sie in dieser Beziehung beinahe
vollständig.
Am auffallendsten, ja wiederholt in
geradezu überraschender Weise traten uns
die Erfolge beim seborrhoischen Ekzem ent-
gegen, das kraft seiner häufigen Lokalisation
in Gelenkbeugen und an Orten, wo sich zwei
Hautflächen breiter berühren, nicht nur
scheinbar einen ernsteren Eindruck macht,
sondern das sich auch in Wirklichkeit nicht
selten durch besondere Hartnäckigkeit un-
rühmlich auszeichnet. Gerade einige Fälle
J
XIX. Jahrgaiig/1
Mai 1905. J
Meyer, Pikxinilureverwendun? bei Hautkrankheiten.
225
dieses Charakters, die bisher auch der kon-
sequentesten und sorgfaltigsten Behandlung
getrotzt hatten, gelang es uns in kuzer Zeit
so zu modifizieren, daß sie dann unter ander-
weitiger Medikation bald zur definitiven
Heilung gebracht werden konnten. Um jedem
Mißverständnis vorzubeugen, muß ich an
dieser Stelle einfügen, daß wir von der
Pikrinsäureverwendung keine anderen als die
angeführten Wirkungen erwarten dürfen.
Haben wir einmal fest epidermisierte; trockene
Flächen vor uns, dann läßt uns ihr Weiter-
gebrauch vollständig im Stich, und wir sehen
uns genötigt, zu Teer oder anderen ähnlich
wirkenden Präparaten zu greifen.
Neben den seborrhoischen waren es vor
allen anderen die professionellen Händeekzeme,
bei denen wir mit der angeführten Technik
die raschesten und schönsten therapeutischen
Erfolge erzielten, an dritter Stelle kommen
dann die Ekzemkomplikationen, die gleich-
falls prompt reagierten, sodaß recht bald
gegen das Grundleiden vorgegangen werden
konnte.
Am widerspenstigsten erwiesen sich uns
die Unterschenkelekzeme. Mehrmals sahen
wir hier nach anfänglicher Besserung bald
eine follikuläre, entzündliche Reaktion ein-
treten mit Ausbreitung auf die bisher freie
Nachbarschaft, eine Erscheinung, die uns bis-
weilen aber auch bei Applikation von Deck-
pasten oder Salben allein begegnet, und deren
Ursache wir allein in der Verwendung von
Fetten erblicken zu dürfen glauben; denn in
der Tat bestätigte uns verschiedene Male ein
nach Abheilung der Reaktion unter ander-
weitigen Maßnahmen angestellter Versuch mit
Fetten allein ohne jeden Zusatz unsere Ver-
mutung.
Außer diesen an den Follikeln sich ab-
spielenden Reizerscheinungen sahen wir einen
ähnlichen Zufall nur bei zwei Seborrhoikern,
wo sie sich in Zunahme und Ausbreitung
der Sekretion dokumentierten, ohne daß es
jedoch zu vesikulösen oder sonstigen Erup-
tionen gekommen wäre. Leider wurde es
▼ersäumt, in diesen Fällen von Salbenanwen-
dung abzusehen und an ihre Stelle eine
Pikrinsäurelösung zu setzen, sei es als Auf-
pinselung, sei es als feuchter Verband.
Da jedoch beidemal die Weiterbehandlung
mit indifferenter Zink-Paraffin-Paste anstands-
los gelang, so dürfte die leichte Verschlim-
merung doch auf Kosten der Pikrinsäure zu
setzen sein, und möchte ich nicht anstehen,
sie mit Besnier aus einer Art Idiosynkrasie
zu erklären.
Von diesen Ausnahmen abgesehen, hatten
wir mit unserer Salbentechnik, die bisher
fast allgemein verpönt war, niemals Gelegen-
heit, üble Erfahrungen zu machen, nie be-
kamen wir ausgedehntere Bläschen- etc. Aus-
brüche oder Dermatitiden zu- Gesicht, nie
sahen wir auch nur die Spur eines Erythems,
wie sie nach Thibierge vorkommen sollen.
Ebensowenig bot sich uns je das Bild eines
Pruritus oder einer Urticaria, wie das Lewin
als resorptive Nebenwirkung anführt. Wohl
beschreiben Achard und Giere, Hallopeau
und Vieillard und andere Autoren derartige
Erlebnisse. Bei den meisten ist jedoch ein
Fehler in der Technik dafür verantwortlich
zu machen, bei anderen müssen wir aller-
dings wieder zur Aushilfe individuelle Be-
sonderheiten annehmen, obwohl eine Idio-
synkrasie gegen Pikrinsäure seltener zur
Beobachtung kommen soll als die gegen
Quecksilber.
Anzeichen einer allgemeinen Intoxikation
sahen wir ebenfalls nicht ein einziges Mal.
Lewin schildert dieselben als Störungen in
der Funktion des Verdauungstr actus, be-
stehend in Appetitlosigkeit, Erbrechen und
Durchfall, als intensiver, rasch auftretender
Ikterus und endlich als Beschwerden bei der
Harnentleerung, in Schmerzen oder Druck in
der Nierengegend, Dysurie, Strangurie, auch
Verminderung der Urinmenge sich bekundend
bis zur vollständigen Anurie, während Al-
bumen nur selten und nach recht großen
Dosen auftreten soll. Neben diesen Sym-
ptomen sollen bisweilen auch Pulsbeschleuni-
gung, Fieber, Kopfschmerzen und lang an-
haltende Somnolenz das Bild beherrschen.
Allgemein erschein ungen dieser Art haben
Halla, Walter, Darier, Latouche und
andere beobachtet. Verschwinden derselben
bei Aussetzen der Behandlung und Wieder-
auftritt bei erneuter Anwendung lassen jeden
Zweifel an der Pikrinsäure als ursächlichem
Momente ausschließen.
Sicherlich ist es nach diesen ein wands-
freien Intoxikationsbeobachtungen angebracht,
sich vor Einleitung der Therapie nach den
Verdauungsverhältnissen zu erkundigen und
nach dem Vorschlage Millauts von der
Intaktheit der Nieren sich zu vergewissern,
wie wir dies ja vor Einleitung einer Queck-
silber-, Perubalsam- oder Ghrysarobinkur
längst als selbstverständlich betrachten. In
unseren Fällen ging stets eine genaue Kontrolle
des Harns dem Pikrinsäuregebrauche voraus
beziehungsweise mit ihm einher, und muß ich
nochmals hervorheben, daß wir bei dieser
Vorsichtsmaßregel niemals, auch nicht bei
Kindern und geschwächten, älteren Individuen,
das geringste Anzeichen einer Vergiftung zu
sehen bekamen. Übrigens beziehen sich,
wie ich hier beiläufig bemerken möchte, die
Berichte über solche zum größten Teil auf
226
Meyer, Ptkxintftureverwendung bei Hautkrankheiten.
rTherftpenttata
L Monatsheft«.
Verbrennungsfälle, was sich vielleicht darauf
zurückfuhren läßt, daß Brandflächen mit
diffuser Epitheleinbuße ausgiebiger resorbieren
müssen als nässende, ekzematöse Partien
mit häufig noch zahlreichen Epidermisinseln.
Ist nach unseren Erfahrungen also eine
Gefahr so gut wie ausgeschlossen, so haftet
dem Pikringebrauche doch leider eine andere,
nicht gern gesehene Begleiterscheinung an.
Diese besteht in einer hellgelben Verfärbung
der benachbarten gesunden Oberhaut sowie
der "Wäsche und Kleidungsstücke, die mit der
Säure in direkte Berührung kommen, und stellt
sich meist schon nach der ersten Applikation
ein. So schätzenswert diese färberische
Eigenschaft auch für die Mikroskopie und
für die Textilindustrie sein mag, so zwingt
sie uns in der Therapie doch, auf sie Rück-
sicht zu nehmen und die Pikrin Verwendung
auf unbedeckt getragenen Körperteilen wesent-
lich einzuschränken, wenn wir es nicht sogar
vorziehen würden, von ihrem Gebrauche für
Gesicht und Kopf ganz Abstand zu nehmen.
Auch bei Behandlung im Krankenhause
möchte ich hier eher zu letzterem raten,
denn aus der Oberhaut schwindet wohl der
gelbe Farbenton schon einige Tage nach Aus-
setzen der Therapie ohne alles Zutun, allein
die Haare weisen noch nach Wochen und
Monaten deutliche Spuren der Verfärbung
auf, und mit einer Mischung von Terpentinöl
und Spiritus, womit sich die Haut ohne An-
strengung entfärben läßt, ist nach meinen
Erfahrungen hier nichts auszurichten. Weniger
intensiv als die Haare färben sich die Finger-
und Zehennägel, Entfärbungsversuchen gegen-
über verhalten sie sich jedoch gleich hart-
näckig, sodaß bei empfindlichen Personen,
oder wenn Stellung und Beruf mitzusprechen
hätten, auch auf eine Verwendung gegen
Händeaffektionen Verzicht zu leisten wäre.
Da aber auch für die Oberhaut der Um-
gebung eben abgeheilter oder in Heilung be-
griffener Ekzemflächen Terpentinöl kein in-
differenter Stoff sein kann, so möchte ich
vor voreiligen Entfärbungsversuchen damit
dringend warnen und lieber empfehlen, die
gesunde Nachbarschaft zum Schutze vorher
mit Vaselin einzufetten.
Wegen der Wirkung auf Gewebe —
Wolle und Seide behalten die Verfärbung
dauernd, Baumwolle soll einer Wieder-
herstellung fähig sein — halte ich es für
zweckmäßig, die Patienten vorher auf diesen
Punkt aufmerksam zu machen, damit sie sich
danach richten und ältere, weniger wertvolle
Stücke während der Behandlung in Gebrauch
ziehen können, wieder eine Vorsichtsmaßregel,
welche uns aus der Chrysarobin- etc. Behand-
lung längst in Fleisch und Blut übergegangen
ist. Überdies kommt bei dem von uns geübten
und empfohlenen Anwendungsmodus diese
Wirkung weniger in Betracht, da ja jedesmal
so wie so schützende Deckverbände angelegt
werden.
Läßt sich diese Begleiterscheinung aber
auch kaum vollständig eliminieren, und be-
dingt sie auch eine leichte Einschränkung der
Anwendung, so sind wir trotzdem auf Grund
unserer Versuche zu der Überzeugung ge-
langt, in der Pikrinsäure ein in der Therapie
des Ekzems recht brauchbares Mittel kennen
gelernt zu haben und erblicken in ihr eine
beachtenswerte Bereicherung des dermato-
logischen Arzneiöchatzes.
Meinem hochverehrten Chef, Herrn Pro-
fessor Wolff, danke ich zum Schlüsse bestens
für die Anregung zu dieser Arbeit und das
Interesse, das er ihrer Anfertigung entgegen-
gebracht hat.
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des brülures. Gaz. des höp. 1896, No.VIÜ.
Efficacite et innocnite da pansement picriqae.
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Coup d'oeil d'ensemble sur les applications de
l'acide picrique ä la therapeatique chirurg.
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gres intern, de medecine. Paris 1900. Section
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prat. dermatol. 1901, tome II.
47. Wal ther: Accidents dus ä l'emploi de l'acide
picrique. Ball. soc. chirurg. 1898.
Die Nervenmassaffe.
Von
Oberstabsarzt Dr. Cornelius in Meiningen.
Von allen Wirkungen, welche die Massage
auf den menschlichen Organismus ausübt, wird
keine so wenig beachtet wie die „nervöse".
Sie ist so unbekannt, daß man überhaupt
gar nicht damit zu rechnen pflegt, und dabei
ist doch gerade sie die allerwichtigste und
weitaus interessanteste. Nehmen wir aus
der Fülle des sich täglich darbietenden
Materials folgenden einfachen Fall an: Irgend
ein Patient hat sich eine kleine Verstauchung
oder eine rheumatische Affektion zugezogen,
der Arzt läßt den betreffenden Körperteil auf
gewöhnliche Weise massieren. Am nächsten
oder einem der nächsten Tage kommt der
Kranke in die Sprechstunde mit einer Menge
von Vorwürfen: die Massage sei ihm außer-
ordentlich schlecht bekommen, es sei ihm
übel geworden, er habe die „gräßlichsten"
Kopf-, Rücken-, Magenschmerzen, starkes
Herzklopfen bekommen, habe nicht schlafen
können und vieles andere. Der Arzt wird
unter keinen Umständen einen inneren Zu-
sammenhang zwischen der leichten Massage
und den schweren allgemeinen Erscheinungen
zugeben wollen. Er erklärt die Person für
neurasthenisch, hysterisch und dankt seinem
Schöpfer, wenn er von einer solchen Plage
befreit wird. — Nebenbei bemerkt, kann ihm
dasselbe geschehen, wenn er den Kranken
einfach leicht elektrisierte, ihm kalte oder
warme Umschläge verordnete, oder ihm gar
nur eine feste Schiene anlegte. — Und trotz-
dem hat der arme Patient in allem Recht.
Seine Beschwerden sind weder eingebildet
228
Cornelius» Nerrenmaarage.
f Therap^otUch«
L Monatshefte.
noch zentral, sie sind rein peripherisch vor-
handen und wohl begründet. Sie sind mit einem
"Worte die schwere Folge eines anscheinend nur
ganz lokal wirkenden, unschuldigen Streichens
oder Knetens, sie sind der Typus des
nervösen Einflusses der Massage. Wieviel
unnötige und daher doppelt empfundene Be-
schwerden, wieviel schlaflose Nächte könnten
dem ohnehin schon genug geplagten Nervösen
erspart werden, wenn der Arzt es lernen
wollte, sich der Massage selbst anzunehmen
und sie nicht gedankenlosen und ungebildeten
Laien zu überlassen. Es schneidet einem in
die Seele, wenn man täglich erleben muß,
daß Ärzte die schwierigsten Nervenfälle der
Tortur der Laienmassage überantworten. Oft
weiß ich nicht, über was ich mehr erstaunen
soll, über die Unkenntnisse selbst nach-
denkender Ärzte betreffend die Wirkung der
Massage oder die Geduld und Resignation,
mit welcher die Patienten ganz unnötige
Schmerzen hinnehmen. Selbstverständlich
habe ich hier nur extreme Fälle herausge-
sucht. Aber wer ist in dieser Zeit der
Nervosität frei von nervösen Beschwerden?
Welcher Art ist denn nun der Einfluß
der Massage auf unser vielgeplagtes Nerven-
system? Zunächst muß ich vorausschicken,
daß für jeden anderen Eingriff, mag er sein,
welcher er will, äußerlich oder innerlich, genau
dasselbe gilt wie für die Massage. Letztere
kann aber als das Prototyp der Mechanik
gelten und ist für sie der Spruch d«' Bois
Reymonds ganz besonders geschaffen, „daß
es für den Naturforscher kein anderes Er-
kennen gibt als das mechanische, ein wie
kümmerliches Surrogat für wahres Erkennen
es auch sei". Bevor ich aber auf die Sache
selbst komme, will ich kurz den Standpunkt
angeben, auf den ich nach jahrelanger an-
gestrengter Tätigkeit in diesem Gebiete ge-
kommen bin. Ich erwähne dabei ausdrück-
lich, daß ich mich keineswegs in diese sicher-
lich noch entwicklungsfähige Anschauung
festbeiße. Vielmehr bin ich gern bereit nach-
zugeben, wenn jemand imstande ist, die von
mir festgelegten, niemals versagenden Gesetze
der Nervenmassage verständlicher und über-
zeugender zu erklären.
Nach meiner Anschauung durchfließt den
gesamten Organismus ein Strom, nennen wir
ihn das vitale Prinzip, den Lebensstrom, das
Leben oder wie wir nun wollen. Dieser Strom
hat zunächst seinen Sitz in jenem kompli-
zierten Röhrensystem, das vom Zentrum —
dem Gehirn — über Rückenmark — sich der
Peripherie in Gestalt der peripherischen Nerven
mitteilt und sich von der Peripherie wieder
zum Zentrum zurückbegibt. Dieses Röhren-
system ist unter allen Umständen vollkommen
in sich geschlossen. Es gibt nirgendwo
eine Endigung, weder im Zentrum noch in
der Peripherie. An beiden befinden sich
Endschleifen, die fähig sind, die Reize ent-
weder aufzunehmen oder abzugeben. Ich nehme
danach einen Nervenkreislauf an. Vielleicht
findet sich einmal ein „Nerven-Harvey", dem
der anatomische Nachweis dafür gelingt.
Ich halte die mit Hilfe des Nervenstroms
so leicht zu erklärenden Gesetze der Nerven-
punktlehre, die ich später näher erläutern
werde, für einen nahezu positiven Beweis
für die Annahme des Nervenkreislaufs. Bei
jeder Wellenbewegung muß doch ein Aus-
gleich stattfinden. Wo aber findet die sen-
sible Erregung, wo die motorische ihr Ende?
Die erstere ist doch ausgesprochen zentri-
petal, wie die letztere zentrifugal ist. Geht
zum z. B. von einem Tastwärzchen ein Reiz
vom Zentrum, wie gleicht der sich dort aus?
Haben wir einen in sich geschlossenen Kreis-
lauf, so findet jede zentripetale Welle ihre
centrifugale Äußerung und umgekehrt. Die
ganze Lehre von den Reflexen gewinnt damit
eine viel ungezwungenere Erklärung. Ob sich
nun noch analog dem Blutkreislauf dem großen
Nervenkreislauf ein kleiner beigesellt, welch
letzterer als der des Bewußtseins etc. auf-
gefaßt werden könnte, lasse ich dahingestellt.
Die zentripetale Seite des Nervenkreislaufs
wird durch die sensible Qualität mit allen
ihren Unterstufen eingenommen, in die zentri-
fugale teilen sich die motorische, die ihm
vollkommen gleichstehende vasomotorische
und die sekretorische. Ich nehme also als
erstes diesen in sich geschlossenen, nach
ganz bestimmten Gesetzen sich regulierenden
Nervenstrom (vulgo vitales Prinzip = Leben)
an, dessen eigentliches Wesen uns wohl ein
ewiges Rätsel bleiben wird. Aber trotzdem
sind uns seine Gesetze nicht ganz unbekannt.
Zunächst verhält er sich in seiner Äußerung
auf Bewußtsein und Funktion des Organismus
ganz verschieden. Er ist entweder hoch ge-
spannt oder das Gegenteil, das heißt, ent-
weder reagiert er auf Reize leicht oder schwer.
Daß dieser Grad der Spannung sowohl an-
geboren als akquiriert (Folge der vorausge-
gangenen Reize) sein kann, ist von mir in
früheren Arbeiten mehrfach auseinander ge-
setzt worden. Trifft irgend ein Reiz den
hochgespannten Strom, so kommt es zu
einer Äußerung desselben und diese findet
nun immer an ganz bestimmten Stellen der
Nervenbahn statt, die ich mit dem Aus-
druck „Nerven -Knotenpunkte" bezeichne. Es
würde mich vom Thema zu weit abführen,
wenn ich auf die Entstehung und Bedeutung
dieser wichtigen Punkte näher eingehen wollte.
Ich habe das in meinen früheren Arbeiten
XIX. Jahrgang. 1
Mai I90S. J
Cornelius, Nervenmasuge.
229
zur Genüge getan. Erwähnen will ich nur,
daß ich alle diese Punkte rein mechanisch
auffasse d. h. als eine mechanische — meist
anatomisch zu deutende Behinderung des freien
Nervenstroms. Als besten Beweis dafür führe
ich die nicht zu bestreitende Tatsache ins Feld,
daß es ausnahmslos gelingt, alle zugängigen
peripherischen Nervenpunkte entweder dauernd
oder doch für längere Zeit zu heben. Es ge-
lingt nun ebenso sicher, alle peripherisch
zugängigen Beschwerden eines nervösen Pa-
tienten rein mechanisch, d. h. mit den Fingern
zu fassen und zu heilen oder doch wesentlich
zu lindern. Alle im Körper vorhandenen
Nervenpunkte — mögen sie einer Sphäre an-
gehören, welcher sie wollen — stehen in einem
innigen Konnexe miteinander, der am besten
aus den 7 von mir aufgestellten Kardinal-
sätzen der Nervenpunktlehre hervorgeht. Ich
will diese 7 Gesetze hier noch einmal wieder-
holen, sie lauten:
1. Klagt jemand über einen durch sicht-
bare Gründe (Verletzungen, Entzündungen etc.)
nicht zu erklärenden, peripherischen Schmerz
(all gemeinhin Nervenschmerz genannt), so ist,
die Richtigkeit der Angaben des Betreffenden
vorausgesetzt, — was sich meist leicht wird fest-
stellen lassen — als Ursache dieses Schmerzes
stets ein typischer Schmerz- oder Druck-
(Nervenknoten)punkt vorhanden, mit dessen
Beruhigung auch der betreffende Schmerz so-
fort verschwindet.
2. Alle dergleichen im Körper vorhandenen
sensiblen Nervenpunkte stehen in einem
innigen Zusammenhang miteinander, der sich
sowohl durch direkte, an kein anatomisches
Gesetz gebundene Strahlung, als auch durch
die stets eintretende gegenseitige Erregung
dokumentiert.
3 a. Wird von einem Druckpunkte aus
eine Strahlung nach irgend einer anderen
Stelle des Körpers ausgelöst, so findet sich
ausnahmslos am Ende der Strahlung wieder
ein Druckpunkt vor.
b. Wird nach Erregung eines Druck-
punktes an irgend einer anderen Körperstelle
auch ohne direkte Strahlung ein Schmerz
ausgelost, so ist als Ursache dieses Schmerzes
stets ein typischer Druckpunkt vorhanden,
Beide direkte und indirekte Arten der Er-
regung neuer Druckpunkte stellen nicht etwa
neu entstehende, sondern immer nur bereits
vorhand ene(event. bisher schlafende) Schmerz-
punkte dar.
4. Ein jeder peripherische Nervenschmerz
ist die Folge einer Erregung des sensiblen
Nervenstromes, wobei die mehr oder minder
große, durch Vererbung oder Akquisition ver-
ursachte Reizbarkeit desselben eine sehr große
Bedeutung hat. Die Angriffsstelle dieser Er-
Tb.M.1905.
regung ist aber jedesmal ein wohl charakteri-
sierter, durch eine erhöhte Druckempfindlich-
keit leicht zu findender Punkt der sensiblen
Nervenbahn.
5. Es gelingt jedesmal, einen solchen
schmerzempfindlichen Punkt durch eine mecha-
nische Behandlung für kürzere oder längere
Zeit schmerzfrei zu machen und damit den
von ihm ausgehenden Schmerz zu stillen.
6. Die von dem ganzen Nervensystem
ausgehenden, in den Schmerzpunkten zum
Ausdruck kommenden Schmerz- (etc.) Par-
oxysmen werden durch alle möglichen (äußeren
und inneren) Reize ausgelöst, wobei gar nicht
einmal gesagt zu sein braucht, daß der Reiz
an sich ein pathologischer ist. Vielmehr ge-
nügen bei erhöhter Spannung des Nerven-
stroms und besonders empfindlichen Schmerz-
punkten an sich gar nicht einmal patho-
logische Erregungsursachen, um ganz beträcht-
liche Schmerzerscheinungen hervorzurufen.
7. Alle auf solche Weise ausgelösten
Erregungen der Schmerzpunkte zeigen einen
typischen, wellenförmigen Charakter, in
welchem die Wellen der Erregung und der
Beruhigung in scheinbar ganz gesetzmäßiger
Weise miteinander abwechseln. Dasselbe
geschieht bei der Behandlung der Druck-
punkte mittels Massage und bilden die dabei
entstehenden Wellen das wechselvolle Bild
der sogenannten Reaktionen.
(Auf die übrigen Sphären der Nerven-
bahn finden diese Sätze sinngemäße An-
wendung, wobei bemerkt werden muß, daß
auch die nicht sensiblen Nervenpunkte
(motorische, sekretorische) so gut wie regel-
mäßig mit sensiblen in innigstem Zusammen-
hang stehen.)
Fasse ich mit Hilfe dieser 7 Sätze meine
Ansicht über das Leben im Nerven zusammen,
so ergibt sich folgendes:
Den Organismus durchfließt, und zwar in
einem besonderen Kreislauf, der Nervenstrom,
von welchem sämtliche Funktionen des Körpers
ihre Anregung empfangen. Dieser Strom be-
findet sich in einem ständig wechselnden
Grade der Spannung, welche identisch ist
mit der durch Vererbung und Akquisition
erzeugten Reizbarkeit. Es ist falsch, gemein-
hin von einem rein zentralen resp. rein peri-
pherischen Reize zu sprechen. Jeder den Körper
treffende Reiz teilt sich dem Ganzen mit, der
peripherische dem Zentrum, der zentrale der
Peripherie. Seine Wirkung ist allerdings auf
das Zentrum, woselbst auch der Sitz ganz
besonderer Qualitäten zu suchen ist (Bewußt-
sein etc.), eine viel größere als die auf die Peri-
pherie. Die von irgend einem Reize erzeugten
Erregungswellen durchfließen den Nervenstrom
so lange, bis sie an irgend eine Behinderung
18
230
Cornelius, Ntnrtnnimfe.
TThempentiache
L Monatshefte.
stoßen, woselbst sie dann eine Art von Knoten-
punkt bilden, welcher als Ort der Erregung
ganz bestimmte, im Bewußtseinszentrum em-
pfundene Reize auslost. Es wird demnach
kein den Körper treffender Reiz ohne nervöse
Folgen bleiben können und sind diese pro-
portional der Starke des Reizes und der
Qualität der vom Reiz zunächst getroffenen
Stelle, sodann aber nicht minder abhängig
von dem Grade der Spannung des Nerven-
stroms und von der Anzahl und dem Sitze
der Nervenknotenpunkte. Jede Reizwirkung
hat nun entweder einen mehr zentralen oder
peripherischen Charakter und ist ferner von
beruhigender oder erregender Wirkung. Dabei
gilt jedoch der Grundsatz, daß zentrale Wir-
kungen die peripherischen, peripherische die
zentralen ablösen, wie auch die Beruhigungs-
welle der Erregungswelle folgt, und umgekehrt.
Ob es überhaupt eine krankhafte Äußerung
ohne Nervenknotenpunkte gibt, möchte ich
verneinen. Im einfachsten Falle gibt der
Ort des Reizes einen akuten Knotenpunkt
an, der nach Aufhören des Reizes, ohne
Folgen zu hinterlassen, wieder verschwindet.
Andernfalls braucht aber auch nicht die An-
griffsstelle des Reizes die Lokalisation der
Reizfolgen darzustellen, ein Vorgang, den wir
bei den sogenannten allgemeinen Reizursachen
täglich zu beobachten in der Lage sind.
Die Massage ist nun die direkteste Be-
einflussung des Nervenstroms und seiner
Knotenpunkte und haben wir bei ihr auch
die Folgen derselben am reinsten vor uns.
Im übrigen aber sind, wie gesagt, alle anderen
den Körper zu Heil- und anderen Zwecken
treffenden Reizursachen von demselben Stand-
punkte aus zu betrachten.
Wir unterscheiden also kurz zusammen-
gefaßt:
la) die erregende Äußerung ] des Nerven-
lb) die beruhigende Äußerung] Stroms
und ferner
2 a) die zentrale Äußerung ) des
2 b) die peripherische Äußerung J Reizes.
Der beruhigenden Welle folgt weiterhin
die erregende und der zentralen Äußerung
die peripherische und vice versa in regelrechter
Folge. Sinngemäß folgt auch der zentri-
fugalen Welle die zentripetale und umgekehrt.
Der Reflexvorgang ist demnach ein ganz
naturgemäßer, der sich allerdings unter der
Schwelle des Bewußtseins und uns daher
unbemerkt abspielt. Auch braucht der Re-
flexvorgang nicht immer von sensibel auf
motorisch und umgekehrt überzugehen, son-
dern er kann sich von der sensiblen Sphäre
auf die vasomotorische, auf die sekretorische
übertragen. Es ist unnötig, auf diese allgemein
bekannten Vorgänge weiterhin einzugehen.
Wenn ich nun die nervöse Wirkung der
Massage kurz wiederhole, so haben wir:
1. zunächst eine zentrale Wirkung. Die-
selbe ist entweder negativ (beruhigend, hem-
mend) oder positiv (anregend und in erhöhter
Weise aufregend) und 2. eine peripherische, die
so gut wie niemals rein örtlich zu nennen ist.
(Eine mechanische Wirkung von einer
dynamischen zu trennen, wie es einzelne
Lehrbücher tun, dürfte meiner Meinung nach
nicht richtig sein. Ein mechanischer Eingriff
wird immer rein mechanische Wirkungen
haben.) Die peripherische Wirkung wird sich
demnach jedesmal präsentieren.
1. als eine zentrifugale (sensible)
2. als eine zentripetale:
a) rein motorische,
b) (wenn man diese Abteilung nicht der
ersten zugesellen will) vasomotorische,
c) eine sekretorische im weitesten Sinne,
zu der nicht allein die reine Drüsen-
tätigkeit gehört, sondern auch das
ganze sekretorische Leben in jeder
einzelnen Zelle, das sich als Abgabe
der verarbeiteten Stoffe darstellt und
neben der Menge und Qualität der
zugefuhrten Nahrung ganz sicherlich
auch rein nervöser Anregung bedarf.
Was nun die an sich so wichtige
trophische Wirkung anlangt, so möchte ich
dieselbe überhaupt nicht als eine selb-
ständige hinstellen, sondern nur als sicht-
bare Folgenerscheinung der vorigen. Die
Kombination dieser Wirkungen ergibt eine
Vielgestaltigkeit, welche alle, selbst die
scheinbar kompliziertesten Folgen leicht zu
zergliedern gestattet.
Bei der bisherigen Besprechung der mecha-
nischen Wirkung der Massage hat man meiner
Meinung nach zu wenig berücksichtigt, daß
man einen lebenden, auf jeden Reiz in eige-
ner Weise reagierenden Organismus vor sich
hat, der im stände ist, selbst die einfachsten
Gesetze der Mechanik durch seinen Eigen-
willen zu Schanden zu machen. Wäre der
Körper ein lebloses Röhrensystem, so würde
es leicht gelingen, einen unbequemen Erguß
in die geöffneten Saugadern, eine Blutüber-
füllung in die Blutbahn hineinzutreiben. Aber
der lebende Organismus ist der Typus der
Opposition. Sobald ihn ein Reiz trifft, setzt
er den Gegenreiz entgegen. Der Vater dieser
Opposition ist aber der Nervenreiz, der das
Ganze beherrscht und den man unter allen
Umständen zu überwinden hat. Er darf nie-
mals vergessen werden. Es gibt überhaupt
keine Wirkung in der Massage, bei der der
Nervenreiz nicht mitzusprechen hätte.
Nach Gesagtem ist es klar, von wie un-
geheuerer Wichtigkeit die nervöse Wirkung
XIX. Jahrgang.!
Mal 1906. J
Coro «Hut, NervenmaMage.
231
selbst bei allgemeiner Massage ist. Um wie
viel großer aber wird dieser Reiz, wenn man
den Nerven selbst und seine krankhaften
Stellen zum Angriffspunkt der mechanischen
Behandlung nimmt. Das gesamte, so un-
glaublich vielgestaltige Bild der Reaktionen
ist nichts anderes, als die direkte Wirkung
der Massage. Wenn auch diese Reaktionen
auf der einen Seite recht unbequeme Begleit-
erscheinungen darstellen, ja sogar nicht selten
von einer Behandlungs weise abschrecken, die
allein zur Heilung oder doch zur Besserung
fuhrt, so sind sie doch auf der anderen Seite
als die treueste Unterstützung anzusehen. Denn
sie ermöglichen es allein, alle kranken Stellen
im Körper zu erkennen und durch ihre Be-
seitigung den Körper frei zu machen von sämt-
lichen Punkten, welche gar zu leicht geneigt
sind, auch die geringsten Reize aufzunehmen
und dem vielgeplagten Zentrum zur Bearbei-
tung zu übersenden.
Die nervösen Wirkungen der Massage
— die Reaktionen derselben — lassen sich
nach Gesagtem naturgemäß einteilen in:
I. Die zentrale Wirkung
a) negative (beruhigende) Welle: Ruhe,
Schlaf, Erschlaffung, Müdigkeit etc.,
b) positive (erregende) Welle: Unruhe,
Schlaflosigkeit, Reizbarkeit, eventl.
Krämpfe, Halluzinationen etc.
II. Die peripherische Wirkung
1. auf die Sensibilität
a) beruhigende Welle: Schmerzlosig-
keit etc.,
b) erregende Welle: Schmerz in allen
seinen vielen Qualitäten, vom ein*
fachen Kitzel bis zur schlimmsten
Phase des Schmerzes;
2. auf die Motilität
a) beruhigende Welle: motorische
^ Ruhe bis zur Lähmung sich stei-
gernd,
I b) erregende Welle: motorische Un-
ruhe, peripherische Krämpfe (z. B.
gesteigerte Peristaltik, Magen-
Darmkrämpfe, Gänsehaut etc.);
3. auf die Vasomotoren
a) negative Welle: Hyperämie,
b) positive Welle: Gefäßkrampf,
Anämie ;
4. auf die Sekretion
a) negative Welle: Verminderung der
Sekretion im weitesten Sinne,
b) positive Welle: Vermehrung der
Sekretion im weitesten Sinne.
Diese genannten Erscheinungen werden
naturgemäß sehr selten allein, sondern eigent-
lich regelmäßig mit allen Kombinationen unter
einander vorkommen. Ich will aus vielen
anderen Fällen nur einen herausgreifen, und
zwar das Spiel zwischen der vasomotorischen
und der sekretorischen Sphäre. So wird die
negative vasomotorische Welle (Hyperämie)
eine positive der Sekretion zur Folge haben
und umgekehrt.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß die
Massage, zumal die der Nerven, eine recht
komplizierte Kunst darstellt, die nur dem
ausgebildeten Arzte, niemals aber einem Laien
überantwortet werden darf, welcher, abgesehen
von den allgemeinen Kontraindikationen, nie-
mals in der Lage sein wird, das so viel-
gestaltige Bild der Reaktionen zu übersehen
und zu beurteilen.
Wenn man streng logisch ist, so ist es
eigentlich ein Nonsens, von einer Nerven-
massage katexoehen zu sprechen. Eine
jede, auch die einfachste Massage trifft den
im ganzen Körper verteilten Nervenkreis-
lauf und übt, wie so mancher zu seinem
größten Schrecken erfahren muß, ihre aus-
gesprochenen nervösen Wirkungen aus. Die
Nervenmassage, wie ich sie meine, ist eigent-
lich auch keine mechanische Bearbeitung des
Nerven Stammes, wie sie z. B. Naegeli vor-
schreibt. Meine Nervenmassage ist nichts
anderes, als die mechanische Bearbeitung
oder, in meinem Sinne ausgedrückt, die
methodische Lösung der Nervenknotenpunkte.
•Wenn der Masseur von heute den langen
Strich liebt und mit Streichen, Kneten, Zer-
reiben und obligatem Klopfen abwechselt, so
besteht meine Massage in dem Aufsuchen
aller im Körper vorhandenen Nervenknoten-
punkte, welche dann durch kurze, quer zur
Längsachse gerichtete oder auch kreisförmige,
meist nicht vibrierende Bewegungen von den
angenommenen Behinderungen des freien
Nervenstroms befreit werden. Bei meiner
Massage darf niemals Öl oder Fett ange-
wandt werden (vaginale etc. Massagen selbst-
verständlich ausgenommen). Durch solche
fremden Stoffe wird die unumgänglich nötige
Feinheit des Gefühls nur abgeschwächt. Dazu
kommt noch, daß nicht, wie gewöhnlich, bei
der Massage die Reibfläche zwischen Finger
und Haut liegt, sondern daß ich den meist
gebrauchten Zeige- oder Mittelfinger der
rechten oder linken Hand fest auf die Haut
anlege, so lange drücke, bis ich an den Nerven-
punkt herangekommen bin und dann mit der
ganzen Oberfläche über den Nervenpunkt
fahre. Ich kann nicht umhin zu bemerken,
daß ich von dem Augenblick an richtig
zu massieren gelernt habe, als ich anfing,
„trocken" zu massieren. Es verlangt diese
Art der Massage neben größter Geduld und
feinstem Gefühle eine Fingerfertigkeit, die
selbst bei angeborenem Geschick erst durch
lange Übung erworben werden kann. Der
18'
232
Cornelius, NexvenmaMag«.
["Therapeutische
Arzt, welcher gewöhnt ist, auf die Massage
mit einer gewissen Verachtung herabzublicken,
und ihre Ausübung in der Mehrzahl der
Fälle für eine seines hochgebildeten Standes
unwürdige Arbeit ansieht, ahnt gar nicht,
welch unendlich große Fülle der interessan-
testen Befunde sie ihm tagtäglich darbieten
könnte. Zeigt doch die Nervenmassage eine
Vielgestaltigkeit der Symptome, einen Reich-
tum der schönsten Beobachtungen, welche
nur dadurch verständlich sind, daß man es
ja bei ihr gerade mit dem größten Rätsel
der Natur, der direkten Beeinflussung des
Nervenstroms , des vitalen Prinzips, zu tun
hat. Man begegnet dabei ganz bestimmten
Gesetzen, die aber bisher noch niemandem
recht zum Bewußtsein gekommen waren. Es
kommt dazu, daß gerade die Nervenmassage
dem ausübenden Arzte eine dankbare Klientel
erzieht, die selbst die des Chirurgen weit
übertrifft. Hat doch bisher der arme Nervöse
leider nur selten dauernde Beruhigung, so
gut wie niemals aber in meinem Sinne Be-
freiung von seinen eigentlichen Quälgeistern,
den Nervenknotenpunkten, gefunden. Keine
bisherige Behan dl ungs weise ging direkt auf
die kranken Stellen im Nerven selbst los,
sondern alle suchten durch allgemeine Be-
handlung eine leider oft nur trügerische,
allgemeine Beruhigung (sc. des Nervenstroms)
herbeizuführen. Wie dankbar ist der Patient,
der sieht, daß man seine vielfachen Klagen
nicht für reine Einbildung ansieht, sie nicht
für zentral, nicht zu beeinflussende erklärt,
ihnen auch nicht das recht wissenschaftlich
klingende, dafür aber um so unverständlichere
Mäntelchen der molekularen Umstellung um-
hängt, sondern allen seinen Beschwerden zu
Leibe rückt, sie gründlich anfaßt und grob-
mechanisch fortbringt. Damit verschwinden
dann auch alle die ihnen zur Last zu legen-
den Beschwerden mit einem Male. Bisher
hat die Medizin die sensiblen Nervenpunkte
(Schmerz- oder Druckpunkte) meist rein sym-
ptomatisch aufgefaßt. Aber ihrer eigentlichen,
zumal ihrer therapeutischen Bedeutung ist
man sich im Banne der Molekulartheorie
niemals klar geworden. Ja, wie wenig man
sich ihrer Häufigkeit bewußt war, beweist
die Tatsache, daß man ihr Vorkommen an
sich, zumal aber ihr Ausstrahlen als ein
sicheres Zeichen für ganz bestimmte Neurosen
(Hysterie, Neurasthenie) ansah und für ihr
Verhalten nur eine zentrale Erklärung hatte.
Wenn das der Fall ist, so gibt es so gut
wie keinen Menschen, der nicht hysterisch,
der nicht neurasthenisch ist, da so gut wie
kein Mensch ohne Nervenpunkt, ohne mehr
oder weniger weitverbreitete Strahlungen ist.
Wie wenig man ferner den Nervenpunkten
therapeutisch beizukommen wußte, das be-
weist auch die Praxis mit den sogenannten
Vibrationsmaschinen, die ich gegenüber der
wirklichen Nervenpunktmassage nur als eine
Spielerei ansehen kann. Auch werden nie-
mals genau vorgeschriebene Handgriffe den
so variablen Nervenpunkten unter allen Um-
ständen und dauernd beikommen können, zu-
mal wenn sie als Hauptsache die rein sekundär
aufzufassende Blutfüllung ansehen. Nicht der
einfache Druck, sondern die methodisch durch-
geführte mechanische Befreiung des behinder-
ten Nervenstroms heilt einen Nervenknoten-
punkt und schafft damit die ihm zur Last
zu legenden Beschwerden aus der Welt.
Die Arzte haben in dem natürlichen Be-
streben, in der Erkennung von Krankheiten
möglichst unabhängig zu sein von den gar
oft zweifelhaften Angaben des Kranken, ihr
Hauptaugenmerk auf die objektiven Krank-
heitssymptome gelegt. Dazu kommt noch,
daß die Wehleidigkeit des heutigen, nervösen
Geschlechts, die Sucht vieler Kranken, sich
auf möglichst billige Weise eine wohlfeile
Rente zu verschaffen, im Verein mit der An-
schauung des rein zentralen, oft genug nur
eingebildeten Ursprungs der meisten nervösen
Beschwerden oder doch der unfaßlichen mole-
kularen Ursache derselben das Interesse
immer mehr von den subjektiven Beschwerden
abwenden muß. Um nicht betrogen zu werden,
schießt man weit über das Ziel hinaus. Um
einen wirklichen Simulanten zu fassen, wer-
den Hunderte, von denen allerdings ein nicht
kleiner Bruchteil in der Hoffnung übertreibt,
dadurch sein Leiden glaubhafter zu machen,
für Simulanten und eingebildete Kranke er-
klärt oder doch im geheimen dafür gehalten.
Man ist den objektiven Klagen der Kranken
absolut nicht so machtlos gegenüber, wie man
zunächst glauben möchte. Wenn man aller-
dings den Klagenden nach der bisherigen
Weise untersucht, indem man ihm die Lungen
abklopft und behorcht, Herz, Unterleibseinge-
weide untersucht, eventl. noch die Prüfung
der SeDsibilität, Reflexe und elektrischen Er-
regbarkeit unternimmt, wird man nur in den
seltensten Fällen zum Ziele gelangen. Die
Nervenpunktlehre gibt für jede wirklich vor-
handene, peripherisch anzusehende Klage —
und das ist weitaus die Mehrzahl der Fälle —
einen ganz bestimmten Punkt der peripherischen
Nervenbahn an, welcher auf Druck genau
dasselbe Symptom auslöst. Man lernt gar
bald, für jeden Schmerz auch genau den
Nervenpunkt zu wissen, der sich auch dann
anatomisch meist charakterisiert, z. B. als
Gefäßbündel, Furche in der Muskulatur, im
Knochen etc. Nur wenn genau diese Stelle
getroffen ist, zuckt der Kranke unwillkürlich
XIX. Jafcrf ang.l
Mut 1905. J
Cornelius, Nervenmatiafe.
233
zusammen, ein Vorgang, den selbst der ge-
riebenste Simulant nicht nachzumachen im
stände wäre. Dazu kommen noch die sofort
eintretenden Reaktionen der beschriebenen
Art: so erweitert sich häufig bei Druck auf
starke Schmerzpunkte plötzlich die Pupille,
es tritt sofort eine sekundäre Hyperämie oder
seltener Anämie auf, es bildet sich eine aus-
gesprochene Gänsehaut, es tritt nervöser
Schweißausbruch, Hypersekretion der Tränen-,
Speichel- etc. Drüsen auf. Auch sind die
Klagen des Patienten, welche doch mit den
Gesetzen der Nervenpunktlehre absolut un-
bekannt sind, so charakteristisch, daß sie
beinahe als objektiver Beweis gelten können.
Wie oft gelang es mir bei Patienten, die mit-
unter jahrelang von einem Arzt zum andern
gewandert waren und immer wieder als ein-
gebildet krank mit leeren Worten oder allge-
meinen Verhaltungsmaßregeln abgespeist wur-
den, durch methodisches Aufsuchen der den
Klagen entsprechenden Nervenpunkte nicht
allein die Klagen des Betreffenden in der
überzeugendsten Weise nachzuweisen, sondern
sie auch auf verhältnismäßig leichte Weise
durch eine mechanische Behandlung der Nerven-
punkte zu beseitigen. Wer aber tastet einem
vom Kranken angegebenen Schmerze metho-
disch nach? Allerdings sind es hier nicht
Kranke, die mit akuten fieberhaften Krank-
keiten zugehen, sondern es ist das Heer der
Nervösen, die, anscheinend ganz gesund, nur
dazu da zu sein scheinen, sich und dem Arzt
das Leben zu verbittern. Es handelt sich dabei
meist nicht um eigentliche Krankheitsprozesse,
sondern um die Folgen derselben, ihre Narben
mit ihrer Wirkung auf das gesamte Nerven-
system. Ich muß hier auf die Arbeit Narben
und Nerven1) hinweisen.
In meinem Vortrage auf der Naturforscher-
und Ärzteversammlung zu Gassei im Jahre
1903*) erwähnte ich, daß ich die gesamten
Neurosen von der Neuralgie bis zur fort-
geschrittenen Neurasthenie als ein Krank-
heitsbild ansehe, das nur durch die Zahl
und Art der Nervenpunkte zu unterscheiden
ist und deren Unterabteilungen sich genau
nach der Art der Nervenpunkte richten. Die
Zahl, die Erregung und die Art dieser Nerven-
punkte ist das wichtigste für eine jede ner-
vöse Erkrankung. Das Aufsuchen und die
mechanische Lösung derselben ist neben der Be-
ruhigung des allgemeinen Nervenstroms (Grad
der nervösen Erregung) die Hauptsache.
Demnach ist es selbstverständlich, daß ich
») Deutsche militarärztl. Zeitschr. 1903, No. 10.
*) Die Druck- oder Schmerzpunkte als Ent-
stehangöarsache der sog. funktionellen Nerven-
erkrankungen, ihre Entstehung und Behandlung.
Wien 1904. Moritz Perles.
bei allen meinen Patienten, bei welchen die
allgemeine Untersuchung keinen ausreichenden
Grund für ihre Beschwerden darbietet, nach
Untersuchung sämtlicher in Frage kommenden
Organe methodisch auf alle ihre Klagen ein-
gehe und ihre Berechtigung durch Nachweis
der zugehörigen Nervenpunkte dartue.
Meine Untersuchungsmethode ist also nach
Erledigung der allgemeinen Untersuchung
folgende: Während der Patient irgend eine
Klage angibt, suche ich ihm die entsprechende
Gegend ab, und meist wird der Kranke, ehe
er überhaupt seine Klagen zu Ende gebracht
hat, aufschreien und den von mir erzeugten
Schmerz mit dem früher so oft empfundenen
für identisch erklären. Die erste Unter-
suchung hat nun entsprechend den Haupt-
beschwerden eine Anzahl von Nervenpunkten
ergeben, die sorgfältig in einem Schema3) auf-
gezeichnet werden. Dieselben werden in be-
schriebener Weise einer rein mechanischen
Behandlung unterzogen. Unter dieser schwillt
bei den das Hauptkontingent stellenden sen-
siblen Nervenpunkten (Schmerzpunkten) der
Schmerz zunächst erheblich an und nimmt
dann allmählich wieder ab, bis er schließlich
verschwindet. Logisch wäre es nun, alle
Schmerzpunkte so lange zu massieren, bis
sie vollkommen schmerzlos sind. Jedoch läßt
sich das nur bei Kranken mit wenigen Punkten
durchfuhren. In allen anderen Fällen be-
gnügt man sich, um die Dauer der Massage
nicht über 30 oder höchstens 45 Minuten
hinauszudehnen und die Reaktionen nicht gar
zu groß werden zu lassen, damit, nur die
Hauptpunkte in ergiebiger Weise vorzunehmen
und die anderen einige Sekunden zu massieren.
Läßt man nämlich die anscheinend unwichtigen
Punkte aus, so beginnen diese regelmäßig in
ganz besonders starker Weise sich bemerklich
zu machen oder, wie ich es auszudrücken
pflege, nach Massage zu schreien. Es ist
daher, um zu einem wirklich guten Resultate
zu kommen, nötig, daß sämtliche bei der
Massage zu Tage tretenden Nervenpunkte,
die sich jedesmal durch ganz bestimmte Er-
scheinungen äußern, massiert werden. Erst
nach Beseitigung aller Nervenpunkte kommt der
Körper zur Ruhe, da dann die peripherischen
Reize keinen Anhaltspunkt finden und das
Zentrum nicht mehr zu irritieren vermögen.
Die Nervenpunktmassage läßt nur dann im
Stich, wenn die Punkte so tief liegen, daß
man absolut nicht an sie heran kann oder
wenn die Krankheit bereits ein solches Sta-
dium erreicht hat, daß die Reaktionen auch
bei noch so schonender Behandlung eine gar
zu bedrohliche Höhe erreichen. Im allge-
3) Zu beziehen durch Enslin, Berlin, Karlstraße.
234
Cornelius, Nerv«ni
["Therapeutisch«
L Monatshefte.
meinen sind zumal die letzteren Fälle außer-
ordentlich selten, wenn Arzt und Patient nur
die nötige Ausdauer und Geduld besitzen
und ersterer immer sehr vorsichtig bleibt.
Unter allen Umständen sind die Reaktionen
das Wichtigste und Bankbarste bei der ganzen
Behandlung. Daher ist auch ihre genaueste
Kenntnis unerläßlich für jeden Nervenmasseur.
Man braucht sich nur an das Schema zu
halten, welches ich bei der Besprechung der
verschiedenen Arten von Nervenbeschwerden
gegeben habe, und man hat für jede Reaktion
die genaue Erklärung und Bezeichnung. Sind
letztere doch nichts anderes als die Erregung
bereits im Korper vorhanden gewesener ner-
vöser Krankheitssymptome. Selbstverständ-
lich rufen auch alle anderen, den Körper
treffenden Reize genau dieselben Erschei-
nungen hervor. Davon wissen Bäder und
Sanatorien ein Lied zu singen. Aber man
hatte bisher keine genügende Erklärung dafür.
Die Nervenpunktlehre gibt sie in der für
jedermann verständlichsten und einfachsten
Form. Mit derselben Klarheit aber geht
hervor, daß alle nicht die Nervenpunkte
direkt treffenden Heilmethoden nur darauf
hinausgehen müssen, den übererregten Nerven-
strom zu beruhigen. Eine dauernde Beruhi-
gung ist nur dann möglich, wenn die alle
Reize aufnehmenden und weitergebenden
Punkte verschwunden sind, wenn, mit anderen
Worten die Nervenbahn frei ist von allen
Hindernissen. Das kann aber nur eine rein
mechanische Behandlung tun, und glaube ich
an Hunderttausenden von Nervenpunkten be-
wiesen zu haben, daß keiner, wenn er richtig
gefaßt und genügend lange bearbeitet wird,
der Behandlung widerstrebt. Die übrigen
Methoden können wohl nebenbei angewandt
werden, nur ist ihre Bedeutung an die zweite
Stelle gerückt. Ist nun der Nervenpunkt be-
seitigt, so ist damit nicht die Krankheit,
sondern fürs nächste nur der nervöse Folge-
zustand derselben fortgeschafft.- Nebenbei
bedarf natürlich das Urleiden einer ständigen
Behandlung und einer in bestimmten, immer
größer werdenden Zeiträumen notwendigen
Nachprüfung auf etwa neugebildete Nerven-
punkte. Man muß eben immer dessen ein-
gedenk bleiben, daß man mit der Massage
nicht das Grundleiden fortschafft, sondern
nur seine Folgen, seine Narben, und darf
über . diesen nicht die eigentliche Ursache
vergessen. Dieser Gedanke wird einen immer
vor Überhebung bewahren.
Wie verhält es sich aber mit den ner-
vösen Folgen eines an sich unaufhaltsam fort-
schreitenden Grundleidens? Soll man da die
Hände müßig in den Schoß legen? Unter
keinen Umständen! So leiden z. B. die an
Tuberkulose, Diabetes, Krebs, Zucker etc.
Erkrankten meist mehr an den nervösen
Folgen der Krankheit als an jenen selbst.
Und man tut nur ein Werk der schönsten
Barmherzigkeit, wenn man ihnen wenigstens
die Hauptschmerzpunkte wegschafft, selbst
auf die Gefahr hin, scheinbar eine Sisyphus-
Arbeit zu verrichten, da immer wieder neue
Knotenpunkte sich bilden. Das gleiche gilt
für die wirklich zentral Erkrankten. Denn
selbst diese gehen niemals ohne peripherische
Mitwirkung von statten, sodaß man auch
hier im edelsten Sinne lindernd zu wirken
vermag.
Zu der Gruppe der ausgesprochenen
Nervenpunkterkrankungen gehört, wie ich be-
reits in einer besonderen Abhandlung4) dartat,
die Seekrankheit. Sie ist geradezu der Typus
der rein mechanischen Erregung von Nerven-
punkten. Was so mechanisch erregt wird,
kann auch nur mechanisch beruhigt werden,
und glaube ich hinreichend sicher bewiesen
zu haben, daß durch rein mechanisches Fest-
halten der Hauptseekrankheitspunkte mittels
meines Gürtels die Krankheit sofort gelindert,
ja geheilt werden kann, wie ja auch ein vor-
heriges Fortschaffen dieser ganz charakteristi-
schen Punkte mittels methodisch ausgebildeter
Nervenpunktmas8age den Ausbruch der Krank-
heit verhütet. Der Seekrankheit gleich zu
achten sind die ähnlichen Erscheinungen
beim Eisenbahnfahren, Luftballonfahren etc.
Dasselbe nur mit anderen Erregungsursachen
und mitunter .anderen Punkten bieten Migräne,
die nervösen Jfftgendarmerscheinungen, die
Störungen der Menstruation, die Beschwerden
der Schwangeren, die verschiedenartigsten
Neuralgien und Krampfzustände etc. dar, die
sich schließlich bis zu den schweren Neurosen
steigern können6).
Ein eigenartiges Licht wirft die Nerven-
punktlehre auf den Morphinismus und die
ähnlichen Leiden. Bei allen diesen Un-
glücklichen finden wir einen durch Ererbung
und Akquisition krankhaft erhöhten Nerven-
strom vor. Alle sind reich an schweren, ja
charakteristischen Nervenpunkten. Eie Ent-
wicklung der Krankheit denke ich mir fol-
gendermaßen: Der Kranke ist entweder ganz
zufällig oder getrieben durch erhöhte Er-
regungswellen das erste Mal zu dem Mittel
4) Berliner klin. Wochenschr. 1903, No. 19.
5) Vergl. „Die nervösen Magendarmerscheinun-
gen zumal das Erbrechen der Schwangeren und
die Druckpunkttheorie", Wiener klinische therap.
Wochenschr. 1903, No. 26 u. 27; ferner „Die Druck-
punkte, ihre Entstehung, Bedeutung bei Neuralgien,
Nervosität, Hysterie, Neurasthenie, Epilepsie und
Geisteskrankheiten, sowie ihre Behandlung mittels
Nervenmassage", Berlin 1902, Otto Enslin.
XIX. Jahrgang.-!
Mai 1905. J
Cornelius, Ncrvcnmataago.
235
gekommen. Die Wirkung war von Anfang
an oder doch bald darauf eine berauschende
Beruhigung des Nervenstrome, der nach dem
von mir aufgestellten Ausgleichungsgesetze
bald die Erregungswellen folgen, welche sich
in den zentral oder peripherisch gelegenen
Nervenpunkten abspielen. Diese, als Hunger
nach dem betreffenden Mittel aufgefaßt, lassen
immer wieder zu dem narkotischen Mittel
greifen. Der dann bald einsetzende Kampf
gegen letzteres erhöht, wie man unschwer
begreift, die Wellen nur, und gar zu bald
haben wir das ganze Krankheitsbild vor uns
mit den unseligen Reaktion s wellen und den
immer nur künstlich erzeugten Beruhigungs-
wellen, die den Keim zu neuen Erregungs-
wellen in sich tragen. Will man den Armen
wirklich helfen, so schaffe man zunächst die
Knotenpunkte der Peripherie aus der Welt
und verhüte, soweit wie möglich, die Reak-
tionswellen. Selbstverständlich werden sich
im Laufe einer solchen Krankheit auch zen-
trale Knotenpunkte bilden, doch ist mit dem
Fortschaffen der peripherischen Punkte eine ge-
wisse beruhigende Beeinflussung der zentralen
unbedingt verbunden. Die Behandlung er-
fordert natürlich viele Wochen, ja Monate,
doch ist die Entziehung vom Gift eine
ganz freiwillige. Man gibt dem Kranken
so viel Morphiumlösung, wie er will, fragt
ihn auch gar nicht danach, wie viel er täg-
lich braucht, sondern fordert ihn nur auf,
die Dosis jeden Tag genau zu registrieren,
dabei hervorhebend, daß man die Liste bis
zur Beendigung der Kur nicht nachsehen
werde. Man sucht die Energie des Kranken
ganz vorsichtig zu heben, vermeidet aber"
jeden Kampf mit dem Hunger nach dem
Mittel. Dafür unterzieht man ihn einer me-
thodischen Nervenpunktmassage , die wegen
der dabei auftretenden Reaktionen besonders
vorsichtig ausgeübt werden muß. Ist man
nun so weit gelangt, die Nervenpunkte wirk-
lich definitiv beseitigt zu haben und damit
alle Reaktionen in ihnen zu verhüten, kann
man sicher sein, daß auch der Hunger ver-
schwunden ist. Gewiß kann man diese jahre-
lange Gewohnheit nicht mit einem Schlage
au 8 der Welt schaffen, aber nach gewisser
Zeit wiederholte Kuren bringen dann schließ-
lich wenigstens in den nicht gar zu zentralen
Fällen einen ausgesprochenen Erfolg. Wenn
ich auch nur über eine beschränkte Anzahl
von Beobachtungen in dieser Hinsicht ver-
füge, so halte ich doch den Gegenstand für
wichtig genug, ihn hier zu erwähnen und zu
einer genauen Nachprüfung aufzufordern.
Von großer Wichtigkeit für den Kranken ist
es aber, daß man ihn nicht als das Opfer
seiner mangelnden Energie ansieht, sondern
als einen rein körperlich Kranken, dem man
auch körperlich beizukommen sucht.
Aus allem dem Gesagten, dem ich noch
sehr viel zusetzen könnte, geht hervor, daß
die Nervenmassage berufen ist, eine ungeheuer
wichtige Rolle in der modernen Therapie zu
spielen. Sie setzt den Hebel an Leiden an,
die einerseits eine immer bedrohlichere Aus-
dehnung genommen haben, ja wohl die wich-
tigste Krankheit von heute darstellen, denen
man andrerseits bisher so gut wie ohn-
mächtig gegenüberstand; fehlte doch bisher
bei ihnen jede auch nur irgend wie genü-
gende Erklärung und mußte man sich daher
immer nur mit allgemeiner Beruhigung be-
gnügen, die gar zu oft im Stiche läßt. Es
gibt kein Gebiet der praktischen Medizin, in
welches nicht die Nervenpunkte hinein-
spielten. Es gibt aber auch für den Ein-
geweihten wohl kaum etwas Interessanteres,
als diesem ewig wechselnden Spiel der ner-
vösen Wellen nachzugehen und ihrer schließ-
lich Herr zu werden. Wie viele Ent-
täuschungen, wie viele Überraschungen muß
man allerdings täglich erleben! Denn nichts
ist so wechselnd, ja so unberechenbar wie die
Nervenreaktion. Nichts verlangt so viel Aus-
dauer, so viel Geduld, ist aber auf der an-
deren Seite so dankbar und interessant.
Ich brauche demnach wohl nicht hervor-
zuheben, daß die Nervenmassage eine be-
sondere Stelle in der Medizin verlangt.
Ihre Ausführung setzt dafür auch eine sehr
große Übung und genauestes Kennen der
Prädilektionsstellen für Nervenpunkte und
sämtlicher Reaktionserscheinungen voraus.
Nicht jeder Arzt wird berufen sein, sich der
Nervenmassage zu widmen. Nur wer Nei-
gung dafür in sich fühlt, die nötige Geduld
und Übung hat, sollte sie ausüben.. Die
Ausbildung der geeigneten Ärzte würde am
besten in Polikliniken erfolgen, für welche
wohl jede nur irgend wie größere Stadt
reichliches Krankenmaterial liefern könnte.
Wer aber die Nervenmassage mal als Beruf
gewählt hat — und Hunderte von Ärzten finden
in jedem Lande dabei ihr recht auskömm-
liches Brot — , der wird sie nicht leicht
wieder mit einer anderen ärztlichen Tätigkeit
eintauschen mögen. Der täglich erneute Dank
der armen, verkannten Nervösen, die schon
seit Jahrhunderten ihre Klagen in die Welt
hinaus schreien, ohne wirkliches Verständnis,
ohne eigentliche Hilfe zu finden, ist eine
Belohnung, wie sie schöner, wie sie reiner
nicht gedacht werden kann.
236
Pick, Ente Hilfe bei Aufenverletsuofen.
[Therapeuten«
Monatsheft«.
Die erste Hilfe bei Augen Verletzungen.
Von
Dr. Pick, Augenarzt in Königsberg Pr.
Vorbemerkung. Bei jeder Verletzung
des Körpers resp. seiner Teile ist die Frage
einer eventuellen Infektion in sorgfältigste
Erwägung zu ziehen; sie ist bei den Traumen,
die das Auge oder die Umgebung desselben
treffen, auf dreierlei Art möglich: 1. durch
den verletzenden Gegenstand selbst, wenn
derselbe Infektionskeime enthält, 2. durch
etwaiges bakterienh altiges Sekret der Binde-
haut oder des Tränensackes, 3. durch Un-
reinlichkeit der Hände, der Instrumente oder
des Verbandzeuges.
1. Bezüglich des ersten Punktes wird
bei einer frischen Verletzung die Diagnose
einer Infektion mit Sicherheit nicht gestellt
werden können; es gibt indessen Anhalts-
punkte, welche nach der einen oder andern
Richtung hin eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose
zulassen. So sind metallische Fremdkörper,
Glassplitter gewöhnlich nicht infektiös, wäh-
rend Holzsplitter, Getreidegrannen und ähn-
liche organische Produkte sehr häufig Infektion
verursachen. Es kommt hierbei femer in
Betracht die Art der Wunde; glatte, scharf-
randige, schnell verklebende Wunden sind
weniger der Infektion zugänglich als große,
unregelmäßige, klaffende Wunden. Weiter
kann eine Verunreinigung ursprünglich asep-
tischer Wunden eintreten durch Versuche von
Laien, Fremdkörper zu entfernen, die Ent-
zündung zu bekämpfen und dergl. Das be-
liebte Auslecken mit der Zunge, Einlegen
von Krebssteinen, Auflegen von Kuhmist etc.
hat schon manche schwere Hornhauteiterung
verursacht.
2. Bei jeder frischen Verletzung des Aug-
apfels ist es notwendig, den Tränensack zu
untersuchen. Zu diesem Zwecke drückt man
mit dem Zeigefinger in die Tränengrube des
inneren Lidwinkels, vom Tränensack nach
dem unteren Tränenpunkt zu streichend, um
so festzustellen, ob Sekret im Tränensack
ist. Läßt sich Sekret aus dem Tränensack
ausdrücken, so ist die Infektionsgefahr eine
eminente. Man glühe dann sofort den oberen
und unteren Tränenpunkt gut zu; das Lid
wird dabei vom Bulbus gut abgezogen, und
der Tränenpunkt mit einer Glühnadel einige
Sekunden betupft. Der Glühschorf hält ca.
4 Tage. Die radikale Therapie in solchen
Fällen, nämlich die Exstirpation des Tränen-
sacks, ist für den praktischen Arzt, der nur
auf sich angewiesen ist, nicht anwendbar,
sie ist die rationelle Therapie nur für den
okulistisch gut geschulten Arzt.
3. Instrumente und Verbandzeug müssen
sterilisiert, die Hände des Operateurs gut
gereinigt und desinfiziert sein. Etwaige An-
aesthetica werden keimfrei gemacht, indem
sie in gut verkorkter und verschnürter Flasche
ca. 10 Minuten im Wasserbade gekocht werden.
Zur Desinfektion des Gesichtes und Binde-
hautsackes ist nach Abseifen event. Rasieren
zu empfehlen: Hydrargyrum oxycyanatum
1 : 2000. Im folgenden sollen nun die in
der Praxis am häufigsten vorkommenden
Augenverletzungen und die erste Hilfeleistung
dabei besprochen werden.
I. Fremdkörperverletzungen des Auges.
1. Fremdkörper im Bindehautsack.
Die Fremdkörper im Bindehautsack des unteren
Lides werden meist vom Patienten selbst
entfernt, die des oberen öfters durch Reiben
auf den Lidern weggeschoben, oft aber auch
nicht. Der Schmerz ist meist ein sehr unan-
genehm reibender, die Lider werden ge-
schlossen gehalten, der Zeitpunkt der Ver-
letzung wird fast stets genau angegeben,
selten ist es, daß die Patienten nicht wissen,
ob und wann ihnen etwas ins Auge gekommen
ist. Der Arzt wasche sich die Hände; der
Patient sitzt am besten auf einem Stuhl, mit
dem Gesicht dem Fenster zugewandt, der
Arzt tritt hinter den Patienten, lehnt dessen
Kopf an seine Brust und evertiert jetzt das
betreffende Oberlid. In der Mitte der Con-
junctiva tarsi sitzt dann gewöhnlich der kleine
Fremdkörper, den man durch Herüberstreichen
mit der Fingerkuppe entfernt. Der Patient
kann sofort die Augen frei öffnen. Besteht
trotz der Entfernung des resp. der Fremd-
körper noch eine gewisse Empfindlichkeit oder
ein Gefühl von Reiben, so untersuche man
den Patienten bei seitlicher Beleuchtung
mittels künstlichen Lichtes. Man wird dann
stets auf der Hornhaut Streifenerosionen
finden, welche infolge des Reibens des Fremd-
körpers auf der Hornhaut entstanden sind.
Die Diagnose der Erosionen wird außer-
ordentlich erleichtert durch die Färbbarkeit
der wunden Stellen gegenüber 2proz. Phtha-
leinfluorescin:
Rp. Fluorescini 0,4
Natrii carbonici 0,7
Aquae destillatae 20,0
M. D. S. Äußerlich zum Einträufeln.
Ein Tropfen dieser Flüssigkeit färbt sie
deutlich grün. Unter Verband mit 2proz.
Borsäure oder einfach gekochtem Wasser ist
die Erosion am nächsten Tage geheilt. (Doch
denke man an Tränensackeiterung).
Im oberen Übergangsteil sind Fremd-
körper recht selten und belästigen bei weitem
nicht so stark den Patienten, weil die un-
mittelbare Berührung mit der Hornhaut fehlt.
i
j
XIX. Jahrgang.!
■ Mal 1905. J
Pick, Erste Hilfe bei Augen Verletzungen.
237
Man macht sich den Übergangsteil am be-
quemsten sichtbar, indem man nach Ektro-
pionierung des Oberlides den Patienten stark
nach unten sehen läßt, dann mit dem Zeige-
finger der rechten Hand das Unterlid mit
samt dem Augapfel in die Augenhohle etwas
hineindrängt; der obere Übergangsteil springt
dann vor und kann untersucht werden.
2. Fremdkörper in der Hornhaut.
Meist kleine Corpora aliena, die ein Gefühl
von Drücken, Reiben hervorrufen, indessen
bei weitem nicht so stark wie Fremdkörper
in der Bindehaut des Oberlides. Die Be-
schwerden sind tagsüber ziemlich gering,
nehmen gegen Abend an Intensität erheblich
zu. Das Auge zeigt ciliare Injektion, wird
ziemlich frei geöffnet. Meist ist zur Diagnose-
stellung die genaue Untersuchung mit seit-
lichem Licht notwendig.
Entfernung des Fremdkörpers: In das
Auge wird auf die Hornhaut entweder Kokain
(3proz. 3 — 4 Tropfen, Anästhesierung nach
3 — 4 Minuten) oder Holokain (lproz. 2 bis
3 Tropfen, Anästhesierung nach l1/« Minuten,
brennt etwas beim Einträufeln) eingeträufelt.
Patient und Arzt sind in derselben Stellung
wie No. 1. Mit dem Zeige- und Mittelfinger
der linken Hand, die auf die Lidkanten der
beiden auseinandergezogenen Lidränder gelegt
werden, halte man die Lider fest und drücke
sie etwas gegen den Augapfel. Auf diese
Weise wird 1. die Hornhaut zugänglich ge-
macht und 2. der Bulbus genügend immo-
bilisiert, ohne daß Lidsperre, Fixierpinzette
und dergl. nötig sind. Dann nehme man
die aseptisch gemachte Fremdkörpernadel
oder den Hohlmeißel, und indem man den
Patienten auf einen Punkt so sehen läßt,
daß man den Fremdkörper selbst gut sehen
kann, geht man mit dem Hohlmeißel schräg
in die Hornhaut hinter den Fremdkörper
und hebt ihn so heraus. Die Angst vieler
Arzte, die Hornhaut zu perforieren, ist ganz
unbegründet, wenn nur folgendes beachtet
wird: a) der Fremdkörper darf nicht in die
Vorderkammer hineinragen, wovon man sich
durch seitliche Beleuchtung überzeugt haben
muß, b) man geht mit dem Instrument nicht
steil, sondern schräg in die Hornhaut hinein.
Unter Verband mit 2proz. Borwasser oder
Hydrargyrum oxycyanatum 1 : 5000, täglich
2 — 3 mal gewechselt, heilt die kleine Wunde
durchschnittlich in 2 — 4 Tagen.
3. Erosionen der Hornhaut. Sub-
jektiv stets recht schmerzhaft, starke Licht-
scheu, Reizbarkeit. Um eine Untersuchung
überhaupt zu ermöglichen, ist es mitunter
notwendig, einige Tropfen 3proz. Kokain ein-
zuträufeln. Die Diagnose wird entweder
durch die Fluorescinprobe gestellt, oder (nach
Th. M. I»u5.
der früheren Methode) man setze den Fat.
mit dem Gesicht gegen das Fenster, stelle
sich vor ihn und lasse ihn auf den Zeige-
finger des Arztes sehen; diesen bewegt man
so, daß das Fensterkreuz nacheinander auf
allen Teilen der Hornhaut sich spiegelt.
Jede kleinste Unregelmäßigkeit der Oberfläche
wird durch eine Verzerrung des Spiegel-
bildes kenntlich.
Therapie der Erosio corneae: Bei kleineren
Erosionen genügt einfacher Verband, bei
größeren ordiniere man zur Linderung der
Schmerzen Kokain 2 proz., 4 — 5 mal täglich
einzuträufeln, hydropathischen Verband mit
2 proz. Borsäure oder Hydrargyrum oxy-
cyanatum, gelegentlich 1 — 2 Tropfen A tropin
(1 proz.). Gaze und Watte mit Flüssigkeit
getränkt, darüber Billrothbatist oder Per-
gamentpapier und trockne Watte, dann volle
Binde, 3— 4 stündlich zu erneuern, Arbeitsruhe.
Die Erosio corneae kann kompliziert
werden a) durch Infektion, entweder infolge
eines infektiösen Fremdkörpers oder durch
Tränensackeiter. Innerhalb 1 — 2 Tagen bildet
sich dann an Stelle der Erosion ein Ulcus
corneae aus, daran kenntlich, daß der graue
Grund des Geschwürs gar nicht spiegelt, die
Ränder graugelb verfärbt, die angrenzenden
Hornhautpartien streifig getrübt sind, die
Iris verwaschen, die Pupille eng wird und
Hypopyon auftritt. 10 — 12 mal Atropin,
Kauterisation des Ulcus, ist (abgesehen von
der Tränensackbehandlung und Einl.) das
sichere Mittel, den Prozeß zu kupieren.
b) Gewisse Erosionen, namentlich die
durch Fingernägel herbeigeführten Hornhaut-
rißwunden, zeigen eine erheblich langsamere
Heilungstendenz und die Neigung, spontan
plötzlich zu rezidivieren; die Rezidive erfolgen
stets des Nachts; die Pat. wachen mit starken
Schmerzen auf, die Untersuchung ergibt eine
frische Erosion, die genau an Stelle der alten
Verletzung sitzt. Hydropathischer Verband
etc. sind auch hierbei die indizierten Maß-
nahmen.
4. Perforierende Bulbusverletzun-
gen. Das Wichtigste ist die Stellung
einer richtigen Diagnose. Es darf nicht
vorkommen, daß der behandelnde Arzt
Patienten mit perforierenden Augapfelver-
letzungen Umschläge von Borwasser oder
dergleichen verordnet und sie Tage hin-
durch ohne Verband herumlaufen läßt, bis
sie schließlich von selbst sich an einen
Augenarzt wenden. Die Diagnose ist nicht
schwer, sobald überhaupt nur an die Mög-
lichkeit einer derartigen Verletzung gedacht
wird. Bei kleineren Wunden des Augapfels
(größere werden wohl niemals übersehen
werden) besteht stets ciliare Injektion, die
19
238
Piek, Ente Hilf« b«i Augen Verletzungen.
prher&peiitiache
L MoBütwbefte.
Sehkraft ist fast stets mehr oder weniger
herabgesetzt, die Tension kurz nach der Ver-
letzung niedriger als auf dem gesunden Auge,
bei Wunden der Lederhaut, mögen sie auch
noch so klein sein, ist das Auge stets sehr
viel weicher, infolge der geringen Verklebungs-
tendenz dieser Wunden, während Hornhaut-
wunden meist sehr rasch verkleben, die Ciliar-
gegend ist auf Berührung empfindlich. Für
die Behandlung ist zunächst, nachdem die
Diagnose auf eine perforierende Bulbus Ver-
letzung überhaupt gesichert ist, von Wichtig-
keit, festzustellen, ob ein Fremdkörper im
Innern des Auges sich befindet.
Die erste Hilfeleistung, die für unsere
Besprechung allein in Betracht kommt, er-
streckt sich nur auf solche Fremdkörper, die
leicht erreichbar sind, also auch mit der
Pinzette etc. aus der Wunde entfernt werden
können. Sind Fremdkörper tief im Innern
des Auges, so überlasse man die Nachbehand-
lung dem Augenarzt und beschränke sich auf
die Behandlung der perforierenden Wunde
selbst. Dieselbe ist verschieden je nach der
Größe, Lage, Beschaffenheit der Wundränder.
Im allgemeinen sind Wunden, die die Leder-
haut perforieren und den Glaskörper treffen
viel perniziöser als Wunden des vorderen,
Bulbusabschnittes.
Erste Regel: Desinfektion des Opera-
tionsgebietes (Abschneiden der Wimpern,
Untersuchung der Tränenwege, Ausspülen der
Bindehaut mit Hydrargyrum oxyeyanatum
1 : 2000), Desinfektion der Hände, der Ver-
bandstoffe, der Instrumente und des etwaigen
Nahtmaterials, gute Kokainisierung (4 — 5 mal
in Abständen von je 2 Minuten 4 proz. Kokain
einträufeln).
Zweite Regel: Pat. wird auf den Unter-
suchungstiscb oder die Chaiselongue gelagert,
dicht am Fenster, Kopfhaare und Körper
mit sterilisierten Tüchern oder reinen Hand-
tüchern bedeckt.
Dritte Regel: Vorsichtiges Einlegen des
Lidsperrers, oder, was noch besser, man läßt
die Lider mit 2 Desmarr sehen Lidhaltern
auseinanderhalten. Dann „sehe man nach,
was vorliegt". Die aus der Wunde hervor-
ragenden oder in sie eingeklemmten Teile
werden mit Pinzette und Schere sorgfältig
abgetragen. Bei Ski eral wunden, auch wenn
sie noch so klein sind, ist die Naht angezeigt;
man näht zuerst die Skierair and er mit feinem
Catgut oder feiner Seide. Wenn möglich,
soll nicht durch die ganze Dicke der Sklera,
sondern nur durch die oberflächlichen Skleral-
schichten gestochen werden; gelingt dieses
nicht, so schneide man die Fäden so lang
ab, daß sie bequem total entfernt werden
können. Dann wird die Conjunctiva mit
einigen Nähten darüber vereinigt. Kleinere
Wunden der Hornhaut bleiben ohne Naht,
größere klaffende Wunden der Hornhaut werden
entweder durch eine Hornhautnaht geschlossen,
oder es wird ein doppelt gestielter Binde-
hautlappen aus der Bindehaut des Augapfels
gebildet, über die Wundstelle gelegt und durch
Konjunktivalnähte in seiner Lage festgehalten.
Dann einige Tropfen A tropin, Verband.
Beispiele: 1. Messerstich Verletzung
des Auges. Die Hornhaut war vertikal genau
halbiert, aus der Wunde hingen Iris- und
Linsenfetzen heraus: Ausgiebige Abtragung
der prolabierten Teile, die Wundränder legen
sich ziemlich gut aneinander, Naht daher
nicht nötig. Heilung erfolgt mit !/io Sehkraft.
2. Messerstichverletzung des Auges.
Schräge 1,5 cm lange klaffende Wunde oben,
zur Hälfte je in Sklera und Cornea liegend,
Prolaps von Glaskörper, Iris und Linsen-
teilen. Nach Entfernung der vorliegenden
Teile wird die Sklera genäht, die Bindehaut
zu beiden Seiten der Wunde bis zum hori-
zontalen Meridian vom Limbus losgelöst und
von der Sklera frei präpariert, dann mehrere
Konjunktivalnähte, sodaß die Bindehaut die
Hornhautwunde vollkommen deckt. Heilung
mit Erhaltung des Augapfels, aber ohne Seh-
vermögen.
3. Stumpfe Verletzung durch Schlag
mit großem Holzstück bei geschlossenen
Lidern. Großer Skleralriß, parallel dem.
Limbus, ca. 2 mm von demselben entfernt.
Irisvorfall, starke Blutung in die Vorder-
kammer. Durch einen Landarzt wurde die
Wunde nach Abtragung des Iris Vorfall es ge-
näht, guter Heilverlauf, gute Sehkraft (Kata-
rakt, die später extrahiert werden muß).
4. Kuhhornstoß in ein Auge, Skleral-
wunde in der oberen Hälfte der Sklera, dem
Limbus parallel, ca. 2 mm von ihm entfernt,
totale Losreißung der Iris, Herausschleuderung
der Linse, Auge von Blut erfüllt. Sklera
klafft nur wenig, Bindehautnaht, Heilung mit
7s Sehkraft.
5. GlassplitterverletzungdesAuges
(nachts 12 Uhr). Große, weit klaffende
H -förmige Hornhautwunde innen, in der Glas-
körper und Iris liegen. Nach Abtragung der
vorgefallenen Teile wird eine Kornealnaht
angelegt, darüber die vom Limbus nach oben
und unten losgelöste Conjunctiva vernäht, so-
daß die Wunde gedeckt ist, gute Heilung
mit Cataracta traumatica.
6. Glassplitterverletzung. Ganz
kleine klaffende Wunde der Sklera, aus der
der Glaskörper heraushängt, außen ca. 1,5 cm
vom Limbus entfernt; starke Glaskörper-
trübungen, Bulbus ganz weich. Skleral- und
Konjunktivalnaht, Heilung = 1.
XIX Jafargmnf .1
Mal iSOft. J
Piek, Ente Hilfe bei Augenverletzungen.
239
Natürlich kommen auch trotz sofortigen
Eingreifens unglückliche Fälle vor. So ist
mir ein Knabe in der Erinnerung, dem ein
kleiner Holzsplitter ins Auge gedrungen war,
der Splitter saß genau im Zentrum der Horn-
haut und ragte etwas in die Vorderkammer
hinein. Trotzdem der Pat. schon eine Stunde
nach der Verletzung in meine Behandlung
kam, trotz sofortiger Entfernung des Splitters,
Anglühens der Wunde gelang es nicht, die
miteingedrungenen Infektionskeime unschäd-
lich zu machen, das Auge ging an Vereiterung
zugrunde. Jedenfalls ist bei Wunden, bei
denen die Gefahr einer Infektion mit in
Betracht kommt, die Ausglühung der Wund-
ränder indiziert, ich habe sie mehrfach mit
gutem Erfolge vorgenommen. Ist das Auge
zu stark geschädigt, sodaß eine Erhaltung
des Auges keine genügende Aussicht auf Erfolg
bietet (Sehkraft = 0, Zerschmetterungen des
Auges etc.), so exenteriere oder enukleiere man
das Auge. Wichtiger als die Erhaltung eines
unbrauchbaren Stumpfes ist die Sicherheit,
keine sympathische Ophthalmie be-
fürchten zu müssen.
II. Verbrennungen nnd Verätzungen des Auges.
1. Verbrennungen. Die häufigsten Ver-
letzungen dieser Art werden hervorgerufen durch
Explosionen von Petroleum etc., glühendes
Eisen, glühende Asche, Brennschere, elek-
trischen Strom, elektrisches Licht (Kurz-
schluß). Ist die Haut der Lider auch nur
im mäßigen Grade mit geschädigt, so tritt
stets eine so erhebliche Schwellung der Lider
auf, daß die Augen freiwillig nicht geöffnet
werden können, stets ist es aber die Pflicht
des Arztes, eventuell nach Kokainisierung, die
Lider mittels Desmarr escher Lidhalter zu
öffnen, zu untersuchen, ob der Augapfel ver-
letzt ist und auch Fremdkörper im Binde-
hau tsack oder auf der Hornhaut vorhanden
sind. Verbrennungen der Lidhaut werden
zunächst in derselben Weise behandelt wie
an den übrigen Teilen des Körpers. Salben-
verband mit Borvaseline oder Pulververband
mit Jodoform oder dergl. Alle Verbrennungen
der Hornhaut sind enorm schmerzhaft, der
Schmerz hält in starker Intensität stets mehrere
Stunden an, sie sind aber meistens ungefähr-
lich, weil sie nicht infektiös sind, und der
heiße Fremdkörper beim Hineinkommen in
die Flüssigkeitsschicht des Bindehautsacks
sofort abgekühlt wird. Kommt ein Pat. mit
einer derartigen Verletzung zum Arzt, so
träufle man zuerst einige Tropfen 3 — 4proz.
Kokain ein. Nach 3 — 4 Min. läßt der heftigste
Schmerz nach, das Auge kann spontan ge-
öffnet werden. Ist die Hornhaut verbrannt,
z. B. durch Brennschere, so sieht man die
betreffende Partie grauweißlich verschorft.
Der Schorf wird nach einigen Stunden ab-
gestoßen, an seine Stelle tritt eine große
Erosion, welche sehr schnell zu heilen pflegt.
Ordo: Ein Tropfen A tropin (zur Bekämpfung
der stets vorhandenen iritischen Reizung).
Hydropathischer Verband, 3 — 4 stündlich ge-
wechselt. Gelegentlich wird es erwünscht sein,
den Pat. 2 proz. Kokain mitzugeben, um beim
Verbandwechsel, wenn die Schmerzen sehr
stark sind, sich selbst es einzuträufeln.
Einen abweichenden Symptomenkomplex
liefern die durch den elektrischen Strom
hervorgerufenen Schädigungen des Sehorgans:
a) Bei Blitzschlägen oder andern starken elek-
trischen Strömen, die direkt den Körper
treffen, kann es zu Kataraktbildungen, Netz-
hautblutungen und Netzhautablösungen kom-
men. Das Augenmerk des Arztes wird sich
bei solchen Verletzungen indessen in erster
Linie auf den Allgemeinzustand richten
müssen.
b) Verbrennung durch sehr starkes elek-
trisches Licht. Recht häufig ist die Oph-
thalmia electrica, die dadurch entsteht,
daß bei Untersuchung irgend einer Leitung
oder dergl. ein Kurzschluß zwischen zwei
Teilen der Leitung entsteht und infolge dessen
ein sehr heller elektrischer Funke dicht vor
den Augen des Beobachters überspringt. Das
Auge ist stark geblendet, lichtscheu, tränt
und schmerzt. Die objektive Untersuchung
ergibt meist nur konjunktivale Hyperämie,
leicht hauchartige Epitheltrübung der Horn-
haut. Charakteristisch ist, daß die Schmerzen
sich des Abends und nachts bis zur Unerträg-
lichkeit steigern. Stets muß man solchen
Pat. ordinieren: Arbeitsruhe, Dunkelheit,
Kokain 2 proz. nach Bedarf einzuträufeln,
kühle Umschläge mit einfach abgekochtem
Wasser (ohne irgend welchen Zusatz) oder
hydropathischen Verband mit gekochtem
Wasser. Die Ursache dieser Affektion ist eine
Läsion des Auges infolge der chemischen
Wirkung der ultravioletten Strahlen. In ähn-
licher Weise, mitunter noch viel intensiver,
wirken Röntgen- und Radiumstrahlen auf das
Auge ein.
Eine besondere, hier nur zu streifende
Gruppe bilden die Augenentzündungen durch
Blendung, z. B. bei Wanderungen über Schnee,
Gletscher, Eis. Die Hauptsache ist Prophy-
laxe durch gute dunkelgraue Schutzbrillen.
2. Verätzungen des Auges infolge
chemischer Einwirkungen.
a) Kalkverletzung. Sie ist die häufigste
Verletzung, oft von schwerer Schädigung der
Augen gefolgt.
Der gebrannte Kalk, ob ungelöscht oder
gelöscht (Ätzkalk), bewirkt oberflächliche, auch
19'
240
Pick, Erste Hilfe bei Aufenverletzunfen.
rherapftutiflehe
Monatshefte.
tiefe Nekrosen der Bindehaut und Hornhaut,
führt zu unheilbaren Trabungen der Horn-
haut, da er das Corneamucid entzieht, und
zu Narbenbildungen der Bindehaut (Symble-
pharon). Die Heilung ist bei schweren Ver-
letzungen langsam und erstreckt sich oft über
Monate. Die schnellste Hilfe, -gleich-
viel welcher Art, ist hier die beste.
Daher sofort Umkehren des Oberlides, Ent-
fernung aller Kai kpartik eichen aus dem Binde-
hautsack oben und unten mit den Fingern;
sind die größten Partikelchen entfernt, dann
spüle man den Bindehautsack mit einem aus
1 — 2 Fuß Höhe herabfallenden Wasserstrahl
gründlich durch. Oft sind Kalkpartikelchen
so fest in die Bindehaut infiltriert, daß sie
mit der Pinzette entfernt werden müssen.
Ist der Lidkrampf so stark, daß es
schwierig scheint, die Bindehaut und Horn-
haut gut untersuchen zu können, dann nehme
man einen dünnen Holz- oder Glasstab, um-
wickle ihn gut mit Watte, tauche ihn in
ein Fett (Vaseline oder dergl.) oder Wasser
und durchfahre zwischen den Lidern von
einem Winkel zum anderen den Bindehautsack;
man bekommt so eine Menge Kalk heraus.
Nach Entfernung der Kalkmassen Atropin,
Vaseline in die Bindehaut und Vaseline- Ver-
band. In den nächsten Tagen ist vor allem
darauf zu achten, daß die sehr leicht sich
bildenden Bind eh autv erwachsungen stets mit
der Sonde gelöst werden.
6) Verätzung durch andere Chemikalien.
Fast alle chemisch differenten Flüssigkeiten
wirken je nach Konzentration, Menge und
Dauer der Einwirkung mehr oder weniger
schädigend auf die Augen, alle Säuren,
Alkalien, Alcoholica etc. Meist handelt es
sich um starke Verbrennungen der Lider, ober-
flächliche Anätzungen der Hornhaut und Binde-
haut. Starkes Lidödem erschwert oft die
Untersuchung. Wenn möglich, soll sofort
ein schwaches Antidot in großer Menge (gegen
Alkalien verdünnter Essig, gegen Säuren
schwache Sodalösung) durch den Bindehaut-
sack gegossen werden, eventuell nur Wasser,
wenn nichts weiter zur Hand ist. Atropin,
Salbenverband wird dann in den meisten
Fällen das Zweckmäßigste sein.
Verletzung durch Gase. Wie unan-
genehm reizend Rauch, Dampf auf die Binde-
haut auch des normalen Auges wirkt, ist
jedem aus eigener Erfahrung zur Genüge
bekannt. Außer ihnen wirken noch stark
reizend Chlor-, Formalin-, Senf- etc. Dämpfe;
sie verursachen mitunter langdauernde Horn-
hautentzündungen. Eigentümlich kann die
Primel (Primula sinensis) wirken; sie hat
schon Iritis purulenta zur Folge gehabt. Die
geeigneten Maßnahmen sind : Schonung, Schutz-
brille, laue bis kühle Umschläge (kein
Argentum, Plumbum, Zinc. oder sonstige
Adstringentia).
4. Verletzung durch Infektions-
erreger. Gelegentlich ist es vorgekommen,
daß dem Arzte Trippereiter, Diphtherie-
gift oder Trachomsekret in die Augen
spritzt. Sofort Ausspülen des Bindehautsackes
mit großen Mengen reinen Wassers ist das
Erste und Wichtigste; dann wird bei Gonor-
rhöe- und trachomatösem Sekret Protargol
(10 — 20proz.) gut eingeträufelt, bei Diph-
theriegift eine prophylaktische Immunisierung
gemacht.
III. Verletzungen der Lider und der Umgebung
des Auge» und seltenere Augenverletznngen.
Hier mögen nur einige kurze Bemerkun-
gen genügen. Wunden der Lidbaut werden
gut gereinigt und nur dann genäht, wenn
sie groß und klaffend sind. Die Heilungs-
tendenz der Lid wunden ist infolge des großen
Gefäßreichtums eine gute. Fremdkörper in
der Orbita werden entfernt. Ist ein Bulbus
aus der Orbita luxiert, so suche man ihn zu
reponieren ; gelingt das nicht, durch hydropath.
Verband vor dem Eintrocknen zu bewahren.
Knochenwunden werden nach chirurgischen
Grundsätzen aseptisch behandelt.
Handelt es sich um stumpfe Traumen
(ohne Perforation des Bulbus), die Linsen-
luxation, Katarakt, Netzhautablösung, Irisrisse
mit Hyphaema zur Folge haben, so über-
lasse der praktische Arzt die nötigen Eingriffe
dem Ophthalmologen; das Wichtigste ist, fest-
zustellen, daß keine Perforation vorliegt, eine
dringende Gefahr ist dann nicht vorhanden.
Zwei neue Lokalanaesthetica
in der rhino-laryngologischen Praxis.
(Milchsaures Eukatn, Stovain.)
Von
Dr. Arthur Meyer in Berlin.
Die Versuche, für das Kokain einen Er-
satz zu schaffen, gründen sich hauptsächlich
auf die bekannten beiden Fehler dieses
Stoffes: Giftigkeit und hoher Preis. In der
Tat müssen wir z. B. bei der Anästhesierung
des Kehlkopfes fast stets die Maximaldosis
von 0,05 g überschreiten, und auch der
Chirurg bedarf zur Vornahme größerer Opera-
tionen unter Infiltrationsanästhesie oft weit
größerer Quantitäten. — Daneben ist die
Unbeständigkeit beim Kochen ein Übelstand.
Endlich ist das Kokain nicht nur ein
Anaestheticum, sondern auch ein Vasocon-
stringens; bisweilen ist aber, abgesehen
XIX. Jahrgan*.*!
MH 190*. J
Meyer, MllehMurea Eukain, Stovain.
241
von der Ophthalmologie, auch in der Rhino-
logie diese Nebenwirkung unerwünscht. Bei
blutigen Operationen, an den Muscheln z. B.,
nach welchen man nicht tamponieren will,
ist beim Abklingen der Kokainwirkung eine
Nachblutung zu befürchten; indessen wird
m. E. diese Gefahr meist übertrieben. Bei
der Abtragung von Hypertrophien, besonders
der hinteren Enden der unteren Muscheln,
mit der Schlinge, bewirkt das Kokain oft
eine so starke Abschwellung, daß sich die
Hypertrophie der Schlinge entzieht, wie auch
Katz hervorhebt. — Ist Blutleere aber für
die Operation erforderlich, so läßt sie sich
noch intensiver durch Adrenalin erzeugen.
Jedoch besteht hier ein wesentlicher Unter-
schied: Die Adrenalin - Ischämie ist genau
umschrieben und erstreckt sich nur auf den
direkt von dem Medikament berührten Be-
zirk, während Kokain zugleich auf die Um-
gebung einwirkt und die ganze Muschel zur
Kontraktion bringt. Daher ist das Kokain
da unersetzlich, wo man diffuse Ab-
schwellung wünscht; besonders um bei Eite-
rung der Nebenhöhlen den Abfluß zu er-
leichtern. Hingegen machen es die oben
erwähnten Fälle wünschenswert, ein An-
aestheticum ohne anamisierende Eigenschaft
zu besitzen.
Ich habe nun 2 neue Präparate geprüft,
welche die Fehler des Kokains mehr oder
weniger zu vermeiden schienen: das ß-
Eucainum lacticum der chemischen Fabrik
a. A. (vorm. Schering) in Berlin und das
Stovain von Poulenc freres in Paris.
Beide habe ich an einer Anzahl von Patienten,
teils meiner Privatpraxis, teils der Poliklinik
meines Chefs, Herrn Prof. P. Hey mann,
— mit seiner gütigen Erlaubnis und Unter-
stützung — angewandt. Auch waren die
anderen Assistenten der Poliklinik mir durch
Sammlung von Beobachtungen in dankens-
werter Weise behilflich.
Das /S-Eucainum lacticum, das milch-
saure Salz der längst bekannten Base, hat
vor dem Chlorhydrat den Vorzug größerer
Löslich keit, wodurch die Verwendung für
Hai 8- und Nasen-Operationen eigentlich erst
ermöglicht wird. Langgaard, auf dessen
Veranlassung das milchsaure Salz dargestellt
wurde, gibt an, daß bei Zimmertemperatur
sich eine 22,5 -proz. Lösung herstellen läßt,
und daß seine Lösungen sich durch Kochen
sterilisieren lassen, ohne ihre Wirksamkeit
zu verlieren. Eukain hat nach Vinci nur ca.
^4 der Giftigkeit des Kokains (Dos. let. für
_ . , Eakain 0,4—0,5 .
Kaninchen ^--^0,12 * Pro Kllo)> und
ist endlich kein Vasoconstringens.
Prof. Katz hat 10 und 15-proz. Lö-
sungen für die Nasen- und Ohrenchirurgie
empfohlen; er fand, daß diese der 10-proz.
Kokainlösung völlig gleichwertig sind. Für
submuköse Injektionen in die Muscheln
benutzte er 2-proz. Lösung von Eukain, das
er mit Rücksicht auf seine geringere Giftig-
keit dem Kokain vorzieht.
Ich habe das Eukainlaktat in
30 Fällen benutzt, und zwar meist vor
Operationen in der Nase. Mit einer 15-proz.
Lösung getränkte Wattebäusche wurden auf
den Schleimhautbezirk aufgelegt und etwa
5 Minuten in der Nase belassen. So habe
ich folgende Operationen ausgeführt:
Kauterisation unterer Muscheln, medi-
kamentöse Ätzungen, Entfernung von
Hypertrophien und Polypen, Abtra-
gung der mittleren Muschel oder eines
Teils derselben sowie hyperplastischer
hinterer Muschel enden, Probepunktion
und Trokar-Punktion der Kieferhöhle
vom unteren Nasengange aus, Eröffnung von
Siebbeinzellen, Sondierung und Spülung
von Nebenhöhlen, Abmeißelung einer
Crista septi. Wo eine Anämisierung er-
wünscht war, wurde vorher die Schleimbaut
mit 1 °/oo Adrenalinlösung bestrichen. Diese
vertieft und verlängert zugleich die Anästhesie
vermutlich dadurch, daß sie die Resorption
des Anaestheticum und seine Fortschwem-
mung mit dem venösen Blute verzögert.
Darum glaube ich auf die vorherige Appli-
kation des Adrenalins Wert legen zu sollen,
während andere (Finder) es der anästhe-
sierenden Lösung beimischen.
Operationen an den Weichteilen der Nase
ließen sich mit Eukain völlig schmerzlos
ausführen. Wo Knochen durchtrennt oder
durchstoßen werden muß — besonders wenn
man bei Maxillarpunktion auf stärkeren
Knochen stößt, und bei Eröffnung des Sieb-
beins — läßt sich zwar auch mit Kokain
nicht immer völlige Empfindungslosigkeit
erreichen; doch scheint mir hier das Eukain
nicht ganz so wirksam wie Kokain zu sein.
Die Kontraktion der Muschel-Schwell-
körper nach Eukain ist sehr gering, wohl
nicht stärker als Applikation von Wasser
in gleicher Form sie ebenfalls bewirken würde.
Bei reflektorischem Asthma bron-
chiale brachte in 2 Fällen Eukain, auf die
erregenden Teile der Nase gebracht, Erleich-
terung der Atemnot, die stundenlang anhielt.
Auch für die Erkennung der reflexerregenden
Stellen ist dies Verfahren anwendbar. Gerade
hier sind wenig giftige Kokainersatzmittel
besonders am Platze.
Operationen am Septum narium,
besonders die Fensterresektion, wurden bei
uns meist in Infiltrationsanästhesie
242
Mayer, Mllchiauret Eukaio, Stovain.
[Therapeutische
L Monatsheft».
ausgeführt. In 5 Fällen wurde hierzu
Eukain benutzt. Die Schleimhaut wurde
zuerst mit 15-proz. Lösung bestrichen, dann
eine 1-proz. Eukainlosung, der Vio Teil
Adrenalin lösung zugefügt war, submukös in*
jiziert. Die Operation, deren Dauer zwischen
15 und 60 Min. schwankte, verlief fast ohne
Blut; die Anästhesie war meist gut, nur
zweimal nicht so vollkommen wie nach
Kokaininfiltration.
Im Larynx ist es mir an 4 Patienten
nie geglückt, durch Instillation und Pinseln
mit 15-proz. Eukainlosung eine Anästhesie
zu erreichen, die die Vornahme von Ope-
ration oder Ätzung im Kehlkopfe ermöglicht
hätte. — Ein fünftes Mal wandte ich
einen Brei von Eukain mit heißem Wasser
an, der also außer einer konzentrierten
Lösung noch ungelöstes Eukain enthielt.
"Wiederholte Applikation mittels Spritze
und Tampon war ganz erfolglos. — Auch
bei Milchsäureätzung der Zunge wurde das
Brennen nur etwas verringert.
Die Anwendung des Eukain hat sich
bis jetzt als völlig ungefährlich bewährt.
Niemals habe ich irgend welche Vergiftungs-
erscheinungen gesehen, während die leichteren
Formen der Kokainvergiftung — Schwindel,
Herzklopfen, Übelkeit, Angstgefühl und kalter
Schweiß — nicht gar zu seltene Gäste in
der Sprechstunde des Larvngologen sind.
Auch das Spannungsgefühl in der Nase ist
nach Eukain geringer. Blutungen ungewöhn-
licher Intensität, die auf seine Rechnung ge-
schrieben werden könnten, sind gleichfalls
nicht zur Beobachtung gekommen.
Über das zweite Lokalanaestheticum, das
Stovain, ist meines Wissens in Deutschland
noch nicht berichtet worden. Fourneau
hat es synthetisch dargestellt; unter 15 von
ihm konstruierten Körpern aus der Klasse
der tertiären Amino-Alkohole, die alle
anästhesierende Eigenschenschaften hatten,
war das „ a-Dimethylamino-0-benzoyl-penta-
nolchlorhydrat" der geeignetste für pharma-
zeutische Verwendung. Dieser Stoff, kurz
„Stovain" genannt, ist sehr leicht in
Wasser löslich. Seine Lösungen vertragen
das Kochen und beginnen erst bei 120°
sich zu zersetzen. Selbst in 1-proz. Ver-
dünnung entfaltet er noch ziemlich energische
antiseptische Eigenschaften (Pouchet).
Billon, Launoy und Billon, Pouchet
u. a. prüften seine Wirkung im Tierexperi-
ment. Nach Injektion toxischer Dosen ent-
steht Trismus, Zittern, Analgesie, Parese der
hinteren Extremitäten, tonische und klonische
Krämpfe, Temperaturabfall; endlich Exitus
letalis im Koma. Pouchet unterscheidet eine
analgetische Vergiftungsform mit Untertempe-
ratur ohne Krämpfe, und eine hyperästhetische
mit Krämpfen und erhöhter Temperatur. Die
Art der Vergiftung ist also dem Kokain sehr
ähnlich. Die Dosis letalis für Meer-
schweinchen beträgt 0,15 — 0,2 g pro Kilo
(Billon, Pouchet), gegen 0,05 beim Kokain,
für Hunde 0,1—0,12 (Pouchet, Launoy),
für Kaninchen 0,15 — 0,17 (Launoy).
Das Stovain ist also */s bis Vs 80
giftig als Kokain.
Wegen der anästhesierenden Wirkung
wurde Stovain auch klinisch geprüft. Über-
einstimmend wird angegeben, daß keine Vaso-
konstriktion, sondern eine geringe Dilatation
stattfindet. Reclus hat bei Einspritzungen
bis zu 0,2 g nur selten geringe Intoxikations-
erscheinungen gesehen: Blässe und Präkor-
dialangst. Stovain wurde in der Chirurgie
in Form endermatischer Infiltration von Re-
clus, Chaput, für Lumbalanästhesie von
Chaput, Kendirdjy und Bertaux,
Chartier angewandt, in der Augenheil-
kunde von Lapersonne, in der Odon-
tologie von Sauvez, Nogu£, in der Rhino-,
Oto- und Laryngologie von Dubar. Über-
einstimmend wird die erreichte Analgesie
der nach Kokain vollkommen gleichgestellt.
Dubar publiziert 16 Beobachtungen von
kleineren Operationen in der Nase und an
den Mandeln, in denen sich ihm 5 — 10-proz.
Stovainlösung bewährt hat. Einmal erleich-
terte Pinselung des Kehlkopfs mit 10-proz.
Lösung die Untersuchung.
Ich habe das Stovain in 38 Fällen,
davon in vielen wiederholt, angewandt.
Es hat sich seitdem bei uns völlig einge-
bürgert, sodaß lange nicht mehr alle unsere
Beobachtungen notiert sind.
In der Nase wurde Stovain in 5 und
10-proz. Lösung angewandt; da aber erstere
völlig ausreicht, haben wir von der stärkeren
ganz abgesehen. Septumoperationen wurden
nach submuköser Injektion einer 0,5 -proz.
Lösung, der 7io Teil Adrenalin zugefügt war,
ausgeführt.
30 mal verwendeten wir Stovain zu
Nasenoperationen. Es handelte sich
wieder um Kauterisation unterer Muscheln,
Abtragung von Polypen, Hypertro-
phien, besonders der hinteren Muschel-
enden, sowie der mittleren Muschel ganz
oder teilweise, Punktion der Kieferhöhle
(5 mal), Eröffnung des Siebbeins (5 mal),
Fensterresektion des Septums, Abtra-
gung einer Crista, Eröffnung eines Septum-
Abszesses. Ausnahmlos war die Anästhesie
ausgezeichnet. Üble Zufälle fehlten völlig;
nur 2 mal erfolgte auf Abtragung eines
hinteren Muschelendes mit kalter Schlinge
stärkere Blutung, die aber das eine Mal
XIX. Jahrgang.!
Mal 1906. J
Meyer, Milchsäure« Bukato, Stovain.
243
spontan, das andere Mal nach vorderer Tam-
ponade stand und jedenfalls nicht stärker
war, als sie auch sonst oft vorkommt. Ein
Mediziner, dem ein hinteres Muschelende ent-
fernt wurde, gab an, absolut keinen Schmerz
empfunden zu haben.
Für die Nase kann somit das Sto-
vain in 5-proz. Lösung mindestens als
dem Kokain in 10-proz. gleichwertig
erachtet werden. Auch für die Infiltra-
tionsmethode hat es 8 ich bewährt.
Im Kehlkopf habe ich Stovain an acht
Patienten, meist wiederholt, versucht. Es
wurden 2 — 3 mal einige Tropfen einer 20-proz.
Losung instilliert, dann 1 — 3 mal gepinselt.
So wurde zwar die Epiglottis bald für Be-
rührung und Druck unempfindlich, die tieferen
Teile des Larynx dagegen nicht so, daß
ruhiges Operieren an ihnen möglich gewesen
wäre. Später tauchte ich den mit 20-proz.
Lösung getränkten Tampon noch in reines
pulverisiertes Stovain und hatte mit
dieser Methode mehrmals gute Anästhesie,
sodafi ich ein Kürettement tuberkulöser Gra-
nulationen und an mehreren Personen Milch-
säureätzungen verschiedener Stellen bequem
ausführen konnte. Mehrfach aber war der
Kehlkopf zwar für leichte Sondenberührung
unempfindlich, doch löste Druck oder Kitzeln
der Schleimhaut Reflex aus, so daß sich loka-
lisierte Ätzung nur mit großer Geschwindig-
keit bewerkstelligen ließ.
Am widerspenstigsten ist die Hinter wand.
Mit aller Mühe gelang es bei einer Patientin
nicht, die zur Zangenabtragung tuberkulöser
Granulationen nötige Unempfindlichkeit her-
beizuführen; nachherige Instillation weniger
Tropfen Kokain führte* sofort zu einem Re-
sultat bei der auch gegen Kokain sehr refrak-
tären Patientin.
Einmal suchte ich mir nach dem Vor-
schlage von Mermod dadurch zu helfen,
daß ich !/a Stunde vor der Operation dem
Pat. 0,01 g Morphium subkutan injizierte.
Auch diese Kombination hatte Erfolg.
Dagegen darf hervorgehoben werden, daß
ein Patient bereits nach Einträufeln weniger
Tropfen 20-proz. Lösung ohne irgendwelche
Hilfsmittel absolut anästhetisch war, sodaß
ein Tumor des linken Stimmbands in
voller Ruhe exstirpiert werden konnte.
Zur Untersuchung des Larynx wurde
zweimal stovainisiert, einmal wegen starker
Reizbarkeit des Rachens, die nach Pinsel ung
mit 5-proz. Stovain nach 2 — 3 Minuten ge-
schwunden war, einmal wegen sogen, „kurzer
Zunge". Auch diese ließ sich nach Stovaini-
sierung leicht hervorziehen. Der Fortfall
reflexauslösender Empfindungen infolge der
Anästhesie verringert den Tonus der Mus-
kulatur der Zunge; so ist die Wirkung des
Anästheticums erklärlich.
Hinzugefügt sei noch, daß wir eine Adeno-
tomie nach PinseluDg mit 5-proz. Stovain aus-
geführt haben; die verständige Patientin gab an,
keinen Schmerz, sondern nur ein unangenehmes
Gefühl gehabt zu haben. Dies ist jedoch auch
ohne Anaatheticum nicht selten.
Eine Parulis wurde eröffnet nach Injektion
der 7,-proz. Lösung, und zwar unter völliger
Schmerzlosigkeit.
Granulationen in der Wundhöhle nach
Radikaloperation des Mittelohrs ließen sich unter
Stovain völlig schmerzlos ätzen. Auch große poly-
pöse Granulationen, die aus einer Trommel-
fellperforation hervorkamen, wurden nach Einlegung
eines kleinen Stovaintampons fast schmerzlos ent-
fernt.
Niemals habe ich irgend welche Vergif-
tungserscheinungen beobachtet. Das Gefühl
nach Applikation des Stovains war stets, wie
ich auch selbst bestätigen kann, weit weniger
unangenehm als nach Kokain; nur eine
Patientin, der der Rachen anästhesiert war,
klagte über starkes Spannen. Der Geschmack
ist nicht so widerlich bitter, und niemals
trat Übelkeit auf. Der etwas fade, milch-
ähnliche Geruch, der erst nach dem Ein-
bringen in die Eörperhöhlen entsteht, ist
nicht lästig.
Die Giftigkeit des Kokains verhält sich
zum Stovain und Eukain wie 1 : 1j2 — l/s : Vi?
der Vorrang, den hier das Eukain zeigt,
wird aber mehr als aufgewogen dadurch,
daß man von Stovain nur ein Drittel der
Dosis braucht. Doch haben sich auch große
Dosen beider Stoffe als unschädlich er-
wiesen.
Ich fasse noch einmal kurz die Ergeb-
nisse meiner Versuche zusammen: Sowohl
das milchsaure 0-Eukain als das Stovain
sind bis zu einem gewissen Grade geeignet,
das Kokain zu ersetzen. Beide sind weniger
giftig, beide billiger, beide sterilisierbar.
Beide erzeugen nur Anästhesie, nicht Ischämie.
Für die Nasen Operationen erscheint
Kokain entbehrlich durch das Vorhandensein
gleich intensiver, aber minder giftiger An-
aesthetica, die hier beide fast gleich gut
sind (Stovain ist etwas überlegen).
Im Larynx versagt Eukain völlig; Stovain
kann in einem Teil der Fälle hinreichende
Empfindungslosigkeit erzeugen, in einem an-
deren wenigstens Kokain sparen.
Die Anwendung des Eukain s geschieht
an der Oberfläche in 1 5-proz. Lösung, sub-
mukös in 1-proz. mit '/ioooo Adrenalin; Sto-
vain wird in der Nase in ö — 10-proz. Lö-
sung, zur Infiltration in 0,6-proz. mit Adre-
nalin benutzt, im Larynx in 20-proz. Lösung,
durch reines Pulver verstärkt.
244
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Zur medikamentösen Behandlung der
Lungentuberkulose.
Von
Dr. Curt Stern,
prakt Arxt, Besitzer and dirigierender Arsft dar
„Villa Qnlsluna"» Heilanstalt in San Remo.
Daß die einzig aussichtsvolle Behandlungs-
weise der Lungentuberkulose die physikalisch-
diätetische Methode ist, und zwar in ge-
schlossenen Anstalten ausgeübt, hat sich im
Laufe der letzten Jahre mit absoluter Ge-
wißheit herausgestellt. Zumal in Deutsch-
land ist es gelungen, diese Tatsache nicht
nur den Ärzten, sondern auch dem Laien-
publikum klar zu machen. Millionen sind
geopfert worden, um diese Erkenntnis in die
Praxis umzusetzen und so nicht nur die Be-
güterten, sondern auch die Unbemittelten die
Frucht dieser Behandlungsmethode genießen
zu lassen. Leider genügen alle aufgewandten
Mittel nur in geringem Maße. Immer nur
bleibt es ein Bruchteil der Erkrankten, die
zwecks Wiederherstellung in eine Volksheil-
anstalt aufgenommen werden können, oder
deren materielle Lage es gestattet, sich selbst
in eine Privatheilanstalt zu begeben. Schon
aus diesem Grunde ist es eine zwingende
Notwendigkeit, immer wieder danach zu
trachten, auch den Unglücklichen helfen zu
können, denen die Anstaltsbehandlung ver-
sagt sein muß, sei es durch Anraten einer
dieser Behandlungsmethode möglichst ähn-
lichen Lebensweise im Hause, sei es durch
Empfehlung wirkungsvoller Medikamente. Ja
selbst der Anstaltsarzt kann die Unter-
stützung der physikalisch-diätetischen Me-
thode durch Medikamente nicht entbehren.
Denn einmal wird der Patient selbst oft
; solche vom Arzte fordern, und dann können
! wir in Wirklichkeit besonders quälende Sym-
i ptome oft durch Darreichung von Medika-
menten lindern.
Die Anzahl der gegen die Tuberkulose
empfohlenen Heilmittel wächst in jedem Jahre,
und hier ganz besonders steht die Zahl der
empfohlenen Mittel in umgekehrtem Ver-
hältnis zur Wirksamkeit. Als eines der
wenigen Medikamente, das trotz des An-
sturmes von Tuberkulin, Hetol, Sanosin
u. a. m. nunmehr seit fast 30 Jahren seinen
Platz in der Tuberkulosebehandlung behauptet,
steht noch immer im Arzneischatz des Arztes
das Kreosot und seine Derivate an erster
Stelle. Von seinen Anhängern in den Himmel
gehoben, von seinen Gegnern als direkt schäd-
lich verworfen, hat sich im Laufe der Jahre
doch so viel herausgestellt, daß wir in einer
Reihe von Fällen durch dies Mittel Tuber-
kulose, wenn auch nicht heilen, so doch
bessern können.
In Deutschland ist das Kreosot im Jahre
1878 durch Fraentzel und besonders durch
Sommerbrodt, nachdem es schon früher
angewendet wurde, in die Therapie der
Lungentuberkulose wieder eingeführt worden.
Es hat sich aber bald herausgestellt, daß der
von Sommerbrodt aufgestellten Forderung,
daß das Kreosot zwecks Heilung resp. Besse-
rung monatelang hintereinander genommen
werden muß, in einer Reihe von Fällen nicht
genügt werden kann, da dasselbe ein Ätz-
mittel ist, das die Magen- und Darmschleim-
haut bei längerem Gebrauch reizt. Die Folge
davon ist, daß sich oft Appetitmangel, Auf-
stoßen und Erbrechen einstellen, welche zum
Aussetzen des Mittels zwingen, zumal auch
Reizungen des Urogenitalapparates beobachtet
wurden, welche sich in Dysurie, Albuminurie
und Hämaturie zeigten. Dazu kommt noch
der vielen Patienten widerwärtige Geschmack
und Geruch des Kreosots. Letzterer belästigt
in der Tat nicht nur die Kranken, sondern
oft auch die Umgebung in unangenehmster
Weise. Solch armer Kranker, der nach
„Schwindsucht" riecht, wird direkt von seinen
Mitmenschen gemieden. Aus allen diesen
Gründen war es nötig, ein Mittel zu finden,
das die wirksamen Bestandteile des Kreosots
enthielt, ohne doch die schädlichen Neben-
wirkungen auszuüben. So entstand das
Guajakol,' das zu 75 Proz. im Kreosot ent-
halten ist. Aber auch diesem haften die
schädlichen Nebenwirkungen z. T. noch an.
Es wurde deshalb eine ganze Reihe von
Präparaten auf den Markt geworfen, so das
Guajakolkarbonat, das Benzosol, Geosot
u. a. m. Doch auch diese konnten einer ein-
gehenden Nachprüfung nicht standhalten, bis
XIX. Jahrgang.!
IUI 1905. J
Stern, Behandlung der Lungentuberkulose.
245
vor einigen Jahren von Mendelsohn1) auf
das orthosulfoguajak Ölsäure Kalium aufmerk-
sam gemacht wurde, das Thiocol, ein Pulver,
welches in Substanz oder in Sirupus florum
Aurantii gelöst — Sirolin — gegeben wird.
Dies Präparat hat in der Tat, wie ich mich
öfter überzeugt habe, die guten Eigenschaften
des Kreosots ohne seine schädlichen oder un-
angenehmen Nebenwirkungen, nur ist es sehr
teuer. Im Jahre 1900 hat nun die che-
mische Fabrik von Speyer und v. Karger zu
Berlin ein Präparat „Pneumin" hergestellt,
welches nach den Bekundungen von Jacob-
son8), Silberstein8), Margoniner4) und
Sigl5) in einer Reihe von Fällen die Lungen-
tuberkulose gunstig beeinflußt hat, ohne eine
schädliche Nebenwirkung hervorgerufen zu
haben.
Das „Pneumin" stellt sich als ein gelb-
liches Pulver dar und ist in Wasser nicht,
in Alkohol und Äther leicht löslich. Man
erhält es durch Einwirkung von Formaldehyd
auf Kreosot und ist es ein Gemenge der
Methylenverbindungen der im Buchenholzteer
sich vorfindenden Phenole. Durch Tier-
versuche, die von Oliven und später von
Jacobson angestellt wurden, war die voll-
ständige Ungiftigkeit des Präparates nach-
gewiesen worden. Es wurde einer großen
Anzahl von Kaninchen mehrere Monate hinter-
einander eine größere Menge Pneumin täglich
mit der gewöhnlichen Nahrung zusammen
verabreicht. Die Tiere nahmen bei ver-
mehrter Freßlust an Gewicht zu und zeigten
sich bei vollständigem Wohlbefinden. Nach
erfolgter Tötung sah man den Oesophagus,
Magen und Darm frei von jeder Ätzwirkung,
die man nach monatelangem Genuß von
Kreosot und seinen sonstigen Derivaten bei
den Tieren gefunden hatte. Da auf diese
Weise die vollständige Ungiftigkeit nach-
gewiesen worden war und die genannten
Autoren günstige therapeutische Erfolge er-
zielt hatten, so zögerte ich nicht, das „Pneu-
min" in der Saison 1903/1904 sowohl einem
Teil der in ' meiner Anstalt zu San Remo
sich befindenden, als auch ambulant behan-
delten Tuberkulösen zu verordnen.
Natürlich war ich mir von Anfang an
darüber klar, daß Heilungen resp. Besserungen
]) M e n d e 1 8 o h n , Zur medikamentösen Therapie
der Lungentuberkulose. Deutsche Ärztezeitung 1900,
No. 21. „
*) Über „Pneumin and Pulmoform". Die medi-
zinische Woche 1900, No. 36.
3) Ibidem 1901, No. 3.
4) Beitrag zur Behandlang der Lungentuber-
kulose. Therapeut. Monatshefte Febr. 1903.
*) Therapeutische Beobachtungen. Berliner klin.
Wochenschrift 1904, No. 1.
Th.M.190».
besonders der in der Anstalt sich befindenden
Patienten wohl nur zum geringen Teile dem
dargereichten „Pneumin" zu verdanken waren,
sondern vor allem der in einem besonders
günstigen Klima ausgeübten Anstaltsbehand-
lung. Dennoch war ich froh, in dem „ Pneu-
min a ein Mittel zu haben, das von den Pa-
tienten gern genommen wurde, ohne ihren
Geldbeutel wesentlich zu belasten. Als einen
besonderen Vorzug möchte ich gleich noch
einmal hervorheben, daß ich durch Einführung
dieses Mittels an Stelle der früher gegebenen
anderen Kreosotpräparate zum ersten Male
den sonst in den Krankenzimmern und an-
deren Räumen herrschenden, ja selbst am
Geschirr haftenden widerlichen Geruch aus
der Anstalt vertrieben habe.
Ich habe das Pneumin bei ca. 40 Patienten
im Verlauf des Winters bei Kranken aller
3 Stadien, und zwar fast stets vom Eintritt
der Patienten in meine Behandlung bis zu
ihrer Abreise — in einem Zeitraum von je
l'/i bis zu 5 Monaten ununterbrochen — an-
gewendet. Jeder bekam 3 mal täglich nach
den Mahlzeiten 0,5 g, das er als trockenes
Pulver — ohne Kapsel oder Oblate — mit
etwas Wasser schluckte. In keinem einzigen
der Fälle war ich gezwungen, das Mittel
wegen irgend welcher Reizung von Seiten des
Magen - Darmkanals oder des Urogenital-
apparates auszusetzen, was bei den sonstigen
Kreosotpräparaten oft der Fall war. Ja eine
Patientin, die in der Stadt bisher von einem
Kollegen mit Guajakol behandelt worden war
und dann nach seiner Abreise in meine Be-
handlung trat, klagte bei der ersten Kon-
sultation über Appetitmangel und häßliches
Aufstoßen nach dem nur mit Widerwillen
genommenen Essen. Ich riet ihr, an Stelle
des Guajakols „Pneumin" in der angegebenen
Weise zu nehmen. Schon nach 2 Tagen be-
richtete sie, der Appetit sei besser und das
Aufstoßen hätte aufgehört. Auch hatte sich
in dör Tat die dick belegte Zunge gereinigt.
Nach 14 Tagen konnte ich bei der Patientin
eine Gewichtszunahme von 1,5 kg konsta-
tieren. — Es ist natürlich unmöglich, sämt-
liche Krankengeschichten der mit „Pneumin"
behandelten Patienten hier wiederzugeben.
Geschadet hat es niemals, im Stiche gelassen
mitunter, geholfen oft, und zwar nicht nur
im Anfangsstadium, sondern auch in mittel-
schweren und schweren Fällen. Selbstver-
ständlich führe ich, wie ich noch einmal
hervorheben möchte, die Besserungen zum
größeren Teil auf die Anstaltsbehandlung in
dem klimatisch überaus günstig gelegenen
San Remo zurück. Daß aber auch das
„Pneumin" zur Besserung vieler Symptome
beitrug, erscheint mir evident.
20
246
Stern t Behandlung der Lungentuberkulose.
rrbempeutlten«
L Monatshefte.
Es sei mir gestattet, zur Bekräftigung
dieser meiner Anschauung einzelne Kranken-
geschichten, und zwar aus jedem der drei
Stadien je zwei, wiederzugeben.
1. Herr Dr. G. aus Berlin, 44 Jahre alt, ver-
heiratet. Die Frau und die zwei Kinder des Pat.
sind gesund. Mutter lebt noch und ist gesund,
der Vater soll „an der Lunge" gelitten haben,
starb aber, 70 Jahre alt, an einer Herzkrankheit.
Pat. erkrankte vor 2 Jahren an Influenza, nach
deren Ab'auf eine Otitis media zurückblieb, die
erst durch die Radikaloperation — Aufmeißelung
des Proc. mastoideus — verheilte. Seit einem Jahre
ungefähr klagte der Patient dauernd über Dyspepsie
und Hasten. Im November 1903 plötzliche Hä-
moptoe. Pat. gibt an, einen Tassenkopf Blut un-
gefähr verloren zu haben, das sich bei der üblichen
Behandhing innerhalb 8 Tagen verlor.
Pat. kam am 16. Januar 1904 ins Sanatorium
bei leidlich guter Ernährung. Gewicht 71 Kilo.
Y. 0. R. Dämpfung mit geringem kreditierenden
Rasseln. H. 0. R. geringe Dämpfung. Kein Fieber.
Im Sputum einige T. B.
Therapie: Liegekur, morgens und abends
kalte Abreibungen (halb Alkohol, halb Wasser).
Nachts Kreuzbinde, Massage des Magens. 3 mal
täglich 0,5 Pneumin.
Bei der Abreise am 2. März allgemeines Wohl-
befinden, Körpergewicht 73 Kilo. Ganz geringes
Sputum, in dem trotz wiederholter Untersuchungen
keine T. B. gefunden wurden. Keinerlei dy 8 pep tische
Beschwerden. Nur V. R. 0. geringe Dämpfung und
abgeschwächtes Atmen, keinerlei Nebengeräusche.
Trotzdem die Kur hier nur 6 Wochen
währte, ergibt sich ein vorzugliches Resultat.
Das Aufhören der dyspeptischen Beschwerden
ist wohl zum größten Teil eine Wirkung des
„Pneumins".
Eine größere körperliche Gewichtszunahme
bei sonst ebenso günstigem Verlauf wurde in
folgendem Falle erzielt:
Herr J. Bl. aus Budapest, 23 Jahre alt, will
bis vor Va Jahre nie krank gewesen sein. Seine
Eltern leben und sind gesund, ebenso seine drei
Geschwister. Pat. lebte ausschweifend in Baccho et
venere, trotz des vor 7a Jahre beginnenden Hustens.
Da plötzlich im Oktober 1903 Hämoptoe, von der
er sich auf dem Landgute des Vaters bald erholte.
Der Kranke kam am 10. Januar in die Anstalt.
Er ist ein hochgewachsener, anämischer junger
Mann. Gewicht bei der Ankuft 70 Kilo. Die
Untersuchung der Lungen ergibt R. 0. V. und
R. 0. H. Dämpfung, unbestimmtes Atmen und krepi-
tierende Geräusche. Trotz verschiedener Unter-
suchungen des Sputums keino T. B. Kein Fieber.
Laryngitis.
Therapie: Liegekur, kalte Abreibungen (halb
Wasser, halb Alkohol), nachts Kreuzbinde. 3 mal
täglich 0,5 Pneumin. Gegen die Laryngitis Injek-
tionen von Lugol scher Lösung, 3 mal wöchentlich.
Patient bleibt bis zum 7. März, also 8 Wochen, in
der Anstalt, während dieser Zeit dieselbe Therapie.
Bei der Abreise besteht nur noch R. V. 0. leichte
Dämpfung, Geräusche geschwunden. Larynx nor-
mal. Körpergewicht 75,600 Kilo. Pat. erfreute sich
während der ganzen Zeit des besten Wohlbefindens
und hat also über 5 7s Kilo an Körpergewicht zu-
genommen.
Die Zahl dieser durch die eingeschlagene
Therapie geheilten resp. gebesserten Leicht-
erkrankten, bei denen niemals Fieber be-
stand, könnte ich noch durch eine ganze
Reihe von Beispielen belegen. Oft findet
man eine Besserung des objektiven Befundes,
fast stets ein Zurückgehen der Sputum menge
und konstant eine Hebung des Appetits und
des Körpergewichts.
Fast dieselben günstigen Erfahrungen
machte ich bei Kranken des zweiten Stadiums,
wenn auch natürlicherweise hier Mißerfolge
zu verzeichnen waren.
Als Beispiele dienen folgende Kranken-
geschichten :
Frl. H. W. aus Berlin, 26 Jahre alt, ist das
einzige Kind gesunder Eltern, die beide am Leben
sind. Pat. will bis zum Sommer 1902 stets gesund
gewesen sein. Da erkältete sie sich auf einer an-
strengenden Bergpartie und will seitdem gehustet
haben. Im Oktober 1902 Fieber und Hämoptoe.
Nachdem sie sich hiervon etwas erholt hatte, schickte
sie der Hausarzt nach Schömberg im Schwarzwald,
von wo sie Ostern 1903 als gebessert nach Berlin
zurückkehrte. Den Sommer verlebte sie dann in
Heringsdorf bei leidlich gutem Befinden, bis im
Herbst der Husten wieder zunahm. Pat. trat am
8. Januar 1904 in meine Anstalt mit einem Körper-
gewicht von 55 Kilo. Sie klagt über vieles Husten,
Nachtschweiße und absoluten Appetitmangcl.
Die Untersuchung ergab: Dämpfung der linken
Spitze vorn bis zur Clavicula, darunter bis zur
Herzdämpfung tjmpani tischer Schall, im Bereich
der Dämpfung Bronchialatmen und kleinblaaiges
Rasseln, im Bereich des tympari tischen Schalls
ebenfalls Bronchialatmen und teils klingende, teils
großblasige Rasselgeräusche. Auch H. L. bis zur
I. Rippe Dämpfung, unbestimmtes Atmen und klein-
blasiges Rasseln. Im Sputum geringe Anzahl von
T. B. Abend 8 Temperatursteigerung bis 38° (im
Munde).
Therapie: Zunächst absolute Bettruhe, kalte
Waschungen, Pneumin 3 mal täglich 0,5 g. Schon
im Verlauf der ersten Woche hob sich der Appetit,
die Temperatur ging herunter, die Nachtschweiße
6ch wanden. Nach 3 Wochen konnte die Pat. das
Bett verlassen und ihre Liegekur im Garten be-
ginnen. Die übn'ge Therapie wurde fortgesetzt bis
zu der Abreise am 22. April. Die Pat hatte sich
in diesen 3l/s Monaten stets wohl befunden, die
abendlichen Temperaturen gingen nie über 37,3.
Nachtschweiße bestanden nicht. Die Gewichtszu-
nahme betrug 6 Kilo. Im Sputum fanden sich noch
T. B. Auch der objektive Befund hatte sich sehr
gebessert, die Dämpfung aufgehellt, es bestand nur
noch V. L. unterhalb der Clavicula tympanitischer
Schall und Bronchialatmen, die großblasigen Rassel-
geräusche hatten sich hier in kleinblasige ver-
wandelt.
War in diesem Falle eine entschiedene
Besserung erzielt worden, von der man an-
nehmen konnte, daß sie auch noch weiter
fortschreiten wurde, so trat die Besserung in
folgendem Falle noch eklatanter zu Tage:
Herr R. aus Kiew, 33 Jahre alt, verheiratet,
kinderlos. Die Eltern leben und sind gesund, eben-
so die Frau. Pat. will stets gesund gewesen sein,
bis er vor 3 Jahren zu husten begann, etwa 1 Jahr
nach seiner Verheiratung. Da der Husten trotz
vieler angewandter Mittel nicht nachließ, Pat. mehr
und mehr abmagerte, so konsultierte er im Oktober
XIX. Jahrgang.!
»-»Mal 1905. J
8 tarn, Behandlung dar Lungentuberkulose.
24?
1903 einen Wiener Kollegen, der ihn nach Meran
schickte. Dort 'blieb der Patient 2 Monate, während
welcher Zeit er eine Hämoptoe überstand. Da er
auch an Körpergewicht weiter abnahm, so reiste er
nach San Remo, wo seine Aufnahme in das Sana-
torium am 23. Dezember 1903 erfolgte.
Pat., ein kleiner anämischer Herr, von grazilem
Körperbau mit Caput obstipum, neurasthenisch,
hustet viel. Im reichlichen Sputum keine T. B.
Körpergewicht 51 Kilo. Abends Temperatur fast
stets bis 38° im Munde. Der objektive Befund war
folgender: V. R. 0. Dämpfung und kleinblasiges
Rasseln bis zur Clavicula, darunter bis zur dritten
Rippe tympanitischer Schall und großblasiges
Rasseln bei bronchialer Atmung. L. Y. 0. geringe
Dämpfung und vereinzeltes Knistern. H. R. 0. bis
zur aritten Rippe Dämpfung, unbestimmtes Atmen,
vereinzelte Rhoncbi.
Pat muß zunächst absolute Bettruhe halten,
erhält Alkohol- Ab Waschungen des Thorax und 3 mal
täglich 0,5 Pnenmin. Bei diesen therapeutischen
Maßnahmen hört der bis dahin konstante Gewichts-
verlust mit einem Schlage auf, schon in der ersten
Woche nimmt der Pat. 1,5 Kilo zu. Nach 3 Wochen
kann er, da die Temperatur abends nicht über 37,5
steigt, das Bett verlassen. Die Besserung schreitet
nun langsam, aber stetig vorwärts. Die Nacht-
schweiß» hören ganz auf, die Sputummenge nimmt
bedeutend ab. Bei der Abreise am 13. April —
nach 16 wöchentlichem Aufenthalt in San Remo —
wiegt Pat. 59,200 Kilo, hat also über 8 Kilo zuge-
nommen.
Es bestehen nur noch R. V. von der Clavicula
abwärts bis zur dritten Rippe Dämpfung, Bronchial-
atmen und vereinzelte kleinblasige Rasselgeräusche.
Da der Pat., trotz der auch in Meran streng durch-
geführten Anstaltsbehandlung dort keine Besserung
erzielte, im Gegenteil stets an Körpergewicht ver-
lor, so kann man wohl diese plötzliche Wendung
zum Bessern, besonders was Appetit und Zunahme
des Körpergewichts anbelangt, zum Teil wenigstens
auf das Konto des dargereichten Pneumins setzen.
Gehe ich nun zu der dritten Kategorie,
den Schwerkranken, über, so waren die Miß-
erfolge hier natürlich häufiger, dennoch ge-
lang es mir oft, die Kranken von den all er-
quälendsten Symptomen zu befreien, ihre
Korperkräfte zu heben und so ihr Leben zu
verlängern.
Ich führe nur folgende Beispiele an:
Herr Dr. G. aus Lemburg, unverheiratet, 33 Jahr
alt. Die Mutter lebt und ist gesund, Vater an der
Schwindsucht gestorben, von seinen 2 Brüdern und
3 Schwestern sind 1 Bruder und 2 Schwestern
ebenfalls an der Schwindsucht gestorben.
Der Pat. erkrankte vor 7 Jahren an leichtem
Husten, ohne besonders auf diesen zu achten. Im
Sommer 1899 ak^uirierte er Influenza, im Anschluß
an diese Pleuritis. Er wurde wiederhergestellt,
fühlte sich aber doch stets so schwach, daß er
seinen Beruf — er ist Bankbeamter — aufgeben
mußte. Er lebte dann bei seiner Mutter in einer
kleinen Stadt Galiziens bei bald besserem, bald
schlechterem Befinden. Im Sommer 1903 begann
seine Sprache heiser zu werden, das Sputum ver-
mehrte sich und war oft mit Blut vermischt; er
verlor dauernd an Körpergewicht.
Zum Herbst 1903 ging er nach Meran und
kam Ende November desselben Jahres in meine
Anstalt.
Der Pat, ein großer, stark abgemagerter Mann
spricht mitFiustersprachc. Er klagt über allgemeine
Mattigkeit und Schluckbeschwerden. Viel Sputum,
in diesem zahlreiche T. B. Die Entleerung des
zähen Sputums verursacht oft Mühe. Abends
Temperatur bis 38°. — Der objektive Befund war
folgender: Epiglottis stark geschwollen, auf ihrer
linken Seite Ulcus. Schwellung der ary-epiglottischen
Falte und der hinteren Larynxwand, Ulcus auf dem
linken Stimmband. — Dämpfung R. V. bis zur Cla-
vicula, hier Bronchialatmen und kleinblasiges Rasseln.
Auch L V. und H. bis zur dritten Rippe Dämpfung,
Bronchia'atmcn und kleinblasiges Rasseln, ebenso
H. R. bis zur 4. Rippe.
Die Therapie bestand in Atzungen der Ulcera
des Larynx mit 60 proz. Milchsäure 3 mal wöchent-
lich und täglichen Einblasungen von Anästhesin. —
Absolute Bettruhe, kalte Waschungen des Thorax.
Durch diese Therapie erreichte ich so viel, daß die
Temperatur nach 3 Wochen nicht über 37,5 stieg.
Ich ließ den Pat. dann aufstehen, die Liegekur im
Garten fortsetzen und erzielte, daß die Sputument-
leerung leichter wurde und das Allgemeinbefinden
relativ gut war. Bei der Abreise nach fünfmonat-
lichem Aufenthalt hatte der Pat. dasselbe Gewicht,
wie bei der Aufnahme, der Appetit war ausge-
zeichnet. Der Larynx hatte sich — wohl infolge
der lokalen Behandlung — bedeutend gebessert.
Der objektive Befund der Lungen war allerdings
noch derselbe, wie bei der Aufnahme. Jedenfalls
glaube ich auch hier das Aufhören des Gewichts-
verlustes, das leichtere Entleeren des Sputums und
die Besserung des Allgemeinbefindens dem „Pneu-
min" verdanken zu müssen.
Dieselbe Erfahrung machte ich auch bei
einem 73jährigen Herrn mit schwerer Lungen-
tuberkulose. Dieser war vor 3 Jahren mit
Husten erkrankt, hatte dann bald eine
Hämoptoe zu überstehen und lebte seitdem
dauernd in Sanatorien. Trotzdem hatte
er, wie er glaubwürdig versicherte, innerhalb
dieser Jahre 19 kg an Gewicht verloren. —
Während seines 3 monatlichen Aufenthalts in
meinem Sanatorium erhielt er täglich 1,5
Pneumin und erfreute sich — trotzdem daß der
Lungenbefund keinerlei Besserung erfuhr —
eines leidlich guten Allgemeinbefindens. Sein
Körpergewicht war bei der Abreise ungefähr
ebenso wie bei der Aufnahme, die rapide
Abnahme hatte also mit einem Schlage auf-
gehört.
So könnte ich noch eine ganze Reihe von
Kranken anführen, bei denen das „Pneumin"
von heilsamem Einfluß gewesen zu sein scheint.
Geschadet habe ich niemals durch Darreichung
des Mittels, niemals mußte ich es wegen Auf-
tretens irgend welcher Reizerscheinung aus-
setzen. Ob die Besserungen im objektiven
Befund dem „Pneumin" zuzuschreiben sind,
läßt sich schwer sagen, ich habe entschieden
den Eindruck, als ob es auch hierzu bei-
getragen hat. In fast allen Fällen — und
hierin scheint mir seine Hauptbedeutung zu
liegen — hat es einen überaus günstigen
Einfluß auf den Appetit und dadurch auf
die Hebung des Körpergewichts ausgeübt.
Nicht zu hohes Fieber wurde ebenfalls günstig
beeinflußt. Husten und Auswurf wurden oft
248
Lohn stein, Methodik dar Milehanalyte.
rTherap«* tische
L Monatshefte.
geringer, auch wurde dieser leichter heraus-
befördert.
Die Nachtschweiße schwanden in einer
Reihe vcn Fällen. — Zudem traten noch die
Vorzüge, daß das Mittel gern genommen wird,
die Form der Darreichung eine bequeme ist,
keine hohen Ansprüche an den Geldbeutel
der Patienten gestellt werden und keine Be-
lästigung des Kranken und seiner Umgebung
durch häßlichen Geruch entsteht. Ich möchte
daher allen Kollegen, die zur Behandlung
der Tuberkulösen Kreosot und seine Derivate
heranziehen — und das wird wohl der bei
weitem größte Teil sein — das „Pneumin"
warm empfehlen. Ganz besonders ist es für
die Kassenpraxis geeignet.
Zur Methodik der Milclianalyse
mit besonderer Rücksicht* auf die ärzt-
liche Praxis.
Von
Dr. Theodor Lohnttein,. Berlin.
Wenn ich es unternehme, in diesen Blättern
einige Punkte der chemischen Milchunter-
suchung mit besonderer Rücksicht auf die
Tätigkeit des praktischen Arztes auseinander-
zusetzen, so bedarf dies Unterfangen kaum
der Begründung, spielt doch die Milch eine
derartige Rolle in der Ernährung des ge-
sunden und des kranken Menschen, daß der
Arzt, speziell der Landarzt, mangels ander-
weitiger Untersucher im Notfalle selbst dazu
gerüstet sein muß, dieses wichtige therapeu-
tische Agens auf seine Qualitäten, besonders
den Nährwert, zu prüfen. Da der Nährwert
der Milch durch drei wesentliche Bestand-
teile, das Fett, den Milchzucker und die
Eiweißstoffe, bedingt ist, so handelt es sich
darum, zur quantitativen Feststellung dieser
Stoffe Methoden auszuarbeiten, die so einfach
sind, daß sie von jedem Arzt mit Leichtig-
keit, bloß an der Hand einer Gebrauchsan-
weisung, in seiner Wohnung ausgeführt werden
können, und deren Resultaten dabei doch
eine für die Anforderungen der Praxis völlig
ausreichende Genauigkeit zukommt. Von
diesen Gesichtspunkten aus bitte jch die
folgenden Vorschläge zu beurteilen, welche
übrigens von mir selbst hinlänglich erprobt
sind.
1. Das Galakto-Lipometer, ein neuer
Apparat zur Fett bestimmun g der Milch.
Die bisher für diesen Zweck existierenden
Apparate und Methoden sind, soweit sie be-
quem sind, zu wenig zuverlässig, soweit sie
genau sind, entweder zu umständlich oder
in bezug auf die Apparate zu kostspielig,
als daß sie dem praktischen Arzte empfohlen
werden könnten. Der nachstehend beschrie-
bene Apparat (s. Figur), dem ich den Namen
Galakto-Lipometer beigelegt habe, ver-
meidet diese beiden Klippen; ich glaube da-
her mit ihm einem Bedürfnis entsprochen zu
haben l).
v$-
I
m**
!5^^»=
i . u
/
Das Prinzip des Apparates besteht darin,
daß das in einem bestimmten Milchquantum
enthaltene Fett durch Behandlung der Milch
mit Kalilauge und Äther und nachfolgende
!) Der Apparat ist erhältlich bei Heinrich
Noffke & Co., Berlin S.W., Yorkstr. 19.
J
XIX. Jahrgang/)
Mai ISO*. J
Lohnst «in, Methodik dmt ttllchanalyt«.
249
Verdunstung des letzteren direkt zur Ab-
scheidung gebracht und volumetrisch darge-
stellt wird; eine Teilung ermöglicht die un-
mittelbare Ablesung des Fettgehaltes in Ge-
wichtsprozenten. Der Apparat besteht —
von den ihm beigegebenen Nebengeräten ab-
gesehen — aus zwei Teilen, einem an beiden
Enden offenen Glasrohr von der aus der
Figur ersichtlichen Form und einem Glas-
hahn mit den zugehörigen Rohransätzen, von
denen der eine durch einen durchbohrten
Kautschukstopfen gesteckt ist; mittels des
letzteren werden beim Gebrauche beide Teile
miteinander verbunden. Zu dem Ganzen ge-
hört noch ein Holzbrettchen, dessen eine
Fläche durch eine den Längsseiten parallel
verlaufende halbzylindrische Nute in zwei
gleiche Teile zerfällt, und dessen beide Längs-
seiten einige Einkerbungen tragen. Auf dem
Brettchen sind zwei Teilungen angebracht,
links eine Millimeterteilung, rechts eine die
Fettprozente angebende Skala; das Skalen-
brettchen wird nach Bedarf vermittelst der
bekannten bei der Einwicklung kleiner Pa-
kete benutzten Ringbänder aus Gummi an
dem dünnsten Teile des oberen Glasgefäßes,
dem zylindrischen Meßrohr, befestigt und
nach dem Gebrauch wieder abgenommen.
Die Ausführung einer Milchfettbestim-
mung mit diesem Apparat gestaltet sich fol-
gendermaßen :
Das dem Apparate beigegebene geteilte
Reagenzglas wird bis zu dem mit M be-
zeichneten Strich mit der zu untersuchenden
(frischen, ungekochten) Milch gefüllt (=10 ccm).
Darauf wird bis zum nächsten Strich (L)
15-proz. Kalilauge (Liquor Kali caustici
der Apotheken) hinzugefügt (= 1,2 ccm).
Das Reagenzrohr wird jetzt mit dem Kaut-
schukstopfen verschlossen, und durch Um-
schwenken die gleichmäßige Verteilung der
Lauge bewirkt. Nunmehr wird nach Ab-
nahme des Stopfens bis zum Teilstrich A
Schwefeläther hinzugegeben, das Reagenzrohr
wieder fest verschlossen und so lange mög-
lichst ohne Schütteln umgeschwenkt, bis der
milchige Charakter des Gemisches ver-
schwunden ißt und die Flüssigkeit nur noch
schwach opaleszierend erscheint. Jetzt wird
der ganze Inhalt des Reagenzglases mit Hilfe
des beigegebenen Trichters in den Apparat
gegossen, nachdem derselbe durch Eindrehen
des den Hahn tragenden Kautschukstopfens
in den unteren Hals der Kugel zusammen-
gesetzt und der Hahn in die Schlußstellung
gebracht ist; der Hahn darf leicht mit einem
Schmiermittel, z. B. einem Gemisch von Vase-
line und Wachs zu gleichen Teilen, bestrichen
werden, da er nicht direkt mit dem Äther
in Berührung kommt, und somit eine Bei-
mengung von Teilen des Dichtungsmittels zu
der Ätherfettlösung nicht zu befürchten ist.
Die nach dem ersten Ausgießen an der Wand
des Reagenzrohres haftenden Flüssigkeitsreste
werden mit 1 — 2 ccm Äther nachgespült. Ist
das geschehen, so setzt man in Ermangelung
eines Stativs den Apparat in ein passendes
Gefäß, z. B. einen Milchtopf, und wartet
einige Minuten ab, bis sich der Inhalt der
Kugel in zwei Schichten gesondert hat; eine
obere klare, enthaltend die Ätherfettlösung,
und die untere trübe, welche die übrigen
Milchbestandteile mit der Lauge und etwas
gelöst gebliebenen Äther enthält. Nachdem
die Schichtenbildung vollendet ist, wird die
untere Schicht durch vorsichtiges Öffnen des
Hahnes und Unterstellen eines beliebigen
Gefäßes zum größten Teile abgelassen, darauf
wird mit Hilfe des Trichters so viel "Wasser
(man verwende destilliertes oder gewöhnliches,
durch Kochen vorher luftfrei gemachtes kaltes
Wasser) nachgefüllt, daß die freie Oberfläche
der Fettätherschicht etwas unterhalb des
oberen Endes der Kugel steht3). Nach ein-
getretener Schichtung läßt man neuerlich die
untere Schicht ab und füllt wieder Wasser
nach. Ist jetzt die untere Schicht noch etwas
trübe, so kann man die geschilderte Prozedur
nochmals wiederholen, meist wird man sich
jedoch mit dem zweimaligen Ablassen der
unteren Flüssigkeitsschicht begnügen können.
Nunmehr bringt man das Lipometer
in ein Wasserbad von 45° C, das man sich
herstellt, indem man ein passendes Gefäß,
z. B. eine gewöhnliche Milchkanne aus email-
liertem Blech (nach Abnahme des Deckels),
mit entsprechend temperiertem Wasser füllt;
man läßt das Wasserbad zunächst ('/« bis
7s Stunde lang) ohne Heizflamme, bis der
größte Teil des Äthers verdunstet und nur
noch eine schmale Zone gelblicher Flüssig-
keit an der Oberfläche der Kugel über dem
Wasser sichtbar ist. Jetzt setzt man die
das Lipometer enthaltende Kanne auf einen
Dreifuß — in Ermangelung eines solchen
kann man auch drei weith aisige, der größeren
Stabilität halber mit Wasser gefüllte Medizin-
flaschen nehmen, auf deren Korken man das
Gefäß mit den entsprechenden Stellen seiner
*) Um die Äther- Fettschicht von der unteren
Schient leichter zu unterscheiden, kann man noch im
Reagenzrohr vor dem Umschwenken dem Ganzen
ca. sechs Tropfen (0,2 ccm) der üblichen alkoholi-
schen Phenolphtaleinlösung (0,1 g Phenolphtalein
zu 10 ccm 70-proz. Alkohol) hinzusetzen; dadurch
wird die untere Schicht wegen ihres Alkaligehalts
dunkelrot; die Ätherschicht erscheint anfangs blaß-
rot, entfärbt sich aber nach einigen Minuten voll-
ständig. Bei den ersten beiden Verdünnungen der
unteren Schicht behält diese noch eine blaßrote
bezw. blaßrosa Färbung.
250
Lohnst« in, Methodik der MilchantJyie.
rTherapeutlaehc
L Monatshefte.
Bodenkante ruhen läßt — und zündet die
Heizflamme an, als welche man je nach der
vorhandenen Einrichtung einen auf kleine
Leuchtflamme eingestellten Bunsenbrenner,
eine „Petroleumkerze" (kleinstes Petroleum-
nachtlämpchen) oder das bekannte Olnacht-
licht verwendet, wobei man aber auf dem
Öl zweckmäßig 2 — 3 Kerzchen gleichzeitig
schwimmen läßt, da die Wärmequelle ein
allmähliches Steigen der Wasserbad temperatur
auf 50—55° C. bewirken soll. Natürlich
kann man außerdem auch durch Variieren
der Flammenentfernung vom Boden des Wasser-
gefäßes die Temperatur regulieren. Zirka
2 Stunden nach Beginn der Verdunstung ist
der Äther bis auf Spuren verjagt, und nun
folgt der Schlußakt der Bestimmung, der
darin besteht, daß man das auf der Ober-
fläche des Wassers in der Kugel schwimmende
flüssige Milchfett in das Meßrohr aufsteigen
läßt. Zu diesem Ende nimmt man den
Apparat aus dem Wasserbade heraus, setzt
den Trichter wieder auf, durch den man zu-
nächst so viel heißes Wasser (das dem
Wasserbade entnommen werden kann) in das
Lipometer nachfüllt, daß das Milchfett sich
am oberen Ende der Kugel ansammelt. Jetzt
läßt man, nunmehr nach Abnahme des
Trichters unter Benutzung der dem Appa-
rate beiliegenden kleinen Tropfpipette, vor-
sichtig weiter heißes Wasser nachfließen, bis
sich das Milchfett in Form einer dünnen
Säule ganz im Meßrohr befindet. Man hat
dabei darauf zu achten, daß das einfließende
Wasser nur an einer Seite der Meßrohrwand
hinabläuft, damit es nicht durch Ausfüllung
des ganzen Querschnittes dem aufsteigenden
Fett den Weg versperre. Zu dem Ende
hält man den Apparat etwas schräg, setzt
die Spitze der Pipette direkt an einer Stelle
der Innenwand des Rohres in dem oberen
konischen Übergangsteile auf und entleert
die Pipette dann durch langsam sich ein-
schleichenden Druck auf die Gummikappe.
Zum Schluß bringt man die zu dem Ap-
parat gehörige, auf dem Holz brettchen
befindliche Skala an das Meßrohr und be-
festigt sie mit Hilfe der Gummi- Ringbänder
an dem Rohr. Man liest in der Weise ab,
daß man die Länge der Fettsäule in Milli-
metern feststellt, wozu die links befindliche
Millimeterteilung dient; darauf sucht man
auf der rechten Skala die Zahl auf, welche
der gefundenen Millimeterzahl gegenüber-
steht; diese stellt den gesuchten Fettprozent-
gehalt dar. Einer Länge der Säule von
27 mm entspricht z. B. der * Fettgehalt
3,0 Proz.3).
Noch einige Worte wollen wir der Reini-
gung des Apparates widmen, die für einen
häufiger zu benutzenden Apparat durchaus
keinen nebensächlichen Punkt darstellt. Sie
muß leicht und schnell ausführbar sein, und
das ist bei dem Lipometer vermöge seiner
Zerlegbarkeit in die beiden durch den Stopfen
verbundenen Teile der Fall. Man verfährt
folgendermaßen:
Während die Fettsäule noch flüssig ist,
wird so viel heißes Wasser in den Apparat
gegossen, daß das Fett sich in dem breiteren
obersten Abschnitt des Rohres ansammelt.
Von dort nimmt man es einfach mit einem
es einsaugenden Wattebausch fort, kehrt den
Apparat um, öffnet den Hahn, sodaß der
übrige, aus heißem Wasser bestehende Inhalt
gleichfalls abläuft. Man kann nochmals
mit heißem Wasser nachspülen, nimmt den
Apparat dann auseinander und geht zum
Abtrocknen direkt mit einem Tuche in die
Kugel ein, was bei der Weite der unteren
Öffnung derselben leicht ausführbar ist. Das
Meßrohr trocknet man dadurch, daß man
einen entsprechend dünnen Wattedocht ein-
führt, event. mit Hilfe einer Pinzette. Nach
mehrmaligem Gebrauch kann man zur gründ-
lichen Reinigung des Apparates, speziell der
inneren Meßrohrwand, noch etwas Äther ver-
wenden, mit welchem man die Watte vorher
tränkt. Die ganze Prozedur vollzieht sich
in wenigen Minuten.
Eine Reihe von Bestimmungen, in denen
die Ergebnisse des neuen Apparates mit der
gewichtsanalytischen Methode in der Modi-
fikation nach Hoppe-Seyler verglichen
wurden, hat mir zufriedenstellende Resultate
ergeben; die Differenz der beiden Zahlen
betrug durchschnittlich weniger als 0,1 und
überschritt niemals 0,2.
2. Bestimmung des Milchzuckers mit
dem Gärungs-Saccharometer.
Den Milchzuckergehalt hat man bisher
entweder mit dem Polarisationsapparat oder
durch ein auf der reduzierenden Eigenschaft
der Zuckerarten beruhendes Verfahren be-
stimmt, das letztere speziell in der von
Soxhlet angegebenen Modifikation, indessen
sind beide Wege für den praktischen Arzt
ungangbar, da sie kostspielige Apparate
erfordern, und die Reduktionsmethode oben-
ein umständlich ist und eine erhebliche
Übung in analytischen Arbeiten voraussetzt.
Die nachstehende Methode, die meiner An-
sicht nach an Genauigkeit hinter jenen nicht
zurückbleibt, aber erheblich einfacher ist
und überdies mit einem auch zu andern
3) Über Fettbestimmung an gekochter (ste-
rilisierter) Milch mit dem Lipometer siehe AI lg.
Med. Zentr.-Ztg. 1905, Nr. 4.
XIX. Jahrg*ng.1
Mai 1905. J
Lohn stein, Methodik der MUchanalyse.
251
Zwecken verwendbaren relativ billigen Appa-
rate ausgeführt wird, dürfte daher vielen
willkommen sein.
Das Verfahren ist auf einer Eigenschaft
des Milchzuckers gegründet, die sie unter
dem Namen der Inversion mit mehreren
anderen Zuckerarten teilt. Durch Kochen
mit verdünnten Mineralsäuren wird nämlich
das Milchzuckermolekül Cl3HMOn unter Auf-
nahme eines Moleküls Wasser in zwei nie-
driger konstituierte Moleküle zerlegt; es zer-
fällt in je ein Molekül Galaktose und
Traubenzucker nach der Gleichung
C„ HM On + H2 0 = C6 H12 06 -f C6 H„ 06.
"Während nun der Milchzucker mit Bier-
hefe und Preßhefe direkt nicht gärungsfähig
ist, wird er es somit nach erfolgter Inversion;
denn das eine Zerfallsprodukt, die Dex-
trose, wird von den Hefearten ohne weiteres
in Alkohol und Kohlensäure gespalten4).
Nach diesen Vorbemerkungen dürfte die
nunmehr zu schildernde Methode ohne weiteres
verständlich sein: 5 ccm Milch werden in
einen kleinen 10 ccm haltenden, in Zehntel
Kubikzentimeter geteilten Meßzylinder ein-
gefüllt, dazu 0,4 ccm der offizineilen 26-proz.
Salzsäure mit einer graduierten 1 ccm haltenden
Meßpipette hinzugegeben5), der Meßzylinder
4) Auch die Galaktose unterliegt der Ver-
gärung durch Preßhefe (auf die allein sich meine
Erfahrung bezieht), aber erst sekundär; läßt man
nämlich nach Beendigung der Traubenzuckergärung,
die bei Einhaltung einer Temperatur von 32 bis
38° C. höchstens 3 Stunden in Anspruch nimmt,
das Saccharometer noch länger stehen, so beginnt
nach 10— 20 ständiger Pause eine weitere Gärung,
kenntlich am erneuten Steigen des Quecksilbers,
die 2—3 Tage anhält und fast die gleiche Menge
Gas erzeugt, wie die Traubenzuckergärung. Ich
habe diese Erscheinung sowohl an künstlichen
Milchzackerlösungen wie an invertierter nativer
Milch beobachtet. Für unser Verfahren kommt
nur die schnell beendete Dextrosegärung in Be-
tracht; die sekundäre Galaktosegärung wird nur
des wissenschaftlichen Interesses wegen hier an-
gefahrt.
*) Läßt man sich in der Apotheke eine ver-
dünnte Salzsäure herstellen, indem man 60 g
Acid. hjdrochl. (25 Proz.) mit 68 g Aaua destill,
zusammengießen läßt, so hat man den Vorteil, daß
1 com dieser Lösung genau durch 1 ccm der 16-proz.
Kalilauge neutralisiert wird. Hält man sich also
diese Salzsäuremixtur vorrätig, so kommt man mit
einer 1 ccm haltenden Vollpipette aus. Für die-
jenigen, welche nicht die nötige Übung haben, um
eine solche Pipette durch Ansaugen mit dem Mund
za füllen, oder dies wegen der Gefahr des Ein-
dringens der ätzenden Flüssigkeit in die Mund-
höhle vermeiden möchten, bemerke ich, daß man
die Füllung bis zum Teilstrich, sowie die nachfol-
gende Entleerung in sehr einfacher Weise mit einer
Spritze (z. B. einer gewöhnlichen Gonorrhöespritze
mit der früher allein gebräuchlichen oliven förmi-
gen Mündung) bewerkstelligen kann, die man durch
Vermittelung eines Stückchens Gummischlauch mit
der Pipette in Verbindung setzt. (Die andere
Füllang8methode — - Eintauchen der Pipette in die
darauf in ein Wasserbad gestellt, dem man zur
Erhöhung der Siedetemperatur einige Eßlöffel
Staß furter Badesalz zusetzt. Dies geschieht
deshalb, weil die Flüssigkeit im Meßzylinder
wegen der dicken Wandungen desselben eine
um einige Grade niedrigere Temperatur hat
als das umgebende heiße Wasserbad; man
hat also diesem eine 100° C. um mehrere
Grade übersteigende Temperatur zu geben,
wenn die Flüssigkeit im Zylinder auf ca.
100° C. gebracht werden soll. Man erhitzt
jetzt das Salzwasserbad zum Sieden, nimmt
ca. 30 Minuten nach dem Beginn des Er-
wärmens den Meßzylinder heraus und kühlt
ihn durch Hineinstellen in kaltes Wasser
rasch ab. Zwecks Neutralisierung der sauren
Flüssigkeit wird jetzt 1 ccm 15-proz. Kali-
lauge (Liquor Kali caustici) mit der Pipette
abgemessen und in den Meßzylinder gegeben
und endlich das Ganze mit destilliertem oder
gewöhnlichem Wasser auf 10 ccm aufgefüllt.
Während der geschilderten Prozeduren haben
sich natürlich Eiweiß- und Kaseingerinnsel
in dem Milchgemisch gebildet, dieselben sind
jedoch sehr fein verteilt und werden ruhig
in der Flüssigkeit gelassen, die nach Auf-
füllung auf 10 ccm durch Schütteln des mit
einem Finger verschlossenen Meßzylinders
homogen gemacht wird. Ist dies geschehen,
so wird der ganze Inhalt des Zylinders in
ein kleines Gefäß, am einfachsten ein Ein-
nehmegläschen, umgegossen, und diese Flüssig-
keit in bekannter Weise der Bestimmung im
Gärungs-Saccharometer unterworfen. Die Ei-
weißgerinnsel stören die Gärung nicht im
mindesten. Nach 2 — 2!/3 stündigem Verweilen
in dem auf 32 — 38° C. gehaltenen Wasser-
bade wird der Apparat herausgenommen,
auf Zimmertemperatur abgekühlt und nun-
mehr der Traubenzuckergehalt an der Skala
des Saccharometers abgelesen. Die so er-
haltene Zahl wird mit dem Faktor
4,33 multipliziert, und das Resultat dieser
Rechnung ist der gesuchte Prozentgehalt der
Milch an Milchzucker.
Der strengen Theorie nach wäre die im
Saccharometer abgelesene Zahl mit 4 zu
multiplizieren, da der Milchzucker, der bei
Flüssigkeit, sodaß letztere bis zum Teilstrich steigt,
darauf Herausheben aus der Flüssigkeit unter gleich-
zeitigem Fingerverschluß der oberen Öffnung —
versagt oft infolge nicht genügend vorhandener
Flüssigkeitsmenge.) Zur Not — bei sorgfältiger
Einstellung — genügt auch der Meßzylinder für
die Zumessung von Säure und neutralisierendem
Alkali; man hat dann genau auf den Stand des
Niveaus zu achten und dabei mit einer gewöhn-
lichen Tropfpipette (Tropfenzähler mit Gummi-
kappe) so viel Flüssigkeit hinzuzugeben, daß das
Niveau um die gewünschte Zahl von Kubikzenti-
metern steigt (also im vorliegenden Falle um je
1 ccm).
252
Lohn stein, Methodik d«r Milchanalyt«.
rTherap«ntiscbo
L Monatsheft«.
den Analysen gewöhnlich als krystallisiert,
d. h. mit einem Molekül Krystallwasser, also
nach der Formel C19 H24 0„ gerechnet wird,
zur Hälfte in Traubenzucker übergeht, und
überdies die Lösung nach Einwirkung der
Säure auf das Doppelte verdünnt wird; in-
dessen haben mir Versuche an künstlichen
Milchzuckerlösungen durchweg ergeben, daß
ein etwas geringerer Bruchteil des Milch-
zuckers als 7s iQ Traubenzucker übergeht,
und daß man daher, um richtige Resultate
zu erzielen, die durch Gärung erhaltene
Traubenzuckerzahl nicht mit 4, sondern mit
dem als Mittelwert aus 8 Bestimmungen
erhaltenen Faktor 4,33 multiplizieren muß. —
Wie man sieht, ist das Verfahren recht ein-
fach; es setzt lediglich den Besitz eines
guten Gärungs-Saccharometers, z. B. des vom
Verf. angegebenen Präzisions-G.-S. „für un-
verdünnte Urine" (erhältlich bei Heinrich
Noffke & Co., Berlin S.W., Yorkstr. 19)
voraus, das zur Bestimmung des Trauben-
zuckers im Harne ja vielfach verwandt wird,
insofern also keine besondere Ausgabe ver-
langt.
3. Eine indirekte Methode zur Er-
mittelung des Eiweißgehalts der Milch.
Den Eiweißgehalt der Milch stellt man
gewöhnlich durch Ausfällen nach Ansäuerung
oder neuerdings auf Grund der Stickstoff-
bestimmung nach Kjeldahl fest; doch über-
schreiten beide Methoden bei weitem die
"Grenzen dessen, was man von einem durch
seine Praxis in Anspruch genommenen Arzte
auf dem Gebiet der chemischen Analyse füg-
lich verlangen kann. Es dürfte daher für
viele von Interesse sein, einen Weg zu er-
fahren, der in viel einfacherer Weise zur
annähernden, aber für die Zwecke des Arztes
vollständig ausreichenden Kenntnis des Ei-
weißgehalts der Milch führt. Es ist nämlich
leicht einzusehen, daß man, wenn man noch
das spezifische Gewicht der Milch be-
stimmt, aus diesem und den für den Fett-
gehalt und den Milchzuckergehalt erhaltenen
Zahlen unter einer gewissen Voraussetzung
den Eiweißgehalt durch Rechnung er-
mitteln kann. Diese Voraussetzung ist die,
daß man weiß, in wie weit das spezifische
Gewicht der Milch durch die in ihr enthal-
tenen Salze beeinflußt wird. Da nämlich
der Salzgehalt der Milch einer bestimmten
Tierart nur sehr geringen Schwankungen
unterworfen ist, so kann man dann für jede
Tierart diesen Einfluß ein für allemal in
Rechnung stellen. Die nachfolgenden For-
meln sind unter Berücksichtigung dieses Um-
Stands berechnet; in ihnen bedeutet e den
Eiweißgehalt, d das spezifische Gewicht der
Milch, dw das spezifische Gewicht des destil-
lierten Wassers bei der gleichen Temperatur,
z und f den Milchzucker- bezw. Fettgehalt.
Es ist also für Kuhmilch:
1,2- 1,34 z + 0,28 f
für Frauenmilch:
_ d-dw _
6 ~ "0,0028
d ist dabei auf die Dichte des Wassers von
4" C. als Einheit bezogen; die Verschieden-
heit der absoluten Glieder, d. h. der Zahlen
2,3 und 1,2 bei Kuh- und Frauenmilch, er-
klärt sich durch die erhebliche Verschieden-
heit des mittleren Aschengehaltes bei beiden
Milcharten (0,7 lProz. bei Kuhmilch, 0,31 Proz.
bei Frauenmilch).
Um zu zeigen, daß die Formeln rechne-
risch leicht zu bewältigen sind, sei uns die
Durchrechnung eines Zahlenbeispiels gestattet.
Man habe gefunden bei einer Probe Kuh-
milch :
d bei 20° C. = 1,0305, z = 4,9, f = 3,2.
Aus einem physikalischen Hilfsbuch6)
entnimmt man
dw (spez. Gewicht des Wassers bei 20° C.) = 0,9983,
somit
J,0305-^9983 _23_134 49
e~ 0,0028 2'6 M4'4'y
0,0322
+ 0,28 . 3,2
- 2,3 - 6,566 + 0,896
0,0028
= 11,5 - 2,3 - 6,566 + 0,896 = 3,53.
In dem gedachten Falle wäre also der
Eiweißgehalt(Albumin -t- Kasein) = 3,53 Proz.
Zum Schluß noch einige Worte über die
Bestimmung des spezifischen Gewichts
der Milch. Da es sich nur um eine an-
nähernde Ermittelung des Eiweißgehalts han-
delt, so genügt eine Methode, welche die
dritte Dezimalstelle nach dem Komma noch
fehlerfrei liefert. Das tut die Mohr sehe
Wage, die allerdings unter den Ärzten nicht
besonders verbreitet zu sein scheint, sowie
ein gutes Urometer, am besten ein solches,
das nur das halbe Intervall 1,025 — 1,050
umfaßt, innerhalb dessen sich ja das für Milch
in Betracht kommende Intervall 1,028 bis
6) Man kaon sich die Werte von d\v für das
kleine in Betracht kommende Temperaturiuterva.il
— 15° bis 25° C. — auch ein für allemal an der
Hand nachstehender kleinen Tabelle notieren.
t
dw
; t
<ü"
15
0,9992
21
0,9981
16
0,9990
22
0,9978
17
0,9988
23 ,
0,9976
18
0,9987
24 !
0,9974
19
0,9985
i 25 1
0,9971
20 , 0,9983
XIX. Jfthrgmaf .1
Mal 19tiS. J
Lohnttcin, Methodik d«r MUchanalyt«.
253
1,034 befindet. Da die im Handel befind-
lichen Skalenaräometer aber vielfach recht
fehlerhaft sind, so muß man sich ein sol-
ches vorher selbst prüfen oder nur ein
Instrument verwenden, das von der Kaiser-
lichen Normal - Eichungs - Kommission , die
neuerdings solche Apparate zur Prüfung an-
nimmt, mit einer Beglaubigung versehen ist.
Sehr gut verwendbar ist das vor längerer
Zeit von mir angegebene Präzisions-
Urometer (erhältlich bei L. Reimann,
Berlin S.O., Schmidstr. 32), ein Gewichts-
aräometer, das sogar noch die vierte De-
zimale mit einiger Zuverlässigkeit angibt.
Außerdem gibt es besondere für den Ge-
brauch bei Milchuntersuchungen konstruierte
Laktodensimeter, die nur das für die
Milch in Frage kommende Dichteintervall
umfassen, aber wegen ihrer langen Spindel
eine relativ große Flüssigkeitsmenge zu einer
Messung erfordern. Sie sind daher wohl für
Tiermilch brauchbar, bei der ja die Quan-
tität keine Rolle spielt, nicht aber für Frauen-
milch, von der gerade in den Fällen, in
denen eine chemische Untersuchung ge-
wünscht wird, gewöhnlich nur mäßige Mengen
zur Verfügung stehen. In solchen Fällen
wird man manchmal sogar mit der M ohr-
seben Wage und den kleineren Aräometern,
die ein Flüssigkeitsvolumen von 15 — 30 cem
erfordern, mangels ausreichenden Materials
nicht zum Ziele kommen, und man muß da-
her das spezifische Gewicht mit Hilfe des
sogen. Pyknometers ermitteln. Es ist das
nichts weiter als ein kleines Fläschchen mit
kapillarem Hals, das ein genau bestimmbares
Flüssigkeitsvolumen zu fassen vermag. Letz-
teres bestimmt man dadurch, daß man das
Fläschchen mit destilliertem Wasser füllt
und so wägt. Außerdem wird vorher das
leere Fläschchen gewogen; die Differenz
beider Wägungen gibt nach Korrektion auf
den Luftinhalt das Fassungsvolumen des
Fläschchens. Hat man nun die Dichte einer
Flüssigkeit zu ermitteln, so füllt man das
Fläschchen mit der letzteren und bestimmt
das Gewicht des gefüllten Fläschchens. Sind
Psi Pn Ps die drei sich ergebenden Gewichte,
er das spezifische Gewicht der Luft, so folgt
das gesuchte spezifische Gewicht d aus der
Gleichung
d — a = (dir — c)
oder auch
P» — Pi
P9-P1
4 — i=d-dw=^-^-.
dir p9 — p,
Zur Erklärung der letzten Umformungen
bemerken wir, daß, da a gegen d und dw
klein und d und d* voneinander nicht sehr
▼erschieden, nämlich = ca. 1 sind, man
d*
ohne merklichen Fehler =
-a d«
und dieses wieder = 1 -+- d — dw setzen kann;
ferner ist angenommen, daß die Auswägung
des Fläschchens mit Wasser und mit der
zu untersuchenden Flüssigkeit bei der gleichen
Temperatur geschieht, was ja annähernd
meist der Fall sein wird. Die pyknome-
trische Bestimmung ergibt somit direkt die
Differenz d — dw. Wir erwähnen noch, daß
man die notigen Pyknometerfläschchen von ca.
10 cem Volumen in jeder Handlung chemi-
scher und pharmazeutischer Bedarfsartikel
für wenige Groschen erhält, ferner, daß man
für die hier verfolgten Zwecke keiner chemi-
schen Wage benötigt, sondern mit einer
kleinen Apotheken -Handwage (mit Horn-
schalen an seidenen Aufhängeschnüren), wie
sie wohl jeder Landarzt schon zu anderen
Zwecken ohnehin besitzt, völlig auskommt.
Wenn man mit recht wenig Untersuchungs-
material zu arbeiten hat, was, wie schon
oben bemerkt, bei der Frauenmilch oft
genug der Fall sein wird, so hat man die
pyknometrische Bestimmung des spezifischen
Gewichts zuerst auszuführen, um dann die
hierzu benutzte Milch zur Fett- und Milch-
zuckerbestimmung zu verwenden; unter dieser
Voraussetzung reichen 15 cem zur Ausführung
der vollständigen im vorstehenden dargelegten
Analyse aus. Hat man noch weniger Material
zur Verfügung — es kommt vor, daß man
selbst einer, wie die weitere Folge lehrt,
durchaus stillungstüchtigen Frau in einem
gegebenen Moment nur 8 — 10 cem Milch mit
der Milchpumpe entnehmen kann — so ver-
dünne man vor Beginn der Untersuchung die
Milch mit Wasser auf das Doppelte und
führe die Analyse an dieser Verdünnung
durch ; man wird auch dann noch ein für
die Praxis brauchbares Resultat erzielen. In
der Eiweißformel — natürlich kommt nur
die auf Frauenmilch bezügliche hier in Be-
tracht — hat man an Stelle des absoluten
Gliedes 1,2 in solchem Falle die Zahl 0,5
zu setzen; alles andere bleibt unverändert.
Die Fett-, Milchzucker- und Eiweißzahlen
in der verdünnten Milch sind schließlich
durch Multiplikation mit 2 auf die ursprüng-
liche Milch zu reduzieren.
Vom Standpunkte des Nährwerts ist
eine Milch brauchbar, wenn die Summe
der Prozentzahlen für Fett, Milchzucker und
Eiweiß sich innerhalb der Grenzen 10 und
15 bewegt, wobei natürlich die für die ein-
zelnen Bestandteile erhaltenen Zahlen den
mannigfaltigsten Schwankungen unterliegen
können.
Zum Schluß betone ich ausdrücklich, daß
ich mit den vorstehenden Vorschlägen zur
254
Ooldtttin, Erhllt unter Volk genug Pleiten?
rTherapeutlaeh.«»
L Monatshefte.
Milchuntersuchung keineswegs die feineren
Methoden des Berufschemikers zu verdrängen
beabsichtige ; es kam mir lediglich darauf an,
dem Arzte einen Weg zu zeigen, wie er im
gegebenen Falle mit einfachen Hilfs-
mitteln ohne besondere Vorbildung eine
leidlich genaue, für praktische Zwecke aus-
reichende Milchanalyse zustande bringen kann.
Erh< unser Volk genug Fleisch?
Von
Dr. Ferdinand Goldstein in Berlin.
IL
Meine Arbeit in der Märznummer dieser
Monatshefte, durch die ich die Frage zu be-
antworten suchte, ob der Eiweißbedarf der
deutschen Bevölkerung gedeckt ist, bedarf
mehrfacher Berichtigung und Erläuterung.
Ich hatte errechnet, daß der Kopf der
Bevölkerung 31 kg Eiweiß und 130 kg Kohle-
hydrate im Jahr braucht, und hatte zur
Deckung des Eiweißbedarfs zunächst 40 kg
Fleisch herangezogen. Diese Zahl hat die
Reichsstatistik als wahrscheinlich für den
durchschnittlichen Fleischkonsum angenom-
men, indem sie auf eine Arbeit Lichten-
feit 8 in den „ Landwirtschaftlichen Jahr-
büchern" Bd. 26 (1897) Bezug nimmt. Seit-
dem aber durch den Beschluß des Bundes-
rats vom 1. Juli 1904 eine Schlachtvieh-
und Fleischbeschau -Statistik in Deutschland
eingeführt ist, besitzen wir zahlenmäßige
Unterlagen für den Fleischkonsum unserer
Bevölkerung. Das Kaiserliche Statistische
Amt hat im „Reichs- und Staats-Anzeiger"
zwei Viertel jahres-Übersichten über die Zahl
der Schlachttiere, die im Deutschen Reich der
Schlachtvieh- und Fleischbeschau unterworfen
worden sind, veröffentlicht (No. 279 vom
26. November 1904, 1. Beilage, und No. 44
vom 20. Februar 1905, 1. Beilage), und auf
Grund dieser Zahlen hat der „Reichs an zeiger"
die Größe des Fleischkonsums in Deutschland
zu berechnen versucht (No. 52 vom 1. März
1905, 2. Beilage). Allerdings ist, wie der
„Reich8anzeigeru hervorhebt, die Berechnung
nicht genau, weil erstens das Gewicht der
geschlachteten Tiere nicht durch die Wage
bestimmt, sondern geschätzt worden ist, und
weil zweitens die Hausschlachtungen nicht
mitgezählt worden sind. Diese werden erst
bekannt gegeben, wenn die Ergebnisse der
Viehzählung vom 1. Dezember 1904, bei der
die Hausschlachtungen erhoben worden sind,
veröffentlicht werden. Indessen kommen bei
Haus Schlachtungen nur Schweine und allenfalls
Ziegen in Betracht, und cJa im Hause, zu
eignem Verbrauch geschlachtete Schweine wohl
von der Schlachtvieh- und Fleischbeschau,
aber nicht von der Trichinenschau befreit
sind, so konnte man durch Vergleichung beider
Ergebnisse den Fehler, den die Nichtberück-
sichtigung der Hausschlachtungen herbei-
führt, einigermaßen ausgleichen. Auf diese
Weise ist der „Reichsan zeiger" zu dem Er-
gebnis gekommen, daß auf Kopf und Jahr
der deutschen Bevölkerung etwa 48,5 kg
Fleisch treffen. Das importierte Fleisch ist
hierbei mitberücksichtigt, das Fleisch der ge-
schlachteten Pferde und anderen Einhufer so-
wie das der geschlachteten Hunde außer acht
gelassen.
An Brot hatte ich 145 kg auf Kopf und
Jahr gerechnet. Zu dieser Zahl war ich ge-
langt, indem ich die von der Reichsstatistik
ermittelte Zahl von 180 kg Brotgetreide nach
dem Schema umrechnete, daß aus 100 kg
Getreide 60 kg Mehl und aus 60 kg Mehl
81 kg Brot hervorgehen. Es ist indessen be-
denklich, Roggen und Weizen als „Brot-
getreide" zusammenzufassen, da sowohl die
Brotausbeute als auch der Nährwert beider
verschieden ist. Auf Grund des Regulativs
für Getreidemühlen und Mälzereien vom
16. Dezember 1897 werden in Deutschland
65 kg Roggen- und 75 kg Weizenmehl auf
je 100 kg Roggen oder Weizen umgerechnet.
Verfahren wir in derselben Weise, so liefern
105,9 kg Roggen, 63,3 kg Weizen und 9,6 kg
Spelz, die nach den amtlichen Erhebungen
auf den Kopf kommen, 68,8 kg Roggenmehl
und 54 J kg Weizen- und Spelzmehl. Von
diesen wird das meiste zu Brot verbacken,
da aber ein anderer Teil unverbacken kon-
sumiert wird, so empfiehlt es sich, die Nähr-
stoffe des Mehles, nicht die des Brotes in
Rechnung zu stellen, ihre Verdaulichkeit aber
der des Brotes gleichzusetzen.
Einen wesentlichen Fehler enthält die von
mir als verfügbar angenommene Menge der
Hülsenfrüchte. Ich habe sie mit 32 kg auf
Kopf und Jahr beziffert, während tatsächlich
im Jahre 1898 in Deutschland produziert
wurden :
Tonnen
su 1000 k«
Erbsen 251 761
Ackerbohnen (Saubohnen) 238 091
also zusammen 489 852
davon ab Aussaatquantum .... 94077
bleiben zum Verbrauch .... 395 775
dazu Einfuhrüberschuß .... . . 122898
also zur Konsumtion verfügbar . 518 673
macht pro Kopf der Bevölkerung kg 9,5
Auf den Kopf der Bevölkerung kommen
also nicht 32 kg, sondern 9,5 kg Hülsen-
XIX. Jahrgang .1
Mal 1905. J
Gold stein, Erhalt oomt Volk ff«nug Fleisch?
255
fruchte1). Die Bevölkerung ist also zur
Deckung ihres Kohlehydratbedarfs außer auf
Brotgetreide im wesentlichen auf Kartoffeln
angewiesen. Das verlangte Kohlehydrat-
quantum beträgt auf den Kopf 1 30 kg. Durch
68,8 kg Roggenmehl und 54,7 kg Weizen-
und Spelzmehl werden 88,86 kg Kohlehydrate
geliefert9). Es bleiben demnach noch 41,14kg
Kohlehydrate. Hiervon wurden durch 2,85 kg
Reis 2,20 kg dem Kopfe zugeführt, sodaß
durch Kartoffeln und Hülsenfrüchte 38,94 kg
zu liefern sind. In den ermittelten 9,5 kg
Hülsenfrüchten sind etwa 4,89 kg Kohle-
hydrate enthalten, sodaß also für Kartoffeln
34,05 kg übrig bleiben. Diese entsprechen
einem Kartoffelquantum von 170 kg.
Durch Milch hatte ich dem Kopfe nur
0,88 kg Eiweiß zugehen lassen, das entspricht
einer Milchmenge von etwa 25 l. Die Milch-
produktion Deutschlands ist bei seinem großen
Rind Viehbestände sehr bedeutend. Ein großer
Teil wird verbuttert, ein kleiner auf Käse
verarbeitet und der Rest in Substanz ver-
braucht. Nichtsdestoweniger trage ich Be-
denken, die Milch als solche in ausgedehn-
terem Maße als Eiweißquelle in Anspruch
zu nehmen. Jeder Arzt weiß, wie schwer
es Patienten wird, längere Zeit hindurch
Milch zu nehmen, da sie bald Widerwillen
gegen sie empfinden; Leyden hat daher
empfohlen, sie mit Kognak zu versetzen.
Für Berlin und einige Nachbarorte ist der
Milchkonsum erhoben worden, er beträgt auf
Tag und Kopf rund 0,3 1 oder im Jahr rund
110 1. Das entspräche einer Eiweißmenge
von 3,85 kg. Aber abgesehen davon, daß
die Ernährung Berlins nicht als Maßstab für
die der gesamten deutschen Bevölkerung be-
nutzt werden kann, darf die in Berlin ver-
brauchte Milch nicht einfach auf Nähr ei weiß
umgerechnet werden, da ein beträchtlicher
Teil von ihr in die Konditoreien geht, zur
Herstellung von Milchbrot verwandt, als
Medikament genossen oder zu Milchspeisen
verbraucht wird, also • nicht als Volks-
nahrungsmittel gelten kann. Ein großer Teil
der Milch wird auch in Kaffee als Ge-
schmackscorrigens getrunken, aber darf man
wegen dieser akzessorischen Eiweißzufuhr
von „ Volksnahrungsmittel a reden? Meines
') Der Irrtum ist entweder durch Rechenfehler
oder durch Irrtum in der Zeile entstanden, denn
ich hatte untersucht, ob genügend Hülsenfrüchte
vorhanden seien, um dem Kopte der Bevölkerung
32 kg zuzuführen, und war zu einem bejahenden
Ergebnis gekommen.
') Wenn man den Gehalt an verdaulichen
Kohlehydraten, mit Ausschluß also der Zellulose,
bei Roggenmehl mit 69,7 Proz., bei Weizenmehl
mit 74,8 Proz. annimmt. Handbuch der Hygiene
in, S. 52.
Erachtens wäre das ebenso verfehlt, wie
wenn man ihren Kohlehydratgehalt, der be-
kanntlich größer ist als ihr Eiweißgehalt,
bei der Deckung des gesamten Kohlehydrat-
bedarfs verrechnete oder den Zucker (Ver-
brauch dieses Genußmittels 1900/01 auf den
Kopf 12,3 kg) einfach unter die Kohlehydrat-
nahrungsmittel einordnete. Meine 0,88 kg
Milcheiweiß mögen etwas zu niedrig sein,
aber ich glaube nicht, daß der Fehler
nennenswert ist. wenn man nur den Begriff
des Volksnahrungsmittels richtig anwendet.
Als solches kommt die Milch nur für die
untersten drei Altersklassen in Frage.
Der Einfuhrüberschuß der Eier in Deutsch-
land betrug im Jahre 1900 117 557 Tonnen
oder auf den Kopf 2 kg. Da das Gewicht
eines Eies durchschnittlich 55 g beträgt3),
so bedeutet das rund 36 Stück Eier. Dazu
ist die inländische Produktion zu addieren.
Nach der Geflügelzählung vom 1. Dezember
1900 gab es inDeutschland 55 395 837 Hühner.
Rechnen wir, daß sich darunter 50 Millionen
Hennen befanden, und daß jede Henne durch-
schnittlich jährlich 100 Eier legt*), so liefern
die Hühner Deutschlands jährlich 5 Milliarden
Eier oder, wenn wir rechnen, daß alle kon-
sumiert werden, was natürlich nicht der Fall
ist, da ein Teil zu Zuchtzwecken zurück-
gelegt wird, auf den Kopf rund 90 Eier.
Import und Eigenproduktion führen also
dem Kopf 126 Eier zu.
Durch den Heringsimport werden dem
Kopf etwa 2,5 kg Heringe und durch den
sonstigen Fischimport 0,80 kg Fische geliefert.
Endlich kommen durch Käseimport auf
den Kopf 0,27 kg Käse. Die Eigenproduktion
ist bei Heringen und anderen Fischen sowie
bei Käse so gering, daß sie, ohne einen
nennenswerten Fehler zu verursachen, über-
gangen werden kann.
Werden jetzt die einzelnen Posten zu-
sammengestellt, so erhält man folgende Über-
sicht für den Verbrauch auf den Kopf:
Fleisch 48,5 kg
Roggenmehl 68,8 -
Weizen- und Spelzmehl . . 54,7 -
Hülsenfrüchte 9,5 -
Reis 2,85-
Kartoffeln 170,00 -
Milch 25 1
Eier 126 Stück
Heringe 2,5 kg
Sonstige Fische 0,80-
Käse 0,27-
Will man ermitteln, wieviel Eiweiß durch
diese Nahrungsmittel geliefert wird, so muß
man berücksichtigen, daß das animalische
Eiweiß zu annähernd 100 Proz. resorbiert
8) Handbuch der Hygiene III, S. 205.
4) K rafft, Tierzuchtlehre S. 252
256
Goldttoln, Erbllt unter Volk genug PleUch?
[Thoraponttach«
MnitAtuhefta.
wird, daß es also genügt, seine Menge fest-
zustellen, daß dagegen vom vegetabilischen
Eiweiß ein bestimmter Teil als un verdaubar
abzuziehen ist. Um den Eiweißgehalt der
Eier zu ermitteln, ist zu erwägen, daß von
den 55 g Durchschnittsgewicht eines Eies
6 g auf die Schale kommen, daß also 126 Eier
6,17 kg eßbare Eis üb stanz darstellen. Aus
der folgenden Tabelle ist die tatsächlich ge-
lieferte Eiweißmenge zu ersehen:
a h "
48,5 kg Fleisch ....
20
9,70
100 9,70
68,8 - Roggenmehl . .
11,5
7,91
73 5,77
54,7 - Weizen- u. Spelz-
:
mehl ....
10,2
5,57
80 4,45
9,5 - Hülsenfrüchte .
24,5
2,32
60 1 1,39
2,85- Reis
7 0,19
80 1 0,15
170,0 - Kartoffeln . .
2 i 3,40
68 | 2,31
25 1 Milch
3,5 : 0,87
100
0,87
126 Stack Eier (6,17 kg
1
Eisubstanz) . .
14 0,86
100
0,86
2,5 kg Heringe . . .
20 0,50 100 0,50
0,80- Sonstige Fische
20 0,16
100 ; 0,16
0,27- Käse
30 0,08
100 I 0,08
Zusammen 26,24
Die tatsächlich zur Ernährung gelieferte
Eiweißmenge beträgt also auf den Kopf
26,24 kg, während 31 kg verlangt werden.
Es bleibt also ein Defizit von 4,76 kg Eiweiß
oder, wenn man es auf Fleisch umrechnet,
von 23,80 oder rund 24 kg Fleisch. Da
48,5 kg nach der Berechnung des „Reichs-
anzeigers" konsumiert werden, so verlangt
die Bevölkerung 72,5 kg Fleisch auf den
Kopf. Das ist dieselbe Zahl, die meine erste
Rechnung (Märznummer) ergeben hatte. Der
Bevölkerung fehlt also !/2 ihres Fleischbedarfs,
und ihr Fleischhunger kommt deutlich zum
Ausdruck in den 68486 Pferden und anderen
Einhufern sowie den 2524 Hunden, die im
zweiten Halbjahr 1904 zu Ernährungszwecken
geschlachtet worden sind.
Nach meiner Berechnung müssen also von
31 kg Gesamteiweiß 14,5 kg oder 47 Proz.
durch Fleisch und 16,97 kg oder 55 Proz.
überhaupt durch Animalien (Fleisch, Eier,
Milch, Käse, Fische) geliefert werden, wogegen
von Hygienikern ermittelt worden ist, daß
es genügt, wenn etwa 33'^ Proz. des Gesamt-
eiweißbedarfs beim Erwachsenen durch Ani-
malien gedeckt werden. Dadurch werde der
Mensch bereits arbeitsfähig erhalten, und
nur wenn seit längerer Zeit schon Gewöhnung
ao größere Mengen animalischen Eiweißes
besteht, wie bei den wohlhabenderen Schichten,
seien größere Mengen erforderlich5). "Wie
aber steht es mit der Sterblichkeit der
5) Handbuch der Hygiene 1U, S. 76 f.
Wohlhabenderen und der Armeren? Nach
Sörensens Untersuchungen sind in der
Stadt Kopenhagen 1865 — 74 durchschnittlich
jährlich gestorben6):
Von 1000 männlichen Personen
Im Alter ron
20 — 25 Jahren .
25—35
35-45 -
45-55 -
55-65
65-75 -
über 75
der wohl-
habenden
KUaeen
4,0
5,8
9,2
15,9
31,2
56,5
139,3
des
Mittel-
stände«
7,6
7,3
10,2
17,3
36,5
72,5
173,1
der
Arbelter-
boTÖlkernng
7,9
9.6
19,1
35,6
64,2
106,0
207,1
In der Arbeiterbevölkerung ist danach
die Sterblichkeit viel größer als unter den
Wohlhabenden und in den Mittelschichten.
Natürlich wirken hierbei mannigfache Ur-
sachen mit, wer aber möchte leugnen, daß
die Ernährung unter ihnen eine der wichtig-
sten bildet! Bei den Frauen ist das Ver-
hältnis nicht ganz dasselbe, wiewohl die
Sterblichkeit der Proletarierfrauen viel größer
ist als die der wohlhabenden.
Ich bin von kompetenter Seite darauf
aufmerksam gemacht worden, daß die amtlich
ermittelte Zahl für Brotgetreide vielleicht
nicht die Zuverlässigkeit hat, die ich ihr
zumesse. Ich will daher den Brotkonsum
noch auf andere Weise berechnen. Conrad
hat durch Beobachtung von vierzehn Gütern
in den verschiedensten Gegenden und mit un-
gleichen Wirtschafts Verhältnissen ermittelt,
daß im Durchschnitt von 5 Jahren 22,2 Proz.
des Ertrages an Brotgetreide nach Abzug der
Saat an Ort und Stelle an das Vieh ver-
füttert werden. Danach will ich berechnen,
wieviel Brotgetreide auf den Kopf der Be-
völkerung kommt, indem ich als Grundzahlen
die des Kaiser 1. Statistischen Amts in seiner
Publikation „Die Deutsche Volkswirtschaft am
Ende des 19. Jahrhunderts" (S. 43) benutze.
Sie beziehen sich auf die Periode 1880 — 98.
Tonnen in 1000 kg
Roggen
Welsen
8p«Is
Inländische Erntemen-
gen
7294760 3017280
535940
davon ab Aassaat .
1026376
323271
69278
bleiben z. Verbrauch
6268385
2694009
466662
davon ab 22,2 Proz.
zu Futterzwecken
1391581! 598069
103598
bleiben z. Verbrauch
4876804
2095940
363064
dazu Einfuhrüber-
schuß
610519
729315, —
also im ganzen ver-
fügbar
5487323
2825255
1363064
macht auf den Kopf
kg
112,6
58,0
7,4
*) Bei v. Fircks Bevölkerungslehre und Be-
völkerungspolitik S. 178.
XUL Jahrgang, i
Mai 1905. J
Croner, Ätiologie der Tabei.
257
Nach dieser Rechnung kommen also auf
den Kopf der Bevölkerung 112,6 kg Roggen
und 65,4 kg Weizen und Spelz. Hierin ist
aber noch der zu gewerblichen Zwecken ver-
brauchte Teil enthalten. Dieser kann jedoch
nicht allzu schwer ins Gewicht fallen, da das
weitaus meiste Brotgetreide zu Brot verbacken
wird. Rechnet man die ermittelte Menge
Brotgetreide auf Mehl um, so erhält man
73,19 kg Roggenmehl und 49,05 kg Weizen-
und Spelz mehl mit zusammen 10,13 kg an
resorbierbarem Eiweiß, wogegen die amtlich
ermittelten Zahlen 10,22 kg, also beinahe das-
selbe ergeben hatten. Durch den Abzug zu
gewerblichen Zwecken verringern sich die
10,13 kg wieder etwas, da sich aber gleich-
zeitig damit die Menge, der Kohlehydrate ver-
ringert, diese aber durch Kartoffeln ersetzt
werden müssen und können, so vermehrt sich
dadurch wieder die Eiweiß zufuhr, wenn auch
nicht in demselben Maße, wie sie durch den
Abzug zu gewerblichen Zwecken verringert
worden ist. Jedenfalls kann der Fehler, den
die vielleicht nicht ganz genau auf den Kopf
ermittelte Menge Brotgetreide verursacht,
nicht groß sein und demzufolge das Schluß-
resultat meiner Rechnung nicht in Frage
stellen.
Sollte aber der Konsum an Getreide-
mehl doch wesentlich geringer sein, als ich
angenommen habe, so steigt das Eiweißdefizit
höher.
Bemerkungen zu dem Aufsatz
von O. Rosenbach: „Zum Problem
der Ätiologie der Tabes" in No. 3 dieser
Zeitschrift.
Von
Dr. Wilhelm Croner.
Das „jüngste Gericht" des Herrn Rosen-
bach — um eine von ihm Erb gegenüber
gebrauchte Redewendung hier zu gebrauchen
— verdammt mich wegen meiner Arbeit
„über familiäre Tabes dorsalis und ihre Be-
deutung für die Ätiologie der Erkrankung".
Auf die satirischen Bemerkungen des Herrn
Rosenbach über einige Inkorrektheiten
meiner Ausdrucksweise und meines Stils, die
durch eine nicht durch mich verschuldete,
notwendig gewordene schnelle Korrektur ver-
ursacht sind, gehe ich nicht ein. Ich über-
lasse es getrost denen, die sich jemals die
Mühe gegeben haben, Rosenbachsche Ar-
beiten genauer zu lesen, darüber zu urteilen,
ob Herr Rosenbach gerade dazu berufen
ist, den Stil anderer zu kritisieren.
Wenn aber Herr Rosenbach gegen mich
den Vorwurf erhebt, Angaben, die nur auf
Hörensagen beruhen, und eigene Vermutungen
als klinische Beobachtungen und wissenschaft-
liche Beweise vorgeführt zu haben, so muß
ich das auf 8 entschiedenste zurückweisen.
Welche Unterlagen hat Herr Rosenbach
zu seiner Beschuldigung?
Er bekrittelt es z. B., daß ich bei der
einen Anamnese hinter „Ulcus durum" ein
Fragezeichen gesetzt habe. Was hätte Herr
Rosenbach nun wohl gesagt, wenn ich das
Fragezeichen fortgelassen hätte? Ich selbst
habe den Schanker des Patienten im Jahre
1876 nicht gesehen, der Arzt, der den Pa-
tienten damals behandelt hat, ist mir nicht
bekannt, zudem ist die Angabe eines Arztes,
ob ein Geschwür hart ist oder nicht, „ein
subjektives Urteil" (Rosenbach). Ich hätte
also dann eine Angabe, die nur auf Hörensagen
beruht, als sichere Tatsache hingestellt.
Bei den Fällen aus der Privatpraxis hatte
ich vollauf das Recht, die vor aufgegangene
Syphilis ohne viele Worte als sicher hinzu-
stellen. Die 3 Patienten sind seinerzeit an
ihrer Syphilis von einem Arzt behandelt
worden, dessen Urteil mir wenigstens über
jeden Zweifel erhaben ist.
Wenn ich ferner das Vorhandensein von
Leukozyten und Lymphozyten in der Lumbai-
flüssigkeit eines tabischen Patienten , der
außerdem zugibt, einen Schanker, sei er nun
hart oder weich, gehabt zu haben, für vorauf-
gegangene Syphilis geltend mache, so halte
ich diese meine Anschauung aufrecht trotz
der theoretischen Bedenken Rosenbachs.
Ich halte mich dazu berechtigt, da die meisten
Autoren, die sich praktisch mit dieser
Frage befaßt haben, zu dem übereinstimmen-
den Resultat gelangt sind, daß der positive
Nachweis von Leukozyten und Lymphozyten
in der Lumbaiflüssigkeit eine wertvolle Stütze
für die syphilitische Ätiologie von Erkran-
kungen des Nervensystems ist.
Herr Rosenbach hätte Recht, gegen mich
und die Art meiner Schlußfolgerungen zu
polemisieren, wenn ich aus den wenigen von
mir beobachteten Fällen von familiärer Tabes
allein irgend welche Schlüsse gezogen hätte.
Wo in aller Welt sind in meiner Arbeit
solche Schlüsse zu finden? Wenn Herr
Rosenbach mehr auf den Inhalt meiner
Arbeit geachtet hätte, anstatt nach Art eines
Schulmeisters die stilistischen Fehler anzu-
streichen, so hätte er sich leicht davon über-
zeugen können, daß die von mir publizierten
Fälle von familiärer Tabes für mich weiter
nichts bedeuteten als den „Anlaß" zu einer
kurzen Besprechung der Frage, wie weit
Fälle von familiärer Tabes überhaupt für
die Ätiologie der Krankheit verwertet werden
können.
258
Winckclmann, L«ukamie und PseradoUukämle).
rTherapenttseb«
L Monatahefto.
Behandlung der Leukämie und Pseudo-
leukämie mit Röntgenstrahlen.
Von
Dr. Winokelmann,
Obararit Im Feld-Art- Rgt. 85, kommandiert mm AugnsU-
ho«pltal In Cöln &. Rh.
In der verhältnismäßig kurzen Zeit seit
der Veröffentlichung des ersten erfolgreich
mit Röntgenstrahlen behandelten Falles von
Leukämie durch Senn1) (22. VIII. 03) ist be-
reits über etwa 100 derartig behandelte Fälle
yon Leukämie und Pseudoleukämie berichtet
worden. Wendel') gibt eine tabellarische
Übersicht über 27 und de la Camp8) eine
solche über weitere 32 genauer beschriebene
Fälle: Kürzer bezw. vorläufig mitgeteilt sind
einige 40.
Es sind verschiedene Arten von Leukämie-
fallen der Röntgenbehandlung unterzogen
worden: myeloide, lymphatische, gemischt-
zellige, zu perniziöser Anämie überführende
Leukämien und Pseudoleukämien.
Die Technik der Therapie weist an-
nähernd so viel Verschiedenheiten auf, wie
der Zahl der Behandelten entspricht. Der
Ort der gewollten Einwirkung ist verschieden
gewählt worden, verschieden sind die Dauer
und die Anzahl der einzelnen Bestrahlungen,
verschieden sind schließlich auch die ange-
wandten Röhren. Hinzu treten noch als sehr
wesentlich die persönlichen, biologischen
Eigentümlichkeiten des einzelnen den Röntgen-
strahlen gegenüber.
Trotz der Wichtigkeit der Röhren finden
sich teils nur ganz kurze, teils gar keine
Angaben über sie in den Mitteilungen. Im
allgemeinen wurden „härtere" Röhren an-
gewendet, um mit ihnen eine größere Tiefen-
wirkung zu erzielen. Nun werden ja zu
diagnostischen Zwecken benutzte Röhren nach
und nach härter, und es liegt nahe, solche
hartgewordenen Röhren bei Gelegenheit
therapeutischer Anwendung vollends zu ver-
brauchen. Aber ebensowenig wie wir in anderen
Gebieten der Krankenbehandlung mangelhafte
Präparate benutzen, ist es hier zweckmäßig,
minderwertiges Material zu verwenden; „die
besten Röhren sind für die Röntgenstrahlen
gerade gut genug" (AI b er s- Schönberg4) 5)).
In künftigen Veröffentlichungen werden
l) Medical Record 1903.
*) MüDch. med. Wochenschr. 1905, No. 4.
3) Therapie d. Gegenwart 1905, No. 3.
*) Med. Klinik 1906, No. 8.
5) Die Industrie liefert für therapeutische
Zwecke besondere Röhren, die darin sich von
denen für Diagnostik und Photographie unterscheiden,
daß die Antikathode nicht so exakt sich im Brenn-
punkt des als Kathode dienenden Hohlspiegels be-
findet, wie es bei diesen durchaas nötig ist. Da-
durch verbilligt sich die Herstellung.
Angaben über die Röhrenart, ob neu, ob ge-
braucht, über ihren Abstand von der Körper-
oberfläche ebenso erwünscht sein wie über die
Schutzvorrichtungen und etwaige Maßnahmen
zur objektiven Messung der Strahlenmengen
(Chromoradiometer, Köhlers6) Röhre) etc.
Einige Notizen derart finden sich beispiels-
weise in den Arbeiten von Win kl er7) und
Schieffer8).
Wie sehr die Autoren bemüht gewesen
sind, ihre Patienten individuell zu behandeln,
kann man aus der Verschiedenheit der Zeiten
und des Ortes der Bestrahlungen wie der
Dauer der ganzen Behandlung schließen! So
hat, um die Extreme zu erwähnen, Lommel9)
18mal 3 Minuten, Colombo10) 150mal
40 Minuten belichtet!
Rohde11), Lommel und Schieffer haben
die Milz allein bestrahlt, Lenz mann13),
Schütze13) Drüsenpakete allein; man hat
kombiniert: Milz mit Sternum und Epiphysen
(Stone14), Milz mit Leber, Milz mit langen
Röhrenknochen, mit Knochen und Leber, mit
Drüsentumoren ....
Über den Erfolg der Behandlung äußern
sich die Beobachter verschieden. Ein Patient
Hahns15) starb nach 6, Quinckes nach
37a Monaten. Die Behandlung hatte keinen
Einfluß auf den Verlauf. Auch Schencks*6)
Kranker starb; Ahrens'17) Leukämiker bekam
nach Aussetzen der Behandlung ein letales
Rezidiv und bei Wendeis18) trat später
wieder Verschlimmerung ein. Keinen Erfolg
sahen Schultze19) und Kraus30). Bei Lenz-
manns31) Fall verminderten sich außer den
Leukozyten auch der Hämoglobingehalt des
Blutes und die Erythrozyten um ca. 50 Proz.
Zu einem abschließenden Urteil sind Bäumler,
Gurschmann, Eichhorst, Heubner u. a.
noch nicht gekommen, sie halten aber „im
allgemeinen eine gewisse Skepsis für ge-
boten"33). Diesen negativen Ergebnissen
stehen reichlich 50 Fälle gegenüber, die eine
6) Münch. med. Wochenschr. 1905, No. 2.
7) Münch. med. Wochenschr. 1905, No. 4.
8) Münch. med. Wochenschr. 1905, No. 4.
9) Mediz. Klinik 1905, No. 7.
10) Münch. med. Wochenschr. 1905, No. 1.
H) Referat in Deutsche med. Wochenschr. 1904,
No.40.
»») Med. Klinik 1905, No. 9.
13) Med. Klinik 1905, No. 11.
") Med. Klinik 1905, No. 8.
») Med. Klinik 1905, No. 7.
,6) Münch. med. Wochenschr. 1904, No. 48.
,r) Munch. med. Wochenschr. 1904, No. 24.
18) 1. c.
19) Rhein, westf. Ges. für innere Med. u. Nerven-
heilk. Münch. med. Wochenschr. 1904, No. 50.
M) Med. Klinik 1905, No. 6.
81) 1. c. (9)
M) Med. Klinik 1905, No. 8.
J
XIX. Jfthrgang/1
Mal 190». J
Winckelmann, Leukämie und Pieudoleukämle.
259
aasgesprochene Besserung erfahren haben.
Bei einem Fall Schützes33) hält die Besse-
rung bereits 4 Jahre an; vorläufig geheilt
sind 2 Patienten Schieffers8*), Brown und
Hoff mann erzielten Völlig normalen Blut-
befund, und von Heilung berichtete Swenn.
Die Besserungen sind sowohl subjektiver
Natur, wie vor allem auch objektiv nach-
weisbar. Die Leukozyten zahl nimmt ab,
wesentlich durch Zurücktreten der unreifen
Formen, die Erythrozyten- und Hämoglobin-
zahlen steigen an, der leukämische (weniger
der pseudoleukämische) Milztumor und die
pseudoleukämischen Drüsentumoren verklei-
nern sich. Dabei bessert sich das Allgemein-
befinden unter Zunahme des Korpergewichts,
während die Neigung zu Blutungen aufhört
und die Körpertemperatur regelrecht wird.
Das sind Erfolge, die — mögen sie auch
nur symptomatisch und des öfteren vorüber-
gehend sein — doch bisher von keiner Be-
handlungsweise der Leukämie erzielt wurden !
Fortschreitende Erfahrungen und Experimente
werden die Technik der Behandlung ver-
bessern und einheitlicher gestalten müssen,
und damit werden sich wohl auch die Re-
sultate noch bessern. Daß Röntgenstrahlen
kein indifferentes Mittel sind, ist längst be-
kannt. Neuere Arbeiten, vor allem die aus-
fuhrlichen Untersuchungen H e i n e c k e s 85),
lehrten uns durch Röntgenstrahlen hervor-
gerufene Veränderungen innerer Organe kennen,
die von den Vorgängen an der Haut unab-
hängig sind. Die Störungen, die Heinecke
fand, betreffen ausschließlich die zur Blut-
bereitung in Beziehung stehenden Organe:
Milz, Lymphdrüsen, Knochenmark. Die
Röntgenstrahlen rufen Zelluntergang in diesen
und Gewebsvernichtung hervor. Buschke
und Schmidt96) berichten von dem de-
struierenden Einfluß der Röntgenstrahlen auf
Drüsen: Hoden (wie vor ihnen schon Albers-
Schonberg97) u. a.) und Schweißdrüsen,
Halberstädter28) auf Ovarien.
All diese Tatsachen werden uns aber von
der therapeutischen Verwendung der Röntgen-
strahlen nicht abhalten, wohl aber uns aufs
neue die größte Gewissenhaftigkeit bei ihrer
Anwendung, ja schon bei der Indikations-
stellung zur Pflicht machen.
Ausfuhrliche Literatur siehe: Wendel:
Zur Röntgenbehandlung der Leukämie. Münch.
med. Wochenschr. 1905, No. 4 und de la
Camp: Kritisches Referat über die bisherigen
Erfahrungen der Behandlung der Leukämie
und Pseudoleukämie mit Röntgenstrahlen.
Therap. d. Gegenwart 1905, No. 3. Ferner:
Medizin. Klinik, Umfrage, Antworten in No. 5
bis 9 u. 11, 1905, und Verhandlungen des
Kongresses für innere Medizin 1905.
Neuere Arzneimittel.
(Hygienisch -parailtologiseh es Institut der
Unirersltät Lausanne.)
Über Isoform.
Prof. B. Qalli-Valerio (Lausanne).
Unter dem Namen Isoform haben die Farb-
werke vormals Meister, Lucius &Brüning
in Höchst a. M. ein neues Antisepticum
und Desodorans in den Handel gebracht.
(OCH \
Parajodoanisol C6H4: „ 3j ist
ein farbloses, schwach nach Anis riechendes
Pulver. Es ist in Wasser schwer löslich,
in Alkohol und Äther unlöslich und läßt
sich auf 200° erhitzen, ohne sich zu zer-
setzen. Da das reine Parajodoanisol bei
Erhitzung auf 230° und auch durch Schlag
explodieren kann, so hat man das Isoform-
pulver in den Handel gebracht, welches
nichts anderes ist als ein Gemisch von
«) 1. c. (10).
*) 1. c. (5).
*) Mitteil. a. d. Grenzgebiet d. Med. u. Chir.
XIV. 1-2, 1904.
gleichen Teilen von Parajodoanisol und
phosphorsaurem Kalk. Im Handel finden
sich auch: Isoformgaze (l — 3 — 10 proz.;
Isoformpaste (Isoform pur. Glycerin »»); Iso-
formkapseln (0,50 g Isoformpulver).
Herr B. Heile, der in der chirurgischen
Klinik der Universität Breslau viele Unter-
suchungen mit Isoform angestellt hat, sagt,
daß das Parajodoanisol sich als ein
starkes Antisepticum erweist, als ein
stärkeres als die bisher gebräuch-
lichen1). Heile hat folgende Untersuchun-
gen gemacht: Frischer heißer Eiter war mit
Reinkulturen von Staphylo- und Strepto-
coccus resp. Pyocyaneus vermischt; in diese
bakterienreiche Flüssigkeit wurden gleich
große Gazestücke versenkt und mit dem
Eiter durchtränkt, nachdem sie vorher mit
verschiedenen Lösungen von Isoform imprä-
*) Deatsch. med. Wochenschr. 1905, No. 13.
») Manch, med. Wochenschr. 1903, No. 43.
") Berlin, klin. Wochenschr. 1905. No. 3.
l) Sonderabdruck aus der Volkmann sehen
Sammlang. Klinische Vorträge. 388, p. 149, 1904.
260
Galli-Valerlo, Ober Isoform.
rTherapeatiache
L Monatshefte.
gniert worden waren. Das infizierte Gaze-
stück wurde in Petrischalen mit Agar über-
gössen. Er konnte auf diese Weise fest-
stellen, daß 3 — 10 proz. Parajodoanisol nicht
nur das Wachstum der Bakterien in der Gaze
selbst -verhindert, sondern es macht ebenfalls
einen bakterienfreien Hof im Agar; 1 proz.
Parajodoanisol verhindert das Wachstum der
Bakterien nur in der Gaze. Normale Haut
wurde durch Isoform nicht gereizt; deswegen
empfiehlt Heile eine 50 proz. Isoform-
glyzerinpaste, um die Hände nach Waschung
mit Schmierseife und Seifenspiritus zu des-
infizieren; per os bei Menschen und Tieren
(bis 2 — 3 g täglich) hatte es keine toxische
Wirkung.
Seit V» Jahr hat Mikulicz2) das Isoform
in seiner Klinik in immer größerem Umfange
in Gebrauch genommen, und sagt er, daß es
eine Reihe von Vorzügen im Vergleich mit
anderen Antiseptica besitzt.
Meine eigenen Untersuchungen über Iso-
form hatten den Zweck, die antiseptische,
desodorierende und toxische Wirkung des
Isoformpulvers zu studieren.
a) Antiseptische Wirkung.
Um die antiseptische Wirkung des Iso-
formpulvers zu probieren, habe ich zwei
Methoden gebraucht.
1. Methode. Wie schon Hesse3),
Schmidt4), Rabow und Galli-Valerio5)
in ihren Arbeiten über Desinfektionskraft
einiger Streupulver getan haben, habe ich
einige mit erstarrtem Agar gefüllte Petrische
Schalen mit Bakterien infiziert und sie dann
mit Isoformpulver bestäubt.
Erste Reihe: Sechs Agarplatten wurden
je mit 4 Strichen von Infektionsmaterial in-
fiziert, und zwar 2 mit B. anthracis, 2 mit
B. proteus und 2 mit M.pyogenes aureus.
Eine Platte von jeder Gruppe wurde mit
Isoformpulver ganz überstäubt, die andere
diente als Eontrolle. Alle diese Platten
wurden dann bei 37° gehalten.
Die Resultate waren folgende: In den
.Tabellen bedeutet -+- reichliche Entwickelung,
und — fehlende Entwickelung. *
1. 2. 3. 4. 5. 6 Tag
B. anthracis -4- Isoform
B. anthracis (Kontrolle) -f- -f- -h -+- -h -h
B. proteus -4- Isoform —
B. proteus (Kontrolle) + + + + + +
M. pyogenes aureus 4-
Isoform —
M. pyogenes aureus
(Kontrolle) 4-4-4-4-4-4-
a) Allg. med. Zentral -Zeitung 1904, No. 51.
8) Zentralbl. für Bakt. XX Bd., 1896, p. 678.
*) Zentralbl. für Bakt. XXII. Bd., 1897, p. 171.
5) Ther. Monatshefte, April 1900.
2. Reihe: Drei Agarplatten wurden je
mit 4 Strichen von Infektionsmaterial in-
fiziert, und zwar eine mit B. anthracis, eine
mit B. proteus und eine mit M. pyogenes
aureus. Eine Hälfte jeder Platte (also
2 Striche) wurde mit Isoformpulver be-
stäubt und bei 37° gehalten. Während die
nicht bestäubte Hälfte eine reiche Entwicke-
lung von Bakterien zeigte, blieb die mit
Isoformpulver bestäubte Hälfte ganz steril.
II. Methode. Wie Benignetti6) in
seinen Untersuchungen über desinfizierende
Wirkung von Xeroform, Jodothymol und
Orthoform habe ich feststellen wollen, ob eine
wässerige Lösung von Isoformpulver eine
antiseptische Wirkung besitzen könnte.
Dazu habe ich 5 ccm sterilisiertem Wasser
so viel Isoformpulver beigefügt, bis eine
dicke Schicht am Boden war. In diese
Lösung stellte ich Deckgläschen, die mit einer
Öse Bouillonkultur von B. anthracis, B.
proteus und M. pyogenes aureus infiziert
worden waren. Nach */4 — '/, und 1 Stunde
habe ich diese Deckgläschen in sterilisiertem
Wasser gewaschen und sie dann in Pepton-
bouillon bei 37° gehalten. Einige infizierte
Deckgläschen, die nicht in die Isoformlösung
gebracht worden waren, wurden auch in
Peptonbouillon gebracht, um als Kontrolle
zu dienen.
Wie zu erwarten war, habe ich, da das
Isoform im Wasser schwer löslich ist, durch
diese Methode keine guten Resultate erzielt
Nur bei B. proteus habe ich einige Stunden
Verzögerung in der Entwickelung beobachtet.
b) Desodorierende Wirkung.
Um die desodorierende Wirkung des Iso-
forms zu probieren, habe ich kleine Reagenz-
gläschen mit Harn und Faeces mit Isoform-
pulver gemischt und andere ohne Isoform-
pulver bei 37 ü gehalten. Während nach
einigen Tagen die ersten Reagenzgläser einen
schwach nach Anis riechenden Geruch ent-
wickelten, entwickelten die anderen einen
sehr starken und unangenehmen Geruch.
c) Toxische Wirkung.
Um die toxische Wirkung zu eruieren,
habe ich Meerschweinchen Isoformpulver (2 g
in 6 Tagen) ins Futter gemischt, ohne Störun-
gen zu bemerken. Ich selbst habe während
einiger Tage 0,30 cg pro die Isoformpulver
in Oblaten eingenommen und bemerkte
keinerlei Störung.
Meine Untersuchungen stimmen also mit
denjenigen von Heile und Mikulicz über-
ein und bestätigen, daß Isoform wegen seiner
6) Rivista d'Igiene e sanita publ. 1905, p. 46.
XIX. Jahrfaog.1
Mal 1905. J
Isoform.
261
bakteriziden, desodorierenden und nicht
toxischen Wirkung als antiseptisches Streu-
pulver und auch als Antisepticum des
Magen- und Darmtractus empfohlen werden
kann.
Isoform.
Wird Jodoform mit Bestandteilen der Ge-
webe zusammengebracht, so wirkt es als Anti-
septicum nur dann, wenn zugleich der Zutritt
von Luft verhindert wird. In diesem Falle
bildet sich vermutlich das bakterizid wirkende
und giftige Dijodacetyliden, das im anderen Falle,
bei Zutritt von Sauerstoff, zu unwirksamen Ver-
bindungen oxydiert wird.
Ein Versuch, andere Körper mit der im
Dijodacetyliden wirksamen Gruppe = C = CJ9
als Antiseptica zu benutzen, schlug fehl: Dijod-
styrol, Trijodstyrol und Dijodzimtsaureester er-
wiesen sich unwirksam. Heile und Roh mann
suchten nun unter den organischen Superoxyden
nach einem Antisepticum, kamen indes auch
hier zu keinem Resultat; sie fanden aber unter
den Jodoverbindungen, die ähnlich wie die Super-
oxyde Sauerstoff abspalten, in dem p-Jodoanisol
einen ausgezeichnet antiseptisch wirkenden Körper.
hoform (p- Jodoanisol) C6 ^a^Z^qq-q^
ist eine farblose, schwach nach Anis riechende,
aus Eisessig krystallisierende Substanz, welche
in Wasser schwer löslich, in Alkohol und Äther
unlöslich ist; bis auf 230° erhitzt, zerfällt es unter
Explosion. Im Gegensatz zu Jodoform wirkt
Isoform auch bei Luftzutritt, also bei oberfläch-
lichen Wunden, antiseptisch und auch im Gegen-
satz zu anderen Antisepticis in stark eiweißhaltigen
Medien. Wird Gaze mit einem Antisepticum im-
prägniert und dann mit Eiter infiziert, so bleibt
beim Übergießen in Petrischalen mit Nährgelatine
diese steril, wenn 3proz. Isoformgaze verwendet
worden ist, während bei 5 proz. Karbolgaze,
0,2 — 0,3 proz. Sublimatgaze sich massenhafte
Kulturen zeigen.
Das Isoform zeigt im allgemeinen keine
toxische Wirkung. Heile hat selbst mehrere
Tage hintereinander 2 — 3 g ohne Schaden ge-
nommen; Tieren konnte wochenlang täglich
2 — 3 g per os oder subkutan gegeben werden,
wobei nur nach einiger Zeit die Freßlust abnahm,
aber nach eintägigem Aussetzen sich wieder ein-
stellte; auch intraperitoneal wurde es in nicht
zu großen Mengen vertragen.
Isoform wirkt durch sein starkes Oxydations-
vermögen. Bei der Abgabe von Sauerstoff geht
es zunächst in Jodosoanisol und dieses dann in
Jodanisol über1). Auf der Darmschleimhaut-
— und wahrscheinlich auch auf Wunden — wird
Isoform zuerst zu Jodanisol reduziert; letzteres
')
JO,
CeH, OCH,
Jodoanitol
JO
C6H4OCH3
Jodosoaniaol
JO
Ct H4 OCH, +
Jodosoanisol
C6 H4 0CH3 +
Jodanisol
zerfällt unter Bildung von Jodphenol, das mit
Schwefelsäure gepaart im Harn als jodphenyl-
schwefelsaures Kalium erscheint9).
In den Handel kommt Isoform mit gleichen
Teilen phosphorsaurem Kalk gemischt — durch
welchen Zusatz die Explosionsgefahr vollständig
beseitigt wird — als Isoformpulver und mit Zu-
satz von gleichen Teilen Glyzerin als Jsoform-
paste, ferner als 1 — 10 proz. Isoformgaze und
außerdem in bestimmt gehärteten Gelatinekapseln.
Anwendung findet Isoform an Stelle von
Jodoform zum Verbände von Wunden aller Art.
Bei primärem Wund Verschluß genügt die
1 proz. Isoformgaze. Die 3 proz. Isoformgaze
dient zur Nachbehandlung aller nicht besonders
stark sezernierenden Wunden, die 10 proz. Iso-
formgaze zur Behandlung stark infizierter und
stark sezernierender Wunden. Bei letzteren ist
es zweckmäßig, die Wirkung der Isoformgaze
durch Aufblasen von Isoformpulver auf die Gaze
zu erhöhen. Das Isoformpulver wirkt nicht als
austrocknendes Wnndstreupulver, sondern als
starkes Antisepticum und Desodorans, bei Ulcera
mollia und schankrösen Bubonen, ebenso vari-
kösen Ulcera, ulzeriertem Lupus vulgaris auch
bei Psoriasis vulgaris erwies sich das Isoform-
pulver und die Gaze auch die 10 proz. Isoform-
vaseline und 5 — 10 proz. Pflaster von Nutzen.
Auf ausgedehnte, stark resorbierende Flächen
(ausgekratzter Uterus u. ähnl.) darf Isoformpulver
nur mit Vorsicht aufgeblasen werden.
Innerlich ist Isoform bisher nur benutzt
worden — und zwar in gehärteten Kapseln ä 4 g
bis 8 g Isoformpulver täglich, um den Magen
nicht zu belästigen — zur vorbereitenden Des-
infektion des Darms vor Operationen. Immerhin
erscheint das Isoform auch brauchbar als bakterien-
hemmendes Mittel bei Typhus, Dysenterie u. a. m.
Literatur:
1. Experimentelle Prüfung neuerer Antiseptica
mit besonderer Berücksichtigung des Para-
jodoanisols (Isoform). Von Bernhard Heile.
(Aus der chirurgischen Universitätsklinik
und der chemischen Abteilung des physio-
logischen Institutes in Breslau.) Volkmann-
sche Sammlung klinischer Vorträge, No. 388
(Chirurgie No. 106).
2. Über das p- Jodoanisol (Isoform) und sein
Verhalten im tierischen Organismus. Von
Prof. F. Röhmann (Breslau). Berliner
klinische Wochenschr. No. 9, 1905, S. 225.
3. (Aus der dermatologischen Klinik der Uni-
versität Breslau.) Therapeutische Versuche
mit Isoform. Von Dr. Weik. Medizinische
Klinik No. 19, 1905, S. 466.
4. Ein Beitrag zur Behandlung infizierter
Wunden. Von Dr. Benno Müller (Ham-
burg). Mediz. Wochenrundschatt „Medico"
No. 7, Separatabdruck.
+ HOH =
C6 H, OCH3 "*- n"n - C6 H4 OH
Jodanisol Jodphenol Methylalkohol
Cc H4 OH + HS°4K = c6 H4 S04 K "
Jodphenol Jodphenylsehwefelaauro» Kalium.
CH,OH
-H,0
262
l'
Monatshefte.
Kalomelol«
Inunktionen mit Unguentum Hydrargyri
cinereum sind in der Syphilistherapie unent-
behrlich, haben aber den Nachteil, daß sie die
Wäsche beschmutzen und eine für die Umgebung
der Patienten unbemerkbare Durchführung ver-
eiteln.
Von diesem Übelstand frei ist die von der
chemischen Fabrik Heyden A.-G. Radebeul-
Dresden in den Handel gebrachte Kalomelol-
salbe.
Kalomelol, kolloidales Kalomel, ist ein
feines weißgraues Pulver, ohne Geruch und
Geschmack, welches in kaltem Wasser im
Verhältnis von 1 : 50 zu einer milchähnlichen
Emulsion gelöst wird. Nach Zusatz von Sauren
fällt es aus dieser Lösung, es löst sich aber
wieder nach Neutralisierung. In nicht zu stark
konzentrierten Salzlösungen, in Eiweißlösungen !
sowie im Blutserum ist es ebenfalls löslich.
Kalomelol enthält 75 Proz. Kalomel entsprechend
66 Proz. Quecksilber und 25 Proz. Eiweißstoffe.
Die als „Unguentum Heyden mitius" be-
zeichnete Kalomelolsalbe mit 45 Proz. Kalomelol
(30 Proz. Quecksilber entsprechend) ist eine
weißlichgraue Salbe von weicher Konsistenz.
Obgleich sie etwas weniger geschmeidig als die
gewöhnliche graue Salbe ist, läßt sie sich gut
auf der Haut verreiben und hinterläßt nur einen
minimalen weißen Überzug, der die Wäsche und
Unterkleidung nicht verunreinigt.
Eine Reihe von Tierversuchen, welche die
Quecksilberwirkung von Kalomelol, Kalomel und
Sublimat klarlegen sollten, zeigten, daß sowohl
die respiratorische als auch die perkutane Re-
sorption des Kalomelols der des Unguentum
Hydrargyri cinereum nachsteht, daß die Kalo-
melolsalbe dagegen dem Unguentum Hydrargyri
cinereum an toxischen Eigenschaften gleich-
kommt oder dieselbe sogar übertrifft. Auch ist
das lösliche Kalomelol toxischer als das unlös-
liche Kalomelol, wenn beide in Salbenform appli-
ziert werden. Per os gereicht, ist Kalomelol
am wenigsten giftig. Bei demselben Tier tritt
Erbrechen ein nach 0,1 g Sublimat, 0,5 g Kalomel
und erst nach 3 g Kalomelol. In bezug auf
abführende Wirkung verhält sich Kalomelol wie
Kalomel.
Zu Einreibungskuren verwendet, erwies sich
die Kalomelolsalbe in Dosen bis zu 10 g als
sicher aber recht milde wirkendes Mittel, das
in einigen Fällen leichte Stomatitis und gelegent-
lich auch Hautreizungen verursachte. Um die
Wirkung zu verstärken, wird jetzt der Kalomelol-
salbe ein Zusatz von 2 Proz. fein verteilten
Quecksilbers zugefügt. Auch diese als Ungu-
entum Heyden bezeichnete Salbe ist in der
Anwendung bequem und vollständig sauber.
Die Dosis pro die wäre auf 6 g zu normieren.
Subkutane und intramuskuläre Injektionen
von Kalomelollösungen verbieten sich wegen der
großen Schmerzhaftigkeit, und weil sie derbe,
schmerzhafte Infiltrate erzeugen. Innerlich läßt
8 ich Kalomelol (in Tablettenform a 0,01 mit
Zusatz von 0,006 g Opium) als Adjuvans in der
Syphilistherapie benutzen. Weiterhin kommen
zur Verwendung: Streupulver aus Kalomelol und
Amylum «* , 2 Proz. Kalomelollösungen zu Um-
schlägen und schließlich Kalomelol-Salizyl-Seifen-
Trikoplast und Kalomelol-Pflastermull als Er-
weichungsmittel zur lokalen Behandlung lueti-
scher Effloreszenzen und indurierter Drüsen.
Literatur:
1. (Aus der dermatologischen Universitäts-
klinik in Breslau). Über die Verwendung
der Kalomelolsalbe (Unguentum „Heyden")
zu antisyphilitischen Schmierkuren. Von
A. Neißer und C. Siebert. Medizinische
Klinik No. 1, 1905, S. 9.
2. Über lösliches Kalomel (Kalomelol). Von
Dr. Galewski (Dresden). München er medi-
zinische Wochenschr. No. 11, 1905, S. 506.
Referate.
Zar Behandlung der epidemischen Genickstarre.
Von Hermann Lenhartz (Hamburg.)
Lenhartz verfügt über 45 Fälle von epi-
demischer Genickstarre, die sich auf 10 Jahre
verteilen und derartig gruppieren, daß in einigen
Jahren nur 2 bis 3, in anderen bis zu 9 Fälle
zur Beobachtung gekommen sind. Nur einige
waren leicht, die meisten waren sehr schwer.
Während Lenhartz in den ersten Jahren von
der Quin ck eschen Lumbalpunktion bei solchen
Fällen nur sporadisch einigen Nutzen gesehen
hatte, hat er später immer mehr die Überzeugung
gewonnen, daß man durch regelmäßig und häufig
wiederholte Lumbalpunktionen den Krankheits-
prozeß günstig beeinflussen und die drohende
Lebensgefahr abwenden kann. Dieser segens-
reiche Einfluß der Lumbalpunktion wird durch
Anführung mehrerer Fälle deutlich illustriert. Die
Operation kann mit Leichtigkeit in jedem Privat-
hause ausgeführt werden. Sie wird am besten
in der Weise ausgeführt, daß man in Seitenlage
und bei nicht erhöhtem Kopf genau in der
Mittellinie zwischen zwei Dornfortsätzen die Hohl-
nadel einführt. Der Einstich gelingt dem Un-
geübten um so eher, je mehr die Lumbaigegend
nach außen durchgebogen wird, was um so leichter
geschieht, wenn die Oberschenkel gegen den
Bauch gezogen und herangedrückt werden. Legt
man eine Senkrechte von der Crista ilei auf die
Wirbelsäule, so findet man den günstigsten Punkt
für den Einstich. — Es ist ratsam, in einer
Sitzung nicht mehr wie 30 bis höchstens 50 cem
abzulassen und nur unter Kontrolle des überall
leicht mitzuführenden Steigerohres die Druck-
messung vorzunehmen. Die vor dem Einstich
mit Äther abgewischte Hautstelle wird später
XIX. Jahrgsnf -1
Mal 1905. J
263
nur mit einem Stückchen Zinkpflaster bedeckt.
(Hervorgehoben verdient noch zu werden, daß
bei 40 von den 45 beobachteten Fallen der
Weichselbaum8che Diplococcus intracellnlaris
nachgewiesen werden konnte).
CMünch. med. Wochenschr. 1905, No. 12.) R.
i> Ober Immunisierung von Rindern gegen Tuber-
kulose (Perlsucht) und Aber Tuberkulose-
Serumyersuche. Von Sanitätsrat Libbertz
und Prof. Ruppel in Höchst.
a. Zur Tuberkulose - Immunisierung mit Schild-
kröten - Tuberkelbaslllen. Erwiderung auf.
obige Ausführungen. Von F. F. Friedmann
in Berlin.
Friedmann hatte, wie im vorigen Jahr-
gang dieser Zeitschrift berichtet, gefunden, daß
die von ihm entdeckten Schildkröten -Tuberkel-
bazillen für Warmblüter unschädlich seien, und
hatte darauf ein Schutzimpfungsverfahren gegen
Warmblütertuberkulose aufgebaut und Heilungs-
versuche angekündigt. In No. 46 der Deutschen
med. Wochenschrift 1904 berichtet er über der-
artige Versuche, die er in Höchst an Rindern
zum Zwecke der Immunisierung und zur Er-
zeugung bezw. zum Nachweis von Schutz- und
Heilstoffen im Blute so immunisierter Rinder
mit angeblich günstigem Erfolge angestellt hatte.
Diese Versuche wurden von Fried mann unter
Kontrolle von Libbertz und Ruppel angestellt.
In der ersten Arbeit wenden sich nun diese
Herren mit scharfer Kritik gegen die Be-
hauptungen von Friedmann, die mit ihren
eigenen Beobachtungen in Widerspruch ständen
und den Tatsachen nicht standhielten. Fried-
mann hätte die Pflicht gehabt, nicht nur über
die scheinbar günstigen Erfolge zu berichten,
sondern auch Mißerfolge mitzuteilen. Aus
der ausführlichen Mitteilung von Versuchs-
protokollen geht hervor, daß die Vorbehandlung
von Meerschweinchen zwar eine gewisse Ver-
zögerung im Verlauf und der Entwickelung ver-
anlassen kann, die jedoch, soweit sie nicht über-
haupt auf Zufälligkeiten beruht, bei längerer
Beobachtung als einer solchen von 30 Tagen,
der regulären, oft rapide sich entwickelnden
Impftuberkulose Platz macht. Auch die wenigen
angeblich immunisierten Rinder zeigten bei der
Sektion typische Tuberkulose, die Friedmann
ganz willkürlich als Heilungsvorgänge deute.
Aehnliche Einwände an der Hand der Versuchs-
protokolle machen die Verfasser gegen die An-
nahme Friedmanns von der Bildung von
Schutzstoffen im Blute. Sie kommen zu dem
Schluß, daß die Fried mann sehe Kultur für
Warmblüter insofern nicht absolut ungefährlich
sei, als sie zwar keine Tuberkulose, wohl aber
Intoxikationen und organische, für das Leben
nicht gleichgültige Veränderungen hervorriefe.
Intravenöse Injektionen schützten nicht gegen
eine spätere Infektion und erzeugten keine
Tuberkulose- Im munstoffe. Somit bliebe von der
Fried mann sehen Idee kaum etwas übrig.
Die Erwiderung von Friedmann geht
nach zwei Richtungen. In der Hauptsache ver-
bucht Friedmann seine Versuchsanordnung
und die Folgerungen, die er aus den Ergeb-
nissen zieht, zum Teil auf Grund derselben,
zum Teil auf Grund weiterer Protokolle zu
rechtfertigen. Wessen Deutung die richtige ist,
das werden natürlich erst weitere Versuche ent-
scheiden können, wenn auch die Libbertzsche
Arbeit beweist, daß Friedmann bei seinen
ersten Veröffentlichungen etwas zu optimistisch und
siegesgewiß gewesen ist. Zustimmen wird man
aber Friedmann bei seiner Beschwerde über
das formale Vorgehen der Herren Leiter der
bakteriologischen Station in Höchst, in der
Friedmann seine Versuche gemacht hat. Seine
Arbeit in No. 46 hat, wie kontraktlich ausge-
macht, vor dem Abdruck den Herren Libbertz
und Ruppel vorgelegen; sie haben, trotzdem sie
nach den Behauptungen von Friedmann den
Inhalt Wort für Wort kannten, keine Bedenken
gegen die Veröffentlichung geäußert und sie zu-
gelassen, um dann später erst in dieser vor-
liegenden Arbeit zu erklären, daß die Fried-
mannsche Arbeit ihrer Beobachtung nach irr-
tümliche Folgerungen und sachliche Unrichtig-
keiten enthielte.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No 4 u. 5.)
A. Qottstein.
(Ans der I. medlsinlMhen UnlvergitlUklintk In Berlin.)
Ober Organtherapie bei Morbus Basedowii. Von
E. v. Leyden.
Der Schilddrüse kommt die Aufgabe zu,
die im Organismus entstehenden giftigen Stoff-
wechselprodukte zu neutralisieren. Wird dieselbe
durch Atrophie oder Exstirpation der Schild-
drüse gestört, so entsteht eine Krankheit: Myx-
ödem. Kommt es durch Hyperplasie der Schild-
drüse zu einer Hypersekretion dieses Organs,
so treten Vergiftungserscheinungen (Autointoxi-
kation) ein, welche das Krankheitsbild des Morbus
Basedowii ergeben. Myxödem und Morbus
Basedowii sind etwas Gegensätzliches. — Durch
Fütterung von Hunden mit Schilddrüsen ex trakt
konnten Ballet und Enriquez bei den Versuchs-
tieren Tremor, Exophthalmus, Tachykardie und
Abmagerung hervorrufen, ein Krankheitsbild,
welches dem Morbus Basedowii entspricht. Da
diese Affektion eine echte Vergiftungserkrankung
darstellt, wurde ihre Behandlung mit einem Gegen-
gift versucht. Zu diesem Zwecke exstirpierten
Ballet und Enriquez Hunden die Schilddrüse.
Die Tiere bekamen infolge dessen Tetanie.
Nun wurden sie getötet und das getrocknete
Blut zur Behandlung des Morbus Basedowii ver-
wandt. In diesem Blute mußte das von der
Schilddrüse abgesonderte Sekret fehlen, und
außerdem mußten diejenigen Gifte in großer
Menge vorhanden sein, welche beim Stoffwechsel
entstehen und durch das Schildrüsensekret neu-
tralisiert werden. Diese Gifte sollten nun zur
Neutralisierung der von der Schilddrüse bei
Morbus Basedowii im Überschuß sezernierten
Substanz dienen. Und die Resultate waren in
der Tat ermutigend, doch wurden die Versuche
von den beiden Forschern nicht fortgesetzt.
L a n z in Amsterdam und Burghart und
Blumenthal nahmen dieselben wieder auf. Lanz
ging von der Idee aus, daß der das Basedowgift
neutralisierende Stoff nicht bloß im Blute, sondern
264
rThtrapoatisefce
auch in der Milch thyreoidektomierter Tiere
vorhanden sein müßte, und ließ seine Kranken
taglich }/4 bis '/3 Liter Milch von Ziegen trinken,
denen zuvor die Schilddrüse exstirpiert worden
war. Der Erfolg war befriedigend. — In ähn-
licher Weise gingen Burghart und Blumen-
thal (auf der I. med. Klinik in Berlin) vor. Da
aber die Ziegenmilch schon nach kurzer Zeit den
Kranken widerlich wird, so suchten sie aus der
Milch die wirksame Substanz auszufällen und
haltbar zu machen. Ein solches Präparat kommt
unter dem Namen Rodagen in den Handel.
Im Anschluß hieran empfahl Moebius, Ham-
meln die Schilddrüse zu exstirpieren. Er spritzte
gleichfalls mit gutem Erfolge das Blutserum der
Hammel subkutan ein oder gab es tropfenweise
per os. — Neuerdings wird im Kopenhagener
Seruminstitut das Blut thyreoidektomierter Ziegen
getrocknet und pulverisiert in Tablettenform in
den Handel gebracht. Auch hiermit sind sehr
günstige Resultate erzielt worden.
Leyden hatte nun wiederholt Gelegenheit,
Basedowkranke mit dieser antitoxischen Organ-
therapie zu behandeln. Seine Erfahrungen er-
strecken sich auf das Rodagen, auf das von
Merck in den Handel gebrachte Antithyreoid-
serum Moebius und auch auf das dänische
Präparat (von Dr. Madsen). Alle Präparate
haben sich bewährt. In neuerer Zeit hat Leyden
sich auf das Rodagen beschränkt, weil dasselbe
in Deutschland leichter zugänglich ist. Er be-
richtet eingehend über mehrere (im Original
nachzulesende), von ihm behandelte Fälle, in
denen unter Anwendung des Rodagen (3 mal
täglich 1 Theelöffel) gute Heilerfolge erzielt
wurden. Meist war schon nach 3 bis 4 Wochen
Besserung zu beobachten. In schweren Fällen
dauerte die Behandlung monatelang und mußte
in der Folge wiederholt werden.
(Med. Klinik, 1. Dez. 1904.)
R.
Untersuchungen über Mamma - Karzinom bei
einer Katze. Von E. v. Leyden.
Der Krebs ist jetzt bei den Tieren in grös-
serer Ausdehnung gefunden worden, als man das
vordem voraussetzen zu dürfen glaubte. Die
Hunde haben beinahe ebenso häufig Krebs wie
der Mensch. Selten ist der letztere beim Rind
und Pferd, aber kleinere Tiere, die die Woh-
nungen der Menschen teilen und alle möglichen
Abfallstoffe fressen wie Ratten und Mäuse, werden
sehr häufig von Karzinom befallen, v. Leyden
hatte der Zufall nun eine Katze mit Mamma-
Karzinom zugeführt, von der er sehr klare mikro-
skopische Präparate gewinnen konnte, die auch
die von ihm im Jahre 1900 zuerst beschriebenen
vogelaugenartigen Gebilde in ganzen Nestern als
Einschlüsse aufwies, und diese sind ja bekannt-
lich vom Verf. als die lange vergeblich gesuchten
Krebsparasiten angesprochen worden und werden
von ihm auch noch jetzt als solche betrachtet,
zumal Transplantationsversuche mit erkrankten
Gewebspartikeln zuweilen (in vorliegendem Falle
nicht) die Entwickelung krebsiger Wucherungen
zur Folge gehabt haben sollen (E. Hahn). Ab;
gesehen hiervon aber kommen nach v. Leyden,
der die von pathologischer Seite gestellte An-
forderung, die parasitäre Natur des Krebses erst
durch Züchtungsergebnisse zu beweisen, prin-
zipiell für unberechtigt hält, noch biologische
Verhältnisse in Betracht, daß die Invasion durch
die Krebserkrankung von außen her erfolgt: die
lokale und geographische Verbreitung des Kar-
zinoms (das in der Äquatorialzone bei den Ne-
gern ebensowenig vorkommt, wie an den Polen)
und die lokale Verbreitung des Krebses am
Körper gerade an solchen Stellen, welche von
außen leicht zugänglich sind.
Mir scheint es, als ob diese von v. Leyden
.herangezogenen Momente mit demselben Rechte
auch als Argumente für die entgegengesetzte
Ansicht verwertet werden könnten.
(Zeiischr. f. klin. Medicin, Bd. 52, H. 5 u. 6.)
EschU (Sinsheim).
Vorläufige Mitteilung Aber einige Untersuchungen
betreffend die Ätiologie der Leukämie. Von
Dr. P. Gilman Moorhead in Dublin.
Moorhead geht von der Annahme aus, daß
die Ursache der Leukämie in einem Toxin zu
suchen sein* dürfte, wobei allerdings die Existenz
spezifischer Mikroorganismen, unter deren Ein-
wirkung ein Toxin sich bilden könnte, keines-
wegs ausgeschlossen ist. Da das hypothetische
Toxin wahrscheinlich in den Lymphorganen ent-
halten ist, so hat Moorhead bei einem an
lymphatischer Leukämie gestorbenen Kranken
unmittelbar nach dem Tode eine Anzahl ge-
schwollener Lymphdrüsen gesammelt und aus
diesem Material, im ganzen 135 g, Extrakte her-
gestellt, und zwar aus der einen Hälfte ein
alkoholisches Extrakt, aus der andern eins mittels
Glyzerin und schließlich noch vom abfillrierten
Rest des ersteren ein Extrakt mittels Kochsalz-
lösung. Die Prüfung dieser Extrakte mit dem
Tierexperiment ergab nun folgendes: Nach intra-
venöser Injektion des alkoholischen und des
Salzwasserextrakts erfolgte bei Kaninchen erst
eine geringe Steigerung, dann sehr bald ein
bedeutendes Sinken des Blutdrucks. Kontroll-
versuche mit Extrakten normaler Lymphdrüsen
fielen in Bezug auf den Blutdruck negativ aus.
Das Glyzerinextrakt hatte eine ähnliche Wirkung,
jedoch konnte diese auch von dem Glyzerin her-
rühren, da dieses allein auch den Blutdruck
herabsetzt. Ferner wurden jungen Kaninchen die
Extrakte längere Zeit hindurch täglich subkutan
eingespritzt. Das Glyzerin extrakt blieb ohne
charakteristische Wirkung; das Alkoholextrakt
verursachte eine geringe Vermehrung der Leuko-
zyten, das Salz wasserext rakt jedoch eine deutliche
Vermehrung zugleich mit gewissen Veränderungen
im Knochenmark (es wurde rot und weicher) und
einer Verminderung der roten Blutkörperchen.
Kontrollversuche blieben wiederum ohne Ergebnis.
Moorhead glaubt hieraus schließen zu
können, daß die Lymphdrüsen bei der Leukämie
eine Substanz enthalten, welche den Blutdruck
herabsetzt und gewisse Veränderungen des Blutes
hervorruft; diese Substanz läßt sich durch Ex-
trahieren mit Alkohol und Lösung des Rück-
standes in Salzwasser gewinnen; sie kommt in
normalen Lymphdrüsen nicht vor.
(British medical Journal 1904. IC. Sept)
Classen (Grube l H).
XIX. Jahrgang. 1
Mai 1W5. J
Referate.
265
Die Behandlung des Tetanus mit Injektionen von
Gehirnemulsion. Von Dr. T. Holobut.
Den früher publizierten und in diesen Heften
referierten Fällen von mit Gehirnemalsion be-
handeltem Tetanus schließt Verf. zwei neue an,
von denen der erste einen günstigen, der zweite
einen ungünstigen Verlauf nahm. Verf. will
die spärliche Kasuistik über derlei behandelte
Tetanusfälle vermehren, denn die bis jetzt be-
kannte Anzahl ist viel zu gering, um entscheidende
Schlüsse über den Wert obgenannter Behand-
lungsmethoden zu fällen. Bei dem wechselnden
Bilde der Tetanuserkrankungen kann bloß die
Mortalitätsziffer aufklärend wirken und bildet
der Vergleich der bei dieser Behandlungsmethode
erzielten Heilungsprozente mit denen bei An-
wendung der sonst gebräuchlichen Therapie den
einzigen richtigen kritischen Maßstab. Der zweite
publizierte Fall mit letalem Ende sollte eigent-
lich nicht mitzählen, denn die Injektion geschah
in ultimis, 6 Stunden vor dem Exitus letalis, in
einem hoffnungslosen Zustand. Der erste Fall
wurde mit zweimal je 48 cem und einmal 18 cem
Kaninchenhirnemulsion behandelt — dabei aber
innerlich Brom verabreicht. Nach der Injektion
Ton 18 cem bildete sich an der Injektionsstelle
ein Abszeß, dessen Ursache Verf. in der Dichte
der Emulsion sieht; künftighin will er ein
Kaninchenhirn derart emulgieren, daß 45 — 48 cem
Flüssigkeit resultieren, um auf diese Weise even-
tuellen Schädlichkeiten an der Injektionsstelle
vorzubeugen.
(Przeglad Ukarski No. 51 von 1904.)
Oabel (Lcmberg).
Bin mit intrakranlcllcn Tetanusserumeinspritzun-
gen erfolgreich behandelter Fall von Tetanus.
Von K. W. Monsarrat in Liverpool.
Der Fall betrifft einen zehnjährigen Knaben,
bei welchem sich neun Tage nach einer Quet-
schung zweier Finger die ersten Erscheinungen
von Trismus und am nächsten Tage von Tetanus
einstellten. Es wurde sofort in Chloroformnarkose
die Amputation der verletzten Finger vorgenom-
men und zugleich eine Trepanationsöffnuug an-
gelegt, durch welche 6 cem Antitetanusserum unter
die Dura eingespritzt wurden. In den nächsten
vier Tagen traten zahlreiche, wenn auch nicht
besonders schwere Krampfanfälle auf, weshalb
noch täglich 10 cem Serum eingespritzt wurden.
Von da an wurden die Anfälle geringer. Nur
einmal, drei Tage später, trat noch ein sehr
heftiger Krampfanfall auf, der noch eine Ein-
spritzung erforderte. Nach dieser letzten Ein-
spritzung zeigte sich eine leichte linksseitige
Parese. Während bei den ersten Einspritzungen
die Kanüle in schräger Richtung nach vorne von
der rechterseits gelegenen Trepanationsöffnung
eingeführt war, hatte sie beim letzten Male die
Richtung nach hinten erhalten. Dadurch war
offenbar das motorische Rindenzentrum berührt
worden. Die Parese verlor sich jedoch wieder
in wenigen Tagen, und, abgesehen von diesem
Zwischenfall, nahm die Heilung einen ungestörten
Fortgang.
(British medical Journal 1904, 24. Dez.)
Glossen (Orube i. H.).
(Aus der hydrotherapeutischen Anwalt der UnWeraität Berlin
Ueh.-R. R. Br leger.)
Ober das Verhalten der Ausscheidungen beim
Gebrauche des Hefeextraktes „Wulf* Von
Dr. August Laqueur, Assistent der Anstalt.
Aus den Versuchen Laqueurs geht her-
vor, daß das Hefeextrakt „Wuk" eine bedeu-
tende Vermehrung der Harns&ureausscheidung
im Urin (bis auf das doppelte und darüber) her-
vorruft, entsprechend seinem hohen Gehalte an
Xanthinbasen. Eigentümlich ist es, daß die
Harnsäure Vermehrung während der Verfütterungs-
periode von „Wuk" von Tag zu Tage ansteigt
und daß dieselbe auch' an dem Tage nach dem
Aussetzen des Präparates noch in ähnlicher Weise
vorhanden ist, wie das Strauss für Liebigs
Fleischextrakt nachwies.
Der Umstand, daß sich nicht konstant ver-
mehrte Phosphormengen im Urin zeigten, spricht
dafür, daß die Harnsäurebildner in dem Hefe-
extrakte als Xanthinbasen und nicht mehr als
Hefenukleinkörper vorhanden sind, wenn man
nicht etwa annehmen will, daß ein Teil der mit
dem Präparate zugeführten Phosphorsäure zum
Ansätze im Körper verwandt wird.
Bemerkenswert ist noch, daß bei größeren
Dosen (22 gr) von „Wuk" eine, wenn auch
nicht beträchtliche diuretische Wirkung des Prä-
parates beobachtet wurde.
Aus der harnsäurevermehrenden Wirkung an
sich einen gesundheitsschädlichen Einfluß des He-
feextraktes herleiten zu wollen, wäre wohl in An-
betracht der hohen im Versuch zur Anwendung
genommenen Gaben wie auch des Ausbleibens
jeder objektiv schädlichen Wirkung, wie nament-
lich von Harnsäureniederschlägen im Urin, ver-
fehlt, wenn auch das in Rede stehende Präparat
ebenso wie das Fleischextrakt von Individuen,
die zur harnsauren Diathese neigen, nur mit
Vorsicht oder garnicht in Gebrauch genommen
werden sollte.
(Zeiischr. für diätetische und physikalische Therapie,
Bd. VII, H. 6.) Eschle ( Sinsheim).
(Ans der med. UnWersitltaklinlk in Bonn.)
Unsere bisherigen, an Phthislkern gemachten
Erfahrungen mit dem neuen Antipyreticum
„Maretin". Von Dr. W. Kaupe (Bonn).
Raupe hat Maretin, ein von Bayer & Co.
Elberfeld hergestelltes Karbaminsäure-m-Tolyl-
hydrazid, das fast geschmacklos ist, aus weiß-
glänzenden Kry st allen besteht und nur zu 0,1 Proz.
löslich ist, bei neun Tuberkulösen mit teilweise
hohem Fieber angewandt: der Kranke erhielt
0,5 g und schon nach 3 — 4 Stunden, oft schon
nach 2, war die Wirkung eine eklatante. Die
Wirkung des Maretins dauerte mindestens 6 bis
8 Stunden, oft noch länger, bis zu 24 Stunden
an. Nebenwirkungen sind nicht bemerkt worden.
Sechs Kranke gaben an, stärker zu schwitzen, doch
seien diese Angaben nicht zuverlässig. Kaupe
rät, bei den günstigen Erfolgen weitere Versuche
mit Maretin anzustellen.
(Deutsche med. Wochenschr. 1904, No. 27.)
Arthur Rann (Collm).
266
Referat«.
rTherapvotlacte
Zur endermatischen Applikation des Guajakols.
Von Dr. Recht in Beuthen O.-S. (Eigenbericht).
Um die schädlichen Nebenwirkungen zn
vermeiden, welche die kutane Applikation des
Guajakols zur Bekämpfung des Fiebers herbei-
führt, empfiehlt Verf. die Kombination des Gua-
jakols mit Acidum salicylicum in Gestalt einer
lOproz. Guajakol-Salizylsalbe. Besonders bei Ge-
lenkrheumatismus, Pleuritis serosa rheumatica
und tuberculosa waren die Erfolge dieser Behand-
lungsmethode durchaus günstige. Unangenehme
Überraschungen fehlten g&nzlich. In einem Falle
von Pleuritis purulenta bei einem 7 7 jahrigen
Greise, wo eine Kombination von Guajakol 5,0
mit Vasogen. salicylat. 25,0 zur Anwendung ge-
langt war, ließ der Eiter bei der durch Rippen-
schnitt herbeigeführten Entleerung jeglichen
Fötor vermissen. Letzteres möchte Verf. der
Anwendung des Guajakols zuschreiben, nachdem
er bei Phthisikern den fötiden Geruch des Spu-
tums stets durch innere Darreichung von Gua-
jakol zu beseitigen vermocht hat.
(Münchener med. Wochenschr. 1905, No. 9.)
(Ans der K. K. deutschen dermtt. Untreraltlukllntk In Prag
Vorstand: Prof. F. J. Pick.)
Erfahrungen mit einem neuen Jodprä parat „Jo-
thion". Von Dr. Emil Schindler, Sekundar-
arzt der Klinik.
Ein neues Jodpräparat, ein Jodwasserstoff-
säureester, wird von den Farbwerken Bayer und Co.
Elberf eld in den Handel gebracht. DerJothion
genannte Körper ist in Wasser unlöslich, löslich
dagegen in Ölen, Alkohol, Äther, Chloroform
und stellt eine nicht unangenehm riechende,
70 Proz. Jod enthaltende ölige Flüssigkeit dar.
Das Präparat gelangt in Salbenform zur
Verwendung. Die Vorschrift lautet:
Rp. Jothion 2,0
Cerae albae
Lanolini anhydrici aa 0,5
D. in capsul. gelatinös.
Wird diese Mischung auf der Haut verrieben
— subjektiv wird nur leichtes Brennen am Ort
der Einreibung empfunden — , so läßt sich Jod
im Speichel nach etwa 8/4 Stunden, im Harn nach
iy3 — 2 Stunden nachweisen.
Zur Anwendung gelangt Jothion bei gum-
möser, maligner und hereditärer Lues. Die bisher
gewonnenen Resultate ergeben, daß das Präparat
ein gutes Ersatzmittel des Jodkaliums darstellt,
das sich durch Fehlen von unangenehmen Eigen-
schaften auszeichnet und die Heilung oft über-
raschend schnell eintreten läßt. In 18 beobach-
teten Fällen, die sämtlich die gute Wirkung des
Jothions erwiesen, trat keinmal Jodismus auf.
(Prager med. Wochenschr. 1904, No. 39.)
Jacobson.
Beitrag zur Therapie der infantilen Broncho-
pneumonie. Von Dr. med. Theodor Zangger,
dirigierendem Arzte der Kuranstalt „ Mühle-
bach-, Zürich.
Die Anzahl der Kinder, die der Broncho-
pneumonie erliegen, ist erschreckend hoch. In
der Schweiz fielen dieser Krankheit in den
b Jahren von 1896 — 1900 24475 Kinder zum
Opfer, fast genau der 12. Teil aller Todesfälle.
In der Literatur finden sich folgende Angaben:
Valleix und Trousseau verloren 149 von
150 Patienten, Bartels 43,3 Proz., Ziemßen
30,5 Proz., Steffen 53 Proz., Roger 75 Proz.
(Keuchhustenpneumonie), Comb 7 81 Proz.
(Masernpneumonie). Etwas günstiger lauten die
Daten aus der medizinischen Klinik zu Zürich
aus den Jahren 1900—1903, wo die Mortalität
nach Masernpneumonie 17,1 Proz., nach Keuch-
hustenpneumonie 25 Proz. und nach Broncho-
pneumonie 19 Proz.; also im Durchschnitt,
20,4 Proz. betrug.
Um diese noch recht hohe Mortalität von
1 : 5 noch weiter herabzusetzen , empfiehlt
Zangger angelegentlich die Hydrotherapie; bei
der Kombination von medikamentöser Therapie
mit hydrotherapeutischen Maßnahmen hatte er
auf 30 Fälle nur einen Todesfall zu verzeichnen.
Verf. verwendet das von 30—28° C. auf 24° C.
abgekühlte Halbbad mit Friktionen von 3 bis
6 Minuten Dauer. Die Technik ist folgende:
In einem warmen Räume wird das Kind in
eine Badewanne mit nur soviel Wasser gelegt,
daß die Brust nicht ganz bedeckt wird., und
dann während der Dauer des Bades frottiert.
Nach 2 Minuten wird langsam kaltes Wasser
zugegossen, bis die Temperatur von 24° erreicht
ist; zum Schluß wird das Kind mit einem
warmen Tuche frottiert. Solche Bäder werden
moigens und abends verabfolgt. Neben den
Bädern werden täglich 1 — 3 mal Krouzbinden auf
1—2 Stunden angelegt; die 3 — 10 cm breiten
und 1 — 2 m langen Binden, aus Leinwand oder
Rohseide angefertigt, werden io Wasser von
15 — 8° G. getaucht und je nach dem gewünsch-
ten Effekt mehr oder weniger stark ausgedruckt.
Die Anlegung erfolgt in 3 Touren: Von der
rechten Achselhöhle über die rechte Schulter
den Rücken hinunter zur rechten Achselhöhle,
über die Brust zur linken Achselhöhle und
zurück über den Rücken und die linke Schulter
zur linken Achselhöhle, dann noch eine Tour
um die Brust; darüber wird eine trockne Flanell-
binde gelegt.
Die kühlen Halbbäder mit Frottierungen,
welche möglichst im Beginn und nicht erst,
wenn die Diagnose auf Pneumonie mit Sicher-
heit gestellt werden kann, verordnet werden
sollen, wirken nicht bloß fieberherabsetzend,
sondern direkt kurativ. Der Blutdruck wird
durch sie erhöht und somit das Herz gekräftigt,
der zentrale Kreislauf wird entlastet, die Expektora-
tion befördert und sowohl die Herznerven als
auch die vasomotorischen Zentren erregt. Die
Exkretion nimmt zu, der Stuhlgang wird be-
schleunigt, die Diurese steigt und der toxische
Koeffizient des Harns geht ebenfalls in die Höhe.
Durch diese einfachen Maßnahmen, die
durch Darreichung von Milch, ev. mit russischem
Thee, und durch Feuchthalten des Zimmers mittels
Wasserdämpfen zu unterstützen sind, kann die
Pneumonie mit Erfolg bekämpft werden.
(Korrespondensblatt fUr Schweiser Ante No. 1, 1905.
Separat Abdruck.) J. Jacobson.
XIX. Jahrgang .1
Mal 1905- J
267
(Auj der gynlkol. Abteil, desSt.Jobannlt-Spltale in Budapest.)
Ucbcr Chlnlnnm sulfuricnm als wehenbeförderndes
Mittel. Voo Dr. Josef Bäcker.
Chinin um sulfuricum ruft zweifellos Uteras-
kontraktionen hervor. Es ist besonders geeignet,
bereits vorhandene Wehen zu verstarken. Sein
Vorteil gegenüber den Secalepr¶ten besteht
darin, daß es eine regelrechte Uterustätigkeit er-
zengt: kräftige Kontraktionen und entsprechende
Pausen. Nur große Gaben wirken, am besten in
kurzen Pausen zwei- bis dreimal 0,5 g. Die von
Bäcker seit nahezu 10 Jahren benutzte Verab-
reichungsart verursachte in keinem Falle Unan-
nehmlichkeiten. Die Art, wie das Chinin auf
den Uterus wirkt, ist noch nicht ergründet. In
Anbetracht dessen jedoch, daß es regelrechte
Wehen hervorruft, kann eine zentrale Wirkung
angenommen werden.
(Deutsche med. Wochenschr. 2905, No. 11.) R.
Ober die Resektion der Leber. Von Privatdozent
Dr. W. Anschütz. Breslau.
Während man Abszesse und Echinokokken
schon früh operierte, hat man sich an Leber-
wunden wegen der Blutung lange nicht gewagt,
snmal auch die Gefahr der Peritonitis vorhanden
war; für Resektionen kam außerdem noch die
Frage in Betracht, ob man größere Teile der
Leber an gestraft entfernen kann. Während die
Heilbarkeit von Leberwunden und die Heilungs-
Torgänge nach kleinen Resektionen schon früher
von Terrillon, Tillmanns, Gluck u. a. fest-
gestellt worden waren, wurde die wunderbare
Rekreationskraft der Leber erst von Ponfick
experimentell bewiesen. Bis 7/8 der Leber kann
nach v. Meister entfernt werden, das Zurück-
bleibende hypertrophiert zu normalem Gewicht
ohne Funktionsausfall infolge rein funktioneller
Reizung, dabei ist es gleichgültig, ob die Leber
gesund oder mit einer Krankheit behaftet ist. —
Nach diesen theoretischen Erörterungen geht
Anschütz zur Technik der Resektion über.
Bezüglich der Freilegung der Leber empfiehlt
er zunächst einen kleinen Explorativschnitt und
nach Feststellung der Diagnose große Schnitte
je nach Bedarf. Für die Leberkonvexität wird
vor der Resektion des Thoraxrandes nach Lanne-
longue und Micheli die Beweglichmachung
der Leber mittels Durchschneidung der Bänder
bevorzugt, die Entstehung einer Wanderleber
sei im allgemeinen nicht zu befürchten. Die
wichtigste Aufgabe ist die der Blutstillung,
die eine eingehende Behandlung erfährt. Es
stehen hierzu repressive und präventive
Maßnahmen zu Gebote, die wieder in temporäre
und definitive zerfallen. Von den repressiven
Maßnahmen zur Stillung der Blutung (sensu
ßtrictiori) sind die einfachsten die Digitalkom-
pression und die Tamponade, doch haftet ihr
immer die Gefahr der Nachblutung an und
hindert so die primäre Vereinigung. Der Paquelin
eignet sich nur für parenchymatöse Blutungen,
versagt aber meist bei schweren arteriellen oder
venösen Blutungen. Besser wirkt schon die
Gnegirewsche Heißwasserdampf- Anwendung, bei
der der Kontakt mit dem Gewebe und damit die
Möglichkeit des Abreißens des Schorfes vermieden
wird. Ein Hauptnachteil dieser Methode ist aber
die Verbrühung der Umgebung der Wunde und
die Schwierigkeit der Lokalisierung des Strahles,
der durch das Heißluftverfahren von Holländer
vermieden wird. Das Idealverfahren ist jeden-
falls die Naht, die allerdings voraussetzt, daß
der Defekt nicht zu groß und das Gewebe nicht
zu mürbe ist, und zwar nach vorheriger Unter-
bindung der Gefäße, die nach den Untersuchungen
von Kusnezoff und Pensky bei der Leber
ebenso möglich ist wie anderorts. Von den prä-
ventiven Maßnahmen ist das Anlegen von federn-
den Klemmen und Preßzangen das einfachste
Verfahren, welches sich mit allen anderen Me-
thoden kombinieren läßt, allerdings relativ dünne
Leberteile voraussetzt. Die Langenbuchsche
temporäre Kompression der Vena portae resp.
der Art. mesenterica sup. und inf. wird wohl wegen
der Gefährlichkeit und Umständlichkeit selten
Nachahmer finden. Die elastische Ligatur hat
den Nachteil, daß sie vermöge der schlechten
Elastizität der Leber nur sehr unsicher wirkt,
eine lange extraperitoneale Nachbehandlung nötig
macht und häufig infolge Abgleitens doch noch
andere Blutstillungsmethoden nötig macht. Die
zuverlässigste Blutstillung bei Resektionen jeder
Größe bieten die in strenger Ordnung gelegten
intrahepatischen Massen ligaturen nach Kusnezoff
und Pensky, vorausgesetzt, daß sie genügend
fest geschnürt werden. Ihnen gegenüber dürften
sich die komplizierten Kompressionsverfahren mit
Fischbein-, Knochen-, Elfenbein- Stäbchen er-
übrigen, die schon wegen der Einführung dieser
schwer resorbierbaren Fremdkörper und der
Neigung zur Abszedierung nicht ohne Bedenken
sind; auch die Kompression der Leber zwischen
gestielten Bauchwandlappen nach Beck ist in
ihrer Wirkung sehr zweifelhaft. Anschütz
kommt zu dem Schluß, daß bei jeder größeren
Resektion das präventive Verfahren mit intra-
hepatischen Massenligaturen in erster Linie an-
zuwenden ist und erst in zweiter die repressiven
Methoden in Betracht kommen. Bei diesem
Vorgehen dürfte auch die extraperitoneale Ver-
sorgung der Wunde durch Fixation an der
Bauchwand in der Mehrzahl der Fälle zu um-
gehen sein und wird man sich mit Tampon ade
der Leberwunde, Übernähen der Leberkapsel und
Herausleiten des Tampons aus der Hautwunde
begnügen können. Ein Kapitel über Prognose
und Indikation der Operation, das zahlreiche
Hinweise für die Diagnose der Lebertumoren
im allgemeinen enthält, schließt die verdienst-
volle Arbeit, der ausführliche Literaturangaben
beigegeben sind, sodaß wir Interessenten sie zum
Studium angelegentlich, empfehlen können.
(Volkmanns Sammlung kl Vorträge No. 356, 357.)
Kitisteiner (Hanau).
(Aus der k. k. Untrenltlta- Ohrenklinik des Herrn Hofrat
Prof. P. Adam Po Uta er In Wien.)
Eine antiseptische Behandlung der Mittelohr-
eiterungen. Von P. Heinrich Neu mann,
Assistenten der Klinik.
Neumanns Behandlung der Mittelohreite-
rung besteht in Einträufelung von Übermangan-
268
Referate.
rTberapeatiaeh«
L Mon&tekoft«.
sa urem Kali (1 proin.) und nachheriger Anwen-
dung von Wasserstoffsuperoxyd (3 proz.). Die
Kombination der beiden Antiseptica soll folgende
Vorteile bieten:
Beim gleichzeitigen Einbringen des über-
mangansauren Kali und des Wasserstoffsuperoxyds
kommt nach der Formel
2 K Mn04 4- H3 Oa = 2 Mn 02 + 2 KOH + 40
nicht nur die katalytische Wirkung des letzteren,
sondern auch eine leicht koagulierende und
stärker oxydierende Wirkung in Betracht. Die
frei werdenden Sauerstofflaschen reißen in sehr
intensiver Weise die Sekrete auch aus den seit-
lichen Zellräumen des Mittelohrs an die Ober-
fläche, was Verf. durch Leichenversuche zu be-
weisen versucht hat.
Das Heilverfahren stellt sich bei größeren
Trommelfeilöchern folgendermaßen dar:
„Nach gründlicher Reinigung des Ohres
mittels antiseptischer Ausspülungen wird der
Gehörgang bei seitlich geneigtem Kopf mit etwas
erwärmter 1 prom. Lösung von übermangan-
saurem Kali gefüllt und die Lösung durch einige
Minuten im Ohre gelassen. Sodann wird die
Flüssigkeit wieder aus dem Ohre entfernt, der
Rest mit Watte leicht ausgetupft und der Gehör-
gang mit einer 3 proz. Lösung von Wasserstoff-
superoxyd gefüllt, welche man 6 bis 8 Minuten
einwirken läßt.0
Bei kleineren Perforationen des Trommel-
fells muß man das übermangansaure Kali mittels
des Hart mann sehen Paukenröhrchens oder eines
ähnlichen Instruments einbringen.
(Wiener medizinische Presse 1904, 46.)
Krebs (Hüdesheim).
(Am der Ohren- und Kehlkopf kltnik der Universität Rostock.)
Ober den angeblich zyklischen Verlauf der akuten
Paukenhöhlenentzündung. Von Prof. 0. K ö r n e r
(Rostock).
Bekanntlich hat Zaufal seinen Rat, den
Trommelfellschnitt bei der akuten genuinen
Paukenhöhlenentzündung zu unterlasssen l), u. a.
mit der Behauptung begründet, daß für gewöhn-
lich der Verlauf dieser Erkrankung ein typischer
sei, entsprechend dem zyklischen Entwicklungs-
gange des Entzündungserregers, geradeso wie
bei der kroupösen Pneumonie. Körner hat das
von Zaufal beschriebene mehrtägige hohe Fieber
mit nachfolgendem kritischen Temperaturabsturz
niemals bei einer unkomplizierten Otitis
media beobachtet, hingegen aber dann, wenn die
Ohrerkrankung mit einer Pneumonie kompliziert
war. Wie drei mitgeteilte Krankengeschichten
zeigen, ist der Herd in der Lunge oft sehr klein,
so daß erst sorgfältig nach ihm gefahndet
werden mus.
Also, man mache bei der Otitis media acuta
die Parazentese wie bisher, und wenn das Fieber
danach nicht nachläßt, suche man peinlichst die
Lunge ab.
(Zeitschrift für Ohrenheilkunde XLIV, 4.)
Krebs (Hüdesheim).
l) Referiert und kritisiert in den Ther. Monatsh.
1903, S. 268.
Da» Tonogen suprarenale aec Richter. Adatringens
und Anaesthetlcum in der Urologie und Der-
matologie. Von Dr. Moriz Porös z (Budapest).
Das Tonogen ist ein in Ungarn hergestelltes
Organpräparat; es besteht aus
Nebennieren-Extrakt 0,1
Chloreton 0,5
Natrium chloratum 0,7
Wasser 100,0
Porosz hat das Präparat zunächst bei
Gonorrhöe geprüft. In akuten Fällen nimmt
nach ein- bis zweimaliger täglicher Einspritzung
der Originallösung in 10 — 20 f acher Verdünnung
die Sekretmenge auffällig ab, ohne daß die
Gonokokken verringert werden.
Bei postgonorrhoischem Katarrh kam das
Tonogen in 10 — 33 proz. Lösung, aber auch in
Originallösung mittels Guyon-Spritze zur Ver-
wendung.
In zwei Fällen wurde der Frühurin ohne
Flocken ganz klar, in fünf Fällen waren die
Flocken, und zwar stark vermindert, nur im
Frühurin vorhanden.
Der starke Harndrang der Prostatiker läßt
sich gleichfalls durch Tonogen beseitigen, doch
ist die Dauer der Anästhesierung nur kurz. Be-
nutzt man, um sie zu verlängern, stärkere, bis
50 proz. Lösungen, so treten häufig starke, stunden-
lang anhaltende Schmerzen auf. In Form von
Suppositorien ä 0,08—0,04 g läßt sich das Prä-
parat gegen Harndrang bei Urethrocystitis be-
nutzen. Wie die anderen Neben nierenpräparate
zeigt auch Tonogen ausgesprochen hämostatische
Wirkung: starke resp. wochenlang andauernde
hämorrhoidale Blutungen kamen nach Gebrauch
von 4 resp. 5 Suppositorien zum Stillstand. Die
25 proz. Lösung läßt sich ferner mit Erfolg zur
Stillung von Harnröhrenblutungen nach cysto-
skopischen Untersuchungen benutzen.
Die anästhesierende Wirkung des Tonogens
kann bei schmerzhaftem Stuhlgang infolge von
Entzündung der Rektalschleimhaut benutzt werden.
Hier beseitigt ein nur wenige Tage dauernder
Gebrauch von drei bis vier Suppositorien die
Schmerzen.
Bei Ulcus molle lassen sich die Schmerzen
weder durch Applikation der reinen Tonogen-
lösung 1 : 1000 noch durch ein Streupulver
1 : 1000 Alumen ustum dauernd beseitigen. Das
Streupulver kommt dagegen zur Anwendung,
um die Blutung nach Entfernung von Papillen
und spitzen Kondylomen zu stillen. Der sich
bildende Schorf ist leicht und dünn, unter ihm
erfolgt schnell die Heilung.
(Monatshefte f. prakt Dermatologie Bd. 39, Aro. 11.)
Jacobson,
Mitln, eine neue Salbengrundlage. Kurze Mit-
teilung von Dr. Jeßner in Königsberg i. Pr.
Von dem Wunsche geleitet, eine der Haut
möglichst adäquate Substanz als Salbengrandlage
herzustellen, kam Verf. nach den verschiedensten
Versuchen zur Komposition des Mitin, das aus
einer wahren, flüssigen Emulsion einer Wollfett-
mischung besteht, die durch Überfettung in eine
salbenähnliche Masse verwandelt wurde, wobei
als serumartige Flüssigkeit Milch oder eine Lö-
XIX. Jahrgang. 1
Mal 1905. J
Referate. — Toxikologie.
269
saug künstlicher, aus Milch gewonnener Eiweiß-
präparate benutzt wurde. Diese Mischung ent-
spricht den die Oberhaut durchsetzenden Sub-
stanzen, da diese aus dem von den Talgdrüsen
gelieferten wollfettähnlichen Sebum, dem die
Lymphwege erfüllenden Serum, und dem Schweiß,
welcher ja auch etwas emulgiertes Fett enthalt,
bestehen. Folgende Pr¶te sind hergestellt:
Mitinum purum, als Salbenconstituens sich eig-
nend; Mitinum cosmeticum, an Stelle des Un-
guentum leniens und Unguentum emolliens, weil
es sehr leicht in die Haut eindringt, ohne einen
nachweisbaren Fettrückstand zu hinterlassen;
Pasta Mitini, an Stelle der Zinkpaste, des Zink-
öls, zur Schonung einer reizbaren Haut, so für
Chirurgenhände; die Paste hat eine hautähnliche
Farbe; Mitinum hydrargyrum hat einen hohen
Wassergehalt, ist außerordentlich geschmeidig,
läßt sich auffallend leicht verreiben und gestattet
deshalb eine erhebliche Abkürzung der Ein-
reibungszeit.
(Deutsche med. Wochenschr. No. 38, 1904.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
Quecksilbereinspritzungen in der Behandlung der
Syphilis. Von Dr. Louis Wickham (Paris).
Die subkutane Einverleibung von Queck-
silbersalzen in der Behandlung der Syphilis
bietet manche Vorteile. Das Mittel gelangt un-
mittelbar in den Blutstrom, es kommt vollständig
zur Wirkung und seine Dosis läßt sich genau
bemessen. Bei der Wahl zwischen den ver-
schiedenen Quecksilbersalzen hat man deren Ge-
halt an Quecksilber zu berücksichtigen. Wick-
ham führt in einer Tabelle die gebräuchlichen
Salze nach ihrem Prozentsatz von Quecksilber,
mit dem stärksten beginnend, in folgender Reihen-
folge auf: Chlorid, Cyanid, Bichlorid, Benzoat
und Bijodid. Die in Wasser löslichen Salze
zieht er dem nicht löslichen Kalomel, welches
in öligem Vehikel (flüssiger Vaseline) gegeben
werden muß, vor.
Nach Beschreibung des erforderlichen Instru-
mentariums setzt er die Grundzüge der Behand-
lung auseinander. Vor allem sind Zähne und
Mundschleimhaut sowie Nieren genau zu unter-
suchen. Die Injektionen sollen anfangs täglich
einen Monat hindurch gegeben werden, worauf
eine Pause von einigen Wochen einzutreten hat.
Auch im weiteren Verlauf der Kur sind solche
Pausen unbedingt notwendig, da sonst die Wirk-
samkeit des Mittels nachläßt. Wickham be-
vorzugt Quecksilberbijodid in lOproz. Lösung.
Die Dosis von anfangs 3 ccm ist rasch zu
steigern, solange keine Reaktion eintritt. Die
Dosierung ist demnach der Individualität des
Kranken genan anzupassen, was gerade bei der
subkutanen Methode besser möglich ist als bei
jeder andern. — Die Prädilektationsstelle für die
Einspritzungen ist die Gegend der Glutäen. Bei
mageren und heruntergekommenen Patienten, bei
denen eine besonders energische Kur erforder-
lich scheint, sind intravenöse Injektionen von
Vorteil. — Bei empfindlichen Kranken sollen die
Quecksilberinjektionen besser vertragen werden,
wenn sie zugleich mit großen Mengen von nor-
malem Blutserum gegeben werden. Wickham
zieht es jedoch vor, das Serum getrennt von
dem Quecksilbersalz zu injizieren.
(PracHHoner. 1904. Juli.)
Classen (Grübe i. H.).
Die Verhütung der Blennorrhoe. Von Dr. Moritz
Porosz (Budapest).
Zur Prophylaxe der Blennorrhoe bei Männern
empfiehlt Verf. eine 50 proz. Lösung von 1 bis
2 proz. Acidum nitricum purum. Im Gegen-
satz zu anderen läßt er die Lösung auch auf
das klaffend gemachte Orificium spritzen, damit
die Injektion auch nach einer mechanischen Rei-
nigung erfolgen könne. Er läßt dazu eine ge-
füllt im Etui tragbare Tripperspritze benutzen.
Für die Prostituierten empfiehlt Verf. Ausspü-
lungen mit derselben Lösung unmittelbar post
coitum, zu welchem Zwecke er ebenfalls einen
besonderen einfachen Apparat angibt.
(Monatsberichte für Urologie 1904, 9. Bd., 2. Heß.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
Toxikologie.
Ein Fall von Icterus toxicus. Von Dr. Hecht in
Beuthen O.-Schl. (Originalmitteilung.)
Zu den Arzneimitteln, welche vermöge
ihres schädlichen Einflusses auf die roten
Blutkörperchen einen toxischen Ikterus zu
erzeugen befähigt sind, gehören die chlor-
sauren Salze, Pyrogallol, das Nitrobenzol,
Nitroglyzerin und die Nitrite. Ferner wurde
-vom Äther, Chloroform und Chloralhydrat
früher öfter berichtet, daß Ikterus nach
therapeutischer Anwendung auftrete1). Da
hierüber bestimmte Beobachtungen aus neuerer
l) Quincke und Hoppe - Seyler: Er-
krankungen der Leber. Wien 1899. Verlag von
Holder. S. 147.
Zeit gänzlich fehlen, sei es mir gestattet,
zu dieser Frage einen kasuistischen Beitrag
zu liefern.
E. F., 21 Jahr alt, leidet seit ihrem 4. Lebens-
jahre, nachdem sie an Genickstarre erkrankt ge-
wesen, an epileptischen Krämpfen. Am 18. Februar
a. c. wurde ich zu dieser Patientin gerufen, weil
seit 2 Uhr p. m. desselben Tages sich die Krämpfe
in Zwischenräumen von 10—15 Minuten wieder-
holten. Nachdem ich mich von der Richtigkeit
der gemachten Angaben überzeugt hatte, ließ ich
der Kranken, da sie bewußtlos war, Chloralhydrat
2,0 per Klysma applizieren. Hierauf wurden die
Anfälle seltener und hörten schließlich ganz auf,
sodaß die Nacht ruhig verlief. Am folgenden Tage
! stellten sich die Anfälle nachmittags 6 Uhr von
I neuem ein und häuften sich derart, daß die Pausen
| kaum 5 Minuten betrugen. Infolgedessen war die
270
Toxikologie.
rherapentitchc
Monatshefte.
Kranke beständig bewußtlos, ließ Stuhl und Urin
anter sich. Puls 135 in der Minute. Hohes Fieber
(40,5°) und profuse Schweißsekretion legten von
der Intensität und Ausdehnung der motorischen
Reizerscheinungen Zeugnis ab. Wie tags zuvor
erhielt Patientin Chloralhydrat 2,0 per Klysma.
Da diese Maßnahme keinen Erfolg hatte, entschloß
ich mich, um Zahl und Daner der Anfälle einzu-
schränken, zur Narkose. Hierzu verwendete ich
Chloralchloroform, welches ich in Dosen von
1 Kaffeelöffel beim Herannahen eines Anfalles in-
halieren ließ. Ein Erfolg war insofern zu ver-
zeichnen, als die Intervalle größer wurden. In-
dessen gelang es nicht, die Anfälle gänzlich zu
unterdrücken. Ich nahm daher, nachdem 50 g
Chi oral Chloroform verbraucht waren, von einer
weiteren Narkotisierung Abstand und ließ 3 Stunden
nach dem ersten Chloralklysma nochmals Chloral-
hydrat 3,0 applizieren. Wie die Krankenschwester
mir mitteilte, sistierten die Krampfanfälle hierauf
2 !/2 Stunden, kehrten jedoch nach Ablauf dieser
Zeit, wenn auch mit geringerer Intensität, wieder
und hielten bis 8 Vs Uhr vormittags an. Die Zahl
der in verflossener Nacht aufgetretenen Anfälle
schätzt die Krankenschwester auf 42. Als ich die
Patientin am folgenden Tage besuchte, traf ich sie
noch bewußtlos an. Die Lippen waren mit braunen
Borken bedeckt, der Puls war sehr beschleunigt
und schwach. Ab und zu zeigten sich noch
choreatische Zuckungen im Gesicht und den Ex-
tremitäten. Außerdem war eine leicht ikterische
Färbung der Haut zu verzeichnen. Dieselbe nahm
an Intensität bis zum 24. Februar er. zu und war
nach 4 Tagen spontan geschwunden. Da die Sedes
die ganze Zeit über normale Farbe zeigten, konnte
es sich nur um einen sogenannten hämatogenen
Ikterus handeln, entstanden durch eine Blutdissolu-
tion, welche auf eine Intoxikation mit Chloralhydrat
zurückzuführen ist. Inwieweit auch das Chloral-
Chloroform an der Zerstörung der roten Blut-
körperchen beteiligt ist, muß ich dahingestellt sein
lassen. Jedenfalls kommt es, indem das Haemo-
globin der zerstörten roteu Blutzellen in der Leber
zu Gallenfarbstoff verarbeitet wird, zu einer reich-
lichen Absonderung eines zähen, farbstoffreichen
Lebersekretes, welches infolge Einengung der feinen
Gallengänge, wie sie die Schwellung der fettig
entarteten Leberzellen mit sich bringt, der Resorp-
tion an heim fällt. Diese Fettdegeneration der
Leber ist eine Folge der Blutdissolution, sowie
der Kohlensäureintoxikation. Letztere hat wiederum
zwei verschiedene Ursachen. Zuvörderst kommt
für letztere die Blutstauung während der Krampf-
anfälle in Betracht, alsdann ist an die Verlegung
des Kehlkopfeinganges durch die Epiglottis zu
denken, welche auch in diesem Falle wiederholt
eingetreten ist, sobald letztere infolge der Bewust-
losigkeit nach hinten sank. Wohl ist es Sache
der Krankenflege letzteres Vorkommnis zu ver-
hüten; wenn aber der bewustlose Zustand viele
Stunden anhält, ist es verzeihlich, wenn schließlich
auch der Arm der Krankenpflegerin ermüdet.
Ueber Vergiftung mit Schwefelalkalien. Von
E. Stadelmann, ärztlichem Direktor der inneren
Abteilung des städt. Krankenhauses im Fried-
richshain in Berlin.
Eine Vergiftung mit einem Enthaarungs-
mittel, aus Schwefelkalzium mit geringer Bei-
mengung von Ätzkalk bestehend, teilt Stadel-
mann mit.
Ein junges Mädchen , welches aus nicht
klaren Gründen einen Thee- resp. Eßlöffel eines
grünlich -weißen, bitter schmeckenden, mit der
Aufschrift „Haarfeind" versehenen Pulvers ge-
nommen hatte, erbrach bald darauf, wurde be-
wußtlos und bekam allgemeine Krämpfe. Am
folgenden Tage bot die Patientin bei Einlieferung
ins Krankenhaus folgende Symptome: Vollständige
Benommenheit, Cyanose, kleiner Puls, Schreien
und Toben, unruhiges Umherwälzen im Bett,
klonische Krämpfe in Anfällen. Die Benommen-
heit besserte sich etwas am folgenden Tage,
Patientin reagierte auf Anfragen, Puls 114,
Zunge mit schmierigen Massen belegt, zeigt auch
einzelne Ätzstellen; Urin sehr dunkel, enthält
Eiweiß, Zylinder und Blut. Stuhl auffallend grün-
lich-schwarz. In den nächsten Tagen besserte
sich der Zustand weiter, so daß Pat. am 19. Tage
nach der Aufnahme geheilt entlassen werden
konnte.
(Bert Min. Wochenschr. 1905, No. 15.) Jacobson.
(Aus dem St Vincen*-HoipiUl zu Cöln a. Rh.)
Ueber Wismut -Vergiftung. Von Assistenzarzt
Dr. W. Mahne.
Einen schweren Fall von Wismutvergiftung
mit tödlichem Ausgang hatte Mahne Gelegen-
heit zu beobachten.
Eine schwächliche, 35jährige Frau mit aus-
gedehnten Verbrennungen 2. und 3. Grades an
Brust, Rücken, Armen und Oberschenkeln wurde
8 Tage lang mit lOproz. Wismutsalbe, darauf
mit essigsaurer Tonerde und schließlich wieder mit
Wismutsalbe behandelt. Drei Wochen später
klagte Pat. über schlechten Geschmack im Munde
und Schmerzhaftigkeit des Zahnfleisches; wiederum
8 Tage später wurden ein blau-schwarzer Saum
am Zahnfleischrande und schwarze Flecken an
der Zunge und der Mundschleimhaut beobachtet.
Die Wismutsalbe wurde nun durch Borsalbe
ersetzt.
Zwei Tage darauf stellten sich Durchfälle
ein, im Urin wurden Eiweiß und zahlreiche
Zylinder gefunden. Nach Verlauf von etwa zwei
Wochen trat Exitus letalis ein. Die Autopsie
ergab schwarze Verfärbung des ganzen Kolon
und parenchymatöse Nephritis.
Mahne führt den Tod auf Vergiftung durch
Wismut zurück, da die schwarze Verfärbung des
Darms und die Nierenveränderungen nur auf
diese und nicht auf die Verbrennung, die 9 Wochen
vor dem Tode erfolgt war, zurückzuführen sind.
Die Untersuchung ergab übrigens, daß das Pig-
ment frei von Eisen, also wohl eine Schwefel-
Wismutverbindung, war. Das benutzte Magi-
ster ium Bismuti erwies 6ich frei von Verun-
reinigungen (Arsen, Blei).
Auf Grund dieser Beobachtung warnt Verf.
vor dem Gebrauch von Wismut bei ausgedehnten
Verbrennungen, dieselben sind mit Borsalbe,
essigsaurer Tonerde etc. zu behandeln. Er weist
ferner auf die Möglichheit hin, daß Wismut in
Salbenform — als Vehikel war Unguentum Paraffini
gewählt — leichter resorbiert wird, als wenn es
in Substanz, z. B. als v. Bardelebensche Brand-
binden, zur Verwendung gelangt. Mit letzten
sind Intoxikationserscheinungen bisher nicht beob-
achtet worden.
(Berl Min. Wochenschr. 1905, No. 9.)
Jacobson,
XIX.Jahrffanff.l
Mai 1905. J
Toxikologie. — Literatur.
271
(Aus der medizinischen UnlyeraitiUklinlk Oöttlngen.
Direktor : Geh. Ret Prof. Dr. B b s t e i n.)
Vergiftung mit Isosafrol. Von .Privatdozent Dr.
Waldvogel, Oberarzt der Klinik.
Ein Schlosser, welcher eine Kesselreparatur
vorzunehmen hatte, wurde am Gesicht, Hals und
Händen durch überkochendes Isosafrol verbrüht;
die Haut löste sich und es entstanden wunde,
stark schmerzende Stellen. Als er nach 5 Tagen
die Arbeit in dem mit Dämpfen von Rohisosafrol
geschwängerten Räume wieder aufnehmen wollte,
schwollen Gesicht und Hände stark an, es bildete
sich ein bald vorübergehendes urticariaähnliches
Exanthem aus, schließlich wurden Achselhöhlen,
die Beugeseite der Arme, die Leistbeuge, das
Scrotum, die innere Oberfläche der Oberschenkel
und Zehen von einem intensiv juckenden Ekzem
befallen, auch machten sich knötchenartige Er-
weiterungen der sichtbaren Venen an der Beuge-
seite des Unterarmes bemerkbar.
Sieben Monate nach dem Unfall wurde Pat.
in das Krankenhaus aufgenommen und hier ver-
zeichnete Waldvogel folgenden Befund: Ziem-
lich starke Arteriosklerose der peripheren Arterien,
Dilatation des rechten Ventrikels mit Stauung in
den Halsvenen, Emphysem und trockene Bron-
chitis. Gleichmäßige Erweiterung der Venen am
Ober- und Unterschenkel, kirschkerngroße An-
schwellungen in gleichen Abständen an den
Unterarm venen. Abschilferung der Epidermis,
Rötung und Schuppung an der Beugeseite der
Zehen, kleine Substanzverluste in der Rima ani,
am Scrotum und der Innenseite der Oberschenkel
Geschwüre, Rötung und Schuppung. Pat. klagt
über Jucken von wechselnder Stärke am ganzen
Körper. Drei Tage nach der Aufnahme trat ein
sich auf die Zehen beschränkender Anfall von
heftigstem Jucken auf; auch zeigten sich jetzt
am Fußrücken die bläulichen, in gleichen Ab-
ständen angeordneten Venenknoten. Ein Juck-
anfall wiederholte sich während der zwei Monate
dauernden Behandlung noch einmal. In dieser
Zeit milderte sich das Jucken wesentlich, Schlaf
und Appetit wurden befriedigend und die depri-
mierte Gemütsstimmung war gewichen.
Der behandelnde Arzt teilt jedoch mit, daß
1 Y, Jahre nach dem Unfall bei Einwirkung von
Wärme an den früher erkrankten Hautstellen
sich sofort Jucken einstellt; feste Lederschuhe
können nicht getragen werden, da auch geringer
Schweißausbruch Jucken auslöst.
Waldvogel betrachtet die geschilderten
Veränderungen an den Venen der Extremitäten
als auffälligstes Symptom der Vergiftung. Daß
Isosafrol in der Tat Venenerweiterung veran-
lassen kann, zeigen die Tierversuche, die Verf.
mit dem Körper anstellte. Auch bei gesunden
Menschen ließ sich durch Aufpinseln der öligen
Substanz auf die Hände deutliche Erweiterung
der Venen des Handrückens erzielen.
Aus den Tierversuchen ging ferner hervor, daß
Isosafrol, sowohl eingeatmet wie vom subkutanen
Gewebe aus resorbiert, Venenerweiterungen erzeugt.
Bei dem £at. sind beide Wege der Aufnahme des
Giftes in Betracht zu ziehen, aber auch nach der
Resorption wirkte es venenerweiternd, wie aus
den Venenknoten an den Füßen hervorgeht.
In der Fabrik sind bisher Vergiftungen mit
Isosafrol nicht beobachtet worden. Daß in dem
vorliegenden Fall sich so schwere dauernde
Schädigungen entwickelten, beruht nach Wald-
vogel auf der besonderen Disposition des
Kranken, der infolge von Emphysem und Bron-
chitis an Dilatation des rechten Ventrikels litt,
demnach zu Veränderungen im Venensystem ver-
anlagt war.
(Münchener medizinische Wochenschrift No. 5. 1905.)
Jacobson.
Literatur*
Untersuehungs- und Behandlungsmethoden der
Kehlkopf krankheiten. Mit 164 in den Text
gedruckten Abbildungen und 4 Tafeln. Von
Dr. Theodor Heryng. Verlag von Julius
Springer, Berlin 1905.
Verf. verfolgte vor allem den Zweck, die
lokale Behandlung der Kehlkopfkrankheiten und
besonders ihre Technik in erschöpfender Weise
zu schildern, um dem angehenden Spezialisten
das Selbststudium zu erleichtern. Fernerhin
wollte er aus der Unzahl der anempfohlenen
Mittel die wichtigsten, allgemein anerkannten
herausgreifen und diese in gedrängter Kürze be->
sprechen. Ebenso wurden Hygiene und Diätetik
der Krankheiten der oberen Luftwege berück-
sichtigt und das richtige Verhältnis der lokalen
Therapie zur Allgemeinbehandlung überall be-
tont. Die Einspritzungen in die oberen Luftwege,
die Trachea, die Bronchien und das Lungen-
parenchym wurden in gleichem Maße wie die
vom Verf. angegebenen Inhalationsmethoden er-
örtert. Eine ausführlichere Darstellung ist der
chirurgischen Behandlung der Kehlkopfphthise
gewidmet worden, ein Kapitel, dem sich Verf.
besonders gewidmet hatte.
Gehen wir nun zur Besprechung der ein-
zelnen Abteilungen, so ist im allgemeinen Teil
bei der Beleuchtung mit Recht darauf hinge-
wiesen, daß bei Trachealstenosen das Sonnen-
licht als die vorzüglichste Lichtquelle anzusehen
sei. Von künstlichen Beleuchtungen bevorzugt
Verf. das Auersche Glühlicht und zieht es außer
bei der Autoskopie und der Durchleuchtung den
verschiedenen elektrischen Beleuchtungsarten vor.
Zur Desinfektion der Spiegel empfiehlt er das
Auskochen derselben, das die mit versilberten
Kupferplättchen versehenen gut vertragen. Zur
Vergrößerung des Larynxbildes hat sich nach
Verf. die Hirschbergsche Larynxlupe als die
beste erwiesen. Ref. hat niemals das Bedürfnis
eines solchen Instruments empfunden; auch die
verschiedenen Spatel sind unnötig; am besten
sind für die geübte Hand die einfachen Glas-
spatel. Die besonderen Schwierigkeiten der
Untersuchung, selbst bei exzessiver Reizbarkeit,
sind immer mit Geduld von dem geübten Unter-
sucher zu überwinden, keineswegs „muß", wie
Verf. will, Kokain oder Eukain gebraucht werden.
Die Autoskopie wird umständlich abgehandelt:
nach des Verf. Erfahrung, die wohl mit der-
jenigen fast aller Laryngologen übereinstimmt,
272
Literatur.
rTher*peutl*che
L Monatshefte.
ist das Autoskop für viele Kranke peinlicher als
der Spiegel. Sehr richtig bemerkt Heryng bei
der Erlernung der endolaryngealen Technik, daß
das Kokain ihre Vernachlässigung sowie den Miß-
brauch mancher operativer Eingriffe, besonders
in der Rhinologie, gefördert habe.
Die nich toper ati ven Behandlungsmethoden
zerfallen in die chemischen Behandlungsmethoden,
zu denen die Inhalationen, Gurgelungen, Pin-
selungen, Einträufelungen und Einspritzungen,
Einblasungen und die festen Ätzmittel gehören.
Die neuen Inhalationsmethoden werden im
Anhang III besonders behandelt. Die vielen
vom Verf. angeführten Mittel, welche zu Gur-
gelungen gebraucht werden, sind dem Ref. alle
entbehrlich geworden; es genügen die schwach
alkalischen Flüssigkeiten wegen ihrer schleim-
lösenden Wirkung. Bei den Pinselungen ge-
braucht Verf. mit Recht als Flüssigkeit« träger
hygroskopische Watte. Der Pinselhalter des
Verf. ist durch einfachere, aus welchen die
Watte leichter zu entfernen ist, von Jurasz,
dem Ref. etc. ersetzt worden. Das Pinseln ohne
Spiegel hält Ref. nicht für richtig. Bei den
Medikamenten möchte Ref. darauf hinweisen,
daß 6 und lOproz. Jodvasogen den anderen
Jodpräparaten weit überlegen sind. In der Nicht-
anwendung des Tanninglyzerins stimmt Ref. dem
Verf. vollkommen bei. Den Indikationen des
Verf. für die Anwendung der pulverförmigen
Mittel kann man vollkommen beistimmen. Störend
ist der Umstand, daß die anästhetischen Pulver
noch einmal im Anhang behandelt werden; da-
selbst findet man erst das Anästhesin, das beste
aller schmerzstillenden Mittel bei Ulzerationen,
das übrigens am besten ohne jeden Zusatz an-
zuwenden ist. Die festen Ätzmittel sind sehr
gut geschildert.
Bei den physikalischen Behandlungsmethoden
wird zunächst die Anwendung der Elektrizität
für medizinische Zwecke besprochen, dann folgt
die Massage, deren Wert bei gewissen Formen
von Nasen erkrankun gen nicht bestritten wird,
während sie bei Kehlkopfserkrankungen wohl
nur als Beihilfe anzusehen ist.
Von den Methoden der inneren Therapie
werden die Anwendung von Kälte und Wärme,
die örtlichen Blutentziehungen, die ableitenden
Mittel in Erinnerung gebracht.
In dem die Hygiene enthaltenden Kapitel
ist der Abschnitt über die schädlichen Einwir-
kungen des Alkohols und des Tabaks recht gut
geraten. Zu berichtigen wäre die Meinung des
Verf., als wenn allgemein angenommen wäre,
daß Leukoplakie der Zunge immer in Krebs
überginge. Auch weicht Leukoplakie nicht
„selten", sondern überhaupt nicht der spezi-
fischen Behandlung. Die späterhin geschilderten
„Verdickungen des Epithels" sind nichts anderes
als Leukoplakie.
In dem Kapitel über die operativen Be-
handlungsmethoden sind die Vorbereitungen gut
geschildert; sehr genau sind die Anaesthetica
besprochen, ebenso die allgemeine Anästhesie.
In der Desinfektion geht meines Erachtens
nach Verf. zu weit. Ich bin mit Lermoyez
der Meinung, daß große Reinlichkeit eine Aseptik
der Hände des Operateurs und auch des Patienten
ersetzen kann, wenn nur die Instrumente asep-
tisch gehalten sind. Wie das zu machen, wird
ausführlich auseinandergesetzt; die Hitze und
vor allem das kochende Wasser werden bevor-
zugt. Sehr ausführlich werden die Ereignisse,
welche während der Ausführung endolaryngealer
Operationen auftreten können, geschildert, ebenso
die Nachbehandlung und sogar das^ Kranken-
zimmer. Den Schluß bildet die Instrumenten-
kunde.
Alles in allem ist das Heryngsche Werk
ein brauchbares Buch, das auch von dem er-
fahrenen Spezialisten mit Nutzen zu Rate ge-
zogen werden kann. Die Ausstattung desselben,
auch die Abbildungen sind recht gut und ent-
sprechen dem wohlbegründeten Ruf der Verlags-
handlung, w. LubUnski.
Die Gicht, ihre Ursachen und Bekämpfung.
Gemeinverständlich dargestellt von Dr. med.
0. Burwinkel, Nauheim. Verl. der Ärztl.
Rundsch. München 1904. 32 S. Preis 1,20 Mk.
Die Schrift, die das 12. Heft der Sammlung
„Der Arzt als Erzieher" bildet, will nicht nur
über die. Natur der Gicht aufklären , sie will
auch erzieherisch auf den Charakter der Kranken
einwirken, damit er sich die durchaus notwendige
Energie aneignet, das vorgeschriebene Regime
pünktlich zu befolgen. Aus den lesenswerten
Ausführungen des Verf. sei folgendes hervor-
gehoben.
Unter Gicht versteht man einen von der
Norm abweichenden Vorgang im Stoffwechsel
des Körpers, aus dem eine gesteigerte Harn-
säurebildung und eine Überladung des Blutes
mit harnsauren Salzen entsteht. Durch Ablage-
rung harnsaurer Salze entstehen periodische
schmerzhafte Gelenkaffektionen und die ver-
schiedenen chronischen Gichtformen.
Die Ursache der Harnsäurebildung ist un-
vollkommene Verbrennung von Eiweißstoffen
(Nukleoproteiden), die nicht bis zum Harnstoff
abgebaut werden, sondern auf einer Zwischen-
stufe stehen bleiben. Das tritt ein bei über-
mäßiger Eiweißzufuhr und ererbter oder er-
worbener mangelhafter Funktion der Verdauungs-
organe und Körperzellen. Übermäßiger Alkohol-
genuß, Bewegungsmangel etc. sind begünstigende
Momente.
Kältereiz bei mangelhafter Reaktion, Druck
etc. führen zum Niederschlag in den durch Ge-
fäßarmut und mangelhafte Zirkulation prädispo-
nierten Gelenken.
Von chronischen, irregulären Formen der
Gicht werden Störungen der Nieren, der Ver-
dauungsorgane, des Gefäß-, Respirations- und
Nervensystems hervorgehoben, ferner Neigung
zu Diabetes und Fettsucht.
In den Ansichten über die Behandlung,
besonders über die Gichtdiät, herrscht unter
den verschiedenen Autoren ein großer Wirrwarr.
In logischer Konsequenz seiner Anschauung sucht
Verf. die übermäßige Harnsäurebildung zu ver-
meiden, die schon vorhandene Harnsäure zu
lösen und auszuscheiden, bereits gesetzte Stö-
rungen nach Möglichkeit zu regulieren. Er
XIX. Jahrgang.!
Mal 1906. J
Literatur.
213
empfiehlt daher, von der übertriebenen Wertung
des Fleischeiweisses abzugehen und eine mehr
vegetarische Di&t innezuhalten (eine Auffassung,
wie sie u. a. auch von Ebstein vertreten wird,
Dtsch. Elin. im 20. Jahrh.). Vor allem sollen
Kinder nicht zu früh — nach Burwinkel nicht
vor dem 10. Lebensjahr — Fleisch erhalten.
Zur Steigerung der Oxydation ist daneben aus-
reichende Muskeltätigkeit von hoher Bedeutung.
Zur Ausscheidung der Harnsäure bedarf es
der Anregung von Nieren-, Haut*, Darm- und
Lungentätigkeit. Neben den medikamentösen
und den Bade- und Brunnenkuren stehen die
physikalisch-diätetischen Heilfaktoren, das Wich-
tigste aber bei der Gichtbehandlung ist „Arbeit
und Mäßigkeit«. Esch (Bendorf J.
Die Fermente und ihre Wirkungen. Von Carl
Oppenheimer. Zweite neubearbeitete Auf-
lage. Leipzig, Verlag F. C. W. Vogel.
Daß eine Monographie, welche allerdings
ein Riesengebiet umfaßt, im Laufe von wenigen
Jahren einer neuen Auflage bedarf, ist eine Tat-
sache, welche besser als alle Worte für den wirk-
lichen Wert des Buches spricht. Es erübrigt
sich daher, einzeln alle Vorzüge des ausgezeich-
neten Oppen hei morschen Buches hervorzu-
heben, und es seien nur einige erwähnt, wie die
geschickte und übersichtliche Anordnung der Ma-
terie, die klare und dabei doch nicht trockene
Schreibweise, sowie das 1694 Nummern um-
fassende, alphabetisch geordnete Literaturver-
zeichnis, welches für jeden, der auf dem Gebiete
der Fermentforschung arbeiten will, unentbehr-
lich sein dürfte.
Als ein bedeutender Fortschritt der vor-
liegenden Auflage gegen die erste ist es zu be-
zeichnen, daß der Autor sich die moderne phy-
siko-cbemische Auffassung der Enzymreaktion
völlig zu eigen gemacht und, von dieser
ausgehend, den allgemeinen Teil umgearbeitet
hat. Bei dem rastlosen Vorwärtsschreiten gerade
auf diesem Gebiete der Biologie ist es wünschens-
wert, daß der zweiten recht bald eine wiederum
vermehrte dritte Auflage des ausgezeichneten
Buches folgen möge, welche sicher wieder von
allen, welche für diesen Forschungszweig Interesse
haben, mit Freude begrüßt werden wird.
Th. A. Maass.
Anatomie and physikalische Untersuchungs-
methoden. Anatomisch-klinische Studie von
R. Oestreich und 0. de la Camp. Berlin
1905 bei S. Karger. 7,40 M.
Ein pathologischer Anatom und ein Kliniker
haben sich zusammengetan, um diese Studie zu
veröffentlichen. Beide sind durch frühere Ar-
beiten auf diesem Gebiete bekannt, von beiden
kann man daher a priori voraussetzen, daß die
Ton ihnen durch die früheren und jetzigen Ar-
beiten gewonnenen Resultate ein möglichst um-
fassendes und grundlegendes Bild dieser für den
Arzt so wichtigen Untersuchungsmethoden ab-
geben.
Während in dem großen Atlas Ponficks
hauptsächlich der pathologische Situs oder besser
der Situs der Organe bei den verschiedensten,
speziell vom Chirurgen behandelten Krankheiten
dargestellt wird, und aus dem Studium der topo-
graphischen Verhältnisse dem Arzte ein Weg-
weiser für sein Handeln gegeben wird, versucht
das vorliegende Werk hauptsächlich die für den
inneren Kliniker wichtigen Verhältnisse der Per-
kussion und Auskultation, der Röntgenunter-
suchung der inneren Organe auf Grund klinischer
Beobachtung im Verein mit der anatomischen
Untersuchung, die sich dabei selbst, teilweise
der klinischen (physikalischen) Untersuchungs-
methoden bedient, klarzulegen sowohl im allge-
meinen wie im speziellen.
Man kann daher bis zu einem gewissen
Grade die vorliegende Studie, besonders wenn
sie sich, was zu wünschen ist, recht bald zu
einem Lehrbuch aus wachsen wird, als eine Er-
gänzung von Ponficks Atlas auffassen, umso-
mehr, als das Werk keinerlei Abbildungen ent-
hält, was bei dem ungemein schwierigen Stoff
sehr zu bedauern ist, ja, was verhindert, daß
man das Buch Studierenden empfehlen kann,
sondern nur solchen Ärzten, die sich selbst ein-
gehend mit diesen Dingen beschäftigen wollen.
Aus dem Inhalt sei mitgeteilt, daß im all-
gemeinen Teil die Lehre vom Schall besprochen
wird, die Bewegung in röhrenförmigen Kanälen,
das Röntgen verfahren, die Körperform, ferner ■
die Prüfung und Beurteilung der physikalischen
Untersuchungsmethoden unter besonderer Berück-
sichtigung der Agonie. Im speziellen Teil werden
die einzelnen Organe und Gewebe der Brust-
und Bauchhöhle besprochen in ihrem Verhalten
den genannten Untersuchungsmethoden gegen-
über.
Es ist klar, daß bei der Bearbeitung dieses
Stoffes, besonders im allgemeinen Teil, schon
Bekanntes dargeboten wird, aber doch in ge-
drängter Kürze und oft von neuen Gesichts-
punkten au 8. Auch im speziellen Teil, in wel-
chem teilweise neue Beobachtungen der Autoren
mitgeteilt werden, ist bei jedem Organ eine Art
Rekapitulation der bekannten Dinge, eine Art
kurzer pathologisch -klinischer Besprechung der
vorkommenden Veränderungen vorhanden. Bei
der unsicheren Erklärung, die man überhaupt für
viele klinische und pathologisch - anatomische
Erscheinungen hat, ist es selbstverständlich, daß
man nicht in allen Punkten den Autoren zu-
stimmen kann, so z. B. der Behauptung, daß
relative Insuffizienz der Herzklappen sehr selten
vorkomme, oder der Beibehaltung des Begriffs
der konzentrischen Hypertrophie, den man ein
für allemal verbannen sollte. Manche Erklärungen
mögen wohl noch eine Zeitlang für richtig gelten,
werden aber zweifellos nach dem Gang unserer
Wissenschaft entweder andere oder gar keine
befriedigenden Erklärungen erfahren, so z. B.
die Erklärung der Dyspnoe bei perniziöser An-
ämie durch Sauerstoffmangel. Diese Beispiele
ließen sich noch vermehren. Aber gerade solche
schwebenden Fragen, die noch ihrer Lösung
harren, die in innigster Verbindung stehen mit
den neuesten physiologischen (z. B. beim Herzen)
und chemischen Untersuchungen, gestalten das
Studium des Werkes zu einem sehr anregenden
und nutzbringenden. Die Verf. betonen, daß
274
Literatur.
fTher*peati*the
L Monatshefte.
das Werk, das sie eine Studie nennen, weder
ein Lehrbach noch ein Kompendium sein solle,
sie betonen, daß manches nur angedeutet und
nicht weiter ausgeführt werden konnte.
Im Interesse der Materie und der Autoren
möchte ich daher den Wunsch nochmals aus-
sprechen, den ich bereits eingangs begründet
habe, daß recht bald aus der Studie ein mit
zahlreichen Abbildungen geschmücktes, voll und
ganz ausgeführtes, bis ins Einzelne gehendes
„Lehrbuch der physikalischen Untersuchungs-
methoden auf anatomisch-klinischer Grundlage"
werden möge. Westenhoeffer.
Lehrbuch der speziellen pathologischen Ana-
tomie für Studierende und Aerzte. Von
Dr. Eduard Kaufmann, o. Professor der
patholog. Anatomie in Basel. III. neu bear-
beitete und vermehrte Aufl. Berlin bei Georg
Reimer 1904.
Das Urteil, das ich vor 2 Jahren (Therapeut.
Monatshefte 1908, Augustheft) über die II. Aufl.
gegeben habe, kann ich nicht gut „in majorem
gloriam" steigern. Die rasche Aufeinanderfolge
der Auflagen beweist zur Genüge, wie sehr sich
dieses Lehrbuch nicht nur die deutschen Stu-
dierenden und Ärzte erobert hat, sondern es
wandert, wie ich mit großer Freude feststellen
kann, mit mehr als einem amerikanischen' und
japanischen Arzt über das Weltmeer.
In Europa selbst hat es Übersetzungen ins
Ungarische und Italienische erfahren. Wenn ich
einen Wunsch bez. einiger Änderungen aussprechen
möchte, so ist es der, daß der Verf. jenen
„Namenstürmern", wie Vir cho w sie milde nennt,
nicht allzu gefügig nachgeben möchte und Namen
wie: Hyaloserositis, Vermiculitis/Vesiculitis, De-
ferenitis u. a. die fast durchweg klinische Spezia-
listen auf dem Gewissen haben, in den zu-
künftigen Auflagen keine Aufnahme gewähren
möge. Westenhoeffer.
Die Otosklerose. Von Prof. Alfred Denker in
Erlangen. Wiesbaden, Verlag von J. F. Berg-
mann 1904.
In klarer und ausführlicher Weise hat der
Autor die viel ventilierte Frage über das Wesen,
die Ätiologie, die Diagnose etc. der Otosklerose
in seinem Werke behandelt. Besonders der ana-
tomische Teil hat eine erschöpfende Darstellung
gefunden. Es kann nicht geleugnet werden, daß
zur Zeit gerade der anatomische Teil das wert-
vollste Kapitel dieser merkwürdigen Erkrankung
darstellt. Hier hat der Autor, der 6elbst aus-
gedehnte Erfahrungen und auf eigenen Studien
beruhende anatomische Kenntnisse besitzt, sine
ira et studio alles berücksichtigt, was in der
Literatur bis jetzt darüber bekannt gemacht
worden ist. Was die Ätiologie dieser Knochen-
erkrankung betrifft, so steht Denker der von
Hab ermann vertretenen Ansicht von der häufig
in Betracht kommenden Lues etwas skeptisch
gegenüber. Dieser Ansicht kann sich Referent
nur anschließen. Daß akquirierte resp. kongenitale
Lues Ursache für Otosklerose sein kann und
öfter ist, hat auch Referent im Jahre 1901 in
seiner Arbeit: „Anatomischer Beitrag zur Frage
der bei dem trockenen, chronischen Mittelohr-
katarrh (Sklerose?) vorkommenden Knochen-
erkrankungen des Schläfenbeins (chron. vascn-
läre Ostitis Volk mann) mit einigen Bemer-
kungen" Archiv für Ohrenheilk. Bd. 53, S. 68
behauptet.
Die Therapie hat Denker mit vielem Ver-
ständnis und mit Recht mit aller Vorsicht und
Reserve hinsichtlich des Erfolges behandelt.
Neben dem Pause sehen Buche (die Schwer-
hörigkeit durch Starrheit der Paukenfenster) ist
das vorliegende Denke rsche Werk allen Inter-
essenten als die objektivste und wertvollste Ab-
handlung über diese wichtige, aber lange noch
nicht geklärte Frage der Otosklerose wärmstens
zu empfehlen. Die Ausstattung des Werkes ist
tadellos. l. Katz.
Erfolge der Röntgrentherapie. Mitteilungen ans
dem Institute für Radiographie und Radio-
therapie in Wien. Von Prof. Dr. Eduard
Schiff. Mit 16 Abbildungen. Wien, Moritz
Perles, 1904.
An der Hand mehrerer geheilter Fälle von
Haut- und Schleimhaut- (weicher Gaumen-) Lupus
empfiehlt Verf. die Behandlung dieser Krankheit
durch Röntgenbestrahlungen. Er benutzt mittel-
starke Röhren, Entfernungen von 15 — 20 cm;
34 — 88 Sitzungen waren für die einzelnen Fälle
erforderlich. Besonders hebt er hervor, daß das
Röntgen verfahren, bei denselben Erfolgen wie
die Finsenmethode, doch weniger anstrengend
für den Kranken, kürzer und erheblich billiger
als diese sei.
Auch bei Fällen von Epitheliomen und
Ulcus rodens erzielte Verf. völlige Heilung. Bei
inoperablen oberflächlichen, insbesondere Mamma-
karzinomen, stellten sich nach wenigen Bestrah-
lungen schon Aufhören der Schmerzen und der
so lästigen Jauchung ein. Genügend oberfläch-
lich liegende Melanosarkomknoten wurden wie
Krebsknoten beeinflußt. Je nach der nötigen
Tiefenwirkung wurden mittelharte bis harte
Röhren verwendet. Edmund Saalfeld (Berlin).
Praktische HoÜEem
und
empfehlenswerte Arzneiformeln.
Zar Behandlung der KapUlarbronchltU. Von
Dr. med. A. H e r z f e 1 d (New York). (Original-
mitteilung.)
Bestimmt durch Prof. Dr. Heu bners Publi-
kation (Therap. d. Gegenw. Hft.l, Referat Therap.
Monaten., April, S. 220) betr. die Behandlung der
Kapillarbronchitis mittels Senfwasser- Ein Wick-
lungen, möchte ich ein ähnliches Verfahren publi-
zieren, das ich seit zehn Jahren mit exzellentem
Erfolge in obiger Erkrankung angewandt habe.
In einer Schüssel mische ich Alkohol und
Wasser ** 250 ccm. Dieser Mischung setze ich
Spiritus Sinapis Ph. G. 15—50 ccm je nach
Schwere des Falles zu. Ein großes Stück Flanell
wird in diese Mischung getaucht, nicht allzufest
XIX. Jahrf aag.1
M*t 1905. J
Praktische Notizen und empfehlenswert« Arzneiformeln.
275
ausgerungen und der Körper des Kindes bis zu
den Oberschenkeln darin eingewickelt. Um
diesen feuchten Flanell wird noch ein trockener
geschlagen, der den ganzen Körper des Kindes
einhüllt. In dieser Packung lasse ich das Kind, bis
die Atmung und Herzaktion besser wird, oder
die Haut gerötet wird, wenigstens 30 Minuten.
Nach dieser Einpackung lege ich das Kind in
eine Packung Ton Alkohol und Wasser 1 : 2
(ohne Spiritus Sinapis) für 1 — 2 Stunden, als-
dann wird das Kind trocken eingewickelt.
Wenn nötig, lasse ich diese Einpackungen
m ehrer emal täglich vornehmen. Diese Ein-
packungen haben den Vorzug der Reinlichkeit
und ich habe auch in Fallen schwerster Ka-
pillarbronchitis mit diesem Verfahren noch ex-
zellente Resultate gesehen.
Eine Bemerkung zu dem Artikel: „Eine bequemere
Anwendungsweise des Chinin, von Geh. San.-
Rat Dr. Aufrecht" im Februarheft 1903
dieser Monatshefte.
Aufrecht beschreibt in diesem Artikel
seine Methode der Chinin inj ektion bezw. die
Zubereitung der Lösung. Um ein halbes Gramm
Chinin subkutan zu injizieren, hat er früher
17 g Wasser zur Lösung gebraucht, jetzt ist es
ihm mit Hilfe von 0,25 Urethan möglich, die
Lösungsmenge auf 5 g Wasser herabzusetzen.
Diese Umständlichkeit und Unbequemlichkeit
vermeidet man bei der Anwendung der sterili-
sierten Subkutaninjektionen von Dr. Kade,
Oranienapotheke, Berlin SO., auf die ich Herrn
Geh. San.-Rat Aufrecht aufmerksam machen
möchte. Diese Firma bringt seit geraumer Zeit
subkutane Injektionen (verschiedene Chininsorten,
Morphium, Ergotin, Kampfer, Äther, Pilo-
karpin etc.) zu den gebräuchlichen Einzeldosen
in den Handel, die nach vorheriger Sterilisation
in Glastuben zu 1 ccm Inhalt — also einer
Pravazspritze entsprechend — eingeschmolzen
sind. Um daher z. B. 0,5 g Chininum bimuria-
ticum zu injizieren, brauche ich nur den Hals
des Glasröhrchens abzubrechen und den Inhalt
desselben in die Pravazspritze einzuziehen.
Bei den vielen Hunderten von Chinininjek-
tionen, die ich jährlich in der Malariasaison hier
mache, haben sich mir diese Tuben von un-
schätzbarem Werte erwiesen. Abszesse oder Ne-
krosen habe ich nie danach gesehen. — Abge-
sehen von der handlichen Aufmachung der Tuben
für den Gebrauch des praktischen Arztes, seien
besonders die Kollegen in den Tropen, wo es
oft schwierig ist, stets sterile Lösungen zu augen-
blicklichem Gebrauche zur Hand zu haben oder
solche bereiten zu können, auf diese Tuben hin-
gewiesen. Der Preis der einzelnen Sorten ist
ein geringer. £>r. o. Müller (Hongkong).
Ein Erlebnis mit dem Wasserstoffsuperoxyd
Merck (Perhydrol). Von Dr. Altdorfer in
Wiesbaden. (Originalmitteilung.)
Bei der ausgedehnten Verwendung, welche
das Wasserstoffsuperoxyd in den verschiedenen
Gebieten der ärztlichen Praxis findet, dürfte ein
Erlebnis, das ich vor kurzem mit demselben
gehabt habe, von allgemeinem Interesse sein.
Ich hatte am 19. Dezember v. J. für eine
an einer leichten Angina catarrhalis leidende
junge Dame eine dreiprozentige Lösung von
Hydrogenium superoxydatum verschrieben, zu
deren Herstellung das Perhydrol Merck ver-
wandt wurde. Die Patientin hatte damit ein
paar Tage gegurgelt und dann, nach Ablauf
des Krankheitsprozesses , die noch etwa halb
gefüllte Flasche auf ein Wandbrett in ihrem
Schlafzimmer gestellt. Am 2. Januar d. J. —
also 14 Tage nach Anfertigung der Lösung —
wurde die Dame frühmorgens 7 Uhr durch einen
heftigen Knall aus dem Schlafe geweckt, und
im nächsten Moment fühlte sie, daß Glassplitter
auf sie herabfielen. Nachdem sie sich von dem
ersten Schrecken erholt und Licht angemacht
hatte, entdeckte sie, daß die Flasche mit dem
Perhydrol explodiert war, und die Scherben
davon im ganzen Zimmer verstreut waren.
Glücklicherweise war die Dame nicht verletzt,
doch wurde ich durch einen Brief des er-
schreckten Vaters sogleich herbeigerufen. Beim
Untersuchen des Tatbestandes fand ich, daß,
wie die Splitter zeigten, die braungefärbte
Flasche recht kräftige Wandungen — von etwa
ya cm Dicke — gehabt hatte, und daß trotzdem
die Splitter von dem Wandbrett, das an der
dem Bett gegenüberliegenden Wand angebracht
war, über 4 Meter weit durch das Zimmer ge-
schleudert waren. Die Explosionsgewalt muß also
eine ziemlich heftige gewesen sein. Bei näherem
Zusehen entdeckte ich nun, daß die Flasche
nicht mit einem einfachen Kork geschlossen ge-
wesen war, sondern daß sich daran ein Patent-
Hebelverschluß befand, wie derselbe gewöhnlich
an Bierflaschen angebracht ist. Wahrscheinlich
hatte in diesem Falle die Berührung der H3Os-
Lösung mit dem am Verschluß angebrachten
Gummiring zur Zersetzung der Flüssigkeit mit
Gasbildung geführt, die dann infolge des
hermetischen Verschlusses die Explosion verur-
sachte. Bemerken will ich noch, daß der Heiz-
körper des Zimmers, der sich durchaus nicht in
der Nähe der Flasche befand, zur Zeit der
Explosion nicht in Tätigkeit, die Zentralheizung
überhaupt seit mehreren Tagen abgestellt war,
so daß der Vorgang nicht durch Einwirkung
einer zu hohen Temperatur erklärt werden
kann. In der mir zu Gebote stehenden
Literatur findet sich keine Andeutung einer
Explosionsgefahr bei Verwendung des Perhydrol,
und ich habe es daher für meine Pflicht ge-
halten, auf diese Möglichkeit die Aufmerksam-
keit zu lenken, besonders aber auch vor dem
oben erwähnten Flaschen Verschluß bei Ver-
wendung des Hydrogenium superoxydatum zu
warnen.
Zur Behandlung der Genickstarre.
Wir haben an anderer Stelle, S. 262 dieses
Heftes, über die Resultate berichtet, welche
Lenhartz in der Behandlung der Genickstarre
mit der Lumbalpunktion gehabt hat. Hier sei
an eine andere von Aufrecht empfohlene
Behandlungsweise erinnert, an die Verwendung
heißer (40° C) Bäder. Aufrecht berichtet
darüber in diesen Monatsheften im Augustheft
276
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
pTherapentladM
L Monatshefte.
1894, S. 381: Heiße Bäder bei protrahiertem
Verlauf einer Meningitis cerebrospinalis. Weitere
Mitteilungen sind:
J. Woroschilsky: Anwendung von heißen
Bädern in 2 Fällen von Meningitis cerebro-
spinalis. Therap. Monatshefte 1895, Februar-
heft S. 65 und:
M. Jewnin: Anwendung von heißen Bädern
in Ö Fällen von Cerebrospinal-Meningitis. Therap.
Monatshefte 1896, Novemberheft S. 582.
Beide sprechen sich sehr günstig über die
Erfolge dieser Behandlungs weise aus.
Entfernung von Pikrinsäure flecken.
In seiner vorstehenden Abhandlung: Über
die Pikrinsäure Verwendung bei Hautkrankheiten,
besonders bei Ekzem, hebt Herr Dr. Meyer als
nicht angenehme Begleiterscheinung der Prikrin-
säurewirkung die färbende Eigenschaft für Haut,
Haare und Wäsche sowie die Schwierigkeit der
Entfärbung hervor, wodurch die Anwendung der
Pikrinsäure eine Einschränkung erfahre. Im An-
schluß hieran sei auf ein sehr einfaches Verfahren
der Entfärbung aufmerksam gemacht, welches,
von Prieur (Rep. de Pharm. 1897 und Pharm.
Centralh. 1897 S. 447) empfohlen, sich im Com-
pendium der Arzneiverordnung von Liebreich
und Langgaard angeführt findet, in ärztlichen
Kreisen aber wenig bekannt zu sein scheint.
Zur Entfernung von Flecken auf der Haut
wird die Haut mit Wasser befeuchtet und dar-
auf mit Lithium carbonicum abgerieben, oder
man reibt die gefärbten Stellen mit einem Brei
von Lithiumkarbonat und Wasser ein. Die
Färbung verschwindet sofort. Auch Haare wer-
den entfärbt, wenngleich bedeutend schwieriger.
Wäsche wird zur Entfärbung am besten in
Wasser getan, in welchem Lithiumkarbonat sus-
pendiert ist. Auch hier geht die Entfärbung
schnell und leicht vor sich.
Behandlung des Gelenkrheumatismus mit Acidum
citri cum.
Vor längerer Zeit hat Jorisenne in Gent
auf die gute Wirkung der Zitronensäure bei
Gelenkrheumatismus aufmerksam gemacht. Auch
Huchard in Paris hat neuerdings (Journal des
Praticiens 12, 1905) bei an Gelenkrheumatismus
erkrankten Individuen, die Salizylsäurepräparate
nicht vertrugen, günstige Erfolge mit Acidum
citricum erzielt. Es empfiehlt sich folgende Ver-
wendungsweise :
Rp. Acidi citri ci 5,0 — 10,0
Sirupi Papaveris
Sirupi Cera8orum ** 25,0
Aquae 250,0
M.D.S. Im Laufe des Tages 2 stündlich
2 bis 3 Eßlöffel zu nehmen.
Bei dieser Medikation sah Jorisenne
Schmerzen und Anschwellungen bereits nach
12 Stunden verschwinden, und auch Huchard
beobachtete Ähnliches.
Bei der Syphilisbehandlung
glaubt Dr. A. Lieven in Aachen (Münch. med.
Wochenschr. 18, 1905) Jodismus verhüten zu
können, indem er Jodkalium, stark verdünnt, in
Verbindung mit etwas Eisen und Strychnin in
nachfolgender Form verordnet:
Rp'. Kalii jodati 30,0
Ferri citr. ammon. 4,0
Strychnini nitrici 0,02
Elaeosach. Menth, pip. 5,0
Aquae flor. Aurant. ad 120,0
M.D.S. 1 Theelöffel in '/, 1 Wasser zu nehmen.
(1 Theelöffel = 1,0 g Kalium jodatum.)
In dieser Form bleibt die Mixtur klar und
hell und hält sich lange.
Gegen Hämorrhoiden
sollen die unter der Bezeichnung „Hämor-
rhoisid" von der Chem. Fabrik Erfurt in
Erfurt -Uversgehofen in den Handel gebrachten
Tabletten gute Dienste leisten. Eine Tablette
besteht aus 0,43 Extractum Pantjasonae und
Saccharum. Pantjasona ist eine in Süd -Asien
heimische Cucurbitacee. Neuerdings hat Dr.
Weiß mann in Lindenfels (Mediz. Klinik 12,
1905) das Mittel bei 4 Hämorrhoidariern mit
Erfolg in Anwendung gebracht. Er ließ täglich
3 Tabletten nehmen, und nach Verbrauch von
30 bis 45 Tabletten waren alle Beschwerden
verschwunden.
Gegen Sodbrennen
empfiehlt F. Öfele (Wiener med. Presse 1905,
No. 5) 40 Minuten nach dem Mittagessen und
Abendessen je 0,2 g Sapo medicatus.
Den Anlatholtpray
verwendet H. Fischer (Therapie der Gegen w.
März 1905) zur Reposition eingeklemmter Hernien.
Der Patient wird mit erhöhtem Becken und mäßig
adduziert-fiektierten Schenkein gelagert, die Haut
in der Umgebung des Bruches mit Vaselin ein-
gefettet und mit Watte bedeckt. 1 — 2 Minuten
richtet man nun den Anästholspray zuerst auf
die Mitte des Bruches, dann rings auf die Bruch-
pforte. Diese wird dann mit der linken Hand
fixiert, während die rechte jedesmal nur den der
Bruchpforte zunächst liegenden Darm teil zurück-
zuschieben sucht. Die Taxis gelingt fast stete
ohne Schmerzanfälle. Gelingt die Reposition
auch nach Wiederholung der Anästholbestäubung
nach viertelstündiger Pause nicht, so ist die
Operation vorzunehmen. Das geschilderte Ver-
fahren ist stets ungefährlich und wirksamer als
die Applikation des Eisbeutels, der beim stunden-
langen Liegen Nekrose der Gewebe hervorrufen
kann. Für die Operation selbst sind die günstig-
sten Bedingungen geschaffen, da einmal die Mal-
trätierung des Bruches unterblieben ist und
andererseits der Spray die Entzündung gemil-
dert hat.
Für die Redaktion verantwortlich: Dr. A. Langgaard in Berlin 8W.
Verlag von Julius Springer in Berlin N. — Universit&ts-Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Prancke) in Berlin N.
Therapeutische Monatshefte.
1»05. Juni.
■ ■ i . . - . . ... .
Origmalabhandlnngen.
Die
Entdeckungen der Parasitologie und
die Errungenschaften der Hygiene. >)
Von
Prof. Dr. Qalli-Valerio in Lausanne.
Die Hygiene, d. h. derjenige Teil der
medizinischen Wissenschaft, welchem im
wesentlichen die Aufgabe zufällt, die Fre-
quenz der Krankheiten herabzusetzen oder
dieselben weniger schwer zu gestalten, ist
eine Wissenschaft, deren Ursprung sich be-
reits im grausten Altertum nachweisen läßt.
In der Tat findet man sie mehr oder weniger
entwickelt bei den Hebräern, Chinesen,
Hindus, Griechen und Römern. Mit* dem
Falle 4es römischen Reiches scheint sie zu
verschwinden und später wieder aufzutauchen
und sich stufenweise zu entwickeln zu ihrer
gegenwärtigen Höhe. Die Hygiene beruhte
jedoch nur auf Empirismus und konnte erst
einen Aufschwung nehmen, als die Lehre von
den Parasiten sich Bahn gebrochen hatte.
Wie hätte dieselbe auch eine solide Grund-
lage zu einer Zeit haben können, da die Ur-
sachen und die Verbreitungsweise der Krank-
heiten noch vollständig unbekannt waren?
Es darf nicht überraschen, daß gegen die
Krankheiten vor allem mittels Gebete und
Prozessionen gekämpft wurde, da in Bezug
auf ihre Entwicklung der Glaube an das
Wunderbare und Übernatürliche die Haupt-
rolle spielte. „Ich kann nicht glauben tt,
sagt im Jahre 1630 der Präsident des Ge-
sundheitsamtes in Mailand, „daß die Be-
rührung mit den kranken Soldaten
oder den ihnen« gehörenden Gegen-
ständen die Pest weiter verbreiten
könne." Und dieser Biedermann, der
sicherlich zu den hervorragendsten Medizinern
seiner Zeit gerechnet wurde, billigte vermut-
lich später die Verurteilung zur Folter und
zum Tode der vielen Unglücklichen, die das
erschreckte Publikum der Verbreitung der
Bubonenpest durch aus Kröten, Schlangen,
*) Öffentlicher Vortrag, gehalten (französisch)
in Lausanne am 26. Oktober 1904 gelegentlich
meiner offiziellen Installierung als ordentlicher Pro-
fessor der Hygiene und Parasitologie.
Th. M. 1906.
Eiter u. s. w. bereitete Salben beschuldigte.
Was konnten die Lazarette, Absperrungen
durch Militär und Räucherungen, die hier
und dort vorgenommen wurden, nützen, wenn
nicht nur das Publikum, sondern auch der
größte Teil der Ärzte sich keine Vorstellung
über den Ursprung der Krankheiten zu
machen vermochte?
Obgleich schon zur Zeit der Römer
Lucretius, Varro, Columellus zu der
Annahme neigten, daß belebte Wesen im
stände seien, Krankheiten zu erzeugen, müssen
wir doch die wirkliche Grundlage der
modernen Entdeckungen in das 16. und
17. Jahrhundert verlegen, als Galilei beim
Studium der Naturwissenschaften dem Ex-
perimente die gebührende Rolle anwies.
„Immer mehr bin ich davon überzeugt tt,
schrieb er, „daß ich bei natürlichen
Dingen nur das glauben darf, was ich
mit den eigenen Augen gesehen habe
und mir mittels wiederholter Experi-
mente bestätigt worden ist.tt Bald nach
diesem Ausspruche sollte ein von Francesco
Redi ausgeführtes Experiment den bis dahin
allgemein geltenden Glauben von der Gene-
ratio spontanea in seinen Grundfesten er-
schüttern. Indem er Stücke Fleisch in her-
metisch geschlossene Behälter brachte, die
mit Gaze bedeckt waren, und in solche, die
offen blieben, stellte er fest, daß sich Würmer
nur auf dem Fleische in den offen gebliebenen
Behältern entwickelten, in welche die Fliegen
eindringen konnten. Diese Würmer waren
demnach, wie Homer und Dante es hatten
durchblicken lassen, nicht durch die in
Fäulnis begriffenen Substanzen erzeugt, son-
dern durch Eier, welche Insekten auf die-
selben niedergelegt hatten. „Ich bin davon
überzeugt", schrieb Redi nach seinem denk-
würdigen Experimente, „daß faulende
Substanzen nicht Würmer erzeugen,
wenn die Insekten nicht ihre Eier in
dieselben deponieren." Mit Redi trat
die experimentelle Forschung in den Dienst
der medizinischen Wissenschaften und dank
derselben eröffnete gegen Ende des 18. Jahr-
hunderts ein englischer Arzt, Jenner, neue
91
278
Galli-Val«rio, Entdeckungen der Faratitologie.
[Therapeutische
Monatshefte.
Gesichtskreise für das Studium der Krank-
heitsursachen. Er hatte davon reden gehört,
daß alle Personen, welche Kühe melkten,
von den Blattern verschont blieben. Er
untersuchte diese Personen und stellte fest,
daß sie an den Händen Pusteln hatten, welche
von den Kühen herrührten. Nun nahm er
Eiter aus der Pustel einer derart infizierten
Frau und impfte denselben in den Arm eines
Kindes ein. Nach einiger Zeit impfte er
dieses Kind mit Variola, und die Inokulation
mißlang. In dieser Weise hatte Jenner auf
experimentellem Wege die Impfung gegen die
Pocken geschaffen, indem er sich des durch
Übergang auf die Rinder spontan abge-
schwächten Variolavirus bediente. Dies war
eine gewaltige Errungenschaft der experi-
mentellen Medizin. Dank derselben sollte
das 19. Jahrhundert den Schleier lüften, der
seit so lange die Ätiologie der Krankheiten
verhüllte. In der Tat sollte das 19. Jahr-
hundert den Beweis dafür erbringen, daß so
viele bis dahin als die hauptsächlichsten
Krankheitsursachen angesehene Dinge wie
Kälte, Feuchtigkeit, Wärme u. s. w. in den
allermeisten Fällen nur eine prädisponierende
Rolle spielen, während die Hauptrolle
lebenden Wesen animaler oder pflanzlicher
Natur zukommt. Diese dringen in den Orga-
nismus ein, ernähren sich auf seine Kosten
und zerrütten ihn: die Parasiten.
Dem 19. Jahrhundert verdankt man gleich-
falls den Nachweis der pathogen en Rolle der
höheren tierischen Parasiten, d. h. der In-
sekten, Arachnoiden und Würmer, und
Francois Renucci lehrte zuerst, daß die
Krätze beim Menschen durch Sarcoptes
scabiei hervorgerufen wird. Ein Jahr später
entdeckte Dr. Bassi aus Lodi die erste,
durch pflanzliche Parasiten bewirkte Affek-
tion, die Muskardine des Seiden wurms, wel-
cher ein Pilz, Botrytis bassiana zugrunde
liegt. Dieser wichtigen Entdeckung folgte
diejenige des Aehorion Schoeleini beim
Favus des Menschen, des Trichophyton
tonsurans bei Herpes tonsurans, des
Oidium albicans beim Soor. Im Jahre
1857 lehrte Pasteur, daß der Gärungs-
prozeß ein vitales Phänomen ist. Seine
klassischen Arbeiten über die Fermentierung,
führten zur Lösung der Frage bezüglich der
Natur bestimmter Stäbchen, welche Ray er
und Davaine, Polländer und Brauel im
Blute von an Milzbrand eingegangenen Rin-
dern beobachtet hatten. Sind dieselben
der ansteckende Stoff? Sind sie nur
der Träger dieses Stoffes oder haben
sie gar keine Beziehung zu demselben?
Diese von Polländer gestellte Frage be-
antworteten Delafond, Davaine, Pasteur
und Koch, indem sie den Beweis erbrachten, j
daß die fraglichen Stäbchen tatsächlich die |
Erreger des Milzbrandes seien. So war
wieder eine neue Gruppe von Krankheiten,
diejenige der bakteriellen Erkrankungen, ent-
deckt worden, welche mikroskopischen,
Stäbchen- oder kugelförmigen Pilzen ihre Ent-
stehung verdankten. Dazu gesellten sich
bald noch zwei andere parasitäre Krankheits-
gruppen: Laveran fand in den roten Blut-
körpern der von Malaria befallenen Personen
Körperchen, die man zu der Klasse der
Protozoen rechnete, und ähnliche Körperchen
wurden allmählich bei verschiedenen Tier-
arten beobachtet. Die Protozoenkrankheiten
nehmen heutzutage eine sehr wichtige Stel-
lung in der Pathologie ein, und es brauchten
neben der Malaria nur die Trypanosomosen
genannt zu werden, zu denen u. a. die Schlaf-
krankheit gehört, welche in den letzten
Jahren Afrika heimgesucht hat.
Eine letzte Gruppe bilden endlich die-
jenigen Affektionen, bei denen man bisher
keine parasitären Träger gefunden hat, ob-
gleich alle Symptome, ihre Gegenwart ver-
muten lassen. In dieser Gruppe, zu der die
wichtigsten Krankheiten gehören wie die
Syphilis, das gelbe Fieber, die Hundswut,
die Maul- und Klauenseuche u. s. w. beginnt
man gegenwärtig noch eine neue Unter-
abteilung zu machen. Man hat in der Tat
beobachtet, daß einige von diesen Leiden,
durch äußerst kleine Wesen zu entstehen
scheinen, die unsern gegenwärtigen Unter-
suchungsmethoden entgehen. Es handelt sieb
um Krankheiten, welche durch Mikroorga-
nismen entstehen, die sich unterhalb der
Grenze der Sichtbarkeit befinden, indem sie
den Porzellanfilter passieren. Zu diesen
Krankheiten gehören u. a. die Maul- und
Klauenseuche, das gelbe Fieber, die Vogel-
pest u. 8. w. Diese Frage ist jedoch noch
nicht endgültig gelöst worden.
Wenn die Entdeckungen der Parasitologie
sich darauf beschränkt hätten, den spezi-
fischen Erreger der verschiedenen Krankheiten
anzugeben und ihn zu gruppieren, wäre die
Hygiene nicht viel in ihrer Entwickelung
beeinflußt worden. Die Parasitologie hat
jedoch die Parasiten studiert in bezug auf
ihre Entwicklung, auf die verschiedenen
Medien, in welchen sie leben können, auf
ihre Einwirkung auf die verschiedenen Orga-
nismen, auf die Dinge, welche ihrer patho-
genen Aktion günstig oder ungünstig sind,
auf den sich zwischen Parasit und Organis-
mus entspinnenden Kampf und schließlich üi
bezug auf die zu ihrer Vernichtung dienenden
Mittel. — Es würde mich zu weit führen,
wollte ich heute im einzelnen über den Ein-
XIX. Jahrgang.!
Jon! 1905. J
Galli-Val«rio, Entdeckungen der Parailtologie.
279
fluß sprechen, den die Parasitologie auf die
Prophylaxis einer jeden der sehr zahlreichen
parasitären Krankheiten, von denen Menschen
und Tiere befallen werden, ausgeübt hat.
Zu dieser ungeheuren Aufgabe steht mir nicht
die genügende Zeit zur Verfugung. Ich werde
mich daher nur darauf beschränken, die
großen Linien der Entwicklung der modernen
Hygiene, welche sich auf die Entdeckungen
der Parasitenlehre stützt, vorzuführen.
Als man sich am Anfange auf die Ent-
deckung des spezifischen Agens der Krank-
heiten beschränkte, war man nahe daran,
einen falschen Weg einzuschlagen. Der
Parasit war alles, der Organismus
nichts. Ein Parasit braucht nur in den
Organismus einzudringen, um in demselben
unfehlbar die Entwicklung einer Krankheits-
form zu bewirken. Gegen eine derartige An-
schauung erhob zuerst Max von Petten-
kofer, der Altmeister der Hygieniker, seine
Stimme. Der Organismus könnte nicht passiv
sein, sondern müßte den Kampf mit dem
Krankheitserreger aufnehmen. Hieraus ergab
sich alsdann das Studium der individuellen
Widerstandsfähigkeit und der Immunität.
Zahlreiche Laboratoriums versuche haben ge-
zeigt, daß die verschiedenen Organismen die
Fähigkeit besitzen können, gegen den para-
sitären Eindringling zu kämpfen, ihm in
vielen Fällen das Leben sauer zu machen
und seine Entwicklung zu hemmen. Dieser
Kampf, der durch die direkte Einwirkung
bestimmter Zellen, der Phagozyten, entsteht,
welche mehrere parasitäre Erreger umgeben,
aufschlucken und auflösen, und besonders
durch die Tätigkeit von Zellensekretionen,
welche die toxischen Produkte der Parasiten
vernichten (antitoxische Kraft), oder den Para-
siten selbst auflösen können (bakterizide Kraft),
kann durch die Aktion einer Anzahl von Ur-
sachen, die auf den Organismus einwirken, be-
günstigt oder gehemmt werden. Man beob-
achtete in der Tat, daß Mangel an Luft und
Licht, unzureichende Ernährung, körperliche
oder moralische Erschütterungen, exzessive Er-
müdung, gewisse physiologische Zustände wie
Schwangerschaft und Dentition, manche Stoffe
wie Alkohol und Essenzen in starker Dosis
u. 8. w. eine solche Depression der Ver-
teidigungsmittel des Organismus bewirken,
daß mitunter selbst sehr abgeschwächte para-
sitäre Erreger zur Entwicklung einer Krank-
heit Veranlassung werden konnten bei Orga-
nismen, die der Aktion der oben erwähnten
Ursachen ausgesetzt waren, dagegen blieben
sie ohne Einfluß auf normale Individuen. .So
sind beispielsweise die Tauben unter nor-
malen Verhältnissen unempfänglich für den
Milzbrand; aber sie werden von ihm befallen,
wenn man sie hungern läßt. Weiße Ratten
können bei starker Arbeit milzbrandig ge-
macht werden mittels Kulturen, die ohne
Wirkung auf ruhende Ratten bleiben. Meer-
schweinchen und Kaninchen fallen nach
Einimpfung des Koch sehen Bazillus an
einem dunklen und feuchten Ort in größerer
Anzahl der Tuberkulose anheim als solche
Tiere, die in Freiheit, in der frischen Luft,
an der Sonne gelassen worden sind.
Aus diesen Untersuchungen zog die
Hygiene sehr wichtigen Schlüsse. Sie zog
gegen die überfüllten Wohnungen, zu denen
weder Luft noch Sonne Zutritt hatte, zu
Felde. Sie reglementierte die Arbeit in den
Fabriken durch Verbesserung ihrer Bauart
und Verminderung der Arbeitsstunden. Sie
trat gegen die Überbürdung in den Schulen
auf; verlangte Gesetze zum Schutze der Ar-
beiterinnen während der letzten Periode der
Gravidität und einiger Wochen nach dem
Wochenbette. Sie kämpfte energisch gegen
die Verteuerung der für den Menschen not-
wendigsten Nahrungsmittel und unterstützte
den Kampf gegen den übermäßigen Alkohol-
genuß.
Aber die Parasitenlehre zeigte uns nicht
nur den Einfluß der prädisponierenden Ur-
sachen, sondern sie gab auch der sehr alten
Lehre von der Möglichkeit, die Widerstands-
fähigkeit gegen die Parasiten zu erhöhen,
eine wissenschaftliche Grundlage. Schon in
den ältesten Zeiten war die Beobachtung ge-
macht worden, daß Personen, die bestimmte
Krankheiten durchgemacht hatten, beim Auf-
treten einer neuen Epidemie unversehrt
blieben. Die Chinesen waren die ersten,
welche in künstlicher Weise eine derartige
Immunität schufen. Sie inokulierten nor-
malen Individuen Krusten von Variola, und
diese Individuen wurden zumeist von leichten
Blattern befallen und vor schwerer Variola
bewahrt. Im 18. Jahrhundert beseitigte
Jenner jede Gefahr dieser Methode dadurch,
daß er die Variolakrusten durch die Lymphe
der Kuhpockenpusteln oder Cowpox ersetzte.
Dieselbe darf als eine spontan abgeschwächte
und durch wiederholte Übergänge auf die
Rindergattung modifizierte Variola angesehen
werden.
Die Lösung der hauptsächlichsten, fast
einzigen Aufgabe soll, wie Chauveau her-
vorgehoben hat, darin bestehen, daß die vor-
beugenden Impfungen sicher und beständig
einen gutartigen Charakter erhalten. Wenn
nun Jenner die Lösung dieses Problems
eingeleitet hätte, hätten die Parasitologisten
ihn Riesenschritte machen lassen müssen.
Beim Experimentieren mit den Bakterien,
konnten sie feststellen, daß es möglich ist,
21*
J
280
Galli-Valerio, Entdeckungen d«r Faraaitologte.
fTherapMtiKha
L Monatduft«.
mittels verschiedener Kunstgriffe eine harm-
lose Bakterie pathogen zu machen oder die
Virulenz einer pathogenen Bakterie abzu-
schwächen und sogar zum Verschwinden zu
bringen. Sie konstatierten sogar, daß in
manchen Fällen ein Virus nur verdünnt oder
in geringer Menge inokuliert zu werden
braucht, um nicht die Krankheit, sondern
die Immunität zu veranlassen, und daß in
anderen Fällen durch Einimpfung eines sehr
aktiven Virus in irgend einen Körperteil das-
selbe Resultat erzielt werden kann.
Eine noch interessantere Entdeckung
wurde durch Behring und Kitasato ge-
macht. Diese beiden Forscher zeigten, daß
man von Tieren, denen sukzessive Impfungen
der toxischen Bakterienabsonderungen ge-
macht worden waren, ein Serum erhalten
kann, das ein mit den Toxinen infiziertes Tier
heilt, oder ein normales Tier nach der In-
okulation vor der Infektion durch dieselben
Toxine bewahrt. — Dieselbe Tatsache wurde
darauf festgestellt, als man den Tieren nicht
mehr die Toxine, sondern Bakterien inoku-
lierte. In dem ersten Falle hatte man das
antitoxische Serum, in dem zweiten das bak-
terizide Serum. — Die Hygiene machte sich
sofort die Wichtigkeit dieser Entdeckungen
zunutze und verwendete die Vaccination
in dem Kampfe gegen mehrere parasitäre Er-
krankungen. Zu diesem Zwecke machte sie
sich nutzbar: 1. die Inokulation des Virus
selbst in irgend einen Teil des Körper»
(Vaccination gegen die Peripneumonie der
Rinder mittels subkutaner oder intravenöser
Inokulation; gegen die Schafblattern mittels
subkutaner Impfung); 2. die Inokulation eines
Virus, das durch Übergang auf gewisse Tier-
arten abgeschwächt ist (Impfung gegen die
Variola des Menschen mit Cowpox); 3. die
Inokulation des durch die Hitze abge-
schwächten Virus (Impfung gegen Cholera,
Typhus, Beulenpest, Milzbrand u. s. w.);
4. die Inokulation durch Altwerden und Ein-
fluß der Luft (Impfung gegen die Hundswut
nach Biß) ; 5. die Inokulation mit verdünntem
Virus (Impfung gegen Hundswut nach Biß);
6. die Inokulation von Serum immunisierter
Tiere (Impfung gegen Diphtherie, Tetanus,
Bubonenpest u. s. w.).
