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E. DORSCH, M.D. |
Monroe, Mich. H#
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|
. THE DORSCH LIBRARY.
\ — 18 —
The private Library of Edward Dorsch, M. D., of
Monroe, Michigan, presented to the University of Michi-
gan by his widow, May, 1888, in accordance with a wish
| expressed by him.
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Thomas Carlyle's
ausgewählte Schriften.
Dritter Band.
Thomas Carinles) _
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ausgewählte Schriften.
— — — —
Deutſch.
A. Kreßſchmar.
Dritter Band.
Sean Paul Sriedrich michter. — Boswells Lebensgeſchichte Johnſon's. — Sir Walter
Scott. — neber Geſchichte.
Leipzig
Verlag von Otto Wigand.
1855.
Jean Paul Sriedrich Richter *).
Erſter Artikel.
(1827.)
Als Dr. Johnſon zuerfi von Boswell's Abſicht hörte, feine Lebens⸗
gefehichte zu ſchreiben, erklärte er mit ziemlicher Entſchiedenheit, er werde,
wenn er glaubte, daß Boswell wirklich gefonnen fei, fein Leben zu ſchil⸗
dern, dies dadurch verhindern, daß er Boswell das feine naͤhme!
Daß große Autoren fi wirklich einer ſolchen Borbeugungsmaßregel
gegen ſchlechte Biographen bedienen follen, möchten wir freilich keineswegs
gutheißen, gleihwohl aber-ift ed wahr, daß, fo reich wir auch an Biogras
phien find, Doch eine gutgefchriebene Lebensgefchichte faft eben fo felten if,
als ein gut angewendetes Leben, und es giebt ficherlich weit mer Menichen,
deren Geſchichte gefchrieben zu werben verdient, ald Leute, welde geneigt
und fähig wären, fie zu ſchreiben. |
Ueber große Männer aber muß, wie über die alten ägyptiſchen Könige,
ein Todtengericht gehalten werden, ehe man fie einbaljamiren Tann, und
was find auch in der That jene „ Skizzen“, „Anas“, „Gelpräde*, „ Stine
men“ u. bergl. anderes ala die Erklärungen und Reden eben fo vieler
fhlecht unterrichteter Adoocaten, Geſchworenen und Michter, aus deren Wi⸗
derſprüchen am Ende ein richtiger Wahrfpruch hervorgehen ſoll?
Zum Unglüd find ſchwache Augen gerade die, welche glänzende Gegen⸗
fände am meiflen Lieben und nicht ſobald fcheidet ein großer Mann und
läßt feinen Charakter als öffentliches Eigenthum zurüd, fo flürzt auch for
9 Jean Paul Friedrich Richter's Leben, nebft Eharakteriftif feiner Werke, von
Heinrich Döring. Gotha, Henninge, 1826.
Carlyle. III. 1
2
gleich ein Schwarm Fleiner Menfchen darauf zu. Hier verfammeln fie ſich,
blinzeln mit der Sehkraft, die ihnen eben befchieden, daran hinauf, fpähen
von fern und flattern bald von diefer, bald von jener Seite daran vorbei,
während jeder ſich ſchlau und mit aller Kunft bemüht, einen Refler in fei-
nem Fleinen Spiegel aufzufangen, obſchon fehr oft diefer Spiegel durch Ver⸗
tiefungen oder Erhabenheiten fo verzerrt und obendrein fo außerordentlich
gering von Umfang tft, daß keine Rede davon fein Tann, ein wahres Bild
oder überhaupt ein Bild darin zu fehen.
Michter war weit gutmüthiger ald Iohnfon und nahm viele ärgerliche
Dinge mit dem Geifte eines Humoriften und PHilofophen hin; auch können
wir nicht glauben, daß ein fo guter Menſch, felbft wenn er dieſes Werk
Döring’s voraudgefehen hätte, fo weit gegangen wäre, ihn deöwegen zu er⸗
morden.
Döring ift ein Mann, den wir jchon jeit mehrern Jahren als Compi⸗
Iator, Ueberfeger und Dichterling Tennen, defien Hauptunternehmen aber
feine „Salerie Weimariſcher Autoren * ift, eine Reihe feltfamer Tleiner Bio⸗
graphien, welche mit Schiller anfangen und ſich ſchon über Wieland und Her⸗
ber erfiredlen, jet auch, wahricheinlich mit dem Rechte der Eroberung, Klop⸗
Rod, und zulegt, kraft eines gewiflen droit d’aubaine, Jean Paul Friedrich
Richter umfaflen, obſchon Feiner diefer Heiden Iehtern Weimar angehörte.
Schriftfteller, dad muß man zugeben, find glücklicher daran, als der
alte Maler mit jeinen Hähnen, denn fle fchreiben ganz ungenirt und ohne
Furcht fi Tächerlich zu machen, den Namen ihres Werks auf das Titelblatt
und von nun an ift der Zwed und die Tendenz eines jeden Bandes unbe»
flreitbar. Döring kommt dieſes Privilegium zuweilen fehr zu flatten, außer⸗
dem möchte feine Zufammenftellungöwelfe, da fie gar fo eigenthümlich ift,
bann und wann Schwierigfeiten verurfachen.
Biographien find nad Döring’ Methode eine fehr einfache Sache.
Buerft erſieht man aus dem Leipziger Converfationglerifoh oder aus Jör⸗
den's Lexikon deutfcher Dichter und Profaiften oder Flögel oder Koch, oder
irgend einem andern dergleichen Eompendium oder Handbuch das Datum
und den Ort der Geburt des betreffenden Individuums, feine Herkunft, ſei⸗
nen Erwerbözweig, feine fonftigen Verhältniſſe und die Titel feiner Werke;
den Tag jeined Todes weiß man ſchon aus der Zeitung, und dies zuſammen⸗
genommen bildet Die Grundlage des Gebäudes, Dann geht man feine
Schriften und alle anderen Schriften durch, in welchen von ihm und feinem
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Wirken gefprochen wird und überall, wo man eine Stelle findet, in ber fein
Name vorkommt, fchneidet man diefe heraus und Iegt fle auf die Seite.
Auf diefe Weife wird eine Maffe Material zufammengebradht und dad Bauen
Tann dann lo@gehen. Gin Stein wird auf den andern gelegt, gerade wie
er in die Hände fallt; bier und da wirft man ein paar Kellen biograpbifchen
Mörtel ald Kitt dazwiſchen und fo fleigt das feltfamfte Gebäude plötzlich in
die Höhe. Geſtaltlos ragt e8 nad) allen Richtungen bin, nur nicht nach dem
Himmel empor. Hier liegt ein Granitblod, dort eine Mafje Pfeifenthon
und wenn dad Material alle ift, fo hört der Bau auf und bleibt als ein
architektoniſches Raͤthſel für die Nachwelt ftehen.
