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Full text of "Thomas Carlyle's ausgewählteschriften"

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E. DORSCH, M.D. | 
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. THE DORSCH LIBRARY. 





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The private Library of Edward Dorsch, M. D., of 
Monroe, Michigan, presented to the University of Michi- 
gan by his widow, May, 1888, in accordance with a wish 

| expressed by him. 


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Thomas Carlyle's 


ausgewählte Schriften. 


Dritter Band. 


Thomas Carinles) _ 
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ausgewählte Schriften. 


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Deutſch. 


A. Kreßſchmar. 


Dritter Band. 


Sean Paul Sriedrich michter. — Boswells Lebensgeſchichte Johnſon's. — Sir Walter 
Scott. — neber Geſchichte. 


Leipzig 
Verlag von Otto Wigand. 
1855. 





Jean Paul Sriedrich Richter *). 
Erſter Artikel. 
(1827.) 


Als Dr. Johnſon zuerfi von Boswell's Abſicht hörte, feine Lebens⸗ 
gefehichte zu ſchreiben, erklärte er mit ziemlicher Entſchiedenheit, er werde, 
wenn er glaubte, daß Boswell wirklich gefonnen fei, fein Leben zu ſchil⸗ 
dern, dies dadurch verhindern, daß er Boswell das feine naͤhme! 

Daß große Autoren fi wirklich einer ſolchen Borbeugungsmaßregel 
gegen ſchlechte Biographen bedienen follen, möchten wir freilich keineswegs 
gutheißen, gleihwohl aber-ift ed wahr, daß, fo reich wir auch an Biogras 
phien find, Doch eine gutgefchriebene Lebensgefchichte faft eben fo felten if, 
als ein gut angewendetes Leben, und es giebt ficherlich weit mer Menichen, 
deren Geſchichte gefchrieben zu werben verdient, ald Leute, welde geneigt 
und fähig wären, fie zu ſchreiben. | 

Ueber große Männer aber muß, wie über die alten ägyptiſchen Könige, 
ein Todtengericht gehalten werden, ehe man fie einbaljamiren Tann, und 
was find auch in der That jene „ Skizzen“, „Anas“, „Gelpräde*, „ Stine 
men“ u. bergl. anderes ala die Erklärungen und Reden eben fo vieler 
fhlecht unterrichteter Adoocaten, Geſchworenen und Michter, aus deren Wi⸗ 
derſprüchen am Ende ein richtiger Wahrfpruch hervorgehen ſoll? 

Zum Unglüd find ſchwache Augen gerade die, welche glänzende Gegen⸗ 
fände am meiflen Lieben und nicht ſobald fcheidet ein großer Mann und 
läßt feinen Charakter als öffentliches Eigenthum zurüd, fo flürzt auch for 

9 Jean Paul Friedrich Richter's Leben, nebft Eharakteriftif feiner Werke, von 
Heinrich Döring. Gotha, Henninge, 1826. 
Carlyle. III. 1 


2 


gleich ein Schwarm Fleiner Menfchen darauf zu. Hier verfammeln fie ſich, 
blinzeln mit der Sehkraft, die ihnen eben befchieden, daran hinauf, fpähen 
von fern und flattern bald von diefer, bald von jener Seite daran vorbei, 
während jeder ſich ſchlau und mit aller Kunft bemüht, einen Refler in fei- 
nem Fleinen Spiegel aufzufangen, obſchon fehr oft diefer Spiegel durch Ver⸗ 
tiefungen oder Erhabenheiten fo verzerrt und obendrein fo außerordentlich 
gering von Umfang tft, daß keine Rede davon fein Tann, ein wahres Bild 
oder überhaupt ein Bild darin zu fehen. 

Michter war weit gutmüthiger ald Iohnfon und nahm viele ärgerliche 
Dinge mit dem Geifte eines Humoriften und PHilofophen hin; auch können 
wir nicht glauben, daß ein fo guter Menſch, felbft wenn er dieſes Werk 
Döring’s voraudgefehen hätte, fo weit gegangen wäre, ihn deöwegen zu er⸗ 
morden. 

Döring ift ein Mann, den wir jchon jeit mehrern Jahren als Compi⸗ 
Iator, Ueberfeger und Dichterling Tennen, defien Hauptunternehmen aber 
feine „Salerie Weimariſcher Autoren * ift, eine Reihe feltfamer Tleiner Bio⸗ 
graphien, welche mit Schiller anfangen und ſich ſchon über Wieland und Her⸗ 
ber erfiredlen, jet auch, wahricheinlich mit dem Rechte der Eroberung, Klop⸗ 
Rod, und zulegt, kraft eines gewiflen droit d’aubaine, Jean Paul Friedrich 
Richter umfaflen, obſchon Feiner diefer Heiden Iehtern Weimar angehörte. 

Schriftfteller, dad muß man zugeben, find glücklicher daran, als der 
alte Maler mit jeinen Hähnen, denn fle fchreiben ganz ungenirt und ohne 
Furcht fi Tächerlich zu machen, den Namen ihres Werks auf das Titelblatt 
und von nun an ift der Zwed und die Tendenz eines jeden Bandes unbe» 
flreitbar. Döring kommt dieſes Privilegium zuweilen fehr zu flatten, außer⸗ 
dem möchte feine Zufammenftellungöwelfe, da fie gar fo eigenthümlich ift, 
bann und wann Schwierigfeiten verurfachen. 

Biographien find nad Döring’ Methode eine fehr einfache Sache. 
Buerft erſieht man aus dem Leipziger Converfationglerifoh oder aus Jör⸗ 
den's Lexikon deutfcher Dichter und Profaiften oder Flögel oder Koch, oder 
irgend einem andern dergleichen Eompendium oder Handbuch das Datum 
und den Ort der Geburt des betreffenden Individuums, feine Herkunft, ſei⸗ 
nen Erwerbözweig, feine fonftigen Verhältniſſe und die Titel feiner Werke; 
den Tag jeined Todes weiß man ſchon aus der Zeitung, und dies zuſammen⸗ 
genommen bildet Die Grundlage des Gebäudes, Dann geht man feine 
Schriften und alle anderen Schriften durch, in welchen von ihm und feinem 


3 


Wirken gefprochen wird und überall, wo man eine Stelle findet, in ber fein 
Name vorkommt, fchneidet man diefe heraus und Iegt fle auf die Seite. 
Auf diefe Weife wird eine Maffe Material zufammengebradht und dad Bauen 
Tann dann lo@gehen. Gin Stein wird auf den andern gelegt, gerade wie 
er in die Hände fallt; bier und da wirft man ein paar Kellen biograpbifchen 
Mörtel ald Kitt dazwiſchen und fo fleigt das feltfamfte Gebäude plötzlich in 
die Höhe. Geſtaltlos ragt e8 nad) allen Richtungen bin, nur nicht nach dem 
Himmel empor. Hier liegt ein Granitblod, dort eine Mafje Pfeifenthon 
und wenn dad Material alle ift, fo hört der Bau auf und bleibt als ein 
architektoniſches Raͤthſel für die Nachwelt ftehen. 

Diefe Art und Weife, eine Lebensgejchichte zu fchreiben, hat aber auch, 
ohne Bild gefprochen, ihre Schattenfeiten. Erſtens kann die Compoſition 
nicht wohl das fein, was die Kritiker harmoniſch nennen, und allerdingd find 
auch Herrn Doͤring's Uebergänge oft ziemlich ſchroff. Der Held wedielt 
feinen Gegenftand und feine Befchäftigung auf die unerflärlichfte Weiſe von 
Seite zu Seite, ja oft von Sag zu Sap. Eine Vergnügungdreife und eine 
fünfzehnjährige Krankheit werben mit gleicher Kürze abgemacht. In einem 
Augenblick findet man ihn verheirathet und auch ſchon als Vater von drei 
hübſchen Kindern. Nicht weniger plöglih flirbt er. Er fludirt wie ge- 
woͤhnlich, ſchreibt und dichte, empfängt Beſuche, iſt voll Lehen und Thätig« 
Zeit, bis plöglih ein Paragraph fih wie eine der Fallthüren in Mirza’s 
Traum unter ihm öffnet und er ohne Weiteres in dad Meich der Schatten 
hinadflürzt. Allerdings vielleiht nicht auf immer, denn wir haben Bei⸗ 
fpiele, daß er nach feinem Tode wieder auffteht und feine Angelegenheiten 
ordnet. In frühern Zeiten war der Menſch tobt, wenn das Gehirn einmal 
heraus war, Döring aber weiß das anders einzurichten. 

Trogdem aber begen wir feinen Groll gegen ben armen Döring; im 
Gegentheile Faufen wir feine Waare regelmäßig und es macht und wahrhaf- 
te8 Vergnügen, zu feben, daß feine Laune fich feitdem wir ihn zuerft fennen 
Iernten, fo fehr gebeflert Hat. Im der „Lebensgeſchichte Schiller’ 8 * ſchien 
fein Zuftand ein ziemlih unerquidlicher zu fein und er zeigte eine ſchüch⸗ 
terne, unterwürfige und niebergefchlagene Miene, ald ob er wie Sterne's 
Eſel fagen wollte: „Prügelt mi nit; — wenn Ihr aber einmal wollt, 
fo thut es!“ Jetzt jedoch durch bedeutenden Abſatz und Lob von diefem und 
jenem Literaturblatt, welches feinen Wleiß, feine Treue und feltfamerweife 
auch feine Methode gerühmt Hat, ermuthigt, fehreitet er aufrecht und mit 

1 v 


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feftem Hufe einher und fehlägt ſogar verächtlich gegen Die au, welde ihn 
beleidigen wollen. GLüd auf den Weg! ik das Schlimmfle, was wir ihm 
wänfchen. 

Diefe vorläufigen Bemerkungen mögen uns entfchuldigen, wenn wir 
über fein „Richter'd Leben“ nur wenig fagen. Er prahlt in feiner Bow 
rede, daß alles wahr und ädht jel, denn Richter's Wittwe hatte, wie ſich er⸗ 
giebt, durch eine öffentliche Ankündigung die Welt gewarnt, weil eine andere 
Biographie theild von tem Berühmten Todten ſelbſt, theils von Otte, ſei⸗ 
nem Alteften Freunde und Beauftragten Herausgeber fetner Werke, ſchon in 
Borbereitung war. Died reizt Döring zur Entrüflung und er behauptet 
ftandhaft, daß, weil feine Documente durchgängig autbentifch feien, dieſe 
Biographie Feine Pſeudobiographie fet. 

Mit noch größerer Wahrheit hätte er behaupten können, daß «8 gar 
Feine Biographie fei. Wohl weiß er eben fo gut wie Hennings in Gotha, 
dag dieſes Machwerk von Bruchſtücken und Fetzen blos des Verkaufs wegen 
zufammengeflidit worden iſt. Mit Ausnahme einiger Briefe an Kunz, den 
Buchhändler in Bamberg, welche fich Hauptfächlich um den Ankauf von Bril« 
len und die Beforgung und Befrachtung zweier Käftchen drehen, die zwifchen 
Richter und Kunz’ Lefeinftitut Hin und her zu geben pflegten, nebfl brei 
oder vier Briefen von ähnlicher Wichtigkeit und größtentheild an andere 
Buchhandler, finden wir hier Feine biographifchen Documente, die nicht für 
Europa eben fo offen dDagelegen hätten, wie für Heinrich Döring. In der 
That befteht faft die eine Hälfte der eigentlichen Lebensgeſchichte aus einer 
Beſchreibung des Leichenbegängniffes, und was dazu gehört, wie bie fechzig 
Badeln „nebft einer Anzahl von Laternen und Bechpfannen * geordnet wa⸗ 
ten; wie biefer oder jener Patrizier oder Profeflor den Trauerwagen durch 
die Friedrichſtraße, Kamzleiftraße und andere Straßen von Baireuth begleis 
teten und wie endlich die Fackeln alle ausgehen, während Dr. Gabler und 
Dr. Spazier bonibaftifche Reden am Grabe halten. Dann wurden, wie wir 
fehen, noch in andern Theilen Deutfchlands Verfammlungen zur Feier von 
Richters Andenken abgehalten. Unter andern eine in dem Mufeum zu 
Frankfurt am Main, wo ein Dr. Börne wieder eine Tange Rebe und zwar 
womdgli in noch bombaſtiſcherem Zone hält. Dann kommen Thränodien 
von allen vier Winden, größtentHeils in fehr hinkenden Verfen. Und alles 
dies wird hier der wohlwollenden Vergefienheit der Zeitungen entriffen und 
lebt auf diefe Weife einen Tag Länger. 





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Wir achten Richter's Name viel zu bad, als daß es uns einfallen 
Tönnte, über diefe unglüdlichen Ihränobifer und Panegyriker zu lachen, 
son welchen einige Alles, was wir Engländer im epicediſchen Style aufzu⸗ 
weifen haben, weit übertreffen. Sie bezeugen vielmehr, wenn auch auf un⸗ 
geichichte Weife, dag die Deutſchen ihren Verluft gefühlt haben, der aud in 
der That einer für ganz Europa if. Sie flößen und fogar ein gewiſſes 
Gefühl von Wehmuth ein, wenn wir bedenken, wie eine himmliſche Stimme 
verſtummen mußte und nun an ihrer Stelle nichts zu hören iſt, als das 
Geheul durch und durch irdiſcher Stinumen, welche Elagen ober thun, als 06 
fie Hagten. Bern fei von und alle Erinnerung an Döring und Compagnie, 
während wir von Richter fprechen. Seine eigenen Werke jedoch geftatten 
und einige Einblide in fein eigenthümliches und edles Welen und unfere 
Leſer werben einige Worte über diefen Mann, ſicherlich einen der merfwür- 
digſten feiner Zeit, nicht überfläffig finden. 


Sean Paul Briedrih Richter iR, audgenommen dem Namen nad, 
außerhalb Deutjchlaud wenig befannt. Das Einzige, was in Bezug auf 
ihn nad England gebrungen, if, glauben wir, fein von Frau von Stasl 
importirter und von den meiften SIournalkritifern dankbar eingeftedier 
Ausſpruch: „Die Vorfehung hat den Branzofen die Serrichaft über das 
Land gegeben, den Engländern über das Meer, den Deutichen über die — 
Luft! * 

Dieſes letztere Element fcheint allerdings das zu fein, in welchem jein 
eigener Genius heimiſch war, jo phantaftifch bunt, weitgreifend und in jeder 
Beziehung außerordentlich ift feine Schreibweile. Ihn treu zu überfegen 
iſt faft unmöglich, ja es iſt ſogar wenigftens der Anfang eines Wörterbuch 
zu feinen Werfen für den Gebrauch deutſcher Lefer erfchienen! 

Diefe Umftände Haben jeinen Wirkungskreis auf fein eigenes Vater⸗ 
Band beſchraͤnkt und werden ihn vielleicht noch lange darauf befchränfen. 
Dafür ift er aber auch Hier ein Liebling erfter Klafle, der trog aller feiner 
Subtilitaͤten und Sonderbarkeiten mit aufrichtiger Bewunderung und einer 
Liebe ſtudirt wird, welche vieles duldet. Während der legten vierzig Jahre 
Bat er in verſchiedenen Geſtalten fortwährenn nor dem Publikum geftanden 
und if in der Achtung aller Kritiker immer höher gefliegen, bis endlich 


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feine Widerfacher entweder zum Schweigen gebracht ober überzeugt worden 
find, und Jean Baul, den man anfangs für Halb wahnftnnig hielt, bat fhon 
lang feine Eigenthümlichkeiten zu beinahe allgemeiner Bufriedenheit vin« 
dieirt und verbindet jetzt Popularität mit wirklicher Tiefe der Begabung in 
vielleiht höherem Grabe als irgend ein anderer Schriftfteller, denn in dem 
letztern Punkte fteht er kaum mehr ald einem feiner Beitgenoften nad, in 
dem erftern aber Teinem. 

Die Biographie eines jo ausgezeichneten Mannes kann nicht anders 
als höchſt intereſſant ſein, beſonders feine Selbſtbiographie, welche wir dem⸗ 
gemäß erwarten und fpäter vielleicht unſern Leſern vorführen werden. Mitt⸗ 
lerweile kann die Gefchichte feines Lebens, fo weit äußere Ereignifle fle charak⸗ 
terifiren, in kurzen Worten mitgetheilt werden. 

Er war geboren zu Wunftedel in Baireuth im März; 1763. Sein 
Pater war untergeordnneter Lehrer an dem dortigen Gymnafium und ward 
ſpyter als Prediger nah Schwarzenbach an der Saale verfegt. Hichter’s 
frühefte Erziehung war von der bürftigften Art, aber feine herrlichen Fähig⸗ 
feiten und jein unermübdeter Fleiß ergänzten jeden Mangel, Da er nit 
die Mittel hatte, um Bücher zu Faufen, fo lieh er, was er bekommen Eonnte 
und ſchrieb aus ihnen oft einen großen Theil bes Inhalts ab, — eine Ge⸗ 
wohnheit des Ercerpirend, die er während ſeines ganzen Lebens beibehielt 
und welche in mehr ald einer Beziehung auf feine Art und Weile zu ſchrei⸗ 
ben und zu flubiren Einfluß äußerte. Bis zum legten Augenblid war er 
ein unerfättlicher und univerjeller Leſer, jo daß feine Exrcerpte fih anhäufs 
ten, bis fie „ganze Kiften * füllten. 

Im Jahre 1780 ging er auf die Univerfität Leipzig und zwar, troß 
der Hinderniffe, mit welchen er zu Fämpfen gehabt, mit den beften Zeug« 
niffen feiner Talente und Kenntniflen verfehen. Chen fo wie fein Bater 
war er zum Theologen beftimmt; bald aber vertiefte fich fein unruhiger 
Genius in die Poeſte und PHilofophie, fo daß er feine eigentliche Beſtim⸗ 
mung darüber vernachläfftgte und endlich ganz aufgab. Da er nicht recht 
wußte, wad er nun anfangen follte, jo nahm er eine Hauslehrerftelle in 
einer vornehmen Familie an, unterrichtete fpäter Schüler in feiner eigenen 
Wohnung, wechfelte aber damit wie mit feiner Lebensweiſe fehr oft, denn 
er war mittlerweile ein Autor geworden und Tieg während jeiner Wande⸗ 
rungen in Deutfchland bald hier, bald da die feltfamften Bücher unter den 
feltfamften Titeln erfcheinen, 3. B. „Groͤnlaͤndiſche Prozefle*, „Biogra« 


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phifche Beluftigungen unter ber Gehirnſchale einer Rieſin“, „Auswahl aus 
des Teufel Papieren * und dergleichen. 


In diefen unbefchreiblichen Leiftungen konnten die glänzenden Fähig⸗ 
keiten des Verfaſſers, in fo tollem Gewühl fie auch ſchwelgten, nicht fireitig 
gemacht werben, eben fo wenig wie bei all feiner Ertravaganz die Urfraft, 
Nedlichkeit und Zartheit feiner Natur. Das Genie fühnt die Menfchen 
mit Vielem aus. Allmälig begann man Jean Paul nit mehr als ein 
ſeltſames Hirnverbrannted Gemiſch von Schwärmer und Narr zu betrachten, 
fondern ald einen Mann von unendlih viel Humor, Empfindfamkeit, Kraft 
und Scarffinn. 


Seine Schriften erwarben ihm Breunte und Ruhm und endlich aud 
ein Weib und ein fefles Einkommen. Mit Karoline Mayer und einer Pen«- 
fon, die ihm durch den Fürſten Primas, den edlen Dalberg, ausgewirkt und 
fpäter vom König von Baiern ausgezahlt ward, ließ er fi in Baireuth, der 
Hauptſtadt feiner heimathlichen Provinz nieder, wo er von nun an fleißig 
und berühmt in vielen neuen Fächern der Literatur lebte und wirkte und, 
geliebt ſowohl als bewundert von allen feinen Zandeleuten, am meiften aber 
von denen, die ihm am genaueften gekannt hatten, am 14. November 
1825 flarb. 


Ein großer, flarfer, unregelmäßiger Mann, fowobl an Geiſt ale an 
Körper — denn fein Portrait ift ein förmliches phyflognomifches Studium 
— voll Feuer, Kraft und Ungeftüm, fcheint Richter gleichzeitig Im böchften 
Grade fanft, gutmütbig und menjchenfreundlich gewefen zu fein. Er liebte 
die Unterhaltung und war wohl geeignet, darin zu glänzen. Gr ſprach wie 
ex fchrieb, in einem ihm eigenthümlidhen Styl, voll wilder Kraft und Reize, 
welcher durch feinen angebornen Batreuther Accent oft einen um fo größern 
Eindruck madıte. 


Ind dennoch Tiebte er die Zurückgezogenheit, das Land und alles Na⸗ 
türliche. Bon feiner Jugend an hatte er, wie er un ſelbſt erzählt, faft nur 
im Freien gelebt; in Hainen und auf Wieſen fludirte, ja ſchrieb er oft. 
Selbſt in den Straßen von Baireuth, hat man und erzählt, fah man ihn 
felten ohne eine Blume an der Brufl. Ein Wann von ruhigen, ftillen Ge⸗ 
ſchmackſsrichtungen war er und von warmer leidenfchaftlicher Zuneigung. 
Selne Freunde muß er geliebt haben, wie wenige Menfchen ihre Freunde 
lieben. 


Bon feiner armen beſcheidenen Mutter fpricht ex oft Hindeutungswetie 
und niemals ohne Verehrung und überwallende Zärtlichkeit. „LUnglüdli 
iſt der, * fagte er, „welchem feine eigene Mutter nicht alle anderen Mütter 
ebrwärdig gemacht hat!“ Und an einer andern Stelle: „O bu, ber bu 
noch einen Vater oder eine Mutter haft, danke Bott dafür an bem Tage, 
wo beine Seele voll Freudenthränen ift und eine Bruft bedarf, an ber fe 
fie vergießen kann. ” 

Wir heben die folgende Stelle aus Döring's Buche aus, faft das ein- 
zige Merkwürdige, was es enthält: 

„Richter's Studier- oder Wohnftube bot damals (1793) ein wahres 
und fchönes Bild feines einfachen und edlen Sinnes dar, der das Hohe und 
Niebere zugleich umfaßte. Während feine Mutter, die Damals bei ihm war, 
fi der Wirthichaft thätig annahm und am Ofen und auf Bänfen fi da- 
mit beichäftigte, faß Jean Paul in einer Ede deſſelben Zimmers an einem 
einfachen Schreibtifche von wenig oder gar feinen Büchern umgeben, doch 
mit einigen Regalen, welde Excerpte und Manuferipte enthielten. Das 
Geraufch der wirtbichaftlichen Vorkehrungen fchien ihn eben jo wenig zu flö- 
sen, als dad Girren der Tauben, welche in der übrigens ziemlich geräumigen 
Stube umberflatterten. * 

linfer ehrwürdiger Hoofer vernahm, wie wir und entfinnen, auch gern 
während er fchrieb, „das Geräuſch der wirtbfchaftlichen Vorkehrungen * und 
das noch zweifelhaftere Geräuſch ſchwatzhafter Zungen obendrein; aber bie 
gute, betriebfane Mutter und die girrenden Tauben fehlten. Richter lebte 
fpäter in ſchöneren Wohnungen und in Gefellihaft vornehmer und gelehrter 
Leute, aber die fanften Empfindungen jener Tage blieben ihm treu und fein 
ganzes Leben bindurd war er derfelbe Fernige, entidyloffene und doch ſchüch⸗ 
terne und duldfame Menſch. Es ift. felten, daß fo viel rauhe Energie auf 
fo wohlthuende Weile gemildert werden kann, daß ein fo hoher Brad von 
Heftigkeit und Weichheit ſich neben einander finden. 

Die erwartete Ausgabe von Richter's Werfen foll fechzig Bände um⸗ 
faflen, teren Inhalt ein nicht weniger bunter als umfangreicher {fl und fi 
über Begenftände aller Art verbreitet, von den hödften Problemen ber 
tranfcendentalen Philofophie und den Teidenfchaftlichften poetiſchen Schilde⸗ 
sungen an bis herab zu „Goldenen Regeln für Wetterpropheten * und Un⸗ 
terwelfungen in der „Kunft, einzufchlafen. * Seine vorzügliäften Werte 
find Erzählungen: „Die unfihtbare Loge *, „die Flegeljahre“, „Leben des 


EN 


9 


Quintus Firlein”, „der Iubelfenior *, „ bie Reife des Belpprebigerd Schmelze 
nach Flaͤ“, „ Doctor Katenberger's Babereije*, „Fibel's Leben“, nebfl vie⸗ 
len Pleineren Sachen und zwei Werken höherer Gattung, Hesperus“ und 
„Titan“, den größten und beſten feiner Erzählungen. 

Die erftere diefer beiden letztern erwarb ihm zuerft (1795) entſchie⸗ 
dene und allgemeine Achtung bei feinen Landsleuten; bie letztere betrachtete 
er felbft — und die urtheilsfähigften feiner Krititer Rimmten barin mit 
ihm überein — als fein Meifterwert. Der Name Momanſchreiber aber, 
was wir in England darunter verftehen, würde einen fo umfaflenden und 
gielfeitigen Genius durchaus nicht richtig bezeichnen, denn bei all jeinen 
groteöfen, wild durcheinander fpringenden Wigworten ift Richter ein Mann 
von wahrhaft ernftem, ja hohem und feierlichen Charakter und fchreibt ſel⸗ 
ten ohne einen tieferliegenden Sinn, der weit über die Sphäre gewöhnlicher 
Romanfchreider hinausgeht. „Hesperus“ und „Titan“ felbft Haben, ob» 
ſchon fie ter Form nach weiter nichts find, als Romane aud dem wirklichen 
Leben, wie die ‚Minerva Press‘ jagt, maſſives Metall genug in ſich, um 
ganze Leihbibliothefen damit zu verjorgen, wenn man es zu dem gewöhn«- 
lichen Silagran aushämmern wollte, und Vieles, was, wir möchten es ver⸗ 
bünnen, wie wir wollten, fein Abonnent im Stande wäre, fortzutragen. 

Unterhaltung ift oft, zum Theil faft immer, für Richter nur ein Mit⸗ 
tel, felten aber oder niemals fein höchſtes Biel. Seine Gedanken, feine Ges 
fühle, die Schöpfungen ſeines Geiſtes gehen in wunderbaren Geftalten, in 
bunten, ſich flet3 verändernden Gruppen vor und umher; fein wefentlicher 
Charakter aber, wie er ihn auch verhehlen möge, ift der eines Philofophen 
und Moraldichter, deſſen Studium die menfchliche Natur geweſen ift und 
deffen Freude und befted Streben Allem angehört, was in dem Loos oder 
der Geſchichte des Menſchen ſchön, zärtlih und geheimnißvoll erha- 
ben iſt. " 

Dies iſt die Tendenz feiner Schriften, möge ihre Form die der Dich⸗ 
tung oder die der Wahrheit fein; Died iſt der Geiſt, welcher feine Schilde 
rungen tes alltäglichen Lebens, feine wilden, wunderlichen Träume, Allego- 
rien und dunklen Phantaflegebilde nicht weniger durchdringt und verebelt, 
als feine Abhandlungen von unmittelbar wifienfchaftlicher Gattung. 

Aber auch in diefem Iegtern Fache hat Richter viel geleiftet. Seine 
„Borfgule der Aeſthetik“ if ein Werk über poetifche Kunft, baflrt auf 
Prinzipien von nicht gewöhnlicher Tiefe, reich an edlen Anfhauungen und, 


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trog feine® überfprudelnden Witzes, an geſunder und erhabener Kritik, bie 
ſelbſt in Deutſchland Anerkennung fand, wo bie Kritik ſchon fo lange als 
eine Wiſſenſchaft betrachtet und von Männern, wie Windelmann, Kant, 
Herder und die Schlegel’8 gehandhabt worden if. Von diefem Werke könn⸗ 
ten wir lange fpredjen, wenn die und geflediten Grenzen es erlaubten. Wir 
fürchten, e8 würde manchen ehrlichen Gollegen von uns, wenn er es läfe, in 
Erflaunen feßen und, wenn er es zufällig verflünde, feine gereifteften Anſich⸗ 
ten vollländig verwirren und über den Haufen werfen. 

Nichter hat auch ein Werk über die Erziehung unter dem Titel „Les 
vana“ gefchrieben, welches fih dur praktiichen Scharfblick ſowohl ale 
durd hoben Sinn und eine gewifle nüchterne Gedankenpracht auszeichnet, 
während das Ganze in jenem eigenthümlichen Style dargeboten wird, wels 
her diefen Autor charakteriſirt. Deutichland ift reich an Werken über Er- 
ziehung, gegenwärtig reicher als irgend ein anderes Land, denn nur bier 
hört man nod ein Echo der von Diefer hochwichtigen Angelegenheit fprechen« 
den Lockes und Miltond und zwar in der Sprache der Ießtzeit, mit Einficht 
-in die wirflichen Bebürfniffe, Vorzüge, Gefahren und Ausſichten. Unter 
den Schriftftellern über diefen Gegenfland nimmt Richter einen hohen Rang 
ein und, wenn wir hauptfächlic auf Tendenz und Zweck fehen, vielleicht den ‘ 
höchſten. 

Die Clavis Fichtiana iſt ein und nur vom Hörenfagen bekanntes ſcherz⸗ 
haftes Geiſtesprodukt; doch Toll Nichter das Verdienſt befigen, Fichte, wäh. - 
end er über ihn lacht, auch zu verſtehen, ein Verdienſt, welches nicht alle 
Kritiker Fichte's befigen. 


So kennen wir auch, wie wir zu unferm Leidwefen geftehen müflen, 
ebenfalld nur vom Hörenfagen das „Gampaner Thal“, eigentlih eine Ab⸗ 
handlung über die Unfterblicykeit der Seele, ein Lieblingsthema Richter's 
oder vielmehr das Leben feiner ganzen Philofophie, welches faft in jeder 
feiner Schriften durchblickt. 


Er flarb, während er troß faft gänzliher Erblindung mit weiterer 
Ausführung und Umgeftaltung dieſes Campaner Thals beichäftigt war; das 
unbeendete Manufcript Iag bei feinem Begräbniffe oben auf dem Sarge und 
Klopſtocks Hymne „Auferfteh'n, ja auferſteh'n wirft du” kann felten mit 
pafienderer Anwendung gefungen worden fein, als an dem Grabe Jean 
Paul's. 


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Auch der gleichgültigfte oder eingenommenfte Lefer kamn diefe Werke 
nicht Iefen, ohne den Eintrud zu gewinnen, daß er es hier mit etwas Herr⸗ 
lichem, Wunderbarem und Kühnem zu tbun habe. Sie wollen aber nicht 
blos gelefen, fondern auch ſtudirt fein und zwar mit nicht gemöhnlidyer Ge⸗ 
duld, wenn der Xefer, beſonders der ausländifche Leer, ihre Wahrheit, oder 
auch ihren Mangel an Wahrheit richtig verfiehen will. Wollte man ihn 
nad biefem oder jenem als gültig anerfannten Maßſtabe beurtheilen, jo 
würde man fehr bald mit Ihm fertig werden. Man würde ihn für einen 
Myſtiker, einen deutfchen Träumer, einen voreiligen und anmaßenden Neue- 
rer erklären und fomit ganz gleichgültig, ja vielleicht mit einem gewiſſen 
Jubel in die Numpelfammer werfen, wo alle dergleichen Alfanzereien und 
Windbeuteleien hin gehören. 

Die Originalität ift eine Sache, die wir fortwährend ftürmifch verlan⸗ 
gen und dennod fortwährend anfeinden, als ob, wie unfer Autor felbft be- 
merft, von irgend einer andern Originalität als der unferen erwartet wer« 
den fönne, daß fle uns befrietigen werde! In der That find alle feltfamen 
Dinge ohne ihre Schuld geeignet, und auf den erflen Anblick zu befremden, 
und unglüclicherroeife ift kaum etwas vollfommen klar, was nicht auch voll« 
fommen gewöhnlich if. Die landesüblihe Münze gebt durch alle Hände 
und wird, fei fie Gold oder Silber oder Kupfer, genommen, weil ihr Werth 
befannt iſt; mit ausländifhen Barren dagegen und Medaillen von Eorinthi« 
fhem Erz iſt der Fall ein ganz anderer. 

Es giebt wenig Schriftfteller, bei welchen befonnene Ueberlegung und 
forgfältiges Mißtranen gegen den erflen Eindrud nothwendiger wären als 
bei Richter. Schon auf den erften oberflächlichen Blick erkennt man in ihm 
eine ungewöhnliche Erſcheinung. Seine Eigenthümlichkeit iſt eine unver⸗ 
bohlene und entichloffene, feine Sprache felbft ift ein Stein des Anflopes 
für den Kritifer; für Kritifer von der grammatifhen Art ein unverzeihe 
licher, oft unüberfteiglicher Beld des Anſtoßes. Nicht al8 ob er von Gram⸗ 
matik oder Orthographie nicht® verftünde, wohl aber bewegt er fidh in dieſer 
Beziehung mit großer Ungenirtheit, handhabt Parenthefen, Gedanfenftriche 
und eingeſchobene Säße mit erſtaunlicher Kiberalität, erfindet hunderte von 
neuen Worten, oder kettet und feſſelt fie durch Bindeſtriche zur widerftre- 
bendften Bereinigung, Eurz, er producirt Säge von ganz heterogener, unge⸗ 
lenker und unendlicher Art. Seine Bilder find unzählig, ja das Ganze ift 
ein einzige® Gewebe von Metaphern, Gleichniſſen und Anfpielungen auf alle 


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Heiche der Erde, des Reeres und der Luft, geſpickt mit epigrammntijchen 
Flosfeln, heftigen Ausbrüchen oder ſardoniſchen Wendungen, Interjectionen, 
Witzworten, Wortfpielen und fogar Blüden! Gin fürmliches indiſches 
ODſchungel ſcheint ein ſolches Werk zu fein; ein grenzenlofeß, beifpiellofes 
Chaos; auf allen Seiten nichts «ld Naht, Mißflang und Berwirrung | 

Dabei fitmmt der Styl des Ganzen in Bezug auf Verworrenheit und 
Grtravaganz mit dem ber Theile vollfommen überein. Jedes Werk, ſei es nun 
ein Phantaflegebild oder eine ernftgafte Abhandlung iR in irgend ein phan⸗ 
taftifches Gewand gehüllt, während irgend eine tolle Geſchichte dad Dafein 
deſſelben rechtfertigt und mit dem Autor in Berbindeng bringt, der ger 
wöhnlih, ehe noch alles vorüber iR, eine Perfon in dem Drama felöft 
wird. 

Uebrigens lernen wir in feinen Erzählungen eine ganz neue Beogra- 
phie von Europa fennen, fo 3. B. die Städte und Fürſtenthümer Flachſen⸗ 
fingen, Haarhaar, Scheerau u. |. w. mit ihren Fürften, Geheimräthen und 
Durdlauchten, von welchen bie meiften, in jeder Beziehung ziemlich fonders 
bare Käuze, mit Richter perfönlich bekannt find, mit ihm — nod dazu in 
dem reinften Tory⸗Dialekte — über Staatsangelegenheiten ſprechen und 
ihn oft auffordern, in feiner Arbeit fortzufahren. In jeder Geſchichte kom⸗ 
men die ungeheuerlichſten Abfchweifungen vor und eine unabiehbare Schleppe 
fhlängelt id binterbrein. Dann und wann kommt ein „ Exrtrablatt * mit 
einer fatprifchen ‘Petition, einem Programm oder anderen wunderſamen 
Einſchiebſel vor, defien Zweck kein Sterblicher zu begreifen vermag. 

Es iſt in der That ein gewaltiges Labyrinth und oft bemüht ſich der 
teuchende Leſer vergebens, dem Berfafler nachzukommen oder bleibt außer 
Athem und entrüftet fliehen und zieht fich vielleicht auf immer gurüd. 

Alles dies if, wie wir befennen müflen, von Richter wahr, aber es if 
auch noch viele® Andere wahr. Wir dürfen uns nicht nad) dem erften flüch⸗ 
tigen Blidde von ihm abwenten und glauben, daß wir mit den Worten 
Rhapſodie und Affertation ihn abgefunden Haben. Diefe Worte find fehr 
wohlfeil und doch von großer Bedeutung, weshalb wir darauf zu fehen has 
ben, daß wir fie nicht vorfchuell anwenden, denn viele Dinge in Richter's 
Werken fiimmen mit einer ſolchen Theorie durchaus nicht überein. Es ſtei⸗ 
gen Strahlen ber kühnſten Wahrheit, ja fefte Säulen wiſſenſchaftlichen Lich“ 
tes in biefem Chaos empor. If es in ber That ein Chass oder find viel- 
leicht unfere Augen blos mit endlicher, anflatt mit unendlicher Sehkraft bes 


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gabt und vermögen blos den Plan nicht zu faffen? Wenig „ Rhapſediker“ 
find Männer von Wiſſenſchaft, tächtiger Gelchriamfeit, gründlichen Studien 
und genauen umfänglichen, ja uninerfellen Kenntniſſen, wie er tft. 

Auch in Bezug auf Affectation laßt ſich viel ſagen. Das Weſen der 
Affectation beruht darin, daß e8 angenommen werden muß; ber Cha⸗ 
rafter wird gleihfam mit Gewalt in eine fremde Borm gepreßt, weil man 
hofft, ihm dadurch eine neue und ſchönere Beftalt zu geben. Der Unglück⸗ 
liche überredet fich, er ſei in der That ein neues Geſchöpf vom wunderbar⸗ 
flen Ebenmaße geworden und fo fihreitet er mis dünkelhafter Miene einher, 
sbichon jede Bewegung nicht Ebenmaß, ſondern Berrenfung verräth. Dies 
nennt man affectiren oder mit eitler Prahlſucht einherichreiten. 

Die Seltfamfeit allein aber iſt uodg fein Beweis von Eitelkeit. Diele 
Menſchen, die fih ganz glatt auf den althergebrachten Eifenbahnen ber Ge⸗ 
wohnheit bewegen, haben, wie man finden wird, ihre Affectation, während 
vielleicht hier und da einem von ber geraden Linie abweichenden Genius die⸗ 
fer Fehler mit Unrecht zur Laſt gelegt wird. Ehe wir einen Menfchen ta- 
deln, daß er etwas zu fein ſcheint, wad er nicht ift, müflen wir erft genau 
wiffen, was er if. Was Michter fpeziell betrifft, fo Eönnen wir nicht um⸗ 
hin, zu bemerfen, daß jo feltiam und verworren er auch erfcheinen mag, in 
feinen Schriften doch eine gewiſſe freundliche Gelaſſenheit fihtbar iſt — 
eine Milde, eine Sreudigfeit, eine Frömmigkeit in fo ſchoͤner Verſchmelzung, 
daß dadurch nicht ein erheuchelter, fondern ein Achter Gemüthszuſtand, nicht 
ein fieberhafter und Eranfer, fondern ein gefunder und rüftiger Zuſtand ſich 
verrath. 

Das Geheimniß bei der Sache ift das, daß Richter mehr Studium 
verlangt, ald die meiften Lefer ihm zu widmen geneigt find. So wie wir 
und mehr nähern, wird uns Vieles klarer. Im feiner eigenen Sphäre 
herricht Conſequenz. Je weiter wird darin oprrüden, ſehen wir die Ver⸗ 
wirrung fi mehr und mehr zur Ordnung entfalten, bis endlich, aus feinem 
eigenen Mittelpunkt betrachtet, fein intellectuelles Univerſum aufhört, eine 
verzerrte zufammenhangdlofe Reihe von Luftbildern zu fein und zu einem 
eompaften Banzen zufammenfließt, einer unermeßlichen, prachtvollen, bunten 
Landſchaft voll der wunderbarften Probufte, vielleicht wild und unregels 
mäßig, aber prachtvoll, jegenfpendend, groß, geſchmückt mit dem fchönften 
Grün und ſtrahlend im hellften freundlichſten Sonnenſchein. 

Richter iſt ein intellectueller Koloß genannt worden und in der That 


14 


erfheint er uns faft in dieſem Lichte. Seine Fähigkeiten find alle von ries 
figer Form, ichwerfällig und unbeholfen in ihren Bewegungen, mehr groß 
und glänzend als harmoniſch oder ſchoͤn, aber dennoch in lebendiger Ver⸗ 
einigung und von ganz außerordentlicher Kraft und Umfaͤnglichkeit. Er bes 
figt einen heftigen, fchonungslofen, unwiderfiehlihen Verſtand, der die här« 
teften Probleme in Stüden fchlägt, in die verborgenften Combinationen ber 
Dinge eindringt und nad) ten fernften greift; eine düſtere, ſtrahlende, oder 
entfegliche Einbildungskraft, die über den Abgründen des Seins brütet, 
durch die Unendlichkeit fchweift und uns in ihrem düfteren religiöfen Licht 
glanzuolle, erhabene oder Schredensgeflalten vorführt — eine buchſtaͤblich 
beifpiellos üppige Phantafle, denn fie firömt ihre Schäge mit einer Ver⸗ 
[wendung aus, die Feine Grenzen Eennt, indem fie gleich der Sonne einen 
Diamanten an jeden Grashalm hängt und die ganze Erde mit orientaliſchen 
Perlen überfäet. 

Tiefer aber als alles dies Liegt der Humor, Richter's vorherrſchende 
Eigenſchaft, gleichſam das Eentralfeuer, weldes fein ganzes Weſen durch⸗ 
dringt und belebt. Gr ift Humorift von feiner innerften Seele heraus; er 
denkt wie ein Humorift, er fühlt, phantaftrt und Handelt als Humorift — 
Spiel ift das Element, in welchem feine Natur Iebt und wirft Gin flürmis 
ſches Element für eine foldhe Natur, und er tummelt fich weidlih darin 
herum! Gin Titan in feinem Spiel fowohl wie in feinem Ernſte über- 
fpringt er alle Schranfen und empört fi gegen Beleg und Map. Er 
thürmt den Pelion auf den Offa und wirft das Weltall zuſammen und durch 
einander, wie einen Kaften voll Spielzeug. Der Mond als rebelliicher Tra⸗ 
bant bombardirt die Erde; der Mars predigt den andern Planeten jehr 
eigenthümliche Xehren, ja fogar Zeit und Raum fpielen phantaftifche Streidhe 
— es ift eine unendliche Masferade und die ganze Natur hat fi in die 
feltfamften Trachten vermummt. 

Und do iſt die Anarchie nicht ohne ihren Zweck. Diefe Viftre find 
nit blos hohle Larven; es ſtecken lebendige Geftchter dahinter und biefer 
Mummenſchanz hat feine Bedeutung. Richter befigt Wit und frohe Laune, 
aber dennoch laͤßt er ſich felten oder nie zum Luſtigmacher herab. Ja, trog 
feiner Ertravaganz möchten wir fagen, daß fein Humor von allen feinen 
Begabungen in ihrem innerſten Wefen die ſchönſte und ädhtefte if. Sie 
bat jo bezaubernte Wendungen und es liegt in ihr etwas fo Taunenhaft 
Muthwilliges, fo Sonderbares, jo Herzliches! Aus feiner Cyklopenwerkſtatt 


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und ungeheuern unförmigen Mafchinerie tritt die Feine, verfhrumpfte, wun⸗ 
derlich verdrehte Figur endlih fo vollkommen und fo lebensvoll heraus, 
dag man fie fortwährend belachen und Tieben muß! 

So launenhaft er zu fein fcheint, fo arbeitet er doch nicht ohne Ueber⸗ 
legung und kann wie Rubens ein lachendes Geſicht mit einem einzigen 
Strich in ein weinendes verwandeln. Aber felbft in feinem Lächeln liegt 
vielleicht ein rührendes Pathos verborgen, ein Kummer, der für Thränen 
zu tief tft. 

Er ift ein Menſch von Gefühl im edeiften Sinne dieſes Wortes, denn 
er liebt alles Lebende mit tem Herzen eines Bruders. Seine Seele fhweift 
in Sympathie mit Freude und Kummer, mit Güte ober Größe über bie 
ganze Schöpfung. Jede fanfte und edelmüthige Regung, jeder Funke von 
hohem Sinn erwedt in feiner Bruft ein Echo, ja entlockt feinem Beifte har⸗ 
monifche Laute; eine wilde Mufif, wie von Ueoleharfen umtönt und bald 
braufend, bald weich und fchmeichelnd wie Sphärengefang! Der Widerwille 
ſelbſt ift dei ihm nit Haß; er verachtet viel, aber mit Recht und dabei mit 
Toleranz, Sreundlichkeit und fogar einem gewifien Grad von Liebe. 

Die Liebe ift in der That die Atmofphäre, in welcher er athmet; das 
Medtum, durch welches er blickt. . Sein ift der Geiſt, welcher Allem, was 
er umfängt, Leben und Schönheit giebt. Sogar bie Ieblofe Natur ift nicht 
mehr ein gefühllofes Gemifch von Karben und Wohlgerüchen, fondern eine 
geheimnißvolle Umgebung, mit welcher er in unausſprechlichen Sympathien 
verkehrt. Wir könnten ihn, wie er einft Herder nannte, einen Priefter der 
Natur, einen milden Bramin nennen, der unter duftenden Hainen und 
fegenfpenbenden Himmeln wandelt. 

Die unendlihe Nacht mit ihren erhabenen Erſcheinungen, der Tag 
und bie freundliche Annäherung des Abends und Morgens find für ihn von 
hoher Bedeutung. Er Tiebt die grüne Erde mit ihren Strömen und Wäl« 
dern, ihren blumigen Wiefen und ihrem ewigen Himmel; er liebt fle mit 
Keidenfchaft in all ihren Wechſeln von Licht und Schatten; fein Geiſt 
ſchwelgt in ihrer Größe und in ihren Reizen und verbreitet fid wie die Luft 
über Wald und Wieje, über Perg und Thal, Wohlgeruch ftehlend, Wohls 
gerudy ſpendend. 

Man hat fid) zuweilen verwundernd darüber audgefprodyen, daß fo wi⸗ 
derftrebende Dinge neben einander geheh oder mit andern Worten, daß 
Menſchen von Humor oft auch Menihen von Empfindfamfeit find. Nach 


16 


unferer Meinung aber wäre es cher ein Wunder, wenn man biefe Gigen- 
ſchaften geteilt fähe und wahren ädgten Humor in einem unzarten ober harten 
Gemüth fünde. Das innerfle Weſen des Humors ift eben Empfindjamfeit, 
warmes zarted Mitgefühl mit allen Formen des Dafeind. Ja, wir mödten 
fagen, daß die Empfinbiamfeit, wenn fie nit durch ben Humor gewürzt 
und geläutert wird, jehr leicht ausartet und im Krankheit, Verfiellung ober 
mit einem Worte Sentimensalität übergeht. Beweiſe hiervon find Rouffeau, 
Zimmermann, in einigen Punkten auch St. Pierre; lebender Belipiele oder 
der Kotzebues und übrigen bleichen Schaar fchmerzerfüllter Sammerer zu ges 
fweigen, deren Wehllagen glei dem Geheul einer irifchen Leichenwacht 
yon Zeit zu Zeit das Ohr ded Publikums zerrifien bat. „Die hödfte Ver⸗ 
volllommnung unferer Fahigkeiten,“ fagt Schiller mit einer viel tieferen 
Wahrheit, ald auf den erſten Anblick fcheint, „it, daB ihre Thätigkeit, ohne 
ihren Ernft und ihre Sicherheit zu verlieren, Spiel werde.” Wahrer 
Sumor ift Empfindfamleit in der allgemeinften und tiefften Bedeutung, aber 
er iſt dieſes Spiel der Empfindfamfeit, gefund und daher vollfommen, 
gleihfam die muthwillige neckende Zärtlichkeit einer Mutter gegen ihr Kind. 

Jenes Talent zur Ironie, zur Karrikatur, welches oft mit dem Namen 
des Humors bezeichnet wird, hauptſächlich aber in einer gewiflen oberfläch⸗ 
lichen Verzerrung oder Umkehrung der Gegenflände beſteht und im beiten 
Falle mit Belächter endet, hat mit Richter's Humor Feine Achnlichfeit. Ein 
fehr ſeichtes Talent ift da8 und oft mehr eine Gewohnheit als ein Talent. 
Es iſt blos ein dürftiges Bruchtheil von Humor oder vielmehr, es iſt der 
Körper, dem die Seele fehlt, denn der Grab von Leben, den es allenfalls 
bat; ift erheuchelt, Fünfilih und unvernünftig. 

Hechter Humor entipringt aus dem Herzen eben jo wohl, als aus dem 
Kopfe; er ift nicht Verachtung, fondern fein innerfted Wefen ift Liebe; er 
bricht nicht in Gelächter aus, fondern in filled Rächeln, welches weit tiefer 
liegt. Er ift eine Art umgefehrter Erhabenheit, welche gleichfam in unjere 


Neigungen beraufhebt, was unter und, während die eigentliche Erhabenheit 


in unfere Neigungen berabzieht, was über uns if. Die erftere if kaum 
weniger koſtbar oder herzergreifend, als bie letztere; vielleicht iſt ſte noch 
feltener und als PBrüfftein des Genies noch entfcheidender. Sie ift in der 


That die Blume und der Duft, der reinfte Ausfluß einer tiefen, ſchönen, 
liebenten Natur, einer Natur, bit in Harmonie mit fich felbft if, ausge 


föhnt mit der Welt und ihrer Armfeligkeit und ihren Widerfprühen, ja 





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eben in diefen Wiberfprücen neue Slemente der Schönheit jowohl als der 
Bäte findend. 

Unter unieren vaterländifchen Schriftfiellern muß Shaffpeare in diefen 
wie in allen anderen Faͤchern der Poeſie einen Platz finden, wiewohl nicht 
den erften, denn fein Humor ift Herzlich, überwallend und warm, aber felten 
ter zartefte oder fubtilfte.e Swift neigt fig mehr zur einfachen Ironie, und 
doch bejaß er auch Achten Humor und zwar von Feiner liebloſen Art, obſchon 
er, wie der Ben Johnſon's, in eine jehr bittere und kauſtiſche Rinde gehüllt 
war. Ihm zunähft kommt Sterne, unfer letztes Eremplar des Humors, 
und bei allen feinen Fehlern unfer beftes, unfer ſchönſtes, wo nicht unfer 
ſtäärkſtes, denn „Dorid* und „KRorporal Trim“ und „Ontel Toby“ haben 
weiter feinen Bruder ald „Don Quixote“, ſo hoch diefer auch über 
ihnen fleht. 

Cervantes ift in der That der reinfte von allen Humoriſten, — jo fanft 
und genial, jo voll und doc jo ätheriich in feinem Humor und in folcher 
Mebereinftiimmung mit ſich ſelbſt und feiner ganzen edlen Natur. | 

Bon dem italieniihen @eifte fagt man, er befige einen lieberfluß an 
Humor, aber doch fiheinen und die Klafflker diefer Nation kein rechtes Bild 
Davon zu geben, und ausgenommen vielleicht in Arioft zeigt ſich in ihrer 
Boefte wenig, was bis in die Region des Achten Humors binaufreichte. 

In Frankreich fcheint er fett den Tagen Montaigne’8 fo ziemlich er⸗ 
Lofchen zu fein. Voltaire erhebt fich, wie fehr er auch den Spott handhabte, 
niemals zum Humor und jelbft bei Moliere iſt er weit mehr eine Sache des 
Verſtandes ala des Charakters, 

Daß Richter in diefem Punkte alle deutfchen Autoren übertrifft, gereicht 
ihm zum hohen Ruhme und ift in voller Wahrheit begründet. Leſſing bes 
fist auch Humor, von fcharfer, fhroffer, kerniger und, im Ganzen genonmen, 
genialer Art, aber doch ift der überwiegende Hang feines Geiſtes zur Logif. 
So befigt auch Wieland Humor, obſchon derfelbe durd die Geſchwätzigkeit 
feines Weſens verdünnt und durd den Einfluß eined Falten, mageren, fran« 
zöflfchen Skepticismus nod mehr bejchränft wird. Unter den Rammlers, 
Gellertd und Hagedorns aus der Zeit Friedrich ded Zweiten finden wir eine 
reichliche und in ihrer Art auch verfeinerte Maſſe jenes leichten Stoffes, den 
die Branzofen plaisanterie nennen, aber wenig oder nichts, wad den Namen 
Humor verdient. 

In der Jetztzeit jedoch haben wir Goethe, mit feiner reichen vollen 

Garlyle. II. 2 


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Ader aͤchten Humors, der in höchſter und feinfter Potenz feinen ganzen Grit 
durchdringt. Auch Tie iſt unter feinen vielen fhönen Begabungen nidt 
ohne einen warmen empfänglicken Giun für das Lächerliche und einen Hu- 
mor, der, obſchon mur kurz und verübergehenh und aus einer weit Hefrcem 
Atmoſphaͤre, an das Pertifche auftreift. 

Unter allen diefen Männern aber if feiner, der an Tiefe, Bielſeitig⸗ 
fett und Stärke des KGumors mit Jean Baul verglidgen werden könnte. Er 
allein eriftirt im Humor, lebt, weht und iſt in ihm. Bet ihm ift der Öumer 
nicht ſowohl mit feinen andern Gigenfchaften, Verfiend, Vhantaſte und mo⸗ 
raliſchem Gefühl verbunden, als dieſe vielmehr nıit bem Humer verbunden 
fint und In feiner Wärme gedeihen, wie in einem ihm zufagenden Klima. 

Nicht ald ob wir Damit behaupten wollten, fein Humor ſei in allen 
Fällen vollkommen natürlich und rein, ja nicht oft extravagant, unwahr, 
ober fogar abgeſchmackt, aber dennod tft im Ganzen genommen das Mark 
und Leben deſſelben ädt, ſubtil und geiſtig. Nicht ohne Grund haben 
feine Panegyriker ihn, Jean Pant den Einzigen“ genannt. In einem ober 
dem andern Sinne, entweder ald Lob oder als Tadel, müflen auch feine 
Kritiker diefes Epitheton anerkennen, denn ſicherlich ſehen wir uns in dem 
ganzen Kreife der Literatur vergebens nad feines leihen um. Man geſelle 
den Ruthwillen eines Rabelais und bie befte Empfindfamkeit Sterne's zu 
dem Eifer, Ernſte und, wenn auch nur in Eleinen Theilen, der Sublimität 
eines Milton, und laffe das Moſaikgehirn des alten Burton die Wirkungen 
dieſes jeltfamen Gemiſches mit der Feder eined Jeremy Bentham zu Tage 
fördern ! 

Bu fagen, wie bei einer fo eigenthümlichen natürlichen Begabung Rich⸗ 
ter feinen Geift durch Kultur geformt Babe, tft weit ſchwerer, ald gu jagen, 
dag er ihn falfch geformt habe. Don Affertation wollen wir ihn weder gamz 
freiſprechen, noch jehr laut derfelben beſchuldigen. 

Daß feine Art und Weife zu ſchreiben eigenthümlich,, ja in ber That 
eine abenteuerlihd complicirte Arabesfe if, kann Niemand leugnen. Die 
eigentliche Frage aber ift: In wieweit repräfentirt dieſe Art und Weiſe zu 
fgreiben , feine wirkliche Art und Weiſe zu denen und zu erifiren? Mit 
weldem Grade von Freiheit geftattet fie diefer befonderen Form des Seins 
fih kundzugeben, oder welche Feſſeln und Beichränfungen legi fle einer ſol⸗ 
hen Kundgebung auf? 

Das große. Geſetz der Kultur iſt namlig: Laßt Ieden alles werben, 


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wad er fähig geſchaſſen ward zu fein; er möge Bdh, dafern es thunlich iR, 
ya feiner vollen Größe entfalten, allen Hiadernifſen wiberfichen, alle fremd⸗ 
artigen, beſonders alle ſchaͤdlichen Ashängfel son ſich ſtoßen und fich endlich 
ba feiner eigenen Seflalt und Größe zeigen, mögen dieſe ſein von welcher 
Art fie wollen. Es giebt feine Gleichfösrmigkeit der Vortrefflichkeit, weder 
in der phylſchen noch im Der geiftigen Raus — alle ächten Dinge find, 
was fie fein follten. Das Rennthier ift gu und ſchön, eben fo ber Elephant. 
In der Literatur iR es chem fa; „Iedermenn,” fagt Leffing, „bat feinen 
sigenen Styl, eben fo wie feine eigene Maſe.“ Allerdings giebt es Naſen 
san wunderbaren Dissenflonen, aber denao bat das Publikum kein Mecht, 
eine ſolche Naſe zu amputiren. Doazum trage Icher eisıe wirkliche Naſe und 
Setwe Hölgerne, die er um der bloßen Täuſchung willen und um fle nur zur 
Schau zu tragen aufiept. 

Do ernſt geſprochen, Reifing meint — und wir fllmmen wit ibm 
überein — daß ber äußere Styl nach den inners Eigenſchaften des Geiſtes 
zu beurtheilen tft, welche ex verkörvern ſoll; — dab, wohl verſtanden, ohne 
Bräjubiz für die Angemeſſenheit — der Erſtere fo viel Geſtalten annehmen 
fanu, als der Letztere anninunt; daß mit einem Worte, die Hauptſache für 
einen Schriftſteller nicht iR, dieſer oder jener aäͤußeren Form uad Mode an⸗ 
zugehören, ſondern in jeder Form ächt, Fräftig und lebeudig zu fein, — 
Iebenbig mit feinem ganzen Weſen, ſelbſibewußt und zu nutzeubringenden 
Zweeken. 

Legt man dieſen Maßſtab an, fo wird man, glauben wir, Richter's 
wilde Manier weniger unvolllommen finden, als mande ſehr zahme. Sei⸗ 
ner Individualität iſt fie vielleicht durchaus nicht unangemeſſen. In dieſer 
eigenthümlichen Form liegt ein Feuer, ein Slanz, eine wohlwollende Energie, 
welche uns veranlaßt, Vieles, was außerdem beleidigen würbe, zu dulden, 
ja zu lieben. Vor allen Dingen iſt dieſer Daun, fo viele Mängel ex auch 
Baben mag, confequent und zuſammenhaͤngend; er if eins mit ſich ſelbſt, 
erkennt fein Biel und verfolgt es mit aufrichtigem Herzen, freudig und mit 
ungetheiltem Willen. Gine harmoniſche Eutwidelung des Seins, das erfle 
und letzte Ziel aller wahren Kultur, if erlangt werben; wenn nit voll⸗ 
Händig, doch wenigſtend vollſtändiger, als man es unter taufend gewöhn⸗ 
lichen Menſchen bei einem findet. 

Auch Dürfen wir nicht vergefien, daß bei eines folchen Natur biefes 
Mel nicht leicht zu erreichen was, und daß da, wo es viel zu entwickeln gab, 

2 ”* 


biefe oder jene Unvollkommenheit verzichen werben muß. Allerdings führen 
Die gebahnten Pfade der Literatur am ficherften zum Biel und das Talent 
gefällt und am meiften, welches ſich darein findet, in alten Formen mit neuer 
Grazie zu glänzen. Auch iſt der edelſte und eigenthümlichfte Geiſt nicht zu 
edel oder zu eigenthüͤmlich, um nach vorgeichriebenen Gefegen zu wirten. 
Sophokles, Shaffpeare, Gervantes und, in Richter's eigenem SBeitalter, 
Goethe, — wie wenig neuerten fle an den gegebenen Formen des Gedanken⸗ 
ausdruds, wie viel Dagegen an dem Geiſte, ten fie in dieſelben hauchten 

Alles dies ift wahr und Richter muß im Berbälmiß damit an unferer 
Achtung verlieren. Viel jedoch wird ihm davon noch bleiben und warum 
follten wir mit dem Hohen zürnen, weil e8 nicht das Höchſte iſt? Richter's 
ſchlimmſte Behler ſtehen mit feinen beften Vorzügen in enger Verbindung, 
denn fie beſtehen größtentheild in einem Lieberwallen des Guten, in einem 
Berfchleudern feines Reichthums und in dem Blenden, welches eine Folge 
des Uebermaßes an wahrem Lichte iſt. Diefe Dinge können um jo leichter 
verziehen werben, da fle fo leicht nicht nachgeahmt werben. 

Hierbei dürfen wir nicht überfehen, daß das Genie jeine eigenen Vor⸗ 
rechte bat. Es wählt fi feine eigene Bahn und fei diefe noch fo excentrifch, 
fo müflen, wenn fle in der That eine himmlische Bahn iR, wir bloßen Stern- 
guder und endlich damit einverflanden erklären ; wir müflen aufhören, Aus⸗ 
ftellungen dagegen zu machen, fondern vielmehr beginnen, fie zu beobachten 
und ihre Befege zu berechnen. Daß Richter ein neuer Planet an dem in- 
tellectuellen Himmel fei, wagen wir nicht zu behaupten; ein bloßes atmo⸗ 
ſphaäriſches Meteor iſt er aber auch nicht, vielleicht ein Komet, welcher, ob⸗ 
ſchon mit langen Aberrarionen und in einen nebelhaften Schleier gehällt, 
dennoch am Birmament feinen Plaß bat. 

Bon Richter's einzelnen Werken, von feinen Anſichten, feiner alge- 
meinen Lebensphiloſophie zu ſprechen, iſt uns bei dem noch übrigen be⸗ 
ſchraͤnkten Raum nicht verſtattet. In Bezug auf feine Erzählungen können 
wir fagen, daß diefelben, ausgenommen in wenigen Fällen und dann haupt⸗ 
ſächlich, wenn fie zur kürzeren Battung gehören, nicht bad find, was man im 
firengen Sinne Einheiten nennt, benn bei einem hoben Grade von callida 
junctura der Theile tft es felten, daß eine dieſer Erzählungen den Eindruck eines 
vollkommenen, homogenen, untheilbaren Ganzen auf uns macht. Ein aͤchtes 
Kunſtwerk muß in dem Geiſte ſeines Schoͤpfers gleichſam geſchmolzen werden 
und aus ſeiner Phantaſte, wenn auch nicht aus ſeiner Feder, wie aus einem 








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Guſſe hervorgehen. Richter's Werke tragen nicht immer genügende Spuren, 
daß fie geſchmelzt find, doch find fle auch nicht blos zufammengenietet, 
fondern, um das Wenigfte zu fagen, geſchweißt. 

Eine ähnlihe Bemerkung gilt von vielen feiner Charaktere, in ber 
hat mehr oder weniger von ihnen allen, audgenommen von foldyen, bie 
dur und durch humoriſtiſch find oder einen großen Anflug von Humor 
haben. In diefem legten Bereich iſt er zu Haufe, ein ächter Poet, ein 
Schöpfer; fein „Siebenfäs*, fein „Schmelzle”, fogar fein „Kibel* und 
Firlein“ find lebende Geſtalten. In feinen beroifchen, Teidenfchaftlichen 
und mafflven Geſtalten fehen wir, fo gewaltig er auch iſt, kaum je ein volle 
Rändiges Ideal; die Kunft Hat es noch nicht bis zum Verbergen ihrer Selbft 
gebradht. 

Mit feinen Heldinnen dagegen gelingt es ihm beſſer; dieſe find oft 
wahre Helden, obſchon nielleiht mit einer zu geringen Rannigfaltigkeit des 
Charakters ; gefhäftige, rüftige Mütter und Haudfrauen mit all’ den Launen, 
Verkehrtheiten und dem warmen hülfreichen Edelmuth der Frauen; ober 
weiße, halb englifche Weſen, ichüchtern, fill, duldend, hochſinnig, mit den 
jarteflen Neigungen und gebrochenen, aber feine Klage laut werben laflen- 
den ‚Herzen. 

Uebernatürliche Geſtalten hat er nicht verfucht und zwar wohlweislich, 
denn er kann nicht fchreiben,, ohne zu glauben. Und dennoch zeigt er oft 
eine Phantafle von einer Eigenthümlichkeit, ja im Ganzen genommen von 
einer Wahrheit und Größe, die nirgends ihres Gleichen findet. In feinen 
„Träumen * Tiegt eine geheimnißvolle Düfterheit und zwifchen den nebelhaf« 
ten riefigen, zuweilen entfeglichen Schatten brechen dann und wann Strah⸗ 
len eines zauberbaften Glanzes hervor, die faft an die Viflonen eines Ezechiel 
erinnern. Leſer, welche den „Traum in der Neufahrsnadt ſtudirt Haben, 
werben und nicht mißverſtehen. 

Auf Richters Philoſophie, einen Gegenſtand von nicht gewöhnlichem 
Interefſſe, ſowohl weil fie mit der gewöhnlichen Philoſophie Deutfchlands 
übereinftimmt, ald auch, weil fle davon abweicht, können wir vor der Hand 
nicht eingehen. ine einzige Bemerkung jedoch wollen wir Darüber madıen. 
Sie iſt nämlich nicht mechaniſch oder ſkeptiſch; fle geht nicht aus dem Forum 
oder dem Laboratorium hervor, fondern aus den Tiefen des menſchlichen 
Geiſtes, und gewährt als ihr ſchoͤnſtes Ergebniß ein edles Syſtem der Mo⸗ 
salität und Die feftefle Ueberzeugung von der Wahrheit der Religion. 


In viefem letztern Bunkte erachten wir ihn des Gtubtums ganz beſon⸗ 
ders würdig. Cinem oberflädlichen Lefer koͤnnte er als der wilbeſte Un⸗ 
gläubige erſcheinen, denn niches geht über die Freiheit, mit weicher er die 
Dogmen der Religion, fa zuweilen vie höchſten Gegenftände der chriſtlichen 
Ehrerbietung Yin und her wirft. Eo kommen Gtellen diejer Art vor, Die 
jedem ſeiner Lefer auffallen werben, Die wir aber, um nicht in den Fehler 
ya verfallen, den wir ſchon an Frau von Staël getadelt haben, bier nicht 
anführen wollen. Wehr Lit if Im der folgenden: „Oder,“ fragt er in 
feiner gemöhnligen abrupten EBeife, „oder find Mofchern, Episkopalklirchen, 
Bagoden, Filiale, Stiftshütten and Panthea etwas Anderes als der Heiden 
vorhof zum unfihtbaren Tempel und zu deffen Allerheiltgftem ?“ 

Und dennoch ift, abgejehen von allen Dogmen, ja vielleicht trog vieler 
derfelben, Richter im höchſten Sinne des Worts religids. Ehrfurcht, nicht 
eigennüßige Scheu, fondern edle Ehrfurcht vor dem Geiſt aller Güte bildet 
die Krone und den Ruhm feines Kultus. Die feurigen Elemente feiner 
Ratur find unter heiligen Einflüffen gereinigt und durch ein Prinzip ber 
Gnade und Demuth zu Frieden und Wohlthun geläutert worden. Gin 
fnniger und fortwährender Glaube an die Unfterblichfeit und angeborene 
Größe des Menfchen begleitet ihn. Aus den Strubdeln des Lebens blickt er 
zu einem himmliſchen Zeitftern empor und die Lölung Deſſen, was ſichtbar 
und vergänglich ift, findet er In Dem, was unſichtbar und ewig if. Er bat 
gezweifelt, er Teugnet und dennoch glaubt er. „Wenn in Eurer letzten 
Stande," fagt er, „wenn in Eurer Iehten Stunde, bedenkt 28, alles im 
gebrochenen Geiſte abblüht und berabflirbt, Diäten, Denken, Streben, 
Freuen: fo grünt endlich nur noch die Nachtblume des Glaubens fort, und 
Rärkt mit Duft im letzten Duntel.* 

Diefe fcheinbaren Widerſprüche zu verföhnen, die Gründe, die Art 
und Weije, tie Uebereinftimmung von Richter'8 Glauben zu erflären, kann 
bier nicht verfucht werden. Wir enipfeblen ihn dem Studium, der Toleranz 
und felbft dem Lobe Aller, welche in tiefe höchſte aller Kragen mit ädhtem 
Geifte, mit der Furchtloſigkeit eines Märtyrers, aber auch mit der Ehrfurcht 
eines Märtyrerd eingedrungen find; Aller, welche die Wahrheit lieben um® 
son Rügen nichts wiffen wollen. Ein freimüthiger, furchtloſer, ehrlicher 
und doch wahrhaft geiftiger Glaube tft von allen Dingen in ımierer Zeit 
das feltenfte. 

Unſere Leſer werben wtelleiht von Schriften, die wir, obſchon mit 











vielen Berbehalten, fo hoch geprieien, eine Probe verlangen. Yür Ungläus 
Sige haben wir ungluͤcklicherweiſe von übergeugender Urt Teine zu geben. 
Dan verlange wit von nd, Daß wir nem den perurianifchen Waͤdern durch 
drei in ihnen grepflückte Zweige, ober von den Faͤllen bes Nil durch eine 
Gandvoll feined Waſſers einen Begriff geben tollen! Denen jedoch, welche 
Bweige blos als abgeriffene Zweige, und eine Handuoll Wafler blos ats fo 
viele Tropfen betrachten, legen wir das folgende Bruchſtück vor. 

„Wir wurden alle zu ſehr bewegt. Wir rifien imd endlich aus wie 
berhelten Umarmungen, und mein Freund enwich mit der Geele, die er 
liebt — ich blieb allein zuräd Hei der Nacht. 

„Und ich aing ohne Ziel durch Wälder, durch Thäler und Aber Bäche 
und durch fchlafende Dörfer, um die große Nacht zu genießen wie einen 
Tag. Ih ging und ſah gleich dem Magnet, imsmer auf die Mitternadhtt« 
gegend bin, um bad Herz an der nachglimmenden Abendröthe zu flärken, 
an dieſer heraufreihenden Aurora eined Morgend unter unfern Füßen. 
Weiße Nachtſchmetterlinge zogen, weiße Blüthen flatterten, weiße Sterne 
flelen, und das lichte Schneegeftöber fläubte filbern an dem hohen Schatten 
ber Erde, der über den Mond fisigt und der unfere Nacht ift. Da fing die 
Aeolsharfe der Schöpfung an zu zittern und zu Flingen, von oben herunter 
angemeht, und meine unfterbliche Seele war eine Saite auf Tiefer Raute. — 
Das Herz bed verwandten ewigen Menfchen ſchwoll unter dem ewigen Him⸗ 
mel, wie die Meere fchwellen unter der Sonne und nnter dem Mond. — 
Die fernen Dorfgloden ſchlugen um Mitternacht gleichſam in das fortſum⸗ 
mende Seläute der alten Ewigkeit. — Die Glieder meiner Tobten berühr- 
ten talt meine Seele und vertrieben ihre Flecken, wie todte Hände Hautaus⸗ 
tchläge Heilen. — Ich ging Kill durch Meine Dörfer hindurch und nahe an 
ihren äußern Kirchhöfen vorbei, auf denen morſche berausgeworfene Sarg- 
breter glimmten, indeß die funkelnden Augen, die in ihnen gewefen waren, 
als graue Asche Häubten. — Kalter Gedanke! greife nicht wie ein kaltes 
Geſpenſt an mein Gerz: ich ſchaue auf zum Sternenhimmel und eine ewige 
Reihe zieht fih hinauf, und hinüber und hinunter, und alles ift Leben und 
Gluth und Licht und alles iR Böttlich oder Gott ... 

„Gegen Morgen fah’ ich deine fpäten Lichter, Fleine Wohnſtadt, in bie 
ich gehöre dieſſeits des Sarges; ich Fam auf die Erbe zurück und in deinen 
Thürmen flug es, Hinter der vorübergezogenen großen Mitternacht, bald 
drei Uhr: da ging um diefe Stunde 1794 der Mars in Weſten unter 


a 


und der Mond in Rorgm auf; und meine Seele wünidte, beflommen 
vom Bedauern des edlen Friegerifhen Blut, dad noch auf die Frühlinge«- 
blumen firömt: „ad, blutiger Krieg, weiche wie ber röthliche Mars, umd, 
ftiller Sriede! komme wie der milde zeribeilte Mond !* — * 

So haben wir aud büfterer Ferne und in einigen raſchen flüchtigen 
Umriffen ein Bild von Jean Paul Friedrich Nichter und feinen Werken ent- 
worfen. Deutichland Tiebt ihn ſchon lange; auch England muß er eines 
Tages bekannt werben, denn ein Mann von diefer Größe gehört nicht 
einem Volke, fondern der Welt an. Wie unfere Landsleute über ihn 
urteilen werden und welches Schickſal ihm von der Nachwelt beſchieden 
werden wird, darüber wollen wir feine Prophezeihung aufzuftellen verſuchen. 
Die Zeit äußert auf mand einen weit außgebreiteten Ruhm einen feltfamen 
zufammenziehenden Einfluß, von Richter jedoch laßt fi) behaupten, daß er 
Vieles überleben werde. 8 liegt in ihm Das, was nicht flirbt, jene Schön«- 
beit und Innigkeit der Seele, jener Geiſt der Humanität, der Liebe und 
milder Weisheit, worüber die Wechielfälle der Mobe keine Gewalt haben. 
Er befigt jene Vortrefflichkeit der innerften Natur, welche allein Schriften 
unfterblich macht; jenen Zauber, der trog jeder Veraͤnderung uns an die 
Schriften unferer Hookerd, Taylors und Brownes fefielt, wenn ihre Denke 
weiſe ſchon Jängft aufgehört hat, die unferige zu fein und die geichägteften 
ihrer bloß intellectuellen Anftchten, eben fo wie bereinft die unferen mit den 
Umfländen und Greigniflen, in welchen fle ihre Entſtehung oder Form fan⸗ 
den, binweggefhiwunden find. Für Menſchen von rechtem Geiſte wird in 
Richter noch lange Vieles liegen, was Anziehungefraft und Werth beftgt. 

In der moralifhen Wüfte ter gemeinen Literatur mit ihren Sande 
wüften und verdorrten,, bitteren und nur zu oft giftigen Geſtraͤuchen werben 
die Schriften dieſes Mannes in ihrer wilden Leppigfeit emporragen, um 
gleich einer Gruppe von Dattelbäumen mit ihrem grünen Raſen und ihrer 
jprudelnden Quelle den Wanderer in der fehwülen Ginöde mit Nahrung 
and Schatten zu erquiden. 


Jean Paul Srievrih Kichter *).. 
\ Zweiter Artikel. 
(1830.) 


Es find etwa ſechs Jahre Her, feitbem der Name Jean Paul Friedrich 
Richter zuerft mit engliſchen Typen gedruckt ward und etwa ſechsundvierzig, 
feitdem er am literartichen Himmel Deutſchlands in voller Glorie ſtrahlt — 
eine Thatſache, weldye, wenn wir die Befchichte eines fo manchen Kogebue 
und Chateaubriand innerhalb diefer Zeit betrachten, den alten Erfahrungs⸗ 
fag beftätigt, daß die beſte Berühmtheit fich nicht immer am fchnellften aus⸗ 
breitet, fondern vielmehr im Gegentheile, eben fo wie mit Luft gefüllte 
Blaſen weit leichter getragen werben als Metallmaflen, obſchon goldene, von 
gleichem Umfange, fo auch der Dramenſchmied, Poetafter und Pſeudophi⸗ 
loſoph oft flegreich über Land und Meere ſchwebt, während der Dichter und 
Philoſoph ruhig daheim bleiben. So iſt der natürliche Verlauf. Ein 
Spurzheim fliegt innerhalb eines Iahred von Wien nad Paris und Lons 
don; ein Kant gelangt vielleicht erft in einem Jahrhundert von Königsberg 
bis zu und; Newton brauchte, um blos den ſchmalen Kanal zu überjchreis 
ten, fünfzig Jahre, und Syafipeare drei Mal fo lange. 

Allerdings giebt es auch Beifpiele vom Gegentheil, und dann und 
wann taucht in Folge eines feltenen Zufalld ein Goethe und ein Gervantes 
in der Literatur auf, und Könige lachen über Don Quirote, „ehe dad 
Buch noch fertig ift*, und Scenen aud Werther’3 Leiden werden auf chine⸗ 


*) Wahrheit aus Sean Baus Leben, erſtes bis drittes Heftlein. Breslau, 
1836— 28. 


ſiſche Theetaſſen gemalt, während der Berfafter noch ein ganz junger 
Mann if. 

Dies iſt jedoch nicht die Regel, fondern es find die Ausnahmen, ja, 
richtig aufgefaßt,, Die Ausnahmen, welche fle beflätigen.. Im Allgemeinen 
bat diefe plögliche Färmende Popularität ihren Grund mehr in einem theil⸗ 
weiien Delirtum auf beiden Seiten als in Harer Einſicht, und iſt für alle 
dabei Betheiligten von ſchlimmer Vorbedeutung. Wie viele laute Bacchus⸗ 
fefte diefer Art haben wir als Pfeudo-Backhanalien fidy erweifen und gerade 
mit dem Begentheil von Orgien enten jehen! Bon feines: Löwengefpann 
gezogen kommt der muntere Bott als ein wirklicher Gott mit al’ feinen 
Thyrſen, Eymbeln, Phalophoren und Mänaden einhergezogen ; Luft und 
Erde Hallen wieder von ihrem Jubel, aber ad, nad) Eurzer Zeit ſchon zeigt 
das Löwengelpann lange Ohren und wird zu unverkennbar ein Efeldgefpann 
in Löwenhaͤuten, die Mänaden drehen fi entfegt herum, und der muntere 
Gott wird von feinem Wagen herabgegerrt und als ein trunfener Sterblicher 
im den Koth getreten. 

Daß Richter in feinen Vaterlande feine ſolche Apotheoſe beſchieden 
war und nun auch in feinem andern eine zu erwarten ſteht, können wir nicht 
umhin, als einen natürlihen und keineswegs unglüdlichen Umftand zu be⸗ 
trachten. Die Goͤttlichkeit, welche in ihm Liegt, verlangt eine ruhigere Ver⸗ 
ehrung und von einer ganz andern Klaſſe von Verehrern. hen fo wenig 
wollen wir troß dieſes vierzigjährigen Wartend England einer ungewöhn« 
lichen Blindheit gegen ihn anklagen; ja, Alles erwogen, möchten wir den 
Umfland, daß er nun wirflich feften Fuß bei uns gefaßt, ald einen Beweis 
von nicht blos vermehrter Raſchheit des kiterarifchen Verkehrs, fondern auch 
als eine weientlihe Verbeſſerung in der Art und Weile und in den Gegen⸗ 
ffänden deſſelben betrachten. 

Unfer Gefühl für ausländiiche Vortrefflichkett muß, hoffen wir, wahrer 
werben; unfer Infulanergefhmad muß fih mehr und mehr zu einem eurv⸗ 
pätichen ausbilden. Richter iſt nämlid durchaus nicht ein Mann, tefien 
Vorzüge, eben fo wie feine Sonterbarfeiten, fih dem allgemeinen Blide 
aufträngen, ja, ohne große Geduld und einen bedeutenden Katholiciduns 
der Gefinnung hat fein Leier Ausſicht, fich wirklich mit ihm zu befreunden. 
Er beſitzt ein ſchönes, hohes, ganz ungewöhnliches Talent, und jeine Art, 
Demfelden Ausdru zu geben, tt vielleicht noch ungewöhnlicher. Er if 
durch und durch und von gunzem Herzen Humorift, nicht blos in niedrigen 


77 


Bereichen des Denkens, wo dies gewöhnlicher iſt, ſondern au In den hoͤch⸗ 
fen Regionen, wo er faft feinen Borgänger hat, und indem er jo in toller 
Luk mit Sonne und Mond Fangeball fpielt, geftaltet er die fektfamfte 
Meale Welt, welche auf den erften Anblick nicht viel beſſer ausſteht als ein 
Chass. 

Die Deutfchen felbft haben ihre Schwierigkeiren mit ihm, und für 
keſer von irgend einer andern Nation {fl er ein grenzenloſes, gewaltigeß, 
verwideltes Labyrinth, in welchem der Grundriß oter die Spuren eine 
Grundriſſes nirgends fihhtbar find, Weit entfernt, den Geiſt feiner Schrife 
ten nach feinem ganzen Umfange würbigen zu können, finden es Ausländer 
im höchſten Grade fchwierig, auch aur ihren grammatifchen Sinn richtig zu 
foflen. Wahrfcheinlich giebt es in einer modernen Sprache einen fo ſchwie⸗ 
tigen Schriftſteller, der einen fo unermeßlichen Ueberfluß an dunklen An- 
fpielungen in der verwideltften Phrafeologie darbietet, Barentheie in Pa⸗ 
rentheſe fchiebt, ohne Dabei Auslaſſungen, plögliche Sprünge und alle Arten 
unerflärlicher Brillen zu vergeflen, während das Ganze in der heiterfien 
Weiſe ſich fortbewegt,, keineswegs aber in militatrifchen fireng geregelten 
Reiben, fondern gleichfam in bunten, wunderlich gemifchten Volkshaufen. 

Wie Ausländer mit der Lectäre feiner Werke zurechte fommen, mögen 
unfere Leſer am beften nach der Thatſache beurteilen, Daß vor etwa zwanzig 
Jahren zum Gebrauch für Richter's eigene Landéleute der Anfang eines 
Werts erſchien, welches den Titel führte: „K. Reinhold's Wörterbuch zu 
Sean Paul's fämmtlihen Schriften, oder Erflärung aller in deſſen Schriften 
vorfommenden fremden Wörter und ungewöhnlidden Redensarten, nebft kur⸗ 
zen biftorifchen Notizen der angeführten Perfonen aus der Geſchichte u. ſ. w. 
und faßlichen Berdeutihungen der ſchwierigſten Stellen im Zuſammenhange. 
Ein nothwendiges Hülfsbuch für Alle, welche jene Schriften mit Nutzen 
Iefen wollen. *' | 

Eo viel über das Gewand ober die Einfleidung von Richter's Gedan⸗ 
fen. Berner aber bedenke man noch, daß die Gedanken felbft oft von der 
abftrujeften Art find, fo daß nur nad eifrigem Nachtenfen irgend eine 
nennendwertbe Quantität, fei ed nun Wahrheit ober Unwahrheit, erfannt 
werden kann, und wir haben in ihm einen Mann, von welchem Lefer mit 
ſchwachen Nerven und einem einigermaßen krankhaften Gefchmad nicht ver⸗ 
fehlen werben, mit einem vielleiht an Entfegen grenzenden Gefühl zurück 


zuprallen. 


Und dennoch findet Richter trog aller dieſer Schattenfelten,, wie wir 
oben gefagt, in England ſchon einen gewiffen Brad von Anerkennung. Er 
bat feine Lefer und Bewunderer. Verſchiedene Ueberfegungen feiner Werke 
find bei und erſchienen, auch Mecenflonen, denen man eine klare Einſicht im 
den Gegenfland nit abſprechen Tann und denen es daher auch durchaus 
nicht an Beifall gefehlt Hat. Und allem bdiefen bat, fo weit unfer Blick 
reicht, ſelbſt der nichtdeutiche Theil unſeres Publikums mit einiger Neugier 
und hoffnungsvoller Erwartung Gehör geſchenkt. 


Aus diefen Symptomen können wir Bweierlei fchließen, was uns in 
unferer gegenwärtigen @igenfchaft beides fehr troͤſtlich iſt: Erftens, daß bie 
alte fteifgefchnürte mikroskopiſche Sekte von Belletriften, deren Gottheit Die 
„ Eleganz” war, ein Slaube, der auf franzöftichem Boden gewachſen, und 
mebr für Damenfchneider als für Kritiker und Philofophen taugt, auf unfern 
Infeln in rafcher Abnahme begriffen fein muß; und zweitens — was eine 
weit periönlichere Rückſicht iſt — daß wir, indem wir dieien wunderfamen 
Sean Paul einer nochmaligen Beſprechung und Erörterung unterziehen, 
etwad verfuchen, was vielen unſerer Zefer Fein unwilllommener Dienft fein 
wird. 


Unfere Beſprechung zerfällt natürlich in zwei Theile, in den biographi⸗ 
fhen und in den Fritifchen, in Bezug auf welche beide wir nach der Reihe 
einige Bemerkungen zu machen und — was wir, wenigftens in Bezug auf 
den legten Theil, als nüglicher betrachten — einige interefiante Documente 
vorzulegen haben. 

- Es fcheint nit, als ob Richter's Leben äußerlich betrachtet in feinen 
allgemeinen Beziehungen weſentlich verfchieden von dem anderer Literatoren 
geweien wäre, welches größtentheild fo arm an Ereigniflen if. Der Anfang 
bewegte ſich in ziemlich knappen Umftänden, ohne fi auf andere Weiſe aus- 
zuzeichnen ; der letztere und geichäftigfte Theil war gleichfalls ein gänzlich 
privater und ward größtentheils in Provinzialftädten und fern von vorneh⸗ 
men Regionen ober Perjonen zugebradt. Die Gauptereigniffe in Richter's 
Leben waren die neuen Bücher, die er ſchrieb, und fein ganzer Lebenslauf 
ein geiftiger und ftiller. 

Er ward in feinem neunzehnten Jahre ſchon Schriftflellee und blieb 
biefer Beichäftigung mit gewiſſenhaftem Eifer treu, fo daß er jede Unter 
brechung ober Störung derfelben, wäre es auch nur auf einen Tag ober eine 


Gtunde gewefen, nit blos nicht fuchte, fondern ihr auch forgfältig aus 
dem Wege ging. 

Tropdem ift e8 und, wenn wir biefe feine ſechzig Bände betrachten, 
als ob Richter's Geſchichte noch ein anderes und viel tieferes Interefie ge⸗ 
babt haben müffe, als äußere Freigniffe ihm mittheilen konnten, denn ber 
Geift, welcher mehr oder weniger vollftändig durch feine Schriften hindurch⸗ 
blickt, ift ein Geiſt von dauerndem Werth, felten in allen Zeiten und Situa- 
tionen und vielleicht nirgends und zu Feiner Beit feltener, ald in bem litera- 
riſchen Europa zur gegenwärtigen Zeit. 

Wir ſehen In diefem Manne einen hohen, felbftftändigen, originellen 
und in vielen Beziehungen fogar großen Charakter. Er zeigt fih als ein 
Bann von wunderbaren Gaben und mit vielleicht einer noch glücklicheren 
Gombination derfelben,, in welchem Philoſophie und Poeſie fich nicht blos 
verföhnt, fondern zu etwas unendlich Höherem und Reinerem, zu Religion, 
verihmolzen haben; der bei der weichſten umfafjendften Sympathie für 
äußere Dinge Innerlih ruhig und undurchdringlich iſt, durch alle Verſu⸗ 
dungen und Drangfale hindurch fH und doch unbeugjam feinen Weg ver- 
folgt; als Achter Mann der Literatur unter taufend unädhten, mit einem 
Worte als ein Mann, der das neunzehnte Jahrhundert verfleht und mitten 
darin lebt, und deſſen Zeben doch gewiffermaßen ein heroiſches und auf 
opferndes iſt. 

Wir wiſſen, daß ein Charakter diejer Art fi nicht ohne mannigfadhe 
und fiegreiche Kämpfe mit der Welt bildet und die Erzählung ſolcher Kämpfe, 
bes Wenigen, was davon erzählt oder gedeutet werden kann, gehört der 
hoͤchſten Battung der Geihichte an. Das Leben eines ſolchen Mannes, hat 
man gefagt, iſt gleichſam eine Vibel, ein Evangelium der Freiheit, welches 
allen Menfchen gepredigt wird und wodurd wir unter fo vielen ungläubigen 
Seelen erfahren, daß hoher Sinn noch nicht unmöglich geworden iſt; woran 
wir, von grenzenloſer Trivialitaͤt und Verächtlichkeit umgeben, doch erfen- 
uen, daß die Natur des Menſchen unauslöſchlich göttlich ift, und worin wir 
eine Mahnung finden, feſt zu halten an Dem, was der wichtigfte Blaube 
iſt, dem Glauben an uns ſelbſt. 

Wenn aber dad Leben eined pius vates ein fo hoher Gegenitand ift, 
fo muß die Lebensgeſchichte, welche, wenn fte angemeffen geichrieben, eine 
Ueberfegung und Deutung deffelben ift, ebenfalls großen Werth haben. 

Man bat gefagt, kein Dichter ſtehe mir feinem Gedicht auf gleicher . 


Gähe, welcher Ausferuch zum Theil wahr iſt; Im einer tiefern Beratung 
aber kann man auch und zwar mit noch größerer Wahrheit behaupten, deß 
tein Gedicht mit feinem Dichter auf gleichen Höhe ſtehe. Nun ift es aber 
Die Biographie, welche uns erſt fowohl den Dichter als daS Gedicht gieht, 
indem fie durch die Bedeutung des einen die des andern erläutert und ver⸗ 
vollſtaͤndigt. Jener ideale Umriß von ſich ſelbſt, den ein Meuſch unbewußt 
in feinen Schriften andeutet und welcher, richtig entziſſert, treuer iſt als 
irgend eine andere Darfiellung von ihm, bei ber Biograph zu einem wisb 
lichen zufammenhängenden Bild auszufüllen und unſerer Erfahrung oder 
wenigſtens unierer flaren, nit mehr zweifelnden Bewunderung einzu⸗ 
prägen, um und badurd auf manderlei Weile zu belehren und zu erbauen, 

Rad diefen Brundjägen gehandhabt, fünnte die Biographie areßer 
Männer, befonder8 großer Dichter, das heißt im höchſten Grade edelfinniger 
und weifer Männer, eine der würdigſten und wertbeollfien Gattungen von 
Schriften werben. 

Wie die Sachen ſtehen, giebt es freilich wenig Biographien, welche 
etwa diefer Art Leiften. Die meiften ſind bloße Regiſter zu einer Biogres 
phie, die jeder Lefer bei der Durchſicht dann ſelbſt ichreiben muß, nicht Der 
Icbende Körper, ſondern bie trockenen Gebeine eines Körpers, welcher leben⸗ 
dig fein follte. Cine folge Tugend bes Premetheus von einem gewähm 
lichen Xebensgefchichtöfchreiber erwarten, wäre unbillig genug, Wie fell 
diefe unglüdliche biographifche Brüderſchaft, anflett wie Megiftermadger und 
Amtscopiften zu ſchreiben, plöglich von einigen Funken der Intelligenz oder 
fogar genialen Feuers entzündet werben und nicht blos Data und Thatſachen 
fammeln, ſondern indem fie davon Gebrauch macht, durch die Oberflädge 
und Sfonomilhe Form eines Menſchenlebens in fein innerſtes Weſen und 
feinen Geiſt hineinſchauen? 

Die Wahrheit iſt, daß Biographien ſich in einem aͤhnlichen Falle be⸗ 
finden, wie Predigten und Lieder. Ste haben ihre wiſſenſchaftlichen Regein 
und ihr Ideal von Volllommenheit und Unvollkommenheit, wie alle Dinge 
haben ; bis jetzt aber find ihre Regeln gleichſam nur unfihtbare Naturge⸗ 
feße, nicht Fritifche Parlamentdacten, und bedrohen und mit feiner wamitieh- 
Karen Strafe, Ueberdies können im Gegenſatz zu Tragödien und epifchen 
Gedichten ſolche Werke Etwas fein, ohne Alles zu fein, die Einfaihheit her 
Form wird dabei oft für Leichtigkeit der Ausführung angefehen und dethalb 
haben wir auf einen Künftler in dieſem Fache taufend Stümpee. 


31 


»  Bollten wir mit fpezieller Beziehung auf Richter fagen, feine biogra⸗ 
phiſche Behandlung fei fchledhter geweien als .gewöbnlih, fo würden wir 
damit vielleicht zu viel jagen; aber ſchlimmer als wir erwarteten, if fie 
ficherlich geweſen. Verſchiedene Lebensgeſchichten Jean Paul's, die eifrig 
bedacht waren, die öffentliche Aufregung zu benugen, fo lange ſie dauerte, 
und in einem gegebenen Raume faft ein Minimum von Belchrung mitiheis 
im, find von uns innerhalb der legten vier Jahre mit Feiner großen Taäu⸗ 
ſchung gelelen worden. Wir bemüheten uns dankbar, das Wenige zu neh⸗ 
men, was fie zu geben hatten und ſahen Hoffnungsvoll jener verſprochenen 
Selbſtbiographie“ entgegen, in welcher alle Mängel ergänzt werden follten. 

Mehrere Jahre vor feinem Tode nämlich hatte Michter beſchloſſen, die 
Geſchichte feines Lebens zu fchreiben und mit gewohnter Reblichkeit begon- 
nen, gründliche Vorbereitung zur Löfung diejer Aufgabe zu treffen. Nach⸗ 
bem er manche Pläne, unter denen ſich viele ziemlich fonderbare befanden, 
überlegt, ward er endlich über die Form mit fi einig und hatte mit einer 
halb ſcherzenden Anfpielung auf Goethes „Wahrheit und Dichtung aus 
meinem Lehen”, feinem Werke den Titel „ Wahrheit aus meinem Leben * 
vorgeſegt. Die fonderbare Idee, feinen Lebenslauf auch ald Dichtung und 
Barallele mit der Lebensgeſchichte des Apothefers Nikolaus Markgraf, der 
nur als Held eines feines lebten Romane eriftirte, zu fchreiben, hatte er als 
unpraftifch aufgegeben. 

In diefem Werke, welches durch dringendere Arbeiten dann und warn 
berzögert worden, war er ſchon bebeutend vorgeſchritten, und nach Richter's 
erfolgtem Ableben überuahm Herr Otto, ein Mann von Talenten, der ein 
halbes Menfchenalter lang fein intiner Freund gewefen, die Herausgabe 
aud Vollendung nit ohne wiederholte Berfündung und Behauptung — 
bie mittlerweile glaubhaft genug war — daß nur ihm ter Poſten eines 
Biographen Ican Paul's gebühren fönne. 

Drei kleine Bände biefer „Wahrheit aus Jean Paul’s Leben”, im 
Laufe eben fo vieler Jahre erfchienen, Tiegen endlich vor und. 

Der erfte Band, welder 1826 erfchlen, verurjachte einige Weber» 
safhung und mande Erwartung ſah ſich getäufcht, doch blieb immer noch 
Raum zur Hoffnung. Es war der Anfang einer wirklichen Autobiographie 
und mit einem hohen Grade von Treubersigfeit und Würde gefchrieben, ob» 
ſchon von einem ganz unerwarteten Geſichtspunkte aufgefaßt; dabei aber in 
jenem Beifte genialen Humors und heiteren Ernſtes, welcher bei all’ feinen 


32 


feltfamen phantaftifchen Beimifchungen doch Iean Paul fo anmuthig fand 
und dem auf jeden Ball Tein Lefer feiner Werke fremd jein konnte. Kraft 
eines autographiſchen Ukaſes hatte Sean Paul ih ſelbſt zum „Profeflor 
feiner eigenen Geſchichte“ ernagnt, und hielt dem Univerfum drei fhöne 
„Vorlefungen * über diefen Gegenſtand, wobei er fib allerdings mit vollem 
Rechte rühmte, daß er in feinen fveziellen Fach beſſer unterrichtet fei, ale 
fonft Jemand. Dabei hatte ex auch jeine oratorifchen Geheimniffe und pro⸗ 
tefforenmäßigen Gewohnheiten, und fo wie Mr. Wortley, als er feine Bar- 
lamentsrede niederfchrieb,, um fie aus feinem Hute vorzulefen, an verſchie⸗ 
denen Stellen bemerkt Hatte: „Bier wird gehuftet*, fo hatte aud Jean 
Paul mit mehr Kürze eine willfürliche Hieroglyphe unter feinen Papieren 
angebracht, welche, wie er und mittheilt, bedeutete: „Meine Herren, Nie 
mand feharre, Niemand gähne* — eine Hieroglyphe, die, wie wir aus⸗ 
drüclic bemerken müflen, viele ffentliche Hedner weit nothwendiger brau⸗ 
hen möchten, als er. 

Unglüdlicherweife kamen in dem zweiten Bande Feine weiteren Vor⸗ 
lefungen an's Licht, jondern nur eine Reihe unzufammenhängenter, ganz 
heterogener Notizen, welche zu weiterer Umarbeitung beftimmt geweien 
waren, und der volle freie Strom des Redevortrags Löfte fich in ungenü⸗ 
gende Tropfen auf. 

Mit dem dritten Bande, welcher bei weitem der Tängfte ift, tritt Herr 
Otto entichiedener in feiner eigenen PBerfon auf, obſchon immer noch mehr 
mit der Scheere als mit der Feder, und bemüht ſich Hinter einer Menge 
Verſchanzungen und Borpoften feine Gefchichte ein weniger vorzufchieben, 
nachdem die Vorleſungen fte faft an der Schwelle ftehen gelaffen haben. 
Sein eigenthümlicher Plan und die allzubeutliche Abſicht, in Jean Paul’s 
Manier weiter zu fprechen, hemmen jeinen Bortfchritt jehr, der auch in ber 
That jo unbedeutend ift, daß wir am Ende diefes dritten Bandes, das beißt, 
nach gegen flebenhundert Fleinen Octavfeiten, den Helden kaum über das 
zwanzigfte Jahr Hinaus und die eigentliche Geſchichte noch gleichſam beim 
Anfange finden. 

Wir können nur bedauern, daß Herr Otto, deſſen Talent und gute 
Nbfiht, auch abgeſehen von feinem Verhältniß zu Richter, Anſpruch auf 
unjere Berücdfichtigung haben, nicht einen geraderen Weg eingefchlagen und 
Das, was er und über dieſe Sache zu fagen hatte, in fchlichter Profa heraus- 
fagt, die für ihn ein weit natürlicherer Dialekt zu fein ſcheint. Anftatt einer 





3 


bunten Combination, die fe laugſam vielleicht gar wicht zur Einheit führt, 
hätte er ohne jene „Vorlefungen * uber irgend eine werthvolle Notiz wegzu⸗ 
laſſen, uns eine direete Erzählung geben fünnen, welde, wenn ihr auch tie 
Schönfeitölinte fehlte, doc vielleicht Die noch weit unentbehrlichere Linie der 
Negekmaͤßigkeit gehabt hätte und auf alle Bälle writ kürzer gewefen wäre. 

So Lange Heren Otto's Werk nicht vollſtaͤndig vorliegt, können wir 
fein poſtijves Urtheil abgeben; mittlerweile aber müſſen wir fagen, daß es 
ein eben nicht verheißungsvolles Anſehen bat und ber Befürchtung Raum 
laͤßt, daß Richter's Lebensgeſchichte vielleicht noch lange ein Problem bleibe. 

Was und ſelbſt betrifft, fo Finnen wir bei dieſem Stande der Dinge 
zur Charakteriſtik von Jean Paul's praktiſchem Leben weiter nichts beitra⸗ 
gen, als einige aus Otto's und einigen andern Werken gefchöpfte kleine 
Thatſachen, die felbft in unferen eigenen Augen auferordentlich ungenü⸗ 
gend find. 

Richter war geboren zu MWonftebel (unrichtiger Wunſiedel) am Fichtel⸗ 
gebirge, im Jahre 1763, und da fen Geburtstag auf den 21. März fiel, 
fo ward zumellm wißigerweife gefagt, daß er und ber Frühling mit einander 
geboren fein. Er ſelbſt erwähnt Dies und zwar in lobendwerther Abfidt. 
„Diefen Einfall,“ fagt er, „daß ich Profefior und der Frühling mit ein⸗ 
ander geboren worden, Habe ich in Geſpraͤchen wohl ſchon hundertmal vor« 
gebracht; aßer ich brenne ihn hier abfichtlich wie einen Ehrenkanonenſchuß 
zum hundert und erflen Male ab, damit ich mich Dur den Abdruck außer‘ 
Stand fee, einen durch den Preßbengel ſchon an die ganze Welt herum⸗ 
gegebenen Bonmot-Bonbon von Neuem anzubieten, * 

Das Schickſal, feheint er zu glauben, machte noch einen andern Wig 
auf ihn, weil das Wort Richter im Deutfchen nicht 6108 ein Eigenname, 
fordern auch ein Appellationame iſt. 

Seinen Taufnamen, Jean Paul, den man Tange für einen Einfall von 
ihm ſelbſt und einen Pfeudonamen hielt, hatte er, wie wir bier lefen, ganz 
ehrlich von jeinem mütterlichen Großvater Johann Paul Kuhn, einem ch 
lichen Tuchmacher in Hof, entfehnt, und foäter blos das deutſche Johann in 
Das franzöftfche Jean überfekt. 

Die Richter waren feit wentgftend zwei @enerattonen Schulmeifter ge⸗ 
wefen und hatten fich durch nichts ala durch ihre Armuth und ihre Froͤm⸗ 
migkeit ausgezeichnet. Des Großbaters gedachte man in feinem Heinen Cirkel 
noch als eines Mannes von ganz außerordentlicher Unſchuld und Heiligkeit. 

Gariyle. 18. 3 


34 


„In Neuſtadt,“ fagt fein Enkel, „zeigt man noch ein Bänkchen hinter ber 
Orgel, wo er jeden Sonntag betend gefniet; und eine Höhle, die er fid 
felber in den fogenannten fleinen Culm gemadt, um darin zu beten. * 
Obſchon er drei Schule und Kirchenämter befleidere und nach beften Kräften 
verſah, fo belief ſich fein jährliches Einkommen doch auf nit mehr als Hödh« 
ſtens hundertundfünfzig Gulden und „an biefer gewöhnlichen Baireuthiſchen 
Sungerquelle für Schulleute fand der Mann fünfunddreißig Jahre lang und 
ſchöpfte.“ Mit feiner Beförderung war ed langfam gegangen, „endlich 
aber, * erzählt Jean Paul, „traf es fich im Jahre 1763 — eben in meinem 
Geburtsjahr — daß er am 6. Auguſt, wahrſcheinlich durch befondere Con⸗ 
nerionen mit Höheren fleigend, eine der wichtigſten Stellen erhielt, wor 
gegen freilich Rectorat und Stabt und der Eulmberg leicht hinzugeben waren, 
und zwar zählte er gerade erft 76 Jahre 4 Monate und 8 Tage, ald er bie 
gedachte Stelle wirklich erhielt, im Neuflädter — Gottedader ; feine Gattin 
aber war ihm fon zwanzig Jahre vorher dahin voraudgegangen in bie 
Nebenftelle. — Meine Eltern waren mit mir als fünf Monat altem Kinde 
zu feinem Sterbelager gereifet. Er war im Sterben, als ein Geiftlicher 
(wie mir mein Vater öfter erzählte) zu meinen Eltern fagte: Lafſet doch 
den alten Jakob die Sand auf das Kind legen, damit er es fegne. Ich wurde 
in das Sterbebett hineingereicht und er legte die Hand auf meinen Kopf. — 
Srommer Großvater! oft babe ih an Deine im Erkalten ſegnende Hand 
gedacht, wenn mich das Schidfal aus dunflen Stunden in hellere führte, 
und id darf fhon den Blauben an Deinen Segen fefthalten,, in diefer von 
Wundern und Geiſtern durchdrungenen, regierten und befeelten Welt. * 
Der Bater, welcher damals ten befcheidenen Poften eines Tertius und 
Drganiften in Wonſiedel befleidete, ward kurz darauf zum Prediger in dem 
Dorfe Iodig befördert und von da nad) einigen Jahren nah Schwarzenbach 
an der Saale verfegt. Auch er war von ächt frommer Gefinnung, obfchon 
er damit mehr Energie des Charakters und wie es fheint, mehr allgemeines 
Zalent verband, denn er war in feiner Gegend ala ein muthiger, eifriger 
Prediger, und in größeren Kreifen als verbienftroller Componiſt von einigen 
guten Kirchenmuftfen bekannt. An Armuth ſcheint er feinem Vater, ber 
fein 2ebenlang faft nichts genoß als Brod und Bier, nicht ganz gleich ge⸗ 
kommen zu fein, aber arın genug war er beöwegen immer und nicht weniger 
heiter als arm. Die Tochter des wohlhabenden Bürgers, bie er zur Frau 
nahm, Hatte, wie wir vermuthen, Tein Geld mitgebracht, fondern blos Ge⸗ 


u re u nö 





35 
wohnbeiten und Bebürfnifle, die für einen Schulmeifter oder Pfarrer keines⸗ 
wegs vortheilhaft find; auf alle Bälle Hatte der würdige Mann, fo befcheiden 
auch fein Haushalt war, mit fortwährenden Schwierigkeiten zu kämpfen und 
binterließ fogar Schulden. 

Paul, der in jenen Tagen Brit genannt ward, erzählt in heiterem 
Zone, wie feine Mutter ihn nach Hof, ihrer Geburtsſtadt, zu ſchicken pflegte, 
mit einem Duerfad auf dem Rüden und unter dem Vorwande, dort wohl⸗ 
feiler einzufaufen,, in der That aber, um jeine Gewürze und Delifateflen 
von der Großmutter gratis geliefert zu befonmen. Er pflegte ſeinem Groß⸗ 
vater hinter dem Webftuhle die Hand zu Eüffen und mit ihm zu fprechen, 
während die gute alte Frau, kargend gegen alle Welt, aber verjhwenderifch 
gegen die Ihrigen, beimfich feinen Querſack mit Dem füllte, was er bringen 
follte und ihm jogar Mandeln für fich felbft gab, die er jedoch für eine 
Freundin aufbob. Ä 

Einen andern Fleinen Bug, der in kirchlichen Annalen ganz neu if, 
müffen wir hier mittheilen. Indem Paul die Freuden jeiner Eriftenz in 
Joditz erzählt, erwähnt er unter andern auch folgende: 

„sn den Herbftabenden (nody dazu an trüben) ging der Vater im 
Shlafrocde mit Paul und Adam auf ein über der Saale gelegenes Kartoffel« 
feld. Der eine Junge trug eine Grabhaue, der andere ein Handkörbchen. 
Draußen wurden nun neue Kartoffeln, fo viel für das Abendeflen nöthig 
waren, vom Vater ausgegraben ; Paul warf fie aus dem Beete in den Korb, 
während Adam an dem Hafelnußgebüjche die beſten Nüffe erflettern durfte. 
Nach einiger Zeit mußte diefer von den Aeften herunter und Paul flieg 
feinerfeitö hinauf. Und fo zog man denn mit Kartoffeln und Nüſſen zu⸗ 
frieden nah Haufe; und die Freude, auf eine DViertelftunde weit und eine 
Stunde lang Ind Freie gelaufen zu fein und zu Haufe bei Lichte dad Erntes 
feft zu feiern, male ſich jeder Selber fo flark wie der Empfänger. “ 

Den Leuten, welche meinen, daß die Achtbarkeit des Tuches von dem 
Breije abhängt, den es bei dem Tuchmacher hat, muß es überrafchend er» 


feinen, daß ein proteflantifcher Geiftlicher, der nicht blos nicht im Stande 


war, Fuchshunde zu halten, fondern e8 auch angemefien fand, feine Kar⸗ 
toffeln ſelbſt auszugraben, nicht mit allgemeiner Verachtung betrachtet oder 
fein nügliches Wirken bedeutend beeinträchtigt ward. Davon wird jedoch 
in der Gefchichte diefes Pfarrers von Joditz durchaus nichts fihtbar. Wir 


feben in ihm einen Mann, der feinem Amt Eräftig. vorfland und von feiner 
| 3. 


3 


Heerde geliebt und verehrt ward, ja er bejuchte nach Belichen und ſtets als 
geehrter Gaſt die Hänfer des voigtländifchen Adeld, allerdingd nit in dem 
Charakter eine® Edelmann, aber doch im dem eines Prieſters, den er viel 
höher flellte. „ &leich einem alten lutheriſchen Gofprediger, * fagt fein Sohn, 
„erkannte er die unabſehliche Größe des Stanted wie dad Erfcheinen ter 
Geipenfter an, ohne vor beiden zu Beben.” Die Wahrheit iſt, der Mann 
hatte ein heiteres, reines, religiöfes Herz, war fleißig im feinem Amte und 
feurigen Geiftes, und fand in allen Verhältniffen des Lebens, daß er damit 
fo ziemlich auskam. 

Für unfern Profeſſor wie für Dichter überhaupt haben die Erinnerun- 
gen der Kindheit ſtets etwas Ideales, fat Himmliſches. Oft fchilbert er im 
feinen Phantaften folde Scenen mit liebender Genauigkeit; auch ift Armut 
darin keine töptliche, ja nicht einmal eine unwilllommene Ingredienz. Im 
Grunde genommen iſt e8 doch aud nit das Geld ober der Werth des 
Geldes, woburd und wofür der Menfch lebt. Iſt nicht Gottes Weltall in 
unferm Kopfe, möge berfelbe nun auswendig eine zerriffene Müge oder 
ein Eönjgliches Diadem tragen? Es möge daher Niemand glauben, daß 
Paul's Sugendjahre unglüdlich geweſen felen und noch viel weniger, daß er 
auf fentimental weinerliche Weiſe oder mit der leiſeſten Spur von Prahleret 
oder Wehklagen darauf zurüdgeblict hätte. Noch weit härtere Armuth als 
diefe wäre ihm etwas Leichtes geweien, denn eine gütige Mutter, die Natur 
ſelbſt, hatte ſchon dafür geforgt und gleich der Mutter des Achifles ihn gegen 
äußere Dinge unverwundbar gemacht. Es war ein kühner, Eeder, freudiger 
Geiſt, der durch diefe jungen Augen fhauete und für einen ſolchen Geiſt Hat 
die Welt nichts Armes, fondern Alles ift reich und voll von Lieblichfeit und 
Wunder. 

Um unſere Leſer einen Blick in dieſes deutſche Pfarrhaus werfen zu 
laſſen, theilen wir hier einige Säge aus Paul's zweiter Vorleſung mit, wo⸗ 
durch fle zugleich einen Begriff von feinem Profefiorenftyle erhalten. 

„Um das Joditzer Leben unfered Hans Baul — denn fo wollen wir 
ihn einige Zeit lang nennen, jedoch immer mit andern Namen abwechieln — 
am treuefien barzuftellen, thun wir, glaub’ ih, am beſten, wenn wir daſſelbe 
durch ein ganzes Idyllenjahr durchführen, und das Normaljahr in vier Jahr» 
zeiten als eben fo viele Idyllenquatember abtheilen; vier Idyllen erfchöpfen 
fein Glück. 

„Niemand übrigend wundere ſich über ein Idyllenreich und Echäfer- 





37 


weltchen in einem fleinen- Dörfchen und Pfarrhaus. Im fchmalften Beete 
iſt ein Tulpenbaum zu ziehen, der feine Blüthenzweige über den ganzen 
Garten ausdehnt; und Die Lebensluft der Freude kann man aus einem Fen⸗ 
fler fo gut einathmen, als im weiten Wald und Himmel. If denn nicht 
felbft der Menfchengeift (mit allen feinen unendlichen Himmelsräumen) ein⸗ 
gepfählt in einen fünf Buß hohen Körper mit Häuten und malvigiſchem 
Schleim und Haarröhren und bat nur fünf enge Weltfenfter von fünf Sin» 
nentreffern aufzumadıen für das ungeheure rundaugige und rundjonnige 
AU; — und doc flieht und wiedergebärt er ein AU. 

„Kaum würd’ ich wiflen, mit welchem unter den vier Idyllenquatem⸗ 
bern anzufangen wäre; denn jeder iſt ein Meiner Vorhimmel des nädhften ; 
indeß geräch do, wenn wir mit dem Winter und Januar anheben, bad 
Steigern der Freuden am beflen. In ter Kälte war ber Väter, wie eine 
Sonne, gewöhnlid von der Treppenhöhe der Studierftube herabgezogen und 
bielt zur Breube der Kinder fi in der Ebene der allgemeinen Wohnftube 
auf. Am Morgen ſaß er. an einer Fenſterecke und lernte feine Sonntage 
Predigt audwendig, und die drei Söhne Frig, das bin ich ſelbſt, und Adam 
und Gottlieb (denn Heinrich Fam erft gegen das Ende des Jodiger Idyllen⸗ 
lebens dazu) trugen abwechſelnd die volle Kaffeetaffe zu ihm, um noch frober 
die leere zurüdzubolen, weil der Träger aus ihr die ungeſchmolzenen Reſte 
Des gegen Huften genofienen Kandidzuder frei nehmen durfte. Draußen 
dedte zwar der Himmel alles mit Stille zu, den Bach dur EIS, dad Dorf . 
mit Schnee, aber in der Wohnftube war Leben, unter den Ofen ein Tau⸗ 
benſtall, an den Fenſtern Zeiflg« und Stieglighäufer, auf dem Boten bie 
unbändige Bullenbeigerin, unfere Bonne, die Nadhtwächterin des Pfarrhofs, 
und ein Spighund, und der artige Scharmantel, ein Geſchenk der Frau von 
Plotho, — und barneben bie Gefindeftube mit zwei Mägden; und weiter 
gegen daB andere Ende des Pfarrhauſes der Stall mit allem möglichen 
Rinde, Schwein- und Federvieh und deffen Befchrei ; unfere auch vom Pfarre 
hofe umſchloſſenen Drefcher könnt’ ich mit ihren Blegeln auch rehnen. So 
von lauter Geſellſchaft umgeben, brachte num leicht der ganze männliche Theil 
der Wohnflube den Vormittag mit Auswendiglernen zu, nahe neben dem 
weiblichen Kochen, 

„Berien fehlen keinem Gefchäfte in der Welt, und fo hatt' aud ich 
die Luftferien — ähnlich den Brunnenftrien — daß ih in den Schnee des 
Hofö geben durfte und an tie drefchende Scheune. Ja, war im Dorfe ein 


38 


ſchweres Medegeihäft auszurichten, 3. B. bei dem Schul⸗ oder bei dem 
Schneidermeiſter, fo wurde id tahin mitten aus meinen Lerngeſchäften ver⸗ 
fhiekt, und fo Fam ich denn immer ins Freie und Kalte und fonnte mid 
mit dem neuen Schnee meſſen. Mittags konnten wir Kinder noch vor un« 
ferem Efien die hungrige Freude haben, daß wir Die Dreſcher in der Gefinde- 
ſtube einbeißen und aufeflen faben. 

„Der Nachmittag wurde ſchon bedeutender und freudenreiher. Der 
Winter verfürzte und verjüßte die Lernfunden. In der langen Dämmerung 
ging der Vater auf und ab, und bie Kinder trabten unter feinem Schlaf- 
ro nad Dermögen an feinen Händen. Unter dem Gebetläuten flellten fidh 
alle in Einen Kreis und beteten das Lied einflimmig ab: „Die finftre Nacht 
Bricht flark herein.” Nur in Dörfern — nicht in der Stadt, wo es eigent« 
ih mehr Nacıt- als Tagarbeiten giebt — bat das Abendläuten Sinn und 
Werth und ifl der Schwanengefang des Tags; die Abendglode iſt gleichſam 
der Dänpfer der überlauten Herzen und ruft, als der Kubreigen der Ebene, 
die Menfchen von ihren Räufen und Mühen in das Land der Stille und des 
Traum. — Nach dem füßen Warten auf den Mondaufgang des Talglichtes 
unter der Thüre des Gefindeſtübchens, wurde die weite Wohnftube zu gleis 
her Zeit erleuchtet und verſchanzt, nämlich die Benfterladen wurten zuges 
fchlofien und eingeriegelt, und das Kind fühlte nun Hinter diefen Fenſter⸗ 
bafteten und Bruftwehren fi traulich eingehegt und binlänglich gedeckt 
gegen den Knecht Ruprecht, der draußen nidht bereinfam, fondern nur ver⸗ 
geblich brummte. | 

„Um diefelbe Zeit geſchah es dann, daß wir Kinder und ausfleiden 
und in bloßen langen Schlepphemden auf und ab herumhüpfen turften. 
Idyllenfreuden verichiedener Art wechſelten. Entweder trug der Vater in 
eine mit leeren Bolioblättern durchſchoſſene Duartbibel bei jedem Verſe tie 
Nachweiſung auf das Buch ein, worin er über ihn etwas gelefen; ober 
er hatte gewöhnlicher fein raftriertes Folioſchreibbuch vor fih, worauf er 
eine vollſtaͤndige Kirchenmuflt mit der ganzen Partitur mitten unter dem 
Kinderlärmen ſetzte: in beiden Fällen, im lebten aber am Tiebften, ſah ich 
dem Schreiben zu und freute mich befonders, wenn durch Paufen mancher 
Inftrumente ſchnell ganze Viertelfeiten fich füllten. Er dichtete feine innere 
Muſik ganz ohne alle äußere Hülftöne — was auch Reichard den Tonſetzern 
anrietd — und unverflimmt vom Kinderlärm. Die Kinder faßen fpielend 
alle am langen Schreibe und Eßtiſche, ja fogar aud unter ihm — — — 


39 


„Wie flieg wöchentlich vollends der Winterabend an Werth, wenn die 
alte Botenfrau mit Schnee überzogen mit ihrem Frucht⸗ und Fleiſch⸗ und 
Waarenkorbe aus der Stadt in die Geſindeſtube einlief, und wir alle im 
Stübchen die ferne Stadt im Kleinen und Auszuge vor und hatten und vor 
der Nafe, wegen einiger Butterweden! * 

So fünnen in einförmiger Winterferferhaft unter allen Arten von 
NRind⸗, Schweine» und Federvieh mit ihrem Geräufch idylliſche Freuden ges 
funden werden, wenn nur ein Auge da iſt, fle zu fehen und ein Herz, um 
Geſchmack daran zu finden, Im der That, das Glück if wohlfell, dafern 
wir e8 nur bei dem rechten Krämer ſuchen. Paul warnt uns jedoch, zu 
glauben, daß in diefem idylliſchen Leben nicht auch faure Tage, Scheltworte 
u. dergl. in Jodig vorgekommen ſeien; doch Hatte er im Ganzen genommen 
guten rund, fich feiner Eltern zu freuen. Ste Tiebten ihn innig; fein 
Bater, erzählt er, vergoß Thränen, wenn der Fleine Fritz einen Beweis von 
Talent oder rafcher Faſſungskraft gab; fle waren auch tugenbhaft und 
fromm, was am Ende beffer ift als reich fein. „Zuweilen,“ jagt er, „hörte 
ih meinen Vater erzählen, wie er und andere @eiflliche ihre Kleidungd- 
ſtücke den Armen geichenft. Er erzählte es mit Freude, nicht ald Anmah⸗ 
nung, fondern ald Notbwendigkeit. O Gott! ih danke Dir für meinen 
Bater!® 

Richter's Erziehung war von eben fo beicheidener ‘Art, als feine Woh⸗ 
nung und Beköfligung. Ein Heiner Zwift mit dem Schulmeifter in Joditz 
hatte den Pfarrer bewogen, feine Söhne aus der Schule zu nehmen und fie 
felbft zu unterrichten. Diefen Entichluß führte er allerdings treulich auß, 
aber in der befhränfteften Weiſe. Seine Methode war nänlidh feine Peſta⸗ 
lozziſche, fondern einfach das alte Aufgabeinftem mit Hülfe einer lateiniſchen 
Grammatik und eined Wörterbuds, und die beiden Knaben faßen jahraus 
jahrein zu Haufe, ohne andere geiftige Nahrung, als daß fle lange Wörter- 
reihen auswendig Iernen mußten. Frit lernte jedoch redlich und rechtſchaffen 
und ohne fih an das Ichlechte Betipiel feines Bruderd Adam zu kehren. 

Uebrigens mangelte e8 ihm gänzlih an Büchern, mit Ausnahme der 
theologifchen feines Vaters, wenn er einmal auf verftohlene Weiſe dazu ges 
langen Fonnte. Diele verfchlang er in Ermangelung anderer und befierer 
aufs begierigfle, ohne jedoch, wie er ſelbſt fagf, etwas von ihrem Inhalt zu 
verfichen.. Mit nicht weniger Ungeſtüm und nicht weniger Nugen las er 
andy die veralteten Stöße Beitungen, welche eine freundliche Gönnerin, die 


fon erwähnte Frau von Pisthe, feinem Bater zu leihen pflegte, aber niät 
im eingeinen Mummesn, fondeen in monatlichen Staßen. 

Dies wer feine ganze Bectüre. Dabei war Joditz ein ungemein abge 
Segenes Dorf, beſaß weder natürlidde noch künftläche Schönfeit, und wer hier 
wohnte, befam fein ganzes Leben lang nichts Merkwürbiges zu ſehen. Aber 
trogdem fland es doch unter einem unermeßlichen Himmel und in einer gan 
wunderfamen Welt, und Blide in die unenblidden Räume des Weltalls und 
jogar in die unendlichen Raͤume der menſchlichen Seele Eounten bier eben fo 
gut gethan werden ald anderwärts. Fritz Hatte trog der Schulmeifter feine 
eigenen Bedanfen. Eine Heine himmlische Saat des Willens, ja der Weis 
heit, war in ihn geſtreut werben und wuchs, ohne einen andern Bärtner ale 
die Natur, fill enwer. inigen unferer Leſer wird der folgende Umſtand 
Höchft fonderbar, wo nicht unbegreiflih, andern aber keineswegs fo er- 
feinen. 

„In der fünftigen Kulturgeichichte unferes Helden wird es zweifelhaft 
werben, ob er nicht vielleicht mehr der Vhiloſophie als der Dichtkunſt zu- 
geboren war. In früheſter Zeit war das Wort Welmweispeit — jedoch 
aud ein zweites Wort Morgenlaud — mir wie eine offene Himmelspforte, 
durch welche ich hineinſah in Lange, Iange Freudengärten. Mie vergeſſ' ich 
die noch keinem Menſchen erzählte Ericheinung in mir, wo ich bei der Ge⸗ 
Gurt meines Selbfibewußtfeind fland, von der ich Ort und Zeit anzugeben 
weiß. An einem Vormittag fand ich als rin fehr junges Kind unter ter 
Haustbür und fah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Beflcht, 
id bin ein Ich, wie ein Blitzſtrahl vom Himmel vor mid fuhr und feit- 
dem leuchtend fichen blieb: da hatte mein Ich zum erften Male ich felber 
gefehen und auf ewig. Taͤuſchungen des Grinnerns find Hier ſchwerlich ge⸗ 
denkbar, da kein fremdes Erzählen ſich in eine blos im verhangenen Aller 
beiligften des Menfchen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein fo 
alltäglichen Nebenumftänden das Bleiben gegeben, mit Bufägen mengen 
fonnte. * 

Er fland in feinem dreizehnten Jahre, als feine Familie nach Schwar⸗ 
zeubach zog, wo fein Bater eine etwas befiere Stelle erhalten hatte, mit wel- 
her Veränderung, fo weit der Schulunterricht in Frage kam, die Ausſichten 
für unfern Helden fi bedeutend freundlicher geflalteten. Der bertige Leh⸗ 
ver war nicht gerade ein großer Gelehrter oder tiefer Denker, aber doch ein 
Iebhafter, freundlicher Mann, der ſich für fetwe Schuler intereffirte und unter 





4 


biefen unfern Brig als einen Knaben von überaus hoher Begabung bald 
auszeichnen lernte. Was aber noch wichtiger war, Fritz befam nun Bücher 
in die Hände, begann fofort einen Kurſus ſehr gemiichter, felbfigewählter 
Lectüre und fab-unter Nomanen, Gedichten, philofophifchen und theologi⸗ 
fen Schriften fi ringsum ein erflaunliches Schaufpiel vor feinen Augen 
Öffuen. Sein Latein und Griechiſch wurden nun beſſer gelehrt, ja er fing 
foger an Hebräiih zu lernen. Zwei Geifliche der Umgegend fanden, fo 
fung er audy noch war, Vergnügen an feiner Gefellihaft und waren ihm 
jegt und ipäter von großem Nutzen. Unter ihren Aufpicien begann er 
ſchriftliche Ausarbeitungen und theologifge Studien, wobei er ſich flark auf 
die keterodore Seite neigte. 


In dem Familienzimmer jedoch geftalteten fich Die Dinge nicht ganz fo 
gedeihlih. Die drei Borlefungen des Profeffors fchließen vor diefer Zeit; 
aus feinen Notizen aber entnehmen wir, daß trübe Wolfen über Schwarzen- 
bach hingen, daß feine böfen Tage hier begannen. Der Vater hatte vielfäl« 
tigere Pflichten zu erfüllen als früher, war oft vom Hauſe abweiend, hatte 
ſich in Schulden geſteckt und verlor feine frühere Heiterkeit des Tempera⸗ 
ments. Für feine Söhne fah er feinen andern Ausweg, als das erbliche 
Schulmeiſterhandwerk und ließ die Sache dabei bewenden, ohne ſich weiter 
viel darum zu befümmern. Nach etwa drei Jahren ſchied der arme Mann 
von Sorgen nicdergebeugt aus diefem Leben und hinterließ feine finanziellen 
Angelegenheiten, die er durch das befiere Einkommen in Schwarzenbach zu 
verbeſſern gedachte, in traurig zerrüttetem Zuſtande. 


Mittlerweile war Friedrich nach Hof auf das Gymnaſium geſchickt wor« 
den, wo er ungeadhtet des eben erwähnten Ereigniſſes einige Zeit blieb — 
im Banzen zwei Jahre, wie es fcheint, die gewinnreichfte Periode feines 
ganzen Linterrichts, ja bie einzige Periode, wo er im eigentlichen Sinne ded 
Worts noch einen andern Lehrer Hatte, als fich ſelbſt. Der gute, alte, tuch⸗ 
machende Großvater und die Großmutter nahmen ihn In ihr Haus und in 
ihre Pflege und er Hatte eine Menge Lehrer, die alle in ihren Faͤchern Tüch⸗ 
tiges leifteten. 


Otto ſchildert Ihn als einen trefflichen, zuverläiftgen, fanften, aber 
doch entfhloffenen Süngling, der feine Benorzugungen, Burüdjegungen, 
Studien, Freundſchaften und anderen Squlſchickſale auf höchſt rühmlicye 
Weiſe durchmachte und beweift Died ausführlich durch verſchiedene That⸗ 


fon erwähnte Frau von Plothe, feinem Bater zu leihen pflegte, aber nicht 
im einzelnen Nummern, fondeen in monatlichen Stößen. 

Dies wer feine ganze Bectüre. Dabei war Joditz ein ungemein abge: 
Segenes Derf, beſaß weder natürliche noch Fünftläche Schönßeit, und wer Hier 
wohnte, bekam fein ganzes Leben lang nichts Merkwürdiges zu ſehen. Aber 
trogdem fand es doch unter einem unermeßliden Himmel und in einer ganz 
wunderfamen Welt, und Blide in die unendlichen Räume des Weltalld und 
fogar in die unendlichen Räume der menſchlichen Seele Eonunten bier eben fo 
gut gethan werden als auderwärte. Frit hatte trog der Schulmeifter feine 
zigenen Bedanfen. Eine Heine himmliſche Saat des Wiffene, ja der Weit 
beit, war in ihn gefireut werben und wuchs, ohne einen andern @ärtner ale 
die Natur, fill enger. Cinigen unferer Leſer wird der folgente Umſtaud 
Höhft fonderbar, wo nicht unbegreiflih, andern aber Eeinedwege jo er. 
feinen. 

„In der künftigen Rulturgefihichte unſeres Helden wird es zweifelhaft 
werden, ob er nicht vielleicht mehr der Philoſophie als der Dichtfunft zu- 
geboren war. In frühefler Zeit war das Wort Weltweisheit — jedoch 
auch ein zweites Wort Morgenland — mir wie eine offene Öimmelspforte, 
durch welche ih hineinſah in Lange, lange Freudengaͤrten. Nie vergeil’ ich 
die nody feinem Menſchen erzählte Ericheinung in mir, wo id bei der Ge⸗ 
burt meined Selbſtbewußtſeins fland, von der id Ort und Zeit anzugeben 
weiß. An einem Vormittag fland ich als cin fehr junges Kind unter ber 
Hausthür und ſah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Geſtcht, 
ich bin ein Ich, wie ein Blitzſtrahl vom Himmel vor mich fuhr und ſeit⸗ 
dem leuchtend ſtehen blieb: da Hatte mein Ich zum erſten Male ſich ſelber 
gefehen und auf ewig. Taͤuſchungen bed Erinnerns find bier ſchwerlich ge= 
denkbar, da kein fremdes Erzählen ſich in eine blos im verhangenen Aller« 
heiligſten des Menfchen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein fo 
alltäglichen Nebenumfländen das Bleiben gegeben, mit Zufähen mengen 
Tonnte. * 

Er ftand in feinem breizehnten Jahre, als feine Familie nad) Schwar= 
zeubach zog, wo fein Bater wine etwas beſſere Stelle erhalten Hatte, mit wel« 
cher Veränderung, jo weit der Schulunterricht In Frage fam, die Ausfihten 
für unfern Helden fid bedeutend freundlicher geflalteten. Der bartige Leh⸗ 
ver war nicht gerabe ein großer Gelehrter oder tiefer Denker, aber body ein 
Iehhafter, freundlicher Mann, ber fid4 für feine Schüler Intereffirte und unter 


4 


biefen unfern Brig als einen Knaben von überaus hoher Begabung bald 
auszeichnen lernte. Was aber noch wichtiger war, Brig befam nun Bücher 
in die Hände, begann fofort einen Kurſus ſehr gemiichter, felbfigewählter 
Zertüre und fah-unter Momanen, Gedichten, philoſophiſchen und theologi- 
ſchen Schriften fih ringsum ein erflaunliches Schaufpiel vor feinen Augen 
öffnen. Sein Latein und Griechiſch wurden nun befler gelehrt, ja er fing 
ſogar an Hebrätich zu lernen. Zwei Geifliche der Umgegend fanden, fo 
jung er auch noch war, Vergnügen an feiner Gefellihaft und waren ihm 
jegt und ipäter von großem Nutzen. Unter ihren Auſpicien begann er 
[hriftlicde Ausarbeitungen und theologiſche Etudien, wobei er ſich flarf auf 
die keterodore Seite neigte. 


In dem Bamilienzimmer jedoch geftalteten fich die Dinge nicht ganz fo 
gebeihlih. Die drei Borlefungen des Profeſſors fehließen vor biefer Zeit; 
aus feinen Notizen aber entnehmen wir, daß trübe Wolken über Schwarzen« 
bach hingen, daß feine böfen Tage hier begannen. Der Bater hatte vielfäl- 
tigere Pflichten zu erfüllen als früher, war oft vom Haufe abweiend, hatte 
fih in Schulden geſteckt und verlor feine frühere Heiterkeit des Tempera⸗ 
ments. Für feine Söhne fah er feinen andern Ausweg, als das erbliche 
Schulmeiſterhandwerk und ließ die Sadye dabei bewenden, ohne fich weiter 
viel darum zu befümmern. Nach etwa drei Jahren fäled der arme Mann 
von Sorgen niedergebeugt aus diefem Leben und binterlich feine finanziellen 
Angelegenheiten, die er durch das befiere Einkommen in Schwarzenbach zu 
verbeffern gedachte, in traurig zerrüttetem Zuſtande. 


Mittlerweile war Friedrich nach Hof auf das Gymnaſium gefchict wor- 
den, wo er ungeachtet des eben erwähnten Ereigniſſes einige Zeit blieb — 
im Ganzen zweit Jahre, wie es fcheint, die gewinnreichſte Periode feines 
ganzen Unterrichts, ja die einzige Periode, wo er im eigentlichen Sinne des 
Worts noch einen andern Lehrer Hatte, als ſich ſelbſt. Der gute, alte, tuch⸗ 
machende Großvater und die Broßmutter nahmen ihn in ihr Haus und in 
ihre Pflege und er hatte eine Menge Lehrer, die alle in ihren Bädern Tuͤch⸗ 
tige leifteten. 


Otto ſchildert Ihn als einen trefflidhen, zuverläifigen, fanften, aber 
doch entfchloffenen Süngling, der feine Bevorzugungen, Burüdjegungen, 
Studien, Freundſchaften und anderen Schulſchickſale auf höchſt rühmliche 
Weiſe durchmachte und beweift dies ausführlid durch verſchiedene That⸗ 


42 


ſachen und Einzelnheiten, deren Mitthellung uns jedoch Bier zu welt führen 
würbe. 

Als ein Beifpiel von Paul's intellectuellen Eigenfhaften mag bier er⸗ 
wähnt werden, daß er damals in Gefchichte oder Geographie faſt gar feine 
Fortichritte machte, obſchon er fich in allen antern Faͤchern des Lernens fehr 
gut anließ. Hierbei war nicht blos der etwas langweilige Lehrer zu tadelm, 
fondern auch der Schüler, welcher Feine Luft hatte. Range nachher erft über- 
wand oder unterdrüdte er feine Verachtung für biefe Studien unt erwarb 
fi) durch eigene Anftrengung einige Fertigkeit in denfelben*). Wir haben 
ein Gleiches auch von andern Dichtern und Philoſophen gehört, beſonders 
wenn ihre Lehrer zufällig profatih und unpbiloiophifä waren. 

Richter rühmt fi, daß er in der Schule niemals geftraft warb; doch 
beftand zwiichen ihm und dem hiſtoriſch⸗geographiſchen Gonrector durchaus 
fein ‚gute® Einvernehmen. Bel einer gewiflen tragikomiſchen Gelegenheit 
anderer Urt kamen fie in noch entſchiednere Colliſton. 

Der eifrige Eonrector, ein fehr braver, thätiger Mann, welder fein 
Bymnaftum fo viel als möglich einer Univerfität ähnlich zu machen wünfchte, 
hatte geglaubt, daß eine Reihe von Disputationen als Vorgeſchmack von 
den auf der Univerfität üblichen fehr nüglich fein, ober dod auf jeden Fall 
der Schule zur Zierde gereichen würden. Unglücklicherweiſe hatte ber wür« 
dige Praͤſident eine Theſis aud der Dogmatik zum Thema einer ſolchen Dis« 
putation gewählt. Ein Schüler follte das Dogma veriheidigen und Paul 
e8 angreifen — eine Aufgabe, zu deren Ausführung er, wie wir ſchon oben 
andeuteten, ganz befonderd befähigt war. Nun wußte der ehrliche Paul 
durchaus nichts von den Grenzen eines ſolchen Streites, fondern glaubte 
er könne, wie nun auch ter Ausgang fein möge, mit voller Kraft darauf 
Iosgehen, Nach wenigen Bängen fihon ward daher fein Gegner fo gut wie 
todt vom Kampfplage getragen und der Gonrector ſelbſt mußte, als er bie 
Gefahr fah, gleihfam von feinem Präftdentenftuhle herabfteigen, um die 

*) „Die ganze Geſchichte,“ fchreibt er in feinem zweiundpreißigfien Jahre, „iR, 
infofern fie ein Gewaͤchs des Gedachtniſſes ift, nichts ale eine kraft: und faftlofe Diſtel 
für pebantifche Stiegligen, aber infofern ift fie, wie bie Natur Alles werih, inwiefern 
wir, wie aus diefer, den unendlichen Geift erraten und ablefen, ter mit ver Natur 
und Beichichte wie mit Buchſtaben an uns — fchreibt. Wer einen Gott in der phyſi⸗ 


fhen Welt findet, findet auch einen in der moralifchen, welches die Geſchichte iſt: die 
Ratur dringet unfern Herzen einen Echöpfer, die Geſchichte eine Vorfehung auf.“ 


43 


dem Refpondenten aus der Hand gefhlagene Waffe in die eigene erfahrnere 
zu nehmen. Paul aber rüdte ihm, ohne fich einihüchtern zu Laffen, eben 
fo herzhaft zu Leibe, ja trieb ihn, wie Allen immer Flarer warb, ebenfalls 
feßr bald in die fehauderhaftefte Enge. Dem Conrector drohte die Zunge 
am Baumen Pleben zu bleiben, denn fein Gehirn ſchwindelte, während fein 
Berftand ftillftand ; nur feine Galle war noch in thätiger Bewegung. 8 
blieb ihm nichts weiter übrig, als mit einem , Halt's Maul!* die Debatte 
zu ſchließen und mit einem Gefidht (gleich dem des weit berühmteren Sub⸗ 
reetord Hand von Füchslein) von gemifchter Farbe „wie rother Bolus, 
grüne Kreide, Raufchgelb und vomissement de la reine* das Zimmer zu 
verlaſſen. 

Mit feinen Studien auf der Univerfltät Leipzig, wohin er ſich im Jahre 
1781 begab, beginnt eine weit wichtigere Aera für Baul, eigentlich die Aera 
feiner Mannheit und erften gänzlichen Abhängigkeit von ſich ſelbſt. 

In Bezug auf Titerarifche oder wiſſenſchaftliche Ausbildung iſt ed nicht 
far, ob er in Leipzig viel dafür gewann, wenigftens ſcheint es nicht viel 
mehr geweien zu fein, als die bloße Nähe von Bibliotheken und Mit⸗ 
fiudirenden ihm überall gewährt haben würde. Gewiſſe Collegia befuchte 
er allerdings und mit Fleiß, aber zu fehr in der Eigenſchaft eines Kritikers 
fowohl als eines Schülere. Er war gewohnt, fih mit Männern, die an 
Alter und Anſehen body über ihm flanden, geiftig zu meſſen und e8 dauerte 
nicht Tange, fo Hatte ſich feine Achtung vor vielen derſelben bedeutend ver⸗ 
mindert. Was fein urjprünglicher Studienplan war oder ob er überhaupt 
einen feften Plan hatte, erfahren wir nidt. In Hof war er, ohne Wahl 
oder Widerſpruch von feiner Seite, für die Theologie vorgebildet worden ; 
dieſes und jedes antere Fachziel aber fhwand in Leipzig in Folge einer 
Menge von Urfachen bald wieder hinweg und Richter, der jetzt noch weit 
entſchiedener ein Selbftlehrer war, fagte ſich von allen gelehrten Bünften los 
und fuchte fich durch Ausbildung feines Geiſtes wie in anderen Beziehungen 
eine eigene Bafld zu gründen. Er las Mafien von Büchern und fchrieb 
ganze Dicke Hefte Ercerpte und Notizen, arbeitete in allen Richtungen mit 
unerfättlicher Gier, erhielt aber von der Univerfität wenig Anleitung und 
erwartete au bald Feine. Erneſti, der einzige wahrhaft audgezeichnete 
Mann des Plages, war kurz nach Paul's Ankunft dafelbft geftorben. 

Uebrigens war es nicht bloß freie Wahl, fondern auch Nothwendigkeit, 
was ihn von den Fachſtudien abwendig machte; er hatte nicht die nöthigen 


4 


Mittel, eins derfelben zu beenden. Ganz andere und weit brüdendere Sor⸗ 
gen ummlagerten ihn. Nicht wie ex in Zukunft bequem leben, fondern wie 
er in der Begenwart überhaupt leben könne, war die große Trage, die ihn 
beſchaͤftigte. Wie es nun auch in Bezug auf intellectuelle Gegenftände fein 
mochte, fo war tod fiherli in moraliidher Beziehung Leipzig feine wahre 
Schule, wo die Erfahrung ihm unter vielen Streichen die weifeften Lehren 
beibrachte. Hier ſah er zuerfi Die Armuth, nicht in der Geſtalt der Spar- 
famfeit, ſondern in der weit drohenderen des wirklichen Mangels, und unge⸗ 
ſehen und allein, mit dem Schidfal auf Leben und Tod kämpfend, bewies er, 
was für eine tiefgewurzelte, unbezähmbare Stärke unter feiner freundlichen 
Milde wohnte, und aus einem Hoffnungsvollen, von drauenden Wolfen um⸗ 
lagerten Juͤngling vervollfommnete er fi zu einem Klaren, freien, gütigen 
und hochfinnigen Manne. 

Mittlerweile ward ihm der Weg zur Erreihung dieſes Ziels ziemlich 
fauer gemadt. Sein alter Schullehrer in Schwarzenbach, felbfi ein Leipzi⸗ 
ger, hatte ihm wiederholt verfichert, daß er in Leipzig fall umfonft leben 
Fönne, fo leicht wären Sreitifche, Stipentien, Privatunterricht u. dergl. für 
tüchtige junge Männer zu haben. Daß Nicter zu diefer Kategorie gehörte, 
batte ihm der Reetor des Gymnaflums zu Hof auf ehrenvolle Weiſe bezeugt 
und in feinem Teftimonium die Würbenträger Leipzigs aufgefordert, dem 
jungen Wanne felbft auf den Zahn zu fühlen; ja er hatte ihn — denn bie 
Beiden waren zufammengereifi — bei verſchiedenen einflußreichen Leuten 
periönlich vorgeftellt, aber alles Died nügte ihm nichts. 

Die Profefforen fand er von einem Heer hungriger Schmaroger be= 
lagert, deren ganze Taftif ihm viel zu widerli war, ald daß er Luft gehabt 
hätte, fie nachzuahmen, und von allen Seiten vernahm er den niederſchlagen- 
den Ausſpruch: Lipsia vult expectari, die Wohlthaten Leipzigd wollen er- 
wartet fein. Nun war aber dad Warten von allen Dingen für den armen 
Richter Dad Unbequemfle. Im feiner Tafche hatte er wenig; Freunde, mit 
Ausnahme eines einzigen Mirftudenten, Feine, und zu Haufe war das Fi⸗ 
nanztepartement in einen Zuftand gerathen, der ſich mit fchnellen Schritten 
dem gänglichen Ruin näherte. Der mürdige alte Tuchmacher war geftorben, 
feine Gattin folgte ihm bald nad und die Wittwe Richter, ihre Lieblinge- 
tochter, welche, obſchon gegen den Math aller Freunde, nad) Hof gezogen 
war, um in ihrer Nähe zu fein, fland jegt mit ihren Kindern allein und 
zwar unter den beflagenswertheften Umfländen. Allerdings war fie Haupt⸗ 


45 


erbin, aber die früher empfangenen Wohlthaten Hatten weit weniger zu 
erben übrig gelaflen, als fle vielleicht erwartete, ja die andern Berwanbten 
machten das ganze Arrangement fireitig und fie mußte ihre noch übrige Habe 
durch Prozeſſe vergeuben, fo daß es ihr kaum möglich ward, durd Aufnahme 
von Darlchen und Berfauf von allerlei Gegenfländen fo viel zufammenzus 
Bringen, ald fle zum täglichen Brode brauchte. 

Auch war ed nicht Armut allein, was fte zu dulden Hatte, ſondern 
auch Beratung und Schmähung ; die Klatſchſchweſtern von Hof beſchuldig⸗ 
ten fie öffentlich der Verſchwendung und erwähnten, anftatt ihr beizuflehen, 
bei ihrem Kaffee das alte Spridwort: „Der Sparer will einen Zehrer ha⸗ 
ben.” Allen diefen Liebeln vermochte fie nichts weiter entgegenzufegen, ald 
eitles Klagen. 

Die gute Frau fcheint bei der rechrichaffenften Geſinnung doch nicht mit 
übergroßer Klugheit begabt gewefen zu jetn, wentgftend nicht mit fo viel, 
als ihre gegenwärtigen Fritifchen Umftände erheifchten. Otto fagt, Richter's 
Bortrait von Lenette in den „DBlumen-, Frudit- und Dornmflücden * enthalte 
viele Züge feiner Mutter. Lenette tft ein aufrichtiges, aber gewähnliches 
und befchränftes Gemüth; bis zum Uebermaß fleißig im Kehren und 
Scheuern ; treuberzig und fromm nach ihrer Weife, aber voll von Unzufrie⸗ 
denheit, Mißtrauen und eigenfinnigen Grillen, ein ſtets geplagte® und 
plagende® Weib, wie der brave Stanislaus Siebenfks, diefer ächte Dio⸗ 
genes dürftiger Armenadvocaten, an ihrer Seite oft ſchmerzlich empfinden 
mußte. 

Die Familie der Wittwe Richter fland eben fo wie ihr Bermögen un« 
ter fchlechter Leitung und gerieth in immer tieferen Verfall. Adam, der 
früger als Paul's Genoß beim Lateiniſchlernen und Kartoffelgraben erwähnte 
Bruder, hatte jeht fogar den befcheidenen Anſpruch, ein Schulmeifter oder 
überhaupt irgend etwa zu werben, aufgegeben, denn nach Tängerem Herum⸗ 
fireihen ging er unter die Soldaten und zog nun welter In der Welt herum, 
bis ihn endlich der große Quartiermeifter Tod zur Ruhe brachte. Das Schiff 
der Familie Nichter war von jeinem alten Ankergrunde Iosgerifien und 
warb jetzt durch Wind und Fluth immer ſchneller verbängnißvollen Strudeln 
und Untiefen zugetrieben. 

Dei diefem Zuftande der Dinge konnte dem Mangel in Leipzig durch 
ben Ueberfluß von Hof keineswegs abgehelfen werden, fondern bie beiden 
Haushalte ftanden einander mehr wie concave Spiegel gegenüber, die einer 


46 


des andern Hunger zu noch größerem für beide reflectirten. Welche Aus 
fit für den armen neunzebnjährigen Bhilofophen! Sogar fein magereö 
Frühſtück von Brod und Mil war nit umfonft zu haben und es war ein 
bedenblicher Umſtand für ihn, daß der Schuhmacher, der feine Stiefel befoh- 
Ien follte, Teinen Credit gab. Weit entfernt, ihm Hinreichendes Geld zu 
ſchicken, hätte es feine bebrängte Mutter gern gefehen, wenn er für ihre 
eigenen Bebürfniffe Geld geborgt hätte und fle lag ihn unaufbhörlih an, 
feinen Brüdern ein Unterkommen zu verichaffen. 

Richter fühlte überdies, daB trogdem er fo arm und hülflos daſtand, 
doc diefe Brüder und diefe alte Mutter Eeine weitere Stüge auf Erden 
hätten ala ihn. Es giebt Menfchen, bei welchen es wie bei Schiller'8 Wal- 
Ienflein Heißt: „Nacht muß es fein, wo Friedland’8 Sterne ſtrahlen.“ Auf 
diefen armen verlafienen jungen Mann ſchien das Schickſal feine Spürhunde 
Io8gelafien zu haben und der bungrige Ruin witterte ihn fon. Außer 
ihm gab e8 Feine Hülfe und feinen Rath, aber in ihm Tag eine Rieſenkraft, 
und aud den Tiefen diefer Leiden und Ernietrigung erhob feine beflere 
Seele fi geläutert und unüberwindlich wie Herfuled von feinen langen 
Arbeiten. 

Ein hoher, Heiterer Stoicismus wuchs in ihm empor. Armutb, 
Schmerz und alle Mebel Iernte er nicht ald Das, was fie fhienen, fondern 
als Das, was fie waren, betradhten ; er lernte fie verachten, ja mit ihnen 
fpielen wie mit wilden Beftien, die er überwunden und gezähmt. „Was iſt 
Armuth,“ fagte er; „wer iſt der Mann, ber deswegen webllagt? Der 
Schmerz ift nur der wie beim Durchbohren des Ohrs für ein Mädchen und 
man hängt Juwelen in die Wunde. * 

Binflere Gedanken hatte er allerdings zuweilen, aber fie vermochten Die 
Heiterkeit feined Geiſtes nicht auf Die Dauer zu trüben. „Zuweilen,“ fagt 
Otto, „geihah es, daß er mit einer fhmerzlichen Bewegung der Hand über 
bie Stirne einen Ideengang, den er befeitigen wollte, gleichſam ab- und hin⸗ 
wegſtreifte;“ weitere Klagen äußerte er nicht *). 





) Bei Körperfchmerzen zeigte er diefelbe Ausdauer und Gleichgültigkeit. Waͤh⸗ 
rend einer Periode feines Lebens litt er an heftigen Kopfſchmerzen, vie ihn, um ſich 
eine Heine Linderung zu verfchaffen, zwangen, den Kopf vollkommen gerade zu halten. 
Trotzdem aber fah man ihn mit ruhigem Antlig und all feiner gewohnten Heiterkeit 
an der Unterhaltung Theil nehmen und nur feine Haltung verrieth, daß er Schmers 
zen litt. 


47 


Während diefer für ihn fo traurigen Bett fehrieb er für fi ſelbſt ein 
Meines Handbuch über praftifche Phtlofophie und nannte e8 „ Andachtsbuch.“ 
Daflelbe enthält Marimen, wie z. B. folgende: 

„Jede unangenehme Fmpfindung iſt ein Zeichen, daß ich meinen Ent» 
ſchlüſſen untreu werte. — Epiktet war nicht ungluͤcklich. 

„Nicht der Zufall, fondern ich verfhulde meinen Schmerz. 

„Es wäre ein unmögliches Wunder, wenn Dich keiner anflele. Stelle 
. Dir daher feine Ankunft vor; jeden Tag made Dich auf viele gefaßt. 

„Sage nie, wenn nur dieſe Leiden nicht wären, andere ertrügefi Du 
beffer. 

„Denke Dir das Weltenheer und die Plagen auf dieſem Weltfläub- 
en. — Der Tod vernichtet Die ganzen Leidendfcenen. 

„Bur Tugend bin id da; wenn einer aber über feine Geſchaäfte alles 
vergiffet und aufopfert, warum Du nicht? 

„ Erwarte Beleidigungen, da die Menſchen ſchwach find und Du ſelbſt 
welche zufügſt. 

„Erweiche Dich durch die Ausmalung der Leiden des Feindes; denke 
Dir ihn als einen geiſtig Gebrechlichen, der Mitleid verdient. 

„Die meiften Menſchen urtheilen ſo elend; warum willſt Du von 
einem Kinde gelobt werden? — Niemand achtet Dich in einem Bettelrock; 
ſei alſo nicht auf eine Achtung ſtolz, die man dem Kleide bezeigt.“ 

Dies find allerdings weiſe Marimen für einen fo jungen Mann; noch 
weifer aber war, daß er fich nicht mit bloßen Maximen begnügte, die, fo 
wahr fle auch immer jein mögen, doch fo lange ein todter Buchftabe bleiben, 
bis das Handeln ihnen Leben und Werth giebt. Er betete fromm zu ben 
Göttern und fiemmte fih mit eigener Schulter gegen dad Rad. „Das 
Uebel,” fagt er, „ift wie ein mächtlicher Alp; in dem Augenblide, wo 
man dagegen zu kämpfen und ſich zu rühren beginnt, iſt es auch ſchon zu 
Ende. * 

Ohne weiter lange Worte zu verlieren, begann Richter demgemäß 
ſtehenden Fußes mit feinem Schickſal zu ringen und war feft entfchloffen, 
fi jelbft zu Helfen. Sein. Mittel war allerdingd von keineswegs viel ver 
ſprechender Art, aber dennoch das einzige, dad er hatte, namlich Bücher 


freien ! 
Er begann auch fofort damit. Die „Grönländifchen Prozeſſe“, eine 


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Sammlung ſatyriſcher, ungemein wigiger und fharfiinniger Skizzen, wurden 
in jenen mißlihen Tagen der unbezahlten Milchrechnungen und unbejohlten 
Stiefel gefchrieben und leben noch, obſchon der Berfafler, abgeichen non 
allen anderen dradenden Umflänten, damals erft in feinem neunzehnten 
Lebensjahre fland. 


Der ſchwierigſte Theil des Geſchäfts aber, nämlich einen Käufer und 
Verleger zu finden, war mit dem Schreiben nicht erledigt. Richter ſchickte 
fein Manufcript bet jämmtlichen Buchhändlern in ganz Leipzig herum; fie 
verriethen ſammt und fonderd jene gänzliche Verachtung der Megeln ber 
Grammatik, worüber fih ſchon Jedediah Cleisbotham beklagte — fie 
„beklinirten den Artikel.“ Paul mußte, wie fo viele Andere, zuſehen, 
wie man feine Sonnenftraflen auf einer Heuwage wog und wie Pie Heu⸗ 
wage fich nicht rührte. 

Paul’8 Herz aber mar eben jo unerfchätterlih als die Wage. Da 
Leipzig nun erichöpft war, fo fland ihm die ganze übrige Welt offen und es 
blieb ihm auch nichts weiter übrig, als zu ſuchen, bis er fände oder bis er 
über dem Suchen ſtürbe. Endlich regte fih ein gewiſſer Voß in Berlin, 
nahm dad Buch an, druckte ed und bezahlte ihm jogar ſechzehn Louisd'or 
dafür. 

Welch ein Potoft hatte ſich nun erihloffen! Paul befhloß, von nun 
an Autor und nichts als Autor zu fein, da er bo nun Ausſicht Hatte, durch 
den Ertrag dieſes Handwerks wenigftens Seele und Leib zufammenzubalten. 
Seine Mutter glaubte, al@ fie hörte, er habe ein Buch gefchrieben, er könne 
vielleicht auch fogar eine Predigt fchreiben und forberte ihn auf, nad Hof 
zu fommen, um in der Spitalfirche einmal zu predigen. „Was ifl eine 
Predigt,“ entgegnete Baul, „die jeder miferable Student maden Tann 3 
Oder glauben Sie, daß alle Geiftlihen in Hof eine Zeile von meinem 
Bude verſtehen, geſchweige machen können? * 


Unglücdlicderweije aber war jein Potoſi wie andere Minen; tie golde 
haltige Ader bielt nicht aus und es blieb nun nichts übrig, ald weiter in 
den harten Felſen hineinzubauen. Die „Grönländifchen Prozeſſe“ fanden, 
obſchon fle gedrudt waren, Erinen Abfag ; das Publikum verlangte Brei und 
Syrup, aber Feine jo ſtark gepfefferte Sauce wie dieſe. Die Recenfentenwelt 
nahm größtentheild Feine Notiz davon; nur ein einziger armer Hund in 
Reipzig hob das Bein dagegen auf. 





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„Es mag vielleicht, * fagte er,, Vieles, wo nicht Alles wahr fein, was 
bier (in den Skizzen) ‚ber Autor in einem bittern Ton über Schriftftelleret, 
Theologen, Weiber, Super u. ſ. w. jagt; allein die Sucht wigig zu ſein, 
reißt ihn durch daB ganze Werfchen zu ſehr Hin, daß wir nicht zweifeln, die 
Zectüre deflelben werde jedem vernünftigen Leſer gleich bein Anfang io viel 
Gel erregen, daß er fi ſolches aus der Hand zu legen gendthigt ſehen 
wird.” Und damit läuft der unglüdliche Bierfüßler weiter, als ob 
gar nichts Beſonderes gefchehen wäre. „Sonderbar!* fegt Oito hinzu, 
„biefe Recenfion, die bei ihrem Ericheinen auf eine ephemere Aufmerkſamkeit 
Anſpruch machen modte und fie wohl aud erhielt, würde in ewige Ver⸗ 
gefienheit gerathen fein, wofern fle derielben nicht auf kurze Zeit wegen eben 
derjelben Schrift hätte entrüdt werden müflen, welde jeder Leſer nad tem 
erften. Hineinblick mit Efel aus der Hand legen oder vielmehr gar nicht in 

die Sand nehmen fol! * 


Ein Augenblid, fagen wir, ift genug. Möge fie wieder hinabſinken 
in die endlofen Tiefen jenes ſchlammigen Pfuhls, denn alles Fleiſch, auch 
Recenjentenfleifch, ift ſchwach und verdient Nachſicht. 

Richter's nächfted Buch war bald fertig, aber bei dieſem Stante ber 
Dinge wollte Fein Menich e8 kaufen, Die „Auswahl aus den Bapieren des 
Teufel8 * — fo lautete der wunderfame Titel — blieb ihm aus ganz andern 
Gründen, ald welche Horaz angiebt, fleben lange Jahre liegen. Vergebens 
ſchickte er das Manufeript umher und correjpontirte und ließ feinen Stein 
unumgewendet und durchwühlte die Welt nady einem Verleger. Es war 
nirgends einer zu finden. “ 


Nun verfuhte der unermüdliche Richter andere Wege. Er uberjendete 
an Sournalsedacteure allerhand Aufiäte und Abhandlungen, von denen viel« 
leicht von zehnen einer angenommen ward; er machte gemeinjane Gejchäfte 
mit gewiflen Provinzialliteraten der Umgegend von Hof, weldhe Geld hatten 
und ihre Sachen felbft verlegten; zuweilen borgte er, ließ ſich aber eben 
nicht angelegen fein, fehr fchnell wiederzubezahlen; er Tebte wie die jungen 
Haben, er war in Gefahr zu verhungern. „Die Gefangenkoſt,“ fagte er, 
„befteht aus Brod und Wafler, id) hatte aber blos das letztere.“ 


„Nirgends, * bemerkt Richter bei einer andern Gelegenheit, „Tammelt 
man die Noth= und Belagerungdmünzen der Armuth Tufliger und philos 
fophifcher, als auf ter Univerfität; der akademifche Bürger thut dar, wie 

Carlyle. I. ä 


viele Humoriſten und Diogenefle Deutichlend habe. ”*) Durch dieſe audge- 
trodnete Sahara pilgesnd , von nichts umgeben ald von öder fandiger Ein⸗ 
famfeit und ohne eine Landmarfe auf Erben, nur Leitfierne am Himmel er- 
blickend, ſcheint Richter doch nirgendE auf feinem Wege wankend geworben 
zu jein und einen Augenblid den Muth oder auch nur die frohe Laune ver⸗ 
Ioren zu haben. „Der Mann, der den Tod nicht fürchtet,“ fagt der grie⸗ 
chiſche Dichter, „fchredit vor feinem Schatten zurüd;* Baul hatte der Ver⸗ 
zweiflung in das Antlig geſchaut und gefunden, daB fie für Ihn nichts 
Berzweiflungsvolles hatte. Hart bedrängt von außen, nahm feine innere 
Energie und feine Kraft, jowohl des Denkens als der Entſchließung, immer 
mehr zu und fußte auf einer immer fihreren Srundlage. Er fland wie ein 
Felſen unter tem Toſen ununterbrodyener Stürme, ja wie ein Wellen, ter 
mit grünem Laub geſchmückt ift und in feinen Spalten Blumen vom jüpeften 
Wohlgeruch nährt. 


Denn in ihm lebte leidenſchaftliches Feuer eben jo wie floifche Ruhe; 
die zartefle Liebe wohnte bier neben frommer Ehrfurdt und über Allem lag 
ein tiefer Humor wie warmer Sonnenjchein audgegoffen, der Alles zu leich⸗ 
ter jpielender Harmonie verihmolz. In diefen harten Brüfungen ftellte ſich 
Das Grelfte, was feine Natur befaß, in noch reinerer Klarheit heraus. Hier 
lernte er Das, was im Menſchen ewig und unvergänglid) it, vom Irdiſchen 
und Vergaͤnglichen unterſcheiden und das Letztere, felbft wenn es Koͤnigs⸗ 
kronen und Siegeswagen wären, nur als die Umhüllung des Juwels oder 


.*) Ueber das deutſche Burſchenleben oder das Thun und Treiben ber jungen 
Leute auf den deutfchen Univerittäten ist bei uns in England viel gefchrieben und ges 
fprochen worden. Wir müflen bedauern, daß bei Beſprechung dieſer Angelegenheit, 
da man fie einmal der Beiprehung würdig erachtete, nicht auch zugleich auf die wahre 
Bedeutiamkeit und Seele aufmerkſam gemacht worden it. Abgefehen von feinen Duells 
fineffien und Gommersliedern und Tabatrauchen und anderen dergleichen Spielereien, 
welche für den deutfchen Studenten weiter nichts als was Kutichenfahren und Pferdes 
Handel und andere ähnliche Spielereien für den englifchen find, hat das Burſchenthum 
feine Bedeutung eben fo gut als der Orfordismus oder Cambridgismus. Der Burfch 
bemüht fich in der Härkiten Sprace, die ihm zu Gebote fteht, zu fagen: „Seht! id, 
bin ein Gelehrter ohne Geld und ein freier Mann;“ der Orforter und Gambritger 
Student dagegen fagt: „Seht, ich bin ein Gelehrter mit Geld und ein aufgeweckter 
Gentleman.“ Rad) unierer Meinung ift von diefen beiden Brflärungen die des 
Burfchen die profitablere. 


51 


gleichſam als daß feinere ober größere Papier jchägen, auf welches das Hel⸗ 
dengedicht des Lebens geſchrieben werten fol. 

Ein Hoher unzerlörbarer Glaube an die Würde Des Menfchen bemädh- 
tigte fich feiner, eben jo wie ein Unglaube an alle andern Würden, und bie 
gemeine Welt und was fie ihm geben oder vorenthalten konnte, war in 
feinen Augen nur eine Kleinigkeit. Ja, er hatte eine Stimme für viefe 
Dinge gefunden, welche, obſchon Niemand darauf hören wollte, doch, wie er 
fühlte, eine ächte war, und eben fo feft war ex überzeugt, daß, wenn dieſe 
Stimme ächt wäre, Fein Ton davon ganz verloren gehen könne. 

Laut die Weisheit predigend, die er aus dem finftern tiefen Brunnen 
des Rißgeſchicks Heraufgezogen, fühlte er fich ſtark, muthig, fogar heiter. 
Er befaß eine innere Welt, die ihn vor dem Froſt und der Hige der äußeren 
ſchutzte. Im diefer Gemüthsſtimmung fiudirend und ſchreibend, obſchon der 
grimmige Mangel durch die Fenſter bineinblicte, betrachtete er Diefen Damon 
mit ruhigem, halbiatyriihem Auge. Allerdings würden wir feiner edel⸗ 
müthigen genialen Natur ein ſolches Schickſal wuͤnſchen, und doch iſt ein 
einziger folder Mann, unter diefen harten, die nadte Wahrheit predigenden 
Einfläffen groß geworden, mehr werth, als taufend populäre Dichterlinge 
und gefchniegelte vornehme Literaten, die durch lügenhafte Einflüffe in forte 
währender Kindheit erhalten werben. 

„In meinen hiſtoriſchen Vorlefungen wird zwar das Sungern immer 
flärker vorfommen — bei dem Helden flcigt’8 ſehr — und wohl fo oft als 
das Schmaufen in Thümmel's Reifen und das Theetrinken In Richardſon's 
Klariſſa; aber ich kann doch nicht umhin, zur Armuth zu jagen: ſei wills 
kommen! fobald du nur nicht in gar zu fpäten Jahren kommſt. Reichthum 
laſtet mehr das Talent ald Armuth — unter Ooldbergen und Thronen liegt 
vielleicht mancher geiftige Rieſe erbrüdt begraben. Wenn in die Flammen 
der Jugend und vollends der heißeren Kräfte zugleich noch das Del des 
Reichthums gegoffen wird: fo wird wenig mehr als Afche vom Phönix übrig 
bleiben ; und nur ein Goethe hatte die Kraft, fogar an der Sonne des Glüͤcks 
feine PHönirflügel nicht kürzer zu verfengen. Der arme hiſtoriſche Profeſſor 
bier möchte um vieles Geld nicht in der Jugend viel Geld gehabt haben. 
Das Schickſal macht es mit Dichtern, wie wir mit Vögeln, und verhängt 
dem Sänger fo Tange den Bauer finfter, bis er endlich die vorgefpielten 
<öne behalten, bie er fingen joll, * 

Es Hat viele Johnſons, Heynes umd andere geringere Naturen in 

ä * 


52 


jedem Lande gegeben, die eine eben fo harte Prüfung wie die unſeres Richter 
durchgemacht und dauernde Spuren ihrer guten und verderblidhen Einflüffe 
an fi behalten haben. Einige verbanden mit ihrer Beicheidenheit und 
ruhigen Duldung eine Trankhafte Muthlofigkeit, andere Stumpfheit ober 
fogar Tod des Herzend ; ja, es giebt deren, welche das Unglück nicht Ichren, 
fondern nur erbittern kann; welche, wett entfernt, ſich von tem Spiegel 
ihrer Eitelkeit, wenn er in Stüden getreten wird, zu trennen, lieber die 
hundert Scherben deffelben zufammenlefen und mit größerem Eifer und grö« 
Berer Bitterkeit als je nicht ein, fondern Hundert Bilder ihres Ih darin 
erblicken. Zür ſolche Menichen ift der Schmerz ein reines Uebel und ihr 
barter Zehrmeifter wird fie als ungelehrige Schüler peiticden bis an's Ende. 

In der neuern Beit jedod und felbft unter den befferen Veifpielen 
können wir und faum eines Menfchen entfinnen, der von Armuth und Lei⸗ 
den jo ungemilchten Gewinn gezogen hätte, wie Jean Paul. Er erlangt 
dadurch nicht blos herkuliſche Stärke, fondern auch die zartefte Weichheit der 
Seele und eine Anficht von der Menichheit und dem menfchlidhen Leben, bie 
nicht weniger heiter, ja fogar ſpielend, als tief und rubig ifl. Furcht if 
ihm fremd; nicht blos der Zorn der Menſchen, fondern auch die Trümmer 
der Natur würden ihn als einen Burchtloien treffen, und dennoch befißt er 
ein Herz, in welchem die zarteflen Regungen wohnen, eine innige liebende 
Sympathie mit allen gefchaffenen Weſen. 

Es Liegt — wir müflen dies fagen — etwas Altgriechifches in dieſer 
Geiftesform, aber etwas Altgriechifches unter den neuen Bedingungen unferer 
Zeit, nicht eine heidniſche, fondern eine hriftliche Größe. Richter hätte als 
treuer, obſchon etwas rebellifher Jünger, neben Socrates fliehen oder, noch 
befier, er hätte Rede und Gegenrede mit Diogenes tauſchen können, der, 
- wenn er nirgends Menfchen finden fonnte, wenigftens hätte zugeben müflen, 
daß auch dies ein junger Spartaner war. Diogened und er würden, troß 
ihrer Verſchiedenheit, die größtentheils zum Nachtheil des letztern entſchied, 
Vieled mit einander gemein gehabt haben, befonderd jene entſchloſſene Un« 
abhängigfeit und entſchiedene Gleichgültigfeit gegen die Macht der öffent- 
lihen Meinung. 

Bon diefer letztern Eigenſchaft fowohl wie von verfchiebenen andern 
Eigenſchaften Richter’ 8 haben wir einen merfwürdigen Beweis in der Epi- 
fode, welche Otto bier über die Eoftümsftreitigkeiten zum erften Male genau 
und ausführlich erzählt. Es Tiegt in diefer ganzen Coſtümgeſchichte etwas 


53 


Großes ſowohl ald etwas Laͤcherliches, was wir beides hier nicht übergehen 
dürfen. 

Im zweiten Jahre feine® Aufenthalts in Reipzig, wo wir gefehen haben, 
daß feine Umſtaͤnde durchaus nicht zu den glänzenbften gehörten, glaubte 
Richter, da er fah, daß die Welt ihm ihre Gunſt verfagte, er werde wohl 
daran thun, wenn er fo weit als thunlic, den Wünfchen, vernünftigen Bes 
fehlen und fogar Brillen feine® einzigen anderen Gönners, nämlich feiner 
eigenen Perfon, einige Aufmerkſamkeit fchenkte. Nun waren ihm die langen 
Beſuche des Friſeurs mit feinem Puder, feinen Puderquaften und Pomaden 
entihieden zuwider und fogar zu koſtſpielig. Ueberdies bewog ihn feine 
Liebe zu Swift und Sterne die Engländer und ihre Moden zu lieben, und 
in Anbetracht aller diefer Dinge nahm Paul fidy die Freiheit, feinen Zopf 
ganz und gar abzufchneiden und nah Vornahme noch einiger anderen Ab⸗ 
änderungen in feinem Coſtum nach fogenannter englifcher Weile gefleidet 
auf die Straße zu gehen. 

Wir vermuthen, daß diefe Mode in gewiflen Punkten eine nur pjeudo- 
englifche war; wenigftens erzäglt die Tradition nichts tavon, daß damals 
oder zu irgend einer andern Zeit eine Mode in dieſen Detaild bei und in 
England herrſchend gewefen fei. Außer dem abgefchnittenen Zopfe trug er 
namlih Hemden A la Hamlet mit offener Bruft ohne Halstuch. So erfchien 
er öffentlih. Die Menfchen erflaunten nicht wenig. Deutiche Studenten 
genießen in der Wahl eines phantaftifchen Coſtüms mehr Freiheit als andere 
Menihen, aber der bloße Hald und der Mangel eines Zopfes ſchien doch 
über dad Bereich diefer Breiheit hinauszugehen. 

Wir denfen und den flarf und groß gewachlenen Eynifer und mit 
welchem in feinem Auge funfelnden Humor er unter die eleganten Herren 
heraustrat, gleich jenem, den Miiftonairen der Wiedertäufer wohlbefannten 
Bögen Ramdaß, fühlend, daß er Beuer genug in feinem Leibe hätte, um 
alle Sünden der Welt hinwegzubrennen. &8 war eine Art Stolz, ja wir 
wollen zugeben, vielleicht Gedenhaftigfeit, aber eine zähe muskuloͤſe Art, 
gleich der, welche in zerlumptem Gewande den Stolz Plato’3 mit Füßen trat. 

Ein gewifler Magifter, der in Richter's Nachbarfchaft wohnte, betrach⸗ 
tete die Sache jedoch feinedwegd von einem fo toleranten Geflhtöpunfte. 
Der arme Richter, arm an Geld, aber übrigens reich, Hatte fih damals ein 
feines Gartenhaus gemiethet, um während des Sommers bei feinen Stu- 
dien einige friiche Luft zu genießen. Der Nagifter, der in demfelben Garten 


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ein größeres und ſchöneres Haus inne hatte, begegnete natürlich ihm, dem 
Bopflofen und Nadthalfigen, auf feinen Spaziergäangen, und da ihm auch 
vieleicht fein trog feines ehrlichen und wohlwellenden Ausdruckes ſardo⸗ 
niſch verzogenes Geſicht nicht geflel, fo nahm er es ſehr übel, daß fo ein 
illegitimer Charakter e8 wagen konnte, neben ihm bie Natur genießen zu 
wollen. 

Jedoch was war zu thun? Sochmüthige, ja fogar zornige Blicke rich⸗ 
teten nichts aus; das ſardoniſche Geſicht verrieth deswegen nicht die mindeſte 
Furcht. Der Magiſter ſchrieb an den Hauswirth und verlangte, daß dieſet 
Aergerniß abgeftellt werde. Richter ſchrieb mit lobenswerther Friedensliebe 
an ten Magifter und verfprach zu thun, was er könnte. Er wollte ſich Dem 
Haufe des Magiſters nicht wieder fo weit nähern, als geftern Abend, blos 
Abends und am Morgen den Barten befuchen und auf diefe Weiſe feinem 
Nachbar größtentheild den Anblick der Kleidung erfparen, die ihn Bequeme 
lichkeit, Armuth und Gefundbeit tragen Tießen. 

Dies waren ganz annehmbare Bedingungen eines Greuztractats, der 
Magifter aber legte fie in allzubuchſtäblichem Sinne aus und fand bald 
Grund, Beichwerbe zu führen, daß fie übertreten worten felen. Gr griff 
wieder zu Tinte und Feder und flellte in peremptoriſcher Sprache vor, Daß 
Paul eine gewiſſe Statue überfchritten habe, die allerdings innerhalb de 
ftreitigen Terrains fland. Er drobte ihm daher mit Serrn Kömers, des 
Hauswirths, Rache und daß er feine eigene Verachtung und gerechte Wuth 
gegen ihn öffentlich an den Tag legen werde. 

Paul antwortete ebenfalls fhriftlich, er habe Feineawegs fein Berfpres 
fhen gebrochen, denn die erwähnte Statue ober irgend eine andere Statue 
Habe nicht das mindefte damit zu thun; nun aber wolle er jein Verſprechen 
bollfiändig wieder zurücknehmen und werde fünftig gehen, warn und wohin 
es ihm beliche, da er ja auch die Erlaubnig Dazu bezahle. „Herr Körner, * 
bemerkte er, „iſt mir nicht fürchterlich,“ und für den Magifter ſelbſt fügte er 
die denkwürdigen Worte hinzu: „Sie verahten meinen geringen Na⸗ 
men, aber merken Sie ihn au, denn Sie werden das Letzte nicht Tange 
gethan haben und dad Erfte nit mehr thun können. Ich ſcheine unver⸗ 
Rändlih, um nicht unbefcheiden zu fcheinen, * 

Bleichzeitig müfjen wir bemerken, daß Richter mit edler Nachgiebigkeit 
dennoch neue Unterhandlungsbedingungen vorſchlug, weldge angenommen 
wurden und in deren Folge ex mit Sad und Pad den Garten fofort räumte 





55 


und in feine flädtifhe Wohnung In den Drei Rofen in der Betersftraße 
zurädtehrte. „So verließ er, * wie Otto mit einigem Dünfel bemerkt, „fein 
Paradies eben fo unverichuldet als unfreimillig wegen einiger Hald- und 
Bruftentblößung, ungeadbtet bie erften Eltern das ihrige nur fo lange be⸗ 
halten Eonnten, ala fie ſich unfchuldig fühlten Hei gänzlicher Nadtheit. * 
Was der Magifter von dem „geringen Namen * einige Sabre fpäter dachte, 
erfahren wir nicht. 

Wenn aber fo tragiſche Dinge in Leipzig vorgingen, wie viel mehr 
mußte dies der Fall fein, wenn er während der Ferien nad Hof fam, wo 
die Richter’8 auf jeden Fall in feinem großen Anſehen fanden. Unfere Lefer 
werden erflaunen, wenn fie erfahren, dag Paul mit der farffteften Hart⸗ 
nädigfeit allen Vorftellungen feiner Breunde und Verfolgungen feiner Feinde 
in diefer großen Sache Widerſtand leiſtete und nicht weniger als firben ganze 
Sabre à la Hamlet einherging! Er ſelbſt ſchien ſich ein wenig bewußt zu fein, 
daß es Affectation war, aber er wollte einmal ſeinen Willen durchſetzen. 
„Ueberhaupt,“ ſagt er, „halte ich Die beſtändige Rüdiicdt, 
die wir in allen unſern Handlungen auf fremde Urtheile 
achmen, für dad Gift unferer Rube, unferer Bernunft 
und unferer Tugend. An diefer Sflavenkette habe Ih Tange gefeilt, 
aber ich hoffe kaum, fie jemald ganz zu zerreißen. Ich wünicde mich an den 
Tadel Anderer zu gewöhnen und |cheine ein Narr, um die Narren ertras 
gen zu lernen.” 

So ſpricht ter junge Diogenes und umarmt, um fi zu üben, die eiflge 
Säule, ale ob Tie Welt nit Eisfäulen diefer Art genug darböte, ohne daß 
der Menfch vom Wege abzuweichen braudte, um fie zu fuchen! Beſſer ift 
jene andere Marime: „Wer in wichtigen Dingen von der Welt abweicht, 
muß fih ihr in gleihgültigen um fo jorgfältiger anbequemen. * Ja, allmälig 
fah Kichter dies ſelbſt ein, und nachdem cr nun genügend dargethan, daß er 
feinen Willen wohl durchfegen konnte, wenn er fonft wollte, richtete er an 
feine Freunde (hauptiachli die oben erwähnten Literaten des Voigtlands) 
dad folgende Rundſchreiben: 


„Avertiſſement. 
Endedunterſchrirbener ſteht nicht an, bekannt zu machen, daß, ta die 


abgeſchnittenen Haare ſo viele Feinde haben, wie die rothen, und da die 
namlichen Feinde zugleich es von der Perſon find, worauf fie wachſen; da 


5 


ferner fo eine Tracht in einer Rückſicht brifli iR, weil ſonſt Perfonen, 
bie Ehriflen find, fle haben würden; und da befonderd dem Endesunter- 
ſchriebenen feine Haare 10 viel geichadet, wie dem Abſalon bie feinigen, 
wiewohl auß umgelehrten Bründen; und da ihm unter der Hand berichter 
worden, daß man ihn in's Grab zu bringen fuchte, weil da die Haare unter 
feiner Scheere wüchfen, jo macht er befannt, daß er freiwillig fo lange nicht 
paſſen will, Es wird daher einem gnädigen hochebelgehorenen x. Publikum 
gemeldet, daß Endeöunterzeichneter gejonnen if, am nächſten Sonntage in 
verihiedenen wichtigen Baflen (Hof) mit einem kurzen falfchen Bopfe zu 
erjcheinen, und mit dieſem Zopfe gleichiam wie mir einem Magnet und Eeile 
ter Liebe und Zauberflabe ſich in den Beftg der Liebe eines Jeden, er heiße 
wie er wolle, gewaltiam zu fegen. * 

„Co ehrenvoll endete, * wie Otto meint, „das lange Kleidermartyr⸗ 
thum, * auß teffen Verlaufe wir, abgejehen von der darinliegenden komiſchen 
Mirfung, BZweierlei lernen können: erſtens, daß es Paul feinesiwegd an 
einer gehörigen Bleichgülrigfeit gegen ten populären Wind fehlte und er 
bei paflender oder unpaflender Gelegenheit nach Gutdünken in feinen Mantel 
gehüllt feſt auf der jelbfigewählten Baſis Reden konnte, und zweitend, daß 
er einen fo elafliichen Humor des Geiſtes befaß, daß außer den Gegendruck 
gegen Armuth und fogar Hunger nod ein Elarer Ueberfhuß da war, um 
tamit phantaftifche Streiche zu fpielen, über welde die Engel allerdings 
nicht weinen, wohl aber tie Köpfe ſchütteln und lächeln konnten. 

Wir kehren jedod zu unferer Geſchichte zurüd. 

Mehrere Jahre vor tem Datum dieſes Avertiffements, nämlihd im 
Sabre 1784, kam Paul, der fih nun feſt vorgenommen Hatte, mit oter 
ohne LZefer immer weiter zu ſchreiben, da er in Leipzig weiter nichts fand 
ald Hunger und Drangjal, auf den Einfall, daß er ja eben jo gut in Hof 
bei feiner Mutter jchreiben Eönne. Seine Verleger, wenn er deren hatte, 
febten in andern Städten und die beiden Hauswirthſchaften Eonnten wie 
zwei verglimmente Bunfen vielleicht noch eine Weile glüben, wenn fie auf 
geſchickte Weile zufammengelegt wurden. Er verließ Leipzig demgemäß nad) 
einem dreijährigen Aufenthalte und begann nun vollfländig auf eigene Fauft 
zu leben. 

Wahricheinlih enthalt die ganze Befchichte der Literatur fein zweites 
Belipiel von einem literarischen Haudwefen, wie das in Hof war, fo ſchmuck⸗ 
[08 und unabhängig, fo einfach, um nicht zu fagen, ganz und gar unmöblirt. 


57 


Die geführten Erbſchaftoprozeſſe hatten das Ihre gethan und die Wittwe 
Richter Ichte mit ihrer Familie in einem Hause, weiches ein einziges Wohn- 
zimmer enthielt. Paul hatte weiter keine Bücher, als zwölf gefchriebene 
Bände Ercerpte und die bedeutende Bibliothek, die ex in feinem Kopfe trug, 
und das Publikum konnte, beſonders da er noch keinen Zopf trug, nicht 
recht einſehen, was bei tiefen geringen Hülfömitteln aus ihm werten follte. 


Zwei große Vortheile aber beiaß er, welche das Publikum nicht genug 
zu würdigen verftand: Ginen wirflihen Kopf auf feinen Schultern, nicht, 
was gewöhnlicher ift, ein bloßes huttragendes, leeres Bild von einem Kopfe, 
und das ſeltſamſte, tapferfle, in der That ein ganz edles Herz im Leibe. 
Dier konnte er nun in der That, wie die Pflicht des Menfchen es verlangt, 
feine Exiftenz höher fhägen, als feine Art und Weife zu eriftiren, welche 
allerdings fehr leicht geringzufhägen war. Mochte daher kommen, was da 
wollte, fo war er entfhloffen, auf feine eigene Kraft bin, den Kampf mit 
dem Schidfale bis aufs Meußerfte fortzuießen, ja während er wie ein Ajar 
focht, „dem Glück in's Geſicht zu lachen, bis es ebenfalls anfinge zu lachen * 
und aufhörte, ihm zu zürnen. 

Er verlor bei feiner Schriftfitllerei daher niemals den Muth, fondern 
fuhr hartnäckig fort, daran ald an jeinem rechten Werke zu arbeiten, mochte 
das Wetter nun fonnig oder flürmifch fein. Uebrigens ftand die Armuth 
an den Pfoften jeiner Thür angefchrieben und Seder, der vorbeiging, konnte 
in großen Buchſtaben lefen: „Lieben Ebriften, Ihr fehet, daß ich nicht viel 
Geld habe; welchen Schluß zieht Ihr daraus?“ 

So dauerte der Kampf weiter und noch zeigten fih für Paul Feine 
Ausfichten auf Sieg. Erft 1788 fand er einen Verleger für feine „ Papiere 
des Teufels“ und felbit dann wenig Leſer. Aber feine Entmuthigung ver⸗ 
mochte ihn niederzubeugen ; die Schrififtellerei war, wie er ein für allemal 
fühlte, fein wahrer Beruf, und darin fand er eine Aufforderung, auf alle 
Gefahr hin auszubarren. Eine kurze Zeit war er Hauslehrer geweſen und 
erhielt wieder ein weit verlockenderes Anerbieten von derſelben Art, ſchlug 
es aber aus und nahm ſich vor, hinfort keine Kinder weiter zu erziehen, als 
ſeine eigenen — ſeine Buͤcher, möge der Hunger dazu ſagen, was er wolle. 


„Mit ſeiner Mutter,“ jagt Otto, „und zuweilen zugleich mit mehrern 
Brütern, immer aber mit einem, lebte er in einer ärmlihen Wohnung, 
d. i. in einer einzigen Stube zufammen, und Died fand fogar nod ftatt, 


als — nah dem Erfcheinen der Mumien — fein Glädöfkern aufzugeben 
anfing, um immer höher zu fleigen und nie wieder untergugeben. — — — 

„Gleich wie Paul in den Charakteren von Walt und Bult*) — dieſe 
Andeutung bat er wörtlich hinterlaſſen — ſich ſelber ſchildern wollte, fe 
darf wohl and bemerft werden, daß ihm bei der Schilderung Lenetten's 
feine Mutter in dem Zeitpunfte mit vorſchwebte, wo die Durch lange Zeiten 
gedemüthigte und nicdergedrüdte Frau wieder aufzuleben und fi einiger« 
maßen emporzuridhten begann **), weil fle an der Wahrheit feiner Voraus⸗ 
verfüntigung einer beglüdenten Echriftſtellerei nicht mehr zu zweifeln ver» 
mochte. Sie beforgte nun auch um fo emfiger in einem und demfelben Zim⸗ 
mer, worin Paul ſchrieb und fludirte, Eochend, waſchend, reinigend und den 
Beſen rührend, die häuslichen Geichäfte und fpann, wenn dieſe vollbracht 
waren, Baumwolle. Ueber den fümmerlichen Erwerb, den fie ſich dadurch 
verfhaffte, führte fie Buch und Rechnung. in ſolches Einnahmebüchlein 
ift unter dem Titel „Was ich erfponnen * über die Monate vom März 1793 
bi8 zum September 1794 noch vorhanden. Darin ift die Einnahme vom 
März des erften Jahre mit 2 Fl. 51 Kr. 3 Pf.; die vom April mit 4 I. 
3 Kr., tie vom Mai mit A Fl. 9 Kr. 3 Pf. u. f. w., zuleßt die vom Auguft 
1794 mit 1 81. 24 Kr., die vom September deſſelben Jahres mit 2 ST. 
1 Kr. aufgeführt und noch auf der Ichten Seite des Püchleind bemerkt, daß 
Samuel (der jüngfte Sohn) am 9. des nämlichen Septembermonatd ncue 
Stiefeln befommen, „die drei Thaler koſteten“, — beinahe die Ginnahme 
eines ganzen Vierteljahres ! 

Wir haben bei dieſem Theile von Paul's Geſchichte um fo langer ver⸗ 
weilt, weil wir ihn für ganz beionders intereffant halten und well, wenn 
ber Anblick eine8 großen Mannes, der mit dem Unglüd kämpft, ein Schau⸗ 


*) Gottwalt und Duoddeusvult, zwei Brüder (Hehe Baul’s „Wlegels 
jahre”) von den entgegengeiepteften Temperamenten — der erflere ein Riller, weiche 
herziger thränenvoller Enthuſiaſt; der andere ein toller Humoriſt, von Herzen ehrlich, 
aber bei jeter Gelegenheit ten feltfamiten Brillen, theoretifchen fowohl als praftifchen, 
huldigend. 

**) Ganz enworrichten konnte ſie ſich nie mehr, und in fliller Demuth und fi 
den lauten Ausdruck der Freude verſagend, erlebte fie noch und genoß furchtſam und 
freudig zweifelnd die Wonne, den Werth des Sohnes noch öffentlich anerfannt und 
bieien von bem bedeutendſten Menichen aufgefucht md auch fich dabei, twie zuvor nie, 


geehrt zu fe. en, 








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fiel iR, welches verdient, daß bie Götter darauf herabblicken, es für ges 
wöhnliche Mitflerbliche noch weit erhebender und Iehrreicher fein muß, zu 
tm hinaufzuſchauen. Für und im Iiterarifchen England vor allen Dingen 
bet ein ſolches Leben und Handeln wie Michter'8 noch ein ganz hefondere# 
Intereffe, daß Intereffe vollftändiger Neuheit. Bon allen literariſchen Phär 
nomenen kann das, daß ein Literat an feine Urmuth zu glauben wagt, ale 
das feltenfte betrachtet werden. Kann ein Menich ohne Kapital wirklich den 
Mund öffnen und zur Menſchheit ſprechen? Hatte er alſo wirklich fein 
Brundeigenthum, keine Eonnerion wit den höheren Klaffen? Nach den uns 
vorliegenden Documenten fcheint ed fo. Er war weder ein Etelmann noch 
ein Gentleman, fondern einfach ein Mann. 