Die Parasiten lehre bemühte sich auch zu
ergründen, in welchen Medien die Parasiten
sich außerhalb des Organismus entwickeln,
welches ihr Entwicklungsmodus ist, welches
die Wege der Ausbreitung uud des Ein-
dringens in den Organismus sind, mit welchen
Mitteln diese Parasiten vernichtet werden
können. Und die Hygiene hat aus diesen
wichtigen Forschungen, äußerst praktische
Anwendungsweisen für den Kampf gegen die
parasitären Krankheiten gewonnen. Einige
Beispiele sollen das zeigen. Die von v. Sie-
bold, van Beneden und Küchenmeister
angebahnten Studien über die Entwicklung
der Würmer des Menschen und der Tiere
zeigten, daß mehrere von diesen Würmern
in dem Körper irgend einer Spezies im
Larvenzustand leben, und daß man diese ge-
fährlichen Schmarotzer durch Einführung mit
den Nahrungsmitteln akquirieren kann. So
bekommt beispielsweise der Mensch Taenia
solium, wenn er Schweinefleisch genießt, das
Cysticercus cellulosae, die Larve dieser Tänie,
enthält; er bekommt Taenia saginata infolge
des Genusses von Rindfleisch, das C. bovis
enthält; er bekommt den an den Ufern des
Genfersees so häufigen Bothryocephalus latus,
wenn er Quappen und Barsche genießt, welche
die Larve dieses Bandwurms beherbergen;
er zieht sich die Trichinenkrankheit zu, wenn
er Schweinefleisch mit den Larven von Tri-
china spiralis ißt. — Die Hygiene hat die
Ergebnisse ihrer Untersuchungen ohne Verzug
für ihr praktisches Handeln verwertet. Es
wurde die Besichtigung des Fleisches ange-
ordnet, und dasselbe auf die Larven dieser
Würmer untersucht. Überall, wo diese Unter-
suchungen ausgeführt werden, hat das Vor-
kommen der Tänien und Trichinen bedeutend
nachgelassen. Taenia solium, deren Larve
leicht nachzuweisen ist, kommt gegenwärtig j
in den Städten, in denen das Fleisch
untersucht wird, äußerst selten vor, und j
in Lausanne habe ich in den letzten
sieben Jahren nicht mehr ein einziges I
Exemplar gefunden. Wo keine Untersuchung
ausgeführt wird oder sich nicht gut aus* |
führen läßt wie bei Fischen, hat die Hygiene
den Gebrauch gut durchgekochten Fleisches
empfohlen, damit die Larven zerstört werden.
— Neben diesen Würmern mit Generati*
altern ans, entdeckten die Parasitologen, indem
sie an sich selber experimentierten, daß an-
dere Schmarotzer eine direkte Entwicklung
haben, d. h. ihre mit den Kotmassen ent-
leerten Eier machen in den Exkrementen
selbst, im Wasser, in der feuchten Erde, na
Gemüse eine gewisse Entwicklung durch,
welche bis zum Freiwerden des Embryo
gehen kann, und der Mensch oder die Tiere
können sich infizieren, indem sie diese Eier
oder Embryonen hinunterschlucken. So kann
z. B. der Mensch durch Trinken schlammigen
Wassers und wahrscheinlich auch durch Ver-
unreinigung der Hände mit solchem Wasser
einen schlimmen Parasiten, Uncinaria duo-
denalis, bekommen, den Erreger einer sehr
schweren Anämie, welche in den Bergwerken,
Ziegelfabriken vorkommt und welche beson-
ders im Gotthardtunnel geherrscht haL
XIX. Jahrgang.
Jnni 1905.
1
Galli-Val«rio, Entdeckungen der Parasitologie.
281
Werden Eier von Askariden, Oxyuren oder
Trichocephalen aufgenommen, so akquiriert der
Mensch A. lumbricoides, O. vermicularis,
T. trichiurus, Parasiten, die so häufig vor-
kommen, daß der alte Ausspruch: Jeder
Mensch hat seinen Wurm, tatsächlich auf
Wahrheit zu beruhen scheint.
Infolge dieser Feststellungen verlangt die
Hygiene von vornherein den Gebrauch ganz
reinen Wassers oder Aufkochen oder Fil-
trierung desselben, ferner die Verwendung
gekochter oder gut gewaschener Gemüse.
An manchen Orten dürften die fäkalen Aus-
leerungen keine Verwendung für Gemüse-
kultur finden. Es wurde häufiges Reinigen
der Hände und die Benutzung besonderer
Eimer zur Aufnahme der Kotmassen in den
Bergwerken empfohlen. Die in dieser Weise
erzielten Resultate waren häufig sehr gute.
Ich brauche nur daran zu erinnern, daß die
Uncinaria-Anämie aus allen Bergwerken ver-
schwunden ist, die die vorgenannten Maß-
nahmen getroffen haben. Und einen ganz
ausgezeichneten Beleg dafür fanden wir bei
der Durchbohrung des Simplontunnels , wo-
selbst jetzt nicht ein einziger Fall dieser
Krankheit zur Beobachtung gekommen ist.
Die Parasitologie stellte ferner fest, daß
mehrere Parasiten nicht nur an sich selbst
gefährlich sind, sondern auch dadurch, daß
sie die Inokulationsträger von anderen Para-
siten sein können. — Manson hat dieses
zuerst gezeigt bei Filaria Bancrofti, deren
im Blute des Menschen zirkulierende Em-
bryonen durch die Stiche der Mücken von
der Gattung Culex aufgesogen und nach
Durchmachung einer bestimmten Entwicklung
normalen Individuen überimpft werden. Roß
stellte fest, was gleich darauf von Grassi
bestätigt wurde, daß die Protozoen der Ma-
laria des Menschen nach Absorption durch
Mücken von der Gattung Anopheles in letz-
teren einen Evolutionszyklus durchmachen,
nach welchem die Mücke dieselbe auf die
von ihr gestochenen Personen übertragen
kann. In ähnlicher Weise konstatierte man,
daß Mücken von der Gattung Stegomyia das
gelbe Fieber übertragen, daß die Protozoen
der Malaria der Rinder, des Hundes, der
Schafe durch die Zecken und die Trypa-
nosomen durch den Stich der Flöhe oder
der Fliege Tse-Tse übertragen werden.
Diese Erfahrungen haben zu wichtigen
Maßnahmen in bezug auf die Prophylaxe
geführt. Es sei nur auf das Bestreben hin-
gewiesen, die Mücken dort, wo Malaria und
gelbes Fieber vorkommt, zu vernichten. Man
hat dieselben in den Sumpfgegenden in Ge-
stalt der Larven oder Nymphen hauptsäch-
lich mittels Petroleum vertilgt, man hat sie
in den Zimmern im entwickelten Zustande
durch Räucherungen beseitigt; man hat den
Menschen gegen ihre Stiche durch Schleier,
Handschuhe, und an den Fenstern angebrachte
Drahtnetze zu schützen versucht, damit sind
glänzende Erfolge erzielt worden. Die
Malaria hat abgenommen, wo diese Mittel
in Anwendung gekommen sind. Das gelbe
Fieber, welches seit 1853 auf der Insel
Havanna einen beständigen Herd bildete,
kommt dort nicht mehr vor.
Das Studium der Bedeutung der Mücken
in bezug auf die Übertragung von Krank-
heiten brachte auch noch das Gute, daß man
diesen Dipteren auch größere Beachtung wid-
mete und sie als die möglichen Ursachen
mancher Formen von Anämie ansah, da sie
beständig Blut saugen und die Ruhe rauben.
Daher sind diese Parasiten, welche so lange
als ein notwendiges Übel angesehen wurden,
selbst in den Gegenden, die frei von Malaria
und Gelbfieber sind, energisch vernichtet
worden. Auf diese Weise wurden große
Landstriche bewohnbar, die vorher wegen
des Vorkommens zahlloser Moskitos als un-
bewohnbar angesehen wurden. — Von nicht
geringerem Nutzen war für die Hygiene die
Erforschung des Lebens und der Fort-
pflanzungsweise der pflanzlichen Parasiten.
Die vergleichende Parasitologie stellte fest,
daß bei Menschen und Tieren vorkommende
Krankheiten identisch oder einfache Varietäten
sind und von der einen Spezies auf die an-
dere entweder durch Kontakt oder durch
Genuß von Fleisch oder Milch übergehen
können. Hierher gehört der Rotz, eine bak-
terielle Erkrankung der Pferde, die sich mit
größter Leichtigkeit durch Kontakt auf den
Menschen überträgt; ferner die Tuberkulose
der Rinder, die, ohne absolut identisch zu
sein, besonders durch Vermittelung der Milch
auf den Menschen übergehen kann; der Milz-
brand, welcher infolge der unbedeutendsten
Verletzung vom Tiere auf den Menschen,
die Beulenpest, welche von den Ratten auf
den Menschen übertragen werden kann u. s. w.
Indem sie sich auf diese Erfahrungen
stützte, empfahl die Hygiene die Beschlag-
nahme und Tötung der vom Rotze befallenen
Tiere, die Vernichtung der an Milzbrand ein-
gegangenen Tiere und die Desinfizierung der
etwa von denselben herkommenden Felle,
ferner empfahl sie Probeinjektionen mit
Tuberkulin bei Kühen, die zur Milchproduk-
tion bestimmt, und den Gebrauch aufgekochter
Milch, hauptsächlich bei Kindern; außerdem
die Vernichtung des Fleisches von stark
tuberkulösen Tieren und die Vertilgung der
Ratten in den Städten und auf den Schiffen,
welche von der Pest befallen oder bedroht sind.
282
Galll-Valcrlo, Entdeckungen der Parmiitologi«.
rherapeaüaehe
Monatshefte.
Die Parasitenlehre stellte auch fest, daß
manche pflanzlichen Parasiten wie Asper-
gillus fumigatus und Actinomyces bovis
mit von Pflanzen herrührendem Staube in
den Organismus eingeführt werden können,
und die Hygiene nahm den Kampf gegen
den Staub hauptsächlich in den Mühlen auf
durch Bedecken der Maschinen und Anbrin-
gung von Aspiratoren.
Für andere Affektionen wie für die
Tuberkulose und Pneumonie etc. erkennt man
als Ursache die Verbreitung der Keime
durch den getrockneten Auswurf oder Speichel-
tröpfchen, und die Hygiene empfahl, nicht
auf die Erde zu speieu, sondern in mit anti-
septischer Flüssigkeit gefüllte Spucknäpfe,
damit die einzelnen Partikelchen nicht in der
Luft umher fliegen etc.
Gegen andere bakterielle Krankheiten
wie Typhus, Cholera etc., die häufig durch
Wasser übertragen werden, begann die
Hygiene den Kampf, indem sie die Städte
mit reinem Wasser versorgte, das Wasser
filtrieren, aufkochen oder durch Ozod steri-
lisieren ließ. Städte, welche diese Maß-
nahmen trafen, erfreuten sich oft einer er-
heblichen Abnahme des Typhus, und die
Cholera konnte in denselben nicht festen Fuß
fassen. So trat beispielsweise während der
Epidemie von 1892 in Altona, dessen Be-
wohner das filtrierte Wasser der Elbe tranken,
kein einziger Cholerafall auf, während Ham-
burg, wo man dasselbe Wasser unfiltriert be-
nutzte, eine sehr große Anzahl von Fällen
aufzuweisen hatte.
Es wurde auch die Möglichkeit einer
Verbreitung der bakteriellen Erkrankungen
mittels anderer Parasiten in Betracht ge-
zogen. So stellte man z. B. die wichtige
Rolle der Fliegen bei der Verbreitung der
Cholerabazillen, der Tuberkulose, des Milz-
brandes, des Typhus etc. fest. Die Hygiene
gab daher den Rat, die Materialien, in denen
die genannten Bakterien enthalten sein können
(Sputum, Kotmassen, Urin etc.), und die
Nahrungsmittel, auf welche sie sich setzen
könnten, vor diesen Dipteren zu schützen;
ebenso wurde empfohlen, die Zimmer, in
denen Sektionen ausgeführt werden, mit
schützenden Drahtnetzen zu versehen.
Experimentelle Untersuchungen der Para-
sitologie, ließen die verschiedenen Grade der
Widerstandsfähigkeit der parasitären Erreger
gegenüber den physikalischen und chemischen
Vernichtungs Ursachen erkennen. Die Hygiene
zog ihren Nutzen aus denselben, um zuver-
lässige Ratschläge erteilen zu können be-
züglich des vorzunehmenden Desinfektions-
verfahrens für die Zimmer, die Exkremente
und die den Kranken gehörenden Gegen-
stände. Neuerdings hat sie sogar die Des-
infektion des Kranken selbst vorgenommen,
indem sie die Parasiten im Innern, die daselbst
noch nach der Genesung verweilen und eine
Gefahr für die normalen Individuen bedingen
können, vernichtet. So setzt man z. B. bei
den Malariakranken noch nach dem Aufhören
der Fieberanfälle die Chininbehandlung fort,
um die Gameten, welche zur Infektion mit
neuen Anopheles dienen könnten, vollständig
zu vernichten. Man setzt die Desinfektion
des Mundes der Diphtheriekranken noch nach
der Genesung fort, ebenso wie die des Ver-
dauungsapparates der Typhösen während der
ganzen Rekonvaleszenz.
In bezug auf die allgemeine Prophylaxe
haben die Studien der Parasitenlehre eine
vollständig neue Orientation gegeben. Die
unsinnigen Quarantänen von unbegrenzter
Dauer, sind in eine Beobachtungsperiode um-
gewandelt worden, die nicht die Inkubations-
dauer irgend welcher Krankheit überschreitet;
die sanitären Absperrungen, welche jeden
Handel hemmten und mehr gefährlich als
nützlich waren, sind in den zivilisierten
Ländern beseitigt und durch die einfache
Beobachtung und Desinfektion an der Grenze
ersetzt worden.
Diese neue Prophylaxe hat den Ländern
bedeutende ökonomische Verluste erspart und
gleichzeitig die Verbreitung schwerer Epi-
demien verhindert. Das schnelle Erlöschen
der in den letzten Jahren in Europa ent-
flammten Pestherde, dient als schlagender
Beweis.
Aber die Studien der Parasitenlehre
sollten für die Hygiene nicht nur in bezug
auf die Prophylaxe von Nutzen sein, sie
mußten ihr auch wichtige Aufschlüsse über
andere die öffentliche Gesundheitslehre be-
treffende Fragen bieten. So verdankte man
ihnen den Nachweis von dem Vorkommen "
von Bakterien, welche die Verdauung pflanz-
licher Nahrungsmittel unterstützen, so daß das
Leben mittels vollkommen keimfreier Nah-
rungsmittel tierischen Ursprungs möglich ist,
aber nicht mit sterilisierten pflanzlichen Nähr-
mitteln unterhalten werden kann. Mancher
gefärbter Bakterien wie B. prodigiosus be-
diente sich die Hygiene zum Nachweis der
Durchlässigkeit des Bodens und der Möglich-
keit einer Verunreinigung des Grundwassers.
Wenn diese Bakterien auf die Oberfläche des
Bodens gebracht werden und schnell und
massenhaft in die Quellen und Brunnen
übergehen, kann jeden Augenblick der
Ausbruch einer Wasserepidemie befürchtet
werden.
Beim Studium der Umwandlung der or-
ganischen Materie des Bodens hat man die
XIX. J*hrgaag.l
Juni 1906. J
Galli-Valerlo, Entdeckung«!! d«r Parasitologie.
283
Wahrnehmung gemacht, daß die Umwand-
lung zu Salpetersalzen das Werk bestimmter
Bakterien ist, und die Hygiene hat sich diese
Erfahrung zunutze gemacht, um dem Boden
oder den Bakterienlagern die Reinigung der
Kloakenflüssigkeiten zu überlassen. — Bei
seinen Untersuchungen über die Ursache der
Arsenikvergiftungen in den mit grünen Tapeten
ausgekleideten Zimmern fand Gosio, daß
dieselbe auf der Entwicklung des Peni-
cillium brevicaule beruhe, eines Schimmel-
pilzes, der die Arsenverbindungen zerlege
und Arsine mit starkem Knoblauchgeruche
in Freiheit setze. Diese Eigenschaft des
P. brevicaule wurde sofort von der Hygiene
benutzt, um die Gegenwart ganz minimaler
Spuren von As (ein tausendstel Milligramm)
in Tapeten, Stoffen und Nahrungsmitteln u. s.w.
nachzuweisen. Die Hygiene hat also von der
Parasitologie nicht allein gelernt, den Kampf
gegen die Parasiten aufzunehmen, sondern sie
hat es auch verstanden, einige von diesen
Mikroorganismen im Interesse der Menschheit
nutzbar zu machen.
Indem sie sich auf die Parasitologie stützte,
hat die Hygiene der öffentlichen Gesundheit
ungeheure Dienste geleistet. Überall, wo sie
sich entwickelt hat, ist die Mortalität herunter-
gegangen. Ich brauche nur einige vergleichende
Ziffern bezüglich derjenigen Länder anzuführen,
in denen die Hygiene zu hoher Blüte gelangt
ist, und andere Länder, wo das weniger der
Fall ißt. In England beträgt die Mortalität
18,9 %o, in Rußland 36,6 °/oo. In London
beziffert sich die allgemeine Mortalität auf
18,8 7<o, in Paris auf 20,6 V Die Sterb-
lichkeit an Tuberkulose beträgt in London
1,95 °/oo, in Paris 4,01 °/oo. In Brighton
zählt man jährlich 1 1 Todesfälle an Typhus,
und in dem weniger bevölkerten Havre gab
es deren 326; in Devonport, einer Stadt mit
168 000 Einwohnern, jährlich 13 Todesfälle
an Typhus, während Toulon mit 93 000 Ein-
wohnern 118 derartige Fälle aufzuweisen hat.
Nicht ohne Mühe und Opfer ist es der
Hygiene in Verbindung mit der Parasitologie
gelungen, ihre Erfolge zu erringen. So
manche Forscher sind mitten in der Epidemie
hinweggerafft worden, andere haben in ihren
Laboratorien Rotz, Pest, Tuberkulose etc.
akquiriert und noch audere sind, wie Reed,
infolge der ungeheuren Strapazen bei der
Inangriffnahme des Kampfes geJftnMie para-
sitären Krankheiten zugrunde gegangen.
Allen diesen Helden, die ihr Leben für
die Wissenschaft und die Menschheit bereit-
willig in die Schanze geschlagen haben, sei
ein ehrenvolles Andenken bewahrt.
Aus der Inneren Abteilung des Krenkenheuees Bethanien.
(Dirig. Arzt Prof. Dr. Zinn.)
Erfahrungen
mit Theocin. natrio-aceticum
und mit Citarin.
Von
Dr. H. Laengnor, Assistenzarzt der Abteilung.
Unter den in neuerer Zeit in den Handel
gebrachten Diureticis spielen das Theocin
(Theophyllin) und seine Salzte eine große
Rolle. Über das reine Theocin ist man
wohl jetzt allgemein der Ansicht, daß es ein
gut wirksames Diureticum ist, wie in jüngster
Zeit namentlich aus den Arbeiten von Alk an
und Arnheim im Januarheft 1904 der
therapeutischen Monatshefte und derjenigen
von L. Loewenmeyer im Aprilheft der
Therapie der Gegenwart hervorgeht. Aller-
dings scheint es keineswegs frei zu sein von
bisweilen recht unangenehmen Nebenwirkun-
gen wie Übelkeit und Erbrechen, wie auch
letzthin M. Hackl in dem obengenannten
Heft der Therapie der Gegenwart berichtet.
Wir selbst sahen bei Anwendung des
reinen Theocins in Dosen von 2 resp. 3 X 0,25
bei einem Fall von Nephrit, chron. parench.
und einem Fall von Lebercirrhose zwar keine
der genannten Nebenwirkungen, aber auch
nicht die geringste Steigerung der Diurese.
Alk an und Arnheim berichteten nun
am Schlüsse ihrer Arbeit über das reine
Theocin und das Theocin-natrium , daß sie
in 3 Fällen von Myokarditis auch von einem
zweiten Salz des Theocin, dem Theocin.
natrio-aceticum, welches ebenfalls von der
Firma Bayer & Co., Elberfeld, in den Handel
gebracht wird, günstige Erfolge gesehen
hätten. Da sowohl in dieser Arbeit, wie
in der von Meinertz (Therap. Monatshefte,
Juni 1904) das Theocin. natrio-aceticum ge-
wissermaßen nur nebenher erwähnt wird, so
sei es mir gestattet, unsere wenigen Erfah-
rungen über dieses Präparat kurz mitzuteilen.
Im ganzen konnten wir es in 14 Fällen
benutzen. Bei einem Fall von Lebercirrhose,
einem Fall von chron. Nephritis mit arterio-
sklerotischer Aorteninsuffiziens, bei einer Myo-
karditis und bei einer Nephrit, chron. parench.
war gar kein Erfolg zu beobachten. Die Urin-
mengen wurden in keiner Weise günstig beein-
flußt, die Ödeme bestanden weiter. In einem
weiteren Fall von chronischer parenchymatöser
Nephritis, bei dem es sich um einen 19 jähr,
jungen Mann handelte, der lange vorher den
von Gerhardt empfohlenen Digitalis wein,
Diuretin und Liq. Kalii acet. bekommen hatte,
gelang es durch Theocin. natrio?aceticum die
Urinmengen einmal von 500 auf 1000, 1200,
1600 zu bringen, ein zweiter Versuch einige
284
La«ngner, Erfahrungen mit Th«ocln. natrio-aceticum und mit Citmrin.
tTherapeaÜKh«
Monatshefte.
Tage später mißlang. Von zweifellosen Er-
folgen greifen wir folgende 3 Fälle heraus.
Im erste n Fall handelte es sich um einen 56 jähr.
Mann, B. M., mit Arteriosklerose und Mitralinsuf-
fizienz. Es bestand rechtsseitiger Hydrothorax und
starkes ödem der unteren Extremitäten. Die sub-
jektiven Beschwerden des Kranken waren recht
erhebliche. Die Urinmengen waren sehr gering,
um 400 ccm, mit einem spez. Gew. von 1034. Es
wurde zunächst nach Punktion des Hydrothorax
4 mal tägl. 1 Eßlöffel Digitalisin fus 1,5 : 150,0 ge-
geben. Danach stiegen die Urinmengen nicht
sonderlich an, bis zu 1100, 1600 ccm mit spez. Gew.
von 1027. Nachdem dann versucht war durch
Tinct. Strophanthi und Diuretin die Diärese zu
steigern, wurde schließlich Theocin. natrio-aceticum
in Mengen von 0,4 4 mal tägl. zweistündlich ge-
5 eben. Während das erstemal nur ein Ansteigen
er Urin mengen von 500 auf 1300 beobachtet wurde,
konnte das zweitemal eine Zunahme von 400 auf
3300 notiert werden, ein Unterschied also von
rund 3 1.
Die Diurese hielt sich allerdings nicht auf
dieser Höhe, sondern sank in den nächsten Tagen
wieder auf 1200, 1100, 1900, doch erreichte sie
nicht wieder so niedrige Werte wie früher, es
machte den Eindruck, als ob sie durch die Theocin-
gaben besser in Gang gekommen war. Nach
4 Wochen konnte Pat. frei von Ödemen und Trans-
sudaten das Krankenhaus verlassen.
Der 2. Fall war ein 28 jähr. Mann, E. T., mit
Mitral- und Aorteninsuffizienz, rechtsseitigem Hydro-
thorax, starkem Ascites und starken Ödemen der
unteren Extremitäten. Der Puls war bei seinem
Eintritt ins Krankenhaus sehr frequent, klein, un-
regelmäßig, zeitweise aussetzend, rat. erhielt zuerst
Digitalisinfus, unter dessen Gebrauch die Urin-
mengen ganz zufriedenstellend: 1000, 1300, 1700,
2000 mit spez. Gew. von 1024, 1019, 1021 waren.
Nachdem dann noch kurze Zeit Tinct. Strophanthi
gesehen war, erhielt Pat. Theocin. natrio-aceticum,
und auch hier konnten wir einen Anstieg der Urin-
mengen von 800 resp. 900 auf 1600, 3200 feststellen.
Pat erhielt dann später, nachdem er längere Zeit
abwechselnd Digitaliswein und Diuretin gebraucht
hatte, noch einmal das Theocinsalz, und sofort stieg
die Urin Sekretion von 500 auf 1400. Pat. ist frei
von Stauungserscheinungen entlassen worden.
Der 3. Fall betrifft schließlich einen 21 Jahre
alten Mann, St. T., der seit '/, Jahr an starken
Ödemen litt. Bei der Aufnahme fand sich sehr
starker Ascites, starkes Anasarka des ganzen
Körpers. Die Herzuntersuchung ergab keine krank-
haften Veränderungen, dagegen zeigte der Harn
starken Eiweißgehalt, im Sediment fanden sich
Zylinder mit Leukozyten und Fettröpfchen besetzt,
viel Leukozyten und Epithelien. Die Urinmengen
waren beim Eintritt sehr gering, 200 ccm, spez.
Gew. 1025. Er erhielt sofort am 2. Tage Theocin.
natrio-aceticum, wodurch sich die Mengen auf 1900,
spez. Gew. 1015, hoben. Nachdem er dann zwei
Tage Digitalisinfus sodann drei Tage Diuretin mit
wenig Erfolg erhalten hatte, wurde wieder zum
Theocin. natrio-aceticum gegriffen. Während in den
vorangegangen Tagen 500, 600, 800 ccm entleert
waren , wurden nun 2700, 3000 ccm gemessen , ein
Unterschied also von ungefähr 2 1. Diese Diurese
genügte zwar nicht, um die bedeutenden Flüssigkeits-
ansammlungen völlig zu beseitigen, die Beschwerden
des Kranken ließen jedoch bedeutend nach, und die
Urinsekretion blieb dauernd eine zufriedenstellende.
Wenn wir nun auch in keinem unserer
Fälle derartige Steigerungen der Urinsekretion
beobachten konnten, wie sie Alk an und
Arn heim berichten, so kann man doch in
den eben genannten Fällen von einem un-
zweifelhaften Erfolge reden, bei denen die -
anderen Diuretica zu versagen schienen, oder
bei denen man gern einmal eine Abwechslung
eintreten lassen wollte.
Vor allem ist hervorzuheben, daß wir bei
der Axt unserer Darreichung in yier zwei-
stündlichen Dosen ä 0,4 g nie unangenehme
Nebenwirkungen irgendwelcher Art, nament-
lich kein Erbrechen, bflbachteten f).
Zum Schlüsse sei nachdrücklich betont,
daß diese wenigen Beobachtungen keineswegs
dazu dienen sollen, den anderen, bewährten
Diureticis irgendwelchen Abbruch zu tun und
dem Theocin. natrio-aceticum ihnen gegenüber
einen Vorrang einzuräumen.
Es soll nur die Anregung dazu gegeben
werden, in Fällen, wo vielleicht mit anderen
diuretischen Mittein wenig oder kein Erfolg
erzielt wird, oder eine Abwechslung erwünscht
ist, einen Versuch mit diesem Salz des
Theocins zu machen, welches sich nach unseren
Erfahrungen schon öfter als ein die Diurese
prompt steigerndes Mittel bewährt hat und auch
künftig in Anwendung gebracht werden wird.
Ebenso kann ich von guten Erfolgen be-
richten, die wir in mehreren Fällen ?on
Arthrit. urica bei Anwendung von einem
gleichfalls von Bayer & Co. hergestellten
Präparat sahen, dem Ci tarin. Es wurde
stets in Dosen von 2 g tägl. 5 mal gegeben
und wirkte in dieser Form namentlich bei
akuten Anfallen meist prompt. Diese Wirk-
samkeit zeigte sich besonders bei einem
53 jähr, sehr korpulenten Manne, der seit
10 Jahren mehreremale jährlich von schweren
Gichtanfällen befallen wurde und infolgedessen
starke chronische Veränderungen namentlich
der Knie-, Hand- und Fingergelenke zeigte.
Dies in Verbindung mit seinem hohen Körper-
gewicht beeinträchtigte die Beweglichkeit des
Mannes außerordentlich.
Er suchte im akuten Anfall das Kranken-
haus auf. Dieser ging unter Citarin rasch
zurück und bei weiterer Anwendung besserten
sich die chron. Veränderungen auch so, daß
er viel größere Beweglichkeit als seit langem
zurück erlangte und seinem Beruf wieder
nachgehen konnte.
Irgencl^fche störenden, üblen Neben-
wirkungen^Jpnen nie zur Beobachtung.
Citarin in seinem Wert als Prophylacticum
kennen zu lernen, wie Fisch (Barmen) oder
') Sollten sich wirklich einmal leichte Übel-
keiten einstellen, so erwiesen sich wenige Tropfen
einer Menthollösung von 0,1 Menthol und 15,0 Tinct
Cort. Aurant., kurz vor der Theocingabe ge-
nommen, sehr nützlich.
XIX. Jahrgmag.1
Jon! 1905. J
Sommer, Mitteilungen über Theophyllin.
285
als Mittel, um bestehende Tophi zu beseitigen,
wie Fertig (Worms), hatten wir keine Ge-
legenheit.
Jedenfalls ist zu einem Versuch mit
diesem Präparat wegen seiner vollkommenen
Unschädlichkeit und wegen seines verhältnis-
mäßig geringen Preises nur zu raten.
Mitteilungen über Theophyllin auf
Grund etaer Statistik von 855 Fällen.
Von
Dr. M. Sommer in Mannheim.
Es ist bekannt, eine wie große Bedeu-
tung Theophyllin bereits als Diureticum er-
langt hat. Doch sind auch, namentlich in
neuerer Zeit, vereinzelte Beobachtungen mit-
geteilt worden, in denen im Anschluß an
Theophyllingebrauch unangenehme Neben-
wirkungen aufgetreten sein sollen, ja so gar
Todesfälle wurden demselben zur Last gelegt,
die einige Autoren von der weiteren Anwen-
dung dieses Mittels abhielten. Im Bd. 82,
Heft l/2 des Archivs für klinische Medizin
ist nun Schmiedeberg, der zuerst auf die
diuretische Wirkung des Theophyllins hin-
gewiesen hat, auf die bisher mitgeteilten
Fälle näher eingegangen, in denen durch Theo-
phyllingebrauch bedrohliche Nebenwirkungen
vor allem Krampferscheinungen ausgelost
worden sein sollen. Auf Grund pharmako-
logisch-klinißcher Erwägungen und eigner
tierexperimenteller Kontroll versuche kommt
er zu der Überzeugung, daß es sich bei
der Entstehung der von den betreffenden
Autoren mitgeteilten Krämpfe in keinem Fall
um Theophyllinwirkungen gehandelt haben
kann.
Da die Zahl der Fälle von Theophyllin-
anwendung, die sich in der Literatur ver-
öffentlicht finden, bisher im Verhältnis zur
tatsächlichen Anwendung dieses wertvollen
Diureticums nur eine geringe ist, aber nur
ein wirklich großes Material imstande ist,
jedem Arzt ein Urteil über die Zweckmäßig-
keit, die Indikationen und Nebenwirkungen
eines Arzneimittels zu ermöglichen, hat die
Firma C. F. Böhringer und Söhne, Mannheim-
Waldhof, vor etwa 2 Jahren an eine große
Anzahl von Ärzten Proben von^tteopbyllin.
pur., Theophyllin.-natrium und^Heophyllin.
natrio-salicyl. geschickt. Ihref^Bitte, auf
einem Fragebogen die mit Theophyllin ge-
machten Beobachtungen mitzuteilen, ist von
den meisten entsprochen worden. So ist ein
großes statistisches Material über Theophyllin
entstanden, das die genannte Firma mir zur
Bearbeitung übergeben hat.
Th. H. it 5.
Eine derartige Massenstatistik hat ihre
Vorzüge und Nachteile. Die Vorzüge beruhen
in erster Linie in der nur auf diesem Wege
zu erzielenden Größe des Materials und darin,
daß die verschiedensten von einander un-
beeinflußten Beobachter an verschiedenem
Material, an günstig und ungünstig liegenden
Fällen ihre Erfahrungen über dasselbe Medi-
kament sammeln. Die fehlende Einheitlich-
keit der Untersuchung ist andererseits freilich
auch in mancher Beziehung ein Nachteil,
desgleichen die manchmal nicht absolut zu-
verlässige Beobachtung u. a. Aber es ist
wohl sicher, daß bei einer derartigen großen
Statistik die Nachteile durch die Vorteile
mehr als ausgeglichen werden, daß die ver-
einzelten Fehler bei der Größe des Materials
nicht in Betracht kommen und daß das aus
demselben gefolgerte Endresultat als ein zu-
verlässiges erachtet werden kann.
Nach Ausscheidung einiger Mitteilungen,
in denen die Beobachtungen zu ungenau waren,
als daß ihre Verwertung nach irgend einer
Seite möglich gewesen wäre, blieben mir 855
einzelne Fälle, in denen Theophyllin zur An-
wendung kam, und die ich zur Statistik ver-
wenden konnte. Unter dieser Zahl waren
421 Männer und 378 Frauen, in 56 Fällen
fehlte die Angabe des Geschlechts. Nicht ohne
Interesse ist das Alter der Patienten, das in
700 Fällen mitgeteilt ist. Es befanden sich im
Alter von
1-5 Jahren . . 8 Kranke
6-10 - . . 11
11-15 - . . 17
16-20 - . . 17
21-80 - . . 51
31-40 - . . 68
41—50 - . . 121
51—60 - . . 172
61-70 - . . 146
71-80 - . . 80
81-90 . . 9
Im ganzen wurde Theophyllin in 653 Fällen
mit Erfolg angewandt, in 64 Fällen mit
relativem Erfolg — darunter verstehe ich ent-
weder nur geringe Steigerung der Diurese
oder Versagen der Wirkung nach einigen
Dosen — in 127 Fällen erzielte die Verab-
reichung von Theophyllin keinen Erfolg.
Unter diesen letzteren war in 48 einzelnen
Beobachtungen hervorgehoben, daß andere
Diuretica ebenfalls ohne den geringsten Er-
folg, in 3 Beobachtungen mit nur geringem
Erfolg gegeben waren. Unter den Fällen,
in denen mit Theophyllin nur ein relativer
Erfolg erzielt wurde, ist 18 mal bemerkt,
daß andere Diuretica ebenfalls nur eine geringe
Wirkung, 7 mal, daß sie überhaupt keine
Wirkung hatten. Dagegen ist in 175 Fällen
ein voller Erfolg bei Darreichung von
Theophyllin erzielt worden, wo vorher
22
286
Sommer, Mitteilungen Aber Theophyllin.
["Therapeutisch*
L Monatsheft«.
andere Diuretica gereicht wurden und ent-
weder wirkungslos geblieben waren oder
ihre "Wirkung verloren hatten, 110 mal
ist angegeben, daß mit Theophyllin eine
stärkere Diurese erzielt wurde als mit den
vorher gebrauchten Diureticis. Es wirkte
also das Theophyllin zusammen in 285 Fällen
besser als andere Diuretica. Es geht aus
diesen Resultaten hervor, daß Theophyllin
ein sehr zuverlässiges, man wird wohl sagen
können, das sicherste Diureticum ist. Der
diuretische Effekt selbst wird meist als ein
ganz außerordentlicher geschildert. Es wird
der Eindruck von der Zuverlässigkeit dieses
Mittels noch verstärkt, wenn man bedenkt,
daß in den Fällen unserer Statistik Theo-
phyllin oft gerade in den schwersten Rrank-
heitszuständen als ultimum refugium an-
gewandt wurde. In den Fällen, in denen
es versagte, ist des öfteren angegeben, daß
der Fall ungeeignet gewesen sei, oder bei der
Schwere der Erkrankung ein Erfolg überhaupt
nicht zu erwarten gewesen wäre. Bezüglich der
Wirksamkeit der einzelnen Präparate Theo-
phyllin, purum, Theophyllin, natrium und
Theophyllin, natriosalicylic. ist ein wesentlicher
Unterschied nicht zu konstatieren. Am selten-
sten versagte Theophyllin-natrium, am relativ
häufigsten Theophyllin, natrio-salicylicum.
Sehr wichtig erschien es, sich an Hand
dieses großen Materials ein Urteil über die
Art, Häufigkeit und Schwere der bei Dar-
reichung von Theophyllin zu beobachtenden
Nebenwirkungen zu bilden. Wohl alle Autoren,
die ihre Erfahrungen über Theophyllin mit-
geteilt haben, berichten über gelegentliches
Auftreten von Magenbeschwerden, mitunter
auch Kopfschmerzen. Über die Häufigkeit
dieser Nebenwirkungen gehen die Ansichten
auseinander. Bezüglich der Bewertung der
bisher mitgeteilten Fälle von epileptiformen
Konvulsionen im Anschluß an Theophyllin-
Gebrauch verweise ich auf die eingangs er-
wähnte Arbeit von Schmiedeberg. Übrigens
hat sich auch Klemperer in Heft 8 der
„Therapie der Gegenwart" 1904 speziell
gegen die weitgehenden ungünstigen Schluß-
folgerungen ausgesprochen, die Allard aus
seinen 2 mitgeteilten klinischen Beobachtun-
gen und einigen Tierexperimenten zieht.
Sehen wir, welche Nebenerscheinungen in
unseren 855 Fällen beobachtet sind. Die
Ansichten der berichtenden Ärzte gehen aus-
einander je nach den Erfahrungen, die sie
gerade sammeln konnten. Einzelne schreiben
begeistert, daß das Theophyllin sich von
anderen Diureticis durch das Ausbleiben jeder
Nebenwirkung vorteilhaft unterscheide, andere
verwerfen auf Grund von 2 oder 3 Beobach-
tungen das Mittel wegen der dabei aufge-
tretenen Nebenerscheinungen völlig. Tatsäch-
lich wird in 35 Proz. der Fälle über das
Auftreten von Nebenwirkungen berichtet.
2 Arzte haben kurz nach Darreichung
des Theophyllins Todesfälle gesehen. In dem
einen Fall handelte es sich um eine 76 jäh-
rige Frau,' die ein Pulver Theophyllin pur.
wegen verminderter Diurese bei subakuter
Nephritis erhielt, nachdem vorher Digitalis und
Kalium aceticum ohne wesentlichen Erfolg ge-
geben waren. Der Arzt berichtet, „Patientin
starb 1 Stunde nach Verabreichung der ersten
Dosis an Herzschwäche, daher Wirkung
nicht festzustellen." Augenscheinlich ist hier
der Todesfall dem Theophyllin nicht zur
Last zu legen, auch aus den Worten des
Arztes geht dies hervor. In dem anderen
Falle handelt es sich um einen 16jährigen
Jungen, der an Nephritis mit Anasarka litt.
Er erhielt abends ein Pulver und morgens
8l/a Uhr ein zweites Pulver, um 9 Uhr trat
der Tod ein.
Es ist schwer, aus diesen kurzen Angaben
zu entscheiden, ob hier post hoc auch propter
hoc ist, ich berichte deshalb den Fall genau
so, wie er vorliegt. Daß eine plötzliche Herz-
lähmung auf Rechnung des Theophyllins zu
setzen sei, ist besonders mit Rücksicht auf
die allgemein sehr günstigen Erfahrungen
über Anwendung bei schweren Herzerkrankun-
gen nicht anzunehmen. Sonstige bedrohliche
Erscheinungen sind nicht berichtet, insonder-
heit keine gastrischen Störungen oder Krämpfe,
die etwa an die Fälle Allards erinnern
könnten. Die beiden Todesfälle sind übrigens
wegen ihrer Unklarheit in der Statistik nicht
mit berücksichtigt, ich glaubte sie aber an
dieser Stelle nicht übergehen zu dürfen.
3 mal ist von dem Auftreten eines Kollapses
berichtet worden. Bei einem 72jährigen Pa-
tienten mit Vitium cordis trat nach 5 Gaben
von 0,3 resp. 0,2 (3 mal tägl.) Theophyllin,
pur. ein Kollaps auf, sodaß die Anwendung
unterbrochen werden mußte. In dem zweiten
Fall handelt es sich ebenfalls um einen
72 jährigen Mann mit Herzfehler, der 1 Stunde
nach Einnehmen des 2. Pulvers von 0,3 g
einen Kollaps bekam, die diuretische Wirkung
war eine gute. Über einen 3. Fall berichtet
ein Arzt nur ganz kurz, daß bei einer Pa-
tientin mit Herzfehler durch Theophyllin eine
sehr starke Diurese erzielt wurde, aber nachts
ein Kollags^eintrat. Durch einige dem Theo-
phyllin vorausgeschickte Digitalisgaben hätten
sich diese Zufälle vielleicht vermeiden lassen.
Wir kommen später auf diesen Punkt zurück.
Die gastrischen Nebenwirkungen sind am
häufigsten. In 22 Fällen ist das Mittel wegen
Erbrechen, Durchfall oder starker Übelkeit
ausgesetzt resp. die weitere Annahme ver-
XIX. Jahrgang.")
Jaul 1905. J
Somm«r, Mitteilung«! Über Theophyllin.
287
-weigert worden. Abgesehen von den eben
erwähnten Fällen, sind Magenbeschwerden
195 mal beobachtet worden, d. h. in 25 Proz.,
und zwar 14 mal einfache Appetitlosigkeit,
102 mal allgemeine Magenbeschwerden leich-
terer Art wie Übelkeit, Brechreiz, Appetit-
losigkeit, 22 mal zugleich mit Kopfschmerzen,
57 mal ist Erbrechen aufgetreten, ohne daß
deshalb die Medikation unterbrochen werden
mußte. Zuweilen trat nur bei den ersten
Pulvern Erbrechen auf, die späteren wurden
gut vertragen, doch auch das umgekehrte Ver-
halten wurde beobachtet. 16 mal wird Durch-
fall, 1 mal Stuhlgang, 3 mal Leibschmerzen er-
wähnt. In Übereinstimmung mit den Angaben
in der Literatur sind auch gelegentlich
nervöse Nebenwirkungen beobachtet worden.
3 mal finden wir allgemeine Mattigkeit, 3 mal
Schlaflosigkeit, 9 mal Schlaflosigkeit mit all-
gemeiner Unruhe, 11 mal einfache nervöse
Erregung, darunter lmal mit Ohnmächten,
12 mal Kopfschmerzen, 9 mal Seh wind el-
empfindungen, 2 mal krampfartige Erscheinun-
gen, die nicht näher geschildert sind, 2 mal Zu-
stände von Verwirrtheit, lnml Urticaria und
Kopf druck. Es traten also Nebenwirkungen
nervöser Art in 6 Proz. der Fälle auf. Der
eine Verwirrtheitszustand betraf einen 6 8 jäh-
rigen Mann mit Arteriosklerose, dessen Ödeme
auf Theophyllin prompt schwanden. Nach
der 8. Gabe trat Verwirrtheit auf, angeblich
ll4 Stunde Sprachverlust, nach Aussetzen
des Mittels schnelle Erholung. Im anderen
Fall stellte sich bei einer 38jährigen Frau
mit Herzfehler, deren Ödeme ebenfalls auf
Theophyllin günstig reagierten, nach der
7. Gabe plötzlich ein Verwirrtheitszustand
ein, Patientin kannte ihre Umgebung nicht,
verließ das Bett und fiel zusammen. Nach
3 Stunden wieder normales Befinden.
Es muß also zugegeben werden, daß tat-
sächlich ziemlich häufig Nebenwirkungen
beobachtet worden sind. Ein Todesfall kann
dem Theophyllin mit Sicherheit nicht zur
Last gelegt werden, immerhin mahnen einige
Angaben in der Literatur und auch aus unserer
Statistik zu einer gewissen Vorsicht. Doch
muß man bedenken, daß Theophyllin vor-
wiegend bei Patienten mit schweren Herz-
störungen, oft schon in vorgeschrittenem Alter,
angewandt wurde, in Fällen, in denen plötz-
liche Kollapse und auch Todesfälle durchaus
nicht zu den Seltenheiten gehören. Wenn
trotzdem die Zahl der Fälle, in denen unan-
genehme Zufälle nach Gebrauch des Theo-
phyllins eintreten, so verschwindend gering
ist, kann man wohl das Theophyllin zu den
relativ gefahrlosen Arzneimitteln rechnen.
Ich komme später darauf zurück, daß sich
ein großer Teil der Nebenwirkungen auch
durch eine zweckmäßige Verordnung vermeiden
lassen wird.
Betrachten wir nunmehr die Wirkungs-
weise des Theophyllins mit Rücksicht auf
die verschiedenen Krankheiten, bei denen es
angewandt wurde. Bezüglich der Diagnosen-
stellung wirkt die fehlende Einheitlichkeit
der Beobachtung natürlich etwas störend.
Indessen genügt ja für unsere Zwecke auch
eine, wenn ich so sagen darf, gröbere Diagnostik.
Ich ordne die Fälle in eine übersichtliche
Statistik :
mit
Erfolg
relAt.
Erfolg
ohne
Erfolg
a) Kardialer Hydrops:
1. Klappenfehler . . .
2. Myokarditis, Koronar-
sklerose
3. Perikarditis ....
4. Vitium cordis ohne
nähere Angabe . .
5. „Herzschwäche" . .
106
85
4
142
16
6
16
1
13
16
i
13
12
6
b) Renaler Hydrops:
1. akute Nephritis . .
2. chronische Nephritis
3. Nephritis ohne nähere
Angabe
4. chronische Nephritis
and Herzfehler . .
362
22
63
30
22
36
6
2
3
46
2
15
12
6
c) Hydrops ohne nähere An-
gabe
d) Pleuritis exsudativa . .
e) Hydrops bei Lebercirrhose
f) Emphysem mit Hydrops .
g) Hydrops:
1. bei Tuberkulose . .
2. bei malignen Neubil-
dungen
h) Hydrops bei verschiedenen
lu-ankheiten
i) Keine Diagnose angegeben
136
49
27
27
10
9
5
22
17
11
3
1
7
2
1
1
2
34
8
3
8
4
3
3
7
11
Wie zu erwarten war, ist Theophyllin
am häufigsten in Fällen von kardialem
Hydrops angewandt. Unter 352 zum Teil
schweren Fällen hat es dabei nur 46 mal
versagt.
Der große Wert des Theophyllins gerade
in diesen Krankheitsfällen ist allgemein an-
erkannt, dagegen bestehen noch Meinungs-
verschiedenheiten über seine Anwendbarkeit
bei der Nephritis, speziell bei der akuten
Nephritis. Während sich Alk an und A ru-
he im1) — allerdings wesentlich auf Grund
theoretischer Erwägungen — dahinaussprechen,
daß Theophyllin bei frisch entzündlichen Ver-
änderungen der Nieren kontraindiziert ist,
hat Hundt unter 7 Fällen von akuter
Nephritis 5 mal überraschend guten Erfolg
bei Theophyllin-Anwendung gesehen, darunter
») Therapeutische Monatshefte 1904, Heft 1.
22*
288
8 o mm er, Mitt«Unnf«n Üb«r Theophyllin.
L Monatshefte.
befanden sich 4 Fälle von Scharlachnephritis.
Unsere Statistik bestätigt diese günstigen
Erfahrungen Hundts9). Ich werde wohl
nicht fehlgehen, wenn ich alle in der Statistik
sub„ Renal er Hydrops 2, 3 und 4" aufgeführten
Fälle der chronischen Nephritis zuzähle und
nur diejenigen als akute Nephritis betrachte,
die ausdrücklich als solche bezeichnet sind.
Unter den mir vorliegenden Beobachtungen
sind nun gerade bei akuter Nephritis die Er-
folge des Theophyllins auffallend günstig.
In 22 Fällen von akuter Nephritis wurde
Theophyllin mit Erfolg angewandt und dabei
auch Verschwinden des Eiweißgehaltes kon-
statiert. Es ist interessant, daß es sich
hierbei auch 6 mal um Scharlachnephritis
handelte. Nur 2 mal versagte Theophyllin
bei akuter Nephritis. Diese Mitteilungen
ermutigen zu weiteren Versuchen. Ein end-
gültiges Urteil über die Verwendbarkeit des
Theophyllins bei akuter Nephritis kann noch
nicht gegeben werden und dürfte einer weiteren
klinischen Prüfung vorbehalten bleiben. Die
Erfahrungen aus der Praxis sprechen jeden-
falls sehr zu Gunsten des Theophyllins in
solchen Fällen. Dagegen kann ohne Zweifei
behauptet werden, daß Theophyllin bei
chronischer Nephritis ein unschädliches und
sehr wirksames Diureticum ist. Oft wird
auch in solchen Fällen ein Rückgang des
Prozentgehaltes an Eiweiß erwähnt. Be-
merkenswert sind ferner die guten Erfolge
bei Lebercirrhose und besonders bei Pleuritis
exsudativa, wo unter 31 Fällen nur 3 mal
Erfolg ausblieb, sonst stets die Diurese ge-
steigert und meist auch ein Schwinden des
Exsudates beobachtet wurde. Die unter h)
rubrizierten Fälle gestatten auf die Indikations-
stellung keine Rückschlüsse, da bei den dort
zusammengefaßten Krankheiten Theophyllin
nur in vereinzelten Fällen zur Anwendung kam.
Zum Schluß noch einige Bemerkungen
über die Dosierung und die geeignetste Dar-
reichungsweise des Theophyllins. Es geht
aus vielen Beobachtungen unzweifelhaft hervor,
daß bisher sowohl die Einzel- als die Tages-
gabe von Theophyllin unnötig hoch ge-
nommen ist. Es wird öfter berichtet, daß,
als die anfängliche Dosis nicht vertragen
wurde, eine geringere gegeben wurde, die
dann keine oder weniger Nebenwirkungen
verursachte, aber denselben diuretischen Effekt
hatte. Gerade mit Rücksicht darauf, daß
Art und Heftigkeit der etwa eintretenden
Nebenwirkungen individuell sehr verschieden
sind — die einen vertragen selbst große Dosen
anstandslos, andere zeigen schon bei relativ
geringen Gaben erhebliche Empfindlichkeit —
') Therapeutische Monatshefte 1904, Heft 4,
und in Anbetracht des Umstandes, daß, wenn
auch nur in seltenen Fällen, diese Neben-
wirkungen einen unangenehmen Charakter
annehmen können (Verwirrtheitszustände etc.),
wird es sich empfehlen, die Anfangsdosia
niedrig zu wählen. Wird das Präparat ver-
tragen, und ist der diuretische Effekt nicht
ausreichend, kann dann immer noch gestiegen
werden, es wird aber wohl meist nicht notig
sein. Man wird im allgemeinen gut tun, im
Beginn nicht mehr zu geben als 2 — 3 mal
0,1 Theophyllin, pur. resp. die entsprechende
Menge der Salze und, wenn nötig, mit der
Dosis allmählich zu steigen. Sehr wichtig
zur Vermeidung von Nebenwirkungen ist es,
das Mittel entweder in Solution zu verordnen
oder die Pulver resp. Tabletten in reichlichem
Wasser lösen und nach dem Essen nehmen
zu lassen. Schmiedeberg empfiehlt, von
einer Lösung von 2,25 g Theophyllinnatrium
in 300 g Wasser (l Eßlöffel enthält 0,1 g
Theophyllin) anfangs 2 mal täglich 1 Eßlöffel
zu geben. Höhere Gaben als 3 mal 3 Eßlöffel
werden kaum erforderlich sein. Bei derartiger
Verordnung wird sich ein großer Teil der
lästigen Nebenwirkungen vermeiden lassen.
Von verschiedenen Seiten ist die Kombination
mit Digitalis empfohlen. Es erscheint dies
sehr zweckmäßig, da ja Theophyllin keine
exzitierende Wirkung auf das Herz ausübt,
eine gewisse Höhe des Blutdrucks aber nach
Meinertz (Therap. Monatsh. 1903, Heft 2)
zum Zustandekommen seiner diuretischen
Wirkung notwendig ist. Man wird auf diese
Weise auch einem sonst vielleicht auftretenden
Kollaps vorbeugen, doch ist dabei Schmiede-
bergs Vorschlag zu beachten, der empfiehlt,
die Digitalis nicht gleichzeitig mit dem Theo-
phyllin zu verordnen, sondern die Digitalis-
Darreichung vorausgehen zu lassen, da sonst
die Digitaliswirkung erst nach der Theo-
phyllin Wirkung eintreten, dieselbe also nicht
unterstützen würde. Um die krampf erregen de
Wirkung zu kompensieren, hat Schlesinger
(Therapie der Gegenwart 1903, Heft 3) die
Kombination des Theophyllins mit Adonis
vernalis vorgeschlagen. Es wird dies jedoch
nur selten nötig sein. Auch die Anwendung
in der Form von Suppositorien ist mehrfach
mit Erfolg versucht worden. Die Dauer der
Anwendung ergibt sich von selbst. Zuweilen
versagt die Wirkung nach einigen Tagen;
wird das Mittel dann kurze Zeit ausgesetzt,
so zeigt es meist seine frühere Wirksamkeit.
Zuweilen gelingt es, durch kleine Gaben die
Diurese lange Zeit im Gang zu halten, in
anderen Fällen verliert es freilich auch mit
der Zeit seine Wirksamkeit. Daß man unter
Umständen selbst lange Zeit Theophyllin
ohne Schaden geben kann, geht aus mehreren
XIX. Jahrganc.1
Jon! IQftft. J
d«L«H«rpe, Resultate der Fangobehaodlung.
289
Beobachtungen unserer Statistik hervor. Ein
7 9 jähriger Patient erhielt 30 Tage lang
Theophyllin (tägl. 0,3 Theoph. pur. resp.
0,4 Theoph.-nat. resp. 0,5 Theoph. natrio-
salicyl.) ohne Störung, die vorhanden ge-
wesenen Stauungen blieben dann fort. Ein
45 jähriger an Nephritis leidender Patient
nahm seit 3 Monaten ununterbrochen Theo-
phyllin, ohne daß eine Abschwächung der
Wirkung eintrat. .Doch mögen derartige
Fälle immerhin zu den Ausnahmen gehören.
Über Resultate
der Fangobehandlan? und über die
kombinierte Sol- und Fangokar.
Von
Dr. med. E. de La Harpe,
PrWatdozant der Balneologie an der Unlrersitlt Lausanne,
Ant am Salinenbad in Bex-les-Bafne.1)
Die Fangobehandlung ist heutzutage in
ihren Einzelheiten und ihrer Technik so gut
bekannt, daß es wohl angezeigt ist, nur über
die mit derselben gewonnenen Resultate zu
referieren. Die veröffentlichten Berichte sind
in dieser Hinsicht nicht übereinstimmend.
Nach den einen sind die Resultate als auf-
fallend gut zu bezeichnen, nach den andern
gehen sie nicht über diejenigen hinaus, die
man mit anderen Mitteln erreichen kann.
Ich werde deshalb versuchen, die Erfolge
der Fangotherapie an der Hand von Beob-
achtungen darzustellen, welche ich im Laufe
der letzten 4 Saisons am Salinenbad in
Bex-les-Bains gemacht habe. Dabei möchte
ich vor allem das durchschnittliche Resultat
betrachten und weniger die glänzenden exzep-
tionellen Heilungen anfuhren, welche mit dem
Fango wie bei allen möglichen Kuren beob-
achtet werden, aber kein reelles, dem alltäg-
lichen Leben entsprechendes Bild geben.
Die Krankheiten, bei welchen die Fangokur
in Bex gebraucht wurde, lassen sich ungefähr,
wie folgt, verteilen, auf Hundert: Rheuma-
tismus und Gicht 50. Nervenkrankheiten 25,
Phlebitis 2, chirurgische Krankheiten 13,
Frauenkrankheiten 10.
Rheumatismus.
Der Rheumatismus bildete also die Hälfte
aller Falle. Wir sahen ihn in seinen mannig-
fachsten Modalitäten: Mono- oder polyarti-
culär, deformierend, gichtisch, subakut oder
chronisch. Ein gemeinsames Kennzeichen be-
saßen alle Fälle, nämlich, daß es meistens
') Nach einem in der Sitzung der Societe
vaudoise de medecine am 9. April 1904 gehaltene q
Vortrage.
schwere, veraltete, hartnäckige Formen waren,
was die Aussicht auf Heilung wesentlich
beeinträchtigte. Mehrere Kranke hatten schon
verschiedene Kuren durchgemacht und kamen
nun zum Fango als ultimum Refugium.
Dieser veraltete Zustand der meisten Fälle
erklärt auch, warum der Erfolg der Fango-
behandlung bei unseren Rheumatikern weniger
gut als bei den nervösen Kranken ausge-
fallen ist.
Viele Kranke litten an deformierendem
Rheumatismus, und dieses Übel zeigte
sich dem Fango gegenüber ebenso hartnäckig
wie anderen Behandlungsmethoden. Wir haben
ihn in verschiedenen Formen beobachtet, von
den leicht deformierten, steifen Fingern bis
zu den schwereren Gelenkentstellungen mit
Muskelatrophie und allgemeinem Marasmus.
Bei einem Viertel der Fälle ungefähr war
eine wirkliche Besserung zu notieren, und
zwar 1. bei Rheumatismen, welche schon
mehrere Gelenke angegriffen hatten, aber
noch nicht veraltet waren ; 2. bei noch jungen
Individuen. Diese Hartnäckigkeit des defor-
mierenden Rheumatismus würde vielleicht
ihre Erklärung darin finden, daß nach Poncet
manche Fälle als Gelenktuberkulose aufzu-
fassen sind.
Hat die Krankheit nur ein Gelenk, ein
Knie befallen, hat sie wenig Neigung zum
Fortschreiten und zur Bildung von allgemeiner
Dystrophie, so hat die Fangotherapie gün-
stigere Chancen vor sich. Die Besserung ist
allerdings manchmal erst spät nach beendigter
Kur eingetreten. Hier hat auch die Krank-
heitsdauer eine entscheidende Bedeutung.
An Gicht und gichtischem Rheuma-
tismus litten mehrere Patienten. Einige
kamen nach einem akuten Anfall, um die
letzten Spuren davon zu beseitigen; bei den
anderen war der Prozeß ein chronischer. Im
ganzen waren die Resultate gut. Ohne Zweifel
haben hier die profusen Schweiße, welche in
der Packung stattfinden, eine große Bedeutung.
Dieses Schwitzen bringt auch häufig das
Welken und Verschwinden der Synovialkysten
hervor, welche man manchmal bei Gichtikern
die Hand- oder Fußgelenksehnen entlang
beobachtet. Diese Heilung ist leider nur eine
scheinbare, denn in kurzer Zeit füllen sich
die verfallenen Kysten wieder an.
Chronischer Muskelrheumatismus
bildet auch ein gutes Feld für Fangotherapie,
z. B. chronischer, rezidivierender Lumbago,
Krämpfe und Schmerzen in den Muskeln des
Beines, des Abdomens, u. s. w.
Nervenkrankheiten.
Einen Fall von Schreibkrampf ausgenom-
men, waren alle Patienten dieser Kategorie
290
de La Harpe, Resultat« dar Paogobabandlucg.
("Therapeut]
L Monatahe
attehe
Monatshefte.
mit schmerzhaften Prozessen, Neuralgien,
Ischias, Neuritiden behaftet.
Einige Neurastheniker und Hysterische
machten auch die Kur durch. Bei ihnen
waren die Resultate so gut wie null. Es
handelte sich im allgemeinen um schlecht
lokalisierte, schon viele Jahre bestehende
Schmerzen im Rücken, in den Armen, in
den Interkostalräumen. Die Erfolglosigkeit
der Behandlung ist bei diesen Patienten um
so auffallender, als sie an eine spezifische,
allen andern Methoden überlegene Wirkung
des Fangos glaubten; sie kamen auch mit
dem festen Entschluß, eine beliebig große
Zahl von Applikationen zu machen, und
zweifelten nicht an einer radikalen Heilung.
Bei der Ischias entfaltet ohne Zweifel
der Fango seine schmerzstillende, heilende
Kraft am deutlichsten. Es kam z. B. ein
Kranker mit einer akuten, 6 Wochen alten
Ischias zu uns; kaum konnte er gehen; er
bot die bei schweren Fällen charakteristische
Skoliosenstellung dar. Nach 10 Fangoappli-
kationen war er vollständig geheilt und er
ist seitdem (2 Jahre) rezidivfrei geblieben.
Achtzehn Applikationen haben auch dauernde
Heilung herbeigeführt bei einer chronischen,
schon 2 Jahre bestehenden Ischias mit Muskel-
atrophie, (in der Tat eine alkoholische Neu-
ritis des Ischiadicus) ; dabei war der All-
gemeinzustand infolge von Schmerz, Schlaf-
losigkeit und Alkoholismus ein sehr schlechter.
Zwischen diese extremen Fälle reihen sich
andere, mehr oder weniger veraltete: im
allgemeinen war die Besserung rapid und
andauernd.
Neuritis sahen wir 2 mal im Bereich
des Plexus brachialis, mit Schmerzen, unregel-
mäßig verbreiteter Muskelatrophie, Muskel-
zittern, u. s. w. Wenn ein solcher Symptomen-
komplex seit Jahr und Tag besteht, wenn
der Allgemeinzustand infolge der Schanosig-
keit und der Schmerzen sich progressiv ver-
schlechtert hat, wenn der Patient verschiedene
Behandlungsmethoden schon ohne Erfolg durch-
gemacht hat, dann begreift man, daß er die
mühsame Fangobehandlung mit Skeptizismus
unternimmt. Um so glücklicher ist er, wenn
der ersehnte Erfolg diesmal nicht ausbleibt.
An einer solchen Neuritis des linken Plexus
brachialis litt eine Dame, welche nach zwei
Kuren von je 20 Fangoapplikationen geheilt
wurde. Das war aber einer von diesen
exzeptionellen Fällen, die ich am Anfang
dieser Arbeit erwähnte. Nicht so glänzend,
aber immerhin sehr gut war der Erfolg bei
Neuritis des Ulnaris nach einem Fall vom
Fahrrad, der Interkostalnerven nach einer
Pleuritis, des Ischiadicus nach einer Unter-
schenkelamputation.
In den meisten Fällen kam auch die
elektrische Behandlung als Unterstützungs-
mittel in Anwendung.
Bei neuralgischen Schmerzen nach einem
Herpes zoster des Thorax, bei einer älteren
Dame, blieb dagegen die Fangokur ohne
Erfolg.
Phlebitis.
Die sedativen Eigenschaften der warmen
Fangomasse wirken in sehr günstiger Weise
auf die schmerzhaften Phlebitiden ; der Fango
scheint auch eine zerteilende Wirkung auf
die verdickte infiltrierte Haut auszuüben.
Es handelte sich bei meinem Patienten um
Phlebitis der unteren Extremitäten im späteren
Stadium, wo bei dem Patienten, der jetzt
gehen darf, noch Ödem und zeitweise auf-
tretende Schmerzen zu beobachten sind. Das
Resultat war sehr günstig, namentlich in einem
Fall von Puerperalphlebitis an beiden Beinen,
welche sich durch eine außergewöhnliche Länge
gekennzeichnet hatte.
Die Solbäder wurden hier neben dem
Fango verordnet, aber nicht in der Weise,
wie wir sie bei der Behandlung der Frauen-
krankheiten anwenden; es wurde meistens ein
Solbad genommen am Tage, an welchem der
Fango ausgesetzt wurde.
Chirurgische Krankheiten.
Es wurden hauptsächlich Gelenkkrank-
heiten behandelt, Gelenk Steifigkeiten nach
traumatischen Insulten; chronische Synovitis,
auch solche von gichtischer Natur; chronische
Entzündungen in den Schleimbeuteln u. s. w.
In einem Falle handelte es sich um eine
alte deformierende, proliferierende Arthritis
des Hüftgelenks mit Usur des Femurkopfes
und der Gelenkpfanne und bedeutender In-
filtration der benachbarten Gegend. Die Kranke
konnte mit Mühe 5 — 10 Minuten gehen. Nach
der Fangokur besserten sich Schmerz und
periartikuläre Schwellung dermaßen, daß die
Patientin ohne Schwierigkeiten 2 — 3 Stunden
gehen konnte. Dieses Resultat, welches
definitiv geblieben ist, muß aber als eine
von den Ausnahmen betrachtet werden, von
denen ich früher sprach.
Im allgemeinen war bei dieser Kategorie
von Kranken der Erfolg gut; die Massage
spielt hier selbstverständlich eine hervor-
ragende Rolle. Auch ruft der Fango infolge
seines Gewichtes eine leichte Stauung um die
Gelenke hervor, welche im Sinne der Bi er-
sehen Stauung günstig wirken kann.
Frauenkrankheiten.
Bei den Frauenkrankheiten haben wir die
Fangokur auf zweierlei Weise versucht.
XIX. Jfchrganf.1
Juni 1S0S. J
deLaHarp«, Resultate der Fangobefaandlung.
291
Es wurde zuerst nur Faugo angewendet
in der Form einer großen Badehose um Ab-
domen, Gesäß und Schenkel; besonders dick
wird die heiße Masse auf dem Abdomen an-
gehäuft. Am fangofreien Tag wurde gewöhn-
lich ein Solbad gegeben.
Später, im Lauf der 2 letzten Jahre,
habe ich auf Veranlassung von Prof. Rossi er-
Lausanne es unternommen, Kranke gleich-
zeitig einer Fangokur und einer Solbadkur
zu unterwerfen. Zu diesem Zweck wird
morgens eine Fangoapplikation, wie eben
beschrieben, gemacht und nachmittags ein
Solbad genommen, dessen Konzentration bis
auf 6 — 8 Proz. Chlorverbindungen erhöht
wird. Im Bade bekommt Patientin außer-
dem eine heiße Injektion (45 — 50° C), deren
Quantum 10 — 30 Liter beträgt; ihr Gehalt
an Chlorsalzen wechselt zwischen 1 und 3 Proz.
Bei dieser intensiven Kur haben die
Kranken ein recht ruhiges Leben zu führen,
im Freien zu liegen u. s. w. Es ist manchmal
gut, die Solbäder für 1 — 2 Tage zu unter-
brechen oder selbst einen behandlungsfreien
Tag zu gestatten. Kräftige Frauen ertragen
die Kur ohne Schwierigkeit. Bei schwachen
Kranken ist sie allerdings manchmal schwer
bis zu Ende zu fuhren; aber mit Zeit und
Geduld haben wir doch immer das Ziel
erreicht.
Sechs Kranke haben diese Kur durch-
gemacht (2 machten sie zweimal); bei 4 war
der Erfolg sehr gut, bei 2 aber nicht be-
friedigend. Ich lasse hier ein kurzes Resum£
der Krankengeschichten folgen, die Ergebnisse
der Untersuchung vor und nach der Kur sind
mir (mit einer Ausnahme, No. VI) in zuvor-
kommender Weise von Prof. Rossier mit-
geteilt worden.
I. 32 jährige Frau. Seit l1/» Jahren be-
stehende gonorrhoische Oophoritis
beiderseits; Metritis; Cervikalkatarrh.
Nervöse, sehr korpulente Frau, große Schmer-
zen, schlechter Allgemeinzustand.
Die Adnexe bilden rechts einen harten,
nußgroßen, sehr empfindlichen, beweglichen
Tumor; links einen halb so großen, eben-
falls empfindlichen.
Fangokur im Juni 1902. Nach derselben
haben die Tumoren um die Hälfte abgenommen ;
ein paar Monate später war die linke Ge-
schwulst nicht mehr zu konstatieren, die
rechte schwer zu definieren und kaum emp-
findlich. Der Allgemeinzustand hat sich derart
gehoben, daß die Kranke wieder ein normales
Leben fuhren kann.
II. 35jährige Frau. Gonorrhoische
Oophoro-salpingitis beiderseits; Metritis
und Endometritis der Cervix und des
Körpers; chronische Vaginitis. Dauer
der Krankheit: 6 Jahre. — Uterus verdickt,
in Anteflexion, empfindlich, Muttermund
klaffend. Linkes Ovarium und Tube bilden
eine etwa 2 Daumen breite, sehr empfindliche,
unbewegliche Geschwulst; rechtes Ovarium ge-
schwollen, im Douglasschen Raum adhärent.
Infolge der langen Krankheit und der bestän-
digen Schmerzen ist diese sehr nervöse Frau
schwach und schläft schlecht; auch leidet sie
an Enteritis muco-membranosa.
Erste Fangokur im Juli 1902; zweite
Kur im Juni 1903. Das Resultat ist sehr
befriedigend: die Adnexen sind schwer zu
definieren; im rechten Scheidengewölbe wird
noch eine ieichte, schmerzlose Resistenz ge-
fühlt. Muttermund noch bis auf 1 cm klaffend.
Allgemeinzustand sehr gut; die Frau hat
keine Schmerzen mehr und ist jetzt arbeits-
fähig. Sie machte im Sommer 1904 lange
Bergtouren.
III. 35jährige Frau. Rechte gonor-
rhoische Oophoro-salpingitis, seit 13
bis 14 Jahren bestehend. Sterilität.
Sehr gesund aussehende Frau. Sie hat
aber starke Schmerzen im kleinen Becken.
Uteruskörper klein, in Anteflexion, unemp-
findlich; hinter ihm das rechte Ovarium mit
der Tube, nußgroß, sehr empfindlich und im
Douglasschen Raum adhärent.
Zwei Fangokuren, im Juli 1902 und im
Mai 1 903 . Nachher wird notiert : Verschwinden
der subjektiven und objektiven Schmerzhaftig-
keit. Das Ovarium, noch etwa halbnußgroß
und kaum empfindlich, bleibt noch hinter
dem Uterus etwas adhärent.
IV. 30jährige Frau. — Chronische
gonorrhoische Oophoro-salpingitis
beiderseits. Alte puerperale Pelvi-
peritonitis.
Schwache, anämische, sehr nervöse Frau;
seit 6 Jahren verheiratet, machte sie 2 Aborte,
dann eine normale Geburt durch ; nach letzterer
sehr schweres Puerperalfieber. Seitdem immer
kränklich, leidet sie an beständigen Schmerzen
im Abdomen, besonders rechts; sie ist sehr
heruntergekommen, abgemagert und schläft
schlecht. Bei der Untersuchung ist eine be-
trächtliche Empfindlichkeit des Abdomens
in der Fossailiaca dextra zu notieren. Uterus
nur wenig vergrößert, sehr empfindlich;
Muttermund geschlossen ; die rechten Adnexen
sehr empfindlich, im Douglasschen Raum ad-
härent. Linkes Ovarium kirschengroß, be-
weglich.
Fangokur im August 1903, schlecht er-
tragen und von geringem Erfolg. Zwei Monate
später wird die Laparotomie von Prof. Rossie r
ausgeführt, und die kystisch entarteten Ovarien
werden entfernt. Von den eben angeführten
Adhärenzen im Douglasschen Raum ist nur
292
deLaüarp«, Resultate d«r Pangobebandlung.
rTherapenÜieha
L Monatwhefl«.
soviel zu konstatieren, daß die hintere seröse
Fläche des Uterus eine sammetartige Be-
schaffenheit darbietet, da, wo früher das Ovarium
sich befand.
V. 30jährige Frau. Alte Parametritis
puerperalis mit großem, die Venen kom-
primierendem Exsudat.
Die kräftig gebaute, früher sehr gesunde
Frau machte vor 5 Jahren nach der Geburt
ihres zweiten Kindes ein schweres Puerperal-
fieber durch, nach welchem die Beine, be-
sonders das . linke Bein, odematos und stark
geschwollen blieben. — Uterus etwas ver-
größert, in Antenexion. Links im Ligamentum
latum befindet sich ein Exsudat, welches sich
als ein flaches, sehr hartes Band bis an die
Beckenwand fortsetzt, um dort eine in den
Beckenraum hineinragende Geschwulst zu
bilden. Linkes Ovarium nußgroß, wenig be-
weglich, empfindlich. Rechts zwischen Becken-
knochen und Uterus, im Ligam. latum ein
fingerdickes, bandähnliches, schmerzhaftes In-
filtrat. Das linke Bein ist beträchtlich ge-
schwollen, das Gehen sehr schwierig.
Fangokur im August 1903. Status nach
der Kur: Der Tumor im linken Beckenraum
ist nahezu vollständig verschwunden ; Ovarium
nicht mehr geschwollen. Rechts ist der in-
filtrierte bandartige Streifen fast vollständig
verschwunden und nur im rechten Scheiden-
gewölbe zu finden ; er ist dort um die Hälfte
dünner und nicht mehr empfindlich. Das
Bein ist beinahe zu seiner früheren Form
zurückgekommen. Pat. nimmt ihre frühere
Tätigkeit wieder auf.
VI. 25jährige Frau. Chronische Me-
tritis und Endometritis.
Pat., mit hereditär-nervöser Belastung,
hat einmal vor 5 Jahren geboren. Seit 2
bis 3 Jahren leidet sie an Schwäche und
Schlaflosigkeit; unregelmäßiges Fieber hat
sich eingestellt. Pat. ist aber nicht abge-
magert. Sie bietet gegenwärtig die Symptome
einer allgemeinen, der Neurasthenie ähnlichen
Neurose dar. Die Untersuchung ergibt sehr
große Empfindlichkeit der Vagina und des
Uterus. Übelriechender Fluor. Uterus ver-
größert, in Retroversion. Adnexe rechts ver-
dickt und schmerzhaft.
Fangokur im Juli 1903, schlecht ertragen.
Fieber, große Müdigkeit treten auf. Als Re-
sultat wird angegeben: Abnahme der Empfind-
lichkeit des Uterus und des Ovarium 8. All-
gemeinzustand hat sich gebessert.
In den Fällen IV und VI blieb also das
Resultat unter den gehegten Erwartungen
zurück. Der Erfolg war dagegen äußerst gün-
stig bei den anderen, besonders bei Fall II
und V. Überall trat aber die schmerzstillende,
sedative Wirkung des Fangos deutlich hervor.
Es ist notwendig, für eine derartige Be-
handlung chronische Fälle zu wählen. Wenn
die Solbäder schon bei subakuten oder mit
akuten Nachschüben verlaufenden chronischen
Fällen kontraindiziert sind, so ist um so größere
Vorsicht geboten, wenn wir dem Solbad noch
die Fangoapplikation hinzufugen wollen. Des-
halb hat nur eine kleine Zahl von Patientinneo
diese kombinierte Kur unternehmen können.
Der Wert der Bäder bei Gicht.
Vortrag gehalten am IV. österreichischen
Balneologen-KoDgreß io Abbazia.
Von
Dr. Eduard Weltz, Schwefel- Schlammbad Pistvan.
M. H.! Trotzdem mich der Titel meines
Vortrages ausschließlich zu praktischen Er-
läuterungen verpflichtet, kann ich nicht umhin,
etwas Theorie zu streifen.
Das Gespenst der Harnsäure ist Ihnen,
meine Herren, nur zu gut bekannt. Die un-
glückselige Harnsäure nimmt nicht nur alles
Sinnen und Trachten der armen Kranken in
Beschlag, und nicht nur wird Masseuren-
Phantasie durch den Begriff der Harnsäure
mächtig angeregt und aufgeregt, auch wir
Arzte treiben mit der Harnsäure ein uner-
laubtes Spiel.
Wie Sie wissen, meine Herren, haben die
neueren klinischen Untersuchungen zweifellos
ergeben, daß, vom akuten Anfall abge-
sehen, die Harnsäure-Verhältnisse im
Harn des Gichtikers von der Norm
nicht abweichen. Trotzdem werden täg-
lich tausende und tausende Harne auf Harn-
säure untersucht, um in chronischen Fällen
auf Grund dieser Befunde die Gichtdiagnose
aufzustellen oder zu verneinen. Wehe dem
Patienten, wenn zufällig in seiner bescheide-
nen Harnprobe etwas mehr Harnsäure ge-
funden wird, als die Theorie festgestellt hat!
Die Physiologie hat einen gewissen Durch-
schnitt für die Tagesmenge der Harnsäure
angegeben. Dieser Durchschnitt bezieht sich
auf schematische Durch Schnitts Verhältnisse.
Wir sollten aber nicht vergessen, daß es in
Wirklichkeit keine Durchschnittsmenschen
gibt, stets nur individuelle Organismen. Noch
weniger sind Ernährung, Tagesarbeit, Nerven-
erregung und die übrigen Lebensverhältnisse
einander gleich.
Ich finde es daher unverzeihlich, wenn ,
man den Harn eines Menschen einmal im
Jahre oder nur einmal im Leben untersucht,
und man sofort das Damoki es- Schwert der
Gicht über sein unschuldiges Haupt hängt,
ohne zu fragen, was dieser Mensch tags*
XIX Jahrgang .1
Juni 1905. J
Wtlaz, Wtrt d« Mder bei Gicht
293
über gegessen und gearbeitet, ob er sich
aufgeregt hat, ob er schlaflos war etc.
Wir gehen zu weit! Selbst wenn der
Harnsäurebefund im Harn bei chronischen
Fällen für die Gicht pathognostisch wäre, —
was durchaus nicht der Fall ist — wäre
es ein gewissenloses Spiel, auf Grund
einer oder zweier Harnuntersuchungen,
die ohne Rücksicht auf Stoffwechsel-
Gleichgewicht und andere Präzisions-
Bedingungen gemacht werden, Gicht
zu diagnostizieren.
Die Reaktion solcher Übertreibungen blieb
denn tatsächlich nicht aas. Die Harnsäure
ist nahe daran entthront zu werden. So hat
zuletzt in einem geistreichen Vortrag Winkler
auf dem diesjährigen Balneologen-Kongreß zu
Aachen die Harnsäuretheorie gänzlich ver-
worfen und, gestützt auf die Gaubeschen
Analysen, das Wesen der Gicht in einer
„Inanition minerale", d. h. in einer Ver-
armung der Gewebe an verschiedenen Mineral-
salzen, gesucht. Mag sein, daß die „patho-
logische Demineralisation des Orga-
nismus" mit der Zeit wertvolle Gesichts-
punkte an die Oberfläche fördert. Allein
mich können die Gaubeschen Analysen schon
aus dem Grunde nicht befriedigen, weil seine
Einteilung eine unmögliche ist. Er unter-
sucht „normales Bindegebe tf, „Bindegewebe
bei der Arthritis deform ans, beim „fibrösen
Rheumatismus" und endlich beim „gichtischen
Rheumatismus". Bei all diesen Formen ge-
langt er in seinen chemischen Analysen zu
gewaltigen Differenzen.
Ich muß aber fragen, gibt es denn über-
haupt eine Möglichkeit, Arthritis deformans,
fibrösen Rheumatismus und gichtischen Rheu-
matismus stets von einander klinisch abzu-
grenzen? Deswegen muß auch die chemische
Differenzierung eine willkürliche und hinfällige
genannt werden, die ein zu schwacher Stütz-
punkt ist, um die Bedeutung der Harnsäure
bei Gicht ganz aus ihren Angeln zu heben.
Wir wollen heute nicht untersuchen, wie
die Harnsäure im Organismus gebildet wird,
auf welche Weise sie sich in den Gewebs-
säften des Gichtikers anhäufen kann, wir
wollen einzig allein vor der Tatsache stehen
bleiben, daß die Gewebssäfte, auch das Blut
des Gichtikers, im Gegensatze zu den Ge-
webssäften und dem Blute des gesunden
Menschen, Harnsäure enthalten. Nachdem
im Harnbefund des chronischen Gichtikers
nach dem heutigen Stande der Wissenschaft
kein entsprechendes Plus an Harnsäure zu
finden ist, ist es klar, daß die Niere des
Gichtikers im Gegensatze zur normalen Niere
nicht im stände ist, die Körpersäfte von der
Harnsäure prompt zu befreien. Die Insuffizienz
Th.lI.J9J5.
der Niere ist, was Harnsäure betrifft, beim
Gichtiker also evident.
Die erste Aufgabe der Gichttherapie sei
daher, die Niere nach Möglichkeit zu schonen
und zu entlasten. Im Rahmen meines heutigen
Vortrages muß ich alle Einzelheiten, die dazu
fuhren, beiseite lassen und mich ausschließ-
lich auf den Hinweis beschränken, daß wir
die Niere nebst zahlreichen andern vorzüglich
diätetischen Maßnahmen hauptsächlich durch
die Tätigkeit ihres Komplementärorgans, d. h.
durch Steigerung der Hauttätigkeit, schonen
und entlasten können.
Und hiemit wären wir, meine, Herren, bei
jenem Gesichtspunkte angelangt, von wo aus
wir den Wert der Bäder bei Gicht ermessen
und würdigen lernen. Sie kennen das intime
Verhältnis, das zwischen Niere und Haut,
zwischen Diurese und Diaphorese besteht,
welches Verhältnis der Praktiker bei allen
Sorten von Nierenerkrankungen gründlich aus-
zunützen versteht.
Auch in der Behandlung der Gicht spielten
Bäder schon seit der Zeit des Epikuräers
eine große Rolle. Und doch muß ich behaupten,
daß der Wert der Bäder noch immer nicht,
weder in der Theorie noch in der Praxis,
nach Gebühr gewürdigt wird.
Ich mochte, meine Herren, auf Grund
nicht nur theoretischer Erwägungen, sondern
auch auf Grund meiner Erfahrungen die
These aufstellen, daß es in der Therapie
der Gicht keinen mächtigeren Faktor
gibt als Bäder.
Natürlich, spezifische Bäder im buchstäb-
lichen Sinne des Wortes gibt es nicht.
Allein, ein gewisser, und zwar nicht geringer
Unterschied in der Wirkungsweise der Bäder
ist doch vorhanden. Wir müssen dies umso-
mehr betonen, weil man stets nur kurzweg
von warmen oder heißen Bädern spricht,
eigentümlicherweise ohne Rücksicht auf che-
mischen Gehalt und Konsistenz der Bäder.
Sie werden begreifen, meine Herren, wie
wir Badeärzte dies täglich sehen, daß es für
die Schweißdrüsen, für die vasomotorischen
Nerven, Reflexe etc. nicht irrelevant sein
kann, ob die Haut von einem heißen Luft-
bade, von einer Akratotherme,von einem Moor-
oder Schlammbade umgeben ist. Der größte
Skeptiker, selbst der moderne Nihilist, der
gewohnt ist, für das ausschließlich aktive
Element des Bades einzig allein seine Tem-
peratur anzusehen, muß zugeben, daß ein
chemisch konzentriertes, ein spezifisch schweres
Bad u. 8. w. auf die Hautnerven und durch
dieselben reflektorisch auf die inneren Organe
einen ungleich stärker reizenden Einfluß aus-
üben muß als ein indifferentes Bad.
Besonders hinsichtlich der Heiß- Luft-
23
294
Weltz, Weit der Bid«r b*l Dicht.
fTheni]
L Moni
Monatshefte.
bäder kann ich einige Bemerkungen nicht
unterdrücken. Das spezifische Gewicht des
heißen Luftbades ist minimal. Ein weiterer
Nachteil ist, daß der Schweiß verdampft, d. h.
es verdampft das Wasser, die Salze und Zer-
fallsprodukte bleiben in den Poren stecken,
statt aus dem Körper ausgeführt zu werden.
Sie werden, meine Herren, begreifen, daß
auch Dampfbäder chemisch viel zu arm
sind, um bei der Schweißsekretion eine che-
mische Komponente zur Geltung kommen zu
lassen. Die Wirkung eines Bades ist aber
zweifellos eine um so wertvollere und aus-
giebigere, je mehr physikalische und che-
mische Komponenten dasselbe ins Treffen
fuhren kann, um den Organismus von allen
möglichen Seiten her zur bestmöglichen Reak-
tion zu zwingen. Sie werden es nach alldem
theoretisch vollkommen begründet finden,
warum sich gerade Schwefel-, Moorbäder,
noch mehr aber Schlammbäder in der
Gichttherapie eines hervorragenden Rufes er-
freuen.
Die so sehr beliebte moderne Auffassung,
daß das einzig Seligmachende der Wärmegrad
sei, ist sehr bequem, bedarf aber, weil sie
weder praktisch noch theoretisch wahr ist,
von balneo logischer Seite her einer scharfen
Zurückweisung, weil sie einerseits zur Über-
schätzung des thermischen und zur Unter-
schätzung der mechanischen und chemischen
Potenzen geführt hat.
Was den Wärmegrad betrifft, möchte ich,
wenn Sie es, meine Herren, gestatten, einige
nur kurze Mitteilungen machen. Mich berührt
es immer peinlich, wenn ich häufig lesen
muß, der Gichtiker müsse so und so heiß
baden, und nicht anders. Als wäre der
Gichtiker ein schematisches Objekt und kein
Menschenkind, das auf Rücksichtnahme seiner
Individualität Anspruch erheben darf. Es
wird leider meist nur darauf ge-
sehen, daß die Gicht im Menschen
steckt, aber nur zu oft vergessen, daß
eich in der Haut des Gichtikers auch
ein Mensch befindet.
Man kann alt und jung, schwach und
stark, nervenstarke und nervöse Menschen
nie nach einer Schablone baden lassen, gleich-
viel ob die Leute an Gicht oder an was
anderem leiden.
Noch mehr aber als das Individuelle des
Menschen erheischt das jeweilige Stadium
der Gicht selbst eine spezifizierende Behand-
lung. Der Gichtiker muß in seiner Rekon-
valeszenz und unmittelbar nach dem akuten
Anfalle viel vorsichtiger gebadet werden als
etwa '/2 Jahr später.
Dem Uneingeweihten mag es ein Rätsel
scheinen, daß während mancher Badekuren
oft 10 bis 30 Proz. akute Anfälle bei Gicht-
kranken ausgewiesen werden.
Für mich ist es klar, daß es sich hier
um eine rücksichtslose Steigerung der Reaktion
bis zu dem Grade eines veritablen Anfalles
handelt. Wenn ich Ihnen sage, meine Herren,
daß ich, trotzdem wir in Pistyan in der Lage
sind, auch sehr hochtemperierte Schlammbäder
zu applizieren, akute Gichtnachschübe kaum
je miterlebe, werden Sie einsehen, daß an
einer massenhaft akuten Erkrankung der
Gichtiker in Bädern nicht das Bad an und
für sich, sondern das schablonmäßige, ich
mochte sagen unbarmherzige Hantieren mit
den exzessiven Wärmegraden Schuld trägt. '
Die Sache verhält sich nämlich so: Je
heißer das Bad ist, desto stärker ist zeitweilig
die lokale Reaktion der krankhaften Partien.
Zunächst steigert sich von Zeit zu Zeit der
Schmerz. Wenn dieser eine gewisse Höhe
erreicht, und der Arzt keine Unterbrechung
im Baden gewährt und den Patienten auch
nicht zu besonderer Schonung und Ruhe ver-
hält, sondern der Patient im Gegenteil alles
tut, mit oder ohne Wissen des Arztes, um
die Reaktion in die Höhe zu treiben, dann
muß der gequälte Organismus mit einer akuten
Explosion Rache nehmen.
Wahr ist, meine Herren, daß man bei
entsprechender Kontrolle durch rechtzeitiges
Sistieren resp. durch Herabmilderung des
Bades sozusagen in allen Fällen dem drohenden
Anfalle mit Erfolg begegnen kann, selbst-
redend bei Einhaltung aller anderen Kautelen,
wie z. B. Ruhe u. s. w.
Je näher der lokale Befund jenem Zu-
stande steht, den wir gemeinhin als akut be-
zeichnen, desto mehr Vorsicht ist in thermaler
Hinsicht geboten. Anderseits ist es eine
überaus dankbare Aufgabe, den Gichtiker so
früh wie möglich warm zu baden. Diesbe-
züglich gilt folgendes:
Sobald das kranke Glied Wärmestauung
verträgt, etwa einen Dunstumschlag mit lau-
warmem Wasser über Nacht, und die lokale
Entzündung derart in Abnahme begriffen ist,
daß die kranke Stelle kaum wärmer ist
als ihre Umgebung oder die korrespondierende
Stelle der gesunden Seite: kann man mit
warmen Bädern vorsichtig beginnen, ungefähr
mit 27 — 28° R., 34— 35° C. In kritischen
oder zweifelhaften Fälle lasse ich das Bad
neben dem Krankenbette verabfolgen, um für
alle Fälle mechanische Insulte auszuschalten.
Nach und nach kann man füglich auf 29
bis 30° R. ja gegen Ende der ersten Woche
auf 31 — 32° R., 40—41° C. steigen. Tempe-
raturen, die darüber hinaus sind, dürfen selbst
lokal appliziert nur in veralteten, jeder
Reizung baren Zuständen verwendet werden.
XlXJahrgaaff.-]
Jon! 1905. J
Kleintorgen, Zahn und Knochen bildende Substanzen.
295
Die maximale Grenze muß bei Vollbädern
natürlich durch die Individualität des Pa-
tienten selbst bestimmt werden.
Ungefähr ähnliche Prinzipien bestehen zu
Recht, wenn es sich um Festsetzung der
Bauer des Bades handelt: das heißt, je
weniger entzündliche Erscheinungen, desto in-
tensiver kann auch in dieser Richtung der
Gebrauch der Bäder sein. *
Die Notwendigkeit der Zufuhr Zahn und
Knochen bildender Substanzen.
Von
Dr. Fritz Kleinsorgen in Elberfeld.
Die mangelhafte Entwicklung der körper-
lichen Hartgebilde (Zähne und Knochen)
bildet eins der markantesten Zeichen der
Degeneration, da ja die Stellung des Menschen
in der organischen Entwicklungsreihe durch
den Bau seines knöchernen Gerüstes bedingt
wird. Je proportionaler dasselbe entwickelt
ist, desto mehr nähert sich der Mensch dem
vollkommenen Normaltypus, und andererseits
lassen Unregelmäßigkeiten und Mißbildungen
des Knochengerüstes um so mehr seinen Wert
erkennen, als sie in so auffallender Weise
zur Verunstaltung und Entwürdigung des
äußeren Menschen beitragen. Gerade die aus-
gesprochenen Mißbildungen dieser Art erregen
bei den Mitmenschen in besonderem Maße das
Gefühl des Mitleids.
Leider wird das beobachtende Auge in
heutiger Zeit nur zu oft von derartigen Er-
scheinungen unangenehm berührt; ich sage
das „ beobachtende a, denn der heutige
städtische Normaltypus ist schon nahezu eine
pathologische Erscheinung, an die das Auge
so gewöhnt ist, daß es den Anblick eines
schön gebauten, proportional gebildeten Men-
schen als eine Ausnahme empfindet, die in
besonderem Maße sein Wohlgefallen und
Interesse erregt.
Wenn auch die meisten Unschönheiten
des äußeren Menschen durch schlechte Hal-
tung, zu üppigen Fettansatz oder zu große
Magerkeit bedingt sind, so bleibt immer noch
eine beträchtliche Zahl, die auf wirklich
pathologischer Veränderung des Knochen-
gerüstes beruht.
Wie oft begegnen wir den durch Tuber-
kulose verursachten Verunstaltungen, wie viel
häufiger noch dem rhachitischen Typus! Spe-
ziell diese Mißbildung beherrscht in ihren ver-
schiedenen, vielseitig ausgesprochenen Formen
den heutigen Stadttypus. Bedenkt man noch,
daß gerade diese Erkrankung nach den Aus-
sagen erfahrener Kinderärzte ein noch schlim-
merer Würgengel für die Menschheit ist als
die Tuberkulose, da an dieser Krankheit und
ihren Folgeerscheinungen diemeisten Menschen-
leben zugrunde gehen sollen, so kann man
sich eine Vorstellung von der sozialen Gefahr
dieser dezimierend und degenierend wirken-
den Seuche machen.
In gleichem oder noch stärkerem Ver-
hältnis ist die Zahncaries verbreitet. Die
seit Jahren an vielen Orten stattgehabten Schul-
untersuchungen haben an einzelnen Stätten
bis 90Proz. schlechter Zähne ergeben. Die
Bedeutung eines guten Gebisses für die körper-
liche Entwicklung braucht nun wohl nicht
näher dargetan zu werden, und hat gerade
in diesen Tagen durch die Arbeiten der Straß-
burger Zahnklinik unter Jessen die Zahn-
hygiene in Schule und Heer eine besondere
Würdigung erfahren. Diesen Arbeiten und
Bestrebungen in zahnärztlichen Kreisen ist
es auch zu verdanken, wenn die Staats-,
Kommunal- und Militärbehörden anfangen,
ihr Augenmerk auf diese Volkskrankheit zu
richten und in richtiger Würdigung der aus
einer derartigen Volkskrankheit entspringenden
sozialen Gefahr durch Anstellung von Schul-
und Militärzahnärzten, durch Errichtung von
Volkszahnkliniken etc. hygienische Gegenmaß-
regeln zu treffen. So sehen wir auch gegen
diese Volkskrankheit, wie schon gegen Tuber-
kulose und Krebs, organisatorische Veranstal-
tungen ins Leben treten.
Gegen diese volkssanitären Bestrebungen
muß nun leider geltend gemacht werden, daß
sie sich im Kampfe gegen die Seuchen all-
zusehr spezialisieren und darüber die Haupt-
sache vernachlässigen, nämlich auf die Dis-
position zu diesen Erkrankungen in erster
Linie das Augenmerk zu richten und die
Bedingungen hierzu wegzuräumen.
Wenn z. B. die aus den Zahnuntersuchun-
gen gewonnenen Statistiken einen so hohen
Prozentsatz schlechter Zähne ergeben, so
ist es schon beinahe Danaidenarbeit, hier
hygienisch konservativ vorzugehen; es wird
immer nur undankbare Flickarbeit bleiben.
Ist mal ein Haus von Grund aus mit schlechtem
Mörtel hergestellt, so ist da mit Reparaturen
nicht viel zu wollen. Es wird nur für den
Baumeister eine Lehre sein, die nächsten
Häuser mit besserem Mörtel zu verbinden.
— So steht es auch vielfach mit unserem
Zahnmaterial. Es ist häufig so schlecht im
Innern verkalkt, daß der Zahnarzt oft Ge-
legenheit hat zu sehen, wie der kaum einige
Wochen durchgebrochene 6jährige Molar oder
der noch zur Hälfte im Zahnfleisch steckende
Weisheitszahn schon kariöse Defekte aufweist.
Die Zahnhygiene muß daher in erster
Linie darauf hinarbeiten, eine gesunde Gebiß-
23*
296
Kleintor gen, Zahn und Knochen bildende Substanzen.
fTfierepeul
L Momtsb
anläge zu schaffen, dann werden auch die
späteren zahnhygienischen Bestrebungen von
Erfolg gekrönt sein und zu dankbarer Weiter-
arbeit anspornen.
Gleiche Prinzipien sollten auch für die
Bekämpfung der Tuberkulose, Karzinose etc.
gelten.
Die Knochentuberkulose z. B. würde wahr-
scheinlich einen von gesunden Säften durch-
flossenen, fest gefugten Knochen nicht leicht
ergreifen, während ein im Innern locker ge-
fügter, poröser Knochen einen nur allzu ge-
eigneten Nährboden für die Tuberkelbazillen
abgibt. Wie verschieden fest die Knochen
sein können, wissen wir ja aus der Tierzucht.
Der dicke voluminöse Oberschenkel des Bra-
banterpferdes wird von den viel zarteren,
aber zäheren Schenkelknochen eines Trakehner-
pferdes zerschlagen.
Daß es mit der Festigkeit des mensch-
lichen Knochens sehr schlecht bestellt ist,
sehen wir aus den täglichen Erlebnissen, wo
oft die geringsten Anlässe zu Knochenbrüchen
führen; oder auch bei der Extraktion der
Zähne, die im allgemeinen heute viel leichter
auszuführen ist, als es früher der Fall. Auch
die Zähne selbst, die ja schließlich eine ver-
dichtete Knochenmasse darstellen, liefern hier-
für ein Beispiel. In einigen Fällen brechen
sie ohne besondere Kraftanstrengung an caries-
freien Stellen überraschend leicht ab.
Forschen wir nun näher nach den Ursachen
der für die Fortentwicklung der Menschheit
so bedrohlichen Erscheinungen der Degene-
ration der körperlichen Hartgebilde, so findet
man in einer einseitig zusammengesetzten
Diät eine genügende Erklärung hierfür. Diese
inneren, auf dem Wege des Stoffwechsels
zur Wirkung kommenden Schädlichkeiten hat
man bisher nicht genügend gewürdigt; spielen
sie doch z. B. bei der Zahn Verderbnis eine
wichtigere Rolle als die bisher stets an erster
Stelle hervorgehobenen äußeren Schädlich-
keiten.
In kurzen Zügen soll nun dieser wunde
Punkt unserer heutigen Diät aufgedeckt
werden.
Der menschliche Organismus sowie auch
der der höheren Tiere setzt sich aus Weich-
gebilden (Fleisch etc.) und Hartgebilden (Zähne
und Knochen) zusammen. Beide Stoffe sind
von gleicher Wichtigkeit für die höher ent-
wickelten Organismen. Ihren Bestandteilen
nach sind sie grundverschieden, und bestehen
die Weichgebilde der Hauptsache nach aus
stickstoffhaltigen Stoffen, die Hartgebilde aus
erdigen Salzen.
Von den Tieren wissen wir nun, daß so-
wohl die, welche von rein tierischer Nahrung,
als auch die, welche von rein pflanzlicher
Nahrung leben, ein vorzügliches Gebiß als
auch ein kräftiges Knochengerüst aufweisen.
Es muß also sowohl die tierische Nahrung
wie die pflanzliche die notwendigen Bildungs-
elemente für die Hartgebilde des Körpers
abgeben. Der Mensch nun, und speziell der
Kulturmensch, der seine Nahrung sowohl dem
Tier- wie dem Pflanzenreiche entnimmt, müßte
demnach bei dieser Ernährung die Bedingun-
gen eines guten Zahn- und Knochenbaues
vorfinden. Daß die Praxis aber leider das
Gegenteil lehrt, hat seinen Grund im folgenden:
Wir wissen, daß die sog. fleischfressenden
Tiere nicht allein die Weichgebilde ihrer
Opfer verzehren, sondern instinktiv auch die
Hartgebilde mehr oder weniger verspeisen.
Die Knochenaufnahme ist für ihre Daseins-
erhaltung ebenso wichtig wie die Fleisch-
nahrung.
Was hier natürlicher Instinkt begeht, was
dem denkenden Menschen einfache Überlegung
sagen sollte, und was Tierversuche beweisen,
daß Fleischnahrung für sich keine Knochen
bilden kann, dies hat der Mensch bei seiner
Ernährung nicht berücksichtigt trotz über-
handnehmender Knochen- und Zahnschwäche.
Fleischnahrung ohne entsprechende
Knochennahrung ist eine Einseitigkeit
in der Ernährung der Kulturmensch-
heit. Je größer der Fleischkonsum ohne
Knochenzufuhr, desto nachteiliger sein Einfluß
auf Zahn- und Knochensystem. (Daß die sog.
englische Krankheit nach dem Lande des
größten Fleischkonsums benannt ist, ist wohl
nicht rein zufällig, ebenso wenig wie die Er-
scheinung, daß die moderne Zahnheilkunde
in den Ländern intensiven Fleischgenusses
(England und Amerika) groß geworden.)
Wenn nun die Zumutung, auch die Knochen
zu verzehren, im ersten Augenblick etwas
ungeheuerlich erscheint, so ist sie doch bei
näherem Besehen ebenso berechtigt wie die,
Fleisch zu verspeisen, oder Blattpflanzen, Ge-
müse und Körnerfrucht zu genießen.
Der Mensch ist nämlich nicht durch sein
Gebiß und seinen Verdauungsapparat zu diesen
Nahrungsgenüssen bestimmt worden, seiner
ursprünglichen Gebiß- und Magenanlage nach
ist der Mensch ein Baum- und Strauchfrucht-
esser, dem kleineres Getier nur bei Gelegen-
heit mal als Nahrung diente. Erst bittre
Not im Kampf ums Dasein, klimatische und
Bodenverhältnisse sowie vor allem die Weiter-
entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten
ließen ihn Waffen und Werkzeuge erfinden,
auch die Tiere seiner Daseinserhaltung ver-
wertbar zu machen und ihr Fleisch so zu-
zubereiten, daß es ihm zur Nahrung diente;
ferner ließen sie ihn umständliche Mahl-,
Koch- und Erweichungsprozesse erfinden,
XIX. Jahrgang ."I
Jan! 1906. J
Kleinaorgen, Sahn und Knochen bildend« Substanzen.
297
tun Getreide, Blattpflanzen und Gemüse etc.
seinem Magen besser anzupassen.
Wenn nun der Mensch in der ergänzenden
pflanzlichen Nahrung auf die Zuführung be-
sonders kalkreicher Nahrungsmittel Bedacht
genommen hatte, würde ihm der durch die
Fleischnahrung entstandene Mangel an knochen-
bildenden Salzen wahrscheinlich nicht so zum
Schaden gereicht haben. Aber wie steht es
hiermit in dieser Beziehung? Das gerade
Gegenteil ist der Fall. Man kann es
geradezu als ein soziales Verhängnis für den
Kulturmenschen ansehen, daß die nächst der
tierischen Nahrung an erster Stelle in Be-
tracht kommenden pflanzlichen Nahrungs-
mittel, Getreide und Kartoffel, als direkt
ungeeignet für Zahn- und Knochenbau an-
zusehen sind.
Nicht nur die chemische Analyse weist
bei diesen Stoffen einen- sehr geringen Pro-
zentsatz an Kalksalzen auf, auch Tierversuche
bestätigen es. Geflügel, das ausschließlich
mit sorgfältig gereinigtem Getreide gefüttert
wurde, zeigte bald Knochenerweichung, die
bei Kalkzusatz schwand. Aus der Viehzucht
weiß man ferner, wie reichliche Kartoffel-
futterung besonders bei Schweinen leicht die-
selben rhachitischen Knochenerkrankungen
hervorruft wie beim Menschen. Dieselbe Er-
fahrung hat man mit der Maisfütterung in
Amerika gemacht.
Was nun speziell die Getreidenahrung
betrifft, so ist der Kulturmensch noch darauf
bedacht, sich auch noch der wenigen hier
vorhandenen Salze zu berauben, indem er zu
seinen Gebacken und Speisen nicht die ganzen
Körner verwendet, sondern fast ausschließlich
das Innere derselben, die äußeren Schichten
aber, die gerade die Träger der wichtigen
knochenbildenden Salze sind, durch einen um-
ständlichen Mahlprozeß entfernt.
Bei dem breiten Raum, den nun gerade
Fleisch, Getreide und Kartoffel (in der
Produktion der Kartoffel ist Deutschland allen
Ländern weit voraus) auf dem täglichen
Speisezettel der Kulturmenschen einnehmen,
und bei der großen Rolle, die gerade die
feinen Mehlpräparate bei der Kinder-
ernährung spielen, ist es daher nicht zu
verwundern, wenn Zahn- und Knochenschwäche
gerade in den Jahren, wo der Körper wegen
seines Wachstums besonders reicher Zufuhr
an knochenbildenden Substanzen bedarf, zu
einem wahren Volksübel geworden sind und
eine bedrohliche soziale Gefahr für die Er-
haltung der Volksgesundheit darstellen.
Eine derartig bezüglich des Kalkgehaltes
mangelhaft zusammengesetzte Nahrung muß
bei der Wichtigkeit der Kalksalze nicht allein
für die Hartgebilde (Zähne und Knochen),
sondern für den ganzen Organismus und bei
der speziellen Bedeutung, die das Knochen-
system als Träger der Blutbereitungszellen
einnimmt, natürlich auch allgemeine körper-
liche Störungen nach sich ziehen, und mehrere
Gründe scheinen dafür zu sprechen, daß gerade
Bleichsucht und verwandte Schwächezustände
des Nervensystems weniger auf Eisen- als auf
Kalkmangel zurückzuführen sind. Für diese
engen Beziehungen zwischen Kalkmangel und
Bleichsucht spricht noch folgendes:
Der Zahnarzt hat sehr oft Gelegenheit
zu beobachten, daß mit den höheren Graden
von Bleichsucht stets eine auffallende Zahn-
beinweichheit einhergeht, gleichviel ob Eisen
genommen wurde oder nicht. Damit hängt
auch der bei Bleichsüchtigen oft ausgesprochene
instinktive Trieb nach Kreide oder Kalk zu-
sammen. Diese Verwandtschaft von Kalk-
und Blutarmut ist eben in den gemeinsamen
physiologischen Ursprungsstätten von Kalk-
und Blutbereitung, nämlich den Knochen, zu
suchen, und es ist wohl verständlich, daß
ein schwach und schlecht ernährter Knochen
auch auf die in ihm vorgehende Blutkörperchen-
bildung ungünstig einwirkt. Ein solch inniger
Zusammenhang von Kalk- und Blutarmut
entspräche auch dem häufigen Vorkommen
beider.
Ein Vergleich unserer Nahrungsmittel in
bezug auf Eisen- und Kalkgehalt ergibt näm-
lich die Tatsache, daß die Gefahr, an Eisen
Mangel zu leiden, gering ist, und dement-
sprechend auch Blutarmut infolge Eisenmangel
nicht häufig sein dürfte, die Gefahr der Kalk-
armut aber tatsächlich bei unserer heutigen
Diät in hohem Maße vorhanden. Eisen ist
in allen unseren Nahrungsmitteln ziemlich
gleichmäßig und ohne auffällige Schwankun-
gen vorhanden, Kalk aber befindet sich bei
unseren Hauptnahrungsmitteln , Fleisch,
Mehlpräparaten und Kartoffeln, in auf-
fallend geringem Maße im Verhältnisse zu
seinem Vorkommen bei den übrigen Nahrungs-
mitteln.
Fügen wir hinzu, daß die Anwendung
der Kalksalze und speziell der Knochensalze
bei Bleichsucht und verwandten neurasthe-
nischen Schwächezuständen von ausgezeich-
netem therapeutischen Erfolge ist, so ist
wohl damit der engste Zusammenhang zwischen
Kalkarmut und Blutarmut dargetan, und
sollte es therapeutisch jedenfalls nicht unter-
lassen werden, neben Eisen auch Kalk- resp.
Knochensalze zu verordnen; speziell in den
Fällen sollte Knochensalze zu verabreichen
nicht unterlassen werden, wo die Eisentherapie
einfach versagt.
Nun fragt es sich, in welcher Form sollen
wir die Kalksalze geben?
298
Bteker, Erfahrungen mit den Fetronpräpar*t«n Liabreich.
rThenpeutach*
L Monataheft*
' Daß die im Verhältnis kalkreicheren, aber
oft durch einen falschen Kochprozeß ausge-
laugten Wurzel- und Blattgemüse, ferner
Salate und Obst bei dem kleinen Raum, den
sie infolge ihres geringen Nährgehaltes in
unseren Mahlzeiten einnehmen, keinen hin-
reichenden Ersatz bilden können, ist ein-
leuchtend, zumal auch diese Nahrungsmittel
auf abgewirtschaftetem oder kalkarmem Boden
sowie in trockenen Jahren oft zu wenig Kalk
enthalten, so daß selbst rein pflanzenfressende
Tiere wie Rinder unter solch ungünstigen Ver-
hältnissen an Knochenbrüchigkeit erkranken
können. Aus diesen Gründen ist denn auch
bei rein vegetarisch aufgewachsenen Indivi-
duen Zahnverderbnis oft zu finden. Es ist
nun nichts natürlicher als in der Form der
organischen Knochensalze die Kalksalze zu
verordnen, also auf dem Wege der schon oft
mit Erfolg angewandten Organtherapie.
Wie wir zur Kräftigung des Körper-
eiweißes schon längst konzentriertes tierisches
Eiweiß anwenden und bei Blutarmut mit aus
tierischem Blut hergestellten Präparaten gute
Erfolge erzielen, so liegt eben nichts näher,
als bei bestehender Schwäche der körper-
lichen Hartgebilde ein aus Knochen gewon-
nenes Präparat zu verordnen, und zwar ein
Präparat, das, physiologisch möglichst un-
verändert sämtliche Salze des Knochens in
organischer Leimbindung wiedergibt. Dieses
feinstgepulverte und mit organischen Leim-
resten durchsetzte Präparat gibt bei der für
die Verdauung so wichtigen und leicht zu-
gänglichen Leimsubstanz die beste Gewähr
einer ausgiebigen physiologischen Ausnutzung
im Körper und enthält sämtliche Elemente
für Zahn- und Knochenbau, und zwar in
dem diesen Gebilden entsprechenden un-
gefährem Mengenverhältnis.
(Aas dem atldt. KrankonhauM Chartotteaburf, Kirehttraße.
Abteilung für Haut- and Geschlechtskrankheiten.)
Praktische Erfahrungen mit den Fetron -
Präparaten Liebreich.
Von
Dr. Ernst Beoker.
Im Februar vorigen Jahres machte Lieb-
reich1) Mitteilung von einer neuen von ihm
dargestellten Salbengrundlage, die er mit
dem Namen Fetron bezeichnete. Nach den
Angaben Liebreichs kommen diesem Fetron
einige ganz bestimmte Vorzüge vor den an-
deren Salbengrundlagen zu, und es soll das
Fetron geeignet sein, diese anderen Salben-
J) Liebreich, Über Fetronsalbe. Berl. klio.
Wocheoschr. 1904, No. 12.
grundlagen, das Lanolin und die Vaseline,
zu ergänzen bezw. zu ersetzen. Bekanntlich
ist das Lanolin eine resorbierbare Salbe, sie
ist vorzugsweise befähigt, in die Haut ein-
zudringen und die Haut mit dem einver-
leibten Arzneimittel zu imprägnieren. Die
Vaseline ist dagegen lediglich eine Deck-
salbe. Um nun diese beiden Eigenschaften
miteinander zu verbinden, gilt augenblicklich
wohl als die gewöhnlichste Salbengrundlage
eine Mischung von Lanolin und Vaseline am.
Während nun aber die eine Aufgabe, die
diese Mischung erfüllen soll, die Resorptions-
fähigkeit, von dem Lanolin gut gelöst wird,
läßt die Erfüllung der gleichzeitigen decken-
den Aufgabe durch die Vaseline viel zu
wünschen übrig. Denn abgesehen von übrigen
Mängeln ist die Vaseline nach Liebreich
zu einer Decksalbe deshalb wenig geeignet,
weil sie infolge ihres niedrigen Schmelzpunktes
nicht fest genug auf der Haut haftet. Eben
diesem Mangel nun abzuhelfen, ist das Fetron
besonders befähigt. Das Fetron ist eine
Mischung von Stearinsäureanilid und Vaseline,
gewöhnlich 3 Proz. Stearinsäureanilid und
97 Proz. Vaseline. Das Fetron ist von
schwach-gelber Farbe, geruchlos und hat
eine sehr geeignete Salbenkonsistenz, nicht
klebrig wie Lanolin und nicht geleeartig wie
Vaseline. Das Stearinsäureanilid ist ein weißer
Körper von der Konsistenz des Paraffins,
krystallisiert in glänzenden Nadeln, schmilzt
bei 93° und löst sich in den gewöhnlichen
Lösungsmitteln: Äther, Alkohol, Chloroform,
Benzin, Schwefelkohlenstoff. Durch den Zu-
satz dieses Stearinsäureanilids wird nun der
Schmelzpunkt der Vaseline erhöht auf 65°
bis 70° (bei 3 Proz., bei stärkerem Zusatz
wird der Schmelzpunkt noch mehr erhöht).
Das Stearinsäureanilid ist ein sehr beständiger
Körper, der durch wäßrige Alkalien selbst
bei längerem Kochen nicht zersetzt wird.
Es zeigt deshalb gegenüber den natürlichen
Fetten die Eigenartigkeit, daß es nicht so
leicht in Ranzidität übergeht, ein großer
Vorzug für die Anwendung als Salbengrund-
lage. Die Mischung des Fetron besitzt außer-
dem ein zur Einverleibung der gebräuchlichen
Arzneikörper genügendes Wasseraufnahme-
vermögen, so daß die Einwirkung der Arz-
neistoffe auf die Haut nicht behindert ist,
wie es bei Mischungen mit reiner Vaseline
der Fall ist.
Alle diese Eigenschaften berechtigten zu
der Vermutung, daß das Fetron ein sehr ge-
eignetes Salbenkonstituens sein würde. Nach-
dem Liebreich zunächst die Unschädlichkeit
des Präparats festgestellt hatte, erzielte er
in einer Reihe von therapeutischen Versuchen
recht günstige Resultate. Nun wurden auf
XIX Jahrgang.
Joni 1906.
]
Becker, Erfahrungen mit den Fetronpfäparaten Liebreich»
299
seine Veranlassung von S aal fei d9) Versuche
in größerem Maßstäbe vorgenommen, und
auch diese zeigten durchweg gute Resultate,
ja in einigen Fällen unerwartet günstige
Erfolge. „In einer Reihe von Fällen wurden
Resultate erzielt, die bei der Anwendung
derselben Arzneimittel in einem anderen Ve-
hikel vergebens gesucht wurden", so bei
mehreren Fällen von hartnäckigem chroni-
schem Ekzem und bei einem Fall von Liehen
chron. simpl.
Diese günstigen Ergebnisse forderten zu
einer Nachprüfung auf, und es wurden eine
größere Reihe von Versuchen im Charlotten-
burger Krankenhaus angestellt. Darüber soll
kurz berichtet werden.
Es gelangten folgende Fetronpräparate zur
Anwendung: l. Fetronseife, 2. Fetroncream,
3. Fetronpuder, 4. Unguentum Hydrargyri
praeeipitati flavi cum Fetrono paratum, 5. Un-
guentum Hydrargyri cinereum cum Fetrono
paratum, 6. Pasta Zinci cum Fetrono parata.
Die Fetronseife wurde mehrfach als Baby-
seife und in einigen Fällen von spröder Haut,
auch bei mir selbst, angewandt. Ich muß
sagen, daß ich die Seife ganz vorzüglich ge-
funden habe, es ist nicht übertrieben, wenn
ich sage, daß ich selbst jedesmal nach dem
Waschen einen Einfluß auf die Haut direkt
gemerkt habe. Die Haut ist infolge der Im-
prägnierung mit dem Fetron nach dem Waschen
zweifellos weicher. Dieselbe Angabe wurde
auch von Anderen gemacht. Daß diese Eigen-
schaft, die leicht von jedermann konstatiert
werden kann, von gutem Einfluß auf die
Haut, besonders bei spröder Haut, sein muß,
liegt auf der Hand.
Ebenso wurden mit dem Toilettecream
in vielen Fällen sehr gute Erfolge erzielt.
Er wurde besonders angewandt bei Intertrigo
der kleinen Kinder und der menstruierenden
Frauen. Auch in mehreren Fällen von spröder
Haut bei Frauen, deren Hände viel mit Wasser
in Berührung kamen, bei Waschmädchen,
Köchinnen hat der Cream sehr gute Einwir-
kung gehabt. Auch bei mir selbst habe ich
den Cream benutzt, da meine Hände durch
häufiges Waschen mit Sublimat sehr zur
Sprödigkeit neigen, und ich bin mit der
Wirkung außerordentlich zufrieden. Die vor-
handene Sprödigkeit wurde nicht nur durch
die Applikation sehr bald gehoben, sondern
es scheint auch die Hand seit der Behand-
lung mit dem Cream das Sublimat besser
vertragen zu können.
Der Fetronpuder wurde in mehreren Fällen
von nässendem Ekzem bei sehr empfindlicher
') Saalfeld, Über Fetronsalbe. Therap.
Monatshefte, April 1904.
Haut angewandt, auch bei Ulcus cruris, offenen
Perniones, Intertrigo und dergl. Der Puder
wurde von der Haut in allen Fällen gut
vertragen, und andererseits zeigte es sich
deutlich, daß der Puder ganz hervorragende
austrocknende und antiseptische Eigenschaften
besitzt. Einen Fall möchte ich besonders
hervorheben, in welchem der Puder vorzüg-
liche Dienste geleistet hat. Es war dies ein
schwerer Fall von Pemphigus vulgaris, bei
dem die von der Epidermis entblößten wunden
Stellen mit dem Puder behandelt wurden.
Die Stellen heilten fast durchweg über-
raschend schnell, schneller als bei Anwendung
anderer Mittel, und wenn dieser Fall schließ-
lich einen günstigen Ausgang nahm, so ist
dies meiner Überzeugung nach auch mit der
Wirkung des Fetronpuders zu verdanken.
Die gelbe Quecksilbersalbe mit Fetron
habe ich in zahlreichen Fällen von skrofu-
lösem Ekzem der Kinder an der Nase, dem
Munde und dem Gesicht angewandt. In fast
allen Fällen war ich durch die prompte
Wirkung der Salbe überrascht, fast immer
heilten die kranken Stellen in ganz kurzer
Zeit ab. Gelegentlich habe ich die Salbe
auch bei skrofulöser Keratitis benutzt und
auch hier schnellen Erfolg gesehen, die In-
filtrate gingen rasch zurück, und die beglei-
tende Conjunctivitis heilte in wenig Tagen.
Auch in mehreren Fällen von Blepharitis
marginalis wurden mit der gelben Fetronsalbe
gute Erfolge erzielt. Besonders hervorzu-
heben ist, daß die Salbe auch auf der
Schleimhaut der Nase gut haftet und des-
halb bei den bezüglichen Erkrankungen, z. B.
Borkenbildung, gut anwendbar ist.
Die graue Salbe mit Fetron wurde zu-
nächst zu mehrfachen Schmierkuren benutzt.
Die Wirkung der Salbe war eine gute,
überall traten die luetischen Erscheinungen
sehr bald zurück. In 2 Fällen von schwerer
sekundärer Lues wurde die Schmierkur an-
gewandt, nachdem eine Spritzkur nicht den
gewünschten Erfolg gehabt hatte. Auch in
diesen Fällen gingen die Erscheinungen voll-
ständig zurück. Es soll hierbei natürlich
nicht behauptet werden, daß die gewöhnliche
graue Salbe diese Erfolge nicht auch gehabt
haben würde, es soll nur die Tatsache re-
gistriert werden. Es wurde ferner die Salbe
in vielen Fällen lokal angewandt, wo eine
zirkumskripte Wirkung des Hydrargyrum ge-
wünscht wurde. Auch in diesen Fällen war
die Wirkung eine gute. So z. B. heilte ein
hartnäckiges gonorrhoisches Infiltrat des
Praeputium am Frenulum, in dem die Gono-
kokken nachgewiesen waren, sehr bald auf
die Applikation der Salbe aus. Ein anderer
Fall verdient besonders erwähnt zu werden,
300
Kroß, Zur Frage der elektromagnetischen Therapie.
rrher&peatbrbe
L Monatshefta.
bei dem es sich um multiple Entzündung
der Schweißdrüsen der Achselhöhle handelte.
Die Infiltrate hatten durchaus das Aussehen,
daß sie zur Abszedierung kommen würden,
die Haut über ihnen war bereits lebhaft ge-
rötet. Nach wiederholten Einreibungen mit
der Salbe gingen die Entzündungen wider
Erwarten zurück. Aus diesen Fällen ist wohl
der Schluß gerechtfertigt, daß das Hydrargy-
rum in der grauen Fetronsalbe gut resorbiert
wird. Dafür spricht auch im letzterwähnten
Fall der Umstand, daß am 3. Tage eine
Stomatitis auftrat, und am nächsten Tage das
Quecksilber im Urin nachgewiesen werden
konnte. Ohne auf den alten Streit einzu-
gehen, ob das Quecksilber durch die Lunge
oder durch die Haut aufgenommen wird, soll
hier nur auf die sicher vorhandene lokale
Wirkung der Fetronsalbe hingewiesen werden,
welche eine wenigstens teilweise Resorption
durch die Haut sehr wahrscheinlich macht.
Die Zinkpaste mit Fetron wurde in einer
ganzen Reihe von Fällen von nässendem
Ekzem, in zwei Fällen von Herpes zoster
u. s. w. angewandt. Die Paste wurde in allen
Fällen gut vertragen, und es ist kein Fall
beobachtet, in welchem Reizungserscheinungen
darnach aufgetreten wären. Andererseits war
die stark austrocknende Wirkung stets ganz
offenbar, so daß die Erfolge auch mit diesem
Präparate recht zufriedenstellende gewesen
sind.
Nach meinen Beobachtungen glaube ich,
daß das Fetron in der Tat ein sehr geeig-
netes reizloses Salben constituens ist, welches
einerseits die einverleibten Arzneimittel gut
zur Wirkung kommen läßt, andererseits alle
Anforderungen erfüllt, die man an eine gute
Decksalbe stellen muß. Die letztere Eigen-
schaft trat besonders bei der gelben Queck-
silberfetronsalbe gegenüber der gewöhnlichen
zutage, die sich sehr leicht von der Haut
vollständig fortwischen läßt.
Zur Frage der elektromagnetischen
Therapie.
Von
Nervenarzt Dr. Krett in Rostock.
Die Konstruktion der Apparate (ich selbst
besitze das System Trüb) sowie deren An-
wendungsweise darf im Prinzip bei den In-
teressenten jetzt auf Grund der bereits zahl-
reich erschienenen Arbeiten als bekannt vor-
ausgesetzt werden.
In unserer raschlebigen fortschrittlichen
Zeit, welche fast täglich der Therapie neue
Hilfsmittel zur Prüfung vorlegt, hat sich allmäh-
lich ein gewisses Mißtrauen gegen Neuerungen
im therapeutischen Apparat Geltung verschafft,
da eben die Erfahrung in den letzten Jahren
öfter gezeigt hat, daß selbst von Universitäts-
instituten und Krankenhäusern namentlich
medikamentöse und diätetische Behandlungs-
mittel und -methoden mit Empfehlungs-
schreiben in die Ärztewelt gesandt werden,
welche vielfach einer exakten Kritik für die
Dauer nicht standhalten und deshalb eines
Tages wieder verschwinden. Ephemeriden
in der Therapie. Natürlich erleben wir solche
Enttäuschungen bei der enorm gesteigerten
wissenschaftlichen modernen Produktivität
viel häufiger als früher — immerhin wohl
nur relativ. Jedenfalls aber ist es ebensowenig
berechtigt — wie es von einem anderen
Lager aus beliebt — in einen exzentrischen
generell ablehnenden Skeptizismus zu verfallen,
denn letzterer ist sicher stets der stärkere
Hemmschuh allen Fortschritts gewesen. Ich
habe den Eindruck, daß wir in diesen Reak-
tionen auf wissenschaftliche Neueinführungen
zum großen Teil einerseits die stürmende
Begeisterung der Jugend, andererseits den
starren Konservatismus des Alters zu erblicken
haben. Auch die exponierte Stellung hat
schon manchen zn vorzeitig „ fertigen a Urteilen
verleitet. Nun, es bedarf keiner Auseinander-
setzung, daß der rechte Weg in der Mitte
liegt.
Der elektromagnetischen Therapie wird
der Weg in die medizinischen Kreise, wie
vorauszusehen war, ziemlich schwer ge-
macht. Sie hatte vorerst nur ein Moment
zu ihren Gunsten, das ist ihr Charakter, als
Bereicherung der physikalischen Heilmethode
— des Schoßkindes der modernen Therapie —
eventuell anerkannt zu werden. Entgegen
steht der Einführung vor allem seitens einer
gewissen Richtung:
1. Der Begriff Magnetismus, welcher ja
historisch seinen wissenschaftlichen
Wert verloren hatte und dann durch
den Mißbrauch von Schwindlern und
Kurpfuschern in Mißkredit geraten
war. Zudem ist nach eingehendster
Untersuchung dem (ruhenden) Elek-
tromagneten durch den Physiologen
Hermann bereits 1888 in Pflügers
Archiv Bd. 43 jede physiologische und
therapeutische Wirkung auf den Men-
schen definitiv abgesprochen worden.
2. Die Tatsache, daß ein Nichtarzt die
Entdeckung machte, der Schweizer
Ingenieur Eugen Konrad Müller.
3. Der bisherige Mangel einer exakten
physiologischen Begründung der Wir-
kungsweise, also die gewissermaßen
empirische Einführung.
XIX. Jahrgang
Jnnl 1905. J
Kroß, Zur Frage der •Uktromagnttlicheii Therapie.
301
Zu Punkt 1 wäre wohl nur zu bemerken,
daß in den Hermann sehen Ergebnissen kein
Beweis für die Wirkungslosigkeit eines Mag-
neten mit fortwährendem Pol Wechsel gesucht
werden darf.
Punkt 2 kann nur die Partei des bureau-
kratischen Schematismus irritieren, nicht den
vorurteilslos denkenden Arzt.
In bezug auf Punkt 3 sind folgende Be-
obachtungen anzuführen :
Kuznitzky und Müller haben eine
Steigerung des Oxyhämoglobingehaltes des
Blutes nach den Sitzungen nachgewiesen.
Lilienfeld stellte ein schnelleres Dunkeln
einer Blutprobe im geschlossenen Glasgefäß
vor dem wechselnden Polfeld fest. Rodari
stellte mit dem Henoqueschen Hämato-
spektroskop eine Steigerung des Hämoglobins
an Sauerstoffgehalt nach den Sitzungen um
5 — 25 Proz. fest und konstatierte auch das
Fortbestehen während der 2. Woche. Fran-
zosische Autoren (Grenet) stellten fest, daß
Infusorien, welche dem wechselnden Polfeld
exponiert waren, schon nach 1 !/a Stunden
bewegungslos wurden. E. C. Müller zeigte,
daß Blut in geschlossenen Reagenzgläsern
nach 8 — 18 Minuten Expositionsdauer eine
ll/a — 21/imal so große Serumschicht hatte
als die Kontrollprobe und sprach die Ver-
mutung aus, daß die Einwirkung wohl
chemischer Natur sein dürfte, ebenso bei
Blutelementen, welche bei Exposition starken
Ausschlag am Thomsen sehen Spiegelgalvano-
meter zeigten. D'Arsonval und Charrin
stellten experimentell auf Anregung und
Steigerung der Oxydationsvorgänge beruhende
Einwirkungen auf das Protoplasma (auf Hefe-
zellen, Bakterien und deren Toxine) fest und
damit auf den Stoffwechsel im allgemeinen
(Vermehrung der Diurese und Harnstoff-
mengen). Daneben betonen Benedikt und
Eulenburg die vasomotorischen Einflüsse der
fern wirkenden Elektrizität. (Es soll sich
nach Rodari um eine Beeinflussung der
irritierten Vasomotoren handeln; sedative
Wirkung auf die gereizten Vasodilatatoren
(Quincke) beim idiopathischen Ödem.)
Rodari hat auch eine Wiederbelebung des
bereits erlahmten lospräparierten getrennten
Froschherzens bei elektromagnetischer Be-
strahlung für 6 — 10 Sekunden beobachtet. Der
letztere Autor führt außerdem noch 2 negative
Beobachtungen an: Exponiert man einen mit
Nervus ischiadicus und einem Teil der
Wirbelsäule präparierten Frosch Schenkel dem
Radiator in axialer und äquatorialer Lage,
so sind selbst maximale Erregungen ohne
jeden Einfluß auf Erregbarkeit von Muskel
und Nerven. Bei einem am Herzen bloßge-
legten Frosch zeigt sich bei Exposition keiner-
Th.M. 1901.
lei Einfluß auf Frequenz, Rhythmus, Intensität
der Herzkontraktion und damit auf den Blut-
druck.
Das ist ungefähr das Res um e des phy-
siologischen Beobachtungsmaterials.
Die klinischen Erscheinungen sind vielfach:
Nahezu allgemein wird das entoptische
Phänomen, d. h. ein Flimmern des Gesichts-
feldes bei temporaler Exposition, konstatiert.
Ich habe allerdings eine große Reihe von
Fällen (nahezu ein Drittel) gesehen, welche
das nicht hatten. Kopfdruck, Kopfschmerzen,
Salivation, säuerlicher Geschmack, Augen-
tränen, Wärmegefühl einzelner Körperstellen,
Schläfrigkeit, Kriebeln, Druckgefühl in den
Augen sind mehrfach beobachtet. Auch diese
sind Symptome, mit denen bei dem Trüb-
schen Apparat nicht viel zu machen ist, weil
eben die Suggestiv Wirkung nicht auszuschalten
ist, und nach Sachlage alle Erscheinungen
sehr leicht auf suggestivem Wege entstehen
können. Die Inkonstanz dieser Erscheinungen
dünkt mir dafür zu sprechen. Von diesen
rein subjektiven, klinisch beobachteten irre-
levanten Nebenerscheinungen scheint mir das
entoptische Phänomen das beachtenswerteste
zu sein, weil es nahezu konstant beobachtet
ist von sämtlichen Forschern und auch ich
glaube, zu der Annahme der Konstanz be-
rechtigt zu sein, da es sich nach meiner An-
sicht bei meinen negativen Fällen — es waren
meist Landleute — um psychischen Indiffe-
rentismus und Mangel an Selbstbeobachtungs-
vermögen handelt. Aber eine weitere prak-
tische oder unpraktische Perspektive hat sich
auch aus diesem Symptom, obwohl es seit
Jahren bekannt ist (Beer, Wiener klinische
Wochenschrift 1902, No. 4) bis jetzt nicht
ergeben. Was nun endlich das klinische
Resultat der bis 1880 zurückreichenden
therapeutischen Versuche anlangt, so bitte ich
die Interessenten, die Arbeiten von Axmann,
Beer, Cohn, Eulenburg, Frankenhäuser,
Gottschalk, Kalischer, Krefft, Kuz-
nitzky, Ladame, Lilicnfeld, Linde-
mann, E. C. Müller, Rodari, von Sarbo,
Scherk, Thiem-Henning, Zacharis etc.
einzusehen. Man hat die verschiedenartigsten
Krankheiten der Behandlung mit dem Elektro-
magneten unterzogen: fast alle funktionellen
und organischen Nervenleiden auch neuro-
pathische Ödeme (Rodari), die subjektiven
Symptome, vor allem das Schmerzsymptom,
bei den pathogenetisch verschiedenartigsten
internen und konstitutionellen Erkrankungen,
vorzüglich bei Gicht und Rheumatismus.
Die einzelnen Erfolge hier in kritischer Weise
Revue passieren zu lassen, würde zu weit
führen; ich will mich deshalb auf eine kurze
Epikrise beschränken. Man ist jetzt allgemein
24
302
Kroß, Zur Frage d«r ©lektromifnettechen Tb«rapl«.
der Ansicht, daß dem wechselnden mag-
netischen Polfeld vor allem eine sedative
Wirkung zukommt, also eine Beeinflussung
der schmerzvermittelnden Nervenbahnen im
depressiven Sinn. Übrigens hat für den
Müll ersehen Wechsel ström- Stabmagneten der
Elektrophysiologe Danilewsky die Ver-
mutung einer depressiven sedativen Wirkung
bereits im Jahre 1880 ausgesprochen. Wie
man sich diesen Vorgang zu denken hat, ist
noch eine offene Frage, da genauere experi-
mentelle Untersuchungen fehlen. Ob es sich
um eine chemisch -physikalische oder rein
mechanische vibratorische Einwirkung auf
para- oder diamagnetische Substanzen han-
delt oder um ein dritte Unbekannte, muß
das physiologische Experiment der Zukunft
zeigen.
Die Physik vermutet die Entstehung von
Induktionsströmen und zwar sogenannten
Wirbel- oder Foucaultströmen. Die Wir-
kung sollte entweder eine direkte sein in
Form einer sinusoidalen Stromkurve oder
eine mechanisch erregende auf dynamo-elek-
trischem Wege. Auch die Entstehung feinster
Vibrationen in den Geweben könnte in Frage
kommen.
Thomson und Herz haben gezeigt, daß
in einer Induktionsrolle, welche man vor den
Radiator bringt, ein elektrischer Strom ent-
steht, welcher einen deutlichen Anschlag an
einem damit verbundenen Voltmeter anzeigt,
welcher stark genug ist, ein Läutwerk in
Tätigkeit zu setzen, eine vor die Induktions-
rolle gestellte kleine Glühlampe zum Leuchten
oder einen zwischen die Pole eines Induktions-
apparates gespannten Nikelindraht zum Schmel-
zen zu bringen. Zwischen 2 Uhrgläser ein-
geschlossene Eisenfeilspäne geraten in lebhaf-
teste Bewegung. Die Kompaßnadel gerät
noch auf '/* m Entfernung in lebhafteste Rota-
tion, selbst bei Zwischenschaltung von Holz-,
Glas-, Stoffwänden. Auf dem verschiedenen
Verhalten magnetischer und diamagnetischer
Metalle vor dem Radiator beruhen noch eine
Reihe anderer physikalischer Experimente
wie Rotieren eines innerhalb eines Ringes
drehbaren Aluminiumringes oder einer Kupfer-
kugel etc.
Alle diese Erscheinungen machen jeden-
falls eine klinische Wirkung sehr plausibel,
wenngleich kein Nachweis dafür bis jetzt
geliefert ist. Der Zusammenhang zwischen
dem physiologischen Beobachtungsmaterial
und Klinik ist bis jetzt so lose, daß er keine
Hypothese zu stützen imstande wäre.
Die Hauptschwierigkeit für die definitive
Lösung der Frage liegt außerdem in der
Tatsache, daß es sich um die Entscheidung
bei einem rein subjektiven Symptome, dem
L Monatshefte.
Schmerz, handelt, ob es spezifische Beein-
flussung des Elektromagneten ist oder ledig-
lich Suggestivwirkung.
Ich glaube die Einwirkung auf Ödeme
(die 3 Fälle von Aar au erscheinen mir
nicht . einwandfrei und bedürfen sicher der
Nachprüfung), Krämpfe, Epilepsie überhaupt
alles andere können wir heute übergehen,
weil sich ein bestimmtes Urteil noch in
keiner Weise herausgebildet hat.
Bei einem solchen subjektiven Symptom
steigen eben für diese Entscheidung sehr
große Schwierigkeiten auf.
Vor allem scheiden Tiere vollkommen,
Kinder, Idioten und gewisse Geisteskranke
relativ aus der Versuchsreihe aus wegen der
Subjektivität des Symptoms, eine Kategorie,
welche andrerseits wegen der mangelhaften
Suggestibilität ein lehrreiches Material bieten
könnte.
Es wird überhaupt der richtigste Weg
zur Klärung der Frage sein, die Suggestion
völlig auszuschalten zu suchen.
Zu diesem Zweck darf es vor allem kein
besonderes Institut für elektromagnetische Be-
handlung sein, in welches der Patient, schon
suggestiv beeinflußt, zum Apparat und nur
sekundär zum Arzt kommt, wie leider heute,
nicht ohne Schuld seitens der Ärzte vielfach
Mode ist.
Der Arzt muß sich jeder Suggestiv Wirkung
enthalten. Da letztere aber teilweise schon
in der Persönlichkeit liegt, muß diese bei
der Beurteilung der jeweiligen Statistiken in
Rechnung gezogen werden. Schließlich muß
der Patient ahnungslos und vorurteilslos dem
Polfeld ausgesetzt werden können.
Bei dem Trüb sehen Apparat ist die
Suggestivwirkung nicht auszuschalten; denn
er verursacht ein deutliches Geräusch. Da-
gegen ist die Magnetwirkung — also die spe-
zifische Energie — des Apparates durch Lo-
sung des Leitungsdrahtes zum Magneten auf-
zuheben. Das ist für den Patienten nicht
bemerkbar, weil eben die Kraftlinien nicht
empfunden werden. Es wäre also anzustreben,
daß von ein und demselben Arzt Versuchsreihen
mit und ohne Magneterregung angestellt und
verglichen werden. Auf diese Weise würden
auch die relativen Unterschiede, welche von
der größeren oder geringeren Suggestivwirkung
des Arztes und von der jeweiligen Suggesti-
bilität der Bevölkerung abhängen bis zu
einem gewissen Grade zu vermeiden sein.
Bei ein und derselben Bevölkerung, glaube
ich übrigens, kommt auch der Bildungsgrad
und Beruf in Betracht. Denn im allgemeinen
ist in solchen Dingen doch der Gebildetere
Suggestionen leichter zugänglich, weil schon
sein Vorstellungsleben besser trainiert ist.
XIX- Jahrgang ."I
Juni 1905. J
Krefi, Zur Frage der elektromagnetischen Therapie.
303
Meine Versuche sind in dieser Weise an-
gestellt, und das Resultat ist bis jetzt fol-
gendes.
Bei Ausschaltung der Magneterregung
habe ich eine ganze Reihe bei den ver-
schiedensten subjektiven Beschwerden funktio-
neller Störungen des Nervensystems von Er-
folgen gesehen, also Suggestivwirkung.
Bei organisch bedingten Schmerzen waren
mit und ohne Magneterregung nur episodische
Besserungen zu konstatieren.
Mit der • Radiatorbehandlung allein bin
ich in keinem meiner Fälle zum Ziel ge-
kommen, ausgenommen solche, bei denen
auch irgend eine andere Suggestivmethode
als Heilmittel mit Erfolg angewandt werden
kann. Vor allem habe ich bei hartnäckigen
alten Neuralgien immer erst dann Fortschritte
gesehen, wenn ich zur kombinierten Behand-
lung mit alten bewährten Methoden schritt.
Was die nervöse Agrypnie anlangt, so
scheint mir der Beweis der spezifischen Wir-
kung des Radiators nicht erbracht. Meine
Fälle reagierten mit besserem Schlaf auch
ohne Magneterregung, und eine reine Suggestiv-
wirkung ist doch auch hier nach Sachlage
sehr plausibel.
Auch bei Migräne und Kopfschmerzen
habe ich vom Radiator allein keine Dauer-
effekte gesehen; ebensowenig bei Spasmen
verschiedenster Art.
Bezüglich interner Erkrankungen steht
mir keine Erfahrung zu, da ich lediglich
neurologisches Material zur Verfügung habe.
Da ich nun höre, daß auch bei dem
Stabmagneten, selbst wenn alles mit Aus-
nahme des Stabmagneten selbst in einem
andern Räume optisch und akustisch abge-
schlossen würde, sich ein leises Summen nicht
vermeiden läßt, so liegen dort die Schwierig-
keiten für Ausschaltung der Suggestivwirkung
ganz ähnlich.
Da aber der Stabmagnet mit Stromstärken
bis 40 Ampere, also dem 10 fachen des
Trüb sehen Apparates, beschickt werden
kann, so könnte vielleicht aus Parallelver-
suchsreihen mit beiden Apparaten unter mög-
lichst gleichen übrigen Bedingungen mehr
Licht in die Frage kommen, v. Sarbo, Wien
(Deutsche med. Wochenschr. 1903 No. 2), hat
ausgedehnte Versuche bei den verschiedensten
organischen und funktionellen Erkrankungen
des Nervensystems und bei Rheumatismus
mit dem Stabmagneten angestellt und hat
den großen Strommengen bis 40 Ampere seine
Patienten ausgesetzt. Er hat bei Rheuma-
tismus und Lumbago immer Erfolg gesehen,
stets Besserung bei allen Agrypnien mit Aus-
nahme der arteriosklerotischen. Günstige
Beeinflussung bei den verschiedenartigsten
Nervenaffektionen. Aber einen einwandfreien
Beweis für spezifische Wirkung der elektro-
magnetischen Wellen hat v. Sarbo so wenig
als einer der übrigen bisherigen Forscher
erbracht.
Wenn uns nicht das physiologische Ex-
periment doch noch zu Hilfe kommt, —
vor allem müßte wohl die Tiefenwirkung
elektromagnetischer Kraftlinien am lebenden
Organismus unwiderleglich festgestellt werden,
da mit dem negativen Ausfall dieses Versuchs
die Frage als erledigt betrachtet werden dürfte
— und wenn nicht im oben erwähnten Sinn
angestellte ausgedehnte parallele Versuchs-
reihenden Kauaalnexus zwischen dem „Post
hoca und der spezifischen Energie des
wechselnden Polfeldes statistisch und mit
genügend langen nachfolgenden Beobachtungs-
perioden zu erweisen im stände sind, so
werden wir in einer eventuell mit der Zeit
hervortretenden Abschwächung der Wirkungs-
kraft den Beweis für die suggestive Wirkung
des Elektromagneten als erbracht ansehen
dürfen.
Vom praktischen Standpunkt aus ist
natürlich zurzeit auch ganz irrelevant, ob
es sich um spezifische oder Suggestivwirkung
handelt. Da alle Praktiker dieser Methode
Wirkungen sehen, ist die Behandlungsform
gegebenenfalls erlaubt. Berechtigte Bedenken
kann man allerdings hegen bezüglich der
Rückwirkung auf das Publikum, wenn die
elektromagnetischen Kraftlinien als wirksames
Prinzip Fiasko machen sollten, und dadurch
die Skepsis gegen die ärztliche Autorität
wieder gefördert würde.
Wir dürfen uns, glaube ich, ruhig ge-
stehen, daß in diesem Punkte der Ärztestand
selbst eine gewisse Schuld an dem Rückgang
des Vertrauens zum Arzte trifft.
Ich weis wohl, daß in meinen Erfahrungen
keineswegs der strikte Beweis gegen eine
spezifische Wirkung des Apparates geliefert
ist, aber es erscheint mir doch möglichst
vorurteilsfreie Kritik für die folgenden klini-
schen Beobachtungen dringend ratsam.
Unsere elektrischen Bader.
Von
Dr. 0. Schiiep in Stettin.
Wohl haben wir der elektrischen Be-
handlung, in Privatpraxis und Sanatorium,
faradischem wie konstantem Strom, Influen-
zierung und Elektromagnetismus manchen
schönen Erfolg zu verdanken; es entspräche
jedoch nicht den Tatsachen und wäre weder
der Wissenschaft noch den Kranken damit
gedient, wollten wir nicht zugeben, daß trotz-
24*
304
Schliep, Unter« elektrischen B&der.
rTbarepentltche
L Monatshefte.
dem bisher in der Elektrotherapie recht vieles
noch unvollkommen und unerklärt war. Wie
wäre das auch anders denkbar bei Problemen,
die wohl als die Probleme aller Probleme
bezeichnet werden können ! Jahrtausende haben
sich abgemüht um immer neue Einblicke in
die Lebens Vorgänge, ihre Ursachen, ihre Ab-
wickelung und Beeinflussung.
Eine Un Vollkommenheit war auch, daß
bisher mancher Arzt in der Elektro-Therapie
so wenig zu Hause war, wo er doch täglich
Lähmungen, Schmerzen, Herzfehler etc. zu
beurteilen und zu behandeln hat. Jeder
Wir hatten das dipolare elektr. Vollbad
nach Stein: beide Polplatten tauchen in
hölzerne, isolierende, Badewannen, ohne den
Körper zu berühren.
Das monopolare Bad von Eulenburg:
der eine Pol wird von der Metallwanne selbst
gebildet, der andere auf einen beliebigen
Körperteil appliziert, event. durch die so-
genannte Monopol arstange, auf der die Hände
ruhen, positiv oder negativ elektrisch.
Dann das Zweizellenbad von Gärtner:
Strom und Körper geschieden durch Gummi-
diaphragma.
BK1R.6ES.SNU1AS
BERIIN
Fig. 1.
Arzt müßte Elektro-Techniker, -Diagnostiker
und -Therapeut sein; nur den Induktions-
apparat kennen, geht heute nicht mehr an;
verfügen wir nicht selbst über konstanten
Strom und elektrische Bäder, so müssen wir
doch genau mit allem Bescheid wissen, um
unsere Patienten beraten zu können.
Nur weil hier ein Manko war, konnte
sich die Kurpfuscherei gerade auf diesem Ge-
biet so breit machen: in die Augen springende
Manipulationen, ärztliche Unsicherheit bezügl.
Anwendung und Erfolge, — der Pfuscher
nahm lächelnd das Feld in Besitz!
Über welche Apparate verfugten wir bis-
her? Sehen wir unsere hydroelektrischen
etwas genauer an.
Das Dreizellenbad brauche ich nur zu
erwähnen: Anfertigung und Verkauf ist seit
kurzem eingestellt.
Endlich der fahrbare „ San itasa- Stuhl-
Schlitten, Fig. 1, für faradische, galvanische
und Wechselstrom-Bäder. Wir könnten ihn
ohne weiteres zu unsern besten elektrischen
Apparaten rechnen, hätte er Strommesser auch
für faradischen und Wechselstrom und vor
allem, zeigte das Amperemeter die Elektri-
zitätsmenge an, die allein durch den Körper
geht! Da aber die Elektrizität bekanntlich
immer den besten Leiter (Blitz) wählt, zieht
sie den Weg durch das Wasser vor, streift
nur den Körper, die Stromdosierung ist
ungenau. Als Mißstände wurden noch em-
XIX. Jahrffcog.1
Jod! 19Q.V J
Sohliep, Üoter« elektrischen Bftder.
305
pfunden, besonders von sensiblen und ängst-
lichen Naturen, ab und an elektrische Schläge
(Erdelektrizität) und Brennen an der Wasser-
grenze (Hals), besonders bei faradischen
Bädern, deren Stärke ganz von der Hand-
habung des Eisenkerns abhängig ist.
Zu diesen Fehlern kam die Unsicherheit
in Praxis und noch mehr in Theorie; wie
wirkt die Elektrizität auf den Organis-
mus?
Doch schon war von mehr als einer Seite
nicht nur eine Antwort auf diese Frage gegeben,
sondern gelöst war auch das Problem der
genauen Stromdosierung. Von Dr. Schnee
eine Apoplexie vorkommen, kann uns Fahr-
lässigkeit nicht mehr vorgeworfen werden.
Bezüglich des „Sanitas-Schlittens" möchte
hier manchem noch folgender Hinweis will-
kommen sein. Verworfen braucht dieser
Apparat durchaus nicht zu werden, dazu ist
er auch zu teuer. Soviel ich weiß, sind
patentiert nur der neue Sehneesche Stuhl
-4- 4 Zellen und der Strom Verteiler, das allein
wäre nachzubestellen, außerdem 1 Ampere-
meter für Wechselstrom und Faradisation (?).
Die Auspolung für die Kataphorcse ist einfach.
Wo Leitung fehlt, muß natürlich extra Batterie
oder Akkumulator angeschafft werden, und
E.G. SMITH« SEBUL
Fig. 2.
war das Vierzellenbad, Fig. 2, erfunden;
in diesem aber besitzen wir ein elektrisches
Bad, das alles leistet, was wir füglich nur
wünschen können. Erst jetzt ist eine zuver-
lässige kataphoretische Einwirkung möglich;
der elektrische Strom geht, wie erwiesen,
ganz durch den Körper; das Amperemeter
kann seine Volleistung entfalten ; auch Schwer-
kranke, für die schon das An- und Aus-
ziehen eine Qual ist, können jetzt, natürlich
immer mit der nötigen Vorsicht, baden, und
wir dürfen, z. B. bei Herzkranken, nunmehr
noch auf Erfolge rechnen, wo sie früher aus-
geschlossen waren. Der Arzt kann, wo er
seinen Apparat nunmehr in der Gewalt hat,
seine Aufmerksamkeit ganz dem Patienten zu-
wenden. Sollte uns aber einmal im Bade
stelle ich meine Erfahrungen bezüglich dieses
Punktes wie auch betr. der Umänderungen
gern zur Verfügung, man kann viel Verdruß
und Kosten sparen.
Aber ich möchte nicht nur den „Schlitten"
retten, sondern schließlich auch noch eine
Lanze für das alte faradische Vollbad ein-
legen. Selbst wenn wir ihm den Garaus
machen wollten, glaube ich, könnten wir das
nicht zuwege bringen: die Patienten würden
sich widersetzen, diese Art Bäder wieder
verlangen, sie event. ohne Verordnung, hinter
unserm Rücken, nehmen. Und warum das?
Den ganzen Körper wollen die Leute im
Wasser haben, das Wohlbehagen ist ein weit
größeres als im Stuhlbad; aber es ist auch
wohl der alte Unsinn „viel hilft viel", der
306
Schllap, Unter« •l«ktriieh«a Bftdar.
(Thertpeutlflche
L Monatsheft«.
uns hier entgegenwirkt, es soll ja gerade
tüchtig prickeln, das wird mehr geschätzt
als genaue Dosierung. Handelt es sich
nicht um Schwerkranke, so können wir hier
wohl nachgeben, besonders wenn wir sorgsam
in der Indikation sind und ein Galvanometer
(nicht etwa das Galvanoskop!) anwenden?
Da jenes den Körper widerstand im Voll-
bade doch nicht genau anzeigt, mag hier
immerhin Gefühl und Erfahrung entscheiden.
— Für Neuanschaffungen ist zweifellos das
4-Zellenbad das beste; besonders, nachdem
A. Eulenburg, selbst Erfinder des Mono-
polarbades, sich (1902) auf der Naturforscher-
versamlung zu Karlsbad so anerkennend über
die Sehn besehe Erfindung ausgesprochen hat.
Hat das 4-Zellenbad nun auch seinen Siegeszug
nicht nur in der alten, sondern auch in der
neuen Welt begonnen — ein Broadbent z. B.
wird in der nächsten Auflage seiner Herz-
krankheiten sicher auch hierüber berichten
— so mochte ich doch dem Wunsche Aus-
druck geben, daß bald alle unsere Kranken-
häuser etc. über dies Heilmittel verfügten.
Bis jetzt ist es z. B. noch in keinem unserer
Ostseebäder (ausgenommen Kolberg, Vereins-
Solbad) eingeführt, sehr sporadisch erst in
einigen andern Kurorten. Verhalten wir uns doch
nicht zu lange abwartend, wir könnten den sog.
Na,turheilanstalten gegenüber wieder einmal
leicht ins Hintertreffen kommen; sie sind in
der Lage, vollkommene Apparate anschaffen
zu können, sei es auch nur, um Leichtgläu-
bigen Sand in die Augen zu streuen.
Unsere elektrischen Badeeinrichtungen also
sind jetzt gut; wie steht es mit den Heil-
erfolgen? wie kommen diese überhaupt zu-
stande?
Zikel, Hamburger, Koeppe — um
nur einige der „Neueren" anzuführen —
ihre Osmosen-Ionen-Theorie und Kryoskopie,
sie haben uns neue Aufschlüsse über die
(elektrischen) Vorgänge im Organismus ge-
geben. Ihnen folgen wir im weiteren, ver-
gegenwärtigen uns jedoch vorher kurz die ein-
facheren Wirkungen des elektrischen Stroms,
zuerst die des faradischen.
Indem derselbe primär oder sekundär
Muskelzuckungen hervorruft, vermehrt er den
Blutgehalt des Muskels, beeinflußt reflektorisch
den Stoffwechsel. Geschwächte Nerven werden
durch schwache Faradisation belebt.
Der konstante, und zwar der aufsteigende
Strom hat ebenfalls rekreierende Wirkung,
wenn dieselbe auch anders zustande kommt.
Sie ist eine polare, katalytische, und nach
der Durchlässigkeit der Membranen ver-
schiedene,kataphorische,Entzündungsprodukte
lösende. Indem an den Polen des, einen
flüssigen Leiter durchfließenden, Stromes Zer-
setzungsprodukte, Ionen, ausgeschieden werden,
Widerstände geschaffen oder herabgesetzt
werden, entsteht ein neuer galvanischer Strom
(galvan. Polarisation); sie nimmt mit der
Stromstärke zu, mit der Erhöhung der Tem-
peratur jedoch beinahe proportional ab. Außer-
dem wirkt der konstante Strom entweder direkt
oder reflektorisch auf Nerven und Blutgefäße
(L an d o i 8 , Physiologie) ; die elektromotorische
Kraft ist in der „ Spannungsreihe u verschieden.
Nach Koeppe existiert kein Vorgang im
lebenden Organismus ohne Osmose. Die os-
motischen Kräfte selbst sind nie in Ruhe-
zustand (Löslichkeit der Moleküle); sie sind
nachweisbar die Ursache des Auftretens elek-
trischer Ströme in unserm Körper (Theorie der
elektrolytischen Dissoziation v. Arrhenius).
Bis ins Kleinste haben wir also in unserm
Körper — elektrischen Betrieb! Da dieser
aber der beste ist, so könnten wir ja eigent-
lich vollkommen zufrieden und rahig sein;
sind doch auch die Auskehrungsvorrichtun-
gen elektrisch, kranke Zellen, Infektionskeime,
sie werden durch Elektrizität (Fieber!) un-
schädlich gemacht!
Sofern keine Infizierung, Überlastung,
Schwächung, kein Stagnieren eintritt, bleibt
allerdings der Organismus auch stets in Ord-
nung, bis zur Altersabnutzung; bei groben
Insulten jedoch müssen wir versuchen, durch
äußere Handreichungen und innere Arzneien
zu helfen. In adäquatester Weise vermag das
nach Zikel der konstante Strom.
Auch Zikel basiert seine Theorie auf der
osmotischen Druckveränderung in den Zellen,
als rein physikalischen Vorgängen. Durch
sein Pektoskop stellt er die Funktionsver-
änderung der Zellen, ihr Verhalten bei be-
stimmten Krankheiten fest und definiert die
(innere) Elektrizität als einen spezifischen
Arbeitseffekt der Elektrolyten bei der Osmose ;
die einzige Quelle dieser kinetischen Energie-
form ist die elektrolytische Dissoziation.
Die Wirksamkeit des galvanischen Stroms
kommt dadurch zustande, daß die von dem
Strome mitgerissenen Ionen stets das Über-
gewicht über die gegen die Elektrizitäts-
richtung wandernden Ionen erhalten.
Wie dies, so hat Zikel auch das folgende
für die Elektrotherapie so wichtige Gesetz
experimentell erwiesen: Durchfließt der gal-
vanische Strom einen Zellenkomplex in der
Längsrichtung einer mit einer Vene parallel
laufenden Arterie, so wird er, falls er in der
Blutstromrichtung eintritt, den Druck und
die Wanderungsgeschwindigkeit des Bluts in
der Arterie erhöhen, in der Vene erniedrigen
und demnach eine therapeutisch in gewissen
Fällen erwünschte kapillare Druckerhöhung
bewirken. In entgegengesetzter Richtung
XIX. Jahrgang.
Juni 1905.
■]
Schll«p, Unser« •lektrlieh«n Btdar.
307
fließend, vermag er das Kapillarsystem zu
entlasten. Hierbei beschränkt sich die Wirk-
samkeit lediglich auf das durchflossene Ge-
biet; einen Einfloß auf den Gesamtorganismus
übt er nicht aus. Konnten wir aus der großen
Zahl neu erschlossener Gesichtspunkte . hier
nur einige wenige hervorheben, so verweisen
wir um so dringender auf die betreffenden
Originalabhandlungen; wir werden aus Zikels
Lehrbuch der klinischen Osmologie lernen,
wie und warum die Elektrizität wirkt. In
Stöpselung:
Fig. 8.
Stöpselung:
a§213
Kathode.^1
eSbm
H Kathode 1
Kg. 4.
genialer Weise das aber für eine große An-
zahl von Krankheiten weiter fruchtbar ge-
macht zuhaben, ist das Verdienst Schnees.
Er zwang die bisher ungebändigte , un-
berechenbare Kraft, die Elektrizität, durch
Wannen- und Schaltbrettsystem, erst jetzt
für den menschlichen Körper genau dosiert,
in ganz bestimmte Bahnen. Auch hier muß
der Modus procedendi in den resp. Abhand-
lungen nachgelesen werden, nur die beifolgenden
Abbildungen Fig. 3 u. 4 kann ich geben.
Durch die umfangreichsten klinischen
Nachprüfungen ist die großartige Leistungs-
fähigkeit des 4-Zellenbades anerkannt, be-
sonders auf dem Gebiet der Kataphorese;
sie gerade konnte Erfolge zeitigen, an die
wir bisher nicht gedacht hatten, z. B. als
Rivalin der Chirurgie (Gallensteine, Blind-
darm- u. a. Entzündungen).
Die Fragen: wie weit sind Herzfehler durch
faradische, galvanische und Wechselstrom-
bäder reparabel? was leistet die Brom-
Kataphorese bei Epilepsie, gegen Blutungen,
Gicht, Syphilis etc.? sie werden jetzt oft
behandelt werden, nach neuen Gesichtspunkten.
Vergessen wir aber nie, daß eine Methode
nicht „ methodistisch u gehandhabt werden darf;
wir müssen das anerkannt Gute, das oft sehr
einfach, oft sehr kompliziert ist, uns auf jeden
Fall zu eigen machen. Zu dem anerkannt
Guten aber gehört die Schnee sehe Art der
elektrischen Stromapplizierung; möchte sie
die bald allgemein übliche werden.
Ein Formalin-Desinfektionsschrank.
Von
Dr. Monde in Gottesberg.
Die Möglichkeit, daß der Arzt an seiner
Kleidung infektiöse Keime in gesunde Fa-
milien schleppt und dadurch Krankheiten
überträgt, ist nicht nur zur Zeit von epide-
mischer Verbreitung infektiöser Krankheiten,
sondern auch bei sporadischen Fällen vor-
handen, solange nicht eine wirksame Des-
infektion nach solchen Krankenbesuchen
streng durchgeführt wird. Das bisher übliche
Verfahren, das sich im wesentlichen darauf
beschränkte, die Kleider nach einem infek-
tiösen Besuche zu wechseln und dieselben
längere oder kürzere Zeit „hängen" oder
auf dem Boden „lüften" zu lassen, entspricht
schon längst nicht mehr den wissenschaft-
lichen Anschauungen über Desinfektion von
Kleidungsstücken und kann auf Sicherheit
der Wirkung keinen Anspruch erheben. Des-
infektionsanstalten, von denen die Kleider
geholt und sterilisiert werden, gibt es aber
auf dem Lande und in kleinen Städten nicht,
und in größeren Städten, wo derartige In-
stitute bestehen, würde der Arzt bei einer
stärkeren Ausbreitung von Masern, Scharlach
oder Diphtherie bald in Verlegenheit geraten,
weil sich seine Garderobe dauernd auf dem
Wege zum und vom Desinfektor befinden
würde. Neben dieser nicht geringen Unbe-
quemlichkeit käme dann als weiteres Moment
in Betracht, daß dem Arzte nicht unerheb-
liche Kosten entstehen würden, die um so
drückender wären, als gerade der wirtschaft-
lich schwache Teil der Ärzteschaft (die
Armen- und Kassenärzte) am häufigsten in
308
M e o d e , Formalln- DesiDfektionsechraok.
L Monatsheft«.
die Lage käme, seine Kleider desinfizieren
zu lassen.
Ich habe mich daher bei Gelegenheit
einer ausgedehnten Scharlach- und Diph-
therie-Epidemie vor nunmehr 4 Jahren ver-
anlaßt gesehen, nach einem Auskunftsmittel
zu suchen, und einen Schrank anfertigen
lassen, der mir die sichere Desinfektion meiner
Kleidung zu gewährleisten scheint.
Dieser Schrank ist gebaut wie jeder
andere, nur mit dem Unterschied, daß er
durch zwei Haspen an der Wand aufgehängt
werden kann. Er ist so geräumig, daß er
die gesamten Oberkleider: Rock, Weste,
Beinkleider, Mantel, Hut, Kragen, Man-
schetten, Handschuhe etc. bequem, und ohne
sole, auf welcher in kurzem Abstände von-
! einander zwei Spirituslampen Platz finden,
die eine zum Verdunsten des Wassers, die
| andere zum Vergasen der Pastillen. In dem
Schrank selbst befindet sich wie in anderen
Schränken eine Anzahl Kleiderhaken. Der
Schrank ist aus trockenem Holz sorgfaltig
gearbeitet, frei von Fugen und Ritzen, die
Tür steht reichlich um 1 cm über und ist
in ihrem ganzen Umfange mit einem Flanell-
streifen abgedichtet; auch über das Schloß
hinweg zieht sich innen eine Lederdichtung,
welche das Schlüsselloch gasdicht überdeckt.
Der Schrank hängt in meinem Wartezimmer,
in welches ich, ohne meine Privatwohnung
zu betreten, direkt vom Flur aus gelangen
daß durch zu dichtes Aneinanderhängen der
Zutritt der Gase gehindert wird, aufnehmen
kann. Seine inneren Maße sind folgende:
Höhe . . . . 1,60 m
Breite .... 0,55 -
Tiefe .... 0,35 -
Sein Boden wird gebildet von einem
derben Schwarzblech, auf welchem die Ver-
brennung der Formalinpastillen und die Ver-
dunstung des in einer blechernen Schale be-
findlichen Wassers stattfindet. In einem Ab-
stände von circa 14 cm darüber befindet sich
ein hölzerner Rost, der eine Berührung der
im Schranke untergebrachten Kleidungsstücke
mit dem erhitzten Blech und dem verdunsten-
den Wasser verhindert. Unterhalb des eigent-
lichen Schrankes verlängert sich die Rück-
wand und trägt in einer Entfernung von
circa 15 cm vom blechernen Boden eine Kon-
kann. Ein belästigendes Ausströmen der
Formalingase findet auch während des Be-
triebes nicht statt.
Nach einem infektiösen Krankenbesuch
lege ich in meinem Wartezimmer die Ober-
kleider ab und hänge sie in den Schrank.
Danach wasche ich Gesicht und Hände mit
Sublimat und ziehe die mir inzwischen ge-
brachten anderen Kleider an. Darauf fülle
ich die auf dem Boden des Schrankes be-
findliche blecherne Schale mit 150 ccm Wasser
und lege daneben in kurzem Abstände zehn
Scheringsche Formalinpastillen, schließe den
Schrank und entzünde die Spirituslampen,
die so gestellt werden, daß die eine unter
die Schale, die andere unter die Pastillen
zu stehen kommt, und deren Dochte so weit
heruntergestopft sind, daß sie nur kleine,
etwa 1 cm hohe Flammen geben. Die Lampen
XIX. J&hrgasff.l
Juol 1906. J
M • n d • , FonMlln-DasiofektloiiMchraiik.
309
fassen eine genügende Menge Spiritus, um
bei diesem Stande der Flammen drei bis Tier
Stunden zu brennen.
Die Kleider bleiben nun gewöhnlich längere
Zeit, manchmal mehrere Tage, im Schrank;
frühestens werden sie nach drei Stunden her-
ausgenommen und wieder verwendet. Das
letztere geschieht zu Zeiten einer epidemi-
schen Verbreitung infektiöser Krankheiten,
in denen mehrere infektiöse Besuche an einem
Tage notwendig werden. Das Umkleiden er-
folgt dann in der oben beschriebenen Weise,
jedoch mit dem Unterschiede, daß ich die
in fektion 8 verdächtigen Kleider zunächst auf
ein leinenes Tuch lege, mich dann wasche
und die im Schrank vorhandenen desinfizierten
Kleider bis auf den Rock anziehe. Der letztere
wird zwar auch aus dem Schrank entfernt,
aber zunächst beiseite gelegt. Dann lege ich
zum Schutz der desinfizierten Kleidung einen
Operationsmantel an, hänge die infektiöse
Kleidung in den Schrank, dazu schließlich
noch den Operationsmantel und das leinene
Tuch und schließe den Schrank. Dann wasche
ich nochmals die Hände, und erst hiernach
▼ervollständige ich den Anzug durch Anlegen
des Rockes.
Auf diese Weise gelingt es leicht, die
sterile Kleidung vor einer erneuten Infektion
durch Berühren mit den infektiösen Kleidungs-
stücken zu schützen.
Die Wahl der Schrankform bei diesem
De8infektionsapparat war von vornherein
naheliegend, ist doch der Schrank seiner
Bestimmung gemäß zur Aufnahme und zum
Verschluß von Kleidungsstücken geeignet; er
ist unauffällig im Aussehen, nimmt wenig
Platz in Anspruch, die Kleider werden in
ihm von allen Seiten von den Gasen um-
spült und schließlich ist er leicht zu ver-
schließen und abdichtbar.
Was nun die Art der Formaldehydent-
wicklung betrifft, so ist für den Praktiker
bei gleicher Sicherheit der Wirkung der ein-
fachste Apparat der beste.
Von den verschiedenen Methoden der
Formaldehydentwicklung (nach Trillat, Ro-
senberg, Walter-Schloßmann, Flügge)
war jedenfalls die einfachste die Schering-
sche1). „Das feste Polymerisierungsprodukt
des Formaldehyds, Paraformaldehyd oder
Trioxymethylen, wird in Pastillenform ge-
bracht. In einem , Äskulap1 genannten
kleinen Apparat werden die Pastillen, deren
jede 1 g wiegt, über einer Spirituslampe er-
hitzt, so daß die entstehenden Formaldehyd-
!) Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankh.
22. Bd., S. 284. Flügge, Qie Wohnungsdesinfek-
tion durch Formal dehyd.
dämpfe mit den Verbrennungsgasen gemischt
und von diesen mitgerissen werden. u Flügge
sagt weiter von diesem Verfahren S. 296:
„Sehr bestechend ist das Scheringsche Ver-
fahren durch die leichte Dosierung und die
einfache, sichere Formaldehydentwicklung.
Wir haben die Mehrzahl dieser praktischen
Versuche mit diesem Verfahren gemacht, und
die Desinfektionskolonne hat so zuverlässig
und so gern damit gearbeitet, daß wir jede
weitere Modifikation für überflüssig gehalten
haben würden, wenn nicht der Preis der
Pastillen ein relativ hoher gewesen wäre."
Er erkennt also ausdrücklich die Sicherheit
der Methode und ihre einfache Durchfuhr-
barkeit an und findet nur in dem relativ
hohen Preise der Pastillen den Grund, der
ihn bestimmte, für die Wohnungsdesinfektion
nach einem anderen Verfahren zu suchen.
Bei den kleinen Verhältnissen, um die es
sich hier bei der Desinfektion des Schrank-
innern handelt, spielt nun der Preis der
Pastillen keine wesentliche Rolle, und des-
halb erschien mir dieses Verfahren, gestützt
gerade auf die Autorität Flügges, als das
geeignetste. Das Verfahren gelangte nun in
der oben beschriebenen Änderung zur An-
wendung, daß an Stelle des „Äskulap" ge-
nannten Apparates das Eisenblech des
Schrankes fungierte, welches durch zwei Spi-
rituslampen erhitzt wurde, wodurch über der
einen Flamme die Formalinpastillen und über
der anderen eine genügende Wassermenge
vergast resp. verdunstet wurde. Die Wasser-
menge entsprach den weiteren Angaben
Flügges (auf S. 290), wonach etwa auf
250 Pastillen 3 1 Wasser zu verdampfen
sind.
Da mir daran gelegen sein mußte, schon
nach der verhältnismäßig kurzen Zeit von
3 Stunden eine sichere Desinfektion zu er-
zielen, war ich darauf gefaßt, daß dazu eine
relativ hohe Zahl von Formalinpastillen not-
wendig sein würde. Nach den Resultaten
aus dem Breslauer Institute hätte ich er-
warten können, daß dies mit einer Menge
von l1/« — 2 Pastillen bei meinem Schrank
möglich sein würde.
Die daraufhin angestellten Versuche haben
dies jedoch nicht bestätigt. Ich habe vielmehr
mit der Anzahl der Pastillen erheblich in die
Höhe gehen müssen, weil in den Versuchen
ein wenngleich erheblich verspätetes Aus-
keimen in der Gelatine, bei Zimmertempe-
ratur oft erst nach Wochen, beobachtet wurde.
Erst bei der doch recht bedeutenden Menge
von 5 — 6 Pastillen wurde bei 3 Stunden
Einwirkungsdauer auch bei wochenlanger Be-
obachtung eine Entwicklung von Keimen in
den Petrischen Schalen nicht mehr beobachtet.
310
M • n d e , Pormalin-Detlnfektioossehraitk.
rTharapentlirbii
L Monatshefte.
1
Zur Erklärung dieser immerhin auffallenden
Erscheinung nehme ich an, daß ich zufallig
vielleicht auf einen besonders resistenten
Stamm des Staphylococcus pyogen, aur., den
ich aus einem Furunkel rein gezüchtet und
zu diesem Versuch verwendet hatte, gestoßen
war (eine Resistenzprüfung, wie sie neuer-
dings mit Recht verlangt wird, wurde leider
nicht vorgenommen). Möglich auch, daß zu
diesem Resultat der Umstand beigetragen hat,
daß ich damals bei der bakteriologischen
Prüfung noch keine Wasserverdampfung an-
wendete, wie ich dies nunmehr seit reichlich
Jahresfrist regelmäßig tue. Eine bakterio-
logische Nachprüfung mit dieser Modifikation
wurde jedoch aus äußeren Gründen, und weil
bei dem geringen Preise der wenigen Pastillen
die Frage nicht wesentlich war, bis jetzt
unterlassen. Ich habe es vielmehr vorgezogen,
um eventuell noch resistentere Keime als den
Staphylococcus pyog. aur. bei der Desinfektion
zu vernichten, die Anzahl der Pastillen auf
10 Stück zu erhöhen, und diese Anzahl
regelmäßig bei der Desinfektion meiner Klei-
dung zur Vergasung gebracht.
Selbstverständlich hat auch diese Me-
thode wie überhaupt die Formalin-Desinfek-
tionsmethode ihre Grenzen, über welche hin-
aus eine sichere Abtötung der Keime nicht
zu erwarten ist. Überall dort, wo ein tieferes
Eindringen infektiöser Exkrete in die Klei-
dung stattgefunden hat, oder wo diese Ex-
krete auf der Kleidung dickere Schichten
bilden, ist eine sichere Abtötung der in den
Exkreten enthaltenen Keime durch das Form-
aldehyd nicht zu erwarten, und es müssen
in solchen Fällen andere Methoden (strömen-
der Wasserdampf, Sublimat, Karbol) an seine
Stelle treten. In allen Fällen jedoch, in denen
die Keime mutmaßlich nur oberflächlich lagern
oder in dünneren Exkretschichten den Klei-
dungsstücken anhaften, ist diese Methode eine
absolut sicher wirkende. Glücklicherweise
sind diese letzteren Fälle bei weitem die
häufigsten, und zu ihnen zählen die für den
praktischen Arzt wichtigsten Krankheits-
formen, vor allem Masern, Scharlach, Diph-
therie und Influenza und Phthise in den
Fällen, wo es sich nicht um eine Besudelung
der Kleider mit den dicken schleimig-eitrigen
Sputis der Lungenschwindsüchtigen, sondern
mit den feineren Expektorationen handelt,
die bei lautem Sprechen und Husten manch-
mal unbemerkt aus dem Munde der Schwind-
süchtigen geschleudert werden.
Eine Nachteil der Methode ist der un-
angenehme und stark reizende Formalin-
geruch, der den Kleidern manchmal lange
Zeit anhaftet und dem Träger sehr lästig
werden kann. Begibt man sich nach An-
legen der desinfizierten Kleider gleich in die
freie Luft, so ist die Belästigung gewöhnlich
nicht bedeutend, und der Geruch wird bald
nicht mehr störend empfunden. Anders frei-
lich ist es, wenn man sich in der ersten
Zeit nach erfolgter Desinfektion in der Stube
aufhalten muß. Hier hilft jedoch aufs beste
die Desodorierung mit Ammoniak nach der
von Flügge gegebenen Anweisung (S. 298)
Nach Vollendung der Desinfektion, also
frühestens nach 3 Stunden, wird der Schrank
vorsichtig geöffnet und in die Wasserschale
eine kleine Menge (30 — 40 g) einer 25 proz.
wäßrigen Ammoniaklösung gegossen, dann der
Schrank wieder geschlossen und diese kleine
Menge oder auch nur ein Teil davon in der-
selben Weise wie vorher das Wasser ver-
dampft. Schon nach kurzer Zeit ist dann
kaum noch eine Spur des Formalingeruches
an den Kleidern wahrnehmbar, und auch der
Ammoniak geruch ist bald verflogen.
Eine besondere Erläuterung der beiden
beigefügten Abbildungen erscheint mir nach
dem Vorangegangenen kaum nötig. Man sieht
aus denselben, daß der Schrank ein unauf-
fälliges Aussehen hat und wenig Platz be-
ansprucht. Auf dem zweiten Bilde ist das
Innere des Schrankes sichtbar, besonders
auch der hölzerne Rost und die Abdichtung
am Türschloß sowohl wie am Türrande.
Ich füge dann noch hinzu, daß der Schrank
für wenig Geld von jedem Tischler hergestellt
werden kann, und daß sein Betrieb außer-
ordentlich billig und einfach ist.
Über Vulnoplast.
Von
Dr. Benno Müller in Hamburg.
Es ist gar nicht so leicht, ein Mittel
zu finden, welches für die kleinen Wunden,
die in des täglichen Lebens Arbeit sich jeder
Mensch hier und da zuzieht, die man aber
meist leider nur zu wenig beachtet, sondern
ihrem eigenen Schicksal überläßt, einen ge-
eigneten Schutzverband und gutes Heilmittel
darstellt. Man hat schon so viel Beispiele, und
jeder Arzt wird in seiner Praxis schon Fälle
beobachtet haben, wo im Anschluß an solch
eine kleine Verletzung der Hand oder einer
anderen Extremität schwere, das Leben ge-
fährdende Septicämien entstanden, und wo auch
schon mancher sein Leben durch die Nach-
lässigkeit, mit der er solche kleine Wunden
behandelte, verwirkte. Wenn man nun be-
strebt ist, diesen Wunden mehr Beachtung
zu schenken und dem Publikum klarer vor
Augen zu führen, daß es zu seinem eignen
Besten ist, wenn es jeder Wunde die pein-
XIX. Jahrgang."!
Jnnl 1905. J
Mflll«r, Übt VulnoplMt.
311
lichste Rücksicht und entsprechende Behand-
lung zuteil werden läßt, so ist dieses Be-
mühen nur zu loben und sollte von jedem
unterstützt werden. Es ist nun in neuerer
Zeit ein dem Heftpflaster ähnliches Ver-
bandmittel in den Handel gebracht worden,
das den Zweck hat, in diesem Sinne zu
wirken und dem Laien ein Mittel an die
Hand zu geben, wodurch er sofort einen
kunstgerechten Verband auf die kleine Wunde
legen und dieselbe gegen weitere Infektion
von außen schützen kann, dem Arzte aber ein
für viele Fälle gutes Ersatzmittel für das
bisher übliche Heftpflaster und den Heft-
pflasterverband zu geben. Es ist dies das
Vulnoplast.
Dasselbe besteht aus einem Streifen Lein-
wand, welcher auf der einen Seite mit Leuko-
plastmasse belegt ist, und zwar so, daß
einem ca. 8 cm breiten Streifen zu beiden
Längsseiten, wie in Fig. 1 ersichtlich, die
Leukoplastmasse in 2 cm breitem Rande
appliziert ist. In dem Räume zwischen den
'Leukoplast-
rasut
durModUe
Schicht mit
Protargol-Jjero*
form^elatiftt
unpräjpvbert
Watte
achicht
-Leukoplast*
rand,
Fig.l.
Vulnoplast von der anf die Wunde zu legenden Seite
aus gesehen.
beiden Leukoplaststreifen findet sich eine
dünne Lage Leinwand, welche mit Lochern
versehen ist, und zwischen der und dem
primären Leinwandstreifen eine dünne Lage
Watte sich befindet. Diese durch lochte Lein-
wand ist am Rande fest mit dem großen
Streifen verbunden und sie ist selbst auf
der Außenfläche mit einer Gelatinepaste be-
legt, welche aus Protargol, Xeroform und
Gelatine besteht. Diese Masse ist fest auf
der Leinwand angebracht und wird dann,
wenn man den Streifen auf eine Wunde
appliziert, durch das Wundsekret gelost und
somit wirksam. Es wird also folgender-
maßen bei einer kleinen Wunde verfahren.
Man hat z. B. auf einem Arm oder Unter-
schenkel eine Wunde, die durch Stoß, Schlag
oder sonstiges Trauma entstanden ist und
durch die unvorteihafte bisherige Behandlung
zu einem Geschwür mit ungereinigter Wund-
fläche und Granulationsbildung geworden ist.
Man wählt sich nun die geeignete Breite
des Vulnoplaststreifens aus. Die Wund-
fläche beträgt ungefähr 2 cm im Quadrat.
Somit nimmt man einen Vulnoplaststreifen
von 8 cm Breite und schneidet ein Stück
von 5 — 6 cm Länge ab. Nachdem man die
Wunde gereinigt, die Ränder ausgeschnitten,
überhängende Haut entfernt, kurz die Wund-
fläche nach Möglichkeit desinfiziert hat, wo-
bei man Seife und heißes Wasser mit Lysol-
zusatz verwendet, trocknet man die des-
infizierte Stelle gut ab, reibt die Haut in
der Umgebung der Wunde mit Alkohol und
Äther trocken und hat nun die Wunde so
weit bereit, um das Vulnoplast anwenden
zu können. Dieses legt man nun so auf die
Wunde, daß die durchlochte Stelle des Vulno-
plast die Wundfläche direkt bedeckt. Die
Wärme der Haut bewirkt nach wenigen
Sekunden ein festes Ankleben des Vulnoplast,
und man bemerkt stets, daß nach kurzer
Zeit das Stück Vulnoplast sehr fest auf der
Wunde aufliegt. Es wird durch die Wärme
der Haut und durch das von der Wund-
fläche sezernierte Sekret die Paste auf der
Fläche des Vulnoplast gelöst und die der
Gelatine beigemengten Bestandteile wie Pro-
targol und Xeroform wirken auf die Wund-
fläche desinfizierend, denn diese Körper be-
sitzen die Eigenschaft in hohem Maße, die
Bakterien mit der Dauer der Einwirkung zu
schädigen, in ihrer Virulenz zu beeinträchtigen
und schließlich ganz zu töten, so daß die
Bakterien sich nicht mehr vermehren können.
Dadurch wird einerseits bewirkt, daß die
Wunde weniger sich entzündet, und wenn
schon Entzündung vorhanden war, so geht
dieselbe sehr bald zurück. Wunden, welche
im Anfang eben wegen der Entzündung der
Gewebe heftige Schmerzen verursachten,
verlieren mit der Zeit durch das Vulnoplast
ihre Schmerzhaftigkeit. Sondert die Wunde
viel Sekret ab, so läuft dasselbe durch die
Löcher in der Leinwand in die zwischen der
durchlochten Schicht und dem großen Lein-
wandstreifen applizierte Watte. Dies ist ein
großer Vorzug, den das Vulnoplast vor dem
Heftpflaster, sei es welcher Art es auch sei,,
voraus hat. Wenn man nämlich eine Wunde;
und sei sie auch noch so klein, nur mit
Heftpflaster bedeckt, so staut sich unter dem
Pflaster das Sekret der Wunde an, denn es
hat ja keine Gelegenheit abzufließen oder
resorbiert zu werden unter dem Heftpflaster.
Man gewahrt dann stets nach wenigen Stun-
den nach Anlegen des Heftpflasters auf eine
vorher gar nicht schmerzende Wunde, daß
dieselbe anfängt „zu brennen ", zu schmerzen,
denn das Sekret der Wunde hat sich unter
dem Pflaster in größerer Menge, als normal
und als unschädlich, angesammelt und drückt
nun auf die in der Wunde freiliegenden
Nervenendigungen und reizt dieselben neben-
bei noch durch die Bestandteile des Sekretes.
312
Mflll«r, Ober Vulnoplut.
[Therapeutisch«
L Monmtihafle.
Es ist für die Wunde stets ein großer Nach-
teil und Schaden, wenn auf der Oberfläche
der Granulationen die Sekretmassen sich an-
häufen und daselbst längere Zeit verweilen,
man läuft dann stets Gefahr, daß die Wunde
größer und tiefer wird, als sie vorher war.
Der Laie sagt, daß der Eiter und das Wund-
sekret „frißt", „weiter frißt" etc. Diese
Ausdrücke sind ja falsch und medizinisch
unrichtig, doch sie geben das Resultat der
Beobachtung wieder, daß eine sezernierende
Wunde so verbunden und gepflegt werden
muß, daß das Sekret peinlich entfernt wird,
damit dasselbe nicht durch längeres Ver-
weilen die Wunde schädigt. Es ist der
Grund des Nachteiles dieser Vorgänge darin
gelegen, daß die Wundsekrete ja ungefähr
die gleiche Zusammensetzung haben wie das
Blutserum und daher äußerst günstige Nähr-
boden für Bakterien abgeben, wodurch be-
wirkt wird, daß beim Anhäufen solchen
Sekretes auf der Wunde Bakterien, die auf
der Wundfläche liegen, wuchern und sich
vermehren. Dadurch wird dann die Wunde
zu einer Brutstätte von Bakterien, und diese
entziehen aus den umliegenden Geweben die
Nährstoffe, wenn das Sekret dann nicht mehr
ausreicht für die Ernährung der Milliarden
von Mikroorganismen, die sich innerhalb
kurzer Zeit bilden. Somit ersieht jedermann
klar und deutlich den Grund, weshalb man
die Sekretmassen entfernen muß, denn die
Gewebe der Wunde werden von diesen Bak-
terien vernichtet, zerfallen, und die Wunde
wird schnell großer. Alle diese Vorteile,
welche mithin durch das Aufsaugen des
Sekretes gegeben sind, haften dem Vulno-
plast an. Somit kann man für die Verbände
von kleinen Wunden das Vulnoplast als
bestes Deckmittel empfehlen, vor allem, weil
man nicht vielerlei Verbandstoffe braucht,
sondern in dem einen Streifen Vulnoplast
das nötige Verbandmaterial fix und fertig
zum Verband bereit hat.
Es ist nun aber die Frage, zu welchen
Wunden soll man das Vulnoplast verwenden.
Wenn man es nur für die Fälle, wenn sich ein
Schlächtergeselle z. B. in den Finger schneidet,
mit anderen Arbeiten die Hand verletzt etc.,
verwenden könnte, so würde die Indikations-
grenze sehr eng gezogen sein und man brauchte
nicht so viele Worte zu machen. Aber es
kommen noch manche andere Fälle in Be-
tracht, wo das Vulnoplast vorzügliche Dienste
leistet. So habe ich es seit längerer Zeit
zum Bedecken aller granulierenden Wunden
verwendet, und zwar so, daß ich das Vulno-
plast direkt auf die Wunde auflegte. Es
handelt sich ja selbst bei granulierenden
Wunden immer nur um kleinere Wundflächen,
da man größere, wie man sie früher öfter
sah, die wegen der zu großen Ausdehnung
nie zuheilten, jetzt mit Transplantation
deckt, und diese Wunden sind meist solche
nach Verletzungen, die infiziert wurden,
oder Operationswunden, die nicht ganz
per primam heilten etc. So habe ich in
vielen Fällen das Vulnoplast verwendet und
recht guten Erfolg davon gesehen, denn das-
selbe bewirkte eine recht schnelle und glatte
Heilung. So habe ich es bei einem Fall
von Gallensteinoperation, wo die Wunde der
Bauchdecken teilweise langsam durch Gra-
nulationsbildung verheilte, lange Zeit als
Schutzverband angewendet. Es ist dabei
das Vulnoplast ein vorzüglicher Ersatz des
Heftpflasters. Wenn ich tiefere Wunden be-
handeln muß, so tamponiere ich die Wund-
höhle leicht mit Gaze aus und verschließe
die tamponierte Wunde mit dem Vulnoplast.
Es ist dies wiederum darin ein Vorteil, wenn
man das Heftpflaster hierbei durch Vulno-
plast ersetzt, daß das Vulnoplast von der
Tamponmasse aus das Sekret noch aufsaugt.
Man kann ja nicht immer ermessen, ob die
in die Wunde gelegte Gaze genügend auf-
saugen kann, und so kommt es oft vor, daß
bei Heftpflasterverschluß die Gaze dicht mit
Sekret erfüllt ist, daß am Heftpflaster solches
in Tropfen etc. hängt, ein Zeichen, daß zu
viel Sekret für die Menge Gaze vorhanden
ist. Bei Verwendung des Vulnoplast wird
diese überflüssige Menge Sekret von der
Watte des Vulnoplast aufgesaugt. Nebenbei
bieten die Löcher in der Vulnoplastschicht
Gelegenheit zur Ventilation, es kann Luft in
die Wunde treten, was ebenfalls von Nutzen
ist. Ich verschließe jetzt auch nach Laparo-
tomien die Bauchdeckenwunde mit Vulnoplast,
eben wegen der Fähigkeit der Ventilation.
Während ich früher Heftpflasterverband an-
legte, nehme ich jetzt ganz analog den Heft-
pflasterstreifen das Vulnoplast, und zwar be-
decke ich da die Laparotomiewunde natür-
lich mit steriler Gaze, und über die Gaze
lege ich das Vulnoplast, so daß ein Streifen
immer dachziegelförmig den anderen überdeckt,
wie aus beistehender Abbildung Figur 2
und 3 zu sehen ist. Auf diese Weise er-
hält man einen etwas ventilierenden Verband,
welcher aber das Eindringen von Bakterien
vollkommen verhütet. Diese Ventilation ist
einesteils für die Wunde von Vorteil, andern-
teils für den Kranken angenehm, denn es
haben mir früher die Kranken immer über
die lästige Wärme des Verbandes und dessen
festen Abschluß geklagt, was jetzt wegfallt,
der Verband mit Vulnoplast inkommodiert
die Kranken gar nicht. Es war jedenfalls
die Unmöglichkeit der Ausdunstung der Haut,
r
XIX. Jahrgang. 1
Juni 1905. J
Müller, Üb«r Vulnoplatt.
313
die unter dem Heftpflaster nicht Gelegenheit
zum Abziehen hatte, welche ein lästiges Ge-
fühl verursacht, es gehört dazu auch der
Schweiß der Haut. Manche Kranke, die
sehr viel schwitzen, werden durch das An-
sammeln des Schweißes unter dem Heft-
pflaster stark belästigt, und es kommt dann
oft sogar zu einer Dermatitis unter dem
Pflaster, die dann noch mehr belästigt. Ich
habe letzthin einen solchen Fall gefunden,
wo eine Frau unter dem Heftpflaster immer
Schweißperlen zeigte und sehr bald wund
wurde unter dem Verband. Das applizierte
Vulnoplast brachte sofort Besserung, die Frau
hatte keine Beschwerden unter dem neuen
Verband, und es traten auch keine Entzün-
dungen der Haut ein. Auch in dieser Hin-
sicht bietet das Vulnoplast einen Fortschritt
und große Vorzüge vor dem Heftpflaster, was
einzig dadurch bedingt ist, daß die unterste
der Haut aufliegende Schicht durchlocht ist.
Fig. 2.
Schematische Überdeckung einer Laparotomiewuode mit
Vulnoplast im Querschnitt gesehen. — Die Ynlnoplaststreifen
werden mit dem Leukoplastrande dachziegelförmig überein-
ander gelegt, wie es vergrößert in Fig. S veranschaulicht ist
Fig. 8.
Wenn ich einen größeren Verband mit Vulno-
plast anlege, so verfahre ich stets so, daß
nur kleine Teile des seitlichen Leukoplast-
randes auf die Haut zu liegen kommen,
und daß sich die einzelnen Streifen dach-
ziegelartig decken, wie in Fig. 2 geschildert,
und dadurch eine große die ganze Wunde
deckende Schicht bilden.
Eine weitere wichtige Verwendung bietet
sich in der Behandlung der ülcera cruris,
jener Erkrankungen der Menschen, die un-
geheuer häufig vorkommen, und für die eine
Reihe von Behandlungsmethoden bereits er-
funden wurde, die aber alle noch nicht das
Ideal darstellen. Es ist nun ja zweifellos
manche Behandlungsform der Ulcera cruris
von gutem Erfolge begleitet, aber es sind
immerhin manche Umstände damit verknüpft,
die eine Verwendung erschweren. Das Vulno-
plast eignet sich nun sehr gut zur Behand-
lung dieser Geschwüre. Man verfährt bei
der Behandlung derselben folgendermaßen.
Solange man es no.ch mit ungereinigten Gra-
nulationen zu tun hat, bestreut man das
Ulcus mit einer dünnen Schicht von Isoform
oder Airol oder dergleichen Streupulver und
legt auf die Wunde einige Lagen von Gaze
und über die Gaze das Vulnoplast. Auf
diese Weise wird die Wunde abgeschlossen,
und doch besteht nebenbei genügend Ven-
tilation, damit die Wunde ausdunsten kann,
und es wird alles Sekret von der Gaze und
dem Vulnoplast aufgesaugt. Diese Behand-
lung führt mau so lange fort, bis man eine
gereinigte Granulationsfläche vor sich hat, und
das Ulcus nicht mehr so tief ist. Wenn
nämlich im Anfang der Behandlung der
Ulcera, wo das Geschwür noch mehrere Milli-
meter im Grunde tiefer ist als die umgebende
Haut, die Gaze weggelassen wird, und man
das Vulnoplast direkt auf die Wundfläche
legt, so findet sich nicht genügend Gelegen-
heit, um das Sekret aufzusaugen, denn das
Vulnoplast wird infolge der großen Tiefe des
Ulcus nicht den Boden desselben bedecken,
sondern als Dach über der Höhlung des Ge-
schwüres ausgespannt erscheinen. Es sammelt
sich dann das ganze Sekret der Wunde auf
dem Boden des Geschwüres an und wird nur
zum Teil vom Vulnoplast können aufgesaugt
werden. Man muß deshalb einige Gaze-
lagen auf dem Grunde des Ulcus ausbreiten,
damit diese das Sekret aufsaugen. Hat man
es aber mit einem sehr flachen, wenig in die
Tiefen des Unterhautzellgewebes eindringen-
den Ulcus zu tun, so kann man die Gaze-
schicht weglassen und das Vulnoplast direkt
auf das Geschwür legen. Wenn aber nach
einigen Tagen gereinigte Granulationen sich
gebildet haben, wenn infolge derselben der
Boden des Geschwüres gehoben ist und die
Tiefe des Ulcus nur noch wenige Millimeter
beträgt, braucht man keine Gaze und auch
kein Wundstreupulver auf das Ulcus zu
streuen und zu legen, sondern man bedeckt
das Geschwür direkt mit dem Vulnoplast.
Wenn letzteres auf den Granulationen auf-
liegt, wird die Gelatine -Xeroformpaste ge-
löst, und das Protargol und Xeroform wirken
direkt auf die Granulationen ein. Diese
beiden Stoffe sind ja sehr bekannte Mittel,
um eine langdauernde Desinfektion der Wund-
fläche zu erzielen. Das Xeroform wirkt sehr
stark bakterientötend, ebenso das Protargol.
Dabei kommt beiden Stoffen noch eine die
Granulationsbildung anregende Wirkung zu.
Man sieht dann auch sehr bald den Erfolg,
indem sich bei der Vulnoplastbehandlung der
Ulcera die Granulationen reinigen und üppig
wachsen, so daß die Heilung dadurch sehr
begünstigt wird. Es sind auf diese Weise
eine Reihe von Fällen von mir behandelt
worden, und es hat sich herausgestellt, daß
die Heilung überaus bald erfolgte. Natürlich
314
Müller, Obftt Vulnoplast.
tTherapeutteehe
Monatshefte.
muß man das Vulnoplast öfters wechseln und
erneuern, doch ist das gar nicht sehr häufig
notig. Es kommt dabei ganz auf die Wund-
verhältnisse an, denn hat man es mit stark
sezernierenden Ulcera zu tun, namentlich
auch im Anfang der Behandlung, wenn die
Granulationen noch nicht gereinigt sind, und
sich infolgedessen eine stärkere Sekretion
bemerkbar macht, muß man die Verbände
öfters wechseln, meist jeden Tag, denn es
ist dabei die Reinigung der Wunde von diesen
Massen sehr wichtig. Ist es aber für den
Arzt sehr erschwert, jeden Tag den Verband-
wechsel vornehmen zu müssen, so kann er
leicht den Kranken selbst den Wechsel aus-
fuhren lassen, und er kontrolliert diese Be-
handlung nur ein- bis zweimal in der Woche.
Dies ist besonders wichtig für die Kassen-
praxis, wo der Arzt nicht täglich die Be-
handlung vornehmen kann. Dann kann er
ohne Sorge dem "Kranken die Behandlung
mit Vulnoplast überlassen. Erst später,
wenn die Sekretion weniger geworden ist,
kann man den Vulnop lastverband einige Tage
liegen lassen und wird am besten den Ver-
bandwechsel nur 1- oder höchstens 2 mal in
der Woche vornehmen. Es ist daher leicht
ersichtlich, daß die Wundbehandlung mit
Vulnoplast eine überaus einfache, aber recht
brauchbare Methode vorstellt.
Die Verwendung des Vulnoplast ist aber
nur für die infizierten Wunden möglich in
der Art, daß man das Vulnoplast direkt auf
die Wunde legt. In Fällen von aseptischen
Wunden wird man natürlich die imprägnierte
Fläche des Vulnoplast nicht direkt mit der Wund-
fläche in Berührung bringen dürfen, denn
diese Fläche ist nicht als aseptisch anzu-
sehen, und es könnte die Wunde infiziert
werden. Natürlich wird man an dem Vulno-
plast nicht gerade schwer toxische Bakterien
finden, denn die Herstellung ist ja eine sehr
saubere und reinliche. Immerhin kann man
dasselbe nicht als aseptisch betrachten, denn
es sind reichlich Gelegenheiten vorhanden,
wo Bakterien der verschiedensten Arten aus
der Luft auf das Vulnoplast fallen können,
die nun an der imprägnierten Fläche haften
bleiben und von dort in die Wunde gelangen.
Man kann nicht annehmen, daß das Protargol
und Xeroform dieser Paste die Bakterien ab-
töten. Es wird aber auch nie nötig sein,
Vulnoplast auf aseptische Wunden zu appli-
zieren. Nur in jenen Fällen, die ich oben
näher erörtert habe, bei Laparotomie etc.,
kann man das Vulnoplast verwenden, doch
dann wird man stets die Wunde selbst mit
einer dicken Lage von steriler Gaze oder
Watte bedecken. Somit werden die dem Vulno-
plast etwa anhaftenden Bakterien nicht in die
Wunde gelangen können. Hierbei ersetzt
das Vulnoplast das Heftpflaster. Wenn man
nun auch nicht kleinere aseptische Wunden
direkt mit Vulnoplast bedecken kann, so
kann man es doch stets an Stelle des Heft-
pflasters verwenden, indem man eben die
Wunde selbst mit sterilen Verbandstoffen oder
einem Streupulver oder imprägnierten Gazen
bedekt und über diese Verbandmaterialien
das Vulnoplast appliziert. Man ersieht aus
diesen wenigen Angaben, daß die Verwend-
barkeit immerhin eine ziemlich umfangreiche
ist, denn es treten im praktischen Leben so
viele Fälle auf, wo die Wunden schon in-
fiziert sind, wenn sie in die Behandlung des
Arztes gelangen, oder wo die Kranken erst
selbst einige Tage die Behandlung über-
nommen haben und dabei die Wunde zu
einer schwer septischen werden ließen, bis
sie sich an den Arzt wenden, kurz, wo man
an eine Heilung per primam nicht denken,
sondern die Wunde durch Granulationsbildung
sich schließen lassen muß. Und in allen
diesen Fällen hat sich das Vulnoplast in
einer großen Reihe von Fällen sehr gut be-
währt, und es wird sich in der Chirurgie
bald auch weiteren Eingang bei anderen
Ärzten verschaffen, indem es das Heftpflaster,
welchem gar manche Nachteile und unan-
genehme Wirkungen anhaften, ersetzt.
Das Vulnoplast wird von Dr. Wasser-
zug, Fabrik Pharmazeutischer Spezialitäten,
Frankfurt a. M. Theaterplatz 1, hergestellt
und in den Handel gebracht. Es kann aus
jeder Apotheke bezogen werden.
Über die Verwendung" der Flatulin-
pillen (Dr. J. Boos) bei Magren- und
Darmerkrankungren.
Von t
Med. univ. Dr. Riohsrd Fucht,
Distrikt»- und Bahnarst in Blaistadt (Böhmen).
In der ärztlichen Therapie der Magen-
und Darmkrankheiten spielen die Carmin-
ativa eine nicht geringe Rolle. Hat doch
der Arzt sehr häufig die Aufgabe, die infolge
abnormer Gärungs- und Fäulnisprozesse im
Magen und Darmkanal entstehenden Gase,
die nicht nur die Verdauung stören, sondern
auch sehr häufig Leibschmerzen verursachen,
entweder durch mechanische oder chemische
Absorption zu binden, oder durch Hebung
der Peristaltik sie auf den natürlichen Wegen
auszutreiben.
Die praktische Erfahrung lehrt, daß dieser
Effekt durch die Carminativa erreicht wird,
wenn man auch bis jetzt physiologisch sich
über die genaue Wirkung dieser Arzneigruppe
XIX. Jährt «ng.1
Juni 190*. J
Puchi, Platulinplllan b«i Mag«n- und Darmerkrankungen.
315
noch nicht vollkommen klar ist. Jedenfalls
scheinen die Carminativa durch einen stär-
keren Reiz auf die nicht normalen Schleim-
häute des Magens und des Darmes oder
durch Beeinflussung des Innervationszustandes
des Yerdauungskanales (Losung von Darm-
spasmen) alle diejenigen Störungen (Ent-
wickelung von Gärungsgasen als Kohlensäure,
Schwefel wasserstoffgas, Aufblähungen) zu be-
heben, die durch ungenügende Verarbeitung
und zu langen Aufenthalt der Speisen im
Magen und Darm entstehen. So groß auch die
Seh aar derjenigen Mittel ist, denen blähungs-
treibende Eigenschaften zugeschrieben werden
— ich erwähne nur Fol. Menth, piper., Fol.
Meliss., Flor. Chamomill., Fruct. Foenic, Fruct.
Carvi, Fruct. Anisi, ätherische Öle, Kampfer-
arten, Äther- Chloroform, von den physi-
kalischen Mitteln warme Umschläge, er-
regende Prießnitzsche Umschläge, Massage,
Elektrizität (Faradisation) — so weiß doch
der praktische Arzt nur zu gut, daß jedes
einzelne der angeführten Mittel nur zu oft
im Stiche läßt, und daß man nur durch eine
zweckmäßige Vereinigung dieser Mittel einen
Heileffekt erzielt.
Unter solchen Umständen wird gewiß der
praktische Arzt ein Mittel lebhaft begrüßen,
das durch eine äußerst glückliche Zusammen-
setzung von Arzneien sich nicht nur als ein
vorzügliches blähungstreibendes Medikament
bewährt, sondern auch andere Symptome (als
Appetitlosigkeit, Aufstoßen, Stuhlverhaltung
etc.) bekämpft, die Magen- und Darmleiden
so gerne begleiten, und das gegenüber ähn-
lichen Präparaten den nicht geringen Vor-
zag besitzt, ganz frei von allen schädlichen
Nebenwirkungen zu sein. Ein solches Prä-
parat sind die Flatulinpillen , die aus der
chemischen Fabrik Dr. J. Roos, Frankfurt,
stammen. Betrachten wir die Zusammen-
setzung dieses Präparates, so finden wir, daß
sie aus je 4 Teilen Natrium bicarbonicum,
Magnesium carbonicum, Pulv. Radicis Rhei
und je 3 Teilen Ol. Foeniculi, Ol. Carvi und
Ol. Menth ae piperitae bestehen. Der erste
Bestandteil (Natrium bicarbonicum) hat den
Zweck der Säureabstumpfung resp. der Säure-
bindung. Wie zweckmäßig dieser Bestand-
teil ist, ersehen wir daraus, daß die meisten
Erkrankungen des Magens mit Salzsäure-
überschuß einhergehen. Der zweite Bestand-
teil, das Magnesium carbonicum, erfüllt den
gleichen Zweok und scheint insbesondere die
sich bildenden Fettsäuren zu binden. Als
dritten Bestandteil finden wir Pulv. Radicis
Rhei, das uns Ärzten nicht nur als ein
mildes Laxans, sondern auch als ein gutes
Tonicum und Stomachicum zumal für Greise,
Dyspeptiker bekannnt ist. Als weitere Be-
standteile finden wir die ätherischen Öle von
Fructus Foeniculi, Carvi und Fol. Menthae
piperitae. Wir wissen, daß diese ätherischen
Öle die Sekretion des Magens, Darmes, sowie
des Speichels anregen, daß sie antizymotisch,
desinfizierend wirken, und daß nach Boas
die Anwendung dieser Olea insbesondere
bei den Formen der chronischen Flatulenz
indiziert erscheint, während die aromatischen
Theesorten dieser Arzneigruppe sich mehr
bei akuten Kolikanfällen bewähren. Daß
die sämtlichen angeführten Bestandteile dieses
Präparates von vorzüglicher Qualität sind,
sowie in die so brauchbarer Arzneiform genau
dosierter Pillen gebracht wurden, ist gewiß
ein weiterer Vorzug dieses Präparates gegen-
über ähnlich wirkenden Mitteln. —
Ob ihrer guten Eigenschaften habe ich
nun in meiner Praxis die Flatulinpillen nach
Dr. Roos, die bereits von den Sanitäts-
räten Dr. Hof maier und Dr. Gorges so-
wie den Ärzten Dr. Zeuner, Breiderhof f,
Gerson in Berlin und vielen anderen Ärzten
mit Erfolg angewendet wurden, häufig ordi-
niert und gestatte ich mir, einige kurze
Krankengeschichten und über die Anwendung
und den Erfolg dieser Pillen zu berichten.
1. Die 30 jährige Gattin eines Glasarbeiters R.
litt seit Monaten an einem Magen -Darmkatarrh,
Stahlverstopfang and kopiöse schleimige Entleeran-
gen wechselten ab, es stellte sich Meteorismus ein
and Patientin klagte über Vollsein. Nachdem ver-
schiedene Narcotica (Kodein, Opium) sowie Klysmen
gegen die wechselnden Beschwerden ohne Erfolg
gegeben worden, versuchte ich die Roosschen
Flatulinpillen, nach jeder Mahlzeit 2 Stück Pillen.
Nach 8 tagiger Behandlung erfolgte taglich 1 Stuhl-
gang, Diarrhöe ließ nach, Meteorismus und das Ge-
fühl von Vollsein waren verschwunden.
2. Die Bahnwächtersgattin J. aus Werth be-
kam nach dem Genüsse von frischem Kuchen
einen starken Magenkatarrh, klagte seit 5—6 Tagen
über Druck im Magen, Appetitlosigkeit. Zunge ist
belegt, Unterleib aufgetrieben, bei Palpation schmerz-
haft, Stühle erfolgen täglich 2—3 mal unter heftigen
kolikartigen Schmerzen, und die Entleerungen sind
von aasbaftem Geruch. Ich verordnete neben der
entsprechenden Diät täglich 3 mal 3 Stück Flatulin-
pillen nach jeder Mahlzeit. Schon am folgenden
Tage zeigte sich nach der Einnahme dieser Pillen
eine bedeutende Besserung, die nach 10 Tagen in
vollständige Genesang überging.
3. Die Beamtengattin S. Seh., neurasthenisch,
klagt über Appetitlosigkeit, Verdauungsstörungen,
Aufstoßen, Stunlverstopfung, Völle im Leibe. Pati-
entin wurde mit allen möglichen Arzneien, Abführ-
mitteln, Speisepulvern, Diätkuren behandelt, be-
suchte auch die benachbarten Thermen Karlsbad,
Franzensbad ohne wesentliche Besserung. Neben
einer kräftigen, aber nicht schwer verdaulichen Diät
verordnete ich der schon abgemagerten Patientin
Flatulinpillen, täglich 3 mal 4 Stück nach dem
Essen. Nach 14 tägigem Gebrauch dieser Pillen
verschwand das Aufstoßen, die Völle, es stellte sich
regelmäßiger Stuhl ein, Appetit hob sich zwar
langsam, doch stetig, und auch der psychische Zu-
stand besserte sich.
316
Fuehs, Flatuliopülan bei Magen- uod Darm«rkrankung«n.
rTherapeutiaehe
L Monatshefte.
Schöne Erfolge erzielte ich mit den Flatulin-
pillen bei einem Post- und einem Bahnbeamten,
die beide hochgradig nervös sind. Beide hatten
eine Dünndarmerkrankung, klagten heftig 3 Stunden
nach der Mahlzeit über Unruhe, Kollern, Spannungs-
fefühle und Blähungen im Leibe, über Schlaflosig-
eit, Kopfschmerz. Ich verordnete beiden Dr. Roos'
Flatulinpillen, nach jeder Mahlzeit 3 Stück, und
schon nach 10 tagigem Gebrauche dieser Pillen
besserte sich das Gesamtbefinden.
Durch diesen Erfolg aufgemuntert, möchte
ich den Kollegen gar sehr die Anwendung
der Flatulinpillen bei solchen Fällen von
Dünndarmerkrankungen nervöser Personen
empfehlen. Sind doch die Beschwerden
solcher Personen groß, da vom nervenreichen
Dünndarm durch den Sympathicus benach-
barte und entfernte Organe (Magen, Herz,
Kopfnerven etc.) irritiert werden, und lassen
alle die bekannten Mittel gegen diese Be-
schwerden gerne im Stiche.
4. R. L., Glasbläser, 50 Jahre alt, seit 10 Jahren
arthritisch, klagt über Verdauungsstörungen, Auf-
stoßen, Appetitmangel, Sodbrennen, Beschwerden,
die durch eine streng vorgeschriebene Diät, An-
wendung von Amara, Speisepulvern (Pepsin. Bismuth.
snbnitr.), Abführmitteln nicht gebessert wurden.
Ich verordnete 3 mal täglich 4 Stück Flatulinpillen
nach dem Essen und auch da zeigte sich gar bald
die günstige Wirkung derselben durch Hebung des
Appetites und Regelung der Verdauung.
5. 0. R., Glasbläser, hat infolge zu starken
Alkoholgenusses Störungen von Seiten des Herzens
und des Verdau ungstractus, welch letztere sich in
unregelmäßigem Stuhlgang, Erbrechen, Sodbrennen,
Appetitlosigkeit, Schmerzen im Magen, Aufgetrieben-
sein des Abdomens äußerten. Patient versuchte
alle diese Beschwerden durch noch stärkere Reiz-
mittel, als Kognak, starke Schnäpse, Heringe zu
beseitigen, wodurch sich sein Zustand sehr ver-
schlimmerte.
Ich verordnete Flatulinpillen täglich 3 mal
4 Stück nach dem Essen, regelte die Diät und er-
laubte nur ein sehr geringes Quantum Alkohol in
der Form des Pilsner Bieres. Die Flatulinpillen
erzielten auch hier einen befriedigenden Erfolg, in-
dem alle die Beschwerden sich verloren, Stuhlgang
sich regelte und der Appetit sich hob. Doch hielt
die Besserung leider nicht lange an, da durch Ex-
zesse in potu wieder Störungen des Magens und
des Darmes hervorgerufen wurden.
Auch in einem Falle von Dilatatio ven-
triculi bewährten sich die Flatulinpillen.
6. Es handelte sich um einen 48 jährigen Berg-
mann aus P., der über Appetitlosigkeit, Abmagerung,
Erbrechen mancher Speisen, Stuhl verhaltung, Auf-
getriebensein des Leibes und Blähungen klagte.
Demselben verordnete ich, da trotz entsprechender
Diät, Magenausspülungen keine Besserung eintrat,
die Dr. Roos sehen Flatulinpillen, nach jeder Mahl-
zeit 4 Stück, wodurch Stuhlgang und Abgang von
Winden erzielt wurden.
Ein nicht minder gutes, wenn auch nicht
lange währendes Resultat erzielte ich mit
den Flatulinpillen bei einem Carcinoma ven-
triculi.
7. Es handelte sich um eine 34 jährige Frau IL,
Tischlersgattin, Bleistadt, die infolge des Neo-
plasmas sich am meisten über das sie belästigende
Aufstoßen sowie über die Blähungen beklagte.
Derselben gab ich nach jeder Mahlzeit 2 Pillen, die
angeblich den Appetit noben und den Stuhlgang
herbeiführten. In Bälde erlag jedoch die Frau
ihrem bösen Grundleiden.
Mit gutem Erfolg wandte ich die Flatulin-
pillen bei Stuhlverstopfung und Blähungen
alter Leute an, deren Darmmuskulatur be-
kanntlich atrophisch ist. Auch bei den Be-
schwerden der Hämorrhoid arier bringen die
Flatulinpillen Erleichterung, da sie als mildes
Laxans die Mastdarmschleimhaut nicht reizen,
wie dies die stärkeren Drastica (Aloe, Kolo-
quinthen etc.) tun. Aus dem Gesagten ersehen
wir, daß wir in Dr. Roos' Flatulinpillen
nicht nur ein vorzugliches blähungstreibendes
Mittel besitzen, sondern auch ein gutes Ver-
dauungsmittel, da es den Appetit anregt, den
Stuhlgang regelt, säuretilgend, gärungswidrig
und desinfizierend wirkt. Ob ihrer Zu-
sammensetzung und Zubereitung werden die
Pillen von allen Patienten sehr gern ge-
nommen und wirken selbst bei sehr langem
Gebrauch auf den Magen, Darm und auf die
anderen Organe nicht schädigend ein. Der
geringe Preis der Pillen (Original Schachtel zu
50 Pillen M 1. — ), die in netter Verpackung
in den Handel gebracht werden, läßt auch
die Anwendung derselben in der Praxis pau-
perum im Gegensatze zu den teuren Speise-
pulvern zu.
Einige Bemerkungen su H. Koppe«
Arbeit: Über das Gesetz des osmotischen
Gleichgewichtes im Organismus.
Von
Prof. H. Strauß in Berlin.
Die in der Märznummer dieser Monats-
hefte erschienene Arbeit von Koppe veranlaßt
mich zu einigen Bemerkungen, welche die
Richtigstellung einiger Äußerungen von Koppe
bezwecken. Seine Darstellung erweckt den
Anschein, als hätte ich im Jahre 1902 in
einer Arbeit „über osmotische und chemische
Vorgänge im menschlichen Chylusu ohne
eine genügend klare Begründung eine
andere Anschauung über den Umfang der
Veränderlichkeit des osmotischen Drucks des
menschlichen Blutserums vertreten als 2 Jahre
zuvor (18. Kongreß f. inn. Med. zu Wiesbaden)
bezw. 1 Jahr vorher (Arbeit von Nagel-
schmidt). Ein solcher Anschein wird dadurch
erweckt, daß Koppe einerseits mehrere in
der oben genannten, 1902 erschienenen, Arbeit
enthaltene Sätze nicht berücksichtigt, an-
dererseits einige dort vorhandene Bemerkungen
in unrichtiger Weise deutet. Vor allem
hat Koppe übersehen, daß sich, wie .aas
der Arbeit ersichtlich ist, mein Einspruch
XIX. JmhTgmnff.l
Jan! 190&. J
Strauß, QeMb das osmotischen Gleichgewichts.
317
gegen den von Koppe vertretenen umfang
der Veränderlichkeit des osmotischen Drucks
des menschlichen Blutserums keineswegs allein
und auch nicht einmal vorwiegend auf das Er-
gebnis meiner Chylusuntersuchungen gründet,
sondern auf eine zusammenfassende
Betrachtung der in derselben Arbeit
zitierten, gleichsinnig ausgefallenen,
Ergebnisse der kryoskopischen Unter-
suchungen von Viola, meiner eigenen an
der Milch gewonnenen Befunde, sowie der
mir damals schon vorliegenden und auch in
meiner Arbeit schon erwähnten Ergebnisse
von Großmanns Versuchen, die in ihrer
Gesamtheit an sich schon genügten,
um den Köppeschen Anschauungen ent-
gegenzutreten. Neben diesen Befunden
habe ich allerdings gleichzeitig auch das Er-
gebnis meiner Chylus versuche mit berück-
sichtigt. Warum ich die Gesamtheit der
genannten Befunde hoher anschlug, als die
am Tiere gewonnenen Ergebnisse von
Nagelschmidt, habe ich klipp und klar
mit den Worten ausgesprochen: „Wenn
Nagelschmidt in seinen von mir ver-
anlagten und kontrollierten Versuchen bei
der Ziege und beim Kaninchen nach der
Zufuhr großer Mengen hochkonzentrierter
Salzlösungen zum Teil recht erhebliche Er-
höhungen des osmotischen Drucks des Blut-
serums beobachten konnte, so schließe ich
hieraus für die Vorgänge am Menschen
noch nicht das geringste. Denn erstens
sind die Regulationen beim Tier labiler als
beim Menschen, und dann waren die Be-
dingungen des Versuchs derartige, daß die
Tiere direkt in einen pathologischen
Zustand versetzt waren. tt Wenn Koppe
zitiert, daß „meine damaligen Erfahrun-
gen", mit welchen das Ergebnis meiner
Chylusuntersuchungen in Übereinstimmung
stand, diejenigen von Nagelschmidt
waren, so muß ich demgegenüber bemerken,
daß der dem betreffenden Passus unmittel-
bar vorausgehende Satz wort lieh lautet:
„Während Koppe bei einer Säugenden
vorfand, habe ich selbst in 4 Versuchsreihen,
die ich nach Verabreichung von 25 g Koch-
salz in 250 g Wasser unter 3/4 stündlicher Ent-
nahme der Milch je 4 — 5 Stunden lang
durchführte, nur einmal einen Anstieg von
S = — 0,57° auf 6 = — 0,61° beobachten
können." Also auch hier ist volle Klarheit
vorhanden. Und wenn ich schließlich noch
die Änderung meines Standpunktes damit
begründet habe, daß ich der Gefrierpunkts-
methode eine Überlegenheit gegenüber dem
von Koppe benutzten Hämatokritverfahren
zusprach, so habe ich mit dieser weiteren
Begründung meines Standpunktes nicht viel
anderes behauptet, als was Koppe selbst
6 Jahre vorher aussprach, indem er sagte
(Flügers Archiv Bd. 62 , S. 573/74): „Die
Bestimmung des osmotischen Drucks mittels
des Hämatokrits hat zwar nicht den Grad
der Genauigkeit der physikalischen
Methoden in bezug auf den absoluten
Zahlen wert der Messungen1) erreicht,
bietet aber doch innerhalb der Grenzen ihrer
Verwendbarkeit genügend Vorteile, um ihre
Anwendung zu rechtfertigen tt, und ein Jahr
später (Deutsche Medizinal-Zeitung 1903,
S. 423), indem er sagt: „Die Hämatokrit-
methode kann nicht den osmotischen
Druck aller Moleküle im Plasma
messen, sondern nur die für das Blut un-
durchgängigen, also die meisten Salze". Von
einer Unklarheit in der Begründung metner
1902 ausgesprochenen Meinung gegenüber
meiner früheren kann also nicht die Rede
sein, und es wird mein prinzipieller, auch
ohne die Chylusversuche genügend ge-
stützter, Standpunkt nicht beeinflußt von
dem, was der einzelne über die Zulässigkeit
einer Parallelstellung der am Chylus ge-
machten Beobachtungen zu einem entsprechen-
den Verhalten des menschlichen Blutserums
denkt. Gerade das „Gesetz des osmotischen
Gleichgewichts tt spricht zum mindesten nicht
gegen die Auffassung, daß man vom Chylus
dasselbe annehmen darf, was für die Milch
als zulässig erklärt wird. Ich bin aber gern
bereit, meine eigene Vorstellung in dieser
Unterfrage aufzugeben, wenn ich von der
Unrichtigkeit derselben überzeugt werde. Auf
die Hauptfrage, wie sich der osmotische
Druck des menschlichen Blutserums alimen-
tären Eingriffen gegenüber verhält, will ich
hier nicht des breiteren eingehen, ebenso
will ich nicht die Frage des Verhaltens
des osmotischen Drucks menschlicher Magen-
inhalte hier genau erörtern, da ich beide
Fragen bereits an anderer Stelle besprochen
habe, bezw. auf die letztere noch einmal
an anderem Orte zurückkomme. Dagegen
muß ich die Behauptung Kopp es, „in der
Arbeit von Roth und Strauß werden meine
theoretischen Darlegungen (S. 6 — 7) voll-
inhaltlich wiedergegeben (ohne Hinweis auf
meine Publikationen) u ganz entschieden
zurückweisen. Denn auf S. 6 — 7 des Separat-
abdrucks der betreffenden Arbeit sind als
Einleitung zur Arbeit und zur Begrün-
dung der Notwendigkeit spezieller
Untersuchungen in ganz allgemeiner
Weise die theoretischen Möglichkeiten
erörtert, wie sie vom Standpunkt einer
*) Anm.: Das in diesem Satz und in dem fol-
genden Satz gesperrt Gedruckte ist im Original
nicht gesperrt.
318
Referate.
L Monatsheft«.
rein physikalisch-chemischen Betrachtung der
Dinge für das Verhalten von Losungen im
Magen in Frage kommen können. Ganz ab-
gesehen davon, daß eine solche ganz all-
gemein gehaltene Erwägung von Mög-
lichkeiten, zwischen welchen auch nicht
die geringste Entscheidung getroffen wurde,
mit der Abgabe eines bestimmten, eine
ausgesprochene Stellung einnehmenden, Ur-
teils nicht gleichbedeutend ist, waren
die Vor aus s et zun gen unserer Beurteilung des
Gesamtvorganges andere, als diejenigen
von Koppe, insofern ja in Eöppes Betrach-
tungen die Veränderlichkeit des osmoti-
schen Druckes des menschlichen Blutserums
im Mittelpunkt steht, während wir von einer
Konstanz des osmotischen Druckes des
menschlichen Blutserums ausgingen. K ö p p e s
Standpunkt ist nicht bloß in Pflügers
Archiv Bd. 62, S. 585 mit den Worten
niedergelegt: „Nach der Einfuhrung von Koch-
salzlösung in den Magen wird eine Erhöhung
des osmotischen Druckes des Blutplasmas
beobachtet, welche bedingt ist sowohl durch
eine Aufnahme der eingeführten Salze in das
Blut wie auch durch eine Wasserabgabe in
den Magen a, sondern auch in seinem Frank-
furter Vortrage, wo Koppe sagt (S. 7): „In-
folge der Salzaufnahme zeigt sich dagegen
der osmotische Druck des Blutplasmas nach
dem Genuß der Suppe erhöht". Wenn uns
allerdings z. Zt. der Niederschrift unserer Arbeit
die Anschauung Köppes in demjenigen
Teil, welcher sich auf das Verhalten des
Mageninhaltes bezieht (cf. Zitat aus
Pflügers Archiv), bekannt bezw. in Erinne-
rung gewesen wäre, so hätten wir sie sicher
erwähnt, trotzdem Koppe von dem einzigen
von ihm zum Studium der Frage ausgeführten
Ausheberungsversuch — bei welchem dazu
noch die Bestimmung mit dem Hämatokrit-
verfahren ausgeführt wurde und keine
einzige Zahlenangabe geliefert wurde
— selbst sagt (Pflügers Arch. 1. c): „Auf
welche der angegebenen Arten der Druck-
ausgleich aber erfolgt, läßt sich aus dem
Versuch nicht sicherstellen". Koppe könnte
sich also höchstens darüber beschweren, daß
wir ein bestimmtes, einen Teil der Frage
berührendes, Urteil von ihm nicht in den
Kreis unserer Betrachtungen gezogen haben,
von einer „vollinhaltlichen Wiedergabe seiner
theoretischen Darlegungen" kann nach dem
Mitgeteilten aber gar keine Rede sein.
Referate.
Das „Radlumkleid" (Radiumüberzug).
In der IX. Sitzung der „Society for Ex-
perimental Biology and Medicine" zu New York
am 21. Dez. v. J. hielt Herr Hugo Lieber einen
Vortrag über „Radium und einige Methoden für
seine therapeutische Anwendung". Dabei handelte
es sich um Vorführung einer Erfindung des
Redners, Radium und seine Salze in einer
wirksameren als der bisher verwendeten Form
in der Therapie nutzbar zu machen.
Radium entsendet zunächst: 1. Emanationen
und 2. a-Strahlen; die Emanationen zersetzen
sich schnell zu ß- und ^-Strahlen. Glasröhrchen
und ähnliche Behälter, welche man zur Auf-
nahme der Radiumpräparate verwendet, bilden
in ihren Wänden ein gewisses Hindernis für
die Weiterverbreitung der beiden Produkte des
Radiums, und selbst die oberste Schicht eines
Radiumpräparats ist mehr oder weniger un-
durchlässig für die Ausstrahlungen der tieferen
Schichten. Daher bislang so manche Enttäuschung
bei therapeutischen Versuchen mit Radium.
Um nun den vollen radioaktiven Effekt
einer gegebenen Menge Radium zu erhalten,
muß man das Radium in solcher Form ver-
wenden, daß 1. die Wände des Behälters weder
die Emanationen noch die a-Strahlen aufhalten ,
- und daß 2. die gegebene Menge Radium so •
dünn ausgebreitet ist, daß, praktisch gesprochen, I
eine oberste Schicht nicht besteht. Auf diese I
beiden Punkte stützt sich die Erfindung des
Herrn Lieber, welcher er den Namen „ Radium-
kleider" (radium coatings) gibt.
Das Prinzip ist folgendes: Radium (Radium-
salze) wird in einem geeigneten Lösungsmittel
gelöst und in diese Lösung ein geeigneter Träger
eingetaucht, an dem etwas von der Lösung hängen
bleibt; das Lösungsmittel verdunstet und läßt auf
dem Träger eine äußerst dünne Radiumschicht
zurück. Die Art des Lösungsmittels hängt von
der Art des Trägers ab. Werden z. B. als
Trager Zelluloidstäbchen, -Scheiben oder ähn-
liches verwandt, so benutzt man als Lösungs-
mittel Alkohol, Amylacetat oder dergl. Das
Zelluloid wird dabei vorübergehend oberflächlich
erweicht, so daß später das Radium nicht allein
einen Überzug bildet, sondern der Oberfläche
des Trägers auch gewissermaßen einverleibt ist.
Darüber kommt eine dünne Lage von Kollodium,
um ein zufälliges Abstreifen des Radium Überzugs
zu verhindern; nach einigen Tagen wird die
Koilodiumdecke so zähe, daß sie dem „Radium-
kleid" vollkommenen Schutz gewährt. Durch
Tinktion der Radiumlösung wie des Kollodiums
mit einer Anilinfarbe wird dann noch kenntlich
gemacht, ob dos Radiumkleid intakt ist oder
nicht. Versuche haben gezeigt, daß Radium-
präparate in dieser Form weit wirksamer sind
als bei der bisher gebräuchlichen Anwendangs-
weise; so hat ein dünne6 Stäbchen, an seiner
XIX. Jahrgang. 1
Jnnl 1906. J
Referate.
319
Spitze mit solchem Überzug aus Radiumbromid
von 10000 Aktivität versehen, — wobei also
nur eine ganz geringe Menge Radium vor-
handen ist — denselben Einfluß auf das Elektro-
skop wie lg Radiumbromid von derselben
Aktivität in einem Glasröhrchen oder wie 10 mg
Radiumbromid von 1 000 000 Aktivität in einer
sehr dünnen Aluminium kapsei. Auch das Spin-
thariskop von Crookes beweist die Vorzüge
dieser Anwendungsform.
Diese „Radiumkleider" geben uns, praktisch
genommen, die Möglichkeit, Radium direkt auf
jeden Körperteil einwirken zu lassen, da jedes
beliebige Instrument an passender Stelle mit
diesem Überzug versehen werden kann. Ferner
werden sie durch kochendes Wasser nicht be-
einflußt, so daß die mit „Radiumkleid" ver-
sehenen Instrumente auch sterilisierbar sind.
Der Bericht gibt dann noch die ausführ-
liche Beschreibung eines von dem Redner an-
gegebenen Apparates, um Radium in dieser
Form auch auf die Lungen einwirken lassen zu
können.
Anwendung des „Radiumkleides" bei
Lungenaffektionen: Nachdem von ver-
schiedenen Forschern die bakterizide Wirkung
des Radiums und seiner Salze, auch auf Tuberkel-
bazillen, bewiesen war, wurde der Vorschlag ge-
macht (Rutherford, Soddy u. a.), die Radium-
emanationen direkt in die Lunge zu blasen und
so die Tuberkulose zu bekämpfen. Die Schwierig-
keiten, welche sich der Ausführung dieser Idee
bei der bisherigen Anwendungsweise des Radiums
entgegenstellten, sind durch das „Radiumkleid"
nach Ansicht des Erfinders gehoben. Man ver-
wendet es in folgender Weise:
Ein Zelluloidrohr, A (s. Abbildung), ist auf
seiner Innenseite mit „Radiumkleid" versehen,
darüber eine Kollodiumdecke. Mittels eines gut
schließenden, durchbohrten Gummipfropfens, B,
ist ein dünneres Glasrohr, C, angeschlossen, welches
an diesem Ende eine Erweiterung hat. Dieses
Glasrohr ist mit dem Glashahn, D, versehen und
trägt an dem anderen Ende ein Gummigebläse, E.
An die andere Seite des Zelluloidrohres ist
dieselbe Vorrichtung angefügt (F, G, H); jedoch
ist die Glasröhre, G, nach der einen Seite hin
frei und kann hier durch einen Gummischlauch
an jedes beliebige Instrument angeschlossen
werden. Schließt man nun die beiden Glashähne
und läßt sie einige Stunden geschlossen, so
sammelt sich im Innern des Zelluloidrohrs eine
beträchtliche Menge von Radiumemanationen an.
Werden dann die Glashähne geöffnet und mittels
des Gummigebläses Luft durch das „Radiumrohr"
hindurchgetrieben, so werden die angesammelten
Emanationen mit dem Luftstrom fortgeführt und
können so durch einen geeigneten Anschluß
direkt in die Lunge des Patienten gelangen. —
Auch bei anderen Erkrankungen kann dieses
„Radiumrohr" angewandt werden, z. B. bei
Karzinom, Lupus u. s. w., indem man entweder
die Emanationen durch eine Hohlnadel in das
erkrankte Gewebe hineinbläst oder sie, bes. bei
geschwürigem Zerfall, direkt auf die Oberfläche
der Neubildung bringt; lagern sich die Ema-
nationen doch gerade auf feuchten Oberflächen
ab und zersetzen sich dort zu ß- und ^-Strahlen.
Durch eine geeignete Bedeckung, Pflaster etc.,
wird eine zu schnelle Verflüchtigung der gas-
förmigen Emanationen noch besonders verhindert.
(Nach den Bericht der „American Mediane*, Vol. IX,
No. 2, 18. Januar 1905.) K. Mallinckrodt.
Ober Vererbung der Disposition zur Tuberkulose.
Von Dr. Max Burckhardt (Basel).
Verf. hat an je 250 Tuberkulösen bezw.
Nichttuberkulösen anamnestische Erhebungen be-
treffs Vorkommen von Tuberkulose in den betr.
Familien angestellt, aus denen er schließt, daß
die Lehre von der Vererbung der Disposition
zu Tuberkulose zurzeit einer wissenschaftlichen
Begründung entbehre, da die Resultate der Ana-
mnese eher zugunsten einer Infektion in der
Familie sprächen.
Gegen diese Ausführungen ist u. a. einzu-
wenden, daß nicht nur tuberkulöse, sondern auch
anderweitig minderwertige Vorfahren Disposition
zur Tuberkulose vererben können. (Ref.)
(Zeitschr. f. Tuberk. u. Heilst. Febr. 1904, V, 4.)
Bsch (Bendorf).
Trauma und Lungentuberkulose. Von Prof.
R. Stern, Direktor der med. Universitäts-
Poliklinik Breslau.
Stern hält im Gegensatz zu Sokolowski
(Bd. IV, 5) an der in seinem Buche: „Über
traumatische Entstehung innerer Krankheiten u
ausgesprochenen Ansicht fest, daß die Möglich-
keit der Entstehung von Tuberkulose durch ein
Trauma bei einem vorher gesunden Menschen
bisher nicht ausreichend bewiesen sei.
Ob dieser Beweis jemals geführt werden
kann, das ist wohl für jeden, dem die Grenzen
unserer Erkenntnisfähigkeit klar sind, außer-
ordentlich zweifelhaft.
(Zeitschr. f. Tuberk. u. Heilst Okt. 1903, V, 1.)
Bsch (Bendorf).
320
l
Tfcerapaatlacl»
Monatshefte.
Beitrag zur Tuberkulose des Kindesalters and
Prophylaxe desselben. Von Dr. Kluge
(Itzehoe).
Verfasser glaubt, daß die Streitfrage, ob
die Infektion gegenüber der ererbten bezw. er-
worbenen Disposition eine untergeordnete Rolle
spiele oder nicht, am besten bei Kindern
entschieden werden könne, weil hier die Infek-
tion nur mit vererbter, nicht mit erworbener
Disposition konkurriere. Bei 150 Kindern der
Kieler medizinischen Poliklinik kommt er zu
dem Ergebnis, daß es sich meist um Infektion
als alleinige Ursache tuberkulöser Erkrankung
handle. Dabei ist er aber in den Fehler ver-
fallen, in der Anamnese immer nur die Tuber-
kulose zu berücksichtigen, während doch auch
andere Krankheiten der Erzeuger die Wider-
standskraft der Kinder herabsetzen können. Daß
die letztere im Kindesalter schon an sich ge-
ringer ist, leugnet Verf. nicht, ebensowenig wie
die Tatsache, daß andrerseits viele Kinder trotz
reichlicher Infektionsgelegenheit große Wider-
standskraft gegen Tuberkulose zeigen. Statt
aber nun die Mittel zur Stärkung dieser
Widerstandskraft in Erwägung zu ziehen,
empfieht er nur «einseitige Vorsichts-, Desinfek-
tions- und Isolierungsmaßregeln.
(Zeitschr f. Tuberk. u. Heilst, Mai 1903, IV, 4.)
Esch (Bendorf j.
Volksbelehrung and Tuberkulosebekämpfung« Von
Dr. A. Kayserling (Berlin.)
Trotzdem Verf. nicht verkennen will, daß es
außerordentlich schwierig ist, die richtige Mitte
zwischen Volksbelehrung und Volksbeängstigung
innezuhalten, tritt er doch energisch für Be-
lehrung des Publikums über die Ansteckungs-
gefahr der Schwindsucht ein unter lobender Er-
wähnung von ähnlichen Bestrebungen aus früheren
Zeiten und Hinweis auf die belehrende Einrich-
tung des Charlottenburger Tuberkulosemuseums.
Zu der schriftlichen Belehrung müsse die münd-
liche kommen in Schulen, populären Vorträgen
und Ähnlichem.
(Zeitschr. f. Tuberk. u. Heilst Febr. 1904, V, 4.)
Esch (Bendorf).
Lungentuberkulose und Erkrankuneen der Nase
und des Rachens. Von Dr. W. Freuden-
thal (New York).
Der Tuberkelbazillus muß irgendwo im
Körper einen günstigen Platz finden, um sich
dort zu entwickeln. Zu seiner Weiterentwicklung
ist aber noch ein weiterer Faktor nötig, nämlich
eine trophische Parese und mangelnde Wider-
standskraft des Gesamtorganismus. Wenn nun
eine solche Person mit „trophischer und zirkula-
torischer Insuffizienz" in irgend einem Teile
ihres Körpers günstige Verhältnisse für die Ent-
wicklung von Mikroben zeigt, so wird hier auch
der Tuberkelbazillus florieren.
Solche günstigen Verhältnisse findet er aber
besonders bei Personen mit trockenen und atro-
phischen Nasen -Rachenkatarrhen, von Freuden-
thal „Xerasie" genannt, die nach seiner Ansicht
oft infolge» schlechten Klimas, heißer trockener
Luft der Wohnräume etc. entstehen.
Wegen der wichtigen Holle, die Nasen- and
Rachenkrankheiten in der Ätiologie der Tuber-
kulose spielen, sollte also mehr auf dieselben
geachtet werden.
(Beitr. *. Kim. d. Tuberk. II, 1, 1903.)
Esch (Bendorf).
(Aus dem 8t. EllMbethipttal In Wlen/i
Zur Inhalatlonstheraple. Von Primärarzt Dr.
R. Frhr. v. Seiller.
Als es 8i ch zeigte, daß die Inhalations-
therapie nicht das zu leisten vermochte, was
man sich von ihr versprach, wich die voreilige
Begeisterung einer ebensowenig berechtigten
kritiklosen Geringschätzung. Demgegenüber be-
tont Verf. in dankenswerter Weise seine empi-
risch und ezpeiimentell (Jodreaktion der Sputa)
begründete Überzeugung, daß tatsächlich thera-
peutisch genügende Mengen zerstäubter Flüssig-
keit bis in die feinsten Luftwege gelangen können.
Nachdem Emmerich das schon an dem Buliing-
schen Rauminhalationsapparat „Guttafer" nach-
gewiesen hatte, stellte v. Seil ler Versuche mit
dem gleichfalls von Bulling konstruierten
transportablen „Thermovariator" an, ließ mit
ihm 1 — 2proz. Na Gl -Lösungen (ohne oder mit
Zusatz von 4 — 6 Tropfen Ol. pin. pumil. auf
50 g), Gleichenberger Quelle, Alaunlösung ohne
oder mit Morphin, Brunnenwasser und vor allem
1 — 2proz. Jodnatriumlösungen inhalieren und
konnte mit dieser Therapie eine große Anzahl
guter Erfolge bei akuter und chronischer Bron-
chitis, insbesondere der Bronchitis chron. sicca,
ferner bei Bronchialasthma und akuter Laryn-
gitis erzielen, bei Pneumonie wurde die Dyspnoe
gehoben.
(Wiener Min. Wochenschr. 1904, No. 43.)
• Esch (Bendorf).
JVL-Gladbacher Wohlfahrtseinrichtungen im Dienst
der Tuberkulosebekämpfung. Von Dr. med.
Blum, Oberarzt am Mariahilf hospital.
Die zwei Hauptfaktoren der Tuberkulose-
bekämpfung, gesunde Wohnung und ausreichende
Ernährung, haben in M.- Gladbach 2 Vereine zum
Gegenstand ihres Wirkens gemacht, der Wohnungs-
verein und der Verein zur Verpflegung Kranker
und Genesender. Während der letztere in einer
Kochanstalt nach ärztlicher Weisung zubereitete
Kost herstellen und in einem heizbaren Speise-
transportwagen für 25 und 40 Pf. den Kranken
bringen läßt, gibt der erstgenannte Verein Miets-
zuschüsse für ein weiteres Zimmer, stellt Betten
auf, läßt, wenn nötig, Zwischenwände errichten
und sorgt womöglich für die Miete der Ange-
hörigen von Heilstätteninsassen.
(Zeitschr. f. Tuberk u. Heilst. Okt. 1903, V, 1.)
Esch (Bendorf).
Ist gegenwärtig die ausschließlich medikamentöse
Behandlung exsudativer seröser Pleuritis zu-
lässig? Von Prof. S. W. Lewaschew (Kasan).
Von den oft auch spontan heilenden serösen
Pleuritiden ist circa */, der Behandlung mit
Natrium salicylicum zugänglich, äußere Mittel
sind wirkungslos. Führt die Salizylmedikation
nicht in 2—3 Wochen zum Ziele, so ist, um
XIX. Jahrgang.'
Jnat 1M.V
]
Referate.
321
ungünstige Folgen für Lunge und Brustkorb zu
vermeiden, Punktion des Exsudats das einzig
zuverlässige und geeignete Verfahren.
(Wiener med. Presse 1904, No. 37 u. 38.)
Esch (Bendorf).
(Ana dam ■tadtlaehen Kalter and Kaiserin Fried rlch-
Klndarkrankenhanie in Berlin.)
i. Erfahrungen über die Behandlung des Schar-
lach« mit AntJstreptokokkenserum. Im Auf-
trage des Herrn Direktors Prof. Dr. A. Ba-
ginsky mitgeteilt Von Dr. Ludwig Mendel-
sohn, früherem Assistenten. Deutsche med.
Wochensch, 1905, No. 12.
(Ana dar Padlatriaahan Klinik In Prag.)
a. Ober die Behandlung des 8charlachs mit Anti-
•treptokokkenserum. Von Prof. J. Gang-
hofner. Deutsche med. Wochen sehr. II
No. 14, 15.
1. Mendelsohn gibt eine Übersicht über
die im Kaiser und Kaiserin Friedrich-Kinder-
krankenhause in Berlin mit dem Aronsonschen
Antistreptokokkenserum bei Scharlach gewon-
nenen Erfahrungen.
Als bester Ort für die Injektion stellte sich
die Interskapulargegend heraus, da hier die Haut
am meisten verschieblich ist. Verwendet wurden
Dosen von 50 — 100 cem Serum und darüber,
die auf einmal injiziert wurden. Daneben wurden
in einzelnen Fallen ein- oder mehrmals 2—3 cem
Serum in die Tonsillen injiziert.
Bei richtiger Anwendung kamen nur die
Nebenwirkungen, welche allen Sera eigentümlich
sind, zur Beobachtung. Unter 144 Fällen traten
bei 47, d. h. in etwa 82 Proz. der Fälle, Spritz-
exantheme auf, und zwar örtliche (diffuse Rötung
und Schwellung in der Umgebung der Spritz-
stelle, nicht selten unter schwerer Störung des
Allgemeinbefindens, sodann typische, örtlich be-
grenzte Urticaria) und allgemeine (Urticaria mit
bis talergroßen, oft konfluierenden Quaddeln und
Exantheme, die magern- bis scharlachähnliches
Anasehen darboten, auch rubeolaartige Efflo-
reezenzen). Die lokalen Spritze* an theme traten
meist am ersten bis vierten, die allgemeinen am
6. bis 17. Tage nach der Injektion auf, letztere
waren ab und zu von Fieberbewegungen be-
gleitet.
Gelenkaffektionen traten in 10 Fällen auf,
sechsmal mit gleichzeitigem Spritzezanthem. In
einigen Fällen fand sich beim Auftreten der
Spritzexantheme geringer Eiweißgehalt. Affek-
tionen des Herzens geben eine Kontraindikation
gegen die Serumanwendung.
Eine wesentliche Beeinflussung der eigent-
lichen Scharlachsjmptome hat sich nicht gezeigt.
Die Fieberkurve zeigte keine Abweichung von
der gewöhnlichen Form, nur zuweilen stellten
sich nach der Injektion tiefe Remissionen ein.
Das Exanthem war bei den in den ersten Tagen
gespritzten Fällen gewöhnlich am 5.-7. Krank-
heitstage abgeblaßt. Die Erscheinungen am
Rachen zeigten in einzelnen Fällen auffällige
Besserung, schwere Erscheinungen bildeten sich
nur selten aus.
Maligne und septische Fälle (7 resp. 10)
konnten nicht durch das Serum gerettet werden,
doch war hier die Vergiftung des Körpers schon
eine zu starke, als daß das Serum noch hätte
helfen können. Von den übrigen 147 gespritzten
Fällen wurde nur ein einziger während der
Serumbehandlung septisch. Es ist jedoch frag-
lich, ob durch das Serum eine Immunisierung
erzielt worden ist.
Was die Komplikationen betrifft, so konnten
weder Drüsenaffektionen noch Ohrerkrankungen
noch Nierenentzündungen gänzlich vermieden
werden, es hat jedoch den Anschein, als ob das
Serum hier günstig gewirkt hat, obwohl die ge-
ringe Anzahl der Komplikationen auch auf den
milden Charakter der Epidemie zu beziehen ist.
Nachweisbar erscheint die günstige Wirkung des
Serums bei den Lymphdrüsenschwellungen, die
bei den nicht gespritzten Fällen 17 Proz., bei
den gespritzten nur 8 Proz. betrugen; obwohl
gerade bei letzteren eine ziemlich erhebliche
Zahl zur Vereiterung kam.
2. Ganghofner hat in 15 schweren und
allerschwersten Scharlachfällen je 10 — 30 cem
des Aronsonschen Serums injiziert. Diese ge-
ringe Dosis war ohne Einwirkung auf den Krank-
heitsverlauf geblieben, Wiederholung der Ver-
suche mit ausreichenden Mengen konnten wegen
Erlöschen der Scharlachepidemie noch nicht vor-
genommen werden.
Von den 15 mit Serum- behandelten Fällen
starben 7 = 46,6 Proz., die Mortalität wurde
also nicht beeinflußt. Dagegen wurde ein be-
trächtlicheres Absinken der Temperatur in den.
auf die Injektion folgenden 24 Stunden beob-
achtet, doch stieg die Temperatur nach diesem
Abfall wieder an. Allgemeinbefinden und die
übrigen Krankheitserscheinungen wurden bei An-
wendung dieser kleinen Dosen nicht auffällig
beeinflußt.
Verf. berichtet ferner über 8 ebenfalls
schwere und schwerste Scharlachfälle, die er mit
Moserschem Scharlach-Streptokokkenserum be-
handelt hatte. Hier betrug die Mortalität
5 == 62 Proz. In einem Fall schien die Rück-
bildung des Exanthems durch das Serum be-
fördert worden zu sein, der schwache Ausschlag
entwickelte sich nicht weiter und war am zweit-
nächsten Tage nach der Injektion verschwunden. *
In den andern Fällen machte sich ein Ein-
fluß auf das Abblassen des Exanthems nicht
bemerkbar, ebensowenig wurde der Eintritt von
Komplikationen verhindert. Besserung des All-
gemeinbefindens und Freiwerden des Sensoriums
wurde in 3 Fällen am ersten Tage, in 1 Falle
am 3. Tage nach der Injektion beobachtet. Der
Temperaturabfall war im ganzen derselbe wie
in den mit Aronsonschem Serum behandelten
Fällen. Schädliche Nebenwirkungen — abge-
sehen von Serumexanthemen — traten nicht
hervor.
Trotz einzelner günstiger Eindrücke hat
Verf. aus diesen allerdings geringen Fällen nicht
den Eindruck gewinnen können, daß der Schar-
lachprozeß in wesentlich günstiger Weise durch
das Mosersche Serum beeinflußt wird.
J<*cobson.
322
Referate.
tTherapeutlaelie
Monatshefte.
(Au« dem SuLadlalans-InfektionsspItale in Budapest.} '
Der Einfloß des Urotroplns auf die Entstehung <
der skariatinOsen Nierenentzündung. Von |
Primarius Dr. Kornel Preis ich.
An einer größeren Anzahl von Scharlach-
fallen hat Preisich die von Widowitz ange-
gebene Urotropinwirkung zur Verhütung einer kom-
plizierenden Nephritis nachgeprüft. 600 Schar-
lachkranke erhielten vom Tage der Aufnahme
ins Spital an, entsprechend dem 1. — 6. Tage der
Erkrankung, 3 Tage hindurch 8 mal täglich Uro-
tropin und nach 14tägiger Pause ein zweites Mal
die gleiche Dosis. Von den 600 Kranken bekamen
55, d. h. 9,16 Proz., Nierenentzündung. Zum
Vergleich wurden 600 Scharlach fälle, welche in
einem andern Krankenhause der gleichen Be-
handlung und gleichen Diät unterzogen wurden,
aber kein Urotropin erhielten , herangezogen.
Von diesen erkrankten 82, d. h. 13,66 Proz. an
Nephritis. Die Überlegenheit der Urotropin-
behandlung, obgleich hier schon offensichtlich,
wird noch klarer, wenn die Darreichung am 3.
und weiteren Tagen einsetzt. Von 376 so be-
handelten Patienten erkrankten nur 8,8 Proz. an
Nephritis, gegenüber 17 Proz., die nicht Urotropin
erhalten hatten. Die nach Uro tropin darreichung
sich einstellende Nephritis hat im allgemeinen
eine bessere Tendenz zur Heilung als die Ne-
phritis ohne Urotropin, doch kamen auch Fälle
vor, die Monate sich hinzogen, auch Todesfälle
an Nephritis sah Preisich, wenn auch selten,
mit Urotropin wie ohne Urotropin.
Aus den Erfahrungen Preisichs geht her-
vor, daß Urotropin bei entsprechender Dar-
reichung eine bedeutende (bis zu 50 Proz.) Ver-
ringerung der Häufigkeit der Nierenentzündung
bei Scharlach bewirkt. Die hier befolgte Art
der Darreichung erwies sich als vollkommen un-
schädlich.
(Therapie der Gegenwart Mai 1905, S. 211.) Jacobson.
(Aus der med. Abteilung des stadtlaehen Krankenhauses
su Frankfurt a. M. Direktor Prof. Ton Noorden.)
Beiträge zum Phosphorstoffwechsel. Von Dr.
L. Büchmann (Odessa).
Buch mann wollte sich durch seine Ver-
suche zunächst überzeugen, ob in das Blut auf-
genommene anorganische Phosphorsalze ausgenutzt
werden, ob im Organismus des Menschen aus
phosphorfreien Eiweißkörpern und anorganischen
Salzen synthetisch organische Phosphorverbin-
dungen zustande kommen können, und ob ein
Eiweißansatz ohne gleichzeitigen Phosphoransatz
stattfinden kann.
Es ergab sich nun, daß aller Phosphor, der
in Gestalt anorganischer Verbindungen mit der
Nahrung eingeführt wurde, den Körper wieder
verließ und daß somit eine Synthese aus Nahrung
und anorganischem Phosphor nicht möglich zu
sein scheint. Es wird zwar Nahrung in nicht
unerheblichen Mengen retiniert, aber Nahrungs-
und Phosphorumsatz können entgegen der von
verschiedenen Seiten aufgestellten Behauptung
vollständig unabhängig voneinander sein.
Ferner verfolgte Verf. das Schicksal ver-
fütterten Lecithins im Körper und kam zu dem
Ergebnis, daß die Lecithinnahrung günstig auf
den Stoffansatz im allgemeinen und auf die Zu-
nahme an phosphorhaltigen Geweben zu wirken
scheint, falls die vorgenommene Berechnung auf
richtigen Voraussetzungen beruht, d. h. falls
wirklich der im Körper verbliebene Kalk tat-
sächlich als phosphorsaurer Kalk im Knochen
abgelagert wird. Das ist aber durchaus noch
nicht als zweifellos klargestellt zu betrachten.
(Zeitschr.f. diätetische u. physikalische Therapie, Bd. 8,
H. 2 u. 3.) Eschle.
Heilanzeigen des Kefir. Von Prof. G. Hayem.
Kefir erfreut sich gegenwärtig auch bei ans
in Deutschland mit Recht einer ausgedehnten
und immer wachsenden Anwendung. Er genießt
ein wohlbegründetes Ansehen als ein meist gut
vertragenes und von den Patienten gern ge-
nommenes Nährmittel bei konsumierenden Krank-
heiten und Schwächezuständen. Hayem, der
den Kefir seit Jahren anwendet und ausgedehnte
Erfahrungen darüber besitzt, sieht in ihm weit
mehr. Er hält ihn geradezu für ein Heilmittel,
das, wie jedes andere Medikament, seine Indi-
kationen und Kontraindikationen besitzt, and
nur dann, wenn man diese sorgsam beachtet,
Erfolge zeitigt.
Der Kefir ist, wie bekannt, ein Produkt der
Milch, welche durch die kombinierte Einwirkung
eines Bakteriums, der Dispora caucasica und
einer Hefe, der Saccharomyces cerevisiae Meyen,
eine eigentümliche Veränderung erlitten hat.
Es bildet sich nämlich aus der Laktose der Milch
Milchsäure, Kohlensäure und eine kleine Menge
Alkohol, und der Geschmack des Getränks wird
ein angenehm säuerlicher. Gleichzeitig fällt das
Kasein in feinen Flocken aus (wohlverstanden
bei kunstgerecht bereitetem Kefir, der keine
gröberen Bröckel zeigen darf) und wird zu einem
beträchtlichen Teil in Peptone, Propeptone and
Milchsäure umgewandelt. Der Kefir ist also
eine Milch in den ersten Stadien der Ver-
dauung.
Aus dem Gesagten ergeben sich seine Vor-
züge vor der Milch und seine physiologischen
Wirkungen. Der eigentümliche Zustand der Vor-
verdauung und seine feinflockige Beschaffenheit
machen ihn verdaulicher und leichter resorbier-
bar als die Milch. Die Milchsäure geht ins
Blut über, bildet hier milchsaure Alkalien und
wird mit dem Harn in Form von kohlensaurem
Alkali ausgeschieden. Sie gelangt ferner aus
dem Magen in den Darm und übt hier eine,
wenn auch nicht bedeutende, so doch merkbare
mikrobizide Wirkung aus. Daher die erfolg-
reiche Anwendung des Kefirs als Antidiarrhoicum.
Die Kohlensäure, die in ihm enthalten ist, hat
einmal anästhesierende Wirkungen und vermag
in manchen Krankheitszuständen die Überempfind-
lichkeit des Magens zu mindern, andererseits regt
sie die Kontraktion der glatten Muskelfasern
in Magen und Darm an.
Hayem hat die Heilwirkungen des Kefirs
hauptsächlich bei einer Reihe von Magenaffek-
tionen studiert. Er fand ihn von überraschen-
dem Erfolge
1. bei Magenleiden, charakterisiert durch
Hyperpepsie, ja Apepsie, schwache Sekretion und
XIX. Jahrgang.!
Jqpi 1906. J
Referate.
323
rapide Entleeruog, die zuweilen schon eine Stande
nach Einnahme der Probemahlzeit vollendet war.
Solche Fälle sind häufig von mehr oder minder
starken Diarrhöen begleitet, und gerade bei ihnen
waren die Erfolge des Kefirs oft am über-
raschendsten. Ein spezieller Fall dieser Hyper-
oder Apepsie liegt vor, wenn irritierende Medi-
kamente bei einer bestehenden Gastritis ange-
wendet worden sind und eine den Krankheits-
zastand komplizierende Entzündung hervorgerufen
haben. Hier kommt durch Anwendung des Kefirs
die Entzündung sehr bald zum Schwinden.
2. Indiziert ist Kefir ferner in Fällen, bei
denen eine Hyper- oder Apepsie mit verzögerter
Entleerung des Magens infolge von geschwächter
oder atrophierter Magenmuskulatur kombiniert
ist. Hier aber kann ein Erfolg nur dann er-
zielt werden, wenn durch sorgfältige Regelung
der Quantität des zu trinkenden Kefirs, wie auch
der übrigen Nahrungsmittel eine Überlastung des
Magens vermieden wird.
3. In Fällen von mehr oder minder starker
Hyperpepsie mit sehr schwacher Sekretion und
schneller Entleerung des Magens, bei denen es
sich im allgemeinen um veraltete Magenaffek-
tionen mit komplexer Veränderung der Schleim-
haut und häufig um eine parenchymatöse, zur
Atrophie neigende Gastritis handelt.
4. Bei Magenkrebsen, selbst in vorgeschritte-
nen Stadien, wobei zu beachten ist, daß die
Entleerung des Magens nicht merkbar behindert
sein darf, d. h. es dürfen keine Stenosen vor-
handen sein.
5. Bei Kranken, die infolge eines schweren
chronischen Leidens, einer Tuberkulose, einer
symptomatischen Anämie, einer Nieren- oder
Leberaffektion, oder einer Krankheit des blut-
bildenden Systems etc. kachektisch geworden
sind. Doch kommt für den Erfolg der Kefirkur
bei allen diesen Leiden der Zustand des Magens
in Betracht. Hyperpeptische Tuberkulöse z. B.
werden von ihr keinen Vorteil haben, während
bei hyperpeptischen und atonischen Mägen sich
die Ernährung sehr bald heben wird.
Der Kefir hat nun seine bestimmten Kontra-
indikationen. Man darf ihn nicht anwenden bei
hyperpeptischen Kranken mit abundanter Se-
kretion und verzögerter Magenentleerung, im
allgemeinen auch nicht bei Magengeschwüren
(doch kann er in älteren Fällen mit schwacher
Magensekretion mit Vorteil Anwendung finden),
endlich nicht bei Pylorusstenosen. Um es kurz
zu sagen, paßt die Kefirkur bei allen Kranken, bei
denen eine Insuffizienz der Leistung des Magens,
besonders eine Insuffizienz der Sekretion, vor-
liegt, der Kefir ist also das Medikament der
sekretorischen und der muskulären Magenin-
suffizienz.
Hayem verordnet den Kefir entweder zu-
sammen mit andern Nahrungsmitteln, oder er
läßt seine Patienten nichts anderes als Kefir
genießen. Diese relativ selten verordnete „inte-
grale Kefirkur" betrachtet Hayem lediglich als
Vorbereitung zum gemischten Kefirregime. Sie
empfiehlt sich bei Kranken, bei denen die Hyper-
oder Apepsie mit starker Diarrhöe kombiniert
ist, ferner bei Krebskranken mit Erbrechen, das
selbst bei ausschließlicher Milchdiät fortdauert,
endlich bei hyperpeptischen Tuberkulösen mit
Diarrhöe. Anfangs erhalten die Kranken 5 bis
6 Gläser Kefir pro Tag in gleichen Zeitab-
schnitten, eine Quantität, mit der fortschreitend
bis auf 12 Gläser gestiegen wird. Nach einigen
Wochen geht Hayem dann zu einem gemisch-
ten Regime über, das er in allen andern, als
den oben gekennzeichneten Fällen von vornherein
zur Anwendung bringt. Dieses besteht einfach
darin, daß die Kranken zu den gewöhnlichen
3 Mahlzeiten statt jedes anderen Getränks 1 1/9
bis 2, und bei guter Verdauung und prompter
Entleerung des Magens zwischen Mittag- und
Abendbrot noch ein besonderes Glas Kefir
trinken. Es gibt bekanntlich 3 Arten von Kefir:
Kefir No. 1, der einen Tag der Fermentation
unterlag und abführende Wirkungen hat, No. 2,
der zwei, und No. 3, der 3 Tage lang fermen-
tiert hat. No. 2 ist mehr indifferent, während
No. 3 stopfend wirkt. Hayem ist fast stets mit
Kefir No. 2 ausgekommen, welcher die gute
Eigenschaft zeigte, sowohl bei Diarrhoikern als
bei Verstopften den Stuhl sehr bald zu regulieren.
(La Presse medic. 1904, No. 78.)
Ritterband (Berlin).
Die Einwirkung des Alkohols auf das Warm-
bluterherz. Von M. Kochmann.
0,3 proz. Alkohol -Blutlösungen sind ohne
wesentlichen Einfluß auf das Warmblüterherz;
0,4 proz. Alkohol-Blutlösungen bringen schon einen
schädigenden Effekt hervor. Die Pulsfrequenz
bleibt intakt, die Pulshöhe sinkt aber recht
merkbar.
0,5 proz Lösungen verlangsamen auch die
Schlagfolge des Herzens, 2 proz. veranlassen den
Tod. Der schädigende Einfluß des Alkohols tritt
stärker hervor, wenn der Anfangsblutdruck ein
höherer ist.
Eine exzitierende Wirkung des Alkohols auf
das Herz wurde vom Verfasser nie beobachtet.
Bei Hund und Kaninchen verursacht der Alkohol
in mittleren Gaben eine Blutdrucksteigerung von
ungefähr 7 Proz.; schaltet man die Möglichkeit
einer zentralen Vasomotionserregung vollkommen
aus, so zeigt sich eine Steigerung von durch-
schnittlich 20 Proz. Da der Alkohol, nach den
vom Verfasser angestellten Versuchen, auf die peri-
pherischen Gefäße selbst keinen vaaokonstriktori-
schen Einfluß auszuüben vermag, so wird man
zu der Annahme genötigt, den Angriffspunkt für
diese Wirkung des Alkohols auf ein Gebiet
zwischen Rückenmark und peripherischen Gefäßen
zu verlegen. Wahrscheinlich handelt es sich um
das sympathische Geflecht des Abdomens.
Bei der durch Alkohol hervorgerufenen Blut-
drucksteigerung kämpfen ein blutdrucksteigernder
Faktor (die Vasokonstriktion der Abdominalge-
fäße) und ein blutdrucksenkender (das vasomo-
torische Zentrum) gegen einander, wobei der
erstere die Oberhand behält. Vor der Blutdruck-
Steigerung tritt meistens eine kleine Senkung
zum Vorschein; bei dieser Erscheinung summieren
sich zwei Faktoren: die Parese des vasomotori-
schen Zentrums und die geringe schnell vorüber-
gehende Schädigung des Herzens.
324
Rateate.
: TU«ri|*uti»cfa»
L MonatiWto.
Bei großen Gaben Alkohol beherrscht die
Lähmung der gesamten Vasomotion das ganze
Bild der Wirkung.
Bei Menschen erzeugen kleine Mengen
Alkohol nach 20 Minuten eine Blutdrucksteige-
rang; größere Dosen eine Senkung. Der Vagus
spielt keine Rolle bei der Blutdrucksenkung und
bei der Pulsverlangsamung.
Kurz zusammengefaßt kann man sagen, daß
der Alkohol das isolierte Herz nur schädigt,
daß er jedoch, auf das ganze Tier wirkend, in
kleineren und mittleren Gaben den Blutdruck
hebt und dadurch indirekt das Herz infolge
besserer Durchblutung des Koronargefäßaystems
zu größerer Tätigkeit anregen kann.
(Arch. intern, de Pharm, et de Ther. Vol. XIII. p.329.)
Dr. Impens (Elberfeld).
(Au* dem W«rkiptt«le der Brennberger Kohlengewerkachaft)
Ist Eisen auf dem Wege der Inunktionskur dem
menschlichen Organismus einverleibbar? Von
Bergarzt Dr. Hugo Goldman.
In einer vorläufigen Mitteilung berichtet
Goldman über Versuche, Eisen dem Organismus
perkutan einzuverleiben. Benutzt wurde metal-
lisches Eisen, das nach dem Bi 11 itz ersehen Ver-
fahren auf elektrischem Wege in denkbar feinste
Verteilung gebracht worden war. Dieses Eisen
wurde mit Vaselin, Lanolin und Fetron Liebreich
zu einer 8 proz. Eisensalbe verarbeitet, in wel-
cher Eisenteilchen durch Gefühl nicht wahr-
genommen werden konnten.
Bei zwei an Ankylostomiaaisanämie leiden-
den Patienten wurden täglich einmal mit 5 g
Eisensalbe an verschiedenen Körperstellen In Mik-
tionen von 15 — 20 Minuten Dauer vorge-
nommen. Nach 19 Einreibungen wurden im
Harn der Pat. , deren Haut keinerlei Reaktion
darbot, 0,011 resp. 0,014 g Eisen pro Liter
Harn aufgefunden. Da normal im Harn pro
Liter 0,003 — 0,008 g Eisen sich finden, so er-
scheint der Beweis erbracht, daß der hohe Eisen-
gehalt durch die Resorption bedingt worden ist.
Blutuntersuchungen, die über den therapeutischen
Erfolg Auskunft geben können, werden in Aus-
sicht gestellt.
(Wiener klinische Wochenschrift 1905, No. 18.1
Jacobson.
Behandlung der Hämorrhoiden bei Kindern. Von
Comby.
Hämorrhoiden sind bei Kindern nichts
seltenes. Comby teilt mehrere einschlägige
Fälle mit und weist darauf hin, daß Hämor-
rhoiden bereits in den ersten Lebensmonaten
mehr oder weniger reichliche Blutungen verur-
sachen können. Beim Stuhlgang verlieren die
Kinder reines Blut und zuweilen Blutgerinnsel
ganz schmerzlos und ohne Stuhldrang. Diese
Blutung hat ihren Ursprung in inneren Hämor-
rhoiden, die aber auch vorhanden sein können,
ohne sich durch Auftreten einer Blutung zu ver-
raten. Sie werden dann nur bei der Digital-
untersuchung des Rectums erkannt. Die äußeren
Hämorrhoiden treten bisweilen auch sehr früh-
zeitig auf. Sie bilden weiche, schmerzlose, ge-
wöhnlich bläuliche Tumoren in der Umgebung
des Anus, die sich auf Druck verkleinern und
nur selten ein größeres Volumen erreichen. Zn
ihrer Behandlung empfiehlt Comby Kalt wasaer-
klyatiere, Pinselungen mit salzsaurem Adrenalin
in einer Konzentration von 1 : 1000 oder Suppo-
sitorien von der Znsammensetzung
Extracti Ratanhiae 1,0
Butyri Cacao 3,0,
von denen morgens und abends je eines ein-
geführt wird.
(La Presse midie. 1905, No. 1. Archives de medecüu
des enfants 1904, November.) Rittsrband (Berlin).
Die Anwendung der elastischen Binde beim
Wechsel des Verbandes von Gliederwunden.
Von Dr. Isnardi (Turin).
Verf. empfiehlt, um die beim Wechseln
trockener Verbände von großen granulierenden
Wundflächen auftretenden Blutungen zu ver-
meiden, vorher das Glied vertikal aufzurichten
und an der Wurzel mit einer elastischen Binde
zn umschnüren wie zur Herbeiführung der
künstlichen Blutleere. Hierbei läßt sich das
Abnehmen auch festklebender Verbandstoffe ohne
Blutung bewerkstelligen, und auch eine Nach-
blutung tritt nicht ein. Die Granulationen
werden vor Verletzungen bewahrt, werden schnell
stärker und bluten später nicht mehr.
(ZentralbL f. Chirurg. 1904, No. 24.)
Wendel (Marburg).
Der erste Verband auf dem Schlachtfelds. Von
Dr. van Stock um in Rotterdam.
Verf. hat seit 4 Jahren alle auf seiner Ab-
teilung vorgekommenen akzidentellen Wunden
mit Perubalsam behandelt und dadurch hervor-
ragende Erfolge erzielt. Weder die Wunde
noch ihre Umgebung wird gereinigt, sondern
es wird sofort eine große Menge Peru baisam in
die Wunde gegossen resp. bei Stichwunden
(Durchstechungsfrakturen) mit steriler Spritze
injiziert. Sodann wird ein aufsaugender Druck-
verband angelegt, welcher 20 Tage liegen bleiben
kann. Bei 90 nach dieser Methode behandelten
komplizierten Frakturen trat in 95,5 Proz., d. h.
in 86 Fällen, Heilung ohne Eiterung ein! Von
den übrigen 4 Fällen heilten 3 mit Eiterung,
nur einer kam zur sekundären Amputation.
Verf. vergleicht seine Erfolge tabellarisch
mit denen anderer Autoren. Er empfiehlt sein
Verfahren für Kriegsverletzungen, und zwar wegen
folgender Vorzüge:
1. Der Verwundete braucht weder gereinigt
noch desinfiziert zu werden.
2. Auch die Hände des den Verband An-
legenden brauchen nicht gereinigt zu
werden.
3. Ein steriler Verband ist nicht unbedingt
nötig. Jeder aufsaugende Stoff, der
einigermaßen elastisch ist, kann in Not-
fällen genommen werden: Hemd, wollene
Decke, vielleicht Hon.
4. Der erste Verband kann 20 Tage liegen
bleiben, wodurch Nachteile eines Trans-
portes verringert werden.
5. Derjenige, welcher den ersten Verband
anlegt, braucht kein Chirurg zn sein.
(Zentralbl f. Chirurg. 1904, No. 26.)
Wendel (Marburg).
XIX. Jahrgang«!
Juni 1906. J
325
l. Gewöhnliche Salzlösungen und andere lokale
Analgetica bei der ambulanten Behandlung
von Krankheiten des Rectum und Anus.
(Normal salt-solutions and other local anal-
gealcs in the Office treatment of ano-rectal
diseases.) Von J. Rawson Pennington M.D.
Professor of rectal diseases Chicago Policlinic.
Tbe Journal of the American Med. Association.
8. April 1905, No. 14.
a. Lokale Anästhesie bei der großen und kleinen
Chirurgie des Ohres nach Studien in der
Klinik von Prof. Politzer, Wien. (Local
Anesthesia in major and minor Operation
on the ear, as observed in Professor Politzer'»
cünic in Vlenna.) Von George Pauli
MarquisA.M.,M.D.andOscarH.KraftM.D.1
Chicago. Ebenda. 22. April, No. 16.
1. Zur chirurgischen Behandlung der Er-
krankungen des unteren Mastdarm abschnittes
und Anus, als da sind äußere und innere Hämor-
rhoiden, Polypen etc., bediente sich J. Rawson
Pennington mit sehr gutem Erfolge der
lokalen Anästhesie. Verf. hebt die vielen Vorteile
hervor, welche bei einem solchen an sich gering-
fugigen Eingriff die Anwendung der lokalen
Anästhesie gegenüber der allgemeinen Narkose
bietet. Die Lösungen, deren sich Verf. zur
Herbeiführung der örtlichen Unempfindlichkeit
bedient, sind entweder eine einfache sterile
0,75 proz. Kochsalzlösung oder besser diese Lö-
sung unter Zusatz von 0,2 g /9-Eukainlaktat und
10 Tropfen Adrenalin chloridlösung (1 : 1000) auf
100 ccm. Die Beschreibung der Injektions- und
Operationstechnik bietet nichts Neues. In den 75
so vorgenommenen Operationen war die erzielte
Anästhesie — bis auf einen Patienten, welcher zu
nervös und ängstlich war, um die Operation in
lokaler Anästhesie zu Ende führen zu lassen —
eine durchaus zufriedenstellende, auch schien der
Nachschmerz geringer zu sein als bei in Allgemein-
narkose vorgenommenen gleichen Eingriffen.
2. G.P.Marquis und O. H. K rafft be-
schreiben die Anästhesierungstechnik, die in der
Pol itz ersehen Ohrenklinik bei der Radikal-
operation und einer ganzen Reihe anderer chi-
rurgischer Eingriffe am Gehörorgan angewendet
wird. Zur Herbeiführung der Schmerzlosigkeit
werden 3 Lösungen verwendet, eine 1 proz.
Kokainlösung mit Zusatz von 5 Tropfen Tonogen
(einem österreichischen Nebennierenpräparat) pro
ccm, welche in die Gegend des Gehörganges in*
ji ziert wird, um eine recht lange anhaltende
Anästhesie des Antra ms zu erzielen, eine 20 proz.
Kokainlösung, welche auf einem Tampon in die
Paukenhöhle gebracht wird, und schließlich zur
Anästhesierung aller anderen Teile wie Haut,
Periost etc. eine 1 proz. Eukainlösung mit obigem
Tonogenzusatz , welcher infolge der geringeren
Giftigkeit der Vorzug vor dem Kokain gegeben
wurde. Die im ganzen bei der Radikaloperation
verwendeten Mengen betrugen höchstens 4 — 5 cg
Eukain und 3 cg Kokain. Vergiftungssymptome
von irgend welcher Bedeutung wurden nie beob-
achtet, außer daß die Patienten manchmal beim
Beginn der Operation über leichte Kopfschmerzen
und Übelkeit, welche stets auf Darreichung
einiger Theelöffel heißen Kaffees mit Kognak
verschwanden, klagten; kurz vor der Operation
ließ man die Patienten essen, da das Kokain
dann weniger toxisch sein soll.
Bei Operationen, welche gewöhnlich heftigen
Nachschmerz verursachen, wurde dieser durch
Bestäuben des Operationsfeldes mit einer Mischung
von Anästhesin und Borsäure zu gleichen Teilen
beseitigt.
Aus diesem wie schon aus früheren Be-
richten über das gleiche Thema geht deutlich
hervor, wie die lokale Anästhesie aus ihrer
früheren Domäne, der kleinen Chirurgie an der
Körperoberfläche, dadurch, daß Mittel gefunden
wurden, welche, weniger giftig als das früher
einzig dastehende Kokain, die Anwendung
größerer Mengen, d. h. die Anästhesierung
größerer Distrikte erlauben, immer mehr und
mehr in das Gebiet der großen Chirurgie vor-
dringt und dort den Kampf mit der doch immer
einen bedrohenden Eingriff darstellenden All-
gemeinnarkose aufnimmt. Th.A.Maass.
l. Der Wert der Drüsenausräumung bei der Ope-
ration des Uteruskarzinoms« Von Dr. Karl
Baisch (Tübingen). Zeitschr. f. Geburtsh. u. Gy-
näkol. 1905, Bd. 75, S. 273.
a. Beitrag zur abdominalen Radikaloperation des
karsinomatOsen Uterus. Von Dr. Lampe.
Monatsh. f. Geburtsh. u. Gynäkol. 1905, Mai.
3. Der Krebs der Gebärmutter: Ein Mannwort
an die Frauenwelt. Von Prof. Dr. Max
Runge. Verlag von Jul. Springer 1905.
1. In der Frage, ob die vaginale oder ab-
dominale Operation zur radikalen Entfernung
der karzinomatös entarteten Gebärmutter vor-
zuziehen ist, hatte die Arbeit von Schauta,
daß die Drüsenentfernung wertlos sei, und die
Angabe Wertheims, daß er bei sämtlichen
abdominalen Operationen, bei denen die Drüsen
bereits ergriffen waren, trotz der Entfernung
derselben Rezidive auftreten sah, die in die ab-
dominale Operationsmethode gesetzte Hoffnung
wesentlich herabgemindert. Denn gerade die
Möglichkeit, erkrankte Drüsen mit zu entfernen,
war bestimmend, die vaginale Operationsmethode
aufzugeben.
Auf Grund der in der Tübinger Klinik von
Döderlein gemachten Erfahrungen hält Baisch
den von Schauta erhobenen Einwand, daß die
Drüsenentfernung praktisch wertlos sei, nicht
für stichhaltig. Denn er konnte den Nachweis
führen, daß das Auftreten der Drüsen sich an
die physiologisch- anatomischen Bahnen hält, ein
gleichmäßig fortschreitendes ist und keine Sprünge
kennt, so daß, wenn die erste Etappe der Lymph-
drüsen von Metastasen frei ist, eine Infektion
der zweiten Etappe nicht anzunehmen ist. Auch
die Tatsache, daß von 8 im Jahre 1902 von
Döderlein auf abdominalem Wege operierten
Frauen drei rezidivfrei sind, spricht nach Baisch
für den Wert dieser Methode. Beim Corpus-
karzinom allerdings, bei dem die Drüsen erst
spät ergriffen werden, ist die vaginale Total-
exstirpation vollkommen ausreichend, falls nicht
die Größe des Uterus oder ein nicht selten
gleichzeitig bestehendes Ovarialkarzinom die ab-
dominale Operation indiziert. Beim Collumkrebs
hingegen findet man in mehr als der Hälfte der
326
Referate.
rTherap«uti*che
L Monatshefte.
Fälle das Parametrium ergriffen (Bai seh fand
es unter 160 Fallen in 55 Proz.) und Baisch
empfiehlt daher, besonders da auch das scheinbar
gesunde Parametrium bereits infiziert sein kann,
das parametrane Gewebe bei der Operation in
möglichster Ausdehnung zu entfernen. Auch
das Verhalten der Drüsen läßt in diesen Fällen
die abdominale Operation zweckmäßiger er-
scheinen. Diese finden sich beim operablen
Collumkarzinom in ca. l/3 der Fälle karzino-
matös, bei Ergriffensein des Parametrium sogar
in der Hälfte der Fälle. Diese Fälle können
durch die vaginale Operationsmethode nicht ge-
heilt werden. Das Freisein der Parametrien
Tom Karzinom garantiert nicht das Fehlen von
Drüsen erkrankung, ebensowenig wie die geringe
Ausdehnung der Neubildung hierfür spricht. Die
ungünstigste Prognose geben die Cervixkarzinome,
bei denen sich sowohl Parametrien wie Drüsen
am häufigsten infiziert finden, während das
Portiokarzinom im Anfangsstadium nicht zu
Drüsenmetastasen neigt, so daß für dieses die
vaginale Totalexstirpation mit Zuhilfenahme des
Schuchardt sehen Paravaginalschnittes aus-
reichend ist.
Auch bei der abdominalen Operation, die
anfangs äußerst ungünstige Resultate ergab,
bessert sich naturgemäß die primäre Mortalität
mit der größeren Übung.
Döderlein hatte unter den letzten 25 nach
Wertheims Methode operierten Fällen keinen
Todesfall.
2. Zu einer wesentlich anderen Beurteilung
der abdominalen Operationsmethode kommt
Lampe.
Im städtischen Diakonissenhaus zu Brom-
berg führte Lampe in dem letzten Jahre 7 ab-
dominnle Radikaloperationen wegen Uterus-
karzinom aus, 2 Frauen starben an Peritonitis,
die beiden zuerst operierten haben bereits Rezi-
dive. Aber nicht diese schlechten Resultate
bewogen ihn, wieder zur vaginalen Operation
zurückzukehren, als vielmehr die sichere Er-
kenntnis, welche er durch Ausführung der ab-
dominalen Operationen sich erwarb, daß nämlich
auch bei den abdominalen Operationen trotz
ihrer schlechten Resultate eine Radikaloperation
mit Entfernung alles karzinomatös verdächtigen
Gewebes nicht möglich ist, da man sonst in
jedem Falle eine Resektion des vesikalen Teiles
der Ureteren ausführen müßte. Bessere Dauer-
resultate lassen sich nach Lampe im Einklang
mit der Winterschen Überzeugung nur da-
durch erreichen, daß die Frauen, über die Natur
der Erkrankung aufgeklärt, möglichst frühzeitig
zur Untersuchung und Operation kommen.
Diesen Zweck der Belehrung der Frau über
die ersten Erscheinungen des Gebärmutterkrebses
und seine Heilbarkeit, wenn er früh erkannt
wird, erfüllt in vorzüglicher Weise ein in
Göttingen gehaltener Vortrag von:
3. Prof. Dr. Max Runge: Der Krebs
der Gebärmutter: Ein Mahnwort an die
Frauenwelt, welcher im Verlag von Julius
Springer 1905 als kleine billige Broschüre er-
schienen ist, und dem eine recht weite Verbrei-
tung zu wünschen ist. Liegt doch, wie Runge
mit Recht hervorhebt, der Grund der so schreck-
lich großen Mortalität durch den Gebärmutter-
krebs bei der Frau selbst, die Belehrung der
Frauen über den Anfang der Krebserkrankung
ist die kräftigste Waffe gegen diesen fürchter-
lichen Feind. Besonders wichtig ist die wieder-
holte Hervorhebung, daß fast regelmäßig jede
schmerzhafte Empfindung im Anfang der Er-
krankung fehlt. Wie viele Frauen, welche zu
spät in unsere Behandlung kommen, und denen wir
durch eine radikale Operation nicht mehr helfen
können, entgegnen auf die Frage, warum sie nicht
bei der ersten unregelmäßigen Blutung gekommen
sind, „aber ich hatte doch keine Schmerzen".
Blutungen und Ausfluß sind die ersten Erschei-
nungen, das muß den Frauen stets wiederholt
werden. Eine Anzahl Erfahrungen aus eigner
Praxis, in denen die traurigen Folgen der Ver-
nachlässigung dieser Symptome gezeigt werden, ist
in das Büchlein aufgenommen. Ganz besonders
wendet sich Runge gegen das Grundübel, nicht
gleich zum Arzt gehen, sondern Rat zu suchen bei
Frauen, welche, ohne für Deutschland approbiert
zu sein, sich vielleicht den Doktortitel im Auslande
erwarben, als Naturheilkundige jede Erkrankung
mit Massage behandeln. Eine Anzahl der
Dührssenschen Merkblätter ist dem Büchlein
beigefügt. Es fragt sich nun, ob die Populari-
sierung medizinischer Kenntnisse im Sinne
Winter-Runges wertvoll ist. Sicher wird
jeder beschäftigte Arzt bestätigen können, daß,
seitdem das Publikum durch Broschüren und
Zeitungen über Art der Erkrankung aufgeklärt
ist, viele Frauen in der Angst, krebskrank zu
sein, zum Arzt kommen. Viele sind es nicht,
beruhigt gehen sie aus der Sprechstunde, auf-
geklärt über den Grund der vielleicht harmlosen
Blutungen, wenn aber nur eine unter zehn
Frauen an Krebs leidet und dadurch rechtzeitig
zur Operation kommt, so ist viel geleistet. Und
dieses zu erreichen, dazu will das Rungesche
Schriftchen beitragen. Möge es durch Empfeh-
lung im Laienpublikum von Seiten der Ärzte sich
recht ausgedehnter Verbreitung erfreuen. Falk.
Über die diagnostische und prognostische Be-
deutung der mikroskopischen Untersuchung
des Lochlaisekretes. Von Dr. Arnold Leo
(Halle a./S.)
Leo untersuchte die mittels gläserner Sonden-
röhrchen entnommenen Lochialsekrete von 26 fie-
bernden und 38 normalen Wöchnerinnen, einer-
seits durch Färbung mit Methylenblau auf Strepto-
kokken, andererseits richtete er seine Aufmerk-
samkeit auf Vorgänge von Phagozytose (Einschluß
von Bakterien in Leukozyten). Er kommt zu dem
Schluß, daß Streptokokkenfreiheit der Scheiden-
und somit der Uterinlochien mit größter Sicher-
heit schwerere Affektionen des puerperalen Genital-
tractus ausschließt, die Prognose wird durch das
Fehlen von Streptokokken also bedeutend gün-
stiger. Positiver Streptokokkenbefund, selbst
zahlreichster und längster Ketten im Uterin-
: sekret berechtigt allein nicht zur Annahme einer
schweren Genitalinfektion mit absoluter Sicher-
' heit, da einerseits sich Streptokokkenketten bis
| zu 4 Gliedern in den Scheiden- und Uterin-
XIX. Jahrgang.!
Juni 1505. J
Referate. — Literatur.
327
locbien ganz normaler Wöchnerinnen finden
' können. Ketten mit mehr als 4 Gliedern hin-
gegen finden sich, namentlich im Uterinsekret,
nnr bei Fieber, gestatten aber nicht einen Schluß
auf die Schwere der Affektion. Hingegen ver-
schlechtert das Ausbleiben der Phagozytose die
Prognose, welche wesentlich ungünstiger wird,
wenn die Sekretentnahme, die in den ersten
Tagen post partum erfolgte, bereits einen bedenk-
lichen mikroskopischen Befund ergab. Leo em-
fiehlt diese sterile Entnahme von Lochien zur
mikroskopischen Untersuchung dem Praktiker
bei jedem zweifelhaften Fieber im Wochenbett.
(Münch, med. Wochenschr. 1904, No. 48.) Falk.
Gefahren der Schultzeschen Schwingungen. Von
Dr. Anton Hengge.
Hengge kommt auf Grund mehrerer Sek-
tionspräparate von Kindern, bei denen nach der
Geburt Schultzesche Schwingungen ausgeführt
waren, und bei denen sich subseröse und intra-
parenchymatöse Blutungen in den verschiedensten
Organen fanden — bei einem war eine vollstän-
dige Durchblutung der Nebennieren eingetreten —
zu dem Schluß, daß die Schultzeschen Schwin-
gungen möglichst einzuschränken seien; in den
meisten Fällen wird man mit einfacheren und
schonenderen Wiederbelebungsversuchen zum Ziel
kommen. Die Ausführung der Schultz eschen
Schwingungen soll möglichst schonend und unter
Vermeidung stärkerer Abkühlung geschehen. Bei
schwächlichen, nicht ausgetragenen Kindern er-
scheinen die Schwingungen besonders verhäng-
nisvoll.
(Münch. med. Wochenschr. 29. XI, 1904.) Falk.
(Ans der Abteilung des K. E. Primararztes Universltltt-
profeaaort B. Lang im EL K. Allgemeinen Krankenhanse In
Wien.)
Ober die therapeutische Verwendung des Empyro*
forma. Von Assistenzarzt Dr. J. Pollitzer.
Das Empyroform hat Verf. als 5— löproz.
Salbe, als Paste (Empyroform, Amylum *a 10,0,
Unguentum simples 20,0 mit Modifikationen je
nach der beabsichtigten Konsistenz) und als
Tinktur 5 — 20proz. mit Chloroform und Tinc-
tura Benzoes aa bei chronisch entzündlichen,
pruriginösen und parasitären Prozessen in An-
wendung gezogen.
In der Ekzembehandlung hat sich Empyro-
form gut bewährt, sei es bei chronischen Formen
nach Entfernung der Kruste und Erweichung
der dicken Epidermis zur Beseitigung der chro-
nischen Hyperämie, sei es im squamösen ab-
laufenden Stadium des akuten Ekzems, um die
zarte, schuppende Haut ganz zur Abheilung zu
bringen und den Juckreiz zu beseitigen. Unter
seiner Einwirkung läßt das Nässen, die Krusten-
bildung bald nach, die verdickte Epidermis wird
Bach und weich, und die Rötung wird beseitigt.
Sehr brauchbar ist Empyroform bei der Schluß-
behandlung akuter Ekzeme, wo der stärker
reizend wirkende Teer nicht selten die Entzün-
dung wieder anfacht. Selbst bei nässenden
Stellen akuter Ekzeme tritt lokale Reizwirkung
nach Empyroform nicht auf. Papulöse Ekzeme
werden durch Empyroformtinktur schnell be-
seitigt, diese wirkt auch günstig bei den squa-
mösen, seborrhoischen Kopfekzemen.
Für die Empyroformbehandlung sind weiter-
hin geeignet Prurigo und Pityriasis rosea; bei
Psoriasis und Dermatomykosis tonsurans circinata
war der Erfolg nicht völlig ausreichend.
Irgendwelche üble Folgeerscheinungen wie
Dermatitis, Akne, Beeinträchtigung des All-
gemeinbefindens, Auftreten einer Phenolreaktion
im Harn wurden nach Empyroformgebrauch nicht
beobachtet.
(Heükunde April 1905, S. 145.)
Jacobson.
Literatur.
Morphium als Heilmittel. Von Professor Dr.
0. Rosenbach in Berlin. Fischers Med.
Buchhandlung (H. Kornfeld). Berlin 1904.
Seit 15 Jahren hat 0. Hosenbach der
heute herrschenden Ängstlichkeit gegenüber den
vermeintlichen Gefahren der Morphiummedikation
entgegenzutreten gesucht. In dem vorliegenden
Werke aber weist er nach, daß das Morphium
mehr ist, als ein Sparmittel zur Beschonung der
Kräfte oder ein Betäubungsmittel für Großhirn
und Nervenbahnen, daß es vielmehr eine direkt
kraftbildende, d.h. die Aufnahme gewisser Energie-
formen befördernde Wirksamkeit entfaltet. —
Entweder liefert es als positiver Reiz, d. h. als
ein dem Betriebe zugeführtes Kraftmaterial für
einen Teil desselben durch seinen Zerfall direkt
künstliche Energie, oder — und das ist wahr-
scheinlicher — es veranlaßt als tonisches Mittel
die Wiederherstellung der verloren gegangenen
inneren Spannungen in durch Atonie insuffizient
gewordenen, d. h. aus dem Gleichgewicht ge-
brachten Gewebsteilen. Dafür sprechen alle
Erfahrungen über die heftig erregende Wirkung
sogar sehr kleiner Morphiummengen sowie über
den wohltätigen Einfluß angemessener und in-
dividuell abgestufter Dosen in der Hand des
vorsichtigen und auf der Höhe der Wissenschaft
stehenden Arztes bei körperlichen Anstrengungen.
Durch die Wiederherstellung des geweblichen
Tonus kann der Prozeß der Energiebildung in
den feinsten Gewebselementen wieder ungestört
seinen Fortgang nehmen.
Für die Theorie der Morphiumwirkung in
Fällen von weniger akutem Verlauf ist natürlich
auch die durch das Mittel erzielte Herabsetzung
der außerwesentlichen Leistungen von hervor-
ragender Bedeutung. Mit der Steigerung der
letzteren muß reziprok die wesentliche Arbeit,
die innere, für den Organismus verwertbare
Energieformen liefernde Gewebsarbeit, wie Rosen-
bach verschiedentlich ausgeführt hat, zeitweilig
unterdrückt werden, so unentbehrlich jene auch
in ständigem Phasenwechsel für diese und diese
für jene ist. Eine reziproke Vermehrung der
innern, wesentlichen Arbeit auf Kosten der außer-
wesentlichen, von der auf die exosomatische ein
großer Anteil entfällt, ist eine unumgängliche
Vorbedingung für die Aufrechterhaltung des
organischen Betriebes, sobald irgend eine ab-
328
Literatur.
rher*p«utUche
Monatshefte.
norme Steigerung der außerwesentlichen Leistung
auch nur vorübergehend zu Stande gekommen
war. Wo aber auch nur innere entzündliche
Reize wirken, ist letzteres ausnahmslos der Fall
und die Teile des Organismus müßten durch
Atonie insuffizient werden, wenn der ihnen zu-
gemuteten Vermehrung außerwesentlicher Leistung
nicht eine entsprechende Steigerung der inneren
Arbeit parallel ginge. Nicht nur, daß eine Er-
sparung von Energie durch die Beschrankung
der ersteren stattfindet oder richtiger, daß die
bisher bei der Bildung und Abgabe hochge-
spannter Energie für außerwesentliche Betätigung
verbrauchte lebendige Energie dem innern Be-
triebe, der Erhaltung der Spannungen und der
Bildung von Vorräten parater Energie zu gute
kommt — das Primäre ist vielmehr die Um-
spannung im Gewebe selbst, die Wiederherstellung
der notwendigen tonischen Spannung der Elemente,
welche die Vorbedingung zur Ansammlung und
Bildung von elementarer Energie und die Grund-
lage für die im wechselnden Phasengange wieder
aufzunehmende außerwesentliche (sthenische) Lei-
stung der Organe ist.
Nun wirkt aber auch das Morphium ganz
speziell auf das Zentralorgan und zwar auch hier
in einer Weise, daß es dasselbe nicht etwa lähmt,
wie das Chloroform und andere den Zustand der
Narkose herbeiführende Mittel, sondern es in
einen starken diastolischen Tonus versetzt, der
im Gegensatz zur Verstärkung des mittleren, des
eigentlichen Organ -Tonus, welcher in stärkerer
außerwesentlicher Tätigkeit zum Ausdruck kommt,
der inneren Arbeit förderlich wird.
Prinzipiell verschieden von der Betäubung
durch jene auf das Zentral organ lähmend wirkenden
Mittel aus der Reihe der Hypnagoge und Seda-
tiva ist der durch das Morphium herbeigeführte
Schlaf dem natürlichen vollständig äquivalent,
der auf der einen Seite nicht etwa nur eine
Periode der Einstellung exosomatischer Betäti-
gung, auf der andern nicht eine solche absoluter
Ruhe, sondern die Ruhe von außerwesentlicher
Arbeit repräsentiert. Somit wird — auf die im
vorliegenden Werke und andern Ortes *) ge-
machten Ausführungen Rosenbachs im Detail
einzugehen, muß ich mir leider mit Rücksicht
auf den mir hier zur Verfügung stehenden Raum
versagen — der Schlaf und zwar ebenso
der durch Morphium bewirkte, wie der
natürliche, im Gegensatz zu der Periode des
Wachseins, in der vornehmlich die außerwesent-
liche, kraftverzehrende Arbeit geleistet wird,
zur kraftspendenden , nicht nur zur
kraftsparenden Phase des Betriebes.
Betreffs der Indikationen und der Details
der Morphiumanwendung muß auf das Original
verwiesen werden, das wohl kein Arzt aus der
Hand legt, ohne die wertvollsten Fingerzeige für
sein praktisches Handeln am Krankenbette ge-
wonnen zu haben. EschU (Sinsheim).
!) Vergl. 0. Rosenbach: Der Nervenkreislauf
und die tonische (oxygene) Energie. Berliner Klinik
1896, Heft 101, S. 12. — Die Krankheiten des
Herzens und ihre Behandlung. Wien und Leipzig
1897, S. 745 ff., S. 877, 940 ff.
Die Fettsucht. Gemeinverständlich dargestellt von
Dr. H. Leber, dirig. Arzt des Sanat. Herms-
dorf (Mark). München 1903. Verl. d. ÄrztL
Rundach. 785. Preis 2 Mk. (9. Heft von „Der
Arzt als Erzieher".)
In ausführlicher Darstellung wird der heutige
Stand der Lehre von der Fettsucht behandelt,
es werden die verschiedenen diätetischen Be-
handlungsweisen nach Harvey (Banting), Eb-
stein, Örtel, Schweninger, Kisch,
von Noorden, die Mineral Wasserkuren , die
physikalische und medikamentöse Therapie be-
sprochen. Verf. betont, daß das Leiden nicht
nur durch zu reichliche Nahrungszufuhr oder
zu geringen Verbrauch entsteht, sondern daß
man außerdem eine konstitutionelle Fett-
sucht unterscheiden muß, die, ähnlich wie Gicht
und Diabetes, auf einer ererbten oder erworbe-
nen mangelhaften Zersetzungsenergie der Körper-
zellen, z. T. auch aus gewissen sexuellen Vor-
gängen1) resultierend, beruht und auch ohne
Anomalien von Nahrungszufuhr und -verbrauch
entstehen kann Daher ist es falsch, für diese
verschiedenen Arten von Fettsucht ein einheit-
liches Behandlungsschema aufzustellen.
Leber führt in Übereinstimmung mit
von Noorden aus, daß man nicht mehr das
Recht habe, diese Nahrungsmittel als fettbildend
und jene als nichtfettbildend zu betrachten.
„Jedes echte, d. h. durch seine Zersetzung im
Körper wärmebildende Nahrungsmittel ist be-
fähigt, zur Fettbildung und zum Fettansatz bei-
zutragen. Ob es das im Einzelfall tut, hängt
von dem Nährwert der Gesamt kost ab. Für
eine Entfettungsdiät muß also die Kalorienzufuhr
geringer sein als der Kalorienumsatz. * —
Neuere Untersuchungen weisen nun aber
darauf hin, daß der Verbrennungswert der Nähr-
mittel keinen Maßstab für ihren Nährwert ab-
geben kann, weil 68 sich im Organismus nicht
um Wärmeprodüktion als Selbstzweck handelt,
sondern um einen Energiezuwachs (unter dessen
Symptomen die Wärme allerdings eine wesent-
liche Rolle spielt). Ein solcher kann aber nicht
nur aus organischen Stoffen, sondern auch aus
anorganischen Salzen und Säuren resultieren.
Es sei beispielsweise auf die gewaltige Be-
deutung der Salze hingewiesen, die wir durch
die Lehre vom osmotischen Druck und den Ionen
kennen gelernt haben.
Auf diesem Gebiet sind noch so viele Auf-
gaben zu lösen, daß von einer bleibend erfolg-
reichen Behandlung der sogen, konstitutionellen
Fettsucht z. Z. noch nicht die Rede sein kann.
Vielleicht bringt die Forschung es dahin, daß
wir die hier in Betracht kommende mangelhafte
Zersetzungsenergie der Zellen durch - eine richti-
gere Ernährung derselben beheben lernen. (Ref.)
Bach (Bendorf).
') Meyer (Bernstadt) führt das im weitern
Sinne auf ungenügende Funktion derjenigen Organe
(Thyreoidea, Thymus, Ovarien, Testikel) zurück,
die sonst durch vermehrten Stoffwechsel einen
stärkeren Fettverbrauch verursachen (D. M.-Z. 1904,
No. 52) — Ref.
XIX. Jahrgang.!
Jmnl 1906. J
Literatur.
329
Dritter Jahresbericht der Neuen Heilanstalt
für Lungenkranke zu Schtimberg, 0.-A.
Neuenbürg, nebst Bemerkungen zur Be-
handlung der Larynxtuberkulose. Von
Dr. Schröder und Dr. Nagelsbach.
Im Jahre 1901 ist die Vergrößerung der
Anstalt durchgeführt worden, sodaß sie jetzt über
65 Betten verfugt. Alle hygienischen Einrich-
tungen erstrecken sich auf dos ganze Haus : Liege-
hallen, Veranden, Zentralheizung und -beleuch-
tung (Gasolin), abwaschbare Tapeten, Linoleum-
bodenbelag etc. Es sind 185 Kranke behandelt
worden, davon mit positivem Erfolg im I. und
II. Stadium ca. 91 Proz., im ÜI. Stadium 64 Proz.
Im Einzelnen wird folgendes hervorgehoben :
Die Heredität ist ohne Einfluß auf den Eurverlauf,
die Prognose geht nicht mit der Ausdehnung des
Prozesses parallel. Das Verschwinden der Bazillen
gewährleistet keinen Dauererfolg, andererseits
können Kranke mit bazillenhaltigem Auswurf
jahrelang arbeitsfähig und relativ gesund bleiben.
In der Anstalt wird nur den sorgfaltig er-
forschten klinischen Symptomen Bedeutung bei-
gemessen und die Probetuberkulininjektion
vermieden, weil sie, abgesehen von der nicht
allseitigen Anerkennung ihrer Gefahrlosigkeit,
auch bei Personen ohne jeden klinischen Befund,
bei denen die Tuberkulose, wenn überhaupt vor-
handen, völlig latent ist und bleibt, positiv aus-
fallen kann.
Bei der Fieberbehandlung wird die Liegekur
bevorzugt und Antipyrese, wie z. B. Köhlers
Pyramidonbehandlung verworfen. Die Einführung
geeigneter Beschäftigung halten die Verff. für
sehr wünschenswert, aber schwierig.
Vielfach kamen Kranke in Behandlung, die
infolge ungeeigneter Ernährung (Mast) mit Darm -
atonie hehaftet waren. Sie erhielten Ölklystiere
und gröbere Diät zur Anregung der Peristaltik.
Gastroptose etc. wurde event. mit Leibbinde
oder Heftpflasterstreifen behandelt (nach Rose
modifiziert, 2 Streifen von Symphyse zum Kippen-
bogen, einer ums Abdomen gelegt).
Was endlich die Larynxtuberkulose betrifft,
so halten die Verff. sie für nicht ganz so be-
denklich, wie es gewöhnlich geschieht, indem sie
immerhin in 57 Proz. der Fälle Erfolg erzielten.
Die Larynxaffektion entsteht nach ihrer Ansicht
weniger durch Kontaktinfektion als durch Ver-
mittehin g der Lymph- und Blutbahnen und wird
vor allem mit Ruhigstellung (Flüstern) und Fern-
haltung von reizender Nahrung, Rauchen etc.
behandelt. Medikamentös bevorzugen sie Alkohol-
umschläge (Hyperämie), Menthol-Jodol, Ortho-
form-Borsäure etc., event. Milchsäureätzung.
Operative Maßnahmen wurden im Gegensatz
xu anderen Autoren (Schrötter, Störk) mehr-
fach als wertvoll erkannt. Sie empfehlen des-
halb nötigenfalls bei Fieberfreien Kürettage der
Geschwüre, Galvanokaustik und bei Tuberkulose
der Epiglottis deren event. Entfernung.
Den Schluß bildet eine tabellarische Zu-
sammenstellung betr. der 'Witterungsverhältnisse
des Kurorts, aus der sich ergibt, daß Schömberg
in klimatischer Hinsicht zum Kuraufenthalt für
Langenkranke wohl geeignet ist.
( Sender abdr. a. d. Württ. med. Korresp.-Bl. 1902.)
Eseh (Bendorf J.
Das Malariafieber, dessen Ursachen, Verhütung
und Behandlung. Von Ronald Roß, Walter
Myrers Lecturer an der Liverpooler Schule für
tropische Heilkunde. Mit 2 Tafeln. Preis
M. 2,50. Berlin, Wilhelm Süsserott, 1904.
Dieses "Werkchen, welches „ Winke für
Reisende, Jäger, Militärs und Bewohner von
Malariagegenden" geben will, stellt sich dar als
eine Erweiterung der Instructions for the Pre-
vention of Malarial Fever, die der berühmte
englische Malariaforscher, der 1902 durch den
Nobelpreis ausgezeichnet wurde, schon einige
Jahre vorher zusammengestellt und durch die
Liverpooler Schule für Tropische Heilkunde zur
Veröffentlichung gebracht hatte. Zur Selbsthilfe
der Ansiedler ist es geschrieben und dazu ist es
auch infolge seiner knappen, für einen allgemeinen
Leserkreis berechneten Form durchaus geeignet,
und P. Müllendorf-Köln hat durch seine Über-
tragung ins Deutsche ganz gewiß auch den
Deutschen, die in den Schutzgebieten des Reiches
oder in andern tropischen Ländern, wo Malaria
vorkommt, wohnen oder zu tun haben — auch
für das gelbe Fieber und die Elefantiasis hat
das Büchlein Geltung — , einen wertvollen Dienst
geleistet. Wirklich nachahmenswert ist die über-
zeugende Sprache, die bereits erwähnte Knapp-
heit und Gedrängtheit des Stiles und doch ander-
seits die Anregung desselben; denn ob man für
die Tropen Interesse hat oder nicht, man legt
das Büchlein nicht aus der Hand, ohne die
präzise Aufstellung aller Thesen genau und be-
gierig bis zu Ende verfolgt zu haben. Roß geht
von der Tatsache aus: „Nicht der Keim, der
aus dem stehenden Wasser kommt, bringt die
Krankheit, sondern der Träger des Keimes. Der
Anophelesmoskito, der die Parasiten von einem
Menschen zum andern trägt, legt seine Brut
zumeist in stehende Wasserlachen. K Nach den
Ausführungen über die Malaria schildert er in
der zweiten Abteilung die Moskitos, in der dritten
die Verhütung und in der vierten Abteilung die
Behandlung der Malaria. Für die letztere gilt
als erste Regel: „Wenn jemand mit Malariafieber
angesteckt ist, soll er mit dem regelmäßigen
Einnehmen von Chinin wenigstens drei bis vier
Monate fortfahren, gleichviel ob er Fieber be-
kommt oder nicht." So könnte ich noch manches
aus der überaus praktischen Schrift namentlich
auch betreffs der eingehend behandelten Ver-
hütungsmaßregeln anführen, aber der Raum dazu
ist bereits überschritten. Unwillkürlich jedoch
fordert Roß zu einem längeren und wohl sehr
berechtigten Verweilen bei seinem Werke auf.
Arthur Rahn (CoUm).
Das Geschlechtsleben des Weibes In physio-
logischer, pathologischer und hygienischer
Beziehung. Von Medizinalrat Professor Dr.
E. Heinrich Kisch. Verlag von Urban
& Schwarzenberg. Berlin und Wien.
Verfasser, der sich durch seine Arbeiten
über die Beziehungen, welche zwischen den phy-
siologischen und pathologischen Zuständen der
Sexualorgane des Weibes und dem Gesamtorga-
nismus bestehen, bereits rühmlich bekannt ge-
macht hat — zu erwähnen sind die Arbeiten über
„Die Sterilität de» Weibes", „Über Uterus und
330
Literatur.
fTherapentteche
L Monatelufte.
Herz", „Über das klimakterische Alter der
Frauen" — übernimmt es, in einem groß ange-
legten Werke eine umfassende Darstellung des
Geschlechtslebens des Weibes zu geben, ein Ge-
samtbild der Beeinflussung des Organismus in
der Zeit der Entwicklung, der Höhe und der
Abnahme, hervorgerufen durch die physiologi-
schen Zustände und pathologischen Verände-
rungen in dem weiblichen Generationsorg&nen ;
eine Aufgabe, welche Kisch, so schwer sie auch
schien, voll und ganz gelöst hat. Eingehende
Kulturstudien, welche Verfasser ausführte, reiche,
vielseitige Erfahrung auf dem großen Gebiete
der Gynäkologie, dabei die Fähigkeit, selbst Be-
kanntes und auch stofflich weniger Interessantes
so darzustellen, daß das Interesse an der Lektüre
nicht erlahmt, das sind die Mittel, die Kisch
befähigten, uns ein Werk zu schaffen, das in
gleicher Weise uns Ärzten, den Biologen und
nicht zum wenigsten auch den gebildeten Laien
empfohlen werden kann. Das Buch ist in drei
Teile gegliedert, die das Auftreten der Men-
struation und die Entwicklung des Geschlechts-
sinnes, die Entfaltung der sexuellen Tätigkeit
und im dritten Abschnitt das Erlöschen der-
selben schildern. In jedem einzelnen Abschnitt
werden die anatomischen Veränderungen des
weiblichen Genitale in dieser Zeit, die physio-
logischen und pathologischen Zustände, ganz be-
sonders aber die hygienischen Erfordernisse aus-
führlich geschildert. Im zweiten Abschnitt sind
besondere Kapitel der Kohabitation und dem
präventiven geschlechtlichen Verkehr gewidmet,
über die wir in der Literatur wenig wissen-
schaftlich in gleicher sachgemäßer Ausführung
verzeichnet finden, und auch die Abschnitte über
Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit sind besonders
lesenswert. Die Ausstattung des Buches ist eine
gute. Bei einer Neuauflage würde es sich emp-
fehlen, wenn Verfasser bei Literaturangaben nicht
nur den Autor, sondern auch die nähere Quellen-
angabe verzeichnete. Falk.
Lehrbuch der Physiologie des Menschen mit
besonderer Berücksichtigung der prakti-
schen Medizin. Von Prof.L.Landois, 11. Auf-
lage bearbeitet von Prof. Dr. Rosemann. Erste
•Hälfte (Bogen 1—33). Verl. Urban ÄSchwarzen-
berg Berlin und Wien.
Über ein Buch, wie die Landoissche Physio-
logie, weiches gewissermaßen schon zum eisernen
Bestände unser Lehr- und Nachschlagebücher
gehört, viel Rühmendes sagen zu wollen ist eine
überflüssige Aufgabe. Der bie jetzt vorliegende
Teil der elften von Rosemann bearbeiteten Auf-
lage beschäftigt sich mit der Zirkulation sowie
dem Gas- und Stoffwechsel. Ganz besonders
hervorgehoben zu werden verdient die kurze
mit ausgezeichneten Abbildungen versehene ana-
tomische Einleitung, welche der Beschreibung
der Funktionen jedes einzelnen Organes voran-
geschickt ist, eine gerade für ein Nachschlage-
werk außerordentlich wichtige Beigabe.
Auf die Anordnung der Materie sowie Be-
sprechung von Einzelheiten behalte ich mir vor
nach Vorliegen der vollendeten Neuauflage zurück-
zukommen. Th. A. Maass.
Hermaphroditismus und Zeugung&unfähigrkeit.
Eine systematische Darstellung der Mißbil-
dungen der menschlichen Geschlechtsorgane.
Von Prof. Cesare Taruffi. Autorisierte
deutsche Ausgabe von Dr. med. Teuscher.
Mit Abbildungen. Berlin 1903. Verlag von
H. Barsdorf.
Verf. gibt nach einem geschichtlichen Über-
blick über die Literatur eine Schilderung des
anatomischen und klinischen Hermaphroditismus,
dazu sehr reiche Kasuistik. Das Buch eignet
sich nicht zu einem Referate. Jeder Autor, der
sich mit dem in Frage stehenden Thema be-
schäftigt, wird in Zukunft auf das Werk recur-
rieren müssen und dasselbe mit wirklichem
Nutzen verwerten. Edmund Saalfeld (Berlin).
Praktische HoÜran
und
empfehlenswerte Arsneifoi
Lein«
Impfung am Faß. Von Priv.-Doz. Dr. deLaHarpe
(Lausanne). (Originalmitteilung.)
Jeanneret hat aus ästhetischen Rücksichten
vorgeschlagen, die Impfung an der Fußsohle vor-
zunehmen (Revue med. de la Suisse rom.
1900): diese Gegend sei von allen Körperteilen
diejenige, wo die Impfnarben am wenigsten
sichtbarsind. Außerdemist bei kleinen Kindern
der Fuß für die Nachpflege und etwaige Behand-
lung der Impfpusteln sehr günstig, viel günstiger
als die gewöhnlich bevorzugte Schultergegend;
auch sind die Füße der Beschmutz ung durch
Urin undFaeces weniger exponiert als die Schenkel,
wo die Impfung gegenwärtig häufig stattfindet.
Ferner sind die Impfpusteln durch die übliche
Fußbekleidung gegen allfällige Reibung vortreff-
lich geschützt. Es ist aber sehr zu wünschen,
daß man die Impfnarben mit Leichtigkeit ent-
decken kann, und es dürfte in gewissen Fällen
ziemlich schwierig sein, die-
selben an einer stark ver-
hornten , schmutzigen Fuß-
sohle zu konstatieren. Des-
halb möchte ich empfehlen,
die Impfung an der Dorsal-
flache des Fußes zu machen:
zwei Einschnitte hart an den
Zehenwurzeln , einen dritten
oberhalb der bim alle olären
Gelenklinie. Die Pusteln liegen
so an dem sonst kleinen kind-
lichen Fuß etwas entfernt von
einander, was immer für die
Nachpflege günstig ist. Die
Narben sind später sehr leicht
aufzufinden. Die Zeichnung
stellt den Fuß eines 4jährigen,
im 3. Lebensmonat von mir
geimpften Kindes dar: infolge
des Wachstums ist die obere Narbe von der
Gelenklinie etwas nach oben gerückt.
i
XIX. Jahrgang. 1
Joni 1906. J
Praktisch« Notizen und empfehlenswert* Arzneiformeln.
331
Inhalationen von Amylnltrit bei Hämoptoe
fand Rouget (Societe med. des höpitaux 7. April
1905) in einem Falle wirksam, in welchem alle
gebrauchlichen Mittel versagt hatten. Amyl-
nitrit wirkt durch Herabsetzung der Spannung
und Erweiterung der peripherischen Gefäße.
Inhalationen von Amylnltrit bei Malaria
wendet Rand in Washington (vergl. La Semaine
med. 1905, No. 19) seit einer Reihe von Jahren
erfolgreich an. Da der Beginn des Fieberanfalls
stets mit einer Kontraktion der peripherischen
Gefäße einhergeht, läßt Rand, sobald der Schüttel-
frost anfangt, 3 Tropfen Amylnitrit einatmen.
Gewöhnlich tritt sofort Besserung mit Erweite-
rung der Hautgefäße und Verschwinden des Kopf-
wehs ein: Der Anfall ist kupiert.
Gegen Oxyuris vermlcularis *
hat Dr. A. Rahn (Manch, med. Wochensch. 1905,
No. 16) mit bestem Erfolge Gujasanol (= salz-
saures Diäthylglykokol-Guajakol) verwendet. Er
verordnete dies ungiftige Mittel in 4 — 5 proz.
Lösung bei Erwachsenen und in 2 — 3 proz. Lö-
sung bei Kindern, indem er folgendermaßen vor-
ging: Der Mastdarm wurde mit einer dünnen
Seifenlösung gespült, und zwar mit 150 cem bei
Erwachsenen, mit der Hälfte bei Kindern; diese
Lösung war lauwarm und verweilte nur ca.
1 Minute im Mastdarm. Darauf wurde mit
einer gleichen Menge (bezw. 75 cem) der obigen
Gujasanollösung nachgespült, und dieselbe mußte
möglichst 2 — 3 Minuten in linker Seitenlage'
.zurückgehalten werden. Diese Prozedur wurde
3 Abende hintereinander in derselben Weise
vorgenommen. Rahn verordnete das Gujasanol
gleich in gebrauchsfertiger Lösung:
Rp. Gujasanol 12,0—15,0
Aquae destillatae ad 450,0
D. S. In 3 Teilen an 3 hintereinander
folgenden Abenden zum Einlauf!
Bei Kindern kommt die Hälfte dieser Ver-
ordnungsweise in Frage. Die Seifenlösung kann
man leicht herstellen, und zwar gleich auf
3 Abende berechnet, indem man ein haselnuß-
großes Stück Rasier- oder venetianische Seife in
einer halben Weinflasche warmen Wassers durch
Schütteln auflösen läßt. — In der Vernichtung
der Oxyuris erschien das Gujasanol von fast
spezifischer Wirkung.
Sauers Kranken-Bouillon
ist der reine heiß gewonnene Saft aus Knochen-
und fettfreiem Ochsenfleisch ohne jeglichen Zu-
satz. Es fehlt vor allen Dingen Salz, Gewürze,
Gelatine-Zusatz. Trotzdem ist das Präparat im
Winter oder auf Eis gekühlt gallertig und wird
in diesem Zustande besonders gern genommen.
Bei warmer Temperatur ist die Bouillon flüssig.
Sie wird zur Hebung der Körperkräfte und aU
anregendes Mittel gegeben. Die Packung in
weithalsigen Flaschen mit Patentverschluß ge-
stattet, beim Verbrauch nur die Tagesmenge zu
entnehmen, den Rest aber in der Flasche nach
dem Verschließen durch Einstellen in kochendes
Wasser zu sterilisieren.
Siccose (Saccus carnis verus siecus)
ist der schnell getrocknete reine Saft aus rohem
Ochsenfleisch ohne jeden Zusatz. Es schmeckt
daher auch nicht wie Fleischextrakt sondern wie
Fleischsaft. Das Präparat kommt als Pulver
und in Tabletten ä 0,25 g in den Handel. Für die
Kombination mit andern Heilmitteln eignet sich
am besten die Verordnung als Schachtelpulver.
Hervorzuheben ist die appetitanregende Wirkung,
die nach W. Aufrecht etwa !/s Stunde nach
dem Einnehmen eintritt.
Könstatlerung des Scheintodes mittels Fluoreecin.
Im Kriege kann es vorkommen, daß Leute
infolge einer an ihrer Seite erfolgten heftigen
Explosion eines Geschosses, ohne direkt ver-
wundet zu sein, wie vom Blitze getroffen um-
fallen. Dabei können sie brüsk zugrunde gehen;
zuweilen handelt es sich jedoch nur um tiefe
Ohnmacht. Vor dem Lebendigbegraben werden
soll hierbei nach Dr. Icard (vergl. Journ. des
Praticiens 1905, No. 15) die Anwendung des
Fluorescin in Form der Injektion schützen.
Man spritzt 8 — 10 cem der folgenden Lösung ein:
Fluorescini 10,0
Natrii carbonici 15,0
Aquae destillatae 50,0
Ist noch Leben vorhanden, so stellt sich ein
intensiver Ikterus ein, und das Auge zeigt eine
prächtige grüne Verfärbung, wie wenn ein
schöner Smaragd in die Augenhöhle eingesetzt
worden wäre.
Uns geht folgendes an die Ärzte in Berlin
und in der Provinz Brandenburg gerichtetes
Zirkular zu. Um demselben auch außerhalb eine
möglichst weite Verbreitung zu geben, bringen
wir dasselbe wörtlich zum Abdruck:
Bitte um Mithilfe
bei der Bekämpfung des Gebärmutterkrebses.
Sehr geehrter Herr Kollege !
Ihre tatkräftige Mithilfe erbittet die Gesell-
schaft für Geburtshilfe und Gynäkologie
zu Berlin, damit durch frühzeitige Erkennung
des Gebärmutterkrebses die Zahl der Heilungen
bei diesem Leiden erhöht wird.
Je eher der Krebs der Gebärmutter zur
Operation gelangt, um so besser der Erfolg !
Wenn auch die Operationsgrenze dadurch er-
weitert ist, daß außer dem Uterus noch die
kranken Anhänge, das Beckenbindegewebe und
die Beckendrüsen in vorgeschrittenen Fällen
entfernt werden können, so besteht doch darüber
kein Meinungsunterschied, daß die unmittelbaren
Aussichten der Operation ebenso wie die Zahl
der Dauerheilungen gründlich nur dadurch ge-
bessert werden können, daß die Krebskranken
früher zur Operation kommen. Leider sucht
ein nicht geringer Teil der Frauen die erste
Hilfe gegen ihr Leiden noch nicht beim Arzte,
sondern bei der Hebamme oder bei Pfuschern,
332
Praktische Notizen und empfehlenswert« Arzneiformeln.
rherapentfirfae
Monatshefte.
nicht wenige schleppen ihr Leiden hin, bis
operative Hilfe aussichtslos erscheint. Doch
haben Erhebungen, insbesondere von Prof. Wi n t e r-
Königsberg, festgestellt, daß mehr als die. Hälfte
der krebskranken Frauen die Hilfe ihres Haus-
arztes zuerst aufsuchen. Jedenfalls steht dieser
in den meisten Fallen vor der Aufgabe, die
Kranke auf den rechten Weg zu weisen.
Den Hebammen wird die Gesellschaft durch
ein besonderes Merkblatt in dringlicher Weise
die Ermahnung zukommen lassen, daß sie jede
Unterleibskranke, insbesondere solche mit krebs-
verdächtigen Symptomen unverzüglich zur arzt-
lichen Untersuchung zu bringen haben.
Der praktische Arzt weiß wohl, daß Gleich-
gültigkeit der Kranken gegen Blutungen und
Ausfluß, solange keine Schmerzen vorhanden
sind, ferner Furcht vor der Untersuchung oder
vor einem Eingriffe die Ursachen der Ver-
schleppung von Krebsfallen sind. Der Haus-
arzt als ständiger Berater der Familie kann
hierin einen segensreichen Wandel schaffen, wenn
er bei Krebsverdacht sofort mit aller Energie
zu einer sicheren Diagnose zu kommen sucht
und nicht wartet, bis zunehmende Blutungen,
Schmerzen, Abmagerung und schlechtes Aus-
sehen die Natur des Leidens beweisen. Dann
ist es meist zur Heilung zu spät.
Es ist unzweifelhaft, daß durch Verordnen
von Seeale oder Hydrastis mancher Krebs ver-
schleppt ist, zumal wenn die Blutungen darauf-
hin einige Zeit nachlassen.
Gerade der Gebärmutterkrebs macht sich
meist früh bemerkbar.
Wenn unregelmäßige Blutungen, seien
sie auch noch so gering, oder Blutungen nach
dem Beischlaf, oder blutig- wässeriger
Ausfluß (Fleischwasser), oder Blutabgang in
der Menopause, oder gar übelriechender Aus-
fluß und Schmerzen (nur bei vorgeschritte-
neren Fällen) vorhanden sind, so muß eine
Untersuchung stattfinden, und zwar auch
während der Blutung. Denn die Beendigung
der Blutung abzuwarten, heißt kostbare Zeit
verstreichen lassen. Wenn auch die genannten
Symptome auf Grund anderer Leiden als Krebs
gelegentlich vorhanden sein können, so ist doch
solche Annahme nur statthaft, nachdem der
Krebs ausgeschlossen ist. Gerade weil sehr oft
der Krebs in den 40 er und 50 er Jahren auf-
tritt, müssen sich Arzt und Patientin vor der
Täuschung bewahren, die Blutung als Folge der
Wechseljahre aufzufassen. Wird die Untersuchung
verweigert, so ist auf die Möglichkeit bös-
artiger Erkrankung und ihre Folgen hin-
zuweisen und dann ohne Untersuchung jede
Behandlung abzulehnen.
Der größte Teil der Gebärmutterkrebse
nimmt bekanntlich seinen Ausgang von der
Portio vaginalis und der Cervix, der kleinere
von der Schleimhaut des Corpus uteri oder den
hohen Cervixabschnitten. Verdächtig sind un-
regelmäßig geformte Erosionen am Muttermund,
Blutung bei Berührung, harthöckerige Hervor-
ragungen. Abbröckelnde Teilchen werden wohl
immer krebsig sein. In zweifelhaften Fällen ist
aus der verdächtigen Stelle ein Stückchen im
Speculum mit einem spitzen Messer auszu-
schneiden (etwa 1/9 — l cm lang, l/2 cm breit
und Y4 — Y, cm tief). Bei hochsitzendem
Cervixkrebs und Corpuskrebs, bei denen
sich die Portio bekanntlich meist völlig gesund
anfühlt, und der Cervikalkanal, zumal bei
Klimakterischen, eng, der Uteruskörper meist
nicht vergrößert ist, muß mittels der Kürette
die Schleimhaut des Uteruskörpers und
der Cervix abgeschabt werden. Alle Stückchen
werden in ein Fläschchen mit Alkohol getan.
Viele Mitglieder der Gesellschaft für Geburts-
hilfe und Gynäkologie haben sich bereit erklärt,
4ie zugesandten Stückchen mikroskopisch zu
untersuchon und den behandelnden Ärzten das
Resultat mitzuteilen. Auch bei negativer Diagnose
wird die Patientin dem Arzt für seine Mühe und
Sorgfalt Dank wissen und sich freuen, daß eine
Operation nicht notwendig ist.
Ist der Krebs durch die Untersuchung mit
der Hand, dem Spiegel oder dem Mikroskop
festgestellt, so wird der Arzt auf sofortige
Operation dringen. Jeder Aufschub ist ab-
zulehnen, denn der Krebs kann sich schnell
weiter ausbreiten, Drüsenmetastasen machen und
die Aussichten der Operation und der end-
gültigen Heilung verschlechtern.
Verdächtige Fälle zu beobachten, ab w artend
oder mit Atzmitteln zu behandeln, ist falsch.
Die Patientin, die sich der Operation nicht
unterziehen will, muß über den Ernst ihrer Er-
krankung aufgeklärt werden.
Der Gebärmutterkrebs kann durch Ope-"
ration dauernd geheilt werden. Je früher
operiert wird, um so einfacher und leichter ge-
staltet sich der Eingriff. Bei frühzeitiger Ope-
ration ist die Sterblichkeit eine geringe, die
Wahrscheinlichkeit einer Dauerheilung des Krebses
eine verhältnismäßig größere, als wenn bei vor-
geschrittenem Krebs operiert wird.
Ob ein Krebs inoperabel geworden ist,
kann, abgesehen von ganz verlorenen Fällen,
meist erst nach genauer Untersuchung in Narkose
vom Operateur entschieden werden.
Wir geben uns der Hoffnung hin, daß mit
fortschreitender Erkenntnis und mit der wachsen-
den Teilnahme der Arzte die Zahl der mit
Erfolg operierbaren Fälle steigen, der heute
immer noch vorkommenden verschleppten Fälle
sich vermindern wird. Einen Gebärmutterkrebs
rechtzeitig "entdeckt, zur Operation und dadurch
zur dauernden Heilung gebracht zu haben, wird
jeden Arzt mit größter Befriedigung erfüllen.
Sein Verdienst an der Rettung der Kranken ist
gewiß dem des Operateurs gleichzustellen.
Die Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie
zu Berlin.
Wir verweisen auf die an anderer Stelle
dieses Heftes S. 326 besprochene Schrift von
Prof. Runge. Die Redaktion.
Für die Redaktion verantwortlich: Dr.JLLanggaard in Berlin SW.
Verlag ron Julius Springer in Berlin N. — Universitate-Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin N
Therapeutische Monatshefte.
1905. Juli.
Originalabhandlnngen.
Die epidemische Genickstarre in
Oberschlesien.
Von
Dr. A, Hecht in BeutheD Ob.-Scbl.
Von den Epidemien, welche im letzten
Jahrzehnt den oberschlesischen Industrie-
bezirk heimgesucht haben, hat wohl keine
so viel berechtigtes Aufsehen erregt, wie die
seit nunmehr fünf Monaten epidemisch
herrschende Genickstarre. Wenn diese in
den letzten Jahren auch hin und wieder
sporadisch aufgetreten ist, so hat sie doch
nie zu Besorgnissen Anlaß gegeben. „Gerade
die Epidemien der Cerebrospinalmeningitis
zeichneten sich bisher ohne Ausnahme
dadurch aus, daß sie sich auf enge Bezirke
beschränkten. In den Militärepidemien, wie
sie namentlich in Frankreich auftraten,
waren es meist nur vereinzelte Kasernen,
und hier vielfach nur bestimmte Flügel und
Zimmer der Kaserne, in denen die Krankheit
auftrat. Herrscht die- Epidemie in einer
Ortschaft, so pflegen es bestimmte Straßen
und Häuser zu sein, in welchen sie festen
Fuß faßt. Daß große Städte oder ausge-
dehnte Ländergebiete in annähernd gleich-
mäßiger Verbreitung betroffen werden, ist
bisher kaum beobachtet worden. Beachtens-
wert ist, daß eine Epidemie nicht selten nur
eine geringe Anzahl von Erkrankungen
umfaßt und binnen wenigen "Wochen beendet
ist. Immerhin sind von dieser Kegel zahl-
reiche Ausnahmen bekannt. " (Eichhorst)1).
Zu diesen zählt die gegenwärtige Epidemie.
Letztere zeichnet sich auch vor der Epidemie
des Jahres 1887, welche speziell im Kreise
Beuthen Ob.-Schl. ca. 90 Krankheitsfälle um-
faßte, durch ihre gewaltige Ausdehnung aus.
Ist doch gegenwärtig der gesamte Industrie-
bezirk von der Seuche fast gleichmäßig
betroffen. Wenn bestimmte Stadtteile oder
Straßen von der Krankheit bevorzugt werden,
so ist dies auf die Dichte der Bevölkerung
zurückzuführen. Es ist deshalb kein Zufall,
wenn die ersten Infektionsherde in dem
i) Deutsche Klinik, Bd. II, S. 323.
Th M. 1905.
benachbarten Königshütte zu suchen sind,
wo eine zahlreiche Arbeiterbevölkerung dicht
zusammengedrängt wohnhaft ist. Wie aus
früheren .Epidemien bereits bekannt, trat
auch diesmal die Krankheit sprungweise auf,
indem sich zunächst einzelne, umschriebene
Herde bildeten, welche oft mehrere Kilometer
von einander entfernt waren. Nachdem die
Zahl derselben auf 15 angewachsen war,
breitete sich die Krankheit nunmehr gänz-
lich regellos in Stadt und Land aus. Bis
zum 21. Mai betrug im Reg. -Bez. Oppeln
die Zahl der festgestellten Krankheitsfalle
2299. Hiervon entfallen auf Königshütte 424,
während im Kreise Beuthen Ob.-Schl.
450 Krankheitsfälle zur Anzeige kamen.
Im Stadtkreise Beuthen Ob.-Schl. und den
vier zu ihm gehörigen Landgemeinden sind
auffallenderweise nur 133 Krankheitsfälle
gemeldet worden. Die Gesamtzahl dieser
Erkrankungen, verteilt sich auf eine Be-
völkerung von 270 000 Seelen und einen
Flächenraum von 125 Quadratkilometern.
Demnach kommt ein Krankheitsfall auf
circa 270 Menschen. Wenn wir bedenken,
daß die Genickstarre vorwiegend eine Krank-
heit des kindlichen und jugendlichen Lebens-
alters ist, so muß es auffallen, daß die Zahl
der Erkrankungen bei dem Kinderreichtum,
dessen sich Arbeiterfamilien zumeist zu erfreuen
haben, nicht eine bedeutend größere ist.
Während andere kontagiöse Krankheiten,
wie Scharlach und Masern nicht selten
mehrere Kinder der nämlichen Familie
gleichzeitig zu befallen pflegen, erkrankt an
Genickstarre in der Regel nur ein Familien-
mitglied. Die Fälle, wo zwei oder mehrere
Erkrankungen in derselben Familie zu
gleicher Zeit vorkamen, sind entschieden als
Ausnahmen zu betrachten. So sind von den
92 in Stadt Beuthen gemeldeten Krankheits-
fällen nur in drei Familien zwei Kinder, in
einer Familie drei Kinder erkrankt. Be-
sonders im Beginne der Epidemie ist dieses
gehäufte Auftreten der Epidemie häufiger
beobachtet worden. Dabei stellte sich heraus,
daß die Erkrankung des zweiten Kindes in
der Regel denselben Ursprung hatte, wie
25
334
H«cht, EpldamUch« Q«ntekttarr« In Ob«rtchl«tien.
["Therapentiache
L Monatshefte.
diejenige des früher Befallenen. Nur in
vier Häusern konnte ein durch größere Zeit-
intervalle getrenntes, zweimaliges Auftreten
der Genickstarre in verschiedenen Familien
konstatiert werden. Die Anzahl der Häuser,
in denen die Seuche sich zeigte, beträgt im
Stadtkreis Beuthen 80. In dem 107 Häuser
umfassenden Stadtteil Friedenshütte, wo
lediglich Arbeiter mit ihren Familien wohnen
— zuweilen 30 Familien in einem Hause —
beläuft sich die Zahl der verseuchten Häuser
auf 22. Hierbei ist auffallend, daß nur in
dem Hause No. 7 zwei Erkrankungsfälle
vorgekommen sind, während alle übrigen
Häuser nur je einen Krankheitsfall aufzu-
weisen haben. Wenn auch die Behörden
bemüht waren, durch Überführung der Er-
krankten in die Krankenhäuser und durch
Desinfektion der Wohnräume der Epidemie
Einhalt zu tun, so kann diese verhältnis-
mäßig geringe Morbidität nicht ausschließlich
diesem Faktor zugeschrieben werden. Viel-
mehr erscheint die Annahme naheliegend,
daß letztere auf die geringe Widerstands-
fähigkeit des Krankheitserregers zurückzu-
führen ist.
Daß die Genickstarre zu den infektiösen
Krankheiten zu rechnen ist, geht schon aus
ihrem epidemischen Auftreten hervor. Ob-
gleich diese Vermutung bereits seit ihrem
ersten Auftreten im Jahre 1805 von den
Ärzten gehegt wurde, gelang es doch erst
1887 Weichselbaum, den Infektions-
erreger „mit einer an Sicherheit grenzenden
Wahrscheinlichkeit" (Eichhorst) im Mikro-
kokkus intracellularis meningitidis (auch
Meningokokkus kurzweg benannt) nachzu-
weisen. Einen zwingenden Beweis für die
Spezifizität dieses Diplokokkus lieferten A.
Bettencourt8) und C. Franca, welche regel-
mäßig bei Genickstarrekranken eine Agglu-
tination des Weich sei bäum sehen Diplo-
kokkus feststellten. Diese Angaben wurden in
dieser Epidemie bestätigt. Es gelang nicht,
vor dem sechsten Tage das Fhaenomen zu be-
obachten. Da die verschiedensten Spaltpilze
eine eitrige Meningitis zu erzeugen vermögen
— speziell vom Pneumokokkus Fraenkel
wurde lange Zeit behauptet, daß er die
epidemische Cerebrospinalmeniogitis hervor-
rufe — war erst mit der Auffindung des
Meningokokkus dasjenige zuverlässige Kri-
terium geschaffen, welches eine Unterschei-
dung der epidemischen Genickstarre von der
sporadischen ermöglichte. Wie so häufig, spielt
auch bei der Genickstarre die Mischinfektion
eine für den Verlauf der Krankheit bedeut-
same Rolle, denn außer den Pneumokokken
hat man im eitrigen Sekret der Meningen
neben dem Meningokokkus auch den Strepto-
kokkus und Staphylokokkus pyogenes, zuweilen
auch Influenzabazillen nachgewiesen. Umge-
kehrt konnte Heubner unter 14 Fällen
von tuberkulöser Meningitis zwei Mal
Meningokokken neben Tuberkelbazillen auf-
finden.
Ein anderes Moment, welches die Beant-
wortung der Frage nach der Spezifizität des
Meningokokkus außerordentlich erschwert, ist
die geringe Lebensfähigkeit der künstlichen
Kulturen, sowie die geringe Pathogenität
dieses Mikrokokkus für Tiere. Neuerdings
ist es jedoch Heubner gelungen, durch
Einspritzen von Meningokokken in den
Subarachnoidealraum des Rückenmarks einer
Ziege eine eitrige Meningitis hervorzurufen.
Einen weiteren Beitrag zur Lösung dieser
Frage hat jetzt Prof. von Lingelsheim,
der Leiter des bakteriologischen Instituts
zu Beuthen Ob.-Schl. geliefert, welcher den
Meningokokkus in 760 Fällen der gegen-
wärtigen Epidemie gefunden hat, und zwar
konnte letzterer nicht nur in der Lumbai-
flüssigkeit, sondern zuweilen auch im Blute
nachgewiesen werden. Von großem Wert
für das Verständnis der Krankheit erwies
sich ferner die" Beobachtung, daß Meningo-
kokken nicht selten im Sekret der Nase,
des Rachens, der Bronchien und im Exsudat
der Paukenhöhle anzutreffen sind. Man
wird daher die Auffassung gerechtfertigt
finden, wonach Nase und Rachen als die
hauptsächlichsten Eingangspforten
und primären Lokalisationsstellen der
infektiösen Noxe zu gelten haben.
Was die Eigenschaften dieses Spaltpilzes
betrifft, so ist seine Lebensdauer nur eine
kurze. Ist es doch oft schon ein bis zwei
Wochen nach Beginn der Krankheit nicht
mehr möglich, , ihn im Nasenschleim oder
in der Cerebrospinalflüssigkeit aufzufinden.
Ausnahmsweise konnte der Meningokokkus
jedoch von Hub er8) in einem Falle noch
am 104. Krankheitstage, von Frohmann*)
in einem Falle noch am 235. Krankheits-
tage in der Spinalflüssigkeit nachgewiesen
werden. Ebenso wenig widerstandsfähig zeigt
er sich gegen Schädlichkeiten außerhalb des
Organismus. Zwar hat Jaeger5) gefunden,
daß Meningealeiter, auf Wattebäuschen
angetrocknet und in Petrischalen aufbewahrt,
selbst nach 127 Tagen noch entwicklungs-
fähige Meningokokken enthielt. Doch will
') Zeitschr. f. Hygiene u. Infektionskrankheiten.
1904. Bd. 46.
*) Arch. of Ped. 1905, Februar.
4) Deutsche med. Wochenschr. 1899, No. 42.
») Deutsche Klinik, Bd. II, S. 331.
XIX. Jahrgang.")
Juli 1905. J
Hecht, Epidemische Genlckttarre in Obertchleaieo.
335
dieses Faktum nicht viel besagen. Denn
würde der Meningokokkus außerhalb des Or-
ganismus dieselbe Zähigkeit besitzen, wie er
sie im Experiment gezeigt hat, so würde die
epidemische Genickstarre noch viel grössere
Ausdehnung annehmen, als sie bisher ge-
funden hat. Werden auch die Kranken
durch Überweisung an die Krankenhäuser
unschädlich gemacht, so können doch auch
Gesunde in ihrem Nasensekret virulente
Meningokokken beherbergen. Gerade diese
tragen dann zur Verbreitung der Krankheit
am meisten bei, indem sie ihr Nasen- bez.
Rachensekret, ohne sich von den Folgen
ihres Tuns Rechenschaft zu geben, sorglos
in die Schürze oder auf den Fußboden ent-
leeren. Würde hier der Meningokokkus eben
so lange entwicklungsfähig bleiben, wie im
Experiment, so dürfte kein Blind einer
Arbeiterfamilie von der Krankheit verschont
bleiben. Gewöhnlich erkrankt aber nur
eines. Wir dürfen daher annehmen, daß
der Mikrokokkus außerhalb des Organismus
sich nicht lange zu erhalten vermag. Wenn
daher Beobachtungen mitgeteilt werden,
wonach Ansteckungen durch leblose Gegen-
stände z. B. nicht desinfizierte Montier ungs-
stücke erfolgt sind (Panienski)6), so kann
dieser Weg der Übertragung für die Ent-
stehung einer Epidemie nicht ernstlich in
Frage kommen. Wenigstens ist nicht be-
kannt geworden, daß Kleidungsstücke, welche
aus verseuchten Schneiderwerkstätten hervor-
gegangen sind, Träger der Ansteckung
geworden sind. Ebensowenig sind Er-
krankungen unter dem Bahnpersonal, welchem
die Beförderung von Paketen obliegt, vorge-
kommen. Aus diesem Grunde kann die
Verfügung der Militärverwaltung, welche
Pakete, deren Absender im oberschlesischen
Industriebezirk wohnhaft sind, von der Ab-
lieferung an die Adressaten ausschließt, als
eine wirksame Maßregel zur Verhütung der
Verschleppung nicht angesehen werden.
Wie gering die Bisposition zur Erkrankung
an Genickstarre ist, wird am besten durch
die Tatsache erwiesen, daß in dieser Epidemie
nicht ein einziger Wärter oder eine Wärterin
angesteckt worden ist, obwohl gerade das
weibliche Wartepersonal im Verkehr mit
den Kranken nicht selten die nötige Vorsicht
vermissen läßt. Darum kann auch die An-
nahme, daß bereits eine flüchtige Berührung7),
•) cf. sub »).
7) Anm. bei der Korrektur: Indessen kommen
auch Aasnahmen vor. Am 81. Mai er. besuchte ein
Kollege in der sechsten Nachmittagsstunde ein
genickstarrekrankes Kind, während seine junge
Gattin ihn draußen im Wagen erwartete. Darauf
erkrankte letztere bereits nach wenigen Stunden
wie z. B. bei der Pest, zur Herbeiführung
eines Infektes genügen soll, nicht viel Wahr-
scheinlichkeit für sich haben. Dagegen ist
es nicht ausgeschlossen, daß die Seuche
durch den Verkehr verschleppt wird.
So wurde beobachtet, daß ein Reservist8)
des Alezander-Garde-Regiments die Krank-
heit von Liegnitz nach Berlin verschleppt
hat. Auf gleiche Weise soll Zeitungs-
berichten zufolge die Krankheit in jüngster
Zeit von Oberschlesien nach Konitz in
Westpreußen übertragen worden sein. Dieser
Übertragungsmodus erklärt sich leicht durch
die Beobachtung, daß virulente Kokken auch
in den Sekreten völlig gesunder Menschen
sich finden. So konnten in dieser Epidemie
bei der Mutter eines an Genickstarre er-
krankten Kindes noch acht Tage nach Beginn
der Erkrankung virulente Kokken im Nasen-
schleim nachgewiesen werden.
Hieraus ist ersichtlich, daß zur Er-
krankung an Genickstarre eine gewisse Dis-
position erforderlich ist. Eine solche ist
einmal gegeben im Lebensalter. Fast alle
Epidemien haben gezeigt, daß das kindliche
Lebensalter, ganz besonders das Säuglings-
alter und die nächst höheren Altersstufen,
am meisten gefährdet ist. Diese Disposition
ist bedingt durch die häufig bei Kindern
vorhandene Hyperplasie des lymphatischen
Rachenringes. Dagegen beträgt der Prozent-
satz der Kranken, welche über 12 Jahr alt
sind, nur 4 Proz.; derjenige Erwachsener ist
noch viel niedriger. Letztere sind besonders
dann zur Erkrankung disponiert, wenn ihre
körperliche Widerstandsfähigkeit durch er-
schöpfende Krankheiten gelitten hat.
Ein zweites Moment bilden körperliche
und in geringerem Maße auch geistige Über-
anstrengungen. Insbesondere haben Truppen1
epidemien gelehrt, daß die des Dienstes
noch ungewohnten Rekruten vorzugsweise
erkranken, und daß besonders nach an-
strengenden Märschen die Krankheit plötzlich
epidemisch auftrat. In gleicher Weise
können auch Traumen die Krankheit zum
Ausbruch bringen. So beobachtete ich bei
einem einjährigen Kinde den Ausbruch der
Krankheit, nachdem es aus dem Bett der
Mutter gefallen war.
Ein drittes, die Krankheit auslösendes
Moment bilden Erkältungen. Wenigstens lehrt
die Monographie von Hirsch9), daß die
am Abend desselben Tages an Genickstarre und
starb am folgenden Tage 4 Uhr Nachmittags.
8) Eulenburgs Real-Enzyklopädie, III. Aufl.,
Bd. IV, S. 428.
9) Die Meningitis cerebrospinalis epidemica
vom historisch -geographischen und pathologisch-
therapeutischen Standpunkte, Berlin 1866.
336
Hecht, Epidemisch« Genickstarre In Ohertchletlen.
rher&pentlsche
Monatshefte.
Genickstarre mit Vorliebe in den kalten
Monaten des Winters und Frühjahrs aufzu-
treten pflegt, zu Zeiten, wo der Stand des
Thermometers und Barometers großen
Schwankungen unterliegt, und nach feuchten
Südwinden plötzlich scharfer Ost- oder
Nordwind eintritt. Indessen sind auch
Epidemien beschrieben worden z. B. aus
Steiermark (1889), welche bis Juli sich
ausdehnten. Es hängt dies eben damit
zusammen, daß auch in den heißen Sommer-
monaten Erkältungen um so leichter auf-
treten, je größer und schroffer die Temperatur-
schwankungen sind. Wenn Kinder bis zu
fünf Jahren besonders gefährdet sind, so
erklärt sich dies dadurch, daß erst mit dem
fünften Lebensjahre die Disposition zu
akuten Katarrhen abnimmt. Namentlich
Kinder von lymphatischer und skrofulöser
Konstitution werden der Seuche besonders
leicht unterliegen.
Schließlich wird von Heubner10) den
allgemeinen Schädlichkeiten der Armut und
des Elends als Hilfsursachen große Be-
deutung beigelegt. Ganz besonders, meint
er, sind in der schlechten Beschaffenheit, in
der Feuchtigkeit, in dem Licht- und Luft-
mangel der Proletarierwohnungen Hilfsmo-
mente von zweifellos großer Bedeutung
gegeben. Dagegen möchte ich einwenden,
daß die Wohnungen der hiesigen Industrie-
arbeiter mit wenigen Ausnahmen, wenn auch
räumlich beengt, so doch in gesundheitlicher
Beziehung einwandsfrei sind. Nach meinem
Dafürhalten ist vielmehr die Unbildung in
Dingen der Hygiene dafür verantwortlich zu
machen, wenn Kinder der unteren Volks-
schichten häufig unter Erkältung zu leiden
haben. Obwohl die Arbeiterwohnungen
meistens aus Stube und Küche bestehen,
werden die Kinder gewöhnlich in der über-
heizten Küche gehalten, wodurch zweifellos
eine Disposition zu Erkältungen geschaffen
wird. Dazu kommt, daß die Kinder, mangel-
haft bekleidet, bei Wind und Wetter ins
Freie getragen oder geschickt werden.
Daraus erklärt sich auch die Sorglosigkeit,
welche man bei katarrhalischen Erkrankungen
der Nase und des Rachens, wegen ihrer an-
geblichen Harmlosigkeit an den Tag legt.
Eine weitere Folge ist der Mangel an Rein-
lichkeitssinn. Wie häufig mag die Mutter
dem Kinde beim Reinigen der Nase mit
ihrer Schürze ihr eigenes virulentes Sekret
einimpfen !
Ein anderer Weg, welcher direkt zur
Ansteckung führen mag, vielleicht derselbe,
welchen Flügge für die Tuberkelbazillen
nachgewiesen hat, ist im Verspritzen des
Speichels durch Hustenstöße gegeben, wo-
durch die Kokken in frischem, infektions-
tüchtigem Zustande bis auf eine Entfernung
von fast einem Meter fortgeschleudert werden
können. Ebenso konnte de Leon11) experi-
mentell nachweisen, daß beim gewöhnlichen
Sprechen kleinere und kleinste Speicheltröpf-
chen verspritzt werden, mit denen Mikro-
organismen in die Umgebung gelangen. In
gleicher Weise kann das Sekret der Nase
durch Schneuzen und Niesen verstreut werden.
Über die Inkubationsdauer sind bisher
nur wenige zuverlässige Beobachtungen ge-
macht werden. Nach Angaben von Hirsch19)
Petersen18) und Richter14) beträgt dieser
Zeitraum durchnittlich nur 3 — 4 Tage. In-
dessen kann er auch nur wenige Stunden
betragen, wie obiger Fall lehrt.
Was die pathologische Anatomie, Symp-
tomatologie und den Verlauf der Genick-
starre betrifft, so kann es nicht meine Auf-
gabe sein, diese hier erschöpfend zu be-
handeln, zumal eine ausfuhrliche Schilderung
in jedem Handbuch zu finden ist. Dagegen
halte ich es nicht für überflüssig, die Be-
deutung der Rachentonsille15) für die Patho-
genese der Genickstarre hier eingehend zu
erörtern.
Man ist in jüngster Zeit immer mehr
darauf aufmerksam geworden, daß eine
ganze Anzahl von Infektionserregern sich in
den Lakunen der Gaumen- und den Recessus
der Rachenmandel ansiedeln, um von hier
auf dem Wege der Lymphbahnen in den
Körper einzudringen. So ist es schon seit
längerer Zeit bekannt, daß Tuberkelbazillen
verhältnismäßig häufig in den Mandeln und
gar nicht selten in der Rachentonsille
•anscheinend sonst gesunder Personen vor-
kommen. Ebenso enthalten die Gaumen-
mandeln stets Strepto- und Staphylokokken,
welche von Zeit zu Zeit durch noch unbe-
kannte Ursachen erhöhte Virulenz annehmen
und zur Entzündung der Mandeln Anlaß
geben. Mit dieser Angina catarrhalis
simplex bringt eine stattliche Anzahl von
Beobachtern den akuten Gelenkrheumatismus
in ätiologischen Zusammenhang. Weitere
Erfahrungen haben nun gelehrt, daß auch
Erkrankungen, wie Osteomyelitis, metasta-
tische Eiterungen, Perikarditis, Septicämie,
,0) Eulenburgs Real-Enzyklopädie, Bd. IV,
ll) Arch. f. klin. Chir. 72. Bd., 4. Heft.
») cf. sub 9).
") Deutsche med. Wochenschr. 1896, No. 86.
") Breslauer ärztliche Zeitschrift 1887, Bd. LX,
Seite 14.
15) M. Schmidt, Die Krankheiten der oberen
Luftwege, 111. Aufl., Berlin 1903, S. 269 fg.
XJX. Jahre aag.l
Jnli lfl»&. J
Htcht, Epidemiach« Genickstarre la OteraehlMten.
337
kryptogenetische Pyämie und schließlich
auch die Meningitis cerebro-spinalis unter
dem Bilde einer Angina beginnen. Da eine
Beteiligung der Rachentonsille an der Angina
acuta durch die anatomischen Verhältnisse
begünstigt wird, so ist es leicht verständlich,
wenn wir auch bei der Genickstarre die
Rachentonsille entzündlich verändert antreffen.
In der Tat haben Sektionen, welche Westen -
hoeffer- Berlin16) hierselbst an 29 Leichen
jüngst vorgenommen hat, in den meisten
Fällen eine Vergrößerung der Rachentonsille,
in vielen auch Schwellung der Lymphdrüsen
am Halse, ferner der Thymusdrüse (auch
bei Erwachsenen) und der Lymphapparate
im Darm nachgewiesen. Immer fand sich
der obere Nasenrachenraum mit zähem
Schleim angefüllt, wie dies sonst nicht beob-
achtet wird. Nach seiner Entfernung zeigt
sich die Rachenmandel geschwollen; ferner
ist die hintere Rachen wand gerötet, geschwollen
und ödematös. In der Nase war der vordere
Teil zumeist unverändert, der hintere war
bei einigen, namentlich Erwachsenen, mit-
beteiligt.
Von den Nebenhöhlen war das Ohr
meist mitergriffen, teils mit schleimigem, teils
mit eitrigem Inhalt angefüllt, häufig war die
Keilbeinhöhle erkrankt (10 mal), mehrfach
die Highmorshöhle (7 mal), nur ein einziges
Mal die S i eb b e in z eilen bei einem Er-
wachsenen.