Diefe Art und Weife, eine Lebensgejchichte zu fchreiben, hat aber auch,
ohne Bild gefprochen, ihre Schattenfeiten. Erſtens kann die Compoſition
nicht wohl das fein, was die Kritiker harmoniſch nennen, und allerdingd find
auch Herrn Doͤring's Uebergänge oft ziemlich ſchroff. Der Held wedielt
feinen Gegenftand und feine Befchäftigung auf die unerflärlichfte Weiſe von
Seite zu Seite, ja oft von Sag zu Sap. Eine Vergnügungdreife und eine
fünfzehnjährige Krankheit werben mit gleicher Kürze abgemacht. In einem
Augenblick findet man ihn verheirathet und auch ſchon als Vater von drei
hübſchen Kindern. Nicht weniger plöglih flirbt er. Er fludirt wie ge-
woͤhnlich, ſchreibt und dichte, empfängt Beſuche, iſt voll Lehen und Thätig«
Zeit, bis plöglih ein Paragraph fih wie eine der Fallthüren in Mirza’s
Traum unter ihm öffnet und er ohne Weiteres in dad Meich der Schatten
hinadflürzt. Allerdings vielleiht nicht auf immer, denn wir haben Bei⸗
fpiele, daß er nach feinem Tode wieder auffteht und feine Angelegenheiten
ordnet. In frühern Zeiten war der Menſch tobt, wenn das Gehirn einmal
heraus war, Döring aber weiß das anders einzurichten.
Trogdem aber begen wir feinen Groll gegen ben armen Döring; im
Gegentheile Faufen wir feine Waare regelmäßig und es macht und wahrhaf-
te8 Vergnügen, zu feben, daß feine Laune fich feitdem wir ihn zuerft fennen
Iernten, fo fehr gebeflert Hat. Im der „Lebensgeſchichte Schiller’ 8 * ſchien
fein Zuftand ein ziemlih unerquidlicher zu fein und er zeigte eine ſchüch⸗
terne, unterwürfige und niebergefchlagene Miene, ald ob er wie Sterne's
Eſel fagen wollte: „Prügelt mi nit; — wenn Ihr aber einmal wollt,
fo thut es!“ Jetzt jedoch durch bedeutenden Abſatz und Lob von diefem und
jenem Literaturblatt, welches feinen Wleiß, feine Treue und feltfamerweife
auch feine Methode gerühmt Hat, ermuthigt, fehreitet er aufrecht und mit
1 v
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feftem Hufe einher und fehlägt ſogar verächtlich gegen Die au, welde ihn
beleidigen wollen. GLüd auf den Weg! ik das Schlimmfle, was wir ihm
wänfchen.
Diefe vorläufigen Bemerkungen mögen uns entfchuldigen, wenn wir
über fein „Richter'd Leben“ nur wenig fagen. Er prahlt in feiner Bow
rede, daß alles wahr und ädht jel, denn Richter's Wittwe hatte, wie ſich er⸗
giebt, durch eine öffentliche Ankündigung die Welt gewarnt, weil eine andere
Biographie theild von tem Berühmten Todten ſelbſt, theils von Otte, ſei⸗
nem Alteften Freunde und Beauftragten Herausgeber fetner Werke, ſchon in
Borbereitung war. Died reizt Döring zur Entrüflung und er behauptet
ftandhaft, daß, weil feine Documente durchgängig autbentifch feien, dieſe
Biographie Feine Pſeudobiographie fet.
Mit noch größerer Wahrheit hätte er behaupten können, daß «8 gar
Feine Biographie fei. Wohl weiß er eben fo gut wie Hennings in Gotha,
dag dieſes Machwerk von Bruchſtücken und Fetzen blos des Verkaufs wegen
zufammengeflidit worden iſt. Mit Ausnahme einiger Briefe an Kunz, den
Buchhändler in Bamberg, welche fich Hauptfächlich um den Ankauf von Bril«
len und die Beforgung und Befrachtung zweier Käftchen drehen, die zwifchen
Richter und Kunz’ Lefeinftitut Hin und her zu geben pflegten, nebfl brei
oder vier Briefen von ähnlicher Wichtigkeit und größtentheild an andere
Buchhandler, finden wir hier Feine biographifchen Documente, die nicht für
Europa eben fo offen dDagelegen hätten, wie für Heinrich Döring. In der
That befteht faft die eine Hälfte der eigentlichen Lebensgeſchichte aus einer
Beſchreibung des Leichenbegängniffes, und was dazu gehört, wie bie fechzig
Badeln „nebft einer Anzahl von Laternen und Bechpfannen * geordnet wa⸗
ten; wie biefer oder jener Patrizier oder Profeflor den Trauerwagen durch
die Friedrichſtraße, Kamzleiftraße und andere Straßen von Baireuth begleis
teten und wie endlich die Fackeln alle ausgehen, während Dr. Gabler und
Dr. Spazier bonibaftifche Reden am Grabe halten. Dann wurden, wie wir
fehen, noch in andern Theilen Deutfchlands Verfammlungen zur Feier von
Richters Andenken abgehalten. Unter andern eine in dem Mufeum zu
Frankfurt am Main, wo ein Dr. Börne wieder eine Tange Rebe und zwar
womdgli in noch bombaſtiſcherem Zone hält. Dann kommen Thränodien
von allen vier Winden, größtentHeils in fehr hinkenden Verfen. Und alles
dies wird hier der wohlwollenden Vergefienheit der Zeitungen entriffen und
lebt auf diefe Weife einen Tag Länger.
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Wir achten Richter's Name viel zu bad, als daß es uns einfallen
Tönnte, über diefe unglüdlichen Ihränobifer und Panegyriker zu lachen,
son welchen einige Alles, was wir Engländer im epicediſchen Style aufzu⸗
weifen haben, weit übertreffen. Sie bezeugen vielmehr, wenn auch auf un⸗
geichichte Weife, dag die Deutſchen ihren Verluft gefühlt haben, der aud in
der That einer für ganz Europa if. Sie flößen und fogar ein gewiſſes
Gefühl von Wehmuth ein, wenn wir bedenken, wie eine himmliſche Stimme
verſtummen mußte und nun an ihrer Stelle nichts zu hören iſt, als das
Geheul durch und durch irdiſcher Stinumen, welche Elagen ober thun, als 06
fie Hagten. Bern fei von und alle Erinnerung an Döring und Compagnie,
während wir von Richter fprechen. Seine eigenen Werke jedoch geftatten
und einige Einblide in fein eigenthümliches und edles Welen und unfere
Leſer werben einige Worte über diefen Mann, ſicherlich einen der merfwür-
digſten feiner Zeit, nicht überfläffig finden.
Sean Paul Briedrih Richter iR, audgenommen dem Namen nad,
außerhalb Deutjchlaud wenig befannt. Das Einzige, was in Bezug auf
ihn nad England gebrungen, if, glauben wir, fein von Frau von Stasl
importirter und von den meiften SIournalkritifern dankbar eingeftedier
Ausſpruch: „Die Vorfehung hat den Branzofen die Serrichaft über das
Land gegeben, den Engländern über das Meer, den Deutichen über die —
Luft! *
Dieſes letztere Element fcheint allerdings das zu fein, in welchem jein
eigener Genius heimiſch war, jo phantaftifch bunt, weitgreifend und in jeder
Beziehung außerordentlich ift feine Schreibweile. Ihn treu zu überfegen
iſt faft unmöglich, ja es iſt ſogar wenigftens der Anfang eines Wörterbuch
zu feinen Werfen für den Gebrauch deutſcher Lefer erfchienen!
Diefe Umftände Haben jeinen Wirkungskreis auf fein eigenes Vater⸗
Band beſchraͤnkt und werden ihn vielleicht noch lange darauf befchränfen.