Welch ein wunderbarer Geift der Vornehmthuerei befeelt überhaupt 
unfere britifche Titeratur der gegenwärtigen Zeit! Wir haben jegt Teine 
Schriftſteller mehr, fondern blos Literarifche Bentlemen. Samuel Johnſon 
war der Leite, welder in jener erflern Eigenfchaft zu exrfiheinen und ohne 
sefaufte oder geftohlene Krüden auf feinen eigenen Beinen zu ſtehen wagte, 
der naturwüdhfige alte Samuel, der Ießte aller Römer! &8 gab eine Zeit, 
wo in der engliſchen Literatur eben fo wie tm engliichen Leben das Zuflipiel 
„Seder nach feiner Laune * täglich unter und aufgeführt warb; jetzt Dagegen 
hält das armielige franzöftfche Wort — franzöſiſch in jeder Beziehung — 
„Qu’en dira-t-on ?“ uns alle wie ein Bauber umfchloflen und es bleibt und 
wi ũbrig, als einander zu einer gleichförmigen Nation von Gentlemen 
abzurichten und zu drefſtren, wie ein Regiment Soldaten. 

Der, welcher Heldengedichte fchreiben will, muß zunächft fein Leben zu 
einem Heldengedicht machen. Wir dagegen fagen, wer Heldengebichte ſchrei⸗ 
ben will, möge Geld in den Beutel fledden ; oder werm er frine Gelbmünzen 
dat, fo möge er Kupfermünzen oder Kiefel hineinthun unt damit wie mit 
aͤchtem Metall vor ten Ohren der Menfchen herumklimpern, damit fe ihm 
Gehör ſchenken. Hierin beftcht jet das Geheimniß des Gutſchreibens, wie 
das des Butlebens inımer darin beſtanden hat. NS wir dad erſte Mal 
Grubſtreet befuchten und mit entblößtem Haupte und einem „‚Salre, magna 
porens!‘“ dem Benius des Ortes unſere Ehrfurcht bezeigten, waren wir 
ganz erflaunt, auf unfere Erkundigung zu erfahren, daß bie Autoren nicht 
mehr hier wohnten, fendern ſchon fett vielen Iahren weiter nad Weſten ges 
gegen feten, um ſich mehr dem Lehen der feinen Welt zu nähern. 

Ohne Zweifel Hat das Bedürfnig unſerer Zeit es fo verlangt und die 





60 


Folgen davon werden nicht außbleiben. ine dieſer Folgen zeigt ſich auch 
jetzt fchon in einem Grade von Stümperei und Dilettantißmug, der in der 
Geſchichte der Literatur nicht jeineß leihen bat und ſchon an und für fi 
binreiht, uns den Neid der übrigen Nationen zuzuziehen, denn der einfl 
für die Ruhe der Gefellihaft fo gefährliche Schriftfteller ift jegt vollfommen 
unfhäblich geworden, fo daß er vor einem Blick erzittert und ſich mit einem 
baummwollenen Faͤdchen Hände und Füße binden läßt. 

Es ift bei und die gegrüntetfte Hoffnung vorhanden, daß fortan weder 
Kirche noch Staat durch die Literatur in Gefahr gebracht werden. Der alte 
Schhriftfteller fand, wie wir ſchon oben jagten, auf feinen eigenen Beinen, 
trug ein ganzes ungetheilteß Herz in der Bruft und Fonnte zu Mancherlei 
gereizt werden. Der neue Schrififteller dagegen kann gar nicht anders ftehen, 
ald in einem Schnürleibe. Er muß erft feine ſchwachen Seiten mit dem 
Fiſchbein eines gewiflen fajhionablen, vornehmen Air aufgürten, ſei das 
Fiſchbein nun geerbt, gekauft oder, was wahrfcheinlicher ift, geborgt oder 
geſtohlen, und damit flebt er ein wenig ohne zufammenzufallen. Und wenn 
nun ein folcher Menſch fein Brummeifen fpielt, um den Kindern ein Ver⸗ 
gnügen zu machen, was iſt dann von ihm zu fürdsten oder was kann man 
mebr von ihm verlangen? 

Ernfthaft geiprochen, müflen wir es jedenfalls als eine merfwürbige 
Erſcheinung betrachten, daß jeder Engländer ein „Gentleman“ fein will oder 
fein jol, daß in einem fo demokratiſchen Lande unfer gemeinfamer Ehren- 
titel, den Alle für fih in Anjprud nehmen, einer ift, welcher anerfannter- 
maßen mehr von der Stellung und vom Zufall ald von Eigenfchaften ober, 
im beften Kalle, wie Goleridge e8 erklärt, „von einer gewifien Gleichgültig⸗ 
feit gegen Geldangelegenheiten” abhängt, welde gewifle Gleichgültigkeit 
wiederum weife oder unfinnig fein muß, je nachdem einer viel oder wenig 
Geld Hefigt ! 

Nach unjerer Meinung ifl der Grund Hiervon in tem Handelsgeiſt der 
Nation zu ſuchen, welder ihrem politifchen Geiſte entgegenwirft und diefen 
unterdrüdt, denn bie Amerikaner follen fi in dieier Beziehung noch mehr 
auszeichnen als wir. Aber weldy eine hohle windige Leere des inneren Cha⸗ 
rakters verräth dies, wenn wir anflatt eines waderen tüchtigen Herzens nur 
eine volle Börfe aufzuzeigen bemüht find und Alles fi nad einem falichen 
Ziele Hindrängt und ftößt. Der Höfling muß feine Hühneraugen immer 
weiter und weiter zurückziehen, damit ihm der Bauer nicht mit dem Abſatze 


61 


darauf trete und daß wir auf allen Seiten anflatt Glaube, Liebe und Hoffe 
nung weiter nichts als Armuth, Habgier und Eiteffeit ſehen, das ift fo 
ziemlich handgreiflich. 

Narren, die wir find! Warum rutfchen vir uns die Knie wund und 
Ihlagen befümmert an unſere Bruft und beten Tag und Nacht zum Mam⸗ 
mon, der, wenn er und aud hören wollte, und doch faft nicht einmal etwas 
zu geben hat? Denn jelbft angenommen, daß der taube Gott unfere Opfer 
erbörte, daß er unfer vergoldetes Meffing in maſſives Gold verwandelte und 
und alle aus hungrigen Nadhäffern des Reichthums und der Vornehmheit, 
morgen zu wirklichen Rotbihilts und Howards machte, was hätten wir 
weiter Davon? Sind wir nicht ſchon Bürger dieſes wunderbaren England 
mit feinen erbhabenen Shakfpeares und Hampdens, fa dieſes wunterbaren 
Weltalls mit feinen Milchſtraßen und Emigfeiten und feinem unausſprech⸗ 
lichen Blanze, daß wir uns fo plagen und abmühen und einander in Stüden 
reißen, um einige Ader (ja noch öfter nur den Schein einiger Adler) mehr 
oder weniger zu gewinnen, während das größte diefer Beſitzthümer, der 
Sutherland ſelbſt, fhon von dem Monde aus nicht mehr zu fehen ift? 

Narren, die wir find, in diefen unferen Aeckern, felbft wenn wir deren 
baten, zu graben und zu bohren wie Regenwürmer und weit entfernt, die 
himmliſchen Lichter zu betrachten und uns ihrer zu freuen, fie blos vom 
unbeachteten und ungeglaubten Hörenjagen zu kennen! Sollen gewifle Biund 
Sterling, die wir vielleicht in der Banf von England haben oter die Ges 
ſpenſter gewiffer Pfunde, deren Beflg wir heucheln, und die Schäge verber⸗ 
gen, zu denen wir alle in dieſer, der, Gottesſtadt“ geboren find? 

Wenn wir aber auch die Geldwechsler, Ehren⸗ und Aemterjäger und 
dergleichen ihre eigenen Elugen Wege, von welchen fie einmal nicht abweichen, 
rubig geben laſſen, jo müſſen wir e8 doch als einen eigenthümlichen Umſtand 
erwähnen, daß derfelbe Geift in foldem Umfange auch in der Literatur hat 
Dlag ergreifen können. Die Literatur ift das Auge der Welt, welches Alles 
erhellt und anflatt des Scheins der Dinge und die Dinge ſelbſt zeigt. If 
nun auch dad Auge blind geworden? Hat der Dichter und Denker die Phi⸗ 
Iofophie des Gewürzfrämers und Livreebedienten angenommen? Hören wir 
Lord Byron felbft über dieſen Gegenſtand. 

Bor nıehrern Jahren erfhienen in den „Magazinen * und zur Bewun⸗ 
derung der meiften Leute vom Fache gewiffe Auszüge aus Briefen von Lord 
Byron, welche diefe Philofophie ziemlich weit trieben. Seine Lordfchaft 


eswähnte barin, daß alle Negeln der Poeſſe keinen Pfifferling werth feien; 
nach welchem Aphorismus feine Lordſchaft weiter behauptete, der große Ruin 
aller britifchen Dichter habe feinen Grund in einer ſehr einfachen Urſache, 
nämlich in dem Umſtande, daß fie in den höchften Kiafien ber Geſellſchaft 
feinen Zutritt hätten. Er für feine Perfon und Thomas Moore wären mit 
diefem Leben der feinen Welt vollfommen vertraut, er in Folge feiner Ge 
burt, Moore in Kolge eined glücklichen Zufall, und deshalb Fünnten fie 
beide Gedichte ichreiben ; die andern dagegen wären damit nidt vertraut 
und fönnten daher feine ichreiben. 

Sicherlich wird es nun die höchſte Beit, daß alle dergleichen Dinge 
aus unferem Blaneten hinausgetrommelt werden, um nie wieder zu kommen. 

Richter feinerfeitd war von dem Weſtend Hoffe vollſtaͤndig ausge⸗ 
fchloffen, denn auch Hof hat fein Weftend. Jeder Sterbliche ſehnt fih nad 
feinen: Paradeplatz und wünfcht bei Banfetten und @elagen fich eines oder 
des andern Sitzes zu bemeiflern, worin er Diele oder jene gerupfte Gans ber 
Nachbarſchaft überragt. — Der arme Richter Fonnte demzufolge nur zu 
dem Weftend des Weltalld Zutritt erhalten, wo er allerdings ein pracht⸗ 
volles Befigthum inne hatte. Die juriftiichen, theologifchen und anderen 
Sonoratioren von Kof hätten, wenn fie Luft gehabt, ihm einige Bücher 
leihen, einige Zügen weniger von ihm erzählen oder glauben und auf Diefe 
Weiſe pofltiv und negativ dem jungen Abenteurer manden kleinen Dienfl 
erweifen können ; fle hatten aber einmal Feine Luft dazu und glücklicherweiſe 
fah er fi in ven Stan geießt, auch ohne fie zurecht zu kommen. 

Heiter, fanft und fröhlich wie ein Lamm, und doch flarf, grofmüthig 
und königlich muthig wie ein Löwe, arbeitete er beim Sceuern der Keſſel, 
beim Ziſchen und Sprudeln der Kochtöpfe, beim fummenden Spinnrad feiner 
Mutter immer weiter und nicht ohne ſtolzes Gefühl hört unfer Lefer — 
tenn aud er ift ein Menſch — daß der Sieg endlich errungen ward und daß 
Werke, welche bie denkendſte Nation Europa's als klaſſiſch betrachtet, unter 
ſolchen Umftänden gefchrieben wurden. 

Eben an diejem tiefften Punkte der Erzählung aber macht Otto vor 
laufig Halt und giebt uns nur die Verfiherung, daß beſſere Tage im An⸗ 
zuge find, fo daß wir in Bezug auf den ganzen fleigenden und herrſchenden 
Theil von Richter's Geſchichte auf unfere eigenen Hülfsquellen angewirfen 
find. Aus diejen haben wir nur einige Dürftige Andeutungen geſchöpft, die 
wir hier mit freilich fehr unverhältnigmäßiger Kürze fummiren, 


63 


Die „unfichtbare Loge”, die im Jahre 1793 aus ter Spinnflube zu 
Sof hervorging, war, wie es ſcheint, daB erfte jeiner Werke, welches ent» 
fhiedene Gunſt und beifällige Aufnahme fand. Eine lange Prüfung, denn 
der Verfafler hatte nun feit länger als zehn Jahren die Gitadelle der Kitera- 
tur belagert, ohne daß eine Breſche fich zeigte! Dit dem Erſcheinen des 
„Hesperus“, einer abermaligen wunterbaren Erzählung, welche aus dem⸗ 
felben „einzigen Wohnzinmer* im Jahre 1796 hervorging, endete die Be⸗ 
lagerung fo zu fagen durch einen Fühnen Sturm und Jean Paul, von wels 
chem die Meiften nicht wußten, was ſie denfen follten, der hier und da von 
manchem Schwahfopf ohne Bedenken für halb wahnjinnig erflärt worden 
war, ſetzte es allgemein außer Zweifel, daß er, obfhon noch von dämmerigen 
Dünften umhüllt und nur in feltfamen vielfarbigen, unregelmäßigen Strah⸗ 
len glänzend, doch einer ter himmliſchen Kichtförper feiner Zeit und feiner 
Generation fei und fein werde. Die intelleetuelle Energie, welche er im 
„Hesperus“ entfaltere, noch mehr der Adel der Gefinnung, die Sympathie 
mit der Natur, die warnıen, ungeflümen, aber doch reinen und erbabenen 
Shilterungen der Freundſchaft und Liebe, im geringeren Grade vielleicht 
der wilde geräufchvolle Humer, des überall darin vorherrſcht, erwarben 
Richter nicht blos Bewunderer, fondern auch perſoͤnliche Gönner in allen 
Gegenden feines Vaterlandes. 

Gleim 3.3. konnte, obſchon damals achtzig Jahr alt und zu den legten 
noch lebenten Juͤngern eines ganz andern Schule gehörend, fih vor Ent⸗ 
zäden gar nicht faſſen. „Weld ein Gottgeniuß,* jo fchrieb er einige Zeit 
fpäter, „tft unfer Friedrich Michter! Ich leſe feine Blumenftüde zum zweis 
ten Male. Hier iR mehr ald Shakſpeare, jagte ich, bei fünfzig angeftrichenen 
Stellen! Welch ein Gottgenius! Ich bewundere durchaus den Menſchen⸗ 
Topf, aus welchem diefe Ströme, diefe Bäche, dieſe Rheinfälle, dieſe blan⸗ 
duflfchen Quellen auf die Menichheit fich ergießen, die Menjchheit zu Menfche 
heit machen wollen, und bin ich Heute mit einigen Worten, mit ſolchen, die 
die Mujen nicht eingeben, bin td mit dem Plane heut nicht zufrieden, fo 
bin ich's morgen. * 

Der gutmüthige muntere Greis hatte ihm, wie ſich jpäter ergab, einen 
freundlichen „Septimus Firlein“ unterzeihneten Brief mit einem Geldges 
Ihent überfendet, den Richter mit großer Herzlichkeit und einiger Neugier, 
das Geheimniß zu durchdringen, in eben biefen „Blumenftüden * beantwor« 
tete und fo entftand bald eine freudige Bekanntſchaft und Breundichaft. 





64 


Baul flattete einen Beſuch in Halberſtadt ab, wo er die herzlichſte Aufnahme 
fand und ſich malen ließ, welches Portrait nah tem Delgemälde von Pfen⸗ 
ainger in Gleim’s „Ehrentempel” noch jet zu ſehen ifl. 

Ungefähr um biefelbe Beit that auch die Recenſentenwelt nad langem 
gewifienhaften Stillfchweigen wieder ihren diden Mund auf und in einer 
ganz andern Sprache, indem fie ein heiſeres Nunc Domine dimittas mit bes 
deutender Zungenfraft hervorkreiſchte. Zur Ehre unferer Zunft hätten wir 
gewünicht, daß die Hecenfentenwelt ihr Mimittas ein wenig eher angeftimmt 
hätte. 

Im Jahre 1797 ward die Witte HMichter dem feltfamen veränder- 
lien Klima diefer Welt entboben und, wie wir hoffen, in ein fonnigeres 
aufgenommen. Ihre Kefiel hingen ungefcheuert an ter Wand und die fo 
oft mit ihrem baumwollenen Baden gefüllte und mit ihren Thränen benegte 
Spindel drebete fich nicht mehr. Arme, alte, fhwerbeladene Seele! Und 
dennoch fiel auch auf fle ein Lichtftrahl von oben herab und die „Drei Thaler 
für Samuel’8 neue Stiefel* waren reichlicher und geiegneter als das Löſe⸗ 
geld manches Königs. Ja fle fah, ebe fie von Hinnen ſchied, daß fle, auch 
fie, einen großen Menſchen zur Welt geboren, und der Sonnenichein ihrer 
Jugend, der fo lange durch Ueberſchwemmungen erfäuft worden, blickte am 
Abend mit freundlichem Lebewohl wieder hervor. 

Nachdem der Haushalt in Hof auf diefe Weite ſich aufgelöft hatte, 
führte Richter einige Jahre lang ein wanderndes Leben. Im Laufe diefes 
jelben Jahres 1797 finden wir ihn wieder in Leipzig und zwar unter ganz 
anderen Umfländen ald ehemald. Denn anflatt gefchniegelter anmaßender 
Magifter, die ihn nicht einmal feine gemiethete Hundehütte in Frieden be⸗ 
wohnen laſſen wollten, ward er jeßt hier mit drei, mit allen Heizen bes 
Körpers und des Geiſtes gefchmücten Pringeffinnen, den Töchtern ber Her- 
zogin von Hildburghauſen, befannt. Der Herzog, welder feinen außer- 
ordentlichen Verdienſten ebenfalld Gerechtigkeit widerfahren ließ, verlieh 
ihm einige Jahre fpäter den Titel eines Legationsraths. 

Ueberhaupt feheint Sean Paul von diefer Zeit an einen für und übers 
rafchenden Zutritt bei Fürften und Bürftinnen gehabt zu Haben. So z. B. 
in den gefelligen Eirkeln, in welchen die Herzogin Amalia von Weimar bie 
talentvollften Männer erft in Etteröburg und fpäter in Tieffurt zu verſam⸗ 
meln pflegte; dann bei dem Herzog von Meiningen in Coburg, der ihn mit 
dringender Freundlichkeit eingeladen hatte; bei dem Fuͤrſt Primas Dalberg, 





65 


ber es nicht bei einer bloßen Einladung bewenden ließ; fpäter bei der hoch⸗ 
begabten Herzogin Dorothea in Loͤbichau, welchen Beſuch er als feflliche 
Tage ſelbſt verewigt hat u. ſ. w. u. ſ. w. 

Alle dieſe kleinen Umſtände ſollten von jener Klaſſe britiſcher Philo⸗ 
ſophen in Erwägung gezogen werden, bie in manchem intellectuellen Theecirkel 
fo läftig find und den „Deutichen fchlehten Geſchmack“ aus unferem eigenen 
alten ewigen „Mangel an Umgang“ herleiten, wornach, wenn es ihnen fo 
gutdünkte, ihr Thee, jo lange nicht eine weniger jich von ſelbſt verſtehende 
Behauptung aufgeftellt würde, mit einem gewiflen „flolzen und fleifen 
Schweigen * conjumirt werden önnte. 

In dem nächſten Jahre (1798) jedoch ward Paul eines noch weit 
größeren Glückes theilhaftig, nämlich eines guten Weibes, welches, wie Sa- 
lomo ſchon längft geichrieben, ein „hohes Gut“ if. Er war, immer noch 
fleißig fchreibend, von Keipzig nach Berlin gereift und während eines fängern 
Aufenthalts in dieſer letztern Stadt, fagt Döring, reichte ihm Karoline 
Mayer, Tochter des Föniglich preußifchen Geheimraths und Profeſſors der 
Redtzin, Dr. Johann Andreas Mayer (dies find feine Titel alle), ihre Hand, 
ja fle drückte ihm, wie und der mifroffopiiche Döring erzählt, den Brautkuß 
auf eigenen Antrieb auf. Aber noch mehr zu verwundern iſt, daß fle allen 
vorhandenen Nachrichten zufolge wirklich eine Auscerwählte ihres Geſchlechts 
war, die wie ein fanfter, die Sorgen vericheuchender Schutzgeiſt ihn auf 
jeinem ganzen fernern Lebenspfad begleitete. 

Bald nach diefem großen Ereigniß begab ſich Baul mit feiner jungen 
Gattin nach Weimar, wo er einige Jahre gewohnt und bei Allem, was dieſe 
Stadt Verühmtes enthielt, in hoher Gunſt geſtanden zu haben jcheint. Der 
erſte Eindruck, den er auf Schiller machte, iſt ziemlich charakteriftiich. 

„Vom Hesperus,“ fchreibt Schiller an Goethe, „habe ih Ihnen noch 
nichts gefchrieben. Ich habe ihn ziemlich gefunden, wie ich ihn erwartete; 
fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ift, voll guten Willens und 
berzlich geneigt, die Dinge außer fidy zu fehen, nur nicht mit dem Organ, 
womit man flieht. Doc ſprach ich ihn nur ein Mal und kann alſo nod 
wenig von ihm fagen.” — Goethe giebt in feiner Antwort ebenfalls feinen 
Wohlgefallen an Richter zu erkennen, „aber, * fagt er, „wenn ich es recht 
bedenfe, fo zweifle ih, ob Richter im praftifchen Sinne ſich jemals uns 
nähern wird, ob er gleich im theoretifchen viele Anmuthung zu und zu 
haben jcheint. * 

Carlyle. II. 5 


Hedperus bewies fpäter, daß er mehr „Organ beſaß, als Stiller 
ihm zutraute, nichtsdeſtoweniger war Goethe's Zweifel nicht ungegründet 
gewefen. ‚Herder war ed namentlich, an ten Paul ich hauptſächlich anſchioß; 
die Anderen fchägte er als hochbegabte befreuntete Männer, aber bloß Herder 
ald Lehrer und geifligen Bater, von welchem legteren Berhältnig und ber 
warmen Liebe und Dankbarkeit, welche ed vom Paul's Seite begleiteten, 
feine Schriften häufige Beweife enthalten... „Wenn Herder fein Dishter 
war,” jagt er einmal, „fo war er etwad mehr, — ein Gedicht!“ 

Au mir Wieland land er auf dem freundfchaftlichiten Fuße und ber 
fuchte ihn oft draußen in Osmanſtedt, wohin fi der alte Hann jegt zurüd- 
gezogen hatte. 

Vielleicht gehörten dieſe in Weimar im vertrauten Umgange mit jo 
vielen ausgezeichneten Berfonen verlebten Jahre, in Bezug auf äußere 
Dinge, zu den Tehrreichften in Richter's Leben ; in Bezug auf innere Dinge 
hatte er fon und zwar mit Ehren anderwärtd eine ſchwere Xehrzeit durch⸗ 
gemacht. 

Wir dürfen nicht vergeſſen, zu erwähnen, daß „Titan”, eins ſeiner 
Sauptwerfe (1800 in Berlin erfchienen), während feines Aufenthalts in 
Weimar gefihrieben ward ; eben fo die „Wlegeljahre* und die Lobrede auf 
Charlotte Corday, weldhe Ießtere, obſchon urſprünglich nur ein Iournal« 
artikel, doch wegen ihrer Fühnen Beredſamkeit und des antifen republifanie 
ſchen Geiſtes, der fi darin audfpricht, befondere Beachtung verdient. 

Mas „Iitan” betrifft, welcher nebft feinen „Lomijchen Anhange“ 
ſechs ſehr außerordentliche Bande ausmacht, jo war Richter bei allen Ge 
legenheiten gewohnt , dieſes Werk für fein Meiſterſtück und überhaupt Das 
Befte zu erklären, was er jemald zu leiften hoffen könne, obſchon es nicht 
an Leſern fehlt, welche „ Heöperus * fortwährend den Vorzug geben. 

Wir für unfern Theil müſſen erklären, daß wir „Titan“, nachdem 
wir fo viel davon gehört, mit einem gewiflen Grab von getäufchter Erwar⸗ 
tung gelefen haben, im Ganzen genommen aber und der Meinung bes 
Antors zuneigen. rüber oder fpäter hoffen wir dem brittichen Publikum 
eine Skizze von diefen beiden Werfen vorzulegen ‚- in Betreff deren gejagt 
worden ift, daß fie malfined Metall genug in fih enthalten, um ganze Leih⸗ 
bibliothefen damit zu verforgen, wenn man es zu dem gewöhnlichen Fila⸗ 
gran aushämmern wollte und Bieles, wa, wir möchten ed verdimnen, wie 
wir wollten, Fein Abonnent im Stande wäre, fortzutragen. 


67 


NRichter's andere vor dieſer Periode berausgegebene Romane find bie 
unſichtbare Loge”, „Siebenkäs ober Blumen-, Frucht⸗ und Dormenflüde “, 
Quintus Firlein“ und der „Jubelfenior“, während „Sean Paul's Briefe 
und künftige Geſchichte“, Das „PBrühftüd in Kuhſchnappel“ und bie , bis⸗ 
graphiſchen Beluſtigungen unter der Hirnſchale einer Rieſin“ kaum zu dieſer 
Gattung gehören. Die jpäter geſchriebenen Romane, die wir gleich hier 
mit anführen Fönnen, find: Das „Leben Fibel's“, „Katzenberger's Babereije *, 
„Schmelzle's Reife nah Flätz“, und „der Komet”, au „Nikolaus Marks 
graf” genannt. 

Ungefähr un dad Jahr 1802 erhielt Baul von dem Fürſten Primas 
von Dalberg , einem wegen feiner Breigebigfeit berühmten Prälaten, von 
welchem wir bereitd oben geſprochen, eine Penſion ausgeſetzt. Wie viel 
biefelbe betrug, finden wir nicht angegeben *),, fondern blos, daß fie ihm 
die Mittel zu einem bequemen Leben ficherte und ihm jpäter, wir vermuthen 
nad dem Ableben des Fürſten Primas, von dem König von Baiern ausge⸗ 
zahlt ward. 

Auf den Grund dieſes fihheren Einfommend hin etablirte nun Sean 
Paul feinen eigenen Haushalt, und wählte zu dieſem Zwecke nach verfchies 
denen Wanderungen die Stadt Baireuth mit ihrer freundlichen malerifchen 
Umgebung, wo er mit nur Furzen gelegentlichen Ausflügen fortfuhr zu leben 
und zu fchreiben. Wir haben gebört, dag er dort allgemein geliebt und 
geachtet ward. Er war freundlich, treubergig und ebelfinnig, vebfelig und 
humoriſtiſch, zufrieden mit einfachen Menjchen und einfachen Freuden, ein 
Mann der einfachften Gewohnheiten und Wünſche. Er hatte drei Kinder 
und einen Schugengel, ber ohne Zweifel nicht ganz ohne alle Mängel war, 
aber doch ein ganz vernünftiger Engel war. Bür einen Mann, beffen Bruft 
mit einem fo verbärteten Stoicismus wie mit dreifachen Erz gepanzert war 
and in welder fo fanfte tiefliegende ewige Quellen der Liebe ſprudelten, 
mag dies alles wohl ein glückliches Leben ausgemacht haben. 

Ueberbies befaß Paul einen eremplarifchen, unermüblichen Fleiß in fet« 
nem Berufe unb- hatte fo zu allen Beiten bauernde und feuerfefte Sreuben, 
nämlich Beichäftigungen. 

Außer bem Iegteren Theil der obengenannten Romane, welche aber wie 





*) Sie beitrug 1000 Bulden. 
A. d. uU. 


5 * 


68 


bie andern fämmtlich mehr oder weniger ächt poetifche Productionen find, und 
die wir daher mit einem fo gewöhnlichen Namen wie Roman nur ungern bes 
zeichnen, gehören feine philoſophiſchen und kritiſchen Leiſtungen, befonders 
die „ Vorschule der Aeſthetik“ und die „ Levana“ ganz dem Wirfen in Baireuth 
an, abgefehen von einer Menge vermifchter Schriften — über moralifche, 
fiterarifche und wiſſenſchaftliche Gegenftände ; aber ſtets in einem bumorifti- 
fen, phantaftifchen und poetifchen Gewante — die ſchon an und für ſich 
das Glück eines nicht gewöhnlichen Menfchen Hätten machen fönnen. Sein 
Herz und fein Gewiflen waren eben jo wie fein Kopf und feine Sand bei 
der Arbeit, von welcher keine Verſuchung ihn abwendig machen Fonnte. 


„Sch halte e8 eben für meine Pflicht," fagt er in diefen biographifchen 
Motizen, „nicht zu genießen oder zu erwerben, Tondern zu jchreiben — fo 
viel Zeit es auch Fofte oder Geld weggehe — ja fo viel Freude z. B. die 
Schweiz zu fehen, mir bloß das Opfer der Zeit veriagt.”r — „Ich verfage 
mir mein Vespereffen, um zu arbeiten, aber ih kann mir die Störungen 
durch meine Kinder nicht verjagen.* — Berner: „Ein Dichter, der zu er⸗ 
freuen glauben darf, follte alle Bequemlichfeiten, deren Opfer feinen Schöp⸗ 
ferfräften nichts entziehen, verſchmähen und gern entbehren, um vielleicht 
ein Iahrhundert und ein ganzes Volk zu erfreuen. * 


Wie glücklich war Richter in rorgerüdten Jahren, daß er von fid 
fagen konnte: „Wenn id} fo anichaue, was gemacht iſt von mir, fo danke 
ih Bott, daß ich nach nichts Aeußerlichem fragte, weder nach Zeit, noch 
Koften,, noch Papier und Zeit — die Sache iſt da und die Hebezeuge habe 
ich felber vergeffen und Niemand weiß fie ſonſt. — Auf diefe Weife wirb 
die unbedeutende Bolge von Momenten in etwas Höheres, Stehendes ver⸗ 
wandelt.” — „Ich habe fo Vieles geſchildert,“ fagt er an einer andern 
Stelle, „aber ich fierbe, ohne die Schweiz gejeben zu haben und dad Meer 
und ıc, 20. Doch das Meer der Ewigfeit werde ich in jedem Ball zu ſehen 
befonmen. ” 


Ein Schwerer Schlag traf ihn im Jahre 1821, als fein einziger Sohn, 
ein junger hoffnungsvoller Mann, auf der Univerfität ſtarb. Paul verlor 
feine Faſſung nidt, ward aber dadurch tief und unheilbar verwundet. 
„Bremdes Brieffammern über meinen Verluſt Iefe ich kalt,“ ſagt er, — 
„denn das Heftigfte Hör’ ich in mir felber und muß bie Innern Herzohren 
zubalten, aber ein einziger neuer Zug von Maxens ſchoͤnem Wefen reißet 





69 


das ganze wunbenvolle Herz weiter auf und es kann fein Blut nur in die 
Augen treiben. * | 

Neue perfönliche Leiden harreten fein, Abnahme der Geſundheit und, 
was für einen fo unermädlichen Lefer und Schreiber noch ſchlimmer war, 
eine Abnahme des Augenlichts, welde fih endlich bis zu faſt gänzlider 
Blindheit verfchlimmerte. Auch dies ertrug er mit feiner alten Stanbhafe 
tigkeit, indem er mit heiterem Muthe die Hülfe fuchte, die noch zu haben 
war, und ala feine Hoffnung mehr übrig blieb, immer noch heiter trog 
‚Krankheit und Blindheit in feinem Berufe fortarbeitete. Obſchon äußerlich 
von Nacht umbüllt, ſtrahlte doch in feinem Innern ein helles Licht und er 
war noch mit feinem Lieblingäthenia, der Unfterblichkeit der Seele, beſchäf⸗ 
tigt, als am 14. November 1825 der Tod fam und Paul's Werk nun 
vollendet und jene große Frage für ihn auf einen weit höheren und unwider⸗ 
Ieglichen Beweis hin entfdieden war. Der unbeendete Band, ben wir jegt 
unter dem Titel „ Selina” befigen, ward ihn: bei feiner Beftattung auf den 
Sarg gelegt, denn fein Leihenbegängnig war öffentlich und in Baireuth 
fowohl als anderwärtd wurden feinem Andenken alle möglichen Ehren er» 
wiefen. 

In Bezug auf Paul's Charakter ald Menſch haben wir wenig mehr 
zu fagen, als was die Thatlachen dieler Erzählung jchon deutlicher gefagt 
haben, als ed in Worten gefchehen kann. Wir hören von allen Seiten in 
einem oder dem andern Dialekt, daß die reine, hohe Moral, weldhe feine 
Schriften ſchmückt, fih auch feinem Leben und Thun aufpräagte. Er war 
ein zärtlicher Batte und Bater und gegen feine Freunde und Alle, die in 
feine Nähe famen, die Güte felbft. Die Bedeutſamkeit eines folchen Beiftes 
wie Richter's, der fi in einem ſolchen Leben praktiſch Fundgab, ift tief und 
mannigfach und verdient in unferem Zeitalter forgfältiged Studium. Bor 
der Hand jedoch müflen wir fie in diefem Grade von Klarheit der eigenen 
Betrachtung des Leferd anheimgeben, da eine andere und noch unmittelbarer 
dringende Seite unferer Aufgabe uns übrig bleibt. 

Richter's intellectueller und literarifcher Charakter ift vielleicht in höchſt 
merkfwürbigem Grade das Seitenflüd und Ebenbild feined praftifchen und 
moralifchen Charakters. Seine Werke fcheinen uns ein mehr ald gewöhn«- 
lich treues Transſeript jeines Geiſtes und mit großer Wärme birect aus 
dem ‚Herzen geſchrieben zu fein, benn es iſt eben fo wie er wild, ftarf, origi⸗ 
nel und aufrichtig. Man betrachte ihn von welchem Geſichtspunkte man 


70 


wolle, ob als Denter, MRoralift, Satyriter oder Bort, fo iſt er eine wun⸗ 
derbare Erſcheinung; eine unermeßliche, vielfeitige, unruhige und doch edfe 
Natur, feiner Mängel wie feiner Vorzüge wegen „Iean Baul ber Einzige *. 

In allen Fächern finden wir in ihm eine bezwingende Kraft, aber eine 
gefehlofe, ungefääulte, gleichſam Halb barbariſche Kraft. So ik und z. ®. 
fein Berfland befannt, der einen umwiterflehlicheren Charakter befäße, als 
Kichter's, aber feine Kraft iſt eine naturwüchfige, alle künſtliche Waffen 
verfchmähende. Er unterminirt nicht erft fchlan feinen Gegenftand, um ihn 
dur follogiftifche Werkzeuge oder nach den Segeln der Kımfl bloszulegen; 
fondern er zerbrüdt ihn in feinen Armen, tritt ihn nidt ohne wilden 
Triumph in Trümmer und legt fo auf faft ungeheuerliche Weife und doch 
mit Durchdringender Klarheit das innerfte Herz und Mark des Feindes vor 
Aller Augen blos. 

In der Leidenfchaft entwickelt er diefelbe wilde Vehenenz Es iſt eine 
Stimme des weichſten Mitleids, endlofer, grenzenlofer Wehklage, eine 
Stimme mie die der Rahel, als fie ihre Kinder beweinte; ober auch das 
grimmige Gebrüll des Löwen im fchanerlihen Walde. 

So liebt er auch nicht blos die Natur, fontern er jchwelgt in ihr; er 
flürzt fih Hinab in ihren unendlichen Scheoß und füllt fein ganzed Herz bis 
jur Betäubung mit ihren Reizen. Er erzählt und, daß er gewohnt war, 
unter freiem Simmel zu flutiren, zu fchreiben , faft zu leben und fein An⸗ 
HE des Himmels war für ihn fo abſchreckend, daß er für ihn gänzlich der 
Schönheit entbehrt hätte. Wir fennen feinen Dichter mit einem fo innigen, 
leidenfhaftlichen und allgemeinen Gefühl flr die Natur. Von den erhabe 
nen Geſtaltungen des geftirnten Gimmels an 6i8 zu dem einfachen Blümchen 
der Wiefe herab iſt fein Auge und fein Herz Ihren Heizen und fhrer geheim⸗- 
nißvollen Bedeutung offen. 

Was aber die angeborene weſentliche Stimmung von Paul's Geift am 
meiften verräth, iſt die fpielende Laune, der wilde, berzinnige Summor, ber 
fih in feiner höchſten wie in feiner tiefften Stimmung ftetö als ein vollkom⸗ 
men unzertrennliches Element darftellt. Sein Humor tft bei afl feiner Wild- 
bett von ber ernfteften und gutmüthigflen Art, ein ächter Humor, der fi 
mit dem größten Ernſte verträgt oder vielmehr mit dem Mangel deſſelben 
unvereinbar tft. 

Ueberhaupt If es ihm unmöglich, auf andere als humoriſtiſche Weife 
zu fchreiben, möge fein Gegenfland fein, welcher er wolle. eine phiko⸗ 





71 


ſophiſchen Abhandlungen, ja, wie wir geiehen haben, fogar feine Selb 
biographie, Alles, was von ihm kommt, ift in einen fonderbaren phantaſti⸗ 
ſchen Rahmen gefaßt und ſchalkhafte Augen fchanen uns, obfthon mit einer 
feltfamen Sympathie für die Sache — denn fein Humor if, wie wir gefagt 
Haben, Herzlich und acht — durch mande ernfle Schilderung hindurch an. 
Fa ſeinen Romanen vor allen Dingen iſt fie ſtets eine unerläßliche Eigen⸗ 
haft und kündet fih in ver Regel glei zu Anfange oft ſchon auf dem 
Titelblatt an. Ban denke z. B. an jene „Auswahl aus den Papieren des 
Zeufels*; „Hetperus oder Ab Hundpoſttage“; „Siebenkäd’ Ehefland, 
Tod and Hochzeit“ und jo weiter. 

„Der erſte Anblick diefer Eigenthümlichkeiten,“ fagt einer von Rich⸗ 
ter’8 engliſchen Kritikern, „ann und nicht zu feinen Gunſten einnehnen. 
Wir werden badurd zur fehr an theatraltiche Effecthaſcherei und Literarifche 
GEharlatanerie erinnert, und wenn man eind biefer Werke jelbft aufichlägt, 
fo wird Die Sache dadurch nicht viel gebeſſert. Durchdringende Gedanken⸗ 
blige entgehen und nicht ; eigenthümliche Wahrheiten in eben fo eigenthüm« 
lihe Formen eingekleidet; pathetiſche, prachtvolle, weithin tönende Stellen, 
Ergüffe voll Wig, Kenntniß und Phantafte, aber ſchwer unter irgend eine 
Aubrik zu bringen ; furz alle @lemente eines herrlichen, aber jo wild durch 
einander geworfenen Berſtandes, daß ihre Heihenfolge Tas leibhafte Ideal 
der Berwirrung: zu fein jheint. Der Styl und Bau des Buches ſcheinen 
eins fo unverfländfih zu fein wie das andere. Der Gang der Erzählung 
wird fortwährend unterbroden, um Play zu maden für ein „Exrtrablatt* 

- oder eine abenteuerlide Abſchweifung über irgend eimen Gegenſtand, nur 
nicht den vorliegenden. Die Eprache Röhnt von unbefgreiblichen Metaphern 
und Anfpielungen auf alle möglichen menſchlichen und göttlichen Dinge ; 
dahinfträmend nicht wie ein Fluß, fondern wie eine Ueberſchwemmung, in 
tauſendfachen Strudeln bald dahin bald dorthin ſchäumend und gurgelnd, 

bie die eigentliche Strömung unter dem grenzenlofen Aufruhr aus den 
Augen entſchwindet. Wir fchließen das Bub mit einem gemifchten Gefühl 
von Erfiaunen, Bedrilung und Verwirrung und Richter flebt vor und in 
glaͤnzender und dennoch unmsälfter Unbeflimmtheit, eine riefige Maſſe von 
Verſtand, aber ohne Jorm, Schönheit oder begreiflichen Zweck. 

„Leiern, welche glauben, daß innerliche Vorzüge von oberflächlichen 

wunzertrennlich find und daß nichts gut ober jdn fein kann, wa ſich nicht 
augenblicklich durchſchauen läßt, kann Richter. nur wenig. Schwierigkeit ver⸗ 


72 


urfachen. Sie geben zu, daß er ein Mann von ungeheurer natürlicher Be⸗ 
gabung jei, dabei aber fehlt es ihm nad) ihrer Meinung an aller Ausbil- 
dung und Beherrichung feiner Baben ; er ift voll von monftröfer Affertation, 
der leibhafte Hohepriefter des ſchlechten Geſchmacks; verſteht nicht die Kunſt 
des Schreibens, ja weiß kaum, daß es eine ſolche Kunſt giebt; ein überge- 
fhnappter Träumer, der ewig in nebeligen Traumen fchwebt, welche bie 
fefte Erde feinen Blicken entziehen; furz ein intellectueller Polyphem, ein 
monstrum horrendum, informe, ingens (jorgfältig Hinzufegend), cui Jumen 
ademptum ; und fie fchließen ihren Urtheilsſpruch rückſichtävoll mit feiner 
eigenen lobendwerthen Marime: ‚Die Vorſehung bat den Engländern bie 
Herrichaft des Meeres gegeben, den Sranzofen die des Landed, ben Deut- 
ſchen die — ter Luft.’ 

„Auf diefe Weiſe wirb die Sache entſchieden — kurz, bequem und 
falſch. Das Käftchen war ſchwer zu öffnen; erfannten wir ſchon an jeiner 
äußern Geftalt, daß nichts darin fei und daß wir ed ohne Weiteres in das 
Meer werfen könnten? Affectation iſt oft Eigenthümlichfeit, aber Eigen⸗ 
thümlichkeit ift nicht immer Affectation. Wenn die Natur und das Weſen 
eines Menfchen wirklich und wahrhaft, nicht eingebildet und unwahr eigen- 
thümlich iſt, fo wird. auch feine Manier fo fein oder follte es wenigftens 
fein. Affectation ift die Frucht der Lüge, einer fchweren Sünde und Mutter 
zahlreicher ſchwerer Sünden, man ftrafe fle daher fireng, Elage aber Nie» 
manden berjelben allzuleidytfinnig an. Schwerlich ift irgend ein Sterblicher 
ganz frei davon, wahrſcheinlich Richter auch nicht; doch fint ed Geiſter 
anderer Art ald der feine, in. weldyen fle das herrichende Produkt wird. 
Ueberdies ift er durchaus fein Träumer, fondern man wird bei allen jeinen 
Träumen finten, daß er die fefte Erde in allen ihren Geflalten und Bezie- 
bungen weit dentlicher fieht ald Taufende folder Kritifer, weldye nur zu 
wahrſcheinlich nichts Anteres ſehen können. Dabei ift er weit entfernt, 
ungebildet ober ungeſchult zu ſein und jene Kritiker werden überraſcht ſein, 
zu entdecken, daß wenige Menichen die Kunſt des Schreibens und viele 
antere Künfte außerdem forgfältiger fludirt haben ale er; daß feine „ Vor⸗ 
fehule der Heftgetit* eine Fülle von tiefgedacdhten und ſchlagenden Eritifchen 
Marimen enthält, in deren Berlaufe viele ſchwierige Werke, unter andern 
auch feine eigenen, ſtreng und gerecht geprüft und fogar die Schönheiten 
und Fleinften Eigenthümlichfeiten ded Styls keineswegs überfehen oder une 
angemefien behandelt werten. 


713 


„In Richter liegt etwas, was und zur zweiten, zur dritten Leſung 
feiner Werfe auffordert. Seine Werke find fchwer zu verfichen, aber fie 
Haben ſtets eine Bedeutung, oft eine wahre und tiefe. Werfen wir einen 
genaueren, umfaflenderen Blid darauf, fo tritt ihre Wahrheit mit neuer 
Deutlichkeit hervor, der Irrthum zerfireut fih und tritt zurüd, gebt in 
etwas Erlaubte, oft jogar in Schönheit über und endlich ſchmilzt der Dide 
Nebel, welcher die Geftalt des Verfaflerd umgab, hinweg und er flieht in 
feinen wahren Zügen vor uns da, als folofjaler Geift, erhabener origineller 
Denker, ädter Dichter, bochfinniger, wahrer und höchſt liebenswürdiger 
Menſch. 

„Ich habe ihn einen kolofſſalen Geiſt genannt, denn dieſer Eindruck 
erhält fich in und. Bis zulegt ſteht er als etwas Gigantiſches vor und ba, 
denn alle Elemente feines Baues find unermeplich und mehr in lebender und 
belebenter,, ald in fchöner oder ſymmetriſcher Ordnung zufammengeftellt. 
Sein Berftand ift jcharf, ungeſtüm, weitgreifend, geeignet, den hartnäckig⸗ 
fen Stoff in Stüden zu reißen und Die verborgenfte und wiberfpenftigfte 
Wahrheit aus ihnen herauszuprefien. In jeinem Humor Ipielt er mit dem 
Höchſten und dem Niedrigften; er kann mit Sonne und Mond Ball jpielen. 
Seine Phantafle öffner uns das Land der Träume; wir fegeln mit ihm 
durch den grenzenlofen Abgrund, und die Geheimnifle ded Raums, der Zeit, 
des Lebens und der Vernichtung umſchweben und in düſteren nebeligen Ge⸗ 
Ralten und Binfternig, Vnermeßlicfeit und bange Scheu umhüllen und 
uberfchatten uns. oo 

„Isa, auch wenn er den geringften Stoff behandelt, bearbeitet er ihn 
mit den Werkzeugen eincd Riefen. ine gewöhnliche Wahrheit wird aus 
ihren alten Combinationen herausgeriffen und und in neuem, noch nie da⸗ 
gewejenem Gegenfag mit dem ihr entgegenflehenten Irrthum dargeboten. 
Eine Kleinigkeit, ein geringfügiger Charakter, ein Scherz oder ein geifligeö 
Spielzeug erhält eine höchſt fonderbare und doch oft wahrhaft lebende Ge⸗ 
ſtalt, aber durch den Hammer des Bulfan und mit drei Schlägen, die eine 
Aegis Ichmieden könnten. Die Schäge feines Geiſtes find von ähnlicher 
Art wie der Geiſt ſelbſt; feine Kenntniß ift aus allen Reichen der Kunfl, 
Wiffenidaft und Natur zufanımengetragen und liegt in ungeheuren unförm« 
lichen Haufen um ihn herum, Sogar feine Sprache ift titanifch, tief, ftark, 
unzähmbar, in taufend Farben glänzend, aus taufend Elementen zuſammen⸗ 
geſchmolzen und in labyrinthifchen Bängen fi windend. 


7A 


- „Unter Richter's Begabungen," führt dieſer Kritifer fort, „if bie 
erfte, welde uns als wahrhaft greß ericheint, feine PBhantafle; denn er 
ltebt e8, in den erhabenften und feierlichften Wegionen des Denkens zu 
wohnen; feine Werke enthalten eine Fülle von geheimnißvollen Allegorien, 
Biflonen und Bildern; feine Träume beſonders bewegen ſich in einem düſte⸗ 
ren unermeßlichen Raume, deſſen Nacht dann und wann, bier und ba durch 
wilden weithin fließenden Glanz unterbrochen wird, und nebelhafte beden⸗ 
tungsoolle Geftalten fleigen ans dem Schooße der leeren Unendlichkeit empor. 
Und doch iſt, wenn ich nicht irre, der Humor feine herrſchende Eigenichaft, 
die Eigenfchaft, welde am tiefften in feiner innern Natur lebt und auf ſein 
Weſen den flärkiien Einfluß äußert. Hinſichtlich dieſer feltenen Begabung, 
denn feine tft feltener als Achter Humor, fcht er in feinem Vaterlande und 
unter den modernen Schriftflellern aller übrigen Länder unerreiht da. Den 
Humor zu befhreiben, ift ſtets ichhwierig, und würte in Richter's Kalle viel« 
leicht mehr als gewöhnlich ſchwierig ſein. Gleich allen feinen andern Eigen⸗ 
ſchaften if} fein Humor unermeßlich, ſchroff und unregelmäßig, oft vlelleicht 
hberlaten und ertranagant, umd doch iſt e8 im Grunde aͤchter Humor, ber 
Humor eines Gervanted umd Sterne, das Produkt nicht des Hohnesd, 
fondern der Liebe, nicht oberflächlicher Verzerrung natürlicher Formen, 
fondern inniger, obſchon muthwilliger Sympathie mit allen Formen der 
Natur. — — — 

„Se lange als der Humor ihm zur Seite ſteht, fann man feine Bes 
handlung felbft höherer und flärferer Charaktere als glücklich bezeichnen; 
überall aber, wo der Humor aufhört, iſt fein Erfolg mehr oder weniger 
unvollkommen. Im der Behandlung eigentlicher Helden iſt er felten voll⸗ 
ſtaͤndig glücklich. Sie ſchießen unter feinen Händen zu überrmuchernden Ges 
-Ralten empor ; ihre Empfindfamfelt wird zu norberrfchend und thränenreidh, 
ihr Edelfinn zu wild, wunderli und radikal. In einigen wenigen Bällen 
find fie faft vollfländig verfehlt. Im Vergleich mit ihren weniger ehrgei⸗ 
sigen Brüdern find fle fat von gemeiner Art und bei all ihrem Glanze und 
ihrer Kraft jener pofttiven, entfchloffenen, vulkaniſchen Klaſſe von Menſchen, 
bie wir in Romanen fo Häufig antreffen, zu ähnlid. Sie nennen ih Men⸗ 
fihen und thun ihr Aeußerftes, um die Behauptung zu beweiſen, aber fle 
"können uns nicht daran glauben machen, denn Hei all ihrem Dampfen und 
Stürmen fehen wir recht wohl, daß fie blos Maſchinen find, - Sie Haben 
nicht mehr Leben, als das Modell des Freigeifſes in Martinus Scrihlerug, 


75 


jener Nürnberger NRenſch, der durch eine Combination von Möhren und 
Sebeln agirte, und obfhon er volltommen athmen und verbauen und fogar 
fo gut wie die meiften Landprediger phifofophiren konnte, doch blos auß 
Hol; und Leder gemacht war. In der allgemeinen Behandlung folder Ge⸗ 
ſchichten and Schilderungen erfcheint Richter felten auf vortheilhafte Weiſe; 
die Ereigniſſe find oft unerwartet und extravagant; ber ganze Bau der Er⸗ 
zaͤhlung bat ein unebenes, zerriffenes, unförmliches, erkünfteltes Anſehen 
und widerfirebt der Wahrheit und Natürlichkeit. Und dennoch find alle 
Klüfte wunderbar mit den köſtlichſten Stoffen ausgefüllt; eine Welt, ein 
Univerfum von Wis, Wiffenichaft und Phantafte Hat ihre ſchönften Erzeug- 
niffe geliefert, um das Gebände zu ſchmücken; die rauhen zerfpaltenen, 
egelopifgen Mauern glänzen von Juwelen und gefihlagenem Gold; ein 
reiches herrliches Laubwerk ſchirmt fie, die duftigften Wohlgerüche umſchwe⸗ 
ben fie, wir ſtehen erſtaunt, entzückt und bezaubert durch den Künftler und 
feine Kunfl. * 
Wir fehen wenig Grund, uns mit dieſen Anſichten, fo weit fle eben 
gehen, nicht einverſtanden zu erffäten. Ohne Zweifel liegt eine tiefere Be⸗ 
deutung in der Sache, doch ift vieleicht jegt nicht die Bett, fle zu entwickeln. 
Mit wahrer wiffenfchaftficher Genauigkeit den weientlidien Zweck und Cha- 
rafter von Richter's Genind und Titerarifchhem Streben zu ſchildern; wie 
diefes Streben entfland, wohin es abzielt, wie es fich zu den allgemeinen 
Tendenzen der Welt in ımferer Zeit verhäft,; vor allen Dingen, was ſein 
-Bertb und fein Mangel an Berth für uns ſelbſt ift, dies kann eines Tags 
ein nothwendiges Broblem werden, würde aber, wie die Sachen gegen⸗ 
wärtig ſtehen, ein fehr fſchwieriges und nicht ſehr nugenbringendes ſein. 
Das engliiche Publikum hat Richter noch nicht geſehen und muß ihn fennen, 
ehe es ihn beurtheilen fann. Für und erachten wir es daher in den gegen⸗ 
wärtigen Umftänden angemeffener, einige Broben feiner Arbeit felbft vorzu« 
legen, anflatt daß wir verfuchen follten, ſie nochmals oder beffer zu beſchrei⸗ 
ben. Der allgemeine Umriß feiner intellectuellen Geſtaltung, fo wie fle 
von dem bereits citirten Kritiker gezeichnet wird, mag bier als Vorrede zu 
diefen kleinen Auszügen dienen. Was darin auch fehlen mag, fo enthält 
fie doch, wie fhon oben der Fall war, nichts, womit wie nicht einverſtanden 
wären. | 

„Iean Paul's Werke zu charakteriſiren,“ fagt er, „würde ſelbſt nad 
dem gründlichften Studium fehr ſchwierig fein; Ne engliſchen Leſern zu 


76 


ſchildern, wäre aber fafl geradezu unmöglich. Sie mögen nun poetifd, 
philoſophiſch, didaktiſch oder phantaftifch fein, fo fcheinen fle alle mehr ober 
weniger vollfländige Embleme des eigenthümlichen Geiſtes zu fein, aus wel⸗ 
chem fie hervorgegangen find. Als Ganzes betradhtet ift die erſte Leſung 


berfelben, ganz befonders einem Ausländer, faſt ſtets wiberwärtig, und . 


weder ihre Bedeutung noch ihre Nichtbedeutung find ohne langes und 
eifriges Studium zu erforfhen. Sie find eine tropifche Wildniß voll end« 
Iojer Rrümmungen ; aber mit den fhönften Blumen und den fühlften Quel⸗ 
Ien, uns bald mit hohem fchattigem Dunkel überwölbend, bald ſich zu 
langen prächtigen Bernfihten öffnend. Wir wandeln in ihnen und freuen 
uns ihrer wildromantifchen Schönheit und allınälig geht unfere halbverächt- 
lihe Verwunderung über den Autor in Ehrerbietung und Liebe über. Sein 
Antlig war und lange verhüllt, aber wir fehen ihn endlich in der feften Ge⸗ 
Ralt geiftiger Mannheit — eine unermeßliche eigenthümliche Natur, deren 
Eigenthümlichfeit aber durch die Kraft, Schönheit unt Milde, von weldyen 
fle durchdrungen iſt, gerechtfertigt wird. Wir nehmen ihn mit einem Worte 
freudig für Das an, was er ift und was er fein will. Die Anmuth, die 
Politur, die muntere Eleganz, welche Schriftftellern von leichterer Gattung 
eigen find, können wir bei ihm nicht fuchen und nicht von ihm verlangen. 
Seine Bewegung ift in ihrem Wefen langjam und ſchwerfällig, denn er rüdt 
nicht mit einer Fähigkeit, ſondern mit ganzem @eifte vorwärts ; mit Intelli« 
genz, Pathos, Wig, Humor und Phantafle bewegt er ſich weiter wie eine 
gewaltige buntgemifchte, Ichwerfällige, unregelmäßige, unwiderſtehliche Schaar. 
Er ift nicht Luftig, brillant und präcis, fondern tief, Hürmifh und unermeß- 
lid. Die Melodie feiner Natur ift nicht in gewöhnlichen Noten ausgedrüdt 
und auch nicht nach der Fritiichen Scala niedergefchrieben,, denn ſie ift wild 
und mannigfach; ihre Stimme ift gleich der Stinnme von Waflerfällen und 
dem Braufen der Urmwälder. Für ſchwache Ohren if fie Mißflang, aber 
für Ohren, bie fe verſtehen, eine gewaltige majeftätifche Muſik *).“ 

Als erfte Probe, die au zum Beweis dienen Tann, daß Richter, 
indem er feinen eigenen außerordentlihen Styl beibehielt, dies mit 
Flarem Bewußtfein Defien that, was Bortrefflichfeit des Styls und die ver 
fhiedenen Arten und Grade dieſer Vortrefflichkeit eigentlich zu bedeuten 
baben, wählen wir aus feiner fhon oben erwähnten und empfohlenen Vor⸗ 


) German Romance, Ill. 6, 18. 





77 


ſchule der Aeſthetil die folgenden Kleinen Skizzen. Der mit den darin ge⸗ 
nannten Perjonen befannte Lefer wird dieſe urtheile ungemein treffend und 
praͤcis finden. 

„Beſucht Herder's Schöpfungen, wo wriethiſche Lebens⸗VFriſche und 
indiſche Lebens⸗Müde ſich ſonderbar begegnen: fo gebt ihr gleichſam in 
einem Mondſchein, in welchen ſchon Morgenröthe fällt, aber Eine verborgne 
Sonne malt ja beide. 

„Aehnlich, aber periodologiicher, ift Jacobi's ftraffe, fernbeutfche Brofe, 
muftkalifch in jedem Sinne, denn fogar jeine Bilder ſind oft von Tönen 
bergenommen. Der feltene Bund zwifchen fehneidender Drud-Kraft und der 
Unendlichkeit de& Herzens giebt die geſpannte metallene Saite mit dem wei⸗ 
chen Tönen. 

„In Goethe's Proſe bildet — wenn in der vorigen die Töne poetiſche 
Geftalten legen — umgekehrt die feſte Form den Memnond-Ton. Gin 
plaftifches Hünden und zeichnerifches Abfchneiden, das fogar den körper⸗ 
fihen Künftler verräth, machen jeine Werke zum feften ftillen Bilder - und 
Abgußſaal. 

„Hamann's Styl iſt ein Strom, den gegen die Quelle ein Sturm 
zurũckdrängt, ſo daß die deutſchen Marktſchiffe darauf gar nicht anzukommen 
wiſſen. 

Luther's Proſe iſt eine halbe Schlacht; wenige Thaten gleichen feinen 
Worten. 

„Klopftod’8 Proſe, dem Schlegel zu viel Grammatik nicht ganz un⸗ 
richtig vorwarf, zeigt häufig eine faſt floffrearme Sprech⸗Schärfe, was eben 
Grammatikern eigen ift, welde am meiften gewiß, aber am wenigften 
viel wiſſen. Aus Mangel an Stoff denkt man Teicht zu ſehr an die Sprache. 
Neue Welt-Anfihten, wie die genannten vorigen Dichter, gab er wenig. 
Daher fommen die nadten Winteräfte in feiner Profe — die Menge ber 
eircumferiptiven Säge — bie Kürze — die Wieterkehr der nämlichen nur 
ſcharf umfchnittenen Bilder, 3. B. der Nuferftehung als eines Aehrenfeldes. 

„Die vollendete PBrunf» und Glanzprofe ſchreibt Schiller, was die 
Pracht der Reflexion in Bildern, Fülle und Gegenjägen geben kann, giebt 
er; ja oft fpielet er auf den poetiſchen Saiten mit einer fo reichen zu Juwe⸗ 
Ien verfleinerten Sand, daß ber fihwere Glanz, wenn nicht das Spielen, 
doch das Hören flört. * 

Daß Richter's eigenes Spielen und Malen von dem aller Diefer 


78 


Schriftſteller weit verſchieden war, bat der Leier ſchon gehört und kaun ſich 
nun ſelbſt davon überzeugen. Wan nehme z. DB. bie folgende Naturſchil⸗ 
terung, als Probe von den taufenden, die fich in feinen Schriften finden, 
keineswegs als die beſte, fondern einfach als die kürzeſte. 

„Einen folden Rai wie den heurigen (von 1794) hat Die Natur bei 
Menſchengedenken nicht — angefangen: denn wir haben erſt den fünfzehn⸗ 
ten. Leute von Einfichten mußten ſich jeit Jahrhunderten jedes Sahr einmal 
ärgern, daß Die Deutfchen Sänger Mailleter machten, da andere Monate 
eine poetiſche Nachtmuflt weit eher verdienen, und id; bin oft jo weit ge» 
gangen, daß ich den Spradgebraud der Marktweiber angriff, und flatt 
Maibutter Juniusbutter fagte, deögleihen nur Juniud-MRärzeAprillieder. — 
Aber du, heuriger Mai! verdieneft alle Lieder auf deine rauhen Namens⸗ 
vettern auf einmal! — Beim Himmel! wenn id) jegt aus der gaukelnden 
helldunkeln Akazienlaube des Schloßgartens, in der ich dieſes Kapitel ſchreibe, 
beraußtrete in den weiten lebendigen Tag, und zum wärmenden Gimmel 
aufiehe, und über feine unter ihm aufquellende Erde: fo thut fi vor mir 
der Frühling wie ein volles kräftiges Gewitter mit einem blauen und grünen 
Slanze auf. — Ich fehe die Sonne am Abendhimmel in Rofen fiehen, in 
die fle ihren Strablenpinfel, womit fle heute die Erde außgemalet, hinein⸗ 
wirft, — und wenn id mich ein wenig umſehe in ihrer Gemäldeausftellung: 
fo ift ihre Schmelzmalerei auf den Bergen noch heiß, — auf dem naflen 
Kalk der naffen Erde trodnen die Blumen mit Saftfarben gefüllt, und an 
den Baͤchen die Vergißmeinnicht mit Miniaturfarben — unter die Blafur 
ber Ströme hat die Malerin ihr eigned Auge gefaflet, und die Wolfen hat 
fie wie ein Decorationdmaler nur mit wilden Umrifjen und einfachen Far⸗ 
ben gezeichnet; und jo flebt fle am Rande der Erde und blidt ihren großen 
vor ihr flehenden Frühling an, deſſen Faltenwurf Thaͤler find, deſſen Bruſt⸗ 
Bouquet Bärten und beflen Erröthen ein Srüuhlingsabend iR und der, wenn 
er ſich aufrichtet, der — Sommer wird. ® 

Oder die folgende, in welcher überdies noch zwei glückliche lebende 
Geftalten, eine Braut und ein Bräutigam an ihrem Hochzeitſtage vor⸗ 
kommen. 

„Er führte ſie aus dem ſchwülen Tanzſaal in den kühlenden Abend. 
Warum legt der Abend, warum die Nacht heißere Liebe in unſer Herz? 
Iſt's der nächtliche Druc der Hülflofigkeit oder iſtss die erhebende Abſon⸗ 
derung aus dem Lebendgewühle, die Verhüllung ber Welt, worin der Seele 


x 


79 


vide mehr bleibt ald Seelen, iſt's darum, weswegen bie Buchſtaben, wo⸗ 
mit der geliebte Name in unferem Innern ſteht, gleich als wären fie Phoa⸗ 
phor⸗Schrift, zu Nachts brennend ericheinen,, indeß fie am Tage nur im 
Gewälften Umriß rauhen?! — 

„Er ging mit feiner Braut ia den Schloßgarten:: fie eilte ſchnell Durch 
Das Schloß amd vor deſſen Geſindſtube vorüber, wo die ſchönen Blumen bes 
JFugendlebens unter einem Langen Druckwerk breit und troden gepzeflet wur« 
ben, und ihre Serle that fih groß und athmend im freien offuen Garten 
anf, in deſſen Blumenerde dad Schidjal den erſten Blumeniamen ihres 
heutigen Lebensflores auögeworfen hatte. Stille Eren! Grünes mit Blüs 
then zitterndes Helldunfel! — Der Mond ruht unter der Erde, wie ein 
Zodter ; aber jenjeitd des Gartens find der Sonne helle rothe Abendwolken 
wie Roſenblätter abgefallen, und der Abendſtern, der Brautführer der Sonne, 
ſchwebt wie ein glänzender Schmetterling über dem Rofenrosh und nimmt, 
beicheiden wie eine Braut, einen einzigen Sternchen fein Licht. 

„Die zwei Menſchen kamen an die alte Gärtner Hütte, Die zuge» 
ſchloſſen und flumm mit finftern Stuben im lichten Garten ſtand, wie eine 
Bergangenheit in der Gegenwart. Entblößtes Gezweig ber Bäume ver⸗ 
ichränfte fig mit fetten halben Blättern über dem dichten fich durchgreifenden 
Zaubwerf der Stauden. — Der Frühling ſtand ald Sieger neben dem zu 
Füßen Tiegenden Winter. — Im blauen Teiche ohne Blut war ein dunkler 
Abendhimmel ausgegraben, und fein Abfluß wäflerte raufchınd die Beete. — 
Die Silberfunfen ber Sternbilder fprangen auf dem Altare des Morgend 
auf, und fielen erloſchen in das rothe Meer des Abends nieder. — — 

„Der Wind ſchwirrte wie em Nachtvogel lauter dur die Bäume, 
und gab der Alnzienlaube Töne, und die Töne riefen den Menſchen, die in 
ihr einſtmals glüdlih wurden, zu: „trete herein, neue Menfchenpaar, und 
dent an das, was sergangen iſt, und an mein Verwelken und an Deines, 
und fei Heilig wie die Ewigkeit, und weine nicht blos vor Freude, ſondern 
auch vor Dankbarkeit!" — — — 

„Sie kamen vor den raufchenden leuchtenden Gochzeithauſe an; aber 
ihre erweichten Herzen ſuchten Stille auf und fremdes Anftreifen flörte wie 
am blühenden Wein, die BlumensBermählung der. Seelen: fle kehrten lieber 
sieder um, und wandten fich in den Gottesacker hinauf, um ihre Nührumgen 
zu bewaßren Groß fand auf Gräbern und Bergen die Nadt vor bem 
Gerzen und machte ed groß. Leber dem weißen Thurm⸗Obeliskus ruhte 





80 


der Himmel blauer und dunfler, und Hinter ihm flatterte der abge 
dorrte Gipfel des niedrigern Maienbaums mit entfärbter Fahne. Da er- 
blickte der Sohn das Grab feined Baterd, auf dem der Wind die Fleine 


Thüre des metallenen Kreuzes knarrend auf« und zufchlug, um dad auf Mefe 


fing eingeägte Jahr feined Todes leſen zu laflen. — — Eine heiße Weh⸗ 
muth ergriff mit heftigen Ihränenftrömen fein Toögeriffenes Herz und trieb 
ihn an den verfallnen Hügel, und er führte feine Braut an das Grab und 
fagte: „Hier jchläft er, mein guter Bater — ſchon im zweiunbbreißigften 
Jahre ging er bier ein zur ewigen Ruhe. — O Du guter, tbeurer Vater, 
fönnteft Du doch heute die Freude Deines Sohnes fehen wie meine Mut⸗ 
ter! — Ad Du befter Vater, Deine Augenhöhle ift Teer und Deine Bruſt 
voll Aſche und Du ftebft und nicht.” — Er verflunmte. — Die bedrängte 
Braut weinte laut, fe fab die morihen Särge ihrer Eltern aufgeben und 
die zwei Todten fich aufrichten und fich umfchauen nad ihrer Tochter, die fo 
lange von ihnen verlaffen auf der Erte blieb. — Sie flürzte an fein Gerz 
und flammelte: O Theurer, ich babe weder Vater noch Mutter, verlaß 
mid niemals. 

„D Du, der Du nod einen Vater oder eine Mutter bafl, danfe Bott 
an dem Tage dafür, wo Deine Seele voll Freudenthränen ift und eine Bruft 
bedarf, an der fie fie vergießen fann. ... 

„Und mit diefer edeln Umarmung am Grabe eines Vaters fchließe ſich 
heilig diejer Breudentag! —“ 

In folden Stellen, fo kurz fie auch find, wird, glauben wir, ein er 
fahrened Auge einige Züge von Originalität fowohl als allerdings auch von 
Seltiamkeit finden, ein offener Sinn für Natur, ein weiches Herz, eine 
warme reiche Phantafte und Hier und da eine tieferliegende Strömung des 
Humors find deutlich genug erfennbar. 

Bon diefer legtern Eigenfchaft, weldhe, wie oft gefagt worden, Rich⸗ 
ter’8 hervorragendſte und ftärffte Seite ift, möchten wir unfern Lefern gern 
einen richtigen Begriff geben, wiſſen aber nicht recht, wie wir es machen 
follen. Da es ächt poetifcher Humor iſt, feine bloße Wigelei oder gemeine 
Karrifatur, fo ift er gleichfam wie eine feine Efienz, wie eine Seele. Wir 
entdecken ihn nur in ganzen Werfen und Schilderungen, eben fo wie bie 
Seele nur im Tebenten Körper, nicht in einzelnen Gliedern und Bruqhſtücken 
zu ſehen iſt. 


Richter's Humor nimmt eine große Menge Geſtalten an, von welchen 


ME — — — — 


8 


einige ziemlich grotest und buntichedig find. Sie erſtrecken fi von ber 
leichten freundlich komiſchen Ader Sterne'8 in feinem „Zrim* und „Onkel 
Toby“ über alle dazwifchenliegenden Grabe bis zu dem Grimmigfchroffen, 
Poffenhafttragifchen, wie wir e8 zuweilen in Hogarth's Zeichnungen fehen, 
ja bis zu noch fchwärzeren und unheimlicheren Bildern als biefen. 

Zu ber erſtern Battung gehören feine Charaktere Fixlein, Schmelzle, 
Bibel ; zu den legtern fein Vult, Giannozzo, Leibgeber und Schoppe, welche 
Iegtern eigentlich ein und berfelbe find. Won tiefen und dem Geifte, der 
in ihnen berrfcht, würde es uns durch Auszüge oder Uebertragungen und 
Umſchreibungen nicht möglich fein, eine andere als höchſt unangemefjene und 
jogar unrichtige Idee zu geben. 

Nicht ohne Widerftreben haben wir daher biefe urfprünglich gefaßte 
Abficht wieder aufgegeben und müſſen und mit einem „Ertrablatt” oder 
einer andern leicht auszuhebenden Stelle begnügen, weldhe, wenn fle auch 
fein Emblem von Richter's Humor gewährt, doch dad Annaͤherndſte ift, was 
wir unter diejen Umfländen bieten fünnen. Don ben „Ertrablättern” im 
„Hesperus“ allein könnte man ein ziemlich umfängliches Bud) zufammen- 
ftellen, welches zu den feltfamften feiner Gattung gehören dürfte. Die mei« 
fien davon find jebodh national, würden ohne Commentar Faum verflanden 
werden und ſelbſt dann immer noch verlieren, denn der Humor darf nicht. 
durch ein Glas betradptet werden, fondern man muß ihn von Angeficht zu 
Angefiht ſchauen. 

Das nachftehende Ertrablatt ift Feind der beften, doch dreht es fih um 
einen europäifchen Gegenfland; auf jeden Fall ift e8 ein englifcher. 


„Ertrablatt über töhtervolle Käufer! 


» Das Haus des Minifler war ein offner Buchladen, deſſen Werfe 
(die Töchter) man da leſen, aber nicht nach Haufe nehmen konnte. Obgleich 
bie fünf andern Töchter in fünf Privatbibliotheken ald Weiber fanden, und 
eine in der Erde zu Matenthal die Kindereien des Lebens verfchlief; fo 
waren doch in Liefem Töchter⸗Handelshaus noch drei Sreieremplare für gute 
Breunde feil. Der Minifter gab bei den Ziehungen aus der Aemter⸗Lotterie 
gern jeine Töchter zu Prämien für große Gewinnfte und Treffer ber. Wem 
Gott ein Amt giebt, dem giebt er, wenn nicht Verfland, doch eine Frau. 
In einem tochterreihen Haufe müflen, wie in der Peteröfiche, Beicht⸗ 
Rühle für alle Nationen, für alle Charaktere, für alle Fehler ftehen, damit 

Carlyle. U, 6 


die Töchter als Beigtmätter darin figen und von Allem abfolviren, blos bie 
Ehelofigteit ausgenommen, Ich habe oft ald Naturforfcher die weilen An« 
ftalten der Natur zur Verbreitung der Töchter und Kräuter bewunbert; 
iſt's nicht eine weiſe Einrichtung, ſagt' ich zum naturhiſtoriſchen Göze, das 
die Natur gerade denen Mädchen, die zu ihrem Reben einen reichen minera- 
Tifchen Boden brauchen, etwas Anhäfelnbes giebt, womit fie ſich an elenbe 
Ehe⸗Finken ſetzen, bie fle an fette Derter tragen? So bemerkt Kinnee*), 
wie Sie wiffen, daß Saamenarten, die nur in fetter Erbe fortfommen, 
Haͤkchen anhaben, um ſich leichter an’3 Vieh zu hängen, daß fe in den Stall 
und Dünger trägt. Wunderbar fireuet die Natur durdy den Wind — Vater 
und Mutter müfjen ihy machen — Töchter und Fichtenfaamen in die urbaren 
Forftpläge bin. Wer bemerkt nicht Die Endabſicht, daB manche Toter darum 
von der Natur gewifle Meize in benannten Zahlen hat, tamit irgend ein 
Landſaſſe, ein infulirter Abt, ein Kardinaldiafonus, ein apanagirter Prinz 
oder ein bloßer Land» Edelmann herkomme und befagte Reizende nehme, und 
als Brautführer oder engliſcher Brautvater fle ſchon ganz fertig irgend einem 
fonftigen Tropfen übergebe, als eine auf ben Kauf gemachte Frau? Und 
finden wir bei den Heibelbeeren eine geringere Borforge der Natur? Merket 
nicht derfelbe Linnse in derfelben Abhandlung an, daß fie in einen nähren» 
den Saft gehüllet find, damit fle den Fuchs anreizen, fie zu freflen, worauf 
ber Schelm — verbauen kann er fie nit — fo gut er weiß, ihr Säemann 
wird? — 

„D mein Inneres tft ernfihafter ald ihr meint, die Eltern ärgern 
mid, die Seelenverfäufer And; die Töchter dauern mich, die Negerſklavinnen 
werden — ad iſt's dann ein Wunder, wenn bie Töchter, die auf dem weſt⸗ 
indiſchen Markte tanzen, lachen, reden, fingen mußten, um vom Herrn einer 
Plantage heimgeführt zu werden, wenn biefe, ſag' ich, eben fo ſklaviſch be⸗ 
handelt werden, als fie verfauft und eingekauft wurben? Ihr armen Laͤm⸗ 
mer! — Und doch, ihr feid eben fo arg wie eure Schaf-Mütter und Bäter 
— mad foll man mit feinem Enthufladmus für euer Gefchledht machen, wenn 
man durch deutſche Städte reilet, wo jeder Meichfle oder Vornehmſte, und 
wenn er ein weitlänftiger Anverwandter vom Teufel felbft wäre, auf dreißig 
Häufer mit dem Winger zeigen und fagen kann: „id weiß nich, fol ih aus 
dem perlfarbenen, oder nußfarbenen, ober ftahlgrünen Haufe eine heirathen : 


*) ©, vefien amoen. acad. die Abhandlung won der bewohnten Erde. 


83 

offen find die Kaufläben alle!" — Wie, ihr Mäbchen, ift benn euer Herz 
fo wenig werth, daß ihr's wie alte Kleider, nach jeder Mode, nad) jeder 
Bruſt zufchneidet, und wird's denn wie eine fineftfche Kugel, bald groß, 
bald winzig, um tn eine männlihen Herzens Kugelform und Eheringe 
Futteral einzupafien? — „Es muß wohl, wenn man nit fißen bleiben 
will, wie die heilige N.“, antworten mir die, denen ih nit antworte, 
weil id} mich mit Beratung wegwende von ihnen, um der fogenannten hei⸗ 
Hoen NN. zu fagen: „Derlaffene, aber Gebuldige! Verkannte und Ver⸗ 
blühte! Erinnere dich der Zeiten nicht, wo du noch auf beffere Hoffteft, als 
die jegigen, und bereue ben ebeln Stolz deined Herzens nie! Es iſt nicht 
allemal Pflicht, zu heiratben, aber es ift allemal Pflicht, fich nichts zu ver⸗ 
geben, auf Koften der Ehre nie glücklich zu werden, und Ehelofigfeit nicht 
durch Ehrlofigfeit zu vermeiden. Unbewunderte, einfame Heldin! in deiner 
legten Stunde, wo das ganze Leben und bie vorigen Güter und Gerüſte des 
Lebens in Trümmer zerſchlagen voraus hinunterfallen, in jener Stunde 
wirft du über dein andgeleertes Xeben hinſchauen, es werben zwar Feine 
Kinder, kein Gatte, Feine naſſen Augen darin fliehen, aber in der Ieeren 
Dämmerung wird einfam eine große, holde, englifch-lädhelnde, ſtrahlende, 
göttliche und zu den Göttlichen auffleigende Geftalt ſchweben und dir win« 
fen, mit ihr aufzufleigen — o fleige mit ihr auf, die Geſtalt ift deine 
Tugend." — 

Wir haben, und zwar mit Wärme, bereitö oben von Sean Paul’s 
PHantafle, von feiner frommen erhabenen Beflinnung gefproden, und e8 
mwürbe uns nicht anders ald angenehm fein, wenn wir unfern Lefern auch 
hiervon Proben vorlegen könnten, Leider müffen fle fih jeboch auch in 
dieſer Beziehung mit einigen unvollkommenen Etnbliden begnügen. Wels 
hen religiöfen Anftchten und Beftrebungen er fpeziell huldigte, wie Diefer 
ebelfte Theil des menfchlichen Intereffe ſich in einem folchen Geifte darftellte 
— dazu bedürfte e8 einer langen Auseinanderfeßung, aud wenn wir es 
mit Gewißheit wüßten. An einer Stelle feiner Werke deutet er an, baf 
„die Seele, welde von Natur himmelwärts blicft, in biefer unferer Zeit 
ohne Tempel ſei“, in welchem kleinen Sate ber denfende Xefer viel ent⸗ 
ziffern wird. 

„sa, es wird zwar ein anderes Beitalter fommen, * fagt Paul, „wo 
es Lit wird und wo der Menſch aus erhabnen Träumen erwacht und De 
Träume — wieder findet, weil er nichts verlor ald den Schlaf. — 

6* 


8A 


„Die Steine und Felfen, welche zwei eingehüllte Geſtalten, Nothwen⸗ 
Digfeit und Lafter, wie Deufalion und Pyrrha Hinter ſich werfen nach den 
Guten, werden zu neuen Menſchen werden. — 

„Und auf dem Abendthore diefes Jahrhunderts fleht: Gier geht der 
Meg zur Tugend und Weisheit; fo wie auf dem Abendthor zu Cherſon bie 
erhabene Inſchrift: Hier gebt der Weg nah Byzanz. — — 

„Unendlidhe Vorfiht, du wirft Tag werden laſſen. — 

„Aber noch fireitet Die zwölfte Stunde der Nacht: die Nachtraub⸗ 
vögel ziehen, die Gefpenfter poltern; die Todten gaufeln; die Lebendigen 
träumen. * 

Wunderbare Erzeugniffe des Jean Paul'ſchen Geiftes find feine 
„räume“, Mit feltfamer poetifher Gewalt beberriht er bier jenes 
Chaos der geifligen Natur und verkörpert in ihr eine ganze Welt voll 
Naht, die nur von bleiben Schimmern oder grellen Lichtblitzen unter- 
brochen wird und mit ungeheuerlichen, abenteuerlichen, aber großartigen 
und bedeutungsvollen Geftalten bevölkert iſt. Kein und befannter Dichter, 
nicht einmal Milton, befigt eine fo unermeßliche Einbildungsfraft, einen 
folden Hinreißenden, tiefinnigen althebrätfchen Geiſt, wie Richter in dieſen 
Scenen. In feinen biographifhen Notizen erwähnt er den Eindruck, den 
die folgenden Zeilen aus Shakſpeare's, Sturm“ auf ihn madten: 


„Wir find folcher Stoff 
Wie der zu Träumen, und dies Feine Leben 
Umfaßt ein Schlaf.“ 


„Die Stelle in Shakſpeare,“ fagt er, „mit Schlaf umgeben, 
von Plattner ausgeſprochen, erfchuf ganze Bücher in mir. * 


Hiermit müffen wir, vor der Hand wenigftens, unfere Zucubrationen 
über Jean Paul fchliegen. Die ſpezifiſchen Eigenthümlichfeiten eines ſolchen 
Genius und feines Wirkend und feiner Erfolge in den vielfältigen Re— 
gionen, in weldyen er wohnte und thätig war, mit nur annähernter Ge⸗ 
nauigfeit zu jchildern und zu malen, wäre eine langwierige Aufgabe, zu 
welcher wir vielleicht bier einigen Grund gelegt haben und bie wir bei 
pafiender Gelegenheit mit großem Vergnügen wieder aufnehmen werden. 


85 


Wahrfcheinlich werden unfere Lefer, wenn fle all diefe feltfamen Dinge 
überdenken, nur zu oft an jene „ Coſtüm⸗Epiſode“ Paul's zurücdenfen und 
fih der Meinung zuneigen, daß er wie im Leben, fo aud im Schreiben ein 
Sonderling geweien jet und fortwährenden Affectationen gehultigt habe. 
Wir wollen über diefen Punkt nicht ſtreiten und und nicht in das Labyrinth 
hineinwagen, in welches ein ſolcher Streit uns führen würde. 

Sleichzeitig aber hoffen wir, daß Viele, im Einverfländnig mit ung, 
Richter fo wie er war, ehren und troß feiner hundert wirklichen und feiner 
zehntaufend fcheinbaren Fehler unter dieſem wunderbaren Gewand den Geift 
eines aͤchten Dichters und Philoſophen erkennen werben. 

Als einen Dichter, und zwar ald einen der größten feiner Zeit, müflen 
wir ihn betrachten, obſchon er Feine Verſe jchrieb; als einen Philofophen, 
obichon er Feine Syſteme aufftellte, denn die „göttliche Weltidee“ fand in 
klarem ätherifchem Lichte vor feinen Geiſte; er erkannte das LUnflchtbare 
ſelbſt unter den niedrigen Formen biefer Tage und firebte mit hohem, ſtar⸗ 
Tem, begeiftertem Herzen, e8 in dem Sichtbaren barzuftellen und feinen 
Mitmenſchen zu verfünden. 

Diefe eine Tugend, die Grundlage aller anderen, und die und durch 
gründliches Studium in Jean Paul immer deutlicher und deutlicher enthüllt 
wird, bedeckt weit größere Sünden, ald bie feinen waren. Sie hebt ihn 
in eine ganz andere Sphäre, als die der taufend zierlichen füßlichen Sänger 
und von Urſache und Wirkung fchwagenden Philoſophen feines Vaterlandes 
fowohl als anderer Nationen, der Million Romanfabrifanten, Skizzen⸗ 
fgmierer und dergleichen zu gefchweigen. 

Einen folhen Mann können wir mit Recht zum allgemeinen Studium 
empfehlen, während wir Die, welche bei dem gegenwärtigen Stande ber 
Dinge ihn vielleicht am meiften tadeln, an den alten Sprud erinnern: 
„Außerordentliche Erfcheinungen muß man; ſtets mit eigenen Augen zu be⸗ 
trachten fuchen. * 


Boswell’s Lebensgefchichte Iohnfow’s*). 
(1832.) 


Aeſop's Fliege, die auf der Are des Wagens ſaß, ift ſehr ausgelacht 
worden, weil fie ausrief: „Was für einen Staub jage ich doch in bie 
Höhe!* Und wer von und hätte ſich in feiner Art und Weife nicht zuwei⸗ 
len einer ähnlichen Laͤcherlichkeit ſchuldig gemacht? Ja, fo thöricht find Die 
Menſchen, daß fie oft ganz bequem als Zufchauer auf der Heerſtraße ſtehend, 
freiwillig von der Bliege — ohne diefelbe Verfuhung zu haben wie dieſe — 
außrufen und zwar zu demſelben Zwede: „Was für einen Staub jagft Du 
in die Höhe!“ Ganz Eleine Sterbliche erfcheinen oft groß, wenn fie durch 
die Umftände in die Höhe gehoben werben und ganz Fleine mit ihnen im 
Verbindung ftehende Erfheinungen werben als wichtig behandelt, emfig 
nach allen Seiten Hin unterſucht und mit lauter Emphafe beſprochen. 

Dap Mr. Erofer eine neue Ausgabe von Boswell's Lebensgejchichte 
Johnſon's veranftaltete, war ein lobenswerthes, aber keineswegs wunder» 
bares Unternehmen; auch konnte die Vollendung eines ſolchen in einer 
Epoche wie die unfere keineswegs als ein Ereigniß in der allgemeinen Welt- 
geſchichte betrachtet werben, und die richtige ober unrichtige Ausführung 
war in der That und Wahrheit ein ganz unbedeutender Gegenftand. 

Und dennoch ſaß dieſes Kleine Ereigniß in großer Umgebung auf der 
Are eines hohen, ſchnell dahinrollenden Parlamentswagens und alle Welt 
bat über dafjelbe und feinen Autor ausgerufen: „Was für einen Staub 
jagft du empor!" Man fehe die Revuen und anderen „Organe ber öffent- 


®) The Life of Samuel Johnson, L. L. D.; including a Tour to the Hebrides : 
By James Bosweli, Esg. — A new Edition, with numerous Additions and Notes : 
By John Wilson Croker, L. L. D., F. R. S. 5 vols. London, 1831. 


87 


lien Meinung *, von dem National Omnibus an aufwärts. Tadelnde und 
Iobende Kritifen entfirömen ihren tauſend metallenen oder ledernen Kehlen; 
Hier Iobfingende Jo-paeans, dort grollender Donner oder heftiges Spig- 
maudgequife, bid das Ohr des Publikums davon faft betaubt ward. Bos⸗ 
well's Bud) Hatte im Bergleich mit diefer neuen Ausgabe von Boswell's Bud) 
eine fehr geräufchlofe Geburt. Andererſeits erwäge man, mit welchem Ge 
räuſch das „verlorene Paradies“ und bie „I lade* Milton’s ins Publitum 
eingeführt wurden. 

Einen folden Lärm noch mehr zu erhöhen oder über feine Zeit hinaus 
zu verlängern, ſcheint keineswegs Hier unfer Beruf zu fein. Im äußerften 
Balle find wir vielleicht verbunden, mit aller möglichen Kürze einfachen 
Leſern mitzutheilen, welche Art von Leiflung dies if, befonderd ob fie nach 
unferer befcheidenen Meinung verdient, daß man drei Pfund Sterling dafür 
audgebe ober nicht. Die ganze Sache gehört unverkennbar ben niedrigen 
Reihen ber trivialen Klaffe an. 

Wir wollen daher bereitwilligft zugeftehen, daß, wie Johnſon einmal 
fagte und der Herausgeber wiederholt, „alle Werke, welche Öffentliche Sit⸗ 
ten ſchildern, in ſechzig oder fiekzig Jahren oder auch noch eher mit Noten 
verfehen werden müflen” ; daß demgemäß eine neue Ausgabe von Boswell 
wünfchenswerth war und daß Mr. Grofer eine folcdhe gegeben hat. Bu bie» 
fer Aufgabe hatte er verfchiedene Befähigungen: feinen eigenen freiwilligen 
Entſchluß, fie zu übernehmen; feine hohe Stellung in der Gefellihaft, die 
ihm alle Archive erſchloß; nicht weniger vielleicht eine gewiſſe natürliche 
ober erworbene anekdotiſch⸗ biographiſche Beiftesrichtung, wir meinen eins 
Borliebe für die Fleineren Greignifle der Gefchichte und Talent zur Er⸗ 
forſchung derfelben. 

Hierbei müffen wir auch ferner zugeben, daß ex fehr fleißig geweien 
if; mit ber größten Ausdauer nah und fern Nachforſchungen angeftellt, 
auch aus feinen eigenen reichen Vorräthen in umfafiender Weife geichäpft 
zu haben fcheint, und auf diefe Welfe und dem Anſcheine nad ganz genau 
Vieles erzähle, was ey nicht auf den Heerſtraßen gefunden, ſondern juchen 
und audgraben mußte. 

Zehlreiche Perſonen, größtentheils von vornehmem Stande, treten in 
diefen Anmerkungen auf; wann und aud wo fie das Kicht der Welt erblick⸗ 
tem, angeftellt ober befördert, qgu8 dem Leben abgerufen und begraben wur⸗ 
Den — nur was fie außer ihrer Verdauung noch tbaten, bleibt oft zu 


geheimnißvoll — iſt ziemlich treu angegeben. Alles, was ihre verfchlebenen 
und ohne Zweifel weit umbergeftreuten Grabfleine uns hätten Ichren kön⸗ 
nen, wird uns bier mit einem Male in einem gebundenen Buche vorgelegt. 

Auf dieſe Weife ift ein unzweifelhafter, obſchon Fleiner Steg über 
unfern großen Feind, Die alles vernichtende Zeit, errungen und foll uns als 
folder willkommen fein. | 

Ja, wir müffen auch Hinzufügen, daß der Geiſt des Fleißes, welcher 
in diefer Beziehung entwidelt worden, dem Herausgeber bis an's Ende 
feines Werks treulich zur Seite zu flehen ſcheint. Er behält den Tert überall 
fharf im Auge; bringt das Entfernte mit dem Gegenwärtigen in Einflang 
ober deutet wenigftens die Unvereinbarfeit an und bebauert fie; er erläutert 
und glättet und übt in jeder Beziehung nach feinen beflen Kräften eine 
firenge redactionelle Aufficht. Jede Fleine Inteinifche, ober auch griedhifche 
Phraſe ift, und zwar größtentbeild mit volllommener Genauigkeit, in’s 
Englifche übertragen ; bie vorfommenden Citate find nad Befinden berich- 
tigt worden. 

Dabei ift uͤberdies nach allen Seiten bin ein gewiſſer Geift des An⸗ 
flandes aufrecht erhalten und durchgeführt; wir bemerken, wenn auch nicht 
gute Moral, doch gute Sitten, und wenn auch nicht Religion und ein froms 
mes dhriftliches Gerz, Doch Orthodoxie und einen faubern fhaufelhütigen 
Bid, — was im Bergleih mit dem platten Nichts fchon etwas jehr Bes 
deutendes ift. 

Ein nicht zu verachtender Triumph dieſes letztern Geiſtes Tiegt auch 
darin, daß, obſchon der Seraußgeber als ein entfchiedener Politifer und 
Parteimann befannt ift, er doch forgfältig alle Verfuchungen zu Ueberſchrei⸗ 
tungen nad diefer Seite hin forgfältig niedergefämpft hat, und ausgenom⸗ 
men an ganz unwillfürlichen Andeutungen und gleichfam der vorberrichenden 
Stimmung des Ganzen, könnte man nicht entdecken, unter welder poli« 
tifchen Fahne er fleht und kämpft. 

Dies ift, wie wir ſchon bemerkt haben, ein großer Triumph des 
Anftandsprinzips und dafür wie für jene anderen Leiftungen gebührt dem 
Heraußgeber alles Lob. 

Damit jedoch erreicht das Lob unglüdlicherweife ſchon fein Ende. 
Fleiß, Treue, Anftand find gut und unerläßlih und dennoch reihen fie ohne 
Bahigfeit und ohne Licht nicht aus. Bugleich mit jener Leichenſteinbeleh⸗ 
rung, vielleicht fogar ohne einen großen Theil berfelben, hätten wir gern 


89 


auf eine oder Die andere Weife eine Antwort auf die wichtige Frage ver- 
nommen: Was und wie war das englifhe Leben in Iohnfon’s Zeit; 
worin ift das unfere im Kaufe der Zeit abgewichen? Mit andern Worten: 
Welche Dinge haben wir zu vergeffen und welche und vorzuftellen und in's 
Gedächtnig zurüdzurufen, ehe wir auß einer folden Entfernung und an 
Johnſon's Stelle feßen und fo im vollen Sinne des Worts ihn, feine 
Worte und feine Thaten verftehen können? 

Dies war in der That ganz fpeziell die Aufgabe, welche ein Commen⸗ 
tator und Herausgeber zu Iöfen Hatte. ine vollftändige Löſung Dderfelben 
wäre feine Pflicht geweſen; fein ganzes Denken hätte von vollflommener 
Einfiht in dieſelbe durchdrungen fein follen. Sowohl im Wege ausdrüde 
licher Abhandlung, als auch beiläufiger Auseinanderfegung und Andeutung 
würden fi Gelegenheiten genug dargeboten haben, auf diefes Ziel hinzu⸗ 
arbeiten. Was in der Geftalt der Vergangenheit dunkel war, wäre dadurch 
aufgeklärt worden; Boswell wäre nicht blos dem Scheine und den Worten 
nad, fondern in der That und Wahrheit wieder neu und für uns, die wir 
von ihm getrennt find, eben jo lejerlich gemacht worden, wie er für feine 
Beitgenoffen war. 

Bon allem diefen ift aber bier fehr wenig verfucht worden, während 
die Ausführung ſich auf fehr wenig oder geradezu auf nichts rebucirt. 

Ohne Zweifel wird e8 für diefe Unterlaffung nicht an Entſchuldigungen 
fehlen, eben fo wenig wie für unzählige andere Verfäumniffe und Ungehö⸗ 
rigfeiten, wie wenn z. B. der Herausgeber forgfältig etwas erklärt, was ſchon 
fonnenflar ift und dann wieder mit ziemlich naiver Offenheit zugiebt, daß er 
dies und jenes nicht verſtehe oder begreife, während doch größtentheilß ber 
Leſer nicht umhin kann, die fraglichen Stellen recht wohl zu verftehen und 
zu begreifen. 

Wenn daher z. B. Johnſon an einer Stelle fagt, daß engliſche Eigen⸗ 
namen in Tateinifchen Verfen nicht gebraucht werden follten und fi dann 
in dem naͤchſten Satze tadelnd darüber ausfpricht, daß „Earteret “ als Dacty« 
lus gebraudt worden, wird da wohl die Mehrzahl ber Sterblichen etwas 
Unklares entdedlen? Oder wiederum, wo der arme Boswell ſchreibt: „Ich 
entfinne mich fehr oft einer Bemerkung, welche eine in Frankreich erzogene 
türkifche Dame gegen mich machte, indem fie fagte: ‚Ma foi, monsieur, notre 
bonheur depend de la facon que notre sang eircule;“ — wo iſt da, ob⸗ 
fhon Die türkifche Dame hier engliſch⸗franzoͤſtſch ſpricht, die Nothwendigfeit 


zu einer Anmerkung vorhanden, wie folgende: „Mr. Boswell glaubte ohne 
Zweifel, diefe Worte hätten eine gewille Bedeutung, fonft würde ex fie 
ſchwerlich citirt haben; worin aber biefe Bedeutung befteht, vermag ter 
Herausgeber nicht zu errathen“? Der Herausgeber ift offenbar Fein Hexen⸗ 
meifter im NRätbfelrathen. 

Für diefe und ähnlihe Mängel if die Entſchuldigung, wie wir fchon 
oben fagten, zur Band; die Thatſache aber, daß fie eriftiren, ift nit 
weniger gewiß und bedauerlich. 

In der That if ed gleich von vornherein auf betrübende Weiſe erſicht⸗ 
fi, wie fehr e8 dem Herausgeber, der doch mit allen außeren Mitteln fo 
wohl verfehen iſt, innerlich an den Mitteln fehlt, fich ſelbſt einen richtigen 
Begriff von Johnſon und Johnſon's Leben zu machen und deshalb mit gro⸗ 
Ber Hoffnung auf etwad Erbauliches über diefen Gegenfland zu ſprechen. 

Biel zu leichtfinnig iſt gleich von Haus aus für auſsgemacht angenom⸗ 
men, daß der Hunger, die große Bafld unſeres Lebens, auch defien Gipfel⸗ 
punft und legte Vollkommenheit fei; daß fo wie „Dürftigfeit, Habgier 
und Ehrgeiz * die Gaupteigenfchaften der meiften Menſchen find, fo auch kein 
Menſch, nicht einmal ein Johnſon, nach irgend einem andern Prinzip han⸗ 
delt oder auch nur denkt zu handeln. Alles, wad daher nicht auf die beiden 
erften Kategorien (Armuth und Habgier) zurüdgeführt werben kann, wird 
ohne weitere Yimflände unter die lettere rangirt. 

Dies if der eigentliche Punkt, wo unfer Herausgeber laͤſtig und für 
ſchwaͤchere Leſer ſogar anftößig wird. „Was kann es nügen,” werben Diefe 
ausrufen, „wenn wir noch einen ſchwachen Schatten von Glauben hatten, 
daß der Menſch etwas Beſſeres fei, ald eine egoiftiiche Verdauungsmafchine, 
was kann e8 dann nügen, bei jeder Gelegenheit zu erflären, wie died und 
das, was und an dem alten Samuel edel erfchienen, im Grunde genommen, 
gemein und niedrig fei, Daß es auch für ihn nichts Wirkliches gegeben, als 
den Magen, und dab mit Ausnahme von Pudding und der feineren Art 
Pudding, welde man Lob nennt, das Leben feinen Nahrungsftoff für ihn 
batte? Warum zum Beifpiel, wenn wir willen, daß Johnſon jein Weib 
liebte und ausdrücklich fagt, daß ihre Verbeirathung von beiden Seiten 
eine Kiebeöheirath geweien, — warum, fragen wir, öffnen fi dann zwei 
geichloffene Lippen, um und weiter nicht8 zu fagen, als: „If es nicht mög« 
li, daß der offenbare Vortbeil, eine erfahrene Frau zu befigen, welche ein 
Inftitut diefer Art (feine Schule) beaufſtchtigen konnte, viel zum Abſchluß 


9 “ 


einer Seirath beigetragen haben mag, die in Bezug auf die Lebensjahre eine 
fo ungleiche war. — Ed.“? — Oder wenn in dem Terte der ehrliche Cyniker 
ungenirt von feiner früheren Armuth fpricht und es befannt iſt, daß er ein⸗ 
mal längere Zeit von fünfthalb PBence täglich Iehte, — braucht dann wohl 
ein Kommentator vorzutreten, um die Bemerkung zu madhen: „Wenn wir 
finden, daß Dr. Johnſon unangenehme Wahrheiten zu oder von andern Leu- 
ten jagt, fo dürfen wir nicht vergeflen, baß er ſich auch felbft nicht geichont 
zu haben fcheint und zwar bei @elegenheiten, wo ed ihm zu verzeihen geweſen 
wäre, wenn er ed gethan hätte?’ — „Mit einem Worte,” fährt der erbit⸗ 
terte Leſer fort, „warum fliehen Noten dieſer Art gleihfam mir zum Trotze 
Da, wo g8 eigentlich gar Feiner Note bedurft hätte?” 

Lieber Lefer, antworten wir, ergürne Dich nicht. Was fonnte ein ehr⸗ 
ficher Eommentator weiter thun, als Dir das Befle geben, was er hatte? 
So war das Bild und Theorem, welches er fidh von der Welt und von dem 
menfhlihen Thun in derfelben gemacht; nimm ed bin und ziehe weife 
Schlüffe daraus. Wenn ed wirklich einen Anführer der öffentlichen Mei⸗ 
nung und Borfämpfer der Orthoborte in der Kirche eined Jeſus von Naza⸗ 
reth gegeben, welcher der Meinung war, ber Ruhm des Menfchen beftehe 
darin, nicht arm zu fein und dab ein Weifer und Prophet feiner Zeit 
notbwendig erröthen muß, weil die Welt ihm nicht mehr bezahlt als fünft« 
balb Bence per diem, — war nicht die Thatſache einer foldhen Eriftenz des 
Wiſſens und des Beachtens werth? 

Bon weit milderer Färbung und doch für und praktiſch von ganz ent⸗ 
flellender und für das gegenwärtige Unternehmen Höchft nachtheiliger Art, 
ift ein zweiter großer Hauptfehler, der legte, deflen Darlegung wir bier 
für unfere. Pflicht Halten, 

Dieſer Fehler beſteht darin, daß unfer Herausgeber auf verberbliche 
und faft überrafchende Welle die Grenzen der Bunction eines Herausgebers 
verkannt bat und fo, anftatt mit feiner Feder am Rande zu arbeiten und 
nach beften Kräften zu erläutern, kühn mit feiner Scheere mitten in das 
Blatt bineinfährt und nah Gutdünken darin herumfchneider! Bier Bücher 
hatte Mr. C. von ihm, aus welchen er Licht für das fünfte fchöpfen Eonnte, 
welches von Boswell herrührte. Aber was macht er? Er ichneibet ganz 
ungenirt fämmtliche fünf Bande in Stüde und nähet fle ganz nad feiner 
Bequemlichkeit in ein sextum quid zuſammen und giebt Boswell für den 
Berfafier des Ganzen aus. 


92 


Aber durch welche Zauberei, werden unfere Lefer fragen, bat er Died 
bewirkt? Wir antworten: Auf die einfachfle Weife von der Welt, namlich 
durch Klammern. Noch nie zuvor hat die Klammer in dieſem Maße gezeigt, 
was fie vermag. Man beginnt einen Sag unter Boswell’d Leitung und 
glaubt von derſelben gluͤcklich hindurdgeführt zu werden. ber damit iſt 
ed nichts, denn in der Mitte, vielleicht nad) einem Semifolon und einem 
darauffolgenden „denn“ taucht eine jener Klammerverbindungen empor unb 
zwingt den Xefer, ſtatt einer halben Seite, zwanzig ober dreißig Seiten eines 
Hawkins, Tyers, Murphy oder Piozzi durchzumachen, fo daß man oft bie 
alte wehmüthige Betrachtung anftellen muß: Wo wir find, das wiflen wir ; 
aber wohin wir gerathen, das weiß fein Menſch! 

Eben fo fagt man auch fehr wahr: „BZwifchen dem Becher und der 
Lippe liegt noch Vieles;“ Hier aber ift die Sache noch trauriger, denn erft 
nach reiflicher Erwägung kann man, wenn der Becher ſchon an ter Lippe 
fteht, ermitteln, was für eine Flüffigfeit es iſt, die man einſchluckt — ob 
Boswell's franzöfticher Wein, mit welchem man begann, oder Piozzi's Ing⸗ 
werbier oder Hawkins' Doppelbier oder vielleicht irgend eines andern großen 
Brauerd Kofent oder fogar Effig, der auf verflohlene Weife untergefhoben 
worden. ine originelle Situation, die man nicht gern zum zweiten Male 
verfucht! Welchen Begriff Mr. Erofer von einem Titerarifhen Ganzen 
und dem Dinge hat, welded man ein Bud nennt und wie e8 kam, daß 
nicht fogar der Preßbengel ſich gegen ein ſolches Sammeljurium empörte 
und fich weigerte, ed zu Druden, — das iſt und unerflärlich. 

Doch nun haben wir gefagt, was wir jagen wollten. Alle Fehler find, 
wie die Morallehrer uns fagen, eigentlih blos Unzulänglidhfeiten; 
fogar Verbrechen find weiter nichts als ein Nichtgenugthun, ein 
Kampf, aber mit unzulängliher Kraft. Wie weit mehr muß daher bei 
bloßer Handarbeit und zwar nad reblicher Auftrengung eine ſolche Unzu⸗ 
länglichkeit entfchultigt werden! Mr. Croker fagt: „Das Schlimmfle, was 
gefchehen kann, ift, daß Alles, was ter gegenwärtige Seraudgeber beigetra= 
gen bat, wenn es dem LXefer beliebt, als etwas Ueberfluͤſſtges betrachtet 
werde. Es iſt unfere angenehme Pflicht, das, was er gegeben hat, herzlich 
willkommen zu heißen und uns felbft für das zu bedanken, was er zu geben 
gedachte. Zunaͤchſt aber und ſchließlich iſt e8 unfere ſchmerzliche Pflicht, da 
nöthig, laut zu erklären, daß fein Geſchenk, wenn man es gegen das fchwere 
Geld wiegt, welches bie Buchhändler dafür verlangen, nach unferer Anftcht 





93 


viel zu leicht iſt. Es iſt demgemäß Fein Theil unferes Fleinen ſchwebenden 
Kapitals in diefem Gefchäft angelegt worden und foll e8 auch nie werden, 
und wollten wir auch wirkli Geld für fo etwas auögeben, jo giebt e8 doch 
einfach Feine Ausgabe von Boswell, welder dieſe Tegtere vorzuziehen 
wäre. Und nun genug und mehr als genug! 

Zunächſt nun haben wir ein Wort über James Boswell zu ſprechen. 
Boswell ift fchon vielfady commentirt worden, mehr aber in tadelnder, ale 
in wahrhaft anerfennender Welfe. Er war ein Mann, ber ſich den Augen 
der Welt fehr Häufig vorführte. Cr bekannte felbft, daß er frühzeitig nach 
Ruhm, oder wenn ihm dies nicht möglich war, wenigftend Aufſehen zu er- 
regen trachtete, welches Iegtere ihn in größerem Maße gelang, als er eigent« 
lich zu verdienen ſchien. Das Publikum ward nicht blos durch feine natür- 
liche Liebe zu Skandal, fondern auch durch einen fpeziellen Grund des Neides 
angeregt, ihm fo viel Uebles nachzuſagen, als ihm nur immer nachgeſagt 
werden fonnte. Bon den fünfzehn Millionen, welche Damals Iebten und auf 
den britifchen Infeln Koft und Schlafftelle Hatten, hat und diefer Mann ein 
größeres Bergnügen verfhafft, als irgend ein anderes Individuum, auf 
befien Koſten wir uns jetzt beluftigen. Vielleicht hat er uns aud einen 
Dienft geleiftet, wie außer ihm Höchftens nur Zwei oder Drei. Und den⸗ 
noch — fo undankbar find wir — exiſtirt nirgend8 eine gefchriebene ober 
geiprohene Lobrede auf James Boswell; fein Lohn an materiellem Pud⸗ 
ding — in fo weit fein Honorar in Brage kam — war nicht fehr reichlich, 
und was leeres Lob betrifft, to ift ed ihm gänzlich verfagt worden. Die 
Menſchen find thörichter ald Kinder, denn fe fennen nicht die Hand, welde 
fie füttert. 

Boswell war ein Mann, defien niedrige oder jchlechte Eigenſchaften 
dem Auge der Welt offenkundig und auch dem blödeften Blicke fidhtbar 
waren. Seine guten Eigenfchaften dagegen gehörten nicht der Zeit an, in 
welcher er lebte. Sie waren damald weit entfernt, gewöhnlich zu fein und 
batten in einem ſolchen Grade faft nicht ihres Gleichen. Daher wurden fie 
auch nicht Fo leicht erfannt und es fonnte fogar — fo felten waren fie ges 
worden — geichehen, daß man fie mit den Laftern vermengte, an welche fie 
angrenzten und woraus fle entfprungen waren. Daß er ein Weinfäufer war 
und gefräßig nach Allem hafchte, was ihm einigen Genuß bereitete, wäre es 
auch 6108 für den Magen gewefen, das läßt fich faft nicht Teugnen. Daß er 
eitel, Teichtfinnig und ein Schwäger war, bald den Schmaroper, bald den 


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Prahler, bald den Gecken fpielte; daß er fehr flolz that, wenn ber Schneider 
durch einen Galaanzug einen neuen Menſchen aus ihm gemacht hatte; daß 
er bei dem Shakipeare-Iubiläum mit einem Band, auf welchem die Worte 
„Sorfita Bosmwell* Randen, um den Hut erfhien, und mit einem 
Worte Eeinen Tag feines Lebens verbrachte, ohne mehr zu jagen und zu 
thun, als eine einzige pratentiöje Albernheit — alles dies ift unglüdlicher« 
weife fo Elar, wie die Sonne am Simmel. 

. Sogar aus der Phyfiognomie Boswell’s fcheint ſich dies fchließen zu 
laſſen. Diefe aufgeftülpte Nafe, welche fo geftaltet zu fein ſcheint, theilb 
um über feine ſchwächeren Mitmenichen zu triumphiren,, theild um den Ge— 
ruch des Eommenden Bergnügens einzufaugen und ihn von weitem zu wit 
tern; dieſe wie halbgefüllte Weinjchläuche herabhängenden Baden, vieler 
hervorragende Mund, diefe fette wammige Uinterfehle — wer ſieht nicht in 
allem diefen Sinnlichkeit, Anmaßung und dreifte Dummheit! Der untere 
Theil von Boswell's Geſicht Hat mit einem Worte einen niedrigen, faft 
thieriſchen Charafter. 

Unglüdliherweife ift dagegen das Große und wahrhaft Bute, was in 
ihm Tag, keineswegs fo von felbft erfichtlih. Daß Boswell geiftigen Nota⸗ 
bilitäten nachjagte, daß er fie liebte und fogar kroch und rutichte, um nur 
in ihre Nähe zu fommen; daß er erſt — um bie Worte des alten Touchwood 
Auchinleck zu gebraudien — „fih mit Baoli einließ und dann, nachdem er ſich 
mit dem corſikaniſchen Lantftreicher verunreintgt, fi zu einem Schulmeifter 
gefellte, der eine Schule hielt und es eine Akademie nannte”, daß er alles 
Dies that und nicht umhin fonnte, e8 zu thun, das rechnen wir ihm zu einem 
ganz befonderen Verdienft an. Er hatte ein für allemal einen „offenen 
Sinn*, ein offene liebendes Herz, welches ſo Wenige haben; wenn eine 
geiftige Größe fich zeigte, fo fühlte er fich gedrungen, fie anzuerfennen ; er 
fühlte fi zu ihr Hingezogen und Eonnte — mochte der alte Schwefelbrand 
von einem Laird fagen, was er wollte — nicht anders als mit ihr gehen, — 
wenn nicht als Herr oder auf gleichem Buße, dann als Untergeordneter und 
Lakai; auf jeden Fall beſſer fo als gar nicht. 

Wenn wir nun bedenfen, daß dieſe Liebe zu geiftiger Größe nicht blos 
über eine üble Natur triumphiren mußte, fondern aud welch eine Er⸗ 
ziehung und geiellige Stellung ihr widerſtand und fie niederdrüdkte, fo 
fann die angeborene Kraft, welche alles dies überwand, ung mit Recht in 
Eritaunen fegen. Man bedenfe, welch ein innerer Impuls vorhanden gewefen 


08 


fein muß, wie viele Hindernde Berge auf die Seite gefchafft werben mußten, 
ehe der fchottifche Laird als befcheidener Diener die Knie — die Bruft war 
ihm nicht erlaubt — des englifchen Dominie umfaflen durfte. „Der ſchot⸗ 
tiſche Lord," fagt ein englifcher Schriftfteller jener Zeit, „Tann als ber 
hungrigſte und eitelfte aller befannten Zweifüßler befinirt werden.” Auch 
Boswell war ein Tory von ganz eigenthümlich feudaler, genealogifcher und 
pragmatifcher Gefinnung. Er war in einer Atmofphäre der Heraldik, zu 
den Füßen eines leibhaften Gamaltel in dieſer Hinftcht erzogen, innerhalb 
nadter, nur mit Stammbäumen geſchmückter Mauern, unter Dienern in 
fadenſcheinigen Livreen, jo daß alles von feiner Geburt an ihn lehrte einge- 
denf fein, daß ein Laird ein Laird fei. 

Vielleicht Tag eine fpezielle Eitelkeit fchon in feinem Blute. Der alte 
Auchinleck beſaß, wenn auch nicht die prunfende, ſchweifſpreizende Pfauen- 
eitelfeit feined Sohn, nicht wenig von der langſam einherfchreitenden, zank⸗ 
füchtigen, zifchenden Eitelkeit des Bänferih8 — eine noch weit verderblichere 
Gattung. Schottiſche Advocaten erzählen jet noch, wie der alte Mann, 
nachdem er zufällig nach Abſchaffung der erblichen Gerichtsbarkeit zum erften 
Föniglichen Sheriff ernannt worden, gewohnt war, in eintönig jchnüffeln« 
dem aufgeblähetem Tone feinen Urtheilsfprud von der Richterbank aus mit 
den Worten einzuleiten: „Ih, der erfle königliche Sheriff in Schottland. * 

Und nun ſehe man den würdigen Boswell, fo voreingenommen und 
von Natur und Kunſt zurückgehalten, nichtödeftoweniger wie Eiſen feinem 
Magnete entgegenfliegen, wohin fein befierer Genius ihn rief! Man kann 
das Eifen und den Magnet umgeben, mit welchen Einhegungen und Eim- 
büllungen man will — mit Holz, mit Kehricht, mit Meffing ; es hilft alles 
nicht, die beiden fühlen einander, fie fireben einander raſtlos zu, fie wollen 
beifammen fein. Das Eifen mag ein fchottifcher, bünfelhafter, aufgeblajener, 
fleiner Squire und der Magnet ein englifcher Plebejer und ſich bewegender 
flolzer, zornmütbiger, gebieteriicher Lumpen⸗ und Staubberg fein, fo werden 
fle nichtsdeſtoweniger fih umarmen und unauflöslich aneinander haften! 

Es ift eine der ſeltſamſten Erfcheinungen des vergangenen Jahrhun⸗ 
derts, Daß zu einer Zeit, wo das alte ehrfurdtävolle Gefühl der Jünger⸗ 
haft — fo wie e8 früher Menſchen mit reichen Gaben und bemüthiger 
Seele aus fernen Ländern zu den Füßen der Propheten führte — aus der 
praktiihen Erfahrung der Menfchen faft ganz hinweggefchwunden war und 
man ſchon glaubte, ed fei nicht mehr vorhanden, obfchon ed dauernd und 


9% 


ungerftörbar im innerften Herzen bes, Menfchen wohnt, — James Boswell 
von allen andern Menfchen derjenige war, weldyer dieſes Gefühl in fo fon« 
derbarer Geftalt der verwunderten und lange Zeit lachenden und ſpottenden 
Welt wieder vor Augen führte. 

Man hat gewöhnlich geſagt: die gemeine Eitelkeit dieſes Menfchen war 
der einzige Grund, der ihn an Johnſon feflelte; er wollte gern in feiner 
Nähe gejeben werden, er wollte fi den Anfchein geben, als flünde er mit ihm 
in Verbindung. Nun wollen wir zugeben, daß feine aus gemeiner Eitelfeit 
entfpringende Rüdficht Iames Boswell bei dieſem feinem Verkehr mit John⸗ 
fon oder überhaupt bei irgend einer wichtigen Handlung feined Lebens fremd 
fein konnte. Gleichzeitig aber frage man ſich, ob eine ſolche Eitelkeit und 
nichts weiter ihn hierbei befeelte; ob die das wahre Wefen und bewegende 
Prinzip der Erſcheinung und nicht vielmehr ihr äußeres Gewand und die 
zufällige Umgebung (und Entftellung) war, in welder fie an’d Licht trat? 
Der Mann war von Natur und Gewohnheit eitel, ein Schmaroger und Gech, 
das räumen wir ein; aber wenn auch nichts weiter als Eitelkeit in ihm ge⸗ 
ſteckt hätte, wäre dann wohl Samuel Johnſon von allen Menſchen der gewe⸗ 
fen, an den er ſich hätte anjchließen müſſen? 

Gab es zu ber Zeit, wo Iohnfon noch ein armer, in einem fchäbigen 
Mode einhergebender, in Temple Lane mwohnender Gelehrter war, fo wie 
überhaupt während ihres ganzen fpäteren Verkehrs, nicht genug Kanzler und 
Premierminifter, liebenswürdige feine Modeberren,, ehrenfpendende Edel⸗ 
leute, Mahlzeiten fpendende reiche Leute, berühmte Feuerfreſſer, Bechter und 
Gharlatane von allen Farben, von welchen jeder in den Augen der Welt 
weit größer daftand, ale es mit Iohnfon jemals ter Fall war? Bei irgend 
einem diefer Subjecte hätte unfer Bozzy fi) durch die Hälfte jener Unter 
würfigfeiten und Ausdauer empfehlen, den Neid anderer Speichelledfer mit 
anſehen, bald einen reellen Gewinn einfteden, bald gutgefochte Speijen und 
Weine verfehlingen und auf jeden Ball auch im ſchimmernden Reflex des 
Ruhmes glänzen können, fo daß er der Beobachtete unzähliger Beobachter 
geworden wäre. 

Aber an feinen derſelben, wie emſig er auch ſich jonft zeigte, ſchloß er 
fih jo innig an. Dergleichen gemeine Höflingsdienſte waren feine bezahlte 
Pladarbeit oder Erholung für feine Mußeflunden ; die Verehrung Johns 
ſon's dagegen war fein großes ideales und freiwilliged Geſchäft. Der Falt« 
berzige und doch enthuflaftiihe Mann fegt fih, feine Advocatenperrüde 





97 


herunterteißend, regelmäßig auf die Poft und eilt hauptſächlich um feines 
Beifen willen nad London wie zu einem Lauberhüttenfeft, vem Sabbath 
feine® ganzen Jahres. Der Tellerlecker und Weinfäufer verſenkt fich in 
Bolt Court, um trüben Kaffee mit einem cyniſchen alten Mann und einer 
mürrifhen,, blinden alten Frau zu ſchlürfen, welche mit dem Singer in die 
Zaflen Himeinfühlt, um fih zu Überzeugen, ob fie voll find. Geduldig er- 
trägt er Widerfprüche ohne Ende und fhägte fih ſchon glüdlih, wenn ihm 
erlaubt ward, zuzuhören und zu leben. 

Ja, es bat fogar nicht einmal den Anſchein, als ob der gemeinen 
Eitelkeit durch Boswell's Verhältniß jemals fehr hätte gefchmeichelt werben 
fönnen. Dr. Erofer fagt, Johnſon fei bis zulegt von der großen Welt, 
von welcher Doch für eine gemeine Eitelkeit alle Ehre wie von ihrer Duelle 
ausgeht, wenig geachtet worden. ‚Bozzy“' ſcheint felbft unter Johnſon's 
Sreunten und fpeziellen Bewunderern mehr verlacht ale beneidet worden zu - 
fein. Sein zudringliches Weſen, die täglichen Zurechtweilungen, die er 
erfuhr, konnten der Welt feine goldenen, fondern nur bleierne Meinungen 
abgewinnen. Sein eifriged Jüngerthum ſchien in dem Auge der Welt mei- 
ter nichtẽ zu fein, als ein niedriges Pudelthum. Sein gewaltiged Geftirn 
oter die Sonne, um weldye er ald Trabant fich drebete, war für die große 
Maſſe der Menſchen blos ein ungeheures ſchlechtgeputztes Talgliht und er 
eine ſchwache Nachtmotte, die thoricht ed umfreifte, ohne zu wiffen, was fie 
wolite. 

Obne Zweifel ward er wegen ſeines Johnſonismus ausgelacht und 
hörte oft jelbft, daß er ausgeladt ward. Beneidet zu werden, ift das große 
“amd alleinige Ziel gemeiner Eitelkeit; gut bewirthet zu werden, dad ber 
Sinnlichkeit; um Iohnjon aber beneidete den armen Bozzy vielleicht 
fein Menſch auf der ganzen Welt und von guter Bewirtfung — wenn er 
fie nicht felbft bezahlte — war bei diefer Befanntfchaft Feine Epur. Wäre 
weiter nichts oder nichts Beſſeres ala Eitelkeit und Sinnlichkeit im Spiele 
geweien,, fo wäre Johnſon und Boswell niemals zuſammengekommen, oder 
fie hätten fich wenigftens bald und auf immer wieder getrennt. 

In der That macht und die fo reichliche irdifche Spreu, welche chaotiſch 
die äußere Sphäre des Charakters dieſes Mannes bildet, den himmliſchen 
Funken von Güte, von Licht und Ehrfurcht vor der Weisheit, welde in 
feinem Innern wohnte und ſolche Hinderniffe überwinden konnte, nur um 
fo merfiwürbiger und rührender. Im der Liebe Boswell’8 zu Johnſon Liegt 

Carlyle. Il. 7 


noch Vieles unentwidelt und if ein erheiternder Beweis in einer Zeit, 
welde außerdem folche Beweiſe gänzlid, entbehrte und noch entbehrt, daß 
lebendige Weisheit dem Menjchen unendlich Eoftbar, daß fle das Symbol des 
Goͤttlichen für ihn if, was auch von ſchwachen Augen erkannt werben kann; 
dag Loyalität, daß Jüngerthum und Alles, was man je unter Heroen⸗Ver⸗ 
ebrung verftanden bat, dauernd in der menſchlichen Bruft lebt und felbft in 
diejen jegigen todten Tagen nur auf die Gelegenheit wartet, fi zu entfal 
ten, alle Menſchen damit zu begeiftern und die Welt wieder lebendig zu 
machen! 

James Boswell können wir als einen praktiſchen Zeugen oder wirk⸗ 
lichen Märtyrer dieſer hohen ewigen Wahrheit betrachten. Gin wunderbarer 
Märtyrer, wenn man will, und zwar zu einer Zeit, welche ein ſolches Mär⸗ 
tyrerthum doppelt wunderbar machte; und dennoch paßten die Zeit und ihr 
Märtyrer vielleicht ganz gut zuſammen. 

Ein Hinfälliges todtkrankes Zeitalter, wo die Gaunerſprache der Phi« 
Iofophie zuerft entichieden ihre gifthauchenden Xippen geöffnet hatte, um zu 
verfünden, daß Gottesvercehrung und Mammonverebrung eins und dafſelbe 
feien , Daß das Leben eine Lüge und bie Erde das Erbtheil des größten 
Charlatans jei; wo Alle feinem Verderben und feiner Fäulniß mit immer 
fhnelleren Schritten entgegenging — ein ſolches Zeitalter verdiente vielleicht 
feinen beflern Propheten, ald einen foldyen Parteimenſchen, der fih und 
Anderen feine propbetiiche Bedeutfamfeit in einem fo unerwarteten Gewande 
verbarg. Eine Foftbare Medizin lag in einer Fluth des gröbften zuſammen⸗ 
gefegteften Zuderfafted verborgen. Die Welt verfchlang den Zuderfaft, denn 
er fagte ihrem Gaumen zu und jegt, nach einem balben Jahrhundert, kann 
die Medizin ebenfall® anfangen, ſich zu zeigen. 

James Boswell gehörte feinen verwerflihen Eigenſchaften nad) zu den 
niedrigften Klafen der Menfchheit. Er war ein thörichtes aufgeblähetes 
Geihöpf, weldhes in einem Meer von Einbildung und Dünfelbaftigfeit 
ſchwamm. In dieſem Verwerflihen aber wohnte auch etwas Unverwerfliches, 
welches um ber ſonderbaren Wohnung willen, bie es gewählt, um fo ein⸗ 
dringlicher und unzweifelhafter ift. 

Hiernächſt betrachte man, mit welchem Fleiße, welcher Kraft und wel⸗ 
her Lebhaftigfeit er alled Das zurückgegeben hat, was in Johnſon's Nähe 
jein offener Sinn fo begierig und treu aufgefaßt hatte. Diefes fein leicht 
dahinfließendes, fo nachlaͤſſig ausfehendes Werk ift gleichlam ein Gemälde 


99 


ven einem von der Natur außerfehenen Künſtler, die befimdgliche Nachbil- 
dung einer Wirklichkeit, gleichfam das Ebenbild davon in einem klaren 
Spiegel. 

Und das war es auch. Man jorge nur dafür, daß der Spiegel Hell 
fei, dies ift die Hauptſache; das Bild wird und muß Acht fein. Iſt es nicht 
wunderbar, wie der ſchwatzende Bozzy, nur von Liebe und der Anerfennung 
und Bifton, welche Liebe leihen kann, begeiftert, allnächtlich die Worte der 
Weisheit, Die Thaten und äußern Erſcheinungen der Weisheit niederſchreibt 
und fo allmälig und fid, ſelbſt unbewußt für und eine ganze Sohnfoniade 
aufbaut, ein freieres, volllommneres, helkered und fprechenderes Bildniß, 
als fett vielen Jahrhunderten ein Menſch von dem andern gezeichnet hat! 

Kaum ift feit den Tagen Homer's ein ähnliches Werk vollbracht wor⸗ 
ben und in der That iſt e8 auch in vielen Beziehungen gewiffermaßen ein 
Heldengedicht. Die unferem unberoifchen Beitalter angemeſſene Odyſſee 
mußte geſchrieben, nicht gejungen werden; von einem Denker, aber nicht 
von einem Kämpfer und (in Ermangelung eined Homer) burd die erfle 
offene Seele, die fich barbieten würde, jelbft wenn fie durch bie Organe 
eined Boswell fchauete. 

Wir thun der geiftigen Begabung des Mannes fehr unrecht, wenn wir 
fie nach ihrer blos Iogifchen Aeußerung bemeflen ; obfchon es auch hier nicht 
an einer gewiflen phantaflereihen Offenheit und Laune fehlt, während ſich 
zugleich bier und da der Schimmer einer Einficht von mehr als gewöhnlicher 
Ziefe zeigt. Dad größte intellectuelle Talent Boswell’8 aber war, wie dies 
immer der Ball ift, ein unbewußtes von weit höherer Tragweite und 
Bedeutung ald Logik und zeigte fih im Ganzen, nicht in Theilen. Wir 
haben auch hier wieder eine Beftätigung jened alten Ausfpruches: „Das 
Herz fieht weiter ald der Kopf. * 

So zeigt fi} der arme Bozzy uns als ein ſchlecht zufammenpafiendes 
grelles Gemiſch des Höchſten und bes Niedrigfien. Was ift aud in der 
That das menfhliche Leben gewöhnlich weiter, als eine Urt Thiergottheit, 
wobei der Gott in und immer mehr und mehr über das Thier triumphirt 
und fi mehr und mehr bemüht, es zu feinen Büßen niederzumerfen? Stell« 
ten nicht Die Alten in ihrer weifen, ewig bedeutſamen Manier die Natur 
ſelbſt, ihr geheiligtes All oder Ban, als eine Mifhung dieſer beiden 
Widerſprüche dar, als muflfalifh und menſchlich in feinem obern Theile, 
aber unten in den gefpaltenen behaarten Füßen eines Bockes endend? Es 

7 *2 


100 


war die Berbindung des melodiſchen, himmliſchen, freien Willens und ber 
Vernunſt mit niedriger Unvernunft und Fleiſchesluſt, worin trogdem eime 
geheimnißvolle unausſprechliche Furcht und halb toller panifher Schreien 
wohnte, wie dies für Sterbliche nicht anders jein konnte! 

Und ift nicht der Menſch ein Witrofesmus oder unendlich kleiner 
Spiegel dieſes ſelben Weltalls, oder ift nicht vielmehr dieſes Weltall Er 
ſelbſt, das Spiegelbild feine® eigenen und wunterbaren Seins, „bie wüſte 
Bhantafte feines eigenen Traum?“ 

Kein Wunder daher, daß der Menſch, daß jeder Menſch, und James 
Doswell wie die andern, ihm gleicht! Die Eigenthümlichkeit in feinem Falle 
war bloß ber ungewöhnliche Mangel an Amalgamation und Unterordnung. 
Das Höchſte lag dicht neben dem Niedrigften, nicht moraliſch damit verbun⸗ 
ben und es geiftig verflärend, fondern in unregelmäßiger, halb mechaniſcher 
Gombination und von Zeit zu Zeit, wie nun der tolle Wechſel traf, es bald 
beſtrahlend, bald dadurch verdunfelt. 

Die Welt it, wie wir fchon gefagt haben, nur ungerecht gegen ihn 
gewefen ; fie fiebt im ihm nur bie äußere irdiſche und oft ſchmuzige Maffe, 
ohne, wie died gewöhnlich gefchiebt, ein Auge für fein inneres göttliches 
Geheimniß zu haben und ſtellt fih ihn Daher Erinedwegs als einen guten 
Ban vor, fontern einfach als der Thiergattung angehörig, gleich den Heer⸗ 
den, die auf taufend Bergen weiden. Ja, zuweilen Hat man fogar eine 
ztemlöch ſeltſame Hypotheſe über ihn aufgeſtellt, als ob er fein gutes Werk 
Traft eben diefer jelben ſchlechten Bigenfchaften zu Stande gebracht hätte, 
als ob er eben durch den Umſtand, daß er fih unter den ſchlechteſten Men⸗ 
ſchen in dieſer Welt Hefunden, befähigt worden wäre, eins der beſten Bücher 
darin zu fehreiben ! 

Eine unrichtigere Hypotheſe — wir wagen ed zu ſagen — iſt wohl 
niemals in einer menſchlichen Seele entflandn. Schlecht ift feiner Natur 
nach negatfv und kann nichts thun; Alles, was uns befähigt, irgend 
etwas zu thun, iſt eben feiner Ratur nah gut. Ach, daß ed nod) Lehrer 
und fogar Schüler in Israel giebt, denen dieſe Thatfache, die doch fo alt 
als die Welt, noch zweifelhaft oder fogar Icugbar ift! 

Boswell jchrieb ein guted Buch, weil er Herz und Auge befaß, um die 
Weisheit zu erfennen und eine Sprache, um fie wiederzugeben; er ſchrieb 
es in Folge feiner freien Einftcht, feines lebendigen Talentes und vor allen 
Dingen in Folge feiner Liebe und kindlichen Offenherzigkeit. Seine krie⸗ 


101 


enden Schmarsgereien, feine Habgier und Voreiligkeit, Alles, was beftia« 
liſch und irdiſch in ihm war, find eben fo viele lecken in feinem Buche, 
welche Die Klarheit deſſelben trirben. Gegen Johnſon jedoch war fein Gefühl 
nicht Schmaroferei, weldye das niedrigfte, fondern Hochachtung, welche das 
höchſte aller menſchlichen Gefühle iſt. Nur ein von wahrer Achtung erfüllter 
Menſch — was jo unausſprechlich wenige find — konnte den Weg vom 
Boswell's Ungebung zu Johnſon's Mähe finden. Was uns beirifft, fo 
wollen wir an dieſem bletzten Glaubendartikel feſthalten und ihn ald den 
Anfang aller Erfenntniß, die diefen Namen verdient, betrachten: Daß weder 
James Boswell's gutes Buch, noch irgend etwas andered Gutes zu irgend 
einer Zeit oder an irgend einem Orte von irgend einem Menichen Fraft 
feiner Schlechtigkeit, fondern fletd und einzig und allein trop derfelben zu 
Stante gebracht worden iſt oder zu Stande gebracht werben Eonnte. 

Was das Buch felbft betrifft, fo ift ohne Zweifel Die allgemeine Gunſt, 
Die es gefunden, eine wohlverdiente. Hinfichtlich feines Werthes als Bud 
ftellen wir e8 über jedes andere Titerariiche Produft des achtzehnten Jahr⸗ 
hunderts. Alle Schriften von Johnſon ſelbſt ſtehen trog aller ihrer Vorzüge 
auf einer weit niedrigeren Stufe ; fchon fangen fie für die gegenwärtige Ges 
neration an zu veralten und fir eine Fünftige Generation wird ihr Werth 
bauptiädhlich darin beftehen, daß fie ald Prolegomena und erläuternde Scho⸗ 
lien für diefe Johnſoniade Boswell's dienen. 

Bier von uns entiänne fich nicht als eineß der Lichtpunkte seines Das 
feind des Tages, wo er diefe Bände auflchlug, die ihn durch einen wahrhaft 
natürlichen Zauber feflelten! &8 war, ald ob der Vorhang der Vergangene 
heit auf die Seite gezogen würde und wir fehauten geheimnißvoll in ein 
befreundete® Land, wo unfere Bäter wohnten; in ein Land, welches uns 
unausſprechlich theuer war, welches aber auf ewig unfern Augen verborgen 
zu fein geidienen. Denn die jchweigende Nacht hatte es verichlungen ; alle® 
war dahin, verſchwunden, ald ob es nicht geweien wäre. Und dennoch lag 
ed, uns auf wunderbare Weife zuriidgegeben, wieter vor und — hell, klar 
und blühend, eine Eleine Injel der Schöpfung mitten in dem jle umgeben» 
den Ride. 

Und da liegt fie noch wie etwas Wleibentes und Unvergängliches, 
worüber die wechſelvolle Zeit ih umſonſt aufhäuft und ihm num nicht mehr 
weder ſchaden noch es verhüllen Tann. 

Wenn wir unterfuchen, durch welcdyen Zauber die Menſchen noch jegt 


102 


an diefe Lebensgefchichte Johnſon's gefeflelt werben, während ſchon fo vieles 
Andere vergeffen ift, fo liegt der Haupttheil der Antwort vielleicht in jener 
Theorie über die Wichtigkeit des Wirklichen, die wir unlängft ber Welt 
vorgelegt baden. Die Johnſoniade Boswell's dreht fi uin Gegenftände, 
die in der That exiſtirten; ſie ift bush und durh wahr. Wie verichieden 
auch hinfichtlich des Wohlflanges, der Form, wetteifert fle doch in biefem 
einen Punkte mit der Odyſſee oder übertrifft diefelbe fogar, denn uns find 
dieſe gelefenen Seiten wie jene gefungenen Hexameter den erften grie- 
chiſchen Hörern waren, im vollſten und umfaflendften Sinne vollftändig 
glaubhaft. 

Aller Wig und alle Weisheit, welche in Boswell's Buche Liegen und 
fo reichlich fie auch vorhanden find, hätten es nicht retten fünnen. Weit 
mehr wiflenfhhaftlihe Belehrung — bloße Aufregung und Aufflärung 
der Denkkraft — laflen fih in zwanzig andern Werfen jener Zeit auf⸗ 
finden, Die nur einen ganz untergeorbneten Eindrud auf und maden. “Die 
andern Werke jener Zeit jedoch fallen unter eine von zwei Klafien. Ent⸗ 
weder find fle ihrer eigenen Crflärung gemäß didaktiſch und in diefer Weiſe 
bloße Abftractionen und philofophiiche Zeichnungen, die und faum auf 
andere Weile intereiftren können, als, Encliv’3 Elemente* es thun; ober 
aber fie find bei all ihrer ZXebbaftigfeit und ihrem malerifchen Farbenreich⸗ 
tbum, Erdichtungen und nicht Wirflidfeiten. Gewaltig in 
ber That ift Die Kraft der Erwägung: Die bier torgetragene Sache if ein 
Bactum dieſe Geftalten, dieſe Kocalitäten find nicht Schatten, fondern Mas 
terie. Man febe, wie Eraft folder Vorteile fogar ein Boswell poetifch 
werden Tann! 

Die Kritiker machen dem Poeten zur Pfliht, Daß er feiner Schilde» 
rung etwas Unendliches mittheile, daß er durch Höhe der Auffaffung, durch 
jene Begabung des trandcendentalen Gedankens, die man mit Net Genius 
und Begeifterung nennt, das Endliche Dur eine gewifle Unendlichkeit der 
Bedeutung belehre oder wie man zuweilen fagt, dad Wirfliche zur Idea⸗ 
lität erbebe. 

Diefe Kritiker haben mit ihrer Regel ganz Recht; ihre Abfict iſt jehr 
richtig. In ſolchen Bällen aber, wie hier mit der Johnſoniade, ift die dunkle 
Größe jenes „Zeitelement®*, worin die menfchliche Seele hienieden gefan⸗ 
gen gehalten wird, von der Art, daß dem Dichter bei feiner Aufgabe gleich 
fam die Hand geführt wird, Die Zeit felbft, die nur ber äußere Schleier 





103 


der Ewigkeit iſt, begleitet aus eigenem Antrieb mit ächter gefühlter 
Unendlichkeit“ Alles, was fie einmal in ihre geheimnißvollen Falten 
gefchloflen bat. _ 

Man erwäge doch, was in dem einzigen Worte Vergangenheit 
liegt! Welch eine patberiiche, Heilige, in jeder Beziehung poetifche Bedeu- 
tung, eine Bedeutung, die immer klarer wird, je weiter wir in die Zeit 
zurüdgeben, — je mehr von dieler felben Vergangenheit wir zu durch⸗ 
Idauen haben, fo daß man der feltiamen Theſis eines gewiſſen Philofophen 
eine gewiſſe Plaufibilttät nicht abiprechen kann, der Thefis nämlich, daß bie 
Beihichte im Grunde genommen die wahre Poefte, daß die Wirklichkeit, 
richtig gedeutet, erhabener iſt als Dichtung ; ja, daß fogar in der richtigen 
Deutung der Wirklichkeit und Geſchichte die ächte Poeſie befteht. 

So hat fün Boswell's Lebensgeſchichte Johnſon's die Zeit gethan und 
thut no, was feine Zierde der Kunft hätte dafür thun fünnen. Der raube 
Samuel und der glatte webelnde Iamed waren, find aber nicht mehr. 
Ihr Leben und ihre ganze perfönliche Umgebung tft in Luft zerflofien. Die 
Nitra⸗Taverne fteht noch in Fleetſtreet; aber wo ift jegt der Rindfleiſch und 
Bier liebende dickbaͤuchige Wirth, die rorhbädige geichäftige Wirthin mit all 
ihren blanken Kupferpfannen, gebohnten Tifchen, wohlgefüllten Speiſekam⸗ 
mern, ihren Köchinnen, Hausknechten und Laufburfchen? Verſchwunden! 
Berihwunten! Auch der blinzelnde Kellner, der mit füßlichem Lächeln ge⸗ 
wohnt war, Samuel und Bozzy Ihr Böttermahl aufzutragen, bat ſchon 
langft feinen legten Sixpence eingeftedt und iſt mit Sirpenced und Allem 
verihwunden, wie ein Geiſt bein Hahnenrufe. Die Blafchen, aus welchen 
fle tranfen, find alle zerbrochen; die Stühle, auf tenen fie faßen, alle ver- 
fault und verbrannt ; fogar die Mefler und Gabeln, mit welchen fie aßen, 
ſind durch und —* verroſtet und braunes Eiſenoxyd geworden, welches 
ſich wieder mit der Erde vermiſcht hat. 

Alles, alles iſt verſchwunden in der That und Wahrheit, gleich jener 
luftigen Viſion Prospero's. Bon der Mitra⸗Taverne iſt nichts mehr übrig, 
als die kahlen Mauern; von London, von England, von der Welt iſt nichts 
übrig als die kahlen Mauern und auch dieſe verfallen — ſelbſt wenn ſie von 
Diamant wären — nur langſamer. Der geheimnißrolle Fluß des Daſeins 
ranicht dahin; eine neue Woge fommt daher und peitfcht wild das alte 
Ufer; aber die vorbergegangene Woge mit ihrem lauten, tofinden Schäus 
men, wo ift fie? Wo! 


104 


Dieſes Buch Boswell's nun ift jo recht eigentlih ein Wirerruf des 
Grifts des Schickſals, damit die Zeit nicht gänzlih, wenigflend mit Aus 
nahme einiger Jahrhunderte, uns beberrfche. ine kleine Reihe von 
Maphtalampen mit ihren Streifen von Naphtalicht brennt klar und beilig 
in der dunfeln Nacht der Vergangenheit, Die Werſchwundenen find nod 
bier ; obſchon verborgen, werden fie enthüllt; obſchon todt, reden fic doch. 
Da glänzt er, jener Fleine wunderbar erleuchtete Pfad und verbreitet jein 
ihwaches und immer ſchwächer werdendes Zwielicht in der grenzenloſen 
dunfeln Vergeſſenheit, denn Alles, was unier Johnſon berührte, ift für 
uns bell geworden und auf Dielen wunderbaren feinen Pfate fünnen wir 
noch wandeln und Wunder jehen. 

Wir fpreben nicht wit Uebertreibung,, fontern mit ſtreng gemeſſener 
Befonnenheit, wenn wir fagen, daß dieſes Bud Voswell' und mehr wirf- 
liche @infidt in die Geſchichte Englands während jener Zeit gewährt, 
als zwanzig andere Bücher welche falichlid den Zitel „Geichichte” führen 
und ſich ipeziell Diele Aufgabe ſtellen. Was nügt es mir, wenn unzählige 
Smollettd und Belſhams mir fortwährend die Obren vollleiern, daß ein 
ann, Namend Georg Ill., geboren und erzogen ward, und ein Mann, 
Namens Georg 1l., farb; daß Walpole und die Pelhams und Chatham 
und Nodingham und Shelburne und North mit ihren Coalitions⸗ oder 
Separationd » Minifterion alle einer den andern verbrängten und fih ans 
Leibeöfräften um das Ding balgten, was fie das Ruder des Staatd nann⸗ 
ten, was aber in der That blos ter Schlüffel zur Beheuerung war? Was 
nützt e8 mir, wenn id erfabre, daß Debatten gehalten wurden und unend⸗ 
liches Fauterwelichee Grihwäg flattiant, und daß Chauffee-Billd und Jagr- 
recht⸗Vills und India⸗Bills und Gefrge, Die fein Menich zählen kann, mit 
welchen aber glücklicherweiſe fih außer in dem vorübergebenten Augenblid 
Niemand den Kopf zu beſchweren braucht, beichloffen und in der könig⸗ 
lichen Buchdruderei gedrudt wurden? Daß Der, welder im Kanzleigericht 
faß und von Wollſack aus feine Spekulationen betrieb, bald ein Dann war, 
welcher ichielte, bald ein Mann, welcher nicht fchielte ? 

Dem Hungrigen und durſtigen Geift hilft dies alles fo viel als nichts. 
Diele Menſchen uns Dice Dinge, Das willen wir freilich, ſchwammen aller- 
dings durch ihre Krafı oder auch durch ihre ſpezifiſche Leichtigfeie wie Aepfel 
oder wic Pferdemiſt mit Ber Strömung oben auf; aber fann man mir wohl 
tur forgfältige Beobachtung des Laufes, des Drehens und Hin» und Herr 





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ſchnellens ſolcher leichten Waare tie Natur des Stromes ſelbſt enthüllen, 
diefes mächtig vollenden, Tautbrüllenden Lebensſtromes, der bodenlos if. 
wie dad Fundament des Weltalld und geheimnißvoll wie ſein Schöpfer? 
Was ich ſehen will, find nicht Hoffalender und PBarlamentöregifter, ſondern 
dad Menfchenleben in England, was die Menſchen thaten, dachten, 
litten und genoflen; die Form, beionders aber der Geiſt ihres irdiſchen 
Dafeins, ihre Außere Umgebung, ihr inneres Prinzip; wie und. was ed 
war; oder ed fam, wohin es ziclte. 

Traurig ift es in der That zu fehen, was das Geicäft, welches mau 
„Geſchichte“ nennt, in Dielen fo aufgeflärten und erleuchteten Zeiten immer 
nob if. Kannft Du wohl, und wenn Du Deine Augen noch fo fehr 
anftrengteft, auch nur den leiſeſten Schatten einer Antivort auf die große 
Stage herausleien: Wie die Menichen lebten und webten, wäre e8 auch nur 
in öfonomilcher Beziehung, nämlich welden Arbeitslohn fle befamen und 
was fie Damit Eauften ? 

Unglücklicherweiſe kannſt Du dieſe Antwort nice heraueleſen. Die 
Geichichte verbreitet Fein Licht über dergleichen Gegenflänte.. Bon dem 
Vunkte an, wo dic Grinnerung der Lebenden ausgeht, ift Alles in Nacht 
und Dunfel gebüllt unt Dir. Scnior und Mr. Sadler müffen nodı über das 
einfachfte aller Elemente in den Zuſtänden Der Vergangenheit Tebattirem, 
namlich ob Die Menſchen blos mit Ruückſicht auf ihre Küchen und Speiſekam⸗ 
mern beffer oder ſchlimmer dran waren ald jetzt! Die Geſchichte ift, fo wie 
fie jegt in vergolteten Bänden daſteht, blos um cinen Schatten Ichrreicher, 
als die hölzernen Bände eines Puffipielbretes. Wie cin Premierminifter 
ernannt wird, iſt für mich weit weniger intereflant,, als unter welchen Bes 
tin sungen ein Hausdiener gemiethet ward. Wie gern würden wir in der 
jegigen Zeit zehn aewöhnliche Geſchibten von Königen und Höflingen 
gegen den zchnien Theil einer einzigen guten Geſchichte der Buchhändler 
vertauſchen! 

Zum Beiſpiel, ich möchte gern die Geſchichte von Schottland kennen; 
wer fann fle mir erzählen? Robertſon, antworten unzählige Stimmen; 
fein Menſch befler als Nobertion. — Id ſchlage Robertſon auf und finde 
bier durch lange Jahrhunderte hindurch, Die für eine Erzählung viel zu ver⸗ 
worren ind und eigentlih nur fo zu fagen auszugs⸗ und andentungsweiie 
Dıraeftellt werten fünnen, eine ichlaue Auswort und Hypotheſe nicht auf 
Die Brage: Durd wen und durch welche Mittel, mann und wie ward 





106 


dieſes ſchöne, große Schortland mit feinen Künften und Ranufacturen, Tem- 
peln, Schulen, Inſtituten, feiner Poefte, feinem Geifle und Nationalcharakter 
geihaffen und urkar, grünend, eigenthümlich und groß gemacht, fo wie ich 
bier von dem Schloßberge von Edinburg einen herrlichen Theil davon 
freundlich und ſtark — wie einen vom Baus gezähmten Löwen — zu mei« 
nen Füßen Liegen fehe? — fondern vielmehr auf die andere Frage: Wie 
erhielt fi der König in jenen alten Zeiten am Leben und wie binderte er 
fo viele Megger-Barone und habgierige Baiallen, ſich gegenfeitig mit Stumpf 
und Stiel auszurotten, fo daß das Todtſchlagen noch mit einem gewifſen 
Grade von Maͤßigung betrieben ward? In dem einzigen kleinen Briefe von 
Aeneas Cyloius aus Altſchottland ift mehr Geſchichte enthalten, als in 
allent diefen. 

Endlich jetocd kommen wir zu einem Flaren und ebenfalld höchſt in- 
tereffanten Zeitalter, zu tem Zeitalter ter Reformation. Ganz Schottland 
erwacht zu einem höheren Leben; der Geiſt tes Allerhöchſten rührt ſich in 
jeder Bruft und bewegt jedes Herz; Schottland liegt in Zudungen, in Gäh« 
tung und kämpft, eine neue Geſtalt zu gewinnen; dem Hirten unter feiner 
Herde in abgelegenen Wäldern, dent Handwerker in feiner plumpen, mit 
Heidekraut gedeckten Werfflätte unter feinen roben Zunftgenoflen, den Gro⸗ 
Ben und den Kleinen ift ein neues Licht aufgegangen. In Stadt und Dorf 
ftehen Bruppen beilammen mit beretten Blicken und gelenften oder unlenk⸗ 
famen Zungen ; die Großen und die Kleinen ziehen zufammen aus, um zu 
tämpfen für den Herrn gegen die Gewaltigen. 

Wir fragen mit athemlofer Bier: Wie war es; wie ging ed Damit? 
Laßt ed und verftehen, laßt ed uns ſehen und wiflen ! Ä 

Zur Antwort darauf wird uns eine wirklich nette und ſehr leckere 
feine Sfandaldronif — wie für ein Modejournal — überreicht, die von 
zwei Berfonen handelt, von Maria Stuart, einer leichtfinnigen Schönheit, 
und Henry Darnley, einem Krautjunker, der ichöne Beine hatte. Wie diefe 
beiden Menſchenkinder erft dem Laufe der Natur gemäß fich fehnäbelten und 
girrten, dann fhmollten, zifchten, zulegt ganz wüthend wurden. unt einander 
mit Schießpulver in die Luft Iprengten, dies und nicht die Geſchichte von 
Schottland iſt e8, was wir in unferer Gutmüthigkeit Iefen. Sa, von andern 
Händen iſt eine ganze Wagenladung anderer Bücher geichrieben worden, um 
zu beweifen, daß e8 tie leichtfinnige Schönheit war, welde den Krautjunfer 
in die Luft fprengte oder daß fie e8 nicht war. Wer aber oder was es war, 


107 


nachdem die Sache ein für allemal auf fo wirffame Weiſe geichehen, das 
fümmert und wenig. Schottland in jener großen Epoche zu kennen, wäre 
eine werthvolle Bermehrung unſeres Willens; den armen Darnley zu ken⸗ 
nen und ihn mit brennendem Lichte von innen heraus bis auf bie Haut zu 
betrachten, wäre gar feine Vermehrung unſeres Wiffens. 

So ſchreibt man Geſchichte. 

Daher kommt es, daß die Geſchichte, welche die Quinteſſenz unzaͤhliger 
Biographien ſein ſollte, uns, wir mögen fie befragen wie wir wollen, weni⸗ 
ger erzählt, als eine einzige ädte Biographie ungefragt und auf die zuvor⸗ 
kommendſte Weife. Die Zeit rücdt immer näher heran, wo man die Ge⸗ 
ſchichte nah ganz anderen Prinzipien zu fchreiben verfuchen wird; wo ber 
Hof, der Senat und dad Schlachtfeld immer mehr und mehr in den Hinter- 
grund und die Kirche, die Werfilätte und der Häusliche Heerd mehr und 
mehr in den Vordergrund treten, und wo die Geſchichte fich nicht damit be⸗ 
gnügen wird, eine Antwort auf die Frage zu geben: wie bie Menfchen da⸗ 
mald befleuert und ruhig erhalten wurden? ſondern wo fie dieſe 
andere, unendlicd weitere und höhere Frage zu beantworten ſuchen wird: 
wie und wad waren die Menfhen damals? Nicht unfere Regierung 
blos, oder das Hans, in welchem unfer Leben gefiihrt ward, fondern dad 
Leben felbft, weiches wir darin führten, wird erforfcht werden. Auf dies 
fem legtern Wege wird man vielleicht finden, daß die Regierung, in ber 
modernen Bedeutung des Worts, beim Lichte beiehen nur ein untergeord- 
neter Zuftand, in der bloßen Bedeutung der Befteuerung und des Ru⸗ 
higerhaltens aber ein Eleinlicher, faſt erbärmlicer if. 

Mittlerweile wollen wir ſolche Boswells, jeden nad) feinem Grade, 
willkommen heißen, vie und Achte Beiträge, wären fie auch noch fo unzureis 
hend und unbedeutend, Tiefen. 

Man Hat gegen diefe Lebensgeſchichte Johnſon's und alle ähnliche Un⸗ 
ternebmungen, die wir hier empfehlen, faft von Anbeginn einen Tadel er⸗ 
hoben, ver fih von einem Kritiker auf den andern fortgepflanzt hat und in 
den verfchiedenartigften Einfleidungen unterbrochen wiederholt worden ift, 
namlich dag ſolche Niederfchriften harmloſer Unterrebungen ein @ingriff in 
das gefellige Privatleben feien, ein Berbrechenfgegen unfere höchfte Freiheit, 
die Freiheit des menſchlichen gegenfeitigen Verkehrs. 

Dieſer Anklage, die wir öfter ald genug gehört und gelefen, müffen 
wir platterdings wiperfprechen und fie glei von vorn herein für gänzlich 


108 


unbegründet erflären. Nicht Larin, daß geiellige Geſpräche niedergeſchrieben 
werden, liegt das Ueble, ſondern darin, Daß fie es nicht verdienen, niederge⸗ 
fhrichen zu werten. Allerdings. wenn ein Geſpräch unrichtig wiedergegeben 
wird, fo if es einfach eine Rüge und verkient fo ſchnell als möglich befeitigt 
und dem Vater der Lügen überantivortet zu werben. Kann Dagegen Das ge 
ſellige Geſpräch authentifch aufgezeichnet werden und ift Jemand bereit, diefe 
Aufgabe zu übernehmen, fo möge er nur damit fortfahren, damit Diele Ges 
fpräce fo lange al& möglich im Andenken erhalten werden. Ja, follte das 
Bewußtſein, daß ein Menſch fi in unferer Mitte befindet, welcher ſich über 
unfer Geſpraͤch Notizen macht, in irgend einem Grade Tazu britragen, jene 
Bluthen müßiger beuchleriiher Worte zu hemmen, Durch welde dad Den- 
fen der Menfchheit fo zu fagen faft eriäuft wird, — wäre dich wohl erwas 
anderes ald unzweifelhaftefter Nugen ? 

Der, welder ehrlich ſpricht, kümmert fi nidıt darum und braucht fi 
nicht darum zu fümmern, ob feine Worte bis auf tie fernfte Nachwelt kom⸗ 
men; für Den, der unreblid ſpricht, fcheint die paftendfte von allen Stra« 
fen dieſe felbe zu fein, welche in der Natur der Sache liegt. Der unredlide 
Spreder, nicht blos der, weldyer mit Fleiß Unwahrbetten ſpricht, fontern 
auch der, der nicht abfihtlib und mit aufridtigem Herzen die Wahrbelt, 
und die Wahrheit allein fpricht, welcher ſchwatzt, ohne zu wiffen was und 
feiner Zunge feinen Bügel anzulegen verſteht, gehört zu ben unftreitigften 
Uebelthätern, weldye das Criminalgeſetzbuch vergefien bat oder auch erwähnt. 

Für Den, der Die Sache recht überlegt, ift müßiges Geſchwät eben ter 
Anfang aller Hohlheit, aller Halbheit und alles Unglaubens; Die günftige 
Atmofphäre, in welder wucherndes Unkraut aller Art die Herrſchaft über 
die edferen Früchte des menichlichen Lebens erlangt und fie unterdrüdt und 
erſtickt — eine der fchreiendften Krankheiten unferer Zeit, weldyer auf jede 
Weite Widerſtanb geleiftet werden muß. Weife, von einer Weiäheit, die 
weit über uniere jeichte Tiefe hinabreicht, war jene alte Megel: Hüte Deine 
Zunge, denn aus ihr fommt der Strom des Lebens! Der Meni if im 
Grunde genommen ein verförperte® Wort; das Wort, welches er fpricht, if 
ber Menſch ſelbſt. Wurden wohl Augen in unfern Kopf eingeieht, damit 
wir ſehen, oder bloß, dag wir uns einbilten und auf plaufible Weiſe bes 
baupten möhten, wir hätten geieben? Ward und die Zunge in den 
Gaumen gehängt, daß fie wahrbeitgetren erzählen, was wir geiehen und 
daß fie den Menfhen zum Seelenbruter ded Menichen machen, oter bios 


ba ſte eitle Töne und ſeelenverwirrendes Seihwag ausſtoßen und dadurch 
wie durch bezauberte Mauern ter Yinfterniß Die Bereinigung des Menichen 
mit dem Menichen bindern follte? Du, der Da im Bells jenes finnreichen, 
vom Himmel gefchaffenen Organs, einer Zunge, bift, bedenke dies wohl. 
Sprich, ich bitte Di dringend darum, nicht eher, als bis Dein Gedanke 
fhweigend zur Reife gediehen ift, bis Du ein anderes als tolles umd toll⸗ 
machendes Geräuſch von Dir zu geben haſt; laß Deine Zunge ruhen, bis 
ein vernünftiger Sinn ſich dahinter legt und fie in Bewegung ſetzt. Bedenke 
die Bedentſamkeit des Schweigens; es iſt grenzenlos, niemals durch 
Nachdenken zu erſchöpfen und unausſprechlich gewinnbringend für Dich! 
Hoͤre auf mit jenem chaotiſchen Geplauder, durch welches Deine eigene Seele 
verworrener, ſelbſtmoͤrderiſcher Verzerrung und Betäubung anheimfällt; in 
dem Schweigen ruht Deine Kraft. Reden iR Silber, Schweigen iſt Gold; 
Reden ift menſchlich, Schweigen iſt gönlih. Du Narr! glaubft Du, daß, 
weil fein Boswell niit Eſelshaut und DBleiflift zur Hand if, um Dein Ge⸗ 
ſchwaͤg zu notiren, dieſes deshalb ſterbe und harmlos ſei? Nichts flirbt, 
nichtö kann fierben. Dos müßige Wort, weldes Du ſprichſt, iſt ein in die 
Beit geftreuted Saamenkorn, welches in alle Ewigfeit wähft! Der Engel, 
weicher alte unjere Worte und Thaten in fein Buch einſchreibt, ift — Lied 
vergeffe man nidt — Leine Fabel, fondern die wahrfte aller Wahrheiten ; 
die papiernen Schreibtafeln Fannft Du verbrennen, aber dad „eiſerne 
Blatt* kann niemals verbrannt werden. — Und in der That, wenn wir 
dem allmächtigen Gott erlauben können, unfere Worte nieberzufhreiben und . 
fie gut genug für ihn glauben, fo braudyt wohl aud) irgend ein armer Bos⸗ 
weil fein Bedenken zu tragen, damit zu machen, was er Luft hat. 


— nn — — 


Wir laffen num dieſe unfere englifche Odyſſee mit ihrem Sänger 
und Schofiaften ruhen, um und zu dem Ulyſſes zu wenden, ben großen 
Samuel Johnſon ſelbſt, dem vielerfahrenen, vielduldenden Manne, deffen 
Arbeiten und Pllgerfadrten Hier beiungen werden. Ein lebensgroßes Bild 
feines Dafeins ift und aufbewahrt worden und er war vielleicht von allen 
lebenden Engländern der, welcher diefe Ehre am meiften verdiente. 

Tenn wenn ed wahr und jegt faft iprichwörtlich geworben ift, daß das 
Leben des niedrigſten Sterblichen, wahrbeitgetrew niedergejchrieben, ſelbft 


110 


für den höchſten intereflant fein würde, wie wiel mehr muß dies der Fall 
fein, wenn der fragliche Sterbliche fich durch fein Schidfal und feine natür⸗ 
lichen Befähigungen ſchon fo auszeichnete, daß fein Denken und Thun nicht 
blos für ihn, fondern aud für die große Mafle der Menfchen bedeutſam war. 
„Ich begegne,* fagt Einer, „Teinem Menſchen auf der Straße, defien Lebens⸗ 
geichichte ich nicht wiſſen möchte, wenn es fonft nur anginge. “ 

Trogdem und wenn aud die aufgeflärte Neugier jo weit befriedigt 
werden könnte, muß doch zugeflanden werben, daß bie Biographie der mei- 
ſten Menſchen im höchſten Grade fummarifch fein ſoll. Es giebt in dieſer 
Melt jo wunderbar wenig Selbſtſtändigkeit unter den Menſchen, faſt gar 
feine Originalität (obſchon diefelbe niemald gänzlich mangelt), ein Leben 
iR fo knechtiſch die Copie des andern, daß man in vielen Tauſenden we 
nig findet, was eigentlih und wirflid neu ware. Ban hört nichts als das 
alte Lied mit befferer ober fchledhterer Ausführung von einer neuen Stimme 
gefungen, bier und da mit einem Berfiherungstriller und falichen Noten 
genug ; der Brundton aber ift immer derfelbe, und was den Tert betrifft, 
fo ſteht der Inhalt defielben gewöhnlih auf dem Leichenftein geſchrieben: 
Natus sum; esuriebam, quaerebam ; nunc repletus requiesco. 

Die Menfchheit macht ihre Lebensreife in ungeheuren Klotten, wobel 
fle einem einzigen auf den Wallfiſch⸗ oder Heringsfang ausziehenden Com⸗ 
modore folgt. Das Logbuch des Einzelnen weicht in feiner wefentlichen 
Bedeutung von dem des Andern ab; ja, die Meiften haben gar ein leſer⸗ 
. liche Logbuch, weil Nachdenken und Beobachtung nicht zu ihren Talenten 
gebören;; fie führen feine Rechnung, fondern halten fich blos in Sicht des 
Flaggenſchiffs und — fiſchen. Man leſe die Bapiere ded Commodore, das 
heißt feine Lebensgefchichte und felhft der Freund jener Straßenbiogra« 
phien wird dad Meifte von Dem erfahren haben, was er zu erfahren fuchte. 

Die knechtiſche Nachahmungsſucht, aber auch zugleich eine edlere Bes 
ziehung und geheimnißvolle Berwandtichaft, weldye in dieſem Nachahmen 
liegt, könnte auch durch ben anderweiten, an und für ſich keineswegs origi« 
nellen Vergleich mit einer Schafheerde erläutert werben. 

Die Schafe gehen aus drei Gründen heerdenweis: Erftens, weil fle 
von gefelligem Temperament find und gern mit einander laufen ; zweiten® 
wegen ihrer Feigheit, denn fle fürchten fich, allein zu bleiben ; drittens weil 
die Mehrzahl von ihnen ſprichwörtlich Furzfichtig iſt und ihren Weg nidt 
ſelbſt zu wählen verficht. Die Schafe fehen in der That fo viel ald gar 


1 


111 


nicht und würden an einem bimmlifchen Lichte und einer gefcheuerten Zinn⸗ 
fanne weiter nichts bemerken, als daß fle von beiden geblendet werden und 
daß beide einen unausſprechlichen Glanz ausſtrahlen. 

Wie ähnlich find ihnen in allen dieſen Beziehungen ihre der Menſchen⸗ 
gattung angehörigen Mitgeihöpfe! Auch die Menfchen find, wie wir gleich 
von vorn herein behaupteten, gefellig und ziehen gern heerbenweiß ; zweiten 
find fie auch furchtſam und bleiben fich nicht gern allein überlaffen; und 
drittens und vor allen Dingen find fie faft bis zur Blindheit Furzfichtig. 

Auf dieſe Weife kommt ed, daß wir fortwährend in Strömen und 
Saufen rennen, wenn wir naͤmlich überhaupt rennen, und nach was für 
albernen geſcheuerten Zinnkannen, die wir fälihlih für Sonnen halten! 
Auch thörichte, allem Anſcheine nach übernatürlide Irrwifche erfüllen ganze 
Nationen mit Zittern und Beben, fo daß ſich ihnen das Haar emporfträubt. 
Auch willen wir nicht anders als in Folge blinder Gewohnheit, wo die gu⸗ 
ten Weitepläge liegen. Erſt wenn daß füße Gras ſich zwiſchen unfern 
Zähnen befindet, wiffen wir e8 und kauen ed; auch wenn das Gras bitter 
und mager ift, willen wir ed, — und blöfen und rennen mit den Köpfen 
zuſammen. Diefe beiden legtern Thatfahen kennen wir in der That und 
Wahrheit. 

So jpielen Menichen und Schafe ihre Rollen auf diefer Erde. Sie 
wandern raſtlos, in großen Mafien, ohne zu wiflen wohin und Jeder geht 
meiftentheilß feinem Nachbar und feiner eigenen Naje nad. 

Aber doch nicht immer; fieh Dich genau um und Du wirft einige fin- 
den, bie, in wenn aud geringem Grade, wiffen wohin. Schafe haben 
ihren Zeithammel, einen mit größerer Tapferkeit und hellerem Blid ald ans 
dere Schafe begabten Widder. Er führt fie über Berg und Thal nach den 
Wäldern, Waflerquellen in ein ficheres Verfted oder nad ſchönen Weide⸗ 
plägen. Muthig gebt ex voran, fpringt, wenn es fein muß und Fämpft mit 
Huf und Horn. Dieſem folgen fie dreift und mit zuverſichtlichem Herzen. 
Es iſt rührend, wie jeder Hirt erzählen Tann, mit welcher ritterlichen Hin⸗ 
gebung diefe wolligen Schaaren ihrem Witder anhängen und ihm nachſtür⸗ 
zen, durch dic und dünn, gehe ed nun unter ein fiheres Obdach und auf 
grüne anmuthige Wiefen, oder in Asphaltfeen und in den Rachen grimmi« 
ger Löwen. Wir erinnern bierbei an eine ſchon früher von und erwähnte 
Zhatjache, auf weldhe auch Sean Paul aufmerfjam gemacht hat. Wenn man 
nämlich dem Widder einen Steden vorhält, fo daß er nothwendig im Vor⸗ 


112 


beigehen darüber fpringen muß und dann den Stecken wegzieht, fo ſpringt 
nichtdeſtoweniger die ganze Heerbe eben fo wie er und das taufendfle Schaf 
jet eben jo ungeflüm über die leere Luft hinweg, wie dad erfle über ein 
nicht anterd zu umgehendes Hinderniß. 

Willſt Du die Geſellſchaft verſtehen, Tieber Leſer, ſo denke wohl über 
dieſes Thun und Treiben der Schafe nach; Du wirft finden, daß darin eine 
große Bedeutung liegt. 


Wenn nun ſchon die Schafe immer ihr Oberhaupt, chren Anführer 
haben müflen, wie viel mehr muß dies mit den Menſchen der Fall fein! 
Auch der Mensch ift feiner Natur nad durch und durch dazu gefchaffen, 
beerdenweiß zu leben: ja er bemüht fi fogar, etwas Höheres zu er- 
reichen, nämlich gefellig zu werden und nicht einmal, wenn die Gefellichaft 
unmöglich geworden ift, verläßt ihm dieſes tiefgemurzelte Streben. Der 
Menſch theilt wie Durch wunderbare Magie feine Gedanken und feine Ges 
müthsftimmung dem Menichen mit; eine unausiprechliche Gemeinſchaft ver⸗ 
bindet alle vergangenen, gegenwärtigen und zufünftigen Menſchen zu einem 
unauflöslihen Ganzen, faft zu einem einzigen Ichenden Individuum, und die 
eonftantefte und eine der einfachften Kundgebungen vieler hoben, gebeimniß⸗ 
vollen Wahrheit ift diefer Hang, nadhzuabmen, zu führen und geführt 
zu werten, dieſe Unmöglichkeit, nicht nachzuahmen. 


Nachahmen! Wer von und allen Fann tie Bedeutung ermeflen, die in 
biefem einzigen Worte liegt, kraft deflen der in Woolsthorpe geborene 
Menſch nicht zu einem borftigen Kannibalen und Eichelfreſſer heranwächſt, 
fondern zu einem Iſaak Newton und Entdeder von Sonnenfgftemen ! 


So find wir in himmliſchem wie in irdifchem Sinne eine Heerde, 
wie e8 feine weiter giebt. Ja, wenn wir von der niedrigen und lächerlichen 
Seite der Sache abfehen und die erhabene und heilige — denn jede Sache 
bat zwei Seiten — ind Auge farfen, baben wir nicht auch einen Hirten, 
dafern wir nur feine Stimmen hören wollen? Unter dieſen flumpffinnigen 
Maflen giebt es nicht einen einzigen, der nicht cine unfterbfidhe Seele bes 
fäße, einen Widerfchein und lebendiged Bild von Gottes ganzem Weltall. 
Aug der düftern Umgebung durchſtrahlt ihn dennoch das Licht ded Höchiten 
und aus diefem Grunde nennen wir ihn unfern Bruder und lieben e@, jeine 
Geſchichte zu Fennen und mit Allem, was er fühlt und fagt und tHut, in 
immer flarere Verbindung zu kommen. 





113 


Die Hauptiadge jedoch, welche Hierbei hervorzuheben, ift die: Unter 
bieten flumpfiinnigen Millionen, welche fih als eine willenlofe Herde hin 
und her wäßgen und faft nur Das erreichen zu wollen ſcheinen, was der thier 
riſche Inſtinkt im feiner etwas höheren Potenz lehren könnte — nämlich fi 
und ihre Jungen am Leben zu erhalten — trifft man aud bier und ba 
Böhere Naturen an, deren Auge des freien Umblicks und deren den des 
freien Willens nicht ermangelt. 

Die Ledtern unterſuchen und beſchließen daher nicht, was Andere thun, 
ſondern was recht iſt zu thun. Dies und nur dies ſuchen fie mit all der 
Kraft, welche ihnen verliehen iſt, entſchloſſen zu erſtreben; denn wenn bie 
Mafchine, ſei fle nun lebendig oder leblos, blos gefpeift wird oder ges 
ſpeiſt zu werden verlangt und dann arbeitet, fo kann die Perfon dagegen 
wollen und dann thun. 

Dies find unfere eigentlichen Menſchen, unfere großen Menfchen, die 
Führer der flumpffinnigen Menge, die ihnen wie durch einen unwiderruf⸗ 
lichen Schickſalsſchluß folgt. Sie find die Auserwählten der Welt. Sie 
befaßen jene feltene Fähigkeit, nicht blos zu „vermuthen“ und zu „denken *, 
fondern zu wiffen und zu glauben. Die Natur ihres Wejend war, 
daß fie nicht vom Hörenfagen, fondern dur klare Anſchauung Ichten. 
Während Andere fih auf dem großen Iahrmarft des Lebens, durch die bloße 
Außenfeite der Dinge geblendet, zwecklos umbertrichen, durchſchaueten diefe 
Die Dinge ſelbſt und Fonnten einherwandeln ald Menfchen, die einen ewigen 
Leitſtern haben und mit ihren Füßen auf fiheren Pfaden wandeln. 

Auf diefe Weiſe Iag in ihrem Dafein eine Wirflichfeit, etwas von 
einem unvergänglichen Charakter, kraft deſſen auch ihr Andenken unvergäng- 
lich ik. Wer blos feinem eigenen Zeitalter angehört und nur deſſen ver- 
goldete Bapageien und mit Muß beichmierte Popanze verehrt, muß nothwen⸗ 
dig auch damit flerben. Und wenn er fieben Mal ober fiebenzig und fieben 
Mal im Gapitol gefrönt worden wäre und bie Fama fein Lob nad allen 
sier Winden auöpofaunt und aller Ohren damit betaubt Hätte, — es Hilft 
ihm alle nichts. Es lag nichts Univerſelles, nichts Ewiges in ihm. Er 
muß verfehwinden eben fo wie die Vergoldung des Papageien und das Ge⸗ 
wand der Bogelfcheuche, welches er nicht zu durchichauen vermochte. Der 
große Mann gehört allerdings feinem eigenen Zeitalter an, ja mehr als 
irgend ein anderer Menich, weil er eigentlid die Synopſis und die Quint⸗ 
effenz eines folden Zeitalters mit feinen Intereffen und Einflüffen ift; aber 

Garlyle. IM. 8 


114 


er gehört auch eben fo allen Beitaltern an, ſonſt ift er nicht groß. Was in 
ihm vergänglidh war, ſchwindet hinweg und ein unflerblidher Theil bleibt 
zurüd, deſſen Bedeutſamkeit fireng genommen — wie der eines jeden wirf« 
fidhen Segenflandes — unerfhöpflid if. Goch, Hervorragend, auf feiner 
unerichütterlichen Baſis fleht er da, klar und unveränderlid und richtet 
ſchweigend an jede neue Generation eine neue Lehre und Mahnung. Wohl 
verdient fein Leben niedergejchrieben, wohl verdient e8 gedeutet, und in dem 
neuen Dialekte neuer Zeiten immer wieder geichrieben und wieder gedeutet 
zu werben. 

Zu dieſen auserwählten Menſchen gehörte auch Samuel Johnſon. 
Seinen Plag unter denfelben können wir ihm allerdings nicht unter den 
höchſten, ja nicht einmal unter den hoben anweiſen, aber dennoch ifl er un« 
verfennbar in jene heilige Schaar aufgenommen. Seine Eriftenz war nicht 
ein müßiger Traum, fondern eine Wahrheit, welche er wach durchführte; 
er war nicht eine bloße Mafchine, welche Kleider trägt und verbaut, fondern 
ein ächter Menih. Die Natur Hatte ihn für die edelfte aller irdiſchen Aufs 
gaben, zur Priefterihaft und Leitung der Menichheit begabt; das Schidfal 
beftimmte ihn überdies zur Löſung diefer Aufgabe und er Töfte fle auch wirk⸗ 
lich nach feinen beften Kräften, fo dag in Bezug auf ihn die Brage: Wie; 
in welchem Geifte; unter welder Geſtalt? fortwährend zu ſtel⸗ 
fen und zu löſen bleibt. 

Denn fowie das höchſte Evangelium eine Biographie war, jo iſt auch 
die Lebensgefchichte eined jeden guten Menſchen noch ein unzweifelhaftes 
Evangelium und predigt dem Auge und Herzen und dem ganzen Menjchen, 
fo daß ſelbſt Teufel glauben und zittern müflen, jene freudenreichfte Vers 
fündung: „Der Menſch ift himmliſch geboren, nicht Sklave der Umſtaͤnde 
und der Nothwendigfeit, fondern der flegreiche Bezwinger derfelben, Siehe, 
wie er fich ſelbſt und feiner Freiheit fih bewußt werben kann und ftets if, 
was der Denfer ihn genannt bat — der Meiftad der Natur! * 

Ja, Leſer, Alles, was Du fo oft gehört haft von der, Macht ber Um⸗ 
fände *, von einem „Gejhöpf der Zeit“, vom „Abwägen ber Beweggründe * 
und wer weiß noch was für trauriged Zeug von derfelben Art, worin Du 
wie in einem von einem brüdenden Alp begleiteten Traume wie gelähmt 
dafigeft und Feine Kraft mehr haſt, — war in der That und Wahrheit, 
wenn wir Iohnfon und anderen wachenden @eiftern glauben dürfen, wenig 
mehr als eine gejpenftifche Viflon von Todtenfchlaf, eine Halbe Thatſache, 


115 


die zuweilen verderblicher if, ald eine ganze Lüge. Schüttle fie ab, wach’ 
auf, erbebe Dich und wirfe, wozu Du berufen bift. 

Der Widerſpruch, welcher in jedem Leben weit genug gähnt und defien 
Berjöhnung die Bedeutung und Aufgabe des Lebens ift, war in Johnſon's 
Leben greller als es fonft gewöhnlich der Ball zu fein pflegt. Selten ift bet 
irgend einem Menfchen der Gegenſatz zwifchen ber ätheriſchen himmliſchen 
Seite der Dinge und der dunfeln, ſchmutzigen, trbifchen ein fchreienderer ge⸗ 
wein. Wir mögen nun in Bezug auf ihn dad Walten der Natur oder dad 
des Schickſals ind Auge faffen, fo fehen wir von Anfang bis zu Ende und 
nach allen Seiten bin ein widerftrebended Gemiſch, wie von Sonnenftrablen 
und Moraſt. Daraus geht Far hervor, daß ihm viel Leben gegeben 
war, daß er über Vieles zu triumphiren, daß er ein großes Werk auszufüh- 
ren hatte. Zum Glück that er dies auch, befier ald die meiften. 

Die Natur hatte ihm eine hohe, fcharfblicdende, faft poetifche Seele 
gegeben, die aber dennoch in einen trägen, unanſehnlichen Körper einge- 
fhlofien war. Er, der niemals ruhen konnte, ‚hatte Feine Glieder, die fich 
mit ibm bewegten, fondern blo8 watfchelten und ſich wälzten. Das innere, 
Alles umfaffende Auge mußte durch körperliche Fenſter blicken, welche büfter 
und halb erblindet waren. Er, der die Menſchen fo innig liebte, fah nit 
ein einzige® Mal das göttliche Menfchenantlig ! 

Nicht weniger ſchätzte er die Liebe der Menſchen. Er war außer⸗ 
ordentlich gefellig, der Beifall feiner Mitmenfhen war ihm theuer und 
werthuoll, wie er felbft geftand, felbft wenn er ihn von dem geringften 
menfhlichen Wefen vernahm, und dennoch war der erfte Eindruck, den er 
auf jeden Menſchen hervorbrachte, ein unangenehmer, fat widerwärtiger. 

Die Natur hatte ferner gewollt, daß der gebieterifche Johnſon arm ge⸗ 
boren werben ſollte. Die gewaltige Seele, fo flarf in ihrer angeborenen 
Königewürbde, großmäthig und unbezähmbar wie der Löwe der Wälder, 
wohnte in einer Gülle von Häßlichkelt, von Körperfchwäce und einer Ar⸗ 
muth, die ihn zum Diener von Dienern machte, 

So war der geborne König gleichzeitig ein geborner Sklave. Der 
göttliche Geiſt der Muſik erwachte unter dumpf kraͤchzenden Mißklängen; ber 
Ariel ſah fih in der plumpen Hülle eines Kaliban gefangen. So ift «8 
mehr ober weniger — wir wiflen e8 und Du, o Lefer, weißt und fühlft es 
auch — mit allen Menſchen; aber mit den wenigften in fo hohem Grade 
wie mit Johnſon. 

g* 


116 


Das Schickſal, welches ihn bei feinem erſten Ericheinen in der Wel 
auf diefe Weiſe behandelt hatte, legte übrigens aud nit Tie Hände in den 
Seo oder beſann fid anders, fondern arbeitete unermübdet im bemielben 
Geiſte fort. Wozu ein foldher Geiſt, aus dem edelflen Metall der Natur, 
obſchon in fo unanfehnlicher Form geprägter Geiſt ganz befonders und am 
beften taugte, könnte no in Frage gezogen werben. In feine der wenigen 
incorporirten BZünfte der Welt hätte er ſich ohne Schwierigkeit, ohne ges 
wealtfame Verrenkung hineinſchicken, in Feiner ſich ala ihr Mitglied behaglich 
fühlen können. Bielleiht, wenn wir die fireng praftiiche Natur feiner Fä⸗ 
higkeit, die Kraft, Entichiedenheit und Methode, die fid in ihm offenbart, 
ind Auge faften, können wir fagen, daß er mehr zum praftiichen ald zum 
theoretifchen Xeben berufen war, tag er fich ald Staatömann (in ber höhe 
ren, jet veralteten Bedeutung), ald Geſetzgeber, Herrſcher, furz als Voll⸗ 
bringer des Werks noch mehr ausgezeichnet haben würde denn ald Spredyer 
bes Wortes. Die Redlichkeit ſeines Herzens, fein muthiger Sinn, der 
Werth, den er auf äußere und materielle Dinge fegte, hätte ihn zu einem 
König unter Königen machen können. Wäre doc das goldene Zeitalter 
jener neuen franzöflihen Propheten, wo es beißen wird: ‚A chacun selon 
sa capacile, à chaque caparite seloa ses oeuvres“‘ ſchon da! Gogar in 
unferem meifingenen, künſtlich polirten Zeitalter bedauerte er felbft, daß er 
nicht Iurift geworden und bis zum Kanzler gefliegen war, was er wohl 
hätte thun fönnen. 

Jedoch ed war anders beflimmt. Keinem Nenſchen öffnet das Glüd 
alle Reiche diefer Welt und fagt: „Ste ſind Dein, wähle, wo Du wohnen 
willſt!“ Den meiften öffnet fie kaum die allerkleinfte Hundehütte und fagt 
nicht ohne Rauheit: „Da, das ift Dein, fo lange Du es behaupten kannſt; 
richte Dich darin fo gut ein als möglid und danke dem Himmel!“ Ach, lei⸗ 
ber müſſen die Menſchen ſich in viele Dinge ſchicken. Bor etwa vierzig 
Jahren zum Beifpiel fah man den etelften und fähigften Mann in allen bris 
tifhen Landen nicht das Fönigliche Scepter oder das Weihrauchfaß des 
Papftes auf der höchſten Spige der Welt ſchwingen, fondern Biertonnen in 
dem Fleinen Flecken Dumfries viſtren! Johnſon Fam dem Ziele ein wenig 
näher, ald Burns, aber auch bei ihm war ber Kraft der angemeflene Spiel- 
raum verſagt; er hatte fein ganzes Leben lang einen unaufhörlichen Kampf 
gegen das übermächtige feindliche Geſchick zu führen. 

Johnſon's Befähigung zum Königt um (wenn das Schidjal «8 fo 


117 


gewollt hätte) zeigt ſich fchon im frühen Knabenalter. „Seine Günftlinge, * 
fagt Boswell, „erhielten gewöhnlich jchr freigebige Unterflügung von ihm 
und die Untermürfigfeit und Rüdfiht, womit man ihn behandelte, war fo 
aroß, daß drei der Kuaben, von weldden Mr. Hector zuweilen einer war, 
des Morgens als feine gehorſamen Diener zu kommen und ihn in bie Schule 
zu tragen pflegten. Einer in der -Mitte büdte fi, während er ſich ihm auf 
den Ruͤcken feste, bie andern zwei flüßten ihn zu beiden Seiten und fo ward 
er triumphirend dahingetragen. * Der arme blöbfichtige Lahme mit feinem 
offenen Munde und blatternarbigen Geſicht herrſchte ſchon königlich und un⸗ 
widerfiehlih! Nicht in dem „Königsftubl" (von menfhlichen Armen, wie 
wir fehen) tragen ihn feine drei Satelliten, fondern mehr auf dem Thy» 
tannenfattel, den Rücken feiner Mitmenichen, reitet er triumphirend 
einher ! 

Das Kind ift der Vater ded Mannes. Wer fünfzig Jahre in die Zus 
funft hätte bineinfchauen können, würde gefühlt haben, daß diefes Eleine 
Schauſpiel muthwilliger Schulfnaben ein großes war. Für und, die wir 
darauf und was ferner folgte, jet von weitem zurüdblicen, ftellen ſich Fra⸗ 
gen genug heraus: Wie ſahen dieie Buben au8? Was für Jaden und Ho⸗ 
fen Hatten fie an? War ihre Kopfbebedung von Filz oder von Hundefell? 
Was machte damals das alte KLichfield? Was dachte es? — und jo weiter 
durch die ganze Reihe von Korporal Trims, Hülfdzeitwörtern. ” Gin Bilb 
von alle dem ftellt fih wohl vor unfern Augen zufanımen, leider aber haben 
wir feinen Pinfel und Feine kunſtgeübte Hand. 

Dad Knabenalter iſt nun vorüber ; die Ruthe des Schulmeifters wird 
unihädlich in weiter Gerne geihwungen. Samuel iſt zu tölpiiher Körper- 
größe und Jugend herangewachſen und ringt immer noch mit Krankheit und 
Armuth, weiche feine treueften Begleiter bleiben. Auf der Univerfität fehen 
wir wenig von ihm, aber doch fo viel, Daß es nicht gut ging. Ein rauhes 
Kind der Wüfte zum Selbfigefühl erwacht, ſtolz wie Der Stolzeſte, arnı wie 
der Aermfte ; ſtoiſch, abgefchloffen und ſchweigend das Unvermeidliche dul⸗ 
dend — welch eine Welt von ſchwärzeſter Nacht mit kargem Sonnenſchim⸗ 
mer und bleichen thränenvollen Mondbliden und Bladern eines himmliſchen 
und hölliſchen Glanzes war es, Die fich jegt ihm öffnete! Aber Tas Werter 
iſt winterlich und die Zehen des Mannes ſchauen zu feinen Schuhen heraus, 
feine ſchlammigen Züge nehmen eine purpurne und meergrüne Farbe an und 
eine Fluth ſchwarzer Entrüftung fleigt babinter auf. Eine wilde, unförms 


118 


liche Geſtalt! Fleiſch zu effen Hat er wahrfgeinlich wenig; Hoffnung ‚hat er 
noch weniger — feine Füße haben, wie wir fagten, genaue Velanntſchaft 
mit dem Straßenkothe gemacht. 

„Soll id in Einzelnheiten eingehen,“ fragt Sir John Hawkins,, und 
einen Umftant feiner bedrängten Lage erzählen, der ihm nicht als Folge ſei⸗ 
ner eigenen Ertravaganz oder Unreglmäßigkeit zugefchrieben werden kann 
und demzufolge auch keinen Schatten auf fein Andenfen wirft? Gr batte 
faum einen vollſtändigen Anzug und nicht lange darauf, nachdem Gorbet 
ihn verlaflen, nur ein einziged Paar Schuhe, die jo alt waren, daß die Füße 
hindurchſahen. Einer feiner Mitſtudenten, Vater eines jeht lebenden aus- 
gezeichneten Theologen, befahl eines Morgens feinem Bamulus, ein neueß 
Baar vor Johnſon's Thür zu flellen, welder aber, als er fie beim Heraus⸗ 
treten aus feinem Zimmer erblicte, fih und die Gefinnung, welche feinen 
unbekannten Wohlthäter befeelt haben mußte, fo weit vergaß, daß er mit 
der ganzen Entrüftung eines Beleidigten das Geſchenk fortfchleuderte. * 

Wie fonderbar! — Der ehrwürdige Dr. Hall bemerft: „So weit wir 
nach einem flüchtigen Weberblid der wöchentlichen Rechnung in den Bictuas 
lienbüchern abnehmen können, jcheint Iohnfon eben fo gut ald andere Stu⸗ 
denten gelebt zu haben.” Ad, leiter if ein folher lüchtiger Vlid in die 
Victualienbücher jegt aus der fihern Entfernung eines Jahrhunterts in 
dem fihern Stuble einer Profeflur etwas ganz anderes als der fortwährende 
Anblid der leeren oder verichlofienen Victualienkammer felbft. Doch hören 
wir unſern Ritter weiter. 

„Johnſon,“ ſagt Sir Iohn, „Eonnte ſich in jener frühen Periode ſei⸗ 
ned Lebens nicht von Der Idee losmachen, daß Armuth eine Schande fei und 


fprach fich mit firengem Tadel über Die an uniern beiden Univerfitäten ber . 


ſtehende Einrichtung ans, welcher zufolge Die armen Studenten unter der 
Benennung von Servilors in Oxford und Sizers in Cambridge bei Tiſche 
aufwarten müflen. Gr meinte, daB das Studentenleben eben fo wie das 
chriſtliche allen Unterichied des Ranges und weltlicher Vorzüge entferne; 
bierin aber irrte er fih — der Staat" u. ſ. w. u. ſ. w. — Nur zu wahr! 
Es iſt einmal des Menichen 2008, ſich zu irren. 

Jedoch, dad Schickſal ift geionnen, den irrenden Samuel auf alle Weiſe 
auf die Probe zu ficllen und zu ſehen, welcher Kern in ihm if. Er muß 
die Victualienfammer Oxfords verlaffen; der Mangel zwingt ihn wie ein 
gewappneter Mann ſich in die beicheidene Wohnung jeined Vaters zurückzu⸗ 


119 


flübten. wo er ſich eine Zeitlang der Unthätigkeit, Täufchung und Schande 
preiögegeben und dadurch faft zum Wahnſinn getrieben ſieht; wahrſcheinlich 
iR er der unglücklichſte Menſch im ganzen weiten England. Aud er muß 
auf ale Weife durch Leiden volllommen werben. 