Aus diesen Befunden schließt Westen-
hoeffer, daß der Erreger in den lympha-
tischen Apparaten des Nasenrachenraumes
seine Eintrittspforte hat. Von hier oder den
Nebenhöhlen aus dringen die Infektionserreger
auf dem Wege der Lymphbahnen in den Sub-
arachnoidealsack des Gehirns und Rückenmarks
ein. In anderen Fällen kriechen sie außerdem
den mediastinalen Bindegewebszügen entlang
abwärts und erzeugen die Befunde der eitrigen
Pleuritis und Perikarditis17), der ulzerösen
Endokarditis und Myokarditis, der Dysenterie
und Nephritis, Komplikationen, welche
ebenso, wie die artikularen, periartikulären
und muskulären Eiterungen als eine Folge
der durch den Meningokokkus hervorgerufenen
Septikämie zu betrachten sind. Hieraus er-
klärt sich zur Genüge die enorme Abmage-
rung und Blutarmut der Kranken, ohne daß
man einen besonderen Einfluß, etwa des
Nervensystems heranzuziehen braucht18).
Neuerdings sind Fälle von seröser19),
durch den Meningokokkus hervorgerufener
l6) MüDch. med. Wochenschr. 1905, S. 1120.
") Ealenburg. Bd. IV, S. 433.
18) Nothnagel, Spez. Pathol. und Therapie,
Bd. X, S. 304.
,f) Münch. med. Wochenschr. 1903, S. 1263 fg.
Meningitis beschrieben worden, bei denen
die Sektion keine Spur einer Entzündung
der Gehirn- oder Rückmarkshäute nachzu-
weisen vermochte. In einem solchen von
Salomon beschriebenen Falle, welcher mit
Gelenkschmerzen, intermittierendem Fieber
und septischen Exanthemen einherging,
konnte der Meningokokkus im Blute nach-
gewiesen werden. Die Autoren nehmen
deshalb an, daß in solchen Fällen die Ein-
wanderung der Krankheitserreger nicht auf
dem Wege der Lymph- sondern der Blut-
gefäße erfolgt ist.
Wollen wir auf diese Anschauungen vor-
beugende Maßnahmen gründen, so werden
wir der Hyperplasie des lymphatischen
Rachenringes allezeit unsere Aufmerksamkeit
zuwenden. Da die vergrößerte Rachenmandel
in letzter Linie eine Folge bakterieller
Insulte darstellt, werden wir, schon um
letzteren ein Ende zu bereiten, sie operativ
entfernen, ganz abgesehen von den mannig-
fachen und zum Teil sehr ernsten Schädi-
gungen, welche dem Organismus auch sonst
aus diesen Wucherungen erwachsen können.
Ist jedoch die Erkrankung bereits zum
Ausbruch gekommen, so werden unsere
therapeutischen Bestrebungen darauf gerichtet
sein müssen, der Brutstätte direkt zu Leibe
zu gehen. Solange wir diese unbeachtet
lassen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn
immer wieder neue Infektionsmassen in die
Blut- und Lymphgefäße eindringen und so
den gesamten Körper durchseuchen. Daß
unter solchen Umständen die bisher ange-
wandten therapeutischen Maßnahmen nur
sehr bescheidene Erfolge aufzuweisen haben,
ist leicht erklärlich. Beträgt doch die
Mortalität der gegenwärtigen Epidemie be-
reits jetzt 52 Prozent! Nur die Herstellung
eines spezifischen Heilserums kann zu
günstigeren Resultaten verhelfen, wenn es
auch nur in solchen Fällen seine volle
Wirksamkeit entfalten wird, in denen die
Mischinfektion nur eine untergeordnete Rolle
spielt. Wo Strepto- und Staphylokokken
das Krankheitsbild beherrschen, wird auch
das Heilserum versagen.
Vorderhand müssen wir uns mit Ein-
blasungen von Sozojodolnatrium und Acidum
boricum «ä partes in Hals*0), Nase und Epi-
pharynx behelfen. Ein sehr wertvolles Heil-
mittel bilden die von Aufrecht81) in die
Therapie der Genickstarre eingeführten 32° R.
warmen Bäder von 10 Minuten langer Dauer.
Dieselben werden neuerdings auch von
») Auch Westenhoeffer (1. c.) tritt für Be-
handlung der Rachenorgane energisch ein.
") Ther. Monatshefte 1894, S. 381.
338
H«cht, Epidemisch« Qtnlekitarre in ObonchlMien.
rher&pentiseb«
Monatshefte.
Netter83) empfohlen. Nach diesem Autor
sind sie 3 — 4 stündlich zu wiederholen, ihre
Dauer auf 20 Minuten zu bemessen. Ebenso
hat Heubner93) im Laufe des letzten Jahr-
zehnts von diesen Bädern oft zweifellosen
Nutzen gesehen. Er beginnt mit 35° C. und
steigt jeden Tag um 1° bis auf 39 und
40° 0. und selbst darüber. An das Bad
schließt man eine schweißtreibende Einwick-
lung an. Im allgemeinen gibt Heubner
täglich ein Bad, doch hat er diese Prozedur
auch schon am selben Tage wiederholen
lassen. Wo Bäder nicht zu beschaffen sind,
bewähren sich auch heiße Einpackungen94).
Dagegen muß vor der Anwendung kühler
Bäder96) bezw. vor kalten Übergießungen
gewarnt werden, da sie von den Kranken
entschieden schlecht vertragen werden. Gegen
die vielen Schmerzen wird der Chapmann-
8 che oder Leiter sehe Eisschlauch mit Er-
folg angewendet. Man appliziert ihn auf
den Schädel bezw. längs der Wirbelsäule.
Wo die Symptome erhöhten Hirndrucks in
die Erscheinung treten, bringt die neuerdings
auch zu diagnostischen Zwecken viel geübte
Lumbalpunktion große Erleichterung, indem
nach ihrer Ausführung öfter Wiederkehr des
Bewußtseins und Nachlaß der Kopfschmerzen
beobachtet wird. Natürlich muß dieselbe
im Verlauf der Krankheit mehrmals wieder-
holt werden. Gegen die Toxämie habe ich
auch bei der Genickstarre von subkutanen
Kochsalzinfusionen, mehrmals ausgeführt, über-
raschende Erfolge gesehen. Auch Netter
macht, wenn die Korperkräfte nachlassen,
Injektionen von künstlichem Serum. Leider
finden dieselben noch immer nicht die ihnen
gebührende Wertschätzung. Von Medika-
menten stiften die Narkotika öfter palliativen
Nutzen, insbesondere sind subkutane Morphi-
uminjektionen9*) bei hartnäckigem Erbrechen
nicht zu entbehren; ebenso wirken sie auf
Kopfschmerz, Schlaflosigkeit und Delirien
zauberhaft ein. Dagegen ist von den Anti-
pyreticis und den Jodpräparaten eine heil-
same Wirkung nicht zu erwarten. Große
Sorgfalt verwende man auf die Ernährung,
um die rapide Abmagerung einigermaßen
aufzuhalten, da bei protrahiertem Verlauf
der Kranke weniger an den Folgen der
Meningitis, als an Inanition zugrunde geht.
Auch hierbei bewähren sich Kochsalzin-
fusionen aufs beste, indem sie häufig den
w) Münch. med. Wochenschr. 1900, S. 922.
*3) Lehrb. d. Kinderheilkunde. Leipzig 1903,
S.554.
8l) Münch. med. Wochenschr. 1896, S. 1063.
85) Nothnagel, Spez. Pathol. u. Therap. Bd. X,
S SIS
a6j Ther. Monatshefte 1887, S. 194.
darnieder liegenden Appetit aufbessern. Schließ-
lich sei noch erwähnt, daß amerikanische Ärzte97)
Collargol auch bei Genickstarre in Form von
Einreibungen und intravenösen Injektionen
angeblich mit bestem Erfolge angewendet
haben.
Wenn auch unsere therapeutischen Be-
strebungen gegen diese Krankheit viel mehr
auszurichten vermögen, als vor zwei De-
zennien, so wird doch nach wie vor der
Schwerpunkt ärztlicher Bemühungen auf die
Prophylaxe zu legen sein. Da wir wissen,
daß die Seuche durch Mittelspersonen ver-
schleppt werden kann, wird es sich für uns
Arzte empfehlen, die Besuchstour so einzu-
richten, daß die Genickstarrekranken ganz
zuletzt besucht werden. Um die eigenen
Angehörigen nicht der Gefahr einer An-
steckung auszusetzen, möchte ich dringend
davor warnen, Frau oder Kind, wie das
zuweilen geschieht, mit auf die Tour zu
nehmen. Ferner ist es ratsam, beim Be-
treten der eigenen Wohnung die auf der
Visitentour getragene Kleidung abzulegen
und mit Formalindämpfen zu desinfizieren.
Ebenso desinfiziere man nochmals seine
Hände.
Ist bei einem Kranken Genickstarre fest-
gestellt, so wird man ihn für seine Um-
gebung unschädlich zu machen bemüht sein,
indem er in ein Zimmer gebracht wird, wel-
ches von der übrigen Wohnung abgesondert
werden kann. Der Verkehr der Angehörigen
mit dem Kranken hat zu unterbleiben; ebenso
sind Krankenbesuche unter allen Umständen
zu verbieten. Ferner dürfen weder Angehö-
rigen des Kranken, noch Kinder anderer in
demselben Hause wohnenden Familien öffent-
liche Schulen oder Spielplätze besuchen.
Lehrer, in deren Familien die Krankheit
auftritt, müssen auf die Dauer von 2 Wochen
von der Schule fernbleiben, selbst, wenn der
Kranke sofort nach Feststellung der Krank-
heit einem Krankenhause überwiesen wor-
den ist.
In Krankenhäusern müssen Genickstarre-
kranke in besonderen Räumen untergebracht
werden, da Ansteckungen anderer Kranken
beobachtet worden sind. Ebenso darf das
Wartepersonal der ersteren zur Pflege anderer
Kranken keine Verwendung finden. Sekrete
von Hai 8 und Rachen, der Bronchien und
Nieren müssen ebenso, wie der aus dem
Mittelohr sich entleerende Eiter desinfiziert
werden. Das Gleiche gilt vom Stuhlgang,
da Jaeger in den geschwollenen Lymph-
follikeln der Darmschleimhaut Meningokokken
gefunden hat.
*) Medizin. Klinik 1905, S. 578 und 608.
XIX. Jahrg&nt.l
Jall 1905. J
Galll-Valerio, Helminthen des Menschen.
339
Bei Abfassung dieser Arbeit bin ich von
den Herren Medizinalrat La Roche und
Professor von Lingelsheim durch wert-
volle Mitteilungen unterstützt worden. Für
diese Freundlichkeit sage ich ihnen auch an
dieser Stelle meinen verbindlichsten Dank!
(fIygieii.*par&sltoIog1sehes Institut der Univerilt&t Lausanne.)
J>ie Verbreitung und Verhütung der
Helminthen des Menschen«
Von
Prof. Bruno Qalli-Valerio.
Unter den Parasiten, welche eine bedeu-
tende Rolle in der menschlichen Pathologie
spielen, nehmen die Helminthen eine der
ersten Stellen ein. Sie veranlassen nicht nur
allgemeine Störungen des Kreislaufes, der
Ernährung, des Zentralnervensystems u. s. w.,
sondern können auch wahre morbide En ti-
lgten erzeugen, wie Ankylostomiasis, Tri-
chinose, Bilharziose etc. Es ist recht zu
bedauern, daß die Kenntnisse über das
Leben dieser Parasiten, ihre pathogene
Rolle, die Art und Weise ihrer Verbreitung
den Ärzten im allgemeinen nicht geläufig
sind. Dieselben pflegen wenig Interesse für
Helminthen zu zeigen, die doch nicht nur in
warmen Ländern, sondern auch in unseren
Gegenden von großer Bedeutung sein können.
Die pathogene "Wirkung der Helminthen kann
verschiedentlich erklärt werden:
1. Durch eine einfach mechanische Wir-
kung: Ihre Anwesenheit in den verschiedenen
Organen kann Verstopfungen, Erweiterungen,
Geschwür- oder Neubildungen, renexe Reizun-
gen, Störungen mehrerer Funktionen verur-
sachen.
2. Durch Blutentziehung, welche ent-
weder von den Helminthen selbst bewirkt
wird, indem sie Blut saugen, oder weil sie
Verletzungen erzeugen, welche während eines
gewissen Zeitraums den Blutabgang veran-
lassen, und zwar mittels Inokulation eines
Stoffes, welcher die Gerinnung des Blutes
hindert, wie es der Fall zu sein scheint für
Uncinaria canina1).
3. Durch Erzeugung toxischer Stoffe:
Diese Wirkungsweise der Helminthen ist be-
sonders in letzterer Zeit erforscht worden.
Man hat im Extrakt mehrerer Helminthen
die Anwesenheit Von Stoffen festgestellt,
welche Erniedrigungen oder Steigerungen der
Körperwärme, Störungen des Zentralnerven-
systems, Erscheinungen von Hämolyse etc.
verursachen können. Es ist sehr wahrschein-
*) Zeotralbl. für Bakteriologie, Orig. XXXVII,
1904, p. 93.
lieh, daß mehrere dieser toxischen Sub-
stanzen auch von den lebenden Helminthen
ausgeschieden werden und die Ursache einiger
Krankheitserscheinungen sind. Doch steht
nicht zu bezweifeln, daß in gewissen Fällen
diese toxischen Stoffe der Helminthen haupt-
sächlich nach deren Tod produziert werden.
So zum Beispiel sind mir zwei Fälle schwerer
Anämie, durch Botriocephalus latus bewirkt,
bekannt, die in Lausanne beobachtet wurden,
einer in der Abteilung des Prof. Bourget, der
andere in der Praxis des Prof. Demi eville.
In diesen 2 Fällen waren einige der eli-
minierten Würmer (1 im ersten, mehrere im
zweiten Falle) tot und in beginnender Mace-
ratio. Die hämolytische Wirkung des Ex-
traktes dieser Bothriocephalen, war merk-
licher als diejenige des Extraktes der lebendig
eliminierten Bothriocephalen.
4. Als Virusträger, d. h., daß die Hel-
minthen durch ihre Wanderungen und durch
die Verletzungen, welche sie in den ver-
schiedenen Organen verursachen, Bakterien
verschleppen und einimpfen und dadurch die
Erzeugung von Keimkrankheiten begünstigen
können. In den meisten Fällen spielen diese
verschiedenen Wirkungsweisen eine gemein-
same Rolle, um die diversen Krankheits-
erscheinungen der verschiedenen Helmin thiasis
zu erzeugen. Diese Krankheitserscheinungen
stehen in keinem Verhältnis zu der Zahl der
Würmer, die der Patient beherbergt. Es
können manchmal schwere Störungen auf-
treten bei Anwesenheit von nur wenigen
Wurmern, und dies steht in Beziehung zu
der Widerstandsfähigkeit des angegriffenen
Individuums oder auch zu der stärkeren
oder schwächeren Virulenz der Wurmer. So
z.B. habe ich an mir selbst beobachtet, daß ich
in einem Falle mehrere Ascaris lumbrieoides
eliminierte, deren Anwesenheit mir nie irgend-
welche Unannehmlichkeit bereitet hatte und
von mir gänzlich übersehen worden war,
während in einem späteren Falle nur zwei
von diesen Würmern wiederholte Koliken,
Durchfall, Brechreiz zur Folge hatten; diese
üblen Zustände dauerten 3 Monate, d. h. bis
zur Ausstoßung der Parasiten.
Die Wege, mittels welcher die Hel-
minthen in den menschlichen Organismus ein-
dringen können, sind folgende:
1. Der Verdauungsapparat. Auf diesem
Wege können die Helminthen eingeführt
werden :
a) Mit dem Fleisch der Tiere, welche
den verschiedenen Parasiten des Menschen
als Zwischenträger dienen, oder auf welchem
Eier oder Larven von Würmern gelegentlich
deponiert wurden, hauptsächlich durch Fliegen.
Diese Zweiflügler können in der Tat Hei-
340
Galli-Valerio, Helminthen de§ Menschen.
rherapeotlacfee
Monatshefte.
mintheneier und Larven übertragen, nach-
dem sie sich auf Fäces gesetzt haben. Grassi
hat auf Fliegen Trichocephalus-, Taenia- und
Oxyuriseier, und ich habe Eier von T. tri-
chiurus und A. lumbricoides gefunden.
b) Durch gelegentliche Einführung ge-
wisser wirbelloser Tiere, welche auch den
Helminthen als Zwischenträger dienen.
c) Durch Einführung gewisser Gemüse
oder Früchte, auf welchen sich Eier oder
Larven von Helminthen befinden können.
In dieser Beziehung ist Salat, welcher roh
genossen wird, eines der gefährlichsten Ge-
müse für die Übertragung der Helminthen.
In einer Ortschaft, wo eine Darmhelmin-
thiasis wütete, habe ich auf Salat Eier von
T. trichiurus und A. lumbricoides gefunden.
Ceresole3) hat oft sogar die Anwesenheit
von Eiern von Uncinaria duodenalis auf
Salat angezeigt, aber, wenn die Sache auch
möglich sein kann, frage ich mich doch, ob
nicht ein Beobachtungsfehler begangen wurde.
Es ist tatsächlich sehr wichtig, zu beachten,
daß die Eier von A. lumbricoides, in ein
äußeres Medium gebracht, d. h. auf Vege-
tabilien oder in veraltete Fäces, eine Reihe
Verunstaltungen und Veränderungen in der
Weise durchmachen, daß sie das Aussehen
der Eier von TL duodenalis gewinnen. Die
gelbliche runzelige Schale, welche die Eier
umgibt, fällt ab, und es bleiben nur ganz
durchsichtige, ovale Eier mit glatter Schale,
manchmal schon in beginnendem Teilungs-
prozeß, Eier, welche auf flüchtigen Blick
für Eier von U. duodenalis angesehen werden
können. Sie unterscheiden sich aber von
diesen hauptsächlich dadurch, daß sie nicht
in ihrem Querdiameter etwas flach gedrückt
sind, auch durch ihre dickere Schale und,
im allgemeinen, Mangel an Teilungsprozeß.
Fast immer, wenn man mehrere mikrosko-
pische Untersuchungen macht, findet man
neben den ganz ausgeschälten Eiern auch
solche, die beginnen, sich von der äußeren
gelben Haut zu befreien, so daß diese nur
mehr stückweise am Ei haftet. Boycott
und Haidane3) geben auch an, daß die der
hügeligen Schale beraubten Eier von A. lum-
bricoides mehrmals mit Eiern von U. duo-
denalis verwechselt wurden.
d) Durch verunreinigtes oder sumpfiges
Wasser, in welchem Helmintheneier oder
Larven sich befinden können.
2. Durch die Haut. Auf diesem Wege
können die Helminthen folgenderweise ein-
geführt werden:
a) Durch den Stich gewisser Insekten,
welche einigen Helminthen als Z wisch en-
») Supplemento al Policlinico. 10. Nov. 1900.
3) Journal of Hygiene, IV, 1904, p. 94.
wirt dienen und ihre Larven mit dem
Stechen einimpfen.
b) Durch Auftragen auf die Hautober-
fläche von Schlamm, schlammiges Wasser
oder Stuhl entleerungen, in welchen diese
Larven vorhanden sein können. Looss4),
bestätigt diese von Schaudinn5) ermittelte
Infektionsweise für U. duodenalis; Pieri*)
im Gegenteil konnte diese Art der Infektion
nicht feststellen, Boycott und Haidane7)
geben an, einer von ihnen hätte Larven von
U. duodenalis auf seinen Arm gelegt, ohne
lokale Verletzung oder allgemeine Infizierung
aufzuweisen. Ich selbst habe auf meinen
Arm Fäces aufgetragen, die zahlreiche Larven
von U. duodenalis enthielten, und habe sie
dort eine ganze Nacht unter einem leicht
befeuchteten Verbände behalten. Das Ex-
periment fand am 1. November statt; bis
jetzt weise ich keine Infektionszeichen in
meinen Fäces auf. Dieselben enthalten weder
Eier, noch Würmer. Diese negativen Experi-
mente können jedoch nicht die positiven Resul-
tate von Looss und Schaudinn anfechten,
um so weniger, als Van Durme8) feststellen
konnte, daß auch die Larven von St. intestinalis
durch die Haut der Tiere eindringen können.
Die Helminthen des Menschen sind so-
wohl in den warmen Ländern als auch in
unseren Gegenden sehr verbreitet. Es schien
mir ein gewisses Interesse zu bieten, die
Häufigkeit des Vorkommens von Helminthen-
eiern, und Larven in den am Wegrand zer-
streuten menschlichen Fäces zu untersuchen.
Eine solche Nachforschung kann uns viel
genauer über die Verbreitung dieser Para-
siten aufklären als Untersuchungen, welche
an Fäces von Spitalkranken gemacht werden.
Es kann in der Tat immer beobachtet werden,
daß, wenn diese Kranken öfters Helminthen
aufweisen, es gewiß die Folge ihres Schwäche-
zustandes ist, der sie wahrscheinlich einer
Infizierung mit Helminthen empfanglicher ge-
macht hat. Die Untersuchungen hingegen
der am Wegrand gesammelten Fäces erlauben
uns in der Mehrzahl der Fälle anzunehmen,
daß wir es sehr wahrscheinlich mit gesunden
Leuten zu tun haben, und demnach werden
wir mit größerer Sicherheit über die reelle
Frequenz der Helminthen unterrichtet werden.
Eine solche Nachforschung wird uns auch
eine Weise der Zerstreuung der Helminthen er-
*) Zentralbl. für Bakteriol., Bd. XXIV, p. 483,
Bd. XXIX, p. 733, Bd. XXXIII, p. 330, Bd. XXXVI,
p. 602.
s) Deutsche med. Wochenschr. 1904, 8. Sept.
6) Rendic. della Reg. accad. dei Liocei XI,
p. 217, XII, fasc. 9.
7) Journal of Hygiene, IV, 1904, p. 89.
8) Thompson Yate Laboratory Reports.
Liverpool 1902, p. 71.
XIX. Jahrgang. 1
jwii im J
Qalli-Valario, Helminthen da« Menschen.
341
klären: diese Fäces, von Regen- und Schnee-
wasser durchgewaschen, lassen etwaig« darin
vorhandene Eier an die Oberfläche der Pflanzen,
in die Gewässer, in die Quellen gelangen; und
.wie wir sehr häufig feststellen konnten, werden
sie in nächster Nähe von Gewässern deponiert,
welche als Trinkwasser gebraucht werden.
Meine Untersuchungen wurden an ver-
schiedenen Orten gemacht; in bezug auf die
Statistik kann folgende Ursache sie um ein
weniges gefälscht haben: es ist klar, daß ich
in gewissen Fällen mehrmals auf Fäces vom
gleichen Individuum stoßen konnte. Aber
die ziemlich große Zahl der untersuchten
Fäces und die Verschiedenheit der Ort-
schaften, wo die Einsammlung geschah, werden
uns doch einen ungefähr genauen Schluß über
die Verbreitung der Helminthen ziehen lassen.
Für jedes Exemplar der eingesammelten
Fäces habe ich durchschnittlich 5 Unter-
suchungen angestellt; doch glaube ich nicht,
mich durch diese 5 Prüfungen ganz sicher
vergewissert zu haben, daß die Fäces, in
welchen ich keine Helmintheneier fand, auch
wirklich keine enthielten. Im Laufe meiner
Untersuchungen hatte ich mehrmals Gelegen-
heit, in den examinierten Fäces Eier von
A. lumbricoides zu finden, welche ihrer äuße-
ren gelben Haut beraubt waren und Keim-
zeichen aufwiesen, welche sie annähernd den
Eiern von U. duodenalis gleichen ließen, wie
ich weiter oben andeutete. Auch beob-
achtete ich sehr häufig, daß die 2 Grund-
formen der Eier von A. lumbricoides, von
Miura und Nishiuchi9) beschrieben, d. h.
die befruchteten und die unbefruchteten, ent-
weder einzeln oder vereinigt in der gleichen
Fäkalmasse zu finden waren. Auch bemerkte
ich einige Male kleine Unterschiede zwischen
den Eiern von T. trichiurus; während in der
Mehrzahl der Fälle diese Eier dunkelgelb,
schmal und länglich sind, fand ich auch einige
seltene breitere und heller gefärbte Exemplare.
Ich fasse in umstehenden Tabellen die
Resultate meiner Untersuchung zusammen,
indem ich andeute:
durch -f- die sehr zahlreichen Eier,
< die zahlreichen Eier,
— die seltenen Eier,
0 die fehlenden Eier.
Die Übersicht dieser Tabellen gestattet
uns, folgende Tatsachen festzustellen:
Von 3 15* Fäces, welche untersucht wurden,
enthielten 224 (71 Proz.) Helmintheneier.
In diesen 224 infizierten Fäces findet man:
120 mal Eier von A. lumbricoides; ge-
nauer: 76 mal sehr zahlreich, 24 mal zahl-
reich, 20 mal selten.
») ZeDtralbl. für Bakt., Orig. XXXIII, 1902,
p. 687.
Th.M.1005.
167 mal Eier von T. trichiurus ; genauer:
36 mal sehr zahlreich, 63 mal zahlreich,
68 mal selten.
3 mal Eier von 0. vermicularis; genauer:
2 mal zahlreich, 1 mal selten.
4 mal Eier von Larven von St. intesti-
nalis; genauer: 2 mal sehr zahlreich, 2 mal
zahlreich.
5 mal Eier von T. sagin ata; genauer:
3 mal sehr zahlreich, 2 mal selten.
5 mal Eier von B. latus; genauer: 2 mal
zahlreich und 3 mal selten.
In mehreren Fällen waren diese ver-
schiedenen Eier assoziiert:
In 66 Fällen waren assoziiert: A. lum-
bricoides und T. trichiurus.
In 1 Falle waren assoziiert: A. lumbri-
coides und T. saginata.
In 3 Fällen waren assoziiert: A. lum-
bricoides und St. intestinalis.
In 1 Falle waren assoziiert: A. lumbri-
coides, St. intestinalis und B. latus.
In 1 Falle waren assoziiert: A. lumbri-
coides, T. trichiurus und B. latus.
In 1 Falle waren assoziiert: A. lumbri-
coides, T. trichiurus und T. saginata.
In 1 Falle waren assoziiert: T. trichiurus
und B. latus.
In 1 Falle waren assoziiert: T. trichiurus
und 0. vermicularis. .
In 1 Falle waren assoziiert: T. trichiurus
und T. saginata.
In bezug auf die befruchteten und un-
befruchteten Eier von A. lumbricoides sehen
wir, daß von 120 Fäces, welche Eier dieses
Parasiten enthielten, 23 befruchtete und un-
befruchtete vereinigt, 12 unbefruchtete und
85 befruchtete Eier aufwiesen.
Diese Beobachtungen zeigen uns immer
mehr die große Verbreitung der Helminthen
in unseren Gegenden. Besonders bemerkens-
wert ist das häufige Vorkommen von T. tri-
chiurus., der sogar häufiger auftritt als
A. lumbricoides. Und meiner Ansicht nach
soll er noch häufiger vorkommen, als es
meine Untersuchungen schließen lassen, denn
diese in den Fäkalmassen oft nicht zahl-
reichen Eier können dem Beobachter leicht
entgehen. Es ist mir oft begegnet, 1 oder
2 Eier von T. trichiurus nur nach Anfertigung
von mehreren Präparaten zu finden, so daß es
nicht ausgeschlossen ist, daß eine größere Zahl
Präparate mich nicht eines dieser Eier hätte
entdecken lassen. Im Gegenteil habe ich
selten Eier von O. vermicularis gefunden,
obgleich dieser Parasit sehr verbreitet ist;
dies könnte dem Umstände zugeschrieben
werden, daß ich nur selten mit Kinderfäces
zu tun hatte, die eben am häufigsten mit
diesem Wurm infiziert sind.
26
342
Qalll-Valarlo, Halmiathan de« Measehan.
ruerapentiafbj
Monatshefte.
Nr.
Ortiehaft
3
4
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70
Lausanne
Ouchy
Orbe
(Kt. Waadt)
Datum
15. XII. 03
16. XII. 03
24. XII. 03
28. XII. 03
30. XII. 03
6. 1. 04
A. lum-
brfooldes
15. XI. 04
S.V. 04
13. XII. 03
20.XH.03
25. XII. 03
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{Die Eier von A. lum-
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XIX. Jahrgang.")
Juli 1905. J
Qalli-Valerio, Helminthen de* Menschen.
343
Nr.
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Juli 1905. J
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345
Nr.
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A. lum-
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Juli 04
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346
Galll-Val«rio, Helminthen des Menschen.
rTherapeatlidw
L Monatshefte.
Nr.
Ortschaft
Datum
A. luni-
T.tri-
0. Ter-
8t in-
T.ft&ffl-
B. Utas
Hern erklingen
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Sondrio
(Veltlin)
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(Comersee)
11. IX. 04
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{ tete Eier von A. lum-
l bricoides.
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Bemerkenswert ist auch das gänzliche
Fehlen von U. duodenalis auch in Brig, wo
so viele Tunnelarbeiter sich befinden. Das
häufige Vorkommen der Helminthen sowie
ihre sehr schädigende Wirkung auf die Ge-
sundheit der damit infizierten Menschen sollte
immer mehr die Aufmerksamkeit auf die-
jenigen Mittel lenken, welche geeignet sind,
die Verbreitung dieser Würmer zu beein-
trächtigen oder zu verhindern. Die zahl-
reichen zweckdienlichen Maßregeln können
wie folgt zusammengefaßt werden:
1. Immer größere Ausdehnung, auch auf
dem Lande, der Fleischschau, verbunden
mit Auferlegung der Vernichtung der mit
Beschlag belegten Teile, um zu verhüten,
daß diese auf die Misthaufen geworfen werden,
wie es oft vorkommt. In gewissen Fällen,
wie z. B. wenn es sich um Echinokokkus-
blasen handelt, können diese Blasen von
Hunden aufgefressen werden, welche dann
später die Eier von T. echinococcus auf Gras,
Gemüse und im Wasser zerstreuen, somit eine
Infektionsgefahr für den Menschen erzeugen.
2. Schutz der Speisen gegen die Fliegen,
welche häufig Helmintheneier darauf depo-
nieren, die sie den Fäces entnommen haben.
3. Abschaffung des Gebrauches, wie dies
schon an verschiedenen Orten (z. B. Rom)
geschah, Fruchtpflanzungen, wie Erdbeeren
oder Gemüse, besonders Salat, mit dem In-
halt der Abtritte zu begießen.
XIX. Jahrgang. 1
Juli 1905. J
Galli-Valerlo, Helminthen d— Menschen.
347
4. Empfehlung des ausschließlichen Ge-
brauches des gargekochten Gemüses und
Fleisches, speziell der Fische, wo B. latus
häufig vorkommt. Um den Salat von etwaigen
Helmintheneiern zu befreien, sollte dieser
nur nach mehrmaligem Waschen in sauberem
Wasser genossen werden.
5. Vom Gebrauch des verunreinigten,
speziell des schlammigen Wassers, ohne vor-
herige Abkochung oder Filtrierung desselben
durch einen einfachen Filter abraten.
6. Allen Leuten, besonders Kindern und
Arbeitern an Bergwerken, Tunnels, Ziegel-
fabriken, den Rat zu erteilen, die Speisen
nur mit sauber gewaschenen Händen anzu-
rühren.
7. Das häufige Baden immer mehr in
Gebrauch treten zu lassen, besonders in Berg-
werken, Tunnels etc., wo TL duodenalis
und U. americana vorkommen, um das Ein-
dringen der Larven dieser Parasiten durch
die Haut zu verhüten.
8. Schutz der Wohnungen und der Leute
gegen die Mücken in denjenigen Zonen, wo
F. Bancrofti existiert; zu gleicher Zeit soll
für Vernichtung der Larven und Puppen der
Culiciden in den Sümpfen gesorgt werden.
9. Den Gebrauch der Abtritte auf dem
Lande immer mehr verbreiten, hauptsächlich
dieselben da einzurichten, wo Arbeiter ange-
häuft sind, also in Bergwerken, Tunnels etc.
wo Ankylostomiasis grassiert.
10. Wenn Kranke mit schwerer Darm-
helminthiasis zu einem Arzte oder in ein
Spital in Behandlung treten, muß dieselbe
eine energische sein; auch müssen die Eier
des Parasiten in den Fäces vernichtet werden.
Zu diesem Zweck ist die Anwendung von
Schwefelsäure besonders gut geeignet. Diese
Mafiregeln sind hauptsächlich im Falle von
Ankylostomiasis anzuwenden.
11. In denjenigen Gegenden wo Echino-
kokkusblasen am Menschen häufig zu finden
sind, muß eine energische Behandlung der
Hunde mit Wurmmitteln eingeleitet werden;
das Umherlaufen der infizierten Tiere muß
verboten und ihr Kot muß vernichtet werden.
Ich bin der Ansicht, daß die Verbreitung
der Kenntnisse über Helminthen unter Ärzten
und Publikum, hauptsächlich in den mit ge-
wissen Helminthiasisformen behafteten Gegen-
den, von größtem Nutzen in bezug auf .den
Kampf gegen diese gefährlichen Parasiten
wäre.
Lausanne, 8. Dezember 1904.
Glossen zur Behandlung der akuten
eitrigen Mittelohrentzündung.
Von
Dr. A. Eitelberg in Wien.
Die akute eitrige Mittelohrentzündung
stellt eine ebenso häufige wie ernste Er-
krankung des Gehörorganes dar. Es ist
daher nur natürlich, daß man, seitdem über-
haupt wissenschaftliche Ohrenheilkunde ge-
trieben wird, sich redlich bestrebt hat,
diesem Übel erfolgreich zu begegnen. Nun
wird seit fast einem Jahrhundert in unserem
Wissenszweige tüchtig geforscht und gear-
beitet, und die Annahme dürfte auf den
ersten Blick gar nicht gewagt erscheinen,
daß über den hier behandelten Gegenstand
eine Einigung bereits erzielt, die Frage
endgültig gelöst sei. Wer das jedoch
glauben würde, wäre in einem großen Irrtum
befangen.
Da fand vor kaum zwei Jahren ein
Otologenkongreß statt, und den wichtigsten
Punkt der Tagesordnung bildete just die
Therapie der akuten eitrigen Mittelohrent-
zündung. Es kam zu einer recht lebhaften
Debatte, denn es galt, drei verschiedenen,
zum Teile einander diametral entgegenge-
setzten Verfahren zur allgemeinen Aner-
kennung zu verhelfen. Die Kämpen, welche
die wissenschaftlichen Klingen kreuzten,
waren vollkommen gleichwertig, durchwegs
Träger berühmter Namen. Ich führe sie —
um auch äußerlich eine Bevorzugung des
einen vor dem anderen zu vermeiden — in
alphabetischer Ordnung an: Bezold, Kör-
ner, Zaufal (letzterer durch seinen Schüler
Piffl vertreten).
Während also Körner die möglichst
baldige Paracentese des Trommelfelles anrät
und durch statistische Belege den Beweis
erbringt, daß, je frühzeitiger die kleine
Operation vorgenommen wird, desto rascher
und günstiger der Verlauf sich gestaltet,
beeilt sich der nicht minder erfahrene
Zaufal durchaus nicht mit dem Trommel-
fellschnitte, ja zieht ihn im großen und
ganzen viel seltener in Gebrauch und redet
vielmehr entsprechenden Umschlägen (mit
verdünntem Liquor Burow.) das Wort.
Bezold wieder schrickt vor der, von
anderen Ohrenärzten so sehr bei der akuten
Tvmpanitis perhorreszierten Lufteintreibung
nicht zurück, welchen Standpunkt übrigens
auch Politzer teilt.
Dem Praktiker aber empfehle ich, ent-
schieden in seinem eigenen wie auch im
Interesse seiner Klienten, sich beileibe nicht
ausschließlich auf eine der erwähnten Lehren
einzuschwören, mag er sonst welcher der
j
348
Sit«lb«rf, Akut« titrjf« Mitt«lohr«nUOndunf.
rTherapentiaefee
L Monmtihefte.
aufgeführten Autoritäten immer huldigen.
Und zwar aus dem Grunde — weil sie alle
recht haben; nur leider mit der Einschrän-
kung: insoweit Menschen recht haben
können. Wenn man die Medizin wirklich
als eine Kunst ansprechen darf, so möchte
ich dies hauptsächlich mit Bezug auf ihre
therapeutische Seite tun", ein Titel, welcher
bei ihren unzähligen Hilfsmitteln jetzt schier
nicht einmal mehr der Diagnostik recht
zukommt. Da die Natur, mag sie Gutes
oder Böses schaffen, niemals nach einer
Schablone arbeitet, sondern immer produ-
zierend, das heißt künstlerisch, wirkt, so hat
der behandelnde Arzt nicht allein gegen das
bereits gesetzte pathologische Produkt vor-
zugehen, er muß vielmehr auf alle ihre Re-
gungen genau hinzuhorchen verstehen und teils
ihnen zu folgen, teils sie in günstigere
Bahnen zu lenken suchen. Die Natur kennt
kein mechanisches Wiederholen, sie erzeugt
immerfort Neues , wenn sie auch den
Gattungscharakter jederzeit dabei wahrt.
Und wie nicht zwei Blätter desselben
Baumes einander kongruent sind, so wird
man bei einer präzisen Prüfung unter
hundert — man darf auch eine höhere Zahl
setzen — Fällen der gleichen Erkrankungs-
form nicht zwei herauszuheben imstande
sein, deren Symptome und Verlauf sich
ohne Rest decken. Demgemäß wird sich
aber auch die Behandlung jedem einzelnen
Falle speziell anpassen müssen, worunter ich
mir freilich nicht die Aufwendung eines
'ungeheuer komplizierten Apparates denke
als — im Gegenteile — bloß eine rationelle
Distribuierung der je bescheideneren, desto
lieberen Heilpotenzen. Ich bin der positiven
Überzeugung, daß die zuweilen sich vor-
drängende Polypragmasie zu einem guten
Teile die Erfolge wett macht, welche durch
die echten Fortschritte in der Medizin sonst
sichergestellt wären.
Doch ich will in raschen Strichen einige
Beobachtungen aus der jüngsten Zeit hier
skizzieren und so das mystische Dunkel
aufzuhellen mich bemühen, welches manchem
über dem Gesagten zu lagern scheinen möchte.
Eine junge, etwa 23jährige Frau klagt über
heftige Schmerzen im rechten Ohre, die nach einer
mäßigen Angina aufgetreten sind und seit
24 Stunden mit geringen Unterbrechungen an-
dauern. Sie zeigt erhöhte Temperatur — bis
38,5° C, doch wird sie weder von Kopfschmerzen
noch von Sausen oder Pulsieren belästigt. Das
Trommelfell ist diffus gerötet und geschwollen;
der Warzen forts atz stark druckempfindlich. Dessen
Integumente von normalem Aussehen. Meine
Taschenuhr wird in 20 cm (normal 2 m) ver-
nommen. Therapie: Bettruhe, Diät. Mit öproz.
Karbolglyzerin getränkte Wattetampons in den
Gehörgang. Umschläge mit verdünntem Liquor
Burow. über dem Warzenfortsatze. Am nächsten
Tage ist das Trommelfell abgeblaßt, auch weniger
geschwollen, schmutziggrau und kleine Lamellen
abstoßend, hinten unten vorgewölbt Die Uhr
wird heute nur 2 cm weit gehört. Im übrigen
St. idem. Ich proponiere der Patientiu den
Trommelfellschnitt. Sie mag nichts davon wissen.
Am dritten Tage hat sie sich wohl mit ihm schon
vertraut gemacht. Die hysterische Frau — 6ie
hat vor kaum einer Woche einen kataleptischea
Anfall ohne rechte Veranlassung wieder einmal
erlitten — bringt aber trotz allseitigen Zuredens
die Selbstbeherrschung nicht auf, die kleine
Operation zu ertragen, und zieht es vor, noch eine
lange Nacht sich anter Schmerzen zu winden.
Wenngleich keine drohenden Erscheinungen im
Momente vorhanden sind, so muß doch bei der
schwächlichen Konstitution der Patientin auf mög-
lichste Abkürzung des Prozesses hingezielt werden,
und es wird daher mit dem Hausarzt vereinbart,
am folgenden Tage unter jeder Bedingung —
sollte nicht mittlerweile der Durchbrach spontan
erfolgt sein — das Trommelfell einzuschneiden,
eventuell in der Narkose. Diese wurde indes
nicht notwendig. Die Frau hielt sich jetzt tapfer,
und schon wenige Minuten nach geübter ausgiebiger
Parazentese schwanden der Ohrschmerz und die
Druckempfindlichkeit des Warzenfortsatzes. Zwei
Stunden später stellte sich eine profuse Otorrhöe
ein, die nach drei Tagen bereits sistierte. Nach
weiteren drei Tagen konnte die uneingeschränkteste
Restitutio ad integrum konstatiert werden.
In gewissem Sinne ein Gegenstück zu
dem voranstehenden bietet der sich an-
schließende Fall:
Eine 26jährige Frau bekommt gegen Morgen
rechterseits heftige Ohrschmerzen infolge einer
bereits abklingenden akuten Rhinitis. Bald darauf
spricht sie bei mir vor. Man hat wohl nur selten
Gelegenheit, eine akute Tympanitis in ihren Uran-
fängen zu beobachten, wie es hier der Fall war.
Das Trommelfell war schwach retrahiert, leicht
rosa angebaucht, der Lichtfleck noch deutlich,
wenngleich wie hinter einem dünnen Schleier.
Bloß die Gefäße längs des Hammergriffes waren
ziemlich stark injiziert. Der Warzenfortsatz ist
nicht druckempfindlich, das Gehör für Uhr
und Flüstersprache normal. Außer der
Otalgie ist es das Gefühl des Verlegtseins, welches
die Frau in geringem Grade belästigt, aber einer
Lufteintreibung weicht. Karbolglyzerin and Bü-
ro wische Lösung werden wie im ersten Falle
angeordnet und die noch etwas geschwollene
Nasenschleimhaut mit 1 proz. Jodjodkaliglyzerin
bepinselt. Die Frau wird auf den nächsten Tag
bestellt, erscheint aber erst nach drei Tagen.
Unterdessen hat sich die Situation erheblich
geändert. Die Membran bietet ein mattfeuchtes
Aussehen dar, ist hinten oben vorgewölbt. Der
Lichtfleck ist verschwunden und ebenso der
Kontur des Hammergriffes. Der Warzenfortsatz,
namentlich an der Spitze, gegen Druck nicht mehr
indolent. Das Hörvermögen ist für die Uhr auf 9 cm,
für die Flüstersprache auf V/A m Distanz gesunken.
Der Ohrschmerz minder intensiv; intermittierendes
leises Sausen. Eine Lufteintreibung hebt das
Gehör für Flüstersprache auf 3 m, läßt die Hör-
distanz für die Uhr unbeeinflußt. Das therapeu-
tische Regime wird fortgesetzt.
Die Frau ist während der ganzen Zeit fieber-
frei, bei guter Laune. Verdauung und Schlaf in
Ordnung. Am nächsten Tage ist die Vorbauchung
des Trommelfelles noch prägnanter, hat das Hör-
vermögen eine weitere Einbuße erfahren (Uhr ad
XIX. Jahrgang.'
Jult 190».
]
Bitalbarg, Akut* eitrig* MiMatohraatefladuag.
349
conch., Flästersprache in 10 cm). Sonst ist der
Zustand wie gestern. Ich empfehle der Patientin
dringend die Vornahme der Paracentese, welche sie
indes für heute verweigert. Da keine Gefahr im
Verzuge, billige ich ihr den gewünschten 24 stän-
digen Aufschub am Ende za. Die Therapie bleibt
die gleiche, mit Hinweglassung der Luftdusche.
Als die Frau zur verabredeten Stunde sich nicht
meldete, nahm ich an, daß sie sich an einen
anderen Ohrenarzt gewendet habe. Denn an eine
rasche Resorption einer so reichlichen Menge und
noch dazu eingedickten Eiters, worauf die Stelle
der Hervorwölbung und das Aussehen des
Trommelfelles hinwiesen, mochte ich nicht glauben.
(Höchstens hätte es zu einer spontanen Perforation
mit Eiterabfluß kommen müssen.) Es war aber
doch so. Nach einer achttägigen Pause stellt sie
sich wieder vor. Sie hatte nur noch einen Tag
geringfügige Schmerzen gehabt, dann ging es rapid
er Heilung zu. Ich habe ein so schönes Trommel-
fell nicht bald gesehen, es wäre ein Prachtexemplar
für Demonstrationszwecke. Selbstredend war auch
das Gehör zur Norm zurückgekehrt.
Die Krankengeschichte, die ich nunmehr
anreihe, gehört einem kräftigen 24jährigen
Manne an, dessen chroniche Rhinopharyngitis
gerade eine subakute Exazerbation erfahren
hatte. Darauf in der Nacht rasende
Schmerzen im linken Ohre.
In aller Frühe suchte er mich auf. Ich para-
centesiere sofort das stark gerötete und vorgewölbte
Trommelfell. Allein, trotz der abundanten blutig-
serösen Sekretion toben die Schmerzen noch nach
drei Stunden in der gleichen Intensität fort. Da
auch der Warzenfortsatz druckempfindlich ist,
lasse ich an diesen einen Blutegel applizieren.
Die nächste Folge war eine profuse venöse Blutung,
die nach einer 1 Vi stündigen Digitalkompression
durch den Hausarzt und auch nach Anlegen einer
Sperrpinzette nicht stehen wollte und erst mittelst
Liquor ferri sesquichl. -Watte und eines Druckver-
bandes bezwungen wurde. Doch war auch der
Schmerz im Ohre geschwunden. Im weiteren Ver-
laufe machten sich die Schmerzen nur sehr selten
and in bescheidenem Maße geltend. Zu Beginn,
als sie noch zudringlicher waren, leistete eine
3proz. Jodkalilösung (2—3 Eßlöffel täglich) vor-
zügliche Dienste, während Antipyrin und Ein-
träufelungen einer Kokain-Morphinsolution gänzlich
▼ersagten.
Gegen den mittlerweile schleimig-eitrig ge-
wordenen Ausfluß wurden Kreolinausspritzungen
(4 Tropfen auf l/A 1 lauwarmen Wassers) in An-
wendung gezogen. Der nach voraufgegangener
Reinigung des Ohres den Gehörgang obturierende
Wattepfropf wurde zuvor mit seinem inneren
Drittel in öproz. Karbol glyzerin getaucht. Über-
dies wurde, sobald das erste Entzündungsstadium
vorüber war, eine 4proz. Borsäurelösung einge-
träufelt. Die Otorrhöe dauerte 17 Tage an.
Schon als sie spärlicher ward, begann das Hör-
vermögen sich zu bessern, und 10 Tage nach
sistiertem Ohrenflusse hatte es die normale Höhe
erreicht. Die Trommelfeilücke war bereits früher
vernarbt. Der Verlauf war vom Anfange bis zum
Ende ein fieberfreier. Gepolitzert wurde in diesem
Falle nicht ein einziges Mal.
Ein anderer Fall:
Als ich zu dem 11jährigen Mädchen gerufen
wurde, bestand bereits seit sechs Tagen links-
seitige Otorrhöe, die sich nach zweitägigen prodro-
malen Schmerzen im Gefolge einer akuten Rhinitis
«l IL 1905.
eingestellt hatte. Perforation im vorderen unteren
Trommelfellquadranten. Die Umgebung des Ohres
ist nicht druckempfindlich; nur in der Tiefe des-
selben bohrt und pulsiert es, zwar erträglich, aber
immerhin kontinuierlich. Die Temperatur ist in
den ersten Tagen der Beobachtung ohne ersicht-
liche Ursache, später bei besonderen Anlässen:
konkomitierender Halsdrüsenentzündung, Obsti-
pation oder auch nur freudiger Erregung
(Geburtstagsfeier) des Abends mäßig (38,2-38,6°)
erhöht, des Morgens während der ganzen Dauer
der Erkrankung normal, mehrmals sogar sub-
normal (35,6°). 72—80 Pulsschläge in der
Minute. Das Kind hütete das Bett, wurde anfangs
auf strenge Diät gesetzt und seiner etwas trägen
Verdauung zeitweilig nachgeholfen. Zweimal
täglich Ausspritzungen des Ohres mit schwacher
Kreolinlösung und Einträufelungen einer 4proz.
Borsäuresolution. Als sich — wie oben ange-
deutet — eine ziemlich schmerzhafte Drüsen-
schwellung an der gleichnamigen Halsseite hinzu-
fesellt hatte — es geschah in der dritten Krank-
eitswoche — , wurde diese unangenehme Episode
mit Hilfe einer Jodsalbe und Burowischer Dunst-
umschlage abgewehrt.
Der Krankeitsprozeß hatte im ganzen
29 Tage bis zur vollkommenen Wiederher-
stellung — auch quoad auditum — in An-
spruch genommen. Am normalen Trommel-
felle ist die Stätte der einstigen Perforation
nicht mehr zu entdecken.
Und der Silhouette noch eines einschlä-
gigen Erkrankungsfalles gönne man hier ein
Plätzchen:
Er betrifft ein 30 jähriges Mädchen, eines jener
armen Geschöpfe, welche, fern der Heimat und
dem Elternhause, in fremden Landen sich ihr Brod
kümmerlich durch Sprachunterricht erwerben
müssen, nachdem sie die Hoffnung auf eine frohe
Zukunft endgültig eingesargt haben. Man höre da
nur nicht, mit der stolzen Rüstung wissenschaft-
licher Objektivität angetan, hohle Phrasen heraus!
Wer die menschliche Psyche einigermaßen studiert
hat — und der Arzt sollte es jederzeit und aller-
orten tun — weiß es ganz genau, daß ein ver-
härmtes Gemüt auch unter physischem Leid
leichter zusammenbricht als von der Sonne des
Glückes freundlicher beschienene Menschenkinder.
Diesmal war mir die Natur gleichfalls zuvor-
gekommen : sie hatte die Perforation des Trommel-
felles selbst besorgt. Seit zwei Tagen fühlte
sich die Patientin matt und abgeschlagen, war
verschnupft und hatte Kopfschmerzen. In der
letzten Nacht begann auch das rechte Ohr zu
rebellieren, und bereits gegen Morgen erzwang
sich das in der Paukenhöhle angesammelte Sekret
einen Ausgang durch das Trommelfell. Die
Schmerzen im Ohre wurden hierauf geringer, nur
beim Druck auf die Spitze des korrespondierenden
Warzenfortsatzes zuckte die Patientin unwillkürlich.
Die Lücke in der unteren Trommelfell hälfte war
geräumig genug, um dem Eiter unbehinderten Ab-
fluß zu gestatten. Die Ausspritzung förderte ein-
gedickte krümelige Massen zutage. Gegen den
Kopfschmerz und die allenfalls noch vorhandenen
Mahnungen im Ohre bewährte sich hier das
Aspirin (0,5 g, 1—2 mal des Tages) vortrefflich.
Nur einmal wurde 38,1° C. gemessen, sonst war
die Temperatur stets normal. Eigentümlich war
in diesem Falle, daß das Pulsieren nicht in der
Paukenhöhle vernommen, sondern in den Warzen-
fortsatz verlegt wurde.
27
350
Blt«lbarf , Akut« altrife Mlttolohrantsandiuif.
Das öftere Erbrechen, die häufigen Übel-
keiten, Schwächeanwandlungen, welche unter
anderen Verhältnissen eine Vorbereitung
ernsterer Komplikationen hätten -vermuten
lassen, waren hier aus der geringeren Wider-
standsfähigkeit des Organismus zu erklären.
Auch dieser Fall endete binnen sechs Wochen
in vollständige Genesung.
Die Reihe ließe sich ins Grenzenlose
.verlängern, aber welchen Zweck hätte dies?
Ich habe auch gar keine Auswahl unter den
Fällen getroffen und sie nur so pele mele
aufs Papier geworfen, wie sie sich mir in die
Feder schoben. Zudem sind es ganz ge wohn-
liche Fälle mit der alltäglichsten Ätiologie
und der denkbar einfachsten Entwickelung.
Kein aufregender Zwischenakt stört den
glatten Gang der Ereignisse. Wäre der
Ausdruck an dieser Stelle nicht zu frivol,
man konnte von otiatrischer Dutzendware
sprechen; und gar, wenn man die Jugend-
lichkeit der erkrankten Individuen in Betracht
zieht, die Jugendlichkeit, welche auch kör-
perliche Leiden leichter aberwindet.
Und doch! Stellt man diese Fälle, die
ja alle in dieselbe Erkrankungsgattung ran-
gieren, neben einander, so springen die
Unterschiede in Verlauf und geheischter Be-
handlung sofort in die Augen. Es sei noch
eines Falles en passant gedacht. Er gehört
eigentlich gar nicht hierher, und nur eine
einzelne Episode nähert ihn der in Rede
stehenden Krankheitsgruppe. Es handelt
sich um einen 30 jährigen hochgradigen
Neurastheniker, der sehr häufig an Exsudat
der Paukenhöhle leidet. Eine geringfügige
Erkältung, ja eine psychische Erregung
vermag es hervorzurufen. Sofort treten Ge-
hirndruckerscheinungen auf, welche bei ihm
durchaus nicht unbedenklich sind. Aber ein
kräftiger, von oben bis unten reichender
Trommelfellschnitt pflegt alle Beschwerden
zu beheben. Ein paar Tage sickert noch
eine seröse Flüssigkeit in geringer Menge
aus, dann verkleben die Schnittflächen, und
die Sache ist erledigt.
Einmal aber versagte dieses sonst so
verläßliche Remedium. Es war eben auch
anders. In der klaffenden Lücke ward ein
zäher Eiterpfropf sichtbar, der nicht aus-
treten mochte. Ich versuche, durch eine
Lufteintreibung ihn nach außen zu bewegen.
Er weicht nicht von der Stelle. Der Patient
wird unruhig, da der gewohnte Erfolg aus-
bleibt; droht in Ohnmacht zu sinken. Das
Eingießen einiger Tropfen lauwarmen Wassers
ins Ohr, welche den Pfropf verflüssigten,
hat mich diesmal aus einer argen Verlegen-
heit errettet. Der Mann hatte freilich noch
einige Tage zu leiden — so gemütlich wie
sonst lief es jetzt nicht ab — er mußte
sogar 48 Stunden lang das Bett hüten, denn
es war eine veritable Mittelohrentzündung
geworden. Allein die Hauptattacke war
abgeschlagen, und die weiteren Belästi-
gungen hielten sich innerhalb erträglicher
Grenzen.
Auch könnte ich noch einen schlagenden
Beweis dafür erbringen, wie durch die oben
gerügte Vielgeschäftigkeit in einem Falle
die Heilung auf Wochen hinaus sich ver-
zögerte, welche dann bei moderiertem Ver-
fahren binnen 10 Tagen anstandslos erreicht
worden ist. Doch genug der Muster und
Beispiele. Aber so manchem Leser mag die
ernste Frage auf den Lippen schweben:
Wenn das Jurare in verba magistri verpönt
ist, die Autorität nicht unbedingt bindet,
woran soll man sich denn halten? Ich will
versuchen, darauf Antwort zu geben, obwohl
dies, da ich Details gerne vermeiden möchte,
recht schwer zu bewerkstelligen sein wird.
Um die Aufgabe einigermaßen zu vereinfachen,
gestatte man mir eine allgemeine Bemerkung.
Die Schule lehrt, oder richtiger: sollte
medizinisch denken lehren, und die Er-
fahrung erwirbt man in der Spitals- und
Privatpraxis. Und wie im gewöhnlichen
Leben noch niemand durch die Erfahrungen
anderer klug geworden ist und jedermann
das Lehrgeld für die erworbene Lebens-
weisheit aus Eigenem bestreiten muß: so
muß auch jeder Arzt seine Wissenschaft
gleichsam aufs neue erwerben und mit den
eigenen Augen sehen, mit dem eigenen Ver-
stände denken lernen. Allerdings sammelt
man medizinische Erfahrungen nicht im
Handumdrehen, und es hört sich heiter an,
wenn kaum flügge gewordene Aeskulapjünger
mit Vorliebe sich „auf ihre Erfahrung" be-
rufen. Man darf indes nicht gar zu streng
mit ihnen ins Gericht gehen. „Wir sind
alle einmal jung gewesen", sagt Börne in
seiner reizenden Mautpredigt.
Um medizinisch richtig zu denken, muß
man erst im allgemeinen logisch denken
gelernt haben, und ich gehe kaum fehl,
wenn ich die unstreitig schärfere Beobach-
tungsgabe der älteren Ärzte auf den Eifer
zurückführe, mit welchem sie die philo-
sophischen Studien pflegten. Sie wußten
freilich nicht so viel interessante Einzel-
heiten, wie wir sie kennen. Dafür be-
wahrten sie sich stets den Ausblick auf das
Ganze. Wir aber gleichen — um mit
Schopenhauer zu reden — dem Insekte,
welches an dem Blatte, auf dem es sitzt,
die zarteste Faserung erschaut, jedoch den
Menschen in einer Entfernung von drei
Schritten nicht wahrnimmt. Wir sind famose
XIX. Jahrgang. 1
Jnll 1905, J
Eltalbarg, Akute eitrige Mittelohrentzündung.
351
Spezialisten, die wahrhaft großen Ärzte
jedoch — sollten mehr sein.
Man verzeihe die Abschweifung, ich
habe sie nicht ohne Absicht gemacht. Und
nun will ich die oben supponierte Frage
durch die Erörterung meines Verhaltens in
der taglichen Praxis wenigstens teilweise zu
losen trachten. Sobald ich ans Krankenbett
trete, habe ich alles spezialistische Wissen
von mir abgestreift. Zunächst interessiert
mich der Gesamteindruck, welchen der
Kranke darbietet. Ist der Kräftezustand
ein guter und herrscht keine deprimierte
Laune, so fahre ich, auch wenn mäßiges
Fieber besteht, und das Trommelfell stark
gerötet und geschwollen sich zeigt, erst das
leichtere Geschütz auf. Ich begnüge mich mit
Karbolglyzerin- Wattetampons und Umschlägen
von Liquor Burow. (l : 5 Aqu. dest.). Ob
diese kalt oder warm zu gebrauchen sind,
das zu entscheiden, stelle ich dem Patienten
anheim, dessen subjektives Empfinden ihm
klarer, als ich es vermöchte, sagt, welche
Art der Applikation ihm Erleichterung ver-
schaffen wird. Ich betone ausdrücklich, daß
ich hier nicht eine, die akute eitrige Mittel-
ohrentzündung zuweilen komplizierende Pe-
riostitis des Warzenfortsatzes im Auge habe,
bei welcher ich mitunter auch die konti-
nuierliche Kälteanwendung heranziehe. An
dieser Stelle werden überhaupt nur jene akuten
eitrigen Tympanitiden berücksichtigt, die
sich in den friedlichsten Geleisen bewegen.
Sonst müßte dieser Abriß zu einer dicken
Monographie anschwellen, was durchaus
nicht in meiner Absicht gelegen wäre.
Wenn ich mich also nicht durch Gehirn-
reizerscheinungen oder — zumal bei Kindern
— durch hohes (39,0° und darüber) Fieber
zur frühzeitigen Ausführung der Paracentese
genötigt sehe, so warte ich damit gerne ein
paar Tage bis zum Verstreichen des
akutesten Stadiums, weil der Trommelfell -
stich dann fast schmerzlos ertragen wird,
und anscheinend auch der ganze Prozeß
rascher sich abspinnt. Seit vielen Jahren
bereits halte ich es so bei den periostalen
Abszessen des Warzenfortsatzes, welches
zweckmäßige Verfahren mich zuerst eine
zufällige Beobachtung gelehrt hatte, und in
dem mich spätere absichtliche Inzisionsver-
zögerungen nur noch mehr befestigten. Eine
ahnliche Wahrnehmung hat Urbantschitsch
bei der Otitis ext. circumscripta gemacht.
Das nur in Parenthese.
Ich muß mich ja, will ich die mir
selbst gesteckte Grenze nicht überschreiten,
auf allgemeine Andeutungen beschränken.
Mir kommt es keineswegs in erster Linie
auf diese oder jene Behandlungsmethode an
— verschiedene Wege fuhren nach dem Rom
der Gesundung. Worauf ich hauptsächlich
mein Augenmerk richte, ist die Tragfähigkeit
des Patienten, der ich den Grad der einen
oder anderen Heilmethode zu akkommodieren
mir angelegen sein lasse. Ich gehe anfangs
tastend vor und beobachte vorerst, ob die
Natur auf meine Intentionen einzugehen sich
bequemt. Denn ohne ihre Unterstützung
vermögen wir nichts auszurichten, und wer
sie zwingen zu können vermeint, lebt in
einem für ihn süßen, dem Patienten jedoch
oft verhängnisvollen Wahne. Auch scheue
ich vor keinem noch so ernsten Eingriff
zurück, wo er am Platze ist, halte aber das
Schießen mit Kanonen auf Spatzen trotz der
wirklich staunenswürdigen Leistungen der
Aseptik und Antiseptik noch immer für ein
sehr gewagtes Experiment, auch wenn es
hin und wieder gelingt.
Von dieser Tragfähigkeit des Patienten,
die jedoch der Arzt und nicht der kranke
Laie richtig zu taxieren vermag, hängt es
auch ab, ob eine ambulatorische Behandlung
gebilligt werden darf, oder auf absolute
Bettruhe gedrungen werden muß. Die Fälle,
wo der Patient, „der Not gehorchend,
nicht dem eigenen Triebe", an das Lager
gefesselt ist, meine ich natürlich nicht. Da
fließt die Entscheidung aus einer inappelablen
Sphäre. Daß aber eine richtige Abschätzung
des Kräftevorrates von höchster Wichtigkeit
ist, erfährt man bisweilen zu seiner unlieb-
samen Überraschung, wenn ein bettlägeriger
Patient, der behufs Ausspritzung des Ohres
sich halb aufrichtete, plötzlich ohnmächtig
zurücksinkt. Und unter Umständen ist von
solch einer Ohnmacht bis zum völligen Er-
löschen des schwach glimmenden Lebens-
funkens nur ein kurzer Schritt. Das ist
nicht vielleicht aus dem ewig sprudelnden
Borne einer allzu überreizten Phantasie
geschöpft; es ist die nackte, mit nüchternem
Auge geschaute und unretuschiert wieder-
gegebene rauhe Wirklichkeit. Seitdem nehme
ich, wo ich ein derartiges Kräftemanko
ahne, die indizierte Ausspritzung des Ohres,
oft auch unter Protest des Kranken, nur
noch bei etwas erhöhter Kopflagerung vor.
Gewiß, es sind Imponderabilien, die sich
nicht greifen und demonstrieren lassen;
wohl aber sind sie aus der Beobachtung zu
abstrahieren und fallen — entgegen ihrer
Wortbedeutung — bei der Behandlung gar
schwer ins Gewicht.
Die von mir bei der einfachen und glatt
verlaufenden akuten Pauken eiterung geübten
— gleichsam im Gegensatze zu den soeben
besprochenen ideellen — sozusagen reellen
Behandlungs weisen sind aus den zitierten
27*
352
Oltutsawikl, Psychisch« Entartung.
rbentpentUehe
Monfctohefte.
Krankengeschichten leicht abzuleiten, und
ich mag darüber weiter kein Wort verlieren ;
diese Seite des Themas interessiert uns ja
heute auch nicht in erster Reihe. In der
jüngsten Zeit wagen sich zwar schüchterne
Versuche hie und da hervor, die Behandlung
der einzelnen Erkrankungsformen oder doch
einiger derselben quasi zu kodifizieren und
ein Abweichen von der festgelegten Norm
als Fehler zu ahnden. Gelängen diese
Versuche im großen — und es läßt sich
nicht leugnen, daß dies möglich wäre —
so würde die ärztliche Tätigkeit zum Ge-
werbe degradiert. Sie konnte meinetwegen
immerhin noch ein Kunstgewerbe sein, aber
nie und nimmer das, was sie sein und
bleiben muß, so sie ihre erhabene Mission
erfüllen soll: eine göttliche Kunst. Ein
wunderbares Sprießen und Knospen und
Blühen zieht gegenwärtig durch die medi-
zinische Wissenschaft. Auf allen ihren
Gebieten regen tausend Hände sich in
emsigem Schaffen, und fast täglich noch
dehnt sie ihre Herrschaft aus. Aber ach!
auf jeglichem Gebiete wuchert auch viel
Unkraut, unter dessen Wucht die edle Saat
zu verderben droht. Eines gewaltigen
Genies bedürfte es, welches mit kühnem
Griffe manch leeren Plunder in weitem
Bogen von sich würfe und die auseinander
strebenden Teile wieder vereinigte. Auf
dieses Genie wartet in heißer Sehnsucht
einstweilen noch unsere Wissenschaft.
(Aus der Warschauer Anstalt für Sprachstörungen.)
Die psychische Entartung
und deren Verhältnis zu verschiedenen
Kategorien von Sprachstörungen«
Von
Dr. Wladytlaw Oltuszewski.
In den vorhergehenden Jahrgängen der
Therapeutischen Monatshefte, 1900 und 1902,
berührte ich zwei allgemeine Fragen aus der
innerlichen Medizin, welche mit der Lehre von
den Sprachstörungen in Verbindung stehen,
und zwar: Das Verhältnis der infantilen Cere-
brallähmungen zu verschiedenen Kategorien
der Sprachstörungen, wie auch die psychisch
mangelhafte Entwickelung und deren Verhält-
nis zu verschiedenen Kategorien der Sprach-
störungen. Gegenwärtig beabsichtige ich als
Fortsetzung und Schluß der beiden vorher-
gehenden Arbeiten das Verhältnis der psy-
chischen Entartung zu denselben Störungen
zu erklären. Die Resultate, zu welchen ich
in dieser Hinsicht gelangt bin, bilden eine
interessante und wichtige Synthese in der
Anschauung über die Ätiologie und Patho-
genese der Sprachstörungen. Ich glaube je-
doch, daß es vorteilhaft sein wird, ehe ich
zum eigentlichen Gegenstande übergehe, auch
im allgemeinen Abriß daran zu erinnern, was
wir unter dem Namen Entartung verstehen,
welche Kategorien von Kranken man hierzu
zählen muß und welche Ursachen dieselbe
besitzt.
Soviel ich aus der mir zugänglichen
Literatur, sowohl auf dem Felde der mangel-
haften psychischen Entwickelung, wie auch
in der Bearbeitung des uns gegenwärtig be-
schäftigenden Gegenstandes urteilen kann,
haben die französischen Autoren das größte
Verdienst, wie P. Lucas, Morel, Magnan,
Moreau (de Tours), Charcot, Rieh et, Fere,
Däjerin, Balet, Janet, Dailly, Legrain,
Saury und viele andere, neben verhältnis-
mäßig wenigen deutschen Forschern, Koch,
Na ecke, Arndt, Kurella, Möbius,
Kraft-Ebing und anderen.
Der Begriff von der Entartung fing erst
an zu keimen, als die vortreffliche Arbeit
Morels: „ Traue* des degenerescences de
l'espece humaine" Paris 1857 erschien. Ihm
verdanken wir die genaue Analyse der patho-
logischen Erblichkeit. Magnan erweiterte
die Gesetze der pathologischen Erblichkeit
bedeutend, zählte alle Entarteten zu einer
von den Gruppen der Wahnsinnigen und
schloß in dieselbe die Idioten, Schwach-
sinnigen, wie auch die Unequilibrierten ein
(die höheren Entarteten). Fe>6 hat in seiner
Arbeit: „La famille neuropathique" 1898
die neuropathische Familie in zwei Zweige
geteilt: der psychische Zweig: Geisteskrank*
heiten, moralischer Idiotismus, Psychopathien
(die höheren Entarteten von Magnan), wie
auch die ihnen am ähnlichsten: Epilepsie,
Hysterie, — und der neuropathische Zweig,
welcher die Neurosen und die Leiden des
Nervensystems mit der Unterlage unbekannter
Natur enthält: Neurasthenie, die Basedow-
sche Krankheit, Chorea bei Kindern und
hysterischen Frauen, chronische Chorea von
Huntington, Tic, Torticolis neuropathique,
der Schreibkrampf, Paralysis agitans, Alters-
zittern, die Thomsensche Krankheit, Para-
myoclonus multiplex, die Migräne, die Neur-
algie, das Asthma, Sclerodermia, wie auch
viele organische Krankheiten des Nerven-
systems: Paralysis progressiva, Tabes, die
Friedrichsche Krankheit, Paralysis infantilis,
Atrophia muscularis progressiva, die primären
Myopathien (Typus von Erb, Typus von
Landouzy-Dejerin u. a.), Paralysis pseudo-
hypertrophica, Paralysis bulbaris progressiva,
Sclerosis lateralis amyotrophica , Sclerosi*
multilocularis1). Die biologische Klassifika-
tion von Dallemagne (Degeneres et des equi-
XIX. Jahrgang.*]
Juli 1906. J
01tnss«wikl, Ptychlacha Entartung.
353
libres 1895) ist beinahe dieselbe wie die von
Magnan, nur nach dem Vorbilde anderer
Autoren erweitert durch Einschließung zur
Gruppe der Entartung: der Epilepsie, der
Hysterie und der Neurasthenie. Er unter-
scheidet das Vegetationsgleichgewicht, dessen
Ziel die Ernährung ist, das Gleichgewicht
des Gefühls, welches die regelrechte Funktion
des Gefühlslebens leitet, und das psychische
Gleichgewicht, welches die geistigen Er-
scheinungen regelt. Jeder von diesen Zu-
ständen kann Verwirrungen unterliegen, daher
die Veränderungen der Vegetations-, Gefühls-
und psychischen Individualität, wie auch die
Einteilung der Entarteten in drei Klassen:
die niedrigeren Entarteten (Idioten, Schwach-
sinnige und Vernachlässigte), die höheren
Entarteten (Epileptiker, Hysteriker, Neur-
astheniker) und die eigentlichen Unequi-
librierten. Diese Klassifikation stimmt dem
Autor nach mit dem biologischen Gesetze
der Regression überein, das ist mit der
Ordnung, nach welcher zuerst die Abnahme
der intellektualen Sphäre, dann die des
Gefühls und zuletzt die der Ernährung her-
vortritt.
Indem ich die Klassifikation anderer
Autoren übergehe und die angeführten be-
rücksichtige, glaube ich, daß es nicht richtig
ist, die Entarteten in eine der Gruppen des
Wahnsinns einzuschließen, abgesehen davon,
daß die Entarteten zweifellos dem Wahnsinn
unterliegen können, und die psychische Ent-
artung das wichtigste ätiologische Moment
der Psychose ausmacht. Ich glaube, daß es
richtiger wäre, die Entarteten in die Mitte
zwischen Gesunde und Wahnsinnige zu stellen,
solange sie nur elementare psychische Störun-
gen darstellen. Die Einteilung der Entarteten
l) Aus der genannten Reihe der Krankheiten
wäre ich geneigt, einige in der ersten Gruppe an-
gefahrte, and zwar die Basedowsche and Tnomsen-
sche Krankheit, Paramyoclonas multiplex, Paralysis
agitans, das Alterszittern, Scleroderma, wie auch
einige organische Leiden des Nervensystems, wie
Paralysis progressiva, die Friedrichsche Krankheit,
die infantile Cerebrallahmunff, zu der Gruppe von
Krankheiten zu zählen, welche wir bei den ent-
arteten Menschen antreffen, also zu derjenigen
Kategorie, zu welcher ich die Hysterie und die
Neurasthenie zähle. Nur eine ausführliche Erfor-
schung der Anamnese und eine genaue Beschrei-
bung, in welchem Grade diesem Leiden unter-
liegende Personen die pathologische, auf die Nach-
kommenschaft übergehende Erblichkeit aufweisen,
wie auch die Stygmata, können uns in dieser Hin-
sicht zu positiven Resultaten führen. Dieses dank-
bare Feld überlasse ich den Neuropathologen. Was
solche krankhaften Erscheinungen betrifft, wie Neur-
algie, Asthma, Tic, Schreibkrampf, so halte ich
sie nicht für besondere Leiden, sondern zähle sie
zu den Störungen in den physischen Funktionen
des Nervensystems, welche auf verschiedenen Stufen
der Entartung hervortreten.
von Fere in zwei Zweige, den psychischen
und neuropathischen,. ist nicht ganz genau,
wenn wir unter diesem Namen Störungen
im Nervensystem zusammen mit den be-
gleitenden Störungen der psychischen Sphäre
oder ohne dieselben verstehen, denn, wie der
Autor selbst bemerkt, finden wir oft Ver-
änderungen in der psychischen Sphäre bei
Neurasthenikern und bei Kranken, welche»
der Basedowschen Krankheit, der chronischen
Chorea und andern unter dieser Kategorie sich
befindenden Störungen unterliegen. Rationeller
scheint mir die biologische Klassifikation von
Dallemagne zu sein mit der Bedingung,
daß hier, mit Ausnahme der psychischen
mangelhaften Entwickelung, von einem quanti-
tativen Unterschiede nicht die Rede sein
kann; denn eine genaue Abgrenzung der
Komponenten der geistigen Sphäre ist schwer
durchzuführen, und die Vernachlässigung einer
derselben ruft gewöhnlich Störungen in den
beiden letzteren hervor. Indem ich die
Klassifikation dieses Autors mit dieser Be-
dingung annehme, möchte ich nur hinzufügen,
daß man überhaupt beim Erkennen der Ent-
artung die Aufmerksamkeit auf die unbedingte
und zugleich die beständigste Ursache der-
selben lenken maß, nämlich auf die patho-
logische Erblichkeit, welche bei der
mangelhaften psychischen Entwickelung und
der Epilepsie absolut und stark, aber bei
der Hysterie, der Neurasthenie, wie auch
bei den Unequilibrierten bedingungsweise aus-
gedrückt ist. Die Berücksichtigung der patho-
logischen Erblichkeit ist aus dem Grunde
wichtig, weil, wie wir dies unten sehen
werden, die Entarteten und Unequilibrierten
sehr oft wenig dominierende Stygmata, be-
sonders anatomische, aufweisen, oder sie
können dieselben gar nicht besitzen. Im
Einverständnis damit verstehe ich unter
dem Namen psychische Entartung
eine allgemeine Benennung für
Kranke, die mit der pathologischen,
auf die Nachkommenschaft über-
gehenden Erblichkeit behaftet sind,
welche verschiedene Stufen der man-
gelhaften psychischen Entwickelung
und die Fallsucht umfaßt (die niedrigeren
Entarteten), die Mehrzahl der Fälle von
Neurasthenie, Hysterie und wahr-
scheinlich auch anderer Leiden, die
ich oben erwähnte (die Entarteten), wie
auch die Unequilibrierten.
In der Reihe der Entartungsursachen
spielt die Lebenssphäre eine wichtige Rolle
(Mangel der Akklimatisation, Armut, der Ge-
sundheit schädliche Berufe, politische, religiöse
und moralische Erschütterungen, schlechte
Ernährung der Kinder, wie auch frühzeitige
354
01tuts«wtkl, Psychisch« Entartung.
rTher&peul
L Monatoh<
Monatsheft*
Arbeit derselben), vor allem jedoch die
pathologische Erblichkeit in weiter Be-
deutung, also nicht nur die mangelhafte psy-
chische Entwickelung in gerader Linie und
in der Seitenlinie von Geisteskranken oder
Ton Personen mit beschränkter Geistessphäre,
sondern auch das Vorhandensein von Fall-
sucht, Hysterie, Neurasthenie oder Gleich-
gewichtslosigkeit in der Familie. Von anderen
Momenten sind zu erwähnen: Spätes oder
ungleiches Alter der Eltern, große Nervosität
derselben, übermäßiger Gebrauch des Alkohols,
Vergiftung mit Morphium, Quecksilber, Blei
u. s. w. Vielen Autoren gemäß, wie Moreau
(de Tours), Esquirol, Grasset, F6re und
andere, umfaßt der Degenerationsbaum mit
seinen Wipfeln auch konstitutionelle Leiden ;
denn in vielen Fällen wechseln Diathese und
Entartung gegenseitig. Es unterliegt eben-
falls keinem Zweifel, daß die erbliche Lues
ein wichtiges ätiologisches Moment vieler
Entartungszustände ausmacht.
Die Wichtigkeit der konstitutionellen
Krankheiten als eines weittragenden ätio-
logischen Momentes verschiedener Entartungs-
zustände teile ich gänzlich, und bei Kranken
mit Sprachstörungen, deren Eltern mit kon-
stitutionellen Krankheiten behaftet waren
oder die Syphilis überstanden hatten, hatte
ich mehrfach Gelegenheit, die Anzeichen der
Ausartung zu beobachten. Ich glaube, daß
eine sorgfältige Untersuchung der Kranken,
von welchen die Rede ist, zur Aufklärung
mancher in dieser Hinsicht noch dunklen
Frage beitragen kann9).
Überhaupt kann die pathologische Erb-
lichkeit, welche besonders grell bei den
niedrigeren Entarteten, teilweise auch bei
Hysterikern, hervortritt, in den nachfolgenden
Generationen sowohl Geisteskrankheit, als
auch mangelhafte psychische Entwickelung,
Fallsucht, Hysterie, Paralysis progressiva
(und auch wohl andere organische Leiden
des Nervensystems), Neurasthenie, wie auch
die Gleichgewichtslosigkeit verursachen.
Außer der Lebenssphäre und der patho-
logischen Erblichkeit muß man in der Ätio-
logie der Ausartung ebenfalls zufällige Ur-
sachen berücksichtigen. Sie können direkt
') Kollege E. Z i e 1 i n s k i bewies in seiner
Arbeit: Von den Abweichungen im Körperbau bei
Schwindsüchtigen, in einer der ärztlichen polnischen
Zeitungen 1901, auf Grund sehr vieler Sektionen
typische Entartungszeichen sowohl im Knochen-
system wie auch in den inneren Organen. In Bezug
auf diese Daten behauptet Zielinski, daß wir
bei Entstehung der Schwindsucht den Bazillen von
Koch nicht die alleinige Rolle zuschreiben können,
aber die Prognose dieser Krankheit muß man mehr
davon abhängig machen, ob wir es mit einem, ge-
sunden oder entarteten Subjekt zu tun haben.
oder indirekt durch die Mutter auf die Frucht
wirken. Einen direkten Einfluß während der
Schwangerschaft haben: Trauma oder Krank-
heit der Frucht (Entzündung der Meningen
und des Gehirns, Blutergießungen im Gehirn
u. s. w.), indirekt dagegen eine überstandene
ansteckende Krankheit der Mutter oder eine
moralische Erschütterung derselben. Während
der Geburt existieren viele zufällige Ursachen,
wie vorzeitige, erschwerte oder unregelmäßige
Geburt. Schließlich können zufällige Ursachen
auch nach der Geburt des Kindes wirken,
wie Verletzungen des Kopfes, Hirnleiden,
starke Erschütterungen u. s. w. Den oceasio-
nellen Ursachen, wie Vergiftungen durch ver-
schiedene schädliche Substanzen, ansteckenden
Krankheiten, moralischen Erschütterungen,
anstrengender geistiger Arbeit, Verletzungen
u. s. w. schreiben wir bei den Entarteten und
Unequilibrierten eine noch weittragendere Be-
deutung zu.
Abgesehen von dieser scheinbaren doppel-
ten Ätiologie herrscht bei der psychischen
Entartung die Erblichkeit, wenn auch in un-
gleichem Grade, vor, denn die zufällige Aus-
artung trifft fast immer auf einen mehr oder
weniger vorbereiteten Boden, und die Aus-
artung erscheint nicht als Erfolg einer augen-
blicklichen Erblichkeitswirkung, sondern als
ein angehäufter und langwieriger Einfluß der-
selben. Es versteht sich, daß die erworbene
Neurasthenie, die Gleichgewichtslosigkeit, sel-
tener schon die Hysterie auch bei Personen
vorkommen können, die nicht mit dem Erb-
lichkeitsmoment behaftet sind, bei ungünstigen
Bedingungen jedoch kapitalisiert sich die
Erblichkeit immer mehr und gibt in den
nachfolgenden Generationen vielmal Zinsen
unter der Gestalt der Gleichgewichtslosigkeit,
Entartung und Ausartung.
Die allerwichtigsten, allen Entarteten ge-
meinschaftlichen Erscheinungen sind die für
jede Kategorie verschiedenen Stigmata: die
anatomischen, physiologischen, eventuell psy-
chischen und sozialen.
Die anatomischen Stigmata beziehen
sich hauptsächlich auf Abweichungen im Ge-
hirn- und Rückenmarksystem und im Skelett
(Knochen des Schädels, des Gesichts, der
Wirbelsäule und der Extremitäten). Beson-
ders sind sie bei Idioten und Kretins aus-
gedrückt, weniger deutlich erscheinen sie bei
Schwachsinnigen, Vernachlässigten und anderen
Ausartungskategorien. Die Veränderungen im
Hirn-Rückenmarksystem, welche ich bei Be-
schreibung der psychischen mangelhaften Ent-
wicklung berücksichtigte, sind verhältnismäßig
am besten bearbeitet. Zu den Anomalien
des Skeletts zählen wir: die anormalen
Messungen des Kopfes, die fehlerhafte Ge-
XIX. Jahrgang .1
Jall 1905. J
Oltutsawikl, Psychische Entartung.
355
staltung desselben, das anormale Verhältnis
des Kopfes zum Gesicht, Asymmetrien des
Gesichts (welche sich hauptsächlich durch
einen ungleichen Umfang der Augenhöhlen,
wie auch durch ein ungleiches Hervortreten
der Jochbeine und Augenbrauenbogen charak-
terisieren), den Prognatismus (der auf dem
Hervorstehen des Oberkiefers beruht), die
starke Entwicklung des Unterkiefers, den
Mangel einer regelmäßigen Schließung des
Oberkiefers mit dem Unterkiefer (übermäßiges
Hervorstehen des Ober- oder Unterkiefers),
die Umfangs Verminderung des Unterkiefers,
die Unregelmäßigkeiten des harten Gaumens,
wie ein zu schmaler oder zu breiter, ein
platter, bogenartiger, asymmetrischer Gaumen,
die Verkürzung seiner Lange und Breite und
Spaltung desselben, die Anomalien im Zahn-
system, wie Doppelzähne, unvollkommene
Zahl derselben, gestreifte Zähne, spina bifida
und verschiedene Krümmungen der Wirbel-
säule, Abweichungen in der Gestaltung des
Brustkastens, Anomalien der Gestaltung und
Proportion der Gliedmaßen, wie Polydaktylia,
Syndaktylia, Mangel der Finger, zu große
oder zu kleine obere und untere Extremitäten
im Verhältnis zum Körper, veränderte Pro-
portion der Finger, Anomalien in den Ge-
lenken, eventuell in den Sehnen, wie Luxa-
tionen, Ankylosen, Deviationen, Verstümme-
lungen der Hand und des Fußes, wie auch
den Plattfuß.
Zu den anatomischen oder physio-
logischen Anzeichen in anderen Organen
gehören: die angeborene Taubheit, die Ver-
unstaltung der Ohren ; Mangel der Augenlider,
zu kurze Augenlider, Spaltung und aufge-
wickelte Ränder derselben, Umfangsverände-
rung des Augapfels, Veränderung der Größe
und Konvexität der Hornhaut, Anomalien in
der Färbung der Regenhaut, Spaltungen
derselben, Unregelmäßigkeit der Pupillen,
angeborener weißer Star, Anomalien in der
Krümmung der Linse, Veränderungen der
Warzen des Sehnervs und der Retina (Reti-
nitis pigmentosa), das Schielen (auf Grund
der angeborenen Hypermetropie), Nystagmus,
das ungenaue oder fehlende Entfernungs- und
Erbabenheitsgefühl, die Farbenblindheit; eine
zu breite oder zu schmale Öffnung des Mundes,
zu kurze oder zu große Lippen, die Hasen-
scharte, Makroglossia oder Mikroglossia, die
Spaltung des weichen Gaumens oder des
Zäpfchens, verspätete oder zu frühe Entwick-
lung der Zähne, der Speichelfluß; Mangel
der Nase oder eine zu große Nase, Mangel
des Nasenseptums oder anderer Nasenknochen,
Seitenkrümmungen ; Abweichungen der Brüste ;
ein zu großer Leib, Bruchfälle, Gefräßigkeit,
Wunderlichkeit im Geschmack, Merycismus;
eine unregelmäßige Beharung der Haut und
der unangenehme Geruch derselben, Übermaß
des Fettgewebes, Naevi materni; Anomalien
in den Geschlechtsorganen: Krümmung des
Penis, Phimosis, Hypospadiasis, Epispadiasis,
Hermaphroditismus. Kryptorchismus, Varico-
cele, Masculinismus, Feminismus, Infantilis-
mus, Androginismus (die Zustände, welche
sich oft mit Abweichungen in den Geschlechts-
organen bei Männern verbinden), verspätete
Reife bei Knaben; verspätetes Gehen, welches
mit der zurückgehaltenen Evolution der Py-
ramidalbahn in Verbindung steht, wie auch
die Linkshändigkeit.
Eine besondere Notiz verdient die bei
den Entarteten oft hervortretende Gleich-
gewichtslosigkeit in den physischen Funktionen
der sensorisch -motorischen Zentren, wahr-
scheinlich wegen schlechter Ernährung der-
selben, welche sich in der Neigung zu
Zuckungen, Krämpfen (Tic, Schreibkrampf,
Tetania, Torticolis neuropathique u. s. w.),
verschiedenen Schmerzen, Parästhesie, An-
ästhesie, wie auch zu Anomalien in den
Funktionen vasomotorischer Nerven ausdrückt.
In gleichem Maße wie die anatomischen
und physiologischen Stigmata zeichnen psy-
chische die Ausartungszustände aus, und
zwar: die Reizbarkeit, das heißt Anomalien
in der motorischen Sphäre und in den Tätig-
keiten psychischer Entstehung, welche den
Mangel psychischen Gleichgewichts verraten,
als ein Abglanz des Verlustes des Gefühls-
gleichgewichts, wie auch von Anomalien in
der Sphäre der Erschütterungen und
Intelligenz (Phobien, Verfolgungsideen).
Einige von diesen, in der motorischen
Sphäre und in den Tätigkeiten einigermaßen
unbewußten und automatischen Anomalien,
die meistens bei den niedrigeren Ausgearteten
vorkommen, führen zur Gefräßigkeit, ver-
schiedenen geschlechtlichen Verkehrtheiten,
wie Blutschande, Tribadismus, Onanie u. 8. w.,
wie auch zu Verbrechen, so der Trieb zum
Totschlag, zur Brandlegung, zum Diebstahl
u. s. w., andere eigentliche impulsive, ob-
gleich selbstbewußte Tätigkeiten werden
dennoch auf unbewußte Weise ausgeführt,
und wenn sie auch oft den Schein des Ver-
brechens haben, unterscheiden sie sich dennoch
durch einen weniger offensiven Charakter,
wie Dipsomanie, Sitiomanie, Onomatomanie,
Arithmomanie u. s. w. Schließlich führen andere
eigentliche Zwangstätigkeiten, die vielmehr
als wunderlicher Charakter angesehen werden,
selten zu Verbrechen, wie die Vorliebe zum
Spiel, zu Einkäufen u. s. w.
Wenn die Reizbarkeit hauptsächlich im
Reiche der Erschütterungen, teilweise in der
intellektuellen Sphäre bleibt, so haben wir
356
Oltmsawtki, Psychisch« Bot Artung.
rTherapentisefe*
L Monatshefte.
verschieden krankhafte Befürchtungen (Pho-
bien), die mit dem Gefühle des Schrecks
verbunden sind. Hierher gehört die Furcht
vor dem offenen Räume (Agoraphobie) und
die dazu gehörende Akrophobie und Kreno-
phobie, oder vor dem geschlossenen Räume
(Klaustrophobie), ferner die Furcht vor dem
Wasser und allen Flüssigkeiten, die Furcht
vor der Kälte, der Zugluft, dem Blitz, dem
Feuer, vor Dieben, dem Gedränge, Tieren,
Krankheiten, Leichen, dem Lebendigbegraben-
sein, dem Tode, endlich die Furcht vor der
Einsamkeit und die Menschenscheu. Die
Reizbarkeit in der Gedankensphäre drückt sich
durch die Zwangsideen aus3), wie die Nei-
gung, Zweifel zu hegen, die Zwangsidee der
Antivivisektionisten, der moralischen Skrupel,
der Gewissensbisse, des Wissensbedürfnisses
in pathologischen Umrissen u. s. w. Die
Verwirrungen der Erschütterungen und der
Intelligenz belästigen die Mehrzahl der
Neurastheniker, Hysteriker und Unequili-
brierten, und da sie gewisse Grenzen nicht
überschreiten, stören sie den Gedankenmecha-
nismus nicht.
Es charakterisiert die Entarteten sowohl
die Reizbarkeit des Nervensystems, wie auch
eine gewisse Depression seiner Funktionen.
Hierher zählen wir außer den bezüglichen
Erscheinungen bei der psychischen mangel-
haften Entwicklung die Zustände der Be-
drücktheit, der Apathie und mancherlei
Grade von Willenlosigkeit, die auf verschie-
denen Stufen der Degenerationsleiter vor-
kommen.
Die sozialen Anzeichen sind auf zwei
Grundfaktoren der Gesellschaftsordnung ge-
richtet: die Achtung der Person und des
Eigentums, und drücken sich auch im Mangel
der Fähigkeit aus, sich den Bedingungen des
gesellschaftlichen Lebens anzupassen. Unter
den Entarteten höheren Grades finden wir
antisoziale Wesen (Kriminalisten, Vagabunden)
und Gesellschaftslose (Idioten), unter den Aus-
artenden und Gleichgewichtslosen aber Gesell-
schaftswidrige oder solche, mit denen es
schwer ist, zusammenzuleben.
Zu den wichtigen Anzeichen der Ent-
artung zähle ich ebenfalls die Sprach-
störungen, wovon weiter unten.
Bei der Erkennung der Stigmata, be-
sonders der anatomischen, machen wir vor
allem eine Ausnahme der ethnischen Eigen-
tümlichkeiten, gewisser Varietäten, die jeder
Rasse, ja sogar verschiedenen Gesellschafts-
schichten eigen sind, wie auch von Verän-
3) Die Zwangsideen können zu unfreiwilligen
Tätigkeiten oder Reden führen, wie die Onomato-
manie, die Arithmomanie u. s. w.
derungen, die durch einen mechanischen
Grund entstanden sind. Jedem der Anzeichen,
einzeln genommen, schreiben wir keine über-
aus große Bedeutung zu, sondern allein einer
gewissen Anhäufung derselben. Zu den be-
ständigsten anatomischen Anzeichen zählen
wir: die Verunstaltung des Schädels, die
Asymmetrie des Gesichts, den Prognatismus,
die Veränderungen des harten Gaumens, die
Abweichungen in der Wirbelsäule, die Flecken
in der Iris, die Abweichungen in den Ge-
schlechtsorganen, wie auch den Feminismus,
Masculinismus und Infantilismus. Ferner
darf man bei der Erkennung der Degeneration
nicht die physiologischen, psychischen und
sozialen Anzeichen übergehen, wie auch das
überaus wichtige Erblichkeitsmoment, dessen
Tätigkeit sich in den nachfolgenden Gene-
rationen zeigt. Schließlich lenken wir die
Aufmerksamkeit auf die Dissoziation, welche
zwischen der Ausartung und den anatomischen
Anzeichen vorkommen kann. Dies kann be-
sonders bei vielen Idioten und Epileptikern
stattfinden, bei welchen die Ausartung nicht
wegen der angehäuften Erblichkeit erscheint,
sondern als Folge der Veränderungen, welche
im Leben des Embryo, während der Schwanger-
schaft, oder kurz nach der Geburt entstanden
sind. Eben bei dieser Kategorie von Aus-
gearteten können die anatomischen Anzeichen
fehlen. Die Berücksichtigung der angeführten
Hinweise bewahrt uns vor Fehlern in der
Diagnose. [aehiuf* folgt.]
Über die
angeblichen Gegrenindlkationen für die
Anwendung: des Chloralhydrats allein
und In Verbindung- mit Morphium auf
Grund von eigenen Beobachtungren,
Von
Dr. H. Kühn in Hoya a. W.
Bei der Behandlung von zwei schweren
Krankheitsfallen, die eine ein- bis mehr-
monatliche Darreichung eines Beruhigungs-
mittels in dem einen Falle wegen der großen
Beschwerden des Patienten, in dem anderen
wegen großer augenblicklicher Lebensgefahr
des Patienten in Erfüllung der Indicatio
vital is absolut notwendig machten, konnte
ich über das „alte" Schlafmittel, wie man
heutzutage bei dem schnellen Wechsel dieser
Mittel wohl sagen kann, das Chloralhydrat,
allein wie in Verbindung mit Morphium ge-
geben, Erfahrungen sammeln, die direkt ent-
gegenstehen den üblichen landläufigen An-
gaben in den Lehrbüchern und sonstigen ge-
legentlichen Veröffentlichungen über Indika-
tionen und Gegenindikationen bei Gebrauch
des Chloralhydrats allein sowie zusammen
XIX. Jahrgang.
Juli 1905.
']
Kühn, G«g«oindlkatloD«n für die Anwendung des Chloralhydrat!.
357
mit Morphium. Dieselben erscheinen mir
deshalb mitteilenswert. Ich skizziere zu-
nächst kurz den ersten Fall mit genauer An-
gabe der verbrauchten Mengen der genannten
Arzneimittel.
1. E. J., 55 Jahre alt, von mittlerer Größe and
schlanker Gestalt, war nach seiner Angabe seit
ca. 5 Jahren nicht mehr so gut gestellt wie früher,
er war weniger leistungsfähig und leichter kurz-
atmig bei seiner Arbeit als Schlossermeister. Mitte
1902 war er das erstemal einige Wochen bettlägerig
krank. In meiner eigenen, öfter mit anderen
Kollegen geteilten Beobachtung und Behandlung
stand Patient vom 14. II. bis 21. III. 1903, 9. bis
15. VII. 1903 und zuletzt vom 26. X. 1904 bis
31. III. 1905, d. h. bis zu seinem an diesem Tage
erfolgten Tode. Er klagte über Luftmangel, Schwache
und schwere asthmatische Anfälle. Die angewandte
Digitalistherapie linderte seine Beschwerden fast
stets recht gut, doch wohl ein Beweis, daß ihre
Ursache im Herzen zu suchen war, worauf auch
die objektive Untersuchung hinwies: unregelmäßiger,
kleiner, frequenter, oft aussetzender Puls, sehr stark
Seschlängelte Schläfearterien, Auftreten sehr quälen-
er, beängstigender Anfalle von hochgradiger Kurz-
atmigkeit, kaltem Schweiß, dabei oft Schmerzen in
der Herz- und Magengegend, welche letztere dann
deutlich blasig aufgetrieben war. Kurz es bestand
das bekannte Bild der Angina pectoris infolge von
allgemeiner Arteriosklerose. Die Insuffizienz des
Herzens nahm allmählich immer mehr zu. Besonders
schlimm waren während der ersten 2—3 Monate seit
Beginn der letzten Erkrankung die Nächte durch
die schweren Asthmaanfalle, so daß Pat. kaum ins
Bett kam und sehr schwer litt. Etwa Januar 1905
stellten sich an den Fußen anfangende und all-
mählich immer mehr zunehmende Ödeme ein, die
besonders auf der rechten Seite noch starker waren
als auf der linken, weil Pat auf ersterer mehr lag;
Eiweißgehalt im Urin nach Essbach 3— 4%o«
Da eine erfolgreiche kausale Therapie nach Ver-
sagen der Digitaliswirkung unter diesen Verhält-
nissen kaum möglich war, so galt es vor allem,
dem Schwerkranken seine vielen und großen Leiden
nach Möglichkeit zu erleichtern, sowohl während
des Tages als besonders während der Nacht. Dies
habe ich denn auch nach meinem pflichtmäßigen
Ermessen getan. Die Mengen des verabreichten
Cbloralhydrats und Morphiums ergibt folgende
Tabelle:
Menge dea verordneten
Chloralhydrati und Morphiums
5,0 : 100,0 Solution —
5,0:100,0 - —
5,0:100,0 - 0,06
5,0:100,0 - 0,1
5,0:100,0 - 0,1
5,0:100,0 0,1
8,0:200,0 - 0,2
8,0:200,0 - 0,2
8,0:200,0 0,2
8,0:200,0 0,2
8,0:200,0 - 0,2
8,0:200,0 - 0,2
8,0:200,0 - 0,2
8,0 : 200,0 - 0,3
8,0 : 200,0 - 0,3
8,0 : 200,0 - 0,3
8,0:200,0 - 0,3
8,0:200,0 - 0,3
8,0:200,0 - 0,3
16,0 : 400,0 - 0,6
16,0 : 400,0 - 0,6
16,0:400,0 - 0,7
Tag der Verordnung
8. Nov.
1904
2. Dez.
-
5. Jan.
1905
6. Febr.
-
10. -
- ~
14. -
-
16. -
-
20. -
-
23. -
-
25. -
-
27. -
-
1. März
-
5. -
-
8. -
-
12. -
-
14. -
-
16. -
-
18. -
-
20. -
-
20. -
-
23. -
-
25.
-
Th-K. 190».
Im ganzen sind also verbraucht worden vom
8. XI. 1904 bis 31. III. 1905 182,0 g Chloralhydrat
und 5,46 g Morphin, mar. und zwar verteilen sich
diese Quantitäten auf die einzelnen Monate in
folgender Weise:
Chloralhydrat
Morphii
8. November 1904
5,0
2. Dezember
5,0
5. Januar 1905
5,0
0,06
1.— 28. Febr. -
55,0
1,3
1.— 31. März -
112,0
4,1
Es kommen also durchschnittlich auf den Tag
im Februar 1,96 g Chloralhvdrat und 0,046 g Mor-
phium und im März auf den Tag 3,61 g Chloral-
hydrat und 0,132 g Morphium.
Der Erfolg dieser Medikation war ein sehr
günstiger. Wenn auch natürlich das schwere Herz-
leiden seinen ungehemmten Fortschritt nahm, so
wurden doch die großen subjektiven Beschwerden
dem Pat. sehr erleichtert, teilweise ganz genommen.
„Wenn ich nicht so geschwollen wäre, so fühlte
ich mich ganz wohl", das waren oft die Worte des
Pat. Ich habe sogar den Eindruck gehabt, daß
durch die infolge der Arzneiwirkung eingetretene
allgemeine Beruhigung mit ihrem günstigen Einfluß
auf den ganzen körperlichen und seelischen Zustand
des Pat. das Leben desselben eher länger hin-
f ehalten als abgekürzt wurde. Jedenfalls wurde der
leine, frequente, unregelmäßige Puls mit der all-
gemeinen Beruhigung auch ruhiger; auch der Appetit
wie die Verdauung m wurden in keiner Weise un-
günstig beeinflußt. Überhaupt habe ich auch andere
ungünstige Arzneiwirkungen nicht beobachten kön-
nen. Denn wenn Pat., der fast bis zu Ende ziem-
lich klar im Kopfe war, in letzter Zeit ab und zu
leichte Gehörshalluzinationen hatte und vorüber-
gehend nicht orientiert war, so können dies wohl
Folgen der Arzneien, aber auch der fortschreitenden
Krankheit sein.
Morphium subkutan einverleibt, hatte ich natür-
lich zuerst probiert zur Linderung der Angina
pectoris. Der augenblickliche Erfolg war gut, aber
der Katzenjammer danach war so groß, daß Pat.
diese Behandlung verweigerte. So versuchte ich
dann mit dem eben beschriebenem Erfolge das
Chloralhydrat mit Morphium.
Fassen wir jetzt die Erfahrungen vor-
liegenden Falles kurz zusammen, so haben
wir es hier mit einem schweren organischen
Herzleiden, Arteriosklerose mit Myokarditis
zu tun, bei dem das Chloralhydrat in Ver-
bindung mit Morphium als Schlaf- und Be-
ruhigungsmittel zwei Monate lang in beträcht-
lichen Gaben, besonders während eines Mo-
nates gegeben, sich ganz vorzüglich bewährte,
ohne einen in die Augen fallenden Schaden
anzurichten.
Im Gegensatz zu dieser meiner Erfahrung
sprechen sich Lehrbücher über Arzneimittel-
lehre und andere Veröffentlichungen wesent-
lich anders aus über die Anwendung des
Chlorais allein und in Verbindung mit Mor-
phium. So heißt es z. B. in dem Artikel
Chloralhydrat in Eulenburgs Realenzyklo-
pädie (III. Aufl., Bd. IV, S. 510): „Große
Vorsicht erfordert die Anwendung des Chloral-
hydrats bei allen organischen Erkrankungen
des Herzens und der Respirationsorgane
(Liebreich u. a.)a. Das schon etwas ältere
358
Kühn, G«genlDdikationen für die Anwendung des Chloralbydrata.
rTherapcntiwfe»
L Monatshefte.
Lehrbuch der Arzneimittellehre von Harnack
vom Jahre 1883 sagt auf S. 591: „Die Ein-
wirkung, welche die Glieder der Chlorai-
gruppe auf die Zirkulation ausüben, invol-
vieren auch für die arzneiliche Anwendung
des Chlorals eine nicht unerhebliche Gefahr,
so daß man infolgedessen nicht nur mit den
Dosen vorsichtiger geworden ist, sondern
überhaupt die therapeutische Verwendung des
Mittels sehr eingeschränkt hat . . . . Man
hat früher, namentlich nach dem Vorgange
von Liebreich, entschieden zu große Dosen
angewendet, was sich jetzt als unnötig
herausgestellt hat . . . Die Gefahr einer
Herzlähmung wird natürlich vergrößert, wenn
schon vorher Herzschwäche, z. B. infolge von
fettiger oder atheromatöser Degeneration,
Klappenfehler u. s. w. besteht, und man ver-
meidet daher in den letzten Fällen den
Gebrauch des Chlorals gänzlich a. Auch von
den Verdauungsstörungen, von denen Har-
nack auf S. 589 seines Buches sagt: „Es
ist wohl verständlich, daß bei anhaltendem
Gebrauch selbst kleiner Chloralmengen recht
beträchtliche Verdauungsstörungen auftreten
können", habe ich in meinem Falle
nichts beobachten können. Endlich heißt es
im Artikel kardiales Asthma in Eulenburgs
Realenzyklopädie (Bd. II, S. 391): „Im
Gegensatz zum Morphium wird das Chloral
von der Mehrzahl der Herzkranken schlecht
vertragen und darf daher nicht wie beim
Bronchialasthma ohne weiteres als Ersatz
desselben betrachtet werden. Es scheint dies
auf der ungünstigen Beeinflussung der Herz-
tätigkeit durch das Mittel zu beruhen, welches
die Pulsfrequenz steigert und dabei zugleich
den arteriellen Druck herabsetzt*4.
So weit die entgegenstehenden Angaben
aus der mir zur Hand befindlichen Literatur.
Daß übrigens die ungünstige Beeinflussung
des Herzens durch Chloral auch sonst nicht
so sehr zu fürchten ist, wie meist angegeben
wird, beweisen nach meinem Erachten die
von allen Seiten anerkannten Erfolge der
Chloralbehandlung des Delirium tremens und
der akuten alkoholischen Geistesstörungen,
Erkrankungen, bei denen der Puls wie das
Herz alles andere als normal und kräftig
sind. Auch hierfür kann ich eine eigene Er-
fahrung kurz anführen.
2. Vom 19.VI.-31.VUI. 1903 behandelte ich
im hiesigen Kranken hause den Landwirt St. wegen
schwerster alkoholischer akuter Psychose. Es be-
stand hochgradige, motorische Unruhe bei dem Pat.,
der vollständig geistesabwesend war und seine Um-
gebung nicht kannte; er ist kaum im Bett zu halten
und läßt Stuhl und Urin unter sich. Nahrungs-
aufnahme sehr gering. Pupillen waren eng; Puls
ist meist kaum zu fühlen, sehr frequent und fein.
Die Gefahren drohenden Herzkollapses waren oft
sehr groß. Dieser Kranke erhielt taglich ein Voll-
bad und außerdem folgende Gaben Chloral und
Morphium :
19. Juni 1903 10,0 Chloral
23. - - 10 0 -
30. -
11. Juli
17. -
10,0
10,0
10,0
10,0
- und 0,07 Morph.
- - 0,07 -
2 ©
Derselbe verbrauchte also im ganzen in
ca. 32 Tagen 60,0 g Chloral und 0,14 g
Morphium, und zwar 40,0 Chloral in 12 Tagen
oder 3,3 Chloral täglich yom 19.— 30. VI.
und 20,0 Chloral und 0,14 Morphium in
20 Tagen oder 1,0 Chloral täglich vom
1. — 20. VII. Die beruhigende Wirkung im
Verein mit den täglichen Bädern war* eine
sehr gute, natürlich in dem vorliegenden
äußerst schweren Falle erst mehr allmählich
eintretende. Am 31. August 1903 wurde
Pat. mit einer Gewichtszunahme von fast
20 Pfund entlassen. Eine schädigende Chlo-
ralwirkung auf das hier äußerst gefährdete
und geschwächte Alkoholikerherz wäre wohl
sehr leicht möglich gewesen, ist aber nicht
eingetreten; im Gegenteil, mit der zunehmen-
den allgemeinen Beruhigung beruhigte sich
auch die Herztätigkeit und wurde wieder
kräftiger. Auch die von Aufrecht ge-
fürchtete Kombination von Chloral mit Mor-
phium bei Alkoholikern war in diesem Fall
unschädlich. Ersterer schreibt nämlich: „Auf
das eindringlichste aber muß ich vor dem
Zusatz von Morphium zum Chloral warnen;
ich halte diese Kombination für lebens-
gefährlich" (bei Behandlung der Alkoholiker)
(Therapeut. Monatshefte 1888, S. 54).
Die mitgeteilten zwei Fälle sind meiner
Meinung nach wohl geeignet, die bisherige
Annahme von der Gefährlichkeit des Chlorals
bei Herzkranken ins Wanken zu bringen oder
mindestens diese Annahme einer erneuten
Prüfung zu unterziehen. Freilich sind es
bloß zwei Fälle, aber charakteristisch sind
die Fälle; und so konnte mancher sagen, Aus-
nahmen bestätigen die Regel. Möglich ist
aber auch, daß die bisherige Regel falsch
ist und einer anderweiten Fassung bedarf.
Zu Beobachtungen in diesem Sinne Praktiker
und Kliniker anzuregen, sollte der Zweck
vorstehender Mitteilung sein.
Die
Behandlung der Kehlkopttuberkulose.
Von
Dr. Hamm in Braunschweig.
Vortrag, gehalten im Ärztl.Verein am 31. XI. 1903.
Während man in den ersten Zeiten der
Laryngologie die Kehlkopftuberkulose als
den Anfang vom Ende anzusehen pflegte
XIX. Jahrgang/)
Juli 19Q5. J
Hamm, Behandlung 6mt Keblkopftuberkuloi«.
369
and der Krankheit ziemlich ratlos gegen-
überstand, trat mit den 80 er Jahren des
vorigen Jahrhunderts, hauptsächlich durch
die Bemühungen von Moritz Schmidt,
Heryng und Krause, ein gewaltiger Um-
schwung ein, und zwar nach der operativen
Seite hin, sodaß zeitweise die Behauptung
aufgestellt wurde, daß jede Kehlkopftuber-
kulose chirurgisch behandelt werden müßte,
und es ist noch gar nicht lange her, daß
die Meinung ausgesprochen wurde, die
Schwere der Lungenerkrankung komme für
Eingriffe am Kehlkopf nicht in Betracht.
Die Kehlkopftuberkulose ist nämlich fast
immer eine sekundäre, und zwar tritt sie
gewöhnlich im Gefolge einer Lungenerkran-
kung auf; es, gibt zwar sicher konstatierte
Fälle von primärer L.-T., auch durch die
Sektion bestätigt, doch sind diese so selten,
daß man eigentlich jeden Fall von L.-T. auf
Lungentuberkulose zurückführen kann.
Die Tuberkulose tritt nun im Kehlkopf
in verschiedenen Formen auf, die nebenein-
ander vorkommen können, und zwar sind
dieses, wenn ich der allgemeinen Einteilung
folgen darf, der tuberkulöse Tumor, das
tuberkulöse Infiltrat und das tuberkulöse
Geschwür. Ein' spezifisch tuberkulöser
Katarrh wird geleugnet, derselbe gilt vielmehr
schon als Infiltration mit Tuberkeln und
reagiert auf Einspritzung mit Tuberkulin.
Die isolierte Entzündung eines Stimmbandes
ist gleichfalls schon sehr verdächtig auf
Infektion mit Tuberkulose. Ich möchte
hier gleich erwähnen, daß ich seit längerer
Zeit einen Knaben beobachte, der an einer
Entzündung des linken Stimmbandes leidet;
alle therapeutischen Maßnahmen schlugen
fehl, bis es gelang, den Knaben durch einen
Aufenthalt an der Nordsee während dieses
Sommers fast zu heilen. Im allgemeinen
ist Kehlkopftuberkulose bei Kindern selten,
da die Lungentuberkulose gewöhnlich viel
rapider verläuft als bei Erwachsenen.
Auch die Verdickung der Hinterwand
des Kehlkopfes soll für Tuberkulose nur
dann diagnostisch verwertbar sein, wenn
sich sonst noch Zeichen von Tuberkulose
finden. Die tuberkulösen Tumoren können
das verschiedenste Aussehen haben, sodaß
die Diagnose sehr oft nur durch das
Mikroskop zu stellen ist oder auch erst
durch den weiteren Verlauf der Krankheit.
So behandelte ich vor mehreren Jahren eine
Frau, die einen walzenförmigen Tumor des
einen Stimmbandes hatte, sonst war der
Kehlkopf gesund. An einigen zur Probe
exzidierten Stückchen konnte Herr Professor
Bcneke nur chronische Entzündung diag-
nostizieren, der weitere, sehr traurige Ver-
lauf zeigte dann aber, daß es sich um Kehl-
kopftuberkulose handete. Es ist deshalb
durchaus erforderlich, daß bei allen
Kehlkopftumoren mikroskopische Unter-
suchungen stattfinden, und zwar nötigenfalls
öfter, bis die Diagnose gesichert ist.
Ein tuberkulöses Infiltrat findet sich als
Verdickung der befallenen Partien am
häufigsten an den aryepiglottischen Falten,
an der Hinterwand des Kehlkopfes und an
den Stimmbändern, oft in Gemeinschaft mit
Geschwüren. Die Verdickung kann ver-
schieden stark sein; kürzlich sah ich einen
Fall, bei dem das linke Stimmband so ver-
dickt war, daß die linke Seite des Kehl-
kopfs wie ein flacher Tumor aussah. Die
tuberkulösen Geschwüre finden sich häufig
an der Epiglottis, an den aryepiglottischen
Falten und besonders an der Hinterwand
des Kehlkopfs; an dieser Stelle sind sie für
Tuberkulose besonders charakteristisch. Zur
Unterscheidung von syphilitischen Geschwüren
sei bemerkt, daß tuberkulöse Geschwüre
zerfressene Ränder haben und sehr oft
Granulationen und starke Oedeme in der
Umgebung aufweisen; in schwierigeren Fällen
muß das Mikroskop entscheiden. Auch die
Unterflächen der Stimmbänder und Taschen-
bänder werden oft von Geschwüren einge-
nommen; man kann sie natürlich nicht
sehen, doch verraten sie sich durch Oedem
der Umgebung. Miliare Knötchen, die zu
kleinen Geschwüren zerfallen, aus welchen
sich durch Konfluieren größere bilden, habe
ich noch nicht beobachtet, doch soll diese
Form auch vorkommen.
Die verschiedenen Formen der Tuber-
kulose kommen nun, besonders in den vor-
geschrittenen Fällen, nicht für sich gesondert,
sondern nebeneinander vor, sodaß die aller-
verschieden 8 ten Bilder entstehen. In solchen
Fällen ist die Diagnose natürlich leicht,
dagegen können die allerersten Anfänge der
Kehlkopftuberkulose viel Kopfzerbrechen
verursachen, besonders wenn es sich um
Patienten handelt, die schon einmal syphili-
tisch erkrankt gewesen sind. Im allgemeinen,
möchte ich sagen, habe ich den Eindruck
bekommen, daß selbst schwere syphilitische
Zerstörungen die Patienten bei weitem
weniger belästigen und in ihrem Allgemein-
befinden herunterbringen, als tuberkulöse
Erkrankung schon in den Anfängen.
Die Behandlung der Kehlkopftuberkulose
kann eine Allgemeinbehandlung und eine
Lokalbehandlung sein. Die erstere deckt
sich fast völlig mit der Allgemeinbehandlung
der Lungentuberkulose, sodaß ich darüber
nicht viel zu sagen brauche; dagegen möchte
ich die Lokalbehandlung etwas ausführlicher
28*
360
Hamm, Behandlung der Kehlkopftuberkuloee.
["Therapeutische
besprechen. Von vornherein möchte ich
aber betonen, daß man in schweren Fällen
progredienter Lungenerkrankung am besten
jedes lokale Eingreifen unterläßt und auch
das die Kranken anstrengende Inhalieren
verbietet; man beschränke sich in solchen
Fällen auf die Ordination von narkotischen
Mitteln und suche durch Einblasen von
Orthoform oder anderer lokal wirkender
Substanzen die Benutzung von Morphium
möglichst weit hinauszuschieben. Die ein-
fachste lokale Therapie ist das Inhalieren,
wozu man verschiedene Mittel benutzen kann.
Ich bevorzuge dabei den Perubalsam, den
ich nach dem Rezept von Moritz Schmidt
— Balsam peruvian. 10, Spirit. vini 5,
dreimal täglich 15 Tropfen — auf einen
Topf mit kochendem Wasser oder Kamillen-
thee schütten und nun "durch eine lange
Papierröhre einatmen lasse. Man sieht doch
in leichteren Fällen von sogenanntem tuber-
kulösen Katarrh ein sehr promptes Zurück-
gehen des Kehlkopf leidend. Ich kenne z. B.
einen jungen Mann, der schon von einem
verstorbenen Kollegen mit Perubalsum be-
handelt ist, dieser Patient kommt jedes
Jahr ein- oder zweimal mit tuberkulösem
Katarrh und wird jedes Mal durch Inha-
lieren von Perubalsam in 8 bis 14 Tagen
geheilt; nur einmal gelang die Heilung nicht,
worauf ich nachher noch zurückkommen werde.
Sehr brauchbar ist auch zur Inhalation eine
schwache Karbolsäurelösung, vermittelst der
bekannten kleinen Inhalierapparate, doch
stumpft die Karbolsäure manchmal den Ge-
schmack ab und vermindert dadurch die
Eßlust, was bekanntlich bei Tuberkulösen
durchaus vermieden werden muß. Indes
hilft das Inhalieren nur in leichteren Fällen,
bestehen schon derbere Infiltrationen oder
Geschwüre, dann ist es nötig, Atzmittel
anzuwenden. Hier hat längere Jahre auf
die Empfehlung von Krause hin die Milch-
säure an der Spitze gestanden, und erst
neuerdings scheint sich die Erkenntnis Bahn
zu brechen, daß der Milchsäure durchaus
kein spezifisch günstiger Einfluß zukommt,
sondern daß daneben auch andere Ätzmittel
zu Recht bestehen, so besonders die Tri-
chloressigsäure und die Galvanokaustik. Die
letztere namentlich hat den großen Vorzug,
daß sie genau lokalisiert werden kann. Bei
der Milchsäure ist es vorteilhaft, nicht zu
schwache Konzentrationen zu nehmen und
mit einer gewissen Kraft einzureiben; es
bildet sich bei Anwendung der Ätzmittel ein
Schorf, dessen Abstoßung man am besten
abwartet, um eventuell noch mehrere Male
zu ätzen. Es läge nahe, daß man sich auf
die Dauer mit diesen ziemlich einfachen
Maßnahmen nicht begnügte, sondern, ange-
feuert durch das Beispiel der Chirurgen
und unterstützt durch das Kokain, der L.-T.
mit dem Messer beizukommen suchte. Man
hat hauptsächlich die scharfe Kürette ange-
wendet zum Auskratzen von Geschwüren
und die Doppelkürette zum Abtragen von
Tumoren und Infiltrationen, auch zur radi-
kalen Entfernung von Geschwüren. Die
Kürette ist konstruiert wie eine gewöhnliche
Uterus-Kürette mit entsprechender Biegung
für den Kehlkopf, die Doppelkürette ist
drehbar und hat verschiedene Ansätze,
damit man überall hinkommen kann. Es
klingt nun außerordentlich wahrscheinlich,
daß man auf diese Weise mit leichter Mühe
den Kehlkopf von allem Krankhaften befreien
könnte, aber leider ist das durchaus nicht
der Fall. Vor allen Dingen kann man nicht
alle Ecken und Winkel des Kehlkopfes
sehen, z. B. nicht die Unterflächen der
Stimm- und Taschen b ander, und dann kann
man auch dem tuberkulösen Prozeß nicht
ansehen, wie weit er in die Tiefe geht.
Ein oberflächliches kleines Geschwür kann
sich sehr weit in die Tiefe erstrecken, kann
unter der unversehrten Schleimhaut mit
anderen konfluieren usw. Außerdem ist der
Kehlkopf der Durchgangsweg für alle Sputa,
die aus der kranken Lunge heraufbefördert
werden, ein Umstand, der durchaus nicht zu
unterschätzen ist; nach meiner Meinung
werden nämlich viele frische Wunden im
Kehlkopf sofort durch Sputa infiziert, da
es doch nicht möglich ist, sie durch Ätz-
mittel vollständig mit einem deckenden
Schorf zu schützen. Wenn nun auch der
tuberkulöse Kehlkopf schon die Eingriffe
ohne große Reaktion aushält, so schießen
aus der Wnnde doch neue Granulationen
auf, und wenn man glaubt, an einer Stelle
recht gründlich operiert zu haben, kann
man erleben, daß nach kurzer Zeit die Stelle
genau wieder so oder noch trauriger aussieht
wie vor dem Eingriff. Infolge schlechter
Erfahrungen ist denn auch das Operieren
bei Kehlkopftuberkulose ganz bedeutend
eingeschränkt worden, wenigstens bei der
übergroßen Mehrzahl der Laryngologen, und
man nimmt wohl im allgemeinen den
Standpunkt ein, der in einer der jüngsten
Publikationen über diesen Gegenstand bo
präzisiert ist1):
„1. Eine chirurgische Behandlung der
Laryrx-Tuberkulose ist überall da am Platz,
wo bei gutem Allgemeinbefinden die tuber-
kulösen Herde mit Sicherheit oder Wahr-
') Münchener medizinische Wochenschrift,
No. 15 and 16, Jahrgang 1903.
XIX. Jahrgang.1
Ja» I9Q.1 J
Hamm, Behandlung der Kehlkopftuberkulofie.
361
scheinlichkeit zu entfernen sind. Die Laryn-
gotomie ist zu diesem Zwecke nur in Aus-
nahmefällen gestattet. Die Normalmethode
ist die Operation vom Munde aus.
2. Ist eine völlige Entfernung nicht
möglich, so sollte nur zur Beiseitigung be-
drohlicher Komplikationen operiert werden
oder zur Elimination dessen, was anderen
therapeutischen Methoden direkt hinderlich ist.
3. Keines der empfohlenen Ätzmittel hat
spezifische Wirkung; das bisher beste der-
artige Mittel ist die Galvanokaustik.
4. Unsere wichtigste Aufgabe bei der
Behandlung ist die Anstrebung der Spontan-
heilung. Das wertvollste Mittel hierzu ist,
solange es kein spezifisches Heilmittel gegen
Tuberkulose gibt, eine sorgfältig durchge-
führte Allgemeinbehandlung, besonders auf
dem Boden der physikalisch - diätetischen
Heilmethode. u
Was mich persönlich angeht, so operiere
ich bei L.-T. fast gar nicht mehr, nur noch
zu diagnostischen Zwecken, da ich ein Mittel
schätzen gelernt habe, das die in den soeben
verlesenen Grundsätzen gewünschte Spontan-
heilung sehr oft zustände bringt, zugleich
mit Besserung der Lungenerkrankung; dieses
Mittel ist der Lipp spring er Arminius-
brun nen. Die Behandlung mit Mineral-
brunnen ist ja nicht neu; sie wird überall
erwähnt, aber immer nur so nebenbei. Es
mag wohl an dem Bestreben der Ärzte
liegen, nach Möglichkeit in den Heilungs-
prozeß aktiv einzugreifen, daß das Verordnen
von Brunnen bei L.-T. sehr in den Hinter-
grund getreten ist. Ich habe gerade von
dem Lippspringer Brunnen eine ganze Reihe
von Heilungen und Besserungen gesehen,
auch in Fällen, die operativ ohne Erfolg in
Angriff genommen waren. Der Brunnen hat
den großen Vorzug, daß er nicht schadet,
und daß er die Lungenerkrankung sowie die
oft bestehenden Tracheal- und Bronchial-
katarrhe bessert; namentlich das Ver-
schwinden eines Trachealkatarrhes kann
man öfter im Spiegelbilde verfolgen.
Dabei sind manche Patienten ihrem Berufe
nachgegangen, und trotzdem hat sich ihr
Appetit und Allgemeinbefinden gebessert,
während die lokalen Krankheitsprozesse mit
überraschender Schnelligkeit verschwanden.
Einen geradezu experimentellen Beweis von
dem Einfluß des Brunnens auf den tuber-
kulösen Kehlkopf lieferte mir ein Fall, den
ich oben erwähnte, als öfter durch Peru-
balsam geheilt. In einem Sommer nämlich
war der Patient wieder erkrankt, wandte
sich aber dieses Mal an einen Vertreter der
Wasserheilkunde. Er wurde etwa acht
Wochen mit Bädern, Duschen usw. behan-
delt, das Leiden verschlimmerte sich aber
immer mehr, sodaß er zuletzt zu mir kam.
Er hatte nun dieses Mal außer seinem
Katarrh eine bedeutende Verdickung der
Hinter wand des Kehlkopfs und außerdem
ziemlich starke Schluckbeschwerden. Ich
verordnete natürlich zuerst Perubalsam, der
immer geholfen hatte, aber dieses Mal völlig
versagte. Erst als der Patient nebenher
Brunnen trank, schwand das Kehlkopf-
leiden in ganz kurzer Zeit. Einen Fall,
der vorher operativ ohne Erfolg behandelt
ist und durch Lippspringer Brunnen jedes-
mal bedeutende Besserung erfährt, beobachte
ich seit mehreren Jahren.
Die Verordnung von Mineral brunnen
gehört eigentlich schon zur Allgemeinbe-
handlung; es liegt aber wohl keine Veran-
lassung vor, über diese ausführlicher zu
sprechen, da sie fast völlig mit der Allge-
meinbehandlung der Lungentuberkulose zu-
sammenfällt; es 8 ei mir nur gestattet, zwei
Punkte, die für uns hier besonderes Inter-
esse haben, hervorzuheben. Das erste ist
die klimatische Behandlung. Man schickt
L.-P. im Winter gewöhnlich, wenn es mög-
lich ist, nach dem Süden, auch nach Davos,
wovor man sich anfänglich gescheut hat.
Es soll nun garnicht in Abrede gestellt
werden, daß die Erfolge dort zuweilen recht
gute sind; immerhin sind mit diesem Auf-
enthalt einige Nachteile verbunden, und das
sind die weite Reise, die hohen Kosten und,
in Italien wenigstens, die ziemlich mangel-
haften Heizvorrichtungen, trotzdem es dort
jeden Winter eine ganze Reihe kalter Tage
gibt, sowie der Straßenstaub. Dazu kommt
der schroffe Temper aturabf all nach Sonnen-
untergang, sodaß Temperaturdifferenzen von
20 und mehr Grad in ganz kurzer Zeit
keine Seltenheit sein sollen. Unter diesen
Umständen sollte die Aufmersamkeit nach
meiner Meinung auf unsere Nordseeinseln
gerichtet werden, wo man bestrebt ist,
Winterkuren einzurichten. Der Winter auf
den Inseln ist bei weitem nicht so rauh,
wie man sich das gewöhnlich vorstellt, und
die Temperatur keinen großen Schwankungen
unterworfen, das Leben verläuft dort sehr
ruhig und wenig aufregend, die Reise ist
nicht so beschwerlich und die Kosten sind
bedeutend geringer. Allerdings genügt es
nicht, was Sprengel schon einmal betont
hat, und worauf in der Sektion für Kinder-
heilkunde auf der Casseler Naturforscher-
versammlung wieder hingewiesen ist, die
Patienten auf 4 — 6 Wochen hinzuschicken,
sondern der Aufenthalt dort muß länger dauern.
Der zweite Punkt, auf den ich Ihre
Aufmerksamkeit lenken möchte, betrifft die
362
Hamm» Behandlung d«r Kehlkopftubarkulose.
[Th*rapeatiac]»
Monatshefte.
Heilstättenbehandlung. Wie Ihnen, meine
Herren, aus dem Rundschreiben der Inva-
liditäts- und Altersversicherungsanstalt be-
kannt sein wird, nimmt dieselbe „mit Kehl-
kopf- oder Darmtuberkulose" Behaftete unter
keinen Umständen in die Heilstätten
auf. Diese Bestimmung halte ich, wenigstens
mit Bezug auf die L.-P., für vollständig
ungerechtfertigt und unhaltbar. Es dürfte
wohl kaum eine Privat- Lungenheilanstalt
geben, die L.-P. ausschließt; so praktiziert
z. B. in den Brehmerschen Anstalten in
Görbersdorf ein besonderer Spezialarzt für
Kehlkopfkrankheiten. In den staatlichen
Anstalten ist man zum Teil anderer Ansicht.
Aus der oben zitierten Arbeit aus der Münch.
medizinischen Wochenschrift entnehme ich,
daß die Invaliditätsversicherungsanstalt für
Rheinland Kehlkopf kranke nicht aufnimmt,
und in der Provinz Sachsen ist es ebenso.
Dagegen teilte mir ein in Cassel prakti-
zierender Kollege gelegentlich der Natur-
forscherversammlung mit, daß die Invalidi-
tätsversicherungsanstalt für Hessen -Nassau
Kehlkopfphthisiker ohne weiteres aufnimmt.
Wenn man den Lungenkranken, die ver-
sichert sind, unter gewissen Voraussetzungen
ein ' Recht auf Heilstättenbehandlung zuer-
kennt, so haben die Kehlkopftuberkulösen
genau denselben Anspruch, und man kann
nicht einfach dekretieren: „Die L.-P. werden
zurückgewiesen a, sondern muß den behan-
delnden Ärzten überlassen, ob sie die be-
treffenden Patienten für heilbar halten.
Nach meiner Meinung beruht der Beschluß
der Invaliditäts- und Altersversicherungs-
anstalten auf der falschen Voraussetzung,
daß die Kehlkopftuberkulose unheilbar ist.
Wenigstens sollte man, wenn die Patienten
schon nicht in die Heilstätten aufgenommen
werden sollen, die L.-P. nach Lippspringe
oder an einen anderen Lungenkurort schicken,
anstatt sie völlig im Stich zu lassen. In
welche Verlegenheit man durch diese Be-
stimmung der Invaliditätsversicherungsanstalt
kommen kann, möchte ich Ihnen an einem
Fall aus meiner Praxis zeigen. Ein Patient,
der schon einmal wegen Lungenaffektion in
der Nähe von Berlin in einer Heilanstalt
gewesen und dort völlig geheilt war,
erkrankte hier an Kehlkopftuberkulose, die
indes unter Gebrauch von Lippspringer
Brunnen einen günstigen Verlauf nahm. Er
wollte nun gern in eine Heilanstalt, und
um das zu ermöglichen, riet ich ihm, er
solle zu einem anderen Arzt gehen und sich
von diesem ein Attest ausstellen lassen, aber
nichts von seinem allerdings fast geheilten
Kehlkopfleiden erwähnen. Dazu konnte sich
der Patient anfänglich nicht entschließen,
und so ist denn vorläufig die Reise in die
Heilanstalt unterblieben. Inzwischen ist er,
wovon ich mich erst vor einigen Tagen
überzeugen konnte, völlig geheilt. Ein
anderer Patient, der schon mehrfach durch
Lippspringer Brunnen gebessert ist, bezieht
seit einigen Jahren Invalidenrente, ich bin
überzeugt, daß er durch einen Aufenthalt in
einer Lungenheilanstalt längst geheilt wäre,
und die Versicherungsanstalt die Rente
sparen könnte.
Es wäre außerordentlich wünschenswert,
daß diese Frage generell für ganz Deutsch-
land geregelt würde, und die Heilanstalten
Anweisung erhielten, Kehlkopfphthisiker
aufzunehmen, wenn nach Ansicht der be-
handelnden Arzte Aussicht auf Besserung
oder Heilung vorhanden ist.
Die „physiologische Narkose" und ihr
Heilwert für die Praxis.
Von
Dr, Fritz Kleintorgen in Elberfeld.
Mit dem in der Heilkunde bislang unbe-
kannten Begriff der „physiologischen Narkose u
mochte ich jenen Betäubungszustand be-
zeichnen, der im Gegensatz zu dem durch
narkotisch wirkende Medikamente hervor-
gerufenen Schlafzustand auf rein natürlichem
Wege unter alleiniger Zuhilfenahme jener
Momente zustande kommt, die an und für
sich die Grundlagen des normalen Schlafes
abgeben.
Als solche Vorbedingungen des natürlichen
Schlafes gelten nun in der Hauptsache:
Ruhe und Dunkelheit. Wo diese beiden
Faktoren vorhanden, oder wo sie künstlich
erzeugt werden, tritt sehr bald jener geistige
Dämmerzustand ein, in dem nur noch die
vegetativen und reflektiven Organe an Stelle
des wahrnehmenden Verstandes in Tätigkeit
treten.
Dieser durch Ausschaltung resp. Still-
egung der wahrnehmenden Sinnesorgane
entstehenden physiologischen Narkose be-
gegnen wir nun nicht nur normalerweise bei
dem Schlafe, sondern wir können es auch
erleben, daß der Mensch sich ihrer unter
gewissen Verhältnissen instinktiv bedient.
Erlebt der Mensch beispielsweise plötz-
lich ein Ereignis besonders grausiger Art,
so können wir stets die Beobachtung machen,
wie die etwas sensibler veranlagten Naturen
unwillkürlich die Augen schließen und sich
die Ohren zuhalten. Sie setzen sich
instinktiv in eine Art Selbstbetäubung, von
dem richtigen Gefühl geleitet, daß sie durch
Abschließung der wahrnehmenden Sinnes-
J
XIX. Jahrgang.
Juli 1905.
]
Kleintorgan, Pbytlologische Narkoao.
363
organe das Schreckliche nur halb erleben.
— Diesem Verlangen des nicht sehen und
hören Wollens muß übrigens der Arzt oft
Rechnung tragen, und speziell wird an den
Operateur von Patienten häufiger das An-
sinnen gestellt, die Augen und Ohren ver-
bunden zu halten.
Derartige Erfahrungen am Operationsstuhl
bildeten denn auch den Ausgangspunkt dieser
Betrachtungen und legten zunächst den Ge-
danken nahe, einen diese physiologische
Narkose herbeiführenden Hilfsapparat zu
konstruieren, der zunächst als wesentliches
Unterstützungsmittel zur schnelleren und
ruhigeren Herbeiführung der künstlichen
Narkose angesehen werden sollte.
Wenn Ruhe und Dunkelheit schon die
Vorbedingungen des natürlichen Schlafes
abgeben, so sind sie zur Herbeiführung des
künstlichen um so wünschenswerter, als
gerade hier vor und zu Beginn der Narkose
die Sinnesorgane sich in erhöhtem Reiz-
zustande befinden, und schon das leiseste
Geräusch schreckhaft und störend auf den
Verlauf der Narkose einwirkt.
In gleicher Weise wie die Geräusche
wirkt auch das helle Tageslicht störend auf
das Einschlafen.
Durch Anlegung eines Schalldämpfers
und einer Dunkelbrille werden nun diese
den Eintritt der Narkose hemmenden Momente
ausgeschaltet.
Mit einem derartigen Narkosen-Hilfs-
apparat kommen wir also einerseits dem
Wunsche wie auch dem instinktiven Be-
dürfnis des Patienten nach Abschließung der
Bewußtseinssphäre entgegen, andererseits
erreichen wir die Vorteile eines schnelleren
ruhigeren Eintritts der Narkose sowie ver-
ringerten Gasgebrauchs.
Vielleicht von noch größerer therapeuti-
scher Tragweite ist die Übertragung des
Prinzips der physiologischen Narkose auf
das Gebiet der Nervenheilkunde.
Alle nervösen Leiden beruhen in letztem
Grunde auf Überanstrengung, sei sie rein
geistiger, körperlicher oder sonstwie mate-
rieller Natur.
Zeitweise absolute Ruhe stellt daher
eines der wirksamsten Heilmittel für Ner-
vöse dar. Eine derartig erwünschte Ruhe
war aber bisher bei einer Krankheit, deren
eigentliches Wesen die Unruhe verkörpert,
ohne medikamentöse Behandlung schwer zu
erreichen. Hier tritt nun die physiologische
Narkose in ihr Recht ein: Da zu ihrer
Herbeiführung möglichste Stillegung nicht
nur der geistigen, sondern auch der körper-
lichen Tätigkeit, soweit diese in das Be-
reich der willkürlichen Bewegungssphäre
fallen, besonders erwünscht ist, so habe ich
dem oben beschriebenen Narkosenhilfsapparat
noch eine Hand- und Fußbinde zugefügt
und so einen „Nervenbindungsapparat" zu-
sammengestellt, mit dessen Hilfe man infolge
geistiger wie körperlicher Bindung die
„Zwangsruhe" erreicht.
Die Einleitung der physiologischen Nar-
kose geschieht nun also: In einem ruhig
gelegenen, möglichst abgeschlossenem Zimmer
nimmt Patient auf einem Ruhebett oder
ähnlichen Lager in gerader Rückenlage
Platz. Dann wird der Schalldämpfer um
die Ohren, die Dunkelbrille um die Augen
gelegt; hiermit ist die geistige Bindung
vollzogen.
Sehr unruhige und nervöse Personen
streifen dann, um möglichst ungewollte Be-
wegungen auszuschließen und absolute kör-
perliche Ruhelage zu bewahren, die Fuß-
und Armbinde über, andernfalls legt man
bequem einen Fuß über den anderen und
hält die Hände gefaltet, womit die körper-
liche Bindung beendet ist.
In dieser Lage hat Patient nun das
Gefühl, der Außenwelt entrückt zu sein.
Kein lauter Ton teilt sich seinem Gehirn
mit und löst hier Vorstellungen unange-
nehmer oder soöst wie erregender Natur aus.
Kein Lichtstrahl sendet dem Gehirn ein
Bild, das wieder zu einer Reihe weiterer
gedachter Vorstellungen Veranlassung gibt.
Diejenigen Sinnesnerven, die erst das
eigentliche bewußte und empfindende Leben
ausmachen, die Licht- und Gehörswahr-
nehmungszentren, sind ausgeschaltet. Der
Mensch lebt eigentlich nur noch vegetativ
und reflektiv, der wahrnehmende Verstand
ist außer Tätigkeit gesetzt. Um nun auch
noch die reflektive Geistestätigkeit auszu-
schließen, wird Patient angewiesen, in dieser
„physiologischen Narkose a, genau wie in
der künstlichen Narkose, zu zählen, und
zwar seine eigenen Atemzüge, jedoch ohne
zu sprechen, nur in Gedanken, und zwar bis
100 und wieder zurück. Die langsame
Folge derselben zwingt zum ruhigen ein-
schläfernden Zählen, der einzigen Arbeit der
sonst ganz abgebundenen Denkkraft. Es
wird nicht lange dauern, und Patient verfällt
in einen erquickenden nervenberuhigenden
Schlafzustand.
1
364
Winckelmann, Digalen.
[TherapeutJjefce
Monatshefte.
Neuere Arzneimittel.
Digalen.
Von
Dr. Winckelmann,
Oberarzt Im Feldartillerie-Regiment No. 15, kommandiert
zum Aoguatahospltal In Cöln.
In der Sitzung des unterelsäßischen Ärzte-
vereins am 2. Juli 1904 teilte Naunyn1) seine
ersten Erfahrungen über ein neues von Cioetta
hergestelltes Digitaiispräparat mit. Dem letzt-
genannten Autor9; ist es nach etwa öjährigem
Bemühen durch kompliziertes Verfahren gelungen,
ein amorphes wasserlösliches Digitoxin aus den
Digitalisblättern zu gewinnen, für das er die
Formel C28 H46 O10 gefunden hat. Die Methode
der Darstellung ist nicht bekannt gegeben. „Das
Mittel kommt in wäßriger Lösung mit 25 Proz.
Glyzerin versetzt in kleinen Fläschchen unter
dem Namen Digalen in den Handel. Jeder
Kubikzentimenter entspricht 0,3 mg des amorphen
Digitoxins." Cioetta konnte sein Präparat als
Digitoxin erkennen, denn die Elementaranalyse
ergab ein Übereinstimmen mit der chemischen
Zusammensetzung des Schmiedebergschen kry-
stalliniBchen Digitoxins, und minimale Mengen
geben die Keller sehe Reaktion. „Werden
0,5 cem Digalen mit 0,5 cem Eisessig, dem eine
Spur Eisenchlorid zugesetzt ist, gemischt und
die Mischung mit 1 cem konzentrierter Schwefel-
säure unterschichtet, so tritt alsbald eine rötlich
violette Zone an der Berührungsstelle, überlagert
von einer dunkelbraunen Schicht, auf, die sich
im Verlauf einer halben Stunde verbreitert und
nach unten mehr braunrot, nach oben mehr
bläulich grün färbt3)." Physikalisch wichtig ist,
daß die Diffusionsfähigkeit des neuen Körpers
bedeutend größer als die des krystallinischen
Digitoxins ist.
In der Naunynschen Klinik wandte Hoff-
mann4) das Digalen bei einer Reihe von Fällen
subkutan, bei anderen intravenös an, Naunyn
selbst hat es per os gegeben, ebenso Bibergeil5)
in Senators Klinik, ferner Watti6), Klem-
perer7) und Kollick8). Die angewendeten
Gaben sind: Einzeldosis 0,3 mg = 1 cem der
Lösung, Maximal -Einzeldosis 2 cem, Maximai-
Tagesdosis 4 cem. Da das Mittel schlecht
schmeckt, wird es in verschiedenen Vehikeln,
Milch, Wein, gegeben. Mit süßem Süd wein
nimmt es sich am besten ein. Es wird vom
Magen gut vertragen, auch in Fällen in denen
die Digitalis in bisheriger Verordnung nicht
*) Münch. med. Wochenschr. 1904, No. 31.
») Münch. med. Wochenschr. 1904, No. 33.
*) Zitiert nach Schaerges, Über Digalen,
Pharmazeutische Zentralhalle 1905, No. 2.
4) Zeitschr. f. klin. Med. 1905, 16. Bd., H. 1 u. 2.
4) Berl. klin. Wochenschr. 1904, No. 51.
6) Deutsche Ärzte-Zeitung 1904, No. 20.
T) Therapie der Gegenwart 1905, H. 1.
H) Neue Therapie, Wien 1905, H. 3 und Prager
med. Wochenschr. 1905, No. 18.
I oder nicht mehr gegeben werden konnte. Die
| Wirkung tritt rascher ein, als wir es von der
j Digitalis bisher zu sehen gewohnt waren, in
20—24 Stunden, und wenn man Digalen auf
nüchternen Magen gibt bisweilen schon in
6 Stunden. Die Wirkung äußert sich in Steige-
rung des Blutdruckes und der Diurese und zu-
meist im Sinken der Pulszahl. Sehr angenehm
ist die Genauigkeit der Dosierung mit Hilfe der
beigegebenen eingeteilten Pipette. Bei der sub-
kutanen Anwendung soll man eine Stelle wählen,
an der die Haut leicht verschieblich ist, und
soll nach der Injektion leicht massieren und für
12 Stunden einen feuchten Verband mit essig-
saurer Tonerde oder Bleiwasser auflegen —
denn die Injektionen verlaufen nicht reaktions-
los! Daher habe ich von dieser Art der An-
wendung abgesehen, zumal der Eintritt der Wir-
kung nicht eher als beim Einnehmen des Mittels
eintreten soll. In den Fällen, wo es sich darum
handelt, in allerkürzester Zeit Digitaliswirkung
zu erzielen, tritt die intravenöse Injektion des
Digalens in ihre Rechte. Der Gedanke, ein so
ausgesprochen das Gefäßsystem beeinflussendes
Mittel, wie es die Digitalis darstellt, der Blut-
bahn selbst einzuverleiben, ist gewiß ein glück-
licher. Voraussetzung ist dabei, daß durch das
Injizieren die Gefäßwand nicht alteriert, die
Formelemente des Blutes nicht aufgelöst werden,
und keine Thrombose verursacht wird. Diese
Bedingungen erfüllt das Digalen. Die Wirkung
macht sich bei dieser Darreichungsform als-
bald nach der Einverleibung bemerkbar. Einen
schädlichen Einfluß hat Kottmann bei seinen
in dieser Weise behandelten Fällen nicht beob-
achtet . und ist auch unsererseits nicht gesehen
worden. Mir stehen besonders lebhaft 3 Pneu-
moniker vor Augen, bei denen ich die intra-
venöse Digaleneinspritzung gemacht habe, bei
denen die Wirkung glänzend war. Die beiden
ersteren hatten in der Nacht kritisiert und waren
am Morgen schwer kollabiert, der beschleunigte
Puls kaum fühlbar; sofort nach der Injektion
besserte sich der Puls und blieb bei absteigenden
Digalengaben per os weiter gut. Beide sind ge-
heilt entlassen. Bei dem dritten handelte es
sich um eine sehr schwere langdauernde Pneu-
monie dreier Lappen, bei dem am 7. Tage eine
sehr beträchtliche Herzschwäche eintrat. Auch
hier sofortiger Erfolg. Der Blutdruck stieg von
75 auf 110 mm Hg innerhalb 15 Minuten, die
Pulszahl sank in ca. 30 Minuten von 140 auf
120 Schläge9). Der Vorschrift entsprechend wur-
den 3—4 cem Digalen eingespritzt. Die Flüssig-
keit ist steril; ihre Haltbarkeit ist gut, doch wird
empfohlen, angebrochene Fläschchen nicht länger
als 14 Tage in Gebrauch zu lassen (Schaerges).
Das Digalen ist also, soweit es bisher an-
I gewendet wurde, als ein gut wirkendes Präparat
9) Anmerkung bei der Korrektur: Auch dieser
Patient ist jetzt geheilt.
XIX. Jahrgang. 1
Jnll 19<)5. J
Eumydrin. - Eukodio.
365
befanden worden und ist infolge seiner Gleich-
mäßigkeit der wirksamen Substanz dem Infus wie
dem Pulver überlegen und übertrifft diese in der
Schnelligkeit des Wirkungseintrittes bedeutend.
Eumydrin.
Als Ersatz für Atropin wird unter dem
Namen Eumydrin das Atropiniummethylnitrat
empfohlen. Dasselbe hat die Formel
C6 H5^- prT pQ r\ p rr |^ _.-(CHs),
CH, (OH)— -OU OU * U °7 ö| l w — ~N03
und wird aus dem Atropin durch Addition von
Jodmethyl und Fällung mit Silbernitrat als ein
weißes, krystallinisches, in Wasser und Alkohol
leicht, in Äther und Chloroform schwer lösliches
Pulver, Schmelzpunkt 163°, gewonnen. Durch
die Anlagerung von Jodmethyl ist Atropin aus
einer tertiären in eine quaternäre Base um-
gewandelt, welche die depressive Wirkung des
Atropins auf das Zentralnervensystem nicht mehr
besitzt, während die peripherische Einwirkung auf
das Auge und die — übrigens allen Ammonium-
basen zukommende — kurareartige Wirkung
auf die Nervenendigungen der quergestreiften
Muskulatur erhalten ist. Nach den vorliegenden
Tierversuchen erscheint Eumydrin etwa 50 mal
geringer giftig als Atropins ulfat; man kann es
daher in größeren Dosen verwenden und hat
auch keine schwerere Intoxikation zu befürchten,
wenn größere Dosen plötzlich zur Resorption
gelangen.
Die Pupillenerweiterung tritt nach Ein-
träu feiung einer 1 proz. Lösung von Eumydrin
schneller ein, als nach einer 0,1 proz. Atropin-
oder 1 proz. Homatropinlösung und hält höchstens
24 Stunden an; dabei wird die Tension weder
bei kranken noch gesunden Augen erhöht. Das
Korn eal epithel wird durch Eumydrinlösung nicht
ausgetrocknet, wie bei Verwendung von Kokain,
auch werden die Geschwüre der Cornea durch
Eumydrin direkt günstig beeinflußt und die ciliare
Injektion vermindert. Bei Iritis werden 2 proz.
Lösungen und nur, wo stärkere Pupillenerwei-
terung notwendig erscheint, 5 proz. Lösungen
verwendet, doch kann man selbst 10 proz., die
aber unnötig erscheinen, ohne Gefahr benutzen.
In vereinzelten Fällen wurden wohl von besonders
empfindlichen Personen nach einigen Tropfen
der 3- und 4 proz. Eumydrinlösung bitterer
Geschmack im Munde, Trockenheit im Pharynx,
Schlingbeschwerden und Kopfschmerzen ange-
geben.
Innerlich verabreicht, werden Tagesdosen
von 0,005 g Eumydrin ohne Nebensymptome
vertragen, es kann daher auch Kindern und
Greisen unbedenklich gereicht werden. Dosen
von 0,001 — 0,003 g erwiesen sich brauchbar zur
Bekämpfung der Nachtschweiße Lungenkranker.
In einigen Fällen, in denen das Eumydrin im
Stiche ließ, versagte auch das nachträglich ge-
reichte Atropin. In Verbindung mit Aspirin
oder Pyramidon gereicht, vermindert es beträcht-
lich bei fiebernden tuberkulösen Kranken die
mit dem Fieberabfall einhergehende Transpiration.
Neben dieser sekretionsvermindernden Wirkung
macht sich bei lungenkranken Patienten zugleich
eine hustenreizstillende und auch antidiarrhoische
Wirkung geltend. Bei Erkrankungen des Magens
zeigte sich Eumydrin von Nutzen zur Stillung
des Erbrechens im Gefolge von Pylorusverschluß,
Magenektasie, Magengeschwür, Schwangerschaft
und uteriner Dyspepsie. Auch die Schmerz-
paroxysmen bei Ulcus ventriculi, ferner Krampf
der Kardia und des Pylorus ließen sich durch
seinen Gebrauch mildern. Von Darmerkrankun-
gen kommen für die Behandlung mit Eumydrin
in Betracht: Diarrhöe, Verstopfung, Ileus, ferner
Gallengangskoliken und Appendicitis.
Literatur.
1. Eumydrin, ein neuer Atropinersatz. Von
W. Erbe. Inaugural-Dissertation München 1903.
2. Aus der I. Universitätsklinik (Vorstand Hofrat
Prof. Dr. Schnabl) Wien. Versuche mit
Eumydrin, einem Ersatzmittel des Atro-
pinsulfates. Von Dr. Hugo Goldberg. Heil-
kunde, März 1903.
3. Aus der Universitäts- Augenklinik in Gießen
(Prof. Dr. Vossius). Eumydrin, ein neues
Mydriaticum. Von Dr. Lindenmeyer. Ber-
liner klinische Wochenschrift No. 47, 1903.
4. Eumydrin, ein neues schweißhemmendes
Mittel. Von Dr. Engländer, Wiener klin.-
therap. Wochenschrift No. 48, 1904.
5. Eumydrin bei dem nächtlichen Schwitzen
der Lungenkranken. Wiener klinische Rund-
schau No. 52, 1904. Beiblatt. Von Universitäts-
dozent Dr. Franz Tauszk, Budapest.
6. Aus der IV. med. Abteilung des k. k. Allge-
meinen Krankenhauses in Wien (Vorstand Prof.
Dr. Friedrich Koväcs). Über die Wirkung
des Atropinderivates Eumydrin auf die
Nachtschweiße der Phthisiker. Von Se-
kundararzt Dr. Siegfried Jonas. Wiener
klinische Wochenschrift No. 4, 1905.
7. Über Eumydrin. Von Dr. Hagen, Nord-
hausen. I. Das Eumydrin als Atropinersatz.
Heilkunde, Januar 1905. IL Weitere Unter-
suchungen über die Wirkung des Eumydrins
bei Darmparalyse, Darmstenose, Appendicitis
undGallengangskoliken. Heilkunde, Februar 1905.
8. Das Eumydrin als pupillenerweiterndes
Mittel. Von Dr. Julius Fejer, Budapest.
Heilkunde, März 1905.
9. Eumydrin, ein Atropinersatz in der
Therapie der Magen- und Darmkrank-
heiten. Von Dr. Gustav Haas, Brunn.
Therapie der Gegenwart, März 1905.
Eukodin«
Ebenso wie Atropin und Apomorphin beim
Übergang von tertiären zu quaternären Basen
eine ausgesprochene Herab minder ung der Giftig-
keit erfahren, während ihre therapeutische Wir-
kung voll erhalten bleibt, so zeigt auch das
Kodein bei dieser Umwandlung unter Verlust
der charakteristischen Krampfwirkung volle nar-
kotische Wirkung.
DasKodeinbrommethylat, Eukodin genannt,
bildet farblose Kry stalle, welche sich in Wasser
leicht lösen. Wenige Zentigramme erzeugen
beim Frosch komplette motorische Lähmung
und zwar zuerst Lähmung der motorischen
Nervenendapparate, später der motorischenZentren.
Hunde vertragen selbst Dosen von 1 g, ohne
daß Aufregungszustände und Krämpfe folgen.
Enesol« — Lentis.
fTherap«a
L Monatefa
_ «utUeh*
Monatshefte.
Bei Phthisikern wirkt Eukodin hustenreiz-
mildernd, auch zeigt sich zuweilen eine Beför-
derung der Sekretion, die ein leichteres Ab-
husten ermöglicht. Die wirksame Dosis beträgt
0,2 — 0,8 g, doch können auch Gaben von 0,4 g
pro die wochenlang ohne jede Nebenwirkung
vertragen werden. Die Darreichung erfolgt am
besten in Lösung, weniger gut in Tablettenform.
Literatur.
(Aus dem Institut für Infektionskrankheiten
in Berlin.) Über das Eukodin (Kodeinbrom-
methylat). Von Dr. A. Schütze. Medizinische
Klinik No. 9, 1905, Separatabdruck.
Enesol.
Bei der Einwirkung gleicher Moleküle
Methyl arsensaure und basischen Quecksilber-
salizylates auf einander soll ein saurer Salizyl-
säureester der Ar sen säure entstehen, in welchem
die dritte Hydroxylgruppe durch Quecksilber
ersetzt ist.
C6H4(OH)COO-
QH^OHJCOO
As- Hg.
Das arsensalizylsaure Quecksilber oder Enesol
ist ein weißes, amorphes Salz, welches sich bis
zu 4 Proz. in Wasser löst. Die wäßrigen Lösun-
gen lassen sich ohne Zersetzung sterilisieren.
Sie geben weder mit Schwefelammonium noch
mit Jodkalium Niederschläge, da das Quecksilber
und ebenso das Arsen in fester Bindung vor-
handen sind. Der Gehalt an Quecksilber be-
rechnet sich auf 38,46 Proz., an Arsen auf
14,4 Proz.
Die Giftigkeit des Präparates ist geringer,
als seinem Gehalt an Quecksilber und Arsen
entspricht. Kaninchen vertragen Injektionen von
0,1 g (= 0,038 Q) pro Kilo ohne Schädigung,
während die Dosis letalis 0,3 g (= 0,144 g Q)
beträgt. Da die Dosis letalis von Quecksilber-
bijodid bei 0,0045 g pro Kilo liegt, erscheint
Enesol etwa 70 mal geringer toxisch als das
Bijodid. Die Ausscheidung durch den Harn
beginnt 1 — 2 Stunden nach der Injektion und
ist in 24 Stunden unter allmählicher Abnahme
beendet; werden die Injektionen längere Zeit,
etwa 20 Tage hintereinander, vorgenommen, so
hält die Ausscheidung 6 Tage nach Beendigung
der Kur an.
Die geringe Giftigkeit des Enesols erlaubt,
größere Quantitäten von Quecksilber ohne Gefahr
einer Intoxikation dem Organismus einzuverleiben.
Der Gehalt an Arsen verleiht dem Präparat zu-
gleich eine tonisierende Wirkung und macht es
besonders für chlorotische, anämische, tuberkulöse,
überhaupt für geschwächte Patienten geeignet.
Die Injektionen, die intramuskulär — in
die Glutäen — vorgenommen werden, sind gar
nicht oder nur wenig schmerzhaft. Nur aus-
nahmsweise werden stärkere, einige Stunden an-
haltende Schmerzen und Infiltrate bei Patienten
mit schlaffen, gering entwickelten Glutäen be-
obachtet. Die nach Enesolgebrauch auftretende
Stomatitis mercurialis ist nicht häufiger als nach
anderen Quecksilberpräparaten, zwingt aber eben-
falls zu einer störenden Unterbrechung der Kur.
Von sonstigen Nebenwirkungen werden ab und
zu nervöse Erregung, unruhiger Schlaf und
Erektionen beobachtet.
Das Enesol, das zu den milde wirkenden
Quecksilberpräparaten gerechnet werden muß,
erweist sich besonders geeignet zur Behandlung
der malignen Frühformen und der gummösen,
ulzerösen Spätformen. Rezidive verhindert es
freilich ebensowenig wie die anderen Mittel.
Das Präparat kommt in Ampullen, die in
2 ccm 0,06 g Enesol enthalten, in den Handel;
der Preis einer Schachtel zu 10 Ampullen ist
4 Francs. Bei der Injektion, die täglich ohne
Pause vorgenommen werden kann, kommt der
Inhalt einer Ampulle zur Verwendung. Schon
nach wenigen Injektionen macht sich eine Be-
einflussung der Symptome bemerkbar; zum völligen
Schwinden derselben sind durchschnittlich 15 bis
20 Injektionen erforderlich.
Literatur.
1. Coignet, Note sur un nouveau sei mer-
curiel soluble injectable: Le salicyl-
arsinate de mercure. Lyon medical No. 23,
1904.
2. Breton, Note sur le salicylarsinate de
mercure (Enesol). Gazette des hopitaux,
12. Juli 1904.
8. Alfred Martinet, Le salicylarsinate de
mercure. Presse medicale No. 102, 1904.
4. Aus der k. k. Universitätsklinik für Geschlechts-
und Hautkrankheiten in Wien (Vorstand Prof.
Dr. E. Finger). Oskar Goldstein, Thera-
peutische Erfahrungen üb er Enesol (sali-
zylarsensaures Quecksilber) bei Syphilis.
Monatshefte für praktische Dermatologie, Bd. 40,
No. 7, 1905.
5. Aus der Abteilung für Dermatologie und Syphilis
des Primarius Prof. Dr. Franz Mra&ek im
k. k. Rudolfsspitale in Wien. Emil Habrich,
Enesol, ein neues Quecksilberpräparat
zur Injektionstherapie der Syphilis.
Wiener klinische Rundschau No. 14, Beiheft
No. 7, 1905. Separatabdruck.
Lentin.
Das Methaphenylendiamin*), ein krystalli-
nisches, in Wasser, Alkohol und Äther lösliches
Pulver mit Schmelzpunkt 63°, ist schon vor
Jahren, als die Anschauung herrschte, die Cholera
werde durch die nitritbildende Eigenschaft der
Cholerabazillen im Darminhalte hervorgerufen,
als nitritbindendes Mittel bei Cholera em-
pfohlen, aber nie angewendet worden. Neuer-
dings hat Prof. Reidemeister von neuem auf
die antidiarrhoischen Eigenschaften des Mittels
aufmerksam gemacht.
Boye hat das Mittel, dem der Name Lentin
beigelegt ist, in einer Reihe von mit Diarrhöe
einhergehenden Verdauungsstörungen versucht.
*) Metaphenylendiamin = Metadiamidobenzol
NH,
6 Sl
1.
NH,
XIX. Jahrg**g.1
Jnll 1905. J
RcJbrato«
367
Fast stete wurde ein therapeutischer Erfolg er-
zielt, ohne daß Nebenwirkungen auftraten. Der
Urin nahm bei der Darreichung von Lentin eine
tiefdunkelbraune bis dunkelbraungrüne Färbung
an, und zwar hatte es den Anschein, als ob die
Intensität der Färbung proportional der Schwere
der Erkrankung sei. Die stuhlstopfende Wir-
kung trat bei akuten Diarrhöen sehr schnell
ein, auch bei Patienten, die vorher mit anderen
Mitteln vergeblich behandelt worden waren, und
selbst dann, wenn die bisherige Kost nicht ge-
ändert wurde. Bei einigen chronischen Darm-
leiden sowie bei den Diarrhöen der Phthisiker
versagte es. Sehr zufriedenstellend waren hin-
gegen wieder um die Erfolge bei den Dyspepsien und
Enterokatarrhen der Kinder. Es ist wahrschein-
lich, daß die stopfende Wirkung durch die des-
infizierende Einwirkung auf den Darminhalt,
ähnlich wie bei Kalomel oder Wismut, zustande
kommt.
Die Dosis beträgt für Säuglinge und kleine
Kinder 0,01 g ein- bis mehrmals täglich, Er-
wachsene erhalten dreimal täglich 0,1 g. Höhere
Dosen als 0,9 g pro die sollten nicht gegeben
werden, da Metaphenylendiamin immerhin ein
differentes Mittel ist; z. B. tötet 1 g per os
Meerschweinchen unter Krämpfen.
Literatur.
Aus der städt. Krankenanstalt Magdeburg-
Sudenburg, innere Abteilung (Direktor Med. -Rat
Prof. Dr.Unverricht). Metaphenylendiamin
als Antidiarrhoicum. Von Dr. Bruno Boje
(Halle a. S.). Zentralblatt für innere Medizin No. 4,
1905.
Referate.
(Au dem Jnatitut für pathologische Anatomie in Wien.
Vorstand: A. Welehtelbamn.)
Der Micrococcus meningitidis cerebrospinalis als
Erreger Ton Endokarditis sowie sein Vor-
kommen in der Nasenhöhle Gesunder und
Kranker. Von Prof. A. Weichselbaum und
Prof. A. Ghon.
Auf Grund kritischer Prüfung der in der
Literatur niedergelegten Beobachtungen über das
Vorkommen des Meningokokkus in den Krank-
heitsprodukten und Exkreten Meningitiskranker
kommen die Verf. zu dem Ergebnis, daß die
vielfach gemachten positiven Angaben Glaub-
würdigkeit nicht beanspruchen können, da der
Nachweis des Meningokokkus meistens nur
mikroskopisch, jedoch nicht kulturell geführt
worden ist. Dieser Skeptizismus ist um so mehr
berechtigt, als nach den Untersuchungen von
Ghon und H. Pfeiffer bei Entzündung der
Nase und ihrer Nebenhöhlen eine Kokken art,
nämlich der Micrococcus catarrhalis Pfeiffer,
vorkommt, welcher sich morphologisch gar nicht
und auch kulturell nur durch sehr genaue Unter-
suchung vom Meningokokkus unterscheiden läßt.
Demnach kann der völlig einwandsfreie Nach-
weis des Meningokokkus nach der vorliegenden
Literatur nur in sehr wenigen Fällen als ge-
lungen betrachtet werden, und zwar, streng
genommen, nur im Sekret der Nasenhöhle
und des Rachens sowohl Gesunder als
auch Meningitiskranker.
Im zweiten Teil ihrer Arbeit wird die Be-
deutung des Meningokokkus für die Entstehung
von Komplikationen auf Grund eigener Unter-
suchungen zu erweisen gesucht.
Als sehr seltene Komplikation wird eine
frische Endokarditis bei Genickstarre beschrieben.
Die endokarditische Effloreszenz zeigt mikro-
skopisch mäßig viele Gram negative Kokken,
welche in der Kultur mit dem Meningokokkus
identisch sind. Hierdurch ist die Möglich-
keit seines Überganges in die Blutbahn
erwiesen. Den nämlichen Nachweis führten
nur noch Bettencourt und Franca, welche
den Meningokokkus dreimal im Herzblute fanden,
freilich nur durch mikroskopische Untersuchung.
Auch die von ihnen beobachtete Perikarditis
mag auf hämatogenem Wege entstanden sein.
Was das Vorkommen des Meningokokkus
bei Rhinitis betrifft, so wurde er unter 19 Fällen
18 mal im Sekret der Nase bezw. des Nasen-
rachenraumes mikroskopisch gefunden; in
einem Falle lehrte der Kulturversuch, daß es
sich um den Micrococcus catarrhalis handelt.
Immerhin glauben die Verf. mit einiger Wahr-
scheinlichkeit annehmen zu können, daß es sich
in 4 Fällen um den Meningokokkus gehandelt hat.
Jedenfalls lehren die Untersuchungen der
Nase, daß der Meningokokkus bei der die Ge-
nickstarre so häufig begleitenden Rhinitis recht
häufig vorkommt und mit ihrem Sekret auf die
Menschen übertragen wird. Da seine Wider-
standsfähigkeit gegen äußere Einflüsse (Eintrock-
nung und dergl.) gering ist, wird seine Über-
tragung durch das Nasensekret auch nur unter
solchen Verhältnissen möglich sein, durch welche
seine Lebensfähigkeit nicht geschädigt wird.
Was sein Vorkommen in der Nasenhöhle
Gesunder betrifft, so enthielten von 24 Arbeitern,
welche mit einem Meningitiskranken in Verkehr
gestanden haben, drei in ihrem Nasensekret den
mikroskopisch und kulturell differenzierbaren
Meningokokkus. Daraus geht hervor, daß im
Nasensekret von ganz gesunden Personen, selbst
wenn diese frei von jeder Entzündung der Nase
bezw. des Nasenrachenraumes sind, der Meningo-
kokkus vorkommen kann.
Hieraus erklärt sich zur Genüge das sprung-
weise Auftreten von Genickstarre an Orten, welche
nie von einem Meningitiskranken besucht worden
sind.
(Wiener klin. Wochenschr. 1905, No. 24.)
Hecht (Beutken O.-S.)
368
Referat«.
rTherapeatisdu
L Monatsheft«.
Der „Micrococcus rheumaticus"; seine kulturellen
und andern Eigenschaften« Von Dr. James
M. Beattie.
Beattie bestätigt durch seine im patho-
logischen Laboratorium der Universität Edin-
burgh angestellten Untersuchungen die Beob-
achtungen von Beaton und Ainley Walker,
sowie die von Paine und Poynton. Das
Material hat er von der Synovia eines an akutem
Gelenkrheumatismus erkrankten Mädchens und
von einer hiermit experimentell erzeugten Endo-
karditis eines Kaninchens gewonnen. Der Orga-
nismus ist ein Mikrokokkus, der paarweise und
in Ketten vorkommt. Beattie hat ihn auf ver-
schiedenen Nährböden gezüchtet und beschreibt
die Art seines Wachstums und das Aussehen
der Kulturen. Intravenöse Injektionen verur-
sachen bei Tieren Endokarditis, Polyarthritis
und Chorea. Die Krankheitserscheinungen treten
in der Kegel am dritten Tage nach der Ein-
spritzung auf. Beattie gelang es nicht, durch
subkutane Einspritzung selbst großer Mengen
Eiterung hervorzurufen. Der Mikroorganismus
ist sowohl durch die Art seines Wachstums wie
auch durch seine Einwirkung auf Tiere von
den Streptokokken sowie vom Pneumokokkus
wesentlich verschieden. Er ist also offenbar der
spezifische Erreger der akuten Polyarthritis.
(British ntedical Journal 1904, 3. Dec.)
Glossen (Grube i. H.J.
(Aas der Klinik Ar Haut- und venerlaeh« Krankheiten der
militar-arstliehen Akademie in Petersburg.)
Ober den Streptobacillus des Ulcus mollc und
dessen Toxin. Von Dr. Z. Sovinski.
Die Untersuchungen von Ducrey-Krefting
haben das konstante Vorkommen eines eigen-
tümlichen Streptobacillus im Eiter des Ulcus
molle konstatiert. Dieser Befund wurde von
zahlreichen Autoren bestätigt, wobei die Spezi-
fizität des Streptobazillus durch Reinkulturen
und Impfversuche nachgewiesen wurde.
Verf. verwendete als Nährflüssigkeit eine
Mischung von Agar mit Ascitesflussigkeit (2 : 1)
und erhielt bei 36 — 37 ° C. eine reichliche
Kulturentwicklung. Die Kulturen waren recht
charakteristisch, sodaß ein geübtes Auge makro-
skopisch das Vorhandensein des Streptobazillus
Ducrey konstatieren konnte. Schon nach 10
bis 12 Stunden konnte man hellgraue, tauähnliche,
durchsichtige Tropfen beobachten ; mikroskopisch
präsentierte sich der Streptobazillus als ein
kurzes, dickes, an beiden Enden abgerundetes,
in der Mitte schmäleres, an den Polen sich
stärker färbendes Stäbchen, sodaß das Bild eines
Achters oder von Hanteln resultierte. Gram-
negativ.
Als ein besonderes differential-diagnostisches
Merkmal sieht Verf. die Eigenbewegung des
Bazillus an, welche im hängenden Tropfen ganz
genau zu sehen war. Außerdem beobachtete
Sovinski schon nach 24 — 48 Stunden zahl-
reiche Rückbildungsformen; wenn auch der all-
gemeine Typus unverändert blieb, kamen doch
zahlreiche Abwechslungen vor, wie eine Un-
gleichheit beider Hälften, ein Kürzerwerden des
Mittelstückes u. s. f.
Ais flüssiger Nährboden wurde eine Mischung
von Bouillon mit Ascitesflussigkeit oder mit
blutigem Pleuraexsudat verwendet, speziell Kul-
turen, dem letzteren Nährboden entstammend,
zeichneten sich durch große Giftigkeit aus.
Experimentell wurde Ulcus molle bei Kaninchen
und Meerschweinchen nach Einimpfung von Rein-
kulturen erzeugt, sodaß Verf. von der Spezifizität
des Streptobazillus Dncrey überzeugt ist.
Das Toxin, erhalten durch Ausfällen der
flüssigen Reinkulturen mit Alkohol en masse
(1 : 3), zeichnet sich durch lokale und allgemeine
"Wirkung aus.
In die Bauchhöhle injiziert, ruft das Toxin
im Verhältnis der Größe der Gabe Eiterung,
selbst Tod hervor, 0,1 ccm subkntan injiziert
hat nach bereits 24 Stunden Schwellung an der
Injektionsstelle von Haselnußgröße zur Folge
Ferner hat Verf. nachgewiesen, daß das
eitererregende Agens ausschließlich der Substanz
des Streptobazillus selber angehört und in die
Nährflüssigkeit nicht übergeht.
Da der Bazillus sehr schnell im tierischen
Organismus zugrunde geht, ist dessen Fehlen in
den in Eiterung übergegangenen Lymphdrüsen
leicht erklärlich. Zum Schlüsse betont Verf.,
daß alle seine Versuche darauf hindeuten, daß
die komplizierende Lymphdrüsenschwellung die
Anwesenheit des lebenden Streptobazillus in loco
bedingen, welcher durch das Absterben in ge-
schlossener Höhle die Eiterung hervorruft.
(Prseglad lekanki No. 28, 1904.)
QabH (Lemberg).
Ober Scharlach in bakteriologischer Beziehung
und über ein antiskarlatlnöses Serum. Von
Dr. W. Palmirski und B. Zabrowski.
Im ersten Teile vorliegender Arbeit suchen
die Verf. die Spezinxität des Streptococcus con-
glomeratus bei der Scharlachinfektion nachzu-
weisen. Als Beweis dessen werden bakteriolo-
gische Befunde von 17 Fällen angeführt, von
denen in 15 Fällen obenerwähnter Streptococcus
bei der Nekropsie in den inneren Organen nach-
gewiesen wurde.
Allerdings heben die Verf. selbst hervor,
daß eine genaue Differenzierung dieses Strepto-
coccus mit anderen zu dieser Gruppe gehörenden
Mikroben nicht genau durchzuführen i6t, so daß
sie selbst, um ein wirksameres Serum zu erhalten,
raten, bei der Immunisierung sich mit Strepto-
kokken verschiedener Abstammung zu bedienen.
Mit diesem nun gewonnenen Serum, dessen
genaue Darstellungsart in der Arbeit beschrieben
ist, wurden an 1000 Kinder behandelt.
Genaue Aufzeichnungen sind aber bloß über
144 im Warschauer Kinderspitale behandelte
Kinder vorhanden.
Wenn man davon 11 Fälle abzieht, deren
Exitus 2 bis 12 Stunden nach der Injektion er-
folgte, wo also das Serum noch nicht wirken
konnte, so bleiben 133 Krankheitsfälle zur Kon-
trolle.
Davon starben 20; also ein Mortalitätsver-
hältnis von 15 Proz., während gleichschwere
Fälle ohne Soruminjektion nach Angabe der
Verf. auf 60 Proz. Mortalität zu rechnen sind.
XIX. Jahrgang.!
Jnh 1905. J
Referate.
369
Komplizierende Nierenentzündungen traten
in 3 Proz. auf, Moser berechnet nach Injektion
seines Serums IS Proz.
Der Erfolg der Serum Wirkung offenbarte
sich in raschem Temperaturabfall, die Kranken
fühlen sich wohler, der Puls wird voller und
langsamer, und der weitere Verlauf ist ein durch-
aus normaler.
Die Menge des zu injizierenden Serums
betragt für 1 — 2jährige Kinder 25 cem, für
altere 50 cem mit dem Vorbehalt einer nach-
träglichen ebensolchen Injektion, wenn nächsten
Tag keine Besserung eintritt.
(Medycyna 1905, No. 2, 3, 4, 5.) Gabel (Lemberg).
Zur Entstehung und Beschaffenheit milchähnlicher
„pseudoehyloser" Ergüsse. Nebst Bemer-
kungen Ober das hämolytische Verhalten
seröser Ergüsse. Von Prof. Dr. H. Strauß.
Verf. hat in 7 Jahren 5 Fälle von opaleszie-
rendem, seifenwasserähnlichem, „pseudochy losem"
Ascites beobachtet und zwar stets bei chro-
nischer parenchymatöser Nephritis. Die Flüssig-
keit zeigte niedriges spezifisches Gewicht, 1007
bis 1009, und geringen Eiweißgehalt, 0,7 bis
2 Proz., mikroskopisch waren keine Fettkörnchen,
wohl aber amorphe kleine Körperchen nachweisbar,
die durch chemische Untersuchung als Spaltungs-
produkte des Lezithins erkannt wurden (vergl.
Micheli und Matticolo, W. kl. W. 1900,
No. 3). Verf. vermutet, daß der 1 akteszierende
Charakter der Flüssigkeit hämatogenen Ursprungs
sei. Im Zusammenhang damit hält er Hedinger
gegenüber an seiner Ansicht fest, daß die hämo-
lytische Kraft reiner Transsudate geringer ist
als die des Blutserums, und findet bis zu einem
gewissen Grade eine Erklärung dafür in der
Eiweißarmut dieser Flüssigkeiten.
(Sonderabdr. aus den ChariU-Annalen XXVII.)
Esch ( Bendorf},
Zur Erkältungsfrage. Von Dr. Esch (Bendorf).
(Eigenbericht).
Bei den Erkältungskrankheiten ist die Dis-
position von größter Wichtigkeit und bedarf
daher zunächst der Besprechung. Esch weist
an der Hand der einschlägigen Literatur nach,
daß die Mehrzahl der neueren Forscher die
Disposition als einen wichtigen Erkrankungs-
faktor anerkennt. Sie wird als ererbte oder
erworbene Minderwertigkeit des Körperproto-
plasmas, Konstitutionsverschlechterung, herab-
gesetzte Vitalität (Liebreich) aufgefaßt, derzu-
folge der Organismus auf bestimmte Reize in
krankhafter Weise reagiert.
Die Disposition entsteht infolge un hygieni-
scher Lebensweise (ev. schon der Eltern) und
zwar u. a. besonders infolge quantitativ und
qualitativ falscher Ernährung, die ihrerseits
wieder fehlerhafte Verarbeitung der Ingesta, In-
suffizienz der Ausscheidungsorgane und damit
Entstehung und Anhäufung toxischer -Stoffwechsel-
produkte im weitesten Sinne, z. B. Kohlensäure,
Harnsäure, Leukomalne, Nekrozyten (du Bois-
Reymond, Adamkiewicz, Brunuer, Se-
nator, Arloing, Gautier, Bachmann etc.)
herbeiführt.
Die in die Blutbahn gelangten Produkte
schädigen dann, soweit sie nicht durch Oxy-
dation und Ausscheidung unschädlich gemacht
werden können, auf die Dauer die verschiedenen
Zellen bezw. Organe und verringern deren
Widerstandsfähigkeit gegen die verschiedenen
Reize, besonders führt die „Plethora" der Winters-
zeit viele Organismen bis an die Krankheits-
schwelle.
Was nun den Kältereiz*) betrifft, so stört
derselbe zunächst die ausscheidende Hauttätig-
keit, indem er das mit den genannten Stoffen
beladene Blut durch Vasokonstriktion nach dem
Körperinnern drängt.
Fehlt nun (infolge ungenügender Funktion
der Vasomotoren wegen Schwäche, mangelnder
Abhärtung) die sekundäre Fluxion des Blutes
zur Haut zurück, die reaktive Hyperämie, oder
wird sie bei langem aber geringem Kältereiz,
z. B. Schweiß Verdunstung, nassen Füßen, nicht
genügend ausgelöst bezw. durch zu starke
Kälte gelähmt, so werden die hyperämisierten
Organe je nach ihrer bereits bestehenden Lokal-
disposition durch das hinzugetretene Toxin ge-
schädigt, es treten entzündliche Reaktionen,
Rheumatismus, Gicht, Katarrhe auf. Hier ist
das Gesetz von der Wechselwirkung der Organe
maßgebend, insbesondere z. B. das vikariierende
Eintreten der Schleimhäute für die Haut.
Gleichzeitig wird so auch der Nährboden
für Mikrobien günstiger, und, da die normale
Widerstandskraft gegen dieselben fehlt, eventl.
die unter dem Bilde der Infektionskrankheit
verlaufende abnorme Reaktion nötig gemacht.
Da die Erkältungskrankheiten also
hämatogen durch Kongestionierung dys-
ämischen Blutes in prädisponierten
Organen infolge gestörter Hautausschei-
dung*) entstehen — also ganz nach der
uralten Retentionstheorie, die in modernem
Gewände wieder auferstanden ist — so ist thera-
peutisch und prophylaktisch die Anhäufung
toxischer Produkte im Blute und die dadurch
bedingte Schädigung der Gewebe zu heben
bezw. zu verhüten. Das geschieht durch mäßige
Nahrungsaufnahme unter genügender Würdigung
der so überaus wichtigen Vegetabilien im Gegen-
satz zu der stark überschätzten Fleischkost
(Albu, Balz, Richter, Umber, Kionka,
L ah mann u. 8. w.), durch ausgiebige Licht-
und Luftzufuhr, Hautpflege, Lungengymnastik
und Muskeltätigkeit und durch ventilierende,
durchlässige Bekleidung.
Die so herbeigeführte kräftige Oxydation
und Ausscheidungstätigkeit kann dann auch noch
bei gesundheitswidriger Lebensweise, wie sie ja
leider z. T. durch soziale und kulturelle Mißstände
bedingt ist, manchen Schaden verhüten bez. heilen.
(Zeitschr.f. diätet. u.physik. Ther. 1904 / 05, Bd. VIII).
*) Es kommen zu dem auch die Luftdruck-
schwankungen in Betracht (Rosenbach, Münch.
med. Wocheoschr. 1902, No. 17; Lehmann, Der
krankmachende Einfluß atmosphärischer Luftdruck-
schwankungen, Stuttgart 1899).
*) v. Leyden- Goldscheider in Nothnagels
Handb., Bd. 10, S. 189 und Bruns, Realenzykl.,
3. Aufl., Bd. 20, S. 581.
370
Referate.
fTherapentiael»
L Mon&tehefte.
Einige Bemerkungen zu von Behrings Ansieht
Ober die Entstehung der Lungenschwindsucht.
Vod Dr. N. Ph. Tendeloo, Prosektor in
Rotterdam.
Die Annahme Behrings, „es sei die
Säuglingsmilch die Hauptquelle der Schwind-
suchtsent8tehungtf ist nach Tendeloo eine
willkürliche, weil sie, von der Beobachtung aus-
gehend, daß Tuberkelbazillen bei ganz jungen
Meerschweinchen leichter enterogene Tuberkulose
heryorrufen, als bei erwachsenen, ohne weiteres
für den Menschen Toraussetzt:
1. daß sogar die abgekochte S&uglingsmilch
häufig eine zur enterogenen Infektion aus-
reichende Anzahl lebender Tuberkelbazillen
enthält,
2. daß diese Bazillen entweder zunächst in
einem Bauchorgan oder sofort in der Lunge
oder in den Bronchialdrüsen den ersten
Herd erzeugen.
Die erstere dieser Voraussetzungen erklärt
Tendeloo als für jeden Beweises entbehrend.
Man kann sogar für die unabgekochte Milch mit
gleichem, d. h. mit ebenso geringem Rechte das
Umgekehrte behaupten, während abgekochte
Milch an sich keine Gefahr der Tuberkulose-
Infektion mit sich bringt.
Was aber die zweite Voraussetzung betrifft,
so geht aus zahlreichen Sektionsergebnissen
hervor, daß die enterogene Tuberkulose beim
Menschen im allgemeinen selten ist. Denn, wie
übereinstimmend aus zahlreichen Versuchsergeb-
nissen, — auch den von Behringschen, — und
aus Beobachtungen beim Menschen selbst erhellt,
kann eine primäre Tuberkulose der Longe oder
der Bronchialdrüsen nur dann eine enterogene
sein, wenn anatomische Anomalien der mesen-
terialen und paraortalen Lymphgefäße vorliegen.
Solche Anomalien sind aber bis jetzt nicht
bekannt geworden.
(Beiträge z. Klinik der Tuberkulose, Bd. II, H.4, 1904.)
Eschle (Sinsheim).
Betrachtungen über experimentelle Tuberkulose.
(Quelques considerations sur la tuberculose
explrimentale.) Von J. F. Hey m ans.
Der Verfasser hat an über 1000 Kaninchen,
600 Meerschweinchen, . 100 Rindern und vielen
Hunden experimentiert.
Die große Erfahrung, welche er bei dieser
umfangreichen Arbeit gesammelt hat, erlaubt
ihm, folgende interessante Schlüsse mit Sicher-
heit aufzustellen:
Nach Einspritzung einer tuberkulösen Emul-
sion in die Ohrvene beobachtet man beim
Kaninchen zuerst nur eine Lungentuberkulose,
und man muß annehmen, daß sämtliche Bazillen
in dem Lungenkapillarnetz zurückgehalten werden.
Diese Lungentuberkulose kann, wie schon
so oft beschrieben wurde, fortschreiten, sich ver-
allgemeinern und den Tod herbeiführen. Sie
kann aber auch heilen und vollständig ver-
schwinden. Nach der Inokulation findet man
bald das Lungenparenchym gleichförmig mit röt-
lichen Pünktchen übersät; später sieht man große
Tuberkeln, unter welchen einige sehr schnell
retrogradieren, andere aber sich entwickeln, weiß
werden und später Abszesse bilden.
Die Abszesse können gleichfalls heilen. Die
Tuberkeln und die kleinen Abszesse sind nach
einigen Monaten spurlos verschwunden.
Die großen tuberkulösen Herde dagegen
rufen bedeutende Störungen hervor; um sie
bildet sich eine emphysematöse Zone, welche
nach dem Verschwinden des tuberkulösen Pro-
zesses allein zurückbleiben kann; in andren
Fällen können die sklerogenen Bildungen Re-
traktionen und Form Veränderungen in der Lunge
erzeugen.
Bei Kaninchen, welche man 4 bis 6 Monate
nach der Inokulation tötet, findet man die tuber-
kulösen Läsionen ungleichmäßiger verteilt; der
Prozeß schreitet in den Lungen von innen nach
außen fort; während das Innere vom Parenchym
wieder normal geworden ist, findet man in den
äußeren Teilen des Hilus, an der Spitze, und an
den Rändern Eiteransammlungen und Sklerosen.
Diese Heilung der Lungentuberkulose schützt
aber nicht in allen Fällen das Tier vor dem Tod
durch Tuberkulose.
Während die Lungen läsionen zurückschreiten ,
entwickelt sich eine lokalisierte Tuberkulose in
einem anderen Organ oder in anderen Geweben,
sei es im Rippenfell, in den Gelenken, in der
Niere, in den Testikeln, in der Leber etc.
Das sind metastatische Erscheinungen, welche
Monate, sogar über ein Jahr nach der Inokulation
sich entwickeln.
Nach intraperitonealer Injektion entsteht
anfangs eine Tuberkulose der Serosa, später der
Milz, der Leber und der Lymphdrüsen.
Die peritoneale Tuberkulose kann ebenfalls
heilen; häufig wird sie latent; ein bis zwei Jahre
nach der Inokulation kann man auf der Serosa
graue Punkte finden, deren Inhalt mit virulenten
Bazillen gespickt ist.
Wenn die peritoneale Tuberkulose sich in
Regression befindet, kann sich eine sekundäre
Lungentuberkulose entwickeln; letztere kann «um
Tode führen, kann aber auch heilen und eine
andere peripherische metastatische Tuberkulose
verursachen. Kaninchen, welche lange Zeit, Jahre
sogar, nach der Inokulation ein blühendes Aus-
sehen gezeigt haben, können allmählich in Kachexie
verfallen, und bei der Sektion findet man nur
die Läsionen der chronischen tuberkulösen In-
toxikation, welche Graucher beschrieben hat.
Selten werden infizierte Kaninchen wieder
ganz gesund.
Der Tuberkelbazillus benimmt sich ganz
anders als die übrigen pathogenen Mikroben:
er sezerniert sehr wenig Toxine mit allgemeiner
Wirkung, denn die Kaninchen und die Rinder
besonders können sehr gesund aussehen und an
Gewicht zunehmen, obgleich sie zahlreiche Tuber-
keln, reich an Bazillen, tragen.
Die lokale Wirkung der Toxine ist eben-
falls sehr gering: die Nekrose des Tuberkels
nimmt nur langsam zu oder steht sogar oft
still in der Entwicklung, trotzdem die Bazillen
lebendig sind.
Der Tuberkelbazillus dringt in den Körper
fast immer durch die Schleimhäute ein. X>er
Verfasser hat diese Erscheinung für die Darm-
schleimhaut des Rindes genau verfolgen können.
XIX. Jahrgang.!
Jnll lSoft. J
Referat«,
371
Infektion durch die Schleimhaut der höheren
Luftwege hat er ebenfalls beim Rinde beobachten
können.
Die Infektion des Lungenparenchyms ge-
schieht meistens durch Bazillen, welche dorthin
mit dem venösen Blutstrom gebracht werden.
Die Luftbazillen können öfters die oberen
Luftwege infizieren, selten oder ^nie direkt das
Lungenparenchym •
(Archwes internationales de Pharmaoodynantie et de
Therapie. VoL XIII, p. 471.) Dr. Impens (Elberfeld).
Präventivbehandlung der Tuberkulose. Von
H. Chatiniere (Paris).
Der Verfasser entwickelt in der vorliegenden
Arbeit eine Idee, die, wenn sie sich auch zum
größten Teil auf hypothetischen Voraussetzungen
aufbaut, doch eines praktischen Interesses
nicht entbehrt. Wenn die Tuberkulose, was
selbst die entschiedensten Kontagionisten nicht
bestreiten, zu ihrer Entwicklung im Organismus
einer besondern ererbten Prädisposition bedarf,
wenn in den Geweben des Körpers gewisse Kräfte
tatig sind, welche bei dem einen Individuum in
erfolgreicher, bei dem andern freilich in unzu-
länglicher Weise den pathogenen Wirkungen
der Krankheitserreger entgegen arbeiten, gewisse
Stoffe, die die tuberkulösen Gifte neutralisieren,
könnte man nicht versuchen, so ist etwa der
Gedankengang des Verfassers, durch irgendwelche
dem Körper einverleibte Mittel die Entwicklung
der Tubelbazillen, selbst wenn sie bereits in den
Organismus gelangt sind, zu hemmen, könnte
man nicht auf diese Weise einen ursprünglich
für die Bazillen günstigen Nährboden in einen
ihnen ungünstigen umwandeln ? Folgen wir nicht
in der Tat einem ähnlichen Gedankengang, wenn
wir eine von einem syphilitischen Manne ge-
schwängerte Frau mit antisyphilitischen Mitteln
behandeln in der Absicht, nicht nur die Mutter,
sondern auch ihre Leibesfrucht vor syphilitischer
Ansteckung zu schützen? Ist der Versuch zu
gewagt, in analoger Weise durch Behandlung
einer schwangeren Mutter mit antituberkulösen
Mitteln das werdende Kind, das von ihr oder
von seinem Vater oder von beiden die Dispo-
sition zur Tuberkulose mitbekommen hat, vor der
tuberkulösen Infektion zu schützen? Verf. hat
nun versucht, diesen Gedanken in die Praxis um-
zusetzen. Bei mehr als 300 Tuberkulösen hatte
er sich in 9 jähriger Erfahrung überzeugt, daß
wir im Guajakol ein sehr wertvolles antituber-
kulöses Mittel besitzen. Er behandelt seine Tu-
berkulösen in der Weise, daß er ihnen täglich
1 ccm von folgender Mixtur in die Nates in-
jiziert:
Guajacol crystallis. 5—8 g
Jodoform 1 „
Ol. amygdal. dulc. 50,0 „
Daneben dringt er auf sorgfältige Beachtung
der gerade bei Behandlung der Tuberkulose so
wichtigen hygienischen Grundsätze. In 5 Fällen
hat er nun Frauen, die bereits mehrere Kinder
an Tuberkulose verloren hatten, nachdem sie
von neuem schwanger geworden waren, während
der Dauer der Gravidität in der oben beschrie-
benen Weise behandelt. Die 5 Kinder, die
dann zur Welt kamen, und von denen einige
bereits ein Alter von 10 Jahren erreicht haben,
sind bisher gesund geblieben. Der Verf. betont,
daß natürlich selbst für diese 5 Fälle damit
wenig bewiesen ist. Dazu ist die Beobachtungs-
dauer eine viel zu kurze gewesen. Noch viel
weniger lassen sich allgemeine Schlüsse aus den
berichteten Tatsachen ziehen. Jedenfalls aber
ermutigen die Versuche zur Wiederholung in
ähnlich liegenden Fällen, zumal der Verf. be-
tont, daß die Frauen, wenn ihnen die Sachlage
auseinandergesetzt wurde, sich der Behandlung
stets gern unterzogen haben und von dem er-
zielten Resultate sehr befriedigt waren.
(La Presse medic. 1904, No. 82).
Ritterband (Berlin).
v Der Einfloß der Krankenvertorgung auf die
Bekämpfung der «Tuberkulose als Volks-
krankheit.
a. Anseigerecht, Anzeigepflicht und Morbiditäts-
statistik. Von Prof. L. Brauer (Heidelberg).
1. Bei der Tuberkulose ist sowohl Infektion
wie Disposition zu bekämpfen. Letzteres ist
praktisch schwer durchführbar, zur Einschränkung
der Infektionsgefahr stehen uns dagegen Mittel
zur Verfügung, die nach Brauers Ansicht der
Gesunde zu seinem Schutz vom Staate ver-
langen kann. Da die Ansteckungsmöglichkeit
keine allgemeine ist, sondern lebende Tuberkel-
bazillen nur in der Umgebung bazillenauswerfen-
der Menschen vorhanden sind, so wäre das wich-
tigste Mittel die — eventuell zwangsweise durch-
zuführende — Isolierung (und vielfach durchaus
nicht nutzlose Behandlung) derjenigen schwer-
kranken Schwindsüchtigen, die in Familie und
Arbeitsraum nicht hygienisch für ihre Umgebung
leben können.
Zu diesem Zwecke wären die an Kranken-
häusern bestehenden Tuberkulosestationen zu ver-
mehren und zahlreiche Heimstätten zu gründen.
Die Heilstätten können in dieser Beziehung
nichts leisten, weil sie nur die Heilung von
Initialfällen bezwecken. (In Wirklichkeit erreichen
sie, wie 3 raun betont, vielfach nur eine Ver-
längerung des Lebens und der Erwerbsfähigkeit,
während andrerseits manche auch spontan geheilt
wären.)
2. Im Zusammenhang mit den von ihm
gewünschten Maßnahmen fordert Brauer die
gesetzliche Einführung der Anzeigepflicht für
Tuberkulose und führt zu dem Gegenstand ein
großes, tabellarisch geordnetes, statistisches Ma-
terial an. Die Frage, in welchem Umfange
hygienische Maßnahmen den Kranken gegenüber
einzusetzen hätten, wäre nach Brauer erst dann
zu erörtern, wenn auf der Basis der Anzeige-
pflicht Klarheit geschaffen wäre über die Trag-
weite derartiger Maßnahmen.
(Beitr. m. Klin. der Tuberk. IIt 2, 1904.)
Esch (Bendorf).
Bedeutung der Helmstätten im Kampf gegen die
Tuberkulose. Von Dr. Elkan, leit. Arzt der
Heimstätte Gütergotz.
Die Heimstätten sollen nach Elkan zur
Aufnahme solcher Tuberkulösen dienen, deren
372
Referate*
[Therapeutische
Monatshefte.
Leiden für die Aufnahme in Heilstätten schon
zu weit vorgeschritten ist, dos aber noch Aus-
sicht auf Herstellung einer Erwerbe-
fähigkeit bietet. Es sind also eigentlich
Heilstätten mit etwas weniger strenger Auswahl
der Patienten. Außerdem sollen sie grössere
Einfachheit zeigen als die ersteren. — Es wäre
wohl zu wünschen, daß diese Heimstättenprin-
zipien auch für die Heilstätten maßgebend wür-
den. Ob allerdings die nach Elkan in den
Heimstätten üblichen 6 Mahlzeiten und 3 1 Milch
pro Tag für die Patienten nötig und nützlich
sind, erscheint zweifelhaft (Ref.).
(Zeüschr. f. Tuberk. u. Heust., Mai 1903, IV, 4.)
Esch (Bendorf).
Antipyretische Behandlung der Phthisiker. Von
Dr. A. Sokotowski.
Mit Rücksicht darauf, daß die Fieberinten-
sität der Phthisiker im engen Zusammenhange
steht mit der Einwirkung der Toxine auf den
Organismus, kommt der antipyretischen Behand-
lung ein besonderer Wert zu. So lange kann
nämlich von einer Heilung oder selbst entschei-
denden Besserung keine Rede sein, bis nicht,
wenngleich zu Beginn zeitweise erscheinend, Re-
missionen eintreten. Wenn man aber sich die
Frage vorlegt, ob die verschiedenen angewandten
Mittel was nützen, und ob die bloß die Tempe-
ratur herabsetzenden, aber nicht die Toxine ver-
nichtenden Eingriffe nicht den ganzen Körper
eher schwächen, so tritt damit die Frage in den
Vordergrund, ob und wann eigentlich eine anti-
pyretische Behandlung bei Tuberkulösen ange-
zeigt ist.
Verf. unterscheidet zweierlei Typen fiebern-
der Phthisiker. Die einen, die die Fiebertempe-
raturen sehr gut vertragen, sie sind dabei bei
Appetit, schlafen gut, sind guter Laune, bloß
die fortschreitende Abmagerung gibt von dem
Fortglimmen des Prozesses Kunde; die anderen
leiden stark unter dem Einflüsse der erhöhten
Temperaturen, verlieren den Appetit, Schlaf und
fühlen sich krank und müde.
Bei den ersteren rät Verf. von jedem tem-
peraturherabsetzenden Eingriff ab; die Erfahrung
lehrt, daß der Zustand solcher Kranken sich bloß
durch Freiluftliegen bedeutend bessert, so daß
das Fieber langsam nachläßt, bis es ganz ver-
schwindet.
Die zweite Kategorie verlangt einen thera-
peutischen Eingriff, der antipyretisch und zu-
gleich den Allgemeinzustand bessernd wirken soll.
Zu diesen Eingriffen zählt Verf. in erster
Reihe die Freiluftkur, nach Anwendung welcher
er eklatante Erfolge gesehen hat. Dabei werden
hydriatische Prozeduren — Abwaschungen mit
14 bis 15 grädigem Wasser — ferner Eis-
umschläge auf den Thorax angewendet.
Zu den Arzneien übergehend, lobt Verf. eine
Kombination von Chinin und Salol, etwa: Chinin,
sulf. 0,25, Saloli 0,50, Coffein, citric. 0,1. D. S.
2 Pulver täglich, oder Natr. salicyl. in der
Form der Kote Hoedermakars Pillen: Acid.
arsenic. 0,01, Natr. salicyl. 10,0, Amyli q. 8.
Mf. ope aq. dest. q. s. pill. No. 100. Ne con-
sperga8. 3 mal tägl. 2 — 5 Pillen.
Von den anderen Antipyreticis, die Verf.
nach der Reihe vornimmt, hat er keine kon-
stante Wirkung konstatieren können.
(Medycyna, No. 1 ex 1905.) Gabel (Lemberg).
(Ana der III. med. Klinik de* HofratM t. 8 ehr 6t t er.)
Ober die Behandlung chronischer Bronchitiden
und solcher mit beginnender Tuberkulös« mit
Kalium sulfo-guajacolicum (Sorisln, Sirupna
Kai« sulfo-guajacolicl). Von Dr. Heinrich
Kümmerling.
Kümmerling hat mit einem Guajakol-
präparat Versuche angestellt. Es ist dies das
Kalium sulfo-guajacolicum, dessen medizinische
Zubereitung eine 10 proz. Lösung in Sirup,
aurantiorum das „Sorisin" bildet. Das Kalium
sulfo-guajacolicum ist eine Schwefel Verbindung
des Guajakols, und zwar das Kaliumsalz der
Paraguajakol8ulfosäure — ein weißes, in Wasser
lösliches Pulver, das keine giftigen Eigenschaften
hat und 52 Proz. Guajakol enthält. Kümmer-
ling hat das „Serisin" auf der in. med. Klinik
in Wien bei subakuten und chronischen Bron-
chialkatarrhen und in 4 Fällen seiner Privat-
praxis versucht. Er ließ bei letzteren 3 mal
täglich 1 Kaffeelöffel (pro dosi 0,70 g Kai. sulfo-
guajacolic. in Sirup, aurant.) nehmen. Die Pa-
tienten vertrugen das Mittel gut, und das All-
gemeinbefinden besserte sich allmählich. Der
Husten wurde seltener, und nach 3 — 5 Wochen
waren die Katarrhe gewichen. — Von den
20 auf der. med. Klinik beobachteten Fällen führt
Kümmerling 3 im Auszuge an. Bei der An-
wendung des Sorisin fiel ihm die raschere Besse-
rung des bronchitischen Prozesses, des Allgemein-
befindens und besonders des Appetits auf. Ins-
besondere scheint ihm die Besserung der Bron-
chitis bei gleichzeitiger Tuberkulose von Belang.
(Wien. med. Wochenschr. 1905, No. 17.) R.
Ober chirurgische Behandlung der Kehlkopf-
Tuberkulose. Von Geh. Hofrat Dr. Krieg
(Stuttgart).
Für das beste Mittel gegen Kehlkopf-
Tuberkulose hält Krieg die Galvanokaustik.
Sie ist an allen Stellen des Kehlkopfs vom
Rande der Epiglottis bis zum subglottischen
Raum anwendbar, sie zerstört alles, was man
will, lädiert nichts, was man nicht will, ver-
meidet Blutung und stärkere Schmerzen und
wird gut vertragen; nur erfordert ihre An-
wendung eine sehr geübte Hand. 60 Fälle von
etwa 200, welche Krieg in Behandlung be-
kommen hat, werden in einer Tabelle als geheilt
aufgeführt. Aber auch denjenigen, welche sn
völliger Heilung nicht mehr gelangen konnten,
wurde nach Ansicht des Verfassers durch die
chirurgische Behandlung fast immer genützt:
Schmerzen und Schluckbeschwerden wurden ge-
lindert und infolgedessen das Allgemeinbefinden
gehoben.
Das Ideal einer Behandlung der Kehlkopf-
Tuberkulose würde nach Krieg darin bestehen,
daß man nach dieser chirurgischen Tätigkeit die
Patienten unter Fortfall der Berufsschädlichkeiten
in ein Sanatorium, womöglich im Höhenklima,
schickt, wo ihnen als weiteres Unterstütznnge-
XIX. Jahrgang. 1
Jall 1»0Ä. J
Referate.
373
mittel der Kur Tuberkulineinspritzungen verab-
folgt würden.
(Archiv für LaryngologU, Bd. 16, 2.)
Krebs (Hildesheim).
Operationsregeln für die Heilung der generali-
eierten akuten eitrigen Meningitis. Von
Marcel Lermoyez, Vorsteher der otolog.
Abteil, des Hospitals St Antoine, und Leon
Beilin, Assistent.
Die Frage der chirurgischen Behandlung
der otogenen akuten eitrigen Meningitis ist keine
spezielle Angelegenheit der Otologen, sondern
yon großer allgemeiner Bedeutung. Die Autoren
betonen, daß beispielsweise in Paris nach den
Ausweisen der Statistik jede Woche 15—20 Per-
sonen an dieser Meningitis sterben. Und nicht
viel anders wird es wohl in anderen Großstädten
liegen. Demgegenüber steht die Tatsache, daß
diese bisher als fast absolut tödlich betrachtete
Krankheit auf operativem Wege in der Mehr-
zahl der Fälle sehr wohl heilbar ist, wenn sie
früh genug erkannt und der entsprechenden Be-
handlung unterworfen wird. Im Anschluß an 2
von den Verfassern beobachtete und erfolgreich
operierte Fälle derartiger otogener Meningitis
versuchen nun die Verfasser, in vorliegender
Arbeit eine Anzahl allgemeiner Regeln für die
Art des Vorgehens in ähnlichen Fällen festzu-
stellen: Werden wir zu einem Kranken mit
akuter Meningitis gerufen, die im Anschluß an
eine Mittelohreiterung entstanden ist, und ist
die Diagnose durch Otoskopie und Lumbal-
punktion festgestellt, so ist unsere erste Auf-
gabe, den primären Eiterherd im Felsenbein zu
öffnen und auszuräumen. Hieran soll sich un-
mittelbar eine Kraniotomie schließen durch Fort-
nahme eines genügend großen Stückes vom
Dache des Antrum, um die äußere Fläche der
Dura näher besichtigen zu können. Durch dieses
Vorgehen ist einmal die Möglichkeit gegeben,
etwaige extradurale Eiteransammlungen an dieser
Stelle zu entleeren, ferner das unter dem abnorm
starken Druck des im Übermaß abgesonderten
Liquor cerebrospinalis stehende und dagegen
außerordentlich empfindliche Gehirn von diesem
Druck zu entlasten. Die Dura selbst soll zu-
nächst unberührt bleiben, ausgenommen, wenn
außer einer Fistel in derselben Eiter sickert,
oder — bei Meningitis ein sehr seltener Fall
— , wenn gleichzeitig ein Gehirnabszeß vorhanden
ist. Denn ein Einschnitt in die Dura mater ist
unter allen Umständen eine sehr viel ein-
greifendere Operation und andrerseits liegen
mehrere Beobachtungen vor, wonach lediglich
durch das Evidement des Felsenbeins in Ver-
bindung mit der Kraniotomie eine otogene Me-
ningitis geheilt wurde. Sollte aber nach Ver-
lauf von 48 Stunden der Zustand des Kranken
sich nicht gebessert haben, oder die Meningitis
erst eintreten, nachdem wegen einer lokalen
Affektion des Felsenbeins das Evidement und
die Kraniotomie bereits ausgeführt waren, so
inzidiere man ohne Zögern die Dura, und zwar
durch einen ausgiebigen Kreuzschnitt. Ist dies
geschehen, so mache man sofort eine oder
mehrere Punktionen in den Temporallappen.
Diese sind ungefährlich, sobald man nur ein
stumpfes Instrument benutzt, das die Nerven-
fasern der weißen Hirnsubstanz nicht schneidet,
sondern auseinanderdrängt, also etwa eine kanne-
lierte Sonde, die natürlich aseptisch sein muß,
und sobald man nicht über Eiter in die Tiefe
dringt. Diese Punktion hat den Zweck, den
Seiten Ventrikel zu entleeren, falls er durch
hydropische Flüssigkeit ausgedehnt sein sollte.
Nicht selten entleert sich durch die Punktions-
öffnung ein latenter Hirnabszeß. Gleichzeitig
erfordert aber die Behandlung der Meningitis
wiederholte Lumbalpunktionen. Es sollen jedes-
mal wenigstens 15 com Flüssigkeit entleert
werden, und die Punktion ist stets zu wieder-
holen, sobald die dadurch erzielte Besserung im
Befinden des Kranken wieder zurückzugehen
droht. Bessert sich der Kranke, so klärt sich
der Liquor progressiv, und seine Spannung nimmt
ab. In ihm enthaltene Mikroben verschwinden,
die anfangs reichlichen vielkernigen Leukozyten
nehmen ab, werden durch Lymphozyten ersetzt
und verschwinden endlich ganz. Hand in Hand
geht damit eine Besserung der klinischen Sym-
ptome. Häufig findet man bei den otogenen
Meningitiden auch Caries des Labyrinths. Dieser
gegenüber raten die Verfasser, sich exspektativ
zu verhalten, selbst wenn bereits nekrotischer
Knochen am Boden der Wunde vorhanden sein
sollte. Wie die Erfahrung zeigt, besorgt die
Natur selbst am schonendsten die Loslösung und
Ausstoßung der sich bildenden Sequester.
(La Presse medic. 1904, No. 85.)
Ritterband (Berlin).
Die Bekämpfung der Knochen- und Gelenk-
tuberkulose im Kindesalter. Von Prof. Dr.
A. Hoffa-Berlin, Direktor der Universitäts-
Poliklinik für Orthopäd. Chirurgie.
Alle Erfahrungen, die über die Behandlung
der lokalen chirurgischen Tuberkulose der Kinder
in den letzten 25 Jahren gewonnen worden sind,
lehren, daß diese Behandlung eine möglichst
konservative sein soll. Die Mortalität ist
annähernd gleich groß bei konservativer wie bei
chirurgischer Behandlung, die funktionellen End-
resultate dagegen sind bei der ersteren ungleich
viel günstiger als bei dieser, wie Hoffa, der
die Periode der rein chirurgischen Behandlung
der Knochen- und Gelenktuberkulose mittels
Resektion oder Arthrektomie der Gelenke mit-
erlebt hat, auf Grund ausgiebiger Erfahrung
und zahlreicher Nachuntersuchungen derartiger
Patienten versichern kann. Ruhigstellung, Ent-
lastung (d. h. Ausschaltung aus der Funktion)
und Distraktion der Gelenkenden sind neben der
Ausnützung aller herbeiziehbaren hygienischen
Faktoren die Grundprinzipien der konservativen
Behandlung.
Kinder, die an Knochen- und Gelenktuber-
kulose leiden, pflegt man in neuester Zeit mehr
und mehr den Seehospizen zuzuführen. Ein Er-
folg ist aber nur bei dauerndem, möglichst
einige Jahre hindurch währendem Aufenthalt in
solchen einigermaßen zu garantieren. Die so zu
erzielenden 80 Proz. Heilungen und 12 Proz.
Besserungen reduzieren sich auf 30 Proz. Heilun-
374
Referate.
t Therapeutische
gen udcI Beserungen beim Aufenthalt in solchen
Hospizen, die nur Sommerbetrieb haben. Des-
halb plädiert Verf. für die Errichtung spezieller
Heilstätten für an Knochen- und Gelenk tuber-
kulöse leidende Kinder, die seiner Ansicht nach
nicht durchaus an der Seeküste zu liegen
brauchen, sondern vielmehr ganz vorteilhaft in
der Nähe größerer Städte geschaffen werden
könnten. Der Bau einer derartigen Heilstätte
wird im Anschluß an die Viktoria-Luisen-Kinder-
heilstätte für lungenkranke Kinder zu Hohen-
lychen bei Templin (Mark Brandenburg) dem-
nächst in Angriff genommen.
(Tuberkulosis. Monatsschrift des internationalen Zen~
tral-Bureaus ssur Bekämpfung der Tuberkulose, Vol. TV,
1905, No. 1.) Eschle (Sinsheim).
Ober den Einfluß großer FlOssigkeitsmengen auf
das Herz. Von Dr. Georg Keferstein in
Lüneburg.
Die bekannten, durch die klinische Beob-
achtung und durch das Experiment ermittelten
Tatsachen sprechen nach Keferstein dagegen,
daß Herz Veränderungen, die das bekannte Bild
des „Bierherzens" zeigen, nur durch übermäßige
Flüssigkeitsaufnahme zustande kommen können.
Gegenüber den pseudo-physikalischen Erklärun-
gen, die in letzter Zeit von gewisser Seite bei-
gebracht wurden, um die Herz Wirkung des Al-
kohols zu deduzieren, verhält sich Verf. erfreu-
licherweise durchaus ablehnend. Wenn auch er
hervorhebt, wie weit wir noch davon entfernt
sind, aus der Hydrodynamik allein Kreislaufs-
störungen berechnen und erklären zu können,
und wie die rein mechanische Auffassung des
Kreislaufes und der Herztätigkeit geeignet ist,
uns auf Abwege und unhaltbare Scheinerklä-
rungen zu bringen, so stützt Keferstein sich
hierbei auf die Arbeiten 0. Rosenbachs1) und
R. Tigerstedts2).
(Zeitschr. f. diätet. und physikal. Therapie, Bd. VIII,
1904-1905, H. 4.) Eschle (Sinsheim).
Das Opocerebrln bei Epilepsie. Von Dr. T. Za-
pinski.
In zwei Fällen von Epilepsie wurden 0,3 g
Opocerebrin täglich angewendet — ohne jedweden
Erfolg.
Der erste Fall betraf einen 34 jährigen
Epileptiker, bei dem man pro die dreimal 1,0 Natr.
bromat., Enthaltsamkeit von Fleisch und Salz,
sowie die oben erwähnten Gaben von Opocerebrin
anwandte. Trotzdem traten die Anfälle fast
wöchentlich auf. Der zweite Fall verlief ganz
analog.
(Medycyna No. 16, 1904.) Gabel (Lemberg).
Der hellende Einfluß eines Erysipels auf atro-
phische Rhinitis. Von Dr. Valentine Levi.
Ein Patient, der seit mehreren Jahren an
atrophischer Rhinitis mit Ozaena litt und mehr-
fach mit geringem Erfolg, zuletzt mit Kauteri-
!) U. a. 0. Rosenbachs Artikel in der Münch.
med. Wochenschr. 1901, S. 534.
2) R. Tigers te dt, Über den Lungenkreislauf.
Skandin. Arch. f. Physiologie 1903, Bd. 14, S. 259.
sation behandelt war, wurde innerhalb eines
Monats dreimal von Erysipel befallen. Jedes-
mal ging es von der Nase aus, das erste Mal
war es am heftigsten und breitete sich bis zum
rechten Ohr aus. Während dieser Erkrankung
bemerkte der Patient, daß die Nase freier und
der Ausnuß geringer wurde. Schon nach Ab-
lauf des ersten Erysipels war die Ozaena geheilt.
Nach dem dritten Anfall war auch die atro-
phische Rhinitis geschwunden; statt dessen be-
stand Schwellung der Nasenschleimhaut und
Hypertrophie der Muscheln rechterseits.
Ohne auf eine Erklärung dieses Heilungs-
vorgangs näher eingehen zu wollen, macht Levi
nur darauf aufmerksam, daß die Rhinitis und
das Erysipel zwei in ihrem Wesen entgegen-
gesetzte Krankheiten sind: die eine besteht in
Anämie und Atrophie, die andere in Hyper-
ämie und Schwellung. Es liegt also nahe, an
einen Antagonismus der beiden Krankheitserreger
zu denken.
(Therapeutic gaaette 1904, No.3.)
Glossen (Grube i. H.).
(Aus der piycbUtrischen Klinik In Bonn.)
Ober perkutane Wirkung eines Schlafmittels
(Isopral). Von Dr. R. Foerster.
Foerster hat die Beobachtung gemacht,
daß ein Schlafmittel wie das Isopral auch bei
perkutaner Anwendung eine hypnotische bezw.
sedative Wirkung zu entfalten vermag. Als
zweckmäßig fand er folgende Mischung:
Olei Ricini
Alcohol. abs. aä 10,0
Isopral 30,0.
Die Applikation geschieht in der Weise,
daß das gewünschte Quantum der Isoprallösung
auf der Körperhaut — des Oberarmes und bei
mageren Personen des Oberschenkels — ein-
gerieben wird, und zwar nicht zu lange, damit
keine v stärkere Verdunstung eintritt. Alsdann
Bedeckung der benetzten Hautpartie mit Gutta-
percha und Befestigung mittels Binde. Die
Bedeckung wird nicht vor Ablauf von 1 bis
V/2 Stunden entfernt. Es wurden in dieser
Weise bei 38 weiblichen Personen 140 Ein-
reibungen vorgenommen, indem mit kleinen
Dosen begonnen und vorsichtig gestiegen wurde.
Das eingeriebene Quantum wurde im Meßzylinder
abgemessen und entsprach einer Dosis von 1 — 5 g
des Präparates. Über 5,0 Isopral 2 mal pro die
ist Foerster nicht hinausgegangen. Bei einem
Drittel der Versuchspersonen war ein positiver
Erfolg zu verzeichnen, bei einem Viertel war
er weniger ausgesprochen und beim Rest negativ.
Der Schlaf tritt gewöhnlich nicht vor Ablauf
von Yj — 2 Stunden ein und hält durchschnitt-
lich 4 — 7 Stunden an.
(Münch. med. Wochenschr. 20, 1905.)
R.
Ober die Wirkung einiger gechlorter Alkottolc
Von E. Frey.
Der Verfasser hat das Chloralhydrat , das
Butylchloralhydrat, das Chloreton und dasChloral-
aceton chloroform (Cloran) in ihrer Wirkungs-
weise verglichen.
XIX. Jahrgang. 1
Jnli 1905. J
Referate.
375
Die hypnotische Wirkung des Chloralhydrats
setzt ziemlich spät ein, sie geht aber bald in
vollständige Narkose über.
Nach Ghloreton tritt nach geringer Gabe
schon Schlaf ein ; durch Vergrößerung der Dosen
laßt sich eine Narkose nicht erreichen; dasselbe
gilt für das schwer lösliche und langsam resor-
bierbare Clor an und auch für das Butylchloral.
Beim Isopral ist dagegen die Narkose leichter
zu erreichen.
Der Blutdruck wird durch alle diese Mittel
mehr oder weniger herabgesetzt; die Atemfrequenz
wird erniedrigt.
Die Herabsetzung der Pulsfrequenz ist recht
unbedeutend.
Chloreton und Isopral besitzen eine lokal-
an&sthesierende Wirkung; bei den übrigen Mitteln
ist diese Eigenschaft weniger deutlich entwickelt.
Das Isopral hat den weitesten Spiel-
raum zwischen Dosis letalis und Dosis
efficax sowie zwischen Dosis efficax und
Dosis narcotica; es hat eine prompte Wir-
kung bei geringster Gefährlichkeit.
Das Dormiol kann nicht in so verschiedenen
Dosen gereicht werden, ohne daß die Grenze der
Ungefährlichkeit überschritten wird.
Das Cloran erreicht ebenfalls die Gaben-
breite des Isoprals nicht; wegen seiner Unlös-
lichkeit tritt seine Wirkung nur sehr langsam
ein. Will man schnell Schlaf erzeugen, so wird
man ein leicht lösliches, prompt wirkendes Schlaf-
mittel geben, das Isopral.
Handelt es sich aber darum, den Schlaf zu ver-
längern bei zu frühem Erwachen, so wird man
das spät wirkende Cloran anwenden können.
(Arch. iniern. de Pharm, et de Ther. Vol. XIII, p. 45.)
Dr. Impens (Elberfeld).
(Ana der k. k. Unlversitltakllnlk fflr Geiehl«ehu- und Haut-
krankheiten in Wien. Vont Prof. Dr. B. Finger).
l. Ober kutane Darreichung von Jodpräparaten.
Von Dr. B. Lip schütz. Archiv für Dermatol.
u. Syphilis, Bd. 74, Heft 2—3, S. 265.
(Aas der Abteilang für Haut- und Oeeohlechtskrankheiten
des Trieeter ZlTilapltalei, Primararzt Dr. Nico lieh).
a. Daa Jothion, ein neues Jodpräparat aar per-
kutanen Applikation. Von Dr. Carlo Ra-
vasini und Dr. Ugo Hirsch. Ebenda S. 295.
3. Jothion, ein perkutan anzuwendende« Jodprä-
parat. Von G. Wesenberg. Ebenda S. 301.
4. Zur Anwendung des Jothions. Von Prof.
Dr. Dreser. Berliner klinische Wochenschrift
No. 23, 1905, S. 716.
1. In seinen Studien über die Absorptions-
fähigkeit der menschlichen Haut für Jodpräparate
geht B. Lipschütz zunächst vom Jöthion aus.
Wird Jothion auf die anverletzte Haut ent-
weder leicht aufgepinselt oder, auf Gaze auf-
geschüttet, auf die Haut appliziert, so läßt sich
schon nach kurzer Zeit im Harn und Speichel
mittels der Nitritprobe Jod nachweisen. Dieser
Nachweis gelingt auch dann, wenn äußerst ge-
ringe Mengen Jothion (0,005 g) verwendet werden.
Ebenso schnell, wie die Absorption erfolgt, voll-
zieht sich auch die Ausscheidung aus dem Or-
ganismus. Die Aufnahme erfolgt durch' die
Haut und nicht durch die Lungen, wenigstens
ließ sich nach 5 Minuten langem Einatmen der
Dämpfe weder im Nasenschleim, noch Speichel,
noch Harn Jod auffinden. Worden dagegen
10 cem Jodtinktur auf die intakte Haut ge-
pinselt, so fiel die Prüfung des Speichels und
Harns stets negativ aus.
Bei den Jodkalisalben konnte wiederum eine
kutane Jodaufnahme nachgewiesen werden. Die
Salben, welche in der Konzentration von 1, 5
und 10 % m*t Vaselin, Vasogen, Fetron, Vasenol
und Lanolin bereitet waren, wurden auf Flanell
gestrichen auf die Haut appliziert; darüber wurde
ein abschließender Verband angelegt. Die Auf-
nahme ist zunächst von der Einwirkungszeit der
Salbe abhängig; so gab erst 7 stündige Einwir-
kung einer 10 proz. Salbe deutliche Jodreaktion
in Speichel und Harn. Sodann ist sie abhängig
von der Salbenmenge, dem Prozentgehalt an
Jodkali und vom Salbenconstituens. Mit Lanolin
frisch bereitete Salben geben keine Jodreaktion
in Speichel und Harn, ältere Lanolinsalben in
einzelnen Fällen, und zwar, weil in diesen sich
unter dem Einfluß von Wasserstoffsuperoxyd, das
sich in geringer Menge bei Gegenwart von
Wasser und Luft bei der Autooxydation tierischer
Fette bildet, Jod aus dem Jodalkali abspaltet;
die Zähigkeit des frischen Lanolins verhindert
den Eintritt der Luft und somit auch die Jod-
abspaltung. Bei Verwendung von Jodkali vasel in
und -Fetronsalben ist die Reaktion dagegen sehr
deutlich; auch wenn nur 1 g der 10 proz. Salbe
benutzt wird, ist sie angedeutet.
Die Absorption selbst kommt ausschließlich
durch physikalische Vorgänge zustande. Stoffe,
die sich mit den Hautfetten mischen oder in
ihnen lösen, werden absorbiert. Es wird daher
das in Fetten leicht lösliche Jothion rasch auf-
genommen, ebenso das aus den Jodkalisalben
abgespaltene Jod.
Die mit Jothion behandelten 30 Fälle von
tertiärer Lues mit ausgedehnten gummösen Haut-
geschwüren, Ulzerationen der Schleimhäute oder
Schwellung des Periosts, die sämtlich bis auf
zwei zur Heilung gebracht wurden, bewiesen
die therapeutische Wirksamkeit des Präparates.
In einem Drittel der Fälle trat leichter Jodismus
auf, der nach ein- bis zweitägigem Aussetzen
des Jothions wieder schwand. Ein Patient be-
kam nach der 10. Pinselung von je 5 cem Jothion
pro die an der Kreuzgegend ein Erythem und
graubraune Pigmentierungen; es steht jedoch
nicht fest, daß diese Affektion durch Jothion
verurBcht worden ist. Subjektiv machte sich
bei einem Drittel der Patienten Jucken und
Brennen, das in der Dauer von etwa !/j Stunde
stet« erst 1/i — y9 Stunde nach der Einpinselung
sich einstellte, geltend.
Auf Grund dieser Ausführungen empfiehlt
Verf., Jothion überall dort zu verwenden, wo
Jodpräparate per os nicht vertragen werden,
oder wo die innere Darreichung wegen Schluck-
beschwerden oder wegen Sopor auf Schwierig-
keiten stößt; ferner da, wo eine lokale Jod-
wirkung erwünscht ist, weil Jothion sehr rasch und
schon in geringen Mengen absorbiert wird. Soll
die Jodwirkung dagen langsam erfolgen und sich
auf Monate erstrecken, so sind andere Jodprä-
parate, z. B Jodipin, zu wählen.
376
Referate.
[ Tharapeatiscbe
L MowttahefU.
2. Ravasini und Hirsch, die eine 20proz.
Jothion -Vaselin-Lanoiinsalbe benutzten, konnten
in allen Fallen im Harn und Speichel schon
drei Stunden nach der Applikation Jodreaktion
erhalten; nach 24 Stunden fiel sie negativ aus.
Die Reaktion blieb auch negativ, wenn zum
Vergleich Jodtinktur oder Jodkalisalbe benutzt
wurde. • Der Heileffekt war ein guter bei
Lymphadenitis inguinalis nach Ulcus durum und
Ulcus molle, bei Epididymitis gonorrhoica und
bei exulzerierten Gummata; das Mittel versagte
dagegen bei Hodentuberkulose. In drei Fallen
von Gonitis gonorrhoica trat einmal Dermatitis
auf, im zweiten Fall verschlimmerte sich der
Zustand, während im dritten nach 12tägigem
Jothiongebrauch Heilung erfolgte.
3. Die experimentellen Untersuchungen, die
Wesen borg mit Jothion anstellte, ergaben als
Resultat:
a) Es besitzt ein gutes Durchdringungs-
vermögen für die Haut, infolgedessen es rasch
und reichlich vom Körper aufgenommen wird.
b) Infolge seiner leichten Spaltbarkeit durch
den Alkaligehalt der Lymphe und des Blutes
wird es rasch in Jodnatrium übergeführt und
als solches im Harn und Speichel ausgeschieden.
c) Da bei dieser Jodapplikation der Magen-
darmkanal so gut wie völlig ausgeschaltet ist,
werden Verstimmungen in dieser Beziehung nur
selten und in sehr geringem Grade beobachtet.
d) Das unveränderte Jothion besitzt sowohl
gegenüber den als Eitererreger u. s. w. in Betracht
kommenden Bakteiien, wie auch gegenüber den
verschiedenen Fadenpilzen, welche als die Ur-
sachen der verschiedenen .Haut- «und Haarkrank-
heiten bekannt sind, eine starke Desinfektions-
wirkung, und selbst in beträchtlichen Verdünnun-
gen noch entwickelungshemmende Eigenschaften.
4. Die Wirkung des Jothions kommt, wie
D res er ausführt, folgendermaßen zustande: Es
wird allmählich resorbiert und verseift; das an
Ort und Stelle gebildete Jodalkali verbreitet
sich von hier aus, sich dabei fortwährend ver-
dünnend, im Organismus, entfaltet also am
Erkrankungsherd die stärkste Wirkung.
Die Giftwirkung des Jothions läßt sich an
Fischen bestimmen. Rotaugen, in Wasser mit
0,00615 Proz. Jothion gesetzt, zeigen leichte
hypnotische Erscheinungen .'Schwanken, Umfallen
auf die Seite. Auf das Molekulargewicht be-
zogen, erweist es sich 145 mal stärker wirksam
als das Äthyiurethan; eine innere Darreichung
verbietet sich daher, da schon 0,1 g (entsprechend
4 g Urethan) narkotisch wirken würden. Die
subkutane Applikation zeigt denselben Nachteil
und ist obendrein nicht frei von Reizwirkung.
Da ein, wenn auch kleiner, Teil des Jothions
im Harn als organisch gebundenes Jod erscheint,
das therapeutisch unwirksam ist, empfiehlt es sich,
nicht einmal größere, sondern lieber öfters kleinere
Dosen einzureiben. Da zur Tötung einer Katze
0,5 g Jothion pro Kilo, auf der Haut verrieben,
erforderlich sind, so berechnet sich die tödliche
Dosis für den Menschen auf 18 g, vorausgesetzt,
daß die Haut desselben ebenso wie die Katzen-
haut resorbiert.
Jacobson.
Zur Frage der Verwertbarkelt größerer Doten
Olivenöl In der Therapie der Magenkrank-
heiten. Von O. Blum, Berlin.
Nach den Erfahrungen des Yerf. wird das
öl von vielen Kranken nicht gern genommen.
Wegen der nach ihnen eintretenden Beschwerden
sind größere öldosen kaum zu verwenden. In
5 Fällen von Hypersekretion und Hyperchlor-
hydrie wirkte das öl günstig, aber ohne blei-
benden Erfolg. Bei geschwürigen Prozessen
versagte das öl. In 2 Fällen von Pylorusstenose
blieb der Erfolg aus, ebenso in einem Falle von
Pylorospasmus.
(Berl. klin. Wochenschr. 21, 1905.) R.
Septikämie und Collargol. Von Dr. Ribadeau-
D u m a 8 und Dr. B ail 1 e u 1 , Hospital Trousseau,
Paris.
Die Verfasser berichten über vier Fälle von
Septikämie, die sie im Hospital Trousseau mit
Coilargolinjektionen — 5 ccm einer 2 proz. Lö-
sung in eine der Venen der Ellenbogenbeuge —
behandelt haben. Im ersten Fall, wo aus dem
Blut Streptokokken gezüchtet werden konnten,
war die Allgemeininfektion auf eine Phlegmone
der Hand gefolgt und hatte zu einem sehr
schweren Allgemeinzustand mit Fieber von 39,2°
geführt. Die Collargolinjektion ließ bis zum
nächsten Tag die Temperatur auf 38° sinken,
besserte das Allgemeinbefinden, und unter chirur-
gischer Behandlung des Grundleidens erfolgte
ungestörte Heilung. Im zweiten Fall, einer durch
Staphylococcus aureus verursachten Osteomyelitis
mit Septikämie, bewirkte die Operation nur einen
unbedeutenden Abfall der Temperatur von 40,6
auf 39,8°. Da sie von neuem anstieg, wurde
eine Collargolinjektion gemacht, worauf sie von
40,4 auf 38° fiel. Bei einem wenige Tage später
erfolgten neuerlichen Temperaturanstieg hatte
die Collargolinjektion denselben prompten Erfolg.
Ausgang in Heilung. Ebenso günstig verlief
der dritte Fall, auch eine Staphylokokkensepti-
kämie nach Osteomyelitis: das Allgemeinbefinden
hob sich nach der Injektion, die Temperatur
sank von 40 auf 38°, und die schon bestehenden
meningi tischen Symptome verschwanden. Im
vierten Fall, ebenfalls einer nach Osteomyelitis
aufgetretenen Staphylokokkenseptikämie mit Milz-
tumor, Fieber von 40° und sehr schlechtem All-
gemeinbefinden, sank die Temperatur nach' der
sofort gemachten Collargolinjektion auf 37°, hielt
sich auf dieser Höhe, und es erfolgte Heilung,
ohne daß es zu einem chirurgischen Eingriff
gekommen war, während dieser in den drei
ersten Fällen zur Entleerung des angesammelten
Eiters nötig gewesen war.
(Journal des Praticiens No. 15, 1905.) K.
Ein Beitrag zur Collargoltherapie. Von Dr. Ro e a z.
Verfasser wandte wegen der Schwierigkeiten,
die den intravenösen Injektionen bei kleinen
Kindern begegnen, das Collargol in Form einer
7 proz. Salbe (Unguentum Crede auf die Hälfte
verdünnt) an, von der er 1 — 3 g pro Tag
15 Minuten lang in die vorher abgeseifte
und mit Alkohol entfettete Haut der
KU. JafcrgaBg.1
Jnll IWft. J
Referate.
377
Achselgegend einreiben ließ. Die Erfolge
waren äußerst befriedigend in einem Fall reiner*
Diphtherie, einem Fall komplizierter Diphtherie,
einem Scharlachfall, mehreren Fällen von Grippe,
und besonders bei einigen Fällen von Masern -
Bronchopneumonie. Bei drei von dieser letzten
Affektion befallenen Kindern war das Resultat
überraschend: eines von ihnen erkrankte an
Masern nach einer mit Lungenerscheinungen
komplizierten Grippe und befand sich in einem
schlechten Allgemeinzustand (doppelte Broncho-
pneumonie, zahlreiche Sekundärinfektionen); hier
führte das Coliargol in wenigen Tagen die Ge-
nesung herbei. Bei zwei andern, schlecht ge-
nährten fandern änderte sich das Krankheitsbild
auf Collargolanwendung in derselben Weise.
Verfasser glaubt daher, daß das Coliargol in
der Kinderheilkunde ein ausgedehntes Indi-
kationsgebiet finden wird.
(Gas. des Höp. de Toulouse No. 35, 1905.) K.
Ober zwei erfolgreich mit Unguentum Credo* be-
handelte Fälle von Sepsis puerperalis. Von
Dr. Engel.
Im ersten Fall handelte es sich um eine
septische Peritonitis (hochgradiger Meteorismus,
Erbrechen, Fieber, kleiner, sehr frequenter Puls),
wo die vom ersten Krankheitstag an täglich vor-
genommene Einreibung der Oberschenkel mit
Ungt. Crede binnen einer Woche zur Entfieberung
und Heilung führte. Ein zweiter Fall, eine venöse
Form der Sepsis puerperalis, heilte binnen vier
Tagen unter täglichen Einreibungen der Bauch-
haut mit je 3 g Ungt. Crede.
(Österr. Ärztezeitung No. 3, 1905.) K.
Collargolpinselungen bei Angina and Diphtherie.
Von Dr. K. Justi in Hongkong.
Da das in Hongkong zu erlangende
Diphtherieheilserum infolge der langen und
heißen Reise nur in einem sehr fragwürdigen
Zustand zur Verwendung kommen kann, hat
Justi auf dasselbe von vornherein verzichtet.
Dafür hat er in zahlreichen Fällen von Angina
follicularis und bei einigen Fällen von Diphtherie
des Isthmus faucium Pinselungen mit einer 5 proz.
wässerigen Collargollösung vorgenommen. Die
erzielten Resultate waren sehr ermutigend. Die
Pinselungen, welche mindestens 3 mal täglich
vorgenommen werden müssen, sind nicht schmerz-
haft und werden stets gut vertragen.
(Münch. med. Wochenschr. 49, 1904.) R.
Ober die therapeutische Anwendung Ton Triferrol.
Von Dr. Josef Reichelt (Wien).
Das Tri ferrin ist eine Verbindung von Eisen
und organisch gebundenem Phosphor im Verhältnis
Ton 10:1. Die schwach weingeistige 1,5 proz.
Lösung, Triferrol oder Essentia Triferrini aro-
matica genannt, ist eine haltbare, angenehm
schmeckende Flüssigkeit, welche 0,33 Proz. Eisen
und 0,033 Proz. Phosphor enthält.
Reichelt hat Triferrol in 20 Fällen von
Anämie (Chlorose, Anämie nach Ulcus ventriculi,
tuberkulöse und skrofulöse Anämie) gereicht und
lobt das Präparat, das, abgesehen von einem Fall
hochgradiger Chlorose und Mitralinsuffizienz, stets
gut vertragen wurde, als sicher wirkendes Mittel.
Bei Chlorose war der Erfolg am meisten ersicht-
lich: Aussehen und Appetit besserten sich, der
Hämoglobingehalt stieg an und das Körpergewicht
nahm zu. Ganz besonders trat eine günstige
Wirkung auf das Nervensystem hervor: die
depressive Stimmung der Pat. machte einer
heiteren und fröhlichen Platz.
Die Dosis betrug bei Erwachsenen 1 — 2 Eß-
löffel dreimal täglich, bei Kindern 2— 4 mal ein
Kaffeelöffel.
(Wiener klinAherapeut Wochenschr. 1904 f No. 44.)
Jacobson.
i. Die Verwendung von Balemmum peruvlaoum
bei der Wundbehandlung« Von Dr. Fritz
Burger (Koburg). München er medizinische
Wochenschr. No. 48, 1904.
(Ans der medizinischen Abteilung dee Krankenhantee der
barmherzigen Brüder In Oms, Primarius Prof. Dr. t. Hoff er).
a. Die Verwendung des Baleamum peruvtanum
bei der Wundbehandlung. Von Volontärarzt
Dr. R. Petretto. Mfinchener medizinische
Wochenschr. No. 52, 1904.
3* Noch eine Mitteilung Ober Baltamum peruvta-
num« Von Dr. Unschuld, Neuenahr. Mün-
chener medizinische Wochenschr, No. 13, 1905.
4* Die Verwendung dea Baltamum peruvtanum
bei der Wundbehandlung. Von Dr. Conrad
Frank, München. Münchener medizinische
Wochenschr. No. 16, 1905.
1. Bei tiefen Riß- und ausgedehnten Quetsch-
wunden führt die Behandlung mit Sublimat,
Airol, Jodoform oder Borsalbe nur langsam zur
Heilung. Viel schneller wird nach Burger
dieser Erfolg durch Verwendung von Perubalsam
erreicht. Die Wunden werden nach Entfernung
der gröbsten Verunreinigungen mit Sublimat-
lösung durchspült, sodann mit reinem Perubalsam
beträufelt und mit von Perubalsam durchfeuch-
teter Gaze, die jeden zweiten oder dritten Tag
gewechselt wird, verbunden. Unter der Ab-
spaltung von Zimmtsäure schießen rasch üppige
und straffe Granulationen hervor, und die Heilung
geht schnell und glatt von statten. Der Verband-
wechsel vollzieht sich rasch, da ein Verkleben
der Verbandgaze mit den Wundrändern nicht
stattfindet. Auch bei ' Ulcera cruris ist der
Balsam zur Beförderung der Granulation recht
brauchbar.
2. Bei chronischen Untersehenkelgeschwüren,
selbst in schweren Fällen, bei welchen sonst die
Amputation als äußerstes Mittel in Frage kommt,
bedient ' sich Petretto einer Perubalsamsalbe
von folgender Zusammensetzung:
Rp. Argenti nitrici 0,30
Baisami peruviani 6,00
Unguenti simplicis 90,00.
Unter der Anwendung der Salbe, welche
auf Gaze oder Leinwand gestrichen appliziert
wird, reinigen sich die Geschwüre rasch, die
Sekretion schwindet, und bald bilden sich schöne,
straffe Granulationen, die zur Heilung führen.
3. Auch Unschuld verwendet den Peru-
balsam mit bestem Erfolge bei dem Mal per-
forant der Diabetiker. Überraschend schnell
macht sich Tendenz zur Besserung geltend, und
378
Referat«.
fTharapeutltcfcflk
io vielen Fällen laßt sich durch diese Behand-
lung die vollständige Schließung des Geschwürs
erreichen. Je nach Beschaffenheit der Fälle
kann man den Perubalsam, der als reizendes
und tonisierend wirkendes Lokalmittel zu be-
zeichnen ist, entweder rein, mit Spiritus ver-
dünnt oder in Lanolinsalben benutzen.
4. Frank hat in einem Fall von Ulcus
cruris, der sich jahrelang den verschiedensten
Behandlungsmethoden gegenüber refraktär erwies,
unter Verwendung von Perubalsam innerhalb
5 Wochen vollständige Heilung erzielen können.
Schon beim 3. Verbandwechsel wurden an dem
bisher torpiden Geschwür Granulationen sicht-
bar, und bald erfolgte auch von der Peripherie
her Überhäutung. Jacobson.
Sanoform als WundheümltteL Von Dr. F. Bur-
chard (Berlin).
Das 1896 in die Praxis eingeführte Sano-
form hat dem Jodoform sich vollständig eben-
bürtig gezeigt, „ohne auch nur eine von seinen
unangenehmen Eigenschaften zu besitzen". Von
vielen günstigen Fällen der Sanoformbehandlung
führt Burchard 8 Fälle an, die nach Jodoform
mehr oder weniger starke Entzündungs- und
Reizerscheinungen zeigten und auf einmal auf
Sanoformgaze oder -pulver sehr schnell aus-
trocknend und ausheilend reagierten. Ferner
ist auch ein Fall von Ulcus molle bei einem
jungen Mädchen hervorzuheben, wo ganz schnell,
aber erst nach Sanoform eine Granulationsbil-
dung am Grunde des Geschwürs eintrat; ebenso
bemerkenswert war der Erfolg mit Sanoform
bei dem Ulcus varicosum cruris von Handteller-
größe einer 42jährigen Frau, das über ein Jahr
bestanden hatte.
(Deutsche med. Wochenschr. 1904, No. U.)
Artkur Rahn (ColimJ.
(Au* dem PharmakologiMheai Ixutitnt der UnlTenftlt Berlin.)
Pharmakodynamische Studien über Euphthalmin.
Inaugural- Dissertation, Berlin 1904. Von
Theodor Mironescu aus Rumänien.
Die Untersuchungen haben ergeben, daß das
Euphthalmin, welches als sicher wirkendes My-
driatikum praktische Verwendung findet, verhält-
nismäßig wenig giftig ist. Die tödliche Dosis
beträgt für mittelgroße Frösche 0,2 g, für Kanin-
chen liegt sie pro kg Körpergewicht bei sub-
kutaner Injektion zwischen 1 und 1,5 g, bei
intravenöser Einspritzung zwischen 0,06 und
0,07 g. Die Erscheinungen sind bei Fröschen
allgemeine zentrale Lähmung, unregelmäßige,
schwache Herzaktion, diastolischer Herzstillstand,
bei Kaninchen Dyspnoe, Lähmungserscheinungen,
Krämpfe, Pupillenerweiterung, Tod durch Herz-
lähmung. Bei intravenöser Injektion tritt der
Tod sehr schnell ein.
Es hat sich ferner gezeigt, daß das Euph-
thalmin nicht nur die mydriatische Wirkung
mit dem Atropin teilt, sondern daß es auch
sonst dem Atropin ähnlich wirkt. Es lähmt die
Vagusendigungen im Herzen, hebt die Pilokarpin-
wirkung und die Wirkung des Physostigmin auf
den Darm auf. Riegel hat bei Hunden mit
Pawlowscher Magen fistel gefunden, daß Atropin
die Magensaftsekretion vermindert und fast auf-
hebt, Langgaard konnte für Euphthalmin das
gleiche feststellen. Es sind nur weit größere
Dosen notwendig als vom Atropin.
Ein Unterschied von der Wirkung des Atro-
pins besteht darin, daß Euphthalmin in größeren
Dosen eine durch Beeinflussung der exzitomoto-
rischen Ganglien oder des Herzmuskels bedingte
Pulsverlangsamung erzeugt.
(Da Euphthalmin in ähnlicher Weise die
Drüsentätigkeit beeinflußt wie Atropin, so wäre
es bei Nachtschweißen zu versuchen. Ref.)
rd.
Blufreranderungen infolge Ton Atheranisthesle
beim Menschen und bei niederen Tieren.
Von Dr. J. M. Anders und Dr. L. Napo-
leon Boston in Philadelphia.
Daß die Äthernarkose bei anämischen Indi-
viduen bedenklich ist, weil sie den Hämoglobin-
gehalt des Blutes herabsetzt, ist schon von ver-
schiedenen Seiten hervorgehoben worden. Die
Untersuchungen der V.erff. bieten deshalb Inter-
esse, weil sie diese Tatsache von neuem be-
stätigen. Sie haben an Kaninchen experimentiert
und auch an narkotisierten Menschen Unter-
suchungen angestellt. Der Hämoglobingehalt
des Blutes wurde jedesmal vor Einleitung der
Äthernarkose festgestellt und in normalen Grenzen
gefunden. Durch in kurzen Zeiträumen wieder-
holte Untersuchungen wurde die fortschreitende
Abnahme des Hämoglobins festgestellt. Der
stärkste Abfall fand in den ersten zwanzig
Minuten statt; zwischen 24 und 30 Stunden
später war der niedrigste Stand. Bei Kaninchen
und Menschen war er annähernd gleich. Bei
den Tieren wurde außerdem noch beobachtet,
daß bei mehreren Narkosen, die unmittelbar nach
Wiederherstellung des HämoglobingehalU aus-
geführt wurden, das Hämoglobin nicht mehr in
demselben Maße sank wie bei der ersten. —
Die roten Blutkörperchen nahmen an Zahl zu;
diese Vermehrung ging mit der stets auftretenden
Narkose Hand in Hand. Dabei zeigten sie auch
degenerative Veränderungen. — Die weißen Blut-
körperchen waren in einigen Fällen vermehrt,
in anderen nicht.
(Therapeutic gazette 1904, No. 11.)
Classen (Grube i. H).
Die Röntgenstrahlen und die ärztliche Hilfelelatung
im Kriege. Von Dr. H. Higier.
Die Röntgenoskopie wurde bis jetzt 5 mal
auf dem Schlachtfelde erprobt, das erste Mal ein
Jahr nach der Entdeckung 1896 im Kriege gegen
Abessinien von den Italienern, das zweite Mal
1897 im griechisch-türkischen Kriege, woselbst
Küttner reiche Erfahrung in Konstantinopel
sammelte, das dritte Mal 1898 während des
Marsches der Engländer nach Sudan, das vierte
Mal 1899 im spanisch-amerikanischen Kriege,
schließlich das fünfte Mai 1900 im Feldzuge
gegen die Boers. Gegenwärtig wird in Ostasien
die Erfindung das sechste Mal in Anwendung
gezogen.
Verf. betont, daß das schwerste Problem
bei Anwendung der Apparate im Felde, die Be-
XIX. Jahrgang."!
Juli 1905. J
Referate«
379
Schaffung der elektrischen Kraftquelle sei. Es
wurden Holt zache Influenzmaschinen, Teslys
Transformatoren, Riesen-Chrom-Batterien ange-
wendet; am praktischsten würden Akkumulatoren
sein, wenn nur immer eine Zentrale bei der
Hand wäre, woselbst die Ladung erfolgen würde.
Schließlich kam man zur Überzeugung, daß es
am sichersten sei, die elektrische Kraftquelle
selbst zu besitzen. Den ersten solchen trans-
portablen Apparat mit einem eigenen Dynamo-
motor hat die Berliner Firma Hirsch man kon-
struiert. Japan hat wahrend des chinesisch-
japanischen Krieges diesen Apparat um 5000 Mark
erworben. In 9 Kisten verpackt betrug das
Gesamtgewicht 1600 kg.
Drei leichtere und bequemere Feldapparate
hat auf Bestellung des Kriegsministeriums die
Firma Siemens & Halske der deutschen ost-
asiatischen Expedition geliefert. Ein Paar
Pferde hat den 1200 kg schweren Apparat
leicht fortgeschafft. Am einfachsten stellt sich
die Anwendung im Schiffslazarett, woselbst eigene
Dynamomaschinen vorhanden sind. Feldzüge
im gebirgigen Terrain zwingen den Transport
auf Tragtieren zu bewerkstelligen.
Über die Frage, in welchen Feldsanitäts-
formationen Röntgenapparate zur Verwendung
kommen können, ist Verf. der Ansicht, daß sie
in stabilen Feldlazaretten, in den base hospitals
der Engländer oder den in Deutschland ent-
sprechenden Reserve- Fest an gs- und Kriegslaza-
retten anzuwenden wären. Im jetzigen ost-
asiatischen Kriege sind die der Kampf linie am
nächsten stationierten Röntgenapparate in Liao-
jang und Umgebung. (Der Artikel wurde Ende
August gedruckt. Ref.) Mit Rücksicht auf den
stabilen Verwendungsort wurde die Fabrikation
älterer, am Wagen montierter Apparate aufge-
geben, die einzelnen Teile werden jetzt einfach
in Kisten verpackt auf irgend einem Beförde-
rungsmittel fortgebracht.
Auf dem Kriegsfelde wird meistens Radio-
skopie, seltener Radiographie angewandt, diese
letztere bloß bei sehr interessanten oder lehr-
reichen Fällen. Das kleine photographische
Atelier wird mit den einfachsten und nötigsten
Mitteln versehen; die Chemikalien in Tabletten-
form; die Gefäße aus nicht leicht brechendem
Material (papier-mache). Eine zusammenlegbare
Dunkelkammer wird jedem für einen Feldzug
bestimmten Röntgenapparat beigegeben.
(Medycyna No. 35, 1904.) Qabel (Lemberg). ^
Perniziöses Erbrechen von siebenjähriger Dauer,
gehellt durch Suspension der Niere. Von
Dr. G. E. Schoemaker in Philadelphia
Eine weibliche Person von 28 Jahren, die
früher immer gesund, kräftig und körperlich
leistungsfähig gewesen war, erkrankte vor sieben
Jahren an Typhus, der recht schwer mit ver-
schiedenen Komplikationen, Darmblutung und
Phlebitis an beiden Beinen, verlief. Von da an
war sie nicht mehr imstande, feste Speisen zu
essen, ohne sofort zu erbrechen. Auch bei flüs-
siger Kost, von welcher sie in den sieben Jahren
ausschließlich lebte, war Erbrechen nicht ganz
zu vermeiden, trat namentlich bei Aufregung
und während der Menstruation auf, jedoch konnte
die Kranke sich auf leidlichem Ernährungszustand
erhalten. Verschiedene Mittel waren versucht
worden, Bettruhe mehrere Wochen lang, Aus-
spülungen des Magens, jedoch fast ohne jeden
Erfolg. — Bei der Untersuchung fanden sich
alle Organe gesund; jedoch war die rechte Niere
bis auf die Höhe des Nabels herabgesunken und
leicht verschieblich, und außerdem war Tube und
Eierstock linkerseits vergrößert und adhärent. —
Angesichts der Erfolglosigkeit aller bisherigen Be-
handlung beschloß Schoemaker einen chirurgi-
schen Eingriff, nämlich Befestigung der Niere und
Entfernung von Tube und Eierstock. Die Operation
gelang gut; zugleich wurde auch der Wurmfortsatz
entfernt, da er chronisch entzündliche Veränderun-
gen zeigte. Von dem Tage der Operation an stand
das Erbrechen, um nicht wiederzukehren. — Schoe-
maker nimmt an, daß die Verlagerung der
Niere allein die Ursache des Leidens war, nicht
die Veränderungen an den Genitalien oder am
Wurmfortsatz. Denn die Beschwerden pflegten
vor der Operation bei Rückenlage etwas nach-
zulassen, wodurch wohl die Niere, nicht aber
die anderen Organe beeinflußt werden konnten.
(TherapeuHc gazetU 1905, No. 2.)
Clauen (Qrube i. H).
Behandlung der Blutungen aus den Mandeln nach
chirurgischen Eingriffen. Von E. Escat
Die Entfernung der Mandeln wird in der
Praxis recht häufig vorgenommen, und es treten
nach diesem Eingriff gar nicht so selten sehr
hartnäckige und selbst lebensgefährliche Blu-
tungen ein. Es cat betont deshalb mit Recht, daß
jeder Arzt, der eine Entfernung der Mandeln
vornimmt, sich über die Mittel klar sein sollte,
die uns behufs Bekämpfung von etwa eintretenden
Blutungen zu Gebote stehen. Einer Erörterung
dieser Mittel ist die vorliegende Arbeit gewidmet.
Handelt es sich um eine leichtere Blutung, so
kann man durch Gurgelungen mit kaltem Wasser
oder noch besser durch Eisstückchen, die man
an die blutende Stelle bringt, der Blutung Herr
zu werden suchen. Hämostatisch wirken auch
Lösungen von Antipyrin (10 proz.), Wasserstoff-
superoxyd (10 — 12 volumproz.), Ferropyrin
(20 proz.). Doch lassen diese Mittel bei stärkeren
Blutungen meistens im Stich. Etwas wirkungs-
voller dürften Tampons sein, die mit einer
Lösung von salzsaurem Adrenalin 1 : 5000 ge-
tränkt, dann gut ausgedrückt und an die blutende
Tonsille gepreßt werden. Dagegen sind Eisen-
chloridtampons nicht empfehlenswert: Sie reizen
zu stark, lösen Schluckkrämpfe aus und machen
die Anwendung wirksamerer Mittel häufig un-
möglich. Spritzt das Blut im Strahl hervor, so
kann man durch Andrücken eines Argentumstiftes
oder noch besser der Spitze eines rotglühenden
Thermokauters oder des Knöpfchens eines Galvano-
kauters an die blutende Stelle den Blntstrom
in den meisten Fällen hemmen. Zuweilen ge-
lingt es auch, das Gewebe, aus dem das Blut
spritzt, zwischen die Branchen einer Kornzange
oder Arterienpinzette zu klemmen und so die
Blutung zum Stillstand -zu bringen. Am leich-
testen ist dies noch, wenn die Blutung am Rande
380
rTher&peutiaehe
L Monatsheft«.
der Gaumenbögen ihren Sitz hat, dagegen miß-
lingt es meist, wenn sie aas der Nische her-
kommt, in der die Tonsille saß. Gerade in
diesen Fällen ist die direkte Kompression der
blutenden Stelle meist von Erfolg gekrönt. Man
drückt einen in eins der oben genannten Hae-
mostatica getauchten und ausgepreßten Watte-
tampon vermittelst Zeige- und Mittelfinger oder
einer Kornzange einige Minuten lang gegen den
blutenden Herd. Für eine längere Kompression
kann man sich auch des Ricordschen Mandel-
Kompresseurs bedienen: ein zirkeiförmiges In-
strument, dessen beide Spitzen (behufs Kom-
pression) je eine Pelotte tragen, und dessen
Branchen durch eine Schraube beliebig weit
voneinander entfernt werden können. Leider
ist die Applikation des Instruments ziemlich
schmerzhaft. Sehr rationell erscheint auch ein
anderes Verfahren, dos darin besteht, daß man
die beiden Gaumenbögen an der Stelle, wo
zwischen ihnen das Blut hervorspritzt, mit den
Backen einer starken Museuxschen Zange zu-
sammenpreßt. — Baum und nach ihm Heer-
mann aus Essen empfahl den vorderen und
hinteren Gaumenbogen durch eine Knopfnaht an-
einanderzupressen. Man sticht eine starke ge-
krümmte Nadel mit einem 40 cm langen und
starken Seidenfaden vom vorderen zum hinteren
Gaumenbogen durch, wenn die linke, und vom
hinteren zum vorderen, wenn die rechte Mandel
blutet, kreuzt die Fadenenden außerhalb des
Mundes und verknotet sie. Eine Naht genügt
meist nicht zur Blutstillung, in der Regel muß
man 1 — 2 cm unterhalb der ersten noch eine
zweite Naht anlegen. Aber auch hiernach sickert
das Blut zuweilen noch aus der unteren Öffnung
des Kanals, den man durch die Nähte aus der
ursprünglichen Rinne geformt hat. In diesem
Falle empfiehlt Escat mit einer gekrümmten
Zange durch die obere Öffnung dieses Kanals
einen Wattetampon in ihn einzuführen, so weit,
bis die Watte aus der unteren Kanalöffnung
hervorkommt. Blei bloßer Naht ohne Tampo-
nade sollen die Fäden erst nach 4 Tagen ent-
fernt werden. Kombiniert man die Tamponade
mit der Naht, so kann man den Tampon schon
nach 24 Stunden, und wenn man sich überzeugt
hat, daß die Blutung steht, auch die Nähte ent-
fernen. So braucht der Patient nur 24 Stunden
lang die Schmerzen und Schluckbeschwerden
zu ertragen, die das Verfahren mit sich bringt.
Bleibt schließlich auch die Gau menbo gen-
naht mit nachfolgender Tampon ade ohne Erfolg,
so kommen als letzte Mittel entweder die Ligatur
der Carotis communis oder die Tamponade des
Pharynx in Betracht. Die Carotisunterbindung
ist ein heroisches Mittel, das nur selten von
Erfolg gekrönt sein wird. — Die Tamponade
des Pharynx setzt natürlich voraus, daß zuvor
die Möglichkeit von Atmung und Ernährung
gesichert wird. Holst empfiehlt für den ersteren
Zweck die Ausführung der Tracheotomie. Verf.
möchte statt dessen zur Anwendung der Tubage
raten, wobei man an den Kehlkopf tubus einen
Gummischlauch mit starren Wänden ansetzt,
dessen Ende durch den Mund nach außen geführt
wird. Hat man die nötigen Instrumente nicht
zur Hand, so kann man sie in dringenden Fällen
durch eine einfache Gummisonde ersetzen, deren
eines Ende schräg abgeschnitten ist. Die Er-
nährung sichert man durch Einführung* eines
Gummischlauches in den Ösophagus. Um die
beiden Schläuche wird dann die ganze Rachen-
höhle fest austamponiert.
(La Presse medic. 190X No. 70).
Ritterband (Berlin).
Behandlung der essentiellen nächtlichen Htm-
Inkontinenz nach der epiduralen Methode»
Von Cantas, Professor a. d. Universität zu
Athen.
Schon Cathelin hat diese vor einigen
Jahren unter andern auch zur Behandlung der
Incontinentia urinae empfohlen. Sie besteht,
wie bekannt, darin, daß man in den Hiatus
sacralis inferior, aber nicht in die Medullarhöhle,
Flüssigkeit, sei es physiologische Kochsalz-
sei es Kokainlösung, injiziert. Cantas hat die
Cathelinschen Erfahrungen an 15 Patienten des
Waisenhauses Hendzi-Costa nachgeprüft und
damit stets einen überraschenden Erfolg erzielt.
Er steht deshalb nicht an, die epidurale Methode
für die wirksamste Behandlungsweiße der essen-
tiellen Harninkontinenz zu erklären. Es han-
delte sich in seinen Fällen um Kinder, deren
Inkontinenz bereits Jahre lang bestand, und die
in jeder Nacht meist mehrere Male ihr Bett
durchnäßten. Zwei Kinder konnten auch am
Tage ihren Harn nicht halten. Cantas nahm
die Injektionen in linker Simsscher Seitenlage
vor und ließ nach der kleinen Operation die
Kinder noch 1 — 2 Stunden lang im Bette» wo
sie auf dem Bauche mit etwas erhöhtem Kreuz
liegen bleiben mußten. Was die Ausführung
anbetrifft, so ist sie sehr einfach und kann kaum
je mißlingen. Man sticht die Nadel zunächst
senkrecht durch die Haut und das Ligament,
welches den Hiatus verschließt, bis man auf
Knochen kommt, senkt dann den Pavillon der
Spritze bis zur Horizontalen oder etwas unter
dieselbe, stößt nun die Nadel, die sich jetzt in
der Längsachse des Körpers befindet, etwa 21/, cm
vor und hebt zum Schluß den Pavillon wieder
ein wenig über die Horizontale. Nunmehr wird
langsam die Flüssigkeit entleert. — Zur Injektion
benutzte Cantas eine Lu ersehe Glasspritze von
5 cem Inhalt und eine 6 cm lange, 0,7 mm
dicke Stahlnadel mit einem 3 mm langen
Schnabel. Anfangs injizierte er 5 — 10 cem
physiologische Kochsalzlösung alle 3—5 Tage,
ging dann aber zu 0,2 proz. Kokainlösung über
und wiederholte die Injektion (stets 10 cem)
erst dann, wenn das Bettnässen, das meist schon
nach der ersten Einspritzung aufhörte, wieder-
kehrte. Verstopft sich die Nadel mit Blut-
gerinnseln, so muß man sie herausziehen und
vom neuen einstechen. Die folgenden Schluß-
sätze, in denen der Autor seine Erfahrungen
zusammenfaßt, zeigen, wie hoch er die Methode
einschätzt :
1. Von allen Methoden, die gegen die es-
sentielle Harninkontinenz Anwendung finden,
verdient unstreitig die Cathelinsche Methode den
Vorzug.
XIX. Jahrgang. 1
Jqll 1905. J
Referate. — Toxlkologi«.
381
2. Sie empfiehlt sich nicht nur durch ihre
vorzüglichen Resultate, sondern auch durch ihre
Einfachheit und Unschädlichkeit.
3. Sie bringt nicht nur die nächtliche
Harninkontinenz, sondern auch die Incontinentia
dinrna sowie die essentielle Pollakiurie zum
Schwinden.
4. Große Injektionen (von 10 ccm Flüssig-
keit) sind den kleinen (5 ccm) überlegen.
5. Bei gleicher Flüssigkeitsmenge sind
Eokaininjektionen wirksamer als solche von phy-
siologischer Kochsalzlösung.
6. Es ist von Wichtigkeit das Intervall
zwischen zwei Injektionen möglichst zu ver-
längern, um einer gewissen Angewöhnung vor-
zubeugen. Die Resultate werden dann besser,
und man erreicht sie mit einem Minimum von
Injektionen.
(La Presse medic. 1904, No. 79.)
Ritterband (Berlin).
Die Heißlufttherapie bei Frauenkrankheiten. Von
Dr. Fritz Heinsius (Berlin-Schöneberg).
Die von Bier mit großem Erfolg in An-
wendung gebrachte Methode, durch Anwendung
von heißer Luft eine aktive Hyperämie zu er-
zeugen, hat in den letzten Jahren auch in der
Gynäkologie immer mehr, und zwar durchaus
berechtigte Verwendung gefunden. In der Tat
gelingt es, durch die lokale Anwendung der
heißen Luft auf die Unterleibsorgane, indem
man die Kranke in passend konstruierte Heiz-
kästen legt, eine schmerzstillende und resor-
bierende Wirkung bei chronisch entzündlichen
und infiltrierenden Prozessen des Beckenbinde-
gewebes und der Uterusanhänge zu erzielen.
Die Zahl der bereits empfohlenen Apparate ist
keine kleine, allen ist gemeinsam, daß die Frau
in einen nach der Brust wie nach den Ober-
schenkeln zu möglichst luftdicht abgeschlossenen
Heizkasten gelegt wird, in dem durch eine be-
liebige Heizquelle (Spiritus, Bunsenbrenner oder
Elektrizität) eine lokale Anwendung hoher Tempe-
raturen auf die Unterleibsorgane erzeugt wird.
Polano, welcher das Verdienst hat, die Methode
in der Gynäkologie systematisch erprobt zu
haben, ging bis auf 150°. Im allgemeinen ge-
nügen jedoch Temperaturen von 115°, die in
späteren Sitzungen bis auf 125° erhöht werden.
Die Dauer der Behandlung beträgt V*-3/* Stun_
den. Referent ist allerdings bei etwas geringeren
Temperaturen über diese Zeitdauer wiederholt
mit gutem Erfolg hinausgegangen. In der Greifs-
walder Klinik, in der Heinsius die Erfolge
dieser Heißluftbehandlung beobachtete, kam der
von Klapp, einem Assistenten Biers, kon-
struierter Heizkasten in Verwendung. Einzelne
eigenbeobachtete Krankengeschichten gibt Hein-
sius in seiner mehr referierenden Arbeit nicht
an. Die Hauptindikation für diese Heißluft-
behandlung, die naturgemäß mit jeder anderen
hydrotherapeutischen Therapie verbunden werden
kann, bilden die chronisch entzündlichen Ex-
sudate, insbesondere die im Anschluß an ein
Puerperium oder eine Operation entstehende
diffuse entzündliche Infiltration des Beckenbinde-
gewebes, während frische, fiebernde Fälle von
der Behandlung auszuschließen sind. Auch bei
der Form der Parametritis, welche mit Neigung
zur Einschmelzung des Gewebes und Entstehung
größerer Exsudate einhergeht, ist im allgemeinen
diese Therapie nicht angezeigt, sie darf jeden-
falls nur unter andauernd ärztlicher Kontrolle
angewendet werden, während bei den chroni-
schen Formen Heinsius eine poliklinische Be-
handlung allerdings mit nachfolgender Bettruhe
für gestattet hält. Auch größere entzündliche
Adnextumoren bilden im Gegensatz zu der Para-
metritis, namentlich bei bestehendem Fieber, eine
Gegenindikation für die Heißlufttherapie. Hein-
sius ist Recht zu geben, wenn unter diesen Ein-
schränkungen die von Bier inaugurierte Heiß-
luftbehandlung als eine Bereicherung unserer
therapeutischen Maßnahmen betrachtet wird.
(Berliner Klinik August 1904.)
Falk.
Toxikologie.
Vergiftung nach Gebrauch der Wiemutbrand-
blnden. Von Kreisarzt Dr. Schaeche in
Chateau-Salins (Lothr.).
Die Bemerkung Mahnes im Maiheft
dieser Zeitschrift, daß bei Anwendung der
von Bardelebenschen Wismutbrandbinden
Vergiftungsersch einungen bisher nicht beob-
achtet worden seien1), veranlaßt mich eine
Erfahrung mitzuteilen, welche mir die völlige
Harmlosigkeit dieser Behandlungsweise doch
zweifelhaft erscheinen läßt.
*) Über Wismutvergiftung. Seite 270. Im
fleichen Sinne äußert sich auch Sonnenburg in
lulenburgs Real-Enzyklopädie, III. Auflage,
Band 25, Seite 601, Art. Verbrennung.
Es handelt sich um ein sechsjähriges Mädchen,
das am Gesäß und au den Oberschenkeln bis zu
den Kniekehlen herab schwere Brandwunden er-
litten hatte. Unter feuchten Verbänden mit
schwachen Lösungen von Borsäure oder essigsaurer
Tonerde reinigte sich die riesige Wundfläche all-
mählich, und die Überhäutung begann, aber sie
machte, wohl auch infolge der überaus ungunstigen
Pflege- und Ernährungsverhältnisse des Kindes
und seines, an sich sehr schwächlichen Körper-
baues, so langsame Fortschritte und die kleine
Kranke kam durch die beständigen Schmerzen so
herunter, daß ich mich zu einem Versuch mit den
Wismutbrandbinden entschloß, in der Hoffnung,
damit die Wundheilung zu beschleunigen. Teils
aus Vorsicht, teils des Vergleiches halber bedeckte
ich aber nur das Gesäß damit, während ich die Ober-
schenkel nach wie vor feucht verband. Einen
hervorstechenden Unterschied zugunsten der Wie-
382
Toxikologie.
["Therapentiseb«
L MonatiheAe.
mutbinden konnte ich nun nicht bemerken. Wohl
aber stellte sich nach mehrtägiger Anwendung
derselben teigige Schwellung beider Füße und
trüber Harn mit starkem Eiweißgehalt ein, bei
spärlicher Menge, kurz, das ausgesprochenene Bild
einer frischen Nierenentzündung. Als ich nun die
Binden sogleich wieder mit den feuchten Ver-
bänden vertauschte, gingen die Zeichen der Nieren-
entzündung alsbald bedeutend zurück, schwanden
aber doch nicht vollkommen, und einige Wochen
nachher ging das Kind nach im ganzen etwa drei-
monatlichem Krankenlager an allgemeiner Er-
schöpfung zugrunde.
Eine Nierenentzündung ließe sich ja
nun auch als eine Folge der Verbrennung
an sich erklären. Aber hier mußte es doch
auffallen, daß neun Wochen lang nach der
ursprünglichen Verletzung nichts davon zu
bemerken war, und erst kurze Zeit nach der
Wismutanwendung sich deren Merkmale ein-
stellten. Da läßt sich ein ursächlicher
Zusammenhang nicht von der Hand weisen
und dafür spricht ja auch die augenfällige
Besserung nach Aussetzen dieser Behandlung.
Wenn nun auch hier bei dem überaus lang-
samen Heilungsverlauf, den ungünstigen
äußeren Verhältnissen und der ohnehin sehr
großen Erschöpfung auf eine Genesung
schwerlich zu hoffen war, so muß doch die
Wismutvergiftung zum mindesten als ein
Zwischenfall aufgefaßt werden, der den un-
günstigen Ausgang beschleunigte.
Daß das salpetersaure Wismut von einer
äußeren Wundfläche aus Vergiftung, insbe-
sondere Nierenentzündung hervorrufen kann,
ist längst bekannt. Wenn dergleichen beim
Gebrauch der Wismutbrandbindeu, wie es
scheint, noch nicht beobachtet worden ist,
so mag das daran liegen, daß die Binden
für gewöhnlich auf die frischen Verbren-
nungen gelegt werden, wo eine der Auf-
saugung fähige Wundfläche noch nicht be-
steht. Hat sich aber erst eine solche
gebildet, so wird das salpetersaure Wismut,
als Brandbinde aufgelegt, unter geigneten
Umständen ebenso gut Vergiftungen erzeugen
können wie bei irgend einer anderen äußeren
Anwendungsart. Jedenfalls muß man die be-
dingungslose Unschädlichkeit der Binden,
wie sie in der beigegebenen Gebrauchsan-
weisung betont wird, nach solchen Er-
fahrungen in berechtigten Zweifel ziehen,
und ihre dort ebenfalls empfohlene Verwen-
dung bei Unterschenkelgeschwüren dürfte
unter Umständen bedenklich sein. Vielmehr
empfiehlt es sich, die Wismutbinden bei
granulierenden Flächen, zumal größerer Aus-
dehnung, überhaupt zu meiden, zum min-
desten aber in solchen Fällen vor und
während ihrer Anwendung den Harn genau
zu beobachten. Bei frischen Verbrennungen
sind die von Bardelebenschen Binden
durchaus am Platze, und sie stellen hier eine
dankenswerte Bereicherung unseres Heil-
schatzes dar. Aber, wie gesagt, ihre unter-
schiedslose Anwendung, wie sie die gedruckte
Anweisung empfiehlt, ist nicht ratsam. Auch
hier heist es, von Fall zu Fall entscheiden.
(Am der Klinik fUr Hautkrankheiten der Universität KieL)
Ober tödlich verlaufende Quecksilberdermatideo.
Von Hans Meyer.
Eine 36jährige Frau, die wegen starker
nächtlicher Kopfschmerzen schon eine Jodkalikur
durchgemacht hatte, erhielt wegen eines luetischen
Exanthems 30 Inunktionen mit grauer Salbe.
Da das Exanthem nicht geschwanden war, wurde
nun eine Quecksilbersalbe mit Mollin als Grund-
lage verordnet. Nach 3 Einreibungen bemerkte
Pat. zunächst Jucken und Brennen, dann das
Auftreten eines juckenden, großfleckigen Haut-
ausschlages am Orte der letzten Einreibung.
Drei weitere Einreibungen hatten zur Folge,
daß der Ausschlag sich über den ganzen Körper
verbreitete und nun auch Bläscheneruption und
starkes Nassen erfolgte. Nach 14 Tagen wurde
im Krankenhause folgender Befund erhoben:
Mit Ausnahme des Gesichts und der Hände
ist die Haut des Körpers diffus, skarlatinös ge-
rötet und pdematös geschwollen; an den Unter-
schenkeln bis fünfmarkstückgroße Infiltrate mit
kleinsten Bläschen bedeckt; daneben kleienför-
mige Abschuppung der Epidermis. Allgemein-
befinden gestört, Temperatur 39,6°, Puls 122,
Klagen über heftiges Jucken und Brennen. Sonst
nur als Zeichen des Hg-Gebrauches ganz leichte
Gingivitis.
Die Bläscheneruption nahm am folgenden
Tage zu, auch das Gesicht wurde ödematös; die
Bläschen platzten, so daß der Körper in eine
stark sezernierende Fläche umgewandelt wurde.
Nach Eintrocknen der Bläschen und Aufhören
des Nässens trat nun Wohlbefinden ein; Tem-
peratur normal. Nach 2 Tagen erfolgte eine
neue' Eruption mit Nässen und schnellem Nachlaß.
Einer eintägigen Pause folgte darauf ein
neues Rezidiv mit Temperatursteigerung auf
38,8° und schwachem Puls, das nach zwei Tagen
unter großlamellöser Abschuppung zurückging.
Am Abend desselben Tages war Pat. kollabiert,
es traten Delirien auf, Puls 124, unregelmäßig.
Das folgende Rezidiv war durch Desquamation
der Epidermis charakterisiert: an den Fingern
loste sich die Hornschicht wie Handschuhfinger
ab. Es erfolgten profuse Durchfälle, der Harn
enthielt jetzt Spuren Eiweiß. Delirien traten
auf, und es erfolgte Tod unter zunehmender Herz-
schwäche.
Die Sektion ergab als wesentlichen Befund:
beiderseitig geringe Schrumpfniere; Blutfüllung
der Gefäße, parenchymatöse Trübung der Epi-
thelien der Harnkanälchen, herd weise Verödung
der Glomeruli. In der Leber ausgedehnte fettige
Nekrose und Degeneration des Leberparenchjms.
Milz groß and weich, Magen und Darmmucoea
hyperämisch und ekchymosiert.
Jedenfalls handelt es sich bei dieser Pat.,
welche 33 Injektionen ausgezeichnet vertragen
hatte, um eine erworbene Idiosynkrasie und zwar
XIX. Jahrgang. 1
Juli 1905. J
Toxikologie.
383
um eine Organidiosynkrasie der Haut im Sinne
Tomasczewskys1). Es kommt ferner in Be-
tracht der Wechsel des Constitaens: vielleicht
ist die Haut durch Moliin gereizt und so gegen
Quecksilber empfindlicher geworden. Die Aus-
scheidung durch den Urin war ferner durch die
chronische Schrumpfniere behindert.
Von besonderem Interesse ist die eigentüm-
lich rezidivierende Form des Krankheits Verlaufes.
Verf. weist auf die Untersuchungen von Schade9)
über die kataly tischen Wirkungen des Queck-
silbers hin. Dieser Autor fand, daß das Queck-
silber als Katalysator die Oxydierungen im Blute
und in den Geweben, die bei der luetischen
Infektion gehemmt sind, wieder beschleunigt.
Bei übermäßiger Beschleunigung wirkt Queck-
silber toxisch: es kommt zum Reizzustand, zur
Hyperfunktion und schließlich zum Zelltod, zur
Nekrose.
Die katalytische Wirkung des Quecksilbers
ist nun in der Tat auch außerhalb des Körpers
eine periodische, wie B redig und Weinmayr8)
zeigen konnten: Wird Quecksilber mit lOproz.
Wasserstoffsuperoxydiösung überschichtet, so be-
ginnt allmählich die Entwickelung von Sauer-
stoffbläschen. Nach einiger Zeit setzt die Gas-
entwickelung plötzlich an der Quecksilberober-
fläche aus, um nach sekundenlanger Pause wieder
zu beginnen. Diese „chemischen Schwingungen",
die je nach Temperatur, Konzentration etc. variabel
sind, dauern in oft regelmäßigen Intervallen
rhythmisch fort. Jacobson.
(Ans der medliinUehen Untrertltatsklinlk In Zürich.)
Ober Quecksilbersepsis. Von Hermann Eich-
horst.
Die Behandlung der Syphilis mit Queck-
silber wird heutzutage von allen Ärzten aus-
gesetzt, wenn sich die ersten Anzeichen einer
merkuriellen Stomatitis einstellen. Man hat sich
gewöhnt, diese Stomatitis als eine zwar un-
angenehme, aber doch für die Betroffenen als
eine ungefährliche Begleiterscheinung anzusehen.
Eichhorst teilt nun aus seiner Erfahrung zwei
Fälle mit, in denen sich an eine merkurielle
Stomatitis Sepsis mit tödlichem Ausgang an-
schloß.
Ein Maschinentechniker, welcher viel mit
Quecksilber zu hantieren hatte und in einem
Saale arbeitete, in welchem größere Mengen auf
den Boden verschüttet wurden, erkrankte plötz-
lich an starker Speichelabsonderung und ent-
zündlicher Veränderung des Zahnfleisches. Vier-
zehn Tage später — er hatte inzwischen seine
Beschäftigung nicht aufgegeben — stellten sich
Fieber, Schmerzen in den Beinen und Mattigkeit
ein, wenige Tage später Schüttelfröste, große
Schwäche, Herzklopfen und Atemnot. Bei seiner
Aufnahme in das Krankenhaus wurde aus einer
Blutprobe eine Reinkultur von Staphylococcus
pyogenes aureus gewonnen. Die klinische Dia-
gnose lautete: Stomatitis mercurialis, Endocar-
>) Zeitschr. f. klin. Medizin Bd. 51, H. 5 und 6.
*) Schade, Die elektro-kataly tische Kraft der
MeUlle. Leipzig 1904.
') Zeitschr. f. physikalische Chemie Bd. 42, 1903.
ditis septica cum insufficientia valvularum aorti-
carum et mitralium, Septicopyaemia. Acht Tage
nach der Aufnahme trat plötzlich der Tod ein.
Die zweite Beobachtung lehrt, daß auch
ein arzneilicher Merkurialismus Stomatitis mit
Ausgang in tödliche Sepsis veranlassen kann.
Ein 30 jähriger an Roseola und Kondylomen
leidender Arbeiter wurde auf der Klinik mit
Einreibungen von täglich 5 g Unguentum cine-
reum behandelt. Nach der 11. Einreibung
wurde über Schmerzen in einem kariösen Backen-
zahn geklagt. Obgleich keine sonstigen Ver-
änderungen in den Mundgebilden nachzuweisen
waren, wurden die Inunktionen ausgesetzt. Nach
5 Tagen hatte sich unter anhaltendem Fieber
(bis 38,6°) am Zahnfleisch ein Geschwür ent-
wickelt; später bildete sich starke Schwellung
des Zahnfleisches, der Zunge und der Mund-
schleimhaut aus mit ausgedehnten Verschwärun-
gen und gangränöser Verfärbung. Stärkster Foetor
ex ore, Absonderung eines übelriechenden, trüben,
blutig gefärbten Speichels. Auf der Haut des
Rumpfes und der Beine zahlreiche bis über
erbsengroße Blutungen. Im Harn (500 cem)
wenig Eiweiß, zahlreiche hyaline Zylinder und
sparsam rote Blutkörperchen. Trotz Rückgang
der Symptome der Stomatitis nahm der. Kräfte-
verfall zu, und vier Wochen nach der Aufnahme
erfolgte unter überhandnehmender Entkräftung
der Tod.
(Medisinische Klinik No. 4, 1905.) Jacobson.
Ein tödlicher Fall von akuter Sublimatvergiftung.
Von Dr. Scott Sugden in Liverpool.
Ein junges Mädchen hat gegen Kopfweh
ein von einem Drogisten bezogenes Pulver ein-
genommen, welches infolge eines nicht auf-
geklärten Versehens etwa 0,15 Sublimat enthielt.
Sie erkrankte sofort mit brennendem Gefühl im
Munde nebst Erbrechen. Die Schleimhaut im
Mund war angeätzt, der Leib empfindlich. Die
Harnentleerung war 24 Stunden völlig unter-
drückt. In den nächsten Tagen erfolgten mehrere
Male blutige Darmentleerungen und blutiges Er-
brechen. Am 22. Tage starb die Kranke an
Herzschwäche. — Bei der Autopsie fand sich
die Schleimhaut von Mund und Rachen bis in
die Speiseröhre hinein durch Ätzung zerstört
und auf der Schleimhaut des Magens und des
Darms zahlreiche Ekchymosen. Leber und
Nieren waren fettig degeneriert.
(British medical Journal 1905. 8. April.)
Glossen (Orube i. H.).
Ober die Primelkrankheit und andere durch
Pflanzen verursachte Hautentzündungen. Von
Dr. E. Ho ff mann, Stabsarzt a. D , Privat-
dozent, Assistent der Universitätsklinik für
Haut- und Geschlechtskrankheiten zu Berlin
(Prof. E. L es s er).
Verf. gibt in einem Vortrage eine Übersicht
über Hautentzündungen, welche durch Pflanzen
resp. Pflanzenstoffe verursacht werden.
Am häufigsten erzeugt die Primel und zwar
Primula obeonica, die japanische Primel,
Hauterkrankungen, seltener andere Arten wie
Primula sinensis, Pr. Sieboldii und Pr.
cortusoides. Die entzündungerregende Sub-
384
Toxikologie. — Literatur.
["Therapeutisch*
L Monatshefte.
stanz ist das dickflüssige, zähe, gelbgrüne Sekret
der Drüsenhaare, aas welchem das hautreizende
Prinzip in rhombischen Krystallen ausfällt. Die
Erkrankung, welche nur besonders disponierte
Personen befällt, äußert sich in heftigem Jucken
und schmerzhaftem Brennen ; die Haut der Hände,
Vorderarme, des Gesichtes schwillt an, rötet
sich und bedeckt sich mit Blasen, deren Inhalt
anfangs klar, später trübe ist; zuweilen besteht
auch Fieber.
Besser bekannt ist das toxische Prinzip der
Rh U8 arten, und zwar von Rhus toxicodendron,
dem Giftsumach, und Rh. vernicifera, dem
japanischen Lackbaum. Die Pflanzen enthalten
in dem Milchsaft der Blätter das stark haut-
reizende Kardol resp. eine diesem nahestehende
Substanz. Die Wirkung dieses Körpers ist so
stark, daß besonders empfindliche Personen schon
erkranken, wenn sie in der Nähe der Pflanzen
verweilen. Kardol findet sich ferner in den
Früchten von Anacardium Orientale und
occidentale, den Elefantenläusen; auch diese,
welche als Volksmittel bei Rheumatismus be-
nutzt werden, rufen zuweilen erysipelartige Ent-
zündungen der Haut hervor. Daß auch Chrys-
anthemum indicum Hautreizung veranlassen
kann, lehrt folgende Beobachtung: Eine Gärtners-
frau, welche 6 Stunden Chrysanthemum ge-
schnitten hatte, erkrankte bald darauf an Jucken
und Brennen im Gesicht und an den Händen.
Am folgenden Tage trat Entzündung der Haut
und Fieber auf. Die Hautreizung wird hier
wahrscheinlich durch ein ätherisches öl, dos
Kikuöl, bewirkt.
Scilla maritima, die Meerzwiebel, kann
durch Einwirkung der Blätter oder Zwiebeln
tagelang anhaltende, mit Bläschenbildung ein-
hergehende Entzündung der Haut hervorrufen.
Auch Thuja occi dental is, der Lebens-
baum, wirkt krankmachend. Ein Kellner, der
die Blätter zerdrückt hatte, erkrankte unter
Fieber an heftiger, erysipel artiger Hautent-
zündung des Gesichts und der Hände, die erst
nach 10 Tagen unter Schuppung abheilte.
(Münchener medizinische Wochenschrift No. 44, 1904.)
Jacobson.
(Ans der pgyehiatrUchen UniTenltltaklinlk in Königsberg L P.
Direktor: Prof. Dr. Meyer;.
Ein Beitrag zum Kodeinismas. Von Assistenzarzt
Dr. Pelz.
Ein an Melancholie leidender Patient erhielt
Kodeinpillen zur Beruhigung verschrieben.
Da er nach Gebrauch derselben Erleichterung
verspürte, gewöhnte er sich den Genuß derartig
an, daß er bald täglich alle 1 — 2 Stunden etwa
5 Pillen ä 0,033 g Kodein nahm. Später ge-
brauchte er auch neben diesen Kodeinpillen
Opiumpillen und schließlich, um sich von seiner
Angewohnheit zu befreien, das stark morphium-
haltige Antimorphin. Wegen seiner andauernden
Schlaflosigkeit war er gezwungen, Veronal zu
nehmen. Allmählich nahm der Appetit immer
stärker ab, er wurde elend und mager, die
Sprache wurde schwer, und undeutlich und
schließlich wurde seine Aufnahme ins Kranken-
haus erforderlich.
Pelz erhob folgenden Befund: Patient sehr
elend und hinfällig. Liegt matt, mit geschlossenen
Augen da, Bewegungen mühevoll und kraftlos.
Schwerbesinnlichkeit, unklarer Zustand, erschwerte
Auffassung. Auf Anrufen reagiert er und gibt
auf Fragen Antwort, klagt über Schlaftrunken-
heit, Unruhe, Beklemmung, Frösteln; gibt an,
daß er Gehörshalluzinationen gehabt habe. Die
Sprache ist langsam, oft stolpernd und undeut-
lich. Reflexe sehr schwankend in der Stärke.
Patient, der kein Narcoticum erhielt, blieb
schlaf 1 ob und verweigerte die Nahrungsaufnahme;
auf Nährklysmen erfolgte Durchfall. Chloral-
hydrat wurde sofort erbrochen. Das Erbrechen,
das auch spontan sowie bei jedem Versuch der
Nahrungsaufnahme eintrat, konnte durch Eis,
Chloroform tropfen und Kampferinjektionen be-
seitigt werden. Allmählich besserte sich der
Zustand, und es trat auch spontan Schlaf ein,
der in den ersten Tagen nur durch Veronal-
darreichung zu erzielen war.
Auch dieser Fall mahnt wieder von neuem,
psychopathischen Individuen differente Mittel nur
mit großer Vorsicht zu verabfolgen.
(Deutsche medizinische Wochenschrift, No. 22, 1905,
S. 864.) Jacobson.
Eine Belladonnayergiftung. Von Dr. Stock er
(Groß -Wangen).
Ein 4% jähriges Kind hatte gegen Abend
einige — wohl nicht mehr als zwei — reife
Belladonnabeeren verzehrt. In der Nacht war
das Kind sehr unruhig, schwatzte unverständ-
liches Zeug und fiel mehrmals aus dem Bett.
Am andern Morgen erhob Stock er folgenden
Befund. Das Kind strauchelt und fällt, wfiizt
sich planlos am Boden umher. An den Extremi-
täten eigentümlich hüpfende, an Chorea er-
innernde Bewegungen. Beständiges, unverständ-
liches Lallen. Blick leer, Pupillen ad maximum
erweitert, absolut reaktionslos, Gesichtshaut und
Bindehäute gerötet, Stirn warm und trocken.
Im Bett wälzt sich Pat. umher. Puls 180, voll
und kräftig.
Eine Injektion von 0,01 g Morphinum hydro-
chloricum blieb ohne Erfolg. Am Nachmittag
erfolgte zweimal schleimiges Erbrechen. Auf
eine zweite Injektion der gleichen Dosis ließen
die heftigen Jaktationen nach; doch bestanden
bis zum Abend noch Gesichtshalluzinationen.
Es trat dann Schlaf ein, der den ganzen folgen-
den Tag über andauerte. Am dritten Tage war
Pat. wieder völlig wohl.
(Korrespondenzblait für Schweizer Ärzte No. 4, 19Ü5J
Jacobson.
Literatur«
Grundzüjre der Hygiene unter Berücksichtigung
der Gesetzgebung des Deutschen Reichs und
Oesterreichs. Von W. Prausnitz. VII. er-
weiterte und vermehrte Auflage. Mönchen
1905, J. F. Lehmanns Verlag. Pr. 8 M.
Die Tatsache der VII. Auflage beweist schon
genügend den Wert des Werkes. Es ist für
XIX. Jahrgang.!
Jnll 1905. J
Literatur.
385
Studierende an Universitäten und technischen
Hochschulen, Ärzte, Architekten, Ingenieure und
Verwaltungsbeamte geschrieben, d. h. für die
akademisch Gebildeten Deutschlands und Öster-
reichs, doch kann man das akademisch getrost
streichen, da es ein Buch ist, das jedem Gebil-
deten willkommen Bein wird, der sich einen ge-
drängten Überblick über einzelne Fragen der
öffentlichen Gesundheitspflege verschaffen will.
Daß man dieses Buch jedermann empfehlen kann,
beruht nicht zum geringsten auf der klaren, leicht
faßlichen und gewandten Darstellungsweise, welche
tunlichst alles Trockene vermeidet, so daß die
Lektüre einen Genuß bietet.
Für die nächste Auflage würde ich noch
empfehlen aufzunehmen die Bari ow sehe Krank-
heit bei der Besprechung der Säuglingsernährung,
ferner die Trypanosomiasis der Menschen. Dem
Zellensystem in Schlachthäusern würde ich emp-
fehlen einige verdammende Worte beizugeben.
Andererseits habe ich persönlich große Freude
gehabt über das Postulat, alle Schlachtungen in
gemeinsamen Schlachthäusern vorzunehmen, wo-
bei ich darauf hinweisen möchte, daß in Frank-
reich soeben der Regierung ein Gesetzentwurf
vorgelegt wurde über die Errichtung von Ge-
meinde- und Bezirkaschlachthöfen unter gänzlicher
Ausschaltung jeglicher Einzelschlachtstätte. Aas-
gezeichnet klar und verständlich sind die Ab-
schnitte über Entstehung und Verbreitung der
Infektionskrankheiten trotz der Kürze der ihnen
gewidmeten Seiten und die Lehre von der Im-
munität inklusive Ehrlichs Seitenkettentherorie.
Die Ausstattung und der Druck des Buches
ist wie bei allen in Lehmanns Verlag erscheinenden
Werken glänzend zu nennen, was bei einem
Buche, in welchem sich ein Kapitel über Schul-
hygiene befindet, wobei auch die rasche Zunahme
der Kurzsichtigkeit während der Schulzeit be-
sprochen wird, besonders sympathisch berührt,
da der in so vielen Büchern übliche zu kleine
Druck auch Erwachsene, die längst über die
Schulzeit hinaus sind, schädigt. Es ist ein schönes
Zeichen, wenn ein Buchhändler nicht nur Bücher
über Hygiene verlegt, sondern in seinem Verlag
auch die Vorschriften der Hygiene befolgt.
, Westenhoeffer.
Führt die Hygiene zur Entartung der Kasse?
Von Prof. Dr. Max Gruber, Direktor des
Hygien. Instituts der Universität München.
Stuttgart, Ernst Heinrich Moritz, 1904.
Verf. weist in seinem auf der Generalver-
sammlung des Deutschen Vereins für Volks-
hygiene in Dresden am 31. Juli 1903 gehaltenen
Vortrage zunächst zahlenmäßig die gewaltige
Abnahme der Sterblichkeit in den letzten beiden
Jahrhunderten für alle Schichten der Bevölkerung
nach. Aber ist dies von Vorteil in Hinblick
auf die Rasse? Im Darwinschen Sinne werden
grade durch die Auslese die für die Erhaltung
der Art nützlichsten Eigenschaften gezüchtet
und weiter vererbt. Dann müßten die Minder-
wertigen also am besten schon als Säuglinge
möglichst schmerzlos ausgemerzt werden, damit
die Sterblichkeit der höheren Altersklassen eine
geringe sei. Andererseits müßte dann in Wirk-
lichkeit bei der durch die Lehren der Hygiene
erreichten Herabsetzung der Kindersterblichkeit
eine um so größere Mortalität der Erwachsenen
eintreten.
Ist dies der Fall? Reichliche Tabellen, ins-
besondere für Schweden, Norwegen und die
Stadt Genf zeigen, daß trotz fortwährenden
Herabgehens der Säuglingssterblichkeit auch die
aller anderen Altersklassen unabhängig vom
Reichtum mit der Besserung der hygienischen
Verhältnisse stetig herabgeht. Überall beim Ver-
gleiche verschiedener Gebiete, verschiedener Zeiten,
verschiedener Klassen finden wir also dasselbe.
Im Gegensatz zur Erwartung nach der Auslese-
theorie günstige Sterblichkeit der höheren Alters-
klassen bei niederer Kindersterblichkeit.
Es müssen also Fehler in der angenommenen
Theorie der natürlichen Auslese sein. Diese
sind :
1. Lediglich der Zufall in Gestalt äußerer
Gründe bedingt ohne Rücksicht auf Kräftige
oder Schwache die meisten Schäden und Todes-
fälle (z. B. Wochenbettfieber, Gonorrhöe, ver-
dorbene Milch).
2. Kommen innere Gründe (Mangel an
Gegengiften) in Betracht, die sonst mit den
kräftigsten Konstitutionen verbunden sind.
3. Wenn wirklich Minderwertigkeit vor-
liegt, so ist es eine ganz willkürliche Annahme,
daß diese schon von Geburt an besteht, sondern
sie ist vielmehr bedingt, durch die Ungunst
äußerer Verhältnisse, ist die Folge unzulänglicher
Nahrung entweder schon im Mutterleibe oder
nach der Geburt.
4. Es gibt überhaupt keine scharfe Tren-
nung zwischen Minder- und Vollwertigen.
5. Übrigens beteiligen sich grade die Minder-
wertigen (Tuberkulöse) ausgiebig an der Fort-
pflanzung. Wo bleibt da die natürliche Auslese?
6. Es ist überhaupt falsch (s. 1.), daß die
Starken des Schutzes der Hygiene entraten
könnten.
Also die Auslese der blinden Natur ist nicht
das Erhaltende des Menschengeschlechts. Die
Hygiene vielmehr nützt nicht nur dem einzelnen
Individuum, sondern auch der Rasse, der mensch-
lichen Spezies im ganzen.
Edmund Saalfeld (Berlin).
Die Alkoholfrage vom ärztlichen Standpunkt.
Von Dr. med. W. Pf äff. Verlag von F. Pietzner.
Tübingen 1904. M. 0,80.
Daß der Verf. trotz des augenscheinlichen
Flauerwerdens der Antialkoholbewegung an dem
Standpunkt strengster Abstinenz festhält, wird
man ihm nicht verargen, daß der Alkohol unter
allen Umständen ein schweres und gefährliches
Gift sei, wird man wohl bestreiten, aber als eine
immerhin diskutierbare Frage betrachten, daß
er aber allen Gegnern dieser Anschauung die
wissenschaftliche Qualifikation und die Logik
abzusprechen wagt, mindestens als einen charak-
teristischen Zug der heute dominierenden krank-
haften Verallgemeinerungssucht ansehen dürfen.
Eschle (Sinsheim).
386
Literatur.
L Monatshefte.
Gefrierpunkts- und Leitfähigkeitsbestimmun-
gen. Ihr praktischer Wert für die innere
Medizin. Von Dr. S. Schoenborn, Privat-
dozent für innere Medizin, I. Assistent der
Heidelberger medizinischen Klinik. Verlag von
J. F. Bergmann, Wiesbaden 1904. 8°. 77Seiten.
Die noch gegenwärtig immer im Vorder-
grunde des medizinischen Interesses stehenden
physikalisch-chemischen Untersuchungsmethoden
(Kryoskopie aud elektrische Leitfähigkeit) werden
vom Verfasser leicht verständlich erörtert und
kritisch besprochen. Die vorliegende Arbeit um-
faßt 4 Kapitel, von welchen das erste einen
* Überblick über die bisherigen Anschauungen und
Ergebnisse der Kryoskopie bringt, das zweite
und dritte ist den eigenen Untersuchungen des
Verfassers über Gefrierpunktserniedrigung sowie
den Leitfähigkeitsbestimmungen gewidmet. Das
Hauptinteresse des Verfassers wendet sich selbst-
verständlich der Kryoskopie zu. Nach zahlreichen
Beobachtungen an Nierenkranken folgt eine Zu-
sammenfassung der Beobachtungsresultate mit
Abschnitten über Urämie, therapeutischen Folge-
rangen und einigen Schlußbetrachtungen. Die
Kryoskopie von Blut und Urin bei nicht Nieren-
kranken wie auch von anderweitigen Körper-
säften (Milch, Schweiß, Galle etc.) und Organen
bleibt nicht unberücksichtigt.
Der Methodik der Leitfähigkeitsbestimmung
gehen einige theoretische Bemerkungen voran,
die mit Bestimmungen an Blutserum, Urinen
und Cerebrospinalflüssigkeit enden.
Zuletzt folgen Schlußsätze, die im großen
und ganzen sich mit Recht mit dem Co wischen
Satze: „das ganze Gebiet der Kryoskopie (und
um so mehr das der elektrischen Leitfähigkeit.
Ref.) gehört vorläufig noch weit mehr den
Forschern als den Praktikern" folgerichtig decken.
Mit der Literaturangabe schließt die objektiv
abgefaßte Monographie, die jedem, der sich mit
diesem Thema zu beschäftigen Veranlassung hat,
zu lesen empfohlen wird.
Dr. Casimir Strzyzowski (Lausanne).
Belastungslagerung. Grundzüge einer nicht
operativen Behandlung1 chronisch-entzünd-
licher Frauenkrankheiten. Von Dr. Ludwig
Pinous-Danzig. Verlag von J. F. Bergmann.
Wiesbaden 1905. Preis 3,60 M.
Im allgemeinen Teil gibt der Verfasser die
geschichtliche Entwickelung der Behandlung der
verschiedenen gynäkologischen Affektionen zu-
nächst mittels der abdominalen Belastung allein,
dann durch die direkte Kompression per vaginam
und schließlich durch die Lagerung auf der
schiefen Ebene (Mittelhochlagerung). Alsdann
geht er zur Schilderung seiner eigenen Methode
und Technik über: Mittelhochlagerung, die Be-
lastung (Kompression) in ihrer verschiedenen
Form, abdominal, intravaginal, intermittierend,
kontinuierlich, direkt durch das benutzte Gewicht,
indirekt mittels des durch das Gesetz der Schwere
auf die Bauch- und Beckenorgane ausgeübten
Zuges. Die Kompression des Abdomen gelingt
einfach durch einen 2 bis 5 kg schweren Sack.
Die intravaginale Kompression wird ver-
mittels eines vom Verfasser angegebenen Kol-
peurynters ausgeführt. Das Verfahren bietet den
großen Vorteil, daß viele Kranke ambulant be-
handelt werden können.
In einem andern Abschnitte läßt Pinous
die verschiedenen Indikationen für seine Methode
sowie die verschiedenen Affektionen Revue pas-
sieren, die er zu behandeln Gelegenheit hatte.
Parametritische Exsudate, Erkrankungen der Ad-
neze und Beckenserosa, Retroversio uteri fixati
u. s. w. Alle akuten und subakuten Prozesse
bilden eine formelle Kontraindikation.
Zum Schluß äußert Verf. sich über die
Kolpeuryntermassage, die wegen des vollständigen
Mangels von Reizerscheinungen selbst bei hyste-
rischen und sehr impressionablen Frauen An-
wendung finden kann. Es verdient auch Beach-
tung, daß wir in der Kolpeuryntermassage ein
ausgezeichnetes Mittel besitzen, die Uteruskon-
traktionen bei der Entbindung anzuregen und zu
verstärken. Dr. Weith (Lausanne).
Atlas und Grundriß* der Verbandlelrre für Stu-
dierende und Ärzte. Von Albert Hoffa,
3. vermehrte und verbesserte Aufl. München.
J. A. Lehmanns Verlag 1904. 8 M.
Wie so manche andern der Lehmann sehen
Atlanten hat auch Hoff es Grundriß der Ver-
bandlehre eine mehrfache, jetzt die 3. Auflage,
erlebt, worüber man nur seine Genugtuung aus-
drücken kann, denn die Ausstattung des vom
Autor gelieferten Materials ist geradezu ideal
zu nennen, besonders im Hinblick auf die natur-
getreue Darstellung der einzelnen Verbände. Das
Werk enthält alles in bildlicher Darstellung,
was der Student und der Arzt braucht, der Text
gibt in klarer und vorzüglicher Kürze die nötige
Beschreibung, wobei kurze historische Notizen
nicht fehlen, was den Stoff noch mehr belebt.
Für* die Trefflichkeit und den praktischen Wert
des Werkes spricht auch der Umstand, daß es
in mehrere fremde Sprachen übersetzt worden ist.
Wesienhoeffer.
Hautreizende Primeln. Untersuchungen über
Entstehung, Eigenschaften und Wirkungen
des Primelhautgiftes. Von Professor Dr.
A. Nostlor. Mit 4 Tafeln. Berlin, Verlag
von Gebrüder Bornträger, 1,904.
Der Verf. hat Untersuchungen über Ent-
stehung, Eigenschaften und Wirkungen des
Primelhautgiftes angestellt und ist durch ein-
gehende Experimente zu dem Resultate gelangt,
daß das gelblich-grüne Sekret, welches von den
Drüsenhaaren abgesondert wird, eine Substanz
enthält, die jene hautreizende Wirkung hervor-
ruft. Heilung tritt erst dann ein, wenn die
Primel aus der Nähe des Patienten entfernt
wird und eine gründliche Reinigung der Orte,
wo Primelteile lagen, mit einem Lösungsmittel
des Primel gif tes wie Alkohol, Tenpentinöl etc.
erfolgt ist. Neben der Primula obeonica haben
auch Primula sinensis Lindl, Primula Sieboldii,
Primula cortussides, wie Verf. festgestellt hat,
hautreizende Eigenschaften. Ein ausführliches
Literaturverzeichnis erhöht den Wert des durch-
aus zeitgemäßen Werkes. Edmund Saatfeld.
XIX. Jahrgang. 1
Juli 1905. J
Praktisch« Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
387
Praktische Ifottsen
and
empfehlenswerte Arzneiformeln.
Dormiol als AnthidroÜcum. Von Dr. Weder hake
in Elberfeld. (Originalmitteilung.)
Bei Besprechung der Therapie der Nacht-
schweiße der Phthisiker erwähnt Penzoldt
kurz: „Nicht unwichtig ist es, daß das Sulfonal
die Schweißbeschränkung zuweilen als Neben-
wirkung äußert u (Handbuch der Therapie innerer
Krankheiten Bd. 3, S. 413, 1902 von Penzoldt
and Stintzing). Vom Trional ist diese Wirkung
ebenfalls schon länger bekannt. Neuerdings
wurde darauf hingewiesen, daß das Yeronal einen
ähnlichen Effekt haben kann. Ulrici (Therap.
Monatsh. 1904, 12) gab dasselbe in Dosen von
0,3, fand aber, daß die Wirkung in der Regel
erst am 3. Tage nach der Darreichung eintrat.
Ich verwende seit 1901 fast ausschließlich
das Dormiol als Schlafmittel und bin mit dem-
selben stets ausgekommen. Es wirkt unter
anderm bei den schweren Delirien der Säufer
so gut, daß ich von der Darreichung des Chlorais
absehen konnte. Nebenwirkungen habe ich nie
gesehen, obgleich ich es bisher in mehreren
tausend Dosen verordnete. Hierbei machte ich
die Beobachtung, daß es die Nachtschweiße der
Phthisiker derart beschränkte und sogar zeit-
weise beseitigte, daß die Kranken schon aus sich
nach dem Mittel verlangten, wenn gelegentlich
ein anderes Schlafmittel zum Vergleich gegeben
wurde.
Ich reichte es gewöhnlich in einer Dosis
von 1,5 — 2,0 g, da geringere Dosen nicht wirk-
sam sind. Es hat dies keinerlei Bedenken, da
ja das Dormiol keinen Einnuß auf das Zirku-
lationssystem hat, im wohltätigen Gegensatze
zum Chloral. Nach meinen Beobachtungen kann
man ohne Schaden bis zu 3,5 g gehen. Diese
Unschädlichkeit des Dormiols hat sich mir immer
wieder erwiesen, wie ich es schon 1901 in meiner
Arbeit „Über Dormiol u angegeben habe.
Ein Heilmittel gegen die Nachtschweiße ist
das Dormiol nicht. Oft kann man aber das
Mittel für mehrere Abende aussetzen, ohne daß
neue Schweiße auftreten.
Die hygienische Behandlung der Fußböden.
Die außerordentliche Bedeutung, welche der
Staub bei der Übertragung von Krankheiten und
zur Förderung derselben hat, läßt die einschlä-
gigen Fachkreise immer mehr darauf sinnen,
diesen schädlichen Feind der Menschen möglichst
einzuschränken. Zur Herstellung einer guten
Luft in den Räumen der Krankenhäuser, Sana-
torien u. s. w. bemüht man sich nun auf das
angelegentlichste durch eine außerordentlich
gute Lüftung und peinliche Sauberkeit. Beide
Mittel bedürfen freilich eines größeren Kosten-
aufwandes und haben außerdem den Nachteil,
den Staub nicht in seinem Ursprünge, sondern
erst später unschädlich zu machen. Wenn nun
viele Bestrebungen dahin gingen, den Staub in
der Entstehung zu entfernen, so gipfelten diese
meistens darin, auf dem Fußboden eine feuchte
Schicht herzustellen, wo der Staub festgehalten
wurde. Oft nahm man dazu Fußbodenöle, welche
man gewöhnlich mit schweren Bürsten in den
Boden hineinrieb, und deren Erhärtung man
künstlich hinderte. Daß solche Mittel ihren
Zweck nur teilweise erfüllen konnten, liegt auf
der Hand, denn eine solche feuchte Schicht auf
dem Fußboden ist nicht jedermanns Sache, denn
Krustenbildungen, Beschmutzungen der Kleider,
ein unfreundliches Aussehen der Fußböden ist
die natürliche Folge.
Vor einiger Zeit hatte ich Gelegenheit, einen
bedeutenden Fortschritt in dieser Hinsicht zu
konstatieren. Bei dem Besuche eines großen
Kieler Krankenhauses fiel mir die außerordent-
lich gute Luft auf, welche hier herrschte. Als
Ursache nahm ich eine gute Ventilation an,
wurde aber auf meine Anfrage dahin berichtigt,
daß lediglich eine neue Behandlung des Fuß-
bodens die Ursache sei. Aufmerksam gemacht
und besonders, weil ich seit einigen Jahren diese
hygienisch wichtige Frage ernstlich verfolge, er-
kundigte ich mich weiter und konnte feststellen,
daß die hier angewandte Fußbodenimprägnierung
folgende schätzenswerte Eigenschaften besitzt:
Die Fußböden bekommen ein gutes Aussehen,
lassen sich ungemein leicht durch einfaches
Zusammenkehren mit scharfem Besen reinigen,
das schädliche nasse Wischen wird um 75 Proz.
vermindert, und der Staub ist in den Räumen
nicht mehr zu bemerken. Außerdem wurde mir
als großer Vorteil hingestellt die sofortige Be-
nutzungsmöglichkeit der behandelten Räume,
ohne daß den Kranken durch das öl die geringste
Belästigung zuteil wird. Weitere Umfragen
meinerseits ergaben die Anwendung desselben
Öles in Krankenhäusern Leipzigs, und durch
diese Notiz möchte ich möglichste Klarheit über
Für und Wider in dieser wichtigen Frage herbei-
führen. Es wäre mir deshalb außerordentlich
angenehm, wenn aus dem Interessentenkreise
dieser Zeitschrift mit mir Frage und Antwort
ausgetauscht würde, in welcher Weise Fuß-
böden ihrer Verwaltung vorteilhaft behandelt
werden.
Es handelt sich hier um ein Mineralöl mit
organisch-chemischen Zusätzen zum Imprägnieren
hölzerner Fußböden und des Linoleumbelages.
Das Einreiben wurde mir demonstriert, und ein
energisches Überfahren mit Seidenpapier meiner-
seits auf der frischen Stelle ergab nicht die ge-
ringste Beschmutzung desselben. Trotzdem be-
wirkt dieses Öl, daß die feineren Staubteile im
Volumen günstig verändert und 60 verhältnis-
mäßig zu schwer werden, um noch aufwirbeln
zu können. Der eminente Vorteil liegt hier in
der chemischen Wirkungsweise gegenüber einer
organischen mit allen ihren Nachteilen.
Wenn durch die angedeutete Behandlung
des Fußbodens für Menschen hygienisch, für die
Reinigung große pekuniäre Vorteile entstehen,
so dürfte dies die Publikation dieser Notiz
rechtfertigen.
K. Langhann, Ingenieur,
Assistent an der Techn. Hochschule Dresden.
J
388
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
rTherapeatisebe
L Monatshefte.
Mesotanvaselin
an Stelle des gebräuchlichen Mesotanöls wird
von J. Ruhemann (Deutsche med. Wochenschr.,
19, 1905) in folgender Verordnung empfohlen:
Mesotan 5,0
yaselin. amer. flav. 15,0.
Infolge zahlreicher Beobachtungen konnte
Ruhemann sich von der Reizlosigkeit des
Mesotanvaselins gegenüber dem Mesotan öl über-
zeugen. Ein kühl es Aufbewahren der Salbe
ist erwünscht.
Tuckers Asthmamittel,
welches seiner günstigen Wirkung wegen eine
weit verbreitete Anwendung findet, besteht nach
einer älteren, von Dr. Aufrecht vorgenommenen
Analyse aus: Cocainum hydrochloricum 1 Proz.,
Kalium nitricum 5 Proz., Glyzerin 35 Proz.,
Bittermandelwasser 35 Proz., Wasser 25 Proz.,
Pflanzenextraktivstoffe (Stramonium) 4 Proz. Eine
neuere, von Bertram (Zentratbl. f. innere Me-
dizin, No. 5, 1905) angestellte Untersuchung
ergab folgendes Resultat:
Die angenehm riechende, braunrote, klare
Flüssigkeit ist neutral, zeigt 1,097 spez. Gew.
und gibt 5,52 Proz. Trockenrückstand. Ge-
funden wurden Natriumnitrit 4 Proz. und Atro-
pinsulfat 1 Proz. Da die. Flüssigkeit (120 g)
nebst Zerstäuber 64 Mark kostet, empfiehlt
Bertram als billigen Ersatz derselben folgende
Verordnung:
Rp. Atropini sulfurici 0,15
Natrii nitrosi 0,6
Glycerini 2,0
Aquae destill, ad 15,0.
M. D. in vitro fusco. S. Im Apparat drei
Minuten lang zu zerstäuben und einzuatmen.
Die Wirkung bei Asthma und Heufieber
scheint auf der Beruhigung der Nervenendigungen
in den Bronchialmuskeln und auf der Sekretions-
beschränkung der Bronchialdrüsen zu beruhen.
Der Apparat wird von Tucker zum Preise
von 32 Mark, von Burroughs, Wellcome & Co.
schon zu 6 Mark geliefert.
Die Seekrankheit
behandelt der englische Schiffsarzt Sharpe
(Brit. med. Journ., No. 2316), indem er die
Akkomodation des einen Auges mittels Ein-
träufeln von 2 oder 3 Tropfen Atropinlösung
(1 : 125) in den Konjunktivalsack lähmt. Nach
ihm ist die Seekrankheit als ein nervöses Er-
brechen "anzusehen. Der Reflex wird durch den
Vagus ausgelöst. Wo die Atropineinträufelungen
nicht gemacht werden können, genügt das Ver-
binden des einen Auges zur Verhütung der See-
krankheit. Bei 50 in dieser Weise behandelten
Patienten trat in 65 Proz. der Fälle nach 6 bis
24 Stunden Genesung ein. Auch einseitige
Blindheit scheint gegen Seekrankheit zu schützen,
denn Sharpe hat 9 Personen beobachtet, die
früher sehr unter der Seekrankheit zu leiden
hatten, von derselben jedoch nicht mehr befallen
wurden, nachdem sie das Sehvermögen auf einem
Auge verloren hatten.
In der Syphilisbehandlung
steht unter den Jodpräparaten in bezug auf
schnelle und zugleich energische Wirkung nach
wie vor das Jodkalium an erster Stelle, freilich
hat es den Nachteil, am leichtesten Jodismus
hervorzurufen. Zur Vermeidung dieser Neben-
wirkung empfiehlt Lieven (Münchener medizin.
Wochenschr. Nr. 13, 1905) Jodkalium in folgen-
der Verordnung zu verschreiben:
Rp. Kalii jodati 30,0
Fern citrici ammoniati 4,0
Strychnini nitrici 0,02
Elaeosacch, menth. pip. 5,0
Aquae florum Aurantii ad 120,0.
S. 1 Theelöffel voll in Wasser zu nehmen.
Es ist von Wichtigkeit, Jodkalium nur in
starker Verdünnung zu reichen. 1 Theelöffel
(= 1 g KJ) der Mixtur ist daher mit mindestens
1/3 1 Wasser zu nehmen. Die Mixtur ist klar
und hell und bleibt lange Zeit haltbar.
Zar Behandlang des Schweißfußes in der Armee
empfiehlt Stabsarzt Dr. Fischer (Münch. med.
Wochenschr., 20, 1905) Vasenolfor mal in.
In der dermatologischen Praxis lernte er in neuerer
Zeit einen Fettpuder kennen, das Vasenol
(Dr. Kopp, Leipzig-Linden au), dessen vorzüg-
liche Eigenschaften ihn veranlaßten, es zur
Schweißfußbehandlung zu benutzen'. Durch Zu-
satz von Formalin (5—10 Proz.) und Salizyl-
säure (1 Proz.) erhielt er einen Schweißpuder
von ausgezeichneter Wirkung. Nach tüchtigem
Abreiben des Fußes mit, einem in 1 proz. Salizyl-
spiritus (1 Acid. salicyl. : 100 Spirit. dii.) ge-
tauchten Wattetupfer wird der Fuß mit dem
Puder gut eingerieben (der Puder darf nicht
eingestäubt werden); dabei ist die Haut besonders
zwischen und unter den Zehen zu berücksichtigen.
Die Prozedur ist 2 mal täglich (früh und abends)
vorzunehmen. Die Fußbekleidung ist dabei etwas
einzupudern. Während der üble Geruch schon am
zweiten Tage geschwunden ist, trocknet die Haut
unter schwärzlicher Verfärbung der Hornschicht
gut ab, so daß die Leute nach spätestens S Tagen
aus der Behandlung entlassen werden können.
Prei8aafgabe.
„Es sollen im Anschluß an dieW. A. Freund-
schen Untersuchungen die Ursachen der Stenose
der oberen Thoraxapertur und ihre Bedeutung
für die Entwickelung der Spitzenphthise unter-
sucht werden.**
Bearbeitungen sind in deutscher Sprache
bis 1. Mai 1906 an Herrn Professor Strauß,
Berlin NW., Alexanderufer 1, unter Beifügung
eines Mottos einzusenden.
Die preisgekrönte Arbeit wird mit 800 M.
honoriert.
Der Vorsitzende der Hufelandischen Gesellschaft
Liebreich.
Für die Redaktion verantwortlich: Dr. A.L an gg aar d in Berlin SW.
Verlag von Julius Springer in Berlin N. — Universitäts-Buchdruck erei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin N.
Therapeutische Monatshefte.
1005. August.
Originalabhandlnngen.
Über Collargol (Crede>
Von
Dr. med. R. Weittmann in Linden fels.
Der Aufforderung der Redaktion dieser
Zeitschrift über meine Erfahrungen mit
intravenösen Injektionen von Gollargol zu
berichten, komme ich um so lieber nach, als
mir dadurch Gelegenheit geboten wird, noch-
mals für die so überaus einfache intravenöse
Applikation von Arzneimitteln eine Lanze
zu brechen. Andererseits ist das Collargol
oder Argentum colloidale ein so außerordent-
lich wirksames Arzneimittel und besitzt eine
so ausgedehnte Anwendbarkeit, daß ich alle
Kollegen, welche seine Wirksamkeit erprobten,
für verpflichtet halte, ihre Stimme für das-
selbe in die Wagschale zu werfen. Der Arzt
befindet sich heutzutage gegenüber der Hoch-
flut von neuen Arzneimitteln, mit welchen
uns eine nur zu rührige chemische Industrie
beglückt, in einer doppelt unangenehmen Lage.
Da die meisten dieser Produkte ein äußerst
kurzes Dasein haben, da sie keineswegs
halten, was ihre Erzeuger und Paten mit
Emphase versprechen, ist eine gewissenhafte
Skepsis nur zu sehr am Platze. Anderer-
seits verleitet diese im allgemeinen wohl an-
gebrachte Skepsis den Arzt zu Mißtrauen
gegenüber Arzneimitteln, deren Wirksamkeit
über jeden Zweifel erhaben ist. Allerdings
spielt hier oft noch etwas anderes mit, eine
Eigenschaft der Menschen im allgemeinen
und der Ärzte im besonderen, welche Lom-
broso Misoneismus, Kose Misokainia nennt,
die tief eingewurzelte Neigung der Menschen,
neue Ideen zu bekämpfen. Rose1) erkennt
die Berechtigung an, alles Neue mit Vorsicht
aufzunehmen. „Wenn aber diese Vorsicht
oder sagen wir dieses Vorurteil in Gesell-
schaft von Selbstsucht und Trägheit, den
Erzfeinden allen Fortschritts, auftritt, so kann
man von Misokainia sprechen." Wer denkt
da nicht an das Geschick Harveys und
Semmelweis'?
]) Rose, Misokainia in der Medizin. Vortrag,
gehalten in der Deutsch, med. Gesellsch. der Stadt
New- York am 3. X. 04. New- York er med. Monats-
schrift
In der neuesten Zeit sind es die Arbeiten
Landerers über die Behandlung der Tuber-
kulose mit Hetol gewesen, welche infolge
der Misokainia vieler Ärzte in hervorragen-
den Stellungen nicht die Anerkennung ge-
funden haben, welche sie durchaus verdienen;
und zwar sehr zum Schaden der leidenden
Menschheit. Da mir das Collargol bei weitem
noch nicht genug gekannt zu sein scheint,
will ich zu meinem Teil dazu beitragen,
daß dieses ausgezeichnete Mittel immer mehr
Freunde sich erwerbe. Ich habe auch hierbei
wieder den Umstand im Auge, daß Heil-
mittel und Heilmethoden, welche wirklich
viel leisten, unsere beste Waffe im Kampfe
gegen das Kurpfusch ertum sind und am meisten
geeignet sind, unser Ansehen zu heben.
Nach Georgi3) reicht der Anfang der
Cr ed eschen Silberbehandlung bis in den
Herbst 1895 zurück. Der Erfolg der Be-
mühungen Cr e des, ein Silberpräparat dar-
zustellen, das eine hohe bakterizide Kraft
mit völliger Ungiftigkeit und Reizlosigkeit
vereinigte, war zunächst das Itrol. Aber in-
sofern als dieses Silbersalz in der notigen
Konzentration mit Blutserum Gerinnung ver-
anlaßte, also sich nicht dazu eignete, dem
Blute einverleibt zu werden, genügte es
C r e d e nicht und veranlaßte ihn, die Darstellung
reinen metallischen Silbers in löslicher Form
anzustreben. Es gelang der mit dieser Auf-
gabe betrauten chemischen Fabrik von Heyden
ein lösliches Silber darzustellen, das Collargol
genannt wurde, und über welches Crede'
1897 auf dem medizinischen Kongresse in
Moskau zum ersten Male berichtete. Ich
übergehe hier die Art der Darstellung des
Collargols, seine chemischen und physikali-
schen Eigenschaften.
Die oben angeführte Arbeit Georgis und
eine Monographie von Beyer3) geben darüber
3) Georgi, Über die Bedeutung der Silber-
behandiang für die ärztliche Praxis. Zeitschr. f.
ärztl. Fortbildung. 1904, Nr. 20.
3) Beyer, Über die Verwendung kolloidaler
Metalle in der Medizin, besonders Silber und
Quecksilber. Moderne ärztliche Bibl. Heft 6.
Berlin 1904.
Th. M. 1905.
390
W^iiimann, Ober Collargol (Credtf).
rTherapeotiacto
L Monatshefte.
jedem, der sich dafür interessiert, Aufschluß.
Dagegen will ich hier an der Hand der vor-
handenen Literatur näher eingehen auf die
Wirkungsweise des Collargols im tierischen
und menschlichen Körper. Crede4) selbst
hatte bisher angenommen, daß die Einwir-
kung des Collargols in erster Linie auf einer
das Wachstum der Bakterien hemmenden
Kraft beruhe. Schmidt5) kann nach seinen
Untersuchungen nicht die Anschauung teilen,
daß durch das Silber eine Mobilmachung
und Neubildung von Leukozyten hervorge-
rufen werde. Nach Wenckebash und Netter
gehöre das Collargol zu den sogenannten
Fermenten, die als Katalysatoren wirken.
In Gegenwart dieser Fermente, und zwar
ganz geringer Mengen, verlaufen Reaktionen
blitzartig schnell, die sonst einen langsamen,
oft kaum merkbaren Verlauf nehmen. Schmidt
führt ferner die Hypothese Wolfs an, daß
Silber, mit organischen Substanzen zusammen-
gebracht, elektrische Ströme mit ausgesprochen
bakterizider Wirkung erzeuge. Solche Ströme
könnten auch im Blut entstehen. Nach Wis-
licenus bildeten gewisse Metallpaare elek-
trische Elemente, vielleicht auch das Silber
mit dem Eisen im Blut. Gegenüber diesen
Hypothesen bleibt Schmidt zunächst bei
der Ansicht, daß die Wirkung des Collargols
als eine bakterizide nicht unmöglich sei, und
daß die außerordentlich große hemmende
Eigenschaft auch von schwachen Collargol-
lösungen die wesentliche Ursache der Wir-
kung sei.
Neuerdings hat nun Rodsewicz6) durch
Tierversuche nachgewiesen, daß bei Einver-
leibung selbst verhältnismäßig großer Mengen
von Collargol in keinem Falle dauernde Ver-
änderungen der Blutzusammensetzung auf-
traten. Ferner folgte jeder einzelnen Appli-
kation eine akute leukozytäre Reaktion, welche
am stärksten nach intravenöser Injektion, am
schwächsten nach der Einreibung von Un-
guentum Crede ausgesprochen war, da durch
diese letztere nur chemisch nicht nachweis-
bare Mengen Silbers in den Körper gelangen.
Nach öfteren Wiederholungen der Einrei-
bungen und subkutanen Injektionen blieb
die Leukozytose bis zu zwei Wochen be-
stehen. Intravenöse Injektionen gaben dieses
Resultat nicht. Der Verfasser kommt zu dem
Schluß, daß die therapeutische Wirkung des
Collargols darin bestehe, daß es erstens
*) Crede, Wie wirkt Collargol? Zeitschr. f.
arztl. Fortbildung .1904, Nr. 20.
*) Schmidt, Über die Wirkung intravenöser
Collargolinjektionen bei septischen Erkrankungen.
Deutsche med. Wochenschr. 1903, Nr. 16 u. 16.
6) Rodsewicz, Über den Einfluß des lös-
lichen Silbers (Argentum colloidale Crede) auf das
Blut. Inaug.-Diss. St. Petersburg 1904.
eine bakterizide Wirkung ausübt, ohne das
Blut zu schädigen, und zweitens zur Ver-
mehrung der großen vielkernigen Leukozyten
anregt.
In einer zweiten Arbeit der jüngsten Zeit
bespricht Schade7) die elektrokatalytische
Kraft der Metalle. In der sehr lesenswerten
Arbeit kommt Verfasser zu dem Schluß, daß
namentlich die elektrokatalytische Kraft der
kolloidalen Formen der Metalle auch im
lebenden Körper zur Wirkung komme. Hier-
durch werde der Wasserstoff- und Sauerstoff-
ausgleich in den tierischen Flüssigkeiten er-
leichtert und eine schnelle und energische
Oxydation im Organismus bewirkt. Es sei
naheliegend, anzunehmen, daß diese Oxy-
dationsbeschleunigung entgiftend auf die Pto-
maine und Toxine wirke, wie ja diese Körper
schon durch die Einwirkung des Sauerstoffes
der Luft in ungiftige Körper übergeführt
werden. Außerdem spricht Verfasser dem
Collargol eine' bakterizide Einwirkung zu.
Auf Grund der Arbeiten von Rodsewicz
und Schade stellt sich Crede8) die Wirkung
des Collargols etwa wie folgt vor:
„Die Wirkung wird bedingt erstens durch
die bakteriziden Eigenschaften des löslichen
Silbers, zweitens durch seine elektrolytische
Kraft, d. h. durch seine Eigenschaft durch
Erzielung elektrischer Ströme Oxydations-
vorgänge einzuleiten, und drittens durch seine
Anregung zur Vermehrung der großen Leuko-
zyten. a
Ich übergehe hier die Anwendungsformen,
wie sie für die operative Chirurgie üblich
sind, und will nur die Anwendung des Coll-
argols bei Verletzungen besprechen. Nachdem
die Umgebung der Wunde gereinigt ist, wird
die Wunde selbst, falls es sich um eine
Fläche handelt, mit Co I largo lpulver bestreut,
falls es sich aber um Höhlen wunden handelt,
diese mit Collargollösung ausgespült. Bei
nischen- oder taschenförmigen Wunden em-
pfiehlt es sich, ein oder mehrere Collargol-
tabletten je nach Größe der Wunde in diese
zu versenken und dann zu tamponieren. Für
den Militärarzt im Feldzuge und für den
Landarzt sind die Collargoltabletten deshalb
sehr praktisch. Dieselbe werden zu 50 Stück
ä 0,05 Collargol in handlichen Glasröhrchen
und Holzhülsen in den Handel gebracht und
versetzen den Arzt in die Lage, jederzeit
sich antiseptische Lösungen und Verband-
stoffe herzustellen.
Erwähnen will ich noch, ehe ich zu der
Anwendung des Collargols als inneres Mittel
7) Schade, Die elektrokatalytische Kraft der
Metalle. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1904.
8) Crede, Wie wirkt Collargol? Zeitschr. f.
ärztl. Fortbildung 1904, Nr. 20.
XIX. Jahrgang.l
A«ffo«t 1905. J
WtlumiBn, Ober CoUargol (Credl).
391
übergehe, seine Anwendung in der Augen-
heilkunde, bei Verbrennungen und bei Haut-
erkrankungen infektiöser Natur als 1 — 2proz.
Salbe. Zur Einführung in Fisteln, in die
Harnröhre, in den Uterus dienen die von
Klien angegebenen 2proz. Silberstäbchen.
Für Scheide und Mastdarm sind Vaginal-
kugeln oder Suppositorien angegeben.
Näheres hierüber möge man bei Cred£9),
Georgi10) und Beyer11) nachlesen. Man
wird finden, daß die Anwendung des Coll-
argols bei Wunden und äußeren Erkran-
kungen eine sehr vielseitige ist. Für den
praktischen Arzt aber liegt die Hauptbedeu-
tung des Collargols in seiner Anwendung
bei inneren Krankheiten infektiöser Natur.
Ehe ich auf die einzelnen Erkrankungen, bei
denen Collargol indiziert ist, eingehe, will
ich die verschiedenen Formen der Anwendung
und ihre Indikation besprechen.
Die Einführung des Collargols als internes
Mittel kann auf mehrfache Weise geschehen,
nämlich als Salbe, als Lösung per os oder
an um, als subkutane und als intravenöse
Injektion.
Um dies gleich vorweg zu nehmen, über
die subkutane Anwendung sind die Meinungen
noch geteilt. Während Ritters haus19) sub-
kutane Injektionen für unstatthaft erklärt,
da sie zu schmerzhaften Infiltrationen und
Zellgewebsnekrosen führen, hat Wagner18)
in einem schweren Falle von Milzbrand-
erkrankung Heilung durch subkutane In-
jektion einer 2proz. Gollargollösung erzielt.
Ich möchte die Frage dahin entscheiden,
daß, wenn auch die Wirksamkeit der sub-
kutanen Injektion nicht geleugnet werden
soll, in allen Fällen die intravenöse Injektion
schon wegen ihrer Schmerzlosigkeit vorzu-
ziehen ist, falla nicht eine andere Anwen-
dungsweise, etwa als Unguentum Crede, an-
gezeigt ist.
Was die Applikation des Mittels als
Lösung resp. als Pillen per os und als
Klysma oder Suppositorien per anum an-
langt, so hat namentlich Netter14) diese
Formen der Darreichung erprobt. Er empfiehlt
das Collargol bei Krankheiten des Nerven-
9) Crede, Über Collargol-Tabletten. Allgem.
med. Zentral-Zeitg... 1904, Nr. 12.
10) Georgi, Über die Bedeutung der Silber-
behandlung für die ärztl. Praxis. Zeitschr. f. ärztl.
Fortbildung 1904, Nr. 20.
11) Beyer, Über die Verwendung kolloidaler
Metalle (Silber and Quecksilber) in der Medizin.
Moderne ärztliche Bibl., Heft 6. Berlin 1904.
") Rittershaus, Intravenöse Co llargoli Injek-
tionen bei septischen and infektiösen Erkrankungen.
Therapie der Gegenwart Juli 1904.
1S) Waffner, Schwere Milzbranderkrankung,
geheilt durch subkutane 2proz. Collargoleinsprit-
znngen. Allgem. med. Zentral-Zeitg. 1904, Nr. 37.
Systems und des Verdauungskanals an Stelle
des Argentum nitricum, da Collargol eine
längere Zeit fortgesetzte Behandlung erlaube,
ohne daß Argyrie zu befürchten sei. Per os
gibt Netter Collargol in Pillen zu 0,01 mit
0,1 Sacchari lactis oder in lproz. Lösung
10 — 30 ccm pro die mit einem Geschmack 8-
corrigens. Per anum verabreicht der Autor
Klysmen von 50 ccm mit 0,1 — 0,5 Collargol
oder Suppositorien mit 0,1 — 0,3 Collargol.
Netter sah gute Erfolge bei Epilepsie, bei
welcher er, ohne Anfälle zu provozieren, bei
gleichzeitiger Collargoldarreichung von 6 bis
12 g Bromkali auf 3 g pro die herabgehen
konnte. Ferner wurden günstig beeinflußt
Neuralgien und Neurasthenien sowie eine
habituelle Chorea, welche der Antipyrin- und
Arsenikbehandlung getrotzt hatte und durch
Collargol ziemlich rasch geheilt wurde. Da
wir die meisten Neuralgien und Neurasthenien
als Symptome einer vom Magend arm tr actus
ausgehenden Autointoxikation ansehen müssen,
wie ich15) erst unlängst wieder betont habe,
so scheint mir die Wirkung des Collargols
bei diesen Erkrankungen sehr einfach zu er-
klären zu sein. Es dürfte sich sehr empfehlen,
in allen Fällen von Magen- und Darmatonie
außer der gegen das Grundleiden gerichteten
Behandlung noch Collargol anzuwenden, um
die vorhandenen Symptome der Autointoxi-
kation möglichst schnell zu beseitigen.
Krankheiten des Verdauungskanals, bei
denen Netter gute Erfolge erzielte, sind
hartnäckige Diarrhöen, tuberkulöse Enteritis
und drei schwere Dysenteriefälle. Ferner
bewährte sich ihm das Collargol bei Typhus
abdominalis, protrahierter Influenza, Lungen-
tuberkulose mit Kavernen und in einem Falle
von infektiöser Endokarditis.
Auch Behr16) hat Collargol per os und
per anum gegeben, weil diese Darreichung
einfacher sei als durch intravenöse Injektion.
Nach ihm ist Collargol unzweifelhaft im-
stande, die Zahl der Eitererreger im Sputum
zu vermindern. Er empfiehlt seine Anwen-
dung auch bei allen nicht tuberkulösen eitrigen
Krankheitsprozessen in der Lunge.
Löbl17) tritt warm für die Anwendung
u) Netter, Über die Collargol-Darreichung
per os und per rectum. Bull, et Mem. de la Soc.
med. des H6p. de Paris 1904, 14; ref. Ärztliche
Rundschau 1904. Nr. 36.
,8) Weißmann, Über Enteroptosis (Magen-
ujnd Darmatonie). München 1905, Verlag d. Ärztl.
Rundschau.
18) Behr, Über den Einfluß der Credeschen
Silbertherapie auf die den Tuberkelbazillus be-
gleitenden Bakterien. Wiener klin. Rundschau
1904, Nr. 29.
,T) Löbl, Über eine neue Applikationsmethode
von Collargol (Collargolklysmen). Therapie der
Gegenwart 1904, IV.
29«
J
392
Weissmann, Üb«r Collargol (0vd6).
L Monatshefte.
des Collargols als Klysma ein. Nach vorher-
gegangener Entleerung des Darms durch
einen Wassereinlauf verabreicht er als Klysma
morgens und abends 50 g einer 1 proz. Lo-
sung 8—14 Tage. In 7 Fällen von allge-
meiner Sepsis und in 9 Fällen puerperaler
Sepsis hatte Verfasser je 5 Heilungen zu
verzeichnen. Die Collargolklysmen sind nach
ihm ebenso wirksam wie die anderen Arten
der Collargoldarreichung und besäßen eine
Reihe von Vorzügen. Zuweilen würden durch
sie noch Kranke mit septischen Prozessen
gerettet, die sonst verloren gewesen wären.
Die beiden Formen der Anwendung des
Collargols, welche bisher am meisten üblich
sind, sind die Schmierkur mit Unguentum
Cred£ und die intravenöse Injektion. Zwischen
beiden Anwendungsformen besteht ein prinzi-
pieller Unterschied und es ist dringend an-
zuraten, in jedem Falle sorgfältig zu über-
legen, welche Applikationsweise anzuwenden
sei. Handelt es sich um schwere akute Er-
krankungsfalle, bei denen es darauf ankommt,
eine schnelle Wirkung zu erzielen, so ist die
intravenöse Injektion am Platze. Da aber
das Silber in ganz kurzer Zeit wieder aus-
geschieden wird, so darf man keine Dauer-
wirkung erwarten, sondern man hat an der
Hand der Temperaturkurve die intravenöse
Injektion zu wiederholen, so oft es nötig ist.
Das ist sehr wichtig .und kann nicht oft
genug betont werden.
Die Einreibung mit Unguentum Cred6
richtig, zeitig und energisch ausgeführt hat
zwar fast denselben Effekt, aber man erreicht
eben nicht immer diese richtige Anwendung
und ist auch oft genug nicht in der Lage,
zeitig einzugreifen. Für mehr schleichend
verlaufende und für leichtere Fälle empfiehlt
sich als beste Anwendungsweise die Schmier-
kur mit Unguentum Crede. — Die Technik
der Schmierkur ist folgende: Die Dosis für
Kinder beträgt 1 g, für Erwachsene 2 — 3 g.
Je nach der Schwere der Erkrankung und
nach der Wirkung wird die Einreibung 1 bis
4 mal täglich gemacht. Vor der Einreibung
ist die Haut sorgfältig zu reinigen und mit
Benzin oder Chloroform zu entfetten. Die
Einreibung geschieht auf dem Rücken oder
einer der Extremitäten mit der flachen Hand
und *ist so lange, etwa 15 — 20 Minuten,
fortzusetzen, bis die Salbe fast verschwunden
ist, und die Haut keinen Fettglanz mehr
zeigt. Nach der Einreibung bedecke man die
Haut mit einem wollenen Stoff. Die durch
die Wärme erzeugte Hyperämie der Haut
bewirkt eine möglichst vollständige Resorption.
Die Schmierkur ist natürlich nicht ange-
bracht bei Kranken, welchen die Einreibung
Schmerzen verursachen würde, und bei sol-
chen Patienten, deren Haut trocken, welk
und schlaff ist, somit keine Aufsaugungs-
fähigkeit besitzt.
Was nun die Technik der intravenösen
Injektion anlangt, so sollte man Annehmen,
daß es unnötig sei, darüber noch ein Wort
zu verlieren, nachdem die intravenöse In-
jektion geradezu ein Eingriff der wichtigsten
Art geworden ist. Ich wiederhole hier noch-
mals, was ich18) schon 1902 betont habe,
die intravenöse Einverleibung von Arznei-
mitteln wird wegen der prompten Wirkung
immer mehr und mehr in Anwendung ge-
zogen werden. Ich habe schon im Januar-
heft 1905 der Therapeutischen Monatshefte
gegenüber Esch die Einfachheit der intra-
venösen Injektion betont. In demselben Heft
finde ich ein Referat von Ritterband über
einen Aufsatz von J. Dumont in La Presse
med. 1902, No. 67, betitelt „Intravenöse
Injektion von Merkurialsalzen bei Syphilis41.
Dieses Referat stützt meine Ansicht, daß die
intravenöse Einverleibung von wirksamen
Arzneimitteln eine große Zukunft haben
dürfte. In dem Aufsatz von Dumont wird
auch eine denselben Gegenstand behandelnde
Dissertation von Bonzitat (Paris 1902) be-
sprochen. Nach Bonzitat ist die Technik
der intravenösen Injektion sehr einfach, die
Injektion schmerzlos, die Wirkung schneller,
sicherer. Mit geringerer Dosis würde ein
stärkerer Effekt erzielt. Die Methode er-
laube eine bisher unerreichte Genauigkeit
der Dosierung. Auch Charpentier19) sagt
von der intravenösen Injektion, daß sie
durchaus nicht die Unzuträglichkeiten habe,
die man ihr bisher zugeschrieben habe.
Es wäre wirklich an der Zeit, daß nun-
mehr endlich die Stimmen derer verstummen,
welche die intravenöse Injektion für einen
schwierigen und gefährlichen Eingriff aus-
geben. Die betreffenden Autoren beweisen
doch nur, daß sie rückständig sind. —
Während Crede zuerst lproz. Lösungen
zur intravenösen Injektion benutzte, ver-
wendet er jetzt 2 proz., ja in der letzten
Zeit 5 proz. Lösungen. Von der 2 proz. Lö-
sung werden 5 — 15 ccm, von der 5 proz. 3
bis 9 ccm injiziert, also 0,1 — 0,45 g Coll-
argol. Tritt nach etwa 6 — 8 Stunden keine
Wirkung ein, die sich in Besserung des
Allgemeinbefindens und später Abfall der
Temperatur sowie Sinken der Pulszahl zeigt,
so muß die Injektion nach 12 — 24 Stunden
18) Weißmann, Heilbehandlung der Tuber-
kulose und Heilstattenbewegung und jhr Einfluß
auf die wirtschaftliche Lage der Arzte. Ärztl. Rand-
schau 1902, Nr. 40.
19) Charpentier, Le collargol en injectiona
intra-veineuses. These de Lyon 1903.
XJ2L Jahrgaag.1
Aognrt Iftftft. 1
Woissmann, Ober Collargol (Credtf).
393
wiederholt werden, wie ich schon oben er-
wähnt habe.
Nun noch kurz einige Worte zur Technik.
Man macht die' intravenöse Injektion am
besten in . eine der Venen der Ellenbogen-
beuge. Der Oberarm wird wie zum Aderlaß
umschnürt. Man läßt den Arm möglichst
strecken und die Hand fest zur Faust ballen,
um so die Venen noch mehr schwellen zu
lassen. Nach Abreibung der Ellenbogenbeuge
mittels Alkohol oder besser Äther wird die
Nadel der Injektionsspritze in die durch
zwei Finger fixierte Vene fast parallel zu
dieser eingestochen. Abweichend von Lan-
derer, der bekanntlich die intravenöse In-
jektion wieder eingeführt hat, läßt Crede
die Hohlnadel zuerst allein einstechen, dann
die nicht ganz- mit der entsprechenden Gollargol-
lösung gefüllte Spritze aufsetzen und etwas Blut
ansaugen, um sicher zu sein, daß keine Luft-
blase mit eingespritzt wird, da diese sicher
in der Spritze zurückbleibt. Während der
Injektion werden einige Pausen gemacht,
damit sich das Callargol besser im Körper
verteile.
Bas Anwendungsgebiet des Collargols,
verabreicht in der Form der Schmierkur
oder der intravenösen Injektion je nach Lage
des Falles, ist ein sehr großes.
Crede selbst läßt die Schmierkur machen
bei infektiöser Angina und beginnender Ma-
stitis. Bei septischen Erkrankungen muß die
Schmierkur so zeitig wie möglich begonnen
werden, selbst wenu sie mal nicht nötig ge-
wesen sein sollte; denn sie schadet nicht.
Im Anfange aller septischen Erkrankungen,
bei allen schleichend verlaufenden und bei
allen leichten Fällen ist die Schmierkur
souverän. Sobald aber der Zustand nur
irgend zu Bedenken Anlaß gibt, oder in
Fällen, welche von Anfang an als schwere
zu betrachten sind, zögere man nicht mit
der Anwendung der intravenösen Einsprit-
zungen. Wenn Crede80) septische Kranke
zu operieren habe, mache er häufig unmittel-
bar nach der Operation eine intravenöse
Collargolinjektion. Nach brieflicher Mittei-
lung wendet er bei allen schweren Ver-
letzungen, beginnender Peritonitis u. s. w. die
intravenöse Injektion schon lange prophy-
laktisch an, um die Kampfesmittel des
Körpers gleich von vornherein zu stärken,
zu einer Zeit, wo die Toxine noch nicht so
zahlreich sind, also leichter überwunden
werden können. Crede behandelte ferner
mit Collargol intravenös schwere Phlegmonen
M) Crede, Die Behandlung septischer Er-
krankungen mit intravenösen CollargoliDJektionen.
Archiv f. klin. Chir. Bd. 69, Heft 1 u. 2.
und Gangränen, allgemeine Sepsis, Puer-
peralfieber, Pyämie, septische Osteomyelitis,
Polyarthritis septica, ulzeröse Endokarditis,
schwere Erysipele, Peritonitis, Erythema no-
dosum, Milzbrand und ulzeröse Phthise.
Um aus der großen Zahl der vorliegenden
Mitteilungen über Collargolbehandlung nur
einiges hervorzuheben, so brauchte Weid-
mann91) Unguentum Crede' bei Lymphangitis,
Phlegmonen und allen septischen Prozessen
mit vorzüglichem Erfolge. Schirm er28) heilte
8 Fälle von Meningitis cerebrospinalis epi-
demica mit Unguentum Crede. Werl er*3)
heilte prompt eine akute Sepsis, eine chro-
nische septische Affektion und eine multiple
chronische Furunkulose mit Unguentum Crede.
Schloßmann34) behandelte mit Unguentum
Crede Phlegmonen, Pemphigus neonatorum,
Drüsenschwellungen nach Impfen, Scharlach
und Diphtherie mit meist gutem Erfolge.
Daß seine Erfolge bei chirurgischen Affek-
tionen nicht so eklatant waren, schreibt Ver-
fasser der mangelhaften Technik der Inunk-
tionen zu.
Vielt85) bezeichnet das Argentum colloi-
dale als ein Specificum gegen Sepsis. Ver-
fasser behandelte 20 Fälle, darunter alle
Arten septischer Infektion, Phlegmonen und
Puerperalfieber, Pneumonie, Diphtherie und
Scharlach mit Unguentum Crede. Nur zwei
zu spät in Behandlung gekommene Patienten
starben, in den übrigen 18 Fällen, darunter
sehr schwere, trat Heilung ein.
Woyer26) erzielte in 3 Fällen von puer-
peraler Sepsis mit hohem Fieber und Schüttel-
frost, in denen die anderen Methoden keine
Besserung gebracht hatten, mit 3 — 5 Ein-
reibungen von je 3 g Unguentum Crede in
Zwischenräumen von 10 Stunden Temperatur-
abfall, anhaltende Besserung und Heilung.
Müller87) hatte bei 30 Fällen von sep-
tischen Erkrankungen prompte Erfolge mit
S1) Weidmann, Silber als äußeres and inneres
Antisepticum. Osten*. Monatsschr. f. Tierheilkunde
1898, Nr. 8.
n) Schirm er, Vortrag in der Deutsch, med.
Ges. von Chicago. Autoreferat New- Yorker med.
Monatsschr. 1898, Nr. 9.
,3) Werl er, Über chirurgische Erfahrungen
mit löslichem Silber. Deutsche med. Wochenschr.
1898, Nr. 40.
24) Schloßmann, Über di« therapeutische
Verwendung kolloidaler Metalle. Ärztl. Rundschau
1899, Nr. 30.
**) Vielt, Ist Argent. coli. (gen. Collargolum)
ein Specificum gegen Sepsis? Allgem. med. Zentral-
Zeitg. 1901, Nr. 6 u. 7.
*6) Woyer, Beitrag zur Credeschen Silber-
therapie in der Gynäkologie und Geburtshilfe.
Münch. med. Wochenschr. 1901, Nr. 42.
*7) Müller, Die intraven. Injektion von Arg.
colloid. Crede (Collargol) bei septischen Erkran-
kungen. Deutsche med. Wochenschr. 1902, Nr. 11.
394
Waittmann, Über Collargol (Grade*).
rher&pentisrhe
Monataheft*.
intravenösen Injektionen von Collargol. Unter
diesen Fällen waren schwere Erysipele, Me-
ningitis cerebrospinalis epidemica, Perime-
tritis, Mastitis, hartnäckige Lymphangitis,
Phlegmonen, akute Polyarthritis, Pleuritis
exsudativa, Appendicitis, Peritonitis u. 8. w.
Zweimal beobachtete der Autor, daß bei
jauchigem Empyem der Pleura nach Rippen-
resektion der Gestank sich auffallend schnell
unter Collargolbehandlung verlor, und die
Heilung schneller als gewöhnlich eintrat.
Zweimal beobachtete er bei septischer Phthise
Aufhören des Fiebers und Nachtschweißes,
Hebung des Appetits und Gewichtszunahme.
Jänicke28) berichtet über einen Fall von
septischer Parametritis nach schwerer Zangen-
entbindung mit absolut infauster Prognose.
Eine intravenöse Injektion von 8 ccm einer
1 proz. Collargollösung hatte einen über-
raschenden Erfolg. Binnen 36 Stunden war
die Patientin fieberfrei. Ein kindskopfgroßes
Exsudat war in 41/* Tagen völlig geschwunden,
eine Perforation in Nachbarorgane war dabei
sicher ausgeschlossen.
Schräge89) heilte einen Fall von Milz-
brand durch intravenöse, "Wagner30) einen
ebensolchen Fall durch subkutane Col largo 1 -
injektionen.
Weber31) beschreibt 3 Fälle ernster ty-
phöser Sepsis; 3 stündliche Einreibungen von
je 2 g Unguentum Crede brachten Heilung.
Bei infektiöser Endometritis erzielte
Hoummel38) durch eine Injektion von 4 ccm
einer lproz. Collargollösung in den Uterus,
nachdem alle gebräuchlichen Mittel vergeb-
lich versucht waren, Herabsetzung des Fiebers
in 12 Stunden und Heilung in 8 Tagen.
Baylac38) schreibt dem Collargol eine
wahrhaft wunderbare Wirkung bei den ver-
schiedensten infektiösen Erkrankungen zu.
Auch Desanti34) empfiehlt auf Grund von
14 Beobachtungen die Anwendung des Coll-
argol s bei Infektionen jeder Art.
") Jan icke, Zur Kasuistik der intra venösen
Collargolbehandlung septischer Prozesse. Deutsche
med. Wochenschr. 1903, Nr. 6.
") Schräge, Über einen Fall von Milzbrand.
Heilung durch intravenöse Injektion von Arg. coli.
Crede. Allgem. med. Zentral-Zeitg. 1902, Nr. 64.
I0) Wagner, Schwere Milzbranderkrankung,
geheilt durch subkutane 2 proz. Callorgoleinspritz.
Allgem. med. Zentral-Zeitg. 1904, Nr. 37.
3l) Weber, Vortrag über Typhus am 2. Nov.
1903 vor der New- York er Post-Grad uate Medical
School.
zr) Hoummel, Le collargol comme topique
uterin; ref. Le Scalpel 1904, Nr. 26.
33) Baylac, L'Argent colloidal ou Collargol.
Archives medicales de Toulouse 1903, No. 6.
15. mars.
34) Desanti, Du collargol dans les maladies
infectieuses. Diss. inaug. Paris 1904.
Warren Coleman35) heilte 5 Fälle von
Erysipel durch intravenöse Injektionen von
Collargol.
Coudray36), dem das Mittel sehr ver-
heißungsvoll erscheint, behandelte 3 Fälle
mit Erfolg mittels Schmierkur, und zwar
eine akute Osteomyelitis, eine Appendicitis
mit eitriger Infiltration der Umgebung und
eine post- puerperale Septikämie, welche
durch eine am 11. Tage auftretende In-
fluenza kompliziert war.>. Der Verfasser rät
dringend zu weiteren Versuchen.
In derselben Sitzung wie Coudray be-
richtet auch Netter87) über seine Erfolge
mit Collargol. Die Erfolge seien sehr ver-
schieden je nach der Natur und Virulenz
der pathogenen Keime, der Ausdehnung und
dem Alter ihrer Lokalisationen, je nach dem
noch erhaltenen Kräftezustand, nach der an-
gewendeten Menge des Collargols und nach
der Art seiner Anwendung. Es komme ganz
auf den Fall an, wie man vorgehe. Einmal
genügen ein oder zwei Einreibungen; im
anderen Falle genügen zwar auch Einrei-
bungen, aber sie müssen mehrere Tage hinter-
einander wiederholt, oft auch zweimal täglich
gemacht werden. In schweren Fällen sei ein
Erfolg nur durch intravenöse Injektion zu
erreichen. Sache des Arztes sei es, den
Modus procedendi zu entscheiden, beide An-
wendungsweisen seien gleich gefahrlos.
Netter unterscheidet erstens Fälle, bei
denen sich der Eiter noch nicht gebildet hat
oder eben beginnt, sich zu bilden, zweitens
Fälle, in denen die schon gebildete Eiterung
isoliert ist, also keine Allgemeininfektion
vorhanden ist, drittens multiple Eiterungen
und viertens allgemeine Eiterinfektion, Py-
ämie.