Dafür ift er aber auch Hier ein Liebling erfter Klafle, der trog aller feiner
Subtilitaͤten und Sonderbarkeiten mit aufrichtiger Bewunderung und einer
Liebe ſtudirt wird, welche vieles duldet. Während der legten vierzig Jahre
Bat er in verſchiedenen Geſtalten fortwährenn nor dem Publikum geftanden
und if in der Achtung aller Kritiker immer höher gefliegen, bis endlich
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feine Widerfacher entweder zum Schweigen gebracht ober überzeugt worden
find, und Jean Baul, den man anfangs für Halb wahnftnnig hielt, bat fhon
lang feine Eigenthümlichkeiten zu beinahe allgemeiner Bufriedenheit vin«
dieirt und verbindet jetzt Popularität mit wirklicher Tiefe der Begabung in
vielleiht höherem Grabe als irgend ein anderer Schriftfteller, denn in dem
letztern Punkte fteht er kaum mehr ald einem feiner Beitgenoften nad, in
dem erftern aber Teinem.
Die Biographie eines jo ausgezeichneten Mannes kann nicht anders
als höchſt intereſſant ſein, beſonders feine Selbſtbiographie, welche wir dem⸗
gemäß erwarten und fpäter vielleicht unſern Leſern vorführen werden. Mitt⸗
lerweile kann die Gefchichte feines Lebens, fo weit äußere Ereignifle fle charak⸗
terifiren, in kurzen Worten mitgetheilt werden.
Er war geboren zu Wunftedel in Baireuth im März; 1763. Sein
Pater war untergeordnneter Lehrer an dem dortigen Gymnafium und ward
ſpyter als Prediger nah Schwarzenbach an der Saale verfegt. Hichter’s
frühefte Erziehung war von der bürftigften Art, aber feine herrlichen Fähig⸗
feiten und jein unermübdeter Fleiß ergänzten jeden Mangel, Da er nit
die Mittel hatte, um Bücher zu Faufen, fo lieh er, was er bekommen Eonnte
und ſchrieb aus ihnen oft einen großen Theil bes Inhalts ab, — eine Ge⸗
wohnheit des Ercerpirend, die er während ſeines ganzen Lebens beibehielt
und welche in mehr ald einer Beziehung auf feine Art und Weile zu ſchrei⸗
ben und zu flubiren Einfluß äußerte. Bis zum legten Augenblid war er
ein unerfättlicher und univerjeller Leſer, jo daß feine Exrcerpte fih anhäufs
ten, bis fie „ganze Kiften * füllten.
Im Jahre 1780 ging er auf die Univerfität Leipzig und zwar, troß
der Hinderniffe, mit welchen er zu Fämpfen gehabt, mit den beften Zeug«
niffen feiner Talente und Kenntniflen verfehen. Chen fo wie fein Bater
war er zum Theologen beftimmt; bald aber vertiefte fich fein unruhiger
Genius in die Poeſte und PHilofophie, fo daß er feine eigentliche Beſtim⸗
mung darüber vernachläfftgte und endlich ganz aufgab. Da er nicht recht
wußte, wad er nun anfangen follte, jo nahm er eine Hauslehrerftelle in
einer vornehmen Familie an, unterrichtete fpäter Schüler in feiner eigenen
Wohnung, wechfelte aber damit wie mit feiner Lebensweiſe fehr oft, denn
er war mittlerweile ein Autor geworden und Tieg während jeiner Wande⸗
rungen in Deutfchland bald hier, bald da die feltfamften Bücher unter den
feltfamften Titeln erfcheinen, 3. B. „Groͤnlaͤndiſche Prozefle*, „Biogra«
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phifche Beluftigungen unter ber Gehirnſchale einer Rieſin“, „Auswahl aus
des Teufel Papieren * und dergleichen.
In diefen unbefchreiblichen Leiftungen konnten die glänzenden Fähig⸗
keiten des Verfaſſers, in fo tollem Gewühl fie auch ſchwelgten, nicht fireitig
gemacht werben, eben fo wenig wie bei all feiner Ertravaganz die Urfraft,
Nedlichkeit und Zartheit feiner Natur. Das Genie fühnt die Menfchen
mit Vielem aus. Allmälig begann man Jean Paul nit mehr als ein
ſeltſames Hirnverbrannted Gemiſch von Schwärmer und Narr zu betrachten,
fondern ald einen Mann von unendlih viel Humor, Empfindfamkeit, Kraft
und Scarffinn.
Seine Schriften erwarben ihm Breunte und Ruhm und endlich aud
ein Weib und ein fefles Einkommen. Mit Karoline Mayer und einer Pen«-
fon, die ihm durch den Fürſten Primas, den edlen Dalberg, ausgewirkt und
fpäter vom König von Baiern ausgezahlt ward, ließ er fi in Baireuth, der
Hauptſtadt feiner heimathlichen Provinz nieder, wo er von nun an fleißig
und berühmt in vielen neuen Fächern der Literatur lebte und wirkte und,
geliebt ſowohl als bewundert von allen feinen Zandeleuten, am meiften aber
von denen, die ihm am genaueften gekannt hatten, am 14. November
1825 flarb.
Ein großer, flarfer, unregelmäßiger Mann, fowobl an Geiſt ale an
Körper — denn fein Portrait ift ein förmliches phyflognomifches Studium
— voll Feuer, Kraft und Ungeftüm, fcheint Richter gleichzeitig Im böchften
Grade fanft, gutmütbig und menjchenfreundlich gewefen zu fein. Er liebte
die Unterhaltung und war wohl geeignet, darin zu glänzen. Gr ſprach wie
ex fchrieb, in einem ihm eigenthümlidhen Styl, voll wilder Kraft und Reize,
welcher durch feinen angebornen Batreuther Accent oft einen um fo größern
Eindruck madıte.
Ind dennoch Tiebte er die Zurückgezogenheit, das Land und alles Na⸗
türliche. Bon feiner Jugend an hatte er, wie er un ſelbſt erzählt, faft nur
im Freien gelebt; in Hainen und auf Wieſen fludirte, ja ſchrieb er oft.
Selbſt in den Straßen von Baireuth, hat man und erzählt, fah man ihn
felten ohne eine Blume an der Brufl. Ein Wann von ruhigen, ftillen Ge⸗
ſchmackſsrichtungen war er und von warmer leidenfchaftlicher Zuneigung.
Selne Freunde muß er geliebt haben, wie wenige Menfchen ihre Freunde
lieben.