Hohe Gedanken haben ihn heimgefucht ; feine Univerfitätäarbeiten find 
auch außerhalb der Mauern der Univerfität gelobt worden ; Pope ſelbſt hat 
jene Ueberſetzung geſehen und gutgeheißen — Samuel hatte fich zuge⸗ 
flüſtert: „Auch id bin Einer und Etwas!“ 

Falſche Gedanken, die nur Elend zurüdlafien! Das Bicberfeuer des 
Ehrgeizes wird in dem Eisbade der Armuth auf zu fehmerzenvolle Weife ges 
loͤſcht (aber nicht geheilt). Johnſon bat im Gefühle feines Rechts an das 
Thor angeffopft, aber man macht ihm nicht auf. Die Welt ift rings herum 
wie mit Erz umgeben und nirgends kann er den fleiniten Eingang finden 
oder erzwingen. Eine Lehrerftelle in Bosworth und ein „Zwift zwilchen 
ihm ud Sir Wolften Dirie, tem Schulpatron* giebt ihm das Brod der 
Trübſel und dad Wafler der Trübjal, aber fo bitter, daß tie menfchliche 
Natur es nicht verſchlucken kann. Der junge Simfon will nicht mehr in 
der Mühle der PHilifter von Bosworth mahlen; er läßt Sir Wolftan und 
die Hmmscaplandwürde, die blos darin beftand, daß er das Tiſchgebet zu 
verridien hatte, fahren; er will fih nicht mehr mit „ unerträglicher Schroffe 
heit” dehandeln laſſen und giebt, ohne Zweifel in der Meinung, daß ein 
ſchneller Hungertod noch nicht das Schlimmfle auf der Welt fei, eine Stels 
lung auf, deren er fi fein ganzes Xeben lang mit dem unüberwindlichften 
Widernillen und fogar Abſcheu erinnerte. 

Menichen wie Johnſon werten mit Recht die verlorene Hoffnung der 
Welt genannt. Ob feine Hoffnung verloren war oder nicht, beurtheile man 
nah folgendem Briefe an einen flumpffinnigen, jchmierigen Buchdruder, 
welcher fh Sylvanus Urban nannte: 

„Sr, — da Sie die Mängel ihres poetiichen Artikels nicht weniger 
zu fühlen feinen, als Ihre Leſer, fo werden Sie es vielleicht nicht ungern 
fehen, wenn ich, um auf die Verbefferung deffelben hinzuwirken, Ihnen bie 
Anfihten einer Berfon mittheile, weldye unter billigen Bedingungen erbötig 
iR, zuweilen eine Columne zu füllen. 

„Beine Meinung fl, daß das Publikum,” u. f. w. u. f. w. 

» Wenn ein ſolcher Briefwechfel Ihnen angenehm if, fo haben Sie 
die Güte, mih in zwei Poften zu benachrichtigen, welcher Art die Bedin⸗ 


120 


gungen find, unter welchen Sie ihn erwarten. Ihr neulides Anerbieten 
(wegen eines Preisgedichtes) giebt mir feinen Grund, Ihrer Generoftät zu 
mißtrauen. Wenn Sie fi mit literariichen Brofecten auch aufer Yiefem 
Sournal befafien, fo habe ih noch andere Pläne mitzutheilen. * 

Lieber Xefer, der generöfe Mann, an welden tiefer Brief gerichtet 
ward, iſt „Mr. Edmund Cave, St. Johns Bate, London“; ber Schriber 
deffelben „ Samuel Johnſon in Birmingham, Warmidihire. * 


Trotzdem aber fammelt das Leben in ihm neue Kräfte, es behaupter 
fein Recht, gelebt, ja fogar genofien zu werden. „Befler cin Einer 
Buſch,“ tagen die Schotten, „ald gar fein Obdach.“ Johnſon Iernı fi 
mit beicheidenen menſchlichen Dingen begnügen und umgiebt ihn nicht ſchon 
eine regjame, lebende menſchliche Eriftenz von allen Seiten? Gebe bin und 
thue defielbengleihen. In Birmingham ſelbſt kann er mit feinem e.genen 
gekauften Bäniefiele „fünf Guineen verdienen“ ; ja zulegt erwirbt « dad 
höchſte irdifche Gut, eine Breundin, dic fein Weib jein will! 

Johnſon's Verheirathung mit der guten Wittwe Porter iſt von vielen 
Sterblichen, welche augenicheinlich nichts Davon verflanden, veripotzt und 
lächerlich gemadt worden. Daß ter furziichtige Barbar mit feinem zrrifle 
nen Geflcht, der einfam und nicdergebeugt einberichritt, deſſen Eprade Nie⸗ 
mand verftand, deſſen Ausfehen alle Menſchen zum Lachen reizte oder ihnen 
Abfcheu einflößte, ein wackeres weibliches Herz fand, welches gleich, ald es 
ihn zum erfien Mal geſehen und gehört, erklärte: „Dies iſt der verftindigfte 
Mann, den ich jemald Eennen aclernt, * und dann mit Muth und Sdbſtver⸗ 
leugnung ſich entſchloß, ſich feiner anzunchmen und zu jagen: „Sd mein; 
id will Dich erwärmen und zum Lehen aufthauen!“ — in allem deſen, in 
der Liebe und dem Mitleiden der freundlichen Wittwe zu ihm, in Johnſon's 
Liebe und Dankbarkeit, Tiegt wahrlich Eeine Urfache zum Spott. | 

Ihr Ehefland war, wie Died gewöhnlich der Fall if, zuſammengeſetzt 
aus guten und üblen Tagen, aber Unſchuld und Würdigkeit wohnte darin 
und als der Tod ihn geendet hatte, ein gewifles Heiligthum. Johnſon's 
unfterblihe Zuneigung zu feiner Teity war ſteis ehrwürdig und nobel. 

Jedoch fei dem nun wie ihm wolle, Johnſon iR nun geſomen, zu hei⸗ 
zathen und will vom Schulmeiſterhandwerk leben, tenn aud auf tiefem 
Wege läßt fih Das Leben nothdürftig friften. Die Welt mögı daher Notiz 
nehmen von der Ankündigung: „In Edial bei Lichfield werden 


121 . 


jange Herren in Penſien genommen und im Lateiniidhen 
und Griechiſchen unterrihtet von — Samuel Johnſon.“ 

Hätte dieſes Unternehmen in Edial einen gedeihlichen Fortgang ge= 
habt, wie ganz anderd wäre dann der Ausgang geweien! Johnſon hätte 
ein zwar verdienſtvolles, aber unbeachtetes Leben gelebt, oder wäre zu einem 
geftaltlofen Wr. Barr aufgeihwollen, der und nichts genügt hätte, und Bos- 
well wäre zu officieller Bedeutungsloſigkeit zuſammengeſchrumpft oder auf 
eine andere Weiſe geftiegen. 

Das Unternehmen in Edial hatte aber feinen gebeihlichen Bortgang ; 
dad Schickſal Karte Samuel Johnſon für einen andern Wirkungskreis bes 
ſtimmt, und die jungen Herren gingen in Benflon, mo fie anderwärtd der⸗ 
gleichen finden fonnten, Diejer Mann follte ein Lehrer erwachſener Herren 
und zwar auf tie überraichendfte Weile werden, ein Schriftfteller und ein 
Herrſcher der brisiichen Nation für einige Zeit; — nicht bloß ihrer Körper, 
ſondern auch ihrer Geiſter; nicht über fie, fondern in ihnen. 

Bon dem Beide der Literatur fonnte man zu Johnſon's Zeit chen fo 
wenig jagen als jetzt, Taf es an den Ufer eined Pactolus läge, und was 
auch jonft bier geiammelt werden mochte, jo war doch Goldſtaub keineswegs 
das Haupiprotuft. Die Welt Hat von ten Zeiten eines Sofrates, eines 
Paulus an und noch weit: cher ftetd ihre Lehrer gehabt und fic ſtets auf 
aanz beiondere Weiſe behandelt. Gin ſchlauer Bürgermeifter (nit von 
Gphrius) gab einmal bei Gründung einer Schule, als die Frage aufgewor⸗ 
fen ward, wie die Schulmeifter erhalten werten jollten? den kurzen Rath: 
„Zun Teufel! erhaltet fie arm." Es fann in tiefem Aphorismus ein 
ziemlicher Brad von Weisheit Liegen. Auf alle Bälle fehen wir, daß die 
Welt ibn fett langer Zeit befolgt, zumweilen aber doch ein wenig mehr ges 
than har, intem von ihr mander Lehrer an einer großen Schule einem Tode 
überannwortet worten if, der ihr ſogar etwas koſtete. 

Die erfien Schriftfteller waren Mönde und hatten als ſolche das Ge⸗ 
lübde der Armuth abgelegt ; Die modernen Autoren hatten nicht erft nöthig, 
einen ſolchen Schwur zu thun. Es war die vie Zeit, wo ein Otway no 
vor Hunger ſterben Fonnte, unzähliger Scrogginſes zu gefchweigen, welche 
bie Mufe unter einer elenden Decke ausgeftredt fand: vor einem verrofteten 
Kamin, welches nichts von Feuer mußte; auf mit Sand beſtreutem Fuß⸗ 
boden, umgeben von allen anderen Wappenbildern des Handwerks, bie feit 
undenflichen Zeiten das Erbtheil der Schriftftellerei find. 


123 


Scroggins ſcheint jedoch dabei ein Rüfiggänger geweien zu fein, we⸗ 
nigftend auf feinen Fall fo fleißig, wie der würbige Mr. Boyce, welcher im 
Bett ſaß. die Dede als Gewand um ſich herumgeſchlagen und ein Zoch hin⸗ 
eingefchnitten hatte, um mit der Hand frei in feinem Berufe arbeiten zu 
fönnen. Das Schlimmſte dabei war, daß nur zu häufig eine rüdfichtölofe 
Gemuthsſtimmung daraus hervorging, die nicht im Stande war, das Gute, 
was die Götter jelbft unter diefen Umſtaͤnden beicherten, zu benugen. Die 
Boyces verfuhren nach dem ſtoiſch epifuräifchen Prinzip ,‚Carpe diem!“ jo 
wie die Menichen In bombartirten Städten und zu den Zeiten einer herr» 
ſchenden Peſtilenz zu thun pflegen. Auf diefe Weile gingen fie nicht blos 
ihres Lebens und ihrer Beifleögegenwart, fondern aud ihres Namens als 
achtbare Leute verluſtig. — Mit einem Worte, das Schriftſtellerhandwerk 
war io ziemlich auf fein tieffted Niveau herabgeſunken, als Johnſon ſich ihm 
widneete. 

Demgemäß finten wir von einer Illumination der Stadt London, ald 
dieſer Herrſcher ter britifhen Nation in ihr ankam, nichts erwähnt; es 
werden feine Kanonenſchüfſe gelöf, kein Pauken- und Trompetentuſch be⸗ 
grüßt fein Erfcheinen auf der Bühne. Gr kommt ganz ruhig mit einigen 
Kupfermünzen in der Taſche, Ericcht in feine Wohnung in Ererer Street 
und bat auch einen Krönungspontifer von nicht weniger eigenthümlicher 
Art, welchen er mit aller Unterwürfigkeit in feinem Batican an St. Johns 
Gate jeine Aufwertung machen muß. Dies ift der ſchon oben erwähnte 
ftumpffinnige, ichmierige Buchdruder. 

„Cave's Temperament,“ sagt Ritter Hawkins, „war phlegmatilch. 
Obſchon cr als Herausgeber des Magazins den Namen Sylvanus Urban 
annahm, beſaß er doch wenige ron ten Eigenidaften, melde die Urbanität 
ausmachen. Einen Begriff von feinem Mangel daran kann man fidh nad 
der Zrage machen, welde er cinmal an einen Autor ftellte: ‚Mr. —, wie 
ih höre, Haben Sie kürzlich eine Broihüre herausgegeben, die, wie man mir 
fagt, einen jehr guten Aufiag über Mufif enthält; haben Sie den jelbft ges 
ſchrieben?“ — Seine Urtheildfraft war ebenfalls ſehr ſchwach, und da ihm 
ſchon einige Autoren in Proſa und Berien zu Gebote flanden, die in der 
Sprache der Buchhändler gute Arbeiter genannt werden, jo war er um fo 
weniger bedacht, eine nähere Bekanntſchaft mit Johnſon zu fuchen. Wei der 
erfien Annäherung eines Fremden pflegte er fißen zu bleiben und einige 
Minuten lang zu fhweigen. Hatte er Luft, das Geſpraͤch zu beginnen, fo 





123 


geſchah es gewöhnlich dadurch, daß er feinem .Befucher die neueſte Num⸗ 
mer feined Magazins vorlegte und ihn um feine Meinung darüber 
fragte. — — — 

„Er war fo wenig im Stande, Johnſons Fähigkeiten zu beurtheilen, 
daß er einmal in der Meinung, ihn durch den Glanz eined ber ‚Literarifchen 
Lichter zu blenden, welche ihn mit ihrer Gorrefpondenz beehrten, ihm fagte, 
wenn er Abends in ein gewiſſes Bierhaus in der Nähe von Elerfenwell 
fommen wolle, fo werde er Gelegenheit Haben, Dir. Browne und noch einige 
jener berühmten Mitarbeiter zu ſehen. Johnſon nahm die Einladung an 
und nachdem er von Cave, der einen weiten Reitrod und eine große buichige 
Perüde trug, Mr. Browne, den er am obern Ende eines langen Tiſches in 
einer Wolke von Tabaksrauch figend fand, vorgeftellt worden, hatte er Ges 
legenheit, feine Neugier zu befriedigen. * 


In der That, wenn wir den Zufland der Scähriftflellerei zu jener Zeit 
ernft ind Auge fallen, fo werden wir finden, daß Johnſon fidh mit einer der 
fhwieriaften aller möglichen Unternehmungen befaßt und daß bier eben fo 
wie anderwärtd das Schickſal ihm die Ausfühnung unfüglicher Widerfprüde 
zur Aufgabe geftellt hatte. Für einen Mann: von Johnſon's Gepräge war 
das Problem ein zwiefaches: Erſtens nicht bloß als Die befcheidene und doch 
fo unerläßliche Bedingung, fih womöglich am Leben zu erhalten, fondern 
aud zweitens, ſich Dadurch amı Leben zu erhalten, daß er die Wahrheit 
verkündete, die in ihm war und zwar in dem klarſten und paffendflen Aus⸗ 
drude, den der Simmel ihm verftatter hatte, ihr zu leihen, möchte die Erte 
dazu fagen, waß fie wollte. 


Wenn es ſchon ſchwer if, von diefem zwiefachen Problem eined von 
beiden Bliedern allein zu löfen, wie unendlid ſchwerer wird dann die Lö« 
fung, wenn beide verbunten werden und mit endloſer Eomplication in ein- 
ander wirfen! Der, welcher fein Leben ſchon gefichert findet, kann zuweilen 
(unglücklicherweiſe nicht immer) ein wenig Wahrheit fprechen ; Der, welcher 
im Stande und willig ifl, fortwährend Zügen zu fagen, fann, wenn er im⸗ 
mer genau Acht giebt, woher ter Wind kommt, ſich feinen Kebensunterhalt 
manchmal auf pradtvolle Weile erwerben und Der zulegt, welcher fid mit 
feiner von beiten Begabungen außgerüftet fühlt, hat ein ziemlich kitzliches 
Spiel zu fpielen und verdient Lob, wenn er ed gewinnt. 


Wir wollen einmal beide Seiten der Sache ein wenig in Augenicein 


124 


nehmen und feben, welde Stirn fie unlerm Abenteurer boten umd welde 
Stirn er ihnen entgegenfepte. 

Zu der Zeit, wo Johnſon auftrat, befand fid die Kiteratur in vielen 
Beziehungen in einem Uebergangdzuftande, befonders in dem Punkte, der 
die pefuniäre Subfiftenz ihrer Arbeiter betrifft. Sie ftand damals eben im 
Begriff, aus dem Schupe einzelner Gönner in den des Bublifumd überzugehen 
und fich die zu ihrer Eriftenz nöthigen Mittel nicht mehr dur lobpreiſende 
Dedicationen an die Sroßen, fondern durch angemeffene Sandelöverträge 
mit ten Buchhändlern zu verichaffen. Diefe glückliche Veränderung ifl viel⸗ 
fach beiungen und gepricfen worden; mancher ,Lord vom Löwenherzen und 
Adlerauge* blickt mit Beratung auf das entihwundene Syſtem der Abs 
bängigfett, fo daß es jetzt vielleicht an der Beit if, einen Augenblid lang 
zu erwägen, was Gutes darin lag und welde Dankbarkeit wir diefer Ver⸗ 
änterung ſchulden. 


Daß etwas Gutes darin lag, ift feinem Zweifel unterworfen. "Alles, 
was eriftirt bat, Hat auch feinen Werth gehabt; wenn nicht ein gewifler 
Brad von Wahrheit darin gelegen bätte, jo hatte es gar nit zufammen« 
balten und für lebende vernünftige Menſchen das Organ und die Methode 
ihres Handelns fein fünnen. Man überjeße eine Züge, welche Durch und 
durd Rüge ift, in die Praxis und das Rejultal wird Null fein; es ik 
feine Frucht Davon zu ernten, 


Daß in einem Zeitalter, mo ein Edelmann wirklich noch edel, mit ſei⸗ 
nem Reichthume der Beſchützer des würdigen und nüglichen und als folder 
verehrt war, ein armer Mann von Genie mit ungeheuchelter Ehrerbietung 
fih an ihn wendete und zu ihm jagte: „Ich habe bier Weisheit gefunden 
und möchte fie gern der Welt verfünden ; willſt Du von Deinem Ueberfluß 
mir die Mittel dazu gewähren?“ darin lag durchaus keine Erniedrigung; 
es war ein ganz redlicher Antrag, den ein freier Mann machen und dem ein 
freier Mann Gehör fchenken Eonnte. 


So Tonnte ein Tafſſo mit einem Gerusalemme in feiner Hand oder in 
feinem Kopfe zu einem Herzog von Ferrara fprechen ; io konnte ein Schafe 
fpeare zu feinem Southampton, jo konnten die Künftler des Continents ges 
wöhnlidy zu ihren reichen Gönnern fprechen ; in einigen Xändern fünnen fie 
es faſt jegt noch. Erſt ald tie Ehrerbietung erheuchelt wart, ald Nies 
drigfeit auf beiden Seiten fi geltend machte und rafch und üppig zu wu⸗ 


125 


dem begann, er dann war dab, was ein Shafefpeare ohne Anſtoß üben 
konnte, für einen Droten ſchmachvoll. 


Auch war der neue Weg des Buchhändler-Mäcenars, ber ſich jetzt, wo 
der alte Weg zu fhmugig und ungangbar geworden, für den widtigfien 
Zweig alled Transporthandels öffnete, ein keineswegs unwürdiger. Man 
bemerfe übrigens, wie dieſe zweite Art deg Dräcenatd, nachdem fie uns durch 
beinahe ein Jahrhundert der Iiterarlichen Zeit hindurchgeführt, ihre Aufgabe 
ebenfalld jo ziemlich erfüllt zu haben und raich auf eine Dritte Methode 
binzuarbeiten fcheint, deren genaue Bebingungen aber jept noch keineswegs 
fihtbar find. 


Sp haben alle Dinge ihr Ende und wir müffen von ihnen allen nicht 
in Zorn, fondern in Frieden fetten. Das Buchhändlerſyſtem bat während 
feines eigenthümlichen Jahrhunderts, dein ganzen achtzehnten, un® ein gutes 
Stüd vorwärts gebracht, viele gute Werfe hinterlaffen und viele gute Men⸗ 
fhen ernägrt. Wenn es jetzt durch Charlatanerie feinem Ende ent- 
grgengebt, eben fo wie das Gönnerſyſtem durch Schmeichelei — denn 
die Lüge iſt ſtets die Borläuferin des Todes, ja der Tod felbft — feinem 
Ende entgegenging, fo dürfen wir doch auch nicht feine Wohlthaten vergeſ⸗ 
fen — mie e8 die Literatur, die von tem Gönnerſyſtem in weiche Windeln 
gewickelt werden, weiter aufzog und ihr die Kinder- und Schuljahre über- 
eben half, fo daß wir fle jegt im Begriff jehen, die ‚‚toga virilis‘‘ anzus 
legen, fobald fie dDiefe gefunden haben wird! 


Auf der jegt gangbaren Straße findet eine ziemliche Frequenz ftatt ; 
mir auf der noch nicht geebneten und gepflafterten neuen und auf der von 
tiefen Gleiſen und Pfützen durchſchnittenen alten Straße iſt das Reiſen 
ſchlecht oder unthunlich. Die Schwierigkeit Tiegt immer in dem Ueber— 
gange von einer Methode zur andern. In dieſem Zuftande fand Iohnfon 
bie Literatur, aber wir dürfen auch nicht vergeffen, hinzuzufügen, daß cr fle 
muthig daraus befreite. Welcher merfwürdige Sterblihe in England das 
erſte Honorar für ein Verlagsrecht bezahlte, haben wir nicht ermitteln kön⸗ 
nen. Vielleicht war ſchon feit beinahe Hundert Jahren dann und warn von 
dem Verkäufer der Bücher an den Schreiber derfelben ein kaum ſichtbares 
oder waͤgbares Fleined Arbeitslohn bezahlt worden. Der Originalvertrag, 
welchem zufolge eincrjeit8 das „verlorene Paradies“ und andererſeits fünf 
Pfund Sterling produrirt wurden, liegt, wie man uns erzählt hat, noch 


126 


jegt Schwarz auf Weiß für Die, welche ſich dafür intereffiren, in einem 
Buchladen in Ehancery Lane zur Anſicht und zum Verkaufe. 

So war die Sache in gemiſchter, verworrener Weiſe etwa ſechzig Jahre 
lang gegangen. Wie es bei ſolchen Dingen fletö zu gefchehen pflegt, läuft 
das alte Spflem noch ein paar Generationen neben dem neuen ber und flirbt 
erfi vollends, wenn das neue eine vollfländige Organifation erlangt Hat. 
Unter den erflen Autoren, der allererfle von einiger Bedeutung, der von 
dem Tagelohn feines Handwerks lebte und auf biefer Bafld ruhig der Belt 
gegenüber trat, war Samuel Johnfon. 


Bu der Zeit, wo Johnfon auftrat, waren noch zwei Wege vorhanden, 
auf welchen ein Autor vorwärts zu kommen fuchen fonnte.e Es gab die no— 
minellen Mäcenafje im Weſtend von London und die factiihen Mäcenaffe 
von St. Johns Gate und Paternofter Row. Gin umfichtiger Mann fonnte 
in Berlegenheit fommen, weldem von beiden Wegen er den Vorzug geben 
follte. Keiner von beiten war fehr verlodend. Die Unterſtützung des hoch⸗ 
adeligen Bönnerd ward jegt fa nothbwendig durd Schmarogerei befleckt, 
ebe der Autor fie wirklich in die Hände befommen Eonnte ; die des Buchhaͤndlers 
ward durch babgierige Dummheit — fo daß ein Osborne von einem muthie 
gen Autor fogar geprügelt werden mußte — entftellt und fonnte faum den 
Baden des Lebens zufammenhalten. Die eine Unterflügung war der Lohn 
des Leidens und der Armuth; Die andere, wenn dabei nicht Die größte mo— 
ralifche Vorficht gebraucht ward, der Kohn der Sünde. 


Johnſon hatte im Lauf der. Zeit Gelegenheit, beide Methoden zu prü« 
fen und ſich zu überzeugen, wie es damit beichaffen war, fand aber gleich bei 
dem erſten Verſuche, dag die erſtere fh in feiner Weile für ihn eignete. 
Man höre noch einmal jenen weitberühmten Pojaunenftoß des jüngften Ge⸗ 
richteö, welcher Lord Chefterfield und durch diefen der laufchenden Welt ver« 
fündete, daß das Gönnerthum künftig nicht mehr fein ſolle! 


„Sieben Jahre, Mylort, find nun vergangen, feitdem ich in Ihren 
Vorzimmern wartete oder an Ihrer Thür abgewielen warb, während welcher 
Zeit id) an meinem Werfe (dem englifchen Wörterbuch) trog aller Schwie- 
zigfeiten, über welche e8 nutzlos wäre, zu klagen, fortgearbeitet und es end⸗ 
lih ohne irgendwelche Unterftügung, ohne ein Wort der Ermuthigung ober 
ein Lächeln der Gunft, fo weit gebracht habe, daß es nun naͤchſtens erſchei⸗ 
nen Tann, 


127 


„Der Schäfer Virgils Iernte endlich die Liebe Eennen und fand, daß 
fie dem Felfen entflammte. 

„IR nicht ein Gönner, Mylord, ein Menſch, welcher einem andern, 
ber im Waffer mit dem Tode fampft, theilnahmlos zufleht und wenn er end⸗ 
lich wieder feften Boden gewonnen hat, ihn mit Hülfe überhäuft? Die No« 
tig, weldye Ste die Güte gehabt haben, von meinen Arbeiten zu nehmen, 
würde, wenn fle früher erfolgt wäre, für mich fehr werthvoll gewefen fein ; 
fle ift aber fo lange aufgefchoben worden, bis ich gleichgültig geworden bin 
und mich nicht mehr daran erfreuen kann; ich bin jeßt bekannt und brauche 
fie nicht. Ich Hoffe, es ift Feine fehr cyniſche Schroffheit, da, wo Keine Wohl⸗ 
that empfangen worden iſt, auch keine Berbindlichkeiten anzuerfennen oder 
dem Publikum die Meinung zu benehmen, daß ich dad einem Gönner ver⸗ 
danke, was ich mit Hülfe ter Vorſehung allein zu Stande gebracht habe. 

„Nachdem ich mein Merk mit fo wenig Verbindlichkeit gegen irgend 
einen Gönner der Gelehrfamfeit fo weit gebracht habe, fo werde ih mid) 
au weiter nicht getäufcht fühlen, wenn ich ed mit noch weniger — falle 
dies möglich wäre — zu Ende bringe, denn ich bin jchon laͤngſt aus jenem 
Hoffnungstraum erwacht, in welchem ich mich einft fo frohlodend wiegte. 

„Ich bin, Mylord, Ihr geborfamfter Diener 

‚Samuel Johnſon.“ 

Und fo muß der rebellifhe Samuel Johnſon fih zu der Buchhaͤndler⸗ 
zunft und dem wunderbaren Chaos eines „Schriftftellers von Profeffton * 
wenden und, obſchon er von jenem flumpffinnigen ſchmierigen Buchdruder 
in feinem weiten Reitrocke und mit der großen bufchigen Perüde, aber bloß 
als Subaltern bei einem commandirenden Offizier, der unter Tabaksrauch 
an der Spitze einer langen Tafel in der Kneipe zu Elerfenwell figt, einge. 
führt wird, fih zum Kriege rüften, weil ihm feine weitere Alternative 
bleibt. | 

Baft eben fo widerfprechend war jener andere Zweig bes zwiefachen 
Problems, welches Johnſon jeßt vorgelegt ward — das Berfünden der 
Wahrheit. Ach, leider fließ der arme Johnſon auf eine Maffe von Wi⸗ 
derfprüchen, in geiftigen Dingen fowohl als in weltlichen, von innen und 
von außen; mit der unüberwindlichflen Liebe zu richtiger Erkenntniß gebo⸗ 
sen, muß er jegt beginnen, in einer Umgebung zu leben und zu lernen, wo 
dad Vorurtheil üppig wuchert. „Was ift Wahrheit?” fagte der ſcherzende 
Pilatus. „Was ift Wahrheit ?* Eonnte der ernfte Sohnfon mit weit grö« 


128 


Gerem Nachdrucke jagen. Die Wahrheit Lie jegt nicht mehr wie der Phö⸗ 
nix in feinem Regenbogengefleder aus ihrem glitzernden Schnabel jene füß- 
melodiicgen Töne erklingen, welche jedes Ohr gefangen nahm, ſondern ber 
num altgeworbene Phönix hatte jein Singen fo ziemli ganz eingeftelle und 
langweilige Rudufe, klaͤglich eintönige Eulen, auch unzählige Doblen und 
zwitichernde Sperlinge auf den Dädern gaben vor, jeine Stimme nachzu⸗ 
ahmen. J 

Es war ein gänzlich getheiltes Beitalter, dieſes Zeitalter Johnſon's; 
Einheit eriflirte nirgendde. Die Geſellſchaft war bis in tie feinften Faſern 
hinein auseinantergerifien. Alle Dinge — dies ward damals ſchon ſicht⸗ 
bar, fonnte aber noch nicht verflanten werden — bewegten fi in Folge 
eines ſchon vor Jahrhunderten erhaltenen Impulſes, aber jegt erſt mit ent» 
fbietener Schnelligkeit nah tem großen chaotiſchen Abgrunde, wo wir in 
der Geftalt von franzöfifdien Revolutionen, Reformbills, oder welche andere 
blutige oder blutlofe Form der Verfall annchmen mag. Alles fih ſchaͤumend 
durch einander wälzen ſehen. Zwei entjeglidye Erfheinungen, Seuchelei 
und Atheisſsmus, theilen ſchon fchweigend die Welt. Meinung und Han 
deln, die mit einander leben follten, wie ein Fleiſch oder richtiger, wie 
Seele und Körper, haben ihren offenen Zwift begonnen und trachten nad 
getrennter Exiftenz, als ob eine ſolche möglich wäre. Dem ernften Gemüth 
ward in jeder Stellung eine fefte Baſis und ein Leben der Wahrheit mit je⸗ 
dem Tage ſchwieriger; in Johnſon's Stellung aber war es fehwieriger alß 
faft in jeder andern. 

Wenn er, wie Dies für eine fromme Natur unvermeidlich und unum- 
gänglich war, zur Religion ald zum Polarftern feiner Reife aufblidte, fo 
war fchon fein fefter Bolarftern mehr fichtbar, fondern vielmehr zwei Sterne, 
eine ganze Gonftellation von Sternen, von welchen jeder ſich für den wahren 
ausgab. Man fah den rothen, unheilverfündenden Kometen des Unglam 
bens und den düſteren, immer düſterer brennenden und zulegt faft blos 
einem atmoiphäriihen Meteor gleichenden Firftern der Orthotorte. Wels 
hen von beiden follte er wählen? 

Die ſcharfſinnigeren Geifter Europa's hatten ſich faft ohne Ausnahme 
unter den erflern gefchaart. Seit einem halben Jahrhunderte war dad all 
gemeine Streben der europäifchen Bhilojophie darauf gerichtet gewefen, zu 
verfünden, daß die Vernichtung der Lüge Die einzige Wahrheit ſei; täglich 
war das Leugnen ftärfer und flärfer geworten und der Glaube mehr und 


129 


mebr in Verfall gerarhen. Bon unferen Bolingbrofe® und Tolands war 
dad Yieber des Skepticismus nach Frankreich und Schottland getragen wor« 
den und ſchon glemm es fern und nah und zehrte im Stillen an dem Her- 
zen Englands, Bayle hatte feine Rolle geſpielt; Voltaire fpielte auf einem 
größeren Iheater die feine, er war etwa fünfichn Jahre älter als Johnfon ; 
Hume dagegen und Johnſon waren Kinder faft eines und deffelben Jahres 
(3ohnfon, September 1709 — Hume, April 1711). 


Zu diefer Anzahl ſcharfſinniger Geifter gehörte Johnſon unbeftreichar ; 
follte er fi ihnen anſchließen? tollte er fich ihnen entgegenflelleu? Cine 
werwidelte Frage, denn leider ift die Kirche ſelbſt auch für ihn nicht mehr 
gänzlih von ächtem Diamant, jontern von Diamant und gebadenem Schlamm 
durch einander gemiſcht. Der eifrig Fromme gewahrt, wie feine Kirche 
ſchwankt und flieht mit Entiegen anſtatt begeifterter Prieſter fo manden 
jchweinemäftenden Trulliber an ihren Altare fungiren. Es ift nicht der am 
wenigften jonderbare von den Widerſprüchen, welche Johnſon auszuſöhnen 
batte, daß er, obſchon von Natur zur Verachtung und zum Unglauben ge- 
neigt, Damals fein Heil und jeinen Ruhm darin fand, daß er die Tradi⸗ 
tionen der Alten mit feiner ganzen Kraft vertheidigte. 


Nicht weniger verwidelt und nach beiden Seiten bin hohl oder zwei⸗ 
felhaft war der Stand der Politik. Die Whigs ftrebten blind vorwärts, 
tie Tories hielten blind zurüc, jeder mit einer Ahnung von einer halben 
MWahrbeit, feiner mit einer Ahnung von der ganzen! Hier bewundere man 
den anderweiten Wideriprud in dem Neben Johnſon's, daß er, obichon der 
unlenfjanfte und in jener Handlungdweife der unabhängigfte Menſch, ein 
Jakobit und Verehrer des göttlichen Rechts fein mußte. 


Wenn die Neligion zerrifien und das innerfte Herz der menjchlichen 
Eriftenz gegen fich felbf} empört wird, dann muß in allen untergeordneten 
Käcern nothwenig Hohlheit und Zufammenhangsloftgkeit einreißen. Die 
engliſche Nation hatte gegen einen Tyrannen rebellirt und Durch die Hände 
frommer Tyrannenmörder blutige Nahe an ihm genommen. Die Demofra« 
tie hatte ſich mit ihrer Niefenftärke erhoben und glei einem jungen Her⸗ 
fules Schlangen in der Wiege erdroffelt. Noch aber kannte Niemand den 
Sinn oder die Tragweite tes Phänomens — Europa war noch nicht reif 
dazu, fondern follte erſt dur die Kultur und die mannigfadhen Erfahrun« 
gen von ferneren anderthalbhundert Jahren dazu gereift werden. 

Garlple. II. 9 


130 


Und nun, da die Königdmörder alle befeitigt und ein freundlicheres 
zweites Bild auf ie Leinwand bed erften gemalt und „glorreidhe Mevo- 
Iution * betitelt worden war, wer hätte dann anders glauben können, ale 
daß tie Kataftrophe vorüber, Die ganze Sache zu Ende und die Demofratie 
in ihren langen Schlaf verjunfen jei? Und dennoch war die Sache beendet 
und aud nicht beendet ; eine zögernde Unruhe wohnte in allen Gemüthern; 
die tiefliegende unwiberftehlidye Tendenz, der man noch gehorchen mußte, 
war nicht mebr füchtbar. Auf tiefe Weiſe entjtand Halbheit, Unredlichkeit 
und Unſicherheit im Thun und Treiben der Menſchen; anftatı heldenmüthi—⸗ 
ger Buritaner und tapferer Gavaliere tauchte jegt eine müßige Schaar 
fhwagender Whigs und eine müpige Schaar harthöriger Toried auf, von 
welchen die einen wie die antern halb Thoren und halb Xügner waren. Die 
Whigs waren Lügner nnd ohne Baſis, denn ihr ganzer Zwed war Wider⸗ 
ftand, Tadel, Zerſtörung. — fle wußten nicht, weshalb oder wohin es ent= 
lich führen jolle. In tem Whiggismus konnte, ſeitdem ein Charles und 
feine Jeffries aufgehört hatten, fich hineinzumiſchen und einen Auffell oter 
Sydney zu haben, der fih gegen fie aufgelehnt hätte, Feine Göttlichfeit des 
Charakters liegen und erft in der leßtern Zeit, wo er Die Geflalt eines 
grüntlihen, Allem Trog bietenden Raticalidmud annahın, gewann cr eine 
folive Baſis, auf ter er ftchen fonnte. 

Bon derjelben unficheren bald hohlen Befchaffenheit war der Toryis⸗ 
mus in Johnſon's Zeit geworten. Allerdings predigte er die Pflicht der 
Loyalität als eine ewige Wahrheit und dennoch hatte er feit der Definitiven 
Vertreibung der Stuartd feine Berfon, fondern blos ein Amt, gegen 
weldyeö er loyal jein Eonnte; jeine Verehrung galt feiner lebendigen Seele, 
fontern bloß einem totten nit Sammet gepolfterten Stuhle Seine 
Haltung war deshalb eine halsftarrige Weigerung fi) zu bewegen, eben jo 
wie die des Whiggismus ein lauter lärmender Drang und Befehl zum Bor« 
wärtöjchreiten, — modten nun Bernunft und Billigfeit auf beiden Seiten 
dazu jagen, was fle Luft hatten. 

Die Folge Hiervon war: Eine unermeßlide Fluth von flreitjüchtigem 
Kauderweljch ohne alle Elare Tendenz; falfche Ucherzeugung ; falſcher Wider⸗ 
fland gegen Die Ucberzeugung ; Verfall — und entlid gänzliches Abiter- 
ben — alles Defjen, was man früher unter den Worten Grundjaß ober 
Ehrlichkeit des Herzens verfland; Der lautere und immer lautere 
Triumph der Halbheit unt Plauftbilitäe über Ganzbeit und Wahr⸗ 


131 


beit; — zuletzt jene Alles überjchattende Alüthe des Charlatanid- 
mund, welche wir jegt mit all ihren tödtenden und mordenten Früchten tin 
all ihren unzähligen Berzweigungen bis herab zum Geringften fehben. Wie 
follte zwiſchen dieſen widerftreitenten Extremen, worin das Berfaulte fo 
unentwirrbar mit dem Gefunden verihmolzen war und wo noch Fein Auge 
die endlihe Bedeutung der Sache durchſchauen fonnte, ein rechtichaffener 
und redlicher Mann ſich zurechtfinden? 

Daß Johnſon trog aller Schattenfeiten fich zur confervativen Partei 
ſchlug, al8 unerjchütterliher Gegner der Neuerung auftrat, entichloffen, an 
der Form gejunder Worte feflzuhalten, mußte die Schwierigfeiten, mit wel- 
‘hen er zu Fämpfen hatte, in nicht geringem Grade vermehren. Wir meinen 
die moraliſchen Schwierigkeiten, denn in öfonomifcher Beziehung 
wog fih die Sache fo ziemlich auf; der Tory« Diener des Publikums hatte 
vielleicht ungefähr diejelbe Ausftcht auf Beförderung wie der Whig > Diener 
und Johnfon trachtete nach Feiner anderen Beförderung, ald nad) Dem Recht, 
zu leben. Für das aber, was, obſchon nicht eingeftanden, doch nicht 
weniger unumgänglich nöthig war — für feine Gewiffensruhe und die flare 
Erfenntniß jeiner Pflicht ald ein Bewohner von Gotted Welt ward Die 
Sache Hierdurch nur um fo verwidelter gemacht. 

Der Neuerung Widerftand leiften, ift ziemlich Teicht unter einer ein= 
zigen Bedingung — ber Bedingung, daß man auch der Forſchung Wider: 
fand leiftet. Dies ift und war dad gewöhnliche Auskunftsmittel der ges 
wöhnlichen Conſervativen; für Iohnfon aber reichte ed nicht aus. Diejer 
war ein eifriger Breund der Forſchung, die er auch jelbft thätig übte. Gr 
fonnte und wollte ein für allemal feine Züge glauben, geichweige denn 
reden oder thun; Die Korm gejunder Worte, Die er feftbielt, mußte eine 
Bedeutung in fi Haben. | | 

Hierin Tag die Schwierigkeit. Es galt hier, eine einflußreiche gewal« 
tige Miſchung des Wahren und des Falſchen zu jehen; zu fühlen, daß er 
bier wohnen und fänıpfen müſſe und dennoch nur dad Wahre zu lichen und 
zu vertheidigen. Wie ſollſt du anbeten, wenn du fein Götendiener fein 
fannft und jein willf, und dennod nicht umhin fannft, einzufchen, daB Tas 
Symbol deiner Gottheit halb gößendieneriich geworden ift? 

Dies war die Frage, welde Iohnfon, der Mann mit Flaren Blick 
und frommem gläubigen Herzen, beantworten mußte, — auf Gefahr feines 


Lebens Hin. 
9% 


132 


Der Whig oder Steptiler dagegen Hatte eine weit einfachere Rolle zu 
fpielen. Ihm lag blos die gögendienerifche Seite der Dinge, aber keines⸗ 
wegs die göttliche fihtbar offen ; von ihm ward daher feine Verehrung, 
ja im firengen Sinne des Wortes nicht einmal Herzens⸗Ehrlichkeit, fondern 
im höchſten Falle nur Lippen- und Hand« Ehrlichkeit verlangt. Die ganze 
geiftige Kraft, welche fein if, Fann er gewifienhaft auf die Arbeit des Grü- 
belns, auf das Niederreifen Deflen, was falſch ifl, verwenten; Daß es 
übrigens eine Wahrheit vom höherer als finulicher Natur giebt ober geben 
fönne, dies if ihm noch nicht eingefallen. 

Das Höchſte, wornad daher ein Menfch zu fireben hat, iſt Achtbar⸗ 
Teit oder Reipeftabilität — der Beifall feiner Mitmenſchen. Diele Beifulls- 
ſtimme fann er fowohl wägen ald zahlen, oder auch blos zählen — je nad 
dem er ein Burke oder ein Wilfes if. Weiter darüber hinaus aber Tiegt 
nichts Göttliches für ihn; find jene Beifallsſtimmen erlangt, fo ift Alles 
erlangt. Auf diefe Weife iſt feine ganze Welt deutlih und abgerundet; er 
ſteht ein klares Ziel vor fi, einen feften, bald rauberen, bald geebneteren 
Pfad, im fchlimmften Falle einen feften Boden, auf welchem er einen Pfad 
fuhen fann. So gürte er denn feine Lenden und wandere ohne bange 
Ahnung oder Befürdtung ! 

Bür den ehrlihen Gonfervativen dagegen ift nichts deutlich, nichts ab⸗ 
geründet. Die Reſpektabilität fann in feiner Weile feine höchſte Gottheit 
fein; er bat nicht nad einem Ziele zu fireben, fontern nach zwei wiber« 
ſprechenden Zielen, die fortwährend durch ihn ausgeföhnt und in Einflang 
gebracht werden müſſen. Es ift dies, wie wir ſchon jagten, eine ſchwierige 
Pofttion, die demgemäß auch von den Meiften felbft in jener Zeit nur bald 
vertheidigt ward, infofern naͤmlich, als fie ihre eigene allzubeichwerliche 
Redlichkeit, oder auch fogar ihren Verſtand dem Feinde überlicfer 
ten, wornach bie vollftäntigfte Verteidigung wenig werth war. Und in 
dieſe ſchwierige Poſition warf fih Johnſon nichtödeftoweniger. Allerdings 
fand er ſte voll Schwierigkeiten, behauptete ſie aber muthig als ein Mann 
von ehrlichem Herzen und klarem Blick ſein ganzes Leben lang. 

Bon dieſer Art war das „zwiefache Problem“, welches Samuel John⸗ 
ion geftellt ward. Man erwäge alle diefe moralifchen Schwierigfeiten und 
bedenke außerdem noch den furchtbar erfchiwerenden Umſtand, welder darin 
lag, daß er eine fortwährende Anſprache an dad Publikum bedurfte, forte 
während einen gewiffen Eintrud auf das Publifum äußern und ihm Ucher- 


133 


zengung beibringen mußte. That er dies nicht, fo hörte er auf, „Lebens⸗ 
mittel für den laufenden Tag“ zu haben — er konnte nicht länger leben ! 

Wie ein gemeiner Charakter, einmal in dieſes wilde Element gewor⸗ 
fen, son Burdt und Hunger welter gepeitſcht, ohne ein anderes Ziel als 
Alles, was in der Form von Genuß irgend einer Art fich ihm darbietet, an 
fi zu raffen und fi dabei jo viel ald möglid von Galgen und Pranger 
fern zu halten, das beißt fowohl Die „Berfon* ale auch den „ Charakter” 
forgfältig in Acht nehmen, — wie ein folder Eharakter in diefem Element 
bin und her geſchwommen und wie ed ihm möglich geworten wäre, täglich 
Drei Mahlzeiten zu efien, fich jährlich drei Mal neu zu kleiden und kann 
nachdem er feine Ichte Ration verzehrt, fortzugehen und zu verſchwinden — 
alles dies wäre wohl des Wiſſens werth, an und fir ji aber doch nur eine 
triviale Kennmiß. 

Wie aber ein nah Wahrheit firebender edler Menfch, für welchen 
Berftellung und Lüge ein für allemal ein Abſcheu waren, in diefem Elemente 
bandein würde — darin lag das Geheimniß. Auf welche Weife, durch 
welche Begabung des Auges und der Hand findet ein heldenmüthiger Sa- 
nmel Johnſon, nun in jenes wüfte tolle Chaos des Schriftftellertbums, ein 
Gemiſch von Phlegethon und Fleetgraben, mit feinem ſchwimmenden Holze 
und Seekraken und Schlammgefpenftern gefchleudert — feinen richtigen 
Cours; wie baut er fih auß dem vergängliden Xtreibholze und dau⸗ 
ernden Eiſen ein ſeewürdiges Rettungsboot und fegelt darin, ohne zu er⸗ 
trinken, ohne ſich zu beihmugen, durch die brüllende „ Mutter todter Hunde * 
immer weiter nad) einer ewigen Landmarke und Stadt, welche auf feftem 
©runte ftebt? 

Dieje hohe Frage ift eben die, welche Boswell's Bud beantwortet, 
welches Buch wir deshalb gar nicht mit Unrecht ein Heldengedicht ge 
nannt haben, denn e8 liegt darin das ganze Argument eines jolden. Ehre 
und Ruhm unferem waderen Samuel! Er löſte tiefes wunterbare Pro« 
blem und nun zeigen wir durch lange Generationen zurüd auf ihn und 
fagen: Dies war aud ein Menſch; möge kie Welt daher audı noch ferner 
Bertrauen haben zu den Menſchen! 

Hätte Johnſon, ale er fo dur dieſes Chaos dahinſchwamm, fein 
anderes Kicht gehabt, ald ein irdiſches und Außeres, fo hätte audy er Schiff⸗ 
bruch leiden müffen. Wie leicht hätte er mit feinem fränflichen Körper und 
heftigen gierigen Herzen ein Carpe diem + Philofoph werden und chen Io 


134 


elend wie irgend eine Boyce von dieſer Brüterfchaft leben unt ſterben 
fönnen! 

Glücklicherweiſe aber brannte für ihn ein höheres Licht, welches wie 
eine Lampe jeinen Pfad erhellte, welches ihn auf allen Wegen gelehrt 
haben würde zu handeln und wandeln nicht ale ein Thor, jontern ol& ein 
Weiſer. Unter düfterern oder klarern Manifeflationen war ihm eine Wahr- 
heit enthüllt worten: Auch ich bin ein Menſch; felbft in dieſem unaus«- 
ſprechlichen Element des Schriftſtellerthums kann ich leben, wie es einem 
Menſchen geziemt! Daß das Unrecht vom Recht nicht blos verſchieden, 
ſondern daß ed, ſtreng wiſſenſchaftlich ausgedruͤckt, davon unendlich ver⸗ 
ſchieden iſt, eben ſo verſchieden wie der Gewinn der ganzen Welt im Ver⸗ 
gleich zu dem Verluſt der eigenen Scele oter — wie Johnſon ſagte — der 
Simmel von der Hölle, daß in allen Lagen, in welchen ein lebender Menſch 
fi befunden hat, oder befinden fann, wirflib ein Preis von gan uns 
endlihem Werthe für ihn erreichbar it, namlich cine Pflicht, die er zu 
erfüllen hat — dieſes höchſte Evangelium, welches Tie Baſis und den Werth 
aller andern Evangelien, mögen fie heißen wie fie wollen, ausmacht, war 
Samuel Johnfon offenbart worden und ber Menſch hatte ed geglaubt und 
e8 treulich zu Herzen genommen. 

Eine ſolche Erfenntnig des transcententalen unermeßlichen Charakters 
der Pflicht nennen wir die Bafld aller Evangelien, dad Gruntweien aller 
Religion und der, der mit feiner ganzen Seele nicht dies weiß, weiß über⸗ 
Haupt noch nichts, ja.ift eigentlich noch nichts. 

Johnſon aber war zu feinem eigenen Glück einer von Denen, Die Died 
wußten. Unter einem gewiffen autbentifhen Symbol war c8 jeinen Augen 
flet8 gegenwärtig — einem Symbol, welches allertings veraltete wie cin 
Kleid, aber dennoch unzählige Heilige und Zeugen, die Väter unierer nıo« 
dernen Welt, als ihr Banner und ihre himmliſche Feuerſäule geleitet und 
auch für ibn noch eine Heilige Beteutung hatte. Es icheint nicht, als ob 
Johnſon zu irgend einer Zeit Das gewefen wäre, wad wir irreliyiod nennen, 
aber erft in feinen Leiden und feiner VBereinfamung, als die Hoffnung hiu⸗ 
wegftarb und nur cine lange Bernfiht von Duldung und Mühe vor ihm lag 
bis an's Ente — dann erjt erglänzte die Religion in ihrer ſchüchternen 
ewigen Klarheit gerate jo wie die Sterne in fdywarzer Nacht bervortreten, 
nachdem fie am Tage und in der Dämmerung durch geringere Xichter ver⸗ 
hüllt worden. Wie ein ächter wahrer Menfch mitten unter Irrthümern und 


135 


Ungewißheit fi eine fihere Lebendwahrheit erringen, das Vergangliche mit 
dem Ewigen verbindend unter den Trümmern verfallener Tempel mit Mühe 
und Arbeit einen Fleinen Altar für fich jelbft erbauen und an diefem an« 
beten joll; wie Samuel Johnſon in dem Zeitalter eines Voltaire feine 
Seele läutern und fräftigen und „in der Kirche von St. Element Dane * 
wirfliben Umgang mit dem Höchſten pflegen kann — auch dies fteht alles 
offenbart im jeiner Lebensgeſchichte und gehört darin zu den rührendften und 
merfwürdigften Dingen — ein Ding-, welches wir nur mit Bewunderung, 
Mitleid und Ehrfurcht betrachten können. Johnſon's Religion war für ihn 
wie das Licht des Lebens; ohne daſſelbe war fein Herz durch und durch 
franf, finfler und hatte feine andere Führung. 

Nun ift er unter jene unausſprechliche ſchuhputzeriſch⸗ſeraphiſche 
Säriftftellerarmee angeworben oder geprefit; aber er fühlt dabei, daf er 
unter einer bimmlifchen Fabne kämpft, fich zeigen wird wie ein Mann. 
Das erfte große Erforderniß, ein zuverfichtliches Gerz, befigt er daher; 
worin jeine äußeren Ruͤſtſtücke und Waffen beftehen, ijt die nächte Frage — 
eine wichtige, obichon untergeordnete. Sein geiftiged Eigenthum ift, an 
und für fih betrachtet, vielleicht unbedeutend — Die Früchte einer engliichen 
Schule und englifchen Liniverfität, gute Kenntniß der lateinischen Sprade, 
feine ganz fo gute der griechiihen — dies ift ein etwas magerer Vorrath 
von Wiffen, um damit der Welt gegenüber zu treten. 

Hierbei aber darf man nicht vergeflen, daf feine Welt England war; 
daß Dies die Ausbildung war, welde England gewöhnlich gewährte und er⸗ 
wartete. Ueberdies ift Johnſon ein gieriger Lefer, obſchon ein flüchtiger 
und am öfterften in ſeltſamen fcholaftifchen allguveralteten Bibliotheken ge= 
wein; cr bat fih nun auch feit einigen dreifig Jahren in dem Gedränge 
des praktiſchen Lebens bewegt und Anſichten, richtige oder falfche, über un⸗ 
zählige Dinge wimmeln in ihm bunt durdyeinander. 

Vor allen Dingen aber und mögen jeine Waffen fein, welde fie 
wollen — er befißt einen Arm, der fie icwingen fann. Die Natur hat 
ihm ihr edelftes Geſchenk verlichen — ein offened Auge und Herz. Er bes 
trachtet die Welt überall, wo er einen Schimmer von ihr erbliden Tann, 
mit Eifer und Wißbegier. Bis zum letzten Augentlid finden wir, daß dies 
ein hervorftechender Charafterzug von ihm iſt. Yür alle menfchlichen Inter« 
effen bat er Sinn. Der gewöhnlichfte Handwerksmann konnte ihn jelbft noch 
in feinem Alter interefflren, wenn er von feinem Handwerk ſprach. Das 


136 


Thun umd Treiben der Menfchen ift ihm überall imtereffant und alle menich- 
lichen Dinge, die er noch nicht wußte, wünfchte er zu wiflen. Dabei dachte 
er mit oder ohne feinen Willen fortwährend über Alles nad und flellte Be 
trachtungen an, denn fein Sinn war ernft, tief und menichenfreundlicd. 

Auf tiefe Weile bildete fih die Welt, namlich der Theil davon, den 
er überfchauen Tonnte, zu einem zufammenhängenden Ganzen oder ftrebt: 
fortwährend fid dazu zu bilden — zu einem Ganzen, über deſſen Phaſen 
es fi) wohl verlohnte, feiner Stimme zu laufhen. Als Spreder des Wor⸗ 
tes fpricht er wirklihe Worte; Fein müßiges Kauderwelſch, Feine Hole 
Trivialität entſchlüpft ihm. Dabei iſt auch fein Ziel klar und erreichbar — 
er will für feinen Lohn arbeiten. Dies möge er nur redlih thun 
und alles Andere wird von felbft folgen. 

So gerüftet zog Iohnfon in einen foldyen Krieg. Wit Rieſenkraft 
arbeitet er; da dies einmal fein Loos tft und zeichnet fih auch ſchon durch 
bloße Duantität aud, wenn feine andere Auszeichnung zu erlangen if. Er 
Tann alles fchreiben — froftige Tateinifche Verfe, wenn diefe Die verfäufliche 
Waare find; VBorreden zu Büchern, politifche PhHilippica, Recenſionen und 
andere Iournalartifel, Parlamıentsdebatten — alles macht er ſchnell nad 
einander und, was noch wunderbarer ift, er macht alles grüntlid und gut. 
Wie fipt er da in feiner plumpen unförmlidhen Geftalt in jenem obern Zim⸗ 
mern in St. John's Gate und befördert einen Bogen der Debatten des 
Senats von Riliput nah dem andern zu den Enurrenden Preßbengeln, Die 
mit unerjättlihem Rachen unten darauf warten, mährend er jelbſt vielleicht 
noch impransus ift. 

Dabei bewundere man aud die Größe der Literatur; wir ein in ihr 
Nilwaſſer geworfenes Senfforn fih in dem frudtbaren Schlamm einnifter 
und eincd Tags als ein Baum wiedergefunten wird, in defien Zweigen alle 
Vögel des Himmels wohnen können. War ed nicht fo mit diefen Liliputi⸗ 
hen Debatten? In diefem Eleinen Project und Act begann jener gewal⸗ 
fige vierte Stand, teflen weite die Welt umfaflende Einflüffe fein Auge 
zu ermeflen vermag, in deffen Zweigen ſchon Vögel von feltiamem Geficder 
wohnen. 

Solche Dinge und noch weit feltiamere Dinge geſchahen in jenem 
wunterbaren alten Bortal ielbfl noch in fpäteren Zeiten. Und dann denke 
man fich Samuel wie er „binter dem Schirme” von einem Zeller fpeift, der 
ihm auf einen verabredeten Winf der „großen buſchigen Berüde “ verftohlen 


137 


gereicht wird, denn Samuel ficht zu zerlumpt und fchäbig aus, als daß er 
zum Vorſchein fommen fönnte, fühlt fi aber glücklich zu hören, wie man 
Iobend von ihm fpriht. Wenn dieſes St. John's Bate ſchon für Johnſon 
jelbR ein Ort war, an weldem er nie „ohne Ehrerbictung vorüber gehen“ 
fonnte, ſo muß died mit und noch weit mehr der Fall fein. *) 

Armuth, Mangel und bi8 jegt auch noch Dunfel und Unbekanntbeit 


“) Alle Derilichfeiten, an welchen Johnſon gemohnt und bie er befucht hat, find 
ehrwürdig und zwar jetzt nicht blos für Wenige , fondern auch für Viele, denn fein 
Name ih groß geworden und es giebt, wie wir oft mit einem Grade von wehmäthiger 
Bewunterung anerkennen müffen , felbft für den roheſten Menfchen Feine Groͤße, die 
fo ehrwürdig wäre wie intellectuelle oter geiftige Größe, ja eigentlich giebt es gar 
feine andere, die verehrungswürdig wäre. Welcher feſſelnde Zauber liegt 3. B. ſogar 
für den Bauer oder Handarbeiter unferes England in dem Worte „Gelehrter!“ „Gr 
iR ein Gelehrter“, dies heißt, er iſt ein Menſch, ter weifer ift als wir; deffen Weiss 
beit für uns grenzenlos und unendlich ift. | 

Troptem hält es in tiefem toll durd einander wirbeinden, Alles vergeflenden 
Zonten oft jehr fchwer, die Wohnungen der Gewaltigen zu entdeden, die nicht mehr 
int. Kann uns 3. B. Jemand fagen, welde Steine in Lincoln’s Inn 28 waren, 
die Ben Ichnfon’® Hand und Relle mauerte? Wir fürdten, daß es uns Niemand 
fagen fann und grollen darüber. Mit Samuel Johnfon wird es vielleicht anders ! 
Ein Mitglied des Britifcben Muſeums hat, wie wir hören, Zeichnungen von allen 
Häuiern gefertigt, in welchen er wohnte — möge es dafür gefegnet fein! Wir ſelbſt 
enttedten nicht ohne Mühe und Gefahr kürzlich Gough's Square zwifchen Fleet⸗ 
Areet und Holborn, fewohl an Beltcourt als auch an Johnſon's Court anitoßend, 
und am zweiten Tage unferes Suchens frgar das Haus, in welchem das englifche 
MW örterbucd geichrieben ward. WE ift das crfle oter Eckhaus rechter Hand, menn 
man durch den Thorweg von der nordweſtlichen Seite hereinfommt. Der gegenwärtige 
Befiger, ein ältlidher Manu von fauberem, anfländigem Ausfehen forderte uns auf, 
einzutreten und erbot fich fehr artig unfer Gicerone zu fein, obſchon in feiner Erinne: 
rung bie feltfamfle und thörichite Confuſion herrſchte. Es ift ein ziemlich großes alt= 
säteriiches Haus mit Seländern von Cichenholz. „Ich habe feitden manches Pfund 
und manchen Penny darauf verwendet,“ fagte der würdige Hausbefißer; „hier, ſehen 
Sie, vieles Schlafzimmer war das Etudirzimmer des Doctors ; dies da war der Gars 
ten” — ein Plägchen nicht viel größer als ein Betttuch — „wo er fpazieren ging, um 
ſich Bewegung zu mahen. In diefen trei Schlafzimmern unter dem Dache (mo feine 
drei Copiſten ſaßen und fchrieben) wohnten feine — Schüler!” Tempus edaz 
serum! Aber auch ferax, denn unfer Freund feßte hierauf mit einem Blick der rein 
bikerifch fein wollte, Hinzu: „Ich vermiethe das ganze Haus ſtubenweiſe an anftäns 
dige Herren — vierteljährlich oter monatlich; es ift mir ganz egal.” — „Mir au, * 
fuͤſterte Samucl's Geil, als wir gedanfenvoll wieber unferer Wege gingen. 


138 


find feine Srfährten. Er ift fo arm, daß fein Weib ihn verlaffen und ein 
Unterfommen bei Verwandten juchen muß, denn Johnſon's Haushalt fann 
6lo8 einen einzigen Bewohner beherbergen. Zu all jeinen fortwährend 
wechſelnden und fortwährend wicderfehrenden Leiden geiellte ſich auch noch 
fortwährende Kränflichfeit und Damit verbundene Niedergeſchlagenheit. Eine 
furchtbare Laft, melde tie meiften gewöhnlichen Sterbliben zur Verzweif⸗ 
lung getrieben bätte, ift fein ihm vom Schickſal zugetbeilter Ballaft und 
feine Lebensbürde; er „fonnte jich feines Tages entjinnen, den er ohne 
Schmerz zugebradt hätte. * 


Irogten aber ift das Reben, wie wir jchon früher ſagten, ſtets Das 
Leben. ine gejunte Seele, Terfere man fie ein wie man wolle, in eine 
ſchmutzige Manſarde, einen fadenſcheinigen Rod, in Eörperlice Krankheit 
oder was man fonft wolle, behauptet flet3 Die ihr vom Himmel verlichene 
unveräußerliche Sreiheit, ihr Hecht, Schwierigkeiten zu befiegen, zu arbeiten, 
ja fogar fih zu freuen. Johnſon bewingelt nicht fein Dajein, fondern jucht 
es muthig jo gut ald möglich zu benugen, „Er fagte, der Menſch Fönne 
recht wohl für achtzehn Pence Die Woche in einer Dachſtube leben. Nur 
Wenige würden fragen, wo er wohne und wenn fic es thäten, jo fonne 
man ja recht gut jagen: Ich bin Da und Da zu treffen. Wenn man drei 
Pence in einem Kaffeehauie verthut, jo kann man ſich jeden Tag einige 
Stunden lang in jehr guter Geſellſchaft befinden ; für fech8 Pence kann man 
zu Mittag effen, für einen Benny bekommt man Brod und Milh zum Frühe 
ſtück und das Abendbrod fann man recht wohl entbehren. An ten Tage, 
wo man ein reined Hemd anzieht, geht man aus und flatter Bejuche ab.* 
Man bedenke, von wen und über wen dies gefagt ward und frage dann, ob 
darin mehr oter weniger Pathos liegt, ald in einer ganzen Leihbibliothek 
von „ Giaurd” und „Harolds“. 


Bei einer andern Gelegenheit, ald Dr. Johnſon eined Tags feine eigene 
Satyre lad, worin das Leben eines Gelehrten mit den verichicdenen Hinters 
niſſen geſchildert il, Die fih ihm auf dem Wege zum Glück und zum Ruhm 
entgegenftellen, brach cr in einen leidenſchaftlichen Thräneuſtrom aus. Nios 
Mr. Thrale's Bamilie und Mr. Scott waren gegenwärtig, welcher legtere 
thn fcherzend auf den Rüden ſchlug und fagte: „Was foll das heißen, mein 
guter Herr? Sie und ich und Herkules waren fü, wie Ste wiffen, alle mit 
Schwermuth behaftet!“ Er war ein fchr großer ftarfer Mann und ver« 


—_ 27 — u< Zu, wn 3 [| 7 


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vellfländigte mit Johnſon und Herfuled das Triumpirat auf ziemlich komiſche 
Weiſe. 

Es waren dies aber ſüße Thränen; es lag darin die freudige Erinne⸗ 
rung an allerdingd furchtbare Mühen, vor denen er aber niemals zurückge⸗ 
bebt war und die er nun flegreich übermunden hatte. Dereinft wird e8 auch 
dich freuen, gethaner Arbeit zu gedenfen! — Obſchon Johnſon noch unbe= 
fannt und arm ift, fo ift ihm doch der höchſte Genuß bes Dafeind, der des 
freien Herzensumgangs, nicht verfagt. Savage und er wandern obdachlos 
in ten Straßen umher, ohne Bett, aber nicht ohne freundliches Geſpräch 
und in den flolzeften Geſellſchaftsſalon Londons findet dieſes Gefpräch nicht 
feines Gleichen. Auch in der flillen leeren Nacht auf dem barten Straßen« 
pflafter find ihre eigenen Leiden nicht Das einzige Thema ihrer Unterhaltung, 
denn fie verfichern einander gegenfcitig, daß fie ihrem Vaterlande beiftehen 
wollen, die beiden Hinterwäldler der Häuſerwüſte! | 

Bon allen äußeren Uebeln ift Obfeurität oder Unbefanntheit an und 
für ſich vielleicht da8 geringfte. Für Johnſon, als. einen Mann von gefuns 
dem Geifte, hatte der phantaftifche Artikel, Der unter tem Titel des Ruhm 
verfauft oder werichenft wird, wenig ober feinen Werth außer dem an und 
für fih darin Tiegenden. Er ichägte ibn als das Mittel, Beichäftigung und 
guten Lohn zus befommen, aber kaum als etwas weiter. Sein Licht und 
feine Richtſchnur entflammten einer höheren Quelle, von welcher er bei feis 
nem ehrlichen Widerwillen gegen alle Heuchelei oder Anmaßung mit Men⸗ 
ſchen nicht iprad ; ja woron er ald gefunder Geift viclleicht noch nicht 
einmal mit fich ſelbſt geiproden hatte. 

Diefe feine Nichtachtung des Ruhms und Gleichgültigkeit Dagegen bes 
trachten wir als eine auffällige Thatſache in Johnſon's Geſchichte. Die 
meiften Autoren fprechen von ihrem „Ruhm“, ald ob derſelbe etwad ganz 
Unfhägbares wäre, das große Ultimatum und die himmlische Fahne, unter 
der fie zum Kampf und Siege ziehen. — Dein ‚Ruhm!“ unglüdlicer 
Sterl licher, wo wird er und du mit ihm in etwa fünfzig Jahren jein? 
Shafipeare ſelbſt hat nur zweihuntert Jahr gedauert ; Homer (theild durch 
Zufall) treitaufent und umgiebt nicht ſchon eine Ewigfeit jedes Ich und 
jedes Dun? Höre daher auf, ficberhaft brütend auf dieſem deinem Rubnı zu 
figen und mit den Flügeln zu klatſchen und grimmig zu ziſchen, wie eine 
Brütgans auf ihrem letzten Ei, wenn ein Menicd ihm zu nahe zu kommen 
wagt! Janke dich nicht mit mir, haſſe mich nit, mein Bruder; madır aus 


140 


deinem Ei was du fannft und behalte es. Gott weiß, dab ih es Dir nicht 
fehlen will, venn ich glaube, es iſt ein Winden. 

Sohnfon für feinen Theil war niet der Mann, der tur eine Recen⸗ 
flon todtgemacht werden fonnte. Ein Mann, deſſen mwohlwollende Renſchen⸗ 
liebe bekannt tft, hat gefägt, wenn ein Autor zu Tode recenflrt werben 
Fann, fo möge es ja fo fchnell als möglih geſchehen. Johnſon ninnmt 
dankbar jedes Wort auf, welches zu feinen Gunften gefprocden wird; ärgert 
fi durdaud nicht über ein Basquill,, fondern flieht ed an, wenn er Darauf 
aufmerffam gemadt wird und zeigt, wie es hätte beſſer gemacht werben 
fonnen. Das Padquill ſelbſt iſt allerdings nichts, eine Seifenblaſe, vie 
im nächſten Augenblide fi in einen Tropfen abgeftandenen Schmugwaffers 
verwandelt, Mittlerweile aber nügt es doch fo viel, daß es die Augen ber 
Melt um fo mehr auf ihn lenkt und das nähfte Geſchäft dann um fo 
vortheilhafter ausfällt. „Wenn die Leute aufhören, von mir zu fpredien, 
jo muß ich verhungern." Ein geiundes Herz und ein verfläntiger Kopf — 
diefe werden Niemandem untreu, nicht einmal einem Schriftfteller! 

Unbefanntheit war jedoch in Johnſon's Falle, mochte fie nun ein leich⸗ 
tes oder ein ſchweres Uebel fein, doch auf jeden Ball eins, von weichem ſich 
voraußjegen ließ, Daß es fein immerwährendes fein würde. Er ift von dem 
Geiſte eines Achten Arbeiter beicelt, entſchloſſen, feine Arbeit get zu 
verrichten. Und er verrichtet auch feine Arbeit gut, nämlich feine ganze 
Arbeit, nicht blos die des Schreibens, fondern aud Die des Lebens. Gin 
Mann von dicjem Gepräge ift unglüdlicherweije in dem literariſchen ſowohl, 
als in irgend einem andern Berciche der Welt nicht fo gewöhnlich, daß er 
immer unbemerft bleiben könnte. Allmälig taucht Johnſon auf. Anfangs 
dammert er in unförmlichen düfteren Umrifien vor den Augen einiger weni⸗ 
gen Benbadyter empor, zulegt aber zeigt er fich in feinen wahren Berbält« 
niffen dem Auge der ganzen Welt, umgeben von einem Lichtſchein des 
Ruhms, fo daß Jeder, der nicht blind ift, ihn fehen muß und wird. 

Almälig, fagten wir, denn auch daß zeigt fi deutlich, langſam aber 
ficher. So wie fein Ruhm nidyt durch übertriebenes Geſchrei von dem 
wähft, was er zu fein ſcheint, fondern durch eine immer befiere und 
beficre Einficht Deflen, was er ift, fo dauert er auch und widerſteht der 
Abnugung, weil et ächt ifl. 

So iſt es mit dem mahren Ruhme allerdings immer oder beinahe 
immer. Das Himmlifhe Licht fleigt von Dünflen umgeben auf. Biele 


141 


erfpäben es und betrachten es Durch ihre kritiſchen Xeleifoye, Es lodert 
nicht auf, möge nun die Welt es betrachten oder nicht und erſt nach einer 
Beit, vielleicht nach langen Zeiten wird jeine himmliſche ewige Natur un« 
peeifelbaft. Luſtig dagegen iſt dad Lodern einer Theertonne. Der große 
Haufen tanzt mit lautem Hurrah um fir herum und fegnet wie Homer’d 
Bauern das nügliche Licht; unglüdlicherweile aber endet er gar jo bald in 
Nacht, ſtinkendem, erftidendem Qualm und wird als ein namenloſes Ge⸗ 
milch von verfoblten Faßdauben, Pechſchlacken und vomissement du diable 
in die Goſſe geworfen. | 

Johnſon aber genoß Alles, oter doch beinahe Alles, was der Ruhm 
einem Menſchen gewähren kann — bie Achtung und den Gehorſam Derer, 
bie um ihn find und unter ihm fliehen, fo wie auch Derer, deren Meinung 
allein einen mädtigen Eindrud auf ihn äußern kann. in Fleiner Cirkel 
fammelt ſich um bem Welfen, der fich aflmälig erweitert, fo wie fein Auf 
Ad verbreitet und immer Mehrere kommen, um zu ſehen und zu glauben, 
denn die Weisheit ift koſtbar und von unwiderſtehlicher Anziehungsfraft 
für Alle. 

„Ein begeifterter Schwachkopf“, Goldſmith, treibt ſich auf feltfame 
Beile in feiner Nähe herum, obſchon er, wie Hawkins ſagt, „Johnſon nicht 
liebte, fondern ihn eher um feiner Talentewillen beneidete und einmal einen 
Freund bat, ihn nicht länger zu loben, ‚denn,‘ fagte er, ‚Ihr verivundet 
mich in der tiefften Secle, wenn Ihr died thut!““ Lind dennoch liegt in 
bem „Stagpelbeernarren“ nichts Böſes, fondern eher viel Gutes; von einer 
ſchöneren, wenn aud von einer ſchwächeren Art ald Johnſon's und um fo 
ächter, als er felbft fich befien niemals bewußt werben konnte, — obſchon 
er unglücklicherweiſe nie aufhörte, e8 zu verfuchen. Der Autor bes ächten 
„Vicar von Wakefield“ muß nolens volens einer folden Maſſe ächter Man- 
neöfraft entgegenfliegen und ahwechſelnd angezogen und abgeftoßen dreht ſich 
Dr. Minor fortwährend um Dr. Major. 

Dann ſehen wir bier den ritterlihen Topham Beauclerf mit feinem 
treffenden Witz und jeinem eleganten höfiichen Benehmen. Kerner Bennet 
Langton, einen orthodoren würdigen Gentleman, obihon Johnſon einmal 
über jeinen legten Willen und Teſtament faft lauter lachte, als ein Sterb- 
liher vermag und „feine Heiterfeit nicht zügeln konnte, fondern ihr Naum 
gab, bi8 er aud Temple Gate hinaus war, wo er dann in ein jo lau⸗ 
te8 Gelächter ausbrach, daß er faft von Krämpfen befallen zu fein fchien. 


142 


Er ergriff, um ſich aufrecht zu erhalten, einen der Pfähle neben Tem Trot⸗ 
toir und lachte 10 laut und fürchterlich, daß in dem Schweigen der Nacht 
feine Stimme von Temple Bar bis Fleet Ditch zn ballen ſchien.“ 

Zulegt kommt auch noch fein folid denkender und folid ſpeiſender 
Thrale, der vielgelichte Mann, mit feiner „ Thralia“, einem ſchönen ichmete 
terlingdartigen Geſchöpf, mit weichem der Elephant gern fpielte und es auf 
feinen Müffel hin und ber jchwenfte. 

Bon dem ehrerbierigen Boswell ſprechen wir weiter nit, denn wozu 
wäre dies nöthig? — Eben jo wenig von den geifligen Lichtern, die Durd 
ihre Zunge oder Feder dieſes Zeitalter zu einem merkwürdigen machten ober 
von Hochland Kairds, die in feurigem lidquebaugb „Ihre Geſundheit, Toetor 
Schonſon!“ tranfen. — Noch weit weniger von vielen Solchen, wie 3. 2. 
dem armen Mr. %. Lewis, von deſſen Geburt, Tod und ganzen irbiichen 
rebus gestis weiter nichts als die einzige Zeile auf und gefonmen if: 
„Sir, er lebte in Kondon und trieb fich in der Gefellichaft herum!“ Stat 
Parvi nominis umhra. — 

In feinem bdreiundfünfzigften Jahr wird Johnſon Turd königliche 
Gnade mit einer Penflon von breihundert Pfund bedacht. Lautes Geichrei 
ift allemal mehr oder weniger wahnftnnig, wahriceinlih aber war DaB 
wahnfmnigfte von jedem lauten Geichrei im achtzehnten Jahrhundert jenes, 
welches wegen Johnſon's Penſion erhoben ward. Die Menichen Icheinen an 
den Nafen herumgeführt zu werden, in der That aber geſchieht es an ten 
Ohren, wie man im Altertum mit den Sflaven that, denen zu dieſem 
Zwecke die Ohren durchbohrt wurden, oder wie es mit gewillen modernen 
Vierfüßlern geihehen könnte, deren Ohren lang find. 

Sehr mit Unrecht bat man geſagt: Namen ändern die Dinge nict. 
Die Namen ändern die Dinge allerdings, ja größtentheild find ſie dic ein- 
zige Subftanz, welde die Menſchheit an Dingen unterjcheitet. Die ganze 
Summe, weldye Johnſon während der nocd übrigen zweiuntzwanzig Jabre 
jeined Lebens aus dem öffentlihen Fond Englands bezog, würde einen 
unſerer Hohenpriefter ungefähr halb jo viel Wochen ernährt haben unt ke 
trägt ziemlich jo viel, wie dad Einfommen unſeres ärmften Kirchenaufichers 
in einem einzigen Sabre. Von Adminiftratoren von Provinzen, Pferde— 
bändigern und Wildvernichtern wollen wir gar nicht einmal ſprechen; aber 
wer waren die Primaten von England und die Primaten von ganz England 
während Johnſon's Zeit? Niemand hat e8 ſich gemerkt. Berner fragen 


' 143 


wir: Iſt der Primas von ganz England etwas oder tft er nichts? Wenn er 
etwas ift, was joll er dann anders jein, ald der Mann, welcher an höchfter 
Stelle Ichrt und geiftig erbaut und die lebenden Seelen, welde England 
bewohnen, durch weile Führung auf Erden zum Himmel leiter? 

Wir berühren hier tiefe Gegegenſtände, die und nur entfernt angehen 
und noch tiefer führen können; jo viel aber ift mittlerweile Klar, Taß der 

„wahre geiftige Erbauer und Serclenvater von ganz England damald und 
noch bis auf Die neucjte Zeit der Mann war, welcher Samuel Johnſon hieß 
und dem dieſe erbärmlihe Welt e8 zum Vorwurf madıte, daß er ungefähr 
die Einnahme eines Nccifeinipectord hatte! 

Wenn das Scidjal den armen Samuel rauh behandelt hatte und auch 
niemals aufhörte, ihn auf rauhe Weile heimzuſuchen, fo fonnte man tod 
ten letzten Abjchnitt ſeines Lebens für fiegreidh und im Ganzen glücklich er« 
flären. Er war allerdings nidyt mäßig, ward aber Loc fett nicht mehr 
durb Mangel angejtadhelt; das Licht, weldes vie dunfeln Höhlen Ter 
Armuth erhellt hatte, beleuchtet jegt die Cirkel des Reichthums, einer ge— 
wiſſen Kultur und eleganten Intelligenz; er, der einſt vorgelaſſen worden, 
um mit Edmund Cave und Taback-Bromwne zu ſprechen, läßt jetzt einen 
Reinolds und einen Burfe vor, die mit ihm zu ſprechen wünſchen. Liebende 
Sreunde find Da; man hört ihm zu, ja man antwortet ihm. Die Brüchte 
jeiner langen Arbeiten liegen in ſchönen leſerlichen Schriften über Philo— 
fophie, Beretjamfeit, Moral und Philologie um ihn herum. Einige dieſer 
Werke find im höchften Grabe vortrefflich, alle aber acht und jeiner würdig, 
und ein inniges Murmeln des Dankes dringt von allen Enten feines Vater⸗ 
lantı8 zu ihm. Ja e8 giebt Werfe der Güte, unfterblicher Barmherzigkeit, 
welche jelbft cr die Macht gehabt hat zu thun: „Was ich gab, habe ich; 
was ic) ſpendete, hatte ih!“ Jugentfreunde waren ſchon lange in das Grab 
geiunfen und dennoch lebten fte in feiner Seele immer noch friih und Elar 
und er hegte die frohe Hoffnung, jle Dereinft in reinerer Vereinigung 
wieterzujchen. 

So war Johnſon's Leben — der flrgreihe Kampf eines freien ächten 
Mannes. „Zulegt ftarb er den Tod der Breien und Wahren. ine tunfle 
Zotedwolfe, umjäumt von dem Goldglanze unfterblicher Hoffnung, nahm 
ihn hinweg und unfere Augen Fonnten ihn nicht länger jehen, wohl aber 
jeben fie nod) die Spur feines muthigen redlichen Geiſtes tief lesbar in Dem 
Thun und Treiben der Welt überall wo er war unt wantelte. 


144 


Die Dyantität der Arbeit, welche Johnſon verrichtet, zu tariren end 
zu jagen, wie viel ärımer die Welt wäre, wenn er ihr gefehlt batte, kaun 
wie in allen tergleihen Källen nie genau, ja es kann erſt nad längerer Zeit 
auch nur annähernd geiheben. Jede Arbeit iR wie eine geftreute Saat; 
fie wächſt und breitet ib aud unt jaet fich wieter von Neuem und lebt und 
wirkt io in endloſer Palinageneſie. Wir haben ſchon gelagt, daß wie gut 
und tüdhtig und immer noch nugbar Johnſon's Schriften aud find, wir 
doc fein Leben und seine Gonverfation noch böher flellen. Wer will be⸗ 
rechnen, welche Wirkungen durch das eine wie das andere hervorgebracht 
worden und noch bis in ferne Zeiten werden hervorgebracht werden? 

So viel jedoch fönnen wir ſchon ſehen: Es find jeht drei Viertel jahr⸗ 
hunderte, ſeitdem Johnſon der Prophet der Engländer iſt; der Mann, nach 
deſſen Licht das engliſche Volk im öffentlichen und im Privatleben mehr ale 
nach dem eines andern Mannes ſein Daſein geleitet hat. Ein höheres Licht 
als jenes unmittelbar praktiſche, eine höhere Tugend als ehrliche Klug- 
heit, konnte er damals nicht mitiheilen, auch hätte vielleicht nichts Ande⸗ 
res Aufnahme gefunden. Dieſes Licht aber und dieſe Tugend theilte er 
wirklich mit. 

Den Weg durch dieſe labyrinthiſche Zeit, die geſtürzte und ſtürzende 
Ruine der Zeiten, zu finden; eitle Sfrupel zum Schweigen zu bringen; bis 
zum lehten Augenblicke feftzubalten an ten Fragmenten des alten Glaubens 
und mit eifrig forichendem Auge einige Schimmer des wahren Pfades zu 
entdecken und auf demielben weiterzuichreiten, „in einer Welt, wo ed viel 
zu tbun und wenig zu wiflen giebt," — dies ift e8, was Samuel Johnſon 
durch Wort und That feine Nation gelehrt bat, was feine Nation von ihm 
mehr als von einem Andern lernte und empfing. 

Mir fönnen ihn ald den Erbalter und Uebermittler alles Deſſen be⸗ 
trachten, was der Geift des Toryismus Aechtes hatte, welcher ächte Geift — 
ed wird jegt offenfundig — ſich wieder in allen neuen Karben der Geſell⸗ 
fhaft verförpern muß, mögen fie fein, was fie wollen, wenn ſie nämlid 
anderd als auf dem Papier befteben und Dauer haben follen. 

Der Legte in vielen Dingen war Johnſon aud) der legte ächte Tory; 
ter letzte Engländer, ter mit flarfer Stimme und vollfländig gläubigem 
Herzen die Theorie des Stillſtands predigte: der ohne Ggoißmuß oder ſkla⸗ 
viſche Geſinnung die beftchenden Gewalten ehrte und, obidıon ſelbſt arm, 
vernacläfftgt und plebefiſch, Die Privilegien des Ranges verfocht; der ein 


145 


frommes Herz beſaß und jeden ſalſchen Schein herzlich haßte; ber orthoden- 
seligtö® war und dennoch bie Augen offen hielt, und der in allen Dingen 
und überall mit der Sprache offen herausging, and einem Herzen, in wel- 
gem der Jeſuitiomus Beine Herberge fand und mit der Stirn und in dem 
Tone nicht eines Diplomaten, ſondern eines Mannes. 


Dieter legte der Torted war Johnfon, nicht Burke, wie oft behauptet 
wird, Burke war feinem innerfien Weſen nad) Whig und erft als er den 
Hand des Abgrunds erreichte, nach weldem der Whiggismus von Anfang 
an unvermeidlich führte, prallte er zuräd nnd zwar mehr wie ein heftiger, 
als wie ein reblich eifriger Mann; mehr wie ein glämzender weitblickender 
Rhetoriker, als wie ein tiefer fiherer Denker prallte er ohne Maß und 
frampfhaft zurüd und beihädigte, was er mit ſich zurüdriß. 


In einer Welt, welche durch dad Gleichgewicht der Gegenfäge beſteht, 
muß das beziehungsweiſe Verdienft des Erhalters und des Neuerers ſtets 
fircitig bleiben. Groß tft mittlerweile und unzweifelhaft für beide Seiten 
das Verdienſt Deffen, welcher in einer Zeit der Veränderung weiſe und 
ehrlich einherfchreitet. Johnſon's Ziel war an und für fl ein unmögliches. 
Wie fonnte fein Streben, ſich der ewigen Fluth der Zeit entgegenzuftemmen, 
alle Dinge feftzuhalten,, fle an Ankerfetten zu legen und zu fagen: Rühre 
dich nicht! — wie konnte, fragen wir, ein ſolches Streben jemals ein er- 
folgreiches fein? Der ftärkfte Mann kann den Strom nur theilweife und 
auf eine kurze Stunde zurückhalten. 


Aber kann nicht auch in ciner fo kurzen Verzögerung ein unermeßlicher 
Werth liegen? Wenn England dem Blutbade einer franzöfijchen Revolution 
entgangen iſt und kraft diefer Verzögerung und der Erfahrung, welche Dies 
felbe an die Hand gegeben hat, feine Befreiung ruhig zu einer neuen era 
ausbilden kann, fo gebührt Samuel Johnfon mehr als allen feinen Zeitge⸗ 
nofien und Nachfolgern das Lob dafür. 


Wir fagten oben, daß er eine Zeitlang beflimmt war, der Herrſcher 
der britifchen Nation zu fein, und wer durch die Oberfläche hindurch in das 
Herz der Weltbewegungen ſchaut, wird finden, daß alle Pitt-Rabinette und 
Sontinentaljubfidien und Waterloo - Siege auf der Möglichfeit beruhten, 
England noch eine kleine Weile toryiftifch, Ioyal gegen das Alte zu machen 
und dies wiederum auf die vorbergegangene Wirklichkeit bin, dag der Weiſe 
eine folche Loyalitaͤt noch ausführbar und empfchlendwerth gefunden Hatte, 

Carlyle. I. 10 


146 


England Hatte feinen Hume, wie Frankreich feine Boltaires und Diderots 
hatte; Iohnfon aber war und eigenthümlich. 

Wenn wir nun fragen, durch welche Begabung Johnſon ein ſolches 
Leben für fi und Andere hauptſächlich realifirte, aus welder Charakter 
eigenfchaft die Hauptphänomene feines Lebens fih am natürlichſten ableiten 
und welder feine übrigen Gigenfdhaften, wenn wir und ein Bild von ihm 
machen, am natürlichften unterordnen laſſen, fo ift bie richtige Antwort viel- 
leicht: dieſe Eigenfhaft war fein Muth, feine Tapferfeit, oder mit andern 
Worten: Johnſon war ein muthiger, tapferer Mann. 

Der Muth, weldyer den Menſchen treibt, heimlich auf die Seite zu 
geben und ſich zu erfchießen, iſt Eeineswegs ganz Das, was wir hier meinen. 
Einen folhen Ruth Halten wir fogar für etwas ſehr Geringfügiges, was 
recht wohl neben einem Leben der Falſchheit, der Schwäche, der Beigheit 
und DVerächtlichkeit beftehen fann. Ja, öfter iſt e8 mehr Beigheit ald Muth, 
was zu dieſem Nefultate führt, denn man überlege wohl: Iſt der Selbfl- 
mörder von einem vernünftigen Glauben und Beichluß befeelt oder feßt ihn 
eine unflare Furcht, — wie man ihn an Öffentlihen Plägen über die Achſel 
anfehen und wie „gerupfte Gänſe ber Nachbarſchaft“ fchnattern werben, 
wenn fie in ihm ebenfalls eine gerupfte Gans erbliden? Wenn er daher 
gebt und ohne weitere® Geſchrei oder börbaren Aufruhr fidh erichießt, fo ifl 
e8 gut für ihn, aber troßdem iſt weiter nicht8 Erftaunliche8 Dabei, denn ber 
Muth zu allem diejen ift vielleicht Niemandem, ja vielleicht nicht einmal 
dem Weibe verſagt. Durchziehen nicht Werbeoffiziere trommelnd die Stras 
ben von Babrifflädten und treiben genug zerlumpte Bagabunden zufammen, 
von benen jeder, wenn er einmal den rothen Rod an hat und ein wenig 
breffirt if, mit Vergnügen für Die Fleine Summe von einem Schilling täg- 
lich auf fi feuern läßt? Der Muth, welcher blos zu erben wagt, ifl, 
bei Lichte betrachtet, nicht gerade etwas Erhabenes, allerdings nothwendig, 
aber dabei allgemein und erbärmlich, wenn er mit fich felbft Parade zu 
machen beginnt, Auf unierm Erdball wird er in jeder Secunde Zeit von 
einigen dreißig Perfonen an den Tag gelegt. Ja, man werfe einen Blid 
auf Newgate. Wandeln nicht die Ausgeftoßenen der Schöpfung, wenn fie, 
als ob fie nicht Menfchen, fondern Ungeziefer wären, zum Galgen verurtheilt 
werden, mit Unftand den legten Bang und jagen dem Hohngeſchrei des gan« 
zen Weltalld fchweigend gute Naht? Was nur einmal audgeftanden werden 
muß, das flehen wir ſchon aus; was jein muß, kommt faft von felöfl. 


147 


Welche ärmlihe Figur ſpielt der grimmigfte iriſche Klopffechter ala Duellant 
im Bergleih mit irgend einem englifhen Kampfhahne, wie man ihn für 
fünfzehn Bence kaufen kann! 

Der Ruth, den wir wünfchen und fchägen, ift nicht der Muth, anftän- 
dig zu flerben, fondern männlich zu Ichen. Diefer Tiegt, wenn er durch 
Gottes Gnade einmal verliehen worden, tief in der Seele; mit wohlthuen« 
der milder Wärme nährt er alle anderen Tugenden und Gaben, die ohne 
ton nicht leben könnten. Xrog unferer unzähligen Waterloos und Peter⸗ 
1008 und aller unſerer Feldzüge ift der Muth, den wir Hier meinen und den 
wir den einzigen wahren nennen, in biefer legten Zeit vielleicht feltener ge= 
wefen, als er zu irgend einer anderen feit der fächflichen Invaflon unter 
Hengift geweien if. Ganz ausfterben fann er unter den Menfchen niemals, 
ſonſt taugte das Geſchöpf Menſch nicht mehr für diefe Welt, denn bier und 
dort, zu allen Zeiten und unter veridhiedenen Geftalten werden die Menſchen 
bierhergejendet, nicht blo8 um damit zu paradiren, fondern um ihn auch 
wirklich zu zeigen und wie vom Herzen zum Herzen zu beweifen, daß er noch 
möglid, daß er noch ausführbar ift. 

Johnſon in jeinem achtzehnten Jahrhundert und als Schriftfleller war 
einer von Denen, welche ſolche Beweiſe Tiefern und in der That und Wahr- 
beit der „Bravfte der Braven.” Welcher Sterbliche konnte einen anftren» 
genderen Krieg zu führen baben? Und dennod wid und wanfte er nicht; 


er focht und — fo body begnadigt ward er — errang den Sieg. Seber, 


der da begreift, was es heißt, ein männliches Herz haben, wird finden, daß 
feit John Milton's Zeit in feiner englifhen Bruft ein wadereres Herz ges 
ſchlagen hatte, als Samuel Johnfon trug. - Hierbei bemerfe man, daß er 
ſelbſt fich niemald tapfer nannte, fi niemals fo fühlte, aber e8 um deſto 
vollländiger war. Keine Verzweiflung, fein Todtentanz oder Herenfabbath 
des „literarifchen Lebens in Kondon * fchredt diefen Pilgrim zurüd; er are 
beitet entichloffen an den Werfe der Befreiung und fchreitet ſtill und trogig 
weiter. Er Tann ſich zwingen, bie ihm einmal geftellte Aufgabe zu Iöfen 
und was geduldet werden muß, das duldet er fhweigend. 

Wie erhaben erjcheint die große Seele bes alten Samuel, indem fle 
täglich da8 ihr angemiefene bittere Theil von Elend und Arbeit hinnimmt 
neben der ärmlidhen flatterhaften, Fleinen Seele des jungen Boswell, der 
einen Tag fih im Kreife der Eitelfeit bewegt, beim Weindecher fitzt und 
ruft: „Aha, der Wein ift roth!“ den nächſten Tag dagegen feinen nieber- 

i0* 


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geſchlagenen, überfigatteten, ärmlicden Zuſtand beflagt und es rückſichtslos 
Andet, daß die ganze Bewegung beö liniverfumd ungehindert fortgeht, wäh 
rend fein Verbauungdapparat fliehen geblieben if! 

Johnſon's Talent des Schweigens” rechnen wir zu feinen großen 
und nur zu feltenen Begabungen. Wo ſich nichts weiter thun laßt, da fol 
auch nichts weiter gefagt werben; gleich feiner armen blinden Walliſerin 
sollbrachte er etwad und ertrug dabei „ein fünfzigjähriges Elend mit uner⸗ 
fgätterlicher Standhaftigkeit.“ Wie graufam war das Leben gegen ihn — 
ein Gefaͤngniß und ein Krankenhaus! Seine größte Aufgabe war, wie er 
oft erflärte, „fie felbft zu entrinnen * und dennoch hat er allemı dieſen gegen 
über feine Stellung und feinen Entihluß gefaßt; er kann alles mit Falter 
Bleichgültigkeit von fich weilen, denn er hat wenig zu hoffen oder zu fürde 
ten. Seine Freunde find befchräntt, Fleinmürbhig und karg; feines Blei⸗ 
bens nrüde, nehmen fie ed doch übel, wenn er ſich entfernt. Die Welt madıt 
es einmal jo. „Durch Zäufchung des PBublitums*, bemerkt er mit gigan- 
tifcher Ruhe, „werden unwiflende Schrififticler berühmt.“ Es iſt dies ein 
Theil der Gefchichte der engliichen Literatur, etwas Immerwährendes, dieſe 
Täufchung des Publitums und fie — verändert den Gharafter der Sprade. 

In engem Zufammenbange mit vieler Eigenſchaft des Muthes und der 
Tapferkeit, theild als daraus hervorgehend, theild als dadurch befchügt, ſte⸗ 
ben die leichter erfenubaren Eigenichaften der Wahrhaftigkeit in Worten 
und Gedanken und der Ehrlichkeit im Handeln. Hier findet eine Wechſel⸗ 
ſeitigkeit des Cinfluſſes flatt, denn fo wie die Berwirklihung der Wahrhafe 
tigteit und Ehrlichkeit das Lebenslicht und Hauptziel des Muthes ift, fo 
fönnen biefe wiederum ohne Muth in feiner Weiſe realifiet werben. 

Nun aber wird trog aller praktifchen Unzulänglichkeit Niemand, ber 
Die Bedeutung Johnſon's durchſchaut, fagen, daß fein Hauptziel nicht die 
Wahrheit geweien ſei. In der Gonverfation bemerkt man allerdings dann 
und wann, daß er wie um des bloßen Sieges willen zu kämpfen ſcheint und 
man muß ihm diefe Aufwallungen einer forglofen Stunde verzeihen, beſon⸗ 
ders da er oft auf mannigfache Weife dazu verſucht und gereizt ward. ‚Gier 
bei bemerke man auch noch Zweierlei — erftens, daß diefe Disputiräbungen 
blos oberflaͤchliche Fragen betrafen und dann, daß fie gewöhnlich nad den 
unvarteiiſchen Belegen eines Togifchen Kampfes durchgeführt wurden. Wenn 
ihr Zweck zu entſchuldigen war, fo war auch ihre Wirfung harmlos, ja viel 
leicht wohlthaͤtig. Die Iärmende Mittelmaͤßigkeit warb dadurch in ihre 


149 


Gärauten gewiefen und ihr die andere Seite eines ſtreitigen Gegenſtandes 
gezeigt, deffen wahre Erſcheinung ja ohnehin nur dann erfannt werden 
Ioante, wenn man beide Seiten fah. 

In feinen Schriften felbft finden fih genug Irrthümer und ſonder⸗ 
bare Borurtheile, die aber auch von ganz äußerer und zufälliger Art find, 
nirgends aber ein vorfägliche® Verfchließen ber Augen vor der Wahrheit. 

Ganz matellod dagegen iſt Johnſon's Liebe zur Bahrheit, wenn wir 
betrachten, wie fle fi in der Braris kundgiebt, als Das, was wir Ehrlich⸗ 
keit des Handelns genannt haben. „einige Dein Gemüth von Geuchelei“, 
reinige «eb, verbanne Die Heuchelei gaͤnzlich — died war fein oft wieber- 
boltes, nachdrückliches Gebot und kam er ihm nicht auch jelbft aufd Treu⸗ 
lichſte nach? Das Leben diefes Mannes iſt gleihfam um und um gewendet 
and von Freund und Feind mit Mikroflopen unterfucdht werden, aber man 
bat Erine Lüge in ihm gefunden. Sein Thun und feine Schriften find nicht 
Shaufellungen, fondern wirffihe Leiftungen, man kann fie in 
Ver Wage wägen und fie halten dad Gewicht. Keine Beile, fein Say If 
mehrlich gemeint oder etwas Anderes als es fein ſoll. Ach, und er ſchrieb 
nicht aus innerer Begeiſterung ſondern um feinen Lohn zu verdienen, wähe 
rend jener immerwaͤhrende Strom der, Taͤuſchung des Publikums“ vorbei⸗ 
floß, in deſſen Fluthen er dennoch nicht fiſchen wollte, während dad Hinab⸗ 
tauchen zu den ergiebigen Aufternbänten ihm zu ſchlammig war. Dagegen 
bemerfe man wieder, mit welchem angeborenen Haß gegen De Heuchelei ex 
son feiner Arbeit, der er mit fo edler Gefinnung oblag, die anfpruchslofefle 
Meinung hat und auch gegen Andere ausſpricht. Er hatte, wie er oft fefbf 
fagte, feinen andern Beweggrund zum Gelderwerb, keinen andern Grund 
zum Schreiben als Gelderwerb und dennoch ſchrieb er fo. 

In die Region ‚der Dichtkunſt erhob er fich aflerdingd niemals. Es 
gab fein Ideal außer ihm, welches fich in feinem Werke ausgeſprochen hätte; 
um fo edler war jened unausgefprochene Ioeal, welches in ihm lag und ibm 
befahl: Verrichte deine Arbeit im Geifte eined Arbeiterö! Die, melde am 
Iauteften über die Würde der Kunft fprechen, und glauben, daß auch fle 
künſtleriſche Zunftgenoffen find und zu den himmliſchen gehören, — biefe 
mögen wohl betrachten, was für ein Mann dieſer war, ber ſich bios als 
einen gemietheten Tagarbeiter betrachtete. Gin Arbeiter, der feines Lohnes 
wertb war, der nicht als Augendiener gearbeitet hat, fondern als einer, ber 
tren erfunden wurde. 


150 


Dabei and Johnſon aber in jener Zeit nicht vielleicht ‘ganz einzig da. 
Es war damals eine Zeit, wo man für Geld Waare befommen fonnte und 
wo man fich nicht mit der bloßen Ueberredung zu begnügen brauchte, daß 
man Waare hätte. Es war eine glüdlichere Beit. 

Daß Milde auch in einem tapferen muthigen Herzen wohnen Eönne, iſt 
eine alte Wahrnehmung oder Behauptung, die dur Johnſon aufs Neue 
beflätigt wird. Wenige Menſchen, von welden bie Geſchichte erzählt, has 
ben ein mildered und liebreicheres Gemüth beſeſſen, als der alte Samuel. 
Man nannte ihn den Bären und oft fah und brüllte er auch wie ein foldher, 
nämlid wenn er gezwungen ward, fich zu veriheidigen. Und dennoch ſchlug 
hinter diefer zottigen Außenjeite ein Herz fo warm, wie dad einer Mutter, 
fo weich, wie das eines Kindes. Ja, größtentheild war eben jein Gebrüll 
nur der Zorn der Liebe; die Wuth eine® Bären, wenn man will, aber einer 
Bärin, der man ihre Jungen geraubt bat. Wer feine Religion, die Kirche 
von England oder das göttliche Recht antaftete, der hatte itn auf fih! Dieſe 
Dinge waren feine Symbole alled- Defien, was es für die Menfchen Butes 
und Koſtbares giebt; jo zu fagen, feine Bundeslade, und wer an diefe Hand 
anlegte, verwundete ihn in feinem innerflen Herzen. Nicht aus Haß gegen 
den Opponenten, fondern aus Liebe zu der angefochtenen Sache ward John⸗ 
fon graufam und in feinem Widerfpruch grimmig. Dies ift eine wichtige 
Unterſcheidung, die man beim Tadel feiner Uebergriffe in der Converfation 
nie vergeflen darf. 

Dabei aber bemerfe man auch, mit welcher Menichenfreundlichkeit, mit 
welcher offenen treuherzigen Liebe er fih an alle Dinge anfchließen Tann, an 
eine blinde alte Frau, an einen Dr. Levett, an eine Katze. „In der legten 
Zeit feines Lebens beſchäftigten feine Gedanken fi häufig niit feinen ver- 
florbenen Freunden; er murmelte oft Redensarten wie: „Der arme Bann, 
ber ift nun audy fchon lange todt!* Wie geduldig verwandelt er feine ärmı- 
liche Wohnung in ein Lazareth, dultet jahrelang den Wideriprud; der Uns 
glüdlihen und Unnernünftigen, die in feinem andern Verhältniß zu ihm 
fanden, ald daß file Niemanden weiter Hatten, der ihnen ein Obdach 
gewährte ! 

Edelmüthiger Greis! Irdiſche Güter beſttzt er wenig und dennoch 
giebt er davon reichlich. Von ſeinem eigenen ſauer verdienten Schilling 
werden die halben Pence für die Armen, die auf fein Herauskommen warte 
ten, nicht verweigert; die Armen warteten auf das Herausfommen Eines, 


151 


der nicht ganz fo arm war! Gin Sterne fchreibt Sentimentalitäten über 
todte Efel — Johnſon hat eine rauhe Stimme, aber er findet die unglüd- 
lihe Tochter des Laſters auf der Straße umgefunten, trägt fie auf feinen 
eigenen Schultern nah Haufe und fpendet wie ein guter Samariter Hülfe 
den Hülfsbedürftigen, den Würdigen wie den Unwürdigen. Muß nicht die 
Mohlthätigkeit felbft in diefem Sinne eine Menge Sünden bededen? Dieler 
rauhe Mann mit den harten Zügen war feine Comité⸗Dame eines Penny« 
Bereind, er war nidht Dirigent einer Armenfpeifeanftalt, er tanzte nicht auf 
Wohlthatigkeitsbaäͤllen und dennoch, wo hätte man in ganz England eine 
zweite fo mitleidsvolle Seele, eine zweite fo himmliſch gütige Hand wie die 
feine finten Eönnen? Das Scherflein der Wittwe war, wie wir wiflen, 
mehr werth, wie alle anderen Geſchenke. 

Vielleicht iſt es eben dieſes ſich überall und ſtets kundgebende göttliche 
Gefühl der Liebe, was uns hauptſächlich zu Johnſon hinzieht. Er iſt ein 
wahrer Bruder der Menſchen und ein liebendes Kind der Erde, welches 
durch Eleine belle Tiebgewonnene Stellen, auf weldyen irgend ein gelichtes 
Weſen lebt und wirkt, diefe rauhe einfame Erde zu einem bevölferten Gar⸗ 
ten verfchönert hat. LXichfield mit feinen größtentheild ftumpffinnigen und 
befhränften Einwohnern ift bis zum legten Augenblide für ihn eine biefer 
Heinen fonnigen Infeln: Salve magna parens! Oder man leſe jene Briefe 
über den Tod feiner Mutter. Welch ein ächter erhabener Gram und Schmerz 
IR darin ausgeiprodhen — ein Rückblick in die Vergangenheit, unaudfprech- 
lich wehmüthig, unausſprechlich zart. Und dabei dennoch ruhig und erhaben, 
denn nun muß er handeln und darf nicht müßig zufchauen. Seine innig 
verehrte Mutter ift ihm entriffen und nun muß er einen „Nafjelad* fchrei« 
ben, um die Koften ihres Begräbniffes zu bezahlen! Und liegen in jenem 
Kleinen Vorfall, den er in feinem Andachtsbuche erzählt, nicht die Töne 
beiliger Wehmuth unt Größe, tiefer als in mancher Tragödie, wie denn 
überhaupt der fünfte Act einer Tragödie in jedem Sterbebett liegt, wäre es 
au nur dad eines Bauern und von Stroh: 

„ Sonntag, 18. October 1767. Geflern gegen zehn Uhr Vormittags 
nahm ich auf immer Abſchied von meiner lieben alten Breundin Katharine 
Chambers, die etwa im Jahre 1724 zu meiner Mutter zog und und ſeitdem 
faſt nicht wieder verlaffen hat. Sie begrub meinen Vater, meinen Bruder 
und meine Mutter. Sie ift jetzt achtundfünfzig Jahre alt. | 

„Ich forderte die fämmtlichen Anwefenden auf, fich zu entfernen, fagte 





159 


ihr dann, daß wir auf immer fcheiden müßten, daB wir als Chriſten betend 
fgeiden wollten und daß ich, wenn fle es wünfdte, ein kurzes Gebet am 
threm Bett ſprechen würde. Gie gab den innigen Wunſch zu erkennen, 
mi zu hören une hielt im Bett legend mit großer Inbrumft ihre armen 
mageren Hände empor, während ich daneben niederkniete und betete. 

„Dann küßte ich fie. Sie fagte mir, jeden fei der größte Schmerz, 
den fie jemals empfunden und fie hoffe, daß wir und an einem beſſern Ort 
wiederſehen würden. Sch ſprach mit überfließenden Augen und großer Ge⸗ 
mürhsbewegung diefelben Hoffnungen aus. Wir künten einander nochmals 
und ſchieden dann, um uns, wie ich demätbig hoffe, einft wieberzufinden 
und dann nie wieder zu trennen. ® 

Thränen tröpfelten an dem Granttfelfen herab — ein weicher Quell 
des Erbarmens rührt id) in ihm. 

Noch tragiſcher iſt die folgende Scene. 

Johnſon erwähnte oft, daß er im Allgemeinen ſich nicht anlagen 
Pönne, ein ungeborjamer Sohn gewefen zu fein. „Einmal, * fagte er, „war 
th allerdings ungeboriam — ich weigerte mi, meinen Bater nach Uttoreter 
auf den Marft zu begleiten. Stolz war bie Urſache diefer Weigerung und 
die Erinnerung daran mir fehr peinlid. Vor wenigen Sahren wünfchte id 
für diefen Schler zu büßen.* — Aber auf welche Welle? Welche Buße 
war jetzt noch möglih? Wir beantworten dieſe Frage durch Mittheilung 
feiner eigenen Worte: 

„Madame, ich bitte Sie wegen meines ſchnellen Fortgehens Heute 
Morgen um Verzeihung, mein Gewiſſen nöthigte mich dazu. Vor fünfzig 
Jahren machte ich mich an diefem Tage einer Verlegung meiner Kindespflicht 
ſchuldig. Mein Bater pflegte den Markt in Uttoxeter zu befuchen und bier 
eine Bude zur Beilbietung und zum Verkauf feiner Bücher zu eröffnen. 
Durch Unwohlfeln gezwungen zu Haufe zu bleiben, forterte er an dieſem 
Tage mich auf, an feiner Stelle die Bube zu beforgen. Wein Stolz hielt 
mich ab und ich weigerte mich, den Wunfch meines Vaters zu erfüllen. — 
Heute nun bin ich in Utioxeter geweien. Ich ging auf den Markt zur Ser 
fhäftözeit, entblößte mein Haupt und blieb fo eine Stunde lang auf dem 
Blape ftehen, wo vie Bude meined Vaters gewöhnlich fand. Zerknirſcht 
Rand ich da und ich hoffe, daß mir uaı diefer Buße willen vergeben werben 
wird. * ’ 

Wer veranſchaulicht fi nicht dieſes Scaufpiel bei dem Megenwetter 





153 


mad dem Hohn oder ter Berwunderung der Umflehenden! Das Anbenten 
an den alten Michael Johnſon fleigt aud weiter Ferne empor und winkt 
wehmäthig in dem „ Mondlicht der Erinnerung“ — wie er fich reblich ges 
müht, von den Schlägen des Schickſals verfolgt und niedergeworfen, aber 
fich immer wieder erhoben ober es wenigftend verfucht. Und o, als ber 
müte alte Hann als Büchertrödler oder Keffelflider oder wozu ihn fonf 
das Schickſal gemacht Haben mochte, dich auf einen einzigen Tag um deine 
Hülfe bat — wie graufam, wie teufliih war jene gemeine @itelkeit, welche 
antwortete: Nein! Er fchläft jegt, nachdem er das Mechielficber des Lebens 
hberfianten ; aber bu, o Unbarmherziger, wie willſt tu den Stachel dieſer 
®rinnerung beihwidhtigen? — Das Bild Samueld Iohnfon, der bar⸗ 
bäuptig dort auf dem Markte ſteht, iſt eins der großartigften und ergreifend⸗ 
fin, welche wir malen Eönnen. „Reue! Reue!“ ruft er mit bitterem 
Schluchzen, aber nur zum Ohr des Himmels, wenn der Hinmel ihm Gehör 
ſchenken will, denn das irdiſche Ohr und Herz, welches dieſe Neue hätte 
hören ſollen, ift jegt gefchloffen und antwortet nie wieder. 

Daß dieſes jo zarte Gefühl in einer oder der andern Form durch 
Johnſon's ganzen Charakter, den praktiſchen ſowohl als den intellectuellen, 
bindurchgeblickt und beide modificirt haben muß, iſt nicht zu bezweifeln. 
Aber bei ſeiner rauhen Außenſeite und den vielen ſonderbaren Grillen, 
denen er huldigte, ward es nicht erkannt und Johnſon galt nicht für ein 
ſchönes Gemüth, ſondern für ein ſtoͤrriges, faſt brutales. 

Hätte man z. B. nicht erwarten ſollen, daß bie erſte Frucht eines fo 
liebreihen Herzens in Verbindung mit feinem Scharfblicke ein ganz vorzüg⸗ 
lich artiged Benehmen ald Menih unter Menichen fein würde? Johnſon's 
Artigkeit aber, auf welche er flch zur Verwunderung Vieler nicht wenig ein⸗ 
bildete, war von der Art, daß fie einiger Erläuterung bedurfte. So lieh er 
es ſich 3.8. durchaus nicht nehmen, die Damen, welche ihn befuchten, wieder 
nach ihrem Wagen zu geleiten, obichon er gewiß darauf rechnen fonnte, daß 
Rd eine Menge Zuſchauer in Fleetſtreet verfammeln mürden, denn er ber- 
richtete diefen Cavalierdienſt in jeinem ſchäbigen braunen Schlafrod, ein 
. Baar alten Schuhen, flatt der Pantoffeln, und einer Meinen verſchrumpften 
Drrüde, die ihm ganı oben auf dem Kopfe faß, während feine Manſchetten 
md Rniebänder ungebunden herabhingen. 

Und doc fehen wir hierin den Bei wahrer Höflichkeit, obſchon er 
fein Licht durch ein feltfames Medium wirft. So waren einmal in feinem 


154 


Bimmer unglüdlicderweife feine Stügle vorhanden. „Ein Herr, der ihn 
häufig beſuchte, während er feine ‚Idiers* ſchrieb, fand ihn flets an feinem 
Bulte auf einem Stuhl mit drei Beinen figent. Johnſon vergaß, wenn er 
fih erhob, doc niemals das fehlende Bein, fondern hielt den Stuhl entwe⸗ 
der in der Hand oder Ichnte ihn gelaffen an irgend ein andere® Möbel, 
ohne gegen Den, der ihn befuchte* — und der mittlerweile wie wir vers 
muthen, auf einigen Bollobänden oder wie Türken und Schneider mit unter- 
geichlagenen Beinen auf der Diele ſaß —, „weiter etwas darüber zu 
bemerfen. Es war, * fahrt Miß Reynolds fort, „eine -merfwürbige Figen- 
beit Johnſon's, daß äußere Umftände ihn niemals bewogen, eine Entſchul⸗ 
digung vorzubringen oder aud nur davon Notiz zu nehmen. Ob dies bie 
Wirkung eines philofophiichen Stolzes oder ein theilweiier Begriff von 
wirflihem guten Tone war, ift zweifelhaft. * 


Nah unferer Meinung iſt es Feineswegd zweifelhaft, Daß es in ber 
That die Wirkung ädter Höflichkeit war. Allerdings nicht jener phari⸗ 
ſäiſchen Höflichfeit des fogenannten feinen Tons, die fi lieber Freuzigen 
ließe, als daß fie bei Tafel zwei Mal Suppe verlangen follte, jondern bie 
edle allgemeine Höflichkeit eines Mannes, welcher tie Würde der Menichen 
fennt und feine eigene füblt, fo wie man fle in der patriardalifchen Haltung 
eines indiichen Sachem ficht, fo wie Johnfon ſelbſt zeigte, als ein plöglicyer 
Zufall ihn zu einer Unterredung mit jeinem König führte. Uns erjcheint 
e8 bei unfjerer Anftdht, Die wir von dem Manne haben, keineswegs jeltiam, 
daß er ſich einer genauen Kenntniß der Gejege der Höflichfeit rühmte und 
noch viel weniger feltfam, daß er der Uebung derfelben fortwährende Aufs 
merkſamkeit witmete. 


Noch deutlicher ift diefer Einfluß des liebreihen Herzens in jeinem 
intellectuellen Charafter zu verfolgen. Was ift auch der Beginn der In⸗ 
telligenz, die erfte Veranlaffung zur Uebung bderfelben anderes als eine 
Attraction zu etwas, eine Neigung dazu? Und wer hat wohl jemals ein 
wahres Talent — des Genies zu geſchweigen — gefehen, deſſen Grundlage 
nicht Güte und Liebe geweien wäre? In Johnſon's Menichenliebe finden 
wir den Grund vieler jeiner intellectuellen Eigenthümlichkeiten, befonder® 
jene drohende Reihe von Verkehrtheiten, die unter dem Namen von „Johns 
fon’8 Vorurtheilen * bekannt find, Man betrachte wohl die Wurzel, aus 
welcher dieſe hervorgingen; wir haben längft aufgehört, fie mit Feindſelig⸗ 


155 


keit in’6 Auge zu faflen, ja wir koͤnnen fle verzeihen und ebrerbietig bes 
mitleiden. 

Man überlege, mit welcher Kraft früh eingefogene Meinungen an 
einer Seele von folder Neigung gehaftet Haben müſſen. Seine vielgetabels 
ten Borurtheile, jener Jakobitismus, Eifer für die Kirche von England, 
Haß gegen die Schotten, Herenglaube und dergleihen — was war dies 
alles weiter, als der gewöhnliche Glaube anfländiger wohlmeinender Pros 
vinzial» Engländer jener Zeit? Zuerſt an dem Heerde feines Baterd im 
heimiſchen Staffordihire gefammelt, wuchſen fle mit feinem Wachſthum und 
gewannen Kraft mit jeiner Stärke; fle wurden geheiligt durd die innigften 
heiligen Erinnerungen, und ihnen entfagen, hieß feinem Herzblut entiagen. 
Wenn der Menſch, der feine Kraft der Liche und keine Kraft des Glaubens 
befigt, auch Feine Kraft des Vorurtheils hat, jo möge er dem Himmel dafür 
danken, aber nicht ſich ſelbſt. 

Traurig war es in der That, daß der edle Johnſon ſich von dieſen 
Anhaͤngſeln nicht loſreißen, daß er ſie blos läutern und mit einem gewiſſen 
Grad von Adel zur Schau tragen fonnte. Und dennoch müflen wir wohl 
verfiehen , wie ſie aus dem innerften Mittelpuntte ſeines Weſens heraus⸗ 
wuchſen, ja wie fie überdies in ihm ſich mit Dem vereinigten, was die 
Arbeit und den Werth jeines Lebens, die Summe feiner ganzen geifligen 
Beitrebungen bildete. Aus diefem felben Grunde ward er durch und durch 
ein Erbauer und Audbeflerer und nicht wie Antere, mit gleichen @aben 
Audgerüftete, ein Ginreißer, fo daß in einem Zeitalter des allgemeinen 
Skepticismus England noch einen Gläubigen hervorbrachte. Auch hierin 
bemerfe man feine Aufrichtigkeit, denn während ein Dr. Adams mit wohl» 
gefälliger Berwunberung fragt: „Haben wir nicht Beweiß genug von der 
Unfterblichkeit ter Seele?” antwortet Johnſon: „Ic wollte, wir hätten 
deren nody mehr. * 

Die Wahrheit aber ift, daß Johnſon im Vorurtbeil fowohl als in 
allen andern Dingen das Produkt Englands war — einer jener guten 
Untertdanen, deren Blieder in England gemacht waren, leider ber Iehte 
Diejer nüberwindlichen, denn ihre Zeit iſt nun um! Seine Kultur iſt 
durch und durch engliſch, nicht die eines Denters, fondern eines Gelehr⸗ 
ten“; feine Intereſſen find ganz engliſch; er fleht und kennt nichts ale 
England; er tft ter John Bull des geiftigen Guropa — laßt ihn leben, 
liebt ihn wie er war und nicht anders fein konnte! 


156 


Beklagenswerth iſt es allerbings, dag ein Samuel Johnſon die irreli⸗ 
giöfe Philoſophie eines Hume durch eine , Geſchichte von einem Beiftlichen 
bes Bisthums Durham” widerlegte; daß er in dem großen Friedrich weiter 
nichts ſah als, Voltaire's Lakat* ; in Voltaire ſelbſt blos einen Mann acer 
rimi ingenii, pauearum literarum; in Roufſeau blos einen Menſchen, wel 
cher verdiente, gehängt zu werden, und in der allgemeinen lange vorbereite⸗ 
ten unvermeidlichen Tendenz des europätfchen Denkens nur die Brille einer 
Meihfühtigen Mildmagd, um der Abwechſelnng willen „den Stier zu 
melfen. * 

Unier guter theurer John! Und mas fleht er in der großen Stadt 
Paris? Nicht den fchwächlten Schimmer von jenen d'Alembert's und Dide⸗ 
rot's oder von dem feltfamen, zweifelhaften Werke, welches fle verrichteten, 
fondern 6lo8 einige Benedietinermoͤnche, mit welchen er fi In Küchenlatein 
über Editiones Principes unterhält ! . 

Unfer theurer thoͤrichter John; dennod trägt er ein Loͤwenherz in 
feiner Bruft! — Beflagendwertb, fagen wir, waren alle biefe Dinge, aber 
keineswegs unverzeihlich, ja als Bafld oder als Folie vieles Anderen, wa 
tn Johnſon lag, faſt ehrwuͤrdig. Muͤſſen wir nit in der That England 
und enaliſche Inftitutionen und Lebensweiſe ehren, daß fie noch einen ſol⸗ 
hen Mann ausrüften, daß fle ihn befähigen konnten, an Herz und Kopf ein 
Samuel John zu fein und fle dennoch zu lieben und unerſchuͤtterlich für fle 
zu fampfen? Welche Wahrheit und Lebenskraft mußten folche Inſtitutionen 
einft beieflen haben, wenn fie in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts 
noch eine foldye Erfcheinung zu Tage fürdern konnten! Es ift bemerkens⸗ 
werth, dag auf unjerer britiſchen Infel die zwei großen Gegenläge Europas 
in Ihrer höchſten Eoncentration in zwei Männern verförpert waren, bie 
gleichzeitig aus unferer Mitte Hervorgingen. Sammel Johnſon und Dasib 
Hume waren, wie ſchon bemerkt worden, Kinder faft eined und beffelben 
Jahres ; während ihres ganzen Lebens Zufchauer einer und derfelben Le 
ben&brwegung, oft Bewohner einer und berfelben Stadt. Einen größeren 
Eontraft in allen Dingen Eonnte es zwifchen zwei großen Männern kaum 
geben. Hume von guter Bamilie und wohlhabend, gefund an Geiſt und 
Körper, bahnt ſich aus freiem Antriebe einen Weg in die Literatur, wäh. 
rend der arme, Franke und verlaflene Johnſon durch das Bajonet der Noth⸗ 
wendigfeit bineingetrieben wird. 

Und weld eine Rolle fpielten fle hier jeder für feinen Theil! So wir 


— m u — — 0 z ww 


157 


Zahnion der Bater aller fpäteren Tories ward, fo war auch Hume ber Vater 
aller folgenden Whigs, denn fein eigener Jakobitismus war nur ein Zufell 
and verdiente eben fo jehr den Namen eines Vorurtheils, wie irgend eins 
derer, die wir an Johnſon kennen gelernt haben. 

Serner, wenn Johnſon's Kultur ausſchließlich engliih war, fo warb 
Hume's Kultur in Schottland europälfh und aus dieſem Grunde finden 
wir aud, daß fein Einfluß fich über alle Länder Europas verbreitet, wäh 
rend Johnſon's Name außerhalb England kaum irgendwo anzutreffen ifl. 

An geiftiger Statur find fie einander faft gleich; beide find groß, beide 
gehören zu den größten ihrer Zeit und dennod find fie einander fo unähn 
ih! Hume beflßt den umfaflendften methodiſchen Blick, Johnſon's Auge 
dagegen dringt am tiefften in @inzelnbeiten ein. Der Hauptgrund hiervon 
lag wielleit bei beiden in ihrer Erziehung. Keiner von beiden erhob ſich 
zur Poefle und dennoch beide zu einer gewiffen Annäherung daran, denn 
Hume erreicht in feiner Schilderung der republifanifchen Kriege eine gewiſſe 
epiſche Klarheit und Methode und Johnſon in vielen feiner flücdhtigeren Er- 
zengniſſe einen Anflug von Tpritcher Wehmuch und, anmuthiger Kraft. 
Beide bejaßen — und ihr Bublifum wunderte fih fa darüber — einen 
gewifien rauhen Humor, der dur ihren Ernſt hindurchſchimmerte — ein 
ſicheres Kennzeichen, daß fie wirklich ernfte Männer waren und ihre wilde 
Welt zu einer einflweiligen Heimath und fiheren Wohnung gezähmt 
Gatten. oo. 

Beide waren ihren Grundjägen und Lebendgewohnhetten nad) Stoi⸗ 
fer; Iohnfon aber mit größerem DVerdienfte, denn er allein Hatte viel zu 
überwinden und er allein veredelte feinen Stoicismus zur Frömmigkeit. 
Für Johnſon war das Leben eine Gefangenschaft, die mit heldenmüthigem 
Blauben ertragen fein wollte; für Hume war es wenig mehr al8 eine tolle 
Jahrmarktſchaubude, in deren wirres Gedräng es fih kaum der Mühe ver» 
lohnte, ſich hineinmiſchen zu wollen ; wie fange bauerte ed, fo war der ganze 
Speftafel vorüber! 

Beide erfüllten die höchſte Aufgabe der Menfchennatur, namlich die, 
zu leben wie Männer und jeder flarb nicht unpaflend nad feiner Weile — 
Hume ald ein Menih, der mit erfünftelter, halberlogener Heiterkeit Abſchied 
von Dem nimmt, was an und für fi und durch und durch nur eine Lüge 
war; Iohnfon wie einer, der mit von Ehrfurdt erfülltem, aber entichloffe« 
nem und fromm zuverſichtlichem Kerzen Abfchied von einer Wirklichkeit 


158 


nimmt, um in eine noch höhere Wirklichkeit einzugeben. Johnſon hatte 
von Anfang bis zu Ende von beiden bie fchwerere Aufgabe; ob er auch in- 
nerlich der Beſtbegabte von beiden war, dad wollen wir bier weiter nicht 
entjcheiden. 

Dieje beiden Männer ruhen jett, der eine bier in der Weftminfter- 
abtel, der andere auf dem Kirchhofe von Galton Hill in Ebinburg. In 
ihrem ganzen Leben lernten fie einander nicht perſönlich kennen; jo wie 
Gontrafte einander lieben, fo hätten auch dieſe beiden einander lieben ‚und 
freundlich mit einander verfehren können, wenn nicht bie irdifhe Spreu und 
Binfterniß, die in ihnen war, fle daran gehindert hätte! Dereinft werden 
ihre Geiſter, nämlich Das, was Wahres in jedem war, felbft hienieden zu⸗ 
ſammenwirken und in freier Harmonie und Bereinigung leben. Sie waren 
die beiden Halbmänner ihrer Zeit und wer die unerfhrodene Offenheit und 
entfchiedene wiflenjchaftliche Klarheit eines Hume mit der Ehrfurcht, Liebe 
und frommen Demuth eined Johnſon verfchmelzen Eönnte, der wäre ber 
ganze Wann einer neuen Beit. 

Bis ein ſolche ganzer Mann und erfcheint und bie zerfahrene Zeit 
einen folchen auch zuläßt, möge der Himmel das arme England einftweilen 
mit Halbmännern fegnen, die würdig find, jenen die Schuhriemen aufzu- 
löfen, und die ihnen, wenn auch nur entfernt, gleihen! Mögen beide aufs 
merkſam ind Auge gefaßt werden, mögen die ächten, wahren Beftrebungen 
beider gedeihen! Mit diefem Wunſche fagen wir beiden für jetzt ein herz 
liches Lebewohl. 


Sir Walter Scott. 
(1838.) 


Der Amerikaner Cooper behauptet in einem feiner Bücher, daß die 
Menſchen einen angeborenen Hang befiten, Jeden, der fib auf irgend eine 
Weiſe auszeichnet, neugierig zu betrachten. Daß dies wahr ift. beweiſen 
alle Beobadhtungen, die wir von China bis Peru, von Nebucadnezar bie 
zum alten Hickory anftellen können. 

Warum drängen fih die Menſchen fo neugierig nach dem verbeflerten 
Balgen in Newgate? Der Delinquent, der eben gehangen werden foll, bes 
finder ſich in einer audgezeichneten Lage und die Zufchauer drängen fich in 
ſolchen Maſſen herbei, daß er wahrjcheinlich nicht der Einzige fein wird, den 
man erwürgt. 

Man frage ferner dieſe Tedernen Fuhrwerke, Equipagen, Cabrioletd 
und Gigs mit Männern und Frauen darin, die freuz und quer alle Straßen 
durchfegen: wohin fo Ihnell? Man will die Liebe Miſtreß Galimathias, 
die audgezeichnete Brau, fehen oder den großen Mr. Galimathias, den aus⸗ 
gezeichneten Mann ! 

Oder man: betrachte jened Erönende Phänomen und den @ipfelpunft 
der modernen Givilifation, eine Soiree von fogenannten Löwen. In den 
glänzenden, Hell erleuchteten Zimmern wimmelt es; ein wogender Strom 
bon Spigenkleidern und Ballfracks zieht fih Hindurch, während ein fanftes 
Lächeln auf allen Gefichtern ruht, denn ſiehe, Hier ziehen auch die Löwen, die 
Drafel ihrer Zeit, in einer oder der andern Weiſe. Es find in der That 
angenehm zu fchauende Drafel und es verlohnt wohl der Mühe hinzugeben 
umd fie anzufehben. Darum geh Hin und ſieh fle an, frage fle aber nichts, 
fondern gehe wieder deiner Wege und fei dankbar. Eine ſolche Löwenſoirée 


160 


geftattet nämlich nicht, daß geſprochen werde; darin liegt eben ihr charak⸗ 
teriftifches Kennzeichen. Es ift eine Berfammlung menſchlicher Wefen und 
dennoch — fo hoch iſt Die Givilijation gefliegen — kann der Hauptzweck 
menschlicher VBerfammlungen, daß die Seele fib in artitulirten Aeuferungen 
ber Seele entfalte, dabei gänzlich underüdfichtigt bleiben. ine eigentliche 
Sprache ift dabei auch wirklich nicht vorhanden, fondern blos ein gewiſſes 
lächelndes Zungenipiel und eine fogenannte Sprache, die viel ſchlimmer iſt 
ald gar feine. Aus diefem Grunde hat man zur Beförderung der Aufrid- 
tigkeit und Ruhe in dergleichen Köwenfoirsen vorgefihlagen, daß jeder Xöwe, 
wie Weinflaihen, mit einer Etiquette verfehen werde. Uns ſcheint diefer 
Vorſchlag angemefien. Dan Iafle einen jeden feine filberne Etiquette, bie 
ja möglichft zierlih und Eünftlerijch angefertigt werben kann, um den Leib 
gebunden tragen. Wan lieft fie dann, weiß woran man tft und der Worte 
bedarf ed dann gar nicht, 


O Benimore Cooper, ed iſt fehr wahr, daß die Menfchen einen ange 
borenen Hang befigen, Jeden, der ſich auf irgend eine Welfe außzeichnet, 
neugierig zu betrachten und überdies einen angeborenen Hang, auch felbſt 
Außzeihnung zu erringen und ſich betrachten zu laſſen. 


Andererfeitö wollen wir dies eine ſehr wichtige und werthvolle Ten⸗ 
benz nennen, die für die Menschheit unerläßlih if. Wo wäre ohne diefelbe 
Stern und Orbendband und die Bedeutfamkfeit der Rangunterſchiede; wo 
wäre aller Ehrgeiz, aller Gelverwerb, mit einem Worte die Haupttriebfeder, 
meldhe die Gefellihaft in Bewegung feßt, die Hauptfraft, durch welche fie 
zulanımenhängt? Es ift dies, fagen wir, eine Tendenz, Die zu mannigfachen 
Ergebniffen führt und von mannigfadhem nicht blos Lächerlichen, fondern 
auch erhabenen Uriprunge ift, wiewohl ihn Manche einzig und allein auf 
den gefelligen blinden Trieb des Menfchen zurüdführen wollen, der ihn an« 
treibt, wie furzfichtige Thiere nach irgend einem glänzenden Gegenftande, 
wäre derjelbe auch nur eine gefcheuerte Binnfanne, zu rennen und fle für ein 
Sonnenlidt zu halten oder aud den Schafen gleidy zu laufen und fich zu⸗ 
fammenzudrängen, weil fchon viele gelaufen find. 


Es ift in der That intereffant zu erwägen, wie die Menſchen ſich bie 
Bötter machen, die fle felbft anbeten. Der berühmtefle Mann, um welchen 
die ganze Welt Hurrah ſchreiend herumtanzt und ben fle verehrt, ald ob « 
niemals feines leihen gegeben hätte, iſt derfelbe Mann, ten bie ganze 


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161 


Welt auf die Seite zu floßen pflegte; und doch iſt er nicht ein anderer, 
fonderu in jeder Safer nody ganz derſelbe. 

Thörichte Welt, was bift dis hinaudgegangen zu fehen? ine blank» 
geiheuerte Kanne! und liegen nidyt von demfelben Metall noch ganze Fuder 
folcher Kannen da, obſchon in Folge eines ungünftigeren Schickſals alle 
noch in ungepugtem Zuftande? 

Und dennoch ift e8 im Grunde genommen nicht blo unſer gefelliger, 
ſchafähnlicher Trieb, ſondern etwas Beſſeres und ſogar dad Beſte, nämlich 
Das, was man Lie „fortwährende Thatſache der Heldenverehrung“ genannt 
hat, unjere angeborene, aufrichtige Xiebe zu großen Menſchen! Selbft Tho⸗ 
ren begehren nicht den vergoldeten Heller um feiner ſelbſt willen, fondern 
bie goldene Guinee, für welde fie ihn fäljchlih halten. Die Verehrung 
großer Menichen liegt dauernd in der Natur des Menichen und dies ift zu 
allen Zeiten, bejonders in ben gegenwärtigen, eine feiner glüdlichften Eigen- 
ſchaften. 

Zu allen Zeiten und ſelbſt in den jetzigen anſcheinend ſo ungehorſamen 
Zeiten iſt es eine nie genug zu preiſende Thatſache, daß — ſo ſchlau hat 
die Natur es eingerichtt — der Menſch nicht umhin kann, Dem 
zu gehorchen, dem er gehorchen ſoll. Man zeige dem ſtumpf⸗ 
ſinnigſten Erdenkloß, man zeige dem ſtolzeſten Federkopfe, daß es wirklich 
eine Seele giebt, die hoch über der ſeinen ſteht und wären ſeine Kniee ſteif 
geworden wie Erz, ſo muß er doch niederfallen und anbeten. 

So ſteht es geſchrieben und kann geleſen und wiederholt werden, bis 
es Alle wiſſen. Man verſtehe es wohl, dieje Heldenverehrung“ war der 
erfte Glaube ; fie ift auch dem Weſen nach der zweite und dritte geweſen 
und wird eben fo auch der letzte und endliche Blaube der Menichheit fein, 
ungerftörbar, in der Form wechjelnd, aber im Weſen unveränderlich, worauf 
Politik, Religionen, Loyalitäten und alle hödhften menfchlidhen Interefien 
gebaut worden find und gebaut werden können, wie auf einen Selfen, wel⸗ 
er dauert, fo lange die Menichheit felbft dauert. 

Dies iſt Heldenverehrung; fo viel Liegt in diefer unferer angeborenen, 
aufrichtigen Liebe zu großen Menjchen! — Und was fünnen wir zum Dant 
für die unausſprechlichen Wohlthaten der Wirklichkeit weiter thun, als mit 
heiterem Sinne die vielfachen Albernheiten des leeren Sceind verzeihen 
und jogar Yöwenfoireen, mögen nun ihre Löwen mit jenen vorgeichlagenen 
Etiquetten verjehen fein oder nicht, alle Arten von Gedeihen wünjden? 

Carlyle. III. 11 


162 


Möge die Geldenverehrung blühen, fagen wir, eben fo wie die immer eifti- 
gere Jagd nad) vergoldeten ‚Hellern, fo lange Guineen nod nit zum Bon 
fein fommen. Es Itegt darin mindeſtens ein Beweis, daß Buineen vor- 
handen find, daß man an ihr Vorhandenfein glaubt und daß man fle Idhäßt. 
Suchet große Männer fo viel ihr kennt; findet ihr Feine, fo gebt darum 
die Nachſuchung nicht auf und in Ermangelung großer Männer liefert fo 
viele berühmte Männer, ald der Appetit des Publikums nur immer vertra⸗ 
gen kann. 


Ob Sir Walter Scott ein großer Mann war, ift für Biele nod eine 
Frage; keine Frage aber ift, daß er ein jehr berühmter und auch wirklich 
feine® Ruhmes würdiger Mann war. In der gegenwärtigen Generation 
bat e8 feinen Scriftfieller gegeben, der in irgend einen Lande eine folde 
Popularität genofien hätte und e8 hat, alle Generationen unt alle Länder 
jufammengenonmien, feines Gleichen nur wenige gegeben. 

Dabei wird auch noch fernerweit zugeflanden, daß Sir Walter Scott's 
Popularität von ziemlid gewählter Art war, nicht eine Popularität des 
großen Haufens. eine Bewunderer waren eine Zeit lang faft alle intellis 
genten Geiſter civilifirier Ränder und noch jetzt ſchließen fle einen großen 
Theil dieſer Klafle ein. 

Ein ſolches Glück war ihm während eines Zeitraumd von einigen 
zwanzig oder treißig Jahren ununterbroden beidieden. So lange ber 
Beobachtete aller Beobachter, ein großer Mann oder auch nur ein bedeuten. 
ber Mann! Ganz gewiß haben wir es hier oder nirgends mit einem Wanne 
In eigenthümlichen Umfländen, mit einem audgezeichneten Manne zu thun, 
in Bezug auf weldien ed an dem angeborenen Bang von Seiten anderer 
Menſchen nicht fehlen ann. Mögen die Menjchen darum immer hinichauen, 
wo die Welt ſchon fo lange hingeſchaut hat. 

Und nun, wo die neue, ſehnlich erwartete Lebendgefhichte „von feinem 
Schwiegerfohn und literariihen Teſtamentsvollſtrecker“ wieder die Aufmerk⸗ 
famfeit der ganzen Welt um ihn verſammelt, wahricheinlih zum legten 
Male auf diefe Weife, und wo die Menſchen gewiflermagen von einer Nota- 
bilitar Abjchied nehmen und im Begriff ſtehen, ihres Weged weiter zu geben 


163 


nad ihn auf ber Fluth der Dinge feinem Schickſal zu überlaflen, warum 
fellten wir Hier nicht ebenfalld audiprechen, was wir von ihm denken? 

Lefer von gemiſchter Battung und unbelannter Quantität und Qualis 
tät warten darauf, und zu hören. Mit geringem inneren Berufe, aber dem 
Schidiale und der Nothwendigfeit freudig gehorchend, folgt der Berfafler 
den Schritten einer großen Menge; ob er aber Böfed thut ober nicht, das 
wird nicht von der Menge abhängen, fondern von ihm ſelbſt. 

Eind wünſchte er allerdings, nämlich wenigſtens zu warten, bis das 
Wert fertig wäre, tenn die ſechs verſprochenen Bände find, wie die Welt 
weiß, noch in einen fiebenten übergefloffen, der erft in einigen Wochen das 
Licht der Welt erbliden wird. 

Die Redaction des Journals aber, für welches wir dies fchreiben, iſt, 
des Wartens übertrüffig, peremptoriſch geworden und erflärt, dab fle, möge 
das Werk fertig fein oder nicht, ed gerade jet abgethan haben will. 

Vielleicht iſt es auch jo am beften. Walter Scott's Phyſtognomie 
wird durch dieſen flebenten Band nicht wefentlich geändert werden, tenn 
fhon die bereits erjchienenen ſechs haben nur wenig daran geaͤndert, wie 
denn überhaupt ein Mann, der circa zweihundert Bände Original geſchrie⸗ 
ben und dreißig Jahre im allgemeinen Geſpräch von Freunden gelebt hat, 
ſchon ein Bildniß von ſich Hinterlaffen Haben muß. Es geſchehe denn, wie 
Die gebieteriiche Nedaction befiehlt. 

Zuerft daher ein Wort über Die Xebendgeichichte jelbfi. Mr. Lock⸗ 
hart's befannte Bähigfeiten rechtfertigen eine ftrenge Unterfuchung in feinem 
Falle. ünſer Urtheil im Allgemeinen würde dahin lauten, daß er das Werk, 
welches er fi vorgenommen, auf ehrenvolle und eines redlichen Arbeiters 
würdige Weiſe durchgeführt hat. Allerdings fcheint fein Begriff von Dem, 
was dieſes Werk fein follte, Eein ſehr hoher gewefen zu fein, 

.Das Leben Scott's nad den Regeln der Kunft oder Gompofition zu 
malen, daß ein Lejer nach reiflicher Prüfung bei fich felbft fagen Eönnte: 
„Das iſt Scott, das ift die Phyſtognomie und Bedeutung von Scott's Er⸗ 
fheinung und Pilgrimſchaft auf diefer Erte; fo war er von Natur, fo 
wirkte die Welt auf ihn, fo er auf die Welt mit diefem oder jenem Ergeb⸗ 
niß, mit Diefer oder jener Bedeutung für ihn felbft und uns,“ dies war 
Mr. Lockhart's Plan Feineswegs. 

Und dennoch ift dies ein Plan, der bei jeder Biographie zum Grunde 
gelegt werben follte und ex hätte von der Odyſſee an bis herab auf Thomas 

11* 


denn es giebt in der ganzen Welt kein Geltengevicht, welches nicht im 
Grunde genommen eine Biographie oter die Lebensgeſchichte eines Menfchen 
wäre und eben jo Fann man auch fagen, Daß es Teine wahrbeitgetreue er⸗ 
zählte Lebensgeichichte eined Menſchen giebt, die nicht gewiffermaßen als ein 
gereimted oder ungereimted Heldengedicht betrachtet werden Fönnte. 

Diefem PBlane würde man, wie gefagt, den Borzug geben, wenn er in 
anderer Hinficht zwedentiprechend wäre, waß er aber im der gegenwärtigen 
Zeit nicht ift. Sieben Bände verkaufen fi viel theurer und find doch viel 
leichter zu fchreiben wie einer. Was würde z. B. die Odyſſee Eoften, wenn 
fie bogenweije verfauft würde? Wahrfcheinlich noch Tange nicht fo viel al6 
die „ Pickwickier“ und in der commerciellen Algebra würde fich die Gleichung 
folgendermaßen ſtellen: Odyſſee gleih Pickwick, dividirt durch ein unbefann- 
tes Ganze. 

Es iſt in der Literatur noch eine große Entdeckung zu machen, näms 
lich die Schriftiteller nad der Quantität Deffen zu bezahlen, was fle nicht 
fhreiben. Ja, ift dies in der That und Wahrheit nicht eigentlich die Megel 
bei allem Schreiben und überdied bei allem Handeln und Thun? Nicht das, 
was über dem Boden ſteht, fondern was als die Wurzel unt das unters 
trdifche Element, auß welchem es hervorgegangen, unfihtbar Darunter 
liegt, beftimmt den Werth. Linter allem Reden, wad zu irgend etwas gut 
ift, liegt ein Schweigen, weldyes noch weit befler iſt. Das Schweigen if 
tief wie die Ewigkeit; dad Reden ift feicht wie Die Zeit. 

Dies klingt parador, nicht wahr? Aber wehe dem Zeitalter, wehe der 
von Charlatanen gepeinigten, mit Reben überfchütteten, gleich einer uns 
fruchtbaren Sahara hin und her gewehten Menfchheit, welder Diefe Mahrs 
beit, die jo alt ift als die Welt, gänzlich fremd wäre! 

Dies, fagen wir, tft die Negel, mag man darnach handeln, mag, man 
fie anerfennen oder nicht, und Der, welcher ihr untreu wird, kann weiter 
nichts thun, als ſich in die Breite und Länge ausdehnen, zur Oberflächlich⸗ 
feit und Verfäuflichfeit, jo daß er dann, ausgenommen als Filagran, vers 
hältnigmäßig feinen Nutzen mehr hat. Man denkt: wäre Doch diefer Eimer 
dünnen Spülichts, das in einer Woche fauer wird und dann in die Goſſe 
geworfen werden muß, deftillirt oder concentrirt worden! 

Unfer lieber Benimore Cooper, den wir gleih am Eingange erwähn« 
ten, hätte und dann vielleicht einen einzigen Natty Lederſtrumpf, 


164 
Ellwood mit allen Graden der Vollkommenheit durchgeführt werden können, 
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165 


eine einzige melodiſche Synopſis des Menſchen und der Natur im Weften 
(denn es lag einmal in ihm) gegeben, faft eben jo wie es ein Saint Pierre 
mit den Snfeln des Oftens machte, und die auf Befehl von Colburn und 
Compagnie eiligft zufammengefuflerten hundert unzufammenhängenden 
Dinge bätten ruhig im Chaos fortgeihlummert, wie alle zuſammenhangs- 
loſen Dinge da möglich thun ſollen. 

In der That, dieſer Genius des weitläufigen Schreibens und Handelns 
iſt ein Moloch, dem eine Menge Seelen geopfert werden und wenn je eine 
Entdeckung werthvoll und nothwendig war, ſo iſt es die oben angedeutete, 
naͤmlich nach Der Arbeit zu bezahlen, die auf nicht ſichtbare Weile verrich⸗ 
tet wird. Für eine ſolche fo höchſt nothwendige Entdeckung würden wir 
mit Freuden alle projectmachenden, Eifenbahnen bauenden, Kenntniß ver» 
breitenden und fonftwie thätigen Promotiv⸗ und Rocomotivgejellihaften in 
der alten und neuen Welt auf irgend eine beliebige Zahl von Jahrhunder⸗ 
ten bingeben. Wird dieſe Entdeckung wirflich einmal gemacht fein, jo wol« 
Ien auch wir unfere Mütze in die Luft werfen und rufen: „Jo Paean! der 
Zeufel ift überwunden, * — und mittlerweile wollen wir uns bemühen, e8 
nit jonderbar zu finden,. Daß fleben biographiſche Bände gegeben werden, 
wo einer viel beſſer geweſen wäre und daß mehrere andere Dinge gerade 
noch fo gefchehen, wie fie von Alters ber zu geichehen pflegten und wahr⸗ 
ſcheinlich andy noch ferner geſchehen werben. 

Mr. Lockhart's Vorſatz war, denken wir uns, Teineswegs, ein fo hoch⸗ 
fliegende® Kunftwerf, wie wir eben andeuteten, zu produciren oder übers 
haupt etwas Anderes zu thun, ale alle Briefe, Documente und Notizen 
über Scott, von denen fich erwarten ließ, daß die Welt fie Iefen würde, zu 
druden und nad der Zeitordnung oder durch die erforderlichen erflärenden 
Einſchaltungen auf verfländliche Weiſe aneinanterzureiben. 

Sein Werk ift daher nicht ſowohl eine Compoſition, als vielmehr 
Das, wad man eine gur ausgeführte Gompilation nennen Fann. Deswegen 
aber iſt dieſe Aufgabe nicht ohne Schwierigkeiten, fondern kann mit außer⸗ 
ordentlich verſchiedenen Graden von Talent durchgeführt werden und von 
„Hannah More's Leben und Briefwechſel“ z. B. bis zu dieſer Lebensge⸗ 
ſchichte Scott's iſt in der That ein weiter Abſtand. 

"Wir wollen daber bie fleben Bände binnehmen und dankbar dafür 
fein, daß fie in ihrer Art Acht find. Ja, was den Umſtand betrifft, daß es 
ihrer fieben und nicht einer find, jo darf man nicht vergeflen, zu erwähnen, 





166 


daß das Publifum ed fo verlangte. Hätte ein Autor anders verfahren 
wollen, fo würde er dadurch einen Mangel an Volitik verratben haben. 
Hätte Mr. Lockhart ih mühfam eoneentrirt und anflatt einer guten Compi-⸗ 
lation in ſteben Bänden die von und gewünfchte gutgefchriebene Compoſttion 
in einem Bande, zu welder er mehr ale fonft Jemand in England befähigt 
war, zu Tage gefördert, jo laßt ſich kaum bezweifeln, daß feine Leſer für dem 
Augenblick unermeßli wenigere geweſen wären. Wenn ihm daher bab 
kob hoher Gefinnung veriagt werden muß, fo kann man ihm das der Klug⸗ 
beit nicht vorenthalten, und vielleicht {ft ihm dieſes auch lieber. 

Es laͤßt fi nicht Tengnen, daß es gut ifl, daB Werk, wenn aud nur 
auf dieſe Weile audgeführt, zu beſttzen. Scott's Biographie liegt, wenn 
auch nicht eigentlich gefehrieben, im Slementarzuftande gedrudt und unzer⸗ 
flörbar vor und und fann nun, da nötbig, zu jeder Zeit von Jedem, der 
Beruf dazu fühlt, gefchrieben werden. So wie es if und wie ed ber Ab⸗ 
fiht des Verfaſſers gemäß fein follte, it, wir fagen Died nochmals, da Werk 
fehr gut und Eräftig durchgeführt. Scharfinn, Urtheil, Dffenheit, Blei, 
geiunder Menſchenſtand — Diefe Eigenfchaften find überall bemerkbar. Die 
Data, Berechnungen und nbrigen Angaben find, glauben wir, alle richtig. 
Es find viele für jeden Andern zum Theil unmögliche Forſchungen angeftellt 
und die Ergebnifle derfelben mit gebührender Kürze mitgetheilt worden. 
Scott's Briefe, im Allgemeinen nidyt interefiant, aber doch nie ganz ohne 
Intereffe, And in reicher Anzahl wiedergegeben; zahlreich aber mit Au 
wahl und die Antworten darauf noch ausgewählter. Erzählungen, Schil⸗ 
berungen und endlich auch perſonliche Erinnerungen, zuwellen von großem 
Werthe, ſtets aber Träftig. auftichtig ‚und maleriich, find Hier und da eine 
geftreut. 

Hier liegen In der That die zerftreuten Glieder von Stott's Lebend- 
geſchichte und diefe Gompilation iſt mit einem Worte dad Werk eines Flar- 
blickenden, richtig denfenden und fühlennen Mannes und mit der Fäbigfelt 
und der Gombination von Fähigfeiten durchgeführt worden, welche das 
Bublitum von dem fi daran Inüpfenten Namen zu erwarten berech⸗ 
tigt war. 

Eins hören wir Mr. Lodhart fehr zum Vorwurfe machen, nämlid 
baß er zu mittheilſam und indiseret geweſen und Vieles aufgezeichnet habe, 
was lieber hätte verſchwiegen bleiben follen. Es werden Berjonen und 
Umflänte auf eine Weife erwähnt, die ihnen nicht immer zur Bierbe gereicht. 


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Wie es ſcheint, iſt fomach die Zurückhaltung weis geringer geweien ald man 
erwartete! DBerichiedene Perjonen, die hier mit Namen und Bornamen ges 
nannt find, Gaben ſich verlegt gefühlt, ja fogar der Held der Biographie iſt 
unbeldenmüthig gemacht, indem zweidentige Thatſachen von ihm und Denen, 
mit welden er zu thun hatte, ganz offen und frei erzählt werben. Daber 
ſpricht man von „Berfönlichkeit”, „Indiscretion * oder noch fhlimmer „Geis 
ligkeit des Privatlebens“ u. ſ. w. u. f. w. 

Wie delicat und decent iſt doch die engliſche Biographie, Gott ſegne 
ihren zimperlichen Mund! Ein Damoklesſchwert der, Reſpektabilitaͤt“ hängt 
unausgeſezt über dem armen engliſchen Biographen — fo wie über dem 
armfeligen engliichen Leben im Allgemeinen — und lähmt ihn in allen feis 
nen Bewegungen. Ban bat deöhalb auch gar nicht mit Unrecht gefagt, daß 
«8 feine enalifchen Biographien giebt, die ſich des Leſens verlohnten, ald die 
von Schauipielern, welche der Natur der Sache zufolge der Reſpektabilität 
gute Nacht gefagt haben. Der engliihe Biograph hat ſchon laͤngſt gefühlt, 
daß, wenn er bei Abfaflung der Biographie feines Mannes etwas nieder- 
förlebe, was möglidyerweile irgend Iemanden beleidigen fünne, er dann 
falich geibrieben habe, 

Die einfache Folge davon war, daß eigentlich gar Feine Biographie zu 
Stande kommen Fonnte. Der arme Biograph, der die Furcht nicht vor 
Gott im Auge hatte. mußte Rich gleichſam in einem leeren Raum zurüdziehen 
und auf die traurigfte beengtefle Weiſe fchreiben, je daß ebenfalls nur ein 
leerer Raum Die Kolge war. Vergebens jchrieb ex und vergebens laſen wir 
einen Band nad den andern. Es war keine Biographie, Sondern das weiße 
farbloſe, unflare Geſpeuſt einer Biographie ohne ausgeprägte Büge ober 
Materie — ein Nichte, wie wir fagen, und Wind und Schatten, — woraus 
aud in der That die ganze Sache beſtand. 

Kein Menſch lebt ohne anzuflegen und geſtoßen zu werden; er muß 
Äh auf alle Weife mit den Ellbogen Bahn brechen. Sein Leben iſt ein 
Kampf, injoweit es überhaupt etwas Vorhandenes iſt. Sogar die Aufter, 
glauben wir, fommt in Gollifion mit andern Auftern; ganz unzweifelhaft 
kemmt fie wenigftens mit Nothwendigkeit und Schwierigkeit in Colliſton 
und hilft fih Durch, nicht ald eine vollkommene ideale Aufter; jondern al 
eine unvollfommene wirklihe. Die Aufter muß einen aewiflen Grad von 
Rene kennen, einen gewifien Grad von Haß, einen gewiffen Brad von Kleine 
muih. 





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Was aber den Menichen betrifft, fo if fein Kampf mit dem Geiſte des 
Widerſpruchs, der außer ihm und in ihm lebt, ein fortwährender ; wir mei» 
nen den böjen Geiſt, oder man nenne ihn auch ten ſchwachen, erbärmlidyen 
Geiſt, Der in Andern und in ihm felbft lebt. Sein Gang ift wie alles Gehen 
— wenigftend fagen dies die Phyſiker — ein fortgelegte® Yallen. 
Will man das Leben des Menſchen malen, fo muß man auch dies darftellen. 
Deshalb ftelle man es angemeflen, mit Würde und Maß dar, vor allen 
Dingen aber ftelle man es dar. Wir wollen keine Aufführung des 
Hamlet, in welcher auf beiondered Verlangen die Rolle Hamlens ausgelaflen 
iſt! Wir wollen kein Befpenft von einer Biographie, möge das Damokles⸗ 
jchwert der Nefpektabilität — welches im Grunde genommen doch nur von 
Bappe ift — drohen wie es wolle! Man hofft, daß der Geſchmack des 
Publikums in diefer Sache fih viel gebeflert Habe und daß leere Biographien 
mit einer Menge anderer darauf bezüglicher Ieeren Dinge fidh immer mehr 
in den leeren Raum zurüdziehen, in welden fle gehören. 

Wahrſcheinlich fühlte Mr. Lockhart, was das große Publifum mit Vei⸗ 
fall aufnehmen würde und dies bewog ihn, mit offenen Augen dieſen Ver⸗ 
floß an dem kleinen Eritifirenden Publikum zu begehen. Wir find freudig 
damit einverflanden. 

Vielleicht ift Daher von allen Kobfprüden, die man diefem Werke in fo 
reihen Maße geipendet, in der That Feiner für den Verfaſſer fo rühmlich 
als eben diefer Tadel, welcher ebenfalls ziemlich häufig ausgeſprochen wor⸗ 
den. Es iſt dies ein Tadel, der viel beſſer ift, ald vieles Lob. Man findet 
den Verfafſer ſchuldig, Dieb oder Jenes gejagt zu haben, was Diejem oder 
Jenem nicht ganz angenehm fein kann, oder was, mit andern Worten, ger 
eignet ift, der Lebensgeſchichte, die er gefchrieben, ein lebentiges Geftcht zu 
geben und fie aud dem leeren weißsgefpenftiihem Zuſtande herauszubeben. 

Wir hören wie Mehrere rufen: Seht, da flebt etwas geichrieben, was 
mir nicht ganz angenehm iſt! — Guter Breund, du thuft mir leid, aber 
wer fann ed ändern? Diejenigen, welde fi um ein Freudenfeuer herum⸗ 
drängen, verfengen fi, und zuweilen mit Mecht, die Bärte. Es ift dies 
der Preis, den fie für eine ſolche Illumination bezahlen; das natürliche 
Zwielicht dagegen ift für Alle fiher und frei. 

Was und betrifft, fo hoffen wir, daß alle Arten von Biographien, die 
man in England fchreibt, künftig auf dieſe Weiſe werden geichrieben werden. 
Wenn ed angemefien ericheint, daß fie ander& gejchrieben werden, jo if eb 


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noch weit angemeilener, daß fle gar nicht gefchrieben werden, denn nicht 
Dinge, fondern die Geſpenſter von Dingen erzeugen, kann niemals die 
Pflicht des Menſchen fein. 

Die Aufgabe des Biographen ift: ein treued Bild von ber irdifchen 
Wallfahrt eines Menſchen zu entwerfen. Er wird wohl berechnen, welder 
Vortheil dabei ift und welcher Nachtheil; unter welcher letzteren Rubrik er 
die eben erwähnten Beleitigungen feiner Mitmenichen nicht vergeflen wird. 
Dadurch kann allerdings tie Wagſchale des Nachtheils fo zum Sinfen ger 
bracht werden, daß manche außerdem vielverfprechende biograpbifche Unter⸗ 
nehmen lieber aufgegeben werden muß. 

Sat man fidy aber einmal damit befaßt, fo if die Regel vor allen an⸗ 
dern Regeln, e8 auch in Wirklichkeit durchzuführen und nicht ein bloßes 
Geivenft davon zum Vorſchein zu bringen. Wenn der Berfafler einer fol 
hen Lebensgeichichte von dem Manne und dem übrigen Menichen fpricht, 
mit denen er zu thun bat, jo wird er natürlich fi feiner Menfchenliche 
nicht entfchlagen, aber deswegen doch immer die Augen offen behalten. Bern 
fei e8 von ihm, etwas Unwahres niederzufchreiben, ja er wird jogar 
Vieles, was wahr tft, nicht weiter in Erwähnung bringen, fondern der Ver⸗ 
gefienheit anheimgeben.. Kat er aber gefunden, daß Died oder Jenes für 
feinen Zweck wejentlich ift, Hat er dad Für und Wider richtig abgewogen, 
fo wird er jenes wefentliche Gefundene in der That nieberfchreiben — er 
wird, können wir fagen, die Furcht Gottes vor Augen haben, aber feinerlei 
andere Furcht. Man tadle die Klugheit des Biographen, man fei mit der 
Berechnung, die er gemacht, einverftanden oder nicht, fo mwifle man doch, 
daß nur nach diefem Plane der Biograph hoffen konnte, eine Biograpbie zu 
maden und man table ihn nicht, daß er etwas gethan, was zu unterlaflen 
fein ihlimmfler Fehler gewefen wäre. 

Was die Benauigfeit oder Irrthümlichkeit diefer Angaben über die 
Ballantyned und andere angeblich verlegte Perſonen betrifft, worüber an 
gewiffen Orten jetzt viel bin und ber geftritten wird, fo willen wir Davon 
gar nichts. Wenn dieſe Angaben unrichtig nd, fo berichtige man fie; 
wenn die Unrichtigfeit vermeidbar war, fo treife den Autor Zurechtweifung 
und Strafe. Wir fönnen blos fagen, daß dieſe Dinge durchaus nicht das 
Anfehen der Ungenauigfeit haben und eben fo menig ift irgends die Fleinfte 
Spur von Bösmilligkeit oder Beindfeligkeit zu entdeden. 

Die Wahricheinlichkeit berechtigt demnach, fo lange nicht beflere Bes 


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weife zum Borfchein kommen, entſchieden zu dem Schlufle, daß tiefe Sage 
ziemlich fe ſteht, wie ſie ſtehen fell. Möge daher dad tabelnde Geichwag 
fi) fo weit verbreiten, als «8 fann. Für Mr. Lockhart gereicht «8 faftiih 
zu bem jehr bedeutenden Lobe, daß er furchtlos vor das Publikum hintre⸗ 
tend einer der Erften geweſen if, welche diefer öffentlichen Geudgelei Trap 
bieten — einer Heuchelel, die bei uns zu den weiteft verbreiteten gebört 
und, fo glatt fie auch ausficht, mit vielen andern von der grauſamſten Art 
in engem Bunde fteht. 

Der zweite Tadel, daß Ecott durch diele Biographie unheroiſch ge 
macht worten, entiproßt demielben Stamme, und if vielleicht eine noch weit 
wunderbarere Blüthe deſſelben. Der achte Held darf alio feine ausgepräg- 
ten Züge haben, jondern muß weiß, fledenlos, ein unperjönlicher Geſpenſter⸗ 
held jein. Hiermit im Zufammenhange aber ſteht eine jegt überall umlau- 
fende Hypotheſe, die wahri&einlic von irgend einem Manne, der einen Na 
men bat, ausgeht, denn ihre eigene Kraft würde jle nicht weit tragen, näm- 
N: Mr. Lockhart habe einen ftillen Groll gegegen Scott gebegt und bei 
halb alles Mögliche getban, um unser ber Hand und auf verrätberiiche Weiſe 
ihn der Gigenichaften eines Helden zu berauben'! 

@ine ſolche Hypotheſe it wirflid im Umlaufe und wer Obren hat, 
kann fie dann und wann hören. Muß. über dieſe erſtaunliche Hypotheſe 
wirklich ein Wort geſagt werden, ſo kann es blos eine Entſchuldigung unſe⸗ 
res Schweigens fein, denn es giebt Dinge, vor welchen man verfiumunt, wie 
vor den erfien Anbli des Unendlichen. Denn wenn man Wr. Lockhan 
wirklich und mit Brund einen radifalen Mangel zum Borwurf machen fana, 
wenn ihm nad irgend einer Seite Hin fein Scharfblid untreu wird, ie 
fheint der Grund gerade darin zu liegen, Daß Scott für ihn tur und durd 
liebenswürdig if, Daß Scott's Größe ſich für ihn nach allen Seiten weiter 
auöbreitet, als fein Auge reicht; daB fogar feine Fehler ſchön werden; daß 
feine gemeine Gewinnſucht blos Klugheit. und angemefiene Vorficht if; Taf 
mit einem Worte jein Werth Erin Maß kennt. Verweilt nicht der gebufdige 
Biograph bei feinen „Aecbten“, „ Piraten * und anderen bingeiworfenen thea⸗ 
traliichen Decorationdmalereien und analufirt fie, als ob es Gemälde vor 
Raphael oder der Zeit troßende Hamlet's und Othello's wären? Die Ro 
manfabrif mit ihren fünfzehntauiend Bfund Sterling jährlich if ihm heilig 
als die Schöpfung eines Genins, weldye den edlen Sieger zum Simmel ew 
porträgt. Scott ift für Lockhart der Unvergleichliche feiner Zeit, ein Gegen 


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Rand, der fid vor ihm ausbreitet, wie ein Meer ohne Küfe, und jene Hy⸗ 
potheſe Täpı ih ſonach durch nichts beantworten, als durch ausdrucktvolles 
Stillſchweigen. 

In Summa, Leſer, welche und glauben, werden Lockhart's Lebendge⸗ 
ſchichte Scott's mit der Ueberzeugung leſen, daß ein Mann von Talent, Ent⸗ 
fchiedenheit und Einſicht fie gefchrieben; daß er ſie in fieben Bänden und 
nicht in einem gefchrieben, weil das Publikum fie in dieſer Geſtalt beffer 
bezahlt, daß er fie dabei aber mit Much, mit Offenheit und Redlichkeit, mit 
einem Worte auf fehr leferlihe und empfehlenswerthe Weife geichrieben. 
Wer fie braucht, kann fle Faufen oder aud für eine geringe Gebühr Teihen 
und dabei überzeugt fein, daß er für fein Geld bier mehr Waare bat als 
dies in andern Fällen zu gefcheben pflegt. 

Und nun genug von diefer geichriebenen Lebensgeſchichte; ſchauen wir 
und nun den Mann und fein Handeln und Leben felbft ein wenig an. 


In die Brage, ob Scott ein großer Mann war oder nicht, beabfichtigen 
wir nicht tief einzugeben. Diefe Brage dreht fich, wie nur allzugebräuchlich ift, 
um blofie Worte. Es laͤßt ſich nicht bezweifeln, daß viele Menihen groß 
genannt und gedrudt worden find. Die viel, viel Fleiner waren ald er, und 
eben je wenig Täßt fich bezweifeln, daß von den ſpeziell auten ein ſehr 
groner Theil nach dem aͤchten Maßſtabe tes menidlichen Werthes in Ders 
gleich zu ihm werthloß war. 

Der, für welden Scott groß ifl, kann ihn gang unſchuldig fo nennen; 
er kann mit Vortheil feine großen Eigenſchafien bewundern und muß ihnen 
mit aufrichtigem Herzen naceifern. 

Gleichzeitig aber iſt e8 auch gut, wenn wir In uniern Pradikaten einen 
gewiſſen Brad von Präcifton zur Geltung zu bringen ſuchen. Es iſt gut, 
wenn man begreift, Daß Feine Popularität und maulaufiperrende Verwun⸗ 
derung der ganzen Belt, ſelbſt wenn fle eine ganze Reihe von Jahren fort 
geſeht würde, einen Menſchen wirklich groß machen kann. ine ſolche Por 
pularitãt IR allerdings ein bemerfenswerthes Bläd und beweiſt, daß ber 
Hann in fein Element, in feine Umflände paßte; daß aber wirklich etwas 
Großes in ihm lag, daB gebt daraus noch nicht hervor. Für unfere Eins 
bildungskraft liegt, wie oben angedeutet worden, eine gewifle Apotbeoie 
darin, in der Wirklichkeit aber liegt durchaus keine Apotheoſe darin. 


172 


Popularität if wie die Flamme einer Illumination, ober auch einer 
Feuerödrunft, die um einen Mann herum entzündet wird. Sie zeigt, wab 
an ihm iſt; vermehrt aber feine Eigenihaften nicht im minteften, oft fogar 
entfrembdet fie ihm Vieles und verzehrt den armen Mann felbit zu Aſche und 
einem caput mortuum. 


"Dann ift auch der Natur der Sache nad eine folhe Popularität von 


übergehend und die „Reihe von Jahren * findet gewöhnlich ein ganz uner- 
wartetes, ja oft plögliche® Ende. Denn die Dumnibeit der Menichen, be 
fonder& der in Maflen um irgend einen Gegenſtand verfammelten Menſchen, 
ift außerordentlih. Welche Illumination und Brände haben ſich entzündet, 
ald 06 neue himmliſche Sonnen aufgegangen wären, und bie ſich doch nur 
als Theertonnen und irdifche Strohwiſche erwieien! Profane Brinzeifinnen 
riefen: „Gin Gott, ein Farinelli!“ und wohin find nun fie und Bari- 
nelli? 

Auch in der Literatur bat man Popularitäten geiehen, die fogar noch 
größer waren als Scott’®, und ohne daß etwas Dauerndes in ihnen gelegen 
hätte. Lope de Dega, bei deſſen Namen alle Welt ſchwur und der fürmlid 
ſprichwörtlich geworden ; der ein des Beifalls ſicheres fünfactiged Trauer 
ipiel in faſt ebenio viel Stunden machen konnte; die größte aller Populari⸗ 
täten der Vergangenheit oder Gegenwart und vielleicht einer der größten 
Menſchen, die je unter die Zahl der Popularitäten gehört — Lope felbk, 
fo glänzend, fo weithinftrahlend, hat fi nicht ald eine Sonne oder ein 
Stern des Firmaments erwieſen, fondern ift fo gut wie verloren und aub 
gegangen oder fpielt im beften Halle in den Augen einiger Wenigen wie ein 
blendendes, bald wieder auf immer verfchwindendes Nordlicht. Der große 
Mann Spaniens faß unbekannt und arm als verflümmelter Krieger im Ge 
fangniß und fhrieb feinen Don Duirote. Und Lope's Schidial war troß 
dem ein trauriges, feine Vopularität vielleicht ein Fluch für ihn, denn auf 
in diefem Wanne lag etwa Aetheriſches, ein götilicher Funke, der in wenig 
anderen populären Menichen erfennbar iſt, und dennoch that dieſer weithin 
ſtrahlende Blanz, obihon alle Welt dabei ichwur, für fein wahres Leben, 
felbd während er noch lebte, nichts. Er mußte in ein Kloſter, ın eine 
Mönchskutte Eriehen und mit unendliher Wehmuth erfahren, daß feine 
Slüdieligkeit in etwas Anderem lag, und daß, wenn das Leben des Mew 
hen ih Eranf und verirrt fühlt, Fein Beifall der ganzen Welt e8 wieber 
gefund und richtig machen Fann. 


173 


Oder wenn wir unfere eigene Zeit ins Auge faflen, war nicht Augufl 
Kogebue auch populär? Kogebue ſah vor nicht erft vielen Jahren, wenn 
Gefchrei und Händeklatſchen Glauben verdienten, den größten Mann in ſich; 
er fab feine Gedanken ſichtbar in Plüich und Bappe gefleidet in dem civili⸗ 
firten Europa umperftolziren ; die etjernften Geſichter weinten mit ihm in 
allen Theatern von Kadix bis Ramfchatla und fein „wunderbareö Genie * 
producirte mittlerweile durchfchnittlich zwei Trauerfpiele pro Monat. Er 
loderte im Ganzen genommen hoch genug, aber auch er ift in Nacht und 
Orkus verfunfen und ſchon nicht mehr. 


Aus diefen Gründen wollen wir von der Popularität ganz abfehen 
und annehmen, Daß fle zu Scott's Größe oder Nichtgröße einfach nichts bei= 
trage; wir wollen fie mit einem Worte nicht al8 eine Eigenfchaft, ſondern 
als einen bloßen Zufall betrachten. 


Dieſes trügerifhen Nimbus entkleidet und auf die eigenen natürlichen 
Dimenflonen zurüdgeführt, bleibt und die Wirklichkeit übrig — Walter 
Scott und was wir in ihm finden können, um es je nad den Dialekten der 
Menfdyen groß oder nicht groß zu nennen. Freunde einer entichiedenen und 
genauen Austrucdsmeife werden wahrfcheinlich jeinen Anfpruch auf den Na⸗ 
men „groß“ in Abrede ftellen. Wie und fcheint, gehört auch allerdings ein 
anderer Stoff ald wir bier entdecken können, dazu, um einen großen Dann 
zu machen. | 


Man weiß nämlich nicht, von welcher Idee, die des Namens einer 
großen würdig wäre, von welchem Beftreben oder Inftinkt, den man groß 
nennen könnte, Scott jemals durchdrungen geweien wäre. Sein Xeben war 
weltlich ; fein Ehrgeiz war weltlih. Es Liegt nichts Geiſtiges in ihm; fon« 
dern Alles ift materiell und irdiſch. Liebe zum Malerifchen, zum Sc,önen, 
Kräftigen und Anmuthigen; ; eine ächte Liebe, die aber nicht ächter war, ala 
fie in hunderten von Menſchen gewohnt hat, weldhe man Eleinere Dichter 
nennt, dies ift die höchſte Eigenfchaft, die in ihm zu erkennen ift. 


Sein Talent, diefe Dinge darzuftellen, fein poetiſches Talent war eben 
fo wie feine moralifche Fähigkeit ein Genius in extenso, wenn wir fo fagen 
dürfen, nicht in intenso. In der Praris wie in der Theorie erhob er fich, 
fo breit er audy war, doch nirgends hoch und, in Bezug auf Quantität über 
alle Maßen fruchtbar, überfchritt er doch hinſichtlich der Qualitat die Region 
bes Gemeinplatzes größtentheild nur ein ganz Elein wenig und man hat des⸗ 


174 


Hals mit Hecht gefagt: Kein Autor bat fo vicle Bände mit fo wenigen zum 
Gitiren geeigneten Sentenzen geſchrieben. 

Beflügelte Werte waren nicht jein Beruf; nichts drängte ihn na 
diefer Richtung Hin ; dad große Geheimniß des Dafeind war ihm nicht groß; 
es trieb ihn nicht in felfige Einöden, um bier mit diefem Geheimnis um 
eine Antwort zu ringen und diefe Antwort entweder zu erhalten oder unter 
zugehen. Er beſaß nichts vom Märtyrer; er wagte fih in keine finfere 
Region hinab, um zu unferem Beſten Ungeheuer zu erlegen. Seine Siege 
galten der Hauptiadhe nah dem eigenen Nupen; ed waren Siege über ges 
wöhnliche Marftarbeit, die nach guter Flingender Iandesüblicher Münze bes 
rechnet werden konnte. 

Es möchte ſchwer fein, zu fagen, worauf er fein Vertrauen feßte, ande 
genommen auf Macht, nämlich Macht irgentwelder, ſelbſt der gemeinften 
Art. Man fleht nicht, daß er an irgend etwad geglaubt hätte, ja er leugs 
nete nicht einmal, fondern ſtimmte ruhig bei und machte ſich in einer Welt 
der Sonventionalitäten nab Möglichkeit heimisch. Das Falſche, Das Halb⸗ 
faliche und das Wahre waren für ihn gleihmäßig wahr Darin, Dan fie da 
waren und mehr oder weniger Gewalt in den Kanten hatten. 

Es war ſchön, dieſer Anficht zu fein und dennod nicht ſchön! GE. 
fteht gefchrieben: „Wehe Denen, die bequem figen in Zion,“ aber ſicherlich 
beißt ed auch: Doppelt wehe Denen, die bequem figen in Babel, in Dom⸗ 
daniel. Andererfeitd fchrieb er vicle Bücher und amüfirte dadurch vice 
taufend Menſchen. Sollen wir dic groß nennen? Wie und ſcheint, wohnt 
und flrebt in dem Innern großer Menichen ein anderer Geiſt. 

Bruder Ringletub, der Milfionair. fragte Nam Daß, einen hindu'ſchen 
Menſchengott, der fich erft Fürzlich zur Gottheit aufgeworfen, was er wohl 
mit den Sünden der Menſchheit anzufangen gedenfe? Worauf Ram Daß 
fofort antwortete: er babe in feinem Bauche Keuer genug, um 
alle Sünden in der Welt zu verbrennen. Ram Daß batte fo weit Recht 
und es lag ein gemifier Sinn darin, denn fiherlich ijt Died das Kennzeichen 
eined jeden göttlichen Menichen und ohne daſſelbe ift er meter göttlich noch 
groß. Wozu ift er fonft da, ald daß er Feuer in fih habe, um einen Theil 
von den Sünden der Welt, von dem Elend und den Irrthümern der Welt 
zu verbrennen? 

Fern fei ed von und, zu fagen, daß ein großer Mann nothwendig cin 
fogenannter Breund des Menſchengeſchlechts werden müfſe, ja daß nicht Diele 


175 


ſich ſelbſt ſo nenmenden felbftbewußten Menichenfreunde die verderblichſten 
Individuen feien, die wir in unierer Zeit antreffen können. Alle Größe iſt 
mbewußt oder fie if gering und nichtig. Und dennoch wäre ein großer 
Mann ohne ein ſolches Feuer, mag ed num düſter oder entwidelt als ein 
göttlicher Funke in feinem Herzen der Gerzen brennen, ein Soloͤcismus in 
der Ratur. Ein großer Mann if ſtets, wie die Trandcendentaliften fagen, 
von einer Idee beieflen. 

Napoleon felbft, gewiß nicht der fiperfeinfte der großen Männer und, 
hinreichend mit Klugheiten und GEgoismen belaftet, hatte nichtädeftomeniger, 
wie ziemlich Elar ift, eine Idee, von welcher er außging, — die Idee, daß 
die Demofratie die Sache der Menſchheit fei, Die richtige und unendliche 
Sache. Demgemäß machte er fih zum bewaffneten Soldaten der Demofra- 
tie und vindicirte fie in allerdingd großartiger Weile. Ja, bis zum legten 
Augenblide Hatte er eine Art von Idee, nämlich die, welche er mit den Wor⸗ 
ten ausſprach: „La carri&re ouverte aux talens,“ die Werfzeuge gebühren 
Dem, der fie zu handhaben verſteht; in der That eine der beflen Ideen, die 
jemal& über dirfen Gegenſtand ausgeſprochen worden, oder vielmehr die eine 
wahre Gentralidee, nach weldyer alle übrigen, wenn fie überhaupt eine Ten- 
denz haben, hinftreben müflen. 

Unglüdlichermeife fonnte Napoleon dieje feine Idee nur auf dem mi⸗ 
litairiichen Felde verwirklichen, weil er lange Zeit gezwungen war, zu käm⸗ 
pfen, um fich felbft zu behaupten. Ehe er fie in einiger Ausdehnung in dem 
Givilbereihe der Dinge erprobt hatte, warb fein Kopf durd viele Siege 
ſchwindlig, denn fein Kopf kann mehr ald eine beſtimmte Quantität von 
Gluͤck ertragen und er verlor den Kopf, wie man zu fagen pflegt, und ward 
ein ehrgeisiger Egoift und Charlatan. Deshalb warf nıan ihn hinaus und 
er hinterließ die Verwirklichung feiner Idee im Civilbereiche der Dinge An- 
deren. 

Sp war Napoleon ; jo find alle großen Männer Kinder ber Idee oder 
wie Ram Daß fih ausdrüdt, mit Feuer begabt, un dad Elend der Menjchen 
zu verbrennen. Bewußt oder unbewußt, fchlummernd oder entwickelt, iſt 
in Scott's innerem Menſchen nur wenig Spur von einem folchen Feuer zu 
eutdeden. 

Und doch muß andererſeits ſelbſt der fauertöpfiichite Kritiker zugeben, 
daß Scott ein ächter Mann war, was fchon an und für fi etmad Großes 
if. Keine Affection oder Verzerrung wohnte in ihm, fein Schatten von 


176 


Seudelei. Sa, war er nicht in feiner Art ein waderer, tapferer und flarfer 
Bann? Weld eine Laft von Mühe, wel ein Maß von Glückſeligkeit trag 
er rubig mit fich entlang ; mit welcher ruhigen Kraft wirfte und freute er 
fih auf dirier Erde, unüberwindlih für böſes Geſchick und für gutes! Ein 
gefaßt unüberwindlicher Mann war er; in Schwierigkeit und Noth kanme 
er feine Entmuthigung, fondern trug glei Simfon auf feinen flarfen Sim- 


ſonſchultern die Thore fort, die ihn einferfern follten, und in Gefahr nd 


Drohung verlachte er das Klüftern der Furcht. 

Und welch ein fonniger Strom ächten Humor und älter Humanität, 
welche freie, freudige Sympathie mit fo vielen Dingen befeelte ihn! Weldes 
Feuer durchglühete ihn, welche verborgene fruchtbare, innere Wärme des 
Lebend! Er war — dies läßt ſich nicht leugnen — ein rüftiger, geſunder 
Mann. 

Unjere beſte Definition von Scott ift vielleicht eben die, daß er, wenn 
fein großer Mann, dann etwas war, was weit angenehmer ift, zu fein — 
ein rüfliger, durch und durch gejunder und dabei ſehr glüdliher und ſteg⸗ 
reicher Mann. Er war ein Mann in eminent guten VBerbältniffen, geiumd 
an Körper, gefund an Seele; wir nennen ihn einen ter gefündeftrt 
Menſchen. 

Und das iſt keine Kleinigkeit. Die Geſundheit iſt ein hochwichtiger 
Gegenſtand für ihren Beſitzer ſowohl als für Andere. Im Ganzen genom⸗ 


men und bei Lichte betrachtet hatte daher jener Humoriſt nicht fo ganz Un 


recht, wenn er ſich vornahm, bloß die Geſundheit zu ehren und, anftatt ih 
vor den Hochgebornen, den Reichen und Wohlgefleideten zu demüthigen, 
darauf beftand, blos vor den Befunden feinen Hut habzuzieben. Hoch⸗ 
adelige Equipagen mit bleichen Geſichtern darin rollten unbeachtet als er 
barmlich und befagenswerth vorbei; Karren Dagegen, von rothiwangiger 
Kraft gezogen, wurden ald erfolgreih und ehrwürdig begrüßt. Denn ber 
deutet nicht Geſundheit Harmonie, ift fie nicht gleichbedeutend mit Allem, 
was wahr, richtig geordnet und gut ift? Iſt fle nicht in einem gewiſſen 
Sinne, wie die Erfahrung zeigt, die Totalſumme alles Werthes, der in und 
liegt? 

Der gejunde Mann ift ein höchſt ſchätzbares Naturproduft, injoweit er 
ed eben fein fann. Gin gefunder Körper ift gut, aber eine gefunde Seelt 
ift mehr als alles andere Das, was der Menſch ſich erbeten muß, das Herr 
lihfte, womit ter Himmel unfere arnıe Erte beglückt. Ohne Fünftlid 


177 


vhilofophiſche Medikamente, ohne Die Schnürbruß der — doch ſtets ſehr 
zweifelhaften — Slaubendbekenntniffe erfennt die gefunde Seele, was gut 
if, nimmt es an und hält daran feſt; fie erfennt auch, was fchlecht ift und 
Kößt es freiwillig vun ſich. Gin Inflinft gleih dem, welcher den wilden 
Ihieren des Waldes den Weg zu ihrer Nahrung zeigt, ſagt dem mit einer 
gefunden Seele begabten Menſchen, wad er ihun, was er laſſen fol. Was 
fall und frembartig tft, haftet nicht an ihm. Heuchelei und alle phantaflie 
fhen, frankhaften Incruftationen find unmöglich, eben jo wie Walter, das 
Driginal, — einer fo außgezeichneten Geſundheit erfreute diefer ſich ſei⸗ 
nerfeitd — es trotz aller Enthaltiamfeit von Seife und Waſſer nicht zu 
einem ſchmutzigen Sefiht bringen fonnte! Mit Diefem da kannſt du ars 
beiten und Nugen davon haben, denn e8 iſt tüchtig und würdig ; mit Ienem 
dagegen kannſt du nicht arbeiten, denn es iſt untüchtig und trivial — ſo 
ſpricht untrüglich die innere Mahnung der ganzen Menſchennatur. Es bes 
darf feiner Logik, um zu beweifen, "daß felbft die argumentenreichfte Abge⸗ 
ſchmacktheit dennoch abgeihmadt if, fo wie Goethe von ſich ſelbſt fagt: 
„Alles dies ran von mir herab wie Wafler von einem Menſchen in Wachs⸗ 
tuchfleidern.” Geſegnet ift die geſunde Natur, denn fie tit die zufammen« 
bängende mild zufammenwirfende, nicht unzuſammenhängende ſich ſelbſt zer⸗ 
ſtörende, fich feloft vernichtente! Bei der harmoniihen Abwägung und dem 
Einklang aller Fähigkeiten verleihet das richtige Gleichgewicht des eigenen 
Selb auch ein richtiges Gefühl gegen alle Menſchen und alle Dinge; ein 
hehres Licht von innen ftrahlt nach außen und erleuchtet und verichönt. 

Alles Died nun laßt fi auf Walter Scott anıvenden und von feinem 
Manne der britiichen Xiteratur, deſſen wir uns in neuerer Zeit erinnern, 
in folbem Grade — wenn nicht vielleicht von einem, dem fchroffften Gegner 
Scott's, den man fid) tenfen kann, ober in diefer @igenihaft und mas Dazu 
gehört, ihm ebenbürtig: William Cobbett. Ja, es bieten ſich zwifchen dies 
fen beiden Männern nody andere Aehnlichkeiten dar, fo verſchieden fie auch 
von einander ausichen. 

Ein joldyer Bergleih hat für Scott durchaus nichts Beeinträchtigen« 
des, denn auch Gobbrtt iſt ald der Mufter-John Bull feines Jahrhuntertg, 
ſtark wie das Rhinoceros, während ganz eigenrhümliche Humanitäten und 
Genialitären durch fein dickes Hell hindurchſchimmern, ein fehr wackeres 
Bhänomen. In tem kränklichſten aller Zeitalter, von melden die Geſchichte 
erzählt, als die bririjche Literatur gepeinigt von Wertherismus, Byronis⸗ 

Carlyle. III. 12 


178 


mus und anderem thränenreichen oder Erampfhaften, durch inneren Wind 
erzeugten Sentimentalismus, fo zu jagen, in der Maufer lag, war die Ras 
tur fo gütig, uns zwei gefunde Männer zu fenden, von welden fie noch nidt 
ohne Stolz jagen Eonnte: „Auch diefe wurden in England geboren, auch 
hier fchaffe ich noch ſolche Glieder!” Es ift dies eine der erfreulichften Er⸗ 
ſcheinungen, möge man die Frage über die Größe entfcheiden wie man wolle, 
Ein gefunde Natur kann groß fein oder nicht groß fein; aber es giebt Feine 
große Natur, die nicht gefund wäre. 

Oder fünnen wir im Ganzen genommen nicht fagen, Scott fei in dem 
neuen Gewande des neunzehnten Jahrhunderts ein treues Abbild tes alten 
fampfluftigen &renzbewohners früherer Jahrhunderte geweſen; die Gattung 
Menſch, weiche die Natur fonft in feinem Geburtölande jhuf? Im Sattel 
mit dem Kampfipeere in der Hand würde er feine Aufgabe eben fo gut er« 
füllt haben wie er am Pulte mit feiner Weder that. Man kann ſich faſt 
vorftellen, wie er felbft ein folder rüfliger, mit dem Schwert umgürteter 
terrae filius war, wie er fie in feiner Zeit zu malen liebte. Diefelbe rüftige 
Selbftgülfe lag in Ihm; fein Herz war mit demfelben Eichenholz und dreis 
fachen Erz umgeben. Er war ein Mann ohne Sfrupel oder phantaſtiſche 
Brillen; ein Mann von hartem Kopf, gefundem Herzen, freudigem, rüftie 
gem Temperament, der ſtets den Hauptfleg ind Auge faßte und direct darauf 
zufoht. Auch er hätte in Redéwire mit gekämpft, auch er hätte Viehheer⸗ 
den vom Belde mit wegftehlen Helfen, auch er hätte fih für Beleidigungen 
mit Zinfeszinfen wieder abgefunden. — Wie viel hätte in diefem Falle in 
ihm gefhlummert und wäre mit ihm wieder verfchwunden, ohne ein Lebens⸗ 
zeichen von ſich zu geben! 

Wer weiß aber überhaupt, wie viel in vielen Menſchen ſchlummert? 
Vieleicht find unjere größten Dichter die ſtummen Miltond; bie Tauten 
find die, welche wir durch glüdlichen Zufall erfafien — einen bier, einen 
dort. Es iſt fogar die Brage, ob, wenn nicht Mangel, Noth und Verwicke⸗ 
lungen anderer Art in Stratford am Avon thätig gewefen wären, Shake 
fpeare fel&ft fein ganzes Leben lang etwas Anderes gethan, als Wilddieberei 
getrieben oder Wolle gefänmt Hätte! Wäre das Project mit der Penflonss 
ſchule in Edial nicht verunglückt, fo hätten wir vielleicht niemals etwas von 
Samuel Johnſon gehört; Samuel Johnſon wäre ein fetter Schulmeifter 
und pedantifcher Gerundiumbrechöler geworben und hätte nie erfahren, daß 
er mehr war. Die Natur iſt reich; diefe beiden Eier, welche du forglos 


179 


zum Frühſtück iffeft, hätten fle nicht zu ein Paar Hühnern audgebrütet wer« 
den und die ganze Welt mit Geflügel bedecken können? 

Der muthige Srenzhäuptling, von dem wir bier fprechen, war jedoch 
nicht Geftimmt, eine wirflicdhe Zange zu brechen, das Schwert zu ziehen oder 
Bichheerden wegtreiben zu Helfen. Seine Aufgabe war eine ganz andere, 
Der Balladenfänger und angenehme Befchichtderzähler für Britannien und 
Europa im Anfange des künſtlichen neunzehnten Sahrhunderts zu fein — 
hierin und nicht dort lag fein Werk. 

Wie er fi in diefes neue Element bineinfindet, wie er fi darin forte 
Hilft, wie er audy dieſes für fih nugbar zu machen verfteht, gefund und fleg« 
reich darin lebt und eine Beute über die Marſchen hinwegtreibt, gegen welche 
alle von den Hardens jemald geraubten Viehheerden eine Kleinigkeit find 
— dies ift die Geſchichte des Lebens und ber Heldenthaten unferes Sir 
Walter Scott, Baronet, die wir jegt ein wenig ins Auge faflen wollen. 
Es ift dies ein merkwürdiger, ein tüchtiger Gegenftand von freutiger, fieg⸗ 
reicher Art, welcher wohl verdient, daß man ihn richtig anſchaue. 

Indeflen wird ein Blick auf dieſe und jene Seite genügen. Unſere 
Grenzen find eng; die Sache if, wäre fie auch noch fo fiegreich, nicht von 
erhabener Art und auch nicht außerordentlich erbaulih. Sie bietet nichts 
dar, was man heftig tadeln oder heftig Tieben könnte; es giebt dabei mehr 
zu vermwundern, ald zu bewundern und das ganze Geheimniß ift Fein ab» 


ſtruſes. 