In Fällen der ersten Art gelinge es mit
Collargol, nicht nur das Fortschreiten des
Prozesses aufzuhalten, sondern auch die
Rückbildung zu erreichen. In allen Fällen
der zweiten Art war zwar ein chirurgischer
Eingriff durch das Collargol nicht über-
flüssig geworden, doch hatte das Mittel die
Wirkung, die Ausdehnung des eitrigen Pro-
zesses zu begrenzen, das Allgemeinbefinden
zu heben, die Temperatur herabzusetzen,
Heilung und Vernarbung zu beschleunigen.
Verfasser führt eine ganze Reihe von ein-
35) Warren Coleman, Intravenous injectiona
of colloidal silver in the treatment of erysipelas.
Medical Record 21. Nov. 1903.
36) Coudray, Infections cbirurgicales et coll-
argol. Bullet, de la Societe de Pediatrie de Paris
1903, No. 1.
3T) Netter, Le collargol dans les infections
chirurgicales. Bullet, de la Societe de Pediatrie de
Paris. Seance du 20. janvier 1903.
XIX. J«hrgaag."l
Augiui 1905. J
WaUamann, Über CoUargol (Crodrf).
395
schlägigen Fällen, auch -der dritten und
vierten Kategorie, an, aus denen die hohe
Wirksamkeit des Gollargols, falls es früh
genug angewandt wird, hervorgeht. In der
Diskussion weist Variot darauf hin, daß
die Anwendung des Collargols die Therapie
außerordentlich vereinfache.
Netter-Salomon38) hat die Wirkung
des Collargols sehr imponiert, und zwar bei
vielen Erkrankungen, welche eine üble Pro-
gnose hatten, und welche sehr schnell heilten,
wie Endocarditis infectiosa, Puerperalfieber,
Diphtherie, ferner bei weniger infausten Er-
krankungen, bei denen aber die Genesung
schneller als gewöhnlich eintrat, und schließ-
lich in Fällen, in welchen der Verlauf
der eigentlichen Erkrankung weniger ver-
ändert erschien, bei denen aber das Allge-
meinbefinden wahrnehmbar gebessert wurde.
Die Autoren empfehlen, die Einreibungen
nötigenfalls 2 — 3 mal täglich zu machen. Die
intravenöse Injektion sei in schweren Fällen
anzuwenden und so lange zu wiederholen
als notwendig. CoUargol sei ein gefahrloses
Mittel.
Camerer39) läßt alle Wöchnerinnen, bei
denen er manuell eingreifen mußte, 3 Tage
lang mit Cre de scher Salbe einreiben, und
zwar 2 mal täglich je 3 g auf den Beinen
und dem Rücken. 30 Fälle seien ohne jede
Temperatursteigerung verlaufen. Die intra-
venöse Injektion sei angebracht bei ausge-
bildeten septischen Prozessen, bei denen es
sich darum handle, daß eine große Menge
CoUargol möglichst rasch der Blutbahn ein-
verleibt werde. Das intravenös applizierte
Silber verlasse aber, wie Lange nachge-
wiesen habe, sehr schnell den Körper wieder.
Die Einreibung dagegen bewirke, daß gleich-
sam der Körper ständig mit Silber impräg-
niert sei, da eine ständige Resorption vom
Unterhautzellgewebe aus stattfinde.
Dasselbe betont Schmidt40). CoUargol
zeige viel früher eine Beeinflussung des All-
gemeinbefindens als eine solche der Tempe-
ratur und des Pulses. Nach Schmidt haben
wir im CoUargol ein außerordentlich wert-
volles Hilfsmittel in der Bekämpfung der
verschiedensten infektiösen Krankheiten ge-
wonnen, das wohl für immer einen hervor-
ragenden Platz in der Therapie behaupten
dürfte.
M) Netter-Salomon, L'argent colloidal (CoU-
argol) et ses applicatioDs therapeutiques. La Presse
med. 1903, No. 12.
") C am er er, CoUargol als Prophylacticum
gegen septische Prozesse. Therapie der Gegenwart
Febr. 1904.
40) Schmidt, Über die Wirkung intravenöser
Collargolinjektionen bei septischen Erkrankungen.
Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 15 u. 16.
Ähnlich spricht sich Harris on41) aus,
der vorzügliche Resultate mit der intra-
venösen Injektion 5proz. Losungen erzielte.
Sowohl seine eigenen Erfahrungen wie das
in genügender Menge vorliegende klinische
Material beweisen, daß in den intravenösen
Injektionen von CoUargol ein therapeutisches
Hilfsmittel ersten Ranges bei der Behandlung
septischer Affektionen gegeben sei.
Reidhaar4*) inj izierte intravenös in einem
Falle von puerperaler Sepsis, nachdem Strepto-
kokkenserum vorher 3 mal angewandt war
und nur Verschlimmerung eingetreten war,
1 — 2 mal täglich 10 ccm einer lproz. Collar-
gollösung, im ganzen 100 ccm. Es trat sofort
Besserung des Allgemeinbefindens, Nachlaß
des Fieber 8 und schließlich vollkommene
Heilung ein.
Rittershaus43) hat zwar nicht durchweg
die günstigen Erfahrungen mit CoUargol ge-
macht wie die meisten anderen Autoren,
erkennt aber doch an, daß das Mittel aus-
nahmslos eine vorübergehende Herabsetzung
der Temperatur und Hebung des Allgemein-
befindens zu bewirken vermag. Auf Erysipel
habe es einen direkt heilenden Einfluß. Es
ist fraglich, ob der Autor das CoUargol
stets früh genug und mit der durchaus nötigen
Ausdauer angewandt hat.
Beyer44) hebt hervor, daß die Hebung
des subjektiven Befindens zeitiger eintrete
als eine Änderung von Temperatur- und Puls-
kurve. Die nervösen Beschwerden wie Un-
ruhe, Kopfschmerzen und Benommenheit
gehen zurück, der Patient fühlt sich freier
und sieht frischer aus. Es stellen sich Ruhe,
Neigung zum Schlafen und auch Appetit, ein
und schließlich sinken Temperatur und die
Zahl der Pulsschläge. Die Hauptbedeutung
des Collargols liege in der direkten Be-
kämpfung der septischen Infektionen. Man
müsse das Mittel aber rechtzeitig anwenden,
moribunde Kranke oder solche, deren Herz
und Vasomotoren in ihrer Leistungsfähigkeit
fast erschöpft sind, können durch CoUargol
nicht gerettet werden. Auf Abszesse wirke
CoUargol nicht ein, da diese ja doch außer-
halb der Blutbahn liegen; es würde durch-
Al) Harris on, Vortrag über Behandlung sep-
tischer Erkrankungen durch intravenöse Collargol-
injektionen in der New York State Medical Asso-
ciation; ref. Ärztl. Rundschau 1903, No. 50.
*3) Reidhaar, Beitrag zur Behandlung der
puerperalen Sepsis. Monatsschr. f. Geburtsh. u.
Gynakol. Bd. 16, Heft 4.
43) Rittershaus, Intravenöse Collargolinjek-
tionen bei septischen und infektiösen Erkrankungen.
Therapie d. Gegenwart Juli 1904.
u) Beyer, Über die Verwendung kolloidaler
Metalle (Silber und Quecksilber) in der Medizin.
Moderne ärztl. Bibl., Heft 6. Berlin 1904.
396
Welttmano, Über Collargol (Crodo*).
fTharm]
L Moni
Monatsheft«.
aus falsch sein, im Vertrauen auf die Silber-
wirkung einen notwendigen chirurgischen Ein-
griff zu unterlassen. — A^b Anwendungs-
gebiet bezeichnet der Verfasser: Phlegmonen,
Furunkulose, Erysipel, osteomyelitische Pro-
zesse, Lymphangitis, phlegmonöse Anginen,
putride Bronchitis, Appendicitis, Septikämie,
Puerperalfieber, Polyarthritis acuta und go-
norrhoica, Milzbrand, Meningitis cerebro-
spinalis, Typhus, Scharlach, Dysenterie, sep-
tische Diphtherie, Pneumonie.
Myers45) hat in einem Falle von Puer-
peralfieber mit Collargol glänzenden Erfolg
gehabt.
Vinenberg46) erzielte in einem Falle
von puerperaler Sepsis mit Endokarditis und
Beckenvenenthrombose mit Unguentum Crede
nach vorhergegangener wochenlanger Behand-
lung trotz elenden Zustandes Heilung.
Harri so n47) beschreibt einen Fall von
schwerer Pyämie mit septischer Gonitis und
Glutäalabszeß nach Abort. Nach der gewöhn-
lichen Behandlung war Verschlimmerung ein-
getreten; die Besserung setzte schon am
ersten Tage nach der ersten Collargolinjek-
tion ein.
Behr hat, wie schon erwähnt, Collargol
bei Tuberkulose mit Misch in fektion mit Er-
folg angewandt.
Ebenso berichtet Stachowsky48) über
2 Fälle von Lungentuberkulose mit Misch-
infektion, in denen er wöchentlich 0,05 g
Collargol einverleibte. Fieber und Nacht-
schweiße verschwanden. Verfasser glaubt durch
Collargol die Mischinfektion beseitigen zu
können, dadurch werde der Organismus be-
fähigt, den Kampf gegen die Tuberkulose
besser führen zu können.
Es sei hier schließlich noch daran er-
innert, daß auch Land er er49) die Behand-
lung der Mischinfektion der Tuberkulose
durch Collargol empfohlen hat.
Über eine Reihe von Fällen, welche ich
mit Collargol behandelte, habe ich50) schon
vor 2 Jahren berichtet. Ich habe 10 Fälle
von septischer Infektion, die vom Uterus
ausgegangen war, geheilt. Unter diesen
10 Fällen waren 6 Puerperalfieber nach
normaler Geburt, 3 Infektionen nach Abort
und 1 Peritonitis nach von anderer Seite
45) 46) 4T) The Southern Practitioner April
1904; ref. in Deutsche med. Wocheoschr. 1904,
Nr. 6.
48) Pester med.-chirurg. Presse 1904, 32; ref.
Ärztl. Rundschau 1904, Nr. 41.
40) Landerer, The cinnamic acid (Hetol) treat-
ment of tuberculosis. Amer. Journ. of tub. Ashe-
ville V, 1. Jan. 1903.
50) Weißmann, Zur Behandlung der m vom
Uterus ausgehenden septischen Infektion. Ärztl.
Rundschau 1903, Nr. 15.
gemachtem Kürettement. In 8 von diesen
10 Fällen erzielte ich die Heilung durch
Unguentum Crede, in 2 Fällen mußte ich
zur intravenösen Injektion greifen. Ich be-
richtete damals auch noch über 3 Phleg-
monen und 2 Furunkulosen, welche ich
mittels Unguentum Crede mit gutem Erfolg
behandelt hatte.
Seit dieser meiner Veröffentlichung habe
ich weitere 24 Fälle mit Collargol behandelt.
Unter diesen waren 5 Fälle Insektenstiche
mit nachfolgender Lymphangitis sowie 3 Lymph-
angitiden, welche sich an andere kleine un-
scheinbare Verletzungen anschlössen. Alle
8 Fälle gingen unter Anwendung von Un-
guentum örede" in 2 — 4 Tagen in Heilung
aus. 3 Erysipele heilten in 3 — 6 Tagen aus,
ebenfalls unter Gebrauch von Unguentum
Crede.
Von 4 Phlegmonen heilten 3 in auffallend
kurzer Zeit, nachdem allerdings ein not-
wendiger chirurgischer Eingriff gemacht war.
Auch bei diesen Fällen wurde Unguentum
Crede angewendet. Der 4. Fall von Phleg-
mone der rechten Brustseite, kompliziert mit
Alkoholdelirium, endete letal, 24 Stunden
nach der ersten Konsultation.
Vom Uterus ausgehende Infektionen wur-
den 5 behandelt. 3 von diesen verliefen
letal, weil sich die Angehörigen der recht-
zeitigen intravenösen Injektion von Collargol
widersetzten. In einem 4. Falle, der mit
Erysipel der Nates und großen Schamlippen
sowie einer Pneumonie kompliziert war, ge-
nügten 30 g Unguentum Crede, um innerhalb
5 Tagen Fieberabfall und in 11 Tagen voll-
ständige Heilung herbeizuführen. Der 5. Fall
war der einer Primipara. Am 5. Tage post
partum Frost, Kopfschmerzen, aufgetriebener
Leib. Nachmittags 5 Uhr Temp. 39,6° C,
Puls 120, Gesicht verfallen. Intravenöse In-
jektion von 6 g einer 5proz. Collargollösung.
Abends 8 Uhr 38,5° C. Am 2. Krankheits-
tage 9 Uhr 37,2Ü C, 12 Uhr 37,6° C, 5 Uhr
36,7° C. Am 3. Krankheitstage nachts 1 Uhr
38,9 ° C, erneute intravenöse Collargolinjektion,
3 g einer 5 proz. Lösung. Um 5 Uhr morgens
39,0° C, um 8 Uhr 38,6° C, um 91/, Uhr
37,2, nachmittags 5 Uhr 36,6. Patientin
bleibt fieberfrei und wird am 6. Krankheits-
tage als geheilt entlassen.
Eine Furunkulose, eine infektiöse Haut-
entzündung und drei Lymphdrüsenentzün-
dungen akuter infektiöser Natur heilten in
wenig Tagen nach Anwendung von 9 — 15 g
Unguentum Crede.
Sieht man von der mit Delirium tremens
komplizierten Phlegmone ab, bei welcher der
Arzt viel zu spät gerufen wurde, und außer-
dem eine Herzinsuffizienz infolge des Alko-
XIX. Jahrgang.]
Aognst 1905. J
Kraute, Desinfektion dar HAnde nach Pürbringer.
397
holismua wohl die Todesursache war, so
bleiben als ungünstig verlaufen nur 3 Fälle
von Puerperalfieber. Ich glaube, daß man
auch in diesen Fällen eine Heilung hätte
erzielen können, wenn nicht die ganz un-
motivierte Furcht der weniger intelligenten
Volksklassen vor „Einspritzungen" ein recht-
zeitiges energisches Eingreifen verhindert hätte.
Die Leute haben die Ansicht, daß durch Ein-
spritzungen das „Blut verdorben u wurde, und
es hält schwer, sie von dieser Anschauung
abzubringen und das umsomehr, als leider
intravenöse Injektionen noch viel zu wenig
und zu ungern von den Ärzten gemacht
werden, und somit der Eingriff als ganz
etwas Besonderes angesehen wird.
Fassen wir zusammen, was sich aus den
vorstehenden Ausfuhrungen ergibt, so ergibt
sich folgendes:
Die Verwendung des Collargols ist eine
außerordentlich vielseitige, da die meisten
Krankheiten der septischen Gruppe angehören,
und das Collargol als Specificum gegen Sepsis
gelten muß. Auch in der Wundbehandlung
wird das Collargol, namentlich seit Einführung
der Collargoltabletten, ausgedehnteste Ver-
wendung finden.
Collargol ist ein ausgezeichnetes Prophy-
lacticum bei schweren Verletzungen und größeren
operativen Eingriffen jeder Art.
Es ist für den Erfolg äußerst wichtig,
daß das Collargol in der für den betreffen-
den Fall geeigneten Form zeitig angewendet
wird.
Da die intravenöse Injektion in schweren
Fällen zweifellos die sicherste Form der
Darreichung ist, muß sich jeder Arzt mit der
Technik der intravenösen Injektionen vertraut
machen.
Über die Desinfektion der Hände
nach Furbrlngrer und die wichtigsten
Operationen in der geburtshilflichen
Praxis, auf Grund von 270 beobachteten
Fällen besprochen«
Von
Dr. med. Willy Krause,
praktischem Arzt in Strasburg (Westpreußen).
Angeregt durch verschiedene Abhandlungen
über das Desinfektions verfahren in der geburts-
hilflichen Praxis, sowie über geburtshilf-
liche Verrichtungen beim Abort, bei Placenta
praevia u. ä. habe ich das mir zur Verfügung
stehende Material aus den letzten zehn Jahren
meiner Praxis zusammengestellt und glaube,
daß die von mir beobachteten 270 Fälle
wohl geeignet sind, zur Beurteilung mancher
schwebenden Fragen herangezogen zu werden.
Th. M. 1905.
Diejenigen Methoden, welche in der Stadt-
und Landpraxis außerhalb der Klinik sich
bewähren, sind es, nach denen wir suchen
müssen, denn eine Entbindung in einer wohl
eingerichteten geburtshilflichen Anstalt mit
reichlicher Assistenz und eine solche in einer
erbärmlichen Hütte sind eben zweierlei, und
doch muß es unser ernstes Bestreben sein,
auch in den dürftigsten Verhältnissen bei
einem physiologischen Akt wie der Geburt
den Müttern das Leben zu erhalten. Das
mir zu Gebote stehende Material beweist,
daß wir dieses Ideal leider noch nicht er-
reicht haben, es erscheint ja auch fraglich,
ob wir jemals dahin gelangen werden, denn
trotz unserer eifrigsten Bemühungen und
Bestrebungen haben wir in der Praxis mit
vielen, teilweise unüberwindlichen Schwierig-
keiten zu rechnen, welche eine geburtshilf-
liche Anstalt naturgemäß nicht kennt. Droht
doch der Kreißenden die Gefahr nicht nur
vom touchierenden Finger der Hebamme oder
des Arztes: Scharlach, Diphtherie, Erysipel
sind für sie grausame, keine Schonung
kennende Feinde. — Es gibt aber ein unter
solchen Verhältnissen gewonnenes Material
von 270 Fällen uns manchen Fingerzeig, wie
wir die Prognose fortgesetzt bessern können,
wenn wir ernstlich die Fehlerquelle allmäh-
lich auszuschalten bemüht sind.
Bevor ich nun meine geburtshilflichen
Fälle etwas genauer einteile und bespreche,
schicke ich einige allgemeine Bemerkungen
voraus.
Ich desinfiziere mich seit einer Reihe
von Jahren nach dem Fürbringerschen Ver-
fahren. Ich benutze zunächst warmes Wasser,
Seife und Bürste, dann absoluten Alkohol
und eine 1 proz. Lysollösung; zum Schlüsse
werden die Hände noch gründlich in 1 prom.
Sublimatlösung abgewaschen. — Um meine
Kleidungsstücke nicht mit der "Wöchnerin in
Berührung zu bringen, lege ich eine voll-
kommen anschließende Gummischürze an,
über welche nach der Desinfektion der Hände
eine saubere leinene, mit halblangen, ab-
schließenden Ärmeln versehene Schürze gelegt
wird. — Wird eine künstliche Entbindung
oder ein sonstiger Eingriff vorgenommen, so
wird die Kreißende auf einen Tisch mit
sauberer Unterlage in Steiß -Rückenlage ge-
bracht. Im Bette nehme ich geburtshilfliche
Operationen grundsätzlich nicht mehr vor
und bin bei den Frauen auch der besseren
Stände hierbei selten auf Widerspruch ge-
stoßen. Man hat dadurch den Vorteil, daß
man das Operationsgebiet gut übersehen und
infolgedessen vor allem besser reinigen kann.
Zu diesem Zwecke werden die Schamhaare
ganz kurz abgeschnitten, mit Seife und
30
398
Kraute, Desinfektion der Hand* nach Fürbrlnger.
rTherapeatUche
L Monntaturfta.
sterilem Wasser gewaschen und mit einer
schwachen Lysollösung abgespült. Dasselbe
gilt naturlich von den Oberschenkeln und
vom Abdomen, sowie von der Vagina. In
der letzten Zeit habe ich vor künstlichen
Geburten auch die Scheide mit sterilem
Wasser resp. 0,6 proz. Lysol ausgespült, da
jedenfalls nach den Untersuchungen von
Ahlfeldt und anderen Autoren es nicht aus-
geschlossen ist, daß infektiöse Mikroorganismen
im Scheidensekret vorhanden sind und event.
eine puerperale Infektion erzeugen können.
Es ist ja dieäe Frage noch nicht ganz sicher
entschieden, doch kenne ich ebenfalls Fälle
aus meiner Praxis, die sehr wohl dafür
sprechen. So habe ich einen großen, doppel-
seitigen parame tri tisch en Abszeß bei einer
Wöchnerin operiert, die ihrer Angabe nach
„vor" der Entbindung — letztere war unter
Leitung einer zuverlässigen Hebamme spontan
und leicht verlaufen — an Fluor albus
gonorrhoicus gelitten hatte. Durch diesen
und ähnliche Fälle vorsichtig gemacht, habe
ich seit einiger Zeit, bevor ich an die
Kreißende herantrete, die Temperatur ge-
messen und mehrfach tatsächlich Fieber
konstatiert. Vielleicht würde mancher Fall
von Wochenbetterkrankung, den man sich
nicht recht erklären konnte und den man
einer Unterlassungssünde bei der Desinfektion
seitens des Arztes oder der Hebamme in die
Schuhe schob, eben seinen Grund in einer
Erkrankung der Wöchnerin vor der Geburt
haben.
Da es mein Bestreben war, nach sorg-
fältigster Reinigung „möglichst" aseptisch an
die Entbindung heranzugehen, so habe ich
nach geburtshilflichen Eingriffen keine Aus-
spülung mehr gemacht.
Selbstverständlich erhält die Wöchnerin
nach dem Geburtsakt wieder reine Wäsche
und als Vorlage sterile Gaze resp. Watte
und wird in ein sauberes, angewärmtes Bett
gebracht. Das Instrumentarium wird jedes-
mal vor dem Gebrauch und bei nicht ein-
wandsfreien Fällen sofort nach der Benutzung
ausgekocht. Ich führe zu diesem Zwecke
einen Sterilisator in meinem Besteck mit. —
Ich gehe nunmehr zu der Besprechung
des Materials selbst über: Von den 270 Fällen
bin ich 40 mal zu Aborten und 230 mal zu
Entbindungen geholt worden. Eine Patientin
habe ich vor vielen Jahren nach einem Abort
an Puerperalfieber verloren. Die Frau hatte
lange Zeit geblutet, sich nicht geschont und
war schon infiziert, als ich zu ihr gerufen
wurde. Trotzdem in Narkose das Ei ent-
fernt wurde, war sie nicht mehr zu retten.
Freilich ließ sie sich auch eine geregelte
Nachbehandlung nicht gefallen, den ein-
gelegten Tampon nicht rechtzeitig entfernen,
keine Ausspülungen machen etc. — Die
übrigen 39 Wöchnerinnen hatten ein normales
Wochenbett. Ich behandele jeden Abort
exspektativ und greife nur dann ein, wenn
eine gefährliche Blutung erfolgt oder die
Ausstoßung des Eies nicht vorwärts geht.
In diesem Falle schreite ich nach gehöriger
Desinfektion zur Tamponade mit Dührssen-
scher steriler Jodoformgaze, von welcher ich
eine Büchse No. 1 und No. 2 stets bei mir
habe. Geht hiernach das Ei nicht spontan
ab, so nehme ich den Finger, sobald die
Cervix genügend erweitert ist, und versuche
mit oder ohne Narkose — bei Mehrgebärenden,
die nicht allzu empfindlich sind, kann man
sie meist entbehren — das Ei heraus-
zuschälen. Mir scheint es unter allen Um-
ständen geboten, zunächst den Finger zur
Ausräumung des Uterus zu benutzen, da
man mit ihm auch gleichzeitig die Gebär-
mutterhöhle abtasten kann, um sich zu über-
zeugen, ob alles entfernt ist. Ich habe nur
einmal und zwar mit gutem Erfolge hierzu
den scharfen Löffel1) benutzt, als ich in den
Uterus mit dem Finger noch nicht hinein-
gelangen konnte und eine Tamponade aus
dem Grunde nicht vornehmen mochte, weil
das Ei bereits in Zersetzung übergegangen
und ein blutig-übelriechender Ausfluß
vorhanden war. — Ist man aber nicht ganz
sicher, die Uterushöhle bei Benutzung des
Fingers vollkommen ausgeräumt zu haben,
oder kommt man zu Fällen — und dies
ist in der Landpraxis garnicht so selten —
in denen Teile des Eies bereits fort sind,
sodaß von einer zusammenhängenden Lösung
desselben doch keine Rede mehr sein kann,
dann tritt die Curette meiner Ansicht nach
in ihr unbestrittenes Recht. Ich kann mich
der Ansicht Gessners nicht anschließen,
daß dieselbe aus der Behandlung des Abortes
ganz zu verdammen sei, würde dies vielmehr
als einen Rückschritt bezeichnen. Ich wende
die Curette in allen Fällen an, in denen ich
noch Reste des Eies oder der Placenta vermute,
und habe dies noch nie bereut; im Gegen-
teil: es ist auffallend, wie schnell sich die
Frauen nach der Ausschabung von dem
größten Blutverlust erholen. Sie können
wieder essen und schlafen und sind guter
Dinge, und meist belehrt eine sich an-
schließende Gravidität, daß man wirklich
die abnormen Bestandteile sämtlich entfernt
hatte. — Ich halte die Curette aber auch
nicht für gefährlich; sie hat dem Finger
*) Vergl. den Aufsatz: Curettement bei Abort
oder nicht, von Sanitätsrat Dr. Michel et, Deutsche
med. Wochenschrift 1903, Heft 1, S. 19.
XIX. Jahrgang.!
Angwt 1906. I
Krau««, Desinfektion d«r Hände räch P0rbr1fi|r«r.
399
gegenüber den unbestrittenen Vorzug, daß
sie wirklich sicher sterilisiert werden kann,
und ein Durchstoßen der Gebärmutter kann
man wohl bei einiger Vorsicht vermeiden.
Vor resp. nach der Anwendung der Curette
mache ich eine Ausspülung mittels des
Uteruskatheters nach Bozeman-Fritsch.
In der Regel benutze ich eine 0,5 proz. Lysol-
lösung als Spülflüssigkeit. —
Ich wende aber noch ferner die Vorsicht
an, daß ich fast nach jeder Ausschabung
und zwar stets auf dem Lande nach der
Operation die Gebärmutter mit Dührssen-
scher Gaze (No. 2) ausstopfe, falls nicht
gerade ein übelriechender Ausfluß vorhanden
ist. Die Gaze regt die Uterusmuskulatur
zu lebhaften Kontraktionen an und sollten
wirklich noch kleine Eireste zurückgeblieben
sein, so werden sie sicher durch den Reiz
der Gaze auf die Schleimhaut nachträglich
ohne Blutung ausgestoßen. Ich habe, seit-
dem ich in der Landpraxis dieses Verfahren
strikte durchführe, glücklicherweise keine
Nachblutungen mehr erlebt, ja man kann
mit einem gewissen Gefühl der Sicherheit,
daß nichts passieren kann, die Wöchnerin
verlassen. Die Gaze bleibt 12 — 24 Stunden
liegen und wird am nächsten Tage durch
die Hebamme entfernt; eine Nachbehandlung
ist nicht nötig, nur bleibt die Patientin etwa
eine Woche im Bette. —
Die Narkose kann man beim Curettement
meistens entbehren; ich nehme dasselbe jeden-
falls lieber ohne Chloroform vor, da das-
selbe nur unbedeutend schmerzt, und halte
die Patientin an, sofort anzugeben, wenn ich
ihr Schmerzen mache; man kann sich dann
am allerbesten vor Verletzungen hüten;
andererseits rate ich aber, so lange mit dem
scharfen Löffel die Piacentarreste fort zukr atzen,
bis man ein deutlich knirschendes Gefühl
beim Hin- und Herbewegen des Instrumentes
hat; dann ist der Erfolg auch sicher.
Bei den erwähnten 39 Fällen habe ich
lediglich die Tamponade 6 mal, die manuelle
Lösung des Eies oder der Placenta 13 mal,
die Ausschabung mittels Curette, allein oder
kombiniert mit der voraufgegangenen Aus-
räumung mittels des Fingers, 20 mal an-
gewandt.
Der günstige, fieberfreie Verlauf des
Wochenbettes spricht meiner Auffassung nach
für die Brauchbarkeit der Methode in der
Praxis und kann ich dieselbe jedem Kollegen
nur warm empfehlen.
Ich gehe nunmehr zu den Geburten über,
von denen ich im letzten Dezennium 230
geleitet habe.
In 30 Fällen = 13 Proz. hatte die Ent-
bindung einen normalen Verlauf. Da man
als Arzt ja meistens nur zu schwierigen
Fällen gerufen wird, so beweist der obige
Prozentsatz, daß ich mich stets bemüht habe,
der Natur ihr Recht einzuräumen und die
Austreibung des Kindes den physiologischen
Kräften zu überlassen. — Ich habe aber
unter diesen 30 Fällen 2 mal künstlich die
Blase gesprengt, 3 mal wegen Atonia uteri
die Tamponade nach Dührssen ausgeführt,
4 mal einen Dammriß 1. Grades und 2 mal
einen Dammriß 2. Grades genäht. — Die
Dammrisse 2. Grades waren bereits bei
meiner Ankunft vorhanden.
Ich nähe prinzipiell jeden Dammriß, mag
er noch so klein sein, unmittelbar post partum
sehr sorgfältig, weil man in allen Fällen ein
Eindringen von Eitererregern dadurch am
besten hindert, die Wöchnerin vor sekun-
dären Gefahren somit schützt und sie bei
Dammrissen 2. Grades durch genaue Damm-
plastik vor Senkungen der Geschlechtsorgane
bewahrt. Ich hatte glücklicherweise die
Freude, daß mir sämtliche Dammrisse 1. und
2. Grades — ein solcher 3. Grades kam mir
bisher nicht vor — per primam intentionem
geheilt sind, und gehe wohl nicht fehl, wenn
ich dies auf die genaue Adaptierung der
Wundränder zurückführe.
Nach den normalen Entbindungen erlebte
ich einen Todesfall an Phthisis florida. Die
andern Frauen machten normale Wochenbetten
durch.
Lediglich weil die Nachgeburt ganz oder
teilweise nicht spontan folgte, wurde ich
unter 230 Fällen 35 mal in Anspruch ge-
nommen.
Hiervon wurde
die Nachgeburt nach Crede entfernt . . 3 mal
die Nachgeburt manuell gelöst .... 25 -
eine Placenta duplex nach Zwillingssckwan-
gerschaft manuell entfernt 2 -
Zurückgebliebene Stücke der Placenta oder
Eihäute wurden entfernt 5 -
Summa 35 mal
Hierzu kommt die manuelle Lösung
der Placenta nach künstlichen Entbindun-
gen, und zwar
nach Querlage und Wendung . 4 mal
nach Fuß- resp. Steißlage und
Extraktion 2 -
nach Zangengeburten .... 3 -
nach Zange und Wendung
(Zwillinge) . 1 -
nach totalem Prolapsus et inversio
uteri infolge forcierten Credes
durch die Hebamme . . . _ 1_ -
Summa 11 mal 11 mal
Summa 46 mal
Hiervon ab 3 mal nach Crede . . 3 mal
bleibt 43 mal
Zieht man in Erwägung, daß sich diese
43 Fälle manueller Lösung der Nachgeburt
30*
400
Kraute, Desinfektion der Hände nach FÜrbringer.
rherapeutlicbe
Monatskarte.
auf einen Zeitraum von 10 Jahren beziehen,
so wird man zugeben, daß der Prozentsatz
kein sehr hoher sein kann, wenngleich ich
ihn nicht sicher anzugeben vermag, da mir
die Zahlen der andern Herrn Kollegen, welche
in demselben Bezirk praktizieren, nicht zur
Verfügung stehen. Wenn Ah lfel dt9) angibt,
daß in der Klinik ungefähr unter 1000 Fällen
die Flacenta 5 mal manuell gelöst wird,
so scheint mir obige Ziffer dafür zu sprechen,
daß wir hier auch in der Landpraxis diesen
Prozentsatz nicht überschreiten, während
er für diese von Ah lfel dt auf 5 Proz.
angegeben wird. Allerdings wird dieser Satz
erreicht, wenn man speziell die künstlichen
Entbindungen berechnet (nämlich 11 auf ca.
200 Geburten = ö Proz.). Meiner Erfahrung
nach treten aber die meisten Störungen
in der Nachgeburtsperiode, die Ahlfeldt3)
auf 26 Proz. berechnet, nach künstlichen Ent-
bindungen ein, da bekanntlich die plötzlichen
Entleerungen des • Uterus infolge der Ex-
traktion mittels Zange oder Hand (siehe oben)
am leichtesten zu größeren Nachblutungen
führen, welche ein Eingreifen erforderlich
machen. Sodann habe ich auch gefunden,
daß die Placenten verhältnismäßig oft dann
festsitzen, wenn die Lage des Kindes eine
unregelmäßige war. Es wäre mir interessant
zu erfahren, welche Erfahrungen andere
Kollegen hierin gewonnen haben.
Was die Mortalität nach Placentarlösung
anlangt, so starben von jenen 43 Wöchnerinnen
6. Auf diese 6 Todesfälle kommt jedoch
1 Todelfall wegen Erysipelas migrans, welches
schon 2 — 3 Tage vor der Geburt bestand.
1 Todesfall an Lungenödem, infolge hoch-
gradigen Ascites und allgemeiner Ödeme.
1 Todesfall an Phthisis florida. 2 Todes-
fälle an Erschöpfung und Verblutung bald
nach meiner Ankunft.
In dem einen dieser Fälle hatte sich die junge
Hebamme gefürchtet, die manuelle Lösung
der Placenta selbst vorzunehmen, und da die
Wöchnerin fast 2 Meilen von der Stadt wohnte,
kam ich leider zu spät. Trotz .Kochsalz-
infusion und Ätherinjektionen verschied die
hochgradig anämische pulslose Frau bald nach
der manuellen Lösung der Placenta im Kollaps.
In dem andern Falle hatte die Hebamme
durch forcierten Crede (!) den Uterus total
nach außen umgestülpt und die Wöchnerin
ging nach Ablösung der festverwachsenen
Placenta und Reposition des Uterus sehr
bald an Shock zu Grunde.
Die Ursache für den 6. Todesfall ist mir
nicht bekannt geworden, da ich die Wöchnerin
a) Ahlfeldt, Behandlung der Nachgeburts-
periode. Deutsche Klinik Bd. IX, S. 115.
a) Ebenda S. 114.
nicht mehr gesehen habe. Ich nahm die
Lösung der Placenta 4 Stunden post partum
manuell vor und hatte große Mühe, da sie
in der ganzen Ausdehnung dem Uterus fest
anhaftete. Die Wöchnerin soll 4 Wochen
später gestorben sein, ob an einer puerperalen
oder an einer andern Infektion — es herrschte
damals im Kreise der typhus abdom. epi-
demisch — vermag ich nicht anzugeben.
Sehe ich also von diesem letzten zweifel-
haften Falle ab, so habe ich demnach an
puerperaler Erkrankung nach manueller Lö-
sung der Placenta glücklicherweise keine
Wöchnerin verloren.
Wann soll man nun zur Lösung einer
Placenta schreiten ? Da dieselbe in typischen
Fällen innerhalb 30 Minuten nach der Geburt
spontan erscheint, so warte ich entsprechend
diesem normalen Vorgang eine' halbe Stunde
post partum ab und wende dann den
Crede sehen Handgriff an. Meist gelingt es
damit leicht, die Placenta und die Eihäute
glatt herau8zubefördern. Sitzt aber die Pla-
centa fest, wie lange soll man dann warten,
bevor man zur künstlichen Lösung schreitet?
Diese Frage ist noch immer strittig. Es
gibt Fälle, in denen es, ohne daß die
Wöchnerin post partum angerührt worden
war, bald nach der Entbindung ungeheuer
blutet, weil ein Teil der Placenta sich
spontan löst, während der andere festsitzt.
Wenn man in solchen Fällen nicht bald
eingreift, geht die Wöchnerin, wie der oben
beschriebene Fall beweist, an Verblutung
zu Grunde. Selbstverständlich wird man
zunächst versuchen, durch Reiben des Fundus
die Blutung zum Stehen zu bringen und
durch den Cr ed eschen Handgriff die Placenta
zu exprimieren. Gelingt dies aber nicht
8 ehr bald und blutet es trotz aller äußern
Gegenmaßnahmen weiter, dann nehme ich
die manuelle Lösung der Placenta auf dem
Querbett vor und habe dieses Verfahren
noch nie zu bereuen gehabt, dagegen wohl
manche Frau vor dem Verblutungstode ge-
rettet. Diese Fälle indizieren die Therapie
so klar, daß man keine Zweifel zu hegen
braucht. — Es gibt ferner Fälle, in denen
zwar die Blutung nicht so profus ist, daß
eine Verblutungsgefahr zu befürchten ist, wo
das Blut aber dauernd aus den Geschlechts-
teilen heraussickert, wo ein Teil in den
Uterus hineinblutet und wo eine allmählich
zunehmende Blässe des Gesichts, verbunden
mit dem ominösen Gähnen, einen zu großen
Blutverlust der Wöchnerin verrät. Soll man
hier so lange warten, bis die Frau erschöpft
ist ? Ich meine, nein ! Gelingt es mittels
der schonenden Operation nicht, die Placenta
zu entfernen, dann kommt eben die manuelle
XIX. Jfttargftng.l
Angqgt 1906. J
Kraute, Desinfektion der Hand« nach Fürbringer.
401
Losung in Frage. Maßgebend ist hierfür
nicht, ob eine halbe oder zwei Stunden seit
der Geburt verflossen sind, sondern lediglich
der Zustand der "Wöchnerin. Die Methode
nach Ahlfeldt4), die Menge des abgehenden
Blutes zu bestimmen und hiernach sein
Handeln einzurichten, ist ja von großem
Interesse und möge sich für eine Klinik
eignen, für die Praxis aber ist sie meines
Erachtens unbrauchbar, abgesehen davon, daß
sie bei Blutungen in den Uterus im Stiche
lassen dürfte. — Maßgebend ist auch für
mich hierbei der Umstand, daß man wohl
mit Recht heute annimmt, daß ein Organismus
eine event. Infektionsgefahr um so leichter
überwindet, je geringer der Blutverlust war,
daß also Wöchnerinnen, die infolge Störungen
der Nachgeburtsperiode sehr viel Blut ver-
loren haben, entschieden zu einer Erkrankung
im Wochenbett sehr viel starker disponiert
sind. —
Es gibt aber noch einen dritten Fall,
und dieser ist bezüglich der Therapie viel-
leicht am schwersten zu beurteilen, nämlich
wenn es nicht blutet, die Placenta weder
von allein noch mittels des Cred eschen
Handgriffs erscheint und der Zustand der
Wöchnerin als solcher ein Eingreifen nicht
notwendig macht. Nach den Zusammen-
stellungen von Kabierske5) (Freund) und
von Campe (Schroeder) erscheint die Pla-
centa in 50 Proz. erst nach 6 Std. allein und
in 25 Proz. nach 12 Stunden, aber, wie
Zweifel betont, erkrankte der größte Teil
der Wöchnerinnen unter sehr schweren
Fiebererscheinungen. Sicher aber kommt es
für unsere Therapie nicht darauf an, ob
die Placenta normalerweise erst nach vielen
Stunden erscheint, sondern ob die Mutter,
lediglich der Natur überlassen, hierbei gesund
bleibt. Zweifel kommt daher mit Recht zu
dem Schluß, daß man eine nicht von selbst
abgegangene Placenta nach einer gewissen
Frist herausbefördern muß. Es fragt sich
nur, wie lange diese Frist zu dauern hat.
Wenn in typischen Fällen die Placenta inner-
halb 30 Minuten erscheint, so wird der Fall
atypisch, pathologisch, wenn sie länger in
den Geburtsteilen verbleibt, und deshalb hat
man als Arzt nicht nur das Recht, sondern
auch die Pflicht, den in diesem Falle ver-
sagenden Naturkräften zu Hilfe zu kommen.
In dem oben erwähnten Falle, welcher mir
4 Wochen nach der Geburt verloren ging,
^waren 4 Stunden nach der Entbindung ver-
flossen, als ich — es war auf dem Lande —
zur Losung der Placenta anlangte. Dieselbe
«) Deutsche Klinik Bd. IX, S. 116.
*) Zweifel, Geburtshilfe, S. 195. 1895.
war total verwachsen, die Lösung ungemein
schwer, weil der Muttermund sich eng zu-
sammengezogen hatte. — Chloroform mochte
ich bei der, trotz der verhältnismäßig geringen
Blutung, immerhin erschöpften Frau ohne
Assistenz eines Herrn Kollegen bei einer sehr
unzuverlässigen Hebamme nicht anwenden.
Ich hatte die Empfindung, daß sich diese
Placenta nach weiteren 4 Stunden sicher
auch nicht gelöst hätte, daß ich aber 3 Stunden
früher bei noch weiter eröffneter Cervix sehr
viel leichter die Lösung hätte vornehmen
können, daß vielleicht auch die Frau am
Leben geblieben wäre. Wie schon bemerkt,
weiß ich nicht, ob sie einer puerperalen
Infektion oder einer interkurrenten Erkrankung
erlegen ist, jedenfalls hatte sich durch das
4 stündige Warten auf den notwendigen Ein-
griff die Prognose sicher nicht verbessert.
Ich könnte diesem Falle noch mehrere andere
mit gutem, fieberfreiem Ausgang anreihen, in
denen ich mehrere Stunden post partum
nach vergeblichen Versuchen, mittels Credä
zum Ziele zu kommen, die Placenta manuell
lösen mußte und in denen ich mir sagte,
dieser Mutterkuchen wäre nie spontan aus-
gestoßen worden, er wäre aber 1 Stunde
post part. mit größerer Leichtigkeit entfernt
worden. Je leichter man aber in den Uterus
durch die Cervix eindringen kann, desto
weniger wird man verletzen, desto mehr
wird man damit die Infektionsgefahr herab-
setzen. Daß man im übrigen eine Infektion
nicht bloß auf das Konto einer eingeführten
Hand zu setzen braucht, daß vielmehr noch
andere Momente mitsprechen, beweisen ge-
rade die Statistiken, die Zweifel in seinem
Lehrbuch anführt, beweisen auch die neueren
Untersuchungen durch Ahlfeldt, Burck-
hardt, Kröning etc6). —
Ich möchte noch ein Wort über die
Narkose sagen; ich suche sie bei den durch
Blutverlust und Geburtsakt erschöpften Wöch-
nerinnen, namentlich dann, wenn ich ohne
„ärztliche" Assistenz bin, zu vermeiden. Es
gelingt die Lösung der Placenta auch ohne
Chloroform sehr gut, wenn man eben nicht
allzu lange wartet, bis die Cervix sich zu
sehr geschlossen hat.
Aus diesen Gründen habe ich allmählich
bezüglich der Nachgeburtsperiode folgendes
Verfahren erprobt:
Nach' der Ausstoßung des Kindes wird
durch die Hebamme und von mir selbst der
Fundus uteri überwacht7); erscheint binnen
einer halben Stunde die Placenta nicht von
6) Vergl. den Aufsatz von Hofmeier, Die
Verhütung puerperaler Infektionen. Deutsche Klinik
Bd. IX, S. 46.
7) Schroeder, Geburtshilfe, S. 215/16. 1884.
402
Kraute, Desinfektion der Hände nach Fttrbrlnger.
rherapentiarhe
Monatshefte.
selbst, so wird der C rede sehe Handgriff an-
gewandt. Gelingt es hiermit nicht, die Placenta
zu exprimieren, so warte ich noch ein Weilchen
und wiederhole denselben 2 — 3 mal. Bleiben
auch diese Bemühungen erfolglos, so des-
infiziere ich mich und die Wöchnerin aufs
gründlichste und bereite alles zur manuellen
Lösung vor. Es ist dann ungefähr 1 Stunde
nach der Geburt verronnen. Die Operation
selbst wird auf einem Tische in Steißrücken-
lage vorgenommen, unmittelbar hinterher eine
Ergotininjektion (0,25) gemacht und später
Seeale cornut. weitergereicht. Sollte trotzdem
der Uterus sich nicht genügend kontrahieren,
oder es gar bluten, so gehe ich eventuell
zur Kontrolle auf zurückgebliebene Reste
oder eine Nebenplacenta nochmals mit der
Hand ein, drücke diese und eventuelle Ge-
rinnsel, indem die andere Hand den Uterus
von den Bauch decken aus reibt und kom-
primiert, aus der Gebärmutter heraus und
schließe in der Regel die Tamponade nach
Dührssen gleichzeitig an, die sich mir in
allen diesen Fällen außerordentlich gut be-
währt hat und die meiner Ansicht nach Ge-
meingut der auf dem Lande praktizierenden
Kollegen werden sollte. — Daß ich einen
solchen Uterus zwei Stunden oder länger über-
wache, versteht sich von selbst, wie sich dies
überhaupt nach allen künstlichen Entbin-
dungen speziell außerhalb der Sadtgrenzen
dringend empfiehlt. —
Ich komme nunmehr zum nächsten Kapitel,
zur Placenta praevia. Ich habe im ganzen
11 Fälle unter 230 Geburten = 4,8 Proz.
behandelt. Hiervon sind 4 Frauen gestorben
= 36 Proz. und zwar an Erschöpfung resp.
unstillbarer Blutung 3 mal, an Peritonitis lmal.
Lebende Kinder wurden erzielt in 7 Fällen
= 63,5 Proz. Beleuchtet man kritisch die
4 Todesfälle, so ist der Fall von Peritonitis
auf die Verunreinigung durch die Wöchnerin
selbst, sowie ihr späteres Verhalten zurück-
zuführen. Sie hatte nicht einmal eine Heb-
amme sich holen lassen, war vielmehr bei
meiner Ankunft fast verblutet. Die Ge-
schlechtsteile waren entsetzlich unsauber und
zur Stillung der Blutung alte Lappen ver-
wandt worden. Wenn solche Frau dann noch
bald nach der Geburt das Bett verläßt und sich
vor die Thür setzt, dürfte eine tödliche Peri-
tonitis nicht wunderbar erscheinen. — Im
zweiten Falle war ebenfalls keine Hebamme
anwesend — ebenfalls auf dem Lande —
und die bereits fiebernde Frau dem Ver-
blutungstode nahe, als ich bei ihr anlangte.
Sie ging natürlich an Erschöpfung zu Grunde.
In drei Fällen habe ich die Wendung bei
noch wenig eröffnetem Muttermunde nach
Braxton~Hicks ausgeführt, kann mich je-
doch nicht sehr dafür erwärmen. Trotzdem
ich mit der Extraktion gewartet habe, habe
ich 2 Fälle trotz sachgemäßer Assistenz ver-
loren. In einem Falle handelte es sich um
eine atonische Blutung, im andern Falle um
einen Cervixriß, der durch den durch-
tretenden Kopf verursacht wurde. Vielleicht
wären die beiden Frauen zu retten gewesen,
wenn ich, wie ich es sonst zu machen pflegte,
so lange mit steriler Jodoformgaze tamponiert
hätte, bis der Muttermund für eine Hand
durchgängig gewesen wäre. Ich sehe auch
keinen Grund ein, weshalb man von
dieser Tamponade abgehen soll. Sie ist zwar
etwas langwierig, aber unter den oben ge-
schilderten Kautel en sicher ungefährlich, jeden-
falls habe ich einen Fall von Infektion nach
derselben noch nicht erlebt. — In den andern
Fällen habe ich die Wendung erst vorge-
nommen, nachdem der Muttermund genügend
durchgängig war, und bei dieser Methode
nicht nur die Mütter am Leben erhalten,
sondern auch — von einem zu früh geborenen
Kinde abgesehen — ein lebendes Kind er-
zielt. Ich habe also die günstigsten Resul-
tate für Mutter und Kind dann gesehen, wenn
ich bis zur Erweiterung des Muttermundes
tamponiert habe, dann gewandt und vorsichtig
extrahiert habe, und ich werde auch in Zukunft
dieses Verfahren möglichst innehalten. Ob in
klinischen Räumen bessern ach BraxtonHicks
verfahren wird, lasse ich dahingestellt, zumal
für den Fall eines tiefer gehenden Cervixrisses
alles zu einer sachgemäßen Naht bei ent-
sprechender Beleuchtung und Assistenz vor-
handen ist. Gerade die Fälle von Placenta
praevia würden ja überhaupt bessere Chancen
haben, wenn sich die Frauen bequemen würden,
in eine geburtshilfliche Anstalt oder in ein
Krankenhaus zu gehen, wo sie bei eintretender
Blutung sachgemäße Hilfe fänden. Ich habe
wiederholt diesen Versuch gemacht, sie hierzu
zu bewegen; er ist entweder am guten Willen
oder an den ärmlichen Verhältnissen ge-
scheitert, und die betreffenden Mütter sind
später bei erneuter Blutung, bevor Arzt oder
Hebamme eintrafen, zu Grunde gegangen.
Demnach dürfte bei Placenta praevia auch
für die Zukunft die Prognose nicht zu rosig
erscheinen. /Sckty» j^lj
Die Behandlung:, der sogenannten
skrofulösen Augrenentzündungen.
Von
Dr. Rothholz in Stettin.
Wenn ich mein Thema die Behandlung
der „sogenannten" skrofulösen Augenent-
zündungen genannt habe, so wollte ich
damit andeuten, daß ich die Bezeichnung
XIX. Jahrgaag.1
Aogart 1905. J
Rothholz, SkrofulÖM AugenentsttndUDgen.
403
als skrofulöse Erkrankungen nicht so ohne
weiteres anerkenne. In einem Aufsatze:
Neuere Anschauungen über Skrofulöse1)
habe ich darauf hingewiesen, daß die Auf-
fassung der Skrofulöse nach zwei Rich-
tungen eine Einschränkung erfahren habe.
Einmal hat man mit Sicherheit nachweisen
können, daß eine Reihe der als skrofulös
angesprochenen Erscheinungen tuberkulös
sind. Andererseits aber hat man erkannt,
daß Tiele, ja fast alle Gharacteristica
skrofulöser Leiden die Folge von Eiterungs-
prozessen in der Nase, ihren Nebenhöhlen,
dem Nasenrachenraum sein können.
Zieht man diese beiden Kategorien von dem
Sammelbegriff der Skrofulöse ab, so bleibt
nur ein verhältnismäßig geringer Rest übrig,
den man wohl der konstitutionellen Skrofu-
löse zuschreiben muß. Ja, es gibt Stimmen,
die auch diesem Rest die Lebensberechtigung
absprechen und den Begriff der Skrofulöse
überhaupt ausschalten wollen, die also
glauben, daß skrofulöse Erkrankungen in
toto entweder bei der Tuberkulose oder bei
den Folgen von Nasen eiterungen im weitesten
Sinne untergebracht werden müssen.
Nun, auf diesen Streit, den ich in meinem
damaligen Aufsatz ausführlicher erörtert
habe, will ich heute nicht eingehen. Mir
kommt es hier besonders darauf an, auf die
Tatsache hinzuweisen, daß eine eminente
Zahl scheinbarer Skrofulöse durch Nasen-
eiterung bedingt sein kann, so viele, daß
die Nasenerkrankung für die Auffassung des
skrofulösen Leidens und also auch für ihre
Behandlung von der größten Wichtig-
keit ist.
Wenn ich an die Haupterscheinungen der
sogenannten Skrofulöse erinnere, an die
Schwellung der Lymphdrüsen, die Ekzeme
am Kopfe, die Verdickung der Oberlippe,
die Ohreiterungen und die Augenentzündungen,
so ist es ja, mit Ausnahme der Augenent-
zündungen, sehr einfach, sich den Zusammen-
hang der Erscheinungen mit eitrigen Pro-
zessen in der Nase, dem Nasenrachenraum,
zu konstruieren. Die Nasen eiterung geht
auf dem Wege der Kontinuität weiter
und erzeugt durch Fortpflanzung, hauptsäch-
lich auf den Lymphwegen, die genannten
Folgezustände. Für die Augenerkrankungen
liegt der Weg nicht so klar. Zwar ist ja
auch hier eine Verbindung zwischen Auge
und Nase durch den Tränen nasengang
gegeben, zwar sind auch hier Verbindungen
durch Gefäße und Nerven vorhanden. Es
unterliegt auch keinem Zweifel, daß ein
direkter Übergang einer Nasen eiterung auf
die Augen und ihre Adnexe möglich ist.
Aber die Zahl solcher Prozesse ist doch
eine recht beschränkte und fällt zum Teil
außerhalb des Rahmens dessen, was man als
Augenskrofulose bezeichnet. — Ich möchte
in diesem Zusammenhange auch erwähnen,
daß nach meinen Erfahrungen — ich treibe
auch Nasenbehandlung — selbst die Trä-
nensackeiterungen durchaus nicht so
häufig von Nasenerkrankungen bedingt sind,
als man es meist in den Lehrbüchern ange-
geben findet. Man findet recht oft bei
Tränensackeiterungen keine Nasenverände-
rungen, die man als Ursache ansprechen
könnte. —
Die skrofulösen Augenerkrankungen spielen
sich bekanntlich so gut wie ausschließlich
an den äußeren Teilen des Auges: Lidhaut,
Lidrand, Conjunctiva der Lider und des
Bulbus, Hornhaut ab, während ein Über-
greifen auf die Vorderkammer nur sekundär
und außerordentlich . selten stattfindet. Für
diese äußerlichen Erkrankungen läßt sich
nun ein innerer Weg von der Nase zum
Auge nur schwer konstruieren. Er ist aber
auch nicht nötig. Wir haben vielmehr
starke Gründe zu der Annahme, daß diese
Erkrankungen durch äußerliche Über-
tragung des eitrigen Nasenschleims oder
des Sekrets von Ekzemen am Kopfe erzeugt
werden.
Wenn man bedenkt, daß in einem guten
Teil der Ekzeme, um die es sich hier
handelt, Staphylokokken nachgewiesen sind,
und wenn festgestellt ist, daß bei den
skrofulösen Augenaffektionen, sie mögen
Lidrandentzündungen, Konjunktival-Katarrhe,
Phlyktänen, Hornhautinfiltrate sein, gleich-
falls in großen Untersuchungsreihen Staphylo-
kokken gefunden worden sind9), so wird
damit ein solcher ätiologischer Zusammen-
hang schon wahrscheinlich. Aber damit
nicht genug, hat man experimentell gezeigt3),
daß es möglich ist, durch Staphylokokken,
die man in Bindehautverletzungen einbringt,
bei Menschen und Tieren Erscheinungen
hervorzubringen, welche denen der Augen-
skrofulose gleichen, und zwar auch bei
solchen Individuen, welche eine konstitutio-
nelle Skrofulöse nicht zeigen. Auf Grund
dieser Ergebnisse hat man vorgeschlagen,
die Bezeichnung: skrofulöse Augen entzün-
dungen fallen zu lassen, vielmehr von
') Therap. Monaten., Dezember 1899.
*) Straub, Arch. für Augenheilkunde XXV,
3, 4. — Bach und Neumann, ibidem XXXIV, 4.
— Bach, Graefes Arch. f. Ophthalm. XLI, 1,2;
XLII, 1. — Uhthoff und Axenfeld, ibidem
XLII, 1; XLIV, 1.
*) Bach und Neumann, Arch. f. Augen-
heilk. XXXVII, 1, S. 81.
404
Roth holz, Skrofulös« Augenenteünducgen.
rTherap«ntiaeh«
L Monmteh«fte.
ekzematösen Bindehaut- und Horn-
haut-Erkrankungen zu sprechen. Man
bringt also mit anderen Worten diese Augen-
erkrankungen mit den Gesichtsekzemen, die
ja so oft von Naseneiterungen herrühren,
in eine Rubrik, man betrachtet sie als
Augenekzeme. Nun ist es ja bekannt,
daß die Dermatologen ein Ekzem der
Schleimhäute nicht zugeben. Indes ist auf
diesen Einwand zu erwidern, daß die Con-
junctiva nur in beschränktem Umfange
Schleimhautcharakter besitzt. Das Zylinder-
epithel geht nach der Hornhaut zu all-
mählich in Plattenepithel über, wird also
epidermisch, und bekanntlich spielen sich ja
erst hier, in nächster Nähe der Hornhaut,
die in Frage stehenden Augenaffectionen ab,
während die Peripherie der Conjunctiva
bulbi frei bleibt, abgesehen von dem diffusen
Katarrh.
Wenn ferner für das Entstehen des
Ekzems der Haut eine .Alteration des Epi-
thels angenommen wird, so muß darauf
hingewiesen werden, daß dieses Postulat
auch an den Augen erfüllt ist, und daß bei
den augenkranken Kindern — um solche
handelt es sich ja stets — mehr als genug
Gelegenheit gegeben ist, die Augenepithelien
zu verletzen und in diese Verletzungen
hinein den infizierenden Stoff zu impfen.
Die kranken Kinder, von starker Licht-
scheu geplagt, bohren sich mit dem Gesicht
in die Kopfkissen, pressen die Fäuste, die
reichlich Schleim und Eiter aus der Nase
und ihrer Umgebung aufgenommen haben,
in die Augen; die Mütter malträtieren die
Augen mit den so beliebten Kamillenthee-
umschlägen, unter deren feuchter Wärme die
Kokken gut gedeihen, sie binden den
Kindern die Augen fest zu, wodurch das
Sekret gestaut und in die Schleimhaut
gedrückt wird, kurz, es sind alle Bedingungen
erfüllt, um Epithelverletzungen und Infekti-
onen durch Eitererreger experimentell zu
erzeugen.
Und mit diesen theoretischen Über-
legungen stimmen ja die Erfahrungstatsachen
gut zusammen. Man findet bei dem größten
Teil der augenkranken Kinder eitrig-schlei-
mige Absonderung aus der Nase, oft mit
ihren Folgezuständen, Ekzemen im Gesicht
usw. Man kann oft genug feststellen, daß
Rezidive der Augenerkrankung mit solchen
der Naseneiterung zusammen auftreten, und
das Schlagendste ist, man kann verhältnis-
mäßig schnell Besserung erzielen, wenn es
gelingt, weitere Übertragung des Nasen-
schleims auf die Augen zu verhüten.
Hierauf aber möchte ich in diesem Aufsatze
besonders hinweisen.
Für die Behandlung, auf die ich jetzt
übergehe, wäre es natürlich das rationellste,
die Naseneiterung und etwaige konsekutive
Ekzeme am Gesicht und Kopf schnellstens
zu beseitigen. Das geht aber oft genug
nicht so schnell, als es die Behandlung des
Augenleidens erfordert. Ich mochte bei
dieser Gelegenheit darauf hinweisen, wie
wichtig die schleunigste Beseitigung der
skrofulösen Augenerkrankung in jedem Falle
ist. Die H or n h au t ist fast stets affiziert oder
in Gefahr, ergriffen zu werden, und jede Horn-
hauterkrankung bedeutet ja einen unheilbaren
Fleck, also Schädigung des Sehvermögens,
und jeder Nachschub bringt einen neuen
Fleck, eine neue ernste Gefahr für das
Sehen. Man kann deshalb nicht abwarten,
bis man die Naseneiterung geheilt hat, und
damit eine neue Infektion des Auges
unmöglich ist, sondern muß Vorkehrungen
treffen, das Kind sofort gegen seine Nase
und die Unvernunft der Mutter zu schützen.
Man hat also erstens dafür zu sorgen, daß
das Kind nicht mit den Händen an die
Augen kommen kann. Bei der Wichtigkeit
dieses Punktes scheue ich mich nicht, bei
kleinen Kindern eventuell die Hände einige
Tage fesseln zu lassen. Oft reicht ja die
bekannte Pappröhre aus, die das Ellbogen-
gelenk feststellt. Ein anderer bekannter
Kunstgriff besteht darin, daß man dem
Kinde ein Hemd eines größeren Kindes an-
zieht, die beiden überstehenden Ärmel in
einen Knoten zusammenbindet, so daß das
Kind wohl die Arme bewegen, aber nicht
bis zum Gesicht heben kann. Ferner muß
man die Mütter anweisen, die Kinder nicht
mit dem Gesicht nach unten im Bette
liegen zu lassen. Das gelingt auch meistens,
wenn man die Augen in geeigneter Weise,
bei größeren Kindern durch eine dunkel-
graue Schutzbrille, bei kleineren durch einen
Pappschirm, gegen helles Licht schützt.
Jedenfalls aber sollen auf das Kopfkissen
saubere, öfter zu wechselnde Tücher ge-
breitet werden, damit das Kind sich nicht
immer von neuem an dem Schmutzdepöt auf
dem Kopfkissen infizieren kann. Solche
Schmutzdepöts finden sich oft auch auf der
Schulter der Mütter, die das Kind mit
Vorliebe herumtragen, wobei es seine Augen
gegen die Schulter drückt. Man dringe
deshalb darauf, daß die Kinder nicht ge-
tragen werden, sondern laufen — schon,
damit sie gezwungen sind, die Augen zu
öffnen, ein wichtiges Moment, weil damit
die Sekretstauung beseitigt wird. Nicht
unerwähnt darf auch der Umstand bleiben,
daß zum Reinigen der Augen nicht ein Tuch
benutzt werden darf, das für die Nase ge-
XIX. Jahrgang .1
Anguat 1906. J
Roth ho ls, Skrofulös« Augenentsündungeo.
405
braucht wird, und daß die Pflegerin, wenn
sie Medikamente an die Augen bringt, sich
vorher die Hände zu waschen hat. Freilich
werden in Arbeiter kr eisen diese Wünsche
nicht stets erfüllt werden können. Indes
sind sie für die Sicherheit schnellen Er-
folges wichtig und deshalb zu betonen.
Was nun die Nase selbst betrifft, so
soll man natürlich zuerst für die Beseiti-
gung de 8 Sekret 8 Sorge tragen. Daß
man zu diesem Zwecke ältere Kinder zu
methodischem, kräftigem Schnauben an-
halten soll, ist ja selbstverständlich. Er-
wähnt werden darf wohl hierbei, daß man
das kräftige Schnauben nicht in der ge-
wöhnlichen Art ausführen lassen soll, indem
beide Nasenseiten zugekniffen werden, son-
dern durch jede Nasenseite einzeln. Man
vermeidet auf diese Weise besser, daß das
Nasensekret in die Eustachischen Rohren
hineingetrieben wird. Bei kleinen Kindern
blase ich mittelst eines Glasröhrchens, an
welchem ein Gummirohr angebracht ist, in
jede Nasenseite: Sozojodolzink 1, Amylum 20.
Diese Einblasung soll nicht nur medikamentös
wirken, sondern sie schafft auch, wenn man
kräftig bläst, das Nasensekret, das im
Strome aus der anderen Seite herausstürzt,
gründlich fort. Man kann eventuell den
Angehörigen ein solches Röhrchen mitgeben
and sie anweisen, mehrmals täglich — ohne
Pulver — die Nase auszublasen.
Auf nässende Gesichtsekzeme pulvere
ich in dicker Schicht Airolpulver auf, das
als Schutzdecke liegen bleibt.
Von allgemeinen Maßnahmen ist noch
die Notwendigkeit hervorzuheben, die Kinder
möglichst viel an die frische Luft zu bringen.
Hier stößt man ja meist auf großen Wider-
stand, auf die Furcht vor dem „Zug" bei
den Müttern. Doch müssen die Kinder
ins Freie gebracht werden, nachdem man
ihnen durch Brille oder Lichtschirm Schutz
gegen die Lichtscheu verschafft hat.
Auf die eigentliche Behandung der Nase,
die ja mit den Sozojodoleinblasungen nicht
erledigt ist, will ich hier nicht eingehen.
Sie ist natürlich erforderlich, um Rezidiven
vorzubeugen. Nur an die adenoiden Wuche-
rungen möchte ich erinnern, welche oft
genug die Ursache für rezidivierende sogen,
skrofulöse Augenentzündungen siud und des-
halb entfernt werden müssen.
Mit einigen Worten will ich noch über
die eigentliche lokale Behandlung der Augen
sprechen. Von den Symptomen steht hier
die Lichtscheu und ihre Bekämpfung im
Vordergründe, und diese ist fast ausschließ-
lich durch Beteiligung der Hornhaut bedingt.
Man kann ohne weiteres annehmen, daß ein
Thu M. 1905.
solches Kind, das die Augen zukneift, eine
Entzündung der Hornhaut in irgend einer
Form hat, und hier kann man durch geeig-
netes Atropinisieren schon viel zur Linderung:
der Reizerscheinungen beitragen. Natürlich
soll man sich in jedem Falle bemühen, sich
die Hornhaut zu Gesicht zu bringen, und
wird bei geeigneter Lagerung und mit dem
Lidhalter und Geduld auch dahin gelangen.
Wenn nicht, so kann man zunächst getrost
erst A tropin in den Konjunktivalsack bringen
und wird dann oft, wenn die Atropin Wirkung
eingetreten ist, mit leichter Mühe das Auge
öffnen können. Freilich wird das Ein-
bringen der Atropin lösung oft Schwierig-
keiten bereiten, auch nicht immef nützen,
weil durch die Tränen die Losung sofort
herausgeschwemmt wird. Es empfiehlt sich
deshalb für solche Fälle das Einbringen des
trockenen Atropins in Substanz, von dem
ein minimales Körnchen mittels einer glatten
Sonde aufgenommen und in dem Konjunkti-
valsack abgestreift wird. Doch kann man
natürlich dieses Atropin in Substanz den
den Angehörigen nicht in die Hände geben.
Bei der Behandlung dieser Affektionen
muß man überhaupt den Grundsatz beachten,
daß Feuchtigkeit den Augen möglichst
fernzuhalten ist. Ich erwähnte schon die
beliebten Kamillentheeumschläge der Mütter.
Sie sind aufs strengste zu verbieten. Auch
das Verbinden der Augen ist schädlich, weil
sich unter dem Verbände feuchte Wärme
entwickelt, die zu vermeiden ist. Bei ein-
seitigen Erkrankungen läßt man deshalb das
Auge mit einer lockeren Klappe gegen
das Licht schützen, bei doppelseitiger, wie
schon erwähnt, durch eine dunkelgraue
Muschelbrille resp. bei kleinen Kindern
durch einen Lichtschirm.
Aus dem Gesichtspunkte, Feuchtigkeit
zu vermeiden, wende ich namentlich im
Anfange eine Salbe aus Airol 1,0, Unguentum
leniens 14,0 an, welche in den Konjunktival-
sack hinein und auf die Lider gestrichen
wird. Sie soll nicht nur heilend auf den
Prozeß wirken, sondern auch dazu dienen,
Keime, die doch noch in das Auge gelangen,
einzuhüllen und, soweit möglich, unschädlich
zu machen. Diese Salbe lasse ich auch auf
trockene Gesichtsekzeme streichen, um sie
zu bedecken, vor Berührung zu schützen.
Daß ausgedehntere Ekzeme, besonders auf
dem beharrten Kopfe, speziell -dermato-
logischer Behandlung bedürfen, braucht wohl
kaum erwähnt zu werden.
Nur wenn stärkere Schleim- oder Eiter-
sekretion an der Bindehaut besteht, wird
man zu Lösungen (schwachen Argentum
nitricum - Einträuflungen) greifen müssen.
31
406
Bar dach, Araen-Farratoae.
Auch wird unter Umstanden ein größeres
Hornhaut-Ulcus, das starke Schmerzen macht,
einen Augenverband erfordern, der aber mit
Vorsicht und möglichst kurze Zeit zu ver-
wenden ist.
Zur Anwendung der bekannten gelben
Quecksilberoxydsalbe wird man erst dann
übergehen, wenn die Reizerscheinungen
seitens der Hornhaut erheblich zurückge-
gangen sind. Die gelbe Salbe kann dann,
zweckmäßigerweise mit Hornhautmassage
vereinigt, lange Zeit, unter Umständen
monatelang, angewendet werden. Es ge-
lingt so manchmal, frische Hornhautflecke
erheblich zu verdünnen.
Ich will diese speziell augenärztlichen
Vorschriften hier nicht weiter ausfuhren.
Es war ja vielmehr meine Absicht, auf die
Wichtigkeit anderer Momente aufmerksam
zu machen, ganz speziell auf die hervor-
ragende Bedeutung der Nasen eiterungen
für die Behandlung und die Prophylaxe der
sogen, skrofulösen Augenentzündungen. Ich
halte für viele Fälle die Beachtung dieser
Nasenerkrankung, die Verhütung, daß die
Naseneiterkeime immer wieder in die Augen
hineingeimpft werden, für mindestens ebenso
wichtig als die lokale Behandlung der Augen.
Gegen ein Mißverständnis möchte ich
mich aber zum Schluß noch verwahren. Ich
behaupte nicht etwa, daß nun alle skrofu-
lösen Augenerkrankungen durch Naseneite-
rungen und deren Begleiterscheinungen her-
vorgerufen werden. Ich wage nicht, die
Behauptung aufzustellen, daß eine konstituti-
onelle Skrofulöse überhaupt nicht existiere.
Sondern ich hebe als Quintessenz dessen,
was ich hier entwickelt habe, den Satz
heraus, daß bei der Behandlung soge-
nannter skrofulöser Augenerkrankun-
gen die Nasenaffektionen und deren
Begleiterscheinungen auf das drin-
gendste Berücksichtigung erfordern.
Über Anwendung und Wirkung
der Arsen-Ferratose.
Von
Dr. L. Bardach in Kreuznach.
Nach der alten Theorie von Binz und
Schulz gehört das Arsen zu den Sauerstoff-
mitteln.
Die beiden Forscher nahmen an, daß das
lebende Eiweißmolekül der Körperorgane in
verschiedener Stärke die arsenige Säure ver-
brenne; je reicher die betreffenden Organe an
Zellen waren, desto lebhafter sei die Ver-
brennung, das Bindegewebe oxydiere am
schwächsten. Umgekehrt reduzieren dieParen-
L Monatshefte,
chymorgane die Arsensäure, am meisten das
Blut. Dieses Hin- und Hernottieren des
Sauerstoffes zwischen den zellreichen Or-
ganen und dem Blute wirkt als starker Reiz
auf den Stoffwechsel. Schon Binz nahm eine
fermentartige Wirkung des Arsens an.
Für diejenigen, welche früher über Arsen-
wirkung schrieben, hatte diese Vorstellung,
wie Unna in Eulenburgs „Handbuch der
allgemeinen Therapie tt treffend bemerkt, etwas
Unbehagliches. Die neueren Forschungen über
die katalytischen Wirkungen von Körpern,
„welche durch ihre bloße Gegenwart und
nicht durch ihre Verwandtschaft die bei
bestimmter Temperatur schlummernde Ver-
wandtschaft zu wecken vermögen, so daß zu-
folge derselben die Elemente sich in anderen
Verhältnissen ordnen, in Verhältnissen, durch
die eine größere elektrochemische Neutrali-
sierung hervorgebracht wird", (Berzelius)
fügen den älteren Vorstellungen über die
Wirkung des Arseniks einen neuen Wert zu.
Die Hemmung der Oxydationsvorgänge, die
Retardation des Zellstoffwechsels ist durch
die Hilfshypothese einer katalytischen oder
Fermentwirkung des Arseniks leichter er-
klärbar.
Ostwald betont in seinem Vortrag über
Enzyme1), daß zur Regelung der Reaktions-
geschwindigkeit (in unserem Fall des Sauer-
stoffes) nur noch die Anwendung von Kataly-
satoren übrig bleibt, welche allerdings die
Aufgabe mit idealer Vollkommenheit zu lösen
gestatten. Die Möglichkeit, daß die spezi-
fischen Wirkungen des Arseniks von einem
Dissoziationsprodukt, entweder dem Metalle
selbst oder einer Sauerstoffverbindung in Ionen-
form, bedingt werden, nimmt auch Schmiede-
berg in der neuesten 4. Auflage seines Grund-
risses der Pharmakologie an. Letzterer er-
wähnt auch die Arsenikesser und ihre Dosen
(bis zu 0,4 g); er macht auf die Widersprüche
aufmerksam, die in den Arbeiten über Stoff-
wechselvorgänge vorhanden sind.
Für sicher erwiesen hält Schmiedeberg
nur die gefaßerweiternde Wirkung des Mittels
und die dadurch bedingte, oft nur auf be-
stimmte Organe beschränkte bessere Ernährung.
Bethmann9) hat in einer Arbeit, die
durch experimentelle Untersuchungen gestützt
war, Veränderungen an roten Blutkörperchen
konstatiert, die mit der Annahme nicht in
Widerspruch stehen, daß die Arsen Wirkung
eine Enzymwirkung ist. Mit der Enzym-
wirkung stimmt auch überein die Erfahrung
über den Gebrauch der kleinen Dosen aroen-
l) Vortrag auf der Hamburger Naturforscher-
Versammlung (1901) gehalten.
*) Der Einfluß des Arsens auf das Blut and
das Knochenmark des Kaninchens (Heidelberg 1893).
XIX. Jahrgaag.1
Aggnat I9QS. J
Bardach, AtMn-Femtot«.
407
haltiger Mineralwässer, in denen das Arsenik
sicher nur in dissoziierter Form enthalten ist
und darum zu um so intensiverer Wirkung
gelangt.
Die Erfahrungen, die ich mit Arsenwässern
in einer langjährigen Praxis gesammelt, ließen
es mir naheliegend und zweckmäßig erscheinen,
mit einer konstant zusammengesetzten halt-
baren und flüssigen Form der Arsen darr eichung
einige Versuche zu machen.
Ein diesen Anforderungen entsprechendes
Präparat ist die „Arsen-Ferratose", die mir
von der Firma C. F. Boehringer u. Söhne zur
Verfugung gestellt wurde. Die klinische
Arsen-Ferratose enthält in wohlschmeckender
Lösung als -wirksamen Bestandteil Arsen-
Ferratin.
Das Arsen-Ferratin stellt den für die
vielseitige Anwendung wichtigen Versuch dar,
Arsen- und Eisen Wirkungen zu kombinieren,
in ähnlicher Weise, wie dies z. B. im Levico-
Wasser der Fall ist. Eine Tagesdosis der
Arsen-Ferratose gleich 3 Eßlöffel oder 50 g
enthält 0,25 Ferratin und 0,00075 Arsenik
organisch miteinander verbunden.
Über Ferratin und Ferratose existiert ja
bereits eine umfangreiche Literatur, auf die
ich verweise. Die Verabreichung des neuen
Präparates geschah meist V* Stunde nach der
Mahlzeit, wobei nur scharfe Speisen, Salate,
rohe Früchte u. s. w. vermieden wurden.
Gemäß der Beschaffenheit meiner Kranken
in Kreuznach habe ich hauptsächlich skrofu-
löse, anämische Krankheiten und ihre Folge-
zustände, insbesondere bei den Frauen und
Kindern, zur Verfugung gehabt, ferner die
verschiedenen Formen der Dermatosen und
protrahierte Rekonvaleszenz.
Meine Beobachtungen erstrecken sich vor-
läufig auf 20 Kranke, welche im verschiedensten
Lebensalter standen, und deren Erkrankung
eine Eisen-Arseniktherapie wünschenswert
erscheinen ließ.
Für Erwachsene wurden meist 3 — 4 Eß-
löffel täglich verordnet, in einzelnen Fällen
bis zu 6 Eßlöffel gestiegen, für größere
Kinder genügten 3 Kinderlöffel, für kleinere
3 Theelöffel.
Neben der tonisierenden Eigenschaft war
auch in den Fällen, wo lokale therapeutische
Maßnahmen nötig waren, eine günstige Beein-
flussung durch dieses Mittel zu ersehen, be-
trächtliche Körpergewichtszunahme, blühen-
deres Aussehen und erhöhtes Kräftegefühl
sprechen am deutlichsten für die gute Be-
kömmlichkeit. Einen Widerstand der Pa-
tienten gegen die Verabreichung vermochte
ich in keinem Falle zu beobachten, der Ge-
schmack und die bequeme Form des Mittels
wurden gelobt.
Über die Spaltung des Arsen-Ferratins im
Magen stellte auf mein Ersuchen ein be-
freundeter Chemiker folgenden Versuch an:
5 g Arsen-Ferratin (As — 0,2 Proz.), ent-
haltend 0,01 g Arsen, wurden während 48 Stun-
den mit Pepsinsalzsäure im Thermostaten bei
38° C. geschüttelt. Aus dem Verdauungs-
produkt wurde die Arsenferratinalbumose
durch Essigsäure ausgefällt, abfiltriert und
ausgewaschen.
Die vereinigten albumosenfreien Fil träte
und Waschwässer enthielten 0,00055 g Arsen.
Demnach sind durch die Pepsinsalz säure- Ver-
dauung 5,5 Proz. des gesamten Arsens ab-
gespalten, während 94,5 Proz. des Gesamt-
arsens fest an Ferratin bezw. dessen Ver-
dauungsprodukte gebunden blieben.
Folgende Krankengeschichten mögen die
klinischen Erfolge darstellen:
1. Rose B., 17 J. alt, Anämie, unregelmäßige
prämaturierte Menstruation mit Schmerzen vor Ein-
tritt derselben. Starkes Müdigkeitsgefühl schon
nach kleinen Spaziergängen, zeitweise Nasenbluten
und Kopfschmerzen in den Vormittagsstunden. Sie
hat seit Jahren mitünterbrechungLevico-, Roncegno-
und Gaberquelle gebraucht. Neben Kreuznacher
Solbädern wurde Arsen-Ferratose anfanglich 2 mal
täglich nach den Mahlzeiten verordnet und allmäh-
lich auf 4 Eßlöffel im ganzen gesteigert Das Mittel
wurde durch 5 Wochen gern genommen, beein-
trächtigte in keiner Weise den Appetit und be-
wirkte bei der Patientin eine weniger schmerzhafte
Menstruation, das Aussehen war frischer, das Kräfte-
Gefühl zeigte sich gesteigert, so daß das junge
Mädchen stundenlange Spaziergänge ohne Ermüdung
machen konnte.
2. Gretchen K., 23 J. alt, litt seit ca. 2 Jahren
an Furunculosis, besonders der Hals- und Nacken-
gegend. Gesundheitszustand sonst gut, kein Zucker.
Im vergangenen Jahre waren Schwefelbäder ge-
braucht worden, aber im Verlauf des Winters hatten
sich wieder größere Eruptionen gezeigt. Arznei-
mittel waren bis jetzt nicht gebraucht worden. Eine
5 wöchentliche Kreuznacher Badekur und Arsen-
Ferratose 3 mal täglich 1 Eßlöffel während 4 Wochen
schienen einen günstigen Einfluß auf die Furun-
culosis ausgeübt zu haben, da die bestehenden sehr
schnell in Heilung übergingen und neue sich nicht
zeigten. Auch im Verlauf des folgenden Wiuters
ist die junge Dame von Erscheinungen frei ge-
blieben.
3. Edith B., 20 J. alt Anämie und Dysmenor-
rhöe. Die starken, sich bis ins Unerträgliche steigern-
den Schmerzen, besonders am ersten Tage der
Menstruation, haben nicht unbeträchtliche Störung
des Allgemeinbefindens hervorgerufen und auch die
Unbequemlichkeiten der Anämie fühlbarer als ge-
wöhnlich gemacht. Es waren schon 2 mal Solbäder
hier gebraucht worden, auch Eisenpräparate ver-
schiedenster Art. Dieses Mal wurde bei Kreuz-
nacher Bädern Arsen-Ferratose verordnet, und konnte
ein zufriedenstellender Erfolg erzielt werden, da
sich die nächste Menstruation mit geringeren Be-
schwerden vollzog. Im ganzen wurde Arsen-
Ferratose 6 Wochen hindurch bis zu 5 Eßlöffel
täglich genommen und gut vertragen.
4. Therese D., Stubenmädchen, 25 J. alt, Ohio-
rosis. Als junges Mädchen stets gesund, konnte
sie sich nach einem vor 3 Jahren überstandenen
31*
408
Bar dach, Ara«n-F«mtote.
[Therapeutisch«
Monatshefte.
typbösen Fieber nie wieder ganz erholen. Großes
Müdigkeitsgefühl, Schlafsucht und Kopfschmerzen
ließen ihr das Leben als Qual erscheinen, und
glaubte sie den leichten Dienst bei ihrer Herrin
nicht mehr leisten zu können. Appetit gering,
Widerwille gegen Fleisch, Milch wurde nur zeit-
weise vertragen. Da die Patientin schon in Paris
eine große Reihe Eisen-Spezialpräparete genommen
hatte, bestand bei ihr nun Abneigung gegen Medi-
kamente. Ein deutsches Mittel wollte sie noch
einmal versuchen, und so nahm sie Arsen-Ferratose,
nachdem sie einen guten Einfluß auf ihren Appetit
und ihren sonstigen Zustand wahrnahm, volle
8 Wochen hindurch, anfänglich 2 Eßlöffel täglich,
während der Mahlzeiten bis zu 4 Eßlöffel. Die
Patientin fühlte sich sehr gestärkt, ihr Aussehen
war frisch und die Schleimhaut fast zur Norm zu-
rückgekehrt.
5. Frau E., 43 J. alt, chronisches Ekzem des
Gesichts. Patientin leidet an demselben seit fast
einem Jahre, zu gleicher Zeit besteht Anämie.
Lokal wird Past. Lassar. und innerlich Arsen-Ferra-
tose angewendet. Die Heilung vollzieht sich im
Laufe von ]0 Tagen. Arsen-Ferratoso wird weiter
genommen und beeinflußt günstig die Blutarmut.
6. Frau S., 41 J., leidet an Acne vulgaris des
Gesichts und des Rückens. Lokal Resorcin-Lanolio,
und Gebrauch der Kreuznacher Seife, innerlich
Arsen-Ferratose 3 mal täglich 1 Eßlöffel steigend
bis auf 6 Eßlöffel täglich. Das Medikament wird
gern genommen und gut vertragen. Die günstige
Beeinflussung des Leidens ist wohl nicht zum
mindesten auch zum großen Teil diesem zu ver-
danken.
7. Herr Rektor H., 59 J. alt, Psoriasis vul-
garis universalis, verbunden mit großer Nervosität.
Sein Hautleiden besteht seit Jahrzehnten und
peinigt ihn in den letzten Jahren durch ein Haut-
jucken. Die Kreuznach er Bäder beeinflussen die
Krankheit in günstiger Weise, zugleich wird auch
Arsen-Ferratose genommen. Dieselbe wird gern
genommen und gut vertragen, Patient fühlt sich
frischer und kräftiger und klagt nicht mehr über
Jucken. Im ganzen wird das Medikament etwas
über 9 Wochen gebraucht.
8. Marga S., 16 J. alt, Anämie und Neigung
zu Ekzem. Behandlung Kreuznacher Bäder und
Arsen-Ferratose, 2 mal täglich 1 Eßlöffel beginnend
und bis 4 Eßlöffel täglich steigend.. Das junge
Mädchen hat nach 5 wöchentlicher Behandlung ein
frisches Aussehen erlangt, die Ekzemerscheinungen
sind bei gleichzeitiger milder Salbenbehandlung ge-
schwunden.
9. Herr W., 34 J. alt, Stationsassistent, Ec-
zema vesiculosum. Das Leiden besteht seit einer
Reihe von Jahren und peinigt den Witterungs-
insulten ausgesetzten Patienten sehr. Lokale Salben-
behandlung und Arsen-Ferratose bewirken nach
3 Wochen eine vollständige Herstellung. Arsen-
Ferratose wird bis 6 Eßlöffel täglich gut vertragen.
10. Fräulein E.H., 27 J., Lehrerin, Neigung
zu Ekzemen und Blutarmut. Behandlung Kreuz-
nacher Bäder und Arsen-Ferratose. Das blasse
Aussehen der Patientin machte einer frischen Ge-
sichtsfarbe Platz, und die Reizerscheinungen der
Haut verschwanden vollständig nach 5 wöchentlicher
Behandlung. Arsen-Ferratose wurde 3 mal täglich
1 Eßlöffel genommen.
11. Lina W., 18 J. alt, Anämie, Ekzem des
Gesichts und Schwellung der Halsdrüsen. Das
junge Mädchen hatte schon im vergangenen Jahre
eine Kreuznacher Badekur gebraucht, welche eine
wesentliche Verminderung der Drüsenerscheinungen
herbeigeführt hatte. Im Lauf des Winters war
durch Frost beim Schlittschuhlaufen eine Hant-
entzündung hervorgerufen worden, deren Folge
noch als ekzematisene Schuppung der Gesichtshaut
sichtbar ist. Im vergangenen Jahre war mit gutem
Erfolge Jod-Ferratose gebraucht worden, jetzt gab
die Dermatose mehr Veranlassung, Arsen-Ferratose
gebrauchen zu lassen. Der Erfolg war ein sehr
günstiger, da schon nach etwa 14 Tagen die Haut
glatt und normal war, im Verlaufe der weiteren
Woche besserte sich auch die Anämie.
12. Erich Seh., 13 J. alt, Eczema chronicum
der Arme und Beine mit pruriginösem Charakter.
Kreuznacher Bäder und Teersalbenbehandlung zu-
gleich Arsen-Ferratose konnten nach 5 wöchentlicher
Behandlung einen vorzüglichen Erfolg herbeifuhren,
als das Ekzem verschwand und bei dem schwäch-
lichen Knaben eine Gewichtszunahme von 7 Pfund
erzielt wurde.
18. Franz G., 11 J., Eczema squamosum.
Salbenbehandlung in Verbindung mit Arsen-Ferra-
tose erzielte in 31/» Wochen einen vollständigen
Erfolg. Arsen-Ferratose wurde gern genommen
und gut vertragen, es wurde mit 3 mal täglich
1 Theelöffel begonnen und bis zu 2 Kindereßlöffel
gesteigert.
14. Sofie J. , 23 J., Anämie mit nervösen Be-
schwerden. Starke kolikartige Schmerzen bei der
Menstruation. Neben Bädern wurde 3 mal täglich
1 Eßlöffel Arsen-Ferratose, später 3 mal 2 Eßlöffel.
Nach 57j Wochen blühendes Aussehen, besseres
Allgemeinbefinden und Gewichtszunahme von
7 Pfund.
15. Frau A. J., 32 J., Psoriasis vulgaris
guttat., starke Nervosität. Behandlung: Mineral
bäder, Pyrogallussäure und innerlich Arsen-Ferrato»e
in steigender Dosis bis zu 3 mal täglich 3 Eßlöffel.
Das Mittel wurde gut vertragen und schien die
Heilung des Hautleidens günstig zu beeinflussen.
Gewichtszunahme in 5 Wochen 4 Pfund.
16. Louise St, 17 J. alt, Eczema marginatum.
Das Leiden besteht über ein Jahr mit starkem
Jucken, Patientin ist durch dasselbe recht nervös
und anämisch geworden. Bäder, lokale Behand-
lung, innerlich Arsen-Ferratose bewirken eine voll-
ständige Heilung nach 4 Wochen. Gewichtszunahme
von 3 Pfund.
17. Elise G., 42 J. alt, unverheiratet, Myoma
uteri, geschwächter Zustand nach profusen Men-
struationen. 3 mal täglich 1 Eßlöffel Arsen-Ferra-
tose steigend nach und nach auf 3 mal 2 Eßlöffel
bewirkte allgemeine Kräftigung, frischeres Aussehen,
besseren Appetit.
18. Frau R., 36 J. alt, Lupus erythematode^
pflaumengroße Eruption auf der rechten Backe;
anämisch; ist immer gesund gewesen, keine Tuber-
kulose in der Familie. Das Leiden hat vor 5 Jahren
mit einem kleinen Fleckchen angefangen. Behand-
lung Röntgenbestrahlung. Arsen-Ferratose 3 mal
täglich 1 Eßlöffel. Nach 5 Wochen ist der Krank-
heitsherd auf der Backe nur noch als 5 Pfennig
große glatte und flache Narbe sichtbar, die Anämie
gebessert. Die Behandlung wird noch fortgesetzt.
19. A. Z., 27 J. alt, Anämie, während der
Menstruation Muskelschmerzen in beiden Armen
und im Nacken, Appetitlosigkeit, während der
Menses bis zum Erbrechen gesteigert. Keine Magen-
noch uterine Erkrankung. Früher angewandte
Atoxylbehandluug hatte zeitweise gute Dienste ge-
leistet. Jetzt wurde Arsen-Ferratose in kleinen
Dosen versucht und, da gut vertragen, bis auf 3 mal
täglich 1 Eßlöffel gesteigert. Erfolg sehr zufrieden-
stellend, da die Beschwerden nach und nach ver-
XIX. Jahrgang.!
Angurt 1905. J
Pitartki, Ober IiopraL
409
schwanden, und nach 6 wöchentlicher Behandlang
eine Gewichtszunahme von 4 Pfand erzielt wurde.
20« Albert E., 17 J. alt, leidet vom frühesten
Knabenalter an Prurigo. Intensives Jucken in der
Nacht hatte zu konsekutivem Ekzem und blutigen
Infiltrationen der Haut, besonders der Oberschenkel,
geführt Patient war anämisch und nervös ge-
worden. Kreuznacher Bäder mit Teerbehandlung,
innerlich Arsen-Ferratose bewirkten nach kaum
5 wöchentlicher Behandlung ein Abheilen der be-
stehenden Krankheitserscheinungen, das Jucken
hatte aufgehört, und der junge Mann war frisch und
kraftiger geworden.
Wir können somit auf Grund unserer
theoretischen Erwägungen ebenso wie der
klinischen Erfolge die Arsen-Ferratose für die
Praxis in ihren Eigenschaften als wirksames
Tonicum in der Rekonvaleszenz nach akuten
und chronischen Krankheiten als blutbilden-
des Mittel bei Anämien jeglicher Art, end-
lich als plastisches Mittel für Dermatosen
empfehlen.
(Ana der Abteilang für Innere Krankheiten dei Prof. Dr.
8tan~Pareniki im hL Lazaraakrankenbaoie in Krakaa.)
Über Isopral als schlafwirkendes
Medikament.
Von
Dr. Thaddaus Pisarski.
Die Anzahl der Schlafmittel, von denen
noch keines das Ideal erreicht hat, ist durch
ein neues Mittel, Isopral genannt, vermehrt
worden. Es wurde von der Firma vorm.
Bayer & Co. in Elberfeld dargestellt. Der
erste, der sich mit diesem Mittel beschäftigte,
war Impens; er hat, gestützt auf Beobach-
tungen an Tieren, mit großer Genauigkeit
seine Wirkung und seine physiologischen
Eigenschaften beschrieben. Diese Beobach-
tungen sind zugunsten des Isoprals aus-
gefallen. Es bleibt noch übrig, durch kli-
nische Versuche am Krankenbette festzu-
stellen, inwieweit sich die Anwendung des
Isoprals als Schlafmittel als praktisch erweisen'
wird.
Isopral steht in bezug auf seine che-
mische Struktur dem Chloralhydrat nahe,
denn es ist ein Trichlorisopropylalkohol von
der Formel : G Cl3 . CH (OH) . CH8. Es kry-
stallisiert in Form prismatischer Nadeln,
schmilzt bei 49° C. und sublimiert schon
bei gewöhnlicher Zimmertemperatur sehr
leicht. In Wasser, Alkohol und Äther ist
es leicht löslich.
Die Beobachtungen wurden an 28 Kranken,
und zwar an 22 Männern und 6 Weibern,
durchgeführt. Die Krankheiten waren fol-
gende ' Lungentuberkulose 10 mal, darunter
2 Fälle mit pleuritischem Exsudat und einer
mit Ulcera tuberculosa laryngis; Pleuro-
pneumonia fibrinosa 1; Pleuritis sicca trau-
matica 1; Myokarditis, Arteriosklerosis, An-
gina pectoris, Emphysema pulm. maj. grad. 1 ;
Insuff. valv. bicuspid. 1 ; Oatarrhus ventriculi
chronicus 3, lmal mit einer großen Dilata-
tion ; Enteritis catarrhalis chronica 1 ; Appen-
dicitis 1: Neoplasma ductus choledochi cum
ictero 1 ; Ischias 1 ; Sclerosis cerebrospinalis
disseminata 1; Dementia senilis 1; Poly-
arthritis rheumatica subacuta in ind. c. in-
suff. valv. bicuspid. 1 ; Nephritis mixta chro-
nica 1; Blitzschlag 1; Morphinismus 1; Te-
tanus 1.
Das Lebensalter der Kranken schwankte
zwischen dem 18. und 65. Jahre. Der
größte Teil der Patienten verblieb konti-
nuierlich im Bette, einige verbrachten den
Tag außerhalb des Bettes, indem sie leichtere
Arbeiten ausführten.
Die Ursache der Schlaflosigkeit war sehr
mannigfaltig, und zwar: Schmerz, Stechen,
gastrische Beschwerden, nervöse oder psy-
chische starke Aufregung, Husten, Dyspnoe,
Morphinismus, Krämpfe, Anfalle von An-
gina pectoris, Hautjucken, Reißen in den
Gelenken.
Die Kranken, bei denen sich der Schlaf
durch indifferente Mittel herbeiführen ließ,
die also leicht der Suggestion zugänglich
waren, wurden von der Beobachtung ausge-
schlossen.
Isopral ist über zwei Monate lang ge-
reicht worden und bei der mehr als 160-
maligen Anwendung wurden ungefähr 150 g
verbraucht. Anfangs wurde 0,25 pro dost
gegeben, die Gaben wurden immer mehr ver-
größert, und die größte Gabe betrug 2,50
pro dost und pro die.
Am häufigsten haben die Kranken Isopral
um 7 Uhr abends eingenommen, zuweilen
wurde es aber auch am Tage, und zwar
in dosi refracta, gegeben, weil es sich damals
um die Erforschung seiner sedativen Wirkung
gehandelt hat.
Die Zeit, welche von der Einnahme des
Isoprals bis zum Auftreten der Empfindung
der Schläfrigkeit und zum Einschlafen ver-
floß, war sehr verschieden. Diese Differenzen
waren nicht nur von dem Quantum des ein-
genommenen Isoprals, sondern auch von
vielen anderen Umständen wie Tageszeit,
Benehmen des Kranken, Alter, Geschlecht,
Ernährungszustand u. dergl. abhängig. Im
allgemeinen konnte man konstatieren, daß
die Weiber sehr empfindlich gegen die Wir-
kung des Isoprals sind; sie schliefen sogar
nach Gaben von 0,25 g in 10 Minuten ein,
während die Männer bei so kleinen Gaben
nie vor Ablauf einer Stunde und manchmal
erst nach 4 Stunden einschliefen. Dasselbe
geschieht bei den Männern auch nach Gaben
410
Pitartki, Ober Itopiml.
rThenpeuUaehK
L Mon&talMAa.
von 0,50 und 0,75, während die Weiber
spätestens binnen einer Stunde einschliefen.
Nach einer Gabe von 1 g erschien die
Schläfrigkeit bei den Männern durchschnitt-
lich in 3/4 Stunden; dasselbe bezieht sich
auch auf die Gabe 1,50. Große Gaben, also
2 g, wirkten in l/s Stunde und die Gabe
2,50 in 10 Minuten. Das sind durchschnitt-
liche Zahlen, denn es findet sich doch hier
und da ein gegen die Wirkung des Isoprals
immunes Individuum, sei es infolge indivi-
dueller Eigenschaften oder infolge der An-
gewöhnung an ein anderes Hypnoticum.
Die nach Isopral eintretende Schläfrigkeit
trug den Charakter der normalen, welche
immer vor dem natürlichen Schlafe einzu-
treten pflegt. Dies bezieht sich auf Gaben
bis höchstens zu 1 g. Nach größeren Dosen
von 1,50 — 2,50 g wurde starkes Schwindel-
gefühl sowie Schwäche und Übelkeit beob-
achtet, gerade wie nach Genuß größerer Mengen
Alkohols.
Der durch gewöhnliche Gaben, 0,50 bis
1,00, herbeigeführte Schlaf dauert durch-
schnittlich 7 — 8 Stunden. Große Gaben
wie 2,00 — 2,50 verursachen einen langen,
12 — 14 Stunden dauernden Schlaf. Diese
Zahlen stimmen mehr oder weniger mit denen
von Urstein und Mendl gefundenen überein.
Der Schlaf ist mäßig tief. In 160 einzelnen
Beobachtungen trat 61 mal keine Unter-
brechung des Schlafes ein, 93 mal war er
unterbrochen, und 6 mal versagte die Wirkung
ganz. Die den 'Schlaf unterbrechenden Ur-
sachen waren Husten, Bedürfnis nach Urin-
oder Stuhlentleerung, Aufalle von Angina
pectoris oder Schmerzen, z. B. Ischias. Bei
sehr starken physischen Beschwerden sowie
bei großer Unruhe und Lärm im Kranken-
saale versagte die Wirkung. Die Kranken
waren leicht zu erwecken.
Im allgemeinen wurde der Schlaf von
den Kranken als ein durchaus erquickender
empfunden, in einigen Fällen jedoch wurden
Klagen geäußert, und zwar 15 mal über
leichten Kopfschmerz, Gefühl der Schwere
im Kopfe und Schwindel; lmal über unan-
genehmen Geschmack im Munde; 3 mal über
Gefühl der Ermüdung und Schwere in den
Gliedern; 11 mal dauerte die Schläfrigkeit
noch einige Stunden nach dem Erwachen an,
und einmal hatte der Kranke das Gefühl
wie nach einem Alkoholrausch. Diese Be-
schwerden stellten sich nach den Gaben 1,50 g
und mehr häufiger ein; nach Gaben von 1 g
wurde nur einige Mal ein leichter vorüber-
gehender Kopfschmerz beobachtet. Den
Kranken wurde in diesen Fällen schwarzer
Kaffee gereicht, und es verschwanden dar-
nach bald alle unangenehmen Gefühle. Gaben
von 1 g hinterließen nie ein unangenehmes
Gefühl.
Mit der Anwendung von Dosen über 2 g
soll man sehr vorsichtig sein, und man darf
sie nur bei stark psychisch aufgeregten
Kranken anwenden. Als Bie spiel hierfür sei
ein Fall erwähnt, in welchem, nachdem
kleinere Dosen anstandslos vertragen worden
waren, eine einmalige Gabe von 2,5 g eine
Reihe unangenehmer Erscheinungen auslöste.
Sofort nach der Einnahme trat Schwindel-
gefühi und Schläfrigkeit ein, der Kranke
schlief 14 Stunden ohne Unterbrechung und
konnte nur mit Mühe erweckt werden. Nach
dem Erwachen war er apathisch, unzufrieden,
seine Bewegungen waren sehr langsam, es
bestand Lichtscheu, die Pupillen reagierten
auf Licht sehr träge. Er klagte über Kopf-
schmerzen und Schläfrigkeit. Beim Gehen
taumelte er und empfand Schwindel. Nach
dem Trinken von schwarzem Kaffee besserte
sich der Zustand bedeutend, jedoch bestand
die Empfindung der Schläfrigkeit und Un-
sicherheit im Gehen noch den ganzen nächsten
Tag hindurch. Erst am dritten Tage wurde
der Zustand wieder normal.
Eine deutliche kumulative Wirkung wurde
nicht bemerkt, obwohl Isopral eine lange
Reihe von Tagen in Dosen von 1 — 1,50 g
täglich gereicht wurde. Der Schlaf dauerte
zwar gewöhnlich um so länger, je länger das
Mittel gereicht wurde, und die Schläfrigkeit
erhielt sich sogar während des Tages; alle
diese Symptome verschwanden aber sofort
nach dem Aussetzen des Mittels.
Eine gewisse Gewöhnung an das Mittel
läßt sich manchmal bemerken. Zwei Kranke,
der eine mit Appendicitis , der andere mit
Lungentuberkulose und pleuritischem Exsudat,
verlangten stets zur Nacht Isopral, welches
sie anscheinend nicht entbehren konnten.
Die Abgewöhnung ließ sich jedoch leicht
'durchführen. Anfangs wurden die Isopral -
dosen nach und nach verkleinert, dann diese
Substanz durch Veronal ersetzt, und schließ-
lich wurde die völlige Entwöhnung durch
Suggestion erreicht.
Am deutlichsten war die hypnotische
Wirkung des Isoprals dort sichtbar, wo die
Schlaflosigkeit nicht auf physischen Be-
schwerden beruhte, also bei Fällen von
Neurasthenie, psychischer Erregung u. dgl.
mehr.
Ein unmittelbarer Einfluß auf psychische
Beschwerden war nicht zu bemerken, jedoch
konnte man konstatieren, daß die oben er-
wähnten Leiden, falls sie nicht eine zu hohe
Intensität erreichten, durch die Herbeiführung
des Schlafes indirekt gemildert wurden. So
schlief zum Beispiel ein an Appendicitis
XIX. Jahrgang.!
Aqgnrt 1906. J
Picartki, Üb«r Icopral.
411
leidender Kranker, den sonst seine starken
Schmerzen nicht schlafen ließen, nach 1 g
Isopral gut, und die Schmerzen setzten erst
morgens nach dem Erwachen wiederum ein.
Ebenso beeinflußt wurden auch die Schmerzen
bei Ischias, die Stiche bei Pleuritis und das
Hautjucken bei Gelbsucht. Der Husten wurde
bei den Schwindsüchtigen unzweifelhaft
seltener, was ihnen einige Stunden Schlaf
ermöglichte. Es muß aber dabei erwähnt
werden, daß sie nach dem Erwachen längere
Zeit husteten, bis die während der Nacht
angesammelte größere Sputummenge ent-
fernt war.
Außer der Schlafwirkung ließ sich auch
eine im hohen Grade beruhigende (sedative)
Wirkung konstatieren. Diese Beobachtungen
wurden an drei. Kranken, von denen einer
an multipler Cerebrospinal-Sklerose, ein an-
derer an Dementia senilis und ein dritter
(eine Frau) an Tetanus litt, angestellt.
Bei dem, an multipler Cerebrospinal-
Sklerose leidenden Patienten bestand zit-
ternder Gang, welcher ihm selbst mit Hilfe
des Stockes, und wenn er sich an der Bett-
lehne festhielt, keinen Schritt zu gehen ge-
stattete. Die Kniereflexe waren gesteigert.
Der Kranke nahm anfangs dreimal täglich
1 g Isopral. Die Reflexe wurden darauf nach
einigen Tagen beinahe normal, und der Kranke
war imstande, ohne sich zu stützen, zu
gehen.
Der andere mit Dementia senilis behaftete
Patient geriet ab und zu in solches Erregungs-
stadium, daß man sogar zur Zwangsjacke
greifen mußte. Nach 1 g Isopral trat zwar
kein Schlaf ein, jedoch wurde er nach einigen
Stunden vollkommen still und gehorsam und
benahm sich ganz ruhig. Bei demselben
Kranken trat nach einer Gabe von 2 g Sul-
fonal die beruhigende Wirkung erst nach
12 Stunden ein.
Die dritte, an Tetanus leidende Kranke
wurde erst am sechsten Tage der Krankheit
ins Krankenhaus aufgenommen. Die Krämpfe
wiederholten sich alle paar Minuten. Der
Trismus war sehr stark. Nach der Gabe von
1 g Isopral wurden die Krämpfe seltener, und
die Kranke behauptete, daß sie auch weniger
schmerzhaft wären. Später erhielt die Kranke
aus von mir nicht abhängigen Gründen
Morphin, trotzdem verlangte sie hartnäckig
Isopral und empfand, nachdem sie es bekommen
hatte, stets Linderung.
Ausgezeichnet bewährte sich Isopral zur
Bekämpfung des Morphinismus. Der be-
treffende Kranke schlief ohne Morphium nicht
eine Minute, er war unruhig und zitterte.
Darauf wurde ihm auf einmal 1,50 g Isopral
gegeben; innerhalb einer halben Stunde trat
tiefer Schlaf ein, welcher ohne Unterbrechung
11 Stunden dauerte. Nach dem Aufwachen
fühlte sich der Patient sehr gut und forderte
kein Morphin. Gegen Mittag erschienen Spuren
des Morphiumhungers; der Kranke erhielt
0,25 Isopral. Am Abend desselben Tages
wurde ihm 1 g Isopral gereicht, worauf er
mit gutem Schlafe reagierte. Trotzdem mußte
man ihm morgens 5 Tropfen einer lproz.
Morphinlösung (innerlich) und 0,25 Isopral
geben, was zur vollkommenen Beruhigung
ausreichte. Mit den Morphiumdosen wurde
immer mehr zurückgegangen und statt ihrer
Isopral gereicht, ohne welches der Kranke
nicht schlafen konnte.
Auf die Körpertemperatur übt das Isopral
einen sehr geringen Einfluß aus. Impens hat
Temperaturerniedrigung beobachtet und er-
klärt diese Erscheinung einerseits durch die
Verminderung der Quantität des in der Nacht
aufgenommenen Sauerstoffes, andererseits durch
die Erweiterung der Kapillargefäße, was die
Wärmeabgabe erleichtert. Unter 28 Kranken
wurde nur einmal nach Einnahme von l,50Iso-
prals eine Temperaturerniedrigung bis 35,5° C.
beobachtet, und zwar bei einem Kranken,
dessen Temperatur gewöhnlich zwischen 36
bis 37,4UC. schwankte.
An der Haut sind nur einmal Verände-
rungen, nämlich Urticaria medicamentosa,
beobachtet worden. Sie trat nach der Ein-
nahme von 1 g auf und dauerte 24 Stunden;
sie war über die Haut des ganzen Körpers,
am meisten aber an den oberen und unteren
Extremitäten ausgebreitet und verursachte
Jucken. 9 mal erwachten die Kranken mit
starker Transpiration.
Bei Gaben, welche die therapeutischen
Grenzen nicht überschritten, wurde kein Ein-
fluß auf die Respiration beobachtet, denn
wenn auch die Anzahl der Atemzüge im Schlafe
meist ein wenig kleiner war, so waren doch
die Differenzen so unbedeutend, daß man es
als eine physiologische Erscheinung ansehen
kann, da bekanntlich die Atmung im Schlafe
immer verlangsamt ist. Die Atemzüge waren
immer regelmäßig und gleichmäßig tief.
Auf die Herztätigkeit scheinen kleine
Gaben Isoprals, 0,25 — 0,75 keinen Einfluß
auszuüben; nach den mittleren und großen
Dosen (1 — 2,50) ist jedoch ein Einfluß sicht-
bar. Die umseitig stehenden Tafeln erklären
am besten diese Änderungen. So zeigt nach
der Einnahme von 1 g der mit dem Sphygmo-
graphen gemessene Puls nach dem Ablaufe
einer Stunde eine höhere Welle, wobei auch
die Anzahl der Pulsschläge vergrößert war.
5 Stunden danach hält derselbe Zustand an,
nach 12 Stunden kehrt sowohl die Höhe wie
auch die Anzahl der Pulsschläge zum nor-
412
Pltartkl, Übar Itoptal.
[Tharapantlach«
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XIX. Jahrgang. 1
Angmt 1906. J
Pitartkl, Ober Isopral.
413
malen Zustande zurück. Diese Erhöhung
der Pulskurve laßt sich durch die von Impens
mittels der Tierexperimente festgestellten
Tatsachen erklären, daß das Isopral lähmend
auf das vasomotorische Zentrum einwirkt
und so durch Gefäßerweiterung eine Erniedri-
gung des Blutdruckes herbeifuhrt. Im all-
gemeinen ließ sich konstatieren, daß unter
28 Kranken, bei 15 Vermehrung der Puls-
frequenz auftrat; 11 zeigten keine Verände-
rung, und nur in 2 Fällen war die Zahl der
Pulsschläge sehr unbedeutend vermindert
worden.
Diese Tatsachen könnten als Warnung
aufgefaßt werden, daß man beim Verordnen
des Isoprals bei Herz- und Arterienkranken
vorsichtig sein sollte. Indessen hat die Beob-
achtung am Krankenbette erwiesen, daß auch
Kranke mit Herzfehlern und stark ausgepräg-
ter Arteriosklerose Isopral sogar in Dosen
von 1 g sehr gut vertragen. Bis jetzt erwähnt
nur Mendl einen Fall, in welchem bei
einem mit Herzfehler im Stadium der Kom-
pensation .behafteten Individuum nach zwei-
maliger Einnahme von 0,50 g Isoprals eine
Unregelmäßigkeit des Pulses aufgetreten ist,
die aber bald nach dem Aussetzen des Mittels
verschwand.
Objektive Veränderungen im Verdauungs-
kanal hat man nie bemerkt; einige Male
wurde über Übelkeit, welche ziemlich lang
andauerte, und einmal über Brennen im Öso-
phagus, welches der Kranke als ein dem
Sodbrennen ähnliches Gefühl bezeichnete,
geklagt.
Das Körpergewicht unterlag kaum Schwan-
kungen, auch nicht bei den Kranken, welche
längere Zeit Isopral nahmen. Die einige
Male beobachtete Gewichtszunahme um einige
Hunderte Gramm ist wohl als Folge der
besseren Ernährung der Patienten im Kranken-
hause, als zu Hause anzusehen.
Was den Urin anbelangt, so hielten sich
seine Differenzen in Farbe und Reaktion in
den physiologischen Grenzen. Die Menge,
welche in 24 Stunden ausgeschieden wurde,
war bei 16 von 28 Kranken vermehrt, in
einigen Fällen sogar um das Doppelte, 8 mal
unterlag sie keiner Veränderungen und nur
4 mal wurde eine geringe Verminderung des
Urinquantums beobachtet. Man kann infolge-
dessen Isopral als ein Mittel, welches zwar
nicht immer, aber häufig die Harnsekretion
erhöht, ansehen.
In einigen Fällen wurde eine Verminde-
rung des spezifischen Gewichtes des Urins
konstatiert. Dieselbe war, wie die Unter- \
suchung erwiesen hat, hauptsächlich von einer
Verminderung der Harnstoffmenge abhängig.
Der Harnstoff wurde mittels des Apparates
Th. M. im.
von Zoth bestimmt, welcher auf dem Prinzip
beruht, daß sich der Harnstoff unter dem
Einflüsse der Bromnatronlauge in Kohlen-
säure, Wasser und Stickstoff zersetzt. Aus
dem Quantum des entwickelten Stickstoffes,
welches man direkt auf einer empirischen
Skala abliest, berechnet man die Menge des
Harnstoffs. Diese Verminderung der Harn-
stoffmenge beweist eine Eiweißersparnis im
Organismus, da bekanntlich die Menge des
Harnstoffes von der Menge des im Organismus
verbrauchten Eiweißes abhängig ist.
Bei der Anwendung des Isoprals muß
man daran denken, daß es ein sehr leicht
flüchtiger Körper ist und mit der Zeit infolge
dieser Eigenschaft, wenn es an einem warmen
Orte und in nicht gut verschlossenen Gefäßen
aufbewahrt wird, an Wirksamkeit verliert.
Infolgedessen hat sich die Verordnung des
Mittels in flüssiger Form, wie sie gleich nach
der Einführung des Mittels in die Praxis
üblich war, als unpraktisch erwiesen. Jetzt
verfertigt die Fabrik Bayer-Elberfeld Pastillen,
welche in kleinen, mit Kork verstopften,
mit Paraffin verschmolzenen und mit drauf-
gesetzten, metallenen Kapseln verschlossenen
Glasröhrchen geliefert werden. So ver-
schlossen, läßt sich Isopral in kühlen und
dunklen Bäumen lange Zeit aufbewahren.
Seine große Flüchtigkeit erlaubt es nicht,
das Mittel in Form subkutaner Injektionen
anzuwenden.
Ein großer Fehler des Isoprals, welcher
auch eine große Erschwerung in seiner Ein-
führung in die allgemeine Praxis ausmachen
wird, ist sein sehr unangenehmer Geschmack.
Derselbe ist scharf, etwas an den Geschmack
von Kampfer erinnernd, nur noch mehr
kratzend. Auf der Zunge hinterläßt es einen
widerlichen Nachgeschmack und die Empfin-
dung der Anästhesie. Um den Patienten
diese Unannehmlichkeiten zu ersparen, wurden
die Isopralpastillen in Oblaten eingehüllt
und Wein oder Thee mit Rum zum Nach-
trinken gegeben. Es ist zu hoffen, daß die
Fabrik die Pastillen in eine leicht in dem
Magensafte lösliche und den Geruch und
Geschmack des Mittels verdeckende Substanz
eingehüllt anzufertigen versuchen wird. Dieses
würde das Einnehmen des Isoprals bedeutend
angenehmer machen und sein Verordnen außer-
ordentlich erleichtern.
Vorliegende Beobachtungen wurden an dem
mir üb erlassenen Krankenmateriale der Spitals-
abteilung für innere Krankheiten von Prof.
Dr. St. Pareiiski durchgeführt. Für die ge-
fällige Überlassung desselben sowie auch
für die diesbezüglichen Ratschläge spreche
ich meinen verbindlichsten Dank aus.
32
414
Oltuszewaki, Psychisch« Entartung.
rTherapftntUcn«
. Monatsheft«.
Literatur.
1. Impens, Therap. Monatsh. 1903, Heft 9 und 10.
2. E. Raimann, Die Heilkunde 1904, Heft 8.
3. Esc hie, Fortschr. d. Med. 1904, Heft 6.
4. M. Urstein, Therapie d. Gegenw. 1904, Heft 2.
5. J. Mendl, Prag. med.Wochenschr. 1904, Heft 6.
(Ana der Warschauer Anstalt für Sprachstörungen.)
Die psychische Entartung
und deren Verhältnis zu verschiedenen
Kategorien von Sprachstörungen.
Voa
Dr. Wladyslaw Oltuszewski. (ScJUu/».f
Jetzt gehe ich zum eigentlichen Gegen-
stande der gegenwärtigen Arbeit über, und
zwar zur Erklärung des Verhältnisses der
Entartung zu verschiedenen Kategorien
von Sprachstörungen.
Wir lenken unsere Aufmerksamkeit zuerst
auf die Aphasie. Diese Störung bemerkte
ich weit mehr bei Kindern (348 Fälle), als
bei Erwachsenen (45 Fälle). Nach der Aus-
schließung einer verhältnismäßig unbedeuten-
den Zahl der Fälle von Aphasie hysterischer
Entstehung bei Erwachsenen gehörten die
übrigen nicht zur Kategorie der Entartung.
Ganz anders war dies der Fall bei Kindern,
bei denen die mangelhafte psychische Ent-
wickelung. verschiedenen Grades das wichtigste
und häufigste ätiologische Moment ausmachte.
Es war eine Aphasie entweder infolge gei-
stiger Vernachlässigung, also der mangel-
haften Entwickelung des ganzen Gehirns als
des Denkorgans (Mangel des Verständnisses
der Sprache bei gänzlichen Idioten, Mangel
der selbständigen Sprache bei unvollstän-
digen Idioten und Schwachsinnigen), oder
auch zusammen mit anatomischen Verände-
rungen in den motorischen Wortzentren (die
motorische Aphasie, die von Veränderungen
in der Gegend von Broca oder im mitt-
leren Zentrum abhängig ist, bei den soge-
nannten infantilen Cerebrallähmungen). Bei
Kindern mit mehr oder weniger normaler
Intelligenz war die Aphasie meistenteils von
der angeborenen Taubheit abhängig, die mit
Recht nach Fere zur Kategorie der Ent-
artung gezählt wird (soweit sie, versteht sich,
nicht von überstandenen pathologischen Pro-
zessen nach der Geburt im mittleren oder
inneren Ohre abhängig ist), oder von der
erworbenen, von der sogenannten angeborenen
oder erworbenen extracerebralen Aphasie, die
von der beiderseitigen teil weisen Erkrankung
des Labyrinths oder des inneren .Ohres be-
gleitet wird, schließlich von der psychischen
Degeneration, wo es, abgesehen von den sorg-
faltigsten Anamnesen, wie auch der objektiven
Untersuchung, nicht gelang, die mangelhafte
Entwickelung oder infantile Cerebrallähmun-
gen zu entdecken (verspätete Sprache). So-
wohl die extracerebrale Aphasie, wie auch
die Worttaubheit ist leicht zu verstehen,
wenn man daran denkt, daß im ersten Falle
die Entstehung des Wortgedächtnisses er-
schwert ist, also das Verstehen der Sprache,
die Nachahmung, wie auch die selbständige
Sprache, im anderen aber ganz unmöglich
ist. Was die verspätete Sprache anbelangt,
so ist dieselbe von der Abschwäch ung des
sensorischen Wortgedächtnisses abhängig und
zusammen damit vom Mangel der Ausarbeitung
des Sprachautomatismus, also auch der selb-
ständigen Sprache.
Die zweite Sprachstörung, welche in ihren
Folgen nicht weniger wichtig und in der Be-
handlung sogar schwieriger ist als die Aphasie,
ist das Stammeln bei Kindern4), welches
auf der Bildung eines gänzlich unregelmäßigen
Sprachautomatismus beruht, also einer un-
verständlichen Sprache. In der Ätiologie
dieser Störung habe ich meistens eine man-
gelhafte geistige Entwickelung angetroffen,
besonders bei Schwachsinnigen und Vernach-
lässigten, bei welchen sich infolge der Ab-
schwächung des Wortgedächtnisses allein die
stammelnde Sprache entwickelt und, ver-
hältnismäßig sehr spät, die den Naturkräften
weichende verspätete Sprache, die motorische
Aphasie (meistens bei infantilen Cerebral-
lähmungen), wie auch die extracerebrale
Aphasie.
In der Reihe ätiologischer Momente der
fehlerhaften Aussprache notierte ich ge-
wöhnlich : das durch die Naturkräfte sich aus-
gleichende verspätete physiologische Stammeln,
welches sich meistens bei Kindern mit der
englischen Krankheit und den Skropheln
trifft, die Reste des pathologischen Stam-
meins, meistens bei Schwachsinnigen und
Vernachlässigten, wie auch die sehr oft er-
scheinende fehlerhafte Bildung der Kiefer
und der Zähne bei Vernachlässigten und Un-
equilibrierten. Ein schlechtes Sprachvorbild
während der Entstehung der Sprache und
ein schlechtes Gehör bildeten in der Ätio-
logie der fehlerhaften Aussprache einen sehr
geringen Prozentsatz.
Was die nasale Sprache5) zentraler
Entstehung anbelangt, die meiner Ansicht
4) Das Stammeln bei Erwachsenen, die zur
Kategorie der Entarteten gehören, trifft man ver-
hältnismäßig selten (Paralysis progressiva, Friedrich-
sehe Krankheit u. s. w.).
&) Ich spreche hier von der eigentlichen nasalen
Sprache, die von der ungenauen Abgrenzung der
Mundhöhle von der Nasen-Rachenhönle abhängig
ist, und nieht vom nasalen Anklang bei verstopfter
Nase aus irgend welchem Grunde, wie Hyper-
trophien der Muscheln, Polypen u. s. w.
XIX. Jahrgang.!
Attgtmt 1906. J
OltutzewtkJ, Psychische Entartung.
415
nach von der vernachlässigten Tätigkeit der
motorischen Rindenzentren abhängig ist,
welche Tätigkeit die ungenaue Abgrenzung
der Mundhöhle von der Nasen-Rachenhöhle
durch den weichen Gaumen verursacht, so
traf ich dieselbe fast ausschließlich bei
Kindern mit mangelhafter psychischer Ent-
wickelung nach der zurücktretenden und
in das Stammeln übergehenden motorischen
Aphasie. Die nasale Sprache peripherischer
Entstehung, gewöhnlich bei entarteten Kin-
dern mit mehr oder weniger normaler In-
telligenz, mit dem sie begleitenden Stammeln,
eventuell der fehlerhaften Aussprache, hing
gewöhnlich von der Verkürzung des harten
Gaumens und von Spaltungen desselben ab,
dagegen in wenigen Fällen bei nichtentarteten
Kindern vom vernachlässigten Gehör oder
von verschiedenen Ursachen, welche den
Mangel der Abgrenzung erwähnter Höhlen
verursachen (adenoide Wucherungen, Läh-
mungen des weichen Gaumens u. s. w.).
Die vielfach bestätigte Verbindung zwischen
verschiedenen Arten von Entartungsgraden und
der Aphasie, dem Stammeln, der fehlerhaften
Aussprache und der nasalen Sprache würde
uns am besten das Zahlenverhältnis illustrieren,
welches die Entartung in der Ätiologie be-
sprochener Ausartungen ausmacht. Leider
können wir die in dieser Hinsicht unten an-
geführten Zahlen nur als annähernde be-
trachten, und das aus folgendem Grunde.
Als ich vor 12 Jahren anfing, auf dem Felde
der Sprachstörungen zu arbeiten, blieb die
Logopathologie, abgesehen von vielen wissen-
schaftlichen Arbeiten des ernsthaften For-
schers in der Abteilung der Sprachstörungen,
H. Gutzmann, auf einem verhältnismäßig
niedrigen Entwickelungsstadium und von der
Bemerkung irgend einer Verbindung zwischen
der Ausartung und den Sprachstörungen fand
ich nirgends einen Hinweis. In der Ätiologie
der Aphasie bei Kindern beschränkte man
sich auf die Bestimmung, daß ein geistig ver-
nachlässigtes Kind deshalb nicht spricht, weil
es nichts zu sprechen habe, die Aphasie da-
gegen bei Kindern mit normaler Intelligenz
leitete man allein zur nichtssagenden Benen-
nung Hörstummheit (Möglichkeit des Sprach-
verständnisses beim Mangel der selbständigen
Sprache), ohne die Ursachen derselben zu
erklären. Man unterschied das Stammeln
von der fehlerhaften Aussprache nicht, und
von einer rationellen Erklärung der Patho-
genese dieser Störungen, wie auch der nasalen
Sprache hirnlicher Entstehung, war nicht
die Rede. Abgesehen von sehr ernsthaft aus-
geführten Forschungen, welche die Ausartung,
die infantile Cerebrallähmung, die mangel-
hafte Entwickelung betreffen, wie auch von
den Grundlehren für die Logopathologie, wie
die psychische Grundlage der Spracheent-
wickelung beim Kinde, die Psychologie der
Sprache u. s. w., läßt die Ätiologie der wich-
tigsten Sprachstörungen bei Kindern, und zwar
der Aphasie, des Stammeins, eventuell der
fehlerhaften Aussprache und der nasalen
Sprache, im Auslande sogar jetzt noch viel
zu wünschen übrig. So ist es natürlich, daß
erst nach Berücksichtigung einer ganzen Reihe
bezüglicher Arbeiten fremder Autoren, eben-
falls auf Grund der eigenen, wie auch nach
einer eifrigen Sammlung von Anamnesen und
genauer Untersuchung eines jeden Kranken,
es mir nur allmählich gelang, die erwähnten
Lücken auszufüllen und eine rationelle An-
sicht über die Ätiologie der erwähnten
Störungen zu bearbeiten, weshalb ich auch
wohl in den ersten Jahren auf viele sich
hierher beziehende wichtige Erscheinungen
nicht die Aufmerksamkeit lenkte. Dennoch
erlaube ich mir, die bezüglichen Zahlen an-
zuführen, welche sich auf das klinische
Material der letzten 10 Jahre stützen. Also
verursachte auf 806 Fälle der erwähnten
Störungen und zwar: Aphasie bei Kindern
348 (54 Fälle bei Erwachsenen gehörten
nach Ausschließung einiger von hysterischer
Entstehung nicht zur Kategorie der Aus-
artung), Stammeln 77, fehlerhafte Aussprache
319, die nasale Sprache 62, die mangel-
hafte Entwickelung verursachte dieselben in
177 Fällen, die Gehirnlähmung in 59, zu-
sammen in 236 Fällen, von den übrigen
570 Fällen erwies sich die Ausartung ver-
schiedenen Grades, die angeborene Taub-
stummheit, die in keiner Verbindung mit
den pathologischen Prozessen im mittleren
oder inneren Ohre nach der Geburt steht,
wie auch die Veränderungen in den Artiku-
lationsorganen hauptsächlich bei den Un-
equilibrierten wenigstens in der Hälfte der
Fälle. Aus den angeführten Fakten ergibt
sich, daß in der Mehrzahl der Fälle
von Aphasie, Stammeln, fehlerhafter
Aussprache und nasaler Sprache die
Ausartung die allerwichtigste Rolle
spielt.
In der Ätiologie des Stammeins notierte
ich fast ausschließlich: die pathologische Erb-
lichkeit in weiter Bedeutung, also nicht nur
die Erblichkeit von den Eltern und Ver-
wandten, sondern auch das. Vorhandensein
geistiger Krankheiten, Epilepsie, Hysterie,
Neurasthenie, alle Arten von Gleichgewichts-
losigkeiten, constitutioneller Leiden, der an-
geborenen Taubstummheit, der Syphilis in
der Familie; bei der Sammlung von Ana-
mnesen aber erwähnte man sehr oft die eng-
lische Krankheit, die Skropheln, die verspätete
32*
416
\
Oltutzewtki, Fiyohlache Entartung.
rTfeerapaatiache
L MonntBhgfte.
Sprache, wie auch die Neigung der Kinder
zu Krämpfen, die nächtliche Furcht, den
Somnambulismus und das unbewußte nächt-
liche Bettnässen. Anderen prädisponierenden
Momenten, wie die Zeit der Sprachbildung,
die Periode des zweiten Zahnwuchses und
die geschlechtliche Reife, wie auch den
okkasionellen (hervorrufenden) als schnelle
Sprache oder schlechtes Sprach vorbild in
der Periode der Sprachbildung, Verletzung,
Schreck, psychische Ansteckung, das ist der
Aufenthalt in der Umgebung von Stotternden,
die Nachahmung, ansteckende Krankheiten,
schreibe ich eine untergeordnete Rolle zu;
denn, wie ich dies vielmals konstatierte, kann
jede von diesen Ursachen bei einem ganz
gesunden Menschen sehr selten das Stottern
bewirken, und in den wenigen Fällen, wo
ich die pathologische Erblichkeit völlig aus-
schließen konnte, gehorten die Patienten,
welche dem Stottern unterlagen, gewöhnlich
zur Kategorie nervöser Menschen.
Das Zahlenverhältnis bestätigt weit ge-
nauer die Ätiologie des Stotterns, als der
oben besprochenen Krankheiten; denn schon
zu Anfang meiner Beschäftigung mit Sprach-
störungen habe ich auf die pathologische
Erblichkeit eine eifrige Aufmerksamkeit ge-
lenkt. Auf 889 Fälle von Stottern notierte
ich das Erblichkeitsmoment in 508 Fällen
(die Erblichkeit in enger Bedeutung in
286 Fällen, in weiter dagegen in 222). Ich
bin überzeugt, daß diese Zahl faktisch weit
größer ist, und zwar infolge des Mangels
der Anamnese in vielen Fällen, wie auch
der oft vorkommenden Verheimlichung neuro-
pathischer Momente, mit welchen die Familie
belastet ist, durch die Umgebung.
Ich traf das Stottern auf verschiedenen
Stufen der Degenerationsleiter, mit der man-
gelhaften Ent Wickelung beginnend und der
Fallsucht, der Hysterie und Neurasthenie
endigend, am meisten jedoch bei den Un-
equilibrierten6). Die Stigmata, welche bei
der mangelhaften Entwicklung und der Fall-
sucht gewöhnlich grell ausgedrückt waren,
ließen sich ebenfalls oft genug bei den Un-
equilibrierten mit dem Stottern beobachten,
wie Asymmetrie des Kopfes und des Gesichts,
fehlerhafte Gestaltung des harten Gaumens,
der Kiefer, der Zähne, Verunstaltung der
Ohren, Migräne, Tic, der Schreibkrampf und
6) Bei der Hysterie sah ich meistenteils das
Stottern mit akutem Verlauf in der Gestalt von
Atmungs- oder Stimmstottern (der sogenannte
schließende oder unterbrochene Krampf, irrtümlich
unter dem Namen spastische Aphonie beschrieben,
wie ich dies in den Therapeutischen Monatsheften
1898 bewies. In einem Falle verband sich das
hysterische Stottern mit dem Einatmungskrampf
der Kehle.
sehr zahlreiche psychische Anzeichen. In
dieser letzten Hinsicht verdienen eine An-
merkung die dem Stottern eigentümlichen
Phobien, die sich durch eine unbegründete
Furcht vor dem Sprechen ausdrücken, der
Furcht vor dem Stottern an gewissen Stellen
oder unter gewissen Umständen, ebenfalls
die Zwangsideen, die in der irrtümlichen
Überzeugung bestehen, daß der Kranke nicht
imstande ist, gewisse Wörter auszusprechen.
Was schließlich das Poltern betrifft, so
fanden sich alle zehn von mir beobachteten
Fälle bei den Unequilibrierten.
Indem wir die oben angegebene Zahl der
Entarteten bei der Aphasie, dem Stammeln,
der fehlerhaften Aussprache, der nasalen
Sprache, wie auch die angeführten für das
Stottern und Poltern berücksichtigen, können
wir dreist behaupten, daß das allgemeinste
und zugleich das wichtigste Moment,
welches alle Kategorien der Sprach-
störungen disponiert, die Ausartung
in weiter Bedeutung dieses Wortes ist,
mit den Idioten beginnend und den
Unequilibrierten endigend, wobei, wie
wir das gesehen haben, die mangelhafte Ent-
wicklung in dem Maße das wichtigste Grund-
moment für die Aphasie, das Stammeln, die
nasale Sprache, aber nur teilweise für die
fehlerhafte Aussprache und das Stottern aus-
macht, in welchem Maße dieses letztere
wieder in Verbindung mit dem Poltern haupt-
sächlich die Unequilibrierten befällt. Diese
Art Fakten, daß unter den Stotternden oder
mit anderen Sprachstörungen Behafteten sich
ein verhältnismäßig bedeutender Prozentsatz
fähiger und geistig entwickelter Menschen be-
findet, widersprechen keineswegs meiner An-
schauung, wenn wir uns dessen erinnern
wollen, daß die Kranken, welche auf den
höchsten Stufen der Degenerationsleiter stehen,
sich durch eine völlig normal entwickelte
intellektuelle Sphäre auszeichnen können. Nur
ein verhältnismäßig geringer Prozentsatz von
Sprachstörungen ist durch pathologische
Veränderungen im Hirngewebe bei
Menschen begründet, die nicht* zu den
Ausgearteten gehören, wie die Aphasie
von Dichthysterischer Entstehung und einige
Fälle vom Stammeln bei Erwachsenen, wie
auch die erworbenen Leiden des Ohres und
Veränderungen in der Nasen-Rachen-
höhle, welche die Worttaubheit oder die
extracerebrale Aphasie, das Stammeln oder
die fehlerhafte Aussprache, wie auch die
nasale Sprache bei adenoiden Wucherungen,
Lähmungen des weichen Gaumens u. s. w.
verursachen können.
Aus dem, was ich bis jetzt gesagt habe,
folgt, daß man die Mehrzahl der Kranken
XIX. Jahrgang ."I
Angart 1906. J
Oltotsewaki, Psychlache Entartung.
417
mit Sprachstörungen zu den Ausgearteten,
den Entartenden oder Unequilibrierten zählen
muß, die Sprachstörung selbst aber zu
den wichtigsten Symptomen der Aus-
artung.
Die. erklärte Ätiologie der Sprachstörung
hat eine ungemein wichtige Bedeutung bei
der Bestimmung des Ortes, welchen die Logo-
pathologie in der Reihe anderer Zweige der
ärztlichen Wissenschaft einnehmen muß, für
die Hygiene der Sprache, wie auch für die
Prognose und Behandlung ihrer Störungen.
Indem wir die eigentlichen Grundmomente
berücksichtigen, und zwar die Degeneration,
wie auch die Veränderungen des Nerven-
gewebes, welche von kleinen Ausartungs-
stigmaten begleitet werden, können wir die
bis jetzt vereinzelt stehenden Kategorien der
Sprachstörungen in ein Ganzes zusammen-
fassen und die Lehre selbst zur Abteilung
der Psychopathologie und Neuropatho-
logie zählen, wo sie wohl in kurzer Zeit
in den bezüglichen Lehrbüchern ihren Platz
finden wird, weil sie, wie wir gesehen haben,
sich mit der Otiatrie und der Rhinolaryngo-
logie nur indirekt verbindet.
Der Mangel des Raumes erlaubt mir
nicht, mich ausführlich über die weittragende
Bedeutung auszusprechen, welche die auf
diese Weise erklärte Ätiologie für die Hygiene
der Sprache besitzt7), ich beschränke mich
also nur auf die Notiz, daß wir neben den
speziellen hygienischen Fingerzeigen, welche
jeden Teil der Sprachstörungen betreffen, vor
allem niemals das allgemeinste Moment der
Entartung aus dem Auge lassen dürfen. Wenn
wir daran denken, können wir den meisten
Fällen von Sprachstörungen vorbeugen, indem
wir in den weiteren Gesellschaftskreisen die
Überzeugung verbreiten, daß Personen, welche
den geistigen Krankheiten, den Neurosen,
constitutionellen Leiden, dem Alkoholismus
unterliegen, oder die sich durch verschiedene
schädliche Substanzen vergiften, wie über-
haupt Personen, die aus irgend einem Grunde
eine verminderte Lebenswiderstandsfähigkeit
besitzen, alle Aussicht haben, ihren Kindern
die mangelhafte Entwickelung, die Ausartung
oder Gleichgewichtslosigkeit zu überweisen,
welche sich oft mit verschiedenen Sprach-
störungen verbinden. Es ist selbstverständ-
lich, daß das wirksamste Gegenmittel der
pathologischen Erblichkeit das Enthalten von
ehelichen Bündnissen von erblich behafteten
Gesellschaftsmitgliedern sein würde, eventuell
die Verbindung gesunder Personen mit ent-
arteten. Mit Hinsicht jedoch auf die Schwierig-
7) Diesem Gegenstände habe ich eine besondere
Arbeit gewidmet. Warschau 1901.
keit der Ausführung dieser Aufgabe muß man
die schädliche Wirkung des Erblichkeits-
moments dadurch abschwächen, daß man die
körperliche Widerstandsfähigkeit der Eltern
stärkt, die Gesellschaft mit der Ätiologie
der Entartung bekannt macht, die Kinder
von Eltern mit psychopathischer Disposition
isoliert, wie auch durch eine ganze Reihe
von Mitteln, welche heilsam auf die physische
und geistige Entwickelung dieser Art Kinder
wirken, denn wenn wir die Widerstandsfähig-
keit ihres Organismus in beiden Richtungen
stärken, vermindern wir die Kraft der hervor-
rufenden Momente, wie umgekehrt wieder
durch eine nichtentsprechende Erziehung die
schon existierenden psychischen Mängel ver-
größert werden. Auf die leibliche Entwicke-
lung der Kinder können wir heilsam wirken,
wenn wir von der frühesten Kindheit an eine
entsprechende Ernährung anwenden, indem
wir den Aufenthalt und Bewegung in frischer
Luft, eine entsprechende Gymnastik und Bäder
anraten, die geistige Seite dagegen stärken
wir durch eine entsprechende psychische
Hygiene. Da die Gefühle bei der Ausbildung
des Willens und des Charakters eine wichtige
Rolle spielen, so umgeben wir ihre Ent-
wickelung mit einer sorgsamen Obhut, indem
wir die gesunden Gefühle, die dem vorge-
steckten Ziele günstig sind, nähren, indem
wir die Kinder zur Herrschaft über ihre Ge-
fühle gewöhnen und schädliche Erschütterungen
abschwächen, wie unter anderem das Gefühl
der Furcht. Zu demselben Zwecke meiden
wir die frühzeitige Gefühls- und Intelligenz-
entwickelung, denn das erzeugt einen reiz-
baren Charakter und zu Neurosen geeignete
Menschen, dagegen bemühen wir uns, die
psychische Sphäre im gleichmäßigen Grade
zu entwickeln. Die wichtige Periode der
geschlechtlichen Reife umgeben wir ebenfalls
mit einer sorgsamen Obhut.
Dasselbe bezieht sich mutatis mutandis
auf die Prognose und Behandlung der
Sprachstörungen. Auf die Prognose der
Sprachstörungen, die von der mangelhaften
Entwickelung abhängen und hauptsächlich
der Aphasie hat, außer dem Grade der geistigen
Vernachlässigung, die Existenz der anatomi-
schen Veränderungen im Gehirn, bei der
nasalen Sprache, dem Stammeln wie auch
der fehlerhaften Aussprache der Veränderungen
in den Artikulationsorganen, wie Defekte des
harten Gaumens, die Verkürzung seiner Aus-
messung, die unregelmäßige Gestaltung der
Kiefer u. s. w. einen Einfluß, beim Stottern
und Poltern dagegen der Grad der Gleich-
gewichtslosigkeit. Wenn diese Momente auch
die Behandlung nicht unmöglich machen, so
verlängern sie dennoch die Zeitdauer der-
418
Maats, Naueate Arbaltan übar Narkose.
[Therapeutlaehia
Monatshefte.
selben. Was die Behandlung anbelangt, so
muß man neben der Anwendung spezieller,
für jede Kategorie der Sprachstörungen ent-
sprechender Heilmethoden das geistige Niveau
bei Störungen heben, die von der mangel-
haften Entwicklung begründet sind, bei Leiden
dagegen, die mit der Gleichgewichtslosigkeit
verbunden sind, und insbesondere bei dem
Stottern, muß man Mittel anraten, die allge-
mein auf das Nervensystem wirken, wie
Hydropathie , Klimatotherapie , antinervöse
Mittel u. s. w.
Meine Ansicht über die Frage des Ent-
artungsverhältnisses zu den Sprachstörungen
habe ich ausführlich in einer polnischen
Zeitung „Gazeta lekarska 1898" beschrieben
und in Kürze in der Monatsschrift für die
gesamte Sprachheilkunde 1898. Es ist mir
angenehm , zu notieren , daß die deutschen
Autoren, wenn auch langsam, diese Ansichten
zu teilen anfangen. So ist z. B. in Heft 2,
Band 8, Archiv für Laryngologie vom Jahre
1898, die Arbeit des Dr. H. Mygind von
den Ursachen des Stotterns enthalten, in
welcher der Autor bei der in allen Einzel-
heiten ausgeführten Analyse von 200 beob-
achteten Fällen hinsichtlich der Ätiologie zu
denselben Schlüssen wie ich gelangt ist.
Ebenfalls notiert Gutzmann in seiner letzten
Arbeit vom Stottern, obgleich er noch nicht
ganz von seinen früheren Ansichten zurück-
tritt, dennoch die in vielen Fällen des
Stotterns beobachtete Asymmetrie des Gesichts
und auch andere, wie er sie nennt, psychische
Erscheinungen, die zweifellos zu den Aus-
artungsstigmaten gehören, wie die Furcht vor
dem Räume, die Zwangsideen u. s. w. Ich
habe die wohlbegründete Hoffnung, daß wir
mit der Zunahme neuer Arbeiter auf dem
Felde der Sprachstörungen nicht lange darauf
zu warten brauchen werden, daß die ent-
wickelten Ansichten auch die übrigen Kate-
gorien der Sprachstörungen berücksichtigen.
Neueste Arbeiten über Narkose.
EiD Sammelreferat.
Von
Dr. Th. A. Maats.
Je mehr die Chirurgie durch Erweiterung
der Indikationsstellung für operative Ein-
griffe und durch die verfeinerte Technik ihres
Vorgehens selbst eine mehr und mehr domi-
nierende Stellung in der Gesamtmedizin ein-
nimmt, um so mehr macht sich selbstver-
ständlich der Wunsch geltend, den Eingriff
von all den Gefahren zu befreien, welche
nicht unbedingt in der Operation selbst be-
gründet sind, sondern gewissermaßen als
äußere, den Erfolg erschwerende Umstände
hinzukommen. In dem ständigen Kampfe
der Chirurgen gegen diese sich ihnen von
außen entgegenstellenden Hindernisse sind
im Verlaufe des letzten Jahrhunderts glän-
zende Siege erfochten worden, von denen
der erste die Einführung der Narkose war.
Durch sie wurde eine große Anzahl von Ein-
griffen überhaupt erst möglich, welche früher
durch ihre lange Dauer und ihre enorme
Schmerzhaftigkeit entweder überhaupt nicht
ausführbar waren, oder zu denen sich der
Patient in Erwartung der furchtbaren Stunden,
welche ihm während und nach der Operation
bevorstanden, nicht entschließen konnte, und
er es daher vorzog, an seinem Leiden, welches
das Messer des Chirurgen radikal hätte be-
seitigen können, unter ungenügender innerer
Behandlung langsam zugrunde zu gehen.
"Während nun diese der Menschheit so
segensreiche Entdeckung hauptsächlich die
Menge der Operationen und dadurch die
Zahl der Rettung der Kranken aus dem
Gesamt gebiete der Medizin vergrößerte,
war es der Einführung der Antisepsis
und Asepsis vorbehalten, die Gefahrziffer
bei chirurgischen Operationen in
geradezu verblüffender Weise herunterzu-
drücken. Ohne hier mit der Aufführung von
statistischem Material ermüden zu wollen,
genüge zur "Würdigung dieser beiden letzt-
genannten Fortschritte die einfache Betrach-
tung, daß die Laparotomie, eine Operation,
welche heute Tausende von Malen nur zu
diagnostischen oder prophylaktischen Zwecken
vorgenommen wird, vor der aseptischen Ära
ein Eingriff war, welcher alle Zuschauer in
bewunderndes Erstaunen über die Kühnheit
des Chirurgen versetzte; und für den ohne
diesen Eingriff sicher einem baldigen und
qualvollen Tode geweihten Patienten war ja
immerhin ein Fünkchen Hoffnung vorhanden,
von seinem Grundübel durch das Messer des
Chirurgen befreit, nicht an der gewöhnlichen
Folge dieses Eingriffes, der Peritonitis, zu-
grunde zu gehen. Heute aber ist man auf
diesem Gebiete so weit gekommen, daß eine
Infektion von außen ja nur als ein auCer-
ordentlich seltener und bedauerlicher Un-
glücksfall, wie er sich leider nie völlig wird
ausschließen lassen, zu betrachten ist. Die
Asepsis ist also ein chirurgisches Hilfsmittel,
von dem m#n sagen kann, daß es auf dem
Gipfel seiner Vollendung steht.
Etwas anders liegt es aber leider noch
auf dem Gebiete der Narkose. Nachdem
dieser mächtige Bundesgenosse des Chirurgen
in sein Arbeitsgebiet eingetreten ist, zeigte
sich bald, daß ihm noch viel an Zuverlässigkeit
fehlte, und er brachte — darüber darf man sich
XIX. Jahrgang."!
Angurt 1905. J
Mim, Neueste Arbeiten über N&rkoie.
419
nicht im Unklaren sein — seinerseits einen
neuen Faktor in den Gefahrenkomplex der
chirurgischen Operation, den Narkosentodes-
fall. Gegen diese üblen Zufalle der Nar-
kose, welche ohne irgend welche Rucksicht
auf die Große oder Kleinheit der chirurgi-
schen Eingriffe, zu denen die Betäubung ein-
geleitet wurde, schon manches blühende
Menschenleben dahingerafft haben, geht der
standige weitere Kampf der Pharmakologen
und Chirurgen, welcher aber leider noch
nicht zu einem siegreichen Ende geführt hat.
Ich hatte wiederholt in diesen Heften
Gelegenheit, über die Fortschritte zu be-
richten, welche die Lokalanästhesie gegen-
über der Allgemeinnarkose erlangt hat, und
welche im wesentlichen an die Einführung
der ungiftigeren Ersatzmittel des Kokains
wie z. B. Beta-Eukain und Stovain, und des
Zusatzes von Adrenalin zu den lokalen
Anaestheticis gebunden sind, und der es
schon gelungen ist, in einer außerordentlich
großen Anzahl von Fällen die allgemeine
Narkose, d. h. die beabsichtigte vorüber-
gehende Vergiftung des zentralen Nerven-
systems durch die relativ lokalisiert bleibende
therapeutische Beeinflussung des Operations-
gebietes allein, zu verdrängen. Leider aber
ist doch noch ein. großer Teil der Chirurgie
ausschließliche Domäne der Allgemeinnarkose
geblieben, und so war es nötig, auf diesem
Gebiete weiter zu forschen, wie es dem Arzte
möglich sein könnte, das dem Körper, sei
es durch die Atmung, sei es auf irgend einem
anderen Wege, eingeführte Narcoticum so zu
variieren und zu dosieren, daß er seine
Wirkung vollständig in der Hand behielte.
Um hier einmal gleich einen Zahlenbeleg über
den augenblicklichen Stand der Narkosen-
technik zu bringen, möchte ich anfuhren, daß
aus einer Zusammenstellung von 1499 Nar-
kosen, welche sich aus den Arbeiten von
Puschnig, Dirk, Israel, Baker und
Landau (Karewski) ergibt, sich noch
11 Todesfalle, d. h. ein Prozentsatz von
mehr als 7 pro mille, berechnen lassen. Ohne
hier auf die Verteilung dieser verschiedenen
Todesfälle, auf die verschiedenen angewen-
deten Narcotica eingehen zu wollen, soll
diese Zahl hier nur zeigen, ein wie ver-
besserungsbedürftiges Gebiet das der All-
gemeinnarkose noch heute ist.
Die heute ausgeführten Inhalationsnarkosen
fallen eigentlich ausschließlich zwei Mitteln
zu, dem Chloroform und dem Äthyläther
sowie verschieden dosierten Gemischen dieser
beiden Substanzen, welchen manchmal noch
dritte, relativ indifferente Substanzen zuge-
setzt sind. Andere Substanzen wie Stick-
oxydul und Äthylchlorid kommen ja nur für
! ganz kleine Eingriffe in Frage. Eine Publi-
kation von Harwey Hiliiard über dies
letztgenannte Äthylchlorid kann mich übrigens
durchaus nicht davon überzeugen, daß es
dem Lachgas gegenüber irgend welche Vor-
teile besitzt, sondern ich sehe es nach wie
vor als ein äußerst unberechenbares und
außerordentlich gefährliches Allgemeinnarco-
ticum an.
Eine Reihe der hier vorliegenden Publi-
kationen befaßt sich gerade mit den Nar-
kosen durch Chloroformäthergemenge, deren
Anwendung aus der Erwägung entsprungen
ist, daß mit dem Chloroform, dem bedeutend
stärker wirkenden Mittel, es leichter ist, den
Patienten in das Toleranzstadium zu ver-
setzen, während der wenigstens auf das Herz
ungiftiger wirkende Äther genügt, die mit
Chloroform eingeleitete Narkose zu unter-
halten.
Benno Müller aus Hamburg wendet
sich nun hauptsächlich auf Grund von Tier-
experimenten gegen die Anwendung derartiger
Mischungen, indem er die Meinung vertritt,
daß die Hauptgefahr des Chloroforms, Fett-
metamorphose der inneren Organe hervorzu-
rufen, durch nachherige Äthergabe in der-
selben Weise fortexistiert, als ob nur Chloro-
form gegeben worden wäre, und sich hierbei
außerdem je nach der Dosierung des Ge-
misches auch noch die spezifische Äther-
wirkung, d. h. Reizung der Luftwege, geltend
machen könnte. Dieser experimentellen Ar-
beit allerdings steht die große Anzahl klini-
scher Mitteilungen entgegen, welche ausge-
zeichnete Erfolge mit der Mischnarkose auf-
führen können.
Um hier gleich eine andere Narkosen-
art, welche in gewissem Sinne auch den
Titel „ Mischnarkose tt verdient, zu behan-
deln, erwähne ich die Chloroformsauer-
stoffharkose, welche, mit großem Enthusias-
mus begrüßt, doch wohl nicht all das ge-
halten hat, was sie zuerst versprach. So
berichtet uns Dr. R.Roth fuchs aus dem Hafen-
Krankenhause zu Hamburg über einen typi-
schen Chloroformtodesfall, welcher nach An-
wendung von nur 47a g Chloroform im Roth-
Drag er sehen Apparat sich ereignete, und
kommt auf die anderen Fehler, welche diesem
Verfahren anhaften, nämlich die Verzögerung
des Eintrittes der Toleranz, zu sprechen.
Wollte man der von Roth ausgesprochenen
Theorie, daß der Sauerstoff ein Gegengift des
Chloroforms sei, beipflichten, so wäre ja
diese Narkose schon aus einfach theoretischen
Überlegungen ein Unding, denn man wird
ja nicht unnötigerweise den menschlichen
Körper, bei welchem man die Einwirkung
des einen Giftes erzielen will, zum Kampf-
J
420
Maata, Neueste Arbeiten Ober Narkose.
TTberapeatieehe
L Monatsheft«.
platze dieses mit seinem Antidote machen.
Es wäre dann das richtige, eben nur das
Antidot in Form des außerordentlich hand-
lichen komprimierten Sauerstoffes bereitzu-
halten, um es gegebenenfalls, d. h. wenn die
Chloroformvergiftung über das gewünschte
Maß hinausgeht, anzuwenden. Aber auch
hier scheint sich wieder einmal Theorie und
Praxis zu widersprechen, und eine große
Anzahl von Chirurgen sind mit der Chloro-
form- resp. Äther-Sauerstoffnarkose sehr zu-
frieden, eine Beobachtung, welche dadurch
nicht an Wert verliert, daß auch bei dieser
Methode einmal ein Todesfall zu be-
klagen war.
Nachdem ich bisher über die Narkose
mit Chloroformäthergemengen berichtet habe,
wäre es jetzt an der Zeit zu betrachten,
welchem der beiden Mittel allein, dem Chloro-
form oder dem Äther, der Vorzug zu geben
wäre. Diese seit Jahren und Jahren in der
Luft schwebende Frage, welche wohl augen-
blicklich mehr zum Vorzuge des Äthers ent-
schieden zu werden verspricht, läßt sich natür-
lich hier in wenigen Worten nicht behandeln.
Interessante Beiträge hierzu sind einige experi-
mentelle Arbeiten, welche die enorme und den
Äther um ein vielfaches übertreffende Giftigkeit
des Chloroforms für das isolierte Säugetierherz
beweisen, sowie eine Mitteilung von Pletzer
aus Bonn, welcher sich mit der Äthernarkose
und mit den postoperativen Entzündungen
der Luftwege befaßt. Pletzer kommt zu
dem Schlüsse, daß in dieser Beziehung dem
Äther mehr Schlechtes nachgesagt wird als
er verdient, da nicht nur nach Chloroform-
anwendung, sondern sogar auch häufig nach in
Schi eich scher Lokalanästhesie ausgeführten
Operationen Pneumonien beobachtet worden
sind, so daß bei vielen Eingriffen nicht das
Mittel, der Äther, sondern einerseits der Art
des Eingriffes — namentlich Operationen in
der Peritonealhöhle scheinen das Entstehen
von Lungenaffektionen zu begünstigen — und
andrerseits Kunstfehlern bei der Narkose,
weiche die Aspiration infektiösen Mund-
inhaltes möglich machen, die Schuld an
diesen postoperativen Störungen beizulegen
ist. AI 8 die vorteilhafteste Methode der
Äthernarkose sieht Pletzer die Witze Ische
Tropfnarkose unter Anwendung der gewöhn-
lichen Esmarch sehen Chloroformmaske an.
In bezug auf die Einzelheiten dieser Me-
thode wie die vorherige Darreichung kleiner
Morphiumdosen, dem eventuellen Annarkoti-
sieren mit einigen Tropfen Chloroform und
der schließlich gegen die Aspiration gerich-
teten forcierten Reklination des Kopfes ver-
weise ich auf das Original sowie auf die
verschiedenen Witz eischen Arbeiten über
dieses Thema. Der von Pletzer apodiktisch
ausgesprochene Satz „der Äther ist gefahr-
loser als das Chloroform a, erfährt auch durch
eine mir vorliegende Arbeit zweier schotti-
scher Autoren, Harold J. Stiles und Stuart
M' Donald, welcher auf zwei mit schwer
anatomischen Läsionen, namentlich fettiger
Degeneration der inneren Organe einhergehende
Todesfälle, welche sich erst mehrere Tage
nach den Operationen bei 2 Kindern er-
eigneten und wohl fraglos als verspätete
Chloroformvergiftungen aufzufassen sind, eine
Bestätigung.
Bei der Besprechung der Pletzer sehen
Arbeit erwähnte ich schon die Vorbereitung
zur Narkose durch Morphiumeinspritzung, und
es scheint dies zunächst ein Gebiet zu sein,
welches vielleicht Erfolge zu zeitigen berufen
ist. Während man das Morphium allein vor
der Narkose schon seit längerer Zeit an-
wendete, namentlich auch, um den Patienten
schon in etwas künstlich beruhigtem Zu-
stande den Vorbereitungen zur Operation ent-
gegensehen zu lassen und um außerdem den
Eintritt der Inhalationsanästhesie zu be-
schleunigen, hat diese Methode eine Ver-
besserung dadurch erfahren, daß man dem
ja eigentlich nur hypalgesierend und allge-
mein beruhigend wirkenden Morphium ein
zweites Mittel, das mächtige Hypnoticum
Skopolamin, hinzufügte. Es ist hier nicht
der Platz, auf die Schneiderlin-Korffsche
Skopolamin-Morphiumnarkose sowie auf den
von vielen behaupteten, aber von niemandem
sicher bewiesenen Antagonismus zwischen
diesen beiden Substanzen näher einzugehen,
sondern ich möchte nur, wie schon erwähnt,
von diesen Einspritzungen als Vorbereitung
zur Inhalationsnarkose sprechen.
Eine außerordentlich ausführliche Mit-
teilung über dieses Gebiet liegt aus der
geburtshilflichen gynäkologischen Abteilung
des Landes-Krankenhauses in Klagenfurt von
Dr. Roman Puschnig vor: Die 700 Nar-
kosen verteilen sich auf die in der folgenden
Tabelle angeführten Narcotica.
Inj ektions-Narcoticum
Morphin
Morphin-Skopolamin
Morphin-Skopolamin
Morphin-Skopolamin
Morphin-Skopolamin
Morphin-Skopolamin
Morphin- Skopolamin
Zahl
Inhalatlona-Narcotleuni I der
Narkoa«
Chloroform
Äther
Chloroform-Äther
Chloroform
Chloroform
Äther nach Witzel
Äther-Chloroform
nach Witzel
405
20
6
45
132
5
65
7
1
10
4
Anästhol
Anasthol
An&sthol-Chloroform
Summa 700
XIX. Jahrgftng.1
Angnrt 1906. J
Mim, Neueste Arbeiten über Narkose.
421
Um den Wert der vorbereitenden Injektion
bei den verschiedenen Arten der Inhalations-
narkose genauer erwägen zu können, folge
ich der von dem Autor eingehaltenen Ein-
teilung, und es wäre als erstes zu betrachten
die Morphin -Skopolamin- Injektion als Ad-
juvans der Chloroformnarkose. Aus den 132
in dieser Art ausgeführten Narkosen zieht
der Verfasser das nach seinen eingehenden
Einzelbeobachtungen durchaus berechtigte
Resume, daß die Morphin- Skopolamin-Inj ek-
tion, und zwar in der Menge von Va mg Sko-
polamin und 1 cg Morphin, ungefähr 30 Minuten
vor Einleitung der Inhalationsnarkose der
reinen Morphininjektion vorzuziehen ist, weil
sie vor der Narkose eine bedeutend stärker
beruhigende Wirkung zeigt, dann das Exzi-
tationsstadium ausschaltet, den Eintritt des
Toleranzstadiums beschleunigt, die zu ver-
wendende Chloroformmenge verringert, welche
Verringerung übrigens hauptsächlich auf die
durch das kürzere Antetoleranzstadium bedingte
Verkürzung der Gesamtnarkose zurückzuführen
ist. Nach der Narkose sind die mit Morphin-
Skopolamin vorbehandelten Patienten ruhiger,
und tritt auch das Erbrechen seltener resp.
später ein. Die oben erwähnte Chloroform-
ersparnis ist jedoch nur eine geringe, so
daß wohl die Gefahr der reinen Chloroform-
narkose durch die vorhergehende Einspritzung
nicht sehr herabgedrückt wird. Viel günstiger
tritt die Wirkung der vorhergehenden Morphin-
Skopolamin-Injektion bei Verwendung der
Witzeischen Ätherchloroformnarkose, welche
Verfasser unter Verwendung der Sudeck -
Maske ausführte, ein. Hier kommt zu den
vorhin erwähnten Vorzügen noch einer hinzu,
nämlich eine außerordentlich günstige Beein-
flussung der nach Äther immer so unange-
nehm auffallenden stark vermehrten Sekretion,
welche infolge der hemmenden Wirkung des
in dieser Beziehung atropin artig wirkenden
Skopolamins fast ausgeschaltet wird.
Ein ganz außerordentlich weites Gebiet
scheint dem Skopolamin - Morphiumgemisch
noch als schmerzlindernde Arznei während
der Geburtsperiode vorbehalten zu sein.
Eine in einer zweiten Arbeit behandelte
Verwendung des Morphin- Skopolamins, wie
sie uns Dr. Dirk von der chirurg. Abteilung
des St. Hedwigkrankenhauses in Berlin schil-
dert, unterscheidet sich von der vorigen durch
die größere verwendete Menge dieser beiden
Substanzen und ist daher schön mehr als
reine Morphin-Skopolamin-Narkose mit nach-
folgender Anwendung ganz geringer Mengen
von Inhaiationsanaestheticis aufzufassen. Die
auf mehrere Spritzen verteilte, von Dirk
angewendete Menge der Alkaloide beträgt
meist im ganzen 1 bis ll/smg Skopolamin
und 21/3'— 3 cg Morphium. Die Art der in
dieser Narkose ausgeführten Operationen er-
leuchtet aus der folgenden Tabelle.
Nach der Art der Operation geordnet,
wurden operiert:
46 Perityphlitiden im Intervall,
17 Exstirpationen der Gallenblase,
15 Magenoperationen: Resektionen and Gastro-
enterostomien,
6 Entero-Anastomosen,
6 Nephrektomien bezw. Nephrotomien,
1 Splenektomie wegen Morbus Banti,
3 Coecumresektionen wegen Tuberkulose,
21 Colon- und Rectumresektionen bezw. Am-
putationen,
18 andere Darmoperationen wie Prolapse,
Anlegung oder Schluß des Anus präter-
naturalis etc.
13 sonstige Laparotomien,
18 gynäkologische Operationen: Totalezstir-
pationen, Ovariektomien, Myomektomian,
Kolporraphien,
21 Radikaloperationen von inguinalen oder
cruralen Hernien,
3 Radikal Operationen von Umbilicalhernien,
Sa. 188 Bauchoperationen.
Von den übrigen Operationen sind zu
bemerken:
19 Mamma- Amputationen wegen Karzinom,
11 Resektionen bezw. Amputationen von Ex-
tremitäten,
4 osteomyelitische Knochenaufmeißelungen,
3 Plastiken,
2 Aufmeißelungen des Warzenfortsatzes,
5 Tumorezstirpationen : Drüsen, Lipome etc.
Diese Art der Narkose zeigt die Vorteile,
daß, wie schon gesagt, nur sehr wenig
des Inhalationsnarcoticums angewendet zu
werden braucht, und es ist auch ein vom
Standpunkte der Humanität außerordentlich
angenehmer Faktor, daß der Patient bereits
in einem so somnolenten Zustande auf den
Operationstisch gelangt, daß ihm jede Spur
von Aufregung erspart bleibt. Leider hatte
Verfasser unter seinen gesammelten Sko-
polamin-Morphinnarkosen 3 Todesfalle zu
verzeichnen, allerdings bei an sich schon
äußerst dekrepiden Patienten. Die noch in
dasselbe Gebiet gehörenden 2 von J. Israel
aufgeführten Todesfälle nach Morphin-Skopo-
lamininjektion lassen doch wieder zur äußersten
Vorsicht mit diesen Mitteln, namentlich in
größerer Dosierung, raten. Den Gefahren
der Morphin-Skopolaminanwendung gegenüber
stehen eine große Reihe von Vorzügen, welche
Dirk folgendermaßen zusammenfaßt: 1. Weg-
fall des Angst- und Erregungsgefühls vor der
Operation: 2. der schonende Übergang zur
Vollnarkose ohne Erstickungsgefühl und Angst-
gefühl; 3. ruhige, gleichmäßige Narkose ohne
Salivation, ohne Tracheairasseln, ohne Husten,
ohne Brechreiz, ohne Asphyxie, ohne Kollaps ;
4. langer Schlaf nach der Operation und
dadurch Verschontbleiben des Patienten vom
422
Maats, Neueste Arbeiten über Narkose.
rTfaerapetitiftehe
L Monatshefte.
ersten "Wundschmerz ; 5. Ausbleiben des
Erbrechens auch nach der Operation; und
schließlich 6. haben wir nach der Meinung
des Verfassers in der reinen Skopolamin-
Morphinnarkose ein Mittel, welches uns auch
bei denjenigen Patienten eine Narkose ermög-
licht, bei denen Chloroform oder Äther lebens-
gefährlich wirken kann — eine Auffassung,
welche wohl heute durch die Tatsachen noch
nicht vollständig bestätigt ist.
Sollte nun aus dem bisher Mitgeteilten
nach sorgfältiger Erwägung des pro und contra
die Wagschale sich doch noch zugunsten des
Skopolamin-Morphiums neigen, so sind die
zwei im folgenden zu besprechenden Mit-
teilungen geeignet zu beweisen, ein wie ge-
fährliches und unberechenbares Mittel die
Einverleibung dieser Alkaloidkombination ist.
So berichtet Bakes aus dem Kranken-
hause Trebitsch über 200 Narkosen mit
vorbereitender Skopolamin- Morphium- Injek-
tion, unter denen er 3 Fälle mit tödlichem
Ausgang zu beklagen hatte. Die Alkaloid-
dosen, nach denen sich diese 3 Todesfälle,
und zwar zweimal am Schlüsse der Ope-
ration und einmal ungefähr 4 Stunden nach
dem Eingriff, ereigneten, betrugen 0,5 mg
Sc -+- 1,5 cg Mo resp. 1,0 mg Sc -+- 2,75 cg
Mo resp. 0,8 mg Sc -f- 2 cg Mo. Zur Ver-
tiefung der Narkose wurde Äther gegeben.
Der letzte postoperative Todesfall gerade be-
wies mit solcher Deutlichkeit den kausalen
Zusammenhang mit der Morphium-Skopola-
min-Darreichung , daß er den Autor zum
völligen Aufgeben der Methode zwang. Noch
schneller trat dieser Erfolg — das Aufgeben
der Sc -+- Mo-Narkose in der Karewski-
schen Klinik ein. Wie uns Landau be-
richtet, waren dort 16 Narkosen mit 1 mg
Sc -h 2 bis 3 cg Mo mit gutem Erfolge aus-
geführt worden, bis der 17., unter dieser Be-
täubung ausgeführte Eingriff mit so unver-
kennbarer Sicherheit die Gefährlichkeit des
Alkaloidgemisches bewies, daß man auf seine
fernere Anwendung sofort verzichtete. Dieser
Fall, welcher deutlich das Bild der Morphium-
Skopolamin- Vergiftung zeigt, sei hier wört-
lich zitiert (Landau):
Magerer, 66 Jahre alter Herr; geringe Arterio-
sklerose; keine auffallende Anämie; Herz, Lungen,
Harn ohne besonderen Befund. — Zwei Stunden
vor der Operation 0,9 mgS, 2 cg M; tiefe Narkose.
Vier innere Hämorrhoidenknoten von Haselnuß-
größe werden nach Kokaininjektion der Basis (im
ganzen 3 cg Coc. mur.) unter sehr geringem Blut-
verlust ausgeschnitten, die Wunden genau vernäht.
AiroLtamponade. Die Venenknoten waren nicht
throrabosiert.
Patient wacht eine Stunde post operationem
auf, ist unruhig, klagt über Schmerzen, will sich
umdrehen. Puls, wie während der ganzen Ope-
ration, gut. Aussehen nicht mehr cyanotisch, als
wir es nach M-S öfters gesehen hatten. — 2lu Stunden
nach der Operation plötzlicher Herzkollaps, der
auf Kampfer langsam weicht; eine halbe Stande
später wird der Puls wieder schlecht und kehrt
trotz kunstlicher Atmung, Sauerstoff, Kampfer nicht
wieder. Tod unter dem Bilde der Herzlähmung.
Trotzdem also in diesem wie auch in
einigen der anderen todlich verlaufenen Fälle
nicht einmal die Einzeldosen der Pharma-
kopoe erreicht waren, war doch nach der Ver-
wendung der Kombination der beiden Mittel
der Verlust von Patienten zu beklagen. Es
ist hier nicht der Ort, Theorien zu erörtern,
wie die tödlichen Vergiftungen zustande ge-
kommen sind, ob es sich um eine additive
Wirkung der beiden sogenannten Antago-
nisten handelt, oder ob das eine Gift gegen
das andere anaphyl aktisch wirkt, d. h. den
Korper gegen die Wirkung des anderen höher
sensibilisiert, sondern man muß aus all den
hier gegebenen — übrigens durchaus nicht
auf Vollständigkeit Anspruch machenden —
Mitteilungen den Schluß ziehen, daß die An-
wendung von Skopolamin -Morphium, wenig-
stens in einigermaßen größeren Dosen, einen
äußerst bedrohlichen Eingriff darstellt, dessen
Vorteile in keinem Verhältnis zu seiner Ge-
fährlichkeit zu stehen scheinen. Besser als
alle Worte wird diese enorme Gefahr durch
die von Landau berechnete Sterblichkeits-
ziffer von 1 : 100 bewiesen.
Man muß hiernach dem von Bakes über
die Skopolamin-Morphium-Narkose gegebenen
Kennwort: Unsicher und gefährlich,
völlig beistimmen.
Nachdem ich so in Kürze über die Ver-
besserungsversuche der Allgemeinnarkose im
Laufe der allerletzten Zeit berichtet habe,
drängt sich die Frage auf, ob wir eigentlich
auf diesem Gebiete in der besagten Zeitspanne
etwas Wesentliches erreicht haben? Hier muß
man sich die Antwort geben, daß die auf dem
Gebiete der Inhal ations- und Injektionsnar-
kose erreichten Fortschritte, wenigstens in be-
zug auf Einschränkung der Gefahren dieser vor-
bereitenden Eingriffe, doch recht geringe sind.
Trotzdem aber oder sogar um so mehr wird
auf dieser Bahn weiter fortgeschritten werden
müssen, und hoffentlich werden fernere Ver-
suche hier wirklich einmal einen bedeutenden
Fortschritt durch Auffindung eines möglichst
ungefährlichen Allgemeinnarcoticums zeitigen.
Es möchte mir jedoch fast scheinen, als ob
der oben angedeutete andere Weg, die mög-
lichst vollständige Verdrängung der Allgemein-
narkose durch die lokale Anästhesie, das in
absehbarer Zeit erfolgreichere und daher dank-
barere Vorgehen sein dürfte.
Literaturverzeichii i*.
1. Bakes, Beiträge zur Bauchchirurgie. Langen-
becks Archiv Bd. 74, H. 4.
XIX- Jahrgang."]
Aogmt 1905. J
Koeppe, Gesetz des osmotischen Gleichgewichts.
423
2. Dirk, Über die Skooplamin-Morphi um -Narkose.
Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 10,
S. 378.
3. Hilliard, EL, Ethyl-Chloride as an anaesthetic
in general practice. The Practionner 1906,
No. 2, S. 203.
4. Israel, J., Diskussion zu Dirk. Deutsche
med. Wochenschr. 1905, No. 10, S. 380.
5. Landau, H., Der Tod in der Morphium-
Skopolaminnarkose. Deutsche med. Wochen-
schrift 1905,. No. 28, S. 1108.
6. Müller, B., Über Mischnarkosen im Vergleich
zur reinen Chloroform- oder Äther-Narkose.
Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 8,
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7. Pletzer, H., Äthernarkose und postoperative
Entzündungen der Luftwege. Med. Klinik
1905, No. §0, S. 490.
8. Pu sehnig, R., Über neuere Narkosenmittel
und Methoden, insbesondere Morphin-Sko-
polamin. Wiener klin. Wochenscnr. 1905,
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9. Rothfuchs, R., Zur Frage der Sauerstoff-
Chloroform-Narkose. Münch. med. Wochen-
schr. 1905, No. 17, S. 811.
10. Stiles, H. J. und M'Donald, St., Delayed
Chloroform poisoning. The Soottish med. a.
surgic. journ., B. 40, No. 2, S. 97.
11. Witzel, Münch. med.Wochenschr. 1902, No. 48.
Antwort
auf „Ein ige Bemerkungen zu H. Koeppes
Arbelt: Über das Gesetz des osmotischen
Gleichgewichts im Organismus." Von
Prof. H. Strauß in Berlin.
Von
Privatdozent Dr. H. Koeppe in Gießen.
Herr Prof. H. Strauß beginnt seine „Be-
merkungen " zu meiner Arbeit „Über das
Gesetz des osmotischen Gleichgewichts im
Organismus" u. a. mit den Worten: „Seine
(Koeppes) Darstellung erweckt den An-
schein, als hatte ich im Jahre 1902 in einer
Arbeit „Über osmotische und chemische Vor-
gänge im menschlichen Chylus" ohne eine
genügend klare Begründung eine andere
Anschauung über den Umfang der Veränder-
lichkeit des osmotischen Drucks des mensch-
lichen Blutserums vertreten als 2 Jahre vor-
her bezw. 1 Jahr vorher. Dieser Anschein
wird dadurch erweckt u. s. w."
Darauf habe ich zunächst zu antworten,
daß ich durchaus keinen „Anschein" er-
wecken wollte, sondern ich habe klipp und
klar gesagt: „Diese sich widersprechenden
Schlußfolgerungen 1901 und 1902 in den
Strauß sehen Arbeiten und denen seiner Mit-
arbeiter zu klären, ist mir nicht möglich,
wohl aber erscheinen mir die Versuchsresul-
tate im Lichte des Gesetzes vom osmotischen
Gleichgewichte wohl miteinander vereinbar."
Was nun den Punkt: Veränderlichkeit
des osmotischen Druckes des menschlichen
Blutplasmas anbelangt, so muß man nach
den vorliegenden Zeilen des Herrn Prof. Strauß
annehmen, daß es sich hierbei nur um Ab-
weichungen über den Umfang der Veränder-
lichkeit handelt, die zwischen der S trau fi-
schen und meiner Auffassung beständen. Das
ist etwas ganz anderes als Prof. Strauß
früher angegeben hat. Ich stelle die Angaben
des Herrn Prof. Strauß nebeneinander:
1905. „Seine (Koeppes) Darstellung er-
weckt den Anschein, als hätte ich im Jahre
1902 in einer Arbeit „Über osmotische und
chemische Vorgänge im menschlichen Chylus"
ohne eine genügend klare Begründung eine
andere Anschauung über den Umfang der
Veränderlichkeit des osmotischen Drucks des
menschlichen Blutserums vertreten als 2 Jahre
zuvor", und weiter unten: „Vor allem hat
Koeppe übersehen, daß sich, wie aus der
Arbeit ersichtlich ist, mein Einspruch gegen
den von Koeppe vertretenen Umfang der
Veränderlichkeit des osmotischen Drucks des
menschlichen Blutserums u. s. w."
1903. „Was die Konstanz des osmoti-
schen Drucks des Bluts alimentären Ein-
griffen gegenüber anbelangt, eine Frage, die
auch ich für die Balneologie für sehr wichtig
halte, so vertrete ich auch nach den heutigen
Vorträgen noch die Auffassung einer Kon-
stanz bei demselben Individuum, wenn
dieses gesund ist." (Veroffentl. der Hufe-
landischen Gesellschaft, Berlin 1903, Seite 63.)
1900. „Man kann im Experimente
durch eine übertrieben starke Salzu-
fuhr eine vorübergehende Steigerung des os-
motischen Drucks im Blute erzwingen."
(Verhandl. des XVIII. Kongr. f. innere
Medizin 1902, S. 563.)
1899. „Die molekulare Konzen-
tration des Blutserums des Menschen
(und auch verschiedener Tierspezies) stellt
eine physiologische Konstanz dar. Das
Blutserum hat die konstante Gefrierpunkts-
erniedrigung von 0,56°C." (v. Koranyi,
Winter, Hamburger) (Roth-Strauß, Zeit-
schrft. f. klin. Medizin 1899).
Der Gang der Anschauungen von Herrn
Prof. Strauß ist also folgender: 1899 Kon-
stanz des osmotischen Drucks entsprechend
der Gefrierpunktserniedrigung von 0,56° C.,
1900 Änderung des osmotischen Drucks des
Blutes möglich im Experiment bei über-
triebener Salzzufuhr, 1903 Konstanz des
osmotischen Drucks des Blutes bei demselben
Individuum, wenn dasselbe gesund ist, 1905
Widerspruch gegen den Umfang der Ver-
änderlichkeit des osmotischen Drucks des
Blutes.
Die Koepp eschen Anschauungen, welche
Herr Prof. Strauß bekämpft, sind seit 1896
424
Koeppe, Gaset* des osmotischen Gleichgewichts.
rTherapentisehe
L Monatshefte.
stets dieselben geblieben: „Der osmotische
Druck derselben Körperflüssigkeit wird nicht
immer der gleiche sein, aber doch nur in
engen Grenzen schwanken." (Arch. f. d. ges.
Physiologie Bd. 62, 1896, S. 573.)
Die jetzt 1905 von Herrn Prof. Strauß
vertretene Anschauung, die sich nur noch
gegen den Umfang der Veränderlichkeit des
osmotischen Drucks richtet, nähert sich der
meinigen eigentlich schon so weit, daß man
von einer Bekämpfung meiner Anschauungen
nicht mehr reden kann, ebensowenig wie
ich gegen die von Herrn Prof. Strauß nach
und nach modifizierte, jetzt aufgegebene „Kon-
stanz des osmotischen Drucks" jetzt noch
etwas einzuwenden habe, es genügt mir auch
diese indirekte Anerkennung meines Stand-
punktes.
Nachdem ich so festgestellt habe, daß
Herr Prof. Strauß früher nicht nur gegen
den von Koeppe vertretenen Umfang der
Veränderlichkeit des osmotischen Drucks
Einspruch erhoben hat, sondern eine Kon-
stanz des osmotischen Drucks des Blutserums
aus seinen Untersuchungen ableitete, komme
ich zu dem 2. Punkt der Divergenz unserer
Ansichten, nämlich der Begründung der
Ansicht von der Konstanz des osmotischen
Drucks des Blutes durch Herrn Prof. Strauß:
„Vor allem hat Koeppe übersehen, daß
sich, wie aus der Arbeit ersichtlich ist, mein
Einspruch gegen den von Koeppe vertretenen
Umfang der Veränderlichkeit des osmotischen
Drucks des menschlichen Blutserums" (der
Einspruch von Prof. Strauß richtete sich
aber nicht gegen den von Koeppe vertretenen
Umfang der Veränderlichkeit, sondern gegen
die Veränderlichkeit überhaupt) „keineswegs
allein und auch nicht einmal vorwiegend auf
das Ergebnis meiner Chylusuntersuchungen
gründet, sondern auf eine zusammenfassende
Betrachtung der in derselben Arbeit zitierten,
gleichsinnig ausgefallenen Ergebnisse der
kryoskopischen Untersuchungen von Viola,
meiner eigenen an der Milch gewonnenen
Befunde sowie der mir damals schon vor-
liegenden und auch in meiner Arbeit schon
erwähnten Ergebnisse von Großmanns Ver-
suchen, die in ihrer Gesamtheit an sich schon
genügten, um die Koeppe sehen Anschauun-
gen zu bekämpfen. Neben diesen Befunden
habe ich allerdings gleichzeitig auch das Er-
gebnis meiner Chylus versuche mit berück-
sichtigt. Warum ich die Gesamtheit der
genannten Befunde höher anschlug als die
am Tiere gewonnenen Ergebnisse von Nagel-
schmidt, habe ich klipp und klar ausge-
sprochen."
Ich habe durchaus nicht übersehen, daß
Prof. Strauß mehrere Gründe für seine An-
sicht von der Konstanz des osmotischen
Drucks des Blutplasmas hat. In meiner
Arbeit über „Das Gesetz des osmotischen
Gleichgewichts im Organismus" habe ich in
bezug auf die Strauß sehen Arbeiten und
seiner Mitarbeiter hervorgehoben: „In keiner
Weise wird weder von Strauß noch von
Großmann erklärt, warum das Ausbleiben
von Schwankungen des osmotischen Drucks
des Chylus beweisend sei dafür, daß auch
Schwankungen des Blutplasmas nicht vor-
kommen können infolge Salzzufuhr." Ich habe
die Chylusversuche als Beweis für die Kon-
stanz des osmotischen Drucks des Blutes
beanstandet, weil Prof. Strauß diesen Be-
weis nicht genügend begründet hat. Er ist
jetzt bereit, seine „eigene Vorstellung in
dieser Unterfrage aufzugeben, wenn er von
der Unrichtigkeit derselben überzeugt wird".
Ich meine, vorerst müßte Prof. Strauß andere
von der Beweiskraft seiner Argumente in
dieser Frage überzeugen.
"Weiter kommen die Mi Ich Untersuchun-
gen in Frage und die Verwertung der Re-
sultate derselben bei der Beurteilung des
osmotischen Drucks des Blutes.
In den „Bemerkungen" sagt Herr Prof.
Strauß nach Erwähnung seiner und Nagel-
schmidts Untersuchungen der Milch der
Ziege sowie meiner Untersuchungen der
Frauenmilch : „ Wenn ich schließlich noch die
Änderung meines Standpunktes damit be-
gründet habe, daß ich der Gefrierpunkts-
methode eine Überlegenheit gegenüber dem
von Koeppe benutzten Hämatokritverfahren
zusprach, so habe ich mit dieser weiteren
Begründung meines Standpunktes u. 8. w.a
Danach könnte man denken, daß meine
Milchuntersuchungen nach dem Hämatokrit-
verfahren ausgeführt wurden, das ist nicht
der Fall, sondern alle meine Untersuchungen
der Frauen- wie der Kuhmilch sind nach
den Methoden der Gefrierpunktsbestimmung
und der Leitfähigkeitsbestimmung ausge-
führt.
Das Wesentliche meiner Beanstandung der
Schlußfolgerungen des Herrn Prof. Strauß
ist nochmals wiederholt folgendes:
1901 schließt Nagelschmidt: „Eine
deutlich beobachtbare Beeinflussung der mole-
kularen Konzentration der Milch auf alimen-
tärem Wege ist möglich."
1902 sagt Prof. Strauß: „indem sie (die
Untersuchungen) dartun, daß der osmotische
Druck unter den von mir gewählten Ver-
suchsbedingungen weder durch eine gewöhn-
liche Mahlzeit noch durch die Zufuhr von
10 g Kochsalz in 500 cem Wasser in einer
der Ingestion entsprechenden Weise verändert
wird."
XIX. Jahrgang.!
August 1905. J
Strmuß, Bemerkungen su vorstehender Antwort.
425
Indem nun Prof. Strauß aus diesen
Untersuchungsresultaten vom Chylus und
von der Milch direkt auf den osmotischen
Druck des Blutes schließt, war er einmal
gezwungen, aus der Konstanz des osmotischen
Drucks des Chylus auf Konstanz des osmoti-
schen Drucks des Blutes zu schließen, dagegen
aus der Inkonstanz der Möglichkeit alimentärer
Beeinflussung des osmotischen Drucks der
Milch auch auf das gleiche inkonstante Ver-
halten des Blutes.
Dem gegenüber habe ich hervorgehoben,
daß im Lichte des Gesetzes vom osmotischen
Gleichgewichte diese anscheinenden Wider-
sprüche sich sehr wohl lösen lassen. Dies
hat jetzt Herr Prof. Strauß auch zugegeben,
und damit erscheint diese Frage wie vorher
schon die der Veränderlichkeit des osmoti-
schen Drucks des Blutes zugunsten meiner
AufPassung erledigt.
Nun bleibt als letzter Punkt die Zurück-
weisung einer Behauptung Koeppes durch
Prof. Strauß: „Dagegen muß ich die Be-
hauptung Koeppes „in der Arbeit von Roth-
Strauß werden meine theoretischen Dar-
legungen (S. 6 — 7) vollinhaltlich wiederge-
geben (ohne Hinweis auf meine Publikationen) "
ganz entschieden zurückweisen. u
Hier können Meinungsverschiedenheiten
bestehen. Ich habe einfach konstatiert:
„In der nächsten diesbezüglichen Arbeit von
Roth- Strauß werden meine theoretischen
Darlegungen (S. 6 — 7) vollinhaltlich wieder-
gegeben (ohne Hinweis auf meine Publika-
tionen), nur fehlt der von mir gegebene
Hinweis auf den Einfluß, welchen eine ein-
seitig durchlässige Wand bedingt." Gegen
diesen Tatbestand kann Herr Prof. Strauß
nichts vorbringen, dagegen will ich zugeben,
daß die Klammer „(ohne Hinweis auf meine
Publikationen)" überflüssig war, wenn, wie
Herr Prof. Strauß darlegt, bei „Erörterung
der theoretischen Möglichkeiten in ganz all-
gemeiner Weise" oder bei „einer solchen
ganz allgemein gehaltenen Erwägung
von Möglichkeiten" es nicht notwendig ist,
hinzuweisen, wo die gleichen oder ähnlichen
Erörterungen und Erwägungen schon früher
angestellt und veröffentlicht wurden.
Bemerkungen zu vorstehender Antwort
des Herrn Kollegen Koppe -Gießen.
Von
H. Strauß in Berlin.
Die vorstehende Antwort des Herrn
Kollegen Koppe veranlaßt mich, noch einmal
zu betonen, daß ich an meinen 1899, 1902
und 1903 ausgesprochenen prinzipiellen Auf-
fassungen über die Konstanz des osmotischen
Druckes des Blutserums gesunder Menschen
weder etwas geändert habe noch z. Z. etwas
zu andern Veranlassung finde. Wenn Herr
Kollege Koppe aus den von mir gebrauchten
Worten „Umfang der Veränderlichkeit" den
Schluß zieht, daß ich hiermit seinen Stand-
punkt indirekt anerkenne, so muß ich gegen eine
solche Deutung dieser Worte Einspruch erheben,
und betonen, daß ich die betreffende Fassung
einzig und allein gebraucht habe, um weit-
läufige Auseinandersetzungen über die Fehler-
quellen der kryoskopischen Untersuchungs-
methode zu vermeiden, welche eine geringe
(± 0,01 °) Änderung des osmotischen Druckes
sowohl verdecken als auch vortäuschen können.
Die genannten Änderungen des osmotischen
Druckes sind aber im Vergleich zu den von
Koppe vertretenen so gering, daß von einer
Anerkennung des Kopp eschen Standpunktes
nicht die Bede sein kann. Zu einer Ände-
rung meines bisherigen Standpunktes wäre-
ich erst dann bereit, wenn neue, die bis-
herigen Befunde an Bedeutung überragende
oder mit verbesserter Methodik ausgeführte
kryoskopische Untersuchungen am mensch-
lichen Blute andere Werte ergeben würden,
als die bisherigen kryoskopischen Unter-
suchungen am Menschen. Auf das letztere
Wort lege ich besonderen Wert, da ich hier
zum dritten Mal hervorheben muß, daß sich
mein auf dem Kongreß für innere Medizin
1900 ausgesprochener Satz einer experimen-
tellen Veränderlichkeit des Blutserums durch
übertriebene Salzzufuhr — ein Satz, der sich,
wie aus dem Texte ersichtlich ist, auf die von
mir veranlaßten Nagel schmidtschen Tier-
versuche bezieht — ebenso wie die Schluß-
folgerungen von Nagel schmidt selbst auf
Tiere und nicht auf Menschen erstreckt,
und daß ich 1902 und in meinen im Juni-
hefte dieser Monatsschrift gemachten „Be-
merkungen" klar und deutlich motiviert
habe, warum ich in der vorliegenden Frage
die am Menschen erhobenen Befunde höher
stelle als die Ergebnisse des Tierexperi-
mentes. Ich muß also den mir gemachten
Vorwurf des Widerspruches bezw. „einer nach
und nach erfolgten Modifikation meiner Auf-
fassung" auch diesmal als ungerechtfertigt
zurückweisen. Was die Beziehung des osmo-
tischen Druckes des Chylus zu demjenigen des
Blutserums betrifft, so steht hier zwar Meinung
gegen Meinung, es ist aber diese spezielle
Frage im Hinblick auf das sonst vorliegende
Material für die Beurteilung der allge-
meinen hier zur Diskussion stehen-
den, das Verhalten des menschlichen
Blutserums gegenüber alimentären
Eingriffen betreffenden, Frage irrelevant.
426
Loevenhart, B«nsoylauperoxyd.
[~ Therapeutisch«
L Monatshefte.
Auch in bezug auf die von Koppe aufge-
stellte Behauptung der Wiedergabe seiner
theoretischen Darlegungen kann ich nur wieder-
holen, daß in Kopp es theoretischen Dar-
legungen die Veränderlichkeit des osmo-
tischen Druckes des menschlichen Blutserums
den Ausgangspunkt darstellte, während Roth
und ich gerade in der Annahme einer
Unveränderlichkeit des osmotischen
Druckes des menschlichen Blutserums die
Voraussetzung zu unseren theoretischen Er-
wägungen und die Anregung zu unseren am
Menschen ausgeführten Untersuchungen fanden.
Indem ich in Kürze diese prinzipiellen Punkte
feststelle, betrachte ich die Angelegenheit für
mich als erledigt.
Neuere Arzneimittel.
Benzoylsuperoxyd,
ein neues therapeutisches Agens.
Von
Dr. A. S. Loevenhart.
Auoclate in Pharmakologie und Physiologischer Chemie an
der John» Hopkins- Universität Baltimore Md.
Kastle und Loevenhart1) haben gezeigt,
'daß das Benzoylsuperoxyd
CH CH
Hc/^CH HC/XCH
HCl^JcH HCl !CH
C — CO. O.O. CO — C
sich in vielen Beziehungen dem die Guajak-
tinktur bläuenden Fermente, d. h. der Oxy-
dase, die sich einer weiten Verbreitung in
der Natur erfreut, sehr ähnlich verhält. Setzt
man zu einer frisch bereiteten Guajak-
tinktur Benzoylsuperoxyd, so bildet sich
sofort Guajakblau. Wie im Falle der Oxy-
dase wird diese Wirkung durch sehr kleine
Mengen Blausäure aufgehoben. Die Analogie
der Wirkung des Benzoylsuperoxyds mit der
der Oxydase ist sicherlich eine auffallende.
Bach2) war der erste, der die Vermutung
aussprach, daß die oxydierenden Fermente
organische Superoxyde sein könnten. Es ist
zweifellos, daß die Oxydasen eine hervor-
ragende Rolle im Lebensprozesse der Zelle
spielen, und dies brachte den Verfasser auf
die Idee, das Benzoylsuperoxyd auf seinen
therapeutischen Wert hin zu untersuchen.
Nachdem zunächst die Harmlosigkeit des
Mittels festgestellt war, wurde seine anti-
septische Wirkung zum Gegenstand der Unter-
suchung erhoben. Die Versuche waren schon
im Gange, als die Arbait von Freer und
Novy3) über die antiseptische Wirkung von
Benzoylacetyi und von Diacetylsuperoxyden
sowie eine Veröffentlichung Siebers*) über
!) American chemical Journal 1901, Bd. 26,
S. 539.
3) Compt. rend. 1897, Bd. 124, S. 951.
a) American chemical Journal 1902, Bd. 27,
S. 161.
die Zerstörung der bakteriellen Toxine durch
die oxydierenden Fermente und anorganischen
Superoxyde erschienen. Benzoylacetylsuper-
oxyd besitzt eine hochgradige antiseptische
Wirkung, seine Unbeständigkeit jedoch und
seine örtlich reizende Wirkung stehen seiner
therapeutischen Verwertung im Wege.
Das Benzoylsuperoxyd wird in folgender
Weise gewonnen: Käufliches Natriumsuper-
oxyd (100 g) wird mit einer äquivalenten
Menge Benzoylchiorid (180 g) in Wasser
bei einer Temperatur von ca. 4° C. behandelt.
Das Produkt wird abfiltriert und aus heißem
Alkohol umkry stall isiert. Die Ausbeute be-
trägt 60 — 70 Proz.5). Das Benzoylsuperoxyd
ist eine beständige, sich nicht verflüssigende,
geruchlose Substanz, die in schönen weißen
Prismen vom Schmelzpunkt 103,5° kristalli-
siert. In Wasser ist es nur wenig löslich,
besser in Alkohol. Mit Olivenöl läßt sich
mit Leichtigkeit eine 2 — 3 proz. Lösung her-
stellen. Die Strukturverwandtschaft des
Benzoylsuperoxyds mit Wasserstoffsuperoxyd
ist einleuchtend, wenn man es als ein Molekül
von Wasserstoffsuperoxyd betrachtet, in dem
jedes der beiden Wasserstoffatome durch ein
Benzoylradikal (C6H5CO) ersetzt ist. Im
Gegensatz zu Wasserstoffsuperoxyd wird es
von Gewebsextrakten und Blut nicht unter
Bildung von gasförmigem Sauerstoff zersetzt.
Vielen Substanzen gegenüber verhält es sich
als ein mächtigeres Oxydierungsmittel als
Wasserstoffsuperoxyd.
Bei lokaler Applikation zeigt das Benzoyl-
superoxyd keine irritierende Wirkung. Wird
eine gesättigte wäßrige Lösung einem Hunde
ins Auge geträufelt, oder wird die pulveri-
sierte Substanz direkt eingestäubt, so tritt
weder Hyperämie noch Anämie ein, noch
scheint der Hund irgend eine Reizung zu
empfinden. Das Mittel scheint vielmehr eine
4) Zeitschrift f. physiolog. Chemie 1901, Bd. 32,
S. 573.
5) Diese Methode ist nur eine sehr geringe
Modifikation derjenigen von Pech man und Vanino.
Ber. d. Deutsch, ehem. Ges. 1894, Bd. 27, S. 1510.
XIX. Jahrgang.!
Aogoat 1905. J
Loevtnhart, BeazoyUuparoxyd.
427
leichte lokal anästhetische Wirkung zu be-
sitzen.
Die Peritonealhöhle eines Hunde9 wurde
eröffnet und eine große Menge pulverisierten
Benzoylsuperoxyds direkt auf den Gedärmen
ausgebreitet, ohne irgend eine Reaktion zu
verursachen. Der Stuhlgang erfolgte nor-
malerweise. Die Injektion von 70 ccm einer
gesättigten Lösung in physiologischer Salz-
lösung in die Vena saphena eines nicht
anästhesierten Hundes hatte keinen Einfluß
auf seinen Puls, Respiration oder Temperatur.
Ein gesundes Individuum nahm per os 2 g
und nach 24 Stunden nochmals 1 g, ohne jedes
objektive oder subjektive Symptom. Es trat
keine Störung des Schlafes ein, und Stuhl-
gang so wie Urinsekretion zeigten keine Ab-
weichung von der Norm. Das Benzoylsuper-
oxyd erscheint im Urin als Hippursäure.
Da Benzoylsuperoxyd im Körper zu Benzoe-
säure reduziert wird, so unterscheidet sich
seine pharmakologische Wirkung von der der
Benzoesäure nur durch seine Wirkung, ehe
diese Reduktion stattfindet, und fernerhin
durch die Veränderungen derjenigen Sub-
stanzen, die der Oxydation anheimfallen.'
Um die antiseptische Wirkung des
Benzoylsuperoxyds zu prüfen, wurden Kri-
stalle auf Agarplatten, die dicht mit Strepto-
coccus pyogenes, Staphylococcus pyogenes
aureus, Bacillus diphtheriae oder Spirillum
cholerae asiaticae besät waren, gebracht.
Innerhalb einer Zone, deren Durchmesser je
nach den verschiedenen Mikroorganismen von
3 — 8 mm schwankte, war das Wachstum der
Bakterien unterdrückt, ohne daß sie jedoch
abgetötet worden wären.
Der therapeutische Wert des Benzoyl-
superoxyds trat gelegentlich der Behandlung
von Brandwunden klar zutage. Der Schmerz
wurde rasch gehoben, und die Heilung trat
prompt ein. Auch in zehn Fällen von chro-
nischem varikösen Beingeschwür wurde es
mit Vorteil verwendet. Auch zeigte es sich
erfolgreich in der Behandlung hochgradig in-
fizierter Wunden, die bei Tieren experimentell
erzeugt waren. Zum Beispiel die Rückenhaut
eines Hundes wurde in einer Ausdehnung
von 6 cm inzidiert und 1 ccm einer virulenten
488tündigen Bouillonkultur von Staphylo-
coccus pyogenes aureus in die Wunde ge-
gossen. Außerdem wurde ein Stückchen
steriler Kartoffel in die Wunde gebracht und
dann vernäht. Nach 48 Stunden wurde der
Verband entfernt, worauf sich Eiter entleerte,
und das Kartoffelstückchen ausgestoßen wurde.
Die Wunde hatte einen sehr üblen Geruch.
Sie wurde unter Verwendung von ca. 1 g
pulverisierten Benzoylsuperoxyds tamponiert,
ohne daß sie ausgewaschen wurde und wieder
verbunden. Nach weiteren 24 Stunden hatte
die Wunde ihren faulen Geruch verloren, sah
gut aus und zeigte Heilungstendenz. Die Tam-
ponade mit dem Pulver wurde erneuert.
Nach vier Tagen hatte sich ein sehr großer
Senkungsabszeß gebildet, der sich auf der
linken Seite bis zur Medianlinie der Bauch-
seite erstreckte. An einer Stelle hatte ein
Durchbruch stattgefunden, der Abszeß war
jedoch mit Eiter prall gefüllt und hatte
einen faulen Geruch. Die Augen des Hundes
waren matt und wäßrig, und das Tier war
sehr schwach. Das Tier schien im Begriffe,
einer Toxämie zu erliegen, nnd es wurde in
Erwägung gezogen, das Tier mittels Chloro-
form von seinen Leiden zu erlösen. Der
Eiter wurde entleert und der Abszeß mit
warmem Leitungswasser irrigiert. Daraufhin
wurde wiederum mit Hilfe von Benzoylsuper-
oxyd tamponiert und Olivenöl auf die Tam-
pons gegossen, um die Verbreitung des
Mittels in die Abszeßbuchten zu sichern. Es
wurde keine Gegenöffnung mit Drainage an-
gelegt. Diese Behandlung wurde eine Woche
lang täglich wiederholt. Nach dieser Zeit
hatte die Eitersekretion aufgehört, und die
Wunde war in voller Heilung. Der allge-
meine Gesundheitszustand des Hundes war
gut, der Appetit ausgezeichnet.
Ausgezeichnete Resultate wurden mit dem
Mittel bei gewissen Hautkrankheiten erzielt.
Ein Fall von Täenia Sycosis hatte mehrere
Monate der gewöhnlichen Behandlung mit
Unguentum hydrargyri ammoniatum und
Epilation widerstanden, um äußerst prompt
der Behandlung mit einer 10 proz. Benzoyl-
superoxydsalbe in Lanolin und Vaselin zu
weichen, und zwar ohne Zuhilfenahme der
Epilation. Nach dreiwöchentlicher Behand-
lung mit zwei Applikationen pro die war
der Fall geheilt und blieb so.
Das Mittel wurde in Pulverform, in
Losung in Olivenöl und als Salbe ver-
wendet, z. B.
Benzoylsuperoxyd 3,0
Lanolin
Vaselin ü 15,0
Der Verfasser ist der Ansicht, daß das
Mittel in einer Reihe verschiedener Affek-
tionen mit Vorteil angewendet werden kann.
Der Preis sollte kein hoher sein. Bis jetzt
wird es von Hynson Westcott & Co. in
Baltimore auf den Markt gebracht. Es sind
jedoch der Hersteilung keine Schranken ge-
setzt. Wir haben gesehen, daß das Mittel
in gewöhnlichen Dosen ungestraft verwendet
werden kann. Es erfüllt also die erste Be-
dingung des Hippokrates und eröffnet die
Möglichkeit, das Mittel in verschiedener
428
Referat«.
rTherapeotiaehc
L Monatshefte.
Weise zu versuchen, z. B. zum Ausspritzen
des Halses oder als Dusche gelöst in Pe-
troleum oder in einem anderen geeigneten
Lösungsmittel. Weiterhin dürfte es vielleicht
in Bougieform in Fällen von Gonorrhöe von
Nutzen sein.
Die günstige Wirkung des Benzoylsuper-
oxyds ist wahrscheinlich weniger auf seine
das Bakterienwachstum hemmende Kraft zu-
rückzuführen als auf seine Fähigkeit, infolge
seiner Superoxydstruktur die Resistenz der
Zellen zu erhöhen. Der einzige Grund, der
den Verfasser verhindert, die therapeutische
Anwendung des Mittels einer eingehenderen
Untersuchung zu unterziehen, besteht im
Mangel an klinischem Beobachtungsmaterial.
Der Verfasser hofft, daß andere, die dazu
bessere Gelegenheit haben, sich für dieses
Mittel interessieren mögen und seinen Heil-
wert bei lokaler und interner Anwendung
bestimmen werden.
Alypin»
In einer vorläufigen Mitteilung teilt E. Im-
pens-Elberfeld die Entdeckung eines neuen
lokalen Anästhetikums, des Alypins, mit. Der
Körper ist das primäre salzsaure Salz des Benzoyl-
tetramethyldiaminoäthyldimethylkarbinols, . steht
also chemisch dem Stovain außerordentlich
nahe, vor dem es den Vorteil der leichteren
Löslichkeit, neutralen Reaktion und weniger
leichten Fällbarkeit durch Natriumbikarbonat
haben soll. Die anästhesierende Wirkung kommt
der des Kokains mindestens gleich. Die töd-
liche Dose für Hunde und Katzen ist ungefähr
doppelt so groß wie die des Kokains, also ist
der neue Körper ungefähr ebenso giftig
wie das Stovain und doppelt so giftig
wie ^-Eukain. Auf die Einzelheiten der
physiologischen Wirkungen behalten wir uns
vor, nach dem Erscheinen ausfuhrlicherer Mit-
teilungen zurückzukommen.
Literatur.
Über Lokalanästhesie. Vorläufige Mit-
teilung. Von Dr. E. Im p e n s in Elberfeld. Deutsche
med. Wochenschr. 1905, No. 29, S. 1154.
Referate.
(Ana der IL Inneren Abteilung des 8tldtiaehen Kranken-
hause« Moabit in Berlin.)
Ober Herzperkussion. Von Geh. Med.-Rat. Prof.
Dr. Goldscheider in Berlin.
Goldscheider studierte un ter Heranziehung
des orthodiagraphischen Verfahrens die Beziehun-
gen der Herzperkussion zur Atmung. Er erörtert
zunächst die erstaunlichen Unterschiede der Herz-
projektionsfigur auf die Thoraxwand bei der
Orthodiagraphie in In- und Exspirationsstellung.
Dieselben sind nicht allein durch wirkliche Ver-
änderungen der Gestalt und Lage des Herzens
selbst, sondern zum großen Teil durch die Ver-
schiebung der einzelnen Teile der Thoraxwand,
auf die der Herzschatten projiziert wird, bedingt.
Da es sich aber bei der Perkussion der wahren
Herzgrenzen (nicht der sogen, absoluten Herz-
dämpfung, bei der nur die Lungenränder per-
kutiert werden) ebenfalls um eine Projektion der
Herzfigur auf die Brustwand handelt, müssen
auch hierbei diese Verhältnisse berücksichtigt
werden. Bei tiefer Exspiration wird ein Teil
des Herzschattens durch die hochstehende Zwerch-
fellkuppe verdeckt, und die Perkussion ist dem-
entsprechend auch erschwert. Außerdem reicht
die linke Herzgrenze in Exspirationsstellung weit
nach außen, und diese ., Seiten wandständigkeit"
ist der Perkussion ungünstig. Bei tiefer Inspiration
dagegen werden die Herzgrenzen im orthodia-
graphischen Bild in ihrer ganzen Ausdehnung
frei und sind daher auch der Perkussion am
besten zugänglich. Tiefe Inspirationsstellung ist
somit für die Perkussion der linken Herzgrenze
am günstigsten. Da es Verf. indes nicht für
ausgeschlossen hält, daßdurch Dehnung des Herzens
in tiefster Inspiration eine Erweiterung des linken
Ventrikels kaschiert werden könne, empfiehlt er
die Perkussion in mittlerer Atmungsstellung,
daneben aber auch in tiefer Inspiration. Für den
oberen Teil der rechten Herzgrenze empfiehlt
sich die mittlere Atmungsstellung, noch mehr
aber die tiefste Exspirationsstellung, in der die
Grenze am schärfsten erhalten wird. Es tritt
dabei zwar eine Verschiebung ein, deren Größe
aber bekannt ist. Der untere Teil der rechten
Herzgrenze muß wieder bei tiefer Inspiration
perkutiert werden, da man bei Exspiration gar
nicht das ganze Herz bekommt.
Der bemerkenswerteste Teil des Vortrages
ist entschieden die nun folgende Erörterung der
Frage: wie sollen wir perkutieren. Verf. stellt
zunächst fest, daß man bei jeder Perkussions-
stärke Schallunterschiede iu der Gegend der
wahren Herzgrenzen wahrnehmen kann. Es
bedarf also durchaus nicht starker Perkussion,
um eine genügende Wirkung in die Tiefe
zu erreichen, wie die althergebrachte Ansicht
lautet. Am genauesten erhält man vielmehr
die orthodiagraphischen Herzgrenzen sogar
gerade bei allerleisester Perkussion, d. h.
wenn man so leise perkutiert, daß man mit nahe
herangehaltenem Ohre eben nur gerade noch
eine Schallwahrnehmung hat. Die Erklärung
hierfür faßt Goldscheider in dem von ihm
für diese Methode gewählten Ausdruck „Schwel-
lenwertperkussion" zusammen. Sobald durch
in der Tiefe liegendes luftleeres Gewebe der
über den Lungen erzeugte, eben noch wahrnehm-
bare Schall (Schwellenwert) die geringste Ab-
schwächung erfährt, muß die Perkussion unhörbar
werden, d. h. man erhält einen ganz dumpfen
Schall.
XIX. Jahrgang .1
Angurt 1905. J
Referate.
429
Bei der Ausführung maß absolute Ruhe
herrschen, sonst wird man versucht lauter,
„übermerklich* zu perkutieren. Ferner ist es
notwendig, um den Vorteil der Methode, daß
die Schwingungen bei leisester Perkussion sich
offenbar fast nur in die Tiefe und fast gar nicht
nach den Seiten zu ausbreiten, richtig auszunutzen,
genau in sagittaler Richtung, nicht am linken
Herzrand z. B. senkrecht zur Thoraxwand, «um
•das Herz herum" zu perkutieren.
Um ganz gleichförmigen Schall zu erzeugen,
•empfiehlt es sich, nur in den Interkostalräumen
zu perkutieren. Bei Emphysem leistet vornüber-
geneigte Haltung in schwierigen Fällen gute
Dienste. Die Genauigkeit der Methode wird
•durch Abbildungen, auf denen gleichzeitig die
orthodiagraphische Herzprojektionsfigur einge-
zeichnet ist, demonstriert.
Die Normalwerte der maximalen Entfernung
von der Mittellinie sind für den linken Herz-
rand bei mittlerer Atmung 9 — 10 cm, bei tiefer
Inspiration 8 — 9 — 10, bei tiefer Exspiration 11
bis 12 cm. Für den rechten Herzrand: bei
mittlerer Atmung 3 — 5 cm, bei tiefer Exspiration
3,3 bis 4,5 cm. Zum Schluß betont Verf., daß
man die großen Gefäße („Gefäßwurzelbreite"
nach Moritz) sehr gut perkutieren könne,
entgegen der allgemein herrschenden Ansicht,
find zwar auch am besten mittels der Schwellen-
wertperkussion und in tiefster Exspiration, wobei
•die Gefäße an die Thoraxwand gepreßt werden
und verbreitert erscheinen.
(Deutsche med. Wochenschrift 1905, No. 9 u. 10.)
Mannes.
x. Vorschlag xu einer Modifikation der Quincke-
schen Lumbalpunktion bei akuter Cerebro*
Spinalmeningitis. Von Dr. Sondermann,
Dieringhausen.
a. Bemerkungen zu Sondermanns Vorschlag. Von
W. Alexander, Berlin.
3. Erwiderung auf die Bemerkungen Alezanders.
Von R. Sondermann.
1. Verf. schlägt vor, die Wirkung der
Lumbalpunktion dadurch zu steigern, daß nach
Analogie des früher von ihm beschriebenen Ver-
fahrens bei Gelenkeiterungen (s. dieses Heft S.435)
für einige Tage eine 2 mm starke Dauerkanüle
mit Stilett eingeführt wird, um nicht nur die
getrübte Spinalflüssigkeit so oft als nötig ab-
fließen, sondern auch gleichzeitig andere Flüssig-
keit (etwa Kochsalzlösung) einfließen lassen zu
können. Infektionsgefahr wäre durch Anlegung
-eines gut abschließenden Verbandes zu ver-
meiden.
2. Alexanders Bedenken beziehen sich
auf das nach seiner Ansicht undurchführbare
längere Liegenlassen der Kanüle bei Menin-
gitikern, auf die Infektionsgefahr und vor allem
auf die Unmöglichkeit der Auswaschung des
Duralsacks, die nach Jacob (Ver. f. inner. Med.,
20. XI. 99) zu stürmischen Erscheinungen führt.
3. Demgegenüber hält Sonder mann daran
fest, daß das Liegenbleiben der Kanüle, wenn
auch nicht in allen, so doch in geeigneten
Fällen durch entsprechenden Verband wohl zu
ermöglichen wäre, und daß die Frage der Durch-
spülung des Duralsacks noch der Diskussion
unterliege, was unter anderem aus den von
Franca (D. m. W. No. 20) und Altmann
(Med. Klin. No. 23) ausgeführten Lysol infusionen
hervorgehe.
(Med. Klinik No. 25, 27, 31.) Esch (Bendorf).
(Aus dem Pharmakologischen Institut Heidelberg.)
Ober die Hers- und Gefaßwirkung des Diphtherie-
gift». Von R. Gottlieb.
Verf. kommt auf Grund eigener und fremder
Tierversuche zu der Auffassung, daß das Diphtherie-
gift nach dem Typus zentral lähmender Gifte
meist durch Versagen des Respirationszentrums
tötet. Die gleichzeitig sich entwickelnde Kreis-
laufsstörung beruht in einem ersten Stadium
vornehmlich auf Gefäßlähmung, weiterhin tritt
direkte Herzlähmung ein, und zwar rascher oder
langsamer, je nach der Widerstandsfähigkeit des
Herzens.
Beim Menschen wird sich noch schwerer
als im Tierexperimente auseinanderhalten lassen,
welcher Anteil an der Kreislaufschwäche der
Gefäßlähmung und welcher einer direkten Gift-
wirkung auf das Herz zuzuschreiben ist. Bei
reiner Gefäßlähmung ist der Puls frequent,
während Pulsverlangsamung im Kollaps auf
wirkliche Herzschwäche bei Diphtherie hinweist.
In praktischer Beziehung würde neben
Kampfer auch die Injektion rasch wirkender
Digitalissubstanzen (z. B. Strophanthin) bei jenen
Kreislaufsstörungen in Infektionskrankheiten in
Betracht kommen, bei denen das Herz direkt
beteiligt zu sein scheint.
(Med. Klinik 1905, No. 25.) Esch (Bendorf).
Ein Fall von Polyarthritis rheumatlca acuta im
Verlaufe einer kroupöscn Pneumonie nebst
Bemerkungen Ober seine Herkunft. Von Dr.
F. Arnstein.
An eine typisch verlaufende Pneumonie
schloß sich den nächsten Tag nach dem kri-
tischen Temperaturabfall eine Polyarthritis rheu-
matica mit Erhöhung der Temperatur, An-
schwellung und Gelenksschmerzen zuerst im
rechten Knie und Sprunggelenke, sodann fort-
schreitend auf das linke Knie und die beider-
seitigen Fingergelenke.
Auf Salizyl und Aspirintherapie trat nach
8 Tagen restitutio ad integrum ein.
Verf. ist der Ansicht, dass es sich hier
nicht um eine Pneumokokkeninfektion der Ge-
lenke gehandelt hat, sondern um eine gewöhn-
liche Polyarthritis und stützt seine Anschauung
auf folgende Momente:
Bei Pneumokokkeninfektion werden
1. meistens bloß ein oder zwei Gelenke be-
fallen ;
2. die Entzündung geht meistens in Eiterung
über;
3. der Verlauf ist ein bedeutend schwererer;
4. die prompte Reaktion auf Salizylpräpa-
rate spricht für eine gewöhnliche Poly-
arthritis.
(Medycyna 1905, No. 6.)
Oabel (Lemberg).
430
Referat«.
Die Infektiöse Natur de« rheumatischen Fiebers.
Von Dr. F. J. Poynton.
Poynton hatte Gelegenheit, bei einem an
Gelenkrheumatismus verstorbenen Kinde ana-
tomische und bakteriologische Untersuchungen
vorzunehmen. Es handelte sich um ein zartes
Mädchen von neun Jahren, welches ein Jahr vor
seinem Tode einen leichten Gelenkrheumatismus
mit Chorea durchgemacht hatte. Es war damals
ein systolisches Mitralgeräusch zurückgeblieben,
offenbar infolge einer Endokarditis. Die zum
Tode fuhrende Krankheit war ein Rheumatismus
mit schweren fieberhaften Erscheinungen, Milz-
tumor und Leibschmerzen.
Bei der Sektion fand sich eine maligne
Endokarditis der Mitralis. In den Vegetationen
ließen sich mikroskopisch Diplokokken nach-
weisen. Durch Kulturen wurden Diplokokken
derselben Art aus den Tuben, der Milz, den
Nieren und den Lungen gewonnen. In den
Lungen waren sie mit andern Mikroorganismen
vermengt. — Durch Tierversuche wurden diese
Diplokokken als pathogen nachgewiesen.
Aus diesem Fall, der den infektiösen Cha-
rakter des Rheumatismus beweist, gebt auch
hervor, daß es eine echte rheumatische Broncho-
pneumonie und einen renalen Rheumatismus gibt,
sowie daß eine rheumatische Pleuritis und Peritonitis
möglich sind.
(British medical Journal 1904, 14. Mai.)
C lassen (Orube i. H.).
Pathogenese und Behandlung des chronischen
Gelenkrheumatismus. Von C. Parhon und
J. Papinian (Bukarest).
Die Verfasser teilen eine sehr interessante
Beobachtung von chronischem Gelenkrheumatis-
mus mit, die geeignet scheint, einiges Licht auf
die immer noch dunkle Entstehungsweise dieser
Krankheit zu werfen, und die Hoffnung erweckt,
in manchen Fallen , denen wir bisher nahezu
hilflos gegenüberstanden, noch Heilung oder
wenigstens Besserung bringen zu können. Der
Fall betraf einen 47jährigen Kaufmann, der vor
mehr als 20 Jahren an einer schmerzhaften
Affektion der Knie, der Tibiotarsalgelenke und
der Fersenbeine erkrankte, die das Gehen un-
möglich machte und trotz aller Behandlung nicht
heilen wollte. Im Oktober 1898 suchte der
Kranke wegen heftiger Gelenkschmerzen das
Hospital Pantelimon in Bukarest auf. Die Unter-
suchung ergab damals Schwellung der Finger-
und Zehen-, der Tibiotarsal- und Radiokarpal-
gelenke, Krepitation in den Kniegelenken, Ekzem
des Gesichts und behaarten Kopfes, Albuminurie.
Natrium bicarbonicum, das der Kranke in Tages-
dosen bis zu 40 g erhielt, und gegen das Ekzem
Umschlage mit einer Lösung desselben Salzes
brachten den Hautausschlag zur Heilung und
verminderten die Schmerzen. Im Dezember
1902 exazerbierte das Leiden wiederum. Wieder
kamen steigende Dosen von Natrium bicarbonicum
bis zu 70 g täglich zur Anwendung, die aber
wegen der auftretenden Magenstörungen bald
ausgesetzt werden mußten. Neben den Magen-
störungen hatte sich starke Polydipsie und
Polyurie (Entleerung von 6 1 Harn täglich) ein-
[ Therapeutische
L Monatshefte.
— Im Oktober 1903 ergab die Unter-
suchung des Kranken durch die Verfasser neben
dem schon erwähnten Ekzem und der Gelenk-
affektion noch folgendes: Die tägliche Urin-
menge betrug 2500— 3000 g. Der Kranke hatte
beständig ein unangenehmes Kältegefühl. Trockne
Haut. Patient schwitzt auch im heißesten Sommer
niemals. Spärliches, fast weißes Haar, das be-
reits vor 20 Jahren zu ergrauen begann.
Streifige, brüchige, weiße, glanzlose, sich an
einigen Fingern spontan ablösende Nägel. Die
meisten Gelenke besonders an den Fingern de-
formiert und ankylotisch. Schwache Herzaktion.
78 kaum fühlbare Pulse in der Minute. Er-
brechen, Obstipation, Lebervergrößerung. Albu-
minurie und Verminderung der Harnstoffausschei-
dung. — Gewisse Symptome in diesem Krank-
heitsbilde — das Kältegefühl, die Trockenheit
und die Dystrophie der Haut und ihrer Annexe,
die verminderte Harnstoffausscheidung — legten
den Gedanken nahe, daß dem ganzen Symptomen-
komplex eine Insuffizienz der Schilddrüse zu-
grunde liege. Der Kranke erhielt deshalb zu-
nächst Hammel- und dann Kalbsschilddrüse.
Sehr bald begannen sich die Gelenkschmerzen
zu vermindern und verschwanden schließlich
völlig. Desgleichen das Ekzem. Die Haut wurde
feucht. Der Puls stieg allmählich auf 94 bis
98 Schläge in der Minute. Die Nägel wurden
normal und erlangten ihren Glanz wieder. Die
Gelenkbewegungen wurden freier, und der Kranke
begann wieder zu gehen. Die Urinmenge war
immer noch vermehrt, die Eiweißmenge aber
vermindert und die anderen Harnbestandteile
fast normal. Die Verfasser hatten den be-
stimmten Eindruck, daß die Schilddrüsentherapie
in diesem Falle geradezu spezifisch wirkte, und
gewannen aus demselben die Überzeugung, daß
die chronische Gelenkaffektion hervorgerufen sei
durch mangelhafte innere Sekretion der Schild-
drüse, eine Überzeugung, die sie in interessanten
epikritischen Erörterungen zu begründen suchen.
— Der mitgeteilte Fall steht keineswegs ver-
einzelt da. Bereits Lancereau und Paulesco,
Herthoge, Claisse, P. Marie und Crouzon
haben ähnliche Beobachtungen mitgeteilt. Einige
dieser Autoren haben ferner ebenso wie die
Verfasser unter der Schilddrüsentherapie eine
Verminderung und sogar manchmal ein Ver-
schwinden der Albuminurie feststellen können.
Die Verfasser belegen dieses Faktum noch weiter
durch Mitteilung eines von ihnen beobachteten
Falles von Nephritis mit Ödemen, Oligurie etc.,
bei dem eine Eiweißmenge von 6 g nach Dar-
reichung von Schilddrüsensubstanz völlig ver-
schwand. Derartige Fälle scheinen zu beweisen,
daß manche Nephritiden ebenfalls zur inneren
Sekretion der Schilddrüse in Beziehung stehen
und ferner, daß Albuminurie nicht immer eine
Kontraindikation gegen die Schilddrüsentherapie
bildet.
Aber auch eine andere Drüse mit innerer
Sekretion, nämlich das Ovarium, kann bei ver-
sagender oder mangelhafter Funktion zu ahnlichen
Gelenkaffektionen führen wie die Thyreoidea.
Fälle, die dies beweisen, sind von Ord, Claisse,
Renon und Heitz, Raymond und Courtel-
XIX. Jafarganf .1
Angurt 1905. J
Referate.
431
mont veröffentlicht worden. Biese Tatsache ist
merkwürdig und schwer zu erklären. Denn
zwischen Thyreoidea und Ovarium bestehen sonst
antagonistische Beziehungen, insofern als die
Funktion des Ovariums mangelhaft wird oder
versagt, sobald die Funktion der Thyreoidea
eine Steigerung erfahrt und umgekehrt. Viel-
leicht liegt die Erklärung darin, daß beide
Drüsen in ihrer Wirkung auf den Stoffwechsel
nicht nach jeder Richtung hin Antagonisten
sind. Aus Versuchen der Verfasser scheint
nämlich hervorzugehen, daß beide Drüsen die
Bildung und die Ausscheidung von Harnstoff
begünstigen, und daß bei Insuffizienz jeder von
ihnen der durch den Urin eliminierte Harnstoff
vermindert ist. Auch konnten sie nachweisen,
daß durch Darreichung sowohl von Ovarial- als
auch Schilddrüsenpräparaten die Harnstoffaus-
scheidung merklich erhöht wird. Vielleicht ist
diese verminderte Harnstoffausscheidung eine der
Bedingungen für das Zustandekommen des chro-
nischen Rheumatismus.
(La Presse nudic. 1905, No. 1.)
Ritterband (Berlin).
Diabetes mellttus mit rapidem tödlichem Verlauf
im Gefolge eine« Typhus. Von J. F. C. Meyler
in Dublin.
Ein junger Mann hatte einen schweren,
lange dauernden Typhus überstanden; während
der Krankheit war er vorübergehend ikterisch
und anhaltend verstopft gewesen. — Vierzehn
Tage nach der Rekonvaleszenz klagte er plötzlich
über heftigen Durst und bemerkte, daß seine
Diärese sehr reichlich war. Während der Harn
vorher stets zuckerfrei befunden war, enthielt
er jetzt viel Zucker, jedoch kein Aceton und
kein Eiweiß. Trotz vorübergehender Besserung
unter geeigneter Diät verfiel der Kranke doch
schnell und ging schon nach sieben Wochen im
Koma zugrunde.
Der außerordentlich rapide und schwere
Verlauf des Diabetes, trotzdem es sich nicht
um eine durch Acetonurie gekennzeichnete
schwere Form handelte, ist in diesem Falle
sehr bemerkenswert. Komplikationen bestanden
nicht. Auch kam in der Familie sonst Diabetes
nicht vor.
(British medical Journal 1903 1 28. Nov.)
Classen (Grube i. H.).
(Ana der med, Klinik sa Leipzig, Geh -Rat Curaehmann.>
Zar Kenntnis der Polyneuritis der Tuberkulösen.
Von Dr. H. Stein er t, Assistent der Klinik.
Von der L an dry sehen Lähmung der Tuber-
kulösen auf der einen Seite, von der hyper-
ästhetischen Form der Polyneuritis und der
sogen, sensiblen Neuritis mit sensiblen Ausfalls-
erscheinungen und an ästhetischen Flecken auf
der andern Seite ist die typische symmetrische
amyotrophische Polyneuritis, die ein zwar nicht
häufiges, aber wohl charakterisiertes Vorkommnis
bei der menschlichen Tuberkulose, speziell der
chronischen Lungenschwindsucht, darstellt, wohl
zu unterscheiden. In der Leipziger Klinik kamen
in den letzten Jahren drei solcher Fälle zur
Beobachtung, während unter vielen Tausenden
von Phthisiker-Krankengeschichten früherer Jahre
nur eine kleine Zahl von Polyneuritiden zu
finden war. In den hier vom Verf. mitgeteilten
2 neuen Fällen war nun trotz genauester Ex-
ploration außer Tuberkulose keinr für die Neu-
ritis ätiologisch in Betracht kommender Faktor
nachweisbar, so daß er sie als typische Fälle
reiner Tuberkulosepolyneuritis in Anspruch zu
nehmen sich berechtigt glaubt.
Was die vorgefundenen anatomischen Ver-
änderungen anlangt, so waren diese in dem
einen- Falle derart, wie wir sie nach den vor-
liegenden Forschungen als den Ausdruck^einer
leichten selbständigen Erkrankung der Zelle an-
zusehen gewöhnt sind: Die peripherischen Nerven
zeigten den Zustand des diskontinuierlichen, an-
fangs periachsialen Markscheiden Zerfalles neben
der einfachen Markscheiden atrop hie; diese Ver-
änderungen spielten sich ganz besonders an den
peripherischen Ästen ab und verloren sich proxi-
malwärts ganz allmählich. Es handelte sich also
um Veränderungen, die wir gewöhnt sind, für
die primär degenerative Erkrankung der Nerven-
faser im Gegensatz zur wohlcharakterisierten
Wall ersehen Degeneration als typisch anzu-
sehen. Wir wissen aus experimentellen Arbeiten
wie aus der menschlichen Pathologie, daß das
anatomische Frühstadium der periachsialen Neuritis
ohne klinische Erscheinungen zu verlaufen pflegt.
Es hängt das offenbar mit der relativen Inte-
grität des Achsenzylinders zusammen, und auch
im vorliegenden Falle fand sich im Saphenus
major eine latente Neuritis. Die Ansicht, daß
in der latenten Neuritis der Phthisiker ganz
allgemein das Frühstadium eben des Prozesses
zu sehen sei, dessen vorgeschrittene Grade hier in
erster Linie in Betracht kommen, dürfte dem-
nach wohl begründet sein.
Die Wurzelzellen der erkrankten Fasern,
die Vorderhorn- und Spinalganglienzellen zeigten
das Bild einer sehr ausgesprochenen Chromato-
lyse, aber keine schwereren Läsionen. Die Aus-
breitung dieser anatomischen Veränderungen in
der Höhe des Sakral- und Lendenmarks ent-
sprach, es nur wenig überschreitend, dem Wurzel-
gebiet derjenigen Nerven, die man schon vorher
auf dem Wege der klinischen Untersuchung als
erkrankt nachgewiesen hatte. Die Spinalganglien
sind hier wie übrigens auch im zweiten be-
schriebenen Falle, und wie das auch bei Poly-
neuritis gewöhnlich ist, weniger stark als die
V order hornz eilen verändert.
Die letzteren zeigten aber im zweiten Falle
ausgesprochen das pathologische Aussehen, das
wir als gesetzmäßige Folge der experimetellen
Durchtrennung des Achsenzylinders kennen. Im
Lenden- und Sakralmark fand sich hier peri-
nukleäre Chrom atolyse der Vorderhornzellen mit
Kernverlagerung, in den entsprechenden Spinal-
ganglien ein Bild, das die Annahme des hier
vorbereiteten gleichen Prozesses nahe legt. Im
Halsmark trat hier nicht ein normales Bild' wie
im ersten Falle zutage, aber andrerseits auch
keine grobe pathologische Zellalteration.
Verf., der im Sinne von Strümpell,
Perrin, Stinzing u. a. die Polyneuritis der
Tuberkulösen im Prinzip als eine Neuronerkran-
432
Referate.
fTherapeutiache
L Monatshefte,
kung auffaßt, sieht in der gefundenen Erkran-
kung im Gebiet der beiden peripherischen Neurone
seine Auffassung bestätigt. Gegenüber Ley den,
der die Neuritis der Schwindsüchtigen vor
Jahren auf einen dyskrasisch-kachek tischen Zu-
stand bezog, glaubt Strümpell den Giften, durch
Mischinfektion oder Zerfall des Lungengewebes
entstanden, die ausschlaggebende ätiologische
Rolle zuteilen zu müssen. Er beruft sich dabei auf
Hammer, der bei Meerschweinchen durch einen
bestimmten Infektionsmodus, die Impfung mit
menschlichem tuberkulösen Peritoneum, konstant
NerTendegenerationen erzielen konnte, die acht
Tage nach der Impfung persistierten und zu einer
Zeit aufgetreten waren, in der von Kachexie noch
keine Rede sein konnte. Auch Carriere hatte ja I
durch 5 — 6 monatliche Tuberkulinbehandlung an
Meerschweinchen polyneuritische Veränderungen
hervorzubringen vermocht. Nicht unerwähnt
darf in dieser Hinsicht übrigens bleiben, daß die
Großhirnrinde in dem erstbeschriebenen der
Fälle Veränderungen aufwies, die ihrer Art nach
denen sehr nahe stehen, die Hammer an den
Rückenmarksganglienzellen bei experimenteller
Tuberkuloseinfektion beschrieben hatte.
(Beitr. z. Klin. d. Tuberk. Bd. IT, H. 4, 1904.)
Eschle (Sinsheim).
Collca Intcstinl coee), ein wohl charakterisierter,
selbständiger Symptomenkomplex. Von Dr.
Anton A. Christomanos.
In der Praxis kommt es häufig vor, daß
wir an das Lager eines an heftigen „kolik-
artigen" Schmerzen Leidenden gerufen werden
und dann bei ausgesprochener Lokalisation des
Schmerzes in der rechten Darmbeingrube, ins-
besondere bei gleichzeitig vorhandener Empfind-
lichkeit in der Mitte zwischen Nabel und oberem
Darmbeinstachel (Mac- Burney scher Punkt)
ohne weiteres eine Affektion des Processus vermi-
formis annehmen. Erst vor kurzem hat man
ein besonderes charakteristisches Krankheitsbild
unter dem Namen „Colica Processus vermiformis*
beschrieben (A. Pick, Breuer, Talamon).
Gewöhnlich sollen die kolikartigen Zusammen-
ziehungen im Appendix durch hineingeratene
Fremdkörper zustande kommen, es ist jedoch
bereits darauf aufmerksam gemacht worden
(A. Pick), daß dieselben hier wie an allen
anderen Stellen auch lediglich auf nervöser Basis
beruhen können. Wenn die Einklemmung be-
hoben oder der Fremdkörper in da6 Coecum
zurückbefördert ist, sagt man, hören in der
Regel alle Beschwerden auf. — Christomanos
ist nun auf Grund mehrjähriger und wiederholter
Beobachtung zu der Überzeugung gekommen,
daß auch der Blinddarm ganz selbständig zu
einem ähnlichen, wenn auch durch andere
Ursachen bedingten Zustand Anlaß geben kann,
und daß man gerade in letzter Zeit bei Außer-
achtlassung des primären pathologischen Zu-
staride8 des Blinddarms dem Wurmfortsatze auch
in dieser Hinsicht mehr Bedeutung zugeschrieben
hat, als es der Wirklichkeit entspricht.
Aus der Beschreibung des Verf. geht hervor,
daß die Kolik des Blinddarms ein selbständig
auftretendes Leiden darstellt, dessen 8—48 Std. |
währende Anfälle fast immer durch bestimmte,
aber nicht bei allen Patienten durch die näm-
lichen, schädlich wirkenden Speisen, zuweilen
durch einen kalten Trunk, durch letzteren nur
bei leerem Magen und gleichzeitiger Erhitzung
oder Überanstrengung, hervorgerufen werden.
Die Temperatur ist zu Ende des Anfalls oft
leicht (bis 37,6°) erhöht. Vorher ist die Blind-
darmgegend auf Druck ziemlich empfindlich, und
man glaubt dort eine fingerdicke Geschwulst
abzutasten, die allerdings plötzlich wieder ver-
schwindet im Gegensatz zu dem persistierend
und etwas druckempfindlich bleibenden Tumor
bei Appendicitis. Charakteristisch ist, daß sich
der Schmerz durch Zunahme des angewandten
Druckes nicht wie bei der Appendicitis steigert,
sondern daß ein kräftigerer Druck oft sogar
als erleichternd empfunden wird. Die anfangs
schwachen und in längeren Pausen sich wieder-
holenden Kontraktionen verstärken sich bei der
Biinddarmkolik allmählich und folgen immer
rascher aufeinander bis zu einem ausgesprochenen
und oft stundenlang dauernden Tetanus dieser
Darmpartie. Neben dem erwähnten objektiven
Befunde des etwa fingerdicken leichtempfindlichen
Stranges werden die Symptome beobachtet, die
sich bei heftiger Kolik überhaupt einzustellen
pflegen: Kollaps, Erbrechen u. s. w. Mit dem
Aufhören des Krampfes und dem Verschwinden
der fühlbaren Geschwulst pflegt sich die Parese
der glatten Darmmuskulatur in Form einer
einige Tage anhaltenden Auftreibung des Blind-
darms bemerkbar zu machen, die bei einer Kolik
des Wurmfortsatzes schwer zu erklären wäre
und somit auch ihrerseits differentialdiagnostisch
verwertbar ist.
Therapeutisch kommen neben Narcoticis,
speziell Morphiuminjektionen, warme Umschläge
und leichte Massage der betreffenden Partien in
Betracht.
Christomanos versäumt nicht hervor-
zuheben, daß er verschiedentlich Kranke gesehen
hat, denen ein in jeder Beziehung normaler
Appendix durch Operation entfernt wurde,
nachdem sie angeblich an einer leichten Appen-
dicitis oder einer Kolik des Wurmfortsatzes
gelitten hatten, während die Wahrscheinlichkeit
vorlag, daß es sich nur um eine unschuldige
Blinddarmkolik gehandelt hatte. Bei einem so
Operierten vermochte er das mit Sicherheit
festzustellen.
(Zeitschr.f. klin. Medizin, Bd. 54, H.3 u. 4, 1904.)
Eschle (Sinsheim).
(Aus dem Laboratorium der kgl. med. Unlv.-PollkHoik in
Berllu. Direktor Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Senator.
Ein Versuch zur Lösung des Glykogenproblems.
Von Dr. Alfred Wolf f.
Die Grundlage für die zahlreichen Glykogen-
theorien war die bisher nicht angefochtene An-
schauung, daß der normale im Gefäßsystem krei-
sende Leukozyt glykogenfrei sei und daß im
Protoplasma desselben erst dann Glykogen auf-
träte, wenn er, einem entzündlichen Reize fol-
gend, die Blutbahn verläßt. Die schon vor län-
gerer Zeit von Ehrlich ausgesprochene Ver-
mutung, daß das Glykogen schon vorher — nur
XIX. Jahrgang. 1
Anglist 1905. J
Referate.
433
in Form einer nicht färbbaren Verbindung,
durch die jenes leicht abgespalten wurde — zu
den normalen Bestandteilen eines Leukozyten
gehöre, wurde erst durch eine Reihe von Unter-
suchungen, an denen der Verf. in hervorragendem
Maße beteiligt war, sichergestellt.
Das Glykogen des normalen Leukozyten ist
außerordentlich wasserlöslich und deshalb mit
den bisher üblichen Methoden nicht nachzu-
weisen: wenigstens verschwindet die Färbung
sehr schnell aus den Präparaten und ist nur
wahrzunehmen, wenn die letzteren ganz frisch
durchgesehen werden.
Zum Nachweis des Glykogens in den nor-
malen Leukozyten bedarf man daher einer ganz
besonderen Methode, wie sie zuerst von Zolli-
kofer angewendet worden ist, und die im Prinzip
darauf beruht, daß die Joddämpfe sofort auf
das noch feuchte Präparat einwirken. Bei dieser
sogen, „vitalen Jodfixationsmethode" geht
man nach Wolff sicher, keine Kunstprodukte
zu erhalten.
Die Wasserlöslichkeit des Glykogens ist nun
nicht nur bei den verschiedenen Thierspezies
eine verschiedene, sondern sie ist auch inner-
halb desselben Spezies von einer Reihe von Um-
ständen abhängig, denen der Verf. nachzuforschen
Anlaß nahm.
Die Löslichkeit des Leukozytenglykogens
wird bei der Emigration der Leukozyten aus
dem Gefäßsystem und bei Infektionsprozessen
vermindert. Daher kommt es, daß unter diesen
Umständen das Glykogen auch mit den alten
Methoden nachweisbar war, so daß die für eine
degenerative Natur eines derartigen Befundes
ins Feld geführten Gründe nichts von ihrer Be-
weiskraft eingebüßt haben; nur hat man den
vom Verf. vorgetragenen Ergebnissen entspre-
chend die Lehre nicht zu formulieren: „Dege-
nerative Prozesse sind mit Glykogenbildung in
den Leukozyten verbunden a, sondern dahinlau-
tend: „verändert sich das in einem Leukozyten
befindliche Glykogen derart, daß es schwer wasser-
löslich wird, also mit den alten Methoden nach-
zuweisen ist, so handelt es sich um eine dege-
nerative Veränderung, die den Leukozyten be-
troffen hat."
(Zeitschr. f. klin. Medicin. Bd. 51, H. 5 u. 6, 1904.)
Eschle (Sinsheim).
Ober Schreibeangst. Von Dr. S. S 1 a n s k y (Pilsen).
Nach Analogie der Jan et sehen Auffassung
schildert Slansky einen unter die Phobien zu j
rechnenden Fall, wo unter gewissen Erscheinungen
von Schreibekrampf ein allgemeiner Erregungs-
znstand eintritt, sobald der Kranke in Gegenwart
einer zweiten Person, oder wenn er an solche
denkt, zu schreiben versucht. Es handelt sich
aber dabei nicht um einen in der Hand oder
im Arm lokalisierten Tick, wie etwa bei Graphi-
phospasmus, sondern eben um eine der Platzangst,
Nachtangst, der Klaustrophie u. a. ähnliche
Phobie. Völlige Entziehung von Alkohol und
Nikotin — der 49jährige Kranke war starker
Potator — und leichte Galvanisierung und
Massage der rechten Hand und des Unterarms
brachten den Zustand bald soweit zur Besserung,
daß ein Zittern nur dann noch auftritt, wenn
jemand den Patienten direkt ins Konzept sieht.
(Prager med. Wochenschr. 1, 1904.)
■ Rahn (Collm i. S.).
Ober einen Fall von lange fortgesetztem Kalomel-
gebrauch bei Vitium cordls. Von Th. Hitzig
(Mexiko).
Bei einem 59jährigen Manne mit Mitral-
insuffizienz, dem Digitalis und andere Diuretica
gar nichts nutzten, hatte Kalomel den ge-
wünschten Erfolg. Während 23/4 Jahren trat
infolge Kalomelverabreichung (3 mal täglich
0,20 g) nach 3 — 5 Tagen regelmäßig ausgiebige
Diurese und Besserung der vorhandenen Be-
schwerden ein. Unangenehme Nebenerschei-
nungen wurden nach den lange fortgesetzten
großen Kalomeldosen nicht beobachtet.
(Korresp.-Bl. für Schweiger Arzte 1905, No. 8.) R.
Der Wert des Natrium blsulfuricum in der Be-
handlang des Typhus. VonDr. JohnEgerton
Cannaday.
Das saure schwefelsaure Natron (NaHS04,
nicht zu verwechseln mit Natriumsulfat oder
Glaubersalz Na9S04) wirkt, wie Laboratoriums-
versuche von W eddigen ergeben haben, in
schwacher Lösung auf Typhusbazillen entwicke-
lungshemmend, in starker Lösung tötet es sie,
auch ist es geradezu ein Gegengift gegen das
Toxin der Typhusbazillen. Es zerfällt leicht in
Schwefelsäure und Glaubersalz und wird dar-
gestellt, indem man Natriumnitrat mit Schwefel-
säure erhitzt, oder indem man warme Schwefel-
säure auf Kochsalz einwirken läßt.
Wegen seiner Einwirkung auf Typhusbazillen
lag es nahe, es in der Behandlung des Typhus
zu versuchen, zumal es in lproz. Lösung, Meer-
schweinchen subkutan verabfolgt, keine Vergiftung
hervorrief. Cannaday hat es in ungefähr lproz.
Lösung (genau 0,9 auf 30), alle drei Stunden etwa
vier Eßlöffel (zwei Unzen), gegeben. Diese Lösung,
die der Azidität des Magensaftes entspricht, soll gut
vertragen werden und nicht unangenehm schmecken .
Andere Medikamente wurden nicht gegeben,
jedoch im übrigen die sonst übliche Typhus-
behandlung mit flüssiger Diät, lauwarmen Ab-
waschungen und nötigenfalls Stimulantien inne-
gehalten. Cannaday schließt, daß das saure
schwefelsaure Natron ein wirksames inneres Anti-
septicum ist, daß es den Mund reinigt, die Ver-
dauung durch seinen Säuregehalt erleichtert,
Tympanie verhindert und die Durchfälle ver- N
ringert.
(Therapeutic gazeite 1905 , No. 2.)
Glossen (Grube i. HJ.
(Aus der Berliner st&dt. Anstalt für Epileptische in Wuhl-
garten.)
Neuronal bei Epilepsie. Von Dr. Peter Rixen.
Bei dem hohen Bromgehalt (41 Proz.) des
Neuronal (= Bromdiäthylacetamid) hielt Rixen
es für angezeigt, das Mittel bei Epileptikern
zu versuchen. Er hat die Wirkung desselben
bei 80 epileptischen Frauen in 500 Einzelgaben
erprobt. Bei epileptischen Erregungs- nnd Ver-
wirrtheitszuständen erfolgte auf 1,0 — 1,5 g nach
434
Referate.
TTherapentlaete
L Monatsheft«.
etwa !/9 Stunde Beruhigung und Schlaf. Die nach
epileptischen Anfällen auftretenden heftigen Kopf-
schmerzen werden durch Neuronal günstig beein-
flußt. Ebenso machtesich eine beruhigende Wirkung
des Mittels bei nervösen Menstruationsbeschwerden
bemerkbar. Ein Einfluß auf die Zahl und Heftig-
keit der epileptischen Anfälle wurde nicht be-
obachtet. In Übereinstimmung mit den von
anderer Seite (Siebert) gemachten Angaben
findet Rixen, daß die hypnotische Wirkung
von 1,0 g Neuronal derjenigen von 1,0 g Trional
entspricht, jedoch schwächer ist als die von
1,0 g Veronal.
(Münch. med. Wochenschr. 48, 1904.) R.
Wirkungen einiger Papaverinderlvate. Von Julius
Pohl.
Der Verfasser kommt zu folgenden Schlüssen:
1. Die Annahme, daß quaternäre Basen
gesetzmäßig curareartig wirken, läßt sich in
dieser Allgemeinheit nicht aufrecht halten; den
quaternären Papaverinderivaten fehlt jegliche
Wirkung auf die Nervenendplatten. Dasselbe
ist vom Nikotinmethylat bekannt.
2. Mit der Umwandlung in quaternäre
Basen wird den Papaverinderivaten die allge-
meine zentrale Nervenwirkung geraubt, statt
dessen tritt eine dem Papaverinkern als solchem
direkt nicht zukommende, aber in ihm latent
steckende Nierenwirkung in den Vordergrund.
3. Hydrierung des Moleküls, die in vielen
an deren Fällen giftigkeitssteigernd wirkt, schwächt
hier die Nervenwirkung bis zum Schwinden.
4. Die meisten — viele, aber durchaus nicht
alle — quaternären Basen sind bei intravenöser
Injektion Respirationsgifte mit zentralem An-
griffspunkt.
(Arch. intern, de Pharm, et de Ther. Vol. XIII. p.479.)
Dr. Impens (Elberfeld).
l. Lokale Anästhesie (Local analgesla). By Oap-
tain J. VV. Houghton, Royal army medical
corps. Journ. of the royal army medical corps
Vol. IV, No. 4, p. 447.
a. Die Anwendung von milchsaurem Benzoyl-
vinyl-Dlacet on- Alkami n (^-Eukaln) bei Ein-
griffen an Auge, Ohr, Nase und Kehlkopf.
(The use of benzoylvinyl-diacetone-alkamine
(Beta-Eucain) Lactate in eye, ear, nose and
throat work.) Von H. Bert. EUis, M. D.
Los Angeles.
1. Das Mittel, dessen sich Houghton zur
Herbeiführung der lokalen Anästhesie bedient,
ist nach dem Vorgänge von Bark er (vergl.
Therap. Monatshefte 1905, Februar, p. 108)
eine Auflösung von 0,2 g /9-Eukain und 0,8 g
Chlornatrium in 100 cem sterilem destillierten
Wasser, welcher nach dem Erkalten leem lprom.
Adrenalin lösung hinzugefügt wird. Verf. rät,
die Lösung stets frisch zu bereiten, da sie schnell
an Wirksamkeit einbüßt. Folgende Operationen
wurden unter lokaler Eukainanästhesie ausgeführt:
1. Behandlung von eingewachsenen Nägeln.
2. Entfernung einer cystischen Geschwulst,
die auf dem Schädelperiost aufsaß.
3. Entfernung eines Fibroms an der hinteren
Seite des linken Trochanter mit Abtren-
nung von Knochen.
4. Eröffnung des Kniegelenks zur Entfer-
nung von lockerem Knorpel.
5. Exzision von 5 varikösen Venen.
6. Exzision und Ligatur von äußeren Hämor-
rhoiden in einem Falle, wo Chloroform
kontraindiziert war.
7. Eröffnung und Drainage eines Leber-
abszesses.
8. Varicocele.
9. Laparotomie wegen eines perforierenden
Darmgeschwürs.
Bei all diesen Operationen — mit Aus-
nahme der Entfernung des Schädeltumors, wo
wohl die Infiltration nicht genügend sorgfältig
ausgeführt worden war — gaben die Patienten
übereinstimmend an, daß sie keinerlei Schmerz
fühlten, obgleich nicht immer völlige Emp-
findungslosigkeit erzielt wurde, so daß einige
der Operierten merkten, daß an ihnen ge-
schnitten wurde, ohne es jedoch unangenehm zu
empfinden.
Besonders interessant war der Fall von
Laparotomie. Es handelte sich um einen aus
Afrika zurückgekehrten Patienten, welcher in-
folge schwerer Septikämie, die durch die
Perforation noch kompliziert war, schwer kolla-
biert und moribund auf den Operationstisch
kam. Trotzdem er den Eingriff nur 15 Stunden
überlebte, war doch zu bemerken, daß die Ope-
ration schmerzlos und ohne Chok verlief, und
daß Puls und Temperatur sowie namentlich das
Allgemeinbefinden sich außerordentlich besserten,
was wohl hauptsächlich der stimulierenden Wir-
kung des Adrenalins zuzuschreiben ist.
2. Über die Verwendung eines neueren
/3-Eukainsalzes, des außerordentlich leicht löslichen
Laktats, in der Augen-, Ohren-, Hals- und Nasen-
chirurgie berichtet H. B. Ellis.
Verf. hatte schon bei Einführung des
a-Eukains und später bei dessen Ersetzung durch
das /3-Eukain sich dieser Mittel bedient, um so
die Anwendung des so viel giftigeren Kokains,
mit dem er wiederholt die beängstigenden Er-
fahrungen schwerer Kollapsfälle gemacht hatte,
umgehen zu können. Die Übelstände nun, welche
den älteren Präparaten doch noch anhafteten, und
in ihrer schweren Löslichkeit sowie manchmal
beobachteten Reizwirkung bestanden, und ihre
Anwendung namentlich in der Ophthalmologie
erschwerten, sind durch die Darstellung des in
Wasser zu 25 Proz. löslichen, schwach alkalisch
reagierenden, milch sauren Salzes völlig be-
seitigt worden. Zur Anwendung auf Schleim-
häute verwendet, der Verf. für Hals und Nase
10 — 15 proz. Lösungen, für das Auge 2 — 5 proz.
Lösungen. Zur Infiltration bediont er sich fol-
genden Rezeptes:
/9-Eucaini lactici 0,25
Natrii chlorati 0,8
Sol. Epinephrini 1 : 1000 gutt. X
Aquae destillatae 100,0.
Die Vorteile, welche die Eukainanwendung
gegenüber der des Kokains bietet, gehen am
besten aus den vergleichenden Schlußfolgerungen
des Verfassers hervor.
1. Die stimulierende Wirkung des Kokains
ist allgemein bekannt. Wiederholt wurden schon
XIX. Jahrgang.!
Angart 1905. J
RofbratB«
435
bei Patienten, welche früher einmal gleiche Dosen
glatt vertragen hatten, bei späterer nochmaliger
Verwendung derselben Menge Synkope und andere
bedrohliche Erscheinungen beobachtet; selbst
nach der Anwendung schwacher Lösungen auf
Urethra und Nasenschleimhäute waren schon
wiederholt Todesfälle zu beklagen.
2. Der fürchterliche Kokainismus ist oft
die Folge der Anwendung von Kokain in der
Nase zum Zwecke der Anästhesie bei Operationen
oder bei Schnupfen.
3. Kokain verursacht vorübergehende Ischämie
und Schrumpfung des Schleimhautgewebes, was
oft Anlaß zu sekundären Blutungen nach der
Operation gibt.
4. Die obenerwähnten Zustände (Ischämie
und Abschwellung) sind oft durchaus unerwünscht.
Sollte man sie herbeiführen wollen, so gibt es
dazu besser wirkende und namentlich auch viel
harmlosere Mittel.
5. Bei seiner Anwendung im Konjunktival-
sack bewirkt Kokain mehr oder weniger starke
Pupillenerweiterung und kann auch Sehstörungen
hervorrufen. Mitunter wurden sogar Läsionen
der Hornhaut beobachtet.
1. Salzsaures und besonders milchsaures
/9-Eukain sind nur mäßig giftig, das salzsaure
Eukain z. B. ist 3y3mal weniger giftig als
Kokain (für das milchsaure Salz, welches etwas
weniger Eukain als das salzsaure enthält, würde
das Verhältnis sich naturgemäß noch günstiger
gestalten). In der Literatur ist nach Eukain-
verwendung kein einziger Todesfall oder auch
nur irgend welche beunruhigende Folgeerschei-
nung verzeichnet. Dies erklärt sich daraus, daß
Eukain (in den in Frage kommenden Dosen) nicht
auf das Herz wirkt.
2. Fälle von Eukainismus sind nicht bekannt.
3. /9-Eukain bewirkt weder Hyperämie noch
Ischämie, noch Gewebsschrumpfung ; man braucht
deshalb nach seiner Anwendung keine sekundären
Blutungen zu befürchten.
4. Dort, wo Blutleere und Abschwellung
von Schleimhäuten wünschenswert ist, kann man
sie durch lokale Anwendung von Epinephrin
allein oder in Mischung mit yö-Eukainlaktatlösung
erreichen.
5. Bei Einträuflung einer 5proz. yö-Eukain-
laktatlösung in den Konjunktivalsack tritt nach
dem anfänglichen Schmerz, welcher übrigens
stärker als bei Verwendung einer 4- oder 5proz.
Kokainlösung ist, später eine reine anästhesierende
Wirkung ein. Die Pupille wird nicht ver-
größert, die Akkomodation nicht gestört, die
Conjunctiva wird weder blutüberfüllt noch blut-
leer, kein Gewebe ist kontrahiert und die Cornea
bleibt intakt.
6. Milchsaure ^-Eukainlösungen sind halt-
bar und können durch Kochen sterilisiert werden.
Nach all diesem muß man den Ausspruch
des Verf.: "Warum sollte man überhaupt noch
Kokainlö8ungen bei Operationen an Auge, Nase
und Kehlkopf anwenden? als durchaus berechtigt
ansehen.
Th. A. Maass.
Ober lokale Alkoholtherapie. Von R. Walko.
Walko prüfte die Wirkung des Alkohols
bei den verschiedenen Erkrankungen in lokaler
Anwendung; er verwandte, je nachdem er in
die Tiefe oder mehr oberflächlich wirken wollte,
stärker konzentrierten 96 proz. und schwächeren
50 proz., oder er benutzte das Alkoholzellit
(Friedr. Bayer & Co.), welches 75proz. ist und das
außerdem den Vorteil der bequemen Applikation
bietet. Vor der Anwendung muß die betreffende
Hautstelle durch Seife und Benzin, falls angängig,
gut entfettet werden, da fettige Haut die Tiefen-
wirkung des Alkohols beeinträchtigt, die, wie
die bekannten Untersuchungen Buchners u. a.
zeigen, in einer Hyperämisierung des betreffenden
Gebietes bestehen. Walko behandelte 27 Fälle
von Gesichtserysipel und 8 Fälle von Erysipel
am Stamm und Extremitäten durch Alkohol-
kataplasmen. Er fand ein minder weites Um-
sichgreifen des Prozesses und einen rascheren
Fieberabfall. Bei 10 Fällen sah er eine tuberkulöse
Peritonitis durch Alkoholumschläge teils günstig
beeinflußt werden, teils zur Heilung kommen.
Durch darüber gelegte heiße Breiumschläge fand
er die Resorptionsfähigkeit des Peritoneums er-
höht. Ganz besonders da soll die Alkohol-
behandlung in ihr Recht treten, wo Komplikationen
(allgemeine und anderweitige Tuberkulose) ein
anderes Verfahren ungeeignet erscheinen lassen.
Zum Schluß bringt Walko seine Erfahrungen,
die er bei Perityphlitis gemacht hat, 10 Fälle
von Perityphlitis und 2 von Pericystitis, die
sich postperityphlitisch einstellten. Ein nicht
hermetisch abgeschlossener Alkoholumschlag,
eine Eisblase darauf wirkten ausgezeichnet, ohne
selbst die empfindlichste Haut irgendwie zu
irritieren. Selbstverständlich schließt diese Be-
handlung weder chirurgische Eingriffe noch
Rezidive aus.
(Prag. med. Wochenschr. 1905, No. 5.)
Arthur Rahn (Colltn).
Ein neues Verfahren zur Behandlung akuter
und chronischer Gelenkerkrankungen. Von
R. Sondormann, Dieringhausen.
Reinigung und Hyperämie des Gelenkes ist *
die Absicht des S o nderm an n sehen Verfahrens.
Er hat dazu einen Apparat konstruiert, der im
wesentlichen aus einer eigens konstruierten
Kanüle, einer Spülkanne und einem, dem
Potin ähnlichen Glasgefäß besteht. Mit einem
Troikart wird unter Lokalanästhesie die Kanüle
in das affizierte Gelenk eingeführt, der Eiter
abgelassen und je nachdem bis viermal täglich
gespült, und zwar so, daß mit einem Gebläse
der Potin luftleer gemacht wird, und so die
Flüssigkeit aus der Spülkanne durchs Gelenk ge-
saugt wird. Ein Prießnitz, in lproz. Alsollösung
getränkt, schließt das Gelenk und die Wunde
gut aseptisch ab. Zur Spülung benutzte Sonder-
mann in seinen beiden Fällen einmal je 1 Liter
3 proz. Borlösung, das andere Mal kaltes Wasser.
Er hat guten Erfolg gehabt und möchte das
Verfahren weiter erprobt wissen.
(Med. Klinik 1905, No. 16.)
Arthur Rahn (CollmJ.
436
Referate.
rTh«r*peutiaehe
L MonAtahcfte.
(Aua der chirarglachen Abteilung des Krankenhausei in
Krakau.)
Intraperitoneale Blaseneröffnung und SchnOrnaht.
Von Dr. Josef Bogdanik.
Verf. hat einen Fall von Papillomata vesicae
urinariae nach der von Rydygier angegebenen
Methode operiert.
In Chloroformnarkose -wurde die Bauchhöhle
in der Linea alba, etwas unterhalb des Nabels,
sodann die mit Borsänrelösung gefüllte Blase er-
öffnet.
Der zur Eröffnung der Blase angelegte
Schnitt -war intraperitoneal und ging von der
hinteren, mit Peritoneum bedeckten Blasen-
wand aus.
Die papillären Exkreszenzen wurden mit
Paquelin kauterisiert , sodann die Blasenwand
mit Karbol-Catgut-Etageonähten vereint.
Die erste Kürschnernaht umfaßte den mus-
kulösen Teil der Blase, die zweite Naht wurde
durch das Peritoneum geführt.
Um ein besseres Anliegen des Peritoneum
und der Blasenränder zu erzielen, wurde die
Schnürnaht angewendet. — Die beiden Catgut-
enden wurden mit Nadeln armiert und etwas
oberhalb der Blasenwunde auf die Weise mit
dem Nähen begonnen, daß beide Nadeln schief
in die Muscularis der Blase, ohne die Schleim-
haut zu berühren, von innen eingestochen
wurden, so daß sich die Nadeln innerhalb der
Muscularis gekreuzt haben — Dann wurde durch
das Peritoneum ausgestochen, die Fäden ge-
kreuzt und weiter so die ganze Wunde genäht,
bis am anderen Ende, wiederum ein wenig über
den Wundrand hinüber, nach Zusammenziehen
der Fäden geknüpft wurde.
Durch diese Art des Nähens erzielt man
ein derart festes Anliegen der Wundränder, daß
selbst bei stärkster Füllung der Blase die Ränder
nicht auseinander gehen können. — Die Bauch-
wunde wurde schließlich etagenförmig vernäht
— die Hautwunde mit fil de Florence geschlossen
— in das untere Ende ein Drain und in die
Blase ein catheter ä demeure eingeführt. —
Innerlich bekam Pat. pro die 3 g Helmitol.
, Der Verlauf war ein vollkommen reaktions-
loser, nach 18 Tagen verließ der Operierte als
vollkommen geheilt das Spital.
Da gleichzeitig ein analoger Fall unter An-
wendung der extraperitonealen Blaseneröffnung
oberhalb der Symphyse nach Kocher ebenfalls
mit gutem Erfolge operiert wurde, zieht Verf.
eine Parallele zwischen diesen beiden Methoden
und kommt zum Schlüsse, daß die extraperi-
toneale Blaseneröffnung als die leichtere, ge-
wissermaßen Schulmethode anzusehen ist, wo-
gegen die intraperitoneale, als die schwerere,
bloß erfahreneren Chirurgen anzuempfehlen sei,
um durch eine zahlreichere Kasuistik das end-
gültige Urteil fixieren zu können.
(Przeglad lekarski 1904, No. 40.) Gabel (Lemberg).
Der sogenannte ,. Ovarialschmerz", seine Ursache
und seine Behandlung. Von G. Ernest
Her man, London.
Auf der vorjährigen Versammlung der
British Medical Society zu Oxford eröffnete
Herrn an eine Diskussion über obigen Gegen-
stand. Er führte aus, daß Schmerz und Druck-
empfindlichkeit bei Frauen an einer bestimmten
Stelle, zwei Zoll innerhalb der Spina anterior
superior keineswegs immer auf das Ovarium zu
beziehen sind. Er hat sich experimentell davon
überzeugt, indem er bei Leichen an jener Stelle
eine lange Nadel einstieß, und sich dann fand,
daß sie nur in seltenen Fällen gerade das Ova-
rium getroffen hatte. Der Schmerz kann vom
Peritoneum allein ausgehen und auf lokaler
Beckenperitonitis beruhen; er kann reflektiert
sein von irgendwelchen erkrankten Bauchein-
geweiden her, darunter auch von den Ovarien;
er kann aber auch rein neurasthenisch oder
hysterisch sein, ohne daß eine lokale Erkrankung
zugrunde liegt.
Beim Ovarium kommen zweierlei Formen
von Erkrankung vor, die sklerös-cystische Ent-
artung und die Cirrhose. Jene kann auch
schmerzlos verlaufen, und es gibt kein Kriterium,
um zu entscheiden, warum diese Erkrankung
zuweilen Schmerzen verursacht, zuweilen nicht.
Auch die Cirrhose des Ovariums ist von der
einfachen Altersschrumpfung, die schmerzlos vor
sich geht, nicht sicher zu unterscheiden.
Die Behandlung hat vor allem die Ursache
der Schmerzen zu berücksichtigen. Sind diese
reflektiert von Erosionen der Cervix, von ver-
lagertem Uterus, von zurückgehaltenem Coitus,
so kann eine dementsprechende Therapie Heilung
bringen. Beruhen die Schmerzen auf schwerer
Dysmenorrhöe, so sind sie nur durch Entfernung
der Ovarien zu beseitigen. Jedoch verschwinden
die Schmerzen auch nicht jedesmal unmittelbar
nach der Operation, sondern halten zuweilen
noch monatelang an. Die Ovariotomie heilt
also nicht den Ovarialschmerz direkt, sondern
nur die zugrunde liegende Dysmenorrhöe, und
man hat sich vorher in jedem Falle ernstlich
zu überlegen, ob Grund genug vorliegt, die
Patientin einer so eingreifenden Operation za
unterwerfen. Liegt Hysterie zugrunde, so ist
die Suggestionstherapie am Platze. Auch hier
wirkt ein operativer Eingriff als mächtige
Suggestion, jedoch hält die Wirkung nicht lange
an, die Schmerzen kehren wieder. Her man
hat mehrfach bei neurasthenischen und hysteri-
schen Patienten ovariotomiert, jedoch stets nur
mit augenblicklichem, niemals mit dauerndem
Erfolg. Allein bei Dysmenorrhöe führte die
Operation zur Heilung. Er bestreitet also, daß
in einem frei beweglichen Ovarium krankhafte
Veränderungen den Ovarialschmerz hervorrufen
können.
In der Diskussion stimmen alle Redner
Herrn ans Ausführungen im wesentlichen zo.
Einige betonen allerdings, daß dem Ovarial-
schmerz doch chronische Veränderungen der
Ovarien zugrunde lägen, während Herr Cuth-
bert Lockyer dieses auf Grund anatomischer
Untersuchungen entschieden bestreitet. Er hat
bei einer Reihe von operativ entfernten Ovarien
entweder gar keine Veränderungen gefunden
oder nur solche, welche auch post mortem bei
Personen, die nie an Ovarialschmerz gelitten
haben, vorkommen. Er gibt an, daß mehrfache
j
XIX. Jahrgang.!
Angogt 1906. J
Referat«.
437
„Geburten mit anstrengender Stillung die Ent-
stehung des Schmerzes begünstigen.
(British medical Journal 1904, 12. Od)
Glossen (Grube i. H.J.
Styptol bei Gebärmutterblutungen. Von Dr. V ine.
Meyer, Neapel.
Das Styptol ist ein dem S typ ticin analoges
Salz, und zwar eine Verbindung zweier Haemo-
statica, da auch die Phtalsäure blutstillend wirkt.
Es stellt ein feines, gelbes Pulver dar, das
73 Proz. Cotarnin enthalt und sich in warmem
Wasser leicht löst. Das Mittel wird in Pulver-
form oder am besten in Tabletten ä 0,05 g
3 — 5 mal täglich verordnet. Verf. hat dasselbe
in 23 Fällen (bei menstruellen Blutungen, bei
Blutungen post abortum, Puerperalblutungen,
durch Endometritis veranlaßten Genitalblutungen,
durch Neubildungen veranlaßten Blutungen) in
Anwendung gebracht. Dasselbe wirkte sehr
günstig. Es erfüllt alle Ansprüche, die man
an ein uterines Haemostaticum zu stellen be-
rechtigt ist. Außer der blutstillenden hat das
Styptol auch eine deutlich sedative Wirkung.
(AUg. med. Zentr.-Ztg. 49, 1904.) R.
Behandlung der Ophthalmie der Nengebornen.
Von M. Morax.
Verf. betont zunächst die Notwendigkeit,
bei jeder Ophthalmie der Neugebornen das Sekret
mikroskopisch zu untersuchen. Findet man
Gonokokken, so handelt es sich stets um eine
schwere Erkrankung, bei der der Arzt jeden
Tag sich vom Zustande der Conjunctiva und
der Cornea überzeugen und persönlich die not-
wendigen Argentumeinträufelungen vornehmen
sollte. Derartige Ophthalmien erfordern vor
allem stündliche Waschungen des Auges, und
zwar einfach mit abgekochtem Wasser oder lauer
Borsäurelösung. Zu diesem Zweck drängt man mit
Daumen und Zeigefinger die Lider sanft von-
einander und entfernt mit Wattebäuschen, die
in die Flüssigkeit getaucht sind, den Eiter, oder
noch besser, man spritzt ihn mit einer kleinen
vorher ausgekochten Ballonspritze aus. Ist nur
das eine Auge erkrankt, so muß das andere vor
einer Infektion geschützt werden. Dies geschieht
am sichersten, wenn man in dasselbe an zwei
aufeinanderfolgenden Tagen eine prophylaktische
Eintrftufelung von 2 proz. Argentumlösung macht
und es dann durch einen Okklusivverband ab-
schließt.
Neben diesen Maßnahmen muß das kranke
Auge in der ersten Zeit 2 mal, später 1 mal
täglich mit einer Silbernitratlösung von 1 : 40
kauterisiert werden so lange, bis die Eiterung
vollkommen versiegt ist. Man geht dabei in der
Weise vor, daß man zunächst mit Watte den
Eiter abtupft, die Lider voneinander drängt und
in den Lidsack sowie auf den freien Rand der
Lider einige Tropfen der Silberlösung träufelt
und schließlich die überschüssige Flüssigkeit mit
hydrophiler Watte entfernt. Morax konnte sich
nicht davon überzeugen, daß die so vielfach
empfohlenen neuen Silbersalze, das Protargol
oder das Argyrol dem alten, klassischen Argen tum
nitricum an Wirksamkeit gleichkommen, und rät,
bis auf weiteres an der oben beschriebenen, durch
eine lange Erfahrung gestützten Methode fest-
zuhalten. Die Personen, die mit dem kranken
Kinde in Berührung kommen, sind nachdrück-
lich auf die Gefahr der Ansteckung aufmerksam
zu machen und anzuweisen, sich nach jeder Ma-
nipulation am Kinde die Hände mit Wasser und
Seife zu reinigen. Die oben beschriebene Be-
handlung wird auch bei anderen, nicht durch
den Gonococcus erzeugten Ophthalmien nie
Schaden bringen. Indessen genügen für die leich-
teren Fälle 1 prozentige Silber- oder 2,5 pro-
zentige Zinksulfatlösungen, um die Eiterung
schnell zum Verschwinden zu bringen.
(Revue pratique d' obsie'tr. et depe'diatr. 1904, No. 184.
La Presse medic. 1904, No. 82.) Ritterband (Berlin).
Zur perkutanen Salicylbehandlung. Von Dr. Ed-
mund Saalfeld.
Die endermatische Behandlung rheumati-
scher Affektionen mit Salizylsäure und Salizyl-
säurepräparaten hat in der letzten Zeit mehr
und mehr an Ausdehnung gewonnen. Zur An-
wendung gelangten eine terpentinhaltige Salizyl-
salbe, Gaultheriaöl (Salizylsäuremethyläther) und
neuerdings Rheumasan und Mesotan. Alle diese
Präparate besitzen jedoch die unangenehmen
Eigenschaften, recht häufig Hautrötung, Desqua-
mation, lästige Ekzeme, ja selbst gelegentlich
schwere Dermatitis hervorzurufen.
Saalfeld empfiehlt nun zur perkutanen
Behandlung das Fetrosal (früher als Velosan1)
bezeichnet). Das Präparat, das in Salbenform
in den Handel gelangt, besteht aus Salizylsäure,
Salol und Fetron. Verf., der die Salbe in
50 Fällen einer Prüfung unterzogen hat, suchte
zwei Fragen zu entscheiden:
1. Reizt Fetrosal gesunde Haut?
2. Ruft Fetrosal auf einer pathologisch ver-
änderten Haut, bei der die Anwendung
von Salbe nicht kontraindiziert ist, ent-
zündliche Erscheinungen hervor?
In sämtlichen Fällen kam eine Hautreizung
nach Anwendung des Fetrosal nicht zur Beob-
achtung, ja es wurde sogar eine Reihe von Der-
matosen leichteren Grades durch konsequente
Fetrosal an wen düng zur Heilung gebracht, wie
Verf. annimmt, infolge der keratoly tischen Eigen-
schaften der Salizylsäure. Die günstige Wirkung
der Salbe in Fällen von impetiginösem Ekzem
und von Impetigo contagiosa erklärt sich durch
ihren Gehalt an Salol.
Die im Fetrosal enthaltene Salizylsäure
wirkt einerseits antirheumatisch, andrerseits wirkt
sie — ohne gröbere Haut Verletzung hervorzu-
rufen — keratoly tisch und ebnet auf diese Weise
dem gleichfalls antirheumatisch wirkenden Salol
den Eingang durch die Haut in den Orga-
nismus.
Ob das Fetrosal außer bei rheumatischen
Affektionen auch in der Dermatologie Anwendung
finden wird, bleibt weiterer Prüfung vorbehalten.
(Allgent, medizinische Zentralzeitung 1905, No. 19,
S. 353.) Jacobson.
x) J.Jacobson: Velosan, ein neues Salizyl-
präparat zum äußerlichen Gebrauch. Therapeut.
Monatshefte, Dezember 1904, S. 659.
438
Toxikologie.
rherapentiach«
Monatshefte.
Toxikologie.
Mitteilung über sieben Fälle von Fisch Vergiftung
an der medizinischen Poliklinik Zürich. Von
Dr. A. Stoll.
Nach Genuß von Hechten erkrankten sieben
Personen, zum Teil unter bedrohlichen Erschei-
nungen. Die Symptome bestanden in Erbrechen,
Durchfall, Cyanose. Die Pupillen waren mittel-
weit, reagierten auf Lichteinfall, die Stimme
matt, heiser, das Aussehen verfallen. Schweiße
am Körper, eiskalte Extremitäten, Temperatur
38,5°, Puls 120. Kolikartige Schmerzen im
Abdomen, Krämpfe in Waden und Oberarmen,
unstillbarer Brechdurchfall; Blut dickflüssig,
dunkelschwarz, nach einigen Tagen Spuren von
Eiweiß im Urin, am 11. Tage ausgebreitete Urti-
caria. 8 — 10 Tage nach Beginn der Erkrankung
traten während 3 — 6 Tagen subnormale Tem-
peraturen von 35,2 — 35,6° auf. Bei einem der
Pat. entwickelte sich nach 3 Wochen, nachdem
Pat. schon 8 Tage außer Bett war, akute Ne-
phritis. Zwei Kinder starben. Bei der Sektion
fand sich Schwellung der Dönndarmfollikel mit
oberflächlicher Nekrose, Schwellung der Mesen-
terialdrüsen, geringer Milztumor, Fettdegeneration
der Leber, akute Myodegeneratio cordis. Das
Blut lackfarben, dunkelkirschrot, etwas ein-
gedickt.
Reste des Fischgerichtes waren nicht vor-
handen, die Untersuchung desselben mußte daher
unterbleiben. Die Hechte sind vermutlich in
fauliger Zersetzung begriffen gewesen, obwohl
Aussehen und Geruch dies nicht zu erkennen
gaben; der Geschmack soll nicht gut gewesen sein.
Durch die Zubereitung waren, wie Stoll an-
nimmt, nicht sämtliche pathogenen Keime ver-
nichtet; ein Knabe, der sofort nach der Zu-
bereitung von den Fischen aß, blieb gesund,
während zwei Frauen, die einige Stunden später
von dem Gericht aßen, erkrankten. Es spricht
dieser Umstand dafür, daß sich von neuem nach
dem Kochen Mikroorganismen und deren Toxine
entwickelt hatten.
Die Therapie bestand in Darreichung von
Opium, blutwarmea Darminfusionen mit 1 bis
2 proz. Tanninlösung, warmen Einpackungen, Thee
mit Rotwein, Schleimsuppen.
(Korrespondenzblatt für Schweizer Ärzte 1905, Xo.5)
Jacobson.
(Aus dem städtischen bakteriologischen Laboratorium zu
Padna.)
Die Austerninfektionen. Untersuchungen von Dr.
M. Vivaldi und Dr. A. Rodella.
Die zahlreichen, im Laufe der letzten Jahre
beobachteten Masseninfektionen nach Austern-
genuß gaben den Verfasser Veranlassung, sich
experimentell mit der Austerinfektion zu be-
schäftigen.
Die Erscheinungen der Infektion lassen sich
zu drei Gruppen zusammenfassen:
1. Nach Genuß von Austern treten unter
Fiebererscheinungen wochenlang sich hinziehende
schwere, gast ro- intestinale Störungen, charak-
terisiert durch Bauchschmerzen, Diarrhöe und
Erbrechen auf.
2. Einige Stunden (8 — 10) nach dem Ge-
nuß der Mollusken zeigt sich Allgemein Vergiftung,,
bestehend in Kollaps, Appetitlosigkeit, Erbrechen,.
Darmschmerzen, übelriechenden Entleerungen und
Frösteln.
3. Es treten Infektionserscheinungen auf,,
welche. sich von Beginn an oder erst in späterem
Verlauf klinisch als Typhus erweisen. Von>
88 derartigen Fällen endeten 26 tödlich.
Von Bakterien sind bisher in frische»
Austern B. coli (auch mit Proteus vulgaris ver-
gesellschaftet) als Zeichen der Verunreinigung
mit Fäkalien aufgefunden worden, nur ganz ver-
einzelt ist B. typhi nachgewiesen. Die Verf.
konnten ebenfalls in 400 Austern die Abwesenheit
von B. typhi feststellen; in 200 Stück, die krank-
machend wirkten, ließen sich Proteus vulgaris,
B. coli und ein Streptokokkus nachweisen. In
4 Austernproben wurde ein neuer, dem B. coli
ähnlicher, aber viel virulenter wirkender Bazillus
aufgefunden, der Tiere unter Anzeichen von Peri-
tonitis mit blutig-serösem Transsudat, ausge-
dehntem akuten Magen- und Darmkatarrh, MUz-
ansch wellung, Hyperämie der abdominalen Organe-
und Ödemen an den Impfstellen tötet.
Der Bazillus hat die Gestalt eines Kokko-
ba^tllus, nimmt aber zuweilen eine verlängerte
Gestalt an. Er ist unbeweglich, färbt sich gut
mit Anilinfarben und wird nach Gram ent-
färbt. Die Gelatinekulturen zeigen den Bazillus
mit wohlausgebildeter Kapsel. Mit Blutserum
von Ileotyphuskranken gab der Bazillus keine
Agglutination. Bei Einspritzung in die Haut
starben Kaninchen, Meerschweinchen und Mäuse
innerhalb 24 — 48 Stunden unter den oben an-
geführten Erscheinungen. Intraperitoneale In-
jektion wirkte in wenigen Stunden letal. Von,
6 Kaninchen, die Bouillonkulturen per os er-
halten hatten, starben 2; diese wiesen seröse
Peritonitis, Milzanschwellung, Hyperämie der
Leber und Nieren, flüssiges Blut, Meteorismus,
Vergrößerung der Mesenterialdrüsen und Magen-
darmkatarrh mit punktförmigen Hämorrhagien
auf. Verfütterung an Mäuse gab das gleiche
Resultat. Wahrscheinlich ist dieser Bazillus
auch bisweilen die Ursache von Austern infektioa
des Menschen.
Die im Anschluß an Austerinfektion auf-
tretenden, als Typhus gedeuteten Erkrankungen
bieten viele Analogien einerseits mit Paratyphus,
andrerseits mit Fleischvergiftungen. Von den
letzteren kommen nur jene Fälle von Magen-
und Darmaffektionen in Frage, welche nach Ge-
nuß von Fleisch vollständig gesunder Tiere auf-
treten. Es ist in hohem Grade wahrscheinlich,
daß gemäß der van Ei men gemschen Ansicht
die Erkrankung durch die Anwesenheit von
B. coli und Proteus, oder doch diesen Gruppen
angehörende Bazillen hervorgerufen wird. Diese
XIX. JahrgftBg.1
Anglist 1905. J
Toxikologie,
439
Bazillen, zu denen auch der neue Kapselbazillus
gehört, wirken dadurch infektiös, daß sie im
Magendarmkanal eine übermäßige Vermehrung
erfahren.
Prophylaktisch ergibt sich auch aus den
vorliegenden Untersuchungen die Forderung,
die Austernb&nke von jeder Verunreinigung frei
zu halten und die Mollusken nur in frischestem
Zustande zum Verkauf gelangen zu lassen.
(Hygienische Rundschau 1905, No. 4, S. 174.)
Jacobson.
Ein Fall von chronischem Veronalismue. Von
Dr. Hoppe.
Im Verein für wissenschaftliche Heilkunde
in Königsberg i. Pr. teilte Hoppe in der Sitzung
Tom 6. Februar 1905 einen Fall von chroni-
schem Veronalismus mit.
Ein 26 jahriger Alkoholiker erhielt wegen
Schlaflosigkeit w&hrand der Entziehungskur ge-
legentlich 0,5 g Veronal. Etwa 7 Wochen
später fiel auf, daß Pat. bis gegen Mittag fest
schlief und kaum zu erwecken war. Die übrige
Zeit des Tages hielt er sich durch Genuß von
8 — 10 Tassen starken Kaffees und starkes Rauchen
munter, machte indes häufig den Eindruck eines
Berauschten. Wie sich nachträglich heraus-
stellte, hatte Pat. täglich 2—3 g Veronal ge-
nommen. Da Veronal zurzeit noch freihändig
von den Apotheken abgegeben werden darf,
können leicht größere Mengen in die Hände von
Kranken gelangen. Es ist bei den Behörden
beantragt worden, ein Verbot des freihändigen
Verkaufs von Veronal zu erlassen.
In der Diskussion berichtet Hoeftmann
über zwei Fälle von Veronalvergiftung. In dem
ersten Falle zeigten sich bei einem hochgradig
Nervösen nach verhältnismäßig nicht großen
Dosen starke psychische Erregung und eigen-
tümlich schleppende Sprache, ähnlich der eines
Betrunkenen. Im zweiten Falle hatte eine
Morphinistin längere Zeit hintereinander täglich
2 — 3 g Veronal genommen. Auch hier war
starke Erregung mit Selbstmordtrieb und lallende,
etwas stotternde Sprache vorhanden. Intervalle
bestanden bei beiden Kranken nicht, sie machten
andauernd den Eindruck von Trunkenen.
(Deutsche medizinische Wochenschrift 1905, No. 24.
Vereinsbeüage S. 971.) Jacobson.
Ober Purgenvergiftang. Von San.-Rat Dr. Benno
Holz (Berlin).
Nachdem Verf. innerhalb 6 Wochen mit
gutem Erfolge und ohne Nachteile ca. 1 kleines
Schächtelchen Purgentabletten verbraucht hatte,
traten am folgenden Morgen nach Einnahme von
!/t Tablette für Bettlägerige heftige Schmerzen
in der Regio hypogastrica sinistra auf; dieselben
hatten krampfartigen Charakter und waren von
Schüttelfrösten begleitet; daneben bestanden
Meteorismus, Übelkeit und Brechneigung, ferner
Schmerzgefühl in der linken Nierengegend, be-
sonders beim Urinieren. Der Urin enthielt Ei-
weiß und rote Blutkörperchen. Nach zwei Tagen
löste sich der Darmverschluß, und das Eiweiß
schwand innerhalb 5 Tagen.
Verf. nimmt an, daß sowohl der Darm-
verschluß, bedingt durch Reizung und Entzün-
dung des Darmrohrs mit krampfartiger Kon-
traktion desselben, sowie die Nieren affektion An-
zeichen einer Purgen Vergiftung gewesen sei.
Über einen weiteren Fall von schwerer
Darm- und Nierenaffektion nach Purgengebrauch
wird eine ausführliche Mitteilung in Aussicht
gestellt.
(Berliner klinische Wochenschrift 1905, No. 29, S. 931.)
Jacobson.
Arznelexanthem nach Aspirin. Von Dr. R. Freund
(Danzig).
Im ersten der drei von Freund mitgeteilten
Fälle von Exanthem nach Aspiringebrauch hatte
ein an Zuckerharnruhr leidender Mann wegen
Kopfschmerzen 1 g Aspirin genommen. Die
Nacht verlief schlaflos infolge Stechens und
Juckens am Präputium, wo sich ein kleines
Bläschen entwickelt hatte, das bei Berührung
schmerzte und im Aussehen einem Herpes pro-
genitalis glich. Der zweite Fall betraf einen
an Neuritis erkrankten Patienten, der gegen die
Schmerzen täglich 6 g Aspirin gebraucht hatte.
An den Fingern auftretende kleine, stark juckende
und stechende Bläschen führte Pat. auf den
Aspiringebrauch zurück. Als nach einer Pause
wiederum 1 g Aspirin gereicht wurde, traten auch
wieder mehrere kleine Bläschen an der Finger-
kuppe auf. Im dritten Falle hatte ein Herr
eines Katers wegen 1 g Aspirin genommen und
auch bei ihm zeigten sich am Handrücken, wo
eine talergroße, glatte, atrophische, gerötete Stelle
vorhanden war, die juckenden und stechenden
Bläschen. Die Bläschen entwickelten sich an
derselben Stelle von neuem, als nach einiger
Zeit versuchsweise wieder 1 g Aspirin genom-
men wurde.
• In allen 3 Fällen heilten dte Bläschen in
8 — 14 Tagen unter Puder ab.
(Münch. med. Wochenschr. 1905, No. 15. S. 707.)
Jacobson.
(Aus der Hautkrankenstation des städtischen Kraukenhanses
xu Frankfurt a, M., Obwarst Dr. Karl Herxbolmer.)
Ein Fall ven Erblindung nach Atoxylinjektionen
bei Liehen ruber planus. Von Sekundfirarzt
Dr. W. Bornemann.
Verf. teilt einen Fall mit, in welchem sich
nach Gebrauch von Arsensäureanilid (Atoxyl)
äußerst schwere Intoxikationserscheinungen am
Sehorgan entwickelten.
Eine Pat., welche an ausgebreitetem Liehen
ruber planus litt, erhielt neben Einreibungen
von Teerschwefelsalbe etwa zwei Monate lang
Injektionen einer 20 proz. Atoxyllösung, an-
fänglich 0,5, später bis 2 ccm. Nach dieser
Zeit machten sich die ersten Intoxikations-
erscheinungen, bestehend in Mattigkeit, Herz-
schwäche, Schwindelanfällen, Trockenheit im Halse
und Enteritis, bemerkbar. Nach kurzer Pause
erhielt Pat. wiederum zweimal wöchentlich In-
jektionen von je 1 ccm. Es entwickelten sich
nun im Laufe von zwei bis drei Wochon fol-
gende Symptome: Herabsetzung des Gehörs,
Brausen und Rauschen in den Ohren, nächtliches
440
Toxikologie. — Literatur.
TTherapeatiaehe
L Monatshefte.
Brennen und Bohren in den Fußen, Nebelsehen,
Abnahme der Sehschärfe bis zur Amaurose und
auf weitere Erhöhung der Dosis auf 3 mal
wöchentlich 2 ccm: Anschwellung des Gesichts,
der Hände und der Füße. Nachdem im ganzen
27 g Atoxyl verbraucht waren, wurden nunmehr
die Injektionen ausgesetzt und Fat. ins Kranken-
haus übergeführt. Hier schwanden unter Ge-
brauch von Zinkpaste in kurzer Zeit die Ödeme
und auch die Grundkrankheit wurde in einigen
Monaten unter Behandlung mit Salizylvaselin,
Chrysarobin, Karbol- Sublimatsalbe und schließ-
lich mit Röntgenbestrahlung abgeheilt.
Die Amaurose blieb indes bestehen. Der
Augenbefund erwies das Vorhandensein einer
Sehnervenatrophie; es war nur noch Licht-
empfindung vorhanden, trotzdem reagierten die
Pupillen noch ziemlich lebhaft. Die Prognose
dieser durch chronische Arsenvergiftung hervor-
gerufenen Neuritis retrobulbaris ist quoad resti-
tutionem sehr zweifelhaft.
Ob in diesem Fall die Intoxikation der
Arsenkomponente oder dem Anilidrest zuzu-
schreiben ist, läßt sich mit Sicherheit nicht ent-
scheiden. Wahrscheinlich ist jedoch, daß es sich
hier um eine Summation der Wirkung beider
schädlichen Substanzen gehandelt hat.
Das Atoxyl ist jedenfalls ein mit großer
Vorsicht zu brauchendes Mittel.
(Münchener med. Wochenschr. 190*>t No. 22, S. 1043.)
Jacobson.
Literatur«
Die Krankheiten der Frauen. Für Ärzte und
Studierende dargestellt von Prof. Dr. Heinrich
Fritsch. Elfte, vielfach verbesserte Auflage.
Leipzig, Verlag von S. Hirzel, 1905.
Das in der Sammlung medizinischer Lehr-
bücher als erster Band erschienene Lehrbuch
von Fritsch ist in seinen früheren Auflagen
in dieser Zeitschrift wiederholt besprochen wor-
den, so daß es erübrigt, auf seine Vorzüge, die
ihm schnell einen großen Freundeskreis erwarben,
einzugehen. Da die Wissenschaft in den 4 Jahren
seit dem Erscheinen der letzten Auflage be-
sonders in pathologisch-anatomischer und opera-
tiver Beziehung vorgeschritten ist, so mußten
mannigfache Verbesserungen vorgenommen wer-
den. Zahlreiche instruktive Illustrationen geben
die für die Diagnosenstellung wichtigen patho-
logischen Veränderungen im Bilde wieder. Be-
sonders eingehend ist das Kapitel über den
Uteruskrebs umgearbeitet. Während früher
Fritsch bei der vaginalen Operation die Bauch-
höhle tamponierte, zieht er jetzt einen voll-
ständigen Abschluß derselben durch exakte Naht
vor, die vaginale Operation des karzinomatösen
Uterus bevorzugt er bis jetzt noch wenn möglich
vor der abdominalen, welche er für die Fälle
reserviert wissen will, welche nicht durch die
vaginale Entfernung des Uterus radikal zu be-
handeln sind. Das Lehrbuch gibt die Lebens-
erfahrung eines unserer ersten Fachmänner
wieder, es ist daher naturgemäß manche sub-
jektive Auffassung, die von anderen nicht geteilt
wird. Der Umfang des Buches hat, trotzdem
sich Fritsch einer möglichsten Kürze befleißigt
— in einzelnen Kapiteln, z. B. über Neubildungen
der Tube, sogar einer zu großen — dennoch
zugenommen; es bietet Studierenden und Ärzten
reiche Anregung nicht nur zum Lernen, sondern
auch zum Denken, klargeschrieben, anschaulich
geschildert, trefflich illustriert, ist es das Muster
eines Lehrbuches. Es ist sicher nicht die letzte
Auflage, die in diesen Heften besprochen wird.
Falk (Berlin).
Lehrbuch der Vibrationsmassage mit beson-
derer Berücksichtigung der Gynäkologie.
Von Dr. Kurt Witthauer, Oberarzt am
Diakonissenhaus zu Halle a. S. Leipzig,
F. C. W. Vogel, 1905.
Witthauer gibt auf Grund der in der
Literatur niedergelegten physiologischen Ver-
suche und wissenschaftlichen Erfahrungen eine
zusammenfassende Darstellung der Technik und
Wirkungsweise der Vibrationsmassage und be-
richtet gleichzeitig in* den einzelnen Kapiteln
über seine eigenen Beobachtungen und Erfolge
an der Hand von Krankengeschichten, wobei die
gynäkologischen Erkrankungen besonders aus-
führlich berücksichtigt werden. Die allgemeinen
Anzeigen und Gegenanzeigen, die Apparate und
ihre Anwendung, die spezieilen Behandlungs-
methoden bei den Erkrankungen der einzelnen
Organe werden kritisch erörtert. So gelingt es
dem Verf. tatsächlich, diese von Kurpfuschern
durch unverständige Handhabung in Mißkredit
gebrachte Methode auf eine wissenschaftliche
Basis zu 8 teilen und gleichzeitig den Einwurf
zu entkräften, daß es sich bei der Vibrations-
massage um rein suggestive Wirkungen handele.
In dieser Hinsicht erscheint mir Witthauers
Bestreben, die erzielten Wirkungen überall in
Einklang mit bekannten physiologischen Erfah-
rungen und Gesetzen zu bringen, besonders
wertvoll, und das Buch mag daher als weitere
Anregung zu Versuchen und Berichten über
diese noch viel zu wenig wissenschaftlich aas-
gebaute Methode dienen.
Mohr (Bielefeld).
Handbuch der Urologie. Herausgegeben von
Dr. Anton v. Frisch und Dr. Otto Zucker-
kand 1. I. Band. Wien 1904, Alfred Holder.
Der vorliegende I. Band des Handbuchs
der Urologie gibt zunächst eine „Anatomische
Einleitung" von E. Zuckerkandl, die in über-
sichtlicher, fesselnder Darstellung, unterstützt
durch zahlreiche klare Abbildungen nach makro-
skopisch und mikroskopisch anatomischem Mate-
rial, das Wesentlichste über die Entwicklung und
den Bau des gesamten Harnapparates und der
männlichen Geschlechtsdrüsen bringt. Der ana-
tomischen Einleitung schließt sich das von
H. Koeppe bearbeitete Kapitel über die r Physio-
logie der Harnabsonderung" an, das namentlich
in bezug auf die Wirksamkeit des osmotischen
Druckes bei der Harnabsonderung, auch bezüg-
XIX. Jahrgang.1
Anglist 1905. J
Literatur.
441
lieh der Resultate, die die Bestimmung der
Gefrierpunktserniedrigung und der elektrischen
Leitfähigkeit des Harns bisher für die Beur-
teilung der Nieren funktionen geliefert hat, in
dankenswerter Weise recht ausführlich behandelt.
Sigm. Exner gibt über die „Physiologie
der männlichen Geschlechtsfunktionen" und
J. M a uth n er über die „Chemische Untersuchung
des Harns" aus diesen Gebieten das für den
Arzt Wissenswerteste. Einen großen Umfang in
letzterer Abhandlung nimmt, der Wichtigkeit
des Gegenstandes entsprechend, der chemische
Nachweis der pathologischen Harnbestandteile,
der Eiweißkörper und ihrer Spaltungsprodukte,
des Blutfarbstoffs, des Zuckers u. s. w. ein, sowie
die quantitative Bestimmung einzelner derselben.
Was die „zufällig" im Harn angetroffenen
anorganischen Bestandteile wie Jod, Brom,
Quecksilber u. s. w. anbetrifft, so geht Verf.
näher auf die Methoden zur Quecksilberbestim-
mung im Harn ein, die das ganz besondere
Interesse des Arztes beanspruchen. Vielleicht
hätte der Verfasser in diesem Abschnitte noch
erwähnen können, daß unter den neueren Me-
thoden zur Quecksilberbestimmung die Farup-
sche Methode (genauere Angaben darüber s.
Arch. f. exp. Pathol., Bd. 44, p. 272), die eine
Kombination der Ludwigschen und Schu-
macher-Youngschen Methode (s. Arch. f. exp.
Path., Bd. 42, p. 138 ff.) darstellt, sehr zuver-
lässige und genaue Resultate liefert, daß ferner
Bardach (s. Zentralb], f. inn. Mediz. 1901,
No. 15) eine von dem Ludwigschen Nachweis
abweichende Methode zur Quecksilberbestimmung
vermittelst Zusatzes von Eiweißkörpern zu dem
quecksilberhaltigen Harn angibt.
Nachdem R. Kraus die „Bakterien der
gesunden und kranken Harnwege" in ausführ-
licher Darstellung abgehandelt hat, beginnt der
eigentlich klinische Teil des Handbuches, der
von 0. Zuckerkandl zweckmäßig durch eine
Darstellung der „Asepsis in der Urologie" und
von v. Frisch durch „Klinische Untersuchungs-
methoden" eingeleitet wird. Letzterem Abschnitt
ist eine Reihe instruktiver Zeichnungen von
Katheterformen, Sonden und Cystoskopen ein-
gefügt. Der erste Teil des groß angelegten
Werkes schließt mit der „Allgemeinen Symptom-
lehre" von 0. Zuckerkandl.
Das exakt wissenschaftliche, auf der Höhe
moderner Forschung stehende und in bezug
auf Darstellung meisterhafte Werk, welches vom
Verleger seinem vornehmen Inhalte gemäß würdig
ausgestattet ist, wird in der Bibliothek des Spe-
zialisten und des prakt. Arztes, der sich über
die einschlägigen Fragen in der Urologie gründ-
lich orientieren will, bald unentbehrlich sein.
Kaufmann (Bad Wildungen).
Grundrifg der Otologie. Unter Mitwirkung von
• Geh. Rat Schwartze, ordentl. Prof. der Me-
dizin in Halle, und Prof. Dr. C. Grunert,
I. Assistenten der Ohrenklinik in Halle. Verlag
F. C. W. Vogel. Leipzig 1905.
Bei dem wohlbegründeten Weltruf, den die
Hallenser Ohrenklinik durch ihren Schöpfer
und Direktor Hermann Schwartze seit De-
zennien genießt, und bei der wissenschaft-
lichen Bedeutung seines langjährigen Assistenten
C. Grunert wird das vorliegende Buch ohne
jede besondere Empfehlung unzweifelhaft einen
großen Leserkreis gewinnen.
Das Buch soll nach den Intentionen seiner
Autoren kein Nachschlagebuch für Ohren-
ärzte mit vielfachen Literaturangaben, sondern
lediglich ein Nachlesebuch für Studierende
und praktische Ärzte sein über das, was sie in
der Ohrenklinik gesehen und gehört haben.
Der subjektive Charakter des ganzen Werkes,
bes. der Diagnose und der therapeutischen Maß-
nahmen, gereicht dem Buche schon mit Rück-
sicht auf die Bedeutung der Schule, auf der es
basiert ist, zum größten Vorteil und wird den
Ohrenärzten aller Länder als eine willkommene
Richtschnur für ihr Handeln gelten.
Der Inhalt zerfällt in einen allgemeinen
und speziellen Teil. Zu dem allgemeinen ge-
hören folgende akademische Vorträge: Allge-
meine Ätiologie der Ohrenkrankheiten; allge-
meine Prophylaxe und Hygiene; Symptomato-
logie; Diagnostik; Therapie der Ohrenkrank-
heiten.
Zu. dem speziellen Teil gehören: Die Ver-
letzungen des Ohres; Begutachtung der Ohr
Verletzungen; Neubildungen des Ohres; Fremd-
körper und Neurosen; Erkrankungen des äußeren
Ohres; akute Otitis media; chronische Otitis
med.; die ossalen Komplikationen der Mittelohr-
eiterungen; die intrakraniellen Komplikationen
der Mittelohreiterung; die Otosklerosis ; die Er-
krankungen des Labyrinths; Taubstummheit;
Mißbildungen des Gehörorgans; Prothesen und
Korrektionsapparate.
Was einzelne, aber nicht wesentliche thera-
peutische Vorschläge der Autoren betrifft, so
wird vielleicht mancher Ohrenarzt — wie übrigens
von den Autoren selbst erwähnt ist — eine ab-
weichende Stellung ihnen gegenüber einnehmen,
so z. B. in der Anwendung von Blutegeln bei
der Behandlung der Otitis med. acuta, ferner
im Gebrauch der intratympanalen Durchspülun-
gen bei chron. Otorrhöe, des Jodanstrichs des
Warzenfortsatzes bei Periostitis u. s. w. Aber das
sind eigentlich selbstverständliche Differenzen,
die auf keinem Gebiete der ärztlichen Praxis er-
klärlicher sind als auf dem noch immerhin
schwankenden Boden der Therapie der Ohren-
krankheiten.
Die einzelnen akademischen Vorträge sind
in klarem, fließendem Stil geschrieben, sie ent-
halten alles für den Studierenden und praktischen
Arzt Wissenswerte und Wesentliche in übersicht-
licher prägnanter Form und werden dem von
den Autoren intendierten Zweck in hervorragender
Weise zu dienen imstande sein.
Die ganze Ausstattung des Buches ist
tadellos. l. Kate (Berlin).
Die Verletzungen des Gehörorgans. Von Geh.
Medizinalrat Prof. Dr. A. Passow, Wiesbaden.
Verlag von J. F. Bergmann, 1905.
Das mit großer Sorgfalt, Objektivität und
Sachkenntnis verfaßte Werk, das mit reichen
Literaturangaben versehen ist, hat folgenden
442
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
trherapeatiache
Monatsheft«.
Inhalt, der in 11 Kapiteln niedergelegt ist.
1. Verletzungen der Ohrmuschel. 2. Othämatom
und Perichondriti8 der Ohrmuschel. 3. Ver-
letzungen des äußeren Gehörgangs. 4. Verletzun-
gen des Trommelfells. 5. Verletzungen der
Paukenhöhle. 6. Fremdkörper im Ohr. 7. Ver-
letzungen der Tuba Eustachii. 8. Verletzungen
des Warzenfortsatzes. 9. Verletzungen des schall-
«mpfindenden Apparats. 10. Hysterie und trau-
matische Neurosen. 11. Begutachtungen.
Den Wert dieses vom praktischen und theo-
retischen Standpunkte sehr beachtenswerten
Werkes erhöht die Tatsache, daß der Autor,
auf eigenen reichen Erfahrungen fußend, seine
Deduktionen und therapeutischen Vorschlage in
prägnanter und klarer Weise niedergelegt hat.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß es jedem
Ohrenarzt, speziell auch bei Begutachtungen und
forensischen Angelegenheiten, eine willkommene
Fundgrube in vorkommenden Fällen gewähren
wird. Die Ausstattung des Werkes entspricht
Tollkommen dem wohlrenommierten Verlage.
L. Katz (Berlin).
Kursus der Zahnheilkunde. Ein Hilfsbuch für
Studierende und Zahnärzte. Von K. Cohn.
Dritte vollständig umgearbeitete und vermehrte
Auflage.
Der Verfasser ist in jeder neuen Auflage
seines Hilfsbuches bestrebt, die Klarheit der
Darstellung und die Anordnung des Stoffes zu
verbessern. Mit der 3. Auflage ist er hiermit
wieder ein gutes Stück weitergekommen. Er
vergißt jedoch auch nicht, die neuesten For-
schungen seinem Buche zugute kommen zu
lassen. So hat er die Verbesserungen der lokalen
Anästhesie bei Extraktionen und bei Auskratzung
des kariösen Dentins — Dentin anästhesie —
mittels Kokainadrenalin mit aufgenommen, ver-
meidet aber als vorsichtiger Praktiker allen
Überschwang dabei und macht auch auf ihre
Schattenseiten aufmerksam. Ebenso bringt er
die neuesten Forschungen Müllers über Immuni-
tät gegen Carieä der Zähne und all die anderen
neuen Forschungen und Errungenschaften seit
Erscheinen der zweiten Auflage, sei es auf dem
Gebiet der Arzneimittel, sei es auf dem histo-
logischen oder pathologischen Gebiet der Zähne
und des Mundes. Nur wünschte ich, daß z. B.
das Kapitel über Zahnbein, als ein für den an-
gehenden Zahnarzt sehr wichtiges, etwas aus-
führlicher und mit weitergehender Darlegung
der neueren Forschungen behandelt wäre. Auch
möchte ich gegen eine Stelle des Buches Ein-
spruch erheben, in welcher der Verfasser von
der Herbstschen Methode bei der Behandlung
der abgeätzten Pulpa spricht und sie als
aseptische bezeichnet. Das Herb st sehe Ver-
fahren ist alles andere als ein der Asepsis ent-
sprechendes. Diese Bezeichnung könnte nur
schwache Gemüter dazu verführen, diese Be-
handlungsmethode anzuwenden, was — auch
nach des Verfassers Ansicht — doch nicht zu
wünschen wäre. Frohmann (Berlin).
« Praktische Notizen
und
empfehlenswerte Arsnelfoi
teln.
Zur Verhütung der Nephritis bei Scharlach
empfiehlt Ziegler (Zentralbl. für Kinderheilk.,
1. Mai 190Ö) die ausschließliche Milchdiät. Seit
21 Jahren hat er dieselbe in einem Waisen-
hause bei 231 Scharlachfallen in Anwendung ge-
bracht. Während vorher 50 Proz. Nierenentzün-
dungen vorkamen, blieben unter diesen Fällen
alle Kinder frei von Nephritis, dagegen er-
krankten unter 10 Kindern, die nicht mit Milch-
diät behandelt wurden, 9 an Nephritis.
Gegen Ohrensausen infolge Tubenkatarrh (akut
und chronisch)
hat Dr. Naegeli-Akerblom in Genf (nach per-
sönlicher Mitteilung) in den letzten Jahren häufig
mit Erfolg Tinctura Cimifugae rasemosae 10 bis
20 Tropfen in Wasser 3 mal täglich nach dem
Essen in Anwendung gebracht.
Die Verwendung des Rapldtamponators Ton
Even* und Pistor (Kassel)
empfehlen L. Haas und A. Hinsch (Medizinische
Klinik 1905, No. 17) zur Einleitung der künst-
lichen Fehlgeburt.
Nach Erweiterung der Cervix mit Heg a r sehen
Sonden wird der Tamponator bis zum Fundus
eingeführt und der ganze Uterus mit steriler
Jodoformgaze fest ausgestopft. Der Tamponator
besteht nämlich aus einer am oberen Ende leicht
gekrümmten Röhre, durch die die Jodoformgaze
durch einen oben gabelförmig auseinander-
gehenden Stab durch leicht stopfende Bewe-
gungen hindurchgeführt wird. Die Tamponade
gelingt leicht und vollkommen und ermöglicht
nicht nur eine sterile Tamponade, sondern auch
Abkürzung der ganzen Zeitdauer der Einleitung
der künstlichen Fehlgeburt.
Komitee zur Veranstaltung Ärztlicher Studien-
reisen.
Der Besuch der fünften Studienreise wird
sich, vorbehaltlich etwaiger notwendigen Ver-
änderungen, auf folgende Kurorte erstrecken:
Gmunden, Ebensee, Ischl, Aussee, Salzburg (mit
Ausflug auf den Schafberg), Reichenhall, Berchtes-
gaden, Hallein, Gastein, Zell a. See, Innsbruck,
Igis, Brennerbad, Gossensass, Levico, Roncegno,
Arco, Riva, Gardone, Bozen-Gries, Meran. Die
Reise beginnt in München am 10. Sept. und
endet in Meran am 23. Sept. Der Gesamtpreis
für die 14tägige Reise (freie Fahrt per Eisen-
bahn, Wagen und Dampfschiff, freies Quartier
und volle Verpflegung exkl. Getränke) einschließ-
lich des vom Komitee herausgegebenen offiziellen
Reiseberichts beträgt Mk. 250—. Die Fahr-
karten gelten bis zurück nach München. Nähere
Auskunft sowie ausführliches Programm erhältlich
vom Generalsekretär Hofrat Dr. W. H. Gilbert,
Baden-Baden. Letzter Anmeldetermin 20. August.
Für die Redaktion verantwortlich: Dr. A. Langgaard in Berlin 8W.
Verlag von JuliusSpringerin Berlin N. — Universitäts-Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francice) in Berlin N.
Therapeutische Monatshefte,
1905» September.
Originalabhandlnngen.
Die Behandlung* des Abortes In der
allgemeinen Praxis.
Von
Dr. F. Moebiiis, Frauenarzt in Braunschweig.
Zum Thema möchte ich zunächst be-
merken, daß es hier nicht meine Absicht
ist, auf Einzelheiten, insbesondere den
Mechanismus des Abortes, näher einzugehen.
Wer sich darüber orientieren will, den ver-
weise ich auf die ausgezeichnete Arbeit
Seil heims „Über Prinzipien und Gefahren
der Abortbehandlung a (Münchener medizin.
Wochenschrift 1902, .Nr. 10). Nur einige
kurze Bemerkungen grundsätzlicher Bedeu-
tung will ich vorausschicken.
Wenn man die stattliche Literatur über
Abortbehandlung, insbesondere aber die mo-
dernen Lehrbücher der Geburtshilfe, durch-
sieht, so drängt sich unwillkürlich der Ge-
danke auf, daß den Verhältnissen der allge-
meinen, insbesondere der Landpraxis, zu
wenig Rechnung getragen wird. Als einzig
rationelle, gleichsam physiologische Behand-
lung der Fehlgeburt erkenne auch ich ein
möglichst abwartendes Verhalten rückhaltlos
an, glaube aber, daß dieses sich ohne
Gefahr für die Patientin nur in einer Klinik,
wo jeden Augenblick ärztliche Hilfe zur
Verfugung steht und eine sorgfältige Be-
obachtung allein möglich ist, durchführen
läßt; in der Privatpraxis stellen sich der
rein abwartenden Behandlung große Schwierig-
keiten entgegen, in erster Linie die Blutung,
deren Stärke im einzelnen Falle völlig
unberechenbar ist. Hier ist meiner Meinung
nach eine möglichst schnelle und vollständige
Entleerung des Uterus das gegebene Ver-
fahren. Die Frage ist nur: Wie können
wir dieses Verfahren zu einem für die
Kranken möglichst schonenden und gefahr-
losen gestalten? Vorausschicken will ich nur,
daß ich jede instrum enteile Behandlung,
sei es mit der Kürette, Abortzange o. dergl.
grundsätzlich verwerfe. Die Gründe dafür
sind anderen. Ortes sattsam erörtert, so daß
ich hier nicht . weiter darauf einzugehen
brauche. In folgendem will ich nun kurz
Th. M. 1906.
ein Verfahren erörtern, wie es sich mir in
einer stattlichen Anzahl von Fällen stets
bewährt hat und meiner Ansicht nach den
Ansprüchen der allgemeinen Praxis am besten
gerecht wird.
Wenn die Weite des Muttermundes resp.
des Cervikalkanales das Eingehen mit dem
Finger gestattet, zögere ich nicht, die digitale
Ausräumung sofort vorzunehmen. Ist der
Muttermund für zwei oder mehrere Finger
durchgängig, so braucht man im allgemeinen
nicht auf größere Schwierigkeiten gefaßt zu
sein. Die gelösten Massen lassen sich leicht
durch den Muttermund nach außen befördern.
Ist der letztere dagegen nur gerade für
einen Finger durchgängig, so kann die Aus-
räumung außerordentlich schwierig sein und
ich gebe Nassauer ohne weiteres zu, daß
diese Abortbehandlung bisweilen eine der
technisch schwierigsten von allen geburtshilf-'
liehen Operationen ist. Wenn Nassauer
(Münch. med. Wochenschr. 1903, Nr. 38)
aber für diese Fälle wieder ein neues
Instrument, eine „modifizierte Abortuszangett
angibt, so fordert das den schärfsten Wider-
spruch heraus. Wenn Nassauer geduldig
noch einmal tamponiert, so wird es, um
seine eigenen Worte zu gebrauchen, sicher-
lich eine wahre Freude für ihn sein, wenn
er nach zwei oder auch drei Tagen die
komplette Frucht hinter der Tamponade
vorfindet oder der Muttermund nunmehr ein»
Eingehen mit zwei oder drei Fingern bequem*
gestattet, Wozu also das neue Instrument?
Die Schwierigkeiten der Ausräumung mit
einem Finger vorher zu übersehen, ist
Sache der Erfahrung; wem die Ausräumung
im einzelnen Falle zu schwierig erscheint,
möge ruhig noch einmal in der unten be-
schriebenen Weise tamponieren. Übrigens
liegt nach meiner Erfahrung in vielen Fällen
nicht so sehr in der Abschäl ung der Pla-
centarmassen die Schwierigkeit als vielmehr
in der Herausbeförderung der gelösten
Massen aus dem Muttermunde, da sie immer
wieder dem Finger entgleiten. Da ist die
nachfolgende Uterusausspülung, die ich grund-
sätzlich in jedem Falle vornehme, von un-
33
444
Moebiua, Behandlung dM Abortes in der allgemeinen Praxis.
fTharapeatiMh«
L Monatshefte.
schätzbarem Werte, die gelösten Massen
werden mit einem kräftigeren Strahle (natür-
lich unter Vermeidung von Lufteintritt) in
den meisten Fällen einfach herausgeschwemmt.
Zur Ausspülung bediene ich mich eines ein-
fachen Zinnrohres.
Was die Technik der Ausräumung selbst
betrifft, so empfiehlt es sich jedenfalls, die ein-
mal in das Cavum eingeführten Finger möglichst
nicht eher zu entfernen, als bis alles gelöst ist.
Ist es trotzdem notwendig, die Finger zu
entfernen, müssen sie unbedingt inzwischen
in einer desinfizierenden Flüssigkeit abgespült
werden. Auch halte ich vor Beginn der
Ausräumung, abgesehen von der selbstver-
ständlichen Reinigung der äußeren Genitalien,
eine gründliche Ausspülung der Scheide für
absolut notwendig.
Auf die gründliche Entleerung antwortet
der Uterus sofort mit einer kräftigen Kon-
traktion, so daß in vielen Fällen der innere
Muttermund sich sofort fest zusammenschließt.
Ein weiteres Kriterium, auf das ich großen
Wert lege, ist die Beschaffenheit der zurück-
laufenden Spülflüssigkeit. Ist letztere klar,
nicht mehr blutig gefärbt, kann man in den
meisten Fällen darauf rechnen, daß die Ent-
leerung des Uterus vollständig ist.
Wie verhalten wir uns nun, wenn der
Muttermund nur wenig eröffnet ist? Hier
ist die feste Tamponade und zwar des
Cervikalkanals und wenn möglich des ganzen
Uteruscavum8 das gegebene Verfahren. Die
Scheidentamponade allein hat verschiedene
Nachteile: sie löst nur mangelhaft Wehen
aus und unter Umständen blutet es durch.
Der eine Vorteil, daß ein Betreten der
Uterushöhle nicht stattfindet und damit die
Gefahr der Infektion nicht näher gerückt
wird, wiegt die oben erwähnten Nachteile
nicht auf. Als Tamponmaterial benutze ich
ausschließlich die Dührssensche Büchse
Nr. 2. Dieselbe enthält einen 5 cm und
einen 3 cm breiten Jodoformgazestreifen;
der letztere läßt sich unter allen Umständen
einführen, während manchmal das höhere
Einführen eines 5 cm breiten Streifens auf
Schwierigkeiten stößt, sobald der Mutter-
mund nur wenig eröffnet ist.
Das Abortinstrumentarium besteht nur aus
zwei Kugelzangen, einem mittelgroßen
Sims sehen Speculum, einem Zinnrohr mitt-
leren Kalibers, einer Dührssenschen langen
Tamponpinzette und einem Fritsch-Boze-
m an sehen Katheter. Die Tamponade wird
entweder auf dem Querbett oder auf einem
Tische vorgenommen, wobei sich die Patientin
eventuell selbst leicht die Beine in Stein-
schnittlage die wenigen Minuten halten
kann. Nach gründlicher Desinfektion der
äußeren Genitalien und der Scheide (eine
vorhergehende Uterusausspülung halte ich
bei nicht fieberndem Abort für überflüssig)
wird unter Leitung zweier Finger der linken
Hand die vordere Muttermundslippe mit
einer oder zwei Kugelzangen angehakt, die
Portio herabgezogen und der hintere Sims
eingesetzt. Die Tamponbüchse kann man
bequem zwischen den Knien selbst halten,
es ist dazu keine weitere Assistenz nötig,
auch das hintere Speculum hält sich selbst.
Nunmehr wird der 3 cm breite, oder wenn
der Muttermund es gestattet, der 5 cm
breite Streifen möglichst hoch hinauf einge-
führt und das Uteruscavum, zum wenigsten
aber der Cervikalkanal so fest wie möglich
ausgestopft. Ich halte es für besser, wenn
das Cavum mit dem 3 cm breiten, als wenn
nur die Cervix mit dem 5 cm breiten
Streifen ausgestopft ist. Die Scheide wird
mit der in der Büchse befindlichen Salizyl-
watte tamponiert. Diese Tamponade kann
man bis zu 48 Stunden, natürlich unter
sorgfältiger Beobachtung der Temperatur,
ruhig liegen lassen. • Dann ist in der Regel
entweder das Ei in die Scheide oder den
Cervikalkanal mit der Tamponade geboren
oder der Muttermund so weit geöffnet, daß er
das Eingehen mit einem oder mehreren
Fingern und die digitale Ausräumung ge-
stattet. Nur ausnahmsweise wird eine noch-
malige Tamponade erforderlich sein.
Die eben beschriebene Art der Tampo-
nade bietet jedenfalls eine fast absolute
Sicherheit gegen die Blutung. Die Ent-
fernung der Gaze bereits nach kürzerer Zeit als
24 Stunden dürfte sich nur empfehlen,
wenn das Einsetzen sehr kräftiger Wehen
eine schnellere Erweiterung des Mutter-
mundes erwarten läßt. Doch kommen hier
leicht Täuschungen vor, da sich bei Fehl-
geburten in den ersten Monaten objektiv die
Wehentätigkeit nicht beurteilen läßt, und
man somit lediglich auf die subjektiven An-
gaben der Patientin angewiesen ist.
Noch einige Worte zur Anwendung des
Kolpeurynters resp. Metreurynters bei Abort.
Ich habe denselben in einigen Fällen ange-
wandt, halte ihn aber im allgemeinen nicht
für zweckmäßig. Es kann hier natürlich
auch nur eine intrauterine Anwendung, d. h.
eine Metreuryse in Frage kommen. Die
Handhabung des Kolpeurynters bringt über-
haupt manche Unbequemlichkeiten mit sich;
man muß immer eine größere Anzahl vor-
rätig haben, da sie leicht brüchig werden
und leicht zerreißen, die Sterilisierung durch
Auskochen vertragen sie schlecht, zur Füllung
muß man eine besondere Spritze bei sich
fuhren usw. Vor allem aber ist bei wenig
XIX Jahrgang. 1
B«pfmb«r 1905.J
Goldstein, 8tugUBgMterbUolikeit io FnqJUb.
445
eröffnetem Muttermund die Einführung eines
Kolpeurynters überhaupt unmöglich; gestattet
die Weite des Cervik alkanal es die Ein-
fuhrung, so ergeben sich im weiteren Ver-
lauf verschiedene Nachteile. Insbesondere
stellen wir an die Tätigkeit des Uterus-
muskels unverhältnismäßig große Ansprüche:
die ausgelosten Wehen sind häufig äußerst
schmerzhaft, so daß die Patienten manchmal
äußern, sie würden lieber die Schmerzen
einer rechtzeitigen Geburt auf sich nehmen.
Weiterhin vermißt man bei der Verwendung
des Kolpeurynters einen Faktor, den ich bei
Behandlung des Abortes, zumal des fiebernden,
nicht missen mochte: die drainierende
Eigenschaft, die der Gaze in hervorragendem
Maße zukommt und die beim fiebernden
Abort von nicht zu unterschätzendem Wert
ist. Die Gaze saugt das Wundsekret auf,
durch den Gegendruck des Kolpeurynters
dagegen wird während der Wehe das
infektiöse Material in die eröffneten Lymph-
und Blutbahnen geradezu hineingepreßt. Ob
bei Anwendung des Kolpeurynters durch
den erzeugten Gegendruck während der
Wehe Blut durch die Tuben hindurch in die
Bauchhöhle gepreßt werden und so zur Ent-
stehung einer Hämatocele Veranlassung
geben kann, lasse ich dahingestellt, theore-
tisch ist diese Möglichkeit jedenfalls nicht
von vornherein von der Hand zu weisen.
Alles in allem genommen glaube ich nicht,
daß die Nachteile des Kolpeurynters durch
den einen Vorteil, die schnellere Erweiterung
des Cervikalkanales, aufgewogen werden
können.
Auf Einzelheiten in der Behandlung des
fiebernden Abortes will ich hier nicht
näher eingehen; sie deckt sich im allge-
meinen mit den im Vorhergehenden ent-
wickelten Grundsätzen. Jede instrum enteile
Behandlung, Kürettage etc. ist streng zu
verwerfen. Je schonender die Behandlung,
um so besser sind auch hier die Resultate.
Zur Säuglingssterblichkeit in Preußen.
Von
Dr. Ferdinand Qoldsteln, prakt. Arzt in Berlin.
Der vom Statistischen Bureau veröffent-
lichte „Rückblick auf die Entwicklung der
preußischen Bevölkerung von 1875 bis 1900"
enthält reiche Belehrung über die Vitalität
unseres Volkes. Im folgenden will ich einige
Fragen der Säuglingssterblichkeit behandeln.
Die Sterblichkeit der gesamten Bevölkerung
ist in Preußen dauernd zurückgegangen, sie be-
trug auf 1000 Lebende 1876/80 27,2, 1881/85
27,0, 1886/90 25,6, 1891/95 24,2, 1896
bis 1900 22,3, aber der Rückgang war in
Stadt und Land nicht gleichmäßig. Es
starben nämlich von 1000 Lebenden durch-
schnittlich jährlich:
lt|l
In den Städten . . .
In d. Landgemeinden
und Gutsbezirken
s
3
8
S
i
S
!
I
29,027,8 25,7 24,1
22,2
26,5
26,5 25,4
24,3
22,4
— 6,8
-4,1
Der Rückgang der Sterblichkeit war also
in den Städten bedeutender als in den Land-
gemeinden und Gutsbezirken , in ersteren
sank die Ziffer um 6,8, in letzteren um 4,1,
und während von 1875 bis 1890 die Sterb-
lichkeit in den Städten bedeutender war als
auf dem Lande, war seit 1891 das Ver-
hältnis umgekehrt.
Die allgemeine Sterbeziffer wird in hohem
Grade von der Säuglingssterblichkeit beein-
flußt, denn die Säuglinge machen '/s a^er
Gestorbenen aus. Es wird daher zu unter-
suchen sein, wie sich die Säuglingssterblich-
keit in Stadt und Land verhält. Darüber
geben die folgenden beiden Übersichten Auf-
schluß. Von 1000 Lebendgeborenen im
Alter bis zu 1 Jahr starben durchschnittlich
jährlich
s
8
s
s
§
»*
00
00
~4
1
1
I
Bei den ehelichen Kindern.
Im ganzen Staat . .
In Berlin
In den übrigen Groß-
städten ....
In allen Städten .
Auf dem Lande
191,91194,6
271,2I253,9
229,7 237,4
211,3 211,4
183,4185,7
195,1
241,2
192,5
217,6
219,5 214,9
210,1202,6
186,8|l86,7
Bei den unehelichen Kindern.
Im ganzen Staat . .
In Berlin
In den übrigen Groß-
städten ....
In allen Städten .
Auf dem Lande
348,91351,2358,1
476,8 487,4413,1
404,2
403,1
407,7
398,3
311,6318,5
389,7
394,8
331,8
358,5
897,3
387,0
385.2
336,0
188,7
191,2.
201,9
194,8
185,1
353,9
367,4
379,1
373,9
335,9
Hieraus ist zu ersehen, daß die Sterbe-
ziffer bei den ehelichen Kindern des Staats
bis zum Jahre 1890 stieg, dann aber um
6,4 sank. Dieses Sinken ist ausschließlich
der Verminderung der Säuglingssterblichkeit
in den Städten zu verdanken, denn auf dem
Lande ist letztere seit 1880/85 fast völlig
unverändert geblieben. Bei den unehelichen
Kindern dagegen ist die Sterblichkeitsziffer
im ganzen Staat von 348,9 auf 353,9 ge-
stiegen, und diese Steigerung ist aus-
446
Goldttein, SftuglingMterbllobkelt in Preußen.
pTherftpmtl
L Monatihe
. ntbcha
Monatsheft«.
schließlich durch vermehrte Hinfälligkeit der
unehelichen Kinder auf dem Lande verur-
sacht, denn in allen Städten ist ihre Sterb-
lichkeit beträchtlich gesunken. In allen
Jahren aber war die Säuglingssterblichkeit
auf dem Lande geringer als in der Stadt,
doch die Zahlen nähern sich einander und haben
sich bei den ehelichen Kindern im Jahre 1902
bereits erreicht; nach dem Statistischen Jahr-
buch für den Preußischen Staat starben im
Jahre 1902 von 1000 ehelich lebendgeborenen
Kindern in den Städten und auf dem Lande
je 162.
Als wahrscheinliche Ursache für die
größere Hinfälligkeit der städtischen Säug-
linge gegenüber den ländlichen nimmt das
Statistische Bureau die auf dem Lande weiter
als in der Stadt verbreitete Sitte an, die
Säuglinge mit Muttermilch zu ernähren. Ob
das die einzige Ursache ist, kann dahin-
gestellt bleiben, sicher aber ist es ein sehr
wichtiger Grund, und aus derselben bei den
unehelichen Säuglingen auf dem Lande immer
mehr abnehmenden Sitte erklärt sich auch
ihre zunehmende Sterblichkeit. Außereheliche
Mütter gehen mehr und mehr vom Lande in
die Städte und verdingen sich als Ammen.
Dadurch erhalten einerseits weniger unehe-
liche Säuglinge auf dem Lande die mütter-
liche Brust, anderseits können in den Städten
mehr Säuglinge mit Frauenmilch genährt
werden. Dadurch verschlechtern sich für die
unehelichen Säuglinge auf dem Lande die
Chancen, am Leben zu bleiben, während sie
sich für städtische Säuglinge verbessern.
Jedoch liegt hierin nicht oder doch nur zum
geringsten Teil der Grund für die Verbesserung
der Säuglingssterblichkeit in der Stadt und ihre
Unveränderlichkeit auf dem Lande, der Haupt-
grund liegt vielmehr in der Abnahme der
Geburten in den Städten und ihrer numeri-
schen Konstanz auf dem Lande. Das Sta-
tistische Bureau stellt diesen Zusammenhang
in Abrede, es verweist auf die Jahre 1880,
1883, 1884, 1886, 1892, 1895, die bei
hoher Säuglingssterblichkeit keineswegs die
höchste Geburtsziffern aufweisen, und auf die
Jahre 1879, 1881, 1887, 1888, 1894, 1896,
1898 , die die niedrigste Säuglingssterblich-
keit, aber nicht die niedrigste Geburtsziffer
hatten. Diese Argumentation ist deswegen
nicht stichhaltig, weil die Jahresschwankun-
gen der Säuglingssterblichkeit sich ceteris
paribus nach den Temperaturen in den
Monaten Juli, August und in gewissem Grade
auch September richten. Diese drei Monate
raffen durch ihre Hitze die meisten Kinder
hin, und grade hierin liegt der Hauptgrund
für das zahlreiche Sterben der menschlichen
Säuglinge. Ist nun die Hitze eines Jahres
während dieser drei Monate höher, so sterben
mehr Säuglinge als in einem Jahr mit tieferer
Temperatur. Das Statistische Amt Berlins
stellt regelmäßig die Temperaturen mit der
Säuglingssterblichkeit zusammen; man kann
daraus den ziemlich vollständigen Parallelis-
mus zwischen Säuglingssterblichkeit und Tem-
peratur in den Monaten Juli, August, Sep-
tember ersehen. Analog verhalten sich natür-
lich auch die Säuglinge des Staats; ihre
Sterblichkeit wird ceteris paribus in einem
Jahre niedriger oder höher sein als in einem
anderen, je nachdem die mittlere Temperatur
der Monate Juli, August, September niedriger
oder höher ist. Um den Zusammenhang zu
erweisen, stelle ich im folgenden die Säug-
lingssterblichkeit in den von der Statistik
angezogenen Jahren mit den mittleren Tem-
peraturen derselben Jahre nach den Auf-
zeichnungen des Berliner Statistischen Amts
zusammen.
Jahr
Sterblichkeit*-
Kiffer
Mittlere Temperatur
im Juli, August,
September 1b Berlin
Jahre mit l
Loher Säugling
ssterblichkeit.
1880. . . .
217,1
■ 17,8°
1883. . . .
211,2
17,0°
1884. . . .
213,2
18,0°
1886 ....
225,3
17,5°
1892. . . .
211,3
18,0°
1895. . . .
211,6
18,2°
1900. . . .
212,5
17,9°
Jahre mit nie
adriger S&uglin
g88terblichkeit
1879. . . .
195,6
17,4°
1881 ....
199,3
16.8°
1887. . . .
199,4
16,6°
1888. .. .
198,2
15,7°
1894. . . .
195,7
16,5°
1896 ....
191,4
16.3°
1898. . . .
193,2
16,4°
Diese Zahlen lehren, daß regelmäßig in
den Jahren mit hoher Durch Schnittstemperatur
im Juli, August, September die Säuglingssterb-
lichkeit während des ganzen Jahres sich über
die Jahre erhob, in denen die Durch seh nitts-
temperatur in den drei kritischen Monaten
niedriger war. Eine Ausnahme macht nur
das Jahr 1879; hier war bei hoher Tem-
peratur (17,4°) die Säuglingssterblichkeit
niedrig, niedriger z. B. als im Jahre 1883,
in dem die kritische Temperatur niedriger
war (17,0°). Es ist mir bisher nicht mög-
lich gewesen, den Grund für diese Abweichung
von der Regel zu ermitteln. Jedenfalls ent-
halten die Zahlen die Mahnung, sich bei
Untersuchung der Säuglingssterblichkeit nicht
auf einzelne Jahre zu verlassen, sondern den
Durchschnitt mehrerer zu nehmen, damit
sich die durch Temperaturschwankungen her-
vorgerufenen Unebenheiten ausgleichen.
XIX. Jahrgang- 1
8«pfmb«r 1906.1
Goldtteln, Bftugttngiiterblichkelt In Preufton.
447
Es ist klar, daß eine kinderreiche Familie
weniger für ein einzelnes Kind sorgen kann
als eine kinderarme, denn das Einkommen
der Eltern verteilt sich auf -mehr Köpfe.
Außerdem aber verengt sich der Raum der
Wohnung. Das ist bei den mangelhaften
Wohnungen ärmerer Familien von größter
Bedeutung. Ihre Wohnung besteht meist
aus Stube und Küche, und wenn diese von
viel Insassen eingenommen werden, so ver-
schlechtert sich namentlich zur Nachtzeit die
Luft und wirkt direkt oder indirekt schädigend
auf den Säugling ; ist insbesondere die Tempera-
tur hoch, so wird der schädigende Einfluß noch
großer. Wie wir gesehen haben, vermindert
sich in den Städten die Säuglingssterblichkeit,
während sie auf dem Lande stationär bleibt.
Wie verhält sich dazu die Natalität? Darauf
gibt die folgende Übersicht Antwort. Es
kamen auf 1000 Einwohner
Geborene in den Jahren
In den Großstädten .
In den Mittelstädten
In den Kleinstädten
In den Städten über-
haupt
Auf d. platten Lande
1880
1890
40,4:85,8 33,0
39,7
37,7
38,6
40,4
1900
1900 weniger alt
1880
36,9 37,2
35,7 34,2
36,0 j 34,8
39,5 I 39,5
-7,4
-2,5
— 3,5
— 3,8
-0,9
Auf dem Lande ist also die Geburts-
ziffer in den Jahren 1880—1900 fast un-
verändert geblieben, in den Städten dagegen
ist sie zurückgegangen, und zwar am meisten
in den Großstädten, in denen auch die Säug-
lingssterblichkeit während desselben Zeit-
abschnitts am meisten gesunken ist. Der
Zusammenhang wird noch klarer werden,
wenn man die allgemeine Geburtenziffer in
den Städten, also ohne Unterscheidung der
ehelichen und unehelichen Kinder, mit der
Säuglingssterblichkeit in ihnen zusammen-
stellt. Die Höhe der Geburtenziffer in den
preußischen Städten war
1876/80 1881/85 1886/90 1891/95 1896/1900
40,9 37,6 36,8 35,8 35,2
und die der Säuglingssterblichkeit
231,3 228,8 226,9 219,1 211,3
Auf dem Lande läßt sich der Zusammen-
hang zwar auch bis zu einem gewissen Grade
nachweisen, er ist aber nicht so unbedingt
wie in den Städten.
Man ist heute geneigt, die Abnahme der
Säuglingssterblichkeit vor allem sozialer Für-
sorge zuzuschreiben. Indessen, wenn auch ihr
Einfluß nicht völlig in Abrede gestellt werden
soll, so darf man ihn auch nicht über-
schätzen. Wirksame soziale Verbesserungen
für den Säugling müssen die Verbesserung der
Lage der Eltern zum Ziele haben, aber die
heutige Säuglingsfürsorge besteht fast nur in
Milchverbesserung. Da die Zahl der Kinder,
die mit Tiermilch ernährt werden, dauernd be-
trächtlich steigt, so sorgt man für gute Milch,
in der Hoffnung, dadurch die schlimmste
Eindergeißel, den Brechdurchfall, bekämpfen
zu können. Diese Bestrebungen haben
keinen Erfolg gehabt. Schon aus der
May et sehen Arbeit „25 Jahre Todesursachen-
Statistik*41) ist zu ersehen, daß in den Ort-
schaften mit über 15 000 Einwohnern in
Deutschland die Sterblichkeit an Brech-
durchfall zugenommen hat. In Preußen
starben von 10 000 Säuglingen an Atrophie,
Brechdurchfall, Durchfall und Krämpfen,
deren Ursache auch meistens Verdauungs-
störungen sind
1886/90 1891/95
1468,77 1218,06 1483,15 1220,10
1896/1900
1480,45 1214,70
In derselben Zeit also, in der die Säug-
lingssterblichkeit im allgemeinen gesunken
ist, ist die an Verdauungsstörungen ziem-
lich ud verändert geblieben.
Der Rückgang der Geburtenzahl in den
Städten muß den Rückgang der Geburten-
zahl und dementsprechend den der Säuglings-
sterblichkeit im ganzen Staat nach sich
ziehen. Die Zunahme der Bevölkerung voll-
zieht sich ganz vorwiegend zugunsten der
Städte. Den Grund für das starke Anwachsen
der Städte trotz ihrer geringen Geburtszahl
und die langsame Vermehrung der Bevölke-
rung auf dem Lande, ja ihre Abnahme im
Reich, habe ich an anderer Stelle nachge-
wiesen. Die Städte wachsen in erster Linie
durch Zuwanderung vom Lande. Diese Wan-
derung erfolgt nicht aus Genußsucht des
Landvolks, Überschuldung der Bauern, Zu-
nahme des Großgrundbesitzes und was man
sonst für die sogenannte „Landflucht" an-
geführt hat, sondern weil auf dem Lande
mehr menschliche Arbeitskraft erzeugt als
gebraucht wird, in der Stadt dagegen weniger.
In der Landwirtschaft bleibt die zu leistende
Arbeit annähernd Jahr für Jahr sich gleich
und demzufolge auch die Zahl der ver-
langten menschlichen Arbeiter, ja die letztere
vermindert sich mit der Ausdehnung des
maschinellen Betriebes, in der Stadt dagegen
erhöht sich von Jahr zu Jahr mit Aus-
') Vierteljahreshefte zur Statistik des Deutschen
Reiches 1903. 111.
448
Ooltfst«in, 8iugUnf«*t«rtoliohk«it fo PrauOcn.
dehnung der Industrie die Nachfrage nach
Arbeitern. Da nun aber die Fruchtbarkeit der
Menschen auf dem Lande großer ist als die
benötigte Arbeiterzahl, so muß alljährlich
der Überschuß abwandern und er wendet
sich, von der verhältnismäßig geringen Aus-
wanderung abgesehen, in die Städte, in denen
die Fruchtbarkeit wesentlich geringer ist als
der Arbeiterbedarf. Durch diesen mit Regel-
mäßigkeit Jahr für Jahr verlaufenden Prozeß
wird die Bevölkerung mehr und mehr städtisch.
In Preußen entfielen 1871 8014225 Personen
auf die Stadt und 16625481 auf das Land,
im Jahre 1900 aber kamen auf die Stadt
14847846 Personen, auf das Land 19624663.
Wie hier die Freizügigkeit gewirkt hat, lehrt
ein Blick auf frühere Jahre. Im Jahre 1819
betrug die städtische Bevölkerung in Preußen
3034064, die ländliche 7947870; im Jahre
1840 betrug die städtische Bevölkerung
4 065 164, die ländliche 10 863 337. Die
Städte konnten in ' diesem Zeitraum infolge
fehlender Freizügigkeit nur aus eigener
Fruchtbarkeit wachsen. Daher vermehrten
ihre Bevölkerung von 3,0 nur auf
sie
4,0 Millionen oder jährlich um 13,8 °/oo,
während von 1880 bis 1900 die städtische
Bevölkerung von 9,7 auf 14,8 Millionen
stieg, also jährlich um 21,3 °/oo zunahm.
Nimmt man jedoch die Großstädte allein, in
die sich ja hauptsächlich der Wanderungs-
strom ergießt, so ist deren Bevölkerung in
denselben 20 Jahren von 3,1 auf 5,8 Millionen
gestiegen, ihre jährliche Zunahme betrug also
31,8 °/oo* Infolge der Industrie in den Städten
und der bestehenden Freizügigkeit wird also
die Bevölkerung Preußens immer mehr
städtisch, und da in den Städten die Geburts-
ziffer sich vermindert, muß sie sich auch im
ganzen Staat vermindern, mit dieser ist aber
wieder die Abnahme der Säuglingssterblich-
keit verbunden.
In manchen Kreisen erregt das Abnehmen
der Geburtszahl in Preußen Beunruhigung,
aber, wie das Statistische Bureau hervorhebt,
liegt hierzu keine Veranlassung vor, da da-
mit eine Verminderung der Mortalität Hand
in Hand geht, ja letztere schreitet sogar
noch schneller vorwärts als die erstere, und
die Folge davon ist, daß heute die natür-
liche Vermehrung der Bevölkerung, d. h. der
Überschuß der Geborenen über die Ge-
storbenen, größer ist als in allen früheren
Zeitabschnitten. Die natürliche Bevölkerungs-
vermehrung betrug nämlich aufs Tausend der
Anfangsbevölkerung berechnet durchschnitt-
lich jährlich: 1867/71 9,4, 1871/75 12,7,
1875/80 13,9, 1880/85 12,0, 1885/90 13,4,
1890/95 14,3, 1895/1900 15,7. Der Rück-
gang der Geburtszahl, verbunden mit Rück-
rTherapeutiscfca
gang der Mortalität, insbesondere der Säug-
lingsmortalität, bewirkt also keine Abnahme
der Volksvermehrung, sondern grade das
Gegenteil.
Meine Untersuchung hat also ergeben,
daß mit dem Städtischwerden der preußischen
Bevölkerung die Geburtszahl abnimmt, daß
damit eine Verminderung der Säuglings*
Sterblichkeit verbunden ist, und daß haupt-
sächlich durch diese eine Verminderung der
gesamten Sterblichkeit bewirkt wird, daß
letztere bis 1900 noch schnellere Fortschritte
gemacht hat als die Geburtenabnahme, und
daß dadurch die natürliche Volksvermehrung
gestiegen ist.
Über die Desinfektion der Hftnde
nach Fürtaringer und die wichtigsten
Operationen in der geburtshilflichen
Praxis, auf Grund von 270 beobachteten
Fallen besprochen.
Von
Dr. med. Willy Krause,
praktischem Arxt in Strasburg (Westpreufiea).
{8eMuf*J
Ich gehe nunmehr auf die künstlichen
Entbindungen ein, welche hauptsächlich für
die Statistik einigen Wert haben dürften, und
beginne mit den Zangengeburten.
a) Zange im Beckenausgang. Im ganzen
51 Fälle, davon:
Kinder Mfltter
lebend ... 47 48
tot .... 4 3
Summa 51
51
In 2 Fällen war das Band wegen vor-
gefallener Nabelschnur bereits tot, in einem
andern Falle hatte das Kind schon 12 Stunden
im Beckenausgang gestanden, war bereits ab-
gestorben und hätte sicher gerettet werden
können, wenn die Hebamme früher geschickt
hätte. Bas lange Warten kostete nicht nur
dem Kinde, sondern auch der Mutter das
Leben ; bei meiner Ankunft waren die Scham-
teile ganz blaurot verschwollen, und eine
Venenentzündung am linken Oberschenkel
mit todlichen Metastasen in den Lungen war
die traurige Folge. Ferner starb eine Patientin
zwei Meilen von der Stadt; sie hatte keine
Hebamme; das Fruchtwasser war 3 Tage
fort, die Temperatur betrug bereits 39,0°
bei meiner Ankunft, und leider ist die
Wöchnerin einer tödlichen Peritonitis er-
legen. — Im dritten Falle handelte es sich
um einen hochgradigen Ascites mit akutem
Lungenödem während der Extraktion des
Kindes, sodaß Mutter und Kind während des
Geburtsaktes verschieden. Auf den Geburt*-
j
XIX. Jmhrgta*. 1
Septembw 1906. J
Kraus«, DMtnfektioa d«r Händo nach Furbringer.
449
akt als solchen sind daher zwei Todesfalle
infolge puerperaler Infektion zurückzuführen
und auch diese hätten meiner Ansicht nach
bei rechtzeitigem Eingreifen vermieden werden
können.
Die Zange im Beckenausgang wurde ent-
weder wegen Wehenschwäche resp. Nach-
laasens der Wehen angelegt oder wenn
wegen räumlicher Mißverhältnisse (z.B. ver-
hältnismäßig großer Kopf) trotz länger an-
haltender Preß wehen die erschöpfte Mutter m
nicht das Kind selbst ausstoßen konnte. Die
Narkose wurde nur dann eingeleitet, wenn
mir die Assistenz eines Kollegen zur Ver-
fügung stand. — Bezüglich der Komplika-
tionen ist zu erwähnen, daß zweimal die
fest verwachsene Placenta manuell entfernt
werden mußte, und einmal eine atonische
Nachblutung eintrat, welche die Tamponade
nach Dührssen notig machte. Zweimal kam
es zu einem Dammriß 2. Grades, welche, wie
oben geschildert, behandelt wurden. In allen
diesen Fällen hatte das Wochenbett einen
normalen, vollkommen fieberfreien Verlauf.
b) Bei schräg- resp. hochstehendem Kopf
wurde die Zange 9 mal angelegt. Jedesmal
wurde ein lebendes Kind entwickelt und
sämtliche Mütter blieben gesund. In 2 Fällen
gab es — es handelte sich um Primiparae —
einen Dammriß 2. Grades, und einmal wurde
wegen Atonia uteri die Tamponade gemacht.
Ich mache übrigens statt einer hohen
Zange lieber die Wendung und versuche die
erstere nur dann, wenn die letztere nicht,
mehr ausführbar ist. Ich hüte mich aber
bei hochstehendem Kopfe sehr vor über-
triebenen Traktionen und mache lieber, wenn
die Extraktion mit der Zange nicht in
schonender Form vor sich geht, die Per-
foration. Ich scheue mich auch nicht, ein
lebendes Kind zu perforieren, wenn ich sonst
nach meiner Überzeugung das Leben der
Mutter aufs Spiel setzen würde.
c) Bei Vorderscheitellage 2 Fälle:
Kind«r Mütter
lebend ... 2 2
tot ... . . 0 0^
Summa 2 2
In einem Falle (Primipara) ein Dammriß
2. Grades, in dem andern Falle Tamponade
infolge mangelhafter Kontraktion der Gebär-
mutter. Die Wochenbetten verliefen normal.
d) In Stirnlage habe ich die Zange zwei-
mal in Narkose angelegt. Das eine Kindchen
kam lebend, nur gab es in diesem Falle
einen Dammriß 2. Grades, derselbe heilte
per primam, das Wochenbett verlief normal.
— Im zweiten Falle hätte ich gern die
Perforation gemacht, war mir jedoch nicht
ganz sicher, ob das Kind tot war. Da die
Beckenverhältnisse sehr günstige waren und
es sich um die 5. Entbindung handelte, ver-
suchte ich deshalb die Zange. Das Kind
wurde leider tot geboren, ohne daß im
übrigen der Damm verletzt worden wäre.
Der Wöchnerin ging es sehr gut.
e) Gesichtslage, ein Fall mit nach vorn
gerichtetem Sann, Zange wegen Wehen-
schwäche. Das Kind kam lebend; die Mutter
hatte ein normales Wochenbett.
f) Bei Zwillingsschwangerschaft legte
ich die Zange zweimal im Beckenausgang
an. Beide Kinder kamen lebend; die Mütter
blieben gesund, trotzdem in einem Falle die
doppelte Placenta manuell gelöst und wegen
Atonia uteri tamponiert werden mußte.
Demnach wurde die Zange in Summa
67 mal angelegt; es wurden hierbei 62 Kinder
lebend, 5 tot entwickelt. Yon den Müttern
blieben 64 am Leben, S starben, und zwar
an Lungenödem 1, an puerperaler Infektion 2.
Diese beiden Todesfälle an Wochenbetts-
erkrankung sind jedoch weniger auf die Zange,
als — vergl. oben — auf die ungünstigen Be-
dingungen zurückzuführen, unter denen auf
dem Lande, einmal ohne Hebamme, die Ent-
bindung ausgeführt werden mußte.
Bei diesen 67 Zangengeburten kam ein
Dammriß 3. Grades nicht vor. Unter 53
Beckenendzangen kam ein Dammriß 2. Grades
2 mal (Primiparae) und unter 14 schweren
Zangen ein solcher 4 mal (3 mal Primiparae,
1 mal Multipara) vor, in Summa 6 mal.
In den übrigen 61 Fällen wurde ein
Dammriß glücklich vermieden resp. mit ein
bis zwei Nadeln geschlossen.
Die Wendung führte ich aus
a) auf die Füße mit nachfolgender Extraktion
1. bei Kopflage
wegen Wehenschwäche . . . 6 mal
wegen verengten Beckens . . 4 -
wegen Vorfalles der Hand . . 1 -
wegen Nabelschnurvorfalles . . 2 -
wegen Zwillingsschwangerschaft 5 -
wegen Gesichtslage .... 2 -
Summa 20 mal 20 mal
Hierbei wurden 18 Kinder lebend
und 2 Kinder tot geboren.
Die Mütter blieben sämtlich gesund.
2. bei Schräg- resp. Querlage
bei stehender Blase . . . . 15 mal
und abgeflossenem Fruchtwasser 25 -
(mit teilweisem Vorfall der
Nabelschnur resp. Armvorfall)
Summa 40 mal 40 mal
Hiervon wurden 30 Kinder lebend
und 10 Kinder tot geboren (darunter
1 Hydrocephalus).
Die Mütter blieben sämtlich gesund.
b) auf den Kopf bei Schräglage 1 mal
Summa 1 mal 1 mal
Mutter und Kind blieben leben.
Summa 61 mal
450
Desinfektion der Hände nach Pürbrlnf er.
rTher*peoÜ«ch«
L Monatsheft«.
Unter diesen 61 Fällen kam 1 Bammriß
2. Grades zu stände; die Placenta wurde
dreimal manuell, in einem Falle eine Neben-
placenta mit der Hand entfernt.
Die Sterblichkeit stellt sich bei der
Wendung auf die Füße für die Kinder wie
12 : 60 = 20 Proz.
Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß es
sich in einem Falle um einen Hydrocephalus
handelte und in mehreren andern infolge
vorgefallener Nabelschnur das Kind schon
vor der Operation abgestorben war.
Die Sterblichkeit für die Mütter stellte
sich trotz verschiedener Komplikationen (Pla-
centa adnexa!) auf 0 Proz.
Die Embryotomie habe ich im ganzen
2 mal ausgeführt, und zwar beide Male wegen
eingepreßter Schulter mit vorgefallenem Arm.
In dem ersten Falle, der sehr selten sein
dürfte, handelte es sich um ein lebendes
Zwillingskind, welches nach der Geburt des
ersten Kindes so plötzlich durch kolossal
stürmische Wehen in das Becken quer hinab-
getrieben wurde, daß ich zur Wendung zu
Spät kam. Ein Arm war bis an die Schulter
vorgefallen, und das Kind stand conduplicato
corpore fest eingeklemmt. Im Einverständnis
mit einem schnell hinzugerufenen Kollegen
beschloß ich, da die Wendung auch in der
Narkose unmöglich war, das Kind zu opfern.
Mit einem scherenförmigen Trepan wurden
mehrere Kippen durchtrennt und der Schnitt
mit einer Syboldschen Schere unter Deckung
der linken Hand erweitert. Nunmehr gelang
es verhältnismäßig leicht, die Brust- und einen
Teil der Baucheingeweide mit den Fingern
zu entfernen und das Kind an den Füßen zu
extrahieren. Der Wöchnerin ging es gut. —
Der andere Fall betraf ein totes Kind. Der
Arm lag vor und war' vom Muttermund ver-
hältnismäßig fest umschlungen. Das Becken
war stark verengt. Da der Arm bereits lange
Zeit vorlag, so war er so stark angeschwollen,
daß es nicht gelang, mit der Hand an dem-
selben vorbeizukommen, und mir nichts übrig
blieb, als, ebenfalls unter Assistenz eines
Kollegen, den Arm zu exartikulieren, was
ich mit einer Cooperschen Schere ausführte.
Nach Beseitigung dieses Hindernisses gelang
es mir leicht, an einen Fuß zu kommen, zu
wenden und die Frucht zu extrahieren, ob-
wohl die Entwickelung des Kopfes noch
einige Schwierigkeiten machte. Ich weiß
sehr wohl, daß ich mich mit der Ex-
artikulation des Armes abweichend von den
sonstigen Regeln verhalten habe; jedoch gibt
es eben in der Praxis gelegentlich Ausnahme-
fälle, die auch eine abweichende Behandlung
verlangen. Die Leichtigkeit, mit der nach der
Auslösung des Armes die Extraktion gelang,
das gute Allgemeinbefinden der Wöchnerin,
welche am 4. Tage aufstand und die Wirt-
schaft besorgte, sprechen jedenfalls für die
Richtigkeit der in diesem Falle eingeschlagenen
Therapie.
Die Perforation des Kopfes habe ich im
ganzen . 9 mal ausgeführt, und zwar am leben-
den Kinde 2 mal (1 mal wegen Hydrocephalus,
das andere mal wegen Stirnlage [im Einver-
ständnis mit einem Kollegen]), bei bereits ab-
gestorbenem Kinde 7 mal.
Von den 9 Wöchnerinnen starb eine wäh-
rend der Geburt, weil ein mächtiger Varix
am rechten Labium majus bei leichtem An-
drücken mit dem touchierenden Finger (nicht
etwa mit dem Perf Oratorium !) platzte und die
Frau verblutete, da es weder durch Tam-
ponade noch durch die Naht gelang, das
Lumen zu verschließen.
Eine zweite Wöchnerin starb 2 Tage post
partum an Lungenembolie (die Sektion wurde
zwar nicht gemacht, doch war die Wöchnerin
vollkommen munter und fiel, als sie sich
im Bette aufrichtete plötzlich in die Kissen
zurück und verschied).
Die andern 7 Wöchnerinnen machten ein
fieberfreies Wochenbett durch. —
Eine Dekapitation habe ich nicht aus-
geführt.
An Eclampsia parturientium habe ich
während dieser Zeit 4 Frauen behandelt.