Bon feiner armen beſcheidenen Mutter fpricht ex oft Hindeutungswetie
und niemals ohne Verehrung und überwallende Zärtlichkeit. „LUnglüdli
iſt der, * fagte er, „welchem feine eigene Mutter nicht alle anderen Mütter
ebrwärdig gemacht hat!“ Und an einer andern Stelle: „O bu, ber bu
noch einen Vater oder eine Mutter haft, danke Bott dafür an bem Tage,
wo beine Seele voll Freudenthränen ift und eine Bruft bedarf, an ber fe
fie vergießen kann. ”
Wir heben die folgende Stelle aus Döring's Buche aus, faft das ein-
zige Merkwürdige, was es enthält:
„Richter's Studier- oder Wohnftube bot damals (1793) ein wahres
und fchönes Bild feines einfachen und edlen Sinnes dar, der das Hohe und
Niebere zugleich umfaßte. Während feine Mutter, die Damals bei ihm war,
fi der Wirthichaft thätig annahm und am Ofen und auf Bänfen fi da-
mit beichäftigte, faß Jean Paul in einer Ede deſſelben Zimmers an einem
einfachen Schreibtifche von wenig oder gar feinen Büchern umgeben, doch
mit einigen Regalen, welde Excerpte und Manuferipte enthielten. Das
Geraufch der wirtbichaftlichen Vorkehrungen fchien ihn eben jo wenig zu flö-
sen, als dad Girren der Tauben, welche in der übrigens ziemlich geräumigen
Stube umberflatterten. *
linfer ehrwürdiger Hoofer vernahm, wie wir und entfinnen, auch gern
während er fchrieb, „das Geräuſch der wirtbfchaftlichen Vorkehrungen * und
das noch zweifelhaftere Geräuſch ſchwatzhafter Zungen obendrein; aber bie
gute, betriebfane Mutter und die girrenden Tauben fehlten. Richter lebte
fpäter in ſchöneren Wohnungen und in Gefellihaft vornehmer und gelehrter
Leute, aber die fanften Empfindungen jener Tage blieben ihm treu und fein
ganzes Leben bindurd war er derfelbe Fernige, entidyloffene und doch ſchüch⸗
terne und duldfame Menſch. Es ift. felten, daß fo viel rauhe Energie auf
fo wohlthuende Weile gemildert werden kann, daß ein fo hoher Brad von
Heftigkeit und Weichheit ſich neben einander finden.
Die erwartete Ausgabe von Richter's Werfen foll fechzig Bände um⸗
faflen, teren Inhalt ein nicht weniger bunter als umfangreicher {fl und fi
über Begenftände aller Art verbreitet, von den hödften Problemen ber
tranfcendentalen Philofophie und den Teidenfchaftlichften poetiſchen Schilde⸗
sungen an bis herab zu „Goldenen Regeln für Wetterpropheten * und Un⸗
terwelfungen in der „Kunft, einzufchlafen. * Seine vorzügliäften Werte
find Erzählungen: „Die unfihtbare Loge *, „die Flegeljahre“, „Leben des
EN
9
Quintus Firlein”, „der Iubelfenior *, „ bie Reife des Belpprebigerd Schmelze
nach Flaͤ“, „ Doctor Katenberger's Babereije*, „Fibel's Leben“, nebfl vie⸗
len Pleineren Sachen und zwei Werken höherer Gattung, Hesperus“ und
„Titan“, den größten und beſten feiner Erzählungen.
Die erftere diefer beiden letztern erwarb ihm zuerft (1795) entſchie⸗
dene und allgemeine Achtung bei feinen Landsleuten; bie letztere betrachtete
er felbft — und die urtheilsfähigften feiner Krititer Rimmten barin mit
ihm überein — als fein Meifterwert. Der Name Momanſchreiber aber,
was wir in England darunter verftehen, würde einen fo umfaflenden und
gielfeitigen Genius durchaus nicht richtig bezeichnen, denn bei all jeinen
groteöfen, wild durcheinander fpringenden Wigworten ift Richter ein Mann
von wahrhaft ernftem, ja hohem und feierlichen Charakter und fchreibt ſel⸗
ten ohne einen tieferliegenden Sinn, der weit über die Sphäre gewöhnlicher
Romanfchreider hinausgeht. „Hesperus“ und „Titan“ felbft Haben, ob»
ſchon fie ter Form nach weiter nichts find, als Romane aud dem wirklichen
Leben, wie die ‚Minerva Press‘ jagt, maſſives Metall genug in ſich, um
ganze Leihbibliothefen damit zu verjorgen, wenn man es zu dem gewöhn«-
lichen Silagran aushämmern wollte, und Vieles, was, wir möchten es ver⸗
bünnen, wie wir wollten, fein Abonnent im Stande wäre, fortzutragen.
Unterhaltung ift oft, zum Theil faft immer, für Richter nur ein Mit⸗
tel, felten aber oder niemals fein höchſtes Biel. Seine Gedanken, feine Ges
fühle, die Schöpfungen ſeines Geiſtes gehen in wunderbaren Geftalten, in
bunten, ſich flet3 verändernden Gruppen vor und umher; fein wefentlicher
Charakter aber, wie er ihn auch verhehlen möge, ift der eines Philofophen
und Moraldichter, deſſen Studium die menfchliche Natur geweſen ift und
deffen Freude und befted Streben Allem angehört, was in dem Loos oder
der Geſchichte des Menſchen ſchön, zärtlih und geheimnißvoll erha-
ben iſt. "
Dies iſt die Tendenz feiner Schriften, möge ihre Form die der Dich⸗
tung oder die der Wahrheit fein; Died iſt der Geiſt, welcher feine Schilde
rungen tes alltäglichen Lebens, feine wilden, wunderlichen Träume, Allego-
rien und dunklen Phantaflegebilde nicht weniger durchdringt und verebelt,
als feine Abhandlungen von unmittelbar wifienfchaftlicher Gattung.
Aber auch in diefem Iegtern Fache hat Richter viel geleiftet. Seine
„Borfgule der Aeſthetik“ if ein Werk über poetifche Kunft, baflrt auf
Prinzipien von nicht gewöhnlicher Tiefe, reich an edlen Anfhauungen und,
10
trog feine® überfprudelnden Witzes, an geſunder und erhabener Kritik, bie
ſelbſt in Deutſchland Anerkennung fand, wo bie Kritik ſchon fo lange als
eine Wiſſenſchaft betrachtet und von Männern, wie Windelmann, Kant,
Herder und die Schlegel’8 gehandhabt worden if. Von diefem Werke könn⸗
ten wir lange fpredjen, wenn die und geflediten Grenzen es erlaubten. Wir
fürchten, e8 würde manchen ehrlichen Gollegen von uns, wenn er es läfe, in
Erflaunen feßen und, wenn er es zufällig verflünde, feine gereifteften Anſich⸗
ten vollländig verwirren und über den Haufen werfen.
Nichter hat auch ein Werk über die Erziehung unter dem Titel „Les
vana“ gefchrieben, welches fih dur praktiichen Scharfblick ſowohl ale
durd hoben Sinn und eine gewifle nüchterne Gedankenpracht auszeichnet,
während das Ganze in jenem eigenthümlichen Style dargeboten wird, wels
her diefen Autor charakteriſirt. Deutichland ift reich an Werken über Er-
ziehung, gegenwärtig reicher als irgend ein anderes Land, denn nur bier
hört man nod ein Echo der von Diefer hochwichtigen Angelegenheit fprechen«
den Lockes und Miltond und zwar in der Sprache der Ießtzeit, mit Einficht
-in die wirflichen Bebürfniffe, Vorzüge, Gefahren und Ausſichten. Unter
den Schriftftellern über diefen Gegenfland nimmt Richter einen hohen Rang
ein und, wenn wir hauptfächlic auf Tendenz und Zweck fehen, vielleicht den ‘
höchſten.