Bis zu dem dreißigſten Jahre bietet Scott's Leben nichts dar, was 
entſchieden auf die Literatur oder überhaupt auf Auszeichnung irgend einer 
Art hindeutete. Er iſt verheirathet, haͤuslich und geſchaͤftlich eingerichtet 
und hat bis jetzt noch ohne eine Symptom von Ruf oder Ruhm alle ſeine 
vorläufigen Stufen durchgemacht. Es iſt die Lebensgeichichte eines jeden 
anderen Edinburger jungen Mannes ſeines Standes und ſeiner Zeit. 

In vieler Beziehung müflen wir dieſes Leben ein glückliches nennen. 
Eltern in wohlhabenden Umfländen, aber frei von den Bebelligungen und 
Verkehrtheiten der Ariftofratie ; nichts Hervorragendes in Bezug auf Rang, 
Faͤhigkeit oder Kultur, aber doch auch Fein Mangel; alles rings umher ift 
methodifche Ordnung, Klugheit, Gedeihen und Herzensgüte — ein Element 

12* 


180 


von Wärme und Licht, Liebe, Betriebſamkeit und bürgerlichen zur Eleganz 
erhöhten Comfort, worin das junge Gerz ſicher und gedeihlich wachen 
kann. 

Eine kräftige Geſundheit ſcheint ihm von der der Natur verliehen zu 
fein und doch, ald ob die Narur gefagt hätte, „e# foll eine Geſundheit feim, 
die fi durch ten Körper, nicht durch ben Geiſt ausſpricht“, tritt in ber 
Kindheit eine Lähmung hinzu. Der wadere Eleine Knabe muß anflatt ber 
umfpringen zu können, denken lernen oder wenigftend, was feine Kleinigfeit 
if, flilligen. Für diefen jungen Walter giebt es fein Ballipiel und Fein 
Meifentreiben, fondern Balladen, Geſchichtsbücher und eine ganze Welt voll 
Sagen, womit jeine Mutter und die übrigen Berionen in feiner Umgebung 
reichlich im Stande find, ihn zu verfeben. Die Krankheit, weldye nur ober- 
flächlich iſt und mit äußerer Lahmheit endet, ummölft dad junge Daiein 
nicht, jontern führt es mehr der Entfaltung entgegen, für welche es geichaf- 
fen if. Die Kranfheit war eine der inneren edlen Theile geweien und hatte 
die allgemeine Organifation beeinträchtigt, jo daß, wenn fie nicht geheilt 
worden wäre, fein Walter Scott trog aller feiner anderen Begabungen er⸗ 
zeugbar oder möglidy geweien wäre. „Die Natur giebt gelunden Kindern 
viel“, wie viel! ine weite Erziehung ift eine weife Entfaltung dieſes Ge⸗ 
ſchenks; oft aber entfaltet e8 fih von ſelbſt noch beſſer. 

Man bedenke hierbei noch einen anderweiten Umſtand — den Drt, 
naͤmlich das presbpterianifche Schottland. Die Einflüffe dieſes Umflantes 
machen ſich unaufhörlich fühlbar, fie ſtrömen zu allen Poren herein. „E38 
liegt, * fagt 2a Rochefoucault, „ein heimiſcher Accent nicht 6106 im- Reden, 
fondern auch im Denken, Handeln, im Charafter und in der Lebensweiſe 
bes Menſchen — ein Accent, der ihn niemals verläßt." Ecott war, glauben 
wir, fein Leben lang ſchoitiſcher Diſſenter; Darauf kommt aber wenig an. 
Niemand, der Schottland und Scott fennt, kann bezweifeln, DaB auch der 
Presbyterianismus einen ungeheuern Antheil an feiner Ausbildung hatte. 

Gin Land, deffen ganzes Volk im innerften Herzen von einer unend⸗ 
lichen religidien Idee ergriffen und erfüllt ift oder dies auch nur einmal ges 
weien ift, bat einen Schritt gethan, den es nicht wieder zurüdthun kann. 
Der Gedanke, das Bewußtfein, dad Gefühl, daß ter Menſch Bürger eines 
Weltalls, Geſchöpf einer Ewigkeit ift, Hat die fernfte Hütte, das einfachfte 
Herz durchdrungen. Schön und ehrfurdtgebietend überfchattet das Gefühl 
eined himmlischen Berufes, einer von Gott auferlegten Pflicht, das ganze 





181 


Leben. Es lebt Begeifterung in einem ſolchen Volke und man fann in 
engerem Sinne fagen: die Begeifterung des Allmächtigen giebt dieſen 
Nenſchen Berftand. 

Ehre allen TBaderen und Wahren; ewig dauernde Ehre dem braven 
alten Knox, einem der Wahrften der Wahren! Daß er in dem Augenblide, 
wo er und feine Sache unter bürgerlichen Wirrntiien noch ums Leben kaͤmpf⸗ 
ten, den Schulmeifter hinaus fendete an alle Eden und fagte: „Man uns 
terrichte daS Volk“, dies ift 6lo8 ein und in der That unnermeidlicher und 
verhältnismäßig unbedeutender Theil feiner großen Botſchaft an die Men« 
fen. Seine Botſchaft in ihrem wahren Umfange lautete: Laſſet die Men⸗ 
ſchen wiffen, daß fie Menfchen find, von Bott gefchaffen, Bott verantwortlich 
und die in dem geringften Augenblide der Beit wirken, was in alle Ewig⸗ 
keit dauert. Es ift in der That eine große Aufgabe. Nicht Pflüg- und 
Sämmermafchinen, nicht Verdauungsmaſchinen, um das Produkt jener erften 
zu verbauen, auch nicht geborene Sklaven, weder ihrer Mitmenfchen noch 
ihrer eigenen Gelüſte, follen fle jein, fondern vor allen Dingen Menſchen! 
Diefe große Botſchaft verfündete Knox mit der Stimme und Kraft eines 
Mannes und fand ein Volk, welches ihm glaubte. 

Eine folde That, jagen wir, bat, wenn fle auch nur ein einziges Mal 
ausgeführt wird, unermeßliche Folgen. Der Gedanke kann in einem folchen 
Lande wohl feine Form ändern, aber niemals erlöfhen. Das Land ift 
majorenn geworden, der Gedanke und eine gewiſſe geiftige Mannheit, 
bereit zu jedem Werke, welches der Menfch thun kann, dauert bier fort. 

Diefer Gedanke kann viele. Kormen annehmen, die Form Fnauferigen, 
geldgierigen Fleißes wie bei dem gemeinen Schotten, bei dem gemeinen Neu⸗ 
engländer ; aber als eine compakte, entwidelte Kraft ift er Immer noch da. 
Bu einer Zeit kann diefer Gedanke ſich als der Foloffale Skepticiemus eines 
Sume, der titanengleich durch Zweifel und Korfchung hindurch dem neuen 
Glauben entgegenfämpft, oder zu einer beflern Zeit als die begeifterte Me⸗ 
Iodie eines Burns ausſprechen. Mit einem Worte, ex ift da und offenbart 
Ah fortwährend in der Stimme und in dem Werfe einer Nation fleißiger, 
Arebfamer, bedächtiger Menſchen und Allem, was darin liegt oder daraus 
entwickelt werden fann. | 

Der ſchottiſche Nationalcharakter hat feine Wurzel in vielen Umſtän⸗ 
den. Zuerft und vor Allem in dem ſächſtſchen Biute, auf welches hier einzu⸗ 
wirken war, zunächft aber, und mehr als in fonft etwas, in tem presbyte⸗ 





182 


rianifchen Evangelium von John Anor. Es ſcheint ein guter National- 
charakter zu fein, von manchen Seiten aber auch nicht fehr gut. Scott be= 
danke fi bei Sohn Knor, denn er war ihm viel fchuldig, fo wenig er ſich 
auch eine Schuld nach diefer Richtung bin träumen ließ. Kein Schotte ſei⸗ 
ner Beit war durch und durch ſchottiſcher als Walter Scott; das Bute und 
das nicht jo Gute, welches allen Schotten angeboren iſt, durchdrang bei ihm 
jede Faſer. 

Scott's Kindheit, Schultage, Studentenjahre find angenehm zu lefen, 
obſchon fie von denen Anterer an feiner Stelle und in feiner Zeit weiter 
nicht verfchieden find. Das Andenken an ihn wird wahricheinlich jo lange 
dauern, bis die Geſchichte dieſer feiner Iugendzeit weit intereflanter gewor⸗ 
den, als fie jetzt il. „Sp lebte ein noch unentwidelter Edinburger Schrift« 
fleller zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, * jagt vielleicht ein Fünftiger 
ſchottiſcher Romanichreiber zu Ende des einundzwanzigfien bei ſich ſelbſt. 

Das nachſtehende kleine Fragment Kindheit ift Alles, wad wir Bier 
auszugsweiſe mittheilen können. Es ift einer Autobiographie entnommen, 
die er begonnen und von weldyer man nur bedauern faun, daß es ihm nicht 
bergönnt war, fie zu beenden. Scott's befle Eigenichaften entwidelten ſich 
in keinem fchöneren Kichte, ale wenn er Anekdoten und Erinnerungen vers 
arbeitete. Ein folcher Meifter im Erzählen und feiner ſelbſt würde eine 
Geſchichte feiner eigenen Perſon gut durchgeführt haben. Hier, wenn 
irgendwo, war feine Kenntniß vollfläntig und all fein Humor und feine 
gute Laune hatten freien Spielraum. 

„Gin feltiamer Zufall,* fagt er, „verdient, daß ih ihn erzähle. Meine 
Mutter hatte, während ich mich auf diefem Meierhofe Sandy Knowe befand, 
ein Mädchen zu meiner Abwartung mitgeſchickt, damit ich der Familie nicht 
Taftig fallen möchte. Die mit dieſer wichtigen Miſſion beauftragte Dirne 
aber hatte ihr Herz wahrfcheinlid in dem Gewahrfam irgend eines wilden 
Burſchen gelaflen, der ihr mehr verfprochen, ald er zu halten geionnen war. 
Deshalb Tag außerordentlich viel daran, wieder nah Edinburg zurüdzufch- 
zen und da meine Mutter darauf befland, daß fie bliebe, wo fie wäre, fo 
faßte fie einen gewifien Haß gegen mich, weil ich die Urſache war, daß fie in 
Santy Knome bleiben mußte. Dieſes Gefühl fleigerte fib bis zu einem 
gewifien Deliriun, denn fle geftand der alten Alizon Milion, der Haushäl« 
terin, fie fei, während fie mic dorthin gebracht, vom Teufel verſucht wor⸗ 
den, mir mit ihrer Scheere Die Kehle abzufchneiden und mid in dem Moofe 


183 


zu vergraben. Alizon nahm fofort Beſitz von meiner Perſon und trug 
Gorge, daß ihre Dertraute, wenigften® fo weit ich in Brage käme, keiner 
weiteren Verſuchung ausgelegt würde. Sie ward, wie fih von felbft 
verfieht, entlaſſen und ich babe gehört, daß fle fpäter wirklich wahnfinnig 
ward. | 

„Hier in Sandy Knowe, dem Wohnort meines ſchon erwähnten Groß⸗ 
satırd von väterlicher Seite, gewann ich das erſte Bewußtſein meiner Eriftenz 
und ich entfinne mich deutlih, daß meine Situation und Erſcheinung ein 
wenig grotesk war. inter vielen andern ſonderbaren Mitteln, zu welchen 
man Zufludt nahm, um mid von meiner Lahmheit zu furiren, hatte Je⸗ 
wand empfohlen, daß fo oft als zum Gebrauche der Familie ein Schaf ge= 
ſchlachtet würde, ich vollſtaͤndig entkleidet in die dem Thiere abgezogene, noch 
warme Haut gewidelt werden follte. In dieſem Tartarengewande lag ich, 
wie ich mich noch recht wohl entfinne, auf dem Fußboden des Fleinen Wohn- 
zimmer& in dem Meierhofe, während mein Broßvater, ein ehrwürdiger alter 
Mann mit weißem Haar, alle möglichen Berlodungen aufbot, um mich zum 
Kriechen zu bewegen. Eben fo entfinne ich mich noch ganz deutlich, daß ber 
verflorbene Sir Beorg M’Dougal von Maderstown, Bater des jegigen Sir 
Henn Hay M’Dougal, an diefen Berfuchen Theil nahm. Er war, Gott 
weiß wie, ein Berwandter von und und ich entfinne mic, feiner noch recht 
gut, wie er in feiner altuäteriichen Uniform — er war Oberft bei dem 
„grauen Meiterregiment* geweſen — mit einem Fleinen breitbetreßten drei⸗ 
eigen Hute, einer geſtickten ſcharlachrothen Weſte und einem beilfarbigen 
Node, während feine mildhweißen. Loden nad militairifher Weife in die 
Höhe gefrempelt waren, vor mir auf dem Boden kniete und feine Uhr den 
Teppich entlang zog, damit ich ihr folgen möchte. Der gutmüthige alte 
Soldat und das in fein Schaffell gewidelte Kind würden weiter nicht dabei 
intereſſirten Zuſchauern eine feltiame Gruppe dargeboten haben. Es muß 
Died ungefähr in meinem dritten Jahre (1774) geſchehen fein, denn Sir 
Georg MDougal und mein Großvater flarben beide bald nach jener 
Zeit." 

Wir werfen num zunädhft einen Blick auf die Ausflüge in Liddesdale. 
Scott if zu einem munteren, jovialen jungen Manne und Advocaten herane 
gewachſen. In der Berienzeit macht er Ausflüge in die Hochlande und nad) 
Northumberland; reitet frei und weit auf feinem flarfen Balloway « Hofie 
über Moor und dur Geſtrüpp, über das büflere flreitbare Marichland, 





184 


über Flodden und andere Felder und Pläge, wo, obſchon er es nod nid 
wußte, fein Werk lag. | 

Es giebt fein Land, wie duͤſter und fumpfig ed auch fein möge, welches 
nicht feinen Dichter gehabt Hätte oder noch haben wird und auf dieſe Weiſe 
in der Welt des Geſanges nicht unbekannt if. Da Liddesdale, welthes 
einft chen jo profaiich war wie die meiften Thäler, jet Berühmtheit erlangt 
bat, fo wollen wir unfere Blicke dahin leuken. Auch Liddesdale liegt anf 
diefer unferer alten Erde, unter diefem ewigen Himmel und giebt und 
nimmt auf die unberechenbarfle Weife mit dem großen Weltall! Scott's Er» 
fahrungen Hier And von ziemlich ländlich arfadifcher Art, wobri auch das 
Element des Whisky nicht fehlt. Wir müſſen vorausichiden, daß hier und 
da ein Zug vielleicht um des Effects willen übertrieben worden if. 

„ Sieben Jahre hintereinander, * fchreib Mr. Lockhart — denn die Autos 
biographie bat uns fchon lange verlafien — „machte Scott einen Ausflug 
oder Einfall (raid, wie er es nannte) nad Liddesdale, wobei ihm Wr. 
Shortreed, Unterſcherif von Rorburgh, als Bührer diente und wobei jeber 
Bah bis an feine Duelle und jede Thurmruine von der Brundmauer bis 
zur Zinne erforicht ward. Damald war noch nie ein Raͤderwagen in dieſer 
Gegend geiehen worden und das erfte war ein Gig, in welchem Scott auf 
ber Ichten dieſer ſieben Ausflüge einen Theil tes Weges zurüdlegte. Im 
ganzen Thale gab ed feinen Gaſthof oder ein Wirthöhaus von irgendwelder 
Art; die Reifenden gingen aus der Hütte des Schäfers in die Wohnung 
des Beiftlihen und nachdem fie bier Heitere Gaſtfreundſchaft genofien, hieß 
man fie in dem Bauergehöft mit bieberer Treuherzigfeit willfommen. Das 
bei ſammelten fle überall Lieder und Melodien und dann und wann auch 
materiellere Reliquien der alten Zeit und eine Menge alter Siebenſachen, 
fo wie Burns tem Kapitain Brofe zufchreibt. 

Diefen Streifzügen verdankte Scott einen großen Theil der Materla« 
lien zu jeinem „ Rinnejang der fchottifchen Grenze“ und nicht weniger jene 
genaue Belanntidaft miı den lebenden Sitten und Gebräuchen jener patrkare 
halifhen Megionen, welche den Hauptreiz eines der anmutbigften feiner 
profaifhen Werfe ausmadt. Wie bald er aber Hei diefen feinen Forſchun⸗ 
gen einen beſtimmten Zweck vor Augen hatte, ſcheint ſehr zweifelgaft zu 
fein. „Er fammelte fortwährend, * fagte Mr. Shortreed, „aber er wußte 
vielleicht erft nach Jahren, was er eigentli wollte, anfangs dachte er, 
glaube ich, an weiter nichts, als an die Sonderbarfeit und die Kurzweil.“ 


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„Zu jener Zeit,” jagt die mir vorliegende Notiz, „waren die Adtes 
caten nicht fo Häufig — wenigfiend nit in der Gegend von Liddesdale.“ 


- Und der würbige Unterfcherif befchreibt nun dad faft an Schreien grenzende 


Anffehen, welches fe in dem erſten Bauernhaufje (Willie Elliot's in Mills 
buraholm) erregten, als der ehrliche Hauswirth von dem Stande eines feiner 
Bäfte in Kenntniß gefept ward. Als fie abfliegen, empfing er daher Mr. 
Scott mit großer Ceremonie und befland darauf, jein Pferd felbft in den 
Stall zu führen. Shortreed begleitete Willie jedoch und nachdem der letz⸗ 
tere ih Scott durch tie Spalte zwiiden Thür und Thürpfoſte hindurch or» 
dentlich beſehen, flüferte er: ‚Na, Robin, der Teufel ſoll mid holen, wenn 
ich wich jet noch im minteften vor ihm fürchte; er fcheint mir gerade fo 


An Burfche zu fein, wie wir felbft find.” Gin halbes Dutzend Hunde aller 


Art hatten ſich ſchon um den Advocaten verſammelt und die Art und Weiſe, 
wie er ihre Komplimente erwiederte, hatte Willie Elliot fofort wieder bes 
mt 

„Wie Mr. Shortrecd behauptet, war diefer gute Mann von Willburn« 
holm dad große Original von Dantie Dinmond. # ** Sie fpeiften in 
Millburnholm zu Rittag und nachdem fie noch eine Weile bei Willie Ellior’s 
Bunichbowfe gefeflen, biß fie, wie Mr. Shortreed ſich ausdrückt, einen „Hals 
ben Hieb* hatten, feßten fie fich wieder zu Pferde und machten fih auf den 
Beg zu Dr. Elliot in Cleughead, wo („denn,* fagt meine Notiz, „damals 
nahmen c& die Leute nicht fo genau”) die beiden Meifenden in einem und 
demielben Bett jchliefen, wie dies überhaupt auf den meiften ihrer Ausflüge 
in diefem patrarchaliſchen Diftrift ter Ball gewefen zu jein fcheint. Dr. El-⸗ 
liot (ein Geiftticher) befaß ſchon eine beteutende Manuferiptfammlung der 
Balladen, weldhen Scott nachforſchte. 

Den nächften Morgen fcheinen fie einen weiten Weg blos in der Ab⸗ 
fiht geritten zu fein, einen gewiflen alten Thomas von Tuzzilehope, wahr« 
ſcheinlich auch einen Elliot, zu befuchen, ter wegen feiner Bertigfeit auf dem 
Dudelſack berühmt war und ſich ganz befonders im Beflg der wirklichen 
Melodie zu Dick 0’ the cow befand. be fie aufbrachen, das Heißt um 
ſechs Uhr, genoflen die Balladenjäger, blos um nicht ganz nüchtern zu Pferde 
zu fleigen, „ein paar Enten und etwas Londoner Porter. * Der alte Tho⸗ 
mad fand fie nichtsdeſtoweniger bei ihrer Anfunft in Tuzzilehope zum Frühe 
füd wohl aufgelegt und nachdem dieſes vorüber war, entzüdte er fie dur 
eins ter entfeglichften und unbeimlichften Mufttftüde, fo wie durch bedeu⸗ 


186 


dende Libationen von Whisky⸗Punſch, den er in einem gewiſſen hölzernen 
Gefäß fabrizirte, welches einen fehr Heinen Milcheimer gli und von ihm 
„Weisheit“ genannt ward, weil es nur einige Köffel voll Spiritus faßte, 
obſchon er die Kunft befaß, es fo geſchickt wieder zu füllen, daß es feit fünf 
zig Jahren in dem Rufe fland, der Nüchternheit mehr geſchadet zu haben, 
als irgend ein andered Gefäß im Kirchipielc.. 

Nachdem fie der „Weiöheit* gebührende Ehre angetban, faßen fie 
wieder auf und ritten über Mood und Moor zu einem andern eben jo gaf- 
freien Meifter des Dudelſacks. „Ad mein Himmel, * fagt Shortreed, „weis 
den unendlichen Spaß hatten wir doch zufammen! Alle zehn Schritte fingen 
wir an zu lachen oder zu fchreien ober zu fingen. Ueberall, wo wir ein- 
fehrten, wußte er fi in die Leute zu ſchicken, ohne flolz zu thun oter den 
vornehmen Mann zu fpielen. Ich babe ihn bei dieſen Belegenheiten in 
allen möglihen Gemüthöfinimungen gefehen, ernft und heiter, nüchtern und 
trunfen — dies fchtere jedoch war ſelbſt auf unferen tollſten Streifzügen 
nur felten der Ball — aber trunfen oder nüchtern war er fletö der Gentle- 
man. Wenn er zu viel getrunfen hatte, fab er außerorbentlidy trag und 
ſchwerfaͤllig aus, verlor aber die gute Laune niemals." Dies find tadelnd- 
werthe Dinge auf tadelnswerthe Weiſe erzaͤhlt ; aber was follen wir zu dem 
Bolgenden fügen, worin Dad Element des Whisfy eine außerordentlich bervor- 
zagende Rolle fpielt? Wir Hoffen, daß um des Effects willen die Sache ein 
wenig übertrieben dargeftellt ift. 

„Als fie eines Abends irgend ein Charlieshope oder andern Ort — 
den Namen weiß ich nicht mehr — in diefer Wildniß erreichten, fanden fie 
freundliche Aufnahme wie gewöhnlich; aber zu ihrer angenehmen Ueber⸗ 
raihung nach einigen fehr ſchwelgeriſch verlebten Tagen eine gemeflene und 
nüchterne Gaflfreundfchaft in Bezug auf Spirituofen. Bald nad) dem Abend⸗ 
effen, bei welchem blos eine Flaſche Hollunderbeerwein zum Vorſchein ge⸗ 
fommen war, ward ein junger Student der Theologie, der zufällig im Haufe 
war, aufgefordert, nad; ber guten alten Weiſe von Burns’ Sonnabenpfeier 
die Bibel zur Hand zunehmen. Schon waren einige Kapitel gelefen, während 
Alles andaͤchtig zubörte, ald der Bauer, der, wie Mr. Mitchell jagt, etwas 
fchläfriger Tendenz war, zum Entſetzen feiner Frau und des jungen Theo 
logen plöglidy von den Knieen auffprang, fi die Augen rieb und mit einer 
Stentorftimme rief: ‚Himmel Donnermwetter, da Eonımt das Faß endlich! 
Und herein ftolperten, indem er dies fagte, ein paar flämmige Knechte, 


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187 


welche er, als er den Tag vorher von dem bevorſtehenden Befuche bes Advo⸗ 
eaten gehört, nach einer gewiffen ziemlich weit entfernten Schmugglerhöhle 
geſchickt, um einen friichen Vorrath von Branntwein zu holen. Die fromme 
Andachtsübung ward dadurd mit einem Male und für immer unterbrochen. 
Unter taujend Entjehuldigungen wegen feines bis jet Enauferigen Bewir- 
thung ließ diefer muntere Elliot oder Armflrong das willflommene Faß ſo⸗ 
fort auf tem Tifche befefligen und Alt und Yung, Herr und Knecht began- 
nen mit Einfluß des Theologen zu zechen, bis das Morgenroth feinen 
Schimmer durch die Kenfter warf. Sir Walter Scott verfehlte felten, wenn 
ich ihn in Gefellichaft mit feinem Gefährten von Kiddesdale ſah, mit unend- 
lichem Humor das plöglicde Aufipringen feines alten Wirthes, als dieſer 
daß Klappern der Hufe vernahm, weldjes, wie er wußte, Die Anfunft deö 
Faſſes verfündete — die Beftürzung der Wirthin und die Entrüftung und 
Verzweiflung zu ſchildern, mit welcher der junge Geiſtliche feine Bibel zu- 


machte.” 


Aus diefen Ausflügen in Lidde&dale, welche wir Gier gleich dem jungen 
Theologen nicht ohne eine gewifle Verzweiflung und Entrüftung Ichließen, 
möge der Lejer fo viel Nahrung ziehen, als ihm möglich if. Sie thun zur 
Gentge, obihon auf etwas rauhe Weiſe dar, daß zu jener Zeit junge Advo⸗ 
eaten und Scott eben fo wie die Mebrigen, munter und lebendluftig waren, 
wobei der Whisky zuweilen eine etwas allzubervorragende Holle fpielte. 

Wir wollen jedoch nun annehmen, daß der joniale junge Advocat fei- 
nen erften ‘Prozeß geführt, Daß er fich verbeirathet und e8 — ohne Roman⸗ 
tif in dem einen wie in dem andern Falle — bis zum Scherif gebracht, daß 
er mittlerweile eine wenig in Ueberſetzungen aus dem Deutichen, namentlich 
in der Ueberſetzung von Goethe's Götz von Berlichingen mit der eifernen 
Hand, herumgeftünpert hat und wir find damit an der Schwelle des „ Min- 
negeſangs von ter ſchottiſchen Brenze* und ber Eröffnung eine neuen 
Jahrhunderts angelangt. 

Dis jetzt iſt ſonach Durd das Zufammenwirfen der Natur und ber 
Umſtände noch nicht ungewöhnlich Bemerkenswerthes und dod etwas fehr 
Schaͤtzbares herausgebildet worden — ein tüchtiger Mann von dreißig Jah⸗ 
sen. begabt mit Scharffinn und Humor, jeder Laſt von Geſchaͤften, Gafi⸗ 
freundſchaft und Pflicht, offizieller fowohl als Hürgerlicher, gewachſen. 
Welche andere Fähigkeiten außerdem in ihm lagen, Tonnte noch Niemand 
fagen. 





Wer kann überhaupt ſelbſt nach Ichensfanger Betrachtung lagen, wa® 
in irgend einem Dienfchen liegt? Der ausgeſprochene Theil eines Menſchen⸗ 
febens, Died müflen wir ſtets wiederholen, ſteht zu tem unausgeſprochenen 
unbewußten Theile in einem Fleinen unbefannten Berbältnig. Er ſelbſt weiß 
ed nicht, noch viel weniger aber wiflen e8 Antere. Man gebe ihm Raum, 
man gebe ihm Impuls, er reicht mit feiner fo fer eingefchnürten Seele 
dennoch hinab zu dem Unendlichen und kann Wunder thun, wenn es 
fein muß. 

Ea ift eine der tröftlichflen Wahrheiten, daß große Männer in Menge 
vorhanden jind, obſchon in unbefanntem Zuſtande. Sa, wie ichon oben aw- 
gedeutet worden, unfere größeften find, da fie von Natur auch umfere 
rubigften find, vielleicht Die, welde unbelannt bleiben. Der Philoſoph 
Fichte tröftete fi mit diefem Glauben, ald er von allen Kanzeln und Ras 
thedern nichts bören fonnte, als das unendliche Gefhwäg und Gezwitſcher 
ehrgeizig gewordener Gemeinpläße ; als durch die unentliche nach allen Sei« 
ten hin zerfahrende Bewegung und durch das Betöfe, weldes Schweigen 
hätte fein follen, Alles zu einem wie vom Sturne erregten Schaum geſchla⸗ 
gen zu fein ſchien und der ernfle Fichte faft wünfcdhte, daß man die Kenntniß 
befteuern möchte, um fle ein wenig zu beſchwichtigen; — er tröftete fi, ſa⸗ 
gen wir, mit dem umnerfchütterlichen Blauben, daß das Denken in Deutfdge 
land noch exiftire, daß denkende Menfchen, ein jeder in feinem Winfel, 
wahrhaftig ihr Werk verrichteten, obſchon auf fchweigende verborgene Weiſe. 

Walter Scott ald ein verborgener Walter hätte nicht zwanzig Jahre 
lang tm Laufe von Jahrhunderten und Ewigfeiten alle Menfchen ergögt ober 
einige hunderttaufend Pfund Sterling dur die Literatur gewonnen und 
verloren, aber dennoch hätte er immer ein glücdlicher und keineswegs nuß=- 
loſer, ja vielleicht im Grunde genommen ein noch weit nüßlicyerer Walter 
fein Eönnen ! 

Jedoch dies war nicht feine Beflimmung. Der Genius eined etwas 
eigenthümlichen Zeitalters, — eines Zeitalters, welchem es an Religion 
mangelte, und das fih gleihwohl vor dem Skepticismus fürdytete, welches 
ſelbſt nicht recht wußte, wo e8 war, viele Leiden zu ertragen und in diefen 
neuen Umſtaͤnden gleihwohl ein Leben zu führen hatte, — dieſer Genius 
Hatte zu fich ſelbſt gefagt: Welcher Menſch foll der einftweilige Tröfter, oder 
wäre es auch nur ber geiftige Buderbäder diefes meines armen eigenthüm⸗ 
lichen Zeitalters fein, um e8 bei feiner tödtlichen Zangmweile und feinen man- 


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nigfadgen Leiden ein wenig zu zerfireuen? Ge hatte der Genius gelagt, in 
der ganzen Welt gefucht, ihn endlich im Advocatengewand in der Raubigen 
Borballe des Parlamentöhaufes von Edinburg einberfchreiten fehen und 
anögerufen: Das ift er! 

"Der „Rinnefang von der ſchottiſchen Brenze* erwies fih als ein 
Duell, aus welchem einer der breiteſten Flüſſe hervorſtrömte. Metrifche 
Romane, die mit der Zeit in profaiiche Romane übergehen, das alte Leben 
der Menſchen wird wieder auferwedt — es iſt ein gewaltiged Wort. Nicht 
als eine todte Tradition, fondern als eine greifbare Gegenwart fand bie 
Bergangenheit vor und. Da waren fie die rauben alten Kämpfer; in ihrer 
zägen Einfachheit und Stärke, mit ihrer Biederfeit, ihrer Geſundheit und 
Friſche, ihrer tapferen Seleftpülfe, in ihren eifernen Sturmhauben, Leder⸗ 
wänjern und Knieftiefeln, in ihren jonderbaren Manieren und Trachten, fo 
Randen fie da wie fie leibten und lebten. Es war wie ein neuentdedter Con⸗ 
tinent in der Literatur; für dad neue Jahrhundert ein glänzentes Eldorado 
oder doch irgend ein anderes fettes, glückſeliges Sälaraffenland und Müffig- 
gaͤngerparadies. 

Für dad in ſeiner Mattigkeit und Gelaähmtheit ſich eröffnende neun⸗ 
zehnte Jahrhundert Hätte nichts willkommener fein können. Wie unerwartet, 
wie erfriichend und erheiternd! Man fche doch unfer neues Eldorado, unſer 
fettes, glückſeliges Schlaraffenland, wo man genichen fann und nichts zu 
tun braucht! Es war die Zeit für eine foldye neue Literatur und dieſer 
Walter Scott war der Mann dazu. Die „Balladen *, die „Marmiond*, die 
„Sungfrauen* und „Herren“ von „Sce* und „Injeln* folgten raſch auf 
einander mit immer mehr zunchmendem Gewinn und Lob. Wie viele tau⸗ 
fend Buineen für jedes neue Werk bezahlt, wie vicle tauſend Gremplare 
(fünfzig und zuweilen noch mehr) damals und fpäter abgedrudt wurten, 
welches Eomplimentiren, Recenftren, Rühnıen und Vergöitern jie zur Folge 
Batten — alles ift in dieſen fleben Bänden erzählt, die für tie literarifche 
Statiftit deshalb einen Hohen Werth haben. Es ift eine glänzende und 
merkwürdige Geſchichte, deren Umriſſe Allen befannt find. Der Leſer wird 
fie fid) ind Gedaͤchtniß zurüdrufen, aber es ficht nicht zu vermuthen, daß die 
Blamme feiner Phantaſie höher ſteigen werde als die Wirklichkeit. 

In diefer mittleren Zeit feines Lebens erfcheint und daher Scott mit 
feinen neuen amtlichen Einfünften und Würten, reih an Geld, reih an 
Ruhm, als ein Mann, deſſen glüdliche Zukunft gefichert iſt. Geſundheit, 


1% 


Reichthum, und Verſtand, um einen weifen Gebrauch davon zu maden — 
alles dies ift fein. Das Feld lebt ihm offen und der Sieg if da; jeime 
eigene Fähigkeit, fein eigenes Ich entfaltet ſich feſſellos und flegreih, — das 
hoͤchfte Glück, welches einem Menjchen beichteten fein Tann. Weite Kreife 
von Freunden, perfönliche Tiebende Bewunderer, Wärme bauslicher Freuden, 
die Allen beichieden find, die mit ächtem, wahren Derzen fih ihnen hingeben 
fönnen; Glanz und Hluhm, wie fie nur Wenigen befchieden find — wer 
wollte Scott nicht glücklich nennen ? 

Der glücklichſte Umfland von allen aber ift, wie wir ſchon oben fagten, 
daß Scott eine gefunde Seele in ſich trug, die ihn von äußeren Umfländen 
nur wenig abhängig machtr. Die Dinge zeigten fi ihm nicht verzerrt oder 
in einem fremden oder büfteren Licht, fondern wie fle waren. Streben lag 
in ihm und Standhaftigfeit und ein Flarer Blid für Das, was zu erftreben 
war. Wollte Jemand reine Predigt über die Gefundheit halten, die ſich 
wirklich der Mühe verlohnte, fo müßte Scott der Text fein. 

Theorien find auf dem Wege der Logik erweislich wahr und auf Dem 
Wege der Praxis bewähren fie fih oder nicht; das große Experiment aber 
ift: Erfüllen fie auch ihren Zweck? Was nüpt ed, daß das Glaubensbe⸗ 
Eenntniß eines Menfchen daB mweiiefte, daß fein Prinzipienfoflem das fuper- 
feinfte ift, wenn fein Xeben, fobald es in Ihätigkeit gefegt wird, in aller 
hand Widerfprüche geräth? Seine Prinzipien find dann, hierin wenigftens 
wenn auch in nichts Anderem, unmwahr, der Unwahrheit offen überwieſen; 
— follen wir fagen, daß fle weiter nichts verdienen, als daß man fie als ge⸗ 
faͤlſcht und unaͤcht gänzlich verwerfe? Wir fagen es nicht, wohl aber fagen 
wir, daß Krankheit des Körpers oder des Geiftes eine Niederlage, daß 
fle ein Kampf (in einer guten ober ſchlechten Sache) mit jchlechtem Erfolg, 
daß Geſundheit allein der Sieg if. 

Mögen daher alle Menfchen, wenn es ihnen nur einigermaßen möglich 
ift, fich bemühen, gefund zu fein! Der, welcher, in welcher Sache es auch 
fein möge, in Schmerz und Krankheit verfinft, möge dies wohl bedenfen; 
er möge wiffen, daß e8 nichts Gutes ift, was er biß jeßt erreicht bat, ſon⸗ 
dern ficherlich Uebles, — daß er auf dem Wege zum Guten fein fann, aber 
eben fo leicht auch nicht. 

Scott's Gefundheit zeigte ſich entfchteden in allen Dingen und nirgends 
entfchiedener, ald in der Art und Weife, auf welche er feinen Ruhm aufs 
faßte, in dem Urtheil, welches er fi von vorn herein vom Ruhme biltete, 


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Mit Geld kann man Geldeswerth kaufen, aber das Ding, welches die Mens 
ſchen Ruhm nennen, waß ift es? Ein glängender, bunter Wappenfchifd, welcher 
nit viel nüßt, audgenommen, daß er ebenfall8 Geld erwerben helfen fann. 
Für Scott war er ein gewinnbringender, angenehmer Luxusartikel, Fein Lebens» 
bedürfniß. Anfcheinend ohne große Anftrengung , aber von der Natur ges 
ſchult und dem Inſtinkt, welder dem gefunden Herzen fagt, was ihm gut ift 
und was ihm nicht gut ift, fühlte er, Daß er dDiefen Wappenſchild des Ruhms 
ſtets entbehren könne, daß er kein Vertrauen darauf fegen dürfe, fondern 
bereit jein müffe, ihn fich zu irgend einer beliebigen Zeit wieder entriffen zu 
ſehen und feinen Weg weiter: zu verfolgen, wie vorher. 

Es ift, glauben wir, unberechenbar, wie vielen Uebeln er auf diefe 
Weile enıging, von weldhen Verkehrtheiten, Anreizungen und niedrigen 
namenlofen Qualereien er vollfländig getrennt Iebte, ja ohne etwas davon 
zu wiffen. Zum Glück hatte er, ehe der Ruhm kam, ſchon das reife Alter 
erreicht, in welchem ihm alles dies leichter war. 

Weldy eine feltfame Nemefld Tauert in dem Glück des Menihen! In 
dem Munde ſchmeckt e8 wie Honigſeim, dann aber macht es Grinmen im 
Bauche! Irgend ein ſchwach organifirtes Individuum, wir wollen fagen, 
vielleicht fünfundzwanzig Jahr alt, deffen ganzes oder hauptſaͤchliches Talent 
auf einer juckenden Empfaͤnglichkeit beruht, unter welcher nichts ſteckt, als 
Seichtheit und Hohlheit, wird von der allgemeinen Phantafle gepackt, zu 
einer ſchwindelnden Höhe emporgewirbelt und gelehrt, die göttlich fcheinente 
Botſchaft zu glauben, daß es ein großer Mann fei. Ein folches Individuum 
ſcheint der glücklichſte Menſch zu fein und ach, ift es nicht der unglück⸗ 
lichſte? 

Schlinge ihn nicht hinunter den Trank der Circe, o ſchwach organifir⸗ 
tes Individuum; es iſt grauſames Gift; es wird die Quellen deines gan⸗ 
zen Seins austrocknen, du wirſt verdorren und verwelken und unglücklich 
fein unter der Sonne! Giebt es z.B, ein traurigeres Buch, als die Lebend- 
geihichte Byron’s von Moore? Man betrachte doc dieſen armen Byron, 
der wirflich viel Stoff tn fich hatte. Dort faß er in feiner Selbftverbannung 
mit einem folgen Herzen, welches fich zu überreden fuchte, daß es die ganze 
gefchaffene Welt veracdhte, und wenn fern davon im nebeligen Babylon einer 
der erbärmlichflen Scribler die Feder gegen ihn zog, fo frümmte und wand 
fi der ſtolze Byron, als ob der erbärmliche Scribler ein Magiker oder feine 
Feder ein galvanifcher Draht geweſen wäre, der Byron's Rückenmark be⸗ 


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rührt hätte! WBeflagenswerth verächtlich, — man möchte lieber ein Kähchen 
fein und miauen ! 

D Sohn Adam's, groß oder Flein, je nachdem du liebenswürdig biſt, 
werden Die, nit welchen du lebſt, Tich lichen. Kommt aber wohl hinſicht⸗ 
lich Deren, mit welchen du nicht lebfl, etwas darauf an, daß die Buchflaben 
deined Namens ihrem Gedaächtniß eingegraben find und daneben cin ſchlech⸗ 
gemalte® Portrait von dir — fo ähnlich wie ich dem Herkules — ange 
bradt ift? 

Es fommt nichts darauf an; in der That und Wahrheit, e8 Tommt 
gar nichts darauf an. Und dennoch, flehe, es giebt feine Seele, welche du 
frei Tieben fannfl, — von einer einzigen Seele nur fannft du ſtets Ver» 
ehrung genug erwarten, in Gegenwart feiner Seele ift ed gut mit bir! 
Wie if deine Welt öde geworden und du bift um eines geringfügigen 
Zungengeſchwätzes willen arm, bankerott, infolvent, nicht am Beutel, wohl 
aber an Herzen und Geiſt. Das goldene Kalb ter Selbſtliebe, fagt Iran 
Baul, iſt zu einem glühenden Phalarisftier herangewachſen, um feinen Be- 
figer und Anbeter zu verzehren. Der Ehrgeiz, die Suct zu glänzen und zw 
verdunfeln, war der Anfang der Sünde in diefer Welt. Erklärt der Schrift. 
fteller, der fi auf feinen Ruhm verläßt, nicht ſchon hierdurch allein fich ala 
einen Anhänger Lucifer'd, auch Satan oder ber Feind genannt, und ale 
ein Mitglied der fataniihen Schule? 

In diejer poetiichen Beriode war ed, wo Scott jeine Verbindung mit 
den Ballantynes fchloß und ſich, obſchon im Stillen, an bedeutenden Handels⸗ 
geichäften betheiligte. Kür Die, welche ihn als einen Heroen betradhten und 
verlangen, daß Vates eben fo gut Dichter als Boet bedeute, ſcheint dieſer 
Theil feiner Biographie etwas widerfprechend zu fein. Betrachtet man Die 
Sadıe und ihn fo wie fie in der Wirklichfeit waren, fo fann man bad 
Unternehmen, da es fo unglücklich ablief, wohl beflagenswerth, aber nicht 
unnatürlidh nennen. Der praktiſche Scott, ter in allen Dingen auf den 
praftifchen Erfolg ſah, Fonnte nicht umhin, zu finden, daß baares Geld von 
allen Erfolgen einer der praftifhiten wäre, und wenn durch irgend ein Mite 
tel auf ehrliche Weife Geld verdient werden fonnte, mochte e8 nun Dur 
bad Schreiben von Gedichten oder durch das Druden derſelben geichehen, 
warum follte er von dieſem Mittel nicht Gebrauch machen? 

Große Dinge konnten entlih auögeführt werden, große Schwierig« 
feiten wurden dadurch mit einem Wale befeitigt, das Feilſchen und Knidern 





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der Buchhändler 3.2. fiel fofort hinweg. Eine Buchdruck⸗ und Buchver⸗ 
tauf- Spekulation war für einen Buchmacher gar nicht etwas fo Bremdartiges, 
Boltaire, der allerdings Feine Gonorare befam, verdiente zu feiner Zeit viel 
Geld mit dem Kriegscommiffartat, namentlich mit Lebensmittellicferungen. 
Der heilige @eorg ſelbſt, fagt man, handelte in Cappadocien mit Sped. Ein 
betriebfamer Mann hilft ſich zu feinem Ziele dadurch, daß er die Stufen 
fleigt, Die dahin führen. Stellung in der Befellichaft, folide Macht über die 
guten Dinge dieier Welt, war Scott's eingeftandened Ziel und zur Er⸗ 
reichung deffelben giebt es Keine beffere Vorfchrift, ald die Jago's: „Fülle 
deinen Beutel mit Geld. * 

Hierbei muß bemerkt werden, daß vielleicht Fein Schriftfteller irgend 
einer Generation weniger Werth auf den immateriellen Theil feiner Miffton 
in irgend einer Beziehung gelegt hat. Wir meinen Hier nicht blos das Hirn« 
gefpinnft, weldyes man Ruhm nennt, mit dem wirklichen oder eingebildeten 
Elend, welches ihn begleitet, fontern auch die geiftige Tendenz feiner Werke. 
Ihm war es gleich, ob diefe Tendenz dahin oder torthin zielte oder ob über⸗ 
haupt eine Tendenz vorhanten war. Ihm lag blos an den Ergebniffen, 
welche fi fo zu fagen dem Auge darboten und in einem oder dem andern 
Sinne in die Hand genommen, betrachtet und in die Tafche gefteckt werten 
tonnten. Diefer unfer Vates war ſonach allzuwenig Phantaft, aber e8 war 
einmal fo. In diefem neunzehnten Jahrhundert hatte unfer größter Schrift« 
fteller oder wenigftend der, welcher mehr als alle anderen über das Ohr der 
Welt verfügte, an diefe Welt gleihfam gar feine Botſchaft auszurichten. Er 
wünfchte nicht, daß die Welt ſich erheben, daß fte fich beſſern, daß fie Dies 
oder Jenes thun möchte, jontern erwartete blos, daß fle ihn für die Bücher 
bezahle, die er unaufhörlich fchrich. 

Sehr merfwürdig! War eö vielleicht fo am beften für ein Zeitalter, 
welches in Erichlaffung verfunfen, alled religiöfen Glaubens letig war und 
dennoch den Skepticismus fürchtete? Oder vielleicht für ein gang anderes 
Beitalter, für ein Zeitalter, welches durch und durch in friedlicher, triumphi⸗ 
tender Bewegung begriffen ift? 

Doch, fei dem wie ihm wolle, fo iſt doc ganz gewiß feit Shaffpeare's 
Zeit fein großer Sprecher ſich eines Ziels beim Sprechen fo unbewußt ge⸗ 
weien, ald Walter Scott. Gleich unbewußt waren diefe beiden Gedanken⸗ 
äußerungen; beide, eine wie die andere, die aufrichtigen und vollfändigen 
Erzeugnifle der Gemüther, aus denen ſie kamen, und nun gilt es die Frage, 

Gariyle. II, 13 





194 


ob ſie auch beide gleich tief waren? oder: war bie eine biefer beiden 
Tätigkeiten lebendiges Feuer und die andere ein trügerijcher phosphoresti⸗ 
render Schimmer? 

Die Beantwortung biefer Frage wird von dem relativen Werth ber 
beiden Beifter abhängen, denn beide waren in ihrer Thaͤtigkeit gleih unwill⸗ 
führlich, beide ſprachen fih, einer wie der andere, ungehemmt durch eine 
fernerweite Abfiht aus. Shakſpeare fuchte durch feine Stüde das Publikum 
in dad BlobesXheater zu loden — weiter ging feine Abſicht nicht. Und 
welche Erfolge haben fie dennoch gehabt! 

Sprich mit freiem Herzen aus, was dein eigner Dämon dir giebt. IR 
es Beuer vom Himmel, fo iſt es gut; ift es bloßes Harzfeuer, jo iſt es — 
fo gut als es jein Fonnte, oder beſſer als anderes! Der freimüthige Richter 
wird im Allgemeinen verlangen, daß ein Sprecher in einer fo außerordent⸗ 
lich ernfihaften Welt wie die unfere auch über etwas zu fprcchen habe. In 
dem Herzen des Sprechers muß ein gewifled Evangelium vorhanden fein, 
welche8 glühend darnach verlangt, ausgeiprochen zu werden; außerdem wäre 
es beffer für ihn, wenn er ganz ftill ſchwiege. Und ein Evangelium muß es 
jein, welches etwas entichiedener lautet, als tiefes Evangelium Scott's, aus⸗ 
genommen für ein ganz ſchlaffes Zeitalter, weldes weder Sfepticismus noch 
Religion beſitzt! 

Die Dinge wird der freimüthige aufrichtige Richter von Männern der 
Literatur verlangen, aber dabei dennoch den großen Werth anerkennen, ber, 
wenn auch in weiter nichts, doch in Scott's Ehrlichkeit lag, darin, daß er 
Daß, wad er war, mit fo gänzlicher Redlichkeit und Treue war. Er iſt ein 
Etwas, nicht ein Nichts. Wenn auch fein von oben gefendeter Bote, durch 
defien Augen der Himmel blickt, fo ift er doch audy Feine Hölle voll aller 
band Syſteme, Grillen, Heucyelei, Fanatismus, Unruhe und Groll, fondern 
ein folider, friedlicher, irdiſcher Menſch. So tief als die Erde unter dem 
Himmel, ſteht Scott unter der erflern Kategorie, aber auch hoch wie die hei⸗ 
tere, blumengeſchmückte Erde über der legtern. Man laffe ihn deshalb nad 
feiner eigenen Weife leben und ihn in dieler ehren. 

Wir würden jegt ziemlich fpät kommen, wenn wir eine Kritik über jene 
metrifhen Produkte Scott's fchreiben wollten ; gleichzeitig aber wollen wir 
bemerken, daß die große Popularität, die fle hatten, ſehr natürlich zu fein 
fheint. Erſtens trugen fie das unbeftreitbare Gepräge des Werthes, ber 
Achten menſchlichen Kraft in fih. Diefe, welche in gewiſſem Grade aller Pos 





195 


prlarität zum Grunde liegt — wenigftend glaubt man es — zeigte ſich in 
biejen gereimten Romanen Scott's in ganz ungewöhnlichen Maße. Hier fah 
man wirkliche Lebensbilder und ächte Darftellung menfchlicher Gefühle und 
Erregungen. Wenn man bedenkt, welches Flickwerk von alten abgetragenen 
Teen damals der Sauptartifel auf Dem poetifchen Marfte war, fo wird man 
zugeben, daß Scott's Vortrefflichkeit eine wirklich weit überlegene war. Zu 
einer Zeit, wo ein Hayley der Hauptfänger war, Eonnte cin Scott wohl mit 
warmem Willlommen begrüßt werden, Man bedenke doch, ob die „Liebe 
ter Pflanzen * und fogar die „Liebe der Dreiecke“ die Liebe und den Haß 
von Menfchen und Frauen werth fein konnte. Scott war Dem, was er ber« 
drängte, ebenjo vorzuziehen, ald die Subſtanz dem auf ermüdende Weiſe 
wiederholten Schatten einer Subſtanz vorzuziehen ifl. 

Zweitens aber können wir audy jagen, daß die Art von Werth, welche 
Scott an den Tag legte, ganz befonders für dic damalige Stimmung der 
Menſchen geeignet war. Wir haben gefagt, jenes Zeitalter war ein Zeitalter 
geiftiger Erfchlaffung, alles Glaubens ledig und dennoch voll Furcht vor 
dem Skepticismus; man führte aber noch ein verkümmertes Halbleben unter 
feltfamen neuen Umftänden. Jetzt nun ſah man auf einmal ein Fräftiges 
ganzes Reben, denn dies war daß, was diefe Gemälde vor allen Dingen bos 
ten. Der Lefer ward in rauhe flarfe Zeiten zurüdgeführe, worin Diele uns 
fere Krankheiten noch nicht entflanden waren. Muthige Kämpfer, in Leder 
und Eijen gehüllt, fprengten auf ihren rieſigen Streitroffen einher, ſchüttel⸗ 
ten ihre tödtlichen Speere und zogen entichloffen und unverzagt hinaus. 
Der Lefer feufzte, aber nicht ohne Troftrefler: O, daß ich doch auch in jenen 
Seiten gelebt, daß ich doch nie dieſe logiſchen Spinnweben, dieie Zweifel, 
diefe Krankhaftigkeit kennen gelernt, fondern lebend unter Ten Lebenden 
eriftirt und mich gefühlt Hätte! 

Hierzu fommt noch, daß in tiefer neugefundenen poetiſchen Welt von 
Seiten des Leſers durchaus Feine Anftrengung nöthig war, denn ihre Genüſſe 
traten gleich auf den erften Blid hervor. Es war für den Leſer nicht blos 
das Eldorado, fondern wie wir ſchon gefagt haben, ein glückſeliges Schlarafe 
fenland und Müßiggängerparabied. Der Leſer konnte — und Lie ungeheure 
Rehrzahl der Leſer wünicht ja fo ſehr Died zu können — fid) bequem hin⸗ 
ſtrecen und bedienen laflen. Was ter türkiiche Batewärter wit feinem Reis 
den, Bürften und Kneten mehr oder weniger wirkſam beabfihtigt, naͤmlich 
daß der Patient in totaler Trägheit die Freuden ber Thätigfeit genichen 

13* 


196 


könne, — bie war bier in einem bebeutenden Grabe verwirklicht. Die 
träge Einbildungskraft Iehnte ſich ruhend zurüd, denn ein Künftler war da, 
ber ihr fchöngemalte, lebensvolle Bilder vorführte und ihr zuflüfterte: Made 
dir’d bequem und erfreue dich deines Iaumarmen Elemente, „Der rohe 
Menſch,“ fagt ein Kritiker, „verlangt blos, etwas vorgeben zu fehen. Der 
Mann von mehr Bildung verlangt, daß er zum Fühlen, der vollfländig ger 
bildete Mann aber, daß er zum Nachdenken angeregt werde, * 

Wir nannten den „ Minnefang von der fehottifhen Grenze“ Die Quelle, 
aus welcher diejer große Fluß metrifcher Romane bervorfirömte; Einige je 
doch wollen, daß man fie auf eine noch Höhere dunklere Duelle zurudführe, 
naͤmlich auf Goethe'8 „Ritter Götz von Berlichingen mit der eifernen Hand“, 
wovon, wie wir ſchon geliehen haben, Scott in feinen früheren Jahren eine 
Ueberfegung außsarbeitete. Vor vielen Jahren ſchon wurden in einer Kritif 
über Goethe die folgenden Worte gefchrieben, welche wahrjcheinlich für bie 
meiften Zefer des vorliegenden Artifeld noch neu find: 

„ Die eben erwähnten Werke „ Götz“ und „ Werther", zeichnen ſich, ob⸗ 
ichon ſie glänzende Proben eines jugendlichen Talentes find, doch nicht io 
wohl durch ihren inneren Werth, ald durch ihr unerhörtes Glück aus. Et 
möchte ſchwer fein, zwei Bücher zu nennen, die auf die fpätere Literatur 
Europas einen tieferen Einfluß audgeübt haben, als diefe beiden Werft 
eined jungen Autors, feine Erftlingdfrüchte, dad Produft feines vierunds 
zwanzigften Jahres. „Werther ” jchien die Herzen der Menfchen in allen 
Theilen der Welt zu erfaffen und an ihrer Stelle das Wort andzujprecen, 
welches fie ſchon längft zu hören erwartet: Wie gewöhnlich zu geichehen 
pflegt, ward dieſes Wort, fobald es einmal audgeiproden war, bald überall 
wiederholt, in allen Dialeften nachgeſprochen und durch die ganze Skala hin 
durchgefungen, bis ed endlid, mehr zum Ueberdruß, ald zum Vergnügen ger 
reichte. Skeptiſche Sentimentalität, Scenenmalerei, Liebe, Breundfchaft, 
Selbfimord und Berzweiflung wurden die Kauptartifel des Titerarifchen 
Marktes und obſchon die Epidemie nad einer langen Reihe von Jahren in 
Deutſchland ſich allmälig legte, fo kam fie doch mit verfchietenen Mobifica 
tionen wieder in andern Ländern zum Vorſchein, fo daß noch überall reich⸗ 
liche Spuren ihrer guten und ſchlechten Wirkungen zu erfennen find. Das 
Glück des „Ritters Götz von Berlichingen mit der eifernen Sand * war, ob⸗ 
ſchon weniger plöglich, Doc keineswegs ein weniger umfaflendes. In feinem 
eigenen Lande ward Götz, obſchon er jegt einfam und Finderlos daſteht, der 





197 


Bater einer unzähligen Nachfommenfhaft von Ritterfhaufpielen, Schilde» 
rungen des Mittelalter und poetifchsantiquarifchen Leiftungen, welche, ob⸗ 
ſchon nun längft wieder verihwunden und vergeflen, doch zur Zeit ihres 
Entfiehens Lärm genug machten und bei und in England tft fein Einfluß 
vielleicht noch bemerfenswerther geweien. Sir Walter Scott's erſtes litera- 
rifcheö Unternehmen war eine Ueberfegung von , Götz von Berlichingen * 
und wenn Dad Genie fich ebenfo mittheilen Ließe, wie die Belehrung, fo möch⸗ 
ten wir dieſes Werk Goethe's die veranlaffende Urfache von „ Marmiton * und 
der „ Iungfrau vom See* nebft Allem nennen, was fpäter aus derielben 
Ihaffenten Hand hervorgegangen iſt. Es war in der That ein Saamenkorn, 
welches auf den rechten Boden fiel, denn wenn auch nicht fefter und ſchöner, 
if e8 doch höher und breiter emporgewachfen, al8 irgend ein anderer Baum, 
und alle Nationen der Erde ernten noch jährlich feine Frucht.“ 


Inwieweit , Götz von Berlichingen“ wirklichen Einfluß auf Scott's 
literariſche Beftimmung äußerte und ob ohne fie die gereimten Romane und 
dann die proſaiſchen Romane des Verfaſſers des Waverley nicht nachgefolgt 
fein würden, bleibt natürlich eine fehr dunfle Frage — dunkel und unwich⸗ 
tig. Nicht zweifeln Täßt fich jedoch an der Thatfache, daß dieſe beiden Ten- 
denzen, welche man Götzismus und Wertherismuß nennen Tann, und von 
welden Scott bei und die erflere repräferitirte, die Rundreiſe durch ganz 
Europa gemacht haben und zum Theil noch madıen. 


In Deutfchland machte ſich diefer fehnfüchtige Nücbli auf die Ver⸗ 
gangenbeit chbenfall3 geltend; Deutſchland hatte feine Tendenumgürtete 
Wachtthurmperiode in der Literatur und war damit fertig, ehe Scott bes 
gann, und Hatten, was den Wertherismud betraf, nicht wir Engländer un« 
feren Byron und feine Zunft? Keine Borm des Wertherismus äußerte in 
irgend einem andern Lande nur halb fo viel Kraft, und fo wie unfer Scott 
die Nitterliteratur bis and Ende der Welt trug, fo geſchah es auch durch 
unferen Byron mit dem Wertherismus. 


Das mit feiner Revolution und Napoleon befchäftigte Sranfreich Hatte 
damals feine Zeit zum Götzismus oder Wertherismus, Hat fle aber fpäter 
beide, wenn auch unter etwas eigenthümlicher Geſtalt, Tennen gelernt. Ein 
Beweis davon iſt die ganze jebige „ Verzweiflungdliteratur*, die bettelhafe 
tefte Form des Wertherismus, die man bis jet geſehen, wahrſcheinlich bie 
legte und binfterbende Form. Ein fernerweiter, dem andern Extrem an« 


108 


gehörenter Beweis ift ein Hochbegabter Chataubriand, Gög und Werther in 
einer Perſon. 


Es {ft ſeltſam, wie ganz Europa gleichſam nur eine Anzahl Kirchipiele 
in einer und derfelben Provinz iſt und feit den Kreuzzügen und nody früßer 
von Finflüffen beherrſcht wird, die überall Diefelben find. Auch unfere rubm⸗ 
reichen Kriege find im Brunde genommen weiter nichts als Dorffneipenprü- 
geleien, tie mit wechielfeitiger Unwiſſenheit, Trunfenheit und Großſprecherti 
beginnen, mit zerbrodenen Senftern, Scaten, Verwüflung und blutigen 
Naien enten, und von weldyen man hofft, Laß der allgemeine gefunde Men⸗ 
ſchenverſtand fie endlich fo viel als möglich in den Hintergrund drängen 
werde. . 


Doc Hiervon ſehen wir jegt ab. Unſere eigentliche Abfiht war hier, 
hervorzuheben, taß der britifhe Wertberismusd in Geſtalt jener fo mächti⸗ 
gen und pifanten Byron'ſchen Gedichte auf den ichlaffen Appetit der Men⸗ 
ſchen eine gewaltige Wirkung äußerte. Auch dies war eine Kategorie von 
Gefühlen, weldye für moderne Gemüther höchſt wichtig war, Gefühle, welde 
ihren Grund in einer Paſſivität haben, welde nicht im Stande 
ift, in Thäatigfeit verwantelt zu werden, die einem fo trägen, 
eultivirten und ungläubigen Zeitalter, wie das unfere iſt, eigenthümlich find. 
Das „ſchlaffe Zeitalter ohne Religion oder Sfepticismus * wendete ſich dem 
Byronismus mit einem ganz eigenthümlichen Intereffe zu. Hier hatte man, 
wenn auch fein Heilmittel für ihre erbärmliche Lähmung und Mattigfeit, 
doch wenigſtens eine entrüftete Darlegung des Jammers; ein zorniger Er⸗ 
nulphus jprad) feinen Fluch darüber aus und alle Menſchen fühlten, daß dies 
etwas ſei. Die ſehnſüchtigen Blicke nady der Vergangenheit wichen an vielen 
Orten diefen Verwünſchungen der Gegenwart. 


Scott gehörte zu den Erſten, weldye gewahrten, daß der Tag der me 
trirchen Nitterromane zu Ende ging. Er hatte gegen zebn Jahr, eine ver 
hältnipmäpig lange Zeit, dieſen Thron inne gehabt, und nun fehien Die Beit 
ta zu fein zur Entthronung oder zur Abdanfung — ein unangenehmes Ge⸗ 
ſchäft, welches er jedoch als braver, muthiger Mann ſich bereit hielt, gelaffen 
und ſchweigend vorzunehmen. Im Grunde genommen war ja die Poeſte 
nicht fein Broderwerb; fie hatte ihm fchon viel Geld eingebracht, dies wer 
nigftend Eonnte fie ihm nicht wieder nehmen. Immer befhäftigt mit Editi⸗ 
ten, mit Compiliren, mit vielfachen officiellen und commerciellen Arbeiten 





199 


und foliden Intereflen ſah er der bevorſtehenden Veränderung mit unerfchüts 
tertem Blick entgegen. 

Er war bereit, in diefer Sache Reſignation an den Tag zu legen, und 
fiebe da, zulegt ergab fih, Daß gar Feine Refignation nötbig war. Vers 
wandle den metrifchen Roman in einen profaifchen, wirf bie Feſſeln des Reis 

mes von dir und verfuche einen höheren Flug! 

Im Frühling 1814 erſchien, Waverley“, ein in den Annalen ter bri⸗ 
tiihen Literatur denkwürdiges Ereigniß; in den Annalen des britifchen 
Buhhandeld aber drei und vier Mal denkwürdig. Byron fang, aber Scott 
erzählte, und als Byron fih Durch alle Variationen bis zu „Don Juan * 
hindurchgeſungen, erzählte Scott immer noch und riß Die ganze Welt mit 
fih fort. Alle frühere Popularität der gereimten Rittergefchidhten warb von 
einer weit größeren verfchlungen. | 

Welche Reihe von Romanen aus und auf „Wanerley * folgte und wie 
und mit welchem Reſultat ift Allen befannt, und ward von Allen mit einer 
Art von faunendem Entzüden beobachtet. Kaum ſtieg irgend ein literaris 
fer Auf jemals fo Hoch auf unferer Infel und Fein Ruf verbreitete fich je 
jo weit. Walter Scott ward Str Walter Scott, Baronet von Abbotsford, 
auf welchen das Glück fein ganzes Füllhorn von Reichthum, Ehre und irdi⸗ 
fen Gütern anszufchätten ſchien; er war der Günſtling der Bürften und 
Bauern und aller Menfchen, die fih zwifchen diefen beiden Ertremen bewes 
gen. Seine „ Waverley- Romane, * vie raſch und, wie es fchien, ohne Ende 
auf einander folgten, wurden allgemein gelefen und von allen Klaffen in 
allen europälfchen Ländern wie eine alljährliche Ernte erwartet. 

Hierzu gefellte ſich noch ein fonderbarer Umftand, nämlich der, daß der 
Berfaffer, obſchon befannt, doc unbefann® war. Bleih von vornherein 
vermutheten fehr Viele, und nach kurzer Beit zweifelten von dent intelligen- 
ten Theil des Publitums fehr Wenige, daß der Berfafier von Waverley 
Walter Scott fei. Und dennoch ward dabei fortwährent ein gewifies Ge⸗ 
beimniß bewahrt, weldhes für das Publikum jehr pikant und für den Autor 
ohne Zweifel fehr angenehm war. Er brauchte trotz des Geheimnifjes nicht, 
wie es oft mit anderen unglüdlichen Individuen der Ball geweſen, biefen 
oder jenen fang audgefponnenen „Tlaren Beweis * anzuhören, daß der Autor 
nit Walter Geott fei, fondern ein gewiſſer Mr. Soundfo. 

Dabei aber konnte der bevorrechtete Autor ſich gehaben wie ein König, 
welcher ineognito reift. Alle Menfchen wiflen, daß er ein hoher König, ein 


200 


ritterlicher Guſtav ober Kaiſer Joſeph ift, aber er miſcht ſich als Chevalier 
du Nord oder als Graf von Lothringen, ohne den Zwang der Etiquette oder 
F Ceremonie unter fie; er hat nicht das Ermüdende und Langweilige 

der Königswürde zu tragen, und genießt doch alles Lob und die Sreube, es 
mit feinen eigenen Ohren zu hören. 

Mit einem Worte, die Waverley⸗Romane circulirten und berrichten 
triumpbirend, und für die Phantafle des Publifums war der Verfafler von 
„Waverley“ gleihfam eine lebende mythologifche Perſon, welder ein Plak 
unter den größten Wundern der Welt gebührte. 

Wie ein Menfd in fo ungewohnten Umfländen lebte und fidh gehabte, 
dies zu fehen, verlohnt wohl ber Mühe. Gern würden wir einige Stellen 
aus Scott's Briefwechiel in jener Zeit anführen, doch würde dadurch Die 
Sache nicht Elarer werden. Seine Briefe find, wie wir ſchon oben jagten, 
niemals ohne Intereſſe, aber auch felten oder nie ſehr intereflant. Sie find 
voll von Heiterkeit, Wi und Scharffinn, aber ihr Ton ift niemals ein redht 
vertraulicher und ohne ihre Aufrichtigfeit, was man fo Aufrichtigfeit nennt, 
in Zweifel zu ziehen, kann man fagen, daß fle auf feinen Fall aus ben in- 
nerften Tiefen ded Gemüths hervorgehen. Gonventionelle Formen und ges 
bührende Rückſicht auf die Anfprüche und Eitelkeit des Schreiber und Ems 
pfängers werben feinen Augenblid aus den Augen geießt. Der Epiftelftrom 
fliegt Elax, frei und heiter entlang, aber fletö gleihfam parallel mit dem 
wirklichen Kern der Sache, niemald mit demfelben untermiſcht. Man fühlt 
den Boden gleichfam Hohl unter den Füßen. Es find Briefe eines höchſt 
humanen Weltmannes und Eönnen in diefer Beziehung zum Mufter dienen; 
aber ftetö fchaut der Weltmann aus ihnen heraus, wie denn überhaupt Scott, 
vielleicht fogar mit fich ſelbſt, uie anders zu ſprechen pflegte. 

Wir wählen daher lieber einige Eurze Stellen aus Mr. Lockhart's Er⸗ 
zäblung aus. Die erfte betrifft fein Diner bei dem Prinz Regenten — eine 
faft officielle Sache: 

„8 der Prinz von Mr. Broker (damals Gecretatr der Admiralität) 
hörte, daß Scott gegen die Mitte Mär; (1815) in London fein merde, 
fagte er: ‚Laien Ste mich wiffen, wann er kommt, und ich will ein kleines 
gemüthliches Diner veranftalten, welches ihm zuiagen wird.‘ Nachdem er 
daher bei dem ever vorgeflellt und gnädig empfangen worden, warb er dem⸗ 
gemäß durch feinen vortreffliden Breund Mr. Adam (jetzt Lord Obercom- 
miſſair des Jurygerichtshofes in Schottland), der damals in dem koͤniglichen 


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201 


denshalt ein vertraufiche® Amt bekleidete, zum Diner eingeladen. Der 
Regent hatte ſich auch mit Mr. Adam über die Bufammenfegung der Tifch- 
gefellfgaft beratben. ‚Bringen Sie’, fagte er, ‚einige von feinen Freunden 
mit und je mehr Schotten, defto beſſer!“ Sowohl der Commiſſair, ald auch 
Mr. Broter verfihern mir, daß diefe Tifchgeiellfchaft bie intereffantefte und 
angenehmfle war, deren fie fih entfinnen können. Sie umfaßte, glaube ich, 
den Herzog von Dorf, den Herzog von Gordon (damald Marquis von 
Huntly), den Marquis von Hertford (damald Lord Darmouth), den Earl 
von Fife und Scott's Jugendfreund, Lord Merville. ‚Der Prinz und Scott‘, 
fagt Mr. Broker, ‚waren die zwei brillanteften Erzähler, jeder in feiner Weiſe, 
die ich jemals kennen gelernt. Beide waren auch ihres Talents fich recht 
wohl bemußt und beide übten ed an dieſem Abend mit ganz herrlicher Wir⸗ 
fung. Als ich nach Haufe ging, Tonnte ich wirklich nicht mit mir darüber 
einig werden, welcher von ihnen beiden am meiften geglänzt habe. Der Re⸗ 
gent war vom Scott ebenfo entzüdt, ald Scott von ihm und bei allen feinen 
fpätern Beſuchen in London war er ein häufiger Gaſt an der Eöniglichen 
Zafell — 

„Der Lord Obercommiffair erinnert fi, daß der Prinz ſich vorzüglich 
über die Anekdoten freute, welche der Dichter von den alten fchottifchen 
Richtern und Advocaten erzählte, und welche feine Fönigliche Hoheit durch 
fpaßhafte Züge von gewiflen mit dem Richterhermelin befleideten weifen 
Männern feiner eigenen Defanntfchaft noch zu übertreffen wußte. 

Scott erzählte unter andern eine Geſchichte, die er jehr gern auftifchte, 
von feinem alten Freunde, dem Lord Gerichtöfecretair Brarfleld, und der 
Commentar feiner königlichen Hoheit darüber amüftrte Scott, der fpäter oft 
davon fprach. Die Anekdote ift folgende: 

„So oft Brarfleld feine amtliche Rundreiſe machte, pflegte er einen 
wohlbabenten Mann in der Nachbarſchaft einer der Afflienflädte zu befuchen 
und wenigftend eine Nacht zu bleiben, welche fie, da fie beide eifrige Schach⸗ 
fpieler waren, gewöhnlich mit Diefem ihren Lieblingsipiel beichlofien. Wäh- 
rend einer Frühjahrsrundreiſe war der Kampf bei Tagesanbruch noch nicht 
entichieden und der Lord Oberrichter fagte: ‚Wohlan, Donald, im Herbſte 
fomme ich wieder; laß daher die Partie nur einftweilen fo fieben!’ Im 
October kam er audy wieder, aber nicht in das gaftfreundliche Haus feines 
alten Freundes, denn diefer war mittlerweile der Fälſchung, eines Kapitale 
verbrechens, angeflagt, verhaftet werden, und fein Name fland auf der Liſte 


Derer, welche im Begriff fanden, unter dem Borfige feines früheren Gaſtes 
gerichtet zu werben. Der Delinquent ward demgcmäß vorgeführt, verhört 
und von der Jury ſchuldig gefunden. Brarfield ſetzte fofort feinen drei⸗ 
edigen Hut — welder Die Stelle ter in England bei diefen Belegenheiten 
gebräuchlichen ſchwarzen Müge vertritt — auf und verfündete den Sprud 
des Geſetzes mit den gewöhnliden Worten: ‚Ihr werdet an Eurem Halſe 
aufgebangen werten, bis Ihr tobt feid, und möge Gott Eurer armen Seele 
gnadig fein!‘ Nachdem Brarfieln dieſe furchtbare Formel in fonorem aus 
drudövollem Tone geſprochen, nidte er feinem unglüdliden Befannten vertraus 
lich zu und fagte, ſtill und zufrieden in ſich hineinkichernd: ‚Na, Donald, ik 
glaube, jegt habe ih Euch doch einmal matt geicht.” 

„Der Regent lachte herzlich über diefes Beiipiel von araufamem Humor 
und fagte: ‚In der That, Walter, dieſe alte Berrüde fcheint Die Dinge eben 
fo Faltblütig betrachtet zu Haben, wie meine eigene tyrannifche Perfon es zu 
thun pflegt. Willen Sie nicht, wie Thomas Moore mich beim Frühſtück 
ſchildert: 

‚Der Tiſch beſetzt mit Thee und Toaſt, 
Tod'surtheln und der Morning Bor?’ 

„Gegen Mitternacht forderte der Prinz feine Gaͤſte auf, ‚einen Hum⸗ 
pen mit allen gebührenten Ehren auf das Wohl des Verfaſſers von Waver⸗ 
ley“ zu lesuen, und fchaute, während er fein Glas füllte, Scott mit bedeut- 
fanem Blicke an. Scott ſchien einen Augenblid Tang ein wenig verlegen zu 
werden, faßte ſich aber fofort wieder, füllte fein Glas bis zum Rande und 
fagte: ‚Ihre königliche Hoheit fehen mid an, als ob Sie glaubten, ich Hätte 
einigen Anſpruch auf die Ehre dieſes Toaſtes. Es flieht mir Fein folder 
Anfpruch zu, ich werde aber Sorge tragen, daß der wirkliche Simon Pure 
baß Hohe Kompliment erfahre, welches ihm jetzt gemacht worden.‘ Mi 
diefen Worten tranf er fein Glas aus und flimmte mit feinem volltönenden 
Organ in dad Vivat ein, welches der Prinz felbft ausbrachte. Ehe aber bie 
Geſellſchaft fih wieder ſehen Fonnte, rief der Prinz: ‚Noch ein Glad, meine 
Herren, auf das Wohl des Verfaflers von Marmion, — und nun, Walter, 
lieber Freund, glaube ich, habe ich Sie doch noch matt geſetzt. Auf dieſes 
zweite Glas folgte ein noch lauterer Vivatruf und Scott erhob ſich und bes 
dankte fi in einer kurzen Rede, welche dem Lord Obercommiflate ebenfo 
wuͤrdevoll, ald anmuthig erfchien. Dieſe Gefchichte ift fpäter mit vielen Ent- 
flellungen verbreitet worden. — Ehe Scott Bonbon verließ, fpeifte ex noch⸗ 


203 


mals in Carlton Bouſe, wo dann die Geſellſchaft noch kleiner war, als erſt, 
und die beitere Unterhaltung womöglich noch freier. Damit e8 an nichts 
fehle, fang der Prinz mehrere ganz charmante Liedchen. * 

Dder man werfe über einen großen Zwifchenraum und Abfland in 
vieler Beziehung hinweg einen Bli auf ein andere Diner, welches ganz 
unoffciell war und weit beffer beichrieben if. Es ift James Ballantyıne, des 
Druders und Verlegerd Diner in Saint John Street, Canon Gate, Edin⸗ 
burg, am Geburtstage eined Waverley⸗Romans: 

„Das Feſtmahl war, um einen von James’ Lieblingsausprüden zu ges 
brauchen, prachtvoll, eine rathöäherrlihe Entfaltung von Scildfrötenjuppe 
und Wiltpret mit dem angemeſſenen Zubehör von Eispunich, ſtarkem Ale und 
feurigem Madeira. Als abgeräumt war, erbob fih der flammige Präfes, 
fuchte fo viel ald möglich die Haltung und Geberde John Kenible's nachzu⸗ 
abmen und rief mit den Worten Macbeth's: 

‚güllt voll! 
Ich trinke jegt zur allgemeinen Freude 
Des ganzen Tiſches!“ 

„Hierauf folgte: ‚Der König, Bott fegne ihn!‘ und dann hieß «8: 
‚Meine Herren, es giebt noch einen Toaſt, der in diefem meinen Haufe noch 
niemal8 vergeffen worden und auch niemals vergeflen werben wird: Ich 
trinfe hiermit auf die Geſundheit des Dir. Walter Scott mit einem neun» 
fahen Hurrah!“ Nachdem diefer Gefundheit alle gebührende Ehre gezollt 
worden und Scott der Geſellſchaft kurz gedunft, entfernte ſich Miftreh Bal⸗ 
lantyne; die Flaſchen Freiften zwei oder drei Mal auf die gewöhnliche Weile. 
Hierauf erhob ſich James nochmals. Die Adern feiner Stirn waren bid 
angeihwollen,, feine Augen blicten feierlich empor und er fagte, nicht wie 
vorher mit Donnerflimme, fondern mit verhaltenem Athem nad Art tes 
Geflũſters, Durch welches ein Verfchwörer auf der Bühne die Gallerie mit 
Entſehen erfüllt: Meine Herren, ein Blas auf das Wohl des 
unferblihen Berfafferste8 Waverley! Auf den lauten Vivat- 
ruf, in weldjen Scott ebenfalld mit einflimmte, folgte tiefe® Schweigen und 
dann fuhr Ballantyne fort, das Dunkel zu beflagen, in welches fein berühm⸗ 
ter, aber allzubefcheidener Befchäftöfreund fih immer nod dem Beifall der 
Welt zu entziehen ſuche, der Geſellſchaft für die Art und Welfe zu danfen, 
auf welche die nominis umbra aufgenommen worden, und ihr zu verfichern, 
der Derfafler von Waverley werde, wenn er von dem Umflanb unserrichtet 


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würde, darüber fehr erfreut fein „die flolzefle Stunde feine® Lebens” u. f.w. 
u.f.w. Die gleichgültige Miene, welde Scott's Geficht während diefer 
Spiegelfechterei zeigte, war vollfommen und Erskine's Bemühen, eine beitere 
Nonchalance zu Heucheln, noch ſpaßhafter. Aldiborontivhoscophornio war, 
obſchon es ihm faſt das Herz abtrüdte, Doch zu Flug, als daß er den neuen 
Roman zum Genenftand der Discurfion hätte madyen Taffen follen. Der 
Name ward genannt und auf feinen glüdlichen Erfolg ein Glas geleert, 
aber dann Jedediah weiter nicht erwähnt. Um den Baden abzujchneiden, 
ſtimmte er eins feiner vielen Lieder an und trug ed auf eine Weile vor, 
welche einem Sänger von Profelfign feine Schande gemacht hätte. Hierauf 
folgten andere Toafte und dazwifchen Lieder von anderen Sängern und ſo 
ging es fort, bis Scott und Erskine mit einigen dem geiftlihen Stante an- 
gehörigen oder fonft fchr gefegten ‘Berfonen, die dem Gaſtmahl beigemwohnt, 
es räthlich fanden, fidh zu entfernen. Run veränderte fich Die Scene. Der 
Claret machte Plaß für eine mächtige Bowle Punfh und als einige Gläſer 
bes heißen Betänfes den guten James hinreichend reftaurirt hatten, ging er 
ore rotundo über die Vorzüge des nächftens erfcheinenden Romans mit der 
Sprade heraus. ‚Ein Kapitel — nur ein Kapitel!’ rief man von allen 
Seiten. Nady einigen verftellten Weigerungen wurden endlich die Aus 
bängebogen hHerbeigebraht und James lad nun laut den Dialog vor, der 
nach feiner Meinung einen der Lichtpunfte des neuen Werks bildete. 


» Das erſte Bruchſtück, welches ich auf dieſe Weife Iefen hörte, war 
die Unterredung zwiſchen Jeanie Deans, dem Herzog von Argyle und ber 
Königin Karoline in Richmond Park und trog ter Dem guten James eigenen 
pomphaften Weile muß ich fagen, daß er diefe unnachahmliche Scene fehr 
gut vortrug. Auf alle Bälle war die Wirkung, die fie bervorbrachte, eine 
tiefe und merkwürdige und man Eonnte ſich nicht wundern, daß der froßs 
lodende Buchdrucker „nod einen Humpen auf Jedediah Cleisbotham“ aus 
brachte, ehe er fein letztes Lied fang, welches ſtets die legten Worte Mar⸗ 
mion’3 waren und die er mit einer gar nicht zu verachtenden Nachahmung 
Braham's vortrug. ” 


Drüben in Abbotöford tragen die Dinge ein noch gebeihlichered An- 
feben. Hier Tapt Scott an den reigenden Ufern des Tweed bauen und fchafe 
fen. Er bat bier Land gefauft und Fauft deifen noch mehr und fo fehnell 
als das neue Bold für einen neuen Waverley⸗Roman einkommt, ober auch 





205 


noch fchneller, verwandelt es ſich in Stein und niedergeichlageneß oder ange« 
pflanztes Holz. 

„Ungefähr in der Mitte des Monats Februar (1820), * fagt Mr. Lock⸗ 
hart, „nachdem wir bereitö übereingefommen waren, daß ich im Laufe des 
Frühlings feine ältefte Tochter heirathen follte, begleitete ih ihn und einen 
Theil feiner Familie auf einem jener fliegenden Beſuche in Abbotäford, 
weldhe er während der Gertchtöjefilon des Sonnabends fehr oft vorzuneh⸗ 
men pflegte. Bei ſolchen Gelegenheiten erſchien Scott zu der gewöhnlichen 
Stunde im Gerihtöhofe, trug aber anftatt des offiziellen ſchwarzen Anzug 
bie grüne Jagdpikeſche u. |. w. unter feiner amtlichen Robe. — Mittags, 
wenn der Gerichtshof die Sigung aufhob, fand Peter Mathiefon an dem 
Thore des Parlamentöhaufes fchon bereit und fünf Minuten fpäter war die 
Robe abgeworfen und Scott befand ſich vor Freuden die Hände reibend auf 
dem Wege nach Tweedſide. 

„Nächten Morgen erfchien beim Frühſtück John Ballantyne, der da⸗ 
mald in dem Thale des Leader ein Fleined Jagdhaus hatte und mit ihm 
Mr. Eonflable, fein Gaſt. Da es ein ſchöner heller Tag war, fo machten 
wir und, fobald als Scott das Kirchengebet und eine von Jeremy Taylor's 
Predigten geleien hatte, alle nody vor Mittag auf den Weg, um einen Spa⸗ 
ziergang auf feinem Gebiete zu machen; Maida (der Jagdhund) und die 
übrigen Zavoriten begleiteten und auf unjerm Marfh. Beim Aufbruche 
geſellte fich der flete Schildfnappe Tom Purtie zu und und ich kann mir die 
Mühe eines Verſuchs, feine äußere Erſcheinung zu befchreiben,. erfparen, 
denn fein Herr hat und fhon in einer gemiffen Perfon feined Redgauntlet 
eine unnachahmlich treue gegeben: Er war vielleicht jechzig Jahre alt, aber 
dennod war feine Stirn noch ziemlicdy glatt und fein Eohljchwarzed Haar 
durch die Zahl der Jahre nur bier und da ein wenig ergraut, nicht gebleicht. 
Alle feine Bewegungen verriethen unverminderte Kraft und obſchon etwas 
unter Mittelgröge, beiaß er doch jehr breite Schultern, war flarf gebaut und 
Ihien in feinem Körper Muskelftärfe und Behendigkeit zu verbinden. Die 
legtere hatte durch die Iahre vielleicht ein wenig verloren, die erftere aber 
war noch unvermindert. in hartes, fchroffes Geſicht, tief eingefunfene 
Augen unter hervorragenden Brauen, bie eben fo grau gefprenfelt waren 
wie fein Haar; ein breiter Mund von Ohr zu Ohr reidhent, mit einer 
Doppelreihe ungewöhnlich weißer und großer Zähne befegt, welche den Kinn- 
laden eines Menſchenfreſſers zur Zierde gereicht hätten, - vollendete jein rei 


306 
zendes Portrait. — Diefe Geftalt denke man fi in Scott's abgefrkter grü 
ner Jade, weißem Hut und grauen Hoſen und der Tom Purdie von 1820 
ſteht vor und. 

„Wir freuten uns alle, zu fehen, wie vollfländig Scott feine Körper 
kraft wietergewonnen hatte und feiner mehr als Eonftable, der, als er einen 
Hohlweg hinauf und einen andern hinab hinter ihm berfeuchte, oft ſtehen 
blieb, um ſich die Stien abzutrodnen und bemerkte, daß nicht jeder Autor 
ihn zu einem folchen Tanz aufziehen würde. Purdie's Geſicht aber glänzte 
vor Frende als er bemerkte, auf welche fchwere Probe die Behendigkeit des 
didwanftigen Buchbändlers geftellt ward. Scott rief einmal über dat 
andere froblodend aus: ‚Das wird ein berrliches Frühjahr für uniere 
Bäume, Tom!’ — ‚Das wollte id meinen, Sceriff,' entgegnete Tom 
and dann wartete er einen Augenblid auf Gonftable, kratzte ſich im 
Kopfe und fegte hinzu: ‚Meiner Treu, ich glaube, c8 wird auch ein gw 
tes Jahr für unjere Bücher.‘ Tom ſprach naͤmlich fletd von „uniern Bü⸗ 
dern”, als ob dieſe fo regelmäßige Erzeugnifle ded Bodens wären, wie 
‚unfer Hafer‘ und ‚unfere Birken. Nachdem wir erfl den Herilcleugb umd 
dann den Rhymer's Glen durchgemacht, kamen wir in Huntly Burn an, wo 
die Gaſtfreundſchaft der freundlichen Zauberſchweſtern, wie Scott die Ri 
Ferguſons nannte, unfere erfchöpften Bibliopolen wieder von Neuem flärfte 
und ihnen Muth gab, ihren Mari an demfelben berühmten Bade hinab 
noch ein wenig weiter audsutchnen. Hier fland eine Eleine Hinte an einem 
ſehr flillen gefchügten Plage und Scott war der Meinung, Diefelbe könne 
durch einige Reparaturen und Erweiterungen in eine paflende Sommerrefi- 
benz für feine Tochter und feinen fünftigen Schwiegerfohn verwandelt wer» 
den. — Als wir wieder heimwaͤrts gingen, legte Scott, der ein wenig müde 
geworten, feine linfe Hand auf Tom's Schulter, flüßte ſich ziemlich ſchwer⸗ 
fällig auf ihn und fhwagte mit jeinem Sonntagepony, wie er den trenen 
Burfchen nannte, eben fo vertraulich, wie mit der übrigen Geſellſchaft. Tom 
gab, fo oft der Gegenftand des Geſpraͤchs nicht über feinem Horizont bin 
ausging, fein Wort fhlan und muthig cbenfalld mit dazu und ſchmunzelte 
und grinfte, wo er ed angemefien fand. Es war leicht zu fchen, daß von 
tem Augenblide an, wo der Echeriff ihn beim Kragen padte, fein Selbſt⸗ 
gefühl höher flieg.“ 

Daß Abborsford bald von einer Menge Touriften, Nengierigen und 
dergleichen widerwärtigen Individuen heimgefucht ward, faun man ſich leicht 


} 
) 


207 


denken. Das einfame Ettrick ſah fih auf einmal bevölkert und alle Pfade 
wurden von ten Füßen und Hufen eined entlofen Gemiſches von Pilgern 
betreten. Oft kamen bid zu ſechzehn Partien an einem einzigen Tage in 
Abbotsford an, Männer und Brauen, Pairs, ſocinianiſche Geiftliche, Alles, 
was ausgezeichnet war, Alles, was Liebe zur Auszeichnung in fich trug ! 

Mr. Lodhart glaubt, es fei niemals zu einem literarifhen Altar fo 
viel gewallfahrtet worden, ausgenommen nach Ferney zu Voltaire's Beit, 
ber aber nicht Halb jo zugänglid war. | 

Dergleichen fummende Shwärme von Schmeißfliegen fehlen überall 
nicht, wo fi) eine Spur von menfchlidhen Ruhme oder anderer Fäulnig 
wittern läßt. So Hat es die Natur einmal beſtimmt. Scott's Geſundheit, 
ſowohl an Körper wie an Geift, die maſſtve Tüchtigfeit feines Charakters 
zeigte ſich nirgends entichiedener, als in feiner Art und Weife, wie er biefen 
Theil feines Schickſals über fih ergeben lief. Man höre, was Kapitain 
Bafll Hall Darüber fagt, defien Worte wir jedoch nur audzugsweiſe mittheilen. 

„Wir famen ziemlich zeitig an und fanten fchon mehrere andere Gäfte 
bei Tiſche. Die Gaftzimmer find mit Oelgas und zwar auf ganz prachtvolle 
Weiſe beleuchtet. — Hätte ich hundert Federn, von welchen jede gleichzeitig 
eine Anekdote niederfchriebe, fo könnte ich doch nicht hoffen, aud nur die 
Hälfte von denen zu berichten, welche unfer Wirkh, um Spenzer'd Auddruck 
zu gebrauchen, fortwährend von fich fprudelte. — Er unterbielt uns auf 
dem ganzen Wege mit einer endlojen Reihe von Anekdoten, die wie ein 
Strom von feinen Lippen flojien. — Der Weg war jhmugig und faum 
gangbar und dennoch entfinne ich mic nicht, je einen Play geſehen zu ha⸗ 
ben, der 10 intereffant gewefen wäre, wie die Geſchicklichkeit dieſes mächti- 


gen Bauberer& dieſe enge Schlucht gemacht hatte. — Es ift unmögfid, ir⸗ 


gend ein Thema zu berühren, über welches er nicht fofort eine Anekdote zu 
erzählen wüßte. — So ſchlenderten wir entlang, gleichfam auf der Fluth 
des Geſanges und des Erzählens dahingetragen. — Am Abend hatten wir 
einen großartigen Schmaus. Sir Walter fragte und, ob wir jemals Chriſta⸗ 
bei gelefen hätten. — In diefe verſchiedenen Borlejungen wurden einige 
hundert Geſchichten eingeflreut, von denen einige drollig, andere rührend 
waren. — Beim Frühſtück Hatten wir heute wie gewöhnlich einige hundert 
und fünfzig Befchichten — Gott weiß, wo fie alle herkamen. — In der 
kat, diefer Mann ift ganz dazu geeignet, den höchſten und flolzeften Play 
an der Spige der Literatur des Geſchmacks und ber Phantafle der ganzen 


Welt einzunehmen. — Bei Tiſche Hat er niemals einen befimmten Pak, 
fondern figt bald Hier, bald da,” u. ſ. w. u. f. w. 

Unter foldhen Berehrern, Tie glei in ſechzehn Partien taͤglich an⸗ 
famen, würde ein gewöhnlicher Menſch ſich aflmälig ale Bott gefühlt, zu 
niden angefangen und den Erdfreid zu erfchüttern gefchienen haben. Gin 
etwas milzfüchtiger Menſch hätte fein Haus von dieſer ganzen Gefellichaft 
rein zu erhalten gewußt und fich von ſolchen Schmeißfliegen nicht bei feiner 
Arbeit Hören lafien. Der gute Sir Walter aber that ale ruhiger, braver 
Mann keins von beiden. Er ließ die Sache ihren Gang gehen, genoß da⸗ 
von, was genießbar war, duldete, was fid einmal nicht ändern Tieß, fchrieb 
mittlerweile feine tägliche Portion Roman, blieb ruhig und gelaflen — 
fügte fi mit einem Worte in diefe Tautfunmende Umgebung eben jo wie er 


ſich (vielleicht Lieber) in eine flille, arme und einfame gefügt haben würde 


Ohne Zweifel war ed für ihn angreifend und verießte fein inneres Leben oft 
in eine beflagenswerthe Aufregung, obſchon er dieſe gut nieberzufämpfen 
verfland, aber dennoch griff es ihn weniger an, als es faft jeden andern 
Menichen angegriffen haben würde. Seine Gäfte gehörten nämlich nit 
durchgängig der Schmeißfliegengattung an. Wr. Lockhart foll und das 
fhönfte Schaufpiel zeigen, welches das britijche Ferney jemals gewährte oder 
jemald gewähren wird und damit wollen wir von Abbotsford und der Eul- 
minationöpertode von Scott's Leben Abſchied nehmen: 

„Es war ein heller ſchöner Septembermorgen, die friſche Luft verdop⸗ 
pelte ven belebenten Eifluß des Sonnenicheind und Alles war bereit zum 
Aufbruce zu der großen Jagdpartie auf Newark Hill. Der einzige Gaft, 
der fi ein anderes Vergnügen vorgenommen, war der unerfättlichfte aller 
Angler, Pr. Roſe, doch war er ebenfalls mit zur Stelle auf feinem Rößlein, 
bewaffnet mit feiner Lachsruthe und feinem Meg, begleitet von feinem Hinves 
und Sharlie Purdie, einen Bruder Tom's, der damals der berühmtefte Fi⸗ 
fcher des ganzen Diftrifts war. Diele Eleine Gruppe von Waltonianern 
trieb fid) noch eine Weile herum, um erft den Aufbruch der großen Gaval- 
eade mit anzufehen. Sir Walter auf feine „ Sybille” figend, ordnete Die 
Reihenfolge des Zugd mit einer ungeheuern Jagdpeitiche und unter einem 
Dutzend fröhlicher junger Herren und Damen, welche Luft zu haben ſchienen, 
aller Disciplin zu fpotten, erfchienen ebenfalld zu Pferde und ed an Flinf⸗ 
heit mit Dem jüngften Jäger aufnebmend, Sir Humphry Daoy, Dr. Wolle 


on und der Patriarch der ſchottiſchen Belletriftif, Henry Madenzie. Der 


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209 


‚Rann von Gefühl’ ward jedoch mit einiger Mühe überredet, fein Roß einfte 
weilen feinem treuen.Reger zu übergeben und fi zu Lady Scott in den 


Wagen zu feßen, bis wir an Ort und Stelle fämen. Laidlaw auf einem 


ſtarkſchweiſigen tüchtigen Holländer, Namens Hoddin Greyh, der ihn raſch 
und wader trug, obichon die Füße des Reiters faſt den Boden berührten, 
war der Adjutant. Die malerifchfte Figur aber war der berühmte Erfinder 
ber Sicherheitslampe. Gr war wegen ſeines Lieblingdzeitvertreibd, des 
Angelnd, gefommen und hatte ſich fchon feit zwei oder drei Tagen mit Roſe, 
feinem Reiſegefährten, daran ergögt; entweder aber hatte er ſich auf einen 
ſolchen Jagdausflug nicht gefaßt gemacht oder Charlie Purdie's Gefellfchaft 
in Folge eines plöglichen Einfall mit Sir Walter's vertaufcht und fein 
Fiſchercoſtum — ein brauner Hut mit biegfamer Krampe, mit einer Maffe 
Schnure und Angelhafen umwidelt, große ungeheure Stiefel, die eines hol« 
ländiihen Schmugglerd würdig gewefen wären und ein mit Lachsblut bes 
fprigter Barchentrod — bildete einen niedlichen Gegenſatz zu den knappen 
Saden, weißen Beinkleidern und fchön Tadirten Iodepfticfein der weniger 
außgezeichneren Gavaliere, von welchen er umgeben war. Dr. Wollafton 
ging ganz ſchwarz und hätte bei feiner würdevollen Haltung für einen auf 
die Jagd gehenden Erzbifchof angefehen werden können. Mr. Mackenzie, 
der damals in feinem fechöundfichenzigften Lebensjahre fland, trug einen 
weißen, grün aufgepugten Hut, eine grüne Brille, eine grüne Jade, Tange 
braune Ledergamalchen, eine Hundepfeife am Halſe hängend und hatte Durch 
aus das Anſehen eined eben fo eifrigen Jägers als ter Iuftige Kapitain von 
Huntly Burn war. Tom Purdie und feine Xeute waren ſchon einige Stun 
den vorher mit allen Iagbhunden, die man in Abboreford, Darnid und 
Melroſe auftreiben konnte, vorangegangen, der riefige Maida jedoch war ale 
Ordonnanz feines Herrn zurücgeblieben und fprang um Sybille herum und 
bellte vor purer Freude, wie ein kleines Wachtelhündchen. 

„Die Marfhortnung war endlich geregelt und der Wagen fegte fich 
eben in Bewegung, ald Lady Anna aus Reihe und Glied hervorritt und 
mit lauten Gelächter ausrief: ‚Bapa, Bapa, ich tadıte mir glei, dag Du 
Deinen Liebling mitnehmen würdeſt!“ Scott ſah ſich um und id glaube, c& 
flog ſowohl ein Erröthen als ein Lächeln über fein Geſicht, als er ein Fleie 
nes ſchwarzes Schwein bemerkte, weldyes um fein Pferd herum hüpfte und 
offenbar Willend war, fi aus eigenem Untricbe der Geſellſchaft anzufchlie= 
en. Er veriuchte, eine finflere Miene zu machen und fchlug mit der Peitjche 

Carlyle. I. 14 





210 


nach dem Thiere, mußte aber gleich darauf in das allgemeine Gelächter ein- 
flimmen. Das arme Schwein fühlte bald einen Riemen ih um feinen Hals 
fhlingen und ward in den Hintergrund gefihleppt. Scott ſah ihm nad, 
declamirte mit verflellten Pathos den erften Vers eines alten Hirten⸗ 
liedchens: 


„Was werd' ich thun, wenn mein Schweinchen ſtirbt? 
Mein Stolz, meine Freude, mein Schweinchen! 
Mein einziges Thier, horcht, wie es zirpt! 
Ach, was für ein herrliches Schweinchen!“ 


— das Gelächter verdoppelte ſich und der Zug ſetzte fih nun endlich wirt 
lih in Bewegung. 

„ Diefed Schwein hatte, Niemand wußte wie, eine höchſt fentimentale 
Anhaͤnglichkeit zu Scott gefaßt und war fortwährend bemüht, ſich unter die 
Hunde zu milden und auf diefe Weiſe ein Glied feines Gefolges zu fein; 
doch entfinne ich mid, daß er während eined andern Sommers von Seiten 
einer Tiebreihen Henne diefelbe Zudringlichfeit zu erdulden hatte. Die Er⸗ 
Flärung überlaffe ih Naturfundigen, die Thatfache aber war fo. Ich habe 
zu viel Achtung vor dem gewöhnlich viel verleumdeten Eſel, um ihn mit 
dem Schwein und der Henne in eine und biefelbe Kategorie von Lieblings⸗ 
thieren zu rechnen, kann aber nidht unerwähnt laflen, daß ein paar Jahre 
nach diefer Zeit meine Gattin ein Paar dieſer Ihiere beſaß, mit denen fie 
in einem Fleinen Gartenwagen herumfuhr. So oft nun ihr Bater an der 
Thür unferer Hütte erfchien, Eonnten wir überzeugt fein, Hannah More und 
Lady Morgan (wie Anna Scott boshafterweife die beiden Ejel getauft hatte) 
bon ihrem Weideplage herbeitraben zu ſehen, um ihre Schnaugen über ben 
Baun herüberzuftreden. 

„Hier in Chieföwood verlebten meine Gattin und id Diefen Sommer 
und Herbft 1821, — die erfle von mehreren Saifons, welche ſtets als bie 
gluklichften meines Lebens in meiner Erinnerung weilen werden, Wir was 
ren nahe genug bei Abbotsford, um uns der dort Icbenden und fortwährend 
wechſelnden Geſellſchaft anzufchließen, fo oft wir Luft hatten, und Eonnten 
Dies doch thun, ohne der Plage und Erfchöpfung audgefegt zu fein, welde 
der täglich Empfang neuer Anfümmlinge der ganzen Familie, ausgenommen 
Sir Walter felbft, auflegte. Aber auch er war doch nicht immer ganz un« 
verwundbar gegen die Behelligungen, von welchen ein ſolcher offener Haus⸗ 


| j 


211 


halt nothwendig begleitet fein mußte. Selbft fein Gleichmuth hielt nicht 
immer Stand gegen den falbungdvollen Beifall Iangweiliger Pedanten, das 
leere, nichtöfagende Entzüden gefchininkter und gepußter alter Damen, bie 
unverſchaͤnte Meugier, womit ungebildete Ausländer ihn mit Fragen bes 
flürmten und das aufgeblafene Lächeln herablaflender Magnaten. 

„Wenn ihm auf dieje Weile einmal in unerträglichem Grade zugefeßt 
ward, pflegte er ſich plöplich zu befinnen, daß er in einer entfernten Gegend 
ein nothwendiges Geichäft zu verrichten hatte. Er bat dann feine Gaͤſte, 
ihn auf einige Zeit zu entichuldigen und eridhien dann des Morgens vor 
unjerm Haufe, ehe wir noch aufgeftanten waren. Der Hufſchlag feines 
Pferdes, das Gebell der ihn begleitenden beiden Hunde und fein eigener 
freudiger Weckruf unter unfern Fenſtern waren das Zeichen, daß er feine 
deſſeln geiprengt hatte und gejonnen war, ſich es einmal einen Tag lang be> 
quem zu machen. Wenn wir herunter Famen, fahen wir ihn mit allen fei- 
nen und unferen Hunden um ihn herum unter einer weit audgebreiteten 
Eiche ſitzend, welche die Hälfte deö Lifer8 zwifchen dem Haufe und dem Bache 
überfchattete, während er die Schneide feiner Holzart fhärfte und Tom Pur⸗ 
dies Borlefung über die Pflanzungen anhörte, die am meiften des Lichtens 
oder Durchforftens bedurften. Nach dem Frühſtück nahm er Beſitz von einem 
Zimmer im obern Stod und jchrieb ein Kapitel zu dem ‚Piraten‘ und nach⸗ 
dem er dann Dad Manufeript zufammengepadt und an Mr. Ballantyne ab- 
geiendet, eilte er Zom Purdie nad an den Pla, wo die Holzfäller bei der 
Arbeit waren. Hier arbeitete er nun jo angeftrengt mit wie irgend einer, 
bis es Zeit war, fi entweder wieder zu feiner Gefellfchaft nad) Abbotsford 
zu begeben oder fi) dem ftillen Kreife in unferem Haufe anzuichließen. 
Waren jeine Gaͤſte wenig an der Zahl und nähere Bekannte von ihm, fo 
ließ er fie oft gegen Abend alle zufammen nad Chiefswood herüberfommen 
und zeigte fich nie liebenswürdiger, als wenn er feinen jungen Leuten in 
ihren Eleinen Vorkehrungen bei ſolchen Gelegenheiten mit zur Hand ging. 
Er wußte eine Menge Ausfunftömittel, um den Mängeln eines Eleinen Haus» 
bald abzuhelfen. Befondered Vergnügen machte e8 ihm, ehe er in den Wald 
ging, den Wein in einen Brunnen zu verſenken und furz zuvor, ehe daß 
Diner angemeldet ward, ten Korb wieder heraufzuminden. Dieſes Mittel 
war nach feiner Meinung in feinen Ergebniffen viel beſſer, ald die Anwen⸗ 
dung von Eis, weshalb er auch früher ald noch junger Haudvater davon 
Gebrauch gemacht hatte. Eben fo trug er, fo oft die Witterung hinreichend 

14* 


212 


mild war, darauf an, daß das Diner im Freien flattfänbe, woburd wir der 
Unbequemlichfeit fehr Eleiner Zimmer fofort überhoben wurden, während 
dann auch Lie Herren bei Tifche die Damen bedienen Eonnten, jo daß bie 
geringe Anzahl unferer Dienftleute weiter nicht auffällig war.” 

Dies iſt allerdings alles fehr ſchön, gleich einem Gemälde Borcaccio's, 
das Ideal eined Landlebens in unferer Zeit. Warum konnte es nicht dauern? 
An Einkommen fehlte ed nicht, denn Scott's amtliche und permanente Ein⸗ 
fünfte waren vollauf hinreichend, die Koften alles Defien zu beflreiten, was 
in einem folchen Leben werthvoll, ja alles Deflen, wad nicht quälend, uns 
finnig und verädhtlih war, Scott hatte jährlich gegen zweitaufend Pfund 
Einkünfte, ohne alles Bücherſchreiben. Warum fabricirte er nun, um im» 
mer mehr Geld zu machen und bäufte Mafle auf Maſſe, bis der Gipfel 
überſchlug, Erachend berunterflärzte und das ganze Gebäude ihn in feinen 
Trümmern begrub, während er doch fhon von Haus aus mit einem anges 
nehmen und fiheren Wohnftge beglädt war? 

Ad, leiter war Scott bei all feiner Befundheit doch inficirt; er lag 
franf an der furchtbarften aller Krankheiten, an der Krankheit des Ehr- 
geizes. So weit hatten ihn die Baronifirung, der Beifall der Welt und 
die vornehmen Gefellichuften gebracht. Und deshalb mauern Die Maurer 
und die Gräber graben und es wird auf entlofe, wirklich beflagendwerthe 
Meile hin und Her correfpondirt, über Marmorplatten, über Tapeten und 
Vorhänge und ob der Auspug der letztern orangefarben oder hellbraun jein 
folle. Walter Scott, einer der Begabten der Welt, den feine Bewunderer 
den Begabteften nennen, arbeitete fih zu Tode, um ein Rantedelmann, um 
der Gründer eines Geſchlechts ſchottiſcher Lairds zu werten. Es ift eine der 
feltfamften tragifchften Gefchichten, die jemald unter der Sonne vorgefom« 
men. So fann eine armſelige Leidenſchaft einen fo ftarfen Mann zu folchen 
wahnfinnigen Ertremen verleiten ! 

In der That, wäre der Menfch nicht ſtets ein Narr, jo müßte man, 
möchte die Sache nun enden wie fie wollte, eine ganz außerordentliche Narr« 
beit darin fehen, wenn ein Walter Scott Tag für Tag mit der Unermüd⸗ 
lichkeit und Schnelligkeit einer Dampfmafdyine fehreibt, um jührlih fünf 
zehntaufend Pfund zu verdienen und allerhand unnöthige Hausgeräthichaften 
dafür zu Faufen. Können wir es anter@ ald einen Beweis von gelintem 
Wahnſinn nennen, wenn er die Wände eined Hauſes in Selfirfihire mit 
allerhand Siebenſachen, alterthümlichen Rüftungen und genealogiſchen Wap⸗ 





213 


penſchildern bedeckt? Diefe Sucht, einen Strich Moorland nad dem andern 
in dem Shire von Selfirk auf dem Pergament und durch Umzäunungen zu 
vereinigen und nach feinem Namen zu nermen, iſt eine Elägliche Miniatur« 
auögabe des Ehrgeizes unferer gemeinen Napoleon’s, Alexander's und ande⸗ 
ser Eroberer — eined Ehrgelzed, den kein Lehrer der Menſchen für etwas 
Schönes und Erhabenes erklären wird! 

Und wenn vom Monde aus gefeben, der felbft noch jehr weit von ber 
Unendlidyfeit entfernt ift, Napoleon's Befigungen eben fo Flein waren als 
die meinigen find, was fonnte dann wohl möglicherweife jemald aus dem 
Landgute Abbotsford werden? Es giebt, wie die Araber fagen, in jeder 
Seele einen fhwarzen Punkt, wenn er auch nicht größer wäre, ald ein Boh⸗ 
nenauge und der, wenn er einmal in Thaͤtigkeit verjegt wird, dennoch den 
ganzen Menſchen mit Finfterniß und Wahnfinn ummölft und in den Ab⸗ 
grund der Nacht binunterflürgt. , 

In Bezug auf den literarifchen Charakter diefer Waverley⸗Romane, 
die in ihrer commerziellen Bedeutung fo außerordentlich find, bleibt nad 
jo vielen Kereitö vorhandenen guten und fchlechten NRecenflonen nur wenig 
Erfprießliche® zu jagen übrig. Die Hauptthatfache in Bezug auf dielelben ift, 
daß fie fehneller geichrieben und befler bezahlt wurden als irgend andere Bür 
Ger in der Welt. Lieberdied muß auch zugegeben werben, daß fie einen 
Berth ‚haben, der das, was In foldhen Hallen gewöhnlich ift, weit übertrifft; 
ja wenn Lie Literatur feine andere Aufgabe hätte, ald unthätige träge Men⸗ 
ſchen auf harmloſe Weile zu amüflren, fo wären diefe Romane das Bollen- 
betfte, was die Literatur aufzuweiien hätte und der Menſch könnte ſich nie- 
derfireden und ausrufen: Sei mir dad Loos beichieden, fortwährend auf 
diefem Sopha zu liegen und ewig Romane von Walter Scott zu lefen! 

Die Compofition diefer Romane, fo leicht gehalten fle auch oft iſt, 
bängt doch einigermaßen zufammen und ift eine Gompofition. Es iſt ein 
frifcher, freier Fluß in diefen Erzählungen von Ereigniffen und Gefühlen, 
durchweg ein ungezwungener gentaler Zufammenhang gleich dem freien Zuge 
einer Meifterhand, rund wie dad O Biotto’s*). Es ift die höchſte Vollen- 
bung des ertemporirten Schreibend. 





*) „‚„Venne a Firenze‘‘ (il vortigiano del Papa), „e andato una mattina in bot- 
tega di Giotto, che lavorava, gli chiese un poco di disegno per mandarlo a sua San- 
tith. Giolto, che garbatissimo era, prese un foglio, ed in quello con un pennello 


214 


Berner wäre Der ganz gewiß ein blinder Kritiker, der Hier nicht eine 
gewiffe wohltHätige Sonnenhelle und malerifche Friſche erkennen wollte. 
Die Schilderungen fowohl der Natur ale der Menichen find anmuthig und 
glänzend und verratben eine tieffinnige Liebe zum Schönen in der Natur 
und im Menfchen, fo wie die bereitefte Fähigkeit, Died durch Phantafle und 
Worte audzudrüden. 

Nirgends findet man friichere Naturgemälde als Scott's und faum 
irgendwo eine unfaflendere Sympathie mit dem Menſchengeſchlecht. Dies 
gilt von Davie Deans bid hinauf zu Richard Löwenherz, von Meg Merrplies 
bie Die Vernon und Königin Elifaberh ' Es ift die Sprache eines Mannes 
von offener Serfe, eines wadern, weit und frei ſehenden Mannes, der alle 
Menfchen als feine wahren Brüder betrachtet. Diefe Romane beweiien, daß 
an freudiger Anſchauung und Sympathie, an Freiheit ded Auges und Her- 
jend oder, um es mit einem Worte zu fagen, an allgemeiner Geſundheit des 
Geiſtes Scott unter allen Schrififtellern eine der erften Stellen gebührt. 

Auch an dem höheren und höchſten Verdienfte, der Eharakterzeichnung, 
mangelt ed ihm niemald ganz, obſchon wir ihn niemals im beften Sinne 
glüclich nennen können. Seine Baillie Jarvies, Dinmonts und Dalgertys 
(denn ihr Name ift Legion) ſehen aus und fprechen wirklich wie Das, wofür 
fie fih ausgeben; fe find, wenn nicht gefhaffen und mit voetiſchem 
Leben begabt, doch ſehr täufchenn gefpielt, wie ein guter Schaufpieler fie 
ipielen würde, 

Und was bedarf ed denn mehr? Kür den auf dem Sopha Tiegenden 
Lefer weiter nichts, für eine andere Sorte von Leſern aber viel. 

Es wäre ein langes Kapitel, wenn man den Unterfchied in der Cha⸗ 
rakterzeihnung zwilchen einem Scott und einem Shafeipeare oder Goethe 
nachweiſen und begründen wollte. Und dennoch iſt dies ein Unterichien, der 
buchfäblich unermeßlich if; fe find von ganz verichiedener Gattung und der 


tinto di rosso, fermato il braccio al flanco per farne compasso, e girato la mano fece 
un tondo si pari di sesto e di profilo, che fu a vederlo una maraviglia. Cid fatto 
ghignando dısse al cortigiano, Eccovi il disegno.‘‘... . „„Onde il Papa, e molti 
cortigiani intendenti cunohbhero percıiö, quanto Giolto aranzasse d’eccelenza tutti gli 
altri pittori del suo tempo. Divolgatasi poi questa cosa, ne nacque il proverbio, che 
ancora & in uso dirsi a gli uomini di grossa pasta: „Tu sei piü tondo che U O di 
Giotto.‘* — Vasari, Vite (Roma, 1759), 1. 46. 


.. U =. wa. = 


215 


Werth des einen fann in ber Münze des andern gar nicht berechnet werben. 
Bir möchten mit kurzen Worten, worin aber fehr viel Liegt, jagen, daß 
Shafefpeare feine Charaktere von dem Herzen heraus formt, während Scott 
fie von der Haut an nad innen entwidelt, aber niemals bis zum Herzen ges 
langt! Die erftern werden demzufolge lebende Männer und rauen, die an⸗ 
dern find wenig mehr ald mechanische Figuren oder trügerifch bemalte Auto« 
maten. 

Man vergleiche 3. B. Fenella mit Goethe's Mignon, welche, wie man 
einmal jagte, Scott dem deutichen Dichter die Ehre angethan hat, von ihm 
zu entlehnen. Er bat von Mignon entlehnt, was er konnte. Die Eleine 
Geftalt, daB Klettertalent, die Berfchmigtheit, die mechaniſche Figur, 
wie wir fagen, hat er allerdings entlehnt, aber Mignon's Seele hat er vers 
geſſen. Benella ift ein für Scott ungünftig gewähltes Beifpiel, aber es 
veranfchaulicht in verihlimmertem Zuftande Das, was in allen Charakteren, 
die er zeichnete, aufzufinden iſt. 

Eben fo müſſen wir fagen, daß diefe berühmten Bücher ausſchließlich 
für alltägliche SGemüther beftimmt find und daß für jedes andere fo gut wie 
gar feine Nahrung darin liegt. Meinungen, Anſichten, Grundfäte, Zwei⸗ 
fel, Glauben über dad Map hinaus, welches der intelligente Landedelmann 
mit ſich berumtragen kann, find nicht zu finden. Es iſt alles ordentlich, 
herfömmlich, Flug und anfländig — aber nichts weiter. Man möchte fagen, 
es habe nicht in Scott gelegen, viel mehr als dies zu geben. Berläßt er 
einmal das gewöhnliche Gebiet und verfucht er ſich in dem Heroifchen, was 
nur felten der Fall ift, fo verfällt er faſt fofort in rofenfarbene Sentimenta- 
lität, — erblickt die Kritik von ferne und verläßt diefe Bahn eiligft wieder, 
denn Niemand wußte befier ald er, daß er auf derfelben ſchwerlich an's Biel 
gelangen würbe. 

Im Ganzen genommen muß man, wenn man „WWaverley*, welder 
iorgfältig gefchrieben war, mit den meiften feiner Nachfolger, welche ex tem- 
pore geichrieben wurden, vergleicht, dieje ex tempore-Metode nur beklagen. 
Seott Hätte etwas ſehr Vollkommenes tin feiner Art leiften können; auch 
war e8 feine niedrige Art; ja, wer weiß, wie hoch er bei forgfältiger Selbfl- 
eoncentration geftiegen fein würde, — welden Reichthum die Natur ihm 
tingepflanzt, den feine LImflände, die trog ihres günftigen Anſcheins den⸗ 
noch für ihn fehr ungünflig waren, ihn niemald gedrängt Hatten, zu ent« 
wideln. 


216 


Und doch muß ſelbſt bei dem lauteſten Trompetengeichmetter der Be 
pularität es als eine ewig wahr bleibende Wahrbeit ind Auge gefaßt wer 
den, daß die Literatur ganz andere Zwede bat, ald den, unthätige, träge 
Menſchen auf harmlofe Weiſe zu amüftren. Oder wenn die Literatur dieſe 
Bwede nicht Hat, fo ift fie eine fehr armielige Sache und etwas Anders 
muß diefe Zwecke haben und erreichen, mit Dank oder ohne Dank, dem 
die danfbare oder danflofe Welt würde fonft nicht lange mehr eine Welt 
bleiben. 

In diefer Beziehung aber ift in den Waverley⸗Romanen wenig zu ſu⸗ 
den oder zu finden. Sie taugen weder zur Lehre no zur Warnung, noch 
zur Erbauung oder Erhebung in irgend einem Sinne! Das kranke Her 
findet darin Feine Heilung, das im Finſtern ſtrauchelnde Herz feine Führung, 
das Heroifche, welches in allen Menſchen liegt, Eeine göttliche erweckende 
Stimme. Deshalb fagen wir, daß fie ſich nicht auf tiefe Intereffen grün 
den, fondern auf verhältnigmäßig triviale, nicht auf dad Ewige, ja vielleicht 
nicht einmal auf das Dauernde. 

In der That geht ein großer Theil des Interefle, welches dieſe Ro⸗ 
mane bieten, aus Gontraften des Coſtüms, wie man fie nennen fann, berver. 
Die einem gewillen Zeitalter angehörende Phrafeologie, die Mode in Waf⸗ 
fen, Kleidung und Lebensweife, wird ploͤtzlich mit eigenthümlicher Lebhaftig⸗ 
feit den Augen eines anderen Zeitalters vorgeführt. Es ift dies allerdings 
ein großer Effect, aber dennoch ſchon feiner Natur nad ein ganz vorüber- 
gehender. Wan bedenke doch — werden wir nicht eines Tages ebenfalls 
antik fein und ein eben fo ſonderbares und altuäterifches Coſtüm tragen, 
wie unfere Vorgänger? in ausdgeftopfter Stuger wird, dafern man ihm 
nur Zeit läßt, endlich eine der wunderbarfien Mumien. In kaum zwei Jahr⸗ 
hunderten hängt in den antiquarifhen Mufeen der Hut des Kirchthurm- 
renners an dem naͤchſten Nagel neben dem Patenthute von Frank und Com⸗ 
pagnie, während die Alterthumsforſcher ſich darüber flreiten, welcher von 
beiden der häßlichere ift, und der Schwalbenichwanzfrad der Iegtzeit wird 
hoffentlich al ein eben fo unglaubliche Kleidungöftüd betrachtet werden, 
wie irgend eins, welded den ehrwürbigen Rüden des Menichen jemals lä- 
cherlich machte. Nicht durch geicpligte Hofen, Kirchthurmhüte, Ledergürtel 
oder veraltete Redensarten Finnen Romanhelden auf die Dauer und intereis 
firen, fondern einzig und allein Dadurch, daß fie Menfchen find. Ledergürtel 
und alle Arten von Wänfern und Coſtümen find vergänglich, der Menſch 





217 


allein ift dauernd. Der, welcher hierin tiefer eingedrungen ift ald andere 
Menſchen, wird auch langer als diefe In ber Erinnerung leben, im entgegen- 
geſetzten Falle aber nicht. 

Unter diefer Kategorie betrachtet, iſt Scott mit feiner Elaren praftiichen 
Einfiht, feinem heitern Temperament und anderen gefunden Yähigfeiten 
nicht gering anzuſchlagen, — unter den gewöhnlichen Leihbibliothekshelden 
fonnte er wohl für einen Halbgott gelten. Er ift nicht Hein, aber er ift 
aud nicht groß; es gab Größere und zwar mehr ald einen oder zwei in ſei⸗ 
nem eigenen Zeitalter und unter den Großen aller Zeiten dürfte er kaum 
Anwartihaft auf einen Platz haben. 

Was ift aljo das Ergebnif, das Ergebniß diefer Waverley-Romane? 
Sollen fie blos eine Generation amüflren? ine oder mehrere! fo viele 
Generationen als fie fönnen, aber nicht alle Generationen ; ach nein, wenn 
unfer Schwalbenſchwanz eben fo phantaftifch und wunderlich geworben if, 
wie eine Pluderhoſe, dann werden fie aufhören zu amüfiren. 

Rittlerweile find, fo viel wir zu unterjcheiten vermögen, die Reiultate 
biejer Romane mehrfady geweſen. Zuerſt von allen, und fiherlid nicht am 
mindeften von allen, haben fie vielleicht das Refultar gehabt, Daß eine bedeu⸗ 
tende Anzahl Menichen dadurd mit bloßem Amüfement gefättigt und auf 
diefe Weife veranlaßt worben ift, etwas Beſſeres zu fuhen. Das Amüſe⸗ 
ment in der Geſtalt von Lectüre kann durch menfchlihe Macht nicht weiter 
geben und nichts Beſſeres thun, und die Menichen fragen: Iſt ed Das, was 
fie thun fann? Scott brachte nach unferer Anficht mehrere Dinge zu ihrer 
endlichen Entwidelung und Krifts, fo Daß eine Veränderung unvermeidlich 
ward — ein großer Dienft, obſchon ein indirecter. 

Zweitens aber können wir fagen, Daß dieſe Hiftorifchen Romane alle 
Menichen, die bis dahin Geſchichtsſchreibern und Anderen noch jo gut wie 
unbefannte Wahrheit gelehrt haben, daß die vergangenen Zeitalter der Welt 
wirklich wurd lebende Menichen und nicht Durch Protokolle, Staatsfchriften, 
Eontroverjen und theoretiihe Begriffe vom Menſchen ausgefüllt worden. 
Sie waren feine Abſtraction, feine Zeichnungen und Xheorien, fondern 
Menſchen in Leder» oder andern Jacken und Goien, mit Barbe auf den 
Wangen, mit Leidenfchaften im Herzen, und der Spracde, den Zügen und 
der Lebenskraft wirklicher Menfchen. 

Es if dies ein Kleines Wort, aber es Liegt eine bobe Bedeutung darin! 
Die Geſchichte wird hinfort wohl Darauf Acht zu geben haben. Ihr mattes 


218 


Hörenfagen, daß „die Bhilofophie durch Erfahrung lehre“, wird ſich über 
all mit directer Einfigt und Verförperung vertaufchen müffen. Died und 
dieß allein wird man als Erfahrung betrachten und fo lange nicht wirklid 
die Erfahrung eingetreten iſt, wird die Philoſophie fi begnügen, an ber 
Thür zu warten. Es iſt ein großer, an Folgen frucdhtbarer Dienſt, den Scott 
und auf dieſe Wetje geleiftet hat, eine große Wahrheit, die durch ihn offen- 
bart worden; — und fle entfpridt auch in der That der tüchtigen Natur 
diefed Mannes, der Gediegenheit und Wahrhaftigkeit fugar jeiner Einbil- 
dungdfraft, die all bei feiner lebhaften Vielſeitigkeit ein charakteriſtiſchet 
Kennzeichen von ihn war. 

Wir Enüpfen hieran einige Worte über dad ex tempore-Schreiben, welches 
in unferer Zeit eine immer größere Berühmtheit erlangt. Scott fcheint ed 
hierin fehr weit gebracht zu haben. Seine Schnelligkeit war außerordentlid 
und der erzeugte Stoff, wenn man die erwägt, ganz vortrefflid. Die Um 
fände, unter welden einige feiner Romane, wenn er nicht felbft fchreiben 
konnte, dictirt wurden, betradytet man mit Recht ald wunderbar. 

Es iſt eine ſehr werthvolle Fähigkeit, diefe Fähigkeit des Schnellſchrei⸗ 
bens, ja für Scott's Zweck war es offenbar die einzige gute Methode. Durch 
viel Arbeit hatte er fein Honorar nicht um eine einzige Guinee vermehren 
fönnen und der Xefer auf dem Sopha hätte nicht um einen Grad weider 
gelegen. Es war durdaus notbwendig, daß diele Werfe rafch producirt 
und rund oder gar nicht hingeworfen wurden, wie Giotto's O. 

Ucherhaupt liegt in allen Dingen, im Schreiben oder jedem andern 
Geſchaäͤft, womit der Menich fich befaßt, die unerläßlichfte Schönheit darin, 
daß er fertig zu werden weiß. Wander Menich aͤngſtet fich vergebens 
ab; er kann nit den richtigen Handgriff wegfriegen, er ift fein Meifter, 
fondern ein unglüdlicher Pfufcher und Stümper, wenn er nidt weiß, wann 
er fertig iſt. Abſolute Vollkommenheit iſt einmal unerreichbar ; fein Zim⸗ 
mermann machte jemals einen mathematiſch ganz genauen rechten Winfel; 
und dennoch wiflen alle Zimmerleute, wenn er recht genug iſt und hämmern 
nicht noch lange daran herum und verlieren ihr Arbeitslohn dadurch, daß 
fie ihn zu richtig machen. Wer fih zu viel Mühe giebt, verräth eben jo 
einen Franfhaften Geift, wie der, welcher fich zu wenig Mühe gicht. Der 
gewantte Mann von gefundem Geifte wird fi bemühen, auf jedes Geſchäft 
annähernd fo viel Mühe zu verwenden, ald ed verdient und e8 dann ohne 
Gewiſſensbifſe ruben Taffen. 


219 


Alles dies Tann zu Gunſten des Schnellichreibens zugegeben und da 
nöthig empfohlen und eingeprägt werben. 


Und dennoch muß andererfeitö nicht weniger, fondern weit dringender 
bervorgehoben werden, daß im Bereiche der Literatur nichts Großes mit 
Leichtigkeit, fondern nur mit Mühe gethan worden tft oder jemals gethan 
werden wird! Schnellichreiber, welche Talent in fich verfpüren, mögen dies 
wohl zu Herzen nehmen. Kann ein Menſch fein Beſtes in irgend einer 
Geſtalt mit Leichtigkeit thun, namentlich in diefer Geflalt, die man 
mit Recht „Seelenarbeit” nennt und wo es gilt, in den tiefen Schad- 
ten des Denfend zu arbeiten und aus dem auf allen Seiten mit dem 
ungeſchaffenen Falſchen umgebenen Dunfeln. und Möglichen das Wahre 
zu verförpern? Dies iſt niemald der Fall geweſen, weder jetzt noch zu ir⸗ 
gend einer Zeit. Die Erfahrung aller Menichen firaft eine folde Annahme 
Lügen; die Natur der Dinge widerfpricht ir. Waren Birgil und Tacitus 
wohl Schnellfchreiber? Die ganzen Prophezeihungen des Jeſaias kommen 
diefer Spinnwebe von einem Journalartikel an Umfang nicht gleih. Shafe- 
freare fchrieb, glauben wir, jehr rafch, aber nicht eher ald bis er jorgfältig 
nachgedacht Hatte. Lange und peinlich hatte, wie das fehende Auge wohl 
erkennen kann, diefer Mann nachgedacht und mit bangen Zweifeln gefämpft 
und gerungen, bis endlich feine große Seele fiegreich daftand. Seine Mes 
thode war, in geeigneten Augenblicken raſch zu ſchreiben, wenn er ſich dazu 
aufgelegt fühlte. 


Und Hierin Tiegt eigentlih dad ganze Geheimniß ter Sache. ine 
ſolche Schnelligkeit des bloßen Schreibens nadı gebührender energifcher Vor⸗ 
bereitung ift ohne Zweifel die richtige Methode und nachdem der Schmelz- 
ofen lange genug geheizt worden, lajfe man das reine Gold in einem Strome 
berausfließen. So war Shafeipeare'3 Methode, aber er war durchaus fein 
leichtfertiger Schriftfteller, denn dann wäre er niemals ein Shakeſpeare ge⸗ 
worden. 


Auch Milton gehörte nicht zu dem großen Haufen der «Herren, welche 
mit Leichtigkeit jchreiben ; er erlangte, wie man recht wohl gemerft, nicht 
Shafeipeare'3 Faͤhigkeit, auch nach Ianger Vorbereitung ſchnell zu ſchreiben, 
fondern fämpfte und mühte fldh, während er ſchrieb. Goethe jagt und auch, 
daß ihm nichts im Schlafe gefchenft worden, und in feinen ganzen Werfen 
gab es fein Blatt, von welchem er nicht gewußt hätte, auf welche Weiſe «8 


entflauden war. Deshalb aber gilt feine Brofa auch für die befle unter 
allen modernen Schriftftellern. 

Schiller, als unglüdliher und ungefunder Mann, „konnte nie fertig 
werden *, fein edler Genius kaͤmpfte nicht weile, fondern zu eifrig und nagte 
an feinem Leben, bis es Heldenmüthig erloſch. 

Oder fchrieb Petrarka fehnell und ohne Mühe? Dante fleht fidy über 
feiner göttliben Komödie „mager werden.” Gr fänpft einen einjamen 
Todeskampf mit ihr, um fle zu bezwingen und fertig zu bringen, wenn feine 
äußerfie Häbigfeit ed im Stande iſt. Und deshalb wird fie auch fertig und 
bezwungen und ihr feurigeö Xeben dauert unter den Menfchen nun fort. 

Nein, das Schaffen kann nicht leicht fein. Jupiter empfindet heftige 
Schmerzen und fühlt Beuerflammen in dem Kopfe, aus welchem Die gewapp 
nete Ballas fi bemüht, hervorzubrechen. Was das Yabriciren betrifft, fo 
ift dies eine andere Sache und fann leicht oder nicht leicht werden, je nad 
dem man ed anfaßt. Aber auch von Fabrikarbeit gilt die allgemeine Wahr 
heit, daß ihr Werth in genauem Verhältniß zu der Mühe ftebt, Die daranf 
berwendet worden. 

Höre daher auf, o Schnellichreiber, mit Deiner Schnelligkeit und Leid 
tigfeit offen zu prahlen; für Dich iſt fle, wenn Du zu der Klaffe der Bahr 
fanten gehbörft, eine Wohlthat, eine Vermehrung des Arbeitslohnes; für 
mich aber iſt fie reiner Verluſt, weil die Waare, die ich Faufe, dadurch rer- 
fdhlechtert wird — warum willft du daher vor mir damit prahlen? Schreibe 
leicht und mit Dampf, wenn du es möglid machen und verfaufen kannſt, 
aber verbirg e8 wie Die Tugend! „Leicht geichriebene Sachen, * fagte Sheri⸗ 
dan, „laſſen fly zumeilen verdammt fühwer leſen.“ Zuweilen; aber fiel 
{ft dieſe Lectüre auch eine ziemlich nuglofe und dieje kann für einen Re 
ſchen, dem bei wenigen Jahren viel Arbeit befchieden ift, als die ſchlimmſt 
von allen betrachtet werden. 

Scott's Leichtigkeit des Producirens fegte alle Welt in Exrflaunen um 
brachte Kapitain Hall auf eine fehr feltfame Methode, fie ohne Wunder zu 
erflären, worüber man. fein ſchon oben citirte8 Tagebuch fehe. Als der 
Kapitain nämlich Zeile für Zeile zählte, fand er, daß er felbft in io md 
fo viel Stunden innerhalb einer gegebenen Anzahl von Tagen in bielel 
fein Tagebuch faft eben fo viel geichrieben hatte, als Scott; „und was di 
Erfindung betrifft, * fagt ex, „fo iſt es befannt, daß dieſe Scott nichts koſtet, 
fondern fich bei ihm ganz von felbft mat." Nicht übel! 





221 


Aber auch für uns iſt Seott's Schnelligkeit groß; fie ift und ein Be» 
weis und eine Folge der gediegenen Befundheit des Mannes, Eörperlicher 
ſowohl als geiftiger; fie if! groß, aber nicht wunderbar; nicht größer als 
die vieler anderen außer Kapitain Hall. Man bewundere fle, aber mit Ma⸗ 
fen. Man bemerke nämlich immer, Daß hier zwei Bedingungen thätig find: 
ih will die Qualität beſtimmen und du follft die Quantität beftimmen ! 
Jeder fann mit feiner Arbeit raſch fertig werden, wenn er ſich leicht zu 
Danke arbeitet. Man trude die geiprochenen Worte eines Mannes und fie 
werden täglich einen dien Octavband füllen; man made das, waß er 
fhreibt, Drei Mal jo gut, als dad, was er ſpricht und dann hat man täglich 
den dritten Theil eined Bandes, was immer noch ein tüchtiged Stud Ar⸗ 
beit if. 

Wenn daher einer mit noch fo großer Schnelligfett in leidlicher Weife 
fchreibt, fo ift Died nicht ein Maßſtab für fein Genie, fondern blos ein Kenn⸗ 
zeichen feiner Beſchaffenheit. Es beweift die Geſundheit feined Nerven 
ſyſtems, feinen praftiichen Geift und zulegt, daß er fein Handwerf gut los 
bat. Auf die fchmeichelhaftefte Weite betrachtet, verräthb Schnelligfeit Ges 
fundheit des Geiſted, aber Vieles, vielleicht beinahe Alles, hängt von Ge⸗ 
funtheit des Körpers ab. 

Man bezweifle es daher nicht — der Menfh Fann die Bähigfeit des 
leihten und ſchnellen Schreibens fih aneignen. Der menſchliche Genius 
bringt e8, wenn er einmal auf diefe Bahn gelenkt wird, darin fehr weit. 
William Cobbet, einer der gejündeften Menfcden, war fogar ein noch größe- 
ter Improvifator als Walter Scott. Seine Schriften, aus Erzählungen, 
Ucherfihten, ®rammatifen, Predigten, Rrformationdgefhichten, Abhand⸗ 
lungen über Kartoffeln und Papiergeld u. |. w. beftehent, erfcheinen uns in 
Bezug auf Qualität und Quantität noch weit wunderbarer. Pierre Baple 
frieb ungeheure Foliobände, man weiß nicht recht, aus welchem Beweg« 
grunte. Er ſchwamm gleichſam in einer mächtigen Fluth von Sumpfiwaffer 
und ſtarb fogar darin, während er die Feder noch feft in der Hand hielt. 

Der räthielhaftefte und unerklärlichfte Schnellihreiber von allen aber 
ift wahricheinlich der gewöhnliche Redacteur einer täglich ericheinenden Zeit⸗ 
ſchrift. Man betrachte feine Leitartikel, was fle behandeln, wie leidlich fie 
geichrieben find. Stroh, weldes ſchon Hundert Mal ausgedrofchen worden, 
ohne ein Körnchen Weizen zu geben, der ephemere Wiederhall eines Klangeß, 
eine vorübergehende Erjcheinung von der Art, wie alle Menjchen ſie jchon 


hundert Mal ich als leer und nichtöbedeutend haben erweiten ſehen — wie 
ein Menſch mit 6108 menſchlichen Fähigkeiten fih allnähtlih mit neuer 
Kraft und neuem Interefie über dieſes ausgedroſchene Stroh hermacht, 
allnächtlich von Neuem ausdriicht, allnächtlich einen neuen Laͤrm —— er⸗ | 
bebt und fo eine beträchtliche Meihe von Jahren drifcht und laͤrmt — dies iR | 
eine Thatſache, die in der menfchlichen Phoflologie erſt noch zu erklären iß. 
Der Menſch befigt doch ein merkwürdig zähes Leben! 

Oder follen wir fagen, daß Scott unter den vielen Dingen, die er 
ihrer Kriſis entgegenführte, auch diefe Schnellichreiberei fo weit trieb, daß 
alle Menfchen recht wohl fehen Eonnten, was dahinter fledt? Dann iſt bie 
Zeiftung eine ganz wertbvolle, die auch nicht ohne Reiultate it — Refultate, 
vor deren einigen Scott als Torg-Politifer nit wenig zurüdgeichaubert 
fein würde. Denn wenn dad Druden einmal fo geläufig und häufig wir 
wie dad Sprechen, dann if die Demokratie (wenn wir auf die Wurzel 
der Dinge ſchauen) nicht ein Bopanz und eine Wahrfcheinlichfeit, ſondern 
eine Gewißheit und ein Ereigniß, welches ſchon -fo gut wie da ii! „Un 
vermeidlich fcheint ed mir! * 

Doch, abgeſehen hiervon, fcheint der Triumph des Schnellichreibens 
mir ſchon jetzt ziemlich gewiß zu fein, denn überall fieht man, wie ber 
Schnellſchreiber fih feltfam feiner Schnelligfelt rühmt. In einem furzlid 
überfegten „Don Carlos,“ einer der ſchlechteſten Ueberjegungen, die jemals 
mit einer Spur von Fähigkeit zu Stande gebracht worden, verfichert ein bis 
jegt undefannted Individuum: 

„Der Lefer wird ed möglicherweile ald eine Entſchuldigung gelten 
laſſen, wenn ich ihm verfichere, daß das ganze Stüd in einem Zeitraume von 
zehn Wochen fertig gemacht ward, dad heißt vom 6. Januar bis zum 18. 
März dieſes Jahres — einſchließlich einer vierzgehntägigen Unterbrechung 
wegen allzugroßer Anftrengung — daß ich oft in einem Tage zwanzig Seis 
ten überfeßte, und daB der fünfte Act da8 Werk von fünf Tagen war. * 

D bisher unbekanntes Individuum, was geht es mich an, in welder 
Zeit du das Werk fertig gemadt haft, ob in fünf Tagen oder in fünfzig 
Fahren? Die einzige Brage ift: Wie haft du e8 gemacht? 

Aber dennoch, fo fteht die Sache, der Genius der ex tempore-Schrift⸗ 
ftellerei herrſcht unwiderruflich und rüdt gegen und vor, wie Oceanfluthen, 
wie eine Sündfluth von Sumpfwaſſer. Diefe Ausficht fcheint allerdings 
eine fehr beklagenswerthe. Soll denn wirklich alle Literatur durch Diele 





223 


wäflerigen Improvifationen hinweggeſchwemmt werden und eine geiftige Noah⸗ 
zeit eintreten? Das wäre in der That ein entießlicher Gedanke, aber tröfte 
dich, lieber Leſer, es ift nicht die Literatur, was man hinwegichwenmt, fon- 
bern blos das Bücherverlegen und Bicherverfaufen. Gab es nicht eine Lite⸗ 
ratur fhon vor der Buchdruderfunft oder Bauft von Mainz, und dennoch 
fhrieben die Menjchen ex tempore? Ya, ehe noch die Buchſtaben erfunden 
waren oder Kabmus von Theben lebte, und dennoch Sprachen die Menichen ex 
tempore? Die Literatur ift der Gedanke denfender Seelen und diejer fann 
nach Gottes Fügung in feiner Generation Hinweggefchwenmt werden, fon« 
dern beibt bei und bis and Ende. 


— — — — — 


Scott's Thätigfeit, improviſirte Romane zu ſchreiben, um dafür Lands 
güter zu Faufen, war nicht von der Art, daß fle freiwillig geendet hätte, 
jondern mußte fi immer mehr und mehr beichleunigen, und man ficht nicht, 
zu welchem Elugen Ziele fie ihn in irgend einem Balle hätte führen können. 
Dadurh, daß ter Buchhändler Gonftable Bankerott machte, ward Scott 
nit ruinirt ; fein Muin war vielmehr fener Ehrgeiz, nämlich jener faliche 
Ehrgeiz, der fich feiner bemächtigt hatte und zwar in Verbindung mit feiner 
unflugen Lebensweiſe. Wohin konnte dies führen? Wo Eonnte ed fichen 
bleiben? Neue Landgüter gab e8 fortwährend zu faufen, fo lange neue Mo» 
mane probucirt wurden, um ſie zu bezahlen. Mehr und mehr Erfolg ver= 
lieh audy immer mehr und mehr Appetit, mehr und mehr Kühnpeit. 

Natürlich mußte dieſes improvifirte Schreiben auch immer dünner und 
dünner werden; ed artete immer fchneller und fehneller in die zweifelhafte 
und endlich in die verwerfliche Kategorie aus. Schon gab «8 im Geheimen 
überall eine beträchtliche Oppofltionspartei, Zeugen der Waverleywunder, 
die aber nicht im Stande waren, fie zu glauben, fahen ſich gezwungen, 
ſchweigend Tagegen zu protefliren. Bon einer folden Oppofltionspartei Tieß 
fh mit Sicherheit annehmen, daß fle wachſen, und, weil die improviftrende 
Feder immer matter ward, auch die übrige Welt auf ihre Seite zieben 
würde. Die ftummen Proteftationen mußten endlih Worte finden, herbe 
Wahrheiten, geflügt auf noch herbere Thatfachen, einer überfpannten und 
eben dadurch dem Erfchlaffen um fo näher gerüdten Popularität mußten 
endlich zu Tage kommen, fo wie fle jet ohne Zögern ausgeiprochen werben 


224 


fönnen, weil das Gerz des braven Mannes dadurch nicht mehr verlegt wer- 
den fann. 

Mer weiß, ob e8 nicht vielleicht beſſer war, daß e8 anters fam? Und 
anders Fam es auf jeden Fall. Eines Tages ließ der Gonftable-Perk, wel 
er feſt zu ſtehen ſchien, gleich anderen Gebirgen, plößlic, wie Die Eisberge 
zu thun pflegen, ein lautes, weithinhallendes Krachen hören und zeriplitterte 
mit einem Male in verfinfenden Eisſtaub. In einem einzigen Tage zerflois 
fen Scott's hochgethürmte Geldhaufen in nichts, in einem Tage jah der 
reihe Mann und Gutsherr fih verarmt und ald Schuldner unter Blän- 
bigern. J 

Es war eine ſchwere Prüfung. Er ging ihr muthig und ſtolz entgegen, 
— mie ein muthiger ſtolzer Mann der Welt. Vielleicht haͤtte es noch einen 
ſtolzeren Weg gegeben, nämlich wenn er offen eingeſtanden hätte, daß er 
vollftändig banferott war, an irdiiher Habe ſowohl ald Ruhm, und dann 
hätte er anderswo Zuflucht ſuchen müflen. Eine ſolche Zufludt war aud 
in ter That vorhanden, aber e8 lag nicht in Scott's Natur, fie dort zu fu- 
hen. Es lag nicht in ihm, zu fagen: Bis jegt bin ih auf irrigen Wegen 
gewandelt und died mein jegt in Irüummern liegender Ruhm und Stolz war 
eine leere Taäuſchung und ein bölliiher Zauberbann. 

Er fagte vielmehr: Ih will mich wieder emporarbeiten und meinen 
Stantpunft behaupten oder darüber fterben. Schweigend wie ein ftolger 
ftarfer Mann machte er ſich an die Herfuled- Arbeit, Berge von Unrath hin- 
wegzuräumen und mit dem, a8 er noch ſchreiben und verkaufen Eonnte, 
große Löſegelder zu bezahlen. Und dies geſchah in feinen ſchon vorgerückten 
Jahren, wo dad Unglück doppelt und dreifach unglücklich ift. 

Scott griff jeine Herfuled« Arbeit an wie ein Mann und fuhr unermüs 
det damit fort. Wit erbabener Heiterkeit, während feine Lebenskraft tod 
immer ſchwächer ward, padte er fle und rang mit ihr jahrelang auf Tod und 
Leben — und ſiehe da, die Arbeit erwies ſich al8 die flärfere und fein Leben 
und Herz erloſch und brach darüber. 

Ueber dieje Iegten Schriften Scott'8, feine Napoleons, Dämonoloyien, 
ſchottiſche Geſchichten u. ſ. w. fpricht die Kritik Fein Wort des Tadels aus, 
ſondern nur das einzige Wort: Wehe! wehe! Das edle Streitroß, welches 
einſt das Schütteln des Speers verlachte, iſt jetzt verurtheilt, einen ſchweren 
Karren zu ziehen und ſich zu Tode zu arbeiten! Scott's Niedergang war 
wie der eines mattgewordenen Wurfgeſchoſſes — raſch und faſt ſenkrecht 


herab; — vielleicht war es au fo für ihn felb am beſten. Es iſt eine 
Tragödie, wie dad ganze Leben ift, ein abermaliger Beweis, daß das Glück 
auf einer vaftlofen Kugel Rebt, und daß Ehrgeiz, Literariicher fowohl als 
friegKicher, politifcher und pefuniärer, noch niemals einem Menſchen etwas 
genügt bat. 

Unfern legten Auszug entlehnen wir dem ſechſten Bande. 3 iſt ein 
fehr tragiſcher — tragifch, aber dennoch ſchön, denn bie Dede des Ruins 
wird durch eine noch ernflere Seimfuchung, die des Todes, gewiffermaßen 
geheiligt! Scott hat fih in ein einfames Wohnhaus in Epinburg zurüdte 
gezogen, um hier ſeine tägliche Arbeit zu leiſten und mußte ſein Weib in 
Abbotsford in dem legten Stadium ihrer Krankheit zurücklaſſen. Er ging 
ſchweigend fort und blickte ftumm auf das fchlafende Antlitz, welches er kaum 
wiederzufeben hoffte. Wir citixen hier einige Stellen aus einem Tagebuch, 
welches er in diefen Monaten zu führen angefangen, und durch weldyes diefer 
ſechſte Band imtereffanter gemacht wird, als irgend einer der vorigen. 

„Abbotsford, 11.Mai (1826). — ES zerfleifcht mir das Herz, wenn 
id daran denke, daß ih faum hoffen kann, wieder Vertrauen bei dem Ohr 
zu ſuchen, dem ich fo ficher Alles anvertrauen konnte. Was aber Hätte bei 
ihrem gegenwärtigen letbargiichen Zuflante meine Anwefenheit weiter nügen 
können? Uebrigens bat Unna mir ja verfprochen, mir fortwährend genaue 
Nachricht zu geben. Ich muß heute bei James Ballantyne en famille ſpei⸗ 
fen. Ich kann nicht anders, obſchon ich lieber zu Haufe und allein wäre. 
Indefien, ich darf tiefem Gefühle der Hoffnungsloftgfeit, weldyes ſich meiner 
zu bemächtigen droht, nicht Raum geben. 

„Edinburg, 12. Mai. — Ich habe bei 3. B. einen angenehmen Tag 
verlebt, und darin eine große Erleichterung des Herzenskummers gefunden, 
ber mich daheim gepeinigt haben würde. Gr war ganz allein. 

„Alfo Hier bin ich nun in Arden und kann mit Touchſtone fagen: Als 
ich zu Hauſe war, befand ich mich befler, wiewohl ich mich mit den Worten 
Nicol Jarvie's tröften muß: „Man kann die Bequemlichfeiten der Heimath 
nicht mit ſich herumtragen.“ Wäre nur mein Gemüth ruhig; der Körper 
befindet fi, glaube ich, jo leidlich. Es wohnt nuur noch ein einziger Miether 
im Haufe, ein Mr. Shandy, —. ein Geiftlicher, der trog feined Namens 
ein jehr ruhiger Mann fein foll. 

„14. Mai. — Guten Morgen, guten Morgen, liebe Sonne, die bu 
fo ſchön und hell auf dieje düſtern Wände ſcheinſt! Mid dunft, als ob du 

Carlyle. II. 15 


an den Ufern des Tweed ebenſo heil ſchieneſt: aber fhaue, wohin du wii, 
jo eh du Kummer und Leiden. — Hogg war geflern bier und zwar im 
großer Bedrängniß, weil er früher einmal hundert Pfund von James Bal⸗ 
lantyne geliehen, die er nun wiederbezahlen muß. Ich bin außer Stante, 
dem armen Manne zu helfen, denn ich muß felbft borgen. 

„15. Mat. — So eben erhalte ich die traurige Nachricht, daß in Abe 
botsford Alles vorüber iſt. 

„Abbotsford, 16. Mai. — Sie flarb Vormittag neun Uhr, nachdem 
fle zwei Tage lang jehr Eranf geweien — zulekt hatte fie ſich ſehr Teicht umd 
frei gefühlt. Ic fam geftern Abend ſpät bier an. Anna ift fehr abgemat- 
tet und bat Krämpfe gehabt, welche bei meiner Anfunft wieterfehrten. Ihr 
Stammeln war wie dad eines Kindes, aber dabei ift fie immer ſanft und 
unterwürfig. „Die arme Mama — kommt nie wieder — ift auf immer von 
und geichieden — ihr tft nun wohl.” Als fie wieder zu fi kam, ſprach fie 
mit viel Berftand und Gemüthörube, bis ihr Anfall wiederkehrte. Es würde 
dies, wenn ich ein Bremder geweſen wäre, ſchon außerordentlich ergreifend 
gewejen fein — was mußte ich erft ald Gatte und Vater fühlen! Ich weiß 
faum, wie mir zu Muthe ifl. Zumeilen fühle ih mid ſtark wie ein Fels, 
zuweilen fo ſchwach wie dad Wafler, welches fih an ihm bricht. Im 
Denken und Entſcheiden bin ich noch fo rüflig und aufgewedt, wie id in 
meinem 2eben jemald geweien. Und dann, wenn ich das, was dieſes Haus 
früher war, mit dem vergleiche, was es jegt ift, fo iſt es mir, ald müßte 
mir dad Herz brechen. Einfam, alt, meiner Samilie beraubt, bis auf Pie 
arme Anna — ein verarmter, in Berlegenheiten fledenter Mann, beraubt 
der Genoifin meiner Gedanken, die meine trübe Stimmung ſo oft zu ver= 
ſcheuchen wußte! Selbft ihre Schwächen waren mir nützlich, denn fie be= 
Ichäftigten meine Gedanfen und zogen ſte auf dieje Weife von Manchem ab, 
was mich marterte und quälte. 

„Sch babe fie geliehen. Die Geftalt, die ich ſah, ift und iſt nicht meine 
Charlotte — meine dreißigjährige Lebensgefährtin. Es ift noch daſſelbe 
Ebenmaß der Form, obſchon dieje @lieder flarr find, die einft fo anmuthig 
elaftifch waren — aber diefe gelbe Maske mit eingefallenen Zügen, welche 
des Lebens eher zu ſpotten, als ed nachzuahmen fcheinen, kann dies noch Daß 
Gefläht fein, welches einft fo lebhaft und ausdrucksvoll war? Ih will fie 
nicht wieder fehen. Anna meint, fle habe fi) wenig verändert, weil fie ſich 
die legte Vorftellung von ihrer Mutter zu einer Stunde gemacht, wo fie mit 


227 


außerortentlichen Schmerzen zu fämpfen hatte. Die meine gebt bis auf eine 
Zeit zurüd, wo fle fih noch verhältnigmäßig wohl befand. Wenn ih nod) 
lange fo fortichreibe, fo fchreibe ih mich traurig, während ich Doch durch das 
Schreiben cher Much und Faflung zu erringen glaubte. 

„18. Mai. — Ein Gewand von Blei und Holz umgiebt fie ſchon; 
bald wird fie der falten Erde überantwortet werden. Aber es ift nicht meine 
Charlotte, es ift nicht Die Braut meiner Jugend, die Mutter meiner Kinder, 
welche unter den Ruinen von Dryburgh, die wir jo oft in heiterer Stim- 
mung befucdht, gebettet werden wird. Nein, nein! 

„22. Mai. — Ich bebe vor Dem, was meine Pflicht ift, nicht fo leicht 
deshalb zurüd, weil e8 ſchmerzlich iſt, aber ich wünſchte, daß dieſer Begräb» 
nißtag vorüber wäre, Ich bin wie von einer Betäubung umfangen, als 
ob Alles, was die Menichen zu thun und zu ſprechen fcheinen, nicht wirk⸗ 
li wäre. 

„26. Mai. — Wenn ein Beind in mein Haus eindränge, würde ich 
dann nicht, wenn meine Stimmung auch noch fo niedergefchlagen wäre, mein 
Möglihftes thun, um ihn zu befämpfen? und foll eine ähnliche Niederge- 
ſchlagenheit mic) an dem Gebrauche meiner Geiftesfräfte verhindern? Nein, 
beim Himmel, das foll fle nicht. 

„Edinburg, 30. Mai. — Geftern Abend mit Charles Hierher zurück⸗ 
gekehrt. Mit Heute Morgen beginne ich wieder wie gewöhnlih früh aufzus 
fliehen, des Vormittags zu arbeiten und den Gerichtsverhandlungen beizu⸗ 
wohnen. — Ich habe die legten Correcturbogen für das Quarterly gelejen ; 
der Artikel ift nicht beionders, aber die Umflände, unter denen er geichrieben 
ward, waren auch jehr ungünftig. — Es war heute ein trauriger Tag — 
ſehr traurig. Ich fürdte, der arme Charles ſah mich weinen. Ich weiß 
nicht, was andere Leute fühlen, mid aber martert die Erampfhafte Empfin⸗ 
dung, welde mir Thränen auspreßt, mit furdhtbarer Heftigkeit — es ift 
ein Gefühl, als wenn ich erfticden müßte, und dann folgt ein Bufland von 
Betäubung, in welchem ich mid frage, ob meine arme Charlotte wirklich 
todt fein kann.“ 

Dies ift nicht blos tragisch, fondern auch ſchön. Im dem noch rüd- 
fländigen fiebenten Bande müſſen andere Scenen fommen, die feine Schön» 
heit befißen, fondern blos tragifch fein werden. Es iſt daher beffer, wenn 
wir bier enden. 

Und fomit fällt der Vorhang und der ſtarke Walter Scott ift nicht 

15* 


mehr bei und. Ein Beftgthum von ihm bleibt zuräc, weit zerfireut, aber dech 
erseihbar und nicht unbedeutend. Man kann von ihn fagen: Als er fchie, 
nahm er dad Leben eines Mannes mit fi fort. Kein gefündereö Eremplar 
brittfcher Manneskraft ward in diefem achtzehnten Jahrhundert der Zeit zuſam⸗ 
mengeſeht. Ach, fein jchönes ſchottiſches Geſicht mit feinem ehrlicgen, ſcharf⸗ 
finnigen und gutmütbigen Ausdrud, war, ald wir es bad Ichte Mal auf 
den Straßen von Edinburg fahen, durchfurcht von Kummer und Sorgen 
und alle Freude daraus entflohen! Wir werden es niemals vergeflen, wir | 
werden es niemald wieberfehen. Leb' wohl, Sir Walter, Stolz aller Schot⸗ 
ten, empfange unfern ftolzen und wehmüthigen Abſchiedsgruß! 


Meber Geſchichte. 
Erſter Artikel, 
(1830.) 


Klio war bei den Alten die Altefte Tochter der Erinnerung und die 
erfte der Mufen, welche Würde, mögen wir nun die wefentlihen Eigenſchaf⸗ 
ten ihrer Kunſt oder ihre Hebung und Aufnahme unter den Menfchen be= 
trachten, ihr noch jegt mit vollem Mechte zuzufommen fcheint. 

Die Geſchichte ift eben fo wie die Wurzel aller Wiffenihaft auch das 
erfle beftimmte Produkt der geiftigen Natur des RMenſchen, fein frühefter 
Ausdrud Defien, was man Denken nennen fann. Sie iſt ſowohl ein Vor⸗ 
als ein Rückblick, wie denn In der That die Zukunft ſchon ungeſehen, aber 
deutlich geftaltet, vorherbeftimmt und unvermeidlich in der Gegenwart Tauert 
und nur durd die Zufammenflellung beider die Bedeutung einer jeden ver⸗ 
vollftländigt wird. 

Die jpbilliniihen Bücher find, obſchon alt, doch nicht die älteften. 
Manche Nationen haben Prophezeihungen, manche dagegen nicht, aber unter 
der ganzen Menſchheit giebt ed feinen Stamm, der fo roh wäre, daß er nicht 
Beichichte verfucht batte, obſchon mehrere in der Arithmetif noch nicht ein⸗ 
mal fo weit gefommen find, daß fle bis fünf zählen fünnen. Die Geſchichte 
ift nicht blos mit Griffel und Federn, fontern auch mit Wampumfchnuren, 
noch öfter aber mit Erdhügeln und Steinhaufen geichrieben worden, denn 
der Gelte und Kopte, der rothe Dann fo gut wie der weiße, lebt zwifchen 
zwei Gwigfeiten, fämpft gegen die Vergefienheit und möchte fih gern mit 
der ganzen Zufunft und der ganzen Bergangenpeit in ein flared, bewußtes 
Verhaͤltniß jegen, während er durch ein unflared und unbewußtes ſchon da= 
mit verfnupft if. 


230 


Man kann fagen, dab und ein Talent für die Geſchichte als unfer 
bauptjächliches Erbtheil angeboren it. In einem gewiflen Sinne find alle 
Menſchen Hiftorifer. IM nicht jedes Gedaͤchtniß ganz vollgeichrieben wit 
Annalen, in weldyen Freude und Trauer, Gewinn und Berluft auf mannig- 
fache Weite abwechieln und mit oder ohne Philofophie die ganzen Schidfale 
eines einzigen Fleinen innern Königreichs, und all feine Politik, auswärtige 
fowoh! als innere, unauslöfchlich verzeichnet ſtehen? 

Sogar unfere Rede ift merfwürbigerweiie hiſtoriſch. Die meifen 
Menſchen reden, wie man bemerken wird, blos um zu erzählen. Sie theilen 
nicht mit, was fle gedacht haben, was allerdings oft auch fehr wenig wäre, 
fondern fle tragen vor, was fle erfahren und gefehen haben, was allerdings 
ein ganz unermeßliches Feld if. Man ſchneide die Erzählung ab und wie 
würde dann der Strom der Sonverfation felbft unter den Flügften Leuten 
ſich in vereinzelte winzige Waflerflächen verwandeln und unter den Thörid« 
ten und Befchränkten gänzlich verdunften ! 

Auf diefe Weife und eben fo wie wir nichts thun, als Geſchichte auf 
führen, fpreden wir auch wenig außer dem, was wir wiedererzäblen ; ja in 
biefem weiteflen Sinne fönnen wir jagen, daß unfer ganzes geiſtiges Leben 
darauf gebaut if. Denn was ift, fireng erwogen, wohl alle Kenntniß weiter, 
als aufgezeichnete Erfahrung und ein Produkt ver Geſchichte, von welder 
daber Folgerung und Glaube, ebenjo wie thätiger und leidender Zufland, 
wejentliche Beftandtpeile find? 

In befhränfter und der einzig ausführbarın Form hat die eigentliche 
Geſchichte, namlich der Theil der Befchichte, welcher von merkwürdigen Bor 
fällen handelt, in allen modernen ſowohl als alten Zeiten zu den höchſten 
Künften gehört und vielleicht niemals höher geflanden als in diefen unieren 
gegenwärtigen Zeiten. Denn während früher der Heiz der Geichichte haupts 
fachlich in der Befriedigung unjerer gemeinen Sucht nad dem Wunder⸗ 
baren, nad dem Unbefannten lag, und ihr Amt gleidhjam nur das eines 
Minnefängerd und Erzählers war, ift fie nun auch eine Schulmeifterin ger 
worden und will nicht blos ergögen, fondern auch belehren. 

Ob fie mit diefem ehrwürdigen Charakter nicht auch zugleich etwas 
Starred und Ralted angenommen bat, ob in ter logtihen Trodenheit eine 
Hume oder Robertion die anmutbige Leichtigkeit und beitere maleriiche Hery⸗ 
lichfeit eined Herotot oder Froiffart nicht jehmerzlid vermißt werden, Died 
ift eine Frage, die und hier nicht weiter befchäftigen fann. Genug, daß 


231 


alle Iernende, alle forfchende Beifter jeder Art ſich um ihren Seffel verſam⸗ 
meln und ehrerbietig über ihre Lehren als die aͤchte Baſis der Weisheit 
nachdenken. Poefle, Theologie, Politik, Naturkunde haben alle ihre An 
bänger und Gegner, und jede Eleine Gilde führt einen Defenſtv⸗ und Offenfiv⸗ 
Kampf für ihr eigenes fyezielles Gebiet, während das Gebiet der Ge⸗ 
schichte gleichſam ein Freihafen iſt, wo alle diefe Kriegführenden friedlich 
ſich begegnen und fich verforgen, und Gefühldmenfchen wie Utilitarier, 
Sfeptifer und Theologen rufen und wie mit einer Stimme den Math zu: 
Prüfer die Gefchichte, denn fle ift die Durch Erfahrung lehrende Philofophie! 

Bern fei e8 von unß, eine ſolche Lehre gering anjchlagen zu wollen, da 
ſchon der Verſuch einen hoben Werth Haben muß. Ebenſo wollen wir auch 
nicht allzuftreng fragen, wieviel fle bis jegt genügt bat; ob der größte Theil 
Der geringen praftiichen Weisheit, welche die Menſchen beflgen, aus dem 
Studium ter Geſchichte oder aus anderen weniger gerühmten Quellen her⸗ 
vorgegangen ift; wodurd, wie die Dinge jet fliehen, ein Marlborougb in 
dem Treiben der Welt groß werden Tann, ohne von der Geſchichte eine an« 
dere Kenntniß zu befigen, als bie, welde er aus Shakſpeare 8 Dramen 
ſchöpft? Ja, ob bei diefem Lehren durch die Erfahrung die hiſtoriſche Phi⸗ 
loſophie das erſte Element aller Wiſſenſchaft in dieſer Art auch richtig ent⸗ 
ziffert bat? Was wohl das Biel und die Bedeutung jenes wunderbaren 
seränderlichen Lebens, welches fie erforfcht und malt, fein mag? Wo bie 
Bahn des menſchlichen Schickſals auf: diefer Erde ihren Urfprung hat, und 
wohin file endlich führt? Oder aber, wenn ed wirklich eine Bahn und Ten» 
den; bat, ob es dann in der That von einer unfichtbaren gebeimnißvollen 
Weisheit geleitet wird, oder blo8 in blinden Irrgängen ohne eine erkenn⸗ 
bare Führung durcheinander kreiſt? 

Dieje dur und durch fundamentalen Bragen find, wie es ſcheint, in 
irgend einer Philoſophie der Geichichte feit der Uera, wo mönchiſche Ge⸗ 
ſchichtsſchreiber gewohnt waren, fie durch das ſchon längft erloichene Licht 
ihres Miffald und Brevierd zu beantworten, von den meiſten Geſchichts⸗ 
philofophen nur zweifelhaft und von weitem, von mandıen aber gar nicht 
berührt worden. 

Der Grund Hiervon ift, daß zwei Schwierigfeiten, die aber niemals 
ganz unüberwindlih find, im Wege liegen. Ehe die Philoſophie durch Er⸗ 
fabrung lehren kann, muß die PhHilofophie erſt bereit und die Erfahrung 
gejammelt und auf verfländliche Weife aufgezeichnet fein. Sehen wir nun 


232 


von der erftern Rückſicht ab und faffen wir blos die letztere ins Auge, ſo 
fragen wir emen Ieden, welder den Bang der menſchlichen Dinge unter 
fucht Hat, und weiß, wie verwidelt und unentwirrbar ſelbſt wit unferen 
eigenen Augen gelben, ihre tauſendfach ſich verſchmelzenden Bewegungen 
find, 05 die treue Darſtellung eine leichte oder unmögltche ifl. 

Das foctale Leben if das Aggregat aller einzelnen Menichenleben, 
welche die Geſellſchaft ausmachen ; die Geſchichte ift die Quinteſſenz unzdh 
liger Biographien. Wenn aber eine einzige Biographie, ja unfere eigene 
Lebensgeſchichte, wir mögen ſte fludiren und recapituliren wie wir wollen, 
uns in fo vielen Punkten unverftändlich Bleibt, wie viel mehr muß es mit 
dieſen Millionen der Fall fein, von denen wir nicht einmal alle Thatſachen 
kennen, geichweige denn daB innere Weſen derſelben! 

Ebenfo wird es uns nicht viel helfen, wenn wir behaupten wollen, daß 
der allgemeine innere Zufland des Lebens in allen Jahrhunderten derfelbe 
fei und daß blos die merfwärdigen Abweichungen von der gewöhnlichen Be⸗ | 
gabung und dem gewöhnlichen Loos, fo wie die widhtigeren Variationen, 
welche die Außere Geftalt des Lebens von Beit zu Zeit erfahren hat, Erin 
nerung und Aufzeichnung verdienen. 

Es laͤßt fi aber weit eher behaupten, daß der innere Zufland des Le⸗ 
Send, daB bewußte oder halbbewußte Ziel der Menfchheit, ſoweit die Men⸗ 
Then nicht bloße Verdauungsmafchinen find, fe nach den verfchiedenen Zeit⸗ 
altern auch ſtets verfchieden tft. Ebenſo find audy die wichtigeren äußeren 
Beränderungen nicht fo leicht zu erkennen oder ſtets einer Darftellung gut 
faͤhig. Wer mar wohl der größte Neuerer, welcher Menſch war für die Ger 
ſchichte des Menſchen wohl wichtiger, der, welder zuerft Armeen über die Alpen 
führte und die Siege bei Cannä und Thraſymenes erfocht, oder der unbe 
Tannte Bauer, der fidh zuerft einen eilernen Spaten hämmerte ? 

Wenn der Eichbaum gefällt wird, fo hallt der ganze Wald davon wir- 
der, aber hundert Eicheln werden ſchweigend durch einen unbeadhteten Luft⸗ 
hauch gepflanzt. Schlachten und Kriegsereigniffe, welche für den Augenblid 
jedes Ohr betäußen und jedes Herz mit Breude oder Schreien erfüllen, 
gehen vorüber wie Wirchöhausprügeleien und werden mit Ausnabme einiger 
weniger Marathond und Morgartens, nur zufällig, nicht um ihrer Verdienſte 
willen, ermähnt. 

Selbſt Geſetze, politiiche Eonftttutionen find nicht unfer Leben, fondern 
6108 das Haus, worin unfer Leben geführt wird, fa fle find nur bie nackten 


233 


Bände des Haufes und defien ſaͤmmtliches weſentliches Beräth, die Erfindungen 
and Traditionen und die täglichen Gewohnheiten, welche unjere Eriftenz 
regeln und ftügen, find das Werk nit von Dracos und Hampdens, fon- 
bern von phönizifchen Seeleuten,, italteniihen Baurern und jächftichen Be 
tallurgen, von Bhilofophen, Aldhymiften, Propheten und dem ganzen längſt⸗ 
vergefienen Befolge von Künftlern und Handwerkern, welche vereint und von 
Anfang an gelehrt haben, wie wir denfen und wie wir handeln und wie wir 
über die geiftige und über die phyſiſche Natur herrſchen follen. 

Wohl fünuen wir jagen, daß von unferer Geſchichte der wichtigere 
Theil unwiderbringlidh verloren gegangen iſt und eben fo wie früher Dante 
gebete „für unerfannte Wohlthaten * gefeiert wurden, fo fchaue man auch 
mit Ehrfurdt in die finfteren leeren Stellen der Vergangenheit, wo geftalt« 
los und vergefien unſere größten Wohlthäter mit all’ ihren fleißigen Be⸗ 
mühungen, aber nicht mit der Frucht derfelben, begraben liegen. 

So unvollfommen ift diefe Erfahrung, durch welche die Philoſophie 
lehren ſoll. Ia, if fogar mit Rückſicht auf jene Vorfälle, welche wirklid 
aufgezeichnet find, die bei ihrem Entſtehen des Aufzeichuens werth fchienen, 
und deren gelammter Inhalt Das ausmacht, was wir jetzt Geſchichte nennen, 
nit unfer Verſtaäͤndniß derjelben ganz und gar unvollftändig, und iſt es 
auch nur möglich, fie jo darzuftellen, wie fie wirklich waren? 

Die alte Geihichte von Sir Walter Raleigh, der aus dem Benfler 
feines Gefängniffes einem Straßentumult zufah, den fpäter drei Beugen auf 
dreierlei verjchiedene Weile berichteten, während Sir Walter felbft wiederum 
von ihnen allen abwich, ift immer noch eine wichtige Lehre für und. 

Man erwäge doch, auf weldhe Weile Hiftorifche Documente und Bes 
richte entftchen, jelbft ehrliche Berichte, wo die Berichterftatter frei von allen 
beriönlichen Rüdfichten waren — ein Fall, der zu den allerfeltenften gehört. 
Die wirkfichen leitenden Grundzüge eines biftorifhen Vorgangs, jene Bes 
megungen, welche ihn weientlidy darafterifiren und allein Aufzeichnung ver« 
bienen, find dennoch nicht die erften, welche man niederſchreibt. Anfangs 
zeigt ſich unter den verichiedenen Zeugen, die gewöhnlich auch intereffirte 
Berionen find, blos vage Neugier, Verwunderung, Furcht oder Hoffnung 
und dad Geſumm des tauiendzüngigen Gerüchts, bis nad) einiger Beit der 
Kiderfireit der einzelnen Audjagen zum Austrag fommt und dann mit 
Etimmenmehrhbeit geſchloſſen wird, daß dieſes oder jenes, Ueberſchreiten des 
Nubitons“, eine, Anklage Straffords *, eine, Einberufung der Notabeln“, 


234 


Epochen in der Weltgefgichte und die Angelpuntte der großen Weltrevolu⸗ 
tion geweien find. 

Geſetzt aber, die Mehrzahl ver Stimmen hätte durchaus Unrecht ge 
babt, Die eigentlichen Cardinalvunkte hätten viel tiefer gelegen und wärek 
unbeachtet vorübergegangen, weil fein Seher, fondern bloße Baffer babei 
zugegen waren! Unſere Uhr fchlägt beim Stundenwechſel, aber in ter 
großen Zeitenuhr dröhnt fein Hammerſchlag durch das Weltall, wenn ein 
Zeitalter mit dem andern wechſelt. Die Menichen nerfieben nicht, was unter 
ihren Händen ift, und ebenfo wie Ruhe das Kennzeichen der Kraft iſt, te 
Fönnen auch die wichtigſten Grundurſachen die ſtummſten fein. 

Das, was wir daher jemals zu fehen hoffen Fönnen, ift auf keinen Ball 
der eigentliche wirfliche biftorifche Vorgang, fondern bloß eine mehr ober 
weniger plaufible Theorie dieſes Vorgangs, oder dad fo viel als möglich in 
Einklang gebrachte Ergebniß vieler foldyer Theorien, die eine von der andern 
und alle wiederum von der Wahrheit abweichen. 

Sa, wäre unfere Faͤhigkeit der Einfidht in vorübergehende Dinge noch 
fo vollfländig, fo eriftirt dann immer noch ein ſehr mißlicher Unterichied 
zwifchen unferer Art und Weiſe, dDiefe Dinge zu beobachten, und der Art 
und Weije, wie tiefe Dinge gefhehen. Der begabtefte Mann Tann nur 
die Reihenfolge feiner eigenen Eindrüde beobachten und aufzeichnen; 
feine Beobachtung muß daher, abgefehen von ihren andern Unvollkommen⸗ 
beiten, eine ſucceſſive fein, während die Ereigniffe oft gleichzeitig 
waren; die Vorgänge bildeten nit eine Reihenfolge, fondern eine 
Gruppe. Es iſt in der wirklichen, handelnden Geſchichte keineswegs fo 
wie in der geichriebenen. Wirkliche Ereigniffe ftehen feineswegs in einer 
fo einfachen Berwandtichaft zu einander, wie Mutter und Kind; jedes ein⸗ 
zelne Ereigniß iſt die Bruce nicht eines, fondern aller anderen früheren 
oder gleichzeitigen Ereigniſſe und verbindet ſich feinerjeits mit allen anderen, 
um wiederum neue zu erzeugen — ed ift ein ewig lebendes, ewig arbeitendes 
Chaos von Sein, worin eine Geftalt nach der andern fih aus unzähligen 
Elementen verkörpert. 

Und dieſes Chaos, grenzenlos wie die Wohnung und Dauer des Men- 
fchen, unergründlich wie die Scele und das Schidial des Menſchen, ift Das, 
wad der Hiftoriker fhildern und mit einem Senkblei von wenigen Ellen 
Länge wiſſenſchaftlich ausmeſſen will! Denn fo wie alle Handlung ihrer 
Natur nah Breite, Tiefe und Länge bat, das heißt, fih auf Geheimnif 





235 


gründet, wenn wir ihrem Urfprunge nachgeben, ſich umgeflaltend und um⸗ 
gefaltet, nach allen Seiten hin außbreitet und ihrer Vollendung entgegen- 
geht, fo Hat Dagegen jede Erzählung ihrer Natur nach Hlo8 eine Dimenflon, 
indem fie blos nad einem oder mehreren aufeinander folgenden Punkten 
fortfchreitet — mit einem Worte, das Erzählen if eine Linie, das Han- 
dein eine Maſſe. 

Wie unzulänglic find daher unfere „Ketten von Urfahen und Wir⸗ 
tungen *, Die wir jo emflg durch eine Kleine Anzahl von Jahren und Qua⸗ 
dratmeilen verfolgen, während doc das Ganze eine breite, tiefe Linermeß- 
lichkeit und jedes Atom mit allen übrigen verfettet und verfchmolzen tft! 

In der That, wenn die Geſchichte die durch Erfahrung lehrende Philo⸗ 
fophie ift, fo iſt der Schriftfteller, welcher im Stande wäre, eine Gefchichte 
zu ſchreiben, bis jeßt no ein unbekannter Menſch. Die Erfahrung an 
und fur Ach würde Allwiffenheit bedürfen, um fle niederzufchreiben , felbft 
wenn die zur Auslegung nöthige Allweisheit umfonft zu haben wäre. 
Beſſer wäre e8, wenn 6108 irdiſche Hiftoriker ſolche Anſprüche, die mehr für 
die Allwifienbeit als für menſchliches Willen fi eignen, herabſtimmten, 
bloß nach einem Bilde der gefchehenen Dinge, welches Bild im beften Falle 
auch nur eine armielige Annäherung fein wird, tradhteten, und in dem uns 
ergründlichen inneren Wejen der Dinge ein nicht binwegzuleugnendes Ge⸗ 
beimniß fähen ; oder wenn ſie höchſtens in ehrerbietigem Glauben, ber weit 
verſchieden ift von ber Lehre jener Philofopbie, die geheimnißvollen Spuren 
Deflen betrachteten, deflen Pfad in der unergründlichen Tiefe der Zeiten 
liegt, den die Geſchichte allerdings offenbart, aber den nur die ganze Ge⸗ 
ſchichte und erft in der Ewigkeit deutlich offenbaren wird. 

Solche Erwägungen würden freilih von geringem Nugen fein, wenn 
fe, anflatt uns Wachſamkeit und ehrerbietige Demuth bei unferen Forſchun⸗ 
gen in der Gefchichte zu lehren, unfere Achtung vor denfelben verminderten 
oder und Den Muth zu unermüdlicher Berfolgung derfelben raubten. Wir 
wollen vielmehr immer tiefer in die Vergangenheit eindringen und mögen 
alle Menichen fie als die Achte Duelle der Erkenntniß zu ergründen fuchen, 
denn uur bet ihrem Licht, mag man es bewußt oder unbewußt anwenden, 
kann die Gegenwart und die Zufunft gedeutet werden. Ihre ganze Bes 
deutung Itegt allerdings weit außerhalb des Bereichs unferes Wiſſens, aber 
doch können in diefem mit formlofen, unentwirrbaren, unbekannten Charak⸗ 
teren bedeckten, verwidelten Manufeript — ja, welches ein Balimpfer ift 


und einfl eime prombetifge, noch jept umtewtlih lesbare Schrift enthielt 
— einige Buchſtaben, einige Worte entziffert und — wenn auch feine well- 
fländige Philofophie — doch bier und da eine verflänplidhe, in der Braris 
nusbare Regel daraus abgenommen werden, wobei jedoch wohl zu bedenken 
iR, Daß es nur ein Kleiner Theil iR, den wir entziffert haben, daß noch viel 
zu deuten bleibt, daß die Geſchichte ein wirkliches, prophetiſches Manufcript 
if und von keinem Menſchen vellftändig gedeutet werden fann. 

Aber der Künftler in der Geſchichte iſt wohl zu unterfcheiden von dem 
Sandwerfer in der Geſchichte, denn Hier, wie in allen andern Bäcern, giebt 
es KRünftler und Handwerker, Menſchen, welche mechaniſch in irgend einem 
Badge arbeiten, ohne Blick für das Ganze, tie nicht fühlen, daß es ein 
Ganzes giebt, und Menſchen, welche daS beſcheidenſte Fach durch die Idee 
von dem Ganzen ausbilden und veredeln, und wohl wiflen, daß das Theil« 
weile nur in dem Ganzen richtig zu erfennen if. 

Die Berfahrungsweiie, die Pflichten diefer beiden Kategorien in Bes 
zug auf die Befchichte, müflen nothwendig ganz verichiedeu fein. Damit 
ſoll nicht etwa gefagt fein, daß nicht Ieder auf dem ihm eigenthümlichen 
Standpunkt einen wirklihen Werth babe. Der fchlichte Adersmann kann 
fein Feld pflügen und nach der Kenntniß, die er von deilen Boden erlangt 
bat, es mit der geeigneten Getreideart befüen, obſchon die tiefen Felſen und 
Gentralfeuer ihm unbefannt find. Seine fleine Ernte hängt unter und über 
dem Firmament der Sterne, und fegelt durch unerforfchte himmliſche Räume, 
aber trotzdem reift fle für ihn in der gehörigen Zeit und er fammelt fle wohl 
behalten in feine Scheuer. 

ALS Ackersmann kann ihn fein Vorwurf treffen, wenn er jene höberen 
Wunder nicht beachtet. Wollte er dagegen für einen Denker und redlichen 
Erforicher der Natur gelten, fo wäre es damit etwas anderes. 

Ebenio ift es auch mit dem Hiſtoriker, welcher irgend eine ſpezielle 
Phaſe der Geſchichte ind Auge faßt und aus dieſer oder jener Combination 
von politifhen, moralifchen und öfonomifchen Unftänden, fowie aus ben 
Ergebniften, zu welden dieſe Sombination geführt hat, Ichließt, daß die und 
die Eigenichaften der menſchlichen Geſellſchaft angehören, und daß “unlide 
Umſtände auch zu einem ähnlichen Ergebniß führen werden, welder Schluß, 
wenn er durch andere Erprobungen beftätigt wird, für wahr und praktiſch 
werthvoll gehalten werden muß. Dagegen iſt der Geſchichtsforſcher in Irr⸗ 
thum befangen und wandelt auf Abwegen, wenn er glaubt, daß dieſe ent⸗ 


231 


beiten ober entdeckbaren Gigenfchaften die Sache erſchöpfen, und wenn er 
wicht bei jedem Schritte flieht, daß fie unegi@röpflidh iR. 

Diefe Klafle ven Urſache- und Wirkungs⸗Mannern, für welche fein 
Wunder lange wunderbar blieb, fondern bie alle Dinge im Himmel und auf 
Erden zu berechnen und „erflären" fuchten, und ſelbſt dem Linbelannten, 
dem Unendlichen tm Menfchenleben unter den Worten Entbufiasmus, 
Aberglaube, Zeitgeift u. f.w. gleichſam ein algebraifches Symbol und 
einen gegebenen Werth verliehen, — haben jegt in der enropälfhen Kultur 
ihre Rolle fo ziemlich ausgespielt und find in den meiften Ländern, felbft in 
England, we fie ſich noch am Tängften halten, ihrem Erlöfchen nahe. Der, 
welcher dad unergründliche Bud, der Natur lieft, als ob es die Strazze eines 
Kaufmannd wäre, ſetzt fich mit Recht dem Verdacht aus, daß er dieſes Bud 
niemals geiehen, fonvdern blos eine abgefürzte Schulausgabe deſſelben, auß 
welder, wenn man fle für das wirkliche Buch hält, mehr Irrthum als Ein- 
fiht zu Ichöpfen if. 

Ohne Zweifel Tiegt in dem wachſenden Gefühl der Unendlichkeit der 
Geſchichte aud der Grund, weshalb in den gegenwärtigen Beiten das alte 
Prinzip, Iheilung ter Arbeit, in fo weitem Umfange darauf angewendet 
worden if. Der politifche Hiftorifer,, der früher dad Feld der Gefchichte 
faſt ganz allein bebaute, hat fett verſchiedene Genoflen gefunden, welche fih 
bemühen, andere Phaſen des meniclichen Lebens aufzuhellen, von weldem, 
wie fchon oben angedeutet, die politifchen Zuflände, in welden ed ſich bes 
wegt, nur eine, und obſchon die primäre, doc vielleicht nicht die michtigfte 
feiner vielen äußeren Ericheinungen find. 

Aber auch von diefem SHiftorifer felbft, in feinem eigenen fpeziellen 
Bade, fängt man jetzt an, neue und höhere Dinge zu erwarten. Bon Alters 
ber hat man es zu oft mit Mißfallen an ihm bemerkt, daß er mit unver- 
hältnigmäßtger Vorliebe in Senatöhäufern, auf Schlachtfeldern, ja fogar in 
den Borzimmern der Könige verweilte, wobei er ganz vergaß, daß in weiter 
Ferne von ſolchen Scenen die gewaltige Fluth des Denkens und Handelns 
bald dunfel, bald hell ihren wunderbaren Lauf verfolgte, und daß in ihren 
taufend abgelegenen Thaͤlern eine ganze Welt des Dafeins mit oter ohne 
eine irdifche Sonne des Glückes, die ed erwärmte, mit oder ohne eine himm⸗ 
liſche Sonne der Frömmigkeit, die es erläuterte und beiligte, im Blühen 
und Berwelfen begriffen war, mochte nun der berühmte Sieg gewonnen 
oder verloren werden. 


238 


Die Zeit ſcheint zu fommen, wo Bieles von diefem befjer werben muß, 
und Der, welcher feine Welt weiter fieht, als die der Höfe und Feldlager, 
und 6lo8 ſchreibt, wie Soldaten exercirt und erfchoflen wurden und wie die⸗ 
fer minifterielle Herenmeifter jenen andern aud dem Wege herte und dann 
etwas führte oder wenigſtens hielt, was er das Ruder der Regierung nannte, 
was aber vielmehr der Faßhahn der Beſteuerung war — wird für einen 
mebr oder weniger lehrreichen Zeitungßichreiber gelten, aber man wird ihn 
feinen Hiftorifer mehr nennen. 

Indefien kann der politiſche Hiftorifer, felbft wenn er fein Werk mit 
aller nur erdenklichen Vollkommenheit ausführte, doch nur einen Theil zu 
Stande bringen und läßt immer noch Raum für zahlreiche Mitarbeiter. 

Der erfle unter dieſen iſt der Kirchenbiftorifer, welcher fih bemüht, 
den geſchichtlichen Entwidelungsgang der Kirche zu verfolgen, naͤmlich des 
Theils der joctalen Einrichtungen, welcher unjeren veligiöfen Zuftand an= 
gebt, ebenſo wie der andere Theil unferen bürgerlichen, oder vielmehr, wenn 
ed um und um fommt, unieren öfonomiichen Zuftand betrifft. 

Richtig behandelt wäre dieſes Fach unzweifelhaft dad wichtigere von 
den beiden, da und weit mehr daran liegt, zu wiflen, wie dad moraliide 
Wohlbefinden des Menfchen befördert worden und befördert werden fünnte, 
als auf gleiche Weife fein phyſtſches Wohlfein zu begreifen, welches letztere 
der Endzwed aller politiichen Einrichtungen if. Denn ver phyſiſch Glück⸗ 
Lichfte ift einfach der Sichere und Stärffte, nnd unter allen Regierungs⸗ 
bedingungen die Macht — ob nun des Reichthums, wie in unjerer Zeit, 
oder der Waffen und Anhänger, wie im Alterthum — bad einzige äußere 
Emblem und Kaufgeld ded Guten. 

Das wahre Gute aber wird, wenn wir niht Bergnügen für 
gleichbedeutend damit halten, auf dem Markte, wo jene Münze gilt, nur 
felten, oder vielmehr niemald, zum Verkauf audgeboten. Yür den wahren 
Bortheil des Menfchen iſt daher nicht der äußere Zuftand jeines Lebens, ſon⸗ 
bern der innere und geiflige von einflußreichfler Bedeutung, nicht die es 
gierungdform, unter der er lebt, und dad Anſehen, welches er hier erlangen 
kann, fondern die Kirche, deren Mitglied er ift, und der Grad moraliſcher 
Veredlung, den er vermittelft ihrer Belehrung erlangen Tann, 

Die Kirchengeichichte würde daher, wenn fte weife fpräche, und wichtige 
Geheimniffe zu Iehren haben, ja fie wäre in ihrer höchſten Potenz eine Art 
fortgefegter Heiliger Schrift, da unfere Bibel in der That nur eine Beichichte 


l 





239 


der uranfänglicden Kirche ift, wie fle zuerſt in der Seele des Menichen er⸗ 
wachte und fich ſymboliſch in feinem äußern Leben verkörperte. 


Wie weit unfere gegenwärtigen Kirchenhiſtoriker Hinter diefem uners 
reihbaren Ziele zurückbleiben, ja wie fie ſich demſelben nicht einmal bis auf 
einen ſehr wohl erreichbaren Bunft nähern, das brauchen wir bier nicht aus⸗ 
zuführen. Ueber ben Kirchenhiftorifer haben wir diefelbe Klage zu führen, 
wie über feinen politiihen Mithandwerker, nämlich daß feine Forſchungen 
ſich mehr um den äußeren Mechanismus und die oberflächlichen Ereigniffe 
des Begenflandes drehen, ald um ten Gegenftand ſelbſt; als ob die Kirche 
in Kapitelhäufern der Bifchöfe, in öfumentfchen Synoden und in den Con⸗ 
claves der Cardinaͤle läge und nicht weit mehr in den Herzen gläubiger 
Menſchen, in deren dadurch beſtimmten Handlungsweiſe und Worten ihre 
hauptſächlichen Manifeflationen zu fuchen und thr Fortſchritt oder Verfall 
zu erfennen waren. Die Geſchichte der Kirche ift eine Gefchichte der unſicht⸗ 
baren Kirche ſowohl als der fihtbaren, welche Iegtere, wenn fle von der er- 
flern getrennt wird, nur ein leeres Gebäude ift, vielleicht vergoldet und mit 
alten Botingeichenfen behangen, aber doch nuglos, ja peftilenzialifch unrein 
und deren Gefchichte zu jchreiben weniger wichtig ift, ald ihren Sturz zu des 
fördern. 


Von weniger ehrgeizigem Charakter find die Geichichten, welche ſich 
auf befondere getrennte Bücher der menjchlichen Thätigkeit beziehen, auf 
Wiſſenſchaften, praftiiche Künfte, Inftitutionen u. dergl. — Gegenflände, 
in welchen nicht fomohl die Quinteſſenz von dem ganzen Intereffe und der 
Form des Menfchenlebens liegt, jondern worin, obſchon ein Jeder mit allen 
Uebrigen im Zuſammenhange fteht, der Geift eines Jeden wenigftend in feis 
nen materiellen Mefultaten, in gewiſſem Grade ohne zu ſtrenge Beziehung 
auf ten der Andern, entwidelt werden kann. 


Am höchſten der Würde und der Schwierigfeit nad) flünden in biefer 
Beziehung unfere Geſchichten der Philoſophie, der menſchlichen Meinungen 
und Theorien in Bezug auf die Natur feines Weſens und ſeiner Stellung 
zur ſichtbaren und unſichtbaren Welt, welche Geſchichte freilich, wenn fle an⸗ 
gemefjen behandelt würde oder fi zur angemeflenen Behandlung eignete, 
eine Abtheilung der Kirchengefchichte fein würde, nämlich die logiſche oder 
dogmatifche Abtheilung derfelben, denn die Philofophie ift in ihrer wahren 
Bedeutung die Seele oder follte Die Seele fein, von welcher Religion, An⸗ 


betung. der Körper ift und in dem gefunden Zuflande der Dinge wären 
Philoſoph und Prieſter eins und daffelbe. 