In einem Falle handelte es sich um eine
verschleppte Geburt — 3 Meilen von meinem
Wohnort entfernt!
Da die Entbindung trotz langen Wartens
nicht vor sich ging und die Krämpfe an-
hielten, wurde schließlich ein hiesiger Kollege
gemeinsam mit mir requiriert. Bei unserer
Ankunft fieberte die Kreißende ziemlich hoch
und war infolge der schweren eklamp tischen
Anfälle stark erschöpft. Da der Kopf vorlag,
wurde trotz wenig erweitertem Muttermunde
das bereits tote Kind perforiert und, um den
Uterua zu entleeren, extrahiert. Zwar hörten
die Krämpfe auf, doch ging leider die Pa-
tientin trotzdem einige Wochen später ein.
In einem zweiten Falle handelte es sich
um eine Gravida im VI. Monat auf dem
Lande. Da ich mit dem Finger durch die
fast verstrichene Cervix an die Fruchtblase
gelangen konnte, sprengte ich dieselbe, und
nunmehr erfolgten sehr schnell Wehen und
ein rascher Verlauf des Abortes. Die Krämpfe
ließen nach und die Wöchnerin wurde schnell
gesund.
In einem dritten Falle bestand so hoch-
gradiger Ascites und so starke Ödeme, daß
fast Erstickung infolge Stauungserscheinungen
in den Lungen eintrat. Die Wehen waren
ungemein spärlich und fast wirkungslos, so-
XIX. Jahrgang. "I
September 1905.J
Krause, Desinfektion der Hinda nach PQrbrlnger.
451
daß die Entbindung bei wenig erweitertem
Muttermunde vorgenommen werden mußte.
Unter sehr vorsichtiger Chloroformnarkose,
welche ein Kollege übernommen hatte, machte
ich die Wendung und extrahierte Zwillinge,
von denen einer 12 Stunden post partum starb,
während der andere noch lebt. Die Nach-
geburt mußte manuell gelost werden. — Die
Krämpfe ließen nach, und das Wochenbett
verlief normal.
In dem 4. Falle waren so heftige eklamp-
tische Anfälle, daß ich bereits alles zur
Wendung vorbereitet hatte: da traten jedoch
so energische Wehen ein, daß die Geburt
spontan in kurzer Zeit erfolgte. Gegen
den Anfall selbst wurde jedesmal tiefe
Chloroformnarkose eingeleitet, die Placenta
per Crede unter tiefer Narkose entfernt und
letztere noch eine Weile fortgesetzt. Zum
Schlüsse injizierte ich noch 0,02 Morphium
und hatte die Freude, daß Mutter und Kind
wohl blieben und das Wochenbett normal
verlief. Die Ödeme waren in diesem Falle
8 ehr unbedeutend gewesen und von Eiweiß
zeigten sich nur Spuren im Urin. Jedenfalls
standen sie zur Heftigkeit der eklamp tischen
Anfälle im umgekehrten Verhältnis; dasselbe
gilt vom Fall 3, in welchem trotz kolossaler
Eiweißmengen und starker Ödeme die Krämpfe
nur von geringer Heftigkeit waren. In Fall 1
und 2 konnte ich aus erklärlichen Gründen
die Urinuntersuchung nicht vornehmen.
Geburt im Falle 4 zeigt, daß die Natur sich
gelegentlich selbst in dieser Weise hilft* und
daß sie uns damit einen Fingerzeig für unsere
Therapie gibt. — Sollte mir gelegentlich ein
Fall von Eklampsie post partum vorkommen,
so würde ich einen Aderlaß, wie ihn Zweifel8)
empfiehlt, versuchen: Ich habe gelegentlich
einer "Scharlachepidemie bei Urämie einen
eklatanten Erfolg davon gesehen, und ein
gewisser Zusammenhang scheint mir zwischen
diesen beiden Krampfanfällen zu bestehen,
wenn ich auch nicht etwa behaupten will,
sie wären beide identisch. — Während ich
mit dieser Arbeit beschäftigt war, veröffent-
lichte Herr Kollege Heinrich9) in Frey-
stadt drei Fälle von Eklampsie bei Nephritis
gravidarum, die er mit Pilokarpin behandelt
hatte und von denen ein Fall todlich endete,
während zwei Fälle genasen. Es würde
über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen,
genauer hierauf einzugehen; nur einen Punkt
mochte ich hervorheben, weil er mir für die
Therapie von Bedeutung erscheint. Es be-
steht sicher ein Unterschied zwischen einer
Nephritis gravidarum und einer Albuminuria
gravidarum oder sog. Schwangerschaftsniere.
Während bei der ersteren die starken Ver-
änderungen an den Epithelien angetroffen
werden, wie sie bei jeder Nierenentzündung
sich finden, sind nach Strümpell10) bei der
letzteren nur ein geringes interstitielles Ödem
und degenerative Zustände an den Epithelien
Übersichtstabelle.
Ver riehtun
g
Mtttt er
durch
durch
duroh
No.
Verblutung oder
Interkurrente
Wochenbetts-
Art derselben
Summe
lebend
tot
Erschöpfung
Erkrankungen
erkrankungen
1
Aborte
40
39
1
__
1
2
normale Gebarten
30
29
1
—
1 (Phthisis)
—
3
Lösung d. Placenta
a) Crede
3
3
0
—
—
—
b) manuell
43
37
6
2
3 (Erysipelas,
Phthisis und
Langenödem)
1(?)
5
Placenta praevia
11
7
4
3
—
1
6
Zangengeburt
67
64
8
—
1 (Lungenöd.)
2
7
Wendung
a) auf den Kopf
b) auf die Füße
1
1
0
— .
—
—
60
60
0
—
—
—
8
Embryotomie
und Perforation
11
9
2
1 (aus einem
1 (Lungen-
embolie)
—
Varix)
9
Eklampsie
4
3
1
—
1
270
252
18
6
6
6
In allen Fällen horten die eklamptischen
Anfalle post partum, also nach der Ent-
leerung des Uterus auf; sie sprechen daher
für d ie von Dührssen vorgeschlagene aktive
Therapie, bei ausgebrochener Eklampsie sofort
zu entbinden. Der präzipitierte Verlauf der
Th.M.1905.
nachweisbar. „Nur selten sind stärkere nephri-
tische Veränderungen vorhanden a. Dement-
8) Zweifel, Geburtshilfe, S. 432.
9) Deutsche med. Wochenschr. No. 9, S. 160.
10) Strümpell, Spez. Path. u. Ther. Ü, S. 843.
34
452
Kraute, Desinfektion der Hftnde nach Fürbringer.
fTherapei
L Monats
Monatshefte.
sprechend äußert sich auch v. Leyden: „Die
Schwangerschaftsniere behauptet einen ganz
besondern Platz, sie ist etwas ganz Be-
sonderes, mit keinem andern Prozesse diffuser
Nierenerkrankung zu vergleichen." —
Es kommen demnach auf sämtliche 270
geburtshilfliche Verrichtungen 18 Todesfälle
= 6,6 Proz. Hiervon fallen ljz auf Tod
durch Erschöpfung oder Verblutung, 7s au^
interkurrente Erkrankungen, 1j3 auf Wochen-
bettserkrankungen = 2,2 Proz.
Ich habe schon oben erwähnt, daß die
meisten Wöchnerinnen, welche einer Wochen-
bettserkrankung erlegen sind, mit großer
Wahrscheinlichkeit entweder bereits infiziert
waren oder doch infolge der verschleppten
und vernachlässigten Geburt hierzu außer-
ordentlich disponiert waren. Nur so erscheint
es verständlich, daß gerade die größte Sterb-
lichkeit, 2 : 51 = 4 Proz., auf die Becken-
endzangen fällt, während bei Operationen,
die für« die Kreißende ganz besonders gefähr-
lich sind, wie bei hohen Zangen, Placenta
praevia und adnexa die Mortalität sich viel
günstiger gestaltet und bei der inneren
Wendung, deren Sterblichkeit He gar") auf
5,3 Proz. berechnet, auf 0 Proz. herabsinkt.
Es beweist diese Statistik aber auch, daß
bei nicht infizierten Kreißenden die Des-
infektionsmethode nach Fürbringer sicher
ganz außerordentlich gut sich bewähren muß.
So sehr ich mir Mühe gebe, an Geburten
nur heranzugehen, wenn ich keine eiternden
Wunden etc. berührt habe, in der Praxis
läßt sich diese an und für sich berechtigte
Forderung leider nicht durchführen. Wenn
man Wochen und Wochen keine Geburten
zu leiten brauchte, so kommen sie sicherlich
dann, wenn man der Infektionsgefahr wegen
sie am allerwenigsten wünscht und wenn
eine Vertretung durch einen Kollegen nicht
durchführbar ist, weil er sich entweder in
gleicher Lage befindet oder nicht zu Hause
ist. Man kann aber keine Wöchnerin ver-
bluten lassen, weil man sich fürchtet, sie zu
infizieren. Wenn es mir daher in solchen
verzweifelten Situationen geglückt ist, trotz
der Infektionsgefahr ein normales Wochenbett
zu erzielen, so kann ich es nur der subtilen
Reinigung der Kreißenden sowie meiner Hände
nach Fürbringer zu gute rechnen. Wäre
dem nicht so, so würden die Resultate der
Chirurgen bei Laparotomien heute nicht so
günstig sein; denn der Chirurg kann seine
Hände in diesem strengen Sinne auch nicht
immer aseptisch halten. Der Chirurg hat
aber den Vorteil, daß er das Operations-
gebiet unter günstigeren Verhältnissen besser
!) Zweifel, ebenda S. 653.
desinfizieren kann, und gerade hierin bleibt
für den Geburtshelfer noch manches zu
wünschen übrig. Nicht allein die Säuberung
der Kreißenden durch Hebamme oder Arzt
während der Geburt ist es, die hierbei in
Betracht kommt; es gilt vielmehr, die Frauen
selbst zur prophylaktischen Sauberkeit zu
erziehen, ihnen klar zu machen, welche un-
geheuren Gefahren ihnen gerade aus ihrer
eigenen Häuslichkeit, aus unsauberen Betten,
Unterlagen und dergl. drohen und welchen
weiteren Gefahren sie sich aussetzen, wenn
sie keine sachgemäß ausgebildete Hebamme
zur Geburt holen, sondern sich den weisen
Frauen ihrer Dorfgemeinde überlassen. Daß
dies nur möglich ist, wenn man den Kultur-
zustand dieser Leute hebt, liegt auf der Hand
und bedarf keiner weiteren Beweise. — Daß
ferner leider unser Hebammenpersonal noch
nicht erstklassiger Art ist, weiß jeder Prak-
tiker; es dürfte auch eine wesentliche Besse-
rung nicht erfahren, bevor man die soziale
Lage dieser Frauen nicht hebt. Wir haben
bei uns eine kleine praktische Einrichtung
nach dieser Richtung hin getroffen, die sich
sehr bewährt. Da die Hebamme im Falle
einer Wochenbettserkrankung eine gewisse
Zeit lang keine Geburt annehmen darf und
infolgedessen pekuniäre Nachteile hat, so
zahlt die Kommune ihr für den Fall eine
Entschädigung, wenn sie notorisch ihren Vor-
schriften gemäß bei der Desinfektion gehandelt
hat, sodaß nach menschlicher Berechnung sie
ein Verschulden nicht trifft. Die Hebammen
sind seit dieser Einrichtung nicht mehr so
geneigt, fieberhafte Erkrankungen ihrer Wöch-
nerinnen zu verheimlichen.
Ich glaube, daß auf diesem und auf ähn-
lichen Wegen die Prognose der Geburten in
Zukunft sich noch bessern kann und bessern
wird, und ich schließe meine Arbeit mit
dem Wunsche, daß sie speziell für die unter
gleich schwierigen Verhältnissen praktizieren-
den Kollegen eine kleine Anregung zu freu-
digem Schaffen bieten möge zum Heile unserer
Mütter und zum Segen der Menschheit, auf
daß wir dem idealen Ziele uns immer mehr
nähern, daß eine Frau an den Folgen der
Entbindung nicht mehr stirbt!
Über das „zurzeit am besten wirkende"
Diureticum.
Von
Dr. Theodor Homburger, Arzt in Karlsrahe.
Mit einem gewissen, nicht unberechtigten
Mißtrauen bei der noch immer anschwellenden
Hochflut pharmakologischer Erzeugnisse wird
man jedes neu auftauchende und ob seiner
XIX. Jahrgang. "I
September 1905.J
Homburg« r, Übar du „surs«it am betten wirkend«" Diuretlcum.
453
angeblich glänzenden, die alten Mittel an
Bedeutung überragende Präparat begrüßen
müssen.
Wenn aber wie bei dem Theophyllin —
das unter dem Namen „Theocin" in den
Handel gebracht wird, weshalb ich in der
Folge abwechselnd beide Synonyma ge-
brauchen werde — seit Jahren von ver-
schiedener, in ihrem wissenschaftlichen Ernste
unanfechtbarer Seite der bedeutende Wert
dieses Mittels immer von neuem bestätigt
wird, dann soll sich solchen Empfehlungen
gegenüber der Praktiker nicht ohne weiteres
ablehnend verhalten; um so weniger, wenn
bei hydropischen Erscheinungen, seien sie
welcher Herkunft auch immer, die der Reihe
nach versuchten Diuretica und auch die
Hautdrainage im Stiche lassen, während die
bedrohlichen, vor allem das Herz gefährden-
den Symptome und der schwer nach Luft
ringende Kranke rasche Hilfe verlangen.
Die bisher erschienene Literatur bezeich-
net das Theophyllin als überaus zuverlässiges
harntreibendes Mittel, namentlich bei Ödemen
kardialen Ursprungs (Schlesinger (l)), als
das zurzeit „am besten wirkende Diureticum"
(Rattner (2)). Diese und ähnlich lautende
Veröffentlichungen über die starke Wirkung
des als drittes Purinderivat chemisch nahen
Verwandten des Koffeins und des Diuretins,
zweier anerkannt guter Diuretica und Anti-
hydropica, bestimmten auch mich, in geeig-
neten Fällen das Theophyllin zu versuchen
und es seit etwa ein und einem halben Jahr
in Anwendung zu bringen. Wie jede an-
dere Publikation sollen auch diese, aus der
Praxis hervorgegangenen Erfahrungen den
Wirkungskreis des Mittels schärfer um-
schreiben. Besonders eignen sich 4 Fälle
meiner Beobachtung zur Klärung seines An-
wendungsgebietes und als Beitrag zu den
dem Theophyllin zur Last gelegten Neben-
wirkungen. Ihre Krankengeschichten mögen
hier in Kürze folgen:
1. C, Bahnmeister, 55 Jahre alt, seit mehreren
Jahren an Myodegeneratio cordis, Nephritis inter-
stitialis mit Staaang6erscheinangen leidend. Zurzeit
Hydropsien am ganzen Körper, häufige Klagen
über Kopfschmerz, Magen&törangen, Dyspnoe u.s.w.
Bedrohliche Erscheinungen von seiten des durch
den Hydrops and Stauungen noch mehr arbeits-
überlasteten Herzens und die, trotz Digitalis und
Koffein nicht zu hebende Diurese veranlassen die
Anwendung des Theophyllins anfanglich als Pulver,
nach vorheriger verstärkter DigitaTisverabreichung
und dadurch erzielter verbesserter Herztätigkeit.
In zwei Tagen werden* etwa 0,6 g des Mittels ver-
braucht. Die Diurese steigt schon nach wenigen
Stunden von x/s aQf * lya 1 • un(* damit gehen die
bedrohlichen Symptome zusehends zurück. Die
Ödeme schwinden, anfänglich nur langsam, später
rasch; der vorher hohe Eiweißgehalt des Urins
geht in wenigen Tagen auf ein Minimum zurück.
Mit drei- bis viertägigen Unterbrechungen, während
weicher Strophanthus gegeben wird, verbrauchte
der Kranke in drei Wochen im ganzen etwa 5-6 g
des Diureticums. In den theophyll in freien Inter-
vallen 6inkt die Urin menge nur mäßig, um etwa
74 1 pro Tag, um sich sofort wieder mit Einsetzen
des Mittels auf die frühere Höhe, selbst bis zu 2 1,
zu heben. Zeitweise auftretende Übelkeit, Er-
brechen, Kopfsohmerz, Appetitlosigkeit stören die
eingeleitete Therapie um so weniger, als diese
Symptome schon früher bestanden haben. Anders
aber eine zu Beginn dieser Behandlung auftretende
Komplikation von seiten des Nervensystems. Etwa
8 Tage nach Beginn der Theophyllin -Medikation —
es mag bis dahin 1,0 g des Mittels verabreicht
worden sein, und zwar in Pulverform — beginnt
der Kranke unruhig zu werden, schläft viel, deliriert
laut und aufgeregt, will fortwährend aus dem Bette;
die Sprache wird lallend und zeitweise ganz unver-
standlich ; der Kranke wird nur auf lautes Anrufen
aus seinem Dämmerzustande wach und erkennt
seine Angehörigen nur mit großer Mühe wieder.
Dabei verhältnismäßig gute Herz- und Nierentätig-
keit Diese Erscheinungen klingen langsam gegen
den dritten und vierten Tag nach ihrem Beginn
wieder ab. Nur ein geringes Kopfweh ist als
Rückstand des vom Nervensystem überstandenen
Sturmes übrig geblieben. Sofort mit dem Auftreten *
der bedrohlichen Symptome verbiete ich die weitere
Theophyllinanwendung, lasse aber sechs Tage nach
dem Verschwinden der letzten Erregungsäußerungen
vorsichtig das Mittel wieder geben, diesmal aber
in Solution, nach dem Rate Schlesingers (1), zur
Vermeidung von nervösen Exzitationszuständen in
einem Infus von Adonis vernalis: Theocin 0,6
Infus. Adonis vernalis (5,0) 180,0 M. D. S. Inner-
halb zwei Tagen zu verbrauchen. Wie früher
mache ich wieder 1 — 2 tägige Pausen nach An-
wendung einer Flasche der Solution. Weitere ner-
vöse Störungen sind fürderhin völlig ausgeblieben.
Der Kranke erholt sich bei starker Urinsekretion
rasch, so daß er nach ca. 19 Tagen, fast frei von
hydropischen Ergüssen, auf einige Stunden das
Bett verlassen kann. Theocin wird nicht mehr
gebraucht. 8 Tage darauf kollabiert C. plötzlich
unter größter Dyspnoe und Pulsarhythmie. Nach
wenigen Stunden tritt der Tod ein.
2. Frau F., 50 Jahre alt. Myodegeneratio cordis,
Mitralinsuffizienz mit weitverbreiteten Stauungser-
scheinungen im ganzen Körper: Leber sehr ver-
größert; häufige, mit Opiaten kaum zu bekämpfende
Durchfalle; im Urin Eiweiß; diffuses Ödem des
ganzen Körpers. Von anderer ärztlicher Seite ist
bereits nach längerer Digitalisdarreichung Theocin
in Pulverform 0,3 pro dosi, 3 mal täglich, und
daneben Opium pur. ordiniert. Sofort nach jeder
Aufnahme des Diureticums Magenschmerzen und
Erbrechen. Daraufhin wird von mir Opium per
Klysma und Theocin nur 0,1 pro dosi in Pulvern
gegeben. Das Erbrechen hört auf und die Harn-
menge steigt von V* auf 1 1 im Laufe eines Tages.
Die schon seit Monaten vorhandene Schlaflosigkeit,
der Appetitmangel und Kopfschmerz werden durch
die Medikation weder gebessert noch verschlechtert.
Die irreguläre und schwache Herztätigkeit ist trotz
hoher Digitalisgaben nicht zu bessern. Wenige
Wochen, nachdem ich die Kranke aus meiner, nur
vertretungsweise übernommenen Behandlung ent-
lassen, stirbt sie an einem schweren Herzkoilaps.
3. M., 9 Jahre alt, kräftiges, bisher gesund
gewesenes Töchterchen eines Arztes. Akute Nephri-
tis anschließend an eine Agina catarrhalis. Im
Urin etwa '/, % Eiweiß, keine Zylinder. Gesicht
durch ödem aufgetrieben, besonders die Augenlider.
34*
\
454
Homburg« r, Übt du „zurzeit am betten wirkende«4 Diureticum.
fTharapeul
L Monatehi
Herztätigkeit normal. Appetit und Schlaf schlecht
Harnmeoge zwischen ]/4 und ]/2 1 pro Tag, nach
Theocin aufnähme in Lösung mit 0,05 pro dosi auf
1 Va 1 im Laufe eines Tages ansteigend ; gleichzeitig
Hebung des Appetits; das Kind selbst viel munterer,
Herz und Puls gut, keine Störung im Bereiche des
Nervensystems. Nach 8 Tagen noch Spuren von
Eiweiß im Urin, nach 17 Tagen ist er eiweißfrei,
ödem ganz verschwanden. Während der ganzen
Behandlung keine funktionelle Störung von Seiten
des Magen - Darmkanals. Theocinverbrauch im
fuazen etwa 1,0. Sonstige Behandlung: Heiße
äder, blande Diät.
4. M., 63 Jahre, Werkführer. Mvodegeneratio
cordis infolge Alkoholmißbrauchs. Lebercirrhose.
Universalhydrops, in wechselnder Stärke seit vielen
Jahren bestehend. Auf einleitende Digitalismedi-
kation mit nachfolgender Theocinan wen düng stets
rmpter Erfolg. Theocinpulver 3 mal, später
5 mal täglich, etwa 0,16, langsam einschleichend
gegeben und mit Eintritt der Wirkung in täglich
selteneren Gaben. Sehr starker Anstieg dor Diu-
rese. Nie Erbrechen, keine Darmerkrankung; nur
geringes Kopfweh bald nach der Einnahme des
rulvers. Die schon vor der Theocinanwendung
vorhandene geringe Albuminurie nie vermehrt.
.Nach etwa 4—5 Tagen meist völliges subjektives
Wohlbefinden erreicht und meist nach weiteren
8 Tagen Arbeitefähigkeit. Freilich stets nach 2 bis
3 Wochen beruflicher Tätigkeit wieder ein Rückfall.
Seit z/4 JaDr m diesem Falle Verwertung der
Theocintherapie.
Welche Resultate ergibt nach diesen
eigenen und anderen Erfahrungen eine Ana-
lyse der Einwirkungen des Theophyllins auf
den menschlichen Organismus? Wo hat es in
diesem seinen Angriffspunkt zur Entfaltung
seiner "Wirkung? Sind wir jetzt in der Lage,
sein Anwendungsbereich schärfer zu be-
grenzen x und wie steht es mit den ihm nach-
gesagten toxischen Nebenwirkungen? Auf
diese Fragen sollen die folgenden Ausfüh-
rungen die Antwort zu geben versuchen.
Von keiner Seite wird im Einklaug mit
meinen Wahrnehmungen von einer Schädigung
des Herzens infolge der Anwendung des
Theophyllins gesprochen, aber ebenso von
allen die vorherige Regelung und Kräftigung
der Herztätigkeit zur Erzielung einer aus-
giebigen Diurese zur erfüllenden Vorbedingung
gemacht. Zwar berichtet Straß (3) über
Fälle, in denen trotz guter Herztätigkeit das
Theophyllin unwirksam blieb, wo hingegen
Kalium aceticum und Agurin ihren günstigen
Einfluß auf die Diurese zeigten; vielleicht
eine Folge individueller Unempfindlichkeit
gegenüber dem Theophyllin. Andrerseits
weiß auch, kein Beobachter von einer direkten
günstigen Beeinflussung des Herzens und des
Blutdruckes durch das neue Mittel zu be-
richten. Und doch scheint sein Einfluß
gerade bei Ödemen kardialen Ursprungs in
der ersten Reihe seiner Erfolge zu stehen.
Wenn auch bisher kein fester Anhaltspunkt
dafür vorhanden ist, daß es ein reines, renales
Diureticum ist, so spricht sich doch die
Mehrzahl der Autoren auf Grund ihrer Er-
fahrungen und Überlegungen für diese An-
nahme aus. Sein hauptsächlicher Angriffs-
punkt liegt wohl im Parenchym der Nieren,
das es in kurzer Zeit zu hoher Arbeits-
leistung anspornt. Freilich sinkt diese Mehr-
leistung schon nach wenigen Tagen ab, und
selbst größere Gaben vermögen sie dann kaum
nennenswert zu steigern. Nur eine (s. spater)
der bisherigen Veröffentlichungen berichtet
über eine Schädigung des Nierenparenchyms
durch das Präparat. Dort, wo vorher keine
Eiweißausscheidung ist, tritt sie auch mit
der Anwendung des Theophyllins nicht auf;
bereits vorhandene Eiweißabscheidungen wer-
den nicht vermehrt (Meinertz (4), Gut-
mann (5) u. a.). Das Kind M. erhielt von
mir trotz der von Alkan und Arnheim (6)
ausgesprochenen Warnung der Theocin Verwer-
tung bei akuter Nephritis wahrend seiner
akuten Nierenentzündung und bei verhältnis-
mäßig recht hoher Eiweißausscheidung zwei
Wochen hindurch das Mittel; in wenigen
Tagen war mit der Nephritis der Eiweiß-
gehalt des Urins verschwunden. Zum gleichen
Urteil fuhren die von mir bemerkten Erfolge
des Diureticums bei Albuminurie in Verbin-
dung mit Stauungsniere. Andrerseits soll
nicht verhehlt werden, daß Hundt (7) das
Theophyllin in 7 Fällen von akuter Nephritis
zweimal versagte. Hier ließen aber auch
andere Diuretica im Stich, nämlich bei einer
hämorrhagischen Nephritis eines 12jährigen
Knaben und bei einer Scharlachnephritis
eines 11jährigen Kindes. Ebenso erwähnt
Meinertz (l. c.) ein Ausbleiben des diure-
tischen Effektes des Theocins bei akuter Ne-
phritis. Mögen diese Beobachtungen auf in-
dividuelle Schwankungen oder auf einen
sonst noch nicht erwiesenen Grund zurück-
zuführen sein, die allseitig und auch durch
meine Wahrnehmung bestätigten Untersuchun-
gen beweisen zur Genüge, daß von einer
Destruktion des Nierenparenchyms durch An-
wendung des Theophyllins keine Rede sein
kann und lassen die gegenteilige Behauptung
von Alkan und Arnheim einer gründlichen
Nachprüfung wert erscheinen, wenn sie sagen,
daß selbst „Entzündungen leichter Art bei
akuter parenchymatöser Nephritis durch das
heroische Mittel wieder angefacht werden
können, und daß daher bei frisch entzünd-
lichen Veränderungen der Nieren von seiner
Anwendung abzusehen sei?. Immerhin dürfte
zur Entfaltung seiner vollen Tätigkeit die
Intaktheit wenigstens eines Teiles des Nieren-
parenchyms unbedingte Voraussetzung sein.
Daraus dürfte sich weiterhin die Differenz
der Angaben erklären, nach denen der eine
XIX. Jahrgang. 1
8«pUmber 1906.J
Homburgar, Üb«r das „surseit am bMten wirkend«** Diuxatleum.
455
Autor bei akuter Nierenentzündung keinen
oder nur einen unwesentlichen Einfluß auf
die Ödeme, ein anderer eine recht günstige
Wirkung sah, daß Hundt (1. c.) bei chroni-
scher Nierenentzündung keinen Effekt be-
merkte, während Suter (8) über bedeutende
Erfolge ausschließlich bei chronischer Nieren-
erkrankung berichten konnte. In gleicher
Divergenz bewegen sich die Angaben, daß
seröse Ergüsse unter der Einwirkung des
Mittels zurückgehen, z. B. pleuritische Ex-
sudate (Meinertz und Straß (1. c.)), wäh-
rend andere eine wesentliche Beeinflussung
solcher Ausschwitzungen bestreiten (Schle-
singer und Hundt (1. c.)). Nach alledem
und den noch immer recht zahlreichen Wider-
sprüchen können bislang die wünschenswert
scharfen Grenzen für das Anwendungsbereich
des Theophyllins nicht gezogen werden.
Gleichwohl bleibt aber als Schluß aller dieser
Publikationen die einhellige und von keiner
Seite bezweifelte Tatsache bestehen, daß das
Theophyllin ein vorzügliches Diureticum,
namentlich bei Ödemen kardialen Ursprungs,
darstellt.
Wie seine Wirkungssphäre selbst, ist
auch der Kreis seiner toxischen Nebenwirkun-
gen noch nicht geschlossen, wie ja schon
zum Teil aus den bisherigen Ausführungen
hervorgeht. Der eine spricht das Mittel
völlig frei von jeder schädigenden Neben-
wirkung (Streit (9)) sowohl auf die Ver-
dauungsorgane wie auf das Nervensystem,
Löwenmayer (10) hingegen sah gerade
Störungen in diesen Organgebieten eintreten,
wenn das Mittel ausgesetzt wurde. Eine
andere Gruppe von Autoren glaubt geringere
und schwerere Störungen des Appetits und der
Magenfunktion, die sich namentlich in Übel-
keit, Brechreiz, Erbrechen und Durchfällen
äußern, auf das Schuldkonto des Theophyllins
setzen zu müssen (Hundt, Rattner u. a.
(1. c.)), deren Hervortreten mehr oder weniger
von individuellen Dispositionen abhängig sein
soll (&f einertz (1. c.)), Zufälle, die sich ver-
meiden lassen sollen, wenn man nach
Rattner (1. c.) das Mittel statt in Pulver-
form in Lösung gibt. Gleichwohl fort-
dauerndes Erbrechen dürfte, wie bereits
früher erwähnt, mehr mit Stauungserschei-
nungen in den Unterleibsorganen als mit der
direkten Einwirkung des neuen Diureticums
in Zusammenhang zu bringen sein (Doe-
ring (11)). Immerhin werden selbst tief-
greifende anatomische Läsionen des Magens als
direkte Folge dieser Therapie angesprochen
(Allord(l2)). Wieder eine andere Gruppe von
Beobachtern sah im Verfolg der Theophyllin-
anwendung Schädigungen mehr von Seiten
des Nervensystems in die Erscheinung treten,
vom leichtesten Kopfschmerz mit geringer
Benommenheit des Kopfes und Unruhe auf-
steigend zu Erregungszuständen schwerster
Art und selbst Krämpfen mit epileptischem
Charakter (Minkowski (13), Thienger (14),
Schlesinger (1. c), Allord (1. c.) u. a.),
die die Greifswalder Klinik veranlagten, von
dem Mittel Abstand zu nehmen (Allord).
Wenn ich daraufhin meine eigenen Beob-
achtungen über Begleiterscheinungen beim
Theophyllingebrauch einer kurzen Prüfung
unterziehe, so muß ich erklären, daß ich in
dem oben erwähnten Fall des Kindes M. bei
freilich kleinen, aber doch gut wirkenden
Mengen keinerlei nachteilige Wirkung sah^
eine Wahrnehmung, die mit jener Streits
und Löwenmayers, der in einem Falle die
enorme Menge von 400 Tabletten ä 0,1,
also 40 g Theocin verbrauchte, in vollem Ein-
klang steht. Magenstörungen empfindlicherer
Art beobachtete ich nur in meinem zweiten
und dritten Falle bei den infolge von Myo-
karditiden auftretenden schweren Stauungs-
erscheinungen; sobald aber die Medikation
statt in Pulverform in Solution verabreicht
wurde, verschwanden Brechen und Brechreiz;
außerdem dürfte der schon vor der einge-
leiteten Theocintherapie recht empfindliche
Magen, der wie alle Bauchorgane unter dem
Einfluß schwerer Stauungen des Blutes litt,
kein unanfechtbares Urteil über den Grad
seiner Schädigung durch Theocin gestatten.
Ein einigermaßen guter Magen wie der des
Kindes M. wird wohl durch das Mittel nicht
nachteilig beeinträchtigt werden. Sind nun
die von mir gesehenen Störungen im Bereiche
des Nervensystems während des Theocin-
gebrauches ohne weiteres diesem neuen Mittel
zur Last zu legen? Das Kind zeigte keinerlei
nachteiligen Einfluß in dieser Richtung; in
den drei anderen oben zitierten Fällen traten
jeweils mit der Verabreichung des Mittels
Schlafstörungen und leichtes Eingenommen-
sein des Kopfes hervor; im zweiten Falle
bei geringer Urinsekretion und schwerer
Dyspnoe Schwindel, Teilnahmlosigkeit, er-
höhte Unruhe im Schlaf und recht erheb-
liche Aufregungszustände mit Delirien mani-
akalischen Inhalts; ferner Sprachstörungen,
die erst langsam nach etwa 5 Tagen mit dem
Aussetzen des in jener Zeit in Pulverform ge-
gebenen Medikamentes abklangen ; sie kehrten,
wie schon oben erwähnt, nicht wieder, als
nach etwa 1 Woche das Mittel, nun aller-
dings in Lösung, wiederholt wurde. Krämpfe
traten nie auf. Wenn ich danach auch das
Medikament nicht von aller Schuld an diesem
Anfall freisprechen möchte, so war für mich
doch bei den hochgradigen Ödemen im ganzen
Körper des Kranken und bei seiner gerade
456
Homburger, Über das „surselt am betten wirkende" Diureticum.
rTherapentlsche
damals recht geringen Urinsekretion die An-
nahme eines .urämieähn liehen Anfalls, der
vielleicht in dieser Heftigkeit ohne das Theo-
phyllin nicht zum Durchbruch gekommen
wäre, nicht von der Hand zu weisen, zumal
bei "Wiederholung des Mittels in Lösung kein
solcher Anfall auftrat. In einer Analyse der
einzelnen, bis jetzt in neun Beobachtungen
im Anschluß an die Theocinanwendung fest-
gestellten Krämpfe und in seiner sich daran
anschließenden Kritik kommt neuerdings
0. Schmiedeberg (15) — der ja für sich
beanspruchen darf, den ersten Anstoß zur
Verwendung des neuen Diureticums gegeben
zu haben — zu Erwägungen, die trotzdem
dem Theocin günstiger sind. Von jenen
Krämpfen, die von den einzelnen Autoren
selbst als epileptische oder epileptiforme oder
eklamp tische bezeichnet werden, traten im
Falle Allords (1. c), so kritisiert Schmied e-
berg, die Konvulsionen erst auf, als das
Mittel in der Dosis von 0,3 einen Tag zu-
vor gegeben war, dann aber wegen Übelkeits-
erregung ausgesetzt wurde, oder wie in
einem Falle von Straß (1. c), nachdem es
schon 2 Tage ausgesetzt war, oder wie im
Falle Jacobaeus (16), wo es in der Dosis
von 3 mal täglich 0,4 3 Tage hindurch ver-
abreicht war, dann aber nach dem Auftreten
eines eklamp tischen Anfalls weggelassen
wurde; weiterhin wurde es wieder gegeben,
ohne daß ein Krampf ausbrach. Daher
glaubt Schmiedeberg behaupten zu können,
daß sicher kein Zusammenhang zwischen
Krampf und Arzneiwirkung besteht; daß
ferner aus dem gleichen Grunde, aus dem
Ausbleiben der Krämpfe nach dem Aussetzen
des Mittels, in dem ersten Falle von Schle-
singer sich ohne Zwang kein Zusammen-
hang zwischen diesen beiden Faktoren kon-
struieren läßt. Auch jene von mir bei einem
Kranken gesehenen hochgradigen Exzitationen
mit Delirien , Sprachstörungen u. s. w. bei
der verhältnismäßig kleinen Gabe von 4mal
0,2 Theocin pro Tag schreibe ich, wie be-
reits wiederholt erwähnt, mit der gleichen
Begründung eher der raschen Resorption des
großen hy dropischen Ergusses als dem Arznei-
mittel selbst zu. Auch der Charakter jener
epileptischen oder epileptiformen Krämpfe
differiert zufolge der Kritik Schmiedebergs
zu sehr von den tetanischen Anfällen, wie
sie im Tierexperiment die Purinderivate
Koffein, Theobromin und Theophyllin er-
zeugen können, als daß man sie dem letz-
teren als toxische Nebenwirkung aufbürden
dürfte. Zudem ist es doch sicherlich auf-
fällig und nicht durch eine individuelle
Toleranz gegenüber dem Theophyllin allein
zu erklären, wenn Löwenmayer (1. c.)
keinerlei Störungen des Nervensystems be-
merkte, obwohl er bei seiner neunjährigen
Patientin im ganzen 40 g verabfolgte, daß
er im Gegenteil mit dem Aussetzen des
Mittels eine Zunahme des Brechreizes und
Erbrechens feststellte; oder jene Beobach-
tungen Meinertz' (1. c), der durch viele
Tage hindurch Theophyllin verabfolgte, und
zwar in einem Falle etwa 26 g, ohne schäd-
liche Nebenwirkung zu sehen. Immerhin
bleibt die vielfach bestätigte Tatsache zu
Recht bestehen, daß das neue Diureticum
das Nervensystem erregt. Möglich bleibt es
fernerhin, daß es hierdurch bei einem dazu
Disponierten einen epileptischen Anfall aus-
zulösen vermag. Mit Recht betont Schmiede-
berg, daß zur Klärung dieser Fragen und
der Genese der dem Theocin zur Last ge-
legten Nebenwirkungen vor allen Dingen die
volle Kenntnis seiner pharmakologischen Wir-
kungen erforderlich ist. Bis dahin wurde
es nur auf Grund der praktischen Erfah-
rungen am Menschen als reines renales
Diureticum angesprochen. Schmiedeberg
kommt in seinen pharmakologischen Aus-
führungen zu dem Ergebnis, das hier natür-
lich nur in seinem wesentlichen Extrakt
wiedergegeben werden soll, daß Theophyllin
wie seine zwei Verwandten, das Koffein und
Theobromin, wenn auch weniger wie diese
beiden, auf das Zentralnervensystem erregend
wirkt. Weiterhin beeinflussen die drei Sub-
stanzen den quergestreiften Muskel, indem
dieser, um mit Schmiedeberg zu reden,
disponiert wird, „leichter seine chemische,
potentielle Energie in Arbeit umzusetzen u;
dieser Einfluß tritt mehr auf das Herz bei
Koffein hervor als beim Theophyllin. Da
fernerhin das letztere auf das Zentralnerven-
system und dementsprechend auf den Ur-
sprung der Gefäßnerven weniger stark wie
die beiden andern Mittel erregbarkeits-
steigernd wirkt, so bleiben nach Schmiede-
berg bei seinem Gebrauch Erscheinungen
seitens der Kreislauforgane aus. Als dritte
Wirkung weist derselbe Autor den drei
Purinderivaten einen direkten Einfluß auf
das Zellprotoplasma zu, der sich „als Steige-
rung einer spezifischen Funktion und als
nutritive entzündliche Reizung darstellt a.
Eine solche Steigerung der sekretorischen
Tätigkeit der Lymphepithelien bewirken
ebenfalls diese Derivate des Purins, und in
gleicher Weise steigert das Theophyllin die
spezifische Funktion der Nierenepithelien.
Selbst größere Gaben des Mittels vermögen
aber hier nach dem Urteil desselben Autors
keine entzündliche Reizung hervorzubringen,
eine Behauptung, die in fast jeder bisherigen
Veröffentlichung über das Präparat ihre Be-
XIX. Jahrgang* "I
B«ptamber 11K)S.J
Homburgar. Ober das „sursalt am b«aten wirkend«" Diureticum.
457
stätigung findet. Die im Gebiete des Ver-
dauungsapparates im Anschluß an die Theo-
phyllinanwendung bemerkten funktionellen
Störungen erklärt Schmiedeberg als Äuße-
rungen einer entzündlichen Reizung der
Schleimhaut, zumal wenn diese schon vorher
krank war, und nebenbei die Gaben des
Mittels groß bemessen wurden. Bei der
Sektion zweier Patienten, die von Allord
(I. c.) zur Beseitigung ihres Hydrops Theo-
phyllin erhalten hatten und daraufhin von
Krämpfen befallen waren, fand derselbe
punktförmige Blutungen und hämorrhagische
Flecke in der Magenschleimhaut. Er erhielt
diesen Befund im Tierversuch bei Hunden,
denen er am ersten Tag 1 — 2, am dritten
Tag schon 5 g Theocin beibrachte, bestätigt.
Man muß ohne weiteres Schmiedeberg zu-
stimmen, daß diese recht großen Gaben bei
einem nur circa 19 kg schweren Hunde in
ihrem Effekt jedenfalls nicht zu einem Ver-
gleich mit der Wirkung beim Menschen
herangezogen werden können. Andrerseits
dürfte es doch fraglich sein, ob in den an-
dern bisher publizierten Fällen solch tief-
greifende Veränderungen an der Magen-
schleimhaut, in ihren wohl markanten Äuße-
rungen in vivo durch objektive Symptome,
der Aufmerksamkeit der Beobachter ent-
gangen wären. Würden freilich die dem
Theophyllin nachgesagten schweren Begleit-
wirkungen auf das Nerven System und den
Magendarmkanal trotz der geäußerten gegen-
' teiligen Bedenken durch weitere Unter-
suchungen ihre Bestätigung finden, dann
wäre aller Grund vorhanden, mit der Greifs-
walder Schule von seiner weiteren Anwen-
dung abzuraten. Die, seitherigen Veröffent-
lichungen geben aber keine Veranlassung
und kein Recht, jenes, von dort ausgegangene
vernichtende Urteil mit zu unterschreiben.
Bei bereits tiefgreifenden Veränderungen
des Magendarmschlauches oder bei hoch-
gradiger, durch nichts zu beseitigender oder
zu bessernder Insuffizienz des Herzens wird
man zweifellos nach den bisherigen Erfah-
rungen seinen Gebrauch unterlassen. In den
geringeren Graden wird man zuerst möglichst
jene Störungen zu beseitigen suchen und
vor allem durch Digitalis die Herztätigkeit
und den Blutdruck regeln; dann dürfte das
Theophyllin sein günstigstes Anwendungs-
bereich finden.
Mit Rücksicht auf die erwiesene Ver-
schiedenheit seiner individuellen Einwirkung
wird man mit kleinen Dosen des Mittels be-
ginnen, auch schon deshalb, weil die auf
größere Gaben rasch und stark einsetzende
Diurese und die, zuweilen bis zu 6 Liter
Harn gesteigerten Wasserverluste im Tag
bei schwer Herzkranken für dieses Organ
eine recht große Gefahr bedeuten. Bei Er-
wachsenen genügen zu Beginn nach meiner
Erfahrung schon Dosen von 0,1 — 0,2 und
0,4 — 0,6 pro Tag, in Lösung und nicht in
Pulverform, zur Einschränkung schädlicher
Nebenwirkungen auf den Magen und nach
den bereits erwähnten Empfehlungen von
Schlesinger (1. c.) in einem Infus von
Adonis vernalis oder auch mit gleichzeitiger
Verabreichung von Hedonal oder Paraldehyd
zur Vermeidung etwaiger Nebenwirkungen
auf das Nervensystem. Langsam steigt man
auf etwa 0,3—0,4 pro dost. Während
Alkan und Arnheim (1. c.) keinen Erfolg
in der Darreichung per Klysma feststellen
konnten, empfiehlt Rattner (1. c.) diese Art
der Anwendung, wenn ein Magenleiden gegen
die Einführung des Mittels per os spricht.
Ein einziger Nachteil in der Theophyllin-
anwendung hat leider einstimmige Bestätigung
erhalten müssen, daß nämlich schon nach
einigen Tagen sein Einfluß auf die Nieren-
absonderung selbst bei steigender Dosis nach-
läßt, ob nun deshalb, weil die Nieren-
epithelien vielleicht durch zu große Bean-
spruchung ermüden, soll zunächst eine offene
Frage bleiben. Es empfiehlt sich daher,
nach einigen Tagen den Gebrauch des Mittels
auszusetzen, andere Diuretica zu Hilfe zu
nehmen und erst dann wieder zu jenem
zurückkehren.
Wenn man nach alledem also auch nicht
ohne weiteres in den vielleicht allzu be-
geisterten Hymnus derer einstimmen soll, die
im Theophyllin das beste derzeitige Diu-
reticum sehen, eine Auszeichnung, die ihm
erst die völlige Freisprechung von jenen
zweifellos bei seiner Anwendung zur Vor-
sicht mahnenden Nebenwirkungen und eine
nachhaltigere Wirkung eintragen dürfte, so
muß man andrerseits ihm bei aller Skepsis
glänzende diuretische Erfolge nachrühmen.
Sollte das leichter lösliche und angeblich
besser verträgliche, neuerdings hergestellte
Doppelsalz: Theocinnatrium aceticum diese
Nebenwirkungen auf ein Mindestmaß zu re-
duzieren vermögen, so wird das Theophyllin
nicht mit so vielen andern pharmazeutischen
Erzeugnissen der neueren Zeit das Meteoriten
ähnliche Los teilen , mit Blitzeshelle und
-Schnelle aufzuleuchten und dann spurlos
unterzugehen.
Literaturverzeichnis.
1. Schlesinger. Therapie der Gegen wai 1 3, 1903.
2. Rattner. Dissertation, Würzburg 1903.
3. Straß. Wiener klinische Rundschau 50, 1903.
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5. Gutmann. Archiv für Kinderheilkunde 34,
1904.
458
Orlipaki, Qibt m gonorrhoische Exanthem«?
rTherapentiaete
L Moxuitriiflfto.
6. Alkan u. Arnheim. Therapeutische Monats-
hefte 1, 1904.
7. Hundt. Therapeutische Monatshefte 4, 1904.
8. Sater. Korrespondenzblatt für Schweizer Ärzte
7 1904.
9. Streit Die Heilkunde 4, 1903.
10. Löwenmayer. Therapie der Gegenwart 4,
1904.
11. Doering. Münchener med. Wochenschrift 9,
1903.
12. Allord. Deutsches Archiv für klinische Me-
dizin, Bd. 80.
13. Minkowski. Therapie der Gegenwart 11,
1902.
14. T hi e n ge r. Münchener med. Wochenschrift 30,
1903.
15. Schmiedeberg. Deutsches Archiv für klini-
sche Medizin, Bd. 82.
16. Jacobaeus. Therapeutische Monatshefte 11,
1904.
Ein Beitrag zur Frage:
'„Gibt es gonorrhoische Exantheme?"
Von
Dr. med. Orllpski, Arzt in Halberstadt.
Es dürfte bekannt sein, daß das Problem
des Zusammenhanges zwischen Gonorrhoe
und gewissen Erkrankungen des Integuments
nicht zu den erst neuerdings in der wissen-
schaftlichen Welt aufgeworfenen Zeit- und
Streitfragen gehört. War es doch schon
von einem medizinischen Schriftsteller des
18. Jahrhunderts, Musgrave1), in einem
1723 erschienenen Werke angedeutet, aber
sicher ist Seile') der erste Forscher von
Bedeutung, welcher 1783 aussprach, daß
„der Trippereiter resorbiert werden und zu
Hautausschlägen Veranlassung geben könne".
Doch gleichwohl ist die Frage, ob es Mani-
festationen gonorrhoischer Natur auf der
Haut der Tripperkranken gebe, in unsern
Tagen, wo wir seit Noeggerath8) und
Neißer4) über die Natur der Gonorrhoe so
vorzüglich unterrichtet und über eine Reihe
andersartiger Folgezustände der Gonorrhoe
durchaus nicht mehr im Zweifel sind, gleich-
wohl ist die Frage bezüglich der gonorrhoi-
schen Exantheme auch jetzt noch nicht zur
völligen Befriedigung gelöst, ja von manchen
wird auch heute noch die Existenz der-
artiger Vorkommnisse durchaus bestritten,
jedenfalls ihr Kausalnexus mit der Gonorrhoe
geleugnet.
Was mich betrifft, so waren es zunächst
schon Betrachtungen theoretischer Natur,
welche mich mit der Möglichkeit eines der-
artigen Zusammenhanges rechnen ließen, und
welche allmählich aus Möglichkeiten und
Vermutungen für mich die Überzeugung
emporwachsen ließen, daß die Gonorrhoe
Veränderungen der Haut zu bewirken im-
stande sei. — Solange man unter Führung
von Bumm6) dem Irrglauben huldigte, daß
der Gonokokkus ein verhältnismäßig harm-
loser Epithelparasit und insbesondere ein
Bewohner des einfach schichtigen Zylinder-
epithels sei, daß er an den Grenzmarken
anderer Gewebsprovinzen, vor dem Platten-
epithel und dem Bindegewebe, unweigerlich
Halt mache und in diesen Teilen nicht
wuchern und gedeihen könne, so lange mochte
es mit der Annahme derartiger Hautmeta-
stasen seine Schwierigkeiten haben. Denn
wie sollte auch die Mikrobe oder selbst nur
ihr Toxin in die Blutbahn gelangen und von
hier aus auf bakteriämischem Wege eine Ver-
allgemeinerung der Mikrokokkeninvasion und
-intoxikation herbeiführen, wenn sie nur in
dem oberflächlichen Zylinderepithel, also weit
ab von den mehr im bindegewebigen Unter-
gründe der Schleimhaut verlaufenden Lymph-
und Blutgefäßen, ein kümmerliches Dasein
sollte fristen können! „Die Gonorrhoe ist
eine rein lokale Erkrankung, welche nur auf
Zylinderepithel zur Entwickelung kommt. a
So Bumm und ähnlich seine Schüler Ger-
heim6) und Weber61), und alle die bösen
Zufälle, welche man in so sinnenfalliger
Weise mit Gonorrhoe vergesellschaftet hatte
auftreten sehen wie die Perimetritis und
Epididymitis , die Tripperbubonen und die
Parametritis, die Bartholinitis und die Rheu-
matoid- und Herzerkrankungen im Gefolge
der Gonorrhoe — nach dieser Hypothese
als gonorrhoische unerklärbar — sollten
Mischinfektionen sein. Leider ist dem aber
nicht so, leider ist die Bumm sehe Lehre von
dem Zylinderepithelparasitismus des Gono-
kokkus überholt: die Tatsache, daß die
häufigste Eingangspforte der Gonorrhoe, die
männliche Urethra, in ihrem vorderen Teile
Pflasterepithel trägt, die Vulvovaginitis der
kleinen Mädchen, die Feststellung Dinklers1),
welcher Gonokokken im Bindegewebe der
Cornea und Iris bei metastatischer Chorioideo-
Iritis fand, ferner Rosinskis8) Beobachtung
der Gonokokken im Pflasterepithel der Mund-
höhle von Neugeborenen, Toutons9) und
Jadassohns10) Untersuchungen an paraure-
thralen Gängen, welche trotz ihrer Pflaster-
epithelauskleidung gonorrhoisch infiziert, so-
gar die einzigen mit Gonokokken voll-
gepfropften Teile waren, Palt aufs11) und
Sahiis13) Beobachtungen und ganz besonders
und vor allem die grundstürzenden Unter-
suchungen Wertheims18) haben uns eines
besseren belehrt, haben uns gezeigt, daß
der Gonokokkus keineswegs im Bumm sehen
Sinne „ wählerisch" sei, sondern auf Zylinder-
wie auf Plattenepithel und im Bindegewebe
gleich gut gedeihe, sicher also in mehreren
Sätteln gerecht sei. Wir wissen heute, daß
XIX. Jahrgang. "I
8«pt«mbw 1906.J
Orlipaki, Gibt m gonorrhoisch« Exanthem«?
459
die Gonorrhoe auf dem Wege der Meta-
stasenbildung eine allgemeine Erkrankung
schwerer Art werden kann, ohne daß es
dazu der Aushilfe einer sekundären Infektion
bedarf; daß die Gonokokken nicht bloß in
der Kontinuität der Harnorgane, wo sie es
allerdings am häufigsten tun, sondern an
Herz und Nerven, an Muskeln und Gelenken
und last not least auch auf der Haut ihre
Wirkungen entfalten können.
Gerade aber für die Haut scheint mir
diese Feststellung noch nicht allgemeine Ver-
breitung im ärztlichen Publikum gefunden
zu haben. Dieser Umstand mag es erklären,
warum ich mich mit dieser Mitteilung an
eine größere Öffentlichkeit wende, obwohl
mir an eigenen Beobachtungen nur 5 zur
Verfügung stehen.
Ich werde nun erst meine 5 Fälle*) mit-
teilen, dann eine Übersicht über das bisher
auf diesem Gebiete Geleistete geben und
eine kurze kritische "Würdigung der Hypo-
thesen über die Entstehung der gonorrhoi-
schen Exanthem anschließen.
Eigene Beobachtungen.
I* Fall* Urticaria alba annularis et factitia cum
Gonorrhoea totalis subacuta urethralia.
Anamnese: P., 20 J. alt, will Weihnachten
1900 zuerst Schmerzen beim Urin lassen and eiterigen
Harnröhren ausfloß an sich beobachtet haben. Teils
ans falscher Scham, teils weil die Schmerzen
schnell verschwanden, begab sich P. nicht in eine
ordnungsmäßige Behandlang. Etwa 6 Wochen nach
dem ersten Auftreten der Harnröhrenerkrankang er-
wachte er eines Morgens mit starkem Jacken am
ganzen Körper. Eine Betrachtung seiner Haut
machte ihn ängstlich, er entdeckte einen „Haut-
ausschlag", welcher aus „Blasen and Bläschen, die
fast über den ganzen Körper verbreitet waren",
bestand. Der Hausarzt seiner Eltern erklärte das
für „Nesseln", gab äußerlich ein jucklinderndes
Mittel und innerlich Natr. salicyl. Hiernach soll
das Jucken nachgelassen und ein Teil der „Blasen"
verschwunden sein. Aber in den nächsten Wochen
zeigten sich immer wieder Nachschübe, und P. kam
zu mir in die Sprechstunde; ich eruierte folgendes :
Objekt. Befand: 5 — 10 mm im Durchmesser
haltende, ziemlich derbe weißliche Erhabenheiten
sind über einen großen Teil der Haut verbreitet.
Durch Überstreichen mit dem Fingernagel entsteht
ein weißer Streifen, welcher schnell rot wird und
dann abblassend qaaddelartig sich abhebt Unter-
suchung des Urins ergibt: Trübung, zahlreiche
Trippenaden, 2 Gläserproben beide Male -f-, Harn-
röhrenaasfloß serös -eiterig, zahlreiche Gonokokken
in typischer Lagerang in den Zellen, Schwellang
der Prostata, Prostatasekret enthält gleichfalls Gono-
kokken.
Diagnose: Urticaria alba et factitia gonor-
rhoica.
*) Seit dieser Niederschrift habe ich wiederum
2 Urtikariafalle and 1 Erytbema exsadationem auf
gonorrhoischer Basis mit Gonokokkenbefund in
em Exanthem beobachtet, welche ich demnächst
publizieren werde.
Tfa.lL 1906.
Therapie und Verlauf: Die Diagnose wird
bestätigt durch den Verlauf and den Erfolg der
Behandlung: Die angeordnete Urethral -Therapie
(Ausspülungen nach Jan et mit Protargol-, später
Kai. hypermangan.- Lösung, zugleich Massage der
Prostata) — innerliche Mittel werden nicht gegeben
— beseitigt Gonokokken aas Sekret, verwandelt
dieses in ein rein seröses, farbloses, wässeriges, und
gleichzeitig verschwindet das Jucken und die
Neigung zur Quaddelbildung.
Rezidiv: Infolge unzweckmäßiger Lebensweise
Rezidiv der Gonorrhoe in Verbindung mit
wieder auftretendem, wenn auch nicht sehr
ausgebreiteten Quaddelausbruch.
Heilang: Endgültige Heilang der Gonorrhoe
beseitigt die Quaddelbildung definitiv: wenigstens
schrieb mir P., daß er seit 1 Jahr keine Verände-
rung der Haut mehr bemerkt hätte.
II. Fall. Purpura rheamatica com Gonorrhoea
vaginae, urethrae et cervicis.
Anamnese: P., 30 J., verheiratet. Mann
wurde von mir an Gonorrhoe behandelt. Eines
Tages bittet mich dieser, seine Frau zu besuchen,
die „plötzlich" eigentümliche „Flecke" auf der Haut
der „Unterschenkel" bekommen habe, „dabei fiebere
und aber schmerzhaften Harndrang und Schmerzen
in den Kniegelenken klage".
Objekt. Befand: P. bettlägerig, T. 38,9
(nachmittags 6 Uhr), P. 96. Schwellang beider Knie-
gelenke. An den Unterschenkeln zahlreiche blau-
rote erhabene Flecke, besonders an der Streck-
seite, auf Druck nicht verschwindend, von der
Größe eines Stecknadelkopfes bis zu Linsengröße,
Bewegungen in den Faß- and Kniegelenken schmerz-
haft, ebenso Druck auf die Unterschenkelmuskulatur.
Befand am Genitale: eiterige Urethritis, Vajnnitis,
Catarrhus cervicis, Urin trübe, enthält Eiweiß,
mikroskopische Untersuchung des Urethral- und
Vaginalselcretes in bezug auf Gonokokken +, des
Cervikalsekretes dagegen negativ.
Diagnose: Purpura rheumatica gonorrhoica.
Therapie und Verlauf: Rahe, Kompressen
am Gelenke, leichte kräftige Diät, keine innere
Medikation, Behandlung der Urethritis und Vaginitis
mit Albarginlösung (AI b argin -Höchst). Sofort mit
Beginn der antigonorrhoiscnen Behandlung sistiert
das Fortschreiten der Purparaflecke, welche anfangs
die Neigung hatten, nach oben hinauf zu kriechen.
Schritt für Schritt mit dem Abklingen des gonor-
rhoischen Prozesses verschwinden die Erscheinungen
der Purpura rheumatica auf Nimmerwiederkehr.
III. Fall. Erythema exsudativum multiforme
cum Gonorrhoea urethrae.
Anamnese: P., 24 J. alt, ledig, will seit
14 Tagen an „Tripper8 leiden, welchen er mit Zink-
einspritzangen bekämpft hat. Vor drei Tagen hat
er zugleich mit. einer Zunahme der Harnröhren-
absonderung eine auffällige Veränderung an seiner
Haut bemerkt, welche ihn zuerst an „Syphilis denken
ließ", und dies Ereignis treibt ihn in meine Sprech-
stunde. (Wie P. mir versichert, hat er niemals ein
„Geschwür" oder Knoten am Gliede gehabt.)
Objekt. Befund: Urethritis conorrh. acuta
anterior et posterior: stark eiteriges Sekret, welches
sich spontan und auf Druck entleert, massenhaft
Gonokokken intrazellulär, akzidenteller (?) Fand
von eosinophilen Zellen. Aaf der Haut von
Hand- und Faßrücken, des Rumpfes, vereinzelt auch
im Gesicht Flecke von roter oder blauroter Farbe,
von der Größe einer Hirse bis zu der einer Linse
und noch größer, ein Fleck am Fußracken von fast
der Größe eines Dreimarkstückes, welcher in der
Mitte dunkler, am Rande heller rot gefärbt ist.
Die Flecke sind ohne körperliches Unbehagen auf-
35
460
Orlipeki, Gibt •■ gonorrhoisch« Exanthem«?
rThempentlaehe
L Monatshefte.
getreten, haben sich teilweise schnell vergrößert.
Auf einigen der Flecke haben sich Bläschen ge-
bildet.
Diagnose: Ery thema exsudativum multiforme
(vesiculosum s. bullosum) gonorrhoicum. Das
Fehlen jeder anderen Ursache für das Auftreten
dieser Hautveränderung (keine Verdauungsstörung,
kein epidemisches Auftreten in der Zeit u. s. w.)
ließen mich sofort einen inneren Zusammenhang
zwischen beiden Krankheiten vermuten.
Verlauf und Therapie: Der Erfolg der
Thorapie bestätigte die Diagnose: nur mit Verord-
nung von Ruhe und reizloser, aber kräftiger Kost
und zugleich erfolgender Behandlung der
Gonorrhoe, ohne jede äußere oder innere Be-
handlung (nur auf die bläschentragenden Flecke
wurde ein Streupulver aus Acid. salicyl. u. Magn.
carbon. getan), schwindet das Exanthem fast
schrittweise mit der Abnahme der gonor-
rhoischen Erscheinungen.
IT« Fall« Scarlatinaähnliches Exanthem bei
Deferentitis gonorrhoica.
Anamnese: P. hat sich vor 6 Wochen mit
Gonorrhoe infiziert, der von ihm konsultierte Arzt
verordnete Injektionen. Da P. beruflieft sich wenig
schonen kann, viel reisen muß, so bekommt er
eines Tages Schmerzen in der Leistengegend, die
ihm das Gehen erschweren, und in diesem Zustande
sucht P. mich auf.
Objekt. Befund: Urethritis gonorrhoica
anterior et posterior, Deferentitis gonorrhoica.
Verlauf: Ich rate P. die Injektionen zu
sistieren und empfehle Bettruhe. Wie voraus-
zusehn, wird Absonderung stärker. Wie ich P.
abends in seinem Hotelzimmer aufsuche, finde ich
ihn mit hochrotem Kopf, fieberglänzenden Augen,
in sichtlicher Unruhe. P. klagt über Kopfweh,
Eingenommenheit, Temp. 39,5. Schmerzbaftigkeit
und Schwellung des Samenstranges nachgelassen,
Nebenhoden noch frei, Harnröhrensekret sehr reich-
lich, Gonokokken massenhaft, Urin enthält Spuren
von Eiweiß. Am nächsten Tage Temp. 38,7, Kopf-
weh geringer, etwas Schlaf in der Nacht, auf der
Haut des Bauches, der Brust, der Ober-
schenkel und der Arme zeigt sich ein
scharlachähnliches Exanthem, welches an
den Armen bereits abzuschuppen beginnt. Am
Abend dieses Tages Temp. 37,0, der am Morgen
erst entdeckte Hautausschlag ist jetzt bereits überall
in starker Abschuppung begriffen, in 2 Tagen war
die Abschuppung vollendet, von dem „Scharlach"-
Ausschlag war nichts mehr zu sehn.
Epikrise: Während der Exazerbation einer
gonorrhoischen Infektion war hier ein scarlatina-
ähnliches Exanthem aufgetreten, welches nach seinem
Verlauf und schnellem verschwinden nur als gonor-
rhoischen Ursprunges zu erklären ist.
Während ich diese Arbeit niederschreibe,
hatte ich Gelegenheit, einen 5. sichern Fall
von Haut- Anomalie in ursächlichem Zu-
sammenhang mit Gonorrhoe, und zwar dies-
mal chronischer Gonorrhoe, kennen zu lernen.
V. Fall« Urticaria gonorrhoica.
Anamnese: P., Kaufmann von außerhalb, gibt
an vor 15 Jahren schon einmal Tripper gehabt zu
haben, der mit Hodenentzündung einhergegangen
sei, und gibt ferner an, daß er damals einen
quaddelartigen Ausschlag auf der Haut
längere Zeit gehabt hatte, welcher durch
starkes Jucken ihn arg gepeinigt, zeitweise leicht
und dann wieder stärker aufgetreten sei und
— auch für den Patienten in auffälliger Weise —
erst dann aufgehört hätte, als er von seinem
Tripper befreit war. Darüber seien 13 Jahre
hingegangen, ohne geschlechtliche Infektion, ohne
sonstige Krankheit. Vor 2 Jahren hatte er das
Unglück, sich wieder frisch mit Tripper anzustecken;
und dieses Mal war die Krankheit äußerst hart-
näckig, dergestalt, daß er trotz mehrfacher Behand-
lung noch jetzt an einem dünnflüssigen, bald
milchigen, bald farblosen Harnröhrenfluß leidet.
Obwohl er infolge der vielfach vergeblich ver-
suchten Heil versuche „gegen die Krankheit all-
mählich indifferent" geworden sei, müßte er doch
wieder einen Arzt befragen: denn seit 14 Tagen
habe sich dieselbe Hauterscheinung gezeigt,
welche ihn schon vor 15 Jahren bei seinem ersten
Tripper belästigte: nämlich ein über den ganzen
Körper bald schwach, bald stärker auftretendes
Jucken mit Quaddelbildung. Dies der Bericht des P.
Objekt. Befund: Auf Bauch- un d Brusthaut
mehrere linsen- bis markstückgroße weißliche Er-
habenheiten. Macht man mit dem Finger-
nagel auf der Haut einen mäßig starken
Strich, so tritt nach augenblicklichem Ver-
schwinden des Erblassens der berührten
Hautstjelle eine deutliche Rötung und
Schwellung derselben ein. Außerdem: Ure-
thritis gonorrh. posterior, Prostatitis subacuta,
Prostatasekret gelb -eiterig, zahlreiche Zellen, Gono-
kokken, Uringläserprobe beide Male positiv. Urin
enthält kein Eiweiß.
Diagnose: Urticaria alba et factitia gonor-
rhoica.
Verlauf und Therapie: Prostata- Massage,
Urethral -Druckirrigationen mit Alb argin- und
dann hypermang. Kai. -Lösung. Innerlich nichts.
Kein äußeres Mittel für die Haut. 4 wöchentliche
Behandlung der Gonorrhoe beseitigt die Tripper-
reste und damit verschwindet zugleich auch
vollständig die vorhanden gewesene Nei-
gung zur Quaddelbildung.
Das sind die 5 Beobachtungen ans meiner
Praxis, welche mir den schon an und für
sich theoretisch sehr einleuchtenden Zusam-
menhang zwischen Gonorrhoe und gewissen
Hauterkrankungen im Sinne des sicheren
Vorkommens gonorrhoischer Hautmanifesta-
tionen zur wissenschaftlichen Überzeugung
erhoben. Diese Fälle liegen so, daß, wollte
man hier einen Kausalnexus leugnen, man
den Dingen geradezu Gewalt antun müßte. —
Die Hauterscheinungen betrafen Leute, welche
vor ihrer Erkrankung an Gonorrhoe an Haut-
erkrankungen nicht gelitten hatten. Die Ver-
änderungen traten bisweilen nicht bloß wäh-
rend des Bestehens einer gonorrhoischen
Genitalaffektion, sondern mit Vorliebe gerade
dann auf, wenn diese aus irgend einem Grunde
eine Exazerbation erlebt hatte. Störungen
von seiten der Verdauungsorgane waren in
meinen Fällen nicht vorhanden, obwohl sonst
bekanntlich Koprostase eine häufige Kon-
sequenz der Tripperinfektion zu sein pflegt.
Irgendwelche innere Medikation, welche es
erlaubt hätte, an Arzneiexantheme zu denken,
hatte in meinen 5 Fällen gleichfalls nicht
stattgefunden. In dem einen Falle (I) kam
es zu einem Rezidiv der Gonorrhoe, und
X IX. Jahrgang. "I
September 190&J
Orlipskl, Gibt «s gonorrhoisch« Exanthem«?
461
siebe da, auch die Hauterscheinungen, in
diesem Falle eine Urticaria, stellen sich
wieder ein. Im Falle Y kommt es bei zwei
zeitlich um 15 Jahre auseinanderliegenden
Gonokokkeninvasionen beide Male zu der-
selben Form von Hauterscheinung. In einem
Falle wird gegen die Hautveränderung ein
Mittel verwendet, was sonst derartige Er-
scheinungen sicher bekämpft. Vergebens; nur
die urethrale, d. h. antigonorrhoische = ätio-
logische Therapie hilft; denn prompt mit
der Abheilung der Gonorrhoe verschwindet
auch die Neigung zu Erkrankungen der Haut.
Bei dieser Sachlage dürfte es schwer halten,
an einen ursächlichen Zusammenhang zwischen
Gonorrhoe und Hautaffektionen nicht zu
glauben, die Lehre von der Existenz der-
artiger Exantheme nicht zum festen Besitz-
stande der medizinischen Erkenntnis zu er-
heben. —
Sehen wir uns in der Literatur nach
ähnlichen Beobachtungen um, so müssen wir
zurückgreifen auf das 18. Jahrhundert. Denn,
wie oben schon einmal bemerkt, wurde bereits
1781 von einem damaligen Berliner Arzte
Seile der Satz aufgestellt, daß „durch Re-
sorption von Trippereiter Hautausschläge ent-
stehen können a. Seile führt auch einige
Krankengeschichten kurz an. Doch, wie wir
es oft in der Geschichte der Wissenschaft,
und speziell der medizinischen, erleben, diese
Beobachtung wurde vergessen oder, was noch
schlimmer, einer Beachtung nicht gewürdigt.
Aber grundlegende Wahrheiten lassen sich
nicht totschweigen; allem Druck zum Trotz
kehren sie gleichwohl immer wieder: Naturam
expellas furca, tarnen usque recurret. Der
Pariser Dermatologe Pidoux14) erweckt die
lange begraben gewesene Frage zu neuem
Leben, indem er 1866 auf die Möglichkeit
der Verbindung von Gonorrhoe mit Haut-
ausschlägen hinweist. Pidoux ist geneigt,
die Tatsache des Vorkommens von Haut-
erscheinungen bei Tripper als Beweis für
seine Hypothese von der diabetischen Natur
des Trippers zu betrachten. Nach Pidoux
schafft der Tripper stets einex&hnliche Blut-
entmischung wie Masern, Scharlach, Typhus,
welche gleichfalls mit Hauterscheinungen ein-
hergehen, und, so wie hier die Hautmani-
festationen der äußere Ausdruck einer Djs-
krasie seien, genau so verhalte es sich mit
den Tripperexanthemen. — Ganz abgesehen
von dieser Erklärung, über die wir am Schluß
der Arbeit noch sprechen werden, hat Pidoux
das Verdienst, auf die Koinzidenz beider
Organanomalien hingewiesen und die ganze
Frage wieder in Fluß gebracht zu haben.
Denn schon im nächsten Jahre kommt
Fournier16) mit einer sehr bemerkenswerten
Arbeit, in der er allerdings Pidoux' Er-
klärungsversuch bekämpft, aber in der Haupt-
sache sich als entschiedenen Anhänger der
Lehre des Vorkommens gonorrhoischer Ex-
antheme bekennt.
Jedenfalls mehren sich jetzt die Mit-
teilungen einschlägiger Fälle: 1868 be-
schreibt Meuriot16) einen Fall, wo im Ver-
laufe eines Trippers „Gelenkerscheinungen,
Endokarditis und Hautausbruch u stattfand.
Meuriot schildert „runde, dreimarkstück-
große Ekchymosen und unter der erhabenen
Epidermis eine seröse schwärzliche Flüssig-
keit an der rechten Schulter, ähnliche Stellen
am Penis, hinter dem rechten Ohr, an der
rechten Brustseite, an der inneren Seite des
rechten Ellbogengelenkes, in der Nähe des
rechten Knies, des rechten Trochanter und
endlich in der Umgebung des rechten Malle-
olus internus". In Verbindung mit den Ge-
lenkerscheinungen ergibt das jedenfalls das
Bild der Purpura rheumatica — auf gonor-
rhoischer Basis. —
Auf Meuriot folgt Molenes17). In der
Arbeit „Sur un cas d'erytheme blennorrha-
gique" erkennen wir bereits die Wirkung der
Ne iß er sehen Entdeckung; denn Molenes
beschuldigt direkt als Erzeuger der Haut-
manifestationen den Gonokokkus. — Die
Darstellung Molenes' war so beweiskräftig,
daß Finger18) (Wien) daraufhin ohne weiteres
die Existenz gonorrhoischer Ilautanomalien
zugibt; und kurz darauf, 1880, ist Finger
bereits in der Lage, aus eigener Beobachtung
drei Fälle von Purpura rheumatica blennor-
rhagica mitzuteilen, in welchen der Verlauf,
die Beeinflussung des eines Krankheitspro-
zesses durch den anderen und die Therapie
einen Zusammenhang zwischen Tripper und
Hautkrankheit beweisen. Diese Fing ersehe
Arbeit erscheint mir für die vorliegende
Frage von solcher Bedeutung, daß ich wenig-
stens eine der drei Krankengeschichten nach
Finger hier kurz skizzieren mochte.
Fingers Fall I. Purpura rheumatica gonor
rhoiea.
Anamnese: P., 26 J. alte Magd, am 31. März
1880 aufgenommen, bis vor 2 Tagen gesund ge-
wesen, plötzlich abends Schüttelfrost, in der Nacht
schmerzhafter Harndrang, Brennen beim Urinlassen,
Schmerzen in den Gelenken und am nächsten
Morgen „Ausschlag an den Beinen".
Objekt. Befund: An den Streckeeiten der
Beine besonders dicht gedrängte, teils flache, teils
über die Hautfläche erhabene Hämorrhagien von
der Größe eines Stecknadelkopfes bis zu der einer
Linse. Bewegung im Fuß- und Kniegelenk schmerz-
haft, Druck auf Wadenmuskulatur schmerzhaft.
Schleimhaut der Vagina und des Vestibulum mäßig
gerötet, aus der Harnröhre eiteriges Sekret aus-
druckbar, Harn setzt schleimiges, mit wenigen Blut-
gerinnseln gemischtes Sediment in reichlicher Menge
ab, reichlich Albumen. Temp. nicht erhöht.
35*
462
Orllpeki, Qibt •• fonorrhoitefae Exantheme?
("Therapeut!
L Monatihei
ntlaeka
Moa&tahftfte.
Verlauf: Bis zum 14. April blaßt die Purpura
ab, ohne Nachschübe, Gelenkschmerzen lassen nach,
Harn wird frei von Eiweiß, Harnröhrensekret ver-
schwindet unter Zinkeinspritzung.
Rezidiv: Am 16. April war in der Nacht von
neuem unter Gelenkschmerzen und vermehrtem
Harndrang Purpura aufgetreten, im Harn Eiweiß
und Blat. Bis zum 1. Mai verlieren sich unter geeig-
neter Behandlung die Purpura und die Gonorrhoe-
Erscheinungen.
Fingers drei Fälle lehren, daß wenig-
stens Purpura rheumatica auf gonorrhoischer
Grundlage entstehen kann.
Mit Finger schließen aber die Arbeiten
auf diesem Gebiete nicht ab. "Wir lernen
eine Schrift von L.Andret19) kennen (1884):
„Des manifestations cutan£es de la blennor-
rhagiea, in welcher folgende Thesen auf-
gestellt werden: 1. Die Gonorrhoe ist eine
virulente, der Verallgemeinerung fähige
Krankheit. 2. Die Gonorrhoe äußert sich
auf der Haut a) in Form lymphatisch -her-
petischer Ausschläge, b) als knotiges und
papuloses Erythem, c) als scharlachähnliches
Exanthem. — Fugen wir hinzu, daß Purpura
und Urticaria gonorrhoica vorkommen, so
dürfte diese Darstellung an Vollständigkeit
gewinnen. —
Es folgt Ballets80) Abhandlung über
„Pseudo-Scarlatina", Michelsohns81) Mit-
teilungen von Urticaria bei Gonorrhoe,
Arbeiten von Petrone und Klippel über
gonorrhoische Exantheme und "W. A. Phi-
lipp 8 **) Publikation über den Zusammen-
hang von Purpura mit Gonorrhoe, mit Er-
wähnung eines Falles, in welchem Flecke
auf der Haut auftraten, die teils denen des
Erythema nodosum, teils denen der Purpura
urticans ähnlich waren, und schließlich der
Fall von Pick28), wo quaddelformiger Haut-
ausschlag bei einer gonorrhoisch infizierten
Frau aufgetreten war und mit Ablauf des
gonorrhoischen Prozesses die Urticariaanfälle
auf horten. —
Die Mitteilungen über gonorrhoische Haut-
erkrankungen treten nun immer' zahlreicher
auf. Menard84) veröffentlicht fünf Fälle;
Perrin25) bespricht einen Fall von Erythem
bei Gonorrhoe, E. Frank26) eine Urticaria
gonorrhoica, und schließlich folgt Ray-
naud87) mit drei sehr interessanten Beob-
achtungen.
Raynaud. Fall I litt an chronischem
Tripper und bot im Verlaufe von 3 Monaten
anfangs ein skarlatinöses, dann ein herpeti-
formes, zuletzt ein ekzematöses Exanthem.
Raynaud. Fall II erkrankte während
des Bestehens einer Gonorrhoe an einem
fünf Tage dauernden, rubeolaähnlichen Aus-
schlag, welcher ohne Beschwerden, ohne
Fieber abheilte.
Raynaud. Fall III machte anfangs die
Diagnose zweifelhaft zwischen Scarlatina,
Purpura oder gonorrhoischem Exanthem;
Raynaud entschied sich für Purpura gonor-
rhoica, weil stets mit zunehmender Intensität I
des Ausflusses eine Exazerbation des Ex-
anthems erfolgte.
Erwähne ich nun noch die Arbeiten von
Paltauf11) und Horwitz11), so betreten
wir modern -bakteriologischen Boden, indem
hier zum ersten Male die Hautaffektion als
echte Gonokokkenmetastase — auch nach
dem bakteriologischen, nicht bloß dem klini-
schen Befund — erklärt wird.
In ähnlichem Sinne bewegt sich eine
bakteriologische Untersuchung von Sahli19)
(Bern), welcher den Gonokokkus in Haut-
un d Unterhautabszessen fand, und schließ-
lich zwei Beobachtungen Toutonsf8), der in
Herpesb laschen „Diplokokken fand, welche von
Gonokokken nicht zu unterscheiden waren",
und andererseits in vier Fällen von Gonorrhoe
ein mit rheumatischen Empfindungen im An-
satz des Calcaneus (sogen. Achillodynie) ein-
hergehendes. Erythema multiforme ursächlich
auf Verschleppung von Gonokokken zurück-
führte.
Das ist alles, was mir aus der Literatur
über diesen Gegenstand zugänglich war.
Das Vorkommen einer Hautkomplikation des
Trippers ist hiernach wohl über jeden Zweifel
erhaben, wenn auch merkwürdigerweise immer
noch nicht genügend bekannt. —
Es bleibt noch übrig, die Frage zu be-
antworten: "Wie entstehen diese Hautver-
änderungen? Soweit ich sehe, hat man im
Laufe der Zeit 6 verschiedene Erklärungs-
wege eingeschlagen, und zwar: Das Tripper-
exanthem sei
1. eine Erscheinungsform der Tripper-
diathese,
2. ein Arzneiexanthem,
3. eine Folge der mit Gonorrhoe häufig
vergesellschafteten Koprostase , also
eine Autointoxikation vom Darme her,
4. eine Angioneurose,
5. eine Gonokokkenmetastase,
6. eine Gonokokkentoxin Wirkung.
Treten wir nun noch kurz in eine
kritische Würdigung dieser verschiedenen
Hypothesen ein, so wollte Pidoux, der
Vater der Lehre Ton der Tripperdiathese,
das gonorrhoische Exanthem nach Analogie
der bei Syphilis, Tuberkulose, Lepra auf-
tretenden Hautveränderungen aufgefaßt wissen
als Symptom einer durch die Tripperkrank-
heit bewirkten Blutveränderung. Obwohl
damals die Mikrobe der Gonorrhoe noch
nicht gefunden war, mutet uns doch diese
Hypothese wie eine Vorahnung dieser Ent-
J
XIX. Jahrgang. *1
September 190S.J
Orlipski, Gibt — gonorrhoisch* Exantheme?
463
deckung an. Aber trotz dieses guten Kernes
wurde sie hauptsächlich bekämpft von Four-
nier, welcher alles mit Hilfe der mit dem
Tripper verbundenen Anomalien des Allge-
meinbefindens erklärt; nur die Epididymitis,
Prostatitis, Cystitis, Adenitis inguinalis seien
wirkliche Trippererscheinungen, die Ex-
antheme dagegen durch die mit dem Tripper
verbundene und durch die Tripperkur ver-
änderte Lebensweise zu erklären. „Der
menschliche Körper* — sagt Fournier16) —
„wird durch die Eiterung, durch Schmerzen,
Erektionen, Säfteverluste, durch die infolge
der Therapie oft entstehenden Darmkatarrhe
u. s. w. in seiner Ernährung sehr beein-
trächtigt. Endlich ist der psychische Zustand,
die ängstliche Gemütsstimmung, die Hypo-
chondrie, der moralische Zustand des Kran-
ken nicht gering anzuschlagen. Der Kranke
nimmt aus Sorge um seinen Zustand keine,
wenig oder ungeeignete Nahrung zu sich, ent-
behrt der Bewegung in frischer Luft u. s. w. —
Kurz, es wirken eine Menge von Umständen
auf den Kranken ein, welche seine Korper-
ernährung herabsetzen. Man wundere sich
also nicht, daß ein Tripperkranker mit
schlechter Ernährung, bei schwächlichem
Körper, bei früher unabhängig von Tripper
habituellen Hautaffektionen vielleicht auch
jetzt unter diese begünstigenden Umständen
Eruptionen auf der Haut bekommt. Man
beachte diese Erfahrungen nicht als direkte,
sondern als mittelbare Folgen des Trippers
und lasse die Tripperdiathese bei Seite."
Gegen die von Fournier gegebene Er-
klärung der gonorrhoischen Exantheme möchte
ich mir einzuwenden erlauben, daß die von
ihm geschilderten Ursachen bei allen Tripper-
kranken vorliegen; gonorrhoische Exantheme
bekommen aber doch nur einige wenige.
2. Arzneiexanthemhypothese. Man er-
klärt das Exanthem als Wirkung der bei
Gonorrhoe gereichten Balsamica (Kubebe,
Kopaivabalsam, Sandelholzöl u. s. w.). Balsa-
mische Hautaffektionen sind bekannt. 1817
hat bereits Montegre darauf hingewiesen.
L. Lewin29) erklärt sie für eine „örtliche
Wirkung der in die Haut gelangten flüchtigen
Terpene des Balsams", welche die Haut als
Ausgangspforte aus dem Körper benutzen
und an den Ausscheidungsplätzen Reizungen
hervorrufen. — Wenn das auch zugegeben
werden kann, so möchte ich gegen die Hypo-
these des Arzneiexanthems einwenden:
1. Es gibt viele Fälle von Gonorrhoe
ohne Exanthem, wo von Anfang an
eine innere Medikation stattfand.
2. Es ist Tatsache, daß Balsamica, bei
anderen Krankheiten gegeben, viel sel-
tener Erytheme erzeugen. (Molen es.)
3. Es gibt eine Reihe von Fällen mit
gonorrhoischem Exanthem, wo kein
Tropfen Balsam genommen wurde.
Schließlich scheinen mir die balsamischen
Exantheme doch anders als die hier in Rede
stehenden zu sein; denn man kennt wohl
Uticaria und papulöse Ausschläge ex balsa-
micis, aber von Purpura-Eruptionen habe ich
nichts finden können, welche doch gerade
bei Gonorrhoe häufiger vorzukommen pflegen ;
auch das gonorrhoische Erythema multiforme
finde ich als Balsamnebenwirkung nirgends
erwähnt. —
3. Ein anderer Erklärungsversuch rührt
von M. Flesch30) her; als ob gonorrhoische
Exantheme nur bei Männern auftreten, führt
er die bei Gonorrhoe der Männer so häufig,
nach Flesch stets vorhandene Prostata-
schwellung als Ursache von Koprostase, da-
mit als Veranlassung zu autochthoner Darm-
intoxikation an, die sich in Hautaffektionen
äußern könne.
Nun ist es ja zweifellos, daß auf dem
Boden einer Koprostase eine Selbstvergiftung
vom Darme her sich entwickeln kann. Wissen
wir doch durch eine erst vor kurzem er-
schienene Arbeit Wallersteins31)) daß es
gelingt, durch experimentelle Obstipation an
Hunden und Kaninchen Albuminurie und
Zylindrurie zu erzeugen, und bei Autopsie
hat man in den Nieren Blutfüllung der
Glomerulu8kapillaren, in den gewundenen
Harnkanälchen Desquamation des Nieren-
epithels, teilweise zylinderförmige Gebilde
aus degenerierten Zellen, in den Henleschen
Schleifen Cytoporose, reichliche Zylinder-
bildung — alles erst als Folge der Obsti-
pation — festgestellt, genau dasselbe, was
auch bei chemischer Vergiftung (Sublimat,
Kantharidin) in den Renes konstatiert wird.
Wenn solche Veränderungen an den Nieren
Platz greifen können, so kann man es schwer
für die Haut ausschließen; was den Nieren
recht ist, ist der Haut vielleicht billig.
Aber gleichwohl erscheint mir die Flesch -
sehe Hypothese nicht stichhaltig; denn erstens
kennen wir gonorrhoische Exantheme des
weiblichen Geschlechts, welches bekanntlich
keine Prostata oder etwas ihr Ähnliches be-
sitzt; zweitens habe ich Fälle von Gonorrhoe
gesehen, wo die akuteste Prostatitis mit
Schwellung der Drüse zu schwersten De-
fäkationsstörungen führte, ohne daß auch
nur eine Spur von Exanthem sich zeigte.
Hiernach bin ich geneigt, dieser Er-
klärung nur eine gelegentliche Bedeutung,
keine wesentliche, beizumessen.
4. Angioneurose. Perrin25) erklärt die
gonorrhoischen Exantheme für Angioneurosen,
bewirkt durch den Reiz, welchen die Gonor-
464
Orliptki, Qlbt es gonorrhoisch« Exantheme?
[Therapeutische
L Monatshefte.
rhoe auf die Vasomotoren ausübe. „Auch
Balsamica seien für sich allein nicht imstande,
Erytheme zu erzeugen, sie täten das nur
auf einem von der Gonorrhoe vor-
bereiteten Boden."
Frank36) neigt zu der Annahme, daß
die Uticariaeruptionen bei Tripper auf neu-
ritischer Grundlage beruhen: „Es ist der
kontinuierliche Reiz von Seiten des Genital-
systems, welcher die veränderte Erregbarkeit
der vasomotorischen Nerven zur Folge hat,
andererseits sehen wir in der periodischen
Steigerung der Eruption, daß die normalen
Funktionen der Genitalien als auslösender
Reiz anzusehen sind." —
Daß in der Tat Reizungen, welche vom
Genitaltrakt ausgehen, öfter Exantheme
machen, dafür wird angeführt die starke
Pigmentation der Brustwarzen und der Linea
alba zur Zeit der Schwangerschaft, das Auf-
treten von Hautverfärbung während der Men-
struation. Schon Hebra hatte 1855 auf
einen solchen Zusammenhang hingewiesen;
in einer Schrift „Über das Verhältnis einzelner
Hautkrankheiten zu den Vorgängen in den
inneren Sexualorganen des Weibes" ("Wochen-
blatt der „Zeitschrift der Gesellschaft der
Ärzte") spricht Hebra es aus, daß „solche
Exantheme einer örtlichen Behandlung
nicht weichen, sondern nur durch die
Heilung des Grundübels, des Sexual-
leidens, beseitigt werden müssen".
Menstruale Exantheme beschreiben ferner
Stiller38), Wilhelm33), Joseph34), nämlich
Urticaria, Ekchymosen, Ekzem, Akne u. s. w.
Das wird als Beweis für die Möglichkeit
reflektorischer, d. h. neuritischer resp. vaso-
motorischer Entstehung von Hautexanthemen
angesehen.
G. Lewin35) gelang es, durch mechanische
Reizung der Harnröhre Erythem hervorzu-
rufen, und Lewin erklärt das Erythema
exsudativum, auch das gonorrhoische, für
eine vasomotorische Neurose, ähnlich
sein Schüler Heller36).
Wir können mit dieser Annahme uns
einverstanden erklären, selbst wenn wir in
dem speziellen Fall der Gonorrhoe in dem
Kokkus oder seinem Toxin den vasomotori-
schen Reiz erblicken.
5. und 6. Reine Gonokokkenmetastase
oder Trippergiftwirkung — ohne das Binde-
glied der Angioneurose.
Da man die Gonokokken in Haut und
Unterhaut gefunden (cf. Sahli, Paltauf,
Touton), so erscheint es mir durchaus mög-
lich, daß die Gonokokken in die Haut-Blut-
Lymphgefäße verschleppt, in dem Gewebe
der Haut angesiedelt werden und nun ent-
weder direkt Hautveränderungen hervorrufen
oder durch ihr Toxin. In einer Reihe von
Fällen sind es sicher nur die giftigen Stoff-
wechselprodukte , welche die Exantheme
machen. So erklären wir uns die Exantheme
bei Masern, Scharlach, Diphtherie, Röteln,
Pocken, Windpocken, Typhus und Syphilis,
so auch die nach Tuberkulin- und Diphtherie-
seruminjektion beobachteten Exantheme ; genau
so verhält es sich mit manchen Exanthemen
im Gefolge der Gonorrhoe. (Buschke37)
veröffentlichte neuerdings drei Fälle von
Gonorrhoe, bei denen ein typisches Erythema
nodosum auftrat, dessen Entstehung er auf
Toxinwirkung zurückführt.)
Hiermit bin ich am Schluß. Meine Ab-
sicht ist, auch meinerseits in bescheidenem
Umfange dazu beizutragen, daß die .Ärzte
auf dieses wichtige Gebiet noch mehr wie
bisher aufmerksam werden; geschieht dies,
so ist der Zweck dieser Arbeit erfüllt.
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Pankreon als Digestivum.
Von
Dr. E. Koch in Aachen.
Bei der Lektüre der Arbeiten über Pan-
kreon, wie sie uns bis jetzt vorliegen, kann
man sich des Eindruckes nicht erwehren, als
hätten sich die meisten Untersucher nicht von
der Idee leiten lassen, in dem Pankreon ein
spezifisches Mittel zu erblicken, als hätten
sie vielmehr dem Präparat von Anfang an
ein größeres Feld der Wirksamkeit zugetraut
und die ausschließliche Behandlung von Pan-
kreaserkrankungen mit demselben für ein
viel zu eng umgrenztes Gebiet angesehen.
Selbstverständlich sind es pathologische Vor-
gänge des Digestionsapparates, an denen das
Mittel zumeist erprobt wurde, und die für
die Therapie wichtigsten Arbeiten sind aus
der Feder von Spezialärzten für Magen- und
D armleid en hervorgegangen .
Sie reden fast ausnahmslos dem Pankreon
als einem symptomatischen Mittel das Wort
und rücken es damit dem Arzte, der in all-
gemeiner Praxis das Feld seiner Tätigkeit
erblickt, bedeutend näher. Dabei soll sich
hinter „symptomatisch" nicht etwa eine Art
Vorwurf verstecken, als käme es nämlich
dem Praktiker weniger auf das ätiologische
Moment an. Es sollte nur damit angedeutet sein,
daß der praktische Arzt recht häufig in die
Lage kommt, auf ein symptomatisches Mittel
zurückgreifen zu müssen, ein Umstand, der
in der Art seiner Berufstätigkeit eine ein-
wandfreie Erklärung findet.
Seitdem die Medizin anfing, in striktem
Sinne eine Wissenschaft zu werden, kamen
die symptomatischen Mittel etwas in Mißkredit,
und zwar aus einem doppelten Grunde. Man
lächelte über den Arzt alten Schlages, der
für alles Besondere eine besondere Mixtur
hatte, von deren Wirksamkeit er überzeugt
war. Natürlich konnten Enttäuschungen nicht
ausbleiben, und hier liegt der zweite Grund.
Wir haben der Zahl nach viel mehr zuver-
lässige Symptomatica als Specifica, wir werden
sie aber noch recht lange nötig haben, wahr-
scheinlich so lange, bis das Kraut gefunden
ist, das gegen den Tod gewachsen ist.
Diese Notwendigkeit mag es bedingen,
daß man in letzter Zeit angefangen hat,
Organpräparate zum symptomatischen Ge-
brauch heranzuziehen, und zu diesen Präpa-
raten gehört das Pankreon. Man hat es u. a.
angewendet bei Karzinomen des Ösophagus,
des Magens, des Darmes, bei Magenektasien
und Darm8trikturen, bei Icterus catarrhalis,
Dysenterie, bei konstant bestehenden Magen-
erscheinungen im Rekonvaleszentenstadium,
speziell des Typhus, bei hartnäckiger Anorexie
bei Lungentuberkulosen, bei Tabes.
Es findet sich an anderer Stelle1) ein
ausführliches Referat über diese Fälle zu-
sammengestellt. Hier soll daran nur die
Frage geknüpft werden: ist man angesichts
dieser Tatsachen nicht berechtigt, aus dem
Pankreon ein symptomatisches Mittel in weite-
rem Sinne, ein Verdauungsmittel, zu machen?
Das Pankreon ist ja schon zum Gebrauch
herangezogen worden, wenn toxische Ein-
flüsse die Sekretion des Magens gehemmt
haben, unter denen Alkohol und Nikotin im
alltäglichen Leben voranstehen. Es scheint,
als ob hier die Fälle von schwerer lang*
dauernder Diarrhöe der Alkoholiker, bei
denen die Untersuchung der Faeces unverdaute
Speisebröckel und Sehnenfetzen ergab, der
Pankreontherapie durchaus zugänglich sind.
In dieses Gebiet möchten wir auch jene
Fälle rechnen, bei denen es nach langwierigen
akuten und chronischen Krankheitsprozessen
und während derselben bei mangelhafter
Funktion derVerdauungsorgane zu anämischen
!) Allgemeine medizinische Zentralzeitung 1903,
No. 37.
466
Koch, Pankreon als Digestivum.
rThorapeotiaehfl
L Monatshefte.
Konstitutionsanomalien gekommen ist. Wir
haben hier, um uns auf das Feld des Spe-
ziellen zu begeben, einige Fälle von Syphilis
der Spätperiode im Auge. Die Patienten
waren in ihrer Ernährung ganz bedeutend
heruntergekommen und vertrugen eine spezi-
fische Kur, welche dringend indiziert war,
sehr schlecht. Genaue Diätvorschriften, künst-
liche Nährpräparate, eine Milchkur, auf die
man von vornherein wie bei ähnlichen Fällen
seine Hoffnung setzte, alles ließ im Stich.
Man nahm seine Zuflucht zum Pankreon
im Sinne des Digestivums und gab es zu-
sammen mit einer aufs neue verordneten
Milchkur. Die Milch wurde jetzt vom ersten
Tage an vertragen, und bald konnte man
unter denselben Maßregeln zur Verabreichung
größerer Milchquantitäten übergehen. Durch
die Besserung der Gesamtkonstitution traten
dann die Komplikationen der antisyphiliti-
schen Kur mehr und mehr in den Hinter-
grund, später sogar fast ganz zurück.
Es begegnen dem Praktiker genug Fälle,
wo diätetische Kuren, unter denen die Milch-
kur an hervorragender Stelle steht, schlecht
vertragen werden, wo der ganze therapeu-
tische Erfolg von einer solchen Kur abhängt,
wo man modifizieren muß, trotzdem daß die
ungeschmälerte Vorschrift gerade am Platze
wäre. Wenn man hier durch Verabfolgung
eines einfachen Mittels die Verhältnisse gün-
stiger gestaltet, so wird das einfache Mittel
zu einem Helfer in der Not. Wenn man aber
nach dieser Seite hin die Pankreonwirkung
aufmerksam verfolgt, muß man auf die Idee
kommen, das Mittel in Anwendung zu ziehen,
wo ausgesprochene pathologische Verhältnisse
nicht einmal vorliegen. Der eine kommt bei
seinem schwachen Magen in Konflikt mit ge-
sellschaftlichen Verpflichtungen, bei denen
das Diner eine große Rolle spielt. Der andere
kann alles genießen, nur eine gewisse Speise
nicht, auf die er sich — vielleicht grade
deshalb — kapriziert. Der dritte verträgt
während des Tages gar nichts, kann erst des
Abends und dann alles essen, kommt aber
dabei um seine Nachtruhe. Solche Leute
können oft aus einleuchtenden Gründen ihre
Lebensweise nicht ändern und verlangen des-
halb von ihrem Hausarzt ein Rezept. Man
könnte hier vielleicht einem Organpräparat
vor verschiedenen Extrakten und Tinkturen,
Säuren und Mineralwässern den Vorzug geben.
Und wenn Prophylaxe die beste Therapie
ist, so bleiben wir nur im Rahmen unserer
Betrachtungen, wenn wir dem Gedanken Raum
geben, daß sich überall da, wo an den Ver-
dauungsapparat größere Ansprüche gestellt
werden, als er deren gerecht werden kann,
eine gleichzeitige Zufuhr von Verdauungs-
fermenten nur ah sehr angenehme Zugabe
bemerklich machen kann. Wir möchten auch
dies noch durch ein kurzes Beispiel illustrieren.
Siegert hat die Wirkung des Pankreons
am Organismus der Kinder eingehend studiert
und hat dieselbe lobend hervorgehoben. Vor
allem will er bei guten Erfolgen keine Neben-
wirkungen beobachtet haben. Es liegt daher
durchaus nichts Gewaltsames in dem Ge-
danken, das Mittel in geeigneten Fällen der
Säuglingsnahrung von vornherein hinzuzu-
geben, bevor letztere durch mangelhafte Ver-
dauungsprozesse im Magendärmkanal Unheil
angerichtet hat. Es existieren bereits Ver-
suche mit anderen Fermenten, nur scheint
uns die Anwendung der Pankreonzucker-
tabletten, die als solche der Nahrung ein-
fach zugesetzt werden, überaus einfach. Je
weniger manipuliert wird, desto weniger wird
irgend welchen Keimen Gelegenheit gegeben,
in die sterilisierte Nahrung zu gelangen, und
man kann die Wichtigkeit gerade dieses Um-
standes nicht von der Hand weisen.
Ein bereits angedeuteter Vorzug des Pan-
kreons kann wohl am Schluß noch einmal
hervorgehoben werden. Die Wirkung der
Pankreasfermente ist fast im ganzen Umfange
im Präparat erhalten. Die Art der Darstel-
lung macht diesen Umstand erklärlich. Man
klagt vielfach darüber, daß Organpräparate
durch den Chemismus der Darstellung viel
von ihrer ursprünglichen Wirkung einbüßen,
und bei dem aktuellen Interesse, welches die
Organtherapie anderen Methoden gegenüber
noch immer behauptet, wird gerade hierüber
viel geschrieben. Wenn z. B. Carles*) in
einer interessanten Arbeit ausführt, daß der
bisherige mangelhafte Erfolg der Organ-
therapie darin seinen Grund habe, daß die
künstlich hergestellten Organpräparate die
wirksamen Stoffe nicht in demselben Grade
enthalten wie in den lebenden Organen, und
die Erklärung in der Darstellungsmethode
findet, so müßte er nicht auf eine einzige
solche, nämlich auf die mit flüssiger Kohlen-
säure, rekurrieren. Eines ziemt sich nicht für
alles. Wenn man spezielle Methoden aus-
arbeitet, so wird man auch gute Resultate
zu verzeichnen haben. Hier ruht die Basis
für den Aufbau dieser Therapie, für ihre
Effekte, für ihre Zukunft.
*) Extraits d'organes ammaux et extraits d'or»
ganes vegetaux. Journal de Medecine de Bordeaux
1903, No. 50.
j
XIX. Jahrgang. 1
September 1905.J
Krefl, Varonallamu«.
467
Veronallsmus. ')
Von
Nervenarzt Dr. Krefi in Rostock.
Meine Herren! Im Frühjahr 1903 fand
das Veronal seinen Eingang in die Therapie.
Es ist das Endresultat einer langen Kette
von Überlegungen über die Beziehungen
zwischen chemischer Konstitution und hyp-
notischer Wirkung. Diese Forschungen haben
ca. 22 Jahre vorher mit v. Mering und
Thierfelder begonnen, verknüpften sich
epater vorzüglich mit den Namen Prof. Bau-
mann und Käst und haben schließlich durch
keinen geringeren wie Emil Fischer (Berlin)
und v. Mering (Halle) mit der Empfehlung
des Diäthylmalonylharnstoffs unter dem Namen
Yeronal zur therapeutischen Erprobung einen
gewissen Abschluß gefunden. Es ist ein
Harnstoffderivat , welches sich von der Di-
äthylmalonylsäure ableitet. In den wohl-
klingenden Namen der Autoren und in der
ärztlichen Sehnsucht nach einem idealen
Schlafmittel, welches bei prompter Wirkung
möglichst frei von akuten und chronischen
Schädigungen wäre, war der ungeahnte
Siegeslauf bedingt, den das Veronal bis
heute genommen hat: Es wirkt in kleinen
Dosen in einem weit größeren Prozentsatz
• als unsere bisherigen Hypnotica intensiv und
prompt und fürs erste wurden auch wenig
unangenehme Nebenwirkungen bekannt, jeden-
falls keine schlimmeren als sie bei den bis-
her gebrauchten Hypnoticis gelegentlich vor-
kommen. Die Einführungsindikationsstellung
zeigte obendrein eigentlich gar keine Ein-
schränkung für die Medikation zur Erreichung
sedative* und hypnotischer Wirkung, weder
•auf somatischem noch auf neurologischem
oder psychiatrischem Gebiet. Das Publikum
ist, wie ich vielfach von Kollegen und
namentlich auch von Apothekern gehört habe,
für das Yeronal in einem Grade begeistert
wie noch nie bei einem früheren Hypnoticum.
In den 2 Jahren der praktischen Einführung
hat sich eine enorme internationale ein-
schlägige Literatur entwickelt. Indes es hat
nicht lange gedauert, bis sich die ersten
Schatten in die allgemeine Begeisterung
mischten.
Gestatten Sie mir, daß ich auf das wich-
tigste hierher Gehörige bezüglich der unge-
wollten Nebenwirkungen in Kürze noch ein-
mal aufmerksam mache:
Fischer erwähnt Übelkeit, Erbrechen und
Benommenheit des Kopfes.
!) Vortrag gehalten auf der 29. ordentlichen
Versammlung des allgemeinen Mecklenburgischen
Ärztevereins. 16. Juni 1905 in Rostock.
Th. M. 1905.
Rosenfeld und Würth sahen Arznei-
exantheme, Schwindel, Brechneigung.
Mendel und Krohn fanden in 10 Proz.
der verabreichten Dosen Kopfschmerz,
Schwindel, Schweiße.
Luther erwähnt Erbrechen, Exanthem, Ein-
nässen bei sonst reinlichen Kranken.
Bei einem Imbecillen: taumelnden Gang,
mäßige Verwirrtheit und Benommenheit.
Gerhartz berichtet über eine Hysterica,
welche an 2 aufeinander folgenden Abenden
je 1,0, am dritten 3,0 Veronal nahm.
Danach 3 stündiger Schlaf, dann heftige
Jaktationen, kalte Extremitäten, schwacher
aussetzender Puls. Status gravis bis zum
Abend.
Lauten heimer (Veronalismus) sah bei chro-
nischem Veronalgebrauch motorische Un-
sicherheit, Schwäche und einen chroni-
schen rauschartigen - Gang.
Hald (Stadtkrankenhaus Kopenhagen) nimmt
an, daß als pathognomonische Symptome
für die Diagnose der akuten Veronal -
intoxikation Streckung des Kopfes nach
hinten und tetaniforme Zuckungen des
Korpers anzusehen seien. (Er hat übrigens
einmal nach 9 g, welche in selbstmörde-
rischer Absicht genommen waren, keine
bedrohlichen Symptome gesehen.
Jolly, Thomsen, Berent, Luther, Spiel-
meyer, Raimano u. a. haben Ange-
wöhnung und deshalb Notwendigkeit, die
Dosis zu steigern, beobachtet. Jolly rät
von längerem Gebrauch ab.
Senator hat bei einer Dame mit schwerer
Neurasthenie, bei großer Toleranz für Mor-
phin und Chloral schwerste Herzerschei-
nungen mit Oppressionsgefühl, Präkordial-
angst, Schwächeempfindung nach Veronal
gesehen.
Davids konstatierte mehrfach nach '/« und
Vs g noch Schlafsucht am nächsten Tag
derartig, daß die Patienten sich weigerten,
das Mittel weiter zu nehmen. Weiter
berichtet er von einer Bauernfrau, welche
nach 1 g am folgenden Morgen trotz
Führung auf dem Korridor umfiel, im
Bett nachher auf nichts reagierte. Puls
unregelmäßig, auffallende Röte der Brust,
Unterarme und Hände, Beine, Füße und
Rücken. Dieselbe war nur durch heftiges
Anschreien zu erwecken, schlief gleich
wieder ein und schlief den ganzen Tag
und die ganze Nacht und wollte noch
am folgenden Tag vor lauter Müdigkeit
weiter, schlafen. Die Röte, welche unter
Fingerdruck schwand, blieb 2 Tage.
Nach 10 Tagen begann die Haut zu
schuppen.
36
468
Krefl, Veronaliemue.
rTher«f»«n
L Monatsfr
MonÄtfthefte.
Homburger und Heinrichs haben häufiger
Kumulativwirkungen gesehen und raten
deshalb zu täglicher Darmentleerung.
Würth sah bei 2 Kranken ein masern-
ähnliches Exanthem nach längerem Vero-
nalgebrauch (juckend, ohne Fieber, am
Knie, Ellenbogen, Nates).
Poly sah starke Kopfschmerzen, Müdigkeit
und Schläfrigkeit noch den ganzen fol-
genden Tag nach 0,5.
Lilien feld (Groß-Lichter feide) beobachtete
bei einer Hysterica einen dem Antipyrin-
exanthem ähnlichen Ausschlag.
Oppenheim sah ebenfalls Benommenheit
und rausch ähnliche Zustände am nächsten
Tag schon nach 0,5 Veronal und bei
einem arteriosklerotischen Kollegen nach
der gleichen Dosis einen recht unange-
nehmen Zustand von Benommenheit, Ver-
wirrung und Schwäche.
Professor Thomsen (Bonn) sah mehrfach
Gewohnung, welche Steigerung der Dosis
notwendig machte; einigemal anfangs
kumulierende "Wirkung, die später nach-
gelassen haben soll. Bei psychischen
Erregungszuständen beobachtete er nach
Yeronal schwere Betäubung. Die Kranken
waren schlafsüchtig, benommen, lallten,
hatten taumeligen Gang und verloren den
Appetit.
Berent (Renverssche Klinik) konstatierte
Taumel, Schwindelgefühl, Mattigkeit bei
2 Neurasthenikern am nächsten Tag.
Wiener (Pälsches Krankenhaus) und Off er
(Dusseldorf) beobachteten ebenfalls Kopf-
schmerzen, Taumelgefühl, Somnolenz nach
dem Erwachen.
Psychiatrische Universitätsklinik
Jena: 7 Fälle von Eingenommensein,
Übelkeit und einmal Erbrechen am näch-
sten Tag.
Psy chiatrische Klinik Freiburg:
Masernähnliches Exanthem, Eingenommen-
sein, Schwindel, Somnolenz.
Psychiatrische und Nervenklinik von
Prof. W agn er(Wien) gelegentlich Taumeln
und Gleichgewichtsstörung.
Montagnini (Venedig) sah manchmal Kon-
gestionen nach dem Kopfe. Diaphorese
und Oligurie, Übelkeit, Erbrechen. Bei
Dosen von l1/*— 2 g Schwindel, Taumel,
Betäubung, Kopfschmerz, Sprachstörung.
Euler sah komaartige Zustände bei Frauen.
Hähnel (Dresden) akute Verschlechterung
der Ataxie bei einem Tabiker, welche
sich erst nach Wochen allmählich aus-
glich.
Kaan: Urticariaähnliches Exanthem.
Th. Pisarski: Bei 75 von 284 Patienten
am folgenden Morgen: schwerer Kopf,
Schwindel, Kopfweh, Unsicherheit des
Ganges, bleiernes Gefühl in den Beinen,
Ohrensausen, starkes Schwitzen. Eine
gewisse kumulative Wirkung erscheint
ihm unzweifelhaft.
Weiter liegen Berichte von Veronal Vergif-
tung vor von:
Kuhn (Hospitaltidning No. 2): Nach mehr-
maligen Abenddosen von 0,5 g juckendes
Exanthem am Gesicht und Oberkörper,
starke Schwellung mit Blasenbildung an
Mund- und Rachenschleimhaut, begleitet
von Fieber, Kopfschmerz, Eingenommen-
heit. Heilung nach 9 Tagen.
Fonger-Just und Johnson aus der schwe-
disch-norwegischen Literatur, welche mir
jedoch nicht zugänglich sind.
Ferner berichtet Alter aus der Provinzial-
irrenanstalt Leubus (Schlesien) über
3 Fälle:
1. Fall. Tuberkulöse Kranke mit Paranoia.
Abds. 1,0 Veronal. Bei Erwachen Brechreiz, Kopf-
weh, Hämoptysis, schwere neuralgische Schmerzen
im linken Trigeminus und beiden Ischiadicis. Kon-
gestive Wallungen (nie vorher beobachtet), ungleich-
mäßiger, unregelmäßiger Puls. Ohne Temperatur-
steigeruog deliriöser Zustand und tiefe Bewußtseins-
trübung, lebhafte Visionen: blutige Messer, rote
Tiere. Gegen 11 Uhr morgens tiefe Somnolenz bei
schlechtem Puls. Nach 2 Uhr nachm. langsames
Erwachen, wäßrige, leicht hämorrhagische Stahle.
Bei verringerten Dosen der folgenden Tage trat
der gleiche Symptomenkomplex in verringertem
Maße auf.
2. Fall. Epilepsie. Bei einem Erregungs-
zustand abds. 1 g Veronal. Morgens plötzlich Ver-
schlechterung der Atmung, Cheyne-Stokessches
Phänomen, Pupillen extrem verengt und lichtstarr,
keine Haut- und Sehnenreflexe, Enuresis* Abends
spontane Entleerung mehrerer wäßriger Stöhle.
Stuhl gibt Blutfarbstoffreaktion. Urin eiweißhaltig,
abends Gesichtsstarre, nächsten Morgen Lungen-
ödem und Exitus.
8. Fall. Neurasthenie mit Agrypnie. Nach 1 g
Veronal per Rectum 2 Stunden Schlaf. Pat. er-
wacht dann mit starken Kopf- und Leibschmerzen,
heftigem Herzklopfen und stürmischen Kongestionen.
Herzklopfen steigert sich zu starker Herzangst.
Fast blaurot kongestioniert Erhöhter Blutdruck,
unregelmäßiger Puls, kalte Extremitäten. Weiner-
lich unklar, sichtlich präokkupiert, jaktatoide Be-
wegungsunruhe. Lebhafte Visionen: Mäuse, kleine
Tiere, Heuschrecken, Fliegen. Pat klagt über
Flimmern und Grellheit. Druck auf die Buibi sehr
schmerzhaft. Pat. verwechselt den Arzt, gibt keine
Antworten. Bei Reichung von starkem Kaffee löst
sich der Zustand in einigen Stunden. Aber große
Mattigkeit, Unruhe und leichte Benommenheit bleiben
den ganzen Tag.
Ich habe auf die kumulativen Erschei-
nungen und deren Bedenklichkeiten bereits
Ende 1903 aufmerksam gemacht, durch ein
Versehen war allerdings die Publikation in
den therapeutischen Monatsheften um längere
Zeit hinausgeschoben.
XIX. Jahrgang. 1
September 1905.J
KrcD, Veronalismus.
469
Meine Herren, Sie sehen, es ist ein ganz
ansehnliches Schuldbekenntnis des Yeronals,
wenn wir bedenken, daß es erst gut 2 Jahre
sind, seit das Yeronal in der Praxis existiert.
Wenn es sich in den bisherigen Publi-
kationen bezüglich der Schattenseiten des
Mittels meist um akute Intoxikationserschei-
nungen handelt, so liegt dies wohl haupt-
sächlich an der Jugend des Mittels. Er-
innern Sie sich, daß beim Morphium — ohne
indes das Yeronal im übrigen mit demselben
vergleichen zu wollen — es von der ersten
Injektion in Deutschland (Dr. Bertrand,
Schlangenbad 1856) bis zur Erkenntnis der
Morphium sucht, ihrer Symptome und Ge-
fahren (Fiedler 1871) 15 Jahre gedauert
hat; 1875 ist von Lewinstein der Name
Morphiumsucht auf der Grazer Naturforscher-
Versammlung eingeführt. Wenn wir auch
erfahrungsreicher und vorsichtiger geworden
sind, so ist doch die Zeit noch kurz für Er-
fahrungen bei chronischem Mißbrauch.
Mir liegt nun ein Fall vor, der ent-
schieden allgemeine Mitteilung verdient, ein-
mal weil er, soweit mir bekannt, bis jetzt
einzig in der Literatur dasteht, und andrer-
seits wegen des höchst auffallenden fatalen
Ausgangs.
Es handelt sich um eine Patientin, welche ich
am 12. Mai 1900 zum erstenmal sah. 23 Jahre alt,
einziges Kind einer neurasthenischen und vorzeitig
leicht dementen Mutter, welche bei der Geburt der
Patientin bereits ca. 40 Jahre alt war, und eines
damals bereits 60 jährigen Vaters, welcher stark ge-
tranken haben soll und kurz nach der Gebort der
Tochter starb. Als schwächliches Kind mit skrofu-
lösen Erscheinungen verwöhnt erzogen, erkrankte
sie im 15. Lebensjahre mit allgemeiner Schlaffheit,
Arbeitsunlust, Appetitmangel, Stimmungswechsel
ohne Grund, Herzklopfen. Jedenfalls ist sie von
dieser Zeit an in ärztlicher Behandlung, Eigen-
willigkeit, Trotz und mangelhafte Selbstdirektive
wurden durch kritiklose Passivität der Mutter ge-
züchtet
Status praesens 1900. Hochaufgeschossen,
174 cm Größe. Gewicht 97 Pfund. Keine Miß-
bildungen, Verletzungen, nachweisbaren Organ-
erkrankungen oder Innervationsstörungen. Müde,
abgespannt, zeitweise unruhig aufgeregt, Herz-
klopfen, frequenter Puls, Globus im Halse, Druck
im Magen, Ovarie, schlechter Stuhl, mangelhafte Kon-
zentrationsfähigkeit; episodische Rückenschmerzen,
depressive Gedanken, starke Empfindlichkeit der
Herzgegend, Weinkrämpfe. Hysterisches Pathos,
absichtliche Entstellung, emphatische Übertreibung
und Lüge. Zeitweise Ructus hystcricus. Schlaf-
störung. Kritische Exacerbation des Symptomen-
komplexes während der sonst normal verlaufenden
Menstruation. Starker, oft wechselnder Widerwille
gegen Speisen. Der ganze Ideenkreis bewegt sich
fortwährend nur um das eigene Ich mit den
tausendfachen Variationen der verschiedensten lokali-
sierten Organempfindungen.
Diagnose: Hysteria gravis.
Eine Trennung von Mutter und Tochter konnte
niemals durchgesetzt werden, infolgedessen wurden
auch wesentliche Besserungen niemals beobachtet.
Im November 1903 nun begann die Agrypnie einen
Agenden Grad zu erreichen, so daß ich nach
vielen physikalischen Versuchen mich zur medika-
mentösen Behandlung gezwungen sah, zumal trotz
der sorgsamsten Pflege und Ernährung das nur
mühsam um 12 Pfund erhöhte Körpergewicht
wieder abzustürzen begann, und der Allgemein-
zustand sich verschlechterte. Damals gab ich zum
erstenmal Veronal und erreichte mit 0,5 einen guten
Schlaf. Am nächsten Abend noch einmal 0,6 mit
gleichem Effekt, und am folgenden Morgen hielt die
Schläfrig keit über den ganzen Tag an. Gleich-
zeitig trat Übelkeit, Appetitmangel und taumelnder
Gang auf, der auch noch am nächsten Tag sich
zeigte. Wegen dieser kumulativen Wirkungen
setzte ich einige Tage aus und verordnete dann
kleinere Dosen. Die Patientin, welche trotz der
unangenehmen Nachwirkungen dringend nach Vero-
nal verlangte, hatte gegen meine Verordnung
wieder 0,5 abends genommen, und in der Folge
traten trotz täglicher Veronalmedikation von 0,5 g
keine Kumulativ Wirkungen mehr auf. Da Patientin
gewalttätig nach dem Mittel begehrte, entschloß
ich mich angesichts der Tatsache, daß ich fast
gleichzeitig bei 8 anderen Agrypnien Kumulativ-
wirkungen erlebte, nach 10 Tagen kein Veronal
mehr zu geben. Ich wechselte nun noch einige
Tage mit verschiedenen anderen Hypnoticis mit
schlechterem Effekt ab und entließ die Patientin
auf ihren Wunsch in ihre Heimat, zumal ich be-
merkte, daß im Interesse der Patientin ein Wechsel
der ärztlichen Persönlichkeit notwendig wurde. Ich
muß noch betonen, daß Patientin nach 8tägiger
Veronalmedikation das Bett nicht mehr verlassen
wollte.
Am 20. Dezember 1903 ließ ich die Patientin
nach Hause reisen mit dem dringenden Rat, jeden-
falls längere Zeit gar keine Medikamente zu nehmen
und sich lediglich auf allgemeine diätetische kräftige
Pflege und mäßige Beschäftigung zu verlegen.
Im November 1904 wurde ich dann — also
Dach ca. einem Jahre — telegraphisch von der
Mutter zu der Patientin gerufen.
In der Zwischenzeit hatte ich von der Patientin
nur im ersten Halbjahre 2 Briefe unzufriedenen
Inhalts wegen der mangelhaften Fortschritte er-
halten, auf welche hin ich dieselbe an ihren be-
handelnden Arzt verwies. Kurz vor dem Telegramm
waren in 48 Stunden 3 Briefe mit taumelnden
fluchtigen Schriftzügen, leicht verwirrten, formlosen,
verzweifelten und von starker Angst zeugenden In-
halts an mich gelangt.
Bei meiner Ankunft erschrak ich über den sehr
verschlechterten Allgemeinzustand. Es bestand
lebhafte depressive Erregtheit, starke motorische
Unruhe, leichte Verwirrtheit Beim Versuch, Pa-
tientin aus dem Bett zu nehmen, geriet sie ins
Taumeln und drohte ohne Stütze zu Boden zu
fallen. Bei Nichtbeachtung ließ das Taumeln bei
energisch gewollten Aktionen erheblich nach. So
hatte sie selbständig den Koffer gepackt und sich
bereits reisefertig angekleidet und drängte mich,
sie mit nach Rostock in Behandlung zu nehmen.
Über die Z wischen ereignisse konnte ich von Mutter
und Tochter sehr wenig erfahren. Ich hörte nur,
daß 3 mal der Arzt gewechselt worden war auf
Wunsch der Patientin, daß dieselbe seit 7 Monaten
das Bett nicht mehr verlassen habe, während der
Menstruationszeit sehr starke Erregtheit zeige und
nun überzeugt sei, daß sie von Hause weg müsse.
Die Mutter brachte die Tochter hierher. Dann
ließ ich die Mutter nach Hause zurück und die
Tochter in dem Schutz einer speziellen Pflegerin.
Körperlich war auch jetzt keine Erkrankung
nachweisbar. Sehnenreflexe gesteigert. Pupillen-
reflexe intakt. Lebhafter Tremor der Finger,
470
KreO, VaronaUamur
rTharapentJ
L Mon&tshc
otlsch«
Monatshefte.
taumelnder Gaus, episodische leichte Verwirrtheit
Des Nachts sehr unruhiger Schlaf. Nahrungs-
aufnahme befriedigend. Zeitweise Übelkeit und Er-
brechen. Prämenstruell nach 6 Tagen Steigerung
der psychischen Unruhe und Angst, will ständig
aus dem Bett. Nächte ziemlich schlaflos. Nahrungs-
aufnahme bei ständigem Zureden befriedigend. Der
Stuhl muß bei dem gänzlichen Darniederliegen der
Darmperibtaltik — welche übrigens bestand, so-
lange ich Pat. kenne — täglich per Klysma ent-
leert werden, zeigt sonst normale Verhältnisse.
Nach weiteren 4 Tagen läßt der emotive Zustand
nach, und episodische Verwirrtheit und Unorientiert-
heit tritt mehr in den Vordergrund. In meiner
Gegenwart relativ klar antwortend, rafft sich Pa-
tientin sichtlich zusammen. Dann wieder verwirrt^
will in Hemd und Mantel spazieren gehen. Nah-
rungsaufnahme andauernd erschwert, aber reichliche
Tagesquantität erreichbar. Medikamente wurden
nicht gegeben, nur bei starker Erregung Sko-
polamin ca. 3 mal des Abends während der Men-
struationserregung. Trotz der sorgfältigsten und
konzentriertesten Ernährungsweise war im letzten
Jahr keine Gewichtszunahme zu erreichen, auch
während des hiesigen Aufenthalts trat keine ent-
sprechende Erholung ein. Am 11. Tage nun ver-
schlechtert sich morgens sichtlich das Allgemein-
befinden: Verwirrtheit und stärkere Bewußtseins-
störungen wechseln mit klaren, etwa 5—10 Minuten
langen Episoden mit unbestimmter Angst; nach
2 Stunden wird die Patientin bewußtlos, es be-
ginnen klonische Zuckungen im rechtsseitigen
Facialisgebiet. Die Bulbi deviieren konjugiert nach
links oben. Die Pupillen reagieren kaum merklich
auf Lichteinfall, und es beginnt eine Attacke von
kurz aufeinander folgenden epileptiformen Krampf-
anfällen über alle 4 Extremitäten. Stuhl und Urin
gehen unwillkürlich ab. Für einige Minuten folgt
eine kurze Aufhellung des Bewußtseins, so daß ich
auf Anrufen verwirrte Antworten in breiiger Sprache
erhalten kann. Aber nur einige Minuten. Da be-
ginnt ein tiefes Schnarchen, und nun folgt Zug um
Zug ein neuer universeller konvulsivischer Krampf.
Die Konvulsibilität steigt zusehends von Attacke zu
Attacke. Nach einer Serie von 9 Anfällen folgt
eine Krampfpause von 15 Minuten mit tiefem Koma.
Da setzt ein neuer, aus einzelnen kurz aufeinander
folgenden Attacken bestehender Krampfanfall ein.
Das Bewußtsein kehrt nicht wieder, starkes
Schnarchen, schlaffe Extremitäten, kalter Schweiß.
Reflexe erloschen. Nach einer kurzen unheimlichen
Ruhe erfolgt ein erneuter Krampfanfall mit furcht-
barer Heftigkeit und im Ansatz zur dritten Attacke
Exitus letalis.
Also die hysterische Patientin starb,
28 Jahre alt, in einem reinen Status epi-
lepticus.
Meine Herren, das Drama schloß gewiß
sehr rätselhaft ab. Die Sektion wurde nicht
gestattet, indes wäre auch durch dieselbe,
gleichviel mit welchem Befunde, bei dem
heutigen Stande unserer Kenntnis wenig für
den Zusammenhangsnachweis zwischen chro-
nischem Veronalabusus und dem außer-
gewöhnlichen Exitus gewonnen worden.
Da aber Patientin stets zur Lüge und
Dissimulation neigte, suchte ich mit be-
gründetem Verdacht nach Einwirkungen auf
den Organismus, die mir unbekannt geblieben
sein könnten.
Da fand ich im Nachttisch eine größere
Anzahl geleerter Pulveren veloppes , verschie-
dene 1 g-Pulver und 2 Veronalrezepte älteren
Datums.
Bei einer strengen Exploration gab nun
die Mutter zu, daß die Tochter eine größere
Anzahl Veronalpulver mit hierher gebracht
habe, welche sie derselben einige Tage vor
der Abreise noch habe besorgen müssen.
Das war ja auch nicht schwer, da dem frei-
händigen Verkauf sowie der Wiederholung
alter Veronalrezepte keinerlei Vorschrift eine
Schranke setzt. Weiter erzählte jetzt die
Mutter, daß die Tochter seit Anfang Januar
1904 wohl täglich abends zuerst !/ai später
1 und auch 2 Pulver genommen habe, also
0,5—1,0—2,0 Veronal ll1/* Monate. Die
unvorsichtige kritiklose Mutter, welche ent-
schieden einen etwas geistig stumpfen Ein-
druck machte, war durch die jahrelange auf-
reibende Pflege der eigensinnigen, verwohnten,
schwer, hysterischen Tochter zu einem völlig
willenlosen Exekutivorgan der letzteren
degradiert; nur so erklärt es sich, daß mir
der Veronalabusus vollkommen verheimlicht
geblieben ist. Die Mutter sagte zu ihrer
Entschuldigung, ihre Tochter sei gar nicht
zu beruhigen gewesen, wenn sie ihr kein
Veronal besorgt habe, deshalb sei auch
öfter der Arzt gewechselt worden, und später
habe sie es auf alte Rezepte und ohne Re-
zepte öfter gekauft.
Jedenfalls lag also ein habitueller sucht-
artiger Veronalmißbrauch mit Tendenz zur
Steigerung der Dosis vor, und ich halte mich
zur Bezeichnung Veronalismus deshalb be-
rechtigt. Ich bin natürlich nicht in der
Lage, wie ich vorhin schon andeutete, den
Nachweis eines Kausalnexus zwischen dem
Veronalabusus und dem Exitus zu erbringen
— das wird bei der Jugend des Mittels vor-
läufig überhaupt schwer möglich sein — ,
aber in Anbetracht des ganz ungewöhnlichen,
rätselhaften, unerwarteten Abschlusses bei
diesem 28jährigen Mädchen, welches ich seit
6 Jahren kannte, kann ich mich eines starken
Verdachtes in diesem Sinn nicht erwehren.
Für die Möglichkeit, daß der Exitus da-
durch zustande gekommen wäre, daß die
Kranke am Abend vorher eine ungewöhn-
liche Quantität Veronal zu sich genommen
hätte, die den Exitus bedingt haben könnte,
spricht wenigstens auf der Basis unserer
heutigen Kenntnisse nichts. Die Patientin
hatte die letzte Nacht vor dem Tode nach
Bericht der Nachtwache genau wie alle vor-
hergehenden Nächte mit wenig und unruhigem
Schlaf verbracht und bot auch am Morgen
in den ersten Stunden noch keinerlei Ver-
änderung. Das bis jetzt gekannte Bild der
XIX Jahrgang. 1
September I90ftj
Kr eil, Veronalitmut. — Clav In.
471
akuten Intoxikation ist ein ganz anderes, und
über akute Intoxikation bei chronischem
Abusus wissen wir noch nichts. Jedenfalls
hat sich im Yeronaljahre das vorher jahre-
lang ziemlich stationäre Erankheitsbild
wesentlich verschlechtert und modifiziert.
Erinnern Sie sich noch einmal an den Kräfte-
verfall trotz konzentriertester Ernährungs-
weise, an die Unmöglichkeit, das Gewicht
zu erhöhen, an die ständige Bettlägerigkeit
seit Veronal gebrauch, an das starke Taumeln
bei Gehversuchen, an die direktionslose
Schrift, an den grobschlägigen Tremor der
Finger, der beim Schreiben verschwindet, an
die chronische Appetitlosigkeit, Brechneigung
und Obstipation, an die permanenten
Schwindel zustände , an das starke Hervor-
treten der psychischen Seite der Hysterie,
an den Mangel jeglicher Initiative, an die
Erinnerungsdefekte und -Täuschungen und
Verwirrtheitszustände und Bewußtseinsverän-
derungen — also eine Reihe ungewöhnlicher
Erscheinungen im Bild der Hysterie.
Meine Herren! Wenn Sie sich nun zum
Schluß angesichts dieses erschütternden Dra-
mas noch einmal die eingangs referierten
zahlreichen warnenden Mitteilungen von
akuten Intoxikations- und Gewöhnungserschei-
nungen vor Augen stellen wollen und gleich-
zeitig die sehr kurze Zeit der praktischen
Anwendung des Mittels in Betracht ziehen,
so glaube ich doch, wir müssen mit einer
gewissen Vorsicht an das Veronal heran-
treten. Schwere nervöse Agrypnien — auch
wenn sie nicht hysterischer Herkunft sind
— tendieren immer zu einem habituellen
Abusus eines gut wirkenden Hypnoticums,
und bei der für einen auffallend großen Pro-
zentsatz bestehenden äußerst prompten und
intensiven Wirkungsfähigkeit ist diese Gefahr
sicher eine nicht zu unterschätzende. Es
kann außerdem doch sicher für ein in dieser
Beziehung empfindliches Gehirn und Nerven-
system nicht ohne nachteilige Folgen
bleiben, wenn wir es nachhaltiger der ein-
greifenden Veronal Wirkung aussetzen, wie wir
sie in den foudroyanten cerebralen Erschei-
nungen der Kumulativ- und Nachwirkungen
sowie in den chronischen Nebenwirkungen
erblicken müssen. Ich möchte Sie deshalb
nochmals an Jollys warnenden Rat erinnern:
Veronal nur episodisch anzuwenden und das
Mittel öfter zu wechseln.
Gleichzeitig möchte ich mir erlauben,
noch den Rat anzuschließen, wenn Sie
Veronal zur Heilung von Agrypnien ver*
suchen wollen, mit der kleinsten genügend
wirksamen Dosis zu beginnen und schon in
den nächsten Tagen das Bestreben festzu-
halten, sich gradatim mit dem Mittel aus
dem Organismus wieder her aus zu schleichen.
Lang andauernde Anwendung gleich großer
Dosen scheint auch beim Veronal wie bei
andern Hypnoticis eher zum Gegenteil als
zum gewollten Ziel eines selbständigen
Schlafs zu führen.
Die Schuld scheint also vorläufig weniger
an dem Veronal als an unsrer unzuläng-
lichen Kenntnis und Erfahrung für eine
präzise Indikationsstellung und individuelle
Dosierung zu liegen.
Jedenfalls wäre aber wünschenswert, wenn
dem absolut schrankenlosen Verkaufsrecht
möglichst bald ein Ziel gesetzt würde.
Neuere Arzneimittel
Clavin.
Aus dem Mutterkorn sind von Kobert als
wirksame Bestandteile zwei Stoffe, die Sphacelin-
s&ure und das Cornutin, isoliert worden. Beide
regen Uteraskontraktionen an, daneben besitzt
die Sphacelins&ure die Eigenschaft, Gangrän zu
erzeugen, während Cornutin Krämpfe hervorruft.
Später ist von Jacobj ans der Droge das Spha-
celotoxin, das ebenfalls Uteruskon traktionen
und Gangrän erzeugt, dargestellt worden. Diese
drei Körper, welche samtlich wasserunlöslich
sind, können indes nicht als chemische Indivi-
duen bezeichnet werden. Erst neuerdings ist es
Vahlen gelungen, aus dem Mutterkorn einen
chemisch einheitlichen, gut kristallisierbaren
Körper abzuscheiden.
Das Clavin, dem die empirische Formel
CnH29Na04 zukommt, kristallisiert aus heißer
konzentrierter alkoholischer Lösung in 7 — 8 mm
langen Prismen, die beim vorsichtigen Erhitzen
sublimieren. In kaltem absoluten Alkohol, Äther,
Petrol&ther ist Clavin unlöslich, löslich dagegen
in verdünntem Alkohol und Wasser.
Clavin erzeugt weder Krämpfe noch Gangrän
wie Mutterkorn, ist auch frei von irgend einer
anderen Allgemein Wirkung; Tiere vertragen meh-
rere Dezigramme intravenös ohne Vergiftungs-
symptome. Spezifisch ist dagegen die Wirkung
auf den Uterus, die sich schon nach Dosen von
einigen Zentigrammen geltend macht. Die weni-
gen bisher vorliegenden Versuche bei Menschen
— an den Frauenkliniken zu Halle und der
Charite zu Berlin — beweisen die Wirkung des
Clavins bei zögernden Wehen.
Clavin kann entweder per os oder subkutan
verabreicht werden. Für die innerliche Verab-
reichung sind Clavintabletten aus Zucker be-
472
Referate.
(~Ther&peu1
L Monatsh
Monatshefte,
stimmt, von denen jede 0,02 g Clavin enthält.
Zur subkutanen Injektion dienen die Kochsalz-
clavintabletten, die aus 0,02 g Clavin und 0,08 g
Kochsalz bestehen und in 1 ccm Wasser gelöst
werden. Die wäßrigen Lösungen sind sterilisier-
bar, sind aber stets frisch anzufertigen, da sie
sich bei längerem Stehen trüben und unange-
nehmen Geruch annehmen.
Literatur.
Aus dem pharmakologischen Institut der Universität
in Halle. (Direktor: Geh. Med.- Rat Prof. Dr.
Harnack.) Über einen neuen wirksamen
wasserlöslichen Bestandteil des Mutter-
korns. Von Prof. Dr. Ernst Vahlen, Privat-
dozenten und Assistenten am Institut. Deutsche
medizinische Wochenschrift No. 32, 1905,
S. 1263.
Referate.
Die Behandlung des Diabetes mellitus. Klinischer
Vortrag. Von Geh. Med.-Rat Prof. B. Naunyn
(Straßburg) in Baden-Baden.
Im knappen Rahmen eines lehrreichen Vor-
trages hat Naunyn an der Hand einiger Bei-
spiele in klarer, leicht faßlicher Weise die me-
thodische Behandlung des Diabetes mellitus
seinen Zuhörern dargelegt. Er stellt fest, daß
man den Diabetes bessern, auch eine relative,
aber keine absolute Heilung erreichen kann, und
redet in dankenswerter Eindringlichkeit der Pro-
phylaxe bei erblich belasteten, namentlich Fett-
leibigen, ganz besonders aber fettleibigen Kindern,
das Wort.
Als unerläßliches Postulat für eine erfolg-
reiche Behandlung stellt er mit Recht die
Toleranzbestimmung hin,- d.i. die Bestimmung
der Größe der Zuck erzersetz ung im Stoffwechsel.
Es handelt sich hierbei zwar nicht um eine
absolute, sondern oberflächliche Schätzung; denn
man kann nur die als Brot, Mehl etc. einge-
führten Kohlehydrate für die Zuckerbilanz in
Rechnung setzen, während doch das Fleisch noch
Glykogen in wechselnder Menge enthält, und
beim Diabetiker aus allen Eiweißsubstanzen im
Stoffwechsel Zucker entsteht. Für den prak-
tischen Zweck genügt jedoch diese oberflächliche
Schätzung, weil wir durch sie ein Urteil über
die Schwere des Falles gewinnen.
Je nach der Toleranzgröße teilt der Vor-
tragende die Fälle in leichte, mittelschwere und
schwere ein.
Schon vor einer längeren Reihe von Jahren
glaubte ich mich gegen diese Einteilung aus-
sprechen zu müssen, namentlich aber erschien
mir die Bezeichnung „ Mittelform" für viele
Fälle eher verwirrend als klärend. Maßgebend
für diese meine Auffassung war mir die Beob-
achtung, wie schwierig es oft ist, ganz besonders
im Hinblick auf die verschiedene Zeitdauer der
Krankheit, bevor diese zur Behandlung gelangt,
und bei der dem Einzelfalle eigentümlichen ver-
schiedengradigen Progressivität, sich ein sicheres
Urteil darüber zu bilden, in welche Kategorie
der drei Formen der Fall einzureihen ist. Die
Einteilung in chronische (leichte) und akute
(schwere) Fälle schien mir eher am Platze zu
sein. Indes ändert dieser im Grunde genommen
nur formelle Einwand nichts an dem von mir
gewonnenen Eindruck, daß selten in einem
Vortrage über Diabetesbehandlung alle praktisch
wichtigen Momente so vortrefflich geschildert
und dem Verständnis des spezialistisch nicht
geschulten Arztes näher gebracht worden sind,
als es in dem vorliegenden der Fall ist.
Wie wichtig ist beispielsweise sein Hinweis
auf die irrtümliche und für die Praxis gefähr-
liche Annahme, daß alle Fälle leichte seien,
welche bei vollständiger Kohlehydratentziehung
zuckerfrei werden.
Die diätetische Behandlung stellt Naunyn
obenan. Für diese ist es unerläßlich, daß die
Kostordnung eine einfache sei. Künstliche
Nahrungsmittel sollen daher nur ausnahmsweise
in Gebrauch kommen, um die Übersichtlichkeit
nicht zu verlieren. Die Kostordnung muß unter
Zugrundelegung des Kalorienwertes der einzelnen
Nahrungsmittel und mit Berücksichtigung des
Kalorien bedarf es des Kranken aufgestellt werden.
Der Diabetiker soll „genug" haben, aber »nicht
zu viel", betont der Vortragende mit besonderem
Nachdruck.
In anschaulicher Weise setzt er dann aus-
einander, welches Ziel der Arzt sich bei den
drei genannten Formen, insbesondere der leichten
und mittelschweren Form, zu stellen hat, um
Heilung beziehungsweise Besserung zu erreichen,
und auf welchem Wege dies am sichersten ge-
schieht.
In Übereinstimmung mit allen sachkundigen
Ärzten räumt er dem Fett in der Diätordnung
vermöge seines hohen Kalorienwertes einen her-
vorragenden Platz ein. Nicht ganz vorbehaltlos
möchte ich der von ihm empfohlenen Einschal-
tung von Hungertagen in der Diabetestherapie
zustimmen. In früheren Jahren habe auch ich
ab und zu den Versuch, allerdings zumeist bei
vorgeschrittenen Fällen mit einem Karenztag
gemacht; dieser wurde jedoch in den weitaus
meisten Fällen schlecht vertragen : es treten An-
fälle von Tachykardie und Schlaflosigkeit ein.
— Nach meinen Erfahrungen eignen sich noch
am besten solche Fälle für die Karenz, welche
die vollständige Abstinenz von Kohlehydraten
mehrere Tage ohne Störungen in ihrem All-
gemeinbefinden ertragen.
Die von Naunyn erörterte Kur für die
leichten und mittelschweren Fälle ist auf un-
gefähr zwei Monate berechnet und kann unter
gewissen Bedingungen auch in der Häuslichkeit
durchgeführt werden. Den Kurorten Karlsbad
und Neuen ahr räumt er jedoch hauptsächlich
deshalb den Vorzug ein, weil er in gewissen
Imponderabilien: in der Gemütsruhe und den
XIX Jahrgang. 1
Bcptwnber 1905. J
Referat*.
473
mannigfachen Anregungen der Badekur einen
sehr wirksamen Faktor sieht. Die schweren
Fälle gehören nach ihm nur in geschlossene
Heilanstalten. Der direkten Wirksamkeit der
Quellen in den genannten Kurorten auf die
Zuckerzersetzung im Stoffwechsel scheint der
Vortragende jedoch einen geringeren Wert bei-
zulegen, als ihr nach meiner fest begründeten
Überzeugung zukommt. Dies hindert ihn jedoch
andrerseits nicht, schon, wie mir scheint, im
Hinblick auf die großen Anforderungen, die die
antidiabetische Kostordnung an die Organe des
chylopoe tischen Systems stellt, die große Be-
deutung der Karlsbader und Neuenahrer Quellen
für die Diabetestherapie anzuerkennen.
Gestützt auf eine mehr als dreißigjährige
Erfahrung in Karlsbad, muß ich in Überein-
stimmung mit zahlreichen sicherlich urteils-
fähigen Ärzten daselbst, vor allem mit See gen
es als zweifellos hinstellen, daß die Karlsbader
Quellen auch direkt auf die Glykosurie und die
Toleranz einen außerordentlich gunstigen Einfluß
ausüben. An vielen Hunderten von Fällen ver-
schiedenen Intensitätgrades und verschiedener
Krankheitsdauer habe ich diesen Erfolg kon-
statiert. Daß hierbei noch andere Komponenten
einer Karlsbader Kur, die der Vortragende be-
reits erwähnt hat, mitreden, räume ich ohne
weiteres ein, aber den Schwerpunkt haben wir
auf die Wirksamkeit der Quellen zu legen.
Der Vortragende unterläßt es nicht, neben
den Lichtseiten der diätetischen Kuren auch die
Schattenseiten zu schildern und die Klippen und
Gefahren zu markieren, die mit einer langen
antidiabetischen Diät zuweilen verbunden sind.
Es sind goldene Worte, die Naunyn in
dem Schlußteile seines Vortrages der Pflege des
Diabetikers widmet; denn mit einer einmaligen
Kur ist es selten getan. In der dauernden
Kontrolle und Pflege von seiten des Arztes liegt
das Heil des Patienten.
Es spricht hier nicht nur der vielerfahrene,
große Kliniker und Lehrer, sondern auch der
um das Wohl des Kranken sorgfältigst bedachte
Helfer und Berater.
Aus wohl erwogenen Gründen verhält sich
endlich der Vortragende ablehnend gegen die
eigenartigen Kurmethoden bei Diabetes: wie
Pflaumenkur, Milchkur, vegetarische Behandlung,
Kartoffel- und Hafergrützkur.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 25.)
Jaques Mayer (Berlin, früher Karlsbad).
Die Behandlung der Gicht« Von Prof. Dr. Min-
k o w s k i-Köln (Fortbild ungs vor trag).
Wenn auch in der Pathogenese der Gicht
noch vieles unklar ist, so erscheint ätiologisch
doch die Anhäufung von Harnsäure im Organis-
mus sichergestellt. Dieselbe hängt, wie Verf.
ausführt, weniger mit einer abnorm reichlichen
Bildung als mit Unregelmäßigkeiten ihrer Aus-
scheidung zusammen, möglicherweise infolge
einer abnormen Bin dungs weise der Harnsäure
im Blute und in den Gewebssäften, die ihrer-
seits wieder Folge einer komplizierten Stoff-
wechselanomalie ist, welche sich vorwiegend in
der Substanz der Zellkerne abspielt. Die weit-
verbreitete Annahme, daß eine allgemeine Her-
absetzung der Oxydationsprozesse der Gicht zu-
grunde liegt, erklärt Verf., allerdings ohne weitere
Begründung, für falsch.
Bei den Uratablagerungen kommen lokale,
noch unbekannte toxische, infektiöse, trauma-
tische Momente in Betracht, indes ist der
Gichtanfall als Ausdruck einer auf die Beseiti-
gung dieser Ablagerungen hinzielenden Re-
aktion des Organismus anzuseilen.
Die genannte Stoffwechselanomalie beruht
auf einer hereditär übertragbaren Disposition
und wird durch übermäßige Nahrungszufuhr, Be-
wegungsmangel, Alkoholmißbrauch, Bleiintoxi-
kation etc. begünstigt, ebenso durch Affektionen
der Verdauungsorgane.
Therapeutisch kommt für letztere Fälle
eventuell Falkensteins Salzsäuremedikation in
Betracht. Im übrigen sind die erwähnten Schäd-
lichkeiten zu vermeiden , speziell sollen die
harnsäurebildenden nuklein reichen Nahrungs-
mittel, Thymus, Leber, Nieren etc., verboten,
Fleisch und Leguminosen eingeschränkt, ferner
schwerverdauliche und starkgewürzte Speisen ge-
mieden werden.
Medikamentöse Verminderung der Harn-
säurebildung ist unsicher. Die Chinasäure und
ihre Verbindungen (Urosin, Sidonal, Chinotropin,
Urol), denen diese Eigenschaft zugeschrieben
wurde (Weiß), wirken wie die ihnen verwandte
Salizylsäure wohl nur antineuralgisch.
Die Harnsäureausscheidung wird nach
Minkowski durch Zufuhr von Wasser, ins-
besondere Mineralwasser, befördert, während die
zum gleichen Zweck verordneten Salizylpräpa-
rate wohl mehr durch ihre schmerzlindernden
und schweißerzeugenden Eigenschaften wirken.
Beschleunigung der Harnsäure Oxydation
durch Alkalien, O-Inhalation, Thyreoidin, Sper-
min hält Verf. für unmöglich ; die physikalischen
Methoden, die in dieser Richtung in Betracht
kämen, werden von ihm hier nicht berück-
sichtigt.
Die Bemühungen, die Harnsäure in leicht
lösliche Verbindungen überzuführen, sind
bisher besser im Reagenzglase als im Organis-
mus gelungen. Es wurden in dieser Beziehung
Lithium, Piperazin, Lysidin, ferner Harnstoff,
Nukleinsäure ohne besonderen Erfolg versucht,
Formaldehyd als Urotropin und Citarin scheint
etwas günstiger zu wirken, am ehesten noch bei
harnsauren Steinen.
Unter den vielen Nervinis und Antineural-
gicis wird das Colchicum, dessen Wirkung theo-
retisch noch unklar ist, von den Kranken oft
lebhaft gepriesen.
Die Hauptsache bleibt die Regelung der
Ernährung und der Lebensweise (s. o.).
Bei der balneo-, hydro- und thermothera-
peutischen Allgemeinbehandlung sind die stark
Wärme entziehenden und steigernden Proze-
duren für die jüngeren, rüstigeren Individuen,
im übrigen die mäßig warmen Bäder geeignet.
Der akute Anfall braucht Ruhe, warme, kalte,
Prießnitz- oder Spiritusumschläge je nach dem
individuellen Empfinden, ferner Anodyna etc.
Die chronischen Residuen werden lokal mit
474
rThaimport
L Monatah
Monatshefte.
Massage und Wärme in den verschiedenen
Modifikationen (Brei-, Moor-, Fango-, Thermo-
phorkompressen , heiße Sandbäder , Heißluft-
duschen, Glühlichtbäder etc.) behandelt. Von
Badeorten kommen je nach der individuellen
Konstitution und Affektion Kochsalz-, indiffe-
rente und Schwefelthermen, alkalische, alkalisch-
sulfatische, alkalisch-erdige Quellen etc. in Be-
tracht.
(Deutsche med. Wochenschrift 1905, No. 11.)
Esch (Bendorf).
Zur Abstinenzfrage. Von 0. Rosenbach (Berlin).
Die Forderung der totalen Abstinenz von
Alkohol ist nach den Ausführungen Rosen-
bachs der Anfang einer eminent kulturfeind-
lichen Bewegung, deren letztes von den haupt-
sächlichsten Vertretern der Abstinenzbewegung
natürlich nicht immer beabsichtigtes Ziel die
Vernichtung der Sinnesfreudigkeit, der Kadaver-
gehorsam, der Mystizismus und die Askese ist.'
So berechtigt es ist, die Gefahren des über-
mäßigen Alkoholgenusses eindringlich zu schil-
dern, um das Genießen nicht zur Leidenschaft
werden zu lassen, so legt die Forderung der
absoluten Abstinenz und der Ruf nach strengen
Gesetzen gegen den bloßen Verkauf von Alkohol
zum Zweck des Genusses die Vermutung nahe,
daß hier wieder einmal der Versuch gemacht
wird, das höchste Gut dos Menschen zu ver-
nichten, die Selbstbestimmung, das Recht, durch
vernünftige Wahl die beste und geeignetste
Form des Lebens und seiner Freuden und Ge-
nüsse zu finden.
Ein jeder solcher Versuch muß zum Schaden
ausschlagen, weil er. nicht zu vernunftmäßiger
Selbstbeherrschung erziehen, sondern in erster
Linie durch Abschreckung blinden Gehorsam er-
zielen will.
(Fortschritte der Medizin 1905, Nr. 17.)
Eschle (Sinsheim).
Die Behandlung der Herzinsuffizienz. Fortbildungs-
vortrag von Dr. A. Hoffmann-Düsseldorf.
Während bei absoluter Insuffizienz Bett-
ruhe, Eisblase, leichte Ernährung und die ver-
schiedenen medikamentösen Maßnahmen indiziert
sind (Digitals, Diuretin, Koffein , Morphin,
Kampfer etc.), kommen bei relativer Insuffi-
zienz (Herzschwäche) indifferent temperierte
Bäder, kühle Abreibungen und besonders ver-
nünftige Regelung der Lebeweise in Betracht.
Gymnastik, speziell Zandergymnastik, ist oft
schädlich, daher nur mit Vorsicht zu verwenden,
von Kohlensäure und den neuerdings mit großer
Reklame angepriesenen sinusoidalen Wechsel-
strombädern sah Verf. bei wirklich Herz-
kranken keine wesentliche Besserung, die sie
nicht der Lebensweise allein auch verdanken
könnten. Mit Recht weist Verf. u. a. auch auf den
geringen Wert der Blutdruckmessung hin.
(Deutsche med. Wochenschrift 1905, Nr. 18.)
Esch (Bendorf).
Ober Tuberkulin- und Heilstflttenbebandlung
Lungenkranker. Von Dr. W. Freymutb, Ober-
arzt der Tuberkulosenabteilung am Kranken-
hause der Seh lesischen Landesversicherungs-
Anstalt in Breslau.
Die Schlesische Landes Versicherungsanstalt
in Breslau hat als erste Tuberkulosen heilstätte
die Tuberkulinbehandlung in die Heilstätten-
behandlung hineingezogen, und in Westpreußen
hat Petruschky schon Ambulatorien für Nach-
behandlung mit Tuberkulin geschaffen, ebenso
wie wiederum die obige Versicherungsanstalt
eine Reihe von Kranken ambulatorisch oder in
ihrem Kranken hause mit Tuberkulin nach-
behandeln läßt. Statistisch kann man aus diesen
bisher noch kleinen Zahlenergebnissen gerade
noch nichts direkt Zwingendes für das Tuberku-
lin ins Feld führen, aber soviel sei auch schon
nach den Turb ansehen Zahlen vergleichen sicher,
daß die Tuberkulinbehandlung ein dauerndes Frei-
werden von Bazillen eher ermögliche, und daß das
Tuberkulin in der Tuberkulosebehandlung, und sei
es auch im vorteilhaftesten Sanatorium, ein be-
achtenswertes Plus in der Behandlung sei und
darum in einzelnen Etappen immer und immer
wieder angewendet werden müsse. Dann würden
auch andere Ergebnisse aus der Heilstätten-
bewegung gezeitigt werden und besser, als sie
Weicker bisher veröffentlichte. Die Anstalten
müßten insgesamt zu diesem kombinierenden
Verfahren sich entschließen, sie würden dadurch
der Mißkreditierung der Heilstätten- und der
Tuberkulinbehandlung für sich allein am besten
vorbeugen. Ein gemeinsames Vorgehen ist
darum zugunsten dieser zwei bedeutsamen In-
stitutionen recht sehr am Platze und anzu-
bahnen. Die Auswahl für die in den Heil-
stätten mit Tuberkulin zu behandelnden Kranken
bezeichnet am besten das Turban sehe Schema,
und zwar die Repräsentanten des Stadiums 1
und die besten des Stadiums 2. Um nun die
Tuberkulinbehandlung im Rahmen der Heil-
stättenbehandlung wirksam zur Geltung zu
bringen, müsse man auch eine ambulante Be-
handlung im Sinne Weicker-Petruschkys
anbahnen.
(Münch. med. Wochenschr. 1903, No. 43.)
Rahn (CoUm i. S.J.
Mittel und Wege der antituberkulösen Propa-
ganda. Von Dr. B 1 um enthal- Moskau.
Verf. plädiert neben der Propaganda durch
das gesprochene und geschriebene Wort noch
für eine solche durch Anschauung vermittelst
des Skioptikons sowie für Einrichtung einer
Zentralsammelstelle alles hierfür Geeigneten.
(Zeitschr. f. Tuherk. u. Heilst., Mai 1903, IV, 4.)
Esch (Bendorf).
Ober Immunisierung von Rindern gegen Tuber-
kulose (Perlsucht) und Ober Tuberkulose-
Serum versuche. Von Dr. Fr. Fr. Fried mann
(Berlin).
Nachdem Verf. bereits früher (s. Ref. S. 422)
von der Möglichkeit berichtet hatte, Meerschwein-
chen durch seinen Schildkrötentuberkelbazillen-
stamm zu immunisieren, ist es ihm nunmehr ge-
XIX. Jahrgang. ~|
September 1905, J
Referate.
475
lungen, mit demselben nicht nur Rinder gegen
nachfolgende Perlsachtinfektion zu schützen, son-
dern auch ein perlsüchtiges Rind zu heilen. Das
Serum von auf diese Weise geschützten Tieren
immunisierte seinerseits wiederum Meerschwein-
chen gegen nachfolgende Tuberkelinfektion.
(Deutsche med. Woch*nscKr. 1904, No. 46.)
(Esch Bendorf).
(Aus dem pharmakologischen Institut sn Göttingen.)
Ober die Verwendung des Santonins gegen Lungen-
tuberkulose. Von Dr. Carl Tollen s.
Das Santonin, das zu den Krampfgiften ge-
hört, besitzt, wie vor kurzem Harnack gezeigt
hat, die Eigenschaft, die normale Temperatur
bedeutend herabzusetzen. Verf. überzeugte sich,
daß auch Tiere, an denen der Wärm est ich vor-
genommen worden war, auf Dosen von weniger
als 0,1 g santoninsaurem Natrium einen Tem-
peraturabfall von 1° aufwiesen. Nach den In-
jektionen beginnt zugleich das Atemvolumen zu
steigen, während die Frequenz abnimmt und
erheblich unter die Norm abfällt; auch die Zahl
der Leukozyten erfährt durch die Injektionen,
wenn auch keine erhebliche, so doch immerhin
deutliche Zunahme. Aus allen diesen Gründen
leitet Tollens die Berechtigung ab, Santonin
bei Lungentuberkulose des Menschen zu emp-
fehlen. In Taschkent soll übrigens Santonin in
ausgedehnter Weise von der einheimischen Be-
völkerung bei dieser Erkrankung mit Erfolg
benutzt werden.
(Münch. med. Wochenschr. 1905, No. 16.)
Jacobson.
(Ana dem ehem. Laboratorium der Universität Tübingen.)
Ober die Einführung von Stickstoff In die San tonin -
molekel und das physiologische Verhältnis
einiger Santoninstoffe. Von Edgar Wede-
kind.
E. Wedekind ist es gelungen, stickstoff-
haltige Derivate des Santonins darzustellen, welche
teils von Robert, teils von Straub auf ihre
pharmakodynamischen Eigenschaften untersucht
wurden. Letzterer Autor stellte zur Yergleichung
Versuche mit dem Desmotroposantonin, der S an-
tonsäure, dem oben erwähnten stickstoffhaltigen
Abkömmling der salzsauren d-aminodesmotropo-
santonigen Säure und schließlich mit dem in seiner
starken toxischen Wirkung beim Menschen wohl
bekannten Wurmmittel, dem Santonin, selbst an.
All diese Substanzen erwiesen sich nun auch bei
der drastischsten Form der Einverleibung, der
intravenösen, selbst in großen Dosen für Kanin-
chen als fast ungiftig. Diese Tatsache ist wieder
als ein neuer Beweis dafür aufzufassen, wie
durchaus unzulässig es ist, nach dem Versuchs-
ergebnis, welches mit einem Arzneimittel oder
Gift an einer oder einigen wenigen Tierspezies
erlangt worden ist, Schlüsse auf seine Verwend-
barkeit oder Wirkung beim Menschen ziehen zu
wollen.
Die weiteren Versuche beschäftigten sich
mit Studien über die kurativen Eigenschaften
des Santonins und seiner Derivate in ihrer Wir-
kung auf Darmparasiten. Die zu diesem Zwecke
gewählten Würmer, Askariden, wurden durch
einen Zusatz von 0,1 g Santonin zu 100 ccm Flüs-
sigkeit in 4—6 Stunden getötet, während die
8 anderen Derivate, welche zum Teil nur außer-
ordentlich geringfügige Änderungen der che-
mischen Struktur gegen ersteres aufweisen, dessen
spezifische Wirkung auch nicht einmal angedeutet
besitzen.
(Zeitschr.f.physiol. Chem. Bd. 63, H. 3 u. 4, No. 240 ml. f.)
Th. A. Maas*.
Beitrag cur Behandlung der Ankylostomlasis-
anftmie und der Tropenanämien. Von Dr.
Otto Liermberger.
Empfehlung der Levicowässer zur Behand-
lung der durch Ankylostomum auftretenden
Anämien.
(Berliner klinische Wochenschrift 1905 f No. 14.)
H. Rosin.
Filariasis beim Menschen, geheilt durch Entfer-
nung der erwachsenen Wurmer während
einer Operation wegen Lymphscrotum. Von
Prof. A. Primrose in Toronto (Kanada).
Der Patient war aus Westindien gebürtig
und hatte sich wahrscheinlich schon vor 1 6 Jahren
oder länger mit Filaria sanguinis infiziert. Da-
mals hatte er an einer Anschwellung des Hoden-
sackes gelitten, die als Hydrocele aufgefaßt und
mit Punktion behandelt wurde. Seitdem hatte
er in Abständen von einem bis anderthalb Jahren
Fieberanfälle gehabt, die mit schmerzhafter An-
schwellung der Inguinal drüsen begannen. Wäh-
rend der letzten Jahre war dabei das Sero tum
angeschwollen. Solche Anfälle hatte er nur in
den Tropen gehabt, niemals wenn er sich in
Nordamerika oder Europa aufhielt, weshalb er
sie für Malaria hielt. — Als Pr im rose ihn in
Kanada in Behandlung bekam, war der Hoden*
Back auf etwa das Dreifache angeschwollen und
hart. Primrose diagnostizierte Elephantiasis
und vermutete gleich Filaria als Ursache. Im
Blute wurden auch alsbald die Embryonen in
großer Zahl aufgefunden. — Der größte Teil
des verhärteten Scrotums wurde durch einen
elliptischen Schnitt entfernt. Die Wunde heilte
gut. Bei Zerzupfung des exstirpierten Gewebs-
stückes wurde ein lebender Wurm und Bruch-
stücke von einigen anderen gefunden. — Einige
Wochen nach der Operation hatte der Kranke
wieder einen Fieber anf all, zum ersten Male im
nördlichen Klima. Einige Zeit später waren je-
doch keine Embryonen im Blute, trotz mehr-
facher Untersuchung, zu finden. Primrose
nimmt also an, daß die im Sero tum befindlichen
Würmer die Muttertiere alier der Embryonen
waren, die früher stets im Blut vorhanden ge-
wesen waren. Durch Verstopfung der Lymph-
bahnen hatten sie die Elephantiasis des Scrotums
hervorgerufen.
(British medical Journal 1903, 14. Nov.)
Classen (Grübe 4.H.).
Ergebnisse der Schutzimpfung mit der Pasteur-
schen Methode im Jahre 1903. Von Dr.
W. Palmirski u. Z. Karlowski.
Im Jahre 1903 wurden 1230 Personen der
Schutzimpfung gegen Lyssa unterzogen. Davon
476
rherapeutltchfe
Monatsheft«.
waren 1087 in der ersten Woche nach dem er-
folgten Biß , 108 in der zweiten, je 15 in
der dritten nnd vierten Woche, 5 in späterer
Zeit in Behandlung getreten. Von den Be-
handelten sind an Lyssa gestorben 3, was einem
0,24 °/0- Verhältnisse entspricht. Auffallend ist,
daß von den drei Gestorbenen einer am vierten
Tage, einer am dritten, einer sogar am zweiten
Tage der Behandlung unterzogen wurde —
also trotz verhältnismäßig sehr rasch angewandter
Injektion ein letales Ende nahmen. Es wurde
stets die verstärkte Methode in Anwendung ge-
zogen, mit achttägigem Rückenmark beginnend
bis zum dreitägigen, bei Gesichtswunden bis
zum eintägigen fortschreitend. Die Behandlung
dauerte 16—30 Tage.
(Medycyna 1904, No. 45.)
Gabel (Lemberg).
Der künstliche Abort. Von Professor Heinrich
Fritsch (Bonn.)
Bezüglich der Indikationsstellung zur Ein-
leitung der künstlichen Fehlgeburt warnt Fritsch
mit Recht vor einer zu großen und den Wünschen
der Schwangeren nachgebenden Ausdehnung bei
der Tuberkulose. In einer 30jährigen Praxis
hat er von der Einleitung des künstlichen Aborts
bei Phthise wenig Gutes gesehen. Namentlich
darf die Annahme, daß das Kind der tuberku-
lösen Mutter doch nicht alt würde, kein Grund
sein, die Schwangerschaft zu unterbrechen. Viel
wichtiger ist es, das Kind nach der Geburt, wenn
es angängig ist, von der kranken Mutter zu
entfernen, um die Gefahr der Infektion zu ver-
meiden. Am häufigsten gibt bei Phthise ein an-
haltendes Erbrechen, welches eine genügende
Ernährung unmöglich macht, die Indikation zur
Einleitung der Fehlgeburt. An und für sich
wird aberHyperemesis, namentlich auf hysterischer
Basis beruhende, nur in seltenen Fällen zu opera-
tivem Eingreifen zwingen, die perniziöse Hyper-
emesis zeigt als Symptome Fieber, Ikterus und
raschen Kräfteverfall. Karzinom des Uterus be-
dingt Totalexstirpation oder am Ende der
Schwangerschaft den Kaiserschnitt, nie aber die
Einleitung einer Fehlgeburt, welche hingegen
bei hochgradiger Beckenverengerung bei Osteo-
malacie indiziert ist, falls nicht eine gleichzeitige
Radikaloperation mit Entfernung des Uterus und
der Ovarien zur gleichzeitigen Heilung der
Osteomalacie vorzuziehen ist.
Vor der Ausführung des künstlichen Abortes
in einer Sitzung warnt Fritsch dringend. Die
Kranke muß wie zu jeder vaginalen Operation
durch Abführmittel, Sitzbäder, desinfizierende
Scheidenspülungen vorbereitet sein. Alsdann legt
Fritsch einen Laminariastift ein, den er nach
24 Stunden entfernt, um eine Sondierung und
als Wichtigstes ein Ablasssen des Fruchtwassers
anzuschließen. In die so eröffnete Eihöhle wird
ein mit 10 proz. Ichthyolglyzerin getränkter Gaze-
streifen eingeführt. Nach Absterben des Fötus,
welches sich häufig durch Temperatursteigerung
dokumentiert, lösen sich jetzt unter dem Reize
der Wehen die Eihäute und lassen sich am nächsten
Tage, falls sie nicht in die Scheide geboren
sind, gewöhnlich leicht mit der Abortzange ent-
fernen. Eine gründliche Gebärmutterausspülung
beendigt den operativen Eingriff. Auf diese
Weise lassen sich die gefährlichen Blutungen,
welche bei übereiltem Verfahren unvermeidlich
sind, sicher ausschließen.
(Deutsche med. Wochenschr. 1904. No. 48.)
Falk (Berlin).
Der zunehmende Gebrauch von Blei als Abortiv-
mittel. Von Dr. Arthur Hall in Sheffield.
Daß das Blei als Abortivmittel im Volke
in den letzten Jahren immer weitere Verbreitung
gewinnt, besonders, wie es scheint, in gewissen
Gegenden Englands, ist den Ärzten im all-
gemeinen nicht genug bekannt. Es ist deshalb
verdienstvoll von Hall, auf diese wichtige Tat-
sache hinzuweisen, indem er eine ganze Reihe
von interessanten Beobachtungen anführt. Wo
Bleivergiftungen mit der Häufigkeit einer
Epidemie auftreten, ohne daß der Grund in
bleihaltigem Trinkwasser oder industrieller Be-
schäftigung zu finden ist, da ist, namentlich
wenn es sich um weibliche Personen handelt,
stets an abortiven Gebrauch zu denken. Das
Blei wird entweder als Unguentum diaehylon
oder in Gestalt von Pillen genommen, die als
„Frauenpillen (female pills)" oder unter ähn-
lichem Namen beim Drogisten zu haben sind.
Die Vergiftung verläuft entweder akut unter
stürmischen, das Leben bedrohenden Erschei-
nungen oder mehr chronisch unter nicht minder
schweren Störungen. Unter den 30 mitgeteilten
kurzen Krankengeschichten war eine mit töd-
lichem Ausgang; nur wenige verliefen leicht
und schnell günstig; bei den meisten handelte
es sich um ein schweres Krankheitsbild mit
Anämie, manchmal mit Krämpfen und Kollaps.
Die Diagnose stand in jedem Falle fest, die
Ursache wurde nicht immer von der Patientin
eingestanden, war jedoch aus den Umständen
sicher zu erschließen. Leider läßt die englische
Gesetzgebung ein Verbot des Verkaufs jener
Pillen nicht zu. Man kann deshalb nur warnen
und die Kenntnis von der Gefahr möglichst ver-
breiten.
(British medical Journal 1905, 18. März.)
Classen (Grübe i. H.).
Beitrag zur Therapie der Eklampsie. Von Dr.
Cykowski.
Von der Auffassung ausgehend, daß Eklampsie
eine Autointoxikation des Körpers darstellt, ist
Verf. gegen die Verabreichung narkotischer
Mittel. Das Mortalitätsverhältnis betrug bei
letzterwähnter Medikation im Warschauer Spital
40 bis 60 Proz., wogegen nach Einführung der
nächstzubeschreibenden Behandlung das Sterb-
lichkeitsverhältnis auf 13 Proz. herabfiel. Die
Behandlung besteht, falls die Kranke im Beginn
der Geburt bei 1 — V/2 fingerbreit offenem Mutter-
mund ins Spital aufgenommen wurde, in einem
Aderlaß, wobei circa 400 cem Blut gelassen
wird, mit nachträglicher subkutaner Injektion
von 800 bis 1000 g physiologischer Kochsalz-
lösung. Auf den Kopf kommt ein Eisbeutel.
War aber der Muttermund schon fast oder
ganz verstrichen, so wird vom Aderlaß Abstand
XIX Jahrgang. "I
ftapUmber 1905. J
Referate.
477
genommen und getrachtet, die Geburt zu be-
endigen, wobei man aber einem eventuell reich-
lichen Blutverlust nicht hemmend entgegentritt.
Dadurch wird der Körper von den im Blute
kreisenden Giften entlastet.
Fälle mit Temperaturerhöhung über 39 ° C.
geben eine ungünstige Prognose, ebenso mehr-
fache Schwangerschaft.
(Gynekologia No. 11, 1905.)
Gabel (Lemberg).
Über die rationelle Behandlung der Toxämie In
den ersten Schwangerscnaftsmonaten and
insbesondere des einfachen Erbrechens wäh-
rend der Schwangerschaft. Von A. T u r e n n e.
Der Zustand der Autointoxikation in den
ersten Monaten der Schwangerschaft beruht nach
Turenne auf dem gestörten Gleichgewicht in
der Produktion und der Ausscheidung der durch
die innere Sekretion der Genitaldrüsen gelieferten
Stoffe. Seine Analogie findet dieser Zustand in
den Störungen, die bei essentieller Amenorrhoe,
ferner in der natürlichen oder artefiziellen Meno-
pause auftreten. Diese Störungen sind von den
verschiedensten Seiten erfolgreich mit Ovarin
behandelt worden und Verf. kam deshalb auf
den Gedanken, auch bei den zahlreichen ner-
vösen Beschwerden, von denen gravide Frauen
in den ersten Monaten der Schwangerschaft
heimgesucht werden, das Ovarin zu versuchen.
Turenne verordnete je nach der Schwere der
Erscheinungen 10 — 60 cg Ovarin pro die und
erzielte damit in 18 Fällen nach 1 — 3 Wochen
einen vollen Erfolg.
(La Presse me'dic. 1904, No. 92. Revue obstetr. de
Buenos Ayres 1904, 14. Mai)
Ritterband (Berlin).
Beitrag zur Hydrotherapie in der Geburtshilfe.
Von Dr. Winkler (Finkenwaide-Stettin).
Eine außerordentliche Einschränkung des
Anlegens der Zange kann nach den Erfahrungen
W'inklers durch das heiße Fuß-Sitzbad ver-
bunden mit der innerlichen Darreichung von
heißem Zuckerwasser erreicht werden.
Da die Geburt eine physische Kraftleistung
ist, die nur bei und unter Entwicklung einer
bedeutenden Wärmeenergie vor sich geht, so
hört die Wehentätigkeit auf, wenn der Körper
wegen Blutarmut, wegen Ermattung oder Ab-
kühlung während der Geburt nicht mehr ge-
nügende Wärme erzeugen kann.
Winkler führt in diesen Fällen dem Körper
Wärme zu, indem er ein Sitzbad von 37° C.
event. in einem Waschbecken bereiten läßt, dabei
auf den Uterus heiße Kompressen legt und die
Füße in Wasser von 40° C. stellt und gleich-
zeitig heißes Zuckerwasser reicht. Event, ge-
nügen auch Dampfkompressen allein auf Uterus,
Knie und Waden.
Das Sitzbad hat noch die günstige Neben-
wirkung, daß das Kind durch seine Schwerkraft
dem Beckenausgang zustrebt und so seinerseits
durch Reiz auf die unteren Uterin abschnitte
Wehen auslöst.
(Arch.f.phys.-diät Ther. 1905, No. l.)l
Esch (Bendorf).
Ober Spinalanalgesle im Kindesalter. Von Dr.
Karl Preleitnor.
In der Sitzung der K. K. Gesellschaft der
Ärzte in Wien vom 23. Juni 1905 bespricht
Preleitner die Anwendbarkeit der Spinal-
analgesie bei Kindern. In 40 Fällen trat 33 mal
prompt Analgesie ein, fünfmal war dieselbe un-
genügend und versagte zweimal gänzlich. Zur
Ausführung der Operation mußte in den fünf
Fällen von ungenügender und den zwei von
fehlender Analgesie die allgemeine Narkose vor-
genommen werden , die nach Verbrauch von
auffällig geringen Mengen Chloroform eintrat.
Zur Analgesie wurde ausschließlich Eucai-
num ß in dreiprozentiger sterilisierter Lösung
benutzt. Je nach dem Alter des Kindes wurden
Mengen von 0,03—0,06 (= 1—2 ccm der
Lösung) verwendet.
Als Einstichstelle wurde — bei vornüber-
gebeugter Haltung des Patienten — die Gegend
unterhalb der Spitze des vierten Lenden wirbel-
dorns gewählt. Nach vorsichtigem Abfließen-
lassen der Cerebrospinalflüssigkeit — je nach
der zu injizierenden Menge 1 — 1,5 — 2 ccm —
wurde langsam injiziert und nach Entfernung
der Nadel die Wunde mit Jodoformgaze und
Pflaster verschlossen. Nach 3 — 5 Minuten be-
ginnt die Analgesie zuerst am Perineum und
ist nach 10 Minuten vollkommen in einem Be-
zirk vom Nabel abwärts. In etwa der Hälfte
der Fälle trat Brechreiz oder einmaliges Er-
brechen auf, dem ruhiger Schlaf folgte. Ältere
Kinder blieben häufig wach.
Bei einem neunjährigen Mädchen kam es
nach Injektion von 2 X 0,03 Eukain zu Intoxi-
kationserscheinungen (Erbrechen, Muskelzittern,
Hyperästhesien, weite Pupillen, kollapsähnlicher
Zustand), die am dritten Tage geschwunden
waren. Wahrscheinlich handelte es sich in
diesem Falle um eine Idiosynkrasie gegen
Eukain. Bei Kindern von 3 — 8 Jahren wurden
Dosen von 0,045 g (= 1,5 ccm), bei jüngeren
Kindern und bei kürzerer Dauer der Operation
0,03 g angewandt. Das jüngste so behandelte
Kind — große, linksseitige Hernie — war
4L/9 Monate alt.
Fast nach jeder Injektion konnte eine
Temperatursteigerung am ersten Abend auf 37,8
bis 39,2° beobachtet werden; am dritten Abend
war die Temperatur stets wieder normal. In
5 Fällen stellte sich nach der Injektion eine
2 — 3 Tage lang anhaltende Harninkontinenz ein,
nur einmal — bei dem Mädchen, das die oben-
erwähnte Intoxikationserscheinungen darbot —
dauerte dieselbe 4 Wochen. Ausgeführt wurden
in Spinalanalgesie Operationen nach Bassini,
Epiphysenlösung, Klumpfußredressement, Unter-
schenkelamputation, Hydrocelenoperation, Exstir-
pation eines Hygroma praepatellare.
Die Spinaianalgesie ist demnach, wie Verf.
schließt, als gefahrlos auch für das Kindesalter
zu empfehlen, weil sie 1. im Gegensatz zur
Inhalationsnarkose auch bei Herzfehlern und
Bronchitiden gefahrlos angewendet werden kann,
2. da eine Schluckpneumonie ausgeschlossen
werden kann und 3. weil bei ihr der Narkoti-
seur erspart wird.
478
Referate.
fThermpentiachft
L Monatshefte.
In der sich an den Vortrag anschließenden
Diskussion glaubt Clairmont die Spinalanal-
gesie bei Kindern nicht empfehlen zu können,
weil sich in 40 Fällen 5 mal Harninkontinenz
eingestellt hat. Auch bei Erwachsenen sind
solche Fälle beschrieben worden, deren Ursache
entweder in einer Verletzung des Conus medul-
laris oder in der Bildung eines Hämatoms zu
suchen ist. Auch v. Eiseisberg warnt vor zu
ausgedehnter Anwendung der Lumbalanästhesie,
da gerade bei Kindern die Inhalationsnarkose
mit Billrothscher Mischung resp. Äther aus-
gezeichnete Dienste leistet. Fraenkel macht
darauf aufmerksam, daß durch die Spinalanal-
gesie zwar die Schmerzempfindung, nicht aber
die beunruhigenden, psychischen Momente, die
Furcht etc., ausgeschaltet werden.
Im Schlußwort weist Preleitner darauf
hin, daß die Harninkontinenz nicht von einem
Hämatom oder einer Nervenverletzung abhänge,
sondern als Eukainwirkung aufzufassen sei. Un-
ruhe und Furcht lassen sich durch Ablenkung
der Kinder ausschalten, zum Teil schlafen die
Patienten auch.
(Wiener klinische Wochenschrift 1905, Nr. 26, 8.709.)
J. Jacobson, ,
Behandlung von Säuglingen, welche im Körper-
gewicht zurückgeblieben sind (Atrophie und
Athrepsie). Von E. Terrien.
Seit Variot unterscheidet man auch in
Frankreich die Athrepsie, d. i. die schwere
Kachexie eines Kindes im ersten Vierteljahr,
von der Atrophie, d. i. der leichteren Form der
Gewichtsabnahme bei älteren Kindern. Die
Atrophie beeinflußt viel weniger den gesamten
Organismus des Säuglings. Die atrophischen
Kinder sind zwar blaß und anämisch, bieten
auch oft die Zeichen der Rachitis dar, in den
meisten Fällen aber ist das verringerte Körper-
gewicht das einzige pathologische Symptom, das
sich bei ihnen feststellen läßt. Ein Kind ist
also atrophisch, wenn es weniger wiegt, als ein
normales Kind seines Alters wiegen muß.
Terrien gibt nun eine einfache Berechnung
für das normale Körpergewicht eines Kindes
in den einzelnen Monaten des ersten Jahres an.
Bei der Geburt wiegt der normale Säugling im
Durchschnitt 3250 g. Am Ende des 5. Monats
hat er mit 6500 g dieses Gewicht verdoppelt,
und es mit 8950 g am Ende des ersten Jahres
nicht ganz verdreifacht. Will man nun be-
rechnen, wieviel ein Kind in einem der ersten
5 Monate wiegen muß, so multizipliert man
einfach die Monatszahl mit 700 (700 g beträgt
nämlich die durchschnittliche Gewichtszunahme
des Säuglings in den ersten 5 Monaten) und
addiert dazu das Geburtsgewicht. Ein Säugling
am Ende des vierten Monats wird also 4 X 700
-4- 3250 = 6050 g wiegen. Vom fünften Monat
an beträgt die monatliche Gewichtszunahme nur
350 g. Da wir nun das Gewicht am Ende des
fünften Monats (6500 g) kennen, so handelt es
sich bei Berechnung des Körpergewichts in den
späteren Monaten nur um die Bestimmung des
Supplementgewichts. Soll beispielsweise das Ge-
wicht des 9. Monats berechnet werden, so wird 4
mit 350 multipliziert = 1400 und dazu 6500,
d. i. das Gewicht am Ende des fünften Monats
hinzuaddiert. Das Säuglingsgewicht am Ende
des neunten Monats beträgt also 7900 g. So
kann man sehr schnell berechnen, ob und wie-
viel das Körpergewicht eines Säuglings hinter
der Norm zurückgeblieben ist.
Liegt nun bei einem Kinde Atrophie vor,
so kommt es bei der Behandlung desselben
darauf an, ob die akuten bezw. chronischen
Verdauungsstörungen, die zur Atrophie geführt
haben, noch vorhanden oder bereits abgelaufen
sind. Im ersten Falle müssen zunächst diese
Störungen durch entsprechende Mittel behoben
werden. Bei reiner Atrophie ist das Wesent-
liche die Regelung der Ernährung. Ist es mög-
lich, so sorge man dafür, daß das Kind, das
bisher vielleicht künstlich ernährt wurde, nun
regelmäßig die Brust erhält. Doch kann es
vorkommen, daß die Kinder die Brust zurück-
weisen oder bei Brustmilch noch mehr ab-
nehmen. In solchen Fällen lasse man sterili-
sierte Milch versuchen. Noch besser als diese
scheinen gewisse, leichter verdauliche Milch-
arten vertrkgen zu werden, nämlich rohe Esels-
miich und besonders die Backhausmilch Nr. 1,
von der jedoch das Kind etwas größere Quan-
titäten (etwa ]/5 mehr) erhalten muß, als von
sterilisierter Milch. Kommt nun die Gewichts-
zunahme in Gang, so kann man diese speziellen
Milcharten ganz gut durch sterilisierte Milch
ersetzen. Bezüglich der Milchquantität und
-Verdünnung geht man in folgender Weise vor: Es
werden in die Milchflasche zunächst 20 — 25 g
Wasser eingefüllt und dazu so viel sterilisierte
Milch hinzugefügt, daß die Quantität erreicht
wird, welche das Kind zu jeder Mahlzeit er-
halten soll. Wieviel Milch das ist, richtet sich
nicht nach dem Alter des Kindes, sondern nach
seinem jeweiligen Körpergewicht, und Verf. gibt
eine einfache Rechnung an , um die nötige
Menge jederzeit bestimmen zu können: Man
multipliziere die ersten beiden Ziffern des
Körpergewichts mit 2 und addiere dazu */5 der
erhaltenen Zahl, wenn das Kind weniger als
6000 g, ein Zehntel, wenn es mehr wiegt. Wiegt
z. B. ein Kind, wie alt es immer sei, 5250 g,
so stellt sich die Rechnung 2 x 52 = 104.
Dazu kommt '/5 dieser Ziffer, also 104 + 20
= 124. 124 g sind demnach die Quantität,
die ein Kind von 5250 g jedesmal (d. h. 7 mal
in 24 Stunden) zu trinken erhält. Natürlich
hat diese Zahl keine absolute Geltung, sondern
bildet nur einen Maßstab der für ein Kind
von bestimmtem Gewicht notwendigen Nahrungs-
menge.
Es kann nun vorkommen, daß ein atrophi-
scher Säugling die sterilisierte Milch nicht ver-
trägt. In diesem Falle muß die Ernährung nach
den Grundsätzen geändert werden, die für die
Behandlung der Athrepsie maßgebend sind.
Diese Ernährungsstörung und ihre Therapie ver-
spricht der Autor in einem besonderen Artikel
zu erörtern.
(La Presse medic. 1904, No. 104.)
RMerband (Berlin).
XIX. Jahrgang. T
Baptambw 1906. J
Referat*.
479
Tabes mesenterica. Deatfa rate« In England aince
1850. Remarks by Wm. Tath am -London.
M. A., M. D. Fellow of the Royal College of
Physicians of London.
Die Tabellen des Verf. geben die Sterblich-
keit in allen Altersklassen von der Kindheit
bis zum höchsten Alter an Tabes mesenterica
an. Tabes mesenterica ist ein ziemlich un-
bestimmter Ausdruck , unter den außer den
tuberkulösen Affektionen der Mesenterialdrüsen,
des Peritoneums und der Eingeweide noch eine
betrachtliche Zahl wenig scharf umgrenzter
Erankheitsbilder einbezogen wird , bei denen
Abzehrung und Diarrhöen die hervorstechenden
Symptome bilden. Aus den Tabellen geht nun
hervor, daß sowohl in allen Altersklassen als
auch speziell in denjenigen unter 5 Jahren, bei
welchen die Krankheit am häufigsten auftritt, in
den Jahren von 1851 — 1880' zugenommen hat,
seitdem allmählich in der Abnahme begriffen
ist. Es scheint eine Beziehung zwischen Tabes
mesenterica und Diarrhöe (infektiöser Enteritis)
zu bestehen. Wenigstens geht aus den offi-
ziellen statistischen Jahresberichten hervor, daß
die Sterblichkeit an diesen beiden Krankheiten,
die mit Vorliebe und am heftigsten Kinder
unter einem Jahre und ganz besonders die
Altersklasse von 3—6 Monaten befallen, fast
immer zusammen steigt und fallt.
(Tuberculosis. Monatsschrift d. internationalen Zentral-
Bweaus zur Bekämpfung der Tuberkulose 1905, Vol IV,
Nr. 1.) Eschle (Sinsheim).
Die Sehnenreflexe und Störungen des Gefühls bei
Tabes. Von Dr. L. Bregman.
Die Arbeiten letzter Jahre haben bewiesen,
daß dem Fehlen des Achillessehnenreflexes eine
ebensolche, wenn nicht wichtigere Bedeutung
als dem We 8 tp halschen Symptom in der Dia-
gnose der Tabes incipiens beizumessen ist.
In diesen Fällen, wo ersterwähnter Reflex
fehlt, bei erhaltenem Kniesehnenreflexe, muß auf
den Sitz des Leidens im Kreuzteile und letzten
Lumbal abschnitt des Rückenmarks geschlossen
werden.
Verf. untersuchte die Frage, ob sich nicht
in jenen Fällen, welche Sensibilitätsstörungen,
die der Ausbreitung der von diesen Rücken-
marksteilen versorgten Partien entsprächen,
nachweisen ließen, und kommt zu dem Schluß,
daß Sensibilitätsstörungen später vernältnismäßig
klinisch zu konstatieren sind, so daß Reflex-
störungen als ein bedeutend empfindlicheres Sym-
ptom gestörter Rückenmarkstätigkeit zu gelten
haben.
(Medycyna 1905, No. 7.)
Oabel (Lemberg).
Beitrag zur Ätiologie und Therapie des Tic con-
yulsif. Von t)r. K. Noishewski.
Zwei Fälle von Tic convulsif der rechten
Oesichtshälfto — als Folgezustand einer durch
lange Zeit und mit starken Strömen behandelten
Paralyse, beidemal des rechten Facialis —
zessierten nach zehnmaliger bezw. siebenmaliger
Faradisation der linken gesunden Gesichts-
hälfte. Verf. nimmt als Krankheitsursache den
Hypertonus der gelähmten Gesichtshälfte an,
welcher durch Faradisation der gesunden Seite
ausgeglichen wurde.
(Nowiny Ukarskü 1904, No. 10.) Oabel (Lemberg).
Ziele, Portschritte und Bedeutung Ton Ösopha-
goskopie. Von Dr. med. Georg Glücksmann,
Berlin.
Der Verf. hat die Methodik der Ösophago-
skopie durch ein Instrument vervollkommnet,
das er vor kurzer Zeit veröffentlicht hat, und
das augenscheinlich wesentliche Fortschritte in
der Freilegung des Innern der Speiseröhre,
sowie der Beleuchtung und Besichtigung bietet.
Er gibt im vorliegenden Artikel eine genaue,
mit Abbildungen versehene Beschreibung des
Instrumentes und weist auf die Erfolge hin, die
damit für die Diagnostik und die Chirurgie ge-
wonnen werden können. Einzelheiten müssen
im Original eingesehen werden.
(Berl. klin. Wochenschr. 1904, No. 23.) H. Rosin.
Ein neues Irrlgationscystoskop. Von Prof. Dr.
Leopold Casper.
Den bisherigen Irrigationscystokopen haftet
entweder der Fehler an, daß man sie nicht ge-
nügend desinfizieren kann; sie vertragen den
Dampf nicht; oder die Optik muß entfernt
werden, um zu spülen. Das Durchsehen während
der Irrigation ist aber oft wichtig, z. B. be-
kommt man Tumorteile, die sich auf das Prisma
legen, nur aus dem Gesichtsfeld heraus, wenn
der Strom des Wassers über das Prisma dahin-
fährt. Auch für starke Blutungen ist die Ein-
richtung des Irrigationscystokops, bei der man
sieht, während gespült wird, nicht zu entbehren.
Gasper hat nun das Cystokop dahin modi-
fiziert, daß der Irrigationskanal vom Instrument
abnehmbar ist, derselbe kann nun völlig sterili-
siert werden, man kann mit ihm ordentlich
irrigieren und während der Irrigation durch-
sehen. Das Ganze bildet ein vollkommen
rundes, glattwandiges Cystokop vom Durchmesser
23 Charriere.
(Monatsberichte für Urologie, X, 3.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
(Aus dar Ohren- und Kehlkopfklinik in Rostock (i. M.)
Die Tuberkulose des Warzenfortsatzes im Kindes-
alter. Von Privatdozent Dr. Henrici (Rostock).
1. Die Warzenfortsatztuberkulose im Kindes-
alter ist eine relativ häufige Erkrankung, etwa
*/5 aller kindlichen Mastoiditiden sind tuberkulös.
2. Die tuberkulöse Mastoiditis der Kinder
ist in den allermeisten Fällen eine primär ossale,
d. h. auf dem Wege der Blutbahn induzierte
Erkrankung.
3. Es übertrifft die primär ossale Warzen-
fortsatztuberkulose an Häufigkeit des Vorkommens
die sekundäre, im Anschluß an eine Paukenhöhlen-
tuberkulose entstandene.
4. Die Tuberkulose des Warzenfortsatzes
im Kind es alter ist meist ein rein lokales und
relativ gutartiges Leiden. Sie ist der Therapie
wohl zugänglich und gibt, falls sie rechtzeitig
zur Operation kommt, gute Aussicht auf Heilung.
480
Referate.
rrherapeatisclM
L Monatsheft«.
5. Bei der Operation gelingt die Entfernung
alles Krankhaften meist durch die einfache Warzen-
fortsatzaufmeißelung. Nur in wenigen Fällen ist
man gezwungen, auch die Paukenhöhle wie bei
der Radikaloperation mit aufzudecken und aus-
zuräumen.
6. Die sichere Diagnose, daß Tuberkulose
vorliegt, kann man nur in seltenen Fällen aus
dem makroskopischen Bilde bei der Operation
stellen, sie wird meist erst durch die mikrosko-
pische Untersuchung möglich. Der Tierversuch
gibt nicht so sichere Resultate wie das Mikroskop.
7 . Facialislähmung ist verhältnismäßig selten
bei der tuberkulösen Mastoiditis der Kinder und
spricht, wo sie vorhanden ist, für einen fortge-
schrittenen Prozeß im Warzenfortsatz.
8. Eine Tuberkulose der Rachenmandel hat
keine wesentliche Bedeutung für das Entstehen
einer Warzenfortsatztuberkulose bei Kindern.
(Zeitschr. f. Ohrenheilk. etc. Bd. 48, Ergänsungsheft)
Krebs (Hildesheim).
Ober psychische Störungen nach Warzenfortsats-
operatlonen. Von Dr. Fritz Großmann,
Assistenzarzt der Kg). Universitätsohrenklinik
(Prof. Lucao) in Berlin.
„Psychische Störungen nach Aufmeißelungen
des Warzenfortsatzes sind nur scheinbar so selten,
wie ihr rares Vorkommen in der Literatur er-
warten läßt.
Sie sind vielmehr ebenso häufig wie die
Psychosen nach andern Operationen und stehen
selbst den Geistesstörungen nach gynäkologischen
Encheiresen und Kataraktoperationen wenig nach,
vorausgesetzt, daß ein gleichwertiges Material
zum Vergleich herangezogen wird. Ihr Frequenz-
verhältnis ist im Durchschnitt: 1 Psychose auf
500 Aufmeißelungen.
Ebenso wie für die gynäkologischen Opera-
tionen und Kataraktextraktionen lassen sich auch
für die Aufmeißelungen des Warzenfortsatzes
besonders wirksam prädisponierende Momente
eruieren.
1. Die Erschöpfung des Gesamtorganismus
durch den Eiterungsprozeß.
2. Die Autointoxikation.
3. Die Meißelerschütterung, das Verhäm-
mern des Schädels.
4. Die Nachbehandlung.
Auch eine kurz vor der Operation vorge-
nommene Lumbalpunktion kann die Disposition
zur seelischen Erkrankung steigern.
Das wirksamste Moment ist ohne Zweifel
die Operation selbst, d. h. die Meißelerschütte-
rung, da von 4 Psychosen 3 das typische Bild
des sekundären traumatischen Irreseins darboten.
Die einfache Eröffnung des Antrum und die
Totalaufmeißelung ergaben den gleichen Prozent-
satz postoperativer Psychosen.
Die Haupterschütterung des Kopfes wird
demnach wohl bei dem Durchmeißeln einer sehr
harten und stark entwickelten Corticalis erzeugt.
Prophylaktisch ist der Gebrauch des Meißels
möglichst einzuschränken, eine Lumbalpunktion
kurz vor der Operation nur bei strengster Indi-
kation vorzunehmen.
Das Auftreten hypochondrisch-melancholi-
scher Verstimmung nach einer Warzen fortsatz-
operation ist ein alarmierendes Symptom und
fordert zu strenger Überwachung auf, da stets
die Gefahr des Suicidium droht."
(Zeitschr. f. Ohrenheilkunde IL, 3 u. 4.)
Krebs (Hildesheim).
Die Indikation zur Eröffnung des Warzenfort-
satzes bei akuter eitriger Mittelohrentzündung.
Von Dr. Theodor Hei man.
Bei der Behandlung der akuten eitrigen
Mittelohrentzündung, welcher Prozeß immer, wie
es die Erfahrung lehrt, mit geringerem oder
stärkerem Ergriffensein des Processus mastoideus
kombiniert ist, soll als Richtschnur der allgemeine
chirurgische Grundsatz gelten: Wo die Bedin-
gungen zur Entleerung des Eiters ungünstig
sind, dieselben durch Eröffnung künstlicher Wege
günstiger zu gestalten: das ist in diesem Falle
durch Eröffnung der Cellulae mastoideae, even-
tuell des Antrum mastoideum.
Da aber der Eiterherd im Warzenfortsatz
häufig durch Resorption verschwindet, sollen die
Fälle gesondert werden in die, woselbst die
Wahrscheinlichkeit der Resorption gegeben ist,
von denen, wo nur durch operativen Eingriff
Heilung zu erwarten ist.
8 bis lOtägige Krankheitsdauer der Ent-
zündungserscheinungen in der Trommelhöhle und
Warzenfortsatz bilden noch keine Indikation zur
Operation. Diese Erscheinungen schwinden nach
zwei bis drei Wochen oder auch später, ohne
welche Folgezustände zu hinterlassen.
Die Eröffnung des Warzenfortsatzes schon
in zwei Wochen nach Beginn der Grundkrankheit
ist bloß ausnahmsweise geboten, niemals in den
ersten Krankheitstagen.
Ist man im Zweifel, ob der Eiter im Warzeo-
fortsatz durch Resorption verschwinden wird oder
nicht, dann ist es geboten, den Warzenfortsatz
zu trepanieren; diese Ungewißheit tritt aber erst
im Laufe der dritten bis fünften Woche des
Grundleidens auf.
Vor der Operation hat man antiphlogistisch
zu verfahren, ein- bis mehreremale das Trommel-
fell zu durchstechen, damit der Eiter abfließen
kann.
Ein konstanter Schmerz im Warzenfortsatz,
wenn er länger als drei bis vier Wochen dauert,
ist nicht Folgezustand von Eiterretention, sondern
bildet eine Indikation zur Operation. Ebenso
wenn die Eiterung abundant ist und binnen
einem Monat — trotz Behandlung — nicht
zessiert.
Auch bei geringgradiger Eiterung, weon
dabei Fieber vorhanden ist — oder ohne Fieber,
wenn der Zustand konstant sieben bis acht
Wochen dauert und das Gehör abgestumpft ist —
ist die Operation angezeigt.
Die im Beginn der Trommel höhlen entzün-
dung vorhandene Schwellung oder entzündliche
Infiltration des Warzenfortsatzes bildet keine In-
dikation zum chirurgischen Eingriff, wohl aber
wenn dieser Zustand längere Zeit dauert.
Meningealreizungssymptome bei offenem
Trommelfell und gehörigem Eiterabfluß bedingen
XIX. Jahrgang.")
BapUmber 190ft.J
Referate.
481
sofortige Trepanation des Warzenfortsatzes; ist
Eiterretention vorhanden, dann muß vorerst für
gehörigen Abfluß gesorgt werden.
In den meisten Fällen ist die Schnittführung
Wildes nicht ausreichend, es muß auch der
Warzenfortsatz eröffnet werden. Doch erweist
sich als genügend die Eröffnung der Cellulae
mastoideae mit nachfolgender Ezkochleation ;
sieht man aber während der Operation, daß die
Knocheneiterung tiefer greift, dann muß das
Antrum bloßgelegt werden.
Die Trepanation bildet keinen gefährlichen
Eingriff, eventuelle Komplikationen, die schein-
bar im Gefolge der Operation entstanden, waren
schon früher vorhanden, nur konnte der chirur-
gische Eingriff das Eintreten derselben nicht
verhindern.
Statistisch ist nicht nachgewiesen, daß eine
Frühoperation, d. i. vor dem angegebenen Ter-
mine, günstig auf den Yerlauf der Krankheit
einwirken würde.
(Medycyna No. 47, 48, 49, 50, 1904.)
Oabel (Leniberg).
Zar Paracenteeenfrage. Von Professor K.Bürkner
(Göttingen).
Der Wunsch, über die von Zaufal und
Pfiffl für die Mehrzahl der Fälle von akuter
Mittelohrentzündung behauptete Entbehrlichkeit
der Paracentese aus eigener Erfahrung urteilen
zu können, hat Bürkner veranlaßt, in einer
Reihe von einschlägigen Fällen auf die früh-
zeitige Entleerung des Exsudats zu verzichten.
Bürkner wollte 50 Fälle derartig behandeln,
hat aber seine Versuche beim 44. Fall abge-
brochen, weil die Ergebnisse ihn nicht be-
friedigten. In klarer und anschaulicher Weise
wird der ziffernmäßige Nachweis erbracht, daß
unter der paracenteselosen Behandlung die
Ileilungsdaner eine längere ist, daß die Eiterung
öfter in ein chronisches Stadium übergeht, daß
Komplikationen am Warzenfortsatz häufiger auf-
treten, und daß die Patienten sich tagelang mit
Schmerzen herumquälen müssen,* welche durch
den kleinen Eingriff am Trommelfell' beseitigt
werden könnten. „Ich habe wahrlich mitunter
arge Gewissensbisse gehabt", ruft der Verf. aus.
Diesen Versuchen stellt Bürkner 350 Fälle
aus seiner Privatpraxis der letzten zehn Jahre
gegenüber, von denen 200 paracentesiert wurden
nnd 150 bereits mit einer spontanen Perforation
in Behandlung gekommen waren. An erschöpfen-
den ziffernmäßigen Tabellen zeigt Bürkner die
Vorteile der frühzeitigen Paracentese.
(Archiv für Ohrenheilkunde, Bd. 62, 3 u. 4.)
Krebs (Hildesheim).
Amaurose nach Paraffinplastik einer Sattelnase.
Von W. Mintz, Chirurg am Alt-Katharinen-
spital zu Moskau.
Den zwei bisher bekannt gewordenen Fällen
von Erblindung nach Paraffinoplastik der Nase
kann Mintz einen dritten hinzufügen.
Ein 26 jähriger Mann, der bereits vor
Jahresfrist wegen einer luetischen Sattelnase
mit Paraffininjektionen behandelt worden war,
erhielt rechte und links vom Nasenrücken,
l]/2 cm von der Nasenspitze entfernt, im ganzen
0,3 g Paraffin von 43° injiziert. Wenige Mi-
nuten später traten Schmerzen im linken Auge
auf, nnd es kam sehr schnell zur völligen links-
seitigen Erblindung; daneben trat Erbrechen
auf, Pulsfrequenz 48. Da die ophthalmosko-
pische Untersuchung, abgesehen von einer Parese
der Mm. rectus internus, inferior und des M.
obliquns inferior normales Verhalten des Augen -
innern und der brechenden Medien ergab, war
eine Embolie der Art. centralis retinae auszu-
schließen. In den folgenden Tagen entwickelten
sich links ein Exophthalmus, Ödem der Augen-
lider, Chemosis conjunctivae, Trübung der Cornea.
Zugleich nahm die Nasenrückenhaut schwarz-
bläuliche Färbung an und wurde anästhetisch;
später machten sich hier zwei thrombosierte
Bezirke bemerkbar sowie Nekrose. Das Ödem,
der Exophthalmus und die Trübung der Cornea
nahmen allmählich ab. Am 22. Tage nach der
Injektion ergab sich als Augenbefund: Augen-
hintergrund gleichmäßig rot injiziert, Papille
leicht getrübt. Im weiteren Verlauf entwickelte
sich Opticusatrophie.
Es handelte sich also in diesem Fall um
folgenden Vorgang: Im Anschluß an die Injek-
tion entstand eine Thrombose der Venae nasales
extern ae, welche sich auf die Vena ophthalmica
inferior und nach dem Foramen opticum zu aus-
breitete; es gerann nun das Blut in der Vena
centralis retinae, im Hauptstamm der Vena
ophthalmica und im Plexus cavernosus; auch
das Gebiet der Vena ophthalmica superior wurde
in die Stauung einbezogen.
(ZenfralbL f. Chirurg. 1905, No. 2, S. 47.)
Jacobson.
Zur Behandlung der Hautkarzlnöme mit fluores-
zierenden Stoffen. Von A. Jesionek und H.
v. Tappeiner.
6 Fälle von Haut- resp. Schleimhautkarzi-
nomen sind von den beiden Autoren durch Auf-
pinselungen und Injektionen in das erkrankte
Gewebe von solchen Stoffen behandelt worden,
die unter starker Fluoreszenz photodjnamische
Wirkungen entfalten. Die erkrankten Stellen
wurden dem Sonnenlichte oder Bogenlichte gleich-
zeitig exponiert. Die angewendeten Substanzen
waren Salze der Fluoresceinreihe insbes. Eosin.
Die Erfolge sind durch beigegebene Abbil-
dungen illustriert. Sie waren wechselnd. Bei
3 Patienten scheint absolute Heilung eingetreten
zu sein, 2 erkrankten und starben an Kose,
1 Fall ist zweifelhaft geblieben.
(Deutsches Archiv für klin. Medizin. Bd. 82.)
A. Rosin,
Ueber den vergleichenden Wert der alten und
neuen Methoden in der Behandlung des Lupus
vulgaris und gewisser anderer Hautkrank-
heiten. Von J. H. Sequeira.
Auf der diesjährigen Versammlung der
British Medical Association in Oxford eröffnete
Sequeira eine Diskussion über obigen Gegen-
stand. Er hält die Finsensche Lichtbehand-
lung entschieden für die beste Methode; sie gibt
die besten Narben und führt zu dauernder Heilung
482
Referate.
[Therapeut
L Monatsh
Monatshefte.
ohne Rezidive. Sie hat jedoch den Nachteil,
daß sie lange dauert und kostspielig ist. Bei
sehr ausgedehntem und lange bestehendem, be-
sonders aber bei ulzeriertem Lupus ist deshalb
die Behandlung mit Röntgenstrahlen vor-
zuziehen. Bei dieser heilen besonders die Ulze-
rationen schnell, jedoch bleiben häufig innerhalb
der Narbe vereinzelte Knoten übrig, welche zu
Rezidiven führen können. Auch kann zu lange
Einwirkung der Röntgenstrahlen zu einer Derma-
titis und zur Bildung eines Epithelioms führen.
Exzision mit Auskratzung sowie Kauterisation
soll nur bei fungösen Wucherungen zur Anwen-
dung kommen. — Bei weit über den Körper
ausgebreiteter Erkrankung soll man mit Tuber-
kulininjektionen die besten Erfolge erzielen
können. — Auch mit Radiumlicht lassen sich
nach den wenigen Erfahrungen, über dieSequeira
bisher verfügt, gute Heilungen erzielen ; besonders
scheint es sich für den Lupus der Schleimhäute,
der mit andern Methoden schwer zu erreichen
ist, zu eignen. — Die Behandlung mit stark
frequenten elektrischen Entladungen hält Se-
queira zur Behandlung des Lupus nicht für
geeignet.
Beim Lupus erythematodes kommen alle
die eben genannten Methoden auch zur Anwen-
dung, ihr Erfolg ist jedoch hier im ganzen weniger
sicher, Rezidive kommen häufiger vor, was offenbar
darin seinen Grund hat, daß die Krankheit auf
allgemeinen inneren Ursachen beruht.
Beim Ulcus rodens ist die Exzision nur
bei geringem Umfang angängig. Sonst ist die
Geschwürsfläche auszukratzen, und dann sind
Röntgenstrahlen anzuwenden. Sequeira hat auf
diese Weise bei 33 Proz. dauernde Heilung ge-
sehen; auch wenn Rezidive auftreten, sind sie
nicht schwierig zu bekämpfen. Wenn die Rönt-
genstrahlen versagen, so kann das Radium noch
Erfolg haben.
Beim Epitheliom sind die Ergebnisse der
verschiedenen Methoden der Lichtbehandlung
bisher unbefriedigend, so daß nur die Exzision
übrig bleibt.
An der Diskussion beteiligten sich eine
Reihe von Rednern, die im großen und ganzen
alle Sequeiras Ausführungen zustimmten, so
daß diese die zurzeit geltenden Grundsätze für
die Behandlung des Lupus und ähnlicher Krank-
heiten enthalten.
(British med. Journal 1904, 15. Okt.).
Classen (Grube i HJ.
Ober die Behandlang von Akne, Furunkulose
und Sykose mittels Einimpfung von Staphylo-
kokken-Vaccine. Von Dr. A. E. Wright.
Wright hatte schon im Jahre 1902 im Lancet
seine Erfahrungen in der Behandlung von Haut-
krankheiten, die auf Staphylokokkeninfektion be-
ruhen wie Furunkulose, Akne und Sykosis, mit
Injektionen von abgetöteten Staphylokokken-
kulturen veröffentlicht. Wright war damals
durch Untersuchungen über Impfungen mit Anti-
typhusvaccine auf den Gedanken gekommen, die
Staphylokokkenvaccine in derselben Weise an-
zuwenden. Er begann vorsichtig mit kleinen
Dosen, indem er nach jeder Injektion die phago-
zytische Kraft des Blutes prüfte. Es zeigte
sich, daß ebenso wie bei den Typhusimpfungen
zuerst eine negative Periode, d. h. eine solche
verringerter bakterizider oder phagozytischer
Fähigkeit, dann eine positive Periode folgte;
ferner daß die negative Periode von dem Quan-
tum der injizierten Vaccine abhängt und daß
die klinischen Ergebnisse auf der kumulativen
Wirkung wiederholter Injektionen beruhen.
Zu den damals veröffentlichten sechs Fällen
fügt er jetzt eine Reihe von 12 weiteren, nach
oben beschriebener Methode behandelten Fällen.
Alles waren chronische Affektionen, die schon
monate- oder j ahrelang bestanden und verschiedener
Behandlung getrotzt hatten. Eins war ein Fall
von schwerer, allgemeiner Staphylokokkeninfek-
tion mit multiplen Furunkeln, Paronychien und
schwerer Akne; die anderen betrafen hartnäckige
Sycosis barbae, leichtere Furunkulose, mehr
oder weniger schwere Akne. In den genauer
beschriebenen Fällen ist die phagozytische Kraft
des Blutes längere Zeit hindurch wiederholt
geprüft und durch Zahlen ausgedrückt. Wenn
die Norm gleich 1 gesetzt wird, so sieht man,
wie die phagozytische Kraft nach der Injektion
er 8t sinkt, dann bis auf das Doppelte der Norm
steigt und schließlich allmählich wieder auf die
Norm sinkt. Injiziert wurde sterilisierte Staphylo-
kokkenkultur, und zwar ein Quantum, dessen
Gehalt an Staphylokokken bekannt war (2500 bis
5000 Millionen). Der Erfolg war in allen Fällen
überraschend; es 'trat in kurzer Zeit sehr wesent-
liche Besserung oder gar völlige Heilung ein.
(British medical Journal 1904, 7. Mai.)
Classen (Grube i. H.).
Behandlung der Furunkulose und Folliculitis mit
Hefepraparaten. Von Dr. A. v. Kirchbauer
(Nürnberg).
Furunkulose und Folliculitis werden durch
Mikroben veranlaßt. Der Infektionswege gibt
es zwei, den einen direkt von außen, den andern
von innen auf der Blntbahn in die Haarscheiden
und Follikel der Haut. Gegen diese Hautkrank-
heiten wird die Hefe empfohlen. Verf. ver-
wandte mit Vorliebe die Levurinose, dreimal
täglich einen Kaffeelöffel vor dem Essen — mit
gutem Erfolge gegen Akne, Folliculitis und
Furunkulose. Seine Erfahrungen faßt er in fol-
gende Sätze zusammen:
1. Die interne Behandlung mit Hefepräpa-
raten bei Akne, Furunkulose und Folli-
culitis zeitigt bei einer Infektion von
innen sehr gute Erfolge;
2. Bei einer Infektion von außen verspricht
die interne Behandlung nicht viel. Hier
tritt die externe Behandlung mit Hefe-
seife in ihre Rechte, am besten mit
Salizylschwefelhefeseife ;
3. Eine kombinierte Behandlung ist nur da
indiziert, wo man sich über die Ätiologie
des Falles nicht klar ist, oder falls bei
einer Infektion von außen Infektionsstoffe
auf dem Wege der lymphatischen Re-
sorption bereits in die Blutbahn gelangt
sind.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. IS.) R.
XIX. Jahrgang* 1
8eptember 1905.J
483
(An« der II. media. Abteilung des Kaiser Franz Josef-Spital*
in Wien.)
Zur Frage der Folgeerscheinungen, namentlich
der Krampfzustände nach Theophyllln-
gebrauch. Von Prof. Dr. H. Schlesinger.
Verf. verwendet seit. 1902 das Theophyllin
(„Theocin"). Anfangs gebrauchte er Theophyl-
linum purum (sive Theocin), später Theophyllin-
natrium, Theophyllinum natrio-salicylicum, Theo-
phyllinum natrio-aceticum. Trotz der bisweilen
bedrohlichen Nebenwirkungen, die er als erster
hervorgehoben hat, war er mit den erzielten
Resultaten zufrieden. Das Mittel darf als eines
der wichtigsten Diuretica angesehen werden.
Die Wirkung tritt am stärksten bei kardialem
Hydrops hervor , zeigt sich aber auch bei
Hydropsien renalen Ursprungs. Die Verab-
reichung soll vermieden werden bei Kopf-
schmerzen, Erbrechen oder Durchfall, da in
solchen Fällen nicht festgestellt werden kann,
wann die toxische Wirkung des Theophyllins
beginnt. — Bekanntlich nimmt die Harnaus-
scheidung sehr bald nach der Einnahme des
Mittels zu, erreicht in wenigen Stunden eine
außerordentliche Höhe und sinkt nach dem
Aussetzen wieder ab. Eine Dauerwirkung wird
selten erzielt.
Häufig klagen die Kranken nach Einnahme
des Theophyllins (oder seiner Verbindungen)
über Druckgefühl im Magen, Appetitlosigkeit,
Brechreiz und Erbrechen. Bei Anwendung von
Theophyllinum natrio-aceticum scheinen die
Magenstörungen seltener und schwächer aufzu-
treten als bei Verordnung von Theophyllinum
purum (Theocin). Durchfälle sind nach Theo-
phyllin gebrauch häufig; dieselben pflegen drei
bi* fünf Tage anzuhalten. Von besonderer
Wichtigkeit sind die nach dem Mittel beobach-
teten allgemeinen Krämpfe mit Bewußtseins-
verlust von epileptiformem Charakter. Es sind
bereits 15 hierher gehörige Fälle bekannt ge-
worden.
Schlesinger gibt als Tagesdosis 1,0 g,
Maximum 1,5 Theophyllinnatrium oder Theo-
phyllin, natrio-aceticum in wäßriger Lösung oder
in einem Infus von 5,0 — 8,0 Adonis vernalis
auf 150,0 Wasser und läßt das Mittel nie zwei
Tage hintereinander gebrauchen, sondern pausiert
einen Tag; an diesem wird ein Theobromin-
präparat (Theobrominum purum , Diuretin,
Agurin , Urocitrol) verabreicht. Tritt beim
Theophyllin gebrauch Kopfschmerz oder Übelkeit
ein, so wird das Mittel sofort ausgesetzt. Bis
zur Festsetzung der Maximaldosis empfiehlt
Schlesinger, von dem (am besten gar nicht
zu verordnenden) Theophyllinum purum in der
Regel nicht über 0,8 zu verordnen; bei Ver-
schreibung von Theophyllinnatrium und Theo-
phyllin, natrio-aceticum nicht über 1,5 g pro die
hinauszugehen und das Mittel nicht mehrere
Tage ohne Unterbrechung zu geben.
CMünchener med. Wochensehr. 1905, Nr. 23.) R.
Ober die Anwendung des Theophylline als Diu«
retlcum. Von 0. Schmiedeberg.
Schmiedeberg sucht nachzuweisen, daß
verschiedene unangenehme Nebenwirkungen, die
dem Theophyllin von verschiedenen Autoren zu-
geschrieben worden sind, insbesondere die epi-
leptischen Krämpfe und Nierenreizungen gar-
nicht auf das Mittel selbst zurückzuführen sind.
Sie hängen mit der Grundkrankheit, gegen
welche das Theophyllin gegeben wird, eng zu-
sammen.
Man verabfolgt zweckmäßigerweise eine wäß-
rige Lösung von Theophyllin-Natrium. Wenn
man eine Lösung von 2,25 g : 300 anwendet, so
enthält ein Eßlöffel 0,1 g. Davon gibt man
anfangs einen Eßlöffel und steigt allmählich bis
höchstens 3 mal 3 Eßlöffel. Die mittlere Menge
ist 2 mal 2 Eßlöffel. Es ist vorteilhaft, das
Mittel von Zeit zu Zeit auszusetzen. Man kann
auch zuerst etwas Digitalis, dann Theophyllin
nehmen lassen, wenn es sich darum handelt,
durch Digitalis zunächst den Tonus der Gefäße
wiederherzustellen .
(Deutsches Archiv für klin. Mediain. Bd. 82.)
H. Rosin.
(Ans der dermatologischen Klinik in Krakan. Prof. Reiß.)
Die Anwendung des Thigenol „Roche" In der
Dermatologie. Von Dr. J. P a, c y n a.
Verf. wendete das Mittel in ca. 100 Fällen
— meistens chronischen Ekzems — an. Bei
akuten, nicht nässenden Ekzemen wurde 10 bis
20 proz., sogar 30 proz. Lösung von Thigenol in
Unguentum simpl. — Unguentum zinci Wilsoni —
Lassar sehen Zinkpasta oder Lanolin mit stets,
meistens schon nach einer Woche zu beob-
achtendem guten Erfolge angewendet. Die An-
wendungsart war folgende: Auf die gereinigte
Haut wurde je 12 Stunden die Salbe eingerieben
und mit Zinkpuder eingestreut. Vor jedesmaligem
Auftragen muß die Haut, mit Öl und Watte ge-
reinigt werden. Bei akuten, nässenden Ekzemen
wurde Thigenol mit Unguent. Hebrae kombiniert
oder in einer 30 — 50 proz. alkoholisch-wässerigen
Lösung verwendet. Auch hier schwanden die
entzündlichen Erscheinungen nach ein paar Tagen,
worauf eine der oben erwähnten Kombinationen
in Anwendung gezogen wnrde. — 9 länger
beobachtete Fälle von Thigenol -Einwirkung auf
chronische Ekzeme ergaben stets ein günstiges
Resultat — insbesondere unter Anwendung von
Thigenolsalbe — wogegen Thigenol in Lösung
manchmal einen Reizungszustand hervorgerufen
hat. Ferner wurde Thigenol angewendet in
drei Fällen von Dermatitis artefaeta, zwei Fällen
von Impetigo vulgaris, je einem Fall von Tyricho-
phytia animalis faciei, Liehen chronicus Vvidali
mit stets promptem und zufriedenstellendem
Erfolge.
In 5 Fällen von Verbrennung wurde die
exquisit schmerzlindernde (Rp. Thigenol 10,0
Adipis lan. 20,0 Vaselini fl. 30,0 Aq. dest. 10,0),
in 2 Fällen von Prurigo die jucklindernde Wir-
kung des Mittels konstatiert. Erwähnung verdient
ein Fall von Urticaria, welche trotz aller Mittel
zwei Jahre lang bestand. Die Anwendung von
Thigenol in Kombination mit Lass arscher Zink-
paste hat binnen sehr kurzer Zeit die Heilung
herbeigeführt. Scabies wurde in zwei Fällen
durch Thigenol ebenso der Heilung entgegen-
geführt.
484
Referate.
r Therapeatbet»
L Monatshefte.
Verf. kommt zur Überzeugung, daß wir in
Thigenol ein vorzügliches Mittel bei Ekzemen
und vielen anderen — speziell der durch Seborrhöe
hervorgerufenen Krankheitszuständen der Haut —
besitzen und empfiehlt das Mittel sehr.
(Przeglad lekarski. 1904, No. 5.) Qabel (Lemberg).
Ober die Verwendung de« farblosen Teers „An-
thrasol". Von Dr. J. Silberstein.
Während die Wirkungen des Teers sich
mit denen der Phenole und Kohlenwasserstoffe
decken, sind seine übrigen Bestandteile als Ballast,
die Pyridinbasen sogar wegen ihrer größeren
Giftigkeit als bedenklich zu bezeichnen. Ein
von diesen Bestandteilen befreiter und gereinigter
Steinkohlen teer, gemischt mit gereinigtem Wach-
holderteer, ist das Anthrasol (Knoll & Co.,
Ludwigshafen a. Rh.) Das Präparat besteht
demnach fast nur aus den Phenolen und Kohlen-
wasserstoffen des Teers. Die ersteren bedingen
die juckstillende und desinfizierende Wirkung,
während an die Kohlenwasserstoffe die spezifische
Teerwirkung gebunden ist. Silberstein hat
das neue Präparat mehrfach in Anwendung ge-
bracht und recht günstige Erfolge erzielt. Er
verordnete dasselbe in Form von Salbe:
Rp. Anthrasol 5,0
Yaselin
Lanolin aa 30,0
oder in alkoholischer (5°/0) Lösung. Außerdem
empfiehlt sich die Verwendung des Anthrasols
in Seifenform. Seifen mit verschiedenen Zusätzen
werden von der Firma G. Hell & Co. (Troppau)
in den Handel gebracht, so z. B.
1. die reine Anthrasolseife mit 10% und
5 °/0 Anthrasol,
2. Anthrasolboraxseife mit 2% Anthrasol
und 5% Borax,
3. Anthrasolschwefelseife mit 10% Anthrasol
und 10% Schwefel u. s. w.
Eine interne Verwendung des Anthrasols
ist nicht versucht worden und wegen des be-
deutenden Gehaltes an Phenolen auch nicht zu
empfehlen. Dagegen läßt es sich zu Inhalationen
verwenden. Hierzu nimmt man 2,5% Lösungen
oder Emulsionen, das Mittel reizt nicht so sehr
zum Husten wie der reine Teer oder das Teer-
wasser und wirkt stark sekretionsbeschränkend.
Die Darstellung des Anthrasols bedeutet
einen Fortschritt in der Dermatotherapie, da es,
ohne die Übelstände aufzuweisen, dieselben Heil-
prinzipien wie der Teer enthält.
(Aüg. med. Zentr.-Ztg. 1904, No. 27.)
JR.
(Aus der I. med. Abteilung de« SUdtkrankenhauMt su Riga,)
Ober die Anwendung de* Pyramldon beim Ab«
dominaltyphus. Von Dr. H. von Kr annhals.
Vom Juni 1903 bis Juni 1904 kamen
200 Fälle von Abdominaltyphus in der med.
Abteilung zur Behandlung. In 66 von diesen
200 Fällen wurde Pyramidon angewandt. Die
meisten Kranken standen im gewöhnlichen
Typhusalter. Die Mortalität der Pyramidonfälle
betrug 6,06 Proz. (4 Todesfälle: 2 Männer,
2 Weiber, welche an Komplikationen zugrunde
gingen), die Mortalität der nicht mit Pyramidon
behandelten Fälle 8,2 Proz. — Anfangs wandte
v. Krannhals 0,2 zweistündlich Tag und Nacht
an, später fand er, daß nicht selten mit viel
kleineren Gaben (0,1 vierstündlich) fast ganz
derselbe Effekt erzielt werden konnte. Fast
stets wurde zugleich -mit dem Antipyreticum
0,2 — 0,3 Coffein, natro-benzoic. 3 mal täglich als
Herztonicum verabfolgt, nachdem die mit Pyra-
midon allein behandelten ersten Fälle wegen
der bei dem plötzlichen Temperaturabfall sich
einstellenden Kollapserscheinungen doch zu
größerer Vorsicht mahnten. Neben Pyramidon-
und Koffeindarreichung fand selbstverständlich
die übliche, rein symptomatische Behandlang
(auch Bäder) statt. Die günstige Beeinflussung
des Allgemeinzustandes war sehr deutlich in
10 Fällen, aber dieselbe war meistens eine nur
vorübergehende. 8 mal trat nach Pyramidon
Erbrechen auf. Nach Verfassers Ansicht kann
man beim Typhus ohne Antipyretica und auch
ohne Pyramidon auskommen. Ein Versuch mit
diesem Mittel ist jedoch am Platz, wenn es
darauf ankommt, die Beschwerden eines Kranken,
wenn auch vielleicht nur vorübergehend, zu
lindern oder zu benehmen.
(Münch. med. Wochenschr. 49, 1904.) R.
Stade therapeatlque eur le pyramidon« Par le
Dr. A. Blanc.
Pyramidon verdient allen bekannten schmers-
lindernden und Temperatur herabsetzenden Mitteln
vorgezogen zu werden. Es wirkt in verhältnis-
mäßig geringer Dosis schneller und seine
Wirkung hält länger vor. Dasselbe kann bei
allen Krankheiten in Anwendung kommen; nur
Diabetes bildet eine Gegenanzeige. Blanc ver-
abreicht Pyramidon in flüssiger Form zu 0,60
bis 1,0 g pro die für den Erwachsenen in ge-
teilten Gaben zu 0,30 dreistündlich. Er em-
pfiehlt die folgende Verschreibungsweiae:
Pyramidon 2,40
Aquae destill. 90,0
Sirupi Ribium 30,0
Ein Eßlöffel enthält 0,30 Pyramidon. —
Kinder sollen nur 0,15 — 0,20 Pyramidon in ge-
teilten Gaben erhalten.
(These de Porig 1903.) Ä.
Ober Trigemin. Von Dr. B. Müller, Hamburg.
Das Trigemin (eine Verbindung von Pyra-
midon und Butylchloralhydrat) ist ein vorzüg-
liches Beruhigungsmittel bei Schmerzen neural-
gischer Art, z. B. Trigeminusneuralgie, Ischias etc.,
bei Zahnschmerzen infolge Pulpitis, bei Migräne,
dysmenorrhoischen Schmerzen und Kopfschmerzen
während der Menses. Gegen 100 Fälle dieser
Beschwerden hat Müller mit Trigemin erfolg-
reich behandelt. Anders verhält sich die Ver-
wendung des Mittels bei Schmerzen anderer
Ätiologie, und Müller konnte feststellen, daß
Trigemin bei allen entzündlichen Schmerzen,
akuten Schmerzanfällen wie bei Rheumatismus etc.,
namentlich in allen Fällen, die mit Fieber oder
Störungen des allgemeinen Wohlbefindens, der
Verdauung und Magentätigkeit etc. ein hergehen,
nicht angebracht ist. Bei solchen Krankheiten wird
XIX. Jahrgang. 1
8eptember 1905 J
Referate.
485
es meist schlecht vertragen. Das Trigemin be-
sitzt neben einem sehr unangenehmen Geschmack
auch eine stark reizende Wirkung auf den Magen.
Daher ist ein gesunder Magen für die Verabrei-
chung erforderlich; anderenfalls treten Erbrechen,
schneidende Schmerzen u. s. w. auf. — Man gibt
das Mittel am besten in Gelatinekapseln oder
Oblaten, aber niemals bei leerem Magen. Die
von den Höchster Farbwerken empfohlenen Dosen
(0,6 — 0,75) sind viel zu hoch. Bei den meisten
Menschen wirken bereits 0,25 g genügend.
Müller hat gewöhnlich bei Frauen 0,2 — 0,25 g
und bei M&nnern 0,3 g verordnet. Nach wenigen
Minuten pflegt der Schmerz beseitigt zu sein.
Die Wirkung hält viele Stunden an, und nach
Ablauf derselben kann man ohne Bedenken
wieder 0,25 g Trigemin geben. Eine Gewöhnung
an das Mittel tritt nicht ein. — In Pulverform
aufbewahrt, zersetzt sich Trigemin leicht. Wenn
es gelblich oder bräunlich wird, ist es nicht
mehr gut; es muß weiß aussehen.
(Münch. med. Wochenschr. 7, 1905.) R.
Cltarin. Von Dr. Neumann, Hausarzt des Landes-
bades in Baden- Bade q.
Im Jahre 1903 hat Neu mann Citarin bei
S Männern versucht. Nur in 3 frischen Fällen
kam nach kräftigen Dosen ein Erfolg. 1904 ver-
abreichte er das Mittel bei 22 Männern und
1 Frau wegen zweifelloser Gicht. Die Dosierung
war 4,0 g, in akuten Schüben bis 8,0 g pro die
im Thermalwas8er (schwache, aber heiße Koch-
salz- Lithionlösung). Nur in einem Falle blieb
der Erfolg aus.
Bekanntlich kann man durch die stark
giftigen Colchicumpräparate Anfalle zuweilen
rasch unterdrücken, jedoch nie ohne Störung
des Allgemeinbefindens und ohne Einwirkung
auf Herz und Nieren. Die Erfolge mit Citarin
waren aber in 24 Fällen zum Teil geradezu ver-
blüffend, nur in einem Falle negativ, sonst in
allen sehr befriedigend. In einem Falle, der mit
glänzendem, schmerzhaftem Mittelfuß und Groß-
zehe nach Baden-Baden kam, waren die Erschei-
nungen nach 4 Tagen auf Gebrauch von 15,0 g
Citarin geschwunden, und Patientin reiste nach
10 Tagen bei bestem Befinden ab. Sämtliche
Fälle betonten das allgemeine Wohlgefühl, mit
welchem der Heilungsvorgang verknüpft war.
Von den Patienten litten 2 gichtkranke Sklerotiker
an mäßiger Albuminurie. Während des Citarin-
gebrauches konnte eine Abnahme des Albumens
beobachtet werden. Infolge dessen verabreichte
Neu mann das Mittel auch in einem Falle von
chronischer Nephritis. Er konnte auch hier nach
kurzem Citaringebrauch eine Verminderung der
Albuminurie nachweisen.
(Münch. med. Wochenschr. 1905, No. 13.) R.
Einige Beobachtungen Aber Hetralin, ein neues
internes HarnanÜsepticum. Von Dr. H. Lohn-
stein (Berlin).
Das von der Firma Möller & Linsert
(Hamburg) neuerdings in den Handel gebrachte
Hetralin, seiner chemischen Konstitution zufolge
Dioxybenzolhexamethylentetramin, ist ein Uro-
tropinderivat. Dasselbe ist leicht löslich in
Alkohol und Wasser. Lohnstein hat das
Medikament eingehend geprüft und zwar bei
solchen Patienten, bei welchen sonst Urotropin
und ähnliche Präparate angewendet zu werden
pflegen. Er kommt auf Grund seiner Beob-
achtungen zu dem Ergebnis, daß das Hetralin
ein recht wirksames Harndesinficiens darstellt,
welches besonders bei infektiösen Katarrhen des
Urogenitaltractus, sowie bei Phosphaturie an-
gezeigt ist.
(Allg. med. Zentr.-Ztg. 1904, No. 19.) R.
Ober Xeroformstreupulver. Von Dr. E. Toff,
Braila.
Es besteht in vielen Gegenden die Gewohn-
heit, Wickelkinder mit Reismehl- oder Stärke-
mehlpuder einzustäuben, und man wundert sich,
daß Kinder, trotzdem daß sie bei jedem Windel-
wechsel mit Puder gut eingestäubt werden, doch
rote Hautfalten und Ekzeme bekommen. Toff
hat schon früher darauf hingewiesen, daß das
so beliebte Amylum mit den Hautsekreten, dem
Harne und den Exkrementen einen Teig bildet,
welcher in Gärung übergeht, direkt reizt und
schädlich auf die zarte Haut des Kindes ein-
wirkt. Aus diesem Grunde wandte er Talcum
venetum an, das sich in Verbindung mit Xero-
form vorzüglich bewährte. Nach verschiedenen
Versuchen ist er zur Überzeugung gelangt, daß
ein Pulver, bestehend aus einem Teile Xeroform
und neun Teilen Talcum venetum, ein geradezu
ideales Streupulver für Kinder ist und sowohl
als prophylaktisches Mittel als auch zur Be-
handlung bereits entwickelter Hautentzündungen
ausgezeichnete Resultate nicht nur bei Kindern,
sondern auch bei Erwachsenen gibt. Das Xero-
formstreupulver ist geruchlos. Es kann durch
Zusatz von Pulv. rad. Iridis florent. wohlriechend
gemacht werden.
(Allg. med. Zentr.-Ztg. 1, 1905.) R.
(Aas der Unlvenitüta-Klnderklinik dm Charlte-KrankenhaiiMs
sa Berlin.)
Urotropin bei Scharlach zur Verhütung von
Nephritis. Von 0. Garlipp.
Verf. hat die Angaben Widowitzs, daß
Darreichung von Urotroprin das Eintreten einer
Scharlachnephritis verhindern könne, an dem
Krankenmaterial der Kinderklinik der Charite
nachgeprüft.
Von 82 Scharlachkranken, die mit Uro-
tropin nach der Widowitzschen Methode (Dar-
reichung in den ersten drei aufeinanderfolgenden
Tagen und ebenso zu Beginn der 3. Woche)
behandelt worden waren, erkrankten 2 1(25,6 Proz.)
an Nephritis; zwei Kranke starben an Sepsis.
Nach Patschkowski,der Urotropin dreimal
je 4 Tage lang mit bestimmten Unterbrechungen
reicht, wurden 13 Kinder behandelt, von denen
zwei (15,4 Proz.) Nephritis bekamen.
Da der Prozensatz an Nephritiserkrankungen
bei Scharlach vor der Behandlung mit Urotropin
19,6 Proz. betrug, kann Garlipp nicht allzu-
große Hoffnungen auf die prophylaktische Wir-
kung des Urotropins bei Scharlach setzen.
(Medizinische Klinik 1905, No. 32, 810.) Jacobson»
486
Referate.
Die therapeutische Verwendung der Hamamelis
virginmns. Von Dr. H. R. Cos ton in Bir-
mingham (Alab.).
Coston empfiehlt ein Mundwasser von
folgender Zusammensetzung: Extracti Hamamelis
destillati, Aquae rosarum ■» zur Heilung blutender
Gummata und anderer Geschwüre auf der Mund-
schleimhaut. Wegen seiner blutstillenden und
adstringierenden Fähigkeit eignet sich das
destillierte Extrakt auch zu Kompressen bei
Verbrennungen und bei Ekzem , sowie zu
Waschungen bei Hyperhidrose. — Das Extrac-
tum fluidum läßt sich zu Suppositorien bei Kon-
gestion der Hämorrhoidalgefäße verwenden. —
Innerlich dient das Extractum fiuidum zur
Stillung von Blutungen jeglichen Ursprungs.
Besonders bewährt gefunden hat Coston es bei
Nierenblutung.
(TherapeuHc gazette 1905, No. 12.)
Classen (Qrube i H.).
Zur endermatischen Anwendung des Guajakols.
Von Dr. Hecht in Beutheo, O.-Schl.
Nachdem Sciolla, Bard, Robillard,
Caessorici, Sigaela, Prosorowski, Un-
v er rieht, Hasenfeld die antipyretische und
resorbierende Wirkung des in Dosen von 0,5
bis 1,5 auf die Haut gepinselten Guajakols fest-
gestellt und es besonders bei exsudativer Pleu-
ritis empfohlen hatten, hat auch Hecht diese
Methode verwandt , jedoch statt Guajakoi-Jod-
tinktur (5 : 25) eine lOproz. Guajakolsalizylsalbe
appliziert und damit bei Gelenkrheumatismus
und Pleuritis günstige Erfolge erzielt. Bei Er-
wachsenen wurde Acidum salicylicum, Guajakol,
Ichthyol m 5,0 : Vasogen. spir. 50,0, bei Kindern
nach Vorgang von Filatow, Bourget etc. 15
bis 30 Tropfen einer Mischung von Guajakol
1:5 bis 10 Ol. provencale verordnet.
Es ist zu beachten, daß nach jeder Appli-
kation Schweißausbruch erfolgt, weshalb die
Dosis nicht zu hoch gegriffen werden soll. Da
nach nochmaliger Anwendung die Epidermis
sich als Membran abhebt, müssen dann intakte
Hautpartien benutzt oder mit Salokresol, dem
Salizylsäureester des Kreosots , abgewechselt
werden.
(Münch. med. Wochenschr. 9, 1905.)
Esch (Bendorf).
Der Wert des Nitroglyzerins in der chirurgi-
schen Pxaxis. Von Frank Elvy.
Eivy hat die gefäßerweiternde und blut-
drucksteigernde Wirkung des Nitroglyzerins bei
schwerer Phlegmone und bei Gangrän bewährt
gefunden. In einem Fall von Phlegmone der
Hand bei einem Nephritiker und Alkoholisten,
wo schon die Amputation in Aussicht genommen,
jedoch vom Patienten verweigert worden war,
brachte Nitroglyzerin in einmaliger Dosis von
Vioo Gran (oder 0,0006) schnelle Wendung
zum Besseren. Dasselbe gilt von einem schweren
Furunkel im Nacken bei einem schwächlichen
Menschen, bei welchem die Heilung eine Woche
nach der Inzision gar nicht fortschreiten wollte.
In beiden Fällen ging die faulige, übelriechende
Wundsekretion bald in gutartige Eiterung über,
die Anzeichen drohender Gangrän verschwan-
den, der Puls besserte sich und die weitere
Heilung verlief ohne Störung.
(British tnedical Journal 1905, 7. Jan.)
Classen (Qrube i. H.J.
Einiges Ober den Wert des Fleischextraktes and
anderer künstlicher GenoßmltteL Von Dr.
K. Beerwald in Berlin.
Außer O. Liebreich1), der sehr inter-
essante Versuche über den Nutzen der Gewürze,
speziell des Senfes und Maggis Suppenwürze,
anstellte, war es namentlich der Russe Pawlow,
der auf die Bedeutung der Genußmittel für die
Ernährung hinwies.
Beerwald unterscheidet nun, trotzdem die
Rolle, die die sogenannten Nährsalze im all-
gemeinen und im Fleischextrakt im besonderen
spielen sollen, ihm recht zweifelhaft erscheint,
in einer dem Leser nicht ganz klar werdenden
Weise zwischen den mittels der Bouillon oder
des Fleischextraktes eingeführten „ Gewürz -
Stoffen" — wenn auch das letztere niemals dem
als Lösungsmittel benutzten Wasser den Cha-
rakter einer Fleischbrühe geben könne — und
den bloßen „Geschmackskorrigentien" wie
Maggis Suppenwürze und den in neuerer Zeit
in den Handel gebrachten Hefepräparaten. Die
letzteren namentlich sieht er in den jeweils
zur Verwendung kommenden Mengen, als völlig
wertlos für die Ernährung an.
(Zeitschr. f. diätet. u. physik. Ther. 1904, Bd. VI II, H 2.)
Eschle (Sinsheim).
Ranunculos fiearla als Salbe und Stuhlzäpfchen.
Von Sir James Sawyer in Birmingham.
Sawyer empfiehlt nach mehrjähriger Er-
fahrung eine Salbe, welche frischen, im Frühjahr
gesammelten Hahnenfuß (Ranunculus ficaria,
pilewort) als wirksamen Bestandteil enthält, sur
Linderung von Hämorrhoidalbeschwerden. Er
beschreibt ausführlich die Herstellung der Salbe:
Die klein geschnittene Pflanze wird mit Schweine-
fett geschmolzen, das Ganze dann einem Druck
ausgesetzt, damit der Saft der Pflanze sich mit
dem Fett vermischt. Durch Zusatz von Ceta-
ceum läßt sich die Konsistenz der Salbe so weit
erhöhen, daß man Stuhlzäpfchen daraus formen
kann.
(British medical Journal 1904, 2 Jan.)
Classen (Qrube u H.J.
Eine neue Fixationsmethode von Blut, cytologl-
schen Präparaten etc. Von Dr. E. Rzet-
kowski.
Das Präparat wird möglichst dünn und
gleichmäßig zwischen zwei Deckgläschen zer-
rieben und auf paar Minuten auf einen trockenen,
staubfreien Ort, z. B. unter einer Glasglocke an
der Sonne, oder beim Ofen gestellt. Inzwischen
wird 40 — 45 cem reinstes Öl — oleum olivarnm
provinciale — welches durch 2 — 3 maliges Er-
hitzen auf 105 — 110° entwässert wurde, vor-
bereitet und in dieses kalte Medium das Präparat
mit der Anstrichseite nach oben versenkt. Hierauf
wird das Ganze auf ein Drahtnetz gestellt, in
]) Vgl. diese Monatsschrift, Februarheft 1904.
XIX.' Jahrgang. "1
September 1 »Oft. J
Referate. — Toxikologie.
487
das Öl ein bis 150° C. graduiertes Thermometer
eingesenkt and langsam erwärmt. Die Flamme
des Brenners darf nicht zu intensiv sein, deren
Spitze soll das Drahtnetz bloß in einem Punkt
erreichen. Nach ein paar Minuten zeigt das
.Thermometer 115 — 118°, worauf das Gefäß bei
Seite gestellt wird, um nach mäßigem Erkalten das
Präparat herauszunehmen. Daran schließt sich
sorgfältiges mehrmaliges Abwaschen in Äther an,
bis beim Abtrocknen am Fließpapier keine Fett-
patzen zurückbleiben; schließlich werden ein paar
Tropfen Alkohol auf das Präparat gegeben und
mit Wasser abgespült.
Diese Methode soll ausgezeichnete Resultate
liefern und wird deshalb und wegen der leichten
Ausführungsart behufs Erprobung lebhaft an-
empfohlen.
(Medycyna 1904, No. 50.) Oabel (Lemberg).
Toxikologie.
t. Über einen Todesfall nach Anwendung der offi-
zlnellen Borsalbe bei einer Brandwunde. Von
Dr. D opfer, Wasseralfingen. Münchener medi-
zinische Wochenschrift, No. 16, 1905, S. 763.
q. Todesfall nach Anwendung der offizinellen Bor-
salbe bei einer Brandwunde. Von E.Harnack.
Deutsche medizinische Wochenschrift, No. 22,
1905, S. 879.
1. D opfer hatte einem zweijährigen Kinde,
welches eine Brandwunde am rechten Unterarm
hatte, als Brandsalbe Unguentum acidi borici
verordnet. Wenige Tage später war die ge-
samte Körperoberfläche mit Ausnahme des Gesichts
und der Kopfhaut mit einem scharlachartigen
•Exanthem bedeckt, an den Füßen und Händen
aeigte sich blauschwarze, petechienartige Ver-
färbung. Unter zunehmender Mattigkeit, Er-
brechen, Diarrhöe, Apathie, Somnolenz trat am
4. Tage nach dem Gebrauch der Salbe der Tod
ein. Da die Brandwunde weder nach Ausbrei-
tung noch nach Intensität gefährlich erschien,
da sowohl septische Infektion wie auch Scharlach
auszuschließen war, glaubt D opfer eine Bor-
säureintoxikation annehmen zu müssen. Es waren
.hier in einer Ausdehnung von 12 : 3 ccra auf
4Üas freiliegende Rete Malpighi innerhalb 2 bis
3 Tagen 80 g Borsalbe appliziert worden.
2. Uarnack, der diesen Fall epikritisch
bespricht, weist darauf hin, daß hier in kurzer
Zeit bei einem zweijährigen Kinde auf einer resor-
bierenden Fläche von 36 qcm eine hohe Dosis
Borsäure verwendet worden ist, die sehr wohl
den letalen Ausgang hat herbeiführen können.
Als Beispiel, wie gefährlich die erkrankte Haut
für die Resorption von Giften sein kann, führt
er einen Fall von schwerer Pyrogallolvergiftung
an, die dadurch zustande kam, daß bei einem
ausgedehnten Ekzem Tanninlösung in Form von
Umschlägen und gleich darauf Bäder mit Kalium-
hypermanganat verordnet worden waren.
/•
(Aus dem städtischen Bpital in Dervent, Bosnien.)
Ober eine Vergiftung mit Helleborus niger. Von
Ernst Fürth.
Ein 15jähriger Knabe aß aus Mutwillen
den Inhalt von drei mit fast reifen Samenkernen
angefüllten Balgkapseln von Helleborns niger.
Das Kauen verursachte scharfes, pfefferartiges
Brennen auf der Zunge, bald darauf traten Kopf-
schmerzen ^ Ohrensausen, Schwindelgefühl sowie
Kratzen und Würgen im Schlünde und der
Speiseröhre auf. Fürth, der den Kranken nach
etwa 2 Stunden sah, fand bei ihm einen vollen,
stark gespannten und leicht arhythmischen Puls
60 in der Minute, leichte Benommenheit, er-
weiterte etwas träge reagierende Pupillen. Die
Therapie bestand in ausgiebiger Magenspülung,
Darmirrigation und in Darreichung eines Brech-
mittels (1,25 g Rad. Ipecacuanhae). In der
Magenspülflüssigkeit sowie im Erbrochenen fanden
sich Samenkerne und Reste davon vor. Nach
weiteren zwei Stunden hatte sich die Püls-
arhythmie gehoben, der Puls war weniger hart,
74 in der Minute, es bestand aber noch Somno-
lenz. Am nächsten Tage nach ergiebigem Schlafe
besserten sich die Symptome, am 3. Tage war
das Sensorium frei, die Pupillen waren noch in
geringem Grade erweitert, und erst am 6. Tage
nach der Vergiftung konnte völlige Genesung
festgestellt werden.
Die bisher bekannt gewordenen Vergiftungen
mit Helleborus niger beziehen sich auf den
Wurzelstock und nicht auf die Samen. Diese
enthalten vorzugsweise Helleborin, das mehr
narkotisch wirkt, während ihr Gehalt an Helle-
borein, das die Herztätigkeit beeinflußt, drastische
Wirkungen besitzt und die Schleimhäute reizt,
an Menge zurücksteht. Nach Schätzung des
Autors sind Samen im Gewicht von etwa 0,4 bis
0,7 g verzehrt worden.
(Medizinische Klinik 1905, No. 14.) Jacobson.
(Aus der dermatologisohen Klinik zu Bern, Direktor Prof.
D. Jaddaisohn.)
Ein Fall von Glykosurie nach medikamentöser
Quecksilberverabreichung. Von Volontärarzt
Dr. Ch. J. Fauconnet (Nyon).
Die nach Quecksilberdarreichung auftretende
Glykosurie ist bisher experimentell häufig bei
Kaninchen und Hunden beobachtet worden, es
finden sich jedoch nur spärliche Angaben in der
Literatur, daß nach therapeutischen Dosen von
Quecksilber beim Menschen Zucker im Urin auf-
tritt. Einen solchen Fall schildert Fauconnet.
Ein 20 jähriger an fiorider Syphilis leidender
Pat. erhielt eine Injektion von salizylsaurem
Quecksilber (0,1 g) und dann jeden zweiten Tag
Injektionen von 1 ccm einer 5 proz. Lösung von
nukleinsaurem Quecksilber. 24 Stunden nach
der 8. Injektion zeigte der Harn, der bis dahin
frei von Zucker und Eiweiß war, Reduktion;
488
Toxikologie.
rThermpeutises*
L IfoBatsfatftt.
innerhalb 24 Standen wurden 17,2 g Zucker
(= 0,8 Proz.) aasgeschieden. Der Zuckergehalt
fiel am nächsten Tage auf 0,2 Proz. und war
am darauffolgenden Tage verschwunden. Noch
zweimal kam die Glykosurie in gleicher Weise
nach Injektionen desselben Salzes zur Beobach-
tung; auch als das Präparat gewechselt und
0,02 g resp. 0,015 g Sublimat injiziert wurden,
zeigte sich von neuem Zucker. Wurde gleich-
zeitig mit den Injektionen Traubenzucker ver-
abreicht, so stieg die Zuckerausscheidung bis
auf 8 g pro die, Traubenzucker für sich allein
rief, solange Pat. nicht unter Quecksilber-
wirkung stand , keine Glykosurie hervor. Ab-
gesehen von einer geringen Stomatitis bestand
sonst keinerlei Intoleranz gegen Quecksilber; die
Roseola schwand, und Pat. konnte symptomlos
entlassen werden.
In diesem Falle wurde also durch Queck-
silber eine Glykosurie allein, ohne weitere In-
toxikationserscheinungen hervorgerufen, und zwar
anscheinend erst durch Anhäufung des Queck-
silbers im Körper.
Durch systematische Urinuntersuchungen bei
Quecksilberkuren würden sich Anhaltspunkte
dafür gewinnen lassen, ob die Queksilber-
glykosurie häufiger auftritt, und ob ihr überhaupt
eine praktische Bedeutung zukommt.
(Münchener medizinische Wochenschrift 1905, No. 20.
S. 949.) Jacobson.
(Aus Prof. Kretblchs Universitätsklinik In Gras.)
Ein Fall von Jodpemphigut mit Beteiligung der
Magenschleimhaut VonDr.Rudolf Polland,
I. As?, d. Klin.
Die mannigfaltigen Hautaffektionen, die durch
den innerlichen Gebrauch von Jodpräparaten
entstehen, kommen zwar in einer Anzahl von
Fällen erst bei fortgesetztem Jod gebrauch zu-
stande, jedoch kommt es im aligemeinen nicht
auf die Menge und Zusammensetzung des Prä-
parates, sondern auf die Disposition des Be-
treffenden an. Vor allem ist die rasche Elimi-
nation des Jods aus dem Körper von Bedeutung,
weshalb Herz- und Nierenkranke zu besonders
schweren Formen des Jodismus neigen.
Polland hat nun ähnlich wie Neumann
(Arch f. Derm., Bd. 48, p. 323) eine Dermatitis
tuberosa mit Beteiligung der Magenschleimhaut
beobachtet, die bei einem Patienten mit Nephritis
nnd Urämie auftrat, der 10 Tage lang täglich
1 g JNa, aho im ganzen nur 10 g, erhalten
hatte. Es zeigten sich im Gesicht und an den
Händen Effloreszenzen in Gestalt von Blasen,
die zu größeren Geschwüren konfluierten. Den-
selben Befund ergab auch die Sektion des Magens,
nachdem der Exitus infolge des Grundleidens
eingetreten war. Jod war noch jetzt, 12 Tage
seit der letzten Jodmedikation, im Inhalt der
Harnblase nachweisbar.
Das Nierenleiden hat, wie Polland aus-
führt, die Entstehung des Jodexanthems be-
günstigt infolge der dadurch herbeigeführten
verlangsamten Elimination und infolge der Stau-
ung der jodhaltigen Ödemtlüssigkeit in der Haut,
die zudem durch urämische Heizung prädisponiert
war. Die Magenaffektion erklärt ermitBjelo-
golowys (Arch. f. Verdauungskr., Bd. X, No. 3)
durch Ausscheidung freien Jods infolge Vor-
handenseins salpetrigsaurer Salze im Magen, was
bei Hyperazidität, an der der Patient ebenfalls
litt, der Fall ist. Letztere wäre demnach auch
eine Vorbedingung für den Jodismus überhaupt.
Bei Hyperazidität und Nierenleiden ist also
Jod nur mit Vorsicht zu gebrauchen.
(Wien, klin. Woch. 1905, No. 12.)
Esch (Bendorf).
(Ans der K. K. deutschen dermstologischen Universitätsklinik
in Prag (Hofrat Prof: F. J. Piek.)
Ober artefisielle Dermatitis, hervorgerufen durch
den Gebrauch eines Haarfärbemittel«. Von
Dr. Carl Botac\ klinischem Assistenten.
In letzter Zeit sind mehrfach nach Gebrauch
von Paraphenylendiamin, welches in Verbindung
mit oxydierenden Substanzen die Haare dunkel-
violett färbt, wochenlang andauernde Dermati-
tiden beobachtet worden. Auch Verf. kann zwei
einschlägige Fälle mitteilen.
Zum Dunkelfärben der Bart haare hatte der
erste Patient . das paraphenylendiaminhaltige
Haarfärbemittel Nucin verwendet. Schon am
Abend desselben Tages stellte sich an Stärke
zunehmendes Jucken und Brennen im Gesicht
und am andern Morgen ein brennesselartiger
Ausschlag ein, der zwar in den nächsten Tagen
zurückging, dann aber wieder spontan rezidi-
vierte, gefolgt von einer Eruption von kon-
fluierenden, mit wasser klarer Flüssigkeit gefüllten
Blasen. Unter Puderbehandlung heilte die bullöse
Dermatitis ab, doch blieb noch bis in die vierte
Woche die Infiltration sowie Jucken und Brennen
der Gesichtshaut bestehen.
Der zweite Patient hatte zwei Monate lang
wöchentlich einmal Nucin gebrancht. Den nach
der dritten Applikation auftretenden nässenden
Ausschlag suchte er durch Bestreichen der Haut
mit Vaselin vor jedesmaligem Gebrauch des
Mittels zu verhüten. Die Haut der Oberlippe
zeigte Rötung, derbe Infiltration und tiefe Rha-
gaden.
(Prag. med. Wochenschr. 1905, No. 28, S. 389.)
Jacobson.
Ein Fall von Mesotanauaschlag. Von Dr. J. P.
Wilis.
Bei einer siebzigjährigen Frau war wegen
Gicht das linke Handgelenk und Kniegelenk mit
Mesotan , anfangs rein , dann mit Olivenöl zu
gleichen Teilen verdünnt, mehrmals bestrichen
worden. Nach einigen Tagen bildete eich an-
fangs ein Erythem, später ein Ausschlag, ähnlich
wie Liehen, bestehend aus harten roten Papeln aas.
Diese Affektion verschwand nach wenigen Tagen.
Einen Monat später traten jedoch große schmerz-
hafte Blasen auf, die eröffnet wurden und einige
Tage lang reichliche Mengen Serum entleerten,
jedoch schließlich ohne Eiterung heilten.
(British medical Journal 1905. 22. April.)
CUssen (Qrube u H.).
XIX.Jfthrfttf.-l
Septeftiber 190S.J
Literatur.
489
Literatur.
Das Anwachsen der Geisteskranken in Deutsch-
land. Von Dr. Max Hackl, prakt. Arzt in
Solin bei München. Verlagsbuchhandlung von
Seitz und Schauer, 1904. 104 S. Pr. M. 3,—.
Die deutsche Irrenstatistik liegt im argen.
Eine Zahlung der Blödsinnigen und Irrsinnigen
im ganzen Lande hat nur einmal, im Jahre 1871,
bei Gelegenheit der allgemeinen Volkszahlung
stattgefunden.
Seitdem nicht mehr! Anders in einzelnen
Landern wie Preußen und Sachsen. Es ist ein
besonderes Verdienst der fleißigen Schrift, auf
diesen Übelstand nachdrücklich hinzuweisen. Nur
mit großer Mühe und unter Benutzung der aus-
führlich mitgeteilten Anstaltsziffern ist der Verf.
zu dem Resultate gelangt, daß die Zahl der
Geisteskranken in Deutschland anwachst, und
zwar über die Zunahme der Bevölkerung hinaus.
Die sich naturgemäß daran schließende Frage,
was ferner in der Irrenfürsorge geschehen müsse,
wird eingehend beantwortet. Zunächst ist eine
hinreichende Anzahl von Anstaltsplätzen zu fordern
(nach Kräpelin soll auf 500 Einwohner ein
Anstaltsplatz kommen; in der Schweiz kommt
schon jetzt ein solcher auf 250 Einwohner).
Weiter brauchen wir ein Irrengesetz, das sich
nach Rusak mit Neu errieb tung und Konzessio-
nierung von Irrenanstalten, Regelung des Betriebes
und der Überwachung derselben, Überwachung
der aus den Anstalten entlassenen und beurlaubten
und der außerhalb der Anstalten untergebrachten
Kranken sowie mit der Unterbringung irrer
Verbrecher und verbrecherischer Irrer zu be-
schäftigen hätte. Notwendiger wäre noch der Aus-
bau der Fürsorge für die Imbezillen und Idioten
sowie Epileptiker und geisteskranke Verbrecher.
Für all diese Dinge werden praktische Ratschläge
erteilt. Besonderer Wert wird mit Recht auf die
Prophylaxe gelegt. Bekämpfung des Alkoholmiß-
brauches, der Geschlechtskrankheiten und der
nervösen Erschöpfung. Das ist ungefähr der
Inhalt der lehrreichen und interessanten Arbeit,
die nicht zum wenigsten auch von den zuständigen
Behörden gewürdigt zu werden verdient.
H. Krön (Berlin).
Über vegetarische Diät nnd Lebensweise über-
haupt. Von Dr. E. Singer-Berlin. Heft 6 von
Witthauers med. Volksbücherei. Halle 1904,
C- Marhold. 25 S. Preis M. —,40.
Verf. gelangt ebenso wie Albu (D. veg.
Diät. Lpzg. 1902) zu dem Schluß, daß die „lakto"-
vegetarische Kost bei geeigneter Zubereitung für
den Menschen wohl möglich und nötigenfalls aus-
reichend ist, aber als eine unzweckmäßige Er-
schwerung der Ernährungsverhältnisse erscheint
und somit für den Gesunden keine Vorteile
vor der gemischten Kost bietet. In gewissen
Krankheiten dagegen kann sie in Verbindung
mit den übrigen Heilfaktoren Vorzügliches leisten.
Von den Stützen der vegetarischen Lehre
sucht er u. a. die geschichtlichen dadurch zu
widerlegen, daß Jagd und Fischfang Vorstufen
des Ackerbaus sind, und daß der Mensch An-
passungsfähigkeit an die verschiedenste Nahrung
besitzt (die mit den geographischen und sozialen
Verhältnissen wechselt), dabei aber stets das
Streben nach der die größte Mannigfaltigkeit
bietenden gemischten Kost zeigt. Die physio-
logisch-hygienischen Bedenken betr. schädliche
Wirkungen des Fleisches und seiner Extraktiv-
und Stoffwechsel produkte sind nur bei über-
mäßigem Genuß desselben gerechtfertigt.
Bei der zum Verständnis des Vegetarismus
nötigen Betrachtung seiner ethisch-religiösen Seite
(die nach Albu als Reaktion gegen zeitweilige
gesundheitliche und sittliche Verirrungen aufzu-
fassen ist) findet sich zwar manches Anerkennens-
werte: Einfachheit, Mäßigkeit, gesundheitliche
Lebensführung, jedoch ist das alles auch bei
gemischter Kost möglich und das Hereinziehen
von Moral und Religion in diese Ernährungs-
frage als Verirrung aufzufassen.
Dagegen ist zu betonen, daß die Bedeutung
des Fleischeiweißes bisher sehr überschätzt worden
ist, während man den hohen Wert der Pflanzen-
kost verkannte, besonders in physiologisch- hygie-
nischer Beziehung, wo u. a. die in ihr enthaltenen
Mineralsalze für die osmotischen Vorgänge, die
Nahrungsresorption etc. von Wichtigkeit sind.
Aber auch nach der volkswirtschaftlichen Seite
hin bedarf die vegetabilische Ernährung bei der
steigenden Bevölkerungszunahme (für Deutsch-
land 800000 Köpfe jährlich) immer mehr der
Berücksichtigung.
Esch (Bendorf J.
Lehrbuch der Haut- nnd Geschlechtskrank-
heiten für Aerzte nnd Studierende. Von
Dr., Max Joseph in Berlin. Zweiter Teil:
Geschlechtskrankheiten. Vierte vermehrte und
verbesserte Auflage. Mit 54 Abbildungen im
Text und drei farbigen Tafeln. Leipzig, Verlag
von Georg Thieme, 1905.
Die neue, vierte Auflage des Joseph sehen
Lehrbuches der Geschlechtskrankheiten zeichnet
ebenso wie die früheren, deren Vorzüge wir an
dieser Stelle stets hervorgehoben haben, die
glückliche Verbindung strenger Wissenschaft mit
den Anforderungen der Praxis aus. Wir sind
überzeugt, daß das Werk den großen Kreis seiner
Leser wiederum vergrößern wird, zumal es dem
augenblicklichen Stande der Disziplin entsprechend
ausgestaltet ist und alle wertvollen neueren Unter-
suchungen berücksichtigt. Auch die Zahl der
Abbildungen ist vergrößert. Wir sind überzeugt,
daß niemand dieses Werk unbefriedigt aus der
Hand legen wird.
Edmund Saalfeld (Berlin).
Die Haarkrankheiten, speziell die Entstehung
der Glatze, ihre Verhütung und Behand-
lung'. Von Dr. Meyer, Gerichtsass. u. Bahnarzt
in Bernstadt. 2 . venu. u. verb. Aufl. München
1904. Verl. d. Ärztl. Rundscb. (O.Qmelin). 36S.
Meyer will nicht den Haarschwund bei Alo-
pecia areata, Herpes, Favus, Lues, erschöpfenden
Krankheiten, sondern nur die gewöhnliche Glatzen-
bildung besprechen.
„Die einseitige bakteriologische Auffassung
vom Zustandekommen des Haarschwundes ist
490
Lita
unhaltbar, vielmehr hat sie statt des theoretisch
gedachten Nutzens nur verschlimmernd gewirkt,
indem die fleißige Bearbeitung des Kopfes mit
antiseptischen Mitteln, Eiweißgiften, zwar etwelche,
zumeist indifferente Mikrobien abtötete, mit diesen
zugleich aber die kümmerlichen Rudera des
Haarwuchses hinwegfegte.
Dagegen müssen wir aus unseren Beobach-
tungen den Schluß ziehen, daß in den Körper-
saften kreisende protoplasmafeindliche Stoffe es
sind, die unter Umständen an den Stellen ge-
ringsten Widerstandes in vermehrter Weise zur
Ablagerung und Einwirkung gelangen. Diese Stoffe
sind im Darm gebildete Eiweißmodifikationen,
die bei lokaler, vererblicher Hypersekretion der
Haarbodendrüsen auf die Kopfhaut ausgeschieden
werden.
Das Gebiet aber, auf dem das geschieht,
entspricht fast völlig dem von der männlichen
Kopfbedeckung eingenommenen Bezirk. Bei der
durch Generationen fortdauernden schädigenden
Einwirkung der Kopfbedeckung entstehen hyper-
ämische Bezirke, Steigerung der Drüsentätigkeit,
lokale Hyperhidrosis, welch letztere im sog.
Schweißfuß ein Analogon hat.
Der Schweiß als Träger toxischer Stoffe
muß nun an den Stellen vermehrter Sekretion
auch größere Mengen Abfallsprodukte des Stoff-
wechsels eliminieren. Die Hautoberfläche reagiert
aber auf dauernde Reize stets mit Entzündungs-
erscheinungen. Der unter solchon Umständen
entstehende Proliferationsprozeß der Oberhaut
setzt sich auf die äußere Wurzelscheide der
Haare fort, lockert letztere und bringt sie zum
Ausfallen, es entsteht immer kümmerlicherer
Nachwuchs und unter allmählicher Schrumpfung
der Haarpapille die Glatze."
Diese Folgen würden zwar auch schon bei
längerer Dauer des Auflage ras von normalen
Produkten der Hyperhidrosis eintreten, umsomehr
ist es aber der Fall bei dem Vorhandensein der
erwähnten Toxine.
Um die Bildung derselben zu vermeiden,
hat also die Behandlung die einseitige Fleisch-
nahrung, sowie die die Eiweißfäulnis unter-
stützende Alkoholzufuhr zu verbieten und für
genügende Ausscheidungstätigkeit des Organismus
zu sorgen.
Lokal ist nur leichte, den Luftzutritt ge-
stattende Kopfbedeckung zu verwenden, die Kopf-
haut ist mit Seife und nebenbei „umstimmend"
wirkender spirituöser Erdöllösung, event. Äther
zu reinigen, zu massieren, bei auffälliger Hyper-
sekretion Meyers Resorcin-Salizyl-Schwefel wasser
zu applizieren, innerlich event. Schwefel, Arsen
zu reichen.
In noch nicht zu sehr veralteten, aber ver-
nachlässigten Fällen mit starker Hyperplasie des
Epithels kann letzteres durch Schwefelseife ab-
geschält und dann durch Umschläge .und Kan-
tharidentinkturpinselung ein Anreiz zum Wachs-
tum der Haare ausgeübt werden.
Esch (Bendorf).
Lexikon der physikalischen Therapie, Diätetik
nnd Krankenpflege für praktische Aerzte.
Herausgegeben von Dr. AntonBum. Mit zahl-
reichen Illustrationen. Urban u. Schwarzenberg,
Berlin und Wien 1903.
Von dem Lexikon der physikalischen Therapie
liegen die beiden Schlußabteilungen vor. Das-
selbe ist für die schnelle Orientiernng bestimmt
und wird auch sicher seinen Zweck erfüllen, da
es die einschlägigen Fragen kurz mit Berück-
sichtigung der neueren Forschungen beantwortet.
Eine große Anzahl übersichtlicher Abbildungen
veranschaulicht die technischen Skizzierungen,
die dadurch auch demjenigen, der dieser oder
jener Frage bisher ferner stand, näher gerückt
werden. Besonders wertvoll erscheinen uns die
Artikel über Pneumotherapie und pneumatische
Kammern, die sich auch durch viele Illustrationen
auszeichnen. Ebenso sind der Diätetik und
Krankenpflege viele prägnante, alles Unwesent-
liche ausscheidende Hinweise gewidmet. Das
Kapitel über Kältebehandlung, das in der Dermato-
logie in neuerer Zeit eine größere Bedeutung ge-
winnt, dürfte in der Neuauflage eine wesentliche
Erweiterung erfahren müssen.
Edmund Saalfeld {Berlin).
Leitfaden für den ereburtshilflichen Operations-
kurs. Von Professor Dr. Albert Döderlein.
Sechste Auflage. Leipzig, Verlag v. Georg Thieme,
1904.
Dieser Leitfaden, welcher in früheren Auf-
lagen in der Zeitschrift wiederholt besprochen
ist, ist in sechster und sicher nicht in letzter
Auflage erschienen, da er sich durch vortreff-
liche, das Beschriebene klar darstellende Abbil-
dungen für Unterricht und Belehrung des an-
gehenden Geburtshelfers besonders eignet. Die
neue Auflage zeigt dieselben Vorzüge, und nur
geringfügige Änderungen, wie die vorige.
Falk.
Für Mntter und Kind. Von Dr. med. Max Hackl.
München, Deutsch. Zeitschriften verlag, G. m.b.H.
Der Verf. will in dem vorliegenden Werke
der Frau Aufklärung und Belehrung geben, wie
sie sich gesund erhalten und vor Gefahren schützen
kann, und wie dies der Weg wäre, auf dem eine
gesunde, blühende Nachkommenschaft erstehen
könne. Ferner behandelt er die Fragen über
die Ernährung und Erziehung der Kinder. In
außerordentlich geschickter Weise wußte der Verf.
seine Aufgabe zu lösen. Die Auseinandersetzungen
sind ebenso eingehend wie klar und dürften
dazu beitragen, Gesundheitsfragen in Laienkreisen
ZU klären. Edmund Saalfeld (Berlin).
Was ein erwachsenes Mädchen wissen sollte.
Ratschläge eines Arztes. Von Dr. med.
Burlureaux, Paris. Autorisierte Übersetzung
von Dr. med. Gas ton Vorberg, Freiburg i. B.
Berlin W. 30, Verlag von Oscar Coblentz, 1905.
Der Verf. weist in eindringlicher Weise auf
die Gefahren der Geschlechtskrankheiten hin,
ohne wesentlich neue Gesichtspunkte zu bringen.
[Btimund Saatfeld (Berlin).
XIX. Jahrgang • 1
Baptomtar 1906 J
Literatur.
491
Taschenbuch för Obren-, Nasen-, Bachen- und
Hateärzte nebst Spezialisten Verzeichnis und
Taschenkalender für das Jahr 1905/6. Von
L. Jan kau, Mönchen, Seitz und Schauer.
Die vorliegende neunte. Ausgabe des Jan-
k ansehen* Taschenbuches zeugt wiederum von
dem unermüdlichen. Beatreben des Herausgebers,
sein Werk zu vervollkommnen. Auf engstem
Raum werden dem Ohren-, Nasen- und Halsarzt
nicht nur die Fortschritte seiner Sonderfächer
vorgeführt, sondern auch die der übrigen Medizin
übermittelt. Ferner enthält das Büchlein nach
Art aller Medizinalkalender die große Reihe jener
wichtigen und leicht . vergessenen Ziffern und
Daten aus dem Gebiete der Anatomie, Physio-
logie, Physik, Pharmakologie, Statistik, deren
Unkenntnis in der Praxis leicht zu Verlegen-
heiten führt. Der vierte Teil des Buches, Perso-
nalien der Oto-Laryngologie. beansprucht schon
deshalb besonderes Interesse, weil er unseres
Wissens die einzige Bearbeitung dieses Gegen-
standes in deutscher Sprache darstellt. Auch
dieser Teil hat im Vergleich zu früheren Jahr-
gängen an Gründlichkeit und Zuverlässigkeit
gewonnen. n Krehs (Hildesheim).
Vorlesungen über klinische Hämatologie, Von
Dr. W. Türk, Priv.-Doz. u. Ass. der IL med.
Klinik (Neusser) Wien. I. Teil: Methoden der
klin. Blatuntersuchung. Elemente der normalen
u. path. Histologie des Blutes. Wien u. Leipzig,
Braumüller, 1904.
Die Blutuntersuchung nimmt von Jahr zu
Jahr an Bedeutung zu und findet in der Klinik
sowohl als in der Praxis immer allgemeinere An-
wendung. Sie ist aber technisch schwierig und
erfordert Sachkenntnis, Übung und Erfahrung,
die nicht jedem zu Gebote steht. Auch die
hämatologische Literatur gibt bisher keine ge-
nügende Anweisung und Belehrung. Türk will
nun diesem Mangel abhelfen und den Leser in
das ganze Gebiet einführen, sowohl was die
Methodik als auch was den heutigen Stand der
Forschung betrifft.
Der vorliegende erste Band behandelt die
oben erwähnten Gegenstände. Im IL Teil sollen
die Hämatologie der Erkrankungen der blut-
bereitenden Organe und des Blutes sowie die
wesentlichen Veränderungen des Blutes bei andern
Krankheiten abgehandelt werden.
Wir möchten dem Werke die Worte von C.
S.Engel (Zeitschr.f.ärztl. Fortb. 1904, No. 6) mit-
geben: „Bis jetzt ist nur. eine relativ geringe Zahl
von gröberen Blutanomalien wissenschaftlich nach-
weisbar. Wenn man bedenkt, daß das Blut nicht
nnr den Gasaustausch der Organe besorgt, son-
dern auch die Stoffe enthält, die zur Ernährung
der verschiedenen Organ zellen dienen, wenn man
ferner berücksichtigt, daß in der Blutflüssigkeit
auch die Stoffwechselprodukte der Körper-
zellen kreisen, die teils zur weiteren Verarbei-
tung andern Organen zugeführt werden, teils
zum Austritt aus dem Körper bestimmt sind,
so muß man als wichtigste Aufgabe der Blut-
forschung die Ausgestaltung derjenigen Unter-
suchungsmethoden ansehen, die die feinstenbio-
chemischen Veränderungen, namentlich die des
Blutserums, der Erkenntnis näherbringen sollen,
damit der Arzt auf die Fragen der Blutverbesse-
rung, Blutreinigung etc. eine wissenschaftlich
begründete Antwort erteilen kann."
Esch (Bendorf).
Bakteriologie und Sterilisation im Apotheken-
betriebe. Von Dr. C. Stich. Verlag von
Julius Springer, Berlin 1903.
Der in handlicher Form erschienene, zirka
70 Seiten umfassende Leitfaden enthält alles für
den Apotheker Wissenswerte. Zahlreiche Ab-
bildungen der notwendigen Apparate erleichtern
das Verständnis des Inhalts, der allerdings bak-
teriologische Vorbildung, zum mindesten im bak-
teriologischen Praktikum erworbene Kenntnisse
beim Apotheker voraussetzt.
Edmund Saalfeld (Berlin).
Gymnastik und Massage als Heilmittel. Von
Prof. Dr. Hoffa, Geh. Medizinalrat in Berlin.
Medizinische Volksbibliothek. Erster Band.
Berlin, Oskar Coblentz, 1904.
Im Sinne der vorliegenden Sammlung, dem
Laien Aufklärung zu bringen, ihm Ursachen und
Leistungsmöglichkeit der Heilmittel klarzulegen,
setzt Verf. zunächst das Wesen der Gymnastik
und der Massage, dann deren lokale und all-
gemeine Wirkungen in leicht verständlicher,'
klarer Weise auseinander.
Edmund Saalfeld (Berlin).
Kurzer Überblick über die Grundzüire def
Röntgen-Technik des Arztes. Von Dr. Carl
Bruno Schür mayer-Hannover, Speziaiarzt
der Elektrotherapie und Röntgen-Technik. Mit
13 Abbildungen und 4 Tafeln. Sonderabdruck
des Anhanges aus dem Werke: „Konstruktion,
Bau und Betrieb von Funkeninduktoren und
deren Anwendung, mit besonderer Berücksichti-
gung der Röntgenstrahlen-Technik , von Phy-
siker Ernst Ruhmer. Leipzig, Hachmeister
u. Thal, 1904.
Die Brauchbarkeit der vorliegenden Abhand-
lung wird dadurch wesentlich beeinträchtigt, als
es sich um den Abdruck eines Teiles aus einem
größeren Werke handelt, und auch in diesem
Abdrucke vielfach auf andere Stellen des Werkes
verwiesen wird; naturgemäß leidet dadurch die
Klarheit der Darstellung ganz erheblich; diesem
Mangel könnte in einer zweiten Auflage wohl
dadurch abgeholfen werden, daß der Abdruck in
erweiterter Form gegeben wird.
Edmund Saalfeld (Berlin).
ein.
Praktische Notizen
und
empfehlenswerte Arsneifo
Zur Applikation flüssiger Atzmittel
wird von Hammer (Monatshefte f. prakt. Der-
matologie, Bd. 40, Nr. 8) die Glasfeder emp-
fohlen. Es ist dies ein zugespitzter, mit spira-
ligen Rinnen versehener Glasstab , der die
Flüssigkeiten nur allmählich abgibt.
492
Praktisch« Notiztn und empfehlenswert« Arzneiformeln.
rTharapeti
L Moufctoh
Bei Lupus werden die Knötchen durch
Einstich geöffnet nnd nun sofort Wattetampons
mit der Glasfeder, die fortwährend die Watte
mit Acidam carbolicnm liquefactnm trankt, in
die Öffnung eingestopft. Der Tampon, der mit
Watte und Kollodium fixiert wird, bleibt nicht
langer als 24 Stunden liegen. Die Glasfeder
läßt sich ferner mit vorzüglichem Erfolge bei
kleinen Epitheliomen der Haut, bei Verruca
necrogenica, bei Ulcus molle sowie bei schwie-
ligen Rhagaden der Hände verwenden, ebenso
zum Tamponieren und Ätzen von Fistelgangen.
Zur Bestimmung der Salzsäure
in kleinen Mengen von Magensaft dient ein
Apparat, den A. Neumann (Zentralblatt f. innere
Medizin No. 23, 1905) angegeben hat. Derselbe
besteht aus einer U-förmig gebogenen Röhre, die
am kürzeren Schenkel ein konisch zulaufendes
Gefäß trägt; unterhalb des Gefäßes ist ein Glas-
hahn mit enger Bohrung angebracht. Der lange
Schenkel ist in 150 Teile geteilt, und zwar liegt
der 0- Punkt oben, der Teilstrich 150 über dem
Niveau der im Gefäß befindlichen Untersuchungs-
flüssigkeit. Die Füllung mit Normallauge ge-
schieht in der Weise, daß 2—3 ccm bei geöffnetem
Hahn in das Gefäß gegeben werden, dieses mit
einer Gummikappe verschlossen wird, und nun
durch Druck die Lauge bis über den O-Punkt
getrieben wird. Nach genauer Einstellung wird
das Gefäß gründlich ausgewaschen und nun durch
eine beigegebene Pipette 1 ccm Magensaft ein-
gefüllt. Durch den Hahn läßt man so lange
Lange zufließen, bis — durch Kongopapier oder
Phlorogluzin-Vanillin — keine freie Säure mehr
nachzuweisen ist. Nach Zusatz von 1 Tropfen Phe-
nolphthalein wird dann weiter bis zur bleibenden
Rotfärbung Lauge durch den Hahn hinzugegeben.
Die Berechnung ist sehr einfach: War z. B. bis
zum Ausbleiben der Blaufärbung von Kongo-
papier erforderlich, Lauge bis zum Teilstrich 28
abfließen zu lassen und weiterhin bis zum Teil-
strich 54, um Neutralisation zu erzielen, so war
im Magensaft die freie Salzsäure = 28 (d. h.
100 ccm Magensaft brauchen zur Sättigung der
freien Säure 28 ccm Normallauge) und Gesamt-
azidität 54 vorhanden.
Außer zur Bestimmung der Salzsäure läßt
sich der Apparat, welcher von P. Haack, Wien,
Gaselligasse 4 zu beziehen ist, noch zur Pepsin-
bestimmung und zur Untersuchung auf Milch-
säure verwenden.
Der Nachwels der Asetesslgsäure im Harn
nach der Rie gl ersehen Vorschrift (Ausschütteln
des Harns mit Chloroform nach voraufgehendem
Zusatz ven Jodsäure) kann zu Irrtümern Anlaß
geben, da einmal in stark verdünnten Harnen
wegen Mangels der Harnsäure die Reduktion der
Jodsäure ausbleibt, und andrerseits die Bindung
von freigemachtem Jod nur bei saurer Reaktion
für die Gegenwart von Azetessigsäure beweisend
ist. Zum einwandsfreien Nachweis dieser Säure
achlagt nun Lindemann (Mün chn . medizinische
Wochenschrift No. 29,1905) folgendes Verfahren
vor: 10 ccm des zu untersuchenden Harnes
werden mit 5 Tropfen verdünnter (30 pros.)
Essigsäure angesäuert, darauf mit 6 Tropfen Lo-
go lscher Lösung (Jod 1, Jodkalium 2, Aqua 100)
versetzt und nach Zusatz von 2 ccm Chloroform
gut durchgeschüttelt. Bei Gegenwart von Azet-
essigsäure bleibt der Chloroformanszug farblos,
bei Abwesenheit der Säure erfolgt Violettfärbung.
Der Nachweis gelingt auch bei Harnen, welche
Salizylsäure enthalten, wo also die Gerhard tsche
Probe (Rotfärbung auf Zusatz von Eisen chlorid)
keine eindeutigen Resultate gibt.
Metaplasma
nennt Sarason (Deutsche medizinische Wochen-
schrift No. 32, 1905) eine neue Art Verband-
stoffe, welche aus einer inneren, mit Arzneikörpern
imprägnierten Lage entfetteter nnd einer äußeren,
mit der inneren Schicht fest verbundenen Lage
nicht imprägnierter, unentfetteter, undurchlässiger
Watte besteht. Zum Gebrauch wird die innere
(gefärbte) Schi cht mit Wasser oder, wenn schnellere
und stärkere Wirkung erwünscht ist, mit ver-
dünntem Spiritus benetzt und am Körper mit
Binden befestigt. Die stärkste Wirkung erzielt
man, wenn man über dem Metaplasma eine
Wärmequelle (Sandsack, Thermophor etc.) an-
bringt. Als Derivantien kommen Metaplasma
mentholi und capsici, als gut wirkendes Anti-
rheumaticum Metaplasma aeidi salicylici in Be-
tracht.
Bei Dentitio diffiieilis
hat Dr. Naegeli-Akerblom (Genf) die Verab-
reichung von Tinct. Gelsemü sempervir. zu
1 — 3 Tropfen in Wasser oder Milch bewährt
gefunden.
Bei Meningitis cerebrospinalis
hat A. Seibert (Med. Record, 17. Juni 1905)
Lavements von Salizylsäure m Natron mit bestem
Erfolge in Anwendung gebracht. Er injizierte
4 mal täglich 1,0 g. In einem Falle hat er sich
sogar bis zu 10,0 g in 24 Stunden verstiegen,
indem er 10 mal 1,0 g in 1 Eßlöffel Wasser ge-
löst ins Rectum einführte.
Die offiziellen Einladungen für den Internationalen
Tuberknloeekongreß vom a. tri* 7. Oktober d. J.
und die damit verbundene Ausstellung in Paris
sind an alle Interessenten versandt. Die fran-
zösischen Eisenbahnen gewähren zum Besuch des
Kongresses eine Fahrpreisermäßigung von 50 Pros.«
Das Stangensche Reisebureau hat sich bereit er-
klärt, für gute Unterkunft in Paris Sorge an
tragen. Es ist zu diesem Zwecke wichtig, die
voraussichtliche Zahl der Teilnehmer zn wissen,
und wird gebeten, die beabsichtigte Teilnahme
dem Deutschen Kongreß-Komitee (Berlin W. 9,
Eichhorns traße 9) jetzt unverbindlich mitzuteilen.
Für die Redaktion verantwortlich: Dr. JLLanggaardin Berlin BW.
Verlag von Julius Springer in Berlin N. — Universitats-Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in BerfiaN.
Therapeutische Monatshefte.
1905. Oktober.
Originalabhandlungen.
Die Behandlung:
der Tuberkulose in Lieysin.
Berieht Aber die Erfolge in den Sanatorien
von Leysin. 1. Mai 1904 bis 30. April 1905.
Von
Dr. Morln,
Voratteendem der medisinUehen AufelchtsbeaBrdcn In Leyiin.
Wie wir es schon seit 2 Jahren getan,
veröffentlichen wir hier die Resultate, welche
im Jahre 1904 — 1905 in den Sanatorien
des Höhenkurorts Leysin erreicht worden sind.
Die Kranken, welche den Kurort während
dieses Jahres verlassen haben, sind nach
Turbans Methode in drei Gruppen einge-
teilt worden, und die Erfolge sind in zwei,
denjenigen der früheren Berichte ähnlichen
Tabellen zusammengestellt.
Aus dem Vergleich dieser Tabellen mit
denjenigen der vorhergehenden Jahre ist leicht
ersichtlich, daß die Resultate ungefähr iden-
tisch sind, besonders, wenn man dieselben
Kategorien von Kranken miteinander ver-
gleicht.
Eine bedauernswerte Tatsache ist immer
wieder zu konstatieren, und muß abermals
hervorgehoben werden, nämlich die, daß die
Kranken erst in einem zu weit vorgeschrittenen
Stadium ihrer Krankheit das Sanatorium auf-
suchen.
Unter 355 Tuberkulösen, welche den
Kurort nach einem Aufenthalt von durchschnitt-
lich 5 Monaten verlassen haben, finden wir:
102 Kranke, die bei ihrer Ankunft in dem
I. Stadium waren (28,7 Proz.).
149 Kranke, die bei ihrer Ankunft in dem
Ii. Stadium waren (42 Proz.).
104 Kranke, die bei ihrer Ankunft in dem
III. Stadium waren (29,3 Proz.).
Selbstverständlich sollte der größte Teil
der Kurgäste eines Sanatoriums aus Kranken
im ersten Stadium bestehen, jedoch bilden
solche nicht einmal ein Drittel der Zahl
derer, die bisher zu uns in Behandlung ge-
kommen sind.
Könnten wir alle anderen Fälle außer
acht lassen, so erlangten wir gunstige Er-
folge bei 98 Proz. der behandelten Kranken,
so zu sagen fast in allen Fällen.
Th. M. 1906.
Es soll damit nicht gesagt werden, daß
die Kranken des zweiten und dritten Stadiums
unbarmherzig zurückgewiesen werden müssen.
Dies wäre sehr bedauernswert, da wir bei
ihnen wohl 87 Proz. und 57 Proz. gute Re-
sultate erzielt haben. Wir denken aber, daß
die Folgen der Behandlung, die sich als die
allerbeste erweist, ungemein günstiger sein
werden, wenn die Ärzte und die Kranken
einmal von der Notwendigkeit einer früh-
zeitigen Diagnose und Behandlung der Tuber-
kulose fest überzeugt sind.
Wir legen daher immer den Hauptwert
auf eine frühe Diagnose und einen raschen
Entschluß für die Behandlung in einem
Höhensanatorium.
Es sei uns ein Beispiel gestattet:
Ein junger Mann aus einer Familie, in
der die Tuberkulose vielleicht schon Opfer
gefordert hat, zeigt nach zu raschem Wachsen
verdächtige Zeichen von Lungentuberkulose.
Er wird mager, ermüdet leicht, hat Atem-
beschwerden und Pulsbeschleunigung, vielleicht
hustet er auch morgens ein wenig trocken.
Bei einer gewissenhaften Untersuchung wird
der Arzt wahrscheinlich eine abnorme Kon-
formation des Thorax konstatieren. Er wird
sogleich auf der Höhe der Lungenspitzen die
leichten Veränderungen aufsuchen, welche
Grancher so gründlich studiert und be-
schrieben hat, und welche sogleich die
Germinationsperiode der Tuberkulose offen-
baren.
Vielleicht ist das Wahrgenommene sehr
unbedeutend: ein kleiner Schallunterschied,
eine gewisse Abschwächung der Atmungs-
geräusche auf einer Seite, ein rauhes In-
spirium, ein leicht verlängertes Exspirium,
dies genügt bei den übrigen Umständen des
Jünglings, um die Diagnose festzustellen. Es
ist unnütz und gefährlich, den Auswurf und
die K ochschen Bazillen abzuwarten, der
Kranke ist tuberkulös, er muß sofort be-
handelt werden, und sein Zustand ist be-
denklich genug, daß sogleich zur wirksamsten
Behandlung geschritten wird.
Aber was geschieht in der Regel, wenn
man einen solchen Fall vor sich hat?
37
494
Morin, Behandlung d«r Tuberkulös« in Leytin.
L Monatshefte.
Die Mutter des Kranken ist sehr ängst-
lich, der Vater wäre sehr bekümmert, die
Studien und die Beschäftigungen seines
Sohnes für eine längere Zeit unterbrechen zu
müssen .... Gewiß ist es, daß der Zustand
ein bedenklicher ist, doch vielleicht vorüber-
gehend.
Ein wenig Ruhe, ein Landaufenthalt,
stärkende Kost werden ohne Zweifel genügen,
die Gesundheit dieses jungen Mannes herzu-
stellen. Warum sollte man denn eine so
erregbare Familie gleich in Sorge ver-
setzen ?
Auf diese Weise ergreift man halbe Maß-
regeln, die oft ungenügend sind.
Einige Monate nachher geht es dem
Kranken weniger gut. Er hat abends Fieber,
nächtlichen Schweiß, hustet mehr und hat
alle Morgen spärlichen Auswurf. Der Arzt
sieht den Patienten wieder, er konstatiert
bei der Untersuchung das Erscheinen von
schwachen abnormen Geräuschen an der
Lungenspitze, auch findet man im Auswurf
jetzt einige seltene Tuberkelbazillen . . . dies-
mal ist die Diagnose unzweifelhaft . . . der
Kranke muß ins Sanatorium geschickt werden.
Aber inzwischen hat man eine kostbare
Zeit verloren, ebenso hat sich die Prognose
wesentlich verschlimmert. Ein Aufenthalt
von 5 — 6 Monaten, wird sogar unter den
besten Behandlungs- und Klimabedingungen
nun nicht mehr genügen, um den Kranken
gesund zu machen. Jahre muß er jetzt opfern,
um einen viel ungewisseren Erfolg zu erreichen,
als wenn er sogleich die Notwendigkeit einer
wirksamen Behandlung eingesehen hätte.
Wäre man mehr überzeugt von dem
hohen Wert der Behandlung, so würde man
sich nicht so sehr vor einer Mitteilung scheuen,
welche viel weniger ernst ausfallen würde,
da dem Kranken und seiner Familie die
besten Aussichten auf eine erfolgreiche Kur
garantiert werden könnten.
Wir sind fest überzeugt, daß alle Ärzte
ganz mit uns einverstanden sind, aber wir
wissen auch, wie schwer es ist, in der Wirk-
lichkeit und in Gegenwart eines konkreten
Falles zu handeln, wie man sollte. Sogar
wenn man es wollte, würde man oft auf
unüberwindliche Opposition stoßen.
Bei ihrer schweren und heiklen Stellung
wird den Ärzten damit kein Vorwurf gemacht.
Doch wenn sie, wie wir es oft getan, die
außerordentlich raschen Fortschritte und die
wunderbaren Heilungen konstatieren könnten,
welche ein frühzeitiger Aufenthalt in einem
Höhensanatorium bewirkt, so würden sich
die Ärzte gewiß bemühen, den sofortigen
Gebrauch einer so günstigen Behandlung ins
Werk zu setzen.
Erfolge bei der Entlassung.
Tabelle I.
if
PS
i
cht gebessert
oder rer-
aehllmmert.
NegatlTor
Erfolg
o
0
o
1
3
©
00
«
I.
101
98
2
2
0 —
102
II.
131
88
14
9,4
4
2,6
149
III.
66
53,8
27
26
21
20,2
104
287
80,9
43
12,1
26
7
355
Tabelle IL
fi
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3
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I.
71 j 70
29
28
2
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0
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II.
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9
6
5
3,4
4
2,7
149
in.
l| 0,9
55
53
18
17,3
9
8,6
21
20,2
104
103
30
184 51
29
8
14
4
25
7
355
Das Studium der zwei Tabellen, in welchen
wir unsere Erfolge zusammenstellen, ist sehr
interessant und zeigt besonders die sehr
große Wirksamkeit unserer Heilmethode im
Anfang der Krankheit.
Von 102 Kranken des ersten Stadiums
sind 70 geheilt, und 28 gebessert. Die
meisten dieser letzteren werden die Heilung
erreichen, wenn sie mit der Behandlung fort-
fahren. Sie wären ohne Zweifel schneller
so weit gelangt, wenn sie ihre Kur verlängert
hätten. Ein interessanter Erfolg ist auch
mit der Zahl der im zweiten Stadium stehenden
Kranken aufgezeichnet, dieselbe gibt 31 Fälle
der Heilung von 149 an, also mehr als
20 Proz., mit 100 Fällen von Besserung
(67 Proz.)
Endlich zeigen wir noch das Verhältnis
der günstigen Erfolge bei den Kranken im
dritten Stadium an, das mehr als 50 Proz.
erreicht.
Die meteorologischen Bedingungen des
Winters 1904 — 1905 sind bestimmt ungün-
stiger gewesen als die im vorhergehenden
Winter, der das Andenken eines ganz be-
sonders schönen zurückgelassen hat. Zudem
hat uns die Influenza, welche überall im
Anfang des Jahres herrschte, nicht verschont,
aber mit Ausnahme von einigen schwer er-
krankten Lungenleidenden, welche von der
Influenza ziemlich mitgenommen wurden, haben
wir konstatiert, daß die Krankheit weniger
ernst auf dem Berge als im Tal war.
Trotz diesen leidlichen Umständen sind
die günstigen Erfolge wenig verschieden von
denjenigen des vergangenen Jahres. Diese
XIX. Jahrgang."!
Oktober 1906. J
Moria, Behandlung der Tuberkulose in Leydn.
495
Bemerkung bestätigt den Eindruck, den wir
schon lange haben, nämlich, daß wenn auch
dauernd schönes Wetter die Kur leichter und
angenehmer macht, und die Perioden von
trüber Atmosphäre den Kranken langweilen
und ihn ermüden, so haben doch im ganzen
die meteorologischen Bedingungen wenig Ein*
fuß auf die Erfolge. Moralisch setzt das
schlechte Wetter den Kranken mehr zu als
körperlich, doch darf man die Vorsichtsmaß-
regeln bei schlechter Witterung auch nicht
vernachlässigen.
Dies trifft übrigens mehr zu für den Berg
als für das Tal. Die dort akklimatisierten
Kranken, die gewöhnt sind, im Freien zu leben,
ertragen den Wechsel der Atmosphäre außer-
gewöhnlich gut.
Trotzdem denken wir doch, daß wenn
die Anzahl der Heilungen und Besserungen
dieses Jahres eine geringere ist als im vorigen,
dies mit der Tatsache im Zusammenhang
steht, daß der Winter und der Frühling
weniger schön als gewöhnlich waren.
Diese Naturerscheinung war allgemein.
Der Süden und Algier waren nicht begünstigter
als die Schweiz.
Unsere Heilmethode ist immer besonders
auf dem überlegten Gebrauch hygienisch-
diätetischer Mittel gegründet, die so oft als
Faktoren der Phthisiotherapie verordnet worden
sind: Luft und Ruhekur mit passender Er-
nährung.
Diese verschiedenen Mittel werden ge-
braucht und dosiert, je nach den speziellen
Indikationen, die von der Mannigfaltigkeit
der klinischen Formen und von dem Unter-
schied der Konstitution herrühren.
Auf die fast einförmige Behandlung, welche
Brehmer und Dettweiler ursprünglich ge-
priesen haben, folgt jetzt eine verständige
und überlegte Individualisation.
Wir haben immer die sehr feste Über-
zeugung von der Hauptwichtigkeit und von
dem großen Wert des Höhenklimas und
fahren fort, unsere außergewöhnlich günstigen
Resultate diesen zwei kombinierten Faktoren
zuzuschreiben: dem Sanatorium und dem
Höhenklima.
Sehr wenig zahlreich sind die Fälle von
Lungentuberkulose, welche eine entschiedene
Kontraindikation dieser Behandlung darbieten.
Unsere Ärzte suchen immer mehr, die den
verschiedenen Fällen angehörenden, klinischen
Eigentümlichkeiten zu bestimmen, welche be-
sonders wichtig sind, um dem behandelnden
Arzte eine richtige Leitung zu liefern, und
sie bemühen sich, so genaue Regeln als
möglich aufzustellen, um die Indikationen
und Kontraindikationen der Höhenkur an-
zugeben.
Die genaue und geduldige Beobachtung
allein kann uns wahre Begriffe über diesen
Gegenstand geben. Man hat zum Beispiel
vor einigen Jahren behauptet, die Anlage zu
Hämoptoe und die Kehlkopftuberkulose seien
eine absolute Kontraindikation für eine Höhen-
kur, und jetzt ist man zu der diametral
entgegengesetzten Überzeugung gekommen.
Die Erfahrung hat hier über Vorurteile gesiegt,
die theoretische Anschauungen allein hervor-
gerufen hatten.
Wir wollen hier nicht auf die konsti-
tuierenden Elemente des Höhenklimas zurück-
gehen, aber wir möchten die Aufmerksam-
keit unserer Leser auf eines dieser Elemente
richten, dessen Wichtigkeit bis jetzt nicht
nach seinem Wert geschätzt wurde. Wir
wollen von der Intensität und von den spe-
ziellen Eigenschaften des Sonnenlichtes auf
dem hohen Berge reden. .
Seit den schönen Forschungen von Finsen
und den Arbeiten von Bernhardt (Samaden)
kennt man den außergewöhnlichen Heilein-
fluß der ultravioletten Strahlen des Sonnen-
lichtes. Während die Wärmestrahlen das
Maximum ihrer Intensität in dem roten Teil
desLichtspektrums haben, und die leuchtenden
Strahlen besonders in dem gelben mächtig
sind, ist es anerkannt, daß die chemische
oder therapeutische Wirkung besonders kräftig
ist in dem violetten und ultravioletten Teil
des Lichtspektrums. Gerade diese ultraviolet-
ten Strahlen von so hohem therapeutischen
Werte wurden von Finsen und Bern-
hardt benutzt. Diese ultravioletten Strahlen
werden aber sehr stark von der Atmosphäre
absorbiert, und zwar so, daß sie eine enorme
Abnahme erleiden, wenn man vom Berg ins
Tal heruntersteigt. Die in großer Quantität
existierenden ultravioletten Strahlen in dem
Licht des hohen Berges wurden in Samaden
(Graubünden) und in Leysin zur Behandlung
von chirurgischen Tuberkulosen angewendet
und die Erfolge von Bernhardt und Ro liier
sind in dieser Hinsicht sehr überzeugend.
Zweifellos scheint die tiefe Wirkung der
ultravioletten Strahlen zum Teil aufgehalten
durch die Substanz der Gewebe selbst,
welche -sie durchdringen sollen, besonders
durch das Hämoglobin des Blutes, das große
Mengen davon absorbiert. Deshalb kompri-
miert Finsen die Gewebe des Lupus mittels
einer Quarzplatte. Er bewirkt dadurch eine
lokale Anämie, welche das Eindringen der
Strahlen erleichtert.
Wir haben jedoch sehr bedeutende Ver-
änderungen in tiefgelegenen tuberkulösen Ge-
lenken konstatiert, wenn sie lange genug
den direkten Sonnenbestrahlungen ausgesetzt
worden waren. Die beträchtliche Dicke der
37*
496
Morin, Behandlung d«r Tuberkulös« In Ltystn.
pTherapeiitlaeha
L MonaUhefle.
Gewebe, welche sie bedeckten, hatte der
Wirkung der Sonnenstrahlen kein absolutes
Hindernis geboten; wir können daher an-
nehmen, daß auch durch die Brustwand die
ultravioletten Strahlen auf die Lunge selbst
wirken können.
Abgesehen von dem heilenden Wert, den
die Erfolge erlauben, in einer allgemeinen
Weise dem Einfluße des Höhenlichtes zuzu-
schreiben, sind wir zu der Ansicht gekommen,
daß wir durch die direkte Wirkung der
Sonnenstrahlen sowohl auf die Brust als auf
den Kehlkopf gunstige Erfolge erlangen
werden. Die Forschungen, welche in dieser
Hinsicht von den Ärzten in Leysin gemacht
wurden, bieten uns große Hoffnungen auf
diese neue Anwendung des Lichtes.
Ohne Zweifel waren bis jetzt diese Er-
folge in den chirurgischen Tuberkulosen als
besonders rasche und evidente aufgezeichnet
worden, die Heilungen in der Klinik des
Dr. Kollier sind hierüber zweifellos. Des-
halb dürfen wir die Gründung der Klinik
unseres ausgezeichneten Kollegen als eine
wahre Bereicherung der Station von Leysin
begrüßen.
Wir denken jedoch, daß die hier ange-
gebenen Beobachtungen ein Fortsetzen von
therapeutischen Versuchen durch direkte
Sonnenbestrahlung auf Lunge und Kehlkopf
völlig berechtigen. Diese Versuche sollten
mit Vorsicht gemacht werden, damit die
Kongestion gegen die Krankheitsherde die
nützliche Wirkung, welche man erwarten
kann, nicht überschreite. Der Arzt allein
muß die Technik dieser Methode bestimmen.
Würde sie dem Urteil des Kranken ohne
genügende Kontrolle überlassen, so könnte
sie zu bedauernswerten Komplikationen
führen.
Andere Behandlungsmethoden, von denen
sichere Erfolge zu erwarten sind, können
gleichzeitig mit unserer hygienisch-klimatischen
Kur gebraucht werden. Keine dieser Me-
thoden besitzt den Wert einer spezifischen
Behandlung, deshalb dürfen wir sie nur als
Hilfsmittel betrachten, unter welchen der
Arzt wählen kann, was für jeden Fall paßt.
Das Tuberkulin, mit Vorsicht böi nicht
fiebernden Fällen angewendet, hat uns gute
Resultate gegeben ; das Marmoreck sehe
Serum wird immer noch versucht und scheint
in gewissen Fieberperioden der Tuberulose
günstig zu wirken. Endlich wurden je nach
den symptomatischen Indikationen der ver-
schiedenen Kranken die intratrachealen Ein-
spritzungen nach Mendel, Thiocol, Jod,
Arsen, Natrium cacodylicum, Kampferöl und
die verschiedenen Derivate des Opiums in
Anwendung gezogen.
Verschiedene von diesen Behandlungs-
methoden sind der Gegenstand von spezieilen
Studien und sollen später von unseren Ärzten
veröffentlicht werden.
Es ist immer schwierig, uns über die
Dauererfolge der in Leysin behandelten
Kranken zu erkundigen. Viele unserer früheren
Kurgäste unterlassen es, uns den Wechsel ihrer
Wohnorte mitzuteilen, und die Zahl der Ant-
worten, die wir auf unsere Fragebogen er-
halten, gibt uns bei weitem nicht die Ge-
samtzahl der von Leysin entlassenen Kranken.
Die Proportion der gesund gebliebenen
Kranken von einem unserer Sanatorien können
wir hier doch angeben.
Von den 1899 Abgereisten bleiben geheilt 78 Prot,
- - 1900 - - 92 -
- - 1901 - - 92 -
- - 1902 - - - 100 -
- - 1903 - - 83 -
Diese Zahlen, ohne einen absoluten Wert
zu haben, sind jedoch ein sprechendes Zeugnis
von der wohltätigen Wirkung der Höhenkur.
Die Station von Leysin hat sich in den
letzten 15 Jahren großartig entwickelt. Eine
Volksheilstätte mit 110 Betten, ein Kinder-
sanatorium mit 35 Betten und die Klinik
für chirurgische Tuberkulosen von Dr. Ro liier
haben nacheinander die Zahl der Anstalten
in Leysin vermehrt und aus diesem klima-
tischen Kurort eine Station ersten Ranges
gemacht.
Alle diese für Kranke von den verschieden-
sten Kategorien eingerichteten Anstalten bieten
einem immer größeren Publikum die wunder-
baren therapeutischen Mittel, die wir aufge-
zählt haben.
Ein Sanatorium, besonders für die Kranken
englischer Sprache, wird gegenwärtig gebaut
und bildet eine neue Stufe der fortschreitenden
Entwicklung unserer Station.
Wir wollen diesen ärztlichen Bericht nicht
beendigen, ohne mit besonderem Nachdruck
die Tatsache zu betonen, daß die Eigen-
schaften des Höheklimas wohltätig sind in
jeder Jahreszeit, und daß es für die Kranken
ein sehr großer Vorteil ist, nach Leysin zu
kommen, sobald die Diagnose der Krankheit
gestellt worden ist, und ohne auf irgend einen
Zeitpunkt zu warten, den die Kranken, nach
ihrer Laune und Ansicht, als besonders günstig
betrachten.
Je eher ein Tuberkulöser nach Leysin
kommt, je länger er dort bleibt, desto größer
ist die Aussicht auf Heilung.
XIX. Jahrgang."!
Oktober 1906. J
Fleischer, Diabetes mellitus.
497
< Au« der internen Poliklinik von Prof. Dr. H. Rosin sn Berlin.)
Zur Wirkung: der gegen. Diabetes
mellitus empfohlenen Medikamente.
Von
Dr. Kurt Fleisoher, prakt. Arzt.
Die folgenden Betrachtungen über die Wir-
kung der neueren gegen diabetische Glukos-
urie empfohlenen Medikamente soll ein von
Senator (40) bereits im Jahre 1879 aus-
gesprochener Satz einleiten:
„Es ist unmöglich, alle die in der einen
oder anderen Absicht vorgeschlagenen Mittel
aufzuzählen, denn man kann ohne Über-
treibung sagen, daß es fast kein Mittel aus
dem großen Arzneischatz aller Zeiten und
Länder gibt, welches nicht irgend einmal
gegen Diabetes in Gebrauch gezogen und von
dem nicht ein Erfolg, wenn auch nur in den
Händen seiner Empfehler und Gewährsmänner
verzeichnet worden wäre."
Ebenso betonen viele andere Autoren die
Unmöglichkeit, alle Arzneimittel, „deren Zahl
Legion ist", (v. Mering) (28) einer Betrach-
tung unterziehen zu können. Auch ich werde
also den Anspruch auf eine erschöpfende Dar-
stellung der Materie schlechthin nicht machen
dürfen. Eines beweist die Überzahl der
Mittel von vornherein: Keins von ihnen hat
bisher eine spezifische aglykosurische Wirkung
erzielt. Wir verkennen nicht, daß die anti-
diabetische Diät auch heute noch souveräne
Herrscherin im Reiche der Diabetestherapie
geblieben ist. Lenne (22) nennt sie mit
Recht „den Angelpunkt unserer therapeuti-
schen Maßnahmen a. Wie die Erfahrung lehrt,
fuhrt jedoch die strengste Diät niemals oder
nur extrem selten zur Heilung. Und wenn
es die Aufgabe des Arztes ist, Krankheiten
zu heilen, so ist es seine Pflicht, diesem
höchsten Ziele auf allen Wegen nachzustreben.
Bis heut sind Heilungen der Zuckerharnruhr
durch Medikamente so gut wie niemals be-
kannt geworden. Aber andere wichtige Auf-
gaben erfüllen dieselben auch heut schon.
Arzneimittel werden nötig, wenn die Wirkung
der strengen Diät im Laufe der Zeit immer
geringer wird oder bereits nicht mehr vor-
handen ist, wenn sich ferner bei einem ma-
rantischen Kranken von Anfang an die Durch-
fuhrung der Diät mit katonischer Strenge
von selbst verbietet. Medikamente sind in
vielen Fällen imstande, die Toleranz für
Kohlehydrate zu erhöhen und dadurch eine
mildere Diät möglich zu machen. Sie end-
lich treten auf den Plan, wenn es gilt, die
letzten auch durch strenge Diät nicht schwin-
denden Reste des Zuckers aus dem Urin zu
entfernen.
Kaufmann (17), dessen grundlegende
Arbeit noch des öfteren herangezogen werden
wird, umgrenzt den Wirkungskreis der Medika-
mente aufs schärfste, indem er folgende fünf
Forderungen an dieselben stellt.
Ein antiglykosurisches Medikament soll
i. unschädlich sein,
2. bei konstanter Diät — gleichgültig,
ob kohlehydratfrei oder nicht — eine
geringere Glykosurie im Gefolge haben,
als solche ohne Medikation bestehen
wurde,
3. bei streng antidiabetischer Diät
schneller Aglykosurie bedingen,
4. die Toleranzgrenze für Kohlehydrate
hinaufrücken,
5. auch nach dem Aufhören der Dar-
reichung eine Nachwirkung haben.
Davon also, daß die Arzneipräparate eine
„Heilung" der Krankheit herbeiführen sollen,
ist bei Kaufmann nicht die Rede. Was hat
man überhaupt unter „Heilung" des Diabetes
zu verstehen? Erst jüngst hat Leo (23) ver-
sucht, diesen Begriff schärfer zu definieren.
Er erkennt eine Heilung nur an, „wenn ein
Individuum, das bei einer von löslichen Kohle-
hydraten freien Nahrung Zucker ausschied,
trotz exzessiv gesteigerter Zufuhr von stärke-
mehlhaltiger Nahrung dauernd einen Urin
ausscheidet, in welchem durch die gebräuch-
lichen Reagentien Zucker ohne weiteres nicht
nachweisbar isttt. Diese Definition ist scharf,
aber ihre Forderungen gehen zu weit. Denn
bei „exzessiv gesteigerter" Kohlehydratzufuhr
scheidet auch der gesunde Mensch Zucker
aus. In der Praxis wird man nach dem
Vorgänge Cantanis (23) von Heilung dann
sprechen, wenn der Diabetiker „ungestraft
und schon seit längerer Zeit zur gemischten
Kost, insbesondere aber zum mäßigen Genuß
von Amylaceen zurückgekehrt isttt.
Sehen wir von dieser heilenden Wirkung
ihrer extremen Seltenheit wegen ganz ab, und
fragen wir uns, wie denn überhaupt der Ein-
fluß eines Medikamentes auf die Zuckeraus-
scheidung zu erklären ist. Die einen, wohl
die Mehrzahl, meinen, die pathologische Ver-
mehrung der Dextrose in Blut und Harn sei
eine Folge vermehrter Zuckerabspaltung (Dia-
stasewirkung), die anderen halten sie für die
Konsequenz verminderter Zuckerzerstörung.
Wir unterscheiden demnach zwei Reihen von
Mitteln, die eine, größere, welche die zucker-
hemmenden (antidiastatischen), die zweite,
welche die „excitants de la glycolyse"
(Lepine) genannten Medikamente enthält.
Wir kommen weiter unten auf diesen Punkt
zurück. Ebenso wichtig wie das Verständnis
498
Fleischer, DlatMtM maltttos.
fTharapeal
L Monatab
Monatsheft«.
der Arznei Wirkung ist die objektive Fest-
stellung derselben. Welche Methode der
Arzneiprüfung erlaubt uns nun am zuver-
lässigsten, für den Ausschluß aller Fehler-
quellen zu bürgen, und von welchen Neben-
umständen kann die Beurteilung der Arznei-
wirkung abhängig sein? Diesen Fragen tritt
zuerst Senator (40) näher, indem er auf
folgende drei Umstände aufmerksam macht:
1. Der Zuckergehalt unterliegt oft spon-
tanen Schwankungen. Dazu teilt Leo (23)
einen lehrreichen Fall mit. 0,1 — 0,2 Proz.
Zucker werden mit dem Urin ausgeschieden.
Nach einer Diätkur hat die Glykosurie für
ein Vierteljahr trotz energischer Kohlehydrat-
zufuhr gänzlich aufgehört. Plötzlich erscheint
wieder Zucker im Urin, um nicht mehr zu
verschwinden.
2. Die Größe der Zuckerausscheidung
hängt von Nebenumständen ab. Psychische
Alterationen, große Anstrengungen, intermit-
tierende Erkrankungen sind z. B. imstande,
sie zu erhöhen. -
3. Die Diät muß während der Prüfungs-
dauer genau geregelt sein. In diesem Punkte
ist wohl am meisten gefehlt worden, und
seine Nichtberücksichtigung erklärt zum Teil
die oft widersprechenden Resultate der Unter-
sucher.
Kaufmann (17) und Bohland (4)
schlagen vor, eine gleichbleibende Zucker-
ausscheidung durch eine gleichbleibende Diät
zu erzielen, auf deren Kohlehydratfreiheit es
dabei nicht ankommt, und dann erst die
Wirkung des Medikamentes zu prüfen, d. h.
eine eventuelle Toleranzerhöhung für Kohle-
hydrate zu konstatieren. Da Zuckerfreiheit
des Urins nicht Bedingung ist, eignet sich
dieser Modus besonders für schwere Fälle.
Weniger sicher ist die Anordnung, wenn
bei konstanter Diät Kohlehydrate zuerst ohne,
dann mit Medikament in gleich vermehrter
Menge zugeführt werden und aus der Höhe
der Glykosurie in beiden Fällen ein Schluß
auf die Toleranz gemacht wird (Kaufmann).
Für leichte Fälle empfiehlt Bohland,
den Urin durch Diät zuckerfrei zu machen
und dann erst festzustellen, wieviel mehr
Kohlehydrate man mit dem Medikamente
unter weiterbestehender Agiykosurie zufuhren
kann, als ohne dieses. Da erfahrungsgemäß
die Zuckerausscheidung durch Mehrleistung
körperlicher Arbeit abzunehmen pflegt, so
ist m. E. besonderer Wert auf die Regelung
der Körperarbeit in der Yersuchszeit zu legen.
Die objektive Feststellung der Arznei-
wirkung, d.h. die Urinuntersuchung, betreffend,
sind folgende Bemerkungen zu machen: Der
Prozentgehalt des Harnes an Traubenzucker,
der natürlich mit der Urinmenge schwankt,
ist bei bekannter Diät und Körperarbeit zu
bestimmen.
Welche Harnmenge ist nun die geeignetste?
Die Forderung Posners, 24 Stunden hindurch
stündlich die Zuckermenge zu bestimmen und
so die Gesamtmenge zu berechnen, begegnet
in sehr vielen Fällen äußeren Hindernissen.
Annehmbarer erscheint Lennes (21) Vor-
schlag, in der Stunde vor dem Experiment
zweimal urinieren zu lassen, die zweite Portion
zu untersuchen und dann alle bis fünf Stunden
nach dem Experiment gelassenen Portionen
einzeln auf Zucker zu prüfen. Meines Erachtens
genügt es, wenn unter Erfüllung der anderen
Bedingungen einige Tage vor und während
der ganzen Yersuchszeit die 2 4 stündige Harn-
menge auf ihren Zuckergehalt hin geprüft
wird. Bevor wir nunmehr in medias res,
d. h. die kritische Würdigung der Medika-
mente, eintreten, ist es nötig, zu überlegen,
nach welchen Gesichtspunkten geordnet, wir
dieselben an uns vorbeiziehen lassen wollen.
v. Noorden (32) teilt die Mittel in solche
gegen die Komplikationen des Diabetes und
solche, die gegen die Erkrankung selbst ge-
richtet sind. Diese Einteilung ist zwar rationell,
aber wegen der Unsicherheit der antidia-
betischen Wirkung der Präparate wohl nicht
angebracht. Ich schließe mich der von Kauf-
mann gewählten Einteilung mit einigen Ab-
weichungen an.
/. Sedativa
werden gegen Diabetes gegeben von der Theorie
ausgehend, daß die Erkrankung in irgend
einem Zusammenhang mit dem Nervensystem
stehen müsse, eine Theorie, welche in vielen
Fällen durch die Ätiologie eine Bestätigung
zu finden scheint.
1. Opium
wurde bereits im Jahre 1774 von Dobaon
gegen Diabetes empfohlen. Seitdem ist es
in sehr verschiedenen Mengen zur Anwendung
gekommen. Während v. Noorden großen
Dosen das Wort redet, ohne dabei die Gefahr
der Intoxikation zu verkennen (von 0,4 . Ex-
tractum Opii pro die aufwärts), hat Naunyn
schon bei einer Tagesdosis von 0,3 Extract.
Opii Erfolge gesehen, v. Mering gibt das
Mittel höchstens drei Wochen hindurch drei-
mal täglich, in dieser Zeit bis 0,5 aufsteigend
und wieder herabgehend. Bohland (4) ver-
langt auf Grund seines später zu betrachtenden
Falles langdauernde Darreichung von größeren
Dosen Tinctura Opii. Größere Einigung ist
über die Indikation zum Opiumgebrauch er-
zielt worden. v. Mering hat als erster
betont, daß das Medikament auf den aus
Eiweiß abgespaltenen Zucker besser wirkt
als auf den durch Kohlehydrate gebildeten.
XIX. Jahrgang.!
Oktober 1906. J
Flaltchar, Diabataa maUltua.
499
Daraus resultiert für die Praxis, daß Opium
zur Vertreibung der trotz kohlehydratfreier
Diät restierenden Glukosurie anzuwenden ist.
Denn es spart, wie Strasser (41) hervor-
hebt, das dem Kranken so notige Eiweiß,
indem es die Bildung von Fleischzucker
hemmt, v. Noorden und Naunyn sind der-
selben Meinung. Sie fugen hinzu, daß Opium
besonders beim „nervösen Diabetes tt gute
Dienste leistet, da es sedativ wirkt.
Eine Heilung mit den größten Dosen
Tinctura Opii teilt Bohl and (4) mit. Ein
Diabetiker, der trotz strenger Diät in 8 bis
10 Liter Harns 5 — 6 Proz. Zucker ausscheidet,
nimmt ohne Wissen des Arztes ein Jahr
hindurch bis zu 300 Tropfen Tincturae Opii
pro die gegen ein Ischiasleiden. Zwar tritt
eine Opiumvergiftung in die Erscheinung,
aber selbst bei gemischter Diät bleibt nun-
mehr die Glyko8urie dauernd fort, natürlich
nach Aufhören der Medikation. Diese sich
über drei Jahre erstreckende Beobachtung
mag wissenschaftlich sehr interessant erschei-
nen, kommt wohl aber für die Praxis nicht
in Betracht. Ferner berichtet Strauß (42)
über einen Fall, in dem die trotz strenger
Diät bleibenden Zuckerspuren von 6 — 10 g
täglich durch 0,125 Extract. Opii zum Ver-
schwinden gebracht werden. Über die Dauer
dieses Erfolges ist leider nichts gesagt.
v. M e r i n g kann bei 20 Kranken leichter
und schwerer Art stets erhebliche Verringe-
rung oder Verschwinden der Glykosurie fest-
stellen. Von den 11 Fällen Kaufmanns
bleiben nur 3 durch Opium ganz unbeein-
flußt, während in allen anderen zum Teil
recht günstige Erfolge zu verzeichnen sind.
Dabei ist hervorzuheben, daß der trotz wieder-
holter strenger Diät jedesmal restierende
Zucker durch Opium bei zwei Kranken gänz-
lich vertrieben wird, und daß für die Folge
Diät allein die Aglykosurie aufrecht zu er-
halten imstande ist.
Überblicken wir die Literatur, so stellt
Opium ein Mittel dar — übrigens das einzige
— welches „nach übereinstimmenden Angaben u
(v. M er in g) (28) einen günstigen Einfluß auf die
Glykosurie auszuüben vermag. Naunyn (30)
empfiehlt es als bei gleicher Nahrungsauf-
nahme „sicher" zuckerherabsetzend. Skep-
tischer und darum treffender präzisiert Kauf-
mann den Wert des Mittels. Es setze zwar
gewöhnlich die Glykosurie herab, sei jedoch
keineswegs für ein Spezificum gegen Diabetes
zu halten. Das einzige gegen das Medikament
erhobene Bedenken, nämlich seine zucker-
herabsetzende Wirkung sei lediglich die Folge
der durch dasselbe gestörten Nahrungsresor-
ption, kann Naunyn durch seine Beobach-
tungen zerstreuen. Er hat wiederholt bei
einer Zunahme des Köpergewichtes die Gly-
kosurie heruntergehen gesehen.
Opium ist das älteste und relativ zuver-
lässigste aller Antiglykosurica und darum
besonders in schweren Fällen als wirksames
therapeutisches Adjuvans zu empfehlen. Die
Derivate des Opiums sind mit geringerem
Erfolge verabreicht worden.
2. Bromkali
wird von v. Noorden besonders gegen die
nervösen und neurasthenischen Begleiterschei-
nungen des Diabetes empfohlen. Er wendet
in einem leichten Falle mit Beschwerden
dieser Art vier Tage hindurch je 4,0 Kalium
bromatum an und erzielt damit Aglykosurie
(Kaufmann). In neuererZeit will v. Noorden
das Bromkali durch Bromipin (Bromfett) er-
setzt wissen; denn letzteres bietet den Vorteil
der gleichzeitigen Einführung von täglich
30— 40 g Fett.
Fußend auf der Theorie, daß Zucker-
bildung und -Zerstörung im Körper Ferment-
wirkungen seien, sind antifermentative (anti-
diastatische) oder fermentativ wirkende (glyko-
lytische) Mittel verabreicht worden, je nach-
dem man den Diabetes als einen Ausdruck
vermehrter Bildung oder verminderter Zer-
störung des Zuckers angesehen hat.
IL Antifermentatwa.
1. Sublimat
wurde im Jahre 1898 von dem Amerikaner
Mayer auf Grund seiner Erfolge in 11 leichten
Fällen empfohlen. Mayer gibt 3 mal täglich
0,01 des Mittels von der eigenartigen Vor-
aussetzung ausgehend, daß die diabetische
Glykosurie die Folge einer Bakterien- oder
Toxinwirkung auf Glykogenreservoire oder
Nervenzentren sei. v. Noorden und Kauf-
mann kommen durch Nachprüfungen zu dem
Resultat, daß Sublimat zwar eine vorüber-
gehende geringe antiglykosurische Wirkung
haben könne, die jedoch in keinem Verhältnis
zu seiner großen Giftigkeit stehe. Sie ver-
werfen also das Medikament.
2. Natrium salicylicum
wurde von Ebstein (48) in die Diabetes-
therapie eingeführt und von Senator, Für-
bringer u. a. in einer Dosis von 5— 10 g
empfohlen. Litten gab in 141 Fällen eine
Lösung von 8,0:200,0, 2 — 3stündlich einen
Eßlöffel, und zog den Schluß, daß das Mittel
symptomatisch gegen Polydipsie und Pruritus
Gutes leiste, als Antidiabeticum jedoch unzu-
verlässig sei. In neuerer Zeit ist Natr.
salicyl. durch
600
Pl«Uch«r, DUb«tM mellitus.
fTherapeutbehe
L Monatsheft*
3. Aspirin (Acid. acetylo-salicylicum)
ersetzt worden, v. Noorden rühmt es, da
es besser vertragen werde, als das Vorige
und in einer Dosis von täglich 1 — 3 g die
Toleranz für Kohlehydrate oft um 30—60 g
zu erhöhen imstande sei. Strasser kon-
statiert das gleiche und hebt hervor, daß
das Korpergewicht während der Medikation
ansteigt, also die Zuckerverminderung nicht
die Folge einer schlechten Verdauung sein
kann.
Kaufmann versucht 3,0 Aspirin pro die
in 11 leichten und 17 schweren Fällen.
Häufig unwirksam zeigt es sich relativ am
wirksamsten in den leichten Fällen, in denen
es recht oft die Toleranz erhöht. Weniger
erfolgreich ist das Präparat in schweren
Fällen, stets jedoch ohne Nebenwirkung. Am
deutlichsten ist wohl die Wirkung in Fall 25
Kaufmanns. Unter der Darreichung schwindet
der Zucker aus dem Urin, die Toleranz steigt,
und es besteht eine Nachwirkung, ' so daß
die Aglykosurie konstant bleibt. Fall 19
beweist die Wichtigkeit der medikamentösen
Therapie beim Diabetes im allgemeinen und
des Aspirins im besonderen. Der 63jährige
Patient, der wegen seines Marasmus die
strenge Diät nicht vertragen würde, wird
durch Aspirin im Verein mit einer für ihn
bekömmlichen Diät zackerfrei gemacht. Zuletzt
sei erwähnt, daß v. Noorden eine einige
Male wiederholte Gabe von 2 — 3 g Aspirin
gegen Pruritus sehr lobt.
4. Salol
wurde von Sahli (38) im Jahre 1886 zum
Versuch gegen Diabetes empfohlen.
Die Wirkung des Phenol und des Natrium
salicylicum war lange bekannt. Eine Kombi-
nation beider, Salol, müsse, so vermutete
Sahli, einen um so größeren Effekt haben.
Eine Menge von 4 — 6 g täglich gestatte,
ohne Verdauungsstörungen zu machen, die
Einführung einer siebenmal größeren Menge
von Phenol, als man dieses isoliert ohne
Schaden darreichen könne. Die Erfahrung
hat diesen Erwägungen nur bis zu einem ge-
wissen Grade Recht gegeben. Nikolaier (31)
hat 7 Fälle mit Salol behandelt, wovon 3
ohne jeden Erfolg. In 3 Fällen mittel schwerer
Art seh windet der Zucker für kurze Zeit
ganz aus dem Urin, um entweder noch unter
der Behandlung oder nach Aufhören derselben
wieder zu erscheinen. Nikolaier gibt 3 mal
täglich 2 g.
Tasche macher (44), ein Neuenahrer
Badearzt, hat seine Beobachtungen bei 9 Fällen
mitgeteilt: 3 mal gar keine und 6 mal günstige
Resultate. Während eine vierwöchentliche
Kur den Zuckergehalt des Urins nur herab-
zusetzen vermag, erreicht Taschemacher
durch fünftägige Darreichung von je 4,0 Salol
ein Zurückgehen der Glykosurie auf Spuren
oder 0. Über die nachwirkende Kraft kann
der Autor nichts aussagen. Für die Praxis
ist die Tatsache wichtig, daß die Zersetzungs-
produkte des Salols im Urin die Ebene des
polarisierten Lichtes nach links drehen. Eine
Salolheilung, allerdings nicht im strengen
Sinne Leos, teilt Zaudy (47) mit. Die
nicht extrem strenge Diät vermag die Zucker-
menge im Urin von 24 Stunden nur auf 36
bis 46 g zu vermindern. Nach einer 4tägigen
Darreichung von je 4 g Salol sinkt der Zucker
auf Spuren, um jedoch in den zwei darauf-
folgenden Tagen wieder anzusteigen. Wenige
Tage später ist keine Glykosurie mehr nach-
weisbar. Die weitere Beobachtung des Falles
lehrt, daß auch noch im Jahre nach der ersten
Medikation bei nicht übermäßiger Zufuhr von
Kohlehydraten die Aglykosurie besteht. So
stellt also Salol, am besten in Oblatenform
zu geben, ein unschädliches, in vielen Fällen
gegen Diabetes wirkendes Präparat dar, ohne
jedoch eine sichere Wirkung zu garantieren.
5. Antipyrin
hat als Antidiabeticum trotz eifriger Emp-
fehlungen von französischer Seite in Deutsch-
land so gut wie gar keine Anwendung ge-
funden. Die ersten erfolgreichen Versuche
an Hunden publizierten See und Gley (39)
im Jahre 1889. Dann hat Robin (35) nach
vielen günstigen Resultaten eine methodische
Antipyrin therapie und deren Indikationen
angegeben. Dieser fordert vor allem, das
Mittel auszusetzen, falls nach 6 — 8tägiger
Anwendung keine Herabsetzung der Glykos-
urie um 25 Proz. eingetreten ist. Die Wir-
kung des Antipyrins sucht der Autor so zu
erklären: der beim Diabetes gesteigerte Ge-
samtstoffwechsel sowie die erhöhte Tätigkeit
von Leber und Nervensystem sind zu hemmen.
Diese Forderung erfüllt das Antipyrin und
setzt damit die Glykosurie herab. Zum Be-
weis für die Richtigkeit dieser Erklärung
wird angeführt, daß infolge der verminderten
Oxydationsprozesse unvollständig verbrannter
Schwefel und Phosphor in demselben Maße
mehr im Harn erscheint, als der Zucker-
gehalt herabgesetzt ist. Umgekehrt begründet
Robin mit seiner Theorie die Wirkungs-
losigkeit der die Stoffwechselintensität er-
höhenden Mittel auf Diabetes. Sauerstoff,
Eisen, Kalium permanganicum oder das nerven-
reizende Strychnin und der elektrische Strom
sind solche. Im Jahre 1895 gibt Robin (37)
eine neben der Diät zu gebrauchende „medi-
cation altern ante" an, mit der er von 100 Fällen
24 sicher, 25 wahrscheinlich geheilt und 35
XIX. Jahrgang. 1
Oktober 1905. J
Pl«iic(«r, Diabetet meUthit.
501
erheblich gebessert hat. Bei dieser abwechs-
lungsreichen Therapie hat neben Antipyrin
— im Vordergrunde — ein Gutteil vieler
anderer gegen Diabetes bekannter Arzneien
in drei Behandlungsperioden in Aktion zu
treten. Da in Deutschland diese Therapie
niemals versucht worden ist, erübrigt sich
wohl eine Mitteilung eingehender Art.
6. Piperazin
will zuerst Hildebrandt (16) aus patho-
logisch-chemischen Erwägungen heraus gegen
Diabetes angewendet wissen. Der Autor geht
davon aus, daß die Glykosurie der Ausdruck
abnorm gesteigerter Tätigkeit eines sacchari-
fizierenden Fermentes sei, dessen Energie
durch die bei dieser Erkrankung verminderte
Blutalkale8zenz noch gesteigert werde. Dem-
zufolge sucht Hildebrandt einen Stoff ein-
zufuhren, der zugleich antifermentativ und
alkaleszenzerhöhend wirkt. Diesen Anforde-
rungen scheint ihm Piperazin am meisten zu
entsprechen. Die in vitro gemachten Ver-
suche geben ihm Recht. Das Mittel hemmt
hier in der Tat den Fermentvorgang. Auch
die Versuche am durch Phloridzin diabetisch
gemachten Hunde fallen positiv aus. Die
Darreichung von 2 — 3 g Piperazin genügt
für einen Hund von 4 — 6 Kilogramm Gewicht,
um die Glykosurie um 90 Proz. zu vermindern.
Versuche am Menschen hat Hildebrandt
nicht gemacht. Nur empfiehlt er, das Mittel
eine halbe Stunde vor der Mahlzeit zu geben
und vorher den Magensaft durch Natrium
bicarbonicum zu neutralisieren, damit es als
Base zur Resorption kommen könne. Den
weiter unten gemachten Angaben über den
Unterschied zwischen Phloridzindiabetes des
Hundes und echtem menschlichen entsprechend,
ist Grub er der einzige, der in einem Falle
Erfolg beim Menschen gehabt hat. Bohl and
dagegen kommt bei einer Prüfung des Pipe-
razins an Hund und Mensch (3 g pro die) zum
entgegengesetzten Resultate, wie Hilde-
brandt. Seine Ergebnisse fallen ganz negativ
aus. Nicht besser erging tes Kaufmann.
Piperazin also in der Praxis zu gebrauchen,
wird im Hinblick auf die Literatur nicht
geraten sein.
7. Chinin und Arsen,
deren Wirkung von Robin wie die des Anti-
pyrins erklärt wird, haben für die moderne
Diabetestherapie in Deutschland geringe Be-
deutung. Chinin gab man zu 2 g täglich.
Arsen ist von Leube in Form von 30 Tropfen
Solutio Fowleri empfohlen worden. Den zahl-
reichen entmutigenden Beobachtungen steht
nur ein Erfolg des Franzosen Worms (46)
gegenüber. Dieser hat eine Kombination von
Tb, M. 1906.
Chinin, sulfuricum 0,2 — 0,3 und Arsen ge-
geben und nachhaltige Erfolge in schweren
Fällen ^erzielt.
8. Jod
ist gleichfalls in den letzten Jahren ganz
beiseite gelassen worden, obwohl Seegen
bei einer Verabreichung von 20 — 30 Tropfen
Tinctura Jodi Aglykosurie hat eintreten sehen.
Nachwirkung ist nicht vorhanden gewesen.
Schon im Jahre 1882 berichtet Mole-
schott (29) Erfolge vom
9. Jodoform,
bei dessen innerer Darreichung von 0,05
täglich nach 12 Tagen Zuckerfreiheit ein-
getreten ist.
Chinin, Arsen und die beiden Jodpräpa-
rate sind Antiglycosurica, welche in Deutsch-
land der Geschichte angehören und nur der
Vollständigkeit halber hier angeführt worden
sind.
HL Fermentativa
werden, um kurz zu rekapitulieren, gegeben,
um die pathologisch verminderte Intensität
des zuckerzerstörenden Fermentes zu erhöhen
und dadurch die Zuckerausscheidung zu be-
seitigen.
1. Diastase
wurde im Jahre 1874 von Kußmaul (20)
nach nicht vollendeten Versuchen zur weiteren
Prüfung empfohlen. Injizierte dieser 0,1 bis
0,2 g in l'/s ccm erwärmten Wassers gelöste
Diastase in das Unterhautzellgewebe, so trat
keine Reaktion ein. Deutlich ließ sich jedoch
eine solche beobachten, wenn die Injektion
intravenös vorgenommen wurde.
21 Jahre später teilt Lepine (24) 4
durch Trinkenlassen einer Diastaselösung ge-
besserte Fälle mit. Die Herstellung dieser
Lösung, von der alles abhängt, bespricht
Lupine (25) genau an anderer Stelle. Zu
einem Liter mit 1 g Acidum sulfuricum an-
gesäuerten Wassers gebe man 5 g der im
Handel erhältlichen möglichst reinen Malz-
diastase, bringe diese Mischung auf 35 bis
38° und neutralisiere sie.
Leider ist die Beschaffung dieses glyko-
lytischen Fermentes sehr kostspielig und
seine Wirksamkeit bereits nach wenigen Stun-
den erschöpft. In Deutschland ist meines
Wissens diese Le'pinesche Therapie nicht
konsequent zur Anwendung gekommen. Das
ist sehr zu bedauern, obgleich man von der
Erklärung der Glykosurie durch eine ver-
minderte Fermentwirkung mehr und mehr ab-
gekommen ist. Insbesondere aber verdienen
die Kußmau Ischen Versuche über die intra-
venöse Injektion eine Würdigung, zumal sie
weder vom Autor selbst genügend geprüft,
38
502
Fleische r, Diabetes mellitus.
rher&peutiftcht
Monatsheft«.
noch jemals einer Nachprüfung unterzogen
worden sind.
Eine ähnliche fermentative Wirkung ver-
sprach sich seinerzeit Senator von der
2. Bierhefe.
Cassaet hat sie erfolgreich in einer Menge
von 50 g täglich verabreicht. Leo konnte
an Hunden die Wirksamkeit des Präparates
demonstrieren. Kaufmann dagegen berichtet
über einen Fall, in welchem während der
Hefedarreichung die Zuckerbildung ansteigt.
Immerhin ist die NichtWirksamkeit dieses
Präparates zurzeit nicht bewiesen, so daß
eine weitere Prüfung überflüssig wäre.
lila, Organextrakte
der Leber und des Pankreas ließen mit Recht
eine Fermentwirkung ähnlicher Art erhoffen.
1. Leberextrakt
wurde von Gilbert und Carnot 1896 in
die französische Therapie des Diabetes ein-
geführt. Drei Fälle dieser Untersucher zeigen
bei der Behandlung ein vorübergehendes
Sinken, 5 eine dauernde Verminderung und
4 ein zeitweises Schwinden der Glykosurie.
In Deutschland ist Kaufmann der einzige
klinische Prüfer. Da er zweimal nur eine
minimale antiglykosurische Wirkung festzu-
stellen vermag, redet er dem Präparate nicht
allzusehr das Wort. Erheblich mehr ist zu
berichten über die Anwendung der
2. Pankreasmedikation,
so viel, daß von ihrer erschöpfenden Dar-
stellung abgesehen werden muß. Der Fran-
zose Gomby injizierte als erster Pankreas-
saft subkutan. Ferner ist das als wirkend
angenommene Agens dem Körper per os als
Saft, in Substanz, als Extrakt, in Tabletten-
form und schließlich per anum einverleibt
worden (Kaufmann). Einverleibt im wört-
lichen Sinne der Implantation hat Williams
in Bristol ein lebendes Pankreas in einem
Falle.
Einzig dastehende Versuche haben G u i n a r d
und Ghatin (5) gemacht. Unter Beibehaltung
der Diät injizierten sie ihren Kranken ein aus
der Vena pancreatica des Hundes bereitetes
Serum ins Rectum. Leider ganz erfolglos!
Obgleich schon diese französischen Berichte
die Erfolglosigkeit der Pankreasmedikation
deutlich machen, sollen noch einige Miß-
erfolge deutscherseits angefügt werden. Für-
bringer (7), v. Leyden, Renvers berichten
Schlechtes über die Glyzerinextrakte des
Pankreas. Goldscheiders große Versuchs-
reihen fallen völlig negativ aus. Auch Kauf-
mann schließt sich den vorigen an, nachdem
er in sieben Fällen keinerlei Einfluß auf die
Glykosurie beobachten konnte.
Als Minkowski (43) auf die auffallend
häufige Kongruenz zwischen Diabetes mellitus
und Pankreasveränderungen hingewiesen hatte,
bemächtigten sich die Organotherapeuten der
Pankreasmedikation mit ebensogroßen Hoff-
nungen, als ihre Enttäuschung nachher ge-
wesen ist.
Von den
IV. anorganischen Präparaten
seien zuerst die
1 . Alkalien
einer Würdigung unterzogen. Die schon älteren
Versuche Senators (40) mit Alkalien führten
zu keinem Resultate, ebensowenig solche
mit den Bestandteilen der Brunnen in Vicby
und Neuenahr. Trotzdem verkennt Senator
den günstigen Einfluß der Brunnenkuren auf
den Diabetes keineswegs. Nur schreibt er
die Wirkung weniger dem medikamentösen
Einflüsse des Brunnens als der veränderten
Lebensweise, der geregelten Diät und vor
allem dem „proeul negotiis" der Kranken zu.
Weiter geht Senators Meinung dahin, daß
das bei solchen Kuren an Ort und Stelle in
größeren Mengen aufgenommene warme Wasser
allein schon eine zuckerhemmende Wirkung
habe. Die Erfolge, die Glax zweimal mit
warmem Wasser erzielt hat, bestätigen diese
Vermutung, v. Mering schließt sich nach
seinen Versuchen der Senatorschen Ansicht
über die Brunnenwirkung in jedem Punkte
an. Er findet die alkalischen Wässer auch
in den Fällen unwirksam, in denen Opium
einen deutlichen Effekt macht. Dessenunge-
achtet empfiehlt er in leichten und in mit
Fettleibigkeit komplizierten Fällen Kuren in
Karlsbad und den vorher genannten Bädern
mit Erfolg. Strasser (41) rühmt sowohl
die alkalisch-sulfatischen Wässer von Karls-
bad und Marienbad sowie die einfach alka-
lischen von Neuenahr als zucker- und durst-
vermindernd und toleranzerhöhend. Die in
schweren Fällen symptomatische Wirkung,
welche sie in Minderung der Glykosurie, des
Zuckergeschmackes, des Durstes und einer
Stärkung des Appetits, der Psyche und damit
des Kraftgefühles kundtut, wird nach Lenne
durch kein anderes Mittel, selbst Opium nicht,
in dem hohen Maße erreicht wie durch
Brunnenkuren an Ort und Stelle. Reines
Alkali in Form des Natrium bicarbonicum
zu geben, hält B arth (3) bei leichtem oder
gichtischem Diabetes für angebracht.
Eine antiglykosurische Wirkung der Al-
kalien sowie der Brunnenbestandteile ist
r
XIX« Jahrgang.!
Oktober 1905. J
Fl«iicher, Diabetes meUitui.
503
also nicht sicher bewiesen. Dennoch lehrt
die Praxis den wohltuenden Einfluß der
Brunnenkuren immer wieder erkennen. Sie
sind darum stets zu empfehlen.
2. Kalk
gegen die Melliturie der Diabetiker zu ge-
brauchen, hat zuerst Grube (11) aufgefordert,
und zwar infolge der Beobachtung eines
Kranken, dem von Laienseite der Genuß von
Eierschalen angeraten war, welche in der
Hauptsache bekanntlich aus kohlensaurem
und phosphorsaurem Kalk bestehen. Die
Glyko8urie blieb zwar auf der alten Höhe
von 3 Proz. stehen, jedoch besserte sich das
Allgemeinbefinden unter Gewichtszunahme
zusehends. In zwei weiteren Fällen tritt
dieselbe Allgemeinwirkung ein. Mit Recht
weist Grube darauf hin, daß der von
y. No orden beim Diabetiker festgestellten
vermehrten Kalkausfuhr bei Innehaltung der
kalkarmen Fleischdiät eine verminderte Ein-
fuhr von Kalk gegenübersteht. Die damit
wohlbegründete Kalkdarreichung veranlaßt
Lenne (22) zu einer Nachprüfung.
Dieser verordnet 3 mal täglich einen Thee-
von 10,0 Caiciumphosphat
90,0 Calciumkarbonat
leider mit gleichbleibender Erfolglosigkeit,
so daß wir Naunyns Rat folgend eine Be-
stätigung der Grub eschen Resultate abzu-
warten genötigt sind.
3. Ammoniak
hat Guttmann (13) in 29tägiger Versuchs-
zeit bei einem Patienten methodisch zur An-
wendung gebracht. In der ersten fünftägigen
Periode gibt derselbe 10 g Ammonium chlo-
ratum in Wasser, in der zweiten gleichlangen
Ammon. carbon. 20,0
Acidi citrici 22,5
Aquae destillatae ad 200,0
S. an einem Tage zu nehmen.
Im ersten Teile der Behandlung steigt
die Glykosurie nicht unerheblich, um im
zweiten eine nur minimale Herabsetzung zu
zeigen. Mit mehr Glück hat Adam-
k i e w i c z (l) (2) Salmiak und Ammonium
citricum probiert. Derselbe erklärt seine
Erfolge damit, daß das eingeführte Ammoniak
mit der Dextrose zu einer Verbindung ver-
schmilzt. In einem der von Eichhorst mit
dem Medikamente behandelten Fälle schwand
zwar der Zuckergehalt schnell, ebensoschnell
als eine komplizierende Lungenphthise eine
letal endigende Verschlimmerung erfuhr. Über
die Wirkung der Ammoniaksalze stehen also
noch wenig Erfahrungen zur Verfügung. Diese
aber sprechen eher zu Ungunsten des Mittels.
4. Uransalze
sind meines Wissen nur von den Engländern
West (45) und Duncan auf ihre antiglykos-
urische Wirkung geprüft worden. Der erstere
hat in fünf Fällen Urannitrat oder ein Doppel-
salz von Uran und Chinin, mit einer Dosis
von 0,06—0,1 beginnend und bis 0,6 — 1,2
steigend, verabreicht. Glykosurie, Polyurie
und Allgemeinzustand sind dadurch günstig
beeinflußt worden. In weiteren 4 von 5 Fällen
ist der gleiche Erfolg zu verzeichnen. Auch
Duncan pflichtet dem vorigen auf Grund
seiner 5 Fälle bei. Das Medikament ist außer-
halb Englands bisher unerprobt geblieben.
• F. Pflanzliche Präparate
sind gleichfalls mannigfach gegen Diabetes
zu Hilfe gerufen worden.
1. Theeaufgüsse aus Leinsamen
oder aus Bohnenschalen
können mit wenigen Worten abgetan werden.
Nach Kaufmann nützen sie ebensowenig,
als sie schaden. Sie sind „noch nicht Gegen-
stand exakter Prüfung geworden a (Naunyn).
2. Myrtillen,
das sind Heidelbeerblätter, hat Weil im
Jahre 1892 nach Erfolgen bei 4 Kranken
in die Therapie eingeführt, zwei Formen der
Darreichung sind empfohlen. Entweder tut
man zwei Hände voll Blätter in zwei Liter
Wasser und kocht das Ganze zu 1 Liter
Thee ein, oder man reicht das Präparat in
Gestalt der Pilulae Myrtilli Jasper dar.
Beides ist nach übereinstimmenden Aussagen
von v. Leyden, Bohland, Kaufmann,
Lenne nutzlos. Insbesondere hat K6tly
die Wirkungslosigkeit, aber auch die Un-
schädlichkeit der Pillen dargetan (v.Mering).
3. Haferkuren
bei schwerem Diabetes bringt v.No orden (33)
auf der Naturforscherversammlung in Karls-
bad 1902 in Vorschlag. Anfangs gibt der
Autor 200 g Hafer am Tage unter Ver-
meidung anderer Kohlehydrate und erzielt
damit ein Sinken der Melliturie. Die Ein-
fuhr dieser ziemlich bedeutenden Hafer-
mengen ist jedoch nach spätestens 14 Tagen
auszusetzen, da sie der Kranke nicht länger
verträgt. Darauf bemerkte v. No orden ein
um so mächtigeres Ansteigen der Glykosurie
und, was viel schlimmer ist, auch der
Acetonurie. Nach einer neueren Veröffent-
lichung (34) läßt v. Noorden jetzt eine
Suppe konsumieren, die unter Zusatz von
Salz und Wasser bereitet wird aus:
38*
604
Pl«itch«r, DlabetM mellitus.
fTlierapeutlacto
L Monatshefte.
250 g Knorrsches Hafermehl oder Hohen-
1 oh e sehe Haferflocke,
160 - vegetabilisches Eiweiß (Roborat),
300- Butter.
Die Behandlung von etwa 100 Fällen
mit dieser Suppe geschah mit schwankenden
Ergebnissen. Über 5 Fälle wird Genaueres
berichtet. Bei zwei Kranken schlug die
herkömmliche Diät besser an als die Kur.
Ein Patient wird bei strengster Diät weder
zucker- noch acetonfrei. Eine ÖOtägige
Haferkur bewirkt hier anhaltende Aglyko-
surie bei gutem Allgemeinbefinden. Ein
weiterer Fall betrifft einen 20 jährigen
Kranken, dem bereits das Koma droht.
Nach 20tägiger Kur ist der Zuckergehalt
des Urins nur vorübergehend gesunken,
während das eingetretene "Wohlbefinden er-
halten bleibt. Ein ähnlicher Erfolg wird
bei einem lange bestehenden Diabetes er-
reicht. Die Glykosurie bleibt die gleiche,
aber die Acetonausscheidung sistiert dauernd,
v. Noorden warnt trotz seiner Resultate
mit Recht davor, die Haferkur etwa als
ein „Allheilmittel*4 des Diabetes anzusprechen,
sondern fordert zu weiteren Versuchen auf.
Über die Resultate solcher berichtet neuer-
dings Lipetz (26 a) in der N au nyn sehen
Festschrift.
Erfolge hat er nicht gesehen, dagegen
häufig Erbrechen und gänzliche Verweige-
rung der Diät beobachtet. Die guten Er-
folge anderer führt er darauf zurück, daß
die Kohlehydrate in Gestalt von Hafermehl
gar nicht oder nur minimal zur Resorption
kommen. Dieser Ansicht widerspricht Lang-
st ein (20 a) in einem unlängst gehaltenen
Vortrage nachdrücklich, soweit es den kind-
lichen Diabetes — und der stellt bekannt-
lich die schwerste Form dieser Erkrankung
dar — betrifft. Von schlechter Ausnutzung
kann nicht die Rede sein, da der „Nutzen
eklatant" war.
In einem Falle wurde zwar die Zucker-
ausscheidung durch die Haferkur vermindert,
jedoch trat nach l1/« Monaten der Tod im
Koma ein. Günstiger lag ein anderer Fall:
Das achtjährige Mädchen schied in 24 Stun-
den 1 — 2 °/0 Zucker aus. Nach Verab-
reichung von 50 — 150 g Hafermehlsuppe fiel
der Zuckergehalt auf 0,1 °/0, um dann vier-
zehn Tage hindurch trotz Beigabe anderer
Kohlehydrate ganz zu fehlen. In der Dis-
kussion rühmen auch Mohr und Hirsch-
feld die Haferkur, während Magnus-
Levy nicht viel Freude von ihr gehabt hat.
Mohr wendet sich besonders gegen die An-
sicht von Lipetz, da er außerordentliche
Gewichtszunahmen bei der Haferdiät beob-
achten konnte.
4. Syzygium jambolanum,
eine westindische Pflanze, verdankt ihre An-
wendung der Empfehlung Graesers (10)
im Jahre 1889. Die Versuche an durch
Phloridzin diabetisch gemachten Hunden er-
gaben zur Evidenz, daß diese experimentell
bedingte Glykosurie konstant durch das
Präparat herabgesetzt wurde. Gleiche Re-
sultate unter gleichen Versuchsbedingungen
erhielt Binz, der nunmehr das Syzygium
für ein spezifisches Antiglycosuricum zu er-
klären nicht anstand. Inzwischen hat sich
erweisen lassen, daß der menschliche Dia-
betes wesentlich vom Phloridzindiabetes des
Hundes verschieden ist. v. Mering und
vor allem Bohland haben gezeigt, daß
der Zuckergehalt des Blutes beim phloridzin-
diabetischen Hunde nicht erhöht ist. Dar-
aus, daß diese Erhöhung im Blute diabeti-
scher Menschen regelmäßig gefunden wird,
läßt sich folgerichtig schließen, daß die
Stoffwechsel Vorgänge in beiden Fällen ganz,
verschiedene sein müssen. Der durch Total-
exstirpation des Pankreas erzeugte „ Pan-
kreas di ab et es" (v. Mering, Minkowski)
dagegen geht übrigens mit einem vermehrten
Zuckergehalt im Blute einher, steht also der
menschlichen Zuckerkrankheit viel näher.
Interessante Versuche hat Hildebrandt
(14) mit dem Mittel angestellt, der ja die
Glykosurie für die Folge abnorm gesteigerter
Fermentwirkung hält. Er prüft zuerst in
vitro den antifermentativen Effekt des Frucht-
schalenextraktes und zeigt, daß die zucker-
spaltende Wirkung der pflanzlichen Diastase
sowie des Speichels durch Syzygium jambo-
lanum erheblich herabgesetzt wird , ohne
einen Einfluß auf Pepsin oder Trypsin aus-
zuüben. Der Erfolg beim Menschen wird
derart vorausgesagt, daß der Extrakt im
Magendarmtractus die Saccharin zierung der
Amylaceen und in den Geweben die des
Glykogens •hemme, ohne dabei die Eiweiß-
verdauung zu stören. Am diabetischen
Menschen läßt sich der Erfolg nicht in
jedem Falle demonstrieren, wie man es nach
diesen Vorversuchen erwarten sollte. So
hat Gerlach (8) das Medikament ohne
irgend welchen Effekt verabreicht. Dagegen
vermag Lewaschew (26} „gleichmäßige
Resultate" in acht Fällen mitzuteilen. Der-
selbe betont, daß nur das frisch bereitete
! Pflanzenpulver wirksam ist. 20 — 40 g Pulver
am Tage haben bei seinen Kranken nach
kurzer Zeit Zucker- und Harnmenge herab-
, gesetzt. Unangenehme Nebenwirkungen traten
nicht auf. Niemals ist Aglykosurie ein-
getreten, und über eine etwaige Nach-
wirkung wird nichts gesagt. Kaufmann
hat das Präparat siebenmal geprüft. Drei-
XIX. Jahrgang.!
f Oktober 1906. J
Pl«Uch«r, Diab«tM mellitus.
505
mal hat er eine deutliche, aber für die
Praxis zu geringe Herabsetzung der Mellit-
urie gesehen , in zwei Fällen einen ent-
schiedenen, auch praktisch wichtigen Erfolg
und ebenso oft ein negatives Ergebnis.