Die Clavis Fichtiana iſt ein und nur vom Hörenfagen bekanntes ſcherz⸗
haftes Geiſtesprodukt; doch Toll Nichter das Verdienſt befigen, Fichte, wäh. -
end er über ihn lacht, auch zu verſtehen, ein Verdienſt, welches nicht alle
Kritiker Fichte's befigen.
So kennen wir auch, wie wir zu unferm Leidwefen geftehen müflen,
ebenfalld nur vom Hörenfagen das „Gampaner Thal“, eigentlih eine Ab⸗
handlung über die Unfterblicykeit der Seele, ein Lieblingsthema Richter's
oder vielmehr das Leben feiner ganzen Philofophie, welches faft in jeder
feiner Schriften durchblickt.
Er flarb, während er troß faft gänzliher Erblindung mit weiterer
Ausführung und Umgeftaltung dieſes Campaner Thals beichäftigt war; das
unbeendete Manufcript Iag bei feinem Begräbniffe oben auf dem Sarge und
Klopſtocks Hymne „Auferfteh'n, ja auferſteh'n wirft du” kann felten mit
pafienderer Anwendung gefungen worden fein, als an dem Grabe Jean
Paul's.
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Auch der gleichgültigfte oder eingenommenfte Lefer kamn diefe Werke
nicht Iefen, ohne den Eintrud zu gewinnen, daß er es hier mit etwas Herr⸗
lichem, Wunderbarem und Kühnem zu tbun habe. Sie wollen aber nicht
blos gelefen, fondern auch ſtudirt fein und zwar mit nicht gemöhnlidyer Ge⸗
duld, wenn der Xefer, beſonders der ausländifche Leer, ihre Wahrheit, oder
auch ihren Mangel an Wahrheit richtig verfiehen will. Wollte man ihn
nad biefem oder jenem als gültig anerfannten Maßſtabe beurtheilen, jo
würde man fehr bald mit Ihm fertig werden. Man würde ihn für einen
Myſtiker, einen deutfchen Träumer, einen voreiligen und anmaßenden Neue-
rer erklären und fomit ganz gleichgültig, ja vielleicht mit einem gewiſſen
Jubel in die Numpelfammer werfen, wo alle dergleichen Alfanzereien und
Windbeuteleien hin gehören.
Die Originalität ift eine Sache, die wir fortwährend ftürmifch verlan⸗
gen und dennod fortwährend anfeinden, als ob, wie unfer Autor felbft be-
merft, von irgend einer andern Originalität als der unferen erwartet wer«
den fönne, daß fle uns befrietigen werde! In der That find alle feltfamen
Dinge ohne ihre Schuld geeignet, und auf den erflen Anblick zu befremden,
und unglüclicherroeife ift kaum etwas vollfommen klar, was nicht auch voll«
fommen gewöhnlich if. Die landesüblihe Münze gebt durch alle Hände
und wird, fei fie Gold oder Silber oder Kupfer, genommen, weil ihr Werth
befannt iſt; mit ausländifhen Barren dagegen und Medaillen von Eorinthi«
fhem Erz iſt der Fall ein ganz anderer.
Es giebt wenig Schriftfteller, bei welchen befonnene Ueberlegung und
forgfältiges Mißtranen gegen den erflen Eindrud nothwendiger wären als
bei Richter. Schon auf den erften oberflächlichen Blick erkennt man in ihm
eine ungewöhnliche Erſcheinung. Seine Eigenthümlichkeit iſt eine unver⸗
bohlene und entichloffene, feine Sprache felbft ift ein Stein des Anflopes
für den Kritifer; für Kritifer von der grammatifhen Art ein unverzeihe
licher, oft unüberfteiglicher Beld des Anſtoßes. Nicht al8 ob er von Gram⸗
matik oder Orthographie nicht® verftünde, wohl aber bewegt er fidh in dieſer
Beziehung mit großer Ungenirtheit, handhabt Parenthefen, Gedanfenftriche
und eingeſchobene Säße mit erſtaunlicher Kiberalität, erfindet hunderte von
neuen Worten, oder kettet und feſſelt fie durch Bindeſtriche zur widerftre-
bendften Bereinigung, Eurz, er producirt Säge von ganz heterogener, unge⸗
lenker und unendlicher Art. Seine Bilder find unzählig, ja das Ganze ift
ein einzige® Gewebe von Metaphern, Gleichniſſen und Anfpielungen auf alle
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Heiche der Erde, des Reeres und der Luft, geſpickt mit epigrammntijchen
Flosfeln, heftigen Ausbrüchen oder ſardoniſchen Wendungen, Interjectionen,
Witzworten, Wortfpielen und fogar Blüden! Gin fürmliches indiſches
ODſchungel ſcheint ein ſolches Werk zu fein; ein grenzenlofeß, beifpiellofes
Chaos; auf allen Seiten nichts «ld Naht, Mißflang und Berwirrung |
Dabei fitmmt der Styl des Ganzen in Bezug auf Verworrenheit und
Grtravaganz mit dem ber Theile vollfommen überein. Jedes Werk, ſei es nun
ein Phantaflegebild oder eine ernftgafte Abhandlung iR in irgend ein phan⸗
taftifches Gewand gehüllt, während irgend eine tolle Geſchichte dad Dafein
deſſelben rechtfertigt und mit dem Autor in Berbindeng bringt, der ger
wöhnlih, ehe noch alles vorüber iR, eine Perfon in dem Drama felöft
wird.
Uebrigens lernen wir in feinen Erzählungen eine ganz neue Beogra-
phie von Europa fennen, fo 3. B. die Städte und Fürſtenthümer Flachſen⸗
fingen, Haarhaar, Scheerau u. |. w. mit ihren Fürften, Geheimräthen und
Durdlauchten, von welchen bie meiften, in jeder Beziehung ziemlich fonders
bare Käuze, mit Richter perfönlich bekannt find, mit ihm — nod dazu in
dem reinften Tory⸗Dialekte — über Staatsangelegenheiten ſprechen und
ihn oft auffordern, in feiner Arbeit fortzufahren. In jeder Geſchichte kom⸗
men die ungeheuerlichſten Abfchweifungen vor und eine unabiehbare Schleppe
fhlängelt id binterbrein. Dann und wann kommt ein „ Exrtrablatt * mit
einer fatprifchen ‘Petition, einem Programm oder anderen wunderſamen
Einſchiebſel vor, defien Zweck kein Sterblicher zu begreifen vermag.
Es iſt in der That ein gewaltiges Labyrinth und oft bemüht ſich der
teuchende Leſer vergebens, dem Berfafler nachzukommen oder bleibt außer
Athem und entrüftet fliehen und zieht fich vielleicht auf immer gurüd.
Alles dies if, wie wir befennen müflen, von Richter wahr, aber es if
auch noch viele® Andere wahr. Wir dürfen uns nicht nad) dem erften flüch⸗
tigen Blidde von ihm abwenten und glauben, daß wir mit den Worten
Rhapſodie und Affertation ihn abgefunden Haben. Diefe Worte find fehr
wohlfeil und doch von großer Bedeutung, weshalb wir darauf zu fehen has
ben, daß wir fie nicht vorfchuell anwenden, denn viele Dinge in Richter's
Werken fiimmen mit einer ſolchen Theorie durchaus nicht überein. Es ſtei⸗
gen Strahlen ber kühnſten Wahrheit, ja fefte Säulen wiſſenſchaftlichen Lich“
tes in biefem Chaos empor. If es in ber That ein Chass oder find viel-
leicht unfere Augen blos mit endlicher, anflatt mit unendlicher Sehkraft bes
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gabt und vermögen blos den Plan nicht zu faffen? Wenig „ Rhapſediker“
find Männer von Wiſſenſchaft, tächtiger Gelchriamfeit, gründlichen Studien
und genauen umfänglichen, ja uninerfellen Kenntniſſen, wie er tft.