Die Philofophie an und für ſich iſt aber weit entfernt, diefen Gharafter 
zu tragen, auch find ihre Hiftoriker, im Allgemeinen geſprochen, nicht Leute 
geweien, die nur im geringften Grabe fte diefem Ideal hätten näher bringen 
fönnen. Kaum bat feit der rauhen Aera ter Magier und Druiden biefe 
gefunde Verſchmelzung von Priefter und Philofoph in irgend einem Lande 
Rattgefunden, vielmehr ift die Anbetung göttlicher Dinge und Die wiflen 
ſchaftliche Erforſchung göttliher Dinge in ganz verſchiedenen Händen ger 
weien, deren Beziehungen nicht freundlid, ſondern feindfelig waren. ben 
fo find die Bruders und Buhles, der vielen unglüdlichen Enflelds, welde 
diefeß legtere Bach behandelt haben, zu geihweigen, nichts weiter gewefen, 
als kahle, trodene Berichterftatter, ja oft unverfländige und unverftändlice 
Berichterftatter der ausgefprochenen Theorie, ohne Kraft zu entdedfen, worin 
die Theorie ihren Urjprung batte oder in welcher Beziehung fle zu ihrer 
Zeit und ihrem Lande und zu ber dortigen und damaligen geiftigen Stel 
lung der Menfchheit land. Ya, eine ſolche Aufgabe lag ihnen vielleicht gar 
nicht vor, weil fle nicht glaubten, daß ſo etwas aud nur verſucht werten 
fönne. 

Kunft und Literatur find ebenfalld aufs Imnigfte mit der Religion 


verſchmolzen. Sie find gleichjam die Außenwerke und Etrebepfeiler, durch 
welche dieſer höchſte Gipfel in unferer innern Welt fi allmälig mit der all- 


gemeinen bene verbindet und von diefer aus zugänglich wird. 


Der, welcher eine eigentliche Geſchichte der Poeſte ſchreiben follte, müßte | 


und die auf einander. folgenden Offenbarungen ſchildern, weldye der Menſch 
von dem Geifte der Natur empfangen, unter weldyen Erideinungen er einen 
Schimmer jener unausſprechlichen Schönheit erhaſcht und zu verfürpern ge 
ftrebt, welche in ihrer höchſten Klarheit, Religion, die Begeifterung eines 
Bropheten ift und in höherem oder geringerem Grade jeden ächten Sänger 
begeiftern muß, jelbft wenn fein Thema ein noch fo befcheidenes wäre. Wir 
wärden fehen, auf welden Stufen die Menſchen zu dem Tempel binaufge 


fliegen, wie nahe fie ihm gefommen wären oder durch welches Mißgeihid 


ſie oft auf fo Tange Zeit fi davon abgewentet, zwecklos auf der Ebene vers 
mweilt oder, mit Blindheit geichlagen, andere Höhen zu erflimmen verfudt 
hätten. 

Daß unter allen unjern Eihhorns und Wartond e8 keinen folden Hi⸗ 


241 


' Rorifer giebt, dies muß einem Jeden Elat fein, aber dennod wollen wir nicht 
daran verzweifeln, daß wir jener Höhe und noch um vieles nähern werben. 

Bor allen Dingen wollen wir dad Ideale davon ſtets im Auge behalten, denn 
; dadurch allein haben wir Ausficht an's Ziel zu gelangen. 

Unfere Gefchichten der Sefege und Eonftitutionen, worin fo mancher 
Montedquieu und Hallam mit Beifall gearbeitet, find von viel einfacherer 
Art, aber doch tief genug, wenn fle gründlich erforfcht werben und, dafern 
fie autbentifch find, auch bei geringer Tiefe nüglih. Dann haben wir noch 
Geſchichten der Medizin, der Mathematik, der Aftronomie, des Handels, des 
Ritterthums, des Möndsweiend, und Goguetd und Beckmanns find mit 
einem Beitrag aufgetreten, welcher der eriprießlichfte von allen fein könnte, 
namlich einer Geſchichte der Erfindungen. 

Ueber dad Berdienft und den eigentlichen Plan aller dieſer Geſchichts⸗ 
gettungen "und vieler anderen bier nicht aufgezäblten und noch nicht erſonne⸗ 
nen und in Ausübung gebrachten bedarf es hier weiter Feiner Auseinander« 
fegung. 

Auf diefe Weile und obſchon, wie oben bemerkt, alle Thätigfeit eine 

dreifache Ausdehnung bat und die Totalfumme der menichlichen Thätigkrit 
ein ganzed Uiniverfum mit durchaus unbekannten Grenzen ift, jo bemüht ſich 
doch die Geſchichte, indem fie in den mannigfachften Richtungen und Durch⸗ 
Ereuzungen einen Pfad nad dem andern durchläuft, und einen Ueberblid 

| über das Banze zu verichaffen. Und dieſes Beftreben ift, wenn jeder Hiſtori⸗ 
fer fich auf feinem Pfade wohl umſchaut und ihn mit dem Auge, nicht, 
wie ed gewöhnlidyer ift, mit der Nafe, aufiucht, vielleicht zulegr ein nicht 

‚ ganz erfolglofes! Indem wir daher nur beten, daß vermehrte Theilung der 
Arbeit nicht hier wie anderwärtß unfere ſchon flarfen mechaniſchen Tenden⸗ 
zen verihlimmere, fo daß wir in der Handfertigkeit für die Theile alle Herr- 
(haft über dad Ganze verlieren und dadurch die Hoffnung auf wahre Philos 
fophie der Geſchichte in weitere Berne hinausgerüdt wird als je — wollen 
wir alle ihr großen und Immer größeren Erfolg wünfcen. 


Gariyle, 111. 16 


Meber BGeſchichte. 


Zweiter Artikel. 
(1833.) 


Die Gefchichte empfiehlt fih als das Nüslichfte aller Studien und in 
der That fann für ein Weſen wie der Menich, welcher geboren ift, Iernen 
und arbeiten und dann nad einer gewiflen Anzahl von Jahren wieder ver⸗ 
fhwinden, Nachkommen und Werke zurücklaſſen und fi io auf alle Weiſe 
ala ein lebender Theil des Menfchengefchlechts vindiciren muß, fein Stubium 
geeigneter fein. 

Die Geſchichte iſt der Inftructiondbrief, den die alten Generationen 
fchreiben und nad) ihrem Tode der neuen überliefern, ja man Tann fie no 
allgemeiner tie mündliche oder fchriftliche Borichaft nennen, welche das ganze 
Menfchengeichlecht an jeden Menichen richtet; fie ift die einzige artifu= 
lirte Mittheilung — während die unartifulirte und ſtumme, verftänpfid 
oder nicht, in jeder Fiber unferes Eeins, in jedem Scht.tt unierer Thätig⸗ 
feit Tiegt — welche Die Bergangenheit mit der @egenwart und das Entfernte 
mit Dem haben Tann, was bier iſt. 

Alle Bücher, wären es auch nur Lieberbücher oder Abhandlungen über 
Mathematik, find am Ende hiftoriiche Documente, eben fo wie auch alle Rede 
ſelbſt ift, uud wir können ſonach fagen: die Geſchichte ift nicht blos daß 
geeignetfte Studium, fondern auch dad einzige Studium und fchließt 
alle anderen in fi. 

Der in der Geſchichte Volllommene, der, welder Alles, was bie 
ganze Bamilie Adams bisher geweſen und biöher gethan, verflünde, 
fähe und wüßte, wäre in aller vorhandenen oder möglichen Gelehrſamkeit 
vollfommen ; er brauchte binfort nicht mehr zu Rudiren, fondern es bliebe 
ihm weiter nichts übrig, ald etwas zu jein und zu thun, bamit Andere 
Geſchichte Daraus machen und von ihm lernen fönnen. 

Bolllommenheit irgend einer Art iſt befanntlih dem Menjchen nicht 
beichieden, von allen übernatürlich vollkommenen Charakteren aber wäre die⸗ 


243 


jex des vollfommenen Geſchichtskenners — den man fi gleichwohl fo Teicht 
denken Tann — vielleicht der wunberbarfte und ein fehlerlofes Ungeheuer, 
weldyes die Welt niemals jehen wird, nicht einmal auf dem Papier. Hätte 
nur der ewige Jude ſchon im Paradies angefangen zu wandern und zwar 
mit einem Fortunatushütlein auf dem Kopfe! Auch Nanak Schah taudıte 
fih, wie wir und entfinnen, drei Tage lang in einen geheiligten Brunnen 
und Ternte bier genug. Diefe Methode Nanak's war eine allerdings jehr 
leichte, unglücklicherweiſe aber ift fle in unferm Klima nicht ausführbar. 

Man erwäge jedoch, in welder unermeßlichen Entfernung von dieſem 
vollkommenen Nanak unfere höchſt unvolllommenen Gibbons ihre Rolle fpies 
Im! Glaubft du, ed habe‘ vor Agamemnon Feine braven Leute gegeben ? 
Glaubſt du, daß jenſeits des thraziſchen Bosporus alles todt und öde ge= 
weien fei und daß vom Gap Korn bis nah Nova Zembla um den ganzen 
bewohnbaren Erbball herum fich keine Maus gerührt habe? Und dann wie- 
der in Bezug auf die Zeit — die Erfchaffung der Welt ift allerdings alt, 
wenn man fie mit dem Jahre Eins vergleicht, aber jung und fo gut wie von 
geftern, wenn man fie mit der Emigfeit vergleicht ! 

Ach, alle Univerfalgefchichte ift weiter nichts als eine Art Dorf oder 
Stadtgejchichte, welche ein Mitglied dieſes oder jenes Bierhausclubs fo zu- 
fammenftellt, daß fie. jeinen übrigen Collegen gefällt. 

Bon dem Ding, weldes jegt verfiummt if, Vergangenheit genannt, 
die einft Gegenwart und laut genug war, wie viel wifien wir Davon? Un⸗ 
fer „Inftructiondbrief” erreicht und im traurigften Zuſtande — verfälicht, 
verwiſcht. zerfegt und zerrifien, fo daß wir ihn nur mit größter Mühe zu 
leſen oder vielmehr zu buchſtabiren vermögen, 

Und dennoch, unausſprechlich Foftbar ift unfer Fetzen von einem Briefe, 
iſt unfere geichriebene oder gefprochene Botſchaft, fo wie wir fie haben. 
Nur Der, welcher verfleht, mas geweien if, kann willen, was jein follte 
und was fein wird. Es ift höchſt wichtig, daß das Individuum fein Ver⸗ 
hältniß zum Ganzen erkannt habe. „Ein Einzelner Hilft nicht, * ſteht ge= 
Ihrieben, „fontern nur Der, der fi zur rechten Stunde mit Dielen ver⸗ 
bündet.“ 

Wie leicht iſt es in gewiſſer Beziehung fuͤr einen Alles wiſſenden Na⸗ 
nak ohne Verſchwendung von Kraft (oder was wir Fehler nennen) zu arbei⸗ 
ten und in der Praxis die neue Gefchichte eben fo vollfommen zu fpielen, 
wie er in der Theorie die alte Tannte. Da er begriff, was die gegebene 

16* 


244 


Melt war, was fie hatte und was ihr fehlte, fo konnte fein Elares Streben . 


jehr wohl die rechte Zeit umd den rechten Punkt treffen, indem fle den ächten 
Strom und die wahre Tendenz fleigerte, obne fi Dur den Widerfland da⸗ 
gegen zu neutraliftren. 

Unglüdlicherweife tft ein folder glatt rinnender, fortwährend beſchlen⸗ 
nigter Lauf keineswegs der und beſchiedene. Wir haben Querfirömungen, 
und flörende Rückfluthen und unzählige Beftrebungen — jeter nene Menſch 
ift eine neue Beftrebung — verzehren fih in zweckloſen Strudeln. So ift 
der Fluß des Dafeins fo reißend und verbeerend und ganze Maffen und ganze 
©enerationen vergeuden fi in fchmerzlicher Unvernunft und werden vers 
geudet für dad, was niemals nüßen kann. Und entfpringt von allem dieſen 
die eine Hälfte nicht in Dem, was mir Mangel an Bolltommenheit in der 
Geſchichte genannt haben, und die andere Hälfte in einem fogar noch tiefes 
ten, noch unbeilbareren Mangel? 

Hier jedoch müfjen wir zugeben, daß die Natur in Bezug auf folchen 
biftorifchen Mangel durchaus fein Vorwurf trifft. Wir wollen vielmehr 
die Sache von der andern Seite betrachten und die Mühe bewundern, die fle 
fih gegeben und die wahrhaft großartige Fürſorge, die fie getroffen, daß 
diefe felbe Belehrungsbotſchaft uns in grenzenlofer Fülle erreihe. Begas 
bungen und Fähigkeiten befigen wir genug, aber es tft auch ihr weifer Wille, 
tab feine und verlichene Fähigkeit aus Mangel an Gebrauch roſte. Die 
wunderbare Bähigfeit der Sprache wird einmal gegeben, nicht ſowohl ein 
Geſchenk ald vielmehr eine Nothwendigkeit; die Zunge erhält ſich mit oder 
ohne viel Bedeutung in fortwährender Bewegung, die fle nur bei einem 2a 
Trappe in Folge eined unausſprechlichen Sclöflzwanges aufgiebt. 

Eben fo wenig fünnen die Finger, welche das Wunder des Schreibens 
gelernt haben, müßig liegen, und wenn ed eine Sprechwuth giebt, fo wiſſen 
wir auch, daß es eine Schreibwuth giebt, die vielleicht noch wüthender ifl 
als die erfte. Man jagt von manchen Menſchen, fie feien fo redielig. Daß 
fle untere gar nicht zu Worte fommen laſſen wollen; das Schreiben aber 
wird gemöhnlih im Geheimen beforgt und ein Ieder bat fein eigenes Pult 
und Tintenfaß, und figt unabhängig davor und ohne daß ihm Jemand ins 
Wort fallen fann. Und nun vervielfältige man diefe Macht der Zeder einige 
zehntaufend Mal, das heißt. man erfinte die Wuchdruderpreffe mit ihren 
Preßbengeln, mit ihren Redacteuren, Mitarbeitern, Buchhäntlern, Zettels 
trägern und ſehe, was fle außrichten wird ! j 


25 


Dies find die Mittel, womit die Natur und die Kunft, die Tochter der 
Natur, ihren Günſtling, den Menſchen, ausgerüftet haben, damit er fly dem 
Menſchen bekannt gebe. 

Nun erwäge man Zweierlei — erftend, daß eine einzige Zunge von 
durchſchnittlicher Geſchwindigkeit täglich einen bien Octavband zu liefern 
vermag, und wie viele flinfe Zungen mögen wohl auf unferm Planeten oder 
auch nur in diejer Stadt London in der gegenwärtigen Stunde thätig fein! 
Zweitens, daß ein Journaliſt, wenn er guten Willen bat und vom Hunger 
getrichen wird, fehr oft, wie man uns auf glaubwürdige Weiſe mitgetheilt 
bat, binnen vierundzwanzig Stunden feine zwei Druckbogen liefert. Solche 
Mitarbeiter find jept nicht zu Taufenden, fondern zu Millionen zu haben. 

Nimmt man vie Gejdhichte in ihrer engeren gemeinen Bedeutung als 
die bloße Chronik von „Vorfällen*, von Dingen, die, wie wir fagen, erzählt 
werten fönnen, fo wird dadurch unfere Rechnung doch nur wenig geändert. 
Die einfache Erzählung if, wie man bemerken wird, das Hauptprodukt der 
Sprache; der gemeine Mann ift reich an Erzählungen, arm an Nachdenken; 
nur mit dem Gebildeten ift es anders und umgefehrt. Nimmt man nun 
an. daß ſelbſt der taufendfte Theil der Menichheit nur Gedanken außere, ob» 
ſchon vielleicht der millionte genug wäre, fo haben wir immer noch neunhun⸗ 
dert und neunundneungig, die ſich mir eigentlicher Geſchichte beichäftigen, 
indem fie Vorgänge erzählen oder Wahrfcheinlichkeiten über dergleichen auf 
ſtellen, das heißt, entweder mit Gefchichte oder Prophezeihung, weldye eine 
neue Form der Geſchicte iſt. 

Darnach kann der Leſer beurtheilen, in welcher Fülle dieſer Lebens⸗ 
athem der menſchlichen Intelligenz unſerer Welt geliefert worden, ob bie 
Natur gegen ihn Fnaujerig oder freigebtg geweien if. Muth, Leier! Es 
fann tem Geſchichtsforſcher niemals an beſſerem oder fchlechterem Futter feh⸗ 
Ien, tenn enthält nicht ſchon deine tägliche Zeitung fünfzig und mehr Qua⸗ 
dratfuß Fleingedrudter Gerichte? 

Wenn demnach die Univerfalgeichichte ein ſo elender, mangelhafter 
Fetzen iſt, wie wir fie genannt haben, fo liegt der Fehler nicht in unferen 
biftoriihen Organen, ſondern einzig und allein in unferm Mißbraud der 
felben oder vielmehr in fo vielen, je nad ten verſchiedenen Zeitaltern. ver« 
ſchiedenen Mängeln und Hinderniffen, weldye ten rechten Gebrauch terfelben 
vereiteln. Ganz beſonders find es zwei Mängel, welche ſchwer auf allen 
Zeitaltern Iaften — Mangel an Redlichteit, Mangel an Verſtändniß. 


246 


Wenn die bekannt gegebene Sache nicht wahr, wenn fie bloß eine Ver⸗ 
muthung oder auch vorjäglide Erfindung ift, was laßt fi dann damit wei« 
ter thun, ald daß man file auszurotten und zu vernichten ſucht? „Die Wahr 
heit aber, * fagt Horne Toofe, „bedeutet weiter nichts, als das, was man 
für wahr Hält, was man glaubt," und welde neue verberbliche Deduc⸗ 
tion haben wir davon bis zur Sache [elbft Hinzunehmen. 

Ohne Berfländnig aber nützt felbft das Glauben wenig und wie kann 
dad Befanntgeben etwas nügen, wenn Feine Sehkraft darin lag, jondern 
bloße Blinpheit. Eben fo wie bei politifchen Ernennungen ift der Mann, 
den man ernennt, nicht der, welcher am fähigften war, das Amt zu beklei⸗ 
den, jondern bloß der, welder am fählgflen war, dazu ernannt zu werden, 
Sp gebt auch bei allen biforiihen Wahlen und Auswählungen das tollfte 
Zeug vor. Das Ereigniß, welches das wiffendwürbigfte ift, wird vielleicht 
von allen andern am wentgften beiprodhen, ja Manche fagen, es liege eben in 
der Natur foldder Ereignifie, daß dem ſo ſei. 

So liegt vielleicht in jenen felben fünfzig Quadratfuß Geſchichte. oder 
auch wenn fe fi bis auf fünfzig Quadratmeilen von derfelben Qualität 
ausgedehnt Hat, viellerht nicht der fünfzigfte Theil von der Breite eines 
Haared, woraus ſich wirflich etwas ergiebt. In der That, Die Duantität 
von Drudjachen, Die in unierer Zeit vom Weuer verzehrt werden müßte, ebe 
der Eleinfte permanente Vortheil daraus gefchöpft werden fann, ifl geeignet, 
und mit Erflaunen, ja faR mit Furcht zu erfüllen. Ad, wo ift der Uner⸗ 
fhrodene, der alle dieie Papiergebirge in’ Zunder verwandelt und dann die 
drei Tropfen Zunderwajlerelirir zu ertrahiren verſteht? 

In der That, wenn man die Thätigkeit der biftoriichen Yeder und 
Preffe während dieſes legten halben Jahrhunderté betrachtet, und welche 
Mafle von Geſchichte fie während dieſer Periode allein zu Tage gefördert bat 
und wie fie binfort wahrſcheinlich in zehn⸗ oder zwanzigfacher geometriſcher 
Progreliton zunehmen wird, follte man meinen, der Tag ſei nicht mehr fern, 
wo die ganze Erde diefe Schriften über Das, was auf der Erde gefchehen, 
nicht mehr faflen könne und das menſchliche Gedächtniß verwirrt und über 
wältigt aufhören werde, etwas zu behalten. 

Für Manche mag der Gedanke neu und tröftlich fein, daß diefer unier 
Zuftand nicht fo beifpiellos if, wie er jheint und dag mit dem Gedächtniß 
und mit denfwürdigen Dingen der Ball ſtets ein ganz ähnlicher war. Das 
Leben Nero’8 nimmt in unferm Tacitus einige Eleine Seiten ein; mic viele 


\ 
247 


derielben aber füllte e8 in den Pergament- und Papyrus-Arhiven von Nes 
10'8 Generation? Der Verfafler von ‚.Vie de Seneque‘ hat jetzt nach vielen 
Jahrhunderten einige wenige noch übrige Schnigel davon aufgelefen und 
mit leichter Mühe zwei Octavbände daraus gemacht. Wäre nun der Inhalt 
der damals vorhandenen römifchen Bebächtniffe oder vollends Alles, was 
damals darüber gefprochen ward, gebrudt worden, wie viele Quadratfuß 
mit Perlichrift bevedt hätten wir, — in Gürteln, weldhe um ben ganzen 
Erdball reichten ! 

Die Geſchichte muß daher, ehe fie Univerfalgefchichte werden kann, vor 
allen Dingen zulammengedrängt werden. Wollte man die Geſchichte nicht 
zufammenziehen, fo fönnte man nicht über eine Woche im Gedächtniß behal- 
ten. Ja, wollte man die Zujammendrängung ganz außfchließen, fo fönnten 
wir nicht eine Stunde oder überhaupt gar nichts der Erinnerung einverlei« 
ben, denn die Zeit ift wie der Raum unendlich theilbar und eine Stunde 
mit ihren Greigniflen, mit ihren Gefühlen und Erregungen könnte in fol 
ber Ausdehnung geichildert werden, daß fie das ganze Feld des Gedaͤcht⸗ 
nifles bedeckte und alles Andere über die Grenzen hinausſchöbe. 

Die Gewohnheit jedoch und die natürliche Gonftitution des Menfchen 
ſchreiben ſchon von ſelbſt dienliche Gedächtnißregeln vor und halten alle 
ſolche pbantaftifche Viöglichfeiten von und entfernt, in welche nur fo ein 
thörichter muhamedaniſcher Kalif, der feinen Kopf in einen Eimer bezau- 
bertes Wafler tauchte und auf dieſe Weiſe eine einzige nafle Minute in fieben 
lange Jahre der Knechtichaft und Drangjale aushämmerte, verfallen Eonnte. 

Erinnerung und Bergefienbeit find wie Tag und Nacht, fo wie über 
haupt alle anderen Wideriprüce in diefem unjeren feltiamen bualiftiichen 
Leben eind für ded andern Dafein nothwentig. Die Vergeffenheit iſt die 
ſchwarze Tafel, auf welche die Erinnerung ihre lichtſtrahlenden Charaktere 
fhreibt und fie lesbar macht; wäre Alles Hell, jo könnte man bier nichts 
Iefen, eben jo wenig, al8 wenn Alles finfter wäre. 

- So wie mit dem Menfcdhen und jeinen autobiograpbifchen Tagebůͤchern, 
die er ſelbſt unbewußt im Gedächtniß führt, geht es auch mit der Menſchheit 
und ihrer Univerſalgeſchichte, welche ebenfalls ihre Autobiographie iſt — 
eine ähnliche, unbewußte Faͤhigkeit des Erinnerns und Vergeſſens verrichtet 
auch Hier dad Werk. Die Borgänge des Tages, wären ſie auch noch fo ge⸗ 
raͤuſchvoll, können nicht immer laut bleiben; der Morgen kammt mit feinem 
neuen Lärm, der ebenfalls will, daß man von ihm Notiz nehme. In dem 


248 


umermeßlihen Kampfe und Widerftreite dieſes Chaos des Dafeins finft eine 
Geſtalt nah der andern, wie Alles, was aufgetaucht iſt, auch einft wieder 
finfen muß. Was nit in der Erinnerung bleiben fan, entidhwindet dar⸗ 
auß; die Geſchichte sicht fich im eine lesbare Ausdehnung zufammen und 
endlich if in den Händen irgend eined Boſſuet ober Müller die ganze ges 
drucdte Befchichte der Welt von der Schöpfung an kürzer geworden, als die 
des Wächterd von Portsoken in einem einzigen Sonnentage. 

Ob eine ſolche Zulammenziebung, ein folder Auszug ſtets auf die 
befte Weiſe erfolgt, iſt freilih eine andere Frage, oder vielmehr, ed läpt 
ſich behaupten, Daß die Zufammenziehung auf eine keineswegs wünſchens⸗ 
werthe Weiſe flattfindet. Verworfene Cleopatras und Meſſalinas, Galigu- . 
lad und Commoduſſe leben in unerquicklicher Maſſe noch in unſerer Erinne⸗ 
rung, während ein wiſſenſchaftlicher Pancirollus ſein Buch über verlorene 
Künfte fchreiben muß und ein moralifher Banctrollus, wenn er bie dazu er= 
forderliche Einſicht Gefäße, ein noch viel traurigeres Buch über verlorene 
Tugenden fchreiben könnte, über edle, ſchaffende, wagende und buldende 
Menichen, deren heldenmüthiges Leben als eine neue Offenbarung und Ent⸗ 
widelung des Leben? felbft ein hohes Gut für Alle wäre, aber nun verloren 
und vergeflen iſt, weil die Gefchichte ihr Blatt auf andere Weife gefüllt Hat. 

In der That beherricht hier, wie anderwärts. Das, mad wir Zufall 
nennen, Vieles, und auf jeden Fall kommt die Gefchichte nicht jo zufammen, 
wie fte follte, fondern wie fie kann und will. 

Nichtödeftoweniger bemerfe man, wie fon durch den natürlichen Gang 
allein und gleihfam ohne menſchlichen Vorbedacht eine gewifie Angemeffenbeit 
der Auswahl und zwar in hohem Grabe unvermeidlih iſt. Ganz werthlos 
fönnte die Wahl nicht fein, ſelbſt wenn fie nach Feiner beſſern Megel erfolgte, 
als nach der, daß die Menichen blos von Dem ſprechen, wad neben ihnen 
befteht und thätig lebendig iſt. 

Sp werden tie Dinge, welche Früchte erzeugt haben, ja deren Frucht 
noch wächſt, zulegt die Dinge, welche man zur Aufzeichnung auswählt, weil 
diefe Dinge allein groß und des Aufzeichnens würdig waren. 

Die Schlacht bei Chalons, wo das Sunnenland mit Rom zufammen- 
ſtieß und zwei Riefen, deren Schwerter Königreiche in Stüden hieben, mit 
einander um den Beflg ber Erde fämpften, lebt nur matt in der trüben Er⸗ 
innerung einiger Wenigen, während die armfelige Verrätherei eines erbärm- 
lichen Iſcharioth, für dreißig Silberlinge in dem erbärnliden Lande Bald» 


249 


ſtina verübt, noch klar und deutlich in den Köpfen und Herzen aller Men- 
ſchen lebt. Ja überdies, da blos Das, was Frucht trug, groß war, fo muß 
von allen Dingen das, deſſen Frucht noch ta ift und noch wächſt, das arößte 
und denfwürtigfte fein, was wiederum, wie wir fehen, fchon nad ter Ratur 
des Falles Hauptfächlic Die Sache ift, deren man ſich erinnert. 

Hierbei bemerfe man au, wie diefed „bauptjächlich * ſtets darnach 
frebt, ein „einzig und allein” zu werden und wie dad Nahe fortwährend 
näher kommt, denn Trivialität nadı Trivialität entſchwindet, fo wie aus der 
lebenten Thätigkett der Menichen auch aus ihrer Rede und Erinnerung, und 
nur das Große und Lebenskräftige lebt immer audfchließlicher darin fort. 

So corrigirt ein Ereigniß dad andere und in dem wunderbaren, gren- 
zenloien Durcheinander der Dinge — während eine, ein gewifles Ziel ver- 
folgende Madıt fie beherrſcht oder vielmehr darin wohnt — kommt ein Re- 
fultat zu Tage, welches man ſich ſchon gefallen laſſen fan. 

Merkwürdig auf alle Bälle und wenigſtens einmal in unjerm Leben des 
Anſchauens werth ift dieſe Zuſammenziehung der Geſchichte, möge das Ver⸗ 
fahren Dabei jein, welches es wolle. Wie die fünfzig Duadratfuß nach einem 
Jahrhundert, nad zehn Jahrhunderten doc zufammengejhrumpft find! 
Ran betrachte von Anfang bis zu Ende irgent eine Geſchichte, z. B. die 
unfered eigenen Englands, und ſehe, wie fie Dem rajcheften Geſetz der Per⸗ 
fpeetive folgend von der Leinwand hinwegſchwindet! 

Ein unglücklicher Sybarit, wenn wir zwei Sahrhunterte von ihm ent- 
fernt find und ihn Karl II. nennen, befommt zwölf Mal fo viel Raum, als 
ein beidenmüthiger Alfred und zwei oder drei tauſend Mal io viel, wenn 
wir ihn Georg IV. nennen. Die ganze fähfliche Heptarchie, obſchon Ereig- 
nifle, gegen welche die Magna Charta und die weltberüßnte dritte Lefung 
And wie Staub in der Wagichale, damals flattfanden, — denn ward, um 
anderer Dinge zu gefchweigen, England nicht damals, wenn auch nicht im 
Parlament repräfentirt, doch zum Ghriftenthum bekehrt? — die ganze fäch- 
ſiſche Heptarchie, fage ich, wird mit einer einzigen Sentenz Milton's abge 
fertigt, der einzigen, welche jpätere Schriftfteller copirt oder Leſer gemerkt 
baben, wir meinen die Stelle, wo er von den „Kämpfen und Flügen der 
Geier und Kraͤhen“ fpricht. 

Eben jo war es aud feinedwegs ein unwichtiges, nächtliches Gelag, 
als die beiden emtfchloflenen, flarrköpfigen Brüder Hengift und Horfa den 
Eniſchluß faßten, in Britannien eine Menfchenhag zu veranftalten, weil mit 





250 


der Eberhag in ihrer Heimath nicht mehr viel zu machen war. Und io ſchu⸗ 
fen fle aus einigen hungrigen Angeln eine engliſche Ration und pflanzten 
fle hierher und — ſchufen Dich, o Leſer! Ueber Hengiſt's ſämmtliche Feld⸗ 
zuͤge aber läßt fich jegt kaum eine Seite guter Erzählung fchreiben, während 
der Beſuch des Lordmahors in Oxford der Menſchheit in einem anfländigen 
Bande enthüllt wird. Sa, was wollen wir — wird nicht nicht der Brand 
des Theaters in Braunfchiweig mit millionenmal mehr Worten erzählt, als 
die Schöpfung einer Welt? Um uns eines bereits fertigen Gleichniſſes zu 
bedienen, möchten wir die Univerfalgeichichte mit einem magifchen Gewebe 
vergleihen und mit Erflaunen erwägen, wie dur philoſophiſche Einſicht 
und träge Bernadläffigung das ewig wachſende Gebäude ſich aus der uner⸗ 
meßlichen Maſſe von Faden und Enden berauswirrte, welche wir Memoiren 
nennen, ja wie jede neue Verlängerung, jede neue Epoche die ganzen Ber» 
hältnifje und Farbe und Bauart bis zum Urfprung zurüdtveränderte. 

Erlangen nicht auf diefe Weile tie Geſchichtsbuͤcher eined Tacitus nad 
fiebzehnhundert Jahren in den Händen eined Montesquieu neue Bedeutung? 
Niebuhr muß uns nad) noch längerer Zeit die Schriften eined Titus Livius 
wieder interpretiren, ja bie religiöjen Ehronifen eines hebräiſchen Prophe⸗ 
ten und Geſetzgebers haben ein gleiches Schidjal und mand ein tiefgelehrter 
Eichhorn prüft mit frifchgeichliffener philofopbiicher Brille die Offenbarung 
eined Mofed und bemüht ſich für vieles Jahrhundert wieder Das hervorzu- 
bringen, was vor dreißig Iahrhunderten von offenbar unendlicher Bedeut⸗ 
famfeit für Alle war. Dan jehe, wie die Geſchichte mit ihren Anfängen 
fi bis in die entfernte Zeit, welche dunfel aus der geheimnißvollen Ewig⸗ 
feit emportaucht, zurückreicht, wahrend ihr Ende un zu der gegenwärtigen 
Stunde umfaßt, welcher wir nicht blos ald Erzähler, fondern aud als han» 
deinde Perfon angehören! Ihrer Form nad möchten wir fie in mathemati- 
(chem Sinne hyperbolifch » afymptotifch nennen; um uns herum fletö von 
unendlicher Breite ſchrumpft fie Hinter uns in enge Grenzen zufammen und 
nähert ſich immer fchmäler und fpiger der unendlichen Tiefe. Ihrem Weſen 
und ihrer Bedeutung nad hat man fie das wahre epifche Gedicht und bie 
univerfelle Heilige Schrift genannt, deren göttliche Gingebung kein Menſch, 
möge er bei Sinnen fein oder nicht, in Zweifel ziehen wird. 


Drud von Dtto Wigand in Leipzig. 


Inh 


Jean Paul Sriedrich Richter. 
Erſter Artikel 
Zweiter Artifel 
Soswell’s Kebensgefchichte Iohnfon’s . 
Sir Walter Scott 
Ueber Geſchichte. 
Erſter All  .  . 
Zweiter Artikel 


alt. 


Seite 


4 
” 





Thomas Carlple’s 


ausgewählte Schriften. 


Bierter Band. 


Thomas Carlple’s 


ausgewählte Schriften. 


Deutſch 
von 


A. Areßſchmar. 


——— — — 


Vierter Band. 
Dr. Grande, — Mirabean. — Burnd. — Dentſche Dramenſchmiede. 


Leipzig 


Berlag von Otto Wigand. 
1855, 


Dr. £ranctia”. 
(1843.) 


Die verworrene füdamerifaniiche Revolution oder Reihe von Revolu⸗ 
tionen ift eben fo wie der fübamerifantiche Eontinent felbft ohne Zweifel 
ein großes verworrened Phänomen und einer befjern Kenntniß würtig als 
die Menſchen bis jet davon haben. 8 find mehrere Bücher über diejen 
Gegenftand geichrieben worden, aber größtentheild find es fchledte Bücher 
von faft gar feiner Wirkung. Es ift den Helten Südamerikas noch nicht 
gelungen, der cidatlantiichen Anfkauung oder Erinnerung irgend ein Bild 
von fich, noch viel weniger aber ein mahre8 Bild von ſich vorzuführen. 

Iturbide, der Napoleon Mexiko's, ein großer Mann in tiefem fleinen 
ande, wer war er? Er ſchuf den drei Mal berühmten „Plan von Iguala *, 
eine Conftitution von feiner Dauer. Er ward Kaifer von Merifo, der allers 
gnädigſte Auguftin I.; er ward abgeſetzt, nady Livorno, nad) London vers 
bannt, beichloß zurüczufehren, landete an der Küfle von Tamıpico, wo er 


2) 4. Leichenrete bei Gelegenheit der feierlichen Beſtattung Er. Greeflenz bes 
weiland lebenslänglichen Dictators der Republif Paraguay, Bürgers Dr. Joſe Gaepar 
Francia, von dem Bürger Peter Manuel Antonio Perez an ter Kirche zur Empfängs 
niß, am 20. Oct. 1840. (In engl. Ueberſctzung.) 

2. Essai Historique sur la Revolution de Paraguay et le Gouvernement Dictato- 
rial de Docteur Francia, par Rengger et Longchamp, Paris 1827. 

3. Letters on Paraguay, by J. P. and W. P. Robertson. 2 vols. London 1839 

4. Francia’s Reign of Terror. Bon denf. London 1839. 

38. Letters on South America. Von tenf. 3 vols. London 1843. 

6 Travels in Chile and La Plata. By John Miers. 2 vols. London 1826. 

7. Memoirs of General Miller, in the Service of the Republic of Peru. 2 vols. 
London 1829. 


Carlyle. IV. 1 


2 


feindfelig empfangen und erfchoffen ward. Dies tft ungefähr, was die Welt 
von dem mexikaniſchen Napoleon weiß, dem allergnädigften Auguflin dem 
Erften, dem höchſt unglüdlichen Auguflin dem Lepten. Er gab auch ſelbſt 
Memoiren Heraus, die aber nur Wenigen zugänglich find. Vergeſſenheit 
und bie wüſten Panamas haben diefen braven Don Auguftin verichlungen 
vate caruit sacro. | 

Und Boltvar, der Waſhington Columbia's, der Liberator oliver, 
auch dieſer ift dahin, ohne feinen Ruhm genofien zu haben. Ginige fchlechte 
Lithographien zeigen und einen Mann mit langem Geſicht und vierediger 
Stirn, ernfter Miene, einer fanft gebogenen Nafe, furchtbar fcharfwinfliger 
Kinnlade und tunflen Augen, die etwas allzu bicht beiſammen fteben, wegen 
welche8 Iegteren Umſtands, wie wir innig hoffen, der Lithograph allein zu 
tadeln ift. 

Dies iſt der Liberator Polivar, ein muthiger echter, fühner Reiter, 
der ald Held und Charlatan viel Durdigemadht, viel außgerichtet und viel er- 
Duldet und nun todt und verfchwunden ift — von dem mit Ausnahme jener 
elenden Lithographie das gebildete europäifche Publifum jo viel ald nichts 
weiß. Und flog er nit bin und her, oft auf die verzweifeltfie Weiſe mit 
feinen wilden Reitern in ihren Ueberwürfen? Poncho nennen die Südame- 
tifaner einen ſolchen Ueberwurf; derielbe befleht aus einem vieredfigen Stück 
Zeug, mit einem kukzen Schlik in der Mitte, durch welchen man den Kopf 
hindurchſteckt. Mancher Reiter dieſes Befreiungskrieges trug in dieſem 
heißen Klima weiter gar keine Kleidung und kämpfte dennoch wacker und 
wickelte den Poneho um den Arm, wenn es zum Angriff kam. 

Mit folder Eavalerie und dazu paflender Artillerie und Infanterie if 
Bolivar kaͤnpfend durdy fengende Wüften gezogen, dur heiße Sümpfe, 
durch Eisklüfte Hoch über Der Schneelinie, — mehr Meilen als Ulyſſes je 
mald jegelte; davon mögen Die Eünftigen Homere Notiz nehmen, Er if 
mehr ald einmal über die Andes marſchirt — eine eben fo große That wie 
Hannibal’8 Uebergang über die Alpen — und ſchien fein großes Aufheben 
davon zu machen. Oft geichlagen, vom feiten Lande verbannt, fam er immer 
wieder und erneuete den graufamen, unerbittlihen Kampf. In den Megio- 
nen von Cumana errang er den unfterblichen Sieg bei Garababo und meh⸗ 
rere andere; unter ihm ward der entfcheidende Sieg bei Ayacucho in Peru 
erfochten, wo dad alte Spanien zum legten Male in diejen Breitengraden 
Pulver verbrannte und dann floh, ohne zurüdzufehren. 


3 


Er war Dictator, Liberator, faſt Kaifer, wenn er lange genug gelebt 
hätte. Drei Mal nach einander legte er im feierlichen columbifchen Parla- 
ment mit Baihington’scher Beredtfamfeit feine Dictatur nieder und nahm ſie 
eben fo oft auf dringendes Bitten wieder an, weil er nicht entbehrt werben 
konnte. Drei Mal oder wenigftens zwei Mal entwarf er an verfchiedenen 
Orten mit großer Mühe eine freie Conftitution mit zwei Kammern und 
einem auf Lebendzeit ernannten Obergouverneur, dem es freiftehen follte, 
feinen Nachfolger zu ernennen, — bie vernünftigfte demokratiſche Conſtitu⸗ 
tion, die man entwerfen fonnte, und zwei Mal oder wenigjtens ein Mal er- 
Härte fi das Volk, ald ed zum Treffen Fam, Dennoch nicht damit einver- 
fanden. 

In Paris war er früher fehr wohl befannt, namentlih in den aus⸗ 
fhweifenden, den philoſophiſchen, politifchen und anderen Eirfeln. Er hat 
in mancher eleganten Parifer Soiree geglänzt, dieſer Simon Bolivar, und 
in feinen fpätern Jahren, im Herbſt 1825 ritt er triumphirend in Potoft 
und den fabelhaften Inca«- Städten ein, während ganze Schaaren gefiederter 
Intianer um ihn herum ihre Purzelbäume ſchlugen und ihr Kriegsgeheul 
anftimmten, — und „ald der berühmte Gerro, der metallhaltige Berg in 
Sicht kam, fingen alle Glocken an zu läuten und die Gefchüge donnerten, * 
fagt General Müller in feinen Memoiren. 

Wenn dies nicht cin Ulyffes, ein Polytlas und Polymetis, ein an 
Abenteuern und Erfahrungen reicher Mann war, wo follte es denn fonft 
einen geben? Er war in der That ein Ulyfjes, deſſen Geſchichte die Dinte 
verlohnen würde, wäre nur erft der Homer da, der fe ſchreiben könnte. 

Auch über General San Martin läßt fih etwas fagen. General San 
Martin beſaß, als wir ihn vor circa zwanzig Jahren — durch die Organe 
des authentiichen zuverläffigen Neifenden Mr. Mierd — das legte Mal ſa⸗ 
ben, ein ſchoͤnes Haus in Mendoza und „fein eigned Portrait hing, wie id 
bemerkte, zwifchen denen Napoleon’ und des Herzogs von Wellington. * 
In Mendoza, der heiteren von Lehm erbauten, weiß getündten Stadt am 
öftlihen Fuße der Andes, „mit ihrer wohlgepflafterten und gefegten, Tühlen, 
fhattenipendenden Promenade, welche nad der einen Seite hin die ſchönſte 
Ausfiht über die unermeßliche Pampas-Wüfte und auf der andern auf die 
Eordillera genannte Belfenkette bietet, deren bimmelhohe Berge mit Schnee 
bedeckt find oder vulfanifche Rauchjäulen auffleigen Taffen” — hier wohnte 
ber General Er-Beneraliffimo San Martin und dachte über feine in ber 

1 % 


a 


halben Welt erlebten Abenteuer nad, während fein Bortreit zwiſchen dem 
Napoleons und dem bes Herzogs von Wellington hing. 

Dat der Leſer jemals etwas von San Martin’ Mari Aber die A 
bes nach Chile gehoͤrt? GE ift eine That, Die wohl einer nähern Betrachtung 
würbig ifl, und ſehr wohl vergleichbar mit Hannibal's Mari über die U 
pen, während es noch Feine Straße Über den Simplon oder Mont Genie gab. 
Diefer Uebergang über die Andes geſchah im Jahre 1817. 

Südamerifaniiche Armeen fürchten ſich weiter nicht, wenn ihnen befoh- 
len wird, durch die Schluchten der Andes zu marfchiren. Deshalb dachten 
die Einwohner von Buenos Ayres, nachdem fle ihre eigenen Sipanier ver⸗ 
trieben und das Neich der Freiheit, obſchon auf etwas zweifelhafte Weiſe 
gegründet, ed wäre nun gut, die Spanier aus Chile zu vertreiben und bier 
ebenfalls das Reich der Freiheit zu gründen, worauf San Martin atö Com⸗ 
mandant von Mendoza beauftragt ward, biefed Geſchaͤft zu beforgen. 

San Rartin holt, um ſicher zu geben, fehr weit aus und verſammelt, 
während die Armee fich bei Wendoza rüftet, in dem Yort San Garlos bei 
dem Aguanda-Klufje einige Tagereifen füdlich alle zugänglichen Stämme ber 
Pehuenche Indianer zu einer felerlichen Berathung, wie fle ed nennen, mit 
darauf folgendem Schmaufe auf der Esplanade daſelbſt. Die Geremonten 
und Berathungen find, wie General Miller fie befchreibt, etwad ſonderbar, 
noch mehr aber den Schluß bildende Schmaus, weldger drei Tage Dauert, 
während deſſen ungeheure Mafien Pferbefleiich als Speile und Pferteblut 
mit Branntwein ald Getränk audgeiheilt und mit großer Gier nerichlungen 
werden. Die Bolgen davon kann man fich Leicht denfen. Die Frauen ber 
Indianer hatten jedoch fehr klüglich im Voraus alle Waffen auf die Seite 
geſchafft, ja fünf oder ſechs dieſer armen Weiber, welche ſich wechſelſeitig ab⸗ 
löſten, waren ſtets nuͤchtern und bewachten die übrigen, jo daß verhältniß⸗ 
mäßig wenig Unheil angerichtet ward und nur zwei oder drei Todtſchlaͤge 
vorkamen. 

Nachdem die Pehuenches auf dieſe Weiſe ihr Feuerwaſſer und Pferdes 
blut getrunfen und San Martin ewige Freundſchaft geſchworen hatten, gin⸗ 
gen fie wieder nach Haufe und — ſetzten feine Feinde jenjeitd der Andes 
son der Straße in Kenntmiß, die er einzuſchlagen gedachte. Dies war aber 
gerade das, was San Martin, der Schlaufuchs, vorausgeſehen und gewollt 
hatte! Er befjleunigte feine Zurüftungen, ließ feine Geſchütze auf Stangen 
binden, feine Leute mit Torniftern und Butterfäden verjeben, feine Raub 


BE 


thiere im Bereitfchaft ſeden und verlieh Mendoza in aller Stille auf einer 
andern Strafe. 

Die Kriegführung der Neuzeit hat, wie General Miller erflärt, wenig 
aufzınweifen, was biefem Mari an die Seite geftellt werben könnte. Die 
lange, ſchmale Reihe der Soldaten, über fechötaufend an der Zahl, ſchlaͤngelt 
ſich mit ihren Thieren und ihrem Gepäd durch das Gerz der Andes und 
| unterbricht auf einen kurzen Augenblid die Einfamkeit der Abgründe. — 
Auf ſchmalen Wegen geht e8 dahin, durch fleinige Labyrinthe unter unge- 
heuern überhängenden Zelfen hinweg, während tief unten wilde Gebirgs⸗ 
firöme Sraufen und bodenloſe Klüfte heranfgähnen und fogar Wind und 
Echo in unheimlidyer, noch nie gehärter Weiſe heulen, Himmelhohe Felſen⸗ 
ſchranken thürmen ſich vorn, Hinten und ringsum herauf, ſodaß gar fein 
Ausweg vorhanden zu fein fheint. Der Pfad ift ſchmal und das Fußen 
fehr ſchwierig. Auch fcharfe Biegungen kommen bor, wo man wohltbun 
wird, auf feine Schritte Acht zu geben — ein einziger falfcher Tritt und 
man bedarf feines zweiten, denn man verichwindet in dem fchwarzen Rachen 
des Abgrundes und die gefpenftifchen Winde heulen das Requiem. Etwas 
befler find die Hängebrüden aus Bambus und Leder gefertigt, obſchon fie 
| bin und ber baumeln wie Schaufeln. Männer flehen bier mit Laflos, um 
die Paffanten auf geſchickte Weiſe anzuſchlingen und wieder aus dem Strome 
herauszufiſchen, wenn ſie hineinpurzeln ſollten. 

Auf dieſem Terrain marſchirte San Martin, gerade auf San Jago zu, 
um mit den Spaniern zu kaͤmpfen und Chile zu befreien. Statt der Mu⸗ 
nitionswagen hatte er Sorras oder Schlitten aus getrocknetem Büffelleder 
gefertigt. Die Geſchütze wurden von Maulthieren getragen, naͤmlich ein 
jede8 auf je zwei Maulthieren, die auf finnreihe Weife aneinander geſchirrt 
waren. Auf dem Padjattel des vorderfien Maulthieres ruhete, mit flarfen 
Burten befeftigt, eine lange, flarfe Stange, und da8 andere, wahrſcheinlich 
gabelförmige Ende auf diefelbe Weife Gefeftigt, auf dem Packſattel des hin⸗ 
tern Maulthiers; das Geſchützrohr ſelbſt hängt vermittelft Iederner Riemen 
an dieſer Stange, und ſo geht der Transport ſchwankend und baumelnd, 
aber dennoch verhaͤltnißmaͤßig ſicher vor ſich. 

In dem Torniſter eines jeden Soldaten befanden ſich Lebensmittel auf 
acht Tage, getrocknetes Rindfleiſch zu Schnupftabad gerieben mit einer Bei⸗ 
miſchung von Pfeffer und Amiebad oder Maismehl. An Zwiebeln und 
Knoblauch war fein Mangel ; Abends konnte beim Beurer von furzem Ge⸗ 


6 


firüpp und Belfenmoos oder gebörrtem Maulthiermiſt Thee gefocht werben. 
Weiteres Bepäd war nicht geftattet, denn jeder Soldat lag des Nachts In 
feinen Poncho gehüllt mit feinem Tornifter flatt des Kopfliffens unter dem 
Baldachin des Himmels und fanf, von der ungeheuern Anſtrengung er⸗ 
fhöpft, ſehr bald in fchnarchenden Schlaf und wunderliche Träume. Hatte 
er nit in den Pampas Vieles zurüdgelaffen, — Mutter, Geliebte, und 
wer weiß, was fonft, und was erwartete ihn in Ehile, wenn er jemals 
binüberfam ? 

Welch einen Anblick muß dieſes Nactlager San Martins gewährt 
haben, wenn feine Leute fo in dem Herzen der Andes unter den ewigen Sternen 
lagen und ſchnarchten! Müde Schildwachen halten fi mit Mühe wach; 
abgemartete Maufıhiere kauen ihr @erflenfutter oder fchlummern auf drei 
Beinen. Das ſchwache Wachtfeuer zündet kaum eine Cigarre an; Canopus 
und das fürliche Kreuz gligern vom jchwarzblauen Simmel herab und alles 
ſchnarcht umgürtet von Granitwüften. 

San Martin's unvorfihtige Soldaten verzebrten die ihnen auf eine 
Woche zugetheilten Rationen fhon faft in der Hälfte diefer Zeit unt muß⸗ 
ten während der legten drei Tage, vom Hunger geipornt, fo ſchnell ald mög⸗ 
lich weiter eilen. Auch dies hatte der ſchlaue San Martin voraudgeichen 
und wußte, daß jeine abgehärteten wilden Gauchos es wohl aushalten könn⸗ 
ten, ja, daß fie nur um defto fchneller marſchlren würden. 

Am achten Tage brachen fie hungrig wie Wölfe und ſchnell und reißend 
wie ein Gebirgäftrom hervor, marſchirten firadd auf San Jago, zum Ent⸗ 
jegen der Spanter, die von ihnen auf der Ebene von Maypo und dann 
wieder zum legten Mal auf den Ebenen und Anhöhen von Ehacabuco voll⸗ 
fländig gefchlagen wurden. So war denn Chile, wie man glaubte, auf im⸗ 
mer befreit. 

Ach, Leiter war die Befreiung von Chile damit blos begonnen, aber 
weit entfernt, beendet zu jein. Chile ift nah noch vielen folgenden Be⸗ 
freiungen bi8 auf dieſe Stunde fortwährend aus den Händen einer Bande 
von Mebelthätern in die der andern geratben. 

San Martin’d Manöverd um Peru zu befreien, Peru und Chile zu 
vereinigen und ein Wafhington-Napoleon diefed Landes zu werden, gerietben 
nicht fo gut. Man faßte allerhand Verdacht gegen ihn, der Liberator Boli⸗ 
var ward herbeigerufen und c& fanden mittlerweile einige Revolutionen 
hatt. San Martin flieht fi peremptoriſch, obſchon auf höfliche Weile wies 





7 


der über die Andes zurüdcomplimentirt und hängt nun in Mendoza mit 
Muße fein Bortrait zwilchen dem Napolton's und Wellington’d auf. Mr. 
Miers hält ihn für einen klugen, menfchenfreuntlichen, wenn aud etwas 
liſtigen Mann. Hätten die EHilefen ihn nicht auch wirklich zu ihrem Napo- 
leon wählen können? Sie find weiter gegangen und dabei bis jetzt wenig 
befler gefahren. 

Der weltberühmte General O'Higgins z. B. ward nadı einigen Revo⸗ 
Intionen Director von Chile, aber was fonnte er, von ter Legislatur auf 
das Schauderhaftefte in die Enge getrieben, daraus machen. Faſt nichts! 
D’Higgins iſt offenbar von iriſcher Abfunft und obichon geborener Chilefe 
und natürliher Sohn von Don Ambrofio O'Higgins, den früheren fpanie 
ſchen Vicekönig von Chile, fleht ihm doch der Irländer im Geſicht geichries 
ben. Gin beiteres, jovialch, feſtes Geſicht iſt es, ſtrahlend von Geſundheit, 
guter Laune und mannigfachen Erfolgen in Krieg und Frieden. 

Bon feinen Schlachten und Abenteuern möge ein glüdlicherer Gpiker 
fingen oder ſprechen. Eins aber werden wir ausländiichen Kritiker nie ver⸗ 
gefien — Die unermeßlichen Verdienſte feines Vaters um Chile hinſichtlich 
des Straßenbaues. Als Don Ambroflo vor etwa einem halben Jahrhundert 
die Megierung von Ehile antrat, eriftirten wahrjcheinlich von Panama bis 
zum Gap Horn feine zehn Meilen Straße, wie ed denn außer feinen auch 
jest noch kaum andere geben wird. Die alten Inca-Strafen fünnen nidt 
in Anſchlag kommen, denn fie find zu ſchmal — nimlih nur drei Fuß 
breit — und werben gegenwärtig garnicht nıehr benußt. Don Ambroſio 
ſchuf mit einem unglaublichen Grade von Fleiß, Ausdauer und Geſchicklich⸗ 
feit Straßen und immer wieder Sıraßen nad allen Richtungen bin. Bon 
San Iago nad Valparaiſo, wo bloß ſichere Maulihiere mit ihren Padjätteln 
Güter beförderien, gehen jeßt ganz bequem lautfnarrende Karren mit 
hölzernen Axen und alle anderen Gattungen von Fuhrwerken. Er war «8, 
der Dieje Bälle turch die Andes bahnte und die ichmalen Maulthierpfade zu 
Straßen erweiterte. 

Und dann bedenfe man feine Caſuchas. Ueberall auf den höheren uns 
wirtblichen Einöden in Entfernungen von wenigen Weiltn, ſteht ein nettes, 
kleines, von Ziegelfteinen erbautes Haus oder eine Caſucha, in welcer der 
eiuſame Wanderer Obdach, ja fogar Speiſe und Erwärmung findet, denn es 
fiehen darin eilerne Kiſten mit präparirtem Rindfleiih und anteren Lebens⸗ 
mitteln, jowie cijerne Kiften mit Holzkohlen, zu welchen allen der Meijende, 


nachdem er zuvor eine gewifle Gebühr an bie Voſtbehörde entrichtet, einen 
Schlüſſel bei ih führ. Ein Feuerzeug bringt er mit, ebenfo wie einen 
eifernen Kochtiegel mit Waffer aus dem Strom. Und nun fchlägt er Feuer 
an und bereitet fich fein Abendbrod hier hoch oben auf den Zinnen der Erde 
und feynet den Gouverneur O'Higgins. 

Mit wirklichem Schmerze erfahrt man dur Mr. Miers, daß der Frei⸗ 
heitöfrieg dieie Caſuchas des menichenfreundlihen O'Higgins zur Hälfte 
ruinirt hat. Patriotiiche Soldaten, die mehr Wärme bedurften, ale die 
Kohblenfifte ihnen gewähren Eonnte, haben fi Fein Gewiſſen daraus ge= 
macht, die Thürpfoften und alles fonftige Holzwerk abzureißen und zu ver⸗ 
brennen. Der von Stürmen aufgehaltene Wanderer, der zuweilen bei Dros 
hendem Wetter tagelang, oft vierzehn Tage hintereinander bier warten 
muß, bat allertings keinen Grund, dieje patriotiichen Krieger zu ſegnen. 

Ja, es fcheint jogar, als ob die von ÖO’Higgins angelegten Straßen 
ſelbſt im flachen Rande feit mehreren Iahren nicht mehr im Stande gehalten 
worden ſeien, jo ſchlecht hat es fortwährend mit den Finanzen der Negierung 
geftanden. Die Straßen werben demzufolge immer unpaifirbarer und nähern 
fi) wieder dem Zuftande bloßer Maulthierpfade. Welch merkwürdige Weſen 
find doch die Menſchen überhaupt und die Ghilefen insbelondere! Wenn 
nicht dann und wann ein O'Higgins unter ihnen erſchiene, was würte da 
aus ten Uinglüdtiben werden? Kann man fich wohl wundern, wenn ein 
D’Higgins zuweilen die Geduld verliert, die überredende audgebreitete Hand 
fließt. die Peitſche oder flatt deren ein furdtbares Schwert der Gerechtig⸗ 
feit oder einen Balgen-Laflo padt und dann und wann ein Dr. Francia 
wird? Der O'Higgins ſowohl, ald auch Dr. Francia, find wahrſcheinlich 
Phaſen eines und deffelben Charakters, und beide find, wie man zu fürchten 
beginnen muß, in einer von Menſchen und Ehilejen bewohnten Welt von 
Zeit zu Zeit unentbehrlic. > 

Was O'Higgins den Zweiten, den Patrioten und natürlichen Sohn 
von O’Higgind betrifft, jo hatte Diefer, wie wir gefagt haben, al& Gouver⸗ 
neur faft gar feinen Erfolg, weil er durch die Legislatur gehemmt ward. 
Ah, in Chile kann fein Gouverneur Erfolge erringen. Ein Gounerneur 
muß fich bier in den Mangel an Erfolg fügen und gleich jenem neuerwähl⸗ 
sen Wanfte, der als er fihh auf dem Balcon zeigte, mit lautem Gebeul be⸗ 
grüßt wart, in heiter fragentem Tone fagen: „Non piacemmo al popolo ?“ 
— und dann unzenirt zur nächſten Tharfadhe fhreiten. 


9 


Das Regteren ift überall eine ſchwere Arbeit, in Südamerifa aber ganz 
befonderd. Man bat hier bis jegt noch Fein parlamentarijches Mittel, um 
eine Beränderung des Minifleriums herbeizuführen, fondern begnügt fi da⸗ 
mit, daß man das alte Minifterium an den Balgen hängt, um ein neues ein⸗ 
fegen zu können. „Die Regierung hat den Namen geändert,“ fagt ter 
wadre Mr. Miers, der durch das, was er dort fah, nicht wenig mürrifch ges 
macht worden; „fie hat den Namen geändert, aber ihr Thun und Wefen 
bleibt daffelbe wie zuvor. Schamloſe Beftechlichkeit, Faulheit und Verkehrt⸗ 
Beit, das ift die Regierung der Südamerifaner ; der früher von ſpaniſchen 
Beamten auögehende Drud wird jegt durch Eingeborene, Haciendados und 
Grundeigenthümer, ausgeübt, — und das, was man Gerechtigkeit nennt, 
ift noch weit von ihnen entfernt, * fagt der mürrifche Mr. Miers. 

Ja, aber fie nähert fi) doch, antworten wir; jeded neue Aufhängen 
eines alten untauglichen Miniſteriums bringt die Gerechtigkeit etwas näher. 
Miers felbft muß zugeftehen, Daß gewiſſe DVerbefierungen und Kortichritte 
ſchon jetzt nicht in Abrede geftellt werten fönnen. Der Handel hat fi troß 
der vielfachen Verwirrungen gehoben und hebt ſich fortwährend, die Tage 
des ichläfrigen Monopols find Tängft entſchwunden. 

Zwei gute oder theilweis qute Maßregeln hat eben die Nothwendigkeit 
der Dinge überall in dieſen armen Ländern berbeigeführt. Sie beftehen 
Darin, daß der Gciftlichfeit die ungeheuren Fledermausflügel verfchnitten 
worden find, und in der Emancipation der Sklaven. Bledermausflügel, ſa⸗ 
gen wir, denn in der That war Die fütamerifanifche Geiftlichkeit zu einer 
Art Fledermausvampyren herangewachſen. Du haft, lieber Leier, fchon von 
jenem ungebeuren ſüdamerikaniſchen Blutſauger gehört, welcher feinen 
Schnabel in dein Ereifendes Lebensblut ftect, während tu im Schlafe liegft 
und es taugt. Durch Tie Bewegung ſeiner abſcheulichen Lederflügel fächelt 
er dich in immer tieferen Schlaf und trinkt und trinft, bis er genug bat und 
du nicht wicher erwachſt! i 

Tie fütamerifaniihen Aegierungen, Die mit Ten alten firchlichen 
Würtenträgern alle in narürlidyer Fehde liegen und ebenjo alle an großem 
Geldmangel faboriren, haben überall die Klöfternüter confldcirt, Die unges 
horſamen Geiſtlichen abgeſetzt, das überflüſſige Kirchengeräth in Viaſter uns 
geſchmolzen und mit einem Worte ihrem Vamyyr die Flügel verſchnitten, fo 
daß man, wenn er audı noch jaugt, wenigſtens noch Ausjiht hat, zu ers 
wachen, ehe man todt if: 


10 


Berner führte eben der Ranzel an Kämpfern für die Freiheit zur Eman⸗ 
eipation der Schwarzen, Gelben und anderen Farbigen, denn ter Mulatte, 
ja fogar der Neger, flieht, wenn er richtig dreifirt if, Im Feuer fo gut wie 
ein Anderer. 


Die armen ſüdamerikaniſchen Emanctpatoren! Sie begannen mit Vol⸗ 
ney Raynal und Compagnie bei jenem Evangelium vom gefellichaftlichen 
Vertrage und von den Menfchenrechten unter den ungünftigften Umfländen 
und find jegt erft fo weit gefommen, wie wir ſehen. Ja, fle befigen jegt 
fogar „ Univerfitäten*, die wenigftend Schulen mit anderen als mönchiſchen 
Lehrern find; fie haben Bibliotheken, obſchon fle bis jetzt faft noch Niemand licft 
und unfer Freund Mierd, der wiederholt an alle Thüren der großen Nationals 
bibliorhef non Chile pochte, bis zu Diefer Stunde noch nicht entdecken konnte, 
wo der Schlüffel lag, und fi damit begnügen mußte, daß er zu den Fen⸗ 
ftern bineinichaute. 


.Miers begehrt, wie wir ſchon angedeutet haben, uniägliche Verbeſſe⸗ 
rungen in Chile und als Bafld von allen begehrt er cine ungeheure Ver⸗ 
mebrung von Seife und Waſſer. Ia, ja, Du waderer Mierd, Schmutz 
muß ganz gewiß weggeſchafft werden, welche fernerweite Verbeſſerungen, 
geiſtliche ſowohl al& weltliche, auch außerdem noch beabſichtigt werten mö⸗ 
gen! Nah Miers' Angabe grenzt die offene, aber noch mehr Die gebeime 
perfönliche Unjauberfeit dieſer entfernen Völferidaften fat and Erhabene. 
Die Ichönften Scidenzeuge, Goltbrocat, Berlenhaldbänter und Diamantene 
Obrgebänge find feine Sicherheit dagegen. Ach, leider! Es iſt nicht Alles 
Gold, was glänzt; Manches, was da glänzt, ift weiter nichts als flinfende 
Fiſchhaut! Entſchiedene, ungeheuer vermehrte Anwentung von Seifen⸗ 
waſſer in jeder Beziehung und mit allen Zubehör — dies wäre nach Miers 
ein Hauptfortſchritt. 


Auch ſagt er, alle Chileſen ſeien Lügner — alle, oder wenigſtens dem 
Anſchein nach alle! Ein Volk aber, welches faſt keine Seife braucht und 
faft feine Wahrheit ſpricht, ſondern auf dieſe Weiſe in cinem ſolchen an das 
Erhabene grenzenden Zuftante körperlicher und auch geiftiger Uniauberfeit 
herumläuft — ein ſolches Volt ift nicht io leicht gut zu regieren! 





Das bemerkenawertheſte von allen diefen ſüdamerikaniſchen Phänomenen 
aber ift unzweifelhaft Dr. Francia und feine Dictatur in Paraguay, worüber 
wir jet fpeziell fprechen wollen. 

Brancia und feine Schredlendregierung haben in unferem Lande Ver⸗ 
wunderung und Neugier erregt und beſonders ber conftitutionellen Gefin⸗ 
nung einen bedeutenden Stoß verfegt. Man möchte Dr. Francia fennen 
lernen, aber unglüdlicherweiie fann man es nicht. Wer möchte ſich anhei« 
fhig machen, aus einem folden Miſchmaſch zerfahrener Schatten und Ge⸗ 
rüchte in der andern Hemifphäre der Welt gegenwärtig dad wirkliche Por⸗ 
trait eines Dr. Francia und feine Lebensgefchichte zu entziffern? Niemand 
von und kann dies. Einige glaubwürdige und in unferer conftitutionellen 
Beit ziemlich wunderbare und originelle Züge enthüllen fih vielleicht dem 
unparteiiichen Auge und diefe führen in Verbindung mit dem Beftreben, fie 
zu deuten, gewifle Leſer anf verichiedene conflitutionelle und andere Betrach⸗ 
tungen, die nicht ganz ohne Nutzen jind. 

Sicherlich konnte, wie wir eben fagten, nichts das conftitutionelle Ge⸗ 
fühl der Menfchheit jo erichüttern, wie Dr. Francia e8 erfchüstert hat. Dio⸗ 
nyfius, der Iyrann von Sprafus, und mit ihm die ganze Tyrannenbrut 
waren, wie man hoffte, ſchon feit vielen Jahren von der Erde verichwunden 
und batten ihren Lohn dahin und plöglich ſteht Dicht vor unferer Nafe ein 
neuer Tyrann auf, der ebenfalld jeine Belohnung von uns in Anipruch 
nimmt. Gerade ald die conftitutionelle Zreiheit ein wenig verflantden zu 
werden begann und wir und jchmeichelten, daß durch Abflimmung, Proto⸗ 
folle und ‚parlamentarijche Beredtſamkeit ein wirkliches National⸗Plapper⸗ 
ment in dieſen Ländern zu Stande fommen würde, — gerade ta erhebt fich 
biefer gelbhäutige, bagere, ‚unerbittliche Dr. Francia, legt Embargo auf alle 
diefe Dinge und fagt in dem tyranniſchſten Tone zur conftitutionellen Frei⸗ 
heit: Bis Hierher und nicht. weiter! 

Es iſt eine unleugbare, obſchon faft unglaubliche Thatſache, daß Francia, 
ein hagerer Privatmann, Advocat und Doctor der Theologie, zwanzig oder 
beinahe dreißig Jahre lang ſein Ruthe über den auswärtigen Handel von 
Paraguay ausftredte und zu ihm fagte: Höre auf! Die Schiffe lagen hoch 
und troden mit aufgeiprungenen gähnenten Planken an den Thonufern des 
PBarana und Niemand fonnte anders ald mit Francia's Erlaubnig Handel 
treiben. 

Wenn Jemand nad) Paraguay kam und dem Doctor feine Papiere, 


13 


feine Werte, fein Benehmen oder auch wur der Schnitt feine® Geſichts nicht 
geflelen, fo war es für dieſen Fremden fehr ſchlimm! Niemand durfte unter 
irgend einem Borwand Paraguay verlafien. Dabei war es ganz leid, ob 
der Betreffende ein Mann des Wiffenihaft, Aftronom, Geolog, Aftrolog 
vder nordifcher Herenmeifter war; Francia nahm auf alles dies nit Me 
mindefte Rückſicht. 

Die ganze Welt kennt die Geichihte mit Aims Bonpland ; wie Brancia 
ihn feftmehmen ließ, nachdem er ihn auf feiner Theepflanzung in Entre⸗Rios 
gleich einem Geier überfallen, und ihn gegen alles Bölferrecht in das Innere 
fhleppte ; wie der große Humboldt und andere vornehme Berfonen fi aus⸗ 
drüdlic an Dr. Francia wenderen und ihn im Namen der menfchlichen Wif- 
fenfchaft und gleihjam bei Strafe allgemeiner Verwünſchung aufforderten, 
Bonplant in Freiheit zu feßen, und wie Dr. Brancia feine Antwort gab und 
Bonpland nicht nach Europa zurückkehrte und in der That auch bis jetzt no 
nicht tahin zurückgekehrt iſt. 

Ebenſo weiß man auch, daß Dr. Francia einen Galgen, Henkersknechte, 
Gerichtsbeamte und Kerkermeifter hatte, und während feiner Regierung über 
vierzig Perfonen, und zwar einige Davon auf ſehr fummarifche Weile, hin⸗ 
richten ließ. 

Mit der Freiheit des periönlichen Urtheils war es, wenn es nicht den 
Bund hielt, in Paraguay zu Ende. Paraguay lag unter Bann und Inter⸗ 
diet, über zwanzig Iahre lang durch einen neuen Dionpfius von Paraguay 
von der übrigen Welt abgefchnitten. Aller auswärtige Handel hatte aufe 
gehört, wie viel mehr alles conftitutionelle Weſen im Inlande! 

Dies find ſeltſame Thatſachen und Dr. Francia war, wie wir wenige 
ſtens ichließen Eönnen, nicht ein gewöhnlicher Menſch, jondern ein unges 
wöhnlicher. Welch ein Unglück, daB gegenwärtig faſt gar nichts über ihn 
zu erfahren ift! Die Paraguener können in vielen Källen buchſtabiren und 
Iefen , aber fie find fein literariiches Bolt und dieſer Doctor war vielleicht 
ein zu entſetzlich praktiſches Phänomen, ald daß man ihn ruhig auf literari⸗ 
ſche Weile Hätte behandeln Eönnen. Gin Breugbel malt feinen Seeſturm 
nicht während das Schiff arbeitet und Fracht, fondern nachdem er and Ufer 
gelangt ift und unter fiherem Obdach figt! Unſere Breunde in Buenos 
Ayres, die allertings dann und wann etwas druden, Tagen wieder in zu 
großer Enıfernung von Francia; ihr unpartelifcher Blid ward durch eine 
Menge Zwiſtigkeiten und Zerwürfnifle getrübt und ihr conftitutionelled Ger 


u u 


| fühl durch das, was der Dictator that, im höchſten Grade empört. Auf 
jenen langen, ſchlammigen Fluthen, durch jene ungebeuren, unflaren Gegen» 
den Fonnte wenig Nachricht bis zu ihnen herabfchwinmen, die nidht von 
mehr oder weniger unklarcr Beichaffenbeit geweien wäre und dann beftcht 
son Buenos Ayres bis nach Europa abermals eine weite Entfernung, weiche 
neuen Unklarheiten unterworfen if. 


| Brancia, Dietator von Paraguay, iſt gegenwärtig für den europätichen 
Geift wenig mehr al8 eine Chimäre, im beften Kalle die Aufgabe eines 
Räthſels, deſſen Löfung noch zu ſuchen iſt. Da die Paraguener, obſchon fle 
fein literariiches Volk find, Doch zum großen Theil buchſtabiren und jchreis 
ben fünnen und nicht ohne alle Fähigkeit find, dad Wahre vom Unmwahren 

zu unterfcheiden, fo ift e8 immer noch möglid, daß wir einmal aus jenem 
Lande ſelbſt eine Achte und wirkliche Lebensgeſchichte Francia's erhalten. 
Wenn ein Schriftfteller von ®enie dort auftaucht, jo fei er hiermit von und 
zu diejem Unternehmen aufgefordert. Das fchreibente Genie muß überall, 
wo e8 mit einem handelnden Genie zujammentrifft, fi freuen und fagen: 
Hier oder nirgents ift ein Stoff für mid zu verarbeiten! Weshalb führe 

ih Dinte und Feder, wenn ed nicht geihieht, um die Menfchen von diefem 
| jeltfamen hantelnden Genie und feines Gleichen in Kenntniß zu ſetzen? 
Meine fhönen Künfte und Aeſthetik, meine Epik, Literatur und Poetif bes 
deuten, wenn id) e3 mir recht überlege, im Grunde genommen entweder über- 
haupt Died oder überhaupt gar nichts! 








Bis jept war die Hauptquelle unferer Belehrung in Bezug auf Francia 
ein Feines Bud, das zweite auf unferer Lifte, welches vor etwa ſechzehn 
Jahren von Hengger und Longchamp in franzöflicher Sprache erſchien. Es 
wurden VWeberfegungen in verfchiedene Sprachen bewirkt; — von der in 
die englilche müflen wir zu unferem Leidweſen fagen, dab Niemand, ande 
genommen im alle der äußerſten Noth, ſich ihrer ald Lectüre bedienen möge. 
Der Ueberſetzer, der fih vor menſchlicher Entdeckung wenig und vor gött⸗ 
licher oter teuflifcher gar nicht gefürchtet zu haben fcheint, Hat feine Arbeit 
über alle Maßen fchledt gemacht — mit Unwiſſenheit, mit Nachläffigkeit, 
mit vorbetachter Linreblichkeit, indem er ganz Faltblütig wegläht, was er 
nicht verficht. Der arme Mann, follte er noch leben, fo möge er fi bef- 
fern, fo lange es nod Zeit il! Er Hat ein franzöftfche® Buch, welches 
ſchon an und für ſich mager und trocken war, zu einem höchſt hölzernen enge 


14 


liſchen falfchen Buche gemadt und dafür höchſt wahrfcheinlih noch guten 
Lohn beanſprucht! 

Wie nöthig find doch Reformen, ſelbſt in diefen Kleinigkeiten ! 

Die Herren Rengger und Longchamp waren, und wir hoffen, find noch, 
zwei jchweizeriihe Chirurgen, die im Jahre 1819 beſchloſſen, ihre Talente 
nach Südamerifa und zwar nad Paraguay zu tragen, wo fle unter anderen 
Dingen auch naturhiftoriiche Studien zu machen beabfichtigten. Nach langem 
Bugſiren und Arbeiten in den Gewäflern des Parana, nad vielem Aufent- 
halt durch ftürmifche Witterung und Kriegsunruhen langten fie demgemäß 
in Srancia’8 Lande an, erfuhren aber bier, baß fie es ohne Francia's Er- 
laubniß nicht wieter verlaflen durften. 

Brancia war jegt Dionyſius von Paraguay. Es war mit Paraguay 
wie mit gewiflen Maujefallen und anderen Vorrichtungen der Kunft und 
Natur — es war leicht hinein, aber unmöglich, wieder herauszukommen. 
Unfere braven Chirurgen, unfer braver Rengger — denn dieſer iſt e8 von 
den beiden allein, welder fpridt und ſchreibt — fügten fih, mußten Fran⸗ 
cia's Soldaten und Francia's eigene Perjon furiren, fammelten Pilanzen 
und Käfer und ertrugen fech8 Jahr lang ihr Loos ziemlih flandhaft, bis 
endlich im Jahre 1825 der Embargo eine Zeitlang aufgehoben ward und 
fie nah Haufe reiſten. 

Dieſes Buch war die Folge. Es iſt nicht ein gutes Buch, damals 
aber gab es über dieſen Gegenſtand noch gar fein Buch weiter und auch jeht 
nod haben wir Feind, welches beffer oder auch nur jo gut wäre Wir bes 
trachten es als autbentifch, wahrheitögetreu und ziemlich genau; obſchon 
mager und troden, ift es Doch verftändlich und vernünftig und lieft fih im 
franzöftlihen Original ganz leidlich. Wir fönnen fagen, daß es bis zu den 
gegenwärtigen Tagen alled Bedeutende umfaßt, was bis jegt über den des⸗ 
potijchen Doctor befannt iſt. Hierzu fommt noch feine unbeftreitbare Kürze 
oder die Thatſache, daß es um einige Stunden jähneller gelefen werden kann, 
al8 irgend ein anderer Dr. Francia. Dies find feine Vorzüge, — bedeu⸗ 
tente Vorzüge, obſchon gänzlich von vergleichungsweiier Art. 

Und doch ift Kürze die Seele des Witzes! Es liegt ein unendliches 
Verdienſt darin, daß der Menfch wife, wann er aufhören jol. Der dümmfte 
Menſch kann, wenn er fi verhältnigmäßig kurz ausdrückt, mit Recht ver⸗ 
langen, daß wir ihn anhören. Auch er, der duͤmmſte Menſch, Hat etwas 
gefehen, etwas gehört, was fein Eigenthum, deutlich von allem anderen 





15 


unteriheidbar ift und noch von keinem Menfchen in dieſer Welt vorher ge⸗ 
feben oder gehört worden. Died möge er und fagen und womöglich nichts 
weiter als dieſes; fobald er nur angemeſſen kurz iſt, foll er und willkom⸗ 
men fein. 

Die Herren Robertfon mit ihrer „ Schredienäregierung Francia's“ und 
anderen Büchern über Südamerika haben fidh in ter Icgten Zeit der Welt 
fehr befannt gemacht und die Pflicht des Referenten verlangt, ein Wort über 
fie zu fagen. 

Die Herren Robertfon waren vor einigen dreißig oder fünfunddreißig 
Jahren zwei junge Schotten aus der Gegend von Edinburg, die unter gün« 
ſtigen Auſpicien nach Buenos Ayres und von da nad Paraguay und andes 
ren Gegenden jenes fernen Gontinentd reiften, um Handelsverbindungen 
anzufnüpfen. Da fle junge Leute von lebhaften offenen Sinn waren, fo 
betrachteten fte dieſe convulfiviich bewegten Megionen der Welt mit aufmerf« 
famen Blick. Es war Flar, daß die Revolution bier nicht wenig tobte, aber 
auch, daß Eoftbare Metalle, Büfſelhäute, Chinarinde und viele andere Ar⸗ 
tifel nicht8 defto weniger vorhanden und eilerne oder meffingene Werkzeuge, 
Bierathen, baummollene und wollene ®ewebe und antere britifche Babrif« 
erzeugnifje von der Menichheit begehrt wurden. 

Die Brüder Robertſon fcheinen demzufolge ausgedehnte und immer 
blühendere Geſchäfte gemacht zu haben, welche fie allmälig den La Plata 
hinauf bis zur Stadt der fleben Ströme — der fogenannten Corrientes — 
und höher bis nad Aſſumpeion, der Metropole von Paraguay, erftredten. 
An dieſem legtern Orte wurden die Handeldverbintungen jo zahlreich und 
einträglich, daß es endlich räthlich erjchten, einen der glücklichen Brüder oder 
auch alle beide ihren dauernden Wohnflg bier nehmen zu laſſen. Dem- 
gemäß ließen fie fi Hier nieder und vermweilten abwechielnd bald in Diefer 
Stadt, bald in denen des La Plata, Parana⸗, oder Paraguay⸗Landes eine 
ziemliche Meihe von Jahren. Die Zahl diefer Jahre genau zu berechnen tft 
nach tiefen unaudiprechlid verworrenen Documenten nicht möglid. Im 
Parayıray ſelbſt, in der Stadt Affumpeion ſelbſt, Ichten die Brüder Robert⸗ 
fon nad) einander oder auch gleichzeitig eine gewifle Anzahl von Jahren in 
hin⸗ und herſchwankender unentwirrbarer Weije und jahen dann und warn 
Dr. Francia mit ihren eigenen Augen, obfchon er ihnen oder Andern damals 
noch nicht auffällig geworden war. 

Gebirge von Büffel- und anteren Häuten verließen dieje Länder für 


16 





Rechnung der Gebrüder Robertfon, um in Europa ald gegerbte Stiefel und 
Dferbegeichire mit mehr oder weniger Zufriedenheit und, wie wir hoffen { 
wollen, nicht ohne anftändigen Gewinn für die Kaufleute abgenugt u 
werten. | | 

Ungefähr um die Zeit, wo Pr. Francia's Schredendregierung begann, | 
oder auch vielleicht etwas eher — denn diefe unentwirrbaren Documente ente | 
bebren aller Zeitangaben — waren die Herren Robertfon jo glücklich, fid | 
von Paraguay zu verabichieden und ihre Handeldunternehmungen in andere . 2 
Gegenden diefeß ungeheuren Eontinentd zu verlegen, wo die Regierung feine | 
Schredenöregierung war. Ihre Reifen, ihr Kommen und Gehen fcheint ein 
außgedehntes, häufige und ungemein verwickeltes geweſen zu fein — nad | 
Europa, nach Tucuman, nad Glasgow, na Eile, nad) Laswade und jonft i 
wohin. &8 genüge und zu wiflen, daß die Herren Mobertion in eigener 
Perſon und auf immer teit einigen Jahren in ihr Vaterland zurüdgefehrt - 
find. Mit weldem Nettogewinn an baarem Gelde, wird in dieſen Docu⸗ 
menten nur matt angedeutet, ganz gewiß aber mit vielen Erfahrungen, wäre | 
nur auch die Mittbeilung derjelben verhältnigmäpig kurz geweien. | 

Unftreitig batten die Herren Robertfon etwas zu erzählen; ihre Augen 
hatten einige nene Dinge gejeben, welcde jich ihren Herzen und ihrem Ver⸗ 
ſtaͤndniß mehr oder weniger eingeprägt hatten. Unter dieſen Umſtänden be⸗ 
fchloffen tie Herren Hobertion, ein Buch herauszugeben. Nachdem bie 
nöthigen Arrangements getroffen worden, erſchienen 1839 zwei Bände 
„Briefe über Paraguay“, die von der Welt gebührend bewillfommnet 
wurden. 

Wir haben diefe Briefe fürzlih zum erflen Dale geleien. Sie geben 
ein Buch von etirad wäfleriger Art und unermeßlich dünner, als man hätte 
wünschen können, übrigens aber nicht ohne Verdienſt. Es ift in einem une 
gezwungenen, fließenden, Eunfllofen und in Bezug auf Sprache, Gedanken 
und Auffafjung jehr incorreetem Style gefchrieben ; athmet einen heiteren, 
eupeptiichen,, jocialen Geiſt, wie er fih von unternehmungslnftigen,, ge= 
Thäftsfuntigen, füdamerifanifhen Briten erwarten läßt, zeigt hier und ba 
einen fihtbaren concreten Zug und ein lebendiged Bild aus jenen entfernten 
fonnverbrannten Zändern, und es weht darin eine Art muthwilliger Humor 
oder Quaſihumor, eine Iovialität und Bejundheit des Herzens, welche für 
den Lefer in gewiffem Grabe ſehr angenehm ift. 5 

Ein ſolches Buch ift in der gegenwärtigen langweiligen Zeit nicht zu 


gi — uam 
ni Dim 


—— — 28— 


) 








17 


verachten, denn ed gehört zu jener umfangreichen Klaffe von Büchern, welche 
der Lejer, fo zu fagen, „mit einem Auge zu und dem andern nicht offen ® 
durchlaufen kann, was für gewifle Leſer ein großer Luxusgenuß if. 

Da diefe Briefe über Paraguay einen, wie e8 ſcheint, einflimmigen 
Beifall fanden, fo beichlofien nun die Herren Nobertfon einen dritten Band 
folgen zu laffen und diefen „Dr. Francia's Schreckensregierung“ zu betiteln. 
Sie thaten es und der Meferent hat diefen Band ebenfalls gelefen. Unglück⸗ 
licherweife wußten die Verfaſſer über Dr. Francia gar nichts, oder fo viel 
wie nichts mehr zu jagen, und unter biefen Umftänden muß man gefleben, 
dag fie in ihrem Buche alles Mögliche geleiftet haben. Man nehme einen 
Eubifzoll gute caftilifche Seife und ſchlage fie in Wafler zu Schaum, bis 
diefelbe ein Eimerfaß füllt — dies ift die Aufgabe, und ed gehört ſchan 
ziemliches Geſchick dazu, dieſe Aufgabe zu löſen. 

Die Herren Robertfon haben demzufolge aus Rengger und Longchamp 
alles Bedeutendere ausgehoben, einige nicht jchr bedeutende eigene Reminis— 
cenzen binzugethan, und dies ift der Cubikzoll Seife. Diefe jchlagen fie in 
Mobertfon'idrer Gefhwägigfeit, Iovialität, Gafthofögeplauder, Leitartikels 
pbilofophie oder anderen mwäflerigen Subftanzen, bis der Schaum das Eimer⸗ 
faß, den Band von vierhundert Seiten, füllt, und fagen: „Da!“ 

Das Publikum warf, wie es ſcheint, felhft dieſes Schaumfabrifat den 
Verkäufern nicht ind Geſicht, fondern kaufte e8 für ein volles Faß und fchon 
fehen wir die Bolgen davon: Abermald drei Bände über Südamerika von 
denſelben fleißigen Herren Robertfon! Auch diefe bat Referent in feinem 
Eifer gelefen, muß aber leider geftehen, daß fie weiter nichts find, als die 
alten Bände in neuen Bocabeln unter einer neuen Geftalt, und es würde 
eben feine große Kunft dazu gehören, Das, was wir von diefen drei Bänden 
nicht ſchon wußten, auf einen einzigen Bogen zu Bringen! Und doc flehen 
fie da, drei maſſive Bände, über taufend gebrucdte Seiten, abermals drei 
Gimerfäfler voll Schaum von dem alten Eubifzoll caftiliiher Seife! Das 
ift zu toll. Ein armer verjchmigter Irländer verfauft einen elenden Schims 
mel, ftiehlt ihn während der Nacht, ftreicht ihn ſchwarz an und verkauft ihn 
am andern Morgen noch einmal. Diejer wird vor Gericht geftellt, aufß 
fhärffte inquirirt, und fann von Glück fagen, wenn er wegen ſeiner Geſchick⸗ 
Tigfeit im Umgang mit Pferdefleiih nicht gehängt wird; gegen dieſe ver- 
wandte Büchermadjerei eriftirt aber noch fein Geſetz. 

Herr de la Condamine war vor ungefähr hundert Jahren Mitglied 

Garlyle. IV. 2 


18 


einer weltberühmten Geſellſchaft, welche jene Aequinoctialländer bereifte, 
und feiftete in einem Zeitraum ven neun oder zehn Jahren wahrhaft Er⸗ 
ftaunliches. Don Quito bis Euenca maß er Grade ded Meridians, erflet- 
terte Berge, ftellte Beobachtungen an und befand Abenteuer, während wilde 
Creolen dem menſchlichen Wiſſen fpanifche Unwiflenheit entgegenfegten und 
wilde Indianer dann und wann in dem Derzen ferner Wüſten Die ganze La⸗ 
dung von Inftrumenten binwarfen und den Gehorfam auffündigten. Herr 
de Ia Eondamine jah in Cuenca Stiergefechte, die fünf Tage nach einander 
dauerten, und am fünften Tage ward fein unglüdlidher, nur allzufühner 
Ehirurg während eines Bolldauflaufs ermordet. Er befuhr in indiſchen 
Ganoed den Amazonenflrom feiner ganzen Länge nach, über ſchmale Strom« 
fhnellen, über unendlihe Schlammfluthen, währenn ringsum die faulende 
Vegetation Peſtdüfte hauchte, und machte trogdem und ungeachtet aller Ge⸗ 
fahren und Abenteuer aſtronomiſche Beobachtungen und willenichaftliche 
Notizen! 

Ganz abgefehen von feinen Meridiangraden, welche in firengem Sinne 
der Weltgefchichte und Dem Bortjchritte der gelammten ſündhaften Nacpfont« 
menjchaft Adams angehören, fah und befand diefer Mann und feine Geſell⸗ 
fhaft Hundertmal mehr romantifche Abenteuer ald tie Herren Robertion. 
Madame Godin's Fahrt den Amazonenftrom herab und furditbarer Aufente 
halt in den Heulenden Waldlabyrinthen und unter den Leichnamen ihrer 
todten Breunde, ift an und für fidh ein weit größeres Abenteuer, als je in 
der Robertion’schen Welt eins geträumt ward. Und über alles dies erftattet 
Herr de la Condamine Faren, zujammenhängenden, bündigen und glaub- 
haften Bericht in einem ſehr Fleinen Octaubande, nicht ganz dem achten 
Theile von dem, was die Herren Robertſon fhon in nicht flarer oder zuſam⸗ 
menhängender, oder bündiger und glaubhafter Weije gefchricben haben. 
Und die Herren Robertfon ſprechen in ihren legten Bänden wiederholt da⸗ 
von, daß fle noch andere Bände über Chile jchreiben wollen, „wenn das 
Publikum fie dadurch ermuthigt.“ Das Publikum müßte aber ein unges 
heurer Narr fein, wenn es das thäte. Das Publikum muß vor allen Din 
gen die Bedingung flellen, daß die wirkliche neu zu Tage fommende Kennt⸗ 
niß über Chile von der jchon befannten Kenntniß oder Unwiffenheit getrennt 
werde, dag man mit aller Strenge die Präliminarfrage ftelle: Sind mehrere 
Bände der Raum, der fie faffen foll, oder ein Eleiner Bruchteil von einem 
einzigen Bande? 


19 


Im Grunde genommen ift ſolche Bücherfabrikation eine wirkliche 
Sünde, guter Leier, obſchon keine Parlamentsakte dagegen befleht — eine 
unzweifelhafte Miſſethat oder ein Verbrechen. Kein GSterblicher bat das 
Hecht, feine Zunge und noch viel weniger jeine Feder zu bewegen, ohne 
etwad zu fagen; er weiß nicht, welches unberechenbare Unheil er anrichtet, 
wenn er finnlofe Worte ausſtreut! Der weiche, dünne Flaum ber Diftel 
fliegt auf allen Winden und Lüften umber; nutzloſe Difteln, nuglofer Loö⸗ 
wenzahn und andere nutloje Produkte der Natur oder des menſchlichen 
Geiſtes verbreiten fi auf dDiefe Weile und würden endlich die ganze Ober⸗ 
fläche der Erde bededen, wenn nicht die entrüftete VBorfehung des Menichen 
allherbftlich mit Stahl und Feuer intervenirte. Es iſt furchtbar, wenn man 
bedenft, wie jedes nuglofe Buch umberfliegt gleich einem nutzloſen kleinen 
Daunenbärtchen, den Embryo neuer Millionen. Jedes Wort iſt ein poten⸗ 
zirtes Saamenforn unendlicher neuer Daunenbärte und Bücher, denn ber 
Beift des Menſchen ift ebenfo fruchtbar ald gefräßig. Das Autorenforps 
in Großbritannien, welches jammt und jonderd, wenn ed nur jonft an⸗ 
ginge, recht wohl geneigt wäre, nichtd ald Löwenzahn zu produgiren, if 
wie man berechnet hat, jest ungefähr zchntaufend Dann flark, und das 
Korps der Leſer, melde blos leſen, um ſich felbft zu entfliehen, ein Auge 
zumaden und das andere nicht öffnen und fi mit faft jeder Diftel oder ſonſt 
etwas begnügen, was fie lefen fönnen, ohne beide Augen zu öffnen, beläuft 
fih jo ziemlich auf ſiebenundzwanzig Millionen ! 

D, fünnten die Herren Robertjon, dieſe lebhaften artifulirt ſprechen⸗ 
den Männer nur einmal recht erfahren, in weld einer vergleichungsweis 
glücklichen Laune man den Eurzen, verftändlichen, bündigen de la Condamine 
zumadıt und fühlt, daß man den Abend gut und ſchön, gleichjam in einem 
Zempel der Weisheit zugebracht hat, — nicht ſchlecht und ſchmachvoll in 
einer geräufchvollen Kneipe mit Narren und Schreiern, — ad, in dieſem 
Balle würden die Herren Robertſon ihr neues Werf über Chile vielleicht nur 
al8 einen ganz ganz fleinen Band ericheinen laffen! 

Doch genug von diefer Robertſon'ſchen Angelegenheit, bie wir den 
Schickſalsgöttern und der Vorſehung anheimftellen müflen. Dieje lebhaften, 
unartifulirt fprechenden Robertjond find noch fange nicht die ſchlimmſten 
ihrer Art, ja, fle gehören fogar, wenn man will, zu den beflen und find 
blos in der Beziehung unglücklich, daß fie dem herbftlichen Stahl und Feuer 
in den Weg kommen! Wan höre auf, zornige Beuerfunfen auf fle herab⸗ 

2% 


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zegnen zu laflen —- genug nun, und mehr ald genug. Dieſes unglüdliche 
Gebrechen unferer Literatur durch philofophifche Kritit zu heilen, if ja 
ohnedies ein eitler Berfuch. Wer wird auf einer eiligen Neife, wenn der 
Tag fich neigt, adfleigen, um mit der Reitpeitſche auf Musquitoihwärme 
loszugehen? Dan gebe dem Roſſe tie Sporen und fprenge — vielleicht mit 
einem frommen Stoßgebet gen Himmel — raſch hindurch. Mit der Reit- 
peitfche kann man fie nicht vernichten. Man trodne die Sümpfe aus, in 
weldhen fie audgebrütet werden. Ad Eönnteft du dazu etwas beitragen! 
Und was wird mittlerweile aus unferm Doctor Yrancia ? 

Die Materialien find, wie unfer 2efer flieht, von der erbärmlichften 
Art, mit Ausnahme ded armen bölzernen Rengger ein bebeutungslofer 
Miſchmaſch und weiter nichts; nicht Thatſachen, fondern zerrifiene Schatten 
son Thatſachen, während die Robertions durch fortwährende conftitutionelle 
Phraſen und Verwünſchungen des „blutdürftigen Tyrannen * dad Ganze 
nod mehr verwirren. Wie foll man aus folden Materialien ein Bild von 
Francia zufammenftellen? Sicherlid vor allen Dingen dadurch, daß man die 
conftitutionellen Declamationen und Verwünfchungen wegläßt. Francia, ber 
blutdürflige Tyrann, war nicht verbunden, die Welt durch Rengger's Augen, 
durch Robertſon's Augen, fondern treulich durch feine eigenen Augen zu be= 
trachten. Wir müſſen erwägen, daß aller menſchlichen Wahrfcheinlichkeit 
nad diefer Dionyflus von Paraguay etwas beabfihtigte und dann ganz 
rubig fragen: Was beabfichtigte er? Iſt einmal alles überflüjfige Gefchrei 
und Gefhwäg zum Schweigen gebracht, fo wird fich vielleicht Vieles beffer 
überfchauen laſſen und Fleine, oft unbedeutend fcheinende Notizen verbreiten 
dann oft ein ganz unerwartetes Licht. 


Ein ungebildeter Viehzüchter und Aderömann in irgend einer namen⸗ 
loſen Chacra, nicht weit von der Stadt Aſſumpcion, war der Vater dieſes 
merfwürbigen menjchlichen Individuums und ſcheint e8 ungefähr um daß 
Jahr 1757 ind Leben gerufen zu haben. Der Name dieſes Mannes ift und 
nicht befannt, fogar die Nation, der er angehörte, iſt ein flreitiger Punkt. 
Francia feldft gab ihn für einen Emigranten von franzöfticher Herkunft aus, 
man glaubte jedoch allgemein, er fei von Braftlien eingewandert. 

Doch mochte er nun PBortugiefe fein oder Branzofe, oder beides in 


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einer Perfon, fo probueirte er dieſes menfchliche Individuum und ließ es in 
dem oben genannten Jahre auf den Namen Iofe Gaspar Rodriguez Francia 
taufen. Rodriguez hatte ohne Zweifel auch eine Mutter, aber auch ihr 
Name, der fich nirgends erwähnt findet, muß in der gegenwärtigen Schilde⸗ 
rung weggelafien werden. Ihr Name und all ihre mütterlihen Zaͤrtlich⸗ 
feiten, Arbeiten und Leiden find in ſtumme Vergefienheit hinabgeſunken und 
Viegen mit ihr unter dem fünfundzwanzigften Grade ſüdlicher Breite be⸗ 
graben. 

Fofe Modriguez ſcheint ein ſtilles, ſchweigſames und dabei heftigen 
Ausbrühen von Bosheit unterworfened Menſchenkind geweſen zu jein, fo daß 
Vater Francia nad) reiflicher Ueberlegung zu dem Schluffe kam, jein Sohn 
werde in einem Lande wie Paraguay feinen beffern Beruf wählen können 
als das Evangelium zu predigen und das Amt eines Prieſters zu befleiden. 

Es waren auch noch andere junge Francias da, wenigftend eine Schwe⸗ 
fter und noch ein Bruder, von welchen der legtere fpäter wahnftnnig ward. 
Die Branciad hatten bei ihrer heftigen Gemüthsart und ihrem hitzigen 
franzöftfch » portugieflfchen Blute vielleicht alle eine gewifie Anlage zum Ue⸗ 
berichnappen. Der Dictator felbft litt an den fürdterlichften Anfällen von 
Hypochondrie, wie das mit genialen Menfchen ja nur zu häufig der Fall ift! 
Der bagere Rodriguez fann dabei in der That einen gewiſſen Hang zur Fröm⸗ 
migfeit gehabt haben und ein halbes Iahrhundert früher geboren, wäre er 
vielleicht ganz gewiß ein frommer Menſch geworden. Doc ob nun fromm 
oder nicht, er joll nun einmal Priefter werben und in Paraguay vielleicht auf 
fehr unerwartete Weife fungiren. 

Nachdem Rodriguez in Aſſumpcion fein Abcbuch und bie übrigen 
Zweige des Elementarunterrichts ftudirt, ward er demgemäß auf die Univer⸗ 
fität Cordova in Tucuman gefhicdt, um in diefem Seminar feine Curſus 
durchzumachen. So weit wiſſen wir die Sache, aber faft nicht weiter. Don 
welcher Art dieſer Eurfus war, mit welchen Lectionen und geiftigem Brei 
der arme bagere, fahle Knabe auf dem hohen Seminar von Cordova voll⸗ 
geftopft ward, und wie ihm diefe Nahrung befam, darüber wiffen wir gar 
nichts. Die Schüler folder Seminarien werden in Bezug auf ihre geiftige 
Speiſe oft furchtbar gemißhandelt und oft geradezu mit Gift gefüttert, ale 
ob man die Abficht Hätte, fie zu Mithridateffen zu machen, die von Gift 
leben fönnen, was allerdings in feiner Art auch eine nügliche Kunft fein 
kann. 


Sa, wenn wir die Sache recht überlegen, fo beftehen Diele Hochſchulen 
und andere ähnliche Inflitute in Zucuman und anderwärts nicht um feneß 
hageren, blafien Knabens willen, fondern um ihrer felbft willen; denn fte 
find ſchon laͤngſt gefhaffen und zufammengefegt, ohme bie mindefte Rückſtcht 
auf den Heinen blafien Knaben zu nehmen. Häufig fcheinen fie zu ihm mit 
bürren Worten zu fagen: „Dieſes koſtbare Ding, welches in Dir liegt, o 
bleicher, fogenannt genialer. Knabe, kann für Dih und die ewige Natur 
koſtbar fein, für und aber und daß irdijche Tucuman iſt e8 nicht Eoftbar, ſon⸗ 
dern ſchädlich und tödtlih. Wir forbern Di daher auf, Dich davon los⸗ 
zufagen oder Di auf Strafe gefaßt zu machen. * 

Und dennoch, wie kann der arme Knabe fich davon loßfagen, wenn die 
ewige Natur felbft aus den Tiefen des Univerſums ihm befiehlt, babei zu 
beharren? Ad, der arme Knabe, der dem irdifchen Tucuman fo gern ge= 
horchen möchte und der ewigen Natur doch nicht ungehorjam werden kann, 
ift wahrhaft zu bemitleiden. „Du ſollſt Rodriguez Francia fein!” ruft die 
Natur und der arme Knabe bei ftch ſelbſt. „ Du follft Ignatius Loyola oder 
Pater Fettwanſto ſein!“ ruft Tucuman. Die ganze Jugend ded armen 
Knaben wird demzufolge ein einziger langer Proceg — Rodriguez Francia 
contra die ganze Welt. So ift e8 in Tucuman, fo iſt e8 an den meiften 
Drten diefer Art. Doch, dem fei wie ihm wolle, der hagere Brancia vers 
folgt feine Studien in Eordora weiter und reift allmälig neuen Geſchicken 
entgegen. Rodriguez Francia, der mit feinem Sefuitenfappden auf dem 
Kopfe und in feinem ſchwarzen wallenden Gewand, mit zu Boden geſenktem 
Blick und einer Menge unausfprechlicher Gedanken in feinem Innern dur‘ 
Die Straßen von Cordova wandelt, ift für ben ‚Hiftorifer ein intereflanter 
Gegenſtand. 

Es iſt ja ſo Vieles unausſprechlich, o Rodriguez, und es iſt eine ſelt⸗ 
ſame Welt, in welche Du gekommen biſt und das Syſtem des Ignatius 
Loyola und Pater Fettwanſto ſcheint mir etwas zu hinken! Vieles iſt un« 
ausſprechlich und liegt in der menſchlichen Seele gleich einem ſchwarzen See 
des Zweifels und acherontifcher Furcht, der sum Chaos felbft hinabführt. . 

„3a, Vieles ift unausſprechlich,“ antwortete Francia; „aber etwaß iſt 
auch ausſprechlich, z. B. daß ich unter diefen Umfländen in Tucuman kein 
Prieſter werde, daß ich lieber eine weltliche Perfon werden möchte und wenn 
ed ein Juriſt wäre. “ 

Francia fattelt daher an der Schwelle ded Mannedalterd wieder um 


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und gebt von der Theologie zur Jurisprudenz über. Manche jagen, er babe 
in der Theologie promovirt und den Doctorhut bekommen ; bie Robertiond 
dagegen, melde aber die Sache wahricheinlich nicht richtig aufgefaßt Haben, 
nennen ihn Doctor juris. Bür unfere Leſer iſt dies einerlei oder doch ziem⸗ 
Lich einerlei. Rodriguez verließ Die Alma Mater von Tucuman mit einem 
Anflug von Bart am Kinn und erfchten wieder in Affumpeion, um fly nad 
Praxis umzuſehen. 

Was hatte Rodriguez unter den Fittigen feiner Alma Mater in Gor- 
dova wohl gelernt, als er fie verließ? Die Antwort läßt ſich blos rarhen, 
denn fein Lebenslauf ift, wie wir bier wiederholt bemerken, nody nicht genau 
befannt. Etwas von Arithmetik oder den ewigen Gefegen der Zahlen, etwas 
von Geometrie oder den ewigen Oefegen der Formen — dieſe Dinge lernte 
Rodriguez wahrfcheinlih und fand fle außerordentfich merkwürdig. Es iſt 
and iondertar. Dieſe runde Kugel ift, wenn man fe in Diele runde Trom⸗ 
mel ftedt, fo daß fle Diefelbe an den Enten und in der Mitte ringsherum 
berührt, gerade ald ob man eine 2 in eine 3 fledte, nicht ein Jota mehr, 
nicht ein Iota weniger. Wundere Dich darüber, o Francia, denn es ift in 
der That eine Sache, die zum Nachdenken auffordert. Alte griechiſche Ar⸗ 
chimedeſſe, Pyrbagoraffe, gebräunte Indier, beinahe fo alt als die Berge, 
enttecten ſolche Dinge und fte find binübergefommen nah Paraguay bis in 
Dein Gehirn, Du glüdlicher Francia! 

Und wie kommt es, daß die Planeten des‘ allmächtigen Schöpfers in 
jenen bimmlifchen Räumen in Bahnen laufen, welche fih in Deinem arınen 
menſchlichen Kopfe als Kegelfchnitte denken Iaflen? In dem, was Du eine 
Eilipfe nennft, läßt der allmächtige Schöpfer jeine Planeten rollen. Ein 
flarer Beweis, den weder Loyola noch Bettwanfto widerlegen fünnen, daß 
auch Du ein Bürger dieſes Weltalls bift, daß auch Du auf irgend eine un« 
begreifliche Weiſe beim Rathe der Götter gegenwärtig warft. 

Bon diefen Dingen lernte Brancia in Tucuman ein wenig. Endloſe 
fhwere Wagenladungen jefuitiiher Theologie, mit denen er unaufhörlich 
überfchüttet ward, lernte er dagegen nicht, fondern ließ fie als Unrath unbe- 
achtet liegen, Außerdem ſcheint es, als habe er fich noch ein wenig mit 
menschlichen Vocabeln befannt gemacht — mit franzöflihen Vocabeln, dem 
leibliden Gewande der Encyclopedie und des Evangeliums nah Volney, 
Jean Jacques und Compagnie, fir Francia von unendlidher Bedeutung ! 

Ja, tft es nicht gewiſſermaßen ſchön, vie heilige Flamme menſchlicher 


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Wißdegier und Liebe zur Erkenntniß unter den feuchten jchläfrigen Dünften 
— wirflichen ſowohl als metaphoriſchen — in ben tropiſchen Biftmoräften 
und fetten lethiſche Betäubungen und Wirrnifien felbft in dem Herzen eine 
armen Creolen von Paraguay erwachen zu fehen? Cine heilige Flamme, 
noch nicht größer als die eined ‚Hellerlichtes, in wifjenichaftlicher Beziehung 
blos mit alten franzoͤſiſchen Schulbüchern und in politiicher und moralifcher 
blos von den Raynald und Moufleaus genährt — eine fchlecht genährte, 
fladernde, blaue, far gefpenftiiche Flamme, aber dennoch nöthig und felbft 
in tiefer Geftalt in gewiſſem Grade Heilig! Du ſollſt die Erfenntniß lieben; 
Du ſollſt zu erforfchen fuchen, was in diefem Weltall Gottes die Wahrheit 
ift; Du biſt verbunden und bevorrechtet, ſie zu lieben und fle zu fuchen, im 
jefuitifchen Tucuman fowobl, als an allen andern Orten, fo weit der Him⸗ 
mel reiht und ſogar Volneys zu Hülfe nehmen, wenn fi feine andere Hülfe 
darbietet ! 

Diefe armielige blaue, fo leicht auszulöfchende Flamme in Rodriguez 
Francia’8 Seele, die Hier gut oder übel und in vielen Geſtalten fein ganzes 
Leben hindurch brennt, iſt mir jehr merkwürdig. Obſchon nur ein kleines 
blaues Blämmchen muß es doch bedeutende Quantitäten giftigen Unraths 
von der Oberfläche Paraguay's hinwegbrennen und das undurdbringliche 
Dſchungl des Waldes troß aller jeiner Dornbüjche und Lianen ichwarz fengen 
und dabei andeuten, daß das genannte Dſchungl tem Tode und ter Vernich⸗ 
tung verfallen ift, peremtorijdher Vernichtung, daß die Sonne wieder auf 
Die ihr feit fo vielen Jahrhunderten tyranniſch entzogene Erde herabblicken 
fol. Muth, Rodriguez | 

Rodriguez witmer fi, gleichgültig gegen fo fernliegende Betrachtun« 
gen, mit gutem Erfolg der Jurifterei und allgemeinen Privatftudien in der 
Stadt Aflumpeion. Wir haben fletö gehört, er fei einer der beften Advo⸗ 
caten, vielleicht der allerbefte gewejen und — was nody mehr iſt — auch 
der geredhtefte, der jemals in dieſem Lande immatrikulirt worden. Dies 
gefteht jogar die Mobertion’iche „Schredensregierung * zu, ja fie verſichert 
es wiederholt und prägt e8 und ein. Er war ald junger Mann jo gerecht 
und wahr, berechtigte zu jo ſchönen Hoffnungen auf ein herrliches, edles 
Leben und ftrafte Dann in feinen reiferen Jahren als Died auf folche Weije 
Lügen! Es ift eine Schmach, wenn man es bedenkt. Ran hatte allen Örund 
zu glauben, er werde ein Freund ter Humanität vom reinften Wafler wer- 
den und zuletzt ward er, durch politiiche Erfolge und Liebe zur Gewalt ver« 


25 


härtet, ein raubgieriger Dänon oder einfamer Dieb in ber Nacht, der das 
Palladium der Conſtitution aus dem Parlamentshaufe ftahl und — über 
vierzig Perfonen Hinrihten ließ! Es if traurig, wenn man bebenft, was 
aus Menſchen und Freunden der Humanität zulegt werden kann. 

Uebrigend ift es weder nnd noch irgend einem andern Herausgeber, fo 
lange wir nicht eine Biographie aus Paraguay erhalten, auch nur im ente 
fernteften möglich, eine Schilderung von Francia's Eriftenz als Advocat in 
Affumpeion zu entwerfen. Der Schauplag ifl gar fo entfernt, die Berhält« 
niffe find gar jo unbefannt. 

Die Stadt Affumpeion, jet beinahe dreihundert Iahre alt, liegt frei 
und offen am linfen Ufer des Paranafluffes, umſchloſſen von Obſtwaͤldern 
und dichten ungeheuren Waldungen, welche auch zum Schuß gegen die In« 
dianer dienen. Man mag fih ihr auf irgend einer der verichiedenen Stra- 
Ben nähern, fo geſchieht es auf meilenlangen, einfamen fchattigen Alleen, 
welche dad grelle Sonnenlicht abhalten und wie mit einem ſchönen grünen 
Baldachin die lockere Sandftraße überwölben, wo zu Unfange des gegenwär⸗ 
tigen Jahrhunderts — ein näheres Datum ift in dieſen confujen Bänden 
nicht zu entdecken — Mr. Pariſh Robertſon einem einzigen, von einem net« 
ten braunen Mädchen in rothem Mieder, mit langem fchwarzen Haar, geführ« ' 
ten Karren und dann ſechs Wegftunden weit auch nicht einer einzigen menſch⸗ 
lien Seele weiter begegnete. 

Die Bewohner jenes fruchtbaren Himmelsftriches leben in ſorgloſem 
Ueberflug und befümmern fih um fehr wenig Dinge, verfertigen fo viel Höls 
zerne Karren, Thierfellbetten und Lehmhäufer als unumgänglich nothwendig 
find, importiren einige Schmudjäceldhen und taufchen fie gegen Paraguay 
three in zufammengenähten Ziegenfellen aus. Wenn Du, lieber Lefer, mit 
Pariſh Robertjon um drei Uhr Nachmittags Durch die Stadt Santa Fé rei« 
teft, fo findeft Du die geſammte Bevölkerung jo eben von ihrer Siefta aufs 
geftanten. Nachläſſig angekleidet und nur halb zugefnöpft figen diefe Leut⸗ 
hen in ihren nad der Straße hin geöffneten Verandas und eſſen mit wah⸗ 
ren Heißhunger eine zuderjüße Melone nah ter andern. Bei dem Schall 
ber Hufichläge Deines Mofled Hlicen fie gutmüthig auf. Dichtbelaubte 
Bäume verbreiten — Danf der Natur und der heiligen Jungfrau — Schat⸗ 
ten in der Straße. Sie heißen Dich willkommen und laden Dich zu ihren 
Tertulias, einer Art Abenpgefellichaften, ein, welche um fleben Uhr beginnen. 
Vorher geht die ganze Bevölkerung bunt durch einander in den Parana ba⸗ 


26 


den — bunt durch einander, fagen wir, aber in leinenen Badehemden, fo 
dag Du anftändig mit berumplätfchern kannſt, was in jenen Klimaten für 
das menſchliche Tabernakel keine Fleine Wohlthat ift. 

Bei der Tertulia find, wie man fagt, die andaluflichen noch in biefer 
zehnten oder zwölften Generation fhönen Augen ziemlich verführeriich und 
verrathen eine Seele, deren Ausbiltung wohl der Mühe verlohnen bürfte. 
Die ſchönen Halbwilden, die jetzt nur dann und warn ein irrer Blitz durch⸗ 
zuckt, fönnten auf immerbar erleuchtet werten. Wenn die Tertulia vorüber 
ift, Ichlafft Du auf einem Lager von Thierfellen, vielleiht audy hier und ba 
auf einer civiliftrten Matrage in einem Zimmer oder auf dem Dadhe. 

In ten feuchten flaben Begenten, wo es von Mosquitoé wimmelt, 
ſchlaͤfft Du auf Hohen Gerüften, die auf vier Stangen vierzig Fuß hoch über 
dem Boden ichweben und zu melden man auf Leitern binauffleigt — fo 
hoch, gefegnet fei die heilige Jungfrau! daR die furchtbar ſtechenden Mos⸗ 
quitoß nicht nachfolgen fünnen. Hier Tchläft abermals bunt durd einander 
Jeder in feinem Poncho oder Mantel, mit einem Sattel, einer hölzernen 
Kifte, einem Scheit Holz oder dergleichen unter dem Kopfe. Der Bettbims 
mel ift der ewig blaue Baldahin des Firmaments, flatt der Nachtlampe 
brennt ter Canopus in feinen unendlichen Raumen und die Mosquitos kön⸗ 
nen Dich nicht erreichen. Lind der rofenfingrige Morgen, der den Often mit 
plöglihem Roth und Gold und anderen Flammenzeichen des ſchnell vor⸗ 
rücenden Tages übergießt, laßt alle Träume entfliehen und die erfte horizon⸗ 
tale Kichtialve der Sonne feucht von allen lebenden Weſen den Schlaf bins 
weg und die Menjchen erwacen Hier in ten Pampas auf ihren vierzig Fuß 
hohen Schlafgerüflen und Fönnten den Tag mit Gebet beginnen, wenn fle 
fonft Luft Härten. Steht dort drüben am Horizonte nicht ein hellſtrahlen⸗ 
der Altar? Wölbt fi über ihnen nicht eine ungeheure Kathedrale? — 
Wie Du Di übrigens während ter Nadıt gegen die Bamphre vertheidigt 
haft, das wiffen wir nicht. 

Die Gauchos⸗Bevölkerung ift — Died muß man zugeben — zur con⸗ 
ftitutionellen Freiheit allerdings noch nicht reife Diele Menfchen find ein 
rohes Bolf und führen ein Ichläfriges Xeben der Bequemlichfeit und ſchmuti⸗ 
gen Veberfluffes, welches nur um einen Schatten beſſer ift, ald ein Hunde⸗ 
leben, das man befanntlih als ein Keben der Ruhe und Armuth definirt. 
Die Künfte und Handwerfe liegen noch in ihrer Kindheit, und die Tugen⸗ 
den ebenfulld. Was Kleitung, Betten, Haudgerätbfchaften und dergleichen 


27 


Betrifft, fo nehmen diefe einfachen Völkerfchaften ihre Zuflucht größtentheils 
"zu der Haut der Kuh ımd fertigen daraus das Meifte, was fie brauchen — 
Laffos, Bolas, Schifftaue, Einfaflung fir Wagenräder, Kamaſchen, Betten 
und Hausthüren. Kubfchädel vertreten bie Stelle von Stühlen und Bän- 
ten und als einer der Mobertfond den General Artigad ſprach, ſaß letzterer 
mit feinen Stabsoffizieren auf Kuhſchädeln, röftete Fleifchichnitte und dik⸗ 
tirte drei Secretairen auf einmal. Das Gerippe der Kuh wirb überdies 
auch als Heizungsmaterial und zum Kalfbrennen benugt. 

Bine Kunft fcheinen fte allerdings vervollfommnet zu haben, aber bloß 
eine, nämlich die Des Neitens. Aſtley's und Ducrom’s Cirkus muß ſich ver- 
ſtecken und aller Glanz von Newmarket und Epſom verfchwinder in nichts, 
wenn man die Reitfunft der Gauchos damit vergleiht. Wenn jemals wirks 
lich Centauren auf ter Erde gelebt haben, fo find Die Gauchos ihre Nade 
kommen. Sie fiten auf ihren Pferden als ob beide ein Fleiſch wären; ga— 
Ioppiren, wo faum eine Gemie fußen zu fünnen fcheint, fpringen mie Kan« 
guruhs und ſchwingen dabei ihre Laffod und Bolas. Sie Fünnen, wenn 
eine Kriegsliſt e8 erheifcht, fi unter den Bauch des Pferdes ducken und fi 
blos noch mit der großen Zehe und Ferſe anhalten. Man glaubt, e8 komme 
eine Heerde wilder Pferde herangelauft und plötzlich verwandeln fie ſich mit 
wildem Gefreifch in eine Schaar Centauren mit Pifen in den Händen. 9a, 
ſie befigen die Geſchicklichkeit, welche mehr als alled andere Alles, was New⸗ 
marfet leiftet, in den Schatten ftellt — die Kunſt namlich, auf Pferden zu 
reiten, die nicht gefüttert worden find und einen Pferde, welches eben fo 
wie der Reiter im Begriff ftand, vor Mattigfeit ten Geift aufzugeben, wie⸗ 
der neues Leben und neue Schnelligfeit einzubauchen. Mit Ducrow auf 
breit Pferden zu reiten, würden fle für eine geringe Leiftung achten; da⸗ 
gegen auf dem fchwindfüchtigen Brudtheil eines Pferdes zu reiten — das 
ift die wahre Kunſt! 

Ihre Hütten befigen Ueberfluß an Rindfleifh und Unratb und über« 
treffen an Schmuß die meiſten Orte, welche die menfchliche Natur irgendwo 
dewohnt bat. Die armen Gauchos! Sie trinken Paraguapthee, indem fle 
ihn der Reihe nad durd ein und dafjelbe Blechrohr aus einem einzigen ge= 
meinichaftlichen Kochtiegel ſaugen. Es find gaflfreie, ſchmutzige, hagere, 
Tügenbafte, lachende Burſchen von vortrefflidem Talent in ihrer Sphäre, 
Sie befigen Stoicismus, obichen fie von Zeno nichts wiffen, ja jogar Stot« 
ciemus in Verbindung mit Achter Heiterfeit des Herzens. Mitten in ihrem 


28 


Schmutz und Elend lachen und fcherzen fie laut, fpielen einfache, wehfla- 
gende Melodien auf einer Art Buitarre, rauchen unaufhörlich Tabaf und 
ergögen ſich an Spiel und ſpirituoſen Getränfen, der gewöhnlichen Zuflucht 
beißhungriger, leerer Seelen. Aus demielben Grunde und einem befieren 
ergögen fie ſich auch an Brohnleichnamsceremonien, Mefgefängen und andern 
gottesdienftlihen Verrichtungen. 

Diefe Menichen find fähig, zu eiwas dreffirt zu werden! Ihr Xeben 
ſteht da gleich .einer leeren geräumigen Flaſche, welche dem Himmel und der 
Erde und allen Dr. Francia's, welche vorüberfommen, zuruft: Giebt es 
denn gar nichts, was in und bineingefüllt werden fönnte, außer nomadis 
ſchem Müßiggang, jefuitifhem Aberglauben, Unrath, Qualm und trodenen 
Streifen zähen Rintfleifches? Ia, ihr unglüdlihen Gauchos, — ja, e8 giebt 
noch etwas, es giebt noch mehrere Dinge, die in euch Hineingethan werden 
könnten. Bor allen Dingen aber werdet ihr bemerken, daß erſt ſteben Teu⸗ 
fel aus euch heraudgetrieben werten müflen: Müßiggang, Rohheit, Gewif- 
fenlofigfeit, Aberglauben, Falſchheit — und wie die fleben Teufel ſaͤmmtlich 
heigen mögen. Und die Urt und Weile, auf welche etwas in euch hineinzu- 
bringen wäre, ift leider gegenwärtig noch nicht jo klar. Befteht fle viclleicht 
nidht leider in der Hauptſache darin, daß man euch vor allen Dingen mit 
guten Reitpeitſchen tractirt und ald Beginn aller Kultur erft jene fleben 
Teufel austreibt? 

Wie verbrachte Brancia feine Tage in einer ſolchen Region, wo die 
Philofophie, wie nur zu Flar ift, auf der tiefiten Stufe ſtand? Yrancia 
hatte, wie Quintus Pirlein, dauernde probebaltige Freuden, naͤmlich Be⸗ 
fhäftigungen. Es befaß eine audgebreitete Praris und fland im immer 
mebr zunehmenden Rufe eines in Führung von Prozeſſen nicht blos ges 
wandten, fondern auch zuverläffigen und redlichen Sachwalters. In fele 
nen Mußeſtunden hatte er jeine Volneys, Raynals und alte wiflenjchaftliche 
Abhandlungen in franzöfliher Sprache; er liebte die Natur zu befragen, 
wie man zu fagen pflegt, und trachtete nach dem Befige ron Theodoliten, 
Teleffopen und allen Arten von Gläjern oder Büchern, mit deren Külfe er 
einen Schimmer von Thatſachen in diefem ſeltſamen Univerfum erhaſchen 
fonnte — der arme Francia! 

Sa, man fagt, fein hartes Herz fei nicht ganz unentzündbar, jondern 
namentlich für jene in der zehnten oder zwölften Generation immer noch 
fhönen andalufifchen Augen empfänglich geweien. In dieſem alle mag es 


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wohl auch, follte man glauben, wie Anthracit und etwas heftig gebrannt 
haben. 8 werden in diefer Beziehung allerhand Dinge erzählt, die nicht 
fo ohne Weiteres als unglaubhaft zu verwerfen find. Schade, daß es nicht 
ein andalufliches Augenpaar gab, welches Tiefe und Seele genug befaß, um 
Dr. Brancia auf die Dauer zu fefleln und einen Hausvater aus ihm zu 
maden. Es wäre beſſer geweſen, aber es geihah nicht. Was jened nette 
braune Mädchen betrifft, welches zwanzig Jahre fpater auf den Straßen von 
Aſſumpcion Blumen verkaufte und ein lockeres Leben führte, jo ift ed wohl 
nie mit Gewißheit ermittelt worden, ob fie wirklich Dr. Francia's Tochter 
war und felbft wenn fie es geweſen wäre, fo läßt fich immer noch bezweifeln, 
06 er etwad Wichtiged für fie hätte thun können oder thun wollen. 

Francia ift ein etwas zurückhaltender, verfchloflener Mann, der felbft 
im Gewühl der Menſchen einſam bleibt. Sein Gefiht zeigt zumeilen ein 
Lächeln, doch hat dieſes in der Regel einen ernften, wehmüthigen Anflug. 
Er galt überall für einen Mann von der ftrengften Wahrhaftigkeit, Pünkt⸗ 
lichkeit, eiferner methodiicher Strenge und vor allen Dingen eiſerner Redt- 
lichkeit. Es gilt Schon für einen hohen Ruf, wenn einer ein gejchickter Ad⸗ 
bocat und ein glehrter Advocat ift, und nun denfe man ſich erft einen ehr⸗ 
lihen, rehtfhaffenen Advocaten! 

Die Robertſons erzählen, ehe ſie noch daran dachten, eine „Schreckens⸗ 
regierung Brancia’8* zu fchreiben, in dieſer Peziehung einen Vorfall, den 
wir al8 einen für Srancia fehr charakteriſtiſchen bier mittheilen: 

„Es iſt ſchon bemerkt worden, daß Francia's Muf ald Advocat nicht 
blos von den Vorwurfe der Beftechlichkeit rein war, fondern daß er ſich aud 
durch große Geratheit und Nechtfchaffenheit audzeichnete. 

„Er hatte in. Aſſumpcion einen Freund Namend Domingo Rodriguez. 
Diefer Mann hatte ein habgieriges Auge auf einen Naboth's Weinberg ge- 
worfen und dieſer Naboth, deflen offener Beind Francia war, hieß Eſtanislav 
Machain. Nicht zweifelnd, daß ter junge Doctor eben fo gut wie andere 
Advocaten feine ungerechte Sache übernehmen würde, trug ihn Rodriguez 
feinen Fall vor und verlangte feinen Rechtsbeiſtand, indem er ihm zugleich 
ein anftändige8 Draufgeld bot. Francia fah fofort, daß die Anſprüche ſei⸗ 
ned Freundes fih auf Trug und Ungerechtigkeit gründeten und er weigerte 
fih nicht blos, ihm als Anwalt zu dienen, fondern fagte ihm auch offen her⸗ 
aus, daß, jo fehr er auch feinen Gegner Machain haßte, diefer Doch feine 
eifrigfte Unterflügung genießen follte, wenn er, Rodriguez, bei feinem unge⸗ 


B 


rechten Prozeß beharrie. Die Habgier aber laßt fih, wie Abab's Geſchichte 
und ſchon zeigt, nidyt fo leicht von ihren Aniprüchen zurüdbringen und Res 
driguez bebarrte, trotz Francia's Warnung, auf jeinem Boriage. Da er in 
Bezug auf Vermögen ein mächtiger Mann war, fo fam natürlihd Machain 
mit feinem unglüdlichen Weinberge immer weiter ind Hintertreſſen. 


„Bei diefem Stande der Dinge hüllte fih Brancia eines Nachts in ſei⸗ 
nen Mantel und jchritt nach dem Haufe feines eingefleifchten Feindes Machain. 
Der Sklave, welcher die Thür öffnete und wußte, daß fein Herr und der 
Doctor, gleih den Bäufern Montechi und apuleti, ſich gegenteitig ein 
Dorn im Auge waren, verweigerte dem Advocaten den Einlaß und eilte, fei« 
nen Herrn von dieſem feliamen und unerwarteten Beſuch in Kenntniß zu 
jegen. Machain, der tarüber nicht weniger betroffen war als fein Sklave, 
zögerte eine Weile, beſchloß aber endlich, Francia vorzulaflen. Herein trat 
ber ſchweigende Doctor in Machain's Zimmer. Alle den Brozeß betreffende 
Papiere — und ed waren deren, wie man mir verfihert hat, nicht menig — 
lagen auf tem Bulte des Beklagten ausgebreitet. 


„„Machain,“ fagte der Advocat zu ihm, ‚Ihr wißt, daß id Euer Feind 
bin. Ich weiß aber, Daß mein Freund Nodriguez gegen Euch eine grobe, 
gefegwidrige Beraubung im Schilte führt, die er, wenn ih mid nidt in 
die Sache mifche, auch endlich Durdyfegen wirt. Deshalb bin ich gekommen, 
um Eud) meine Dienfte ald Vertheitiger anzubieten.‘ 


„Der erftaunte Machain traute kaum jeinen Einnen, machte aber dem 
aufwallenten Gefühl jeined Dankes in freudigen Worten Luft und erklärte 
fid) bereit, die Dargebotene Hülfe anzunehmen. 


„Das erfle escrito oder ˖ Actenſtück, welches Srancia an ven Juez de 
Alzada oder Richter des Uppellhofes einjendete, erfüllte nicht blo8 die At» 
vocaten Der Gegenpartei, jondern auch den Richter, der in ihrem Intereffe 
war, mit Beitürzung. ‚Mein Freund,“ jagte der Richter zu Rodriguez? Ad⸗ 
bocaten, ‚ih kann in dieſer Sache nicht weiter gehen, wenn Ihr nicht Dr. 
Francia's Schweigen erkauft. — ‚Ih will ed verfuchen,‘ entgegnete der 
Advocat, und begab fih mit Hundert Dublonen — ungefähr dreihuntert 
und fünfzig Guineen — zu Naboth's Anwalt und bot ihm dieſe Summe 
zum Geſchenk an, wenn er die Sache ihren ungerechten Gang gehen ließe. 
In der Meinung, daß e8 von weientlihem Gewicht fein würde, wenn er dar⸗ 
auf hindeutete, daß dieſes Geſchenk mit Zuftimmung des Richters geboten 


31 


würde, gab der fhurfilche Advocat dem rechtichaffenen zu verflehen, daß dies 
allerdings der Ball jei. 

„‚Salga Usted,‘ fagte Frantia, ‚con sus viles pensamientos y vilisimo 
oro de mi casa!‘ (Hinaus mit Euren jhänblihen Andeutungen und Eurem 
elenden Golde aus meinem Haufe!) 


„Daß feile Werkzeug bed ungeredten Richters entfernte ſich und der 
beleidigte Advocat warf fofort feinen Mantel um und begab fih in das Haus 
der Juez de Alzada. Nachdem er kurz erzählt, was zwijchen ihm und dem 
Abgeſandten des Richters vorgefallen, fuhr Francia fort: 

„Ihr feid eine Schmad für Tas Geſetz und ein Schandfleck für die 
Gerechtigkeit. Ueberdies feld Ihr vollftäntig in meiner Madıt und wenn 
ich nicht bi8 morgen eine Entfcheidung zu Gunften meines Glienten habe; fo 
will ih Eudy die Richterbanf fo heiß machen, daß Ihr nicht darauf fißen 
bleiben könnt und die Inflgnien Eures richterlicen Amtes follen die Ems 
bleme Eurer Schande werden.‘ 

„Am andern Morgen folgte in der That eine Enticheitung zu Ounften 
von Francia's Glienten. Naboth behielt feinen Meinberg, der Richter ver- 
Ior jeinen Ruf und der Ruhm des jungen Doctors verbreitete jich nah und 
fern. * 


Andererſeits wird aber auch zugegeben, daß er ſich Damals mit feinen 
Vater veruneinigte und wie man erzählt, nie wieder mit ihm ſprach. Der 
Grund des Streited war, wie man glaubt, eine gewiffe Oeldangelegenheit. 
Man beichuldigt Francia durchaus nicht Der Habſucht, ja ſogar Rengger 
ſpricht ihn ausdrüdlih von der Liebe zum Gelde frei. Aber er hafte die 
Ungeredtigfeit und war höchſt wahricheinlich nidyt abgeneigt, ſich ſelbſt chen 
fo gut ald Andern ein freies unparteiiſches Gebahren zu geftatten. 

Er ift ein ftreng rechtlicher Mann, welder will, daß man eine Darfe 
eine Harfe nenne, ein Mann, der e3 in der creolijchen Juridprudenz und 
den verborgenen franzöfifhen Wiffenichaften weit gebradıt hat, ein Mann 
von Talent, Energie und Treue, ein Mann, der aber unglüdlicherweije oft 
von Hypochondrie und jchwarzen Donnerwolfen heimgejucht wird, twelde 
wahrjcheinlid der Urjprung jener Blige find, wenn man in ihn hinein— 
ftachelt ! 

. Er führt ein einfames abgejchloffened Leben, befragt Die Natur durch 
Sternengläjer und zieht die Philofophie des Abbe Raynal zu Rathe, Der 


32 


ihm aber in dieſer Beziehung feine jehr ausführliche Antwort giebt. Seine 
Umgebung beſteht aus weiter nichtd ald aus Actenflüden, Advocatenrechnun« 
gen, amtlihen Berrihtungen, Ehre und Lob und der Bewunderung der 
Gauchos von Aſſumpcion. Selbſt der Lafſo eined ſchönen andaluflichen 
Augenpaares kann ihn nur vorübergehend feſſeln. Man ſollte glauben, ein 
ſolcher Mann ſei von der Natur nur karg bedacht worden und müſſe in ziem- 
lih verihrumpftem Zuflande enden. 

Hundert Jahre früher würde er mit jeinem fchwarzgalligen Ernfte und 
einem ſolchen ®lühofen von LKeidenichaften, Forſchungen und Unausſprech⸗ 
lichkeiten in feinem Tiefinnerften einen gang vortrefflichen, faft zur Canoni⸗ 
fation reifen Dominifanermönd, ja vielleicht einen vortrefflichen Jeluiten- 
general, Großinquiſitor oder dergleichen abgegeben haben, wenn er nach die 
fer Ridytung bin entwidelt worden wäre. 

Zu allem dieſen aber kommt er jegt einen Tag zu ſpät. Dergleichen 

verunglücte Dominifanermönche produciren jegt anftatt fronımer Verzückun⸗ 
gen und wunderbarer Sufpenflonen im Gebet — braune zufällige Kinder 
weiblichen Gefchlechts, welche in den Straßen von Affumprion in Dürftigfeit 
einberwanteln und Blumen verkaufen. 

Es ift wirklich eine fehr unfruchtbare Zeit geworden und was hat Die- 
fer Francia mit feinen verfchloffenen Unaugfpreclichfeiten, mit feinem feft 
unter Schloß und Riegel gehaltenen grimmigen Spleen zu erwarten? Einen 
Platz auf der Richterbank, in dem MunicipalsEabilto, ja er hat fhon einen 
Poſten in dem Cabilto; er ift Ihon Alcalde oder Kortmayor von Affump- 
cion gewefen und in einem vergoldeten Wagen gefahren, fo gut als ſie ihn 
hatten. Er fann, follte man meinen, wenig anderes erwarten, als guten, 
aber kahlen Verdienft an Geld und kahlen Gauchos⸗Ruhm; die Philoſophie 
des Abbe Raynal ift auch fehr kahl, Francia's ganze Lebensreiſe fcheint 
fahl werden zu follen und endet vielleicht mit — Nichte, denft Abbe 
Raynal. 

Aber nein, zu jener Zeit ging es anders in der Welt her. Weit drü⸗ 
ben über dem Waſſer haben Föderationen auf dem Marsfelde ſtattgefunden; 
man hat Guillotinen, tragbare Guillotinen gebaut und ein franzöftiches Volt 
bat fih gegen feine Tyrannen erhoben. Ein Sansculottismus ift entſtan⸗ 
den, der endlih in Geſchützſalven jpricht und auf dem halben Erdkreiſe 
Städte und Nationen in Trümmer fchlägt. Der glatte Bettwanfto Schlen- 
Driano, der in feinem mwohlgepoffterten Lehnſtuhle wie im Todtenfchlafe Tag 


33 


oder ſchlafwandelnd auf den Dächern umherſtolperte, fchien eine Stimme zu 
vernehmen, welche rief: „Wach auf, Schlendrians, ſchlaf nicht mehr! * 

Es war in der That eine furchtbare Erploflon, diefe Exploſton des 
Sansculottismus, die den Tartarus gegen den Olymp fprengte und durch 
ihr Setöfe fat Die Todten aufzumeden vermocht Hätte. Und aus biefer Ex⸗ 
ploflon waren Napoleonismen und Tamerlanismen hervorgegangen und 
dann, ald ein Zweig von diefen, „ Eonventionen von Arranjuez“, auf welche 
bald ſpaniſche Juntas, ſpaniſche Eorte u. dergl. felgten, bis endlih das 
arme alte Spanien felbft zu feinem eigenen großen Erſtaunen vollftändig 
erwachte. Auf das alte Spanien folgte ganz natürlich zunädhft Neufpanien, 
welches doppelt erftaunte, als es ſich auf einmal wach ſah! 

Und fo entfliehen aud in der neuen Hemiſphaͤre abenteuerliche Profecte 
und es wird zornig hin und her geflritten ; es bilden ſich bewaffnete Zuſam⸗ 
menrottungen auf der Infel Santa Marguertta mit Bolivars und Invaflonen 
son Cumana; Empörungen in La Plata, Empörungen da, Empörungen 
dort und das untertirdijche eleftriihe Element zittert und exrplodirt Schlag 
auf Schlag auch in der neuen Hemifphäre von Meer zu Meer. Ganz er- 
ftaunlihe Dinge gefihehen vom Jahre 1810 an. Hätte Rodriguez Franeia 
drei Obren, fo würde er hören; hätte er jo viel Augen wie Argus, fo 
würde er fchauen! Er ift ganz Auge, er iſt ganz Ohr. Für Dr. Rodriguez 
bildet ſich allmälig eine neue, ganz verfchiedene Geftaltung des Dafeins. 


Die Einwohner von Paraguay waren als ein wett im Binnenlande 
wohnendes und philofophifchen Spekulationen durchaus fremdes Volk keines⸗ 
wegs fo baftig hinter dem neuen republifanifchen Evangelium her, fondern 
warteten erit ab, wie Dajlelbe fich als Thatfache ausnchmen würde. Buenos 
Ayres, Tucuman, die meiften der La Plata- Provinzen, hatten ihre Revolu- 
tionen gemacht, die Herrſchaft der Breiheit eingeführt und unglücklicherweiſe 
die Herrſchaft des Geſetzes und der Ordnung ausgetrieben, ehe die Para⸗ 
guener fi zu einem folden Unternehmen entihließen Eonnten. 

Fürchten fle ſich vielleicht? General Belgrano kam gegen dad Ende 
1810 mit einer Streitmacht von taufend Mann von Buenos Apres entſen⸗ 
det, den Fluß herauf, um fle zu unterflügen, fließ aber an der Grenze auf 
bewaffneten Widerftand, ward während der Nacht angegriffen oder wenige 

Carlyle. IV. 3 


34 


ſtens erfchredt, fo daß alle feine Leute flohen. Am nachflen Morgen war 
daher der arme General Belgrano nicht blos außer Stande, Unterſtützung 
zu gewähren, fondern bedurfte felbft der Unterflügung und ward mit höf- 
licher Manier wieder den Fluß hinabgeſchickt. 

Erft ein Fahr nachher beichloffen die Paraguener aus freiwilligem An« 
triebe die Bahn der Freiheit ebenfalls einzufchlagen, eine Art Congreß zu 
verfammeln und die alte Regierung ihrer Wege gehen zu beißen. Francia 
war, wie man boraußjegen Fann, thätig, um das Volk nicht blos aufzuregen, 
fondern auch gleichzeitig zu zügeln; die Frucht war jetzt fo zu fagen reif 
und fiel bein leifeften Schütteln. Unſer alter Eönigliher Gouverneur, der 
würdige Mann, trat mit einer Eleinen Grimaſſe auf die Seite, ala ihm be⸗ 
fohlen ward, dies zu thun, der Nationalcongreß conftituirte fi, die Secre⸗ 
taire laſen Schriften vor, die hauptſächlich aus Rollin's Geſchichte des Alter» 
thums zufammengeftoppelt waren und wir wurden eine Republif, mit Don 
Fulgencio Degrod, einem der reichten Gauchos und dem beften Reiter der 
Provinz, als Präfidenten und zwei Affefforen, auch Vocales genannt, deren 
Namen und entfallen find. Brancia als Secretair war natürlid) der Con⸗ 
fonant oder die bewegende Seele der Combination. 

Dies gefchah, fo weit wir dad Datum zu ermitteln im Stande find, im 
Sabre 1811. Nachdem der Eongreß von Paraguay diefe Eonftitution fer« 
tig gemacht, ging er wieder nach Haufe zu feinen Feldarbeiten und boffte 
auf einen guten Ausgang. | 

Ein mattered Licht Dämmerte wohl kaum für den Geſchichtsforſcher ala 
das, welche8 durch Mengger, Nobertfond und Compagnie über die Geburt, 
die Wiege, die Taufe und die erften Schidlfale der neuen Republik Baraguay 
verbreitet wird. Zange, unflare und an und für ſich ganz leere Seiten ihres 
Buches hindurch Liegt der Gegenftand von grauem Nebel umhüllt unerkenns 
bar und geftaltloß. 

Srancia war Secretair und eine Republik fand allerdings flatt. Dies 
iſt die eine kleine hellbrennende Thatſache, die in der allgemeinen Finfternig 
eine erfreuliche Sichtbarkeit und Begreiflichkeit verbreitet und fie in eine 
Dämmerung verwandelt, in deren Mitte dieſes eine faktiſche Hellerlicht 
brennt. So viel willen wir und, und heiter in die Nothwendigfeit fügend, 
beichließen wir, daß Died und duch genügen foll. 

Was kann ed auch weiter geben? Abgeichmadte, fchläfrige Menichen, 
bie durch die untertrdifche Erfhütterung der bürgerlihen und religiöfen 


35 


Breiheit, die fidy in der ganzen Welt fühlbar macht, endlich aus dem Schlafe 
erwacht find und ſich nun verjammeln, um ein republifaniich freies Staats⸗ 
leben zu begründen und ihre amtlichen Papiere aus Rollin zufammenftop- 
peln, find nicht ein Gegenfland, in Bezug auf welden der Hiftorifhe Sinn 
erleuchtet werben Fann. Der hiflorifhe Sinn vergißt, Gott fel Dank, foldye 
Menſchen und ihre Schriften eben jo ichnell, ald man fie nennen kann. 

Ueberdies find dieſe Gauchos⸗Bevölkerungen habgierig, abergläubijch, 
eitel und, wie Miers in jeiner Eile fagt, lügenhaft durch und durch. Inner» 
bald der Grenzen von Paraguay kennen wir mit Gewißheit nur einen Mann, 
ber aus Ueberzeugung wahr und recht handeln würde, nur einen Mann, ber 
in feinem Herzen begreift, daß diefed Univerjum eine ewige Thatfache und 
nicht eine ungeheure vergängliche Zudermelone ift. 

Solche Menihen können feine Geſchichte haben und wenn ein Thuch- 
dides fie ſchreiben wollte. Kür und reiche e8 hin, zuwiflen, daß Don Soundfo 
ein alberner, blo8 feinen VBergnügungen nachgehender Dummkopf und Don 
Wiederanderd einer defjelben gleichen war; daß eine Menge Mißgriffe und 
Dummpeiten begangen wurden ; daß dann linzufriedenheit, Murren, Intri« 
guen und Kabalen flattfanden, bis das Gouvernementshaus, erbärmlicher 
als ta die Sejuiten es hatten, ein peftilenzialiicher flinfender Pfuhl ward, 
bis Secretair Francia fühlte, daß er nicht länger der Conſonant folder Vo⸗ 
cale jein Fönnte, bis Secretair Francia eined Tags jeine Papiere hinwarf, 
auf feine Füße fprang, mit oratoriſcher Lebhaftigfeit feine hagere rechte Hand 
ausſtreckte und mit gerungelter Stirn in leijem, ſchnellem Tone fagte: „Adieu, 
Senhores; Gott erhalte Sie noch viele Jahre!“ 

Francia zog ſich in feine chacra, ein hübſches Landhaus in den nicht 
weit entfernten Wäldern von Mapua, zurüd, um bier die Natur zu befra- 
gen und ſich jelbft zu leben. Pariſh Robertfon logirte um diefe Zeit — es 
war, foviel wir erratben können, im Jahre 1812 — bei einer gewifjen alten 
Donna Juana in derjelben Gegend, gab Tertulias von ganz unbefchreiblicher 
Pracht und ging bes Abends oft auf die Jagd. An einem biejer — doch 
wir wollen ihn ſelbſt erzählen laſſen. 

„An einem diefer Lieblichen Abende in Paraguay, nachdem der Sid- 
weihwind die Luft ſowohl gereinigt als abgefühlt hatte, ward ich beim Ver- 
folgen meined Wildes in ein friedliches Thal nicht weit von Donna Juana's 
Wohnung verlodt. Diefes Thal zeichnete fih dadurch aus, daß hier alle 
hernorftechende Naturſchönheiten diefes Landes gleihfam en miniature und 

3 * 


36 


durch einander verſchmolzen anzutreffen waren. Plötzlich erblickte ich ein 
nette®, anfpruch8lojes Landhaus. Ein Rebhuhn flog auf; ich ſchoß und der 
Vogel fürzte. Eine Stimme hinter mir rief: Buen tiro — gut gefgoflen ! 
Ich drebte mich herum und erblidte einen Herm von ungefähr fünfzig Jah⸗ 
rem, ſchwarz gefleidet, mit einem großen, über die Schultern geworfenen 
Scharladmantel. In der einen Hand hielt er eine Mate-Tafle und in 
der andern eine Gigarre, während ein Fleiner Negerbube mit verfihränften 
Armen daneben fland. Das Gefiht des Fremden war dunkel und feine 
fhwarzen Augen jehr durchbohrend, während fein kohlſchwarzes, von der 
fühnen freien Stirn zurüdgefänmmte® und in natürlichen Loden über feine 
Schultern herabhängendes Haar ihm ein würdevolles und impofanted An⸗ 
jehen gab. Auf feinen Schuhen trug er eben fo wie an den Knieen feiner 
kurzen Beinfleider große goldene Schnallen. 

„Der in diefem Lande herrſchenden patriarhalifhen und einfachen 
Gaſtfreundſchaft zufolge ward ich eingeladen, unter dem Eorridor Plag zu 
nehmen, eine Girgarre zu rauen und Mate (Paraguaythee) zu trinken. 
“ Unter dem Eleinen Portico bemerkte ich eine Himmelskugel, einen Theodoli« 
ten und ein großes Teleffop und kam jofort zu dem Schluſſe, daß mein 
freundlicher Wirth Niemand anders jei, ald Dr. Krancia. * 

Ja, bier wird zum erften Male in der authentifchen Gefchichte aus 
einem merkwürdigen Hörenſagen ein merfwürdiged ſichtbares Bild; durch 
ein Baar klarer menſchlicher Augen flieht man die leibhafte Geftalt des Man⸗ 
ned von Angeficht zu Angeſicht. Iſt dies nicht in der That der genaue Be⸗ 
richt diefer Elaren Robertfon’ihen Augen und fteben Sinne, gleih an Ort 
und Stelle und nicht fpäter in das Buch des Gedächtnifſes eingetragen? 
Mir wollen ed hoffen; wer könnte e8 nicht Hoffen? Die Geftalt des Man« 
nes ift auf alle Bälle genau. Bolgendes ift ein Bild feiner Bibliothek; — 
bie Konverfation, wenn wirklich eine dergleichen flattfand, war im höchſten 
Grade unbedeutend und kann entweder weggelaffen oder nach Belieben fup- 
plirt werben. 

‚ „Er führte mid in feine Bibliothek, ein ziemlich Kleines Zimmer mit 
einem ſehr jchmalen Fenſter, welches überdies durch das Dach des Corridors 
fo beſchattet ward, daß nur eben das zum Lefen nnumgänglich nothwendige 
Licht Hereinficl. Die Bibliothek feldft fand auf einem dreifachen, ſich quer 
durch; das Zimmer einziehenden Regal und zählte vielleicht dreihundert 
Bande. Es befanden fich darunter viele umfangreiche Bände über Juris⸗ 


37 


prudenz, einige über die inductiven Wiſſenſchaften, einige in franzöfticher 
und einige in Iateinifcher Sprache, über allgemeine Literatur nebſt Euclid's 
Elementen und einigen Schularbeiten über Algebra. Auf einem großen 
Tiſche Tagen Stöße von Acten und anderen gerichtlichen Documenten, Ginige 
in Pergament gebundene Foliobaͤnde lagen aufgefchlagen daneben ; ein bren⸗ 
nendes Licht — welches jedoch hier blos die Beflimmung Hatte, zum Anzün⸗ 
ben ber Gigarren zu dienen — balf das Zimmer mit erleuchten, während 
eine Mete-Taffe und ein Schreibzeug, beides von Silber, auf einem andern 
Theile des Tiiches landen. Auf dem von Badfteinen zufammengejegten 
Fußboden war weder Teppih noch Dede zu fehen und die Stühle waren 
von jo plumper, altuäterifcher Form, daß eine bedeutende Anſtrengung dazu 
gehörte, um fie von einem Plage auf den andern zu rücken.“ 

Die verichtedenen Formen von Dummheit und habgieriger Unehrlich« 
feit nahmen in dem Megierungdweien von Aſſumpcion ihren gewöhnlichen 
Verlauf, bis fle fo zu ſagen den hoͤchſten Brad erreichten und gleich anderen 
Eiterbeulen und Tranfhaften Abionderungen in dem lebenden Syſtem aufs 
plagten und ſich felbft befeitigten. Den Augen Paraguay's im Allgemeinen 
war e8 klar geworden, daß eine foldhe Herrichaft der Breiheit unerträglich, 
daß eine neue Revolution oder ein Wechfel des Miniferiumd unumgänglich 
nothwendig ſei. 

Rengger fagt, Francia habe ſich mehr als einmal auf feine chacra zus 
rückgezogen und zwar auß Xerger über feine Gollegen, die ihn dann durch 
unbegrenzte Berfpredhungen und Beiheuerungen allemal wieder zurüdioden 
mußten und ihn aufd Neue ärgerten. Francia iſt der Conſonant diefer ab» 
geichmadten „ Bocale”, ohne Francia kann kein Geſchaͤft abgemacht werden ! 
Und die Finanzen find zerrüttet und infolvent und das unbezahlte, unwirk⸗ 
ſame Milltair kann nicht einmal die Indianer abwehren und es kommen Un⸗ 
ruhen und neue Kriegsgerühte von Buenos Ayres herüber; — ach, aus 
welchem Winkel des großen Continents fäme etwas Anderes als Unruhe und 
Kriegägerücht! 

Patriotiſche Generale verwandeln fich in verrätherifche Generale, were 
den auf Marktplägen erſchoſſen und eine Revolution folgt auf die andere. 
Artigas Hat dicht an unferen Grenzen begonnen, die Banda Oriental mit 
Feuer und Schwert zu verheeren und auf Kubfchädeln figend Depefchen zu 
diktiren. Gleich Schaaren von Wölfen — nur viel graufamer, weil fie bes 
ritten und mit Pilen bewaffnet find — fallen die Indianer über uns ber 


‘ 


38 


und verbreiten Feuersbrunſt und Entfegen. Paraguay muß eine Regierung 
haben oder es wird aus mit Paraguay. Die Augen von ganz Paraguay 
wenden fi auf den einzigen Mann von Talent, den man hat, den einzigen 
Mann von Wahrhaftigkeit, den man hat. 

Im Sabre 1813 wird ein zweiter Congreß zufammengebraht. Wir 
glauben, Brancia gab der Regierungs- Eiterbeule, als fie ihn zum legten 
Male zurüdlodte, den Rath, fih nun vollftändig aufzulöfen und einen neuen 
Congreß zufammentreten zu lafien. In dem neuen Congreß werden bie 
„DVocale* dur Abſtimmung befeitigt; Francia und Bulgencio werben mit 
einander zu Confuln ernannt, nämlih Francia zum Conſul und Don Ful⸗ 
gencio Degros zum Mantel des Confuld. Don Fulgencio reitet in pracht⸗ 
ooller Schärpe und goldenen Epauletten umher, denn er ifl ein reicher 
Mann und fühner Nopbäntiger und taugt recht wohl zum Mantel des Con« 
ſuls, — aber wozu braudt der wirflihe Conſul eigentli einen Mantel? 

Nächſtes Jahr auf dem dritten Gongrefle wird Francia „durch liſtiges 
Manövriren“ durch „ Gunſt des Militairs*, aber au, und zwar wahrfchein« 
lih hauptſächlich, dem ganz natürlichen Verlauf der Dinge nad, zum Dic⸗ 
tator „auf drei Jahre * oder auf Lebenszeit — was in foldhen Fällen ganz 
daffelbe ift — ermwählt. 

Dies geſchah 1814. Francia berief feinen Congreß wieder, nachdem 
er nun das conftitutionelle Palladium glücklich geftoblen und feinen Willen 
durchgeſetzt. Wer hätte auch ein ſolches Schidfal eines Congreſſes bedauern 
können, welcher Conftitutionen aus Rollin zufanımenftoppelte? Diefer Con⸗ 
greß hätte wieder zufammenfommen ſollen! Es war in der That, fagen 
Rengger und die Robertiong felbft, ein Kongreß, wie ihn die Welt noch nie 
geiehen, ein Congreß, der nicht rechts von links zu unterfcheiden wußte, in 
den Wirthshäuſern unendlihe Duantitäten Rum vertilgte und nur einen 
Wunſch hatte, nämlich fi wieder aufs Pferd zu fhwingen, nad Haufe zu 
reiten und wieder der Nebhühnerjagd obliegen zu Fünnen. Das Militair 
ftand größtentheild auf der Seite Francia's, denn er — der Dieb des con⸗ 
ftitutionellen Palladiums — Hatte e8 für fi zu gewinnen gemußt. 

Mit Francia's Negierungsantritt als Conjul und noch mehr ald Dic« 
tator zeigte fidh, wie ſelbſt Rengger zugiebt, fofort überall eine bedeutende 
Verbeſſerung. Die Steuern und Abgaben wurden regelmäßig erhoben und 
zwecimäßig verwendet ; jeder Beamtete in Paraguay mußte fih zufamnıen« 
taffen und anfangen, feine Arbeit wirklich zu verrichten, anftatt blos fo zu 


39 


thun. Francia ſah darauf, daß die Soldaten richtig beſoldet und exercirt 
wurden, und ließ fie mit ſcharfer Munition und ebenſo ſcharfer Inſtruction 
überall hin marſchiren, wo die Indianer oder andere Feinde ſich zeigten. 
Guardias oder Wachthaͤuſer wurden in kurzen Entfernungen längs des 
Fluſſes und rings um die gefährlichen Grenzen errichtet. Sobald der Cen⸗ 
taurenfchwarm der Indianer fich blicken ließ, ward ein Lärmichuß gelöft und 
die raſch fl verfammelnden Soldaten trieben die hungrigen Wölfe zurüd, 
welche fih in das Innere ihrer Wüften flüchteten und bald ganz vers 
ſchwanden. 

Das Land hatte Frieden. Weder Artigas, noch irgend einer der Feuer⸗ 
brände und Kriegsplagen, welche Südamerika von einer Küſte zur andern 
verheerten, konnte über dieſe Grenze gelangen. Alle Unterhandlung und 
jeder Verkehr mit Buenos Ayres oder irgend einem dieſer von Krieg zerriſ⸗ 
ſenen Länder ward peremtoriſch unterſagt. Weder dem Congrefſe von Lima, 
noch dem Generalcongreß von Panama, oder irgend einem allgemeinen oder 
befondern Congreß zollte Francia durch Deputarion oder Botſchaft aud nur 
die geringfle Anerkennung. 

Währent ganz Südamerika tobte und rafte gleich einem einzigen uns 
gebeuern tollgewordenen Hundeflall, haben wir hier in Paraguay Frieden 
und pflanzen unfere Theebäume — warum follen wir nicht hübſch für und 
bleiben? Allmälig ward, nachdem eins zum andern gefommen und dieſer 
Ring von Grenzwachthaͤuſern ſchon errichtet war, eine ſtrenge Sanitätdlinie, 
undurchdringlich wie Erz, um ganz Paraguay gezogen und feine Communi⸗ 
cation oder Ein- und Ausfuhrhandel anders geflattet, als gegen die befon- 
tere Erlaubniß des Dictators, die gegen Erlegung der feftgefegten Gebühr und 
wenn der politifche Horizont unſchaͤdlich zu fein ſchien, ertheilt, außerdem aber 
verweigert ward. Die Handelälicenzen des Dictatord waren ein bebeutenter 
Zweig feiner Einkünfte; feine — wie die Herren NRobertfon glauben — für 
den fremden Kaufmann etwas drüdenden Eingangezölle ein zweiter. Para⸗ 
guay fland iſolirt; Der tollgewordene Hundeſtall tobte und rafte ringe herum, 
aber aller Zugang war verſchloſſen und verriegelt. 

Dies waren fräftige Maßregeln, in welche fi die ſchlaäͤfrige Gauchos⸗ 
Bevölkerung allmälig finden mußte. Mittlerweile ſcheint ed, als ob felbft 
nad der immerwährenden Dictatur und ungefähr bis zum fünften oder 
fechften Jahre von Francia's Negierung, obſchon das conftitutionelle Pallas 
dium geftohlen war, durchaus fein beionderer Grund zu Klagen ſich heraus⸗ 





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geſtellt haste. Paraguay hatte Frieden ; faß unter feinem Theebaume usb 
ber tollgewordene Hunteftall konnte ihm ebenfo wenig anhaben als Indianer, 
Artiguener und andere Kriegöfeuerbrände, 

In diefem Jahre 1819 aber, dem zweiten Jahre ber immerwaͤhrenden 
Dictatur, ergaben fi, wiewohl nicht zum erfben Male, unklare Andeutungen 
von „ Complotten“, ſogar gefährlichen Eomplotten! In diefem Jahre ward 
ber Beuerbrand Artigad vollfländig erftidt und ſah fi genöthigt, fogar 
Francia, feinen Beind, um ein Aſol zu bitten, welches ihm gaflfrei, obſchon 
mit Verachtung gewährt warb. 

Unmittelbar darauf rüdte nun aus Artigas' verlorenem und verheer- 
ben Lande ein gewifler Beneral Hamirez, fein Nebenbuhler und Befleger 
und Mitbandit und Zeuerbrand, heran. Diefer General Ramirez marſchirte 
bis dicht an die Grenze, erbot ſich erfi zu einem Bündnis und erflärte, als 
dieſes abgelehnt ward, den Krieg. Auf dieſe letztere Erklärung hin warb 
er angegriffen, in Stüden gehauen und — ein Brief bei ihm gefunden. 
Diejer Brief war an Don Fulgencio Degros, den reihen Gauchos und Er- 
conſul gerichtet, und als Dr. Yrancia ihn las, wäre ihm fein jonft fo ſtarker 
und müchterner Verſtand beinahe ftehen geblieben! Eine Verſchwörung mit 
Don Bulgencio an der Spige — eine Verſchwörung, welche ſich immer wei⸗ 
ter außzubreiten fheint, je näher man ihr nachforſcht! Die ſchon feit zwei 
Jahren im Stillen betrieben wird und nun am nächſten Charfreitage zum 
Ausbrud kommen und mit der Ermordung Dr. Francia's und Aller, die ſich 
ihr widerfegen, beginnen fol! 

Brancia war nicht der Mann, der in Bezug auf Complotte mit fich 
fpielen ließ! Er ichauete, lauerte und forſchte, bis er Umfang, Lage, Be 
fhaffenheit und Bau dieſes Complottes vollftändig vor Augen hatte und 
Bann — nun dann ſchoß er wie ein Falke oder vielmehr wie ein Condor 
plöglih aus der unficdhtbaren Bläue herab, parte e8 mit Schnabel und 
Klauen, zerriß es in kleine Keygen und fraß es auf der Stelle. So madıt es 
Srancia! Dies war das lebte, obſchon nicht das erfie Complott, von wel⸗ 
chem Francia je während feiner lebenslaͤnglichen Dictatur hörte. 

Diefe zwei ober drei Jahre, während welcher das Complott Bulgencio 
feinem Schickſale entgegenging,, find der Zeitraum, über welchen die eigent- 
liche „ Schredienäregierung* jich erfiredt. Während dieſer firengen fchlim- 
men Zeit war e8, wo Francia über vierzig Perſonen binrichten Tief. Die 
Sache ift durchaus nicht unerflärlih! „Par Dios, Ihr follt Euch nicht gegen 


4 


mich verichwören ; ich will e8 nicht haben! Die Uera der Freiheit — mögen 
alle Menichen und Gauchos es fi gelagt fein lafien — hat in diefem Lande 
noch nicht begonnen, denn ich bin jet noch befchäftigt, die fieben Teufel aus⸗ 
zutreiben. Mein Vertrag mit Paraguay, der mir mehr Mühe und Arbeit 
macht, ala Ihr in Eurer Dummpeit ahnt, lautet auf Lebendzeit und wenn 
man mir ihn nimmt, jo muß ich flerben. Trachtet daher nicht nach meinem 
Leben, Ihr conftitutionellen Gauchos, oder laßt ed wenigſtens durch einen 
Hügeren Mann gefcheben, als tiefen Don Zulgencio, den Roßbändiger. 
Beim Himmel, wenn Ihr nad meinem Leben tradhtet, fo werdet Ihr wohl 
thun, auch das Eure in Acht zu nehmen. * 

Er ließ über vierzig Perionen Hinrichten und außerdem noch jo und fo 
viele einferfern, auspeitichen und ind Verhör nehmen, denn er ift ein un« 
esbittliher Mann! Wenn du jehuldig oder der Schuld verbädtig biſt, jo 
geht ed dir Hier ſchlimm. Francia's DVerhaftöbefehl wird dir von’ einem 
Grenabier überbracdt ; du figefl im Gefängniß; du bift in Francia's perſön⸗ 
licher Gegenwart ; die durchbohrenden Dominikaneraugen, dieſer Dämontjche 
Scharffinn wühlt in deinem Innern, bi das Geheimniß heraus if und 
dann einer Schildwache die drei verbängnißvollen Patronen überreicht 
werden. 

Nachdem die Complotte in Folge diejer Radikalkur aufyehört hatten, 
zeigte fich, wie es jcheint, während der näditen zwanzig Jahre von einer ſol⸗ 
hen Kur wenig oder nichts mehr, und zwar, weil fie wenig oder nicht mehr 
nöthig war. Die „Schredensregierung * war, wie man nun allmälig fin« 
bet, eigentlich nur eine firenge Regierung, die freilich jchredlicy genug were 
den fonnte, wenn man ihre Befege übertrat, übrigens aber ganz friedlich 
und regelmäßig war. Dies möge man bei dem Geſchrei, welches darüber 
erhoben worden, nicht vergeflen. 

In demjelben Jahre — 1820, fo viel wir ermitteln können — geſchah 
es, wie Nengger und erzäblt, daß eine Heufchredenplage, wie fidh zuweilen 
ereignet, die ganze Ernte von Paraguay vernidtete und feine andere Aus⸗ 
fiht als auf allgemeine Theurung oder Hungersnoth vorhanden zu fein 
bien. Die Ernten find dahin, von Srujchreden verzehrt, ver Sommer zu 
Ente! Wir haben feinen auswärtigen Handel oder fo gut wie feinen, und 
haben fait niemals einen gehabt; was joll nun aus Paraguay und feinen 
Gauchos werden? Die Gauchos wiſſen werer Rath noch Hülfe, weiß fie der 
Dionyſius der Gauchos? Dictator Francia befichlt, dur die verborgenen 


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franzöftichen Wiffenfchaften und feinen natürlichen Scharffinn veranlaßt, ja 
von der Nothwendigfeit felbft getrieben, den Barmern in ganz Paraguay, 
einen gewifien Theil ihrer Belder nochmals zu beisen, mit oter ohne Hoff- 
nung, — bei ſchwerer Strafe! Die Folge davon war eine ganz leidlich 
gute Ernte und die Entdedung, daß in Paraguay jedes Jahr zwei Ernten 
möglid waren, und daß der Aderbau, wenn ein kräftiger Dictator ihn lei⸗ 
tete, noch unendlich verbeſſert werden Eonnte. 

Da Paraguay gegen viertaniend Duadratmeilen größtentheild ſehr 
fruchtbaren Boden hat und auf jede Quadratmeile ungefähr fünfzig Seelen 
kommen, fo fchien e8 dem Dictator, als fei nicht ter auswärtige Handel, 
fondern vielmehr der Aderbau für feine Barayuener das Beſte. Demgemäß 
war bei den damaligen Ausfichten am politifhen Horizont der Aderbau und 
nicht der auswärtige Handel das Spftem, weldes der Dietator einzuführen 
beſchloß und auf welchem er mit aller Strenge beharrte. Die Vortheile da⸗ 
von zeigten ſich ſehr bald, fagt Rengger. 

In Folge aller dieſer Umſtände und Vorkommnifſe, der Complotte im 
Innern, der Anfechtungen von Außen, der Heuſchreckenſchwaͤrme, Fortſchritte 
der Landwirthſchaft und jener laͤngs der Grenze errichteten Wahthäufer — 
ward Paraguay immer hermetifcher verfchloffen und Francia beherrſchte es, 
fo lange er lebte, als ein firenger Dionyflus von Paraguay ohne allen Ver⸗ 
fehr mit dem Auslande, oder bloß fo viel, ald Francia guttünfte. 

Wie der Dietator nun tm fihern Beſitz dieſes ungeheuern Paraguay, 
welches durch feltfame „ binterliftige* und andere Mittel fein lebenslaͤngliches 
Pachteigenthum geworden, bewirthſchaftete, wäre intereffant zu wiflen. Was 
beabfichtigte er wohl eigentlich, und welche Erfolge errang er? Man wünſcht 
eine Biographie Francia's von einem Eingeborenen, und io lange wir bieje 
nicht haben, müſſen wir und mit mangelhaften VBermuthungen und Aufs 
ſchlüſſen begnügen. 

Großen Genuß und Freude fheint Dictator Francia von feinem ſchwe⸗ 
ren Amte nicht gehabt zu haben, denn dad, was er genoß — fpartaniiche 
Küche, einfache Wohnung, Einſamkeit, zwei Cigarren und eine Tafje Mate 
täglich — Hatte er ſchon vorher. Uebrigens ift Dad Austreiben der ficben 
Teufel aus einer Gauchos⸗Bevölkerung durdaus nichts Erheiternded und 
madıt dem Erorciften cbenfo wie dem Erorcirten viel zu jchaffen. Indeffen 
zeigt fih, Daß Doch Kortichritte geſchahen, denn Feine wirflide Arbeit, nicht 
einmal tie eines Dr. Francia, ift vergebens. 


43 


Von Francia's Verbeſſerungen Täßt fich ebenfo viel fprechen, ala von 
feinen Graufamfeiten oder Härten, denn im Grunde genommen flanden bie 
einen im VBerhältniß zu den andern. Er verbefierte den Aderbau und ließ 
zwei Ernten da entftehen, wo früher nur eine gewachſen war; er errichtete 
Schulen, Penftonsihulen, Elementarſchulen und andere, weldhen Rengger 
ein Kapitel widmet; überall beförderte er Bildung und Erziehung und 
unterdrüdte den Aberglauben fo gut er konnte. Die firengfle Gerechtigkeit 
ward in feinen Gerichtshöfen gehandhabt und er felbft nahm nie ein Ge⸗ 
ſchenk an, auch nicht die mindefte Kleinigkeit. ALS Rengger feine Sachen 
zuiammenpadte, Tieß er mit Fleiß ein Bildniß Napoleon's in Francia's 
Händen zurüd. In Europa war das Blatt etwa einige Schillinge werth, 
in Paraguay dagegen, wo Francia, der diefen Helden fehr bewunderte, bis 
jest, außer einer Nürnberger Karrifatur, Fein Portrait von ihm geliehen 
hatte, war fein Werth unſchaͤtzbar. Francia ſchickte Rengger einen exrpreffen 
Boten nach und ließ ihn fragen, was dad Bild koſte. GA koſtete nichts, 
Mengger war fein Bilderhänkler; es fland feiner Ercellenz umfonft zu 
Dienften. Seine Excellenz ſchickte «8 fofort zurüd. 

Unterſchleife, Müſſtggang und Nadhläifigfeit wurden bald in allen 
Öffentlichen Aenıtern von Paraguay etwas Unerhörtes. Soviel auf Brancia 
ankam, war feinem öffentlidien und feinem ‘Privatmann in Paraguay ger 
flartet, fein Werk drüber hin zu verrichten und alle mußten, fo viel an 
Francia lag, ihren Poften richtig ausfüllen oder fterben! Man Fönnte ihn 
als den gebornen Feind aller Charlatane defintren, als einen Menden, ber 
von Natur einen tief geivurzelten Haß gegen alles Unwahre hegt, mag er es 
fehen, wo er will. Bor Menfchen, welche nicht die Wahrheit Tprechen und 
nicht die Wahrheit thun, beſitzt er eine Art teufliich«göttliher Ungeduld und 
fie werden wohlthun, wenn fie auß feiner Gegenwart verfchwinden. 

Der arme Francia; fein Licht war nur ein fehr fehwefeliged, mageres 
und blaubrennendes, aber er beftrahlte Paraguay damit fo gut er fonnte. 

Daß er fich während diefer Zeit am Leben erhalten mußte und von 
Niemantem Witerfpruch duldete, fondern allen dergleichen fofort unterdrücdkte, 
— auch dies braudt und nicht erft ein Geift zu fagen, denn es lag in der 
Natur der Sabe. Sein Pachtkontrakt über Paraguay war ein lebenslaͤng⸗ 
Tier. Er hatte feine drei ſcharfen Patronen für Jeden bereit, der ihm nad 
dem Leben trachtete. Er hatte furchtbare Gefängnifle. Er hatte Tevego weit 
draußen in den wilten Einöten, eine Art Paraguay Sibirien, wohin un« 


44 


ruhige Individuen, die noch nicht zum Erſchießen reif waren, verbannt wur⸗ 
den. Die Mehrzahl ter Verbannten, jagt Rengger, beſtand aus verſoffenen 
Mulatten und der Klaffe, welche man unglüdliche Brauenzimmer nennt. Sie 
führten dort ein elendes Leben und wurden eine traurigere und vielleicht 
klügere Geſellſchaft von Mulatten und unglüdlichen Srauenzimmern. 

Doch hören wir einen Augenblid den hochwürdigen Manuel Perez, 
der am 20. October 1840 in der Kirche zur Empfangniß in Aſſumpcion 
feine Zeichenrede halt. Wir wählen einige Stellen aus derſelben aus und 
geſtehen, daß man, wenn man diefer Rede Blauben fhhenfen darf — und 
ed ſcheint fein Grund vorhanden zu fein, Die darin gemachten Angaben zu 
bezweifeln — zu dem Schluffe kommt, es fei all jene verworrene Litanei 
über Schredendregierung u. dergl. von etwad langohriger Beicaffenheit ges 
weien. 

„Unter den ®räueln der Revolution, * fagt der hochwürdige Manuel, 
„erwedte ber Herr, der erbarmungsvoll auf Paraguay herabblidte, Don 
Sofe Gaspar Francia zu feiner Befreiung. Und ald nach den Worten meie 
nes Terted die Kinder Ifrael zu tem Herrn riefen, erweckte ber Herr ben 
Kindern Iſrael einen Befreier, der fle befreiete. 

„Welche Maßregeln ordnete feine Ercellenz an, welchen Arbeiten unter» 
zog er fih, um den Frieden im Innern der Republik zu bewahren und ihr 
- eine adtnnggebietende Stellung nah Außen zu verichaffen! Seine erſte 
Sorge war darauf gerichtet, einen hinreichenden Vorrath an Waffen zu er⸗ 
balten und Soldaten zu fchulen. Allen, welche Waffen einführten, bewil⸗ 
ligte er Steuerfreiheit und die Erlaubniß, dagegen irgend beliebige Produkte 
auszuführen. Auf dieſe Weile ward ein binreichender Vorrath von vor» 
trefflihen Waffen erlangt. Ich erflaune, wenn ich bedenke, wie dieſer große 
Mann einer folchen Menge von Dingen feine Aufmerkjamfeit widmen Eonnte, 
Er legte fih auf das Studium der Kriegskunſt und lehrte ſchon nach kurzer 
Zeit das Erercitium und leitete militairiſche Evolutionen wie der erfabrenfte 
Beteran. Oft habe ich feine Excellenz zu einem Rekruten bingehen und 
ihm zeigen ſehen, wie man nach der Scheibe zielen muß. Konnte ein Para- 
guener e8 für anders als ehrenwerth halten, eine Muskete zu tragen, wenn 
fein Dictator ihn Iehrte, wie diefelbe zu handhaben ſei? Auch das Savalerie- 
erercitium, obſchon ed einen nicht bloß im Reiten erfahrenen, fondern auch 
flarfen Mann zu verlangen fcheint, leitete feine Excellenz, wie Ihr wißt, 
ſelbſt. An der Spige feiner Schwabronen mandvrirte er, als ob er dabei 


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anfgewadgfen wäre und commandirte fle mit einer Energie und Kraft, welche 
diefen Truppen feinen eigenen martialiſchen Geift einflößte. * 

„Welche Uebel hat nicht das Volk von Straßenräubern zu erbulden! ® 
fagt der ehrwürdige Herr ein wenig weiter bin, „Gemaltthätigkett, Plün« 
derung, Word find die Verbrechen, die diefen Uebelthätern etwad ganz Ge⸗ 
wöhnliches find. Die unzugänglicden Berge und unermeßlichen Wüften dies 
fer Republik fchienen ſolchen Menſchen Strafloſigkeit zu bieten. Unſerm 
Dictator gelang e8, ihnen ſolchen Schreden einzufagen, daß fle gänzlich ver⸗ 
fhwanden und ihr Heil in Aenderung ihrer Lebensweiſe fuchten. Seine 
&rcellenz ſah, daß die Art und Weiſe, die Strafe zu vollziehen wirffamer 
war, als die Strafe felbft und nach diefem Princiv handelte er. Sobald ein 
Raͤuber ergriffen ward, führte man ihm nad der nächften Guardia; bier 
fand ein ſummariſches Verhör flatt, und fobald er übermiefen war oder bes 
Tannt batte, ward er erſchoſſen. Diele Mittel erwieſen ſich als durchgreifend. 
Es dauerte nicht lange, fo herrichte in der Republik ſolche Sicherheit, daß 
ein Kind von dem Uruguay bid nad dem Parana hätte reifen können, ohne 
andern Schup als die Furcht, welche der Dietator einzuflößen verftand. 

„Aber was ift Alles dies im Vergleich mit dem Dämon der Anarchie? 
D, meine Freunde, ich wollte, id befäße das Talent, Euch das Elend eines 
Volkes zu Schildern, mweldes der Anarchie anheimfällt! Und fland unfere 
Republik nicht amı äußerften Rande dieſes Zuftandes? Ja, meine Brüder, 
fo war es. Es war Pflicht des Dictators, raſch zu fein und den Beind in 
ber Wiege zu erwürgen! Er that ed. Er nahm die Anführer feſt, flellte 
fie vor ein fummarifches Gericht und ſie wurden des Hochverrath8 gegen das 
Baterland überwiefen. Welch ein Kampf aber fland ihm noch zwiſchen dem 
Gebot der Pflicht und der Stimme des Gefühls bevor! Ich bin überzeugt, 
wäre die Gefangenhaltung dieſer Perfonen für den Frieden des Staates 
hinreichend gemefen, fo Hätte feine Ercellenz ihre Hinrichtung niemals ans 
befohlen. Scheint e8 nicht eine Entweihung der heiligen Stätte, an welcher 
ich jet ftebe, wenn ich auf diefe Weife blutige Maßregeln guiheiße, die mit 
der Milde des Evangeliums in Widerſpruch ſtehen? Nein, Brüder, Gott 
ſelbſt Hilligte Die Handlungsweiſe Salomo's, als diejer Joab und Adonijah 
dem Tode überantwortete. Das Leben ift Heilig, aber es giebt noch etwaß 
Heiligeres und wehe dem, der dieß nicht weiß! * 

Ah, hochwürdiger Herr, es ift Paraguay alfo noch nicht gelungen, die 
Todesſtrafe aufzuheben? Freilich ift es auch jelbft der Natur noch nicht ges 


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lungen, eine folde Aenderung zu bewirken. Handle nur mit dem gehörigen 
Stade von Verfehrtheit und du kannſt darauf rechnen, auf gemaltfame 
Weiſe dem Tode überantwortet zu werden, im Hofpital oder auf der Heer⸗ 
frage, — durch Verdauungsbeſchwerden, Delirium tremens, oder durch die 
entzündete Wuth Deiner Mitmenihen! Was kann der Breund der Huma⸗ 
nität thun? — In Exeter⸗Hall oder anderwärts ſchwatzen, bis es und lang⸗ 
weilig wird und vielleicht noch jchlimmer! Ein Advocat in Arras verzich⸗ 
tete einft auf eine jehr gute Gerichtöftelle und 309 ſich ins beichränfte Privat- 
leben zurüd, weil es feinem Gefühle widerftrebte, auch nur einen einzigen 
Verbrecher zum Tode durch dad Befeg zu verbanımen. Der Name diefes 
Advocaten — man merke wohl! — war Warimilian NRobespierre. Es 
giebt ſüße Arten von Geſchwätz, in welchen gleichwohl ein tödtliches heftiges 
Gift verborgen ſteckt, gleich der Süßigkeit des Bleizuckers. Wäre es nicht 
beffer, gerechte Geſetze zu machen, meint ihr, und fie dann auch fireng 
auszuführen, — wie die Götter noch thun? 

„Der Dictator richtete feine Aufmerkſamkeit zunächſt auf die Säube- 
rung ded Staates von einer andern Klafle von Feinden”, fügt Perez in der 
Kirche zur Empfängniß, „nämlich von den betrügeriichen Steuereinnehmern. 
Mit der größten Wachſamkeit ihre Betrügereien entlarvend, zwang er fle, 
die früher verübten Unterjchleife zu erlegen, und traf Vorkehrungen gegen 
die Wiederkehr ähnlicher Dinge in Zukunft, und alle Rechnungen mußten 
einmal jährlich zur Prüfung an ihn eingeiendet werben. 

„ Seine Art und Weije, auf welche ex diefe oder jene Begenflände zum 
öffentlichen Verbrauch audantworten ließ; dieſes weitſchweifige und genaue 
Bählen von Dingen, die anjcheinend feiner Aufmerkſamkeit unwürdig waren, 
rührte aus demſelben Beweggrunde her. Ich glaube, er that dies weniger 
aus Mangel an Vertrauen zu den in legter Zeit zu diefen Aemtern ernann= 
ten Berfonen, ald aus dem Wunfche, ihnen zu zeigen, mit welder Gewiſſen⸗ 
haftigfeit fle zu Werke gehen müßten. 

„Republif Paraguay, wie viel haft du der Mühe, den Nachtwachen 
und der Bürforge deines Dictatord zu verdanfen! Es war ald ob dieſer 
außerordentliche Mann mit Allgegenwart begabt gewejen wäre, um alle beine 
Mängel und Bedürfnifje ind Auge zu faflen. Während er in feinem Ka= 
binet faß, bereifte er deine Grenzen, um dich wehrhaft zu machen. Welchen 
ungeheuern Schaden fügten jene Einfälle der Indianer von dem Chaco den 
“ Einwohnern von Rio Abafo zu? Bortwährend trafen in Aſſumpcion Nach⸗ 


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richten von den Berwüftungen ein, welde durch dieſe rauberifchen Einfälle 
verurfacht worden waren. Wer von und hätte gehofft, daß jo weit verbrei« 
teten Uebeln, jo entieglichen Verheerungen eutgegengewirft werden Fönnte ? 
Und dennoch wußte unſer Dictator Mittel und Wege zu finden, diefem Theile 
der Republik die Ruhe wiederzugeben. 

„Vier achtunggebietende Beftungen .mit ausreichenden Sarnijonen find 
die uneinnehmbare Schranfe geweien, weldye die Einfälle diefer grimmigen 
Barbaren gehemmt bat. Einwohner von Rio Abajo! bleibet ruhig in 
Euren Häufern, Ihr feid ein Theil des Volkes, welches der Herr ter Fürs 
forge unſeres Dictatord anvertraute; Ihr jeid geborgen. 

„Die weifen Maßregeln, die er anordnete, um Gewalt mit Gewalt zu 
vertreiben und die Wilden in den Norden der Republif zurüdzujagen, die 
Beftungen Climpo und San Carlos te Apa und die der Stadt Concepcion 
ertbeilten Befehle und Inftructionen fiherten Dielen Theil der Nepublif vor 
jedem Angriffe. . 

» Der große Wall mit Graben und Feſtung auf der entgegengeiegten 
Seite des Fluſſes Parana, die wirfiame und geichidte Aufftellung der im 
Süden unferer Mepublif vertheilten Truppen haben ihren Feinden Achtung 
und Scheu eingeflößt. 

„Die Schönheit, das Ebenmaß und der gute Geſchmack, welche an der 
Bauart großer Städte wahrnehmbar find, geben einen vortheilhaften Begriff 
von ihren Einwohneru — ſo dachte Caractacus, König der Angeln. Unſer 
Dietator jah, ald er den Zuftand der Hauptftadt der Republik betrachtete, 
eine Stadt in Unordnung und ohne Polizei, Straßen ohne Regelmäßigfeit 
und Käufer, je nach der Laune ihrer Beflger erbaut.” 

Dod genug, 0 Peres, denn deine Predigt wird zulegt langweilig. 
Perez fragt zulegt mit zuverfichtlicher Miene, ob nicht alle diefe Dinge allen 
vernünftigen Menſchen und Gauchos deutlich beweilen, daB der Dictator 
Brancia in der That der Befreier war, welchen der Herr erwedte, um Paras 
guay von feinen Feinden zu erlöien? — Ganz gewiß, o Perez, denn die 
Wohlthaten, die er Dem Lande erzeigt, icheinen bedeutend gewejen zu fein. 
Unzweifelhaft war er ein Dann vom Himmel gefendet, wie wir alle find! 
Ja, es ift fogar möglich, Daß der Nugen, den er geftiftet, felbft jetzt noch 
nicht erihöpft, ja noch nicht einmal ganz fihtbar geworden ifl. Wer weiß, 
ob nicht in Fünftigen Jahrhunderten die Paraguener auf ihren hageren eifers 
nen Francia zurüdbliden, wie die Menjchen in jolden Zällen auf die eine 








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wahrhafte Perſon zurücdzubliden pflegen. Oliver Cromwell, der fhon feit 
zweihundert Jahren tobt ift, fpricht immer noch, ja er beginnt vielleicht jet 
erft zu fprechen. Die Bedeutung und Meinungen des einen wahren Mannes, 
fei er auch noch fo Hager und beſchraͤnkt, welcher in dieſer wüften Gauchos⸗ 
Welt unmittelbar aus dem Herzen der Natur auftaucht, während jene 
Gauchos⸗Welt ſich weit von der Natur entfernt bat, find endlos. 


Die Herren Robertſon machen fi ſehr Iuftig über dieſen Verſuch 
Francia's, die Stadt Affumpcion nach einem beffern Plane umzubauen. Die 
Stadt Affumpeion hat, voll von tropiſcher Begetation und „immerwähren- 
den Heden, hinter welchen ſich Unrath und Ungeziefer fanımelt, fein Pflafter 
und feine geraden Straßen. Dem jandige Fahrweg wird an vielen Stellen 
durch Den Regen fo zerriffen, daß er dann faft nur noch von einem Känguruh 
zu palftren iſt.“ 

Francia befchließt nad) reiflicher Ueberlegung, die Stadt theilweile um- 


zubauen, pflaftern und gerade richten zu laflen, und Roberfon lacht, daß ein. 


Dietator, ein fouverainer Herrſcher, mit jeinem Theotoliten Hin und ber 
läuft und das Terrain aufnimmt. O Nobertion, warum lahft Du, fobald 
weiter Niemand da war, der folche Urbeiten ausführen konnte? 


Ja, e8 fcheint ferner, Daß die Verſchönerung Afſumpcion's noch einmal 
von der furchtbarſten Tyrannei begleitet war. Briedlihe Bürger, die fi 
nichts Arges träumen ließen, und mit feinen activen Unrecht gegen irgend 
einen Menſchen, fondern blos mit friedlidem paſſivem Schnug und Uns 
regelmäßigfeit gegen alle Menſchen umgingen, erhielten Befehl, ihre Häuſer, 
die zufällig in der Mitte der Straße fanden, niederzureißen ; fie wurden 
unter Androhung des Galgend gezwungen, ihre Beutel zu ziehen und bie 
niedergeriffenen Wohnungen auderwärtd wieder aufzubauen! Es ift furcht⸗ 
bar. Ja, man fagte, Francia habe bei diefen Verbeflerungen, bei dieſem 
Befeitigen üppiger Querzaͤune und anderer arditektonifchen Monftrofitäten 
eigentlich weiter nichts beabfichtigt, al8 dadurch zu verhindern, daß er ein- 
mal, wenn er durch die Stadt ritte, aus irgend einem Verſteck hervor er⸗ 
fhoffen würde. Dem mag ſo jein, aber Aflumpeion ift nun doch eine weit 
ihönere, gepflafterte Stadt mit größtentheild geraden Straßen und ganz be= 
quem, nicht blos für Kaͤnguruhs paſſtrbar, fondern auch für hölzerne Ochſen⸗ 
wagen und Fuhrwerke und Thiere aller Art. 

Unfere Herren Robertfon finden an Dr. Brancia nicht bloß etwas Ko⸗ 


— Milunem 








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miſches, fondern auch etwas Tragiſches und ergehen ſich zumeilen über dieſe 
Schreckensregierung in allerhand ſatyriſchen Bemerkungen. 


Eines Abends z. B. als einer der Robertſon's im Begriff ſteht, von 
Paraguay nach England zu reiſen und dem Dictator Francia ſeinen Ab⸗ 
ſchiedsbeſuch macht, laͤßt dieſer zu Robertſon's großem Erſtaunen einen 
Ballen Waaren hereinbringen, öffnen und die Waaren auf dem Tiſche aus⸗ 
breiten — Tabak, Poncho⸗Tuch und andere Produfte des Lantes, alle von 
befter Qualität und mit angebängten Preißzetteln. Diefe Waaren foll ber 
erſtaunte Mobertfon vor der „ Schranfe des Unterhaufes“ nieterlegen und 
bier in paffenden Ausdrücken, wie fle ein Englänter zu finden wiflen wird, 
fagen: 

„Herr Sprecher, — Dr. Francia ift Dictator von Paraguay, einem 
Lande von tropiicher Fruchtbarkeit und hunderttaufend englifchen Quadrat⸗ 
meilen Slächengebalt, welches dieſe Waaren zu dieſen Preiſen producirt. 
Mit beinahe allen fremden Nationen mag er feine Handeldverbindungen an⸗ 
knüpfen, sen den Engländern aber hat er eine jo gute Meinung, daß er 
mit ihnen Handel zu treiben wünſcht. Dies find feine Waaren in endlofer 
Duantität, von diefer Qualität, zu diefen Preifen. Er für feinen Theil 
braucht Waffen. Was fagen Sie dazu, Herr Sprecher?“ 

Allerdings würde unfer Mobertion, wenn er mit einer foldyen Bot= 
ſchaft an der Schranfe des Unterhaufed erfchienen wäre, eine jehr merfwür- 
dige Figur geidhnitten haben! Uber nicht an das Unterhaus war diefe 
Botichaft eigentlich gerichtet, fondern an die engliſche Nation, von welcher 
Francia in feiner Dummheit glaubte, fte fei in dem Unterhaufe repräfentirt 
und zugänglich gemacht. Welche ſeltſame Bornirtheit von einem Dictator ! 