Kaufmann gibt durch 6 Tage dreimal tag-
lich !/a Theelöffel von Extractum jambo-
lanum fluidum (Merck) als dem haltbarsten
Präparate und schließt daran eine arzneilose
viertägige strenge Diät. Er hat die Dosis
ohne Gefahr bis auf 3— 4 mal täglich 1 Eß-
löffel steigern können. Magendarmstörungen
werden nach v. Noordens Angaben sicher
vermieden, wenn man einen Eßlöffel Extrakt,
in Vi Liter heißen Wassers gelöst, eine
Stunde vor dem Mittagessen und dem
Schlafengehen verabreicht. Kaufmann em-
pfiehlt Syzygium jambolanum unbedingt,
andere wie von Noorden , von Me-
ring und Strasser sehen zwar „keine
von der Regelung der Diät unabhängige
entscheidende Wendung zum Guten" (von
Noorden) (32), raten aber dennoch, einen
Versuch mit dem unschädlichen Mittel zu
machen.
Syzygium jambolanum erscheint jeden-
falls geeignet, zur Unterstützung der Diät
empfohlen zu werden.
VI. Moderne Spezialpräparate
nennt Kaufmann diese als letzte zu be-
trachtende Gruppe der Antiglycosurica. Es
sind eine Reihe von Geheimmitteln, denen
der auf wissenschaftlicher Basis arbeitende
Arzt wohl schon aus diesem Grunde mit
Recht nicht freundlich gegenübersteht. Diese
Mittel werden natürlich als spezifische, in
kürzerer oder längerer Zeit Aglykosurie be-
wirkende angepriesen. Selbst wenn wir
daran von vornherein nicht glauben, ist ihre
exakte Prüfung dennoch gerechtfertigt. Zeigen
sie sich absolut wirkungslos, nun, so wird
diese Tatsache genügen, um ihre weitere
Anwendung ärztlicherseits zu hindern. Setzen
sie die Zuckerausscheidung in den schweren
Fällen herab, in denen keine Diät etwas
auszurichten vermag, so haben sie genug
geleistet. Also eingehende Mitteilungen sind
meines Erachtens nötig, bevor man ver-
nichtende Urteile wie das folgende fällt:
„Jeder, der eines dieser Präparate, in der
Hoffnung, seinen Diabetikern dadurch nützen zu
können, anwendet, fällt einem geschickt an-
gelegten Humbug zum Opfer" (v. Noorden)
(32). Im einzelnen ist mitzuteilen:
1. Antimellin,
das mit Djoeatin und Jambulin identisch ist
(Kaufmann), wurde von Börsch als wunder-
wirkendes Spezifik um gegen Diabetes an-
gepriesen, v. Noorden und Goldscheider
stellen die Wirksamkeit des Mittels mit
aller Entschiedenheit in Abrede. Kauf-
mann hat in 13 Fällen 100—125 cem Anti-
mellin pro die unter Innehaltung strenger
Diät verabreicht und kann ein Herabgehen
der Glykosurie in neun Fällen feststellen.
Dasselbe erreicht er jedoch mit strenger
Diät allein, so daß er das Mittel als „über-
flüssige Zugabe", die übrigens 12 Mark
kostet, verwirft. Daß ein Teil der Wirkung,
wenn sie überhaupt eintritt, auf Rechnung des
in dem Präpasate enthaltenen Acidum salicyli-
cum und Syzygium jambolanum zu setzen
sein konnte, stellt Kaufmann nicht in Ab-
rede. Aber Opium und andere altbekannte
Präparate wirken ebenso, und von spezifi-
schem Einfluß sei keine Rede. Meines Er-
achtens hätte der Autor das Antimellin
nicht bei Kranken versuchen sollen, bei
denen alleinige Diät schon wirkt, sondern
bei solchen, welche eine Diät unbeeinflußt
läßt. Noch abfälliger als Kaufmann ur-
teilt Hirsch feld nach seinen Ergebnissen
in fünf Fällen. Keinerlei Effekt wird beob-
achtet.
Weitere Untersuchungen, besonders in der
soeben angedeuteten Richtung, sind wohl am
Platze.
2. Saccharo8olvol,
ein vom Apotheker Meißner in Leipzig herge-
stelltes salizylsäurehaltiges Mittel — es kostet
6 Mark — ist nur von Kaufmann in vier
Fällen konsequent zur Anwendung gebracht
worden. Durch Darreichung von dreimal
täglich 1 Theelöffel oder von 15 — 25 cem
ebenso oft wird ein Fall günstig beeinflußt.
„Berichte über exakte Beobachtungen bei
Anwendung des Saccharosolvols liegen in der
Literatur nicht vor." (Kaufmann.)
Man wird zugeben, daß man selbst ein
„Geheimmittel" auf eine nicht einmal ganz
negative Prüfung in vier Fällen hin gänzlich
abzutun, nicht das Recht hat, sondern dazu
weitere Belege der Nicht Wirksamkeit nötig
braucht.
3. Glykosolvol
hat insofern eine bessere Behandlung er-
fahren, als die Erklärung seiner Nutzlosig-
keit erst nach vielfachen Versuchen ab-
gegeben worden ist. Das Mittel besteht
aus 1. einem Pulver, das Glykosolvol, Semen
Syzygii jambolani und Aromatica ent-
hält und in Form von Thee früh und abends
gegeben wird, 2. einer Tinktur aus Glyko-
solvol in Extract. fluid, fol. Myrtill. compos.,
die mittags zu nehmen ist. Der Hersteller,
Apotheker Lindner in Dresden , verkauft
506
Fleiich«r, Diabetei mellitus.
rTber&peutUch«
L Monatsheft«.
das Mittel für 12 Mark. Lenne" erfuhr die vol-
lige "Wirkungslosigkeit in drei solchen Fällen,
in denen die Glykosurie trotz strenger Diät
nicht weichen wollte. Er führt mit Recht
die von Lindner in 3 — 18 Tagen erzielte
Aglykosurie auf die in der Gebrauchsan-
weisung streng befohlene Diät allein zurück.
Folglich ist Glykosolvol in Fällen, in denen
eine Diät nichts ausrichten kann, gleichfalls
unwirksam, leistet also de facto gar nichts.
Diese Mitteilung scheint mir recht be-
weisend zu sein. Kirstein (18) hat sich
aus drei in Senators Poliklinik beobachte-
ten Fällen die Meinung gebildet, daß das
Mittel den Diabetes „nicht merklich beein-
flußt". Auch Kaufmann wendet es in drei
Fällen vergeblich an. Sprechen schon diese
Mitteilungen sehr gegen das Präparat, so.
entscheiden die vom chemischen Standpunkte
gemachten Einwendungen Eichengrüns (6)
völlig zuungunsten des Glykosolvols. Die
angegebene chemische Konstitution als „pepto-
nisiertes oxypropionsaures Theobromintryp-
sina wird als „chemischer Unsinn" bezeichnet.
Aus der mitgeteilten Analyse ist hervorzu-
heben, daß nur Spuren von Theobromin,
dagegen 60—70 ü/0 Stärke (!) gefunden
wurden.
Letzterer Befund allein würde genügen,
sich Eichengrün unbedingt anzuschließen,
der das Mittel von jedem Arzte verworfen
wissen will. In diesem Falle erübrigen sich
weitere Untersuchungen.
Zur Vervollständigung sei zum Schluß
auf ein ganz neues, bisher unerprobtes Mittel,
das vom Apotheker Schubring, Bavaria-
Apotheke-Berlin , hergestellte „Senval" hin-
gewiesen, welches ohne strenge Diät den
Harn in 8 — 14 Tagen zuckerfrei machen,
also „sichere Hilfe für Zuckerkranke u
bringen soll. Das Senval besteht aus einem
Fluidextrakt und einem Pulver. Ersteres
enthält: Senecio, Valeriana, Cina, Castoreum
und Mentha piperita. Drei Likörgläser
voll werden täglich nach den Mahlzeiten
verabreicht. Das Pulver ist ein Gemisch
von Natrium bicarbon., Natr. chlorat., Spong.
maritim., Calc. phosphat., Lithium jodat. und
ist in einer Quantität von dreimal täglich
!/a Theelöffel nach dem Essen zu geben.
Preis 10 Mark.
Fälle.
In drei Fällen von Diabetes mellitus
brachte ich Saccharosolvol zweimal, Anti-
mellin und Senval je einmal zur methodi-
schen Anwendung. Mit den beiden erst-
genannten Mitteln wurden zwei Fälle aus
der Poliklinik des Herrn Professor Rosin
behandelt. Den dritten Fall beobachtete
ich im städtischen Krankenhaus am Urban
zu Berlin. Die beiden weiblichen Patienten
eigneten sich zu den Prüfungen deswegen
besonders gut, weil eine lange fortgesetzte
konsequente Diät die hohe Glykosurie zu
beeinflussen nicht imstande war. Sie stellen
also den Typus der Fälle dar, in denen die
medikamentöse Therapie als letzter Versuch,
in Betracht kommt. Es wurde besonders
darauf acht gegeben, daß die Kranken
während der Prüfungsdauer die gewohnte
Diät beibehielten und ein Plus an körper-
licher Arbeit vermieden. Vor jeder Medika-
tion wurde die unter Erfüllung dieser beiden
Bedingungen bestehende Zuckerausscheidung
mehrere Tage hindurch festgestellt.
Fall L Frau R., 38 Jahre alt, gibt an, nie-
mals ernstlich krank gewesen zu sein, bis vor etwa
Jahresfrist ein bestehender Diabetes mellitus fest-
gestellt wurde. Damals habe sie 200 Pfund ge-
woffen. Ihr jetziges Körpergewicht, das sich
wahrend der Beobachtungsaauer konstant erhält,
betragt noch 180 Pfund.
Von Medikamenten hat sie im Dezember 1904
nur die Pilulae Myrtilli Jasper 18 Tage hindurch
gebraucht; wie sie angibt, ohne jeden Erfolg. Der
vom Apotheker festgestellte Zuckergehalt habe in
letzter Zeit zwischen 6—7 % geschwankt Die
folgende Diät sei dabei innegehalten worden. Die-
selbe wird auch während der Versuchszeit aufs
strengste durchgeführt.
Morgens um 4 Uhr: eine Tasse Kaffee mit Milch
ohne Zucker.
- 7 Vj - eine Schrippe mit Butter,
- 10 - V« Pfund Fleisch.
Mittags - 1 - Suppe, Vi Mund Fleisch,
erlaubtes Gemüse.
Nachm. - 4 - eine Tasse Kaffee mit Milch
ohne Zucker.
Abends - 8 - Va Pfund Fleisch oder
Va Pfund Fisch, erlaubtes
Gemüse.
Zuckergehalt vor jeder Medikation (polari-
metrisch bestimmt):
Am 29. XII. 1904 6,2 % (Gerhardtsche Probe
auf Acetessigsäure deut-
lich positiv),
- 30. XII. 1904 7,0 - 1 pÄrLarlif^.
- 2. I. 1905 67 - p G«rhardtsche
- 5. I. 1905 6,2 - J Probe 8tets P°8ltlT-
Vom 7. 1. 1905 an bekommt die Patientin täg-
lich drei Eßlöffel Saccharosolvol in einem Tassen-
kopf warmen Wassers.
Nachts vom 7. 1. zum 8. 1 5,2 %
Am 8. 1 4,6 -
- 9. 1 ... 5,0 -
- 10. 1 6,0 -
- 11. 1 6,5 -
- 12. 1 6,7 -
Der Gehalt des Urins an Aceton ist während
der Medikation stets anscheinend derselbe ge-
blieben, so weit die Schätzung dies zuläßt. Jedoch
ist die Eisenchloridreaktion nier unbrauchbar, da
die im Saccharosolvol enthaltene Salizylsäure die-
selbe Reaktion bedingt. Acidum salicylicum konnte
leicht im Ätherauszug des Harnes durch Eiaen-
chlorid nachgewiesen werden. Aceton wurde durch
die Legal sehe Probe festgestellt.
XIX. Jahrgang.!
Oktober 1905. J
Fleischer, DUb«t«t mellitus.
507
Am 13. I. wurde Saccharosolvol als völlig
wirkungslos ausgesetzt. Nebenerscheinungen wurden
nicht beobachtet. Preis: 6 Mark. Darauf kam
„Antimellin" (Essentia Antimellini composita) ein
jambulhaltiges Mittel, bei der Patientin in An-
wendung. Es wurden laut Vorschrift 150 ccm der
angewärmten Flüssigkeit morgens nüchtern ge-
nommen. Der Zuckergehalt war:
Am 15. I. (Urin 2 — 6 Stunden nach der
ersten Medikation gesammelt) . 4,4 %
- 16. I 4,2 -
- 17. 1 4,5 -
- 18. 1 5,4 -
- 20. I. ... • 6,3 -
- 21. 1 6,0 -
Der Acetongehalt ist dauernd derselbe ge-
blieben. Da ferner das Mittel Brechreiz macht,
wird es als wirkungslos ausgesetzt. Preis : 12 Mark.
Fall II. Frau P., 48 Jahre alt, leidet seit
4 Jahren an Diabetes mellitus und ist seit dem
10. IX. 1902 Patientin der Poliklinik des Herrn
Professor Dr. Rosin. Hier wurden während der
Behandlung vom 10. IX. 02 bis zum 30. VIII. 04
Zackermengen festgestellt, die zwischen 3,4 und
6 % schwankten. Acetonurie bestand niemals.
Die in den letzten Jahren und auch während
der Beobachtung streng innegehaltene Diät war
folgende:
Morgens 8 Uhr: eine Tasse Kaffee mit Milch ohne
Zucker, ein Knüppel.
10 - V, Stulle Schwarzbrot mit Butter.
Wurst.
Mittags 1 - V>— % pfuDd Fleisch. Kohl.
Nachm. 4 - eine Tasse Kaffee mit Milch ohne
Zucker. !/j Knüppel.
Abends 8 - 73 Pfand Fleisch.
Die Beobachtung vor der Medikation ergab
folgende Werte:
31. XII. 1904 5,5 °/0
3.1. 1905 .... 5,8 -
7. 1. 1905 5,0 -
9. 1. 1905 3,2 -
10. 1. 1905 3,7 -
13. 1. 1905 3,3 -
Die intelligente Patientin führt das spontane
Herabgehen der Glykosurie am 9. und 10. 1. auf
fehlende Gemütserregung an diesen Tagen zurück.
Sie führt das Entstehen ihrer Erkrankung mit Be-
stimmtheit auf Aufregungen zurück, welche durch
eine sich in „Anfällen" wiederholende Krankheit
ihres Mannes bedingt werden. Patientin will
oft beobachtet haben, daß zur Zeit gehäufter An-
falle des Mannes jedesmal ihre Glykosurie steigt
und umgekehrt.
Sie bekommt vom 14. 1. 05 ab täglich zwei
Eßlöffel Saccharosolvol in warmem Wasser. Zucker-
gehalt am
14. 1. abends bis 15. 1. früh . ... 4,1 %]
15. 1 4,0-1 niemals
16. 1 4,7 - Aceton.
17.1 8,9 -J
Die bereits amenorrhoische Patientin gibt an,
jedesmal kurze Zeit nach dem Einnehmen geringe
Uterusblutungen zu bekommen. Gegen die klimak-
terische Natur der letzteren spricht der Umstand,
daß mit dem Aussetzen des Mittels auch die Blu-
tungen sistieren.
21. I. (ohne Medikament) ... 3,0 %.
Vom 22. I. wieder Saccharosolvol, ohne daß
Blutungen wiederkehren. Auch jetzt findet sich
kein Aceton, obgleich sich das Allgemeinbefinden
verschlechtert.
22. 1. . . . 3,7 %
23. 1. ... 3,5 -
24. 1. . . . 3,4 -
25. 1. . . . 4,3 -
26. 1. . . .5,2 - (Gerhardtsche
Probe negativ).
Aussetzen des Saccharosolvols.
Das Fazit aus beiden Beobachtungen
lautet: Völlige Wirkungslosigkeit des Saccha-
rosolvols wie des Antimellins. In Fall I
setzte keines von beiden, von minimalen
Schwankungen am Anfang abgesehen, weder
die Zuckerausscheidung herab, noch hatte
es einen Einfluß auf die Acetonurie. Auch
in Fall II ist unter der Saccharosolvol-
behandlung die Glykosurie unbeeinflußt ge-
blieben, das Allgemeinbefinden sogar ver-
schlechtert worden.
Fall in betrifft den Apotheker W., aus dessen
Anamnese nur zu erwähnen ist, daß er sich 1890
luetisch infiziert und vor einigen Wochen selbst
den Zucker im Urin nachgewiesen hat. Der
Zuckergehalt betrug bei der Aufnahme ins
Krankenhaus am 8. März 1905 7 %, stieg dann
bis zu dem höchsten beobachteten Wert von 7l/a %
in den ersten Tagen an, um dann bis zum 8. April
d. J. zwischen diesem Wert und 3l/j % ^m Minimum
ziemlich unvermittelt und täglich zu variieren.
Meist wurden 5—6 °/o gefunden bei stets deut-
lichem Ausfall der Gerhardt sehen Eisenchlorid-
reaktion. Dabei wurde folgender täglicher Speise-
zettel streng innegehalten:
Zweimal 500,0 schwerer Kaffee,
60,0 Butter,
2 Eier,
60,0 Speck,
60,0 Brot,
100,0 Braten,
100,0 Gemüse,
4 Eier oder
50,0 Wurst und 50,0 Käse,
oder $0,0 Schabefleisch.
1 Flasche Selters.
Da durch strenge, einen Monat hindurch fort-
gesetzte Diät Zuckergehalt und Acetonurie nicht
wesentlich beeinflußt werden konnten, begann ich
am 10. April mit der Darreichung von Senval.
Der in den nächsten 10 Tagen niedrigste Prozent-
S ehalt betrug 474 %, also mehr als ohne das
[ittel, der höchste war 6l/a %. Die Acetonaus-
scheidung blieb bestehen. Verschlechterung des
guten Allgemeinbefindens trat nicht ein. Patient
verließ dann das Krankenhaus und teilte mir einen
Monat später, am 23. Mai d. J., mit, daß er sich
recht wohl fühle, an Gewicht zugenommen habe,
aber in letzter Zeit konstant 3 % Zucker aus-
scheide? Er hat während der ganzen Zeit strenge
Diät innegehalten bei Senval med ikation.
Wenn auf Grund dieses einen Falles ein
vorläufiges Urteil über das Senval erlaubt
ist, so kann von einer Beeinflussung der
Glykosurie schlechterdings keine Rede sein.
Die Diät leistete allein dasselbe. Andrer-
seits kann der dauernd gute Kräftezustand
und die Gewichtszunahme mit durch das
608
Fl«Uch«r, Diabetes mellitus.
("Therapeutte»«
L Monatehefte.
Medikament herbeigeführt worden sein, und
zwar wohl eher durch das Pulver als durch
das Fluidextrakt, dessen Bestandteile als
Antidiabetica noch niemals Anwendung ge-
funden haben.
So müssen wir am Schluß der Arbeit
leider bekennen, daß die antiglykosurische
Arzneiwirkung bis heutigen Tages eine recht
problematische geblieben ist. Wenn wir
auch nicht so pessimistisch wie Cantani
(4a) glauben, daß alle Medikamente aus-
nahmslos nicht nur unwirksam, sondern
krankheitsverschlechternd seien, so können
wir uns andererseits der Ansicht von Nau-
nyn, Hirschfeld, Kaufmann und anderen
Autoren völlig anschließen und nur dem
Opium eine relativ sichere "Wirkung in
schweren Fällen zuschreiben. Spezifisch ist
auch diese keineswegs. Die von Kauf-
mann als ebenso wirksam bezeichneten
Salizylpräparate und das Extract. Syzyg.
jambol. möchten wir nach den Ergebnissen
der Literatur nicht auf eine Stufe mit dem
Opium stellen. Die „ Geheimmittel " haben
in den bisher gemachten spärlichen Versuchen
völlig im Stich gelassen.
Schließlich erfülle ich die angenehme
Pflicht, Herrn Professor Dr. H. Rosin
meinen ergebensten Dank für die Anregung
zu dieser Arbeit und für die Überlassung
zweier Fälle und Herrn Assistenzarzt Dr.
Haake für die des dritten abzustatten.
Literatur.
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2. idem, Verhandlungen der physiologischen Ge-
sellschaft. Berlin 1878, Nr. 17.
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4. Bohland, Über den Einfloß der Lävulose
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betes mellitus und über einige gegen den-
selben empfohlene Arzneimittel. Therapeu-
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Wochenschr. 1889.
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creatique. Lyon med. XCV, 23. Dezember
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seinen Einfluß auf den experimentellen Dia-
betes. Berliner klin. Wochenschr. XXXI, 6,
1894.
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der Med. 1, 1901.
17. Kaufmann, Über die Einwirkung von Medi-
kamenten auf die Glukosurie der Diabetiker.
Zeitschr. für klin. Med., Bd. 48. (Die in der
Arbeit ohne besondere Hinweise angeführten
Autoren sind nach dieser Abhandlung zitiert.)
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Berliner klin. Wochenschr. XXVIII, 8, 1891.-
26a. Lipetz, Über die Wirkung der v. Noorden-
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27. Martz, siehe 24.
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509
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EMphtherieepldemlen und Diphtherie-
empfönglichkeit»
Von
Dr. Siegfried Rosenfeld.
Die allgemeinen Gesetze, welche dem
Auftreten der akuten Infektionskrankheiten
in Epidemieform zugrunde liegen, aufzu-
decken, zählt zu den interessantesten, aber
auch schwierigsten Kapiteln der Epidemiologie.
Man kann durchaus nicht sagen, daß die bis-
herigen Versuche allzuoft und allzuviel von
Erfolg begleitet gewesen waren. Um so ge-
botener erscheint es, jedem neuen Versuche
mit kritischer Aufmerksamkeit zu folgen.
Einen solchen Versuch der Erklärung der
Diphtherieepidemien hat Gott st ein im Jahre
1903 mit seinem Buche „Die Periodizität
der Diphtherie und ihre Ursachen" veröffent-
licht. Dieses Buch bildet gleichsam einen
Abschluß seiner zahlreichen Aufsätze über
Diphtheriestatistik nach der positiven Seite
hin. Die darin gewonnenen Resultate sind
ebenfalls auf statistischem Wege gewonnen,
wiederholen nur zum Teile schon früher von
Gottstein Ausgesprochenes. Im folgenden
will ich dieselben näher beleuchten, jedoch
auch nur mit Hilfe der Statistik, obwohl
ihre Beleuchtung von einem anderen Stand-
punkte, etwa vom bakteriologischen, auch
sehr interessant wäre; doch sei dies hierzu
Berufeneren überlassen.
Gottstein erklärt mit Hilfe zweier neuer
von ihm festgestellter Tatsachen die Synthese
der Diphtheriekurven. Der Wortlaut der
ersten Tatsache ist: „Die Diphtheriekurve
kommt dadurch zustande, daß in allmäh-
Th. M.1906.
lichem treppenförmigen Ansteigen weniger
empfängliche Lebensgenerationen von immer
höher empfänglichen gefolgt werden. Das
Auftreten derjenigen Generation, die die
größte Zahl empfänglicher Individuen enthält,
bewirkt den Gipfelpunkt der Kurve. Ebenso
allmählich folgen nun weniger empfängliche
Generationen, deren Auftreten das Absinken
der Kurve bewirkt." Die zweite Tatsache
lautet: „Der Spannungsraum zwischen dem
Minimum an empfänglichen Varianten und
dem Maximum bewegt sich in den einzelnen
Generationen innerhalb weniger Prozente.
Das Maximum dürfte mit 6 — 8 Proz. hin-
fälliger Individuen im allgemeinen erreicht
8 ein. Ganz exakt zahlenmäßig läßt es sich
nicht bestimmen, weil ein Teil der Diph-
therietodesfälle nicht auf Rechnung ange-
borener Anlagen, sondern erworbener sozial-
hygienisch ungünstiger Außenverhältnisse und
anderer vorangegangener Krankheiten kommt,
weil andererseits durch besondere Zufälle
ein geringer Bruchteil hoch empfänglich er In-
dividuen dem erforderlichen Kontakt mit der
Seuche entrinnen mag."
Beschäftigen wir uns zuerst mit der
zweiten Tatsache, in welcher die geringe
Diphtherieempfänglichkeit der Neugeborenen
(„90 — 95, sogar bis 98 Proz. besitzen einen
angeborenen Grad von Immunität gegenüber
dem Diphtheriekontagium") mit enthalten ist,
ein Ergebnis, das, wie Gottstein selbst er-
klärt, manchem auffällig erscheinen wird.
Diese Tatsache (eigentlich sind es mehrere)
ist aus der Statistik des Königreichs Preußen
sowie vier ausgewählter Provinzen (Hannover,
Hessen-Nassau, Schlesien und Westpreußen)
für die Jahre 1876—1895 in der Art ge-
wonnen worden, daß die Diphtheriesterblich-
keit einer jeden Jahresgeneration bis zum
vollendeten 5. Lebensjahre berechnet wird.
Dieselbe schwankt für das Königreich Preußen
zwischen 1,82 und 4,17 Proz., für Hannover
zwischen 1,7 uitd 2,8 Proz., für Hessen-
Nassau zwischen 2,1 und 3,7 Proz., für
Schlesien zwischen 2,7 und 4,6 Proz. und
für Westpreußen zwischen 1,8 und 8,3 Proz.
Nehmen wir vorderhawfr mit Gottstein
an, daß aus der Höhe der Diphtheriesterb-
lichkeit einer Provinz oder eines Königreichs
die Diphtherieempfänglichkeit der Neuge-
borenen der ganzen Provinz oder des ganzen
Königreiches berechnet werden kann, so be-
dürfen doch die Prozentzahlen Gottsteins
einer Korrektur. Gottstein berechnet näm-
lich die Höhe der Diphtherieempfänglichkeit
aus der Zahl der an Diphtherie Verstorbenen.
Er sagt: „Wenn von 10000 Lebenden des
ersten Lebensjahres im Jahre 1875 beispiels-
weise 100 der Diphtherie erlegen sind, so
510
Rot«nfeld, Dlphth«rie«pid«ini«n und Dlphth«rl+ompf&ngllchfc«tt.
rTherapeutbche
L Monaffreft».
bleiben 9900 übrig; tob 10000 Lebenden
des Jahres 1876 im Alter von 1 — 2 Jahren
erlagen z. B. 150, dann sind am Ende des
Jahres 1876 noch übrig 9900 mal 9850
durch 10000" u. s. w. bis zum vollendeten
5. Lebensjahre. 6 Otts t ein berechnet also
die Diphtherieempfänglichkeit etwa so, wie
man die Lebenswahrscheinlichkeit aus der
Absterbeordnung berechnet. Dieser Vergleich
deckt die Schwäche der O ottstein sehen
Berechnung auf. Die Lebenswahrscheinlich-
keit kann man aus der Absterbeordnung be-
rechnen (eigentlich sind beides nur ver-
schiedene Darstellungen derselben Tatsache),
weil tatsächlich alle aus dem Leben Ge-
schiedenen mitgezählt werden. Die Diph-
therieabsterbeordnung nach Gottstein gibt
aber nur die relative Anzahl der an Diph-
therie Verstorbenen wieder. Diese aber bilden
nur einen geringen Bruchteil aller Verstor-
benen dieser Generation ; über die Diphtherie-
empfänglichkeit der an anderen Krankheiten
Verstorbenen erfahren wir eigentlich doch
nichts. Wer wollte sagen, daß die an an-
geborener Leben sschwäche, an Magendarm-
katarrh, an Bronchialkatarrh und Lungenent-
zündung im ersten Lebensjahre Verstorbenen
diphtherieimmun waren, weil sie nicht an
Diphtherie gestorben?
Wie die Vernachlässigung dieser Tatsache
einfach rechnerisch wirkt, sei an einem Bei-
spiel gezeigt, in welchem der Bequemlichkeit
wegen die Diphtheriesterblichkeit für jedes
Lebensjahr bis zum vollendeten fünften mit
1 Proz. angesetzt wird; was für diesen Fall
gilt, gilt auch mutatis mutandis für jede
andere Höhe der Diphtheriesterblichkeit. Ich
zeige also, wie sich bei gleicher Diphtherie-
empfänglichkeit die Zahl der von 10000 Neu-
geborenen an Diphtherie Verstorbenen nach
Gott stein und in Wirklichkeit verhält, wo-
bei ich als Absterbeverhältnis ungefähr mich
an die Daten Block-Scheels für Preußen
während 1866—1875 halte.
nach Gottsteln
iu Wirklichkeit
Lebens-
jahr
an Diph-
an Diph-
überlebend
therie
überlebend
therie
gestorben
gestorben
m
0
10000
_
10 000
1
9900
100
7900
100
2
9 801
99
7 300
79
3
9 703
98
7000
73
4
9606
97
6800
70
5
9 510
96
6 700
68
•
Bei faktisch gleicher Diphtheriesterblich-
keit erlagen also bis zum vollendeten fünften
Lebensjahre in Wirklichkeit 3,9 Proz., nach
der 6 ottstein sehen Berechnung jedoch
4,9 Proz. der Neugeborenen. Die Differenz,
ungefähr 20 Proz. der Gottstein sehen Zahl,
entspricht der allgemeinen Sterblichkeit ver-
mindert um die Diphtheriesterblichkeit.
Diese kleine rechnerische Korrektur, die
ich nur deswegen erwähnt habe, weil sich
Gottstein stets als genauen Statistiker gibt,
nur nebenbei. Hauptsache ist, daß von
zwanzig Prozent des Beobachtungs-
materiales man keine Aussage bezüg-
lich der Diphtherieempfänglichkeit
oder Diphtherieimmunität machen
kann. Da ist es nun wohl ausgemacht, daß
die Prozentzahlen Gottsteins nur einen sehr
fraglichen Grad von Zuverlässigkeit bean-
spruchen.
Es ist nämlich von vorneherein viel
wahrscheinlicher, daß die aus anderen Ursachen
in den ersten Lebensjahren Verstorbenen,
wenn sie in die Lage gekommen wären, dem
Diphtheriekontagium ausgesetzt zu sein, eine
weit höhere Diphtheriesterblichkeit gezeigt
hätten, als nach der Gottstein sehen Berech-
nungsart den Kindern bis zum vollendeten
5. Lebensjahre zukommt. Denken wir z. B.
nur an jene Tausende von Kindern, welche
in den ersten Lebensmonaten an Lebens-
schwäche sterben. Dem Diphtheriekontagium
ausgesetzt, würde wirklich nur 1 Proz. von
ihnen an Diphtherie sterben? Oder die
Sterblichkeit bis zu 5 Jahren zugrunde
gelegt, nur 4 Proz. ? Sollten wirklich 96 Pro*,
von ihnen diphtherieimmun sein ? Entscheiden
läßt es sich nicht, aber glaubwürdig erscheint
es keineswegs. Denn daß wirklich „nur ein
geringer Bruchteil hochempfänglicher Indivi-
duen durch besondere Zufälle dem erforder-
lichen Kontakt mit der Seuche entrinnen
mag", ist nichts anderes, als eine durch
nichts bewiesene Hypothese, die durch später
vorzubringende statistische Tatsachen haltlos
erscheint.
Dem „durch besondere Zufalle a erfolgten
Ausfall an Diphtherietoten würde nach Gott-
stein dadurch kompensatorisch entgegen-
gewirkt werden, daß „ein Teil der Diphtherie-
todesfälle nicht auf Rechnung angeborener
Anlagen, sondern erworbener sozialhygienisch
ungünstiger Außenverhältnisse und anderer
vorausgegangener Krankheiten kommt". Das
ist wohl' richtig, hat aber gar nichts mit der
Sache zu tun. Wenn rhachitische Kinder
bei der Erkrankung an Masern schlechtere
Prognose haben, so wird man doch selbst-
verständlich die Maserntodesfälle derselben
auf das statistische Konto der Masern und
nicht der Rhachitis setzen. Überhaupt, wie
will Gottstein entscheiden, ob eine Infek-
tionskrankheit bei dem einen oder anderen
Individuum auf angeborener oder erworbener
Anlage beruht? Wir können nur das Vor-
XIX. Jafcrgaaf.1
Oktober 1906. J
RQt«nf«14, Dlphth«rie«pld«mi*n und DiphttMri««mpfltaflleh]c«it.
511
handensein der Disposition feststellen, aber
nur ausnahmsweise ihre angeborene oder er-
worbene Natur.
Aber selbst wenn wir in jedem Falle
unterscheiden konnten, ob der Diphtherietod
auf angeborene oder erworbene Anlage zurück-
zuführen ist, wurde dies gar nichts an der
Tatsache ändern, daß der Todesfall nach
Akquisition von Diphtherie aufgetreten ist.
Und darum, um die Diphtherieerkrankung,
nicht um den Diphtherietodesfall handelt es
sich. Die Immunität gegen eine Infek-
tionskrankheit wird nicht dadurch
charakterisiert, daß man der Krank-
heit nicht erliegt, sondern daß man
überhaupt nicht erkrankt. Darum war
die Bemerkung Gottsteins bezüglich der
Kompensation zwecklos. Daß er sie machte,
ist begreiflich. Denn im Momente, wo er
die Immunität aus den Todesfällen und nicht
aus den Krankheitsfällen bestimmte, war er
der Versuchung ausgesetzt, die Wertigkeit
der Todesfälle abzuschätzen.
Es ist zwar richtig, daß die Statistik der
Diphtherietodesfalle, wenn auch nicht absolut
zuverlässig, doch weit zuverlässiger ist als
die Statistik der Diphtherieerkrankungen,
gegen deren Verwendung überdies noch zum
Teile ortlicher, zum Teile zeitlicher Mangel
sprach. Aber damit, daß die eine Statistik
zuverlässiger ist als die andere, ist noch
nicht gestattet, die eine Statistik an die
Stelle der anderen zu setzen. Denn das
muß aufs schärfste betont werden, daß für
die Immunitätsfrage nicht die Todesfall-,
sondern die Krankheitsstatistik maßgebend
ist. Dadurch, daß Gottstein die erstere
benutzte, hat er die Diphtherieimmunität be-
deutend kl einer a als sie wirklich ist, berechnet.
Diesem Fehler hätte Gottstein auch
nicht dadurch begegnen können, daß er bei
der Benutzung der Diphtheriemortalität auch
die Diphtherieletalität in Betracht gezogen
hätte. Ist es doch eine bekannte Tatsache,
daß die Letalität der Diphtherie für jedes
Lebensalter Jahr für Jahr wechseln kann,
und daß oft sehr beträchtliche Schwankungen
vorkommen. Wir kommen daher stets wieder
zu dem Schlüsse, daß die Diphtheriesterb-
lichkeit für die zahlenmäßige Bestimmung
der Diphtherieimmunität unverwendbar ist.
Demnach ist der Boden, auf welchem
Gottstein seine Tatsachen aufbaut,
alles andere eher als fest.
Betrachten wir nun einen anderen Punkt.
Gottstein leitet sein Gesetz der Diph-
therieepidemien aus der Statistik Preußens
her. Das ist aber nur die Statistik eines
einzigen Landes. Folgerichtig hätte Gott-
stein nur das Recht, sein Epidemiegesetz
nicht als Epidemiegesetz schlechtweg, son-
dern als Epidemiegesetz Preußens zu be-
zeichnen. Insolange seine Geltung für andere
Länder nicht ebenfalls nachgewiesen würde,
würde es den allgemeinen Titel nicht be-
anspruchen dürfen. Daran ändert die Tat-
sache nichts, daß das Gesetz nicht bloß für
ganz Preußen, sondern auch speziell für aus-
gewählte vier seiner Provinzen gilt. Denn es
ist nur allzubekannt, wie gerade die sog.
Epidemiegesetze narren. Kaum wird ein
Vorkommnis für vier oder fünf Orte als
identisch konstatiert und dasselbe zur Würde
eines Gesetzes erhoben, wird für einen
sechsten Ort sein Nichtzutreffen festgestellt.
Und dies auch bei der epidemiologischen
Seite der Immunität. Ich erinnere nur an
die Masern. Wollte man aus dem Umstände,
daß sie in fast allen Ländern, welche über
Masernstatistik verfugen, jenseits der Pubertät
selten vorkommen, folgern, daß das Reife-
alter als solches masernimmun sei, würde
man gründlich irren, wie das Beispiel der
Faroeer oder einiger Südseeinseln lehrte.
Diese Beispiele lehrten, daß in den Kultur-
ländern jenseits der Pubertät Masern nur
deswegen selten vorkommen, weil ihr Über-
stehen im Kindesalter Immunität gewährt.
Der in obigem enthaltene Einwand hat
für die Diphtherie um so mehr Geltung, als
wir tatsächlich aus den Berichten anderer
Autoren über Diphtherieepidemien wissen,
daß die Diphtherieimmunität eines lokal um-
grenzten Bevölkerungskomplexes eine ganz
erheblich niedrigere ist als Gott st ein so
im allgemeinen hinstellt. Es fällt mir nicht
ein, die weitläufige Diphtherieliteratur, so-
weit sie darauf bezüglich, hier ausfuhrlich
wiederzugeben. Ich begnüge mich vielmehr
nur mit zwei bis drei — allerdings charak-
teristischen — Ausführungen.
Im Süden Rußlands ist die Diphtherie
epidemisch. Filatow (Zur Epidemiologie
der Diphtherie im Süden Rußlands. Jahr-
buch für Kinderheilkunde. Neue Folge.
39. Band), welcher Auszüge aus den Be-
richten der russischen Ärzte hierüber in
kritischer Sichtung wiedergibt, scheint der
Meinung zu sein, daß dies erst seit dem
Krimkriege der Fall ist. In vielen Bezirken
starben 12 — 16 pro mille der Bevölkerung.
Diese Sterbeziffer betrifft Bezirke, in welchen
auch Gegenden mit keiner oder nur mit
geringer Epidemie inbegriffen sind. Sie ist
daher nicht geeignet, ein wahres Bild der
Diphtherieempfänglichkeit zu entwerfen. Dazu
bedarf es der Zahlen über die Ausbreitung
der Epidemie in einzelnen Ortschaften. Hier
einige dieser Zahlen. Im Jahre 1876 er-
krankten von den 9740 Einwohnern von
39*
512
Roten feld, Diphtheriecpldemleii und D tphth er icempflo glich keit.
rThertpentlsch«
L Monatshefte.
Ssaratschinzy 2710 = 28 Proz. an Diph-
therie und starben 770 = 7,9 Proz.; wäh-
rend der 4 Jahre langen Dauer der Epidemie
erkrankten überhaupt 3284 und starben 1009.
In Sujewzy erkrankten im Jahre 1877 yon
den 3387 Einwohnern 482 = 14,2 Proz.
und starben 291 = 8,6 Proz., während aller
4 Jahre erkrankten 1012 und starben 519.
Da sich die Zahlen für beide Ortschaften
auf die Gesamtbevölkerung beziehen, die
Diphtherie aber hauptsächlich die Kinder
befiel, so ist deren Diphtherieempfänglichkeit
eine weit höhere als aus den Verhältniszahlen
zu schließen ist.
Dies ersehen wir tatsächlich aus anderen
Angaben Filatows. So soll nach den Be-
obachtungen Ksensenkos, welche sich auf
vier Dörfer beziehen, die Morbidität daselbst
für das Alter bis zu 4 Jahren 43,4 Proz.,
für das Alter von 5—9 Jahren 59,7 Proz.,
für das Alter von 10—14 Jahren sogar
71,9 Proz., für das Alter von 15—19 Jahren
auch noch 50,2 Proz. betragen haben. Aus
diesen Angaben ersehen wir noch eines: Daß
nämlich nicht wie in Preußen (und Preußen
gleicht in dieser Beziehung dem übrigen
Deutschland, Österreich, Frankreich, England,
Italien etc.) bei den Diphtherieepidemien
Südrußlands die Lebensjahre nach 15 ziemlich
diphtherieimmun sind. Im Gegenteile finden
wir hier Verhältnisse, die uns an die beiden
Masernepidemien der Faroeer gemahnen.
Einige russische Ärzte und mit ihnen
Filatow glauben aber mit obigen Daten, so
hoch sie auch sind, noch immer nicht die
Höhe der Diphtherieempfänglichkeit bestimmt
zu haben. Um diese mit Sicherheit festzu-
stellen, ist es nach ihrer Meinung notwendig,
die Zahl der Kranken nicht ins Verhältnis
zur Gesamtzahl der Bevölkerung, sondern
zur Zahl der in den infizierten Häusern be-
findlichen Personen zu setzen. Nur so sei
man sicher, daß die in Rechnung gezogenen
Personen auch wirklich und noch dazu aus-
giebig dem Diphtheriekontagium ausgesetzt
gewesen seien. So erkrankten an Diphtherie
nach Tschenykajew in Byk von 150 bis
15 Jahre alten Kindern 40 infizierter Häuser
91 = 60 Proz., in 139 Gesinden des Schtschi-
gro wachen Kreises mit 551 Kindern 274 =
49,7 Proz., nach Untit in 1066 infizierten
Gesinden mit 3379 Kindern 1344 = 40,2 Proz.,
wovon 546 = 16,7 Proz. starben, u. s. w.
Daß man bei obigen Daten, wo es sich um
halbe Ortschaften handelt, nur etwa an
Familiendisposition denkt, mag ja geschehen;
aber ihr Eingreifen erscheint dabei sehr un-
wahrscheinlich. Aber selbst wenn sie, wenn
auch vielleicht nur zum Teile, bestanden
hätte, so ist doch zu bedenken, daß z. B.
in Byk die Zahl der 3 — 5jährigen Diph-
theriekranken 38,4 Proz. aller gleichaltrigen
Kinder der Ortschaft betrug, und daß wir
anderwärts gleich hohe, ja sogar noch höhere
Morbiditätszahlen vorfinden. Wir können
daher schon jetzt behaupten, daß die An-
gabe Gottsteins über die enorme Höhe
der Diphtherieimmunität keinen An-
spruch auf allgemeine Gültigkeit hat.
Jedenfalls nicht für Südrußland, wo in in-
fizierten Häusern sogar nach Karamenko
87 Proz. und nach Stelmachowitsch
91,8 Proz. der Kinder Diphtheriedisposition
aufweisen.
Ahnliches wie in Südrußland finden wir
auch manchmal sogar in Deutschland oder
der Schweiz. Nachdem ich bei Rußland so
ausführlich war, kann ich mich hier kurz
fassen. So z. B. beschrieb Hensgen eine
Diphtheritisepidemie, welche in Neustadt am
Berg vom September 1875—1876 von 1250
Einwohnern 213, also ein Sechstel, befiel;
Langfei dt sah in der Zeit vom 1. Mai 1892
bis 4. März 1893 in einem abgelegenen Orte
von 145 Kindern in 68 Haushaltungen 130
von Diphtherie befallen werden, darunter 76
von 80 beim Unterrichte anwesenden Schülern ;
die Diphtherieepidemie in Kerzers lieferte
ähnliche Resultate; u. s. w.
Wir kommen demnach zu dem unab-
weislichen Schlüsse, daß die von Gottstein
angegebene geringe Variation der Generation
hinsichtlich der angeborenen Diphtherieim-
munität wohl auch nicht überall der Wirk-
lichkeit entspricht, weil die von Gottstein
angegebene untere Immunitätsgrenze noch
immer zu hoch gegriffen ist.
Gottstein könnte dies übrigens ruhig
zugeben und doch auf seinem Standpunkt
beharren. Er könnte sagen — ob er dies
tut, weiß ich natürlich nicht — , daß er bei
seinen Aufstellungen nur an größere Gebiets-
komplexe sich habe halten müssen, um nicht
durch singulare Ausnahmen jm Urteil beirrt
zu werden, und daß nur für größere Kom-
plexe seine Behauptungen gelten. Damit
sind wir wieder bei einem Punkte angelangt,
der ausführlicher erörtert werden muß. Strittig
ist die Sache jedenfalls; lesen wir ja doch
gerade in dem Filatowschen Aufsatze die
Ansicht, daß, wer sich über den zeitlichen
Gang der Diphtherieepidemien orientieren
will, nicht ihr Herrschen in ganzen Provinzen
beobachten soll, weil er so ein ganz falsches
Bild bekommt. Hat ja übrigens auch Gotfc-
stein einmal es für notwendig erklärt, zur
Beurteilung der Diphtheriesterblichkeit eines
Jahres dasselbe wenigstens in Jahreszeiten
zu zerlegen, um nicht durch Kompensation
I getäuscht zu werden. Sollte Gott st ein,
XIX- Jahrgang.!
Oktober ltf05. J
Rot«nf«ld, Dlphtherie«pid«al«ii und Dlphtherieempfingllchkelt.
513.
was er bei dem zeitlichen Gang der Epide-
mien für notwendig hält, bei ihrer ortlichen
Ausbreitung für unnötig erklären?
Es ist aber nötig. "Wird die Diphtherie-
sterblichkeit einer ganzen Provinz in toto
Gegenstand der Beobachtung, so sind Gegenden
verschiedenen Diphtheriecharakters vereinigt.
Wir haben darin Städte, wo jahrein, jahr-
aus Diphtherietodeftfälle vorkommen, wo also
die Möglichkeit der Ansteckung für die ganze
Stadtbevölkerung immer vorhanden ist, dann
wieder Ortschaften, oft sehr abgelegene, wo
man Jahre hindurch fast mit Sicherheit das
Nichtvorhandensein des Diphtheriegiftes kon-
statieren kann, Ortschaften, wo aber während
der Beobachtungszeit doch Diphtheriekeime
das eine- oder andremal Zugang finden, und
darunter wieder Ortschaften, wohin die Diph-
therie erst nach Jahrzehnten wieder oder
überhaupt zum erstenmal e gelangt ist. Der
Anteil, den alle diese Ortschaftskategorien an
der gesamten Diphtheriesterblichkeit haben,
wechselt von Jahr zu Jahr. Dieser wech-
selnde Anteil wird aber bei der Berechnung
der Diphtheriesterblichkeit der ganzen Pro-
vinz nicht berücksichtigt. Nun liegt aber
die Vermutung sehr nahe, daß — analog
wie die Masern — die Diphtherie anders
um sich greift in Ortschaften, wo sie eigent-
lich nie erlischt, anders wieder in Ortschaften,
wo sie bis dahin ganz oder fast ganz un-
bekannt war. Diese Vermutung erhält an
den früher mitgeteilten epidemiologischen
Tatsachen eine starke Stütze. Sahen wir
doch, daß z. B. die südrussischen Epidemien,
gleichsam der Typus frisch einbrechender
Epidemien, nicht bloß eine sehr geringe Diph-
therieimmunität bei den Kindern, sondern
auch eine keineswegs hohe bei den Erwach-
senen vorfanden.
Daraus folgt, daß man — wenigstens
vorderhand, solange diese Verhältnisse für
Preußen noch nicht studiert sind — beim
Studium und der Erforschung von
Epidemiegesetzen strenge dieGegenden
mit konstanter Möglichkeit der An-
steckung von den Gegenden mit vor-
übergeh e n der Ansteckungsgefahr
scheiden muß. Gottstein hätte also die
Pflicht gehabt, sein Epidemiegesetz demgemäß
zu erforschen. Nun ist es wohl noch nicht
recht möglich, es für Gegenden mit vorüber-
gehender Ansteckungsmöglichkeit zu studieren.
Wohl aber wissen wir aus der Bevölkerungs-
statistik, daß eine Reihe von Städten kein
Jahr ohne Diphtherietodesfall bleiben. Gott-
Btein hätte also für diese Städte gesondert
das Gesetz erforschen sollen. Er tat es nicht.
Hätte er es aber getan, hätte er hier das-
selbe Gesetz wie jetzt für die ganze Provinz
in Geltung gefunden, dann hätte er das Recht
gehabt, von einem Epidemiegesetze zusprechen,
aber auch nur von einem Gesetze der Diph-
therieepidemien in nie diphtheriefreien Ge-
genden.
In Gegenden, wo Diphtherie heimisch ist,
ist das Vorkommen von Diphtheriebazillen
im Menschen durch die Zahl der Erkran-
kungsfälle nicht vollständig charakterisiert;
denn bekanntlich wurden sehr oft Löfflersche
Bazillen in der Mundhöhle Gesunder gefunden.
Daß sie daselbst nur als ganz wirkungslose
Bewohner hausen, ist so lange doch nur als
zum Teil bewiesen zu erachten, als nicht
auch das Vorkommen jener leichten Hals-
entzündungen ausgeschlossen werden kann,
bei denen die Anrufung ärztlicher Hilfe nicht
als ausnahmslose Regel gilt. Diese leichten
Entzündungen genügen aber meiner Meinung
nach, um erworbene Immunität zu hinter-
lassen.
Auf diese Art mag es sich vielleicht er-
klären, daß die Diphtherie, wenn sie in bisher
von ihr verschonte Gebiete einbricht, nicht
bloß unter den Kindern wütet, sondern auch
Erwachsene in nennenswerter Zahl befällt.
Finden wir nun umgekehrt eine relativ stärkere
Beteiligung Erwachsener an der Diphtherie,
so liegt der Schluß nahe, daß es sich viel-
leicht um Diphtheriefälle in Gegenden handelt,
die bisher unter dieser Seuche weniger zu
leiden hatten.
Nun führt Gott stein tatsächlich den
Nachweis, daß die Erwachsenen gegenwärtig
stärker als vor dreißig Jahren von Diphtherie
heimgesucht werden, was er damit erklärt,
daß sie eben zu jenen früheren diphtherie-
empfänglicheren Generationen gehören. Die
Richtigkeit der Tatsache kann man zugeben,
ohne an die Gottsteinsche Erklärung zu
glauben. Es ist eine, von Gottstein oft
genug hervorgehobene Tatsache, daß die
Diphtherie, insbesondere in den Städten, in
Abnahme ist. Worauf diese Abnahme be-
^ht, ob auf der "Wirkung der prophylak-
tischen Maßnahmen, wie die einen sagen, ob
auf rein epidemiologischen Vorgängen, wie die
anderen sagen, ist vorderhand für uns gleich-
gültig. Genug, die Diphtherie nimmt gegen-
wärtig in den Städten Preußens (die Städte
anderer Länder schließe ich damit nicht aus)
ab. Die Städte werden demnach auf die
Diphtheriesterblichkeit einer Provinz voraus-
sichtlich von geringerem Einflüsse sein, es
wird sich die Gestalt der Diphtherieepidemien
immer mehr von der Gestalt der Diphtherie-
epidemien in diphtherieheimischen Gegenden
entfernen. Allerdings muß, was für Gott-
stein spricht, hervorgehoben werden, daß
die Altersverteilung der Diphtherietodesfälle
.614
Rotftüfftld, Diphth«riMpld«ml«B und Diphthari*«mpflngllchkelt.
re
in den preußischen Stadtgemeinden nicht
von denen in den Landgemeinden sich unter-
scheidet. So kamen in den Jahren 1891
bis 1900 auf das Alter nach dem 10. Lebens-
jahre in jenen 5,5, in diesen 5,3 Proz. aller
Diphtherietodesfalle. Ich glaube jedoch, daß
es nicht im Gottstein sehen Sinne gehandelt
wäre, die Durchschnittsdaten für ein ganzes
Jahrzehnt, in welchem Jahre mit ansteigender
Diphtheriesterblichkeit und Jahre mit ab-
nehmender Diphtheriesterblichkeit vereinigt
sind, als Beweismittel für die Zuverlässig-
keit seiner Deduktionen anzuführen. Jeden-
falls steht die Sache so, daß die Möglichkeit
gegeben ist, daß die Tatsache der gegen-
wärtig stärkeren Diphtheriesterblichkeit nach
beginnender Pubertät auch anders, als es
Gottstein tut, erklärt werden kann. Pflicht
desjenigen, der eine Hypothese aufstellt, ist
es, alle anderen Deutungen der von ihm vor-
gebrachten Tatsachen auszuschließen. In obigem
Falle ist Gottstein dieser Pflicht nicht nach-
gekommen.
Ich kann mir wohl vorstellen, durch
welchen Gedankengang Gottstein gleichsam
zur Idee gedrängt wurde, daß jeder Geburten-
jahrgang mit verschiedener Diphtherieimmu-
nität behaftet ist. Für Gottstein haben
die Diphtheritisepidemien einen langjährigen,
ungefähr dreißigjährigen Zyklus, für die süd-
russischen Ärzte allerdings einen anderen.
Da die Dauer dieses Zyklus ungefähr mit
der durchschnittlichen Lebensdauer einer Ge-
neration sich deckt, drängte sich der Ge-
danke des Zusammenhanges beider auf.
Nach Gottstein folgen also auf sehr
diphtherieempfängliche Generationen stets
minder empfängliche, bis ein Minimumpunkt
erreicht ist; dann geht es wohl wieder auf-
wärts. Die Diphtherieempfänglichkeit der
Generation wird durch das Geburtsjahr
charakterisiert. Nachdem ich dies gelesen
und abermals gelesen, sagte ich mir: Also
die Diphtherieempfänglichkeit hängt mit dem
Geburtsjahre zusammen. Gleichgültig, ob
einer in der Hauptstadt, wo seine Vorfahren
schon lange wohnten, oder in einem abge-
legenen "Winkel, wo es fast nur Heiraten
durch Inzucht gibt, geboren wird, wenn er
nur in demselben Jahre geboren wird, hat
er dieselbe relative Hohe der Diphtherie-
immunität. Und die Eltern dieser Kinder!
Sie verschaffen ihren Kindern die höchste
Diphtherieimmunität, weil sie sie just zu
einer Zeit zeugten, daß die Geburt gerade
in das richtige Jahr fiel. Ihren anderen
Kindern, wenn sie sie auch nur um ein Jahr
früher oder später zeugten, konnten sie schon
nur mehr eine niedrigere Immunität auf den
Weg mitgeben. Alles andere, von dem man
sonst behauptet hat, daß es für die Nach-
kommenschaft von Belang wäre, ist ganz
belanglos gegenüber der Geburtszeit. Wer
in dem betreffenden Jahre geboren wird,
macht einen Immunitätshaupttreffer, ungefähr
wie alle am Geburtstage eines langersehnten
Thronfolgers geborenen Kinder vom erfreuten
Monarchenvater ein Geschenk bekommen.
Nein, so etwas kann man nicht glauben.
Und doch hat es Gottstein behauptet
Er spricht von der hohen Diphtherieimmu-
nität eines Geburtenjahrganges, ohne zu sagen,
woher sie rührt. Er sagt nicht von ihr, daß
sie erworben ist, also hält er sie für ange-
boren. Ist sie aber angeboren, so ist sie
ein Erbstück von Seiten der Eltern. Es klingt
aber ganz unglaublich, daß alle Eltern einer
Provinz just in demselben Jahre die höchste
vererbbare Diphtherieimmunität besitzen. Es
klingt unglaublich, daß eine bestehende
Familiendisposition oder Familienimmunität
ganz unabhängig vom Zeitpunkte der Er-
werbung sich je nach der Jahreszahl nach
Christi Geburt, die wir schreiben, abändern
solle, ja sogar ganz verschwinden kann, um
sodann wiederzukehren.
Ja aber die Zahlen sprechen doch dafür.
Gottstein führt doch eine Statistik vor,
aus der doch tatsächlich, wie er sagt, her-
vorgeht, daß einer hohen Diphtheriesterblich-
keit der Erstjährigen im nächsten Jahre
eine hohe Diphtheriesterblichkeit der Zwei-
jährigen, im zweitfolgenden Jahre der Drei-
jährigen u. 8. w. entspricht. Nun, Zahlen
wurde schon oft Gewalt angetan. Sehen wir
uns die in einem Punkte gekünstelte Statistik
Gott steins daher etwas genauer an.
Ein Teil dieser Statistik für ganz Preußen
lautet:
Jahr 0—1 Jahr 1-» Jahr S-3 Jahr
1876 122,6 102,2 98,6
1877 111,7 106,0 105,9
1878 110,4 100,1 105,7
1879 112,8 100,0 100,0
1880 119,3 102,2 97,5
1881 106,2 97,8 97,3
1882 104,3 98,9 101,8
1883 105,5 100,3 100,9
1884 98,9 99,3 100,8
1885 93,6 101,2 99,5
Wir sehen einen Abfall der Zahlen rar
das Alter 0—1 Jahr von 1876 auf 1877,
dem entspricht ganz nach Gottsteinschem
Wunsche ein Abfall für das Alter von 1 bis
2 Jahren von 1877 auf 1878 und für das
Alter von 2—3 Jahren von 1878 auf 1879.
Aber wir sehen die Zahl für die Erstjährigen
von 1879 auf 1880 stark ansteigen und von
1880 auf 1881 noch stärker fallen; die ent-
sprechenden Zahlen für die Zweijährigen ver-
halten sich aber umgekehrt. Die Generation
XIX. Jahrgang.")
Oktober 1905. J
Roianfald, Diphthorie+pidemton und Diphtb«ri«*mpflnglichkeit.
515
also, die im Jahre 1880 eine geringere
Diphtherieimmunität hätte als die vorher-
gehende und die nachfolgende Generation,
hat diesen Charakter im nächsten Jahre ver-
loren. Derlei Beispiele ließen sich noch
andere anfahren. Der statistische Beweis
ist also im Detail nicht als gelungen zu be-
zeichnen. Gottstein selbst stützt sich ja
auch vornehmlich auf die Extreme der von
ihm angeführten Altersklassen und betont,
daß die Zahlen für die niedrigste Altersklasse
im ganzen abnehmen, die für die höchste
Altersklasse zunehmen. Aber indem er seine
Theorie nur auf zwei Eckpfeiler stützt, bildet
sie zwar einen kühnen Bogen, der aber einer
entsprechenden Belastungsprobe nicht ge-
wachsen ist.
Gott st ein hat die Diphtheriesterblich-
keit für jede Altersklasse und jedes Jahr
berechnet, diese Zahlen aber nicht mitge-
teilt, sondern andere Zahlen, welche er aus
jenen durch Beseitigung einer „Ungleichheit"
gewonnen hat; die Art dieser Beseitigung ist
das, was ich vorhin mit dem Ausdruck ge-
künstelt bezeichnet habe. Er hat die Summen
für die berechneten Sterblichkeiten der (für
Preußen) sechs Altersklassen gleich 600 ge-
setzt und den Anteil einer jeden Alters-
klasse dann wieder berechnet. In früheren
Zeiten und auch jetzt noch, wenn man die
Bevölkerungszahlen nicht kennt, wurde und
wird der Anteil einer Todesursache an der
Gesamtsterblichkeit auf diese Weise zum
Ausdrucke gebracht. Diese statistische Aus-
drucksform wird mit Recht immer mehr und
mehr verlassen. Die ihr eigenen Fehler
zeigen sich auch bei der Gottst einschen
Rechnung. "Würde der Anteil einer jeden
Altersklasse an der Diphtheriesterblichkeit
sich in der Gottst ein sehen Berechnung Jahr
für Jahr unverändert zeigen, so könnte dies
ebensowohl bei gleichbleibender Diphtherie-
sterblichkeit als auch bei zunehmender als
auch bei abnehmender Diphtheriesterblichkeit
sich einstellen, wofern nur Zu- oder Ab-
nahme alle Altersklassen in gleichem Ver-
hältnisse trifft. In diesem Falle wüßten wir
also gar nichts darüber, ob die Diphtherie-
immunität der Generationen gleichgeblieben,
abgenommen oder zugenommen hat. Denken
wir uns nun, daß die Sterblichkeit in einer
Altersklasse abgenommen hat, in anderen
gleichgeblieben oder, wenn auch abgenommen,
so doch nicht in demselben hohen Grade,
so werden wir für die anderen Altersklassen
höhere Anteile, für die eine Altersklasse
einen niedrigeren als früher finden. Das-
selbe Verhältnis werden wir auch finden,
wenn die Sterblichkeit in allen Altersklassen
zugenommen hat, in der einen aber weit
weniger. Können wir aus solchen Zahlen
dann Folgerungen über Zu- oder Ab-
nahme derDiphtherieimmunität ziehen,
wie es Gottstein tut? Zumal wo Gott-
stein — mit Ausnahme einer eigentlich nur
kurzen Andeutung — die Wiedergabe der
Diphtheriemortalität nach Altersklassen ver-
schmäht.
Die Mängel der Gottstein sehen Dar-
stellung treten, selbst wenn seine Theorie
sich als richtig erweisen sollte, am stärksten
bei den Zahlen für die Altersklassen 2—3
und 3 — 5 Jahre hervor. Diese sollten nach
der Gottst ein sehen Theorie eine beträcht-
liche Abnahme ihrer Anteile aufweisen. Wer
aber z. B. die Zahlen für Preußen liest,
wird an ihnen keine nennenswerte Änderung
feststellen können. Die Veränderungen be-
treffen in erster Linie die Erstjährigen, in
zweiter Linie die Altersklasse von über 10
bis 15 Jahren. Nach der Gottst ein sehen
Folgerungsmethode würde in den beiden
Altersklassen von 2 — 5 Jahren keine Ände-
rung der Diphtherieimmunität sich gezeigt
haben, eine Folgerung, die mit seiner Theorie
jedoch im Widerspruch steht.
Daß die Diphtheriesterblichkeit der jüng-
sten und der ältesten der in Betrachtung
gezogenen Altersklassen in ihrem gegenseitigen
Verhältnisse eine starke Abänderung zeigte,
geht auch aus den Gott st ein sehen Zahlen
hervor. Und zwar nahm die Diphtherie-
sterblichkeit der jüngsten Altersklasse ab,
die der ältesten gar nicht oder nicht in dem
Maße oder gar zu. Dies deutet Gottstein
so, daß die früheren diphtherieempfänglichen
jüngeren Generationen jetzt herangewachsen
sind und nun diphtherieempfänglichere ältere
Generationen bilden. Würde man diese
Deutung auch akzeptieren, so ist da-
mit noch nicht gesagt, daß sich dieses
Spiel wiederholt. Gottstein hat nur
für die Zeit eines einzigen Seuchenum-
schwunges die Zahlen -gegeben, damit aber
natürlich nicht den Beweis geliefert, daß sich
die nächste Diphtherieperiode ebenso verhalte.
Da Gottstein sich nur auf die oben
gekennzeichneten Zahlen stützt, aus denen
man aber auch mit seiner Lesemethode keine
Abnahme der Diphtherieempfänglichkeit der
Altersklassen von 1 bis 2 Jahren, von 2 bis
3 Jahren etc. herauslesen kann, und es ver-
meidet, einfacher berechnete Zahlen wieder-
zugeben, so ist es nur natürlich, daß er sich
auch darüber ausschweigt, ob die Abnahme
der Diphtheriesterblichkeit alle Altersklassen
betrifft. Dies ist ja tatsächlich der Fall,
klingt aber mit seiner Theorie nicht zu-
sammen. Denn wenn die Diphtherieepide-
mien tatsächlich zyklisch wären und der
516
Roten feld, Diphtherieepidemten und Dlphtherieempflogllchkeit.
r herapeii tische
Iftonatfthrtte.
Zyklus nur von der Diphtherieempfänglich-
keit der Generationen bestimmt würde, 80
hätten wir die Tatsache zu verzeichnen, daß
gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die
Altersklasse von 10 bis 15 Jahren trotz
ihrer hohen Diphtherieempfänglichkeit eine
niedrigere Diphtheriesterblichkeit aufweist
als dieselbe Altersklasse mit einer unter der
Annahme eines Zyklus sehr geringen Diph-
therieempfänglichkeit 10 — 15 Jahre vorher.
Schon dieser Umstand zeigt deutlich, daß
die Diphtherieempfänglichkeit nicht den
Gang der Diphtherieepidemien in erster
Linie bestimmt. Dies erkennt übrigens ja
auch Gottstein indirekt an, indem er es
nötig findet, seine Zahlen für die Hohe der
Epidemie zu berechnen, d. h. nach seiner
Ansicht dadurch außerhalb des menschlichen
Organismus liegende Bedingungen der Diph-
therieepidemien auszuschalten.
Daß die Diphtherieempfänglichkeit eine
Rolle bei der Ausbreitung der Diphterie-
epidemien spielen kann, ist eine zu banale
Wahrheit, um darüber weiter zu reden.
Aber die Diphtherieempfänglichkeit kann die
Rolle nur in Gegenwart des Infektionsstoffes
spielen. Wenn die Möglichkeit, den In-
fektionsstoff zu verschleppen , genommen
wird, so endet die Epidemie, mögen noch
so viele empfängliche Individuen vorhanden
sein. Am besten sieht man dies an den
Typhusepidemien, deren Entstehung von der
Verschleppung der Typhuskeime abhängt.
Die gegenwärtige Seuchenprophylaxe stellt
die Verhütung der Verschleppung von Krank-
heitskeimen in den Vordergrund; es macht
mir den Eindruck — doch kann ich mich
geirrt haben — als ob Gott st ein darin
nichts sehen könnte, was den Gang der
Epidemien bestimmen könnte. Sonst könnte
er ja nicht seine Theorie der Periodizität
der Diphtherieepidemien ausschließlich auf
die Empfänglichkeit des Individuums auf-
bauen. Das um sa weniger, als ihm ja
doch bekannt ist, daß der milde Verlauf der
Bonner Diphtherieepidemien mit der geringen
Virulenz der dortigen Diphtheriebazillen in
Zusammenhang gebracht wurde. Diesen, durch
das Tierexperiment festgestellten Einfluß der
Bakterien Variation stellt Gottstein auf Grund
seiner Zahlen kurzweg in Abrede.
Für ihn ist vielmehr die Frage der
Diphtherieepidemien eine Frage der Ver-
erbung , Zuchtwahl und Auslese. Mit
dem Begriffe der natürlichen Auslese wird
viel krebsen gegangen. So betrachten manche
eine große Säuglingssterblichkeit als einen
Vorgang der natürlichen Auslese. Das läßt
sich noch verstehen, wenn tatsächlich nach
übergroßer Säuglingssterblichkeit eine kräf-
tigere Generation mit geringerer Sterblich-
keit im späteren Alter zurückbleiben würde.
Aber wie soll man sich die natürliche Aus-
lese bei den Gottstein sehen diphtherie-
empfänglicheren Generationen vorstellen?
Sterben diese etwa aus, gelangen sie etwa
nicht zur Fortpflanzung? Beides nicht,
wenigstens ist dafür kein Beweis bei-
gebracht. Es sterben nur von diesen diph-
therieempfänglicheren Generationen fraglicher
Existenz in jedem Lebensjahre an Diphtherie
etwas mehr als von anderen Generationen;
aber auch nur nach Gottstein. Aber selbst
wenn dies wäre, ist damit die Diphtherie-
empfänglichkeit dieser Generation nicht be-
seitigt oder vermindert, was ja der Begriff
der natürlichen Auslese verlangt. Der Be-
griff der natürlichen Auslese erfordert das
Aussterben der für den Kampf ums Dasein
abträglichen Eigenschaft; er verlangt eine
stetige Abnahme der Diphtheriesterblichkeit,
falls für sie nur oder hauptsächlich die
Diphtherieempfanglichkeit maßgebend wäre;
er würde uns einen zyklischen Verlauf der
Diphtheriesterblichkeit mit Auftreten von
Epidemien etwa in 30jährigen Perioden un-
verständlich erscheinen lassen.
Läßt sich denn aber die Tatsache, daß
in Preußen die Diphtheriesterblichkeit der
jüngsten Altersklasse erheblich stärker als
der Altersklasse der beginnenden Pubertät
abgenommen hat, nicht anders erklären als
durch die Diphtherieempfänglichkeit und ihre
Variation? Und zwar auf noch eine andere
als die früher angegebene Art?
Ich will nicht allzusehr betonen, daß
die Todesursachenstatistik weit zuverlässiger
geworden ist, obwohl sicherlich schon da-
durch eine der Wirklichkeit nicht ent-
sprechende, anscheinend große Frequenz-
änderung so mancher Todesursache statt-
gefunden hat. Dies kann auch bei der
Diphtherie der Fall gewesen sein. Da die
Todesursachenstatistik aus begreiflichen Grün-
den an Zuverlässigkeit relativ stärker bei
den Säuglingen und kleinen Kindern als bei
den größeren Kindern und bei den Er-
wachsenen gewonnen hat, da ferner leicht
möglich ist, daß eine ärztlich nicht be-
glaubigte Todesursachendiagnose auf Diph-
therie von den Laien auch in Fällen, wo
keine war, gestellt wurde, kann eine Zu-
nahme der ärztlichen Beglaubigung der
Todesursachen eine Änderung in dem oben
genannten Sinne hervorgerufen haben. Dies
jedoch nur nebenbei.
Wir leben in einer Zeit, wo der Krank-
heitsprophylaxe die größtmöglichste Auf-
merksamkeit gewidmet wird. Je gefahrlicher
die Krankheit, um so deutlicher wird der
XIX. Jahrgang .1
Oktober 1905. J
Gottttein, Bemerkungen «u dem ▼orttehenden Auftatse.
517
Erfolg der Prophylaxe hervortreten. Die
Letalität der Diphtherie ist in den ersten
Lebensjahren eine unvergleichlich höhere als
z. B. im Alter von 10 — 20 Jahren. Gelingt
es der Prophylaxe nur einigermaßen, die
Übertragung der Diphtherie zu verhindern,
so wird dies quoad mortalitatem bei den
kleinen Kindern am stärksten bemerkbar
werden. Gerade aber bei den kleinen
Kindern wird die Prophylaxe auch sonst am
stärksten ins Gewicht fallen, da sie von
den Gefahren der Familieninfektion stets am
stärksten bedroht sind. Die Krankheits-
verhütung mußte demnach eine stärkere Ab-
nahme der Diphtheriesterblichkeit der Kinder
als der Herangereiften bewirken.
Es ließe sich wohl noch so manches
sagen. Doch glaube ich schon durch das
Vorgebrachte meine Anschauung, daß Gott-
stein die Periodizität der Diphtherieepide-
mien nicht oder nicht beweiskräftig genug
erklärt hat, genügend gestützt zu haben.
Ob das eine oder das andere der Fall, zu
entscheiden, bleibt künftiger Forschung vor-
behalten.
Bemerkungen
zu dem vorstehenden Auftatze.
Von
Dr. A. Gottttein.
Die Freundlichkeit der Redaktion gibt
mir die Gelegenheit, zu der Kritik des
Herrn Rosenfeld sofort Stellung zu nehmen,
meine Rechtfertigung wird mir freilich da-
durch erschwert, daß den Lesern dieser
Zeitschrift nicht mein Buch selbst vorliegt,
sondern nur der Angriff des Herrn Rosen-
feld. Auf die Einzelheiten der Kritik kann
ich nicht eingehen. Der Inhalt meines
kleinen Buches, des Ergebnisses dreijähriger
Rechenarbeit, ist einschließlich der Tabellen
auf 40 Seiten zusammengedrängt, weil ich
darauf verzichtete, allgemein bekannte Dinge
so breit zu behandeln, wie Rosenfeld in
seiner Kritik. Dadurch wird der Aufsatz
von Rosenfeld allerdings fast ebensolang
wie mein Buch, er enthält aber weniger Be-
weise als Worte, darunter viele selbstver-
ständliche und noch mehr mißverständliche.
Das Hauptmißverständnis liegt darin, daß
Rosenfeld darauf besteht, den Begriff
Immunität als absolut aufzufassen, als die
Fähigkeit, auf eine Infektion überhaupt
nicht zu reagieren, während ich ausdrücklich
Immunität und Disposition im Sinne einer
relativen Funktion definiere und die ab-
solut widerstandslosen den absolut und
relativ resistenten Individuen gegenüber-
gestellt habe, die entweder garnicht erkranken
Th.M.lf06.
oder genesen. Der Hauptteil der Einwände
beruht auf dieser verschiedenen Wortdeutung ;
ihr zu Liebe zitiert Rosenfeld mich sogar
unter Anführungsstrichen sinnentstellend
falsch. (Vgl. S. 35 meines Buchs; nebenbei
gehört Bayern nicht zu Preußen.) Meine
Tabellen umfassen Jahrzehnte, Länder und
Mortalitätszahlen, seine Zahlen aus Rußland
einige wenige kleine Orte, 4 Jahre und
Erkrankungsziffern, was sich einfach nicht
vergleichen läßt. Rosenfeld fordert ferner
von mir Morbiditätsberechnungen, obgleich
er weiß, daß es diese in brauchbarer Form
nicht gibt ; er vermißt Statistiken von Städten,
trotzdem ich solche in Tabelle IIb gegeben
habe. Wenn ich die Zahl der abgedruckten
Tabellen im Interesse des Lesers auf das
für das Verständnis nötige Maß beschränkt
habe, so rügt dies Rosenfeld als fehler-
hafte Unterdrückung und übersieht, daß ich
in Tabelle II und IX Stichproben angegeben
habe, die meine Kontrolle ermöglichen.
Den Unsinn von der Abhängigkeit der Dis-
position des Einzelindividuums vom Geburts-
jahr, den Rosenfeld mit so viel Behagen aus-
malt,, habe ich natürlich nirgends ausgesprochen.
Eigentlich bedürfen nur zwei Einwände
einer besonderen Aufklärung. Rosenfeld
beanstandet die Richtigkeit meiner Absterbe-
ordnung, da ich einen wesentlichen Umstand
weggelassen hätte und daher zu kleine
Zahlen erhielt; er macht eine methodisch
bestimmt falsche „Verbesserung", die noch
kleinere Werte ergibt; wollte ich seinen
Einwand berücksichtigen, so müßte der An-
satz ganz anders lauten, würde aber am
Ergebnis nichts Wesentliches ändern. Er
meint ferner, meine Tabellen seien ge-
künstelt, weil ich sie auf einheitliche Werte
reduziere; wenn ich z. B. den Nahrungs-
verbrauch verschiedener Länder tabellarisch
wiedergebe, führe ich nicht Liter, Pfunde,
Unzen u. s. w. durcheinander auf, sondern
rechne alles in Gramm um; mehr habe ich
nicht getan; das Zahlenverhältnis ist das-
selbe geblieben, nur durch meine Mehrarbeit
für den Leser übersichtlicher geworden.
Hätte Rosenfeld dieselbe Rechnung wie
ich für ein anderes Land, z. B. für Öster-
reich, angestellt und hätte gezeigt, daß hier
die gleiche Gesetzmäßigkeit nicht vorliegt,
wie ich sie für mein Material auffand, so
stände ich vor der Aufgabe, entweder den
Grund der Verschiedenheit aufzudecken oder
meine Theorie zurückzunehmen; alle sub-
jektiven Bedenken, Lesefehler und Miß-
verständnisse des Herrn Rosenfeld zu be-
sprechen, liegt aber weder in meiner Ab-
sicht noch im Interesse des Lesers.
40
518
Rudolph, Therapie der diphtherischen Larynxitenote.
rTherapeutbrbt
L Monatshefte.
Zur Therapie der diphtherischen
Larynxstenose.
Von
Dr. Rudolph in Magdeburg.
Am 24. III. 1899 wurde ich zu einem
Kaufmann F. gerufen. Ein 2 jähriger Junge
hatte Erscheinungen hochgradiger Kehlkopf-
stenose bei ausgedehnten flatschenartigen Be-
schlägen auf beiden Tonsillen. Ich erfuhr,
daß zwei ältere Kinder, die noch im Bett
lagen, Diphtheritis gehabt hätten, und daß
es ihnen dank der Behandlung des Haus-
arztes bereits besser ginge. Letzterer hatte
erklärt, das jüngste Kind müsse operiert und
deshalb ins Krankenhaus gebracht werden,
was der sehr erregte Vater aber entschieden
ablehnte, da ihm bereits in früherer Zeit ein
Kind dort gestorben wäre, „lieber ließe er
es zu Hause sterben a. Sein Hausarzt habe
ihm erlaubt, einen anderen Arzt zu holen.
Der betreffende Kollege hatte die Kinder mit
großen Dosen Terpentinöl behandelt, welches
er bei Diphtheritis seit Jahrzehnten in aeiner
großen Praxis in interner Yerabfolgung an-
zuwenden pflegte, und, wie er mir gelegent-
lich selbst einmal gesagt hatte, mit bestem
Erfolge. Da der Vater bei seinem Ent-
schlüsse blieb, sein Kind nicht in das
Krankenhaus zu bringen, obgleich auch ich
ihm die Dringlichkeit der Operation klar-
machte, ging ich folgendermaßen vor. Ich
injizierte Behring Nr. II und ordnete an,
daß das Kind etwa alle 6 Stunden 2 Tropfen
Opiumtinktur bekommen sollte. Zwei Tage
und zwei Nächte war der Zustand des kleinen
Patienten höchst bedrohlich, dann ließen die
Stenosenerscheinungen nach, und das Kind
genas in wenigen Tagen. In der Opium-
betäubung hatte das Kind die schwere Atem-
not auszuhalten vermocht, bis die Serum-
wirkung eintrat. Jedesmal wenn es aus dem
soporösen Zustande erwachte, erhielt es etwas
Nahrung, hauptsächlich Milch. Stellte sich
der Schlafzustand nicht wieder ein, bekam
es Opium, selbst wenn erst vier Stunden seit
der letzten Applikation vergangen waren.
Schon nach 24 Stunden ließ sich der gün-
stige Einfluß des Serums erkennen, indem
der Belag an den Tonsillen sich aufzulockern
begann. Aber die Passage im Kehlkopfe
schien nach dieser Zeit nicht nur nicht
freier, sondern eher etwas erschwerter zu
sein, da die Atmung geräuschvoller war, und
die stern alen Einziehungen in opiumfreier
Zeit sich fast noch deutlicher markierten,
was ich dadurch erkläre, daß sich das
mechanische Hindernis im Kehlkopfe durch
die anfängliche Einwirkung des Serums, die
gleichsam in einer Quellung der Membranen
zu bestehen scheint, steigerte. Am zweiten
Morgen war der Stridor verschwunden, und
da an den Tonsillen die Beläge zum
größten Teil eingeschmolzen waren, war das
gleiche auch für das Innere des Kehlkopfes
anzunehmen. Am 30. III. wurde das Kind
geheilt aus der Behandlung entlassen.
Es ist begreiflich, daß ich einen neuen
derartigen Fall förmlich herbeisehnte. Aber
erst 1902 und 1903 hatte ich Gelegenheit,
je einen einschlägigen Fall zu beobachten.
Diese Fälle, die in Anamnese und Verlauf
dem geschilderten so ähnlich sind, daß eine
genaue Beschreibung überflüssig erscheint,
betrafen Mädchen von 9 und 2 Jahren.
Bei dem ersteren bestanden die Stenosen-
erscheinungen bereits 2 Tage, bevor ich die
Behandlung übernahm. Der Bruder der
letzteren war wenige Tage zuvor wegen
Larynxstenose tracheotomiert worden und
kurz darauf gestorben. Bei beiden Fällen
war die Überweisung ins Krankenhaus ab-
gelehnt worden. Die Behandlung mit Serum
und Opium war von Erfolg begleitet. Sie
dauerte bei der 9jährigen Z. vom 21. XI.
bis 29. XI. 1902, bei der 2jährigen L. vom
13. IX. bis 22. IX. 1903.
Die 3 Kehlkopfdiphtheriefälle — reif für
Tubage oder Tracheotomie — sind glücklich
verlaufen, ohne daß es nötig war, den Tubus
einzulegen oder den Schnitt zu machen.
Es geht daraus hervor, daß man mit den
chirurgischen Maßnahmen, deren große Ge-
fahren ich nicht zu schildern brauche, nicht
zu vorschnell sein darf, wenn auch die
schwerste Beteiligung des Kehlkopfes bei
Erkrankung an Diphtherie durch die charak-
teristischen Symptome genügend bewiesen ist.
Das die Stenose bedingende Moment können
wir durch Heilserum zielbewußt und erfolg-
reich bekämpfen, während die Qualen des
Zustandes durch Opium erträglich gemacht
werden, und die Atmung freier und ergiebiger
wird, bis die Wirkung des Antitoxins ein-
setzt. Von der Opiumtinktur gebe ich so
viel Tropfen, wie das Kind Jahre zählt,
4 mal täglich, event. öfter. Laryngostenotische
Diphtheriefälle habe ich außer den drei seit
dem Jahre 1899 nicht gesehen. Überhaupt
sind Erkrankungen an Diphtherie in der ge-
nannten Zeit in meiner Praxis im Vergleich
mit früheren Jahren selten vorgekommen, und
diese wurden frühzeitig mit Serum behandelt,
wodurch die Weiterverbreitung des Prozesses
auf den Kehlkopf stets verhindert worden
ist. Denen aber, die immer noch nicht an
die Wirksamkeit des Behringschen Heil-
serums glauben wollen, und die ganz beson-
ders gern die trotz Serumbehandlung noch
große Stenosenmortalität als Stütze ihrer
XIX. Jahrgang."!
Oktober 1905. J
Porois, Neurmtthenle junger Ehefrauen.
519
Ansicht anfuhren, dürften meine Beobach-
tungen den Wert des Serums klar vor Augen
führen, denn ein schlagenderer Beweis für
den glänzenden kurativen Effekt des Serums
auf den diphtheritischen Prozeß kann kaum
erbracht werden, wie er durch die Heilung
dieser drei schweren Larynxstenosen geliefert
worden ist.
Die Neurasthenie junger Ehefrauen.
Von
Dr. Moriz Porotz in Budapest.
Es gehört zum „Bon-ton", über sexuelle
Dinge im Salon nicht zu sprechen. Auch
die Ärzte sind Salonmenschen, leider auch,
wenn sie als Ärzte mit den Patienten sprechen.
Es ist eine Pflicht der nötigen Fürsorge,
sich nach allen Umständen des Patienten zu
erkundigen. Je mehr der Arzt von der
Lebensweise und von allen Umständen des
Patienten weiß, um so mehr erweitert sich sein
Gesichtskreis, und um so leichter schwingt er
sich auf die Höhe der Aufgabe und seines
Wissens, auf der er stehen muß, wenn er
dem Patienten helfen will.
Der Arzt kann niemals genug Fragen
an den Patienten richten, um die Gesund-
heitsanlage der Familie und die spezielle
Individualität der betreffenden Person genau
kennen lernen zu können. Auf diesem Ge-
biete macht sich aber eine große Lüeke be-
merkbar.
Falsche Scham, Prüderie seitens des
Arztes, oder ein gewisser „Takt",, den die
Gesellschaft fordert, ist schuld daran, daß
man bei jungen Frauen das sexuelle Leben
nicht zur Sprache bringt.
Und doch ist das sexuelle Leben geschlechts-
reifer Individuen auf den ganzen Organismus
von großer Bedeutung und ist auf Leib und
Seele wenigstens von solcher Wirkung, wie
der Umstand, ob ein "Verwandter väterlicher-
oder mütterlicherseits an Kopfschmerzen ge-
litten hat oder nicht. Wenn wir schon eine
Frage, die in das sexuelle Gebiet gehört, an
die Patientin richten, beschränkt sie sich
höchstens darauf, um festzustellen, wann die
Menstruation begonnen hat, in welchen Inter-
vallen sie aufzutreten pflegt, wie lange sie
anhält, oder man forscht nach Daten, die
auf eine eventuelle Gravidität oder einen
Partus Bezug haben. Doch wir hören in den
meisten Fällen sehr wenig, was für die Be-
handlung einer neurasthenischen jungen Frau
richtunggebend sein könnte.
Den Neurasthenikern eine Wasserkur.
Das ist die allgemeine Parole. Ist der
Patient wohlhabend, so wird ihm im Winter
ein klimatischer Kurort, im Sommer aber,
den materiellen Verhältnissen entsprechend,
ein teurer und weitgelegener Kurort emp-
fohlen. Und damit ist der ärztliche Beistand
erschöpft.
Die geschlechtsreife Frau, die vor der
Ehe kein sexuelles Leben geführt hat und
die nach kurzer Ehe neuras thenisch wird,«
ist durch das sexuelle Leben dem Einflüsse
solch überaus wichtiger Umstände ausgesetzt
gewesen, daß man es nicht ganz unbeachtet
lassen, darf, wenn wir ihr wirklich einen
guten Rat geben wollen. Ich selbst kann
mich nicht ganz dem Einflüsse der Prüderie
entziehen, wenn ich das auf diesem Gebiete
Wissenswerte aufzählen will.
Wir pflegen über die Hygiene der Woh-
nung, der Lebensweise, der Ernährung öffent-
lich zu sprechen, aber über die Hygiene des
sexuellen Lebens zu schweigen zwingt uns
die Prüderie. Darüber spricht höchstens die
Pornographie. Auch ich schweige deshalb
darüber, weil ich voraussetze, daß die Ärzte,
die selbst auf diesem Gebiete die nötigen
Erfahrungen gesammelt haben, dies alles
wissen.
Ich halte es aber nicht für überflüssig,
durch Anführung einiger Fälle die Aufmerk-
samkeit der Ärzte nach gewisser Richtung
zu fesseln und die daraus abzuleitenden
Lehren ihnen ans Herz zu legen.
Vor einigen Jahren schickte ein Frauen-
arzt einen seit zwei Jahren verheirateten
Herrn zu mir mit der Frage, ob nicht bei
ihm Aspermatismus zu finden ist. Die Frau
dieses Mannes ging zum Frauenarzt wegen
der Kinderlosigkeit und da bei ihr keine
Ursache der Unfruchtbarkeit zu entdecken
war, schöpfte er gegen den Mann Ver-
dacht.
Der Verdacht war begründet, aber nicht
von dem fraglichen Gesichtspunkte. Der
Mann litt nämlich wegen rascher Ejakulation
an unvollkommener Potenz. Seine Frau war,
seiner Aussage gemäß, ein wenig sinnlich
angelegt, dabei überaus nervös, litt oft an
Kopfschmerzen, sah schlecht aus und ist in
der Ehe sehr mager geworden.
Von ihrem sexuellen Leben erzählte er,
daß seine Frau wegen rascher Ejakulation
den Höhepunkt des Orgasmus sehr selten
erreichen kann und dies nur dann, wenn sie
aus der natürlichen Lage während des Aktes
in einen Situs inversus kommen.
Diesen Erfahrungen zufolge wählten sie
immer diese Lage, aber das Resultat, die
sexuelle Befriedigung, war doch nur selten
von Belang.
Die Ursache der raschen Ejakulation
fand ich in einer Atonie der Prostata. Ich
40*
520
Porots, Neurasthenie Junger Ehefrauen.
Priwrapeati
L Monatsh«
ntiach*
Monatsheft ä.
behandelte sie (Prostatafaradißierung) l) und
der Mann kam in Ordnung. Die Frau sah
ich niemals, und wa9 ich über sie weiß, das
hörte ich von ihrem Arzte und ihrem Manne.
Kaum hatte sich die Potenz des Mannes
gebessert, verbot ich ihm, den Akt in un-
natürlicher Lage vorzunehmen. Ich ließ ihn
systematisch, in regelmäßigen Intervallen
koitieren. Die Frau erreichte immer öfter
den Orgasmus, ihr Zustand besserte sich, sie
hatte seltener Kopfschmerzen, und nach mehr-
wöchentlicher Behandlung ihres Mannes,
während welcher Zeit die Frau Wasserkur
— bisher vergeblich wiederholt — genommen
hat, wurde auch die Frau ganz gesund; sie
nahm an Körpergewicht zu und l'/s Jahre
später war sie um 14 Kilo schwerer und ist
seither gesund.
In einem anderen Falle erzählte auf meine
Fragen der an raschen Ejakulationen leidende
Mann unter anderem, seine Frau sei „sehr
kalter Natur"! Sie sei sehr nervös, leide
oft an Kopfschmerzen. Überdies machte er
auch die Wahrnehmung, daß sie nach dem
Goitus immer krank ist. Wenn auch sie
den Höhepunkt des Orgasmus erreicht, fühlt
sie sich am anderen Tage recht wohl. Der
Orgasmus trat aber nur einige Tage vor der
Menstruation auf und ist nicht leicht zu er-
reichen. Um diese Zeit nimmt auch der
Mann vor dem Akt die sexuelle Gereiztheit
wahr; er nimmt wahrscheinlich an der Cli-
toris vor dem Akt mutuale Friktionen vor.
Trotz der vollkommensten Seelenharmonie
und der glücklichsten Hingebung kann sie
sonst den Orgasmus nicht erreichen. Die
erwähnten Manipulationen verbot ich ihm.
Mit der Besserung des Zustandes des Mannes
trat auch bei der Frau der Orgasmus öfter
auf. Nach mehr wöchentlicher Behandlung
meldete mir der Mann, er staune, „welche
Glückseligkeit sich auf dem Gesichte seiner
Frau spiegele". Sie fühle sich wohler, sie
nehme an Körpergewicht zu und lege eine
solch hingebungsvolle Zärtlichkeit an den
Tag, wie er sie in den Flitterwochen — es
war eine Liebesheirat — nicht wahrgenommen
hat. Daß man die Neurasthenie solcher
Frauen nicht so leicht kurieren kann, ist
klar. Die Insulte wiederholen sich, und bei
der Frau entwickelt sich von neuem die
Neurasthenie.
Eine solche Patientin quält den Arzt und
auch ihre Umgebung, aber helfen können sie
ihr nicht. Kein Heilverfahren hat einen
Erfolg, denn der Mann müßte eigentlich be-
handelt werden.
Eine solche Frau hat bei geschwächter
Willenskraft eine gesteigerte Libido. Diese
beiden Eigenschaften sind auch von mora-
lischem Gesichtspunkte gefährlich.
Auf solche Umstände ist auch der Fall
zurückzuführen, von dem man mir erzählt
hat. Eine im höchsten Maße erregte und
desperate junge Frau ließ ihren Arzt rufen
und gestand ihm, daß sie nicht genug Willens-
kraft gehabt habe, einem Verführer wider-
stehen zu können. Wenn ein solcher Fehl-
tritt den gewünschten Orgasmus hervorzu-
rufen imstande ist, dann ist das weitere
Schicksal des Ehelebens besiegelt. Dies er-
wähne ich nur dem moralischen Gesichts-
punkte zu Liebe.
Diese traurigen Folgen wären zu ver-
meiden, wenn die Ärzte, frei von jeder
Prüderie und gestützt auf ernstes Wissen,
sich auch für das sexuelle Leben interessieren
würden.
Meinem Spezial fache zufolge kann ich
nach dieser Richtung nur wenig Erfahrungen
sammeln. Es unterliegt keinem Zweifel, daß
die Nervenpathologen, und namentlich die
Hausärzte, wenn sie auf diese Umstände
achten^ wertvolle Erfahrungen sammeln könnten.
Ich gestehe aufrichtig, daß es mir schwer
fiel, die intimsten Geheimnisse des Ehelebens
zu enthüllen. Ich konnte mich von dem
Einflüsse des moralischen „Es schickt sich
nicht" losmachen. Nur das gab mir den
Mut, daß es ja Aufgabe des Arztes ist,
schmerzhafte Krankheiten auch mit einer
schmerzhaften Kur zu beseitigen. Und so
bleibt es auch, wenn die Schmerzen der Arzt
selbst zu, ertragen hat. Aber wieder die
Überzeugung, daß ich so meinen kranken
Mitmenschen helfen und den Ärzten einen
richtigen Weg zeigen kann, verleiht mir die
Kraft, daß die scheinbare Salonunmoralität doch
nur der Moral Dienste leistet.
*) iD&trumeDte bei Louis Löwenstein, Berlin.
(Aus der mährischen Landeskraokenanstalt In Olmflts.)
Zur therapeutischen und prophylak-
tischen Wirkung: des Formaldehyds bei
inneren Krankheiten.
Von
Med. univ. Dr. Jakob Zwillinger.
Angeregt durch die günstigen Erfolge,
welche Dr. Paul Rosenberg in Berlin mit
Formamin ttabletten bei inneren Krankheiten
erzielte, haben wir im Laufe der letzten
4 Monate dieses Mittel in vielen Fällen an
der hiesigen internen Abteilung in Anwen-
dung gebracht. Der hierbei beobachtete
Erfolg war meist so günstig, daß eine Publi-
kation desselben gerechtfertigt erscheint.
XIX. Jahr fang.")
Oktober 1905. J
Zwilling« r, Formaldehyd bei inneren Krankheiten.
621
Formaldehyd wurde bei Anginen, Blasen-
katarrhen, Erysipel, Scharlach und Diphtherie
therapeutisch verwendet, bei Scharlach auch
als Prophylacticum erprobt; wir verabreichten
es in Form der 1 Zentigramm Formaldehyd
enthaltenden, in den Apotheken erhältlichen
Formaminttabletten.
Im nachfolgenden soll nun über die
Wirkungsweise dieses zur äußeren Desinfektion
schon seit langem benutzten und anerkannten,
bei inneren Erkrankungen aber noch wenig
erprobten Mittels berichtet werden.
Bei Angina catarrhalis (in 3 Fällen) und
Angina lacunaris (in 4 Fällen) zeigte sich
schon nach Gebrauch von 8 — 10 Tabletten
ein Rückgehen der Entzündungserscheinungen.
Fieber, Schwellung und Schmerz haftigkeit
ließen bald nach, die Schluckbeschwerden
waren am 2. Tage schon so gering, daß
Speisen fester Konsistenz ohne Schwierigkeit
genossen werden konnten.
In keinem Falle kam es zur Entwicklung
einer phlegmonösen Angina.
Bei Tabakrauchern wurde die katarrha-
lische Angina sowie die Pharyngitis günstig
beeinflußt; das Trockenheitsgefühl, Kratzen
im Rachen sowie die zähe Schleimsekretion
ließen — namentlich bei akuten Exazerba-
tionen — rasch nach.
Es sei hier ausdrücklich betont, daß bei
den mit Formamint behandelten Anginen
weder Eispillen, adstringierende Gurgel-
wässer, Umschläge noch sonst welche thera-
peutische Maßnahmen in Anwendung kamen;
der rasch erzielte Erfolg in der Behandlung
rührt daher zweifellos von der günstigen
Einwirkung des Formamints auf die er-
krankten Rachenorgane her.
Der Erfolg ist leicht dadurch erklärlich,
daß beim Auflosen der Formaminttabletten
im Mundspeichel das Fornfaldehyd frei wird
und so direkt eine desinfizierende, bakteri-
zide und antiphlogistische Wirkung entfalten
kann.
Je großer der im Munde zur Auflösung
gelangende Teil der Pastille ist, desto größer
ist natürlich auch die Menge des wirkenden
Bestandteiles. Es ist daher von besonderer
Wichtigkeit, die Anginakranken anzuweisen,
die Formaminttabletten im Munde langsam
zergehen zu lassen und nicht zu kauen;
dieser Forderung fügen sich die Kranken
sehr gerne, da die Tabletten wegen ihres
Gehaltes an Zucker, Menthol, Zitronensäure
und anderen Korrigentien angenehm schmecken,
daher auch von Kindern gerne genommen
werden.
Ebenso günstig wie in den genannten
Fällen wirkte Formamint auch bei Schar lach-
anginen und bewirkte meist am 3. — 4. Tage
einen kritischen Abfall der Temperatur,
während sich ein wesentlicher Einfluß des
Mittels auf den weiteren Verlauf des Schar-
lachs in unseren Fällen nicht mit Sicherheit
konstatieren ließ.
Die hiermit behandelten scharlachkranken
Kinder standen durchweg im Alter von
5—10 Jnhren. Im Fieberstadium erhielten
sie zunächst stündlich eine Tablette und,
nachdem 5 Stück verabreicht worden waren,
zweistündlich 1 Tablette, so lange, bis die
Temperatur normal wurde, dann noch bis
zum 8. Tage der Erkrankung 3 stündlich
1 Stück.
In einem Falle — bei einem 8jährigen
Mädchen — trat am 3. Tage das Scharlach-
exanthem ohne Temperatursteigerung auf:
diese Erscheinung als Formaldehydwirkung
zu betrachten, wäre aber gewagt, da bekannt-
lich Scharlachexantheme ohne Temperatur-
steigerung auch sonst gelegentlich vorkommen.
Weiter verwendeten wir das Präparat
therapeutisch in 10 Fällen von Diphtherie.
In den ersten Fällen gaben wir vorsichts-
halber auch Seruminjektionen, ersetzten je-
doch das Gurgeln mit Chlorkali durch Dar-
reichung von Form amintp astillen. Schon
nach verhältnismäßig kurzer ^eit kam es
zur Abstoßung der diphtheri tischen Mem-
branen ; die Schwellung im Rachenraum ging
zurück, die Temperatur fiel zur Norm ab;
die Änderung war eine andauernde, in keinem
Falle kam es zu einem Weiterschreiten des
Prozesses in die tieferen Luftwege.
Der günstige Einfluß des Formaldehyds
auf den Heilungsverlauf der Diphtherie veran-
laßte uns dann, in einigen leichteren Fällen
von Diphtherie von der Seruminjektion ab-
zusehen und uns auf die Formamintbehand-
lung zu beschränken. Die Dosierung war
die bei Scharlach anginen erwähnte. In allen
Fällen trat im Verlauf kurzer Zeit Besserung
und Heilung ein; bei keinem waren post-
diphtherische Lähmungen oder sonstige Folgen
zu beobachten.
Die Diphtheriekranken waren meist kleine
Kinder, welche naturgemäß nicht gurgeln
können ; aber die Formamintpastillen als
„Bonbons" nahmen sie sehr gerne.
Wir sind fest überzeugt, daß dieses
Präparat in solchen Fällen einen sehr guten
Ersatz darstellt für desinfizierende Gurgel-
wässer.
Zur therapeutischen Verwendung des
Mittels bei Cystitis und Erysipel veran-
laßte uns der Umstand, daß Rosenberg den
„Nachweis freien Formaldehyds im Blute
nach interner Anwendung" einwandfrei er-
bracht hat; das Medikament wird also re-
sorbiert und gelangt in den Blutkreislauf.
522
Zwilling«r, Formaldfthyd bei inneren Krankheiten.
rTherftpei
L Monate!
Monatshefte.
Derselbe Autor berichtet auch, daß schon
ein Aufenthalt von einer Minute in einem
mit Formaldehyddämpfen zwecks Desinfektion
erfüllten Räume genügt, um Formaldehyd
im Harne der betreffenden Personen nach-
weisen zu können.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt,
daß der Nachweis des Formaldehyds im
Harn mittels des Leb bin sehen Reagens
geschieht.
1 Teil Natronlauge, 2 Teile Wasser,
0,5 Proz. Resorcinum purum werden mit dem
gleichen Yolum eines formaldehydhaltigen
Harns eine halbe Stunde gekocht, wobei der
Urin sich rot färbt.
Wir verwendeten also Formaminttabletten
weiter in 5 Fällen von Cystitis, wovon
2 nach akuter Gonorrhöe entstanden waren,
3 im Anschluß an eine spinale Blasenlähmung
sich entwickelt hatten. Von den erst-
genannten war der eine, welcher eine 30jäh-
rige Frau betraf, nach 14 Tagen vollkommen
geheilt, die 2. Patientin verließ leider, als
sich nach wenigen Tagen keine Besserung
zeigte, auf eigenes Verlangen ungeheilt die
Anstalt.
Von den letzteren 3 Fällen waren 2
durch viele Wochen nach unseren bisherigen
Methoden — Urotropin, Ausspülungen etc. —
erfolglos behandelt worden; wir verabreichten
nun zweistündlich 1 Formaminttablette und
konnten nach kaum 14tägigem Gebrauch
konstatieren, daß der früher alkalische Urin
schwach sauer reagierte, daß der früher trübe
Urin jetzt klar war, und die subjektiven
Beschwerden nachgelassen hatten.
Im letzten Falle verwendeten wir sofort
Formaminttabletten, anfangs stündlich, später
2-, dann 4 stündlich; die Cystitis war nach
3 Wochen geheilt.
Wir gaben im Anschluß daran durch
8 Tage noch 4 stündlich 1 Tablette und beob-
achteten trotz andauernder Lähmungserschei-
nungen und, obwohl Patient aus äußeren
Gründen sich selbst den Katheter einführte,
keinen Blasenkatarrh mehr.
Ferner verwendeten wir es in 2 Fällen
von Erysipel, u. zw. bei einem 9jährigen
Mädchen, wo sich von einer tuberkulösen
Fistel in inguine ein Erysipel entwickelte;
nach bereits 3tägiger Dauer des Rotlaufs
begannen wir mit der Formamin tbehandlung;
die Temperatur fiel nun rasch ab, das Erysipel
begrenzte sich scharf, und die Abschuppung
begann.
In einem leichten Falle von Gesichts-
erysipel, wo stündlich eine Tablette verab-
reicht wurde, trat schon em 3. Tage Heilung
ein. Dies sind unsere Erfahrungen mit
Formamint in therapeutischer Hinsicht.
Sehr wichtig scheint es uns, darauf hin-
zuweisen, daß Formamint auch in prophylak-
tischer Hinsicht ein nicht zu unterschätzendes
Medikament darstellt. Als Beweis dafür
will ich folgende Beobachtung mitteilen.
In der ersten Hälfte April d. Js. ent-
stand auf einer überfüllten Abteilung unseres
Krankenhauses eine Scharlachepidemie, welche
in wenigen Tagen 6 Opfer forderte. Darauf
wurden die Krankenzimmer daselbst sofort
gründlich desinfiziert, und auf unseren Vor-
schlag erhielten die vom Scharlach bis dahin
verschont Gebliebenen (Kinder und Frauen)
durch 3 — 4 Tage zweistündlich je eine
Formamin tp astille; keiner von diesen Patienten
ist später an Scharlach erkrankt.
Eine ebensolche Beobachtung wurde später
an einer anderen, ebenfalls überfüllten Ab-
teilung gemacht. Ein 11 jähriger Knabe,
der mit 2 Kindern in einem Bette unter-
gebracht war, erkrankte am 23. V. 1. Js.
an Scharlach. Sämtliche Patienten des be-
treffenden Zimmers erhielten sofort durch
4 Tage, die zwei Bettgenossen des erkrankten
Knaben durch 8 Tage 2 stündlich je eine
Formaminttablette. Keiner dieser Patienten
ist bisher (Mitte Juni) an Scharlach erkrankt.
Auch in ambulatorisch behandelten Fällen
konnten wir gleich günstige Erfolge kon-
statieren. Nachteilige Wirkungen des Form-
aldehyds wie Nierenreizung oder Vergiftungs-
symptome fehlten vollständig.
Die gemachten Beobachtungen berechtigen
uns zu dem Schluß, daß Formamint nicht
nur therapeutisch, sondern auch prophylak-
tisch großen Wert besitzt, und wir glauben,
daß es bald einen hervorragenden Platz in
unserem Arzneischatze einnehmen wird.
Literatur:
Dr. Otto Hesse: Formaldehyd.
Dr. Paul Rosenberg: Nachweis dos Form-
aldehyds im Blute nach interner Anwenden?.
Derselbe: Über den Wert des Formaldehyds
für interne Erkrankungen.
Über den quantitativen Nachweis
einer organischen Phosphorverbindung
in Traubenkernen und Naturweinen.
Von
J. Weirich und Q. Orilieb.
Mit der Untersuchung von Weinen be-
schäftigt, die bei der Krankenbehandlung
Verwendung finden können, fiel uns ein
Wein auf, der einen sehr hohen Phosphor-
gehalt aufwies. Dieser Wein, ein Süßwein,
garantiert ohne Zusätze aus Trauben der
Insel Thyra gekeltert, enthielt 0,095 °/o P*Os.
Ofrtobw KwSf '] W* ! r * c h imd °*tH««>» Nichweli eln«r organisch«! Phosphor Verbindung.
523
Ein älterer Jahrgang desselben Weines hatte
bei der damaligen Untersuchung 0,092 P908
ergeben. Vergleichsweise sei hier der Phos-
phorgehalt anderer Krankenweine angegeben :
Ein Wein aus Trauben grie-
chischen Ursprungs enthielt 0,053 °,<> P*05
Malaga weine enthalten. . . 0,04—0,049 -
Tokaierweine enthalten . . 0,02—0,06 -
Nach Fischer, Jahresbericht
des U.-A. der Stadt Bres-
lau, enthalten herbe Tokaier 0,023—0,041 - -
Nachdem nun Schulze und Likiernik,
ferner Schlagdenhaufen und Reeb, in
neuerer Zeit auch Postern ak die Anwesen-
heit von Lecithinen oder anderen organi-
schen Phosphorverbindungen in den Samen
vieler Pflanzen nachgewiesen hatten, so
stellte sich uns die Frage auf, ob nicht in
den Kernen reifer Trauben sich ebenfalls
organische Phosphorverbindungen vorfinden,
von welchen dann ein Teil durch die Gärung
und den Alkoholgehalt des Weines in diesen
mit übergehe. "Wir wurden durch den Ver-
gleich vieler Weinanalysen in unserer An-
nahme bestärkt , da mit zunehmendem
Alkoholgehalt gewöhnlich der Phosphor- und
oft auch der Stickstoffgehalt zunimmt. Wir
versuchten nun, mit jenem an Phosphor so
außergewöhnlich reichen Thyraweine obige
Frage zu lösen.
Ehe wir zur Untersuchung des Weines
selbst schritten, wurden die Kerne der zu
diesem Weine benutzten, nicht vergorenen
Trauben auf ihren Gehalt an unorganischem
und organischem Phosphor (Lecithin) unter-
sucht. Zu diesem Zwecke wurden sorg-
fältig gereinigte und getrocknete Trauben-
kerne nach der Schulzeschen Methode1) mit
Äther, Petroläther und schließlich mit ab-
solutem Alkohol bei einer Temperatur von
45 — 50° C. extrahiert. Im Gegensatze zu
den Angaben von Schulze konnten wir
jedoch in dem als Öl und Fettlösungsmittel
angewendeten Äther und Petroläther nach
der Extraktion ebenfalls Phosphor nach-
weisen.
Bei 2,51 °/0 Mineralbestandteilen ent-
hielten die Kerne 0,5475 g Mga P3 07 =
0,3488 g P, 06, als Gesamtphosphor in 100 g.
Die von der Lecithinextraktion zurück-
gebliebenen Kerne enthielten noch 0,5035 °/0
Mg3 P9 07 = 0,3210 °/0 Pa 0§. Berechnet
man die Differenz , so mußten 0,044 g
•Mg, P9 07 im veraschten Äther- und Alkohol-
extrakt als Rest des organischen Phosphors
gefunden werden. In Wirklichkeit wurden
im Extrakt von 100 g Kernen 0,0397 g
Mga Pj 07 gefunden, wovon auf das alkoho-
') Zeitschrift für physiologische Chemie 1891,
pag. 406.
lische Extrakt 0,0347, auf des Ätherextrakt
0,005 Mga P, 07 kommen.
Rechnet man diese gefundenen Werte in
Lecithin (Stearinsäure- oder Ölsäure-Lecithin)
um, so ergibt sich als Gesamtlecithingehalt
in 100 g Kernen 0,2854 g.
Hiervon sind durch Alkohol
extrahiert 0,2498 g
'durch Äther, Petroläther . . 0,0360 gf)
Nach der Methode von Schlagden-
haufen und Reeb, die das Untersuchungs-
material mit siedendem Petroläther und
Alkohol im Extraktionsapparat auf dem
Wasserbade ausziehen, wurden kleinere Re-
sultate an organischem Phosphor gefunden.
Es ist wahrscheinlich, daß ein Teil der or-
ganischen Verbindung durch die 50° über-
steigende Temperatur bei dieser Behandlung
zersetzt wird.
Nachdem wir also die Anwesenheit einer
organischen Phosphorverbindung in den
Kernen nachgewiesen hatten, traten wir an
die Beantwortung der Frage heran, ob nicht
ein Teil dieser organischen Phosphorver-
bindung, die wir vorläufig, der Kürze halber,
mit dem Namen Lecithin bezeichnen wollen
— eine weitere Begründung hierzu soll
weiter unten angeführt werden — in den
Wein übergehe. Zu diesem f Zwecke wurden
500 cem des 0,095 °/0 P9 05 enthaltenden
Thyraweines in einer flachen Schale auf
dem Dampf bade bei einer 50° nicht über-
steigenden Temperatur bis zur Extraktdicke
eingedampft, dann dieses Extrakt mit ge-
waschenem Seesande zu Pulver zerrieben
und schließlich auf Glasplatten im Trocken-
schrank wieder bei 50° getrocknet, bis das
Pulver so trocken war, daß es sich unter
dem Drucke eines Pistells im Mörser nicht
mehr ballte.
Vor dem Vermengen des Seesandes mit
dem Extrakte des Weines ist ersterer auch
auf 50° zu erwärmen, da das Extrakt beim
Erkalten leicht Klumpen bildet, die sehr
schwer zu verteilen und für das Extraktions-
mittel dann undurchlässig sind. Das mit
Seesand vermischte pulverförmige Extrakt
wurde dann mit immer neuen Mengen auf
45 — 50° erwärmten absoluten Alkohols in
einer Porzellanschale so lange angerieben,
bis die letzten Portionen Alkohol nichts
mehr lösten3).
*) Zu bemerken ist an dieser Stelle, daß diese
Bestimmungen des Lecithins in den Trauben-
kernen auf unsere Veranlassung ebenfalls durch
Herrn E. Lütt aasgeführt worden. Die gefundenen
Resultate stimmten vollständig mit den hier an-
gegebenen überein.
■) Vor dem Abgießen des Alkohols ließen wir
das Extrakt jedesmal gut absetzen.
524
Weir Ich und Ortlieb, Nachweis einer organ lachen Photphocrerbindunf.
rTherapeutiech«
L Monatshefte.
Es blieb dann ein im Wasser mit der
Farbe"[des Weines klar losliches Extrakt
übrig. Der die gelösten Stoffe enthaltende
absolute Alkohol wurde einige Tage stehen
gelassen, klar abfiltriert, der Alkohol auf dem
Wasserbade abgedampft, das Extrakt schließ-
lich in eine Platinschale gebracht, verkohlt
und mit Natriumkarbonat und Kaliumnitrat
geschmolzen, nach der bekannten Methode
mit verdünnter Salpetersäure ausgelaugt und
in der Lösung die Phosphate mit Ammonium-
molybdatlösung gefällt und der Phosphor
schließlich als Magnesiumpyrophosphat ge-
wogen. Aus letzterem wurde das ent-
sprechende Lecithinquantum berechnet. Dieser
Versuch wurde viermal wiederholt mit folgen-
den Resultaten:
Versuch I.
500 ccm Wein bei 40° eingedampft.
Extrakt mit absolutem Alkohol extrahiert.
Resultat = 0,0245 Mg, P, 07.
Versuch II.
500 ccm Wein mit Kreide neutralisiert, ein-
gedampft.
Bei diesem Versuche stieg die Temperatur
während kurzer Zeit auf zirka 80°. Extrakt be-
handelt wie bei I. Resultat = 0,0 Mg, P, 0T.
Versuch III.
500 ccm Wein im Vakuum eingedampft
Temperatur stieg auf 55°, sonst wie bei I.
Resultat = 0,0240 Mg2 P, 07.
Versuch IV.
500 ccm Wein behandelt wie bei I. Resultat
= 0,0248 Mg, P, Or.
Der Ph 08p borgehalt in Lecithin umgerechnet
gibt folgende Resultate:
Versuch I pro Liter 0,3528 g Lecithin,
- II - - 0,0 -
III - - 03456 -
IV - - 0,3571 -
Ein fünfter Versuch wurde angestellt,
um das Löslich k ei ts vermögen des Wein-
lecithins in Äther und Chloroform festzu-
stellen. Zu diesem Zwecke wurde aus
500 ccm Wein der Alkohol im Vakuum ab-
destilliert. Der etwas trübe4) Rückstand
wurde dann zunächst mit Äther und nach-
her mit Chloroform ausgeschüttelt, wobei er
sich wieder aufhellte.
Beide Aussen üttelungsflüssigkeiten blieben
vollständig farblos und klar, färbten sich
jedoch beim Erwärmen und hinterließen beim
Abdampfen einen braunen Rückstand, in
welchem Phosphor nachweisbar war. Es
hatte also auch hier wie bei den Kernen
eine teilweise Lösung der organischen Phos-
phorverbindung in Äther und Chloroform
stattgefunden.
4) Ausscheidung von Lecithin, das in Wasser
unlöslich ist.
Welche Fettsäure-Radikale sich in diesem
Pflanzenlecithin befinden, ist nicht festgestellt
worden, handelte es sich doch in dieser
Arbeit besonders darum, nachzuweisen, daß
in alkoholreichen Naturweinen aus kernen-
reichen Trauben organisch gebundener Phos-
phor vorhanden sein kann und im unter-
suchten Weine vorhanden war. Auch läßt
sich der Gedanke nicht ausschließen, daß
vielleicht ein Teil des Phosphors als Anhy-
drooxymethylendiphosphorsäure, deren Vor-
kommen Posternak kürzlich in Pflanzen
und Pflanzensamen nachwies *), vorhanden
sei. Doch ist dies weniger wahrscheinlich:
Wenn wir, wie oben schon angedeutet, diese
organische Verbindung des Phosphors mit
Lecithin identifizieren zu dürfen glaubten,
so gab uns hierzu der mit zu- und ab-
nehmendem Phosphorgehalt sinkende und
steigende Stick stoffgeh alt der Weinextrakte
Veranlassung.
Ein griechischer Wein mit
0,0585 % Pi 05 enthalt . . 0,025 % Stickstoff,
Wein aus Thy ratrauben mit
0,092 % P, 05 enthält . . 0,05 -
Wein aus Thy ratrauben mit
0,095 % P, 06 enthalt . . 0,057
Außerdem ist mit einem Quantum Trauben
der Versuch gemacht worden, vor dem Gären
die Kerne zu zerhacken, um festzustellen, ob
hierdurch vielleicht eine Erhöhung des
Phosphorgehalts im fertigen Weine zu er-
zielen sei, was nur in geringem Grade ein-
trat, da der Phosphorgehalt sich auf
0,0966 °/0 erhöhte. Der Stickstoffgehalt je-
doch hielt auch hier gleichen Schritt und
erhöhte sich auf 0,0596 °/0.
Hieraus darf wohl geschlossen werden,
daß dieses gleichmäßige Steigen und Sinken
des Phosphors und Stickstoffs auf Lecithin
hinweist.
Durch die Feststellung der Anwesenheit
von Lecithin im Weine, welches in alkohol-
ärmeren Weinen wohl nur in ganz kleinen
Quantitäten oder gar nicht, in alkohol-
stärkeren Weinen dagegen wie in dem hier
untersuchten mit 15,36 Volumprozenten
Alkohol in schon ansehnlichem Maße vor-
handen ist, läßt sich auch die seit alters her
bekannte uod bewährte kräftigende Wirkung
des Weines auf den menschlichen Organis-
mus erklären und als berechtigt ansehen.
Dank der Anwesenheit des Lecithins, dessen
physiologisch wertvolle Wirkungen ja be-
kannt sind, wird bei der Krankenbehand-
lung in den Fällen, in denen alkoholische
Anregungsmittel indiziert sind, starken natür-
lichen Südweinen vor Destillationsprodukten
5) Comptes rendus 1903, Tome 137, No. 6.
XIX. Jahrgang. 1
Oktober 19u6. J
Weirieh und Ortl!«b, Nachwelt einer organischen Phoephorverblndung.
525
(Kognak, Arrak, Rum u. 8. w.) wohl der
Vorzug gegeben werden müssen. Bei Be-
urteilung von Krankenweinen ist also
Tor allem der Phosphorsäuregehalt
zu prüfen und die Anwesenheit -von
organisch gebundenem Phosphor fest-
zustellen. In Weinen, denen ein großer
Teil des Alkohols erst nach der Gärung
und Entfernung von den Trauben künstlich
zugesetzt wird, wie dies bei der Sherry-,
Malaga-, Porto- und oft auch bei der
Tokaierbehandlung geschieht , wird wohl
kein Lecithin oder sehr wenig vorkommen.
Die Gesamtphosphorsäurebestimmung wird
dabei schon Aufschluß geben, da an Phos-
phorsäure arme Weine neben dem un-
organischen Phosphor kaum noch Lecithin
enthalten können.
Wenn das Vorkommen von organisch ge-
bundenem Phosphor in starken Südweinen
sich als allgemein herausstellen sollte, so
könnte der Nachweis desselben zugleich
Aufschluß auf Naturreinheit geben. Und
sollte es sich bestätigen, daß Lecithin in
sämtlichen Naturweinen sich befindet, so sei
für diesen Fall hier noch eine letzte und
nicht unwichtige Schlußfolgerung angeknüpft.
Es werden seit längerer Zeit schon ver-
schiedene Behandlungen vorgeschrieben, um
Wein vor Krankheiten zu schützen und
haltbarer zu machen. Dazu gehören das
Pasteurisieren des Weines und das Erhitzen
des Mostes bei nachheriger Zugabe von
neuer Hefe 6). Beides sind sicherlich gute
Methoden, um die schädlichen Pilze, Ur-
sachen der bekanntesten Weinkrankheiten,
zu zerstören oder am Weiterentwickeln zu
verhindern. Sie scheinen rationell und an-
gezeigt. Sie sind aber auch Methoden, die
sicher den Hauptbestandteil des
Weines, das Lecithin, zerstören, das
schon bei wenig über 50° sich zersetzt. Wir
möchten hier im Interesse der physiologi-
schen Wirkung des Weines vor diesen
Manipulationen, so unschuldig sie auch er-
scheinen mögen, warnen, denn durch sie
wird der Wein gerade seiner wohltuenden
Eigenschaften beraubt, und es bleibt ein Ge-
misch übrig, dem, so sehr es auch dem
Gaumen des Konsumenten munden mag, der
in dieser Arbeit nachgewiesene physiologisch
aktive Stoff, das Pflanzenlecithin, fehlt,
und das den Namen „Weina im rein wissen-
schaftlichen Sinne des Wortes nicht mehr
verdient.
Fehlt aber dem Weine diese organische
Phosphorverbindung, so sind, so seltsam sie
auch scheinen mögen, die Behauptungen der
6) Rosenstiehlsches Verfahren.
Alkoholfeinde und auch berühmter Physio-
logen richtig, wenn sie sagen, daß schließ-
lich Wein keine andere Wirkung hervor-
rufen kann als ein entsprechend verdünnter
Alkohol. Und fürwahr, entziehen wir dem
Weine das Lecithin, welches ist dann der
übrigbleibende Stoff, dem eine kräftigende
und stärkende Wirkung beigemessen werden
könne, eine Wirkung, die doch gewiß nicht
aus Irrtum oder bloßem Wahne seit Jahr-
hunderten so hoch gehalten, anerkannt und
geschätzt wurde?
Auch vom Alkohol oder den Ätherarten
kann eine solche Wirkung .nicht herkommen,
beweisen doch all die Arbeiten neuerer Zeit,
daß jene dem Körper eher schädlich sind.
Erhalten wir deshalb dem Weine seine
Bestandteile, und er wird der Menschheit,
auch künftighin noch, als ein wahres Nah-
rungs- und Kräftigungsmittel große und
sichere Dienste leisten.
Zur Frage
der paroxysmalen Hämoglobinurie.
Von
Dr. Conr. Schindler,
gew. 1. AtstatensarEt an der med. Klinik der Universität Bern.
Das Referat von Hrn. Eschle (Sinsheim)
über die „Beiträge zur Lehre von der paroxys-
malen Kältehämogiobinurie" von J. Donath
in der Oktobernummer der Therap. Monatsh,
1904 gibt mir Veranlassung zu einigen er-
weiternden Bemerkungen.
Die Frage der paroxysmalen Hämoglobin-
urie ist in letzter Zeit experimentell beleuchtet
worden durch eine Arbeit von J. Camus1),
der auf Grund seiner Untersuchungen zu
wesentlich von den bisherigen Annahmen
über die Herkunft des ausgeschiedenen Hämo-
globins abweichenden Folgerungen gelangt.
Camus sieht die Quelle des in den Harn
übergehenden Hämoglobins in den Muskeln.
Die paroxysmale Hämoglobinurie des Menschen
zeigt klinisch große Ähnlichkeit mit der u. a.
von Lucet eingehend beschriebenen Hämo-
globinurie der Pferde, wo stets in den schweren
Fällen ausgeprägte anatomische Veränderungen
im Muskelgewebe nachzuweisen sind. Fröhner
hat die Vermutung ausgesprochen, das Hämo-
globin im Urin mochte diesen zerfallenden
Muskelfasern (mit reaktiven entzündlichen
Veränderungen) entstammen.
Camus' Versuche an Hunden stellen nun
fest (was z. T. schon aus Untersuchungen
t) Camus, Les Hemoglobinuries. Paris chez
C. Naud 1903.
526
Schindler, Zur Frage der paroxysmalen Hämoglobinurie.
rher&petitfeeb«
Monatshefte.
anderer Autoren hervorgegangen war), daß
die Annahme einer in tra vaskulären Hämolyse
der Schwierigkeit begegnet, daß das Plasma
bei der paroxysmalen Hämoglobinurie häufig
keine sichtbare Färbung zeigt — weswegen
auch Rosenbach die Hämolyse in die Nieren
verlegt hat — , während doch andererseits
selbst größere Mengen intravenös eingebrach-
ten Blutkörperchenhämoglobins die das Plasma
deutlich rotlich tingieren, im Urin nicht
wieder zum Vorschein kommen, sondern im
Korper, und zwar vornehmlich im Lymph-
system, zurückbehalten werden, und eine Hämo-
globinurie erst durch Injektion einer Hämo-
globinmenge zu erzielen ist, die dem Plasma
ein Titre von ca. 0,23 (auf 100 Plasma) ver-
leiht. Dagegen tritt der Farbstoff der roten
Muskeln mit größter Leichtigkeit in den
Harn über, werde er nun in die Blutbahn
injiziert oder im Korper selbst durch Schädi-
gung der Muskelfasern ausgelaugt. Die im
Blut zirkulierende Quantität braucht nicht
einmal genügend zu sein, um sich in einer
Färbung des Plasmas zu verraten. Beim
Durchgang durch die Nieren erfährt das
Hämoglobin eine Konzentration; das Hämo-
globin titre des Harns ist weit höher als das des
Plasmas ; höher selbst als das der eingeführten
Lösung. Trotzdem bleibt auch hier ein ge-
wisser Teil des injizierten Hgb im Körper
zurück.
Der experimentellen Hämoglobinurie geht
meist eine Albuminurie voraus; bei intra-
venöser Injektion sowohl wie bei Schädigung
der Muskelsubstanz durch Einspritzung von
destilliertem Wasser oder Glyzerin und ent-
sprechend der klinischen Beobachtung einer
Albuminurie als Äquivalent der leichtesten
Grade von Hämoglobinurie kann sie bei sehr
geringer Injektionsmenge allein auftreten.
Den Beweis, daß wirklich das Muskel-
hämoglobin die Niere passiert und ausge-
schieden wird, so daß nicht etwa bloß unter
der Wirkung des Muskel färb Stoffs Blutkörper-
chen in den Gefäßen oder in der Niere Hgb
zur Elimination abgeben, glaubt Camus
durch folgendes erbracht:
Ein durch Tierkohle entfärbtes Extrakt
von Muskelsubstanz verändert den Harn nicht,
auch dann nicht, wenn ihm globuläres Hämo-
globin zugefügt wird (natürlich in einer
Quantität, die die oben genannte Retentions-
grenze nicht überschreitet).
Bei gleichzeitiger Injektion von musku-
lärem und globulärem Hgb gelangt nicht mehr
Hämoglobin zur Ausscheidung im Harn, als
wenn ersteres allein eingeführt wird.
Die Beweiskette sollte sich hier unschwer
noch etwas enger schließen lassen durch
bloße Wiederholung des Versuchs mit dem
durch den Urin ausgeschiedenen Hämoglobin.
Ist dieses wirklich dem Muskelfarbstoff iden-
tisch, so muß es wohl auch dessen Fähigkeit
behalten haben, seinerseits mit größerer Leich-
tigkeit eine Hämoglobinurie zu bewirken als
globuläres Hgb.
Bei der Injektion von destilliertem Wasser
oder Glyzerin in die Muskulatur traten regel-
mäßig Kontrakturen und fibrilläre Zuckungen
auf. In diesen, deren Erzeugung durch bloß
lokale Abkühlung einer Extremität nicht ge-
lingen wollte, erblickt Camus das Bindeglied
zwischen der experimentellen und der klini-
schen, der Kälten ämoglobinurie. Nicht die
direkte Einwirkung niedriger Temperatur
ist es, was den Muskel in seinem Geföge
schädigt und seinen Farbstoff ins Blut über-
treten läßt, sondern die von der Hautober-
fläche aus reflektorisch ausgelöste heftige und
die Muskelfaser erschöpfende Zitterbewegung
beim persönlich zur Hämoglobinurie veran-
lagten Individuum. Der Schüttelfrost gehört
denn ja auch zu den typischen Symptomen
des Anfalls. Die Kälteh ämoglobinurie gehört
sonach mit den Hämoglobinurien nach über-
mäßiger Anstrengung grundsätzlich zusammen.
Bemerkungen zu der Sauerstofltherapie.
Von
Dr. A. Heermann in Posen.
Da bei der Diskussion über Wert und
Indikationen der Sauerstoffinhalationen grade
neuerdings wieder mehrfach der Erfolg nicht
dem Sauerstoff, sondern teils der Suggestion
teils der angeblich durch die Ventilapparate
modifizierten Atmung zugeschrieben wird,
sehe ich mich veranlaßt, einen in dieser Hin-
sicht lehrreichen Fall aus der allerersten
Zeit der Sauerstofftherapie zu erwähnen.
Es handelte sich um ein zweijähriges
Kind, welches seit 3 Wochen an schwerer
wandernder Pneumonie litt, seit mehreren
Tagen somnolent und mit Kampfer-Benzoe,
Wein etc. hingehalten wurde.
Ich fügte diesen Mitteln die künstliche
Atmung hinzu, wie ich sie später geschildert
habe*), und dazwischen Sauerstoffinhala-
tionen (2stündl. 5 Liter aus einem Gummi-
ballon unter Anwendung eines Mundstücke«
oder einer gewöhnlichen ventillosen Schimmel-
busch-Maske). Und nun war es bemerkenswert
zu beobachten, wie tagelangbei jeder Inhalation
eine Verstärkung des Pulses eintrat. Ob dies
auf die spätere Heilung von Einfluß gewesen,
will ich dahingestellt sein lassen. Diese
*) Therapeutische Monatshefte AuguBt 1901.
XIX. Jahrgang.
Oktober 1906.
1
Therapeutische Mitteilungen aus Vereinen.
527
unzweifelhaft festgestellte Tatsache aber ent-
scheidet für mich ohne weiteres beide obigen
Fragen dahin, daß wenigstens in einzelnen
Fällen wie hier der Sauerstoff allein wirken
muß. Denn hier gab es keine Ventile und
keine Suggestion, da das Kind in seinem
bewußtlosen Zustande von allen Manipulationen
nicht das Mindeste bemerken konnte.
Nebenbei war es interessant, die Puls-
verstärkung neben der analeptischen Wir-
kung der übrigen Mittel zu konstatieren,
was, wie bereits auch anderweitig bemerkt
wurde, wohl auf einer anderen Art der
Reizung beruhen muß.
Im übrigen habe ich auf Grund zahl-
reicher weiterer Anwendungen des Sauer-
stoffes in der Praxis an der Überzeugung
festgehalten, daß der Sauerstoff, gewisser-
maßen als Nahrungsmittel für das Blut ge-
braucht und in regelmäßigen Zeiträumen ein-
genommen, nicht nur bei Kohlenoxydvergif-
tungen etc., sondern auch bei anderen Lungen-
erkrankungen mit Termin dertem Gasaustausch
entschieden von Vorteil ist, ständig ange-
wendet werden sollte, wo er beschafft werden
kann, und nicht zu Enttäuschungen Veran-
lassung gibt, wenn man nicht Unmögliches
von ihm erwartet.
Therapeutische Mitteilungen aus Vereinen.
L Kongreß
der Internationalen Gesellschaft für Chirurgie.
Brüssel, 18.— 23. September.
Referent: Dr. H. Wohl gern uth (Berlin).
Unter dem Vorsitz von Kocher (Bern)
wurde der Kongreß mit einer Ansprache des
Ackerbau ministers Baron van der Bruggen
eröffnet. Im Namen der Regierung begrüßte
dieser die Versammlung, indem er einen kurzen
Rückblick auf die ungeheuren Fortschritte warf,
die die Chirurgie in den letzten 50 Jahren ge-
macht hat. Er beglückwünschte den Kongreß,
daß seine Leitung in den bewahrten Händen
Kochers läge. Der Präsident der belgischen
Gesellschaft für Chirurgie, Professor Depage,
begrüßte die Versammlung im Namen dieser,
der Generalstabsarzt der Armee, Mr. Logie
(medecin-prineipal de l'armee) im Namen des
Kriegsministers. Nach ihm gab der Präsident
Herr Kocher in einem längeren Vortrag einen
"Überblick über die Heilung des Karzinoms auf
operativem Wege. Indem er die Resultate der
operativ behandelten Karzinome der verschie-
denen Organe tabellarisch nebeneinanderreihte,
kam er zu dem Schluß, daß bis heute die mög-
lichst frühzeitige Radikaloperation der Karzinome
die aussichtsvollste Therapie ist, da jedes Kar-
zinom zuerst eine absolut lokale Erscheinung
ist. Und wenn er auf die Forderung Billroths:
„die Therapie des Karzinoms muß chirurgischer
werden" und ähnliche Aussprüche anderer be-
rühmter Chirurgen hinweist, so will er dabei
doch betonen, daß die Chirurgen bei dieser so
überaus wichtigen Frage keineswegs der Hilfe der
internen Mediziner entbehren wollen, aber für sich
in Anspruch nehmen müssen, was ihnen gehört.
Herr Ch. Willems (Gent), der Delegierte
Belgiens zum Kongreß, weist darauf hin, daß
auf diesem Kongreß nicht unzählige Vorträge
über alle möglichen Dinge gehalten werden,
sondern daß mit besonderer Absicht die Kongreß-
leitung darauf Bedacht genommen hat, eine be-
stimmte, abgeschlossene Reihe von wichtigen
Fragen auf die Tagesordnung zu stellen, die, an
jedem Tag eine, durch vorher bestimmte Redner
aufgerollt und durch Diskussion möglichst er-
schöpft werden sollen.
Die Tagesordnung des wissenschaftlichen
Teiles des Sitzungstages wurde eröffnet mit der
Diskussion über den Wert der Blut Unter-
suchung in der Chirurgie.
Der erste Redner, Herr Ortiz de la Torre
(Madrid), führte zunächst aus, daß in Spanien
die Wichtigkeit der Blutuntersuchung noch nicht
genügend allgemein anerkannt ist, wie er glaubt,
wahrscheinlich deshalb, weil prima vista der
Untersuchungsmethoden zu viel und ihre Technik
zu kompliziert zu sein scheint. Doch ist für
den Chirurgen ja nur wichtig einmal den Hämo-
globingehalt, dann Zahl und Qualität der Leu-
kozyten zu kennen, um zu wissen, wie schwer
die Infektion und wie stark die Defensivkraft
des Organismus ist. Aber andererseits findet
sich auch oft nach vollkommen aseptisch aus-
geführten Operationen eine vorübergehende, hin
und wieder recht beträchtliche Hyperleukozytose.
Beim Abklingen der infektiösen Prozesse hat
0. de la Torre gefunden, daß, sobald die Zahl
der polynukleären Zellen abzunehmen beginnt,
ihr Protoplasma Eosin annimmt, doch ist diese
Erscheinung unabhängig von der Zunahme der
wahren eosinophilen Zellen in der Rekonvaleszenz.
Der Vortragende schließt noch einmal mit dem
Wunsch, daß die Blutuntersuchung wichtigste
Aufschlüsse geben kann und wert ist, verall-
gemeinert zu werden.
Herr Sonnenburg (Berlin) als zweiter
Referent ist der Meinung, daß die Untersuchung
des Blutes nur dann von Wert sein kann, wenn
sie mit den anderen klinischen Untersuchungs-
methoden kombiniert ist. Bei dem heutigen
Stande der Wissenschaft habe diese Unter-
suchungsmethode allein nur einen reinen rela-
tiven Wert. Für den Chirurgen ist am meisten
wichtig 1. den Grad der Leukozytose zu bestimmen,
und 2. die eventuellen Krankheitskeime im Blut
aufzufinden.
528
Therapeutisch« Mittellungen aus Vereinen.
(Therapeutische
L Ilonatnhefte.
Auf die Leukozytenkurve will Sonnen-
barg genau so großen Wert gelegt wissen wie
auf die Temperaturkurve, denn die Leukozytose
zeigt mit absoluter Sicherheit die Reaktion des
Organismus und die Intensität der Infektion an.
So rufen z. B. die entzündlichen Vorgänge bei
der Peritonitis oder Appendicitis bei der über-
aus großen Empfindlichkeit dieser Organe eine
typische leukozytäre Reaktion hervor, aber um
für die Diagnose von Wert zu sein, muß sie
mit den anderen klinischen Untersuchungs-
methoden, mit der Temperatur, dem Stadium
der Infektion verglichen werden. Sonnenburg
glaubt, daß einige Krankheiten ihre ganz be-
stimmte und charakteristische Leukozytenkurve
haben.
Besonders macht Sonnenburg auf fol-
gende Zeichen aufmerksam: Wenn bei einer
erheblichen Temperatursteigerung und Puls-
frequenz die Leukozytose gering ist oder am
Ende ganz fehlt oder im Abnehmen begriffen
ist, so kann man sicher sein, daß die Infektion
äußerst schwer und die Prognose sehr schlecht
ist. Wohingegen schwere klinische Symptome
aber mit gesteigerter Leukozytose von einer
guten Prognose sind. Andererseits kann aber
ein plötzlicher, hoher Anstieg der Leukozytose
ein Zeichen des bevorstehenden Exitus letalis
sein, wie Sonnenburg es bei diffuser Peri-
tonitis beobachtet hat.
Man muß dabei nicht vergessen, daß auch
einige Vorbereitungen und therapeutische Maß-
nahmen, die der Operation voraufgehen, imstande
sind (Abführmittel), die Leukozytose zu beein-
flussen. Auch die Narkose ist dabei zu be-
achten, und zwar hat das Chloroform einen
größeren Einfluß auf die Leukozytose als
der Äther. Die Operation an sich, und zwar die
einfache probatorische Laparotomie bewirkt eine,
6 — 7 Stunden nach der Operation auftretende
und 2 — 3 Tage dauernde, Leukozytose. Sie
dauert länger, wenn man tamponiert oder drainiert.
In der Leukozytose hat man ein absolut
sicheres differentiell-diagnostisches Mittel, einen
postoperativen paralytischen Ileus zu unter-
scheiden von einer entzündlichen Peritonitis,
ebenso wird man dank ihrer eine Bleikolik oder
die Typhusreste * von einer Appendicitis nach
der Zahl der Leukozyten unterscheiden können.
Was nun die bakteriologische Untersuchung
des Blutes anlangt, so kann sie in den Fällen
von Wichtigkeit sein, in denen der Infektions-
herd noch zweifelhaft ist. Sie kann bestimmend
für die Operation sein, ihre Beschleunigung z. B.
bei suppurativer Cholecystitis ausschlaggebend
für eine sofortige Amputation, wenn bei einer
Phlegmone der Extremität im Blute schon Bak-
terien gefunden werden. Auch die Prognose
kann durch die Blutuntersuchung nach einer
bestimmten Richtung gelenkt werden. So werden
in Fällen von Appendicitis oder Peritonitis im
Blute gefundene Pneumokokken die Prognose
sicher verhältnismäßig gut erscheinen lassen.
Der Wert des Blutbefundes muß nun natür-
licherweise unser therapeutisches Handeln inso-
fern beeinflussen, ab wir es nach Möglichkeit
vermeiden müssen, Blut- und Lymphbahnen mehr
als nötig zu eröffnen, um die Propagation der
Keime nicht zu fördern. Daher wird auch der
scharfe Löffel bei Osteomyelitis, endometritischen
Prozessen etc. zu vermeiden, ausgedehnte Spü-
lungen und gute Drainage werden am Platze
sein. Redner macht noch darauf aufmerksam,
daß der Schüttelfrost, der zuweilen dem Kathe-
terismus der Harnröhrenstrikturen folgt, oft ein
Zeichen mehr oder weniger schnell vorüber-
gehender Allgemeininfektion ist.
Herr W. W. Keen (Philadelphia) hält ebenso
wie Sonnenburg die Blutuntersuchung für
gleich wichtig wie die Thermometrie und Radio-
graphie. Die chemische Untersuchung desselben
wird z. B. das Karzinom konstatieren durch
Verminderung des Zuckers, die bakteriologische
in 93 Proz. beim Typhus den E berthechen Ba-
zillus zeigen. Die Blut Untersuchung kann in
mehrere Unterarten geteilt werden.
1. Die Bestimmung der Koagulation inner-
halb und außerhalb der Gefäße — er möchte
sie mit dem Namen Hämatopexie belegen —
wird beim Typhus im Anfang durch langsame,
gegen das Ende durch schnelle Koagulation
sicheren Aufschluß über die Ausdehnung des
gangränösen Prozesses geben. Während die
Koagulation normalerweise innerhalb der dritten
und zehnten Minute stattfindet, wird eine Ver-
spätung derselben ein Zeichen schwerer Hämor-
rhagie nach der Operation sein. Ikterus hat
(in 38 Fällen) die Dauer der Koagulation nicht
beeinflußt.
2. Die Kryo skopie, die nach seiner
Meinung kaum sichere Anhaltspunkte gibt.
3. Die Jodophilie. Sie kann gute Auf-
schlüsse geben, um Osteomyelitis, Tuberkulose
oder einen gewöhnlichen eitrigen Knochenprozeß
zu differenzieren, aber sie hat keinen quanti-
tativen Wert. Im Verein mit der Leukozyten-
zählung kann sie bei der Peritonitis die Indi-
kationsstellung für die Operation und ihre Pro-
gnose sicherer machen.
4. Die Hämoglobinbestimmung kann,
wenn der Prozentsatz sich um 40 Proz. ver-
ringert, eine Kontraindikation für die allgemeine
Anästhesie abgeben.
5. Die Leukozytose, die nicht nur von
dem Einfluß der Mikroben, sondern vor allem
auch von der Verteidigungskraft des Organismus
abhängt. Sie ist die Reaktion des Organismus
gegen die Infektion, und ihre Größe ist gleich
mit der größeren Abwehrkraft. Doch kann sie
z. B. in Fällen von abgekapselten Abszessen
fehlen.
6. Die Eosinophilie ist, wenn sie hoch-
gradig ist, nach Brown ein fast sicheres Zeichen
von Trichinose, ein wahrscheinliches von Echino-
kokkus.
Er schließt: Bei allen Affektionen in der
Bauchhöhle: Appendicitis, Typhus, Ileus, Karzi-
nom, ist die Bestimmung der Leukozytose mit
den anderen allgemeinen Untersuchungsmethoden
geeignet, uns sichere Indikationsstellungen zu
geben. Die klinischen Untersuchungsmethoden
geben uns Aufschluß über Größe und Schwere
der Affektion, die Leukozytose über die Kraft
der Reaktion.
XIX. Jahrgang.!
Oktober 1906. J
Therapeutische Mitteilungen aus Vereinen.
529
Als letzter Referent faßt Herr Depage
(Brüssel) noch einmal kritisch die Ausfuhrungen
der Vorredner zusammen und betont, daß olle
4 Referenten über den Wert der Blutuntersuchung
einig sind. Im besonderen führt er auch aus,
daß die Schätzung der Kryoskopie etwas an An-
sehen verloren hat. Auch kann die Jodophilie
allein ebensowenig wie die Eosinophilie oder
die Bakteriämie eine große Wertschätzung
beanspruchen. So schließt er, daß alle Blut-
untersuchungen, wenn sie Ton bestimmendem
Einfluß auf Diagnose, Prognose und auf den
einzuschlagenden Weg der Therapie sein sollen,
sich im Einklang befinden müssen mit den
übrigen klinischen Untersuchungsmethoden. Was
insonderheit die Messung des Hämoglobin-
gehaltes in Rücksicht auf die allgemeine Nar-
kose anlangt, so ist er doch der Meinung, daß
die Grenze hier sehr tief liegen kann, er hat
selbst bei einem solchen von 20 Proz. noch
Heilung eintreten sehen. Basophilie ist mit
Sicherheit immer vorhanden bei Bleivergiftung,
niemals bei Appendicitis , selten bei Typhus,
perniziöser Anämie, Botriocephalus, Karzinom etc.
Die Jodophilie, deren Reaktion eine äußerst
feine ist, ist jedoch auf keinen Fall für die
Schwere der Affektion zu verwerten. — Sie ist
ein Zeichen eines entzündlichen, niemals eines
eitrigen Prozesses. Ist sie bei postoperativem
Fieber nicht vorhanden, dann ist mit Sicherheit
die Infektion der Wunde ausgeschlossen. Quoad
Hyperleukozytose will er doch darauf auf-
merksam machen, daß die verschiedensten Ur-
sachen imstande sind, die Zahl der Leukozyten
erheblich zu vermehren. Die qualitative Ver-
änderung der Leukozyten kann ein Zeichen von
viel größerer Bedeutung sein als ihre absolute
Zahl. Wenn die Eosinophilie auch eine sehr
unsichere Handhabe im allgemeinen bildet, so
ist sie doch imstande, so gut wie sicher eine
Anämie infolge von Ankylostomum von einer
essentiellen, einen Echinokokkus von einem
malignen Tumor zu differenzieren. Die Bakteri-
ämie kann nur bei positivem Befunde von Nutzen
sein. Die übrigen chemischen und physikalischen
Untersuch ungsmethoden des Blutes werden ebenso
von dem Redner einer kurzen Betrachtung unter-
zogen, deren Schlüsse sich mit denen der anderen
Referenten decken.
Diskussion: Herr Peugniez (Amiens)
berichtet über 2 Fälle von Splenektomie wegen
Lebercirrhose und über die Resultate der Blut-
nnterschungen. Während die Eosinophilie sich
nicht geändert hat, ist doch die Zahl der Leuko-
zyten erheblich heruntergegangen. Peugniez
betrachtet diese Fälle aber als geheilt und glaubt,
daß die Hypertrophie der Leber eine Folge der
Anhäufung von polynukleären Elementen ist.
Herr Rouffart (Brüssel) spricht über die
Wichtigkeit der Blutuntersuchung in der Gynä-
kologie. Bei den Affektionen vor allem, die mit
einer großen Anämie einhergehen (Myom, sep-
tischer Abort, Polypen etc.), ist sie von bedeuten-
dem Wert und bei der puerperalen Infektion ist
sie geeignet, eine Indikation für die Hysterektomie
abzugeben.
Herr Legrand (Alexandrien) [hat kbei der
Beurteilung der Leberabszesse nach der Leuko-
zytenzählung nicht in allen Fällen bestimmte
diagnostische Anhaltspunkte gefunden, doch hat
die enorme Zahl derselben in einigen Fällen
solche mit Bestimmtheit vermuten lassen, in
denen sie auch gefunden wurden. Von 22 solcher
Fälle haben 14 eine Leukozytose von 16- auf
32 000 gehabt.
Herr Groß (Nancy) spricht sich in Rück-
sicht auf die Hyperleukozytose in gleichem Sinne
wie die Vorredner aus.
Der zweite Tag, der der Prostatahyper-
trophie und den chirurgischen Affektionen
der Niere gewidmet war, begann mit dem
Referat von Herrn von Rydygier (Lemberg).
Der Vortragende beschränkte sich darauf, die
partielle perineale Prostatektomie zu empfehlen,
wie er sie auf dem polnischen Chirurgenkongreß
in Erakau 1900 empfohlen hat. Er vermeidet
stets die Urethra zu eröffnen, wenn er nicht die
Blase drainieren oder zugleich einen Stein ent-
fernen will. Mit diesem Vorgehen hat er stets
gute Resultate erzielt.
Herr Reginald Harrison (London) geht
auch nur auf den klinischen Teil des Themas
ein und stellt folgende Sätze auf:
1. Der Katheterismus, vorausgesetzt, daß er
mit allen aseptischen Kautelen bewerkstelligt
wird, ist durchaus zu empfehlen, er ist einfach
und von sofortigem Erfolge begleitet.
2. Ist der Katheterismus schmerzhaft, die
Miktion zu häufig, bilden sich, trotz wiederholter
Lithotripsie immer wieder Steine in der- Blase,
ist Hämaturie, sind ernste Symptome von Cystitis
vorhanden, und treten vielleicht Zeichen von
Intoxikation auf, dann ist ein chirurgischer Ein-
griff geboten.
3. Die perineale Prostatektomie ist in England
wenig beliebt, und der Vorzug, den man ihr in
Deutschland gibt, wegen der Schonung des ductus
ejaculatorius scheint ihm wenig begründet zu
sein, weil ja die totale Resektion der Prostata
notwendigerweise von einem Verlust der genitalen
Funktionen gefolgt sein muß. Auch ist er der
Meinung, daß die perineale Ektomie stets einen
gewissen Grad von Inkontinenz hervorrufen muß.
4. Dagegen ist die transvesikale Methode
die Operation der Wahl in den meisten Fällen.
Sie kann in wenigen Minuten ohne bedeutenden
Blutverlust ausgeführt werden, bietet einen guten
Überblick, und man kann oft erleben, daß die
Eröffnung der Blase trotz digitaler und cysto-
skopischer Untersuchung einem Überraschungen
bereitet.
5. Die Heilung geht schnell von statten,
wenn man für eine gute suprapubische Drainage
sorgt*
6. Die partielle suprapubische Prostatekto-
mie hat scheinbar nicht so gute Erfolge und
macht oft .einen zweiten Eingriff notwendig.
7. Die Mortalität ist bei beiden Methoden
ungefähr gleich groß, ungefähr 10 Proz.
8. Die Kastration, die oft einen heilsamen
Einfluß auf die Prostatahypertrophie ausgeübt
haben soll, scheint ihm doch nicht imstande zu
sein, große Massen des prostatischen Gewebes
zum Verschwinden zu bringen. Doch muß er
680
Therapeutische Mitteilungen aus Vereinen.
fTherepeul
L Monattb
Monatsheft«.
sagen, daß die von ihm so operierten Falle sieb
seit mehr als 10 Jahren recht gut befinden, ob-
gleich sie in einem Stadium operiert wurden,
wo die Gefahr vollkommenen Verschlusses vor
Augen lag. Die Operation braucht also nicht
nur für die Fälle von beginnender Hypertrophie
vorbehalten zu werden.
Herr J. Rovsing (Kopenhagen) stellt in
Kürze folgende Thesen auf;
1. Die Operationen zur Behandlung der
Prostatahypertrophie, die in den letzten Jahren
gemacht worden sind, haben oft der Überlegung
entbehrt.
2. Die Operation nach Bier und die
Bottinische Operation dürften heute verlassen
sein.
3. Auch die Prostatektomie möchte er nicht
als die allgemeine und gewöhnliche Behandlungs-
methode hingestellt wissen.
4. Man soll daran stets denken, daß nicht
die Prostatahypertrophie an sich Gegenstand
der Behandlung sein soll, sondern die aus der-
selben folgenden Harnstörungen, denn das ist
sicher, daß 80 Proz. aller Prostatiker überhaupt
keine Beschwerden haben.
5. Auch die Prostata hat ihre Funktionen
und ist ein so wichtiges Organ für die Öko-
nomie des Organismus, daß man sie nur not-
gedrungen opfern sollte.
6. Der Katheterismus kann mit Erfolg lange
angewendet werden, bevor ein Eingriff nötig
wird, doch ist er natürlicherweise nicht imstande,
die Retention zu heilen.
7. Die Frage, ob Katheterismus oder Ope-
ration, wird von dem Zustande der Blasen-
muskulatur entschieden werden. Bei atrophischer
Muskulatur wird die Prostatektomie wenig Er-
sprießliches bieten, man wird besser tun, zu
katheterisieren, nur wenn in diesem Falle die
Prostata exzessiv groß ist, wird man zur supra-
pubischen Blasendrain age seine Zuflucht nehmen.
8. Ist aber die Blasenmuskulatur nooh
kräftig, dann soll man besser operieren, und
zwar soll die Vasektomie in allen den Fällen
gemacht werden, in denen man es mit einer
parenchymatösen Hypertrophie nicht zu großen
Grades zu tun hat, sie ist kontraindiziert in
den Fällen von fibröser oder sklerosierender
Hypertrophie und dann, wenn die Hypertrophie
des Mittellappens Ursache der Retention ist.
Seine Erfahrung erstreckt sich auf 70 Fälle,
von denen er in 60 Proz. Heilungen, 30 Proz.
Besserungen, 10 Proz. keinen Erfolg erzielt hat.
Potentia coeundi aber in allen Fällen.
Die partielle suprapubische Prostat-
ektomie hat Rovsing in allen Fällen von
Mittellappenhypertrophie angewendet, wenn der
Lappen stark in die Blase vorsprang, Voraus-
gesetzt, daß die Blase nicht stark infiziert und
der Zustand des Patienten nicht sonst eine
Kontraindikation gegen die Operation abgab.
Die totale Exstirpation der Prostata
— am besten nach der Methode von Frey er —
soll für die Fälle vorbehalten bleiben, in denen
man eine maligne Affektion vermutet, oder wenn
Hämorrhagien oder Abszesse einen Radikal-
eingriff nötig erscheinen lassen.
Die Cystostomia suprapubica ist in-
diziert in den Fällen, in denen die Vasektomie
erfolglos ist, ferner dann, wenn eine schwere
Infektion der Blase eine sorgfältige Dauer-
drainage erfordert, schließlich in den Fällen
von Blasenlähmung, wenn die Katheterisation
per vias naturales sehr schwer oder gar unaus-
führbar ist.
Bei 51 solcher Fälle hat Rovsing 2 an
Pneumonie verloren, die chloroformiert waren,
während die anderen lokal oder lumbal anästhe-
tisch gemacht wurden.
9. Auf dem suprapubischen Wege ist die
partielle Prostatektomie der totalen in der Mehr-
heit der Fälle vorzuziehen.
10. Die suprapubische Methode ist leichter,
schneller und sicherer ausführbar als die peri-
neale. Das Risiko der Infektion, Verletzung
der Urethra oder des Rectums ist viel geringer.
In der Diskussion tritt Herr Legueu
(Paris) für die Prostatektomie als die einzig
erfolgreiche Behandlungsmethode ein, und zwar
soll sie nach Möglichkeit eine totale sein. Bei
den kompletten Retentionen wird man mit ihr
vollkommene und oft überraschende Resultate
erzielen, bei inkompletter, chronischer Retention
sind die Resultate weniger zufriedenstellend,
doch kann man oft Fälle erleben, in denen
später der Katheter ganz fortgelassen werden
kann, wenn die Retention nicht schon gar zu
lange besteht. Auch die Steine, kompliziert mit
alten Retentionen, scheinen ihm eine Indikation
für die totale Prostatektomie abzugeben. Er
bevorzugt unbedingt den perinealen Weg, nnr
wenn die Prostata voluminös in die Blase vor-
springt, will er die Ectomia suprapubica ange-
wendet wissen.
Herr Hart mann (Paris) berichtet über
658 Fälle, deren Beobachtung ihn die möglichst
lange konservative Behandlung mit Sondierung
und Spülungen sehr schätzen gelehrt hat. Wenn
er gezwungen ist, zu operieren, dann bevorzugt
er den transvesikalen Weg. Mit Bottini hat
er sehr schlechte Resultate gehabt und hat
daher nur wenige Fälle so behandelt. Wenn
er operiert, dann macht er stets die totale Ex-
stirpation, langsam vorschreitend mit ganz
kleinen Scheerenschnitten, langer und ausgiebiger
Drainage. Seine Mortalität ist so 9 Proz.
Die übrigen Diskussionsredner sprechen
sich teils für die perineale, teils für die
transvesikale Methode aus, Herr Demosthenes
(Bukarest) empfiehlt die Methode von Poncet,
Herr Freudenberg (Berlin) legt eine Lanze
für den Bottini ein, er hat 152 Fälle mit
gutem Resultat operiert , Herr Ve r h o g e n
(Brüssel), ein eifriger Verfechter der perinealen
Methode, sagt, daß, wenn man auch gezwungen
ist, den prostatischen Teil der Urethra mitfort-
zunehmen, das nichts schaden würde, weil dieser
Teil der Urethra doch nach der Prostatektomie
überflüssig ist, da der Blasenhals sich nachher
stark herabsenkt. .Er operiert in Bauchlage,
weil sie den besten Überblick gibt, und die
Technik dabei leichter ist.
Herr Klapp (Bonn) empfiehlt die Rücken*
marksanästhesie, Herr Kümmell (Hamburg) ist
XIX. J«lUPf «B|.l
Oktober 1906. J
Referat«.
631
für die radikale Ektomie, wann immer sie aus-
fahrbar ist, und zwar mit möglichst sofortigem
und gutem Schluß der Blasenwunde, nur dann
will er keine Radikaloperation machen, wenn
der Sphinkter nicht mehr schlußfähig ist. Die
Bi ersehe Anästhesie ist für die perineale Me-
thode gut, doch wegen der Beckenhochlagerung
bei der abdominellen Methode wenig angenehm.
Herr Alb ar ran (Paris) will auch nur die totale
Ektomie (perineal) gelten lassen und macht auf
die „falschen0 Prostaten aufmerksam, die
Epitheliome der Blase. Herr Jaffa (Posen)
betrachtet die Bot tini sehe Operation als Sphinc-
tereotomia posteria und rühmt ihre Erfolge bei
schmerzhafter Prostatitis und Sphinkterenkrampf,
warnt aber vor dem Bottini bei steriler Blase.
Herr Giordano (Venedig) sagt, man soll immer-
hin vor der Ektomie den Bottini versuchen,
Herr Del a geniere (Le Mans) macht die supra-
pubische Operation mit perinealer Drainage
und Dauerkatheter. Herr E. R. W. Frank
(Berlin) wendet sich dagegen, daß man glauben
könnte, die Bottini sehe Operation werde in
Deutschland der Radikaloperation vorgezogen,
und schließt sich im allgemeinen den Ausfüh-
rungen Kümmells an. (ForUtnung folgt.)
Referate.
Die Behandlung der Fettleibigkeit Von v.Noorden.
Eingangs bringt Verf. die verschiedenen In-
dikationen für eine Entfettungskur: Erkran-
kungen der Zirkulationsorgane , chronische Er-
krankungen der Atmungsorgane, chronische
Sohrumpfniere , chronischer Gelenkrheumatismus
und andere Erkrankungen der Bewegungsorgane,
intertriginöse Ekzeme, manche Formen von
Neuralgien, bisweilen auch Arthritis urica und
Diabetes, doch ist hier Vorsicht geboten. Von
2 Gesichtspunkten aus läßt sich die Entfettungs-
kur einleiten: Beschränkung der Zufuhr und
Erhöhung der Ausgaben (Muskelarbeit). Die
diätetische Behandlung teilt Verf. in 3 Grade;
der erste Grad der Entfettungsdiät: die Diät ent-
hält */s d^s gewöhnlichen Bedarfs, der zweite 3/5,
beim dritten Grad liegt die Zufuhr etwa zwischen
s/5 und 8/5 des gewöhnlichen Bedarfs. Hierbei
kein Diätschema! Was die Erhöhung des
Energieumsatzes betrifft, so kommen hier eigent-
lich nur die Terrainkuren in Betracht, alles
andere ist für die Kur ohne Belang. Schild-
drüsenfütterung hat sich nicht bewährt und ist
nicht ganz unbedenklich. Die verschiedenen
Bäder, als da sind Luft-, Licht-, Sonnen- und
Dampfbad sind für die Fettleibigen ebenso von
Vorteil wie für die Normalmenschen. Zum
Schluß rät Verf. noch, den Pat. nicht bloß
während der Kurzeit zu beobachten, sondern
auch die häuslichen Lebensgewohnheiten in ge-
sundheitsfördernde Ordnung zu bringen und ein
richtiges Verhältnis zwischen Energieumsatz und
-Zufuhr herzustellen, und dies wird Pat. am
besten klar, wenn man ihn zur Kur einer dies-
bezüglichen Heilanstat anvertraut.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 19.)
Arthur Rahn (Cottm).
Zur Behandlang des Diabetes mellitus. Von
L. Mohr.
Mohr warnt vor dem schematischen und
allzu strengen Vorgehen in der Diätregelung
bei Diabetes. Oft kann man beobachten, daß
bei Kohlehydratzufuhr die Zuckerausscheidung,
die bei Entziehung von Kohlehydraten nicht
schwinden wollte, plötzlich aufhört. Bereits
v. Noorden hat bei schweren Fällen eine
günstige Beeinflussung der Azidose und Ab-
wendung des drohenden Koma durch Haferkuren
gesehen. Für die Haferkuren kommen aber nur
die schweren Diabetesfälle in Betracht; wichtig
ist dabei, daß außer den Kohlehydraten des
Hafers keine sonstigen Kohlehydrate in der Kost
vorhanden sein dürfen. Die Dauer der Kur
muß natürlich von dem Erfolg derselben und
von der Ausdauer des Patienten abhängen;
günstigenfalls nach 2 — 3 Wochen geht man
vom Hafermehl auf die übliche Diabeteskost
über, indem man zweckmäßig weniger Kohle-
hydrate gibt als bisher im Hafermehl.
(Med. Klinik 1905, No. 16.)
Arthur Rahn (CoUm).
Ober die Behandlung von Nervösen im Hoch-
gebirge mit besonderer Berücksichtigung von
Davos. Von Dr. F. Jessen (Davos).
Vielfach wird angenommen, daß Nervöse
nicht ins Hochgebirge geschickt werden dürfen.
Die Berechtigung einer derartigen Annahme
dürfte aber ebenso zweifelhaft erscheinen wie
die Lehre vom Verbot des Genusses von Obst
während einer Eisenkur, von der Gefährlichkeit
der Scharlachschuppen, der sogenannten Karls-
bader Diät u. a. Verf. versucht, in anschaulicher
Weise weitere Kreise davon zu überzeugen, daß
das Hochgebirge keine Kontraindikation für
manche nervöse Leiden bildet, daß es vielmehr
für manche derartige Kranke ein recht wirk-
sames Heilmittel darstellt. Es muß daran fest-
gehalten werden, daß zur Behandlung von
Nervösen im Hochgebirge sich sowohl Winter
als Sommer eignen, der letztere allerdings ganz
besonders. Im Winter ist es hauptsächlich die
gegen das Tiefland so intensive Besonn ung, im
Sommer die Mischung von warmen Tagen mit
stets folgender und Erschlaffung verhindernder
nächtlicher Abkühlung und die beruhigende
Wirkung des herrlichen Wiesen- und Waldgrüns,
die zur Geltung kommen. Der oft bis in den
November noch fast sommerliche Herbst eignet
sich ebenfalls, wahrend die Frühlingsmonate auf
nervöse Individuen ungünstig zu wirken pflegen.
Organische Erkrankungen des Nervensystems
eignen sich nicht, ebenso sind alle degenerativen
532
Referate.
rTherapeutUch«
L Monatihefte.
Formen von funktionellen Störungen Tom Hoch-
gebirge fern zu halten. Gute Resultate erzielen
dagegen die Neurastheniker, manche Fälle von
Herzneurosen. Bedingung ist aber für diese
Zustände, daß noch ein gewisses Maß von Kraft,
von Widerstandsfähigkeit vorhanden ist. —
Weiterhin zeigt sich ein Aufenthalt im Hoch-
gebirge gewöhnlich von bestem Erfolge bei
Basedowkranken, Asthmatikern etc. Die Annahme,
daß Davos sich nicht für Nervenkranke eigene,
weil dort Tuberkulöse in großer Anzahl ihren
Aufenthalt nehmen und andere der Gefahr einer
Infektion aussetzen, beruht auf einem ganz un-
berechtigten Vorurteile. Der Typus „Phthisiker"
ist hier weniger oft zu sehen als in jeder be-
liebigen Stadt. Die wenigen Schwerkranken
befinden sich in den Betten der Heilanstalten
oder Wohnungen, und die Straßen und Hotels
sind angefüllt von gesund aussehenden, fröhlichen
Menschen. Husten hört man weniger als anders-
wo. Ausspeien auf der Straße ist bei Geldstrafe
verboten. Also werden Nervöse durch den An-
blick von Schwerkranken nicht ungünstig beein-
flußt. Daß die Gefahr, tuberkulös zu werden,
in Davos nicht existiert, lehrt die Erfahrung.
Es ist nachgewiesen, daß die Tuberkulosesterb-
lichkeit der Davoser Bevölkerung von 1876 bis
1900 nur 0,97 Proz. der Lebenden betrug, während
z. B. in Deutschland von 1894 bis 1897 2,25 Proz.
an Tuberkulose starben. — Das Hochgebirge
sollte zur Behandlung nervöser Störungen viel
mehr als bisher benutzt werden, und Davos eignet
sich unter den Hochgebirgskurorten besonders
zu diesem Zwecke. Psychisch ungeeignete Ein-
drücke oder eine Infektionsgefahr durch die in
Davos weilenden Lungenkranken sind nicht zu
fürchten.
(Manch, med. Wochenschr. 35, 1905.) R.
(Auj der ProTinsüa-Irrenanstalt Neiutadt i. Holstein.)
l. Antithyreoldin - Moebins bei Basedowscher
Krankheit mit Psychose. Von Dr. Gg. Lomer,
I. Assistenzarzt
a. Ein Beitrag zur Serumbehandiung des Morbus
Basedowii. Von Dr. R. Dürig in München.
1. Lomer hat in einem Fall von Base-
dowscher Krankheit, die sich im Laufe einer
Psychose einstellte, eine, wenn auch nicht dauernde,
so doch immerhin günstige symptomatische Wir-
kung von der innerlichen Darreichung des Moe-
bi us sehen Serums thyreoidektomierter Hammel
gesehen, die sich besonders in Besserung der
Herztätigkeit zeigte. Die Dosis war 3 mal täglich
0,5 — 4,0 allmählich steigend. Es wurden 110 cem
verbraucht. Das subjektive Befinden und der
Seelenzustand zeigten während der Medikation
keine Änderung.
2. Dürig sah bei einem Fall von Base-
do w scher Krankheit auf hereditär neuropathischer
Basis nach der Serummedikation Schwinden
sämtlicher Symptome eintreten. Der Zustand
ist noch jetzt, ]/s Jahr seit der letzten Serum-
gabe, sehr befriedigend. Außerdem geht aus
Dürigs Erhebungen hervor, daß die Größe der
Serumgabe nicht gleichgültig ist. Während mit
kleinen und verzettelten Dosen (jeden anderen
Tag) nichts erreicht wurde, traten bei hohen
Gaben (über 3 mal 40 Tropfen pro Tag) Kopf-
schmerzen, Apathie, Blödigkeitsgefühl, feiner
Milz-Nieren- und Kreuzschmerzen auf, Erschei-
nungen, die bei Aussetzen des Serums wieder ver-
schwanden. Im ganzen wurden 250 cem (Merck)
verbraucht. Rektale Applikation bot keine Vor-
teile. Zwischenmedikation von Rodagen war er-
folglos.
(Münch. med. Woch. 1905, No. 18.)
Esch (Bendorf).
Ober die Kombination von Exsisions- and
Röntgentherapie bei Morbus Basedowii. Von
Dr. Carl Beck, Prof. d. Chirurgie und Chef-
chirurg in New York.
Die operative Behandlung der Basedow-
schen Krankheit ist bereits vielfach erfolgreich
durchgeführt worden. (Allerdings ist die Mor-
talität eine noch recht hohe, Ref.) Beck hat
nun in zwei Fällen, bei denen er die operative
halbseitige Ezzision der Schilddrüsen mit nicht
allzu eklatantem Erfolge vorgenommen hatte,
später mit Röntgenbestrahlung behandelt. Durch
dies© wurden die letzten, von der Operation
nicht beeinflußten Symptome wie Pulsbeachlen-
nigung, Exophthalmus gänzlich beseitigt.
(Bert Min. Wochenschrift 1905, No. 20.) H. Rosin.
Hydrotherapie der Infektionskrankheiten. Von
Alois Strasser (Wien).
In einer längeren Arbeit bringt Strasser
den heutigen Stand der Hydrotherapie bei In-
fektionskrankheiten. Bei Typhus abdominalis
beleuchtet er die verschiedenen Ansichten der
Internisten der Reihe nach kritisch und kommt
schließlich zu der Ansicht, die durch Statistik
und eigene Erfahrung gestützt wird: Bäder von
20 — 30°, in mäßiger Weise angewandt, wirken
nicht nur vorteilhaft, sondern in gewissem Sinne
prophylaktisch gegen die ernsten Komplikationen, *
und zwar rät er, dies von Anfang an zu machen,
während Curschmann u. a. die Hydrotherapie
erat bei Komplikation angewandt wissen wollen.
Ebenso günstige Erfahrungen hat Strasser bei
Influenza gemacht. Obgleich man nun in dem
Chinin ein Specificum gegen Malaria hat, so ist
doch durch Hydrotherapie, allgemein und auf die
Milzgegend appliziert, Malaria des öfteren durch
Wasser geheilt und kupiert worden. Auch bei
Diphtherie ist der günstige Einfluß der kühlen
Packungen, abgesehen von der Serumtherapie,
nicht von der Hand zu weisen. Während
StrasBer für die Cholera persönliche Erfahrung
fehlte, so sind doch in der Literatur verschiedene
Fälle bekannt, wo man gegen die Allgemein-
erscheinungen sowie gegen die Diarrhöen mit
Erfolg hydrotherapeutisch behandelt hat. Bei
Masern und Scharlach gibt es für eine in rich-
tigen Grenzen ausgeführte Hydrotherapie keine
Kontraindikation. Näher auf die Art der Appli-
kation einzugehen, liegt nicht im Rahmen dieses.
(Med. Klinik 1905, No. 16.)
Arthur Rahn (CoUm).
XIX. J*hrganff.*l
Oktobf 1906. J
Rofiurate«
533
Weiterer Bericht Ober die Behandlung der Schwind-
sucht mittels Jodoforminfusion. Von Thomas
W. De war in Dunblane.
De war gibt hier weitere Mitteilungen über
seine zuerst im Jahre 1903 veröffentlichte Me-
thode der Schwindsuchtabehandlung, die darin
besteht, daß eine ätherische Jodoformlösung in
die Venen injiziert wird. Er hat seitdem die
Methode modifiziert, indem er dem Äther flüssiges
Paraffin im Verhältnis von 40 Proz. hinzufügt.
In dieser Flüssigkeit wird das Jodoform fein
emulgiert; es lassen sich dann auch verhältnis-
mäßig kleine Venen zur Injektion verwenden.
Die Injektionen werden täglich oder einen am
den andern Tag ausgeführt, sind durchaus schmerz-
los und ohne unangenehme Nebenwirkungen. —
Aus den neun kurz mitgeteilten Krankengeschich-
ten ergibt sich, daß diese Methode wirklich
überraschende Erfolge zu erzielen vermag. Die
Kranken litten an aasgesprochener, fieberhafter
Lungentuberkulose, zum Teil schon seit mehreren
Jahren ; in einem Falle bestanden sogar Kavernen-
symptome. Andere therapeutische Maßnahmen
außer den Injektionen fanden nicht statt, und die
Patienten lebten auch keineswegs in einem be-
sonders günstigen Klima. Dennoch wurde stets
eine an Heilung grenzende Besserung erzielt,
die zur Zeit der Publikation bereits einige Zeit
stationär geblieben war. Der tuberkulöse Prozeß
in den Langen war also offenbar zum Stillstand
gekommen, was sich in dem Falle mit Kavernen
durch kreidige Massen im Auswurf zu er-
kennen gab.
(British medical Journal 1905, 19. Jan.)
Glossen (Grube i. H.J.
Lungentuberkulose und Tetanie. Von Dr. F.
Koehler, Chefarzt der Heilstätte Holster-
hausen bei Werden-Ruhr.
In dem von Koehler beschriebenen Falle
haben wir die nach v. Frankl-Hochwart als
recht selten anzusehende Kombination von
Lungentuberkulose mit Tetanie, allerdings bei
gleichzeitig bestehender Magendilatation.
Wie die Salolprobe erwies, war die Mo-
tilität des Magens kaum gestört, hingegen wies
sein Chemismus eine Abnormität auf: eine
äußerst geringe Säureproduktion. Auffallend
war, daß die Milchsäure fehlte, die Spülflüssig-
keit niemals unverdaute Brocken, Sarcine oder
dergl. aufwies, und auch subjektive auf Gärungs-
erscheinungen hinweisende Symptome fehlten.
Es bietet sich somit kein Anhalt dafür, daß eine
Autointoxikation infolge stagnierender Speise-
reste die Veranlassung zur Tetanie hätte sein
können. Verf. zieht daraus den Schluß, daß bei
dem Kranken (dessen Magenbeschwerden übrigens
bis in die frühe Kindheit zurückreichten) die
Überschwemmung des Organismus mit Tuber-
kulosegift die Dyspepsie gesteigert und ihr den
Charakter einer tetanieausl Ösen den Magenaffektion
verliehen haben dürfte.
(Beiträge *ur Klinik der Tuberkulose 1904, Bd. II, H. 5.)
Eschle (Sinsheim).
Beobachtungen Ober Ehen und Nachkommen-
schaft Tuberkulöser, die mit Tuberkulin be-
handelt wurden. Von Prof. Dr. Petruschky
(Danzig).
Die elf mitgeteilten Krankengeschichten
sollen den Leser zu der Überzeugung des Verf.
bekehren, daß nicht nur die Tuberkulose unter
Tuberkulinbehandlung heilt, daß den so Ge-
heilten, die die Nachprüfung ohne Reaktion über-
standen, die Heirat ohne Risiko gestattet werden
kann, und daß man bei Fällen geschlossener und
selbst bei mäßig schweren Fällen offener Tuber-
kulose eine Tuberkulinbehandlung noch während
der Gravidität mit Aussicht auf Erfolg wagen
kann, sondern daß auch besondere Zeichen er-
erbter Disposition (Schwächlichkeit, Blässe, die
von Rothschild als charakteristisch angegebene
Verknöcherung des Manubrio-Sternalgelenkes)
8i ch bei der Nachkommenschaft tuberkulöser
Eitern niemals finden.
Die Fälle, in denen sich hier Skrofulöse
und später Phthise entwickelt, werden von
Petruschky natürlich auf Infektion zurück-
geführt.
Bei kürzer oder länger ausgedehnten Be-
handlungsetappen mit Tuberkulin soll jedoch
auch hier — wenigstens in Frühfällen — die
Heilung in 100 Proz. der Fälle verbürgt werden.
Die Kinder an Tuberkulose Verstorbener will
Petruschky prinzipiell prophylaktisch mit
Tuberkulin behandelt wissen.
Es ist etwas Schönes um den Optimismus!
(Zeitschr. f. Tuberkulose und Heilstättenwesen 1904,
Bd. VI, H. 4.) Eschle (Sinsheim).
Die Vorfahren und Nachkommen einer schwind-
süchtigen Generation. Mit einem Stammbaum.
Von O. Koerner in Rostock.
Ein nicht tuberkulöses Ehepaar hatte
9 Kinder, 3 starben an Schwindsucht, 6 blieben
frei von Tuberkulose. Von den 3 an Lungen-
schwindsucht später Gestorbenen verheirateten
sich zwei; beiderseits ging aus diesen Ehen nur
je ein gesunder Sohn hervor, der beide Male
ein hohes Alter erreichte. Dagegen erzeugten
2 der nicht tuberkulösen Söhne des erstgenannten
Paares mit gesunden Frauen 9 Kinder, von
denen 7 im Alter von 18 — 25 Jahren an der
Lungenschwindsucht erkrankten, während 2 von
Tuberkulose frei blieben.
Daraus glaubt Verf. (unter Verkennung
des Begriffes „Familiendisposition*, wie
dem Ref. scheint) den Schluß ziehen zu
dürfen, daß in der besprochenen Familie, der er
selbst angehört, nichts von einer Vererbung der
Tuberkulose oder von einer hereditären Dispo-
sition zu dieser Infektion erkennbar ist.
(Beiträge zur Klinik der Tuberkulose Bd. II, H. 5.)
Eschle (Sinsheim).
Ober den Wert der Laparotomie bei Bauchfell-
tuberkulöse. Von Dr. Band elier.
In dem beschriebenen Falle, an die Aus-
führungen Bandeliers anknüpfend, handelte es
sich um eine Kranke mit tuberkulösem Lungen-
katarrh, bei der infolge Rezidivs einer ursprüng-
lich schon einmal ly tisch in Heilung über-
534
Referate.
L Monatshefte.
gegangenen Bauchfelltuberkulose die Laparotomie
für erforderlich erachtet wurde, um die Patientin
nicht den schon bei der ersten Erkrankung auf-
getretenen Anfällen von Herzschwäche aufs neue
ausgesetzt zu sehen.
Verf. glaubt, daß die tuberkulöse Natur der
Peritonitis schon dem klinischen Bilde nach über
allen Zweifel erhaben war, wenn sich auch bei
der am 8. Tage nach Auftreten des Rezidivs
vorgenommenen Operation keine frische Tuberkel-
eruption, sondern nur eine allgemeine hoch-
gradige Hyperämie des Peritoneum vorfand und
eine Impfung an Tieren mit aus der eröffneten
Bauchhöhle stammendem Material nicht vor-
genommen wurde. Bandelier hebt in dieser
Hinsicht die Ergebnisse des Tierexperimentes
hervor, aus denen hervorgeht, daß es zu dem
Auftreten nachweisbarer frischer Tuberkelerup-
tionen einer nach Quantität und Virulenz der
Bazillen in ihrer Länge variierenden Zeitdauer
bedarf.
Der glatte Heilunge verlauf — ein Jahr
nach der Laparotomie befand sich die Patientin
bei guter Gesundheit — veranlaßt Bandelier,
sich der Zahl derjenigen anzuschließen, die eine
Überlegenheit der Laparotomie über die interne
Behandlung als „in evidenter Weise bewiesen"
ansehen, wenn ihm auch der Verlauf des Krank-
heitsprozesses in seiner Gesamtheit ein Beispiel
dafür gibt, daß auch schwere Fälle von serös-
exsudativer Bauchfelltuberkulose bei sorgsamer
konservativer Behandlung und Überwachung wohl
heilen können.
Fast macht es den Eindruck, als wenn der
Verf. sich wegen der Vornahme des operativen
Eingriffes vor der Öffentlichkeit zu verteidigen
bezw. zu entschuldigen, doch nicht für ganz
überflüssig hielte!
(Beiträge z. Klinik der Tuberkulose Bd. II, H. 5.)
Eschle (Sinsheim).
Die Therapie der Eklampsie. Dr. BennoMüller
(Hamburg).
Durch die neueren Auffassungen über die
Entstehung der Eklampsie, in der man nicht
mehr eine primäre Nierenaffektion sieht, sondern
eine Intoxikation des Organismus, bei der die
Nierenerscheinungen nur sekundärer Natur sind,
das ursächliche Moment jedoch eine Deportation
von Zottenelementen in das Blut der Mutter, ist
man von der früher gebräuchlichen Behandlung
der Eklampsie im wesentlichen abgekommen;
die Narcotica, welche noch weitere Schädigung
des Herzens und der Nieren hervorrufen, wolche
bereits durch das Gift der Eklampsie gefährdet
sind, sind zu vermeiden, keine Narkose, kein
Morphium, kein Chloralhydrat ; hingegen sind
die Mittel anzuwenden, welche eine Entgiftung
des Organismus durch Anregung der elimi-
nierenden Funktionen zu erzeugen vermögen.
Daher soll man durch alle erdenklichen Mittel
die Diurese anzuregen versuchen; Infusionen,
heiße Bäder, Packungen, elektrische Schwitz-
bögen sind Mittel, die zu diesem Ziele führen,
weiter muß unser Bestreben sein, die Herzkraft
zu erhalten und anzuregen. Insbesondere ist es
notwendig, auf das Respirationszentrum, das bei
der Eklampsie ebenso wie bei der Chloroform-
intoxikation gelähmt wird, durch Einleitung der
künstlichen Atmung einzuwirken, da hierdurch
einerseits die Kohlensäureintoxikation bekämpft
wird, sodann die Lungen aus dem Blute nach
Müller gasförmige Giftstoffe eliminieren. Zur
Anregung der Nierenfunktion kommen außer
Bädern und Packungen die bekannten Diuretica
in Betracht, zur Hebung der Herztätigkeit
Kampfer und Analeptica. Da aber zweifellos
der Inhalt des Uterus bei der während der
Gravidität und der Geburt eintretenden Eklampsie
die Ursache der Intoxikation ist, so ist das
wichtigste: Unterbrechung der Gravidität und
möglichst schnelle Entleerung des Uterus, das-
selbe gilt für die nach der Geburt er3t ein-
tretende Eklampsie, bei der an der Uterus-
innenfläche haften gebliebene Piacentarteile die
Eklampsie veranlassende Ursache sein können;
ja auch durch die Entfernung der Uterus-
tamponade hat man wiederholt ein Aufhören
wahrscheinlich infolge der Verminderung des
Kontraktionszustandes des Uterus beobachtet.
Bei der post partum auftretenden Eklampsie,
aber nur bei dieser, kommt, falls die Frau durch
Blutverlust nicht zu sehr geschwächt ist, eine
Venaesektion von ca. 3/i Liter Blut mit nach-
folgender Infusion von ca. 2 Liter Kochsalz-
lösung in Betracht. Letztere allein ist hingegen
stets indiziert und sollte bei jedem Falle von
Eklampsie ausgeführt werden, da sie in gleicher
Weise Nierensekretion und Schweißabsonderung
anregt.
Zur Einleitung der augenblicklichen Ent-
bindung bei noch nicht eröffnetem Muttermund
kommen vor allem die Bossische Methode der
instrumenteilen Dilatation und der vaginale
Kaiserschnitt in Betracht. Daß erstere selbst
bei erhaltenem Cervikalkanal am Ende der
Schwangerschaft ausführbar ist und lebensrettend
zu wirken vermag, kann Referent ebenso wie
Müller bestätigen, ebenso aber auch, daß schwere
Verletzungen hierbei entstehen können, welche
im Hause der Kranken nur mit größter Schwie-
rigkeit zu behandeln sind. Das gleiche gilt aber
von dem Dührssenschcn vaginalen Kaiser-
schnitt, und Ref. möchte daher dringend vor der
Ausführung desselben in der Wohnung warnen,
eine Operation, die nach Müller auch in der
Dachkammer der Großstädte und im Bauern-
hause auf dem Lande möglich ist. Diese Kranken
gehören, wenn irgend möglich, in die Klinik,
falls man nicht durch Verschlechterung der
operativen Resultate den Anhängern des exspek-
tativen Verfahrens berechtigten Grund für ihre
Verwerfung jeder Operation geben will. Jeden-
falls wird es aber nur notwendig sein, während
der Gravidität einen operativen Eingriff auszu-
führen, wenn Benommenheit und urämische Er-
scheinungen auftreten, in leichteren Fällen wird
das Einlegen eines Metreurjnters nach Erweite-
rung der Cervikalhöhle mit Hegarschen Dik-
tatoren genügen.
(Prager medizinische Woch. 1905, No. 11, 12, 13.)
Falk.
XIX. Jahrgang. 1
Oktober 1905. J
Referate.
535
Zur Verhütung des Puerperalfiebers. Eine Studie
aus der Praxis von Dr. H. Doerfler in Regens-
barg. |
Dem Dogma, daß jede Puerperalinfektion
von außen komme, daß also ausschließlich durch
Schuld der Hebamme bezw. des Arztes Fieber
im Wochenbett entstehe, ist schon von mehreren ;
Seiten mit Recht entgegengetreten worden, die
Tatsache der Autoinfektion kann nicht mehr
bestritten werden.
Trotzdem, so führt Doerfler aus, muß
dieses Dogma in vollem Umfange bestehen bleiben,
wenn wir auch wissen, daß es einige Übertrei-
bung enthält, und zwar muß es bestehen bleiben j
aus prophylaktischen Gründen, weil jede Ein- !
schränkung im praktischen Leben draußen seiner
Aufhebung gleichkommt.
Speziell ist zu betonen, daß unter den !
heutigen Verhältnissen jede Hebammen Unter-
suchung in der Privatpraxis, besonders in der
Landpraxis theoretisch gleichbedeutend ist einer
Infektion der Untersuchten. „Ich habe mit eigenen
Augen gesehen, wie eine Hebamme aus dem
Ziegenstall vom Misten kam, sich den Stallmist
an ihren Händen mit ihrem Rock abwischte, in
den Schmalztopf der Kreißenden griff und dann
eine vaginale Untersuchung vornehmen wollte. a
Doerfler verbreitet sich dann eingehend
über die Gefahren, die für unsere Frauen und
damit das ganze Volk aus der leider meist noch
bestehenden Art der Hebammenpraxis hervor-
gehen. Zur gründlichen Sanierung des Heb-
ammenwesens und zur Verminderung der puer-
peralen Erkrankungen und ihrer Folgezustände
ist nach seiner Ansicht ein Haupterfordernis,
daß die Berufsfreudigkeit und damit auch die
Leistungen der Hebammen gehoben werden.
Dies kann geschehen zunächst durch staatliche
Garantie der Gebührenauszahlung, Prämien, In-
validitäts-, Krankheits- und Sterboversicherung,
dann durch aj [jährliche 3tägige Repetitionskurse
in A- und Antiseptik, durch gesetzlich festge-
legte Verwendung von Gummihandschuhen und
Verbot jeder unnötigen Untersuchung.
(Münch. med. Woch. 1905, No. 9 u. 10.)
Esch (Bendorf).
Ober Badekuren Im Kindesalter. Von 0. Heubner.
Die Balneologie hat bisher ihr Haupt-
interesse bei der Kinderbehandlung den Sol-
und Seebädern zugewandt. Mit vollem Recht.
Tausendfältige Erfahrungen haben ihre Heil-
wirkung bei einer Anzahl weit verbreiteter Stö-
rungen im kindlichen Alter, vor allem bei
Skrofulöse und Rachitis dargetan. Heubner
hat den Einfluß der Solbäder an zwei genau
und lange beobachteten Kindern physiologisch-
chemisch geprüft. Es zeigte sich, daß die Salz-
bäder eine Steigerung der Zersetzungsvorgänge
im Körper bewirkten. Nachgewiesen wurde dies
vor allem für das Eiweiß. Vermutet kann dies
aber auch für die stickstofffreien Substanzen
werden. Freilich ist das Wie in der Beziehung
zwischen Bad und Stoffwechseleinfluß noch nicht
klargestellt. Es scheinen jedenfalls zwei Momente
in Betracht zu kommen: eine Ebbe- und Flut-
bildung des Blutes zwischen Körperinneren und
der äußeren Haut und dann eine Einwirkung
auf die vasomotorischen und sensiblen Nerven.
Zu verlangen ist jedenfalls beim Solbade, daß es
von einer guten Reaktion gefolgt sei; mindestens
Yj Stunde nach dem Bade soll eine rote Färbung
der Schleimhäute, der Nägel, der Wangen, eine
gute Pulsbeschaffenheit sich geltend machen.
Während der Kur soll der Appetit sich steigern
und das Körpergewicht nicht abnehmen. Bei
blassen, mageren und appetitlosen Kindern ist
große Vorsicht geboten. Und bei kalten See-
bädern wird nur eine ausgewählte Gruppe von
Kindern einen freilich noch nachhaltigeren Er-
folg gewinnen als bei den warmen Solbädern.
Die kohlensäurehaltigen Solbäder sind bei
Kindern noch gar nicht experimentell versucht
worden. Aus der Erfahrung heraus aber emp-
fiehlt sie Heubner bei herzkranken Kindern,
besonders auch bei rheumatischen Herzkranken,
namentlich bei solchen, bei denen abhärtende
Prozeduren eingeleitet werden sollen. Denn die
kohlensäurehaltigen Solbäder können kühler ge-
geben werden. Ferner sind sie bei mancherlei im
Kindesalter vorkommenden Lähmungen anzu-
wenden, so bei leichteren Fällen von Neuritis,
Polyoinyelitis und funktioneller Lähmung. Heub-
ner ist auch der Ansicht, daß die Heilfaktoren
der Mineralbäder in mancher Hinsicht größerer
Ausnutzung fähig wären, als es zur Zeit der
Fall ist. So wären Moor- und Schlammbäder
zu versuchen, namentlich bei chronischen Er-
nährungsstörungen, z. B. bei Lymphatismus, bei »
Kinderlähmungen, bei chronischem Gelenk-
rheumatismus. Warum sollten nicht auch die
Schwefelthermen bei chronischen Hautkrank-
heiten bei Kindern mehr als bisher verwendet
werden? Auch der Lues tarda ist hier zu ge-
denken, und schließlich weist Heubner auch
auf die warmen Bäder hin, die in den Wild-
b ädern zur Geltung kommen. Sie finden ein
dankbares Feld der Einwirkungen bei den
spastischen Lähmungen der Kinder.
(Berl. klin. Wochenschrift 1905, No. 17 u. 18.)
H. Rosin.
(Aus der hydrotherapeutischen Anstalt der Universität Berlin,
Geh. R. Prof. Dr. Br leger.)
Ober den Einfluß hellgymnastischer Arbeiten auf
den Kreislauf. Von Stabsarzt Dr. Keller-
mann, kommandiert zum Institut.
Auf Grund seiner Untersuchungen, die sich
nicht auf die Wirkung der Muskelarbeit im all-
gemeinen erstrecken, sondern die Beziehungen
der einzelnen Bewegungsformen, wie sie die
moderne Heilgymnastik unterscheidet, zum Blut-
druck und zur Pulsfrequenz klarzulegen ver-
suchen, weist Kell ermann zunächst nach, daß
durch passive Bewegung eine leichte Senkung
des ersteren bei unveränderter letzteren statt-
findet.
Während der Ausführung einer stati-
schen Arbeit demgegenüber laufen die Ver-
änderungen des Blutdruckes mit denen des
Pulses parallel, indem beide einen sofortigen
Anstieg mit darauf folgendem Abfall unter die
Norm zeigen. Nach dem Aufhören der stati-
schen Arbeit bleibt der Blutdruck niedrig,
536
Referate.
rTherapeu
L Monstoh
entliehe
Monatshefte.
während die Pulsfrequenz abermals über die
Norm steigt.
Bei Widerstandsbewegungen weist der Blut-
druck große Schwankungen auf, die sich bald
über, bald unter der Norm bewegen, und die
den Bewegungen selbst synchron sind. Während
die Pulsfrequenz dabei kontinuierlich ansteigt,
scheint der mittlere Blutdruck manchmal er-
niedrigt, meistens aber nicht wesentlich ver-
ändert zu sein.
Die manuelle Selbsthemmungsbewegung er-
zeugt eine Blutdrucksenkung und gleichzeitig
eine Steigerung der Frequenz, welche nach dem
Aufhören der Bewegung noch zunimmt.
Bei Förderungsbewegungen schließlich tritt
eine Senkung des Blutdrucks und eine Verl an g-
samung des Pulses ein.
(Zeitschr. /. diätetische u. physikal. Therapie 1904,
Bd. 8, H. 3.) Eschle (Sinsheim).
(Ana dem hygienischen Tmtitnt der Univertit&t Halle a. S.
Direktor: Geh. Med. Rat Prof. Dr. 0. Freenkel.)
Ober die Konservierung der Milch durch Wasser-
stoffsuperoxyd. Von Oberarzt Dr. E rn s t B a u-
mann, kommandiert zum Institut.
Die Milch, die von erkrankten Kühen
stammt, kann zu Infektion mit Tuberkulose,
Milzbrand, Maul- und Klauenseuche, vielleicht
auch mit Rotz, Pocken, Tollwut Anlaß geben;
durch nachträgliche Verunreinigung der Milch
wird die Verbreitung von Typhus, Cholera,
Ruhr, Scharlach, Diphtherie etc. ermöglicht.
Durch das Pasteurisieren resp. Sterilisieren der
Milch werden die Mikroorganismen zwar fast
vollständig abgetötet, indes werden zugleich durch
die Hitze die Enzyme und Fermente der Milch,
ebenso die bakteriziden Stoffe geschädigt oder
vernichtet. Das Erhitzen wirkt ferner ungünstig
auf den Gehalt der Milch an löslichen Eiweiß-
körpern (Albumin, Globulin), des Lezithins sowie
auf die Gerinnungsfähigkeit gegenüber dem Lab-
ferment ein; zugleich wird der Milchzucker teil-
weise karamelisiert , Geschmack und Farbe der
Milch werden verändert, die Widerstandsfähigkeit
gegen Fäulnis geht verloren, auch können
sich giftige Umsetzungsprodukte des Eiweißes
(Schwefelwasserstoff) bilden, das Fett büßt die
feine Emulgierbarkeit ein und wird schwerer
resorbiert, schließlich bilden die überlebenden,
peptonisierenden Keime Toxine oder begünstigen
die Eiweißfäulnis.
Die Kälte ist ebenfalls zur Haltbarmachung
der Milch verwendet worden, liefert aber kein
einwandfreies Produkt. Eine Konservierung und
Sterilisierung auf chemischem Wege ist mit
einer Reihe von Substanzen: Soda, Borsäure,
Borax, Salizylsäure, Natriumsulfit, Kalium-
bichrom at, Hexamethylentetramin u. a. versucht
worden, v. Behring hat in letzter Zeit Zusatz
von Formalin*) zur Milch 1:25 000—40 000
empfohlen. Die pathogen en Keime (Typhus,
Ruhr, Cholera) werden indes durch diesen Zu-
satz nicht vollständig abgetötet, andrerseits wird
die Labgerinnung durch Verändeiung der Ei-
weißkörper und der Labenzyme stark beein-
•) S. Therap, Monatshefte Februarheft 1904.
trächtigt. Da der fortgesetzte Genuß von mit
chemischen Stoffen versetzter Milch gesundheits-
schädigend auf die Säuglinge wirkt, ist das Feil-
halten von Milch, welcher chemische Konser-
vierungsmittel zugesetzt worden sind durch
ministerielle Verfügung untersagt worden.
Ein Mittel, welches die Milch praktisch ge-
nügend sterilisiert und ßie 8 Tage genußf&hig
erhält, dabei aber selbst vollständig unschädlich
ist, ist das bereits von Heiden hain vor Jahren
empfohlene Wasserstoffsuperoxyd. Das neuerdings
von Budde angegebene Verfahren, Milch mit
Wasserstoffsuperoxyd zu sterilisieren, ohne die
Verdaulichkeit derselben zu beeinträchtigen, ist
folgendes: Die Milch wird auf 48— 50° erwärmt,
mit 0,85 pro mille Ha 09 versetzt, ]/2 Stunde bei
dieser Temperatur umgerührt und 2 — 3 Stunden
auf 52° erwärmt. Diese Milch hält sich min-
destens 8 — 10 Tage, ohne zu gerinnen; die
pathogenen Keime sind abgetötet.
Eine Untersuchung über die Wirksamkeit
des Wasserstoffsuperoxyds auf die Milch hat
Bau mann vorgenommen:
Zusatz von Wasserstoffsuperoxyd (Perhydrol
Merck) in geringen Mengen tötet in der Milch
vorhandene Typhus-, Cholera- und Ruhrkeime
sämtlich ab. Sinkt der Gehalt an H302 unter
0,35 pro mille, oder wird die Milch nur auf 20°
erhitzt, so tritt nur Verminderung der Keime
ein. In der gleichen Weise werden auch die
Tuberkelbazillen vernichtet. Das Wasserstoff-
superoxyd selbst wird vollständig in 0 und
Wasser zerlegt, nur wenn der Gehalt 0,54
pro mille erreicht oder übersteigt, bleibt es
nachweisbar. Die Zerlegung erfolgt nicht durch
die Enzyme der Milch, sondern durch die zahl-
losen in der Milch vorhandenen Keime. Die
Labgerinnung erfährt durch Wasserstoffsuperoxyd
eine Veränderung in dem Sinne, daß dieselbe
später eintritt; die Gerinnsel sind feinflockig.
Die Verdauung durch Pepsinsalzsäure scheint
bei der mit H9 03 behandelten MTich schneller
und energischer zu erfolgen als bei roher Milch.
Der Geschmack leidet in keiner Weise.
Das Wasserstoffsuperoxyd erscheint dem-
nach wohl geeignet zur Konservierung; es ist
jedoch erforderlich, den Zusatz unmittelbar nach
dem Melken vorzunehmen.
(Münchener medizinische Wochenschrift 1905, No. 23.)
Jacobson,
Prinzipien der Kieferhöhlenbehandlung. Von Prof.
Dr. Gerber (Königsberg i. Pr.)
Gerber gibt einen geschichtlichen Über-
blick über die Behandlung der Kieferhöhle und
nimmt dabei die Priorität der nach Luc und
Caldwell benannten Operation für sich in An-
spruch. Diese Operation, welche in breiter Auf-
meißelung der Kieferhöhle von der Fossa canina
aus, Anlegung einer weiten Kommunikation nach
der Nase, primärer Vernähung über der Fossa
canina besteht, hat Gerber schon Jahre vor der
Lu eschen Arbeit ausgeführt und durch seinen
damaligen Assistenten Alsen beschreiben lassen;
nur mit der als vorteilhafter erprobten Änderung,
die Verbindung nach der Nase im mittleren,
anstatt im unteren Nasengan.g anzulegen.
XIX. Jahrgang.!
Oktober 1905. J
Referate.
537
Die Behandlung der Kieferhöhlenempyeme
schildert Verf. zum Schluß in folgenden Leitsätzen :
1. Das erste Prinzip ist, die erkrankte
Kieferhöhle möglichst von dort aas zu behandeln,
wo ihre natürliche Kommunikation mit der Nasen-
höhle ist, und jedenfalls die Anlegung neuer
dauernder Verbindungen mit der Mund-Rachei-
hohle zu vermeiden.
2. Frische und leichte Fälle werden anfangs
nur vom mittleren Nasengange mit spitzer Kanüle
gespült. (Noch schonender sind stumpfe Kanülen,
welche durch die natürlichen Öffnungen der
Kieferhöhle geführt werden. Referent)
8. Bei länger dauernden Eiterungen, zu
dickem Sekrete, starkem Foetor u. a. wird die
Öffnung im mittleren Nasengange zunächst er-
weitert eventuell noch nach dem unteren Nasen-
gange zu.
4. Chronische und schwere Fälle werden
einer breiten Öffnung von der Fossa canina aus
unterzogen. Diese Öffnung wird nach Inspektion
und Ausräumung der Höhle und Anlegung einer
breiten Gegenöffnung im mittleren Nasengange
wieder sorgfältig geschlossen und die Nachbe-
handlung vom mittleren Nasengang ans geleitet.
5. Ausgenommen hiervon und einer oralen
Behandlung aufgespart bleiben nur a) diejenigen
Fälle, bei denen eine hochgradige Nasenstenose
die nasale Behandlung absolut unmöglich macht,
und b) diejenigen Patienten, die weder in ärzt-
licher Behandlung bleiben, noch die Selbstbe-
handlung vom mittleren Nasengang aus erlernen
können.
(Archiv für Laryngologie und Rhinologie. Bd. 17. 1.)
Krebs (Hildesheim).
(Ans der medizinischen Poliklinik sn Leipzig, Abteilung für
Hantkranke, Geheimrat Prof. Dr. Ho ff mann.)
i. Ober Unguentum sulfuratum mite = Thiolan.
Von Assistenzarzt Dr. Hans Vorn er. Mün-
chener medizin. Wochenschrift No. 16, 1905,
S. 761.
(Ana der medizinischen UnlTertlt&tipoliklinik an Leipzig,
Direktor: Geh. Med.-R»t Prof. Dr. F. A. Hoffmann.)
a. Erfahrungen bei Behandlung mit elektrischem
Licht unter besonderer Berücksichtigung einer
neuen Lichtsalbenbehandlung bei Hautkrank-
heiten. Von Assistenzarzt Dr. LudwigSteiner.
Ebenda S. 748.
1. Vorn er macht Mitteilungen über Thiolan,
eine Salben komposition, in welcher Schwefel teils
in gelöster Form, teils in äußerst feiner Weise
suspendiert vorhanden ist. Vor anderen Schwefel-
praparaten zeichnet sich Thiolan durch eine
Reihe von Vorzügen aus: Es ist völlig reizlos
und wird daher von der Haut gut vertragen;
es ist ferner geruchlos, hell, in größerer Dichte
von opakem Aussehen, dünn aufgestrichen aber
durchsichtig.
Bei einer großen Zahl von Hautkrankheiten
erwies sich das Thiolan als ein prompt wir-
kendes Mittel. Seborrhoea capitis heilte unter
der Thiolanbehandlung in 1 — 2 Monaten. Ek-
zeme, und zwar akute wie chronische, wurden
mit Einstreichen der Salbe oder durch Auflegen
von Salbenläppchen in kurzer Zeit beseitigt.
Weitere Hautaffektionen, die der Thiolanbehand-
lung zugänglich sich erwiesen, sind Prurigo,
Urticaria, Pityriasis versicolor, Trichophytie
(Herpes tonsurans vesiculosus und circinatus),
Erfrierungen, Alopecia areata (nach voraufgehen-
der Anwendung von Sublimat-Resorcin-Alkohol),
leichtere Fälle von Psoriasis, Scabies (hier in
Verbindung mit Acetum glaciale 0,5 •— 1 %,
Acetum salicylicum und Resorcin 2 — 3 °/0), Akne
rosacea und Akne vulgaris.
2. Während das einfache Bogenlicht in
Form des Freilichtbades und des Kastenbades
häufig zur Entstehung von Erythemen Anlaß
gibt, ist der mit Kohlenelektroden armierte
Bogenlichtscheinwerfer frei von dieser unange-
nehmen Nebenwirkung. Mit letzterem, der er-
laubt, die gewünschte Wärme bequem zu dosieren,
und der auch einfach und sauber zu handhaben
ist, hat Steiner außer bei Ischias, Neuritiden,
chronischen Gelenkentzündungen, auch in je
einem Fall von Gallensteinerkrankung, beginnen-
der Unterlappenpneumonie und pleuritischem
Exsudat recht ermunternde Erfolge erzielt. Als
Hauptdomäne der Behandlung mit dem Schein-
werfer betrachtet er die Hautkrankheiten, und
zwar gibt bei diesen die Kombination mit einer
Thiolanbehandlung Resultate, welche sich in
bezug auf Schnelligkeit und Größe der Heil-
erfolge durch kein anderes Verfahren erzielen
lassen. Die erkrankten Hautpartien werden
kurze Zeit bestrahlt, sodann in feiner Schicht
mit ThiolanBalbe bedeckt und nun von neuem
während 10 — 30 Minuten der Lichtwirkung aus-
gesetzt. Aus seinen Beobachtungen zieht Steiner
folgende Schlüsse:
1. Die Wirkung des Scheinwerfers ist in
erster Linie eine Wärmewirkung. Lichtwirkung
ist nicht ausgeschlossen.
2. Wesentlich ist die selbst stundenlange
Nachwirkung auf die Zirkulation (aktive Hyper-
ämie).
3. Die Heilwirkung beruht bei Hautkrank-
heiten neben der durch die Hyperämie bedingten
besseren Ernährung auf der Wachstumshemmung
der oberflächlich parasitierenden Mikroorganismen.
Bei tiefersitzenden Krankheiten kommt wohl
hauptsächlich die resorptionsanregende Wirkung
in Frage.
4. Besonders wirksam ist bei gewissen Haut-
krankheiten die Kombination von Scheinwerfer-
behandlung mit gleichzeitiger Salbenbehandlung.
Sie übertrifft sowohl die einfache Scheinwerfer-
wie die einfache Salbenbehandlung.
5. Ob diese Wirkung in einer Superposition
der Reize (durch den im Thiolan enthaltenen
Schwefel) oder in einer vermehrten Resorption
(von Schwefel) oder schließlich auf einer Ver-
mehrung der oberflächlich bakteriziden Wirkung
beruht, müssen weitere Versuche ergeben. Indi-
kationen für diese Behandlungsweise sind: Ek-
zeme, subakute und chronische, trockne und
nässende, Dermatitis, Trychophytie, Pityriasis
versicolor, Erythrasma, Favus, seborrhoisches
Ekzem, Pityriasis rosea, Scabies, Akne rosacea,
hypertrophische Narben (Aknekeloid), Erfrierung,
Naevus vasculosus, Syphilis (unter Verwendung
von Quecksilber statt Thiolan).
Jacobson
538
Referate.
fTherapeutlftete
L Monatshefte.
Zur Injektionstherapie der Gonorrhöe. Von Dr.
Robert Lücke in Magdeburg.
Einspritzungen in die Urethra anterior unter
Druck und längerem Zurückhalten der injizierten
Flüssigkeit sind wegen der Unsicherheit des
Verschlusses der hinteren Harnröhre gegen die
vordere nicht ungefährlich. Bei Erstinfizierten
kann man allerdings darauf rechnen, daß inner-
halb der ersten 14 Tage der Sphinkter urethrae
ext. seine Schuldigkeit tut; bei mehrfach In-
fizierten aber, welche bereits eine Urethritis
posterior durchgemacht haben, ist man dessen
nie sicher. Hieraus ergeben sich folgende Be-
handlungsarten: I. Für Erstinfizierte, welche im
Anfang der Krankheit in die Behandlung ein-
treten. Es kommt darauf an, mittels der Druck-
injektionen während der ersten 14 Tage die
Entzündungserscheinungen zu mildern und die
oberflächlich liegenden Gonokokken zu beseitigen.
Ist dies erreicht, so ist weiterhin eine Erkran-
kung der hinteren Harnröhre nicht zu befürchten,
wenn man nur mit einer stark keimtötenden
Flüssigkeit spritzt. Als solche empfiehlt sich
Protargol oder, falls dasselbe zu sehr reizen
sollte, Thallium sulfuricum. II. Für mehrfach
Inß zierte und für Erstinfizierte, die von der
dritten Krankheitswoche an zur Behandlung
kommen. Man macht zunächst Katheterspülungen
oder Massenspülungen nach Jan et; sind diese
Methoden nicht anwendbar, so mache man mit
stark entzündungswidrig wirkenden Präparaten
Einspritzungen ohne Druck und Verschluß der
Harnröhrenmündung, wobei der Abschluß der
hinteren Harnröhre durch äußeren Druck in der
Bulbusgegend noch besonders zu sichern ist.
Erst wenn unter einer dieser Behandlungsarten
die Entzündungserscheinungen gemildert und die
oberflächlich liegenden Gonokokken geschwunden
sind, gehe man zu den Druckinjektionen über.
— Im allgemeinen lasse man 4 Wochen lang
spritzen. Die Heilung ist allerdings erst er-
reicht, wenn die mechanische Reizung gono-
kokkenfreies Sekret ergibt, bezw. wenn die
Dehnung der vorderen Harnröhre hier wieder
normale Verhältnisse geschaffen hat.
(Münchener medizin. Wochenschrift 1904, No. 13.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
(Aut der hydroth. Amt. su Berlin, Geh. Rat Prof. B rieger.)
Zur physikalischen Behandlung der gonorrhoi-
schen Gelenkerkrankungen. Von August
Laqueur.
Im akuten Stadium der gonorrhoischen
Gelenkerkrankungen werden neben den bekannten
Prießnitz umschlagen unter Ruhigstellen der Ge-
lenke die heißen Watteverbände nach Diehl
{Watte unter Guttapercha) angewendet. (Heiße
Kataplasmen sind ja schon seit längerer Zeit in
Anwendung.) Weiterhin sind zu empfehlen die
Bi ersehe Stauung und die lokalen heißen Luft-
bäder, beide Methoden haben sich vorzüglich
bewährt. Die Biersche Stauung kann schon
im ersten akuten Stadium verwandt werden; es
kann mit 3 St. täglich bereits begonnen werden,
und man kann bis zu 10 St. am Tage steigen.
Die Heißluftbäder sind bald nach der Ent-
fieberung anzuwenden. Vorteilhaft für diesen
Zweck ist ein amerikanischer, von Kiefer-Korn-
feld in Berlin geführter Apparat, der an allen
Körperteilen applizierbar ist. In einem etwas
späteren Stadium der Erkrankung können heiße
Vollbäder verwendet werden, vorausgesetzt, daß
das Herz gesund ist. Kälteanwendungen be-
währen sich im akuten Stadium im allgemeinen
nicht, ebensowenig Massage, nur sollen ganz
leichte aktive und passive Bewegungen früh-
zeitig versucht werden.
Im chronischen Stadium ist dagegen auf
Massage, medikomechanische Behandlung, heiße
Dampfstrahlen, die von kalter Strahldusche ge-
folgt sind, der größte Wert zu legen. Daneben
Biersche Stauung und Heißluftbäder. Aktive
und passive Bewegungen der erkrankten Gelenke
sind am besten* im heißen Bade auszuführen.
Neben dieser physikalischen Behandlung
sind noch Salben verbände, zuweilen auch interne
Salizyldarreichung am Platze.
(Berl. klin. Wochenschrift 1905, No. 23.) H. Rosin.
Ober Gonosan« Von Dr. J. B. Sokal.
Das Mittel wurde in 21 Fällen angewendet, da-
von waren 16 Uretriden anteriores — 2 posteriores
— und 3 Cystitiden. — Als Anhänger der ex-
spektaliven Methode wendet Verf. in den ersten
Tagen keine lokale Behandlung an, bloß Gonosan
innerlich; worauf unter Einfluß dieses Mittels
bald die akut entzündlichen Erscheinungen zen-
sieren. — Hierauf wird zur lokalen Behandlung
geschritten, unter Aufrechterhaltung der Dar-
reichung von Gonosan. — Die Ergebnisse dieser
Behandlungsart waren derart gute, daß Verf. in
dem Gonosan das beste — derzeit existierende
— innerlich zu verabreichende Antigonorrhoicum
sieht, welches die Heilungsdauer wesentlich ab-
kürzt, und das wegen der Billigkeit und der
schmerzstillenden Wirkung in jeder frischen
Gonorrhöe angewendet werden soll.
(Przeglad lekarski 1904, No. 41.) Gabel (Lember%).
Bornyval und seine Verwendung In der ärztlichen
Praxi». Von Dr. K. Beerwald (Berlin).
Ausgehend von der Erwägung, daß das Bor-
nyval wegen seines konstanten Gehaltes an Borneol
und Valeriansäure das Nervensystem in günstiger
Weise beeinflussen muß, hat Beerwald dieses
neue Präparat bei einer großen Zahl von Fällen
in Anwendung gebracht. Dabei ist er zu der
Überzeugung gelangt, daß dasselbe unter allen
Baldrianpräparaten die erste Stelle einnimmt.
Es hat sich bei Erregungszuständen ausgezeichnet
bewährt, so daß es bei Neurasthenie in ihren
verschiedenen Stadien, bei Melancholie und ganz
besonders bei nervösen Reizzuständen des Herzens
empfohlen werden kann. In 15 Fällen hat Beer-
wald das Mittel außerdem bei Influenza ange-
wendet, und wenn auch davon 7 Fälle resultatlos
verliefen, so hat es doch bei den 8 andern
unbedingt sehr wohltätig auf das Herz gewirkt
und die Zerschlagenheit sowie die sonstigen all-
gemeinen Vergiftungssymptome in wenigen Tagen
beseitigt. Das Bornyval stellt eine wasserklare,
nach Baldrian und Kampfer riechende Flüssig-
keit dar, die von den Fabrikanten in Gelatine-
XIX. Jahrgang.!
Oktober 1905. J
Referate.
539
kapseln zu je 0,25 g in den Handel gebracht
-wird. Man gibt täglich 3—4 Perlen. Die be-
ruhigende Wirkung kommt mindestens derjenigen
der Brompräparate gleich.
(Allg. med. Zentr.-Ztg. 1905, 23.) R.
Mesotan in der Behandlung des Rheumatismus
und verwandter Zustande. Von Charles
F. Kieffer vom Sanitätsoffizierkorps der Ver-
einigten Staaten (Wyoming).
Das Mesotan, ein Salizylsäureester, gewinnt
immer weitere Verbreitung als Ersatzmittel für
die Salizylsäure. Kieffer hat es in der militär-
ärztlichen Praxis zur Behandlung verschieden-
artiger rheumatischer Affektionen verwendet und
stets da gut bewährt befunden, wo man sonst
Salizylpräparate zu geben pflegte. Die ungün-
stigen Nebenwirkungen des äußerlich anzuwen-
denden Mittels, nämlich Eruptionen auf der Haut,
lassen sich nach Kieffers Erfahrungen sicher
▼ermeiden, wenn man es nicht in reinem Zustande
(es ist eine ölige Flüssigkeit), sondern mit Öl,
wenigstens zu gleichen Teilen vermischt ver-
wendet und es auch nicht in die Haut einreibt,
sondern nur sanft aufträgt. In vielen Fällen
genügte schon eine Verdünnung von 20 Proz.
Am besten wirkte es beim akuten Gelenk-
rheumatismus. Außer den Schmerzen ließ auch
das Fieber nach. Nicht immer ganz sicher,
jedoch in den meisten Fällen von guter Wirkung
war es beim subakuten und chronischen Rheuma-
tismus. Bei gnorrhoischer Arthritis war es un-
wirksam. Bei der Arthritis deformans ließen
sich in einigen Fällen die Schmerzen damit
bekämpfen, in andern nicht. Sehr gut wirksam
war es beim Muskelrheumatismus, besonders bei
Lumbago; schließlich auch bei rheumatischer
Iritis, indem es in die Schläfengegend und über
die Augenbrauen eingerieben die Schmerzen
stillte. In der Regel wurde es dreimal täglich,
manchmal nur einmal täglich angewendet.
(Therapeutic gazette 1905, Man.)
Classen (Grube i. H.).
£tude 8ur l'emploi du narcyl dans la toux, spe-
cialement chez les tuberculeux. (Narcyl bei
der Behandlung des Hustens, besonders der
Tuberkulösen). Par F. Berlioz, professeur ä
l'universite de Grenoble.
Ein zur Bekämpfung des Hustens der Tuber-
kulösen dienendes Mittel darf nicht ungünstig
auf den Ernährungszustand wirken, den Appetit
und die Verdauungsorgane nicht beeinträchtigen
und keinen schädlichen Einfluß auf die Zirku-
lation ausüben. Diesen Forderungen entspricht das
Narcyl, welches Berlioz einer eingehenden
Prüfung unterworfen hat. Dieses schon früher
von Ponchel und Chevalier studierte Mittel
ist ein salzsaures Äthylnarcein. Es ist wenig
giftig, denn erst 6 bis 8,0 g vermögen einen
Menschen von 60 kg zu töten. Mit geringen
Dosen von 0,06 bis 0,1 g pro die gelingt es,
den Husten zu beruhigen und zu beseitigen.
Trotz längeren Gebrauchs werden üble Neben-
wirkungen nicht beobachtet. Berlioz verab-
reichte das Mittel in Form von Pillen, 5 bis
6 Stück zu 0,02 g. Dasselbe kann auch als
Narcylsirup genommen werden, in dem jeder
Eßlöffel 0,03 Narcyl enthält.
(Les Nouveaux Remedes 1905, 11.) R.
Etüde du narcyl (chlorhyrdate d'ethyl-narceeine).
et de ses effets clinlques. Par P. Debono.
Neuere Untersuchungen über die Konstitution
des Narceins haben zur synthetischen Darstellung
desselben geführt. Den Ausgangspunkt bildete
das im Opium reichlich vorhandene Narkotin.
Um die Wirkung des Narceins zu erhöhen, wurden
verschiedene Äther desselben dargestellt. Unter
diesen scheint Narcyl, Äthylnarcein hydrochlori-
cum eine besondere Beachtung zu verdienen.
Es ist dies eine kristallinische, genügend lösliche,
wenig toxische Substanz, die schmerzstillend und
beruhigend wirkt. Auffallend ist die stark depres-
sive Wirkung auf den Vagus und Splanchnicus.
Bei Lungenaffektionen dient es als vorzügliches
Antispasmodicum und wertvolles Hustenmittel.
Da dem Narcyl nicht die üblen Eigenschaften
des Morphins anhaften, kann es als dessen Ersatz-
mittel Verwendung finden und namentlich in der
Kinderpraxis z. B. beim Keuchhusten ausge-
zeichnete Dienste leisten. Die Verabreichung
erfolgt am besten in Form eines Sirups. Er-
wachsenen kann man 3 bis 4 Eßlöffel ä 0,03 Narcyl
in 24 Stunden geben. Kindern entprechend weniger
(von 2 — 4 Jahren 1 — 3 Kaffeelöffel voll Sirup;
von 4 — 7 Jahren 4 — 5 Kaffeelöffel und von 7
bis 15 Jahren 1—2 Eßlöffel). Auch in Form
von Granulös (a 0,02) kann das Mittel verab-
reicht werden.
(These de Paris 1904.)
R.
Ein Traggerüst für die oberen Extremitäten«
Von Dr. Georg Hager, Spezialarzt für
Chirurgie in Stettin.
Bei einem Kranken, welcher an progres-
siver Muskelatrophie litt, wurden mit weiterem
Fortschreiten der Krankheit ganz wesentliche
Beschwerden dadurch bedingt, daß beide Arme
schlaff am Körper herunterhingen und sich dem
Patienten als schwere Last, die ein Gefühl be-
ständigen Druckes auf Brust und Schultern aus-
übte, fortwährend unangenehm bemerkbar mach-
ten. Die sehr zweckmäßige Bandage, die Hager
zur Abstellung dieses Mißstandes ersann, besteht
aus einem um den Nacken und über die Schul-
tern laufenden, gutgepolsterten Bügel, welcher
nicht nur an den beiden vorderen Enden in
zwei schlangenförmige Traggurte für die
Hände ausläuft, sondern zwei ebensolche, für die
Stützung der Unterarme unterhalb des Ellbogens
bestimmt, von dem hinteren Teil seiner Peripherie
ausgehen läßt.
(Zeitschr. f. diätetische und physikalische Therapie
1904/1905, Bd. VIII, H.5.) Eschle (Sinsheim).
Adrenalin bei Blutungen im Verlauf des Typhus.
Von Dr. Clayton Thrush in Philadelphia.
jThrush empfiehlt zur Bekämpfung von
Darmblutungen beim Typhus subkutane Injek-
tionen von Adrenalin, und zwar 1,0 einer 1 °/qq-
Lösung alle drei Stunden, bis die Blutung
steht , wenigstens während der ersten zwölf
Stunden. Später kann dasselbe innerlich in
540
Toxikologie.
rTheraptutiadu
L Monatshefte.
halb so starken Dosen gegeben werden. Da-
neben sind die sonst üblichen Mittel, Hoch-
lagerung der Beine, Eis auf den Unterleib,
nicht zn vernachlässigen. Eine Anzahl kurz
mitgeteilter Krankengeschichten sprechen für den
prompten Erfolg des Mittels.
(TherapeuHc gazetie 1905, Nr. 12.)
Glossen (Grube i. H.).
Toxikologie.
(Ana der inneren Abteilung des Blitabethkrankenhantea sn
Berlin. Direktor: Geheimrat Dr. Hofmeier.)
Ein Fall von Arten Vergiftung. Von Dr. Meyer-
hoff.
Eine 43jährige Fran nahm zum Zwecke
des Suicidiums eine nicht näher bekannte Menge
Schweinfurtergrün. 4y9 Stunde später erhob
Meyerhoff folgenden Befund: Gesichtsfarbe
livid, Pupillen stark verengt, reaktionslos, Puls
klein, fadenförmig, 140. Leib druckempfindlich,
besonders in der Blasengegend. Durch Aus-
heberung werden aus dem Magen 1100 ccm
trüb graugrüne Flüssigkeit gewonnen; aus dem
Darm werden dünne schleimhaltige mit grau-
grünen Borken untermischte Massen entleert.
Therapie: Magenspülung mit 17 l Wasser, Anti-
dotum arsenici, hoher Einlauf. In der Nacht
folgen 4 Stühle mit heftigem Tenesmus, daneben
Erbrechen und quälender Singultus. Am folgen-
den Tage Anurie, Temperatur 35,8°, Unruhe,
leichte Zuckungen in den Extremitäten. Am
2. Tage kein Erbrechen, aber quälender Singultus,
heftige Leib- und Kreuzschmerzen, anfallsweise
unerträgliche Schmerzen in den Beinen. Es
werden 25 ccm Urin entleert, die Spuren Ei-
weiß, enorme Mengen hyaline Zylinder und
große Plattenepithelien enthalten. In den folgen-
den Tagen werden etwas höhere Mengen Urin,
bis zu 300 ccm, ausgeschieden. Die Unruhe
der Pat. nimmt zu, der quälende Singultus hält
an, die tonisch-klonischen Zuckungen einzelner
Muskeln häufen sich zu Konvulsionen, und schließ-
lich erfolgt am 8. Tage der Vergiftung unter
leichter Benommenheit und Lungenödem Exitus
letalis.
Bei der Obduktion, die 66 Stunden post
mortem vorgenommen wurde, war die Fäulnis
auffallend weit vorgeschritten; eine Mumifizierung
der Leiche durch das aufgenommene Arsen war
nicht vorhanden.
(Berliner klinische Wochenschrift, Nr. 33, 1905.) J.
(Am der Kfintgl. dermat. Univerrit&Uklinik su Breslau.
Stellvertr. Direktor: Privatdosent Kling m Oll er.)
Eine lebenbedrohende Intoxikation bei Anwendung
5oproz. Resordnpaste. Von Dr. Sigismund
Kaiser, Assistent der Klinik.
Ein an Lupus vulgaris, der frappante
Ähnlichkeit mit Psoriasis darbot, leidender
Patient, erhielt zur Erweichung der Herde am
Rücken in Ausdehnung von 600 qcm zuerst
Resorcinpflaster und zwei Tage später 100 g
50proz. Resorcinzinkpaste. Gleich nach Anlegen
des Verbandes trat starkes Brennen und bald
Schweißausbruch und heftiger Schmerz auf.
3/4 Stunden später entfernte Kaiser den Ver-
band. Pat. wird bewußtlos, beginnt zu schreien
und zu toben und wird beständig von heftigen
Krämpfen geschüttelt. Puls jagend, Atmung
enorm beschleunigt und keuchend. Das Stadium
der Exzitation dauert 10 Minuten, dann folgt
Opisthotonus. In Pausen von 20—30 Sekunden
kauert Pat. ganz zusammen und streckt sich
dann mit gellendem Schrei wieder starr aus.
Nach 40 maligem Wiederholen folgt komplette
Lethargie. Eine Stunde nach Beginn des An-
falls wird der Puls besser, die Reflexe kehren
zurück, und Pat. kommt langsam zu sich. Der
3y9 Stunden nach Auflegen der Paste gelassene
Urin ist grünlich und wird an der Luft bald
schwarz; im Ätherextrakt ist Phenol nachzu-
weisen, kein Eiweiß. Am 4. Tage völlige Wieder-
herstellung.
(Berliner klinische Wochenschrift, Nr. 33, 1905.) J.
Literatur.
Schwindsucht und Krebs im Lichte vergleichend
statistisch-genealogischer Forschung. Von
Dr. A. Riffel, prakt Arzt u. Professor der
Hygiene an der technischen Hochschule in
Karlsruhe. Verlag der Hofbuchhandlung Fried-
rich Gutsch. Karlsruhe 1905. 2 Teile (41 u.
80 S. Gr -Quart).
Seit nahezu 2 Dezennien hat der hochver-
diente, leider in weiteren Kreisen nicht nach
seinem Verdienste gewürdigte Verf. unbeirrt
durch Anfeindungen und selbst auferlegte Opfer
an Zeit, Mühe und auch an Kosten es sich an-
gelegen sein lassen, die heutige wesentlich auf
das Tierexperiment gestützte Lehre von der An-
steckungsfähigkeit der Tuberkulose und weiter-
hin auch des Karzinoms durch unermüdliche
Sammlung von Erfahrungstatsachen richtigzu-
stellen resp. auf ihren wahren Wert zurückzuführen.
Von der durchaus einwandsfreien Überzeu-
gung ausgehend, daß es gelingen müßte dadurch,
daß man das Geschick, speziell auch die Todes-
ursachen in einem bestimmten Kreise von Familien,
in denen diese Krankheiten heimisch sind, durch
möglichst ausgedehnte Zeiträume rückwärts ver-
folgt, suchte nun Riffel Anhaltspunkte über das
Verhältnis von Konstitution und Infektion zu ge-
winnen. Dies in dem vorliegenden Werk zu-
sammengetragene Material läßt trotz seiner Reich-
XIX. Jahrgang .1
Oktober 1905. J
Literatur.
541
haltigkeit auf den ersten Blick kaum die unend-
liche Mühe erkennen, die auf seine Beschaffung
verwandt werden mußte: erst bei eindringendem
Studium der genealogischen Tabellen Riff eis
kommt dem Leser der in ihnen steckende Arbeits-
wert und nicht minder die grundsätzliche
Bedeutung zum Bewußtsein, die der hier
befolgten Methode als solcher für die
Erforschung der Ursachen von Tuberku-
lose und Krebs zukommt.
Aus den Familientabellen und den ihnen
beigefügten Erläuterungen geht zunächst die Be-
stätigung der beiden bekannten Tatsachen hervor,
daß in der vom Verf. zum Ausgangspunkte seiner
Beobachtungen genommenen Ortschaft (Stupfe-
rich bei Karlsruhe) die Schwindsucht in ein-
zelnen Familien besonders häufig vorkam, und daß
sie von diesen Familien auf andere Familien über-
tragen wurde.
Kein einziger Fall aber ließ sich einwands-
frei zugunsten der heute herrschenden Auf-
fassung verwerten, daß die Tuberkulose eine
„Wohnungskrankheit" oder überhaupt durch den
engen Kontakt mit dem Kranken auf andere
übertragbar sei. Nicht ein einziges Mal trugen
die Wohnung oder die von dem Kranken be-
nutzten Gebrauchsgegenstände nachweislich zur
Weiterverbreitung der Schwindsucht bei, auch
da nicht, wo in verhältnismäßig kurzer Zeit
mehrere Personen an dieser Krankheit starben,
und die betreffende Wohnung sofort ohne Er-
folgen einer Desinfektion von andern Personen
und Familien bezogen wurde. Namentlich be-
findet sich unter den vielen Fällen von Schwind-
sucht auch nicht ein einziger, von dem man an-
nehmen könnte, daß ein Ehegatte den andern
angesteckt habe.
Daß die Schwindsucht eine auf erblicher
Veranlagung beruhende und keine Infektions-
krankheit ist, geht unzweideutig aus folgenden
Tatsachen hervor: Niemals trat in der betreffenden
Ortschaft die Schwindsucht epidemisch auf, nie-
mals erkrankten bei derselben Familie, auch wenn
dieselbo zu den am schwersten von Schwind-
sucht heimgesuchten gehörte, zwei Personen zu
gleicher Zeit oder rasch hintereinander, wie wir
das bei Typhus und andern Infektionskrankheiten
regelmäßig zu sehen pflegen, vielmehr liegen
zwischen den einzelnen Fällen von Schwind-
sucht in derselben Familie oft Jahre und Jahr-
zehnte dazwischen. Dem Ref. fiel es bei Durch-
sicht der Tabellen als eine von ihm gelegentlich ver-
schiedentlicher Diskussionen mit Kollegen wieder-
holt hervorgehobene Tatsache auf, daß bei Ge-
schwistern die Tuberkulose mit Vorliebe in einem
und demselben Lebensalter auftritt, dessen Grenzen
nach oben und unten etwa das Spatium eines
Lustrums umfassen, und zwar selbst dann, wenn
einzelne dieser Nachkommen schwindsüchtiger
Eltern schon in frühester Jagend dem nach
der heutigen Theorie gefährlichen Familienmilieu
entrückt werden. Riffel selbst weist auf Grund
jener Tabellen darauf hin, daß die Kinder
mancher schwindsüchtiger Eltern »ich nicht selten
zu kräftigen Jünglingen und Jungfrauen ent-
wickelten, nichtsdestoweniger aber später doch
an der Schwindsucht starben, sowie daß einzelne
Mitglieder notorisch schwindsüchtiger Familien
zwar ein hohes Alter erreichten und nicht an
Schwindsucht starben, aber doch Nachkommen
zeugten, bei denen wieder Schwindsucht beob-
achtet wurde. Diese Erscheinung trat noch
deutlicher zutage, sobald beide Eltern derartigen
Familien entstammten.
Hält man hiermit die Tatsache zusammen,
daß in vielen Familien neben Schwindsucht auch
Krebs und Puerperalfieber, aber auch Apo-
plexie, Geisteskrankheiten und sonstige Defekte
in mehr oder minder ausgesprochener Häufung
auftreten, so wird man die Schlüsse des Verf.
nicht von der Hand weisen können, daß alle
jene Affektionen nur auf dem Boden einer kon-
stitutionellen Minderwertigkeit gedeihen, und daß
speziell die Schwindsucht auf einer erblichen
Disposition beruht, die zu einem je nach den
Umständen früher oder später auftretenden Zer-
fall des Lungengewebes führt. Der Tuberkel-
bazillus spielt nach Riffel nur die Rolle eines
echten Saprophyten, ist aber keineswegs der
„Erreger" der Lungenschwindsucht.
Eschle (Sinsheim).
Grundrifs der prakt. Medizin mit Einschlnfs
der Gynäkologie (bearbeitet von Dr. Zcem-
pin), der Haut- uii d Geschlechtskrankheiten
(bearbeitet von Dr. M. Joseph). Für Stu-
dierende und Ärzte von Prof. Dr. Julius
Schwalbe in Berlin. 3. verm. Auflage mit
65 Abbildungen, Stuttgart 1904, Ferdinand
Encke.
Der Schwalbe sehe Grundriß der spe-
ziellen Pathologie und Therapie ist mit neuem
Namen und in erneuertem Gewände als Grundriß
der praktischen Medizin, in 3. Auflage erschienen.
Er bringt das gesamte Gebiet, das der praktische
Arzt beherrschen soll, in kurzer, aber doch ge-
nügend vollständiger Weise und hat so die
immerhin nicht leichte Aufgabe erfolgreich durch-
geführt, in äußerst knapper Form (etwa 550 Seiten)
einen Grandriß der Diagnostik und Behandlung
aller Erkrankungsformen auf dem Boden der
neuesten Anschauungen zu geben, dessen Kenntnis
genau dem entspricht, was der praktische Arzt
wissen muß. Wir besitzen im Zeitalter der
Handbücher und Enzyklopädien nur noch wenige,
so praktisch abgefaßte und in so kurzer
Zeit durchzuarbeitende, zweckentsprechende Lehr-
bücher. H. Rosin.
Hygiene des Herzens im gesunden und kranken
Zustande. Von Prot Dr. Eichhorst, mit
6 Tafeln, Stuttgart 1904, Heinrich Moritz
(Bibliothek der Gesundheitspflege 1904).
Populäre Darstellung der Diätetik und
Hygiene, die für die Erhaltung eines gesunden
Herzens wichtig ist, und Anleitungen für die
Lebensweise der Herzkranken. H. Rosin.
Ausgewählte Kapitel der klinischen Sympto-
matologie und Diagnostik. Von Hofrat
Prof. Dr. E. Neuss er, Wien. Wien und
Leipzig, W. Braunmüller, 1904. 1. u. 2. Heft.
Von dem Werk des bekannten Autors liegen
bisher die beiden ersten Hefte vor, in denen
542
['
'Therapeutische
Monatshefte.
Brady- und Tachykardie and Angina pectoris
behandelt werden. Verf. bringt noch mehr, als
der Titel besagt, denn er bespricht nicht nur
Krankheitsbild und Diagnostik in eingehender
und übersichtlicher Weise, sondern fügt auch
jedem Kapitel noch einen kurzen Abriß der
Therapie bei, so daß man der Fortsetzung des
Werks mit Spannung entgegensehen darf.
Esch (Bendorf).
Lehrbuch der Haut- und Geschlechtskrank-
heiten für Studierende und Ärzte. Von Prof.
Dr. Edmund Lesser, Direktor der Uni-
versitätsklinik und Poliklinik für Haut- und
Geschlechtskrankheiten in Berlin. Erster Teil :
Hautkrankheiten. Mit 50 Abbildungen im Text
und 9 farbigen Tafeln. Elfte umgearbeitete
Auflage. Leipzig, Verlag von F. C. W. Vogel,
1904.
Da das Werk in elfter Auflage erscheint,
so bedarf es keiner besonderen Empfehlung.
Der Kreis der Leser "wird sich sicherlich ver-
größern, da zu den alten Vorzügen sich einige
neue gesellt haben. Die Erweiterungen er-
strecken sich auf die Hinzufügung der gesicherten
neuen Kenntnisse, auf eine Vermehrung der
Textabbildungen und auf einen Zuwachs von
neun farbigen Tafeln. Letztere sind nach Vor-
lagen aus der Sammlung der Universitätsklinik
für Haut- und Geschlechtskrankheiten zu Berlin
auf photographischem Wege hergestellt. Mit
Recht sagt der Verfasser, daß sie die vollkom-
menste bildliche Darstellung von Hautkrankheiten
bieten, die jemals gebracht worden sind. So
hat das Werk, das hauptsächlich praktischen
Zwecken dient, außerordentlich gewonnen. Nicht
allein zur Einführung in das Studium der Haut-
krankheiten eignet es sich, sondern auch der
Praktiker zieht aus demselben Vorteile, weil es
die reichen, geklärten Erfahrungen des Ver-
fassers auf einem verhältnismäßig kleinen Raum
in übersichtlicher Weise enthält.
Edmund Saalfeld (Berlin).
Ethische Forderungen im Geschlechtsleben.
Der männlichen Jugend gewidmet von Dr. med.
Vict. Cnyrim. Frankfurt a. M. 1903, Jo-
hannes Alt.
Die kurze Schrift ist der männlichen Jugend
gewidmet, die in eindringlichen, von vornehmen
Gesinnungen getragenen Auseinandersetzungen
zur sexuellen Abstinenz außerhalb der Ehe er-
mahnt wird. Die Ansicht, daß letztere die
Quelle gefährlicher neurasthenischer Erscheinun-
gen bilde, verweist der Verf. in das Reich der
Fiktion. Im Gegensatz zu Erb, der in einzelnen,
nicht ganz seltenen Fällen Schädigungen, be-
sonders im Sinne der Neurasthenie und Hysterie,
und zwar bei beiden Geschlechtern als Folge
der Abstinenz beobachtet hat, ist Cnyrim der
festen Überzeugung, daß Keuschheit weder der
Seele noch dem Körper schadet. Dem Büchlein
ist weiteste Verbreitung zu wünschen, damit es
seinen Zweck erfüllt: Vernunft und Gewissen in
der Betrachtung des Geschlechtslebens aufzurufen
und zu versuchen, einige junge Männer zur Ent-
haltsamkeit zu bestimmen; sie könnten wieder
anderen, unselbständigen Naturen als Rückhalt
dienen, um desgleichen zu tun.
Edmund Saalfeld (Berlin).
Die Therapie der Magen-, Darm- und Konstitu-
tionskrankheiten. Von G. Graul, Bad
Neuenahr. (Wurzburg 1904, Stubers Verlag.
(Groß Oktav. 230 S.))
Vorliegendes Buch soll den 11. Teil zu dem
bereits erschienenen „Einführung in das Wesen
der Magen-, Darm- und Konstitutionskrankheiten "
bilden. In der ersten Abteilung bringt Verf.
die therapeutischen Methoden im allgemeinen.
Nach einigen Vorbemerkungen über die Physio-
logie und Pathologie der Ernährungstherapie —
es sei hier nur die interessante Abhandlung über
die künstlichen Nahrungsmittel erwähnt — be-
spricht Graul die hydrotherapeutischen Proze-
duren, die Massage und Gymnastik, Magensonde
und Klysmata, die Elektrotherapie und Mineral-
wässer. Die zweite Abteilung enthält die
spezielle Therapie der wichtigsten Verdauungs-
krankheiten und die dritto Abteilung die spezielle
Therapie des Diabetes mellitus, der Adiposität
und Arthritis urica. Das kurz und übersichtlich
geschriebene Buch kann dem Praktiker und
Studierenden als „Leitfaden" in des Wortes
eigentlicher Bedeutung warm empfohlen werden;
es enthält die neuesten und wichtigsten Er-
fahrungen auf diesem Gebiete, die für den Prak-
tiker von Wert sind. Einige allgemein gehaltene
Tabellen und Diätvorschriften ermöglichen es,
ohne erst große Kompendien zur Hand nehmen
zu müssen, dem vielbeschäftigten Arzte seinem
Patienten einen abwechslungsreichen Diätzettel
zusammenzustellen; und die technischen Winke
in der Ernährungstherapie vervollständigen den
Wert des Buches für den Praktiker.
Arthur Rahn (CoUmJ.
Grundrifs der medikamentösen Therapie der
Magen- nnd D armk rankheit eo, einaehliefs-
lich Grnndzttge der Diagnostik. Für prak-
tische Ärzte bearbeitet von Dr. P. Rodari,
prakt. Arzt und SpeziaJarzt für Krankheiten der
Verdauungsorgane in Zürich. Wiesbaden, Verlag
von J.F.Bergmann, 1904, 8°, 178 S. M. 3,60.
Das vorliegende Buch wird bei den meisten
Ärzten eine beifällige Aufnahme finden, denn es
ist in erster Linie den Bedürfnissen der Praxis
angepaßt und zeichnet sich bei geringem Um-
fange durch reichen Gehalt und anregende Art
der Darstellung aus. Der Verfasser ist sich
dessen bewußt, daß es nicht an guten Werken
über die Krankheiten der Verdauungsorgane
mangelt. Dieselben berücksichtigen jedoch aus
leicht begreiflichen Gründen die erst in der Neu-
zeit zu großer Bedeutung gelangten physikali-
schen und diätetischen Behandlungsmethoden in
so hervorragender Weise, daß die medikamen-
töse Therapie dabei entschieden zu kurz kommt.
Daher will das Buch eine Lücke ausfüllen, die
vorhandenen Lehrbücher gewissermaßen ergänzen,
und man muß unbedingt anerkennen, daß es
dem Verfasser gelungen ist, in gedrängter Form
und kritischer Weise darzulegen, was. neben der
physikalisch-diätetischen Therapie die medüta»
XIX. Jahrgang. 1
Oktober 1905. J
Literatur«
543
mentöse zu leisten vermag. Die Einteilung des
Stoffes ist zweckmäßig und übersichtlich, und
die allgemeinen diagnostischen Vorbemerkungen
werden zweifellos als eine recht dankenswerte
Beigabe begrüßt werden. Das brauchbare und
nützliche Buch verdient von jedem praktischen
Arzte angeschafft und mit Aufmerksamkeit ge-
lesen zu werden. r.
Lehrbach der Urologie mit Einschlufs der
männlichen Sexualerkrankungen. Von Dr.
Leopold Casper, Privatdozent an der Uni-
versität Berlin. Mit 187 Abbildungen. Urban
& Schwarzenberg, Berlin und Wien 1903.
Von dem Casper sehen Lehrbuche der
Urologie liegt jetzt der Schluß des Werkes, die
2. — 7. Lieferung, vor. Dasselbe enthält die Fort-
setzung der Krankheiten der Harnröhre und des
Penis, die Krankheiten der Blase, der Prostata,
des Hodens, der Samenblasen, der Nieren, der
Harnleiter und schließlich die funktionellen Stö-
rungen des Sexualapparates. Der Verfasser hat
somit das Gebiet der Urologie weiter gefaßt, als
es bisher im allgemeinen geschehen ist. Be-
sonders haben auch die sog. inneren Nieren-
krankheiten eine Besprechung erfahren, da ihm
der Urologe, dem die modernen Untersuchungs-
methoden zu Gebote stehen, besonders berufen
erscheint, sich der Erforschung und dem weiteren
Ausbau der Diagnostik und Therapie der Nieren-
krankheiten zu widmen. Ebenso sind die Affek-
tionen, die den Hoden und seine Umhüllungen
betreffen, eingehend erörtert, da sie der Urologe
bei Ausübung seiner Praxis häufig antrifft. Das
Werk wird nicht verfehlen, in kürzester Zeit
zahlreiche Freunde zu gewinnen. Die Darstel-
lung, die überall prägnant und scharf das Wesent-
liche hervorhebt, bei ihrer Knappheit doch alles
gibt, was anerkannter Besitz und Bestand der
Urologie geworden ist, dürfte wohl das beste
bieten, was auf diesem Gebiete bisher geleistet
worden ist. Hierzu kommt das Produkt langer
von Erfolg gekrönter experimenteller wie kli-
nischer Forschung, reicher theoretischer wie
praktischer Bildung, eine ausgezeichnete Beob-
achtungsgabe. Der Niederschlag aller dieser
Vorzüge macht sich in dem Werke geltend, so
daß Praktiker wie Spezialisten sicherlich das-
selbe nicht ohne große Befriedigung aus der
Hand legen werden. Für eine nächste Auflage
dürfte e6 sich doch empfehlen, daß der Verf. die
funktionelle Nierendiagnostik eingehender be-
spricht, zumal da gerade dieses Kapitel die
eigenste Domäne des Autors ist, wenngleich wir
hierüber Casper eine in Gemeinschaft mit
Richter herausgegebene Publikation verdanken.
Edmund Saalfeld (Berlin).
Jahresbericht über die Fortschritte der inneren
Medizin im In- nnd Auslände. Unter Mit-
wirkung zahlreicher Fachgelehrten herausge-
geben von W. Ebstein, redigiert von
E. Schreiber, Göttingen.
Es liegt mir vor des ersten Bandes drittes
Heft. Der Jahresbericht hatte mit dem ersten
Jahre des laufenden Jahrhunderts begonnen und
erscheint wie alle späteren hefteweise so, daß
4 Hefte zwei Bände und diese zwei wieder je
einen Jahrgang bilden; und jedes Heft umfaßt
10 Bogen.
Das vorliegende Heft handelt von den Er-
krankungen der Atmungsorgane, denjenigen der
Pleura, ferner den Erkrankungen der Zirkula-
tionsorgane, des Mediastinums und bringt den
Anfang der Abhandlungen über Verdauungs-
krankheiten. Der Umfang der Literatur-Zu-
sammenstellungen ist ganz außerordentlich groß,
und dabei ist auch textlich in kleineren Referaten
dem Inhalte der hauptsächlichsten Arbeiten Rech-
nung getragen. In der Tat, für die ersten
Sichtungen eine enorme redaktionelle Arbeit
und kein kleines Stück seitens des Verlegers.
Daher ist es auch kein Wunder, wenn die
Redaktion vorsichtshalber die Eventualität aus-
spricht, dem Jahrgang 1901 unmittelbar den
Jahrgang 1904 folgen zu lassen. Sie behält sich
jedoch yor, bei genügender Beteiligung am
Abonnement die Jahrgänge 1902 und 1903
nachzuholen. Wir glauben im Sinne dieses
mächtigen und jedenfalls die Allgemeinheit sehr
berührenden Werkes die Bitte der Redaktion
keinem unserer Leser vorenthalten zu dürfen.
Die Redaktion schließt ihr Avis also: „Wir
richten an alle Fachgenossen des In- und Aus-
landes die Bitte, unser Unternehmen durch Zu-
senden von Arbeiten an die Redaktion zu för-
dern. Ebenso werden wir für jede sachliche
Kritik und praktischen Vorschläge jederzeit
dankbar sein und jedem berechtigten Wunsche
entsprechen."
Die Redaktion gibt sich der Hoffnung hin,
daß der Jahresbericht, welcher nach der Äuße-
rung der gesamten Fachpresse einem Bedürfnisse
entspricht, so viele Abonnenten finden wird, daß
die erheblichen Herstellungskosten gedeckt
werden. Andernfalls müßte sie sich zu ihrem
aufrichtigen und lebhaften Bedauern entschließen,
das Unternehmen als ein den Bedürfnissen tat-
sächlich doch nicht entsprechendes nach Abschluß
des zunächst zur Ausgabe gelangenden Jahr-
ganges 1904 wieder aufzugeben.
Arthur Rahn (CoümJ.
Die bei der dritten Deutschen Ärzte-Studien-
reise besuchten Rheinischen, Hessischen,
Lippeschen und Waldeckschen Bäder. Her-
ausgegeben im Auftrage des Komitees zur Ver-
anstaltung ärztlicher Studienreisen von Gilbert,
Baden-Baden, Meißner und Oliven, Berlin.
(Berlin 1904, Medizinischer Verlag. (Quart.
339 S.)
Nachdem eingangs die Satzungen des „Ko-
mitees zur Veranstaltung ärztlicher Studienreisen *
erwähnt und die Teilnehmer angeführt sind, wird
ein Vorbericht gegeben: es soll eine dauernde
Auskunftsstelle des obigen Vereins errichtet
werden, und der Verein wird in seine Reiseroute
nicht mehr ausschließlich Bäder aufnehmen,
sondern auch andere sanitäre Institute besuchen,
daher auch eine diesbezügliche Änderung in der
Benennung des Komitees. Ein kurzes Programm
bildet die Einleitung für die Reisebeschreibung
der ärztlichen Studienreise vom 9. — 20. Sep-
tember 1903. Kreuznach, Münster a. St., Aß-
544
Literatur.
rherapantiaehe
Monatsheft«.
mannshausen, Marienberg, Neuen ahr, Apollinaris-
brunnen, Ems, Nassau, Nauheim, Wildungen,
Driburg, Oeynhausen, Salzuflen, Pyrmont, alle
haben sie die reisenden Ärzte in ihren gastlichen
Mauern aufgenommen. In jedem Bade wird
durch einen frischen Vortrag kurz auf die ge-
schichtliche Entwicklung und ihre Indikationen
hingewiesen; aber auch einige allgemein- und
spezialwissenschaftliche Themata stehen auf dem
reichhaltigen Programm, auf das näher einzu-
gehen uns leider der Raum verbietet. Die wohl-
gelungenen Landschaf t8- und Gruppenbilder
werden den Teilnehmern stets eine angenehme
Erinnerung sein an die Studienreise, die, wie es
uns scheint, auch zugleich eine Erholungsreise
war. Aber auch die, denen es nicht vergönnt
war, dabei zu sein, werden in den kurzen Be-
schreibungen und den klaren, wissenschaftlichen
und doch frischen Vorträgen manche Anregung
und Belehrung finden. Arthur Rahn (CoUm).
Neuere Forschungen über die Verrichtung der
Schilddrüse, ihre Beziehungen zu Kropf.
Kretinismus, Epilepsie etc. Bearbeitet für
Ärzte, Tierärzte und gebildete Stände von
C. Lindstädt, Oberroßarzt a. D. 2. ver-
besserte Aufl. Berlin, Fischers med. Buch-
hdlg. H. Kornfeld, 1904. 40 S. Preis M. 1,50.
Das Werkchen führt den Untertitel:
Studien auf dem Gebiete der Nervenphysiologie
und Pathologie sowie des Blutlebens und drängt
auf 40 Seiten eine Fülle von vorzugsweise
theoretischem Material zusammen. Lindstädt
gelangt auf Grund seiner Forschungen zu dem
Schluß, daß die Schilddrüse (die 'eng an die
Luftröhre angeschlossen ist und so durch deren
Erweiterung und gleichzeitige Verkürzung beim
Tiefatmen Anregung zur Tätigkeit und Ent-
leerung erhält) in reger Beziehung zur Respira-
tion steht, und daß ihr direkt ins Blut ent-
leertes Sekret durch seine große Affinität zum
Blut und zur atmosphärischen Luft „die Ent-
kohlung der Gewebe durch 0 -Aufnahme und die
Ausscheidungen aus dem Blut (besonders die
der COj) wesentlich regelt, inzwischen aber
auch durch die Arachnoiden in die Pia mater
des Gehirns und Rückenmarks tritt (?), um hier
in 'gleicher Weise zu wirken", denn das Schild-
drüsenepithel ist seiner hohen chemischen Eigen-
schaften wegen die vermittelnde und aus-
gleichende Substanz im Blute. Auch erhält es
das Blut flüssig und verhindert dessen Ge-
rinnung.
Im Verlauf der Arbeit werden dann viele
Gebiete der Physiologie und Pathologie berührt.
So läßt Verf. den Kropf rein mechanisch durch
öftere Blutstockung in der Schilddrüse bei an-
gehaltenem Atem entstehen, wenn die Herz-
tätigkeit nicht zur Überwindung der Stauung
genügt (häufiges Tragen von schweren Gegen-
ständen auf dem Kopf, besonders in Gebirgs-
gegenden, Verstopfung etc., alles bei gleich-
zeitiger schlechter Ernährung). Er soll eine
Abwehr des Blutes gegen vermehrte Absonde-
rung des Schilddrüsenepithels darstellen.
Die Epilepsie dagegen ist nach Lind-
städt eine Folge von mangelhafter Schild-
drüsensekretion, vielleicht wegen fehlerhafter
Entwickelung der zuführenden Arterien. Diese
„epileptische Anlage" bedarf dann noch eines
Anstoßes zum Ausbruch der Epilepsie [Trunk-
sucht, Überanstrengung, mechanischer Insult mit
event. Dehnung der Schilddrüsenarterien und
-Nerven durch tiefe Atmung (?)] „Die von
dem Schilddrüsensekret entblößten Zentralorgane
verfallen in Krämpfe, bis Ersatz geschaffen ist."
Die Behandlung der Epilepsie hätte dem-
gemäß in Milderung des Tonus der Schild-
drüsenarterien behufs reichlicheren Blutzuflusses
zu bestehen (feuchtwarme Umschläge, Ein-
reibungen), so würde bei Epilepsie wahrschein-
lich auch das Tragen von Lasten günstig wirken.
Im Zusammenhang damit will dem Verf.
die Epilepsie großer Männer wie Cäsar, Napo-
leon im Gegensatz zu Lombroso nicht „als
eine Grundlage ihrer Genialität", sondern als
Folge der Überanstrengung ihrer Zentralorgane
bei mangelhafter Atmung, also unzureichender
Schilddrüsensekretion und gleichzeitiger er-
worbener Konstitutionsschwäche erscheinen.
Weiterhin wird das Milch- oder Kalbefieber
der Kühe, der Hexenschuß beim Menschen auf
einen zu starken Eintritt von Schilddrüsensekret
ins Rückenmark zurückgeführt, der Kretinismus
ist die Folge ungünstiger Ernährung und der
Inzucht zwischen Kropf trägem und Kretins etc.,
beim Winterschlaf tritt mit Verlangsamung der
Respiration Aufhören der Schilddrüsensekretion
ein. Ferner glaubt Verf., dem Menschen sei
aus dem Grunde nur ein mäßiger Fleischgenuß
bekömmlich, weil er gegenüber den Kami voran
eine erheblich geringere äußere Atmung und
damit auch geringere Sekretion seiner ohnedies
schon an sich kleineren Schilddrüse zeige, so daß
seine Oxydations- und Ausscheidungsfähigkeit
für die Fleischnahrung geringer sei.
Endlich hat Verf. auch noch eine besondere
Erklärung für die Schädlichkeit schlechter Luft,
ihre Beziehung zur Schilddrüse und zur Tuber-
kulose, besonders dos Rindviehs, gefunden. Bei
unzureichender Luft sucht sich der Organismus
nämlich durch Tiefatmen zu helfen, dabei erfolgt
vermehrter Austritt des Schilddrüsensekrets ins
Blut, dieses kann nicht genug 0 aufnehmen and
wirkt, nun im Überschuß vorhanden, durch seine
starke Alkaleszenz störend auf Blutbildung und
-ausscheidung und so disponierend für Tuber-
kulose.
Zufuhr reiner Luft und gesunder
Nahrung (beim Vieh im Gegensatz zu Stall-
fütterung mit säuernden und erregenden Brauerei-
rückständen etc.) wird also eine naturge-
mäßere und bessere Immunisierung dar-
stellen als die modernen Impfbestre-
bungen. Ebenso ist neben gründlicher Reinigung
der Wohnräume der ungehinderte freie Luftzu-
tritt die sicherste Desinfektion.
Bei einer event. weiteren Auflage würde
Ausmerzung einer Anzahl allzusehr auf reiner
Spekulation beruhender Ideen und mehrerer
Stilflüchtigkeiten sowie eine übersichtlichere
Anordnung des Stoffes empfehlenswert sein.
Esch (Bendorf).
XIX. Jahrgang.*!
Oktober 1905. J
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
546
Pathologische Anatomie der Gehirnerschütte-
rung beim Mensehen. Gegründet anf Leichen-
öffnungen von 87 Verunglückten sowie 58 Selbst-
mördern durch Schüsse in den Kopf. Ver-
glichen mit den Befunden bei mehreren durch
Gehirnkrankheiten aus inneren Ursachen Ge-
storbenen. Mit 14 Tafeln -Abbildungen. Von
Dr. H. t. Holder, Obermedizinalrat a. D.
Stuttgart, Verlag von Julius Weise, Egl. Hof-
buchhandlung, 1904, 80 S.
Das vorzüglich ausgestattete Buch enthalt
eine große Anzahl von eigenen Beobachtungen
und Untersuchungen des Verfassers mit forensisch
wichtigen Erläuterungen. Es gliedert sich in
drei Teile. Der erste enthalt die Fälle von
Gehirnerschütterung durch mechanische Ge-
walten (Schädelbrüche etc.). Von besonderem
Interesse ist hier die Bestätigung der Befunde
Dur et s, die ja in der letzten Zeit auch für die
Erklärung der traumatischen Spätapoplexie Bol-
lingers herangezogen worden sind. Im zweiten
Teile finden wir die Beispiele von Schuß-
verletzungen des Kopfes bei Selbstmördern. Der
dritte beschäftigt sich mit der allmählichen
Veränderung der kapillaren Apoplexien und
größerer Blutung bei den einige Zeit nach der
Verletzung Gestorbenen. h. Krön (Berlin).
Praktische H otlse*
und
empfehlenswerte Arsnelfo:
ein.
Fetrosal.
Den Kühlsalben stehen die erwärmenden
Salben gegenüber, welche als Ableitung bei
rheumatischen Affektionen benutzt werden.
Flüssige Einreibungen rufen meistens nur
eine vorübergehende Erwärmung hervor, während
erwärmende Salben wie das „Fetrosal" zu einer
länger dauernden Wirkung führen, ohne in-
opportune Reizerscheinungen zu zeigen.
Die schon früher 'beschriebenen Eigen-
schaften des Fetrons als Salbengrundlage treten
hier vorteilhaft hervor. Als Zusatz dienen
wesentlich Salizylsäure und Salol, deren anti-
rheumatische Einwirkungen bekannt sind.
Liebreich.
Die Cholera atiattca
behandelt Stumpf (Berliner klinische Wochen-
schrift, Nr. 37, 1905)« mit Darreichung von
Bolus alba pulverata. Erwachsene erhalten
70—100 g, Kinder 30 g, Säuglinge 10— 15 g
in Ya 1 frischem Brunnenwasser verteilt in kleinen
Portionen bei leerem Magen. Sofort läßt der
Brechreiz nach, es tritt Aufstoßen anf, und nach
Y8 Stunde erfolgt starker Fieberabfall mit Schweiß-
ausbruch, bald stellt sich Schlafbedürfnis ein.
Bedingung für die Wirkung des Mittels ist
gänzliche Vermeidung jeder Nahrungsaufnahme,
auch des Alkohols, in den folgenden 24 Stunden.
Selbst in vorgerückten Stadien der Erkrankung
erweist sich das Mittel noch wirksam. Die
Wirkung beruht auf folgendem Prinzip: Über-
schütten der Bakterien im Überschuß mit un-
veränderlicher anorganischer Materie in feinster
Verteilung hemmt ihre Weiteren twickehmg und
bringt die Toxinbildung zum Stillstand.
Gegen Heufieber- Conjunctivitis
glaubt Prof. Kuhnt (Deutsche med. Wochenschr.
34, 1905) Anästhesin zur weiteren Prüfung
empfehlen zu können. In einem Falle von
schwerer Heufieber-Gonjunctivitis, in dem alle
anderen Mittel im Stiche gelassen hatten, zeigten
sich Einstäubungen von Anästhesin in den
Bindehautsaok mittels eines gewöhnlichen Maler-
pinsels, anfänglich zwei-, später dreimal des Tages,
von ausgezeichneter Wirkung.
Zur Behandlung des Schweißfußee
in der Armee hält Villaret (Münch. med.Wochen-
schr. 34, 1905) Formaldehyd und Chromsäure
für durchaus ungeeignet. Diese beiden Mittel
sind wohl wirksam, aber sie wirken nur dadurch,
daß sie die Schweißdrüsen (also einen sehr
wesentlichen Teil der Haut) zerstören. Nicht die
natürliche Schweißabsonderung, sondern die
S oh weißzersetzung muß bekämpft werden. Das
tut nun in hervorragender Weise die Salizylsäure,
und zwar ohne die Schweißdrüsen zu schädigen.
Mithin ist die Salizylsäure ein rationelles Mittel
für die Schweißfußbehandlung, und das Formalin
ist, entgegen den erst kürzlich wieder laut ge-
wordenen Empfehlungen von Fischer (Münch.
med. Wochenschr. 20, 1905), zu verbannen. Nur
für die Desinfizierung der Stiefel und Schuhe
eines mit Schweißfuß Behafteten ist dasselbe
recht brauchbar. 10 Tropfen einer 10 proz.
Formalinlösung, in einen solchen Stiefel ge-
träufelt, nehmen jeden Geruch fort. — Häufiges
Waschen mit frischem, nicht zu kaltem Wasser
ist ein vorzügliches Mittel, den durch vernach-
lässigte Fußpflege in der Jugend entstandenen
Schweißfuß zu heilen. Das hebt Villaret, im
Gegensatz zu der Warnung Fischers vor dem
Waschen der Schweißfüße, ganz besonders hervor.
Ein Apparat zur Darmspülung
in der kinderärztlichen Sprechstunde, der sich
durch Einfachheit und Bequemlichkeit aus-
zeichnet, ist von E. Fromm (Münchener med.
Wochenschrift 1905, No. 24) angegeben worden.
Ein hölzerner, der Kinderbadewanne angepaßter
Rost steht mit seinem schmäleren Ende auf
dem Boden der Wanne auf; das obere, breite
Ende liegt der Wandung im Niveau des obersten
Fünftels der Tiefe der Wanne an. Das Kind
wird auf den durch qine abnehmbare 5 mm
dicke Gummiplatte gepolsterten Rost gelegt und
nun die Spülung vorgenommen. Das Spülwasser
sammelt sich am Boden der Wanne und wird
mittels Abflußrohr und Gummischlauch in einen
Eimer geleitet.
Die Prophylaxe der Gonorrhöe
läßt sich nach Zeh den (Wiener klinisch-thera-
peutische Wochenschrift, Nr. 37, 1905) durch
Anticilloid genannte Urethralstäbchen, welche
546
Praktische Notizen und empfehlenswert*
rTher&peutfoeba
L Monatahefto.
aus Kakaobutter mit 10 Proz. Protargol bestehen,
sicher erreichen. Ante coitum wird das 2 cm
lange Stäbchen in die Urethralmündung ein-
geführt und die Mündung einige Minuten bis
zur Lösung mit dem Finger zugedrückt. Irgend-
welche schmerzhafte Reizung der Urethralschleim-
haut findet nicht statt.
Phenolkampfer
verwendet Chlumsky (Zentralblatt für Chirurgie,
Nr. 33, 1905) bei der Behandlung infizierter
Wunden, Furunkel und der chirurgischen In-
fektionen in folgender Verordnung:
Rp. Acidi carbolici purissimi 30,0
Camphorae tritae 60,0
Alcoholi absoluti 10,0
Mit dieser klaren, gut haltbaren und ab-
solut ungefährlichen, nicht ätzenden Mischung
wird entweder die Haut wie beim Erysipel
mehrmals täglich bestrichen, eventuell werden
mit ihr Wattestücke getränkt und mit Billroth-
battist und Binde befestigt, oder es wird die
Lösung wie bei Abszessen in die Inzisions-
wunde eingegossen. In infizierte Wunden werden
mit Phenolkampfer getränkte Wattetampons bis
zur Verminderung der Eitersekretion eingelegt.
Zar Behandlang der Psoriasis
durch den praktischen Arzt empfiehlt Dreuw
(Münchener medizinische Wochenschrift, No. 20,
1904) folgende Salbenkomposition:
Acidi 8alicylici 10,0
Chrysarobini
Olei Rusci m 20,0
Saponis viridis
Adipis Lanae «a 25,0
Die Salbe wird auf die Psoriasisstellen
mittels Borstenpinsels morgens und abends 4 bis
6 Tage lang eingerieben und nach leichtem
Antrocknen mit Amylum oder Zinkpuder über-
täubt. Am 5. resp. 6. Tage folgt 1 — 3 Tage
lang täglich ein warmes Bad und Einreibungen
mit Vaselin. Je nach der Schwere des Falles
wird diese gesamte Prozedur noch 2 — 3 mal
bis zum Verschwinden der Effloreszenzen wieder-
holt.
Die Psoriasisflecken reagieren auf die Ein-
pinselung schon am 1. oder 2. Tage mit einer
starken Abschuppung; die normale Haut wird
durch die Chrysarobinsaibe nicht oder nur ganz
unbedeutend gereizt. Durch die der Einpinse-
lung folgenden Bäder und Vaselineinreibungen
wird die auf der Haut in Form einer pergament-
artigen schwarzen Schicht festhaftende Salbe all-
mählich gelöst.
In den Handel gelangt auch ein Gutta-
percha-Pflastermull (Beiersdorf & Co.) mit Aci-
dum salicylicum 5, Chrysarobin 10, Oleum
Rusci 10, Sapo medicatus 12,5, welcher eben-
falls sich als ganz reizlos erweist und nament-
lich zur Behandlung der letzten Reste der
Psoriasis geeignet erscheint.
Alkohol-SUber-Salbe
ist nach A. Loewe (Allgem. medizin. Zentral-
Zeitung, Nr. 9, 1905) von günstigem Erfolge
bei Frostbeulen, Ernährungsstörungen der Haut,
Ulcus cruris, Decubitus, Kontusionen der Weich-
teile, Distorsionen der Gelenke, Verbrennungen
1. und 2. Grades, bei Tendovaginitis, Bnrsitis,
Phlebitis, Ekzemen, infizierten Wunden, Pan-
aritien, Phlegmonen, Furunkel, Bubo und
Epididymitis sowie bei Neuralgien. Zur Ver-
wendung gelangt eine Salbe (Chemische Fabrik
Helfenberg vorm. E. Dieterich), welche Collargol
0,5 Proz., 96 proz. Spiritus, 70 Proz. Natronseife,
Wachs und etwas Glyzerin enthält. Die braune,
weiche und geschmeidige Salbe ist verschlossen
aufbewahrt gut haltbar. Mittels Spatels wird
die Salbe messerrückendick auf die gereinigte
Hautfläche gleichmäßig aufgetragen und mit
einer zweifachen Schicht Leinwand oder vier-
fachen Schicht Verbandmull resp. Watte bedeckt;
über diese Schicht wird Gummipapier durch
eine Binde befestigt. Der Verband ist täglich
1 — 2 mal zu erneuern ; vor jeder Applikation
ist die erkrankte Stelle zu baden oder mit
warmem Wasser abzuwaschen. 10 — 15 Minuten
nach der Applikation macht sich ein lebhaftes
Wärmegefühl bemerkbar, das etwa 1 Stunde
anhält. Zugleich schwinden Schmerzen, auch
begleitendes Fieber, und es tritt allgemeine Be-
ruhigung ein. Die Haut und die erkrankten
Stellen werden durch die Salbe in einen Zu-
stand von Hyperämie versetzt, der die Auf-
nahme des antiseptisch wirkenden Collargols
begünstigt. Irgendwelche üble Nebenwirkungen
fehlen.
Röntgenkurse.
Die beiden letzten Aschaffenburger Röntgen-
kurse dieses Jahres beginnen am 7. Oktober
und 8. Dezember. Die Dauer der Kurse ist
5 bis 6 Tage, während deren vormittags und
nachmittags je 3 bis 4 Stunden gearbeitet
wird.
Die Kursleitung a hat verschiedentlich ge-
äußerten Wünschen entsprechend in das Pro-
gramm Vorträge über die neuere Elektronen-
theorie und die Radiumforschung ein-
fügen lassen, welche von Ingenieur Dessauer
gehalten werden.
Das Programm ist im übrigen das be-
kannte. Ohne Vorkenntnisse vorauszusetzen,
werden die physikalischen Grundlagen kurz
durchgesprochen, dann eingehend die Technik,
und zwar streng objektiv. Von ärztlicher Seite
wird die Anwendung des Verfahrens in der
Chirurgie, der inneren Medizin und der Therapie
theoretisch und praktisch vorgetragen und de-
monstriert. Das zur Verfügung stehende Kranken-
material war in den letzten Kursen sehr reich-
lich. Nähere Anfragen sind zu richten an den
Kursleiter Herrn Medizinalrat Dr. Roth,
Königlichen Landgerichts- und Bezirks-
arzt, Aschaffenburg.
Für die Redaktion verantwortlich: Dr. A.Langgaard in Berlin BW.
Verlag von Julius Springer in Berlin N. — Universitäts-Buchdruck erei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin N.
Therapeutische Monatshefte.
190)5. November.
Originalabhandlnngen.
(Aas dem pharmakologischen Institut der Unirersitit Wflrs-
barg: Prof. Kunkel.)
Kritisch - experimentelle Beiträge
zar Wirkung' des Xebennierenextraktes
(Adrenalin)*
Von
Dr. med. S. Möller in Altona.
( Von der medfeln. Fakultät Wttrsburg preisgekrönte Arbelt.)
Von allen vasokonstriktorischen Mitteln
steht wohl heutzutage das Extrakt der Neben-
niere, das Adrenalin, im Vordergründe des
Interesses sowohl wegen seiner praktischen
Wichtigkeit als auch wegen seiner starken
Wirksamkeit, und ist dasselbe daher wohl
auch mit Recht als das Vasoconstringens
xat dlgoxtjv bezeichnet worden. Fast ebenso
bekannt wie seine starke Wirksamkeit ist
es aber auch, daß trotz der umfangreichen
Literatur, der vielen experimentellen Erfah-
rungen und der ausgebreiteten praktischen
Verwendung man sich über seine Wirkungs-
weise noch nicht recht klar ist. Wenn auch
auf einzelnen Gebieten, speziell dem der
lokalen Applikation auf die Schleimhäute,
dasselbe als fester Besitz der Kliniker schon
eingeführt ist, so ist man doch in anderer
Hinsicht, in bezug auf die subkutane In-
jektion, auf die Gabe per os noch recht ver-
schiedener Ansicht, und vor allem ist die
Erklärung mancher Erscheinungen bei An-
wendung der Substanz auf den verschiedenen
Wegen noch eine offene Frage, trotzdem sie
schon der Gegenstand mannigfacher Unter-
suchungen gewesen sind. Bei dem Studium
der sehr umfangreichen Literatur ergab es
sich nun, daß die experimentelle Unter-
suchung der in Betracht kommenden Fragen
recht schwierig war. Alle einfacheren Me-
thoden waren in den recht zahlreichen Ar-
beiten und Versuchen schon angewendet
worden, und es standen hinsichtlich vieler
Fragen nur komplizierte Methoden zur Ver-
fügung, die einen gewissen Grad physiolo-
gischer Technik erforderten. Bei der unge-
heuren Wirkung selbst der geringsten Dosen
Adrenalins — selbst 0,00000024 g bringen
noch eine deutliche Blutdrucksteigerung beim
Th. M. 1905.
Tiere hervor — hielt ich mich nicht für be-
rechtigt, einige der Fragen durch leicht aus-
zuführende Versuche am Menschen nachzu-
prüfen, bis die Erfahrungen bewährter Kli-
niker zu einem sicheren Ergebnis über die
Verwendbarkeit und über die maximale Dosis
geführt haben. So habe ich es denn für das
Beste gehalten — denn es zeigte sich auch
weiterhin, daß eine genauere Beantwortung
einzelner schwebender Fragen eine intensive
Beschäftigung mit einer ganzen Reihe von
Spezialgebieten der Physiologie erforderte —
eine Zusammenstellung aller klinischen und
experimentellen Erfahrungen, soweit sie mir
zur Verfügung standen, vorzunehmen und
durch kritische Durchsicht der Resultate das
Gemeinsame, Sichergestellte herauszuschälen
und eine Entscheidung der strittigen Punkte
durch kritische Zusammenstellung der bis-
herigen Resultate und, soweit es mir mög-
lich war, durch einige experimentelle Unter-
suchungen zu fördern. Diese letzteren mußten
sich naturgemäß auf die einzelnen Gebiete
verschieden verteilen und konnten wegen der
erwähnten Umstände auch nur in beschränktem
Maße ausgeführt werden. Es konnten da-
her auch die vielen anderen gefäßverengern-
den Mittel (Digitalis, Strychnin, Hydrastinin,
Piperidin u. 8. w.) nur ganz vereinzelt mit
in den Kreis der Betrachtungen gezogen
werden. Stehen dieselben ja auch im Augen-
blick nicht so sehr im Vordergrunde des
Interesses als eben das Nebennierenextrakt,
das Adrenalin.
Über die chemischen Eigenschaften des
Stoffes, der die spezifische Wirkung der
Gefäßverengerung hervorruft, waren bis vor
kurzem die Ansichten noch getrennt. Erst
im Jahre 1901 war es dem New Yorker
Chemiker Jokichi Takamine gelungen, die
Substanz isoliert darzustellen. Bis dahin
arbeitete man mit Wasserextrakten, mit
Glyzerinextrakten der ganzen Nebennieren.
Es hatte sich aber nun gezeigt, daß speziell -
die Marksubstanz der Nebennieren den spe-
zifischen Körper enthalte, und war in den
einfachen Drüsenextrakten jedenfalls ein Teil
Substanzen enthalten, die nicht die spezifische
41
548
Möller, Wirkung des N«b«ool«reo«ztiAktet (Adrenalin).
rTherapevtltrk«
L Monatahefte.
Wirkung ausübten. Trotzdem ist diese so
stark, daß man die Haupteigenschaften der
Substanz fast vollständig schon vorher, vor
der Isolierung, feststellen konnte, und hat
man scheinbar mit der chemisch reinen Dar-
stellung, die in den letzten Jahren noch
vervollkommnet wurde, für die rein wissen-
schaftliche Forschung der Wirkung nicht viel
gewonnen. Anders ist dieses natürlich für
die therapeutische Anwendung. Hier hat
man durch die Isolierung der Substanz eine
sichere Handhabe für die genaue Dosierung
gewonnen, und ist man seither eifrig bemüht
gewesen, die chemische Reinheit der Sub-
stanz möglichst zu vervollkommnen. Diesen
Bemühungen sind wohl auch teilweise die
verschiedenen Präparate entsprungen, die
augenblicklich im Handel sind und wohl in
ihrer Wirkung alle keinen großen Unterschied
zeigen. Ich habe in meinen Versuchen mich
immer des Präparates „Epirenan" bedient,
hergestellt von den chemischen Werken vorm.
Dr. Heinrich Byk in Berlin, das nach der
Analyse von Abderhalden und Bergeil
in Emil Fischers Laboratorium die Substanz
▼ollig rein enthalten soll. Dieses Präparat
ist allerdings weniger bekannt, doch habe
ich die physiologische Wirksamkeit mit dem
in Deutschland am meisten angewendeten
Suprarenin der Höchster Farbwerke ver-
glichen, konnte aber keinen nachweisbaren
Unterschied in der Wirksamkeit der beiden
Präparate konstatieren. Das „Epirenan",
das ich zu meinen Versuchen benutzte, und
das mir in liebenswürdigster Weise von der
Firma Chem. Werke vorm. Dr. Heinrich Byk
in beliebiger Menge zur Verfügung gestellt
wurde, zeigte auch während der ganzen Zeit
der Versuchsdauer immer gleich starke phy-
siologische Wirksamkeit, und auch hinsichtlich
der Toxizität konnte ich keine Abweichung
von den Ergebnissen anderer Forscher kon-
statieren, und habe ich daher dasselbe wäh-
rend der 7 monatlichen Versuchsdauer immer
benutzt. Der Firma sage ich auch hiermit für
die kostenlose Überweisung größerer Mengen
meinen besten Dank. Kurz erwähnen mochte
ich hier nur, daß es nach den neueren Ver-
öffentlichungen von Stolz und Meyer,
Jowett, Friedmann und Bertrand auch
gelungen ist, synthetisch durch Einwirkung von
Methylamin auf Ghlorazetobrenzkatechin =
Methylaminoazetobrenzkatechin einen stark
blutdrucksteigernden Stoff herzustellen, der
identisch sein soll mit dem Aminoketon, das
durch Oxydieren des Suprarenins entsteht.
Das letztere ist dann nach Jowett ein
Aminoalkohol und hat die Formel
H
C
/\
OHC C-CHOH.CH,NHCH3
I I
OHC CH
\/
C
H
also die schon 1901 von Aid rieh gefundene
Zusammensetzung C9H13N03. Doch steht
nach den neuesten Veröffentlichungen von
Stolz noch die Formel
ch
/\
OHC C . CH(NHCHS) CH, OH
I I
OHC • CH
\/
CH
zur Diskussion, und unterscheidet sich die
synthetisch dargestellte Substanz chemisch
dadurch, daß ihre Salze im Gegensatz zu
denen des aus den Nebennieren hergestellten
sogenannten Adrenalons (Friedmann) durch
Natriumazetat fällbar sind. Auch ist die
physiologische Wirkung der Blutdrucksteige-
rung, wenn auch qualitativ vorhanden, so
doch quantitativ viel geringer.
Allgemeine Blutdrucksteigerung.
Diejenige Eigenschaft des Adrenalins,
des Nebennierenextraktes — ich brauche in
folgendem meistens den Ausdruck Adrenalin
oder Nebennierenextrakt, einerlei um welches
Präparat es sich handelt, abgesehen natür-
lich davon, wo es sich um eine bestimmt*
Zubereitungsart handelt — , die zuerst das
Interesse weiterer Kreise auf die Substanz
gelenkt hat, ist das merkwürdige Phänomen
der starken Blutdrucketeigerung nach intra-
venöser Injektion selbst sehr geringer Mengen.
Die ersten Mitteilungen hierüber erschienen
fast gleichzeitig im Jahre 1894 von Oliver
und Schäfer und von Cybulski und Scy-
monowiez. Die Arbeiten von Moore,
Fränkel, Mühlmann, Metzger, Gürber,
Abel und Crawford u. a. ergaben dann
übereinstimmend, daß diese Wirkung des
Organ extraktes der Nebenniere geknüpft sei
an eine Substanz in ihr, die sich nach den
früheren Befunden Vulpians und Arnolds
charakterisierte durch starke Farbenreaktionen
mit den Eisensalzen, speziell durch die deut-
liche Grünfärbung mit Fe9Cl6. In den beiden
erwähnten ersten Veröffentlichungen tritt nun
ein grundlegender Unterschied hervor in der
Erklärung dieses Phänomens. Cybulski
und Scymonowicz behaupten, diese Druck-
Steigerung käme zustande durch zentrale Er-
regung des Gefäßnervenzentrums durch die
Substanz, denn wenn sie das Rückenmark
XIX. Jahrgang.!
NoT»mb«T 1905.J
Möller, Wirkung d«t N«benoier«nextraktes (Adranalio).
549
unterhalb der Zentren und auch den Vagus
durchschnitten, trat keine Veränderung des
Blutdruckes auf, und fehlte auch die Ton
ihnen beobachtete Atembeschleunigung. Oli-
ver und Schäfer dagegen fanden auch nach
Durchschneidung des Rückenmarks Blutdruck-
Steigerung und kamen auf Grund ihrer ver-
schiedenen Versuche, speziell 'der plethys-
, Biographischen Messungen an den inneren
Organen, der Milz etc., zu der Annahme, daß
die Steigerung des Blutdruckes auf einer
hochgradigen Eontraktion der Muskulatur der
Gefäße und des Herzens, also auf einer peri-
pheren "Wirkung beruhe. Daß die Ansicht
der letzten die richtigere ist, brauche ich
wohl nicht näher auszuführen, denn die
ganze therapeutische Anwendung des Ex-
traktes beruht ja auf der so starken peri-
pheren "Wirkung. Wie Boruttau hervorhebt,
ist die Täuschung bei den Versuchen von
Cybulski und Scymonowicz wohl ziem-
lich sicher durch die Wirkung des Choks
zu erklären. Ob dagegen bei intravenöser
Injektion der Substanz nicht auch eine Be-
einflussung der Zentren stattfindet, ist bis
heute noch ein Streitpunkt. Velich, der
die Versuche bald nachprüfte, kam zu dem
Ergebnis, daß das Nebennierenextrakt sowohl
auf die spinalen vasokonstriktorischen Zentren
wie auch auf die peripheren nervösen Ein-
richtungen der Gefäße wirke. Daß auch ohne
Einwirkung der Zentren starke Blutdruck-
steigerung auftritt, ist jedenfalls sicher. Doch
braucht deshalb auch noch ein Einfluß der
nervösen Zentren nicht ausgeschlossen zu
werden. Denn Biedl und Velich haben
Anfang 1896 zu gleicher Zeit ungefähr Ver-
suche veröffentlicht, in denen sie dartaten,
daß bei Säugetieren, denen die Medulla ob-
longata durchtrennt und das ganze Rücken-
mark zerstört war, dennoch auf Nebennieren-
«xtraktinjektion hin die charakteristische Blut-
drucksteigerung sich zeigte. Stricker und
Ustimowitsch hauptsächlich haben zuerst
darauf hingewiesen, daß Tiere nach dieser
so eingreifenden Operation noch kürzere Zeit,
allerdings bei sehr niedrigem Blutdruck,
leben können. Die Ursache des Todes ist
in diesen Fällen die Anämie des Herzens,
indem die Gefäße ihren vom Rückenmark
■ausgehenden Tonus verlieren, das Blut sich
in den erschlafften Venen ansammelt, das
Tier — nach dem Ausdrucke C. Ludwigs —
sich in seine eigenen Gefäße innerlich ver-
blutet. Biedl und Velich haben nun bei
«olchen Tieren durch intravenöse Injektion
des Nebennierenextraktes den Blutdruck von
fast 0 bis auf 160 mm Hg getrieben und
durch wiederholte Zufuhr einige Zeit auf der
Höhe gehalten. Jedenfalls ist dieses ein
Beweis dafür, daß die Ursache der Blut-
drucksteigerung in der Verengerung der peri-
pherischen Gefäße zu suchen sei.
Ob dabei jede Mitwirkung des Zentral-
nervensystems sicher ausgeschlossen ist, läßt
sich bis heute noch nicht sicher behaupten.
Vor allem hat E. von Cyon es betont, daß
eine solche wohl sicher anzunehmen sei. Außer
mehreren anderen gewichtigen Gründen auch
deshalb, weil er den durch die Extraktinjektion
gesteigerten Druck nach Durchschneidung
beider Splanchnici um ein beträchtliches
sinken sah. Boruttau hat' diese Versuche
nachgeprüft und dann bei kontinuierlicher
Injektion von Extrakt, um den Blutdruck
längere Zeit in der Höhe zu erhalten, nur
unbedeutende, bald vorübergehende Druck-
verminderung gefunden, was er darauf zurück-
führt, daß der normale, vom Splanchnicus
vermittelte Tonus, der nach Durchschneidung
desselben ausfallt, alsbald wieder ersetzt
wird durch die vom Extrakt hervorgebrachte
Verengerung. Cyon stützt seine Annahme
auch hauptsächlich auf den von ihm auf-
gestellten Satz, daß Stoffe, die das Herz
resp. das Gefäßnervensystem beeinflussen, stets
auf alle hintereinander geschalteten Teile des-
selben in gleicherweise, wenn auch in ver-
schiedener Stärke wirken. Doch ist es ja
nach den bisherigen Erfahrungen noch nicht
ganz sicher, wie ich in späterem näher aus-
führen werde, ob der wirksame Stoff der
Nebennieren überhaupt auf die peripherischen
Nervenapparate oder aber direkt auf die
glatte Muskulatur wirkt. Jedenfalls ist die
Beteiligung des vasokonstriktorischen Zen-
trums an der Blutdrucksteigerung nicht sicher
und würde scheinbar bei der später zu be-
sprechenden bekannten starken lokalen "Wir-
kung wohl nur sehr gering sein. Doch spricht
ja auch noch ein anderes Phänomen für eine
Beteiligung zentraler Zentren, das Auftreten
von langsamen und vergrößerten Pulsen wäh-
rend der Blutdrucksteigerung.
Von fast allen Forschern wird die Blut-
drucksteigerung in folgender Weise geschil-
dert: Zirka 5 — 10 Sekunden nach der In-
jektion beginnt der Blutdruck plötzlich an-
zusteigen und erreicht schon nach 5 bis
8 Sekunden sein Maximum, oft das Doppelte,
selbst das Dreifache seines Ausgangs wertes.
Der Blutdruck verharrt dann 2 — 3 Minuten
auf der Höhe, öfter auch nur kürzere Zeit
und sinkt nach Verlauf von etwa 10 Minuten
wieder zum Anfangswerte oder häufiger 10 bis
20 bis 30 mm unter diesen herab. Einige
Sekunden nach dem Beginne der Druck-
steigerung beginnt eine starke Pulsverlang-
samung, die auf der Höhe der Extrakt-
wirkung in Pulsbeschleunigung umschlägt.
41*
550
ATßller, Wiikung da« Nebennieren«xtrakte« (Adrenalin).
("Therapeutische
L Monatshefte.
Das Auftreten dieser verlangsamten und ver-
größerten Pulse wird auch von allen Autoren
bestätigt (Oliver und Schäfer, Gerhardt
etc.), und nehmen auch die meisten der-
selben an, daß nach Atropinisierung und
Durchschneidung des Vagus dieselben auf-
hörten. Sie fuhren sie demgemäß auch auf
eine Erregung des Vaguszentrums zurück.
"Wie schon früher Gürber und einige andere
suchen auch Biedl und Reiner (a) sie als
abhängig von dei Blutdrucksteigerung dar-
zustellen analog der Puls verlangsamung nach
anderweitiger Drucksteigerung, durch Aorten-
kompression, Splanchnicusreizung, Asphyxie
etc. Sie finden die Vaguspulse nicht während
des Druckanstieges, sondern erst nach dem
Überschreiten des Höhepunktes, nur bei hirn-
wärts in die Karotis gerichteter Injektion
wollen sie Vaguspulse gleich zu Beginn der
Druckerhebung gesehen haben. Sie unter-
scheiden dann 2 Phasen der Vaguswirkung,
die erste als direkte Erregung der Vagus-
zentren und die zweite, bei welcher die un-
mittelbare Erregung nicht mehr mitkonkur-
riert, als Folge des allgemeinen Blutdrucks.
Wodurch diese letztere hervorgerufen wird,
wagen Biedl und Reiner (a) selbst nicht
sicher zu entscheiden. Nun hat aber Ver-
worn neuerdings gelegentlich seiner Ver-
suche über dyspnoische Vagusreizung, bei
der er im übrigen eine leichtere Erregbar-
keit des Vaguszentrums bei Blutdruckerhöhung
durch Aortenabklemmung als wie auch durch
Dyspnoe feststellte, die Beobachtung gemacht,
daß auch nach Durchschneidung des Vagus
bei Nebennierenextraktinjektion deutlich die
erwähnte Pulsverlangsamung auftrete und hat
nun daraus geschlossen, daß dieselbe durch
direkte Wirkung des Nebennierenextraktes auf
das Herz hervorgerufen würde. Gegen ihn
wendet sich wieder R. H. Kahn (c). Er
findet, daß nur bei sehr starken Dosen von
Nebennierenextrakt die Pulsverlangsamung
und Vertiefung auch nach Vagotomie auf-
trete. Kahn wendet dabei das gleiche
Präparat und gleiche Verdünnung wie Ver-
worn an. — Dagegen bei kleineren Dosen
bleibt das Phänomen nach Vagotomie aus.
Bei stärkeren Dosen muß man also auch
nach Kahn annehmen, daß die Vaguspulse
durch eine schädigende Einwirkung auf die
Herzmuskulatur zustande kommen. Ich werde
auf diese schädigende Herz Wirkung bei Be-
sprechung der Intoxikationserscheinungen durch
Nebennierenextrakt genauer zurückkommen.
Bei niederen Dosen scheint dagegen dieses
Vagusphänomen nur auf eine Erregung des
Vaguszentrums zurückgeführt werden zu
müssen. Eine Lähmung des Vaguszentrums,
wie sie Verworn auf Grund seiner Beob-
achtungen behauptet, kann wohl nicht ange-
nommen werden. Denn der Beweis, den
Verworn hierfür beibringt, ist nach den
Ausführungen Kahns auch nicht ein-
wandsfrei. Verworn hat nämlich festge-
stellt, daß der Depressorreflex auf der Höhe
der Nebennierenwirkung nicht mehr auslös-
bar ist. Der N. depressor, der besonders beim
Kaninchen gut isolierbar ist, bringt, wie
Ludwig und Cyon 1866 zuerst feststellten,
ja nach Durchschneidung und Reizung des
zentralen Stumpfes, wie man allgemein an-
nimmt durch Erregung des Vaguszentrums,
eine Verlangsamung und Vertiefung der Herz-
schläge hervor, die nach Vagus durch schneidung
ausbleibt, außerdem ja noch ein deutliches
Fallen des Blutdruckes, worauf ich später
noch zu sprechen komme. Aus einem Aus-
bleiben dieses Depressorreflexes auf der Höhe
der Nebennierenextraktwirkung glaubt Ver-
worn nun auf eine Lähmung des Vagus-
zentrums durch dasselbe schließen zu dürfen.
Kahn gibt nun allerdings zu, daß das Phä-
nomen der Vaguspulse bei Depressorreizung
durch Ad renal in Wirkung recht häufig aufge-
hoben ist. Doch führte er dieses auf etwas
anderes zurück. Sucht man nämlich durch
Reizung des Vagus selbst die Pulsverlang-
samung hervorzurufen, und sucht man sorg-
fältig die Reizschwelle auf, in der die Vagus-
reizung einem gut ausgesprochenen Depressor-
reflex entspricht, so sieht man auch dann
bei Vagusreizung nach Injektion von Neben-
nierenextrakt diese direkte Vagus wirkung
plötzlich verschwinden. Es muß also noch
etwas anderes vorliegen als Lähmung des
Vaguszentrums. Schon C y b u 1 s k i und
Go urfein und später auch Langley haben
nun darauf hingewiesen, daß hohe Dosen von
Nebennierenextrakt die Herzendigungen des
Vagus lähmen. Auch E. von Cy on kommt
auf Grund seiner Versuche zu dem gleichen
Resultat. Auch diese Forscher sahen wäh-
rend der Extraktwirkung bei hohen Dosen
auf Vagusreizung hin keine Verlangsamung
der Pulse eintreten. Das Ausbleiben des
Depressorreflexes wäre also auf die Weise
zu erklären, daß durch Paralyse der Herz-
vagusendigungen ein so geringer Reiz des
Vagus, wie er eben durch die Depressor-
reizung zustande kommt, nicht genügend ist,
um seine Wirkung auszuüben. Daß dagegen
stärkere faradische Reizung des Vagus selbst
noch deutliche Wirkung hervorbringt, hebt
schon Gerhardt hervor u. a. Jedenfalls
spricht manches dafür, daß das Ausbleiben
des Depressorreflexes auf der Höhe der Adre-
nalinwirkung, wie er von den meisten Autoren
beobachtet wurde, nach der Annahme Kahns
zu erklären ist. Natürlich ist hiermit nur
XIX. Jahrgang.!
Kovtnber I006.J
M Oll er, Wirkung de« Nebennlerenextraktet (Adrenalin).
551
der eine Teil des Reflexes, die Pulsvertiefung
und Verlangsamung, gemeint. Eine andere
Erklärung mußte allerdings hoch für das
Fehlen der Blutdrucksenkung bei der De-
pressorreizung gefunden werden. Freilich
sind bis heute die Ansichten darüber noch
nicht geklärt, ob diese Blutdrucksenkung
durch eine Erregung der Vasodilatatoren oder
durch Abnahme des Tonus der Vasokonstrik-
toren zustande kommt. Dabei ist, wie schon
Ludwig und Cyon gezeigt haben, das
Splanchnicusgebiet hauptsächlich beteiligt,
doch auch in geringerem Grade die anderen
Gefaßgebiete. Es wird hier also die Er-
klärung der Autoren für das Fehlen des
Reflexes eventl. auf verschiedener Basis be-
ruhen. Verworn hebt nun hervor, und darin
stimmt ihm Kahn, auch bei, daß das Neben-
nierenextrakt vielleicht eine so starke peri-
pherische Gefäß Verengerung hervorrufe, daß
das Nachlassen des zentralen Gefaßtonus unter
dem Einfluß der Depressorreizung nicht zum
Ausdruck käme. Aber schon viel früher
waren Oliver und Schäfer auch Cyon
und von den französischen Forschern, die
sich mit Adrenalinwirkung beschäftigten,
hauptsächlich Li von zu der Ansicht ge-
kommen, daß eine Lähmung der vasomoto-
rischen Zentren die Ursache davon sei, daß
dieser vasodilatatorische Reflex nicht zustande
käme. Doch hat neuerdings Dubois bei seinen
Versuchen über Adrenalin hervorgehoben, daß
Reizung des N. lingualis auf der Höhe der
Nebennierenextraktwirkung an der erblaßten
Zungenschleimhaut des Hundes deutliche
Rötung hervorbringt, daß also peripherische
Reizung der Vasodilatatoren gut wirksam ist.
Aber auch zentrale Erregung, wie sie nach
Wertheimer, Gärtner und "Wagner, Roy
und Sh errington das Strychnin hervorbringt,
das auch in den peripherischen Gefaßgebieten
Vasodilatation verursacht, hebt nach Dubois
an der Zunge des Hundes die Adrenalin-
wirkung auf. Es könnte also, wie Dubois
auch hervorhebt, diese Tatsache, daß die
Vasodilatation auf der Höhe der Neben-
nierenextraktwirkung bei Einfuhrung des-
selben in den allgemeinen Kreislauf eintritt,
während dagegen die Depressorreizung un-
wirksam ist, dafür sprechen, daß die De-
preasorwirkung überhaupt durch Hemmung
der vasokonstriktorischen Zentren hervor-
gerufen wird, die dann, wie auch Verworn
und Kahn annehmen, durch die starke
Adrenalin Wirkung paralysiert wird, zumal
da das Adrenalin, wie ich nachher noch
näher ausführen werde, auch seinen Haupt-
einfluß auf das vom Splanchnicus versorgte
Gebiet ausübt. Eine sichere Ansicht kann
aber bis heute, da die Grundlagen selbst
noch nicht sicher sind, für das Fehlen des
Depressorreflexes auf der Höhe der Extrakt-
wirkung ebensowenig wie für das Auftreten
der Vaguspulse während derselben ausge-
sprochen werden. Zu erwähnen wäre noch,
daß Cyon die Vaguspulse auf Reizung der
Hypophyse durch den beginnenden Druck-
zuwachs im Gehirn bezieht. Er folgert das
hauptsächlich daraus, daß die Pulsverlang-
samung nur während des Druckanstieges be-
stehe, vom Maximum ab aber durch Accelerans-
reizung verdeckt werde. Es muß aber dieser
Ansicht Cyon 8 gegenüber betont werden,
daß, wie schon erwähnt, alle anderen Autoren
diese Vaguspulse fast immer oder nur auf
der Höhe der Blutdrucksteigerung sahen,
eventuell auch im abfallenden Schenkel.
Auch ich sah die Vaguspulse, wenn sie auf-
traten, auch auf der Höhe der Blutdruck-
Steigerung und während des Abfalls. Jeden-
falls steht Cyon auch mit seiner Hypothese
über die Funktion der Hypophyse auch noch
ziemlich isoliert da. Ein Punkt, den Cyon
noch besonders hervorhebt, ist, daß nach
seiner Ansicht die Nervi accelerantes des
Herzens eine heftige Erregung erfahren, und
hiermit komme ich dann gleich auf die Herz-
wirkung des Nebennierenextraktes zu spechen,
die ja auch noch ein ziemlieh umstrittener
Punkt ist.
Wirkung auf das Herz.
Schon Oliver und Schäfer wiesen in
ihrer grundlegenden Arbeit darauf hin, daß
durch das Nebennierenextrakt eine Verstär-
kung der Herzkontraktionen speziell beim
Frosche auftrat; doch könnte dies ja eben-
sogut, wie eine Anzahl Autoren bemerkt
(Cyon etc.), durch die Kontraktion der
Gefäße hervorgerufen werden, welche dann
sekundär die Herzarbeit vermehrt. Es scheint
aber nach den neueren Untersuchungen speziell
Gottliebs kein Zweifel mehr darüber zu
bestehen, daß auch der Herzmuskel selbst
durch das Adrenalin direkt zu vermehrter
Arbeit angeregt wird. Gottlieb nimmt sogar
in 8 ein er ersten Veröffentlichung an, daß die
Herzwirkung die Hauptursache wäre bei der
Entstehung der Blutdrucksteigerung. Doch
schon in seiner späteren Arbeit kommt er da-
von zurück. Zuerst wollte er nämlich aus der
Beobachtung, daß nach dem Fallen des Blut-
druckes bei starker Chloralisierung die In-
jektion von Nebennieren ex trakt denselben
stark wieder hob, schließen, daß durch die
lähmende Wirkung des Chloralhydrats auf die
Gefäßwände eine Wiederverengerung derselben
nach so starker Erschlaffung von der Peri-
pherie aus unwahrscheinlich sei. Diese An-
nahme mußte er aber selbst durch einen
552
Möller, Wirkung des Nebannterenextraktu (Adrenalin).
fThflrap«al
L Monatehi
Monatshefte.
Durchblutungsversuch an einer stark chlora-
lisierten Niere mit Adrenalinzusatz, die deut-
liche Verengerung der Gefäße des isolierten
Organ 8 ergab, wieder zurückziehen, v. Cyon,
der diese Annahme auch schon zurückgewiesen
hatte, will jede direkte Erregung des Herzens
durch das Nebennierenextrakt leugnen und
will nur eine Reiz Wirkung auf den herz-
beschleunigenden Nervenapparat anerkennen.
Die Verstärkung der Herzschläge setzt er
auf Rechnung der Kontraktion der kleineren
Arterien, die dem Herzen mehr Blut zuführen
und so eine energischere Kontraktion des-
selben herbeiführen. Doch weist Gott lieb
schon darauf hin, daß aus seinen Versuchen
mit Chloral Wirkung das Gegenteil sehr wahr-
scheinlich sei. Denn, wenn nach tiefer Chlora-
lisierung die Pulse sehr langsam und niedrig
geworden sind, so werden sie auf Injektion
von Nebennierenextrakt hin sogleich wieder
frequenter, ehe noch der Blutdruck erheblich
in die Höhe geht. v. Cyon bezieht dieses
auf Reizung der Accelerantes. Daß diese
mitbeteiligt sind, ist sehr wahrscheinlich.
Ich werde bald darauf zurückkommen. Jeden-
falls geht aber aus den späteren Versuchen
Gottliebs und anderer hervor, daß das
Herz an und für sich primär auch vom
Nebennierenextrakt beeinflußt wird. Schon
aus den Versuchen, in denen er eine isolierte
vollständige Lähmung des Herzens durch die
von Böhm und von Aubert und Dehn
studierte Wirkung der Kalisalze auf das
Herz hervorbrachte, und in denen nach voll-
ständigem Darniederliegen des Herzens durch
Nebennierenextrakt dasselbe wieder voll-
ständig regelmäßig zu arbeiten beginnt, läßt
sich mit ziemlicher Sicherheit die direkte
Einwirkung auf das Herz schließen; denn
das Versagen des Herzens nach Kalivergiftung
tritt bei fast normalem Blutdruck ein. Die
Restitution durch Nebennierenextrakt kann
so eigentlich nur auf Herzwirkung bezogen
werden. Von ausschlaggebender Bedeutung
sind jedenfalls die Versuche, die er dann
am isolierten Herzlungenkreislauf anstellte,
welche Methode ja zuerst von Hering und
fast gleichzeitig von Bock angegeben wurde.
Es werden nach diesem Verfahren bekannt-
lich alle vom linken Herzen abgehenden
Gefäße mit Ausnahme der beiden Karotiden
abgebunden und die eine Karotis mit dem
einen Manometer in Verbindung gesetzt,
während die andere dazu dient, das gesamte
Blut vom linken Herzen durch eine Ver-
bindungsröhre in die Jugularis und ins rechte
Herz zu leiten. Bock schaltet zum Zweck
des Gleichbleibens des Druckes einen Wider-
standsapparat ein. Nebennierenextrakt be-
wirkt nun nach Gottlieb in diesem Herz-
lungenkoronarkreislauf eine deutliche und
einige Zeit anhaltende Blutdrucksteigerung
sowie gleichzeitig eine nicht unerhebliche Be-
schleunigung der Herzaktion, während gleiche
Mengen physiologischer Kochsalzlösung ohne
Wirkung sind. Die Wirkung ist nicht so
bedeutend am gut arbeitenden Herzen wie
am vorher geschwächten. Doch ist die
Blutdrucksteigerung und Beschleunigung des
Herzens sicher die konstante Folge der Ex-
traktinjektion. Daß diese Blutdrucksteigerung
nicht vom Lungenkreislauf hervorgerufen sein
kann, wird später noch näher ausgeführt
werden. Von einer verlangsamenden Wirkung
am Anfang, wie sie in den Blutdruckkurven
fast regelmäßig ist, fand Gottlieb keinerlei
Andeutung.
Eine weitere Bestätigung gibt Gottlieb
auch noch in einer Anzahl von Versuchen,
die er nach der zuerst von Langen dorff
beschriebenen Methode der Herzisolierung
anstellte. Mittels dieser Methode hat auch
Hedbom in Tigerstedts Laboratorium
neben einer Reihe anderer Gifte auch die
Wirkung des Nebennierenextraktes unter-
sucht und eine deutliche Verstärkung der
Herzschläge konstatiert. Diese Methode be-
steht darin, daß das nach dem Verbluten
des Tieres aus dem Körper herausgenommene
Organ nach Durchleitung deflbrinierten Blutes
durch die Koronargefäße alsbald wieder zu
schlagen beginnt, und zwar geschieht die
Durchleitung von der Aorta aus, und das
Blut zirkuliert dabei nicht in den Herz-
höhlen, sondern durch den Koronarkreislauf.
Und zwar muß besonderes Gewicht darauf
gelegt werden, daß Druck und Temperatur
des durchgeleiteten Blutes konstant bleiben.
Es zeigte sich nun mittels dieser Anordnung
in Gottliebs Versuchen bei Durchleitung
von Nebennierenextrakt ebenfalls deutliche
Vergrößerung und meistens auch Beschleuni-
gung der Herzschläge. Hier ist also sicher
eine Gefäßwirkung ausgeschlossen, und würde
die Verengerung der Koronargefäße höchstens
geringere Durchströmung des Herzens und so
entgegengesetzte Wirkung hervorrufen. Auch
Boruttau hat zu zeigen versucht, daß eine
Verstärkung der Herzarbeit stattfindet. Am
Froschherzen zeigte er mit dem von Jacoby
angegebenen, sehr vollkommenen Apparat,
welcher gleichzeitige Registrierung der Schwan-
kungen des Quecksilberfroschherzmanometers,
eventuell auch eines geeigneten Volumeters,
sowie ständige Ablesung des mittleren Druckes
als Wassersäule und Registrierung der durch
eine Leitung von gegebenem Widerstand ge-
preßten Flüssigkeitsmenge gestattet, daß bei der
Durchspülung mit sauerstoffhaltiger Gummi-
lösung Zusatz von Nebennierenextrakt zu
XIX. Jahrgang. |
No»*mber 1905. I
Möller, Wirkung de« Nebennieren extrektea (Adrenalin).
553
dieser die Schlagfrequenz alsbald erhöht und
den Druck dauernd steigert. Aber auch für
das Warmblüterherz glaubt er diese Wirkung
annehmen zu müssen aus der Beobachtung
der tomographischen Bulszacken. In längerer
Auseinandersetzung bespricht er die Bedeu-
tung der einzelnen Phasen der tomographischen
Pulszacke und betont dann weiterhin, daß
durch Nebennierenextrakt die Zacken der
tonometrischen Pulskurve als Maß der Aus-
treibungszeit des Herzens nicht nur in die
Höhe gerückt werden, d. h. von der Abszissen-
linie entfernt werden — also den größeren
Widerstand in den peripherischen Arterien über-
winden — , sondern, daß sie sich selber auch
vergrößern, also außer dieser Mehrarbeit zur
Überwindung des peripherischen Druckes noch
eine direkt erhöhte Kontraktionskraft zeigen.
Näher auf diese Beweisführung einzugehen,
würde wohl zu weit führen, zumal ja auch
durch die anderen Versuche diese Wirkung
sehr wahrscheinlich gemacht wird.
Auch Gerhardt glaubt in seiner schon ver-
schiedentlich erwähnten Arbeit auf eine direkte
Vermehrung der Herzarbeit schließen zu dürfen.
Jedoch ist seine Beweisführung nicht ganz
unanfechtbar. Wie er selbst betont, könnte
die von ihm beobachtete Drucksenkung im
linken Vorhof unter Nebennierenextraktwir-
kung nach Durchschneidung der Vagi, wäh-
rend sonst bei Drucksteigerungen im großen
Kreislauf immer, wahrscheinlich durch Stau-
ung, eine Druck Vermehrung auftritt, auch auf
Acceleransreizung zurückgeführt werden. So
scheinen denn die Versuche Gottliebs am
isolierten Säugetierherzen am beweiskräftig-
sten zu sein dafür, daß eine Beeinflussung
des Säugetierherzens direkt durch das Neben-
nierenextrakt stattfindet im Sinne einer Ver-
mehrung und Verstärkung der Herzschläge.
Erwähnen möchte ich noch, daß Cleghorn
durch künstliche Durchblutung der isolierten
Herzspitze nach den Angaben von Porter
in dessen Laboratorium auch verstärkte Kon-
traktion der isolierten Herzspitze gesehen
hat, indem er die Durchblutungskanüle mit
Adrenalin in einen Ast der Arteria coronaria
einband. Auch an isolierten Muskelteilchen
des Herzens soll Gleghorn, dessen Arbeit
ich leider nicht selbst einsehen konnte, die
Kontraktion der Herzmuskulatur durch Ein-
wirkung von Nebennierenextrakt gesehen
haben. Ich selber habe an einem Apparate,
den ich nachher gelegentlich der Besprechung
der Wirkung des Extraktes auf die Darm-
muskulatur näher beschreiben werde, solche
isolierten Herzmuskelstückchen in Ringer-
scher Lösung, bei Körpertemperatur, unter
Zuleitung von Sauerstoff untersucht, konnte
aber keinerlei Veränderung der Muskulatur
konstatieren. Doch mag hieran auch die
Anordnung, die Art der Präparation, die
Wahl der Muskelstückchen u. a. schuld sein.
Wie gesagt, konnte ich die Versuchsanordnung
Cleghorn s nicht in Erfahrung bringen. Die
Versuche Cleghorns an der Herzspitze, die
ja frei von jeglichen nervösen Ganglienappa-
raten ist, und an den Muskelstückchen lassen
nun darauf schließen, daß eine direkte Be-
einflussung der Herzmuskulatur stattfindet.
Doch hat Gottlieb schon in seinen ersten
Versuchen darauf hingewiesen, daß am Frosch-
herzen, das nach der ersten Stanniusschen
Ligatur stillsteht, die intravenöse Injektion
einer geringen Menge von Nebennierenextrakt
mit Sicherheit erneute Kontraktionen aus-
gelöst werden. Nach erneuter Abschnürung
unterhalb der Atrioventrikulargrenze steht
der Ventrikelrest auch nach Nebennieren-
extraktin jektion still, und nun löst wieder
jeder mechanische Reiz an der Herzspitze
nur eine Kontraktion aus. Es würden dem-
nach die sämtlichen automatischen Ganglien
des Froschherzens durch das Nebennieren-
extrakt gereizt werden. Nach der ersten
Stanniusschen Ligatur bringt dann die Er-
regung der Bidderschen oder Atrioventri-
kularganglien die Kontraktionen wieder zu-
stande. Sind auch diese abgeklemmt, so
findet auch durch Nebennierenextrakt keine
Erregung mehr statt. Nach der neueren,
myogenen Theorie der Herzfunktion würden
diese Beobachtungen ja natürlich ganz anders
zu deuten sein, und hat neuerdings Harnack
den Versuch gemacht, diese Beobachtungen
mit der Engelmann sehen Theorie in Über-
einstimmung zu bringen. Er kommt aber
selber zu dem Schluß, daß die Erklärung im
Sinne dieser Theorie immerhin mit einigen
Schwierigkeiten verknüpft sei. Es ist hier,
glaube ich, nicht der Ort, auf diese Frage
näher einzugehen. Ich möchte nur noch
ganz kurz betonen, daß das allgemein beob-
achtete Phänomen der Pulsbeschleunigung im
weiteren Verlauf der Blutdrucksteigerung wohl
von allen Autoren als Erregung der Nn. acce-
lerantes gedeutet wird. Wie schon erwähnt,
legt Cyon ja hierauf großes Gewicht. Auch
Gottlieb und Gerhardt u. a. sprechen sich
in den erwähnten Arbeiten für eine solche
peripherische Acceleransreizung aus, die ja be-
sonders deutlich nach Vagusdurchschneidung
auftritt. Ob dagegen die Verstärkung der
Herzschläge, wie sie Gottlieb ja auch am
isolierten Herzen beobachtete, auf einer direk-
ten Beeinflussung der Herzmuskulatur beruht,
läßt sich ganz sicher ja nicht entscheiden.
Doch spricht ja manches, wie ich dargelegt
zu haben glaube, dafür. Neuerdings haben
auch Bardier und Baylac darauf hin-
554
Möller, Wirkung des Nebennlerenextraktet (Adrenalin).
( Therapeutische
L MonatRhefte.
gewiesen, daß sowohl nach ihren eigenen
Versuchen als auch nach denen von Neujean,
die ich selbst leider nicht einsehen konnte,
nach Atropinisierung des Vagus eine viel
stärkere Blutdrucksteigerung auftritt als vor-
her. Die Aufhebung der Wirkung der hem-
menden Vagusfasern läßt demnach also die
Beteiligung des Herzens an der Blutdruck-
steigerung viel stärker hervortreten. Auf
die Schädigungen, die das Herz dabei treffen
können, werde ich bei Besprechung der toxi-
schen Wirkung des Extraktes naher zu
sprechen kommen.
Beeinflussung des peripherischen
Kreislaufes.
Trotz dieser Herzwirkungen unterliegt es
jedoch keinem Zweifel, daß die Blutdruck-
steigerung zum größten Teil auf eine Kon-
traktion der peripherischen Gefäße des Kör-
pers zurückzuführen ist, wie ich es ja schon
ausgeführt habe. Die Gefäßgebiete des Kör-
pers sind aber nicht alle gleichmäßig von
der Kontraktion betroffen. Schon Oliver,
Schäfer und Moore haben durch plethys-
mographische Versuche an der Milz stets
starke Schrumpfung, an den Extremitäten
meist Volumenabnahme, mitunter aber auch
Zunahme oder Schwanken beobachtet, wobei
sie die Volumenabnahme als Effekt der Gefäß-
kontraktion, die Zunahme als passive Dehnung
durch das Überwiegen des gesteigerten Blut-
druckes deuten. Velich hat wegen der
schwankenden Ergebnisse direkte Inspektion
der Organe vorgenommen und am Darm,
an der Niere, an der Gonjunctiva und am
Kaninchenohr starkes Blässerwerden gefunden.
Oliver und Schäfer glauben nun schon
aus dem konstant gefundenen Kleinerwerden
der Milz annehmen zu sollen, daß die Blut-
drucksteigerung hauptsächlich durch die Ge-
fäße des Splanchnicusgebietes bewirkt wird.
Auch Pick hat durch Messung der Ausfluß-
menge aus der Vena jugularis, der Vena
femoralis und der Vena meseraica nach
Extraktinjektion Gleichbleiben oder Verlang-
samung der Ausflußmenge festgestellt, die
für eine schon recht starke Gefäßverengerung
spricht, da bei erhöhtem Druck eigentlich
eine Vermehrung der Ausflußmenge statt-
finden müßte. Auch bei ihm war diese Ver-
langsamung, wenn auch recht ausgesprochen
an der Vena jugularis und femoralis, so
doch am prägnantesten und stärksten an der
Vena meseraica. — Was die mehr peripheren
Gebiete der äußeren Haut und der Schleim-
häute anbetrifft, so sind hierüber die An-
gaben verschieden. Velich gibt an, daß
nach Adrenalininjektionen die Hautgefäße
mit von der Verengerung betroffen werden;
aber der Grad ist wesentlich geringer als
an den Eingeweiden. Gerhardt findet das-
selbe. Rißwunden der äußeren Haut bluten
nach ihm stärker, und an bloßgelegten
Muskelgefäßen konnte er mit der Lupe eine
Verengerung der Lichtung weder an den
kleinen Arterien noch an den kleinen Venen
feststellen. L angle y gibt an, daß die Haut-
gefäße ziemlich stark mitbetroffen werden.
Auch findet er deutliches Erblassen der
Wangen- und Lippenschleimhaut nach In-
jektion des Extraktes bei Hunden. Dubois
will dagegen an der Lippen- und Wangen-
schleimhaut des Hundes deutliche Vasodila-
tation gesehen haben. An der Zungenschleim-
haut stellt er dagegen immer promptes Er-
blassen auf die Injektion hin fest. Nach
Dastre und Morat bringt nun beim Hunde
Reizung des Kopfendes des vom Vagus ge-
trennten, durchschnittenen Halssympathicus
maximale Erweiterung der Schleimhautgefaße
der Lippen und Wangen hervor, während an
der Zunge dann Erblassen eintritt. Da die
gleichen Erscheinungen bei Adrenalininjektion
eintreten, schließt Dubois daraus, daß die
Adrenalin Wirkung auf einer Reizung der peri-
pherischen Endigungen des Sympathicus in
den Gefäßen beruhe. Langley fugt dagegen
hinzu, daß die von ihm beobachtete Wirkung
analog sei der Gefäß Verengerung der Bucco-
labialschleimhaut, die bei ganz schwacher
Reizung des Sympathicus zu konstatieren
sei, während bei starker Reizung eben Dila-
tation auftritt. Ich werde nachher bei der
allgemeinen Besprechung des Angriffspunktes
des Adrenalins auf diese Beobachtungen
zurückkommen. Hier möchte ich nur hervor-
heben, daß für die verschiedenen Gefäßbezirke
verschiedene Wirksamkeit der Adrenalininjek-
tion konstatiert ist. So viel steht jedenfalls
fest, daß die Gefäße des Splanchnicusgebietes
am stärksten von der Verengerung bei Ein-
führung der Substanz in den allgemeinen
Kreislauf betroffen werden. Bei geöffneter
Bauchhöhle sah ich selbst an den Gefäßen
des Darms und Mesenteriums beim Kaninchen
deutliche Anämie auftreten. Lange nicht so
deutlich konnte ich sie dagegen am Kanin-
chenohre bei • intravenöser Injektion größerer
Dosen, nämlich 0,2 ccm der Solut. Epirenani
hydr. 1 : 1000, auftreten sehen. Und auch hier
schien die Wirkung wechselnd zu sein. Deut-
lich sah ich die Verengerung nur zweimal
eintreten, einmal bei der Injektion von 0,2
und einmal bei Injektion von 0,25 Epirenan
in die Vena femoralis und in die Ohrvene.
Doch möchte ich hervorheben, daß ich mich
auch in diesen Fällen geirrt haben mag.
Denn durch die bekannten Schiff sehen
rhythmischen Füllungen und Entleerungen der
XIX. Jahrgang.]
November 1905. J
Möller, Wirkung d«s Nabennierenextrakte« (Adrenalin).
555
Gefäße des Kaninchenohres konnte auch gerade
eine Entleerung stattgefunden haben, die eine
Verengerung durch das Nebennieren extrakt
Tortäuschte. Doch gibt auch Josu6 an, daß
er eine deutliche Eontraktion der Ohrgefäße
sah nach intravenöser Injektion in die andere
Ohrvene, zuerst auf der einen und dann auf
der Injektionsseite, sowohl vor Sympathicus-
durchschneidung als auch nach Exstirpation
des Gangl. cervicale supr. Die Venen ver-
schwanden; die Arterien wurden ganz eng
und hart wie Eisendraht. Diese Beobachtung
habe ich allerdings nicht machen können.
Eine Erklärung dieser Tatsachen der Wirkung
in verschiedenen Gefäßgebieten ist ziemlich
schwer zu geben, zumal da unsere Ansichten
über das Verhältnis der gef aß verengernden
zu den gefäßerweiternden Nervenfasern noch
immer nicht ganz klar sind. Ich werde
nachher darauf zurückkommen und jetzt erst
die Besprechung der Einwirkung des Adre-
nalins auf die Lungengefäße und auf die Hirn-
gefäße folgen lassen, dicwie in mancher anderen
Hinsicht so auch in bezug auf die Adrenalin-
wirkung eine Sonderstellung einnehmen.
Einfluß auf die Lungengefäße.
Velich machte zuerst die Beobachtung,
daß die Drucksteigerung, die nach der all-
gemeinen Beobachtung im großen Kreislauf
auftritt, im kleinen nur sehr wenig aus-
gesprochen ist. Er fand , daß in der Pul-
monal arterie eine kleine Drucksteigerung auf-
tritt, daß diese aber durchaus nicht der im
großen Kreislauf sich abspielenden pro-
portional ist, sondern weit hinter ihr zurück-
steht, ja daß sie manchmal ausbleibt. Direkte
Inspektion der Lungen ergab, daß hier die
an anderen Organen wahrzunehmende Blässe
nicht auftritt, daß sie sich auch nicht durch
direktes Aufträufeln des Extraktes hervor-
rufen läßt. Daß das Lungengefäßsystem über-
haupt eine besondere Stellung im Kreislauf
einnimmt, ist schon längere Zeit bekannt,
speziell ist die Frage, ob die Gefäße der
Lunge motorisch innerviert seien, noch nicht
sicher entschieden. Von den neueren For-
schern haben sich vor allen Bradford und
Dean und Francois- Frank für eine In-
nervation der Lungengefässe ausgesprochen.
Doch sind ihre Versuchsergebnisse von ver-
schiedener Seite speziell von Knoll einer
Kritik unterzogen worden, durch die sie
mindestens zweifelhaft geworden sind. Brad-
ford und Dean wollen durch Reizung der
vorderen "Wurzeln der oberen Dorsalnerven
bei Hunden eine geringe Steigerung des
Druckes in der Arteria pulmonalis gesehen
haben. Sie wollen dann auch weiterhin be-
weisen, daß dieser vasomotorische Apparat
Th. M. 1905.
reflektorisch oder durch Asphyxie in Tätig-
keit gesetzt wird. Doch berücksichtigen sie
dabei, wie schon Knoll hervorhebt, weder
die Änderung der Frequenz der Herzschläge
noch den auf den linken Vorhof rückwirken-
den Aortendruck u. a. Auch gegen Francois-
Franks Versuche, der den Druck im linken
Vorhof, der Art. pulmonalis und der Aorta
maß und bei sensibler Reizung ein Bestehen-
bleiben der anfangs an allen drei Orten ein-
getretenen Drucksteigerung an der Art. pul-
monalis konstatierte und daraus schloß, daß
dieses durch Reflex der Vasomotoren der
Pulmonalis hervorgerufen sei, kann manches
eingewendet werden. Erstlich konstatierte er
dieses nur selten, und zweitens kann dieses
nach Knoll ebensogut durch die Zunahme
des Volumens der Lungen erklärt werden,
die, wie Francois-Frank selbst sagt, bei
der Drucksteigerung in der Art. pulmonalis
regelmäßig auftrat. Beim Kaninchen konnte
Knoll jedenfalls bei dyspnoischer und re-
flektorischer Reizung keine Änderung in den
Druckverhältnissen konstatieren.
Auch Brodie und Dixon heben in ihrer
kürzlich erschienenen Arbeit hervor, daß die
Resultate Bradford und Deans und Fran-
cois-Franks wohl wegen der nicht genügend
beachteten Einflüsse der Herzwirkung falsche
seien.
Sie selbst wollen diesen Fehler in ihren
Versuchen ausschalten, indem sie einen Kreis-
lauf herstellen durch eine Lunge und den
linken Vorhof. Herzventrikel und andere
Lunge sind unterbunden. In die Arteria
pulmonalis und das linke Herzohr sind die
Kanülen eingebunden, die den Kreislauf ver-
mitteln und den Druck ablesen lassen.
Außerdem ist ein komplizierter Apparat ein-
geschaltet, der einen immer gleichbleibenden
Druck und Temperatur der Durchströmungs-
flüssigkeit garantiert. Brodie und Dixon
bekamen nun bei Reizung der betreffenden
Nerven an diesem isolierten Lungenkreislauf
nie eine Änderung des Druckes in der Art.
pulm., während bei Kontroll versuchen mit
dem gleichen Apparat an Extremitäten des
Tieres deutliche "Wirkung hervortrat. Sie
glauben daher im Zusammenhang mit der
Unbeeinflußbarkeit der Lungengefäße durch
die verschiedenen pharmakologischen Agentien
Muskarin, Pilokarpin, Adrenalin und deutliche
Kontraktion durch das muskulär wirkende
Baryumchlorid auf das Fehlen der Gefäß-
nerven in den Lungengefäßen schließen zu
dürfen. Jedenfalls zeigen sie aber auch in
ihren Versuchen deutlich, daß das Adrenalin
auf die Lungengefäße keine "Wirkung hat.
Die oben erwähnten Beobachtungen Ve-
lichs fanden auch noch von anderer Seite Be-
42
666
Möller, Wirkung de« NebaootoreMxtrakte« (Adrenalin).
rherapeutfedu
Monatshefte.
stätigung. Gerhardt konstatierte in der schon
mehrfach erwähnten Arbeit in etwa 20 Ver-
suchen, in denen er den Druck in der Karotis
und in einem Ast der Art. pulmonalis maß,
auf Adrenalininjektion hin entweder gar keine
Steigerung oder, das häufigere Verhalten, eine
unerhebliche Steigerung von 6 mm, als Maxi-
mum einmal eine von 15 mm Hg. Und
zur Erklärung der Tatsache dieser geringen
Steigerungen fuhren beide, Velich und Ger-
hardt, ins Feld, daß bei dem hohen Druck
die Arteriolenverengerung im großen Kreislauf
überkompensiert wird, und daß durch die
von der Verengerung nicht mitbetroffenen
Gefaßgebiete dem rechten Herzen mehr Blut
zugeführt wird, wie dieses Slaviansky und
Basch für den allgemeinen Gefäßkrampf
direkt gemessen und Openchowski bei
Beizung der Nervi splanchnici als einzig
mögliche Erklärung der Drucksteigerung in
der Art. pulmonalis hervorgehoben hat. Auch
hat Openchowski in Gemeinschaft mit Bock
die geringe Bceinflußbarkeit des Herzlungen-
kreislaufes durch verschiedene andere Gifte
dargetan. Also, schließt Gerhardt, zeigen
die Lungengefäße und das rechte Herz dem
Nebenneirenextrakt gegenüber eine ähnliche
Immunität wie gegenüber Digitalis oder COs-
Vergiftung. Ebendasselbe haben, wie ange-
führt, ja auch Brodie und Dixon mit der ganz
isolierten Durchblutung einer Lunge dargetan.
Als Beweis für die Unbeeinflußbarkeit
des Lungenkreislaufes könnte ich vielleicht
auch folgende Beobachtung anführen. Be-
kanntlich kann man beim Frosch sich den
Kreislauf der Schwimmhaut und des Mesente-
riums leicht mit dem Mikroskop zur Beob-
achtung bringen. Auch der Lungenkreislauf
kann nach Schenk, „Physiologisches Prak-
tikum 1896 ", unter Beachtung folgender Regeln
nach einiger Übung zur Anschauung gebracht
werden. Wenn man bei einem Frosch die
seitliche Brustwand direkt unterhalb der
oberen Extremität an der Übergangsstelle
vom Rücken zum Bauch eröffnet, kann man
durch Einführung einer Kanüle in die Trachea
vom Maul aus die Lunge so weit aufblasen,
daß sie aus der genügend großen seitlichen
Öffnung heraustritt. Braucht man nun die
Vorsicht, an einer Stelle die Kanüle seitlich
zu perforieren und darüber ein Stückchen
frischen Froschdarmes zu binden, so kann
nach dem Aufblähen der Lunge, wenn man
oben die Kanüle verschließt, auch seitlich
zwischen Kanüle und Trachea die Luft nicht
mehr zurückweichen, da der Darm, der sich
auch aufbläht, sich an die Wand der Trachea
anlegt. Wenn man nicht zu stark aufbläht
und durch eine kleine mit einer Öffnung ver-
sehenen Platte die Oberfläche der Lunge
etwas abflacht, kann man durch die Öffnung
mit Hilfe des Mikroskops den Lungenkreis-
lauf sehr schön beobachten. Es gehört nur
wenig Übung dazu, zu achten, daß die Lunge
nicht zu stark aufgeblasen wird, da sonst der
Kreislauf leicht gestört wird. Wie ich später
näher ausführen werde, kann man an der
Schwimmhaut und an den Mesenterial gefäßen
des Frosches bei lokaler Applikation von
Adrenalin mit dem Mikroskop eine deutliche
Beeinflussung des Kreislaufes durch dasselbe
konstatieren. Beobachtete ich nun an dem
nach der angegebenen Weise präparierten
Frosche den Lungenkreislauf, so konnte ich
bei analoger lokaler Applikation einiger
Tropfen meines Nebennierenpräparates, des
Epirenans, nie eine Beeinflussung des Lungen-
kreislaufes konstatieren. Selbst verhältnis-
mäßig sehr starke Konzentrationen des Epi-
renans, die ich mir aus der reinen Substanz
darstellte, zeigten an dem Lungenkreislauf in
4 Fällen nie eine Einwirkung, während bei
denselben Tieren nachher, sowohl an der
Schwimmhaut als auch an dem Mesenterium,
die Adrenalinwirkung sich immer typisch
demonstrierte.
Wenn diese Beobachtungen auch nicht am
Säugetiere stattfanden, so scheinen sie doch
zusammen mit den angeführten Beobachtungen
anderer Autoren für die Unbeeinflußbarkeit der
Lungengefäße durch Adrenalin zu sprechen.
Daß diese nicht durch eine zerstörende
Einwirkung des Lungengewebes selbst oder
durch den Einfluß des hocharteriellen Blutes
der Lunge hervorgerufen wird, darauf haben
schon Langlois und Äthan asiu hingewiesen.
Ebenso haben auch Carnot und Josserand
durch Injektion in das Lungengewebe selbst
gezeigt, daß das Nebennierenextrakt auf
künstlich gesetzte Lungen wunden keine an-
ämisierende Wirkung hat, während manch-
mal, wenn zufallig etwas von der Substanz
dabei in ein größeres Blutgefäß geraten
war, doch ein ziemlicher Grad allgemeiner
Drucksteigerung im großen Kreislauf eintrat.
Leider konnte ich aus dem kurzen Bericht
in den „Comptes rendus de la societä de
biologie" das Nähere ihrer Methodik nicht er-
sehen. Neuerdings haben auch von deutschen
Forschern Em b den und Fürth gezeigt, daß
in einer künstlich durchbluteten Lunge das
Adrenalin nur ganz minimal zerstört wird.
Ich werde auf diese Versuche bei Besprechung
der Zerstörung des Adrenalins im Körper
noch einmal zurückkommen.
Einwirkung auf die Gefäße des Hirn-
kreislaufes.
Eine ähnliche Ausnahmestellung wie für
den Lungenkreislauf wurde bis vor kurzem
III. Jahrgang.!
November 1906.J
Möll«r, Wirkung dM N«b«&ni*r«n«xtr*)Lt«t (Adrenmlin>
557
auch allgemein für den Gehirnkreislauf an-
genommen und muß auch jetzt noch in ge-
wissem Grade zugegeben werden. Die bis
dahin größtenteils geleugnete Eiistenz von
Vasomotoren für das Gehirn scheint aber
nach den neuesten Arbeiten vonWiechowski,
Gottlieb und Magnus, Jensen im ent-
gegengesetzten Sinne beantwortet werden zu
müssen. Auch die Wirkung des Adrenalins
auf die Hirngefäße scheint im ersten Augen-
blick für die Ausnahmestellung zu sprechen.
Doch muß, wie ich gleich näher ausfuhren
werde, auch dieses etwas modifiziert werden.
Velich und Spina haben zuerst nach-
zuweisen geglaubt, daß die Hirngefäße gegen
Nebennierenextrakt refraktär sind. Spina
bediente sich der Methode, daß er die aus
der Vena facialis ausfließende Blutmenge vor
und während der Extraktwirkung maß. Vor
der Einspritzung flössen 20 — 30, nachher
30 — 50 Tropfen in einer halben Minute aus,
ein anderes Mal aus dem Sinus falciformis
vorher 16, nachher unzählige in einer Minute.
In einigem Widerspruch hierzu stehen die
Angaben von Fr. Pick. Er fand nach In-
jektion von Nebennierenextrakt in die Jugular-
vene, die nach ihm auch fast nur Blut aus
dem Inneren der Schädel kapsei erhält, Strom-
verlangsamung. Sie war zwar geringer als
in den anderen Venen, hat aber die Blut-
geschwindigkeit bis nahezu auf die Hälfte
des Wertes herabgedrückt. Spina führt als
weiteren Beweis für die Gefäßerweiterung im
Hirn die Tatsache an, daß freigelegtes, von
Dura entblößtes Hirn sich unter dem Einfluß
der Injektion rote und vorwölbe. Es ist
also nicht nur nicht Verengerung, sondern
sogar sekundäre Erweiterung der Hirngefäße*
zu konstatieren. Gerhardt hat zur Ent-
scheidung der Frage bei 4 Hunden den
Druck im tiefsten Teil der Vena jugularis
gemessen und hat dort deutliche Druck-
steigerung gefunden. Dagegen war in der
Nieren vene der Druck um 2— 4 cm Wasser
gesunken, um bei dem Abfallen des Arterien-
druckes seinen früheren Stand zu erreichen.
Er schließt daraus, daß, während im Splanoh-
sicusgebiet, wo starke Vasokonstriktion ein-
tritt, auch die Blutzufuhr zu den Venen
geringer ist, im Gebiet der Vena cava super,
stärkerer Zufluß venösen Blutes stattfinden
muß, und meint, daß dabei eben hauptsächlich
das Hirngefäßsystem in Betracht kommt. Die
Versuche Gerhardts mit der Messung des
Liquordruckes sind nach seiner eigenen An-
nahme nicht ganz einwandsfrei. Er trepa-
nierte die Schädelkapsel, spaltete die Dura
and führte in das Trepanloch eine Kanüle
ein, die er mit einem Wassermanometer oder
mit einer Marey sehen Kapsel verband oder
mit dem Hürthleschen Federmanometer. Bei
Injektion der Substanz, die den Arteriendruck
um 40 mm Hg hob, stieg der Liquordruck
nur um 1 — 2 cm Wasser. Bayliss und Hill
weisen darauf hin, daß diese Methode fehler-
haft sei, weil das sich vordrängende Hirn
die Knochenöffhung verlege, und seien deshalb
diese Resultate zweifelhaft. Einen neuen
Gesichtspunkt in dieser Frage, der sehr viel
Wahrscheinlichkeit für sich hat, eröffnen in
einer größeren Arbeit über „Hirnzirkulation
und Hirnödem" IL Teil Biedl und Reiner.
Sie unterziehen dort zuerst die verschiedenen
Methoden der Messung der Hirnzirkulation
einer kritischen Betrachtung, und muß ich,
um ihre Resultate besser würdigen zu können,
auch hierauf etwas näher eingehen. Ihre
Präzisierung der in Betracht* kommenden
Fragen hat auch, soweit ich es übersehen
kann, in den neueren Arbeiten von Wie-
chowski und Jensen etc. bisher keine
Einschränkung erfahren. Die direkte In-
spektion der Gehirnfläche nach Trepanation
wird von den meisten Autoren verworfen, und
eben deshalb hat auch Gerhardt, wie er
ausdrücklich schreibt, sie nicht mit in den
Kreis seiner Versuche gezogen, während
Spina, wie schon ausgeführt, seine Schlüsse
über die Wirkung des Nebennierenextraktes
auf das Hirn auf diese Untersuchungsmethode
zurückführt. Biedl und Reiner heben nun
hervor, daß, wenn auch diese Methode allein
nicht ausschlaggebend sei, sie doch jedenfalls
im Verein mit anderen Methoden, auf die
ich gleich zurückkommen werde, . wertvolle
Ergänzungen und Bestätigungen bieten wird.
Den Einwurf, daß durch Freilegung des
Hirns ein Reiz auf die oberflächlichen Ge-
fäße ausgeübt werde, so daß man aus Ver-
änderungen derselben nicht auf Veränderungen
der tiefen Gefäße schließen könne, sucht er
durch Analogie mit den Verhältnissen des
Augapfels zu entkräften. Die Hyperämie der
Conjunctiva erkennt man ja an den sicht-
baren, also erweiterten und vermehrten Ge-
fäßen derselben, die Hyperämie der Sklera
sowie der tiefer gelegenen Teile des Corpus
ciliare insbesondere an einer diffusen rot-
bläulichen Verfärbung des Gewebes. Eben-
dasselbe glaubt er bei der Beurteilung der
Gefäßfüllung des Gehirns annehmen zu dürfen,
da außerdem bei dem letzteren noch als Folge
der geänderten Blutfüllung eine entsprechende
Variation des Volumens stattfinde, diffuse
Rötung mit Vergrößerung (Anschwellen), Er-
blassen mit Verkleinerung (Abschwellen) ein-
hergehe. Ein zweiter Einwurf gegen diese
Methode der direkten Inspektion ist der, daß
eine vollständige Änderung der hydrodyna-
mischen Verhältnisse der Schädel kapsei statt*
42*
558
Möller, Wirkung des Nebennieren«xtrakte« (Adrenalin).
rTherapeutbchc
L MonAtahefte.
finde. Biedl und Reiner wollen diesen
Einwurf nicht gelten lassen. Sie behaupten,
daß durch die Trepanation eben nur eine
elastische Stelle im Gehirn mehr geschaffen
werde zu den vielen, die beim Erwachsenen
für den Cerebrospinalraum gegeben seien.
Sie weisen da speziell auf die Volumände-
rungen hin, die beim Hinauf- und Herunter-
fluten der Cerebrospinalflüssigkeit stattfinden.
Eröffnet man nämlich beim Kaninchen die
Membrana atlantooccipitalis posterior in der
Bauchlage des Tieres, so daß die knöcherne
Umrandung der Membran ungefähr horizontal
liegt und auch horizontal liegen bleibt, wäh-
rend man den Kopf und den proximalen Teil
der Halswirbelsäule von der Unterlage ab-
hebt, so tritt beim Heben des Kopfes, selbst
bloß um wenige Zentimeter, so viel Liquor
zurück, und beim Senken wieder so viel vor,
daß die Aufnahmefähigkeit des Duralsackes
des Rückenmarks für vermehrte Flüssigkeits-
mengen geradezu überraschend erscheinen muß.
Die elastischen Verschlüsse der Schädelrück-
gratshöhle vermögen also, wenn sie auf ganz
geringe Druck erhöhungen beansprucht werden,
Platz zu schaffen für relativ große Inhalts-
vermehrungen. Sie fügen noch hinzu, daß
auch die Duraeröffnung, wenn auch etwas
differente Verhältnisse eintreten, doch den
gleichen Bedingungen unterworfen sei. Sie
bringen als Beweis ferner, daß, wenn man
nach Donders Beispiel die Trepanations-
öffnung durch ein Glasfenster wieder luftdicht
verschließe, trotzdem die den Puls und Atem-
schwankungen entsprechenden Veränderungen
der Gefäßweite und Pia in gleicher Weise
wahrgenommen werden. In der Tat scheint
diese Beweisführung allgemein angenommen
zu sein, denn auch Gottlieb und Magnus
haben bei ihren Arbeiten über den Einfluß
der Digitaliskörper auf die Hirnzirkulation
sich dieser Methode bedient, und auch "Wie-
chowski und neuerdings Jensen haben in
ihren Arbeiten über Hirnzirkulation und Hirn-
innervation gegan diese Methode keinen Ein-
wand erhoben. Auch die Ansicht Geigeis,
der ja bekanntlich in seinen Arbeiten über
Hirnzirkulation den Gedanken vertritt, daß
das Volumen der Hirngefäße ein konstantes
sei, weil sie von der inkompressiblen Hirn-
masse und der starren Schädelkapsel um-
geben seien, bietet keinen "Widerspruch gegen
die Ausführungen Biedl und Reiners. Denn
wie Geigel gegenüber den Angriffen Hürth-
les, von Bergmanns, Jensens neuerdings
hervorhebt, sind seine Sätze von der Eudi-
hämorrhisis und Hypodiämorrhisis cerebri nur
ceteris paribus, d. h. bei gleichbleibendem
Blutdrucke gemeint, und ferner nur für ganz
kurze Zeit, bis eben die von ihm behauptete
"Wirkung der Vasomotoren durch die Volumen-
schwankungen des Liquor cerebrospinalis para-
lysiert würden. So scheinen die Ergebnisse,
die man mit direkter Inspektion der Hirn-
oberfläche erhalten hat, beweisend zu sein.
Auch die schon erwähnte Methode der
Messung des Liquor cerebrospinalis-Druckes,
wie sie von Gerhardt benutzt wurde, ziehen
Biedl und Reiner mit in den Kreis ihrer
Betrachtungen. Sie halten aber die Modi-
fikation für angebracht, daß man die in dem
Subarachnoidealraum angebrachte Kanüle mit
einem horizontal gestellten Glasrohr verbindet,
dessen zweites Ende offen ist. Man setzt
dann den Liquor von vornherein unter einen
stets gleichbleibenden Druck, dessen Höhe
abhängig ist von der Entfernung des Glas-
rohres von der mittleren Höhe des Sub-
arachnoidealraumes. Die Veränderungen der
Liquorstellungen geben dann Veränderungen
der Inhaltsmasse des Schädelrückgratkanals
an, die hervorgerufen werden erstens durch
Änderungen des Hirnvolumens selbst, durch
Änderung des Blutreichtums, zweitens durch
Änderung und Vermehrung des abgesonderten
Liquor cerebrospinalis. Man kann dann diese
beiden Faktoren gesondert zur Erscheinung
bringen, da ja das vermehrte Volumen nach
der Reizung sich wieder rekonstruiert, zurück-
fließt, dagegen der frisch abgesonderte Liquor
selbst in dem Röhrchen stehen bleibt. Es
tritt also nur ein teilweises Zurückgehen der
Liquorsäule ein. Die Registrierung des Hirn-
volumens allein kann durch diese Methode
jedenfalls nicht stattfinden. Sie ist daher
allein, wie schon ausgeführt, nicht beweisend.
Ebenso ist die Methode der direkten
Plethysmographie mittels eines Onkographen
nach Roy und Sherringtons Beispiel nicht
beweisend, wenn man die Vermehrung des
Liquors nicht durch Sorge für guten Abfluß
desselben ausschaltet. Doch wollen Gottlieb
und Magnus mit einer Modifikation der Roy
und Sh erringt on8chen Anordnung recht gute
Resultate erzielt haben. Die direkte Messung
des intrakraniellen Liquordruckes mit dem
Manometer, wie sie ja von Gerhardt aus-
geführt wurde, gibt nach Biedl und Reiner
ähnlichen Aufschluß wie die Registrierung
des Volumens, ist aber, wie schon erwähnt,
ebenfalls nicht ganz sicher. Die beiden
wichtigsten Methoden zum Studium der
Hirnzirkulation, die auch in den letzten
Arbeiten über dieses Thema zur Verwendung
gekommen sind, sind die Messung der Ge-
schwindigkeit der Blutströmung durch Zählen
der Ausflußmenge aus der Vena jugularis und
die von Hürthle eingeführte Messung des
Druckes im Circ. arteriosus Willisii. Auf eine
genaue Würdigung speziell dieser letzteren
XIX. Jahrgang.!
NoTWBbw 1»05.J
II ölltr, Wirkung d«t N«b«onl«r«nextrmktM (Adrenalin).
659
Methode einzugehen, würde wohl zu weit
fuhren. Ich verweise hier auf die erwähnten
Arbeiten von Wiechowski und Jensen.
Ich mochte nur kurz das Wesentlichste der
Versuchsanordnung ausfuhren. Es wird, be-
sonders beim Kaninchen, in die Karotis einer
Seite sowohl herzwärts zur Registrierung des
Blutdrucks in der Aorta als auch kopfwärts,
nach Abbindung aller Aste mit Ausnahme
der Carotis interna, zur Aufzeichnung des
Druckes im Circulus arteriosus Willisii je
ein Manometer eingeführt und das Verhältnis
des Circulu8drueke8 p zum Aortendruck c
unter verschiedenen Bedingungen gemessen.
Der Quotient p/c ist nach den experimen-
tellen und theoretischen Untersuchungen von
Hürthle ein Maß für die Gesamtheit der
äußeren Widerstände, die der Blutstrom in
der Strombahn findet, an welcher die Mano-
meter angebracht sind. Der Druck im Cir-
culus arteriosus Willisii p ist ja die Resul-
tante zweier Komponenten, des allgemeinen
Blutdruckes c und des Widerstandes, den
das Circulusblut beim Eintritt in die Gefäße
des Schädelinnern findet. Also p = cw.
Der Widerstand im Stromgebiet, wie oben
gesagt, also w = p/c. Da dieser Wider-
stand w der vom Circulus arteriosus Willisii
abgehenden Gefäße und deren Verzweigungen
umgekehrt proportional ist ihrer Weite, so
wird sein Wert bei jeder Verengerung jener
Gefäße eine Zunahme, bei jeder Erweiterung
eine Abnahme erfahren.
Die verschiedenen Einwände und Ein-
schränkungen dieser Methode sind, wie
gesagt, in den Arbeiten von Wiechowski
und Jensen näher erörtert. Speziell
hebt Jensen auch hervor, daß auch diese
Methode wieder nur in Übereinstimmung
mit den anderen wirklich ausschlaggebend
sei, und so haben Biedl und Reiner auch
noch die Methode des Ausflusses aus der
Hirnvene in ihren Versuchen mit heran-
gezogen, wie ich dieses schon von Pick und
Spina erwähnt habe. Diese Methode allein
ist auch wieder nicht ausschlaggebend. Es
lassen sich nach Biedl und Reiner auch
hier allerlei Einschränkungen machen. Der
Gedankengang dieser Methode ist der, daß
durch das Anschneiden der Vena jugularis
das reichlich anastomosierende Venennetz des
Hirnes an einer Stelle eröffnet wird. Es
fließt dann ein aliquoter Teil des Blutstromes
aus dieser Lücke heraus, und dieser Teil wird
ceteris paribus um so großer sein, je großer
die Blutmenge ist, die durch das Gehirn
strömt, um so kleiner, je geringer die Blut«
menge ist. Man mißt die Tropfenzahl, die
in der Zeiteinheit ausfließt, und registriert sie
mittels eines besonderen Apparates auf dem
Kymographion. Durch die Kombination dieser
verschiedenen Methoden kommen nun Biedl
und Reiner zu folgenden Resultaten. Sie
stellen zuerst fest, daß spontane Schwankungen
der Füllung der Hirngefäße mechanisch unab-
hängig sind von den meist isochron auf-
tretenden, aber in ihren Ausschlägen sehr oft
direkt entgegengesetzt gerichteten Schwan-
kungen des Aortendruckes, und schließen
daraus auf eine selbständige nervöse Funktion
der Hirngefäße. Hierauf näher einzugehen,
kann ja meine Aufgabe nicht sein. Dem-
gegenüber stellen sie aber fest, analog den
Resultaten Spinas, Gerhardts und Picks,
daß, wenn man Nebennierenextrakt dem
Kreislauf einverleibt und die bekannte blut-
drucksteigernde Wirkung hervorruft, die Hirn-
gefäße sich scheinbar ganz passiv verhalten.
Daraus aber zu schließen, daß die Hirngefäße
dem Nebennierenextrakt gegenüber sich re-
fraktär verhalten, ist falsch. Sie injizierten das
Extrakt nämlich nicht, wie gewöhnlich, in
die Vena jugularis, sondern peripherwärts in
die Carotis interna des Versuchstieres, so daß
die Substanz zuerst in den Hirnkreislauf kam
und dort seine Wirkung ausüben konnte,
bevor es in den allgemeinen Kreislauf ge-
langte. Es zeigten sich dann folgende drei
Phasen in dem Versuche:
1. Mechanisches Ansteigen im Circulus-
druck (durch die Injektion) bei gleich-
bleibendem Aortendruck und vermehrter
Tropfenfolge.
2. Physiologischer Anstieg im Circulus-
druck (durch Adrenalin Wirkung im Hirn)
bei gleichbleibendem Aortendruck und
Verringerung der Tropfenfolge.
3. Physiologischer Anstieg im Circulus-
druck bei steigendem Aortendruck und
Vermehrung der Tropfenfolge (unmittel-
bare Folge der Drucksteigerung im
großen Kreislauf) und Nachlaß der
cerebralen Vasokonstriktion.
Das Verhalten des Liquordruckes war in
den 3 Phasen:
1 . Bei mechanischem Anstieg des Circulus-
druckes Anstieg des Liquordruckes.
2. Bei physiologischem Anstieg infolge
Vasokonstriktion Verminderung des-
selben.
. 3. Bei physiologischem Anstieg infolge
gesteigerten Aortendruckes eine Ver-
mehrung des Liquordruckes.
In Übereinstimmung damit waren dann
auch die durch Beobachtung des freigelegten
Hirnes gewonnenen Resultate:
1. Man sieht einen Moment die Injektions-
flüssigkeit durch die Piagefäße hindurch-
schießen. Die Blutfüllung taucht wieder
auf.
560
Möller, Wirkung d«t MtbmolirtntxlriktM (Adranalin).
rherapentbrh«
Monatsheft«.
2. Sofort darauf verschwinden alle feineren
sichtbaren Blutgefäßästchen der Pia,
nur die gröberen bleiben , in ihrem
Durchmesser betrachtlich verengt, noch
sichtbar. Dabei zieht sich die Hirn-
oberfläche als ganzes von der Trepan-
öffnung zurück und läßt einen kleinen
Spalt frei, also deutliche Volumver-
minderung.
3. Das Gehirn rötet sich -wieder, wird
stark hyperämisch. Hier und dort
platzt eines der kleinen Gefäßchen.
Der der Trepanöffnung entsprechende
Teil des Hirnes wird vorgetrieben und
lagert sich als Prolaps vor (genau wie
in den Beobachtungen Spinas).
Aus der Zusammenstellung dieser Ver-
such sresultate schließen Biedl und Reiner
also: Das Nebennierenextrakt bringt, wenn
es den ' Hirngefäßen direkt zugeführt wird,
dieselben zu kräftiger Kontraktion. Geht das
Extrakt aber in den allgemeinen Kreislauf
über, und bringt es dort durch Vasokonstriktion
allgemeine Blutdrucksteigerung hervor, so
wird das Blut von den stärker vasokonstrik-
torisch innervierten Gefaßgebieten, speziell
dem Splanchnicusgebiet, in das nur wenig
motorisch innervierte Hirngefäßgebiet getrieben
und bringt dort die beobachtete Gefäß-
erweiterung hervor, ob mechanisch, ob auf
reflektorischem Wege, ist eine zweite Frage.
Eine Bestätigung dieser Versuche von
Biedl und Reiner durch Brodie und
Ferrier wird in der schon erwähnten Ab-
handlung von Brodie und Dixon über „The
innervation of pulmonary vessels" II ange-
kündigt (siehe auch Prof. Ferriers Harveian
Oration).
Als Stütze für die ausgeführte Erklärung
der Versuchsresultate Biedl und Rein er s
kann man die bekannte Wirkung der Er-
stickung auf die vasomotorischen Centra an-
fuhren, wie sie zuerst von Schul ler, dann
genauer von Knoll, Gärtner und Wagner,
Roy und Sherrington und Wertheimer
studiert wurde. Auch bei der Erstickung
nimmt der Blutstrom durch das Gehirn zu,
und wird das Hirnvolumen vergrößert. So
haben auch Gottlieb und Magnus in ihrer
Arbeit über den Einfluß der Digitaliskörper
auf die Hirnzirkulation den Nachweis geführt,
daß Strophanthin, während es auf das Splanch-
nicusgebiet stark gefäßverengernd wirkt, im
allgemeinen die Durchströmung der Hirn-
gefäße vermehrt. Es tritt deutliche Rötung
des Hirns, Vprwölbung, Vermehrung des Aus-
"flusses aus der Vene etc. ein, so daß auch
'sie annehmen, daß starke Verengerung der
Unterleibsgefäße (gleichgültig ob zentral oder
peripherisch, bedingt durch mechanische oder
reflektorische Einflüsse) eine Erweiterung der
Strombahn im Gehirn zur Folge hat. Jeden-
falls übt aber das Adrenalin auf die Hirn-
gefäße bei direkter Applikation auch seine
gefäßverengernde Wirkung aus.