Auch in Bezug auf Affectation laßt ſich viel ſagen. Das Weſen der
Affectation beruht darin, daß e8 angenommen werden muß; ber Cha⸗
rafter wird gleihfam mit Gewalt in eine fremde Borm gepreßt, weil man
hofft, ihm dadurch eine neue und ſchönere Beftalt zu geben. Der Unglück⸗
liche überredet fich, er ſei in der That ein neues Geſchöpf vom wunderbar⸗
flen Ebenmaße geworden und fo fihreitet er mis dünkelhafter Miene einher,
sbichon jede Bewegung nicht Ebenmaß, ſondern Berrenfung verräth. Dies
nennt man affectiren oder mit eitler Prahlſucht einherichreiten.
Die Seltfamfeit allein aber iſt uodg fein Beweis von Eitelkeit. Diele
Menſchen, die fih ganz glatt auf den althergebrachten Eifenbahnen ber Ge⸗
wohnheit bewegen, haben, wie man finden wird, ihre Affectation, während
vielleicht hier und da einem von ber geraden Linie abweichenden Genius die⸗
fer Fehler mit Unrecht zur Laſt gelegt wird. Ehe wir einen Menfchen ta-
deln, daß er etwas zu fein ſcheint, wad er nicht ift, müflen wir erft genau
wiffen, was er if. Was Michter fpeziell betrifft, fo Eönnen wir nicht um⸗
hin, zu bemerfen, daß jo feltiam und verworren er auch erfcheinen mag, in
feinen Schriften doch eine gewiſſe freundliche Gelaſſenheit fihtbar iſt —
eine Milde, eine Sreudigfeit, eine Frömmigkeit in fo ſchoͤner Verſchmelzung,
daß dadurch nicht ein erheuchelter, fondern ein Achter Gemüthszuſtand, nicht
ein fieberhafter und Eranfer, fondern ein gefunder und rüftiger Zuſtand ſich
verrath.
Das Geheimniß bei der Sache ift das, daß Richter mehr Studium
verlangt, ald die meiften Lefer ihm zu widmen geneigt find. So wie wir
und mehr nähern, wird uns Vieles klarer. Im feiner eigenen Sphäre
herricht Conſequenz. Je weiter wird darin oprrüden, ſehen wir die Ver⸗
wirrung fi mehr und mehr zur Ordnung entfalten, bis endlich, aus feinem
eigenen Mittelpunkt betrachtet, fein intellectuelles Univerſum aufhört, eine
verzerrte zufammenhangdlofe Reihe von Luftbildern zu fein und zu einem
eompaften Banzen zufammenfließt, einer unermeßlichen, prachtvollen, bunten
Landſchaft voll der wunderbarften Probufte, vielleicht wild und unregels
mäßig, aber prachtvoll, jegenfpendend, groß, geſchmückt mit dem fchönften
Grün und ſtrahlend im hellften freundlichſten Sonnenſchein.
Richter iſt ein intellectueller Koloß genannt worden und in der That
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erfheint er uns faft in dieſem Lichte. Seine Fähigkeiten find alle von ries
figer Form, ichwerfällig und unbeholfen in ihren Bewegungen, mehr groß
und glänzend als harmoniſch oder ſchoͤn, aber dennoch in lebendiger Ver⸗
einigung und von ganz außerordentlicher Kraft und Umfaͤnglichkeit. Er bes
figt einen heftigen, fchonungslofen, unwiderfiehlihen Verſtand, der die här«
teften Probleme in Stüden fchlägt, in die verborgenften Combinationen ber
Dinge eindringt und nad) ten fernften greift; eine düſtere, ſtrahlende, oder
entfegliche Einbildungskraft, die über den Abgründen des Seins brütet,
durch die Unendlichkeit fchweift und uns in ihrem düfteren religiöfen Licht
glanzuolle, erhabene oder Schredensgeflalten vorführt — eine buchſtaͤblich
beifpiellos üppige Phantafle, denn fie firömt ihre Schäge mit einer Ver⸗
[wendung aus, die Feine Grenzen Eennt, indem fie gleich der Sonne einen
Diamanten an jeden Grashalm hängt und die ganze Erde mit orientaliſchen
Perlen überfäet.
Tiefer aber als alles dies Liegt der Humor, Richter's vorherrſchende
Eigenſchaft, gleichſam das Eentralfeuer, weldes fein ganzes Weſen durch⸗
dringt und belebt. Gr ift Humorift von feiner innerften Seele heraus; er
denkt wie ein Humorift, er fühlt, phantaftrt und Handelt als Humorift —
Spiel ift das Element, in welchem feine Natur Iebt und wirft Gin flürmis
ſches Element für eine foldhe Natur, und er tummelt fich weidlih darin
herum! Gin Titan in feinem Spiel fowohl wie in feinem Ernſte über-
fpringt er alle Schranfen und empört fi gegen Beleg und Map. Er
thürmt den Pelion auf den Offa und wirft das Weltall zuſammen und durch
einander, wie einen Kaften voll Spielzeug. Der Mond als rebelliicher Tra⸗
bant bombardirt die Erde; der Mars predigt den andern Planeten jehr
eigenthümliche Xehren, ja fogar Zeit und Raum fpielen phantaftifche Streidhe
— es ift eine unendliche Masferade und die ganze Natur hat fi in die
feltfamften Trachten vermummt.
Und do iſt die Anarchie nicht ohne ihren Zweck. Diefe Viftre find
nit blos hohle Larven; es ſtecken lebendige Geftchter dahinter und biefer
Mummenſchanz hat feine Bedeutung. Richter befigt Wit und frohe Laune,
aber dennoch laͤßt er ſich felten oder nie zum Luſtigmacher herab. Ja, trog
feiner Ertravaganz möchten wir fagen, daß fein Humor von allen feinen
Begabungen in ihrem innerſten Wefen die ſchönſte und ädhtefte if. Sie
bat jo bezaubernte Wendungen und es liegt in ihr etwas fo Taunenhaft
Muthwilliges, fo Sonderbares, jo Herzliches! Aus feiner Cyklopenwerkſtatt
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und ungeheuern unförmigen Mafchinerie tritt die Feine, verfhrumpfte, wun⸗
derlich verdrehte Figur endlih fo vollkommen und fo lebensvoll heraus,
dag man fie fortwährend belachen und Tieben muß!
So launenhaft er zu fein fcheint, fo arbeitet er doch nicht ohne Ueber⸗
legung und kann wie Rubens ein lachendes Geſicht mit einem einzigen
Strich in ein weinendes verwandeln. Aber felbft in feinem Lächeln liegt
vielleicht ein rührendes Pathos verborgen, ein Kummer, der für Thränen
zu tief tft.