Robertſon legte, wie wir demgemäß finden, diefen Waarenballen nicht 
vor der Schranke des Unterhaufed nieder, ja, was noch ſchlimmer war, er 
ging in Folge gewiſſer Zufälle gar nicht nad England und brachte Srancia 
gar feine Waffen dafür. Daher rührte Francia's unbilliger Abſcheu vor 
ihm, der ſich kaum in den Schranfen gewöhnlicher Höflichkeit zu halten ver⸗ 
mochte! Ein Menſch, welder fagte, er wollte etwas thun und ed dann 
nicht that, war für Francia zu Feiner Zeit ein bewunderndwürdiger Menid. 
Umfangreiche Abſchnitte diefer „ Schredfensregierung * find daher eine Urt 
unmufifalifhe Sonate oder ein freicd Duett mit Variationen auf das 
Thema: „Wie unbewundernswürdig ift ein Xederhändler, der fein Wort 

Carlyle. IV. 4 





50 


nicht Hält!” — „Wie tadelndwertb, um nicht zu Tagen lächerlih und un« 
vernünftig, ift der Mangel an gewöhnlicher Höflichkeit bei einem Dictator !* 

Francia war ein Mann, welcher ganze Leiftungen liebte, und halbe oder 
angebliche Leiftungen waren in Paraguay, wie anderwärtd, etwas allzuſehr 
an der Tagesordnung. Weldye Mühe batte dieler firenge, thätige Mann mit 
lälftgen Arbeitern, öffentlichen und privaten, Geiſtlichen und Laien! Ihr 
Gauchos, — es ift Fein Kinderfpiel, dieje fleben Teufel von Euch auszu⸗ 
treiben ! 

Klöfterliche oder andere fchläfrige Kircheninftitute Eonnten von Francia 
feine große Bunft erwarten. Diejenigen, welde unbeilbar und ganz in 
Schlummer verfunfen zu fein fchienen, fhüttelte er mit etwa® rauber Sand 
wach und befahl ihnen in etwas firengem Zone ſich zu paden. „Debout, 
canaille faingante‘‘, wie fein Prophet Raynal jagt; „Debout: aux champs, 
aux ateliers! Kann ich zugeben, daß Ihr Hier ſitzt und mechaniſch finget und 
plärrt, während Euer Herz in Gefräßigfeit verſenkt ift und ganz Paraguay faft 
noch wüft liegt, fo dag in dem gefegneten Sonnenfchein des Himmels nichts 
gedeihen als Unkräuter, Lianen, gelbe Bicber, Klapperjchlangen und Jaguars ? 
Auf! raſch an die Arbeit, oder ſeht Ihr Hier dieſe Peitſche, wie fie knallt 
und was für Hiebe davon zu erwarten fichen! ” 

Unheilbar ſchienen Erzbifchöfe, Biſchöfe und dergleichen zu fein, denn 
biefe waren blos daran gewöhnt, einen fpiegelfechterifchen Krieg gegen längft 
außgetriebene Teufel zu führen. Bei dem Knall von Francia's fürdhterlicher 
Peitſche gingen fle, denn fie fürdhteten die Hiebe mit derjelben. Einen 
wohlfeilen Eultus in Paraguay tn Uebereinftimmung mit der Gewohnheit 
und dem Wunfche des Volkes ließ Francia beftehen, aber unter der Be» 
dingung, daß er fein Unheil anrichte. Hölzerne Heilige und dergleihen 
Waare ließ er ebenfalls in ihren Niichen figen, aber zur Anichaffung von 
neuen gab er felbft auf dringendes Bitten feinen Deut her. 

Als er einmal inftändig gebeten ward, für eins feiner neuen Feſtungs⸗ 
werfe einen neuen Scugheiligen zu beforgen, gab er zur Antwort: „DO 
Bolf von Paraguay, wie lange willft Du in Deiner Dummheit verbarren ? 
©o lange ich Katholik war, dachte ich ebenfo wie Ihr, jebt aber bin ich 
überzeugt, daß es zur Bewachung unferer Grenzen Feine befieren Heiligen 
giebt, als gute Kanonen. * 

Auch folgende Aeußerung ift bemerkenswerth. Er fragte die beiden 
ſchweizeriſchen Chirurgen, zu welder Religion fe fi befennten und fegte 


* 


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dann hinzu: „Hier koͤnnt Ihr angehören, welcher Religion Ihr wollt — 
jetet Ghriften, Juden oder Mufelmänner — nur feine Atheiften. ® 

Ebenfo viel Mühe Harte Francia mit feinen nichtgeiftlichen Arbeitern, 
wie überhaupt mit allen Klaffen von Arbeitern, denn es iſt in Paraguay 
wie anderwärts — wie die Priefter, fo das Volk. Prancia hatte umfäflende 
Kafernenbanten, ja Stadtbauten, wie wir geliehen haben, und Armees 
Heferungen, mit einem Worte, er hatte ungeheuer viel zu thun und ſeine 
Arbeiter hatten größtentheild feine Xufl, viel zu machen. Er Eonnte feine 
Arbeit von ihnen bekommen, fondern blos eine mehr oder weniger trügerifche 
Aehnlichkeit von Arbeit. Sogenannte Maurer und Bauleute bauten nicht, 
fondern ſchienen blo8 zu bauen; ihre Mauern wurden vom legen zerweicht 
und vom Winde umgeworfen. Diele Hantelöleute verfauften Rafirmefler, 
die niemals zum Naflren, fondern blos zum Verkauf beflimmt waren. 

Lange Zeit kämpfte Francia's rechtichaffener Sinn angeftrengt, aber 
ohne zu erplodiren, mit den Neigungen diefer unglüdlichen Menichen. Durch 
Berweife, durch Vorftellungen, durch Ermuthigung, durch Unerbieten von 
Belohnungen und alle möglihe Wachſamkeit und Anftrengung bemühte er 
fih, fle zu überzeugen, daß es für einen Sohn Adam's ein Unglüd fei, ein 
eingebildeter Arbeiter zu jein, daß jeder Adamsſohn beffer thäte, Raſirmeſſer 
zu fertigen, die wirflich zum Raſiren beſtimmt feien. Vergebens, alles ver⸗ 
gebeng ! 


Endlich verlor Francia die Geduld. „Du erbärmliche Fraction, willft 
Du der neunte Theil fogar von einem Schneider fein? Geziemt es Dir, 
Tuch aus Staub anftatt aus Achter Wolle zu wählen, und es zu jchneiderr 
und zu nähen, ald ob Du nit ein Schneider, fondern die Braction von 
einem Schneider wäreſt! Glaubſt Du, ich foll mir Alles gefallen Taffen! * 


Francia errichtete nun in feiner Verzweiflung feinen „ Arbeitergalgen *. 
Ja, dieſes Inftitut des Landes eriftirte wirklich in Paraguay; Männer und 
Arbeiter fahen es mit eigenen Augen. &8 war dies ein höchſt merfiwürdiges 
und im Grunde genommen durchaus nicht unwohlthätiges Inftitut. 


Mobertfon erzählt und den folgenden Auftritt mit dem Gürtelmader 
von Affumpeion, worin fih, ſei er nun buchſtäblich wahr oder zum Theil 
poetifch, die Ratur ohne Zweifel auf gaͤnzlich wahre und ſicherlich fehr über« 
raſchende Weife fpiegelt. 

„Eines Nachmittags kam ein armer Schuhmacher mit ein paar Gres 

4* 


50 


nicht Halt!” — „Wie tadelndwertb, um nicht zu fagen lächerlich und un⸗ 
vernünftig, iſt der Mangel an gewöhnlicher Höflichkeit bei einem Dictator ! * 

Francia war ein Mann, welder ganze Leiftungen liebte, und Halbe oder 
angebliche Leiftungen waren in Paraguay, wie anderwärtd, etwas allzuſehr 
an der Tagesordnung. Welche Mühe hatte dieler firenge, thätige Mann mit 
lälfigen Arbeitern, öffentlichen und privaten, Geifllihen und Laien! Ihr 
Gauchos, — es ift fein Kinderfpiel, dieje fleben Teufel von Euch audzu⸗ 
treiben! 

Klöfterliche oder andere fchläfrige Kircheninſtitute konnten von Francia 
feine große Bunft erwarten. Diejenigen, welde unbeilbar und ganz in 
Schlummer verfunfen zu fein fchienen, fchüttelte er mit enva® rauber Hand 
wad und befahl ihnen in etwas firengem Tone fi zu paden. „Debout, 
canaille ſainéante““, wie fein Prophet Raynal jagt; „Dehout: aux champs, 
aux aleliers! Kann ich zugeben, dad Ihr Hier figt und mechanijch finget und 
plärrt, während Euer Herz in Oefräßigfeit verjenkt ift und ganz Paraguay faft 
noch wüſt liegt, fo daß in dem gefegneten Sonnenjdein des Himmels nichts 
gedeihen ald Unfräuter, Lianen, gelbe Fieber, Klapperſchlangen und Jaguars? 
Auf! raſch an die Arbeit, oder ſeht Ihr bier dieſe Peitſche, wie fie knallt 
und was für Hiebe davon zu erwarten fichen! “ 

Unheilbar ſchienen Erzbifchöfe, Biſchöfe und dergleichen zu fein, denn 
diefe waren blos daran gewöhnt, einen fpiegelfechterifchen Krieg gegen längft 
außdgetriebene Teufel zu führen. Bei dem Knall von Brancia’8 fürdterlicher 
Peitiche gingen fle, denn fie fürdteten die Hiebe mit derjelben. Einen 
wohlfeilen Cultus in Paraguay tn Uebereinflimmung mit der Gewohnheit 
und dem Wunfche des Volkes ließ Francia beftehen, aber unter der Be⸗ 
dingung, daß er fein Unheil anrichte. Hölzerne Heilige und dergleichen 
Waare ließ er ebenfalld in ihren Niichen figen, aber zur Anſchaffung von 
neuen gab er felbft auf Dringendes Bitten feinen Deut ber. 

Als er einmal infläntig gebeten ward, für eind feiner neuen Feilungd- 
werfe einen neuen Schugheiligen zu bejorgen, gab er zur Antwort: „O 
Bolf von Paraguay, wie lange willft Du in Deiner Dummheit rerbarren ? 
So lange id Katholik war, dachte ich ebenfo wie Ihr, jeht aber bin ich 
überzeugt, daß es zur Bewachung unferer Grenzen feine befieren Heiligen 
giebt, als gute Kanonen, * 

Auch folgende Aeußerung ift bemerfendwerth. Er fragte die beiden 
fhweizeriihen Chirurgen, zu welcher Religion fle ſich bekennten und fegte 


[4 


51 


dann Hinzu: „Hier konnt Ihr angehören, welcher Religton Ihr wollt — 
jetet Chriſten, Juden oder Mujelmänner — nur feine Atheiften. * 

Ebenfo viel Mühe Hatte Francia mit feinen nichtgeiſtlichen Arbeitern, 
wie überhaupt mit allen Klaffen von Arbeitern, denn es iſt in Paraguay 
wie anderwärts — wie die Priefter, fo das Volk. Prancia hatte umfaflende 
Kafernenbanten, ja Stadtbauten, wie wir geiehen haben, und Armee⸗ 
Heferungen,, mit einem Worte, er Hatte ungeheuer viel zu thun und feine 
Arbeiter hatten größtentheild feine Kufl, viel zu machen. Er Eonnte feine 
Arbeit von ihnen bekommen, fondern blo8 eine mehr oder weniger trügerifche 
Aehnlichkelt von Arbeit. Sogenannte Maurer und Bauleute bauten nicht, 
fondern ſchienen 6lo8 zu bauen; ihre Mauern wurden vom Regen zerweicdht 
und vom Winde umgeworfen. Viele Hantelsleute verfauften Mafirmeffer, 
die niemals zum Raſiren, fondern blos zum Verkauf beflimmt waren. 

Lange Zeit kämpfte Francia's rechtfchaffener Sinn angeftrengt, aber 
ohne zu erplodiren, mit den Neigungen biefer unglücklichen Menſchen. Durch 
Bermeife, durd Vorftellungen, durch Ermuthigung, durch Anerbieten von 
Belohnungen und alle möglihe Wachſamkeit und Anftrengung bemühte er 
fich, fle zu überzeugen, daß e8 für einen Sohn Adam's ein Unglüd fei, ein 
eingebildeter Arbeiter zu jein, daß jeder Adamsſohn beffer thäte, Raſtrmeſſer 
zu fertigen, die wirflich zum Maflren beſtimmt feien. Vergebens, alles ver« 
gebeng ! 


Endlich verlor Brancia die Geduld. „Tu erbärmliche Fraction, willſt 
Du der neunte Theil fogar von einem Schneider fein? Geziemt es Dir, 
Tuch aus Staub anftatt aus ächter Wolle zu wählen, und es zu jehneiderr 
und zu nähen, ald ob Du nicht ein Schneider, fondern die Sraction von 
einen Schneider wäre! Glaubſt Du, ich foll mir Alles gefallen Taflen ! * 


Francia errichtete num in feiner Verzweiflung feinen „ Acbeitergalgen *. 
Ja, dieſes Inflitut des Landes eriftirte wirklich in Paraguay; Männer und 
Arbeiter ſahen es mit eigenen Augen. &8 war dies ein höchſt merfwürbiges- 
und im Grunde genommen durchaus nicht unwohlthätiges Inftitut. 


Mobertfon erzählt und den folgenden Auftritt mit dem GOürtelmacher 
von Affumprion, worin fih, fei er nun buchſtäblich wahr oder zum Theil 
poetifch, die Natur ohne Zweifel auf gänzlich wahre und ficherlich ſehr über« 
raſchende Weife fpiegelt. 

„Eines Nachmittags Fam ein armer Schuhmacher mit ein paar Gre⸗ 

4* 


52 


nabierdegenfuppeln, die aber beide nicht fo gefertigt waren, wie der Dictator 
fle verlangte. 

„Schildwache!“ rief er, und herein trat die Schildwache, worauf dann 
das folgende Geſpräch ſtattfand: 

„Dictator. Führe dieſen bribonazo — ein Lieblingswort des 
Dictators, welches ungefähr ſoviel als Schurke oder Halunke bedeutet — 
führe dieſen bribonazo hinüber unter den Galgen, laß ihn ein halbes 
Dutzend Mal darunter hinweggehen — und, fuhr er zu dem zitternden 
Schuhmacher gewendet fort, wenn Du mir wieder ein ſolches Paar Degen⸗ 
gehänge bringſt, fo werden wir, anſtatt Did unter dem Galgen herum⸗ 
zuführen, Did an demjelben aufhängen lafſen. 

„Schuhmacher. Entſchuldigen Sie, Ercellenz, ich babe mein 
Beſtes getban. 

„Dietator. Wohlan, bribon, wenn dies Dein Beftes ift, fo werde 
ih mein Befted thun, damit Du nie wieder ein Stüd von dem Leder des 
Staats verdirbft. Ich kann die Gehänge nicht gebrauchen, aber fle werben 
fehr gut dazu dienen, Dich an das Fleine Gerüft zu hängen, welches der 
Grenadier Dir zeigen wird. 

„Shuhbmader Um Gottes willen, das werten Sie doch nicht 
thun! Ich bin Ihr Knecht, Ihr Sklave; Tag und Nacht habe id meinem 
Herrn gedient und werde ihm ferner dienen; geftatten Sie mir nur nod 
zwei Tage, um die Gehänge noch einmal umzuarbeiten, y por el alma de un 
triste zapatero (bei der Seele eines armen Schuhmaders), ich werde fe 
machen, wie Ihre Excellenz fie wünfcht. 

„Dietator. Fort mit ihm, Schildwache. 

„Schildwache. Venga, bribon — komm, Halunfe. 

„Shuhmader. Sennor Excelentesimo, — noch heute Naht will 
ich die Gürtel nach Ihrer Excellenz Vorſchrift machen. 

„Dietator. Wohlen, Du follft Zeit haben bis morgen; aber den- 
noch mußt Du unter dem Balgen hinweggehen; es ift dies ein heilſames 
Berfahren und wirb gleichzeitig dazu dienen, die Arbeit fchneller und beffer 
zu machen. 

‚Schildwade. Vamonos, bribon; der Herr befiehlt es. 

„Und damit ward der Schuhmacher hinaus und dem Befehle gemäß 
zwei Mal unter dem Galgen bin und ber geführt, worauf er nad feiner 
Werkſtätte zurückkehren durfte, * 


93 


Hier arbeitete er die ganze Nacht mit ſolchem Eifer und fobillinifchem 
Enthuflagmus, daß feine Degengehänge am naͤchſten Morgen in ganz Süd⸗ 
amerika nicht ihres Gleichen hatten, und jet ift er, wenn er noch lebt, Ge⸗ 
neralsDegengehängemadher von Paraguay und ein reicher Mann, von Dank 
erfüllt gegen Francla und den Galgen, wie wir hoffen wollen, weil fie 
einige der fieben Teufel aus ihm getrieben! 

Ein ſolches Inftitut Eönnte in unferen nach alter Weije conflituirten 
europäifchen Ländern unter diefer einfachen Form offenbar nicht eingeführt 
werden. Und dennoch könnte man conftitutionell gefinnte Perfonen in un» 
ferer Zeit fragen, durch welches Erfagmittel fie den Mangel daran zu er⸗ 
gänzen gedenken? Wie kann man in einer Staatögemeinde, die aus bloß 
eingebildeten Arbeitern befteht, irgend eine Megierung ober irgend eine ſo⸗ 
etale Einrichtung Haben, welche wirklich wäre? Bei einer Staatögemeinde 
von Pſeudo⸗Arbeitern ift e8 dem Geſetz der Natur nad unmöglich, daß eine 
andere als eine Pieudo-Megierung exiſtire. Conflitutionell oder nicht, mit 
Ballotage oder nicht, ift eine ſolche Gefellichaft in allen ihren Phafen, in 
Adminiftration, Geſetzgebung, Kehren, Predigen und Beten und Journa⸗ 
Tiftit eine Pſeudo⸗Geſellſchaft; fchrecdlich für Den, der darin lebt, entfeglih 
für Den, der fie betrachtet. Deshalb erfcheint ein ſolches ſociales Inftitut, 
nnferer europätfchen Art und Weije angepaßt, dringend nothwendig. O 
Gauchos, füdamerifanijche ſowohl als europäifche, welch eine furchtbare Aufe 
gabe ift e8, Eure fieben Teufel außzutreiben ! 

Vielleiht aber wünfcht der Leſer auch ein Bild von Dr. Francia in 
concreto zu erhalten, wie er leibt und lebt und zur Zeit des Chirurgen 
Mengger die taufendfältigen Regierungsgeſchäfte feiner Paraguener beforgt. 
Es ift unfer letzter Auszug, nniere letzte Anficht von dem Dictator, der nun 
nicht länger an unferem Horizont verweilen darf. 

„Ih habe ſchon gefagt, daß Dr. Francia, fobald als er ſich an der 
Spige der Gefchäfte fab, in der Wohnung der früheren Gouverneure von 
Paraguay jeine Reſtdenz aufſchlug. Diefed Gebäude, welches eines der 
größten in Aſſumpcion iſt, war von den Jeſuiten kurze Zeit vor ihrer Ver⸗ 
treibung für Laien errichtet worden, welche ſich Hier gewiflen, von dem hei« 
ligen Ignatius vorgefchriebenen geiftlichen Liebungen widmeten. Dieſes Ge⸗ 
bäude ließ der Dictator wieder in Stand ſetzen und verſchönern und durch 
Anlegung breiter Straßen von den andern Käufern der Stadt trennen, 
Hier wohnt er mit vier Sflaven, einem Eleinen Neger, einem Mulatten und 


54 


zwei Mulattinnen, benen er ein fehr milder Herr iſt. Die beiden Männer 
serrihten die Bunction eines Kammerdienerd und Meitknechts. Gine ber 
beiden Rulattinnen if feine Köchin und Die andere beſergt feine Garderobe. 

„Er führt ein ehr regelmäßiges Lehen. Die erſten Steahlen der Sonne 
finden ihn fehr felten nod im Bett. Sobald als er aufficht, bringt der 
Neger eine Wärmpfanne, einen Keffel und einen Krug Waller und ber 
Dictator bereitet ſich Hierauf mit der guößtmöglichen Sorgfalt feinen Mate 
oder Paraguay Thee. Nachdem er dieſen getrunfen, geht er in der inner 
Kolonnade, welche die Ausſicht auf den Hof hat, fpazieren und raucht eine 
Gigarre, welche er erſt jergfältig aufrollt, um ſich zu überzeugen, daß nichts 
Gefaͤhrliches darin iſt, obſchon jeine eigene Schwefter fie ihm fertigt. Um 
ſechs Uhr kommt der Barbier, ein ſchmuziger, zerlumpter, dem Trunk er⸗ 
gebener Mulatte, aber ter Einzige feines Gewerbed, dem er traut. Wenn 
ber Dictator auf guter Laune it, fo plamdert er mit ihm und bedient fig 
auf diefe Weiſe jeiner fehr oft, um das Publikam auf feine Projecte vorzu⸗ 
bereiten, ſodaß dieſer Barbier gewifiermaßen die Stelle einer offiziellen Zei⸗ 
Jung vertritt. Hierauf gebt er in feinem Schlafrock von gedrudtem Aatıum 
in die äußere Kolonnade, einen offenen Säulengang, ber um das gonze Bes 
bäude heruniführt. Hier geht er auf und ab und empfängt zugleich die Per⸗ 
fonen, welcdye zu einer Audienz zugelaflen werden, Gegen fieben Uhr zicht er 
fi, wieder in fein Zimmer zurüd, wo ex bleibt bid neun. Dann kommen Die 
Offiziere und andere Beamte, um ihre Rapporie abzuflatten und feine Be⸗ 
fehle zu empfangen. Um eilf Uhr bringt ber Kiel de fecho, oder der erſte 
Secretair Die Schriften, die er durchzuſehen hat umd fchreibt nach feinem 
Dictat bis Mittag. Schlag zwölf Uhr entfernen fi alle Beamtt und Dr. 
Srancia fegt ſich zu Tiſche. Sein Diner, weldes außerordentlich frugal iſt, 
beftellt er allemal ſelbſt. Wenn die Köchin vom Marft zurüdfchrt, fo lege 
fie ihre Einfäufe an der Thür des Zimmers ihres Herrn nieder; Dann 
kommt der Doctor heraus und wählt, was er zubereiter zu Haben wünſcht. 

„Nah Tiſche hält er feine Sieſta. Sobald er Davon erwacht, trinft ex 
wieder feinen Mat und raucht eine Gigarre unter Beobachtung terfelben 
Borfiht, wie am Morgen. Sodann widmet er fich bis vier oder fünf Uhr 
den Beihäften, wo dann die Escorte aukommt, die ihn auf ſeinen Spazier⸗ 
zitte begleitet. Der Barbier tritt wieder ein und frifirt ihn, während ſein 
Dferd gelattelt wird. Während dieſes Rittes infplcirt der Doctor die öffente 
lichen Arbeiten und die Kafernen, befonderd die der Gavalerie, wo er eine 


RER —57— —7 75757 — TU — 


8 


Neihe von Gemädern zu feinem eigenen Gebrauch hat einrichten laſſen. 
Auf diefem Mitte if er, obſchon von jeiner Edcorte umringt, mit einem 
Säbel und ein Baar doppelläufigen Taſchenpiſtolen bewaffnet. Gegen Ein⸗ 
bruch der Nacht kehrt er nach Haufe zurüd und ſtudirt bis neun Uhr. Dann 
fegt er fich zum Abendeſſen nieder, welches gewöhnlich aus einer gebratenen 
Zaube und einem Glas Wein beſteht. Wenn das Wetter ſchön if, fo geht 
er wieder oft bid zu einer fpäten Stunde der Nacht in der äußeren Kolon⸗ 
nade jpazieren. Um zehn Uhr theilt er die Parole aus. Wenn er in dad 
Haus zurüdgefehrt ift, verichließt er alle Thüren felbfl. * 


Francia's Bruder war ſchon wahnftimig. Seine Schweſter verbannte 
Srancia fpäter, weil fle einmal einen jelner Grenadiere, einen Soldaten der 
öffentlichen Regierung, zu einer Privatdienftleiftung gebraucht hatte. Du 
einiamer Francia! 


Francia's Cavalerie⸗Escorte pflegte die Leute mit flachen Säbelhieben 
zu traftiren und mit den gröbften Echimpfworten zu überhäufen, wenn fie 
verfäumten, den Dictator auf jeinem Außritte zu grüßen. Sowohl er felbft, 
als auch feine Soldaten fahen ſich überdies fharf nah Meuchelmörbern um, - 
fanden aber niemals einen, vielleicht eben in Bolge ihrer Wachſamkeit. Wäre 
Francia in Paris geweſen! 


Einmal nahm der Dictator wahr, daß oft Haufen von Müſſiggaͤngern 
unt Gaffern fih vot feinem Negierungshaufe verfammelten und feinem Thun 
und Treiden zuſahen. Es ward demgemäß Befehl gegeben, daß Jeder, den 
der Weg über diefe Coplanade führte, unverweilt feinen Geſchäften nach- 
gehen folge, und die Schiltwache ward inflruirt, wenn Jemand ftehen bliebe, 
ihm fofort zu befchlen, weiter zu geben, und wenn er dann noch nicht ginge, 
ohne Weiteres ſcharf auf ihn zu feuern. Nun gingen alle Einwohner von 
Baraguay, vie der Weg in dieje gefährliche Region führte, io ichnell als 
möglich und mit auf den Boden gehefteten Augen vorüber und das frühere 
Leben an diefer Stelle verwandelte ſich faſt in Einſamkeit. Eines Tages, 
nach vielen Wochen oder Monaten , verweilte eine menfchlidde Geſtalt doch 
auf dem verbotenen Brunde und gaffte das Haus des Dictatord an. „Vor⸗ 
wärts!" rief tie Schildwache mit Nachdruck. Die Gefalt rührte fi 
nicht. „Vorwärts!“ fchrie Die Schildpwache zum zweiten und dritten Male 
— ad, die unglüdliche Menichengeftalt war ein Intianer, der feine civili⸗ 
firte Sprache verfiand und blos fragend und neagierig dad Manl aufſperrte. 





56 


Ein Schuß fnallte, eine Kugel pfiff, pfiff aber glücklicherweiſe blos und traf 
nicht. 

Der Schrecken des Indianer war natürlich nicht klein und fein Rück⸗ 
zug ein fehr raſcher. Was Francia betrifft, fo rief er die Schildwache mit 
faum unterdbrüdtem Zorn heran. „Was giebtd, Amigo?" — „Ihre Er- 
eellenz haben fo befohlen, * entgegnet die Schildwache. Francia kann fi 
eines folhen Befehls nicht entfinnen und befiehlt auf alle Källe, daß dieſe 
Ordre künftig außer Kraft trete. 

Es bleibt und nod übrig, ein Wort, nicht der Entihuldigung, was 
ſehr fhwer fein möchte, wohl aber der Erklärung, waß jehr möglich ift, in 
Bezug auf die unverzeihliche Beleitigung hinzuzufügen, welche Francia der 
menſchlichen Wiffenihaft in der Perfon des Herrn Aime Bonpland zu⸗ 
fügte. Aimé Bonpland, der Breund Humboldt's, Tieß fih nach vielen bo⸗ 
taniihen Wanderungen befanntlid, in Entre Rios nieder, einem indianiſchen 
ober jefuitifchen Gebiete Dicht bei Francia's, welches fpäter von Artigas ver- 
beert ward. Hier gründete Bonpland eine bedeutende Pflanzung zur ver⸗ 
befierten Kultur des Paraguaythees. Als Botaniker? — Nun ja, vielleicht 
aber noch mehr ald Handeldmann. 

„As Botaniker!* ruft Francia aus. „Das ift auf den Ruin meines 
Theehandels abgeiehen. Wer ift diefer hergelaufene Franzoſe? Artigas 
hatte kein Recht, ihm zu erlauben, fih in Entre Rios niederzulaffen; Entre 
Rios gehört wenigftend eben jo gut mir als Artigas! Man bringe den 
Mann zu mir!* Im der nächften Nacht umringen Soldaten der Regierung 
von Paraguay Bonpland's Theepflanzung, galloppiren mit Bonpland über 
die Grenze, nad) dem ihm zum Aufenthalte angewieienen Dorfe ig Innern, 
rotten feine Theepflanzen auß, zerftreuen jeine vierhundert Indianer und — 
dad Uebrige willen wir. Das hartherzige Monopol weigerte fih, den Bit⸗ 
ten und Lockungen ter öffentlidien Meinung und der Präfldenten der Aka⸗ 
demien Gehör zu ichenfen, mochten ihre Worte auch noch jo Elug und ver« 
führeriich fein! Bonpland, der jeit einiger Zeit feine volle Breiheit wieder⸗ 
erhalten, wohnt no in Südamerifa, und die Robertſon's erwarten, daß er 
feine Grefchichte mit gebührendem Geſchrei über Francia's Tyrannei veröffent- 
lichen werte, eine Erwartung, welde der Verfaſſer des gegenwärtigen Aufe 
fape8 aber keineswegs theilt. 

Die Behandlung, welde Francia feinem alten Feinde Artigas, dem 
Banditen und Beuerbrant, ber fich jegt in die Nothwendigkeit verjegt fa, 


57 


ihn um Obdach zu bitten, zu Theil werden ließ, war gut, menfchenfreunds 
ih und fogar würbevoll. Francia weigerte fi, wie er von jeher gethan, 
mit einem ſolchen Menfchen zu iprechen oder zu unterhandeln, gewährte ihm 
aber bereitwillig einen Aufenthaltsort im Innern des Landes und dreißig 
Piafter monatlich bis zu feinem Tode. Der Bandit baute das Feld, übte 
menfchenfreundliche Thaten und verlebte feine noch übrigen wenigen Jahre 
in Reue und Buße. Seine Mitbanditen, namlich die von ihnen, weldye fi 
wieder auf Plünderung legten, wurden, wie Rengger erzählt, augenblicklich 
feitgenommen und erfchoflen. 

Andererfeitö bedarf jene Anekdote von Francia's flerbendem Vater noch 
ber Beflätigung. Der alte Mann — erzählt man — der, wie wir geliehen 
haben, ſich fchon jeit langer Zeit mit feinem Sohne veruneinigt Hatte, 
wünfchte fi) wieder mit ihm auszuſöhnen, als er auf dem Sterbebette lag. 
Francia aber ließ fagen, er hätte dringende Geſchäfte — e8 könnte ja jo 
nichts nügen — mit einem Worte, er Eönne nicht fommen. Es kommt ein 
zweiter, noch dringenderer Bote. Der alte Vater fann nicht flerben, wenn 
er nicht zuvor feinen Sohn geſehen; er fürchtet, nicht in den Himmel zu 
kommen, wenn fie fih nicht zunor mit einander außgeföhnt haben. — „Nun 
fo möge er zur Hölle fahren!* rief Brancia; „ich komme nicht. * 

Wenn diefe Anekdote wahr wäre, fo wäre fle allerdings von allen, die 
über Pr. Francia in Umlauf find, die allerfchlimmfte. Wenn Francia in 
dieſer Todesftunde feinem armen, alten Vater nicht verzeihen Eonnte, mochte 
er nun an ihm gethan haben, was er wollte, wäre es ſelbſt das Lingeheuerfte 
geweſen, was tie fhwärzefte und fhmülfte Phantafle fi denfen fann, dann 
möge Fein Menſch Dr. Francia verzeihen! Die Genauigkeit eines öffentlichen 
Gerüchte aber in Bezug auf einen Dictator, der vierzig Menfchen hat hin⸗ 
richten laffen, ift auch etwas, worüber fih allerhand Vermuthungen anftellen 
laffen. Wie hieß der Mann mit Namen und Bunamen, dem Francia biefe 
außerordentliche Antwort auftrug? Hat berjelbe vor glaubwürdigen, ver« 
nünftigen, auf diefer Erbe wohnenden Menichen eidliche Ausſage darüber 
erftattet, oder ift er noch jcht Dazu zu bringen? Wenn dies der Fall if, fo 
möge er ed thun — wäre es auch blos um der pſychologiſchen Wiſſenſchaften 
willen. 

Noch eine legte Thatſache. Unfer einſamer Dictator, der unter Gau⸗ 
chos lebte, fand, wie es fcheint, da8 größte Vergnügen an einer rationellen 
Unterhaltung, — mit Robertſon, mit Rengger oder mit irgend einem ans» 





58 


been intelligenten Menſchenkinde, wenn ihm eins in den Weg kam, was frei» 
lic felten der Ball war. Gr erfundigte ſich mir Eifer nad) dem Thun uud 
Treiben der Menichen in der Fremde, nad den Eigenſchaften ihm unbefann- 
ter Dinge, alle menſchlichen Interefien und Kenntmifie waren Ihm interefiant. 
Da er größtentheild nur Menſchen ohne Bildung um fi hatte, fo mußte er 
fig mit Schweigen, einer tie flille Betrachtung fördernten Gigarre und 
einer Tafle Mate begnügen. O Brancia, obſchon Du vierzig Perfonen hin⸗ 
sichten mußteft, jo kann ich mid) eines gewiſſen Mitleidens mit Dir nicht er⸗ 
wehren. 


Auf diefe Weile und während für europäiiche Augen Alles noch dun⸗ 
Gel und leer if, müllen wir und denken, daß der Menſch Rotrigue; Francia 
in einer entfernten, aber höchſt merkwürdigen, nicht unzweifel haften oter un⸗ 
begweifelten Weiſe über dad vermorrene Theater dieſer Welt ſchritt. Ginige 
dreißig Sabre lung war er die ganze Regierung, bie fein Vaterland Para- 
guay hatte. inige ſechſsundzwanzig Iahre war er ausdruͤcklich Souverain 
dieſes Landes, zwei oder brei Jahre ein Souverain mit blanfem Schwert, 
fireng wie Rhadamanııd und während aller feiner Jahre und feine® ganzen 
Lebens von Anbeginn an ein Menſch oder Souverain von eifernem Fleiße, 
eiferner Willenskraft und Thärigfeit. 

So lebte Dictator Francia und hatte Feine Ruhe, erfl in ter Ewig⸗ 
keit Ausſicht Darauf. Ein Leben furchtbarer Arbeit, — indeſſen war es 
während der letzten zwanzig Sabre, nachdem dad Gomplott Kulgencio 
einmal in Städen gerifien worden und alles unter ihm ruhig war, eime 
gleihmäßigere Arbeit — immer noch hart, doch gleichmäßig, wie die eines 
arbeitfamen, in jein Geſchirr gewöhnten Karrengauld, der nicht mehr beit 
und fchlägt, fondern flät und unverdrofien feine Laſt zieht, bis alle Diele 
beſchwerlichen Meilen zurüdgelegt find und er feine file Heimath erw 
reicht. 

Die Herren Robertfon tappten in Berug auf Yrancia jo fehr im Dun⸗ 
keln, daß fie nicht im Stande gewejen waren, zu erfahren, ob er, als ihr 
Buch erichien, noch lebte oder nicht. Damals lebte cr allerdings noch, icht 
aber it er todt. Er if tobt, diefer iherfwürdige Francia, dies laßt fich nid 
bezweifeln; Haben nicht wir und unjere Lefer Bruchftüden aus jeiner Leis 





59 


chenrede vernommen! Er flarb am 20. September 1840, wie der ehrwür⸗ 
dige Perez und mittbeilt ; dad Volk fammelte fih mit großer Theilnahme, 
ja, wie Perez behauptet, mit Thränen um fein Gouvernementshaus. Drei 
Ercellenzen waren feine Nachfolger, ald ein „Directorat”, eine „Iunta Gu⸗ 
bernativa *, oder wie fie fonft heißen mochte, vor welcher dieſer hochwürdige 
Perez predigt. Bott erhalte fle viele Jahre! 


Mirabeau". 
(1837.) 


Ein Sprihwort fagt: „Dad Haus, welches im Bau begriffen ift, ſieht 
nicht wie das Haus, welches gebaut if.“ Umgeben von Geröll und Mörtel- 
haufen, Rüftftangen, Handlangern und Staubwolfen enthüllen ſich während 
des gemeinen Tumults des Dinge, welches zeither ift, ſelbſt dem fchärfften 
Beobachter nur einige rohe Anfänge des Dinges, welches fein wird. 

Wie wahr ift dies in Bezug auf alle Werke und Thatſachen in unjerer 
Welt, mögen fie einen Namen haben, welchen fte wollen; wie wahr ift es 
ganz beſonders in Bezug auf die höchſte Ihatiache und das höchſte Wert, 
welches unjere Welt Eennt, — das Leben eines fogenannten originellen 
Menſchen. 

Ein ſolcher Menſch iſt, ſo zu ſagen, nicht über den allgemeinen Leiſten 
geſchlagen; ſein Entwickelungsgang läßt fih nicht einmal annähernd pro= 
phezeien, obſchon ſolche Menſchen eben wegen der Neuheit und Seltſamkeit 
threr Erfcheinung mehr als alle anderen zum Prophezeien anreizen. 

Ein Menſch diefer Art entwidelt fi, während er auf Erden lebt, auß 
nichts zu etwaß, allerdingd unter ſehr complicirten Verbältniffen und Um— 
ftänden. Gr zieht in fortwährender Neihenfolge und Abwechſelung die 
Materialien feines Baues, ja fogar den Plan dazu aus dem ganzen Heide 
des Zufalles, ja, jo zu jagen, aus dem ganzen Reiche des freien Willens ar 
ſich — er baut fein Leben auf diefe Weile zufammen und es ift, während 


*) Memoires biographiques, litteraires et politiques, de Mirabeau; ecrits par 
lui-meme, par son Pöre, son Oncle et son Fils Adoptif. 8 vols. 8vo. Paris, 1834— 
1836. 


61 


er dies thut, ein Mäthfel und ein Problem, nicht blos für Andere, fondern 
auch für ihn ſelbſt. 

Daher hört man folde Kritiken von den Umſtehenden, Taute Unkenntniß, 
laute Berfennung! Es ift faft wie das Oeffnen des Käftchend jenes Fifchers in 
dem arabifchen Mährchen — diefes Beginnen und Emporwachſen eines Lebens. 
Unbeftimmter Hauch wallt dahin, dorthin, einige Züge eines Genius blicken 
hindurch, aber über ihre endliche Geftalt vermag ſich weder ein Fiſcher noch 
fonft Jemand ein Urtheil zu bilden. Und»dennoch urtheilen die Menichen, 
wie wir eben fagten und fällen im Voraus ihr Urtheil, man Tann flch den⸗ 
Ten, mit welcher Richtigkeit. 

„Dan fehe das Bublitum in einem Theater, * fagt ein Schriftfteller ; 
„das Leben eines Menichen ift hier in eine Dauer von fünf Stunden zufam« 
mengedrängt; ed wird auf einer offenen Bühne bei angezündeten Lampen 
geipielt und mit Allen, was die paflendften Worte und der Kunftgenius 
thun fönnen, um den Sinn Flar zu machen; und dennoch höre man, wenn 
der Vorhang fällt, was das kritiſche Publikum dazu jagt!“ 

Nun aber nehme man an, daß dad Drama einen Zeitraum von ſiebzig 
Fahren einnimmt und nicht mit Streben nach Klarheit, fondern eher mit 
Streben nach Heimlichkeit und oft in dem tieflten, unentwirrbarften Dunfel 
aufgeführt wird, während die Welt oder das Eritifche Publikum, anderwärts 
beihäftigt, bald einen Augenblid Hier, bald einen Augenblick dort die Aus 
gen auf ten Vorgang wirft! 

Wehe ihm, antworten wir, der feinen Appellhof gegen das Urtheil der 
Melt hat. Er ift ein verlorener Mann und wird, nachdem er für überführt 
erachtet worden, zu harten Strafen verurtheilt oder er erfauft fich feine Brei« 
fprehung nur allzumahrfcheinlich durch eine noch härtere Buße, nämlich bie, 
ein trivialer, oberflaͤchlicher Auspoſauner feines eigenen Lobes und ein 
theilweifer oder totaler Charlatan zu fein, was tie bärtefte Buße von 
allen ift. 


Aber nehmen wir weiter an, daß der Menſch, wie wir jagten, ein ori« 
gineller Menſch ift, daß fein Lebensdrama nicht allein nach den drei Einhei- 
ten bemefjen werden würde und könnte, fondern zum Theil auch nad) einer 
rigenen Regel; ferner daß die Vorgänge, bei weldyen er betheiligt gewefen, 
großartig und welterfchütternd find, daß es von allen feinen Richtern bier 
nicht einen giebt, der nicht Grund hätte, ihn entweder über die Gebühr zu 


62 


lieben oder über die Gebühr zu haften! Ad, iſt es leider niet gerade diefer 
Fall, wo die ganze Welt am rafcheften urtheilt und die ganze Welt am leich⸗ 
teſten falſch urtheilt, weil das natliclihe Dunkel durch zufällige Schwierig⸗ 
feiten und Verkehrtheiten jo Doppelt und dreifach verfinflert wird. Es if 
baber bis zu einem gewiflen Grade ganz richtig und gegründet, wenn mau 
gelagt hat: Um einen originellen Zettgenofien zu beurtbeilen, muß man 
größtentheild das Urtheil der Welt über ihn umfchren, denn bie Welt Hat 
nicht blos in diefee Sache Unrecht, fondern kann überhaupt in Deiner foldgen 
Sache Recht haben. 

Ein Troſt hierbei iſt, daß die Welt fi immer mehr und mehr in ſol⸗ 
hen Dingen auf den rechten Weg hin arbeitet, daß eine fortwährende Prü- 
fung und Berichtigung des erften Urtheild ver Welt darüber unvermeidlich 
vor fihh gebt. Denn im Grunde genommen liebt die Welt ihre originellen 
Menſchen und kann fie in feiner Weife vergefien, wenigftens erft nad) langer 
Beit, zuweilen erft nach Taufenden von Jahren. 

Was wollte fie auch überhaupt in der Erinnerung aufbewahren, wenn 
fie die ſe vergefien wollte? Der Reichthum der Welt beſteht eben iu ihren 
originellen Menfchen. Durch dieſe und deren Werfe ift fie eben eine Welt 
und nicht eine Wüfte. Die Erinnerung und Gejchichte der Menſchen, 
bie fie trug — dies ift die Summe ihrer Kraft, ihr geheiligted Eigenthum 
für immer, wodurd fie ſich aufrecht erhält und jo gut es gehen mag, durch 
bie noch unentdeckte Tiefe der Zeit vorwärtd fleuert. 

Ale Kenntniß, alle Kunfl, jeder fchöne oder koſtbare Beſitz des Da⸗ 
feins ift, wenn e8 um und um fommt, dies, oder ſteht damit in Verbindung. 
Iſt nicht die Wiſſenſchaft felbft in einer ihrer interefjanteften Geftalten 
hauptfächlich Biographie; iſt fle nicht die Gejchichte des Werkes, welches 
ein origineller, von und noch genannter oder auch nicht mehr genannter 
Menſch mit dem Segen des Himmel! vollbrachte? Sphäre und Eylinder 
find da8 Monument und die abbrevirte Gejchichte des Menſchen Archimedes, 
die wahrfcheinlich nicht eher vergeffen wird, als bis die Welt ſelbſt verſchwin⸗ 
det. Bon Dichtern und was fie gethan Haben und wie die Welt fie licht, 
wollen wir in diefen, in Bezug auf die Kunft fehr eigenthümlichen Tagen 
nichts oder ganz "wenig fagen. Der größte Moderne der poetijchen Zunft 
hat ſchon gefagt: Ia, wenn Du willft, wer ander ald der Dichter hat und 
zuerft Götter geformt, fie zu und hberabgebradt, und zu ihnen binaufges 
hoben ? 


63 


Eine andere Bemerfung, die einer tiefern Region angehört, aber eben⸗ 
fall8 unfere Aufmerfianfeit in hohem Grate verdient, rührt von Jean Paul 
ber, nämlich daß in in der Kunft eben jo wie im Handeln oder was wir 
Moral nennen, ehe ein Ariftoteles mit feinen kritiſchen Regeln. auftreten 
fann, ein Homer oder viele Homerd mit ihren heroiichen Leiftungen. voran« 
gegangen fein müſſen. Mit jchlichteren Worten — der originelle Menſch 
tft der wahre Schöpfer (oder Offenbarer, wenn man ihn fo nennen will) 
auch der Moral. Bon feinem Beifpiele werden Vorfchriften genug herge⸗ 
leitet und in Büchern und Syſtemen niedergejchrieben. Gr ift eigentlich die 
Sache; Alles, was hinterher folgt, ift blos Geſchwaͤtz über die Sache, eine 
befiere oder ſchlechtere Auslegung derfelben, eine mehr oder weniger ermü⸗ 
dende und wirfungslofe Togtiche Abhandlung darüber. 

Es ift dies eine Bemerkung Jean Paul's, welcde, wenn man fle wohl 
überlegt, eine der inhaltichwerften zu fein fcheint, welche in der letzten Zeit 
über dieſen Gegenftand geichrieben worden. Wenn Jemand den Ehrgeiz 
hätte, ein neues Moraliyftem zu bauen, — was in ber jeßigen Zeit freilich 
kein verheißungsvolles Unternehmen wäre — fo giebt es Feine und befannte 
Bemerkung, welche befler als ein Hauptedflein dienen könnte, um auf den« 
felben zu gründen und zu bauen, body genug ohne Zweifel, — hoch zum 
Beiſplel wie das hriftliche Evangelium felbft und zu welchen anderen Höhen 
das Schickſal ded Menichen ihn noch tragen möge. 

Die beiden moſaiſchen Gefeßtafeln waren von einfachem, befchränftem 
Steine; e8 war ihnen Feine Logik beigegeben. Wir dagegen in unferer Zeit 
find reichlich mit Logik verfehen — wir haben Moralſyſteme, Profefioren 
der Moralphilofophie und eine Maſſe Theorien, die für diejenigen, welche 
Sefallen daran finden, fehr nüglich find. Iſt es aber dem beobachtenden 
Auge nicht immer noch klar, daB die Hegel des Menfchenlebens nicht auf 
Logik beruft; Daß vielmehr, wie von jeher, Das, was der Menfch thut, 
ftet8 Das ift, was er ſich zu thun aufgefordert fühlt, von welcher Auffors 
Derung der Grund wiederun oft von der Logik nit nachgewieſen werben 
kann und der Hauptſache nach einfach Darin Tiegt, daß er ſchon anderwärtd 
und beiler demonftrirt worden, nämlich durch Erperiment, oder mit andern 
Worten, daß ein erperimentirender — oder, wie wir ed nennen, origincller 
— Menſch ſchon fo etwas gethan und wir geſehen haben, dad es gut 
und vernünftig war, fo daß wir ed nun ein⸗ für allemal tafür erkennen? — 
Doc genug hiervon. 


64 


Es müßte ganz gewiß ein fehr fanguinifches Inpividuum fein, welches 
in der franzöftichen Revolution neue Regeln für menſchliches Handeln und 
Schöpfer oder Mufter der Moralität juchte. Gin größeres Werk, hat man 
oft gefagt, iſt der Weltgefchichte niemals durch fo Eleine Menſchen ausgeführt 
worden. Bünfundzwanzig Millionen — fagen diefe ftrengen Kritifer — 
werden aus allen ihren alten Gewohnheiten, Arrangements, Geſchirren und 
Garnituren in die neue volltändig leere Arena und Laufbahn des Sanscu⸗ 
lottism gefchleudert, um bier zu zeigen, melde Originalität in ihnen if. 
Sanfaronaden und Geberden, Heftigfeit, Gährung und heroiſche Verzweif⸗ 
lung zeigen fle allerdings in Hülle und Fülle, aber von dem, wad man Dri= 
ginalität, Erfindung, natürlihen Stoff oder Charafter nennen fann, er= 
ftaunlih wenig. Ihre heroifche Verzweiflung, mochte nun ihre Beichaffen- 
beit fein, welche fle wollte, wollen wir als ein neued Document, oder man 
nenne es lieber eine Erneuung jened uriprünglichen, unvertilgbaren Docu= 
mentes und Freibriefö, der Mannheit des Menjchen, adıten und ſelbſt ver⸗ 
ehren. 

Uebrigend aber gab es Föderation; ed gab Verbrüderungsfefte, tie 
„Statue der Natur ließ Waſſer aus ihren beiden mammelles ſtrömen“ und 
die erhabenen Deputirten tranfen alle aus derfelben eifernen Scale; Ge— 
wichte und Maße wurden verändert; Die Monate des Jabreö wurden Plu- 
viose, Thermidor, Messidor, — bi8 Napoleon ſagte: „Il faudra se debar- 
rasser de ce Messidor, man muß diejen Meifitor aus den Wege fchaften * 
— auch Madame Miomoro und Andere fuhren ftolz und gedeihlich als Göt- 
tinnen der Vernunft einher; und dann, nachdem dieſe zum größten Theile 
guillotinirt worten, bielt Mahomed Robespierre mit einem Blumenftrauß 
in der Hand und in neuen fhwarzen Hofen vor den Tuilerien den unbehol⸗ 
fenften aller prophetiihen Vorträge über das Etre Suprème und ſteckte eine 
Mafle Pappdeckelkram in Brand: — alled dies und eine unermeßliche An 
zahl nody anderer folder Dinge erfannen und vollführten die fünfuntzwanzig 
Millionen ; aber — abgejchen von ihrer beroijchen Verzweiflung, die zum 
Beiſpiel neben der der alten Holländer auch fein Wunder war — dies und 
bem Aehnliches war beinahe Alles. 

Die Arena ded Sandculottiöm war die originellfte Arena, die dem 
Menichen feit über taufend Jahren eröffnet worden und dennod waren die 
Menſchen, die fi darin bewegten, ganz unerwartet gewöhnlid. Der Graue 
Borfter, der mitten in dieſem vulfaniichen Chaos der Schreckensregierung 


— u u u — —— | mim — — a — - 


65 


langfam am gebrochenen Herzen ftarb und immer noch feft an ter Sadıe hielt, 
die er, obfchon jet blutig und ſchrecklich, hoch und heilig glaubte und für 
welche er Alles geopfert, Vaterland, Bamilie, Habe, Freunde und Leben — 
Borfter, fagen wir, vergleicht die Revolution allerdings mit einer „Exrplofion 
und neuen Schöpfung der Welt“, die in derfelben handelnden, ihn umfuns 
menden Perfonen aber mit einer „ Handvoll Mücken.“ 


Und dennoch, kann man binzufegen, war tiefe felbe Erplofton einer 
Melt ihr Werk, das Werk dieier — Müden? Die Wahrheit ift, daß weder 
Vorfter noch irgend Jemand eine frangöftiche ARevolution jeben fann. Es 
ift, ald wollte man den Ocean jehen. Der arme Charles Lamb beflante 
fih, daß er nicht den unendlichen Dcean überhaupt, ſondern blos einen une 
bedeutenden Theil Davon von dem Def tes Marktſchiffes ſehen könne. 


Indeffen muß man zugeben — behaupten jene ftrengen Kritiker weiter 
— daß Beiiviele von gleichfam tollgewordener Trivialität in der franzöji« 
fhen Nevolution in beflagendwerther Menge und Größe vorfonmen. Man ' 
betrachte Maximilian Mobeöpierre, Der während beinahe zwei Jahren fo zu 
fagen Autotrdt von Pranfreib war. ine arme meergrüne (verdätre), 
fhwarsgallige Bormel von einem Menichen, ohne Kopf, ohne Herz oder 
irgend eine außerordentliche Begabung oder aud nur ein außerordentliches 
Kafter, wenn man nicht Eitelfeit, Verichlagenheit, krankhafte, Erampfhafte 
Bewegung — die von einigen fälihlih für Kraft gehalten wird — tafür 
gelten laffen will, mir einem Worte, ein böchft erbärmliches, meergrüncs In« 
dividuum mit einer Brille auf der Nafe, von der Natur höchſtens zu einem 
Methotiftenprediger der firengern Klaffe beſtimmt — das war ter Mann, 
der, ein Spiel der Stürme, fid) emporgewirbelt fah, um la premiere nation 
de l'univers zu commandiren, während Alle ihm ein lautes Vivat zuriefen 
— eins der Häglichiten, tragiichften, meergrünen Objecte, die jemald in 
irgend einem Lande zu ihrem eigenen jchnellen Untergange und zur langen 
Verwunderung der Welt emporgewirbelt worden: 


Sp folgern diefe flrengen Kritifer der franzöflichen Revolution, mit 
welchen wir uns bier in feinen Streit einlaflen, fondern blos, worauf e8 
bier mehr anfommt, bemerfen wollen, daß Die franzöſiſche Revolution wirk⸗ 
lich originelle Menfchen an's Licht treten ließ — unter den fünfuntzwanzig 
Millionen wenigftend eine oder zwei @inheiten. inige redinen bei dem 
gegenwärtigen Stadium der Sache ſchon drei: Napoleon, Danton, Miras 


Garlnle. IV. 5 


66 


beau. Ob noch mehrere an's Licht kommen werden oder von welder Art 
fie find, wenn die Berechnung vollfländig liquitirt if, das kann man nicht 
fagen. Mittlerweile möge die Welt dankbar für dieſe Treue fein, wie fie 
es in der That auch ift, denn fle liebt originelle Menichen ohne Zahl, wären 
fie audy noch fo tadelnswerth, denn fie weiß wohl, wie felten fie find. 

Für und ift es demgemäß intereffant, zu beobadıten, wie aud an die 
fen Dreien, fo zweifelhaft und tadelnswerth fie auch übrigens find, der alte 
Prozeß ſich wiederholt und wie auch dieſe in ihrer wahren Geſtalt erfannt 
werden. ine zweite Generation, die bis zu einem gewiffen Grade frei iſt 
von den gefpenftifchen Täuſchungen der hyſteriſchen Ophthalmie und dem na⸗ 
türlichen panifchen Delirium der erften zeitgenöfftichen, kommt allmälig, um 
zu erkennen und zu bemeflen, was ihre Vorgängerin nur jchmähen und vers 
wünfchen fonnte, denn, wie unjer Spridwort fagt, der Staub finkt, bie 
Schutthaufen verfhwinten und Das gebauete Haus, fo wie es ift und jein 

follte, ſteht fichtbar da. 
| Bon Napoleon Bonaparte fann man bei fo vielen Bulletins und die- 
fer Selbftproclamation durch Artillerie und Schladhtendonner, laut genug, 
um auch das taubfle Gehirn in dem fernften Winfel diefer Erde zu erfchüt- 
tern, bei den vielen Biographien, Geſchichten und hiſtoriſchen Argumenten 
für und wider fagen, daß er fih nun recht wohl allein behelfen kann und 
daß feine wahre Geftalt auf dem beften Wege ift, ermittelt zu werden. 
Ohne Zweifel wird man eines Tages finden, welche Bedeutſamkeit in ihm 
lag, wie — wir citiren bier eine Stelle aus einen amerifanifhen Bude — 
„der Mann ein göttliher Gefandter war, obſchon er es felbft nicht wußte 
und durch Feuerſchlünde die große Lehre prebigte: La carriöre ouverte aux 
talens, die Werkzeuge Dem, der fie zu führen verfteht — eine Lehre, Die 
unfer letztes politiſches Evangelium ift, in welchem allein die Freiheit liegen 
Tann. Wahnfinnig genug predigte er allerdings, wie Enthuftaften und erfte 
Miſſtonarien zu thun pflegen, mit unvollfommener Ausſprache und vielem 
hochtrabenden, leeren Geihwäg, aber dennoch vielleicht fo deutlich als Die 
Sache e8 erlaubte. Oder man nenne ihn, wenn man will, einen amerifanie 
ſchen Hinterwäldler, der undurchdringliche Wälder zu fällen und mit unzäh— 
ligen Wölfen zu fämpfen hatte und ſich dabei von ftarfen geiftigen Geträn« 
fen, Excefien und jogar Diebſtahl nicht ganz frei erhielt; dem aber nichts⸗ 
deftoweniger der friedliche Säemann folgt und während er die unermefliche 
Ernte jchneidet, feinen Namen ſegnet.“ — Bon dem „eingefleiichten Mo⸗ 


67 


loch“, welches einft ver beliebte Ausdruck war, bis zu diefer ruhigen Ver⸗ 
fion ift fchon ein bedeutender Fortſchritt. 

Noch intereffauter ift es und faſt nicht ohne einen Anflug von Pathos, 
zu fehen, wie Der rauhe Terrae Filius Danton gleichfalld aus dem blutigen 
Dunkel und dem Schatten gräßlicger Grauſamkeit in ruhiges Licht emporzu⸗ 
Reigen beginnt und allmälig nicht ausſchließlich ein Menſchenfreſſer, ſon⸗ 
dern mwenigftens theilweife ein Menſch zu fein fcheint. Im Ganzen genom⸗ 
men fühlt die Erde, daß ee ſchon etwas tft, einen „Sohn der Erde“ zu ha⸗ 
ben, irgend eine Wirklichkeit, Tieber al8 eine Heuchelei und Bormel! 

Mit einem Manne, der ehrlich mit fich felbft zu Werke gebt und im 
irgend einem Sinne mit ganzer Seele ſpricht und handelt, ift ſtets etwas 
anzufangen. Der Satan felbft war nah Dante ein lobenswerther Gegen⸗ 
ftand im Bergleih mit jenen juste milieu-Engeln — in unfern Zeiten fo 
überauß zahlreich, — die weder treu noch rebellifch waren, fondern nur an 
ihr eigenes kleines Ich dachten — Zuftuger, gemäßigte, plaujible Menſchen, 
bie in der Hölle Dante's zu der entieglichen Strafe verurtheilt find, daß fle 
nicht die Hoffnung haben, zu ſterben (non han speranza di morte); fon« 
dern in ein ſtarres Tod⸗Leben, in Schlamm umd von Bliegen gepeinigt ver« 
funten, fortwährend ſchlummern und bulden müſſen, — „Gott eben fo ver⸗ 
haft ald den Feinden Gottes" — 

Non ragionam di lor, ma guarda e passa | 

Wenn Bonaparte, der „bewaffnete Soldat der Demokratie * und une 
beftegbar war, während er diefer Aufgabe treu blieb, fo müflen wir biefen 
Danton bad Enfant perdu und den nichtangeworbenen Empörer und Ti⸗ 
tanen der Demokratie nennen, der noch Feine Soldaten oter Disciplin ha⸗ 
ben konnie, jondern ihrer Natur zufolge gejeglos war. Ein Irdiſchgebore⸗ 
ner, fagen wir, aber vechtichaffen von der Erde geboren! In den Memoiren 
Garat's und anterwärts fleht man, daß diefe Feueraugen von innigem Eine 
blick ſtrahlen und fid mit Thränen füllen, die breiten rohen Züge verrathen 
menfchliche Sympathien, die Bruft des Antäus barg aud ein Herz. „ES 
ift nicht die Lärmfanone, die Ihr Hört, * ruft er den Erſchrockenen zu, als 
die Preußen ſchon in Berdun ſtanden; „ed iſt ber pas de charge gegen un⸗ 
fere Feinde! De l’audace, et encore de l’audace, et toujours de l’audace, 
Muth und abermald Muth und nichts als Muth!“ — 8 bleibt weiter 
nichts übrig. 

Armer „Mirabeau der Sandculotten“, wel eine Miſſion! Und ed 

5* 


68 


fonnte nicht anders ald gefchehen und es geihab! Lind ifl Benno nicht, 
wenn man es wohl überlegt, mehr Tugend in diefem Gefühle jelbft, ſobald 
es nur einmal innig dem wilden Herzen entquillt, ald in dem ganzen langen 
Leben makelloſer Pharifaer und Meipektabilitäten, die ihr Augenmerk fort⸗ 
während auf den „guten Ruf“ gerichtet halten, fo wie auf den Buchſtaben 
bed Geſetzes: „Que mon nom soit fletri, möge mein Name gebrandmarft 
werden ; wenn nur die Sache fiegreich tft und den Sieg erringt!“ 

Nah und nad) wird, wie wir voraudfagen, der Freund der Humanität 
eine gewiſſe Geſchichte in dieſem Danton finden. Ein aus dem Rohen ge- 
banener Rieſe von einem Menfchen, nicht ganz und gar Wenfchenfrefler, 
deffen „Rebefiguren * eben jo wie fein Handeln alle gigantiih find; deſſen 
„ Stimme von den Domen wiederhallt * und der Braunfchweig in fehr erbaͤrm⸗ 
lichem Zuftande über die Grenze hetzt. Sein gänzliches Freilein von heuch⸗ 
leriſchen Floskeln ift ſchon viel; felbft in feinen Beftechungen und anderen 
Geldſünden liegt eine gewifle Sreimüthigfeit und ungenirte Größe. Aufe 
richtigfeit, eine große rauhe Aufrictigfeit der Einficht und des Zweckes 
wohnte in dem Manne, welche Eigenfchaft die Wurzel aller anderen ift — 
ein Mann, der Vieles durchſchauen fonnte und nur vor ſehr wenigen Din- 
gen zurüdichraf, der ungeftün in dem zweifelhafteften Elemente marſchirte 
und ſich weiterfämpfte und nun bie Strafe trägt, in einem „gebrandmarften * 
Namen, der aber, wie wir jagen, fi allmälig und ſichtbar Elart und reinigt. 
Ift aber diefer Name einmal wieder gereinigt, warum jollte dann nicht auch 
er Bedeutfamfeit für die Menichen haben ? 

Die wildromantifche Geſchichte iſt eine Tragödie, mie alle menſchlichen 
Geſchichten find. Rauhe, rüftige Dantons fpalten noch bis zur gegenwär⸗ 
tigen Stunde in Arcis für Aube als einfache rüftige Landwirthe die Scholle 
und ſchneiden friedliche Ernten; und dagegen die ſer Danton! Es ift eine 
ungereimte Tragödie, fehr blutig und rußig — nah Art der älteren 
Dramatiker — aber doch erfüllt von tragifchen Elementen und nicht ohne 
Anſpruch auf natürliches Mitleid und Furcht. In ruhigen Zeiten, vielleicht 
aus weiter Kerne, kann der glüdlichere Zufchauer über dad Dunkel der Sabre 
Hunderte hinweg ihm die Hand entgegenftreden und fagen: „unglüdlicher 
Bruder, wie Du kämpfteft mit wilder Löwenkraft und doch nicht mit genug 
Kraft, und hoch flammteft und niedergetreten wardſt von Sünde und Elend, 
— ftehe, auch Du warft ein Menſch!“ 

Man fagt, ed liege in diefem Augenblid eine fertig gefchriebene Bio- 


69 


graphie Danton's in Paris, aber der Herausgeber wolle erſt warten, bis Die 
„Macht der öffentlichen Meinung“ fih ein wenig gelegt habe. Er möge 
aber ja fo ſchnell als möglich fein Werk veröffentlichen und fagen, was er 
weiß, wenn er wirklich etwas weiß. Die Lebendgefchichte merkwürdiger 
Menichen ift fletö werth, dag man fie verſtehe, anſtatt mißverfiche und bie 
öffentliche Meinung muß ſich pofltiv fo gut al8 möglich anbequemen. 


Der Intereflantefte und Begabteſte vieles zweifelhaften Triumphirats 
aber tft ohne Zweifel nicht der Mirabeau der Sansculotten, fondern der 
eigentliche Mirabeau ſelbſt, ein Mann von viel edlerer Natur, als einer ber 
beiden andern, ein Genius von gleicher Stärfe, wollen wir jagen, wie Na⸗ 
poleon, aber ein weit humanerer, faft ein poetiicher Genius. Mit umfaflen« 
deren Sympathien des eigenen Gemüthes begabt, appellirt er auch in weit 
überzeugenderer Weife an die Sympathien der Menſchen. 

Auch in Bezug auf ihn ift es intereflant, den allmäligen Uebergang 
aus der Dämmerung der Verleumdung, verfehrten Darftellung und verwor⸗ 
renen Finſterniß in Sichtbarkeit und Licht zu beobachten und wie die Welt 
ihre fortwährende Wißbegier hinjictlich feiner an den Tag legt und wie, fo 
wie Bud nach Buch mit neuen Beweiſen erfcheint, Die Sache wieder aufge⸗ 
nommen und dad frühere Urtheil darüber revidirt und immer wieder von 
Neuem revidirt wird — wodurd zulegt, wie wir hoffen können, das Rechte, 
oder doch annähernd Rechte, gefunden und damit die Frage entichieden wer« 
den wird. 

Denn diefer Mirabeau iſt auch ein Menſch, deffen Gedaͤchtniß die Welt 
nod lange Zeit nicht fterben lafien wird — ganz im Gegenfag zu fo man⸗ 
chem hohen Gedachtniß, welches ſchon lange, lange todt und tief begraben 
liegt! Während feines Xebend und ſelbſt in dem legten hellſtrahlenden 
Theile defjelben fchrieb diefer Mirabeau mit einem gewifien Gefühl fcheuer 
Ehrfurcht an unfern Mr. MWilberforce, befam aber, fo viel wir finden Eönnen, 
feine Antwort. Pitt war Premierminifter, und dann Por, dann wieder 
Pitt und dann Bor in lieblicher Abwechſelung, und das Geräufch, welches 
dieſe beiden machten, erfüllte in den Glubzimmern, bei Zwedefjen, an Wahl⸗ 
ſchranken und in Leitartikeln wieberhallend, die ganze Erde und es ſchien, 
ala ob diefe beiden — obſchon man nicht unterfcheiden Eonnte, wer diefer 


70 


oder jener wäre, der Ornnzd und Ahriman der politiſchen Ratur gewefen 
feten; — und wie ſteht «8 jegt! 

Ein folcher Unterſchied — wir wiederholen Died noch einmal — be» 
ſteht zwiſchen einem originellen Menſchen, fet e8 von auch noch jo zweifel- 
hafter Art, und der gewandteften, ſchlaueſt ausgeſonnenen Rarlamentömühfe. 
Der Unterfhied ift groß und einer von denen, in Bezug worauf die Zufunft 
den grellften Gontraft zur Gegenwart bildet. Nichts kann wichtiger fein, 
als die Mühle, fo lange fle geht und mahlt, wichtig vor allen Dingen für 
Die, welche im Begriff find, ihr Korn aufzufchütten. Iſt aber dad Mahlen 
einmal beendet, wie fan dann das Andenken daran noch fortdauem?! Sie 
hat ja jept für Niemanten eine Bedeutung mehr, nicht einmal für Den, 
welcher gemahlt hat. Sf, Diefer Tumult einmal vorüber, fo tft die ganz 
natürliche Folge, dap das Andenken an den originellen Menſchen und an bie 
Beine Offenbarung, die er ald Sohn der Natur und ald Mitmenſch gewäh«- 
sen kaun, für und wieder in den Vordergrund tritt, denn jeine denkwürdi⸗ 
gen Worte, Tas, was er gethan und gelitten, fogar die Lafler und Ber 
brechen, in Pic er verfiel, find cine Art Speife, auf welde alle Menſchen ihr 

Necht geltend machen. 

| In Bezug auf Beuchet, Chauflard, Baifteourt, fo wie überhaupt alle 
früheren Biographen Mirabeau's läßt fich hier wenig weiter fagen, als daß 
fe von Irrthümern wimmeln und der gegenwärtige legte Fils Adoptif wird 
mit dem Aufftechen diefer Bchler gar nicht fertig. Nicht als Memorialen 
Mirabeau’s, fondern als Memorialen über das Berhäftniß der Welt zu ibm, 
über die Behandlung, welche die Welt ihm zu Theil werden ließ, können ſie 
noch einige Zeit eine wahrnehmbare Bedeutung haben. Don dem armen 
Beuchet (er war einft im Moniteur befannt) und andern dergleichen Ars 
beitern im Weinberge kann man mit Net fo viel verlangen, aber nicht 
mehr. 

Etienne Dumont's Souvenirs sur Mirabeau fcheinen auf den erſten 
Anblick vielleicht nicht ein Kortfchritt zur wahren Erfenntniß, fondern cher 
- eine Bewegung mach der andern Richtung bin zu fein und doch waren ſte 
wirklich ein Fortſchritt. Erſtens ward das Buch von allen Journalen und 
periodifchen Zeitichriften Europa’3 in allen Spraden laut begrüßt, wedurd 
wenigftend die Aufmerkſamkeit der Menicyen wieder auf den Gegenftand ge= 
lenft ward, fo daß trog aller alten oder neuerfonnenen Täufchungen ein 
Wachsthum der Einfiht unvermeidlich war. Ueberdies that auch bad Buch 





in Bin u —— Mo — CU —R —M 5 En Aut 9; > u U, 3922. 





71 


feloft etwad. Zablreiche Specialitäten über den großen Branzofen wie tie 
Augen des Eleinen Genfers fte aufgefabt hatten, wurden bier mitgetbeilt 
und konnten mit gebührenter Rückſtichtnahme entziffert werden. Dumont if 
ein Freund der Wahrheit und innerhalb feiner eigenen Grenze beflgt er ſo⸗ 
gar eine gewiſſe Breiheit und eine malerifche ungezwungene Klarheit. 

Allerdings gehört die Grille, den großen Mirabeau als einen Gegen» 
ſtand zu betrachten, der hauptſächlich durch ihn (Dumont und feined Glei⸗ 
den) in Bewegung gefegt ward, zu den wunderbarften, die in der Pſycholo⸗ 
gie vorgefommen find. Ja, noch wunderbarer war e8, wie die Recenſenten 
faft allgemein und währen? man von einigen ewas Beſſeres erwarten fonnte, 
auf die Sache eingingen und fte verichlimmern halfen. Es ſchien Demgemäß 
von allen Seiten ausgemacht zu fein, daß bier abermals ein Prätentent jeie 
nes Gefieder? entfleidet und der Große — zu unferm Troſt — eben to Elein 
gemacht worcen, wie wir übrigen Menſchen; Laß in der That bildlich ge= 
fprochen, diefer enorme Mirabeau, deſſen Schall durch alle Lande ging, wei⸗ 
ter nichts war als eine ungeheure blankgeputzte Trompete, in welche ein ge⸗ 
wandter kleiner Dumont hineinblies und dadurch den Lärm hervorbrachte. 

Manche Menſchen und Recenſenten haben ſeltſame Theorien vom Men⸗ 
ſchen. Moͤge doch irgend ein Sohn Adam's, der ſeichteſte von allen jetzt 
lebenden, ſich ehrlich bemühen, in feinem Kopfe eine Exiſtenz dieſer Art aus⸗ 
zudenken und dann ſagen, wie wahrſcheinlich ſte ausfieht. Ein wirklich nad 
einem ſolchen Trompeten⸗ oder Poſthorn⸗Prinzip geführtes Leben und Han⸗ 
deln — wir ſagen nicht das Leben und Handeln eines Staatsmannes und 
Weltenlenkers, ſondern des ärmſten Handelsmannes und Bindfadenverkäu⸗ 
fers — wär’ eind der größten Wunder, von welchen bis jetzt Die Geſchichte 
erzählte. O Dumont! War, ald der alte Sir Chriſtopher den legten Stein 
in die Kuppel der St. Vaulskirche einfegte, er es jelbft, Der den Stein hin⸗ 
auftrug? Nein, e8 war ein gewiſſer Mann mit ftarfem Rücken, der, in be« 
neidete oder unbrneidete Vergeſſenbeit verjunfen, niemald erwähnt ward; 
wahrſcheinlich war es ein Bürger der Schwefteriniel. 

Hierbei müffen wir jedoch ausdrücklich Hinzufügen, daB Dumont bier 
weniger au tadeln war al8 feine Mecenfenten. Der gute Dumont erzählt 
genau, welche finnreiche Tayelöhner- und Handlangerarbeit er für feinen 
Mirabeau verrichtete, giebt dabei jo manche Anekdote zum beften, welde Die 
Welt freutig aufninmt, beſchönigt nichts, hoffen wir, und übertreibt au 
nichts. Dies ift es, was er that und was zu thun er unbeftritten Dad Mecht 


72 


und den Beruf hatte. Und was kommt darauf an, wenn ibm dabei nicht 
einflel, daß er im Grunde genommen Tod nichts weiter war ald ein Du⸗ 
mont, ja, daf Die Gabe, die dieſer Mirabeau hatte, fo reipectable Dumonts, 
Handlanger und ſogar geſchickte Kunftarbeit für ſich machen zu laflen, ſie 
durch den Blick feines Auges zu beherrſchen und fle zu bewegen, daß fle für 
ihn mit Heiterem Muthe apportirten und ihm mit einer Art Ritterlichfeit 
und Willigfeit als loyale Unterthanen tienten, — daß diefe Gabe eben Die 
fönigliche Eigenichaft ded Mannes war und ihn an und für fih ſchon zu 
einen Anführer unter den Menſchen ſtempelte! 

Deshalb möge Niemand den guten Dumont tadeln, wie Einige nur 
allzubart gethan haben ; fein Irrthum ift ein ſehr verzeihlicher, fein Werth 
dagegen für un unbeftreitbar. Andererſeits möge man die öffentliden 
Kehrmeifter und periodifchen Individuen tateln, welde dieſen Schluß und 
dieſe Lebenstheorie ihm ablodten und fe auf diele laute Weis: audfchrien ; 
oder vielmehr, im Grunde genommen, man table fie nicht, fondern verzeihe 
ihnen und trete auf Die andere Seite. Soldye Dinge find einmal eine be⸗ 
ſtimmte Prüfung der öffentlichen Geduld, welcher vielleicht ein wenig Zucht 
fehr heilſam iſt und thun felten oder vielmehr niemald dauernden Schaden. 

Dicht auf Dumont’8 Reminiscences folgte dieje Biographie von Lucas 
Montigni, dem Adoptivfohn, der erſte Bann im Jahre 1834, die übrigen 
in £urzen Zwiſchenräumen und liegt nun in acht beträchtlichen Bänden vor 
und, hinftchtli deren wir uns bier außzufprechen haben; — es thut und 
leid, daß dies in abfälliger Weife geicheben muß. 

68 ift in der That feinem Menſchen möglich, über dieſes Werf blos 
Butes zu fagen. Daß Lucas Montigni ald Adoptivfohn ſich fo entihloffen 
dazu hergegeben hat, jeinen Helden weiß zu wafchen und ihn jogar da, wo 
die natürliche Farbe ſchwarz war, zu übertünden, dies gereicht ihm nicht 
zum Tadel, fondern vielleicht eher zum Lobe. Wenn der Adoptivfohn eines 
Menjchen nicht das befte Buch über ihn jchreibt, welches er ichreiben fann, 
wer toll ed dann thun? Der ſchlimme Umſtand aber ift, daß Lucas Mon⸗ 
tigni gar fein Bud) geſchrieben, ſondern blos die Materialien zu einem Buche 
audgeichnitten und zuſammengeworfen hat, welches Buch erit noch geichrieben 
werden muß. 

Im Ganzen genommen wundern wir uns über Montigny. Wahr. 
ſcheinlich weiß der Xefer bereits, was alle Welt ſich zuflüftert, daß, als Mis- 
rabeau im Jahre 1783 dieſes im Damals legtvergangenen Jahre geborene 


ee De uni nad De u En ⏑— il eh 


73 


Kind adoptirte, er Die drangendfte von allen nur denkbaren Berpflichtungen 
hatte, ed zu adoptiren, weil er es durch feinen eigenen. — nicht notariellen 
— Act vorgeladen, in biefer Welt zu erſcheinen. Und nun erwäge man, 
was Shafejpeare’8 Edmund, wad der Dichter Savage und dergleichen Leute 
geprahlt Haben, fo wie auch, daß die Mirabeaus jeit undenklihen Zeiten — 
gleich einer gewiflen, und befannten britifhen Bamilie — wohl „manden Va⸗ 
gabunden, aber nicht einen einzigen Dummfopf* gezeugt hatten. Wir fönnen 
jener Behauptung, welche alle Welt fich zuflüftert, faum Glauben beimefien, 
oder wenn wir ihr Glauben beimefien, jo werben wir Dadurch auf allerhand 
Betrachtungen über den Ruin der Bamilien geführt. Das Haarlemer Meer 
ift nicht jeichter ald der Genius dieſes Montigny. Es fehlt ihm jogar das 
Zalent, welches fonft allen Franzoſen angeboren zu fein ſcheint, das Talent, 
die Kenntniß, die er befigt, in der verſtändlichſften Form darzubieten. Dabei 
ift er übrigend ein ganz folider Mann, ohne Zweifel ein ganz achtungswer⸗ 
ther Mann, den wir mit dem größten Bergnügen loben würden, wenn wir 
nur fönnten. Möge er in einer Privatftellung glüdlidh fein und niemals 
mebr jchreiben, — audgenonmen für die Bureaux de Prefecture, mit einem 
bübfchen firen Gehalt, was weit beffer if. 

Sein biographiiches Werf iſt ein ungeheurer Steinbrudy oder Hügel 
von Geröll in acht Schichten, in welchen werthvolle Dinge verborgen liegen, 
die Der, welcher jucht, finten wird. 

Wir jagen werthvolle Dinge, denn der Adoptivſohn hatte ungebinder- 
ten Zutritt zu Bamilienarbiven und fonnte eine Menge Geheimpapiere und 
Documente benugen. Lange Jahre bat er mit Eindlicher Unermüdlichkeit 
darin gearbeitet und ſich in allen Winfeln der Sache heimiſch gemacht. Und 
wie leicht wäre e8 für ihn geweſen, und auch darin heimiſch zu machen! 
Aber Dad thut er nicht. Er bringt vielmehr neue und alte Dinge an’ Licht, 
bald foftbare, werthvolle Aufichlüffe enthaltende Privatdocumente, bald bie 
armjeligften Haufen von Blugichriften und Parlamentögeihwäg, welches 
mit jo leichter Mühe anderwärts zu haben ift und oft ganz wohl zu entbeh- 
ren jein würte, wenn es zufällig einmal nicht zu haben fein follte. Alles 
Died wirft er fo rüdjichtelo8 und verworren und — da er Frachtwagen ge= 
nug bat — in fo unendlicher Menge durch einander, daß der Lefer nicht 
weiß, was er mit allem diefen anfangen fol. Sogar die Mühe, die er dar» 
auf verwentet bat, ift oft verfehrt; dad Ganze ift jo hart und ſchwer gewor⸗ 
den, daß ed ter Leſer nur im Schweiße jrined Angeſichts genießen kann! 


74 


Dder man fann es auch eine Mine nennen, eine künſtlich natürliche Silber⸗ 
mine. Adern des fchönften Silbererzes zichen fich bier und da durch das 
Geflein und man muß mit Mühe darnadı graben. Wan flößt auf eine und 
verfolgt fie, plößlich aber und gerade während man fidh Die reichſte Ausbeute 
verfpricht, verfchmindet fie — wie dies in dergleichen Gruben fehr oft ges 
ſchieht — in dien Maſſen fremtartigen Geſteins, Niemand weiß wohin. 

Dies ift allerdings nicht fo wie es fein jollte und dennoch konnte es 
unglüdlicherweiie nicht anders fein. Ein langed ſchlechtes Buch ift viel Teich- 
ter herzuſtellen, als cin kurzes guted und ein armer Buchhändler hat Feine 
andere Art und Weile zu meflen und zu bezahlen, als nach der Elle. Sogar 
der Weber kommt und fagt, nicht „Ich babe fo und fo viel Ellen Stoff ge= 
webt. * fondern „So und jo viel von ſolchem Stoff, * Atlas oder Sad 
leinwand. 

Die Abſicht des Adoptiviohnd war ohne Zweifel gu. Müſſen wir uns 
nicht über den Beflg dieſer felben Silberadern freuen und fle in Dem begra- 
benen Mineralzuftande oder auch in einem andern Zuſtande binnchmen, mir 
Dank, daß fie nun, da fle gedruct vor und liegen, unzerflörbar find? Die 
Welt, fagen wir, möge Montigny dankbar fein und dennoch wiffen, wofür 
fte ihm dankbar iſt. In dieſen Bänden ift feine Lebensgeſchichte Mirabeau's 
zu finden, wohl aber das reichhaltigfte Material zum Schreiben einer Lebens⸗ 
geſchichte. Würden die acht Bände gut gefichtet und in einen einzigen Band 
zufammengeichmolzen,, jo wäre dieſer eine Band der wahre und achte! Ya, 
es fcheint Dies ein fo nuͤgliches und Dabei fo leicht ausführbared Unternehmen 
zu fein, daß es früher oder fpäter ganz gewiß und zu wiederholten Malen 
und endlich yut ausgeführt werten wird. 

Der Berfaffer red gegenwärtigen Auflage hat fih, obſchon er auf 
die engen Grenzen eines ſolchen angewieien ift, vorgenommen, ein wenig zu 
fihten und zu ertrahiren. Er bat in dem Buche, fo zu jagen, Bohrverſuche 
nach verichledenen Richtungen hin angeftellt, und weiß ziemlih wohl, was 
darin fledt, obſchon er e8 nicht immer berauszubolen weiß. Wenn daber 
nicht allemal die beften Auszüge Dargeboten werden, fo gebe man nicht Mon⸗ 
tigng die Schuld. Wir Hoffen nichtöteftoweniger eine Skizze von Mira⸗ 
beau's Befchichte zu liefern, was ihm der Reihe nad) in diefer Welt begeg⸗ 
nete, und welche Schritte er Demzufolge that, und wie er und tie Welt zu- 
fammenwirfend dad Ding ſchufen, was wir Mirabeau’d Leben nennen. 
Außerordentlich unvollfommen wird diefe Skizze allerdings nod ſein, aber 


|) — — — — — —— ————— — 


75 


Hoffentlich viel richtiger und treuer, als die biographiſchen Lexika und die 
gewöhnliche Stimme des Gerüchte fie mittbeilen.. Ob und wie und wo Die 
herrſchende Anfiht über Mirabeau zu berichtigen oder zu beftätigen oder in 
irgend einem wichtigen Bunkte zu widerlegen ift, das wird fich hierbei im 
Laufe unferer Arbeit gleihfam von felbft ergeben. Es ift in der That, 
wenn man bie täglich ichriftlich oder mündlich über diefen Mann ausgeſpro⸗ 
chenen emphatifchen Urtheile erwägt, ſehr eigenthämlich, welches egyptiſche 
Dunkel nod über die bloßen Thatſachen feiner äußern Befchichte verbreitet 
iſt, deren richtige Erkenntniß, wie man glauben follte, der Vorläufer irgend 
eined, wenn auch ganz flüchtigen Urtheils fein müßte. 

Auf diefe Weile aber werden, wie wir ſchon zum Oeftern hervorgeho⸗ 
ben haben, ſolche Urtheile gewöhnlich gefäͤllt. Es find unbeftimmte und 
unſichere plebiseita, Audfprüche des gemeinen Volkes, aus unzähligen lauten, 
leeren Jas und lauten, leeren Neind zufammengefegt, die eigentlich gar feine 
Bedeutung, fondern bloß Klang und Geltung haben, denn alle plebiscita 
bedürfen einer gründlichen Erörterung. 

Nun jedoch and Wert. 


Eins der jchägenswertheflen Efemente in dieſen acht chaotiichen Bänden 
Montigny's ift die Kenntniß, die er über Mirabeau's Vater, über jeine Ber- 
wantten und Familie, feiner Gegenwart fowohl ald der Vergangenheit an⸗ 
gehörende, mitteilt. 

Der Vater war, wie wir bereits wiflen, Victor Riquetti, Marquis 
son Mirabeau, der Menihenfreund genannt und ſich felbft fo nennend 
— ein Prädifat, welches in unjern jebigen Zeiten al8 ein keineswegs gün⸗ 
ſtiges Omen betrachtet werben muf. Demgemäß wunderte man ſich aud 
nicht, wenn man hörte, daß dieſer Freund der Menfchen der Yeind faſt eines 
jeten Menfchen war, mit dem er zu tbun hatte, wobei er an feinem eigenen 
Heerde begann und an dem Außerften Kreije feiner Bekannten aufbhörte, weil 
er erft j. nſeits deffelben fi veranlaßt fühlte, die Menfchen zu lieben. „Der 
alte Heuchler!“ werden Biele ausrufen, — wir nit. Ach leider iſt e8 ja 
viel leichter, die Menſchen zu lieben, während fie blos auf dem Papier oder 
vollfommen biegſam und ſchmiegſam in der Phantafle erifliren, ale Sand 
und Grete zu Tichen, die hungrig und zur ungelegenen Zeit leibhaft daſtehen 


76 


und mit ihren fpigen Eldogen, mit ihren Gelüften, ihrer Reizbarkeit und 
ihrem dummen Eigenwillen fortwährend gegen einen anrennen und den Weg 
verfperren. Es ift fein Zweifel, daß der alte Marquis Mirabenu ed aufer- 
ordentlich fchwer fand, mit feinen Brüdern, den Menſchen, auszukommen, 
und daß er fidh deshalb oftmals als ein wunderlidyer, Taunenhafter, aufbrau⸗ 
fender alter Kauz erwies. Nichtöpeftoweniger giebt ed in dieſem Punkte 
viel zu berichtigen und Lucas Montigny hat fih, wenn man ihn forgfältig 
folgt, bemüht, es zu thun. Hätte e8 Lucas nur auch für gut gefunden, Diele 
Privatbriefe, Samiliendocumente und dergleichen — denn er fagt, er fönne 
davon mehr als dreißig Bände zufammenbringen — für fich allein drucken 
zu laſſen, ganz einfach in chronologiſcher Reihenfolge mit Fleinen erläutern« 
den Anmerkungen! — So aber muß man fuchen und fihten. Zum Glüd 
fegte der alte Marquis felbft in Zeiten der Muße oder erzwungener Muße, 
deren er viele hatte, gewifle „ ungedrudte Memoiren * über jeinen Vater und 
feine Borfahren auf, aus weldhen der junge Mirabeau ebenfalld in gezwun⸗ 
genen — im Sclofle If noch weit gezwungeneren — WRußeflunden ein ein⸗ 
ziges Memoir von fehr lesbarer Art zufammenftellte. Bei dem Kichte dieſes 
legteren wandeln wir, fo lange e8 Tauert, mit Bequemlichkeit. 

Die Mirabeaus waren ihrem Zunamen nad) Riquettis, was eine Fleine 
Verftümmelung bed italieniichen Arrighetti iſt. Sie ſtammten aus Florenz, 
wo fie während eines der Kämpfe zwiichen den Guelphen und Ghibellinen, 
wie fie dort und damals häufig vorfamen, im Jahre 1267 vertrieben 
worden waren. Stürmijche Zeiten damald! Der Chronolog wird hierbei 
bemerfen, daß Dante Aligbieri an jenem Morgen, wo die Arrighettis fort 
mußten und tie Leute fagten: „Sie find fort, dieſe Schurken! Sie find 
fort, diefe Märtyrer! * ein Fleiner Knabe von etwa zwei Iabren war. Der 
Heine Knabe hörte mit Berwunderung dieſe entgegengefeßten Aeußerungen. 
Man laſſe den Knaben einen Mann werden und auch er wird feine Heimath 
meiden müflen und erfahren come & duro calle und was für eine Welt dies 
if. Seine Dichternatur wird dadurch allerdings nicht getödtet — denn fie 
ift unfterblid — wohl aber zu althebräifcher Strenge verbüftert und in den 
Hades und in die Ewigfeit verwiefen, um ſich dort eine Heimath zu fuchen. 

Auf diefe Weife überfliegen die Arrighertis — ohne Zweifel in grims« 
migem longobardiihem Zorne — die Alpen und wurden trandmontane 
franzöftfche Riquettis und erzeugten unter anderen Dingen aus die gegen» 
wärtige Abhandlung. 


— — — RE — — — nn — — * — — * — —ñ ———— —ñ ei — 


77 


Es ward ſchon oben angedentet, daß dieſe Riquettis ein angeſehenes 
Geſchlecht waren, wie denn überhaupt, wenn wir es recht betrachten, die 
Borfahren der meiften angefehenen Leute ebenfalls fchon angefehen oder doch 
bemerfendwerth waren. Die Duelle von Bauclufe, welche ald Fluß bervor- 
ſtromt, ift vielleicht fchon eine Strede weit unterirdiſch in diefer Eigenfchaft 
gefloffen, ehe fie einen Ausweg fand. Ja, vielleicht ift es nicht immer oder 
nicht oft der an und für fid, Größte einer Bamilienlinte, welcher der Be⸗ 
rühmte wird, fondern blos der vom Glück am meiften Begünftigte. So 
reich ift bier wie anderwärt® die Natur, die mächtige Mutter, und ftreut von 
einem einzigen Eichbaum ald Butter für Säue die Früchte, die den ganzen 
Planeten in einen Eichenwald umpflanzen würten! Denn in der That, 
wenn nicht eine ſtumme Kraft in ihr wäre, was follte dann durch die 
fprehende und and Licht ftellende aus ihr werden? wenn unter diefer ſchäu— 
menden Oberflähe von Schwägern, Prahlern und hochtrabenden reichdeco- 
rirten Berfonen, welche fich brüftend unıherftofziren und fortwährend Quam 
parva sapientia regatur predigen, nicht eine Unterfchrift von ſchweigſam 
heroiſchen Menſchen läge, die als Menſchen arbeiten, mit männlicher Energie 
und unbeflegbarer Ausdauer, die nicht einmal fi tetoft zuflüftern, wie ener⸗ 
giſch fie find? 

Die Familie Riquetti war gewiffermaßen ſchon dur die Analogie mit 
jener britifchen defintrt, als eine Bamilie, in der e8 durchaus feine Dumm 
föpfe gab, Die aber ein wenig geneigt war, Vagabunden und Taugenichtje 
zu produeiren. In der Provence faßte fie Wurzel und trug bier vollfaftige 
Südfrühte — eine unruhige, flürmifche Neihe von Männern, in deren 
Adern wildes Blut tobte, als ob fe einem düſtern Verhaͤngniß gemweihet 
wären — „gleich dem Gefchleht des Atreus,“ pflegte Mirabeau zu fagen 
— was auch wirflicdh der Fall war, denn das wilde Blut war ſchon an und 
für fi) Verhängniß genug. Wie lange diefe Riquettid in Florenz und ans 
derwaͤrts geftürntt hatten, weiß die Gefchichte nicht, während eines Zeit⸗ 
raums von fünf Jahrhunderten aber waren fle in der Brovence niemald ohne 
einen Mann, der nad) Riquetti-Art auf der Erde fland. Es waren Männer 
mit fcharfer Zunge, rajch bereit zum Dreinfchlagen, begabt mit Umſicht und 
Entſchloſſenheit, Tec, verwegen und eigenwillig, bie oft die bürgerliche 
Rennbahn für fle zu eng fanden und gegen die Pfähle anfchlugen oder Dies 
und Ienes thaten, worüber die Welt fih in verfchledenen Dialekten tadelnd 
ausſprach und es „durchaus nicht in der Ordnung“ fand. 


18 


Einer diejer Riquettid kettete in Folge eines Gelübdes, welches er der 
Sage nad während einer Gefahr zur See gethan, zwei Berge antinander; 
„die eiferne Kette ift bei Mouſtier noch zu fehen; fle erfiredt fid) von einem 
Berge zum andern und in der Mitte befindet fidh ein großer Stern nrit fünf 
Strahlen ;* die angebliche Jahrzahl ift 1390. Man denke fih die Schmiede 
bei diefer Arbeit! Die Stadt Mouftier liegt in der Provence in dem 
Departement der Niederalpen. Ob die RiquettisKette noch bie zu dieſer 
Stunde fnarrt und fi träg im Winde Hin und Her ihwingt, mit ihrem 
Stern von fünf Straßlen in der Mitte, und den Sperlingen einen unſtchern 
Sig bietet, das wiflen wir nicht. Vielleicht ward fie zur Revolutionszeit, 
wo ein folcher Haß gegen den Adel und ein folder Hunger nah Eiſen ent⸗ 
Rand, beruntergenommen und in Piken umgefchmiedet. Der Adoptivfohn, 
der in der Regel fo ausführlich ift, hätte hierüber etwas erwähnen jollen, 
thut ed aber nicht. 

Das damals viel Hofpitäler gebaut und viel Klöfter, von den Karthäu⸗ 
fern an bid herab zu den Jeſuiten, dotirt wurden, daß fortwährente Wirr- 
niſſe und Kämpfe flattfanden, brauchen wir nicht erfl zu eıwähnen, iondern 
blos, daß alles dies unter den Miquettis mit ganz ungewöhnlichen Nach⸗ 
drud betrieben ward. Wie hätte ed jemals einen Streit geben fünnen, bei 
‚welchem fein Riquetti betheiligt gewejen ware? Sie fämpften viel und 
faßten dabei ihren Bortheil oder die Entibädigung für früher erlittene Nach- 
teile ind Auge, wahrfcheinlich thaten fle e8 auch um der Kunft willen. 

Später faßten fie in Marfeille — damald dem franzöftihen Venedig 
— feften Buß als handeltreibende Edelleute und witmeten ſich dieſer In⸗ 
duſtrie mit großem Fleiße. Die Bamilienbiographen vergeflen jedoch nicht 
zu fagen, es jei ganz nad venetianifhem Style gefchehen, ſodaß durchaus 
nichts Ignobles darin gelegen habe. Im biefem Sinne gab aud einer 
dDiefer jungen gewandten Riquettis, als ein gewiſſer Bifchof ihn ohne weitere 
Unftände „Iean de Riquetti, Kaufmann von Warfeille* nannte, die treffende 
Antwort: „Ich handle hier mit Polizei und Gerechtigfeit,” — er beklei⸗ 
tete nänlich zugleich das Amt eines erften Confuls, welches nur an Edel⸗ 
Icute verliehen ward — „ebenjo wie der Herr Bifchof mit Weihwafler hans 
delt.” Diefen Hieb mußte der hochwürdige Herr ruhig einfteden. 

Auf alle Fälle erwiefen fich Die zungenfertigen Riquettid auch ald Kauf 
leute erften Ranges; erwarben ihre bastide, wie man die meiflen an ben 
grünen Hügeln hinter Marfeille Liegenden flattlihen Landhäufer nennt, end⸗ 


— — — — nd —— Den U a ui 
D 


— ⸗ — | — — —— XXXV | — ⸗ 


79 


loſe Magazine, Ländereien, Dörfer und Schloͤfſer und endlich auch das 
Schloß Mirabeau an den Ufern der Durance, das ſtattliche Schloß Mira⸗ 
beau auf feinem fteilen Felſen, in der Schlucht zweier Thaäͤler, vom Nord» 
wind umbrauft. 

Ein außerordentliher Vortheil für die Riquettis war, wie der alte 
Marquis erzählt, daß ſie ein ganz eigenthümliches Talent beſaßen, fich did⸗ 
erete, wackere Gattinnen zu wählen, wodurch der Stamm nur um fo beſſer 
erhalten ward. Eine diejer Grofmütter, deren der Marquis fidy faft ſelbſt 
noch erinnert, pflegte in Bezug auf die Ausartung des Beitalterd zu fagen: 
„Ihr wolle Männer fein? Ihr ſeid höchſtens Männdyen (sias houmacho- 
mes in provengalifchem Dialekt); wir Frauen führten zu unferer Zeit Pi- 
ftolen im Gürtel nnd verftanden auch Gebrauch davon zu machen.“ Ober 
man denfe fih wie die Dame Mirabeau ftolz auf den Taufftein zufegelt. 
Eine andere Dame ftellt fi) vor fie, um ihr den ang ftreitig zu machen ; 
Dame Mirabeau aber fertigt fle mit einer Ohrfeige und den Worten ab: 
„ Hier wie bei der Armee fommt die Bagage zuletzt!“ 

So wuchſen und gediehen die Miquettid und waren flarf und verrich⸗ 
teten Heldenthaten in ihrer engen Arena und warteten auf eine weitere. 

Als fie an den Hof famen und der Kampfplag in das Oeil de Boeuf 
verlegt ward, wo ein Grand Monarque von fcharlachrothen Weibsbildern 
und Schmeichlern unringt einherwandelte, da ward das Verhalten der Mi⸗ 
rabeaus noch complicirter. Die Garriere der Waffen fland ihnen offen, 
aber dies war nicht die einzige und auch nicht die hauptſächliche. Auf an 
dere Laufbahnen fchien es goldene Uepfel zu regnen. auf Diefer größtentheils 
hleierne Kugeln. 

Man bemerfe, wie ein Bruno, Graf von Mirabeau fi} beträgt — wie 
ein an eine Equipage geipanntes Rhinoceros, deſſen grimmiged Horn einen 
wallenden Buſch von fleurs de lis tragen muß. 

Eines Tage hatte er einen blauen Mann — eine Art Täftiger 
Thürhüter in Verſailles — bi in das Kabinet des Königs gejagt, welcher 
hierauf dem Herzog de la Beuillate befahl, Mirabeau in Arreft zu ſchicken. 
Mirabeau weigerte fih zu geborchen; er wollte ſich nicht ftrafen laſſen, weil 
er die Unverfchämtheit eines Dienerd gezüchtigt, und meinte übrigend, er 
ginge ja ohnedies zum Diner des Königs, der es ihm dann Ichon felbft jagen 
würde. Er fand ſich demgemäß auch bei Dem Diner cin und der König 
fragte ten Herzog, warum er feinen Befehl nicht ausgeführt habe. Der 


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Herzog mußte nun jagen, wie die Sade fand und der König benierfte mit 
einer Güte, die feiner Größe gleihfam: „Wir wiflen ja nicht von heute 
erft, daß er toll im Kopfe tft; man muß ihn nicht ruiniren, ” — und Tas 
Rhinocerod Bruno fegte feinen Weg weiter fort. 

Ein anderes Beifpiel diejer Art ift folgendes: An den Tage, wo Die 
Statue des Königs Ludwig — ein Meifterwerf der Schmeichelei — auf ter 
Place des Victoires eingeweiht ward, präfentirte Derielbe Mirabeau, al& er 
mit den Barden über ten Pontnenf marichirte, feinen Eponton vor der 
Statue Heinrich's IV. und fhrie dazu: „Meine Freunde, grüßen wir Dielen 
ta; er verdient e8 fo gut al8 ein anderer, Mes amis, saluons celui-ci ; ıl 
en vaut hien un autre. * 

So treiben es dieje wilden Riquettis als Höflinge. Wilde Stiere 
machen es, wie das Sprichwort fagt, einmal nicht anders, wenn fic unerwar⸗ 
tet in einen Töpferladen gerathen. O Bamilie Riquetti, in welbe Jahrhun⸗ 
derte und Umftände biſt Du gerathen! 

Unmittelbar vor unjerm alten Marquis felbft wäre das Geſchlecht der 
Miquetti beinahe audgeftorben. Jean Antoine, fpäter unter dem Nanıen 
Silberfragen (col d’argent) befannt, hatte zu einer frühern Zeit ſeines Le⸗ 
bens unendliche Gefechte mitgemacht und unter andern einmal in ciner ein- 
zigen Stunde flebenundzwanzig Wunden erhalten. Einen flolgeren, gered= 
teren und bißigeren Menichen braucht man in der Biographie aller Länder 
und Zeiten nicht zu ſuchen. Er warf Zolleinnehmer und Uccilebeante in 
den Fluß Durance — obſchon er außerdem ein fehr würdevoller, methodi⸗ 
fher Mann war — wenn fie in ihren Forderungen zu weit gingen. Wittelft 
deffelben kurzen Prozeſſes entfernte er alle Arten von Advofaten aus jeinen 
Dörfern und Beſitzthümern; er pflanzte Weinberge und begünſtigte die 
Bauern. Wenn er aud den Kriegen heimfehrte, zog er, wie alte Leute fidh 
noch zu erinnern wußten, mit einem zahlreichen Gefolge durch Frankreich 
und erfüllte Gaftwirthe und Jedermann dur den bloßen Blid feined Auges 
nit Schreden und ſtummer Unterwürfigfeit. Dabei trank er viel, obſchon 
man nie ſah, daß dies eine Wirkung auf ihn geäußert hätte. Er war ein 
großer, flarfer, gerater Mann, an Geift jowohl ald an Körper, Ven⸗ 
dome's rechter Arm in allen Feldzügen. Vendome ſtellte ihn einft Ludwig 
dem Großen vor und machte ihm megen feiner Tapferkeit einige Komplimente, 
welche der mürrijche Riquetti vollſtändig verdarb. Seinen mit Wunten be- 
dedten Kopf, der eben die ſilberne Halsbinde bedurfte, um die gerade Hal⸗ 


0 $ 


- — un u — — Dunn rn SS SS Duten.d 


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tung nicht zu verlieren, emporrichtend, jagte er: „Ia, Sire; hätte ich nicht 
fo viel gefochten, fondern. wäre an den Hof gekommen und hätte einer cadin 
(einem ſcharlachnen Weibe!) Geſchenke gemacht, fo Hätte ich es vielleicht 
weiter gebracht und nicht fo viel Wunden Davon getragen!“ Der große 
König, jeder Zoll ein König, ſprach jofort von etwas Anderem. 

Erſt jedoch Hätten wir dem Leier etwas über jencd Gefecht mittheilen 
follen, wo der ‚genannte Held flebenundzwanzig Diefer unprofitablen Wunden 
auf einmal erhielt. Die Schlacht bei Caſſano ift für die Meiften von und 
ſehr dunkel geworden ; ja fogar Prinz Eugen und Bendome felbft werden 
immer büfterer und büfterer, wie Menſchen und Schlachten aud werden 
müſſen; fonterbarerweiie aber gewinnt Das nachfolgende kleine Bruchſtück 
ein neues, wenn auch vorübergehendes Interefie. | 

„Mein Großvater hatte dieſes Manöver vorausgeſehen,“ — es iſt 
Mirabeau der Graf, nit der Marquis, welcher erzählt; Prinz Eugen 
batte eine gewiſſe Brüce genommen, welde der Großvater zu vertheidigen 
hatte; — „aber er beging nicht, wie dies fpater bei Dialplaquet und Fon⸗ 
tenoy gefchehen, den groben Fehler, eine Kolonne von diefer Wucht von 
vorn anzugreifen. Gr lich fie dur ihr eigened Ungeflüm und durch den 
Drud ihrer Nachhut getrieben, vorrüden, Tann, jobald fie weit genug vor⸗ 
über war, feine flah auf dem Boden liegenden Truppen aufftehen, und faßte, 
er felbit voran, den Feind in der Flanke, fprengte Die Kolonnen und jagt 
fle in großer Unordnung und Eile wieder über die Brüde hinüber. Nach« 
dem auf dieſe Weile die Dinge wieder auf ihren alten Zuftand zurüdgeführt 
find, nimmt er wieder feinen Poften an der Krone der Brüde ein, und deckt 
wie vorher feine Truppen, weldye, da ſie während ded Kampfes Das tödt⸗ 
liche Teuer von den doppelten Linien des Beinded von dem andern Ufer des 
Fluſſes auszuhalten gehabt, bedeutend gelitten hatten. Herr von Vendome 
fommt in geſtrecktem Galopp zu dem Angriff herangefprengt, findet ihn 
fhon beendet und Die ganze Linie flah auf der Erde liegend, während nur 
die hohe Beftalt des Oberften aufrecht bafteht! Er befiehlt ihm zu thun 
wie die Mebrigen und ſich nicht vor der Zeit erfchießen zu laſſen. Sein treuer 
Diener ruft ihn zu: „Niemals würde idy ohne Noth mic; der Gefahr aus⸗ 
ſetzen; es ift meine Pflicht Hier zu fein, aber Sie, Monfeigneur, haben feine 
ſolche Pfliht. Ich ſtehe Ihnen für den Poften, aber entfernen Sie fidh, 
fonft gebe ich ihn auf.” — Der Prinz (Vendome) befiehlt ihm bierauf im 
Namen des Königs fich nicderzulegen. „Ad, geben Sie doc mit fammt Ihrem 

Carlyle. IV. 6 


82 


König; ih bin bier und thue Tas Meine; gehen Sie und thun Sie daB 
Ihre.” Der gute, edelmütbige Prinz gab nad. Der Boflen war gänzlich 
unbaltbar. 

„Nicht lange darauf ward meinem Großvater ber rechte Arm zerſchmet⸗ 
tert. Er machte aus jeinem Taſchentuch eine Art Schlinge und blieb auf 
feinem Poften, denn ed bereitete fich eben ein neuer Angriff vor. Als der 
rechte Augenblicd wiederum da war, faßte er mit der linken Sand eine Art, 
wiederholt daſſelbe Manöver wie zuvor, fchlägt den Feind zurüd und treibt 
ihn wieder über Die Brüde. Hier aber ereilte ihn das Unglüd. In dem⸗ 
jelben Augenblid, wo er feine Truppen zurüdrief und wieder orbnete, traf 
ihn eine Kugel in den Hald und zerriß ihm die Flechſen und die Burgelader. 
Er janf auf die Brücke nieder; feine Truppen gertetben in Unordnung und 
flohen. Herr von Montolicu, Malteferritter, fein Berwandter, ward neben 
ihm verwundet. Er riß fein eigened Hemd entzwei und die mehrer Andern, _ 
um das Blut zu ftillen, ward aber in Folge feiner eigenen Berwundung ohne 
mädtig. Ein alter Sergeant, Namens Laprairie, bat ten Adjutanten des 
Regiments, einen Gascogner, Namens Guadin, ihm den verwunteten Oberft 
von der Brürfe forttragen zu helfen. Guadin weigerte fi, indem er ſagte, 
er fei todt. Der gute Laprairie hatte blos noch Zeit, feinem Oberſt einen 
Feldkeſſel über den Ropf zu flürzen und mußte dann machen, daß er forte 
fam. Der Feind tramvelte in Strömen über ihn weg, um die Unordnung 
zu benugen und Die Gavalerie fam in vollem Trabe dicht hinter der Infan⸗ 
terie ber. Als Herr von Vendome fah, daß die Linie durchbrochen war, der 
Feind fich jenſeits des Bluffes formirte und folglih die Brüde genommen 
hatte, rief er: ‚Ah! Mirabeau iR alfo todt;’ eine Xobrede, die und ewig 
theuer und denfwürdig jein muß. “ 

Wie beinahe wäre ed in diefem Augenblid mit den Mirabeaus ganz 
aus geweſen; wie ed ohne dad Umftürzen eines elenden Feldkeſſels nicht nur 
nicht die vorliegende Abhantlung Mirabeau, fondern aud feine franzö⸗ 
ſiſche Revolution oder eine ganz andere gegeben und wie ganz Europa dann 
zur gegenwärtigen Stunde rine ganz andere Geſtalt hätte, darüber mag Jeder 
nachdenken, welcher dergleihen Betrachtungen anzuftellen liebt. Ja, er kann 
ohne große Schwierigfeit dann noch weiter bedenfen, daß nicht blos die 
franzöftfche Revolution und diefer Artifel, fondern aud alle Revolutionen, 
Artikel und Leiftungen, mögen fie beißen wie fte wollen, die größten ſowohl 
als die Fleinften, welche dieſe Welt je geiehen, nicht einmal, fondern oft 


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im Laufe ihrer Entwidelung von den geringften Kleinigkeiten, Ueberſtürzen 
von Feldkeſſeln, Umwenden von Steohhalmen und dergl. abgehangen haben, 
nur daß wir nit allemal etwas davon fchen. So unergründli iſt die 
genetifche Geſchichte, ſo unausführbar die Theorie von Urſache und Wir» 
fung, fo unzureichend alle menſchliche Berehnung! Du felbft, o Lefer — 
der Du doc eine Leiſtung von Wichtigkeit bit — über welche haarſchmale 
Brücken des Zufalles, durch welche gähnende-Gefahren und den menſchenver⸗ 
ſchlingenden Schlund der Jahrhunderte biſt Du fiher und wohlbehalten bis 
bierhergelangt, — von Adam bis anf Dich ſelbſt! 

Doch jei dem wie ihm wolle. Col d’argent fam durch die Wunder ber 
Ehirurgie wieder zum Leben, hielt feinen Kopf mittelft einer fllbernen Hals⸗ 
binde aufredyt, wandelte noch viele lange Tage angeſehen, geachtet, uner⸗ 
ſchrocken und mürrifch auf Erden, thas viele bemerfenswerthe Dinge, zeugte 
unter andern in flandeögemäßer Ehe Mirabeau, den, Breund der Menichen *, 
weldyer wiererum Mitrabeau, den Sormelfreffer, zeugte, von welchem letztern 
und dem wunderbar lodernden Scheiterhaufen, den er fi errichtete, zulegt 
ein Licht ausgeht, wodurch dieſe alten Schidfale der Riquettis und mander 
feltfame, alte, verborgene Gegenfland erft erfennbar und bebeutfam werben. 

Vielleicht aber giebt ed in dem ganzen Geſchlecht ber Riquetti Feine 
feltfamere Geftalt,, als eben dieſen Breund der Menfchen, bei welchem wis 
der Beitordnung gemäß jept angekommen find. Jener Riquetti, welcher die 
Berge zufammenfettete und den Stern mit fünf Strahlen aufhing, war bios 
ein Vorbild von ihm. Stark und zäh wie die Cichenwurzel und ebenſo 
Inotig und unfpaltbar, weil feine Faſer in gleicher Richtung mit der andern 
liegt, ein Blod, auf ten das Schidjal loshammern und die Welt mit Ver⸗ 
wunderung ſchauen fann! In der That ein höchſt merfwürbiger, zweifels 
hafter, haflenswerther und liebenöwerther alter Marquis. 

Wie wenig follte man unter dem trivialen Klingflang der Literatur, 
Philoſophie und dem anmaßenden Gezader zahlreicher Baron Grimma mit 
ihrer Gorrefpondenz und Gelbflauspofaunung glauben, daß Branfreich noch 
ein ſolches Naturprobuft wie dieſen Freund der Menſchen in ſich getragen 
babe! In diefem einen Marquis liegt fo viel Gehalt; daß man bei ange⸗ 
meflener Berdünnung ganze Armeen von Philofophen damit ausrüften 
könnte. So viele arme Thomaſſe peroriren und Halten Lobreden, fo viele 
arme Norelets philoſophiren, jo viele Marmontels moralifiren auf roſen⸗ 
farbene Weife, fo viele Diderots kommen in ben Befig encyklopädiſcher 

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Köpfe, bagere Carons de Beaumarchais flattern auf Figaro⸗Flügeln einher, 
und dieſer bandfefte, alte Marquts ſteckt mittlerweile unter dem Scheffel. 
Er war auch Schriftfleller und Hatte Talent dazu, fowie e8 feit den Tagen 
Montaigne's nur wenig Sranzofen gehabt haben. Freilich aber führt dies 
zu weiter nichts, denn er ift, da er unfpaltbar war, in ben Raritätenkabi⸗ 
netten der Alterthumsforſcher Liegen geblieben, während die andern, fo Leicht 
zu fpaltenden, die Waare find, die man in allen Marktbuden findet und nad 
welcher die häufigfte Nachfrage iſt. So iſt der Lauf der Welt. Und dennoch 
beflage man ſich nit; haben wir diefen reichbegabten, unjpaltbaren alten 
Marquis nicht zulegt auch nody und können ihn weit Länger behalten, als 
jene Thomaffe? 

Der große Mirabeau pflegte immer zu fagen, fein Vater babe höhere 
Geiftesfähigfeiten befeffen ald er, was dod ganz gewiß etwas fagen will, 
felbft wen man diefen Ausipruch nicht in feinem vollen Umfange, fondern 
6108 bis zu einem gewiſſen Grade gelten läßt. So weit als ber blos ſpeku⸗ 
lative Kopf in Betracht kommt, Hat Mirabeau wahrfcheinlih Neht. Wenn 
wir den alten Marquis als ipekulativen Denker und Ausfprecher ſeines Ges 
dankend betrachten und mit meld’ einem originellen Colorit dies geſchieht, 
fo fühlt man ſich verfucht, ihn für einen der erften, ja vielleicht den aller- 
erften Geift feiner Zeit zu erflären, denn fein Genius erhebt fih faft bis zum 
poetifchen. Kennen unfere Leſer den Deutjchen Iean Paul und feine Denk⸗ 
weile? Diefer alte Marquis beflgt in dieſer Beziehung eine entfernte Aehn⸗ 
Vichfett mit Iean Paul und bringt fie nad feiner franzöftichen Weile zur 
Anſchauung, infoweit Died eben auf franzöftfche Weite gefchehen kann. 

Nichtsdeftoweniger iſt Einſicht nicht blos Eigenthum bes fpekulativen 
Kopfe ; der große Zwed der Einficht tft, daB man etwas fehe, zu wel- 
chem Endzweck der ganze Menſch mitwirken muß. In dem alten Marquis 
dagegen liegt eine Berfchrumpftheit, ein ſteifer, widerhaariger Humor, eine 
fhlummernde Wuth und Verfehrtheit, die mit ihrem Stolze, ihrer Hart⸗ 
nädigfeit und Affectation im Grunde genommen doch nicht weiter iſt, als 
Mangelan Kraft. Die wirflihe Duantität unferer Einfiht, — wie gerecht 
und gründlich wir die Natur eines Dinges, befonderd eines menſchlichen 
Dinged begreifen — hängt von unferer Geduld, unferer Unparteilichkeit, 
unferer Menfchenliebe und jeder Kraft ab, Die wir befiten oder, mit einem 
Wort, die Intelligenz oder Einficht geht von dem ganzen Menfchen aus, weil 
fie das Licht ift, welches den ganzen Menſchen erleuchtet. 


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In diefem wahren Sinne fland der jüngere Mirabeau mit feinem- 
großen bligenden Blide und feiner furctlofen Breiheit des Gemüthes offen« 
bar über dem alten Marquis. 

Im runde genommen ifi die Hauptdefinitton, Die man von dem alten 
Marquis Mirabeau geben könnte, vielleicht Die, daß er zum Geſchlecht der 
Pedanten gehörte. Starr wie Erz in jeder Beziehung, ohne Sympathie, 
ohne Fügſamkeit, von endlofem, unergrünblichem Stolz, welcher eine end⸗ 
Ioje Eitelkeit und Sucht zu glänzen verhullt, aber keineswegs unterdrückt, 
eine hochtrabende geſpreizte Manierirtheit, welche den Gedanken, die Mora⸗ 
litaͤt und das ganze Sein des Mannes umhüllt. Er iſt ein ſalbungsvoller, 
hoch einher ſtolzirender Mann mit einem ungeheuern Vorrath von Ent⸗ 
ruͤſtung oder ſchlummernder Entrüſtung in fich und betrachtet nach langer 
Erfahrung die Menſchheit und dieſe ihre Welt mit einem mürrifchen Worte 
ber Verzeihung oder verächtlichen Entſchuldigung, am öfterften aber mit zu⸗ 
fammengefniffenen Lippen, ein wenig aufgebläheten Nüftern und ausdrucks⸗ 
vollem Schweigen. 

Hier haben wir allerdings Pedanterie, aber Bedanterie unter den inter« 
efianteften neuen Umfländen und dabei zu einer foldhen Höhe getrieben, daß 
fie erbaben, ja man Fönnte faſt fagen, trandcentental wird. Man ermwäge, 
ob Marquis Mirabeau überhaupt ein folder Pedant fein Eonnte, wie bie 
gewöhnlichen Scaligerd und Scioppiufle find! Seine Arena ift nicht eine 
Studirſtube mit griechijchen Manuferipten,, fondern die weite Welt und bie 
Freundſchaft des Menſchengeſchlechts. Kreift nicht das Blut aller Mirabeaus 
in feinen hochadeligen Adern! Auch er möchte etwas thun, um dieſes hohe 
Haus noch höher zu heben und dennoch ift es ihm leider Elar, daß das Haus 
finkt, daß Vieles finft. 

Die Mirabeaus, und vor allen andern diejer Mirabeau, find in 
ſchlimme Zeiten gerathen. Ed if dem alten Marquis nicht entgangen, wie 
der Adel jetzt herabgefommen und feinem Verfalle nahe ift, wie er fich nicht 
mebr auf herotiche Handlungsweife und VBeftrebungen, jondern auf Schma⸗ 
rotzerei, Formendienſt, Verſchmitztheit, auf Pergamente, fchöne Kleider und 
Prieftergewand gründet, auf welcher legtern Baſis, wenn nicht jeine ganze 
Einſicht in das Walten des Himmels auf Erden ihn irre geleitet hat, fein 
Inſtitut in diefer von Gott regierten Welt auf die Dauer beftehen kann. 
Ad, und der Priefter bat jegt feine Zunge nur noch zum Tellerleden und 
der Steuereinnehmer drüdt und die Maitrefienherrichaft thront bebaglich 


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auf weichen Kiffen unter Baldachinen und Goldſtoff, bis ed endlich fo weit 
gefommen ift, daß die fünfundzwanzig Billtonen, mit denen e8 in Bezug 
auf Kenntniß, auf Tugend, Glück und baares Beld ſchon Tängft fehr knapp 
fieht, jezt auch anfangen, Mangel an Lebenämitteln zu leiden, während fie 
mit jener natürlichen Wildheit, welche die Natur ihnen noch gelaſſen, durch⸗ 
aus keine Luft empfinden, Hunger& zu flerben. Alles neigt fi dem Chaos 
zu und Niemand nimmt e6 zu Herzen. | 

Nur ein Mann eriflirt, der die Kataſtrophe vielleicht aufhalten oder 
abwenden fönnte, wenn er an das Staatöruder gerufen würde — der Mars 
quts Mirabeau. Sein vornehmed, altadelige® Blut, feine heroiſche Liebe 
zur Wahrheit, feine WBillensftärfe, feine Loyalität und tiefe ECinficht — 
denn man kann ihn nicht ſprechen hören, ofme den Mann non Genie zu ent» 
decken — dies würde bei der entfeglichen Geſtaltung, welche die Dinge an= 
genommen, ihm Anfprücde auf eine ſolche Stellung gegeben haben. Bon 
Beit zu Belt und in langen Zwiſchenräumen zudt ein folder Gedanke durch 
das Hirn ded Marquis. Aber ach, wie foll in diefen ffandalöjen Tagen der 
fiolzefte der Mirabeaus vor einer Pompadour niederfnien? Kann der Freund 
der Menſchen die Farbe eines unausſprechlichen Weibes mit wirklicher Hoff⸗ 
nung auf Sieg als fein Schlachtenpanier aufpflanzen? Nein, nicht an dem 
Schürzenbänvern einer ſolchen Perſon will diefer Mirabeau zur Würde eines 
PBremierminifterd emporfteigen, fondern blos, wenn ihn Frankreich in dem 
Tagen der Noth, in den Tagen der Biflon ruft, oder fonft gar nid. 
Frankreich ruft ihm nicht und er bleibt folglich, was er ifl. 

Marquis Mirabeau verfuchte fi, wie wir fon gejagt haben, auch in 
der Literatur und zwar mit feinem unbedeutenden Talent, ja gewiffermaßen 
mit Talenten erflen Ranges, aber auch Hierin machte er fein Olüf. Sein 
Ecce siguum in einer foldyen Aera des Verfalld und alle® verbunfelnden 
Auined war die Staatsöfonomie und ein gewifler Mann, den er den 
„Meifter* nannte, daß heißt Dr. Queſönay. Um diefen Meifter — welchem 
der Marquis felbft ala Meifter folgte — fanmelte er und einige andere 
Goͤtzendiener fih in gößendieneriicher Weile, um Bücher und Traftätlein 
und periodifche Literatur herauszugeben, um gleichſam durch Proclamationen, 
durch Wort und That, das flumpfe Ohr der Welt ter Rettung zu er» 
ſchließen. 

Das ſtumpfe Ohr der Welt aber blieb verſchloſſen. Vergebens pre⸗ 
digte dieſer und jener andere Apoſtel gleichzeitig oder in meliböiſcher Folge 


— — — — — — — — — — — 


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in ter periodiſchen und ſtehenden Literatnr; vergebens predigte Marquis 
Rirabeau in feinem Ami des Hommes Nummer nach Nummer lange Bände 
durch, — obſchon wirklich auf die beredtefte Weile. 

Marquis Mirabeau hatte die unwiderleglichften Ideen, aber fein Styl! 
Es ift in der That und Wahrheit der feltfamfte aller Style, obſchon einer 
der reichſten, ein Styl voll Ortginalität, Bilderreichthum und fonniger 
Kraft, aber alles dreifach mit Metapbern und Tropen gepanzert, mit wun⸗ 
derlichen Krümmungen und Verrenkungen, unt ‚angefüllt mit wunderlichen 
Anfpielungen und verſteckten fatyrifchen Hindeutungen, wofür der franzöftiche 
Kopf kein Ohr hatte. Eine ſtarke Speife, obſchon zu zäh für Säuglinge! 

Der Freund der Menſchen fand warme, weit über die ganze Erde zer⸗ 
freute Anhänger und ed wurden ihm Weihrauchfaͤſſer von Marquis, ja von 
Königen und Zürften, über Meere und Alpengebirgöfetten übermittelt, und 
dadurch der Stolz und Lie fchlummernde Entrüftung des Mannes nur noch 
genäahrt ; im Vaterlande aber, bei der Million, die Alle, ein Jeder nad} feie 
ner mißtönenden Pfeife, tanzten, fonnte er fih feine Bahn brechen, außges _ 
nommen, wenn er eine Monftrofität und etwas, was die Menſchen zu jehen 
wünfchten, hätte jein wollen, nicht aber, was richtig war und noth that. 

Iſt denn auch nicht durch die Breffe der Weg zur Premierminifteree 
würde zu ermöglichen? Der Stand der franzöflfchen Staatsmänner befin« 
det ſich in eben fo unfihern und ſchwankenden Verhältnifen wie alles An⸗ 
dere. Das leihtfinnige Publikum ſchäumt und gährt wegen Palifiot und 
feiner Komödie Les Philosophes , über die Muflf eined Gluck und Piceini 
und überhört den Auf des näher fchreitenden Verderbens. 

Du, o Freund der Menfchen fneife die Lippen zufammen und warte 
fhweigend wie tie alten Felſen. Unſer Breund der Menjchen that dies 
oder etwas Beflered und ward ſich nicmald unten, der löwenherzige alte 
Marquis! Denn feine ichlummernde Entrüftung bat auch eine Beimiichung 
von einer gewiffen Frömmigkeit; es ift eine Art Heiliger Entrüftung. Der 
Marquis hat, obſchon er die Enchelopädie Eennt, die höheren heiligen Bücher 
nicht vergeflen, oder daß es einen Bott in diejer Welt giebt, der von dem 
franzöftiden Eire Supröme weit verſchieden if. Er befennt fogar — oder 
verfucht e8 wenigftend — eine Art vertünnten Katholicismus nad feiner 
eigenen Weife und wendet fomit ein Auge nach dem Himmel, in welcer 
Attitüde er fich ebenfalls fehr eigenthümlich ausnimmt. 

8 fcheint fonach als ſei dieſe Belt ein toller Wirrwarr, ten kein 





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Breund der Menſchen in Ordnung zu bringen vermag. Nun, fo möge denn 
in Gottes Namen die Sache gehen, wie fie wolle, und der taumelnde Zu⸗ 
ftand aller Dinge taumeln, wohin er kann — in furdtbare, ſchwarze Tiefen, 
— aber doch nicht in bodenlofe! 

Aber wie fland es in dem Familienkreiſe? Gier iſt doch ganz gewiß 
ein Mann und Freund der Menſchen vorzugsweiſe an feinem Plage und 
fann, wenn er als weiſer Autofrat, herrſcht, etwas daraus machen. Ad, lei- 
der ging e8 in dem Bamilienfreife nicht beſſer, fondern jhlimmer! Die Mis- 
rabeaud befaßen früher ein Talent, gute, paflende Brauen zu wählen; war 
e8 ihnen denn in diefem alle gerade, als fle ed am meiften bedurften, un⸗ 
treu geworden? Wir wollen jedoch das nicht unbedingt fagen; wir fagen 
6108, daß die Frau Marquiie auch etwas menſchlichen freien Willen in fi 
trug, daß die ſämmtlichen jungen Mirabeaus ihren menſchlichen freien Willen 
in beteutendem Grabe entfalteten, daß mit einem Worte im Haufe fowohl al® 
außer dem Haufe der Teufel los war. ’ 

Als Regierer der Menfchen hat der Marquis durchaus fein Glüd und 
fein Samilienfönigreich befindet ſich meiftentheild im Zuftande der Meuterei 
und Empörung. Ein Scepter wie dad des Rhadamanthus will dieſen Haus⸗ 
halt bis zur Vollkommeuheit eined Uhrwerkes dreifiren und kann es nicht. Der 
fönigliche Ukas wird in feiner ruhigen, feinen Witerfprud duldenden Ges 
rechtigfeit erlaffen und findet Zaudern und offenen oder verſteckten Ungehorſam. 
Auf Borftellungen folgen Berweife, der Donner grollt von fern und rückt 
immer näher, mit ungebeudelt erftauntem Auge appellirt der Marquid an 
Schidjal und Himmel und erplodirt dann, wenn er durdaud muß, in einen 
röthen Blitz väterlicher Autorität. 

Wie e8 eigentlich Dabei zuging oder wer die wirflihe Schuld trug, daß 
weiß Niemand, denn der Fils Adoptif, der auf noch lebende Verwandte Rückſicht 
zu nehmen bat, ift in Diefen Punkten auperordentlicd zurüdhaltend. Cine 
gewifle Frau von Pailly, „aus der Schweiz, ſehr fchön und fehr jchlau,.“ 
gleitet halb ſichtbar durd tie Häuslichfeit der Bamilie Mirabcau, denn die 
Orthodorie des Marquid war, wie wir fhon angedeutet haben, von nur ver⸗ 
bunnter Urt; es giebt Horder, vertraute Tiener; es giebt Stolz, Zom, 
Schonungslofigfeit, erhabene Pedanterie — mit einem Worte der Teufel 
ift los, wie wir fhon einmal gejagt haben. ine folde Figur wie die 
Pailly bedeutet ohnedies für Niemanden etwas Gutes. 

Dann giebt e8 auch noch Prozeſſe, Leitres de Cachet; auf allen Sets 





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ten peine forte et dure — lang audgeiponnene Prozeſſe vor gaffenden Par⸗ 
lamenten zwiſchen Mann und rau zum Skandal einer gottlojen Welt, wie 
vielmehr zu dem eines rechtichaffenen Marquis, der einjt fih vorgenommen 
Hatte, ihr zum Beifpiel zu dienen! Die Zahl der Lettres de Cachet betrug, 


wie Einige berechnen, mit Einfluß bes erſten und legten nicht weniger als 


vierundfünfzig für einen einzigen Marquis. BZuweilen war der ganze Heerd 
der Mirabeauß leer, bis auf die Pailly und den alten Marquis, weil jedes 
Individuum abgejondert hinter Schloß und Riegel jaß, um fich hier zu ber 
finnen. Sartnädig find eure Gemüther, ihr jungen Mirabeaus, aber nicht 
bartnädiger ale da8 meine, des alten! 

Welche Schmerzen es dem zärtlihen Baterherzen gefoftet hat, alle dieſe 
Brutusgefchichten durchzumachen, das weiß blos der Marquis und der Him⸗ 
mel. Und welche Schmerzen mag es auch Dem Herzen des Sohnes gefoftet 
haben, fo mande Züchtigung binzunehmen! Die erflere Gattung von 
Schmerzen kämpft er, vom Himmel unterftügt, mit Gewalt in feiner Seele 
nieder, wie ed einem Manne und Mirabeau geziemt. Sind die lettern da⸗ 
gegen nicht ſelbſtgeſuchte, gewiſſermaßen mediziniihe Schmerzen, weldye von 
felbft aufhören werden, wenn dieſe beifpielloje, kindliche Ruchlofigkeit aufs 
zuhören beltebt ? 

Uebrigend fann ein „Freund der Menfchen *, wenn er eine foldie Welt 
und eine ſolche Bamilie, diefe Gefängnifle, dieje Berge von Eheſcheidungs⸗ 
aften und den wanfenden Zuftand der franzöflichen Staatsmänner betrachtet, 
fih ganz natürlich fragen: „Bin ich nicht ein flarfer, alter Marquis, dem 
Alles dies weder Wahnftnn, noch Hypochondrie, noch auch nur Dyspepſfte 
zugezogen hat?” Der Himmel iſt gütig und forgt dafür, daß der Rücken 
der Laft gewachſen fet. 

Aus allen diefen Umftänden und aus dem Kanıpfe gegen dieſelben iſt 
biejer Marquis von Mirabeau hervorgegangen und bat die Form eines der 
feltfanften erhabenen Bendanten angenonimen, die jemald den Boden Frank⸗ 
reichs berraten. Wie die beiden göttlichen Mifftonen — denn beide Icheinen 
ihm göttlich — eined Riquetti und eined Mannes von Genie oder Welt« 
ſchulmeiſters fi verfchmelzen und Philoſophismus, ritterliche Ziererei und 
preöbyterianiiche Strenge ſich vereinigen, um der Welt diefen Mann zu 
geben! Nie entfland in dem Gehirn eined Hogarth oder des herrlichen alten 
Ben eine jo das Hohe mir dem Niedrigen und Gclächter mit Thränen ver⸗ 
fchmelzende Humoriftiiche Geflalt, wie in diefem wadern alten Riquetti die 


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Natur und gleich fertig vorführt, denn e8 liegt ein hoher Genius in ihm, 
eine reiche Tiefe des Charakters, unverwüftliche Heiterfeit und Geſundheit⸗ 
die trog aller Eheiheidungdacten von Zeit zu Zeit hervorbrecdhen, wie Son 
nenfchein durch die Wolfen. Wir haben gehört, daß ter Kampf des Schick 
ſals mit dem freien Willen griediiche Traueripiele hervorgebracht babe, 
feben nun aber, daß es auch ganz erſtaunliche komiſch⸗tragiſche franzöftiche 
Boflen producirt. Geſegneter oder auch verwünſchter alter Marquis! Wir 
fehen ihn mit feiner breiten Stirn gleich der eines Stiers, mit den ftarfen 
hervorragenden Badenfnocen, den tiefliegenden, matıblidenden Augen, waͤh⸗ 
rend der untere Theil des Geflchts fi zu einem graztöfen Schmunzeln vers 
zerrt, welches fih für ein Lächeln auögeben möchte. Was follen wir mit 
Ihm anfangen? Wir heißen Dich willtommen, Du zäher alter Marquis, mit 
all Deinen Borzügen und Deinen Mängeln! Es liegt Stoff in Dir — 
ganz verihieden von Mondichein und Formelſyſtem, — und Stoff ift Stoff, 
_ wäre er auch noch fo verworren. 


Außer dem alten Marquis von Mirabeau ift aud noch ein Bruder, 
der Bailli von Mirabeau da, ein Mann, der ald Malteferritter, Gouverneur 
in Quadaloupe, in Gefechten und beichwerlibem Seedienft ſich die Hörner 
ſchon längft abgelaufen und fih Hier auf tem alten Schloffe Mirabeau auf 
feinem fteilen Belien — denn der Marquis wohnt gewöhnlid in Bignon, 
einer anderen, nicht weit von Paris gelegenen Beflgung — als einer ber 
würdigften ruhigen Onfel und Haudfreunde niedergelaflen hat. Diefe milde 
Kraft, die Klarheit und Gerechtigkeit des wadern Bailli bilder einen ſchönen, 
wohlthuenden Begenfag zu der Knorrigfeit feines Bruders, den er tröftet, 
vertheidigt, ermahnt, jogar zurechtweiſt, im Grunde aber fowohl als erften 
Riquetti und als Weltihulmeifter Höher achtet als ſonſt einen lebenden 
Menſchen. 


Die freimüthige wahre Liebe dieſer beiden Brüder iſt der ſchönfte 
Bug im Mirabeauthum, ja der einzige Zug, welcher ſtets ſchön iſt. Briefe 
werden fortwährend gewechielt; in Briefen und Auszügen hören wir bier 
von Beit zu Zeit in in diefen acht chaotiſchen Bänden die verſchiedenen Per⸗ 
fonen ihre Spracde reden und ihre poflenhafte Tragödie entfalten. Der 
Fils Adoptif läßt tie Menichheit in dieſen ſeltſamen Haushalt ein, obſchon 
blos mit fo viel Licht als feine eigene launenhafte Blendlaterne verbreis 
tet. Geſehen oder halb geiehen ift e8 ein Theater wie die ganze Welt 


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[1 


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1 


eins if. Sowohl in Bezug auf die Verfonen ald auch auf die Geſchicke 
ging damals kein feltiameres häusliches Drama auf Erden feinen Entwide- 
Iungsgang. 


Unter ſolchen Aufpieien, die noch nicht zu Ereigniſſen und Verhäng⸗ 
niffen gereift waren, aber folgen unvermeidlich entgegenreiften, erblickte 
Gabriel Honore auf dem Schloffe Bignon zwifchen Send und Nemourd am 
9. März 1749 zuerft das Licht der Well. Er war dat fünfte Kind, der 
zweite Knabe, aber doch geborener Erbe, weil fein ältefter Bruder ſchon in 
der Wiege geftorben war. Ein prächtiger „ungeheurer” Burfche war er, 
wie die Frau Bafen faft mit Schreden zugeftehen mußten; der Kopf war 
befonders groß und in tem Munde zeigten ſich zwei bereitö zum Durchbruch 
gefommene Zähne! Plump und ungeichlacht fah er aus, aber feine Glieder 
serriethen eine Kraft, welde dem Stamme Ehre zu machen verſprach. 

Der väterlihe Marquis, zu dem man fagte: „N’ayez pas peur, fürd) 
ten Sie fich nicht, * betrachtete, wie wir glauben, dieſes fein Produkt heiter 
und nicht furdtiam und die fteifen pedantifchen Züge gingen in ein wirk⸗ 
liches Lächeln über. Xächle, o väterlicher Marquis; die Zukunft birgt aller⸗ 
dings Freude und Kummer, man weiß nicht, in welchem Maße, aber hier ift 
doch ein neuer Riquetti, den die Götter jenden, begabt, wie es jcheint, mit 
den Kräften eine® Herkules, gerüftet zu den zwölf Arbeiten, welche ficherlich 
fon an und für fi die beflen Freuden fint. Wan ſehe nur den Heinen 
Bengel an, wie er ſich fpreizt! Kein feltiamerer Riquetti ſpreizte fich je 
unter unjerer Sonne; es iſt als hätte in diefem Mann⸗Kinde das Schidfal 
alle Wildheiten und Kräfte des Geſchlechts Miquetti zufammengefegt und 
ihn als das Finale in diefer Gattung daraus gebaden. Nicht ohne Beruf! 
Er ift der leyte der Riquettis und foll eine Arbeit verrichten, bie unter den 
Sterblichen lange denfwürdig bleibt. 

In der That, wenn wir jet einen Blick auf dieſe Sache werfen, fo 
mödten wir trog der Frau Bafen fagen, baß auf dieſem ganzen Planeten 
tn dieſen Jahren fhwerlic ein ſolches Mann⸗Kind geboren ward, wie dieſes 
auf dem Schloffe Bignon, nidyt weit von Paris, welches man Gabriel Ho» 
nore nannte. Nirgends fagen wir, kam ein flämmigere® ober muthigere® 
auf dieſe Erde, wohin fe doch auß Ewigkeit und Nacht zu Legionen und 


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Myriaden anmarſchirt kommen! — Eine einzige und zwar jehr bemerfend- 
wertbe Ausnahme möchten wir allerdings machen, nänılidh in Bezug auf ein 
andered Mann⸗Kind, welches einige Monate fpäter in der Stadt Frankfurt 
am Main anfam und Iohann Wolfgang Boethe getauft ward. 
Dann, wieder etwa zehn Jahre fpäter, fam ein zweites, weldyes Gabriel Ho⸗ 
nor& in feiner Ternigen rauben Weiſe noch ähnlidher war. Es war eine 
ärmliche Hütte, in welche dieſes Fam, eine gebrechliche Hütte, welche ber 
Wind über den Haufen warf, in dem Shire von Ayr in Schottland ; dieſes 
Kind nannte man Robert Burnd, 

Diefe waren zur damaligen Zeit die Wohlgebornen der Welt, durch 
welche die Gefchichte der Welt weitergeführt werden ſollte. Ad, Eönnten 
die Wohlgebornen der Welt auch immer richtig aufgezogen und entwickelt 
werden, welch eine Welt wäre es! Aber ed ift nicht fo, ed ift vielmehr das 
Gegentheil. Und nur wenige Tönnen, wie jened Frankfurter Kind, die Welt 
mit ihren fchwarzen Wirrniffen friedlih überwinden und darüber glänzen 
wie eine Sonne. Die meiften fönnen fie nur titaniſch beflegen oder von 
ihr beflegt werben; daher haben wir anftatı Licht — des ftillfien und flärk« 
fien aller Dinge — nur Blige, rothes Feuer und oft Brände, die fehr viel 
Unheil anrichten. 

Doch fei dem wie ihm wolle, Marquis Mirabeau beſchloß, feinem 
Sohne und dem Erben aller Riquettid eine Erziehung zu geben, wie fle noch 
feinem NRiquetti befchieden geweien. Da er ein Weltjchulmeifter — und, 
wie wir bier in mehr al® einer Beziehung finden, ein Martinus Scriblerus 
war — fo war dies weiter nicht feltiam von ihm, die Refultate aber waren 
fehr beklagenswerth. Betrachtet man die Sache jegt in diefer unparteiiichen 
Entfernung, fo verliert man fid in Verwunderung über den guten Marquis 
und weiß nicht, ob man über ihn Lachen oder weinen foll, bis man ſich end» 
li überzeugt, daß man beides thun muß. Ein hinreichenderes Naturpros 
dukt als diefen „ungeheuren Gabriel" brauchte man nicht zu wünſchen. Er 
fchlug feine Amme, aber Tiebte fie audy, eben fo wie er die ganze Welt liebte. 
Sein Begehren umfaßte alle Dinge, die höchften wie die tiefften, mit andern 
Worten, e8 lag eine ungeheure Maſſe Zeben in ihm! 

Wühlt er nit — der ungeledte Bär — jegt in Folge der Blattern 
noch zehnmal ungeledter, überall herum und jucht etwas zu wiſſen; taucht 
er nicht in die unerhörteften Schlupfwinfel hinab, um etwas zu leſen darin 
zu fuhen? Giebt er nicht freiwillig einem Bauernknaben, deſſen Kopfbe- 


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deckung mangelhaft war, feinen Hut? In feinem fünften Jahre fchreibt er 
extempore und bei Tifche die fcharffinnigften Dinge, indem er audeinander- 
jegt, wad „Monsieur Moi, Herr Ih," zu thun verbunden iſt. Eine raube, 
ftarfe, achte Seele von dem freimüthiaften Temperament erfüllt, von lieben⸗ 
dem Feuer und von Kraft. Wie fhaut er doch fo munter mit feinen hell» 
braunen Augen, mit feinem raſchen, flänımigen Körper! Was hätte nicht 
eine richtige Erziehung für ihn thun fönnen! Bei fo vielen Gelegenheiten 
fühlt man, als ob er in der Welt weiter nichts gebraucht hätte, als fich felbft 
überlafjen zu bleiben. 

Aber nein; die wiffenfchaftliche väterliche Hand mifcht fich überall ein, 
um der Natur unter Die Arme zu greifen. Der junge Löwe muß auf die 
außerordentlichfte Weife gefeffelt und bemaulkorbt aufwachſen; er Toll fi 
nad) einer Erziehungstheorie, nach Winfelmaß und Regel entwideln und nad) 
dem theoretifchen Programm pünktlich feinen Gang gehen, wie ein Uhrwerf. 
D Marquis, o Weltihulmeifter, was iſt das für eine Erziehungstheorie! 
Kein junger Löwe oder junger Mirabeau geht wie ein Uhrwerk, fondern 
ganz anderd. „Wer die Ruthe fpart, haſſet das Kind”; dies ift einerſeits 
wahr und tod tft die Natur auch ſtark, denn fie kommt wieder, felbft wenn 
man fle mit der Gabel ausgrübe. 

Von einem gewiſſen Gefihtöpunfte aus giebt es nichts Hogarthiſch⸗ 
Komiſcheres als dieſes ununterbrochene Ankanıpfen des Marquis Mirabeau 
gegen bie Natur, und dennoch ift ed, von einem höheren Geſichtspunkte aufs 
gefaßt, nur zu ernfthaft. Die freimüthige Gefchichte wird jagen, daß das 
Schlimmſte, was in der Macht der Kunft fand, zu.tbun, an diefem jungen 
Gabriel Honore gethan ward. Und zwar nicht in unfreundlichen Abflchten, 
fondern mit Abftchten, die wenigſtens mit Güte begannen. Wie weit befler 
war da Burns’ Erziehung — obſchon auch dieje unter dem grimmigften 
Drud flattfand — am wildromantifhen Gebirgshange, am Heerde des bra⸗ 
ven Bauern, mit gar feiner Erziehungsdtheorie, fondern Armuth, Mühe, 
Sturm und ſchwerer Arbeit. 

Im Grunde genommen waren der Wunfh und Zweck des Marquis 
nicht complictrt, fondern einfah. Diefer Gabriel Honore de Riquetti foll 
ganz derſelbe Mann werden, welcher Victor de Riquetti ifl; vollkommen wie 
er sollfommen tft — nur dies und nicht Geringeres Tann das Herz bed 
zärtlichen Vaters zufrieden ftellen. Gin beſſeres Mufter wäre allerdings 
fhwerlih zu finden und dennoch wünſcht, o Victor de Niquetti, der arme 


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Gabriel feinerjeits, Gabriel und nicht Victor zu fein. Nie hatte ein Reife» 
rer, liebender Bebant einen elaftiicheren liebenden Schüler. Uebelthaten — 
die jedoch größtentbeild eben in dieſer Elafticität ihren Brund haben — 
häufen fi immer mehr. Madame Bailly und die vertrauten Diener zeigen 
fi in diefer Sache, wie in allen andern Dingen, fehr geihäftig. Der 
Haushalt ſelbſt verfinfkert fi, die Hausfrau iſt fort; die Prozeile und alle 
mälig aud) Die Ehefcheidungdprogeffe haben begonnen. Die Sache wird 
ihlimmer und immer fchlinmer, bis Rhadamanthus Scriblerud Marquis 
von Mirabeau, nergebend das Scepter der Ordnung fchwingend, fih von 
einem wüften Chaos umgeben flieht. Steif if er; elaftiich und immer noch 
lichend und chrerbietig ift fein Sohn und Schüler. So wechſeln Grauſam⸗ 
feit und unterdrüdte Sehnſucht, Empörung und heiße Reuethränen auf die 
feltiamfte Weije zwifchen den beiden ab und lange Jahre werden unjerem 
fungen Ulcides durd das Schickſal, durch feinen eigenen Dämon und Juno 
von Pailly Arbeiten genug aufgelegt. 

Um aber zu beurtbeilen, welche eine Aufgabe diefem armen väterlichen 
Marquis geftellt ward, wollen wir die folgenden Heußerungen von ihm an« 
hören, welche er in mebhrern Briefen größtentheils feinem Bruder, dem gu⸗ 
ten Bailli, gegenüber thut. Gluck! gluck! glud! — ift ed nidt, als ob 
man eine bald von Furcht, bald von Zorn erfüllte Henne hörte, weldger ihre 
Küchlein viel zu ſchaffen machen? 

„Dieſes Geſchöpf verfpricht ein jehr hübſches Subject zu werben. * 
„Talent vollauf und auch Scharfiinn, aber immer noch zu viel angeborne 
Fehler.“ „Eben erft ind Leben gefommen und die Ertravafation (extra- 
vasement) Led Dinges ſchon fihtbar. Gin widerbaariger, phantaftiicher, 
zornmüthiger, launenbafter Geiſt, der fih dem Böſen zuneigt, ehe er es 
fennt oder deſſen fähig if.” „Ein hohes Herz unter der Jade eines Kna⸗ 
ben ; er befigt einen feltiamen Inftinkt ded Stolzed, aber ift Dabei edel, ber 
Embryo eines wilden Raufboldes, der die ganze Welt verſchlingen möchte 
und nod nicht zwölf Jahre alt iſt.“ „Ein ganz unbegreiflicher Typus son 
Gemeinheit, abfoluter Stuswpfhelt (platitude absolue) und der Eigenſchaft 
einer ſchmutzigen, rauchhaarigen Raupe, die fidy niemals entpuppen oder flies 
gen will." „Cine Intelligenz, ein Gedächtniß, eine Capacität, welche mit 
Erſtaunen, ja mit Schreden erfüllen. * „Ein aus lauter wunderlichen Lau⸗ 
nen zujammengejegte® Nichts. Vielleicht fireut er einmal einfältigen Frauen 
Sand in die Augen, wird aber nie der vierte Theil eines Mannes werben, 


un 7 Se Dunn A RER 


9% 


wenn ihn das Glüͤck überhaupt noch zu irgend etwas macht. * „Dielen meinen 
ältern Sohn kann man in der That eine Mißgeburt nennen, denn bis jegt 
wenigftens fcheint es, als ob nichts ala höchſtens ein Wahnilnniger aus ihm 
werten fönnte, während er auch überdies die ſämmtlichen fchlechten und 
verworfenen Eigenfchaften feiner Muster geerbt zu haben fcheint. Da er 
ziemlich viel Lehrer bat und dieje alle eben fo viele Berichterflatter für mid 
find, fo fenne ich die Natur der Beitie fo ziemlich und glaube nicht, daß wir 
jemals etwas Gutes daraus ziehen werten, * 

Mit einem Worte, Die Uebelthaten (der Elafticität oter Expanſivität) 
haben fidı in tem fünfzebnten Jahre des jungen Menſchen zu einer ſolchen 
Höhe angehäuft. daß von Seiten des Rhadamanthus Scriblerus der Ent« 
ſchluß gefaßt wird, ihn auf eine oder die andere Weile aus Dem Haufe zu 
ſchaffen. Nach verfchicdenen Plänen verfällt nıan auf das PBenftondinititur 
eines gewifien Abbe Choquenart ; Der rebellifhe Expanſive joll nah Paris, 
um bier unter Rurhe und Zucht fid) zuſammenzuziehen und in ſich zu geben. 
Da ferner Der Name Mirabeau ein hocdyateliger if, jo foll er nidht die Ehre 
haben, denjelben au tragen, jontern jo lange Pierre Buffire genannt wer« 
den, bis er ſich entichieden geändert hat. Pierre Buffidre war der Name 
eined Landgutes feiner Muster in Limoufin — beflagenswertber Brennftoff 
jener qualmenden Prozeffe, die eAdlich als Eheſcheidungsprozeſſe aufloder« 
ten. Weit dieſem traurigen Spignamen Peter Bufiere ald immerwaͤhren⸗ 
tem Kennzeichen mußte ter arme Gabriel Honore cine Anzahl von Jahren 
einberwandeln, gleich einem Soldaten, Dem zur Strafe Die Augenbrauen ab⸗ 
raftrt worden find. Ach, er ift ja erft cin Rekrut von fünfzehn Jahren und 
nod) zu jung dazu! 

Kichtödeftomeniger, mag man ibm nun einen Namen geben oder rau⸗ 
ben, mag man ihn Peter oder Gabriel nennen, jo blieb er doc immer wer 
er war. In Choquenard's Penflonsidhule eben jo wie ipater im Leben trägt, 
entfaltet und entwickelt er dic Eigenichaften, welche Lie Natur ihm gab und 
die fein Scheeren oder Rajiren der Mißhandlung ihm nehmen konnte. Der 
Fils Adoptif theilt eine fange Liſte der betriebenen Studien und erworbenen 
Kenntnifle mit — alte Sprachen — und wir haben taujend Beweiſe jeiner 
bewundernöwürdigen Gedäctniftreue in Diefer Beziehung — neuere Spra= 
hen, Engliſch, Italieniſch, Deutſch, Spaniſch; dann leidenſchaftliches Stu⸗ 
dium der Mathematik, Zeichnen, Malen und Geometrie, Muſik in jo hohem 
Grade, daß er vom Blatt zu ſpielen, ja ſogar zu componiren verſtand, Rei⸗ 


96 


ten, Bechten, Tanzen, Schwimmen, Ballichlagen — wenn nur die Hälfte 
von diejem wahr war, fo können wir nicht fagen, Daß Pierre Bufftere feine 
Zeit übel anwendete. 

Ziemlich gewiß if, daß der vorftoßene Buffiere ſich in dieſem Hauie 
der Zucht fehr bald die Liebe Aller erwarb, die mit ihm in Berührung ka⸗ 
men, feiner Schulfameraden, feiner Xehrer, auch des Abbes Choguenard 
ſelbſt. Denn, fagte der väterliche Marquis, er beftgt Die Zunge der alten 
Schlange! In ter That ift e8 merkwürdig, wie der arme Buffiere, Graf von 
Mirabeau, Revolutiondfönig Riquetti oder wie man ihn jonft nennen modte, 
Tobald er in irgend einen Kreid von Menſchen trat, jelbft wenn dieſelben 
gegen ihn eingenommen waren, fie doch binnen Kurzem für fi gewann. 
Bid an’d Ende teiner Laufbahn fonnte ihn Niemand mit eigenen Augen 
betrachten umd fortfahren, ihn zu haffen.' 

Konnte er denn die Menichen überreden? a, lieber Leſer; aber er 
fonnte fie auch überbandeln und darin lag cigentlih das Geheimniß. 
Man fühlte, daß tie große offene Seele des Mannes, der nie ewwas Ver⸗ 
werfliched, Ungütiged oder Unchrliches gegen irgend ein Geſchöpf vorbrachte, 
eine Bruderfeele war. Daß ein Menich von feinen WMirmenfchen je 
näher fie ihm Fommen, deſto mehr geliebt wird — ift dad nicht die That⸗ 
fache aller Ihatfaben? Will man wiffen, welden Grad von diplomariicher 
Klugheit — ſei fle nun aut, gleichgültig oder auch ſchlecht — ein Menſch 
beftgt, io frage man die öffentliche Dreinung, die Zeitungdgerüchte oder im 
äußerften Balle die Perfonen, mit welchen er dinirt; um aber zu wiflen, 
welchen wirklichen Werth er befigt, frage man unendlich tiefer und weiter 
und vor allen Dingen Die, welche Erfahrungen mit ihm gemacht haben und 
die, ſelbſt wenn fle auch übrigens die befchränfteften Menichen wären, in 
dieſer Frage vollfländig competent find. „Die, welche mir fern ftehen, 
beurtheilen mich ein wenig fchlimmer, als ich mich ſelbſt; Dagegen tie in 
meiner Nähe ein wenig beſſer,“ ſagte der gute Sir Thomas Browne, und 
fo werden alle Menidyen jagen, welche viel hierüber zu fagen haben. 

Da die Rilitairpenftongichule Choquenard’8 ihre Beitimmung verfeblt 
und aufgehört hatte, ein Zuchthaus zu fein, fo beſchloß Marquis Mirabeau, 
es mit der Armee zu verſuchen. Ja, wie es fcheint, Hat die gottlofe Mutter 
ihm heimlich Geld geſchickt, welches er, der Verräther, auh angenommen 
hat! Alſo in die Armee. Und fomit bekommt Pierre Buffiere einen Helm 
auf feinen dien Kopf gelegt, das zottige, blatternarbige Geſicht ſchaut mar⸗ 


9 


tialifg unter Roßhaar und blankem Metall hervor; er reitet in Heiße und 
Glied mit gezogenem Pallaſch in der Stadt Saintes als Leder, freiwilliger 
Dragoner. Sein Alter betrug jet erſt achtzehn Iahre und einige Monate. 

Die Einwohner von Saintes lernten ihn ungemein lieb gewinuen 
und erboten ſich fogar, ihm Geld zu leihen, fo viel er wollte. Sein Oberft, 
ein gewiſſer De Lambert, war ein ziemlich firenger Gaſt und fauertöpfifcher 
Kauz, und Buffière's Geflht, durch deffen Narben allerlei Dinge hindurch⸗ 
leuchteten, hatte keineswegs dad Glück, ihm zu gefallen. Ueberdies gab es 
in Saintes einen Archer oder Landvoigt, der eine Tochter hatte und biefer 
albernen Dirne geflel das Geficht Buffire'® befier als das des Oberſt! 
Denn man kann fi) denfen, wie geichickt Bufftöre in diefer wichtigen Ange» 
Iegenbeit mit der Zunge der alten Schlange für fi zu fprechen verſtand. 
Ed war feine erſte Amourette und augenfcheinlich flegreich, der Beginn einer 
ganz unerbörten Garriere in diefer Art. Der gefränfte Oberft ließ am Of- 
fiztertiiche allerhand fatyriiche Bemerkungen fallen, Bufftere war nicht der 
Mann, der ihm in diefer Beziehung etwas ſchuldig geblieben wäre und es 
trat ein ziemlich unerquickliches Verhaͤltniß ein. 

Um der Sade die Krone aufzufegen, beſuchte Buffiere ganz gegen 
feine Gewohnheit eines Abends ein Spielhaus und verlor vier Louisd'or. 
Infubordination, Spiel, Landvoigtstochter! Mhadamanthus donnert von 
Bignon; Buffidre fchleudert feinen Helm von fi und flieht heimlich nad 
Daris. Nun werden Unterhandlungen gepflogen ; ein vertrauter Spion 
gebt nad) Saintes; es werben Briefe gewechielt; Dupont de Nemours agirt 
ale Schiedsrichter zwiſchen einem Oberft und einen Marquis, die beide vor 
Muth ſchaͤumen. Der vertraute Spion hört Zeugen ab, der ganze Gräuel 
fommt an’s Licht. Was willſt Du, o Marquis mit diefem Deinen Teufels⸗ 
fohne thun? Schide ihn nad Surinam, laß tropifche Sonnenhige und legen 
feine Heiße Leber mürbe machen! — So flüfterte die väterliche Brutusgerech⸗ 
tigfeit und Dame Bailly ; doch behielten mildere Gedanken die Oberhand. 

Zuerſt will man es mit Lettres de Cachet und der Infel Rhéͤ verfuchen. 
Dorthin gebt es mit dem armen Buffiere unter dem Raſcheln der füllen« 
den Blätter des Jahres 1768, feines meunzehnten Herbſtes. Es ift feine 
zweite Herkulesarbeit; das Penflonsinftitut Choquenard war die erfle. Be⸗ 
klagt von dem lauten, atlantifchen Ocean figt er hier in der Winterzeit uns 
ter der Aufficht eined Bailli D’Aulan, des Gouverneurs dieſes Platzes, der, 
wie man jagt, ein wahrer Gerberus war. 

Carlyle. IV. 7 


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In RHE wiederholt fih das alte Spiel. Nah wenigen Wochen iſt der 
Gerberus Bailli Buffiöre'd guter Freund und bellt aus allen feinen Schlünden 
zu Buffiöre’8 Bunften! Welche Zauberkraft beflgt doch dieſes zebellifche 
Wunderkind, o Marquis? weldye Heuchelei und Verftellung, fo daß ſelbſt 
fein Beftungsgouverneur ibm widerfichen kann? Müſſen wir ihn denn 
durchaus nad den heißen Sämpfen von Surinam fchaffen, um ihn zur Ruhe 
zu bringen? 

Zum Glück if jeht Krieg in Corſika. Paoli kämpft Hier auf feinen 
legten Füßen und Baron de Baur verlangt friiche Truppen gegen ihn. 
Buffiere will, obſchon ihm Die Sache an und für fi nicht gefällt, gern da- 
bingeben und fiht fo gut er kann — wie glücklich, wenn er durch irgend 
einen Kampf jeinen Taufnamen und einen Schimmer von väterlidher Tole⸗ 
ranz zurüderobern fann. 

Nach vielem Bitten wird fein Wunfch gewährt. Buffitre wandert nun 
mit dem Range eined Unterlieutenants der Infanterie in der Legion Loth⸗ 
ringen bekleidet, nad Toulon im Monat April und betritt „die Ebene, 
welche ohne Pflug durdfurdt wird“, — wohlflingende Umfchreibung des 
Wortes Ocean; „Bott gebe, daß er nicht eines Tages in rother Müpe als 
Galeerenſclave darauf rudern muß!" So lautete der väterliche Segen, ber 
auch in Erfüllung ging. Che Bufflere Rochelle verließ und nadtem er 
faum zwei Stunden aus der Feſtung Rhéͤ heraus war, hatte er eine neue 
Gräuelthat begangen, — fein erfted Duell. Ein gewiffer ehemaliger Ka⸗ 
merad, der wegen Schwinteleien den Abichied befommen, fuchte auf der 
Straße die frühere Bekanntschaft mit ihm zu erneuen; Buffiere fand für 
gut, dieſes Anftnnen zuruͤckzuweiſen, felbft als ed mit dem bloßen Degen in 
der Sant wiederholt ward. Welch ein corflicher Flibuſtier! 

Der corfliche Flibuſtier verrichtete, wie gewöhnlich, auch in Corſika 
Miefenarbeit. Er focht, ſchrieb, Tiebte, „fludirte täglich acht Stunden * und 
erwarb ſich goldene Meinungen bei Jedermann und jeder Frau. Es war 
feine eigene Anftcht, daß die Natur ihn zum Krieger beftimmt babe; er 
fühlte fich diefem Gefchäft fo gewachſen und darin fo heimifh, — der Wirr- 
warr und Todestumnft und Kanonendonner war für ihn harmoniſche Marſch⸗ 
muſik. Ohne Zweifel hatte die Natur ihn zu einem Menfchen der Thätig- 
feit beftimmt, wie fie dad mit allen großen Seelen thut, die in einem flar« 
ten Körper wohnen, aber die Natur bequemt ſich vielem an. 

Nach Verlauf von zwölf Monaten, im Mai 1770, kommt Buffiere zu⸗ 


9 


rüd nah Toulon. Er Hat viel Manufeript in der Taſche; fein Kopf iſt 
angefüllt mit militairiichen und allen anderen Kenntniſſen, gleidy einer durch⸗ 
einander geworfenen Bibliothek, während fein Auf, wie wir ſchon fagten, 
nad allen Seiten hin gewonnen bat. Der wadere Bailli Mirabeau kann 
fih, obſchon es faft gegen fein Prinzip verftößt, nicht weigern, einen Neffen 
zu feben, der fo nabe an dem alten Schlofle am Durance vorbeikommt. 

Der gute Onkel iſt ganz entzüdt von ihm, findet unter furchtbar zere 
riffenen und veränderten Geſichtszügen Törperlih und geiftig Alles, was 
Löniglih und flarf ift, ja einen Ausprud von etwas Verfeinertem und Gra⸗ 
ziöfen. Nach mehrern Tagen ununterbrocdener Unterhaltung erflärt er ihn 
für den allerbeften Menichen, fobald man ihn nur angemeffen behandelt, ber 
fid) „zu einem Staatdmann, Generaliſſtmus, Papft, oder was man fonft zu 
wünfchen beliebt”, entwideln Tann. Oder follen wir das Zeugniß bes 
armen Buffiere im Kafernendialekt mittheilen, verbrämt mit alten Blüchen, 
die leider für un jetzt faft alte Gebete geworben find: „‚Morbleu, Monsieur 
FAbhé; c'est un garcon diablement vif; mais c'est un bon garcon, qui a 
de l’esprit comme trois cent mille diables; et parbleu, un homme tr&s 
brave.‘‘ 

Durch Zeugniffe und Bitten aller Art von Onkel und Bamilie beſtürmt, 
willigt der firenge Marquis nicht ohne Schwierigkeit ein, vielen feinen ano⸗ 
malen Peter Buffiere zu fehen und dann nad feierlicher Berathung und 
Ueberlegung ihn fogar zu entpetern und ihm feinen Namen zurüdıugeben. 
Es war im September als fie fih wiederfaben, in Aiguefperfe im Limouſin, 
nicht weit von dem Landgute Pierre Bufflere. Milde und Nachgiebigkeit 
fchleichen fid in dad Gerz des Rhadamanthus, fogar zitternde Strahlen 
ſchwacher Hoffnung, die fich jedoch in Strenge und Starrheit verhüllt. 

Der Marquis fhreibt: „Ih nehme Ihn zuweilen tüchtig ins Gebet; 
ich beobachte ihn, wie er die Nafe fenkt und flarr vor fih Hin flieht 
— ein Beiden, daß er nachdenkt; oder wie er den Kopf wegwendet 
und eine Thräne verbirgt. So behandeln wir ihn bald ernfthaft, bald 
fireng und wiffen auf dieſe Weife dieſem feurigen Roß dad Gebiß anzu⸗ 
legen.“ Hätte er nur die Eph&merides, die Economiques, den Pr£cis des 
Elements — „das mühfamfte Buch, welches ich gefchrieben, obſchon ih mich 
Damals bei außerordentlich guter Gefundheit befand * — gelefen ; Hätte er 
fi nur gründlid von meiner Staatsökonomie unterrihtet! Aber Damit 
giebt er fih gar nicht ernftlich ab. Im Begentheile findet er unglücklicher⸗ 

7 % 


109 


weife das Buch hohl, pragmatiſch, ein leeres Geklingel von Formeln, fogar 
pedantiſch und unwahrbaft wie der Oftwind. Läfterliche Worte, bie irgend 
ein Horcher dem „ Herrn * wur zu binterbringen braucht. 

Und denvoch, iſt biefer plump gebaute junge Herkules im Grunde ge⸗ 
wommen nicht ein braver Gabriel, der feine zweite Arbeit glüdli beendet 
bat? Der Kopf des jungen Rauned iſt eine „ Windmühle und eine Feuer⸗ 
müähle von Ideen“, das Kriegäeninifierium macht ihn zum Hauptmann und 
ee ift leidenfchaftlich dafür eingenommen, beim Kriegshandwerk zu bleiben, 
aber unglücklicherweiſe braucht ein ſolcher Alerander gar fo viel Werkzeuge 
und eine ganze Welt zu feiner Werklätte! „Wo follen denn die Armeen 
und Seringszüge von Menſchen herfommen?“ gerollt der alte Marquis. 
„Glaubt er, ig Habe Geld genug, um für ihn Schlachten zu veranftalten ?* 
Der Narr! Gr fol ih dem Landleben widmen, erſt jedoch, obſchon bie 
Sache ihre Gefahren hat, ein wenig Paris ſehen. 

In Paris wirft während des Winters ber tapfere Gabriel Alles vor 
ich wieder ; er glänzt in Salons, in dem Oeil de Boeuf zu Verſailles, ſpeiſt 
bei dem Herzog vom Orleans — ber junge Chartres, welcher jetzt noch nicht 
Egalit6 geworden, ftößt mit ihm an —; er fpeift bei den Guemeènes, Brog- 
lies und anderen Größen und wird zur Jagd eingeladen. Selbſt bie alten 
Frauen find entzäcdt von ihm und rafcheln in ihren Atlaskleidern; fett lan⸗ 
ger Zeit ift in dem Oeil de Boeuf fein ſolches Licht aufgegangen. Gieb zu, 
o Marquis, daß es ſchlimmere Saufewinde giebt als diefen. Der Marquis 
giebt es theilweiſe zu und doch und doch! wenig Dinge find merkwürdiger 
als dieſe aufeinander folgenden Ruͤckblicke des alten Marquis, indem er ſei⸗ 
nen jungen Grafen kritiſch ins Auge faßt: 

„Ich bin auf meiner Gut; id weiß wohl, wie bie gebhafigkeit bes 
Kopfes in Bezug auf den Charakter täufchen kann, aber alles erwogen, muß 
man ihm einigen Spielraum geſtatten; was zum Teufel follte man fonft 
mit einer ſolchen intellectuellen und fanguinifchen Veberfülle anfangen? 
Ih Tenne fein Weib, als die Katjerin von Rußland, mit welcher man biefen 
jungen Rann verheirathen Fönnte, * 

Es möchte jchwer fein, einen jungen Mann zu finden, der mehr Ta⸗ 
Int und Thätigfeit in feinem Kopfe hätte als biefen; er würbe felbft ben 
Zeufel zur Raifon bringen. * 

„ Dein Neffe Wirbelwind (l’Ouragan) fieht mir bei. Geſtern fagte Der 
Diener Luce, der eine Art vom privilegirtem Einfaltöpinfel iR: Geſtehen Sie, 





101 


Herr Braf, daß der Rumpf eines Menfchen fehr unglücklich iM, wenn er 
einen ſolchen Kopf tragen muß.” 

„Er beſiht die furchtbare Babe der Familiaritaͤt, wie Papft Gregor ed 
nannte. Cr widelt bier die vornehmen Leute um die Finger, * 

Und dann wieder einige Jahre foäter: 

„Man fagt mir fortwährend, daß es ſehr leicht ſei, ihn zu veigen, aber 
auch zu rühren; man kann ihn nicht hart anreden, ohne daß feine Augen, 
feine Lippen und feine Farbe verrathen, daß ſich alles in ihm umswenbet ; 
andererfeitö Dagegen bricht er bei dem geringften zärtlichen Worte in Thraͤ⸗ 
nen aus und würde für Den, der es ihm fagt, durchs Fener geben. * 

„Ih verwende mein ganzes Leben darauf, ihn mit Prinzipien und 
Allen, was ich weiß, vollzuftopfen, denn biefer Mann, der in Bezug auf feine 
Grundeigenſchaften immer noch derfelbe iſt, Hat durch dieſe langen und bite 
den Studien nichts gethan, als den Gerüllhaufen in feinem Kopfe vermehrt, 
den man mit einer durcheinander geworfenen Bibliothek vergleicgen Tamm. 
Dazu kommt noch fein Talent, durch Oberflaͤchlichkeiten zu bienden, benn ex 
Hat 6108 alte Formeln verfchlungen und kann nichts gründlich darthun. * 

„Er ift ein Kuthenkorb, der alles burchläßt, Die geborene Unordnung, 
Teichtgläubig wie eine Amme, ein Lügner durch und durch, ohne Noth und 
blos um Geſchichten zu erzählen ; indiscret, und befitt dabei eine Dreiſtigkeit, 
welche in jeder Beziehung blendet, Gewandtheit und Talent ohne Grenzen, 
Uebrigens Haben die Laſter in ihm unendlich weniger Wurzel als die Tugen⸗ 
den; alles if Keichtfinn, Ungeſtüm, Unwirkſamkeit (nicht aus Mangel an 
euer, jondern des Planes); ein Geiſt, der im Unbeſtimmten denft und 
Geifenblafen aufeinanderbaut. * 

„Trog der fürchterlichen Häßlichkeit, des hinkenden Ganges, des athem⸗ 
Iofen eiligen Schnauben®, und bes Blickes, oder befier gejagt, der grimmigen 
Stirn dieſes Mannes, wenn er zuhdrt und nachdenkt, verrietb mir do 
etwas, daß all diefe wilde Äußere Erſcheinung weiter nichts fel, als eine 
Bogelfheuche von altem Tuch, daß im Brunde genommen er in ganz Frank⸗ 
reich ber letzte Mann wäre, von bem eine überlegte Bosheit zu erwarten 
fände.” ° 

„Ganz aus Nachdenken und Wiederjpiegelungen zufammengeiegt (tout 
de refler et de reverbere) wird er durd fein Herz rechts und durch feinen 
Kopf, den er vier Schritte von ſich entfernt trägt, nach linke gezogen. * 

„Er kann der Korppbäus unferer Beit werden. * 


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Er befigt eine angeborene kurzſichtige (myope) Ueberflürzung, bie ihn 
veranlaßt, den Sumpf für feiten Boden zu halten — * 

— Gluck! glud! — im Namen aller Götter, was für ein Wunder⸗ 
thier habe ich Denn da ausgebrätet? Es bat Schwimmfüße und einen brei« 
ten Schnabel ; es wird ind Wafler Iaufen und erfaufen, wenn die himmliſche 
Barmberzigkeit und die Mutterhenne es nicht verhindern ! 

Wie unausſprechlich wahr aber ift doch, was der alte Marquis fagt: 
„Er Hat alle Formeln verfhlungen (il a hume toutes les formules)" und 
fie au dem Wege geräumt! Ja Bormeln, wenn wir es recht überlegen, 
Formeln und Babriel Honoré waren von Anfang bis zu Ende Todfeinde 
und mußten es fein. Welche Formel dieſer formalifirtien (beftehenden) 
Welt war für Gabriel eine gütige geweien? Seine Seele konnte feinen 
Schuß darin finden, denn fle waren unglaublich, fein Körper feine Tröflung, 
denn file waren tyranniih und ungerecht. Wenn es nicht außer Formeln 
und trog derſelben Speife und Subflanz gab, dann wehe ihn! Diefem 
Manne fonnten Formeln feine Eriftenz und feine Wohnung gewähren, aus⸗ 
genommen höchſtens auf der Inſel Rhé und dergleichen Orten, fondern droh⸗ 
ten das Leben aus ihm berauszuwürgen. Entweder müflen bie Sormeln 
unterliegen oder er, und nach einem harten Kampfe ergiebt fi, daß tie 
Formeln beflege find. Go jhlau und gewandt iſt das Schidial; in aller 
Ruhe formt e8 feine Werkzeuge für die Arbeit, Die fie verrichten follen, wäh 
vend ed biefelben nur zu verderben und gu zerbrechen icheint! Denn bedenke 
wohl, o Marquis, ob nicht Frankreich ſelbſt mit der Zeit ein paar Formeln 
zu verichluden haben wird! Läßt ver Anblid, der fih Dir von ben Vätern 
deö Mont d’Or darbieter, nicht ſchon auf etwas der Art ſchließen? Es iſt ein 
Sommertag des Jahres 1777. 

„D Madame, welche Geſchichten könnte pr Ionen erzählen, wenn id 
nicht ein ganzes Schod trodene Gefchäftsbriefe zu beantworten hätte. Ic 
würde Ihnen das Dankfeſt diefer Stadt malen, weldes am 14. flattfand, 
Die Wilden famen in Strömen von den Gebirgen herab, unfere Leute bat» 
ten Befehl, an Ort und Stelle zu bleiben. Der Priefter mit Meßgewand 
und Stola, der öffentlihe Richter in jeiner Berüde, die Maréchaufſee mit 
gezogenem Säbel befegten den Pla, „che die Tänze beginnen durften. 
Schon nah einer Biertelftunde ward der Tanz durch Schlägerei unter. 
brochen, die Kinder, die Gebrechlichen und andere Zufcdauer fdhrien und 
Freifchten und gingen gleihwohl nicht von ter Stelle, eben fo wie der Pöbel 


mE a — — wm CE — — — — — — — — — — — — — 


— Ui —⸗——— — — He MER eig — ln 


103 


fi fammelt, wenn ſich die Hunde beißen. Furchtbare Menſchen oder viel⸗ 
mehr wilde Gefchöpfe bed Waldes in groben wollenen Kitteln und breiten 
Ledergürteln mit Eupfernen Nägeln, von rieflger, durch die hohen Holzſchuhe 
noch vermehrter Körpergröße. Ste flellten fih auf die Spigen, um den 
Kampf genau zu fehen, fchlugen den Taft dazu und rieben fich die Seiten 
mit den Ellbogen. Ihr hageres Geſicht war mit langem fchmierigem Haar 
bedeckt; der obere Theil des Geſichts warb bleich, der untere Dagegen ver- 
zerrie fi zu den Anfängen eines graufamen Gelächters, einer wilden Unge⸗ 
duld. — Und dieſe Leute bezahlen Die taille! Und Sie wollen ihnen auch 
noch das Salz nehmen! Und Sie willen nicht, was Sie ſchinden oder — 
wie Sie e8 nennen — regieren, denn Sie glauben, daß Ste mit einem feigen 
Federſtrich ungeflraft fortfahren Eönnen, zu rauben, bis die Kataſtrophe 
fommen wird! Solche Schaufpiele regen tiefe und ernfle Gedanken an. 
„Der arme Jean Jacques!’ jagte ich zu mir felbft, ‚Die, welche Dih und Dein 
Syſtem hierherſchickten, um unter einem foldden Volke Noten zu fchreiben, 
Haben Dein Syſtem nur fchlecht überlegt!’ Andererſeits jedoch waren biefe 
Gedanken auch tröftlich für einen Mann, welcher fein ganzes Leben lang die 
Notwendigkeit der Unterflügung der Armen und des allgemeinen Unter 
richts gepretiat hat; welcher verfucht bat, zu zeigen, worin dieſe Unter⸗ 
flügung und diefe Belehrung beſtehen muß, wenn fle eine Schranfe — die 
einzige mögliche Schranke — zwiſchen Unterdrüdung und Empörung bilden 
fol, den einzigen, aber untrüglichen Sriedendtractat zwifchen den Hohen und 
den Niedern! Ach, Madame! Diefe wie beim Blindekuhfpiel umberftol« 
pernde Regierung wird duch einen allgemeinen Umſturz enden. * 
Prophetiſcher Marquis! Möchten andere Nationen Dich befler anhö⸗ 
ren, ale Sranfreid Dich anhörte, denn ed geht fie alle an. ber it es 
nicht merfwürtig, wenn man bedenft, wie die ganze Welt ohne eben dieſen 
Bropheten einen ganz andern Bang genonmen haben würde? Hätte der 
junge Mirabeau einen Vater gehabt, wie ihn andere Menfchen haben, oder 
auch gar keinen Vater! Ban bedenke ihn, wie er in diefem Balle durch na⸗ 
türliche Gradation, durch den Hang, die Belegenheit, die ununterdrüdbaren 
elaftiichen Bähigkeiten, die er beſaß, Stufe um Stufe zu amtlicher Stelle, — 
zu der höchſten amtlichen Stelle emporgeftiegen wäre, was zu einer Beit, wo 
Zurgotd, Neders und talentvolle Zeute unentbehrlich geworden waren, noth⸗ 
wendig der Ball Hätte fein müflen. Durch natürlichen Zauber bezaubert er 
Marien Antoinetten, fle am meiften von allen mit ihren rafchen empfäng⸗ 


104 


lichen Inſtinkten, ihrem feinen Gefühl für Alles, was groß und edel wer, 
ihrem raſchen Haß gegen Allee, was nur pedanttich, neckeriſch, lafayettiſch 
war und fich für groß außgeben wolle. König Ludwig ift eine Null, zum 
Glück war er auf eine ſolche reducirt; dann hätte an der Spige Fraukreichs 
der einzige Franzoſe geflanden, welcher diefe große Frage anzufaflen ver» 
mocht, der nachgebend und veriveigernd, mandurirend, leidend und mit einem 
Worte Das, was zu thun war, jehend uud wagend, Frankreich vielleicht 
feine Revolution eripart und ed auf friedlichem Wege umgeflaltet Hätte ! 

Aber die höchſten Mächte hatten es anders beſchloſſen. Einmal nah 
taufend Jahren follten alle Rationen den großen Brand, die Selbfiverbren- 
nung einer Ration jeher and davon fernen, wenn fle fönnten. Und fonnte 
ed für einen Formelverichlinger auf ber Welt einen beſſern Schulmeiſter 
geben als eben biefen Breund der Menſchen; Tonnte man Sich eine beſſere 
Erziehung denten, als die, welche Aleides Mirabeau Hatte? Vertraue dem 
Simmel, guter Lefer, er überwacht das Schickſal der Nationen eben fo mie 
den Ball eined Sperlings. 

Gabriel Honoré macht ſich in Paris ganz gut und widelt mit jenem 
„ſond gaillard‘‘ mit jener „‚terrikle don de la familiarit&‘“, mit feinem gan- 
zen einſchmeichelnden Weſen die vornehmen Leute um den Finger. Auch in 
dem ganz entgegengefehten geichäftligen Deyartement, als der Senmer 
fommt und mit diefem das Landieben, übertrifft ex alle Erwartungen. Im 
Sommer des Jahres ſchickt ihn der alte Freund der Menſchen nach dem Li⸗ 
anoufin auf fein Gut oder bet dem zu Diefer Zeit noch ſchwebenden Prozeffe 
— feines Weide But, Bierre Bufflöre, um zu fehen, ob ſich dort etwas für 
Die Menfchen thun läßt. Allerdings giebt e8 bier fehr viel zu thun. Die 
Bauern, denen ed an allen Dingen feblt, feld an Lebensmitteln, tragen das 
fiebende Gepraͤge des Leidens auf ihren Gefichtern, ale ob fie meinten, bie 
Ausplünderung der Menfchen fei eine unvermeidlidhe Bügung des Himmels 
Die man ſich eben fo gefallen laffen müſſe wie Sturm und Hagelſchlag. 

Hier in der Einſamkeit des Rimouftn iſt Gabriel immer wieder Ga⸗ 
briel. Er reitet, er fchreibt und ſchaut ſich überall um; er ift and dem 
Töpfen der armen Xeute, ſpricht mit ihnen, verhilft ihnen zu ihrem Rechte, 
fegt eine Art Schied&männergericht ein und gewinnt abermals Aller Herzen. 
Geftehe, o Marquis Rhadamanthus — wir fagen es nochmals — Daß es 
weit fchlimmere Saujewinde giebt als Diefen! „Erift," befennt der Mars 
quis, „der Dämon des Unmöglichen, le demon de la chose impossibie. * 


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Dies tft auch ganz wahr — unmöglich ift ein Wort, welches micht 
in feinem Woͤrterbuche ſteht. So befichlt 3. B. derſelbe Gabriel Honoro 
lange nachher — wie Dumont bezeugt — feinem Secretair, irgend ein 
Wunder zu thun — etwaß, was wenigften® zur damaligen Zeit für wunder 
bar galt. Der Secretair antwortet: „Monfleur, das tft unmöglich.“ „Uns 
mögli?* antwortet Babriel; „ ge, me dites jamais celte b&te de mot, nen» 
nen Ste mir nicht dieſes Dumme on! * Wirkiih, man möchte fagen, er 
war ein ganz guter Menſch, fobald man nur gut mit ihm umging, obſchon 
immer noch breitſchnaͤbelig und mit einem mmüberwindlichen Hang, ins Waſ⸗ 
fer zu geben. 

Der folgende an den Bailli gerichtete, übrigens bebeutungslofe Brief 
ſcheint und tes Abſchreibens werth zu fein. Nimmt ſich der junge Herr, 
wenn er fi no in der Stugerperiode befand, nicht fehr ſchoͤn darin au®, 
wie er fo im Schnee daſteht? ES iſt im December 1771, auf dem Wege 
nah Schloß Mirabean : 

„Fracti bello satisque repulsi ductores Danaum: hier, lieber Onkel, 
iſt ein Anfang in gutem Lateiniſch, welcher bedentet, daß ich vor Müdigkeit 
kaum noch fort kann. Ich babe diefe ganze Woche nicht mehr gefchlafen, 
als Schildwachen zu fchlafen pflegen und gleichzeitig mit den Raͤdern meines 
Wagens die meiften Gleiſe und Pfühen fondirt, welche zwiſchen Paris unt 
Marfeille liegen. Xief und zahlreich waren dieſe Gleiſe. Ueberdies brach 
zwiſchen Mucreau, Romané, Chambertin und Beaune bie Are meines Wa⸗ 
gend — in der Mitte von vier Weindiſtricten; welch ein geographiſcher 
Bunft, wenn ich fo Flug geweien wäre, ein Trunkenbold zu fein. Das Un⸗ 
glück geſchah gegen fünf Uhr Abends; mein Lakai war fchon voraut. Es 
flel damals nichts als nafier Schnee; zum Glück gewann er fpäter einige 
Conſtſtenz. Die Nähe von Beaune ließ mich hoffen, in den Eingebornen 
des Landes einiges Genie zu finden. Ich bedurfte guten Rath; der Teufel 
rieth mir anfangs zu fluchen, aber diefe Laune ging vorüber und ich fam in 
Berfuchung, zu laden, denn bis an das Kinn ringewidelt kam ein fronrmer 
Briefter berangetrabt, dem der Schnee und Regen ind Geſicht ſchlug und ihn 
bewog, eine fo fonderbare Miene zu ziehen, daß ich glaube, es war eben 
Dies, was mih vom Fluchen abbielt. Der fromme Bann fragte, ale er 
meinen Wagen umgeworfen dallegen und eins der Mäder fehlen fab, ob 
etwas vworgefallen ſei? Ich antwortete, es fiele bier nichts als Schnee. 
„Ah,“ fagte er finnreih, „Ihr Wagen iſt alio zerbrochen. * Ich bewunberte 


106 


den Scharffinn des Mannes und bat ihn, mit Grlaubniß feines Pferdes — 
welches ebenfalld ein niedliches Geſicht zog, ald ihm der Schnee fo auf die 
Rate ſchlug — feinen Schritt zu vertoppeln und in Chaigny gefällig Nach⸗ 
richt zu geben, daB ich hier fäße und nicht weiter könnte. Er verſicherte 
mir, er wolle es der Poſtmeiſterin felbft fagen, denn dieſe fei feine Couſine, 
eine jebr liebenswürdige Frau und feit drei Jahren an einen ber rechtſchaf⸗ 
fenften Männer ber Statt, einen Neffen tes königlichen Procurators in — 
verheirathet. Kurz, nachdem er mir über fi, feine Goufine, deren Gatten 
und ih weiß nicht wen fonft noch alles Mögliche mitgerheilt, beliebte e# 
ihm endlich, feinem Pferde die Sporen zu geben, welches hierauf cin kurzes 
Grunzen hören ließ und fih in Bang jegte. Ich vergaß ihm zu jagen, Daß 
ih den Poftillon nad Mucreau geſchickt Hatte, wohin er den Weg wußte, 
denn er ging, wie er jagıe, täglich dorthin, um ein @lädchen zu trinken, was 
ich recht gern glaubte, felbft wenn er mir verſichert hätte, daß er zwei Gläs— 
chen trinfe. Der Mann war, als er ging, bloß ein wenig angeflodhen ; als 
er wieberfam, was jehr fpät war, war er richtig ganz betrunfen. Ich mar« 
ichirte wie eine Schildwache hin und ber, mehrere Einwohner von Beaune 
famen vorüber und fragten mich einer nach dem andern, ob etwas paſſirt 
fei? Einem von ihnen antwortete ich, es handle fid) um ein Experiment; 
ich fei von Paris abgefchickt worden, um zu feben, ob eine Chaiſe auch mit 
einem Rate liefe; bie meine wäre bis hierhergegangen, doch wollte id nun 
zurückſchreiben, daß zwei Mäder jedenfalls befier wären. In diefem Augen- 
blicke flich mein würdiger Sreund mit dem Scienbein an das antere im 
Schnee liegende Rad, fuhr mit der Hand nad der verlegten Etelle, fludhte, 
wie ich beinahe gethan hätte und fagte dann lächelnd: „Ah, Monfteur, da 
ift ja das andere Rad!” „Zum Teufel au!” fagte ich, ald ob ich ganz 
erflaunt wäre. in anderer theilte mir, nachdem er den Wagen lange bins 
ten und vorn befichtigt, entlich mit fehr fchlauer Miene mit: „Ma foi Mou- 
sieur! Es ift Ihre essi (er meinte damit essieu oder Are), die zerbre- 
chen iſt.“ 

Mirabeau's Miifton in der Provence während diejer Winterfaifon war 
eine mehrfache. : Er follte die Güter überwachen, fih unter feinen Unter 
thanen und feines Gleichen in dieſer Gegend heimisch fühlen lernen, — viel» 
leicht fi ein Weib wählen. Nod vor Kurzem hatte der alte Marquis, wie 
wir geſehen haben, gemeint, es paſſe weiter feine für ihn, als höchſtens die 
Kaiferin Katharine. Gabriel aber ift jeit jener Zeit unter diefem Sonnen- 


—— Da A Me ⏑Â⏑———  — ll — RR u er il ee er er 


107 


fein vaͤterlicher Gunſt — dem erften Schimmer von folder Witterung, ten 
er jemals gehabt — ganz erflaunlich gereift. Der Marquid glaubt jegt, fein 
Sohn Fönne, wenn ed auch gerade nicht die Kaiferin wäre, recht wohl eine 
Andere beiratben, dafern fie nur Geld Hätte. 

Man findet endlich auch eine Braut, allerdings nicht mit Geld, wohl 
aber mit Gonnerlonen und Ausfichten und erobert fle durch flürmifche Be» 
tedtfamkeit, wobei der Marquis jecundirt. Ihr Portait iſt fo wie eö der 
fecundirende Marquis felbft entwirft, gerade nicht fehr bezaubernd: „Marie 
Emilie de Covet, einzige Tochter des Marquis von Marignane, fand das 
mald in ihrem adhtzehnten Jahre. Ihr Geſicht nahm fich ſehr gewöhnlich, 
ja auf den erſten Anblid faf gemein aus und war dabei braun, ja faft 
ſchwarzgelb (mauricaud). Augen und Saar waren ſchön, die Zähne nicht 
gut, doch umfpielte den Mund ein fortwährendes Tiebenswürbiges Lächeln. 
Ihre Geſtalt war Flein, aber angenehm, obſchon ein wenig feitwärtd geneigt. 
Dabei entwidelte fie große Lebhaftigfeit des Geiſtes, Scharfjinn, Gewandt⸗ 
heit, Zartgefühl und Ruthwillen. * 

Diefe braune, faſt ſchwarzgelbe Fleine Dame, bie noch dazu eine große 
Närrin war, befommt Mirabeau am 22. Juni 1772 zum Weihe. Mit ihr 
und mit einer Benflon von dreitaufend Franes von feinem Schwiegervater 
und einer von fehstaufend von feinem eigenen Vater und reichen Außfichten 
foll er fih nun mitten in ber Brovence an feinem eigenen gemietheten Heerde 
in der Stadt Air nieberfegen und den Himmel preifen. 

Man muß zugeben, daß diefer junge Alexander, ber eben erſt fein vier- 
undzwanzigfted Jahr begonnen, ein wenig grollen Eonnte, ald ex blos eine 
ſolche Welt zu erobern ſah. Indeſſen, er hatte jeine Vuͤcher, er hatte feine 
Soffnungen, Geſundheit, Fähigkeiten ; ein Univerfum, von weldhem auch die 
Stadt Yir einen Theil bildete; ein Univerfum reich an verbotenen Brüchten 
rings um ihn ber ; dad unausfpredhliche „ Saatfeld der Beit”, worin er fäen 
fonnte und er fagte zu fich ſelbſt: Wohlen, ich will weile fein. 