Zugunsten dieser Annahme spricht auch
eine vor kurzem veröffentlichte Beobachtung
R. H. Kahns. Schon Gerhardt führt an,
daß die Gefäße der Retina, die unter anderen
Umständen ebenfalls, z. B. bei Erstickung,
Reizung des verlängerten Marks etc., dasselbe
Verhalten zeigen wie die Hirngefäße, d. i.
Erweiterung, auch während der Nebennieren-
extraktinjektion deutliche Vasodilatation zei-
gen. Die Papille wird rosa. Arterien und
Venen erweitern sich ganz eklatant. Kahn
beschreibt nun, wie es scheint unabhängig
von Gerhardt, dasselbe, fügt aber hinzu, daß,
wenn man das Adrenalin in die Carotis des
Kaninchens peripherwärts injiziert, kurz-
dauernde aktive Kontraktion der Netzhaut-
arterien eintritt, während nachher bei Über-
gang des Adrenalins in den allgemeinen
Kreislauf sehr starke Dilatation sichtbar
wird. Kahn nimmt allerdings an, daß diese
Dilatation befördert wird durch die nachher
näher zu besprechende Beeinflussung der
glatten Muskulatur der Augen, der Orbita
u. s. w. Jedenfalls kommt auch die geringere
vasomotorische Innervation der Retinalgefäße
mit in Betracht, die ebenso, wie die Hirn-
gefäße ja auch zum Gebiet der Carotis interna
gehören. Hängt ja auch entwicklungsgesohicht-
lich die Netzhaut eng mit dem Gehirn zu-
sammen. Wir finden also zwischen Retina
und Hirngefäßen analoge Verhältnisse.
Fassen -wir nun einmal kurz die Resul-
tate der verschiedenen Beobachtungen über
die Gefäßverengerung in den verschiedenen
Gebieten zusammen, so ergibt sich erstens,
daß das vom Splanchnicus versorgte Gebiet
am stärksten kontrahiert wird. Über die
peripheren Gefäßgebiete, speziell die ober-
flächlichen Gefäßgebiete der Haut und der
Mundschleimhaut etc., gehen die Ansichten
etwas auseinander, die Hirngefäße zeigen bei
Einführung in den allgemeinen Kreislauf Er-
weiterung, sind aber nicht unbeeinflußbar,
denn bei direkter Zuführung in die Hirn-
gefäße zeigen sie Verengerung; die Lungen-
gefäße sind dagegen nicht beeinflußbar. Die
Erklärung dieser Tatsache ist, glaube ich,
nicht so schwer, wenn wir die Lungengefaße
als überhaupt unbeeinflußbar ausnehmen, wäh-
rend alle anderen Gebiete ja bei direkter
Applikation, worauf ich übrigens gleich noch
näher zurückkommen werde, stark beeinfluß-
bar sin d. Ich glaube, ich brauche da nur
auf die schon mehrfach berührte Analogie mit
Halsmarkreizung, Reizung durch Asphyxie
XIX. Jahrgnng.1
NoTember 190Ö.J
Möller, Wirkung *•• M«benD!«r«o«ztr«kt«t (Adrenalin).
661
und Digitaliswirkung etc. hinzuweisen. Hals-
markreizung bringt nach Ludwig und Thiry
vorzugsweise die Gefäße der Abdominalorgane
zur Eontraktion, im geringeren Maße die der
Haut, wenig und gar nicht die der Muskeln ;
die letzteren Gebiete lassen eine Verengerung
nur in den feinsten Zweigen, die ersteren
auch an den größeren Stämmen erkennen.
Nach Dastre und Morat und Wertheimer
nehmen auch bei Asphyxie die Haut- und
Muskelgefäße mehr Blut auf, während das
Splanchnicusgebiet sich verengert. Ganz
ebenso verhält sich die Blutverteilung bei
toxischer Erregung des Gefäßnervenzentrums
durch Strychnin (Gärtner und "Wagner,
Roy und Sherrington, Wertheimer). Auch
die Wirkung der Korper der Digitalisgruppe,
wie sie, wie schon erwähnt, Gottlieb und
Magnus genauer dargestellt haben, ist ganz
analog. Auch hier steht die Erweiterung der
Gefäße in der Korperperipherie in scheinbarem
Widerspruch zu den Durchströmungsversuchen
an überlebenden Extremitäten, an denen man
ganz wie an inneren Organen Gefäßverengerung
konstatiert hat. Hier haben sie sicher nach-
gewiesen, daß, wenn das Splanchnicusgebiet
durch Unterbindung aller zu- und abführenden
Gefäße von der Zirkulation ausgeschlossen
wird, nach Strophanthininjektion in der Peri-
pherie starke Gefaßverengerung eintritt. Sie
schließen daraus wenigstens teilweise auf eine
passive Erweiterung der Gefäße der Peripherie
durch die starke Kontraktion der Bauchgefäße.
Aber auch eine reflektorische Beeinflussung
der Gefäßperipherie auf dem Wege der Nerven-
bahnen glauben sie annehmen zu dürfen.
Denn wenn sie den Blutkreislauf einer Ex-
tremität vollständig mit einem Durchblutungs-
apparat nach Brodie isolierten, §o daß nur
Nervenverbindung mit dem übrigen Körper
bestehen blieb, so trat bei Injektion von
Strophanthin in den Körperkreislauf aktive
Yasodilatation auf, die nur auf reflektorischem
Wege zu erklären ist. Demgegenüber möchte
ich nur hervorheben, daß bei Adrenalin-
injektion die Dilatation in der Körperperi-
pherie von keinem Autor so stark beobachtet
wurde wie hier in den Strophanthin versuchen.
Im Gegenteil wurde ja von dem größeren
Teil der Autoren eine mäßige Verengerung
der Gefäße der Peripherie bemerkt. Doch
mag dieses wohl auf eine stärker gefäßkontra-
hierende Wirkung des Nebennieren extraktes
zurückzuführen sein, so wie ja Gottlieb und
Magnus bei dem stark wirkenden Digitoxin
fast immer eine mehr oder minder stark
verengernde Wirkung auf die Gefäße der
Peripherie festgestellt haben. Es bliebe dann
nur noch das eine zu beantworten, warum
<las Digitoxin auf die Hirngefäße bis auf eine
Ausnahme immer etwas gefaßkontrahierend
wirkte, während das doch wahrscheinlich
ebenso wirksame Adrenalin immer nur dila-
tierend wirkte. / Fortsetzung folgt.]
Theorie und Praxis in der Gicht-
therapie.
Von
Dr. Alfred Zucker.
Die Nummer des „Lancet" vom 1. Juli
1905 enthielt einen interessanten Artikel:
„ Harnsäure. Eine rationelle Methode zu
ihrer Ausscheidung im Lichte neuer For-
schung" aus der Feder des bekannten eng-
lischen Arztes Robert Fenner, welcher in
England, der Hochburg der Gicht, Aufsehen
erregte, und dessen Inhalt auch dem deutschen
Arzte von Interesse sein dürfte.
Minkowski hat in seinem vor mehreren
Jahren erschienenen hervorragenden Werke
„Die Gicht" zuerst die Frage aufgeworfen,
ob es nicht möglich wäre, die Spaltungs-
produkte der Nukleinsäure therapeutisch bei
der Gicht zu verwerten, nachdem derselbe
Forscher konstatiert hatte, daß unter gewissen
Versuchsbedingungen die Harnsäure mit der
Nukleotinphosphorsäure (Thyminsäure) eine
Verbindung einzugehen vermag, in welcher
sie durch die gebräuchlichen Reagentien nicht
mehr gefällt werden kann und selbst bei
saurer Reaktion gelöst bleibt.
Minkowski schreibt: „Nach allem möchte
ich es nicht für unwahrscheinlich halten, daß
wie die übrigen Purinverbindungen so auch
die Harnsäure im Blute und in den Geweb-
säften zunächst als Nukleinsäureverbindung
auftritt, und daß durch diese Paarung mit
dem Nukleinsäurerest nicht nur der Übergang
der Purinbasen in Harnsäure, sondern auch
die Lösung und der Transport sowie das
weitere Schicksal der Harnsäure im Organismus
geregelt wird. Wenn dies auch vorläufig nur
noch eine Hypothese ist, so scheint mir diese
bei dem heutigen Standpunkt unseres Wissens
doch zum mindesten nicht schlechter begründet
als alle bisherigen und jedenfalls eher ge-
eignet für das pathologische Verhalten der
Harnsäure bei der Gicht einen Zusammen-
hang mit irgendwelchen abnormen Stoff-
wechselvorgängen an den 'Zellkernsubstanzen
dem Verständnis näher zu rücken. tt
Leider stellten sich der Darstellung der
Nukleotinphosphorsäure (Thyminsäure) im
Fabrikbetriebe erhebliche Schwierigkeiten ent-
gegen und erst in neuester Zeit gelang es,
ein ziemlich reines purinbasenarmes Präparat
herzustellen, das unter dem Namen „Solurol"
562
Zucker, Theorie und Praxis In der Gichttherapie.
fTher»]
L Moni
pentlaene
Monatshefte.
von der Fabrik Max Elb, G. m. b. H., Dresden
in den Handel gebracht wird. Fenners
klinische Versuche mit diesem Präparat haben
die Theorie von Minkowski auf das glän-
zendste bestätigt, und die erzielten Erfolge
eröffnen der Gichttherapie ein dankbares Feld.
Fenner führt im „Lancet" folgendes aus:
Die Therapie der Gicht bestand bisher in
der Verhütung der Anhäufung von Harnsäure-
salzen im Blutsystem und der Begünstigung
ihrer Ausscheidung aus dem Körper. Es ist
bisher aber kein Versuch gemacht worden,
die Harnsäure per se zu behandeln oder die
Bildung ihrer Salze zu verhindern. Eine
große Anzahl der Mittel war und ist noch
im Gebrauch, um das Blutsystem von der
Gegenwart der Harnsäure zu befreien. Es ist
gerade wie mit dem Brunnen, den man zu-
deckt, nachdem das Kind hineingefallen ist.
Auf Basis der neuesten Forschungen von
Minkowski, Kossei, Schmoll etc. hoffe
ich zu beweisen, daß es in der Tat eine Sub-
stanz gibt, welche die Harnsäure in Lösung
hält und ihre Abscheidung in den Geweben
in Form von Salzen verhindert. Gicht ist
bisher allgemein für eine akute Arthritis ge-
halten worden, welche von einem Niederschlag
kristallinischer, harnsaurer Salze in den
kranken Gelenken sowie von der Zirkulation
eines Überschusses dieser Salze im Blute
begleitet war. Nach der gewöhnlich ange-
nommenen Theorie ist das Übermaß von
Harnsäure im Blute entweder a) durch ver-
mehrte Produktion oder b) durch verminderte
Ausscheidung durch die Nieren verschuldet.
Garrod bekannte sich zur zweiten Ansicht.
Roberts1) dagegen war der Meinung, daß
die Harnsäuresalze als Quadriurate im Blute
vorkommen, und daß, wenn dieselben im
Übermaß vorhanden sind und nicht rasch
ausgeschieden werden, sich Biurate bilden.
Aber Fischer bewies bündig, daß diese
Qnadriurate eine Mischung von Harnsäure-
salzen und Harnsäure im freien Zustand sind.
Murchison9) glaubte, daß eine übermäßige
Bildung von Harnsäure durch mangelhafte
Oxydation bei der Verdauung entstehe, woran
Funktionsstörungen der Leber schuldig seien,
und betrachtet deshalb Harnsäure als ein
Zwischenprodukt der Oxydation von Albu-
minen.
Bevor wir die Rolle betrachten, welche
Harnsäure in der Entstehung der Gicht spielt,
ist es wichtig, ihre Beziehungen, die Ernäh-
rung betreffend, zu besprechen. Harnsäure
erfordert zur Lösung ca. 16 000 Teile kalten
Wassers. Es ist daher unmöglich, daß Harn-
säure im Blute als eine Säure zirkuliert,
wenn sie nicht mit einer anderen Substanz
verbunden ist, welche sie leicht löslich macht.
Die Harnsäure ist zweibasisch und hat die
Formel:
C5H4N40,.
Sie bildet zwei Klassen von Salzen,
welche fast gleich schwer löslich sind; es
sind dies die Urate und die Biurate;
1. normale Salze = 2 Atome von H er-
setzt durch 2 von Na = C5H3Na,N408
= Urate,
2. saure Salze = 1 Atom von H ersetzt
durch 1 Atom von Na = CjHjNaN^O,
= Biurate.
Es ist erwiesen, daß Harnsäure nicht in
den Nieren gebildet wird. Wenn letztere
herausgeschnitten werden, so hört die Bildung
der Harnsäure nicht auf, und sie wird in den
Organen, besonders in der Leber und in der
Milz, weiter angehäuft. Bei Vögeln, welchen
die Leber herausgenommen ist, wird Harn-
säure nur schwerlich gefunden. Ihr Platz
ist eingenommen durch fleischmilchsaures
Ammon. Daher können wir annehmen, daß
Harnsäure synthetisch in diesem System ge-
bildet wird, wovon, das ist ein wichtiger
Punkt, mit welchem ich mich später befassen
werde. Die Bedingungen, welche zu einer
vermehrten Ausscheidung von Harnsäure im
Urin führen, sind:
1. eine Vermehrung des Fleischgenusses
und eine Verschlechterung der Oxy-
dation im Körper, welche durch sitzende
Lebensweise verursacht sein kann,
2. eine Vermehrung der weißen Blut-
körperchen. Die Leukozyte enthalten
große Quantitäten von Nukleinen und
aus letzteren entstehen die Xanthin-
basen, mit denen Harnsäure in enger
Beziehung steht.
Harnsäure ist lange Zeit für das Produkt
einer unvollkommenen Oxydation von Albumin
gehalten worden. Im Gegensatz zu Garrod
nahm Bouchard3) an, daß ihre Vermehrung
im Serum und im Urin durch eine mangel-
hafte Oxydation verschuldet wird, und dies
war ungefähr die Krankheitslehre der Gicht.
Sorgfältige chemische Forschungen, wie die
glänzenden Entdeckungen von Fischer4) be-
züglich des Zusammenhangs von Harnsäure
mit den Bestandteilen der Xanthinbasen und
die Resultate der physiologischen Forschungen
von Kossei5) trugen wesentlich zur Erkenntnis
des Ursprungs der Harnsäure im Organismus
bei. Es gibt drei Klassen von Proteiden:
1. das Albumin, das Protoplasma der
lebenden Zelle, welches keinen Phos-
phor enthält,
2. die Paranukleine. Die Eigenschaften
derselben sind denen der albuminoiden
Körper ähnlich, nur mit dem Unter-
XIX. Jahrgang.!
NoTembw 1905.J
Zuektr, Thtorte un4 Praxis In der Glcbttbaript«.
563
schiede, daß sie einen geringen Prozent-
satz von Phosphor enthalten. Sie sind
vertreten im Eigelb und im Kasein der
Milch,
3. die Nukleine, welche das Knochen-
gehäuse der Zelle bilden und Phosphor
in ziemlicher Menge enthalten.
Bei Spaltung der Nukleine erhalten wir
nach Schmoll:
a) Albumin (wie im Protoplasma) und
b) die Gruppe der Nukleinsäure.
Auf diese Weise:
Nukleine
/ \
Albumin Nukleinsäure
/ \
Thyminsäure Xanthinbasen
oder Porinbaseu
Harnsäure
Die Nukleine geben bei der Verdauung
einfaches Albumin und Nukleinsäure. Die
Nukleinsäure gibt Thymin säure und die
Xanthinbasen. Fischer hat die chemische
Zusammensetzung der Harnsäure und der
Xanthinbasen eingehend untersucht und kam
zu dem Resultate, sie als Abkömmlinge des
Purins zu betrachten. Er nannte sie Purin-
körper. Der einfachste Vertreter der Purin-
körper ist das Hypoxanthin, welches in seinem
Molekül ein Atom Sauerstoff enthält. Wenn
man das Hypoxanthin oxydiert, so erhält
man das Xanthin und bei der Oxydation des
Xanthins erhalten wir Harnsäure. Wenn wir
nun die Amidogruppe in das Purin einführen,
so erhalten wir Adenin und bei der Oxy-
dation des letzteren Guanin. Man kann also
von den Purinbasen ausgehen und durch
einfache chemische Operation Harnsäure be-
kommen. Die Purinkörper werden überall
im Organismus gefunden, wo Nukleine vor-
handen sind. Die Xanthinbasen, die im
menschlichen Körper gefunden werden, sind
hauptsächlich Adenin und Guanin. Die Basen
können mit Thyminsäure, um Nukleinsäure
zu bilden, nach folgendem Schema:
Nukleinsäure = Adenin -f- Guanin
-4- Thyminsäure
verbunden werden. Wenn wir nun daran
denken, daß Nukleinsäure durch Spaltung
schließlich Harnsäure und Thyminsäure er-
gibt, und wenn wir diese Theorie auf die
Gegenwart von Thyminsäure bei der inner-
organischen Bildung von Harnsäure gründen,
so kommen wir zu der von Minkowski und
Kossei aufgestellten Hypothese, daß Thymin-
säure diejenige Substanz ist, welche in Ver-
bindung mit Harnsäure letztere löslich macht
und ein Produkt bildet, in welchem sich die
Harnsäure weder durch Essigsäure noch
Th. M. 19C5.
ammoniakali8che Silberlösung niederschlagen
läßt. In der Tat kann Harnsäure in Ver-
bindung mit Thyminsäure nicht leicht isoliert
werden, es sei denn durch sehr langes Kochen.
Auf Grund* dieser Vorgänge bekommen wir
nunmehr eine ganz exakte Anschauung über
die Tätigkeit der Harnsäure im menschlichen
Körper. Sobald die Harnsäure gebildet ist,
verbindet sie sich mit der Thyminsäure. In
dieser Verbindung zirkuliert sie im Blut und
verhindert die Entdeckung ihrer Gegenwart
im Blutserum. Sie wird durch die Nieren
ausgeschieden, zum Teil in der genannten
Verbindung, zum Teil auch nach Auflösung
dieser Verbindung. Die Gegenwart von
Thyminsäure im gesunden Körper erklärt
also, warum die Harnsäure im Urin durch
Säuren nicht gänzlich niedergeschlagen werden
kann. Weintraud6) hat den Konnex zwischen
Nukl einen und Harnsäure nachgewiesen, in-
dem er zeigte, daß nach der Fütterung mit
Kalbsthymus, welcher sehr reich an Nukleinen
ist, die Ausscheidung der Harnsäure von lj.3 g
auf 1,8 und 2 g in 24 Stunden stieg. Heß
und Schmoll7) haben ferner bewiesen, daß
die Nukleine als alleiniges Ausgangsmaterial
der Harnsäure anzusehen sind. Es zeigte
sich, daß bei einer gesunden Person mit
regelmäßiger Diät der einzige Weg, bei
welchem die Ausscheidung von Harnsäure
im normalen Prozentsatz beeinflußt werden
konnte, der war, daß Nährmittel gegeben
wurden, die Purinbasen enthielten. Die
Eingabe von Albuminen dagegen bewirkte
keine Änderung im ausgeschiedenen Quantum.
Es ist ferner nachgewiesen worden, daß im
gesunden physiologischen Zustande Harnsäure
nicht im Blutserum gefunden wird. Sie ist
ferner nicht in den Nieren gebildet und wird
vor ihrer Ausscheidung im Blutserum weiter-
getragen. Alle Vermutungen waren daher
unrichtig, bevor man nicht die Harnsäure
in Kombination mit der Thyminsäure ent-
deckt hatte. Es ist heute wohl ganz zweifellos,
daß die Harnsäure nur in dieser Form im
Blute vorhanden ist. Die Gegenwart von
Harnsäure im gichtischen Fluidum und in
den Geweben muß deshalb durch die Ab-
wesenheit eines äquivalenten Teiles der
Thyminsäure erklärt werden, welche sich
mit der Harnsäure verbindet und sie in
Losung hält. Im normalen Stadium wird
Harnsäure durch Oxydation der Purinbasen
erzeugt. Im gichtischen Stadium aber findet
die Verbindung mit Thyminsäure nicht statt.
Wenn man nun Gichtikern Thyminsäure ein-
gibt, so verbindet sich die Harnsäure, wie
Schmoll8) experimentell nachgewiesen hat,
mit der Thyminsäure. Es ist wahrscheinlich,
daß bei der Gicht Harnsäure aus anderen
43
564
Zuckar, TbaorU und Praxis in d«r Glcbtth«rapie.
j~ Therapeutische
L Monatshefte.
Stoffen gebildet wird und nicht aus den
Nukleinen, wobei Thyminsäure nicht zu
gleicher Zeit hergestellt wird. Minkowski
hat die synthetische Bildung der Harn-
säure bei den Vögeln und Wiener hat sie
auch an anderen Tieren und am Menschen
festgestellt. Wir können die Krankheitslehre
der Gicht nunmehr, wie folgt, aufbauen :
Harnsäure wird im gichtischen Organismus
synthetisch gebildet, während sie im nor-
malen Stadium durch Oxydation gebildet
wird. Im letzteren Falle verbindet sich
Thyminsäure, welche immer vorhanden ist,
mit Harnsäure und in dieser Verbindung
zirkuliert die Harnsäure im Blute. Die Ab-
wesenheit der Thyminsäure bei der Gicht
erklärt, warum die Harnsäure in den Gelenken
niedergeschlagen wird. Schmoll hat eine
Reihe von Versuchen gemacht und dabei den
ausgesprochenen Einfluß der Thyminsäure auf
die Ausscheidung von Harnsäure bei der
Gicht bewiesen. Sie war in jedem Falle
bis auf 25 — 50 Proz. vermehrt. Dagegen
hat eine andere Serie von Versuchen an dem
normalen, gesunden Menschen gezeigt, daß
die Eingabe von Thyminsäure ohne Ein-
fluß auf die Ausscheidung der Harnsäure
war.
Welches sind nun die Eigenschaften der
Substanz, welche Harnsäure so an sich
kettet, daß sie uns in gesundem Zustande
nicht nachweisbar begegnet und in den Ge-
weben oder Gelenken nicht niedergeschlagen
wird? Eine Verbindung so fester Art, daß
Harnsäure nicht einmal im Blute entdeckt
werden kann! Ich habe es vorgezogen, diese
Substanz Thyminsäure zu nennen und nicht
thymische Säure, wie Schmoll es getan hat,
weil dies leicht Verwechslungen mit den
Produkten aus der Pflanze Thymian hervor-
rufen könnte. Auch den Ausdruck Nukleotin-
phosphorsäure , wie es Minkowski und
Walker Hall gemacht haben, finde ich nicht
geeignet. Walker Hall sagt in seinem
wertvollen Buche über Purinkörper Seite 139:
„Ein interessanter Ausblick ist die Tätigkeit
einiger Körper, welche den Niederschlag von
Harnsäure und Xanthinbasen verhindern oder
vorbeugen. Minkowski fiel seit einiger Zeit
diese Eigenschaft der Nukleotinphosphorsaure
auf, und er hat diese Substanz Patienten ein-
gegeben, hoffend, die Festhaltung der zirku-
lierenden Purine in Lösung zu bewirken. Zur-
zeit ist diese Nukleotinphosphorsaure nicht
leicht erhältlich, deshalb sind nur wenige
Resultate über die Wirkung derselben be-
kannt."
Thyminsäure ist ein amorphes Pulver von
braungelber Farbe, löslich in kaltem Wasser,
leicht schmelzend, schwach sauer und ziem-
lich geschmacklos. Minkowski gibt ihr
folgende Formel:
CMH46N40!5.2P,05.
Kossei diese:
CHnNgP.O,,.
Sie besitzt die sehr wichtige Eigenschaft,
ihr eigenes Gewicht Harnsäure bei einer
Temperatur von 20° C. in Lösung zu halten.
Dieses Lösungs vermögen wird aber noch um
50 Proz. erhöht bei einer Bluttemperatur
von 37°. Man kann sich hiervon leicht über-
zeugen. Eine schwach alkalische Lösung von
Harnsäure wird in einem Reagenzglas vor-
bereitet, wobei dafür zu sorgen ist, daß man
nur ein kleines Quantum Harnsäure verwendet,
ca* Vö gram oder noch weniger. In einem
anderen Reagenzglas wird eine Lösung von
etwas mehr Thyminsäure in Wasser her-
gestellt. Die Hälfte des Inhalts beider Reagenz-
zylinder gießt man in ein drittes Glas und
schüttelt um. Säuert man diese Mischung
stark an, so wird man finden, daß die Harn-
säure in Lösung bleibt und nicht gefällt wird.
Wenn man nun das Glas, welches die übrig-
gebliebene Hälfte der Harnsäurelösung ent-
hält, mit Wasser auffüllt und ansäuert, so
wird hier die Harnsäure entweder als
amorpher Niederschlag sich ausscheiden, oder,
wenn die Lösung schwach ist, werden sich
Kristalle von Harnsäure bilden. Nach Kos sei,
Goto9) und anderen wird die Lösungsfahig-
keit der Thyminsäure erhöht, wenn ein ge-
ringes Quantum Nukleinsäure noch vorhanden
ist. Die Thyminsäure kann innerlich als ein
Pulver, ferner in Lösung oder in Form von
Tabletten gegeben werden. Ihre Anwendung
hat nach meinen Erfahrungen keine unan-
genehmen Nebensymptome gezeigt. Sie wird
am besten mit oder unmittelbar nach der
Mahlzeit gegeben in Dosen von 4 — 7 grains
(0,25 — 0,45 Gramm). Ich verordne gewöhnlich
Dosen von 4 — 8 Grains (0,25 — 0,5 Gramm),
und zwar in Tablettenform nach der Mahl-
zeit. Während dieser Behandlung habe ich
kein anderes Mittel angewandt und fast aus-
schließlich befriedigende Resultate erzielt.
In 4 akuten Fällen hob die Behandlung die
Entzündung auf und führte rasch zur Ge-
nesung. In chronischen Fällen hat längere
Eingabe des Mittels zu einer bemerkbaren
Besserung in fast jedem Falle geführt. Nach-
folgende Beispiele sind aufs Geratewohl aus
meiner eigenen Praxis und aus jener der
Herren Dr. Butler Harris, Dr. Abbot
Anderson und Dr. E. F. Cronin, denen
ich • für gütige Übersendung der Tabellen
ihrer Fälle verpflichtet bin, herausgegriffen
worden.
XIX. Jahrgang.1
November 1906.J
Zucktr, Theorie und Praxis in der Gichttherapie.
565
Tafel I — Fälle von akuter Qicht.
Vorhergang
Status bei der
Aufnahme
Dosis
Bemerkungen
M
M
46
42
45
55
M
68
65
Hat wiederholte Anfalle
von akuter Gicht in den
Füßen und Knien gehabt
während der letzten 3 J.
Hat 2 oder 3 frühere
Anfalle gehabt. -
Akute Gicht im rechten
Knie.
Hat an mannigfachen
Anfallen von akuter
Gicht in Zwischenräumen
während der letzten
6 Jahre gelitten. Hat
Spuren von Albumin und
ziemlich viel Zucker im
Urin.
Hat jahrelang Gicht ge-
habt, hat schwere Anfälle
von Arthritis gehabt, ge-
wöhnliche Dauer der An-
fälle 3 — 4 Wochen.
Hat verschiedene An-
fälle von Gicht in den
letzten 4 Jahren gehabt,
gewöhnliche Dauer meh-
rere Wochen.
Die rechten Gelenke
geschwollen, entzün-
det und schmerzhaft.
Die linken Gelenke
gleichzeitig ange-
griffen.
Schmerzhafte, ent-
zündete Schwellung
des Knies.
Akute Dyspepsie mit
Erbrechen und gich-
tische Pharyngitis,
Akute Arthritis des
linken Knies.
Schwerer Anfall im
linken Fuß und
Knöchel.
4 Grains 3 mal
täglich.
5 Grains 3 mal
täglich.
4 Grains alle
4 Stunden.
do.
54 Hatte wiederholte An-
fälle von Gelenkgicht,
10 — 15 Tage dauernd.
Akute Arthritis des
linken Fußgelenks.
4 Grains alle
4 Stunden vom
2. Tage des An-
falls.
4 Grains 3 mal
täglich, Beginn
am 3. Tage des
Anfalls.
4 Grains 3 mal
täglich.
Kuriert in 5 Tagen,
frühere Anfälle dauerten
gewöhnlich 3 Wochen.
Vollkommen wohl in
4 Tagen, frühere Anfälle
haben 7 — 10 Tage ge-
dauert.
Das Knie war in 5 Tagen
gesund, und die Pharyn-
gitis verlief ruhig bei
dieser Behandlung.
Die akuten Symptome
waren in 5 Tagen ver-
schwunden, am 9t Tage
der Zucker verringert von
3,13 Grains per Unze auf
1,36 Grains per Unze. Hat
keinen weiteren Anfall
gehabt, seit er 4 Grains
Thyminsäure 2 mal tag),
nimmt, der Zucker ist
tatsächl. verschwunden.
Kuriert. Entzündung ver-
schwand in 4 Tagen.
Kuriert am 11. Tage des
Anfalls. Der Patient
hörte mit Thyminsäure
auf und hatte 2 Monate
später einen anderen An-
fall, welcher ebenso
schnell wieder kuriert
war.
Kuriert in 4 Tagen.
Tafel II — Fälle von chronischer Qicht.
1
1
i
s
<
Vorhergang
Dosis
Bemerkungen
1
2
F
M
70
37
Hat viele Jahre an gichti-
scher Arthritis der Finger-
gelenke und Knie gelitten
und zuletzt an hartnäcki-
gem Ekzem der Hände.
Empfindliche Schwellung
im Mittelgelenk der
rechten Hand.
4 Grains
3 mal täglich
nach dem
Essen.
4 Grains
3 mal täglich.
Große Erleichterung nach einmonatiger
Behandlung, fähig bequem zu gehen und
die Hände zu gebrauchen. Am Ende
von 6 Wochen war das Ekzem gänzlich
verschwunden, und eine kleine Dosis hat
sie seitdem in guter Gesundheit erhalten.
Bei verlängertem Gebrauch von Thymin-
säure Allgemeinbefinden gebessert, die
Schwellung vermindert und die Empfind-
lichkeit verschwunden.
43 •
566
Zucker, Tn«ori« und Frate in dar Qlchtth«r*pl«.
fTh0r«p«a(
L Monatah«
Monatshefte.
'S
VorhergaDg
Dosis
Bemerk ungcn
7 Grains
\ mal täglich.
do.
3 F 45 Schwellung und Empfind-
lichkeit der Füße.
4 F 60 Steifheit in den Gelenken
and Rücken, Verdickung
der Fingergelenke, Über-
maß von Harnsäure und
Uraten im Urin.
69 Seit Jahren verdickte
Fingergelenke, zu Zeiten
entzündet und schmerzhaft,
verschiedentlich Tophi
zeigend ; beide Knie waren
geschwollen und schmerz-
haft
66 Subakute Arthritis speziell 4 Grains
der Knie, Magenschwäche 3 mal täglich.
und Verbtop fang,
63 Gichtische Schmerzen in 7 Grains
linker Hand, Tophi am 3 mal täglich,
kleinen Fingergelenk bei-
der Hände, Ekzem an
Armen und Schenkeln.
67 Gicht and Diabetes zu- 4 Grains
sammen treffe od mit einem 3 mal täglich.
Anfall von Luftröhrenent-
zündung. Höhe des Zuckers:
8 Grains auf die Unze.
46 Gicht und Glukosurie. 8 Grains
Zucker 29,14 Grains per 3 mal täglich.
Unze. Ein großer Gourmand
und Alkoholiker.
4 Grains In einer Woche war das Befinden so
3 mal täglich, gebessert, daß sie bequem gehen konnte.
10 F 43 Litt an Fettleibigkeit, peri- 4 Grains
odischen Kopfschmerzen, 3 mal taglich.
Schlaflosigkeit, Dyspepsie.
11 M 48 Gichtische Halsentzündung
und Ekzem der Hände.
Gegenwärtig Tophi an den
Onren.
12 . M 46 Hat ^an wiederholten An-
fallen von Steingries
während der letzten
6 Jahre gelitten.
Literatur.
1. Roberts: On the Chemistry and Therapeutics
of Uric Acid, Gravel and Gout, 1892.
2. Murchison: Clinical Lectures on Diseases of
the Liver, 1877.
8. Bouchard: Lecons sur les Maladies par Ralen-
tissement de la Nutrition, III. edition, Paris 1890.
4. Fischer: Synthesen in der Puringruppe, Be-
richte der Deutschen Chemischen Gesellschaft,
1899, Band XXXII.
Nach 3 Wochen eine vermehrte Aus-
scheidung von Harnsäure, die Urate
waren verschwunden und die Steifheit
sehr gebessert.
In 14 Tagen wohlempfundene Besserung,
Hand ganz frei von Schmerz, Knie haben
wieder Form und Beweglichkeit be-
kommen, und alle Gelenke waren biegsam.
Arthritis beständig gebessert, ebenso
Dyspepsie.
Besserung sehr merkbar, Ekzem ver-
schwanden.
Zucker quantitativ stufenweise vermindert
und gänzlich verschwunden in 14 Tagen;
ist nicht wiedergekehrt. Der Patient
nimmt gelegentlich Dosen von Thymin-
säure (Solurol).
In einem Monat fiel der Gehalt an
Zucker auf 8,75 Grains per Unze, in
2 Monaten auf 3,64 Grains per Unze.
Wohnt jetzt abseits, erfreut sich guter
Gesundheit
Nach dreimonatlicher Behandlung hatte
der Patient 9 Pfund an Gewicht ver-
loren, die Kopfschmerzen, Dyspepsie
und Schlaflosigkeit waren verschwunden,
und er war fähig, regelmäßige Gehver-
suche zu machen. Er fahrt fort, Thymin-
säure zu nehmen (4 Grains 2 mal täglich).
do. Kuriert nach zweiwöchiger Behandlung,
aber da Patient ein sorgloses Wesen war,
kehrten die Symptome wieder, sind aber
nach Behandlung rasch verschwanden.
do. Nach sechswöchiger Behandlung, während
welch. Zeit er frei v. Schmerzen war, hatte
er einen Anfall von Nierenkolik, welche
mit dem Abgang von kleinen harnsauren
Nierensteinen endete. Seitdem ist er
vollkommen wohl.
Kos sei: Über Nukleinsäure, Zentralblatt für
die medizinischen Wissenschaften 1893. Kossei
und N e u m a n n : Über Nukleinsäure und Thymin-
säure, Zeitschrift für physiologische Chemie 1896.
Weintraud: Berl. klin. Wochenschr. 1893.
Heß und Schmoll: Archiv für experimentelle
Pathologie und Pharmakologie 1896.
Schmoll": Arch. General, de Med. 39, 1904.
Goto: Zeitschrift für physiologische Chemie.
XIX. Jahrgang.*!
November 1905.J
Neumann, Balneologiacha BahandJung alter Hemiplegien.
567
I>ie balneologrische Behandlung alter
Hemiplegien*
Von
Dr. Neumann (Baden -Baden).
Vortrag, gehalten im Gr. Landesbade während
des balneologischen Kurses Oktober 1904.
Der Zweck dieser Mitteilung ist nicht
der, die ganze Pathologie der Apoplexie und
verwandter Zustände zu besprechen, sondern
der Frage nahezutreten: Ist auf Grund von
Erfahrungen die balneo logische Behandlung
zulässig; welche Erfolge kann man erreichen,
und wie lassen sich angesichts bestehender
Krankheitsherde Besserungen im Befinden der
betreffenden Kranken erklären?
Unter den verschiedenartigen Kranken,
die das Landesbad aufnimmt, suchen auch
eine Reihe von Leuten Zuflucht und Hilfe,
welche Schlaganfälle erlitten haben und nun
Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit, Er-
leichterung von Schmerzen in den Gliedern
suchen ; bescheidenere erhoffen wenigstens von
dem Gefühl bleierner Lähmung befreit zu
werden und wenigstens sich selbst wieder
an- und auskleiden zu können, ein wenig
schreiben zu lernen und dergleichen mehr.
Schon das Bewußtsein, ihren Angehörigen
weniger zur Last zu fallen, ist für viele ein
hohes und erstrebenswertes Ziel.
Denn keinem von allen ist es vergönnt,
im eleganten Fahrstuhl auf schönen Wegen
die Welt zu sehen und an einem beschränkten
Lebensgenüsse teilzunehmen.
Unter diesen Verhältnissen muß der Arzt
sich die Frage vorlegen, ist es denn möglich,
in der kurzen Zeit von 4 — 5 Wochen einen
meist schon lange bestehenden krankhaften
Zustand irgendwie günstig zu beeinflussen?
Andererseits haben derartig schwierige Pro-
bleme für den Arzt immerhin einen gewissen
Reiz, abgesehen von den humanen Aufgaben,
welche einigermaßen zu lösen, der geborene
Zweck unserer Anstalt ist.
Lassen denn überhaupt, wenn man sich
vor Täuschung bewahren will, die anatomi-
schen Folgen der verschiedenen Vorgänge,
welche zu dem Biläe des sogenannten Schlag-
anfalls führen, eine Änderung, natürlich im
Sinne der vom Kranken erstrebten Besse-
rung, zu?
Im allgemeinen erweist der anatomische
Befund, daß die zerstörten Herde im Gehirn,
von oben nach unten genommen, in der
Minderzahl der Fälle in der Gehirnrinde und
deren Bewegungszentren sitzen. Dann kom-
men die Herde im Marklager und den Stamm-
ganglien, besonders dem Linsenkern, besonders
die, welche in dem hinteren Teil der inneren
Kapsel auf dem Weg nach den Pyramiden-
bahnen folgen; dann folgen die Erkrankungen
der Hirnschenkel, der Brücke bis oberhalb
der Pyramidenbahn. Zur Lähmung treten
noch, wie auch das Experiment zu entschei-
den schien und auch für die Mehrzahl der
Fälle bestätigte, sogenannte Kontrakturen,
d. h. ein Übergewicht einzelner Muskelgruppen
in dem Sinne, daß immer gewisse Muskel-
gruppen im Zustand der Zusammenziehung
sich befinden, während die anderen Gruppen
der Antagonisten diesem stärkeren Zug der
Innervation nicht widerstehen können. Sitz
der Kontraktur sind diejenigen Muskelgruppen,
die schon unter physiologischen Verhältnissen
das Übergewicht haben.
So bleibt am Arm die Gruppe der Mus-
keln, die den Arm an den Rumpf anziehen,
in Dauerspannung, während der Arm nach
der Seite hin nicht oder schwer vom Rumpf
entfernt werden kann. Der Vorderarm ist
gegen den Oberarm gebeugt, die Hand ein-
wärts gedreht, die Finger gebeugt.
Am Oberschenkel dagegen überwiegen die
Streckmuskeln, am Unterschenkel die Beuge-
muskeln und Einwärtsroller des Fußes.
Trotz dieses typischen Bildes gibt es
nicht wenige Fälle, in denen von selbst
nach verhältnismäßig kurzer Zeit, selbst
nach ganz ausgesprochenen Halblähmungen,*
über deren Lokalisation gar kein Zweifel
sein kann, ganz überraschende Besserungen
sich einstellen.
Wir wissen ja, daß allerdings in der
Umgebung eines frischen Blutungsherdes oder
einer thrombotischen oder embolischen Er-
weichung Zirkulationsstörungen sich wieder
ausgleichen können; doch darf die Dauer
einer solchen Zirkulationsstörung nicht lange
währen, da ja die sogenannten Endarterien,
besonders im Gebiet der großen Ganglien
und deren Nachbarschaft, eine kollaterale
Ausgleichung nicht zulassen.
Ein nur wenige Minuten dauernder Ab-
schluß des Blutes von der Gehirnsubstanz
genügt, um dieselbe für immer funktionell
zu vernichten.
Wie kommt es nun, daß, nachdem diese
pathologischen Tatsachen feststehen, wesent-
liche Ausgleichungen von Lähmungen statt-
finden, trotzdem die Hauptleitung zwischen
den Bewegungszentren zu den Rückenmarks-
bahnen teils direkt zerstört, teils durch ab-
steigende Degeneration 1 ei tungs unfähig ge-
worden ist.
Die Studien der letzten Zeit haben er-
geben, daß neben der Hauptleitungsbahn
noch weitere Nebenbahnen existieren, welche
nach unten in der Tierreihe, z. B. beim Hund,
noch den Ausgleich von Zerstörungen im
Gehirn und der Pyramidenbahn völlig ge-
668
Naumann, Belneoloffieehe Behandlung alter Hemiplegien.
[Therapeut
Mnimtühefle.
statten, während sie beim menschenähnlichen
Affen zwar schwächer, aber noch ziemlich
leistungsfähig vorhanden sind. Beim Menschen
jedoch treten sie durch die überwiegende
Ausbildung des Gehirns und der damit zu-
sammenhängenden direkten Bahnen zurück,
lassen sich aber immerhin noch anatomisch
und funktionell nachweisen.
£s ist dies die mit der Gehirnoberfläche,
und zwar beider Gehirnhälften, zusammen-
hängende, dem Umfang nach schwache Bahn,
welche durch die Sehhügel und Vierhügel in
den vorderen Pyramidenstrang herabfuhrt,
ohne von der Zerstörung und Degeneration
des kranken Herdes berührt zu werden.
Diese Verhältnisse sind in den letzten
Jahren besonders von Lazarus und Roth-
mann eingehender studiert worden.
Es erscheint sehr plausibel, anzunehmen,
daß diese mit dem Krankheitsherd in keiner
direkten anatomischen Beziehung stehenden
Bahnen in Funktion für ausgefallene Bahnen
treten, und daß je nach ihrer bekanntlich
wechselnden individuellen Entwicklung sie
durch Anregung und Regelung der Zirkulation,
durch Übung, eine Anpassung an die krank-
haften Zustände erreichen können und so
stellvertretend krankhafte Defekte teilweise
auszugleichen imstande sind.
So würde es sich auch erklären, warum
die Besserungen einen oft schwerverständ-
lichen Verlauf nehmen, warum selbst bei
anfänglich schweren und ausgedehnten Aus-
fall- und Reizerscheinungen ein überraschen-
der Ausgleich zustande kommt, der in viel
leichteren Fällen ausbleibt.
Wir hatten im Verlauf des ablaufenden
und des vorigen Geschäftsjahres allein zu-
sammen 26 Fälle, welche als abgelaufene
Apoplexien in die Anstalt eingewiesen wurdeo.
Die Zeit, welche seit dem Anfall ver-
strichen war, betrug von 1 Monat in einem
Fall bis zu zehn Jahren.
Die meisten Fälle waren von fünf Monaten
bis zu drei Jahren alt. —
Das Lebensalter war bei dem jüngsten
Patienten 26 Jahre, dagegen kamen 16 Fälle
im fünften Dezennium des Lebens vor.
In der Privatpraxis hatte ich ein junges
Mädchen mit einer zweifellos embolischen
Hirnerkrankung behandelt, welche ihren An-
fall mit 22 Jahren bekommen hatte.
Wir sehen also, daß doch überwiegend
die zur Halblähmung führenden Zufalle in
einem Alter Zustandekommen, in dem Verände-
rungen an den peripheren Gefäßen wie auch
am Herzen sich schon lange ausgebildet haben,
auch im Gehirn vorausgesetzt werden dürfen.
Bei den von mir beobachteten Fällen
habe ich nicht in einem einzigen einen
Klappenfehler nachzuweisen vermocht. Da-
gegen waren nicht selten Erschlaffungs-
zustände des Herzens vorhanden, welche es
als möglich erscheinen ließen, daß von Ge-
rinnseln des linken Vorhofs und Herzohrs
aus doch eine Embolie Zustandekommen
konnte.
In den meisten Fällen war es natürlich
nach so langer Zeit nicht festzustellen, ob
es sich im Einzelfalle seinerzeit um eine
Gehirnblutung, um einen embolischen oder
thrombotischen Prozeß gehandelt hatte. In
einer Reihe von Fällen ist es mir gelungen,
von den Patienten zu erfahren, daß der An-
fall durchaus nicht mit einem Bewußtseins-
verluste eingetreten war, und daß auch un-
mittelbar oder längere Zeit nach dem Anfall
das Bewußtsein nicht getrübt wurde.
Auch von Vorläufererscheinungen, ab-
gesehen von etwas Schwindel oder ein-
genommenem Kopf, wußten die Leute nichts
zu sagen. Nur für einen Fall entsinne ich
mich der Angabe, daß längere Zeit vor dem
Zufall in der später gelähmten Seite neur-
algieähnliche Schmerzen bestanden hatten,
welche freilich anfänglich als Rheumatismus
gedeutet worden waren.
Von den 26 Kranken waren 4 Frauen
und 22 Männer.
Diese Tatsache regt auch die Frage an,
inwieweit eventuell der Alkoholgenuß an der
Entstehung von Schlagzufallen beteiligt sei.
Die Ziffer 4 der Frauen entspricht nicht
dem Prozentsatz der im Landesbad ver-
pflegten Frauen, der sich um 35 bis 40 Proz.
herum bewegt. Immerhin möchte ich darauf
aufmerksam machen, daß ich in meiner früher
sehr ansehnlich gewesenen Familienpraxis
wiederholt beobachtet habe, daß da, wo
erbliche Gefäßveränderungen vorkommen,
gerade die Frauen von Schlaganfällen be-
troffen wurden und später an deren Folgen
zugrunde gingen, während die ebensoalt und
älter gewordenen Brüder verschont blieben.
Die betreffenden Frauen hatten in ihrem
ganzen langen Leben nicht so viel Alkohol
getrunken als die betreffenden Brüder jeweils
in 2 — 3 Monaten.
Überhaupt habe ich bei ausgesprochenen
Trinkern Apoplexien nicht gerade häufig ge-
sehen.
Interessant ist es auch, daß der Verlust
des Bewußtseins und das Freibleiben des
Bewußtseins durchaus nicht immer der
Schwere des Anfalls und der Ausdehnung
der bleibenden Lähmung entsprechen.
So hatte einer unserer Patienten das
Bewußtsein im Anfange und nachher völlig
erhalten und doch anderthalb Jahre lang
schwere Reizzustände, permanente Zuckungen,
XIX. Jahrgang.*!
No™mbT 19Q5.J
Neu mann, BalnaologUche Behandlung alter H«mipl«gi«n.
569
Zittern und schwere Kontrakturen in Arm
und Bein davongetragen.
Man begreift, daß besonders bei langem
Bestand der Folgen der Apoplexien man
nicht gerade mit großem Vergnügen an die
Behandlung solcher Zustände herantritt.
Nach so langer Dauer finden sich keine auf-
fallenden Sensibilitätsstörungen mehr. Manch-
mal ist das wohl mit einer unverkennbar
allgemein verminderten Sensibilität zusammen-
zubringen, wie das ja auch häufig in höherem
Alter überhaupt der Fall ist. Besonders das
Tastgefühl ist in der Regel wieder völlig
hergestellt, und eingehende Prüfungen lassen
auch erkennen, daß keine Dissoziation der
Empfindung vorhanden ist.
Dagegen bleiben neben den hemiplegischen
Erscheinungen in den paretischen Teilen die
Reflexerregbarkeit, vasomotorische Symptome
zurück; Atrophien der gelähmten Teile, die
ja in ihrer Deutung noch nicht ganz lücken-
los sind, müssen als seltenes Vorkommnis
bezeichnet werden.
Vor allem wirft sich die Frage auf, können
denn nach der Lage der anatomischen Ver-
änderung die Folgezustände einer lokalen
Hirn- und Strangzerstörung irgendwie beein-
flußt werden. Schadet man dann nicht viel
eher mit sämtlichen therapeutischen Ver-
suchen?
Ferner ist es möglich, auf die Folge-
zustände, .die das Allgemeinbefinden und be-
sonders die Psyche betreffen, irgendwie in
günstigem Sinne einzuwirken?
In den einleitenden Bemerkungen über
die Pathologie habe ich schon erwähnt, daß
bei Blutung wie bei Erweichungsherden das
betroffene Gewebe funktionell vollständig ab-
getötet wird, und daß nur Reizzustände vor-
übergehender Natur in der Nachbarschaft des
Krankheitsherdes einen Ausgleich gestatten.
Für Tiere hat das Experiment die Möglich-
keit eines Ausgleichs der Lähmung bejaht.
Bei Affen und Hunden hat man sowohl
die Rindenzentren für Bewegung wie auch
Herde der Marklager entfernt und zerstört
und Durchschneidung der Pyramidenbahn
vorgenommen und dabei beobachtet, daß auch
die dabei auftretenden Kontrakturen durch
frühzeitige Anregung der gelähmten Körper-
teile sich vermeiden ließen.
In jüngerer Zeit haben einzelne Arzte es
auch versucht, unmittelbar nach dem
Schlaganfall die Leitungsbahnen von der
Peripherie her durch Gymnastik und Galvani-
sation anzuregen, und man will auch Kon-
trakturen vermieden und beseitigt und auch die
Ausdehnung der Lähmung beschränkt haben.
Ich gestehe, daß ich solchen Bemühungen
gegenüber mich sehr skeptisch verhalte. Wir
müssen doch bedenken, daß es sich bei
der Gehirnblutung und der Gehirnthrombose,
weniger bei Embolie, um Zustände handelt,
bei welchen schon lange vor dem Eintritt
des Anfalls Veränderungen in den Gehirn-
gefäßen, und zwar sowohl in den gröberen
wie in den Endarterien, bestanden hatten.
Ich erinnere nur an das lange Bestehen der
Miliaraneurysmen. Auch wenn durch einen
Anfall ein Krankheitsherd gebildet ist, so
wird das übrige Gehirn in den meisten
Fällen eben nicht ganz gesund sein, während
beim Experiment am gesunden jungen Tier
die Entfernung einer Hirnpartie ein sonst
durchaus intaktes und auch weniger empfind-
liches Hirn verletzt, als beim Menschen der
Fall ist.
Bei einer frühzeitigen Anwendung ver-
schiedener physikalischer Heilmittel ist immer
zu befürchten, daß sich durch wechselnde
Füllung und Überfüllung der Gehirngefäße
neue Reizzustände bilden, welche einen Nach-
schub von Blutung herbeiführen können. Sieht
man doch nicht selten, daß bei scheinbar
stationären Kranken der vorsichtigste Gebrauch
von einfachen genau temperierten Thermal-
bädern Schwindel, Kopfweh, größere Unsicher-
heit in den gelähmten Gliedern, Schmerz-
empfindung und dergleichen hervorruft, und
für einige Zeit eine vasomotorische Reizbar-
keit zurückbleibt.
Als Folgezustände von Halblähmungen
sind den Kranken vor allem peinlich die
einseitige Schwäche und die erschwerte Ge-
brauchsfähigkeit der einen Seite, die durch
Bewegungsversuch natürlich sich noch mehr
bemerklich macht; ferner die Kontrakturen,
Zuckungen in den gelähmten Gliedmaßen,
die vasomotorischen Störungen in der ge-
lähmten Seite, in deren Folge ödematöse
Schwellungen, Störungen der Hauternährung,
Mißempfindungen aller Art den Kranken
quälen.
In den meisten Fällen leiden die be-
treffenden Kranken auch gemütlich sehr; sie
fühlen eine fortschreitende Änderung ihrer
Persönlichkeit, ihr Hemmungsvermögen, be-
sonders Verstimmungen gegenüber, nimmt ab.
Sie werden gedrückt, weinerlich und im Ver-
kehr mit andern sehr reizbar und ungleich-
mäßig.
Man wird immer darauf zurückkommen, ein-
mal die peripherischen Störungen, Kontraktur,
lokale Schwäche zu behandeln, auf der andern
Seite aber das Allgemeinbefinden zu heben.
Nach der ersteren Richtung bin sind ja
Massage der gelähmten Teile, insbesondere
Widerstandsgymnastik, zur Verwendung ge-
langt; man hat galvanisiert, man hat die
geschwächten Glieder faradisiert, um durch
570
Naumann, Balneologitch« Behandlung alt«r H«mlpl«gi«n.
Hebung der peripheren Zirkulation Reste
alter Leitungsbahnen oder stellvertretende
Leitungsbahnen anzuregen und so den Krank-
heitsherd indirekt und direkt zu beeinflussen,
welch letzteres ja. ein eitles Bemühen ist.
Wie mir scheint, ist man endlich von
der zentralen Galvanisation des Gehirns mit
allen ihren Geheimnissen und Gefahren ab-
gekommen. Bei der sogenannten zentralen
Galvanisation sieht man selbst bei geringster
Stromstärke und Einschleichen des Stroms
mit dem Rheostat doch leicht Schwindel-
empfindungen, Wechsel der Gesichtsfarbe ein-
treten, demnach doch vasomotorische Schwan-
kungen der Zirkulation im Schädelinnern. —
Mir scheint, da man sichere therapeutische
Erfolge dieser Behandlung nicht nachweisen
kann, es klüger und im Interesse der Kranken
geboten, diese Behandlungs weise nicht zu
versuchen.
Von altersher genießen die natürlichen
Thermen einen allgemein geltenden Ruf als
Heilmittel nach Apoplexien aller Art. Meines
Wissens waren hierin besonders bevorzugt
Teplitz, Wildbad Gastein und Wildbad in
Württemberg. Eigene Erfahrungen über die
an den bezeichneten Orten erreichten Heil-
erfolge besitze ich nicht. Doch auch von
den hiesigen Bädern wird häufig Gebrauch
gemacht.
Meine personlichen Erfahrungen sind maß-
vollen Erwartungen gegenüber durchaus nicht
ungünstig. — Vor allem gilt es, die Bäder
so zu temperieren, daß keine Reizung der
Zirkulation eintreten kann.
Der Puls muß nach den Bädern mindestens
nicht frequenter werden, womöglich sollte man
eine mäßige Verlangsamung desselben erzielen.
Der Kranke darf kein kongestioniertes Aus-
sehen bekommen; er darf nach den Bädern
keinen Schwindel oder Kopfweh empfinden.
Nicht zu unterschätzen ist die subjektiv
angenehme Empfindung des Kranken im
Thermalbad selbst.
Inwieweit der natürliche Kochsalzgeh alt
der Therme die Nervenendigungen in der
Haut in einer dem Gemeingefühl behaglichen
Weise anspricht, vermag ich nicht mit Sicher-
heit zu bestimmen; mir scheint, daß das im
Thermalbad empfundene Behagen hauptsäch-
lich durch physikalische und chemische Zu-
sammensetzung des Wassers bedingt ist; denn
in einem stark kalkhaltigen Wasser oder in
einer starken Sole kommt das beruhigende
Wohlbehagen nicht so zustande wie in den
sehr schwachen Salzlösungen (Salzlösungen
im weitesten Sinne) der hiesigen natürlichen
Thermal wässer.
Die Badener Therme, welche in ihrer
Zusammensetzung der physiologischen Koch-
fTharapautiaelM
L Monatnb«fte.
Salzlösung nahesteht, beeinflußt, wie ich an
einem ungewöhnlich großen Krank enm&terial
nachweisen konnte, sowohl die Ernährung
wie die Tätigkeit des Herzen6 in sehr
günstiger Weise, besonders kommen hier
Gefäßsklerose und Muskelerkrankungen in
Betracht.
Diese subjektive Hebung des Gemein-
gefühls durch das Wasser wirkt, wie sich
leicht erproben läßt, auf die Beruhigung der
gesamten Hautoberfläche und beeinflußt so
alle sensiblen Bahnen.
Erhöhte Reflexe, die ja nach apoplekti-
schen Zufällen sich stets finden, werden
geringer; Kontrakturen lassen sich im Bade
leichter überwinden, die ersten Fort-
schritte aktiver Bewegung in geschwächten
und gelähmten Teilen werden vom Kranken
selbst im Bade überhaupt zuerst wahr-
genommen.
Diese leicht zu bestätigenden Beobach-
tungen sind auch der Ausgangspunkt der
therapeutischen Bestrebungen und zweifellos
das beste und ungefährlichste, was wir solchen
Kranken bieten können. Auf dem Weg der
Prüfung des Gemeingefühls läßt sich auch
bezüglich der Temperaturen eine erfahrungs-
gemäß e Bestimmung der Badewärme treffen.
Trotzdem solche Kranke häufig leicht frieren
und von unangenehmen Temperatursensationen
anderer Art heimgesucht werden, habe ich
den bestimmten Eindruck gewonnen, daß
mittlere Temperaturen von 26 — 26!/9° R. die
besten Erfolge bezüglich des Behagens, der
Verlangsamung der Zirkulation und einer
leichten Hebung des Blutdruckes geben.
Wenn der Eindruck gewonnen ist, daß
durch eine während des Bades konstante,
mäßige Temperatur der Zustand sich bessert,
so versuche ich, durch ebenfalls schwache
Temperaturdifferenzen einen ungefährlichen
und anregenden Reiz einzuführen. Ich ver-
wende dann Bäder, die mit 24° R. beginnen
und gegen das Ende auf 26° steigen. Ab
und zu verstärke ich den Reiz der schwachen
Temperaturdifferenz durch einen schwachen
Salzzusatz, so daß ich höchstens eine 2 proz.
Salzlösung in Thermalwasser verwende. Die
Dauer des Bades beträgt 8 — 20 Minuten,
allmählich steigend. Solche schwachen Salz-
lösungen gestatten durch ihren Eigenreiz
wieder die Herabsetzung der Temperatur
auf 24°.
Nach dem Bade folgt, wie das gewisser-
maßen zur Hausordnung des Landesbades
gehört, direkt mehrstündige Bettruhe,
wobei die Pulsverlangsamung lange dauert.
Als ein mächtiges Hilfsmittel zur Beseiti-
gung von Kontrakturen, zur Hebung der Er-
nährung der paretischen Teile betrachte ich
XIX. Jahrgang .1
November 1905. J
Neumann, Balneologitche Behandlung alter Hemiplegien.
571
die Zander sehe Gymnastik. Wer mit ihr
arbeiten will, ohne den Kranken zu schädigen,
der muß mit ihr gut bekannt sein und den
betreffenden Fall eingehend studiert haben.
Vom Standpunkt der Kranken kann ich nur
hervorheben, daß ich meist bei einer wieder-
holten Kur, wo ich mit der Gymnastik an-
fanglich zurückhalte, dringend um dieselbe
gebeten werde. Als Wirkung derselben, und
das kann ich bestätigen, werden größere
Frische, leichtere Beweglichkeit und Ände-
rungen des Schwächegefühls hervorgehoben,
selbst da, wo meine objektive Prüfung eine
sachliche, später eintretende Änderung im
Beginn noch nicht erkennen läßt. Der durch
Bad und Massage bedingte Wegfall von pein-
lichen Mißempfindungen wirkt offenbar im
günstigen Sinne auf das Gemeingefühl der
Kranken.
Günstig ist es, wenn man den betreffen-
den Kranken die Wohltat einer solchen Kur
mehrere Jahre nacheinander angedeihen lassen
kann. Eine von mir beliebte Methode ist
ein vierwöchentlicher Badegebrauch im Früh-
jahr und eine zweiwöchentliche Wiederholung
im Herbst.
Es wird bei dieser Therapie natürlich
nicht gelingen, besonders quälende Erschei-
nungen völlig zu beseitigen; das ist aber
auch bei den, wie ich hoffe, zur Seite ge-
legten elektrischen Anwendungen, um apo-
plektische Sprachstörungen, zentrale Atro-
phien in einzelnen Gliedern zu bessern, auch
nicht gelungen. Der ungefährlichste Weg
der Behandlung, nämlich der mit wohl-
angepaßten Badeprozeduren, scheint alles in
allem immerhin der beste zu sein, und bei
einer gewissen Anzahl von Erkrankungen
gelingt es eben doch, ganz auffallende Besse-
rungen sowohl in der örtlichen Lähmung und
Schwäche wie im Allgemeinbefinden herbei-
zuführen.
Wie anfangs bemerkt, habe ich Apo-
plexien der verschiedensten Art zu behandeln
gehabt. Wenn nun bei einer einfachen Be-
handlung, bei Überwachung der Diät, der
Bewegung wesentliche Besserung nach 2 bis
10 jährigem Bestand einer Halblähmung ein-
tritt nach einem nur 4 — 5 wöchentlichen
Bädergebrauch, so ist man doch gezwungen,
anzunehmen, daß die Besserung ein Effekt
der Behandlung ist. Ich weiß ja wohl, daß
man eigentlich ohne jede sichere Aussicht
auf Erfolg an solche Fälle herantritt. Ich
habe z. B. im Verlauf des Sommers einen
Mann aufgenommen, bei dem wenige Monate
zuvor zuerst auf der einen Seite eine ge-
kreuzte Lähmung mit Kontrakturen auf-
getreten war, während einen Monat nachher
derselbe Prozeß auf der andern Seite in der
Th.lL 1906.
andern Hirnhälfte sich wiederholte. Ohne
genaue Anamnese hätte man beim Bestehen
beiderseitiger Extremitätenlähmung mit Kon-
trakturen, beiderseitiger Gesichtslähmung nicht
einmal eine genaue Diagnose machen können.
Die Aussichtslosigkeit der Behandlung in
diesem Fall veranlaßte mich nach kurzer
Zeit, den Angehörigen den Rat zu geben,
den Kranken wieder nach Hause zu bringen.
Daß aber auch schwere Fälle sich bessern
können, lehrte mich ein Kranker, der vor
drei Jahren wegen myokarditischer Beschwer-
den im Landesbad gewesen war und das Jahr
darauf von einer gekreuzten Hemiplegie (wohl
Thrombose) heimgesucht wurde. Nach zwei-
jährigem Bestände volle Unfähigkeit zu gehen,
stammelnde Sprache, schwerleidendes Aus-
sehen. Der Kranke mußte den Fahrstuhl
benützen.
Nach 14 Tagen fing die Sprache an besser
zu werden; es wurden am Stock vorsichtige
Gehversuche gemacht; zum Schluß wurde
die Sprache ruhig und deutlich, der Kranke
konnte an einem Stock Treppen steigen, und
bei längeren Ausfahrten machte es ihm ein
ungemessenes Vergnügen, seinen Fahrstuhl
streckenweise selbst zu schieben.
Ferner habe ich dieses Jahr zwei Leute
behandelt, die mittelschwere, wahrscheinlich
thrombotisch bedingte, leichtere, aber zweifel-
lose Hemiplegien gehabt hatten, und die ihren
Dienst als Stationsverwalter wieder aufnehmen
konnten, wenn auch ein leichtes bogenförmiges
Ausweichen des Beines unverkennbar blieb.
Vor zwei Jahren behandelte ich einen
leichten Hemiplegiker, der pensioniert ge-
wesen war und nach der Kur recht wohl seinen
Bureaudienst wieder übernehmen konnte.
Lokale Besserungen, besonders Verschwin-
den der Adduktionskontraktur des Oberarms
mit der Möglichkeit, den Arm zur Horizontalen
und darüber, und zwar in abduzierter Stellung,
zu heben, habe ich nach mehrjährigem Bestand
der Hemiplegie mit Kontrakturen mehrfach
gesehen.
Da wir von unsern Kranken häufig wieder
hören oder auch direkte Nachrichten bekom-
men, so wissen wir auch, daß solche Besse-
rungen häufig anhalten, und es ist nicht
phantastisch, hier Suggestion auszuschließen,
besonders wenn vor der Kur ein krankhafter
Zustand jahrelang ohne Änderung bestanden
hatte.
Daß solche Besserungen wie der er-
weiterte Gebrauch eines bis dahin unbrauch-
baren Armes, daß die Möglichkeit, wieder zu
schreiben, daß die Fähigkeit, etwas, wenn
auch beschränkt, zu verdienen, seinen An-
gehörigen weniger zur Last zu fallen, unab-
hängiger von ihnen zu werden, das Selbst-
44
572
Scher k, IoneoUhr« und Thtnpie.
rilwrftpeiitisch«
L Monatshefte.
bewußtsein heben und die Gesamternährung,
auch des Gehirns, günstig beeinflussen, ist
ohne weiteres klar.
Es bleiben bei einem großen Umfang des
Materials leider Fälle genug, wo man durch
die Ausdehnung und Lokalisation des Krank-
heitsherdes im Gehirn nichts erreichen kann.
Besserungsfähig bis zu einem mäßigen
Prozentsatz der Erwerbsfähigkeit bleiben
immerhin 30 — 40 Proz. der Fälle.
Um nicht mißverstanden zu werden, be-
tone ich noch einmal, daß auch beim günstig-
sten Resultat Defekte bleiben; aber der Kranke,
empfindet schon jede Defektverminderung als
ein Glück.
Meiner Auffassung nach muß der Arzt
den Kranken völlig in der Hand haben;
er darf sich zu keinerlei Kunststücken und
Versuchen drängen lassen. Er muß sich be-
scheiden, mit einfachen Mitteln zu arbeiten,
und nie vergessen, daß es in der Behandlung
von Apoplexien aller Stadien keine Blender
gibt.
Ioiienlehre und Therapie.
Von
San.-Rat Dr. Scherk (Bad Homburg).
Ais ich im Jahre 1897 im Archiv1) der
Balneotherapie und Hydrotherapie meine Ar-
beit über die Wirkungsweise der Mineral-
wassertrinkkuren in ihrer Beziehung zur Fer-
mentwirkung und Ionenspaltung veröffent-
lichte, hob ich Faradays Anschauung über
die Elektrolyte der wäßrigen Lösungen hervor.
Derselbe äußerte sich schon im Jahre
1874 in folgender Weise:
„Wie sich die elektrochemische Analyse
auf den Grundprinzipien der Ionentheorie
aufbaut, so lassen sich auch die einzelnen
Reaktionen in der analytischen Chemie auf
die Spaltung der chemischen Verbindungen
und die Wirksamkeit der Ionen zurückführen.
Die Vermittler unserer analytischen Reak-
tionen sind also die Ionen. a
Dementsprechend habe ich meine Ansicht
in der gen. Abhandlung in folgenden Sätzen
präzisiert:
„Die Lehre der Bildung von Dissoziations-
produkten in verdünnten Salzlösungen und
die Erkenntnis der osmotischen Prozesse,
welche durch die Differenzierung der per-
meablen resp. semipermeablen organischen
Membranen reguliert werden, haben uns ganz
neue Bahnen eröffnet, auf welchen wir den
Assimilations Vorgängen im Zellenleben nach-
spüren können. u
») Heft 3. Verlag von Carl Marhold, Halle a./S.
„Das wissenschaftliche Gepräge, welches
den epochemachenden Entdeckungen durch
die autoritativen Arbeiten eines van'tHoff,
eines Arrhenius, Kohlrausch, Ost-
wald, N ernst und anderer Forscher der
physikalischen Chemie verliehen ist, gestattet
uns, eine fundamentale Grundlage anzuer-
kennen, welche wir als Basis für weitere
Forschungsresultate hochzuschätzen und zu
würdigen lernen müssen."
Blicken wir nun auf die Entwickelung
der Ionenlehre in den letzten 10 Jahren
zurück, so wird jeder unparteiische Kritiker
mir beistimmen, daß die Prognose, welche
ich damals der Ionentheorie gestellt habe,
sich vollständig bewährt hat, denn nicht nur
in den balneologischen Forschungen, sondern
auch in der chemischen Physiologie und Patho-
logie können wir die elektrolytischen Vorgänge
nicht mehr entbehren. Dieselben liefern uns
einen bedeutsamen Fingerzeig, wie wir in
der Therapie die Anwendung der verschie-
denen Energieformen deuten sollen. Nicht
nur die Wirkungsweise der chemischen Energie,
sondern auch die Einwirkung der ther-
mischen, photischen, elektrischen und elektro-
magnetischen Energie lassen sich durch die
Ionenwanderung erklären, und die Forschungen
über das Verhältnis der positiv zu den
negativ elektrisch geladenen Ionen in der
Atmosphäre berechtigen jetzt schon zu der
Hoffnung, daß dieser Unterschied uns Auf-
klärung über k 1 im ato logische Fragen liefern
wird, welche bis heute in tiefes Dunkel ge-
hüllt sind. Fassen wir alle diese Forschungs-
resultate zusammen, so ist die Bedeutung
der Ionenlehre für die medizinische Wissen-
schaft nicht mehr von der Hand zu weisen,
und es ist keineswegs zu billigen, daß für die
Mehrzahl der Kollegen die Errungenschaften des
physikalisch-chemischen Studiums immer noch
als dunkele Punkte auftauchen, welche durch
eine terra incognita verschleiert erscheinen.
Deshalb hoffe ich, daß es von Interesse
sein wird, einzelne Arbeiten, welche auf
diesem Felde neuerdings bewerkstelligt sind,
zu beleuchten; zumal alltäglich Entdeckungen
veröffentlicht werden, welche neues Licht
verbreiten und uns Aufklärung über Ver-
hältnisse liefern, von denen wir vorher keine
Ahnung hatten. Insbesondere müssen wir
das Studium der radioaktiven Substanzen
von diesem Standpunkt aus würdigen, und
die Einwirkung der verschiedenen Strahlen-
arten wird uns einen Anhaltspunkt geben,
um den Einfluß der differenten Energien auf
die verschiedenen Zellen im Organismus
deuten zu können.
Frappierend ist die Äußerung des genialen
englischen Forschers J. J. Thomson: „Wir
XIX. Jahrgang.*!
Novmbor 1906.J
Scherk, IonenJthi* und Therapie.
573
wissen über das Ion viel mehr als über
das ungeladene Molekül."
Fassen wir die Stromleitung in Gasen,
Metallen und verdünnten Salzlosungen als
einen Transport atomistisch geteilter Elek-
trizitätsmengen auf, welcher durch Bewegung
kleinster Stoffteilchen vermittelt wird, so
sprechen wir letztere als Ionen an, während
die Elektronen Elektrizitätsmengen dar-
stellen, welche sich in den Körpern bewegen,
ohne an materielle Teilchen gebunden zu
sein. — Die Elektronen werden als Bestand-
teile der Atome betrachtet. Schon Newton
hat die Lichtstrahlung in der Weise gedeutet,
daß von den strahlenden Gegenständen äußerst
kleine Teilchen oder Korpuskeln ausgesendet
werden, die sich in geradlinigen Bahnen
nach allen Richtungen hin durch den Raum fort-
pflanzen. — „Heute wissen wir" — wie Fre-
derick Soddy8) in seiner vorzüglichen Ar-
beit: „Die Entwickelung der Materie ent-
hüllt durch die Radioaktivität" hervorhebt —
„daß das Licht durch eine Wellenbewegung
des Lichtmediums erklärt werden muß. An-
dererseits wurden die von den radioaktiven
Elementen ausgehenden Strahlungen anfangs
für Wellen gehalten, während man sie jetzt
als eine Verwirklichung von Newtons Licht-
theorie erkannt hat. Diese Strahlungen
werden durch den radialen Flug kleiner
Teilchen (Korpuskeln) verursacht, und jedes
dieser Teilchen führt eine elektrische Ladung
mit sich. Mit dem Wort Strahlung be-
zeichnet man also jetzt zwei ganz verschie-
dene Erscheinungen. a Bekanntlich sendet
das Radium drei Gattungen von Strahlen
aus, doch liegt nach Rutherfords Experi-
menten die Quintessenz der Wirkung in den
positiv geladenen a- Strahlen, während die
^-Strahlen negativ elektrisch geladen sind.
Auch die Kathodenstrahlen sind Repräsen-
tanten der negativ elektrischen Belastung;
erleiden dieselbe eine Geschwindigkeitsände-
rung, stoßen dieselben auf ein Hindernis, so
geht von den Kathodenstrahlenteilchen eine
plötzliche elektromagnetische Schwingung
nach allen Richtungen hin aus und veran-
laßt die Entstehung von X-Strahlen, welche
bekanntlich Röntgen entdeckt hat.
Es steht heutzutage fest, daß die a- als
auch 0-Strahlen durch die Bewegung mate-
rieller Teilchen erzeugt werden, doch sind
die Akten über das Wesen der /-Strahlen
noch nicht geschlossen. Während die y-
Strahlen leicht durch eine zolldicke Stahl-
platte gehen, werden die a-Strahlen durch
*) Autor. Übersetzung von Prof. Dr. Siebert:
Wilde -Vorlesung, gehalten am 23. 2. 04 in der
Literary and Philosophical Society in Manchester.
Verlag: Joh. Ambrosius Barth (Leipzig).
ein Blatt Briefpapier vollständig zurückge-
halten.
„Die a-Strahlen der Korpuskulargruppe
und die X-Strahlen der Wellenstrahlengruppe
lassen sich nur durch sehr kräftige Agentien
und mit Hilfe der feinsten Meßinstrumente,
über die wir heute verfügen, voneinander
unterscheiden.
Es liegt auf der Hand, daß ein Unter-
schied der Wirkungsweise der verschiedenen
Strahlenarten auf organische Gebilde vor-
nehmlich durch die differenten Ionenwerte
bedingt ist, jede Zelle im Organismus ist
auf die Einwirkung einer bestimmten Energie-
form speziell zugeschnitten. Nicht nur die
chemische Beschaffenheit derselben, sondern
auch die spezifische Molekülekonfiguration
bilden die maßgebenden Faktoren nach dieser
Richtung hin. — Auch bei der Wirkung der
gewöhnlichen Lichtstrahlen machen sich diese
Momente geltend, denn es steht heutzutage
fest, daß die Stäbchen der Retina nur die
Empfindung von hell und dunkel vermitteln,
die Zapfen dagegen auf Farbenunterschiede
reagieren, während die roten Wärmestrahlen
auf diese Endigungen des Sehnerven keinen
Einfluß ausüben. Da die chemische Zu-
sammensetzung bei beiden Gebilden dieselbe
ist, so kann der Unterschied nur durch die
düferente Anordnung der Moleküle bedingt
sein, welche auf den Angriff bestimmter Ionen
zugeschnitten ist.
Analoge Verhältnisse finden wir bei der
Wirkungsweise der verschiedenen Fer-
mente im lebenden Organismus. Auch hier
gilt der Grundsatz, daß ein Ferment nur
wirksam sein kann, wenn die zu zersetzende
Substanz sich ihrer Molekulekonfiguration
nach dem spezifischen Fermente derartig
anpaßt, daß dieselbe bestimmte Angriffs-
punkte darbietet. Es werden beispielsweise
bei der Wirkung der hydrolytischen Fermente
die H- Ionen die bedeutungsvollen Faktoren
darstellen, durch deren Aufnahme die Inver-
tierung dann bedingt wird.
Schon vor Jahren hat Nasse nachge-
wiesen, daß die elektrische Leitfähigkeit
eines aktivierten Fermentes erhöht ist.
Bei den Sauerstoff übertragenden Oxydasen
wird es sich um Aufnahme von Hydroxyl-
ionen handeln.
Wir wissen, daß bei der Wirkungsweise
der hydrolytischen Enzyme die chemische
Beschaffenheit der zu zei setzenden Substanz,
neben der Reaktion des Mediums, sowie die
Zusammensetzung des spezifischen Fermentes
selbst zu berücksichtigen ist. Analoge Fak-
toren sind bei den katalytischen Wirkungen
der Oxydasen auf die Wagschale zu legen,
hier spielen Metalle eine hervorragende Rolle.
44»
574
8oh«rk, Ion«nl«br« und Therapl«.
[TiMrspentiMiM
Monatsheft«.
— Die Bedeutung der anorganischen Sub-
stanzen ist für die Bestreitung dieser
biologischen Prozesse zweifelsohne von der
größten Bedeutung, und speziell die mini-
malen Werte der verschiedenen anorgani-
schen Substanzen werden ihre Funktion nur
dann erfüllen können, wenn sich Dissozia-
tionsprodukte gebildet haben. — Auf die
Wechselwirkung resp. auf den gegenseitigen
Austausch von Ionen sind die Prozesse in
den Zellenlaboratorien des Organismus heut-
zutage zurückzuleiten, dieselben werden durch
die Affinitätsgesetze und durch die relative Per-
meabilität der Membranen reguliert. — Durch
Endosmose und Exosmose läßt sich anderer-
seits die selektive Zellenfunktion in einfacher
Weise deuten. Wir müssen auf diese phy-
sikalisch-chemischen Gesetze unser Augen-
merk vornehmlich richten, wenn wir durch
Anwendung chemischer Energie unsere
therapeutischen Anordnungen treffen. — Der
Grundsatz, daß jede Energie heilend oder
schädigend auf den Organismus wirken kann,
kommt auch hier wieder zur Geltung. Nicht
nur die Methode der Anwendung, sondern
Qualität und Quantität sind neben der Emp-
fänglichkeit der bestimmten Zellen, welche
beeinflußt werden sollen, bei der Verordnung
innerer Mittel in Betracht zu ziehen. Wir
wissen, daß bestimmte Nervenzellen beispiels-
weise zur Aufnahme von Bromionen beson-
ders geeignet sind, daß die Zellen der blut-
bereitenden Organe die Aufnahme von Eisen-
ionen begünstigen, und können auf diese
Weise je nach Auswahl der verschiedenen
Zellensysteme im lebenden Organismus unter
pathologischen Verhältnissen unsere therapeu-
tischen Maximen modifizieren.
Bestätigt werden diese selektiven Prozesse
durch die Einwirkung der verschiedenen
pathogenen Mikrobienprodukte und anderer
Gifte auf ganz bestimmte Zellen, wie jeder
Arzt im Verlaufe der akuten Infektions-
krankheiten am Krankenbette alltäglich be-
stätigen kann. Aus den exakten Arbeiten
von Louis Kahlenberg, Rodney, H. True
und E. S. Hald, welche in Wisconsin aus-
geführt wurden, geht hervor, daß die Gift-
wirkung verdünnter Lösungen von Salzen
und Säuren auf die Einwirkung der H-Ionen
zurückzuführen ist (Bot. Gazette 1896, Vol.
23, p. 82).
Von diesem Gesichtspunkte ausgehend,
wird uns auch die Wirkungsweise der
Mineralwassertrinkkuren, wie ich in
verschiedenen Arbeiten in den letzten Jahren
hervorgehoben habe, verständlich.
Wenn von anderer Seite hervorgehoben
wird, daß die physikalisch-chemische Analyse
der Heilquellen, wie dieselbe jetzt allgemein
durchgeführt wird, der Reklame für bestimmte
Mineralquellen Tor und Tür öffne, so ist der
Fortschritt, welcher durch die Anerkennung
der Ionentheorie in der Balneologie, in der
Erkenntnis der Heilfaktoren der natürlichen
Mineralwässer, immerhin zu verzeichnen ist,
so bedeutungsvoll, daß die Reklameangst den
wissenschaftlichen Bestrebungen gegenüber
nicht in die Wagschale fällt.
Durch die Würdigung der Ionenlehre
wird die praktische Erfahrung, welcher die
Baineologen gegenüberstehen, in einfacher
Weise bestätigt, denn auf diesem Wege fällt
der Widerspruch fort, daß bestimmte Quellen,
welche nach der alten Analysenform eine
differente Zusammensetzung haben, bei ein
und derselben Krankheit eine Besserung der
Symptome erzielen können, und daß ein und
dieselbe Quelle bei verschiedenen Krankheits-
formen mit gutem Erfolg angewendet werden
kann. Es wird sich um die einzelnen Disso-
ziationsprodukte handeln, welche neben den
neutralen Salzmolekülen ihre spezifische Wir-
kung bei pathologischen Modifikationen im
Zellenchemismus ausüben.
Es ist auffallend, daß die Einführung der
Ionenlehre in die balneologischen Forschungen
mit enormen Schwierigkeiten zu kämpfen hat,
zumal bei Anwendung anderer Energieformen
in der Therapie die Wirkung der Ionen-
wanderung nie angezweifelt ist. In erster
Linie ist die Behandlung mit dem Induktions-
und konstanten Strom anzuführen.
Ebensowenig wie bei der Anwendung der
elektrischen Energie die Ionenbewegung
ausgeschlossen werden kann, ist dieselbe bei
dem jüngsten Sprößling der physikalischen
Behandlungsmethoden, der elektromagne-
tischen Energie, von der Hand zu weisen.
Schon F$raday hat den magnetischen
Kraftlinien eine physische Existenz zuge-
schrieben. Während mit dem ruhenden, dem
sich gleichbleibenden Magnetismus kein phy-
siologischer und therapeutischer Erfolg erzielt
wird, steht heutzutage fest, daß das elektro-
magnetische Wechselfeld, der sich stetig ver-
ändernde Magnetismus, dagegen ein positives
Resultat liefert. Kalischer3) hebt mit
Recht hervor, daß die ruhende Elektrizität
auf den menschlichen Organismus ebenfalls
keinen Einfluß ausübt, wohl aber die strö-
mende Elektrizität, die Elektrizität in Be-
wegung. Ein konstanter Gleichstrom wirkt
anders als ein intermittierender Strom oder
ein Wechselstrom oder ein solcher von hoher
und niederer Frequenz oder ein undulierender
3) Über die physikalischen Grundlagen der
elektromagnetischen Therapie. Von Prof. Dr. Ka-
lis eher. Die elektromagnetische Therapie (System
Trüb). Verl. Gebr. Lüdeking, Hamburg 1905.
XIX. Jahrgang.")
November 1906. J
Schark, Ionanlehra und Tharapla.
675
Strom. Der sedative Einfluß, welcher auf
bestimmte nervöse Gebilde bei pathologisch
erhöhter Erregbarkeit durch die elektro-
magnetische Bestrahlung ausgeübt wird, ist
heutzutage nicht mehr zu bezweifeln.
Bei dem innigen Zusammenhang, welcher
zwischen Elektrizität und Elektromagnetismus
existiert, ist auch hier die Ionenwanderung
nicht auszuschließen, dieselbe bildet das
punctum saliens der therapeutischen Wir-
kungsweise.
Von welcher Bedeutung schließlich die
Ionenfrage für klimatologische resp.
meteorologische Fragen ist, beweisen die
Forschungsresultate der Aeronauten, welche
festgestellt haben, daß je nach der Höhe
der Luftschichten ein Unterschied in dem
Verhältnis der positiv elektrisch zu den
negativ elektrisch geladenen Ionen stattfindet
(vergl. Aeronautische Meteorologie und Physik
in der Atmosphäre. Weitere Messungen der
elektrischen Zerstreuung im Freiballon. Von
Prof. Dr. Hermann Ebert. Illustr. aero-
nautische Mitteilungen. Deutsche Zeitschrift
für Luftschiffahrt, Nr. 2, 1901.)
Durch diese Versuche mit dem Fangkäfig
findet die von Elster und G eitel aufgestellte
Ansicht, daß die Atmosphäre mit frei beweg-
lichen elektrisch geladenen Partikelchen, also
mit Ionen erfüllt sei, eine einwandsfreie Be-
stätigung.
Auch die interessanten Untersuchungen
Thomsons über Bildung von Ionennebel
berechtigen uns, Schlüsse auf die Nebel-
bildung in der Atmosphäre zu ziehen. Der-
selbe hat nachgewiesen, daß bei einem ge-
ringen Grade von Abkühlung sich die Nebel-
tröpfchen nur um negative Ionen bilden,
und erst bei größerer Temperaturerniedrigung
entstehen auch die positiven Ionen (vergl.
Prof. G. Mie: Moleküle, Atome, Weltäther.
Verlag von B. G. Teubner, Leipzig 1904).
Es ist einleuchtend, daß diese For-
schungen, welche jetzt noch im Anfangs-
stadium sich bewegen, mit der Zeit für die
Deutung der Höhenluftwirkung auf den
menschlichen Organismus unter normalen
und pathologischen Verhältnissen sowie für
die Einwirkung der Witterungsmodifikationen
von großem Einfluß sein werden. — Gehen
die Resultate in der Erkenntnis doch schon
so weit, daß neuerdings Ridout in der
physikalischen Gesellschaft in London kon-
statiert hat, daß in runden Zahlen 1141/9 Mill.
Wasserstoffatome dazu gehören, um anein-
ander gereiht eine Linie von einem Zenti-
meter Länge zu bilden. Thomson fand
unabhängig von Ridout die Größe eines
Wasserstoffmoleküls, doppelt so groß wie
Ridout den Wert für den Durchmesser des
Wasserstoffatoms berechnet hatte. Da das
H-Molekül doppelt so groß wie ein H-Atom,
so stimmen demnach beide Rechnungen in
frappierender Weise.
Wir sind nach Thomson heutzutage zu
der Annahme berechtigt, daß jede Art von
Stoff Elektrizität in sich birgt, dieselbe
bildet die bewegende Kraft in den Schwin-
gungen der Atome.
Deshalb haben wir allüberall mit der
Ionen Wanderung zu rechnen, nicht nur im
Reagenzglase, sondern im Zellenchemismus
unter physiologischen und pathologischen Be-
dingungen bildet die Ionenlehre die Grund-
lage der weiteren Erkenntnis im Zellen-
leben.
Wir stehen jetzt auf dem Standpunkte,
daß unter physiologischen Bedingungen die
Eindrücke, welche die Sinnesorgane infolge
der verschiedenen energetischen Leistungen
der Außenwelt empfangen, auf Einwirkung
bestimmter Ionen resp. auf den sogen. Ionen-
stoß zurückzuführen sind.
In diesem Sinne hat Louis Kahlen-
berg schon vor Jahren konstatiert, daß sich
die verschiedenen Ionen durch den Ge-
schmacksinn unterscheiden lassen. Der sauere
Geschmack ist der Konzentration der Wasser-
stoffionen, der alkalische Geschmack der
der Hydroxylionen proportional. Dagegen
schmecken die Chlorionen salzig, die Kai mm -
ionen bitter, die Silberionen metallisch etc.
Je intensiver die Ionen das Protoplasma
durchdringen, um so deutlicher tritt der
Geschmack hervor (Ob ertön).
Im Jahre 1896 hebt N ernst in seiner
Festrede, welche derselbe zur Einweihung
des Instituts für physikalische Chemie und
Elektrochemie in Göttingen gehalten hat,
hervor :
„In der Diffusion der Salze, in zahl-
reichen chemischen Vorgängen spielen nach
unseren jetzigen Anschauungen elektrische
Kräfte eine entscheidende Rolle. Umgekehrt
lehren die Erscheinungen der Ionen Wanderung
und Elektrolyse, daß wir durch Zufuhr elek-
trischer Energie Diffusionsvorgänge und zahl-
reiche chemische Prozesse hervorrufen können. a
Wenn andererseits der Vorwurf erhoben
wird, daß die Anerkennung der minimalen Werte
und ihrer Bedeutung im Zellenhaushalte der
Hahnemann sehen Irrlehre eine Stütze
liefere, so ist zu entgegnen, daß die Errungen-
schaften der physikalisch chemischen Wissen-
schaft mit dem naiven Grundsatze: „similia
similibus curantur" absolut nichts zu schaffen
haben.
Es liegt auf der Hand, daß wir bei den
komplizierten Vorgängen im lebenden Orga-
nismus den Grad der Verdünnung von Lö-
576
Sti«rlln, Üb«r HlttoMD.
fThartpeutlflclie
L Monatshefte.
sungen nicht nach einem Schema beurteilen
dürfen; welche Faktoren zu berücksichtigen
sind, betont J. Matuscheck (Chem.-Ztg.
Nr. 41, 1902).
„Wenn zwei Verbindungen aufeinander
wirken sollen, so ist es in vielen Fällen
nötig, daß sie sich vorher in Lösung befinden.
Ein Gleichgewichtszustand tritt dann ein,
wenn sich neben dem beständigeren Körper
der unbeständigere oder der in einem Lö-
sungsmittel weniger lösliche neben dem
löslicheren gebildet hat. Die Reaktion wird
um so schneller verlaufen, je schneller die
hydrolytische Spaltung der einzelnen Kom-
ponenten und je größer die chemische Ver-
wandtschaft der in Lösung befindlichen
Ionen zueinander sein wird. Ist die Ioni-
sation eine geringe, so kann oft durch
Wärmezufuhr oder Elektrizität eine Reaktion
der Körper herbeigeführt werden. Die che-
mische Verwandtschaft der einzelnen Ionen
der neuen Verbindung im Vergleiche zu
jenen der aufeinander einwirkenden wird
dann den höchsten Wert erreicht haben,
wenn zur Spaltung weder Wärme noch Elek-
trizität noch ein Lösungsmittel notwendig
war, wenn also die Körper in festen Formen
durch bloße Berührung aufeinander ein-
wirken."
Über HistosaD.
Von
Dr. R. Stierlin,
dirigierendem Arzt des Kantontspitals Wmterthur.
Im Juni 1903 stellte mir Herr Dr. H. C.
Fehrlin, technischer Chemiker in Schaff-
hausen (Schweiz), eine von ihm hergestellte
Guajakolei weiß Verbindung zur Verfügung mit
der Bitte, dieselbe bei Tuberkulosen alier
Art im Kantonsspital Winterthur versuchs-
weise anzuwenden.
Herr Dr. Fehrlin schrieb mir dazu fol-
gendes: „Da sich unter allen zur Bekämpfung
der Tuberkulose angewendeten Arzneimitteln
das Guajakol am besten bewährt, habe ich
mich bestrebt, ein Präparat davon her-
zustellen, das die bis jetzt vorhandenen
Präparate an Wirksamkeit übertrifft, indem
es einerseits das Guajakol in möglichst un-
veränderter Form enthält und andererseits
keine unangenehmen Nebenwirkungen ausübt.
In der von mir hergestellten Guajakoleiweiß-
verbindung, die ich unter dem Namen Histosan
in den Handel bringen möchte, glaube ich,
ein solches Mittel gefunden zu haben.
Vor allem hat das Histosan die Eigen-
schaft, im sauern Magensaft unlöslich, da-
gegen in verdünnten Alkalien leicht löslich
zu sein und daher nur vom Darme resorbiert
werden zu können. Dasjenige von den bis-
lang bekannten Präparaten, das in dieser
Beziehung am meisten versprach, das Gua-
jakolkarbonat oder Duotal, spaltet sich bei
krankhaften Zuständen des Magens schon
dort und ist überdies wie alle andern Gua-
jakolpräparate mehr oder weniger in Alkohol,
sogar in verdünntem, löslich. Es kann da-
her unter Umständen schon im Magen resor-
biert werden, so daß Intoxikationswirkungen
leichter entstehen.
Hiervon abgesehen, hat aber das Histosan
gegenüber allen andern Guajakolverbin düngen
auch noch den Vorteil, daß es das Guajakol
in seiner wirksamsten Form dem Körper zu-
führt, während im sogenannten Thiokol be-
ziehungsweise Sirolin die Wirkung des Gua-
jakols naturgemäß durch die Sulfogemische
so abgestumpft ist, daß das Thiokol keine
antiseptischen Eigenschaften mehr besitzt
(Korrespondenzblatt f. Schweizer Ärzte 1903,
Beil. 23, 790 und 791 und Arch. f. experi-
mentelle Pathologie und Pharmakologie, Bd. 50,
pag. 333).
Außerdem dürfte die Eiweißzufuhr bei
Genuß des Albuminates ebenfalls eine nicht
zu unterschätzende heilsame Wirkung auf
den Ernährungszustand der Patienten üben,
und ferner erscheint es äußerst wichtig, daß
das Histosan als hochmolekulare Eiweiß-
verbindung im Körper sehr haltbar ist, wes-
halb es seine bakterizide Wirkung lange
Zeit hindurch entfaltet und dadurch nicht
nur heilend, sondern auch prophylaktisch
wirkt. Auf Grund chemischer Versuche muß
man nämlich annehmen, daß das Guajakol-
albuminat ganz langsam vom Darmsaft auf-
gelöst und resorbiert wird. Diese vom alka-
lischen Darmsaft bewirkte Lösung ist ge-
spaltenes Guajakolalbuminat in Form eines
Gemenges von Guajakolnatrium und Gua-
jakolnatriumalbuminat, und diese beiden Kom-
ponenten wirken dann auf ihrem ferneren
Gange -durch den Organismus teils für sich,
teils erleiden sie weitere chemische Verände-
rungen, so daß Guajakol selbst abgespalten
und schließlich im Harn als Ätherschwefel-
säure ausgeschieden wird."
Obschon die in dieser Zuschrift ent-
haltenen Prämissen über die Wirkungsweise
des Guajakols einer strengen Kritik kaum
standhalten, so ging ich doch gerne auf
die Wünsche des Herrn Dr. Fehrlin ein,
da auch ich nach meinen Erfahrungen das
Kreosot resp. seine von Sahli und Pen-
zoldt empfohlene Hauptkomponente, das
Guajakol, unter den gegen Tuberkulose em-
pfohlenen internen Mitteln auf den ersten
Platz stelle.
XIX. jAhrgang/!
November 1905.J
Stlerlln, Üb«r HtotoMn.
577
Für Ungiftigkeit des Histosans in der
von ihm angegebenen Dosierung übernahm
Herr Dr. Fehrlin auf Gruod zahlreicher
Versuche an Gesunden jede Garantie.
Das Mittel wurde ungefähr ein Jahr lang
angewendet, und zwar ausschließlich bei Tuber-
kulösen . Anfangs erhielten wir es in Pulverform
mit der Weisung, Erwachsenen 3 mal 0,5, Kin-
dern 3 mal 0,25 pro die zu verabreichen, später
stellte Herr Dr. Fehrlin einen 5proz. Sirup
dar, von dem man also, um die gleiche Do-
sierung zu erhalten, Erwachsenen 3 mal 10,
Kindern 3 mal 5 ccm pro die zu geben hatte.
Das Pulver war von hellbrauner Farbe und
roch stark nach Guajakol, die sirupöse Lö-
sung ist eine gelbe, klare Flüssigkeit, die
meinem Gaumen wegen ihres scharfen, etwas
brennenden Geschmackes nicht gerade zu-
sagte, aber von allen Kranken, Erwachsenen
wie Kindern, gerne genommen wurde.
Im ganzen haben 27 Kranke das Histosan
längere Zeit gebraucht. Erst waren wir, wie
es sich einem neuen Mittel gegenüber gehört,
mit seiner Anwendung sehr vorsichtig, wählten
nur leichtere Fälle aus mit noch gutem Kräfte-
zustand und ließen es auch diesen nur bei
vollem Magen verabreichen. Als wir aber
sahen, daß das Präparat ausnahmslos gut
vertragen wurde, zogen wir es auch zur Be-
handlung schwerkranker, fiebernder, herunter-
gekommener Patienten heran.
Aus allen unsern Beobachtungen darf ich
mit Überzeugung den Schluß ziehen, daß das
Histosan der Grundbedingung eines Arznei-
mittels „ nihil nocere" in jeder Hinsicht ge-
recht wird. Bei keinem einzigen Kranken
konnten wir eine schädliche Wirkung des
Präparates konstatieren: wir haben weder
Magenverstimmungen noch Brechreiz noch
Abnahme des Appetites noch unangenehme
Wirkungen auf den Darm gesehen; ebenso-
wenig irgend welche Alterationen des Allge-
meinbefindens. Doch gilt dies Urteil nur,
solange man an der von Dr. Fehrlin an-
gegebenen Dosierung festhält. Denn bei zwei
Patienten, bei denen wir versuchsweise die
täglichen Gaben steigerten, begann alsbald
der Magen zu protestieren. Die von Fehrlin
eingeführte Dosierung dürfte somit — Aus-
nahmen vorbehalten — die richtige sein.
Aber freilich — ein Medikament soll
nicht nur in präzisierten Dosen anstandslos
vertragen werden, sondern es soll auch Heil-
wirkungen entfalten, sonst hat es eben kein
Anrecht auf einen Platz im, Arzneischatze.
Und deshalb will ich nun getreulich be-
richten, was aus den 27 Patienten, denen wir
Histosan längere Zeit hindurch ordinierten,
geworden ist.
1. Zunächst 10 Patienten mit Lunge ntuber-
lose, 7 männlichen, 3 weiblichen Geschlechts. Bei
allen wurde das Histosan mehrere Wochen bis
einige Monate fast unausgesetzt gegeben.
Von diesen 10 Kranken sind 3 gestorben -r-
lauter sehr schwere Fälle und zu dem Zeitpunkte,
als die Histosanbehandlung begann, schon in vor-
geschrittenen Stadien befindlich. Ein ebenfalls
schwerkrankes Mädchen wurde auf seinen dringen-
den Wunsch völlig ungeheilt nach Hause entlassen.
Ich weiß seither nichts mehr von ihm.
2 Kranke wurden in die zürcherische Heil-
stätte für Lungenkranke in Wald versetzt, nach-
dem sich ihr Befinden wesentlich gehoben hatte.
Von den 4 übrigen Fällen konnten 3, zwei leichte
und ein mittelschwerer rückfalliger, wesentlich ge-
bessert, um nicht zu sagen geheilt, mit beträcht-
licher Gewichtszunahme nach Hause entlassen werden.
Dem mittel schweren Fall geht es auch jetzt nach
Jahresfrist sehr gut. Ich begegne dem Mädchen
sehr häufig.
Der 10. Patient, eine überaus chronisch ver-
laufende, wenngleich nach den physikalischen Er-
scheinungen gar nicht leichte Lungentuberkulose,
befindet sich jetzt etwas über 2 Jahre im Spital
mit stets in mäßigen Grenzen schwankendem Körper-
gewicht und fast unverändertem Befund. Die Zeit,
während welcher er Histosan einnahm, hatte keine
eklatante Besserung nach sich gezogen.
Aus dieser Zusammenstellung können wir
zunächst einen sichern Schluß ziehen, den
nämlich,, daß bei vorgeschrittenen Fällen die
Histosanbehandlung aussichts- und erfolglos
ist, was übrigens von vornherein zu erwarten
war. Auch von ihren wärmsten Verehrern
sind die Kreosotpräparate nicht als Panacee
gegen Lungentuberkulose empfohlen worden,
und daß das Histosan in dieser Hinsicht
keine Ausnahmestellung einnehmen werde,
ließ sich denken.
2. Drei Kranke mit Peritonitis tuberculosa,
sämtlich jugendliche Individuen. Hiervon wurden
zwei laparotomiert, weil mit starkem freien Erguß
einhergehend, dann mit Histosan nachbehandelt
und in sehr kurzer Zeit völlig geheilt mit Gewichts-
zunahme entlassen. Der eine Kranke ist seither
völlig gesund geblieben und versieht schwere Arbeit,
den andern habe ich aus den Augen verloren. Der
dritte Patient war bei der Aufnahme schon in deso-
latem Zustand. Eine Laparotomie gelang nicht, da
alle Baucheingeweide untereinander verwachsen
waren. Er starb nach wenigen Wochen.
3. Ein Patient mit seröser Pleuritis sicher tuber-
kulöser Natur. Rasche Entfieberung, Resorption
und Gewichtszunahme. Gänzlich geheilt entlassen.
4. Ein Patient mit Tub. testis und gleich-
zeitiger Hauttuberkulose. Der Hode wurde selbst-
verständlich entfernt, die Hautaffektion durch His-
tosanbehandlung nicht beeinflußt.
5. Zwölf Kranke mit Tuberkulose der Knochen
und Gelenke. Hiervon ist ein Kind an Meningitis
tub. gestorben, nachdem es wegen Tuberkulose
des Kniegelenks erst reseziert und dann amputiert
worden war — also vollständig erfolgloser Fall
von Histosanbehandlung.
In ganz unverändertem resp. seit einigen
Wochen sich verschlechterndem Zustande befindet
sich ein Junge mit Spondylitis dorsalis. Ein junger
Mann mit Spondylitis cervicalis abscedens ist in
ziemlich elendem Zustande auf seinen Wunsch ent-
578
Sti«rlin, Üb«r HistoMn.
rTharaf»nti»ehe
L Monatihefte.
lassen worden, soll sich aber seither erstaunlich
erholt haben. Ein weiterer mit Beckentuberkulose
hat die Anstalt ganz ungeheilt verlassen. Ein
Mann in mittlerem Alter, der wegen multipler Tuber-
kulose (am Schädel, Stern um, Testis) mehrmals
operiert worden war, wurde so gebessert, daß er
entlassen werden konnte. Er kam dann nach einiger
Zeit wieder mit einem schweren Rezidiv. Wieder
erhielt er Histosan, seine Ulzerationen wurden nach
chirurgischen Grundsätzen behandelt, und wieder
ging er sehr gebessert von dannen.
Ein weiterer Fall von Spondylitis ging geheilt
nach Hause. Es versteht sich von selber, daß auch
ihm neben dem Gebranch von Histosan die Be-
handlung zuteil wurde, wie sie die moderne Ortho-
pädie für solche Fälle vorschreibt.
Fünf Patienten wurden operiert (Tub. cubiti,
malleoli, tarsi, trochanteris, costae) und erhielten
während der Nachbehandlung Histosan. Sie sind
geheilt mit Ausnahme der Rippenerkrankung. Diese
wurde rezidiv — es handelte sich um ein Mädchen
von sonst gesundem Habitus — und heilte erst
nach einer zweiten Operation aus, nach welcher
Histosan nicht mehr gegeben worden war. In
diesem Falle muß also jeder Erfolg des Mittels
in Abrede gestellt worden.
Der Fall, den ich mir für zuletzt aufgespart
habe, ist eine pathologische Merkwürdigkeit. Es
handelt sich um einen Jungen von 11 Jahren, der
sich vom Frühjahre 1899 bis zum Frühjahre 1904,
also volle 5 Jahre, in der Anstalt aufhielt, und
zwar wegen Tub. coxae, erst Extensionsbehandlung,
dann Resektion. Keine Ausheilung, die Pfanne
und die angrenzenden Beckenabschnitte stark affi-
ziert. Multiple, stark sezernierende Fisteln, im
Laufe der Zeit Amyloid degeneration von Leber
und Nieren, erstere durch Vergrößerung aufs
Doppelte, letztere durch konstante Albuminurie
sicher nachgewiesen, übrigens auch ganz typisches
wachsartig es Aussehen. Auf einmal im Frühjahr
1903 ein Umschwung: der Appetit wird besser,
das Aussehen ebenfalls, die Fisteln sezernieren
weniger, einzelne schließen sich, die Leber ver-
kleinert sich zusehends, und gleichzeitig
verschwindet das Eiweiß dauernd aus dem
Urin. Im Winter 1903/04 beginnt Patient mit
Krücken zu gehen, und im Sommer 1904 kann er
am Stocke gehend entlassen werden. Bis jetzt
geht es ihm andauernd gut.
Der Fall dürfte beinahe ein Unikum
sein — ich wenigstens habe bisher nie ge-
wußt, daß vorgeschrittene, klinisch un-
verkennbare Amyloiddegeneration der großen
Unterleibsdrüsen einer Rückbildung fähig ist.
Der Patient hat sehr lange Histosan ein-
genommen, allein ich muß wahrheitsgetreu
berichten, daß der Beginn der Besserung zeit-
lich nicht ganz mit der Histosananwendung
zusammenfiel, sondern ihm etwas vorausging.
Immerhin waren die Fortschritte in der Ge-
nesung während der Histosanperiode enorm
und rapid.
Soviel über das Schicksal der 27 Kranken,
denen Histosan längere Zeit hindurch ver-
abreicht wurde. Ist es nun gestattet, hier-
aus bestimmte Schlüsse hinsichtlich der Heil-
wirkung des Mittels zu ziehen? Ich glaube
kaum, am allerwenigsten, wenn wir nur die
Zahlen sprechen lassen und ziffermäßig die
Heilresultate feststellen wollten. Nirgends
ist es heutzutage weniger erlaubt, an das
„post hoc ergo propter hoc" zu glauben als
bei einem Mittel gegen die Tuberkulose.
Eines nur ist unbestreitbar, und das ist der
Wert guter Pflege in wohlgeleiteten Anstalten.
Günstige klimatische Lage einer Anstalt ist
natürlich ein vorzügliches Unterstützungs-
mittel der Kur, doch können wir in unseren,
inmitten von Städten liegenden Kranken-
häusern täglich beobachten, daß gute Ver-
pflegung allein schon recht viel leisten kann.
Alle eigentlichen Arzneimittel, die wir
neben der diätetischen Kur verabfolgen, sind,
wenn wir offen sein wollen, nur mehr weniger
wertvolle, meist aber nicht eben mächtige
Bundesgenossen im Kampfe gegen den Tuber-
kelbazillus und seine Verheerungen.
Und doch, wenn ich die vorstehenden
Histosanfälle im einzelnen durchgehe, wenn
ich mir an Hand der Krankengeschichten
den Kurverlauf, den ich hier nur andeuten
konnte, genau rekonstruiere, kann ich mich
dem Eindruck nicht entziehen, daß dieser
und jener Fall von dem Mittel wirklich
günstig beeinflußt worden ist. Manche Lungen-
kranke haben sich überaus rasch und voll-
ständig erholt unter starker Zunahme des
Körpergewichts und erheblicher Verbesserung
des physikalischen Befundes, viele von den
chirurgischen Tuberkulosen sind schneller aus-
geheilt, als wir es sonst zu sehen gewohnt
waren.
# Ich stehe daher nicht an, das Histosan
weiter zu empfehlen. So viel wie andere
Guajakolpräparate leistet es bei Tuberkulösen
jedenfalls, wahrscheinlich mehr. Der Gedanke,
das Guajakol mit Eiweiß zu verbinden, ist
in mancher Hinsicht ein glücklicher zu nennen.
Eine seriöse Nachprüfung verdient das
Histosan unbedingt, und ich würde es sehr
gerne sehen, wenn dieselbe vor allem da in
die Hand genommen würde, ,wo die Behand-
lung Tuberkulöser ausschließlich geübt wird,
und wo man infolge davon dem Verlaufe
jedes Falles noch mehr im einzelnen nach-
gehen kann, als dies in einem großen allge-
meinen Krankenhause möglich ist, nämlich
in den zahlreichen Heilstätten für Lungen-
kranke.
Daneben aber empfehle ich auch den
Leitern chirurgischer Abteilungen und den
Direktoren von Kinderspitälern gelegentlich
in der Nachbehandlung operierter Tuber-
kulosen das Histosan zu ordinieren statt des
Lebertrans und sonst üblicher Mittel.
XIX.Jahrgftnff.1
November 1906. J
Bay«r, Behandlung d«r kroupös«n Pneumonie.
579
Direkte Behandlung: der kroupösen
Pneumonie.
Von
Dr. Leopold Bayer in Hatzfeld (Ungarn).
Das Verfahren, welches ich jetzt bei der
Behandlung der Pneumonie befolge, bietet
mir die Möglichkeit, die Krankheit selbst als
das nächste Ziel meiner Therapie ins Auge
zu fassen, ohne sie in ihren einzelnen Sym-
ptomen bekämpfen zu müssen. Auf zwei
vielgebrauchte Antipyretica — Chinin und
Natrium salicylicum — sich stützend, unter-
scheidet es sich von der sonst üblichen
antipyretischen Anw endungs weise dieser Mittel
durch die relative Kleinheit der Einzelgaben
und deren Verteilung auf größere Zeitab-
schnitte. Für Personen im mittleren Lebens-
alter verschreibe ich:
Rp. Chinini hydrochlorici 1,0
Natrii salicylici 2,0
M. Divide in part. aequ. No. VI.
S. Täglich 3—4 Pulver.
Mit der Diagnose der Pneumonie ist zu-
gleich auch die Indikation £ür die Anwendung
des Mittels gegeben. Es eignet sich sowohl
für schwere als für leichte Fälle, auch für
Personen im höheren Alter und in jedem
Stadium der Krankheit. Zur Zeit der heran-
nahenden Krise gegeben, scheint es sogar
deren Eintritt zu fördern. In manchen Fällen
mußte es nur einmal, in anderen bis dreimal
— gewöhnlich jeden zweiten Tag — ver-
schrieben werden. Eine Kontraindikation läßt
sich kaum denken, da von den kleinen Gaben
schädliche Nebenwirkungen nicht zu befürchten
sind.
Der Einfluß auf den Verlauf der Krankheit
zeigt sich — oft schon nach dem Verbrauch
der ersten Pulver — in der Mäßigung der
Hauptsymptome: des Fiebers, Seitenstechens
und der Atemnot, demnach auch in der
Besserung des Allgemeinbefindens. Die Tem-
peratur wird wohl nicht auf die Norm herab-
gedrückt, hält sich aber auf mäßiger Höhe
(um 38,5°). Manchmal gelingt es, die Krank-
heit abzukürzen. Der Ausgang in Genesung
ist mit ziemlicher Gewißheit zu erwarten;
die Krisis ist leicht, und die Kranken erholen
sich meist in auffallend kurzer Zeit.
Diese Wirkung des Mittels konnte be-
sonders gut in zehn aufeinander folgenden
Fällen von Pneumonie beobachtet und kon-
statiert werden, welche behufs Entscheidung
der Frage, ob das von mir schon seit Jahren
mit Vorliebe angewandte Mittel der indicatio
morbi genüge, also als ein direktes Heilmittel
der Krankheit in Betracht kommen könne,
mit Ausschluß jedes anderen Mittels behandelt
wurden. Die Probe gelang vorzüglich, denn
alle Fälle verliefen so glatt und glücklich,
daß ich zur Anwendung eines anderen Mittels
keinen Anlaß hatte, wie aus der folgen-
den kurzen, vorwiegend die therapeutischen
Momente berücksichtigenden Beschreibung der
Fälle zu ersehen ist.
I. Fall. Anna W., 77 Jahre, erkrankte am
23. April 1904 mit Schüttelfrost and Stechen aaf
der Brust.
24. IV. Dämpfung and bronchiales Atmungs-
geräusch über dem linken Unterlappen. Ther.:
Chin. mar. 0,6, Natr. salicyl. 1,0. In dos. VI.
Täglich 4P.
26. IV. Ther.: Chin. 0,4, Natr. salicyl. 1,0. In
dos. VI. Täglich 3 P.
27. IV. Temperatur und Puls normal.
29. IV. Vollkommen wohl.
Nach weiteren acht Tagen ganz hergestellt.
2.' Fall. Josef. Scb., 18 Jahre, erkrankte am
18. Juli mit Schüttelfrost und Seitenstechen.
20. VII. Rostfarbenes Sputum, Dämpfung,
Bronchialatmen. Puls 100. Ther. : Chinin 1,0, Natr.
salicyl. 2,0. In dos. VI. Täglich 4 P.
22. VII. Puls 70. Temp. normal.
Giüg am 26. in Arbeit.
8« Fall. Anna Str., 68 Jahre. Hat im ver-
gangenen Jahre eine Pneumonie überstanden und
litt vor zwei Monaten an Asthma. Erkrankte am
19. Juli.
21. VII. Sehr heftiges Seitenstechen. Ther.:
Chin. 1,0, Natr. salicyl. 2,0. In dos. VI. Täglich 3 P.
23. VII. Dämpfung und Bronchialatmen in der
rechten Schulterblattgegend. Sputum rostfarben.
Ther.: Chin. 1,0, Natr. salicyl. 2,0. Wie vorher.
25. VII. Befinden befriedigend. Temp. 38,5°.
Ther.: Chin. 1,0, Natr. salicyl. 2,0, zum drittenmal.
27. VII. Schwitzt seit gestern. Temp. und
Puls normal. Etwas Hasten, sonst wohl.
4. Fall. Michael B., 42 Jahre. Erkrankte am
6. September mit Frost.
7. IX. Temp. 39°. Ther.: Chin. 1,0, Natr.
salicyl. 2,0. In dos. VI. Taglich 4 P.
9. IX. Temp. 38,2°. Ther.: Chin. 1,0, Natr.
salicyl. 2,0. In dos. VI. Täglich 4 P.
II. IX. Begann gestern abends zu schwitzen;
schwitzt noch. Temp. 36.7°.
5. Fall. Peter M., 42 Jahre, Taglöhner von
schwächlicher Konstitution, dessen Vater an Tuber-
kulose gestorben iat. Erkrankte am 25. September
mittags mit Schüttelfrost.
26. IX. Stechen in der rechten Seite. Dämpfung
und bronchiales Atmen über dem rechten Unter-
lappen. Temp. 38,5°. Ther. : Chin. 1,0, Natr. salicyl.
2,0. In dos. VI. Täglich 4 P.
29. IX. Hätte gestern die Pulver wiederholen
sollen, nahm aber nichts, weil er sich wohl fühlte.
Nachts trat dann Stechen in der linken Seite auf.
Temp. 38,7°. Ther.: Chin. 1,0, Natr. salicyl. 2,0.
In dos. VI. Täglich 4 P.
1. X. Stechen hat nachgelassen. Sputum honig-
gelb, zähe. Links über dem Unterlappen Dämpfung
und Bronchialatmen, rechts in der Gegend des
Schulterblattes. Pneumonia bilateralis. Temp. 38,7°,
Puls 100. Ther. Chin. 1,0, Natr. salicyl. 2,0 (zum
drittenmal).
2. X. (abends). Nahm heute nachmittag um
3 Uhr das letzte Pulver. Um 4 Uhr Beginn der
Krise. Puls 80, Temp. 37,0°.
3. X. Temp. normal. Physikalische Zeichen
der Pneumonie noch vorhanden.
580
Bay«r, Behandlung dar kroupöten Pneumonie.
["Therapeutisch*
L Monatshefte.
7. X. Noch immer einige Dämpfung und
bronchiales Atmen.
8. X. Macht schon kleine Ausgänge.
Nach weiteren 14 Tagen vollkommen genesen.
6. Fall. Nikolaus K., 36 Jahre. Erkrankte am
1. Oktober abends mit Schüttelfrost.
4. X. Erster Besuch. Pneumonie in der rechten
Lungenspitze. Temp. 39°. Ther.: Chin. 1,0, Natr.
salicyl. 2,0. In dos. VI. Täglich 4 P.
5. X. Dämpfung rechts vorne bis zur 3. Rippe
herabreichend, rückwärts bis zur Hälfte der Scapula.
Temp. 38,6°.
6. X. Ther.: Chin. 1,0. Natr. salicyl. 2,0.
7. X. Hat nachts stark geschwitzt, fühlt sich
wohl. Temp. 37°. Rechts oben feinblasiges Rasseln
während der Inspiration.
10. X. Außerhalb des Bettes.
7. Fall. Franz Kr., 13 Jahre. Seit 3. Oktober
krank. Kam am 8. Oktober (5. Krankheitstag) in
Behandlung. Ther.: Chin. 0,5, Natr. salicyl. 1,0.
In dos. VI. Täglich 4 P.
9. X. Krisia mit ausgiebigem Schweiß.
8. Fall. Matthias M., 58 Jahre, Fuhrmann.
Wurde am 25. Dezember krank. Hatte Schüttel-
frost und mußte seither liegen.
29. XII. Erster Besuch. Vergangene Nacht
trat Delirium pot auf. Der Kranke ging durch und
irrte mehrere Stunden im Freien umher. Pneumonia
dextra. Kein Auswurf, wenig Husten. Puls 110.
Ther.: Chin. 1,0, Natr. salicyl. 2,0. In dos. VI.
Täglich 4 P.
31. Xn. War schon vorgestern nach den ersten
Pulvern ruhiger geworden und schläft seither viel.
Subjektives Befinden besser. Puls 100. Ther.:
Chin. 1,0, Natr. salicyl. 2,0. Wie vorher.
2. I. Hat die letzten zwei Pulver refüsiert.
Deliriert seit gestern abend wieder mehr. Temp.
38,7. Puls 90. Ther.: Natr. salicyl. 2,0 in Lösung,
zweistündlich einen Eßlöffel voll.
4.1. Temp. 87,8°.
5. 1. Befinden gut. Dämpfung und Bronchial-
atmen von unten bis zur Mitte der Scapula noch
vorhanden. Temp. 37°.
Ging nach weiteren acht Tagen schon aus.
Die Komplikation mit Delirium erheischte keine
Änderung der gewöhnlichen Therapie.
9. Fall. Florian L., 17 Jahre. Erkrankte am
31. Dezember mit Schüttelfrost. Hernach Seiten-
stechen und Husten.
2. 1. Dämpfung, Bronchialatmen, rostfarbenes
Sputum. Ther.: Chin. 1,0, Natr. salicyl. 2,0. In
dos. VI. Täglich 4 P.
4. I. Abermaid Chin. 1,0 mit Natr. salycil. 2,0.
In dos. VI.
6. 1. Temp. normal.
Nach einigen Tagen ganz genesen.
10. Fall. Theodor W., 22 Jahre. Erkrankte
am 9. Januar 1905 mit Schüttelfrost und Seiten-
stechen.
11. I. Pneumonie. Ther.: Chin. 1,0, Natr.
salicyl. 2,0. In dos. VI. Täglich 4 P.
13.1. Ther.: Chin. 1,0 mit Natr. salicyl. 2,0.
Wie vorher.
15. I. Krise.
Schnelle Genesung.
So einfach und exklusiv wie in diesen
Fällen, wo es galt, die Leistungsfähigkeit
des Mittels klar zu stellen, muß sich jedoch
die Therapie nicht immer gestalten. Es
können selbstverständlich nebenher auch
andere Mittel Verwendung finden, um be-
achtenswerten symptomatischen Indikationen
zu entsprechen.
(Aus dem Institut für Pathologie und Bakteriologie
in Bukarest. Direktor: Prof. Dr. V. B ab es.)
Einige Veränderangren
des exprimierten Mageninhalts in vitro«
Von
Dr. Theodor Mironetcu, Assistenten des Instituts.
Daß in dem Mageninhalt, nachdem er
vom Magen durch die Sonde exprimiert
wird, Veränderungen in vitro auftreten
können, wird meistens angenommen, in der
Literatur jedoch, soweit ich es feststellen
konnte, wird nichts Genaueres darüber ange-
geben.
Soupault1) sagt ausdrucklich, daß die
Flüssigkeit, sobald sie vom Magen ausge-
pumpt wird, so schnell wie möglich nitriert
und auch analysiert werden soll, weil sonst
große Veränderungen, besonders was die
Azidität anbetrifft, eintreten.
Es hat mich im besonderen interessiert,
zu erfahren, ob wirklich in dem exprimi-
mierten Probefrühstück (nach Ewald-Boas)
Veränderungen in vitro auftreten, und welche
Bedeutung dieselben für das Resultat der
Analyse haben können.
Diese Frage hat außer der wissenschaft-
lichen auch eine praktische Bedeutung, weil
man oft die Analyse nicht sofort nach der
Exprimierung vornehmen kann, oder weil die
Flüssigkeit, wie es bei uns gewöhnlich ge-
schieht, in ein Laboratorium gesendet wird,
wodurch die in vitro entwickelten Verände-
rungen, die von großer Bedeutung sein können,
oft zu ganz falschen Resultaten fuhren. Um
die Frage zu entscheiden, wie die Verände-
rungen der Azidität das Resultat der Ana-
lyse beeinflussen, haben wir die folgenden
Untersuchungen angestellt: Bei allen Patien-
ten wurde erstens der nüchterne Magen-
inhalt exprimiert und ihnen nachher ein
Probefrühstück gereicht, welches aus einer
Tasse schwachen Thees ohne Zucker und etwa
50 g Brot bestand. Wenn eine Magener-
weiterung mit Stase vorlag, wurde zuerst
der Magen ausgespült und nachher das Probe-
frühstück gegeben. Eine Stunde später wurde
der Mageninhalt exprimiert und in mehrere
Teile geteilt. Eine Portion wurde sofort
filtriert und analysiert, und zwar wurde nur
die freie Salzsäure, die tolale Azidität
') Soupault, Traite des maladies de Pestomac
Paris 1905.
XIX. Jahrgang.-)
November 190SJ
Mironeacu, Varflndarungen das eocpritniartan Maganlnhalts In vitro.
581
and die gesamte Salzsäure bestimmt. Von
den anderen Portionen wurde anfangs die
Hälfte sofort filtriert und in kleine Gefäße
▼erteilt, während der Rest unfiltriert in
kleinen Eölbchen aufgehoben wurde. Ein
Teil von den mit filtriertem und unfiltriertem
Mageninhalt gefüllten Kölbchen wurde bei
Zimmertemperatur (20 — 22°) gelassen, wäh-
rend der andere Teil im Thermostaten bei
37° aufgehoben wurde. Wir haben bald
gesehen, daß die sofortige Filtration keine
besondere Bedeutung hat, und da solche
Untersuchungen getrennter (filtrierter und
nicht filtrierter) Portionen sehr große Mengen
Ton Mageninhalt verlangen, so haben wir
nur unfiltrierten Mageninhalt aufgehoben.
Jede zwölfte Stunde wurde von der Flüssig-
keit filtriert und analysiert. Wir haben
zahlreiche Untersuchungen gemacht, und, um
die Resultate vergleichen zu können, haben
wir dieselben in drei Gruppen eingeteilt, je
nachdem eine Hyperchlorhydrie, Hypochlor-
hydrie oder normale Azidität vorlag. Die
Fälle jeder dieser Gruppen hatten große
Ähnlichkeit untereinander. Wir geben neben-
stehend drei Fälle an, weiche zu den drei
verschiedenen Gruppen gehören.
Man kann daraus ersehen, daß bei
Hyperchlorhydrie keine Veränderungen ein-
treten. In einigen Fällen schien mir die
Menge der freien Salzsäure etwas geringer
zu sein, doch in unbedeutendem Maße. In
den anderen zwei Gruppen ist gewöhnlich
eine Änderung wahrzunehmen, sie ist bei
der normalen Azidität auch nicht be-
deutend. Bei normaler Azidität steigt in
vitro die totale Azidität, diese Steigerung
ist nach 24 Stunden oft sehr gering. Von
Wichtigkeit erscheint mir die Tatsache hier-
bei, daß die freie Salzsäure gewöhnlich
unverändert bleibt, so daß wir auch nach
24 Std. fast immer dieselbe Menge gefunden
haben. Wo bei der sofortigen Untersuchung
keine Frei salz säure festgestellt wurde, trat
aber eine bedeutende Vermehrung der totalen
Azidität besonders im Thermostaten auf.
Dia frela Saltaftnre1)
Die getan
Gleich
nte Atiditit1)
Gleich
nach der
Bxprl-
mierang
Nach tiStd.
Nach24 8td.
Patient
bei
80°
bei
37°
narh der
Bxprl*
mterang
bei
20°
bei
«7°
oem
c«in
rem
com
eem
ecm
K. aus Galatz
(allgemeine
Neurose).
1,3
1,3
1,2
2,9
3,2
3,2
No. nr.
Krankenhaus
2,8
2,8
2,8
3,6
3,6
3,6
Philanthropia
(Trinker).
No. IX.
Krankenhaus
0
1,2
1,4
U
Philanthropia
(Cancer).
Für das Resultat der Analyse sind, was
die diagnostische Bedeutung der Bestimmung
der Salzsäure anbelangt, diese Veränderungen
in vitro, wie hieraus zu sehen ist, ohne
Belang. Die freie Salzsäure, worauf es
hauptsächlich ankommt, bleibt unverändert.
Doch bemerken müssen wir, daß alle diese
unsere Untersuchungen ausschließlich nach
dem Probefrühstück (nach Ewald-Boas)
gemacht wurden. Hier handelt es sich nur
um kleine Mengen von Eiweiß, und sehr
wahrscheinlich haben wir deswegen auch so
unbedeutende Veränderungen in vitro ge-
funden.
Neuere Arzneimittel
Über das
Zinkperhydrol, ein neues Wundmittel.
Ans der Poliklinik des
Dr. Eduard Wolffenttein.
Das Zinkperhydrol1) stellt ein Wund-
pulver vor, welches durch Verbindung des
Zinks mit dem Perhydrol dargestellt ist.
In diesem Zinkperhydrol ist das Per-
hydrol — bekanntlich reinstes 100 volumen-
prozentiges Wasserstoffsuperoxyd — gleich-
') Das Zinkperhydrol wird von der Fabrik
E. Merck in Darmstaat neuerdings in den Handel
gebracht.
sam in fester Form enthalten, und so ist ein
Präparat geschaffen, in dem die günstige
adstringieren de -Wirkung, welche das Zink
allgemein ausübt, mit der desinfizierenden des
Perhydrols zusammen zur Geltung kommt.
Ich habe nun mit dem Zinkperhydrol
bei mehr als 600 Patienten Versuche aus-
geführt. Eine schädliche Wirkung des Prä-
') Die Azidität wird überall in com von
Vio Na 0 H-Normallösung ausgedrückt.
Die Methode der Bestimmung war die folgende:
Erstens wurde die freie Salzsäure nach der Methode
von Minz und dann die gesamte Azidität bestimmt.
Die gesamte Salzsäure wurde nach der Methode
von Braun (v. Leube, Diagnostik) bestimmt.
582
Wolffentr«in( 21okp«rhydrol, •in cauti Wundmitt«L — Novaoaln.
tTlior&pe«ti*eh<
parats habe ich in keinem dieser vielen
Fälle beobachtet, so daß ich es den Kollegen
-wohl zur Nachprüfung empfehlen kann.
Das Zinkperhydrol übt allgemein bei aus-
gedehnten eiternden Wunden eine gute
Heilwirkung aus. Die abgestorbenen Geweb-
stücke stoßen sich rasch ab, und die Se-
kretion wird zusehends geringer. In dieser
Weise wurden wiederholt Verletzungen, die
von Maschinenunfällen herrührten, und tiefe
Quetschwunden zur Heilung gebracht. Das
Zinkperhydrol bildet, auf die Wunde gebracht,
nicht wie das Aristol eine zusammenbackende
Kruste, unter der die Sekrete sich ansammeln
und festgehalten werden, sondern es bleibt
ein lockeres Pulver, so daß es beim Verband-
wechsel — soweit es noch nicht verbraucht
war — einfach im Verbandsmuli hängen
bleibt. Ich habe auch, um die Wirkung
des Zinkperhydrols näher zu studieren, ver-
gleichsweise nur mit steriler Gaze und das
andere Mal unter Zusatz von Zinkperhydrol
verbunden. Hier zeigte sich bei den mit
Zinkperhydrol versetzten Verbänden, daß
dieselben nur alle 5 Tage gewechselt zu
werden brauchten, während die anderen
schon nach 2 Tagen einen Wechsel nötig
machten.
Ferner habe ich das Zinkperhydrol bei
Beingeschwüren in Anwendung gebracht
und diese Frage speziell studiert. Das
Präparat gelangte hierbei entweder in Form
einer Salbe, einer Paste oder auch als
Pulver, mit Wasser aufgeschwemmt, zur
Verwendung. Bei solchen Leiden habe ich
wiederholt Heilresultate gesehen, die ich
mit andern Mitteln nicht erreichen konnte.
In welcher Anwendungsform man hierbei
das Zinkperhydrol verwendet, ob als Salbe,
als Paste oder in der Aufschwemmung
mit Wasser, hängt je von der Art und
Größe der Geschwüre wie von den Einzel-
fällen ab.
Es liegt also im Zinkperhydrol ein Mittel
vor, welches bei Beingeschwüren vielfach
gute Dienste leistet, insbesondere wenn
Höllenstein schlecht vertragen wird.
Eine spezifisch günstige Wirkung übt das
Zinkperhydrol bei Brandwunden aus; tiefe
ausgedehnte Verbrennungen, bei denen die
vielgerühmte Wismut -Brand bin de keine guten
Resultate lieferte — sind doch erst neuer-
dings Wismut- Vergiftungen mit Nephritis bei
Anwendung der Brandbinden beobachtet
worden — heilen in kürzester Zeit und ohne
nennenswerte Schmerzen. Die Verbände mit
Zinkperhydrol wurden hierbei täglich er-
neuert.
Die absolute Ungiftigkeit des Präparates
habe ich, wie erwähnt, beim Arbeiten mit
demselben angenehm empfunden. In 2 Fällen
von Blinddarmoperationen, wo ich wochen-
lang tief tamponiert habe, schüttete ich
bei jedesmaligem Verbandwechsel erhebliche
Mengen Perhydrolpulver in die Wunde. Die
Sekretion nahm rasch ab. Wäre das Zink-
perhydrol irgendwie giftig, so hätte es hierbei
so nahe dem Bauchfell und in diesen großen
Dosen irgendwelche schädlichen Wirkungen
zeigen müssen.
An Stelle der Höllensteinsalbe resp. des
Höllensteinstiftes habe ich das Zinkperhydrol
in etwa 50 Fällen bei ausgedehnter Phlegmone
der Hand und des Vorderarms angewandt;
nachdem die 20 — 30 cm langen Inzisions-
stellen zu reinen Granulationsflächen geworden
waren, erfolgte unter Zinkperhydrol die
Epidermisierung oft in erstaunlich kurzer
Zeit.
Kurz zusammengefaßt, stellt also das
Zinkperhydrol ein nicht reizendes, durchaus
ungiftiges Wundpulver vor, welches als solches
oder als Salbe bezw. Paste in verschieden-
artigster Anwendungsform bei aseptischen
wie bei infizierten Wunden — speziell bei
Beingeschwüren und Brandwunden — gute
Dienste leistet.
Das Zinkperhydrol bewährte sich in
folgenden Zusammensetzungen :
Rp. Zinkperhydrol
.Amyli tritici aa 12,5
Vaselini americani ad 50,0
M. D. S. Paste. Äußerlich.
Rp.
Zinkperhydrol 5,0
Unguenti Lanolini ad 50,0
S. Salbe.
Novocaln.
Als neuestes lokales Anästhetikum wird von
Braun das Novocain empfohlen. Es ist das
salzsaure Salz des p-Aminobenzoyldiäthylamino-
athenols
NH,
I
HC CH
HC
CH
I
GOO.C»Hl.N(qtHs)». HCl
und kristallisiert in kleinen Nadeln, welche bei
156° schmelzen. Es löst sich leicht in gleichen
Gewi chts teilen Wasser sowie in 30 Teilen
Alkohol. Die wäßrige Lösung, aus welcher
Alkalien die freie, bei 58 — 60° schmelzende Base
XIX. Jahrgang. |
Therapeutlache Mittellungen aus Vereinen.
583
ausfällen, die sich aber mit Natriumkarbonat-
lösung ohne Trübung mischen läßt, läßt sich,
ohne Zersetzung zu erleiden, aufkochen.
Im Tierversuch erweist sich die 0,25 proz.
Lösung imstande, isolierte Nervenstämme inner-
halb 10 Minuten zu anästhesieren. Irgend welche
Reizerscheinungen rufen auch stark konzentrierte
Lösungen nicht hervor, die Cornea verträgt das
Präparat in Pulverform. Dosen "von 0,16—0,2
pro Kilo Kaninchen ändern bei subkutaner Ver-
abreichung Blutdruck und Atmung fast gar nicht.
Intravenös einverleibt, setzt es durch Einwirkung
auf das vasomotorische Zentrum den Blutdruck
herab und verlangsamt und verflacht die At-
mung; die peripherischen Gefäße werden nicht
beeinflußt.
Im Vergleich zu Kokain und Stovain ist
Novocain weit weniger toxisch. So beträgt die
Dosis toxica bei Kaninchen (subkutan):
Novocain Koksin 8tova1n
0,35-0,4 0,05—0,1 0,15
beim Hund
höher als 0,25 0,05
0,15 pro Kilo.
Versuche am Menschen zeigten, daß Novo-
cain ein kräftig wirkendes lokales Anästhetikum
ist, das ebenso wie Eukain völlig frei von Reiz-
wirkungen ist; erst 10 proz. Lösungen erzeugen
wie alle andern hyperosmotischen Salzlösungen
einen leichten Heizzustand. Die anästhesierende
Wirkung ist jedoch so flüchtig, daß Novocain
für sich allein nicht als Ersatzmittel für Kokain
benutzt werden kann. Eine ausreichend lange
Anästhesie läßt sich nur durch Zusatz von
Suprarenin erzielen.
Novocain ist bisher bei 150 Operationen zu
Gewebsinjektionen versucht worden. Unter den
Operationen befanden sich Gastrostomie, Entero-
stomie , Laparotomie , Leistenbruchoperation,
Kastration, Fingerexartikulation etc. Stets war
die Anästhesierung ebenso wie mit Kokainlösung
zu erreichen, ebenso gelang bei Zahnextraktionen
die Anästhesierung.
Benutzt wurden 0,1 — 1,0 proz. Lösungen
von Novocain in physiologischer Kochsalzlösung
unter Zusatz von 5 — 10 Tropfen einer Supra-
reninlösung 1 : 1000. Toxische Nebenwirkungen
oder Reizwirkungen fehlten bei den Gewebs-
injektionen, dagegen zeigten sich in den
wenigen Fällen, in denen Novocain zur Medullar-
anästhesie, und zwar ebenfalls mit gutem Er-
folge, benutzt wurde, zweimal Nachwirkungen
in Form von Kopfschmerzen und leichter menin-
gealer Reizung.
Literatur.
Aus der chirurgischen Abteilung des Diako-
nissenhauses in Leipzig-Lind enau.
Über einige neue örtliche Anästhetika (Stovain,
Alypin, Novocain). Von Prof. Dr. H. Braun.
Deutsche medizinische Wochenschrift 1905, No. 42,
p. 1667.
Therapeutische Mitteilungen ans Vereinen.
I. Kongreß
der Internationalen Gesellschaft für Chirurgie.
Brüssel, 18.— 23. September.
Referent: Dr. H. Wohlgemuth (Berlin).
[Fort$4t*ung].
An die Frage der Behandlung der Prostata-
hypertrophie schloß sich die Diskussion über
die chirurgischen Nierenaffektionen,
die auf den Vorschlag Giordanos (Venedig)
dahin vereinfacht wurde, daß man gleich in die
Diskussion eintrat, da die Thesen, die die Refe-
renten aufgestellt haben, gedruckt in den Händen
der Teilnehmer waren. Da aber die Redner
z. T. auf die von den Referenten aufgestellten
Sätze rekurrieren, sollen sie in Kürze angeführt
werden :
Herr Albarran (Paris) macht folgende
Unterscheidungen :
A. Gesamtprüfung der Nierenfunktion. Die
chemische Analyse, mehrere Tage lang fort-
gesetzt, gibt bei der chronischen Pyelonephritis,
bei der Tuberkulose wichtige Fingerzeige. Die
Densimetrie hat wenig Wert. Die Kryo-
skopie hat im allgemeinen wenig praktisches
Interesse, Kümmel ls und Rumpels Schlüsse
sind zu exklusiv. Ebensowenig hat die Unter-
suchung der Toxizität des Urins einen prak-
tischen Wert. Dagegen hat die Methylen-
blaumethode ihre wichtigen Indikationen.
Die Phloridzinmethode am Gesamturin an-
gewendet, ist wertlos, aber die Übereinstimmung
sämtlicher dieser Untersuchungsmethoden kann
große Beweiskraft haben.
B. Auf die Frage: Ist die Niere oder
ein anderes Organ Ursache der Erschei-
nungen? wird man sich zuerst entscheiden, ob
ein Nierentumor vorhanden ist. Die klini-
schen Untersuchungsmethoden werden gewissen
Anhalt und die getrennte Prüfung beider Nieren-
sekrete wird im Falle eines Neoplasmas eine
Verminderung der Ausscheidungen der er-
krankten Seite geben. Doch wird auch dann,
wenn ein Tumor der Kapsel, Karzinom der
Hilusdrüsen oder ein paranephri tischer Tumor
vorliegt, die Differentialdiagnose sehr schwer
sein.
C. Ob renale oder vesikale Affektion,
wird die Cystoskopie und der Ureterenkathete-
rismus entscheiden, ebenso welche Niere Sitz
der Erkrankung ist, oder ob vielleicht beide
Nieren befallen sind.
D. Bei der Prüfung der funktionellen
Kraft jeder Niere wird man kaum mit Sicher-
heit nachweisen können, daß die eine oder an-
dere Niere vollkommen normal ist, doch wird
man zufriedenstellende Resultate erhalten, wenn
man folgende Forderungen erfüllt:
584
Therapeutisch© Mitteilungen aus Vereinen.
rTherapeatbche
L Monatshefte.
1. Den Urin von zwei Stunden sammeln.
2. Seine Quantität, J- Punkt, bestimmen,
seine chemische Analyse machen.
3. Methylenblau- und Phloridzinprobe.
4. Mikroskopische Untersuchung.
5. Experimentelle Polyurie.
Vergleicht man nun die funktionellen Resul-
tate beider Nieren, dann wird man folgendes
finden:
1. Im allgemeinen ist auf der kranken
Seite die Quantität geringer, und der J- Punkt
ist niedriger.
2. Die Durchlässigkeit der Niere für Farb-
stoffe ist auf der gesunden Seite rapider.
3. Die Chlorüre und Phosphate sind im
allgemeinen auf der gesunden Seite reichlicher.
4. Die Phloridzinglykosurie ist reichlicher
auf der gesunden Seite, doch läßt sie keinen
Schluß auf die vollkommene Intaktheit der einen
oder der anderen Niere zu.
Die Frage schließlich, ob eine Niere den Aus-
fall der anderen vollkommen ersetzen kann,
kann einzig und allein durch experimentelle
Polyurie gelöst werden.
Die Hauptpunkte, die der zweite Referent,
Herr Eümmell (Hamburg), aufstellt, sind fol-
gende: Er leugnet nicht den Wert der alten
Untersuchungsmethoden, doch ist die Sicher-
heit der neueren physikalisch-chemischen Unter-
suchungen in Hinsicht auf die Existenz zweier
Nieren und die funktionelle Größe einer im
Falle einer tiefen Erkrankung der anderen mit
besonderem Nachdruck zu betonen.
Insonderheit präzisiert er:
1. Die Röntgenstrahlen erlauben, mit Sicher-
heit einen Nierenstein festzustellen, und die Ab-
wesenheit jedes Schattens auf der Platte — vor-
ausgesetzt, daß die Aufnahme mit allen Vorsichts-
maßregeln gemacht ist — läßt ebenso sicher
«inen solchen ausschließen.
2. Die exakteste Methode, den Urin jeder
Niere aufzufangen, ist der Ureterenkatheterismus;
ist derselbe nicht ausführbar wie bei Kindern,
dann darf man unter keinen Umständen zur
Entfernung einer Niere schreiten, wenn man
«ich nicht vorher durch temporäre Nephrotomie
von der Existenz der anderen überzeugt hat.
3. Kein Separator oder Segregator kann
absolut sichere Resultate geben.
4. Dagegen gibt die Phloridzinprobe sehr
gute Anhaltspunkte.
5. Die Kryoskopie ist von bedeutendem
Wert, wenn sie von technisch geübten Unter-
suchern ausgeführt wird. Sie ist in ca. 1000
Fällen bei Individuen, die an keiner Nieren-
erkrankung litten, fast stets 0,56°, einigemal
0,57°, ausnahmsweise 0,53° gewesen. Bei mehr
als 200 Fällen von Erkrankungen der Niere,
die eine gewisse Stase der Funktion im Gefolge
haben (chronische Nephritis, aufsteigende Pyelo-
nephritis, Pyonephrose, Nephrose, Nephrolithiasis,
doppelseitige Tuberkulose, Tumor etc.), ist der
Gefrierpunkt stets unter 0,58° herabgestiegen,
sehr häufig 0,66° bis 0,71°, einmal sogar 0,81°
gewesen. Das progressive Herabsteigen des
Gefrierpunktes hat fast stets eine drohende
Urämie angezeigt. Bei einseitiger Erkrankung,
ohne totale Funktionsstörung des Organs, bleibt
der Gefrierpunkt normal.
K ü m m e 1 1 gegenüber hebt Giordano
(Venedig) als 3. Referent den unverrückbaren
Wert der alten klinischen Untersuchungs-
methoden mit Nachdruck hervor. Sie aus den
Augen zu verlieren, sei eine große Gefahr, die
Diagnosestellung mit ihren Hilfsmitteln sei
einfacher und nicht weniger sicher als mit
den neueren Methoden. Von ganz eminentem
Wert sei:
1. Genaueste Anamnese. Erblichkeit, vorauf-
gegangene Krankheiten, Ent wickelungsgang der
bestehenden Krankheit, Schmerzen etc.
2. Differentielle Diagnose zwischen wirk-
licher renaler und nervöser Erkrankung, die
nicht selten eine renale vortäuschen kann, ner-
vöse Albuminurie. Allgemeinerkrankungen (Ma-
laria, Scabies), die renale Symptome vortäuschen
oder mit ihr kompliziert sein können.
3. Genaueste Palpation (Hydronephrose,
Tumor).
4. Massage der Niere, Expression des
Nierenbeckens, Untersuchung in Beckenhoch-
lagerung.
5. Untersuchung und Bestimmung der
Schmerzpunkte, bes. im Verlauf des Ureters.
6. Urinuntersuchung: Differenzierung von
Hämaturie und Hämoglobinurie, vesikalen oder
renalen Ursprungs des Blutes oder Eiters. Aus-
waschung der Blase. (Sie hellt den Urin auf
bei vesikaler Eiterung, rötet ihn nur noch mehr
bei vesikaler Blutung.) Bestimmung des Harn-
stoffs und der Salze.
Wenn man dies alles genauest gemacht
hat, wird man die Diagnose so sicher stellen
können, daß die neueren Methoden höchstens
imstande wären, sie zu unterstützen.
Lächerlich sei es, die ganze Nierenpatho-
logie auf der Untersuchung der Harnwege, der
Meatoskopie, aufzubauen. Der Ureterenkathe-
terismus ist ein ideales Untersuchungsmittel,
aber ja nicht frei von Nachteilen, die intra-
vesikale Segregation liefert fast gleich gute Re-
sultate. Die neuen physikalisch- chemischen Me-
thoden sind teils wenig praktisch, teils haben
sie nicht gehalten, was sie versprochen haben,
wie die Kryoskopie. Einzig die Chromatoskopie,
die Phloridzinmethode und die experimentelle
Polyurie haben einen praktischen Wert.
Nun kann man allerdings nicht die Sym-
ptome der verschiedenen Nierenaffektionen schema-
tisch gruppieren, die Nephriten, die Syphilis,
die Tuberkulose, die Eiterungen, die Tumoren,
die Steine haben nicht ihre ganz bestimmten
Sondersymptome, zur Diagnose müssen erst alle
klinischen und wissenschaftlichen Untersuchungs-
methoden herangezogen werden. Dann aber soll
der Chirurg mit Energie und Kühnheit handeln.
Und wenn es wahr ist, daß kein Kranker mehr
an einer Niereninsuffizienz zu sterben braucht,
so hat er es gewiß noch weniger an einer In-
suffizienz der Entschlossenheit des Chirurgen
nötig.
In der Diskussion tritt Herr Bazy (Paris)
nun sehr warm für die alten klinischen Unter-
suchungsmethoden ein und macht besonders auf
XIX. Jahrgang.]
November 1905.)
Therapeutisch« Mitteilungen aus Vereinen.
585
den diagnostischen Wert eines Symptoms auf-
merksam, der Pollakiuria nocturna. Sie
kann ein um so wichtigeres Zeichen sein, als
die Symptome der infektiösen Nierenerkrankungen,
der tuberkulösen sowohl wie der nichtuberkulösen,
täuschend denen der eitrigen Cystitis ähneln,
häufiger Harndrang, Endschmerz und auch Hämat-
urie. Doch bei der Cystitis ist die Pollakiurie
nur tagsüber, nicht während der Nacht. Großen
Wert legt er auf die Druckpunkte, den para-
umbilikalen, subkostalen und lumbalen Punkt.
Alle neueren funktionell- diagnostischen Methoden,
insonderheit die, eine gesunde Niere zu be-
stimmen, sind nacheinander wieder verlassen
worden, ein Beweis, daß sie nicht brauchbar
waren. Sie setzen alle die Möglichkeit einer
Urin Separation voraus, die nicht immer existiert.
Die Methylenblaumethode hat ihm immer sehr
gute Resultate gegeben.
Herr Legueu (Paris) vertritt genau die
•entgegengesetzte Ansicht und sieht das Heil
«in er exakten Diagnose nur im getrennten Auf-
fangen beider Urine, zwar nicht durchaus mittels
Ureterenkatheterismus, sondern mittels intraveei-
kaler Separation.
Nächst genauester Anamnese und Palpation
in verschiedenen Körperlagen lenkt Herr Hart-
mann (Paris) die Aufmerksamkeit noch auf
einige besondere Maßnahmen, das Ballotement
bei kleineren Tumoren, den Ureterenkatheteris-
mus mit Bleimandrin bei Tumoren an ektopischen
Nieren, wie es vielfach empfohlen wurde. Für
solche Tumoren dürfte allerdings eine ein-
fachere Aufklärungsmethode die extreme Becken-
hochlagerung sein. Bei der Perkussion soll man
das Kolon aufblasen. Bei der Methylenblau-
probe hält er es für gefährlich anzunehmen,
daß bei manifester Erkrankung einer Niere, aber
normaler Methylenblauausscheidung die andere
Niere gesund ist. Für durchaus notwendig hält
er gesondertes Auffangen der Urine, und zwar
.mittelst des Luysschen Separators. Anderthalb
Stunden vor der Separation soll 1 Zentigramm
Methylenblau unter die Haut gespritzt werden.
Bei der Separation kann man auch besser als
beim Ureterenkatheterismus beobachten, wie der
Urin in die Blase gespritzt wird.
Weiter tritt noch Herr Kapsammer (Wien)
für den Ureterenkatheterismus, Phloridzin- und
Methylenblaumethode ein, Herr Hannecart
{Brüssel) für die Radiographie bei Nierensteinen.
Die dritte Sitzung beschäftigte sich mit
den chirurgischen Interventionen bei
den nichtkanzerösen Affektionen des
Magens.
Herr Monprofit (Angers) gibt sozusagen
eine Revue der bis heute üblichen Operationen
bei gutartigen Magenaffektionen, ausgeschlossen
die traumatischen, und geht bei jeder Operation
mit einigen Worten auf ihre Geschichte, Indi-
kation, Technik und Resultate ein. Des längeren
verweilt er bei der Gastroenterostomie, die er
95 mal bei nichtkanzerösen Magenerkrankungen
ausgeführt hat. 36 mal wegen Ulcus, 18 mal
wegen Pylorusverengerung, Dilatation 26 und
chronischer Gastritis 15 mal. Seine persönlichen
Erfahrungen nun lassen ihn folgende Schlüsse
aufstellen :
Die nichtkanzerösen Magen affektionen, die
ernster und vernünftiger medikamentöser Be-
handlung getrotzt haben, lassen sich fast alle
durch einen chirurgischen Eingriff zur Heilung
bringen, ja die meisten werden von vornherein
schneller und sicherer auf chirurgischem als auf
medizinischem Wege geheilt. Es ist ein großer
Irrtum, zu glauben, daß nur die Stase und die
dauernde Abmagerung eine Indikation zur Ope-
ration abgeben; hier unterliegt die Notwendig-
keit des chirurgischen Eingriffs keinem Zweifel,
doch schon die ersten * Schmerzen , die ersten
Zeichen des Widerstandes eines kontrakten
Pylorus, einer leichten Ulzeration, einer unvoll-
kommenen Entleerung sollten ein Grund zu
demselben sein. Die Operation der Wahl ist
die Gastroenterostomie. Andere Operationen,
Resektion, Fixation, Faltenbildung etc., können
in gewissen Ausnahmefällen indiziert sein. Die
besten Resultate hat ihm die Gastrojejuno-
stomie in Y-Form nach Roux gegeben oder
eine ihrer mehrfachen Modifikationen. Der
sicherste Schluß ist die Naht. Frühzeitige und
fehlerlose Operation bei den gutartigen Magen-
affektionen ist die beste Präventivbehandlung
einer malignen Degeneration.
Der zweite Referent, Herr Mayo Robson
(London), basiert seine Erfahrungen auf 500
operative und eine sehr große Zahl nicht operativ
behandelter Fälle.
Das Ulcus und seine Komplikationen, der
Sanduhrmagon, Dilatation, Stenose der Kardia,
akute poatoperative Dilatation, Gastroptose, hyper-
trophische Gastritis, Phlegmone des Magens, kon-
genitale hypertrophische Stenose des Pylorus,
Traumatismen und Verbrennungen, Hyperchlor-
hydrie und andauernde hochgradige Gastralgie
haben ihm Veranlassung zur Operation gegeben.
Vortragender gibt dann einen Überblick über
die Operations- und Dauerresultate.
Die Operationsmortalität bei der wegen
U 1 c u 8 ausgeführten Gastroenterostomie ist
1 Proz. in der Privatpraxis, 3,7 Proz. der Ge-
samtoperationen. Komplikationen wie andauern-
des Erbrechen, Circulus vitiosus waren stets zu
vermeiden.
Die Dauerresultate der Gastroenterostomie
wegen Dilatation bei Pylorusenge waren
stets gute, bei Atonie aber wenig zufrieden-
stellend, so daß er sich von der Operation hier
in Zukunft keinen Vorteil verspricht.
Bei Blutungen infolge eines Ulcus
hat die Gastroenterostomie, indem sie Magen
und Duodenum ruhigstellte, im allgemeinen ge-
nügt, Heilung herbeizuführen, ohne daß es nötig
war, das blutende Gefäß aufzusuchen oder gar
das Ulcus zu entfernen.
Das chronische Ulcus ist durch Gastro-
enterostomie in 92 Proz. dauernd geheilt worden.
Wenn allerdings durch das lange Bestehen des
Ulcus vor der Operation sich schon zahlreiche
perigastri tische Verwachsungen gebildet haben,
gehört zu einem dauernden Wohlbefinden der
Patienten noch die Notwendigkeit einer ge-
mäßigten Diät.
586
Therapeutische Mitteilungen aus Vereinen.
rh«r*peatiaeh«
Monatshefte.
Die Pyloroplastik hat oft einen unmittel-
baren and überraschenden Erfolg, doch ist sie
nicht die geeignete Operation der postulzerösen
Stenose. Bei der spastischen Sklerose oder der
kongenitalen Hypertrophie des Pylorus ist sie
vielleicht eher am Platze.
Der Schluß der Ausfahrungen Robeons
ist ebenfalls eine dringende Mahnung, die Magen-
erkrankungen nicht monate- und jahrelang medi-
kamentös zu behandeln, da' die Kranken, zu einer
frühen und noch günstigen Zeit dem Chirurgen
anvertraut, schnell und mit geringem Risiko I
geheilt werden könnten. Eine bis an die Grenze I
der Möglichkeit durchgeführte medizinische Be- I
handlang vermehrt die Gefahren und die Schwierig- '
keiten der Operation, verringert ihre Wirksam-
keit. Sie steigert die Chancen einer malignen
Degeneration.
Majo Robson bevorzugt die Gastroentero-
stomia posterior, verwirft den Murphyknopf und
nimmt an seiner Stelle dekalzinierten Knochen.
Der dritte Referent, Herr M. Rotgans
(Amsterdam), betrachtet fast ausschließlich die
Behandlung des Ulcus ventriculi, seine Ätiologie
und die Indikationen zur Operation. Er beruft
sich auf 76 eigene Fälle und stellt folgende
Thesen auf:
Die Behandlung des Magengeschwürs kann
nur symptomatisch und ausschließlich lokal Bein,
da die wirkliche Ursache desselben uns noch
verborgen ist.
In zahlreichen Fällen von Magengeschwür
bleibt jede medizinische Behandlung unwirksam,
das zeigen uns die persistierenden solit&ren oder
mehrfachen Ulcera, ihre Rezidive und Kompli-
kationen, Hämorrhagie, Stenose, Karzinom etc.
Er glaubt aber nicht, daß der Chirurg
gleich bei den ersten manifesten Zeichen von
Ulcus eingreifen muß; denn die Resultate medi-
zinischer Behandlung sind oft recht zufrieden-
stellend und das Risiko eines fehlschlagenden
operativen Eingriffs zu groß, um eine übereilte
oder Frühoperation zu rechtfertigen.
An 68 Patienten hat er 76 Operationen
gemacht mit 5 1/3 Proz. Mortalität. Diese 4 Fälle
sind 1. an Circulus vitiosus, 2. Perforation eines
Ulcus sechs Tage nach dem Eingriff, 3. Miliar-
tuberkulose und 4. an Fettnekrose pankreatischen
Ursprungs gestorben, so daß er wohl mit Recht
von einer Operationsmortalität von nur 2 % Proz.
sprechen kann. Von den 64 Patienten nun sind
7 nicht geheilt, 2 geheilt, aber später infolge
ihrer Magenaffektion gestorben, 54 vollkommen
oder wenigstens zufriedenstellend (!) geheilt, einer
unbekannt geblieben.
Die Indikation zur Operation ist ge-
geben :
Wenn motorische Störungen mechanischer Natur
vorhanden sind, welches auch immer ihre
anatomische Form sein mag.
Auch wenn . motorische Störungen fehlen, aber
sehr heftiger oder lange anhaltender Schmerz
vorhanden ist.
Bei Tumoren, auch ohne Verdacht auf Karainom,
anhaltender oder wiederholter Blutung, Per-
foration, andauernder Abmagerung.
Bei begründeter Furcht oder Verdacht karzino-
matöser Degeneration.
Die Operation ist anzuraten:
Bei motorischen Störungen dynamischer Natur,
wenn der Magen allein befallen ist (aus-
genommen die Gastroptose).
Bei chronischem Magengeschwür, das energischer
medizinischer Behandlung getrotzt hat.
Bei akuter Magenblutung, wenn Gefahr vor-
handen ist.
Rotgans zieht ebenfalls die Gastroentero-
stomie der Pyloroplastik und der Resektion des
Ulcus vor, die er nur dann ausführt, wenn Ver-
dacht auf Karzinom vorhanden ist, oder wenn
die Schmerzen und die Blutung das Krankheits-
bild beherrschen. Er macht die Gastroentero-
stomia antecolica nach Wolf ler, deren Technik
leichter ist als die von Roux und dieselben
Resultate gibt.
Die Kauterisation des Ulcus, das Kürette-
ment, die Ausschaltung des Pylorus, die Gastro-
stomie, Jejunostomie haben ihre ganz besonderen
Indikationen.
Die Gastroptose operiert er nur, wenn
mechanische und ulzeröse Komplikationen dabei
sind. In diesem Falle macht er die Gastro-
enterostomie eventuell mit Gastropexie.
[f\>rts*txung folgU]
Referate.
Zur Verhütung der epidemischen Cerebrosplnal-
menlngitis. Von Dr. Otto Dornblüth
(Frankfurt a. M.).
Tatsache ist, daß weitaus die meisten Er-
krankungen an der epidemischen Cerebrospinal-
meningitis in die jüngere Lebensepoche fallen,
zum mindesten nach dem 30. Lebensjahre nur
noch selten auftreten. Das kommt, sagt 0. Dorn-
blüth, daher, daß die Empfindlichkeit der ade-
noiden Organe, namentlich aber der Rachen-
mandeln, sehr abgenommen hat — und die
Rachen- und Gaumenmandeln sind es, welche
den Meningokokkus einladen und vermitteln.
Daher ist sehr auf die adenoiden Gebilde zu
achten, und auch diese gerade sich bahnmachende
Cerebrospinalmeningitis mahnt die Mütter recht
nachdrücklich dazu, die Rachen Vegetationen kon-
trollieren und wegnehmen zu lassen.
Für die Behandlung rät Dornblüth zu
den von Aufrecht empfohlenen heißen Bädern,
38 — 40° C, in schweren Fällen täglich, und zu
den Lumbalpunktionen nach Quincke.
(Münch. med.Wochenschr. 2905, No. 21.)
Arthur Rahn (Coihn/.
XIX. Jahrgang.!
Noy«mh«r IWA.J
587
Zur Behandlung der epidemiechen Meningitis.
Von Dr. Garlos Franca, Abteilungsvorsteher
und Arzt am Hospital in Lissabon.
Verf. berichtet über das von ihm gelegent-
lich der portugiesischen Epidemie von 1902 an-
gewandte Verfahren. Er erkennt die Lumbal-
punktion nach Quincke als die rationellste
Methode zur Bekämpfung der Meningitis an;
denn sie vermindert den starken Druck der
Cerebrospinalflüssigkeit und entzieht eine beträcht-
liche Menge Bakterien und von ihnen herrührende
toxische Produkte. Da verschiedene Fälle von
eitriger Meningitis durch die einfache Lumbal-
punktion nur schwer zur Heilung kamen, schritt
Franca zu antiseptischen Injektionen in den
Wirbelkanal, und da der Erreger der epidemischen
Meningitis in diesem Kanal seinen Sitz hat,
scheint es rationell, seine Bekämpfung durch
die Einfährung von Antisepticis in die Sub-
arachnoidalräume zu versuchen. Nach Entziehung
von 25 — 50 ccm Flüssigkeit mittels Lumbal-
punktion machte er eine Einspritzung 1 proz.
Lysollösung in den Wirbelkanal. Je nach dem
Alter der Kranken injizierte er 12 — 18 ccm bei
Erwachsenen, 3—9 bei Kindern. Bei besorgnis,-
erregenden Befunden werden die Einspritzungen
täglich wiederholt, bis die Cerebrospinalflüssig-
keit sich steril zeigt. Die Vorteile dieser Be-
handlungsweise scheinen folgende zu sein:
1. Nicb tauf treten der bei Meningitiserkran-
kungen so häufigen Ruck fälle.
2. Beträchtliche Abkürzung der Krankheits-
dauer.
3. Rasches Verschwinden der Diplokokken.
4. Geringe Abmagerung der Kranken; Fehlen
größerer trophischer Störungen.
5. Seltenheit der mentalen Störungen, von
Paralysen und den Störungen der Sinnes-
organe. —
Was die Statistik anbelangt, so waren die
Resultate folgende: Von 47 Kranken, die mittels
Lumbalpunktion und mittels dieser und Spülung
des Kanals behandelt wurden, starben 30. Von
den 47 Kranken litten 16 an purulenter Menin-
gitis; unter den Fällen mit eitriger Flüssigkeit
wurden nur 4 geheilt. In 58 Fällen, die nach
Verfassers Methode mit Lysolinjektionen behandelt
wurden, starben nur 17 Kranke. 31 Patienten
litten an purulenter Meningitis, von diesen wurden
15 geheilt. — Kalte Klistiere wurden täglich
angewendet. Häufig Kalomel. Beim Auftreten
von Albumin im Harn Schröpfköpfe in der
Nierengegend und reichlicher Gebrauch von
Milchzucker. Bei ausgesprochener Adynamie
Injektionen von Kampferöl.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 20.) R.
(Aus dem KnapptchafUlaiarett In Zabrie.)
Die epidemische Genickstarre. Von R. Altmann.
Da im Kreise Zabrze jede der Krankheit
verdächtige Person, auch Frauen und Kinder,
sofort dem Krankenhause überwiesen wird und
die letalen Fälle ausnahmslos zur Sektion ge-
langen, so konnten 160 Fälle genau beobachtet
werden.
Die Krankheit zeigte eine Mortalität von
ca. 80 Proz., von den Genesenen war ]/s taub.
Sie befiel vorwiegend Kinder, Erwachsene nur
in 7 Proz. der Fälle. Die Inkubation betrug
2 — 4 Tage. Es wurde nicht nur die ärmere
Bevölkerung ergriffen, sondern es blieb kein
Stand verschont. Besonders disponiert sind
Kinder mit lymphatischer Konstitution.
Die Vorboten der Krankheit bestehen in
Kältegefühl, Erbrechen, Gliederschmerzen, Kopf-
weh, Abgeschlagenheit, Nackenschmerzen. Alt-
mann unterscheidet 1. sehr rasch verlaufende,
2. über eine Woche sich hinziehende, 3. Wochen
und Monate lang sich ausdehnende Erkrankungen.
Die zweite Form ist die häufigste. Außer den
bekannten Symptomen wurde folgendes beob-
achtet: Herpes trat öfter auf als Hautausschläge
masernartigen Charakters. Die letzteren bei
wenigen günstig verlaufenden Fällen*). Hyper-
leukozytose war stets vorhanden. Hauthyper-
ästhesie und Kernigs Symptom (Oberschenkel-
flexion beim Anheben des Kopfes) bestand nicht
immer. Die Reflexe boten kein regelmäßiges
Verhalten, Krämpfe wurden besonders bei Säug-
lingen gesehen. Je zarter das Alter, desto un-
günstiger war der Ausgang. Das stürmische Ein-
setzen schwerer Erscheinungen bedingte keines-
wegs immer einen tödlichen Verlauf.
Die Behandlung bestand in sorgfältiger
körperlicher Pflege und ausgiebiger wiederholter
Lumbalpunktion, ferner wurden warme Bäder
und Jodnatrium zur Resorption des Ergusses
gegeben. Infusion von Hydrarg. oxycyanat.
1 : 4000 nach der Punktion blieb bei den so
behandelten 3 schweren Fällen erfolglos. Francas
Empfehlung des Lysols hält Verf. für der Nach-
prüfung wert.
(Med. KUn. 1905, No. 25.) Esch (Bendorf).
(Ana dar III. medliin. Klinik dar Charit«.
Dlraktor: Gab. -Bat Prof. Senator.)
1. Gicht und Tuberkulose. Von Prof. H. Strauß,
Assistent der Klinik. (Beiträge z. Klinik der
Tuberkulose, Bd. IT, H. 5, 1904.)
a. Ober einen Fall von akuter tuberkulöser
Bauchfellentzündung bei einem an primärer
Gelenkgicht leidenden Kranken, zugleich ein
Beitrag zur Lehre von dem Nebeneinander-
vorkommen von Gicht und Tuberkulose.
Von Wilhelm Ebstein, (Göttingen). (Eben-
daselbst.)
Man hat bekanntlich das Nebeneinander-
bestehen von gich tischen und tuberkulösen Er-
krankungen für äußerst selten, wenn nicht aus-
geschlossen gehalten. Unter den mannigfaltigen
Erklärungsversuchen verdient der von Min-
*) Daß diejenigen Fälle von Meningitis, bei
denen kräftige Hautausschläge auftreten, günstiger
verlaufen, wurde auch von anderer Seite beob-
achtet. Diese bei den exanthematischen Krank-
heiten (Masern, Scharlach etc.) ja längst bekannte
Erscheinung findet sich auch bei Typnus. Kühn
(Die Frühdiagnose des Abdominaltyphus. Jena 1904)
bringt die Roseola in Besiehung zu Agglutination.
Demnach wären die Ausschläge als günstige Re-
aktionen des Organismus, als Evakuations-
prozesse der Toxine etc. aufzufassen.
588
Referate.
tThempeatteae
Mcmatafeefte.
kowski1) gegebene hervorgehoben zu werden,
daß der durch die Tuberkulose schwer geschädigte
Organismus in der Regel nicht mehr jene Reak-
tionsenergie aufzuweisen pflege, welche für das
Auftreten der typischen Gichtanfälle offenbar
notwendig ist. Ebstein (2) halt die erwähnte
Tatsache im Gegensatz zu einer Reihe sonstiger
(auf humoralpathologischer Anschauungsweise er-
wachsener) Hypothesen mit Recht schon durch
die Tatsache hinreichend erklärt, daß die Gicht
sich bei den hierzu Disponierten erst in einem
Alter einzustellen pflegt, in dem die Disposition
zu tuberkulösen Erkrankungen an sich schwächer
geworden ist. Nichtsdestoweniger glaubt er, daß
eine exakte Feststellung, dahingehend, ob etwa
durch die Harnsäureretention im gichtisohen
Organismus die Virulenz des Tuberkelbazillus
in nennenswerter Weise modifiziert werde —
so unwahrscheinlich das nach Analogie des Ver-
haltens der Eitererreger (Bendix) auch von
vornherein erscheint — angebracht wäre.
Diese Frage ist nun durch zwei von Strauß (1)
beschriebene Fälle, von denen der eine einen
an Tuberkulose und Gicht, der andere einen an
chronischer indurativer Nephritis und Lungen-
tuberkulose leidenden Mann mittleren Alters
betraf, im negativen Sinne entschieden. Die
Untersuchung des Blutserums ergab beide Male
als „Retentions*- oder „ Rest B- Stickstoff das
Doppelte bezw. mehr als das Doppelte der
Zahlen, die derselbe Autor an anderer Stelle9)
als normal bezeichnet hatte. Gleichzeitig ist
der eine der beiden Fälle im Rückblick auf die
oben wiedergegebene Bemerkung Minkowskis
von Interesse durch die Tatsache, daß das Vor-
handensein einer ausgeprägten Tuberkulose mit
Schwächung des Gesamtorganiamus das Auftreten
eines Gichtanfalles hier nicht hindern konnte.
Auch Ebstein (2) teilt einen plötzlich ein-
setzenden, in seinem Beginne wie ein Unterleibs-
typhus verlaufenden Fall von tuberkulöser Bauch-
fellentzündung bei einem an primärer Gelenkgicht
leidenden Kranken mit. Es wird wohl kaum
jemandem einfallen, die prompte Ausheilung der
Bauchfellentzündung nach vorgenommener Laparo-
tomie irgend welchen Theorien zuliebe auf
Rechnung der Gicht setzen zu wollen.
Für die Auffassung der Beziehungen zwischen
Gicht und Tuberkulose ist es vielleicht nicht
unwichtig zu berücksichtigen, daß der Kranke
von Strauß, welcher zu der obigen Erörterung
Anlaß gab, in keiner Weise den Habitus der
konstitutionellen Form der Gicht, sondern eher
einen leichten Habitus phthisicus zeigte und
zudem die erworbene Form der Gicht, die sogen.
„Bleigicht" (Patient war Maler), darbot. Es
scheint überhaupt die relative Seltenheit von
Tuberkulose bei Gichtkranken nach Strauß
wesentlich für die konstitutionelle Form der
Gicht zuzutreffen, und es machte ihm immer den
Eindruck, als wenn bei dieser Gruppe von Gicht-
l) Minkowski, „Die Gicht" in Nothnagels
Spez. Pathologie und Therapie, Bd. VII, Wien 1908.
*) H. Strauß, Die chronische Nierenentzün-
dungen in ihrem Einfluß auf die Blutzusammen-
setzung. Berlin, Hirsch wald, 1902. p. 14.
kranken die Tuberkulose weniger aus dem Grande
eine Seltenheit ist, weil eine Gicht vorliegt, als
deshalb, weil die Vertreter der konstitutionellen
Form der Gicht einen Körperbau und eine Er-
nährung zeigen, bei welchem Tuberkulose relativ
selten angetroffen wird.
Der Beleg dafür, daß trotzdem bei gichtisch
erkrankten bezw. disponierten Individuen tuber-
kulöse Affektionen — und oft der schlimmsten
Art — zustande kommen können, wird ferner
durch eine umfangreiche Zusammenstellung von
Normann Moore, auf die auch Ebstein in
seiner Publikation Bezug nimmt, erbracht. Aus
den Mooreschen Beobachtungen ergibt sich auch,
daß es sich bei der Tuberkulose der an Gicht
gleichzeitig leidenden Individuen keineswegs um
Schrumpfungsprozesse handelt, sondern daß dabei
so wohl die miliaren Formen ebensowie geschwürige
und käsige tuberkulöse Prozesse keineswegs
Seltenheiten sind.
. EschU (Sinsheim).
(Am dem pharmakol. Initital in Jena.)
Entstehung und Wesen der Gicht Von H. Kionka.
Da schon bei Vögeln und bei karnivoren
Säugetieren nach ausschließlicher Fleischkost
pathologische Veränderungen in Leber und
Nieren nachgewiesen sind (Kionka, Pflüger,
Kochmann), so war zu erwarten, daß diese
Ernährungsweise bei Pflanzenfressern noch gröbere
Veränderungen hervorrufen würde. Tatsächlich
zeigten auch Mäuse bei Kionkas Versuchen
Nekrosen in Leber und Nieren (nachdem Kanin-
chen sich für diesen Zweck als unbrauchbar
erwiesen hatten wegen Versagens der Peristaltik).
Beim Menschen sind pathologische Nieren-
veränderungen infolge von Gicht schon lange
bekannt, von der Leber dagegen wenig anato-
mische Befunde berichtet (Leube, Ebstein).
Da die Leber aber nicht nur der Ursprungs-
ort für die Harnsäure ist, sondern dieselbe in
ihr auch zerstört wird (ebenso wie in den Nieren),
so könnten auch funktionelle Schädigungen
der Leber sehr wohl Störungen des Harnsäure-
stoffwechsels zur Folge haben.
Nach seinen diesbezüglichen Untersuchungen
spricht Kionka als Ursachen für die Ent-
stehung der Gicht an:
1. Eine Funktionsstörung in der Leber
(und wohl auch in andern Organen), bestehend
in dem Ausfall oder der Beschränkung der
Tätigkeit des „harn Stoff bildenden Ferments*.
2. Eine Störung der Harnsäureausscheidung
durch die Nieren — möglicherweise auch nur
funktionell und vielleicht bedingt durch die Art
der Harnsäurebindung im Blute des Gichtikers.
Beim Gichtiker bleibt der Harnsänreabbau
auf der Stufe des Glykokolls stehen (Wiener),
und da bei ihm die „urolytische Fähigkeit - des
Blutes nicht vermindert ist (Klexnperer), so
wird er aus seinem reichen Harnsäure Vorrat fort-
während auch reichlich Glykokoll bilden. So
bedingt das vollständige oder zeitweise Fehlen
des glykokollzerstörenden Ferments die „gichtisch«
Disposition". Das Glykokoll aber befördert
das Ausfallen der Urate aus dem Blut
XIX Jahrgang .1
KorembT 1905. J
580
(während der Harnstoff ee verzögert).
(Kionka, Frey.)
Den Umstand, daß gerade die Gelenke von
der Gicht befallen werden, erklärt Kionka auf
Grand von Freys Versuchen, die in intra vitam
gequetschtem Knorpel nach 24 Stunden Glykokoll
feststellten. Bei der Schädigung von Knorpel
oder Bindegewebe (Sehnenscheiden, Schleim-
beutel etc.) z. B. durch Trauma, Erfrierung,
mangelnde Ernährung und bei gleichzeitig be-
stehender gichtiacher Disposition (s. o.) sind die
Bedingungen für das Ausfallen der XJrate aus
dem Blut gerade an dieser Stelle gegeben. Ist
aber erst einmal eine kleine TJratablagerung vor-
handen, so wirkt diese ihrerseits nekrotisierend
auf das Nachbargewebe (Fund w ei ler).
Da nun die Verhältnisse der Blut-
versorgung und des Harnsäuregehalts des
Blutes abhängig sind von der Art und
Beschaffenheit der Nahrungsaufnahme,
den Verdauungs- und Ausscheidungsvor-
gängen, so kann das eine Mal ein ganz all-
mähliches, ziemlich reizloses Wachsen des Tophus,
das andere Mal ein plötzliches Größerwerden, der
akute Anfall, entstehen.
Von den therapeutischen Maßnahmen soll
die lokale Wärme- und Hautreizmittelapplikation
der reichlicheren Durchblutung des erkrankten
Gewebes, der Durchspülung und Urolyse dienen,
kann aber auch andrerseits wegen des vermehrten
Hinschaffens von Harnsäure ungünstig wirken.
Daher die wechselnden Resultate der Wärme-
applikation.
Operative Entfernung kann behufs Weg-
schaffung der betr. Glykokollquelle (s. o.) indi-
ziert sein.
Die sog. harnsäurelösenden Mittel können
ihre Wirkung zwar nicht im Blut und in den
Geweben, wohl aber unter Umständen im Harn
entfalten und so die Ausscheidung der Harnsäure
erleichtern. Hierhin gehören die Alkalien, die
organischen Basen Piperazin, Lysidin, Lycetol,
ferner der Harnstoff und die im Körper Form-
aldehyd abspaltenden Präparate (Urotropin,
Helmitol u. a.).
Die sog. spezifischen Gichtmittel, das Col-
chicin, die Chinasäure und die Salizylpräparate
wirken wegen ihrer Eigenschaft als Cholagoga,
da ja die Gicht hauptsächlich auf einer patho-
logischen Veränderung der Leberfunktion beruht.
Vom Salizyl und der im Darm zu Benzoesäure
werdenden Chinasäure steht die cholagoge Wir-
kung fest, vom Colchicin konnte Kionka sie
an Gallenfistelhunden nachweisen. Bei länger
fortgesetzter Medikation steigt nach Freys
Untersuchungen nicht nur die Ausscheidung der
Gallenflüssigkeit, sondern auch die der Gallen-
säuren.
Auch die Abführmittel (Salzschlirf, Karlsbad)
bewirken nebenbei eine Anregung der spezifischen
Leberfunktionen, ebenso wie die von Falken-
stein, allerdings aus andern Gründen, empfohlene
Salzsäure (Wertheim er).
Endlich sind China- bezw. Benzoesäure und
Salizyl auch noch deshalb wertvoll, weil sie sich
mit dem Glykokoll paaren und so seine fällende
Wirkung auf die Harnsäure verhindern.
Diesen lichtvollen und gut gestützten Aus-
führungen gegenüber brauchen Äußerungen wie
die von Watson (Brit. Med. Journ. 04) daß
die Gicht eine Infektionskrankheit sei, nur an-
geführt zu werden, um sie als das zu charak-
terisieren, was sie sind, nämlich als einen der
widerwärtigen Ausflüsse der immer unerträglicher
werdenden Bakteriomanie unserer Zeit.
{Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 29.)
JBsch (Bendarf).
Würfelzucker alt Nahrungsmittel bei Diabetet.
Von Dr. Oefele in Bad Neuenahr (Rhein-
pro via z).
Schon einmal hat Oefele über die Dar-
reichung des Zuckers an die Zuckerkranken Vor-
schriften in seinen bei Fritzsche und Schmidt
in Leipzig erschienenen „Allgemeinen Diätfragen
für Zuckerkranke0 gegeben und damit Gesichts-
punkte eröffnet, die für die heutigen Tages mehr
und mehr diskutierbare Diätfrage bei Diabetes
von großem Werte sind und nicht genug be-
achtet werden können. In der Tat, wie oft und
wie intensiv kommt dem Zuckerkranken der
Widerwille gegen Diät Vorschriften , welche nur
die Beschränkung der Kohlehydrataufnahme im
Sinne haben, und wie wenig ist andrerseits auch
objektiv dem Zuckerkranken mit der bloßen
Fleischdiät gedient, da seine Pankreaserkrankung
die Muskelfasern zu wenig auszunützen erlaubt!
Und schließlich birgt die ausschließliche Eiweiß-
fettdiät auch eine große Gefahr in sich, nämlich
die Gefahr ungenügender Oxydation des Stick-
stoffes wie der Fette und die Gefahr einer
Diatese mit niederen Oxyfettsäuren und Harn-
säure.
Nun also, nicht bloß um den Kranken in
Stimmung zu halten, nicht um ihn über die
Strenge des Diätzwanges hinwegzusetzen, nein
auch um die doppelten Gefahren der Diatese
oder gar eines Komas zu vermeiden, ist es an-
gebracht, den Körperhaushalt zu verbessern, und
dies erreicht man mit dem in der Küche üblichen
Würfelzucker. Merkwürdig, wie gut dieser
Würfelzucker von den Zuckerkranken vertragen
wurde! Bei bestimmten Vorsichtsmaßregeln blieb
in 95 Proz. der Fälle nicht bloß eine ungünstige
Wirkung auf die Harnzuckermenge aus, sondern
die Leistungsfähigkeit und das Gefühl der
Leistungsfähigkeit wurde direkt durch den
Zuckergenuß gehoben. Zu beobachten ist dabei,
sagt Oefele, daß man den Zucker zeitlich ge-
trennt von der Eiweißnahrung in Form von
Zuckerwasser, gezuckertem Kaffee u. a. und zwar
unmittelbar vor Muskelarbeit — vergleiche die
Beobachtung Leitensdorfers beim Militär —
verabreicht, denn hier gilt vor allem auch der
Grundsatz: „Keinen Zucker ohne folgende Mus-
kelarbeit und keine größere Muskelarbeit des
Zuckerkranken ohne vorgängige Zuckerdar-
reichnng".
(Münch. med.Wochenschr. 2905, Aro. 21.)
Arthur Rahn (Colltn).
590
Referate.
rTharapeirttel»
L Monatsheft»,
(Aas der medlsin. Klinik, Abteilnag des «tftdt. Krankanhaasea
sn Frankfurt n.M. Direkter: Prof. Dr. von Noorden.)
Ober die Ausnutzung von Zuckerklystieren bei
Diabetikern. Von Dr. Edward Orlowski
aas Warschau.
Orlowski unternahm auf Veranlassung
von Noordens die Nachprüfung der von
J. Arn heim1) veröffentlichten Untersuchungs-
ergebnisse, nach denen die auf rektalem Wege
einverleibten Kohlehydrate gut und erheblich
besser als bei bukkaler Zuführung assimiliert
werden und die Azetonkörper dabei aus dem
Harn verschwinden sollen.
Orlowski vermochte nun an vier Diabetikern,
die an verschieden hohen Graden der Krankheit
litten, zunächst zu bestätigen, daß nach rektaler
Einverleibung von Glykose die Zuckerausscheidung
erheblich weniger ansteigt als bei bukkaler
Zufuhr. Während nach letzterer bei allen der
beobachteten Diabetes -Patienten der erwartete
Anstieg fast regelmäßig prompt eintrat, war
sogar öfters auch in den schweren Fällen kein
Anstieg der Glykosurie nach dem Zuckerklistier
zu bemerken.
Der etwa zu erhebende Einwand, daß eine
ungewöhnlich schlechte Resorption vom Darm
aus den geringen Effekt der rektalen Applikation
verursacht haben könnte, ließ sich dadurch
widerlegen, daß auf diesen Punkt gerichtete
Untersuchungen auch hier die Durchschnitts-
zahlen ergaben, wie sie für die rektale Resorption
der Glykose bekannt sind.
Nun erhob sich vom Gesichtspunkte einer
therapeutischen Verwertung der Resultate natür-
lich die Frage, ob die Glykose wirklich als
solche resorbiert und damit befähigt wird, die
gleiche Rolle im Organismus wie das vom
Magen aus in die Blutbahn gelangende und in
den Geweben verbrennende Kohlehydrat zu spielen
oder ob im wesentlichen nur Zersetzungsprodukte
des Traubenzuckers (die zwar den respiratorischen
Quotienten auch erhöhen, aber nicht den spezi-
fischen Wert des Zuckers besitzen) ins Blut
gelangen. Untersuchungen des Kotes ergaben
nun, daß nur wenige Prozent der nachträglich
jenem zugesetzten Glykose, die im Brutofen der
Nachgärung überlassen wurde, und ebenso des
nach Zuckerklistieren entleerten Kotes ver-
schwanden, daß somit kein Grund zum Zweifel
vorliegt, daß der erwähnte namhafte Anteil des
Glykoseklistiers wirklich als Kohlehydrat un-
vergoren resorbiert wird.
Um weiter zu prüfen, ob die Langsam-
keit der rektalen Resorption gegenüber der
stomacho -jejunalen vielleicht die Unterschiede
der Wirkung erkläre, wurde das per os ein-
zuführende ' Vergleichsquantum verschiedentlich
in 2 ya stündigen kleinen Raten verabfolgt: der
Effekt blieb aber der gleiche wie bei der früheren
Versuchsanordnung.
Etwas abweichend von den Resultaten
Arnheims waren die Ergebnisse der Unter-
') Vgl. J. Arnheim, Das Verhalten rektal
eingegebener Zuckermengen beim Dia-
betiker (Zeitschr. f. diätetische u. physikalische
Therapie, Bd. VIII, Heft 2, 1904).
suchungen, die den Einfluß der rektalen Glykose-
zufuhr auf Azetomine und Azidosie zum Gegen
stand hatten, indem dieser offenbar selbst
bei mehrtägigen Klistierperioden sehr gering
war. Dadurch werden die Indikationen der
rektalen Zuckereinverleibung auch wesentlich
eingeschränkt. Nur für gewisse kurze Perioden,
wenn die sonstige Ernährung auf Schwierigkeiten
stößt, dürfte dieselbe wirklich praktische Be-
deutung haben.
(Zeitschr. für diätetische und physikalische Therapie,
Bd. VIII, Heft 9.) Eschle (Sinsheim).
Experimentelle Untersuchungen Ober die Ver-
änderung des Blutes nach Injektion thera-
peutischer Sera und normalen Pferdeblut-
Serums. (Recherches experhnentales aar les
modificatlons du sang apres les injections de
serums thfrapeutlques et de slrum normal de
chcval) Von H. Kucharzewski.
1. Das Diphtherieserum setzt in geringem
Grade die Hämoglobin menge und die Blut-
körperchenzahl herab. Dies ist eine konstante
Erscheinung. Das spezifische Gewicht des Blutes
erfährt keine gleichmäßige Veränderung. Kleine
Dosen sind ohne Einfluß auf die Leukozyten;
größere Dosen vermehren ihre Zahl, besonders
diejenige der Lymphozyten. Die Körpertempe-
ratur bleibt unverändert; das Körpergewicht
nimmt ab. Das Allgemeinbefinden bleibt gut,
selbst nach hohen Dosen.
2. Das Tetanusserum hat auf die Ery-
throzyten eine ähnliche, aber ungleichmäßig vor-
kommende Wirkung. Bei geringen Dosen wird
die Zahl der Leukozyten nicht beeinflußt; bei
starken Dosen zeigt sich Hyperleukozytose, und
zwar ist es hier besonders die Zahl der Pseudo-
eosinophilen , welche eine Steigerung erfahrt.
Temperatur, Körpergewicht und Allgemein-
befinden bleiben normal, selbst nach hohen Dosen.
3. Das Streptokokkenserum hat eine ganz
analoge Wirkung wie das Tetanusserum.
4. Wenn man die drei Sera auf 70° er-
wärmt, so wird nichts an ihrer Wirkung ge-
ändert.
5. Das gewöhnliche Pferdeblutserum hat
eine ähnliche Wirkung wie die vorher be-
schriebenen.
6. Die Veränderungen und die Neben-
wirkungen, welche man nach Anwendung der
therapeutischen Sera beobachtet, sind nicht
ä conto der Antitoxine, wohl aber des Serums
selbst zu schreiben.
(Ar eh. internat. de pharmacodunamie et de fhirapis,
vol. XIII, p. 117.) Dr. Impens (Eiberfeld).
Behandlung des Zungenkarzinoms. Von J.-L.
Taure.
Die Prognose des Zungenkrebses ist durch
die Fortschritte der modernen Chirurgie viel
weniger gebessert worden als diejenige der
meisten anderen operablen Karzinome. Der
Zungenkrebs erfordert fast stets sehr schwere
Eingriffe, von denen ein unverhältnismäßig hoher
Prozentsatz auch heute noch tödlich endet. Selten
nur führt eine Operation zur definitiven Heilung.
Fast stets entwickelt sich in kürzerer oder längerer
XIX. Jahrgang.!
November iHQft.J
Referate.
591
Zeit ein Rezidiv, daß, selbst wenn es noch ope-
rabel ist, nur selten bessere Heilungsaussichten
bietet als die primäre Geschwulst. Freilich
hat der Chirurg gerade beim Zangenkarzinom
ganz besondere Schwierigkeiten zu überwinden.
In den meisten znr Operation kommenden Fällen
sind stets auch die Lymphdrüsen des Halses in
mehr oder weniger großer Außdehnung krebsig
entartet, und es besteht die Notwendigkeit,
gleichzeitig im Munde und am Halse zu operieren,
wobei gewöhnlich der Boden der Mundhöhle
entfernt und so eine Kommunikation zwischen
beiden Operationsgebieten hergestellt wird. Er-
wägt man, daß die Krebsgeschwulst in der Mund-
höhle einen Zustand hochgradiger Sepsis unter-
hält, so kann es nicht wundernehmen, daß von
ihr aus fast unausweichlich auch die Hals-
wunde infiziert wird und eine unverhältnismäßig
hohe Zahl der Operierten zugrunde geht. Der
Verfasser unternimmt es nun, in vorliegender
Arbeit gewisse Grundregeln festzustellen, die
seiner Meinung nach geeignet wären, die
Schwierigkeit und die Gefahren der Operation
zu verringern und andrerseits die Aussichten
auf Heilung des Zungenkrebses* bedeutend zu
verbessern. Vor allem betont er, daß möglichst
frühzeitig operiert werden müsse. Jede längere
Beobachtung einer verdächtigen Zungenaffektion,
selbst die Durchführung einer spezifischen Be-
handlung behufs Klärung der Diagnose soll
unterlassen werden, weil sich der Krebs in-
zwischen weiter ausbreitet, und durch Zuwarten,
sich die Aussichten auf Heilung in jedem Falle
verschlechtern. Man mache es sich zur Regel,
bei jeder verdächtigen Zungenaffektion ohne
Zögern ein Geschwulststückchen zu exstirpieren
und histologisch untersuchen zu lassen. Ergibt
sich Krebs, dann soll auch sofort operiert
werden. Was nun die Operation selbst betrifft,
so bekennt sich Verfasser als ein Gegner der
präliminaren Tracheotomie. Er tracheotomiert
nur, falls sich im Verlaufe der Operation Stö-
rungen von Seiten der Atmung einstellen, und
entfernt nach Beendigung des Eingriffs die ein-
geführte Kanüle wieder. Auf diese Weise glaubt
er am besten die so häufige Infektion der
Respirationsorgane verhüten zu können. Ferner
begnügt er sich, um die Operation nicht zu
komplizieren, stets mit der Entfernung der
Halslymphdrüsen auf der kranken Seite, da ihn
die Erfahrung gelehrt hat, daß durch Schonung
der Drüsen auf der gesunden Seite die Heilungs-
aussichten nicht wesentlich verringert werden.
Die Methode, die sich bei anderen Karzinomen
so außerordentlich bewährt hat, nämlich in einem
Zuge das originäre Neoplasma, die entsprechenden
Drüsen samt den Lymphgefäßen, durch die
Drüsen und Neubildung miteinander kommuni-
zieren, in möglichst weiter Ausdehnung gleich-
zeitig zu entfernen, ist zwar bei Zungenkarzinomen
nicht völlig ungangbar, bildet aber eine so
mörderische Operation, daß sie nur für die
verzweifeltsten Fälle in Betracht kommen sollte.
Wenn z. B. die Basis der Zunge, der Boden
der Mundhöhle sowie die ganze Regio sub-
maxillaris und carotidea einen einzigen Krebs-
block bilden, so muß natürlich, wenn man hier
überhaupt noch operieren will, in einem Zuge
die Zunge, der Boden der Mundhöhle, die Regio
carotidea und, wenn nötig, auch der Unterkiefer
entfernt werden. So viele Kranke auch nach
der Operation an Bronchopneumonie oder Septik-
ämie zugrunde gehen, so vermindert der Eingriff
doch bei einer ganzen Anzahl der Überlebenden
wenigstens die entsetzlichen Qualen für längere
oder kürzere Zeit, und bei einzelnen kann sogar
völlige Heilung eintreten.
Glücklicherweise liegen die Dinge in vielen
Fällen weitaus günstiger, und ihre Zahl wird
um so größer werden, je häufiger der Zungen-
krebs in seinen Anfängen diagnostiizert wird und
zur Operation kommt. Für die die große Ma-
jorität bildenden Fälle, in denen die Neubildung
gewöhnlich auf den Rand der Zunge beschränkt
ist und noch nicht den Boden der Mundhöhle
ergiffen hat, empfiehlt der Verfasser nach einem
Vorschlage Poiriers und Buttlins die Ope-
ration zweizeitig vorzunehmen und dabei den
Boden der Mundhöhle zu schonen: Man beginne
mit der Wegnahme des Neoplasma an der Zunge.
Nach Durchschneidung der Genioglossi, des
vorderen Gaumenbogens und, wenn nötig, Spaltung
der Wange läßt sich die Zunge so weit nach
vorn ziehen, daß man sie mit Leichtigkeit fast
bis zur Basis abtragen kann. Nachdem dies
geschehen, näht man die Zungenwunde, die dann
meistens in einigen Tagen geheilt sein wird.
Nach zwei Wochen kann man dann bequem
unter voller Asepsis die Drüsen am Halse auf-
suchen und entfernen. Jede dieser beiden Ope-
rationen ist technisch leicht und ohne große
Zerstückelungen ausführbar. Da überdies die un-
heilvolle Verbindung zwischen Mund- und Hals-
wunde fehlt, lassen sich Infektionen und ihre
verhängnisvollen Folgen unschwer vermeiden.
Bei kleinen Krebsknoten in der Zunge, die sich
noch in den allerersten Anfängen befinden, kann
man sogar beide Operationen in einer Sitzung
machen. Man wird dann aber zunächst die
Halsoperation vornehmen und erst nach deren
Vollendung den Eingriff in der Mundhöhle aus-
führen.
(La Presse medic. 1904.)
Ritterband (Berlin).
Das Wachstum des Krebses unter natürlichen und
experimentellen Bedingungen. (The growth
of Cancer under natural and experimental
conditions. Von Dr. E. F.Bashford (London).
Bashford berichtet über biologische und
pathologische Studien, insbesondere über Krebs-
übertragungen bei Tieren, aus den Laboratorien
des englischen „Cancer research fund". Aus
diesen ergibt sich, daß die Erklärung des Wesens
des Krebses identisch ist mit der Erklärung
der anscheinend kontinuierlichen Proliferation
beim Krebs. Das Karzinom bei der Maus zeigt
einen histologischen Bau, welcher dem beim
Menschen ähnlich ist; auch bei künstlicher Über-
tragung behält es den Charakter der bösartigen
Geschwulst bei. Aus Bashfords experimentellen
Studien ergeben sich folgende Hauptaigentümlich-
keiten des Karzinoms: Die umschriebene Natur
des primären Herdes ergibt sich aus dem Um-
stand, daß in transplantierten Geschwülsten sich
592
rTbormpetitiae**
L Manatabaft«.
alle Eigentümlichkeiten sporadischer Geschwülste
wiederfinden. Die relative Unabhängigkeit des
Zellwachstums zeigt sich am schärfsten in der
Tatsache, daß nach dem Tode des primär affi-
zierten Tieres die künstlich übertragene Geschwulst
durch Generationen hindurch fortwuchert. Diese
Wucherungsfähigkeit ist unbegrenzt. Die Meta-
stasenbildung beim Menschen scheint ähnlich zu
sein der Transplantation auf ein anderes Indi-
viduum und noch von anderen Faktoren als der
einfachen Verschleppung von Zellen abzuhängen.
Hohes Alter ist bei Säugetieren und anderen
Yertebraten verknüpft mit dem Beginn der
Krebswucherung;, jedoch ist der Beweis erbracht,
daß ein seniler Organismus für das andauernde
Wachstum des Krebses nicht notwendig ist.
Die Technik der Transplantation bösartiger
Geschwülste, die genaueren histologischen Einzel-
heiten im Bau dieser Geschwülste werden genauer
erörtert und mit den bei spontan entstandenen
Krebsen bekannten Tatsachen verglichen. Zahl-
reiche gute Abbildungen von Tierkarzinomen
werden beigegeben. Ausführlich wird auch über
Experimente mit Radium- Einwirkung auf Tier-
karzinome berichtet.
(Scientific reports on the investigations of the imperial
Cancer research rund, No. 2. London 1905.)
Mohr (Bielefeld).
Statistische Untersuchungen Aber Krebs. (The
Statistical investlgatlon of Cancer.) Von Dr.
E. F.Bashford (London).
Bashford verwendet das statistische
Material über bösartige Neubildungen aus einer
Anzahl von Londoner Krankenhäusern, aus eng-
lischen Kolonien nnd aus amtlichen Mitteilungen.
Die Resultate werden in einer Anzahl von
Tabellen zusammengestellt, die Grenzen einer
statistischen Untersuchung des Krebses werden
erörtert, ebenso die Beziehungen biologischer
und experimenteller Krebsforschung zur Statistik,
ferner u. a. die Beziehungen der Krebsfrequenz
zum Alter, zur Rasse etc.
Aus den Hauptergebnissen des sehr großen
bearbeiteten Materials sei hervorgehoben, daß
das Sarkom genau in gleicher Weise wie das
Karzinom mit zunehmendem Alter häufiger wird ;
diese Feststellung bringt die Anschauung, daß
Karzinom und Sarkom von Grund aus verschiedene
Dinge seien, ins Wanken. Die Störung der
Funktion, die Änderung der Form infolge Ent-
wicklung einer bösartigen Geschwulst in irgend
einem Organ ist sehr wechselnd. Beides kann
ganz fehlen, oder die ersten Krankheitserschei-
nungen können sich so akut oder in einem so
späten Stadium der Erkrankung entwickeln, daß
sie ganz der Beobachtung entgehen. In vielen
Fällen sind außer der Neubildung noch andere
Erkrankungen vorhanden, welche die Neubildung
vollkommen maskieren. Die enorme Wucher ungs-
kraft des Karzinoms beginnt in den Endstadien
des normalen Lebenszyklus, wenn die Fähigkeit
der Zell Vermehrung aufzuhören beginnt. Diese
Periode beginnt beim Chorion vor der Geburt,
bei Gebärmutter und Brustdrüse um die Zeit
des Klimakteriums, etwas später noch bei der
Haut. Die Statistik ergibt ferner, daß die Art
der Diät keinen primären Einfluß auf das Auf-
treten des Krebses bei den verschiedenen Rassen
hat, ebenso wenig bei den Tieren. Eine tat-
sächliche Zunahme der Krebssterblichkeit läßt
sich nicht nachweisen. Krebs kann experimentell
nur durch tatsächliche Transplantation von
Gewebe übertragen werden. Bösartige Neu-
bildungen machen keine spezifischen Symptome,
auch die Kachexie ist kein solches.
(Scientific reports on the investigations of the imperial
cancer research fund, No. 2, London 1905.)
Mohr (Bielefeld).
(Ana dem Sanatorium der Landaa-Vanieherungaanaialt
Berlin la Beeilt*.)
Die Neurasthenie In Arbeiterkreisen. Von Dr.
P. Leubuscher und W. Bibrowicz.
An der Hand eines großen Beobachtungs-
materials (1564 Fälle von männlichen Patienten)
berichten die Verfasser über Vorkommen und
Ursache der Neurasthenie bei Arbeitern. Das
Ergebnis ihrer beachtenswerten Wahrnehmungen
und Schlußfolgerungen ist in kurzer Zusammen-
fassung folgendes. Es ist eine enorme, und zwar
stets steigende Verbreitung der Neurasthenie in
den großstädtischen Arbeiterkreisen vorhanden.
Drei Viertel dieser Neurasthenien sind erworben.
Das Anwachsen der neurasthenischen Symptome
bis zur schweren Beeinträchtigung der Erwerbs-
fähigkeit fällt in das Alter zwischen 25 nnd
45 Jahren. Besonders gefährdet sind die geistig
höher stehenden Arbeiter, bei denen ein Miß-
verhältnis besteht zwischen geistigen Bedürfnissen
und ihrer Befriedigungsmöglichkeit durch den
Beruf. Abgesehen von der Prophylaxe, welche
eine Reihe von schweren sozialen Fragen berührt,
bietet eine frühzeitige und ausgedehnte Behand-
lung in zweckmäßig dazu eingerichteten Nerven-
heilstätten hinsichtlich des momentanen Erfolges
wie auch der Fortdauer der wiedergewonnenen
Erwerbsfähigkeit die günstigsten Aussichten. —
Die weitere Begründung von Volksheilstätten
für Nervenkranke erscheint als ein dringendes
Bedürfnis.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 21.) R.
Bericht Aber zwei weitere, mit Elektrolyse be-
handelte Pille von Aneurysma der Aorta
und einen der Anonyme. Von Dr. H. A.
Hare.
Als Ergänzung von acht früher veröffent-
lichten Fällen teilt Hare drei weitere Beob-
achtungen mit. Nach Feststellung der Diagnose
des Aneurysmas wurde in der üblichen Weise
durch eine Kanüle ein Golddraht von mehreren
Fuß Länge in den Sack eingeführt und ein elek-
trischer Strom 30 bis 50 Minuten lang hin-
durch geleitet. Der unmittelbare Erfolg, be-
stehend in Erleichterung der subjektiven Be-
sehwerden, war jedesmal sehr auffällig und hielt
auch einige Wochen an. Nach Verlauf von
vier bis sechs Monaten trat jedoch der Tod ein,
und es konnte jedesmal die Sektion gemacht
werden. Dabei zeigte sich, daß der Golddraht
in einem festen Blutgerinnsel eingebettet lag,
daß jedoch an den Bändern desselben die Aas-
buchtung der Arterienwand fortgeschritten war.
XIX. Jahrr an*."!
November 1905.J
593
In dem Falle von Aneurysma der Anonyma
konnte merkwürdigerweise der Draht, welcher
zwei Fuß lang gewesen war, gar nicht wieder-
gefunden werden.
Wenn also eine völlige Heilang nicht er*
zielt wurde, so hat die Behandlung doch zweifel-
los das Leben verlängert und die subjektiven
Beschwerden erleichtert.
(TherapeuHc genette 1905, No. 7.)
CUxmen (Grub« i. HJ.
Über die behauptete Entgiftung des Morphiums
durch Kaliumpermanganat. (Sur 1a pretendue
desintoxlcation de la morphine ä l'alde du per»
manganate de potaesium.) Von DeBusscher.
Nach den Versuchen des Verfassers zu
urteilen, hat das Kaliumpermanganat keinen
oder einen nur sehr unsicheren Wert als Antidot
des Morphins.
Das Permanganat kann wohl einige der
Vergiftungssymptome maskieren oder sogar lin-
dern; die Gefahr wird aber dadurch nicht ver-
mindert.
Brechmittel und Magenspülungen bleiben
noch immer die sicherste Behandlungsmethode.
(Ar eh. Internat, de pharmacodynamie et de ihcrapie,
vol. XIII, p. 309.) Dr. Impens.
Veratron. Von Dr. Houghton und Hamilton
in Detroit.
Veratron ist ein ohne Alkohol hergestelltes
Pr¶t von Veratrum viride von einem Viertel
der Stärke des offiziellen Extractum fluid um
der amerikanischen Pharmakopoe. Durch einen
Zusatz von Ghloreton ist es steril und nicht
zersetzlich. -r- Verff. haben es unmittelbar am
freigelegten Froschherz sowie innerlich und sub-
kutan bei Hunden geprüft. Sie kommen zu dem
Schluß, daß es in kleinen Dosen die Atmung
vertieft und verlangsamt, den Puls verlangsamt,
den Blutdruck herabsetzt; in starken Dosen das
Atmungszentrum reizt und schließlich lähmt.
Dosen von 1 oder 2 com innerhalb oder halb so
stark subkutan sind hinreichend, um beim
Menschen eine physiologische Wirkung hervor-
zubringen.
(Therapeutic gamette 1905, Januar.)
Classen (Grube i. H.).
(Ans dem pharmakol. Univereltatainetttut in Gent.)
Die Wirkung dea Alkohole auf den Blutkreislauf
dee Menschen. Von Dr. M. Koch mann,
I. Assistenzarzt
Aus den Untersuchungen ergab sich, daß
der Alkohol bei passender Dosierung eine Blut-
drucksteigerung hervorzurufen vermag, die trotz
gleichzeitiger peripherischer Vasodilatation durch
Vasokonstriktion des vom N. splanchnicus ver-
sorgten Gefäßgebietes zustande kommt. Dadurch
wird für eine bessere Durchblutung des Herz-
muskels gesorgt, der so zu erhöhter Tätigkeit
angeregt wird. Inwieweit das auch bei patho-
logisch verändertem Kreislauf der Fall ist,
müßten weitere Versuche lehren. Vom pharma-
kologischen Standpunkt aus, meint Verf., kann
also der Alkohol wohl eine Bedeutung haben,
wenn auch manche ihn aus sozialen Gründen
durch andere Arzneimittel ersetzen möchten.
(Deutsche med. Wochenschr. 190$, No. 24.)
Esch (Bendorf).
Die perkutane 8alizylbehandlung. Von Dr. Ed-
mund Saalfeld.
Den Vorzug einer deutlichen Salizyiwirkung,
ohne unangenehme Erscheinungen von Seiten der
Haut hervorzurufen, besitzt eine, früher Velos an
(vergl. Therap. Monatsh. Dezember 1904, S. 659),
jetzt Fetrosal genannte Salbe. In derselben
sind außer der Salizylsäure u. a. noch Salol
und Fetron enthalten. Saal fei d hat das Prä-
parat hinsichtlich seines Einflusses auf die Haut
geprüft. In 50 hierher gehörigen Fällen konnte
er bei Anwendung des Fetrosals keine Haut-
reizung beobachten. Es kam eine Reihe von
Dermatosen leichteren Grades durch Fetrosal-
anwendung zur Heilung. Zur Behandlung der
rheumatischen Affektionen dürfte das Fetrosal
zu empfehlen sein.
(Allgcm. medizm. Zentr.-Ztg. 19, 1905.) R.
Anwendung des Mesotan vaselins. Von Dr. Ru be-
mann (Berlin).
Während Mesotan mit Olivenöl öfters haut-
reizend wirkte — wahrscheinlich zersetzte sich
das öl in der Mischung — so fand Verf., daß
diese unangenehme Nebenwirkung bei Mischung
mit Vasel. flav. americ. (5,0 auf 15,0 Vasel.)
ausblieb.
Er ließ z. B. bei akutem Gelenkrheumatis-
mus mehrmals täglich 26 Tage lang mit aus-
gezeichnetem Erfolg einstreichen. Außerdem ist
bei dieser Applikationsform der Vorteil, daß
man das Mesotan der Haut viel energischer bei-
bringen kann. Auch Erysipelas faciei sah Verf.
durch Mesotan, wie es ja auch schon Meißner
und Rahn fanden, günstig beeinflußt, ganz be-
sonders aber in den Fällen, wo es mit Vaselin
aufgetragen war. Preis des Rp. Mesotan 10,0,
Vasel. 40,0 beträgt 1,90 Mk.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 19.)
Arthur Rahn (Colhn).
(Aus der medislnisonen Klinik der Universität Jena.
Direktor: Geh. Med.- Rat Prof. Dr. R. Stintsing.)
i. Einwirkung von Salizylprflparaten auf die
Nieren. Von Dr. Quenstedt, Assistent der
Klinik. Therapie der Gegenwart März 1905.
(Ans der 1. med «kriechen Klinik der Universität Berlin.)
a. Zar Frage der Salisylwlrkung. Von G. J.
M am lock. Medizinische Klinik, No. 21, 1905.
(Ane dem pharmakologischen Institut« der Universität Jena.
Direktor : Prof. Dr. K i o n k a.)
3. Die Vermeidung der Nierenreiznng nach großen
Saliaylgaben. Von Dr. Ernst Frey, Assis-
tent am Institut. Münch. med. Wochenschr.
No. 28, 1905.
1. Die Beobachtung Lüthjes1), daß die
Darreichung von Salizylpräparaten regelmäßig
l) H. Lüthje, Über die Wirkung von Salizyl-
präparaten auf die Harnwege nebst einigen Bemer-
kungen über die Genese der Zylinder und Zylin-
droide. Deutsches Archiv f. klin. Med., Bd. 74.
Referat in Therap. Monatsh. Mai 1903, p. 265.
594
Referate»
fTfc«ra.p«uti«cha
das Auftreten von Eiweiß and Zylindern im
Harn zur Folge hat, ist von andern Autoren
(Brugsch, Knecht, Klieneberger and
Öxenius) bestätigt worden. Auch Quenstedt
hat bei seinen Kranken eine Nierenreizung nach
Verabreichung von Natriumsalizylat konstatieren
können; er fand bei 25 Fällen in 200 Einzel-
untersuchungen 110 mal Eiweiß — allerdings
nur in wenigen Fällen in größeren Mengen —
und 96 mal Zylinder, meist hyaline und granu-
lierte, äußerst selten Epithelial- oder Leuko-
zytenzylinder. Diese Anzeichen der Nierenreizung,
die schon kurze Zeit nach Anwendung von
Salizylsäure in den gewöhnlichen mittelhohen
Dosen auftreten, dauern während der Darreichung
von Salizyl an, schwinden, wenn die Behandlung
ausgesetzt wird, und stellen sich wiederum ein,
wenn von neuem mit der Verabreichung begonnen
wird. Bei definitivem Aussetzen heilt die Sali-
zylnephritis ohne irgend welche Folgen schnell
aus, es liegt daher kein Grund vor, auf die Dar-
reichung der Salizylsäure, namentlich bei akuten
Fällen von Rheumatismus, Verzicht zu leisten.
2. Mamlock hat die Frage studiert, ob
kleine nicht therapeutische Salizyl dosen Gesund-
heitsschädigungen hervorrufen können. 19 Pati-
enten, die an den verschiedenartigsten Krank-
heiten litten, deren Urin aber frei von patho-
logischen Bestandteilen war, erhielten täglich
Dosen von 0,005 — 0,15 g Salizylsäure in Him-
beersaft etwa eine Woche lang. Der Urin blieb
während dieser Zeit frei von Eiweiß und zellu-
lären Elementen; nur in zwei Fällen gab der
Harn nach Einnahme der höchsten Dosis von
0,15 g Salizylreaktion. Diese Reaktion war
ferner bei einigen normalen Personen vorhanden,
die täglich 0,3 g Salizylsäure erhalten hatten,
jedoch auch hier blieben pathologische Bei-
mengungen aus. Jedenfalls ist aus diesen Unter-
suchungen zu folgern, daß kleine Dosen Salizyl-
säure, wie sie z. B. zur Konservierung von Him-
beersaft verwandt werden, eine Nierenreizung
nicht • hervorrufen.
3. Die Nierenschädigung durch Salizyl-
darreichung kann entweder durch lokale Reiz-
wirkung der Salizylsäure auf die Nieren oder
nach der Resorption durch Giftwirkung auf das
Blut (Blutungen und Gefäßverlegungen) zustande
kommen. Wie nun Frey nachweist, treten Ei-
weiß und Zylinder nach Salizyldarreichung nur
im sauer reagierenden Harn auf; man hat dem-
nach die Nierenreizung als Folge einer lokalen
Reizwirkung der im sauren Harn frei werdenden
Salizylsäure aufzufassen. Will man also die
schädigenden Wirkungen der Salizylsäure auf
die Niere am Krankenbett verhindern, so kann
man dies ohne gleichzeitige Abschwächung der
Salizylwirkung durch reichliche Zufuhr von
Alkali — alkalische Wässer resp. Natriumbi-
karbonat — verhindern.
Jacobson.
Wie sollen Säuglinge künstlich ernährt werden?
Von Dr. E. Furth-Dervent (Bosnien).
Die üblichen Wege der künstlichen Er-
nährung mit Kuhmilch befriedigen nur un-
vollkommen, ebenso ist der Versuch, die Diffe-
renzen zwischen Frauen- und Kuhmilch aus-
zugleichen, nur unvollständig geglückt, wie der
von Fürth kurz dargestellte Entwicklungsgang
der künstlichen Ernährung mit Kuhmilch bis
zum heutigen Stande dieser Frage zeigt; oft
sind es nur äußere Gründe, Schwierigkeiten der
Beschaffung, Höhe des Preises, die ein an und
für sich wertvolles Präparat weiteren Kreisen
unzugänglich machen. Den am meisten be-
liebten Kinder mehlen haftet der Fehler an, daß
ihre Kohlehydrate, dazu bestimmt, die dem
Körper nötige Fettmenge zu liefern, nur im
kleinsten Maße vom Verdauungsapparat auf-
genommen werden, und daß sie nur einen
schweren Ballast für ihn darstellen. Fürth
wählte für sein eigenes, schwer atrophisches
Kind aus diesen Gründen und nach reiflicher
Überlegung die in chemischer Hinsicht der
Muttermilch nahe verwandte Theinhardsche
Kindernahrung. In ihr sieht er alle jene Postu-
late, die Monti an eine Verbesserung der Kuh-
milch stellt, erfüllt (bezüglich der hohen Azidität
der Kuhmilch gegenüber der Frauenmilch, der
großen Menge des Kaseins im Verhältnis zu den
andern Eiweißkörpern der Milch und eine Än-
derung seines Gerinn ungs Vermögens; desgleichen
bezüglich der Erhöhung des Fettgehaltes, die
durch eine größere Menge an gelösten Kohle-
hydraten erreicht wird, welche ja nach Rubner
den Fetten äquivalent sind. Ihr Gehalt an
Phosphorsäure ist ein weiterer Vorzug ebenso
wie ihre durch Sterilisation bewirkte relative
Reinheit von Bakterien). Nach Fürth hat sich
bei seinem eigenen Kinde und vier andern
Kinderatrophien das Kindermehl so vorzüglich
bewährt, daß er in dem Mittel bei Mangel der
Mutterbrust einen guten Ersatz derselben ge-
funden zu haben glaubt.
(Medizinische Klinik No. 26, 1905.)
Homburger. (Karlsruhe).
(Au* der Unfvenittts-KInderkllnlk sn Leipzig:
Geb.-Rat Soltmann.)
Rohe oder gekochte Milch? Von Dr. med. Herrn.
Brüning, Laboratoriumsassistent und Pro-
sektor.
Bei der natürlichen Ernährung an der
Mutterbrust erhält das Kind Rohmilch seiner
eigenen Gattung gegenüber der artfremden
Tiermilch, die ihm bei der künstlichen Ernäh-
rung mit Kuhmilch, und zwar im gekochten Zu-
stand verabfolgt wird. Die neueren Bestrebungen
laufen bekanntlich darauf hinaus, auch die Tier-
milch im rohen Zustande dem Kinde als Nah-
rung zu bieten. Die Bedeutung einer solch
tiefeinschneidenden Entscheidung gab Brüning
Veranlassung, dieser Frage experimentell näher
zu treten. Von 4 Hunden eines Wurfes ernährte
er 2 an der Mutter, 2 mit der Flasche, and
zwar das eine mit gekochter und das andere mit
roher Milch, in 30 tägigem Versuch. Die Tiere,
die arteigene Muttermilch erhielten, zeigten gute
Gewichtszunahmen und keinerlei pathologische
Veränderungen an ihrem Skelett; das mit ge-
kochter Kuhmilch genährte Tier, welches bei
der Geburt das schwerste war, blieb weit hinter
den beiden ersten an Gewicht zurück; sein
X IX. Jahrgang 1
Kovmbw 1906.J
Referate.
595
Bauch war aufgetrieben, das Haar struppiger
und die Rippenknorpel aufgetrieben. Das mit
roher Kuhmilch gefütterte Tier zeigte das ge-
ringste Körpergewicht am Schlüsse des Ver-
suches; matte, trübe Augen, dünnes, kurzes Haar
and fast kahle Stirne, aufgetriebenen Bauch,
unsicheren Gang und Knochen Veränderungen, die
mit der Rachitis des Menschen die größte Ähn-
lichkeit haben. Das Tier hatte freilich eine
Nephritis durchgemacht. Aus diesen und an-
dern Tierfütterungs versuchen glaubt Brüning
schließen zu dürfen, daß ihre Ergebnisse nicht
übereinstimmen und daher keineswegs schlecht-
hin für die Rohmilchernährung sprechen.
(Münchener med. Wochenschrift No. 8, 1905.)
Homburger (Karlsruhe).
Hautgangrän nach Anwendung eines neuen lokalen
Anasthetikwns Stovain. (Gangrene of the
ekln following the nse of stovaine, a new
local anaesthetic.) Von D. A. Sinclair M. D.
New York. Lecturer in genito-urinary surgery.
N. Y. Policüoic medical school and hospital.
Verf. verwendete bei mehreren Operationen
an den Harn- und Geschlechtsorganen zur Er-
zeugung der lokalen Anästhesie Stovain.
Das Verhalten des Mittels erleuchtet am
besten aus dem Bericht der Eingriffe und ihres
Verlaufs.
1. Fistula ani. Verwendung von 12 ccm
2 proz. Stovain lösung. Anästhesie trotz vor-
heriger Darreichung von 0,03 g Morphium un-
vollkommen oder überhaupt nicht vorhanden.
Wundheilung sehr verzögert.
2. Chronische Urethritis, Meatotomie.
Verwendung von 10 Tropfen 2 proz. Stovain-
lösung. Vollkommene Anästhesie. Nach der
Operation Kollapsanfall. Während der Nach-
behandlung an der Injektionsstelle ziemlich
ausgebreitete Gangrän, welche lange bestehen
bleibt.
3. Zirkumzision. Verwendung von 8 ccm
2 proz. Stovainlösung. Keine vollständige An-
ästhesie. Nach der Operation ödem und später
tiefgehende, fast über den ganzen Penis ausge-
breitete Gangrän. Heilungsdauer etwa 7 Wochen.
4. Zirkumzision. Verwendung von 8 ccm
2 proz. Stovainlösung. Unvollkommene An-
ästhesie. Unmittelbar nach dem Eingriff Übel-
keit und Schwindelgefühl, drohender Kollaps.
Im Wundverlauf tritt Ödem und ulzerierende
Dermatitis der Wundnaht, später ausgebreitete
Gangrän ein. Nach Exzision Heilungsdauer
etwa 6 Wochen.
5. Zirkumzision. Heilungsverlauf durch
Ödem und Gangrän gestört. Wundränder nach
4 Wochen noch nicht fest verheilt.
Durchaus im Einklänge mit diesen Beob-
achtungen stehen die ungünstigen Erfahrungen,
welche Braun-Leipzig in seinem Buche „Die
Lokalanästhesie, ihre wissenschaftlichen
Grundlagen und praktische Anwendung
(Leipzig, Johann Ambrosi us Barth, 1905) nach dem
Ergebnis eigener Versuche mitteilt. „DieSchmerz-
haftigkeit der Injektion, die der Injektion folgende
auffallend heftige Hyperämie, die keineswegs
fehlende Gewebsschädigung (Braun hatte auch
Gelegenheit, das Auftreten von Gangrän nach
Stovainanwendung zu beobachten. Ref.) durch
das Mittel sind doch erhebliche Nachteile, die
weder dem'Eukain noch dem Tropakokain
anhaften. Also wozu das neue Mittel? Dieselbe
.anästhesierende Wirkung, die mit einer Stovain-
lösung zu erreichen ist, gewährt eine Kokain- %
lösung, ja auch eine Eukain- oder Tropakokain-
lösung von erheblich geringerer Konzentration.
Damit entfällt auch der Vorteil der anscheinend
geringeren toxischen Wirkung."
Diese hier mitgeteilten Erfahrungen dürften
wohl genügen, uns dem Enthusiasmus über das
Stovain mit einer gewissen Skepsis entgegen-
treten zu lassen, zumal ja in den von Braun
genannten Mitteln zwei dem Stovain weit über-
legene lokale Anästhetika zur Verfügung stehen.
(The Journal of cutaneous diseases. New York,
July 1905.) Th. A. Maass.
(Ans dem Protozoenlaboratorium des Kataerl. Qeeandbeitiamtee
und »u* der Könlgl. Unlveraitite- Klinik für Haut- und
Geechlerhtekrankhei ten. )
Ober Spirochaete pallida bei Syphilis und die
Unterschiede dieser Form gegenüber anderen
Arten dieser Gattung. Von Dr. Fritz
Schaudinn, Regierungsrat und Mitglied des
Kaiserl. Gesundheitsamtes, und Dr. Erich Hoff-
mann, Stabsarzt a. D. und Privatdozent. (De-
monstration in der Berliner medizin. Gesell-
schaft am 17. Mai 1905.)
Alle Anzeichen lassen darauf schließen, daß
die führende Rolle, welche die Bakteriologie
nahezu ein Vierteljahrhundert einnahm, nunmehr
an die Protozoenforschung gefallen ist. Offenbar
ist diese für die nächste Periode durch fortgesetzt
neue und sensationelle Entdeckungen prädesti-
niert, den Sauerteig zu liefern, dessen der ärzt-
liche Praktiker zu bedürfen scheint, um wirk-
liches Brot am Tische der Wissenschaft zu essen
und nicht auf die steinigen Brocken aussichts-
loser roher Empirie angewiesen zu sein. Hoffent-
lich wird das Gebäck nicht wieder zu frisch
gegessen und ruft dann beunruhigende Erschei-
nungen hervor!
Daß Schaudinn und Hoffmann selbst,
die Entdecker der Spirochaete pallida, unschuldig
daran sein würden, wenn ein überstürzt ver-
allgemeinernder Optimus auch heute wieder vor-
eilige ätiologische Schlüsse und entsprechende
überstürzte Konsequenzen zöge, geht übrigens
deutlich aus der Reserve hervor, die sich die
genannten Autoren hinsichtlich der Folgerungen
in erwähnter Hinsicht selbst auferlegen.
Es gelang den beiden Forschern, im frischen
Gewebssaft mit allen Vorsichtsmaßregeln exzi-
dierter syphilitischer Papeln, in den tieferen
Schichten von Primäraffekten in den spezifisch
erkrankten Leistendrüsen und auch im Milzblut
einer frisch syphilitischen Person (am 5. Tage
vor Auftritt der Roseola) sowohl lebend als auch
im gefärbten Präparat (Gie ms asche Eosin-Azur-
färbung) einen Spirochaeten nachzuweisen, den
sie im Gegensatz zu der bei Papillomen und
Balanitis festgestellten gröberen Form „Spirochaete
refringens" nannten. Die mit undulierender
Membran versehenen, eine flexible Gestalt be-
596
Roferato.
rThor*peutibche
L Monatshefte.
sitzenden tierischen Parasiten zeichnen sich nicht
nur durch Kleinheit und Zartheit und ihr ge-
ringes Lichtbrechungsvermögen, sondern auch vor
allem durch die Art ihrer spiraligen Aufwindung
aus, die man wegen ihrer großen Zahl, Regel-
mäßigkeit, Enge und tiefen Buchtung am treffend-
sten als korkzieherartig bezeichnet. Im Leben
schraubt sich der spiralig aufgewundene Spiro-
chaetefaden unter Rotation um seine Längsachse
bald nach der einen Richtung, bald nach ruck-
weisem Stillstand nach der anderen; auch ohne
Lokomotion sieht man zuweilen undulierende
Bewegungen über das ganze Gebilde laufen, als
Ausdruck des Spiels der undulierenden Membran.
Hierzu gesellen sich biegende, schlängelnde und
peitschende Bewegungen des ganzen % Körpers,
der demnach nicht wie bei den Spirillen eine
starre Längsachse besitzt.
(Berliner klin. Wochenschr. 1905, No. 22.)
Eschle (Sinsheim).
(Aus der Poliklinik für Hautkrankheiten ron Dr.MazJoieph
in Berlin und aus der Praxis von Dr Dreyer, 8peztalarzt
für Hautkrankheiten in Köln.)
Ober die Behandlung der Syphilis mit 45 proz«
Oleum mercurloli. Von Dr. Lenge feld,
Assistent der Poliklinik.
Das Merkuriolöl ist ein zur Injektion be-
stimmtes Präparat, welches 90 Proz. Quecksilber
als Aluminium-Magnesium-Amalgam, wasserfreies
Lanolin und Mandelöl enthält. Die salben-
ähnliohe Masse wird unter Erwärmen mit gleichen
Teilen wasserfreien Mandelöles zur Anwendung
verdünnt. Von dieser 45 proz. öligen Lösung
injiziert Lengefeld jeden 4. Tag mit sorgfältig
vor Berührung mit Wasser bewahrter Spritze*)
0,05 — 0,2 ccm intramuskulär in die Nates, wie
dies auch schon Möller (Archiv f. Dermatol. u.
Syphilis Bd. 66) empfohlen hatte. Mit der
kleinsten Dose wurde begonnen und bald auf
0,2 ccm gestiegen ; im ganzen wurden durch-
schnittlich 10 — 12 Injektionen vorgenommen.
Dieselben wurden recht gut vertragen, nur selten
konnten Infiltrate festgestellt werden, welche die
Größe einer Haselnuß nicht überschritten. Eigent-
liche Schmerzen traten im allgemeinen nach den
Injektionen nicht auf, nur Druck- und Müdig-
keitsgefühl und Steifigkeit wurden angegeben.
In wenigen Fällen waren die Schmerzen jedoch
so heftig, daß Merkuriolöl nicht weiter gereicht
werden konnte. Sonstige Nebenwirkungen wie
Stomatitis und Diarrhöe waren leichter Natur; ein
Pat., der aber neben Merkuriolölinjektionen
Inunktionen gebrauchte, wies schnell vorüber-
gehende Albuminurie auf.
Der Einfluß auf das Verschwinden der Sym-
ptome war nicht besonders kräftig. Nur wenn
*) Wasser zerlegt das Amalgam in Quecksilber,
Aluminium- und Magnesiumhydroxyd uod Wasser-
stoff:
AlMgHg-f-5H80 =
Hg -t- AI (OH), 4- Mg (OH), + 5 H.
Diese Zerlegung erfolgt auch in Berührung mit dem
menschlichen Gewebe. Das Quecksilber kommt in
feinster Verteilung — in statu nascendi — zur
Wirkung.
Haut oder Schleimhäute für sich ergriffen
waren, zeigte sich eine schnelle Einwirkung;
waren beide zugleich erkrankt, so bedurfte es
12 Injektionen zur Rückbildung.
Verf. hat den Eindruck gewonnen, daß es
in bezug auf therapeutische Wirksamkeit dem
Quecksilbersalizylat gleichzustellen ist. Es emp-
fiehlt sich besonders in den Fällen, in denen
letzteres zu schmerzhaft ist, oder in denen Oleum
cinereum nicht vertragen bezw. seiner unan-
genehmen Nebenwirkungen wegen gefürchtet wird.
(Wiener klinisch 'therapeutische Wochenschr. 1905,
No. 24.) Jacobson
l. Nochmale mein Hellmittel aas der Küche. Von
Wilhelm Winternitz. Blätter für klinische
Hydrotherapie 1905, No. 1, S. 1.
(Au« der bydriAtiaehen Abteilung der allgemeinen Poliklinik
de« Hofr. Prof. Winternitz.)
a. Zur Methodik und Kasuistik der Behandlung
▼on Darmkrankheiten mit Heidelbeerdekokt.
Von Dr. Max Heinrich, Assistent der Ab-
teilung. Ebenda S. 6.
1. Winternitz, der schon im Jahre 1891
auf die Wirksamkeit des Heidelbeerdekoktes bei
den verschiedensten Formen der Diarrhöe
bei Leukoplakia buccalis aufmerksam gemacht
hat, berichtet über weitere Indikationen des
Mittels.
Abgesehen von akuter und chronischer An-
gina und Pharyngitis, akuter und chronischer
Gonorrhöe sowie von Fluor und Vaginalkatarrh,
wird ganz besonders das Ekzem durch das
Heidelbeerdekokt günstig beeinflußt.
Zur Herstellung werden 500 g der ge-
trockneten Beeren mit 2 Litern kalten Wassers
übergössen, und nach 24 stündigem Stehen an
warmer Stelle wird der Aufguß zur Sirup-
konsistenz langsam eingekocht. Die Masse wird
dann durch ein feines Haarsieb gestrichen, mit
1 g Borsaure versetzt und nach weiterem Ein-
dicken in gut verschließbare Gefäße eingefüllt.
Mit diesem Präparat reibt man die erkrankten
Hautstellen kräftig ein und bindet mittels Gaze-
binde eine dünne Watteschicht darüber fest, die
12 — 24 Stunden liegen bleibt; dann folgt eine
Abwaschung mit Wasser.
Neuerdings benutzt Verf. das Dekokt auch
bei Enteritis membranacea sowie bei akutem und
chronischem Schnupfen. Bei akuter Rhinitis
beseitigt die Durchspülung der Nasenhöhle mit
dem Dekokt in kurzer Zeit vorübergehend oder
auch dauernd den größten Teil der Beschwerden.
Ebenfalls wird der üble Geruch bei verschie-
denen Koryzaformen, auch der üble Geruch aus
der Mundhöhle zum Verschwinden gebracht.
2. Heinrich macht nähere Angaben über
die Verwendung des Heidelbeerdekokts bei
Enteritis membranacea (Colitis mueosa) sowie
bei katarrhalischen und ulzerösen Prozessen des
Dickdarmes.
Des Morgens erhält der Pat. ein reinigendes,
lauwarmes Wasserklistier. Nach der Entleerung
wird in rechter Seitenlage des Pat. mit mög-
lichst gebeugten Oberschenkeln mittels des
Gaertn ersehen Apparates Wasser von 40° vor-
sichtig eingegossen. Je nach der Toleranz dea
XIX. Jahrgang. 1
November 1SQS.J
Literatur.
597
Pat. werden 500—2500 ccm auf einmal ein-
gegossen. Die Spülung wird so laoge wieder-
holt, bis das Wasser frei von Schleimhautfetzen
abläuft. Nunmehr wird das lauwarme Heidel-
beerdekokt in einer Menge von 1 — iya Liter ein-
gegossen und 10 Minuten oder auch bis zur
nächsten Stuhlentleerung im Darm belassen. Die
Darmtätigkeit wird in kürzester Zeit durch diese
Behandlung geregelt, die blasse Gesichtsfarbe
schwindet, und die Nahrungsaufnahme wird
günstig. Jacobson.
Literatur.
Beiträge zur Ohrenheilkunde. Festschrift,
gewidmet August Lucae zur Feier
seines siebzigsten Geburtstages. Mit
einer Heliogravüre, vier Tafeln und zwölf
Textabbildungen. Berlin, Julius Springer, 1905.
Gr. 8°, 420 S.
Dem Berliner Altmeister der Ohrenheil-
kunde, August Lucae, haben zum siebzigsten
Geburtstage 24 „Kollegen, Freunde und Schüler"
ein stattliches Buch als wissenschaftliche Fest-
schrift gewidmet.
Vorrede und Zueignung vertritt ein Brief
von JL Schwartze (Halle a. S.): „Meinem
Freunde August Lucae in Berlin Gruß und
Glückwunsch zum siebzigsten Geburtstage". Er
beginnt mit der Schilderung, wie die beiden
Duzfreunde vor 45 Jahren als einjährig-frei-
willige Ärzte in Berlin gemeinsam ihre otolo-
gischen Studien begannen. Schwartze hatte die
Methode des Ohrenspiegelns soeben aus Würzburg
von ihrem Erfinder Trölsch importiert und
zeigte sie Lucae, während dieser ihm das Kehl-
kopf- und Nasenspiegeln beibrachte. In kunst-
vollen Strichen skizziert der Brief den weiteren
Lebensgang der beiden Freunde, den gegen-
wärtigen Stand der Otologie und deutet hin auf
die nächsten ihrer Lösung harrenden Probleme.
Die Lektüre des Briefes, dessen Stil und
Inhalt mancherlei Charakterzüge des Schreibers
getreulich wiederspiegeln, gewährt einen hohen
und eigenartigen Reiz und erregt den Wunsch,
es möchten dereinst, ebenso wie vor einigen
Jahren Billroths Briefe, so auch Schwartzes
gesammelt und der Öffentlichkeit übergeben
werden.
Auf den Brief folgt ein Vortrag Schwartzes:
„Zur Einführung in die Aufgaben des praktischen
Arztes bei der Behandlung Ohrenkranker ". Darin
wird die Wichtigkeit der Ohrenheilkunde für den
praktischen Arzt betont und die neue ärztliche
Prüfungsordnung, in welcher die Otologie nicht
zu ihrem Eechte gekommen ist, kritisiert.
A.Politzer (Wien), „BartolomeoEustachio",
vereinigt in einer historischen Studie Gelehrsam-
keit und fesselnde Darstellung in mustergültiger
Weise. Der Wiener Autor, ebenfalls ein Siebzig-
jähriger, hat im letzten Jahre auch auf klinischem
und anatomischem Gebiete sehr bedeutende Ar-
beiten veröffentlicht, und man weiß nicht, ob man
seiner genialen Vielseitigkeit oder seiner jugend-
lichen Tatkraft mehr Bewunderung zollen soll.
A. Knapp (New York), „Report of a case
of Panotitis in an adult", beschreibt in englischer
Sprache einen Fall von akuter Mittelohreiterung
mit Labyrinthsymptomen, welcher nach Auf-
meißelung der Mittelohrräume ohne Labyrinth-
eröffnung geheilt ist.
Weitere kasuistische Beiträge liefern E.Haug
(München), „Naevus cutaneus des Meatus und
des Trommelfells0, V. Hinsberg (Breslau), „Zur
Kenntnis der vom Ohr ausgehenden akuten
Sepsis", P. Man as 8 e (Straßburg), „Über hämor-
rhagische Meningitis nach eitriger Mittelohrent-
zündung", W.Kümmel (Heidelberg), „Ein Fall
von seröser Meningitis neben Klein hirnabszeßa
[Nebenbei bemerkt ist das Wort „neben" hier
nicht ganz richtig, weil der Kleinhirnabszeß, wie
Kümmel selbst mit nachahmenswertem Freimut
bekennt, erst hinterher als Folge seiner Operation
auftrat.], E. Berthold (Königsberg/Pr.), „ Syringo-
myelie nach einem Trauma, Otitis media, schnelle
Bildung eines Cholesteatoms, Radikaloperation
und einander widersprechende Gutachten".
D. Schwab ach (Berlin), „Beitrag zur patho-
logischen Anatomie des inneren Ohres und zur
Frage vom primären Hirnabszeß", und J.Hab er-
mann (Graz), „Über Veränderungen des Gehör-
organ es bei der Anencephalie", bringen genaue
anatomische Beschreibungen je eines Falles.
Der Aufsatz von A. Thost (Hamburg), „Der
chronische Tubenkatarrh und seine Behandlung",
zeugt von großer therapeutischer Erfahrung und
von selbständigem Urteil des Verfassers, könnte
aber etwas kritischer und kürzer sein.
Etwas ausführlich gehalten ist ebenfalls
O. Briegers (Breslau) lesenswerte Arbeit „Zur
Klinik der Mittel ohrtuberkulose".
0. Körner (Rostock), „Können die Fische
hören", ist bei kritischer Betrachtung der bis-
herigen anderweitigen Versuche und auf Grund
seiner eigenen geneigt, die Frage des Themas
zu verneinen, drückt sich jedoch darüber bei
aller — ihm stets nachzurühmender — Klarheit
mit großer Vorsicht aus.
E. P. Friedrich (Kiel), „Ein Beitrag zur
ohrenärztlichen Begutachtung von Unfallskran-
kenu, bespricht die ohrenärztliche Begutachtung
bei Schädelbasisbrüchen in seiner bekannten, ge-
diegenen und überlegten Weise. Doch scheint
bei ihm eine gewisse Neigung zu bestehen, den
Ausfall der Erwerbsfähigkeit beim Verletzten zu
unterschätzen. So erblickt er in einer einseitigen
Taubheit keinen Rechtsanspruch auf Invalidität,
und in einem besonderen Falle gibt er sogar
das Gutachten ab, daß doppelseitige chronische
Mittelohreiterung mit Caries eine Rente nicht
bedinge.
E. Bloch (Freiburg i. Br.), „Zur Skopolamin-
narkose in der Otochirurgie", hat bei 124 Fällen
von Warzenfortsatzoperationen die Skopolamin-
Morphiumnarkose angewendet. Bei einem Manne
(Potator) erfolgte eine Stunde nach der Operation
Atmungsstillstand, 1 '/^ständige künstliche At-
mung, Pneumonie, nach 7 Tagen Tod.
L. Katz (Berlin), „Allgemeines und Spezi-
elles über die Bedeutung und die Technik der
mikroskopischen Untersuchung des inneren Ohres
mit einigen histologischen Bemerkungen und
698
Literatur.
rheraptutfjche
Monatsheft*.
drei Abbildungen a, beschreibt einige Methoden
der Fixierung, Konservierung, Entkalkung und
Einbettung des Gehörorganes , welche sich ihm
persönlich als „praktisch und relativ zuverlässig"
erwiesen haben, und mittels deren er unsere
Kenntnisse vom feineren Bau des inneren Ohres
in nennenswerter Weise bereichert hat.
A. Passow (Berlin), „ Gehörgangsplastik bei
der Radikaloperation chronischer Mittelohreite-
rungen", teilt eine neue Plastik nach Totalauf-
meißel ung der Mittelohrräume mit, eine Kom-
bination der Körn ersehen Plastik mit der
Stackeschen aber mit der Lappenbasis nach
oben.
A. Barths (Leipzig) Beitrag, „Einige all-
gemeine Betrachtungen über Indikationen zum
Operieren bei schweren Ohrerkrankungen" , ist
„eine Art Beichte, welche der frühere Schüler
seinem verehrten Lehrer nach zwanzigjähriger
selbständiger Tätigkeit ablegt, zugleich aber eine
schriftliche Kiarlegung der eignen Grundsätze,
eine Rechtfertigung vor dem eigenen Gewissen
bei dem Vorgehen in der Behandlung, das oft
über geringere oder größere dauernde Schädigung,
nicht selten sogar über Leben und Tod der
Kranken entscheidet".
H.Bennert (Berlin), „Zweckmäßige Einrich-
tungen im Gehörorgan", und F. Kretschmann
(Magdeburg), „Über Mittönen fester und flüssiger
Körper", bringen eine Wiederholung ihrer auf
der 14. Versammlung der Deutschen otologischen
Gesellschaft zu Homburg v. d. H. gehaltenen
Vorträge. Ebenso R. Panse (Dresden), „Die
klinische Untersuchung des Gleichgewichtssinnes",
dessen schöne Untersuchungen über den Schwindel
in der otologischen Praxis noch nicht die ge-
bührende Beachtung gefunden haben.
Die drei letzten Aufsätze des Buches stam-
men aus der vom Jubilar geleiteten Universitäts-
ohrenklinik zu Berlin: Der erste Assistent
B. Heine, „Zur Kenntnis der subduralen Eite-
rungen", beschreibt zwei Fälle von subduraler
Eiterung nach Mittelohrentzündung, von denen
der eine geheilt wurde, der andere das Material
zu einer wunderschönen kolorierten Abbildung
des Gehirns geboten hat.
F. Groß mann, „Über Mittelohreiterung bei
Diabetikern", kommt an der Hand von zehn
Fällen von Mittelohreiterung bei Diabetikern
zum Schluß, daß bei diesen eine Komplikation
seitens des Warzenfortsatzes häufiger eintritt als
bei Nichtdiabetikern.
H. Sessous, „Die Veränderungen des
Augenhintergrundes bei otitischen intrakraniellen
Komplikationen", berichtet, daß in 104 Fällen
von intrakraniellen Komplikationen 44 mal eine
Veränderung des Augen hintergrundes festgestellt
wurde; über die Art der intrakraniellen Er-
krankung lassen nach seiner Zusammenstellung
die Augenspiegelbefunde keine oder nur be-
schränkte Schlüsse zu.
Diese kurze Inhaltsangabe gibt wohl eine
Vorstellung von der Reichhaltigkeit und Gediegen-
heit der wissenschaftlichen Huldigung, welche
L u c a e in der Festschrift dargebracht wird.
Sie ist eine wertvolle Probe von dem, was die
gegenwärtige Otologie, insbesondere die deutsche
Otologie, leistet. Wenn der gefeierte Jubilar
den jetzigen Stand der Ohrenheilkunde vergleicht
mit ihrer Dürftigkeit vor 45 Jahren, als er ge-
meinsam mit Schwartze die oben erwähnten
Übungen mit dem Ohrenspiegel vornahm, wenn
er aus dem ihm gewidmeten Buche von neuem
sieht, wie die Ohrenärzte weiterhin rüstig
arbeiten, nicht nur auf dem Gebiete der Dia-
gnostik und Therapie, sondern auch der ein-
schlägigen Anatomie, Physiologie, vergleichenden
Physiologie, Geschichte, Unfallkunde, patholo-
gischen Anatomie, Hirnchirurgie und Beziehungen
zur Allgemeinmedizin, so wird er dem stattlichen
und weiter aufstrebenden Bau der gegenwärtigen
Otologie seine Anerkennung zollen. Und gerechte
Freude und befugter Stolz wird seine Brüstt
durchziehen, wenn er sich sagt, daß er und seine
Schüler ein bedeutendes Stück an diesem Bau
geschaffen haben!
Die Verlagsbuchhandlung hat für vorzüg-
liche Ausstattung, Drucklegung und Abbildungen
Sorge getragen und dadurch das ihrige getan,
um das Buch zu einer vornehmen Festgabe zu
machen. Die beigegebene vorzügliche Helio-
gravüre zeigt wohlgetroffen die würdigen und
angenehmen Züge August Lucaes.
Krebs (Hüdesheim).
L. Landois, Lehrbuch der Physiologie des
Menschen mit besonderer Berücksichti-
gung1 der praktischen Medizin. Elfte Auf-
lage. Bearbeitet von Prof. Dr. R. Rose mann t
Direktor des physiologischen Instituts in
Münster i. W. Zweite Hälfte. Verlag Urban &
Schwarzenberg , Berlin -Wien 1905.
Die 2. Hälfte der jetzt vollendeten 11. Auf-
lage dos Landoisschen Lehrbuches verdient im
vollsten Maße dasselbe Lob, welches in diesen
Heften der ersten gezollt wurde. Besonders an-
genehm berührt bei der Durchsicht des Ganzen
die gleichmäßig sorgfältige und liebevolle Behand-
lung eines jeden einzelnen Kapitels. Ob sich
Autor und Neubearbeiter mit Verdauung oder
mit Gehirnphysiologie beschäftigen, niemals wird
man den Eindruck haben, daß der eine Abschnitt
auf Kosten des anderen zu kurz behandelt ist,
oder irgend einer breiter besprochen wird, als
dem Umfange des Ganzen angemessen wäre.
Einen besondern Dank hat sich Prof. Rose-
mann auch dadurch verdient, daß er eine bis
dahin empfindliche Lücke in dem klassischen
Lehrbuch ausfüllte, indem er ein sorgfältig be-
arbeitetes Literaturverzeichnis beifügte, dessen
Anordnung — kapitelweise Aufführung der ein-
schlägigen Literatur am Schlüsse des Ganzen —
als außerordentlich bequem und praktisch zu
bezeichnen ist. Das altbewährte Mittel, im Texte
das unbedingt Notwendige von den mehr speziellen
Hinzufügungen durch verschieden großen Drnck
zu unterscheiden, ist geschickt angewendet. Druck
und Illustrationen entsprechen durchaus den an
ein Lehrbuch zu stellenden Anforderungen.
Nach allem vorher Gesagten ist das Bach
ebensowohl dem mit einigen Vorkenntnissen ver-
sehenen Studierenden als auch dem praktischen
Arzte, der seine Kenntnisse auffrischen und er-
weitern will, wie auch schließlich dem Physio-
XIX. Jahrgang.]
November 1905.J
Literatur.
599
logen, der ein kleineres Nachschlagewerk zur
Hand haben will, auf wärmste zu empfehlen.
Th. A. Maass.
Die Kinderernährung im Säuglingsalter und
die Pflege von Mutter und, Kind. Wissen-
schaftlich und gemeinverständlich dargestellt
von Professor Ph. Biedert V. Auflage bei
Ferdinand Enke, Stuttgart 1905.
„Zur fünften Auflage wurde dies Buch,
trotz wachsenden Mitbewerbs anderer, geführt
durch die noch immer sich zeigende Gunst der
Leserinnen, .... ebenso wie durch sein stets
gleiches Bestreben, den Fachmännern alles, was
Wissenschaft und Praxis gebracht haben, zu
bieten." Der freudige Stolz, der aus diesen das
Vorwort der Neuauflage einleitenden Worten
spricht, er hat schon allein eben durch die
Tatsache der notwendig gewordenen fünften Auf-
lage des bekannten Buches seine volle Berechti-
gung. Welche Fülle von literarischem Material,
von praktischer Erfahrung spricht aus jedem
Kapitel belehrend und anregend zu uns! . . .
Die hohe Kindersterblichkeit im ersten Lebens-
jahr, diese jetzt mehr denn je die Regierungen,
leitenden Kreise und Arzte beschäftigende Er-
scheinung; die verschiedenen, ebenso den National-
ökonomen wie den Arzt interessierenden Einflüsse
auf die Höhe dieser Mortalität und wiederum
die Rückwirkung der Sterblichkeit auf das Volks-
wirtschaftsleben und die daraus sich ergebenden
Aufgaben für den einzelnen wie vor allem für
den Arzt, die Mittel zur Eindämmung der Kinder-
sterblichkeit; diese und eine große Fülle ähnlicher
Fragen finden im ersten Kapitel ihre Erledigung.
Das nächste Kapitel bespricht die zur Auf-
nahme und Verarbeitung der Nahrung dienenden
Organe des menschlichen Körpers, ihre physio-
logischen Funktionen ; weiterhin die verschiedenen
Nahrungsmittel der Kinder, besonders die Unter-
schiede zwischen Menschen- und Tiermilch in
ihrer Zusammensetzung und in ihrem Einfluß
auf den Stoffwechsel des Kindes. Gebiete, die
von jeher mit besonderer Vorliebe von Biedert
bebaut und erweitert wurden, auf denen wir ihm
große Errungenschaften und Anregungen zu ver-
danken haben.
Das dritte Kapitel verweilt zunächst beim
Stillen durch die eigene Mutter, den Vor-
bereitungen zur Erreichung dieses für das Kind
so lebenswichtigen Zieles; dann bei der Gesamt-
pflege des Neugeborenen und der Mutter während
der Stillperiode; den vielen kleinen, aber für
das Wohl beider nicht unwichtigen Verhaltungs-
maßregeln. Weiterhin begleiten die Ausführungen
den Entwicklungsgang des Kindes, die Ent-
wöhnung, Impfung, Zahnung etc. Anschließend
an die Erörterung der Gründe gegen das Stillen
und den hierdurch notwendigen Ersatz der
Mutterbrust, der, wenn möglich, nicht in der
Wahl einer Amme bestehen soll, deren für das
Süllen unerläßliche Eigenschaften jedoch im
einzelnen aufgeführt werden. Biederts Be-
merkung zu diesem viel erörterten Thema ver-
dient auch hier zitiert zu sein, daß „es der
Gedankenlosigkeit öfters nahegelegt werden muß,
daß jede unnötig getroffene Ammenwahl eine
statistisch festgestellte Beteiligung an einer
Kindestötung ist. Auf Grund solcher Erwägungen
zieht Biedert die künstliche Ernährung unter
gewissen Voraussetzungen vor. Das Wesen der
künstlichen Ernährung, besonders mit Kuhmilch,
die verschiedensten Arten ihrer Zubereitung, die
guten und schlechten Surrogate der Kuhmilch-
ernährung, deren jedes von dem Autor nach
Wert und Erfolg genau abgewogen wird, bilden
den Inhalt des vierten, und die Störung der
Ernährung jenen des fünften Kapitels mit be-
sonderer Bevorzugung der Magendarmkrankheiten
des Säuglings und ihrer diätetischen Behandlung.
Ein Rückblick (6. Kapitel) kommt zu dem weit-
ausschauenden Schlüsse, daß die Frage der
Kinderernährung, so beschränkt sie zunächst
erscheint, eine sehr vielgestaltige ist, eine Frage
der Volkswirtschaft, der Humanität und der
Sittlichkeit oder, umfassend gesagt, nur eine
Frage, die Frage nach der Entwicklung des
menschlichen Geschlechts. Diese Gesichtspunkte
und nicht nur rein ärztliche Motive leiteten
Biedert in der Abfassung seines Buches, das
schon in seiner ersten Auflage Dinge wie die
gemischte Ernährung, die Benützung aseptischer
Rohmilch, das Einzelflaschen verfahren, die Ab-
wägung der einzelnen Nahrungsbestandteile nach
ihrem Nähewert, die Stoffwechselgleichung, Prüfung
der Vollmilch etc. und vieles andere, was jetzt
scheinbar neu in der Literatur und Praxis auf-
lebt, in den Kreis seiner Betrachtungen gezogen
hat. Die überreiche Fülle des Wissens, den
großen Umfang des hier erschöpfend behandelten
Gebietes illustriert am besten die vom Verf.
benützte und im Anhang einzeln aufgezählte
Literatur, die bis in die jüngste Zeit hinein in
dem mit recht guten Illustrationen versehenen
Buche Verwertung fand, das sich ja ebenso wie
seine Vorgänger die hohe und schwere Aufgabe
gestellt hat, wissenschaftlich und doch gemein-
verständlich zugleich zu sein, ein fast unmöglich
erscheinendes Problem, dessen Lösung Biedert,
wie man ihm bezeugen darf, in der vollständigen
Umarbeitung der früheren Auflagen gleichsam
zu einem „neuen Werk" gefunden hat. Der
praktische Arzt wird in ihm wie der Forscher
tiefe Belehrung und reiche Anregung finden ; der
Inhalt einzelner Kapitel besonders wird auch dem
gebildeten Laien zugänglich und förderlich sein.
Homburger (Karlsruhe).
Leitfaden zur Pflege der Wöchnerinnen und
Neugeborenen. Zum Gebrauche für Wochen-
pflege- und Hebammenschülerinnen. Von Dr.
Heinrich Walther, Professor an der Uni-
versität Gießen, Frauenarzt und Hebammen-
lehrer. Mit einem Vorwort zur I. Auflage von
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Hermann Loh lein +.
Zweite vermehrte und verbesserte Auflage.
9 Figuren im Text. 25 Temperaturzettel in
Briefumschlag. Wiesbaden, J. F. Bergmann,
1905. 8°. 161 S. Preis eleg. geb. M. 2,40.
Der von einem hervorragenden Fachmanne
mit wohltuender Klarheit und ungewöhnlichem
Geschick abgefaßte Leitfaden hat schon bei
seinem ersten Erscheinen die verdiente Beach-
tung und allgemeine Anerkennung gefunden.
Die nach wenigen Jahren erforderlich gewordene
600
Praktische Notixen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
[rheropantbebe
Monatshefte.
Neuauflage ist entsprechend den modernen An-
schauungen und Fortschritten der Wissenschaft
vielfach ergänzt und verbessert worden. So
sind die wichtigen Abschnitte über Desinfektion,
über die Pflege der Wöchnerinnen und Pflege
des Kindes mit reichlichen Zusätzen versehen
worden. Und ein ganz besonderer Wert ist dem
Umstände zuzuschreiben, daß die Lehren des
erst kürzlich erschienenen preußischen Hebammen-
lehrbuches die tunlichste Berücksichtigung ge-
funden haben. Ohne Übertreibung darf wohl
gesagt werden, daß das in jeder Beziehung aus-
gezeichnete Werkchen die wärmste Empfehlung
verdient, daß es sicherlich nicht nur in Heb-
ammen- und Pflegerinnenkreisen hochwillkommen
sein wird, es wird auch von vielen Fachgenossen
mit großem Interesse und Nutzen gelesen werden.
liäbow.
Die Verhütung: und operationslose Behandlung
des Gallensteinleidens. Gemeinverständliche
Darstellung von Dr. F. Kuhn, dir. Arzte am
Elisabeth krankenhause in Cassel. 3. u. 4. vcrm.
u. verb. Aufl. München 1905. 0. Gmelin.
Preis M. 1,60.
In der Arbeit, die das 10. Heft der Samm-
lung „Der Arzt als Erzieher" bildet, bringt
Kuhn seine z. Z. in der „Berliner Klinik*
niedergelegten Ansichten in populärer Form zur
Darstellung. Wir haben unserem Referat im
Märzheft außer der Anerkennung, die das modi-
fizierte Urteil über die Ostertagsche Binde
und die Erwähnung des Rose-Weißmannschen
Heftpflasterverbandes bei Enteroptose verdient,
nur noch den Wunsch beizufügen, daß die an-
regend, klar und sachlich gehaltenen Ausfüh-
rungen des Verfassers bei den vielen mit dem
genannten Leiden behafteten Patienten segens-
reich wirken und namentlich auch ihnen die
Augen öffnen möchten über die gerade auf
diesem Gebiete so zahlreichen Charlatane und
Kurpfuscher. Mit Recht macht Kuhn hier u. a.
auf das Lächerliche der Befriedigung und Ge-
nugtuung aufmerksam, mit der das Volk das
Abgehen von Gallensteinen, sei es mit oder ohne
ärztliche Beihilfe begrüßen, als ob das etwas für
die Heilung und das Aufhören der Anfälle be-
wiese, so lange die Grundursache nicht ge-
hoben ist. Esch (Bendorf).
Praktiache Notizen
and
lpfehleiiflwerte Arzneiformeln.
Bemerkung zu der Behandlang akuter and chro-
nischer Gelenkerkrankungen nach Sonder-
mann. Von Dr. Weis flog (St Gallen).
In No. 8 dieser Monatshefte wird über eine
„neue", von Sondermann angegebene Behand-
lung chronischer und akuter Gelenkerkrankungen
berichtet. Es sollen täglich nach Abzapfung des
Eiters bis 4 Borsäurespülungen gemacht werden.
Vielleicht ist es gestattet, einige meiner bezüg-
lichen Erfahrungen ebenfalls kund zu tun.
Ich habe im Verlaufe der letzten 10 Jahre
öfters Gelegenheit gehabt, bei tuberkulöser und
gonorrhoischer Gonitis Punktionen, bei letzterer
auch Auswaschungen mit Kochsalzlösung vor-
zunehmen. Trotz sorgfältiger Ausführung war
fast jedesmal die Reaktion eine recht bedeutende,
selbst bei einfacher Punktion ohne Auswaschung.
Sie schien mir erklärlich durch die zu plötzlich,
gesetzte intraartikuläre Druckverminderung. Auch
bei subakuten gonorrhoischen Arthritiden, bei
welchen jew eilen nicht reiner Eiter, sondern ein
kokkenhaitiges, mit körnigem Leukozytendetritus
versetztes, trüb -seröses Exsudat entleert und
sterile, warme physiol. Kochsalzlösung — die
schwerlich mehr reizt als Borsäure — zur Aus-
waschung benutzt wurde, kamen einige äußerst
heftige Reaktionen vor. In einem vor kurzer
Zeit beobachteten Falle von Gonitis gonorrhoica,
bei dem sich die Indikation zur Punktion und
Auswaschung aus dem septischen AUgemein-
zustande ergab, verlief der kleine Eingriff unter
Benützung von Kochsalzlösung und Dieulafoys
Aspirateur ganz gemütlich. Eine halbe Stunde
nachher schon begann nach Aussage der Um-
gebung unter heftigen Schmerzen die Reaktion,
und nach 3 Stunden fand ich den Patienten
stöhnend mit stark flektiertem, prall fluktuierendem
um das 3 fache vergrößertem Kniegelenke, das
den Verband zu sprengen drohte. Unter Eis
ging' die Reaktion innerhalb 24 St. beträcht-
lich, innerhalb 4 Tagen ganz zurück. Erfolg
im übrigen für den Allgemeinzustand und auch
funktionell brillant.
Punktion und Auswaschung der Gelenke
mit antiseptischen Flüssigkeiten (3 proz. Karbol-
säure) an sich sind alte bekannte Methoden
(vergl.Rinne und Eulen bürg, Real enzyklopädie,
pag. 105). Neu ist vielleicht die Verwendung
der Borsäure in größeren Quantitäten und die
Benutzung einer Art Potin. Es scheint mir
aber der Dieulafoysche Apparat in der Hand-
habung mindestens ebenso einfach zu sein. Im
übrigen habe ich mit ganz vereinzelten Koch-
salzspülungen unter sorgfältiger Indikations-
stellung prächtige Resultate gesehen. Aber —
und das hervorzuheben, ist der Zweck dieser
Zeilen — dem Praktiker dürfen diese Methoden
nicht empfohlen werden, ohne zu betonen, daß
event. sehr unangenehme reaktive Erscheinungen
zu erwarten stehen, und sie deshalb nur da zur
Anwendung kommen sollen, wo die äußeren Ver-
hältnisse auch die Möglichkeit einer ausgiebigen
Kapselspaltung zur endgültigen Herabsetzung des
Innendruckes und regelrechten Gelenkdrain age
bieten.
Wenn also ein neues Prinzip der Gelenk-
behandlung im Sondermann sehen Verfahren
kaum gegeben ist, so bleibt seinem Autor doch
das ungeschmälerte Verdienst, als erster wieder
den hohen Wert der Gelenkauswaschungen ver-
kündet zu haben.
Hustenpastillen bei Pertussis, Asthma und
Bronchialkatarrh. Von Dr. med. W. Zeuner,
praktischem Arzt in Berlin.
Vielfach ist heute noch im Volke die
Meinung verbreitet, daß gegen Keuchhusten
XIX. Jahrgang."]
November I9Q5.J
Praktische Notixen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
601
nichts zq machen sei, und doch stehen jetzt
dem Arzte eine ganze Reihe von Mitteln zu
Gebote, die von günstigem Einflasse auf das ge-
fürchtete Leiden sind, z.B. Bromoform, Aristochin,
Thymobromal, Pertussin, Konvulsin, Antitussin
n. s. w. Es hat sich eben unleugbar gezeigt,
daß der Stickhusten ebenso wie andere Krank-
heiten einer medikamentösen Behandlung zu-
gänglich ist. Ein neues diesbezügliches Präparat,
welches nach meinen Angaben in der Viktoria-
Apotheke, Berlin SW, Friedrichstr. 19, her-
gestellt wird, sind Zeuners Hustenpastillen von
Dr. Lab ose hin. Sie enthalten Thymus vulgaris,
Th. Serpyllum, Resina Guajaci und Anästhesin
und sind vermöge ihrer Bestandteile imstande,
nicht nur beruhigend und antispasmodisch, sondern
auch konstant und zuverlässig schleimlösend auf
die zur Reflexauslösung gereizten und mit zähem
Sekret überladenen Schleimhäute bei Pertussis
zu wirken. Spieß1) (Frankfurt a. M.) beobachtete
nach Einblasungen von Anästhesin in den Larynx
bei Keuchhusten Abnahme der quälenden Husten-
ahfälle, was mich bestimmte, den Hustenpastillen
Anästhesin zuzusetzen. In Pastillenform kommt
die Wirkung der einzelnen, oben angegebenen
Bestandteile recht zur Geltung, weil sich die
einzelnen Medikamente hierbei im Munde ganz
allmählich lösen, und sie sich dem Rachenschleim
fast andauernd oder wenigstens häufig genug
intensiv beimengen, um im Halse den Husten-
reiz bekämpfen zu können. Daß dem Thymian
«ine ganz vorzügliche Wirkung als Expectorans
zukommt, ist bekannt, während wir die Em-
pfehlung des Guajakharzes als Reinigungsmittel
für die Halsschleimhäute Semon (London) ver-
danken.
Läßt man von diesen Hustenpastillen je
nach der Schwere des Falles halbstündlich oder
1 — 2 stündlich eine Pastille langsam im Munde
zergehen, so werden die heftigen Husten attacken
und das Erbrechen bald aufhören, der konvul-
sivische Charakter des Stickhustens verliert sich
schnell, und die Expektoration wird leicht und
locker, so daß das entsetzliche Würgen, die
Erstickungsanfälle und das Blauwerden völlig
wegfallen. In mehr als 20 Fällen von Pertussis
habe ich dies ohne jede weitere Medikation
konstatieren können. Dabei sind die Husten-
pastillen unschädlich und von angenehmem Ge-
schmack und werden daher auch von kleinen
Kindern als medizinische Art von Bonbons nicht
ungern genommen. Ein kleines Mädchen von
2 Jahren, welches immer neidisch war, wenn
«ein Brüderchen diese Plätzchen bekam, und
manchmal deshalb weinte, verzehrte einmal
heimlich in einer halben Stunde 35 Stück davon
ohne irgendwelchen Nachteil, nicht einmal Dick-
darmkatarrh, der nach längerem Gebrauch von
Pertussin sich oft bemerkbar macht, trat auf.
Natürlich müssen kleine Kinder erst lernen,
die Pastillen nicht hinunterzuschlucken, sondern
im Munde langsam zerlaufen zu lassen, aber das
lernen sie gewöhnlich sehr gern und schneller,
als man denkt. Ganz kleine Kinder von 1 Jahr
oder darunter, die das noch nicht fertig bringen,
') Münchener med. Wochenschr. 1902, No. 39.
läßt man entweder abgebröckelte Stückchen der
zerkleinerten Hustenpastillen nehmen oder die
Plätzchen in etwas Milch aufgelöst schluckweise
trinken. Daß sich die Kleinen dabei ver-
schlucken, wie manche fürchten, ist nicht der
Fall, im Gegenteil werden Kinder mit diesen
Arznei-Bonbons bald vertraut und wenden sie
dann richtig an. Unangenehme Nebenwirkungen
kamen dabei nicht zur Beobachtung.
Schon nach wenigen Tagen, ja oft schon
am 2. Tage nach Gebrauch dieser Hustenpastillen
wird der Keuchhusten insofern günstig beeinflußt,
als Zahl und Gewalt der Anfälle rapide ab-
nehmen, und in kurzer Zeit auch der dann noch
restierende lockere Husten mehr und mehr nach-
läßt, so daß also Komplikationen und ein Weiter-
schreiten der Infektion in die tieferen Abschnitte
des Respirationsapparates verhütet werden. Wir
stehen demnach jetzt dem Keuchhusten gegen-
über nicht mehr so machtlos da wie früher,
sondern können den Kampf gegen diese äußerst
verhaßte Krankheit mit gutem Rüstzeug getrost
aufnehmen, auch wenn sich Luftveränderung
nicht durchführen läßt.
Die Zusammensetzung der Hustenpastillen
läßt es leicht begreiflich erscheinen, daß die-
selben auch bei Emphysem, Bronchialasthma
sowie mitunter auch bei Kehlkopf- und Bronchial-
katarrhen und Phthisis in hervorragendem Maße
Stillung des Hustenreizes, Leichtatmigkeit und
Abnahme der Sekretion erzielen, denn neben
der expektorierenden und die Atmung sofort
merkbar anregenden Wirkung des Thymians
bietet das Präparat ein für die Schleimhäute
sehr erwünschtes Reinigungsmittel im Guajak-
harz, welches auch die Sekretion in Schranken
hält, und ferner das Anästhesin, welches die
Reflexerregbarkeit herabsetzt, so daß der an-
dauernde Hustenreiz bald nachläßt.
Vielfach habe ich nicht nur Kehlkopf- und
Bronchialkatarrhe, sondern speziell das sonst sehr
hartnäckige Emphysem alter Leute mit profuser
Schleimbildung, Kurzatmigkeit und höchst an-
strengenden Hustenanfällen sowie Bronchialasthma
auch bei Kindern nach dem Gebrauch der Husten-
pastillen überraschend schnell gänzlich heilen
sehen, so daß alle Symptome davon beseitigt
waren, und die Atmung darnach in wohltuender
Weise frei und unbehindert von statten ging,
während vorher die Nächte wegen der großen
Atemnot meist außer Bett sitzend verbracht
werden mußten, öfters trat dieser günstige Er-
folg schon nach Verbrauch von 2 Schachteln
ein.
Zur Kenntnis des „Valofln1*. Von Dr. Modo
(Karlshorst).
Auf Veranlassung der „Chemischen Fabrik
Helfenberg" habe ich das „ Valofln", ein von
derselben aus Baldrian und Pfefferminz her-
gestelltes Präparat, einer praktischen Prüfung
unterzogen. Die beiden Drogen sind altbekannte
und beliebte Bestandteile des Arzneischatzes,
und das Interesse für dieselben gibt sich neuer-
dings in einer Anzahl aus denselben hergestellter
Präparate kund; ich denke im Augenblick an
Validol, Valyl, Bornyval, Forman. Es lag
602
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
[Therapeutische
L Monatshefte.
daher der Fabrik im wesentlichen daran, die
Bekömmlichkeit und Schmackhaftigkeit des Mittels
festzustellen. Diese Prüfung ist, wie ich vor-
wegnehmen will, nicht ungünstig ausgefallen.
Ich verabfolgte das Mittel zu je 15 Tropfen auf
eine Tasse heißen Wassers mit etwas Zucker.
In dieser Form erinnert der Geschmack lebhaft
an den des Baldrianthees, für welchen es einen
schnell herzustellenden, bequemen und billigen
Ersatz darstellen soll. Ich versuchte das Mittel
an 15 Personen. Es handelte sich bei ihnen in
der Hauptsache um Neurasthenie bezw. um
Erregungszustände sekundärer Art, insbesondere
Schlaflosigkeit. Von 13 dieser Personen wurde
das Mittel anstandslos getrunken, und es erfolgte
auch keine sichtbare üble Nebenwirkung; nur
einmal wurde es von einer 34 jährigen Frau,
die an einer hochgradigen Erregung von fast
maniakalischer Art litt, sofort wieder ausge-
brochen, ein anderes Mal wurde es von einem
61 jährigen Manne, der an Dementia senilis mit
Tobsuchtsanfällen litt, energisch abgelehnt mit
dem Bemerken, es schmecke schlecht. Der
Kranke weigerte sich, es noch einmal zu ver-
suchen; auch seiner Ehefrau, die davon kostete,
mißfiel der Geschmack. Sonst wurde das Mittel
oft sogar gern genommen, zuweilen wochenlang
täglich, und mehrfach günstige Veränderungen
des Krankheitszustandes auf dasselbe zurück-
geführt. So konstatierte ein 29 jähriger Reit-
bursche mit schwerer Neurasthenie und Anämie,
daß sich seine Magen- und Herzbeschwerden
danach besserten. Ein 38 jähriger Lithograph
mit Neurasthenia cordis fand, daß das Mittel
sich sehr gut nehmen läßt und sehr angenehm
]*6t. Ein 24 jähriger Kaufmann, der infolge
einer Lungenblutung erregt wurde, sah, daß
seine Brustbeklemmungen und Stiche regelmäßig
nach Gebrauch des Mittels, das besser als
Baldrian schmecke, nachließen. Eine 25 jährige
Verkäuferin mit Vitium cordis nahm jeden Abend
vor dem Schlafengehen eine Tasse voll und
erklärte, daß sie danach schlafen könne, während
Baldrian garnichts nützte. Eine 31 jährige
Näherin, Rekonvaleszentin nach Influenza,
anämisch und neurasthenisch, schrak im
Einschlafen häufig auf und fand, daß das
Valofin beruhigend wirkte. Auch ein 40 jähriger
Influenza- Rekonvaleszent konnte nach Gebrauch
des Mittels schlafen und war ebenfalls mit dem
Geschmack des Mittels sehr zufrieden. Das
gleiche gilt von einer 35 jährigen Frau mit
Influenza, Schlaflosigkeit und Herzklopfen, einem
38 jährigen Lehrer mit schwerer Neurasthenie,
Schlaflosigkeit und starker Reizbarkeit (seine
Ehefrau gebrauchte es mit Erfolg gegen Kopf-
schmerzen), einem 22 jährigen Bankbeamten mit
erheblicher Depression, Angstgefühl 'und Schlaf-
losigkeit und einer 25 jährigen Buchhalterin
mit nervösen Herzbeschwerden und schlechtem
Schlaf. Auch ein 52 jähriger Eisenbahnsekretär
mit schwerer Myokarditis glaubte nach der Ein-
nahme des Präparates etwas Ruhe von seinen
Beschwerden gewonnen zu haben. Es bleibe
dahingestellt, wie weit die günstigen Wirkungen
auf Zufall bezw. Suggestion beruhen; zweifellos
wurde das Mittel in der überwältigenden Mehr-
zahl der Fälle, wozu ich auch den günstigen
Gebrauch gegen Magenkrämpfe seitens eines
22jährigen Dienstmädchens rechne, gern nnd
ohne üble Nebenwirkung genommen. Es empfiehlt
sich daher, das Präparat an einer weit größern
Zahl von Fällen, als mir zu Gebote standen, za
versuchen.
Bei Oxyurls vermlcularis
empfiehlt Rahn (Münchener medizin. Wochen-
schrift, No. 16, 1905) das Gujasanol als ein in
der Verwendung einfaches und in seiner Wirkung
nachhaltiges Mittel. Das Gujasanol, das salz-
saure Diäthylglykokoll-Guajakol, scheint spezifisch
auf Oxyuren einzuwirken. Die Verabreichung
geschieht folgendermaßen: Nach Ausspülung des
Mastdarmes mit 150 ccm einer dünnen lau-
warmen Seifenlösung mittels Gummirohres wird
mit einer 4 — 5 proz. wäßrigen Gujasan Öllösung,
die 3—5 Minuten in, linker Seitenlage im Mast-
darm zurückzuhalten ist, nachgespült. Diese
Spülungen werden an drei aufeinander folgenden
Tagen vorgenommen. Bei Kindern verwendet
man zur Spülung 75 ccm und 2 — 3 proz.
Gujasan Öllösung.
Balneologlsche und physikalisch- diätetische Korse
der GroßherzogL Badanstalten-Kommisslon in
Baden-Baden.
Wie in den vorhergehenden Jahren wurde
auch in diesem Jahre diese Institution von selten
der Ärzte mit großem Beifall aufgenommen.
Eine stattliche Anzahl von Teilnehmern aus
allen Gauen Deutschlands und aus der Schweiz
fanden sich auf die Einladung der Großh. Bad-
anstalten-Kommission, an deren Spitze Herr
Geheimrat Haape sowie die Herren Medizinalrat
Dr. N e u m a n n und Hofrat Dr. Obkircher stehen,
ein, um die Gelegenheit zur Bereicherung ihres
Wissens auf dem Gebiete der Balneologie nnd
der physikalisch -diätetischen Heilmethoden zu
benützen.
Die technische Organisation war in den
Händen der Herren Hofrat Dr. W. H. Gilbert
und Dr. Curt Hoff mann, Baden-Baden. Namen
der Vortragenden wie Geheimrat Professor Dr.
Engl er- Karlsruhe und Geheimrat Professor Dr.
Fl ein er- Heidelberg bürgten schon im voraus
für den interessanten Inhalt der theoretischen
Abteilungen, während die Baden-Badener Arzte
an der Hand der mustergültigen Heilanstalten
Friedrichsbad, Augustabad, Landesbad und In-
halatorium die praktischen Demonstrationen in
sachgemäßer Weise übernommen hatten.
Von allen Teilnehmern wurde lebhafte Be-
friedigung über die Fülle des Gebotenen und
die Ansicht ausgesprochen, daß diese Kurse zur
Fortbildung der Arzte wesentlich beitragen, da
sie nicht nur theoretisch anregend, sondern auch
sehr erfolgreich durch die Praxis für die Praxis
wirken.
Für die Redaktion verantwortlich: Dr. A. Langgaard in Berlin SW.
Verlag von Julius Springer in Berlin N. — Universitäts-Buchdruck erei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin X.
Therapeutische Monatshefte.
1905. Dezember.
Originalabhandlüngen.
(An« dem HH*niau-San&toriam, Dansig.)
Über moderne Digitalis-Präparate«
Von
Dr. R. Freund.
Seitdem die Fortschritte der Chemie es
uns ermöglicht haben, die wirksamen Be-
standteile therapeutisch verwendeter Drogen
chemisch rein darzustellen, ist die Anwendung
der Drogen eine verhältnismäßig seltene, denn
der Arzt wird stets vorziehen, die genau
dosierbaren und in ihrer Wirksamkeit kon-
stanten chemischen Produkte anzuwenden.
Stets wird man eine Rückkehr zur Behand-
lung mit Drogen resp. den aus ihnen ge-
wonnenen Thees, wie sie vor einigen Jahren
in Berlin von bestimmter Seite wieder ins
Leben gerufen wurde, für einen gewaltigen
Rückschritt ansehen müssen. Die einzige
Droge, die bisher ihren Platz stets behauptet
hat, ist die Folia Digitalis. Trotzdem seit
nunmehr ca. 25 Jahren die einzelnen wirk-
samen Bestandteile der Digitalis purpurea
bekannt sind, und auch aus anderen Pflanzen
eine ganze Reihe ähnlich wirkender „Digi-
taline" hergestellt werden konnten, haben
sich hier das aus der Droge gewonnene
Infus oder die pulverisierten Blätter ihren
Platz erhalten und konnten bisher durch die
chemisch reinen Produkte nicht verdrängt
werden. Die wirksamen Substanzen der
Folia Digitalis sind nach Schmiedebergs (l)
Arbeiten das Digitalin, das Digitalein und
das Digitoxin, ferner das Digitonin. Die
Wirkung der Substanzen auf den tierischen
Organismus ist die für die Digitalis charak-
teristische Herzwirkung, die ich hier nur
mit wenigen Worten anführen will: Die
Pulsfrequenz wird bei kleinen Dosen herab-
gesetzt, bei großen Dosen beschleunigt. Der
Blutdruck wird gesteigert durch eine der-
artige Änderung der Elastizitätsverhältnisse
des Herzmuskels, ohne daß die Kontraktilität
beeinträchtigt wird. *
Auch die Muscularis der Gefäße wird
beeinflußt, indem die Gefäße sich kontra-
hieren, dadurch tritt eine Zunahme der
Arterienspannung auf. Werden zu große
Dosen gegeben, so sinkt der Blutdruck wieder,
Th. M. 1905.
der anfangs verlangsamte Puls wird schneller,
die Herztätigkeit wird arhythmisch und hört
schließlich ganz auf, indem das Herz in
Diastole stehen bleibt. Schmiedeberg
kennzeichnet danach die drei Stadien:
1. mit verlangsamtem Puls und erhöhtem
Blutdruck,
2. mit beschleunigtem Puls und erhöhtem
Blutdruck,
3. mit arhythmischem Puls und sinkendem
Blutdruck.
Diese drei Stadien sind für alle zu der
Digitalisgruppe gehörenden Körper charak-
teristisch.
Die Tierversuche haben ergeben, daß der
durch Arbeit maximal erschöpfte Herzmuskel
keine neuen Kräfte durch Zufuhr von Digi-
talispräparaten entwickeln kann. Es kommen
also nur die Reservekräfte des Herzens bei
Anwendung der Digitalis zur Ausnutzung.
Sind diese bereits erschöpft, so kann die
Digitalistherapie keine Wirkung mehr haben.
Die eintretende Pulsverlangsamung beruht
auf Erregung des Vagus. Es muß dazu der
vom Vaguszentrum unterhaltene Tonus vor-
handen sein (2).
Brandenburg (3) hat nachgewiesen, daß
die Digitaline die Eigenschaft haben, den
Herzmuskel gegen äußere Reize abzustumpfen.
Es läßt sich danach die Tatsache feststellen,
daß die Digitalis in vielen Fällen die Un-
regelmäßigkeit der Herztätigkeit beseitigt,
eine Verminderung der Anspruchsfähigkeit
des Herzens auf krankhafte Reize zurück-
zuführen, indem das Herz auf Reize, welche
sonst Extrasystolen auslösen, nicht mehr
reagiert.
Gottlieb und Magnus (4) haben be-
sonders sich mit der Gefäßwirkung der Digi-
taliskörper befaßt und nachgewiesen, daß
die Gefäßwirkung beim Digitoxin eine allge-
meine ist, während sie sich beim Digitalin,
Strophanthin und Konvallamarin mehr auf
das Splanchnicusgebiet beschränkt. Es wird
somit von Digitoxin durch die allgemeine
Gefäßverengerung das Blut von der venösen auf
die artierelle Seite des Kreislaufs verlagert.
Bei den anderen Digitaliskörpern wird es
45
604
Fr «und, Modarne Digitalis- Präparate,
[Therapeutische
aus dem Körperinnern nach der Peripherie
verdrängt. Es sind diese Daten wichtig, da
sie zeigen, daß die verschiedenen Körper
verschieden wirken, wobei sich vielleicht
später einmal, bei genauer Kenntnis der durch
lokale Stauung bedingten Krankheitserschei-
nungen, eine wirksame Therapie begründen
läßt. Gottlieb und Magnus haben weiter
nachgewiesen, daß das Strophanthin eine Zu-
nahme des Blutstromes durch das Gehirn
bewirkt (5), während das Splanchnicusgebiet
kontrahiert wird.
Durch die eintretende Blutdrucksteigerung
werden die Kapillaren stärker vom Blut
durchströmt. Außer der Herzwirkung wird
auch der Gefäßtonus durch die Digitalis-
präparate beeinflußt, und zwar am stärksten
durch die Digitaliskörper, schwächer durch
die Strophanthuskörper (6), (7), welche sich
überhaupt durch Ausbleiben des Vaguereizes
von den eigentlichen Digitaliskörpern unter-
scheiden, mit denen sie sonst gleiche Wir-
kung haben.
Nach Schmiedeberg beruht die Herz-
wirkung auf Veränderung des Elastizitäts-
verhältnisses des Herzmuskels.
Ein Einfluß der Digitalis auf die Re-
spirationsorgane wurde von Hofbauer (8)
nachgewiesen, der eine Verpflanzung der
Atmungskurve im Marey sehen Kardiopneu-
mographen nachwies, die sich sowohl auf
Inspiration als Exspiration erstreckt.
Trotzdem die Digitalis ihrer Wirkungs-
weise nach als auch ihrer chemischen Zu-
sammensetzung nach einen der genauest be-
kannten Körper des Arzneischatzes darstellt,
ist eine einheitliche Anschauung über die
Anwendung noch nicht gezeitigt. Trotz der
vielen Versuche, an Stelle der Digitalis-
blätter die wirksamen Substanzen zu setzen,
sind die erfahrensten Praktiker immer wieder
zum Gebrauch der reinen Blätter zarück-
gekehrt, und zwar wird von den meisten
das Infus oder die pulverisierten Blätter
empfohlen, wobei sie im allgemeinen [Rom-
berg (9), J.V.Bauer (10) undNaunyn (ll)]
annahmen, daß 1 g des Pulvers 2 g im Infus
entspricht, so daß in zwei bis drei Tagen
2 — 4 g im Infus oder 0,8 — 1,5 g in Substanz
gegeben werden.
Es war dies die Medikation, welche stets
die sichersten Erfolge zu haben scheint, trotz-
dem sie häufig versagte. Erst in neuerer
Zeit ist man darauf aufmerksam geworden,
daß dieses Versagen auf den verschiedenen
Gehalt der Droge an wirksamer Substanz
zurückzuführen ist, und hat diesem Punkte
außerordentliche Aufmerksamkeit geschenkt.
Es liegt eine ganze Reihe Publikationen
vor, die alle den letzten Jahren entstammen,
welche nachweisen, daß der Gehalt der Blätter
ein ungeheuer verschiedener ist und im Ver-
hältnis von 1 : 4 schwankt. Wie schwer
wird es, bei diesem wechselvollen Verhalten
des Präparates eine sichere Therapie bei so
unsicherer Dosierung einzuleiten! Die indi-
viduell verschiedene Reaktion auf das an-
geführte Medikament können wir ja als Ärzte
leider nicht vorausbestimmen; eines aber
sollten wir stets anstreben, genau zu wissen,
welche Mengen eines Medikamentes wir ein-
führen, um damit zunächst einmal die Reaktion
des zu behandelnden Kranken kennen lernen
und für die Folgezeit unser Handeln danach
einrichten zu können. Die Arbeiten Sieberts
und Ziegenbeins (12) haben zunächst nach-
gewiesen, daß geprüfte Drogen eine durch-
aus verschiedene Wertigkeit enthalten. Sie
suchen eine sogenannte physiologische Wert-
bestimmung einzuführen, durch Feststellung
der Wirkung der Prüfungsobjekte auf das
Froschherz, indem angegeben wurde, wieviel
Extrakt in den Lymphdrüsensack beim Frosch
injiziert werden muß, um innerhalb zweier
Stunden systolischen Herzstillstand hervor-
zurufen. Die Dosis wurde auf 100 g Frosch-
gewicht berechnet.
Durch die Versuche wurde nachgewiesen,
daß bereits die Herstellung der Infuse eine
Verschiedenheit in der Stärke bewirken kann.
Die geschnittenen Blätter zeigten eine schwä- *
chere Wirkung als die grobgepulverten, die
stärkste Wirkung wurde durch Infus aus
feinstem Pulver erreicht, das Verhalten von
geschnittenen Blättern zu grobem Pulver und
feinstem Pulver ist nach ihren Versuchen
wie 2 : 1,5 : 1.
Durch die physiologische Methode prüften
sie ihre Präparate alle 4 Wochen nach, um
sich von der Konstanz der Wirksamkeit zu
überzeugen, und ist es ihnen nach den vor-
liegenden Berichten in der Tat gelungen,
Extrakte von gleicher Zusammensetzung zu
gewinnen.
Gewiß ist diese Möglichkeit der physiolo-
gischen Wertbestimmung der Infuse gegeben,
doch ist die Methode eine umständliche und
noch immer nur eine angenäherte. Eine
weitere Arbeit, welche zeigt, wie verschieden
der Gehalt der Digitalisblätter an wirksamen
Substanzen ist, ist die Arbeit Fockes (13).
Die Arbeit ist besonders auch dadurch inter-
essant, weil sie nachweist, daß die Wirksam-
keit der Digitalis im Herbste, wo frisch ge-
sammelte Blätter in Gebrauch kommen, eine
weit kräftigere ist als im Frühjahr, wenn
die Droge gelagert ist. Es gelang Focke,
sogar an Hand der über Digitalis vor-
liegenden Kasuistik dieses Verhalten nach-
zuweisen. Wenn nun aber die Droge schon
XIX. Jahrgang.!
Deyrober I90&.J
Preuod, Moderbe Digitalis-Präparat«.
605
im Verlauf eines Jahres sich im Herbst vier-
mal so wirksam zeigt wie im Frühjahr, wie-
yiel mehr wird sie erst durch jahreslanges
Liegen einbüßen, was doch in Apotheken, in
denen der Gebrauch nicht sehr groß ist, vor-
kommen kann.
Man hat versucht, die Verschiedenheit
4er Infnse darauf zurückzuführen, daß die
Substanz, welcher man die größte Wirksam-
keit zuschrieb, das Digitoxin, nur in geringer
Menge in die Lösung überging, jedoch hat
Siebert (14) versucht, aus dem Rückstand
bei Herstellung von Digitalis -Infusen noch
Digitoxin mit Alkohol zu extrahieren, konnte
jedoch keine wirksame Substanz mehr ge-
winnen. Die Tatsache steht fest, daß die
Verschiedenheit an wirksamen Substanzen bis
zu 100 Proz. betragen kann.
Eine trockene Droge kann durch Zu-
sammensetzung noch weit mehr verschlechtert
werden. Focke hat in seinen Untersuchungen
zwischen den im September frisch gesammelten
Blättern und denselben Blättern im Juni
des folgenden Jahres verschiedentlich Unter-
schiede bis zu 400 Proz. gefunden. Dabei
ist wohl auch zu berücksichtigen, daß sich
bei aufbewahrten Präparaten schädliche Zer-
setzungsprodukte bilden, von denen Fer-
rier (15) in dem Digitaliresin und Toxiresin
zwei vom Gehirn aus krampferregende Sub-
stanzen nachwies.
Schmiedebergs hervorragende Arbeit
über die Bestandteile der Digitalis erschien
im Jahre 1874. Schon vorher existierten
Digitalispräparate, Digitaline amorphe, so
auch die französischen von Homolle und
Quevenne dargestellten und Digitalin ge-
nannten Präparate, ferner das sogenannte
Digitalinum crystallisatum Nativell.
Schmiedeberg wies nach, daß es sich
bei diesen Präparaten nicht um einen ein-
heitlichen Körper handle, sondern um eine
Menge verschiedener Körper, die seither und
besonders durch Schmiedebergs Unter-
suchungen genau bekannt wurden.
Das Digitoxin ist in Wasser unlöslich,
muß also in alkoholischen Lösungen ge-
geben werden. Es ist von allen Substanzen
das häufigste und wirkt stark örtlich reizend.
Subkutan lassen sich die beiden Mittel wegen
Gefahr eintretender Abszesse nicht anwenden.
Dazu steht ferner der hohe Preis einer allge-
meinen Anwendung noch hindernd im Wege.
Die übrigen Digitaline, besonders aber die
französischen Präparate, sind in ihrer Zu-
sammensetzung so inkonstant und daher in
ihrer Wirkung so schwankend, daß sie vor
den Folia Digitalis nichts voraushaben, deren
Hauptfehler ja auch in dem verschiedenen
Gehalt an wirksamen Substanzen besteht.
Ein Nachteil aller bisher genannten Prä-
parate ist ferner ihre „kumulative Wirkung*,
welche eine länger dauernde Anwendung
größerer Dosen unmöglich machte, da der
Patient daran zugrunde gehen konnte. Man
mußte daher das Einnehmen auf wenige Tage
der Woche beschränken. Die ferneren Neben-
wirkungen wie: Nausea, Erbrechen und Durch-
fall waren ebenso allen Präparaten gemein.
Das Digitalein scheint als reines Präparat
sehr wenig angewandt zu sein. Die üblichen
Dosen sind folgende (16):
Digitoxinum crystallisatum Merck
welches in Tabletten zu je ljA mg dispensiert
wird. Die Gabe: 1/ä mg pro dosi, 2 mg pro
die, wenn es innerlich genommen werden soll.
Nach Penzoldt ist auch die Darreichung
per Klysma möglich nach der Formel:
Rp. Digitoxini crystalii-
sati (Merck) 0,01 g
Alkohol 10,0 g
Aquae destillatae 200,0 g
15 g dieser Lösung mit 100 g Wasser zum
Klistier, ein- bis dreimal täglich.
Digitalinum verum Kiliani.
Innerlich 0,002 bis 0,006 pro dosi; in
maximo 0,02 pro die. Die Formel lautet:
Rp. Digitalini ver.
(Kiliani) 0,02 g
Spiritus 10,0 g
Aquae destillatae 70,0 g
Sirupi simplicis 20,0 g
D. S.: Ein Eßlöffel voll drei- bis ein-
stündlich zu nehmen.
Subkutan sollen beide Körper verwendet
werden können, aber Entzündung an den
Einstichstellen kommt gar leicht zustande,
besonders nach dem Digitoxin.
Die übrigen in die Digitalisgruppe ge-
hörigen Herzmittel zeigen noch große In-
konstanz der Zusammensetzung wie die
Digitalis selbst, so daß sie stets hinter der
Digitalis zurückgestanden haben. Ich möchte
hier folgende nennen: Helleborus viridis
und niger, Adonis vernalis, Convellaria ma-
jaiis und den Oleander. Ihre wirksamen
Substanzen sind das Helleborin, Konvalla-
marin, Adonidin und Oleandrin. Sie finden
noch weniger Anwendung als die Digitalis-
präparate.
Bulbus Scillae und die aus ihm gewonne-
nen Präparate, werden heutzutage kaum
noch angewandt, dagegen ist ein anderes
Präparat in engeren Wettbewerb mit der
Digitalis getreten, „Strophanthus", welches
1868 von Livingßton aus Zentralafrika als
ein aus Strophanthus bereitetes Pfeilgift mit-
45*
606
Preund, Moderne Dlgitalit-Frtptrat«.
fTherapantlselie
L Monatahefte.
gebracht wurde. Die klinische Anwendung
rührt von Fräser (17) her. Ihr wirksamer
Bestandteil ist das Strophanthin. Therapeu-
tisch wird vor allem die Tinctura Strophantin
verwandt. Ähnlich wie bei Digitalis wird
die Systole des Herzens verstärkt und die
Pulsfrequenz verlangsamt. In größeren Dosen
tritt systolischer Herzstillstand ein. Die der
Digitalis zukommende Gefäß Wirkung fehlt
nach Kobert bei Strophanthus gänzlich. Zu
beobachten ist die von verschiedenen For-
schern hervorgehobene eminente Giftigkeit,
die besonders auch Eakowski (18), Schä-
del (Nauheim) (19) hervorhoben, und die ich
selbst (20) bei meinen vergleichenden Unter-
suchungen über Digitalispräparate feststellen
konnte.
Schulz (21) wies im Tierversuch nach,
daß eine subkutane Anwendung der Stro-
phanthuspräparate seiner außerordentlich hefti-
gen 'Wirksamkeit wegen kaum möglich sei,
0,0001 g pro Kilo bewirkten schon nach
5 Minuten deutliche Vergiftungserscheinungen.
Die doppelte Dosis führte schon den Tod
herbei. Ein Vorteil der Strophanthuspraparate
beruht darauf, daß keine Gewöhnung und
keine kumulative Wirkung auftritt.
Die mangelhafte Dosierung, die den
eigentlichen Digitalispräparaten anhaftet,
kommt auch den Strophanthuspräparaten zu,
die hier bei der weit größeren Giftigkeit der
Droge noch gefährlicher ist.
Man hat versucht, das Strophanthus durch
die aus ihm gewonnenen Präparate durch
das Strophanthin zu ersetzen, da die
Tinctura Strophantin sehr ungleichmäßig in
ihrer Zusammensetzung ist. Im Handel sind
2 Strophanthine, das Strophanthin Merck
und das Strophanthin Thoms, das erstere
wurde von Zerner und Low (22) versucht,
über das letztere liegt eine genaue Studie
von Schädel (23) vor, der es in Dosen
von 3 mal täglich 5 Tropfen einer 1 proz.
Lösung empfiehlt.
Auch wir haben das Mittel verschiedent-
lich angewandt und guten Erfolg gesehen,
bestehende Ödeme schwanden, die subjektiven
Beschwerden ließen nach, doch traten in
einem Fall die typischen unangenehmen
Nebenwirkungen auf, welche sich in Übelkeit
und Erbrechen äußerten, so daß wir das
Mittel aussetzen mußten. Im übrigen ist
die Wirkung wie überhaupt bei den Stro-
phanthuspräparaten eine wenig nachhaltige,
wie wir besonders in einem Falle von Mitral-
insuffizienz beobachten konnten, wo sich die
bestehenden Ödeme zwar zurückbildeten,
jedoch nach Aussetzen des Mittels, das
6 Wochen gegeben wurde, sehr schnell wieder
eintraten, während das nun angewandte
Digalen ein Stadium länger anhaltender
Wirkung herbeiführte.
Die wenig nachhaltende Wirkung der Stro-
phanthuspraparate hat den Vorteil, daß keine
kumulative Wirkung eintritt, und man sonach
bisher Strophanthus in allen den Fällen zu
geben pflegte, in welchen eine dauernde
Wirkung auf das Herz auszuüben am Platze
schien. Es liegen in dieser schnell vorüber-
gehenden Wirkung die Vorteile, aber auch die
Nachteile der Strophanthus- Medikation (24).
Es wird dadurch die Möglichkeit gegeben r
das Präparat monatelang anzuwenden. Die
im Tierversuch deutliche Digitaliswirkung der
Strophanthuspraparate schien jedoch am
Krankenbette der Wirkung der eigentlichen
Digitalis nachzustehen, wobei wohl der Um-
stand mitspricht, daß die Strophanthus-
praparate auf das Gefäßsystem nicht die der
Digitalis zukommende gefaßmuskel-kontrahie-
rende Eigenschaft besitzen.
Die reinen Präparate des Strophanthus
haben bis jetzt noch keinen großen Eingang
gefunden. Dagegen ist die Tinctura Stro-
phanthi bei organischen Herzleiden sowohl
wie bei solchen auf nervöser Basis vielfach
empfohlen und gebraucht, ob bei letzterem
Leiden mit Recht, möchte ich bezweifeln,
da hier meist indifferente Analeptica völlig
den gleichen Dienst verrichten wie das
durchaus nicht gleichgültige Strophanthus.
Bei Herzkranken ist das Strophanthus zum
Teil deswegen beliebt gewesen, weil seine
Wirkung schneller eintritt wie die der Digi-
talis, und wird deshalb häufig mit Digitalis
zusammen verordnet.
Die von Schädel angeregte Einführung
des Strophanthins Thoms in wäßriger Losung
an Stelle der Tinctura Strophanthi ist ent-
schieden beachtenswert, da wir hierdurch
eine sichere Dosierung erhalten.
Eine subkutane Injektion des Präparats
ist freilich nach den vorliegenden Tierver-
suchen nicht möglich.
Um gleichmäßige Digitalispräparate zu
erhalten, versuchte man die Zersetzung der
Blätter zu verhindern. Es liegt hierüber
eine Mitteilung von Wolff (44) vor. Um
die Glykosidabspaltung zu verhindern, wurde
die frische Droge schnell im Vakuumapparat
von jeder Feuchtigkeit befreit und mit Milch-
zucker und Amylum in Tablettenform ge-
bracht und luftdicht überzogen. Der Gehalt
an wirksamen Substanzen soll ein gleich-
mäßiger sein, und werden die von Robert
geprüften Präparate als sehr geeignet für
ärztliche Zwecke empfohlen.
Ein besonderes Präparat, welches eben-
falls das Prinzip verfolgt, bestimmte Mengen
wirksamer Substanzen zu enthalten, ist von
XiX.Jahrgaag.1
Detember 1906.J
Pro und, Moderne Difitalit-Prlperate.
607
der Firma Cäsar Lorenz in Halle hergestellt
durch frühzeitiges Trocknen der Blätter bei
80°, wobei ein konstanter Wert erzielt werden
soll. Ebenso hat die Universitäts - Apotheke
in Rostock (Dr. Brunnengräber) Digitalis-
blätter, Digitalistinktur und Strophanthus-
tinktur in pharmakodynamischem Titer in
den Handel gebracht.
In neuerer Zeit hat man versucht, Medi-
kamente mit konstantem Gehalt an wirksamen
Digitalissubstanzen herzustellen. Es wäre
hier zunächst Dialysat Golaz zu nennen.
Über die Wirksamkeit des von Golaz & Co.
hergestellten Dialysats hat Bosse (25) im
Jahre 1899 zuerst berichtet. Nach ihm
Schwarzenbeck (26) im Jahre 1901.
Beide Arbeiten stammen aus der Klinik von
Prof. Unverricht. Es ist ein Präparat,
welches vermittelst Dialyse gewonnen wird,
worauf zunächst der Gehalt einer chemisch
wirksamen Substanz festgestellt wird. Ferner
wird durch pharmakodynamische Versuche
an Tieren die physiologische Wirksamkeit
geprüft, dieselbe soll im wesentlichen auf
Gehalt an Digitoxin beruhen. Schwarzen-
beck hebt in seiner Arbeit hervor, daß sich
das Dialysat wochenlang ohne Nachteil in
der von Kußmaul und Grödel empfohlenen
Weise nehmen lasse, doch trete gelegentlich
Erbrechen auf, welches zwinge, das Mittel einige
Tage auszusetzen. Schwarzenbeck glaubt
jedoch nachzuweisen, daß, wenn auch keine
kumulative Wirkung auftritt, ein Vorteil durch
fortgesetzten Dialysatgebrauch an Kranken
nicht erreicht wird. In beiden Arbeiten wird
die Digitaliswirkung des Mittels hervorgehoben
und somit seine Brauchbarkeit festgestellt.
Jedoch tritt die Wirksamkeit nie vor
dem 2. Tage, in einzelnen Fällen am 3. oder
4. Tage auf, was bei jedem Falle seine An-
wendung bei Kranken, die schneller Hilfe
bedürfen, in Frage stellt.
Eine weitere Mitteilung über das Dialysat
Golaz machte Görges (27) in der Berliner
medizinischen Gesellschaft am 28. Mai 1902
und rühmte seine Wirksamkeit. In der Dis-
kussion stimmte ihm Senator bei, der jedoch
das Infus für wirksamer hält. Senator
erkennt ihm vor dem Infus nur den Vorteil
zu, weniger Nebenwirkungen zu haben. Weitere
Empfehlungen liegen von Brondgest (28),
Jeltner (29) und Doebert (30) vor.
Ein anderes Dialysat wurde unter dem
Namen Digitalysat von Bürger und Wein-,
hagen, Wernigerode, in den Handel ge-
bracht. Ich habe in der mir zugängigen
Literatur keine Angaben über seine Wirkung
am Krankenbette finden können. Im Tier-
versuch konnte ich eine deutliche und regel-
mäßige Digitaliswirkung nachweisen (31).
Von den reinen Glykosiden ist bisher
das Digitoxin das einzige, welches ausge-
dehntere Anwendung am Krankenbett ge-
funden hat. Für Anwendung desselben tritt
an Stelle der übrigen Digitalispräparate
Masius (32) ein, und auf dessen Empfehlung
später Unverricht, aus dessen Klinik
Wentzel (33) eine Arbeit über die Wirkung
des Digitoxins veröffentlichte. Daß jedoch
leicht Intoxikation auftritt, zeigt die Arbeit
Wentzels, welcher bei 2 Fällen, trotz
Applikation vom Rectum aus, Erbrechen und
Übelkeit eintreten sah. Für das Digitoxin
trat auch Bosse ein., der es per os und
per klysma empfiehlt, jedoch auch häufig
Erbrechen beobachtet hat. Ein weiterer
Nachteil ist die spät eintretende Wirkung.
Das Mercksche Digitoxin zeigt seine
Wirksamkeit nach den Tierversuchen von
Fränkel (34) selbst bei Injektion toxischer
bis tödlicher Gaben erst nach 24 Stunden,
da das Mittel erst um diese Zeit zu den
giftempfindlichen Apparaten des Herzens ge-
langt, bei subkutaner Injektion (35, 36)
treten aseptische Eiterungen auf. Das Digi-
talinum verum Schmiedebergs eignet sich
nach den Untersuchungen D euch er s (37)
ebenfalls wegen der starken Schmerzen und
der von Fieber begleiteten Entzündung nicht
zur subkutanen Injektion. Der Wert des
Digitalin ist überhaupt sehr strittig. Im
Tierversuch zeigt es allerdings kumulative
Digitaliswirkung, und werden von Pf äff (38),
Jaquet und Stoitscheff (zitiert nach
K ottmann) gute Erfolge berichtet. Dagegen
sah jedoch Klingenberg (39) keine Erfolge,
ebenso D euch er. Gerühmt wird es von
Allard (40), welcher jedoch ziemlich starke
Vergiftungserscheinungen auftreten sah.
Die günstigsten Erfolge mit neueren Er-
satzmitteln der Digitalis werden über das
von der Firma Hoff mann La Roche nach
Angabe von Cloetta dargestellte und „Di-
galen" genannte Präparat berichtet. Das
Urteil sämtlicher Autoren ist einstimmig ein
gutes, und in den bisher veröffentlichten
Publikationen werden nirgends irgend welche
schädliche Nebenwirkungen erwähnt.
Über das Mittel berichtet Cloetta in der
Münchener med. Wochenschrift 1904 No. 33.
Er hält es für amorphes Digitoxin und
teilt seine chemische Zusammensetzung mit.
Es liegt in der kurzen Zeit bereits eine
große Menge von Publikationen vor. Das
Mittel scheint in der Tat allen Anforderungen,
welche man an das Digitalispräparat stellen
kann, zu entsprechen. Es zeigt stets gleich-
mäßigen Gehalt an wirksamen Substanzen
und läßt sich sowohl per Os als auch subkutan
und intravenös geben, worin ein besonderer
608
Freund, Moderne Digitalis-Präparate.
fTherapetitiflch*
L Monatshefte.
Vorzug vor allen bisher in den Handel ge-
brachten Präparaten besteht. Das Präparat
hat sich dadurch auch sehr schnell in die
Praxis eingeführt. Es wurde zum erstenmal
in der Sitzung des Unter elsässischen Ärzte-
vereins im Juni 1904 von Naunyn empfohlen,
der hier seine Erfahrung dahin formuliert,
daß die Wirkung rascher sei als die des
Digitalisinfuses, indem sie nach den Gaben
von 1 ccm 3 mal täglich binnen 24 Stunden
einträte und sich durch gesteigerte Diurese
kennzeichne. Naunyn hebt die Bedeutung
dieser schnellen Wirkung für akute Herz-
schwäche hervor.
Als wesentlicher Vorteil wird in den ver-
schiedenen Arbeiten hervorgehoben, daß das
Bigalen nicht kumulativ wirkt. An experi-
mentellen Untersuchungen über das Digalen
liegt außer meinen Versuchen am Frosch-
herzen, welche die ausgesprochene Digitalis-
wirkung des Präparats nachweisen, die aus-
führliche Arbeit von Sasacki (45) vor, der
zu dem Resultate kam, daß das Digalen sich
durchaus in analoger Weise wie ein Infus
von Digitalisblättern in seiner Einwirkung
auf das Froschherz verhält. Ebenso ist
die toxikologische Wirkung beider Präparate
sehr ähnlich, so daß Digalen auf das
Froschherz im wesentlichen die Wirkung
des Digitalisinfuses zeigt. Sasacki: „Be-
sonders betont zu werden verdient viel-
leicht noch die Tatsache, daß arhythmische
Störungen in der Regel nur in dem aller-
letzten Stadium der Digalenvergiftung auf-
treten und auch hier nie größere Grade er-
reichen. u
Auf Grund der klinischen Beobachtungen
kommt Hochheim zu folgendem Resultat:
„Dasselbe erhöht den Blutdruck und wirkt
bei Arhythmien regulierend auf die Herz-
tätigkeit besonders insofern, als es die Extra-
systolen beseitigt oder wenigstens ihre Zahl
wesentlich vermindert. Bei hochgradiger Be-
schleunigung der Herzaktion setzt es die Zahl
der Kontraktionen herab. Bei Stauungszu-
ständen, die auf Kompensationsstörungen be-
ruhen, wirkt Digalen stark diuretisch. Die
starke Diurese zeigt sich meist zuerst in der
Zeit vom zweiten zum dritten Behandlungs-
tage mit Digalen, und nach dem Aussetzen
des Mittels pflegt mehrere Tage noch die
Menge des in 24 Stunden ausgeschiedenen
Urins größer als normal zu sein. Hand in
Hand mit der Diurese geht das Schwinden
der Stauungserscheinungen. "
Wenn Hochheim das Mittel dem früher
von Unverricht empfohlenen Digitoxin
gleichwertig erachtet, so lassen sich dagegen
doch verschiedene Einwände erheben. Zu-
nächst der, daß nach dem Digalen niemals
Erbrechen eintrat, was nach dem Digitoxin,
nach der Arbeit Wen tzel 8 in 2 Fällen selbst
bei Applikation vom Rectum aus, eintrat.
Diese unangenehme Nebenwirkung de»
Digitoxins kann durch das Digalen umgangen
werden, indem hier die Möglichkeit vorliegt,
das Mittel intravenös anzuwenden. Das ist
aus zwei Gründen wichtig: Abgesehen davon r
daß das Digitoxin Erbrechen vom Darm-
kanal auslösen kann, ist durch Deucher (41)
nachgewiesen, daß die Magenverdauung die
Digitalispräparate schädigen kann. Es mag
zum Teil auf dieser Abschwächung durch
die Magensäfte die verschiedene Wirksamkeit
der Digitalisinfuse beruhen und nicht auf
ihrem verschiedenen Gehalt an wirksamen
Bestandteilen.
Alle diese Schwierigkeiten werden durch
die intravenöse Anwendung umgangen, jeden-
falls ist diese Tatsache ein Moment, welches
die ganze Frage erschwert. Es sind deshalb
die von Kottmann angestellten Versuche
mit intravenösen Injektionen besonders be-
merkenswert. Während bisher angenommen
wurde, daß bei Einführung größerer Mengen
Digitalispräparate in die Blutbahn sehr leicht
die Giftwirkung einträte, und diastolischer
Herzstillstand bewirkt werde, so daß der
Tod unter der Erscheinung einer plötzlichen
Herzlähmung, Dyspnoe und Konvulsion ein-
träte (42), hat Kottmann (43) bewiesen,
daß sich das Cloettasche Digalen sehr wohl
intravenös injizieren läßt. Ich gebe hier die
Technik des Verfahrens nach den Angaben
K ottmanns an, da sie allgemein verbreitet
zu werden verdient, ihrer unmittelbaren Wir-
kung wegen.
„Die Technik der Injektion ist bei Übung
nicht schwierig. Am besten eignet sich eine
Platiniridiumnadel und eine gläserne Spritze
zum Auskochen. Die Injektion geschieht
am besten in der Ellenbogenbeuge, nachdem
man die Vene durch Anlegung eines Gummi-
schlauches am Oberarm gestaut hat. Bei
Übung gelingt die intravenöse Injektion auch
bei Patienten, deren Venen kaum sichtbar
sind. Selbst bei starkem Armödem gelang
mir die Injektion in die Vena mediana oder
eine andere Armvene fast immer. Ein ein-
ziges Mal war ich genötigt, in die Vena
jugularis zu injizieren. tt
„Um ein Ausweichen der Vene zu ver-
meiden, fixiert man die Vene mit der einen
Hand, während man mit der anderen in-
jiziert. a
„Sobald die Spitze im Venenlumen ist,
tritt gewöhnlich sofort eine Blutsäule in die
Spritze. Sonst aspiriert man, um sicher zu
sein, in den Venen zu sein. Dann löst man
die Ligatur und injiziert ganz langsam. tt
XIX. Jahrgang. ~|
Deawmber 1906.)
Freund, Modarne Digital!»- Priparmte-
609
Die intravenös zur Anwendung kommende
Dosis beträgt beim Digalen 3 — 10 ccm. Die
Dosis ist also bedeutend großer als die bei
subkutaner Anwendung oder per os gegebene.
Es mag dies paradox erscheinen, K ottmann
fuhrt es auf die schnelle Ausscheidung durch
die Nieren zurück, welche bisher allerdings
noch nicht experimentell nachgewiesen ist.
Die Wirkung bei intravenösen Injektionen
tritt nach 2 — S Minuten ein und äußert sich
in mäßiger Blutdrucksteigerung, die zirka
24 Stunden anhält. Die Pulsfrequenz wird
hierbei meistens nicht beeinflußt.
Wird auch die intravenöse Injektion nicht
für alle Fälle von Herzschwäche Anwendung
finden, so eignet sie sich doch da, wo schnelle
Hilfe nötig ist, z. B. beim Asthma cardiale,
bei dem unsere bisherigen Mittel versagten,
weil ihre Wirkung nicht schnell genug auf-
trat.
Der K o ttmann sehe Fall 18, ein
Asthma cardiale und Myodegeneration des
Herzens, beweist, daß sich ein derartiger
Anfall durch schnelle Diagaleninjektion kou-
pieren läßt.
Ebenso habe ich noch nie einen Anfall
akuter Herzdehnung so schnell vorübergehen
sehen wie bei Digalen, intravenös gegeben
(s. unten).
Hervorzuheben ist noch, daß die Injek-
tion absolut schmerzlos ist und bloß einmal
alle 24 Stunden angewandt zu werden braucht.
Kottmann hebt hervor, daß die Herz Wan-
dung bei den intravenösen Injektionen stets
günstig beeinflußt wird, daß auch keine
Symptome auftreten, * die auf mangelhafte
Gehirnzirkulation schließen lassen, wie man
sie nach den experimentellen Untersuchungen
über Injektion mit kristallisiertem Digitoxin
hätte erwarten müssen.
Ich möchte, bevor ich die bisherigen
Veröffentlichungen über Digalen bespreche,
noch einige Krankengeschichten anführen,
welche eine Anwendung des Digalens in
Fällen betreffen, wie sie bisher noch nicht
veröffentlicht sind.
Fall i. Herzschwäche nach Chloroformnarkose.
Frau N., 53 Jahre alt. Pat. will stets schwach
und herzleideud gewesen sein, litt viel an Blutungen.
Sie wurde am 25. II. 05 wegen der Blutungen total
exstirpiert. Am Herzen bestanden damals eine maßige
Vergrößerung und systolische Geräusche. Pat. ver-
trug die Chloroformnarkose gut, jedoch traten 3 Tage
nach der Operation Kurzatmigkeit, Husten und
Beklemmungsgefühl auf. Puls: Unregelmäßig, 76.
Atmung: 40. In den abhängigen Partien der Lunge
vereinzelte Rasselgeräusche. Pat. erhielt 3 mal tägl.
1 ccm Digalen, nach 24 Stunden schwanden die
Beschwerden. Seitdem keine Beschwerden von
Seiten des Herzens mehr aufgetreten. Die Medi-
kation wurde 3 Tage fortgesetzt.
Fall 2. Akute Herzdehnung infolge Überanstrengung*
Herr X., 37 Jahre alt. Pat. will stets gesund
gewesen sein. Hat von Jugend auf viel Sport ge-
trieben und gehört verschiedenen Sportvereinen an.
Er ist Meisterfahrer der hiesigen Provinz, Meister-
schlittschuhläufer und einer der besten Schwimmer
und Taucher. Seit einigen Wochen trainiert er
sich für das Wettschwimmen, das am 20. VIII.
stattfinden sollte. Er hat dabei 8 Pfd. abgenommen
und fuhr gleichzeitig anstrengend Rad, alles neben
seiner geschäftlichen Tätigkeit. Um sich noch
weiter zu stärken, nahm er am 16. VIII. Anwärmen
im Lichtkasten 2 Min. mit nachträglicher kalter
Dusche. Es traten Schmerzen im Rücken auf, und
Pat. schlief die Nacht schlecht. Da er das Miß-
behagen auf Erkältung zurückführte, nahm er
17. VIII. nochmals Anwärmen im Lichtkasten, je-
doch 8 Min. mit nachträglicher Dusche. Es traten
heftige Schmerzen in der Brust auf, und Pat. konnte
nur mit Mühe auf dem Rade fahren, das er zu
seinem Weg benutzte. Die am Abend 6 Uhr vor-
genommene Untersuchung ergab folgendes: Sehr
blasses Aussehen, guter Ernährungszustand, gut
entwickelte Muskulatur.
Cor.: Zweifiugerbreit rechts vom Sternum bis
einfiogerbreit außerhalb der linken M.-L.-Töne rein,
leicht. Puls: Weich, klein, leicht zu unterdrücken,
56. Blutdruck nach Basch: 12. (Bei Mitteilung
des Befundes gibt Pat. an, das Herz, welches er
jedes Jahr habe untersuchen lassen, sei stets nor-
mal befunden worden.) Sonstige Untersuchung
ergibt keine Besonderheiten. Pat. erhielt dreimal
täglich Digalen. Das Orthodiagramm ergibt fol-
gende Maße: Vor der Behandlung: Medianabstand
rechts 4,0, links 12. Größter Querdurchmesser 12,
größter Längsdurchmesser 17. Oberfläche 165 qcm.
Am 4. Tage der Behandlung hatten sich alle Er-
scheinungen zurückgebildet. Orthodiagramm: Me-
dianabstand: Rechts 3,1» links 10,2. Größter Quer-
durchmesser 9,3, größter Längsdurchmesser 14,3.
Oberfläche : 104 qcm.
Fall 3, Akute Herzdehnung infolge Überanstrengung.
Herr R., 32 Jahre alt. Pat. kommt um 5!/2 Uhr
in hochgradiger Angst und dyspnoisch an. Über
die Entstehung seines Leidens macht er folgende
Angaben. Er will nie krank gewesen sein, doch
bereits einen derartigen Anfall von Kurzatmigkeit,
Beklemmung und starkem Herzklopfen vor ca.
5 Wochen nach einem Seebade gehabt haben.
Letzte Nacht hat Pat. «viel Kaffee und Kognak ge-
trunken. Es traten gegen Morgen heftige Schmerzen
in der Herzgegend ein, die zunächst etwas nach-
ließen, jedoch im Laufe des Tages, wie Pat. sich
bewegte, stärker wurden, so daß er gegen 1 Uhr
sich legen mußte. Da die Schmerzen nicht auf-
hörten, suchte er mich auf.
Puls: 124, klein, kaum zu fühlen, weich, regel-
mäßig. Blutdruck nach Basch: 10. Cor.: Zwei-
fingerbreit außerhalb der rechten M.-L. bis an-
derthalbfingerbreit außerhalb der linken M.-L. 3
bis 7. Rippe. 120 Puls am Herzen, Töne rein,
leise. Atmung: 25, keine cyanotische Färbung.
Lungen: Frei.
Die intravenöse Digaleninjektion wurde in der
von Kottmann angegebenen Weise vorgenommen.
625 Uhr wurde injiziert. Bereits nach 5 Sek. machte
sich die Digitaliswirkung geltend. Der anwesende
Kollege zählte am Puls ein Heruntergehen von 120
auf zunächst 76, später (nach 1 Min.) 68 Schläge.
Gleichzeitig wurde der Puls voll und kräftig. Be-
schwerden traten nicht auf. Um 7 Uhr war der
Puls noch 68. Um 8 Uhr 72 Schläge, voll, regel- .
mäßig. Herzgrenze um ca. 2 cm im Umkreis ver-
610
Pr«und, Modern« Digitalis-Präparate.
lodert (Leider war es unmöglich, eine ortho-
diagraphische Aufnahme vorzunehmen, da Pat. zu
angegriffen war.)
2 Tage später: Puls regelmäßig, 72. Keine
Beschwerden, nach Hause entlassen.
Die übrigen Fälle, in denen ich Digalen
gegeben habe, waren:
4 Fälle chron. Myokarditis, in denen ich das
Digalen mit gutem Erfolge in der von
Kußmaul und Grödel empfohlenen
Art nehmen ließ.
2 Fälle von Mitralinsuffizienz, bei einem mit
bereits hochgradigem Hydrops.
1 Fall von Pleuritis mit Herzschwäche.
Die Mittel wurden stets gut vertragen
und zeitigten den gewünschten Erfolg.
Um zeigen zu können, daß das Digalen
sich bei allen den Fällen bewährt hat, bei
denen ein Digitalispräparat therapeutisch an-
gezeigt schien, gebe ich eine Übersicht über
die .bisher veröffentlichten Krankengeschichten,
die ich selbst um 10 Fälle vermehre.
Fassen wir noch zum Schluß die Vor-
teile zusammen, welche das Digalen vor
allen bisherigen Mitteln bietet, so ist es,
und darin betrachte ich seinen Hauptvorzug
vor allen übrigen, das einzige Mittel, das
sich nach den vorliegenden Untersuchungen
intravenös geben läßt und hierdurch eine
fast sofortige Injektion ermöglicht, eine 'Wir-
kung, die bei subkutaner Injektion mindestens
2 Stunden, bei anderer Medikation 12 bis
24 Stunden auf sich warten läßt.
Derartige schnelle Wirkungen waren mit
allen anderen Präparaten bisher nicht zu
erreichen. Ein weiterer Yorteil ist das Aus-
bleiben von Intoxikationserscheinungen. Die
einfache Technik der intravenösen Injektion
des Mittels wird sich sehr bald allgemeinen
Eingang verschaffen, da bisher kein Mittel
die Erscheinungen bei akuten Herzschwäche-
anfallen so schnell beseitigen kann wie das
Digalen, intravenös gegeben. Bei Medikation
per os ist sicher dieses oder jenes Präparat
dem Digalen gleichwertig und möge viel-
leicht der Billigkeit wegen vorgezogen werden,
doch hat man in keinem derselben ein
Mittel zur Hand, das so rasch seine segens-
reichen Wirkungen entfalten kann wie das
Digalen. Es ist ja nicht unmöglich, daß die
kommenden Jahre uns noch andere Mittel
an die Hand geben, welche ähnlich günstige
Wirkungen zeigen, zumal immer neue Körper
gefunden werden, die in die Digitalisgruppe
hineingehören1). Alle diese Körper kennen
wir jedoch noch so wenig, daß ihre Anwen-
l) So kürzlich wieder von Schi agenhaufer
und Reeb das- Erysimum anreum. Comp. rend.
131, p. 753.
f Therapeutisch«
dung am Krankenbette noch kaum in Frage
kommt. Vielleicht zeigt das eine oder das
andere günstigere Wirkungen als die bisher
bekannten Präparate.
Digalen
wurde aIm angewandt bei
i
1
<
ron
Chron. Myokarditis
u
Hochheim 5, Naunyn 1,
Kolleck 1, Kottmann 1,
Freund 4.
Mitralinsuffizienz
7
Hochheim 1, Bibergeil 1,
Kolleck 1, Kottmann 2,
Freund 2.
Insuffizienz der Aorten-
klappen
2
Kolleck 1, Bibergeil 1.
Herzschwäche bei Pneu-
monie
5
Kolleck 1, Winckel-
mann 3, Kottmann 1.
Mitralstenose
3
Walti 1, Kottmann 2.
Aorten- und Mitral-
insuffizienz
2
Waiti 1, Hochheim 1.
Mitralinsuffizienz,
Pleuritis u. Tuberkulose
1
Bibergeil.
Endokarditis
bei Gelenkrheumatismus
1
Bibergeil.
Plötzlich. Herzschwäche
1
Bibergeil.
Herzschwäche
bei Pleuritis
3
Bibergeil 1, Kottmann 1,
Freund 1.
Mitralstenose
und Myokarditis
1
Bibergeil.
Nephrit, parenchymatosa
1
Bibergeil.
Arteriosklerose
2
Hochheiml,Kottmannl .
Paroxysmale Tachy-
kardie
1
Hochheim.
Lebercirrhose, Aorten-
insuffizienz
{
Bibergeil.
Morbus Basedowii
1
Bibergeil.
Akuter -Herzdehnung
2
Freund 2.
Akuter Herzschwache
nach Chloroformnarkose
1
Freund.
Emphysem mit Herz-
schwäche
1
Kottmann.
Empyem mit Herz-
schwäche
1
Kottmann.
In8ufficientia Cordis
2
Kottmann.
Nach unserem jetzigen Stande der Digi-
talisfrage glaube ich jedoch nicht zu viel zu
sagen, wenn ich das Digalen für das voll-
kommenste Präparat erkläre, das zurzeit
existiert.
Literatur.
1. Schmiedeberg: Archiv für experimentelle
Pathologie HI, 1874, Nr. 16, „Untersuchung
über die pharmakologischen wirksamen Be-
standteile der Digitalispräparate".
2. F i 1 e h n e : Lehrbuch der Arzneimittellehre and
Arzneiverordnungslehre, S. 174.
3. Brandenburg: Zeitschrift für klinische Me-
dizin 1904, Bd. 53.
XIX. Jahrgang. 1
Freund, Moderne Digitalis-Präparate.
611
4. Gottlieb und Magnus: Allgemeine Zeit-
schrift für Psychiatrie und gerichtliche Me-
dizin, Bd. 58, Heft 6.
5. Gottlieb and Magnus: Archiv für experi-
mentelle Pathologie und Pharmakologie,
Bd. 48, 3. u. 4. Heft, „Ober den Einfluß
der Digitaliskörper auf die Hirn Zirkulation".
6. Tapp ein er: Lehrbuch der Arzneimittellehre.
7. G. Günther: Therapeutische Monatshefte 1905,
„Zur Kenntnis der Strophanthuswirkung".
8. Hofbauer: Wiener klinische Wochenschrift
1903, Nr. 19, „Über den Einfluß der Digitalis
auf die Respiration".
9. Romberg: Ebstein und Schwalbcs Handbuch
der praktischen Medizin.
10. J. t. Bauer: E. Penzoldt und Stinzings Hand-
buch.
11. Naunjn: Therapeutische Monatshefte 1900.
12. Siebert und Ziegenbein: Berliner klinische
Wochenschrift 1903, Nr. 35, „Wertbestim-
mung von Digitalis und Strophanthus durch
Prüfung am Froschherzen a.
13. F ock e : Zeitschrift für klinische Medizin, Bd. 46,
S. 377.
14. Siebert: 1. c.
15. Ferrier: Archiv für experimentelle Patho-
logie HI, Nr. 16, 1874.
16. T h. v. J ü r g e n s : „ Erkrankungen der Kreislaufs-
organe. Insuffizienz (Schwäche) des Herzens,"
S. 205.
17. Th. R. Fräser: „The action and uses of Digi-
talis and its Substitutes, with special reference
to Strophantin." Brit. med. Journ. 1878.
18. Kakowski: Zitiert nach Schädel.
19. Schädel (Nauheim): „Zur Strophanthus frage8.
1904.
20. R. Freund: Zeitschrift für experimentelle
Pathologie und Therapie 1905, „Über Abys-
sinin und sein Vergleich in einigen Digitalis-
präparaten *.
21. Schulz: Vierteljahreshefte für gerichtliche
Medizin, 3. Folge, Bd. 21, „Ein weiterer
Beitrag zur Strophanthin Wirkung".
22. August Tb. Zerner jun. und A. L. Low:
Wiener medizinische Wochenschrift 1878,
„Über den therapeutischen Wert der Prä-
parate von Strophanthus Kombe".
23. Schädel (Nauheim): „Zur Strophanthusfrage«.
1904.
24. Kobert: Pharmakotherapie, S. 273.
25. Bosse: Siehe Zentralblatt für innere Medizin
1899, Nr. 27.
26. Schwarzenbeck: Zentralblatt für innere
Medizin 1901, Nr. 17.
27. Görges: Münchener medizinische Wochen-
schrift 1902, S. 946.
28. Brondgest: Zentralblatt für innere Medizin
1903, Nr. 37.
29. Jeltner: Münchener' medizinische Wochen-
schrift 1900, Nr. 26, S. 825.
30. Döbert: Berliner Therapie der Gegenwart
1904, April, „Klinische Erfahrungen über
Digitalis-Di&lysat".
81. R. Freund: I.e. s. Lit. 20.
32. Mas ins: „Des effects therapeutiques de la
digitoxine". 1894.
33. Wentzel: Zentralblatt für innere Medizin
.1895, Nr. 19, „Über die therapeutische Wirk-
samkeit de 8 Digitoxins".
84. Frank el: Archiv der experimentellen Patho-
logie und Pharmakologie, Bd. 51, 1903.
35. Koppe? Archiv für experimentelle Pathologie
und Pharmakologie, Bd. III, 1875.
86. Schmiedeberg: Grundriß der Pharmakologie.
1902.
Th.M.1906.
37
38,
D euch er: Deutsches Archiv für klinische
Medizin 1896.
Pf äff: Archiv für experimentelle Pathologie
und Pharmakologie, Bd. 32.
39. Klingenberg: Archiv für experimentelle
Pathologie und Pharmakologie, Bd. 33.
40. Allard: „Digitalinum crystallisatum Herz-
tonicum. Hygiea 1900.
41. Deucher: Deutsches Archiv für klinische-
Medizin 1897.
42. Filehne: Arzneimittellehre, 1896, S. 174.
43. Kottmann: Zeitschrift für klinische Medizin,
S. 147.
44. Wolff: „Über die physiologische Dosierung
von Digitalispräparaten".
45. Sasacki: Berliner klinische Wochenschrift
1905, Nr. 26.
Über die therapeutische Wirkung de»
Styracols.
Von
Dr. Hellmuth Ulrici,
Hausarzt an der Heilanstalt Reiboldagrfln i. V.
1830 ist das Kreosot von Reichenbach
zur Behandlung der Lungenschwindsucht
empfohlen worden, um dann Jahrzehnte lang
der Vergessenheit anheimzufallen. Seit es
von Bouchard (l), Curschmann (2)r
Fraentzel (3), Sommerbrodt (4) u. s. w*
dieser Vergessenheit wieder entrissen wurde,
tobt ein nun fast 30 jähriger Krieg um seinen
Wert oder Unwert. Es muß heute, wo die
Literatur über Kreosot und seine Derivate
schier ins Unermeßliche gewachsen ist, fast
als ein Wagnis erscheinen, mit Beobachtungen
über eine kleinere Zahl von Fällen, die mit
einem Kreosotpräparat behandelt wurden,,
hervorzutreten. „Es ist . . . keine leichte
Sache, zuverlässige Beobachtungen, die ein
Urteil über die Nützlichkeit oder Nutzlosig-
keit eines Arzneistoffes der Tuberkulose
gegenüber gestatten, in genügender Anzahl
zu sammeln," sagt Nolen (5) ganz mit
Recht. £s soll denn mit den folgenden
Zeilen auch keineswegs ein Urteil über die
Kreosottherapie gefallt sein. Die heute in*
früher nicht geahntem Umfang durchgeführte
Heilstättenbehandlung der Tuberkulose hat
naturgemäß die medikamentöse Therapie in
den Hintergrund gedrängt. Die Heilstätte
wirkt mit so mächtigen Faktoren auf den
Organismus ein, daß sie einer Therapie
füglich entraten kann, die eine den Organismus»
im Kampfe gegen die Tuberkulose unter-
stützende Rolle spielen soll, und in der nur
therapeutische Enthusiasten eine spezifische
Behandlung erblicken. Für die große Schar
der Kranken, die nicht oder nicht mehr in
der Heilstätte Behandlung finden können, be-
darf aber der Arzt, zumal wenn er kein
Anhänger der ebenfalls wieder auferstandenen
46
612
Ulrici, Therapeutische Wirkung de* Styracols.
rherapenüaeht
Monatshefte.
Tuberkulinbehandlung ist, trotz allem solcher
Medikamente, die tonisieren, den Appetit an-
regen, kurz das Allgemeinbefinden heben.
Solange über das Kreosot und seine Derivate
das letzte Wort noch nicht gesprochen ist,
und solange uns kein Ersatz dafür geboten
ist, der mehr leistet, können und wollen
wir es nicht entbehren.
In seiner ausführlichen, zusammenfassenden
Arbeit über die Kreosottherapie sagt von Weis-
mayr (6), sich den Worten Bern heims an-
schließend: „Die Wirkung des Kreosots kann im
günstigsten Falle nur eine indirekte sein, sei es, daß
die vom „Kreosotblut" gespeisten Gewebe einen
schlechten Nährboden für die Bazillen abgeben,
sei es, daß die Widerstandskraft des Organismus
selbst erhöht wird. Diese dynamogene Wirkung
des Kreosots und seiner Derivate ist zweifellos."
Zur selben Frage äußert sich Nolen (5) in einem
größeren Referat: „so hat sich doch wohl aus den
allerwärts angestellten überaus zahlreichen Beob-
achtungen mit Sicherheit herausgestellt, daß in
vielen Fällen von Tuberkulose dem Mittel eine
günstige Wirkung nicht abgesprochen werden kann."
Unter den Guajacolpräparaten verdient
das Styracoi, das schon 1891 von Knoll
und Co. in Ludwigshafen in den Handel ge-
bracht wurde, aus verschiedenen Gründen
unsere besondere Beachtung, ohne sie bisher
gefunden zu haben. Von Weismayr erwähnt
es z. B. in der genannten Arbeit nur ganz
nebenbei, Nolen in dem zitierten Referat
überhaupt nicht. Styracoi ist der Zimt-
säureester des Guajacols, setzt sich also aus
zwei Komponenten zusammen, die beide zur
Behandlung der Tuberkulose warm empfohlen
sind. Auch über die Zimtsäure sind die
Akten noch nicht geschlossen, wenn auch
wohl die Theorie der reaktiven Entzündung
und bindegewebigen Umwandlung des Tuber-
kels als Folge der Zimtsäurebehandlung
nur noch wenige Anhänger zählt. Man hat
verschiedene» Verbindungen von Kreosot und
Zimtsäure dargestellt und zu verwenden
gesucht, dabei aber mehr Wert auf die
Zimtsäure und die Möglichkeit der sub-
kutanen bezw. intravenösen Anwendung ge-
legt. Hetokresol und ähnliche Verbindungen,
auch Styracoi, eignen sich zu dieser Appli-
kation allerdings nicht, weil sie zu starke
Reizungen und Entzündung hervorrufen.
(S. Fränkel (7)).
Abgesehen von seiner Zusammensetzung
hat Styracoi weiter bemerkenswerte physio-
logische Eigenschaften. Es ist in Wasser
und schwachen Säuren fast unlöslich, passiert
also, normale Magenfunktion vorausgesetzt,
den Magen, ohne ihn zu reizen oder zu be-
lästigen, und wird erst im alkalischen Darm-
saft gelöst. Es wird ferner nach Versuchen am
Menschen von Knapp und Suter (8) am
vollständigsten von den bekannteren Guajacol-
ersatzmitteln im Darm in seine Komponenten
zerlegt und resorbiert.
Nach ihren Analysen erscheinen beim Duotal
50 Proz. des eingegebenen Guajacols an Äther-
schwefelsäuren gebunden im Harn. Nach Thiocol-
medikation erscheint die Menge der Ätberschwefel-
säuren überhaupt nicht vermehrt; Thiocol spaltet
auch, im Brutschrank bei alkalischer Reaktion der
Einwirkung von Pankreasferment und Fäulnis-
bakterien ausgesetzt, kein Guajacol ab. Aus beiden
Ergebnissen schließen die Verfasser, daß Thiocol
unverändert den Darm passiert. Das Oreaon
spaltet im Organismus nur sehr wenig freies
Guajakol ab; im Harn erscheint ein Oxydations-
produkt desselben an Atherschwefelsäure gebunden.
Ganz anders beim Styracoi; nach den Verfassern
erscheinen von dem „im Styracoi eingegebenen
Gujacol 85,94 Proz. an Ätherschwefelsäure gebunden
im Harn.
Was die Anwendung des Styrakols bei Lungen-
kranken betrifft, so ist die Literatur hierüber eine
recht bescheidene. Engels (9), der Styracoi als
Antidiarrhoicum mit gutem Erfolg anwendete, er-
wähnt nebenbei, daß „nach seiner Beobachtung
auch bei Phthisikern Husten und Auswurf nach-
ließen". Nacht (10) hat eine Zusammenstellung
von 11 mit Styracoi behandelten Fällen von Lungen-
tuberkulose mit und ohne Komplikationen ver-
öffentlicht. Er beobachtete „vor allem eine Beein-
flussung der Symptome: Fieber, Husten, gestörter
Stoffwechsel". Nachlaß des Hustens und Abnahme
der Sputummenge sah er nach Styracoi prompter
und anhaltender eintreten als bei der Anwendung
anderer Guajacolpräparate; auch eine lösende,
expektorationsbef ordernde Wirkung glaubt er bei eini-
gen Patienten konstatieren zu können. Er glaubt
„die Hetolinjektionen Landerers durch das kom-
binierte Zimt8äure-Guajacolpräparat vollwertig er-
setzen zu können", und meint, daß „sich in Jedem
Falle eine Wirkung auf den tuberkulösen Prozeß
nicht bestreiten läßt".
Ich habe das Styracoi in einigen vierzig
Fällen von Lungentuberkulose jeden Stadiums
und bei Lungenkranken mit verschieden-
artigen Darmaffektionen angewendet und
möchte über die Resultate kurz berichten.
Es handelt sich ausschließlich um Patienten
der Heilanstalt, Kranke also, die unter den
denkbar günstigsten hygienisch -diätetischen
Verhältnissen nur ihrer Kur lebten. Es
konnte mir unter diesen Umständen natür-
lich nicht beifallen, eine etwa zu kon-
statierende Besserung des Lungenbefundes
oder der verschiedenen Symptome, Husten,
Auswurf, Nachtschweiße u. s. w., lediglich
auf das Styracoi zu beziehen. In den fol-
genden Tabellen I und II habe ich aus
meinem Material eine Anzahl der präg-
nanteren Fälle zusammengestellt. Um die
Übersicht nicht durch eine zu große Zahl
von Fällen zu erschweren, habe ich Tor
allem solche Fälle weggelassen, bei denen
man zweifelhaft sein kann, ob der Effekt
wirklich nur dem Styracoi zu danken war.
In Tabelle I sind solche Fälle von Lungen-
tuberkulose zusammengestellt, die nicht mit
Störungen von Seiten des Yerdauungstractus
XIX. Jahrgang.!
Dezember 190S.J
Ulrici, Therapeutische Wirkung dea Styracols.
613
Tabelle I.
Name, Alter,
Geschlecht des
Stadium der
Krankheit
Kom-
plikationen
Datnm
Bemerkungen
Ge-
wicht
Ordination
Patienten
nach Turban
1. H. Z.,
I.
früheres Höchstgewicht
?
21. J.,
4. 3. 05
Tag der Aufnahme
58,4
m&Dnl.
24. 3. 05
—
62,2
1. 4. 05
Appetit geringer
62,2
Styr. 3 m.
tgl. 1,0
22+ 4. 05
Appetit gut
63,8
2. 0. D.,
I.
früheres Höchstgewicht
67,0
24 J.,
24. 3. 05
Tag der Aufnahme
Gefühl des Vollseins nach dem Essen
67,0
männl.
1. 4. 05
67,5
Styr.
22. 4. 05
nie Verdauungsbeschwerden
70,4
3. H. S.,
L— II.
—
früheres Höchstgewicht
90,0
40 J.,
2. 5. 05
Tag der Aufnahme
83,4
männl.
ß, 5. 05
13. 5. 05
83,1
83,6
Styr.
4. KP.,
I.
—
früheres Höchstgewicht
52,0
30 J.,
IL 4. 05
Tag der Aufnahme
61,3
männl.
3. 5. 05
12. 5. 05
Appetit gering
unverändert
52,0
52,0
Styr.
5. M.M.,
I.-ll.
_
früheres Höchstgewicht
?
21 J.,
6. 4. 05
Tag der Aufnahme
61,7
mann).
27. 4. 05
14. 5. 05
—
61,6
62,3
Styr.
6. R. G.,
1.
früheres Höchstgewicht
64,0
29 J.,
31.12.04
Tag der Aufnahme
57,2
männl.
18, 2. 05
Gewicht seit Wochen kaum gestiegen
60,2
25. 2. 05
—
59,4
Styr.
4. 3. 05
59,4
Eisen
29. 3. 05
—
59,6
7. A. S.,
u.— m.
früheres Höchstgewicht
58,0
21J.,
29,1.05
Tag der Aufnahme
55,9
männl.
4. 3. 05
—
59,8
8. 4. 05
Appetit geringer
59,0
Styr.
22. 4. 05
—
59,2
8. E.U.,
ÖL
früheres Höchstgewicht
72,0
34 J.,
25. 4. 05
Tag der Aufnahme
71,4
männl.
3. 5. 05
13. 5. 05
—
71,2
74,1
Styr.
9. A. G.,
IL-LLL
früheres Höchstgewicht
72,0
43 J.,
1.5.05
Tag der Aufnahme
70,6
männl.
li. 5. 05
13. 5. 05
—
70,7 •
71,8
Styr.
10. A. H.,
II. — III.
früheres Höchstgewicht
72,0
31J.,
23, 1. 05
Tag der Aufnahme
66,4
männl.
3.4.05
Appetit seit Wochen schlecht
67,7
Eisen
24.4.05
unverändert
68,1
Styr.
1.5.05
desgl.
68,0
11. J. P.,
End8tadium
hohes
früheres Höchstgewicht
42,0
17 J.,
Fieber
12. 10. 04
Tag der Aufnahme
38,2
weibl.
8. 12. 04
Fieber nicht über 37,6. Appetit schlecht
Appetit nicht besser. Gibt an, nach
S"8
Styr.
12. 12. 04
36,8
Styracol Aufstoßen und Erbrechen
zu bekommen
12. L. K.,
III. schwer
Fieber,
früheres Höchstgewicht
55,0
41. J.,
schwere
19. 11. 04
Tag der Aufnahme
53,3
weibl.
Larynx-
30.11.04
Temperatur fast normal. Appetit schlecht
52,9
Styr.
tuberk.
15. 12. 04
28. 2. 05
Appetit immer gut
56,6
58,3
13. R. v.S.
III. schwer
leichtes
früheres Höchstgewicht
65,0
40 J.,
Fieber
19. 7. 04
Tag der Aufnahme
62,9
weibl.
31. 10. 04
9.1.05
seit Monaten kein Fieber
öfter Fieber bis 37,6
65,9
53,3
16. 1. 05
unverändert
53,3
Styr.
28. 1. 05
gibt an, nach Styracol viel mehr zu husten
53,6
46*
614
Ulrici, Therapeutische Wirkung dea Styracolt.
L Monatsheft*,
kompliziert waren. leb suchte bei diesen
Fällen nur festzustellen, ob sich eine Ein-
wirkung des Styracols auf Appetit und All-
gemeinbefinden konstatieren ließ; als Maßstab
hierfür gebe ich mangels anderer Anhalts-
punkte nur die Körpergewichtszahlen. Miß-
erfolge konnten um so weniger ausbleiben,
als ich mit dem Styracol eine Wirkung meist
dann zu erreichen suchte, wenn diese durch
die Anstaltskur an sich nicht erzielt wurde.
Ich bin auch, wie schon erwähnt, nicht ganz
sicher, ob alle scheinbaren Erfolge wirklich
auf das Styracol zu beziehen sind, und bin
mir wohl bewußt, daß kaum etwas schwerer
zu beurteilen ist als der therapeutische
Effekt eines Mittels nicht auf ein bestimmtes
Symptom, sondern auf das Allgemeinbefinden.
Zur Orientierung über die Ausdehnung des
Erankheitsprozesses auf den Lungen ist die
Einteilung in Stadien nach Turban gewählt.
Ich gab in diesen Fällen durchweg 3 mal
täglich 1,0 Styracol in Tabletten, die übrigens
gekaut werden müssen. Styracol hat nur
geringen und nicht unangenehmen Geruch
und Geschmack und wird stets gern und
ohne Beschwerden genommen.
Fall 1 — 6 der Tabelle I sind initiale Lungen-
tuberkulosen. Bei Fall 4, der nur 9 Tage Styracol
bekam, fehlt jeder Effekt, ebenso bei Fall 6, der
7 Tage Styracol bekam; der letztere Patient bekam
anschließend wochenlang Eisen, ebenfalls ohne jeden
Erfolg. Fall 1 (3 Wochen Styracol, Besserung des
Appetits) und Fall 2 (3 Wochen Styracol, Beseiti-
gung kleiner Verdauungsbeschwerden) scheinen
gunstig beeinflußt zu sein. Bei Fall 5 und 7 hat
erst mit der Styracolmedikation die Zunahme be-
gonnen.
Fall 7—10 sind mittelschwere Falle. Fall 7
(14 Tage Styracol) erscheint kaum beeinflußt, ebenso-
wenig Fall 10 (7 Tage Styracol); der Patient No. 10
hatte vorher 3 Wochen Eisen ohne nennenswerten
Erfolg .bekommen. Bei Fall 8 (10 Tage Styracol)
und 9#(7 Tage Styracol) hat die Zunahme, die bei
ersterem recht beträchtlich ist, erst auf die Styracol-
medikation hin begonnen.
Fall 11 — 13 endlich sind ganz schwere Fälle.
Fei Fall 11 (Endstadium, Fieber) schien der Magen
das Styracol zu refüsieren; es wäre unrecht, dies
dem Styracol zur Last zu legen, da auch die
Nahrungsaufnahme fast ganz verweigert wurde, und
die Magenfunktion augenscheinlich schwer irritiert
war. Bei Fall 13 (schwere Pharyngitis, Bronchitis)
schien sich ein Einfluß auf die Expektoration geltend
zu machen. Nur Fall 12 verlief über alles Er-
warten günstig: wahrend der Styracolmedikation
(15 Tage) 3,7 kg Zunahme, weiter in fast 11 Wochen
nur 1,7 kg.
Ein sichrer Schluß läßt sich aus der
kleinen Zahl von Fällen nicht ziehen. Unter
Einrechnung der drei ganz schweren
Fälle erscheinen 7 von 13 günstig be-
einflußt. Dies Resultat erscheint
recht befriedigend, wenn man berück-
sichtigt, daß Styracol zu wirken schien, ob-
wohl alle Patienten in den überaus günstigen
Verhältnissen der Anstaltsbehandlung bereits
einen mächtigen Rückhalt in dem Kampf
des Organismus gegen die Tuberkulose hatten.
Das Styracol hat nun weiter eine klinisch
sehr wichtige Eigenschaft; seine beiden
Komponenten wirken im Darm in her-
vorragendem Maße desinfizierend und
fäulnis widrig. Es ist natürlich schwer
zu entscheiden und auch praktisch kaum von
Wert, ob an dieser Einwirkung Guajacol
oder Zimtsäure mehr teilhaben ; beide wirken
ja stark desinfizierend.
Experimentell haben Knapp und Suter in
der zitierten Arbeit diese faulniswidrige Wirkung
des Styracols nachgewiesen. Beim Zusatz von
Styracol zu Pankreasaufschwemmung in lproz.
Sodalösung tritt der faulige Geruch, den die fcon-
trollprobe und eine mit Thiocol versetzte Probe
nach kurzer Zeit zeigten, nicht auf.
Engels (9) hat Styracol bei Diarrhöen ver-
schiedensten Ursprungs durchweg mit bestem Er-
folg verwendet Er berichtet über 17 Fälle, die
sämtlich durch Styracol sehr günstig beeinflußt
waren. Es befanden sich unter diesen auch 4 Fälle
schwerer Diarrhöen bei Phthisikern, von denen
einer dauernd gut beeinflußt war, einer für lange
Zeit und 2 nur während der eigentlichen Behand-
lung. Engels sieht Styracol „als ein wertvolles
Mittel bei der Behandlung schwerer Fälle von
Darmkatarrh" an.
Auch Nacht (10) sah bei 4 seiner mit Styracol
behandelten Fälle von Phthisis prompte Wirkung
des Mittels gegen Diarrhöen. Endlich berichtet
Silberstein (11) über 7 Fälle verschiedenartiger
Darmkatarrhe, die er mit Styracol sehr günstig
beeinflußte; in 2 Fällen handelte es sich auch hier
um Diarrhöen bei Phthisikern.
Ich selbst habe einige 20 Fälle von Darm-
katarrhen bei Lungenkranken mit Styracol
behandelt. Ausgeschlossen habe ich ganz
akute Magendarmstörungen, die man mit
einem Laxans innerhalb von 24 Stunden
leicht beseitigt. Meine Fälle umfassen im
übrigen die ganze Skala der verschieden-
artigen Diarrhöen bei Lungenkranken von
schweren Darmtuberkulosen bis zum leichten
verschleppten Magendarmkatarrh, den man
gewöhnlich mit einem Adstringens behandelt.
Durchweg war der Erfolg sehr befriedigend.
Ich gab hier 3 mal bis höchstens 5 mal tag-
lich 1,0 Styracol in Tablettenform oder,
wenn das Kauen der Tabletten den Patienten
unangenehm war, als Pulver; auch hier
wurde Styracol stets gern genommen und
gut vertragen und veranlagte keinerlei Magen-
beschwerden. In der Tabelle II habe ich
eine Anzahl instruktiver Fälle zusammen-
gestellt.
Fall 1—5 sind ganz schwerkranke, sämtlich
kurze Zeit später ad exitum gekommene Patienten,,
die klinisch neben schwerer Lungentuberkulose das
Bild der Darmtuberkulose boten: rapider Verfall,
wäßrige, faulig riechende Stühle, Tenesmen, Koliken,
Schmerzhaftigkeit des eigentümlich gespannten
Leibes etc. Fäll 5 war völlig desolat: weder Sty-
racol noch Tannigen noch selbst Opium hatten
XIX. Jahrgang.!
Dezember 1905.J
Ulrici
, Therapeutische Wirkung; dea Styracola.
615
Tabelle 11.
Mama, Alter,
Stadium der
Kom-
Ge-
,
Geaehleebt das
Krankheit
Datum
Bemerkungen
Ordination
Patienten
nach Turban
plikationen
wicht
1. J. Z.,
Endstadium
hohes 1
9.7.04
Tag der Aufnahme
1
21J.,
Fieber, \
20. 10. 04
seit 4 Wochen häufig Durchfaule; Tan-
Styr. 3 m.
weibl.
Larynx- \
•tub.
22. 10. 04
2. 11. 04
nigen seit 10 Tagen ohne Erfolg
kein Durchfall mehr
kein Durchfall wieder
tgl. 1,0
2. E. E.,
Endstadiam
hohes
6. 10. 04
Tag der Aufnahme
Tannig.
18 J.,
Fieber,
tgl. 3— 4 mal Durchfall seit Wochen
3 m. tgl.
weibl.
Larynx-
tub.
18. 10. 04
24. 10. 04
6. 11. 04
langsame Besserung d. Durchfalls; jetzt
1 mal tgl. norm. Stuhl
wieder 2 mal tgl. Durchfall
langsame Besserung; jetzt lmal tgl. nor-
maler Stuhl
1,0
Styr. 3 m.
tgl. 1,0
3. F. W.,
Endstadium
hohes
28. 10. 04
Tag der Aufnahme
—
28 J.,
Fieber
hat öfter Durchfälle
weibl.
12.12.04
20.12.04
24. 12. 04
31. 12. 04
4. 1. 05
seit 14 Tagen Durchfall
Besserung; lmal tgl. fast norm. Stuhl
heftige Durchfälle
seit 5 Tg. 2 mal tgl. dünn-dickbreiiger St.
Stuhl wie 31. 12.
Styr.
Styr.
Tannig.
4. J.L.,
Endstadium
Fieber
28. 6. 04
Tag der Aufnahme
52,0
29 J.,
7. 12. 04
seit 3Mon. 16 Pfd. Abnahme, seit 14 Tagen
weibl.
14.12.04
8. 1. 05
Neigung zu Durchfällen
seit 4 Tagen fester Stuhl
hatte 2 mal Neigung zu Durchf., auf Styr.
sofort Besserung
44,3
44,6
Styr.
5. L.H.,
Endstadium
hohes
13 4. 05
Tag der Aufnahme; seit 4 — 6 Wochen
—
Styr.
22 J.,
Fieber
3 mal tgl. wässeriger Stuhl
Tannig.
weibl.
kein Erfolg
Opium
6. M.U.,
II. — III.
__
26. 3. 05
Tag der Aufnahme
66,0
36 J.f
seit Wochen lmal tgl. dunnbreiiger St.
männl.
1.4.05
8. 4. 05
22. 4. 05
29. 4. 05
6. 5. 05
Aufstoßen
unverändert
Stuhl fest, Aufstoßen besser
Stuhl immer fest, kein Aufstoßen
wieder Durchfall
so lange U. Styr. hat, Stuhl normal, bei
Aussetzen Durchfall
69,3
70,0
Styr.
Styr.
7. B.Q.,
III. schwer
schwere
2. 10. 04
Tag der Aufnahme
—
34 J.,
Larynx-
21. 3. 05
seit 14 Tagen dünner Stuhl
Plasmon
weibl.
tub.