Er ift ein Menſch von Gefühl im edeiften Sinne dieſes Wortes, denn
er liebt alles Lebende mit tem Herzen eines Bruders. Seine Seele fhweift
in Sympathie mit Freude und Kummer, mit Güte ober Größe über bie
ganze Schöpfung. Jede fanfte und edelmüthige Regung, jeder Funke von
hohem Sinn erwedt in feiner Bruft ein Echo, ja entlockt feinem Beifte har⸗
monifche Laute; eine wilde Mufif, wie von Ueoleharfen umtönt und bald
braufend, bald weich und fchmeichelnd wie Sphärengefang! Der Widerwille
ſelbſt ift dei ihm nit Haß; er verachtet viel, aber mit Recht und dabei mit
Toleranz, Sreundlichkeit und fogar einem gewifien Grad von Liebe.
Die Liebe ift in der That die Atmofphäre, in welcher er athmet; das
Medtum, durch welches er blickt. . Sein ift der Geiſt, welcher Allem, was
er umfängt, Leben und Schönheit giebt. Sogar bie Ieblofe Natur ift nicht
mehr ein gefühllofes Gemifch von Karben und Wohlgerüchen, fondern eine
geheimnißvolle Umgebung, mit welcher er in unausſprechlichen Sympathien
verkehrt. Wir könnten ihn, wie er einft Herder nannte, einen Priefter der
Natur, einen milden Bramin nennen, der unter duftenden Hainen und
fegenfpenbenden Himmeln wandelt.
Die unendlihe Nacht mit ihren erhabenen Erſcheinungen, der Tag
und bie freundliche Annäherung des Abends und Morgens find für ihn von
hoher Bedeutung. Er Tiebt die grüne Erde mit ihren Strömen und Wäl«
dern, ihren blumigen Wiefen und ihrem ewigen Himmel; er liebt fle mit
Keidenfchaft in all ihren Wechſeln von Licht und Schatten; fein Geiſt
ſchwelgt in ihrer Größe und in ihren Reizen und verbreitet fid wie die Luft
über Wald und Wieje, über Perg und Thal, Wohlgeruch ftehlend, Wohls
gerudy ſpendend.
Man hat fid) zuweilen verwundernd darüber audgefprodyen, daß fo wi⸗
derftrebende Dinge neben einander geheh oder mit andern Worten, daß
Menſchen von Humor oft auch Menihen von Empfindfamfeit find. Nach
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unferer Meinung aber wäre es cher ein Wunder, wenn man biefe Gigen-
ſchaften geteilt fähe und wahren ädgten Humor in einem unzarten ober harten
Gemüth fünde. Das innerfle Weſen des Humors ift eben Empfindjamfeit,
warmes zarted Mitgefühl mit allen Formen des Dafeind. Ja, wir mödten
fagen, daß die Empfinbiamfeit, wenn fie nit durch ben Humor gewürzt
und geläutert wird, jehr leicht ausartet und im Krankheit, Verfiellung ober
mit einem Worte Sentimensalität übergeht. Beweiſe hiervon find Rouffeau,
Zimmermann, in einigen Punkten auch St. Pierre; lebender Belipiele oder
der Kotzebues und übrigen bleichen Schaar fchmerzerfüllter Sammerer zu ges
fweigen, deren Wehllagen glei dem Geheul einer irifchen Leichenwacht
yon Zeit zu Zeit das Ohr ded Publikums zerrifien bat. „Die hödfte Ver⸗
volllommnung unferer Fahigkeiten,“ fagt Schiller mit einer viel tieferen
Wahrheit, ald auf den erſten Anblick fcheint, „it, daB ihre Thätigkeit, ohne
ihren Ernft und ihre Sicherheit zu verlieren, Spiel werde.” Wahrer
Sumor ift Empfindfamleit in der allgemeinften und tiefften Bedeutung, aber
er iſt dieſes Spiel der Empfindfamfeit, gefund und daher vollfommen,
gleihfam die muthwillige neckende Zärtlichkeit einer Mutter gegen ihr Kind.
Jenes Talent zur Ironie, zur Karrikatur, welches oft mit dem Namen
des Humors bezeichnet wird, hauptſächlich aber in einer gewiflen oberfläch⸗
lichen Verzerrung oder Umkehrung der Gegenflände beſteht und im beiten
Falle mit Belächter endet, hat mit Richter's Humor Feine Achnlichfeit. Ein
fehr ſeichtes Talent ift da8 und oft mehr eine Gewohnheit als ein Talent.
Es iſt blos ein dürftiges Bruchtheil von Humor oder vielmehr, es iſt der
Körper, dem die Seele fehlt, denn der Grab von Leben, den es allenfalls
bat; ift erheuchelt, Fünfilih und unvernünftig.
Hechter Humor entipringt aus dem Herzen eben jo wohl, als aus dem
Kopfe; er ift nicht Verachtung, fondern fein innerfted Wefen ift Liebe; er
bricht nicht in Gelächter aus, fondern in filled Rächeln, welches weit tiefer
liegt. Er ift eine Art umgefehrter Erhabenheit, welche gleichfam in unjere
Neigungen beraufhebt, was unter und, während die eigentliche Erhabenheit
in unfere Neigungen berabzieht, was über uns if. Die erftere if kaum
weniger koſtbar oder herzergreifend, als bie letztere; vielleicht iſt ſte noch
feltener und als PBrüfftein des Genies noch entfcheidender. Sie ift in der
That die Blume und der Duft, der reinfte Ausfluß einer tiefen, ſchönen,
liebenten Natur, einer Natur, bit in Harmonie mit fich felbft if, ausge
föhnt mit der Welt und ihrer Armfeligkeit und ihren Widerfprühen, ja
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eben in diefen Wiberfprücen neue Slemente der Schönheit jowohl als der
Bäte findend.
Unter unieren vaterländifchen Schriftfiellern muß Shaffpeare in diefen
wie in allen anderen Faͤchern der Poeſie einen Platz finden, wiewohl nicht
den erften, denn fein Humor ift Herzlich, überwallend und warm, aber felten
ter zartefte oder fubtilfte.e Swift neigt fig mehr zur einfachen Ironie, und
doch bejaß er auch Achten Humor und zwar von Feiner liebloſen Art, obſchon
er, wie der Ben Johnſon's, in eine jehr bittere und kauſtiſche Rinde gehüllt
war. Ihm zunähft kommt Sterne, unfer letztes Eremplar des Humors,
und bei allen feinen Fehlern unfer beftes, unfer ſchönſtes, wo nicht unfer
ſtäärkſtes, denn „Dorid* und „KRorporal Trim“ und „Ontel Toby“ haben
weiter feinen Bruder ald „Don Quixote“, ſo hoch diefer auch über
ihnen fleht.
Cervantes ift in der That der reinfte von allen Humoriſten, — jo fanft
und genial, jo voll und doc jo ätheriich in feinem Humor und in folcher
Mebereinftiimmung mit ſich ſelbſt und feiner ganzen edlen Natur. |
Bon dem italieniihen @eifte fagt man, er befige einen lieberfluß an
Humor, aber doch fiheinen und die Klafflker diefer Nation kein rechtes Bild
Davon zu geben, und ausgenommen vielleicht in Arioft zeigt ſich in ihrer
Boefte wenig, was bis in die Region des Achten Humors binaufreichte.