Und dennoch iſt die menſchliche Natur ſo ſchwach. Man kann ih au 
denfen, ob der alte Marquis, der jegt mit feinen Weibe in einen immer 
entfchiebneren Prozeß hineinfam, aufgelegt war, Fleine Sünden zu verzeis 
ben. Die ſchreckliche, Heifereruhige rhadamanthiniſche Art und Weile, auf 
welche er fich über dieſe Prozeßangelegenheit gegen feinen Bruder außipricht 
und ibm das tiefſte Schweigen auferlegt, föunte fchwache Nerven bedeutend 
erf&hüttern, weshalb wir ganz dem Zwede entgegen darüber hinweggehen. 


108 


O gerechter Marquis! Der RiquettirHaushalt kann in der That für 
Die Schwache menſchliche Natur wenig thun, ausgenommen vielleicht fie nur 
um fo fhneller zum Balle bringen. Der Riguetti» Haushalt wird aus ein. 
anter geftreut; nicht Immer aus einander geleitet, fondern oft aus einander 
gefchleudert — die Zeiten des Tornado haben für ihn begonnen. Die eine 
Tochter ift Frau von Saillant, noch jeßt (1837) am Leben, eine ſehr gute 
Schweſter; eine andere ift Frau von Cabris, nicht jo gut, denn ihr Semahl 
hat Prozeſſe wegen verleumberifcher Berfe, die von ihm herrühren; fle wird 
von einem gewiflen Baron von Pilleneuve Moans, der fi von einem biefer 
verleumderifchen Verſe getroffen fühlt, auf der öffentlichen Promenade von 
Grafe infultirt und alle bei diefer Angelegenheit berheiligte Berionen zeigen 
fih ald wahrbafte Narren. Sa, die arme Frau läßt fi, wie wir finden, 
allmälig fogar mit präternuptialen Berfonen ein, fo 3. ©. mit einem ges 
wiffen Brianfon in Epauletten, den der Fils Adoptif als einen Mann des 
Schreibt, der — fih unmöglich beſchreiben Täßt. 

Bon einem jungen Erben_aller Mirabeaus verlangt man, daß er eine 
gewifle Figur mache, befonders wenn er fi verheirathet. Der gegenwärtige 
junge Erbe hat nichts, womit er eine Figur machen Fünnte, als unzuläng« 
liche neuntauſend Francs jährlich and fehr bedeutende Schulden. Der alte 
Mirabeau tft Hart wie der Felſen Mofls und kein Stab vermag Wunter an 
ihm zu thun; für Trouffeaus, Gefchenfe, Fußwaſchungen, Feſtgelage und 
Einzugsichmaufereien giebt er ganz einfach auch nicht einen Sous ber. Der 
Erbe muß alles felbft fchaffen. Er thut es und reichlich, aber ach, was 
wird aus den neuntaufent Francs jährlih und den fehr bedeutenden Schul⸗ 
den? Soll er Air und die Schmaufereien aufgeben und ſich auf das alte 
Schloß in der wilden Thalſchlucht zurüdziehen? Ja wohl, es gefchieht. 
Aber fann eine junge, an den Luxus des Lebens gewöhnte Frau nidyt ver⸗ 
langen, daß eine Reihe von Zimmern für fie eingerichtet werde? Die Tapes 
zierer haͤmmern und poliren, mit gutem Erfolg, aber nicht ohne Meinungen. 
Und nun die bedeutenden Judenſchulden! 

Der arme Mirabeau flieht feinen andern Ausweg als mit thraͤnenden 
Augen zu feinem Schwiegervater zu laufen und ihn zu beſchwören, jene 
„reichen Ausfichten * einigermaßen in Genüfle umzuwandeln. Vierzigtaujend 
Franks erklärt der durch dieſe Tihränen und fenrige Beredtſamkeit gerührte 
Schwiegervater fich endlich bereit, baar zu zahlen, vorausgefegt, daß der alte 
Marquis Mirabeau, der gewiſſe Voranſprüche hat, auf diefe verzichten. Der 


109 


alte Marquis Mirabeau, an den auf die leidenichaftlichite, überredenpfte 
Weiſe gefchrieben worden, antwortet durch einen Brief von der Art, welche 
man verfiegelte Briefe (Lettres de Cachet) nennt, und beflehlt dem 
leidenfchaftlichen überredenden Briefichreiber unter des Könige Hant und 
Siegel, fi fofort nach Manosque zu verfügen! 

So lebe denn wohl, du altes Schloß, mit deinen neutapezirten Zim⸗ 
mern auf deinem fleilen Zelfen an dem reißend flrdmenden Durance ; wills 
kommen, du erbärmliher Kleiner Fleden Manodque, da das Schidjal uns 
einmal dahin treibt! Auch in Manosque kann der Menfch leben und leſen; 
er kann einen Esssi sur le Despotisme fchreiben (und tm Jahre 1774 In 
der Schweiz drucken laſſen) — eine Schrift voll Feuer und roher Kraft, die 
noch jet gelefen zu werben verdient. 

Die „Abhandlung über den Despotismus“, worin ſich von den Ephe- 
merides und Quesnay fo wenig fand, konnte an dem alten Marquid nur 
einen harten Kritiker finden. Wahrſcheinlich murmelte diefer etwas von vers 
ſchlungenen Bormeln und jungen Menichen, die fich erbreifteten, über Dinge 
zu fhreiben, welche Ernft und reife Erfahrung erforderten. 

Unglüdlicherweife famen auch noch andere Uebelthaten hinzu. Ein ge- 
wifler Ge, Namens Chevalier de Baffaut, welcher gewohnt ift, dad Haus 
des jungen Berbannten zu Manodque zumeifen zu befuchen, läßt es fich ein⸗ 
fallen, eine Urt theoretifcher Liebelei mit der Kleinen, braunen Frau zu be⸗ 
ginnen, „welche diefe Annäherung theoretiſch erwiedert. Billet folgt auf 
Billet, Bli auf Blick crescendo allegro; — bis der Gatte gleich einem 
Bulfan den Mund aufthut und den Chevalier de Gaffaut zur Thür hinause 
zuwerfen droht. Chevalier de Baflaut gebt, ohne fich erft werfen zu laſſen, 
aber nicht ohne eine gewifie Exrplofion. Man vermuthet ein Duell, aber 
dieſer Gaſſaut, welcher weiß, was für eine Klinge dieſer Riquetti führt, 
will fih nicht jchlagen und fein Bater muß bitten und ihn entichuldigen. 
„Cdelmüthiger Graf, ſtich meinen armen Sohn nicht todt; leider hat ſchon 
dieſe höchſt beflagenswerthe Erploſton an und für ſich die fchönfte Partie 
rũckgaͤngig gemacht und die Familie will nun nichts mehr von ihm hören!“ 


Der edelmuͤthige Graf verzichtet, nachdem er dies gehört, nicht blos auf das 


Duell, fondern galloppirt au, den Lettre de Cachet ganz vergeflend, halb 
verzweifelt fort, um mit ber eben erwähnten Familie zu ſprechen und fie fo 
lange mit Bitten zu beflürmen, bis der arme Gaffaut wieder zu Gnaden aufe 
genommen wird. Nachdem ex dies alüclich vollbsacht, denn nichts vermag 


110 


feiner Veredtſamkeit zu widerſtehen, reitet er mit dem Bewußtfein einer guten 
That im Herzen gemädlich wieder nach Haufe. 


Wir haben fchon angedeutet, daß diefer fein Mitt über die ihm in dem 
Föniglichen verflegelten Briefe geſteckten Grenzen hinausgeht, aber ganz ge= 
wiß wird Niemand darauf achten, Niemand ed der Behörde anzeigen. Es 
ift ein ſchöner Sommerabend — o armer Gabriel, es iſt der Ichte friedliche, 
glüdliche Ritt, den Du auf lange Zeit hinaus, vielleicht faſt auf immer in 
der Welt haben ſollſt. Denn ſiehe, wer kommt da durch das gelbe Sonnen⸗ 
Licht einherkutſchirt? Himmel und Hölle! es if} jener nichtöwürdige Baron 
von Villeneuve Moand, welcher Schwefter Cabris auf der Promenade von 
Graſſe injultirte! Die menſchliche Natur verfällt fehr leicht in Uebereilung 
und Irrthümer, wenn man ihr nicht Zeit zur Ueberlegung geftattet. Reiter 
und Kutſche kommen einander immer näher, die Pferde baumen aneinander 
hinaus und Du fleigft ab, faft ohne es zu wiſſen. Satisfaction wie Maͤn⸗ 
ner von Ehre fie erwarten, mein Monfleur! Nicht? KHöre ich recht? 
Nicht? In diefem Balle Monfleur — Und diefer wilde Gabriel (horresco 
referens!) padt den Baron von Villeneuve Moans und peitjht ihn, nicht 
blos ſinnbildlich, ſondern praftifch auf der föniglichen Beerftraße, während 
einige Bauern zujeben! Da hat die Fama nun wieder etwas in die Welt 
binaudzupofaunen ! 


Die Kama bläſft — nach Paris ebenfo wie anderdwohin — und zur Ant⸗ 
wort trifft am 26. Juni 1774 ein frifcher verflegelter Brief von größerem 
Nahdrude ein und mit ihm zugleich Fommen grimmige Häſcher und ihr 
Wagen. Der Formelichluder wird von feinem Weibe, von feinem im Ster- 
ben Tiegenden Kinde, von feinem lebten Schatten einer Heimath, ohnedies 
ihon einer Heimath im Exil, hinweggeſchleppt nad Marfeille, nah dem 
Schloffe If, welches dräuend auf dad weite Meer herabfhaut. Umgürtet 
von dem blauen mittelländiichen Meere, mit eijernen Gittern vor dem Fen⸗ 
fter, abgefchnitten von Feder, Papier, Freunden und Menfchen, mit Aus 
nahme des Cerberus des Platzes, welcher beauftragt ift, ihn ſehr Eurz zu 
halten, muß er nun bier figen — folde Kraft hat ein verflegelter Brief, 
fo hat ed der grimmige alte Marquis beftellt. Unfer kurzer Sonnenblid 
gebt alio fchon wieder in Nacht über? Ja wohl, Du armer Mirabeau, in 
dunfle Mitternacht! Ja, die Formeln find allzugraufam gegen Di, Du 
verwickelſt Dich wirflih mit Formeln in Krieg, den ſchrecklichſten aller 





111 


Krtege, aber Du wirft fie mit Gottes und bed Teufels Hülfe aus dem 
Wege räumen, auf die fchredllichfte Weiſe! 


Bon diefer Stunde an fenkt fich immer dichtere Finſterniß auf den 
armen Gabriel herab ; fein Kebenspfad wird immer peinlicher und unficherer 
und von Irrlichtern, die nicht dem Himmel entflammen, umlagert. Solche 
Alcided- Arbeiten find felten irgend einem Menfchen zugetbeilt worden. 


Bügle Deine Wuth, Deine heißen Thränen, armer Mirabeau, füge 
Di, fo gut es geben will, denn es Hilft einmal nichts. Aus dem Herbſt 
wird Winter und diefer gebt in milden Brühling über, die Wogen umtofen 
das Schloß If an der Mündung des Hafens von Marfeille und ſchließen den 
unglüdlihften Menſchen ein. Doch nein, nicht den unglüdlidiften. Der 
arme Gabriel befitt ja einen folchen fond gaillard, eine Bafld der Freude 
und Heiterfeit ; es wohnt ein tiefes, feurige® Leben in ihm, welches felbft 
durch das fchwärzefte Schickſal nicht ertödtet zu werden vermag. Der Ger- 
berus von If, Herr Dallegre, wird endlich fanfter, wie alle Cerberuſſe un⸗ 
ferem Gabriel gegenüber werden; er giebt ihm Papier, er ſchenkt ihm 
Theilnahme, er ertbeilt ihm gute Ratbichläge. Ja, es find ihm fchon Briefe 
zugeftedt worden, die „irgend ein Halunke fih in die Kamaſchen gefnüpft 
bat,” jagt der alte Marquis. Auf Schwefter du Eaillanı'8 freundlichen 
Brief fallen „Ihränen*, aber nichtödefloweniger weint Du nicht immer. 
Du thuf etwas Befleres, Du jchreibft die Memoiren eined tapferen Col 
d’Argent (woraus wir oben Einiged mitgetheilt haben) ; Du beſchaͤftigſt Dich 
mit Projecten und Beflrebungen. Zuweilen freilih thuſt Du aud etwas 
Schlimmeres, obſchon in einer andern Nichtung, — wo Marketender hübiche 
rauen haben! Es war — wie der Fils Adoptif meint — ein ſehr verzeib- 
licher Behltritt von der fchönen, ſchwachen Cantiniere, worüber damals zu 
viel Aufhebens gemacht warb. 


Auch fehlt es nicht an gerechteren Tröftungen ; Schweftern und Brüder 
ermahnen Did, gutes Muthes zu fein und die Hoffnung nicht aufzugeben. 
Unfere Leſer haben Graf Mirabeau als „den Älteften von meinen Jungen * 
bezeichnen hören ; wie wäre e8, wenn wir nun einmal den jüngeren einen 
Augenblid lang vorführten? Wir meinen den Malteferrütter von Mira- 
beau, damals einen rauben Sohn des Meeres. Er ift auch ein arger Saufe- 
wind, bat aber den Bortheil, daß er nicht der Alteftle Sohn iſt. Er tft vom 
Krankenlager aufgeftanden und mitten im Winter von Malta nach Marſeille 





112 


gereiſt, denn dal Band der Matur zieht ihn, ein fo ungelecktet Gesungehener 
er auch iſt. 

„Es webete ein heftiger Wind; feiner der Bootleute wollte mit mir 
den Duai verlaffen. Ich bewog endlich aber doc zwei von ihnen, mehr 
turd Drohungen als durch Geld, denn Du weißt, ich habe Fein Geld, bin 
aber, Bott fei Dank, mit der Gabe des Redens fo leidlich ausgeftattet. Ich 
erreiche das Schloß If, die Thore find geichloffen und der Lieutenant — 
Herr Dallegre war nicht ba — fagt mir in aller Ruhe, daß ich wieder gehen 
muß, wie ich gekommen bin. — Nicht eher, als bis ich Gabriel geichen 
babe. — Es ift nicht erlaubt. — Ich will an ihn ſchreiben. — Auch das 
kann ih nicht geftatten. — Dann will ich auf Herrn Dallegre warten. — 
Ganz wohl, aber blos vierundzwanzig Stunden, nit länger. — Hierauf 
faffe ich meinen Entſchluß; ich gehe zu La Monret — der hübſchen Frau 
des Marketenders oder Schenkwirths — wir fommen überein, daß ich, for 
bald ald der Zapfenftreich vorüber iſt, dieſen armen Teufel feben fol. Ich 
kam auch wirklich zu ihm, nicht wie ein Paladin, fondern wie ein Dieb oder 
ein Liebhaber, welches Du will, und wir fihütteten unfer Herz aus. Man 
hatte gefürchtet, daß er meinen Kopf bis zur Temperatur des feinen erbigen 
würde, aber Schwefter Cabris, man beurteilt ihn folfh. Id kann Dir 
verſichern, während er mir feine Geſchichte erzählte und meine Wuth ſich in 
den Worten Luft machte: Obſchon noch halb frank und ſchwach, habe ih 
doch zwei Arme, die ftarf genug find, um Villeneuve Moans oder wenig- 
ſtens feinem feigen Bruder den Hals zu brechen,‘ fagte er zu mir: ‚Mon 
ami, Du wirft und beide ind Verderben flürzen.‘ Und id geflebe, dag «8 
vielleicht Diele Rückſicht allein war, die mich an der Ausübung eines Pros 
ject8 hinderte, welches nichts hätte nügen können und welches nur das Aufe 
brauien eined Kopfed wie der meine entfchuldigen Eonnte. ” 

Lieber Leſer, diefer tele, junge Malteferritter ift der Vicomte de Mi«- 
rabeau oder jüngere Mirabeau, von dem alle Menfchen in der Revolutions⸗ 
zeit hörten, — am öfterften unter dem aniprechenderen Namen Mirabeau 
Tonneau oter Tonne Mirabeau, wegen feines Körperumfangs nnd der Quan⸗ 
tität Setränf, die er gewöhnlich in ſich faßte. Es tft Died derfelbe Tonne 
Mirabeau, der in den Generalftaaten feinen Degen zerbrach, weil der Adel 
nachgab und das Ritterthum damit zu Ende war, denn in der Politik war 
er gerabe der Gegenjag feines Altern Bruders und ſprach als Mann ver 
Deffentlichkeit ſehr viel und gut und machte die Menfchen zum Lachen (denn 


N — — SV ⏑ — — — — 





113 


er war ein wilder, ſauertöpfiſcher Kauz, ber viel Witz und noch mehr Spi⸗ 
ritus im Kopfe hatte), Er ging fpäter entrüftet über ben Rhein und 
exereirte Emigrantenregimenter, als er aber eined Morgens in feinem 
Zelt ſaß, ohne Zweifel an Magen⸗ und Herzverfäuerung leidend umd in 
tartarifcher Laune über die Wendung nachdachte, welche die Dinge nahmen, 
verlangte ein gewiſſer Rapitain oder anderer Subalterner in Dienflangele- 
genheiten Zutritt. Er wird abgewielen, verlangt nochmals Einlaß und dann 
nochmals, bi8 der Oberſt Bicomte Tonne WMirabeau zu einer brennenden 
Branntweintonne auflodernd, feinen Degen ergreift und binausflürzt, um 
biefer zudringlichen Kanaille Mores zu lehren, dabei aber unglücklicherweiſe 
in eine andere raſch und gewandt gezogene Degenipige rennt und auf ber 
Stelle todt niederfintt! Died war der fünfte Akt von Tonne Mirabeau’s 
Lebendtragödie, unähnlich und doch Ähnlich jenem erften Aft in dem Schlofle 
If, und fomit fiel der Vorhang. 

Bruder und Schweftern, das Fleine braune Weib, der Gerberus von 
If, alle Hitten für den reuigen, unglüdlichen Sünder. Das Ohr bes alten 
Marquis aber ift fo taub wie das des Schidjald. Blos um der Abwechfes 
ung, nicht um der Erleichterung willen und zwar hauptfächlich, weil der 
Gerberus von If auch behert worden, laßt er nad neun Monaten im nädı« 
fien Mai den Verbrecher nad) dem Schloffe Iour, einem „alten Eulennefte 
mit einigen Invaliden * im SJuragebirge ſchaffen. Anftatt des eintönigen 
Meeresfpiegeld möge ex es nun mit den eintönigen, zu dieſer Jahreszeit 
noch mit Schnee bedeckten Branitgebirgen, mit ihren Nebeln und Raubvögeln 
verſuchen und fih auf die Dauer bafelbft einrichten und zwar mit einem 
Jahrgehalte von zwölfhundert Francs, da er mit neuntaufend nicht auskom⸗ 
men konnte! 

Der arme Mirabeau; — und wie flieht es mit des armen Mirabeau 
Weib? Lieber Kefer, das thörichte, Eleine, braune Weib wird des Bittend 
müde. Ihr Kind ift wirklich begraben, ihr Batte lebendig begraben, und 
da ihr kleines, braunes Ich noch auf Erden wandelt und noch nicht zwanzig 
Jahr alt ift, fo fucht fle fich durch theoretifche Liebeleien zu zerftreuen, hört 
auf zu bitten und beginnt mit Erfolg zu vergeflen. Die Ehe, weldhe an dem 
Tage, wo der Häfcherwagen in Manosque anlangte, zerriffen ward, wird 
trog aller Bemühungen niemals wieder zufammentommen, fondern fließt 
weiter in zwei getrermten Strömen, um fid in den furdtbarften Sandwüſten 
zu verlieren, Gatte und Gattin fahen ſich mit Augen niemals wicber. 

Garlyle. IV. 8 


114 


.. Nicht weit von dem traurigen Gchleffe Jour liegt der Fleine traurige 
Flecken Bontarlier, wohin unier Befangener auf fein Ehreuwort Erlaubniß 
bat zu geben, fo oft es ihm beliebt. Es ift, wie wir ſchon gejagt haben, 
ein teauriger , Fleiner Flecken, doch giebt es darin ein gewifles Haus Mon- 
nier, woran fich eine Geſchichte knüpft und knuüpfen wird. 

Bon dem alten Herren Monnier, dem achtungswerthen Gerictöpräft- 
deuten, der gegenwärtig in feinem fünfundftebenzigften Jahre ſteht, werben 
wir weniger fagen, als von feiner Gattin Sophie Monnier, einer gebornen 
de Ruffey aus Dijon, und ebenfalls einer Gerihtöpräfidentenfamilie ent- 
ſtammt. Und doch ift fle feit vier Jahren vermählt aber ſcheint vermählt zu 
fein, eine der liebenswürdigſten, heroiſch⸗tragiſchen Frauen dieſes oder irgend 
eined andern Diftrictes. Welche verwünfdte Grille des Schickſals führte 
bier Januar und Mai abermals zufammen! Ad, es iſt bier jo gebräuchlich, 
guter Xeier! So war es mit dem alten Naturforfcher Buffon, welcher, wie 
dad manden Männern paffirt, in einem Alter von breiundfedhzig Iahren 
dad ganze Land nad einer jungen Frau durchzog und beinahe eben diefe 
Sophie bekommen hätte, endlich aber eine andere befam, die ald Frau von 
Auffon befannt ward und jpäter die Bekanntſchaft eines gewiſſen Philipp 
Egalite mabte. Sophie de Ruffey lichte weile Männer, Doch brauchten fie 
gerate nicht fo gar alt zu fein. Indeſſen die Frage für fie it: Will fie Tie- 
ber in ein Klofter gehen? Ihre Eltern find firengefromm und fireng=eitel 
und arm; das arme, tragiſch⸗heroiſche Mädchen ift wahrſcheinlich eine Art 
Freidenferin. Und nun fommt der alte Präfltent Monnier, der ih mit 
feiner Tochter nicht vertragen fann, nah Pontarlier mit Goldfäden, 
Heirathöcontracten und der Audfiht bald zu ſterben. Es ift dieſelbe un⸗ 


glückliche Geſchichte, gegen die ſo oft geſungen, gegen die ſo oft geſprochen 


worden. 

Nun aber bedenke man, welch eine Wirkung die feurige Beredtſamkeit 
eines Mirabeau in dieſem düſtern Haushalt hervorbrachte; wie ſich bie 
Träume eines jungen Mädchens ganz unerwartet in dieſer wildglühenden, 
obſchon ziemlich häßlichen Maſſe von Mannheit verwirklichten und der alte 
Monnier ſelbſt beim Anhören ſeiner Worte zu einem gewiſſen Grade von 
Lebenskraft erwachte. 

Mirabeau fühlte an bekannten, mehrfach dageweſenen Symptomen, daß 
der füßefte, gefährlichfte Zauber ſich über ihn ſtahl, der für alle dabei bethei⸗ 
ligte Parteien nur zum Teufel führen konnte. Er fchrieb an feine ®attin 





115 


und bat fie ums Himmels willen zu ihm zu foinmen, damit er ſich durch den 
„Anblick feiner Pflichten * Rärken könne, mittlerweile wolle er wenigſtens 
Bontarlier meiden. Die Battin „antwortete durch einige wenige eifige Beis 
fen, in welchen fie auf verſteckte Weiſe andeutete, daß fle glaube, ich fei nicht 
recht bei Sinnen. * Er hört wieder auf, Pontarlier zu meiden, es iſt ja 
viel Schöner als das Eulenneſt; er kehrt dahin zurück, wird immer freund« 
licher willtommen geheißen und jo — ! — 

- Der alte Monnier ſah nichts oder drückte ein Auge zu, — nicht fo unfer 
alter thörichter Kommandant des Schlofies Sour. Er Hatte, obſchon an⸗ 
fangs fehr freundlich gegen feinen Gefangenen, „ſchon ſelbſt fih Sophien 
zu nähern geſucht; er war nur vierzig oder fünfundvierzig Jahre äfter als 
ich, meine Haͤßlichkeit war nicht größer ald die jeine und ich hatte überdies 
den Vorzng, ein ehrlicher Dann zu ſein.“ Die grünäugige Eiferfucht 
warnt in der Beftalt dieſes alten häßlichen Commandanten Monnier briefs 
lich und befchranft auch auf einen fehr unhaltbaren Vorwand hin Diirabeau 
hinfort auf die vier Mauern von Joux. Mirabeau weift im einem entruͤſte⸗ 
ten Briefe an diefen grünäugigen Commandanten eine folde Einſchränkung 
zurüd, gebt entrüftet hinüber in die Schweiz, die nur wenige Meilen ent⸗ 
fernt tft, kehrt jedoch nach einigen Tagen (ed ift im dunfeln Januar 1776) 
heimlich nach Pontarlier zurüd. Es findet eine Exploſton flatt, was man 
in Frankreich Eclat nennt. Sophie Monnier, die man ſcharf ins Geber 
nimmt, leiſtet Widerftand ; fie gefteht ihre Liebe zu Gabriel Honoré, bes 
hauptet ihr Recht ihn zu lieben und erklärt ihren Vorfag, dies auch ferner‘ 
zu thun. Sie wird nach Haufe geſchickt nah Dijon; Gabriel Gonore folgt 
ihr heimlich dahin. \ 

Welch eine ununterbrodhene Reihe von Erploflonen — während des 
Winters, des Brühlings, ded Sommers! Es giebt Thränen, Andachts⸗ 
übungen, Selbftmorbdrobungen ; es giebt verftohlene Juſammenkünfte, Ge⸗ 
fahren, folge Bekenntniffe und furchtſame Geheimniffe. Er feinerjeits „ftellt 
fich freiwillig al8 Gefangener* und thut noch andere ſtolze Heftige Dinge. 
Einige Commandanten zeigen fi ehrenhaft und einige nit; ein Comman⸗ 
dant — der alte Marquis Mirabeau im Schkoffe Bignon — macht feine 
Donnertkeile in der Ferne bereit. „Ich bin fo glüdlich gewefen, Mont St. 
Michel in der Normandie zu erhalten, * fagt der alte Marquis. „Ich glaube 
dieſes Gefängniß ift fehr gut, weil erftens das Schloß felbft da tft, dann 
eine Ringmauer um den ganzen Berg herum, und nad diejer ein ziemlich 

8* 


116 


langer Bang in dem Sand, wo man einen Führer mitnehmen muß, wenn 
man nicht in dem Triebfand erfaufen will.“ Ja, da fleigt er empor, bieier 
Mont St. Michel und Berg des Elends, hoch und fteil, mit feiner andern 
Ausficht ald auf Salzwafler und Verzweiflung. Flieh, Du armer Gabriel 
KHonore! Und Du, arme Sophie, kehre nad Pontarlier zurück, denn 
Kloftermauern find zu grauſam! 

Sabriel flieht und es fliehen mit ihm au Schweſter Cabris und ihr 
präternuptialer Epauletten-Brianfon, die fhon in ihrem eigenen Intereffe 
auf der Flucht find, in tiefe Diedichte und bedeckte Wege weit über den Süd⸗ 
weflen Frankreichs. Marquis Mirabeau, der mit ſchmerzlichem Kummer an 
Mont St. Michel und deſſen Triebfand denkt, wählt die zwei beften Blut⸗ 
Bunde, weldye die Polizei von Paris aufzuweilen hat — Infpector Brug⸗ 
nidre unk einen andern — nimmt ihnen die Maulförbe ab und ſchreit: 
„Allons! ſuch!“ 

Da der Menſch ein Geſchöpf ift, welches gern ein anderes jagt unb 
ſich daher für die Jagd fortwährend intereffirt, jo haben wir geglaubt, e& fei 
gut, einige Bruchftüde über dicfe Menſchenhatz durch das ſüdweſtliche Frank⸗ 
reich mitzutbeilen, worüber in Folge eines eigenthümlichen Glücksumſtandes 
einige ſehr unorthographiſch geichriebene Berichte vorhanden find, die fla= 
tiondweife von dem Oberheghund felbft niedergefchrieben worden, um dann 
dem Jäger überliefert zu werden, weldyer die Jagd aud ter Berne mit ſchar⸗ 
fem Blick verfolgte. Nicht alle Tage wird ein ſolches Wild gebept, wie ein 
Gabriel Honore, nicht alle Tage feuert ein foldyer Jäger, wie der alte Mar⸗ 
quis Mirabeau, aud der Ferne die Meute an, und nicht alle Tage hat man 
einen Hetzhund, der, wäre e8 auch noch fo unorthographiſch, feine Anftchten 
über die Sache nieberichreiben kann. 

„Als wir in Dijon ankamen, begab ich mich zur Frau Präfldentin 
Auffey, um von ihr weitere Aufichlüffe zu erhalten. Die Frau Präfldentin 
tHeilte mir mit, daß in der Stadt ein gewifjer Chevalier de Macon wohne, 
ein Offizier auf Halbfold, welder des Sieur Mirabeau’8 Breund und Ber- 
trauter ſei und mir jedenfalld beſſer ala fonft Jemand die gewünichte Aud«- 
Funft geben könne.” — Der Sieur Brugnitre nimmt demzufolge feine Woh⸗ 
nung in demfelben Gaſthauſe, wo dieſer Macon logirte, findet Mittel, fi 
mit ihm befannt zu machen, affectirt dieſelben Geſchmacksrichtungen, be= 
gleitet ihn nach Fechtböden, Billardſtuben und andern dergleichen Dertern. 

„AB wir Genf erreichen, erfahren wir, daß der Sieur Mirabeau am 


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5. Juni daſelbſt ankam. Er reifte von dort nah Thonnon in Savoyen; 
zwei Frauen in Mannsfleivern kamen, um ihn abzuholen, und fie reiſten 
dann alle weiter über Ehambery und von da über Turin. In Ihonnon 
fonnten wir nicht erfahren, welchen Weg fle eingeichlagen hatten, fo geheim⸗ 
nißvoll gehen fie zu Werke und machen eine Menge Umwege. Nach dreis 
tägiger und unglaublicher Mühe entdecden wir endlich den Mann, ber fle ge= 
fahren. Sie find wieder zurüd nach Genf gereift; wir eilen ebenfalld wie- 
der dahin zurüc und haben nun die befle Hoffnung, fle zu finden. — 
Diefe Hoffnung ift ebenjo trügertfch wie die früheren. 

„Indeflen, wad Brugniere und mir ein wenig hilft, iſt dies, daß der 
Sieur Mirabeau und fein Gefolge, obichon bereitd bewaffnet wie Schmugg⸗ 
ler, doch noch andere Piftolen, ſowie auch Säbel und ſogar einen Hirſch⸗ 
fänger mit einem verſteckten Piftol flatt des Griffe Fauften; wir erfuhren 
dies in Genf. Die Flüchtlinge fehlagen ganz verteufelte Wege ein, um 
Frankreich nicht zu berühren. — — — Indem wir ihrer Spur auf dem 
Fuße folgen, führt und diefe nad Lyon, wo fie auf ganz undurchdringlich 
ſchlaue Welje in die Stadt gelangt fein müfjen. Wir verloren alle Spur 
von ihnen und unfere Nachforfchungen waren höchft peinlich. Endlich ſtoßen 
wir auf einen Mann Namens Saint Sean, den vertrauten Diener der Frau 
von Cabris. — Als Herr von Mirabeau mit Brianjon, der, wie ich glaube, 
ein fchlechted Subject iſt, von Hier abreifte, theilte er St. Jean mit, daß fie 
nach Xorgue in der Provence reiften, was Brianfon’s Heimath if; daß 
Brianfon fle dann bis Nizza begleiten follte, wo er ſich nach Genf einſchif⸗ 
fen und einen Monat dort zubringen wollte. 

„Diefer Spur des Herrn von Mirabeau, der fih in Lyon auf der 
Rhone eingefchifft, folgend, famen wir nach Avignon. Hier nahm er, wie 
wir erfuhren, Poftpferde, tie er eine halbe Meile weit vor die Stadt her⸗ 
auskommen ließ. Ex ließ fi Hier wieder ein Paar Piflolen kaufen und 
fuhr dann, gut in dem Gabriolet verftedt, durd; Avignon, wo er Briefe auf 
die Poft gab; es war ungefähr zur Zeit der Abenddämmerung. Gerade 
um bdiefe Zeit aber fand der Haupttumult ded Beaucaire-Marftes flatt und 
das Cabriolet verlor fi fo unter der Menge, daß es und unmöglich war,’ 
feine Spur weiter zu verfolgen.” — — — „Ein Advocat Namend Mars’ 
fatıt, ein ehrenmwerther Mann, gab und alle möglihen Weiſungen.“ — „Er 
machte und mit diefem Brianfon befannt, und ed gelang und, mit demfelben 
zu foupiren. Wir gaben und für Meifende aus, für Lyoner Kaufleute,‘ 


118 


melde, der eine nad Genf und Italien, der audere blys nad Genf 
zeiften. Auf diefe Weiſe gelang ed und, dieſen Beianjon zum Spreden zu 
bringen. * 

„ Wenn man die Brovenee verläßt und in die Gegend von Nizza kommt, 
fo muß man burd den Bar waten, einen Strom, der faht immer gefährlich 
und oft nicht zu paſſiren iR. Zuweilen wird er eine Biertelmrile breit und 
{ft zu allen Zeiten ungemein reißend. Dem Mufe nad, in welchem er ficht, 
follte er eigentlih noch ſchlimmer fein und die Reiſenden, welde ihn zu 
durchſchreiten haben, ſprechen mit Furcht und Scäreden davon. Auf beibey 
Ufern ſtehen flarke Leute, welche ein Beichäft daraus machen, die Reiſenden 
hindurchzugeleiten, indem fie vor ihnen und um fie herum mit flarfen Stan 
gen geben, um den Boten zu fondiren, ber ſich mehrmals täglich ändert. 
Sie geben fih viel Mühe, die Furcht der Meifenden zu vermehren, aud 
wenn feine Gefahr vorhanden ifl. Diele Beute, mit deren Hülfe wir den Fluß 
poffirten, erzählten und, daß fie ſich erkoten hätten, einen. Herru gang von 
den Anſehen, wie wir ihn fuchten, überzuführen; biefes Herr babe aber 
Niemanden haben wollen und fei mit einigen Brauen ohne Führer hindurch⸗ 
gewatet. Ueberhaupt habe es geſchienen, als wollte er nicht ſich allzugenaqu 
anſehen laſſen. Wir ſtellten bier die umfänglichſten Nachforſchungen an. 
. Bir erfuhren, daß in einiger Entfernung von hier dieſer Herr in einem 
Seinen Wirthöhaufe einige Erfriichungen eingenommen hate. Er führte 
eine goldene Dofe mit einem weibliden Bortrait darauf ynd entſprach mit 
einem Worte ganz genau der frübern Befchreibung. Er hatte gefragt, ob 
man nicht wüßte, ob bald ein Schiff von Nizza nach Italien abginge, und 
wan hatte ihm greiogt, daß eins nad England abgehen werde. Er batte 
ben Bar paljirt, wie ich ſchon oben erwähnt. Noch habe ich die Ehre zu be⸗ 
merken, daß es in Nizza keine Polizei giebt. * 

„Wir erfuhren, daß in Villefranche, einem Heinen Hafen nicht weit 
gon Nizza, ein unbefannter Herr ſich eingelchifft, der unferem Signalement 
. ebenfallö entipradh, audgenommen, daß er einen rothen Rock trug, wogegen 
Herr von Mirabeau bis jegt in einem grünen Rock, einem rothbraunen und 
einem graugerippten verfolgt worden if. Das betreffende Schiff war nad 
England gegangen. Trogbem aber ſchickten wir mehrere Perſonen, welche 
Die geheimen Gaͤnge kennen, in da& Gebirge; der Sieur Bugniere bes 
flieg, ein an dieſe entjeglihen Gebirge gewöhntes Maulthier, nahm einen 
Führer und flellte ebenfalls alle möglidgen Rachforfchungen an. Mit einem 


119 


Worte, Monfleur, wir haben Alles gethan, was der menfchliche Geift erfin- 
nen kann und dies noch dazu bei biefer außerordentlichen Hige. Wir find 
ganz müde und matt und unfere Glieder geſchwollen.“ 


Und doch ift Alles, was der menfchliche Geiſt erfinnen kann, vergeblich. 
In der dreiundzwanzigften Nacht des Auguft (1776) überflettert Sophie 
von Monnier in Manndfleidern ihre Bartenmauer in Pontarlier und eilt, 
in den Mantel der Finſterniß gehüllt und auf den Fittichen der Kiebe und 
Verzweiflung getragen, durch die Niederungen der Schweiz. Gabriel Honore, 
in denjelben Mantel gehüllt und von demfelben Vehiculum getragen, ift mit 
ihr nach Holland gegangen und von nun an ein ruinirter Mann. 


„Ewig beflagendwerthed Verbrechen!” ruft der Fils Adoplif, „von 
welchem die Welt fo viel gefprochen hat und für immer fprehen muß: * Es 
giebt in der That viele Dinge, von denen man leicht ſprechen kann, fowie 
andere, von denen fich nicht leicht fprechen läßt. Warum ;. B., Du tugend» 
bafter Fils Adoptif, war der Kehltritt der Schenkwirthin zu If ein fo vers 
zeihlicher Irrthum und warum ift der der Gerichtöpräfldentin ein ſolches in 
alle Ewigkeit beflagenswerthed Verbrechen? Der Berfaller der gegenwaͤrti⸗ 
gen Abhantlung meint, es fei dies ganz dafjelbe Verbrechen. War ührls 
gend nicht der erſte große Verbrecher und Sünder in dieſer Angelegenheit 
ber Präfldent Monnter ſelbſt, diefer tolle, milz- und mondjüchtige alte 
Mann, der an ber großen Schranfe der Natur ſchwerlich freigeiprocden wor« 
den wäre? Und wer war der zweite Eünder? Und der dritte und ber 
vierte? Und wer ift unter ECuch ohne Sünde? Der Verfafler kann weiter 
nichts fagen, ald mit den Worten des alten Samuel Johnſon: „Mein lieber 
Fils Adoptif, meine Tieben Mitmenſchen, bemüher Euch, Eure Gemüther von 
Heuchelei zu ſäubern!“ Dies ift pofltiv die erſte und größte Nothwendig⸗ 
keit für alle Männer, alle Srauen und Kinder in unferer Zeit, welche wüne 
fchen, daß ihre Seelen leben, wäre es auch nur ſchwach, um nicht an der ab» 
fcheulichften Asphyrie, gleihlam in Kohlendampf zu flerben, der um fo 
furchtbarer zum Arhmen ift, je Elarer und reiner er ausfleht. 


Daß das Parlament von Veſançon Mirabeau der Entführung und des 
Maubes anflagte, daß ed ibn in comtumaciam verurtheilte und fo weit ging, 
ein papiernes Bild von ihm zu enthaupten, war vielleicht der Sache ganz 
angemeflen, doc brauchen wir bier weiter nicht Dabei zu verweilen. Wir 
wollen auch nicht einen neugierigen Späherblid in das Manſardenleben zu 


120 


Holland und Amfterdam werfen, denn es fehlt uns an Raum. Der wilde 
Mann und fein ſchönes, tragiſch⸗heroiſches Weib machten ihren Roman der 
Wirklichkeit jo gut dur, ala fi erwarten ließ. Heißblütige Temperamente 
geben nicht immer gut zufammen und bie Bahn der treuen Liebe ift in der 
Ehe ſowohl, als bei Entführungen niemals eine ganz glatte. War fie im 
dem vorliegenden Falle aber auch nicht glatt, io war fle doch abwechſelungs- 
reich — mit Zwift und Verföhnung, Thränen und Herzendergiehungen, 
tropifchen Stürmen, aber auch der Pracht und Ueppigfeit der tropiſchen Na⸗ 
tur. Es war wie ein Eleines Paphos in der Mitte der Finfterniß; eben die 
Gefahr und Verzweiflung, welche die Infel umgab, machte dieſelbe wonne- 
voll; eben kraft des Todes wird das Leben aud dem Geaͤngſtetſten erträglid 
und füß, weil der Tod fo nahe if. Kann nicht zu jeder beliebigen Stunde 
ein königlicher Sefreiter oder anderer gefürchteter Alguazil hier im „ Kalbe» 
firand im Haufe des Schneiders Kequeöne * an unfer Manjardenetabliffement 
Elopfen und es auflöfen? 

Gabriel arbeitet für bolländifche Buchhändler und trägt ihre ſchwere 
Laft. Er überjegt Watlon’d „Philipp II.“ und muß fi ehrlich plagen, 
verdient aber doc täglich feinen goldenen Louis. Sophie naht und ſcheuert 
mit ihren weichen Fingern, obne zu murren. In ſchwerer Arbeit, in zittern 
den Freuden, umlagert von Befürdtungen, namentlich der Befürchtung, 
daß man fle über furz über lang trennen werde, rollen ihre Tage raſch da⸗ 
hin. Acht tropifche Monate lang! — Ad, nach Berlauf diefer acht Monate, 
am 14. Mai 1777, tritt der Alguazil wirklich herein! Er erfcheint in der 
Geſtalt Brugnidre's, unfered alten Spürhundes aus dem Südweſten; die 
Geſchwulſt feiner Beine bat ſich wieder gefegt, diesmal iſt der menſchliche 
Geift im Stande gewefen, ed durdhzufegen. Er bringt königliche Ordres, 
Sanctionen des Generalftatthalterd, beftegelte Bergamente. Gabriel Honore 
foll vahin, Sophie torthin geichafft werden; Sophie, die nahe daran if, 
Mutter zu werden, — foll ihn nicht mehr fehen — fie will ih in dieſer 
Stunde das Leben nehmen, wie der Spürhund ſelbſt glaubt, — hätte nicht 
eben der Spürhund aus Barmberzigfeit ihnen veriproden, daß es ihnen 
vergönnt jein follte, mit einander zu correipondiren, daß es mit der Hoff» 
nung nod nicht ganz zu Ende jei. Unter taujend Umarmungen, Thränen 
und Seufzern, die ſich nicht wiedergeben lafien, reißen fie fi von einander 
los, denn das fleinige Paris ift jegt nahe. Mirabeau wird weiter trand« 
portirt nad) feinem Gefäängniß Vincennes, Sophie in ein milderes Klofter« 


— — (| — — — — — — — — — ⸗ — — 


— — — — — — — — — — — — m - ur — — — 





121 


exil, um bier zu erwarten, was das diesmal ſehr drohende Schickſal für gut 
finden wird, zu bringen. 

Man denke fid den Riefen Mirabeau nun in der gewaltigen Burg 
Bincennes feſtgeſchloſſen; feine heiße Seele brauft auf und brandet wilb 
gegen kalte Hemmniſſe; die Stimme feiner Verzweiflung hallt von todten 
Steinmauern wieter. Geflürzt in den Augen der Welt ift der ehrgeizige 
flolze Mann ; feine goldenen Lebenshoffnungen von außen find alle vernichtet 
und zu Aſche verfohlt — und von innen — was hat er gethan, was hat er 
verloren und vergeudet! Taub wie das Schidfal iſt Bater Rhadamanthus, 
fogar unzugänglich für den Verſuch einer Vertheidigung. Schwere Thüren 
find zugeſchlagen worden und ihre Riegel Freiichen: Wehe Dir! Das 
ungeheuere Paris fendet fein tägliched, verworren durcheinander braufendes 
Summen ofhwärtd; in der Abendſonne fiehft Du feine Wetterfahnen ſchim⸗ 
mern, und Du? — weder Abend noch Morgen, weder der Wechfel des Tages 
noch der Iahreszeit bringt Befreiung. Bergefien von der Erbe; im Him⸗ 
mel nicht allzuhoffnungsvoll angejchrieben! Kein leidenfchaftliche® Pater 
peccavi fann den alten MRarquid rühren, denn er ift, wie ſchon geſagt, taub 
wie dad Schidjal. Du mußt hier figen bleiben — zweiundvierzig Monate ! 
Der Erbe der Riquettis ift mit jeiner Barderobe fa zu Ende; er beflagt 
fih, daß feine Kleiter Löcher und Riſſe haben und ihn nicht mehr gegen die 
Witterung fchügen. Seine Augen werden ſchwach; die in feiner Familie 
erbliche Krankheit — Nephritis oder Nierenentzüntung — beginnt ſich zu 
zeigen. Die Aerzte erklären das Reiten für eine ganz befonders zur Erhal⸗ 
tung jeined Lebens dienliche Keibesbewegung. „Nun gut, aber nur inner- 
halb der Mauern! * antwortet der alte Marquis. Graf von Mirabeau reitet 
in dem kaum vierzig Schritt Tangen Garten ringsum von hohen Mauern 
und Thürmen eingefchlofien. 

Und dennoch darf man nicht glauben, daß Drirabeau feine Zeit blos 
mit Raien und Wehklagen zugebracht babe. Dieier Methode huldigte er 
ebenfo wenig ald Diogenes es ıhat. ine zweite fo wild glühende Maſſe 
Leben, die man mit Eyflopenhämmern hätte fchlagen können — leider aber 
obne die Schladen heraußzubringen — gab ed damals in ganz Europa 
nit. Man nenne ihn nicht den flärfiten der damals lebenden Menſchen, 
denn Licht, wie wir ſchon gefagt, und nicht Feuer ift das eigentlih Starke. 
Aber dennoch kann man ihn auch ſtark, fehr flarf nennen, und was Zähig- 
feit, Bebarrlichkeit, Leben und einen fond gaillard betrifft, nenne man ihn 


122 


den zähelten von allen. Raſende, ſchlecht gelenfte Leidenſchaften, rückſichta⸗ 
Iofer Tumult von innen, unbarmherziger Drud von außen — zehn Men—⸗ 
ſchen hätten an dem flerhen können, woran diefer Gabriel Honsre noch 
wicht ſtarb. 

Der Polizeilapitain Leneir erlaubte ihm aus Barmherzigkeit und dem 
früher gegebenen Berfprechen gemäß, mit Sophien zu correipontiren, unter 
der Betingung, daß bie Briefe von Lenoir geöffnet und fpäter in jeine Ver⸗ 
wahrung jurüdgegeben würden. Mirabeau correfpondirte in Feuer und 
Thraͤnen reichlich, nicht A la Werther, fondern à la Mirabeau. Außerdem 
hatte er reuige Betitionen und pater peccavi's zu ſchreiben und alle Arten von 
Freunden anzugeben, dieſe Betitionen bei feinem Bater zu überreichen und 
mit miündlicher Bürfprade zu begleiten. Das war eine Waffe Corre⸗ 
[pondenz. 

Abgeſehen von dieſer Beichäftigung durfte er auch leſen, obſchon mit 
großen Einichränkungen ; ex durfte auch fchreiben oder compilisen und ertras 
Hirte — nicht nach Art der Biene — fogar aus der Bibel und Dom Cal⸗ 
met cin Biblion eroticon, welche weder einer Leierin noch einem Leier em⸗ 
yfohlen werden kann. Der frenmte Fils Adoptif verhüllt bei dieſem 
Standal fein Antlitz umd fagt wehmüthig, es laſſe fidh eigentlich nichts dar⸗ 
über fagen. 

Was die Gorreipondenz mit Sophie betrifft, ſo lag fie vergeflen in 
Leneir’d Pult, ward aber hier im Jahre 1792, wo fo viele Pulte aufflogen, 
son Manuel, dem Procurstor der Commune, gefunden und von ihm der 
Welt geſchenkt. Es iR dies ein Buch, worüber fentimentale Serien zu 
weinen pflegen. Der Berfafler der vorliegenden Abhandlung thut dies nur 
in unbedeutendem Grade und am allerwenigfien bier, wo ibm ſchon ter 
Raum dazu fehlt. Uebrigens find es in ihrer Art ganz gute Liebesbriefe. 

Wenn aber irgend etwad die Thränen der Sentimentalitär über Mi⸗ 
rabeau’8 Eorrefponden; von Bincennes noch nıehr anichwellen kann, To iſt 
es der Ausgang, den fie nahm. Nach mehreren Jahren jahen die beiden 
Liebenden, die man in Holland auseinander gerifien, und denen man er» 
laubt, zu correfpondiren, damit fie fih nicht vergiften möchten, ſich wieber. 
Es geichah unter dem Schuge der dunkeln Nacht in Sophiens Zimmer, im 
der Provinz, Mirabeau war als Laftträger verkleidet aud bedeutender Eut⸗ 
fernung dabingefommen. Und flogen fie wohl einander in bie Aeme, um 
ihr todtes Kind, ihre langen unaudfprechlichen Beiden zu beweinen? Durch⸗ 





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aus nicht. Sie handen mit oratoriich ausgeſtreckten Armen einander gegen- 
über und zogen einander wegen allerhand Eiferfüchteleien zur Verantınar« 
tung, wurben dabei immer lauter, ſtemmten die Arme in die Seite und 
trennten ſich ſehr laut, um ſich niemald auf Erben wiederzujehen. 

Im September 1789 war Mirabeau zu einem Weltwunder enıpor« 
geftiegen und Sophie war fern von ihm aus den Augen der Welt entſchwun⸗ 
den und fland nur noch in der Fleinen Stadt Gien in Anfehen. Am neun 
ten Abend des September donnerte Mirabeau vielleicht in der Salle des 
Menus zu Verjailles, um am nächflen Morgen jeine Rede in allen Journalen 
zu fehen, und Sophie, die feitdem zwei Mal wieder unglücklich verhetrathet 
geweien, deren tragtich- heroifches Temperament nun in vollfommened 
Schwarz übergegangen, lag, während eine Pfanne mit glimmenden Holz« 
kohlen nicht weit davon ftand, auf ihrem Sopha, um den Tod der Unglücklichen 
zu fterben. Sagten wir nicht, daß die Bahn treuer Liebe niemals glatt und 
eben if? 

Indeſſen nach zweiundvierzig Monaten und nad) mehr Unterhandlungen 
und Intercefflonen, als in katholiſchen Ländern dazu gehören, eine Seele 
aus dem Begefeuer zu befreien, wird Mirabeau wiederum aus der Beflung 
entlaffen, aber nicht in fein eigenes Haus (Haus, Weib und die ganze Ver⸗ 
gangenheit find weit getrennt von ihm), nicht in feines Vaters Haus, ſon⸗ 
dern hinaus wird er geichleudert,, um gleich Jomael auf dem weiten Jagd⸗ 
reviere der Welt fein Glück zu verfuchen. 

Betrachte ihn, o Leſer, Du wirft ihn fehr merfwürtig finden. Er ifl 
ein gefchändeter Dann, aber fein niedergebeugter; Außerlih ruinirt, aber 
nicht innerlih, noch nit, denn von diefer Seite fann er überhaupt nicht 
wuinirt werden. Weld eine Gchwimmkraft von radicalem Feuer und fond 
gsillard befigt er; mit feiner Würde und Eitelkeit, mit feinem Leichtſtun 
und feines Zuvesläffigfeit, niit feinen Tugenden und feinen Laſtern — wel 
eine Stirn zeigt ee! Man möchte fagen, er läßt ſelbſt in dieſen traurigen 
Umfländen von dem, was er nom Glück beanipruct, nicht ein Jota nad, 
fondern verlangt eher mehr. Seine Ralze, dur Beffeln und Bauten er⸗ 
bitterte und entftellte Seele jchleudert ihr Gefaͤngnißkleid von fi und eilt 
wieher zum Gefecht, ald ab der Sieg am Ende doch gewiß wäre. 

MRaſch Poſtpferde nad Bontarlier und dem Parlament von Belangen, 
damit jenes Urtheil in contumaciam annullirt werde und das Papierbild 
feigen Kopf wieder aufgefet bekomme! Der wilde Rieſe figt nun frei« 


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willig in dem Gefängniß von Pentarlier, Hält donnernde Vertheidigungs⸗ 
reden, vor welchen die Barlamentömitglieder erzittern und denen ganz Srant» 
reich lauſcht und der Kopf vereinigt ſich unter Höflichen Entſchuldigungen 
wieder mit dem Papierbilbniß. 


Monnier und die Ruffeys wiflen, wer der unverichämtefte Menich auf 
Erden ift; die Welt lernt mit Erflaunen einen der fähigften Eenuen. Selbft 
der alte Marquis murmelt Beifall, obfhen nur bedingten. Der zähe alte 
Mann, er hat feinen eigenen weltberühmten Prozeß und andere Prozeſſe mit 
ungebeuern Koften verloren; ex flieht feinen Reichthum entſchwunden, feine 
Projecte vereitelt und felbft Lettres de Cachet bewähren fi nicht allemal 
genügend oder heilfam. Deshalb verfammelt er feine Kinder um fi und 
erklärt fi auf wirklich ſehr heitere Weife invalid und nur nod für den 
Winfel am Feuer tauglih, um hier zu figen und feinen alten Kopf wieder 
zufanmenzufliden (à rebouter sa tête, à se recoudre piece & piece); guten 
Rath follen fie, inſoweit fte ihn verdienen, auch noch ferner genießen, Let- 
tres de Cachet aber und andere dergleihen Wohlthaten nicht mehr. Recht 
fo, Du befter aller alten Marquis! Hier ruht er denn, gleich dem flillen 
Abend eines Gewittertaged ; er donnert nicht mehr, aber giebt noch manchen 
feltfam gefärbten Lichtſtrahl, manche originelle Bemerfung über bad Leben 
von fi, heiter und klar bis zum legten Augenblid. In Mirabeau's kleinem 
Katalog von Tugenden, der fo ganz befonders arm iſt an formellen und 
conventionellen Tugenden, darf man nicht wergeflen, daß er dieſen alten Va⸗ 
ter innig liebte, bi8 an’& Ende, und ihm feine Graufamfeiten verzieh oder 
über ihrer milden Auslegung vergaß. 


Mit dem Papierbild in Bontarlier ift fonach alles wieder in Ordnung 
und dennoch kann der Menfch ohne Geld nicht wohl leben. Ad wäre nur 
eine gewiſſe Ehe nicht zerrifien, denn der alte Schwiegervater wird bald 
flerben und jene glänzenden Ausflchten würden ſich in Wirklichkeit verwan⸗ 
deln! Der gewandtefte und dabei nicht der ſchuͤchternſte Mann in Frankreich 
begiedt fich nächftes Frühjahr (1783) nah Air und fegt dort Parlament, 
Himmel und Erbe in Bewegung, um jein Weib zurüdzubefommen. Wie 
arbeitet er; mit welchem Ebdelfinn, mit welchem Muth (meint der Fils 
Adoptif) ; es tft eine Riefenarbeit! Sein Ruf verbreitet fi über Frankreich 
und über die Welt; englifche Reiſende, vornehme fremde Herren, machen 
einen Abftecher nach Aix und „Menfchenmaflen fammeln ſich fogar auf den 





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Dächern", um ihn zu hören, denn dad Gerichtshaus iſt zum Berſten voll« 
geftopft. | 

Mit Demofthenischem Feuer und Pathos verlangt ber reuige Gatte 
Berzeihung und Reflitution: — ‚‚ce n'est qu'un claquedents et un fol!“ 
ftrablt der alte Marquis aus feinem Winfel am Kamin heraus, „ein Zäbn- 
Happerer und Zollpäusler!* Die Welt und das Parlament dachten das 
nicht; fie wußten nicht, was fie denken follten, wenn nicht etwa, daß bies 
der rärbielhafteft-fähige Mann fet, den fie jemald gehört, und ach leiber fer⸗ 
ner, daß feine Sache unhaltbar lei. 

Er bekam alfo fein Weib und folglich auch fein Geld! 


Don diefem zweiten Angriff auf das Glück kehrt Mirabenu mit ges 
täufchter Erwartung zurüd und es ſteht mit ihm fchlimmer al8 zuvor. Es 
fehlt ihm jegt an allen Hülfäquellen, denn auch der alte Marquis flieht ihn 
mit jcheelen Blicken an. Er muß, wie wir ſchon jagten, gleich dem Jomael 
auf die Jagd gehen. Der Wig und die Kraft, die er in fich trägt, werden 
ihm treu bleiben, auf dieſe kann er zählen, unglücklicherweiſe aber auf faft 
nichts als dieſes. 


Mirabeau's Keben’währent der nächſten fünf Jahre, welches fidy trübe 
und dunkel durch mehrere dieſer acht Bände hinzieht, wird wahrſcheinlich in 
dem einen ächten Bande, ber in ihnen enthalten ift, kurz gefchildert werden, 
Es iſt die lang ausgeſponnene praktiſche Verbeſſerung der Predigt, die be⸗ 
reits in Rhé, in If, in Sour, in Holland, in Vincennes und anderwaͤrts 
gehalten worten. in Niefenmenih in der Blüthe feiner Jahre, in dem 
Winter feiner Audfichten, hat zuzufehen, wie er biefe beiden Wiberfprüche 
mit einander ausjöhnen will, Mit riefigen Talenten und Energien, ja fo= 
gar mit riefigen Tugenden audgeftattet, hat ex, während er brennt, ſich zu 
entfalten, weiter feine Werkzeuge und Mittel in den Händen, als Schimpf, 
Beratung und Hemmniſſe. Sein Auf ift auf diefelbe Weile erhöher wie 
Haman. Sein Beutel iſt mit weiter nichts gefüllt als mit Schuldflagen ; 
Haushalt, Heimath und Befigthümer find gleihfam mit Salz beſtreut und 
die Pflugfchaar des Verderbens furcht zu tief ihn und Alles, was jein 
war. Unter diefen und nicht unter andern Bedingungen foll diefer Mann 
jegt Ieben und Fampfen. Wohl Eonnte er lange nachher (obſchon er nicht 
fo Teicht zu rühren war) „weinen, wenn er mit Dumont bedadhte, wie fein 
Leben durch ihn felbft und durch Andere fo zerrüttet worden“ und jegt fo 











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unſcheinbar und von Yligen zerriffen worden war, daß fein in Slanʒ es wieder 
ganz machen konnte. 

In der That, wie wir hier wiederholt bemerken, ein ſchwäͤcherer und 
dennoch ſehr ſtarker Mann hätte fterben können, — an Hypochondrie, au 
Branntwein oder an Arfenif, aber Rirabean ftarb nicht. Die Melt ift nicht 
fein Freund, noch das Geſetz und die Formel der Welt. Dann wird fie 
folglich fein Feind rein, fein Gieger und Beberrider aber nit ganz. Es 
giebt ſtarke Männer, welche im Nothfall die Bormeln aus dem Wege räu⸗ 
men fönnen (humer les formules) und dennod eine Wohnung hinter den- 
felben finden. Diele find vie fehr flarfen und WMirabeau gehörte zu dieſen. 
Obſchon die Achtung der Welt fich ihm faft ganz entzogen bat und die mei« 
ften Eirfel der Gefellihaft mit ihren Codices und Vorſchriften faft nur das 
Anathema über ihn ausſprechen, jo ift er doch nichtödeflomeniger nicht ver⸗ 
loren; er finft nicht in Verzweiflung, er wird nicht kleinmüthig oder milz- 
füchtig unfrudhtbar. Keineswegs! Trot der Welt ift er hier ein lebendiger, 
flarfer Mann, die Welt kann ihm nicht dad gerechte Bewußtjein feiner jelbft, 
noch fein warmes, offenberziged Gefühl gegen Andere rauben; es giebt auf 
allen Seiten noch Grenzen, bis zu welchen weder die Welt noch der Teufel 
ihn treiben können. 

Der Rieſe, jagen wir! Wie er daſteht, gleich einem Berge, vom Blit 
zerflüftet, aber mit breitem Buße in den Felſen der Erbe, der Natur wur⸗ 
zelnd, und wird nicht über den Saufen fallen. Gebr wahr ifl, was ein 
Moralift gejagt hat: „Man kann nicht wünfchen, daß irgend Jemand in 
einen Zehler verfalle, und dennoch geichieht e8 oft gerade nad ein m Fehler 
oder jogar einen Verbrechen, daß die Moralität, welche in einem Menſchen 
liegt, und die Kraft, die er als Mensch beſitzt, fich entfaltet, wenn alles An» 
dere von ihm gewichen iſt.“ 

Während diefer büftern Jahre flieht man Mirabeau von Ort zu Ort 
wandern, in Sranfreih, Deutfchland, Holland, England, nirgendE findet er 
Ruhe für die Sohle jeines Fußes. E8 iſt ein Leben der Behelfe und Aus⸗ 
funftömittel, au jour le jour, verjchwenderiich in feinen Ausgaben ſchwimmt 
er in einem Chaos von Schulden und Schwierigkeiten, die er tur ange» 
ftrengten Fleiß und durch gefchidte Finanzwirthſchaft befeitigen fol. Die 
Einnahmequelle des Mannes ift fein Witz, er befigt eine Feder und einen 
Kopf und ift zu feinem eigenen Glüd der Damon des Unmöglichen. Zu Feiner 
Zeit ift er ohne irgend ein oder dad andere großartige Project, welches weit 


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und fern leuchten und wärmen fol, Nur zu oft erplodirt es auf unwirk⸗ 
ſame Weije und in diefem Falle geftaltet er es um und ermeuet ed, denn 
feine Hoffnung ift unerſchöpflich. 

Er ſchreibt Blugfchriften mit der Unermüdlichkeit einer Dampfmaſchine, 
über „die Deffnung der Schelde* und , Kaiſer Joſeph“, über „den Cincin⸗ 
natu8-Örden? und „ Wafbington *, über „ Graf Gaglioftro * und „Das Dia- 
mantenhalsband.“ Unzaͤhlig. find die Gehülfen und Geſellen, die achtbaren 
Mauvillons und Dumonts, die er in ſolchen Dingen für ſich in Thätigkeit 
jegen kann; es ift das fo eine Gabe von ihm. Gr fchreibt Bücher in acht 
Bänden, die eigentlich nur eine größere Art von Blugichriften find. Er 
führt einen langen Streit mir Charon Beaumarchais über die Waffergefells 
[haft von Paris; der hagere Charon ſchießt Icharfe Pfeile auf ihn ab, 
welche er beantwortet, indem er damontid „Berge mit allen ihren Wäldern * 
ſchleudert. 

Er iſt der intime Freund und Bekannte von vielen Männern. Seine 
„furdhtbare Gabe der Vertraulichkeit”, die heitere Kunſt zu gefallen, ver⸗ 
laflen ihn nicht. Aber es ift died eine etwas zweifelhafte Vertraulichkeit, 
die man den Talenten des Mannes, trog feines Rufes, zugefteht — ein 
Verhaͤltniß, welches der ftolze Riquetti, der jegt, wo er arm und ruinirt 
ift, dennoch feinen ganzen frühern Stolz noch befigt, ſehr richtig fühlt. 

Noch größer if feine intime Bekanntſchaft mit Srauen. In diefer 
Beziehung iſt er mit einem ganzen Syſtem von Intriguen umgeben, mag er 
ſich aufhalten, wo er wolle, und reift jelten ohne eine — Frau (wollen wir 
fie nennen), die entweder aufs Jahr oder auf tie Dauer des beiderjeitigen 
Gefallens an einander engagirt iſt. Was kann man über diejed umfaflende 
Departement von Mirabeau’8 Geſchichte weiter fagen, al8 daß feine Unbe⸗ 
ftändigfeit groß, ungeheuer und durchaus nicht zu vertheidigen war? Wenn 
Jemand — was mit und nicht der Fall ift — Luft hat, mit dem Fils Adoptif 
bei der „Autopfle* und Todtenfchau gegenwärtig zu fein, fo fann er über 
dieſen Punkt fehr merfwürdige Documente fehen und fich überzeugen, bis zu 
welden Tiefen der Strafbarkeit die Natur in ihrer gerechten Selbſtverthei⸗ 
Digung die Menſchen zumetlen verbammen fann. Dem Fils Adoptif thut die 
ganze Sache fehr leid. Nitödeftoweniger fcheint es, als hätte gegen die 
Gattung Frauen, die man unglüdliche nennt, diefer unglüdliche Mann eine 
Averfion befeilen, die bis zu einem vollfländigen nolo tangere ging. 

Der alte Marquis figt allein in der Kaminecke und ftellt Betrachtungen 


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darüber an, was aus diefem herumichweifenden, unruhigen, rebelliiden Ti⸗ 
tan von einem Grafen am Ende wohl nod werde. Wird er nicht vielleicht, 
o Marquis, zu dem Culbute generale, dem allgemeinen Umfturz mit beitra⸗ 
gn? Er verihlingt Formeln und macht endlofe Bekanntihaft mit den 
Wirklichkeiten der Dinge und Menfchen; an Kedheit und ihonungslofen 
Muth wird es ihm wahrſcheinlich auch nicht fehlen. Der alte Marquis 
giebt merkwürdige Bemerkungen über das Leben von fi, gewährt aber feine 
durchgreifende Geldunterflügung. 

Minifterien wechſeln und ändern ſich, fo oft aber auch die Karten neu 
gemifcht werden, fo befommt doc Mirabeau nie ein gutes Spiel in bie 
Sand. Neder liebt er nicht und fie machen aus ihrer Abneigung gegen 
einander audy Fein Hehl. Der plaufible Galonne Hört ihn gleih einem 
Stentor gegen den Börfenjchwindel declamiren (Denonciation de l’Agiotage); 
er fegt fih mit ihm in Verkehr, correfpondirt mit ihm und benugt die erfte 
Gelegenheit, ihn in einer halb oftenfiblen @igenichaft oder au in der eines 
diplomatifhen Spions nad Berlin zu fchiden, um ihm auf irgend eine 
Weiſe, wie man zu fagen pflegt, das Maul zu ftopfen. Der große Friedrich 
ſtand noch auf der Bühne, obſchon den Eouliffen jegt fehr nahe — der ha⸗ 
gere, zufammengefchrumpfte Exrerciermeifter der Welt und der flämmige, 
süftige Meuterer der Welt fchauten einander erflaunt an. Der Eine trat 
auf, der Andere ging ab. Dieiem Aufenthalte in Berlin verdanfen wir 
mehrere Slugichriften, fo 3. B. Gorrespondences, die angeblich hinter feinem 
Rücken, im Grunde genommen aber mit jeiner volllommenen Einwilligung 
erichienen ; ferner — der wadere Major Mauvillon diente hierbei ald Hand» 
Yanger — die Monarchie Prussienne, eine Flugſchrift in acht Octanbänden, 
wovon ſelbſt jegt noch einzelne Theile leſenswerth find. 

In der Regel ift man, wenn man mit Mirabeau als Schriftfteller oter 
ale Redner die erfte perfönliche Bekanntſchaft macht, nicht wenig überraſcht. 
Anftatt einer bilderreihen, gefühlvollen, glühenden Sprache, wie man fie 
nad dem Mufe der meiften Redner erwartet, findet man zu feinem Erflaunen 
eine gewifle fchroffe, edige Beftimmthelt, eine ganz ungezierte Kraft und 
Wucht, Flare Auffaffung, ſcharfen Einblick, eine Ueberzeugung, weldye zu 
überzeugen wünſcht, und zwar Died mehr ald alles andere und anftatt alles 
anderen. Man jollte meinen, der Grundcharakter diefer Neben, ja des 
Mannes jeldft, ſei Aufrichtigkeit und Intelligenz, Kraft und der ehrliche 
Gebrauch der Kraft. Und dem ift au wirklich fo, o Leſer. Mirabeau's 





— — m. X 





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geiflige Begabung war, wie man bei näherer Unterfuchung finden wird, 
wirklich eine ehrliche und große; er befaß tie ftärkfte, praktifchfte Intelligenz 
jener Zeit und hatte Anſpruch darauf, in biefer Beziehung einen Plag unter 
den Starfen aller Zeiten einzunehmen. Alle feine Bücher verdienen, fo zu 
fagen, wohl durchgeftebt zu werden, eben fo wie dieſes Buch des Fils Adoptif. 
Es if koſtbarer Stoff darin enthalten, der zu gut if, um immer unter 
werthlojem Schutt verborgen Liegen zu bleiben. 

Ran höre diefen Mann über irgend einen Gegenftand und man wird 
finden; daß feine Worte die reiflichfte Beachtung und Erwägung verdienen. 
Oft wirft er kurze marfige Audjprüche Hin, die Keiner, der fie hört, jemals 
wieder vergißt, 3. B.: „Ich Eenne nur drei Mittel, durch welche man in die 
fer Welt feinen Lebendunterhalt erwirbt — durch Lohn für Arbeit, durch 
Betteln oder durch Stehlen, mag man ed nun fo nennen oder anders. ® 
Der: „Malebrandhe fah alle Dinge in Gott und Neder fieht alle Dinge 
in Necker!“ Die Spignamen, die Mirabeau diefem oder jenem feiner Zeite 
genoffen beilegt, find ganze Abhandlungen wert. „Grandifons Erommell« 
Lafayhette“ — man fihreibe ein Buch über den Mann, wie vicle Bücher über 
ihn gefchrieben worden find, und fche zu, ob man mehr fagen kann! 8 ift 
das befte Portrait, welches jeniald von ihm gezeichnet worden, — mit einem 
einzigen Zuge und zwei Puͤnkichen. Bon jo unausſprechlichem Vortheil ift 
es, daß der Menſch „ein Auge babe, anftatt einer bloßen Brille”; daß er, 
indem er tie Kormeln der Dinge durchſchaut und fogar mandye Formel bes 
feitigt, einen Blick in Die Sache ſelbſt erhalte und dieſelbe auf dieje Weife 
fennen und beberrichen lerne. 

So wie die Jahre dahinrollen und jene verhängnißvolle Decade der 
Achtziger oder der „Aera der Hoffnung * ihrer Vollendung entgegengeht und 
es Mirabeau immer Elarer wird, Daß große Dinge herannahen, finden wir, 
daß feine Wanderungen gleihfam immer raſcher werden. Plöglic aus Nacht 
und Cimmerien auftaudyend, jchmettert er von Zeit zu Zeit in die Welt von 
Paris herab, durchzuckt fie mit feinem Feuerblicke, erfennt, daß die Zeit noch 
nicht gefommen ift, und zicht fid) wieder in fein Dunkel zurüd. Dann und 
wann rufen feine Flugſchriften einen Blig der Staatögewalt und einen Vers 
haftsbefehl bervor, fo daß er fih nur um fo fchneller entfernen muß. Sa, 
der gute Calonne ift fo freuntlid, e8 im Voraus anzudeuten: „An dem 
und dem Tage werte ich mich veranlaßt ſehen, Befehl zu Ihrer Verhaftung 
zu geben; machen Sie daher ſchnell, daß Sie fortfonmen. * 

Carlyle. IV. 9 





130 


Als im Frühling 1787 die Notabeln fi verfammeln, breitet Mira- 
beau feine Schwingen aus und fenkt fih auf Baris und Berfailles herab; 
ed fcheint ihm, als müßte er Secretair vieler Notabeln werden. Nein! 
Freund Dupont de Nemours wird es; tie Zeit iſt noch nicht da. Es if 
jegt noch die Zeit eines „Grispin-Batilina- * d'Espremenil und anderer der⸗ 
gleichen animaliſch⸗ magnetiſcher Berfonen. Nichtsdeſtoweniger find der ehr⸗ 
würdige Talleyrand, fharffinnige Herzöge, liberal gefiunte, vornehme Freunde 
der feften Ueberzeugung, daß die Zeit Eommen wird. Erwarte daher Deine 
Beit. 

Horch! Am 27. December 1788 kündet endlich die längfl erwartete 
ſich an — bie Eönigliche Proclamation beruft die Generalftaaten definitiv 
auf den nächſten Monat Mai! Brauchen wir wohl erſt zu fragen, ob Mira- 
beau fich jegt rührt; ob er ſich ſchleunigſt nach der Provence zur dortigen 
Adelsverfammlung begiebt und alle feine Thatkraft auf einen Punft concen- 
trirt? Thue einen einzigen Hub mit all Deiner Kraft, Du Titan, und viel⸗ 
Teicht erreichft Du Deinen Zwed! Wie mühte fih und Fämpfte Mirabeau 
unter diejen Aufpicien! Den ganzen Tag mußte er fprechen und flreiten und 
die ganze Nacht Flugſchriften und Artifel fchreiben, dabei Vieles leiden und 
fein wildes Gemüth zügeln, damit es regungélos blieb unter Vorwürfen, 
ſelbſt unter blanfen Schwertern, damit er feinen Feinden feine Blöße gebe. 
Wie weiß er mit untrüglider Gewandtbeit, mit fchlaflojer Unermüdlichkeit 
aufzuregen und zu dämpfen, als ein ächter „ Dämon des Unmöglichen.“ Mit 
„einer Berfammlung von Ebdelleuten, die unwifjender, habgieriger und info- 
Ienter ift, als irgend eine, die ich jemals gefchen *, mußte der Kormelfchluder 
nothwendig ein jaured Stück Arbeit haben. Wir theilen hier eine Stelle 
auß feiner berühmten Vertheidigungdrede mit, ald man ihn durch überwie- 
gende Mejorität zum Austritt nöthigte: 

„Was habe ich Strafbared gethan? Ich Habe gewünſcht, daß mein 
Stand weife genug wäre, heute zu geben, was ihm unfehlbar morgen ent 
riffen werden wird, daß er des Verdienſtes und des Ruhmes theilhaftig 
werde, die Verfammlung der drei Stände zu janctioniren, welde die ganze 
Provence mit lauter Stimme verlangt. Dies ift das Verbrechen ihres Fein⸗ 
des der Rube, wie fie ihn nennen, Oder vielmehr, ich babe gewagt zu 
glauben, daß dad Volk Recht haben könne. Ach, ohne Zweifel verdient ein 
Patrizier, der fi mit einem ſolchen Gedanken befudelt, die ſchwerſte Rache! 
Id) bin aber noch weit firafbarer als Sie meinen, denu ich glaube, daß das 


— — — — ⸗ — — — — 


— — — — — — — —— — — un —* u — — — — 





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Volk, welches ſich beklagt, ſtets Recht hat; daß ſeine unermüdliche Geduld 
unabaͤnderlich das äußerſte Uebermaß des Druckes abwartet, che es ſich zum 
Widerſtand entſchließen kann, daß es niemals lange genug widerſteht, um 
vollſtändige Genugthuung zu erhalten, und noch nicht genügend weiß, daß 
es, um ſeine Feinde mit Furcht und Schrecken zu erfüllen, blos ſtill zu ſtehen 
braucht, daß die unſchuldigſte eben ſo wie die unüberwindlichſte Macht in 
der Weigerung, etwas zu thun, liegt. Dies glaube ich; ſtrafen Sie daher 
den Feind der Ruhe! 

„Sie aber, Diener eines Gottes des Friedens, deren Amt iſt, zu ſeg⸗ 
nen und nicht zu fluchen, und die dennoch ihr Anathema gegen mich ge⸗ 
ſchleudert haben, ohne auch nur einen Verſuch zu machen, mich aufzuklären 
oder mit mir zu disputiren! Und Sie, Freunde des Friedens, die Sie bei 
dem Volke den einzigen Vertheidiger verhaßt zu machen ſuchen, den es bis 
jegt außerhalb feiner eigenen Reihen gefunden hat; — die, um Eintracht 
herbeizuführen, Hauptſtadt und Provinz mit Anichlägen überjchweınmen, 
weldye geeignet fein würden, die ländlichen Diftrifte gegen die Städte zu be= 
waflnen, wenn Ihre Thaten nicht Ihre Schriften widerlegten; — die, um 
den Weg der Verföhnung anzubahnen, gegen die füniglihe Beſtimmung 
wegen Einberufung der Generalftaaten, weil fie dem Volke eben fo viel Des 
putirte bewilligt, ald den beiden antern Ständen, jo wie gegen Alles pro⸗ 
tefliren, was die fünftige Nationalverfammlung thun wird, wenn nicht Ihre 
Geſetze den Steg Ihrer Aniprüce, die Ewigkeit Ihrer Privilegien fichern ! 
Welche uneigennügige Freunde des Friedend! Ic habe an Ihre Ehre ap⸗ 
pellirt und fordere Sie auf, zu erklären, welche meiner Ausprüde den Re⸗ 
Ipeft, den wir der königlichen Autorität oder dem Rechte der Nation ſchul⸗ 
dig find, verlegt haben. Edle der Provence, Europa iſt aufmerkſam, er⸗ 
wägen Sie Ihre Antwort wohl. Männer Gottes, bedenken Sie, was Sie 
thun; Gott hört Sie, 

„Und wenn Sie nicht antworten, fondern fchweigen und fd hinter 
bie eitlen Declamationen verfchanzen, die Sie mir entgegengefchleudert has 
ben, dann erlauben Sie mir noch ein einziges Wort hinzuzufügen. 

„In allen Ländern und zu allen Zeiten haben die Ariftofraten bie 
Freunde des Volks auf die unverföhnlichfte Weife verfolgt, und wenn in 
Folge einer eigenthünfichen Schickſalsfügung ein folher in ihrem eigenen 
Kreife auffland, fo war vor allen er es, nach tem fie ihre Streiche führe 
ten, um durch den hohen Standpunkt ihres Schladhtopferd um fo größeren 

9* 


132 


Schreden zu verbreiten. Co fand der legte der Gracchen feinen Tod durch 
die Hand der Patrizier; ald er aber den Todesſtreich empfing, warf er 
Staub gen Himmel und rief die rächenden Götter an, und aus diefem Staub 
entiprang Marius, — Marius, der fi durd die Ausrottung der Cinibern 
nicht fo berühmt gemacht bat, als dadurch, daß er in Hom die Tyrannei des 
Adels flürzte! * 

Man bat das abgefchmadte Mährchen verbreitet, Mirabeau habe nun 
in Marfeille einen Tuchladen eröffnet, um fi bei dem tritten Stande in 
Gunſt zu fegen, worüber wir oft gelacht haben. Die Idee, daß Mirabeau 
binter dem Ladentiſch geflanden und die Elle regiert habe, hat etwas unge 
mein Spaßhaftes. Obſchon daher auch nicht ein Schatten von Wahrheit 
in dieſer Befchichte liegt, fo kann doch felbft Die Lüge eben in ihrer Eigen- 
ſchaft ald Lüge fih mit Hecht eine Zeitlang behaupten. Ganz anders war 
bier die Wirklichkeit. Er Hatte eine „freiwillige Leibwache von hundert 
Mann”; die Provence drängte fi zu Zchntaufenten um feinen Wagen, 
bie Luft Hallte von Sreudenjchüffen und Jubelgejchrei wicder und Manche 
bezahlten zwei Louisd'or für einen Plag am Benfter; jogar ten Hunger — 
ber zu jener Zeit doch fehr bedeutend war — fann er durch Worte beichiwiche 
tigen. Orwaltthätige Zufammenrottungen aus Anlaß ter Brodtheuerung 
zu Marjeille und zu Aix, gegen welche Feuerwachen und Gouverneure nichts 
vermögen, zerftreut er durch ein einziges Wort ſeines Mundes, nachdem ihn 
der Gouverneur darum erſucht, obſchon er ibm nicht gewogen if. Es if 
wie ein römijcdyer Triumph und mehr. Er wird für zwei Stüdte zum Ab⸗ 
geortneten gewählt; er muß Marfrille ablehnen, um Wir die Ehre geben zu 
können. Mögen feine Feinde einander anjchen und fih verwundern und, 
vergeſſen von ihm, feufzen. Auch für Liejen Mirabeau öffnet ſich endlich 
die Bahn. 

Endlich! Hat in einem ſolchen Kalle der genrigte Leſer, wäre er auch noch 
fo frei von Ehrgeiz, nicht ein wenig Mitgefühl mit diefem armen Mititerb« 
lichen? Der Sieg ift ftet3 etwas Freudiges, aber man denfe ſich einen fols 
hen Mann in ter Stunde, wo er nad zwölf Herfulcd» Arbeiten endlich 
triumphirt! So lange fämpfte er mit dem vielföpfigen Haufen lernäiſcher 
Schlangen und rang mit ihnen feudyend aufXchen und Tod — vierzig lange, 
bittere Jahre, und nun bat er fie zertreten! Die Bergesgipfel find erftiegen' 
Er Elctterte lange an fteilen Felswänden empor, am fchlüpirigen Rande bo: 
denlofer Abgründe entlang ; in Finſterniß, ohne daß cin freundliches Auge 


— — Do, a 705 — — m — — -r- m — war X — | — — — — 


133 


ihn ſah, unter Drachenbrut und der Muth war viele Mal nahe daran, ihm 
in jeiner Einfamfeit, in feiner furdtbaren Bebrängniß zu entfinfen. Und 
dennod) Fletterte und Fletterte er und Elebte den Tritt feiner Ferſe im eigenen 
Blute feſt und nun fiche, dem Hyperion gleich hat er die Höhe erfliegen und 
Ihwingt triumphirend den blanfen Speer. Welch eine Ausſicht, weld ein 
neues Königreich für ihn, alles in den Morgenrotbglanz der Hoffnung ges 
taucht, weithin ſich firediend, erhaben, freudig! Welche milde Memnons⸗ 
muflf tönt aus ten Tiefen der Natur dur die Seele, die plöglich aus 
Kampf und Top zu Sieg und Leben emporgehoben wird! Ja, wir follten 
meinen, felbft der bloße Zufchauer Fünnte mit diefem Mirabeau Thränen 
der Frende weinen. 

Die leider Thränen des Kummerd werden! Denn wifle, o Sohn Adams 
(und Sohn Lucifer's mit diefem Deinem verwünſchten Ehrgeiz), daß all dies 
fer Morgenrotbglang, diefer Zauber und dieſe Memnonsmuſik nichts ift als 
Täuſchung und dämoniſche Schwarzfünftelei! Das, was Du als Sterblidher 
baben mußt, iſt Gleichgewicht, oder wie man es mit andern Worten nennt, 
RNuhe oder Frieden und was Du, wie Gott weiß, auf dieſe Weife niemals 
befonmen wirft. Glücklich find Die, welche Ruhe finden, ohne jo darnach 
zu ſuchen. Binnen faum bdreiundzwanzig Monaten Iodernden, jengenden 
Sonnenbrandes ift diefer Mirabeau Staub und Aſche und liegt dunfel und 
erlofhen in dem Pantheon großer Männer (oder wir wollen fagen in dem 
franzöſiſchen Pantheon bedeutender oder für bedeutend erflärter Männer) 
— nirgends Ruhe findend als in dem Schooß feiner Mutter Erde. 

Es giebt Menſchen, denen die Götter in ihrer Gnade Ruhm verlei⸗ 
ben, weit öfter aber verleihen fie ihn im Zorn ald einen Fluch und als ein 
Gift, denn er flört Die ganze innere Gefundheit und Induftrie des Menſchen 
und führt ihn taumelnd und in wilden Sprüngen, als wäre er von der Ta⸗ 
rantel geftochen, zu — feinem Heiligenfchein. In der That, wenn der Tod 
nicht dazwiſchen käme oder, noch glüdlicher, wenn das Leben und das Publi⸗ 
fum fein Dummkopf wären und plögliche unbillige Vergeſſenheit auf dieſen 
plöglihen unbilligen Glanz folgte und ihn auf wohlthätige, obſchon höchſt 
fihmerzbafte Weife niederbämpfte, fo laßt ſich nicht fagen, wo jo mancher 
rubmreihe Mann, noch mehr, jo mande arme ruhmreiche Frau enden 
würde. 

Am 4. Mai 1789 ſchauete Frau von Stasl aus einem Fenſter in der 
Hauptftraße von Berfailles, mitten in einer verfammelten Welt, ald die De⸗ 


134 


Jutirten in Brocefflon von ber Kirche von Notres-Dame nad der des Heil. 
Ludwig zogen, um die Mefle zu hören und als Beneralftaaten conflituirt zu 
werden. Hierbei fah fie folgentes: 

„Unter den Ebdelleuten,, welche vom dritten Stante zu Deputirten ge⸗ 
wählt worden, bemerkte man vor allen andern den Grafen von Mirabeau. 
Die Meinung, welche die Menfchen von feinem Genie hatten, ward auf eigen⸗ 
thümliche Weiſe durch die Furcht vermehrt, die man vor feiner Immoralität 
Beate, und dennoch war es eben dieſe Immoralität, welche den Einfluß ver- 
minderte, den feine flaunendwerthen Faͤhigkeiten Ihm fiherten. Man Eonnte 
nicht umhin, diefen Mann lange anzufeben, jobald man ihn einmal bemerft 
Hatte. Sein ungeheurer fhwarzer Haarwuchs zeichnete ihn vor allen an 
dern aud. Ban hätte meinen follen, feine Stärke hinge davon ab, wie bie 
Simſon's. Sein Sefiht erhielt eben durch feine Häßlichkeit neuen Aus⸗ 
drud, feine ganze Perion gab die Idee einer unregelmäßigen Kraft, aber 
einer Kraft, fo wie man fie fih in einem Volkstribun denkt.“ 

Mirabeau's Geſchichte während ber erften dDreiundzwanzig Monate der 
Revolution foll nicht hier geichrieben werden, doch verlohnte es wohl der 
Mühe, fie irgendwo zu fchreiben. Die conflituirende Verſammlung nahm 
feinen Namen, als derfelbe zuerft verlefen ward, mit Murren auf, ohne zu 
wifien, worüber fie murrte! Und dennoch war diejes ehrenwerthe Mitglied, 
über welches fie murrten, das Mitglied aller Mitglieder, der erhabene Con⸗ 
ſtituent, ohne welchen fle gar Feine Eonftituenten waren. 

Sehr merkwürdig in der That iſt fein Verhalten in diefer Abtheilung 
der Weltgeihichte. Er war bei weitem das merhwürbdigfte einzelne Element 
bier, keins fam ihm gleich oder auch nur nahe. Einmal ſieht man ihn ficht⸗ 
har mie durch feine eigene Kraft die Eriftenz der conflituirenden Verſamm- 
lung retten und in einem jener Augenblide, welche auf Sahrbunterte hin⸗ 
aud enticheidr:, der ganzen Fluth der Dinge eine andere Wendung geben. 

Die königliche Erklärung vom dreiundzwanzigften Juni wird 
erlaffen. Es ift Militairgewalt genug da und dann folgt des Königs aud 
drüdlicher Befehl, taß die Verſammlung auseinander geben folle. Baftillen 
and Schaffotte find vielleicht die Strafe des Ungehorſams. Mirabeau if 
ungehorſam und erhebt ſeine Stimme, um auch alle Anderen, die bleich und 
von paniſchem Schrecken ergriffen daſttzen, zum Ungehorſam zu ermuthigen. 
Der Oberceremonienmeifter, de Bréͤzée, tritt ein und wiederholt den Befehl 
bes Königs an die Berlammlung, auseinander zu gehen. „Meine Herren! ® 


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fagt de Breeze, „haben Sie den Befehl bed Königs gebört?* Da ruft der 
Sormelichluder jene für die Weltgefchichte ewig denkwürdigen Worte aus, 
„Sa, mein Herr, wir haben gehört, wad man dem König gerathen hat, zu 
fagen, und Sie, der Sie nicht der Dolmeticher feiner Meinung für die Generals 
ftaaten fein können, Sie, der Sie hier weder Sig noch Stimme, noch ein 
Hecht zum Sprechen haben, Sie find nicht der Mann, der uns daran erin- 
nern fann. Gehen Ste, mein Herr, fagen Sie Denen, die Sie geſchickt 
baben, daß wir durd den Willen der Nation bier find, und daß nur Die 
Gewalt der Bajonette uns von bier vertreiben kann!“ Und der arme de 
Brézé verfchwindet, — „fi mit dem Rüden voran hinausbewegend,“ fagt 
der Fils Adoptif. 

Und dennoch gehörte Tiefer große Augenblid, fo folgenſchwer er auch 
war, doch vielleiht an und für fi zu feinen Heineren Geldenthaten. Im 
Allgemeinen möchten wir noch einmal mit befonterem Nachdrud fagen: Er 
bat ‚.hume& toutes les formules.“ Er betrachtet die Revolution wie eine 
Materie und eine Kraft, nicht wie die Formel einer folhen. Während un⸗ 
zählige unfruchtbare Sieyed und Eonflitutionspebanten mit vieler Mühe und 
unter großem Geräuſch ihre erhabene papierne Conſtitution — die elf Mo⸗ 
nate dauerte — zufammenbauen, faßt dieſer Mann nicht Spinnweben und 
„geiellichaftlicde Verträge * ind Auge, fondern Dinge und Menſchen; er er⸗ 
fennt, was zu thun ift, und macht dann auch fofort Anftalt, es zu thun. Er 
jagt den Oberceremonienmeifter de Bre&ze rüdlingd zur Thür hinaus, wenn 
dies das Problem iſt. „Marie Antoinette ift entzückt von ihm“, wenn es 
fo weit fommt. Er ift der Mann der Revolution, fo lange er lebt; er ift 
König derfelben und würde nach unferer Meinung nur mit feinem Leben 
diefe Königswürde niedergelegt haben. Allein von allen diefen Zwölfhun⸗ 
dert liegt in ibm Die Bähigfeit zu einem König, denn Haben wir nicht ge= 
feben, wie emſig das Schickſal ihn während dieſer ganzen Zeit geformt hatte, 
wie ausdrüdlich für das jept ihm in die Hand gegebene Werk? 

O Du wunverlich verdrehter alter Freund der Menfchen, während Du 
diefen Mann auf Infeln Rhé ſchickteſt, in Schlöffer If einfperrteft und ihn 
mit fo vieler und ſcharfer Dreffur zu Deinem Ich, nicht zu dem feinen 
zu machen ſuchteſt, — wie wenig ahneteſt Du da, wad Du eigentlich 
thateft. 

Wir wollen hier noch hinzufügen, daß der wadere alte Marquis den 
Sieg feined Sohned über Schidfale und Menichen noch erlebte und fi 


136 


darüber freuete. In der Kaminecke zu Argenteuil bei Paris ſaß er, und 
ftrahlte bis auf den. legten Augenblid merkwürdige und intereflante Beobach⸗ 
tungen von fi und farb drei Tage vor der Einnahme der Baflille, gerade 
ald die Culbute generale ausbrach. 

Endlich aber find die dreiundzwanzig zugetheilten Monate vorüber. 
Frau von Stasl fah am 4. Mai 1789 den römiſchen Volfstribun und Sim⸗ 
fon mit feinem langen ſchwarzen Haar und am 4. April 1793 findet ein 
Leichenbegängniß flatt, defien Zug eine geographiiche Meile lang it — kö⸗ 
niglihe Ninifter, Senatoren, Nationalgarden und ganz Paris, — Fackel⸗ 
fhein, Trauertöne gebämpfter Trommeln und Hörner und die Thränen von 
Menfchen; die Trauer eined ganzen Volkes, — eine Trauer, wie fie noch 
fein moderned Volk jemald um einen einzigen Menfchen ſah. 

Somit it Mirabeau’d Werk vollbradt. Er ſchläft bei den Riefen der 
Urwelt. Er ift zur Maforität übergegangen: Abiit ad plures. 


— ———— — — 


Was Lob und Tadel, fo wie allgemeine Charakterſchilderung betrifft, 
fo laſſen fi ohne Zweifel in Bezug auf diefen Mirabeau ſehr viele Dinge 
aufftellen, wie denn auch ſchon viel Discuifion über ihn gepflogen worden 
if. Wir finden Died ganz in Ordnung, wie in Bezug auf alle Arten neuer 
Gegenftände, felbft wenn fie weit weniger zweifelhaft wären, als diefer neue 
Rieſe ift. Der BVerfaffer der vorliegenden Abhandlung findet es mittler« 
weile angemefiener, fih und feine erichöpften Leſer auf die brei folgenten 
moralifchen Betrachtungen zu beichränfen. 

Erfte moraliihe Betrachtung: In den gegenwärtigen Sahrhunderten 
werden die Menfchen nicht mehr als Halbgötter und vollfommene Charaf« 
tere, fondern als unvollkommene und mangelhafte Menfchen geboren, näm« 
lich als Menſchen, die in Folge ihrer eigenen Unaulänglichfeit, jo wie in 
Bolge falicher Beurteilung durd andere, weniger Aehnlichkeit mit Halb⸗ 
göttern als vielmehr mit einer Art von Gott⸗Teufeln haben und allerdinge 
ſehr unvollfommene Charaktere find. Das Halbgott-Arrangement wäre in⸗ 
deſſen das, welchem der Berfaffer auf den erſten Anblid den Borzug geben 
möchte. 

Die zweite moraliſche Betrachtung aber lautet: Wahrſcheinlich wur⸗ 
den die Menfchen in feinem Jahrhundert ald Halbgötter, ſondern gerade 


— — — — — — u 


137 


auch ald Gott⸗Teufel geboren, von welchen dann einige in eine Art Halb⸗ 
götter verwandelten. Wie zahlreich find die Menfchen, die nicht blos ge⸗ 
tadelt, falſch beurteilt und verleumdet, fondern gemartert, gefreuzigt und 
an den Galgen gehangen worden find, — nicht einmal als Gott = Teufel, 
fondern als wirkliche Teufel, und die nichtödeftoweniger fpäter ein ungemein 
hohes und achtunggebietende® AUnfehen gewonnen haben! Denn Das, 
was fle nicht waren, was überhaupt nichts war, ift ſtückweiſe hinweg⸗ 
gefallen; es Hat ſich als Geichwäg, verworrener Schatten und überhaupt 
ale nichts erwieſen; Das dagegen, was fie wirflid) waren, bleibt. Man 
verlaffe fi darauf, Harmodius und Ariſtogiton, fo rein und groß fie auch 
jegt erſcheinen, ſchmiedeten geiegmwibrige Gomplotte und hielten heimliche 
Sigungen in der Iacobinerfirche zu Athen, wo fchr zügellofe Dinge geſpro⸗ 
hen und auch gethan wurden. Sind nicht auf diefelbe Weife Marcus Bru⸗ 
tu8 und der ältere Junius jet handgreifliche Helten? Ihr Lob wird in 
allen Redeübungsvereinen geprieien; haft Du aber gelefen, wie die Zeitun⸗ 
gen ſich eine Woche nady ihren Thaten über Ddiefelben ausſprachen? Sa, ift 
nicht der alte Cromwell, — deſſen Gebeine wieder audgegraben und als das 
rechte Emblem feiner felbft und feiner Thaten, als Auswurf der Schöpfung 
unter den Galgen verfcharrt wurden — iſt nicht auch er wieder eine ganz 
reipeftable grimmige Bronzefigur geworden, obſchon es jet erfi anderthalb 
Jahrhundert Her iſt, eine Bigur, auf welde England mehr ald auf fonft 
etwas ftolz zu fein fcheint? 

Dritte und letzte moraliihe Betrachtung: Weder Du noch ich, Tieber 
Lefer, Hatten bei Erichaffung dieſes Mirabeau die Hand mit im Spiele, 
Denn wer weiß, ob wir tann in unjerer Weigsheit nicht auch etwas da⸗ 
gegen einzuwenden gewußt hätten. 

Aber was waren die Himmlifchen Mächte, die ihn fchufen, ohne uns 
auch nur um Math zu fragen, fie und nicht wir, fo und nicht anders! Wir 
haben und daher nad Möglichkeit blos bemüht, ein wenig zu verftehen und 
zu begreifen, was für eine Art von Mirabeau jo geichaffen fein konnte; des⸗ 
halb nehmen wir nun mit Tebhafter Befriedigung Abſchied von ihm und 
überlafien e8 ihm nun, zu gedeihen wie er kann. 


8urns*). 
(1828.) 


Bei den modernen Zuftinden unferer Gefellichaft ift c8 nichts Un— 
- gewöhnliches, daß ein Mann von Genie „um Brod bittet und einen Stein 
empfaͤngi,“ denn trog unferer großartigen Marime von Nachfrage und An« 
gebot, ift es doch keineswegs Die höchſte Vortrefflichkeit, welche die Menſchen 
am bereitwilligßen anerfennen. Der Erfinder einer Spinnmaſchine Fann 
ziemlich ficher ſein, daß er noch bei jeinen Lebzeiten feinen Lohn empfängt, 
der Berfafler eined Achten Gedichts aber ifl, ebenjo wie der Apoftel einer äd 
ten Religion, des Gegentheils faft ebenfo ficher. 

Wir wiflen nicht, ob dieje Ungerechtigkeit nicht um fo fchroffer dadurch 
beraudtritt, daß gewöhnlih nach dem Tode eine Vergeltung flattfinvet. 
Mobert Burns hätte dem Laufe der Natur nad noch lange leben können, 
aber jein kurzes Leben verging in ſchwerer Arbeit und Mangel und er flarb 
in der Blüthe feined Mannedalters elend und vernachläſſigt. Schon aber 
glänzt ein ſtattliches Maujoleum über feiner Aiche und mehr ale ein pracht⸗ 
volles Monument ift an andern Orten feinem Ruhme errichtet worden; vie 
Straße, wo er in Armut ſchmachtete, wird nach feinem Namen genannt; 
bie vornehmften Perfonen in unferer Literatur haben ihren Stolz darein ges 
ſetzt, al8 feine Gommentatoren und Bewunderer aufzutreten, und Die und 
jegt vorliegende Erzählung jeiner Lebensgefchichte ift die ſech ſte, womit 
die Welt befchenft worden ift. 

Mr. Lockhart halt es für notbwendig, fich wegen diefed neuen Verſucht 
über einen ſolchen Gegenftand zu entichuldigen, feine Xefer aber werben, 


®) The Life of Robert Burns, by J. G. Lockhart. Edinburgh, 1828. 


— - — XX — — — — — wur — 


139 


glauben wir, ihn gern freiſprechen, oder im ſchlimmſten Falle blos die Aus⸗ 
führung ſeiner Aufgabe tadeln, nicht die Wahl derſelben. Burns' Charakter 
iſt in der That ein Thema, das ſich nicht ſo leicht abnutzen oder erſchöpfen 
läßt, und durch die Entfernung, in welche ed durch die Zeit gerückt wird, 
wabrfcheinlich eher gewinnen als verlieren wird. 

Man bat gefagt: Niemand ift ein Held vor feinem Kammerbiener, und 
es ift leicht möglich, dag dies wahr iſt; die Schuld aber Tiegt wahrſcheinlich 
ebenfo jehr an dem Kammerdiener, als an dem ‚Helden, denn es tft gewiß, 
dag für das gemeine Auge nur wenig Dinge wunderbar find, die nicht zus 
glei der Entfernung angehören. Es iſt für die Menfchen jchwer zu glau⸗ 
ben, daß der Mann, der bloße Mann, den fie an ihrer Seite ſich Durch das 
Daiein bindurcdlämpfen fehen, aus feinerem Stoffe geſchaffen fei, als fie 
ſelbſt. Segen wir den Ball, daß ein Tifchgaft von Sir Thomas Lucy und 
Nachbar von Iohn ſich ein paar Stunden von der Bewahung ſeines Wild« 
prets abgemüßigt und uns eine Xebensgefchichte Shakſpeare's geichrieben 
hätte! Was für Abhandlungen würden wir dann gehabt haben, — nidt 
über Hamlet und den Sturm, fondern über den Wollbandel und Wilddie- 
berei und über die Pasquill- und Bagabundengeiege und wie der Wilddieb 
ein Schaufpieler ward und wie Str Thomas und Dr. John ein chriftliches 
Herz im Leibe harten und ihn nicht zum Aeußerſten trieben ! 

Auf dieſelbe Weite glauben wir mit Bezug auf Burns, daß fo lange 
nicht Die Gefährten feiner Pilgerfahrt, die ehrenwerthen Accidcommifjaire 
und die Herren von der calebonifchen Jagd und die Ariftofraten von Dum⸗ 
fries und alle die Squires und Earls, ebenſo wie die Schriftſteller von Ayr, 
in der Finſterniß der Vergangenheit unſichtbar oder nur durch das von ihm 
entlehnte Licht ſichtbar geworden find, c& ſchwierig fein wird, ihn nad) irgend 
einem wahren Maßſtabe zu mefjen oder zu überſchauen, was er im achtzehnten 
Sabrhuntert für fein Yaterland und die Welt wirflih war und that. Es wird 
fchwierig fein, fagen wir, aber Immer noch ein gutes Problem für Literarhiftos 
rifer und wiederholte Berfuche werten und wiederholte Annäherungen geben. 

Seine früheren Biograpben haben ohne Zweifel etwas, aber keines⸗ 
wegs viel zu unferer Unterflügung gethan. Dr. Gurrie und Mr. Walker, 
Die nennenswertheften dieſer Schriftfteller, haben beide, glauben wir, einen 
wefentlich wichtigen Bunte falich aufgefaßt, namlich Das eigentliche Berhälte 
niß ihrer Perſon und der Welt und ihrem Autor, und die Art und Weiſe, 
auf welche es ſolchen Männern geziemte, von einem folgen Mann zu denken 


140 


und zu fpreden. Dr, Gurrie liebte den Poeten wahrhaft, mehr vielleicht, 
als er feinen Lefern oder auch fich felbft geftand, und dennoch führt er ihn 
immer mit einer gewiſſen gönnerbaften Miene vor, als ob daß feine Rubli⸗ 
- fum es fonderbar und halb unverantwortli finden fünnte, daß er, ein 
Mann der Wiffenichaft, ein Gelehrter und Gentleman, einem Bauer folde 
Ehre erweift. Bei allem diejen aber geben wir gern zu, daß fein Fehler nicht 
Mangel an Liebe, jondern Schwäche des Glaubens war und betauern, daß 
der erſte und wohlwollendſte aller Biographen unſeres Dichters nicht weiter 
geiehen oder nicht mutbiger geglaubt hat, was er fah. 

Mr. Walfer verfällt noch tiefer in denſelben Fehler und beide irren 
gleihmäßig, wenn fie und einen Katalog über feine verichiebenen vermeinten 
Eigenfchaften, Tugenden und Lafter anflatt einer Schilderung bes Daraus 
bervorgebenden Charakters als einer lebenden Einheit mittbeilen. Dies 
heißt nicht ein Portrait malen, fondern die Lange und Breite der verfchies 
denen Züge meflen und ihre Dimenfionen in arithmetifhen Ziffern nieder: 
ſchreiben. Ja, es iſt nicht einmal fo viel, denn wir müflen erft noch erfah⸗ 
ren, durch welche Kunftgriffe oder Inftrumente der Geiſt auf diefe Weiſe 
gemefien werden Fonnte. 

Mr. Locdhart hat — wir freuen uns, dies fagen zu können — dieſe 
Irrthümer beite vermieten. Er behandelt Burns ftetd al8 den hohen und 
merfwürdigen Mann, für welchen die öffentliche Stimme ihn jcht erflärt hat. 
Bei der Schilderung feiner Perfönlichkeit hat er Die Methode getrennter All« 
gemeinheiten vermieden und mehr charafteriftiihe Vorfälle, Gewohnheiten, 
Handlungen, Ausfprücde, mit einem Wort Erfcheinungen aufgelucht, welche 
den ganzen Menfchen zeigen, fo wie er unter feinen Mitmenſchen leibte 
und lebte. 

Das Buch gewährt daher bei allen feinen Mängeln nad unjerer Mei⸗ 
nung mehr Einblid in den Achten Charakter Burn®’, als irgend eine frühere 
Biographie, obſchon fie, da fle nach dem fehr populairen und gedrängten 
Schema eines Artikels für Conſtable's „‚Miscellany‘‘ gefchrieben ifl, weniger 
Tiefe befigt, als wir von einem Schriftſteller von ſolchem Zalent hätten 
wünſchen und erwarten fönnen, und enthält mehr und mannigfaltigere Citate 
als von Rechtswegen einem Originalwerf zufommen. Das, was Mr. Lock⸗ 
hart felbft fchreibt, iſt überhaupt größtentheile fo gut,. fo klar, präcis und 
bündig, daß wir felten wünſchen, es den Worten eines Antern Plag machen 
zu fehen. Indeſſen, der Geift des Werkes ift durchaus wohlwollend, tolerant 


— — — — m — 





141 


und verföhnend,; Komplimente und Lob werden nad allen Seiten hin an 
Große und Kleine mit freigebiger Hand audgetheilt, und, wie Mr. Morris 
Birkbeck von ter Gefellichaft in den Hinterwäldern von Amerika bemerkt, 
„bie Höflichkeiten des feinen Lebens niemald auch nur einen Augenblid aus 
den Augen verloren. * 

Aber ed giebt in dem Buche noch beſſere Dinge ald diefe und wir koͤn⸗ 
nen mit gutem Gewiſſen verfihern, nicht blos, daß es ſich das erfle Mal 
leicht und angenehm leien läßt, fondern auch ohne Schwicrigfeit zum zwei⸗ 
ten Mal gelefen werden kann. 

Nichtsdeſtoweniger find wir weit entfernt zu glauben, daß das Pro⸗ 
blem von Burnd’ Bioaraphie bis jetzt auf angemeffene Weife gelöft worten ſei. 
Mir deuten hiermit nicht fomohl auf die Mangelhaftigfeit bezüglich der 
Thatſachen und Documente hin — obidon wir von diefen noch jeden Tag 
einen neuen Zuwachs erhalten — als vielmehr auf die befhränfte und un« 
vollfonmene Anwendung bderfelben auf den Hauptzweck aller Lebend- 
beſchreibung. 

Unſere Anſichten über dieſen Gegenſtand erſcheinen vielleicht etwas 
übertrieben; wenn aber ein Menſch wirklich bedeutend genug iſt, daß man 
ſeine Lebensgeſchichte zur Erinnerung der Menſchheit niederſchreibe, ſo ſind 
wir immer der Meinung geweſen, daß die Leſer dann auch mit allen innern 
Triebfedern und Bezichungen ſeines Charakters bekannt gemacht werden 
ſollten. Wie ſtellten ſich die Welt und das Menſchenleben von feinem indi— 
viduellen Standpunkte aus nach ſeiner Anſchauung dar? Wie wirkten 
gleichzeitig vorhandene Umſtände von außen auf ihn, wie wirkte er von 
ſeinem Innern heraus auf dieſe ein? Mit welchen Beſtrebungen und mit 
welchem Erfolge beherrſchte er ſie; mit welchem Widerſtand und Leiden ers 
lag er ihnen? Mit einem Wort, von welcher Art und auf welche Weiſe er—⸗ 
zeugt war tie Wirfung der Geſellſchaft auf ihn; was und auf welche Weife 
erzeugt war feine Wirkung auf die Geſellſchaft? 

Mer diete Bragen in Bezug auf ein Individuum richtig und vollftän« 
dig beantwortete, würde, glauben wir, ein Mujter von Bollfonmenbeit in 
biographiicher Beziehung liefern. Freilich verdienen nur wenige Individuen 
ein folhed Studium und viele Lebensgefhihten werden geſchrieben 
und müffen zur Befriedigung unfduldiger Neugier geſchrieben werten und 
werten gelejen und vergefien, bie nicht Biographien in tiefem 
Einne find. 


142 


Burnd aber if jedenfalld eins dieler wenigen Individuen und ein 
ſolches Studium hat His jegt noch nicht flattgefunden,, wenigſtens nicht mit 
einem ſolchen Refultat. Unſere eigenen dazu Beiträge fönnen, wir wiſſen das 
wohl, nur dürftig und jchwach fein, aber wir bieten fie gern und bereit» 
willig dar und Hoffen, daß fie bei Denen, für die fie beſtimmt find, bei⸗ 
fällige Aufnahme finden werben. 


Burns tauchte gleich als eine wunderbare Erfcheinung vor der Welt 
auf und ward in diefer Figenichaft auf die gewöhnliche Weife mit lautem, 
unklarem, lärmendem Erſtaunen begrüßt, welches fehr bald in Tadel umd 
Bernadhläffigung überging, bi fein frübzeitiger und beflagenswertber Tod 
einen Enthufiasmus für ihn erweckte, welcher, beſonders da fih nun nichts 
mebr thun, wohl aber viel ſprechen ließ, ſich bis auf unfere Zeit verlängert 
hat. Allerdings find die „neun Tage“ ſchon längft um und eben vie 
Fortdauer jenes Rärmend beweiſt, daß Burnd fein gemeined Wunder war. 

Demgemäß erjcheint er ſelbſt nüchtern urtheilenden Gemüthern, wo er 
im Verlauf der Jahre immer ausſchließlicher auf fein eigenes ihm inwohnen⸗ 
des Verdienſt fi) retucirt Hat und jegt als jenes zufälligen Glanzed ent 
fleidet betrachtet werden kann, nicht blos als ein ächter britischer Dichter, 
fondern auch al8 einer der bedeutendflen britifchen Männer des acdhtzchnten 
Jahrhunderts. 

Man wende nicht hiergegen ein, daß er wenig gethan habe. Er that 
viel, wenn wir erivägen wo und wie. Wenn das Werk, weldhes er au 
führte, flein war, fo müflen wir betenfen, daß er ſelbſt feine Materialien 
zu entdecken hatte, denn das Metall, in welchem er arbeitete, lag unter dem 
wüften Moorboben verborgen, wo fein Auge ale das feine das Vorhanden⸗ 
fein eines folchen Metalld errathen hatte, und wir können faft fagen, taß er 
mit feiner eigenen Hand auch die Werkzeuge zum Verarbeiten deſſelben erk 
formen mußte, denn er fand fich in der tiefiten Dunkelheit, ohne Hülfe, 
ohne Unterriht, ohne Modell, oder blos mit Modellen der niedrigfien 
Gattung. 

Ein Mann von Erziehung und Bildung ſteht gleichſam in der Mitte 
eines unermeßlichen Arſenals und Magazins, das mit allen Waffen und 
Maſchinen angefüllt iſt, welche der Scharfſinn des Menſchen ſeit den früheſten 


— — — m — — — — 


143 


Beiten erfonnen, und er arbeitet vemgemäß mit einer Kraft, die er allen 
früheren Jahrhunderten entlehnt Hat. 

Wie ganz anders ift dagegen die Lage Defien, der außerhalb dieſes 
Arfenals fieht und fühlt, daß die Thore deffelben entweder geflürmt oder 
auf ewig vor ihm verfchloffen bleiben müflen. Seine Mittel find die ge⸗ 
wöhnlichſten und plumpften ; die verrichtete Arbeit an und für fich ift Fein 
Mapftab feiner Kraft. Ein Zwerg hinter feiner Dampfmaſchine fann 
Berge verfeßen, aber fein Zwerg wird fie mit der Spighade hinweg⸗ 
räumen und nur ein Titan kann ſie mit feinen Armen von der Stelle 
ſchleudern. 

In dieſer letztern Geſtalt erſcheint Burns. In dem proſaiſchſten Zeit⸗ 
alter geboren, welches Britannien je gekannt, und in den unguͤnſtigſten 
Derbältnifien, wo fein Geift, wenn er trgend Etwas vollbrachte, es unter 
dem Drud fortwährender, fehwerer, körperlicher Arbeit, ja des Mangels und 
der niederfchlagenden Furcht vor den ſchlimmſten Uebeln vollbringen mußte, 
ohne eine andere Beihülfe als die Kenntniß, welche in der Hütte des Ar⸗ 
nıen wohnt, und die Gedichte eines Ferguſon oder Ramſay ald Mapftab der 
Schönheit, erliegt er allen diejen Hinderniffen dennoch nicht. Durch die 
Nebel und die Binfterniß diefer dunkeln Region erkennt fein Luchsauge die 
wahren Beziehungen der Welt und des Menjchenlebend ; er wächft zu geifti= 
ger Kraft heran und erwirbt fih Intelligenz und Erfahrung. Vorwaͤrts ge⸗ 
trieben durch die Erpanflubemegung feines elaftiichen Geiſtes ſucht er einen 
allgemeinen Ueberblick zu erringen und legt mit flolger Beicheidenheit uns 
als die Frucht ſeiner Arbeit ein Geſchenk vor, weldyes die Zeit nun für uns 
vergänglich erflärt hat. 

Hierzu fommt noch, daß feine dunkle, mühenolle Kindheit und Jugend 
bei weitem die freundlichfte Aera feines ganzen Lebens war und’ daß er in 
feinem fiebenunddreißigften Jahre ftarb, und dann frage man, ob es wohl zu 
serwundern ift, daß feine Gedichte unvolllommen und von geringem Um⸗ 
fange find, oder dag fein Genius fih nicht die Meiſterſchaft in feiner Kunft 
errang. Ach, feine Sonne jchien wie durch einen tropiſchen Tornado und 
der bleiche Schatten des Todes verdunfelte fie am Mittage! In diefe hem⸗ 
menden Dünfte gehüllt, ſah man Burns’ Genius niemald in Elarem, azurnem 
Glanze die Welt erleuchtend ; blos einige Strahlen bradden dann und wann 
hindurch und färbten dieſe Wolfen mit einem Negenbogenglange, den die 
Menſchen ichweigend und mit Berwunderung und Thränen betrachteten ! 





144 


Wir find forgfältig darauf bedacht, nicht zu übertreiben, denn es if 
nicht ſowohl Bewunderung, ald vielmehr Darlegung, was unfjere Lejer 
bier von und verlangen, und dennoch iſt es nicht leicht, einem gewiſſen Hange 
nach diefer Seite hin nicht nachzugeben. Wir lieben Burns und wir bes 
mitleiden ihn, und Liebe und Mitleid find fehr geneigt, dad Gute zu 
vergrößern. 

Die Kritit, meint man zuweilen, müſſe ſtets eine Sache des Talten 
Berftandes fein. Wir find von der Nichtigkeit diejer Anſicht nicht ſo recht 
überzeugt, auf alle Bälle aber haben wir «8 hier mit Burns nicht ausichlich 
lich in unjerer Eigenfchaft als Kritiker zu thbun. So wahr und ächt audı 
feine Poeſte und erfcheinen muß, fo intereffirt und rührt er und doch nicht 
hauptfählich al8 Dichter, fondern ald Menſch. Man rieth ihm oft, eine 
Tragödie zu fchreiben , Zeit und Mittel waren ihm nicht dazu vergönnt, aber 
während jeined ganzen Lebens fpielte er eine Tragödie und zwar eine ber 
rührendften. Wir zweifeln, ob die Welt jemald ein jo durch unt Durch be 
trübendes Schaufpiel geſehen, ob Napoleon felbft auf jeinem Bellen dem 
denfenden Geift ein ſolches, Schaufpiel von Mitleid und Kurdt * einflößte, 
wie diefer an und für fich etlere, ſanftere und vielleicht größere Geift, ter 
fi in hoffnungsloſem Kampfe mit niedrigen Hemmniſſen verzehrte, die ſich 
immer dichter und dichter um ihn ſchlangen, bis nur der Tod ihm einen 
Ausweg eröffnete. 

Eroberer find eine Klaſſe von Menichen, weldye tie Welt großentheils _ 
recht wohl entbehren Fönnte, audy kann und der ſcharfe Verftand, der rück— 
ſichtloſe Stolz und der hohe, aber egoiftifche Enthuſitasmus folder Menichen | 
in der Regel feine Liebe einflößen. Im beften Halle erregen fie Erftaunen | 
und ihr Sturz wird wie der einer Pyramide mit einer gewiſſen Wehmuth 
und Scheu betrachtet. Ein ächter Dichter aber, ein Mann, in deſſen Gerzen 
ein Ausflug von Weisheit, ein Ton jener „ewigen Melotien* wohnt, if 
das Foftbarfte Geſchenk, welches einer Generation verlichen werden Eann. 
Mir ſehen in ihm eine freicre, reinere Entwicelung alles teffen, wa® in und 
felbjt das Erelfte if. Sein Leben ijt für und eine reiche Xchre und wir be 
trauern feinen Tod ald den eines Wohlthäters, ter uns lichte und lehrte. 

Ein ſolches Geſchenk hatte und Lie gütige Natur in Robert Burns ver« 
lichen, aber mit königlicher Gleichgültigkeit ſchleuderte fie es aus ihrer Hand 
wie einen bedeutungsloſen Gegenſtand und er ward als ein eitler Tand ver—⸗ 
ſtümmelt und zerriſſen, ehe wir ihn erkannten. Tem unglücklichen Burns 





— — —— — . 
® 
. 
. 


[ | 7 Ve — — — — 











145 
war die Faͤhigkeit gegeben, das Leben des Menſchen ebriwürbiger zu machen, 


die Fähigkeit aber, fein eigenes Leben weife zu führen, war ihm nicht ver⸗ 
liehen. Das Schidfal, — denn fo müflen wir in unierer Unwiflenheit fa- 


gen, — feine Fehler, Die Behler Anderer waren zu fireng gegen ihn, und 
jener Geiſt, deſſen Flug ein fo hoher geworden wäre, wenn er nur erft 
hätte geben fönnen, ſank bald in den Staub; feine herrlichen Fähigkeiten 
wurden in der Blüthe zertreten und er flarb, wie wir faft jagen können, ohne 


jemals gelebt zu haben. 


Und wie wohlwollend und warm war dieſes Gemäth, wie erfüllt von 
angebornem Reichthum, von Liebe zu allen Iebenden und Ieblofen Dingen ! 
Wie fließt fein Herz über von Sympathie gegen die allgemeine Natur und 
weiß felbft in ihren kahlſten Regionen Schönheit und tiefen Sinn heraus⸗ 
zufinden. Das Gänfeblümdyen fällt nicht unbeadhtet unter feiner Pflugſchar 


- und mit liebenden finnigen Betrachtungen wirft er das verlaffene Neft des 


Fleinen ſchüchternen Vogels auf die Seite. Das ehrmwürtige weiße Antlig 
des Winters entzüdt ihn; er verweilt mit wehmüthiger Zärtlichkeit bei die⸗ 
fen Scenen erhabener Dede; die Stimme bed Sturmes aber wird ein Hoch⸗ 
gefang für fein Ohr. Er liebt ed, in den braufenden Wältern einherzus 
fchreiten, denn dies erhebt feine Gedanfen zu ihm, der auf den Flügeln des 
Windes einherichreitet. Eine ächte Dichterfeele, denn fle braudt blos be⸗ 
rührt zu werden, und der Klang, den fle von fi giebt, iſt Mufif! 
Hauptiächlich aber beobachte man ibn im Umgange mit feinen Mit« 
menſchen. Welche warme, allumfaffende Menfchenliebe, welche zunerfichtliche, 
grenzenlofe Sympathie, welde großmüthige Uebertreibung des g-lichten 
Gegenſtandes! Sein fchlichter Freund, fein nußbraunes Mädchen find Ihm 
nichts Geringes und Sewöhnliched, fondern ein Held und eine Köniyin, die 
er als die unvergleichlichften Geſchöpfe der Erde preifl. Die rauben Scenen 
des ſchottiſchen Lebens, die ex nicht in arfatiicher Illuflon, ſondern in dem 
Rauch und Schmug einer nur zu herben Wirklichkeit betrachtet. findet er 
dennoch anzichend und liebenswürdig. Die Armuth ift allerdings ſeine Ges 
fährtin, aber die Liebe und der Muth auch; die einfachen Gefüble, Die 
Würde, der Edelfinn, die unter dem Strohdache wohnen, find jeinem Her⸗ 
zen theuer und ehrwürdig, und fo verbreitet er über die niedrigſten Regionen 
des menschlichen Dafeind den Glanz feiner eigenen Seele, und fie fleigen in 
Schatten und Sonnenihein mild und hell zu einer Schönheit empor, welche 
andere Augen nicht in ven höchſten erkennen. 
Gariple. IV. 10 


146 


Dabei befigt er ein gerechte Selbftbewußtjein, welches nur zu oft in 
Stolz; ausartet, und dennoch iſt es ein edler Stolz, ber fi blos verthei« 
digt, nicht angreift; Fein Faltes, mißtrauifches Gefühl, fondern ein offenes, 
freie® und gefelliges. Der Dorfdichter geberdet fih, wir möchten fagen, 
wie ein König im Eril; er fieht fih unter die Beringen verfeßt und fühlt 
fich gleichwohl den Vornehmften ebenbürtig. Aber dennoch beanfprucdht er 
feinen Rang, damit ihm feiner fireitig gemacht werde. Die Boreiligen 
weiß er zurüdzumweifen, tie Uebermütbigen kann er tämpfen; Geld oder 
Abnenftolz nügen ihm gegenüber nichts ; e® brennt ein Keuer in dieſem dun⸗ 
feln Auge, gegen welches die „Injolenz der Herablaſſung“ nichts ausrichten 
kann. In feiner Erniedrigung, in feiner äußerfien Noth vergißt er nicht 
auch nur einen Augenblid lang die Majeflät der Poeſie und bed Men- 
ſchenthums. 

Und dennoch, fo hoch er fih auch über gewöhnliche Menſchen erhaben 
fühlt, ſondert er ſich doch nicht von ihnen ab, ſondern miſcht ſich theilneh⸗ 
mend in ihre Intereſſen, ja er wirft fih ihnen in die Arme und bittet fie 
gleihfam ihn zu lieben. Es ift rührend zu ſehen, wie felbft in jeiner 
fchwärzeften Verzweiflung diefer folge Mann noch bei der Freundſchaft Hülfe 
fucht, oft vor dem Unwürdigen fein Herz ausſchüttet und unter Thränen an 
fein glühende8 ‚Herz ein Gerz drüdt, weldes nur den Namen der Freund⸗ 
ſchaft kennt. Lind dennod) war er ein Mann von fharfem Blick, welder 
eine gewöhnliche Masfe fofort durchſchauete, währen? dennoch gleichzeitig 
eine großmüthige Leichtgläubigfeit in feinem Herzen wohnte. 

Und jo zeigte fih unfer Bauer unter und; „eine Seele gleich einer 
Aeoldharfe, in deren Saiten der gemeine Wind, während er hindurchſtrich, 
fih in artifulirte Melodien verwandelte.“ Und dies war der Mann, für 
weldhen die Welt feinen befleren Wirfungsfreis fand, als ſich mit Schmugg⸗ 
lern und Weinwirtben herumzuftreiten, tie Accifegebühren von Talg zu be» 
rechnen und Bierfüfler zu aichen! Mit folhen Arbeiten mußte diefer ge⸗ 
waltige Geift fih auf Elägliche Weile abmühen und Hunderte von Jahren 
können vergeben, ehe die Wiederholung eined ſolchen Mißbrauches mög— 


lich iſt. 


147 


Alles, was von Burns noch übrig iſt, Die Schriften, die er zurückge⸗ 
laflen, jcheinen uns, wie wir ſchon oben andeuteten, nicht mehr als ein arm⸗ 
feliges, verflümmeltesd Bruchtheil von dem, was in ihm war; Furze, unter- 
brochene Blicke eines Genius, der ſich niemals vollftändig zeigen Fonnte, dem 
zur Bollftändigfeit Alles fehlte — Kultur, Muße, wirklicher Fleiß, ja fogar 
Lebensdauer. Seine Gedichte find mit kaum einer Ausnahme bloße gelegent- 
liche Ergießungen, die er ohne Tange Vorberüberlegung ausftrömt und durch 
bie fich eben darbietenden Mittel die LXeidenihaft, die Meinung oder Laune 
ter Stunde ausdrüdt. Niemald war es ihm auch nur in einem Kalle ver- 
gönnt, irgend einen Gegenſtand mit der vollen Sammlung feiner Kraft zu 
erfaffen, in dem concentrirten euer jeined Genius zu ſchmelzen und zu 
formen. 

So unvollfommene Fragmente nad den firengen Negeln ter Kunft zu 
prüfen, wäre nicht blos unnüg, fondern auch unbillig. NichtSdeftomentger 
aber liegt etwas in diefen Gedichten, fo unentwidelt und mangelhaft fie auch 
find, was felbft dem wählerifchfien Sreunde ter Poefle es unmöglich macht, 
an ihnen vorüberzugehen, ohne davon Notiz zu nehmen. Irgend eine daus 
ernde Eigenſchaft müflen fle befigen, denn nach fünfzig Jahren der abenteuer= 
lichſten Veränderungen des poetiſchen Geſchmacks werden fle immer noch ge= 
lefen, ja immer begieriger und in immer weiteren Kreijen, und zwar nicht 
blos won Riteraturfreunden und der Klaffe, auf welche vorübergehende Ur⸗ 
ſachen am flärkften einwirken, fondern von allen Klaffen, bis berab zu ter 
ungebildeten und wahrhaft natürlichen Klafle, welche wenig lieſt, ganz be» 
ſonders aber Feine Gedichte, ausgenommen wenn fle Vergnügen daran findet. 

Die Gründe einer fo eigenthümlichen und umfafjenden Popularität, die 
fih in buchſtäblichem Sinne vom Palaft bis herab zur Hütte und über alle 
Negionen erſtreckt, wo die englifche Sprache geiprochen wird, find wohl einer 
genauen Erörterung werth und ſcheinen nothwendig auf einen feltenen Vorzug 
in dieſen Werfen fließen zu lafien. Worin aber befteht diefer Vorzug? 

Die Beantwortung diefer Brage wird und nicht weit führen. Burns’ 
Borzug gehört allerdings zu den feltenften, ſowohl im Reiche der Pocfte, als 
in dem der Proſa; gleicyzeitig aber ift er auch klar und leicht zu erkennen 
— es ift feine Aufrichtigkeit, feine unbeftreitbare Miene der Wahr: 
heit. Hier giebt es feine gefabelten Leiden oder Breuden ; Feine hohlphan⸗ 
taftifchen Sentimentalitäten, fein an Drähten gezogened Raffinement des 
Gedankens oder des Gefühls. Die Leidenfchaft, welche und gejchildert wird, 

10* 


148 


bat wirklich in einem lebenden Herzen geglüßet ; die Meinung, bie er aus⸗ 
ſpricht, ift aus feinem eigenen Verſtändniß hervorgegangen und ein Licht auf 
feinem Wege geweien. Gr fohreibt nit vom Hörenfagen, fondern nad 
eigener Anſchauung und Erfahrung; die Umgebungen, in deren Mitte ex 
gelebt und fi gemüht Hat, find es, die er ſchildert, dieſe Umgebungen, fe 
rauh und beſcheiden fie find, haben ſchöne Gefühle, edle Gedanken und bes 
ſtimmte Entſchlüſſe in jeiner Seele entzüutet und er ſpricht aus, was in ihm 
ift, nicht in Folge eines äußeren Rufs der Eitelkeit und des Interefie, ſon⸗ 
dern weil fein Herz zu voll if, um ſchweigen zu können. Er fpridt es mit 
der Melodie und der Modulation aus, die ihm zu Gebote ſteht, „in beimifche 
laͤndlichem Klingflang“, aber diefer ift fein Cigenthum und ädt. 

Hierin ruht das große Geheimniß, Leſer zu finden und zu behalten, 
und Der, welder Andere rühren und überzeugen will, muß allemal erſt ges 
rührt und überzeugt fein. Horaz' Regel „Si vis me flere“‘, ift in einem 
weiteren Sinne ald dem blos buchftäblichen anwendbar. Zu jedem Dichter, zu 
jedem Schriftfteller mödten wir jagen: Sei wahr, wenn Du wünfcheft, daß 
man Dir glaube. Der Menſch möge nur mit ächtem Ernfle den Gedanken, 
das Gefühl und den wirklihen Zuftand feines eigenen Herzens außfprechen, 
und andere Menfhen — fo wunde: bar find wir Alle dur das Band der 
Sympathie an einander gefeſſelt — müflen und werben ihn beachten. Un 
Bildung, an Ueberblid können wir über dem Sprecher ſtehen oder unter 
ihm , aber in beiden Ballen wert n feine Worte, bafern ſie nur ernft und 
aufrichtig find, einen Wiederhall in unferem Junern finden, denn troß aller 
zufälligen Verfchiedenheiten in Auntcrem oder innerem Hang antwortet do 
das Herz ded Menſchen dem Menſchen wie Geſicht dem Gefſicht. 

Dies Tann ein fehr einfached Brinzip zu fein ſcheinen, deſſen Ent- 
dedung Burns eben nidt zum großen DVerbienft angerechnet werden könne. 
Allerdings ift die Entdeckung aud in der That ziemlich leicht, aber die praf- 
tiſche Anwendung tft durchaus nicht Teicht, ja fle ift die Hauptſchwierigkeit, 
mit welcher alle Dichter zu kämpfen haben, und die von hundert kaum einer 
wirflih überwindet. 

Ein Kopf, der zu flumpf if, um das Wahre vom Falſchen zu unter 
ſcheiden, ein Herg, welches zu ſtumpf ift, um das Eine auf alle Gefahr bin 
zu lieben und dad Untere troß aller Verſuchungen zu baflen, find einem 
Schriftſteller gleich verderblich. Mit einem diefer Fehler oder — wie dies 
häufiger der Ball ift — mir beiden verbinde man Liebe zur Auszeichnung, 





7 m. mn — — 


149 
den ſelten fehlenden Wunſch, originell zu ſein, und wir haben Affectation, 
den Fluch der Literatur, ebenſo wie die Heuchelei, ihre aͤltere Schweſter, der 
Fluch der Moral iſt. 

Mie oft tritt und in der Boefle ebenfo wie im Leben die eine und die 
andere gegenüber! Selbſt große Dichter find nicht immer frei von diefem 
Lafter, ja einem gewiſſen Grade von Größe ſcheint ed am häuſtgſten innezu⸗ 
wohnen. Heftiges Streben nad Auszeichnung tröftet ſich zuweilen auch mit 
einem bloßen Schatten ded Erfolgs, und Der, welcher viel zu entfalten bat, 
wird e8 zuweilen nur unvolllommen entfalten. 

Byron 3.8. war kein gewöhnlicher Menſch, und dennoch, wenn wir feine 
Poefie nach diefer Seite hin unterfuchen, fo werden wir finden, daß fle fehr 
weit entfernt if, fehlerlos zu fein. Im Allgemeinen gefprochen möchten wir 
fagen, fe ſei nicht mehr. Er erfriſcht uns nicht mit der göttlihen Quelle, 
fondern nur zu oft mit gemeinen ſtarken Blüffigkeiten, die für den Geſchmack 
allerdings anreizend find, aber fehr bald mit Widerwillen oder fogar Uebel⸗ 
keiten enden. Sind feine Harolds und Giaurs, möchten wir fragen, wirk⸗ 
liche Menſchen, wir wollen damit ſagen, poetifheconiequente und denfbare 
Menſchen? Sceinen nicht diefe Charaktere, fcheint nicht der Charakter 
ihres Autors, welcher mehr oder weniger durch fie alle hindurchſchimmert, 
vielmehr ein für die Gelegenheit angelegter Gegenfland zu fein, feine natürs 
liche oder mögliche Weile des Dafeins, fondern Etwas, was viel großartiger 
ausichen foll al8 die Natur? Ganz gewiß haben alle diefe ſtürmiſchen Ago⸗ 
nien, biefer vulfanifche Heroismus, dieſe übermenichliche Verachtung und 
rabenſchwarze Verzweiflung mit einem ſolchen Aufwand von Augenverdrehen 
und Zähnefnirihen und anderem fchwefeligem Humor mehr Achnlichkett mit 
der Gouliffenreißerei eines Schaufpielers in irgend einer geringfügigen Tra- 
gödie, welche drei Stunden kauern foll, als mit der Haltung eined Mannes 
im ernften Spiel des Lebens, welches flebzig Iahre dauern fol. Nach un» 
ferm Gefühl Liegt ein Anflug diefer Art, etwad, was wir theatralifch, falſch 
und affectirt nennen möchten, in jeder diefer fonft io gewaltigen Dichtungen. 
Vielleicht ift „ Don Iuan *, befonders in feinen Tegteren Theilen, das cinzige, 
einigermaßen aufrichtige Werk, welches er jemals gefchrieben, das ein» 
zige Werk, worin er ſich einigermaßen zeigte wie er war, und ſich fo für fei« 
nen Oegenftand zu interejfiren ſchien, daß er ſich auf Augenblide vergaß. 

Und dennoch haßte Byron dieſes Laſter; wir glauben, daß er es herz⸗ 
lich verabfcheute, ja, er hatte ihn mit Worten förmlich den Krieg erklärt. 


150 


So ſchwer ift e8 ſelbſt für die flärffien Geifter, fich dieſes erfle Erforderniß 
anzueignen, weldyed gleihwohl dad einfachfte von allen zu fein fcheint, naͤm⸗ 
lich das eigene Bewußtjein richtig und ohne unwillkührliche oder vorfäglice 
Irrthümer zu lefen. Wir Eennen feinen Dichter von Burns' Empfänglich⸗ 
keit, der mit einem fo gänzlihen Mangel an Affectation vor uns erfcheint 
und bis auf den legten Augenblid in terfelben Weiſe bei und ausharrt. Er 
iſt ein ehrlicher Mann und ein ebrliher Schriftfteller, in feinen Erfolgen 
und in feinen Niederlagen, in feiner Größe und in feiner Kleinheit iſt er 
ftets Far, einfach, wahr und jhimmert nur im eigenen Glanze. Wir hal⸗ 
ten Dies für eine große Tugend, ja in der That für die Wurzel der meiften 
anderen Tugenten, literarifcher ſowohl als moraliſcher. 

Hierbei müffen wir jedoch bemerfen, daß wir jett blod von Burn#’ 
Gedichten Sprechen, von ten Schriften, welche er Zeit hatte, zu überlegen, 
und wo fein fpezieller Grund vorhanden war, fein kritiſches Gefühl irre zu 
leiten oder fein Streben zu hemmen. Diele feiner Briefe und andere feiner 
profaiichen Schriften verdienen dieſes Rob Eeineswegd. Hier herricht ohne 
Zweifel nicht dieſelbe natürliche Wahrheit des Styls, fondern im Gegen- 
theile etwas nicht blos Steifes, ſondern Gezwungened und Verzerrted, ein 
gewifler, hocdhtrabender, aufgebläheter Ton, deffen gefpreizte Emphafe zu der 
Feſtigkeit und rauhen Einfachheit felbft ſeiner geringfügigften Berfe einen 
unangenehm berührenden Gegenjug bildet, 

Auf tiefe Weife jcheint e8, als fei eigentlich Fein Menſch ganz frei von 
Affectation. Ueberlegt Shakſpeare felbft nicht zuweilen den leerfien Roms 
daft! Aber ſelbſt mir Yezug auf diefe Briefe von Burnd verlangt Die Ge⸗ 
rechtigkeit, zu erklären, daß er zwei Entſchuldigungen hatte. 

Die erfle war feine verhältnigmäßige Unbeholfenheit in Bezug auf die 
Sprache. Burns ift, obfhon er größtenthrils mit ganz eigenthümlicher Kraft 
und fogar Anmuth ſchreibt, nicht Meifler der englichen Proja, wie er Mei» 
ſter des ſchottiſchen Verſes ift; er iſt der erftern nicht Meifter, meinen wir, 
im Verbältniß zu der Tiefe und dem euer feines Gegenflanded. Diefe 
Bricfe fommen und vor, wie das Beſtreben cined Mann, etwad auszu⸗ 
brüden, zu defien Austrud ihm das geeignete Organ abgeht. 

Eine zweite und wichtigere Entichuldigung aber liegt auch in ter eigen⸗ 
tbümlichen focialen Stellung, welhe Burns einnahm. eine Correipon- 
benten find oft Leute, deren Verhältniß zu ihm er niemald genau ermittelt 
Hat, gegen Die er fidh daher entweder im Voraus waffnet, oder denen er, 


151 


ohne es zu wiflen, fehmeichelt, indem er den Styl annimmt, von tem er 
glaubt, daß er ihnen gefallen werde. 

Auf alle Fälle dürfen wir auch nicht vergeflen, daß diefe Fehler felbft 
in feinen Briefen nicht die Regel, fondern die Ausnahme find. So oft ex 
— wie man freilich gern Immer möchte — an vertraute Freunde und über 
wirkliche Interefien fchreibt, wird fein Styl einfah, Eräftig, austruddnoll, 
zuweilen fogar ſchön. Seine Briefe an Mrs. Dunlop find durchweg vor» 
trefflich. 

Doch kehren wir zu feiner Poeſie zurüd. Außer feiner Aufrichtigkeit 
befigt er noch ein anderes eigenthümliches Verdienft, welches im Grunde ges 
nommen nur eine andere Geltung oder vielleicht auch ein Mittel des erfl« 
erwähnten ift und fid in der Wahl feines Gegenflanded zeigt oder vielmehr 
in feiner Gleichgültigkeit in Bezug auf Gegenflände und die Macht, die er 
befigt, alle Gegenftände intereffant zu machen. Der gewöhnliche Dichter 
fucht ebenfo wie der gewöhnliche Menſch fortwährend in Äußeren Umftänden 
die Hülfe, welche er nur in fi finden fan. In dem, was genau befannt 
und nahe ift, erfennt er feine Form oder Anmuth; die Heimath iſt ihm 
nicht poetifch, fondern profalich ; e8 iſt eine vergangene, ferne, conventionell⸗ 
beroifche Welt, wo die Poefle wohnt; wäre er dort und nicht hier, wäre er 
fo und nicht fo, fo wäre ed gut mit ihm. 

Daher rührt jene unzählige Schaar rofenfarbener Romane und ges 
panzerter Heldengedichte, deren Schauplag nicht auf der Erde, fondern etwas 
näher bein Mond iſt. Daher rühren unfere Sonnenjungfrauen und unfere 
Kreuzfahrer, graulame Saracenen in Turbanen und Eupferfarbene Häupt⸗ 
linge mit Wampumfchnuren und fo viele andere unheimliche Geftalten aus 
den heroiſchen Zeiten oder in den heroiſchen Klimaten, von welchen es überall 
in unjerer Poefle wimmelt. 

Friede fei mit ihnen! Uber dennoch möchten wir den Dichtern dieſelbe 
Predigt halten, die ein großer Morallebrer den Menfchen feines Jahrhun⸗ 
dertö zu halten wünfchte, nämlich eine Predigt „über die Pflicht, zu Haufe 
zu bleiben.“ Mögen fie überzeugt fein, daß beroifche Zeitalter und heroiſche 
Klimate nur wenig für fle thun Eönnen. Diefe Form des Lebens hat etwas 
Anzichendes für uns, weniger, weil fie beſſer oter edler ift ald unfere eigene, 
als einfach deshalb, weil fle verfchieden ift, und ſelbſt Diefer Reiz kann nur 
von der vorübergebenpften Art fein. Denn wird nicht unjer eigenes Zeit⸗ 
alter dereinft ebenfalls ein altes fein und ein eben fo altväteriiches, fonder- 


bares Goftüm Haben wie bie übrigen, fo dab es zu dieſen keinen Gegeniak 
mebr bildet, fondern mit ihnen auf gleicher Stufe ſteht? Interefftrt uns 
jet Homer, weil er über Das rich, was außerhalb feines griechiſchen 
Baterlandes und zwei Jahrhunderte vorher, che er geboren ward, vorging, 
oder weil er Das ſchrieb, was in Gottes Welt und in dem Herzen bed Men⸗ 
fen vergeht und was nach dreißig Jahrhunderten noch immer bafjelbe it? 
Darauf mögen unſere Dichter wohl achten. IR ihr Gefühl wirklich ſchoͤner, 
wahrer und ihr Blick tiefer als der anderer Menſchen, fo haben fie nichts 
zu fürchten, ſelbſt nicht von dem beicheidenften Begenflande ; iſt dem nicht 
fo, fo haben fie ſelbſt von dem höchſten nichts zu hoffen als eine ephemere 
Gunſt. 

Der Dichter, meinen wir, kann nach einem Gegenſtande niemals weit 
zu ſuchen haben. Die Elemente feines Kunſt liegen in ihm und rings um 
ihn ber ; für ihn if die ideale Welt nicht von der materiellen getrennt, ſon⸗ 
dern in derfelden enthalten — ja er iR eben deshalb ein Dichter, weil er fie 
bierin erfennen kann. Meberall, wo ein Himmel über ihm und eine Welt 
um ihn if, da iſt der Dichter an feinem Orte, denn auch hier if Renſchen⸗ 
dafein mit feinen unendlichen Wünſchen und Kleinen Errungenichaften, feinen 
ewig veseitelten, ewig erneueten Beftrebungen, feinen Befürchtungen und 
Hoffnungen, welche durch die Ewigkeit fchweifen und all dem Gcheimniß von 
Glanz und Nackt, aus dem es von jeber in jedem Zeitalter oder Klima ge⸗ 
ſchaffen worden, feitdem der erſte Menſch zu leben begann. Iſt nicht jedes 
GSterbebett, wäre es auch das eines Bauern und von trodenem Laub, ber 
fünfte Act einer Tragödie? Und find denn Liebesgefchichten und Hochzeiten 
veraltet, Daß Feine Komödie mehr flattfinten kann? Oder ift der Mewich 
plöglih fo weile geworden, daß fein Gelächter mehr feine Lenden er- 
fhüttert ? 

Das Leben und die Natur des Menichen find wie fle waren umd ſtets 
fein werden. Der Dichter aber muß ein Auge haben, um bieie Dinge zu 
lefen, und ein Herz, um fie zu verflehen, oder fie fommen und geben an ihm 
vergebens vorüber. Er ift ein vates, ein Seher, ihm ift die Gabe der Viſton 
verliehen. Hat Tas Leben Feine Bedeutungen für ihn, die ein Anderer nicht 
mit derjelben Leichtigkeit entziffern kann, dann ift er fein Dichter und Delphi 
ſelbſt würde ihm nicht zu einem machen. 

In diejer Beziehung bethätigt Burns, obſchon vielleicht nicht abſolut 
ein großer Dichter, feine Faͤhigkeit befler und beweiſt die Aechtheit feines 


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153 


Genins mehr, als wenn er eine weit größere Anzahl von Werken Hinter 
lafien hätte, als wir von ihm wirklich Gefigen. Gr zeigt fi wenigſtens als 
einen von der Natur felbR geichaffenen Dichter, und bie Ratur if, im 
Grunde genommen, immer noch das Hauptagens bei Erſchaffung von 
Dichtern. 

Wir hören oft von dieſer und der anderen äußeren Bedingung, die 

angeblih zur Exiſtenz eines Poeten erforderlich if. Zuweilen iR es eine 
gewifie Drefiur; er muß gewifle Dinge, 3.8. „die älteren Dramatiker” ſtu⸗ 
dirt und auf dieſe Weile eine poetiſche Sprache gelernt haben, als ob bie 
Poeſte in der Zunge, nicht im Herzen läge. Andere wieder behaupten, ber 
Dichter müfle in einem gewiffen Stande geboren fein und auf vertrauten 
Fuße mit den höhern Klaſſen fichen, weil er vor allen Dingen die Welt 
fehen müfle. Was das, bie Welt jehen * betrifft, fo glauben wir, daß dies ihm 
geringe Schwierigkeit machen wird, fo bald er nur Augen bat, um zu feben. 
Ohne Augen freilih möchte die Aufgabe eine fchwierige fein. Der Blinde 
oder der Kurzfihtige „reift von Dan nad Berſcheba und findet alles kahl 
und öde. ® . 
Glüucklicherweiſe aber iſt jeder Dichter in der Welt geboren und flebt 
fie mit oder gegen feinen Willen jeden Tag und jede Stunde feines Lebens, 
Die geheimnigvolle Maſchinerie des Menſchenherzens, das wahre Licht und 
Die unergründliche Finſterniß des menſchlichen Schickſals offenbaren ſich nicht 
blos in Hanptfläbten und wimmelnten Salons, fondern in jeder Hütte und 
in jedem Weller, wo die Menſchen ihren Aufenthalt haben. Ja leben nicht 
die Elemente aller menſchlichen Tugenden und aller menſchlichen Lafter, die 
Leidenſchaften eined Borgia eben jo wie eines Luther in ſtaͤrkeren ober 
ſchwaͤcheren Linien in dem Bewußtfein einer jeden Menfchenbruft gefchrieben, 
die ehrliche Selbfiprüfung geübt hat ? 

Zuweilen aber werden an ben armen Dichterafpiranten noch härtere 
Anforderungen geflellt, denn man deutet an, daß er eigentlich zwei Jahr⸗ 
hunderte früher hätte geboren werben follen, weil die Poeſie ungefähr um 
Diele Zeit von der Erde verfhwand und für die Menſchen nun unerreihbar 
wart! Solhe Spinnwebenbehauptungen haben fih dann und wann über 
dad ganze Feld ter Literatur verbreitet, aber fe hindern nicht das Wadsthum 
der hier auffeimenden Pflanzen ; der Shakeſpeare oder der Burns ftreift le 
unbewußt, und blos indem er weiter ſchreitet, Ichweigend hinweg. IR nicht 
jeder Genius fo lange eine Unmöglichkeit, bis er zum Borfchein kommt? 


154 


Warum nennen wir ihn neu und originell, wenn wir wußten, wo fein Mar⸗ 
mor lag und welches Gebäude er daraus aufbauen würde? Nicht dad Mater 
rial ift e8, fondern der Arbeiter, was da fehle. Es ift nicht die dunkle 
Stelle, welde hindert, fondern das trübe Auge. Das Leben eineb 
ſchottiſchen Bauern war das niedrigſte und robefle von allen Leben, bis 
Burns ein Dichter in demfelben und ein Dichter deſſelben ward, es ald ein 
Menſchenleben und deshalb bedeutſam für alle Menſchen erfannte. 
Zaufend Schlachtfelber bleiben unbefungen, aber der „verivundete Hafe“ if 
nicht umgefommen, ohne feine Gedächtnißrede zu erhalten; ein Ballam des 
Erbarmens Haudt und noch aus feinem ſtummen Todeskampfe an, weil ein 
Dichter dabei war. Linier „ Allerheiligenabend * war feit dem Zeitalter der 
Druiden fo oft unter roher Scheu und Iufligem Gelächter vorübergegingen, 
aber kein Theokrit erfannte darin den Stoff zu einer ſchottiſchen Itylle, bis 
Burns ed that. Wir fagen nod "einmal, man gebe und nur den wahren 
Dichter, man flelle ihn wohin und wie man will und es wird an wahrer 
Poefie nicht feblen. | 

Abgejehen von der weientlihen Gabe des poctifchen Gefühls, fo wie 
wir fie jegt zu jchildern verſucht haben, durchdringt auch ein gewifier rauher, 
ächter, markiger Werth Alles, was Burns jemald geichrieben ; eine Kraft 
wie von grünen Gefilden und Gebirgdlüften wohnt in einer Voeſie; fle 
Duftet von natürlidem Leben und Fernigen Naturmenfhen. Es liegt eine 
entichloffene Stärfe in ihm und dennoch eine fanfte, angeborene Anmuth. 
Er iſt zart, er iſt heftig, aber doch ohne Zwang oder zu fihtbare Anftren- 
gung; er rührt dad Herz oder entflammt e8 mit einer Gewalt, Die ihm ges 
wohnt und vertraut zu fein ſcheint. Wir fehen, daß in tiefem Wanne die 
Sanftmuth,, das zitternte Mitleid eines Weibes neben dem tiefinnigen 
Ernte der Kraft und dem leidenſchaftlichen Beuer eines Helden wohnten. 
Thränen liegen in ibm und verzehrende Gluth, jo wie der Blig in dem 
Tropfen der Sommermwolfe lauert. Gr bat für fcden Ton des menjchlichen 
Gefühle einen Wiederball in feiner Bruſt; das Hohe und Tas Niedrige, Tas 
Zraurige, das Lächerlice, da8 Freudige — alles ift ter Reihe nach tiefem 
„leicht gerührten und Alles umfafienden Beifte* willfommen. 

Und man bemerfe, mit weldyer wilden, schnellen Kraft er feinen Gegen⸗ 
fland ergreift, fei derfelbe, weldher er wolle! Wie er gleichjam das volle 
Bild der Sache ind Auge faßt; voll und Flar in jedem Lineament, und den 
wirflihen Typus, das wahre Sein des Objectes unter taufend zufälligen 





— — — — DU) [Fu oz — 


155 


und oberflächlichen Yimfländen erfennt, von welchen auch nicht ein einziger 
ihn Irrezuleiten vermag. Gicht e8 eine Wahrheit zu entdecken? Keine So⸗ 
phiftif, Keine eitle, oberflächliche Logik Hält ihn zurück; raſch entſchloſſen mit 
untrüglicher Sicherheit dringt er in das Mar der Frage ein und fällt feinen 
Ausſpruch mit einer Emphafe, Die man nie vergißt. Gilt es eine Beſchrei⸗ 
bung, die Darftellung eines fihtbaren Gegenflanded? Kein Dichter irgend 
einer Zeit oder einer Nation ift graphiicher als Burns; die charakteriſtiſchen 
Züge enthüllen fi ihm auf einen Blick, drei Zeilen von feiner Hand und 
wir haben ein Portrait. Lind in diefem rauhen Dialekt, in diefem plum⸗ 
pen, oft unbebolfenen Metrum ein fo flared und beflimmtes Portrait! Er 
gleiht darin einem Zeichner, der mit einem verfoblten Stäbchen arbeitet, 
und doch ift der Grabſtichel eines Retſch nicht ausdrucksvoller oder eracter. 

Diefe Schärfe ded Blicks haben wir die Grundlage alled Talentes ges 
nannt, denn in der That, wenn wir unfern Gegenftand nicht fehen, wis 
follen wir dann wiflen, wie wir ihn in unierem Verftändniß, unferer Phan« 
tafle und unferen Neigungen zu placiren oder zu Ichägen haben? Und den- 
noch ift dies an und für fich vielleicht fein fehr hoher Vorzug, fondern kann 
eben fo mit dem größten ald auch mit dem gewöhnliähfien Talent in Ver⸗ 
bindung fliehen. Homer übertrifft in diefer Eigenfchaft alle anderen Dichter 
und Schriftfteller, ionderbarerweife aber ſtehen Richardſon und Defoe nicht 
tief unter ihm. Sie gehört in ter That dem, was man einen lebhaften 
Geiſt nennt, und giebt Feine fihere Andeutung in Bezug auf tie höheren 
Begabungen, welche daneben criftiren fönnen. In den fänmtlichen von uns 
erwähnten drei Bällen ficht fie mit großer Geihwägigfeit in Berbintung; 
die Schilderungen find detaillirt, weitfchweifig und liebend genau; Homer's 
Feuer bricht dann und wann wie zufällig hindurch, Defoe und Richardſon 
aber haben fein Feuer. 

Burns Dagegen zeichnet fi durch die Klarheit feiner Gedanken eben fo 


aus, ald durch die ungeflüme Kraft derfelben. Bon der durchdringenden Eim- 


phafe, mit welcher er dachte, giebt Die Emphaſe des Ausdrucks einen Fleinen, 
aber den ſchlagendſten Beweis. Wer äußerte je denkwürdigere Worte, denk⸗ 
würdig bald durch ihre glühende Heftigkeit, bald durch ihre kühle Kraft und 
lakoniſche Kürze und Präcifion? ine einzige Phrafe malt oft einen gan« 
zen Segenfland, eine ganze Ecene. 

In der That, einer der leitenden Züge in Burns’ Geiſt iſt Diele Kraft 
feiner fireng intelligenten Wahrnehmungen. Entſchloſſenheit und Stärke 





156 


find in feinen Urtheilen, in feinen Gefühlen und Willensänferungen 
ſtets ſichtbar. Prefeffer Stewart fagt von ihm mit einiger DBerwun- 
derung: „Ale Fähigkeiten von Burne' Geiſt waren fo weit als ich fie be 
urtbeilen Eonnte, gleich kräftig und feine Vorliebe für die Boefle mehr das 
Ergebniß feines eigenen enthuflaftifchen und leidenſchaftlichen Gemüthes, 
als eines Genius, der ausfchliehlich für dieſe Gattung ber Geiſtesthätigkeit 
gefchaffen geweien wäre. Nach feinem Geſpräch zu urtbeilen, follte ich mei- 
nen, ex fei wohl fähig geweien, ſich in jeder Garriere auszuzeichnen, in wel 
Ger es ibm gefallen Hätte, feine Fähigkeiten aufzubieten. * 

Dies iR aber, wenn wir nicht irren, zu allen Zeiten eben daß eigen" 
biche und wahre Weſen einer wirflih poetiichen Begabung geweſen. Die 
Poeſie if, außgenommen in ſolchen Fällen, wo fle in weiter nichts als eimer 
Hlödfüchtigen, weinerlihen Empfindfamkeit und einer gewiflen unbeflimmten 
muſtkaliſchen Natur beſteht, keine getrennte Fähigkeit, fein Organ, welches 
den übrigen hinzugefegt oder von ihnen binweggenonmen werden fönnte, 
fondern vielmehr das Ergebniß ihrer allgemeinen Harmonie und Vollſtän⸗ 
digkeit. Die Gefühle, Die Begabungen, weldhe in dem Dichter exiſtiren, ind 
bie, welche mit mehr oder weniger Entwidelung in jeder menſchlichen Seele 
erifiren. Die Phantaſie, welche bei Dante’3 Hölle ſchaudert, iſt dieſelbe, 
nur ſchwächere Bähigkeit, wie die, welche diefe Schilderung ins Dafein rief. 
Der Dichter Spricht dadurch fo gewaltig zu den Menichen, weil er in jeder 
Beziehung mehr Menſch ift ala fie. Shafeipeare hat, wie man fehr richtig 
bemerkt, in dem Entwurfe und der Ausführung feiner Tragödien einen 
Berfland — wenn es nicht mehr wäre — bewieſen, mwelder befähigt ge- 
wefen wäre, Staaten zu regieren ober ein Novum Organum aufzuftellen. 

Ton welder Art Burns’ Verfiandesfraft geweien fein mag, vermögen 
wir weniger zu beurteilen. Sie mußte unter den befcheidenften Begenflän- 
ben verweilen, befam von Philoſophie niemald etwas zu fehen und erhob 
ſich nur durch natürliche Anftrengung und auf kurze Zwifchenzeiten in bie 
Region großer Ideen. Nichtsdeſtoweniger liefern und feine Werke hierüber 
hinreichende Andeutungen, wenn auch nicht hinreichende Beweiſe. Wir er- 
Bennen die unaufhaltfamen Bewegungen einer gigantifchen, obſchon unge» 
ſchulten Kraft und können verfichen, wie in der Gonverfation fein raſcher, 
ficherer Einblid in Menſchen und Dinge eben fo ſehr wie feine übrigen Ei⸗ 
genichaften die beften Denker feiner Zeit und feines Landes in Erflaunen 


fegte. 





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157 


Dabei aber ifl, wenn wir nicht irren, Burns’ intelleötuelle Begabung 
nicht blos ſtark, jondern aud fein. Auch die zarteren Verbältnifle der 
Dinge konnten feinem Auge nicht wohl entgangen fein, denn fie waren ſei⸗ 
nem Kerzen vertraut und gegenwärtig. Die Logif des Senats und des Fo⸗ 
rums iſt unerläßlich, aber nicht durchgängig ausreichend, ja vielleicht iſt die 
böcfte Wahrheit die, welche ihr am ficherfien entgeht. Denn diefe Logik 
wirft durch Worte und „das Höchfle,* hat man gefagt, „läßt fi durch 
Worte nicht ausdrüden.” Wir haben guten Grund zu glauben, daß Em⸗ 
pfäuglichkeit auch für dieſe Höhere Wahrheit eines zarten, obſchon unausge⸗ 
Kildeten Gefühls dafür in Burns eriflirt habe. Mr. Stewart „wundert 
ſich“, wie man fldh erinnern wird, an der oben citirten Stelle, tab Burns 
fi) einen ganz deutlichen Begriff von der Aflociationstheorie gebildet hatte, 
Wir glauben aber, daß noch weit Höhere und erhabenere Dinge als die Affo- 
ciationdtheorie ihm ſchon feit langer Zeit vertraut waren. Man höre z. B. 
Solgendes: j 

„Wir wiflen nichts, * fohreibt er, „oder fo viel wie nidts von tem 
Bau unferer Seelen, deshalb können wir uns auch nicht jene fcheinbaren 
@rillen erklären, in deren Bolge wir ganz befonderd Vergnügen über Dinge 
empfinden, welche auf Gcmüther anderer Art Teinen außerortentliden Ein« 
drud machen. Ih habe im Frühling einige Lieblingsblumen, darunter die 
Bergmaßliebe, die engliſche Hyacinthe, den Bingerhut, die Hagebutte, die 
Birkenblüthe, weldye ich mit ganz befonterem Bergnügen betradite. Nies 
mals höre ich das laute, einſame Pfeifen des Kibitzes während eines Som⸗ 
mernittags oder das wild durcheinander fahrende Gezwitſcher einer Heerde 
Krammetsvögel an einem Herbfimorgen, ohne eine Erhebung der Seele zu 
fühlen, die dem Euthuſtasmus der Antadıt oder der Poefie gleichkommt. 
Sage mir, tbeurer Freund, worin bat dies feinen Grund? Sind wir eine 
Maſchine, welde paiftv wie die Aeolsharfe den Eindruck des vorübergehen⸗ 
den Zufalld aufnimmt, oder faffen Tirfe Vorgänge in und auf etwas Höheres 
fliegen? Ich geſtehe, daß id) Hierin Berveife jener hoben und widtigen 
Wahrheit in Vezug auf Tas Dajein eines Gottes erfenne, der alle Dinge 
geſchaffen, auch die geiſtige und unfterblidde Natur des Menſchen und eine 
Melt von Wohl und Wehe über Tod und Grab hinaus, * 

Kraft und Feinheit des Verſtandes werden oft als etwas ton allge» 
meiner Kraft und Beinheit der Natur, ald enwas theilweiie Unabhaͤngiges 
davon betrachtet. Die Nothwendigfeiten ter Spradye verlangen dies fo, in 


158 


der That aber find diele Eigenfhaften nicht unterfchieden und unabhängig, 
fondern geben, ausgenommen in befondern Ballen und aus befonderen Ur⸗ 
fachen, ftet8 zufammen. Ein Mann von ſtarkem Berftand iſt in ter Regel 
aud ein Mann von flarfem Charakter und Bartheit in der einen Hinfiht if 
nicht oft von Zartheit in der andern getrennt. Auf alle Fälle ift Jedem 
befannt, daß in Burns’ Gerichten die Schärfe der Einſicht mit der Schärfe 
des Gefühle Schritt Halt, Daß fein Licht nicht durchdringender ift, als jeine 
Wärme. Er iſt ein Mann vom leidenſchaftlichſten Gemüth, aber jeine 
Zeidenichaften find nicht blos ſtark, ſondern auch edel und von der Art, wel- 
(her große Tugenden und große Gedichte ihre Entftehung verdanfen. Es iſt 
Ehrfurcht, es iſt Liebe gegen tie ganze Natur, was ihn begeiftert, was feine 
Augen itrer Schönheit öffnet und Herz und Stimme beredt in ihrem Lobe 
macht. Es iſt ein altes wahres Sprichwort, daß „Die Liebe die Kenntniß 
fördert *, vor allen Dingen aber ift e8 das lebendige Weſen diefer Kenntniß, 
welches Dichter macht, das erfte Prinzip ihres Wachsthums, ihres Gedeihens 
und ihrer Thaͤtigkeit. 

Bon Burns’ glühender, alles umfaffender Liebe haben wir fhon als 
von dem großen untericheidenden Kennzug feiner Natur geſprochen, ber im 
Wort und That, in feinem Leben und in feinen Schriften gleihmäßig her⸗ 
vortrat. Es wäre fehr leicht, Hiervon vielfältige Beijpiele anzuführen. 
Nicht blos der Menſch, fondern auch Alles, was in der materiellen und mo» 
raliihen Welt den Menſchen umgiebt, ift in feinen Augen liebenswürbig ; 
ber Hagedorn, ter einfame Kicbig, eine Heerde Krammetsvögel, alle find 
ihm theuer, alle leben mit ihm auf diefer Erde und mit allen iſt er wie zu 
einer geheimnißvollen Gemeinſchaft verbunden. 

Wie rührend ift es z. B., daß er in ber Düfterheit feines eigenen 
Elends und während er über der winterlichen Dede, die in ihm und um ihn 
berricht, brütet, an die „albernen Schafe” und „hülfloſen Vögel* denft und 
ihre Leiden in dem unbarmberzigen Sturme beklagt! Er, der Bewohner ber 
niedern Hütte mit ihrem durchlöcherten Dad) und geborftenen Mauer wentet 
dennod jeine Gedanken den Geichöpfen zu, die nicht einmal cined jo arms» 
feligen Obdaches theilhaftig find. Dies if mehr. werth als viele Predig- 
ten über die Tugend der Barmherzigkeit, denn es ift die Barmherzigkeit 
ſelbſt. 

Burns lebt fo zu ſagen in Sympathie; feine Seele flürzt fih in alle 
Regionen des Seind und nichts, was Eriftenz hat, kann ihm gleichgültig 


6 — (| — — ——— — 


159 


fein. Sogar den Teufel kann er nicht mit richtiger Orthodorie hafſen, fon« 
bern empfiehlt ihm beim Abfchied, „in fih zu gehen und ſich zu beffern. * — 
„Er ift der Vater der Flüche und Lügen, * fagte Dr. Slop, „und tft ſchon 
verflucht und vertammt. * — „Das thut mir leid, * fagte mein Onkel Toby. 
Ein Dichter ohne Liebe wäre eine phyſiſche und metaphyſtſche Unmög⸗ 
lichkeit. 

Hat man aber nicht ganz im Gegenfag zu dieſem Prinzip gefagt, daß 
„die Entrüftung Berfe mache?“ Wan hat died allerdings gefugt und es ift 
aud ganz wahr; der Widerſpruch aber iſt nur ein fcheinbarer, nicht ein 
wirklicher. Die Entrüftung, welche Verſe macht, ift im Grunde genommen 
umgekehrte Liebe, die Liebe zu irgend einem Recht, einem uns oder Andern 
zufommenden Werth, einer Güte, welche verlegt worden und melde dieſes 
flürmifche Gefühl nun zu vertheidigen und zu rächen fucht. Keine egoiftifche 
Wuth des Herzens, die ald primäre Gefühl und ohne deſſen Gegenſatz 
darin eriftirt, erzeugte jemald viel Poefle, denn fonft müßte der Tiger eine 
ungemein poetifche Natur fein. 

Johnſon fagte, er Itebe einen guten Haffer, womit er nicht ſowohl 
einen meinte, welcher heftig haßte, als vielmehr einen, welcder weile haßte, 
der die Nicdrigfeit aus Liebe zur Großmuth haßte. Trotz Johnſon's Para- 
doxon aber, welches einmal im Geſpraͤch ganz gut angebracht fein mochte, 
aber welches man nicht To oft im Drud hätte wiederholen follen, glauben 
wir, daß gute Menfchen mit ihrem Hafle, mag er nun weile oder unmeife 
fein, ziemlich fparfam umgehen, ja taß ein „guter“ Haſſer auf diefer Melt 
ein Geſchöpf ift, welches erft noch kommen foll. Der Teufel wenigftens, der 
für den größten und beften diefer Klaſſe gilt, fol, wie man jagt, ein keines⸗ 
wegs liebendwürdiger Charafter fein. 

Don den Berfen, welche die Entrüftung madt, bat Burns und eben« 
falld Proben gegeben unt fie gehören zu den beften, was wir in diefer Be⸗ 
ziehung beflgen. Wer könnte feinen ‚„„Dweller in yon Dungeon dark‘ ver« 
gefien, ein Gedicht, in welchem man den Gefang der Surien des Aeſchylos 
zu hören glaubt? 

Warum follten wir von „‚Scots, wha hae wi’ Wallace bled“ fpredıen, 
da Alle, vom König an bis zum geringften feiner Unterthanen herab, dieſes 
herrliche Gedicht kennen? Diefe Dithyrambe ward zu Pferte gedichte, als 
Burns während eines raſenden Sturmes über ein ödes Moorland hingalop- 
pirte. Es geſchah dies in Begleitung eines Mr. Syme, der, ald er bie 





1 


Diene dei Poeten bemerkte, fi enthielt zu ſprechen, woran er fehr Flug 
that, denn es möchte nicht gerathen geweien fein, mit einem Manne zu fpie 
len, weldyer ‚„‚Bruce's Address‘‘ dichtete. Ohne Zweifel tang biefe ernfle 
Hymne fi, während er fie fchuf, durch Burns’ Seele, dem äußern Ohre 
aber mußte fie aus ber Kehle des Wirbelwindes gefungen werden. So 
lange als noch warmes Blut in dem Herzen eines Schotten oder eines Men 
ſchen rinnt, wird es auch durch diefen Kriegsgeſang in Wallung verjekt 
werden, denn es iſt, glauben wir, der beſte, der jemals von irgend einer 
Feder geſchrieben worden. 

Ein zweiter wild ſtürmiſcher Geſang. der mit ſeltſamer Zaähigkeit in 
waferm Ohr und Herzen weilt, if „Macpherfon's Abſchied.“ Vielleicht 
legt Hier in der Tradition felbft etwas, was mit dazu beiträgt. Denn war 
diefer grimmige Celte, dieſer zottige Nordland Cacus, der „ein Leben des 
Kampfes und Streites Ichte und durch Verrath feinen Tod fand *, nicht auch 
einer der Nimrode und Napoleons der Erde in der Arena feiner fernen, 
nebeligen Schluchten, in Ermangelung einer helleren und weiteren? Ja, 
war ihm nicht eine gewifie Beimiſchung von Grazie verliehen? ine Fiber 
der Liebe und Sanftheit, ja fogar der Boefle, muß in feinem wilden Herzen 
gelebt haben, denn er tichtete diefen Geſang in der Nacht vor jeiner Hin⸗ 
ribtung ; auf den Schwingen diefer ſchlichten Melodie ſchwebte feine beſſere 
Seele hoch empor über Vergeſſenheit, Schmerz und all den Schimpf und die 
Verzweiflung, bie gleich einer Lawine ihn in den Abgrund binabichleuderten. 
Hier auch wie in Theben und in Pelops’ Geſchlecht Tämpfte Dad materielle 
Schickſal gegen den freien Willen des Menfchen und die ätheriiche Seele 
fan ſelbſt in ihrer Blindheit nicht ohne einen Schrei, der fle überlcht bat. 
Mer aber außer Burns hätte einer foldhen Seele Worte leihen können, 


— — — 


Worte, denen wir niemals ohne ein ſeltſames, halb barbariſches, halb poe⸗ 


tiſches Mitgefühl lauſchen können? 

In einem freundlicheren Gewande offenbart ſich daſſelbe Prinzip der 
Liebe, welches wir als die große charakteriſtiſche Eigenſchaft Burns' und aller 
wahren Dichter anerkannt haben, dann und wann auch in der Form Ted 
Humord. MUeberhaupt rollt in feinen fonnigen Launen ein voller Strom 
der Heiterkeit durch Burns’ Geiſt; er erhebt fih zu Dem Hohen und lüpt 
fih herab zu dem Tiefen und iſt Bruder und Spielgenofi der ganzen Natur. 
Wir fprechen nicht von feiner fühnen und oft unwiderfichliden Fäbigkeit 
zum SKarrifiren, denn diefe ift mehr drollig ald humoriſtiſch, jondern es 


— U __ sun 7 En ou EG nn je DE | U u —D— 


161 


wohnt auch ein viel zarterer Scherz in ihm, der dann und wann in hell⸗ 
leuchtenden Funken zum Borfchein fommt, wie 3. B. in feiner „ Anrede an 
die Maus” oder in feiner „Elegie auf die arme Mailie*, weldes letztere 
Gedicht als feine glücklichſte Leiftung in dieſem Genre betrachtet werden 
Tann. In diefen Gedichten zeigen ſich Züge eines Humors, der eben fo ſchön 
iſt als Sterne’d, aber dabei doch ganz verfchteden, originell und eigenthüm⸗ 
li, denn es ift nicht Sterne'3 Humor, fondern Burns'. 

Ueber die BZartheit, das Pathos und viele andere verwandte Eigen- 
ihaften von Burns’ Poefte ließe ſich noch weit mehr fagen; bei den und ges 
ſteckten engen Grenzen einer Skizze jedoch müflen wir nun von diefem Theile 
unfered Gegenftandes Abjchied nehmen. Wollten wir auf angemefjene und 
ausführliche Weife in die Beſprechung feiner einzelnen Schriften eingehen, 
fo würde und dies weit über die eben bezeichneten Grenzen hinausführen. 

Wie wir ſchon andeuteten, können wir nur wenige diefer Pitcen als 
ſolche trachten, welche in ftreng Fritifher Sprache den Namen von Gedichten 
verdienen. Sie find gereimte Beredtfamkeit, gereimtes Pathos, gereimter 
Verſtand und doch felten weſentlich melodifch, Tuftig und poetiſch. Selbſt 
„Tam 0’ Chanter*, der ſich einer fo bedeutenden Gunſt erfreut, ſcheint uns 
nit ganz entſchieden unter diefe letzte Kategorie zu gehören. Es iſt nicht 
fowohl ein Gedicht, ale vielmehr ein Werk brillanter Rhetorik. Das Herz 
und der Körper der Gefchichte liegen noch fleif und todt da. In jenes dunkle, 
ernfte, ſtaunende Zeitalter, wo die Tradition geglaubt warb und aus welchem 
fie fi Herleitet, führt er und nicht zurück; er verſucht nicht durch Linfor- 
men feiner übernatürlichen Produkte aufs Neue jene tiefe, geheimnißvolle 
Saite der menſchlichen Natur anzuſchlagen, welde einft ſolchen Dingen ant⸗ 
wortete und weldye auch in ung lebt und ſtets leben wird, obſchon fie jetzt 
ſchweigt oder von ganz anderen Tönen erzittert. 

Unfere deutfchen Lefer werden uns verſtehen, wenn wir jagen, baß er 
nicht der Tieck fondern der Muſäus dieſes Mährchend iſt. Aeußerlich if 
ed grün und lebendig, wenn man aber genauer hinfieht, fo bemerkt man, 
daß e8 kein feſtes Wachsthum bat, fondern Hlo8 dem Epheu auf einem Fel⸗ 
fen gleiht. Die Erzählung hat keinen rechten Zuſammenhang; die feltfame 
Kluft, weldye in unferer ungläubigen Phantafle zwiichen dem Wirthöhaufe 
von Ayr und dem Thore von Tophet gähnt, tft nirgends überbrüdt, ja ber 
Gedanke an eine ſolche Brücke wird verlacht und auf diefe Weiſe wird bie 
Tragödie des Abenteuers weiter nichts als eine trunkene Phantadmagorie 

Gariyle. IV. 11 


162 


oder ein buntes, auf Bierdünſte gemaltes Geſpenſt und die VPoſſe allein hat 
nod einige Wirflichkeit. 

Mir fagen nicht, daß Burns aus dieſer Tradition viel mehr hätte 
machen follen; wir glauben vielmehr, daß für fireng poetiſche Zwede nicht 
viel daraus zu machen war. Aud find wir nicht blind für die tiefe, man⸗ 
nigfaltige und geniale Gewalt, die fih in Dem zeigt, was er wirflidy ge- 
leiftet hat; doch finden wir in vielen feiner anderen Dichtungen weit mehr 
„Shakeſpeare'ſche“ Eigenjchaften als in diefeın Tam 0’ Shanter, ja wir neie 
gen und jogar der Meinung zu, daß dieſer Iegtere eben fo gut von einem 
Manne hätte gefchrieben werden können, der anftatt de8 Geniesk blos Talent 
befeflen Hätte. 

Mir wagen die Behauptung aufzuflellen, daß das am firengfien poe⸗ 
tiſche aller feiner Gedichte eins iſt, welches wir in Currie's Ausgabe nicht 
mit aufgenommen finden, welches aber unter dem beicheidenen Titel, „ Die 
fivelen Bettelleute (The Jolly Beggars)*, oft gedrudt worden if. Der 
Gegenftand gehört allerdings zu den niedrigften, die e8 geben Tann, zeigt | 
aber nur um jo mebr dad Talent unfered Poeten, auch das Niedrige in das 
Gebiet der Kunft binaufzubeben. Unferer Anſicht nach ift dieſes Gedicht 
durch und durch compact und wie aus einem einzigen Gufle wahrer flüj- 
figer Harmonie bervorgegangen. Es ift leicht, Tuftig und von fanfter 
Bewegung, dabei aber ſcharf und genau in feinen Details; jedes Geficht if 
ein Portrait — das alte Weib, der „Fleine Apollo”, der „ Sohn des Mars“ 
find Acht fchottifch und doch ideal; Die ganze Scene ift gleichzeitig ein Traum 
und Poofi⸗Nanfie's „ Lumpenichloß. * 

Berner fcheint es in bedeutendem Grade vollftändig, ein wirkliches ſich 
ſelbſt tragendes Ganze zu jein, was an einem Gedicht das höchſte Verdienft 
if. Der Schleier der Nacht wird auf einen Augenblid auseinandergerifien, 
in vollem, grellem, flammendem Lichte jehen wir die ungeheuerlidhen zer- 
Iumpten Gefellen bet ihrem lärmenden Gelag, denn auch Hier behauptet der 
ſtarke Puls des Lebens fein Recht zur Heiterkeit, und wenn ber Borhang 
fällt, fo verlängern wir die Handlung ohne Mühe. Den nähften Tag wer 
den wieder Keffel geflikt und Mordgeichichten gefungen, die junge Bra 
treist ſich bettelnd und fteblend umher und fobald ala möglich wird dem 
Schickſal abermals eine Stunde wilder beranfchender Luft abgerungen. 

Abgefehen von der allgemeinen Sympathie mit dem Menſchengeſchlecht, 
welches ſich auch Hier wieder verräth, beurkunden fi hier auch Achte Begei⸗ 


163 


flerung und ein nicht unbedeutendes tedhnifches Talent. Hier finden wir die 
Treue, den Humor, dad warme Leben und bie forgfältige Malerei und Grup« 
pirung eines Tenierd, für welchen Hausfnechte und zechende Bauern nicht: 
ohne Bedeutung find. Es wäre allerdings jeltfam, wenn wir dieſe die 
befte von Burns' Leiftungen nennen wollten und wir wollen blos fagen, 
daß fle uns als die vollfommenfte ihrer Art, als acht poetifch erfcheint. 

Die ausgearbeitetften, vollftändigften und wahrhaft begeifterten Leiſtun⸗ 
gen Burns’ find jedod ohne Widerrede unter feinen „Liedern (Songs) * zu 
finden. Hier fcheint, obſchon nur durch eine Fleine Deffnung, fein Licht am 
ungebindertften, in feiner höchſten Schönheit und reinen, fonnigen Klarheit. 
Der Grund hiervon liegt vielleicht darin, daß das Lied eine kurze, einfache 
Gedichtgattung iſt und zu feiner Vollkommenheit nichts mehr verlangt, als 
aͤchtes poetifched Gefühl, ächte Muſik des Herzen®. 

Und dennoch Hat das Lied jeine Regeln eben jo wie die Tragödie, Mes 
geln, die in den meiften Bällen nur ungenügend beobadtet, in vielen Bällen 
nicht einmal gefühlt werten. 

Wir könnten eine lange Abhantlung über Burns’ Lieder jchreiben, 
welche wir als die bei weitem beften betrachten, weldye Britannien bis jetzt 
hervorgebracht, denn wir wüßten nicht, daß feit dem Zeitalter der Königin 
Eliſabeth dur irgend eine andere Hand etwas wirklich der Aufmerffamfeit 
MWürdiges in diefem Zweige producirt worden wäre. Allerdings haben wir 
Lieder genug mitunter von ganz vornehmen Leuten; wir haben Teere, hoble, 
vom Wein erzeugte Matrigale, jo manche gereimte Mede „in der fließenden 
und wäflerigen Ader des Biſchofs Offorius, reich an fonoren” Worten 
und was die Moral betrifft mit einer Fleinen Beimiſchung von Senti« 
mentalität verfehen. Alle diefe Lieder beftreben viele Perfonen fih unaus⸗ 
gefegt zu fingen, obſchon größtentheild, fürchten wir, der Gefang nur aus 
der Kehle oder im beiten Kalle aud einer Region fommt, die immer noch 
ziemlich weit von der Seele entfernt ift, denn nicht in biefer, fondern in 
irgend einer leeren Hülle der Phantaſte oder auch in einem dunftigen, zweifels 
baften Lande an den äuferften Grenzen des Nervenſyſtems fcheinen die mei⸗ 
fien diefer Madrigale und gereimten Reben ihren Uriprung gehabt zu haben. 

Ganz anders ift e8 mit Burns’ Liedern. Abgefehen von dem Flaren, 
männlichen, herzlichen Gefühle, von welchem feine Poefle ſtets durchdrun⸗ 
gen ift, find feine Lieber auch von einem andern Geſichtspunkte aus betrach⸗ 
tet, ehrlich, nämlich der Form nad) ſowohl ald dem Geiſte nah. Sie af- 

11? 


164 


feetiren nicht in Muſik gefegt zu fein, fondern fie find wirklich und an 
und für fih Muſik; fie haben durch die Harmonie ihr Leben und ihre Ge⸗ 
flalt erhalten, eben fo wie Benus vollendet aus dem Schooße des Meeres 
emporftieg. Die Geſchichte, das Gefühl, wird nicht geſchildert, fonbern eins 
gegeben ; nicht in rhetorifcher, zufammenhängender Vollſtaͤndigkeit gefagt 
oder hervorgefprubelt, fondern in wunderbaren Strömen, in glühenden An- 
deutungen, in phantaftifhen Ausbrũchen, in Trillern, nicht blos der Stimme, 
fondern des ganzen Geiſtes gefungen. 

Dies halten wir für das wirflicde Weſen des Liedes und find der Mei⸗ 
nung, daß fein Lied feit den leicht und nachläſſig hingeworfenen, welche hier 
und da in Shakeſpeare's Spielen vorfommen, dieſe Bedingungen in fo ho— 
bem Grade erfüllt, wie die meiften von Burns’ Liedern. Dabei laßt eine 
folge Anmuth und Wahrheit der äußern Bewegung im Allgemeinen auch 
eine entfprechende Kraft und Wahrheit des Gefühls und des innern Sinns 
voraußfegen. Burns' Lieder find in ber erflern Eigenſchaft nicht vollkom⸗ 
mener al& in der leztern. Mit welcher Zartheit fingt er und dennoch zu« 
gleich mit welcher Gewalt und Ungetheiltheit! Es Liegt ein durchbohrendes 
MWehklagen in feinem Kummer, das reinfte Entzüden in feiner Freude; er 
glüht vom grimmigften Zorne oder lacht laut und ſchalkhaft und dennod if 
er füß und wei, „füß wie das Lächeln, wenn zärtlich Liebende fich wieder 
fehen, und weich, wie ihre Thräne beim Scheiden !* 

Rechnen wir bierzu ferner die ungeheure Mannigfaltigkeit feiner Ge 
genftände und wie er fafl für jede Regung des Menſchenherzens einen Ton 
und Worte zu finden gewußt hat, fo ſcheint es ein Fleine® Lob zu fein, wenn 
wir ihn als den erften aller unferer Xiederbichter betrachten, denn wir wüß- 
ten nicht, wo wir einen finden follten, der nur würdig wäre, ihm an bie 
Seite geftellt zu werben. 

Eben fo find e8 auch feine Lieder, wovon nach unferer Anficht Burne' 
hauptfächlichfter Einfluß als Autor abhängt und dies ift, wenn Fletcher's 
Ausſpruch wahr tft, Fein geringer Einfluß. „Laßt mich die Lieder eines 
Volkes machen, * fagte er, „und Ihr follt feine Geſetze machen.” In der 
That, wenn jemald irgend ein Dichter ſich mit Gefeßgebern auf dieſen 
Grunde gleihftellen Eonnte, fo war e8 Burns. Seine Lieder find ſchon ein 
Theil der Mutterfprache, nicht blos Schottlands, fondern Britanniens und 
ber Millionen, die an allen Enden der Erde eine britifche Sprache reden. 
In der Hütte wie im Palaft, wo immer das Gerz ſich ber bunten Freude 


165 


und dem ſchwarzen Wehe des Dafeins erſchließt, ift der Name, die 
Stimme diefer Freude und dieſes Wehe der Name und bie Stimme, welche 
Burns ihnen gegeben. Streng genommen bat vielleicht Fein Brite die Ge⸗ 
danfen und Befühle fo vieler Menfchen fo tief ergriffen, wie biefer einfame 
und anfcheinend völlig bedeutungslofe Menſch. 

Bon einem andern Gefichtspunkte ausgehend neigen wir uns übrigens 
der Meinung zu, daß Burns’ Einfluß bedeutend gewefen fein kann, wir mei⸗ 
nen, wie er fpeziell auf die Literatur feines Vaterlandes, wenigfiend auf die 
Literatur Schottlands fich Außerte. Unter den großen Veränderungen, welche 
mit der britifchen, ganz beſonders mit der fehottifchen Literatur feit jener Zeit 
vorgegangen find, befteht eine der größten, wie man finden wird, in dem auf« 
fälligen Wahsthum der Nationalität. Selbft die zu Burns' Zeiten populärften 
englifchen Schriftfteller zeichneten ftch Hinfichtlich ihres Titerartichen Patriotid« 
mus in diefem feinem beften Sinne nur wenig aus. Ein gewifler verbünnter 
Kosmopolitismus war großentheild an bie Stelle der alten Infulaner-Baters 
landsliebe getreten; tie Literatur hatte gleichfam keine Lokale Umgebung; ſie 
ward nicht von den Gefühlen genährt, welche dem heimlichen Boden entſprie⸗ 
Ben. Unſere Grays und Bloverd ſchienen faft wie in vacuo zu fchreiben ; daß, 
was fie fchrieben, trägt nicht das Gepräge des Entſtehungsortes; es ift nicht 
ſowohl für Engländer als vielmehr für die Menichen überhaupt gefchrieben 
oder vielmehr, was die unvermeibliche Folge davon iſt, für gewifle Genera⸗ 
Iifationen,, welche die Philofophie Menfchen nannte. Goldſmith macht 
Hiervon eine Ausnahme, nicht fo Johnſon; der Schauplag feines „„Rambler‘“ 
ift wenig mehr englifch als der feines „Rasselas.“ 

Wenn aber dies in gewiflem Grade der Fall mit England war, fo 
war es im höchſten Grade der Ball mit Schottland. Unſere fchottifche 
Literatur bot überhaupt zu jener Beit einen fehr eigenthümlichen Anblick 
dar, der, fo viel wir wiflen, feines leihen vielleicht nur in Genf hatte, 
wo biefer Zufland der Dinge auch noch jegt fortzudauern ſcheint. Eine 
ange Zeit, nachdem Schottland britifch geworden, hatten wir gar Feine 
Literatur, und zu der Zeit, wo Addiſon und Steele ihre „„Spectators‘* ſchrie- 
ben, ſchrieb unfer guter John Boflon in der edelften Abſtcht aber eben fo 
zum Hohne der Grammatif als der PHilofophie feinen „Fourfold State of 
Man.“ Dann kamen die Spaltungen in unferer Nationalfirhe und bie 
noch grimmigeren Spaltungen in unferem politiihen Körper. Theologiſche 
Tinte und jakobitifches Blut, in beiden Fällen reih an Galle, ſchienen bie 


. 


166 


Intelligenz des Landes vertilgt zu haben, fie war intefien blos verdunfelt, 
nicht verſchwunden. 

Lord Kames machte fo ziemlich den erſten Verſuch, englifh zu ſchrei⸗ 
ben und e8 dauerte nicht lange, jo zogen Hume, Robertion, Smith und eine 
ganze Schaar Nachfolger Die Augen von ganz Europa hierher. Lind den» 
noch lag in Liefer glänzenden Wiedererweckung unſeres glühenden Genius 
„nichts wahrhaft Schottiſches“, nichts Nationales, ausgenommen vielleicht 
das natürliche Ungeftüm, welche® man und zuweilen ald ein charakteriſtiſches 
Kennzeichen unferer Nation zum Vorwurf macht. 

Es ift ein merhvürdiger Umftand, dag Schottland damals trog jeiner 
vielen Schriftfteller keine ſchottiſche Kultur, ja jogar auch Feine engliſche 
hatte; unſere Kultur war faft ausichließlih franzöſiſch. Durch das Stu⸗ 
dium eined Racine und Voltaire, eined Batteur und Boileau hatte Kames 
fi zum Kritifer und Philojophen berangebildet ; das Licht Montesquieu’s 
und Mably's leitete Mobertfon bei feinen politiſchen Speculationen und 
Quehnay's Rampe entzündete die Lampe eines Adam Smith. Hume war 
ein zu reicher Mann, als daß er nöthig gehabt hätte, zu borgen, und viels 
leicht reagirte er auf die Branzofen mehr, als dieje auf ihn Einfluß äußerten, 
aber auch er hatte nichts mit Schottland zu thun; Edinburg war eben fo 
wie La Bleche nur die Wohnung und das Laboratorium, in weldem cr nit 
ſowohl moraliſch Tebte, al& vielmehr metaphyſiſch forſchte. 