28. 3. 05
31. 3. 05
4. 4. 05
unverändert
Stuhl dickbreiig
Stuhl fest
Styr.
8. E.T.,
III.
18. 6. 05
Tag der Aufnahme
50,6
36 J.,
seit 6 Wochen 3 mal. tgl. Durchfall
weibl.
22. 6. 05
6. 7. 05
unverändert
Stuhl nur alle 2—3 Tage und etwas kon-
sistenter
49,8
50,4
Styr.
9. A.B.,
III.
Fieber
20. 6. 05
Tag der Aufnahme
—
35 J.,
seit V, J. 2— 3 mal tgl. Durchfall
männl.
22. 6. 05
2. 7. 05
5. 7. 05
6.7.05
10. 7. 05
unverändert
Stuhl 2 mal tgl. dickbreiig
Stuhl fast normal
| wieder Durchfall
1 kaum Besserung
Styr.
Tannig.
10. R. H.,
II.-JII.
21. 4. 05
I Tag der Aufnahme
58,3
26 J.,
1 seit 3 Mon. 1—2 mal tgl. dünnbreiiger St.
männl.
25. 4. 05
i unverändert
58,4
Styr.
15. 5. 05
Stuhl lmal, konsistenter
59,5
11. G. T.,
IL— III.
14. 3. 05
' Tag der Aufnahme
62,0
40 J.,'
2. 5. 05
1 seit Monaten immer wiederkehrende
männl.
9. 5. 05
| Durchfalle mit Schmerzen im Leib
| Stuhl und Schmerzen besser
66,0
66,7
Styr.
616
Ulric), Ttierapeutische Wirkung d«s Slyracol«.
["Therapeutische
L Monatshefte.
Name} Alter,
Geschlecht des
Patienten
Stadium der
Krankheit
nach Turban
Kom-
plikationen
Datum
Bemerkungen
Ge-
wicht
Ordination
12.
13.
14.
S. L.,
45 J.,
mäunl.
F. R.,
36 J.,
weibl.
A. K..
40 J.,
weibl.
III.
IL
III. schwer
Lues 1. 11. 04 , Tag der Aufnahme
14.11.01 i seit 2 Tagen Stomatitis, heftige Durch-
fälle, geringes Fieber
17.11.04 keine Durchfälle
8. 12. 04 Befinden gut
— 6. 1. 05 Tag der Aufnahme
1 13. 1. 05 seit 2 Tagen heftige Durchfalle
20. 1. 05 seit 4 Tagen norm. Stuhl
31. 1. 05 Befinden gut
— ! 15. 1. 05 , Tag der Aufnahme
; 11. 4. 05 seit 3 Tagen heftige Durchfälle
| 14. 4. 05 Stuhl seit gestern in Ordnung
51.2 I
51.3 j Styr.
54,5 \
61,7
61,0
61,8
62,2
64,0
61,9
62,2
Styr.
Stvr.
irgend welchen Erfolg. Fall 2 und 3 zeigen eine
der Wirkung des Tannigens gleiche, günstige, aber
vorübergehende Styracol Wirkung. Bei Fall I über-
traf Styracol das Tannigen; dieser wie Fall 4
wurden durch Styracol überraschend günstig be-
einflußt. In allen 4 Fällen schwanden während
der Styracolbehandlung Tenesmen und Koliken.
Auch Fall 6—9 sind schwere chronische Darm-
katarrhe, die auf Darmtuberkulose recht verdächtig
waren, doch fehlten hier kolikartige Schmerzen
und ein objektiver Befund am Abdomen. Fall 6,
8 und 9 zeigten während der Styracolmedikation
ein sehr befriedigendes Verhalten; Fall 7 auch
darüber hinaus, doch wurde hier die weitere Beob-
achtung sehr bald abgebrochen.
Fall 10 und 11 sind leichtere chronische und
eubakute Darmkatarrhe, die ebenfalls durch Styracol
sehr günstig beeinflußt wurden; beide Fälle ver-
liefen auch weiterhin 6ehr günstig.
Fall 12 — 14 endlich sind akute, etwas ver-
schleppte Magendarmkatarrhe, bei denen Styracol
ganz nach Wunsch wirkte.
Gleichzeitig mit der Zahl und Konsistenz
der Stühle besserten sich in allen Fällen das
subjektive Befinden, vor allem Mattigkeit
und Tenesmen, in den ganz schweren Fällen
auch die kolikartigen Schmerzen. Das All-
gemeinbefinden hob sich zusehends, und die
Patienten waren mit dem Erfolg recht zu-
frieden. Der faule, widrige Geruch der
Stühle schwand innerhalb einiger Tage, und
die Flatulenz ließ nach. Styracol ver-
dient deshalb als Antidiarrhoicum bei
Phthisikern weitestgehende Berück-
sichtigung.
Wir haben im vorhergehenden zwei
Gruppen von Fällen gesondert betrachtet.
Während bei der 2. Gruppe, den Fällen von
Darmstörungen bei Lungenkranken, die ob-
jektive Beurteilung keine Schwierigkeiten
bietet, die antidiarrhoische Wirkung des
Styracols klar und deutlich zutage tritt, muß
man sich bei der Beurteilung der 1. Gruppe
doch größere Reserve auferlegen. Selbst in
den anscheinend sehr günstig durch Styracol
beeinflußten Fällen ist es schwer zu trennen,
wieviel der Anstaltsbehandlung an sich, wie-
viel dem Medikament zu danken ist. Wäh-
rend aber die günstige Beurteilung etwaiger
objektiver Besserung des Lungenbefundes
ausdrücklich vermieden werden soll, ist doch
in einer Reihe von Fällen eine günstige Be-
einflussung des Allgemeinbefindens unver-
kennbar. Man darf auch in dem an sich
berechtigten Skeptizismus einem solchen Medi-
kament gegenüber nicht allzuweit gehen und
etwa das Medikament verwerfen, weil sich
der Erfolg, der klinisch unverkennbar ist,
nicht in einer Tabelle evident erweisen läßt.
Wenn man erwägt, daß man selbst in der
Heilanstalt derartige Medikamente bei monate-
langer Behandlung kaum entbehren kann,
schon weil der Patient die zu langsame
Besserung in ersichtlicher Weise beschleunigt
sehen möchte, so kann um so weniger der
in der allgemeinen Praxis stehende Arzt sich
ohne solche Mittel behelfen. Wenn es sich
darum handelt, unter den zur Be-
handlung bei Lungenkranken empfoh-
lenen Medikamenten eine Auswahl zu
treffen, sollte das erst seit wenigen
Jahren zur Geltung kommende Styracol
weitgehende Beachtung finden.
Literatur.
1. Bouchard, Bulletin gener. de Therapie.
15. 10. 77.
2. Curschmann, Berl. klin. Wochenschrift
1879, No. 29 u. 30.
3. Fraentzel, Charite-Annalen, Bd. 4.
4. Sommerbrodt, Berl. klin. Wochenschrift
1887. No. 15 u. 48.
5. Nolen, in Schröder-Blumenfelds Therapie
der chron. Lungenschwindsucht, Abt. II, 3.
6. von Weismayr, in Otts Chemischer Pathol.
d. Tuberk. 16, B.
7. S. Fränkel, zit. bei v. Weismayr, cf. No. 6.
8. Knapp u. Suter, Arch. f. exper. Pathol. u.
Pharmakol. 1903, Bd. 50.
9. Engels, Ther. d. Gegenw. 1904, Hft 8.
10. Nacht, Arztl. Zentr.-Zeit. 1904, No. 49.
11. Silberstein, Deutsohe Praxis 1905.
XIX. Jahrgang. 1
Pozember IMS. J
Rau, Kasuistische Mitteilungen Über Collargolbehandlung.
617
Kasuistische Mitteilungen über
Collargrolbehandlung.
Von
Stabsarzt Dr. Rau in Wre sehen.
Der Artikel über Collargol in der August-
nummer dieser Zeitschrift läßt es mir wün-
schenswert erscheinen, weitere Beiträge über
dieses Thema der Öffentlichkeit zu über-
geben.
Wenngleich in der Weiß mann sehen Ab-
handlung eine ziemlich reichliche Literatur-
angabe vorliegt, so halte ich es bei der
Wichtigkeit dieses neuen therapeutischen
Weges doch für notwendig, alle Fälle zu
veröffentlichen, die geeignet sind, für diese
Behandlung genaue Indikationen zu bieten;
je mehr diesbezügliche Mitteilungen in die
Öffentlichkeit gelangen, um so mehr wird
der Anwendungsbezirk eines Mittels genau
beschrieben, um so weniger wird man dann
Ursache haben, über Mißerfolge zu klagen.
Die von Weißmann veröffentlichten
24 Fälle sind meines Erachtens nicht sämt-
lich beweisend für die Wirkung des Collargols ;
die 8 Fälle von Lymphangitis nach Insekten-
stichen bezw. kleineren Verletzungen sind
wohl a priori auszuscheiden, da derartige Er-
krankungen auch ohne Collargolbehandlung
günstig zu verlaufen pflegen; auch die vier
Phlegmonen wären vermutlich geheilt, nach-
dem, wie Weiß mann selber angibt, die
„notwendigen chirurgischen Eingriffe tt ge-
macht waren; ferner sind kurz verlauf ende
Erysipele auch keine Seltenheit. Interessant
sind hingegen die von Weiß mann angeführten
puerperalen Erkrankungen, weil hier in relativ
kurzer Zeit ein sehr günstiges Resultat er-
reicht worden ist. Wenn Weiß mann die
Wirkungsweise des Collargols bei Behand-
lung frischer Wunden, Verbrennungen u. 8. w.
lobend hervorhebt, so mochte ich glauben,
daß bei Empfehlung eines Mittels in so
vielseitiger Gestalt, als Verbandmittel, Streu-
pulver, Tabletten, Stäbchen, Vaginalkugeln,
schließlich die Hauptsache vergessen werden
kann, das heißt die Wirkungsweise dieses
Medikamentes auf allgemeine Infektionen;
dies scheint mir doch im wesentlichen das-
jenige Gebiet zu sein, auf dem noch am
meisten zu tun übrig bleibt. Wir haben
zur Behandlung äußerer Wunden und Ver-
letzungen ein so reichliches Arsenal von
Mitteln, daß wir füglich auf neuere Mittel
verzichten können, wenn sie nicht gerade
ganz Besonderes leisten, und das scheint
mir vom Collargol noch nicht erwiesen. Die
bisher erschienene Literatur über Collargol
enthält im wesentlichen auch nur Mitteilungen,
die die Wirkungsweise des Collargols bei
allgemeinen septischen Prozessen betreffen, die
vom puerperalen Uterus oder einer anderen
schwer infizierten Körperstelle ausgehen; eine
kausale Therapie ist in solchen Fällen in
ausreichendem Maße häufig nicht möglich,
leider müssen wir uns vielfach auf die sym-
ptomatische Behandlung beschränken.
Ich verfüge über zwei in letzter Zeit
gemachte Beobachtungen, die so sehr für die
Collargolbehandlung sprechen, daß ich in
jedem ähnlichen Falle diese Behandlung vor-
nehmen werde; ehe ich weitere Erfahrungen
gesammelt habe, möchte ich diese beiden
Fälle veröffentlichen, um weitere Kreise für
diese Behandlung zu interessieren, die wohl
geeignet ist, manches gefährdete Menschen-
leben zu retten.
Der erste Fall betrifft einen 19 jährigen Men-
schen, der in meiner Sprechstande erscheint und
angibt, seit 4 Tagen ein Geschwür am Halse zu
haben. Die Vorgeschichte ergibt, daß Patient vor
etwa 14 Tagen einen Furunkel im Nassen hatte,
der nach Auflegung eines Zugpflasters aufgegangen
sei; in der Tat befindet sich am Nacken eine im
Durchmesser 10 mm große, ziemlich flache Weich-
teilswunde, die mit gutaussehenden Granulationen
bedeckt ist. Am Stern um, oberhalb des Clavicula-
ansatzes links, befindet sich eine walnußgroße,
fluktuierende Geschwulst; Halsdrüsen stark ge-
schwollen. Pak ist ein kraftiger Mensch, der mir
von früher her bekannt ist, der mir aber durch sein
schlechtes Aussehen auffällt. Temperatur in der
Achselhöhle 40,2 (mittags 2 Uhr); der rechte Unter-
arm stark geschwollen; es scheint sich oberhalb
des Handgelenkes und dicht über dem Ellenbogen-
gelenk ein Abszeß zu entwickeln. Inzision des
fluktuierenden Abszesses; dem Vater wird dringend
geraten, den Sohn in Krankenhausbehandlung zu
geben. Am nächsten Tage kommt Patient wieder;
am Unterarm haben sien 2 große Abszesse ent-
wickelt, die inzidiert werden. Temperatur 40,0,
soll morgens 36,5 gewesen sein; Allgemeinbefinden
sehr schlecht; an der linken Thoraxseite beginnen-
der Abszeß; es besteht starker Durchfall; Puls 140.
Da Vater sich weigert, den Sohn in ein Kranken-
haus zu geben, werden 2 g einer 4 proz. Collargol-
lösung intravenös injiziert. Am nächsten Tage
Inzision des Abszesses; es entwickelt sich ein
weiterer in der Inguinalgegend. Allgemeinbefinden
wesentlich gebessert, Temperatur 38,2, Puls 100.
2 g Collargollösung intravenös injiziert. Am näch-
sten Tage erklärt Patient, gesund zu sein; Tem-
peratur 37,0, All gemein befindein gut; hat seit
5 Tagen zum ersten Male tüchtig gegessen. Am
nächsten Tage wird Abszeß in der Inguinalgegend
eröffnet, abermals Collargol intravenös. Die Tem-
peratur blieb dauernd normal, obgleich noch vier
Abszesse an den verschiedensten Körpergegenden
auftraten: Es wurden im ganzen an 6 Tagen 12 g
einer 4 proz. Collargollösung injiziert.
In vorliegendem Falle handelte es sich
um eine schwere Infektion, welche von der
granulierenden Wunde im Nacken herrührte.
Mit Erfolg sind die schweren pyämischen
Erscheinungen durch die Collargol inj ektion
gehoben worden, obgleich die metastatischen,
wesentlich das Unterhautzellgewebe betreffen-
den Entzündungen weiter fortbestanden.
618
Rau, Kasuiatiach« Mitteilungen über Collargolbehandlung.
iTberapentlaeh«
L Monatshefte.
Der zweite Fall betrifft eine Puerperalkranke.
Frau J., Primipara, wird mittels Zange von mir am
22. IX. 05 entbunden. Dabei entstellt ein kleiner
Dammriß I. Grades, der durch 2 Nadeln geschlossen
wird. Am Tage nach der Entbindung Schmerzen
links vom Uterus, die sich allmählich unter Fieber
steigern. 5 Tage post partum werde ich zur Kranken
gerufen; Temperatur 40,2, starke Kopfschmerzen,
mehrfach Schüttelfröste, mehrmals täglich Erbrechen,
Stuhlgang regelmäßig, Dammriß per primam geheilt,
starke Schmerzhaftigkeit links vom Uterus, Lochien
übelriechend. Aus folgender Tabelle ergibt sich
alles Weitere. Die Frau ist jetzt vollkommen gesund.
28. IX.
- 1 40,2 40,0
2^. IX.
39,2:40,2' 40,2
30. IX.
38,9 38,5 38,5
6 g 2 proz.
Collargollösung
1. X.
38,0(37,5:38,2
6g
do.
2. X.
38,0;38,0 37,3
3g
do.
3. X.
36,3; — |37,5
3g
do.
4. X.
37,0
37,5137,8
—
5. X.
36,4
37,0 38,0
6 g 2 proz.
Collargollösung
6. X.
36,0
37,0 38,1
3g
do.
7. X.
35,9
36,8 1 37,0
—
Was die Entstehung des Leidens betrifft,
so ist wohl eine Autoinfektion anzunehmen;
Pat. ist im Januar 1904 von mir wegen eines
entzündlichen Prozesses im linken Para-
metrium längere Zeit behandelt worden; sie
litt damals an den gleichen Schmerzen wie
diesmal post partum. Nachdem ich am 30. IX.
die erste intravenöse Injektion vorgenommen
hatte, war bereits die Abendtemperatur bei-
nahe einen halben Grad niedriger wie die
Morgentemperatur. Interessant ist es auch,
daß das sehr quälende Erbrechen am 1 . X. 05
wegblieb und nicht wieder auftrat. Die In-
jektionen wurden 2 mal täglich ausgeführt;
am 4. X. 05 mußten sie unterbleiben; den
Grund dafür werde ich weiter unten erörtern.
Man könnte nun sagen, die Frau wäre auch
ohne Collargol gesund geworden; gewiß, auch
dies kommt oft vor, jedoch ein so kurzer
Verlauf der Krankheit ist immerhin selten,
wenn die Krankheit so schwer eingesetzt hat,
und auffallend ist sowohl in dem ersten wie
zweiten Falle die sofortige Besserung des
Allgemeinbefindens und der bald eintretende
Temperaturabfall. In der Bewertung der
Zweckmäßigkeit einer neuen Therapie ist die
ärztliche Erfahrung, ich möchte auch sagen
das ärztliche Gefühl, ein wesentlicher Faktor,
und ich habe die Überzeugung, daß wohl
beide Patienten ohne Collargolbehandlung
nicht genesen wären. Selbstverständlich ist
in beiden Fällen von allen übrigen thera-
peutischen Maßnahmen Gebrauch gemacht
worden.
Die „Misokainia" vieler Ärzte habe ich
bisher auch geteilt, jedoch gebe ich gerne
zu, daß diese Furcht vor der intravenösen
Injektion nicht begründet ist. Ich habe aller-
dings zuerst die Lander ersehen Hetolinjek-
tionen bei einer Reihe von Patienten gemacht
und, wie ich gelegentlich später ausführlich
berichten werde, mit gutem therapeutischen
Erfolg; diese Art der Injektionen, bei denen
es sich um die Injektion von sehr geringen
Mengen Flüssigkeit handelt, bietet nicht die
geringsten Schwierigkeiten. Etwas kompli-
zierter gestaltet sich die Injektion der Col-
largollösung; erstens ist die dunkle Farbe
der Flüssigkeit insofern störend, als allmählich
in der Umgebung der kleinen Stichwunde sich
bläulichschwarze Hautverfärbungen bilden,
die nach einigen Tagen genau so aussehen
wie Yenen, so daß man bei schlecht ent-
wickelten Venen wie in meinem zweiten
Falle nachher die Venen von den verfärbten
Collargolstreifen nicht unterscheiden kann.
Aus diesem Grunde mußte auch die Injektion
am 4. X. unterbleiben. Hat man das Unglück,
in^inem solchem Falle die Vene nicht gleich
zu treffen, und injiziert dann etwas Collargol
perkutan statt intravenös, so entwickelt sich,
wie in meinem Falle, ein kleiner Abszeß;
derselbe heilte zwar in wenigen Tagen, es
ist aber doch möglich, daß schwerere Sym-
ptome dadurch bedingt werden können. Ferner
ist die relativ große Menge Flüssigkeit störend.
Etwa 3 Pravaz spritzen ist eine ganze Menge
Flüssigkeit, und es entsteht bei der Injektion
häufig ein Schmerz, der allerdings sofort nach
Entfernung der Umschnür ung verschwindet;
immerhin ist es zweckmäßig, den Patienten
darauf aufmerksam zu machen, daß etwas
Schmerz auftreten kann. Es würde sich
empfehlen, das Collargol nach dem Vorgang
Credos in 5 proz. Lösung zu injizieren,
um so mit einem geringeren Volumen aus-
zukommen. Die Erfahrung muß dann lehren,
ob diese immerhin starke Überflutung des
Blutes mit Silber dem Organismus nicht
nachteilig ist; auf Grund der bisherigen Re-
sultate ist das allerdings nicht zu befürchten.
Es scheint mir wahrscheinlich, daß die
Collargolbehandlung den Beifall weiterer
ärztlicher Kreise finden wird; wenn erst
jedermann sich mit der Technik befreundet
und die Furcht vor der „Luftblase" verloren
haben wird, so wird sich auch die Anwen-
dung intravenöser Injektion anderer Medi-
kamente allmählich Freunde erwerben; denn
ich verstehe nicht, warum man nicht auch
andere Mittel wie Morphium, Digitalis, Stro-
phanthus, Kampfer intravenös anwenden soll,
zumal wenn es darauf ankommt, rasche
Wirkung herbeizuführen. Die Tierarznei-
kunde ist uns in dieser Hinsicht mit gutem
Beispiel vorangegangen; auch dort wird vor-
zugsweise mit intravenöser Injektion seit
längerer Zeit gearbeitet und, wie mir ver-
sichert wurde, mit vorzüglichem Erfolge.
XIX. Jahrgang.!
De»emb»r 1906.J
Aufrecht, Eine neue Flasche für Säugling*.
619
Eine neue Flasche für Säuglinge«
Von
Geh. San.-R. Dr. Aufrocht in Magdeburg.
Die zur künstlichen Ernährung von Säug-
lingen allgemein gebräuchliche Flasche be-
findet sich auch heutzutage noch in einem
primitiven Zustande, vor allem deshalb, weil
während des Saugens die Öffnung des Gummi-
säugers, durch welche der flüssige Inhalt
der Flasche entzogen wird, auch der Luft
den Eintritt in die Flasche gestatten muß.
Wer unter diesen Verhältnissen die Kinder
beim Saugen zu beobachten Gelegenheit hat,
der kann sich leicht davon überzeugen, daß
mit dem Eintreten der Luft durch dieselbe
Öffnung des Säugers, aus welcher die Nähr-
flüssigkeit austritt, zweierlei Mängel ver-
knüpft sind. Ist die Öffnung im Säuger zu
klein, dann kann die Luft nicht bequem und
rasch genug in die Flasche eintreten, der
Säuger fallt infolge der Luftverdünnung in
der Flasche zusammen, die Kinder können
nicht weiter trinken; der Säuger muß von
den Lippen losgelassen werden, und damit
wird das Saugen ein unterbrochenes und
mühsames.
Wird aber umgekehrt die Öffnung im
Säuger etwas groß angelegt, dann kann zwar
sehr leicht neben dem austretenden Nahrungs-
stoffe Luft in die Flasche eintreten, aber in
den meisten Fällen ist damit ein anderer,
bei weitem bedeutsamerer Übelstand ver-
knüpft, die Flüssigkeit strömt, zumal beim
anfänglichen Hineinhalten des Säugers in den
Mund des Kindes, in so reichlicher Menge
in den Mund, daß sie durch die Schluck-
bewegungen nicht bewältigt werden kann.
Die Folge davon ist, daß das Kind sich
„ verschluckt a, d. h. daß ein Teil der Flüssig-
keit in die Luftröhre gerät und aspiriert
werden kann. Sobald aber die Pflegerin
diesem Übelstande zu entgehen sucht und
dem Kinde die Flasche so hält, daß die
Flüssigkeit eben an die Öffnung im Säuger
gelangt, kann es leicht geschehen, daß das
Kind zugleich mit der Milch auch Luft ver-
schluckt.
Eine Mutter, die sich ausschließlich der
Pflege ihres einzigen Säuglings widmet, wird
wohl imstande sein, die Schwierigkeiten zu
überwinden, welche durch die technischen
Mängel der Saugflasche bedingt sind; sie wird
ein zu reichliches Ausfließen der Nährflüssig-
keit aus dem Säuger durch Hochrichten des
kindlichen Oberkörpers, durch entsprechendes
Halten der Saugflasche zu verhüten wissen
und sowohl eine Aspiration der Flüssigkeit
als auch das Mitschlucken von Luft ver-
meiden. Eine solche Sorgfalt aber kann in
Th. M. 1005.
Findelhäusern oder in Säuglingsheimen oder
in Krankenhausabteilungen für kranke Säug-
linge nicht oder wenigstens nicht immer auf-
geboten werden. Ich glaube kaum, daß irgend
eine derartige Anstalt existiert, in welcher
eine Pflegerin weniger als 6 Säuglinge zu
versorgen hat, sicher aber gibt es viel mehr
Anstalten, in welchen die Zahl der auf eine
einzelne Pflegerin angewiesenen Kinder eine
größere ist. In solchen Fällen aber kommt
es dazu, daß den Kindern die gefüllte Flasche
mit dem Säuger in den Mund gesteckt und
vor ihnen liegen gelassen wird. Wie häufig
dabei die Kinder ihr Saugen unterbrechen
und zu husten anfangen — ein Beweis, daß
sie sich verschluckt haben — wissen die
Pflegerinnen am besten; wie häufig Luft mit
der Flüssigkeit zugleich in den Magen ge-
langt ist, vermögen sie aber kaum fest-
zustellen.
Nach meinem Urteil ist ein Teil der
Verdauungsstörungen bei Säuglingen, welche
der Massenfürsorge anheimgefallen sind, auf
die durch eine zu große Öffnung erzwungene
rasche Aufnahme der Nährflüssigkeit, mit
welcher häufig auch Luft verschluckt wird,
zurückzuführen, und die größte Zahl von
katarrhalischen Pneumonien, welche bisher
als kachektische aufgefaßt worden sind, ebenso
wie die Aspirationspneumonien bei Säuglin-
gen1) sind als eine Folge des „Verschluckens*
der Nährflüssigkeit, welche in die Luftröhren-
zweige gelangt ist, anzusehen.
Um diesen Übelständen abzuhelfen, habe
ich mir eine Flasche für Säuglinge anfertigen
lassen, welcher die erwähnten Mängel — Er-
schwerung der Entleerung, also Unbrauchbar-
keit bei zu enger Öffnung im Säuger einer-
seits, allzu, reichliches Ausfließen bei zu
weiter Öffnung mit den erwähnten schäd-
lichen Folgen andererseits — nicht an-
haften.
Diese Flasche hat nicht die bisherige
nahezu zylindrische Form, sondern die eines
halben Zylinders, kann also platt aufliegen.
Außer der Flaschen Öffnung, auf welche der
Säuger aufgesteckt wird, befindet sich auf
dem höchsten Punkte des Halbzylinders eine
kleine Öffnung, durch welche entsprechend
dem Quantum der abgesaugten Nährflüssigkeit
Luft in die Flasche einströmen kann. Der
Hals der Flasche ist etwas nach unten ge-
') Vgl. Aufrecht, Die Lungenentzündungen
in Nothnagels Pathologie and Therapie Bd. 14,
Teil 2, 1897, S. 181 und 241. Ferner: Die Pneu-
monie im Kindeaalter. Verhandlungen der Gebell-
schaft für Kinderheilkunde 1898, Bd. 14. — Die
Unterschiede zwischen katarrhalischer und Aspi-
rationspneumonie sind an den angegebenen Stellen
eingehend erörtert.
47
620
Aufrecht, Ein« neu* Flasche für Säuglinge.
rrbarapeirtladia
L Monatshefte.
neigt. Der nachfolgende Längsdurchschnitt
dürfte das Ganze zur Genüge illustrieren.
Bei einer derartig konstruierten Flasche
darf die Öffnung im Säuger so eng sein, daß
der flüssige Inhalt eben tropfenweise heraus-
dringt, der kindliche Mund aber vermag ihn
ohne Schwierigkeit herauszusaugen, weil die
Luft durch die kleine Öffnung am obersten
Punkte der Flasche nachdringen kann.
Diese Form der Säuglingsflasche ist nun
seit 2 Jahren auf der Säuglingsabteilung der
inneren Station des Altstädter Krankenhauses
im Gebrauch und erfreut sich vor allem des
Beifalls der Pflegerinnen.
^
Im übrigen sind die Vornahmen bei der
Herstellung der Nährflüssigkeit so, wie sie
bisher getroffen worden sind. Die Milch wird
mit dem entsprechenden Zusatz von Wasser
oder einer Hafermehlabkochung in die Flasche
getan, die Halsöffnung derselben wie seit
14 Jahren auf Grund meiner damaligen
Empfehlung8) mit Watte geschlossen, was
jetzt auch mit der kleinen seitlichen Öffnung
geschieht, und nun im Soxhletapparat gekocht.
Entsprechend der Flaschenform hat der
Flaschenhalter etwas anders geformte Aus-
schnitte erhalten. Wenn die Flasche resp.
deren Inhalt verwendet werden soll, wird
die Watte aus dem Halse entfernt, dieser
mit einem sterilen Gazeläppchen ausgewischt
und dann der Säuger aufgesetzt. In diesen
Säuger ist eine Öffnung eingebrannt, die so
klein sein muß, daß der Inhalts der Flasche
nur tropfenweise ausfließen kann. Für das
saugende Kind reichen solche Öffnungen voll-
kommen aus, weil durch das kleine seitliche
Loch in der Flasche die Luft bequem nach-
dringen kann. Der hier angebrachte Watte-
verschluß ermöglicht die Filtration der in
die Flasche eintretenden Luft. Wird das
Wattestückchen feucht, dann kann es sehr
leicht ersetzt werden.
Außer der Vermeidung der erwähnten
Mängel der bisher benutzten Flasche bietet
die hier empfohlene noch den Vorteil, daß
sie mit ihrer platten Fläche gut liegen kann
und dem saugenden Kinde nicht immer vor-
gehalten zu werden braucht. Nur wenn die
Flüssigkeit in der Flasche auf die Neige
geht, muß darauf geachtet werden, daß von
3) Aufrecht, Eine Notiz über die Zubereitung
der Kindernahrang für Säuglinge. Deutsche med.
Wochenschrift 1892, No. 51.
dem Kinde nicht gleichzeitig Luft eingesaugt
wird.
Ich bin überzeugt, daß die in Findel-
und Krankenhäusern häufig im An-
schluß an Darmkatarrhe auftretenden
katarrhalischen Pneumonien, die einen
bedeutenden Faktor der Kindersterb-
lichkeit in solchen Anstalten bilden
und bisher als kachektische katarrha-
lische Pneumonien oder, richtiger ge-
sagt, als Pneumonien kachektischer
Kinder aufgefaßt worden sind, bei der
Benutzung der von mir empfohlenen
Flasche nicht mehr auftreten werden,
weil hierdurch ein allzu reichliches
Einströmen von Milch in den Mund
der Kinder verhütet wird. Wenn gerade
bei den durch Darmkatarrhe geschwächten
Kindern am allerhäufigsten katarrhalische
Pneumonien vorkommen, so erklärt sich das
aus dem Umstände, daß gerade diese ge-
schwächten Kinder nicht imstande sind, die
in den Larynx und Pharynx hineingeflossene
Milch durch entsprechend kräftige Husten-
stoße zu entfernen, so daß dieselbe in die
feineren Bronchien gelangen und hier ent-
zündungserregend wirken kann3).
Zur Therapie der diphtheritlschen
Iiarynxstenose.
Von
Dr. Heoht in Beutben, O.-Schl.
Im Oktoberheft dieser Monatsschrift
(S. 518) bringt Dr. Rudolph in Magdeburg
die Opiummedikation der diphtheritischen La-
rynxstenose auf Grund dreier glücklich ver-
laufener Fälle in empfehlende Erinnerung.
Merkwürdigerweise wird diese Behandlungs-
methode, welche meines Wissens zuerst von
Dr. Stern1) empfohlen worden ist, in den
Lehrbüchern nicht erwähnt, obwohl die Be-
rechtigung zu ihrer Anwendung in geeigneten
Fällen nicht bestritten werden kann. Es
handelt sich nur um die Frage, in welchen
Fällen ist begründete Aussicht vorhanden,
den Luftrohrenschnitt durch die Opiummedi-
kation zu ersetzen.
Bei Beantwortung dieser Frage ist zu-
nächst darauf hinzuweisen, daß die Opium-
behandlung einen kräftigen Puls zur Yoraus-
3) Die neue Flasche wird von Herrn Instru-
mentenmacher Middendorff, Magdeburg, Breite-
weg 155, einzeln zum Preise von 15 Pf., bei Ab-
nahme einer größeren Menge zum Preise von 12 Pf.
and als Probe nach auswärts mit Einschloß von
Porto und Verpackung zum Preise von 40 Pf.
geliefert.
>) Tberap. Monatsh. 1894, S. 197 f.
XIX. Jahrgang.!
Peiembcr I906.J
H*Cht, Thttapfe der diphtherischen Larynxstenote.
621
Setzung haben muß. In Fällen, wo eine
akute Myokarditis als Komplikation nach-
gewiesen wird, werden wir demnach berech-
tigte Bedenken hegen müssen, Opium zu
verordnen, wollen wir nicht Gefahr laufen,
«inen Kollaps hervorzurufen. Alsdann muß die
Möglichkeit gegeben sein, die Erscheinungen
der Larynxsteno8e in den nächsten 24 Stunden
zu beseitigen. An diese Möglichkeit ist aber
nur zu denken, wenn das Atmungshindernis
nicht durch diphtheritische Pseudo-
membranbildung, sondern durch akute
Schwellungszustände und entzündliche
Reizungen im Larynx bedingt ist. Gerade
diejenigen Fälle sind als die mildesten Formen
der Diphtherie zu betrachten, welche lediglich
katarrhalische Veränderungen der Schleimhaut
darbieten. Diese katarrhalische Laryngitis
kann sich in derselben Weise äußern, wie
der echte fibrinöse Krup (Baginsky2)).
So wurde ich am 28. November 1904
zu der 7 Jahre alten Tochter des Werk-
meisters Z. gerufen, weil sie fiebere und
über Halsschmerzen sowie Heiserkeit klage.
Ich konstatierte eine katarrhalische Angina
und Laryngitis. Heiße Umschläge und In-
halationen mit einer 1 proz. Zink- Alaunlösung
pflegen mir in diesen Fällen gute Dienste
zu leisten. Und so glaubte ich, auch in
diesem Falle mit dieser Medikation baldige
Besserung in Aussicht stellen zu können.
Jedoch sollte ich mich bald davon überzeugen,
daß die Erkrankung ernsterer Natur ist. Als
ich am folgenden Tage das Kind abermals
besuchte, machte es einen schwerkranken
Eindruck. Fahle Gesichtsfarbe, tiefliegende
Augen, unheilverkündende Schatten um die-
selben, mühevolles, langgezogenes inspira-
torisches Atmen ließen keinen Zweifel zu,
daß die Laryngitis diphtheritischer Natur ist,
obgleich der Pharynx auch an diesem
Tage von diphtheritischen Belägen
völlig frei war. Infolgedessen injizierte
ich sofort Behrings Heils erunm No. III
und ließ den Dampfspray fortgebrauchen.
Jetzt ließ die Besserung nicht mehr lange
auf sich warten. Bei meiner am folgenden
Tage abgestatteten Visite konnte ich mit
großer Genugtuung feststellen, daß die ste-
notischen Erscheinungen behoben, und damit
jede Gefahr beseitigt war.
Dasselbe Krankheitsbild beobachtete ich
bei dem 4 Jahre alten Knaben des Maschinen-
putzers F. aus Alt-G. Am 7. August 1903
wurde mir derselbe wegen Heiserkeit zuge-
führt. Da der Pharynx nur katarrhalische
Veränderungen darbot, ließ ich Zinkalaun
') Nothnagels Spez. Pathologie und Therapie,
Bd. II. Diphtherie und diphtherischer Krup von
Prof. Dr. A. Baginsky, S. 237.
inhalieren und um den Hals Kompressen
machen. Nach 36 Stunden hatte sich eine
solche bedrohliche Atemnot eingestellt, daß
der Luftröhrenschnitt angezeigt erschien. Da
jedoch zur Vornahme der Operation Vor-
bereitungen nicht getroffen waren — die
Eltern wohnen auf dem Lande in freiem
Felde — injizierte ich außer Heilserum
No. III Morphium 0,003 und ließ den Dampf-
spray unausgesetzt funktionieren. Auch in
diesem Falle konnte ich weder in der
Nase noch im Rachen irgend welche
für Diphtherie sprechende Befunde
feststellen. Trotz der eingeschlagenen Be-
handlung nahmen zunächst die stenotischen
Erscheinungen in der folgenden Nacht derart
zu, daß das Kind, wie die Mutter berichtete,
jeden Augenblick zu ersticken drohte. Plötz-
lich — es war in der sechzehnten Stunde
nach der Injektion des Heilserums — ließ
der Stridor nach, die Atmung wurde ruhiger,
tiefer Schlaf stellte sich ein, und das Kind
war gerettet.
In solchen Fällen, wo im Nasenrachen-
raum keinerlei diphtheritische Plaques sich
nachweisen lassen, kann der scheinbar primäre
Larynxkrup im Gefolge eines leicht fieber-
haften, anscheinend harmlosen Schnupfens
durch Überspringen der Entzündung von der
Rachentonsille auf den Larynx entstanden
sein (Heubner3)). An diese Möglichkeit
muß auch schon deswegen gedacht werden,
weil die Erfahrung lehrt, daß schon ein ein-
facher Schnupfen in sehr kurzer Zeit zu
stenotischen Erscheinungen im Larynxeingange
Anlaß geben kann (Henoch4)). In anderen
Fällen entwickelt sich die Larynxstenose im
Laufe einer scheinbar harmlosen Angina la-
cunaris. Hierbei kann es geschehen, daß die
Pfropfe, zumal wenn sie nur winzig klein
und wenig zahlreich sind, sehr bald dem
Nachweise sich entziehen, so daß der Unter-
sucher bei Beurteilung des Halsleidens ledig-
lich auf die schmerzhafte Schwellung der
retromaxillaren Lymphdrüsen angewiesen ist.
An diese Möglichkeiten wird sich der Arzt
zu erinnern haben, ehe er zu der Diagnose
des primären Larynxkrup sich bestimmen
läßt. Diese Diagnose ließe sich nur dann
rechtfertigen, wenn die bakteriologische Unter-
suchung auf Diphtheriebazillen im Nasen-
und Rachensekret fehlschlägt. Jedenfalls ge-
winnt der Beobachter gerade bei solchen
Fällen, wo weder ätzendes Nasensekret noch
diphtheritischer Belag im Pharynx nachweis-
bar ist, den Eindruck, daß die diphtheri-
8) Lehrbuch der Kinderheilkunde. Leipzig 1903.
Bd. I, S. 461.
4) Vorlesungen über Kinderkrankheiten. VI. Aufl.
S. 329.
47*
622
H*cht, Thmwpie der diphtherischen Larynxttenose.
fTner*]
L Moni
Monatsheft«.
tische Larynxstenose weniger durch
Pseudomembranbildung als durch ka-
tarrhalische Schwellung der Schleim-
haut bedingt ist.
Für die Richtigkeit der von mir ver-
tretenen Anschauung sprechen auch folgende
Beobachtungen:
Am 10. Februar 1903 wurde ich 1 '/, h. p. m.
zu der 6 Jahre alten Tochter des Hausbesitzers
Schw. gerufen. Nach Angaben des Vaters erkrankte
das Kind am 8. Februar 1903 abends. Der herbei-
gerufene Arzt konstatierte Diphtherie und spritzte
noch am selben Tage Heilserum ein. Im Laufe
des folgenden Tages stellten sich Hasten und Heiser-
keit ein. Hierzu gesellte sich bald eine solche
Atemnot, daß der behandelnde Arzt den Luft-
röhrenschnitt in Vorschlag brachte. Da er jedoch
für die Erhaltung des kindlichen Lebens keine
Garantie übernehmen wollte, lehnte der Vater die
Vornahme der Operation ab und zog einen andern
Arzt zu. Aber auch dieser erklärte den Zustand für
höchst bedrohlich und gab jede Hoffnung auf Er-
haltung des Lebens auf. Als ich das Kind zum ersten-
mal sah, fand ich den Pharynx bereits frei von diph-
therischen Belägen. Trotzdem bestand hochgradige
Atemnot und Unruhe. Da nach dem Rachenbe-
funde zu urteilen, die Wirkung des Heilserums be-
reits eingetreten sein mußte, konnte meines Er-
achten 8 die Larjnxstenose nicht mehr durch Pseudo-
membranbildung, sondern lediglich durch entzünd-
liche Schwellung der Larynxschleimhaut bedingt
sein. Aus diesem Grunde verordnete ich nur den
Dampfspray mit dem überraschenden Erfolge, daß die
Erstickungsgefahr nach drei Stunden beseitigt war.
Ein anderer Fall betraf die 8 Jahre alte Tochter
des Kontrolleurs v. F. Dieselbe erkrankte am
21. Juni 1903 an Angina follicularis und daran
anschließend an multiplem Gelenkrheumaiismus.
Am 27. Juni 1903 — das Kind hatte das Bett
wegen des Rheumatismus noch nicht verlassen —
konstatierte ich nachmittags auf der rechten Mandel
diphtherischen Belag von Bohnengröße und Heiser-
keit mäßigen Grades. Trotzdem sofort Heilserum
No. III eingespritzt worden ist, steigerte sich der
Luftmangel in der folgenden Nacht derart, daß ich
an die Vornahme des Luftröhrenschnittes denken
mußte. Nur die Erwägung, daß bei der geringen
Ausdehnung des Belages die Krupmembranbildung
sich unmöglich bereits auf das Kehlkopfinnere
erstreckt haben konnte, bestimmte mich noch ab-
zuwarten. Zur Beruhigung; erhielt das Kind vier-
stündlich 3 Tropfen Tinct. tnobaica, außerdem wurde
der Dampfopray unausgesetzt in Gang erhalten.
Auf diese Weise gelang es nach 18 Stunden, die
Erstickungsgefahr zu beseitigen.
Ein dritter Fall betraf den 3 Jahre alten
Knaben F. N. Derselbe hatte im März 1902 zu
§ leicher Zeit mit seinen beiden Geschwistern Masern
urchffemacht. Im Verlaufe derselben stellte sich
Heiserkeit ein, welche der üblichen Behandlung
nicht weichen wollte. Da die Halsorgane nur
katarrhalische Veränderungen aufwiesen, mußte die
Hartnäckigkeit des Kehlkopfleidens Verdacht er-
regen, zumal letzteres die ursprüngliche Krankheit
bereits um 12 Tage überdauerte. Gewißheit über
die Natur des Halsleidens brachte erst das Auf-
treten stenotischer Erscheinungen. Da dieselben
einer Injektion von Behring No. III bereits in den
nächsten 24 Stunden wichen — der Dampfspray
wurde fortgesetzt — , i&t die Annahme gerechtfertigt,
daß dieLaryngitisdiphtheritischerNaturwar, obgleich
der bakteriologische Nachweis nicht erbracht ist.
Dieser Fall mahnt uns, wie schon He noch5)
geraten hat, die bei den Masern auftretende
Heiserkeit immer recht ernst zu nehmen,
weil aus dem Larynxkatarrh leicht eine
heftigere Entzündung mit fibrinösem Exsudat,
mit einem Worte wahrer Krup, sich bilden
kann. „Im Halse ist meist kein Belag zu
sehen, und man ist noch darüber uneinig, ob
alle Fälle oder nur ein Teil von ihnen auf echte
Diphtheritis des Kehlkopfes zurückzufuhren
sind, und der Rest auf einer besonders
starken Laryngitis infolge der Masern be-
ruht" (Romberg6)).
Diese Fälle, denen ich noch eine Reihe
anderer hinzufügen könnte, mögen genügen,
um die noch wenig gewürdigte Tatsache zu
erhärten, daß ein Teil der Fälle von diphthe-
ritischer Larynxstenose nicht durch Mem-
branbildung, sondern durch ödematose
Schwellung der Kehlkopfschleimhaut
bedingt ist. Wurde das Diphtherieheil-
serum frühzeitig und in gehörigen Dosen
injiziert, so ist die Hoffnung berechtigt, daß
es gelingen wird, das Atmungshindernis in
den nächsten 24 Stunden zu beseitigen. Zu
diesem Zwecke lasse man mehrmals täglich
den Dampfspray, vielleicht auch den Kokain-
Adrenalinspray gebrauchen und gebe zur
Stillung des Lufthungers Opium innerlich.
Wenn wir erwägen, daß durch die Trachco-
tomie die nasale Atmung ausgeschaltet wird,
und hierdurch günstige Bedingungen zur Ab-
siedlung septischer Mikroben wie des Strepto-
kokkus und Pneumokokkus geschaffen werden,
daß ferner der ohnehin geschwächte Organis-
mus an den Folgen dieser Mischinfektion
zugrunde gehen kann (Heubner7)), so wird
den Bestrebungen, welche den Luftröhren-
schnitt zu vermeiden suchen, wissenschaftliche
Berechtigung nicht abgesprochen werden
dürfen.
(Aus dem pharmakologischen Institut der Unlrersit&t Wfire-
burg: Prof. Kunkel.)
Kritisch -experimentelle Beiträge
zur Wirkung: des Neben nierenextrakte*
(Adrenalin).
Von
Dr. med. 8. Möller in Altona.
(Von der medizin. Fakultät "Wartburg preisgekrönte Arbeit.)
[Forttttxung.]
.Da ja bekanntlich in der therapeutischen
Anwendung der Nebennierenextrakte bis jetzt
fast nur die lokale Applikation in Frage
kommt, lohnt es sich wohl, auch auf diesen
*) Ibidem S. 696.
6) Lehrbuch der inneren Medizin von Prof.
v. Mering. III. Aun. S. 156.
7) Ibidem S. 464.
XIX. Jahrgang.!
Dewabw IW5.J
Möller» Wirkung det Neb«nnlerenextr*ktOT (Adrenalin).
623
Punkt etwas näher einzugehen. Wenn ja
auch natürlich hier die klinischen Erfolge
die Hauptsache sind und in den Vorder-
grund der Betrachtungen speziell für den
Kliniker zu stellen sind, so muß doch wohl
betont werden, daß durch die theoretische
Betrachtung und durch die Nachprüfung im
Laboratorium, im Tierexperimente manches
aufgeklärt werden kann, was in der thera-
peutischen Anwendung sich wohl durch die
Erfahrung zeigte, aber nicht mit Sicherheit
bewiesen werden konnte. So ist auch in
bezug auf die Frage der lokalen Adrenalin-
wirkung noch manches zu beantworten, speziell
ist die Frage, wie weit sich die Allgemein-
wirkung des Adrenalins bei lokaler Appli-
kation erstreckt, noch ziemlich unbeantwortet.
Yon mehr theoretischem Interesse ist es, ob
die so eklatante Anämisierung durch die
Gefäßkontraktion sich auch bis auf die feinsten
Kapillaren hin erstreckt. Wie verhält es
sich mit der yon manchen beobachteten
Nachblutung?
Lokale Applikation. Wirkung auf
verschiedene Gefäßgebiete.
Daß sich die kontrahierende Wirkung bei
lokaler Applikation wohl auf alle Gefäß-
gebiete erstreckt, mit Ausnahme der Lungen,
darf wohl als sicher angenommen werden.
Daß das Lungengefäßgebiet auch bei lokaler
Applikation von der Konstriktion ausge-
schlossen ist, darauf habe ich ja schon im
vorigen Abschnitt hingewiesen. Ich betone
hier noch einmal die Beobachtungen Velichs,
der wie auch Langlois bei direkter Appli-
kation auf die Lunge kein Erblassen ein-
treten sah. Auch meine Beobachtungen an
der Lunge des Frosches sprechen dagegen.
Wie nun die von einigen Klinikern beob-
achtete günstige Wirkung des Adrenalins bei
Hämoptyse zu erklären ist, läßt sich nicht
sagen. Andere wie Renon und Louste,
Kasten etc. haben nie eine solche gesehen.
Ob durch die tuberkulösen Prozesse eine
solche Veränderung der Blutgefäße der Lunge
stattgefunden hat, daß das Nebennierenextrakt
auf sie wirken kann, darüber läßt sich natür-
lich nichts sagen, und ist dieses wohl so gut
wie ausgeschlossen. Auf die normalen Lungen-
gefäße ist es jedenfalls ohne Wirkung. Es
wird vielmehr neuerdings von 'französischen
Forschern gerade das Gegenteil für die Hämo-
ptyse empfohlen, das Amylnitrit, das durch
die Gefaßerweiterung eine starke Herabsetzung
des Blutdruckes in der Lunge bewirkt und
so die Blutung vermindert.
Was die übrigen Gefäßbezirke anbetrifft,
so haben die schon bei der Allgemeinwirkung
erwähnten Versuche ja ergeben, daß fast alle
Bezirke in dem einen oder dem anderen
Falle durch Adrenalin eine deutliche Gefaß-
verengerung zeigen. Durch die künstliche
Durchblutung der isolierten Organe, Extremi-
täten etc. ist dann gezeigt worden, daß die Wir-
kung überall peripherischer Natur ist. Schon
Biedl und Velich haben mit dem Neben-
nierenextrakt an künstlich durchbluteten iso-
lierten Organen diese peripherische gefäß-
kontrahierende Eigenschaft festgestellt, und
seitdem sind teils mit dem Onkometer nach
Roy, teils durch Messung der Ausflußmenge,
teils durch Inspektion diese Versuche zu den
verschiedensten Zwecken wiederholt worden.
So zeigt Gottlieb an der isolierten Niere
die Wirkung des Adrenalins auf ein vorher
mit Ghloralhydrat behandeltes Organ. B ardier
und Frenkel vergleichen das Nieren volumen
vor und nach Adrenalinwirkung im Zusammen-
hang mit Störungen der Urinsekretion.
Batelli und Embden und Fürth auch
Langlois benützen diese künstlich durch-
bluteten Organe, um zu zeigen, ob in der
Leber das Adrenalin bei der Ausübung seiner
gefäßverengernden Wirkung mehr zerstört wird
als an den Extremitäten und so noch anderes.
Überall zeigte sich hier die Gefäßkonstriktion,
nur nicht an der Lunge. Recht eklatant soll
sich auch nach Kurdinowski diese Wirkung
der Gefäßverengerung an dem künstlich durch-
strömten Uterus zeigen. In einer größeren
Anzahl von Versuchen ist ferner gezeigt
worden, daß durch die lokale Applikation
an den verschiedenen inneren Organen recht
gute anämisierende Wirkung erzielt werden
konnte. Hervortretend ist hier, wie dieses
natürlich auch einleuchtend ist, der Unter-
schied, der in der an anvisierenden Wir-
kung je nach dem Blutreichtum des be-
treffenden Organes auftrat. Die schon ein-
mal erwähnten Versuche von Carnot und
Josserand ergaben allerdings bei direkter
Applikation ein ziemlich negatives Resultat.
In den Fällen, wo sie bis 1 mg durch Auf-
tropfen applizierten, sahen sie auf Magen
und Darm geringe anämisierende Wirkung,
auf Leber, Niere und Lunge gar keine Wir-
kung. Auch bei lokaler Injektion kleiner
Dosen war hier die Anämisierung sehr gering.
Doch hat ja das Experimentieren an er-
öffneter Bauchhöhle immer seine Nachteile,
da die Abkühlung und andere pathologische
Reizung bei den empfindlichen abdominalen
Organen immer mit in Betracht zu ziehen
sind, und nebenbei diese Wirkung therapeu-
tisch ja noch wenig in Betracht kommt.
Andere Autoren haben hier allerdings speziell
bei der lokalen Injektion viel bessere Resultate
erhalten, wie wir gleich sehen werden.
634
Möller, Wirkung dM N*b«uü«r«a«xtr**t«s (Adrenalin).
Therapeutische Anwendung.
Subkutane Injektion.
Die Wirkung verschiedener Dosierung bei
subkutaner Iojektion ist zuerst von Braun
näher analysiert worden. Er bildete mit
verschiedenen Verdünnungen der käuflichen
Sol.AdrenaLhydrchl. Quaddeln am Vorderarm
von dem Durchmesser f/a cm- Bei ^er Lösung
1 : 1000 erhielt er dann eine anämische, voll-
kommen weiße Zone in der Umgebung der
Quaddel, so daß der Durchmesser dieser
Stelle dann 2 — 6 cm betrug. Die Anämie
hielt etwa 1 Stunde an und ist nach 3 bis
4 Stunden wieder restituiert. Mit einer
Adrenalinlosnng 1 : 10000 wurde ein Bezirk
von 1 — 2 ]/9 cm Durchmesser anämisch. Die
Dauer war !/f Stunde. Eine Lösung von
1 : 100000 ergab noch einen anämischen
Hautbezirk vod doppeltem Durchmesser, und
nach */4 Stunde begann die Rückkehr zur
Norm. Sogar in der Verdünnung 1 : 1000000
zeigt sich noch eine Blässe der Quaddel ein
ein Nichtbluten des Stichkanales, während
eine Quaddel mit reiner Kochsalzlösung schnell
nach der Injektion hyperämisch wird. Von
den sonstigen Erscheinungen ist noch zu er-
wähnen, daß sich in der Umgebung der
anämischen Stelle eine leichte hyperämieche
Zone allmählich einstellt, die wohl analog
dem hyperämischen Herde bei anämischem
Infarkt zu erklären ist. Das Auftreten einer
sogenannten Gänsehaut ist wohl analog der
von Lewandowsky gefundenen Wirkung auf
den Muscul. arrect, pilorum zu erklären, auf
die ich später noch zurückkommen werde.
In weiterem führt Braun dann aus, wie
diese so eklatante Anämisierung des sub-
kutanen Gewebes mit Erfolg in der kleineren
chirurgischen Praxis verwendet werden kann.
Auf die Methode der Kombination mit Kokain
zur Analgesierung, um die sich Braun wie
ja überhaupt um die Frage der lokalen
Anästhesie besonders verdient gemacht hat,
werde ich nachher näher zurückkommen.
Hier möchte ich erwähnen, daß diese Methode
der Injektion zur Erzeugung lokaler Blutleere
nicht nur auf das subkutane Gewebe be-
schränkt geblieben ist, sondern auch einige
Chirurgen dazu gebracht hat, sie auch bei
Operationen, bei denen sonst starke Blutung
recht hinderlich ist, anzuwenden. Ich meine
hier speziell die Strumenexstirpation, die
Operationen an der Leber etc. Allerdings
befinden sich diese Methoden erst in ihren
allerersten Stadien und werden fürs erste wegen
der Gefahr der Allgemeinwirkung sich wohl
noch nicht allgemein einführen. Doch hat
zuerst Lehmann und neuerdings Müller
in sehr schönen experimentellen Studien am
Hunde gezeigt, daß durch das Nebennieren-
extrakt speziell an der Leber, dem OrganT
das wegen der starken Blutungsgefahr sonst
chirurgisch fast ganz unangreifbar war, eine
vollständige Anämie herbeigeführt wird, und
jeder chirurgische Eingriff, wenn man sieh
nur streng in der anämischen Zone hält,
vorgenommen werden kann. Allerdings müssen
hier stärkere Konsentrationen und größere
Mengen der Substanz angewendet werden als
z. B. bei dem Anämisieren des subkutanen
Gewebes. Müller führt des näheren die
Technik aus, wie man bei der Injektion
vorgehen soll, und bespricht auch die Dosen,
die anzuwenden sind, je nach dem Blutreich-
tum der Organe, bei Haut, Muskel und Fett-
gewebe 1 : 5000 uod bei größeren Bezirken
1:10000, bei blutreichen parenchymatösen
Organen, Leber, Niere, Drüsen, bei kleinem
Bezirk 1 : 1000, bei großem 1 : 2000 der
Substanz. Auch hinsichtlich der Dauer und
des Eintrittes der Anämisierung läßt sich je
nach der Konzentration ein bedeutender
Unterschied erkennen, wie es ja aus den
erwähnten Quaddel versuchen Brauns hervor-
geht. Müller betont noch, daß auch in
den blutreicheren Organen die Wirkung des
Adrenalins viel eher aufhört, wahrscheinlich
weil durch die ausgedehntere Zirkulation
mehr Adrenalin in den allgemeinen Kreis-
lauf übergeht. Es wird mehr verdünnt durch
das Blut und auch weiter in die Umgebung
fortgeführt. Ich werde nachher wohl noch
einmal darauf zurückkommen. Von den
vielen anderen Veröffentlichungen über den
Einfluß der subkutanen oder parenchymatösen
Injektionen führe ich hier keine an, da sie
sich im wesentlichen mit den Anschauungen
Brauns und Müllers vollkommen decken.
Eine neuerdings mehr in Aufnahme kommende
Anwendung des Adrenalins zur Anämisierung
der Portio vaginalis bei Probeexzisionen, bei
der auch Müller recht gute Resultate erzielt
hat, wird kürzlieh in einer Veröffentlichung
von Freund als ziemlich unwirksam be-
trachtet. Woran die schlechten Resultate
dieses Verfassers liegen, kann ich im Augen-
blicke nicht erklären, zumal da entgegen-
gesetzte Ansichten auch von anderer Seite
vorliegen, von Fiat au etc. An dem Präparat
kann es wohl auch nicht gelegen haben,
denn Freund erhielt zur Anämisierung bei
Dammplastik recht schöne Erfolge.
Man kann, wie gesagt, aus den grund-
legenden Arbeiten Brauns und Müllers
ein recht schönes Gesamtbild über die An-
wendung der subkutanen Injektionen in der
Klein Chirurgie erhalten, so daß ich nicht näher
darauf eiuzugehen brauche. Vielmehr möchte
ich jetzt kurz über die lokale Applikation auf
die äußere Haut und die Schleimhäute be-
XIX. Jahrgang.!
Deaember 1905.J
NölUr, Wirkung du N«b*nnl«r«n«ztraktM (Adrenalin).
625
richten, um im Anschluß daran noch einige
mehr theoretische Fragen in betreff der
Dauer und Ausbreitung der Nebennieren-
extraktwirkung zu erörtern.
Lokale äußerliche Applikation.
Gebe ich in folgendem eine kurze Über-
sicht über die teilweise durch klinische Be-
obachtung, teilweise durch Versuche im La-
boratorium gewonnenen Resultate, so wäre
zuerst zu erwähnen, daß die Applikation auf
die äußere Haut ohne jegliche Einwirkung
auf die Gefäße ist, denn die Substanz dringt
nicht durch die unverletzte Epidermis hin-
durch, wovon man sich in jedem Augenblick
überzeugen kann. Entfernt man jedoch die
Epidermis auf irgend eine Weise, z. B. durch
Abreiben mit feinem Schmirgelpapier, so
kann man, wie dieses zuerst Bukofzer be-
obachtete, die konstringierende Wirkung gut
sehen. Er fand, daß man dann mit einem
feinen, in Adrenalin getauchten Pinselchen
deutlich Figuren auf die betreffende Stelle
zeichnen kann, die sich, wenn auch etwas
vergröbert, scharf abheben als weiße Striche
und zirka 6 Stunden gut sichtbar sind.
Ich habe diese Beobachtung genau in der
gleichen Weise bei mir selber anstellen
können. Die Figuren hoben sich von der
durch die mechanische Irritation des Abreibens
etwas hyperämischen Stelle sehr deutlich
hellweiß ab, waren auch viel blässer als die
Stellen der umgebenden intakten Epidermis.
Schon Va Minute nach der Applikation war
sie recht deutlich zu sehen, um nach 6 bis
7 Minuten das Maximum der Eonstriktion
zu zeigen, die nach 2 Vt Stunden noch fast
ebenso stark bestand, und auch nach 5 Stun-
den war sie noch recht deutlich sichtbar.
Diese anämisierende Wirkung wird neuer-
dings auch in der Hauttherapie angewendet,
um an von Epidermis entblößten Stellen,
z. B. bei Lupus, die therapeutische Wirkung
einiger Mittel, die durch den Blutstrom etwas
am Eindringen in die tieferen Schichten ge-
hindert werden, intensiver zu gestalten. Ganz
ähnlich ist ja auch die Wirkung an den
Schleimhäuten. Hier, wo die schützende
Epidermisdecke fehlt, dringt das Adrenalin,
wie leicht verständlich, eher in die tieferen
Schichten ein und bringt die bekannte anämi-
sierende Wirkung hervor, die ja so viel in
der Ophthalmologie und wohl noch mehr in
der Rhinol ogie und der Laryngologie benutzt
wird. Wie Dor zuerst fand, bringt ja
Adrenalin, in den Conjunctivalsack ein ge-
geträufelt, dort nach wenigen Minuten eine
fast vollständige Blässe der vorher stark
injizierten Eonjunktiva hervor. Ebenso deut-
lich läßt sich auch die Wirkung auf der
Nasenschleimhaut zeigen. Geringe Mengen,
auf einem Wattebausch oder mit einem
Pinsel auf die Schleimhaut der Nasenscheide-
wand gebracht, bringen dieselbe in kurzer
Zeit, je nach der Konzentration, in 2 bis
10 Minuten zur Abblassung. Nur die tiefer
gelegenen Gefäße mit ihren Verzweigungen
treten deutlich auf dem weißen Hintergrunde
hervor. In der gleichen Weise bringt das
Adrenalin wohl, lokal appliziert, eine mehr
oder minder stark anämisierende Wirkung
auf allen Schleimhäuten hervor. In der'
Laryngologie ist diese Wirkung auf die
Schleimhaut des Kehlkopfes von Bukofzer
und vielen anderen betont worden. Besonderes
Gewicht wird hier auch darauf gelegt, daß
auch auf entzündlich geschwollenen Schleim-
häuten diese gefäßkontrahierende Wirkung
auftritt und therapeutisch verwendet wird,
nicht nur zur Anämie, sondern auch zur
Abschwellung der entzündlich hvperämisch
geschwollenen Schleimhaut. Für die Nasen-
schleimhaut ist dieses als recht wichtig und
förderlich bei der Diagnose der Kieferhöhlen-
empyeme hervorgehoben worden und wird
jetzt auch wohl überall angewendet. Eben
dasselbe gilt auch von der Larynxschleim-
haut, und ist hier besonders die Wirkung bei
akuten Laryngitiden, die mit schwerer Heiser-
keit einhergehen, lobend erwähnt worden.
Auch für die Blasen- und Urethralschleimhaut
wird die Wirkung dünner Lösungen betont,
die gut auf die entzündete Blasenschleimhaut
und zur Abschwellung der entzündeten
Urethralschleimhaut speziell beim Bougieren
von Strikturen wirken sollen. Für die
Schleimhaut der Gebärmutter ist es nach
den Erfahrungen von Cr am er u. a. ebenso.
Auch hat Fenomenoff bei lokaler Appli-
kation des Adrenalins mittels eines Watte-
bausches auf ein Uterushorn beim Kaninchen
deutliche zirkumskripte Anämie durch das
Peritonaeum hindurch hervorgebracht. Schließ-
lich ist hier die, wenn auch oft lobend
erwähnte, so doch nicht so sehr hervor-
stechende Wirkung der Blutstillung, z. B.
bei Epistaxis und anderen kleinen, stark
blutenden Wunden, zu erwähnen, wo die
Applikation von mit Adrenalin getränkten
Tampons durch Kontraktion der Gefäße die
Blutstillung bewirkt. Besonders bei Hämo-
philen, wo die gerinnungsbefördernden Mittel
weniger wirken, sind hier recht eklatante
Erfolge berichtet. Auch bei Blutungen im
Gastrointestinaltractus , speziell bei frischen
Ulcus ventriculi Blutungen, wie auch bei
typhösen Darmblutungen scheint das Adre-
nalin nach Fenwicks, Graeser u. a. recht
gut zu wirken. Doch sind hier wohl immer
stärkere Dosen notig, da ja eine starke
626
Möller, Wirkung det Nebenniaren«ztrakt*t (Adrenalin).
TTlMrapeutiache
L lfton&tftfacfte.
Verdünnerung im Magen eintritt. Doch
scheinen diese nicht sehr schädlich zu sein,
Weil die Resorption vom Magendarmkamal
aus, wie ich nachher noch etwas näher be-
leuchten werde, wohl nur verhältnismäßig sehr
geringen Grades ist. Doch scheinen hier bei
den relativ wenig veränderten frischen Ge-
schwüren nach den bisherigen Berichten die
Erfolge am besten zu sein, was ja wohl auch
recht begreiflich ist. Wenn auch der Er-
folg nicht immer ganz sicher ist, da es un-
möglich ist, die Substanz, per os gegeben,
nach der richtigen Stelle zu dirigieren, so
darf diese Therapie doch wohl mit einiger
Berechtigung angewendet werden und muß
es auch, wenn andere Mittel versagen. —
Theoretische Analyse.
Wirkung auf größere Gefäße.
So viel von den praktischen Erfahrungen.
Eine nähere Analyse dieser gefäß verengernden
Wirkung bei lokaler Applikation hat zuerst
Bukofzer zu erbringen versucht und, wie
es scheint, mit Erfolg. Ausgehend von den
Beobachtungen an der Nasenschleimhaut, daß
bei starker Anämisierung der oberflächlichen
Schicht die größeren Gefäße doch deutlich
aus der Tiefe hindurchleuchten, sucht er
zuerst darzulegen, daß auch die größeren
Gefäße vom Adrenalin beeinflußt werden.
An den Ohrgefäßen eines Kaninchens
ritzte er nach Entfernung der Haare mittels
Calci um sulfhydrates die Haut an der Stelle
der Gefäße ein wenig an und konnte nun
nach Einreibung einiger Tropfen Adrenalin
sowohl an der Arterie als an der Vene eine
deutliche lokale Einschnürung feststellen, die
nach !/a — 1 Minute auftritt. Bei isolierter
Behandlung der Arterie war zentripetal nur
knapp 1 cm weit die Wirkung zu sehen,
zentrifugal aber zeigte sich infolge der rela-
tiven Leere die Arterie nur als ein ganz
feiner pulsierender Faden. Auch die Vene
schien dann blutleer. Bei isolierter Appli-
kation auf die Vene zeigte sich gleiches,
doch nicht in derselben Ausdehnung wie an
der Arterie. Dieser Versuch läßt sich leicht
wiederholen. Doch fand ich, daß meistens
nur die lokale Kontraktion zu sehen ist,
und ist der Einfluß auf den peripheren Teil
der Arterie bei meinen Tieren recht unbe-
deutend gewesen. Die okalen Einschnürungen
zeigten sich aber in den 6 untersuchten
Fällen immer ganz deutlich. Es ist also
kein Zweifel, daß bei der lokalen Applikation
sowohl Arterien wie Venen stark im Sinne
einer aktiven Kontraktion beeinflußt werden.
Dieses haben auch Braun u. Müller in
ihren Versuchen bei der subkutanen und
intraparenchymatösen Injektion hervorgehoben.
Speziell Müller weist darauf hin, daß nach
Infiltration des Gewebes mit der Adrenalin-
lösung man die Beobachtung macht, z. B.
beim Durchtrennen der Bauchmuskeln zur
Laparotomie recht deutlich, daß nicht nur
die diffuse Blutung aus Haut, Muskulatur
und Fettgewebe ganz fehlt, die Haut z. B.
an den Stellen, wo kein größeres Gefäß
durchschnitten worden ist, tatsächlich gelb-
lichweiß auf dem Durchschnitte aussieht,
wo sie sonst mit Blut rot gefärbt ist, sondern
daß auch die größeren Gefäße, die sonst
stark bluteten, jetzt bedeutend weniger bluten
und bald nach dem Durchschneiden auch
ohne Unterbindung von selbst versiegen. Er
erklärt sich das denn auch in der Weise,
daß das Adrenalin, in die Umgebung des
intakten Gefäßes gespritzt, nicht vermag, die
Muskulatur derart zu reizen, daß das Gefäß
bis zum Verschluß des Lumens kontrahiert
wird. Erst nach der Durchschneidung wird
besonders an den kleineren Gefäßen die
Durchschnitts stelle so kontrahiert, daß eine
Einstülpung der Gefäßwand nach innen statt-
findet, und so ein vollständiger Verschluß
des Lumens, unterstützt von gerinnendem
Blute, herbeigeführt wird. Ob diese Auf-
fassung ganz richtig ist, mag dahingestellt
bleiben. Jedenfalls steht fest, daß eine
deutliche aktive Kontraktion an den größeren
Arterien und Venen bei lokaler Applikation
stattfindet.
Daß die kleineren Gefäße kontrahiert
werden, ist ja nach den eben beschriebenen
Erscheinungen der durchtrennten Haut und
der lokalen starken Anämie der Schleim-
häute beim Betupfen mit Adrenalin kein
Zweifel. Die Frage aber, ob sich diese
Kontraktion auch auf die Kapillaren erstreckt,
ist bis jetzt noch nicht endgültig entschieden.
Wirkung auf kleinere Gefäße.
Bukofzer ist dieser Frage näher ge-
treten, indem er die Froschschwimmhaut, die
ja im allgemeinen recht geeignet ist zur Analyse
und Betrachtung von Einwirkungen auf ein
kleines Gefäßgebiet, einer Behandlung mit
Adrenalin unterwarf, und zwar verfuhr er in
folgender Weise. Das Tier wurde in 4 proz.
Alkohol gebracht und nach Verlauf einer
halben Stunde völlig betäubt unter das
Mikroskop gelegt. Das allgemein bekannte
Bild der Blutzirkulation war besonders deut-
lich am Schwimmhautrande zu sehen. Bu-
kofzer suchte eine Stelle aus, an der sowohl
je eine Arterie und Vene als auch eine
ganze Reihe größerer und kleinerer Kapillaren
sich im Gesichtsfelde befanden. Auf den
Schwimmhautrand wurde nun eine minimale
Menge Adrenalin gepinselt. Bukofzer beob-
XIX. Jahrgang. 1
Deieroher 1905.J
Möller» Wirkung das
(Adranmlin).
627
achtet dann folgendes: „Während Arterie, Vene
nnd die größeren Kapillaren unverändert
bleiben, sieht man, daß die kleineren Kapil-
laren an einzelnen Stellen nur von wenigen
Blutkörperchen und in verlangsamter Bewe-
gung passiert werden. Das Kapillarrohr zeigt
in seinem Yerlaufe keine sichtbare Verände-
rung; an seiner Ursprungsstelle jedoch scheint
sich dem Strom der Blutkörperchen ein
Hindernis entgegenzustellen. Man sieht deut-
lich, wie ein Teil der Körperchen in das
ursprüngliche Strombett einzudringen versucht,
aber ohne Erfolg; in schwankender Bewegung
bleiben sie an dieser Stelle liegen und strömen
schließlich in eine Nebenarkade ein. Nur ab
und zu gelangt ein Blutkörperchen in das
Kapillarrohr; mitunter freilich stürzt eine
ganze Anzahl in das Kapillarlumen wie durch
äußeren Druck hinein, um dort entweder
liegen zu bleiben oder mit dem nächsten
Schub fortgerissen zu werden. In vielen
Kapillaren sieht man dann Konglomerate von
Blutkörperchen, andere sind ganz leer, manche
verraten ihre Gegenwart nur durch die
Bewegung im Innern. — Nun macht sich in
vielen Kapillaren eine Schwankung des Inhalts
nach vor- und rückwärts geltend. — Inzwischen
ist auch die Bewegung in der Vene lang-
samer geworden, und auch die Arterie hat
nicht mehr die Kraft, den Widerstand an
den Teilungsstellen zu überwinden. Das
Blut sucht einen mehr zentral gelegenen Weg,
um in die Vene zu gelangen, das dann unter
stärkerem Druck peripherwärts strömt unter
Überwindung des sehr matten zentripetalen
Druckes in der Vene. Die zentrifugale
Strömung gewinnt die Oberhand, es tritt
eine starke rückläufige Bewegung in Vene
und Kapillaren auf, die ihrerseits auf den
peripheren Teil der Arterie wirkt und auch
hier eine Schwankung nach vor- und rück-
wärts veranlaßt. Plötzlich steht alles still.
Nach langer Zeit tritt wieder Bewegung ein,
und es dauert stundenlang bis alles wieder
seinen alten Weg geht."
In fast gleicher Weise schildert Hahn
seine Beobachtungen bei der Applikation
des Nebennierenextraktes auf die Schwimm-
haut des Frosches. Auch er legt das Haupt-
gewicht auf die Behinderung des Eintrittes
des Blutes in die Kapillaren, trotzdem auch
er keine sichtbaren Veränderungen weder
an den großen Arterien und Venen noch an
den Kapillaren beobachten konnte. Er hebt
nur hervor, daß es nicht immer mit Sicher-
heit gelingt, diese Einwirkung des Adrena-
lins auf den Kreislauf der Schwimmhaut zu
beobachten, und zwar macht er dieses ab-
hängig von gewissen individuellenVerschieden-
heiten der Tiere, die sich teils auf die Ge-
Th.lL 1905.
fäße, teils auf die Schwimmhautbeschaffenheit
erstrecken, und er findet darin eine Bestäti-
gung der häufiger in der Praxis gemachten
Erfahrung, daß unter einer Reihe erfolgreich
mit Adrenalin behandelter Patienten einer
oder der andere der therapeutischen Anwen-
dung des Mittels spottet. Auch mit bloßen
Aufträufelungen des Adrenalins aus einer
Pipette, um eventuelle Reizungen der Schwimm-
haut durch das mechanische Bestreichen zu
vermeiden, und mit gleichen Untersuchungen
auf der Zunge des Frosches erhielt Hahn
ganz analoge Resultate.
Noch bevor ich Hahns Arbeit zu Gesicht
bekam, konnte ich die Befunde Bukofzers
bestätigen, und zwar war auch mir auffallend,
daß an den größeren Gefäßen keinerlei
Veränderungen auftraten. Es waren selbst
mit Zuhilfenahme des Okularmikrometers
keinerlei Verengerungen weder an den Ar-
terien und Venen der Schwimmhaut, noch
an den Kapillaren zu beobachten, und doch
mußte ja ein Einfluß auf den Kreislauf statt-
gefunden haben. Ja ich beobachtete in einer
Anzahl von Versuchen ein viel stürmischeres
Auftreten der Erscheinungen, so daß ich oft
die Beobachtungen gar nicht so genau ana-
lysieren konnte, wie Bukofzer dieses tat.
Ich gebe hier als Beispiel wieder das
Venuchsprotokoü vom 8. VII. 04.
Rana esculenta; betäubt mit 0,3 ccm Curare 1 : 1500.
10 Uhr 40. Aufspannung. Zirkulation der Schwimm-
haut ist gut. In Arterie und Vene kann man
wegen der Schnelligkeit die Richtung kaum
erkennen.
10 Uhr 51. Bestreichen der unter dem Mikroskop
sichtbaren Stelle mit einem in Epirenan 1 : 1000
fetauchten feinen Pinsel,
r 53. Verlangsamung des Stromes in den
Kapillaren, in einzelnen Stillstand, Hin- und
Herbewegung. In den größeren Bewegung.
10 Uhr 55. Auch Stillstand in der Randvene. In
der Arterie noch langsamer Strom.
10 Uhr 56. In der Arterie Hin- und Herschwanken
des Blutstroms; in der Vene rückläufige Be-
wegung.
10 Uhr 58. Langsamer Wiederbeginn der regel-
mäßigen Zirkulation in der Arterie und Vene.
Die meisten Kapillaren noch stillstehend.
11 Uhr 10. Herstellung der Zirkulation des ganzen
Gebietes, wenn auch vielleicht noch etwas
langsam.
Aus diesen kurzen Notizen kann man
sich wohl nach der erwähnten Schilderung
Bukofzers den Gesamtverlauf wieder re-
konstruieren. Wie gesagt, ist das schnellere
Eintreten der Wirkung und vor allem auch
das schnellere Abklingen auffallig in diesem
Versuch. Ebendasselbe sah ich in einer
Reihe anderer analoger Versuche, und auch
an der Zungenschleimhaut des Frosches
konnte ich eine so schnelle Wirkung der
Epirenan applikation konstatieren. Doch mag
48
628
Möller, Wirkung d«t N«bennl*r*nextraktes (Adrenalin).
rTberapen tisch
l Mnnnt'hffYA.
dieses wohl auf einer speziellen Individualität
der zuerst von mir benutzten Sommerfrösche
beruhen. Denn als ich, eigens um dieses
zu prüfen, den Versuch im Oktober wieder-
holte, zeigte 8 ich ein Verhalten analog den
Beobachtungen Bukofzers und Hahns. Ja
es trat sogar die Wirkung nicht ganz so
stark hervor, wie diese Autoren es schil-
dern. Zweimal war nur eine gewisse Ver-
langsamuog zu konstatieren. Es ist ja auch
eine bekannte Tatsache, daß das Reaktions-
vermögen der Frösche auf mannigfache Reize
im Winter immer sehr viel geringer ist als
im Sommer, und werden deshalb die Sommer-
frösche auch bei vielen Versuchen vorgezogen.
Ich möchte hier gleich noch eine weitere
Beobachtung schildern, die mir bei Verfolgung
dieser Versuche auffiel.
Wiederholte Applikation. Ermüdungs-
erscheinung.
Wenn man nämlich nach Abklingen der
Adrenalin Wirkung und fast vollständiger Re-
stitution des Schwimmhautkreislaufes ein
zweites Mal die Substanz appliziert, so zeigt
«ich eine geringere Wirksamkeit. Die Ver-
langsamung tritt erst nach längerer Zeit ein,
und auch die Restitution ist etwas verzögert.
Als Beispiel lasse ich hier folgen das
Versuchsprotokoll vom 11. VIL 04.
Rana esculenta, weiblich; Betäubung mit Curare
0,3 cem 1 : 1500.
10 Uhr 40. Aufspannung. Zirkulation gut.
10 Uhr 45. Auftropfen von 3 Tropfen Epirenan
1 : 1000.
10 Uhr 46. Deutliche Verlangsamung in den Kapil-
laren.
10Uhr4B,5. Auch in der Vene.
10 Uhr 47. Auch in der Arterie.
10 Uhr 48. Stillstand in den Kapillaren, Hin- und
üerbewegen in der Vene, schließlich rückläufige
Bewegung in der Arterie, Stillstand.
10 Uhr 54. Wiederbeginn der Zirkulation.
11 Uhr 2. Fast vol Island ige Restitution der Zirku-
lation. Mit Watte wird der Rest des Epirenans,
der noch auf der Schwimmhautstelle war, weg-
gewischt.
11 Uhr 7. Neue Auftrfiufelung von 3 Tropfen Epi-
renan.
11 Uhr 10 tritt erst deutliche Verlangsamung in
den Kapillaren ein. Es tritt auch keine voll-
ständige Stase der Zirkulation ein wie vorher,
nur deutliche Verlangsamung, auch in Arterie
und Vene. Restitution erst nach 80 Minuten.
Es mag diese Erscheinung wohl mit der
auch sonst beobachteten Ermüdung oder
Gewöhnung der Muskulatur an die Substanz
zusammenhängen, worauf ich später bei Be-
sprechung der Zerstörung der Substanz im
Körper genauer kommen werde. Auch ist
klinisch die Beobachtung gemacht worden,
daß eine zweite Applikation der Substanz
auf die Schleimhäute nicht so wirksam ist
wie die erste, wie dieses neuerdings auch
Baum hervorhebt in einer Studie über lokale
Nebennierenextraktwirkung. Auch in diesem
Versuch tritt der schnelle Verlauf der Adre-
nalinwirkung im Gegensatz zu den Beobach-
tungen Bukofzers hervor. Aber auch hier
konnte man, wie auch in allen anderen Ver-
suchen an der Schwimmhaut und der Zunge
des Frosches keine deutlichen Veränderungen
an den Gefäßen selbst wahrnehmen. Bas
Hervorstechende war hier immer die Zirku-
lationsstörung.
Anders ist dieses beim Mesenterium des
Frosches. Eröffnet man bei einem leicht
kurarisierten Frosch die Bauchhöhle ohne
Verletzung der median verlaufenden Bauch-
vene, so kann man bekanntlich unter vor-
sichtiger, nicht zu starker Zerrung einen Teil
des Mesenteriums über einen Korkring unter
entsprechender Lagerung des Frosches auf
ein Brettchen spannen und auch hier die
Zirkulation deutlich beobachten. Es erfordert
nur zuerst einige Übung, daß man durch zu
starkes Spannen nicht die Zirkulation in den
kleinen Kapillaren stört. Die Anordnung
ist in den verschiedenen Arbeiten über Ent-
zündung, deren Grundlagen ja an dem
gleichen Präparate studiert sind, näher be-
schrieben. An diesem Präparate kann man
nun bei lokaler Adrenalinapplikation eine
deutliche Verengerung der Arterien und
Venen konstatieren. Gestört werden diese
Versuche allerdings dadurch, daß schon nach
kurzer Zeit Entzündungserscheinungen auf-
treten, wie sie ja zuerst Cohnheim genauer
beschrieben hat, und so gibt die nachherige
Veränderung der Gefäßlumina nicht mehr
das reine Bild der Adrenalinwirkung. Jedoch
ist die Wirkung des Adrenalins recht eklatant,
und geben die Messungen mit dem Okular-
mikrometer ein recht deutliches Bild der
Gefäßverengerung. Als Beispiel lasse ich
folgen
Versuchsprotokoll 12, vom 20. VIL OL
Rana esculenta; Injektion von 0,3 cem Curare
1:1500 um 9 Uhr 45.
Mesenterium freigelegt, auf Korkrahmen auf-
gespannt. Zirkulation ist gut unter dem Mikroskop
zu sehen. 10 Uhr 15 wird zuerst gemessen mit
Okularmikrometer Seibert, Okular llf Objekt II.
10 Uhr 15. Arterie 48. Vene 40 Teilstriche.
10 Uhr 16. Auftropfen von 8—4 Tropfen fipirenaiL
10 Uhr 16,5. Arterie 30. Vene 35.
10 Uhr 18. Arterie 25. Vene 34. Jetzt ist die
Zirkulation in Arterie und Vene sehr langsam.
10 Uhr 20. Stillstand. Im Lumen keine Änderung.
10 Uhr 21. Wiederbeginn.
10 Uhr 25. Zirkulation wieder einigermaßen her-
gestellt. Arteiie 28. Vene 34.
Auch hier im Mesenterialkreislaufe zeigte
sich zuerst eine Störung des Kapillarkreis-
laufes, früher als in den großen Gefäßen.
XIX. Jahrgang.1
DezemW 1905.J
Möller, Wirkuog det N*b*nnler«o*xtrmktet (Adrenalin).
629
Doch ist dieses nicht so eklatant wie in den
Schwimm haut versuchen. Vielmehr sieht man
hier von Zeit zu Zeit noch kürzere Etappen
regelrechter Zirkulation auftreten bis zu dem
Augenblick, wo auch die Zirkulation in den
Arterien und Venen gestört ist. Es mag dieses
wohl damit zusammenhängen, daß der Kreis-
lauf im Mesenterium nicht so sehr ein End-
arteriennetz ist, wie dieses bei der Schwimm-
haut der Fall ist, vielmehr auch noch Verbin-
dungen der Kapillaren direkt zu den. Gefäßen
des Darmes selbst wohl noch bestehen. Hin-
weisen mochte ich hier vor allem darauf,
daß sowohl in Arterie wie auch in Vene eine
deutliche gut meßbare Verengerung auftritt.
Doch geht schon aus dem angeführten Proto-
koll deutlich hervor, daß dieselbe an den
Venen wesentlich geringeren Grades ist.
Gleiches geht aus zwei weiteren Versuchen
hervor, deren Zahlen werte ich jetzt folgen
lasse.
Versuchsprotokoll 15, vom 27. VII. 04.
Rana esculenta; Injektion von 0,3 ccm Curare 1 :1500.
Mesenterium freigelegt Zirkulation gut.
9 Uhr 45. Arterie 43. Vene 50. Aufträufelung
von 4 Tropten Epirenan 1 : 1000.
9 Uhr 46. Arterie 30. Vene 43.
9 Uhr 47. Arterie 30. Vene 40. Zirkulation steht
in den Kapillaren.
9 Uhr 48. Arterien- und Venenzirkulation sehr
langsam. Es tritt aber kein vollständiger Still-
stand ein.
10 Uhr. Zirkulation wieder ganz gut. Arterie 30.
Vene 42.
Versuchsprotokoll 16, vom 28. VII. 04.
Rana fusca; Injektion von 0,4 ccm Curare 1 : 1500.
Aufgespannt um 11 Uhr 20. Zirkulation im
Mesenterium gut. Beginn der Beobachtung 11 Uhr 30.
11 Uhr 30. Arterie 45. Vene 55.
11 Uhr 31. Aufträufelung von 3 Tropfen Epirenan
1:1000.
11 Uhr 32. Arterie 30. Vene 45. Zirkulation schon
langsam.
11 Uhr 36. Arterie 32. Vene 45. Zirkulation steht
11 Uhr 39. Arterie 33. Vene 44. Zirkulation be-
ginnt wieder.
11 Uhr 48. Arterie 40. Vene 46. Zirkulation fast
hergestellt Vene noch langsam.
Aus diesen Beispielen kann man wohl
ersehen, daß im allgemeinen die Verengerung
an den Venen etwas geringer ist als an den
Arterien. Doch ist der Unterschied nicht
sehr groß. Man kann wohl daran denken,
daß die geringere Anzahl der konstriktori-
schen Elemente der Venen Wandungen an
dieser geringeren Verengerung hauptsächlich
schuld sei, .wie denn überhaupt auch die
Venen in viel geringerem Grade der motori-
schen Innervation unterworfen sind und mehr
eine passive Rolle spielen.
Die gleichartigen Versuche, die ich dann
am Lungenkreislauf anstellte, sind, wie ja
schon früher ausgeführt, immer ohne Erfolg
gewesen. Selbst starker konzentrierte Epi-
renanlösungen erzielten hier keine Einwir-
kung, während bei den gleichen Tieren vorher
oder nachher deutliche Verengerung am
Mesenterium konstatiert wurde.
Einwirkung auf entzündetes Gewebe.
Es lag nun nahe, auch zu untersuchen,
wie sich die Einwirkung des Adrenalins auf
das entzündete Mesenterium gestalten würde.
Wie schon erwähnt wurde, bewährt sich ja die
gefäßverengernde Wirkung klinisch recht gut
bei akut hyperämisch entzündlichen Schwel-
lungen der Schleimhäute, während bei mehr
chronischen Entzündungen der Haut und der
Schleimhäute dieselbe fast gar nicht zur
Geltung kommt. Es ließ sich nun auch mit
dem Okularmikrometer auf dem Froschmesen-
terium, auch wenn die Entzündungserschei-
nungen, Eongestion der Blutgefäße, Emigration
der Leukozyten etc. im vollen Gange waren,
die Gefäß Verengerung durch Applikation
des Adrenalins recht schön beobachten.
Allerdings waren die Erfolge nicht so
eklatant wie am frischen Mesenterium und
ließen sogar einige Male ganz im Stich; doch
mag dieses auch an der Individualität des
Versuchstieres oder auch an der zu großen
Menge des Exsudates gelegen haben, die das
Eindringen des Adrenalins verhindert haben
kann. Ich lasse hier kurz als Beispiel wieder
drei Versuchsprotokolle folgen.
Versuclisprotokoll 22, vom 6. X. 04.
Rana esculenta, ziemlich groß; Injektion von 0,4 ccm
Curare 1 : 150Ö.
Aufspannung dauert fast 10 Minuten und ist
beendigt um 11 Uhr 50. Dann zeigt sich Vene 60,
Arterie 40.
Nachmittags 3 Uhr 45 findet sich Vene 60,
Arterie 45. Strömung in den Kapillaren etwas ver-
langsamt. Randstellung der Leukozyten; reichlich
Leukozyten sind ausgewandert und finden sich im
Z wischengewebe.
3 Uhr 55. Arterie 45. Vene 60.
3 Uhr 56. Aufträufelung von 6 Tropfen Epirenan.
3 Uhr 57. Arterie 30. Vene 45.
3 Uhr 58. Bewegung der kleinen Kapillaren steht,
in den großen starke Verlangsamung.
4 Uhr 10. Arterie 30. Vene 40. Zirkulation etwas
besser. Entzündungserscheinungen schreiten
fort.
Versuchsprotokoll 23, vom 6. und 7. X. 04.
Rana esculenta, männlich; Injektion von 0,25 ccm
Curare 1 : 1500 subkutan.
6.X. um 6 Uhr 40 abends Aufspannung des
Mesenteriums, wobei durch leichte Blutung einige
Erythrozyten auf das Mesenterium sich lagern.
Arterie 31. Vene 33.
7. X. um 9 Uhr 30 morgens Mesenterium mit
leichtem Blutcoagulum bedeckt, das leicht zu ent-
fernen ist. Darunter zeigen sich leichte Entzün-
dungserscheinungen, einige ausgewanderte Leuko-
zyten, sonst nichts. Arterie 30. Veue 26.
48 •
680
M5U*r, Wirkung d— N*b«iinUr*nextraktet (Adrraalin).
rTliarap«utiarb*
L M<m«t«lirfla.
Um 4 Uhr nachmittags ziemlich starke Entzündongs-
erscheinungen, starke Emigration. Arterie 34.
Vene 80.
4 Uhr 30. Auf Epirenanbetr&afelnng scheint kein
Einfloß sich zu zeigen, vielleicht ganz geringe
Verengerung.
Versuchsprotokoll 24, vom 7. X. 04.
Rana esoulenta; Injektion von 0,25 ccm Curare
1 : 1500.
Um 10 Uhr 35 früh Aufspannung des Mesen-
teriums; gute Zirkulation.
5 Uhr nachmittags Emigration gut im Gange.
Arterie 18. Vene 40. Vene 30.
6 Uhr 5. Auftraufelung von 4—5 Tropfen Epirenan
1 : 1000.
6 Uhr 6. Arterie 16. Vene 37. Vene 27.
6 Uhr 7. Arterie 13. Vene 36. Vene 25. Zirku-
lation in den Hanptgefaßen ist wenig be-
einflußt. Einige Kapillaren zeigen Störung.
Emigration schreitet fort.
Es ergeben also, wie schon gesagt, diese
Versuche am entzündeten Mesenterium ziem-
lich verschiedene Resultate. Nach Protokoll 22
ist eine ziemlich starke Verengerung möglich,
23 zeigt gar keine, 24 nur solche geringeren
Grades. Es zeigte sich aber in der Mehrzahl
der Fälle doch eine entschiedene Beeinfluß-
barkeit. Ja, in den ausgesprocheneren Fällen
konnte man schon makroskopisch deutlich
die Verengerung der beträufelten Stelle er-
kennen, während zentral und peripher von
dieser Stelle die Gefäße viel weiter erschienen.
Auch mochte ich bemerken, daß ich auch in
einigen Fällen auf der entzündlich geröteten
Darmserosa des Frosches makroskopisch deut-
liche Abblassung auf Epirenanbeträufelung
hin sah. Auffällig war bei diesen Versuchen
immer, daß die lokale Applikation des Epi-
renans nie auf den Fortgang der Eutzündungs-
erscheinungen einen Einfluß hat. Speziell
ließ sich auch auf die Bewegungsfähigkeit
der Leukozyten nie ein Einfluß konstatieren.
Frösche, denen das Mesenterium mit Adre-
nalin behandelt war, zeigten am folgenden
Tage graduell die gleichen Entzündungs-
erscheinungen wie die Eontrollfrösche, die
nicht mit der Substanz behandelt waren.
Von einer Reihe anderer Stoffe, speziell
Arzneistoffe, ist ja eine solche entzündungs-
widrige Wirkung festgestellt worden, deren
genauere Analyse allerdings noch nicht ganz
sicher gestellt ist. Auf Veränderung der
vitalen Eigenschaften der farblosen Blut-
körperchen führt Binz die experimentell
nachgewiesene Tatsache zurück, daß infolge
von Sauerstoffmangel die Auswanderung auf-
hört, daß ferner gewisse Medikamente, denen
die Wirkung von Protoplasmagiften zukommt
(z. B. Eukalyptol, Jodoform), ein Aufhören
der Emigration in entzündeten Teilen be-
wirken. Demgegenüber machte Pekelharing
geltend, daß jene Arzneikörper auch auf die
Gefäßwand wirken, indem sie Verengerung
der Venen und Beschleunigung des Blut-
stromes herbeiführen. Die Verminderung der
Auswanderung würde aus diesen Veränderun-
gen erklärt werden. Durch Experimente von
Disselhorst und Eberth wurde nach-
gewiesen, daß Chinin, Karbol, Sublimat,
Salizyl etc. Erweiterung der Venen hervor-
rufen und nach anfangs bemerkter Be-
schleunigung des Blutstromes eine Ver-
langsamung desselben hervorrufen, die an
sich günstig für den Eintritt der entzünd-
lichen Veränderungen ist. Da nun nach den
Beobachtungen der letztgenannten Autoren
die Leukozyten in den angewandten Losun-
gen noch lange lebensfähig bleiben, so wird
eine Veränderung der Gefäßwand, welche
die Adhäsion der farblosen Blutzellen er-
schwert, als Ursache der veränderten Aus-
wanderung angenommen. Ein Überblick über
die Gesamtliteratur dieser Einwirkung von
Arzneimitteln auf die Auswanderung der
Leukozyten und die sonstigen Gefäßerschei-
nungen findet sich in den Dissertationen von
Engelmann und von Schuhmacher, Dorpat
1891 und 1892.
Da das Adrenalin nun ja eine so be-
deutende Gefäßwirkung hat, ließ es sich
eventuell denken, daß eine ähnliche Ein-
wirkung auf die Entzündungserscheinungen
vielleicht zu konstatieren sei. Eine Lähmung
der Leukozyten analog den anderen Proto-
plasmagiften ist ja bei dem physiologischen
Vorkommen der Substanz im Körper so gut wie
ausgeschlossen. Aber auch trotz der Gefäß-
wirkung ließ sich keinerlei Einfluß auf den
Eintritt der Entzündungserscheinungen finden.
Ich habe auch analog den Versuchen von
Pekelharing und Disselhorst eine kon-
stante Beträufelung des Mesenteriums während
12 Stunden vorgenommen. Der Frosch, leicht
kurarisiert, wurde, wie schon beschrieben,,
aufgespannt. Es wurde für konstante Be-
feuchtung der Oberfläche Sorge getragen,,
damit das Mesenterium nicht eintrockne, in-
dem das Tier in Fließpapier eingehüllt wurde,
das konstant mit Wasser getränkt war. Die»
Auftraufelung geschah mittels einer ganz fein»
gezogenen Kanüle oder Pipette, die oben eine
starke Erweiterung zur Aufnahme der Be-
rieselungsflüssigkeit hatte. Ungefähr nach je
einer Minute erfolgte das Herunterfallen
eines Tropfens. Es zeigte sich aber auch
eine fortgesetzte Berieselung ebenso unwirk-
sam gegen das Auftreten der Entzündungs-
erscheinungen und die Stärke der Leukozyten-
emigration, so daß kein Unterschied gegenüber
dem nicht behandelten Eontrollpräparat zu
erkennen war.
XIZ.J«hrfMg.-|
DeKcmber 180M
MölUr, Wirkung das Hebennl«r«ti«xtrmktM (Adreaalio).
631
Vermchtprotokoll 18, vom 1. und 2. VIII. 04.
Rana esculenta; Injektion von 0,3 ccm Curare 1:1500.
Am 1. VIII. abends 6 Uhr 30 Aufspannung des
Mesenteriums. Zirkulation gut. Das Tier wird in
feuchte Kammer gebracht Mittels Pipette konstante
Beträufelung des Mesenteriums, ungefähr nach je
l1/, Minute ein Tropfen der Solutio Epirenani.
Um 6 Uhr 60 Kontrollfrosch in der gleichen
Weise Mesenterium aufgespannt und in feuchte
Kammer gebracht.
2. VIII. morgens 8 Uhr 30. Bei beiden Tieren
ausgesprochene Entzündungserscheinungen. Es laßt
sich kein merkbarer Unterschied in der ausgewan-
derten Leukozyten zahl finden.
Diese verschiedenen, hinsichtlich des Ein-
tretens der Entzündung und des Fortganges
gemachten Beobachtungen decken sich ja
auch mit den klinischen Erfahrungen. Es
kann eine solche Adrenalinapplikation aller-
dings die augenblicklichen Beschwerden einer
akuten Entzündung der Schleimhäute, z. B.
bei Rhinitis, Laryngitis etc., beheben, kann
aber keinen dauernden Einfluß auf den Fort-
gang des Prozesses haben, besonders wenn
die Schädlichkeiten, wie hier in den Mesen-
terial versuchen, dieselben bleiben.
Einwirkung auf die Kapillaren.
Kehren wir nun nach dieser kleinen Ab-
schweifung, die die Verfolgung der Experi-
mente mit sich brachte, zur näheren Analyse
der lokalen Gefaßwirkungen des Adrenalins
zurück, so hat sich bisher noch kein sicher
positiver Beweis erbringen lassen, ob die
Kapillaren auch beeinflußt werden oder nicht.
Wie schon hervorgehoben, glaubten Bukofzer
und Hahn dieses annehmen zu dürfen aus
den beschriebenen Erscheinungen bei lokaler
Applikation auf die Schwimmhaut. Zuerst
stockt der Kreislauf in den Kapillaren. Es
scheint der Eintritt der Blutkörperchen in
dieselben erschwert zu sein, und erst sekundär
tritt das Stocken auch in Arterie und Yene
auf. Es können ja auch an der Arterie und
Yene keinerlei Veränderungen des Lumens
und der Wandungen wahrgenommen werden.
Auch auf dem Mesenterium konnte ich ebenso-
wenig wie an der Schwimmhaut eine aus-
gesprochene Veränderung der Kapillaren
wahrnehmen, trotzdem auch hier das Stocken
des Blutstromes wohl immer zuerst an den
Kapillaren deutlich sichtbar wurde und erst
nachher in den größeren Gefäßen. Da ich
nun bei meinen Beobachtungen an der
Schwimmhaut bemerkt hatte, daß die Ver-
langsamung des Blutstromes immer zuerst an
den ganz oberflächlich gelegenen Kapillaren
sichtbar war, während etwas tiefer gelegene,
die erst beim Drehen der Mikrometerschraube
deutlicher hervortraten, oft noch ganz normale
Zirkulation zeigten, dachte ich daran, daß
die scheinbare Unwirksamkeit auf die größeren
Gefäße der Schwimmhaut im Gegensatz zu
denen des Mesenteriums vielleicht dadurch
hervorgerufen sei, daß dieselben in der
Schwimmhaut vielleicht etwas zu tief gelegen
seien, und daß die Substanz nicht in ge-
nügender Konzentration an sie herantreten
könnte, zumal da sie hier auch noch das sicher
widerstandsfähigere Epithel der Schwimmhaut
durchdringen mußte. Ich versuchte daher,
durch leichtes Anritzen der Schwimmhaut
die Substanz, analog den oben erwähnten
Versuchen am Kaninchenohr, etwas näher zu
bringen. Doch gelangte ich hier zu keinem
sicheren Resultat, da durch die mechanische
Verletzung, ferner durch Blutaustritt aus den
kleinen Kapillaren das mikroskopische Bild
zu sehr getrübt war. Die Gefäße selbst
waren durch den mechanischen Reiz wohl
auch etwas geschädigt, so daß ich nicht dazu
kam, eine deutliche Verengerung der Gefäße
der Schwimmhaut bei lokaler Applikation zu
beobachten.
Bei intravenöser Injektion größerer Mengen
in den allgemeinen Kreislauf glaubte ich, wie
ich später noch etwas ausführlicher berichten
werde, in einigen Fällen eine geringe Ver-
engerung um 3 — 4 Teilstriche des Okular-
mikrometers zu beobachten. Aber auch hier
konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob
eine Beeinflussung der Kapillaren oder viel-
leicht nur der kleinsten Arteriolen und Venen
stattfindet, die die so eklatante Kreislauf-
störung hervorbringt. Die Beeinflussung durch
intravenöse Injektion ist übrigens ja schon
von Oliver und Schäfer an der Schwimm-
haut und am Mesenterium, ebenso auch von
Salvioli und Pezzolini und anderen beob-
achtet worden.
Die Frage, ob sich die Kapillaren über-
haupt aktiv verändern können, ist bis heute
noch nicht ganz einstimmig entschieden. Man
war früher der Meinung, daß die Weite des
Kapillarlumens einzig und allein von der
größeren oder geringeren Füllung mit Blut
abhinge, als Stricker in verschiedenen
Veröffentlichungen darauf hinwies, daß die
Kapillaren der Nickhaut des Frosches eine
deutliche Eigenbewegung hätten, indem sie
sich abwechselnd verengten und erweiterten.
Golubew, der die gleiche Erscheinung beob-
achtete, erklärte die Strick ersehen Befunde
als Termin alersch einungen, als Zeichen des
Absterbens. Tarchanow hingegen faßt sie
nach seinen Beobachtungen im Straßburger
pathologischen Institut als vitale Kontraktilität
auf, denn er konnte durch chemische Reize,
z. B. stark verdünnte Essigsäure etc., pder
durch mechanische Reize dieselben hervor-
rufen. Golubew schon und auch Tarcha-
now machen zuerst auf die Bedeutung der
632
Möll*r, Wirkung des Neb«nnl«r«Bextrakt*t (Adreoalio).
rTher&pentbehe
spindelförmigen Kerne der Kapillarendothelien
aufmerksam bei diesen Kontraktionen. Sie
wollen die Haupterscheinungen der Verengerung
darin erblicken, daß diese Spindelelemente
sich auf kurze Zeit hin verkürzen und ver-
dicken, um so das Gefaßlumen zu verengern
respektive zu verschließen. Stricker will
allerdings auch eine direkte Verengerung
durch dichtes Aneinanderlegen der Kapillaren
beobachtet haben, und zwar sah er diese
Erscheinungen am eklatantesten auf elek-
trische Reizung hin eintreten. Giovanni
beobachtete, daß die Kapillaren der ent-
zündeten Froschzunge unregelmäßige Gestalt
bekamen, hohle Vorsprünge aussendeten und
wieder einzogen, sich abwechselnd hier ver-
engten, dort erweiterten. Severini sah bei
Einwirkung von COa eine Verschmalerung
der Endothelzellkerne der Kapillarwandung,
bei Einwirkung von 0 Verdickung derselben.
Trotz aller dieser Beobachtungen wird eine
aktive Kontraktil ität der Kapillaren noch
nicht allgemein angenommen, weil man nicht
sicher auf Reizung vom Nerven hin Bewegung
der Kapillarwände hervorzurufen imstande
war. In der letzten Zeit hat diese Frage
wieder ein etwas anderes Stadium ange-
nommen, seitdem S. Mayer nach anatomischen
Untersuchungen die Behauptung aufgestellt
hat, daß die Kapillarwand nicht bloß aus
Endothelzellen betehe, sondern daß auch
muskuläre Elemente nachzuweisen seien, die
sich beim Übergang der größeren Gefäßchen
in die echten Kapillaren auf die letzteren
fortsetzten und derart der Grundhaut der
Kapillaren aufgelagert seien, daß der Kern
parallel der Längsachse der Kapillaren stehe,
die Zellsubstanz aber sozusagen ausgeflossen
sei in senkrecht vom Kern ausstrahlende und
sich öfters teilende Fädchen, die die Gefaß-
röhren wie Faßreifen umspannten. Schon
Rouge t hatte in verschiedenen Veröffent-
lichungen von 1874 — 79 eine aktive Kon-
traktion der Kapillaren als physiologisch
notwendig bezeichnet und ein ähnliches Vor-
kommen von muskulären Elementen in der
Gefäßwand angenommen. Und nun wollen
auch Stein ach und Kahn auf Grund
physiologischer Reizversuche eine Bestätigung
der Rouget- May ersehen Annahme gefunden
haben, und zwar wollen sie mittels einer
Modifikation der Reizleitung, wie sie Stricker
angewendet hatte, und auch der Reize selbst
erstens sowohl eine deutliche aktive Kon-
traktion und Verengerung, als auch zweitens
bei Reizung vom Nerven aus, nämlich dem
Sympathicus, die gleichen Erscheinungen
beobachtet haben. Sie heben insbesondere
hervor, daß sie eine deutliche Verengerung
des Gesamtquerschnittes der Kapillaren sahen,
während die letzten Veröffentlichungen, speziell
die von Biedl am Mesenterium mehr die
Veränderung der Lumina betonten. Biedl
sah am Froschmesenterium nach Erwärmung
Lumen Veränderung, indem die Wandungen
dicker wurden, beim Abkühlen durch Dünner-
werden der Wandungen Lumenerweiterung.
Steinach und Kahn fanden dagegen deut-
liche Veränderungen des Gesamtquerschnittes,
sowohl der ganzen Kapillaren als auch in
lokal beschränkter Ausdehnung. Sie betonen,
daß man speziell an den etwas weiteren
Kapillaren bei diesen lokalen Kontraktionen
eine regelrechte Einschnürung beobachten
kann. Es erschienen nämlich nach der
elektrischen Reizung eigentümliche Längs-
streif un gen von einer Stelle ausgehend, die
auf eine Art Faltung der Kapillaren schließen
ließen, und sie glauben nun, in diesen Er-
scheinungen einen Beweis für die Existenz
der von Mayer auf anatomischer Grundlage
angenommenen, oben beschriebenen muskulären
Elemente der Kapillaren annehmen zu dürfen.
Sie beschreiben also sowohl bei direkter
Reizung auf dem Objektträger als auch bei
Nervenreizung vom Sympathicus aus an der
Nickhaut des Frosches diese aktive Kon-
traktion sowohl ganzer Kapillar lumin a als
auch mehr lokale Einschnürung durch die
Ausläufer der Muskelzellen.
Um einen eventuellen Einfluß des Adre-
nalins auf die Kapillaren sicher konstatieren
zu können, habe auch ich einige Versuche
an dem von allen angeführten Autoren be-
nutzten klassischen Objekte der Kapillar-
untersuchung, der Nickhaut des Frosches,
angestellt. Doch bin ich auch leider hier
wieder nicht zu ganz sicheren Resultaten
gekommen. Immerhin möchte ich meine
Beobachtungen doch schildern. Ich habe
die Versuche derart angeordnet, wie sie
Stein ach und Kahn beschrieben haben.
Den Fröschen wurde die Wirbelsäule durch-
schnitten und nach Verblutung und Aus-
bohrung des Rückenmarks und des Hirns
mit einigen Scherenschnitten, unter möglichster
Vermeidung mechanischer Reizung und Zerrung
die Nickhäute ausgeschnitten und auf einem
Objektträger in physiologischer Kochsalzlösung
ausgebreitet, so daß die Innenfläche der Nick-
haut nach oben sah, und mit einem Deckglas
bedeckt. Ich benutzte gewöhnlich beide
Nickhäute zum Vergleich, indem das eine
als Kontrollpräparat diente. Die Präparate
wurden möglichst schnell unter das Mikroskop
gebracht und eine Stelle eingestellt, wo ein
zuführendes Gefäßchen mit Teilung in den
Kapillaren, event. auch ein abführendes Gefäß-
chen zu sehen war. Die Blutfülle war recht
verschieden. Manchmal war ein großer Teil
XIX. Jahrgang."!
Dwmfwr ls*OS.J
Möller, Wirkung des Nebenolerenextraktcs (Adrenalin).
633
der Gefäße ziemlich leer, ein anderes Mal
waren die meisten strotzend mit Blut gefüllt.
Auch waren die Gefäßanordnungen verschieden.
Bei manchen konnte man nur mit Mühe
feinere Kapillaren finden. Bei anderen waren
in jedem Gesichtsfelde größere und kleinere
zu sehen. Das Adrenalin applizierte ich
meistens in der Weise, daß ich die physio-
logische Kochsalzlösung mittels Fließpapier
auf der einen Seite des Beckglases absaugte
und von der anderen Seite einige Tropfen
des Adrenalins nachfließen ließ.
Es leigte sich nun regelmäßig nach der
Adrenalinapplikation ein deutlicheres Hervor-
treten der schon erwähnten spindelförmigen
Elemente der Kapillar wand, sowohl an den
größeren als auch an den kleineren Kapillaren.
An den größeren konnte ich auch einige Male
eine ausgesprochene Verengerung des Durch-
messers mit dem Okularmikrometer messen.
Doch muß ich betonen, daß dieses nur bei
den weiteren der Fall war, so daß ich nicht
ganz sicher bin, ob es nicht eventuell auch
kleinste Arteriolen waren, die sich ja über-
haupt schwer von den größeren Kapillaren
trennen lassen. Am deutlichsten war der
Unterschied an den kleineren Kapillaren.
Hier traten die Spindelelemente sehr deutlich
hervor, waren manchmal knopfförmig vor-
springend, die Wandungen schienen verdickt,
doch glaube ich auch sicher nicht nur eine Ver-
engerung des Lumens der Kapillaren, die ekla-
tant war und sich durch Zusammenpressen der
darin enthaltenen roten Blutkörperchen doku-
mentierte, durch Dickerwerden der Wände,
sondern auch eine direkte Verengerung des ganzen
Kapillardurchmessers beobachtet zu haben,
so daß manche nur noch als dünner Strang
sichtbar blieben. Auch sah ich einige Male
deutlich das Bild der lokalen Einschnürung,
wie St ei nach undKahn es beschrieben haben.
Was mich nun an der Beweiskraft dieser
Beobachtungen zweifeln macht, ist die Tat-
sache, daß auch bei den Kontrollpräparaten,
die nur in physiologischer Kochsalzlösung
lagen, nach einiger Zeit mehr oder minder
ausgesprochene ähnliche Erscheinungen auf-
traten wie die eben beschriebenen. Aller-
dings nie so schnell wie bei der Adrenalin-
applikation. Es mögen ja diese Erscheinungen
auch hervorgerufen sein durch die mechanischen
Reizungen bei der Präparation oder durch
den Druck des Deckglases auf die feinen
Gewebe der Schwimmhaut oder durch den
Reiz des Nachströmens der Substanz bei
Absaugung der Na Cl- Lösung. Auch war
mir auffällig, daß diese Erscheinungen nie
an allen Kapillaren deutlich hervortraten,
vielmehr immer eine Anzahl scheinbar ganz
unbeeinflußt blieb. Der letzteren Tatsache
gegenüber möchte ich allerdings einwenden,
daß auch Steinach und Kahn besonders
darauf hingewiesen haben, daß in vielen
Fällen ihrer Versuche die Kapillaren über-«
haupt unerregbar waren ; auch zeigte bei ihnen '
der venöse Teil des Netzes im allgemeinen
viel geringeren Grad der Kontraktion. Ich
konnte hierüber in meinen Versuchen keine
bestimmte Regel aufstellen, doch zeigte sich'
auch bei mir einige Male fast gar kein
Einfluß der Adrenalinapplikation. In dieser
Hinsicht würde wohl kein Einwand zu machen
sein gegen die Beweiskraft der Kontraktions-
erscheinungen durch Adrenalin. Es muß hier
schließlich auch noch in Erwägung gezogen
werden, daß bei der doch immer deutlich be-
obachteten Füllung der Gefäße mit Blut-
körperchen durch die Kontraktion des einen
Teiles der Gefäße die anderen, die weniger
beeinflußt werden, passiv sich sogar erweitern
müssen, um die größere Zahl der Blut-
körperchen, die aus den verengten Teilen
herausgetrieben waren, aufzunehmen. Man
konnte deutlich solche mit Blutkörperchen
strotzend gefüllten größeren und kleineren
Kapillaren erkennen. Jedenfalls möchte
ich betonen, daß nach Adrenalinappli-
kation diese Verengerung viel deutlicher
und schneller hervortrat, wie aus allen Ver-
suchen hervorgeht. Ich möchte die Versuchs-
protokolle nicht detailliert wiedergeben, da
sie gar keinen neuen Gesichtspunkt geben.
Ich applizierte das Adrenalin meistens in
der oben besprochenen Weise durch Weg-
saugen der Na Cl- Lösung und erhielt auch
die promptere Wirkung und den Unterschied
dann, wenn ich, um die mechanische Reizung
möglichst gleich zu machen, auch an dem
Kontrollpräparate die Na Ci-Lösung absaugte
und frische hinzutreten ließ. Hübsch war
auch der Unterschied in einigen Fällen zu
sehen, wo ich die eine Nickhaut gleich in
Adrenalin ausbreitete, um den Unterschied
von dem in Na Cl-Lösung eingelegten Kontroll-
präparat zu konstatieren. Aber auch hier
waren die Ergebnisse wechselnd. Wie gesagt,
ergeben die Versuche also keinen sicheren
Beweis für eine Beeinflussung der Kapillaren
durch das Nebennierenextrakt, denn ähnliche
Veränderungen konnten auch durch einfache
mechanische Reize hervorgebracht werden
oder auch Zeichen des Absterbens sein, worauf
Golubew und Tarchanow ja besonders
hingewiesen haben. Doch war in einzelnen
Fällen die Wirkung so eklatant nach der
Extraktapplikation im Vergleich zu vorher,
daß ich wohl sicher mit den neueren Forschern
eine aktive Kontraktil ität der Kapillaren an-
nehmen darf, wenn die Erscheinungen viel-
leicht auch nur durch die mechanische Reizung
634
Möll«r, Wirkung des N«b«nnl«r«n«ztrmkt«« (Adraftattn).
rbermpe
Monatshefte.
bei der. Adrenalinzufuhr eingetreten sind.
Doch spricht auch das schnellere und ekla-
tametere Auftreten der beschriebenen Ver-
engerung dafür, daß das Adrenalin wohl
noch einen besonderen Reiz auf die Kapillar-
wände ausübt.
Einige Versuche, die speziell darauf hin-
zielten, an der Schwimmhaut des Frosches
und an dem Mesenterium ein deutlicheres
Auftreten und Vorspringen der oben be-
schriebenen Spindelelemente während der
Adrenalinwirkung zu sehen, ergaben keine
sicheren Resultate. Wohl konnte man speziell
an den Knickungsstellen solche Spindelelemente
erblicken, und glaubte ich manchmal auch ein
deutlicheres Hervortreten derselben zu beob-
achten, so daß sie das Lumen verlegten und
die Zirkulation der Blutkörperchen hinderten.
Doch konnte von einer eklatanten Verenge-
rung, wie sie an den Nickhäuten beobachtet
wurde, keine Rede sein.
Ich kann also mich hinsichtlich der Be-
einflussung der Kapillaren durch das Adrenalin
zu keiner sicheren Ansicht bekennen. Auch
die Annahmen Bukofzers und Hahns sind
sind ja nur ein Wahrscheinlichkeitsschluß aus
der Tatsache der eklatanten Zirkulations-
störung ohne sichtbare Beeinflussung der
größeren Gefäße. Und am Mesenterium sind
diese ja nach meinen Beobachtungen so auf-
fällige, daß man das Fehlen an der Schwimm-
haut eigentlich nur dadurch erklären könnte,
daß das Adrenalin an dieselbe nicht heran-
dringt.
Eine Beeinflussung des Blutes im Sinne
einer Gerinnungsbeförderung ist, wie ich
später noch etwas ausführlicher zeigen
werde, auch nicht anzunehmen. Es bleibt
demnach kaum etwas anderes übrig, als trotz
der negativen Befunde bei der mikroskopischen
Betrachtung der Schwimmhautzirkulation doch
eine Beeinflussung der kleinsten Gefäße an-
zunehmen. Hinsichtlich der Versuche an der
Nickhaut bedarf es wohl noch einer etwas
exakteren Methode und eines mikroskopisch
mehr geschulten Auges, um ein sicheres Ur-
teil über die Erscheinungen zu fällen. Bis
jetzt müssen wir aber wohl noch annehmen,
daß die lokale Anämie, wie sie durch die Appli-
kation des Adrenalins auf die oberflächlichen
Schleimhäute, durch die Injektion auch in tieferen
Schichten des Gewebes hervorgerufen wird,
hauptsächlich durch eine Kontraktion der
kleinen Arteriolen und Venen hervorgerufen
wird, deren Beeinflussung jedenfalls sicher
gestellt ist.
[Fortsetzung folgt.]
Über eine neue Form der Eisen-
verordnun?»
Von
Dr. Ehrmann in Berlin.
Es wird wohl kaum ein Tag vergehen,
an dem wir Ärzte nicht eine Zuschrift er-
halten, die einer pharmazeutischen Anstalt
entstammt, und durch die uns ein neues
Nährmittel oder Kräftigungsmittel für Blut-
arme angepriesen wird. Immer neue Prä-
parate aller möglichen Natur werden auf dem
Medikamentenmarkt aufgestapelt, so daß man
geradezu in Verlegenheit gerät, wenn man
alles prüfen und das Beste wählen soll. Und
dabei streben doch alle Schöpfer dieser
„bahnbrechenden und epochemachenden" Er-
zeugnisse nur dem einen Ziele zu, das Blut
zu verbessern. Für uns können bei der
Frage nach der Regeneration des Blutes auf
dem Wege der Eisentherapie nur zwei Krank-
heitsbilder in Betracht kommen : Anämie und
Chlorose. Inwieweit beide gesondert oder
in Beziehung zueinander gestellt werden
sollen, mag hier nicht näher untersucht wer-
den. Jedenfalls dürfen wir mit v. Noorden
annehmen, daß es sich um eine Schwäche
im System der blutbildenden Organe handelt,
durch die sie verursacht werden. Diese
„plastische Adynamie im Bereiche der Blut-
bildung a, wie Virchow sagt, nach Kräften
zu korrigieren, ist unsere vornehmlichste
Aufgabe. Mögen wir nun zu ihrer Lösung
uns aller möglichen Nähr- und Genußmittel
bedienen, immer bleibt ein Faktor, wel-
cher der Qualität des Blutes den eigent-
lichen Charakter verleiht, dominierend, das
Eisen.
Von dem Hämoglobingehalt hängt be-
kanntlich die Wertigkeit des Blutes ab, und
dieser in erster Linie von seinem Eisengehalt.
Die alten Ärzte der vorigen Jahrhunderte
wußten, ohne auf der Höhe der heutigen
Kenntnis der Blutchemie zu stehen, sehr wohl,
was sie taten, wenn sie ihren blutarmen Kranken
Eisenmittel zur Verbesserung ihres Zustandes
reichten. Wir wissen jetzt, namentlich nach
den Untersuchungen von Quincke, daß die
durchschnittliche Tagesdosis für unsere Pa-
tienten 0,1 g metallischen Eisens betragt.
Wenn wir nun auch teils durch vegetabilische,
teils durch animalische Kost sowie durch
eisenhaltige Mineralwässer unleugbar eine
gewisse Eisenmenge zuführen, so ist diese
jedenfalls in den weitaus meisten Fällen
nicht ausreichend, und es bleibt dem Arzt
nichts anderes übrig, als dieses Defizit durch
ein Eisenpräparat zu decken. Die gang-
barsten, d. h. solche, die die Patienten am
ZU. Jahrgang.!
Ehr mann. Nana Form dar Eiaanvarordnung.
635
besten vertragen, werden entweder in flüssiger
Form oder als Pillen verordnet. Die jeweilige
Verordnungs weise ist sehr individuell, zumal
vielen Patienten das Pillenschlucken sehr
schwer fällt.
Ich habe nun ein ziemlich großes Kranken-
material von Chlorosen und Anämien .viele
Wochen hindurch auf den Grad der Bekömm-
lichkeit der einzelnen Eisenpräparate beob-
achtet und fand zu meinem Erstaunen, daß
«s in der Tat nicht angebracht ist, hierbei
zu schematisieren, daß dem einen Pat. z. B.
Tinct. Ferri compos. außerordentlich förder-
lich war, während sie bei anderen Unbequem-
lichkeiten im Magen verursachte, und mir
oft, trotz des gar nicht zu großen Wein-
gehaltes, allerlei Sensationen angegeben wur-
den. Nicht anders fand ich die Wirkung
verschieden bei Anwendung des Liqu. Ferri
album. oder Liqu. Ferri mang, peptonat. In
zweiter Reihe wurde eine größere Zahl von
Pat. mit Blaudachen Pillen behandelt. Wie-
wohl die Pillen beb andlung weniger beliebt
wird, ist sie doch die ausnutzungsreichste
und für den Arzt wegen der genauen Dosier-
barkeit am dankbarsten. Nach der ursprüng-
lich von Blaud i. J. 1831 gegebenen Formel
enthielt jede Pille 0,25 g schwefelsauren
Eisens, und man kann sich vorstellen, welch
quälende Magenbeschwerden durch eine solche
Dosierung hervorgerufen wurden, wenn man
damit die heutzutage landläufigen Blaudschen
Pillen vergleicht, welche nur 0,0065 g Ferri.
sulf. enthalten und trotz der geringeren
Menge schon nach kurzer Zeit der Eisen kur,
wie ich mich überzeugen konnte, von üblen
Nebenwirkungen wie Gastralgie, Appetitlosig-
keit und Obstipation begleitet sind.
Gerade diese Faktoren sind es, die bei der
schon ohnehin bei Anämischen so sehr ernäh-
rungswidrigen Anorexie während einer solchen
Kur besonders störend mitsprechen.
Um diese äußerst störende Neben-
erscheinung bei der Eisenkur auszuschalten,
hat Dr. Meißner, Berlin, auf Grund der
Erfahrungen von Sommerbrodt, der das
Kreosot mit einem öligen Vehikel verab-
reicht, um hierdurch die Ätz Wirkung zu
beseitigen, die alten Blaudschen Pillen in
sehr zweckmäßiger Weise modifiziert.
Gelangt die Blaudsche Pille in den Magen,
so wird aus dem Ferrum sulfuricum und
Kalium carbonicum Eisenoxydulkarbonat und
Kalium sulfuricum, wobei also das Eisen-
oxydulsalz als niedrige Oxydationsstufe zu
resorbierbarem Fe wird. Nun wird aber
die Blaudsche Pillenmasse nach ihrer bis-
herigen Herstell ungs weise mit Wasser an-
gesetzt, und es entsteht schon bei der Be-
reitung Eisenoxydhydrat, welches den ge-
wöhnlichen Rost darstellt und natürlich für
eine Resorption gänzlich unbrauchbar ist;
d. h. also: dieses Pillenmaterial wird im
Magendarmtractus nur zum geringsten Teile
ausgenutzt. Diesem Mangel an therapeutischem
Werte zu begegnen, hat nun Dr. Meißner
die Formel für die Pillen in der Weise
verändert, daß statt des Wassers Lebertran
und statt des Kalium carbonicum Natrium
carbonicum zur Anwendung gelangt. Das
Wesentliche an der Pille ist aber, daß weder
bei noch nach der Herstellung Wasser bezw.
feuchte Luft hinzutreten kann; denn zur
Konservierung wird sie, von Meißner als
Plenula bezeichnet, mit einer luftdichten
Gelatinekapsel umschlossen.
Die besonderen Torzüge dieser Dar-
stellungsweise der neuen Pilulae Blaudii
gehen nicht nur aus den wohlbegründeten
Anschauungen des Autors, die er gelegent-
lich eines Vortrages im Verein für innere
Medizin in Berlin entwickelte, sondern auch
aus der praktischen Anwendung hervor. In
der erwähnten Gelatinekapsel ist das Ferrum
sulf., Natr. bicarbon. und Ol. jecoris aselli
im Verhältnis von 9 : 7,5 : 12 gemischt. Im
Magen platzt die Gelatinekapsel und bei
der chemischen Umsetzung des Fe in Eisen-
oxydulkarbonat wird der schnelleren Oxy-
dation und Anätzung der Magenschleimhaut
durch den Lebertran vorgebeugt, und das
gleichzeitig entstehende Na, S04 = Glauber-
salz bildet ein bedeutendes Anregungsmittel
zur Absonderung des Magensaftes. Wer die
pharmakodynamische Wirkung des Eisens
wiederholt beobachtet hat, weiß, wie die
Obstipation den sonstigen Segen der Eisen-
mittel verleidet, und so ist die Vergrößerung
der Magensaftabsonderung ein wesentliches
Mittel, diese Störung zu beherrschen. Weiter-
hin wird denn auch der Darm zu ergiebigerer
Sekretion und zu energischerer Resorption
des Eisenoxydulkarbonats befähigt. In der
Tat ist der Erfolg mit den Plenulae oft ein
erstaunlicher.
Ich habe sie sowohl bei chlorotischen und
anämischen jungen Mädchen wie bei vielen
Frauen und Greisen angewandt. Während
ich sonst nach dem Genuß von Eisentink-
turen, mineralischen Eisen wässern und son-
stigen gleichwertigen Mitteln, wie das jeder
Arzt aus Erfahrung weiß, wiederholt Klagen
über Magenschmerzen und Obstipation zu
hören bekam, war das Urteil der Patienten
über die Plenulae — und es war mir um so
maßgebender, als es mir unvermittelt berichtet
wurde — in den allermeisten Fällen zufrieden-
stellend. Fast durchgehends trat namentlich
bei den Chlorosen nach täglichem Gebrauche
von 3 mal täglich 2 Pillen, und zwar vor
636
Jacob 7, Behandlung von Brandwundan mit Zinkperhydrol.
rherapfttittaeh«
Monatshefte.
dem Essen, ein reges Bedürfnis nach*Nahrung
auf. Aus der Reihe meiner beobachteten
Fälle mag nur ein sehr eklatanter erwähnt
sein, und zwar handelt es sich um eine
19 jährige Patientin, die ich zwei Jahre hin-
durch wegen anämischer Beschwerden be-
handelt hatte, und deren Körpergewicht trotz
bester Kost, besonders wegen der nur schwer
zu beherrschenden Appetitlosigkeit, nicht zu-
nehmen wollte. Nach der Anwendung der
Plenulae stieg innerhalb dreier Wochen das
Körpergewicht um fünf Pfund. Sehr bedeut-
sam war für mich die Angabe mancher
Ghlorotischen über die Regulierung ihrer
sonst trägen Darmtätigkeit, und mit dem
Beginn einer lebhafteren Verdauung und der
zugleich eintretenden größeren Resorptions-
kraft des Darmes verschwand die Blässe der
Haut, und es bezeugte bei manchen schon
nach zweiwöchiger Eisenkur eine gewisse
Frische der Wangen, daß das genossene Eisen-
präparat seine Wirkung nicht verfehlt hatte.
Freilich versagte das Mittel auch bei manchen
anämischen Zuständen, in der Regel aber
nur dann, wenn chronischer Magenkatarrh
dieselben begleitete; unter solchen Bedin-
gungen ist man allerdings auch sonst ge-
zwungen, von einer Eisentherapie Abstand
zu nehmen. Als übelwirkende Nebenerschei-
nung erwies sich nach dem Genüsse der
Plenulae häufig Aufstoßen, wahrscheinlich
infolge des Lebertrans, das jedoch durch
Natr. bicarbon. bald beseitigt wurde. Eine
mechanische Störung in dieser so zweck-
mäßigen Form der Eisendarreichung bot der
Umstand, daß manche Pat. die Plenulae
nicht schlucken konnten, man kann aber
auch diesem Übelstande abhelfen, wenn man
sie in einem schleimigen Vehikel nehmen
läßt. Wenn wir, wie ich zusammenfassend
noch hervorheben möchte, schon aus diesem
Grunde der landläufigen flüssigen Eisenmittel
unserer Pharmakopoe auch in Zukunft nicht
immer werden entraten können, so scheint
mir doch die Plenula in physiologisch-chemi-
scher Hinsicht die Idealform der Eisen-
darreichung zu sein, eben weil in ihr das
bei der Herstellung eines Eisenpräparates
unbedingt auszuschaltende, das unresorbier-
bare Eisenoxydhydrat, d. i. Rost, erzeugende
Wasser vollständig fehlt, und sich nach ihrer
Aufnahme die niedrigsten Oxydationsstufen
des Eisens im Magen bilden und als solche
im Darmtractus nachher zu leicht resorbier-
baren und assimilierbaren Blutförderern ent-
wickeln.
Über die Behandlung von Brandwunden
mit Zinkperhydrol.
Von
Dr. Robert Jaeoby io Berlin.
Seit Oktober 1904 habe ich mit dem
Zinkperhydrol (Merck) in Salben- und
Pulverform Versuche angestellt. Ich habe
es bei frischen Wunden, bei Operations-
wunden, bei Verletzungen, bei Beingeschwüren
und bei verschiedenen Hautausschlägen be-
nutzt.
Den eklatantesten Erfolg, so wie er mir
bisher bei anderen Behandlungsmethoden nie
in gleicher Weise entgegengetreten ist, habe
ich bei Brandwunden gehabt.
Bei frischen Brandwunden wurden die
heftigen, brennenden Schmerzen sofort nach
Anlegung des Verbandes gelindert. Die Wun-
den heilten nach einigen Tagen in tadelloser
Weise. Vor allen Dingen kam es niemals
zu' Eiterungen an den Wunden oder zu
Reizungszuständen in der Umgebung der-
selben.
Auch ältere Brandwunden zeigten nach
einigen Tagen ein sehr günstiges Bild und
heilten ähnlich den frischen in kurzer Zeit.
Das Zinkperhydrol hat eine austrocknende
und desinfizierende Wirkung.
Ich möchte dem Mittel einen besonderen
Platz in der Behandlung von Brandwunden
eingeräumt wissen und empfehle den Herren
Kollegen die Anwendung des Zinkperhydrols
als Salbe oder als Pulver in folgender Ver-
ordnung:
Rp. Zinkperhydrol Merck 50
Talci Veneti 200
M. f. pulvis.
Rp. Zinkperhydrol 50
Vaselini flavi 200
M. f. unguentum.
Irgendwelche schädliche, ätzende oder
gar giftige Erscheinungen habe ich in keiner
Weise auch während wochenlanger Behand-
lung feststellen können.
Ich beabsichtige, in Zukunft mit dem
Zinkperhydrol imprägnierte Verbandstoffe zu
verwenden, um dieses Präparat in geeigneter
Weise bei Verbrennungen jederzeit zur Hand
zu haben. Über diese Versuche werde ich
später berichten.
XIX. Jahrgang.l
Deaemher ltfOS J
Goldman n, G«g«n Diabatet mellitus empfohlen« Medikament«.
637
Zur Wirkung* der gegen Diabetes
mellitus empfohlenen Medikamente.1)
Von
Felix Qoldmann in Berlin.
In der Aufzählung der für die Behand-
lung des Diabetes mellitus empfohlenen
chemischen Präparate und Spezialitäten findet
sich auch das von der Bavaria-Apotheke
hergestellte „Senval" angeführt. Es wurde
von Fleischer einmal und mit negativem
Erfolge verwendet, denn es vermochte nicht
mehr als die übliche Diät zu leisten.
Diesem einen Fall bin ich in der Lage
einen zweiten hinzuzufügen.
Unter den 21 Präparaten, unter denen
sich, wie ich glaube, wohl alle chemischen
Substanzen, Geheimmittel, Spezialitäten etc.
befinden, die im Verlauf des letzten Jahr-
zehntes, sei es durch Annoncen oder Bro-
schüren bekannt wurden, sei es in der
Literatur Besprechung fanden, unter diesen
Substanzen, die ich im Verlauf von mehr
als 6 Jahren an mir selbst erprobte, befindet
sich der Reihe nach als letzte (im Monat
Oktober wurde noch keins empfohlen) die
mit „Senval" bezeichnete Spezialität. Zur
Charakteristik der Erkrankung sei bemerkt,
und das möge auch bei der Beurteilung des
Medikamentes mit in Rechnung gezogen
werden, daß es sich im vorliegenden Fall
um einen Diabetes handelt, der durch Diät
beherrscht werden kann, und zwar dergestalt,
daß nach 36 stündiger kohlehydratfreier Kost
auch der Harn zuckerfrei ist. In einer Vor-
periode wurden täglich 50 g Kohlehydrate
(gemischte Kost) zugeführt und nach Ablauf
von 2 Tagen die Ausscheidung bestimmt; sie
betrug genau 8,7 g Glukose in 24 Stunden. Dann
wurde 10 Tage lang das Senval-Präparat,
das ich direkt vom Produzenten erwarb,
genau nach Vorschrift — es handelt sich
um ein Pulver und um eine Flüssigkeit —
gebraucht. Nach Abschluß der Kur belief
sich die Ausscheidung genau auf rund 15,1 g
Glukose bei 50 g Kh-Kost.
Dieses Zuviel braucht keineswegs durch
das Mittel bedingt zu sein; die Tatsache
läßt sich jedoch nicht ableugnen, daß es
nicht vermochte, trotz der doch sicherlich
mäßigen Zufuhr von Kohlehydraten die Menge
der ausgeschiedenen Glukose günstig zu beein-
flussen.
Über Antimellin, Djöat, Saccharosovol
wurde ja bereits von anderer Seite ein Urteil
abgegeben, ich kann dasselbe auf Grund
eigener Versuche bestätigen; die Mittel hatten
nicht den geringsten Einfluß auf die Zucker-
ausscheidung.
Neuere Arzneimittel.
Protosal.
Die therapeutischen Resultate der per-
kutanen Anwendung von Salizylsäure und
deren Verbindungen, besonders von Mesotan,
sind so günstig, daß diese Methode allge-
meine Anwendung gefunden hat. Das Mesotan
verursacht jedoch leicht Reizzustände der
Haut und führt zu entzündlichen und jucken-
den Exanthemen, die Veranlassung werden
können, das Mittel auszusetzen. Als Ursache
der reizenden Wirkung ist wohl die leichte
Zersetzlichkeit des Mesotans anzusehen, wel-
ches schon durch feuchte Luft in Salizylsäure,
Methylalkohol und Formaldehyd gespalten
wird. y
Von diesen reizenden Eigenschaften scheint
nach den bis jetzt gemachten Beobachtungen
der Salizylsäureglyzerinformalester*) frei zu
sein.
») Therapeutische Monatshefte X, 1905.
Er ist eine ölige farblose Flüssigkeit vom
spez. Gew. 1,344 bei 15°, siedet gegen
200° bei 12 mm -Druck unter geringer Zer-
setzung, ist leicht löslich in Äther, Alkohol,
Benzol, Chloroform, Rizinusöl, etwas schwerer
löslich in Olivenöl und Sesamöl, unlöslich
in Wasser, Petroläther, Glyzerin, Vaselin.
Durch verdünnte Säuren und Alkalien wird
die Substanz in Salizylsäure, Glyzerin und
Formaldehyd gespalten.
Von einer Mischung gleicher Teile des
Esters und Olivenöls, dem 10 Proz. Alkohol
hinzugesetzt waren, habe ich dreimal täglich
1 Teelöffel voll kräftig in die Haut des Ober-
schenkels eingerieben, ohne daß sich Reiz-
*) Der Körper hat die Formel:
CH, . 0 . OC . C6H4 (OH)
I
CHON
'\
CHa0/
CHa
638
FrotoMl. — Formieio.
fTherapeul
L M<m»teh
erscheinungen geltend gemacht hätten. Die
Resorption durch die Haut ist eine sehr
gute. Der 12 Stunden nach der ersten Ein-
reibung gelassene Urin gab bereits starke
Salizylsäurereaktion. Am folgenden Morgen
schien die Reaktion noch stärker zu sein,
sie nahm im Laufe des Tages allmählich ab,
aber es konnten noch am 3. Tage geringe
Mengen Salizylsäure im Urin nachgewiesen
werden. Album en war nicht vorhanden.
Auch die Einreibung von 10 Tropfen
der unverdünnten Substanz in die Haut der
Beugeseite des Unterarmes war reizlos, es
stellte sich nur vorübergehend ein leichtes
Wärmegefühl ein. Nichtsdestoweniger dürfte
sich für die Praxis doch die Verdünnung
mit einer gleichen Menge Öl empfehlen.
Der gekennzeichnete Vorzug vor dem
Mesotan, das ebenfalls Salizylsäure und
Formaldehyd in gebundener Form enthält,
findet seine Erklärung in der Konstitution
der neuen Verbindung. Die Abspaltung der
Salizylsäure bedingt nicht die sofortige Ab-
spaltung von Formaldehyd, wie das beim
Mesotan der Fall ist. Die Zerlegung kann
man sich vielmehr so erklären, daß zuerst
Salizylsäure und Glyzerinformal entsteht und
dann aus dem letzteren erst allmählich Form-
aldehyd frei gemacht wird.
Herr Dr. R. Friedländer hat auf mein
Ersuchen die Substanz in seiner Praxis bei
einer Anzahl rheumatischer Affektionen ge-
prüft und gute Resultate erhalten, über die
er selber ausführlich berichten wird. Auch
hier fehlten jegliche Reizerscheinungen. Be-
nutzt wurde die gleiche von mir verwendete
Mischung.
Der Salizylsäureglyzerinformalester wird
von der Chemischen Fabrik auf Aktien (vorm.
E. Schering) dargestellt und mit dem Namen
Protosal bezeichnet.
Die Verordnung geschieht zweckmäßig
nach folgender Formel:
Rp. Protosali 25,0
Spiritus 2,5
Olei Olivarum ad 50,0
M. D. S. Äußerlich.
A. Langgaard.
Formicin.
Als Ersatzmittel für das Jodoform glyzerin,
sodann als Desinficiens und Desodorans wird
neuerdings das Formicin (Formaldehyd-Acet-
amid) empfohlen.
Das Pr¶t, welches als schwach gelblich
gefärbte, dickliche, sirupöse Flüssigkeit in den
Handel gelangt, riecht schwach nach Sauren
und schmeckt etwas bitter; spezifisches Gewicht
1,13—1,15. Mit Wasser und Alkohol ist es
mischbar, in Äther dagegen unlöslich. Auf
37° C. erwärmt, beginnt die wäßrige Lösung
Formaldehyd abzuspalten; mit steigender Tempe-
ratur nimmt die Abspaltung zu. Das Formicin
besitzt demnach, auf Bluttemperatur erwärmt,
starke desinfizierende Wirkung. In Gaben von
3 g pro die in Wasser gelöst, kann es wochen-
lang ohne Gesundheitssch&digung genommen
werden. Metallinstrumente werden durch die
wäßrige Lösung nicht angegriffen.
Die 5 proz. dünnflüssige, wäßrige Formicin-
iösung läßt sich an Stelle der Jodoformglyzerin-
emulsion zu Injektionen in Gelenke, Weich-
teile, Abszesse etc. verwenden; die Anwendung
dicker Kanülen ist nicht erforderlich. Erheb-
lichere Schmerzen nach der Injektion wie bei
Formaldehydinjektionen sind nicht vorhanden,
höchstens tritt mehr oder weniger starkes Brennen
auf, das indes bald nachlaßt und -nur selten
einige Stunden andauert. Außer bei tuber-
kulösen Gelenkaffektionen ist Formicin mit gutem
Erfolge bei Gelenkentzündungen im Gefolge von
Tabes, Gelenkrheumatismus, kongenitaler Lues
und Trauma benutzt worden.
Daß Formicin auch intravenös vertragen
wird, beweist ein Fall von malignem Lymphom,
in welchem, allerdings ohne therapeutischen
Erfolg, taglich wahrend 6 Wochen 0,25 ccm
einer lproz. ansteigend bis zu 2 ccm einer Öproz.
wäßrigen Lösung injiziert wurden.
Bei chronischer Cystitis infolge von Prostata-
hypertrophie mit Residualharn bewirkten tag-
liche Blasenspülungen mit 2 proz. Lösungen
— 5 proz. wurden wegen intensiven Brennens in
Blase und Urethra nicht vertragen — schnelle
El&rung des trüben Urins innerhalb acht bis
zehn Tagen; der stinkende Geruch des Harns
war fast stets nach der ersten Spülung ge-
schwunden.
Als Desodorans zeigte Formicin guten Er-
folg bei stinkendem Empyem nach Rippen-
resektion; in zwei Tagen wurde der Eiter ge-
ruchlos. Ebenso günstig erwies sich das Prä-
parat bei stinkenden Ulcera cruris; es kam hier
in 2 proz. Lösung in Form von feuchten Ver-
banden zur Verwendung.
Ungeeignet scheint Formicin selbst in 5 proz.
Lösungen bei tuberkulösen, granulierenden Flachen
zu sein, weil dem freiwerdenden Formaldehyd
nur eine Oberflächen Wirkung und keine Tiefen-
wirkung zukommt.
Brauchbar ist die 1 proz. Lösung dagegen
in Form von feuchten Umschlagen zur vorbe-
reitenden Dauerdesinfektion zwecks Erzielung
aseptischer Operationsgebiete, z. B. bei Laparo-
tomien , Bruchoperationen , Gelenkresektionen.
Zwölf Stunden lange Einwirkung der 1 proz.
Lösung gerbt keineswegs wie es Formalin-
umschläge tun, die Haut, die sich stets leicht
und glatt schneiden läßt.
Literatur.
Aus der chirurgischen Abteilung de* Stadtt*
sehen Krankenhauses in Wiesbaden (Oberarzt:
Dr. Landow): Klinische Versuche mit For-
XIX.J»hrf*n*.-|
Parisol. - AcldoL
639
micin (Formaldehyd- Acetamid). Von Dr.
Kurt Bartholdy, Assistenzarzt Deutsche medi-
zinische Wochenschrift No. 40, 1905, S. 1601.
Parisol.
Mit dem Namen Parisol wird ein Konden-
sationsprodukt von Formaldehyd und verseiften
Naphthachinonen bezeichnet, das eine helle,
wasserklare Flüssigkeit von angenehmem, er-
frischendem Geruch darstellt. Das Pr¶t ist
mit Wasser leicht mischbar, in kalkhaltigem
Wasser entsteht eine wolkige Trübung, die indes
der Wirksamkeit keinen Abbruch tut.
Die bakteriologische Prüfung des Parisols
erwies seine Überlegenheit gegenüber den ge-
brauchlichsten Antiseptika, wie Lysol, Karbolsäure
und selbst Sublimat. Vor dem letzteren hat es
noch den Vorzug, daß selbst hohe Konzentra-
tionen keine Ätzung auf die Gewebe ausüben.
Die hohe bakterizide Kraft äußert Parisol
auch im lebenden Gewebe; es dringt tief in die
Haut und Schleimhaut ein und beseitigt rasch
den üblen Geruch von Wunden und Sekreten.
Die 5 proz. Lösung läßt sich mit bestem
Erfolge an Stelle des Sublimats zur Hände-
desinfektion verwenden. Höhere Konzentrationen
geben allerdings zur momentanen Entzündung
und Schmerzhaftigkeit Anlaß, doch schwinden
diese Übelstände nach Beseitigung des Mittels.
Ekzeme, wie nach Sublimat, oder Gangrän, wie
nach Benutzung von Karbolsäure, werden durch
Parisol nicht hervorgerufen.
Eiternde Wunden werden mit 3 bis öproz.
Parisollösung ausgewaschen und durchspült, wo-
bei die Lösung längere Zeit in der Wunde be-
lassen wird, daneben kommen nasse Verbände
mit der 0,1 bis 0,3 proz. Lösung zur Verwen-
dung. Unter dieser Behandlung sistiert die
Eiterung in kurzer Zeit, ebenfalls schwindet der
üble Geruch, selbst wenn die Wunden stark
jauchen. Ganz besonders macht sich die deso-
dorier ende Wirkung bei zerfallenden und jauchigen
Krebsgeschwüren geltend.
Das Parisol erscheint ferner in der Gynä-
kologie von besonderem Wert. Katarrhe der
Scheide, der Gebärmutter werden günstig be-
einflußt, der stinkende Ausfluß bei inoperablen
Uteruskarzinomen wird schnell beseitigt. Die
0,3 bis 0,5 proz. Lösung läßt sich als reizloses,
ungiftiges Ersatzmittel für Sublimat etc. mit
Vorteil zu Uterusspülungen nach geburtshilf-
lichen Operationen verwenden.
Literatur,
Parisol, ein neues Antiseptikum und
Desodorans. Von Dr. Benno Müller (Ham-
burg). Deutsche Zeitschrift für Chirurgie, Bd. 79,
Separatabdruck.
AcidoL
Der bei einer Reihe von krankhaften Stö-
rungen des Verdauungsapparates unentbehrlichen
Salzsäure haftet der Übelstand an, daß beim
Aufbewahren ihre Dämpfe, welche auch aus ge-
schlossener Tropfflasche entweichen, Metall gerate
und Gebrauchsgegenstände angreifen. Da ferner
viele Patienten, denen Salzsäure in Tropfenform
verordnet ist, die Tropfenflasche bei sich tragen
müssen, 'wodurch Kleider, Kofferinhalt etc. oft
gefährdet werden, erscheint die Darreichung von
Salzsäure in fester Form von praktischer Be-
deutung.
Acidol, Betainchlorhydrat1), bildet farb-
lose, in Wasser sehr leicht, in Alkohol schwieri-
ger lösliche Kristalle. In trockenem Zustand»
ist es gut haltbar und gibt selbst beim Er-
wärmen keine Salzsäure ab, in wäßriger Lösung
dagegen zerfallt es hydrolytisch, und zwar nimmt
die Hydrolyse mit steigender Verdünnung zu:
in 1 proz. Lösung sind etwa 40 Proz. des Prä-
parates aufgespalten.
Da Acidol 23,78 Proz. Salzsäure enthält,
also etwa ebensoviel wie die offizineile Salz-
säure (25 Proz.), so entsprechen — unter Berück-
sichtigung der unvollständigen Spaltung —
5 Tropfen Acidum hydrochloricum etwa 0,5 g
und 8 Tropfen ca. 1 g Acidol. In dieser Do-
sierung kommen Pastillen in den Handel, doch
kann ebensogut das Präparat in Pulverform ver-
abreicht werden. Die Pastillen lösen sich äußerst
leicht in Wasser; der Geschmack der wäßrigen
Lösung ist angenehmer als der der Salzsäure.
Irgendwelche Reizung der Schleimhäute, wie ab
und zu nach > Salzsäuremedikation beobachtet
wird, soll dem Präparat fehlen. Die frei werden de-
Betainkomponente ist für den Organismus voll-
ständig indifferent.
Das Indikationsgebiet für Acidol ist das-
gleiche wie für SalzBäure. Bei dyspeptischen
Störungen, die auf mangelnder Abscheidung von
Salzsäure beruhen, steht sein therapeutischer
Erfolg dem von Acidum hydrochloricum nicht
nach, bei nervöser Sub- und Anacidität scheint
]) Beta in (Oxyneurin, Lycin, Trimethylglycin)
(CHt)tN — 0
I I
CHf - CO
findet sich, wie Liebreich gezeigt hat, in der
Rübenmelasse, aus welcher es durch Behandeln
mit Salzsäure oder Kochen mit Baryt gewonnen,
werden kann. Es kommt ferner vor, in Lycium
barbarum, Gossypium herbaceum, Vicia sativa, My-
tilus edulis sowie im Harn.
Aus Gholin kann es durch Oxydation gewonnen,
werden
CH,-
CO
CH,OH
| +20 = | | +2HfO
CH, N(CH,)j OH N (CH,)S - 0
Ctaolin B*Uln
ferner synthetisch auB Trimethylamin und Chlor-
essigsäure (Liebreich):
Cl.CHfCO,H + N(CHl)s =
Chloreulfftiur« Trimethyl-
amin
C1.N(CHS),CH,.C0,H
Betalnehlorhydrat.
640
Therapeutische Mitteilungen aus Vereinen.
rTheraptntbehe
L Monatehefte.
es noch wirksamer als die Säure selbst zu sein.
Eine weitere Anwendung findet Acidol zur Her-
stellung von Pepsin-Salzsäure Dragees. Die mit
wäßriger Salzsäure hergestellten Pepsinpräparate
sind nur kurze Zeit haltbar, während Mischungen
von Pepsin mit Acidol, die sich in jedem be-
liebigen Verhältnisse herstellen lassen, noch
nach Jahresfrist in Wirkung und Aussehen keine
Veränderung erkennen lassen.
Literatur.
Acidol, ein Ersatz für Salzsäure in
fester Form. Von Dr. Robert Flatow (Berlin).
Deutsche medizinische Wochenschrift, No. 44, 1905,
S. 1754.
Therapeutische Mitteilungen aus Vereinen.
L Kongreß
der Internationalen Gesellschaft für Chirurgie.
Brüssel, 18.— 23. September.
Referent: Dr. H. Wohl gern uth (Berlin).
(FMrtMtntng].
Auch der folgende Referent Herr M. A.
Mattoli (Rom), der seine Ansichten nicht per-
sönlich vorträgt, läßt die verschiedenen gut-
artigen Magen affektionen Revue passieren, bei
denen ein chirurgischer Eingriff am Platze ist,
und beleuchtet kurz die Indikationen und die
voraussichtlichen Resultate der jedesmal ange-
brachten Operationsmethode. Er wiederholt im
allgemeinen die Ansichten seiner Vorredner mit
wenigen Ausnahmen. So gibt er z. B. bei Pyloro-
spasmus der Divulsion nach Loreta vor der
Fissur des Pylorus den Vorzug. Er schließt mit
folgenden Worten: Eine Operation beherrscht
souverän das Feld der Magen Chirurgie, das ist
die Gastro-Enterostomie. Zuerst mit Mißtrauen
sogar von den berühmtesten Chirurgen , aufge-
nommen, ist sie schließlich sieghaft in die Praxis
eingedrungen und dank ihrer zahlreichen Ver-
vollkommnungen und rationeller Auswahl ihrer
verschiedenen Methoden entscheidend und glän-
zend in ihren Resultaten geworden. Ein be-
rühmter italienischer Kliniker sagte, die Operation
müßte „populär" werden, und es läge wohl an
dem Vorurteil des Publikums, daß dies nicht
geschähe. Er glaube vielmehr, daß der Mangel
an Popularität dieser Operation in einem un-
verständlichen Vorurteil der internen Kliniker
zu suchen sei, die, erfüllt von einem über-
triebenen Zutrauen zu ihren therapeutischen
Maßnahmen, sich hartnäckig gegen einen chirur-
gischen Eingriff sträuben wie gegen eine ultima
ratio und erst dann dazu raten, wenn die> Pro-
gnose schon kaum mehr Hoffnungen hat.
Herr von Eiseisberg (Wien), der folgende
Referent, berichtet über seine Erfahrungen bei
Fremdkörpern, Traumen, Pylorospasmus
und Ulcus. Er hat niemals operativ einge-
griffen bei Kranken, die keine anatomischen
Läsionen gehabt haben. So ist ihm die ein-
fache Dyspepsie, wie sie von einzelnen Chirurgen
mit gutem Erfolge operativ geheilt ist, niemals
als ein Grund zur Intervention erschienen. Was
v. Eiseisberg über das operative Vorgehen bei
Fremdkörpern und perforierenden Traumen sagte,
kann als allgemein feststehend angenommen
werden. In zwei Fällen von kompletter Striktur
des Magens hat er nacheinander folgende Ope-
rationen gemacht: 1. Jejunostomie, 2. einige
Wochen später Gastrostomie und retrograder
Katheterismus der Ösophagusstriktur, 3. nach
einem Monat Jejunorrhaphie und Gastro-Entero-
stomie, 4. nach mehreren Monaten, als der
Katheterismus per os möglich war, Gastror-
rhaphie. In beiden Fällen war das Resultat ein
vollkommenes.
Beim Pylorospasmus hat er ebenfalls
mit der Pyloroplastik weniger gute Resultate er-
zielt als mit der einfachen Gastro-Enterostomie.
Die erstere hat in einem Falle nur vorüber-
gehende Erleichterung verschafft, während die
Gastro-Enterostomie kompletten Erfolg in einem
zweiten Falle hatte.
Über das perforierte Ulcus, die mög-
lichst schnelle Laparotomie, die Exzision des
Geschwürs, seine eventuelle Übernähung mit
Epiploon, Tamponade etc., über die Behandlung
des hämorrhagischen und des nicht blutenden
Ulcus mit Exzision, Resektion, Exklusion des
Pylorus, Gastro-Enterostomie und Jejunostomie,
über die sich der Vortragende des weiteren ver-
breitet, decken sich seine Ansichten ebenfalls
mit denen der anderen Autoren. Auch er er-
kennt die Resektion als die theoretische Ideal-
operation an, die doch aber nur indiziert ist
bei kau z er ose r Degeneration. Doch glaubt er,
daß die Furcht davor durch die verhältnismäßig
geringe Zahl der Fälle nicht gerechtfertigt wird.
Für außerordentlich wertvoll hält er die
Ausschaltung des Pylorus und gibt ihr den
Vorzug vor der Gastro-Enterostomie, wenn immer
sie nur ausführbar und die Resektion zu gefähr-
lich zu sein scheint.
Die Gastro-Enterostomie hat ihre besten
Erfolge, wenn das Ulcus nahe am Pylorus sitzt;
je mehr es sich der Kardia nähert, um so mehr
verringert sich ihre Wirksamkeit. Man soll,
wenn möglich, die Gastro-Enterostomia posterior
machen; ist man aber gezwungen, die vordere
Gastro-Enterostomie auszuführen, so soll man die
Enteroonastomose anschließen, um den Circulus
vitiosus zu vermeiden.
Die Jejunostomie ist die beste Palliativ-
operation bei Geschwüren, die in der Nähe der
Kardia sitzen, bei sehr großer Kachexie, bei
Sanduhrmagen mit sehr kleinem kardialen Ab-
schnitt, bei totaler Magenretraktion.
Die Pyloroplastik, Gastroplastik , Gastro-
lysis verdienen wenig Vertrauen. Der Vor-
XIX. Jahrgang/!
Des«mb<*r l!Hift. I
Therapeutisch« Mitteilungen aus Vereinen.
641
tragende reiht hieran noch eine Statistik der
von ihm operierten 33 blutenden, 64 nicht
blutenden Ulcera, 50 Pylorusstenosen nach Ge-
schwür, 5 Geschwüre des Duodenum mit Stenose.
Als sechster und letzter Referent faßt Herr
Jonnesco (Bukarest) noch einmal die nicht
karzinomatösen Magenerkrankungen zusammen in
bezug auf ihre Indikationen zur Operation, die
Wahl des Operationsverfahrens, seine augenblick-
lichen und späteren Resultate. Wir wollen, um
nicht zu oft zu wiederholen, nur einzelnes und
Bemerkenswertes aus den Ausführungen Jon-
n es cos hervorheben:
Der Pylorospasmus, sagt er, der noch 1903
von Mayo Robson geleugnet wurde, ist eine
häufigere und schwerere Affektion, als man zu
glauben geneigt ist; 73 operierte Fälle der ver-
schiedenen Autoren zählt er auf und reiht ihnen
8 eigene an, 6 mit Ulcus, 2 idiopathische.
Während einige Autoren den Pylorospasmus,
den sekundären sowohl infolge von Ulcus wie
den primären von chronischer Gastritis, auf eine
wenn auch kleine Alteration der Schleimhaut,
Erosionen oder Fissuren zurückführen, scheint
ihm der Spasmus stets eine Folge von Hyper-
chlorhydrie zu sein, hervorgerufen durch eine
Reizung der Mucosa duodenalis, deren Reflex
die Kontraktur des Sphincter pylori zur Folge
hat. Die Läsionen der Mucosa pylori sind also
sekundärer Natur. Durch Hypertrophie des
Sphinkter nun wird der Spasmus permanent,
durch Sklerose wird aus dem Spasmus eine
fibröse Stenose.
Die Hyperchlorhydrie ist also nicht, wie
Carle und Fantino meinen, ein Resultat des
Spasmus.
In Übereinstimmung mit seinen Vorrednern
sieht er die Pylorektomie als die ideale Ope-
ration an und hält es in Rücksicht auf einen
Fall von Ulcus pylori, in dem er ein Jahr nach
der Gastro Enterostomie den Kranken an karzi-
nomatöser Metastase in der Leber hat zugrunde
gehen sehen, für notwendig, wenn nur immer
die anatomischen Bedingungen und der Zustand
des Kranken es erlauben, den ulzerierten Pylorus
oder das Ulcus pylori mit Stenose zu resezieren,
um die kanzeröse Degeneration nach Möglichkeit
zu vermeiden.
Die Gastro-Enterostomie ist die Methode
der Wahl. Bei der Ausübung der v. Hack er-
sehen Methode mit der Annähung der beiden
Jejun umschlingen an die Magenwand konnte er
bis jetzt stets Circulus vitiosus und Ulcus pep-
ticum vermeiden, ohne weiter zur Braun sehen
Anastomose seine Zuflucht zu nehmen. Er macht
stets die Naht in zwei Etagen mit Catgut. Die
erste Naht greift durch die ganze Dicke der
Wandungen, die zweite ist nur eine sero-serö6e.
Die Resektion der Mucosa hält er für unnötig.
Seine Kranken bekommen gleich am Operations-
tage Nahrung per os. Das hat nie Gefahr,
wenn die Naht gut ist.
In der Frage der übrigen gutartigen Magen-
erkrankungen schließt sich Jonnesco den
vorigen Referenten im allgemeinen an. Bei der
Ektasie und Gastroptose bevorzugt er die
Faltung oder Gastrorrhaphie mit Gastro- Jejuno-
stomie und eventuell Gastropexie. Die essentielle
Gastroptose, die mit Splanchnoptose kom-
pliziert ist, gehört viel mehr in das Gebiet der
Orthopädie als der Chirurgie.
Die Tetanie gastrischen Ursprungs ist ihm
einmal Gegenstand chirurgischen Handelns ge-
wesen. Die- Gastro- Jejunostomie hat hier Hei-
lung gebracht. Wie wirksam selbst hier der
chirurgische Eingriff ist in diesen sonst fast
btets tödlichen Fällen, zeigt, daß von den 11
bekannten operierten Fällen 8 geheilt, 3 an
postoperativen Komplikationen zugrunde ge-
gangen sind.
Jonnesco kommt dann noch zu sprechen
auf die seltenen Fälle in denen der Magen
von der Dimension eines Dünndarms mit
dicken Wandungen und ganz engem Lumen
wohl nur Gegenstand der totalen Ektomie mit
nachfolgender Kardio- Jejunostomie sein kann.
Die Natur dieser Krankheit ist noch zweifel-
haft. Während die einen Karzinom annehmen,
glauben die anderen eine gutartige sekun-
däre Entzündung, chronische Gastritis oder
eine Entzündung des submukösen Zellgewebes
oder die Propagation einer retroperitonealen
Entzündung anschuldigen zu müssen. In seinem
Fall war die entzündliche Natur der Erkrankung
außer allem Zweifel. Folgen die gutartigen
Affektionen der Kardia und die Traumen. Der
Vortragende schließt seine Ausführungen: der
chirurgische Eingriff bei den gutartigen Magen-
affektionen, der in vielen Fällen zur Heilung
führt, wenn die interne Behandlung keine Wir-
kung hat, muß möglichst früh gemacht werden.
Die Ärzte müssen sich von der großen Wohltat
desselben in der modernen Magenchirurgie über-
zeugen und dem Chirurgen die Kranken über-
liefern, bevor sie schwere Komplikationen haben,
zum Heile der Menschheit und zum Ruhme der
chirurgischen Kunst.
14 Redner beteiligten sich an der Dis-
kussion. Herr Hartmann (Paris) verfügt über
121 operierte Fälle, und seine Mortalität ist von
23,7 % vor 1900 auf 6 % nach 1900 gefallen.
Er glaubt dieses glänzende Resultat der jetzt
durchgeführten frühzeitigen Operation zu danken.
Wenn auch die häufigste Ursache zur Operation
das Ulcus ist, so möchte er doch zu bedenken
geben, daß die meisten nicht komplizierten
Ulcera durch medikamentöse Maßnahmen ge-
wöhnlich ausheilen.
Herr Lambotte (Antwerpen) hat ein Material
von 167 Fällen aufzuweisen mit 10% Mortalität.
Er ist doch der Ansicht, daß die Gastro-Entero-
stomie nicht in allen Fällen zum Ziele führt.
Bei den einfachen Gastropathien hält er die
Resektion des Sphincter pylori, bei den biliären
Gastropathien außerdem noch die Cystektomie,
bei der Ptose die Gastropexie und Pylorektomie
für besser. Herr Garre (Breslau) steht im all-
gemeinen auf einem weniger eingreifenden Stand-
punkte als die Referenten. Er ist unbedingt
für einfache Gastro-Enterostomie bei gutartigen
Affektionen. Die Frage des Ulcus pepticum
scheint ihm noch nicht ganz geklärt zu sein.
Bei 123 Gastroenterostomien hat er noch keines
erlebt und ist daher der Ansicht, daß die Art
642
Therapeutische Mitteilungen aus Vereinen.
("Therapeut
L Monate*
itieche
seiner Schleimhautnaht vielleicht davor Schatz
geboten hat. Gastro- und Pjloroplastik hat auch
er wieder verlassen, ebenso die Gastrolysis, doch
hält er wie Herr v. Eiseisberg die Gastro-
pexie für eine gute Operation. Herr Ricard
(Paris) ist nicht der Meinung, daß jedes Ge-
schwür a priori eine chirurgische Affektion ist.
Herr Rovsing (Kopenhagen) hat die Erfahrung
gemacht, daß die Gastroptose häufiger bei Nulli-
paren als bei Multiparen vorkommt. Von
55 Fallen 46. Herr Segond (Paris) erwähnt
einen Fall von adhäsiver Perigastritis, der voll-
kommen das Bild eines Pyloruskarzinoms bot,
aber nach einfacher Gastrolysis seit 7 Jahren
geheilt geblieben ist. Herr Czerny (Heidel-
berg) ist ein großer Freund der Exzision der
Geschwüre, doch hält auch er die Operation nur
nach gründlicher und vergeblicher interner Be-
handlung für notwendig. Die Operation der
Wahl ist aber auch nach seiner Meinung die
Gastro- Enterostomie, wenngleich ihm die Exzision
die folgerichtige Operation zu sein scheint, sie
wird immer den plastischen Operationen über-
legen sein. Was nun die Technik der Gastro-
Enterostomia anlangt, ob anterior oder posterior,
ist er überzeugt, daß jeder mit seiner Methode
die besten Resultate haben wird, wenn er sie
gut ausgebildet hat. Während des weiteren die
Herren Gardenal (Barcelona), Sinclair White
(Sheffield), Kocher (Bern) und Herczel (Buda-
pest) sich über die Technik der Gastro-Entero-
stomie äußern, lenkt Herr Lorthioir (Brüssel)
die Aufmerksamkeit auf die kongenitale
Atresie des Pylorus, die, wenig gekannt, oft
unbemerkt bleibt oder mit einer Gastro-Enteritis
verwechselt wird. Herr Gerulanos (Kiel) teilt
einen Fall von Myom des Pylorus mit, Herr
Sonnenburg (Berlin) glaubt feststellen zu
können, daß die Diskussion das Gute gehabt hat,
daß man in Zukunft beim Ulcus mit Verhärtung
die Exzision und Gastro-Enterostomie machen
wird, und die verschiedenen Referenten drücken
in ihren Schlußworten die Genugtuung darüber
aus, daß ihre Thesen von den meisten Rednern
angenommen worden sind.
Die nächste Sitzung, die unter dem Vorsitz
von Demont (Bordeaux) stattfand, beschäftigte
sich mit der Gelenktuberkulose.
Der erste Referent, Herr Bier (Bonn) ließ
durch seinen Assistenten Herrn Klapp "seinen
Standpunkt zu der Frage mitteilen, der im
wesentlichen folgender ist:
Die Gelenktuberkulose ist eine im wesent-
lichen heilbare Affektion. Die systematische Ab-
tragung der tuberkulösen Herde ist eine lächer-
liche und veraltete Therapie. Die Behandlung
des Allgemeinbefindens spielt eine gewisse Rolle
in bezug auf die Besserung des lokalen Zu-
standes. Die Immobilisation ist eine der besten
lokalen Maßnahmen. Sie ahmt das natürliche
Heilungsbestreben nach. Jodoform, Tuberkulin,
Ignipunktur, Chlorzink sind alles nützliche Hilfs-
mittel der Therapie, indem sie eine Hyperämie
der kranken Gegend herbeiführen. Das wirk-
samste Mittel und das einfachste der konser-
vativen Behandlung ist die passive Hyperämie
durch venöse Stauung. Sie genügt auch für
offene Tuberkulosen, ohne daß antiseptische
Verbände oder Kürettage gemacht zu werden
brauchen. Kalte Abszesse müssen durch In-
zision, Punktion oder Aspiration entleert werden.
Kontraindikationen der Hyperämie sind nur
amyloide Degeneration oder schwere Lungen-
tuberkulose. Auch fehlerhafte Stellungen, die
nach der Heilung ein schlechteres funktionelles
Resultat geben würden als nach der Resektion,
wird man besser dieser unterwerfen. Die Stau-
ungehyperämie gestattet es, sehr früh aktive und
passive Bewegung wieder aufzunehmen, und die
Heilung erfolgt häufig mit vollkommener Be-
weglichkeit trotz weit vorgeschrittener Erkran-
kung. Sie erlaubt eine ambulante Behandlung
der Kranken, denn der Krankenhausaufenthalt
ist ihnen in keinem Falle nützlich. Die mittlere
Dauer der Behandlung beträgt wenigstens
9 Monate. Die Anwendung von Apparaten, be-
sonders nach dem Prinzip von Hess in g ist
eine vorteilhafte Unterstützung der Stauungs-
behandlung. Das wesentliche Ziel der Behand-
lung muß das Erreichen einer möglichst guten
Funktion sein. Bei den Tuberkulosen des Knies
und des Fußes wird man daher manchmal die
Resektion der Hyperämie vorziehen, weil hier
die Beweglichkeit weniger wichtig ist als eine
gute Stellung. Rezidive sind bei der Stauungs-
behandlung nicht seltener und nicht häufiger
als bei den übrigen Methoden. Eine Statistik
der von ihm in den letzten anderthalb Jahren
behandelten Fälle schließt den Vortrag.
Der zweite Referent Herr Broca (Paris)
gibt in kurzen Zügen ein Programm seiner Be-
handlungsweise der Gelenktuberkulose bei Kin-
dern. Er hält die medikamentöse Behandlung
für unentbehrlich, einen dauernden Aufenthalt
an der See für unnötig. Lokal geht er folgender-
maßen vor: Die oberflächlichen synovialen
Erkrankungen werden mit Jodoform -Äther-
Injektionen und relativer Immobilisation von
kurzer Dauer behandelt; die Osteo-Arthriten
mit kompletter Immobilisation, vollkommener
Streckung bei den Erkrankungen von Knie,
Handgelenk, Finger, Zehen, Extension, leichter
Abduktion und Rotation nach außen bei der
Hüfte, rechtwinkliger Beugung beim Ellenbogen
und Fußgelenk. Das Redressement fehler-
hafter Stellungen wird durch kontinuierliche
Extension ausgeführt. Luxierte oder deformierte
Knochen werden durch forciertes Redressement
gerade gestellt, und er glaubt nicht, daß dieser
Behandlungsweise alle die Nachteile eigen sind,
deren man sie beschuldigt. Nach dem Redresse-
ment läßt er die Patienten mehrere Monate im
Bett in einem Apparat liegen und gibt ihnen
später erst einen Gehapparat. Broca schließt:
Die Immobilisation ist die Basis der Behand-
lung, wenn man auch auf einige Hilfsmittel wie
Kompression, Stauung, Injektionen etc. nicht
verzichtet. Eine Operation ist nur ausnahms-
weise indiziert; wenn sie aber gemacht wird,
dann ist die Resektion der Synovektomie vorzu-
ziehen. Ist diese aber eine vollkommene, dann
hat sie enorme Verkürzungen im Gefolge. Schont
sie andererseits die Gelenkknorpel und die Epi-
XIX. Jahrgang."]
December 1H05.J
643
physen, so riskiert sie, unvollkommen zu sein
und schwere Deformitäten herbeizuführen. Ein
vereiterter Tumor albus wird am besten mit
Punktion oder Injektion von Jodoformäther be-
handelt. Stark reizende Injektionen sind nicht
zu empfehlen. Partielle Auslöfflungen sind
nicht ratsam, führen eher eine Verschlechterung
herbei'. Eine drohende Infektion kann zu breiter
Eröffnung und Drainage der Knochenherde
zwingen. Eine Septikämie oder schwere Lungen-
tuberkulose darf die einzige Ursache einer Am-
putation sein. Falsche Stellungen sollen nur
dann korrigiert werden, wenn jeder Infektions-
herd erloschen ist. Mit der Immobil isation darf
erst dann aufgehört werden, wenn jeder Schmerz
verschwunden ist. Bewegungs versuche müssen
langsam und allmählich gemacht werden, und
bei dem geringsten Aufflackern muß wieder zeit-
weilig immobilisiert werden. Man wird nicht
gar zu große Anstrengungen machen, um die
Gelenke zu mobilisieren. Die Ankylose der
unteren Extremität wird man in Ruhe lassen,
die falsche Stellung eher durch Osteotomie oder
Resektion als durch forciertes Redressement
korrigieren. Die Ankylose der oberen Extremi-
tät wird man zu mobilisieren versuchen.
f Schlot folgt.)
Referate.
Der heutige Stand der Pathologie und Therapie
der Epilepsie. Von Dr. Arthur v. Sarbo,
Privatdozent an der Universität in Budapest.
Separat- Abdruck aus der „Wiener Klinik"
1905. Urban & Schwarzenberg, 1905, 64 S.
Bei der Begriffsbestimmung der Epilepsie
ist neben den motorischen auch den fast stets
vorhandenen psychischen Symptomen Rechnung
zu tragen: »Die Grundlage der genuinen Epi-
lepsie bildet eine angeborene Nervenkonstitution,
welche sich in beständig vorhandenen motorischen
und psychopathischen Erscheinungen — inter-
paroxysmale Erscheinungen — äußert ; die Mannig-
faltigkeit der auslösenden Momente macht diese
Konstitution auffälliger und progredienter durch
Hervorrufung paroxysmaler motorischer und
psychopathischer Erscheinungen. " In der Patho-
genese des Leidens spielt die nervöse Belastung
die Hauptrolle. Von den Momenten, welche
auf dieser Basis die Epilepsie zur Entwickelung
bringen, werden Infektionskrankheiten des Kindes-
alters, Eklampsien, intra- und extrauterine Ge-
hirnkrankheiten (Encephalopathia infantilis), für
manche Fälle Trauma, Reflexe von der Peripherie
her, psychische Erregungen, besonders Erschrecken,
Menstruation angeführt. Arteriosklerose, Alko-
holismus, Syphilis können sekundäre genuine
Epilepsie hervorrufen. Die senile Epilepsie
(Epilepsia tarda) wird meist durch die Arterio-
sklerose ausgelöst, es gibt aber auch Fälle, in
denen sich die Epilepsie ohne diese im späteren
Alter ausbildet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß
der Ursprung und der Verlaufsort auch der
motorischen Symptome der genuinen Epilepsie
in der Gehirnrinde zu suchen ist. Die Anhänger
der Theorie doppelten — kortikalen und infra-
kortikalen — Ursprungs sind allerdings in der
Überzahl. Die Frage nach der ursächlichen Be-
deutung der Stoffwechselprodukte harrt noch
ihrer Erledigung. Selbstverständlich ist im Blute
von Epileptikern auch ein Mikrokokkus (Neuro-
kokkus!) gefunden worden. Die Symptomatologie
ist sehr eingehend geschildert. Bei der Diffe-
rentialdiagnose kommt im wesentlichen die
Hysterie und die Simulation in Betracht. Die
pathologische Anatomie liefert noch immer wenig
Ausbeute. Es scheint, daß die Epilepsie zu
diffuser Gliose führen kann. Dieselbe beschränkt
sich aber nicht auf die Ammonshörner, kann
vielmehr auch die gesamte Rinde betreffen. Das
Kapitel der Therapie beginnt mit den pro-
phylaktischen Maßnahmen: Bekämpfung des Al-
koholismus, Verhinderung des Heiratens Epi-
leptischer, sofern körperliche oder psychische
Stigmata der ererbten Disposition auffindbar
sind. In der speziellen Therapie werden mit
Binswanger die konstitutionellen (hygienisch-
diätetischen), die arzneilichen und die operativen
Maßnahmen auseinandergehalten. Geistige Über-
anstrengung ist zu vermeiden, der Schulbesuch
zu untersagen. Erscheinen die Anfälle selten,
und fehlen interparoxysmale neurasthenische
Symptome, so ist der Privatunterricht (2 bis
3 Stunden täglich) zu gestatten. Wird die Epi-
lepsie im Pubertätsalter manifest, so ist ein
Berufswechsel dann am Platze, wenn die Intelli-
genz zu leiden scheint. Körperlich gut ent-
wickelte, geistig intakte Individuen können bei
Einhaltung allgemeiner hygienisch - diätetischer
Maßregeln eventuell ihre Studien fortsetzen.
Körperliche Beschäftigung darf im allgemeinen
nur dazu geeigneten Kranken angeraten werden.
Einrichtung epileptischer Kolonien und separater
Institute ist zu empfehlen. Richtige pädagogisch-
psychische Beeinflussung ist von großem Werte.
Die hypnotische Suggestion hat keine anzu-
erkennenden Erfolge aufzuweisen. In der medi-
kamentösen Behandlung steht das Brom obenan.
Die Furcht vor dem Bromismus ist nach den
eigenen Erfahrungen des Verfassers bei Rein-
haltung der Haut durch Bäder und Sorge für
regelmäßigen Stuhl unbegründet. Die Art der
Anwendung ist von Wichtigkeit. Verf. beginnt
bei einem mittelschweren Falle mit einer täglichen
Dosis von 3 g Bromkalium; sie wird wöchentlich
um 1 g erhöht (bis zu 6—8 — 10 — 12 g pro die)
mit der Weisung, bei der Dosis zu verbleiben,
bei der die Anfälle sistieren. Ist eine an falls-
freie Zeit von 2 — 3 Monaten erreicht, so wird
die Dosis wöchentlich um 1 g pro die wieder
verringert bis zu 2 — 3 g pro die. Der Kranke
muß es lernen, sein Befinden zu kontrollieren,
um danach die Dosierung des Broms selbst
regulieren zu können. Die Behandlung muß
644
L'
Thei-ftpentiaefee
Monatsheft«.
Jahre hindurch ununterbrochen fortgesetzt werden,
denn Brom heilt nicht die Epilepsie, es unter-
druckt nur die Anfalle. Die Opium -Bromkur
Flechsigs ist als stellvertretendes Verfahren
für die reine Brombehandlung in Betracht zu
ziehen, aber nur in Anstalten. Gute Erfolge hat
das Verfahren von Richet und Toulouse. Sie
geben kochsalzarme Diät in der Annahme, daß
der Körper bei Chlorentziehung für Brom, das
dann die Stelle des Chlors in den Verbindungen
einnimmt, empfindlicher wird. Chirurgische
Eingriffe sind in der Behandlung der genuinen
Epilepsie vorläufig nicht am Platze. So viel aus
der lesenswerten Arbeit, die ihre Aufgabe löst,
ohne auf den überflüssigen Ballast Rücksicht zu
nehmen.
H. Krön (Berlin).
Bemerkungen Ober die Behandlung der Leukämie
mit Röntgenstrahlen. Von Prof. Otto mar
Rosenbach (Berlin).
Während, wie Rosenbach seit langen
Jahren immer wieder ausgeführt hat, die feinsten
Ströme der Energie, die sogen. dunkUn Strahlen,
in ihrer primären Form oder nach ihrer Trans-
formation im Organismus die größte Bedeutung
für den protoplasmatisohen Betrieb haben, und
dementsprechend ihre rationelle Verwendung für
therapeutische Zwecke einer der größten Fort-
schritte sein müßte, stellen Energieformen, wie
die in den Röntgenstrahlen wirkenden immer-
hin schon Reize gröbster Art dar. Ein der
Gesundheit förderlicher Betrieb des Individuums
— mag es sich nun um Erhaltung der Norm
oder um ihre Wiederherstellung in pathologischen
Fällen handeln — kann nur durch kleinste
Reize, nicht durch Katastrophen gefördert
werden und in therapeutischer Hinsicht muß es
dementsprechend mehr darauf ankommen, durch
langsamstes und vorsichtigstes Vorgehen eine
allmähliche, der Norm entsprechende Einwirkung
als große Wirkungen zu erzielen. Besteht so
von vornherein, wenn man Rosenbachs Auf*
fassung teilt, der Verdacht, daß es sich bei
den enthusiastisch verkündeten Heileffekten, die
man nach der Anwendung der Röntgenstrahlen
beobachtet haben will, wohl nur um Schein-
erfolge handelt, so liegt es doch nicht in der
Art dieses ernsten und gewissenhaften Forschers,
XJnter8uchungsergebnisse von anderer Seite ohne
weiteres zu ignorieren oder auf Grund theoretischer
Deduktionen zu bestreiten.
Auch in der vorliegenden Arbeit, die an
die experimentellen Untersuchungen von Hei b er
und Lins er1) über die Einwirkung der Röntgen-
strahlen auf das Blut anknüpft,, erhebt Rosen-
bach durchaus keinen Widerspruch gegen die
von diesen Autoren aufgestellte Behauptung, daß
bei der Bestrahlung weiße Blutzellen in größerem
Umfange zugrunde gehen — er hält sogar den
Nachweis hierfür völlig für erbracht. Nur gegen
die Schlußfolgerungen, die an diese Tatsache ge-
knüpft werden, erhebt er Einspruch und warnt,
indem er scharf auf die Lücken der Beweis-
führung in den Deduktionen hindeutet, vor einem
l) Münch. med. Wocheoschr. 1905, No. 15.
zu großen Optimismus in der therapeutischen
Verwertung jener Resultate.
Helber und Lins er führen das fast völlig»
Verschwinden der weißen Zellen aus dem Blute
auf eine elektive Einwirkung der Röntgen-
strahlen gerade auf diese Bestandteile auch des
normalen Blutes zurück, sie ziehen ferner aua
der Tatsache, daß nur in den blutbildenden und
blutführenden Organen (neben dem Blute selbst
in der Milz und in den Nieren) wesentliche
Veränderungen festgestellt werden konnten, den
Schluß, daß hier der Ort jener elektiven Wirkung
zu suchen sei, indem unter dem direkten Ein-
flüsse der Röntgenstrahlen eine Insuffizienz;
der Milz resp. der Drüsen zustande käme.
Diese hätte dann ein Sistieren der Leukozyten-
produktion zur Folge.
Helber und Linser haben nun alle inneren
Organe untersucht und stützen ihre Folgerungen
auf die sonst überall (übrigens mit Ausnahme
der Lunge, in der sich in einzelnen Fällen mehr
oder minder starke entzündliche Veränderungen
mit der mindestens auffallenden Leukopenie
vergesellschaftet vorfanden) erhobenen negativen
Befunde. Es fehlt aber, worauf Rosenbach
hinweist, eine eingehende mikroskopische Unter-
suchung desHautorgans und dieses ist es gerade,
welches nach seinen eigenen Ermittelungen nicht
nur ohne das Zutragetreten makroskopisch sieht*
barer Veränderungen unter gewissen Bedingungen
ganz auffällige Anhäufungen färbbarer Elemente
in seinem Parenchym erkennen läßt, sondern auch
in gewissen Wechselbeziehungen zu drösigen
Organen, namentlich neben den Nieren auch zur
Milz, zu stehen scheint1).
Die Verarmung der Milz, der Drüsen u. s. w.
an weißen Blutkörperchen ist nach Rosenbach
nicht durch eine Insuffizienz dieser
Organe, sondern durch eine regulato-
rische Hemmung seiner Funktion zu er-
klären. Nach dieser wohlbegründeten Anschau-
ung ist es sehr wahrscheinlich, daß ein Teil
der zirkulierenden Leukozyten (entsprechend der
Reizung der Haut durch die Röntgenstrahlen) in
dieses Organ übertritt, ein Vorgang der regula-
torisch eine gewisse Hemmung der Produktion
von Leukozyten eben wegen jener Veränderung:
des Blutes, des Organs der Reize für die Gewebe-
tätigkeit zur Folge zu haben vermag. Wenn
nämlich Bestandteile weißer Blutkörperchen — so»
führt Rosenbach aus — ohne ihre Funktion, d.h.
das Ziel ihrer natürlichen Transformation völlig
erfüllt zu haben, zu den Leukozyten produ-
zierenden Organen plötzlich in großer Menge
gelangen, so muß das an sich als eine Ver-
minderung des normalen Reizes für diese, also»
als Hemmung wirken — geradeso wie die zu
') Rosenbach hat bekanntlich seit langen
Jahren deu Zusammenhang der Milzschwellung mit
den Veränderungen der Haut, welche den Schüttel-
frost und vor allem das kontinuierliche Fieber
charakterisieren, in konsequentester Weise verfolgt
und festgestellt, daß die Funktion der Milz zu
rein thermischer Reizung der Haut in ähnlicher
Beziehung zu stehen scheint wie die von ihm er-
mittelte der Nierentätigkeit zu abnorm niedrigen
Temperaturen.
XIX J«higaac.1
Diuaber 1»06. 1
645
reichliehe Einführung von Salzs&ure nnd Pepsin,
also Ton Produkten der Magendrüsen, die Funktion
der letzteren sistiert.
Eine ganze Reihe von Beobachtungen macht
es wahrscheinlich, daß es ganz gleichgültig ist,
ab, wie in den besprochenen Versuchen, gerade
die Milz bestrahlt wird, oder ob man von einer
anderen Stelle aus das Hautorgan in Angriff
nimmt.
Im großen und ganzen haben die bisherigen
Erfahrungen aber immer mehr gezeigt, daß die
Röntgenstrahlen (wie übrigens auch das Radium!)
nur eine besondere Klasse der kaustischen Mittel
bilden: eine besondere Form, weil sie auch bei
vorsichtiger Anwendung durch allmähliche Kumu-
lation der Reizung eine destruktive Wirkung
auf das Hautorgan ausüben.
Ganz unabhängig davon, ob man die ja
allerdings nicht strikte bewiesene Annahme
akzeptiert, daß die durch den Destruktionsprozeß
des Blutes, resp. seiner weißen Bestandteile
(übrigens wohl nur vorwiegend dieser!) ge-
schaffenen Produkte als einzige Faktoren der
Hemmung wirken: das eine ist jedenfalls klar,
daß wir es bei dem ganzen Vorgange nicht,
wie man das optimistischerweiße deutet, um
eine Beseitigung der Ursache des Krank-
heitszustandes, sondern nur um die Unter-
drückung eines Symptoms handelt. Eine
solche muß aber nach Rosenbach immer, wenn
sie plötzlich erfolgt, als bedenklich, wahrschein-
lich sogar als schädlich angesehen werden. Es
wird eben die kompensatorische Leistung des
Organismus übermäßig in Anspruch genommen
ohne irgend eine Gewähr dafür, daß der abnorme
Reiz, welcher das Symptom hervorrief, dauernd
und radikal eliminiert oder auch nur in seinen
sonstigen Wirkungen unschädlich gemacht wird!
CMünch. med. Wochenschr. 1905, Nr. 22.)
Eschle (Sinsheim).
Aronsons Antistreptokokkenserum bei puerperaler
Sepsis. Von Dr. P. Hanel (Berlin).
Verf. empfiehlt, gestützt auf Erfahrungen in
drei Fällen, bei schwerer puerperaler Sepsis das
Aronsonsche Antistreptokokkenserum in großen
Dosen. In dem einen, genauer mitgeteilten Falle
erkrankte eine II para am 5. Tage mit hohem
Fieber (40°). Puls klein, 136—140, Sensorium
benommen, Allgemeinbefinden schlecht. Trotz
lokaler Behandlung nnd ausgiebiger Verwendung
Ton Unguentum Crede blieb das Fieber gleich
hoch. Am 4. Tage sank die Temperatur nach
Injektion von 100 ccm Serum auf 87,0° und
blieb auf eine zweite Injektion von 100 ccm
dauernd auf dieser Höhe; zugleich besserte sich
das Allgemeinbefinden, das Sensorium wurde
klar, Puls 106, also ein fast kritischer Um-
schwung.
Als Ort der Injektion bevorzugt Verf. die
seitliche Bauchgegend, da sie hier ohne Be-
schwerden ertragen wird. Unangenehme Neben-
wirkungen fehlen auch bei so hohen Dosen
gänzlich; antiseptische Kautelen sind natürlich
zu beachten. Die Wunde ist mit Kollodium
nnd Wattebausch zu verschließen. Es empfiehlt
sich, kleinere Dosen von 20 ccm Antistrepto-
kokkenserum auch in den Fällen zu injizieren,
wo nur Verdacht auf eine stattgehabte Infektion
besteht.
(Demische med. Wochenschr. No. 45, 1905.)
acobson.
(Au der bmkteriol. Abt. Am XL Armeekorp« U CmmI.)
i. Beobachtungen bei Genickstarre. Von Stabs-
arzt Dr. v. Drigalski.
(Aut dam KnapptehaftaUuMtt in Lauraafltte.)
2. Weitere Bemerkungen Aber die epidemische
Genickstarre. Von Dr. Rad mann, leitendem
Arzt.
1. Verf. konnte in mehreren Fällen den
Meningokokkus von Weichselbaum im Ex-
sudat, einmal auch in den Herpesbläschen kul-
turell nachweisen. In einem Fall ohne patholo-
gisch-anatomische Anzeichen von Genickstarre,
konnten Meningokokken aus dem Halsmark, den
Seitenventrikeln und aus den Lungen, hier mit
Pneumokokken vergesellschaftet, gezüchtet wer-
den. Therapeutisch schlägt Verf., ähnlich wie
Sonder mann (Med. Klin. 05, Nr. 25), Lumbal-
punktion mit Einlegung von Dauerkanülen vor.
2. In 61 weiteren Fällen hat Verf. außer
dem gewöhnlichen Befund noch fleckige Rötungen
und Petechien im Verdauungskanal sowie Me-
senterialdrüsenschwellungen beobachtet. Im Ge-
gensatz zu der herrschenden Anschauung nimmt
Verf. indirekte Infektion vom Kreislauf aus
an, was ja für Tuberkulose auch von Ribbert,
für die Infektionskrankheiten überhaupt von
Buttersack, Menz er etc. geschieht. Versuche
mit Dauerkanülen nach Lumbalpunktion wurden
meist durch Verstopfung der Kanüle vereitelt,
Gehirnpunktion zeigte wechselnde Erfolge.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 26.)
Esch (Bendorf).
Die Behandlung des Heufiebere. Von Prof. Dr.
Alfred Denker in Erlangen.
Da es zweifellos Heufieber- Patienten gibt,
bei welchen von einer allgemeinen nervösen Ver-
anlagung nicht die Rede sein kann, so neigt
Denker der von Thost ausgesprochenen An-
sicht zu, daß bei allen Heufieberkranken eine
lokale Disposition der Nasensohleimhänte vor-
handen ist. Von dieser Annahme ausgehend,
kam es ihm darauf an, die Empfindlichkeit der
Nasenschleimhäute zu bekämpfen, und zwar
glaubt Denker nach seinen Erfahrungen in der
Massage der Mucosa der Nase ein Mittel zu be*
sitzen, um die angenommene erhöhte Reizbarkeit
derselben herabzusetzen. „Daß die Massage bei
einer in hohem Reizzustand befindlichen Nasen-
schleimhaut mit größter Behutsamkeit und nach
vorhergegangener Anästhesierung vorgenommen
werden muß, ist selbstverständlich. * Denker
hat dieselbe an sämtlichen von ihm behandelten
Heufieberpatienten während der kritischen Zeit
in folgender Weise ausgeführt:
In eine Lösung von 1,00 Cocain um hydro*
chloricum und 0,01 Adrenalinum hydrochloricum
auf 10,0 Aqua destillata wird die mit Watte um-
wickelte Nasensonde getaucht; mit derselben
werden alsdann in vorsichtiger Weise die ganzen
Schleimhäute der Nasenhöhle, soweit sie zu er-
646
Rafer&to.
("Therapeutische
L Monatsheft«.
reichen sind, bestrichen. Bei sehr sensiblen
Patienten wendet Denker vor der ersten Be-
pinselnng einen Kokainspray (1,0 : 100,0) an, der
aber in der Regel bald in Wegfall kommen
konnte. Die Massage selbst wird ebenfalls mit
wattenmwickelter Sonde, die vorher in Enrophenöl
(1,0:10,0) getaucht wird, vorgenommen; Denker
beginnt mit langsamem, leichtem, vorsichtigem
Bestreichen der unteren Muschel, beschleunigt
alsdann das Tempo und verstärkt den ausgeübten
Druck; darauf, wird der mittlere Nasengang, die
mittlere und, wenn möglich, auch die obere
Muschel in derselben Weise in Angriff ge-
nommen, und schließlich kehrt man über die
Schleimhaut des Septums zum Nasenboden zu-
rück. Die ganze Manipulation, die täglich ein-
mal ausgeführt wird, nimmt in den ersten Tagen
2 — 3 Minuten, später, wenn die Patienten weniger
empfindlich sind, 3 — 4 Minuten für jede Nasen-
seite in Anspruch. In den Fällen, bei welchen
mit der Besserung in der Nase eine günstige
Veränderung der Augensymptome nicht gleichen
Schritt hielt, hat Denker befriedigenden Erfolg
nach Einträufelung von Tinct. Opii crocata zu
gleichen Teilen mit Aqua destill, in den Kon-
junktivalsack (1 — 2 mal pro die) gehabt.
Denker hatte diese angegebene Behandlungs-
methode ausgearbeitet, und nachdem er Erfolge
damit gesehen hatte, setzte er dieselbe im ganzen
an 8 Fällen fort. Er erreichte durch seine
Massage (täglich 1 mal auf 3 — 6 Wochen) eine
baldige Besserung und konnte bei drei Fällen
im Jahre darauf konstatieren, daß die also be-
handelten Pat. rezidivfrei blieben.
Nach diesen Erfolgen hatte er das Dun bar-
sche Pollantin außer acht gelassen, zumal es ihm
bei Beginn seiner therapeutischen Versuche noch
unmöglich gewesen war, dasselbe im Handel zu
erlangen.
Eine Probe des Dunbarschen Toxins hatte
Denker aber dazu benutzt, um versuchsweise an
3 Heufieberkranken durch Einbringung des Toxins
in die Nase und auf die Conjunctiva einen Heu-
fieberanfall auszulösen; dies gelang ihm jedoch
nicht.
Infolgedessen ist es nach der Meinung
Denkers nicht angängig, das Roggenpollentoxin
— wie es Thost und mit ihm Labbert und
Prausnitz vorgeschlagen haben — als ein
brauchbares differentialdiagnostisches Hilfsmittel
gegenüber der Coryza nervosa und andern Nasen-
affektionen hinzustellen.
(Münch. med.Wochenschr. No. 19, 1905.)
Arthur Rahn (Collm).
(Aus dem städtischen Krankenbaase Frankfort a/M.)
Ober individualisierende diätetische Behandlung
der Gicht. Von C. v. Noorden u. L. Schlieb.
Es ist bekannt, daß beim Gichtkranken vor
allem die Retention der Harnsäure eine her-
vorragende Rolle spielt. Ferner weiß man, daß
die Produktion der Harnsäure im Organismus
auf ein Minimum eingeschränkt werden kann,
wenn in der Nahrung keine Purinsubstanzen zu-
geführt werden. Will man einen Gichtanfall
verhüten, so sorgt man dafür, daß nur so viel
Purinbasen zugeführt werden, wie der Kranke
tolerieren kann, das heißt als er noch ohne Re-
tention auszuscheiden imstande ist. In diesem
Sinne haben v. Noorden und Schlieb eine
individualisierende Behandlung eingeführt. Sie
prüfen wieviel Harnsäure der betr. Patient bei
purinfreier Nahrung ausscheidet, und versuchen
dann, ob bei Zulage von Purinbasen dieser
entsprechend mehr Harnsäure ausgeschieden wird.
Ist dies der Fall, so liegt kein Grund vor, diese
Form der Nahrung zu entziehen. Wo nicht, so
muß durch diese Toleranzbestimmung jeweils die
individuelle Fähigkeit festgestellt werden für
die Ausscheidungsfähigkeit der Harnsäurebildner.
(Berliner kliru Wochenschrift, 1905, No. 4L)
H. Rosin,
Neue Beobachtungen zur Erklärung und ratio-
nellen Behandlung der chronischen habi-
tuellen Obstipation. Von Professor Dr. A.
Schmidt (Dresden).
Von alters her verordnet man den Obsti-
pierten, deren Ursache der Verstopfung oft eine
zu gute Ausnützung der Nahrung ist, eine grobe
schlackenreiche Kost: Schwarzbrot, Salate, Obst,
Nüsse u. 8. w., offenbar in der Absicht, ihre
Verdauung zu verschlechtern. Diese zellulose-
reichen Nahrungsmittel werden vom gesunden
Darm schlecht ausgenützt; der Stuhl wird massig,
breiig und wird häufiger abgesetzt. Bei den
Obstipierten beobachtet man aber gar nicht
selten, daß trotz einer derartigen Diät der Stuhl-
gang hart bleibt, und die Entleerung nach wie vor
stockt. Dies erklärt sich dadurch, daß der Darm
der Obstipierten auch die Zellulose besser ver-
daut als der normale Darm. Mit der schlacken-
reichen Kost ist es also in vielen Fällen nicht
getan. Man muß versuchen, der Nahrung solche
Bestandteile hinzuzusetzen, die sicher nicht ge-
löst werden können (Kleie, Korkstücke, Säge-
späne, Sand), alle diese Dinge sind schon ver-
sucht worden, aber ohne besonderen Erfolg, und
das ist verständlich, da sie allenfalls den Kot
etwas voluminöser machen können, aber nicht
weicher, wasserreicher, und gerade darauf kommt
es an, wenn die Entleerung erleichtert werden soll.
Eine Substanz, welche beide Bedingungen
(größeres Volumen und größeren Wasserreichtum
des Kotes) erfüllt und dabei vollkommen un-
schädlich und reizlos ist, ist das Agar-Agar.
Das Agar-Agar (Gelatina japonica Tientjan) wird
aus in Ostasien vorkommenden Meeralgen (Geli-
dium corneum) bereitet und besteht größtenteils
aus der sehr quell ungsfähigen Gelose (Para-
rabin). Sein Zellulosegehalt beträgt 0,6 Proz.
Gequollen gibt es das Wasser sehr schwer wieder
ab, auch nicht unter dem Einflüsse der Fäulnis,
der es lange widersteht. Bezüglich des Ver-
haltens des Agar-Agar im Verdauungskanale
hat Schmidt zahlreiche Versuche angestellt.
Gibt man dasselbe (zu Schüppchen geschnitten),
so quillt es schon im Munde, noch mehr im
Magen auf und erscheint unverändert in den
Faeces wieder. Der Kot wird dadurch wasser-
reicher, weicher und wird gewöhnlich auch
prompter abgesetzt. Eine Reizwirkung auf die
Verdauungsorgane wird nicht beobachtet. Nur
in fein pulverisiertem Zustande bewirkte es ge-
XIX. Jahrgang«!
Dezember HH).\j
Referate.
647
legen tl ich infolge der schnelleren und stärkeren
Quellung Leibschmerzen und Durchfälle. Be-
tont muß noch werden, daß Agar-Agar nicht
zugleich einen Reiz auf die Darmwände ausübt,
wie es die normalerweise im Dickdarme sich
bildenden Zersetzungsprodukte tun. Diese fehlen
gewöhnlich bei der chronischen Obstipation.
Nun muß aber zu dem mechanischen Moment
(der Kotansammlung) noch ein chemisches hin-
zukommen, um die Entleerung herbeizuführen.
Um dieses fehlende chemische Reizmoment zu
ersetzen, fügt Schmidt dem Agar-Agar noch
25 Proz. wäßriges Cascaraextrakt hinzu. Das-
selbe läßt sich nach einem von der Chem. Fabrik
Helfenberg, A.-G., geübten Verfahren so fest an
das Agar-Agar binden, daß es demselben keinerlei
Geschmack mitteilt und größtenteils erst im
Darm aus dem gequollenen Agar diffundiert.
Mit dem so verbesserten Cascaraagar,
welches von der Chem. Fabrik Helfenberg, A.-G.,
unter dem Namen „Regulin" in den Handel
gebracht wird, hat nun Schmidt gute Erfolge
erzielt. Die Patienten nehmen das Mittel am
besten in Apfelmus oder auch zu Kartoffelbrei
gemischt, und zwar täglich etwa 1 Teelöffel bis
2 Eßlöffel, das sind etwa l1/,— 8,0 g. Da das
Mittel kein eigentliches Abführmittel ist, sondern
(wie der Name andeuten soll) zur Regelung des
Stuhlganges dient, so muß es Tag für Tag ge-
nommen werden. Tritt in den ersten Tagen
kein Erfolg ein, so muß mit einem Glyzerin-
suppositorium oder Klysma nachgeholfen werden.
— Dem Regulin an die Seite gestellt zu werden
verdient das Paraffin um liquidum. Man kann
dasselbe bis zu 30,0 g geben, ohne schädigende
Wirkungen zu sehen. Wie dem Agar fehlt auch
dem Paraffin, liquid, die Eigenschaft, eine che-
mische Reizwirkung auf die Darmwände auszu-
üben; man setzt daher zweckmäßig 10 Proz.
Cascaraextrakt hinzu und gibt die emul gierte
Mischung in Gelatinekapseln. Die Chem. Fabrik
Helfenberg vertreibt das so zusammengesetzte
Mittel in dunkel gefärbten Kapseln zu 3,0 g
unter dem Namen „Pararegulin". Damit soll
angedeutet werden, daß es zur Unterstützung
des „Regulins" dient. Von der Kombination
beider Mittel hat Schmidt oft noch Erfolge
gesehen, wo eines allein versagte. Das Para-
regulin allein wirkt schwächer als das Regulin,
weil es nicht gut in genügend großen Dosen
gegeben werden kann. Zur Erzielung einer Wir-
kung wären etwa 6 — 8 Kapseln erforderlich,
während zur Unterstützung der Regulierung 2
bis 3 Kapseln genügen.
(Manch, med. Wochenschr. 1905, No. 41.) R.
Zur Therapie des Ulcus ventriculi und der Hyper-
azidität des Magensaftes. Von Dr. A. Köhler
(Teplitz).
In manchen Gegenden ist das Öl ein Volks-
mittel und bei vielen Magenkrankheiten im
Gebrauche. Neuerdings hat die Ölkur in der
Therapie einer Reihe von Magenerkrankungen
wieder mehr Eingang gefunden. Nach Cohn-
heim wird Pylorospasmus infolge Ulcus oder
Fissur durch öl in kurzer Zeit geheilt oder
gebessert; die narbige Pylorus- oder Duodenai-
stenose mit Gastrektasie wird ebenfalls (relativ)
geheilt durch die mechanische Wirkung des Öls,
als des wichtigsten Momentes, „das Öl wirkt
auf den Pylorusspasmus" wie ein Narcoticum. —
Indem es krampfstillend wirkt, setzt es die
Sekretion herab und wirkt so gegen die Hyper-
azidität beim Ulcus und gegen die Gastrosukorrhöe
bei der relativen Pylorusstenose. Einen sehr
günstigen Einfluß übt auch das öl beim inoperablen
Ulcus carcinomatosum aus, indem sich hier zu
der anästhesierenden noch die nährende Wirkung
des Öls gesellt.
Bei der Verordnung des „eßlöffelweisen
Trinkens " stößt man oft auf den Widerstand
der Geschmacksempfindung. Köhler hat daher
angeregt, das öl in Gelatinekapseln zu ver-
abreichen. In einer mit einem Antisepticum
sterilisierten Gelatinehülle ist Oleum Olivarum
in einer Menge von 3 und 5,0 g enthalten, und
entsprechen 10 Kapseln ä 5,0 g 3 Eßlöffeln Öl.
Diese in Kartons zu 30 und 50 Stück fertig-
gestellten Kapseln wurden mit dem Namen:
Capsulae Olei Olivar. asepticae bezeichnet
und haben sich bei unkomplizierter Gastritis
hyperaeida (zu 3,0 g) und in Fällen von Ulcus
pylori und Gastrektasie (zu 5,0 g) durchaus
bewährt.
(Wiener med. Wochenschr. 1905, No. 21.) R.
Echinacea angustifolia. Von Dr. FinleyElling-
wood in Chicago.
Ellingwood berichtet über die anscheinend
geradezu erstaunlichen Wirkungen einer in
Europa wohl noch ziemlich unbekannten Droge,
der Echinacea angustifolia, die nur in den west-
lichen Prärien der Vereinigten Staaten wachsen
soll, die östlich vom Mississippi vorkommende
Varietät soll die therapeutischen Eigenschaften
nicht besitzen. Sie wird mit einheimischem
Namen „Black Sampson" oder „Negerkopf" ge-
nannt, wegen der schwarzen Farbe ihrer Früchte.
Im Jahre 1870 hatte ein sonst nicht be-
kannter Arzt Dr. Meyer in Nebraska behauptet,
man könne den Biß giftiger Schlangen durch
Auswaschen der Wunde mit einer Tinktur von
Echinacea und durch innerliche Anwendung der-
selben unschädlich machen. Die Angabe blieb
jedoch unbeachtet; erst in den letzten zehn
Jahren soll das Mittel wieder in Aufnahme ge-
kommen, aber gleich so übertrieben angepriesen
sein, daß es immer noch bei vielen Ärzten in
nicht genügender Achtung steht. Ellingwood
gibt nun auch keine genauen Krankengeschichten,
macht auch keine Angaben über die Herstellungs-
weise des Präparats, sondern erwähnt nur ein
flüssiges Extrakt, welches innerlich und subkutan
wie auch als Wundwaschwasser anzuwenden ist.
Abgesehen von Schlangenbissen, soll die
Echinacea ihre Anwendung finden bei infizierten
Wunden, beim Tetanus, bei allgemeiner septischer
Infektion, ja sogar bei der Urämie und der Menin-
gitis. Ellingwood gibt an, das Mittel selbst
vielfach mit großem Erfolg angewendet zu haben,
jedoch wäre die Mitteilung von Einzelheiten
sehr erwünscht.
(Therapeutic gazette, Mai 1905.)
Classen (Qrube i. H.).
648
Ober die Geschwindigkeit, mit welcher das in die
Vene injizierte Nebennierenprinzip an« dem
Blute verschwindet. (De la raplditi avec
laquellc le principe actif des capsules surre-
nales, donne en injection In travel neust, dls-
parait du sang.) Von De Vos und Koch-
mann.
Aus den Versuchen der Verfasser tritt eine
interessante Tatsache in den Vordergrund: die
intensive Wirksamkeit des Nebennierenprinzips,
welches noch in Dosen von 0,0004 mg bei
Kaninchen eine Blutdruckerhöhung hervorruft.
Die Dosis letalis minima ist 1800 mal höher
als die Dosis efficax minima.
Zehn Minuten nach der Einspritzung der
kleinsten tödlichen Menge (0,7 mg pro Kilo) ist
die Substanz im Blute nicht mehr nachweisbar;
nach Injektion von % UQd Vs dieser Dosis ist
das Nebennierenprinzip schon nach 5 resp. 3 Mi-
nuten aus dem Blute verschwunden.
In vitro wird das Nebennierenprinzip vom
Blute nach so kurzer Zeit nicht zerstört. Die
Verfasser nehmen demnach an, daß die Substanz
durch Fixation in gewissen Geweben (in den
glatten Muskeln der Gefäße, im Myokard und im
Nervensystem) aus dem Blut entfernt wird.
(Arch. Internat de pharmacodynamie et de therapie,
vol XI V, p. 81.) Dr. Inipens (Elberfeld).
Die Verwendung der Spiritusverbände. Von Ober-
stabsarzt Dr. Brugger (Frankfurt a. M.).
Die Anwendungsmethode der Alkoholver-
bände ist folgende : Verbandmull in 8 facher
Lage, je nach dem Entzündungsgrade wird mit
40 — 90 proz. Spiritus getränkt, 60 daß der Ver-
band feucht ist, darauf eine lockere Schicht
Watte, darüber undurchlässiger durchlochter Ver-
bandstoff. Neuerdings verwendet Brugger Alko-
holzellit - Bayer und Duralkol - Helfen berg.
Was die Wirkung der Spiritus verbände betrifft,
so bestätigt Brugger die Angaben anderer
Autoren: Beschränkung der Entzündung, rasche
Einschmelzung, bisweilen abortiver Verlauf, oft
unter Verweidung von großen Inzisionen und
damit von auffälligeren Narben. Brugger hat
diese Verbände angewendet wo immer überhaupt
ein Umschlag oder ein Verband gemacht werden
kann, wenngleich er den Spiritusverband, wie
er am Schluß der Arbeit sagt, nicht als Panacee
betrachtet wissen will und eine kritische An-
wendung desselben empfiehlt. Panaritien, Fu-
runkel, Phlegmonen, Lymphgefäßentzündungen,
Mastitiden, Erysipele, Bursitis, Gelenkentzün-
dungen^ Gelenkrheumatismus (auch gonorrho-
ischer Ätiologie), Gicht, lokale Knochentuber-
kulose, Danntuberkulose, verschiedene Formen
von Hautkrankheiten, Periostitis, Osteomyelitis,
Brandwunden, Rachen mandelentzündungen, Peri-
typhlitis, Periproktitis, eitrige Erkrankungen im
kleinen Becken, Peritonitis, Phlebitis und Throm-
bosen, komplizierte Frakturen und maligne Tu-
moren mit Geschwürbildung und Zerfall, alles
dies hat Brugger teils selbst mit Alkohol ver-
bänden behandelt, teils rät er hierbei die An-
wendung derselben auf Grund der Erfahrungen
anderer. Unangenehme Nebenwirkungen auf
die Haut sollen sich bei richtiger Applikation
des Verbandes mit reinem Spiritus vermeiden
lassen.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 7.)
Arthur Rahn (Colm).
(Aus der k. k. Ualvertltltskltiifk In Wkm. Vor»* »od:
Prof. Htohorfoh.)
i. Wie können wir das Stillen der Matter for-
dern? Von Dr. Franz Hamburger, klin.
Assistent.
a. Antrag auf Einsetzung eines Komitees betraft
Ausarbeitung von Vorschlägen zur Förderung
der Brusternährung. Von Prof. Th. Escherieb.
3. Zur Diskussion Ober natürliche SftugUngs-
ernährung. Von Dr. Jos. H. Friedjung.
Die noch immer hohe Sterblichkeitsziffer
der Säuglinge trotz aller sogenannten Verbesse-
rungen der Ernährung hat diese Frage in den
letzten Jahren von neuem in Fluß gebracht.
Die Sterblichkeitsstatistik aller Länder beweist
jahraus, jahrein die hohe Mortalität gerade unter
den Säuglingen, die durchschnittlich !/3 aller
Todesfälle ausmacht; hierfür macht auch der
Verf. mit allen andern Forsehern die Pflege und
Ernährung der Kinder verantwortlich. Schlechte
Pflege, d. h. Mangel an guter Luft, Licht und
Reinlichkeit und unnatürliche Ernährung mit
Kuhmilch bilden die Hauptgefahr für das Leben
der Säuglinge. Kommt dazu noch eine fehler-
hafte künstliche Ernährung mit Nichtbeachtung
der Nahrungspausen und -Mengen, der Milch-
reinlichkeit u. s. w., so haben wir hierin schon
genügende Begründung für den hohen Prozent-
satz der Säuglingssterblichkeit. Die beste Kuh-
milch wird aber weitaus übertroffen an Wert
von der Muttermilch, und daher muß mit allen
Mitteln das Selbststillen der Mütter angestrebt
werden. Auch der Verf. sucht, wie so viele
vor ihm, sich über die Gründe klar zu werden,
warum so wenig Mütter ihre Kinder stillen:
Neben der Unfähigkeit ist es die Unkenntnis
vom Werte und der Bedeutung des Stillens,
dann die Bequemlichkeit der Mütter, oft aber
auch die soziale Lage, die einen Teil der Schuld
trägt an der geringen Zahl der stillenden Frauen.
Einen der Hauptgründe sieht Hamburger —
und nach des Ref. Ansicht mit vollem Rechte —
in dem schwerwiegenden Einfluß der Hebammen
auf die Mütter, die ihnen das Stillen anraten
oder, wie es meist geschieht, abraten. Er ver-
langt daher als wirksames Mittel zur Bekämpfung
der hohen Säuglingssterblichkeit gründlichere
Unterweisung der Hebammen als bisher über
die Bedeutung des Stillens, über das Schwer-
wiegende ihres Rates für das Leben des Kindes.
Er sieht es als Kurpfuscherei an, wenn eine
Hebamme in der Säuglingsernährung auf eigene
Faust eine solche Entscheidung trifft, und ver-
langt deshalb zur Lösung dieser Frage die Hin-
zuziehung eines Arztes und Androhung einer
gesetzlichen Strafe für die Hebammen, wenn sie
selbst eine solche Entscheidung bewirkt. Dann
sollte aber auch der Studierende und der junge
Arzt auf dem Gebiet der Pflege des Neugeborenen
und der Ernährung des Säuglings, der natür-
lichen und der künstlichen, besser unterrichtet
sein als bisher, und zu diesem Zwecke empfiehlt
XIX. Jafargang.l
Desember 190.4. J
649
er in Anlehnung an ähnliche, frühere Vorschläge
die Errichtung von Sänglingskliniken zur Unter-
bringung von Mutter und Kind.
Im Anschluß an diese Ausführungen Ham-
burgers betont Escherich, daß angesichts der
hohen Säuglingssterblichkeit von den Staaten
noch sehr wenig geschehen ist, während alle
Krankheiten mit hoher Sterblichkeit, z. B. Tuber-
kulose, Scharlach, Masern, sich eigener Anstalten
•erfreuen und staatliche Hilfsmittel in reichem
Maße zugemessen erhalten.
Wenn es demnach allgemein anerkannt wird,
daß ein energisches Eintreten für die Verbrei-
tung der Ernährung an der Brust als bestes
Mittel zur Bekämpfung der hohen Säuglings-
eterblichkeit nötig ist, so muß mehr geschehen,
als bisher nur in Findol anstalten, Kliniken und
Wöchnerinnenheimen in dieser Richtung erreicht
wurde. Vor allen Dingen muß neben der Unter-
weisung der Mütter vom Werte des Stillens
durch Geldunterstützung, wie in Frankreich, oder,
wo dies nicht angängig, durch Verabreichung
von besserer Nahrung an die nährende Frau
diese in ihrem Stillgeschäft unterstützt werden.
Darin ist Escherich einer Ansicht mit Ham-
burger, daß die Hebammen besser unterrichtet
werden müssen über die Bedeutung der natür-
lichen Ernährung und nicht nur, wie bisher,
über die erste. Pflege des Säuglings gründliche
Unterweisung erhalten. Da die Lebenserhaltung
des Kindes, wenn sich die Mutter für seine
künstliche Ernährung entscheidet , auf ein
Siebentel und bei direkt unzweckmäßiger Er-
nährung auf ein Zehntel und weniger der Lebens-
wahrscheinlichkeit des Brustkindes herabsinkt,
und da bei der Entscheidung dieser wirtschaft-
lich und sozial überaus wichtigen Frage die
Hebamme, gleichsam als Stellvertreterin des
Arztes, als einzige Ratgeberin der Mutter zur
Seite steht, wenigstens bei der armen Bevölke-
rung, so hat der Staat ein volles Interesse daran,
wie ihre Entscheidung ausfällt. Vor allem muß
daher, so fordert Escherich, die Hebammen-
ausbildung eine Reform erfahren und diese eine
Instruktion im Sinne einer der Bedeutung des
kindlichen Lebens und dem gegenwärtigen Stande
der Ernährungslehre entsprechende Umänderung
enthalten. Zur richtigen Belehrung der Heb-
ammen muß neben dem Geburtshelfer der Kinder-
arzt stehen. Weiterhin hält Escherich die
richtige Anweisung und Kontrolle der Heb-
ammen bezüglich ihrer Einflußnahme auf die
Ernährung des Säuglings für den wichtigsten
und ersten Schritt auf dem Wege zur Brust-
ernährung. Zu einer Ausarbeitung einer solchen
Reform schlägt Escherich die Bildung eines
Komitees vor (das inzwischen schon zusammen-
getreten ist. Anm. des Ref.).
Fried jung glaubt in seiner Erörterung
der Ausführungen Hamburgers, daß die Am-
bulatorien für kranke Kinder noch lange nicht
das zur Aufklärung der Mütter bezüglich der
Ernährung der Kinder leisten, was von ihnen
gefordert werden kann. Der gleiche Vorwurf
trifft auch die Ärzte. Keine Gelegenheit sollte
vorübergehen, auch im Unterricht der Heb-
ammen und Ärzte den Gegensatz zwischen der
natürlichen und „unnatürlichen" Ernährung, wie
er sinnfällig die künstliche Ernährung stets ge-
nannt wissen will, hervortreten zu lassen. Die
Kontraindikation des Selbststillens müßte tun-
lichst eingeschränkt werden und die verschie-
denen Methoden des Muttermilchersatzes mit
gebührender Skepsis behandelt werden, auch
gegenüber den Hebammen. Eine tiefere Unter-
weisung derselben auf diesem Gebiete hält
Friedjung vom Übel, weil sie nur Halbwissen
der Hebammen fördert. Besonders müßten ihnen
die Vorzüge der gemischten Ernährung vor-
gestellt werden, die sie meist nicht kennen.
Vom Vorschlage, die Hebamme, die zu künst-
licher Ernährung rät, mit Strafe gesetzlich zu
belegen, verspricht sich Fried jung nicht viel,
weil das Ertappen auf frischer Tat nur in den
seltensten Fällen gelingen dürfte, und später der
Beweis, ob das Stillen möglich war, meist nicht
mehr erbracht werden kann. Mehr hält er von der
Prämiierung derjenigen Hebammen, die in ihrem
Kreise das Stillen fördern. Verlangen wir, daß
jeder Mutter, auch der armen, durch das Kranken-
kassengesetz geschützten, die Möglichkeit ge-
geben wird, ihr Kind selbst zu stillen, so muß
dem, so argumentiert Friedjung, eine Still-
pflicht entsprechen; nicht die Hebamme, die
Mutter ist hierfür haftbar zu machen. Diese
Einschränkung der persönlichen Freiheit hat ja
Vorbilder im Schulzwang, im Impfzwang, der
Wehrpflicht u. s. w. Die Mutter, die sich der
„allgemeinen Stillpflicht- entzieht — ihre_ Be-
fähigung müßte von Staats wegen durch Ärzte
festgestellt werden — wäre zu einer Geldstrafe
zu verurteilen, und die Strafe wäre nach oben
hin für die Besitzenden progressiv zu steigern.
Gerichtliches Einschreiten verlangt Friedjung
auf Grund des Lebensmittelgesetzes gegen die
zahlreichen als vollwertigen Ersatz der Mutter-
milch angepriesenen Nährpräparate, weil hier
unter falscher Vorspiegelung dem Käufer sein
Geld entlockt wird. Zur praktischen Durch-
führung dieser Lehren muß namentlich dort, wo
die Milchproduktion nicht ausreicht, oder die
Mutter einem Gewerbe nachgeht, die fast über-
all durchführbare gemischte Ernährung empfohlen
werden : Wo viele Frauen, z. B. in einer Fabrik,
beschäftigt sind, könnte vielleicht ein Raum
eingerichtet werden, wo die stillenden Mütter
ihre Kinder ablegen und alle drei Stunden
nähren. Daß Kontraindikationen gegen das
Stillen nicht vorschnell aufgestellt werden sollen,
z. B. solche durch akute Krankheiten, zeigt
Friedjung an einigen Beispielen. Auch über
die Ammenhaltung verbreitet sich der Autor in
wenigen Worten, vor allem mit der Forderung,
daß gesetzlich wie in Frankreich bestimmt
werde, daß Ammen erst mehrere Monate nach
ihrer Entbindung gedungen werden dürfen, um
so wenigstens die erste Zeit bei ihrem Kind
verbleiben zu können; späterhin soll jeder, der
eine Amme für sein Kind nimmt, verpflichtet
sein, ihr Kind mit aufzunehmen aus ethischen
und vor allem auch gesundheitlichen Gründen.
(Wiener klinische Wochenschrift No. 22, 1905.)
Homburger (Karlsruhe).
650
Referate.
fTherspeutlaehe
L Monatshefte,
Rekurrierendes Erbrechen bei Kindern. Von
H. Batty Shaw (in Brompton) und R. H.
Tribe (in Chelsea).
Ober rekurrierendes Erbrechen in der Kindheit,
mit Bericht Aber zwei Fälle. Von Fredk.
Langmead.
Dos rekurrierende Erbrechen der Kinder
ist ein in Wesen und Ursache nur wenig auf-
• geklärtes, jedenfalls sehr ernstes und schwer zu
behandelndes Leiden. Shaw und Tribe be-
richten über ein 11 jähriges Mädchen, welches
innerhalb dreier Jahre siebenmal von dem Leiden,
jedesmal von der Dauer eines Monats, befallen
war. Als es während des achten Anfalles in
Behandlung kam, war es so stark abgemagert,
daß es für schwindsüchtig gehalten wurde. Die
Behandlung bestand anfangs ausschließlich in
Rektalernährung; später wurde, weil lokale
Reizung auftrat, leichte Kost teils mit, teils
ohne große Dosen Natrium bicarbonicum gegeben.
Am wenigsten erbrach das Kind bei Rektal-
ernährung, unter Natron etwas mehr als ohne
dieses. Dabei nahm das Körpergewicht konstant
zu, ein völliges Verschwinden des Erbrechens
wurde jedoch in fast achtwöchentlicher Behand-
lung nicht erreicht. — Die Behandlung scheint
also im allgemeinen wenig erreichen zu können.
Die Prognose wird um so günstiger, je mehr
sich die Patienten der Pubertät nähern.
Langmead berichtet über zwei Fälle, von
denen der eine zur Autopsie kam. Das Kind
war unter Krämpfen im Qoma gestorben. Bei
der Autopsie fand sich fettige Degeneration der
Leber und kleine Blutungen in der Magen-
schleimhaut, also nichts Spezifisches, sondern
nur Folgeerscheinungen der allgemeinen Inanition
und der terminalen Krämpfe. — Der zweite
Fall betraf einen schwachsinnigen Knaben.
Während des mehrtägigen Erbrechens hatte völlige
Stuhlverhaltung bestanden; nachdem Stuhlgang
spontan eingetreten, ließ auch das Erbrechen nach.
(British medical Journal 1905, 18. Febr.)
Classen (Grube i. H.J.
(Aus dem Franenspital io Basel - Stadt.)
Die Frage der Opferung des lebenden Kindes
zum Vorteil der Mutter. Von 0. v. Herff.
In diesem Artikel tritt v. Herff warm ein
für die künstliche Frühgeburt zur vorbeugenden
Umgehung der Perforation des lebenden Kindes.
Er beweist Bai seh, der diesen Vorschlag für
nicht mehr zeitgemäß hält, mit berechtigtem
Nachdruck an der Hand einer genügend großen
Statistik, daß durch künstliche Frühgeburt in
Basel 20 Proz. mehr Kinder dauernd am Leben
erhalten wurden, indem hierbei die Mortalität
der Mutter kaum 10 Proz. beträgt, während
doch bei Kaiser- und Schambeinschnitten die
Sterblichkeit der Mutter bis fünfmal so groß
wird, die Mortalität der Kinder allerdings um
70 Proz. geringer ist. Mit Recht kann deshalb
auch v. Herff Baisch gegenüber behaupten,
daß die künstliche Frühgeburt bei Frauen mit
engem Becken ein durchaus berechtigter Ein-
griff ist und keineswegs als obsolet bezeichnet
werden darf.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 7.)
Arthur Rahn (CollmJ.
(Aua dem Krankephaate des Kreises Teltow in Biite.
Dirlg. Arzt: Dr. Riese.)
Thiosinamin bei Narbenkontrakturen. Von Dr.
Meilin.
Thiosinamin, ein Derivat des ätherischen
Senföls, Allylthioharnstoff, in Alkohol und Äther
leicht, in Wasser schwer löslich, ist bisher bei
allerhand narbigen Veränderungen mit gutem
Erfolge angewendet worden. Meli in hat nach
einer Verbrennung bei ausgedehnten Narben-
bildungen im Gesicht, auf Armen und Händen,
die eine Bewegung fast unmöglich machten, von
25 Injektionen, die etwa 2, 3 g Thiosinamin ent-
hielten, ein ausgezeichnetes Resultat gesehen.
Angewendet wird das Thiosinamin in 15 — 20 proz.
alkoholischer Lösung als Injektion rasch steigend
von Yg— 1 Pravazspritze oder in 10 proz. wäß-
riger Lösung mit Glyzerin, da diese nicht so
schmerzhaft ist. Injektionsstelle ist gleichgültig,
nur darf man nicht in das Narbengewebe in-
jizieren, außerdem muß die Entzündung längere
Zeit abgelaufen sein, weil sonst leicht ein Auf-
flackern des Prozesses entsteht.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 5.)
Arthur Rahn (CoUmJ.
l. Grundsätze der Syphilisbehandlung. Von Prof.
Dr. H. Hallopeau in Paris.
a. Zur Behandlung der Syphilis. Von Sanitätsrat
Dr. 0. Rosenthal in Berlin.
Hallopeau hält es für angezeigt, jedesmal,
wenn es sich machen läßt, die Ezstirpation des
Primäraffektes vorzunehmen; auch soll die Ent-
fernung der benachbarten Lymphdrüsen, soweit
sie geschwollen sind, angeschlossen werden.
Wenn auch nicht ein abortiver Verlauf der
Krankheit herbeigeführt werden kann, so sind
doch die Folgeerscheinungen abzuschwächen. Die
Allgemeinbehandlung soll nicht bis zum Auf-
treten von Sekundärerscheinungen verschoben
werden, im Gegenteil muß man gerade in diesem
Anfangsstadium , wo das Krankheitsgift seine
stärkste Wirksamkeit entfaltet, seine Zuflucht zu
Mitteln nehmen, die geeignet sind, die Kraft
des Giftes zu vermindern. Die Behandlung soll
vier Jahre währen, und zwar nicht allein intensiv,
sondern auch kontinuierlich. Das Jod löse das
Quecksilber ab; behufs möglichster Verlängerung
der Dauer der gemischten Behandlung läßt
Hallopeau 20 Tage lang tägliche Einspritzungen
von 3 — 4 g Jodipin oder Lipijodol folgen, die
gestatten, enorme Mengen Jod dem Körper ein-
zuverleiben, das sich nur langsam ausscheidet.
Daneben ist die spezifische Lokalbehandlung
nicht außer acht zu lassen: bei ausgebreiteten
Syphilisausschlägen Quecksilberbäder, für die
lokalisierten Pflaster, Salben, Lösungen, für die
Schleimhäute Quecksilberätzmittel, für die tiefe-
ren Körperhöhlen langdauernde Einspritzungen,
Räucherungen bezw. Inhalationen, für tiefere
Neubildungen subkutane und intramuskuläre Ein-
spritzungen, für die Affektionen des Rücken-
marks die intraarachuoidalen Einspritzungen. —
Bei der Bekämpfung der Mikroorganismen der
Spätformen kommt der Jodbehandlung ein größe-
rer Anteil zu, ohne daß jedoch das Quecksilber
auszusetzen ist. Die Beeinflussung der örtlichen
XIX. Jahrgftog.l
Dezember 1905.J
Referate«
651
Spätformen durch spezifische Heilmittel beweist,
daß sie nicht unabhängig von den pathogenen
Organismen durch Toxine hervorgerufen werden;
denn diese werden von der Behandlung nicht
angegriffen. — Nachkrankheiten wie Tabes und
progressive Paralyse sind dann besonders der
Behandlung zugänglich, wenn Anfangsstadien
oder Vorläufer vorhanden sind. — Kompli-
zierende Infektionen wie chronische Rhinitis,
Balanitis, Proktitis, Seborrhöe, Folliculitis, Malaria,
Tuberkulose müssen unmittelbar mit denjenigen
parasitiziden Mitteln behandelt werden, die für
sie spezifisch sind. Das ist der einzige Fall, in
dem es erlaubt ist, gegen Syphiliserscheinungen
andere Mittel zu gebrauchen als Quecksilber
und Jod.
2. 0. Rosenthal nimmt in vielfacher Be-
ziehung einen von den soeben skizzierten Hallo-
pe auschen Grundsätzen abweichenden Standpunkt
ein; er verwirft im allgemeinen die abortive
Behandlung der Syphilis, weil durch dieselbe
die Diagnose verdunkelt und der Syphilophobie
und Neurasthenie ein breiter Weg geöffnet wird.
Außerdem bleiben keineswegs Rezidive aus. Den
Anhängern dieser Methode kann der Vorwurf
nicht erspart bleiben, daß sie den Boden der
Empirie betreten und den der strengen Wissen-
schaftlichkeit verlassen. — Für einen früheren
Beginn der Allgemeinbehandlung sind jedoch
Ausnahmen zuzulassen: Extragenitale Primär-
affekte an Lippen, Nase, Augen, welche mit
starken Schmerzen verbunden sind oder zu
ausgiebigen Zerstörungen und Entstellungen
führen können oder für die Infektion der Um-
gebung eine besondere Gefahr bilden; ferner
schwere zerfallende Sklerosen, welche durch ihr
Weiterfortschreiten oder ihren Sitz, z. B. an
der Urethralöffnung, ausgedehnte Zerstörungen
befürchten lassen. Auch Frauen, die in der
Gravidität infiziert werden, sind sofort einer
allgemeinen Behandlung zu unterwerfen. — Was
die Behandlung betrifft, so bekennt sich Rosen -
thal zu der chronisch-intermittierenden Methode,
die selbstverständlich gleichzeitig auch eine indi-
vidualisierende sein muß. Daß dem Queck-
silber eine präventive Kraft auch bei nicht
sichtbaren Symptomen zukommt, zeigt sich am
klarsten bei graviden Frauen, die frei von Er-
scheinungen sind, oder bei Frauen, welche an
häufigem oder habituellem Abort leiden oder
syphilitische Kinder zur Welt gebracht haben.
Die Gefahren des Merkurialismus, durch den
besonders die Widerstandsfähigkeit des Nerven-
systems herabgesetzt werden soll, erkennt Rosen -
thal nicht an. Die Inunktionskur bezeichnet
er als eine unsichere und wissenschaftlich nicht
gestützte Methode und will deswegen ihren Ge-
brauch möglichst einschränken; die Anwendung
der schwer löslichen Quecksilborsalze ist als die
wertvollste und intensivste Behandlungsart an-
zusprechen. — Um die bei größeren Dosen
Quecksilber (die z.B. zu differential-diagnostischen
Zwecken zeitweise notwendig werden) auftreten-
den Störungen wie Fieber, Magenverstimmung,
Abgeschlagen heit zu vermeiden, ist der Ge-
brauch von Opium, event. auch prophylaktisch,
dringend zu empfehlen. Die Inunktionskur ist
häufig mit Bettruhe zu verbinden, da das Queck-
silber auch durch Inhalation zur Aufnahme ge-
langt und im Bette eine größere Menge gleich-
mäßig verdunstet. Besonders bei Tabeskranken
hat sich diese Methode bewährt, abgesehen
davon, daß bei einem schweren Nervenleiden
noch andere Momente mitsprechen, welche die
Durchführung der Kur im Bett als besonders
geeignet erscheinen lassen.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 38.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
(Aus der K. K. UnW.-KUnik f. GeschL- u. Hautkr.
in Wien, Fioger.)
Die kombinierte Chininjodbehandlung des Lupus
erythematosus nach Holländer und eine Er-
klärung für diese Therapie. Von Dr. M. 0 p p e n-
heim, Assist, d. Klinik.
Holländers Kombination der schon früher
gebräuchlichen internen Chinin- und externen
Jodbehandlung wurde an Fingers Klinik fol-
gendermaßen modifiziert:
Nachdem durch Darreichung von 0,05 Chinin,
sulf. die Abwesenheit von Idiosynkrasie festge-
stellt war, bekamen die Patienten die ersten
3 Tage früh und abends 0,5 Chinin. Sodann
wurden die lupösen Stellen mit Alkohol und
Äther von den Krusten befreit und 2 mal täglich
mit einem Borstenpinsel energisch Jodtinktur ein-
gepinselt. Nach je 3 Tagen wurde mit dem
Chinin um 0,5 gestiegen bis zu 8 mal 0,5 pro die
je nach Intensität des Falles. Bei dieser Dosis
wurde verblieben, bis deutliche Abblassung und
Abflachung der Krankheitsherde zu konstatieren
war, worauf lafigsam bis auf 2 mal 0,5 herab-
gegangen wurde. Ohrensausen und Schwerhörig-
keit indizierte Herabsetzung der Dosis, die
nach Aufhören dieser Erscheinungen wieder
anstieg.
Alle 6 Behandelten bekamen über 100 g
Chinin in wenigen Wochen ohne Schaden,
2 wurden geheilt, 4 wesentlich gebessert.
Oppenheim glaubt die Wirkung dadurch
erklären zu können, daß sich in der Haut eine
Chininjodverbindung bildet. Experimentell konnte
er nachweisen, daß die jodierte Haut von mit
Chinin behandelten Kaninchen mehr Chinin ent-
hält als die nicht jodierte, was er im Gegen-
satz zu Holländer nicht auf Kongestion bezw.
Drüsenverstopfung der Haut, sondern auf die
chemotaktische Wirkung des Jods auf das
Chinin zurückführt.
Weitere Versuche, so u. a. mit Ersatz des
Jods durch Jothion werden in Aussicht gestellt.
(Wien. Min. Woch. 1905, No. 3.)
Esch (Bendorf).
Lepra eine heilbare Krankheit. Von T. J. Tonkin.
Tonkin, der viel eigene Erfahrungen über
die Lepra, namentlich im Sudan, gesammelt hat,
spricht es offen aus, daß die Lepra als eine
heilbare Krankheit anzusehen ist. Zwar
ist sie nicht mit bestimmten Medikamenten zu
bekämpfen, wohl aber kann sie unter günstigen
äußeren Verhältnissen spontan ausheilen ebenso
wie die Tuberkulose. Auf Grund seiner Er-
fahrungen nimmt Tonkin an, daß die längste
652
Referate.
fTherApeutlflche
L Monatshefte.
Dauer der Krankheit zwölf Jahre betragen kann,
d. h. daß Patienten, welche nicht innerhalb dieser
Zeit gestorben sind, als geheilt gelten können.
Ton k in hat festgestellt, daß unter 220 Fällen
von Lepra im Sudan 24 Proz. die Dauer von
fünfzehn Jahren überlebt hatten, wobei freilich
solche Kranke, welche Verstümmelungen an den
Gliedern oder im Gesicht erlitten hatten, trotz-
dem schließlich als geheilt gelten müssen. Bei
frühzeitig eintretender Behandlung, d. h. bei
Versetzung unter günstige Lebensverhältnisse,
kann jedoch auch die Heilung schon früher und
ohne dauernde Schädigung eintreten.
Auf Einzelheiten der Behandlung läßtTonkin
sich an dieser Stelle absichtlich nicht ein. Er
betont nur, welche großen praktischen Folgerun-
gen die allgemeine und öffentliche Anerkennung
der Heilbarkeit der Lepra notwendigerweise haben
muß.
(British medical Journal 19 4, 17. Sept.)
C lassen (Qrube i. H.J.
(Aus der Klinik für Syphilis und Dermatologie in Wien
Interim. Leiter: Dos. Dr. R Mattenaue r.)
Ober bleibende Hautveränderungen nach Röntgen-
bestrahlung. Von Dr. L. Freund und Dr.
M. Oppenheim, Assistenten der Klinik.
Die Wirkung der Röntgenstrahlen auf die
Gewebe kann sich in zweifacher Weise äußern:
erstens in der Degeneration der zelligen Ele-
mente, zweitens in einer oft langandauernden
Hyperämie und chronischen Stauung. Letztere
Erscheinung besitzt — neben den in bestrahlter
Haut ebenfalls nachgewiesenen Destruktions- und
Obliterationsprozessen der Gefäße — eine her-
vorragende Bedeutung für die Entstehung ge-
wisser bleibender Hautveränderungen, die sich
im Gefolge der Bestrahlung einstellen können.
In dieser Hinsicht kommen in erster Reihe die
Teleangiektasien in Betracht, ferner Alopecie,
Sklerodermie, vielleicht auch Atrophie; auch be-
ruht hierauf zum Teil die geringe Heilungs-
tendenz der Röntgenulcera. Die Vorsicht ver-
langt daher, daß bei Bestrahlung einer emp-
findlichen Haut oder einer Haut, welche sich
bereits im Zustande entzündlicher Hyperämie
befindet, nur ganz schwache Dosen angewendet
werden. Da ferner erfahrungsgemäß diejenigen
Strahlungen, welche ihre Wirkung hauptsächlich
in den oberen Hautschichten entfalten (weiche
Röhren), schädlicher sind als jene, deren WTir-
kungsgebiet mehr in der Tiefe liegt (harte
Röhren), so empfiehlt sich im allgemeinen die
Anwendung harter Röhren. Liegen die zu be-
einflussenden Krankheitsprozesse ganz oberfläch-
lich, so sind freilich weiche Röhren indiziert,
jedoch unter Anwendung möglichst schwacher
Dosen. — Die nach Röntgenbestrahlung auf-
tretenden Teleangiektasien sind, wie Verfasser
aus dem mikroskopischen Befund bei einem von
ihnen beobachteten Fall schließen, Erweiterungen
präexistierender Kapillaren des oberen Kapillar-
netzes der Haut, ohne daß die Zahl der ur-
sprünglich vorhandenen Kapillaren vermehrt ist.
Die Erweiterungen kommen dadurch zustande,
dali die vermutlich primär erkrankten Gefäß-
wände der durch die Hyperämie bedingten
Drucksteigerung auf die Dauer nicht wider
stehen können.
(Wiener klinische Wochenschrift 1904, No. 12.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
Ein Substanzverlust der Haut, durch Überpflan-
zung mit Kaninchenhaut zum Hellen gebracht.
Von Laehlan Frater in North-Shields.
Bei einem vierjährigen Kinde war durch
zu heiße Grützverbände auf der Brust eine große
Verbrennung dritten Grades entstanden, die sich
in ein fauliges Geschwür umwandelte. Nachdem
das Geschwür unterBorwasserumschlägen gereinigt
war, wurden die Granulationen in Narkose ab-
gekratzt und darauf eine große Anzahl Haut-
stückchen von der rasierten Haut von Bauch
und Brust eines Kaninchens nach der Methode
von Thiersch übergepflanzt. Alle Stückchen
bis auf zwei oder drei heilten an. Das Kind
blieb noch sechs Wochen nach der Operation
in Beobachtung. Zuletzt zeigte sich auf einzelnen
Stellen ein feiner Flaum; die meisten Stückchen
blieben jedoch frei davon.
Das Kind hatte an ausgedehntem Impetigo
gelitten, weshalb seine eigene Haut zur Über-
pflanzung nicht geeignet schien.
(British medical Journal 1905, 1. Aprü.)
Classen (Qrube i. H).
Oedeme der Füße und Beine infolge übermäßigen
Genusses von Kochsalz. Von Dr. F. H. B r y a n t
in London, Guy's Hospital.
Ein im übrigen gesunder Mann, Arzt von
Beruf, bemerkte, daß ihm die Füße und Beine
anschwollen zugleich mit einem Gefühl von
Schwere in denselben. Da gar keine Organ-
erkrankung nachzuweisen, namentlich der Harn
frei von abnormen Bestandteilen war, so forschte
Bryant nach etwaigen Diätfehlern und erfuhr
dabei, daß Pat. gewohnt war, mit der täglichen
Kost ungeheure Mengen Kochsalz zu sich zu
nehmen, und zwar das Doppelte bis Vierfache
der sonst üblichen Menge. Da auch von anderer
Seite die Retention von Chloriden in den Ge-
weben mit Ödem in Verbindung gebracht wird,
so vermutete Bryant auch hier einen ursäch-
lichen Zusammenhang, zumal der Harn des
Patienten fast dreimal so viel Chloride enthielt
wie gewöhnlich. Er riet ihm deshalb, das Salz
einzuschränken, was Pat. tat, wenn auch mit
Entbehrung, da er zu sehr an den Salzgenuß
gewöhnt war. Der Erfolg blieb nicht aus: schon
nach drei Wochen waren die Ödeme verschwun-
den, und der Harn hatte wieder seinen normalen
Gehalt an Chloriden.
(Practitioncr 1905, August.)
Classen (Grube i. H).
(Aus der Universlt&tsfraaenklinik In Heidelberg.)
Die Behandlung der puerperalen Infektion. Kün.
Vortrag von Prof. Dr. v. Rosthor n.
Das Wesentliche bei der zunächst anzu-
wendenden intrauterinen Spülung ist nicht
die antiseptische Wirkung sondern die mechanische
Reinigung, Beseitigung der Sekretstauung, Hinaus-
beförderung zersetzter Eihautfetzen oder Blut-
gerinnsel; man könnte daher das Resultat auch
XIX. J&hrgaoff.l
Deaember 190S.J
Referate.
653
mit sterilem Wasser erzielen. Sublimat ist wegen
seiner Giftigkeit verpönt, am meisten im Ge-
brauch eine schwache Lysollösung (6 — 8 1). Zu-
weilen ist Kombination von Spülung und Tam-
ponade erfolgreich, manche verwenden Alkohol-
spülung.
Durch Verschluß der Lymphgänge wirken
die Seealepräparate dem Weitergehen der
Infektion entgegen, v. Host hörn benutzt das
Ergotin Bombeion. Als thermische Reize
wirken heiße Scheidenduschen und Eisblase aufs
Abdomen.
Dauert das Fieber trotzdem fort, so kommt
statt der intrauterinen Manipulationen Ruhe,
gute Ernährung, hydropathische Behandlung,
kalte Einpackung, kühle Bäder in Betracht.
Hohe Alkoholgaben haben sich als erfolglos er-
wiesen, Antipyretica verwendet v. Rosthorn
nicht mehr, weil sie nicht nur wirkungslos sind,
sondern auch noch unangenehme Nebenwirkungen
haben, von Kochsalzinfusionen hat er ebenfalls
keinen Erfolg gesehen, verkennt aber nicht ihre
Bedeutung, besonders bei stark ausgebluteten
Individuen. Hofbauers Nukleingaben (5 — 6 g
alle 12 Stunden) wirken vielleicht günstig durch
Erzeugung von Leukozytose.
Hysterektomie kommt nur in Betracht
bei jauchenden Neubildungen der puerperalen
Gebärmutter, bei Komplikation mit Zerreißung,
Inversion oder Vorfall derselben, bei Unmöglich-
keit der Ausräumung faulender Nachgeburtsteile.
In einigen seltenen Fällen kann die Venen-
resektion erfolgreich sein.
Der intravenösen Kollargolinjektion und der
Serumtherapie gegenüber bewahrt Verf. wohl-
wollendes Abwarten.
(Deutsche tned. Wochenschr. 1905, No. 23.)
Esch (Bendorf).
(Aui Josephs Poliklinik für Hautkrankheiten in Berlin.)
Ober das Jothion. VonM. Joseph u. M. Schwarz-
schild.
Das Jothion, ein Jodwasserstoffester mit
80 Proz. organisch gebundenem Jod , ist nach
den Untersuchungen der Verff. zurzeit dasjenige
Jodpräparat, das, perkutan angewandt, die besten
Resorptionsverhältnisse bei fast völlig fehlenden
Reizerscheinungen aufweist, und ist deshalb dem
Jod und dem Jodvasogen überlegen, soweit die
äußerliche Anwendung in Betracht kommt.
Ob innerliche Darreichung von Jodkali oder
Einreibung von Jothion vorzuziehen sei, ist von
Fall zu Fall zu entscheiden. Wollen wir bei
schweren luetischen Symptomen rasch wirken, so
ist Jodkali höchstens bei Idiosynkrasie zu ent-
behren. Bei Arteriosklerose dagegen und chronisch
entzündlichen Zuständen innerer Organe wird
Jothion den Vorzug verdienen.
Es wird in 25 — 50 proz. Salben verwandt
nach der Formel
Jothion 25,0—50,0
Lanolin anhydr.
Vaselin äa ad 100,0
Tägl. ein Theelöffel voll einzureiben
(5 Tage, dann 1 — 2 Tage aussetzen).
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 24.)
Esch (Bendorf).
Die kosmetische Behandlung der Blatternarben
mit Vaselin und Ölvaselin. Von R. Steg-
mann.
Stegmann berichtet von einem Patienten,
dessen mageres Gesicht von Blatternarben auf
Stirn und Wangen, Schläfengegend und Kinn
sehr enstellt wurde, und wo durch Injektion von
Vaselin und Ölvaselin eine ganz bedeutende
Besserung erzielt wurde. Er injizierte in die beiden
Fossae caninae beiderseits bis dicht auf den
Knochen 2 cem Vaselin und ebenso in die Kinn-
gegend 1 ccm. Diese Injektionen dürfen nicht
zu oberflächlich gemacht werden, da sonst er-
hebliche Bewegungsstörungen sich geltend machen
können, während sie in die Tiefe ein gutes
"Widerlager für die Ölvaselin-Injektionen (1 Teil
Vaselin, 4 Teile Olivenöl) bilden. Hierbei hat
man zu beachten, daß man nicht intrakutan
wegen der dann eintretenden Nekrosen spritzt.
Nach Einstich der Nadel muß man eine kräftige
Aspiration ausüben und so prüfen, ob ein Blut-
gefäß angestochen ist. In diesem Falle wurden
20 ccm Ölvaselin in 7 Sitzungen alle 2 Tage
injiziert.
(Wiener Min. Wochenschr. 1905, No. 13.)
Arthur Rann (CoUm).
Ober Gynochrysma Hydrargyri. Von Dr. J. F.
v. Crippa (Bad Hall).
Die Syphilidologen betrachten mit Hecht
die Inunktion als wirksamste Darreichungsform
des Quecksilbers. Die zur Inunktionskur ver-
wendete offizineile graue Salbe zeigt indes eine
Reihe von Übelständen: sie dringt nicht leicht
und gleichmäßig in die Haut ein, sie erzeugt
Reizung, schwärzt Haut und Wäsche und hinter-
läßt auf der Haut ein unangenehmes, fettiges
Gefühl. Von den Ersatzpräparaten, die an Stelle
der grauen Salbe empfohlen worden sind, soll
in erster Linie das Resorbinquecksilber frei von
diesen Unzuträglichkeiten sein. Es hat sich aber
gezeigt, daß nur die frisch bereitete Emulsion
den Anforderungen genügt; bei längerem Stehen
scheidet sich das Wasser aus der Emulsion teil-
weise aus, die Salbe selbst wird zäher, klebriger
und läßt sich nicht mehr vollständig in die Haut
einreiben. Ein anderes Ersatzpräparat ist die
Mercuro-Creme. Als Vehikel ist eine Glyzerin-
lösung von neutralem stearinsauren Kali gewählt;
dasselbe dringt so außerordentlich rasch in die Haut
ein, daß ein Teil des suspendierten Quecksilbers
nicht zu folgen vermag und sich unter der
reibenden Hand zu Kügelchen zusammenlaufend
aus der Creme abscheidet.
v. Crippa hat nun in Verbindung mit
Ts eherne eine Kombination aus metallischem
Quecksilber, Fett und Glyzerinseifenlösung her-
gestellt, welche genügend rasch ohne wahrnehm-
bare Abscheidung von Quecksilber in die Haut
eindringt.
Das Gynochrysma Hydrargyri enthält
33 V3 Proz. Quecksilber. Als Fett wurde eine
Mischung von Oleum jeeoris aselli und Oleum
Gynocardiae (Chaulmoograöl) gewählt; ein ge-
ringer Zusatz von Oleum Menthae piperitae be-
wirkt eine leichte, andauernde Hyperämie der
eingeriebenen Hautstellen und befördert durch
654
Referate.
fTherapeuti*efce
L Monatshefte.
den gesteigerten Gewebsstrom den rascheren und
energischeren Transport des Quecksilbers in den
Kreislauf. Das Präparat dringt bei der Inunk-
tion rasch in die Haut ein unter Zurücklassen
einer zarten grauen Färbung, die sich nicht oder
nur in geringem Grade auf die Wäsche über-
trägt. Es hat ferner weder lästigen noch auf-
fälligen Geruch und hinterläßt beim Einreiben
kein unangenehmes Gefühl.
In einer Reihe von Erkrankungen, worunter
Fälle mit Primärerscheinungen, Fälle von sekun-
därer und Ton tertiärer Lues, zeigte sich das
Präparat stets, zuweilen auffallend rasch von
Erfolg. Erforderlich waren zehn bis dreißig
Einreibungen von je 3 — 4 g. Die begleitende
Gingivitis, die durchschnittlich nach der fünften
bis zehnten Friktion auftrat, hielt sich in mäßigen
Grenzen, nur in 2 Fällen — unter 64 — mußte
die Kur wegen drohender Stomatitis unterbrochen
werden. Von Nebenerscheinungen machte sich
nur leichte Folliculitis an sehr behaarten Körper-
stellen bemerkbar.
(Wimer klinische Wochenschr. No. 31, 1905, S. 827.)
Jacobson.
(Aus der syphüidologitchen Abteilung des stldtlsehen Kranken-
hauses am Urban in Berlin.)
Ober das Vorkommen von Spirochaeten in Inneren
Organen eines syphilitischen Kindes. Yon
Privatdozent Dr. A.Buschke und Dr. Fi seh er.
Buschke und Fischer haben die Organe
eines an Lues congenita verstorbenen Kindes
auf Schaudinn -II offmann sehe Spirochaeten hin
untersucht und sind zu einem positiven Resultate
gelangt.
Die Ausstrichpräparate aus tiefen Schichten
vom Milzsaft und Lebersaft, Lymphdrüsen und
anderen Geweben wurden in entsprechender Weise
fixiert und nach Giemsa, Modifikation Schau-
dinn-Hoffmann, gefärbt. Sowohl in den Aus-
strichen von der Milz wie von der Leber, in
denen andere Bakterien nicht nachzuweisen waren,
fanden sich außerordentlich zahlreicheSpirochaeten ,
sowohl kürzere wie längere, bis zu 14 Win-
dungen. Lymphdrüsensaft wie Gewebesaft ex-
zidierter Papeln zeigten keine Organismen,. Kon-
trolluntersuchungen mit Milzsaft aus Leichen
Nichtsyphilitischer ergaben bisher negativen Be-
fund. Die Verfasser registrieren die Tatsachen,
ohne sie irgendwie zu deuten.
(Deutsche med. Wochenschr. 1903, No. 20.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
Die Therapie der Lepra. Von Dr. P. H. Lie,
dirigierendem Arzt des Leprahospitals in Bergen,
Norwegen.
Der Verfasser bespricht die Behandlung
der Lepra und hebt hervor, daß das Tuberkulin
eine ziemlich konstante Wirkung besitzt, wenn
es in etwas größeren Dosen und in etwas längerer
Zeit als bei der Tuberkulose angewendet wird.
Man darf wohl daher annehmen, daß der Lepra-
und der Tuberkelbazillus außer ihren morpho-
logischen bezw. tinktoriellen Analogien auch
gemeinsame biologische Eigentümlichkeiten be-
sitzen. Solange man den Leprabazillus nicht
züchten und sein Toxin darstellen kann, muß
es daher naheliegen, das Tuberkulin als Surrogat
des Leprins anzuwenden. Damit die Versuche
mit Tuberkulin nicht vorzeitig abgebrochen
werden, muß man im Auge behalten, daß die
anscheinend neuen leprösen Knoten, die während
der Behandlung entstehen, nichts anderes sind
als Reaktionserscheinungen. Dem Tuberkulin
steht in seiner Wirkung gegenüber der Lepra
das Jodkalium sehr nahe; es ist auch schon als
Reagens auf die Heilung derselben benutzt
worden; man muß mit sehr kleinen Dosen,
einigen Milligrammen, anfangen und vorsichtig
steigen; namentlich muß der Larynx wegen
eines drohenden Glottisödems dauernd berück-
sichtigt werden. — Auch andere Jodpräparate
wie Airol wirken lokal günstig. — Vom Chaul-
moograöl werden in neuerer Zeit 40 — 50 g pro
die verabfolgt in Verbindung mit reichlicher
Milchdiät; es wirkt jedoch schädigend auf den
Digestionsapparat; nach Injektionen sind Em-
bolien beobachtet. — Die Finsensche Licht-
therapie ist zwar versucht, doch kein abschließen-
des Urteil gewonnen.
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 38.)
Edmund Saalfeld (Berlin).
Ist der Arit verpflichtet, einem Lungenkranken
die Wahrheit Ober sein Leiden zu sagen?
Von Dr. R. Purschke, Ol mutz, derzeit
Volontärarzt an Hofrat Turbans Sanatorium
in Davos-Platz.
Von dem interessanten und praktisch wich-
tigen Aufsatze sei an dieser Stelle nur der letzte
Abschnitt wiedergegeben, der die präzise Ant-
wort auf die in der Überschrift gestellte Frage
enthält.
„Wenn wir die einschneidende Wichtigkeit,
welche die Mitteilung der Diagnose für den
Kranken und nicht zuletzt für seine Umgebung
und die Allgemeinheit hat, nach allen Gesichts-
punkten noch einmal reiflich überlegen, so
müssen wir zu der Überzeugung kommen, daß
der Arzt, sobald der begründete Verdacht oder
der positive Befund für eine tuberkulöse Er-
krankung der Lunge spricht, die Heilung des
Zustandes vorausgesetzt, dem Patienten
selbst und, wenn keine Aussichten auf Heilang
vorhanden sind, wenigstens den Angehörigen
davon Mitteilung zu machen in seinem Gewissen
verpflichtet ist, und daß die Unterlassung nicht
nur eine Unehrlichkeit dem Kranken gegenüber,
sondern eine direkte Pflichtverletzung bedeutet."
(Wien. med. Wochenschr. 1905, No. 42.) R.
Literatur,
Zur Frage der Borwirkung. Eine Kritik des
Dr. Wileyschen Berichtes an das ameri-
kanische Ackerbau-Ministerium. Von Dr.
Oscar Liebreich, o. ö. Professor, Geh. Med. -
Rat. Mit 4 Tafeln. Berlin 1906. Verlag von
August Hirschwald.
Die Frage nach der Zulassigkeit der Bor-
säure und ihrer Salze als Konservierungsmittel
XIX. Jahrgang.*]
Dezember 190S.J
Literatur.
655
ist ebensowohl wissenschaftlich als auch volks-
wirtschaftlich von größtem Interesse. Obgleich
nun die wissenschaftliche Seite dieser Frage noch
heute als offene Diskussion anzusehen ist, hat
die volkswirtschaftliche Seite leider schon vor
längerer Zeit eine gesetzliche Regelung im Ver-
bote des Zusatzes von Borpräparaten zu Fleisch-
waren erfahren. Der betreffende Zusatz zum
Fleischbeschaugesetz stammt vom 18. Februar
1902 und verbietet neben der Borsäure und
ihren Salzen auch Formaldehyd, die Alkali- und
Erdalkalihydrate und Karbonate und die Salze der
schwefligen, unterschwefligen Fluorwasserstoff-,
Salizyl-und Chlorsäure als konservierende Zusätze.
Seine wissenschaftliche Begründung fand dieses
Verbot in den Arbeiten aus dem Reichsgesund-
heiteamt sowie denen einiger anderer Autoren,
welche die Giftigkeit der Borpräparate nachzu-
weisen versuchten. Diese Arbeiten wurden für
die legislatorische Behandlung der Frage als
einzig maßgebend angesehen, während die gegen-
teilige Meinung, welche von berufenen Forschern,
in erster Linie von Liebreich, vertreten wurde
und die in Übereinstimmung mit der Jahrhunderte
alten Erfahrung durch einwandsfreie Versuche
erwies, daß die Borsäure und ihre Salze besonders-
in den für Konservierungszwecke in Frage kommen-
den Mengen vom physiologischen Standpunkte als
durchaus indifferent anzusehen seien, ungehört
verhallte.
Trotzdem daß aber die Gesetzgebung, wenig-
stens in Deutschland, in dieser Frage ihr. be-
stimmtes Votum abgegeben hatte, war der wissen-
schaftliche Streit damit durchaus .noch nicht
erledigt, und die Stimmen pro und contra wurden
in der Folgezeit ebenso lebhaft, vielleicht sogar
noch lebhafter abgegeben als vorher.
Während nun diese Arbeiten mit Ausnahme
einiger Spezialuntersuchungen, welche die Aus-
scheidungsverhältnisse betrafen, meist an Tieren
vorgenommen wurden, liegt jetzt eine an Menschen
ausgeführte Untersuchung über die Wirkung der
Borsäure vor; diese wurde in Washington von
H. W. Wiley im „Department of Agriculture"
angestellt und erstreckte sich über 5 verschieden
lange Perioden, in denen je 6 Personen nach
der üblichen Art des Stoffwechselversuches, das
ist der Einteilung in Vor-, Haupt- und Nach-
periode, mit einer mit Borpräparaten versehenen
Nahrung ernährt wurden. Die Beobachtungen
bei diesen Versuchen, bei denen die Borsäure
in verschiedener Art, Menge und Darreichungs-
dauer gegeben wurde, erstreckten sich auf Körper-
gewicht, Nahrungsaufnahme, Zahl der Blutkörper-
chen und Menge des Hämoglobins im Blute,
Menge und Beschaffenheit des Kots und Urins
sowie Stickstoff-, Phosphorsäure- und Fettstoff-
wechsel, Oxydation der brennbaren Substanzen
in der Nahrung, die Ausscheidung fester Sub-
stanzen und die Beeinflussung des Allgemein-
befindens.
Nach der Art und Größe dieses Planes hätte
man nun ohne weiteres annehmen sollen, daß
mit seiner genauen Aasführung die Frage nach
der Verwendbarkeit der Borpräparate eindeutig
gelöst wäre. Daß dies jedoch nicht der Fall
ist, wird deutlich durch eine soeben erschienene
Broschüre von 0. Liebreich: „Zur Frage der
Borwirkung, eine Kritik des Dr. Wiley sehen Be-
richtes an das amerikanische Ackerbaumini-
sterium", bewiesen. Die außerordentlich beweis-
kräftigen Einwände Liebreichs gegen ver-
schiedene der Wiley sehen Resultate leiten sich
zum Teil aus einer kritischen Sichtung des
amerikanischen Materials her, während ein an-
derer Teil, welcher hauptsächlich die Versuchs-
anordnung im allgemeinen kritisiert, aus den
Eindrücken entsprungen ist, welche Liebreich
an Ort und Stelle der Versuche, das ist in
Washington selbst, gewonnen hat.
Was die ganz allgemeine Anordnung der
Versuche betrifft, so tadelt Liebreich in erster
Linie die Mangelhaftigkeit der für wirklich aus-
schlaggebende Versuche im weitesten Umfange
nötigen fortdauernden ärztlichen Beobachtung
der Versuchspersonen. Es berührt höchst merk-
würdig, wenn wir erfahren, daß für die Fest-
stellung der Allgemeinwirkung einer Substanz
wie der Borsäure, der man schon, allerdings
durch keinerlei Beweise gestützt, die Verant-
wortung für die verschiedenartigsten Störungen
des Befindens der Konsumenten zur Last legen
wollte, eine alle 1 0 Tage vorgenommene, 20 Minuten
dauernde ärztliche Inspektion ausreichen soll.
Ein anderer Punkt, welcher auf den ersten Ein-
druck natürlich einen großen Vorzug der Wiley-
schen Untersuchung vor den meisten anderen zu
bedeuten scheint, nämlich der, daß seine Resul-
tate nicht am Tier, sondern am Menschen selbst
gewonnen sind, birgt, wie Liebreich betont,
andererseits eine im Tierversuche nicht vorhandene
Fehlerquelle in sich: das ist das psychische
Moment. Während die natürlich stets zuun-
gunsten der untersuchten Substanz ausfallende
psychische Beeinflussung der Resultate nur dann
völlig ausgeschlossen werden kann, wenn die
betreffende Versuchsperson bei absolut unver-
änderter Lebensweise von der Anstellung des
mit ihr vorgenommenen Versuches möglichst
wenig merkt und absolut nicht in irgend welchen
Lebensgewohnheiten oder kleinen Bequemlich-
keiten dadurch behindert wird, so kann man
Wiley nicht den Vorwurf ersparen, daß er
diese Faktoren ziemlich außer acht gelassen hat.
Schon der von jedem Teilnehmer des Bortisches
zu unterschreibende Revers, in dem sich z. B.
das Department of Agriculture dagegen ver-
wahrt, für Krankheiten oder Unfälle der Tisch-
genossen während der Versuchszeit haftbar ge-
macht zu werden, kann bei einigermaßen nervösen
Personen — und solche dürften wohl in einer
amerikanischen Großstadt wie in andern Groß-
städten reichlich vorhanden sein — ein gewisses,
das Allgemeinbefinden gerade nicht günstig beein-
flussendes Moment auslösen. Ganz besonders
aber ist die Lage und Art des Speiseraumes, in
dem die betreffenden Personen längere Zeit hin-
durch verpflichtet waren, ihre Mahlzeiten einzu-
nehmen, und dessen genauere Beschreibung wir
erst der von Liebreich vorgenommenen Lokalin-
spektion verdanken, durchaus geeignet, eine Ver-
minderung des Appetits und somit auch Stoff-
wechselveränderungen hervorzurufen. Es genüge
hier, daß der Speisesaal des Bortisches ein
656
Literatur.
["Therapeutische
L Monatshefte.
Souterrainraum in einem Laboratorium gebäude
• war, der nach seiner Lage zu benachbarten Räumen
unfehlbar mit einem Gemisch von chemischen,
Schmieröl- und Küchendünsten parfümiert sein
mußte.
Ein weiterer von Liebreich gerügter Fehler
ist die Art der Bordarreichung. Diese goschah
in der Art, daß das Mittel, dessen Bekömmlich-
keit in geringen Zusätzen zur Gesamtnahrung
erprobt werden sollte, entweder in Gelatine-
kapseln oder in einem kleinen Teile der Gesamt-
nahrung, in Milch oder Butter gelöst, gegeben
wurde. Daß die hierbei entstehenden außer-
ordentlich hohen und durchaus den in praktischen
Verhältnissen gegebenen entsprechenden Kon-
zentrationen der Borsäure im Magen zu keinen
gastrointestinaien Heizungen geführt haben, muß
als ein neuer Beweis für die Unschädlichkeit der
Borate angesehen werden.
Sind nun durch diese Faktoren die manchmal
beobachteten höchst minimalen Schädigungen des
Allgemeinbefindens der Bortischgenossen, auch
selbst dann, wenn man keine äußeren Zufälligkeiten
annehmen will, als ausreichend begründet anzu-
sehen, so genügen einige weitere Tatsachen, wie
z.B. die, daß die Vorperioden stets zu kurz waren,
als daß sie die wirklich zum Gleichgewichts-
zustande für die betreffenden Personen notwendige
Nahrungsmenge ergeben konnten, um im Zu-
sammenhange mit dem vorher Gesagten die außer-
ordentlich geringe Gewichtsabnahme, welche beob-
achtet wurde, erklären zu können. Ohne hier
des näheren auf die Einzelheiten der vorgenom-
menen Stoffwechseluntersuchungen eingehen zu
wollen, genüge die Aufführung folgender Tat-
sache, um ihre mangelnde Beweiskraft völlig
klarzulegen:
Gerade bei einem so komplizierten Stoff-
wechselvorgang, wie es die Änderung der Phos-
phorsäurebilanz des Körpers ist, welche Sub-
stanz ja so viele Quellen und Reservoire im
Körper hat wie kaum eine andere, können nur
dann einwandsfreie Resultate erhalten werden,
wenn mit der minutiösesten Genauigkeit auf
gleichmäßige Zufuhr in den einzelnen Perioden
geachtet wird.
Da nun aber bei der Wiley sehen Unter-
suchung in den verschiedenen Perioden ganz
verschiedene Mengen Phosphor zugeführt
wurden, ist es durchaus unerlaubt, bei einer
solchen Anordnung die Borsäure dafür verant-
lich zu machen, daß ab und zu eine höhere
Ausscheidung eintrat. Ganz besonders aber wird
dieses Resultat dadurch hinfällig, daß Wiley es
aus einer prozentischen Rechnung ableitet, und
zwar einer Rechnung, welche sowohl bei posi-
tiver wie negativer Phosphorbilanz in den Vor-
perioden gleichmäßig angestellt wurde. Obgleich
dieser Faktor genügen würde, die sogenannte
vermehrte Phosphorsäureausgabe durch Borpräpa-
rate hinfällig zu machen und somit diese einzige
beunruhigende Angabe von Wiley völlig zu
entkräften — seine Angaben über den Stickstoff-
Stoffwechsel ergeben nämlich keinerlei Resultate,
da sogar in einigen Fällen bei Bordarreichung eine
Verbesserung der Stickstoff bilanz, die allerdings
von Wiley als Störung bezeichnet wird, beob-
achtet wurde — unterzog sich Liebreich doch
noch der Mühe, jede der einzelnen Wiley sehen
Phosphortabellen einzeln zu kritisieren; und
hierbei ergab sich, daß das Sinken und Steigen
der Phosphorausscheidung in keinerlei Verbindung
mit der Menge und Dauer der Bordarreichung
stand. Berechnung der Kalorienwerte gibt Wiley
selbst als nicht entscheidend an.
Wir sehen also, daß die Wiley sehen Ar-
beiten im Gegensatz zu den Schlußfolgerungen,
welche der Autor selbst aus ihnen zieht, nichts
weiter beweisen, als daß die Borsäure keinerlei
irgendwie merkliche Einflüsse auf den Stoff-
wechsel und auf das Allgemeinbefinden, welches,
wie Wiley selbst angibt, nach Beendigung des
Gesamtversuches bei den meisten Personen besser
war als vorher, ausübt, ein Resultat, welches
mit dem von Rosenheim und Tunnicliffe bei
einer ähnlichen Untersuchung gefundenen durch-
aus übereinstimmt. Wir können daher nur immer
wieder unser Bedauern darüber aussprechen, daß
durch das Verbot einer solchen Substanz der
Genuß von auf unschädliche Weise konservierten
Fleischwaren unmöglich gemacht wird.
Th. A. Maass.
Dr. Jessiiers dermatologische Vorträge für
Praktiker. Heft 13: Die Schuppenflechte
(Psoriasis vulgaris) und ihre Behand-
lung. Würzburg, A. Stubers Verlag (C. Ka-
bitzscb), 1904. Preis M. 0,60.
. Von den bekannten dermatologischen Vor-
trägen für Praktiker ist jetzt Heft 13 erschienen.
Jeßner behandelt in demselben die Schuppen-
flechte. Die Vorzüge, die wir an den früheren
Vorträgen rühmten, zeichnen auch die vorliegende
Monographie aus: Klarheit der Darstellung, Er-
schöpfung des Stoffes, soweit der vorliegende
Zweck erreicht werden soll. Bemerkenswert ist,
daß auch der Verf. der Lichttherapie keine allzu
große Bedeutung beilegt, da weder Lichtbäder
noch Röntgenstrahlen Rezidive der Psoriasis zu
verhindern vermögen; mehr spezifische Licht-
wirkung läßt sich von den Bogenlichtbädern er-
warten; aber bisher liegen zuverlässige Mit-
teilungen über auf diesem Wege erzielte Heilung
der Psoriasis nicht vor.
Edmund Saalfeld (Berlin).
Adam und Eva. Ein Beitrag zur Klärung
der sexuellen Frage. Von Dr. med. L.Wolf t,
Karlsruhe. Seitz und Schauer, München.
Die allgemeine Bedeutung, die der sexuellen
Frage durch Erziehung, gesellschaftliches und
soziales Leben, Kunst und Wissenschaft zukommt,
läßt sie weder vom rein medizinischen noch vom
moralischen Standpunkte allein beantworten; sie
berührt den ganzen Menschen und soll deshalb
auch von allgemein menschlichen Gesichts-
punkten aus betrachtet werden. Der Verfasser
sucht diesen Forderungen gerecht zu werden,
indem er die Entwicklungsideen der antiken
wie modernen Welt sowie die Psychologie in
den Kreis seiner Betrachtungen zieht; ferner
aber auch soziale Verhältnisse wie Ehe, Prosti-
tution und das ganze gesellschaftliche Leben
berücksichtigt. Das Resultat ist die Erkenntnis,
Degerober 1905.J
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
657
daß wir uns in einem Durchgangsstadium be-
finden, in dem noch Toleranz in sexuellen Dingen
am Platze ist. Das Dogma der sexuellen Un-
fehlbarkeit steht in seiner Verlogenheit im
krassen Gegensatz zu seiner selbstgefälligen
Hohe. Die Sicherheit auf sexuellem Gebiete
verschafft sich nur derjenige, der die sinnliche
Spannung durch geistigen Genuß zu verdrängen
weiß. — Das Buchlein, das, wie angedeutet,
viele Fragen anschneidet, verrät eine außer-
ordentliche Vielseitigkeit des Verf. und gibt zu
mannigfachen Erwägungen Anlaß.
Edmund Saalfeld (Berlin).
Werden und Vergehen. Eine Entwicklungs-
geschichte des Naturganzen in gemeinverständ-
licher Fassung von Garus Sterne. Sechste
neubearbeitete Auflage, herausgegeben von
Wilhelm Bö Ische. Zwei Bände. Mit zahl-
reichen Abbildungen und Tafeln. Berlin,
Gebrüder Bornträger.
In sechster Auflage liegt nunmehr das Werk
über Entwicklungsgeschichte Werden und Ver-
gehen vor, das wie kein anderes allgemeine
Beliebtheit und weite Verbreitung gefunden hat.
Zum ersten Mal zeichnet als Herausgeber nicht
mehr Carus Sterne, sondern Wilhelm
Bölsche. Und wahrlich, das Erbe von Carus
Sterne konnte keinem Würdigeren anvertraut
werden als gerade ihm. Hat doch gerade
Bölsche sich in zahlreichen Schriften, die
ebenso wie Werden und Vergehen sich an breite
Schichten des Volkes wenden, als meisterhafter
Darsteller naturgeschichtlicher Vorgänge erwiesen.
Um so mehr ist es anzuerkennen, daß die neue
Bearbeitung die uns lieb gewordene Darstellung
der Entwicklungsgeschichte Carus Sternes
pietätvoll wahrt. Selbst dort, wo die Auffassung
Bölsches von dem Werdegange in der Natur
von der Stern eschen Anschauung abweicht, ist
letztere beibehalten worden, sofern nicht die
neueren wissenschaftlichen Forschungen eine
Änderung erfordern. So beschränkt sich denn
die Tätigkeit des Bearbeiters mehr auf ein
Sichten und Ordnen des Stoffes sowie auf Be-
seitigung von Irrtümern und Widersprüchen, so
daß das Werk wieder wie aus einem Guß ver-
faßt erscheint. Die Verlagsbuchhandlung hat
auch die neue Auflage aufs sorgfältigste aus-
gestattet. Die zahlreichen Textillustrationen und
Tafeln tragen wesentlich zum leichteren Ver-
ständnis bei. Eine Reihe von Tafeln sind neu
aufgenommen. Besonders erwähnt seien die
astronomischen Tafeln von Archenhold, die
paläobotanischen Abbildungen von Potonie
und die Tafel Rotalgen von Gilg.
Möge das Werk, das jetzt zur Weihnachts-
zeit in neuem schmucken Gewände erscheint,
als willkommenes Geschenkwerk auch unter der
heranwachsenden Generation Neigung und Sinn
für die Naturerkenntnis erwecken, gleichwie die
früheren Auflagen in der älteren Generation
zahlreiche Freunde sich erworben und dem
Studium der Naturvorgänge zugeführt haben.
Jacobson,
Praktische Notizen
und
empfehlenswerte Arzneiformeln.
Zur Therapie der diphtherischen Larynxstenose.
Der in meiner Arbeit (s. dieses Heft S. 622)
empfohlene Kokain -Adrenalinspray lautet nach
E. J. Moure:
Rp. Cocaini hydrochlorici 0,12—0,20
Sol. Adrenalin, hydrochloric.
(l%o). 2,65
Antipyrini 4,0
Glycerini
Aq. Menthae pip. aa 24,0
Aq. destillatae ad 180,0
M. D. S. Als Spray 3—4 mal täglich
zu gebrauchen.
Diesen Spray empfahl Moure zur Behand-
lung der ödematösen Form der Laryngitis
Influenza-Kranker (cf. Medizinische Klinik 1905,
No. 45, S. 1149). Hecht (Beuthen O.-Schl.J.
Bei Angina und Ähnlichen schmerzhaften Hals-
affektionen
hat Strzyzowski in Lausanne (Eigene Mit-
teilung) die folgende Verordnungsweise sehr
bewährt gefunden:
Rp. Tinct. Ratanhiae 30,0
Chloroformii 5,0
Olei Salviae 1,0 "
M. D. S. Äußerlich. 20—30 Tropfen auf 74 Glas
recht warmen Wassers zum Gurgeln. (Das
Gurgelwasser jedesmal frisch zu bereiten.)
Anästhesin gegen Erbrechen
verwendet E. Reiß (Therapie der Gegenwart,
Oktober 1905, S. 458). Von Nutzen ist es
allerdings nur dann, wenn das Erbrechen reflek-
torisch von der Magenwand erzeugt wird; es
versagt, wenn das Erbrechen durch Erregung
zentraler Gebiete, wie nach Apomorphininjek-
tionen und bei Seekrankheit verursacht wird.
Dreimal tägliche Dosen von 0,5 g genügen, um
bei akuten und chronischen Magenkatarrhen Er-
brechen (und auch Schmerzen) zu beseitigen; nur
bei sehr heftigem Brechreiz ist Darreichung von
0,5 g alle 15 Minuten erforderlich. Anästhesin
wird am besten in Pulverform und, um die
Anäthesie der Zunge und des Gaumens zu ver-
meiden, in Oblaten gereicht; Tabletten sind un-
zweckmäßig, da sie oft nicht aufgelöst werden
und durch mechanische Reizung das Erbrechen
verstärken.. Anästhesin läßt sich ferner auch
verwerten, um die Einnahme anderer Medika-
mente oder auch Nahrungsmittel zu ermöglichen,
wenn andauerndes Erbrechen dies verhinderte.
Obgleich die Seekrankheit auf zentraler Erregung
des Brechzentrums beruht, so wirkt doch An-
ästhesin in prolongierten, schweren Fällen oft aus
dem Grunde günstig ein, weil durch die anfäng-
lichen krampfhaften Kontraktionen ein Magen-
katarrh hervorgerufen wird. Bei Erbrechen der
Schwangeren versagt das Mittel, wenn der Magen
intakt, und das Erbrechen reflektorisch vom
Uterus ausgelöst wird.
658
Praktische Notizen und empfehlenswerte Arzneiformeln.
["Therapeutisch*
L Monatshefte.
Zur Verhütung des Erbrechens bei Bandwurm-
kuren
sei es nach Gebrauch von Cortex Radicis Gra-
nati, Flores Koso oder Extractum Filicis maris
schlagt Apolant (Deutsche med. Wochenschr.
No. 44, 11)05) die Darreichung von Menthol vor.
Eine Viertel- bis eine halbe Stunde vor dem
Einnehmen des ßandwurmmittels werden 1 bis
2 Pulver aus Menthol und Saccharum lactis
ü 0,3 gereicht. Durch dieses einfache Verfahren
läßt sich das Erbrechen sicherer als durch das
übliche Verordnen von schwarzem Kaffee, Kognak,
Zitronensaft oder Pfefferminzplätzchen verhüten.
Gegen Ischias
sind subkutane Injektionen von Strychnin von
Retivov (Vratchebnaya Gazetta 22, 1905; nach
Les Nouv. Remedes 8. Octbr. 1905) in 9 Fällen
mit überraschend günstigem Erfolge in An-
wendung gebracht worden. Retivov injizierte
täglich 0,01 — 0,02 g Strychnin in die Gegend
der schmerzhaften Punkte. Während die vorher
verordneten Mittel sich wirkungslos zeigten,
besserte sich die Ischias in allen Fällen bald
nach deu Strychnininjektionen.
Oegen Enuresis nocturna
bei einem 5jährigen Mädchen hat Schumann
(Fortschritte der Med. 18, 1905) Bornyval mit
Erfolg verabreicht. Er gab der kleinen Patientin
dreimal täglich eine Bornyvalperle (a 0,25 g)
und schon vom vierten Tage an blieb das Nässen
dauernd weg.
Zur Behandlung eingeklemmter Brüche
empfiehlt Oberstabsarzt Dr. Brix in Posen
(Deutsche med. Wochenschr. 1905, No. 27) auf
Grund mehrerer von ihm behandelter Fälle
behufs ^ Reposition eingeklemmter Brüche statt
Äther Äthylchlorid zu verwenden, weil es schneller
und intensiver verdunstet wie der Äther, und
dadurch eine bedeutend stärkere Kältewirkung,
Blutleere, Erweiterung des Bruchringe» und Ver-
kleinerung der Geschwulst erzielt wird. Es ist
namentlich in den Fällen von Wert, wo die
Operation nicht angängig ist oder verweigert
wird, und kann nötigenfalls auch dem Patienten
in die Hand gegeben werden.
Kaliumpermanganat als lokales Haemostaticum
empfiehlt H. Vörner (Münchener med. Wochen-
schrift No. 88, 1905, S. 1826) bei lebhaften
Blutungen nach kleinen Operationen. Nach kurz-
dauerndem Komprimieren der blutenden Stellen
mittels Tupfers wird Kaliumpermanganat in
Pulverform oder besser als Paste appliziert und
fest angedrückt. Bei stärkeren Blutungen ist
die Manipulation ev. mehrmals zu wiederholen.
Die Braun- oder Schwarzfärbung der betreffenden
Stellen läßt sich an sichtbaren Körperpartien
durch Zinkpflaster verdecken. Der einzige Nach-
teil dieser sicheren und billigen Methode be-
steht in leichtem Brennen, das bei empfindlichen
Patienten durch voraufgehende anästhesierende
Injektion oder durch Auflegen eines Körnchens
Kokain vermieden werden kann. Einen Über-
schuß der Paste entfernt man mit Olivenöl,
nicht mit Wasser, da durch Lösung leicht wieder
Blutung zustande kommt. Eine Infektion ist bei
der stark antiseptischen Wirkung des Kalium-
permanganats nicht zu befürchten.
Konzentrierte Karbolsäure
ist nach den Erfahrungen Vörners (Münchener
med. Wochenschr. No. 42, 1905, S. 2017) ein
geeignetes Mittel zur lokalen Behandlung von
Skrophuloderma und Furunkulose. Die an
Skrophuloderma erkrankten Hautpartien werden
bis zu 8 Tagen hintereinander täglich einmal
mit einer konzentrierten Auflösung von reiner,
kristallisierter Karbolsäure in absolutem Alkohol
— diese Lösung ist wirksamer als Acidum
carbolicum liquef actum und dunkelt nicht nach —
touchirt, wobei das abgestorbene Gewebe mit
dem scharfen Löffel entfernt wird. Unter in-
differentem Salben verbände tritt bald glatte
Heilung ein.
Bei der Furunkulose werden unerweichte,
kleinere Knoten im Zentrum mit der alkoholi-
schen Karbolsäurelösung betupft, bei größeren
Knoten touchirt man mittels Nadel oder Sonde
die zentral gelegenen Haarbälge resp. Talgdrüsen-
öffnungen. Ist ein zentraler Kanal vorhanden,
so wird das Instrument möglichst tief eingeführt.
Erweichte Knoten werden durch einen Einstich
hindurch tuschiert. Je nach Größe der Knoten
genügt einmalige Touchirung oder wiederholte
Behandlung (bis zu 8 Tagen). Bei erheblicher
Schwellung werden Umschläge appliziert, dann
folgt ein Verband mit Bor- oder Silbernitrat-
Salbe.
Für die Behandlung der Hyperhidrosis der Füße,
der Hände, der Achselhöhlen und der Leisten-
gegend
empfiehlt Lengefeld (Deutsche med. Wochen-
schrift 36, 1905) ein neues Aluminiumacetat,
das die Bezeichnung „Lenicet" erhalten hat.
Dasselbe hat die Form eines feinen, voluminösen,
weißen Pulvers, das sich nur wenig löst und
ungiftig ist. Lenicet stellt eine kondensierte,
wasserfreie Form des in der essigsauren Tonerde* '
Solution gelösten Aluminiumacetats dar, mit
einem Essigsäuregehalt von 70Proz. und einem
Aluminiumoxydgehalt von 30 Proz. Es ist nicht
zu verwechseln mit dem bekannten Aluminium
aceticum siecum, das leicht löslich und wasser-
haltig ist. Das Präparat kam in der Poliklinik
für Hautkrankheiten des Dr. Max Joseph in
Berlin sowohl rein als auch mit Talkum ver-
mischt zur Anwendung. Die Patienten mußte»
den Puder zweimal täglich an den erkranktem
Stellen in die Haut einreiben. Die austrocknende
und zugleich desodorierende Wirkung des Lenicets
machte sich in der Regel sehr rasch bemerkbar.
Anfänglich wurde das un vermischte Lenicet be-
nutzt, doch fand sich bald, daß 30 — 50 proz.
Puder vollkommen ausreichten.
Namen-Register.
(Di« fettf*dniekt«n Zahlaii bMciohnen Original-Abhandlung«.)
Albarran, Prostatahypertrophie 581
— Chirurgische Nierenaffektionen
683.
Albere - Schönberg, Wirkung der
Röntgenstrahlen auf den Tierorga-
nismus 48.
Alexander, Lumbalpunktion 429.
Allard, Theocinvergiftung 150.
Alt, Sohilddrüsenbehandhing des Myx-
ödems 104.
Altdorfer, Erlebnis mit Wasserstoff-
superoxyd 275.
Altmann, epidemische Genickstarre
587.
Anders, Blotverandernng nach Äther-
anasthesie 378.
Anschütz, Leberresektion 267.
Arnstein, Polyarthritis rheamsüca 429.
Aufrecht, Nene Säuglingsflasohe 619.
Aufechleger, Hemichorea 152.
B&cker, Chininom snlforicum 267.
Baer, Untersuchungen über Acidose
151.
Baülenl, Gollargol bei Septikämie 376.
Baisch, Drüsenausriomang bei Uterus-
karzinom 825.
Bandelier, Laparotomie bei Bauchfell-
tuberkulöse 533.
Bardach, Arsen -Ferratose 406.
Bargebuhr, Aristoohin bei Keuchhusten
150.
Barker, Lokal -Anasthesie 107.
Barr, Behandlang seröser Ergüsse 142.
Bashford, Krebswachstum 591 — Sta-
tistische Untersuchungen über Krebs
692.
Baumann, Konservierung der Milch
durch Wasserstoffsuperoxyd 536.
Bayer, Behandlang der kroupösen
Pneumonie 579.
Bazy, Pollakuria nocturna 584.
Beattie, Micrococcus rheomaticns 868.
Beck, Carl, Exzisions- and Röntgen-
therapie des Morbus Basedowii 532.
Becker, Fetronpriparate 298.
Beckmann, Eindringen der Tuberkel-
bazillen 160.
Beerwald, Wert des Fleischextraktes
486 — Bornyval 638.
Beilin, Operationsregeln bei akuter,
eitriger Meningitis 373.
Berliner, Vergiftung mit Chloralhydrat
51.
Berlioz, Narcyl 539.
Bettmann, Abortivbehandlung der
Gonorrhöe 216.
Bibrowicz, Arbeiterneurasthenie 592.
Biedert, Sanglingsernahrong 699.
Bier, Gelenktaberkolose 642.
Binkerd, Petroleum als Heilmittel 150.
Blanc, Pyramidon 484.
Blum, Tuberkulosebekämpfung 320 —
Olivenöl bei Magenkrankheiten 376.
Blumenthal, Antituberkulöse Propa-
ganda 474.
Boelsche. Werden and Vergehen 657.
Bogdan ei, Blasen eröffnnng und Schnür-
naht 436.
Bornemann, Erblindung nach Atoxyl-
injektion 439.
Boß, Bornyval 211.
Boston, Blotverandernng nach Äther-
an&sthesie 878.
Bota6, Dermatitis durch ein Haar-
färbemittel 488.
Brauer, Einfloß der krankenversor-
gung auf die Tuberkulosebekämpfung
146, 371 — Anzeig erecht, Anzeige-
pflicht und Morbiditätsstatistik 871.
Bregman, Sehnenreflexe bei Tabes
479.
Broca, Gelenktaberkolose 642.
Brüning, Rohe oder gekochte Milch?
594.
Bragger, Spiritusverbande 648.
Bryant, öaeme nach Kochsalzgenuß
652.
Büchmann, Phosphorstoffwechsel 322.
Bürkner, Paracentesenfrage 481.
Born, Lexikon der physikalischen
Therapie 490.
Barchard, Sanoform 378.
Barckbardt, Vererbung der Disposition
zur Taberkolote 319.
Barger, Seeale cornutum 214 — Bal-
samom peruvianum 877.
Borloreaux, Was ein Mädchen wissen
soll 490.
Burwinkel, Ursache and Bekämpfung
der Gicht 272.
Basohke, Spirochaeten in inneren
Organen 654.
Buttersack, Urotropin gegen Scharlach-
nephritis 107 — Mangel in der
psychischen Konstitation unserer Zeit
210.
Cahn, Klistierverletsungen 44.
Cannaday, Natrium bisulfuricum bei
Typhös 433.
Cantaa, Epidurale Behandlang der
Harninkontinenz 380.
Cardenal, Chirurgische Magenaffek-
tionen 642.
Casper, Irrigationscrstoskop 479 —
Lehrbuch der Urologie 543.
Cbantemesse, Serotherapie des Typhus
41.
Chatiniere, Präventivbehandlung der
Taberkolose 371.
Chevalier, Succub Valerianae 44.
Chiene, /9-Eukain und Adrenalin 45.
Christophers, Malariaprophylaxe 149.
Christomanos, Colica intestini ooeci
432.
Clemm, Zellmast 27 — Gallenstein-
krankheit 157.
Cnyrim, Ethische Forderung im Ge-
schlechtsleben 542.
Cohn, Zahnheilknnde 442.
Colasnono, Hornhaotgeschwür 109.
Comby, Hämorrhoiden bei Kindern
824.
Cornelias, Nervenmassage 227.
Coston, Hamamelis virginica 486.
v. Crippa, Gynochrysma Hydrargyri
653.
Croner, Kreosottherapie der Lungen-
schwindsucht 40 — Problem der
Ätiologie der Tabes 257.
Cykowslu, Behandlung der Eklampsie
476.
Cyriax, Mechanische Behandlung nach
Kellgren 161.
Czerny, Haasliche Behandlung der
Tuberkulose 39 — Chirurgische
Magenaffektionen 642.
Deaver, Leberdrainage 213.
Debono, Narcyl 539.
De Busscher, Morphiumentgiftung
durch Kaliumpermanganat 593.
Delageniere, Prostatahypertrophie 581.
Delbanco, Kasein -Albnmoseseife 215.
Dempel, Phenosal bei Kehlkopftuber-
kulose 165.
Denker, Otosklerose 274 — Heufieber
645.
Denuce, Wasserzufuhr bei Chloroform-
narkose 218.
Depag e, Wert der Blutuntersuchung
in der Chirurgie 629.
Dewar, Jodoforminfusion bei Schwind-
sacht 583.
Döderlein, Geburtshilflicher Opera-
tionskurs 490.
Doerfler, Verhütung des Puerperal-
fiebers 635.
Doberauer, Behandlung des Erysipels
143.
Dopfer, Tod nach Gebrauch von Bor-
salbe 487.
Dornblüth, Verhütung der Cerebro-
spinalmeningitis 586.
Downie, Paraffin bei Nasendeformi-
tfiten 48.
Drenkhahn, Atropin bei Frauenkrank-
heiten 57.
Dreser, Jotbion 376.
Dreuw, Hefeseifen 214.
v. Drigalski, Genickstarre 645.
Durig, Serumbehandlung des Morbus
Basedowii 582.
Dumont, Intravenöse Injektion von
Merkursalzen 50.
660
Namen-Register.
rniiamiiwiiiiiin
L MooJktadMfta.
Ebstein, Exodia 151 — Jahresbericht
Aber Portschritte in der innern
Medizin 543 — Gicht und Tuber-
kulose 587.
Eckstein, Paraffinnasenplastik 48 —
Yaselin oder Hartparaffinprothese
154.
Edel, Wetterverhaltnisse an der Nord-
see 66.
Ehrmann, Neue Form der Eisenver-
ordnung 634.
Eichhorst, Digttalistberapie 148 —
Quecksilbersepsis 383 — Hygiene
des Herzen b 541.
v. Eiseisberg, Chirurgische Magen-
affektionen 640.
Eitelberg. Behandlung der Mittelohr-
entzündung 347.
Elkan, Heimstätten und Kampf gegen
Tuberkulose 371.
Ellingwood, Echinacea angustifolia 647.
EUis, /9-Eukain 434.
Elvjr, Nitroglyzerin 486.
Engel, Unguentnm Crede bei Sepsis
pnerperalis 877.
Escat, Behandlung der Blutungen nach
Mandeloperationen 379.
Esch, Intravenöse Hetolinjektionen 110
— Zur Erkaltungsfrage 369.
Escherich, Beorderung der Brost-
em&hrung 648.
Esehle, Krankhafte Willensschwäche
160.
Euler, Neuronal 168.
JFauconnet, Quecksilberglykosnrie 487.
Feldmann, Argentum colloidale bei
Erysipel 211.
Fischer, B., Ausheilung von Lungen-
kavernen 40.
Fischer, Spirochaeten in inneren
Organen 654.
Fleischer, Medikamente gegen Dia-
betes mellitus 497.
Flesch, Sirupus Colae comp. Hell 150.
Fließ, Hartparaffininjektionen bei
Ozaena 47.
Fo erster, Isopral 374.
Fraenkel, M., Antibtreptokokkenserum
bei Sepsis 105.
Franca, Behandlung der epidemischen
Meningitis 587.
Frank, Alfred, Perhydrol 213.
Frank, C, Balsamum peruyianum
877.
Frank, E. E. W., Prostatahypertrophie
531.
Franke, Erysipelbehandlung 143.
Frater, Ersatz von Substanzverlusten
durch Kaninchenhaut 652.
Freudenberg, Prostatahypertrophie
530.
Freudentbai, Lungentuberkulose und
Erkrankungen der Nase und des
Rachens 320.
Freund , H. , Eukain - Adrenalin - An-
ästhesie 107.
Freund, L., Hautveränderungen nach
Röntgenbestrahlung 652.
Freund, M., Stypticin 92.
Freund, R., Arznei ex an them nach As-
pirin 439 — Digitalispräparate 603.
Frey, Wirkung gechlorter Alkohole
374 — Vermeidung der Nieren-
reizung nach Salizyl 593.
v. Frey, Physiologie 161.
Freymuth, Tuberkulin in der Heil-
st ättenbehand long Tuberkulöser 474.
Frick, Liquor sanguinalis Krewel 76.
Frieben , Hoden Veränderung nach
Röntgenbestrahlung 155.
Friedjung, Natürliche S&uglings-
ernäbrung 648.
Friedmann, Tuberkulose- Immunisie-
rung mit Scbildkrötentuberkel-
bazillen 263 — Immunisierung von
Rindern gegen Tuberkulose 474.
v. Frisch, Urologie 440.
Fritsch, Frauenkrankheiten 440 —
Kunstlicher Abort 476.
Fuchs, R., Flatulinpillen 314.
Fürth, Vergiftung durch Helleborus
niger 487 — Säuglings ernährung
594.
Craertner, Viferral 143.
Ganghofer, Antistreptokokkenserum
bei Scharlach 321.
Gans, Bai neologisch- diätetische Be-
handlung der chronischen Diarrhöen
170.
Galli-Valerio, Entdeckungen der Para-
sitologie und Hygiene 277 — Iso-
form 259 — Verbreitung und Ver-
hütung der Helminthen 339.
Garlipp, Urotropin bei Scharlach-
Nepnritis 485.
Garre, Chirurgische Magenaffektionen
641.
Gelpke, Chirurgische Behandlung der
chronischen Nephritis 47 — Chloro-
formausscheidong durch den Brech-
akt 152.
Gerber, Kieferhöhlenbehandlung 536.
Gerulanos, Chirurgische Magenaffek-
tionen 642.
Ghon, Microcoocus meningitidis cere-
brospinalis als Erreger von Endo-
karditis 367.
Gilardoni, Wirkung bydriatischer
Prozeduren auf die Magensekretion
Gilbert, 3. ärztliche Studienreise 543.
Giordano, Prostatahypertrophie 531
— Chirurgische Nierenaffektionen
584.
Glücksmann, Ösophagoskopie 479.
Goldmann, Einverleibung von Eisen
durch Iounktion 324 — Mittel gegen
Diabetes mellitus 637.
Gold scheid er, Diagnose der Nerven-
krankheiten 53 — Herzperkussion
428.
Goldsohmidt, Chemische Reaktionen
im Darmkanal 37.
Goldstein, Erhält unser Volk genug
Fleisch? 136 — Duplik 140, 254
— Säuglingssterblichkeit in Preußen
445.
Goliner, Condnrango-Elixier 219.
Gottlieb, Herzwirkung des Diphtherie-
giftes 429.
Gottstein, Diphtherieepidemien und
-empfänglichkeit 517.
Graßmann, Morphium bei Herzkranken
106.
Grawitz, Therapie der perniziösen
Anämie 103.
Graul, Magen-, Darm- und Konstitu-
tionskrankheiten 542.
Grosglik, Diagnostischer Wert der
Uroskopie 215.
Groß, Wert der Blutuntersuchung in
der Chirurgie 529.
Großmann, Psychische Störungen nach
Warzenfortsatzoperationen 480.
Gruber, Hygiene und Rassenentartung
885.
Grunert, Otologie 441.
Hackl, Anwachsen der Geisteskranke»
489 — Für Mutter und Kind 490.
Hager, Traggerüst für obere Extremi-
tät 539.
Hall, Blei als Abortivmittel 476.
Hall-Edwards, Dermatitis nach
Röntgenbestrahlung 155.
Hallopeau, Syphilisbehandlong 650.
Hamburger, Beförderung des Stillens
der Mutter 648.
Hamilton, Veratron 593.
Hamm, Behandlung der Kehlkopf-
tuberkulose 358
Hanel, Antistreptokokkenserum bei
puerperaler Sepsis 645.
Hannecart, Chirurgische Nierenaffek-
tionen 585.
Hare, Elektrolyse bei Aneurysmen 592.
Harnack, Tod nach Gebrauch, von
Borsalbe 487.
de la Harpe, Fangobehandlung 289
— Impfung am Fuß 330.
Harrison, Prostatahypertrophie 529.
Hartmann, Prostatahypertrophie 590
— Chirurgische Nierenaffektionen
585 — Chirurgische Magenaffektionen
641.
Hayem, Indikationen für Kefirgebrauch
322.
Hecht, Cholelithiasis 172 — Ender-
matische Applikation von Guajakol
266 — Fall von Icterus tozicns
269 — Epidemische Genickstarre
in Oberscblesien 333 — Guajakol
486 — Diphtherische Laryni-
stenose 620, 657.
Hecker, Zuckerproben 175.
Heer mann, Sauerstofftherapie 526.
Heimann, Indikationen aar Eröffnung
des Warzenforteatzes 480.
Heinecke, Wirkung der Radiumstrahlen
auf tierisches (Jewebe 155.
Heinrich, Heidelbeerdekokt 596.
Heinsius, Heißlufttherapie bei Frauen-
leiden 381.
Hengge, Gefahren der Scholtzeeehen
Schwingungen 327.
Henrich, Maretin 124.
Henrici, Tuberkulose des Warzen-
fortsatzes 479.
Hempel, Antithyreoidinserom bei Mor-
bus Basedovrii 210.
v. Herff, Opferung des Kindes tun»
Vorteil der Mutter 650.
Herman, Ovarialschmerz 436.
Herz, Chronische Entzündungen der
Blinddarmgegend 116, 178.
Heryng. Kehlkopfkrankheiten 271.
Herzfeld, Behandlung der Kapillar-
bronchitis 274.
Heubner, Badekuren im Kindesalter
535.
Hey m ans, Experimentelle Tuberkulös*
• 370.
Higier, Röntgenstrahlen im Krieg 378.
Hirsch, A., Indikationen für Kefir-
gebrauch 71.
Hirsch, Ugo, Jothion 375.
XIX Jakrganff.1
~ 1905.J
Nexnen>Rogisler.
661
Hirschfeld, Phenacetinvergiftung 157.
Hirst, 100 Eklampsiefälle 211.
Hitzig, Kalomel bei Vitium cordis 488.
Hockauf, Verwechselung yon Enzian-
wurzel mit Beliadonnawarzel 52.
v. Holder, Pathologische Anatomie der
Gehirnerschütterung 646.
Hoffa, Bekämpfung der Knochen- und
Gelenktuberkulose., im Kind»salter
873 — Atlas und Grundriß der
Verbandlehre 386 — Gymnastik
und Massage als Heilmittel 491.
Hoffmann, Antistreptokokkenserum bei
puerperaler Sepsis 106 — Primel-
krankheit 383 — Behandlung der
Herzinsuffizienz 474.
Hoffmann, Erich. Spirochaete pallida
695.
Holobat, Injektion yon Gehirnemulsion
bei Tetanns 265.
y. Holst, Vieriig Jahre neurologischer
Praxis 53. *
Holz, Atropinvergiftung 52.
Holz, B., rurgen Vergiftung 489.
Homburger, Das zur Zeit am besten
wirkende Diareticnm 452.
Hoppe, Veronalismns 439.
Hooghton, Lokale Anästhesie 484 —
Veratron 593.
Jacoby, Ziokperhydrol bei Brand-
wunden 636.
Jaffe, Prostatabypertrophie 531.
James, Malariaprophylaxe 149.
Jankau, Taschenbuch für Ohren- etc.
Arzte 491.
y. Janregg, Endemischer Kretinismus
und Schilddrusensubstanz 104.
Jesionek, Fluoreszierende Stoffe bei
Hautkarzinom 481.
Jessen, Behandlung Nervöser im Hoch-
gebirge 581.
Jeasuer, Mitin 268 — Schuppenflechte
656.
Joklik, Erhalt unser Volk genug
Fleisch? 138.
Jonnesco, Chirurgische Magenaffek-
tionen 641.
Joseph, Haut- und Geschlechtskrank-
heiten 489 — Jothion 658.
Isnardi, Elastische Binde bei Verband-
wechsel 3*24.
Juliusberg, Zioksnlfat oder Silbersalze
bei Gonorrhöe? 216.
Justi, Kollargol bei Angina und
Diphtherie 377.
Kaiser, Intoxikation durch Resorcin-
paste 540.
Kapsamer, Chirurgische Nierenaffek-
tionen 685.
Karlowski, Impfung nach Pasteur 1908
476.
Kassel. Organische Schwefelpräparate
bei Otitis externa 218.
Kaufmann , Pathologische Anatomie
274.
Kanpe, Maretin 265.
Kayserliog, Volksbelehrung und Tuber-
kulosebekämpfung 320.
Keen, Wert der Blutunters ucbung in
der Chirurgie 528.
Keferstein, Einfluß von Flüssigkeits-
mengen auf das Herz 374.
Kehr, Choledocbusfege 213.
Kellermann, Einfluß der Heilgymnastik
auf den Kreislauf 535.
Kieffer, Mesotan 539.
Kien, Gruber- Vidalsche Reaktion 1.
Kionka, Baldrianwirkung 43 — Wesen
der Gicht 688.
y. Kirch bau er, Hefepräparate 482.
Kisch, Geschlechtsleben des Weibes
329.
Klapp, Prostatahypertrophie 680.
Klau, Eröffnung der Mittelohrräume
17, 79.
Klein, Antistreptokokkenserum 149.
Kleinsorgeo, Zufuhr Zahn und Knochen
bildender Substanzen 295 — Phy-
siologische Narkose 362.
Kluge, Tuberkulose des Kindesalters
320.
Knapp, Scheintod der Neugeborenen
54.
Kob, Botulismus 156.
Koch, Pankreon, 465.
Kocher, Karzinomheilung 527.
Kochmann, Alkohol und Warmblüter-
herz 323 — Alkohol und Blutkreis-
lauf 693 — Verschwinden des Neben-
nierenprinzips aus dem Blut 648.
Kögl, Stypticin 215.
Koehler, Lungentuberkulose und
Tetanie 533 — Ulcus ventriculi und
Hyperazidität 647.
Koeppe, Buttermilchkonserve 106.
Koeppe, Gesetz des osmotischen Gleich-
gewichts im Organismus 127, 423.
Koerner, Pauk en höh lenentzün düng 268
— Vorfahren und Nachkommen einer
schwindsüchtigen Generation 538.
Kornfeld, Empyroform 49.
Kraft, Lokalanästhesie bei Ohropera-
tionen 825.
Kramer, Kaliumpermanganat als
Morphiumantidot 157.
v, Krannhals. Pyramidon bei Typhus
484.
Krause, W., Handedesinfektion 379,
448.
Kreß. Verona! 37 »— Elektromagne-
tische Therapie 300 — Veronalismus
467.
Krieg, Kehlkopftuberkulose 372.
Kulkarzewski, Blutveränderung nach
Seruminjektion 590.
Kühn, Gegenindikation für Chi oral -
hydrat allein und mit Morphium
356.
Kümmel], Prostatabypertrophie 580 —
Chirurgische Nierenaffektionen 584.
Kümmerling, Behandlung des chroni-
schen Bronchialkatarrhs mit Sorisin
372.
Kuhn, Gallensteinleiden 157, 600.
.Laengner, Theocinum natrio-aceticum
und Citarin 283.
Lambotte, Chirurgische Magenaffek-
tionen 641.
Lampe, Radikaloperation des Uterus-
krebses 326.
Landois, Physiologie 330, 698.
Langgaard, Protosal 637.
Langhann, Hygienische Behandlung
der Fußböden 387.
Langmead, Rekurrierendes Erbrechen
der Kinder 650.
Laquenr, Ausscheidung yon Wuk 265
— Physikalische Behandlung der
gonorrhoischen Gelenkerkrankungen
538.
Lazarus. Pankreaserkrankungen 58.
Leber, Fettsucht 328.
Legrand, Wert der Blutuntersuohung
in der Chirurgie 529.
Legueu, Prostatabypertrophie 530 —
Chirurgische Nierenaffektion 586.
Lengefeld, Merkuriolöl 596.
Lenhartz, Epidemische Genickstarre
262.
Leo, Lochialsekret 326.
Lermoyez, Operationsregeln bei akuter
eitriger Meningitis 873.
Lesage, Adrenalin 153.
Lesser, Haut- und Geschlechtskrank-
heiten 642.
Leubuscher, Arbeiterneurasthenie 592.
y. Leyden. Ernährung und Diätetik
52 — Organtherapie des Morbus
Basedowii 263 — Mammakarzinom
einer Katze 264.
Leyy, V., Atrophische Rhinitis geheilt
durch Erysipel 374.
Lewaschew, Eibudative Pleuritis 320.
Libbertz, Immunisierung yon Rindern
gegen Perlsucht 263.
Lie, Therapie der Lepra 654.
Liebe, Aufnahme Nichttuberkulöser
in Heilstätten 104.
Lieber, Radiumkleid 818.
Liebreich. Tonisieren de Wein präparate
6 — Fetrosal 545 — Frage der
Borwirkung 654.
Liermberger, Ankylostomiasisanämie
475.
Lippschütz, Kutane Darreichung yon
Jodpräparaten 375.
Loeyeohart, Benzoyisüperoxyd 426.
Lohnstein, Silberpräparate 156 —
Methodik der Milchanalyse 248 —
Hetralin 485.
Lomer, Antitbyreoidin und Morbus
Basedowii 632.
Lorthioir, Chirurgische , Magenaffek-
tionen 642.
Lücke, Gonorrhöetherapie 538.
Haaß, Narkosearbeiten 418.
Macewen, Funktion des Blinddarms 43.
Mac Hardy, Katarakt-Reifung 164.
Mahne, Wismutvergiftung 270.
Malherbe, Sohwarztärbung des Penis
nach Antipyringebrauch 44.
Mamlock. Salizyl Wirkung 593
Marek, Stickstoff- und Eiweißbestim-
mung bei Carcinoma ventriculi 163.
Marquis, Lokalanästhesie bei Ohr-
operationen 326.
Mattoli, Chirurgische Magenaffektionen
640.
Matzenauer, Vererbung der Syphilis 66.
Maybaum, Kauen und Magensaft-
sekretion 161.
Meißner, Dritte ärztliche Studienreise
548.
M ellin, Thiosinamin bei Narbenkon-
trakturen 650.
Mendel, F., Fibrolysin 93, 177.
Mendelsobn, Antistreptokokkenserum
bei Scharlach 321.
Mende, Formaliu-Desinfektion sachrank
307.
Meyer, Haarkrankheiten 489.
Meyer, A., Milchsaures Eukain, Stovain
240.
Meyer, H., Tödliche Quecksilber-
dennatitiden 382.
662
Namen-Register.
t
Monatahefte.
Meyer, Otto, Pikrinsäareanwendung
Meyer^ V., S typ toi 437.
Meyerhoff, Arsenvergiftung 540.
Meyler, Diabetes mellitus 431.
Minkowski, Behandlung der Gicht 473.
Minti, Amaurose nach Paraffinplastik
481.
Mironescu, Euphthalmin 378 — Ver-
lüdet ung des ausgepreßten Magen-
inhalts 580.
Mode, Vaiofin 601.
Moebius, Abortbebandlunff 443.
Möller, Wirkung des Nebennieren-
extrakts 547, 622.
Mohr, Allgemeines Aber den Krebs
162 — Diabetes mellitus 531.
Monprofit, Chirurgische Magenaffek-
tionen 585.
Monsarrat, Tetanusserumeinspritzun-
gen 265.
Moorhead, Ätiologie der Leukämie 264.
Moraz, Ophthalmie der Neugeborenen
487.
Morelli, Wurstvergiftung 51.
Morin, Tuberkulosebenandlung in
Leysin 13, 493.
Muller, Bequeme Art der Chinindar-
reiohung 275 — Vulnoplast 310 —
Trigemm 484 — Eklampsietherapie
534.
Möller, Ottfried, Diazoreaktion und
Fieber bei Masern 42.
Mulert, Wirkung von Crocus 217.
Nagelsbach, Dritter Schömberger
Jahresbericht 829.
Naunyn, Diabetes mellitus 472.
Nestler, Hautreizende Primeln 386.
Neter, Sfiuglingskrankheiten 214.
Neujean, Adrenalin 153.
Neumann, Wirkung physikalischer Heil-
methoden auf die Magenfunktion
151 — Mittelohreiterung 269 —
Citarin 485 — Balneologische Be-
handlung der Hemiplegien 567.
Neußer, Klinische Symptomatologie
541.
Newcomat, Tuberkulose und Röntgen-
strahlen 41.
Newman, Nephrorhaphie der flottie-
renden Niere 47.
Nicolaier, Methylenhippursäure 7 —
Urotropin, HelmitoJ, Neuurotropin
49.
Nienhaus, Kampferölinjektionen bei
Tuberkulose 211.
Noishewski, Tic convulsif 479.
t. Noorden, Fettleibigkeit [531 — Dia-
tetische Behandlung der Gicht 646.
Oefele, Würfelzucker bei Diabetes
mellitus 589.
Oestreioh , Anatomisch - physikalische
Untersuchungsmethoden 273.
Oliven, Dritte ärztliche Studienreise
548.
Oltuszewski, Psychische Entartung und
Sprachstörung 352, 414.
Opfer, Antistreptokokkenserum bei
puerperaler Infektion 105.
Oppenheim, Chininjodbehandlung des
Lupus 651 — Hautveränderungen
nach Röntgenbestrahlung 652.
Oppenheimer, C, Fermente 273.
Oppenheimer, K, Säuglingsernahrung
160.
Orlipski, Gonorrhoische Exantheme
458.
Orlowski, Zuckerklistiere für Dia-
betiker 590.
Ortlieb, Phosphorverbindungen in
Trau benkern en und Naturweinen
522.
Ortiz de la Torre, Wert der Blutunter-
suchung in der Chirurgie 527.
Pacyna Thigenol 483.
Palmirski, Scharlach und Soharlaoh-
serum 868 — Schutzimpfung nach
Pasteur 1903 475.
Papinian, Chronischer Gelenkrheu-
matismus 480.
Parton, Chronischer Gelenkrheuma-
tismus 430.
Passow, Verletzung des Gehörorgans
441.
Pelizaeus, Kritik der Jodbäder 198.
Pelz, Kodeinismas 384.
Pennington, Salzlösungen und andere
Analgetica 825.
Petretto, Balsamum peruvianum 377.
Petroschky, Kochs Tuberkulin 40 —
Ehen und Nachkommen mit Tuber-
kulin Behandelter 538.
Peugniez, Wert der Blutontersuchung
iq der Chirurgie 529.
Pfaff, Alkoholfrage 385.
Pick, Erste Hufe bei Augen Ver-
letzungen 236.
Pineas, Belastungslagerung bei Frauen-
krankheiten 386.
Pisarski, Isopral 409.
Plaveo, Diuretische Wirkung des Theo-
bromins 43. *
Podhoretzki , Hedonal - Chloroform-
narkose 212.
Pohl, Papaverinderivate 434.
Polland, Jodpemphigus 488.
Pollitzer, Empyroform 327.
Porosz, Tonogen, suprarenale sec 268
— Verhütung der Gonorrhöe 269
— Neurasthenie junger Ehefrauen
519.
Posner, Urotropin 106.
Post, Behandlung der granulösen
Augenentzundung 109.
Pouohet, Sucou8 Valerianae 44.
Poynton, Rheumatisches Fieber 430.
Prausnitz, Grundzupe der Hygiene 384.
Preisich, Urotropm bei Scbarlacb-
nephritis 322.
Primrose, Filariasis beim Menschen
476.
Prölss, Verona! in der Landpraxis 77.
Prym, Hetolbehandlung der Tuber-
kulose 147.
Purscbke, Verpflichtung des Arztes,
Lungenkranken die Wahrheit zu
sagen 654.
Quenstedt, Salizyl Wirkung auf die
Niere 593.
Rabow, Formalinreaktion beim Dia-
beteshsrn 109.
Radmann, Genickstarre 645.
Rau, Collargolbehandlung 617.
Kavasini, Jothion 375.
Reichelt, Triferrol 377.
de Reusi, Diabetesbehandlung 150.
Ricard, Chirurgische Magenaffektionen
642.
Ribadeau-Dumas, Collargol bei Septik-
&mie 376.
Riffel, Schwindsucht und Krebs 540.
Rizen, Neuronal bei Epilepsie 433.
Robson, Chirurgische Magenaffek-
tionen 585.
Rodari, Magen-Darmkrankheiten 542.
Rodella, Austerninfektion 438.
Rocaz. Collargoltherapie 376.
Roeder, Hautkrankheiten der Säuglinge
214.
Rosenbach, 0., Ätiologie der Tabes
111 — Morphium als Heilmittel
327 — Abstinenzfrage 474 — Leu-
kämie und Röntgenstrahlen 644.
Rosenfeld, Diphtherieepidemien und
Diphtherieempfangliehkeit 509.
Rosenthal, Syphilisbehandlung 650.
v. Rosthorn, Behandlung der puerpe-
ralen Infektion 652.
Roß, Malariaprophylaxe 149 —
Malariafieber 329.
Rottfans, Ulcus ventrieuli 586.
Rothholz, Skrofulöse Augenentxün-
dungen 402.
Rouffart, Wert der Blatuatersuchung
in der Gynäkologie 529.
Rovsing, Prostatahypertropbie 530 —
Chirurgische Magenaffektionen 642.
Rudolph, Diphtheritische Larynx-
stenose 518.
Ruhemann, Mesotanvaselin 593.
Runge, Gebärmutterkrebs, Mahn wort
825.
Rappel, Immunisierung von Rindern
gegen Perlsucht 263.
v. Rydygier, Perineale Prostatektomie
529.
Rzetkowski, Fixationsmethode von
Blut 486.
Saalfeld, Vorzeitiger Haarausfall 192
— Perkutane Sauzylbehandlnng437,
593.
Saleoker, Nebennierensubstanzen zur
Erzielung örtlicher Analgesie 45.
v. Sarbö, Epilepsie 643.
Sawyer, Ranunculus ficaria 486.
Schatz, Ursachen d. Genitalprolaps 214.
Schaudinn, Spiroohaete pallida 595.
Schaeche. Vergiftung nach Gebrauch
von Wismutbrandbinden 38L
Scherk, Ionenlehre und Therapie 572.
Scbeabe, Krankheiten warmer Linder
53.
Schiele, Behandlung schwerer Hand-
verletzungen 61.
Schiff. Röntgentherapie 274.
Schilling, Gallensteinkrankheit 157.
Schindler, Jothion 266 — Paroxysmale
Hämoglobinurie 525.
Schlesinger, Folgeerscheinungen nach
Theophyllingebrauch 483.
Schlieb, Diätetische Behandlung der
Gicht 646.
Schliep, Elektrische Bäder 303.
Schmeichler, Trachominfektion 109.
Schmidt, Chronische habituelle Ob-
stipation 646.
Schmiedeberg, Theophyllin 483.
Schoemaker, Erbrechen durch Nierem-
suspension geheilt 379.
Schoenborn, Gfefrierpunktsbestimmung
und Leitfthigkeitebestimmung 386.
Scholtz, Röntgen- und Radiumstrahlen
155.
Schräge, Behandlung der Lungen-
tuberkulose nach Landerer 148.
XIX. Jahrgang.1
~ - 1905.J
Nam«n-R«fl&t«r. — 8aoh-Regitt«r.
663
Schröder, Heilstättenbehandlung Lun-
genkranker 108 — Dritter Sohöm-
bergscher Jahreeberieht 829.
Schürmayer, Röntgentechnik 491.
Schwalbe, Grundriß der praktischen
Medizin 541.
Schwartze, Otologie 441.
Schwarz, Innere Krankheiten 68.
Schwarzschild, Jothion 658.
ScotirSngden, Akute Sublimatver-
giftung 883.
Segond, Chirurgische Magenaffektionen
v. Seiller, Inhalationstherapie 820.
Senator, Zirkulationsstörung nach
Veronal 157.
Seqneira, Lupus vulgaris 481.
Sewell, Malariapropbylaxe 149.
Shaw, Rekurrierendes Erbrechen bei
Kindern 650.
Silbermark, Spinalanalgesie 45.
Silberstein, Anthrasol 484.
Sinclair, Hautgangran nach Stovain 595
— Chirurgische Magenaffektionen
642.
Singer, Vegetarische Diät 489.
Sintenis, Coma diabeticum nach Ope-
rationen 42.
Slaneky, Schreibangst 488.
Sobernheim, Milzbrandserum 104.
Sokal, Gonosan 588.
Sokolowsky. Paraffinerfolge bei Nasen-
difformitaten und -Defekten 47.
Sokotowski, Antipyretische Behand-
lung der Phthisiker 872.
Sommer, Theophyllin 285.
Sondermann, Lumbalpunktion 429 —
Gelenkerkrankungen 485.
Sonnenburg, Wert der Blutunter-
suchung in der Chirurgie 527 —
Chirurgische Magenaffektionen 642.
Sowinski, Inokularionsversuohe der
Syphilis auf Ferkel 50 — Strepto-
bazillen des Ulcus molle 868.
Spannbauer, Kupfervergiftung 52.
Spira, Otitis media acuta 214.
Staohowski, Collargol 149.
8tadelmann, Vergiftung mit Schwefel-
alkalien 270.
Stegmann, Vaselin und ölvaselin bei
Blatternarben 658.
Stein, Paraffininjektionen 48.
Steiner, Lichtsalbenbehandlung der
Hautkrankheiten 587.
Steinert, Polyneuritis der Tuberkulösen
481.
Stephens, Malariaprophylaxe 149.
Stern, Medikamentöse Behandlung der
Lungentuberkulose 243 — Trauma
und Lungentuberkulose 819.
Sterne, Carus, Werden und Vergehen
657.
Stieb, Bakteriologie in Apotheken 491.
Stierlin, HistoBan 576.
Stiller, Gallensteinkrankbeit 152.
Stocker, Belladonnavergiftung 884.
van Stockum, Erster Verband auf dem
Schlachtfelde 324.
Stoll, Fischvergiftung; 488.
Straßer, Hydrotherapie bei Hautkrank-
heiten 582.
Strauß, Osmotisches Gleichgewicht
316 — Pseudocbylöse Ergüsse 869
— Bemerkung 425 — Gicht und
Tuberkulose 587.
S trÖll, Myrrhentinktur bei Diphtherie
211.
Strzyzowski, Reaktion des Diabetes-
harns 109.
Tarnffi, Hermaphroditismus und Zeu-
gungsunfähigkeit 830.
Tatham, Tabes mesenterica 479.
Taure, Zungenkarzinom 590.
Tendeloo, v. Behrings Ansieht über
Lungenschwindsucht 870.
Temen, Atrophie und Atrepsie 478.
Thienger, Antithyreoidin 210.
Thrush, Adrenalin bei Typhus 589.
Toff, Xeroformstreupulver 485.
Tollens, Santonin bei Lungentuber-
kulose 475.
Tonkin, Heilbarkeit der Lepra 651.
Türk, Klinische Hämatologie 491.
Torenne, Toxämie in der Schwanger-
schaft 477.
Ulrici, Wirkung des Styrakols 611.
Unger, Sanoform 141.
Unschuld, Balsamum pemvianum 377.
Verhogen, Prostatahypertrophie 580.
Vivaldi, Austerninfektion 488.
Vörner, Thiolan 537.
Vollana, Behandlung der trocknen
und verstopften Nase 36.
de Vos, Verschwinden des N?ben-
nierenprinzip8 aus dem Blut 648.
Waldvogel, Isosafrolvergiftung 271.
Walko, Lokale Alkoholtherapie 485.
Walther, Wöchnerinnenpflege 599.
Watson, Infektiöse Ursache der Gicht
41.
Wedekind, N-haltige Santoninderivate
476.
Wederhake, Dormiol als AnthidrcK
ticum 387.
Weichselbaum, Mierococcus meningi»
tidis als Erreger der Endokarditis
367.
Weirich, Organische Phosphorverbin-
dungen in Traubenkernen 522.
Weißflog, Gelenkerkrankungen 600.
Weißmann, Hetolinjektionen 55, 163
— Collargol 389.
Weisz, Wert der Bäder bei Gicht 292.
Wesenberg, Perkutane Jodapplikation
199 — Jothion 375.
Wickham,Quecksilberein8pritzung 269»
Wills, MesotanausBchlag 488.
Winokelmann, Röntgenstrahlen bei
Leukämie 258 — Digalen 364.
Winckler, Hydrotherapie in der Ge-
burtshilfe 477.
Winternits, Heilmittel aus der Küche
596.
Witthauer, Viferral 143 — Vibrations-
massage 440.
Wolff, Glykogenproblem 482.
Wolffenstein, Zinkperhydrol 581.
Wright, Staphylokokken -Vaccine bei
Alne 482.
Zabludowski, Überanstrengung beim
Schreiben 154 — Schreib- und
Muskelkrampf 212.
Zangger, Infantile Bronchopneumonie
Zapinski, Dormiol als Hypnoticum
106 — Opocerebrin bei Epilepsie
874.
Zeuner, Kosmetischer Hautcreme 16£
— Hustenpastillen 600.
Zubrowski, Scharlach und Scharlach-
serum 868.
Zucker, Giobttherapie 561.
Zuckerkandl, Urologie 440.
Zwillinger, Formaldehyd bei inneren
Erkrankungen 520.
Sacli-Register.
Abort, Behandlung 443.
— , künstlicher 476.
Abstinenzfrage 474.
Acidol 689.
Aeidose 151.
Adam und Eva 656.
Adrenalin 153.
— bei Hydrocele 66.
typhösen Blutungen
639.
— und Lokalanästhesie 45.
— , Wirkung 547, 622.
Alkohol- Frage 385.
— , Herzwirkung 323.
— -Silber- Salbe 546.
Therapie 435.
— , Wirkung auf den Blut-
kreislauf 598.
Alypin 428.
Amaurose nach Paraffin-
plastik 481.
Amylnitrit bei Hämoptoe
331.
Malaria 331.
Anästhesie bei Operationen
326.
— lokale 434.
Anästhesin bei Erbrechen
658.
Anästhol 110.
Anästholspray 276.
Anämie, perniziöse 103.
Analgetica bei Rectumopera-
tionen 326.
Anatomie, pathologische
274.
Anatomische u. physikalisch»
Untersuchungsmethoden
273.
Aneurysma, durch Elektro-
lyse geheilt 592.
Angina 657.
Ankylostomiasisanämie
475.
Anthrasol 484.
Anticiiloid 546.
Antipyrin , Schwarzwerden
des Penis nach 44.
664
Sach-Reglater.
Antistreptokokkenserum
Ghininanwendung 275.
Erbrechen , Nierensuspen-
Genickstarre, epidemische
105, 149, 645.
Chinin als Wehenmittel 267.
sion bei 379.
262, 275, 333, 587, 645.
— bei Scharlach 321.
Chininjodbehandlung des
— bei Bandwurmkuren
Genitalprolaps. Ursache 214.
Antithyreoidin bei Morbus
Lupus 651.
658.
Geschlechtsleben des Weibes
Basedowii 532.
Chloroformausscheidung
— , rekurrierendes der Kin-
329.
Serum 210.
durch den Brechakt 152.
der 650.
— , ethische Forderung im
Anzeigerecht und -pflicbt
Chloroform narkose, Wasser-
Ergüsse, pseudocbylöse 369.
542.
371.
zufuhr bei 213.
— , seröse 42.
Gichr, Bäder bei 292.
Argentum colloidale bei
Chloralhydrat und Mor-
Erkaltungsfrage 869.
— Behandlung 272, 473,
Erysipel 211.
phium 356.
Ernährung und Diätetik 52.
561, 646.
Aristochin 150.
Chloralhydratvergiftnng 51.
Erysipelbehandlung 143,
— , infektiöse Ursache der
Arsen- Ferratose 406.
Uholedochusfege 213.
211.
41.
Arsen Vergiftung 540.
Cnolelithiasis 172.
Eucainum lacticum 110, 240,
— und Tuberkulose 587.
Ärzte - Studienreise , dritte
Cholera asiatica 545.
424.
— , Wesen der 588.
543.
Citarin 283, 485.
Eukain- Adrenalin 107.
Glasfeder 491.
Aspirinexantbem 439.
Clavin 471.
Eukodin 365.
Glatze, Entstehung der 489.
Asthmamittel, Tackers 388.
Colica intestini coeci 432.
Eumydrin 365.
Glykogen prob lern 432.
Ätheran&sthesie, Blutverfin-
Collargol 149, 389.
Euphtbalmin 378.
Gonorrhöe, Behandlung 216,
derung nach 378.
— bei Septik&mie 876.
Pinselangen bei An-
Exantheme, gonorrhoische
538.
Atoxylinjektion, Erblindung
nach 439.
458.
— , Prophylaxe 545.
gina 377.
Exodin 151.
Gonosan 538.
Atropin bei Frauenkrank-
— -Therapie 376, 617.
Fangobehandlung 289.
Griserin 209.
heiten 57.
Coma diabeticum nach Ope-
Fermente 273.
Gruber- VidalscheReak tion 1.
— -Vergiftung 52.
rationen 42.
Fetron präparate 298.
Gaajakol 266, 486.
Atzmittel, flüssige 491.
Condurangoelixier 219.
Fetrosal 298, 437, 545.
Gujasanol 602.
Augenentzundung, granulöse
Crocus, EigenartigeWirkung
Fettleibigkeit 531.
Gymnastik als Heilmittel 491.
109.
217.
Fettsucht 328.
Gynochrysma Hydrargyri
— , skrofulöse 402.
]>armkanal, chemische Re-
Fibrolysin 93, 177.
653.
Augenverletzungen 236.
aktionen im 37.
Filariasis 475.
Haarausfall vorzeitiger 192.
Austerninfektion 438.
Darmspülung, Apparat zur
Finnenkrankheit 217.
Haarfärbemittel, Dermatitis
Azetessigs&ure 492.
545.
Fischvergiftung 438.
durch 488.
Badekuren im Eindesalter
Dentitio difficüis 492.
Fixationsmethode für Blut
Haarkrankheiten 489.
535.
Dermatitis durch ein Haar-
486.
Hämatologie, klinische 491.
Bakteriologie in Apotheken
färbemittel 48*.
Flatulinpillen 314.
Hämoglobinurie, paroxys-
491.
Diabetesharn , Reaktion
Fleischextrakt, Wert 486.
male 525.
Baldrianwkung 43.
109.
Fleischversorgung 136, 138,
Hämorrhoiden der Kinder
Balneologische Kurse 602.
Diabetes mellitus, 431, 472,
254.
324.
Balneologiscber Kongreß 56.
531.
FJ uorescin bei Scheintod 331 .
Hamorrhoisid 276.
Balsam um peruvianum 377.
, Medikamente für
Flüssigkeiten, Einfluß auf
Hamamelis virginica 486.
Basedow, Antitnyreoidin-
497, 637.
das Herz 374.
Haodedesinfektion 397, 448.
sernm gegen 210, 532.
, Würfelzucker bei
Formaldehyd, Wirkung 520.
Handverletzungen 61.
— , Organtberapie bei 263.
589.
Formalin desinf ek tions-
Harninkontinenz, epidurale
Baucofelltuberkulose, Lapa-
, Zuckerklistiere bei
schrank 307.
Behandlung der 580.
Hautcreme 162.
rotomie bei 533.
590.
Formalinreaktion im Dia-
Belastungslagerung 386.
Diarrhöe, chronische 170.
betesbarn 109.
Hautentzündung durch
Belladonnavergiftung 384.
Di&t, vegetarische 489.
Formicin 638.
Primeln 383.
Benzoylsuperoxyd 426.
Digalen 364.
Frauenkrankheiten 440.
Hautgan gr&n nach Stoyain
Blaseneröffnung, intraperi-
Digitali8pr¶te 603.
— , Heiß Inf ttherapie bei
695.
toneale 436.
Digitalistherapie 148.
381.
Hautkarzinom, fluores-
Blausteinvergiftnng 52.
Diphtherieepidemie 509,
Für Mutter und Kind 490.
zierende Stoffe bei 481.
Blei als Abortivmittel 476.
517.
Furunkalose, Behandlung
Hautkrankheiten der Säug-
Blennorrhoe, Verhütung 269.
Gift, Herzwirknng 429.
mit Karbolsäure 658.
linge 214.
Blinddarm, Funktion 43.
— , Myrrhen tinktur bei 211.
Fußböden, hygienische Be-
handlung der 387.
Haut- und Geschlechtskrank-
Gegend, Entzündung
Diureticum, bestwirkendes
heiten 489, 542.
der 116, 178.
452.
Fußgeschwüre 163.
Hebammen- Lehr b ach 161.
Blutnutersuchung, Wert für
Dormiol 387.
(irallensteinkrankheit 152,
Hedonal - Chloroform - Nar-
die Chirurgie 527.
Echinacea angustifolia 647.
157.
kose 212.
Blutverftnderung nach Se-
Eisen-In unk tion 324.
Gallensteinleiden, Verhütung
Hefepr¶te bei Furun-
kulose 482.
ruminjektion 590.
Eisenverordnung 634.
600.
Bornyval 211, 538.
Eklampsie 211, 476, 534.
Gebärmutterkrebs, Bekämp-
Hefeseife 214.
Borsalbe, Todesfall nach
Elastische Binden beim Ver-
fung 331.
Heidelbeerdekokt 595.
Gebrauch von 487.
bandwechsel 824.
— , Mabnwort 325.
Heilgymnastik und Kreis-
Borwirkung 654.
Elektrische Bäder 303.
Gehirnerschütterung, patho-
lauf 635.
Botalismus 51, 156.
Elektromagnetische Thera-
logische Anatomie der 545.
Heilmittel aus der Küche 596.
Brandwunden, Behandlung
mit Zinkperhydrol 636.
pie 300.
Gehörorgan, Verletzungen
Heilst&ttenbehandlung Lun-
Empyroform 49, 327.
441.
genkranker 103, 474.
Bronchitis, Behandlung 372.
Enesol 366.
Geisteskranken, Anwachsen
Heißiuftbehandluojc von
Bronchopneumonie 266.
Entartung, psychische und
der 489.
Frauenleiden 381.
Brüche, eingeklemmte 658.
Sprachstörung 352, 414.
Gelenkerkrankungen, Be-
Helleboras niger, Vergiftung
Battermilchkonserve 106.
Enuresis nocturna 658.
handlung 600.
— , chronische 435.
durch 487.
Carcinoma ventriculi, N-
Enzianwurzel, Verwechslung
Helminthen, Verhütung 339.
und Eiweiß bestimm ung
mit Belladonnawurzel 52.
— , gonorrhoische 538.
Helmitol 49.
bei 153.
Epilepsie, Opocerebrin bei
Gelenkrheumatismus 430.
Hemichorea 52.
Gerebrospinalmeningitis
374.
— , Zitronensaure bei 276.
Hemiplegie, balneologische
Behandlung 567.
586.
Epilepsie, Therapie 643.
Gelenktuberkulose 642.
XIX. Jahrgang .1
Dwember 190Ö.J
Sach-fi
.•gilter.
665
Hermaphroditismus undZeu-
Kieferhöhlen b ehan dlung
Mandeloperationen, Be-
Nierenaffektion, Chirurgi-
sche Behandlung 583,
gungsunfähigkeit 330.
Herz, Hygiene 541.
536.
kämpfung der Blutung
Klistierverletzungen 44.
nach 379.
Nitroglyzerin 486.
Herzin8u1fizienz,Behand]ung
Kocb8alzgenoß,ödeme nach
Maretin 124, 265.
Nitropropioltabletten 164.
der 474.
übermäßigem 652.
Masern, Diazoreaktion 42.
Nordsee, Wetterverhältnisse
Herzperkussion 428.
HetoliDjektionen 55, 110,
Kodeinismus 384.
Massage als Heilmittel 491.
an der 66.
Kongreß für innere Medizin
Medizin, Grundriß der prak-
Novocain 582.
147, 163.
164.
tischen 541.
Obstipation, habituelle 646.
Hetralin 485.
Konstitution, Mangel in der
— , Jahresbericht überFort-
Ösophagoskopie 479.
Heafieber 645.
psychischen 210.
schritte der 543.
Ohrenheilkunde 597
— -Conjunctivitis 545.
Krankheiten innere 53.
Meningitis cerebrospinalis
Ohrensausen und Tuben-
Histosan 575.
— warmer L&nder 53.
492, 687.
katarrh 442.
Hochgebirgsaufenthalt för
Krebs, Allgemeines über 162.
— , Operationsregeln bei
Ohroperationen, Lokal-
Nervöse 531.
— , statistische Unter-
373.
anästhesie bei 325.
Hordeolum 168.
suchungen 590.
Merkursalze, intravenöse
Olivenöl bei Magenkrank-
Hornhautgeschwüre 109.
—, Wachstum 591.
Injektion 50.
heiten 376.
Hustenpastillen 600.
Kreosottherapie der Lungen-
Mesotan 539.
Oleum mercurioli 596.
Hydrocele, Adrenalin bei 56.
schwindsucht 40.
— -Ausschlaff 488.
Operationskurs, geburtshilf-
Hydrotherapie der Infek-
Kretinismus, Schilddrüsen-
Vaselin 388, 693.
licher 490.
tionskrankheiten 532.
behandlung 104.
Metaplasma 492.
Opferung des lebenden
— in der Geburtshilfe 477.
Kupfersulfatvergiftung 52.
Methylenhippursäure 7.
Kindes für die Mutter 650.
Hygiene, Grundzüge der 384.
^Laparotomie bei Bauchfell-
Methylenzitronensäure 49.
Ophthalmie der Neugebore-
— u. Rassenentartung 385.
tuberkulöse 533.
Micrococcus meningitidis
nen 437.
Hyperazidität 647.
Larynxstenose, diphtheri-
cerebrospinalis 367.
Opocerebrin b. Epilepsie 374.
Hyperhidrosis 658.
sche 518, 620, 657.
— rheumaticus 368.
Osmotisches Gleichgewicht
Icterus toxicos 269.
Larynxtuberkulose 329.
Milchanalyse 248.
127, 316, 423.
Impfung am Fuß 330.
Leber drainage 213.
Milcbkonservi* rung durch
Otosklerose 274.
Incontinentia nrinae 320.
Leberresektion 287.
Wasserstoffsuperoxyd
Otitis externa 218.
Infektion, Behandlung der
Lenicet 658.
536.
— media acuta 214.
puerperalen 652.
Lentin 366.
Milch, rohe oder gekochte?
Otologie, Grundriß 441.
Inhalationstherapie 320.
Lepra, Heilbarkeit 651.
694.
Ovarialschmerz 436.
Irrigationscystoskop 479.
— . Therapie 654.
Milzbrandserum 104.
0xyuri8 vermicularis 331,
Isoform 259, 261.
Leukämie, Ätiologie 264.
Mitin 268.
602.
IsophybObtttfmin 88.
— und Röntgenstrahlen
Mittelohr- Eiterung 267.
Pankreaserkrankungen 53.
Isopral 409, 374.
258, 644.
Entzündung, akut
Pankreon 465.
Isosafrolvergiftung 271 .
Liquor sanguinalis Krewel
eitrige 347.
Papaverinderivate, N-haltige
Jodapplikation , perkutane
76.
Räume, Eröffnung der
434.
199.
Lochialsekret, mikroskopi-
17, 79.
Paracentesefrage 481.
Jodbäder 198.
sche Untersuchung 326.
Lokalanästhesie 107.
Morphium als Heilmittel
Paraffin -Injektion 47, 48.
Jodoformin Fusion 533.
327.
— -Nasenplastik 48.
Jodpemphigii8 488.
Lumbalpunktion 429.
— bei Herzkranken 106.
Plastik, Amaurose
Jodpräparate,p erkutane 375.
Lungenkavernen, Ausheilung
— Entgiftung d. Kalium-
nach 481.
Ionenlehre und Therapie
40.
permanganat 593.
Parapbenylendiamin 488.
572.
Lungenschwindsucht, An-
Muskelkrampf 212.
Parasitologie und Hygiene
Jothion 375, 653.
sicht v. Behrings über 370.
Myrrhentinktur bei Diphthe-
277.
Ischias, Stryohnin bei 658.
— , Kreosottherapie 40.
rie 211.
Parisol 639.
Kaliumpermanganat als
Lungentuberkulose, Behand-
Myxödem, Schilddrüsenbe-
Paukenhöhlenentzündung
Morphiumantidot 157.
lung 243.
handlung 104.
268.
H&mo8taticum 658.
— , — nach Landerer 148.
Xarcyl 639.
Perhydrol 213.
Kalium sulfo - guajacolicum
— , Santonin bei 475.
Narkose- Arbeiten 418.
Perubalsam, Verwen düng 56.
372.
— und Nasenrachen-
— , physiologische 362.
Nase, Behandlung der
Petroleum als Heilmittel 150.
Kalomel bei Vitium cordis
erkranknngen 320.
Phenacetinvergiftung 157.
433.
Tetanie 533.
trockenen und verstopften
Phenolkampfer 546.
Kalomelol 262.
Lupus , Behandlung mit
Chinin-Jod 651.
36.
Phenosalyl 165.
Kampferöl bei Lungentuber-
kulose 265.
Natrium bisulfuricum 433.
Phosphorstoffwechsel 322.
— vulgaris, Behandlung
Nebennieren - Extrakt,
Phosphorverbindung in
Kapillarbronchitis 274.
481.
Wi'kuug 547, 622.
Traubenkernen 522.
— der Kinder 200.
Magenaffektionen, chirur-
— -Substanzen, örtliche
Phthisiker, antipyretische
Behandlung 372.
Karbolsäure, konzentrierte
gische Behandlung 585,
Analgesie mit 45.
658.
640.
— , Verschwinden aus. dem
Physiologie, Lehrbuch 330,
Karzinom bei Katze 264.
Magen- Darmkrankheiten
Blut 648.
598.
Kasein- Albumoseseife 215.
542.
Nephritis bei Scharlach 442.
— , Vorlesungen über 161.
Katarakt, Reifung 154.
Magenfunktion und physi-
—, Chirurgische Be-
Pikrinsäureanwendung 221.
Kefir, Gebrauch 71.
kalische Heilmethoden
handlung 47.
Pikrins&ureflecken 276.
— , Indikationen 322.
151.
Nephrorraphie 47.
Pleuritis, medikamentöse
Kehlkopf krankheiten. 271.
Mageninhalt, Veränderungen
Nervenmassage 227.
Behandlung 320.
Kehlkopfiuberkulo8e 358,
in vitro 580.
Neurasthenie der Arbeiter
Pneumonie 579.
372.
Magenkrankheiten, Olivenöl
592.
Polyarthritis rheumatica429.
— , Phenosalyl bei 165.
bei 376.
Ehefrauen 519.
Polyneuritis der Tuberku-
—, Schlingschmerz bei 163.
Magensekretion beim Kauen
Neurologische Praxis,
lösen 431.
Kellgrens mechanische Be-
151.
40jährige 53.
Preisaufgabe 388.
handlung 161.
Magen, Wirkung hydriati-
Neuronal 168, 433.
Primelkrankheit 383.
Keuchhustenanfalle 220.
so her Prozeduren auf 151.
Neuurotropin 49.
Primeln, hautreuende 386.
Keuchhustenbebandlung mit
Malariafieber 329.
Nierensuspension bei Er-
Propaganda, antituberkulöse
Aristochin 150.
Malariaprophylaxe 149.
brechen 379.
475.
666
Sach-Regiate*.
fTheraperatiaek
L Monatahefte.
Prostatahypertrophie 529.
Protosal 637.
Pseudoleukämie, Röntgen-
bestrahlung 258.
Psoriasisbehandlung 546,
656.
Puerperalfieber, Verhütung
535.
Pargenvergiftung 439.
Pyramidon 484.
Quecksilber-Dermatitis 382,
487.
Einspritzungen 269.
— -Sepsis 383.
Radiumkleid 318.
— , Wirkung auf tierisches
Gewebe 155.
Ranunculu8 ficaria 486.
Rapidtamponator 442.
Resorcinpaste , Vergiftun g
durch 540.
Rheumatisches Fieber 430.
Rhinitis atrophicans, geheilt
durch Erysipel 874.
Rinder, Immunisierung
gegen Tuberkulose 474.
Röntgenbehandlung der
Leukämie and Pseudo-
leakftmie 258.
— Kurse 546.
— Strahlen 878.
bei Leukämie 644.
, Dermatitis nach 165.
»Erfolge der 274.
, Hautveranderungen
nach 652.
, Hodenveranderun-
gen nach 155.
und Radiumstrahlen
155.
■ Tuberkulose 41.
, Wirkung auf den
Organismus 48.
— Technik, Grundzüge der
491.
Salizylanwendung, per-
kutane 593.
Salizylbehandlung, per-
kutane 437.
Salizyl, Nierenreizung dnrch
593.
Salzlösungen bei Rectum-
operationen 325.
Salzsaurebestimmung 492.
Sanoform 141, 378.
Santonin gegen Lungen-
tuberkulose 475.
— , N-haltige Derivate 475.
Säuglingsernährungl60, 594,
599.
— , natürliche, 648.
Säuglingsflasche 619.
Säuglingssterblichkeit 445.
Sauers Krankenbouillon 331.
Sau erst offtherapie 526.
Scharlach, Antistrepto-
kokkenserum bei 321.
— , Urotropin bei 322.
— und Scharlachserum
368.
Scheintod der Neugeborenen
54.
— , Fluorescin bei 381.
Schilddrüse, Verrichtung der
544.
Schnupfen, akuter 220.
Schömb erger dritter Jahres-
bericht 329.
Schreibangst 438.
Schreibkrampf 212.
Schuppenfleohte 656.
Schutzimpfung nach Pasteur
Schwefelalkalien, Vergiftung
durch 270.
Schwefelpräparate, orga-
nische 218.
Schweißfuß 388, 545.
Schwindsüchtige Generation
588.
Schwindsucht und Krebs
540.
Schwingungen, Gefahren der
827.
Scrophuloderma, Karbol-
säure bei 658.
Seeale cornutum 214.
Seekrankheit, Atropin bei
388.
Sepsis, Ung. Crede bei 877.
Septikämie und Collargol
376.
Serotherapie des Typhus 41.
Serumbehandlung des
Basedow 532.
Siccose 337.
Silberpräparate, Wirkung
auf die Harnröhre 156.
Sirupus Golae comp. Hell
150.
Sodbrennen 276.
Sorisin 372.
Spinalanalgesie im Kindes-
alter 477.
Spiritusverbände 648.
Spirochaete pallida 595.
Spirochaeten in inneren
Organen 654.
Sprachstörung 352, 414.
Staphylokokken- Vaccine bei
Akne 482.
Stillvermögen der Frauen
220, 648.
Stovain 207, 240.
— Hautgangrän nach 595.
Streptobazillen bei Ulcus
molle 368.
Strychnin bei Ischias 658.
Studienreise, ärztliche 164,
442.
Stypticin 92, 215.
Styptol 437.
Styrakol 611.
Sublimatvergiftung 388.
Succus Valerianae 44.
Symptomatologie, klin. 541.
Syphilis, Behandlung 276,
388, 650.
— , Inokulation auf Ferkel
50.
— , Vererbung 65.
Tabes, Ätiologie 111, 257.
— me8enterica 479.
— , Sehnenreflexe bei 479.
Taschenbuch für Ohrenärzte
491.
Tetanus, Gehirnemulsion-
einspritzung bei 265.
— , Serumeinspritzung bei
265.
Theobromin, diuretisohe
Wirkung 48.
Theooin 452.
Theocin natrio-aceticum
Theocinvergiftung 156.
Theophyllin 285.
— , Folgeerscheinungen
nach 483.
— , als Dinreticum 488.
Therapie, Lexikon der
physikalischen 490.
Thigenol 483.
Thiolan 537.
Thio8inamin bei Narben-
kontrakturen 650.
Tic con*ulsif 479.
Tonogen suprarenale 268.
Toxämie in der Schwanger-
schaft 477.
Trachominfektion 109.
Traggerüst für obere Ex-
tremität 539.
Trauma und Lungentuber-
kulose 319.
Triferrol 377.
Trigemin 484.
Trituration der Katarakt 154.
Tuberkulin 40, 492.
Tuberkulinbehandelter,
Ehen und Nachkommen-
schaft 533.
Tuberkulose, Anzeigerecht
146.
— , Behandlung im Hause
39.
— , Behandlung in Leysin
13, 493.
Bekämpfung 820.
— der Knochen und Ge-
lenke 378.
— des Kindesalters 320.
— , Eindringen und Be-
kämpfung 160.
— , experimentelle 370.
— , Heilbehandlung der
147.
— , Immunisierung mit
Schildkrotentuberkel-
bazillen 263.
— , Immunisierung von
Rindern gegen 263.
— , Krankenversorgung
146, 371.
— , Präventivbehandlung
371.
— und Heimstätten 871.
Röntgenstrahlen 41
— , Vererbung der Dis-
position 819.
Typhusbazillen, Anwendung
abgetöteter 1.
Typhus, Serotherapie des
Überanstrengung beim
Schreiben 154.
Überpflanzung von Kanin-
chenhaut 652.
Ulcus cruris 163.
— molle, Streptobazillen
bei 868.
— ventriculi 686, 647.
Unguentum Crede bei puer-
peraler Sepsis 377.
— sulfuratum mite 537.
Urologie 440, 543.
Uroskopie, diagnostische
Wert 215.
urotropin 49, 106.
— zur Verhütung von
Scharlachnephritis 107,
322, 485.
Uteruskarzinom, Drüsenaoi
— räum ung bei 325.
— , Mahnwort 325.
— , Radikaloperation 321
Valofin 601. I
Vaselin bei Blatternarbe
653.
Vaselin- oder Paraffin pro
these 154.
Vasenolformalin 388.
Veratron 593.
Verband, erster auf dei
Schlachtfelde 324.
Verbandlehre, Atlas der
386.
Verona! 37, 77.
Veronaiismus 439, 467.
Veronal, Zirkulationsstörtui
nach 157. 1
Vibrationsmassage 440.
Viferral 143.
Vitium cordis, Kalomel b<
433.
Volksbelehrung und Tuba
kulosebekämpfung 320.
Vulnoplast 310.
Warzenfortaatz, Eröffnun
des 480.
— , psychische Störung«
nach Operation am 49
— Tuberkulose des 479.
Wasserstoffsuperoxyd, El
lebnis mit 275.
— zur Milchkonservierui
586.
Weinpräparate, tonisiered
6.
Werden und Vergehen 66'
Willensschwäche, krank-
hafte 160.
Wismntbrandbinden , V«
giftung mit 381.
Wismutrergiftung 270.
Wöchnerinnenpflege 599.
Wuk, Ausscheidung tc
265.
Wund naht, sehmenlo&eYi
Würfelzucker bei Dia-
betikern 589.
Wurmfortsatz, Funktion d
48.
Wurstvergiftung 51.
Xeroformstreupulver 485
Zahnheilkunde 442.
Zahn und Knochen bilden*
Substanzen, Zufuhr t<
295.
Zellmast 27.
Zinoum sulfuricum oder
Silber präparate? 216.
Zinkperhydrol 58 L
— bei Brandwunden 63
Zuckerproben 175.
Zuckerklistiere 590.
Zungenkarzinom, Baku
lung 590.
Zungenspatel, selbst-;
leuchtender 168.
Für die Redaktion rerantwortlich: Dr. A.Langgaardin Berlin SW.
Verlag ron Julius Springer in Berlin N. — UnirerBitäts-Buchdruckerei von Gustav Schade (Otto Francke) in Berlin X.
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