Niemals vielleicht gab es eine ſo klare und wohlgeordnete Klaſſe von 
Schriftſtellern, der es dennoch allem Anſcheine nah an jedem patriotiichen 
Gefühl, ja fat ſogar an jedem menſchlichen Gefühl mangelte. Die franzö⸗ 
ſiſchen Wiglıinge der damaligen Zeit waren eben fo unpatriotiſch, aber ihr 
gänzliher Mangel an moralijchen Brinzipien, um nicht zu fagen, ihre offen 
eingeftandene Sinnlichkeit und ihr Unglaube an alle Tugend im firengen 
Sinne, machen dies leicht erfläarlih. Wir hoffen, daß e8 einen Patriotie- 
mus giebt, der fid) auf etwas Beſſeres gründet, als Vorurtheil; daß unjer 
Vaterland uns theuer fein kann, ohne NadıtHeil für unſere Philoſophie; 
Dad, indem wir alle anderen Ränder lieben und achten, wir doch vor allen 
andern unier eigenes Vaterland und den chrwürdigen Bau bed moraliicen 
und focialen Xebend lichen und achten fönnen, den der Geift im Kaufe lan⸗ 
ger Iahrhunterte Hier für und aufgerichtet hat. Ganz gewiß liegt in allem 
diejen reiche Nahrung für den befferen Theil des menfchlichen Herzens ; ganz 
gewiß Fönnen die Wurzeln, die fi in Dem innerſten Mark des menſchlichen 








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Seins befeftigt haben, fo Fultivirt werden, daß fle in dem Gefild feines 
Lebens nicht zu Dornen, fondern zu Roſen emporwachſen! Unſere ſchotti⸗ 
ſchen Weiſen aber fühlen keinen Drang dazu; das Feld ihres Lebens zeigt 
weder Dornen noch Roſen, ſondern blos eine glatte, ununterbrochene Tenne 
für Logik, auf welcher alle Fragen, von der „Theorie des Grundzinſes“ an 
bis zu der „Naturgeichichte der Religion“ mit derielben mechaniſchen Un« 
parteilichkeit ausgedrofchen und durchgeſtebt werden ! 

Seitdem Sir Walter Scott an der Spige unferer Literatur ftebt, iR, 
wie ſich nicht leugnen läßt, Diejer Uebelftand zum größten Theile gehoben 
oder jhwindet immer mehr und mehr. Unſere nambafteften Schriftfteller 
leben, weldye andere Fehler fie audy haben mögen, unter und nicht mehr wie 
eine franzöflfche Kolonie oder wie die Emifjaire irgend einer Propaganda, 
ſondern wie natürlich geborene Unterthanen des vaterländtichen Bodens, bie 
alle unfere Neigungen, Launen und Gewohnheiten theilen. Linfere Kiteratur 
wächt nicht mehr im Waller, fondern auf dem Lande, und mit den ächten, 
friichen, Eräftigen Tugenden des Bodens und des Klimas. 

Wie viel von diefer Veränderung auf Rechnung Burns’ oder irgend 
eines anderen Individuums zu bringen iſt, möchte ſchwer zu ermitteln fein. 
Eine directe literariiche Nachahmung des Dichter Burns fand nicht zu er= 
warten; fein Beifpiel jedodb in Bezug auf die furdtlofe Wahl heimifcher 
Gegenftände nıußte nothwendig eine entfernte Einwirkung äußern und ganz- 
gewiß glühete die Liebe zum Vaterlande nie in einem Kerzen wärmer, als 
in dem unferes Burnd. „Cine Fluth ſchottiſchen Vorurtheils, * wie er dies 
fe tiefe, edelmütbige Gefühl befcheiden nennt, „flrömte in feinen Adern 
und er fühlte, daß fie darin rollen würde, bis die Schleußenthore fih zur 
ewigen Ruhe ſchlöſſen.“ Ihm ſchien ed, ald ob er jo wenig für fein Vater⸗ 
land thun fönnte und dennoch jo gern und freudig Alles gethan haben 
würde. Gin einziges kleines Bereich ftand ihm offen, das des fchottifchen 
Liedes, und wie eifrig betrat er dafjelbe, mit welcher Hingebung arbeitete 
er darin! Auf feinen mübevollen Wanderungen verläßt dieſer Gegenftand 
ihn niemals; es ift das Fleine glüdliche Thal feines von Sorgen belafteten 
Herzend. In der Düfterheit feined eigenen Kummers jucht er begierig einen 
einfamen Dichtergenofien auf, und freut fi, einen Namen der Bergeflen« 
heit, die ihm bedeckte, entreißen zu Eönnen. Dies waren die Gefühle feiner 
Jugend und fie blieben ihm treu bis ans Ende. 

Dod wenden wir und nun ab von dem blos literariichen Charakter 


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Burns’, der und schon zu lange befchäftigt Hat. Weit intereffanter als irgend 
eins feiner gefchriebenen Werke, find, wie und fcheint, die Werfe, die er 
that — das Leben welches er feinem Willen und feinem Geſchicke nadı 
unter feinen Mitmenfchen führte, Diele Gedichte find gleichſam nur Fleine 
gereimte Sragmente, die hier und da in dem großartigen ungereimten Ro⸗ 
man feines irdifchen Dafeind eingefreut find, und nur wenn fie hier an den 
betreffenden Stellen eingefchaltet werben, erhalten fie das volle Maß ihrer 
Bedeutung. 

Aber auch diefe Exiftenz war leider nur ein Fragment. Der Riß zu 
einem mächtigen Gebäude war entworfen worden; einige Säulen, Gallen, 
fefte Baumafien flehen fertig da. Das Liebrige iſt mehr oder weniger Har 
angedeutet, und nur forfchende, liebende Augen koͤnnen die beabfidhtigte Voll⸗ 
endung errathen. Denn das Werk ift in der Mitte, ja faft im Beginn ab⸗ 
gebrochen und fleigt unter und traurig und fchön, unvollendet und dennoch 
Muine, empor! Wenn bei Würdigung feiner Gedichte ein mildes Urtheil 
nothwendig war und bie Gerechtigkeit verlangte, daß die Abfidht und Die 
offenktundige Fähigkeit, fie durchzuführen, oft für die Erfüllung angenoms 
men würde, fo ift died noch weit mehr ber Ball in Bezug auf fein Leben, 
die Summe und das Refultat aller feiner Beflrebungen, wo die Schwierig- 
Zeiten nicht im Einzelnen, fondern in Maffe über ihn kamen und fo Vieles 
"unvollendet blieb, ja zuweilen falſch aufgefaßt ward und folglich elend ver⸗ 
fümmerte. 

Im runde genommen giebt e8 nur eine Aera in Burns’ Leben und 
zwar die frübefle. Wir fehen bei ihm nicht Jugend und Mannesalter, ſon⸗ 
dern blos Jugend, denn bis and Ende bemerken wir keine enticheidende Vers 
änderung in der Bärbung feines Charakters; in feinem fiebenunddreißigften 
Jahre lebte er gleichfam noch in der Jugend. Bei all jener Entſchloſſenheit 
des Urtheild, jenem durchdringenden Scharfblid und der eigenthümlichen 
Meife der Intelligenz, die fih in feinen Schriften Eund giebt, gelangt er 
doch nie zu einer Klarheit über fih felbft. Bis zum Iekten Augenblide er» 
fennt er fein ſpezielles Biel nicht einmal mit der Deutlichkeit, wie fle unter 
gewöhnlichen Menfchen in der Regel vorkommt, und fann e8 daher auch nie= 
mals mit jener Einheit des Willens verfolgen, welche ſolchen Menſchen Ge⸗ 
lingen und Bufriedenheit fihert. Bis zum legten Augenblide ſchwankt er 
zwifchen zwei Vorfägen, Er ift, wie ein ächter Dichter, ſtolz auf fein Ta⸗ 
Ient, und dennoch kann er ſich nicht Dazu verſtehen, dies zu feinem haupt⸗ 


ſJſ 


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ſächlichen und alleinigen Ruhme zu machen, und es durch Armuth ober 
Reichthum, durch gute oder ſchlimme Tage hindurch zu verfolgen, als das 
Eine, was noth ifl. 

Es flebt ihm nämlich noch ein zweiter, weit niedrigerer Ehrgeiz an. 
Er träumt und fämpft für einen gewifien „ Felſen der Unabhängigkeit, was, 
fo natürlich und felbft bewundernswürdig es aud fein mochte, doch weiter 
nichts war, als ein Zwift mit der Welt, und zwar aus dem verhältnigmäßig 
unbedeutenden Grunde, daß er mehr oder weniger mit Geld verjehen war, 
als Andere, daß er in ber allgemeinen Schägung auf einer höhern ober tie⸗ 
fern Stufe ftand, als Andere. Denn die Welt ericheint ihm noch, wie der 
Jugend, in geborgten Farben ; er erwartet von ihr, was fie feinem Menfchen 
geben kann; er fucht Zufriedenheit nicht in fich ſelbſt, nicht in Thaͤtigkeit 
und teilen Beftrebungen, fondern von außen, in der Breundlichkeit der 
Umftände, in Liebe, Breundfchaft, Ehre und pecuniärem Wohlbehagen. 
Er möchte glücklich fein, aber nicht activ und im fich ſelbſt, fondern paſſtv 
und durd ein ideales Füllhorn von Genüffen, die er nicht durch feine eigene 
Arbeit erwirbt, fondern mit welchen er durch die Freigebigkeit des Schickſals 
überſchüttet wird. 

Auf diefe Weite kann er als junger Mann fih nicht zur Erfämpfung 
irgend eines würdigen, wohlberechneten Bieles rüflen, fondern ſchwankt hin 
und her zwifchen leidenfchaftliher Hoffnung und Neue und Täufhung. Mit 
flürmifcher Gewalt vorwärts flürzend, überfteigt oder fprengt er mandıe 
Schranke, dringt weit vor, Täßt fih aber, da er einer unſichern Führung 
folgt, fortwährend von feinem Pfade abwendig machen und fann bis zum 
legten Augenblick das einzige wahre Glüd des Menfchen, nämlich das Süd 
einer Haren entichiedenen Thaͤtigkeit in der Sphäre, für welche er dur Na⸗ 
tur und Umflände geeignet und beflimmt ifl, nicht erreichen. 

Wir fagen dies nicht, um damit gegen Burns einen Tadel auszufpres 
hen, ja es intereffirt und vielleicht unı fo mehr zu feinen Bunften. Das 
foeben erwähnte Glüd wird nicht den Beften am fchnellften verliehen, fondern 
fehr oft find Die größten Geifter die, welche feiner am fpäteften theilhaftig 
werden, denn wo das Meifte zu entwideln ift, da bedarf es auch der längften 
Beit zu diefer Entwidelung. Ein complicirter Zufland war ihm von außen 
zugetheilt, ein ebenfo complicirter Zuftand von innen; feine „im Voraus 
begründete Harmonie” befland zwilchen dem Thonboden von Moßgiel und 
der feurigen Seele eined Robert Burns. Es war fein Wunder, daß «8 


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lange dauerte, ehe dieje beiden fi in einander richteten und fanten. Byron 
war, ald er flarb, nur ein Jahr jünger als Burns, und währent ſeines 
ganzen Lebens, wie e8 fcheinen konnte, weit einfacher fituirt, und doch kön⸗ 
nen wir aud in ihm feine folde Anbequemung, feine foldhe moraliiche 
Mannheit finden, Sondern im beften Kalle, und erſt kurz vor jeinem Ende, 
den Anfang von Etwaß, was eine ſolche Anbequemung zu fein ſchien. 

Das bei weiten auffalligite Ercigniß in Burnd’ Leben ift jeine Meile 
nach Etinburg; ein vielleicht aber noch widhtigered iſt fein Aufenthalt in 
Irvine, als er erſt dreiuntzwanzig Jahr alt war. Bis jegt war fein Xchen 
armfelig und mühſam, außerdem aber nit unfreundlih und bei all feinen 
Entbehrungen keineswegs unglüdlich geweien. Was feine Abftammung be= 
traf, fo hatte er, äußere Umſtände abgerechnet, jeden Grund, ſich glücklich 
zu fhägen. Sein Bater war ein Mann von befonnenem, ernſtem Charakter 
und warmem Herzen, wie die beften unierer Bauern find. Er wußte Kennt- 
niffe zu fhägen, beſaß jelbft einige, und war, was weit befjer und ſeltener 
ift, lets bereit, fich noch mehrere anzueignen — ein Mann von Scharfblid 
und frommem Herzen, ehrfurdtsvoll gegen Gott und daher zugleich freunt« 
lich und furchtlos gegen Alles, was Gott geichaffen bat, mir einem Worte, 
obihon nur ein Bauer mit harten Händen, dennoch ein vollſtändiger unt 
vollkommener, entwidelter Mann. 

Einen foldien Vater findet man felten in irgend einem Range ber 
Sefellihaft und es verlohnte wohl, weit in der Geſellſchaft hinabzuſteigen, 
um ihn zu ſuchen. Linglüdlicherweiie war er fehr arm; wäre er nur ein 
wenig, ja faft nur unmerklich reiher oder vielmehr weniger arm geweien, jo 
hätte das Ganze ſehr leicht einen weit andern Ausgang genommen. Ges 
waltige Ereigniffe drehen fih um einen Strobhalm ; das Ueberichreiten eines 
Bachs enticheitet über die Eroberung der Welt. Hätten die firben Acer 
Feld, welche dieſer William Burns befaß, einen einigermaßen leidlichen Er⸗ 
trag abgeworfen, ſo wäre der Knabe Robert auf eine Schule geſchickt worten; 
er hätte fich, wie fo viele ſchwächere junge Leute thun, bis zu einer Univer⸗ 
fltät durchgekämpft uno wäre nicht als ein landliched Wunder, jondern als 
ein regelmäßiger, wohlgeichulter, intelligenter Arbeiter aufgetaucht und bätte 
der britifchen Literatur eine ganz andere Richtung gegeben, — Denn Dies lag 
einmal in ihm! 

Uber das Kleine, zu einem Gemüfegarten umgeichaffene Feld warf feis 
nen binreichenden Ertrag ab; die ganze Bamilie war fo arm, daß fie nit 





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einmal von unferm wohlfeilen Schulſyſtem Gebrauch machen fonnte ; Burns 
mußte binter dem Pfluge hergeben und die britiiche Literatur ging ihren 
eigenen Gang. Nichtödeftoweniger liegt felbft in diefer rauhen Umgebung 
Bieled, was ihn nährt. Wenn er fidh plagt und mühet, jo gefchieht es mit 
feinem Bruter und für feinen Vater und jeine Mutter, welche er liebt und 
gern vor Mangel fohügen möchte. Die Weisheit ift nicht von ihrem bürftt« 
gen Heerde verbannt, eben jo wenig als der Balfam des natürlichen Gefühle, 
Die erhabenen Worte: „Laffet und Bott anbeten”, hört man bier von einem 
„priefterähnlihen Vater.” Wenn die Drohungen ungerechter Menfchen ber 
Mutter und ihren Kindern Thränen auspreſſen, fo find dies nicht blos 
Ihränen des Kummers, fondern aud der Heiligften Zuneigung; jedes Herz 
in diefer fchlichten Gruppe fühlt ſich nur um jo unauflöslicher an das andere 
gefejlelt; in ihrem ichweren. Kampfe ftehen fie beilammen als eine „Fleine 
Schaar von Brüdern.“ 

Auch find diefe Thranen und die tiefe Schöngeit, die darin wohnt, 


nicht ihr einziges Theil. Das Licht beſucht die Herzen wie die Augen aller 


Lebenden ; auch Tiegt in dieſer Jugend eine Kraft, die ihn in den Stand 
ſetzt, das Unglück mit Füßen zu treten, ja fi darüber luſtig zu machen. 
Denn ein warmer, Eeder, elaftiiher Humor ift ibm verliehen und die dicht 
auf einander folgenten Geftaltungen des Uebeld werden mit einer heitern 
freundlichen Ironie bewillkommnet und jelbft während ihres harteften Druckes 
verliert er fein Iota an Herz oder Hoffnung. Unbeflimmte Sehnſucht des 
Ehrgeizes findet fih, jo wie er beranmwädhlt, ebenfalld ein; träumerijche 
Phantaften umfchweben ihn wie Woltenflädte; der Vorhang des Daſeins 
fteigt langlam in bunten Glanze empor und die Morgenrötbe der erfien 
Kiebe vergoltet einen Horizont und bie Mufif ded Geſanges umtönt feinen 
Piad und fo fchreitet er in Stolz und Freude am Bergedhange Hinter feinem 
Pfluge ber. | 
Wir felbft willen aud der beften Quclle, daß bis zu dieſer Zeit Burns 
glücklich war; ja daß er Dad heiterfte, frohlichfte, phantaſtiſchſte und bezau⸗ 
berndfte Weſen war, was man in ter Welt finden Tann, weit mehr als er je= 
mals fpäter ſchien. Nun aber, in dieſem frühen Alter, verläßt er dad väs 
terliche Dad, geht hinaus in cine locrere, Tautere und aufregende Geſell⸗ 
ſchaft und wird in jene Ausſchweifungen und jene Laſter eingeweiht, welche, 
wie eine gewiſſe Klaffe von Pbiloiophen behauptete, Die naturgemäße Vor⸗ 
bereitung auf den Eintritt in das thätige Leben find, eine Art Schlammbab, 


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in weldyes ber Iüngling gleichſam gendthigt wird, fidh zu tauchen und, wie 
wir vermutben, zu fäubern, che ihm die wirkliche Toga des Mannes ange⸗ 
legt werden kann. 

Wir wollen uns nicht weiter mit dieſer Klafſe von Philoſophen ſtreiten. 
Wir hoffen, daß fie fih irren, denn Sünde und Neue umlagern uns fo fehr 
auf allen unfern Lebenswegen und find ſtets fo wenig angenehme Gefellichaft, 
daß e8 Hart fcheint, wenn wir zu irgend einer Zeit genäthigt werden, ihnen 
zu weichen oder gar, wenn auch nur vorübergehend, unter ihnen zu Lienen. 
Wir hoffen, daß dem nicht fo fei. Klar find wir auf alle Fälle darüber, daß 
nicht die Schule, die man in dieſem Teufelsdienfte erhält, fondern blos un« 
fer Entfchluß, diefen Dienft zu verlaflen, uns zur wahren männlichen Thäs 
tigkeit geeignet mat. Wir werden Maͤnner, nicht nachdem wir ausge⸗ 
ſchweift und und in dem Jagen nach falfchen Freuden getäufcht gefunden ha⸗ 
ben, fondern nachdem und auf irgend eine Weife Flar geworden tft, welche 
unüberfteiglihe Schranfen uns während dieſes ganzen Xeben® einengen ; 


wie wahnfinnig e8 if, von den Geſchenken dieſer außerordentlich endle 


hen Welt Zufriedenheit für unjere unendliche Seele zu hoffen, daß ber 
Menic fly felbft genügen muß und daß es für Leiden und Dulden fein an« 
dered Mittel giebt, ald Streben und Handeln. Die Mannheit beginnt, 
wenn wir auf irgend eine Weile mit der Nothwendigkeit einen Waffenſtill⸗ 
ſtand abgefchloflen; fie beginnt jogar, wenn wir und der Nothwenbigfelt 
gefügt haben, wie ja die Meiften thun; heiter und boffnungsvoll aber be⸗ 
ginnt fie blos, wenn wir und mit der Nothwendigkeit ausgefühnt und auf 
diefe Weiſe wirflih triumphirt und gefühlt haben, daß wir frei find. Ganz 
gewiß lernen ſich ſolche Lectionen wie dieſe legte, welche in einer oder ber 
andern Geftalt die große Lection für jeden fterblichen Menſchen ift, befler 
aus dem Munde einer frommen Mutter, aus den Blicken und Thaten eine 
frommen Baterd, während das Herz noch weich und fügſam ift, als im 
Kampfe mit dem Schickſale, wenn das Herz hart geworben iſt und eher zer- 
bricht, als fih erweichen läßt. Hätte Burns fortgefahren, dies zu lernen, wie 
er e8 ſchon in feines Vaters Hütte Iernte, fo würde er e8 vollftändig gelernt 
haben, was er aber niemals that, und mancher lange Irrthum, mandhe bit⸗ 
tere Stunde, manches Jahr der Reue und bes Kummerd wäre ihm dadurch 
erfpart worden. 
Ein anderweiter verhängnifvoller Umfland in Burns’ Geſchichte fcheint 
ung der zu fein, daß er zu jener Zeit aud In die religiöfen Streitigfeiten 


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feines Diſtrikts verwidelt, daß er zum Kämpfer für die „Priefterfhaft bes 
neuen Lichts* angeworben ward, um ihren höͤchſt unerquidlichen Streit 
durdführen zu helfen. An den Tiſchen diefer freifinnigen Geiſtlichen lernte 
er weit mehr, als für ihn nöthig war. ine fo liberale Verfpottung des 
Sanatiömus erweckte in feinem Gemüth Skrupel an der Religion ſelbſt und 
eine ganze Welt von Zweifeln, zu deren Exorcismus e6 ganz anderer Des 
ſchwörer bedurfte, ald dieſe Männer waren. 

Wir jagen nicht, daß ein folder Verftand, wie der jeine, zu irgend 
einer Zeit feiner Geſchichte ähnlichen Zweifeln hätte entgehen oder auch daß 
ex in einer fpätern Periode ganz flegreih und unverlegt hätte hindurchkom⸗ 
men können, aber dennoch fcheint es ein ganz beſonderes Unglück gewefen zu 
fein, daß gerade diefe Zeit von allen andern zu biefem Zufammenfloße aus⸗ 
erfehen war. Denn nun, wo jeine Grundfäße durch böfes Beiſpiel von 
außen und durch teuflifch raiende Leidenfchaften von innen angegriffen wur« 
den, bedurfte er Faum noch ffeptifcher Abnungen, um ihm in der Hige des 
Kampfes Berrath zuzuflüflern oder ihm den Rüdzug abzufchneiden, wenn 
er ſchon geichlagen wäre. Er verliert fein Gefühl der Unſchuld; fein Ge— 
müth wird uneinig mit fidh ſelbſt; die alte Gottheit thront hier nicht mehr, 
fondern er iſt abwechfelnd die Beute wilder Begierden und wilder Reue. 

Auch dauert es nicht lange, fo compromittirt er ſich vor der Welt; 
fein Ruf der Nüchternheit, der einem fchottifchen Bauer theurer if, als ein 
corrupter Weltmenfch fich denken kann, ift in den Augen der Menſchen ver 
nichtet und feine einzige Zuflucht befteht darin, daß er feine Strafbarkeit in 
Abrede zu flellen ſucht — eine Zuflucht von Lügen. 

Nun umhüllt ihn allmälig die fchwärzefte Verzweiflung, die nur durch 
rothe Blide der Reue unterbrochen wird. Das ganze Gebäude feines Le⸗ 
bens wird auseinander geiprengt, denn nun foll nicht blos fein guter Auf, 
fondern auch feine perfönliche Breiheit verloren geben, Menfchen und Schick⸗ 
fal haben ſich gegen ihn verbündet und das Verderben folgt gierig feiner 
Spur. Er ſieht feinen andern Ausweg, ald den traurigften von allen — 
Berbannung aus feinem geliebten Lande in ein Land, welches ihm in jeder 
Beziehung unwirthlich und widerwärtig iſt. Während bie tüftere Nacht in 
geiftigem Sturm und Einfamfeit fowohl als in phoflichem um ihn fich her⸗ 
abſenkt, fingt er fein leidenschaftlich erregtes Lebewohl an Schottland. 

Plöglih ſtrömt Licht auf ihn herab, aber es ift immer noch ein trüges 
rifche®, vorübergehendes Licht und Fein wirklicher Sonnenfchein. Gr wird 


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nad Edinburg eingeladen, eilt mit erwartungsvollem Herzen hin und wird 
wie im Triumphe und mit allgemeinem Beifall willtommen gebeißen. Das 
MWeifefte, das Größte und Kichendwürdigfte, was ed bier giebt, fammelt fidh 
um ihn, um fein Ungefidt zu ichauen, um ihm Ehre, Symparhie und Liebe 
zu bezeigen. 

Burns’ Erfcheinen unter den Weifen und Edeln von Evinburg muß 
als eind der eigenthümlichften Phänomene in der modernen Literatur bes 
trachtet werden und bat faft Aehnlichkeit mit dem Erſcheinen eines Napoleon 
unter den gefrönten Souverainen der modernen Politik. Denn er will fid 
durchaus nicht wie einem durch bloße Gunſt, vorübergehend und um eines 
gewiſſen Zweckes willen auf den Thron gefegten „Scheinfönig" begegnen 
laſſen; noch weniger ift er ein toller Rienzi, deſſen plögliche Erhebung ihm 
jeinen zu ſchwachen Kopf verdreht, fondern er flebt Hier auf jeiner eigenen 
Bafts, Faltblütig, ohne zu erftaunen, von der Natur felbft für ebenbürtig 
erflärt, ohne einen Anſpruch zu erheben, zu deflen Durdiegung ihm bie 
innere oder äußere Kraft mangelte. 

Mr. Lockhart ftellt über diefen Punkt einige eindringliche Betrachtun⸗ 
gen an. 

„Es bedarf Feine große Anftrengung der Phantafte, * fagt er, „um fid 
einen Begriff von den Empfindungen einer tiolirten Anzahl Gelehrter — 
die faft alle entweder Geiftliche oder Profejforen waren — in der Gegen« 
wart dieſes ſtämmigen, gebräunten, breitichulterigen Fremden mit feinen 
großen bligenden Augen zu machen, welcher, nachdem er fih von dem Pfluge 
hinweg den Weg zu ihnen mit einem einzigen Schritte gebahnt, in feiner 
ganzen Haltung und Gonverfation bie fefle Ucberzeugung verricth, daß er 
in der Gefellichaft der ausgezeichnetften Männer feiner Nation gerate da fei, 
wo er ein Recht Hatte, zu fein. Nur felten lieg er fidy herab, ihnen dadurch 
zu fchmeicheln, daß er fih dur ihre Aufmerfiamfeit fihhtbar geichmeichelt 
fühlte. Dann und wann maß er fi) ruhig in der Discuffton mit den ges 
hildetften Geiftern feiner Zeit, beflegte die Bonmotd der berühmteften Witz⸗ 
linge dur vom glühenden Xeben ded Genius durchdrungene Ausbrüche von 
Heiterfeit, jeßte mit dem dreifachen Erz der forialen Zurückhaltung gepan⸗ 
zerte Herzen in Grftaunen, indem er fie zwang, unter der furdhtlofen Berüh⸗ 
zung bed natürlichen Pathos zu zittern — ja fihtbar zu zittern. Und alles 
dies that er ohne die mindefte Geneigtheit zu verratben, jenen handwerks⸗ 
mäßigen Dienern der Erregung zugezählt zu werben, welche für Geld und 





175 


’ 


Beifall fi} dazu hergeben, etwas zu thun, was die Zufchauer und Zuhörer 


fi ſchaͤmen würden, ſelbſt zu thun, felbft wenn fle das dazu nöthige Talent 
befäßen. Dabei — und dies war am Ende das Schlimmſte — wußte mat, 
daß er Gejellichaften, deren Befuch dieje vornehmen Herren verihmäht ha⸗ 
ben würden, noch weit häufiger ald Lie ihre durch eine nicht weniger pracht⸗ 
volle Beredtjamfeit erheiterte und belebte und fie dort — wie fih gleich von 
vorn herein vermutben lieg — nicht jelten zum Stichblatt feines beißenden 
Witzes machte. ” 

Je weiter wir und von dieſer Scene entfernen, deſto eigenthuͤmlicher 
wird fle und erjcheinen und die Details ihrer außeren Ericheinung find ſchon 
jegt höchſt intereffant. Die meiften LXefer werden fich erinnern, daß Mr. 
Walkers' perjönliche Unterredungen mit Burns zu den beiten Stellen feiner 
Erzählung gehören, und e8 wird eine Zeit kommen, wo die nachftehende Mes 
minifcenz Sir Walter Scott'8, jo flüchtig fle auch ift, ebenfalld ihren hohen 
Werth haben wird. 

„Was Burns betrifft,“ fchreibe Sir Walter, „jo fann ich in Wahre 
beit fagen: Virgilium vidi tantum. Ich war, als er im Jahre 1786—87 
dad erfte Mal nach Edinburg fam, ein Bürfhchen von fünfschn Jahren, be= 
faß aber Verftand und Gefühl genug, um mid für jeine Poefte fehr zu ine 
tereffiren, und würde die Welt darum gegeben haben, ihn Fennen zu lernen. 
Leider aber hatte ich nur wenig Bekanntſchaft mit irgendwelchen Leuten der 
Literatur und noch weniger mit dem Landadel der weſtlichen Provinzen, mit 
welchen beiden Klaſſen er am bäufigften umging. Mr. Thonas Grierjon 
war damals Secretair bei meinem Vater. Er kannte Burns und verſprach, 
ihn zu fich zu Tifche einzuladen, Hatte aber feine Gelegenheit, fein Wort zu 
halten, außerdem würde ich dieſen ausgezeichneten Mann öfter zu fehen bes 
kommen haben. Endlich fah ich ihn eined Tages bei dem verflorbenen ehr⸗ 
würdigen PBrofeffor Ferguſon, bei weldyen mehrere Herren von literarifhem 
Rufe verfanmelt waren, unter welcdyen ich mich ded berühmten Mr. Dugald 
Stewart entfinne. Wir jungen Leutchen ſaßen natürlich ſchweigend da, fa= 
ben zu und horchten. Das einzige Bemerfendwerthe, deflen ich mich in 
Burnd' Benehmen entfinne, war die Wirkung, welche ein Kupferftih von 
Bunburg auf ihn hervorbrachte. Das Bild ftellte einen Soldaten vor, der 
todt auf dem Schnee lag; auf ber einen Seite jaß jein trauernder Hund, 
auf der andern feine Wittwe mit einem Kind auf dem Arme. Unter dem 
Bilde flanden folgende Zeilen: 








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„Kalt auf Kanadiens Hügeln rubt der Krieger, 
Sein trauernd Weib neigt fich zu ihm herab; 

Die Thränen miſchen mit der Mil ſich ihrer Bruft 
Und geben ihrem Kind’ die Elendetaufe.“ 


„Burns ſchien durch das Bild oder vielmehr durch die Ideen, die es 
in ihm anregte, fehr ergriffen zu werden und ich ſah, daß ihm die Thränen 
in die Augen traten. Er fragte, von wen bie Verſe wären, und zufällig 
befann fi außer mir Niemand darauf, daß fie in einem halbvergeſſenen 
Gedicht Langhorne's vorkommen, weldes den eben nicht viel verſprechenden 
Titel „Der Friedensrichter“ führt. Ich flüfterte meine Kenmtniß von ber 
Sache einem anweienden Freunde zu, und diefer theilte ben auf diefe Weiſe 
erhaltenen Aufſchluß Burns mit, der mich mit einem Blid und einem Worte 
belohnte, deflen ich mich, obſchon es eine bloße höfliche Redensart war, noch 
jegt mit großem Bergnügen erinnere. 

„Bon Perfon war er flarf und rüftig, fein Benehmen laͤndlich, aber 
durchaus nicht plump bäuerifh. Er befaß eine gewifle würdevolle Schlicht- 
beit und Einfachheit, welche vielleicht Dadurch, dab man feine außerordent- 
lichen Talente fannte, um fo mehr Wirkung erhielt. . Seine Züge find auf 
Mr. Naſmyth's Gemälde dargeftellt, mir kommen fie jedoch bier etwad ver⸗ 
Fleinert vor, gleichſam ald ob man fle von weitem fahe. Sein Geſicht war 
meiner Anfiht nad weit maffiver, als es auf irgend einem der Portraits 
ausſieht. Ich würde den Dichter, wenn ich nicht gewußt hätte, wer er war, 
für einen fehr Elugen Landpächter aus der alten ſchottiſchen Schule gehalten 
Baben, das heißt, nidht etwa einen ber modernen Defonomen, welche alle 
Sandarbeit durch ihre Leute verrichten laflen, jondern für den ächten Bauer, 
der den Pflug felbft in die Hand nimmt. Im allen feinen Zügen drüdten 
fih vorherrſchend Verſtand und Schlauheit aus und nur das Auge verrieth, 
glaube ich, den poetiſchen Charakter. Es war groß und bunfel und glübete 
(ih fage buchſtaͤblich glühete), wenn er mit Gefühl oder Intereffe fpradh. 
Niemals ſah ich wieder ein ſolches Auge in einem menſchlichen Kopfe, ob- 
fhon ich die ausgezeichneten Männer meiner Beit geieben habe. Seine 
Converſation verrietb das vollkommenſte Selbflvertrauen, jedoch ohne die 
geringfte Spur von Anmaßung. Unter den gelehrteften Männern ihrer 
Beit und ihres Landes ſprach er fidh mit vollfommener Beftigfeit aus, aber 
ohne die mindefle Voreiligfeit, und wenn er anderer Meinung war, fo zö⸗ 
gerte er nicht, biejelbe zu erfennen zu geben, wiewohl mit der größten Be- 





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ſcheidenheit. Ich entfinne mich keines Theils feiner Converſation noch ſo 
deutlich, daß ich etwas Näͤheres darüber mittheilen Fönnte, au ſah ich ihn 
nicht wieder, ausgenommen einige Mal auf der Straße, wo er mich nicht 
wiedererkannte, was ſich am Ende auch nicht erwarten ließ. Er ward in 
Edinburg ſehr fetirt; die Bemühungen zur Verbeſſerung feiner äußeren Rage 
jedoch waren, wenn man bedenft, was in diefer Beziehung für Andere ges 
ſchehen iſt, außerordentlich geringfügig. 

„3 entfinne mid, daß es mir bei jener Gelegenheit vorfam, als ob 
Burns' Befanntihaft mit der englifhen Poeſte etmad beſchraͤnkt wäre, fo 
wie aud daß er, da er doch zwanzig Mal mehr Talent ald Allan Ramefay 
und Berguflon beiaß, von diefen mit zu großer Demuth als von feinen Bor- 
bildern ſpräche. Ohne Zweifel war nationale Vorliebe der Grund diefer 
Ueberſchaͤtzung. 

„Dies iſt Alles, was ich Ihnen von Burns erzählen kann. Ich habe 


nur noch hinzuzufügen, daß fein Koſtüm mit feinem Benehmen überein— 


flimmte. Er fah aus wie ein Pächter, der fein beſtes Zeug aufgelegt hac 
um bei ſeinem Gutsherrn zu Tiſche zu gehen. Ich ſpreche durchaus nicht 
in malam partem, wenn ich ſage, daß ich niemals einen Menſchen in Geſell⸗ 
ſchaft anderer, an Rang und Bildung über ihm ſtehender geſehen babe,‘ der 
vollfommener frei von der Wirklichkeit oder auch dem Scheine der Verlegen⸗ 
heit geweien wäre. Man ſagte mir — obſchon ih nicht Gelegenheit hatte, 
felbft Beobachtungen darüber zu machen — er fei Frauen gegenüber außer- 
ordentlich artig und fuche tem Geſprach allemal eine pathetifche oder humo⸗ 
riftifche Wendung zu geben, wodurd er ihre Aufmerkſamkeit ganz befonderd 
zu fefleln verftand. Ich hörte die verftorbene Herzogin von Gordon einige 
Bemerfungen darüber machen. — Weiter wüßte ich diejen einer feit vierzig 
Jahren entichwundenen Zeit angehörigen G@rinnerungen nichts binzuzus 
fügen. * 

Das Verhalten Burns’ während dieſes blendenten Sonnenfcheind von 
Gunſt, das ruhige, natürliche, männliche Weſen, womit er ihn nicht bloß 
ertrug, jondern auch defien Werth zu Ihäten wußte, ift mit Mecht ald der 
befte Beweis betrachtet worden, den er von der wirflidhen Kraft und Un⸗ 
vertorbenheit feines Geiftes geben konnte. Gin wenig natürliche Eitelkeit, 
ein Eleiner Anflug von heuchlerifcher Beſcheidenheit und Affectation, wenige 
ftend einige Furcht, für affectirt gehalten zu werden, hätten wir faſt einem 
Ieden verzeiben Eönnen, bier aber tft auch nicht einmal eine Epur davon 

Carlyle. IV. 12 


w" 


178 


aufzufinden. In feiner beifpiellofen Lage verliert der junge Landmann 
gleichwohl nicht einen einzigen Augenblid die Befinnung ; fo viele fremde 
Lichter verwirren ihn nicht, leiten ihn nicht irre. 

Nichtödeftoweniger können wir nicht umbin, zu bemerfen, daß dieſer 
Winter ihm großen und dauernden Schaden zufügte. Gine etwas Elarere 
Kenntniß der Angelegenheiten der Menichen, weniger ihrer Gharaftere, ges 
währte ihm diejer Aufenthalt in der fchottiichen Hauptflabt allerdings, ließ 
aber aud ein empfindlihes Gefühl für die ungleihen Austheilungen des 
Glücks in Bezug auf fociale Beftimmung in ihm zurüd. Er hatte die glän- 
zende, prachtvolle Arena geſehen, in welcher die Mächtigen geboren find, ihre 
Rolle zu fpielen; ja er jelbft Hatte mitten darin geflanden und er füßlte 
bitterer als je, daß er bier blos ein Zufchauer war und feinen Theil an die 
fem glänzenten Spiele hatte. 

Bon diefer Zeit an bemächtigt fich jeiner eine eiferfüchtige, entrüftete 
Furcht vor focialer Herabfegung und äußert ſchädlichen Einfluß auf feine 
perjönliche Zufriedenheit und feine Gefühle gegen feine reicheren Mitmen⸗ 
fhen. Es war ihn klar, dag er Talent genug bejaß, um ſich ein bedeuten- 
bes Vermögen zu erwerben, wenn er nur den rechten Willen dazu gehabt 
hätte; auch war es klar, daß er etwas ganz Anderes wollte und deshalb 
nicht reich werden konnte. Gin Unglüd war es für ihn, daß er nicht die 
Macht beſaß, das Eine zu wählen und dad Andere zu verwerfen, fontern 
immerdar zwilchen zwei Meinungen, zwei Zielen bin und ber ſchwankte. 
Aber jo ift ed mit vielen Menfchen; — wir möchten gern die Waare haben, 
aber auch den Preis dafür behalten und mäfeln daher mit tem Schickſal in 
ärgerlichem Wortwechjel hin und ber, bis die Nacht fommt und unfer Markt 
vorüber ift! 

Die Edinburger Gelehrten jener Zeit zeichneten fih im Allgemeinen 
mehr durch Klarheit des Kopfes als durch Wärme des Herzens aus, und 
mit Ausnahme ded guten alten Bladlod, deſſen Hülfe zu unwirkſam war, 
fheint kaum einer Burns mit wahrer Sympathie oder viel anders al8 eine 
höchſt merfwürdige und fonderbare Sache betrachtet zu haben. Bon den 
Großen wird er ebenfalld auf die gewohnte Weile behandelt, an ihren Ta⸗ 
feln 6ewirthet und dann entlaflen. in gewiſſes Quantum Pudding und 
Lob wird von Zeit zu Zeit fehr gern gegen den Zauber jeiner Gegenwart 
ausgetaujcht. If dieſer Austaufch bewirkt, fo ift auch damit das Gefchäft 
beendet und ein Jeder geht jeined Weges. 


179 


Nach Verlauf diejer ſeltſamen Saifon rechnet Burns in düfterer Stim⸗ 
mung feinen Gewinn und Verluft zufammen und denft über die haotiiche 
Zukunft nab. An Geld ift er etwas reicher, an Ruhm und an dem Schein 
von Glück unendlich reicher, am eigentlihen Sein beffelben aber fo arm 
als je. Ja ärmer, denn fein Herz wird jetzt noch mehr von dem Fieber des 
weltlichen Ehrgeizes gepeinigt und lange Jahre hindurc foltert ihn dieſe 
Krankheit Durch nutzloſe Xeiden und raubt ibm die Kraft zu allen wahren 
und edleren Beftrebungen. 

Was Burnd nun thun oder meiden, wie ein Mann in dieien Umftän« 
den fi nun zu feinem wahren Bortheil leiten jollte, Died wäre damals eine 
Brage für den Weijeften geweſen. Aud war e8 eine Brage, welche er, wie 
ed fchien, ganz allein beantworten follte, tenn von allen ieinen gelehrten 
oder reichen Gönnern war es nicht einem einzigen eingefallen, diefer jo tri⸗ 
vialen Sache einen Gedanken zu widmen. Ohne für Burnd das Lob voll. 
fommenen Scharffinnd in Anſpruch nehmen zu wollen, müflen wir doch ſa⸗ 
gen, daß fein Accijes und Landwirthſchafisplan uns gar nicht jo fehr unan— 
gemeſſen ericheint, ja daß wir fogar jegt in Verlegenheit kommen würden, 
wenn wir einen entichieden befferen in Borfchlag bringen follten. 

Biele feiner Bewunderer find ganz empört darüber gewefen, daß er 
fich zu einer fo projaifchen Beichäftigung hergab. Sie verlangten vielmehr, 
er folle am Teiche Bethedda liegen bleiben, bis der Geift Der Gönnerſchaft 
dad Wafler bewegte, auf daß er mit einem einzigen Sprunge von allen fei« 
nen Leiden geheilt werden möchte. Unfluge Ratbgeber! fie fennen das We- 
fen dieſes Geiſtes nicht ; ſie willen nicht, wie in dem Schooße der goldenften 
Träume der Menſch allerdings wohl Glück haben Fönnte, wenn er nur nicht 
mittlerweile verhungern müßte. 

Es macht Burns’ männlihem Muthe und feinem gelunden Menſchen⸗ 
verſtand Ehre, daB er jo frühzeitig fühlte, auf welchem Boden er fland und 
der Selbfthülfe felbft nach dem beicheidenften Maßftabe den Vorzug gab vor 
Abhängigkeit und Unthaͤtigkeit, obſchon mit Hoffnung auf weit glänzendere 
Möglichkeiten, Aber auch diefe Möglichkeiten waren in feinem Blanc nicht 
zurüdgewiefen. Er fonnte, wenn der Zufall ihm einen Freund zuführte, 
erwarten, in nicht langer Zeit einen gewiffen Grad von Wohlftand und 
Muße zu erreichen, während, wenn er feinen Freund befam, er immer noch 
in Sicherheit leben konnte, und übrigens war es auch „gar nicht jeine Ab⸗ 
fit, von irgend einem Stande Ehre zu borgen.” Nach unferer Meinung 

12* 


180 


war jein Plan ein ehrlicher und wohlberedhneter und Alles drebte ich um 
die Ausführung deſſelben. Allerdings flug er fehl, gleichwohl aber nad 
unierer Meinung nicht in Folge eines von vorn herein darin liegenden Feh⸗ 
ers. Sa, im Grunde genommen war e8 fein Fehlſchlagen Außerlicher, fon- 
dern innerlicher Mittel, welches Burns ereilte. Sein Banterott war fein 
Banferoıt des Beuteld, jondern der Seele, und his auf feinen Icgten Tag 
war er feinem Menſchen etwas ſchuldig. 

Inteflen, er beginnt gut — mit zwei guten und weilen Thaten. Sein 
Geſchenk an feine Mutter, freigebig von einem Manne, deflen Einkommen 
fürzlih noch in ſteben Pfund jährlich beflanden, war feiner würdig und 
nicht mehr ald würdig. Edelmüthig auch und jeiner würdig war die Bes 
handlung des Weibes, deſſen Lebenéglück jetzt von jeinem Belieben abhing. 
Ein freundlicher Beobachter hätte heitere Tage für ihn Hoffen können. Sein 
Gemütd iſt auf tem richtigen Wege zum Frieden mit fi ſelbſt. Die Klar- 
beit, die ibm noch fehlt, wird ihm, jo wie er auf diefem Wege weiter ichrei- 
tet, verliehen werden, denn der befte Lehrer der Bflichten, die und noch dun⸗ 
fel find, ift Die Uebung derer, die wir iehen und zur Sand haben. Hätten 
nur die „Gönner ded Genie”, die ihm nichts geben fonnten, ibm aud 
nichts genommen, wenigftend nichts weiter! Die Wunden feines Herzens 
würden geheilt, der gemeine Ehrgeiz binmeggeftorben ſein. Arbeit und 
Mäßigkeit wären willfommen geweien, da die Tugend bei ihnen wohnte; die 
Poeſte würte durch ſie hindurchgeſchimmert haben, wie in alten Zeiten und 
in ihrem klaren ätberiichen Lichte, auf weldyeß er ein angeborencd Eigen» 
thumsrecht beſaß, würde er auf fein irdiſches Geſchick und alle Hemmniſſe 
defielben nicht blos mit Geduld, fondern auch mit Liebe berabgeblidt 
haben. 

Aber die Gönner ded Genies wollten das nicht. Malerifche Touriften, 
alle Arten von falhionablen Kiteraturfägern und — was nod weit fchlim- 
mer war — dlle Arten von zechluſtigen Mecänaffen umihwärmten ihn in 
jeiner Zurüdgezogenheit und feine guten ſowohl als feine ſchwachen Eigen⸗ 
haften ficherten ihnen Einfluß auf ihn. Er fühlte fi) durch ihre Aufinerk⸗ 
fanıfeit geichmeichelt und fein warmes, gefelliged Gemüch machte es ihm 
unmöglich, fte abzufchütteln und jeinen Weg getrennt von ihnen fortzu- 
fegen. 

Diefe Menſchen waren nach unferem Dafürhalten die mittelbare Ur⸗ 
ſache zu jeinem Verderben. Nicht daß fie es böſe mit ihm gemeint hätten; 


181 


fie meinten ed blos ein wenig gut mit fidh ſelbſt; wenn er dadurch zu Scha- 
ven fam, fo war bie® feine Sade! Aber fie vergeudeten feine foftbare 
Beit und fein koſtbares Talent ; fie ftörten feine Ruhe und Fafſung und tra⸗ 
ten feiner rüdfehrenden Gewöhnung an Maͤßigkeit und emflgen, zufriedenen 
Fleiß Hindernd in den Weg. Ihr Häticheln war ihm verderblich; ihre 
Graufamfett, die bald darauf folgte, war ebenfo verberblih. Der alte 
Groll gegen die Ungleichheit des Schickſals erwachte in ihrer Nähe mir neuer 
Bitterfeit und Burns hatte feine andere Zuflucht als den „Bellen der Un⸗ 
abhängigfeit*, der freilich nur ein Luftſchloß iſt, welched von weitem ganz 
ſchön außfleht, aber Niemanden vor wirklichen Wind und Megen ſcüht. 
Bon unregelmäßiger Aufregung bewegt, bald durch die Beratung Anderer, 
bald durch die Verachtung feiner felbft erbittert, gewann Burns feine Ge⸗ 
mütbsrube nicht wieder, fondern verlor fie immer jchneller und auf immer, 
Es lag eine Hoblheit in dem Herzen feines Lebens, denn fein Gewiſſen bil⸗ 
ligte jegt nicht, was er that. 

Unter ten Dünften unweiſen Genuffes, vergeblicher Neue und zorniger 
Unzufriedenheit mit dem Schidfale ward fein wahrer Leitſtern, ein Leben 
der Porfle mit Armuth, ja mit Hunger, wenn es fein mußte, feinen Augen 
nur allzuoft gänzlich entzogen. Und dennoch ſchiffte er auf einem Meere, 
wo ohne einen folden Leitftern das richtige Steuern fa unmöglid war. 
Meteore franzöftiber Politik fleigen vor ihm auf, aber dies waren nicht 
feine Sterne. Es war dies ein Zufall, weldyer jeine fchlimmften Berlegen« 
heiten befchleunigte, wenn aud nicht die Veranlaffung dazu gab. In den 
wahnfinnigen Wirrnifien jener Zeit fommt er in Collifton mit gemiffen anıt« 
lichen Yorgefegten, wird von ihnen verlegt, graufam zerfleifcht, würden wir 
fagen, wenn ein todted, mechaniſches Werkzeug in irgend einem Balle graue 
fam genannt werden Fönnte, und ziebt fih verwundet und entrüfter zurüd in 
tiefere Abgefchloffenheit, in vüflrere Schwermuth alß je. 

Nun hat fein Leben feine Einheit verloren. Es ift ein Leben von 
Bragmenten, welches nun faft feinen andern Zwed hat, als den ſehr trauri⸗ 
gen, fich feine eigene Bortdauer zu fihern, — in Anwandlungen wilder, uns 
ächter Freude, wenn fi folde darboten und ſchwarzer Verzweiflung und 
Niedergeichlagenheit, wenn fle vorüber waren. Sein Ruf vor den Men« 
ſchen beginnt zu leiden, die Verleumdung beſchäftigt fi mit ihm, denn ein 
Unglücklicher erwirbt fih mehr Beinde ald Freunde. Allerdings hat er 
einige Fehler begangen und taufenderlei Unglüd gehabt; jegt aber beſchul⸗ 


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digt man ihn au wirklicher Verbrechen und Die, welche nit ohne Sünde 
find, werfen den erften Stein auf ihn! Denn ift er nicht ein Gönner der 
franzöftfchen Revolution, ein Jufobiner, und Deshalb durch diefe eine Sünde 
aller andern ſchuldig? 

Diefe politiichen und moralifchen Anklagen waren, wie fich ſpäter ges 
zeigt hat, völlig unbegründet, aber die Welt zögerte nicht, ihnen Glauben 
beizumefien. Sa, feine zechluftigen Mecänaffe ſelbſt waren nicht die legten, 
Die Dies thaten. Es iſt Orund vorhanden, zu glauben, daß in feinen letz⸗ 
tern Jahren die Ariſtokratie von Dumfries ſich theilweiſe von Burns als 
von einem ihrer Bekanntſchaft nicht mehr würdigen, anrüchigen Menſchen 
zurüdigezogen batte. 

Ad, wenn wir bedenken, daß Burns jept fchlaft, „wo graulame Ent⸗ 
rüftung fein Herz nicht mehr zerfleifchen Fann **), und daß die meiften jener 
ſchönen Damen und feinen Herren ſchon an feiner Seite liegen, an einer 
Stelle, wo von Rang und Standedunterjhieden feine Rede mehr ifl, — 
wer möchte dann nicht über die armieligen Zäujchungen und thörichten Spie⸗ 
lereien ſeufzen, welche Herz von Herzen trennen und den Menſchen unbarm⸗ 
berzig gegen feinen Bruder machen! 

Es fland nun nicht mehr zu hoffen, Laß Burns’ Genius jemals die 
wirkliche Reife erlangen oder etwas jeiner Würdiged zu Stande bringen 
würde, Die Melodie feines Geiſtes war zerftört; nicht der ſanfte Hauch 
des natürlichen Gefühls, jondern die raube Hand des Schidials fuhr jegt 
über die Saiten. Und dennoch, welche Harmonie lag in ibm, welde Mus 
flf jogar in feinen Mißklaͤngen! Wie hatten die wilden Töne einen Zauber 
für den Ginfachften wie für den Weiſeſten; wie fühlten und wußten alle 
Menichen, daß er ein Hochbegabter war! „Wenn er des Mitternadhtd ein 
Gafthaus betrat, nachdem alle Bewohner ſchon zu Bett waren, verbreitete 
fih die Nachricht von ieiner Ankunft fofort vom tiefften Keller bis zum 
oberften Boden und che zehn Minuten um waren, hatten Wirth und alle 
feine ©äfte fi eingefunden! * 

Einige kurze reine Augenblicke poetiichen Lebens waren ihm noch beim 
Dichten feiner Lieder beichicden, wir Eönnen und denfen, wie haftig er nad 
dieſer Befchäftigung griff und wie er jeden andern Lohn verihmähete als 
den, welchen die Arbeit felbft ihm brachte. Denn Burns’ Seele lebte, ob⸗ 


*) Ubi sueva indignatio cor ulterius lacerare nequit. — Swift's Grabichrift. 


JJ 


183 


ſchon verwundet und verſtümmelt, noch in ihrer vollen moraliſchen Kraft, 
wenn ſie ſich auch ihrer Irrthümer und ihrer Erniedrigung ſchmerzlich be= 
wußt war und bier blieb ihm ſelbſt in feiner Herabgekommenheit noch eine 
edle That der Selbftaufopferung zu thun übrig. Er fühlte dabei auch, daß 
bet all den „Leichtfinnigen Thorheiten“, die ihn „heruntergebracht“, Die 
Welt doch auch ungerecht und graufam gegen ihn war und er appellirte 
ſchweigend an eine andere und rubigere Zeit. Nicht ald gemietheter Sol⸗ 
bat, fondern ald Patriot wollte er für den Ruhm feines Landes fämpfen ; 
deshalb warf er den armieligen Sold von fid) und diente eifrig ald Freiwil⸗ 
iger. Mißgönnen wir ihm nicht dieſen legten Luxus feines Daſeins; wir 
wollen nicht geftatten, daß er vergebens an und appellirt habe! Das Geld 
war ihm micht nothiwendig; er fämpfte ſich ohne dafielbe hindurch. Die 
Guineen wären ichon längft wieder verfhmunden, während der hohe Sinn, 
mit welchen er fie zurüchwies, noch lange in aller Herzen für ihn fprechen 
wird. | 

Hiermit find wir bei der Krifld in Burn®’ Leben angekommen, denn 
die Dinge hatten jegt eine ſolche Beftalt gewonnen, daß fle nicht lange 
fo fortdauern fonnten. Wenn feine Beflerung zu erwarten fland, fo 
fonnte die Natur nur furze Beit noch dieſen wüſten Kampf gegen bie 
Welt und fich felbf aushalten. Wir find nicht medizinifch unterrichtet, ob 
noch eine längere Dauer von Jahren zu jener Zeit für Burns wahrfcein- 
lih war; ob jein Tod als ein in gewiflem Sinne zufälliged Ereigniß zu 
betrachten ift, oder blos ald die natürliche Bolge der langen Reihe von 
Ereigniflen, weldhe vorausgegangen waren. 

Das Letztere fcheint die wahrfheinlichere Meinung zu fein, und den⸗ 
noch ift fie keineswegs eine ſichere. Auf alle Fälle Fonnte, wie wir ſchon 
geiagt haben, irgend eine Veränderung nicht mehr fehr fern jein. Drei 
Thore der Befreiung — fo jcheint uns — flanten Burns offen: Flare poe⸗ 
tifche Thätigkeit, Wahnfinn oder Tod. Die erfte, mit längerem Leben, war 
noch möglich, obſchon nicht wahricheinlich, denn phyſiſche Urſachen begannen 
hierbei in Brage zu fonımen. Und dennoch bejaß Burns eine eiferne Ent- 
ſchloſſenheit. Hätte er nur fehen und fühlen Eönnen, daß nicht blos fein 
höchſter Ruhm, jondern auch feine erfte Pflicht und die wahre Medizin für 
alle feine Leiden hierin Tag. 

Der zweite Uusweg war noch weniger wahrſcheinlich, denn fein Geift 
gehörte ſtets zu dem Flarflen und fefteften. Und fomit öffnete ſich ihm das 


184 


mildere dritte Thor und er ging nicht fanft, aber doch ſchnell in jenes ſtille 
Land hinüber, wo bie Hagelftürme und Beuerregen nicht hintringen und 
wo auch der fchwerfibeladene Wanderer endlich jeine Bürbe niederlegt. 


Bei Betrachtung dieſes traurigen Endes des Dichters Burns' und wie 
er von jeder wirfliden Hülfe entblößt und ohne durch weile Sympathie er⸗ 
mutbigt zu werben, hinabſank, haben edle Gemüther zuweilen mit vorwurfs« 
vollem Kummer daran gedacht, daß vieles für ihn ſich Härte thun laſſen; 
daß durch Rath, wahre Zuneigung und freundliche Handreibungen er ſich 
und der Welt noch hätte gerettet werden können. Wir zweifeln, ob Diele 
Anfiht nicht mehr ein Beweis von Weichheit des Herzens, ald von Richtig⸗ 
keit des Urtbeils iſt. Uns für unjern Theil ericheint es zweifelhaft, ob der 
reichſte, weiiefte und wohlwollendfte Menſch dem unglüdlihen Burns auf in 
der That wirkſame Weite hätte helfen können. Guten Rath, der ohnedies 
felten Iemandem etwas nützt, brauchte er nicht; fein Verſtand vermochte 
das Rechte von dem linrechten eben fo ſcharf zu untericheiten, wie es vicl- 
leicht jemals ein Menſch gekonnt bat. Die Ueberzeugung aber, welche ihm 
etwas hätte nügen können, liegt nidht fowohl im Kopfe, als im Herzen, wo 
die Einpflanzung weder durch Argumente noch durch Borftellungen weient- 
lich hätte beördert werden Eönnen. 

Was wiederum Geld betrifft, fo glauben wir nicht, daß Died jein wer 
fentlidher Mangel war und fünnen auch nicht recht einjeben, wie irgend ein 
Privatmann, jelbft Burns’ Einwilligung voraudgefegt, ihm ein unabhängi⸗ 
ges Vermögen und dabei zugleid; gegründete Ausſicht auf eine entichiebene 
Berbeflerung feiner Lage hätte gewähren Fönnen. Es ift eine betrübente 
Wahrheit, Daß man kaum in irgend-einem Range ber Geſellſchaft zwei Men⸗ 
ſchen findet, bie tugenthaft genug wären, um ohne Schaten für die moralifche 
Unverlegtheit des einen oder beider @eld geben und es al® eine nothwendige 
Babe annehmen zu können. So ftcht aber einmal die Sache. Die Freundſchaft im 
alten heroiſchen Sinne des Wortes eriftirt nit mehr; ausgenommen in allen 
der Blutd« oder anderen gejeglichen Berwandtichaft wird fie in der That auch 
gar nicht mehr erwartet oder unter den Menſchen ald eine Tugend anerfanat. 

Ein ſcharfer Beobachter des Menichenlebens hat erflärt, daB Bönner- 
weien, oder mit andern Worten pekuniäre und andere materielle linter- 


185 


ftügung, fei mit einem zweifachen Fluche beladen, für Den fowohl, welder 
giebt, ala für Den, weldyer nimmt! Und fo if es aud in Bezug auf äußere 
Angelegenheiten die Regel geworben, wie es in Bezug auf innere immer die 
Regel war und fein muß, daß Keiner wirkjame Hülfe von einem Andern er« 
warte, fondern daß Ieder fich mit der Hülfe begnüge, die er ſich ſelbſt ver- 
fhaffen fann. Dies if, jagen wir, das Brinzip der modernen Ehre und 
gebt ganz natürlich aus jenem Gefühl des Stolzes hervor, welches wir als 
die Bafld unferer ganzen ſocialen Moralitär einpflanzen und ermuthigen. 
Mancher Dichter if} ärmer geweien als Burns, aber feiner war je flolger 
und es läßt ſich fogar bezweifeln, ob nicht — ohne große Vorſicht — eine 
Penflon vom König felbft ihm nicht mehr zur Laſt geweien wäre, alö fle 
ihm wirklich genügt hätte. 

Wir find deshalb noch weit weniger geneigt, und einer andern Klaffe 
von Burns’ Bewunderern anzuichließen, welche tie höheren Stände unter 
uns beibuldigen, Burns durch ihre egoiftiihe Vernachläſſigung ind Verder⸗ 
ben geflürzt zu haben. Wir haben ſchon unfere Zweifel ausgeiprochen, ob 
birecte Geldunterflügung, wenn man fie ihn angeboten hätte, auch ange⸗ 
nommen oder wirklid von Mugen für ihn geweien wäre. Dabei aber geben 
wir fehr gern zu, daß für Burns jehr viel hätte geicheben können. So 
mancher vergiftete Pfeil wäre dann vielleiht von feinem Herzen abgelenft, 
fo manches Hindernig auf feinem Wege von mächtiger Hand beieitigt wor⸗ 
den. Licht und Wärme aud der Höhe herabgejendet, würde feine beſchei⸗ 
dene Atmoiphäre freundlicher gemacht baten und das weichfte Gerz, welches 
damals athmete, hätte dann unter weniger Schmerzen gelebt und wäre un⸗ 
ter weniger Schmerzen geftorben. 

Wir wollen aud ferner zugeben — und für Burns iſt es viel zuge- 
geben — daß er bei all feinem Stolze fogar mit übertrichener Dankbarkeit 
fidy an Jeden angefchlofjen haben würde, der ihm wirklich von Herzen Freund 
gewefen ware. Auf alle Bälle hätte man die unerhebliche Beförderung, die 
er in feinem Amte wünjchte, ihm gewähren können ; e8 war dies jein eige⸗ 
ner Plan und die Ausführung defielben daber von größerer Wahricheinlich« 
feit eined Erfolges begleitet, ald die eined andern. Alles dies hätte für 
uniern Adelfland ein wahrer Genuß fein müflen, ja es war für ihn eine 
Pfliche, es zu thun. Über ed geichah nichts von allen; ja, wie es jcheint, 
ward e8 jogar niemals verſucht oder auch nur gewuͤnſcht; — dies läßt ſich 
letder nicht in Abrede flellen. 


186 


Was iſt num aber diefen Nadhläffigen wirklich zur Laſt zu legen? Ein⸗ 
fach weiter nichts, als daß fie Weltmenichen waren und nach den Grund» 
fägen foldher handelten; daß fie Burnd begegneten, wie andere Edelleute 
und andere Bürger andern Dichtern begegnet waren, wie die Englän⸗ 
der gegen Shakeſpeare, wie König Karl und feine Kavaliere gegen But- 
fer, wie König Philipp und feine Granden fi gegen Cervantes zeigten. 
Sammelt man Trauben von ten Dornen oder follen wir unfere Dornen nie⸗ 
derichlagen, weil fie blos einen Zaun und Heden geben? Wie hätte auch 
der „bobe und niedere Adel feines Vaterlandes * irgendwelche Unterflügung 
diejem „Ichottiihen Barden * bieten fönnen, ter auf feinen Namen und jein 
Land fo ftolz war? Waren denn der „hohe und nictere Adel” auch nur im 
Stande, ji felbft ordentlich zu Helfen? Hatten ſie nit ihr Wild zu hegen, 
ihre Wahlfledeninterefien zu befeftigen und deshalb Dinerd veridiedener 
Art zu eflen und zu geben? Waren ihre Mittel allen dieſen Gefchäften mehr 
ald angemefjen oder weniger al8 angemefien? Größtentheils weniger als 
angemeflen, denn nur wenige von ihnen waren in Der That reicher ale 
Burn ; viele von ihnen waren Ärmer, denn zuweilen mußten fie ihre Be⸗ 
dürfniffe wie mit Daumenfchrauben aus der harten Hand beraudpreffen und 
in ihrem Mangel an Guineen ihre Pflicht der Barmberzigfeit vergeflen, was 
Burns niemals genötbigt war, zu thun. 

Wir wollen fle daher bemitleiden und ihnen verzeiben. Das Wild 
begten und fchhofien fie, die Dinerd aßen und gaben fle, die Wahlflecken⸗ 
interefien befeftigten fle, aber bie Eleinen Babylons, die fie einzeln durch Den 
Glanz ihrer Macht baueten, find alle wieder in dad uriprüngliche Chaos 
zurücdgeflürzt, wie dies mit den blos egoiftiichen Beftrcbungen der Menfdyen 
ſtets der Fall it, während es bier eine That zu üben gab, die ſich Fraft ihres 
weltlichen Einfluſſes fo zu fagen durch alle Zeiten erſtreckte und kraft ihrer mo⸗ 
raliichen Natur über alle Zeiten hinaus, denn fie war unfterblicd wie der Geiſt 
der Güte ſelbſt. Dieſe That zu üben hatten fie Gelegenheit, aber die nötbige 
Einfidt war ihnen verlag. Wir wollen fie bemitleiden und ihnen verzei⸗ 
hen, oder vielmehr, was beſſer ift als Mitleiden, wir wollen geben und an⸗ 
ders handeln. Die menſchlichen Leiden find mit Burns' Leben nicht zu 
Ende gegangen und eben fo ift der feierliche Befehl: „Lieber einander und 
traget einer ded andern Laſt“, nicht blo8 den reichen, jonbern allen Mens 
fhen gegeben. Allerdings werden wir feinen Burns finten, den wir tröften 
oder dur unſere Hülfe und unjer Mitleid aufrichten könnten; andere himm⸗ 


187 


liſche Naturen aber, die eben fo wie diefer unter der Laſt eined ermüdenden 
Lebens flöhnen, werden immer vorhanten jein und jenes Elend, welchem das 
Schidjal die Stimme verjagt Hat, ift nicht das geringfte, fondern das 
größte, 

Und dennoch glauben wir nicht, daß die Schuld von Burns’ Unglüd 
und lintergange hauptiädhlich an der Welt liegt. Die Welt begegnete ihm, 
wie und ſcheint, eher mit mehr denn mit weniger Güte, als fie gewöhnlich 
foldyen Menſchen zeigt. Sie hat, fürchten wir, ihren Xehrern von jeher nur 
wenig Gunſt gezeigt. Hunger und Blöße, Gefahren und Schmähungen, 
Gefängnig, Kreuz und @iftbecher find in den meiften Zeiten und Ländern 
der Marftpreis geweſen, den fle für Weisheit geboten, und der Willkommen, 
womit ſie die begrüßt Hat, welche gefommen jint, fie zu erleuchten und zu 
reinigen. Homer und Sofrated und Die chriſtlichen Upoftel gehören der 
alten Zeit an, aber tie Wartyrologie ter Welt war damit nicht geichloflen. 
Roger Bacon und Galileo ſchmachten in den Kerfern der Beiftlichfeit, Taſſo 
bärmt fich in der Zelle eines Irrenhaufes, Camoens flirbt bettelnd auf den 
Straßen von Lifjabon. So vernadläfftgte, fo verfolgte fie die Propheten, 
nicht blos in Iudäa, fondern an allen Orten, mo ed Menfchen gegeben bat. 
Wir find der Meinung, daß jeder Dichter von Burns' Gattung feiner Zeit 
Prophet unt Lehrer ift oter fein follte; daß er fein Recht hat, große Güte 
von ihr zu erwarten, jontern cher verbunten iſt, ihr große Güte zu erzei⸗ 
gen; das Burns ganz bejonderd das gewöhnliche Maß von der Güte der 
Welt vollftändig erfuhr und daß Lie Schuld jeined Unglücks, wie wir ſchon 
geſagt haben, nicht bauptiächlich an der Welt liegt. 

Aber an wem liegt fie denn? Wir find genöthigt, zu antworten: an 
ihm ſelbſt; es ift fein inneres, nicht fein äußeres Mißgeſchick, was ihn nie 
derwirft. Es ift überhaupt jelten anders; jelten geht ein Leben moraliſch 
zu Grunde, ohne daß Die Hauptſchuld an einem verfehlten inneren Arranges 
ment, an einem Mangel, weniger an gutem Glüd tenn an guter Führung 
legt. Die Natur fornıt fein Geſchöpf, ohne ibm zugleich die Kraft einzu⸗ 
pflanzen, deren es zu feiner Thätigfeit und Dauer bedarf; am allerwenigfien 
vernadhläffigt fie auf dieſe Weiſe ihr Meifterftüd und ihren Liebling, Pie 
poetifche Seele. Auch fönnen wir nidt glauben, daß ed in der Macht 
irgend welcher äußeren Umſtände liegt, den Geiſt eines Menichen gänze 
lich zu Grunde zu richten; ja, wenn ibm die geeignete Weisheit gegeben 
iſt, auch nur feine weientliche Geſundheit und Schönheit zu beeinträchtigen. 





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Die höchſte Summe alles irdiſchen Unglücks ift der Tod; etwas Schlimmeres 
ann nicht in dem Becher des menichlichen Wehe liegen und dod haben 
viele Menſchen zu allen Zeiten über den Tod triumphirt und ihn gefangen 
genommen, indem fte feinen phyſiſchen Sieg in einen moralifchen Sieg für 
fich ſelbſt, in ein Siegel und eine unfterbliche Weihe alles Defien verwandel⸗ 
ten, was ihr vergangenes Reben zu Stande gebracht hatte. Was aber ge= 
ſchehen ift, kann auch wieder gefcheben, ja, es ift nur der Grad und nicht 
die Battung eines folden Heroismus, was in verſchiedenen Zeiten verſchie⸗ 
den ifl, denn ohne einen Theil dieſes Geiſtes, nicht geräufchvoller Kühnheit, 
ſondern fiiller Furchiloſigkeit, der Seibfiverläugnung in allen ihren Formen 
hat fein guter Menſch an irgend einem Orte oder zu irgend einer Zeit es 
dahin gebracht, gut zu fein. 

Wir haben Burns’ großen Irrthum ſchon bezeichnet und ihn mehr bes 
klagt ald getavelt. Es war der Mangel an Einheit in feinen Vorjägen, 
an Gonfequenz in feinen Beftrebungen, der fruchtlofe Verſuch, in freunds 
liher Einigfeit den gewöhnliden Geiſt der Welt mit dein Geifte der Poeſie 
zu verichmelzen, der von weit anderer und ganz unvertöhnlicher Natur if. 
Burns war nichts ganz und Burns fonnte — wie dies mit jedem Menſchen 
von feiner Natur ber Fall if, — aud nichts halb fein. Das Herz, nit 
eines bloßen heißblütigen, volkothümlichen Dichterlings, fondern eines äch⸗ 
ten, der alten, veligiöß heroiihen Zeiten würdigen Boeten und Sängers 
war ihm gegeben und er fiel in ein Zeitalter nicht des Heroismus und ber 
Religion, fontern des Skepticismus, des Egoismus und der Trivialität, wo 
wahrer Adel wenig verflanden und feine Stelle durch ein hohles, ungeiellis 
ges, vollftändig unfruchtbared Prinzip des Stolzes vertreten ward. Seine 
offene, empfänglice Natur, abgeichen von feiner höchſt ungünftigen Lage 
machte es ihm ganz ungewöhnlich jchwierig, die Einflüffe dieſes Zeitalters 
von fich zu weilen oder richtig unterzuorbnen. Der beflere Geiſt, der in ihm 
lebte, verlangte fortwährend seine Rechte, feine Oberherrſchaft; er brachte 
fein ganzes Leben mit dem Beſtreben zu, diefe beiden zu verföhnen und ging 
feine Lebens verluftig, wie er deflen verluftig geben mußte, ohne fie mit 
einander verföhnt zu haben. 

Burnd war arm geboren und auch geboren, arm zu bleiben, denn er 
wollte ſich nicht bemühen, anders zu jein. Dies wäre aud ganz gut gewe⸗ 
fen, wenn er ſich darein gefügt.und die Sadıe als ein für alle mal abgemadht 
betrachtet hätte. Er war allerdings arm, aber Hunderte feine® Standes 


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und feined Geiſtes find noch ärmer geweſen, ohne dadurch etwas Tödtliches 
zu leiden, ja fein eigener Bater hatte mit dem undankbaren Schidfale einen 
weit härtern Kampf zu beftehen als der feine war und er gab nicht nad, 
fondern ftarb muthig Fänıpfend und in moralifher Beziehung als Sieger. 
Allerdings beſaß Burns wenig Mittel, jogar wenig Zeit zur Poeſie, 
feinem einzigen wirflihen Berufe, um jo foflbarer aber war dad Wenige, 
was er hatte. Im allen Dielen äußerlihen Beziehungen war feine Lage 
fhlimm, aber noch lange nicht die fhlimmfte. Armuth, unaufbörlihe an⸗ 
geftreugte Arbeit und noch weit größere Uebel haben Dichter und weile Män« 
ner zu befämpfen gehabt und oft auch ruhmvoll beflegt. Xode ward ale 
Verraͤther verbannt und ichrieb feine „Abhandlung über den menichlichen 
Berftand * in einer hollaͤndiſchen Dachſtube. War Milton reich oder befand 
er fih nur auch in leidlichen Umſtänden, als er jein „DBerlorenes Paradies * 
dichtete? Er ſtand nicht blos tief, jondern war von einer Höhe herabges 
flürzt; er war nicht blos arm, fontern verarmt; in Yinfterniß und von 
Gefahren umringt, fang er fein unfterbliches Lied und fand competente Zu- 
börer, obfhon nur wenige. Beendete nicht Cervantes fein Werf als ver⸗ 
ftümmelter Soldat und im Gefängniß? Ja, warb nicht die Araucana, welche 
Spanien als jein großes Epos anerkennt, jogar ohne Hülfe von Papier auf 
Rederftreifen geichrieben, jo wie der tapfere Fechter und Reifende in dem wil« 
den Kriegdgetümmel einen Augenblic für fi erhaſchen konnte? ‘ 
Und was hatten denn Diele Männer, was Burns fehlte? Zweierlei, was 
beides, wie und fdheint, für folche Männer unumgänglich nothwentig if. 
Sie befaßen ein ächtes religiöfed Moralprinzip und ein einziges, nicht dop⸗ 
pelted Ziel in ihrer Thätigkeit. Sie verfuchten und verehrten nicht fich 
ſelbſt, ſondern etwas weit Beſſeres ald das eigene Ich. Nicht perfönlicher 
Genuß war ihr Streben, fondern eine hohe herotfche Idee von Religion, 
von Patriotismus, von bimmliicher Weisheit in einer oder der andern Form 
ſchwebte ihnen flet8 vor, in welcher Sache fle weder vor Leiden zurückbebten, 
noch die Erde aufricfen, ed als etwas Wunderbares zu betrachten, fondern . 
getultig litten und dieſes Leiten felbft ald Glückſeligkeit prieſen. Auf Diele 
Weiſe war dad „goldene Kalb der Selbftliebe”, wie fonderbar es auch ge⸗ 
fornıt fein mag, nicht ihre Gottheit, fondern die unftchtbare Güte, welde 
allein der vernünftige Dienft des Menichen if. Diefes Gefühl war gleich 
fam ein himmliſcher Brunnen, Teffen Ströme alle Bereiche ihres fonft zu 
öden Daſeins erheiterten, erfrifchten und verſchönten. Bit einem Worte, 


190 


fie wollten nur Eins, dem alle anderen Dinge untergeordnet waren und 
dienſtbar gemadt wurden und deshalb vollführten fie es auch. Der Keil 
fpaltet Belien, aber feine Spige muß icharf und einfach fein; ift fie Doppelt, 
fo bricht der Keil in Stüden und ſpaltet nichts. 

Einen Theil diefer Ueberlegenbeit verdanken dieſe Männer ihrem Zeit⸗ 
alter, in welchem Heroißmus und Aufopferung noch geübt oder wenigflend 
noch nicht in Abrede geftellt wurden, viel davon verdanfen fie auch fi 
ſelbſt. Mit Burns war es hierin wieter anders. Seine Moralität if in 
den meiften ihrer praktiſchen Beziehungen die eines bloßen Weltmannes; 
Genuß, in feinerer oder gröberer Geftalt, iſt das Einzige, wornach er ſich 
fehnt und wofür er kämpft. in edler Inftinft hebt ihn zuweilen darüber 
binaus, aber es ift blos ein Inſtinkt, der nur auf Augenblide wirkt. Er 
bat feine Religion ; in dem ſeichten Zeitalter, in welches jeine Tage fielen, 
unterſchied man die Religion nicht von den neuen und alten Formen der 
Religion und fle trat daher mit dieien immer mehr in den Hintergrund der 
menſchlichen Gemürher. In feinem Herzen lebt allerdingd zitternde An⸗ 
betung, aber in feinem Berftande gab es keinen Tempel. Er lebt in Fin⸗ 
fterniß und in dem Schatten ded Zweifel. Seine Religion ift im beften 
Balle ein angelegentlicher Wunfch oder wie Die Nabelaid’ „ein großes Biel» 
leicht. * 

Er liebte die Poefte warn und von ganzem Herzen; bätte er fle nur 
rein und mit feinem ganzen ungetheilten Herzen lieben können, fo wäre es 
gut geweien. Denn die PBoefle, wie Burns jie hätte ausüben fünnen, ift 
6108 eine andere Form ter Weisheit, der Religion ; fle ift tie Weidheit und 
Religion ſelbſt. Uber auch dies war ihm verfagt. Seine Poeſie ift ein 
fladernder Schimmer, der nicht in ihm verlöjcht, aber ſich auch nicht zu dem 
wahren Lichte feines Pfades erhebt, fondern oft ein Irrwiſch ift, der ihn auf 
Abwege leitet. Es war für Burns nicht nothwendig, reich zu fein, „unab« 
hängig“ zu fein oder zu fcheinen; wohl aber war ed nothwendig für ihn, 
mit feinem eigenen Herzen einig zu fein; dad, waß in feiner Natur das 
Höchſte war, au in jeinem Leben am höchſten zu flellen, „in ſich jelbft 
jene Confequenz zu fuchen, welche äußere Ereigniffe ihm immer verweigern 
mußten. ® 

Er war ein geborener Dichter. Die Poefle war Das himmliſche Ele⸗ 
ment feines Weſens und hätte die Seele feiner ganzen Beftrebungen fein 
follen. In jenen heiteren Aether emporgehoben, in welchem emporzufteigen 


191 


die Fittige ihm verliehen waren, würde er feine andere Erhebung gebraucht 
haben. Armuth, Vernachläſſigung und alle Uebel außer der Entweihung 
feiner felbft und feiner Kunft, waren für ihn eine Kleinigkeit ; der Stolz und 
bie Leidenfchaften der Welt lagen weit unter feinen Füßen und er blickte auf 
Edelmann wie auf Sklaven, auf Fürſt und Bettler und auf alles, was dad 
Bepräge des Menfchen trug, mit Elarer Erfennung, mit brüderlicher Liebe, 
mit Sympathie, mit Bedauern herab. Ja wir zweifeln, ob für feine Aus⸗ 
bildung als Dichter Armuth und zeitweiligeö Leiden nicht abfolut vortheil« 
haft waren. Große Männer haben bei dem Rückblick auf ihr Lehen daſſelbe 
bezeugt. „Ich möchte nicht, * jagt Sean Paul, „daß ich reicher geboren 
wäre.” Und dennoch war Jean Paul’d Geburt eine ziemlih arme, denn an 
einer andern Stelle jeßte er hinzu: „Die Gefangenkoft befteht in Brod und 
MWaffer und ich hatıe oft nur das letztere.“ Das Gold aber, welches in dem 
heißeften Ofen greläutert wird, fommt am reinflen heraus, oder, wie er «8 
ſelbſt ausgedrückt hat, „der Kanarienvogel fingt um jo fchöner, je länger er 
in einem verfinfterten Käfig gelehrt worden. * 

Ein Mann wie Burns hätte feine Stunden wiichen Poefte und einem 
tugendhaften Bleibe theilen können — einen Fleiße, den jedes Achte Gefühl 
fanctionirt, ja vorfchreibt und der aus dieſem Grunde eine Schönheit befigt, 
die den Pomp eines Thrones überftrahlt; seine Stunden aber zwiſchen 
Poeſie und den Banquetté der Reichen zu theilen, war ein unglüdlicer, 
nichts Gutes veriprechender Verſuch. Wie £onnte er ſich bei folden Ban⸗ 
quets wohl fühlen? Was hatte er bier zu thun? Sollte er feine Muſik 
mit dem heiferen Gebrüll Durch und durch trdifcher Stimmen miſchen und 
den dien Dampf der Betäubung mit ihm vom Himmel gelichenen Feuer 
aufhellen? War ed fein Ziel, dad Xeben zu genießen? Morgen muß er 
ja wieder als Uccijebeamter frobnden! Wir wundern und nicht, daB Burns 
launenhaft und mürriſch ward und zuweilen gegen gewifie Regeln der Ges 
fellichaft verftieß, fondern vielmehr, daß er nicht vollig überjchnappte und 
allen Borichriften der Geſellſchaft Trog bot. Wie konnte ein durch feine 
oder andere Schuld in eine fo fchiefe Stellung veriegter Menſch jemals auch 
nur eine Stunde lang Zufriedenheit oder friedlichen Fleiß kennen lernen? 
Was er unter jo verfehrter Leitung that und was er zu thun fich enthielt, 
erfüllt und, eins wie dad andere, mit Erflaunen über die natürliche Kraft 
und den Werth feines Charafters. 

Ohne Zweifel gab e8 ein Mittel für diefe Verfehrtheit, aber nicht in 





192 


Andern, ſondern blos in ſich ſelbſt, am allerwenigften in einfachem Wachs⸗ 
thum an Geld und But und weltlicher „Mefpektabilität.* Wir hoffen, über 
die Wirfung des Reichthums auf die Poeſte und über feine Faͤbigkeit die 
Dichter glücklich zu machen, genug gehört zu haben. Ja, haben wir nicht 
ganz in der letzten Zeit ein abermaliges Beiſpiel davon geſehen? Byron, 
ein Mann von weit weniger ätherifcher Begabung als Burns, wirt in Dem 
Mange nicht eines ſchottiſchen Aderömannes, jondern eines englijdben Pair 
geboren; die höchſten meltlihen Ehren, die glängendfle irdiiche Laufbahn 
fine fein Erbtheil; Die reichfte Ernte des Ruhms jchneider er bald in einem 
andern Bereiche mit feiner eigenen Hand. Und was nützt ihm dies alles? 
Iſt er glücklich? iſt er gut? iſt er wahr? Ach, er hat die Seele eines Dich⸗ 
ter& und ftrebt nah dem linendlidhen und dem Ewigen und fühlt bald, daß 
alles dies blos fo viel heißen will, ald wenn man auf Dad Dad) des Haufes 
fleigt, um die Sterne zu crreihen! Eben fo wie Burns ift er blos ein flol- 
zer Mann, er hätte eben fo gern wie Dieler „eine Taihenausgabe von Mile 
ton gefauft, um die Rolle ded Satan zu flutiren“, denn der Satan ifl 
auch Byron's Ideal, der Heros jeiner Vocfle und wie es fcheint, Dad Vorbild 
feine® eigenen Verhaltens. Eben jo wie in Burns’ Falle will fih auch bier 
das himmlische Element nicht mit dem Staube der Erde mifchen » Poet und 
MWeltmann fann er nicht gleichzeitig fein, gemeiner Ehrgeiz verträgt fich nicht 
mit poetiiher Anderung, er kann nit Gott und dem Mammon dienen. 
Byron ift, wıe Yurns, nicht glücklich, ja er iſt der unglüdlichfte aller Men⸗ 
ſchen. Sein Leben ift falich geordnet; Das Feuer, welches in ihm lebt, if 
nicht ein ſtarkes, filled Sentralfeuer, welches die Produkte einer Welt zur 
Schönheit erwärmt, jontern ed ift das wahnfinnige Beuer eines Vulkans 
und nun — ſchauen wir wehmüthig in die Aſche eines Kraterd, der binnen 
Kurzem ſich mit Schnee füllen wird. 

Byron und Burnd wurden ihrer Generation als Milftonaire zugelen- 
det, um ihr eine höhere Theorie, eine reinere Wahrheit zu Ichren. Gie 
hatten eine Botjchaft auszurichten, die ihnen feine Ruhe ließ, bis fe erfüllt 
war. Gleichſam glimmend und ſchmerzlich zuckend Tag dieſe göttliche Miſſton 
in ihnen, denn ſte wußten nicht, was ſie bedeutete und fühlten ſte blos mit 
geheimnißvoller Ahnung und mußten ſterben, ohne ihr beſtimmten Ausdruck 
geliehen zu haben. 

Wir geſtehen, daß wir das Schickſal dieſer ſo reich begabten edlen 
Seelen, die dennoch mit allen ihren Begabungen zu Grunde gingen, nicht 


193 


ohne eine gewiffe Bange Wehmuth betrachten. Uns ſcheint, als würbe uns 
dadurch eine ernfte Moral gepredigt und für Menfchen von gleichem Genius, 
wenn es deren giebt, liegt darin eine Lehre von tief eindringender Bedeu⸗ 
tung. Ganz gewiß geziemt es einem foldden Menfchen, der für die höchſte 
aller Unternehmungen, die, der Dichter feines Zeitalters zu fein, ausgeftattet 
ift, wohl zu überlegen, was es ift, was er verfucht und in welchem Geifte er 
es verfucht. Denn die Worte Milton’s find wahr für alle Zeiten und waren 
niemal® wahrer als in der fegigen: „Wer Heldengedichte fhreiben will, 
muß erft fein ganzes Leben zu einem SHeldengedicht machen.” Wenn er dies 
nicht kann, dann möge er diefe Arena fchleunigft verlaffen, denn weder ihr 
Blanz und Stolz noch ihre Gefahren taugen für ihn. Möge er zu 
einem mobdifchen Dicterling zujammenfchrumpfen, möge er die Götzen 
der Zeit anbeten und befingen und die Zeit wird nicht ermangeln, ihn zu 
belohnen, 

Dies letztere wirb aber nur dann gefchehen, wenn er lange in dieſer 
Eigenichaft leben kann. Byron und Burns konnten nicht als Götzenprieſter 
leben, fondern daB Feuer ihrer eigenen Herzen verzehrte fie und ed war 
befier für fie, daß fie e8 nicht Eonnten. Denn nicht in der Gunſt der Gro⸗ 
fen oder der Kleinen, fondern in einem Leben der Wahrheit und in ber 
uneinnehmbaren Eitadelle feiner eigenen Seele muß die Kraft eined Byron 
oder Burns liegen. Mögen die Großen fidh fern von ihm halten, wenn fle 
nicht wiffen, auf welche Weife fle ihn zu ehren haben. Schön ift die Vers 
einigung des Reichthums mit Begünftigung und Förderung der Literatur 
gleich dem Eoftbarften Blumentopf, der den lieblihften Amaranth umſchließt. 
Und dennoch fafle man das Verhältniß nicht falich auf. in Achter Dichter 
iſt nicht ein Mann, den die Reichen mit Geld oder Schmeichelei miethen 
können, damit er der Diener ihrer Bergnügungen, der Verfaſſer ihrer Ge⸗ 
legenbeitögedichte, der Lieferant ihres Tafelwitzes ſei. Er kann nicht ihr 
Knecht, ja er kann nicht einmal ihr Parteigänger fein. Auf die Gefahr 
beider Parteien Hin verfuche man feinen folden Bund! Wird wohl ein 
Sonnenroß fanft und geduldig in dem Geſchirr eines Karrengauled gehen? 
Seine Hufe find von euer und fein Pfad führt durch die Himmel, um 
allen Ländern Licht zu bringen ; wird es daher wohl auf kothigen Chaufſeen 
patſchen und Bier zur Stillung irdiſchen Appetits von Thür zu Thür 
ſchleppen? 

Doch wir machen Halt in dieſen Betrachtungen, die uns unendlich 

Carlyle. IV. 13 





104 


weit führen würden. Wir hatten und vorgenommen, auch noch etwas über 
Burns’ dffentlichen, moralifchen Charakter zu fagen, aber auch davon müſſen 
wie abfeben. Wir find weit entfernt, ihn vor der Welt firafbar oder doch 
firafbarer als die meiften Menſchen zu glauben, ja wir zweifeln nidt, daß 
ee weniger firafbar tft, ale einer von zehntauſend. Bor einem weit firenge- 
ren Tribunal verhört, als wo die Plebiscita des gewöhnlichen bürgerlichen 
Auf ausgeſprochen werben, hat er uns felbft hier weniger Tadel als viel⸗ 
mehr Mitleid und Berwunderung zu verbienen geſchienen. Die Welt if 
aber gewößnlich ungerecht in ihren Urteilen über foldye Menſchen, unge 
echt aus vielen Gründen, von welchen wir nur dieſen einen als den haupt⸗ 
ſaͤchlichſten anführen: Sie enticheidet wie ein Gerichtohof nad todten Ge— 
fegesvorfchriften und nicht pofltio, fondern negativ, weniger nach Dem, was 
recht gethan iſt, als nach Dem, was unrecht gefcheben oder nicht gefchehen 
iR. Nice die wenigen Zolle Abweichung von dem mathematiſchen Kreife, 
die fih ſo Leicht meſſen laſſen, ſondern das Verbälmiß derſelben zu dem 
ganzen Durchmeſſer macht die wirkliche Aberration aus: Dieſer Kreis kann 
der eines Planeten, fein Diameter die Breite des Sonnenfuflems fein, viel- 
leicht aber au nur die Rennbahn einer Kunftreiterbude. Demo aber 
mißt man blos die Zolle ter Abweichung und man nimmt an, daß ver 
Durchmeſſer der Kunftteiterbahn und der des Blaneten im Vergleich das⸗ 
ſelbe Verhaͤltniß geben ! 

Hierin liegt die Wurzel fo mander blinden, graufamen Berdammung 
eines Burns, Swift, Rouſſeau u. ſ. w. Geſetzt, das Schiff laͤuft mit be 
fhädigtem Segel» und Takelwerk in den Hafen ein, fo iſt der Lootſe ta⸗ 
delnowerth; er ift nicht allweife und allmädhtig gewefen; um aber zu wiſſen, 
wie tadelnswerth er iſt, müffen wir erſt fragen, ob er eine Reife um die 
Erde oder blos nah Ramsgate und der Hundsinſel gemadt hat. 

Bei unfern Lefern im Allgemeinen, fo wie überhaupt bei allen Men⸗ 
ſchen von richtigem Gefühl brauchen wir nicht als Vertheidiger für Burns 
aufzutreten. In Mitleid und Bewunderung eingelargt, ruht er in unfer 
aller Gerzen in einem meit edleren Manfoleum als jenem marmernen und 
feine Werke werden ſelbſt bei ihrer Mangelhaftigkeit niemals aus dem An⸗ 
denken der Menſchen hinwegſchwinden. Während die Shafefpeare und 
Milton gleich mächtigen Strömen durch das Land des Gedankens rollen und. 
Flotten von Kauffahrern und fleißige Berlenfifcher auf ihren Wogen tragen, 
feffelt auch dieſer Fleine Springquell unfer Auge, denn auch er iſt ein finn- 


195 


reiche® Werk der Natur und fprudelt aus den Tiefen der Erde voll und 
frei in das Licht des Tages empor und oft wird der Meifende von der Heer⸗ 
ftraße feinen Schritt hierherlenken, um von feinen Tlaren Fluthen zu trin« 
fen und unter feinen Belfen und Tannen ſich ſtillen Betrachtungen zu 
widmen. 


13* 


Deutſche Dramenfchmiede. 
(1829.) 


Der Beruf eines Dramenfchmiedes iſt im dem jetzigen Entwidelungs- 
ſtadium der Geſellſchaft ein ebenfo weientlicher und anerkannter, ald der 
eines Zeugichmienes, Hufſchmiedes oder anderen Schmiedes, und es laßt fich 
nicht abſehen, weshalb er in der allgemeinen Achtung tiefer ſtehen follte, als 
dieje feine Gollegen, ausgenommen vielleicht auß dem einen Grunde, daß die 
Letzteren, welche für die Bedürfniffe des Körpers in Eifen arbeiten, ein voll⸗ 
ftändig feinem Zweck entfprechended Werf liefern, während der Erftere, der 
für die Bepürfniffe der Seele in Gedanken und Gefühlen arbeitet, ein Werf 
liefert, weldes feinem Zwede nur unvollftändig entfpricht. In anderer 
Beziehung fcheint er jedoch mit ihnen auf gleicher Stufe zu ftehen, denn wer 
vorurtbeilsfrei denkt, wird, meinen wir, nicht bezweifeln, daß ein Talent, 
welches ein entiprechendes Theaterſtück geichaffen, auch wohl unter angemel« 
fener Xeitung hinreichend gewefen wäre, die Arbeiten eines Zeugs oder Huf⸗ 
ſchmieds zu liefern. Indeflen, wenn dad Publikum fid) gegen den Dramen- 
fhmied in einer Beziehung Eniderig zeigt, fo muß es in der andern deſto 
freigebiger fein, denn nah Adam Smith werden Die Erwerbözweige, welche 
für weniger ehrenvoll gelten, dafür defto beffer bezahlt. Indem fo Eins 
dad Andere außgleicht, kann der Dramenfchmied fich immer eine ganz gute 
Griftenz gründen, wie er in der That auch thut, denn Dramenfchiede hat es 
von jcher gegeben und wird es wahricheinlich ſtets geben, wenn nicht viels 
leicht im Laufe der Jahre dad Theater ganz aufhört oder aber, wie bier und 
da bereitd der Fall ift, jeder Schaufpieler auch fein eigener Dramenjchmied 
wird und ſomit dieſes Handwerk fih mit dem anderen und älteren ver- 
ſchmilzt. 


197 


Die britiſche Nation Hat auch ihre Dramenfchmiede, von weldhen meh⸗ 
rere ihr Handwerk fehr gut verſtehen, doch fcheint bei uns diefe Art Fabri⸗ 
fation nicht recht zu gedeihen, wenigſtens nicht mit jener hervorragenden 
Kraft, weldhe die meiften anderen Zweige unferer nationalen Induftrie aus⸗ 
zeichnet. In Kurzwaaren und Baummollenwaaren, in allen Arten chemi⸗ 
cher, medhanifcher oder anderer materiellen Proceſſe thut ed England ber 
ganzen übrigen Welt zuvor ; ja fogar in vielen Bächern der Titerarijchen 
Manufaktur, wie 3. B. in der Fabrikation von Romanen, fteht es unerreicht 
ba, in Bezug auf das Theater aber kann ed, der Grund möge nun fein, 
welcher ex wolle, auf keine ſolche Ueberlegenheit Anſpruch maden. In dies 
jer Beziehung fteht es ſchon Branfreich bedeutend nad, Hinter Deutichland 
aber bleibt es vollends unendlich weit zurüd. Hören wir Engländer nicht 
feit zwanzig Jahren tagtäglich, daß das Drama tobt oder wenigftend in einen 
Zuftand von Scheintodt verjunfen fei und figen die Dramatiichen Aerzte nicht 
beifammen, um wöchentlich, monatlich oder vierteljährlich, obſchon ſtets ver⸗ 
geblich, ihre Kuren vorzufchlagen, während in Deutichland dad Drama allem 
Anfcheine nach nicht blos lebt, fondern auch in üppiger Fülle der Kraft fi 
regt, gleichfam als ob es fich erft Die Hörner abliefe! Denn wenn die briti- 
fhen Dramenfchmiede ſich kümmerlich Hinfriften und unfere Knowleſes, Ma⸗ 
turins, Shield und Shees vereinzelt und verlaffen wie Tannen auf einem 
trifhen Sumpfe daftehen, find Die deutfche Dramenfchmiede eine flarfe fieg- 
reiche Schaar, fo zahlreich, Daß, wie man berechnet bat, im Kricgöfalle ein 
Megiment Infanterie daraus gebildet werben könnte, in welchem vom Oberft 
an bis zum Tambour jeder Offizier und Gemeine jeine dramatifchen Erzeug- 
nifje vorzeigen Eönnte. 

Den Urfprung einer fo auffälligen Ericheinung zu erörtern, ift hier 
nicht unfere Aufgabe. Die nächfte Urfache liegt ohne Zweifel in der größern 
Nachfrage nach dem betreffenden Artikel; weldye größere Nachfrage wiederum 
ihren Grund entweder — wie Monteöquieu glauben würde — in dem Klima 
Deutfchlande, oder vielleicht natürlicher und unmittelbarer, in dem politi— 
fhen Zuftande dieſes Landes hat, denn ber Menſch ift nicht bloß ein arbet- 
tendes, fondern auch ein ſchwatzendes Thier und wo e3 keine Parlaments- 
formen oder andere dergleichen Fragen in den Mußeftunden zu beſprechen 
giebt, fallt man gern über Theater und Schaufpieler, oder was ſich ſonſt 
darbietet, her, um ſich fo viel als möglich gegen die Angriffe der Langeweile 


zu ſchützen. 


138 


Um uns von der Thatſache, daß wirklich eine ſolche überwiegende Nach⸗ 
frage nad) Dramen in Deutfchland vorhanden if, zu überzeugen, brauchen 
wir blos irgend ein deutſches belletriſtiſches Jeurnal zur Hand zu nehmen. 
Iſt nicht jedes Literaturblatt und Kunflblatt bis zum Verſten mit Theater⸗ 
angelegenheiten vollgeftopft? Ja, bat nicht der Redaeteur Correſpondenten 
in allen Gauptftädten der eivilifirten Welt, weiche ibm über dieſen einen 
Gegenftand und keinen andern rapportiren ? 

Indeffen wir ſehen vor der Hand von dieſem journalifitfchen Corre⸗ 
fpondenzwefen ab und wenden uns der Aufgabe zu, welche wir und zunädfi 
geftellt haben, indem wir den Zufland der Schaufpielbichtfumft in Deutſch⸗ 
land ein wenig näher ind Auge faflen und einzelne Siege berfelben ver Be⸗ 
trachtung unferer Lejer vorführen. Denn fo tief auch dieſe Branche der 
Kiteratur ſtehen mag, fo ift fie Doch eine wirklich vorhandene, rührige und 
dauernde, und ein Beruf, dem ſich Diele winmen, bat, felbft wenn es ein 
nuglofer und thörichter Beruf ift, ſtets Anſpruch auf unfere Aufmerkfanfeis, 
die wir ihm widmen müſſen, fet ed nun, um ihn zu loben und zu fördern, 
oder um ihn zu tadeln und zu hemmen. Unſer Zwer if, das gründliche 
Studium der ausläntifchen Literatur zu fördern, welches Studium, wie alle 
anderen menſchlichen Unternehmungen, ſowohl feine negatine als feine pofl- 
tive Seite Hat. Wir haben ſchon, fo wie die Gelegenheit fidh dazu darbot, 
den Berdienften verichietener deutſcher Dichter Rechnung getragen und müſſen 
nun ein Wort über gewifje deutſche Poetafter Tagen, in der Hoffnung, daß 
e8 hauptſaächlich Die Achtung vor den erftern ifl, was uns bewogen hat, auf 
nur dieje flüchtige Notiz von den legteren zu nehmen, denn dad Schlechte iſt 
an und für fi von feinem Werthe und verdient blos deshalb nähere Schil⸗ 
derung, Damit man e8 nicht fälichlich für das Gute halte. Der Lefer darf 
tabei durchaus nicht fürchten, daß wir ihn bei dieſer Gelegenheit mit einem 
ganzen Gebirge Dramatiichen Gerülles überichütten werden, welches auf den 
Böden der Schaufpielhänier ftill und harmlos vermodert und verfchinmelt. 
Dies fei fein von uns! Lieberhaupt ift unfere Kenntniß tiefes Gegenſtandes 
im höchſten Grate beihränft und ihn zu erichöpfen, ober mit wiſſenſchafi⸗ 
licher Genauigfeit beiprechen zu wollen, wäre ein für un gerabezu unmöge 
liches Unternehmen. Der geneigte Lefer fühle Daher Muth, denn er if in 
Händen, die ihm nicht viel Schaden thun wollen, ja was noch mehr ifl, es 
nicht können. Ein einziger fchüchterner Blid in das ungeheure Lager ber 
Dramenichmiede, die mit fo fürchterlihem Tumult durcheinander hämmern 


199 


und feilen — umd wir verlaffen es ſchnell wieder, wahrſcheinlich anf vide 
Jahre. 

Der deutſche Barnaf hat, wie einer feiner eigenen Bewohner bemerkt, 
einen etwas breiten Gipfel und dennoch nimmt man an, daß innerhalb bed 
legten Jahrhunderts nur zwei Dramatiker ibn erſtiegen haben: Schiller 
und Goethe, wenn man nicht etwa aus Rückficht auf „ Minna von Barn⸗ 
helm“ und „Emilie Galdtti“, Leffing als dritten Hinzugefellen will. An 
dem Abhange des Berges floßen wir auf einige wereinzelte Mitglieder der- 
felben Genoſſenſchaft. Unter denfelben behaupten Tied und Maler Mül⸗ 
ler einen feften und ziemlich hohen Standpunkt, während weiter unten ver⸗ 
fhietene, ſehr rechtichaffene Leute, denen wir ein ſchleuniges Emporfommen 
wünjchen, heftig drauf lodflettern, aber auf dem Iodern Sande immer wie 
der zurüdrutfchen. Daß das Lager oder bie Werkflätte, von welcher wir 
fprechen und in weldye wir einzutreten im Begriff ftehen, nicht an dem Ab⸗ 
hange des Berged, jondern ganz unten am Buße befielben auf ebenem Bo» 
den liegt, wird der Leſer ſchon von felbft voraudgefegt haben, denn das cha⸗ 
rafteriftifche Weien eined Dramenfchmicbes befteht eben darin, daß er nicht 
in Poefie, fontern in Proſa arbeitet, welche der erſtern mehr oder weniger 
geſchickt nachgebilbet ift. 

Und bier wird der einen Augenblid verweilende Leſer bemerken, daß 
er ſich in einem ctotlifirten Lande befindet, denn gerade an der Grenzlinie 
des Parnaß erhebt fih ein Balgen, an welchem eine menfchliche Geſtalt im 
Kerten aufgehängt iſt! Es ift die Geſtalt Auguſt's von Kotzebue ud 


ſie baumelt hier fchon jeit vielen Jahren zur Warnung für alle zu feden 


Dramenjchmiede, die aber, wie wir ſehen, ſich fehr wenig darum Fümmern, 
Unglücklicher Kopebue, fonft der Liebling des ganzen europälichen Theaters! 
Es war der Fürſt aller Dramenjchmiede und verfland Theaterſtücke mit einer 
Schnelligkeit und einem Gluͤcke zu fabriziren, wie noch Feiner vor ihm, den 
feine Muße brütete wie andere Tauben allmonatlid Zwillinge aus und bie 
Welt betrachtete fie mit einer Bewunderung, die zu groß war, ald daß man 
fie in Worten hätte ausfprechen können. Was ift alle Popularität der Ver⸗ 
gangenheit oder Gegenwart gegen dieje? Wurden nicht feine Stüde in faft 
jete Sprache artikulirt fprechender Menfchen überjegt oder wenigftend, wie 
man buchftaͤblich fagen kann, auf jedem Theater von Kamſchatka bis Cadir 
aufgeführt? Kührten fie nicht die verftocteften Herzen aller Zänder und 
lockten fie nicht gleich der Muſik Orpheus’ Thraͤnen auf eiferne Wangen 


herab? Wir haben ſelbſt Männer von kiefelhartem Herzen gekannt, welche 
bekannten, daß fle bei diefen Stüden zum erften Mal in ihrem Leben ge⸗ 
weint. Go war ed vor mehr als vierzig Jahren und wie ſteht es heute? 
Kotzebue glaubte, ald er fo auf dem hohlen Ballon des Beifalld der großen 
Menge emporgetragen ward, es wären ihm Ylügel verlichen, um zu ben Un⸗ 
fterblicden hinaufzuſteigen. Froͤhlich flieg er empor und fchwebte und fegelte, 
als ob er die Lüfte beberrfchte ; in der dünnen Luft der höheren Region aber 
plagte fein Ballon oder die Pfeile kecker Bogenfchügen durchbohrten ihn 
und fo fehen wir ihm endlich ale Vogelſcheuche hin- und herſchwanken, um 
vor der Berührung verbotener Früchte zu warnen. 


D ihr Dramenjchmiede und Titerarifchen Quackſalber jeter Gattung, 
weinet über Koßebue und über euch ſelbſt! Wiſſet, daß das Tautefte Beifalls- 
gebrüll des großen Haufens noch kein Ruhm tft; daß der Ballon, wenn ihr 
fo wahnfinnig ſeid, ihn zu befteigen, endlich ganz gewiß platzt oder von 
Pfeilen durchſchofſen wird und daß dann eure Gebeine ebenfalls als Vogel⸗ 
ſcheuchen dienen werden. 

Jedoch verlaffen wir dieſes allegoriiche Gebiet, um und unferer proſai⸗ 
fhen Aufgabe zuzuwenden. 

Unter den Hunderten deutfcher Dramatiker, wie man fie nennt können 
drei Individuen, welche ihre fammtlichen Collegen überragen, ald die Mes 
präfentanten der ganzen Zunft der Dramenfchmiede betrachtet werden, deren 
verfchiedenartige Handgriffe und Manipulationen durd die Procedur diefer 
drei in einen gewiflen Grade veranichaulicht werden. Mir ſprechen daher 
der Reihe nad von Brillparzer, Klingemann und Müllner. 


Franz Brillparzer ift ein Defterreicher und fein Vaterland wird 
als keineswegs fruchtbar an Poeten betrachtet — ein Umftand, der vielleicht 
zu feiner ziemlich raſchen Berühmtheit ein wenig beigetragen hat. Unſere 
genauere Bekanntſchaft mit Brillparzer datirt erft auß neuerer Zeit, obſchon 
fein Name und Proben feines Fabrikats ſchon feit längerer Zeit in vielen 
britiichen und ausländifchen Iournalen oft mit Zeugniffen ausgehängt wor« 
den find, welche vielleicht mandyen weniger erfahrenen Kunden verlodt haben. 
Aud Haben wir im Grunde genommen diefe Zeugniffe nicht falicher gefun- 
den, als dergleichen Zeugniffe gewöhnlich find oder vielmehr nicht fo falich, 
tenn Grillparzer ift in der That ein fehr harmlofer Mann, dem man fogar 
in gewifler Beziehung ein gewifles Verdienſt zuerfennen muß, fo daß wir 


201 


ihn nur wiberfirebend der Zahl der Dramenſchiede zugefellen, anftatt ihm 
den Namen eines Dramatiferd beigulegen, worauf er allerdings Anſpruch 
macht. Wäre dad Geſetz in Bezug auf mittelmäßige Dichter feit Horaz mil« 
der geworben, fo wäre e8 mit Grillparzer ganz gut beftellt geweſen, denn es 
läßt fich nicht Teugnen, daß er wirklich eine Fleine Ader von Grazie und poe⸗ 
tiſcher Zartheit beſitzt, eben fo wie eine ſcheinbare Beſcheidenheit und wirk⸗ 
liche Liebe zu ſeiner Kunſt, welche etwas Beſſeres verſpricht. Aber Götter 
und Menſchen und Säulen find in Bezug auf dieſe unglückliche Mittelmaͤßig⸗ 
keit, felbft auf die gefällige und amüfante Mittelmäßigkeit noch gleich ſtark 
und wir fennen bis jeßt von Grillparzer noch feine Scene oder Zeile, Die 
etwas mehr ald mittelmäßig wäre. Non concessere iſt daher vor ber Hand 
fein Urtheil und fe lauter feine ed mit ihm wohlmeinenden Bewunderer ihn 
beraudftreichen, deſto nachdrüdlicher muß es ausgeſprochen und wiederholt 
werden. 

Nichtspeftoweniger if} Grillparzer's Anſpruch auf den Namen eines 
Dramenfchmiedes vielleicht mehr fein Unglück ale fein Verbrechen. Da er 
in einem Lande lebt, wo man den Drama fo große Aufmerkfamfeit erweift, 
fo hat er fich verleiten laſſen, fih ebenfalld darin zu verfuchen, ohne doch 
entfchiedene Befähigung zu einem ſolchen Unternehmen zu beflgen, fo daß 
das ihm zugetheilte Maß von Talent, welches in irgend einem Zweige ber 
Profa oder auch im Sonett, in der Elegie, im Liebe oder in. einer anderen 
Nebengattung von Poeſte Gutes geleiftet haben würte, gleichlan einer Be⸗ 
flimmung zum Troß, gezwungen wird, Dramen zu fchreiben, welche, obſchon 
regelmäßig in Scenen und einzelne Reden abgetheilt, Tem Weſen nach aus 
lauter Monologen beftehen, und obſchon von Charakteren wimmelnd, nur zu 
oft 6108 einen Churafter ausdrüden und obendrein Eeinen jehr außerorbent- 
lichen — nämlidy den Charakter Branz Grillparzer's ſelbſt. Zu feinen noch 
größeren Unglüd hat er auf diefer Laufbahn Beifall gefunden und er wird 
fie daher wahricheinlich immer weiter und weiter verfolgen, mögen die Natur 
und die Sterne fagen, was fie wollen. 

Das eigenthünliche Kennzeichen eined Dramenfchmiedes ift, daß er in 
Proſa fchreibt, welche Profa er, wahrfcheintich erft ſich jelbft, und dann tem 
einfältigeren Theile des Publikums für Poefie aufihdmiert — sil venia verbo. 
Die Art und Weile, auf welche er diefen Tajchenipiclerftreid ausführt, bes 
gründet feine befondere Untericheidung und beflimmt die Spezies, welder er 
in dem Genus Dramenſchmied angehört. Der allgemeine Kennzug aber, 














weldger einem jeden dieſer ſich ſelbſt ſo nennenden Dichter eigenthümlich ift, 
beſteht darin, daß er durch proſaiſche und gleichſam mechaniſche Mittel ein 
Biel zu erſtreben ſucht, welches ohne poetiſchen Genius abſolut nicht zu er⸗ 
reichen iſt. Größtentheild Hat er einen gewiſſen Kniff oder Handwerkövor⸗ 
theil, den man bei genauerer Beſichtigung entdecken und dadurch das Herz 
feines Geheimniſſes durchſchauen kann. Er bat entweder blos einen Kuiff 
oder mehrere, und je ſchlauer er dieſe zu verbergen weiß, deflo rollfemmener 
iR er in feinem Handwerk, denn fobald das Publikum einmal diefe feine 
Kunfigriffe durchſchauete, wäre es aud mit ihm. Kein Zauberer gilt, ie 
bald wir wiflen, wie er’s macht, wenn er Freuer frißt, mehr für einen Achten 
Wunderthäter, ja er amüflrt uns nicht einmal mehr in feiner wahren Eigen- 
haft ale Baufler und wenn er den ganzen Veſud auffräße. Zum Glück 
aber für Dramenfchmiede und andere dergleichen Leute ift dad Publifum ein 
kurzſichtiges Thier, welches fih unglaublich leicht täufchen läßt, ju in der 
Hegel, wie ſchon das uralte Sprichwort fagt, getäufcht fein will. 

Ueber Grillparzer's eigenthümlichen Kuiff Laßt fich nicht jehr viel jagen. 
Er fheint nach der Meihe verfchiedene Rezepte verſucht zu haben und — zu 
feiner Ehre fei ed gefagt — mit feinem berfelben vecht zufrieten zu fein. 
Das Hei weitem fchlechtefte feiner Dramen, welches wir geliehen haben, iſt 
die Ahnfrau, eine furchtbare Geſpenſtertragödie, deren verwerflicher 
Mechanismus glei auf den erften Blick zu erkennen if. Es ift meiter 
nichts als die alte Schickſalsgeſchichte. Eine unſichtbare Nemefid jucht Die 
Sünden der Bäter an den Kindern beim bis ind dritte und vierte Glied — 
eine Methode, die in der deutichen Kunft vor einiger Zeit eben jo allgemein 
und berrichend war, wie der Dampf im englifchen Naſchinenweſen ift und 
worüber wir gleich ‚Gelegenheit haben werten, noch mehr zu ſprechen. 

In feiner Borrede bemühet fi Srillparzer, die Ihatfache, daß er ein 
Schidialsdichter fei, zu leugnen oder abzuſchwächen; aber das hilft ihm 
alle nichts, denn es ift eine Thatſache, die fi auf das Zeugniß unjerer 
fünf Sinne gründet. Indeflen freuet e& und, zu bemerfen, daß er mit dies 
fem einen Verſuche die Schickſalsbranche verlaffen und beffere, wenigflend 
andere, eingeichlagen zu haben fcheint. ' 

Was tie Ahnfrau jelbft betrifft, fo wollen wir bemerken, daß uns noch 
wenig Dinge jo frappirt haben, wie die Fleine Bemerkung des Grafen Bo⸗ 
rotin, die mitten unter den entfeglichften und unbeimlichften Nachtgedanfen 
ganz unerwartet auf folgente Weiſe zum Borfchein fonımt: 


Bertha. 
Und ter Himmel, Rernelos, 
Start aus leeren Augenhöhlen 
In das ungeheure Brab 
Schwarz herab! 
Graf. 
Die ſich doch die Stunden dehnen ! 
Was iſt wohl die Glocke, Bertha? 
Eine zartere Wendung iſt wohl ſelten in einem tragiſchen Dialog vorge⸗ 
kommen. 

Was die Geſchichte der, Ahnfrau“ betrifft, fo tft fie natürlich von der 
berzzerreißendfien Art. Diele „ Abnfrau” if eine Dame oder vielmehr ber 
Geiſt einer Dame, denn fie ift ſchon feit einigen Jahrhunderten todt, welche 
im Leben eine fogenannte Indiscretion begangen hatte, welche Indiseretion 
der unböfliche Herr Gemahl — man hätte meinen follen hinreichend — 
dadurch frafte, daß er ihr dad Schwert Durch den Leib rannte, Grillparzer’s 
Fatum aber ift damit noch nicht zufrieden, fondern verurtheilt die ſchöne 
Büßende, auch noch ferner ald Gefpenft umzugeben, bis der legte Sprößling 
ihrer Familie ſtirbt. Demgemäß hört man fle von Zeit zu Zeit Thüren zu- 
ſchlagen und mehr dergleichen linfug verüben und dann und wann ficht man 
He mit furchtbaren Glotzaugen und anderem gefpenftiichen Zubehör, zum 
Schrecken nicht blos der Dienftleute, fondern auch des alten Grafen Borotin, 
ihres jeßigen alleinigen männlichen Nachkommens, deilen Mittagichläfchen 
fie bei einer Gelegenheit auf graufame Weife flört. Diefer Graf Borotin 
ift ein guter, rebfeliger alter Herr. Er Hatte einen Sohn, der ſchon vor 
langer Zeit in einem Teiche ertrank, obne daß man jedoch die Leiche gefun- 
ben hätte. Außerdem befigt er noch eine hochgebildete Tochter, welche wei⸗ 
ter feine Freier bat, als einen gewiflen Jaromir, einen Menſchen von unbe⸗ 
tannter Herkunft und allem Anicheine nad fehr bürftigen VBermögensum- 
fländen; ja foäter ergiebt fi jogar, daß er das Haupt einer Mäuberbande 
ift, welche ſchon lange die benachbarten Wälder unfiher gemacht hat. Ge⸗ 
rade um dieje Zeit langt ein Offizier an, welder beauftragt iſt, mit feiner 
Mannſchaft dieſe Räuber vollftäntig audzurotten, und nun fommen auf ein» 
mal die feltiamften Dinge an’ Lit. Diefer Iaromir ift nämlich Niemand 
weiter, als des armen alten Borotin ertrunfener Sohn, der aber nicht er- 
teunfen, fondern von den Räubren geflohlen und aufgezogen worden ifl. 
Demzufolge ift er der Bruder feiner Braut und ein ganz. entfeglicher Burſche, 








der, indem er fein Leben vertheidigt, ohne es zu wiſſen, feinen eigenen Vater 
umbringt und feine Braut zum Selbfimorbe treibt, fo daß aljo aus ber 
Heirath auf feinen Fall etwas wird. 

Der Leſer begreift Teiht, daß alle diefe Grfchichten nicht ohne einigen 
Lärm und Tumult abgehen. In der That berricht auch während dieſer gan⸗ 
zen Nacht überall ein fürdterlicher Spektakel — Räuber fierben, Musketen 
knallen, Frauen kreiſchen, Männer fluchen und die „ Ahnfrau“ felbft, der 
Benius diefes ganzen Wirrwarrs, taucht zu wiederholten Malen auf. In⸗ 
deffen, mit der Zeit nimmt Alles ein Ende und fo auch bier. Jaromir ges 
Iingt ed endlich, ebenfalld den Geiſt aufzugeben, worauf, nachdem das ganze 
Geſchlecht der Borotine zum Teufel gegangen ift, die „Ahnfrau“ ſich eben⸗ 
falle dahin zurüdzieht oder wenigftend die Oberwelt von ihrer Gegenwart 
befreit, worauf das Stüd in tiefer Stille endet. Wir wollen über diefe 
arme Ahnfrau weiter nichts jagen, ald: „Wo fle auch jein möge, requies- 
cal! requiescat!* 

Wie wir fchon oben erwähnten, fcheint die Schickſalsmethode bei der 
Fabrikation tragifcher Rührung Grillparzer ſelbſt nur wenig befriedigt zu 
haben, denn nad diefer Ahnfrau hören wir nichtd weiter davon. Sein 
„König Ottokar's Glück und Ende* ift ein weit unfchuldigeres 
Stück und bewegt fi in einer ganz anteren Richtung, indem es nicht durch 
alte Weibermaͤrchen von Schickſalsbeſtimmung auf und einzuwirken fucht, ſon⸗ 
dern durd den Glanz von Thronen und Fürftenthümern, den graufamen ober 
hochherzigen Stolz von öfterreichtfchen Kaifern und böhmiſchen Eroberern, den 
MWig ritterlicher Höflinge und fchöne, aber verichmigte Königinnen — alled 
dies mit einer gehörigen Beimifhung von Krönungsceremonien, ungarijchen 
Eoftümsd, bärtigen Hellebardierern, Schladhtenlarm und Kriegögetöje. Es 
wird in diefem Stud fogar ein Verſuch zur Charafterzeihnung gemalt, 
denn gewiſſe Berjonen des Drama's find offenbar beflimmt, fi) von gewiflen 
andern nicht blo8 der Kleidung und den Namen, fondern aud ihrer Natur 
und ihrem Weſen nach zu untericheiden ; wenigftens verfihern fie dies wie⸗ 
berbolt oder deuten ed an und thun alle8 Mögliche, um ed durch die That 
zu beweilen, was ihnen aber unglüdlicherweile nur in fehr geringem Grade 
gelingt. In der That find diefe Perfonen des Drama's mehr Rubrifen und 
Zitel ald Perfonen und größtenıheild bloße theatraliiche Automaten, Lie 
eine nur mechanifche Eriftenz befigen.. Das Wahre an der Sache ifl, daß 
Grillparzer nicht im Stante if, irgend einem Charakter oder Gegenftande 


205 


ein poetiiche® Leben mitzutheilen, wodurd er, ſelbſt wenn es auch auf Feine 
andere Weile gefchähe, das durch und durch profaifche Weſen feines Talentes 
fundgiebt. Seine Perfonen befigen in einigen Fällen einen gewiſſen Grad 
von metaphäflicher Wahrheit; das beißt: ein Theil ihres Baues ent|pricht, 
vom pſychologiſchen Standpunfte aus betrachtet, dem andern, und ſoweit 
wäre Alles gut; diefe blos wiſſenſchaftlichen und lebloſen Cigenſchaften 
aber zu einem lebenden Menſchen vereinen, iſt die Aufgabe nicht eines Dra⸗ 
menſchmiedes, ſondern eines Dramatikers. Nichtsdeſtoweniger iſt „König 
Dttofar * eine verhaͤltnißmäßig harmloſe Tragödie. Ste hat viel Handlung, 
die ziemlich effectwoll ift, aber de8 Zufammenhangesd entbehrt, und dad Stück 
muß fih in Folge der darin vorkommenden Xiebeshändel, Schlägereien, 
Hochzeiten, Leichenbegängniffe, Prozeffionen, Lager ıc., befonders wenn der 
Schneider und der Mafchinift ihre Schuldigkeit thun, ganz hübſch ausneh⸗ 
men, vorzüglich auf einem Wiener Theater, wo es eine nationale Bedeutung 
bat, weil Mudolph von Habsburg eine der Hauptperfonen darin iſt. 

Das Vorbild diefes „Ottofar* find wahrſcheinlich Schiller's Piccolo⸗ 
mini geweſen — ein Gedicht von ähnlicher Zufammenfeßung und Tendenz, 
wiewohl von erfteren eben fo verfchieden, ald eine lebende Roſe von einer 
Maffe todter Mofenblätter. Es jcheint, ald ob Grillparzer gehofft Hätte, 
und durch eine hinreichende Menge wunderfamer Auftritte und Umftände zu 
verblüffen, ohne weiter ängfllich darnad) zu fragen, ob Die Seele und Bedeu- 
tung derjelben und deutlich werde oder nicht. Lind hierin eben Tiegt, glau⸗ 
ben wir, der eigenthümliche Kniff oder dad Dramenfchmietgeheimnif Ottos 
kar's, nämlich darin, dag der Effect hauptſächlich von feiner Quantität ab⸗ 
hängt, von der großen Anzahl der Ueberraſchungen und freudigen oder bes 
Flagendwerthen Abenteuer, die nady einander zum Vorſchein Eommen, fo daß 
Die Menge des oberflädhlihen Inhalts den Mangel der callida junctura 
aufwiegt. 

Diefe zweite Methode bei der Fabrikation von Tragödien halten wir 
für befler als die erfte. Gleichzeitig iſt e8 aber eine ſehr gebräuchliche Mes 
thode, fowohl im Fache der Tragödie als in anderen, ja wir haben von Leu⸗ 
ten, deren Erwerb ed ift, Verſe zu ſchreiben oder die Phantaſie auf andere 
Meile anzuftrengen, fagen hören, es fei dies die beſte Methode, die fie kenn⸗ 
ten. Sammeln nicht diefe Leute „ Stoff * auf der ganzen bewohnbaren Erde, 
indem fie gefliffentlich feltfame Ereigniffe, Mordthaten, Duelle, Geifter- 
erfheinungen u. dergl. außforfchen und zulammentragen? Haben fie von 


dergleichen Stoffen einen hinreichenden Vorrath aefammelt, jo bebarf ed 
dann vom ihrer Geite weiter nichts, als daß fie dieſelben gaſchickt und buni 
zuftugen und in ein Yutteral bringen, welches dann Novelle, Drama ebter 
Roman heißt. Aber alles dies ift nichts weiter ale Kombination und feine 
Schöpfung und hat in der Literatur wenig Werth. Die Quantität — fe 
viel iſt gewiß — kann die Oualität niemals erfegen und die brillanteften 
Farben nügen nichts, wenn nicht eine lebensvolle Geſtalt Damit gemalt wird. 
Für „ König Ottokar“ wäre es beſſer, wenn die Geſchichte halb fo lang und 
dadurch um fo bändiger geworben wäre, denn eben jo wie zu Gervantes’ Zeit 
iR es and jegt noch wahr: nunca lo hueno fud muche. Was nüßt der 
Schluck Branntwein, fo lange er in chemiſcher Vermiſchung mit einem Faſſe 
voll Spältht ſchwimmt! Der Deflillatenr möge ihn immer und immer wies 
der durch feinen Apparat laufen lafien, denn es find die Tropfen reinen Als 
kohols, die wir wollen, nicht die vielen Kannen Waffer, die in jeder Pfüge 
zu baben find. 

Im Ganzen genommen erinnern wir uns an „König Ditolar” ohne 
Groll und um zu beweiſen, daß Grillparzer ihn, wenn auch nicht poetifcher, 
doch weniger prefatich hätte machen können und wirklich etwas Beflered in 
fi trägt, als ſich hier fund giebt, wollen wir eine Stelle citiren, bie uns 
ſehr ſchön umd natürlich empfunden zu fein ſcheint. König Ottokar ſteht 
auf dem legten feiner Schlachtfelder, wo er nichtd vor ſich flieht als Tod 
oder Befangenfchaft, und er überbenkt feine vergangenen Miffethaten, indem 


er fagt: 


Sch hab’ nicht gut in deiner Welt gehauft, 
Du großer Gott! Wie Sturm und Ungemwitter 
Bin ich gezogen über deine Fluren; 

Du aber biſt's allein, ber Hürmen kann, 

Denn du allein fannft heilen, großer Gott. 
Und hab’ ich auch das Echlimme nicht gewollt, 
Wer war ih, Wurm? daß ich mich unterwand, 
Den Herrn der Welten frevelnd nachzuſpielen, 
Durchs Böfe fuchend einen Weg zum Buten ! 


Den Menfchen, den du hingeſetzt zur Lu, 
Ein Zwed, ein Selbſt, im Weltall eine Welt — 
Gebaut haft du ihn als ein Wunderwerf. 

Mit Hoher Stirn und aufgerichttem Nacken, 
Gekleidet in der Schönheit Feierkleid, 





207 


Und wunderbar mit Wundern ihn umringt, 

Gr hört und fieht uud fuͤhlt und freut ſich. 

Die Speife nimmt er auf in feinen Leib; 

Da treten wirkende Sewalten auf, 

Und mweben fort und fort mit Faſern und Gefaͤß, 
Und zimmern ihm fein Haus; kein Koͤnigoſchloß 
Mag fldy vergleichen mit dem Menfchenteib ! 

Ich aber Hab’ fie hin zu Taufenden geworfen, 
Um einer Thorbeit, eines Binfalls willen, 

Wie man den Kehricht fchüttet vor die Thür. 
Und Keiner war von den Beblich’nen allen, 

Den feine Mutter nicht, ale fle mit Schmerz geboren, 
Mit Luſt geprüdt an ihre Nährerbruft, 

Der Bater nicht als feinen Stolz gefegnet, 

Und aufgezogen, Jahrelang gehütet ; 

Wenn er am Finger ſich verlegt die Haut, 

Da liefen fie herbei und banden’s ein, 

Und ſahen zu, bis endlich es geheilt: 

Und 's war ein Finger nur, die Haut am Finger! 
Ich aber hab’ fie Schockweis hingefchleubert, 
Und ſtarrem Eifen einen Weg gebahnt 

In ihren warmen Leib. — Haft du befchloflen 
Zu gehen in's Gericht mit Ottokar, 

So triff mich, aber ſchone meines Volks! 


Stellen diefer Art, deren in Grillparzer's Dramen bier und da me 
rere vorkommen und bie wenigften® eine liebenswürdige Zartheit der Ems 
pfindung beweifen, Taflen uns um fo mehr bebauern, daß wir ihn dennod 
verdammen müfjen und berechtigen zu der Hoffnung, daß er nicht dazu ges 
boren if, ſtets ein Dramenfchmieb zu bleiben. ine ädıte, obſchon ſchwache 
poetiſche Aber ſcheint er wirklich zu beflgen und die Meinheit feines Herzens 
Tann ihn bei ernſten Studien noch auf das ihm angemeflene Feld führen. 
Wir halten ihn für einen rechtichaffenen, gewiffenhaften Mann und ehrlichen 
Freund der Kunft; ja dieſes unaufhörlide Schwanken in feinen drama⸗ 
tifgen Entwürfen ift ſchon an und für ſich ein gutes Zeichen. Außer der 
„Ahnfrau“ und „Ottofar* hat er noch drei Dramen: „Sappho“, daß 
„Soldene Vließ* und „Ein treuer Diener feines Herrn* 
nach ganz anderen Prinzipien geſchrieben, indem er, wie e8 ſcheint, einem 
Hajfiiden Modell oder wenigftens einem franzöflfhen Spiegelbilde eines 
ſolchen Modells nachſtrebt. „Sappho* ſcheint uns bei weitem bie fehler» 


208 


loſeſte feiner Arbeiten zu fein, die wir bis jet kennen gelernt haben. Es 
liegt darin ein hoher Brad von Anmuth und Einfachheit, eine Weichheit, 
Politur und guter Gefhmad, wie man ihn von dem Verfafler der „ Ahn⸗ 
frau * nicht erwarten jollte. 

Wenn wir es aber nur mit Widerfireben über uns gewinnen Eonnten, 
@rillparzer unter die Dramenfchmiebe zu zählen, fo Tann in Bezug auf den 
zweiten Namen, der auf unferer Lifte flieht. — Dr. Auguft Klinge- 
mann — von einem foldyen Hang zur Schonung nicht die Rede fein. Nr. 
Klingemann war einer der unbeflreitbarften Dramenfchmiede, die es je ge 
geben. Seine Procedur ift von der Brillparzer’® ganz verfchieden. Bei 
ihm handelt es ſich nicht um eine fchwanfende, ſich ewig verändernde Me⸗ 
tbode oder um eine Sombination von Methoden, jondern um ein feftftehen- 
des Prinzip der Thätigfeit, welchem er mit unbeugfamem Muthe folgt, wäh. 
rend er mit jeinen eigenen Leiftungen höchlich zufrieden zu fein fcheint. 
Während Grillparzer uns bald durch die Schickſalsmethode, bald durch 
pomphafte Action und großſprecheriſche oder weinerliche, in allzureichlicher 
Fülle fi) ergiegende Sentimentalität zu überwältigen fucht, ſcheint Klinge⸗ 
mann, ohne eines diefer Külfsmittel zu verfchmähen, ſich doch in der Haupt« 
ſache auf zuverläffigere und allezeit fertigere Dinge zu flüßen — wir meinen 
feine Vorräthe von Bligmehl, Delpapier, Masken, rothen Mänteln und 
Schießpulver. Was durch Donner und Blig, magijche Laternenbilter, 
Iodtenföpfe, Beuerregen und dergleichen geleiftet werden. fann, wird bier 
geleiftet. Hierzu kommen nod eine Menge Kirchhof und Kapellenicenen 
bei der flürmiichften Witterung, abgeſehen von Schlachtfeldern, bier und da 
durch das Waldesdunkel Hligenden Waffen und den Schüffen, die man dann 
und wann in der Berne fallen hört. Außerdem find bie boshaften Seiten 
blide, die leichenhafte Bläffe, das Fußſtampfen und die Ohnmachten von der 
Art, daß ſich darüber ein Stein in der Erde erbarmen möchte. Aber nicht 
blo8 die Blicke und Geberden diefer Leute find von ber Herzzerreißentiien 
Art, fondern ihre Worte und Gefühle — denn Klingemann iſt fein halber 
Künftler — flimmen damit überein — hochtrabende Aufgeblafenheit, die 
reinfte Unfchuld, die erhabenfte Seelengröge, göttliche Ideen aller Art — 
überall der ſchönſte tragifche Humor. Die Morak ift Dabei von der trefflich- 
ſten Art, auf die Tugend wird die ängftlichfte Nückficht genommen und das 
Walten der Vorfehung und des Teufel! ſtreng von einander getrennt ge⸗ 
balten. Aus dieſen Beftandtheilen find die Klingemann’fchen Dranıen zu« 


209 


fammengefegt und es läßt ſich nicht leugnen, daß ihre Wirkung eine durch⸗ 
aus nicht unangenehme if, ja wir müffen zu unferer Schande geftehen, daß 
wir diefe Schaujpiele mit einem gewiflen Brad von Benuß gelefen haben 
und behaupten, wer Zuft bat, fi auf irrationelle Weiſe zu amüflren, der 
findet hier für fein Geld die rechte Waare. 

Klingemann’d letzte dramatiſche Arbeit ifl „Ahasver“. Diefer 
Ahasver ift Niemand anders, als der ewige Jude oder Schuhmacher von Je» 
rufalem, in Bezug auf welchen wir bier zwei Bemerfungen nit umgeben 
fönnen. Die erfte gilt dem fonderbaren Namen ded Schuhmachers; warum 
nennen Klingemann und die Deutfchen überhaupt diefen Mann Ahasver, 
da jein authentifcher Name doch Johanned — Joannes a Temporibus Chri- 
sti oder furzweg Joannes a Temporibus — iſt? Linfere zweite Bemerkung 
gilt dem Umftande, daß fein Befchichtichreiber oder Erzähler, weder Schil⸗ 
ler, noch Strada, noch Thuanus, noch Monroe, noch Dugald Dalgerty, etwas 
tavon erwähnen, daß Ahasver der Schlacht bei Lügen beigewohnt habe. 
Es ift möglib, daß fie glaubten, Die Sache fei zu notorifch, als daß fle der 
Erwähnung bedürfe. Alſo, er war auf alle Fälle dabei, ja er muß auch bet 
Waterloo und wahrſcheinlich auch bei Trafalgar geweſen fein, obſchon es 
nicht Flar if, auf welcher Flotte, denn er nimmt Theil an allen großen 
Schlachten und weltgefhichtlichen Ereigniffen ; wenigftens ift er Zeuge der» 
felben, weil fein Verhängnip ihn dazu zwingt. 

Dies ift die eigenthümliche Befchäftigung des ewigen Juden, die wir 
aus diefer Tragödie Eennen fernen; feine anderen Eigenthümlichfeiten — 
Daß er nicht über drei Nächte an einen und demfelben Orte wohnen Eann, 
"Daß er von jchiwermüthigem Temperament ift und vor allen Dingen, daß er 
nicht flerben fann, weder durch Hanf, noch durch Stahl, ja nicht einmal 
durch Blaufäure, jondern bi zum jüngften Tage weiter wandern muß — 
find allen Leſern hinreichend befannt. Ahasëver's Aufgabe in der Schlacht 
bei Lügen fcheint eine ſehr leichte geweien zu fein und einfach darin beftan- - 
den zu haben, den Löwen ded Nordens fallen zu fehen, aber nicht durch eine 
Stüdfugel, wie man gewöhnlich glaubt, fondern durch die verrätherifche 
Piftolenfugel eines gewiflen Heinyn von Warth, cine bigotten Katholiken, 
welcher fih für einen Dejerteur der Kaiferlichen auögiebt, um eine folche 
Gelegenheit zu finden. Unglücklicherweiſe verfällt Heingn unmittelbar nad 
feiner That in einen fchlaflofen, halb rafenden Zuſtand; gebt nad Haufe 
auf fein Schloß Warth, erichredt jein armed Weib und feinen würdigen, 

Cariyle. IV. 14 


obſchon etwas fhwadgtünfigen Vater, ſchleicht dann einige Zeit Iang herum, 
indem er bald betet, bald, umd zwar öfterer, ſchwoͤrt und flucht, bis endlich 
die Schweden ihn feſtnehmen und umbringen. Abasver iſt wie gewöhnlich 
bei dem Tore zugegen ; in der Zwiſchenzeit aber hat er Yran von Heinye 
vom Tode des Ertrinkens gerettet, obſchon er fie zugleich durch den Blick 
feiner unbeimlichen fileren Augen vergiftet und nun, da fein Geſchäft allem 
Anſcheine nach zu Ende iR, giebt er In jeltfamen Worten zu erkennen, daß 
er fort müfle. Hierauf fchreiter er feierlich in den Wald hinein, Waſaburg 
lebt ihm überraſcht nach; Die Uebrigen Enien um den Leichnam, das Requiem 
dauert leiſe fort, und, was noch wunderbarer ift, der Borbang fällt. 

Dies ift die einfache Handlung und ernfle Kataſtrophe dieſer Tragödie, 
in Bezug auf welche es überflüfflg wäre, und weiter in eine Kritik einlaffen 
zu wollen. Wir wollen blos nod bemerken, daß unierem Eremplare eine 
entfegliche Lithographie beigefügt if, welche Ludwig Devrient als Ahasver 
vorftellt, wie er eben „feierlich in den Wald hineinſchreitet“ und die Schluß» 
worte ſpricht: „Ich aber wandle weiter — weiter — weiter! * 

Zunaͤchſt werfen wir nun einen Blid auf Klingemann’& zweite hervor⸗ 
sagente Leiflung ; wir meinen das Trauerfpiel „Fauft* Klingemann 
giebt zu, daß der Gegenſtand ſchon oft bebandelt worden und daß bejonders 
Goethe's Fauſt Dramatifche Momente babe; er aber ftellt ſich die Aufgabe, 
ihm eine ganz dramatifche Geflalt zu geben oder, wie er ſelbſt fagt, eine ächt 
dramatifche Tragödie daraus zu machen. Bon diefer Iobenswerthen Abſicht 
audgehend, hat Klingemann einen Fauft geichaffen, der fih von dem Goethe’s 
in mebr als einer Bezichung unterſcheidet. Der Held dieſes Stüdes if 
nicht der alte Fauſt, Doctor der Philoſophie, welcher durch die Unzuläng« 
lichkeit der menſchlichen Erfenntniß zur Berzweiflung getrieben wird, ſon⸗ 
bern der jhlichte Johannes Kauft. der Buchdrucker und zugleich Erfinder des 
Scießpulverd, den fein ehrgeiziges Gemuͤth, noch mehr aber der gänzliche 
Mangel an baarem Gelde zur Verzweiflung treibt. Er hat ein vortreffliches 
Weib und einen vortrefflichen blinden Vater, welde beide fehr wünſchen, 
dag er Ruhe halten und in feiner Werkflatt arbeiten möchte; va er fich aber 
auf die ſchwarze Kunſt verſteht, fo befchließt er, fich lieber auf diefe Weife 
zu helfen. Demgemäß macht er einen Eontraft mit dem Xeufel, unter, 
wie ed fcheint, ziemlich vortheilhaften Bedingungen, indem der Teufel fi 
verbindlich macht, ihm auf die wirkſamſte Weife zu dienen und Fauſt das 
gegen vier Todſünden begehen kann, ehe ihm ein Haar auf feinem Haupte 


De 


211 


gekraͤmmt werben darf. Indeſſen der Teufel if}, wie man leicht vor⸗ 
ausfegen kann, ein fchlauer Fuchs und Fauſt wird zuletzt doch über- 
sölyelk. ’ 

Ein zweiter harakteriftifger Unterſchied Klingemann’s ift feine Art 
und Weife, dieſes böfe Prinzip zu verkörpern, wenn er endlich beichließt, es 
ſichtbar vorzuführen, denn alle dieſe Eontrafte und vorbereitenden Anſtalten 
werden fehr angemeſſen / hinter den Gouliffen zu Stande gebracht und nur 
die Hauptmomente des Geſchäfts dem Publikum durch einen Donnerfchlag 
oder fo etwas angedeutet. Wir jehen bier feinen Falten, ironiſchen Mephi⸗ 
ſtopheles, ſondern einen etwas großmäuligen jovialen „ Fremden“ mit einem 
fehr rothen Geſicht, deſſen Farbe, wie Kauft anfänglich glaubt, vom vielen 
Trinken herrührt. Diejer Fremde hat indeffen die Eigenthümlichkeit an 
fih, daß er, fo oft ein religiöfer Gegenftand zur Sprache gebracht oder cin 
geheiligter Name erwähnt wird, fein Glas auf den Tiſch flampft und es ge⸗ 
wöhnlich zerbricht. 

Eine Zeitlang nah Abſchluß dieſes Handels gehen Fauſt's Geſchäfte 
ſehr gut und er fcheint fi ganz wohl zu befinden. Da zeigt ihm aber der 
Fremde „fein Weib” Helena, das reizendſte Wefen von der Welt, aber auch 
das hartherzigfte, denn trogdem, daß ihr Herr Gemahl nicht im mindeften 
eiferfüchtig tft, will fie doch Fauſt nicht die geringfle Ermuthigung gewäh- 
ren, bis er Käthe, feine eigene Gattin, ermordet bat, die ihn niemals etwas 
zu Leide gethan und gegen welche er auch nidht den geringften Groll heat. 
Nichtsdeſtoweniger befchließt er, in Erwägung, daß er ja vier Tobfünden 
zuzufegen bat und es um eined fo hoben Gewinnes willen wohl auf eine 
ankommen laffen kann, Käthe umzubringen. Hier aber nimmt tie Geſchichte 
ſchon eine fchlinme Wendung, denn nachdem er die arme Käthe vergiftet 
bat, macht er die ganz unerwartete Entdedung, daß fie guter Hoffnung ift 
und daß er deshalb nicht eine Todſünde, fondern deren zwei begangen bat! 
Ja, ehe noch das Begräbniß flattfindet, fieht er ſich durch eine Art zufälliger 
Selbfivertheidigung genöthigt, feinen Vater umzubringen und die dritte 
Todfünde zu begehen, mit welcher dritten, wie wir gleich fehen werden, jein 
ganzer ihm zugeflandener Vorrath erfchöpft if, weil eine vierte, die er un- 
wiffentlich begangen, ihm ſchon auf das Kerbholz gebracht if. Von nun an 
kann e8 und nicht wundern, wenn die Sache immer bedenflicher wird — 
e8 zeigen fich allerhand beunrufigende Erſcheinungen, ſchwarze Masken ume 
tanzen ihn auf fehr verbächtige Weile, der Fremde mit dem rothen Geficht 

14* 


212 


fheint ihn auszulachen und Helena will nirgends zum Vorſchein kommen. 
Damit der theilnehmende Lefer mit eigenen Augen fehe, wie der arme Kauft 
nun chicanirt wird, wollen wir hier einige Scenen anführen. Zur erſten 
wählen wir die, wo die ſchwarzen Masten auftreten. 


Erleuchteter Saal. (In der Ferne Hört man raſche Tanzmuflf. Masken geben abs 
wechſelnd über die Bühne, aber alle ſchwarz gekleidet, und mit ganzen undurch⸗ 
fihtigen Larven. Fauſt ſtuͤrzt nach einer Baufe wild herein, einen gefüllten 
Pokal in der Hand.) 


Fauſt (in den Bordergrund flürmend.) 
Sa, Gift Hatt Wein, daß ich mich d'rin beraufche ! 
Der Bein macht nuͤchtern — glübend Feuer will ich! 
Fort mit dem Tranf —! Und Blut if’s obendrein! 
(er Ichleudert ſchaudernd den Vokal weit von fidy.) 
Des Baters Blut — — ich tranf mid) darin voll! 
(in ſteigendem Aufrubre.) 
Doch Fluch ihm! Fluch! daß er mich hat gezeugt! 
Dem Mutterſchooße Fluch, der mich getragen! 
Der Amme Fluch, die mich an's Licht gefördert, 
Daß fie mich nicht erwürgt' im erſten Schreie! 
Was kann denn ich für mein entieglih Dafein ? 
Berfludt feift du Natur, die mich betrogen, 
Berflucht ich ſelbſt, daß ich mich täufchen ließ! — 
Und du gewaltig Weſen, das zum Hohne, 
Den Feuergeift in diefen Kerker bannte, 
Daß er verzweifelnd hin nach Freiheit ringt — 
Dir — — 
(er ſchaudert furdtbar zufammen.) 
Rein, die vierte — Schwarze Sünde nicht! 
Rein! Nein! 
(er Schlägt im Uebermaße des ausbrechenden Schmerzes beide Haͤnde vor das Ges 
ft.) 
D ich bin unausſprechlich elend !! 
(drei Schwarze männliche Masken treten zu ihm.) 
Erfte Maste. 
He! Lufig, Freund! 
Zweite Maske. 
Hei, luftig, Bruder! 
Dritte Maske (mit einem fchneidenten Tone wiederholend). 
Luſtig! 
Fauſt (in wilder Laune auffahrend, und ſich unter ihnen umſehend). 
Hei, luflig denn! 





213 


Erſte Maste. 
Wer wollte Rüden faugen! 
Zweite Maske. 
Das Lehen währt ja lang’, bis Mitternacht! 
Dritte Maske. 
Und Hinterdrein Hat gar die Luft fein Ende! 
(eie Muſil Hört plöglich auf, und eine Glocke fchlägt drei Mal an.) 
Bauft (betäubt.) 
Bas giebt's? 
Grfte Maste. 
Das dritte Biertel erſt auf Bwölf! 
Zweite Maske. 
Da iſ's noch Zeit! 
Dritte Maske. 
Genug zum Bafchingsfpiel! 
Erſte Maske, 
Um Mitternacht geht erft der Rebraus an! 
Fauſt (ſchaudernd). 
Bas wollt ihr? 
Erſte Maske (faßt feine Hand raſch). 
Hei! Wir tanzen ihn zufammen! 
Fauft (reißt die Hand zurüd). 
Bort! — Feuer!!! 
Erfte Maske 
Nicht doch; nur ein Schwefelfunten ! 
Zweite Maske. 
Der Bruder phantaflet! 
Dritte Maske. 
Solla! Muſik! 
(die Muſik hebt wieder in der Gerne an.) 
Erſte Maske (heimlich lachend). 
Die Milzſucht Kit ihn! 
Zweite Maske, 
Horch, am Rabenfleine 
Hebt luſt'ger Tanz an! 
Dritte Masfe. 
Da muß ih hinaus: 
(ab.) 
Erſte Maske. 
Auch drunten wirbeit’s ſchon im Fegefener! 
Zweite Maste. 
Da gilt eo Eile! — Hui! Auf Wiederfehn ! 


214 


Sr Maske (u Kauf). 
Um Mitlernacht 
(beide Masten eilen fort.) 
Baur (Euaßt Äh an die Gtim). 
Se, was umgiebt mich bier! 
(heftig vorwärts tretend.) 
Hanser wit den Larven! 
(Heftiges Klovfer von außen.) 
Welch Getöſe! — 
Beſchleicht mich Wahnſinn — ? 
Stimme (heftig von außen). 
Deffuet dem Gericht! 
(die Muff hört auf, es donnert.) 
Fa u ſt (fürzt betäubt zuriid). 
Ich traum ſchwer! — No gebt die Welt nicht unter ! 
Stimme (wie vorher). 
Hier muß ex fein! — Macht auf! Es mettert draußen! 
Kauf (trodnet die Stirn). 
Hat mid die Angft entmannt — ! 


Aus den Händen diefer irdiſchen Häſcher wird Fauft von dem jovialen 
Fremden mit leichter Mühe befreit und nun fommt das längfl erjehnte Läte- 
a-tdte mit Helena. 


Fauſt zieht Helenen auf die Bühne, die ebenfalle ganz verlarvt il. Die andern 
Masten entfernen ſich. 


Kauf (erbist und glühend). . 
Nicht länger ſtraͤube dich ! 
Helene. 
Ha, wilder Stürmer! 
Kauf. 
Mein Bufen brennt —! 
Helene. 
Die Zeit iR noch nicht da! 
Kauf. 
Sie iſt's! Sie if’s! — Ha, Weib, fie foll es fein! 
Statt einer Hab’ ich drei dir aufgeopfert! 
Die Mutter ſchlaͤft, das Kindlein und der Alte, 
Mit dir zu koſen fang ich Re in Schlummer! — 
Ha, Beuerbraut, die Nacht if eingeweiht, 
Gezahlt Hab’ ich die tbeure Morgengabe; 
Drum gieb mir Gluth für Sluif! 


215 


Helene (mit Heimlidem Nachdrucke). 
Sie brennt für dich! 
Saußf. 


Serrifien iR jedwedes Lebensband; 
An dich bin ich gefeflelt, dein — 
Helene (mit einem Triumph einfallend). 
Auf ewig! 
(die Muſik in der Ferne wird immer wilder und feltfamer, es rollen dumpfe Dons 
ner hinein, die nach und nach flärker werden.) 
Fauſt. | 
Auf ewig dein! — Horch, wie die die Töne fchwellen ! 
Helıme. 
Sie donnern uns den wilden Hechzeitäiubel! 
Fauf (fie umſchlingend). 
Ha, gieb den Brautluß mir! 
Helene. 
Um Mitiernacht!! 
Bau. 
Jedweder Puls wird mir zur Ewigkeit! — 
Die Laive fort, die mir dein Wangenfeuer, 
Der ſchwarzen Augen dunkle Gluth verkirgt ! 
(ee will ihr die Maske nehmen.) 
Helene (firäubt ihm entgegen). 
SR fie gefallen, wirft du treu verbleiben ? 
Fauſt (ſtreckt vie Hand empor). 
Ja bei dem — 
Helene (zieht ihn raſch zuruͤck). 
Halt! 
Fauſt (als es Kärfer donnert). 
Das donnert meinen Cid! 
Die Töne ſchwoͤren Ihn, die Herzensſchlaͤge, 
Mein ganzes Dafein, das in Flammen glüht! 
Ha, immer wilder ſchwillt der Jubel an, 
Schon wirbelt um uns her der Hochzeitercigen, 
Die Fadel brennt — 
Helene (mit wildem Tone). _ 
Ha denn, mein Bräutigam! 
auf (auf ſio eindriwgend). 
Hinweg tie Larve! — 
Hebene (no wilder). 
Se! Die Hochzeitoſtunde — 
Funk 
Die Larve fort!!! 


216 


Helene 
Sie ſchlaͤgt!! 
Fauſt. 
Den Brautfuß! 
(er iſt im Begriffe, ſie zu umſchlingen.) 
Helene. 
Nimm ihn! 
(die Larve und die Hauptbededung entfallen ihr und fie grinſet ihn aus einem 
Todtenſchaͤdel an; es donnert heftig und bie Muflf endet wie mit einem Schrei 
in Diffonangen.) 


Kauft (taumelt in Todesichredien zurüd). 
Gntfegen — —! Beh! — — 
Helene 
Das Lager it bereit! 
Folg, Bräutigam, hinab zur Feuerhochzeit!! 

(Re verfinkt mit einem krachenden Donnerfchlage in den Boten, aus dem Flammen 
emporlodern. Fauſt ſtuͤrzt von der Bühne, die fo lange leer bleibt, bis die jegt 
einfallende Glocke zwölf geichlagen hat. Alles verbunfelt ſich tief und die Lichter 
erlöfgen.) 


Alles dies iſt ſchon nicht fehr erbaulih, aber immer noch Kinderei 
gegen die dreizehnte Scene, die letzte dieſer feltfamen ereignigvollen Geſchichte, 
womit wir unfere Lefer weinend zu Bett zu ſchicken gebenfen. 


Der Fremde fchleudert den Fauſt, beflen Geſicht todtenbleich if, bei den Haas 
ven auf die Bühne zurüd. 
Fauf. 
Sa, laß mich fliehen! — Fort! — 
Der Fremde (mit wilden bonnernden Tone). 
886 if vorbei! 
Faufl. 
Entchlihes Geht! —— 
(Rd bebend an die Bruſt des Fremden werfen.) 
Du biR mein Freund! 
Drum fhüge mi! ! 
Fremder (aufladenp). 
Haba! 
Fauſt (dringender). 
Mein letzter Freund!! 
Frem der (mit triumphirender Bosheit). 
Gi freilich!! 





217 


Gau. 
Sa, fo laß uns fort! 
Fremder. 
Bohn?! 
Faufl. 
Zur Kirche! 
Fremder. 
Ich mit dir?! 
auf (irre). 
Wir wollen beten! 
Ja beten! beten!! Ach mein Schlafgebet — 
Aus meiner Kindheit — das wird mir getreu fein — — 
Der Mutter Segenskreuz!! — Hinaus zur Kirche!! — 
Dir thut's auch Noth — — der Himmel wird uns reiten! — 
(wild wie im Wahnſinn.) 
Hort! Fort!! — 
Der Fremde (ſchleudert ihn zurüd). 
Zurüd! — Dein Lebenefpiel iR aus! ! 


Fauſt (wie vorher). 
Noch Hab’ ich Zeit bis zu dem vierten Frevel 
D eine Spanne hat zur Buße Raum; 
Sur Kirche hin — laß uns um Gnade fnieen! 


Der Fremde. 
Haha! — Kennft bu mid denn? 
Kauf. 
D reite mid! 


Der Fremde (ergreift ihn mit übermächtiger Gewalt, ehrt ihn fo, daß Fauſt's 
Geſicht gegen die Zuſchauer gewendet wird, indeß das feine von dieſen abgefchrt 
iſt; und fo blickt er ihn an und ruft mit donnernder Stimme). 

Ich bin’e!! — 
(ein Donnerſchlag.) 


(8a uf taumelt mit dem Ausbrude des hödfen Entſetzens zu Boten, indem er 
einen unartifulirten Schrei ausſtoͤßt.) 
(Iener fährt nach einer Baufe mit fhneitender Kälte fort.) 
IR das der mädht’ge Höflenzwinger ? 
Der mir — he, mir! — getropt ! | — 
(mit empörendem Giolge.) 
Gmürm des Etaubes! 

Ich hatte reine Dual — mir!! aufgeſpart — ! 

Fahr? jegt binab zu andern Schavengeiflem — 

Du BiR zu fein für mic !! 


218 


Fauſt (richtet ich in die Höhe und ſcheint feine Kraft wiederzugewinnen). 
Ib bin der Fauſt! 
Der Freude. 
Da nicht! 
Kauf (indem er ſich mit feinem ganzen Trope emporreißi). . 
Berfluchter! Ha, ich bin’s! ich bins! 
Zu meinem Füßen hin, id bin dein Meifer! 
Der Gremde. 
Nicht mehr!!! 
Fauf (wild). 
Sa, mein Bertrag?! 
Der Fremde. 
Er if am Ende!! 
auf (wie vorher). 
Drei Frevel nur!! 
Der Fremde. 
Der vierte iR vollbracht? 
Fauſt. 
Nur Weib und Kind — und meines Vaters Blut — 
Der Fremde (hält ihm ein Pergament entgegen). 
Und bier dein eignes! — 
Kauf. 
Ha, das iR mein Pact! 
Der Fremde. 
Die Unterſchrift — war deine ſchwerſte Eünde! 
Fauſt (wüthend). 
Ha, Lügengein!! — So haft du mich vergarnt! 
Der Fremde. 
Dein Blut iR mein! Das Buͤndniß iR zerriſſen! 
Fauſt (mit feiner ganzen Kraft austobend). 
Mein Buh!! Mein Buch! ! 
Der Fremde (mit tem höchſten Ausdrucke). 
Da, jept — quäl' ih dich ſelbſt! 
Fauft (mit fleigender Kraft). 
Du mih?! — Ha, alle keine Hoͤllenſlammen, 
Berfludhter, thhürme fe um mich zuſammen! 
Ich trotze ihnen, trage deinen Mächten, 
Der wilde Schmerz, ich will mit ihm wicht rechten, 
Ihn jubelnd tragen, Leine Wuth verlachen, 
Did und die Hölle felbf zu Schanden machen; 
&o, wild und füge, mein wiltes Dafeln feönen, 
Ih will's — der Kauf! — und ewig dich verhößnen!! 


219 


Der Fremde (in hoͤchſter Wurh). 
Hinab, Verfluchter!! 

(er reißt ihm mit den Haaren gegen den Hintergrund, in dieſem Augenblicke vers 
wandelt ſich unter heftigen Bligen und Donnerfchlägen die Bühne in eine graufe 
Wildniß, in deren Hintergrunde eine Maffende Höhle; in diefe ſchleudert der Teu⸗ 
fel den Kauft, von allen Seiten ſpruͤht Feuer herunter, fo daß die ganze innere 
Hoͤhle im Brande zu fichen fgeint; ein fchwarzer Schleier fenkt ſich über beide, 
als jener den Fauſt unter ich liegen hat.) 

6. uf (in einem wilten Troße aufjubelnd). 
Sa, hinab! hinab! 
(Donner, Blig und euer. Beide verfinfen.) 


Dies if alfo die Klingemann’fche Art und Weiſe, Trauerſpiele zu 
ſchreiben. DBielleicht Tieße fih von unferer Seite dagegen ber Einwand er⸗ 
beben, daß dieſe Methode an einem Mangel an Moralität Taborire, denn bes 
folgen nicht unfere britiihen Dramenichniede genau denſelben Plan! Wir 
Lönnten hierauf antworten, daß Klingemann, wenn auch nicht durch feinen 
Blan, ſich doch wenigſtens durch feine unendlich überlegene Ausführung 
deſſelben auszeichnet; unfere Meinung aber ifl, daß fein Anfprud auf Oris 
ginalität ſich auf etwas ganz Anderes gründet, nämlid auf ſeine vollſtän⸗ 
Dige Zufriedenheit mit ſich felbit und feiner Dramaturgie, fo wie auf dem 
Kaltblütigen Heldenmuth, womit er bei allen Gelegenheiten diefe Zufrieden⸗ 
beit zu erfennen giebt. Klingemann war fein armer ſchüchterner Dramen» 
ichmiet, ter das Publitum um Gottes willen gebeten hätte, ihm wicht die 
Tracht Prügel zu verabreichen, die cr verdient, fontern ein Leder, ſtolzer 
Dramenichmied, der fih als ſolchen befannte, ja fi jogar auf feine überein 
andergehäuften Machwerke fegte und von dieler Höhe herab über das deutſche 
Drama in Allgemeinen eine ſcharfe kritiſche Aufficht führte. 

Intefien, wir müflen Klingemann, wie feinen Abasser, immer „weiter 
— weiter — weiter" gehen laflen, denn es wird nun Beit, daß wir und zu 
dem dritten ter obengenannten Schriftſteller wenden. 

Dr. Adolph Müllner if von allen diefen Dramenfchmieden in 
Ergland am beiten belannt und mehrere feiner Werte find in unfere Sprache 
überfegt worden. In feinem Baterlante war fein Ruhm oder wenigfiend 
fein Ruf ſebr bedeutend, denn wur felten hat ein Dramenſchmied jo viel 
Aufichen gemacht als Müllner — ja es gab ſogar nicht Wenige, welche be⸗ 
haupteten, er ſei etwas weit beſſeres als ein Dramenſchmied: Kritiker des 
fehlen eder eines noch tieferen Manges warfen in allen Winkeln Deutſch⸗ 


Iands bie Frage auf, ob Müliner nicht ein Voet und Dramatifer ſei? De 
die Höheren Autoritäten dieſer Frage nur ein hartnädiges Schweigen ent 
gegenſetzten, fo ſahen dieſe Kritifer jechften Ranges fi in die Nothwendig⸗ 
keit verfegt, fie ſelbſt zu beantworten und thaten es fo laut und nachdrück⸗ 
li, daß man hätte meinen follen, es feien dadurch alle Zweifel, weldye Dies 
fer und Iener in diefer Beziehung noch gehegt, volltändig zerftreut worben. 
In Rüllner ſelbſt ſcheint au nur wenig Zweifel an feiner eigenen Größe 
übrig geblieben zu fein — eine Selbſttäuſchung, die um fo verzeißlidder war, 
als das Theaterpublikum fie faR einftimmig zu theilen ſchien und ihm in fo 
und jo vielen Theatern allabendlich donnernden Beifall ſpendete. Ein jol- 
der Ruhm if eine angenehme Speiſe für den hbungrigen Appetit eines 
Nenſchen und er wälzt ihn als einen füßen Biſſen natürlid fo lange als 
möglih auf der Zunge herum, was ihm aber im Grunde genommen nur 
wenig nügen kann, ja oft erweiſt fi das, was für den Geſchmack Zucker 
war, als Bleizucker, io bald es Hinuntergeihludt if. Beſſer wäre es, glaus 
ben wir, für Mällner geweien, wenn ibn ein ſchwächerer Beifalldonner und 
von wenigeren Theatern begrüßt hätte. Denn was ift Gutes Dabei, ſelbſt 
wenn nichts Uebles darin läge? Und wenn taufend Hüte bei der Nennung 
des Namens eined Dichters in die Höhe fliegen, fo wird er fel6R doch des⸗ 
wegen um fein Saar breit größer, ja nid einmal die Borftellung, die man 
fi von feiner Bröße macht, wird dadurch zuletzt im mindeflen zu feinen 
Gunſten alterirt. Die Gegner werben durch dergleichen übertriebenen Bei⸗ 
fall zu nur um fo firengerer Prüfung angeſtachelt, die Sache wird endlich 
genau befannt und der Dichter, weldger anfangs mit thörichter Freigebigkeit 
behandelt worden, ſieht ſich fpäter um fo Eärglicher bedacht. Niemand wird 
leugnen, daß Müllner ein Mann son bedeutendem Talent war. Er war 
eigentlih Juriſt und wir glauben gern, daß er in diefer Eigenſchaft fehr gut 
geichrieben habe; ſich aber zum Poeten aufwerfen, war ein ganz anderes 
Unternehmen, durch welches er nad unferer Ueberzeugung auf eine Bahn 
geführt warb, für welche er nicht geſchaffen war. 

Das Erfte, was wir von Müllner Laien, war die „Albaneferin“, 
deren Wirkung auf und ron der Art war, daß wir und nicht verfucht fühl⸗ 
ten, unſere Bekanntſchaft mit Düllner weiter fortzufegen. Cine bandgreife 
liche Nachahmung von Schillers Braut von Meſſina, ohne irgeudwelche 
Philoſophie oder Sentimentalität, die nicht entweder volllommen abge 
drofchen oder vollfommen falich, oft fowohl daß eine ald dad andere wäre, 


221 


zu einem gewiflen hohlen Umfange aufgeblafen, aber ohne alle wirkliche 
Größe und durdgängig auf leeres Geklingel und Betöfe und andere Ele⸗ 
mente der unzweifelbafteften Profa gebaut, konnte ein ſolches Werk uns in. 
Bezug auf Müllner’8 Genius ald Poet durdaus nicht befriedigen, und da 
die Zeit Eoflbar und tie Welt groß genug iſt, fo hatten wir uns im Stillen 
vorgenommen, dieſem Dichter künftig auß dem Wege zu gehen. Nichts 
befloweniger machte unfer würdiger Freund fpäter ſowohl in feinem Vater⸗ 
Iante als aud außerhalb defielben in der Gunſt des Publikums fo bedeu⸗ 
tende Fortſchritte, daß feine Arbeiten unfere Aufmerkfamkeit aufs Neue in 
Anſpruch nahmen, denn wir halten die Exiſtenz eines Achten Dichters in 
irgend einem Lande für eine jo wichtige Erſcheinung, daß felbft die mindefle 
Wahrſcheinlichkeit eined ſolchen eine nähere Erörterung verdient. Demge⸗ 
maß lafen wir die „Albaneferin* noch einmal und fludirten jodann die 
fämntlichen dramatiichen Werfe Müllner's aufs Bewifienhaftefte, wobei wir 
die denfelben beigegebenen VBorreden, Anhänge und anderen profaiihen Zu⸗ 
fäge nicht uberfaben. Nachdem wir und auf diefe Weiſe alle Einficht ver- 
ſchafft, welche in dieſer Beziehung zu erlangen möglich war, ſprechen wir 
unfer Urtheil über Müllner nad beſtem Wiffen und Gewiffen in Folgen⸗ 
dem aus. 

Müllner war nad unjerer Meberzeugung und trog Allem, was zum 
Gegentheile gefagt oder gelungen worden, fein Dramatiker unt hat niemals 
eine Tragödie geichrieben. Entfcheidungsgründe für dieſes Ichroff abſprechende 
Urtheil könnten wir, wenn ber Beweis hauptfächlih und obläge, in großer 
Menge anführen. Es iſt indefien ein Grund vorhanden, der, wenn unjere 
Bemerkung richtig iſt, faftiih alle übrigen einſchließt. Müllner's ganzes 
Denken und Weſen fcheint bis zur tiefften Wurzel ein profaifches, aber kein 
poetiſches geweien zu fein; feine Dramen find daher wie alles andere, was 
er zu Tage geförtert, nicht geſchaffen, fondern fabrizirt, ja wir glauben, daß 
fein Sabrifationsprincip an und für fid ſchon ein duͤrftiges und entlehntes 
if. Vergebens würde ber Leſer in fämmtlichen fieben Bänden eine tiefere 
oder Elarere Anficht, einen fchöneren oder höheren Gedanken juchen, ald man 
von dem gewöhnlichften prafticirenden Advocaten erwarten kann. 

Nichtsdeſtoweniger müflen wir, indem wir Müllner als einen Dramen- 
ſchmied Hinftellen, doc erwähnen, daß er an Talent und Intelligenz höher 
ſteht, als feine beiden vorgenannten Collegen. Er bejaß einen beflern Ge— 
ſchmack als Klingemann und verfchmähete die Hülfe von Blig und Schieß⸗ 


pulver faft gänzlich, nahm ſich die Mühe, einen großen Theil feiner Trago- 
dien zu reimen und fchrieb Überhaupt mit einer gewifien Sorgfalt. von wel« 
der der Braunfchweiger Theaterdirector nidyt8 zu wiſſen fchien. 

Die Hauptfrage aber in Bezug auf Müllner ift eben fo wie hinfichtlich 
jener anderen Dramenichmiede: Worin befteht der eigenthümliche Hand» 
griff, deflen er fidh bei Ausäbung dieſes ſeines Handwerkes bediente? Wir 
wollen uns demgcmäß bemühen, fein Geheimniß — fein Recept zum Schaus 
ſpielmachen zu ergründen und e8 unfern Leſern mitzutbeilen. Büllner’s 
Recept war aber im Grunde genommen gar Fein geheimnißvolles, fondern 
ſchwamm, fo zu jagen, oben anf und fonnte, wie man glauben follte, ſelbſt 
von einem Menichen von weit geringerer Begabung, als Müllner befaß, im 
Anwendung gebracht werten. Zachariae Werner hat befanntlidy ein 
entſetzliches Trauerſpiel gefchrieben, welches den Titel führt: „Der vierund« 
zwanzigfte Februar.“ Die Geſchichte dreht fih um einen in fehr herabge- 
fommenen Umftänden lebenden Bauer, deſſen Frau und einen reichen Frem⸗ 
den, welcher bei ihnen wohnt. Diefer legtere wird in der Nacht des vier- 
undzwanziaften Februars von den beiden Erfiern ichändlicherweife ermordet 
und giebt fidh fterbend als ihren eigenen einzigen Sohn zu erkennen, welcher 
nad) Haufe zurüdgefehrt ift und ihnen ein behagliches, ſorgenfreies Alter 
bereitet haben würde, wenn fie ſich nicht auf dieſe Weile übereilt Hätten. 
Indeſſen, die verbrecheriſche That ift einmal begangen und zwar mit einer 
halbverrofteten Sichel und e8 bleibt der ganzen Geſellſchaft natürlich weiter 
nichts übrig, als vollends zu Grunde zu geben. Diele Leute find nämlich 
einmal vom Schidjal ſchon verdammt, weil der Großvater ein Verbrechen 
begangen hatte, wegen deſſen feine Nachkommen, gleich Atreus’ Söhnen, 
unerbittlich verfolgt werden, ja das Schicdjal ninunt es damit fo genau, daß 
diefer felbe vierundzwanzigfte Februar, der Tag, wo jene alte Sünde be= 
gangen ward, für die Familie immer nod ein verhängnißvoller Tag und die 
alte Sichel, das Werkzeug des erften Verbrechens, ſtets auch wieder das 
Werkzeug eined neuen Verbrechens und einer neuen Züchtigung iſt, denn 
unbegreiflichermeije haben diefe Leute während eines halben Jahrhunderts 
nie daran gedacht, fle zum Schmied zu tragen, damit er Hufnaͤgel daraus 
mache, fondern fie ganz ruhig und zwar fehr unflugerweiie faft wie eine Art 
Köder für den Satan an der Wand hängen laſſen. Dies tft die tragiſche 
Lehre, welche in Werner’8 „vierundzwanzigftem Februar“ enthalten iſt und 
da die fämmtlihen Perfonen des Stücks mit kaltem Giien niedergeſtochen 





— 


223 


oder in Hanf aufgebangen werben, fo kann man nicht fagen, daß fle de& er- 
forderlichden Nachdrucks entbehre. 

Werner's Stück ward 1809 in Weimar unter der Leitung des großen 
Goethe ſelbſt aufgeführt und fcheint auf das Publikum feinen geringen Ein- 
druck gemacht zu haben. In der That iſt dieſes Stück auch durchaus nicht 
ohne Gehalt und eine gewifle rohe Kraft, und wenn Iemand fo verſtockt iſt, 
daß er unbedingt in einem Schlachthauſe oder im Angefiht Ted Balgend 
fteben muß, ehe er fi zu Thränen rühren läßt, -jo kann es eine fehr. behag⸗ 
liche Wirkung auf ihn äußern. Ein Verdienft wenigftens ‚läßt fich ihm 
nicht abflreiten, nämlich das, dab es den Geſchmack des Publikums getroffen 
hatte, ‚denn der fleine Keim von Originalität, welcher darin liegt, hat fi 
bereit zu einem ganzen Walde Nabahmungen entwickelt. ine Zeit lang 
war die Schickſalspoeſie ein förmlich feftfiehender Zweig der deutfchen Dras 
maturgie und ed gab beſondere Schidjaldtragäden, gerate fo wie es Lein⸗ 
weber und Baummollenweber giebt. Aus diefer Schickſalsfabrik haben wir 
fon in Grillparzer's „Ahnfrau* eine Probe gejehen, der größte Schickſals⸗ 
fabrifant aber, dad Haupt und der Fürſt aller Schidjaldpramatifer, war 
Adolph Müllner. Er machte in Schickſal und nur in Schickſal; das Schick⸗ 
fal ift die Baſis und der Hauptbeftandtheil feiner fänımtlichen tragätifchen 
Grzeugnifle; hätte man dieſes eine Princip abichneiden wollen, fo Hätte 
man fein Rohmaterial vernichtet und er hätte nicht mehr fabrizirem 
können. 

Müllner erkannte es an, daß er Werner viel zu verdanken habe, wie⸗ 
wohl nach unſerer Meinung nicht mit der gebührenden Wärme. Werner 
Hatte ihn zum Manne gemacht, denn hätte es feinen „vierund;wanzigften 
Bebruar” gegeben, fo hätte es auch feinen „neunundzwanzigften 
Sebruar”, feine „Schuld*, feine „Albanejerin” und wahrſchein⸗ 
lich aud feinen „Rönig Dngurd“ gegeben. Müllner begann nämlich 
fein Geſchäft als Dramenfchmied mit einer Copie von Werner's „vierund⸗ 
zwanzigften Februar *, vor welchem Müllner’3 Stück indeflen doch injofern 
etwas voraus hatte, al8 ein Scleifftein mit auf das Theater kam und der 
Zuſchauer das Vergnügen hatte, dad Mordwerfzeug vor Verübung bed Ver⸗ 
brechens erft wegen zu fehen. Der Berfafler war dabei fo ehrlich, feine 
Nahahmung öffentlich einzugeftehen, denn er nannte dieſes Stüdden „neun« 
undzwanzigften Februar“ und bedankte fich in der Vorrede, obſchon etwas 
zögernd, bei Werner, als jeinem Meifler und Urbilde. Aus irgend einem 


unerflärliden Grunde ward Diejer „neunundzwanzigfte Februar“ nicht als 
Makulatur in ten Höferladen geichidt, fondern fam in große Aufnahme. 
&8 ward fogar unter bem Titel „ Eumenites Düfter * eine fehr matte Paro- 
die Darauf geſchrieben, welche Müllner wieder abdruden ließ; eben fo gab 
man den Wunſch zu erfennen, bag der Schluß des Stücks aus einem trauri» 
gen in einen freudigen verwantelt werde — einen Wunſch, den der uner- 
mübdliche Dramenichmied aud erfüllte und aus Rückſicht für ſchwache Nerven 
den „Wahn“ fhrieb, welder zwar aud mit Thränen endet, aber mit Freu⸗ 
denthränen. WMüllner hat fi überhaupt mit diefen feinem „neunundzwans 

- zigften Februar“ ein beſonderes Verdienft erworben, denn wer anders als 
er hätte ein zweite® und ein drittes Geſicht auf einen und denſelben Kirſch⸗ 
tern ſchneiden können, welcher Kirſchkern erft geborgt, ja, io zu fagen, halb 
geftohlen werden mußte? 

Bon ta ab begann Müllner ſcheinbar auf eigenen Füßen zu fliehen 
und bemühbete fich, fih und Andere zu überreden, daß ſeine Schuld an Wer- 
ner hiermit abgeichlofien ſei. Nichtodeſtoweniger aber ift es klar, dag er 
mit jedem Tage neue Schulden häufte. Denn hatte nicht dieie einzige Wer⸗ 
ner'jche Idee fi Müllner's Gemüth fo vollftändig bemächtigt, daß er ganz da⸗ 
von befefien war und jo zu fagen gar feinen andern tragiichen Gedanken hatte? 
Dap ein Menſch an einen gewiflen Tage des Monats ein Verbrechen begeht, 
für welches ein unfichtbared Fatum ibn fehweigend verfolgt, dad Vergeben 
am wahrfcheinlichtien an demſelben Tage des Monate alljährlich ſtraft — 
wenn nicht, wie im „neununtzwanzigften Februar“, ein Schaltjahr ift und 
das Fatum deswegen in gewifler Beziehung geprellt werden fann — und 
nicht eher ruhet, als bis der arme Wicht felbft und vielleicht fein letzter 
Nachkomme mit dem Beſen der Bernichtung hinweggefegt find: Dies ift, 
mehr oder weniger verftedt, die tragifche Eflenz, dad Zebensprincip — ob 
ein natürliches oder galvaniiches, wollen wir nicht entfcheiden — aller Müll⸗ 
ner'jchen Dramen. So haben wir in jenem cwigen „neunundzwanzigfien 
Februar? das Princip in feinem nadten Zuftante. in alter Holzhauer 
oder Waldbewohner hat ſchon vor langer Zeit an diefem Schalttage mit der 
Scweiter feines Weibes eine Zodjiinde begangen und deshalb muß ſeine 
ganze Nachkommenſchaft bewußt oder unbewußt in Blutichande und Mord 
bebarren, intem ter Tag ter Kataftrophe regelmäßig alle vier Jahre an 
demielben neunundzwanzigſten wicderfchrr, bis endlich zum Glück tie ganze 
Geſellſchaft umgebracht wird und damit tie Geſchichte ein Ende hat. 


—— 








225 


=. . 

Inder „Schuld“, einer weit höher ftrebenden Leiftung, haben wir 
genau biefelbe Doctrin einer jährlichen Wiederkehr und das Intereffe dreht 
fih abermals um die zarte Brage von Mord und Incefl. In der Alba⸗ 
neferin?®, welche, wie fle nun eben ift, wirflich als Müllner’s beftes Wert 
betrachtet werden fann, finden wir die Schickſalstheorie ein wenig colorirt, 
als ob das Säftchen dem Berfaffer allgemach widerlich würde und er es des⸗ 
halb in einen Löffel Syrup hüllen möchte. Demgemäß ift es Hier der Fluch 
eines Sterbenden, welcher auf den Verbrecher einmwirft, welcher Fluch, da er 
noch durch eine altherkömmliche Sünde in der Familie des Fluchers unter- 
fügt wird, einen ganz eigenthümlichen Effect Hat, indem die betreffen- 
den Perfonen Batermord, Brudermord und die alte Inceftgeichichte, fo 
wie zwei Selbftverbannungen und zwei fehr entichiedene Selbſtmorde durch⸗ 
machen, 

Man muß in der That glauben, Müllner babe ohne diefe Schickſals⸗ 
panacee gar nichts fchaffen Fönnen, denn in „König Ungurd“ jcheint 
es, als ob er einen ſolchen Verſuch gemacht und gefunden hätte, daß es doch 
nicht gehe. Diefer „ König Ungurd“, ein erbichteter Bauernfönig von Nor⸗ 
. wegen, fol, wie man un mittheilt, eine rohe Skizze von Napoleon Bona- 
parte fein und entwidelt allerdings in den erften zwei oder drei Acten einen 
nicht geringen Brad von Tapferfeit. Dabei ift er ein fehr tugendhafter 
Mann und Fühn wie Ruy Diaz, bis er plöglic mitten in einer Schlacht, 
nachdem das Stud ſchon weit vorgerüdt iſt, von einer wunderlichen Laune 
oder Brille ergriffen wird, fi an einen einfamen Ort unter Selfen zurüd- 
zieht und ſich Hier auf jehr wohlfeile Weiſe mit lauter Stimme dem Teufel 
überantwortet, der allerdings nicht perfönlich erjcheint, um ihn mit Befchlag 
zu belegen, aber doch, wie ſich ſpäter heraußftellt, das Anerbieten bereit- 
willigft angenommen hat. Denn Yngurd wird von diefer Zeit an ganz 
entfeglich mürrifch und lafterhaft und thut fafl weiter gar nicht, als daß er 
Menſchen Hicanirt und umbringt, bis endlich, nachdem das Maß feiner Un⸗ 
gerechtigfeiten voll ift, er ſelbſt hicanirt und umgebracht wird und der Aus 
tor, durch dieſes fein tragiiches Untverfalelirir mächtig unterftügt, fein Stüd 
zu einem ganz bebaglihen Schlufje bringt. 

Dies aljo ift Muͤllner's dramatifches Geheimniß — dies war der ein⸗ 
zige und alleinige Patenthaken, mittelft welchem er feine aus irdiſchem 
Staube geformten Iragödien an die höhere Geifterwelt anhängen wollte, 
um auf diefe Weife fo zu fagen durch ein Zugwerf eine freie Communica⸗ 
„Gaslgle. IV. \ 15 


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tion zwiſchen ber Adtsaren profatichen Erbe und dem unfldtbaren poetiſchen 
Himmel ind Werk zu fehen. Das größere oder geringere Verbienft diefer 
feiner Erfindung oder vielmehr Berbefferung — denn Werner ift der eigent- 
Tiche Patentinhaber — gab Damals, als fie auftaudgte und noch lange nach⸗ 
ber Stoff zu einem mit vieler Lebhaftigfeit und Erbitterung geführten 
Kampfe. 

Die Eleineren kritischen Lichter waren Über biegen Bunft jehr getheilter 
Meinung und da die höheren Autoritäten, wie wir fchon früher bemerften, 
fi nicht dazu verſtehen wollten, irgendwelches Licht darüber zu verbreiten, 
fo dauerte der Streit ziemlid lange. Was uns betrifft, fo geftehen wir, 
daß wir dieſes Merept zu dramatifchen Thränen nicht viel höher ſtellen 
möchten, als die zerichnittene Zwiebel in der „BZähmung eier Widerfpen- 
figen.*“ Schlau in dem Taſchentuch verborgen, reichte diefe Zwiebel bin, 
um Chriſtoph Sly zu täuichen ; fie erreichte auf Diele Weiſe ihren Zweck, 
was hinfichtlich der Schidjalderfindung mit den deutſchen Chriſtoph Siy’s 
eben fo der Ball geweſen zu fein fcheint. 

Mäüllner's Schidjaletheorie ift von wehrern feiner Gegner auch des⸗ 
wegen angegriffen worden, weil fie ter chriſtlichen Weligion feindlich fei. 
Wir würden den Zuftand der chriſtlichen Religion allerdings für einen fehr 
hinfälligen halten, wenn Müllner's Traueripielfabritation eine bemerlkbare 
Wirkung darauf außern fönnte. Nichtsdeſtoweniger wollen wir, da wir die 
Sache einmal zur Sprache gebracht haben, bemerken, daß dieſe Schidfals- 
geichichte und keineswegs eine chriftlidhe Lchre, ja nicht einmal eine mu- 
hamedaniſche oder heidniiche zu fein fcheint. Das Fatum der riechen war, 
obſchon eine falfche, Doch eine erhabene Hypotheſe und harmonirte hiurel- 
hend mit den ganzen finulichen und materiellen ®ebäude ihrer Theologie; 
ed war ein Hintergrund vom ticfften Schwarz, auf welchem fich jene farben 
reihe Phantasmagorie ſehr gut ausnahm. Ueberdies weilte bei ihnen bie 
rächende Macht wenigftend in ihren fihtbaren Kundgebungen blos an den 
hohen Stätten der Erde und bejuchte nur die Häufer fluchwürbiger Herr⸗ 
fcher oder anderer großer Berbrecder, vor denen die Welt ohne ſolch wun⸗ 
derthätiges Einjchreiten feinen Schuß gefunden haben würde, da ſie für Die 
Mache derfelben unerreichbar waren. Niemals aber erniebrigten fidh, jo viel 
wir wiflen, die Erinnyen zu gewöhnlichen Polizeidienern und dad Fatum zu 
einem Briedensrichter, um arme Zeufel wegen Beraubung eines Hühner 
ftalles zur Tretmühle zu verurtheilen oder den Boden mit Bußangeln zu 


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befireuen, um dadurch der Wiltdieberei Einhalt zu thun. Und, was hat 
dies alled mit der geoffenbarten Vorſehung unferer Zeit zu thun — jener 
Mat, Deren Thun und Walten fi nicht nad dem Jahre oder Jahrhun⸗ 
derte und nit blos an einzelnen Individuen oder Nationen fund giebt, 
ſondern fih durch die ganze Ewigfeit und über die unendliche Mafle der 
Weſen erſtreckt, welde fie regiert und erhält? 

Indeflen, es bedarf Eeiner theologifchen Argumente, um biefer Müll» 
ner'ſchen Schickſalotheorie ihr Urtheil zu fprehen. Ibr Werth als drama⸗ 
tiſches Princip laͤßt ſich, wie es fcheint, fchon durch die eine Erwägung feſt⸗ 
flellen, daß heutzutage kein Menſch im Geringſten mehr daran glaubt, und 
dag Müllner ſelbſt nicht Daran. glaubte Wir behaupten nicht etwa, daß 
die Dichtung eine Thatſache fein jolle oder daß kein dramatiſches Erzeugniß 
ächt fei, wenn es nicht gerichtlich beichworen werden könne, fondern bloß, 
daß die Dichtung nicht Lüge und Wahnflnn fein dürfe. Wie foll im 
Drama oder in einem Gedicht irgend einer Urt eine confequente Lebens⸗ 

- philofophie, welche die Seele und das Urweſen aller Poeſie if, zur Ans 
ſchauung gebracht werden, wenn der Dichter und jeder Sterbliche mit ihm 
weiß, daß Die ganze moraliſche Bafls feiner Idealen Welt eine Lüge ift? 
Und iſt es wohl etwes Anderes als eine Rüge, daB das menichlihe Leben 
fih auf das abgeſchmackte Princip eines Fatums gründe oder gründen fünne, 
welches Holzhauer und Kuhhirten an gewiflen, Tagen bed Monatd mit räth⸗ 
felhaften Heimſuchungen verfolgt ? 

Wir Fönnten, wenn es in diefem Yale von irgendwelcher Bereutung 
wäre, hinzufügen, daß wir Müllner's tragiichen Kunftgriff auch nod aus 
einem umfaflenderen Grunde für gänzlich ungenügend halten und zwar ein» 
fach aus dem Grunde, weil es ein Kunftgriff if, ein Recept oder ein 
Handwerksvortheil, welcher, wenn er auch no jo vartrefflih wäre, durch 
wieberholten Bebraud in gerazu anſtößige Manieririheit ausarten muß. 
Hierin aber liegt eben der Unterichieb zwiigen Schaffen und Fabri⸗ 
ziren; das letztere bat feine Manipulationen und geheimgebaltenen Pros 
cedusen, die won Jedem gelesnt werben können, das erſte aber nicht. Im 
ber Poeſte giebt es Fein Sehetsunig, weldes die geringfte wirkiame Kraft 
beſaͤße, als das eine Univerſalgeheimniß: daß der Dichter mit einer reine 
ven, höheren swb reicheren Natur begabt fei, ald andere Menſchen, welche 
Hößsre Natur ihm ſelbſt die geeignete Form zur Werkörperung ihrer In⸗ 
ſpiratjonen lehrt, wie denn auch in ber That die unpergängliche Schön. 

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beit berfelben dur jede Form mehr oder weniger deutlich hindurch⸗ 
leuchtet. 

Hätte Müllner irgendwelchen Anfprud auf dieſes letztere große Ge⸗ 
heimniß, fo wäre e8 unfere Pflicht, länger und’ ernfter bei feinen Eleineren 
zu verweilen, wie unrichtig und dürftig Diefelben auch fein möchten. Weil 
ihm aber ein folder Anfprud nit zur Seite fleht, fo glauben wir nun⸗ 
mehr von ihm Abſchied nehmen zu können. Cine nod weiter außgeführte 
Analyfe feiner einzelnen Dramen zu geben, wäre eine leichte, aber lang» 
weilige und undankbare Aufgabe. ine geſchickt gearbeitete Dampfmaſchine 
kann mit einiger Ausfiht auf Ausbeute für die Wiffenfchaft aus einander 
genommen werben, menn fie gleih auch nur eine aus Menfchenhänden 
bervorgegangene Schöpfung iſt; wer aber würde feine Zeit damit ver- 
fhwenden wollen, den Mechanismus von zehn Kaffeemühlen aus einander 
und wieder zufammenzufchrauben? ben fo wenig wollen wir als Proben 
der Diction und des Gedankenganges, welcher in diefen Dramen herrſcht, 
Auszüge mittheilen. Wir haben fchon gefagt, daß der Gedankengang ein 
ſchulgerechter, wohlgeordneter und bühnengerechter iſt, daß auch die Diction 
gut und metrifch und grammatifch richtig iſt und ſich an beiden weiter Fein 
Fehler auffinden läßt, als daß fle Poeſie fein wollen und dennoch durch und 
durch Die unverfälfchtefte Brofa find. Diefe Thatfache dur Auszüge dar⸗ 
thun, wäre ein vergebliches Unternehmen. Nicht einige wenige Büfchel 
Haidekraut, fondern taujend damit bewachiene Acer bilden die öde Haide 
und wer einen netten Strauß davon begehrt, ter greife nur aufd Gerathe⸗ 
wohl in Müllner’3 gefammelte dramatifche Werke hinein; wir für unfern 
Theil aber mögen nichts mehr damit zu thun haben. 

Nicht aus Groll gegen die deutihe Nation, welche wir aufrichtig Ties 
ben, haben wir auf dieſe Weife von ihren Dramenichmieden geforochen und 
wenn wir und in unferm eigenen Baterlande umſehen, fo fühlen wir nur 
zu wohl, daß die Deutichen zu und fagen können: „Nachbar, kehre vor 
Deiner Thür." Uebrigens haben wir auch ſchon gefagt, daß es Dramen- 
fhmiede geben muß und die drei Hiergenannten find die beften ihrer Klaſſe. 
Wer von unfern Landsleuten dergleichen Produkte bezieht und findet, daß 
fein innerer Menſch fich dabei wohlbefindet und gedeihet, nun der möge da⸗ 
mit fortfahren, aber wohl möge er nicht vergeilen, daß es nicht die deutſche 
Ziteratur iſt, was er auf diefe Weife verfchlingt, fondern nur der Schaum, 
um nicht zu fagen, der Abfchaum, der deutfchen Literatur, den er vielleicht, 





wenn er warten gelernt bat, in nit allzu langer Beit in der neuen und 
vielleicht wohlfeileren Form des Bodenſatzes genießen kann. Auf diefe Weiſe 
thue Jeder das Seine: 


„No iſt es Tag, da rühre fi der Mann; 
Die Nacht tritt ein, wo Niemand wirken fann.” 


Drad von Otto Wigand in Leipzig. 


Inhalt. 


Dr. Srancia 
Mirabeau 
Burus 


| Deutſche Wramenfchmiede . 


7%