In Frankreich fcheint er fett den Tagen Montaigne’8 fo ziemlich er⸗
Lofchen zu fein. Voltaire erhebt fich, wie fehr er auch den Spott handhabte,
niemals zum Humor und jelbft bei Moliere iſt er weit mehr eine Sache des
Verſtandes ala des Charakters,
Daß Richter in diefem Punkte alle deutfchen Autoren übertrifft, gereicht
ihm zum hohen Ruhme und ift in voller Wahrheit begründet. Leſſing bes
fist auch Humor, von fcharfer, fhroffer, kerniger und, im Ganzen genonmen,
genialer Art, aber doch ift der überwiegende Hang feines Geiſtes zur Logif.
So befigt auch Wieland Humor, obſchon derfelbe durd die Geſchwätzigkeit
feines Weſens verdünnt und durd den Einfluß eined Falten, mageren, fran«
zöflfchen Skepticismus nod mehr bejchränft wird. Unter den Rammlers,
Gellertd und Hagedorns aus der Zeit Friedrich ded Zweiten finden wir eine
reichliche und in ihrer Art auch verfeinerte Maſſe jenes leichten Stoffes, den
die Branzofen plaisanterie nennen, aber wenig oder nichts, wad den Namen
Humor verdient.
In der Jetztzeit jedoch haben wir Goethe, mit feiner reichen vollen
Garlyle. II. 2
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Ader aͤchten Humors, der in höchſter und feinfter Potenz feinen ganzen Grit
durchdringt. Auch Tie iſt unter feinen vielen fhönen Begabungen nidt
ohne einen warmen empfänglicken Giun für das Lächerliche und einen Hu-
mor, der, obſchon mur kurz und verübergehenh und aus einer weit Hefrcem
Atmoſphaͤre, an das Pertifche auftreift.
Unter allen diefen Männern aber if feiner, der an Tiefe, Bielſeitig⸗
fett und Stärke des KGumors mit Jean Baul verglidgen werden könnte. Er
allein eriftirt im Humor, lebt, weht und iſt in ihm. Bet ihm ift der Öumer
nicht ſowohl mit feinen andern Gigenfchaften, Verfiend, Vhantaſte und mo⸗
raliſchem Gefühl verbunden, als dieſe vielmehr nıit bem Humer verbunden
fint und In feiner Wärme gedeihen, wie in einem ihm zufagenden Klima.
Nicht ald ob wir Damit behaupten wollten, fein Humor ſei in allen
Fällen vollkommen natürlich und rein, ja nicht oft extravagant, unwahr,
ober fogar abgeſchmackt, aber dennod tft im Ganzen genommen das Mark
und Leben deſſelben ädt, ſubtil und geiſtig. Nicht ohne Grund haben
feine Panegyriker ihn, Jean Pant den Einzigen“ genannt. In einem ober
dem andern Sinne, entweder ald Lob oder als Tadel, müflen auch feine
Kritiker diefes Epitheton anerkennen, denn ſicherlich ſehen wir uns in dem
ganzen Kreife der Literatur vergebens nad feines leihen um. Man geſelle
den Ruthwillen eines Rabelais und bie befte Empfindfamkeit Sterne's zu
dem Eifer, Ernſte und, wenn auch nur in Eleinen Theilen, der Sublimität
eines Milton, und laffe das Moſaikgehirn des alten Burton die Wirkungen
dieſes jeltfamen Gemiſches mit der Feder eined Jeremy Bentham zu Tage
fördern !
Bu fagen, wie bei einer fo eigenthümlichen natürlichen Begabung Rich⸗
ter feinen Geift durch Kultur geformt Babe, tft weit ſchwerer, ald gu jagen,
dag er ihn falfch geformt habe. Don Affertation wollen wir ihn weder gamz
freiſprechen, noch jehr laut derfelben beſchuldigen.
Daß feine Art und Weife zu ſchreiben eigenthümlich,, ja in ber That
eine abenteuerlihd complicirte Arabesfe if, kann Niemand leugnen. Die
eigentliche Frage aber ift: In wieweit repräfentirt dieſe Art und Weiſe zu
fgreiben , feine wirkliche Art und Weiſe zu denen und zu erifiren? Mit
weldem Grade von Freiheit geftattet fie diefer befonderen Form des Seins
fih kundzugeben, oder welche Feſſeln und Beichränfungen legi fle einer ſol⸗
hen Kundgebung auf?
Das große. Geſetz der Kultur iſt namlig: Laßt Ieden alles werben,
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wad er fähig geſchaſſen ward zu fein; er möge Bdh, dafern es thunlich iR,
ya feiner vollen Größe entfalten, allen Hiadernifſen wiberfichen, alle fremd⸗
artigen, beſonders alle ſchaͤdlichen Ashängfel son ſich ſtoßen und fich endlich
ba feiner eigenen Seflalt und Größe zeigen, mögen dieſe ſein von welcher
Art fie wollen. Es giebt feine Gleichfösrmigkeit der Vortrefflichkeit, weder
in der phylſchen noch im Der geiftigen Raus — alle ächten Dinge find,
was fie fein follten. Das Rennthier ift gu und ſchön, eben fo ber Elephant.
In der Literatur iR es chem fa; „Iedermenn,” fagt Leffing, „bat feinen
sigenen Styl, eben fo wie feine eigene Maſe.“ Allerdings giebt es Naſen
san wunderbaren Dissenflonen, aber denao bat das Publikum kein Mecht,
eine ſolche Naſe zu amputiren. Doazum trage Icher eisıe wirkliche Naſe und
Setwe Hölgerne, die er um der bloßen Täuſchung willen und um fle nur zur
Schau zu tragen aufiept.
Do ernſt geſprochen, Reifing meint — und wir fllmmen wit ibm
überein — daß ber äußere Styl nach den inners Eigenſchaften des Geiſtes
zu beurtheilen tft, welche ex verkörvern ſoll; — dab, wohl verſtanden, ohne
Bräjubiz für die Angemeſſenheit — der Erſtere fo viel Geſtalten annehmen
fanu, als der Letztere anninunt; daß mit einem Worte, die Hauptſache für
einen Schriftſteller nicht iR, dieſer oder jener aäͤußeren Form uad Mode an⸗
zugehören, ſondern in jeder Form ächt, Fräftig und lebeudig zu fein, —
Iebenbig mit feinem ganzen Weſen, ſelbſibewußt und zu nutzeubringenden
Zweeken.
Legt man dieſen Maßſtab an, fo wird man, glauben wir, Richter's
wilde Manier weniger unvolllommen finden, als mande ſehr zahme. Sei⸗
ner Individualität iſt fie vielleicht durchaus nicht unangemeſſen. In dieſer
eigenthümlichen Form liegt ein Feuer, ein Slanz, eine wohlwollende Energie,
welche uns veranlaßt, Vieles, was außerdem beleidigen würbe, zu dulden,
ja zu lieben. Vor allen Dingen iſt dieſer Daun, fo viele Mängel ex auch
Baben mag, confequent und zuſammenhaͤngend; er if eins mit ſich ſelbſt,
erkennt fein Biel und verfolgt es mit aufrichtigem Herzen, freudig und mit
ungetheiltem Willen. Gine harmoniſche Eutwidelung des Seins, das erfle
und letzte Ziel aller wahren Kultur, if erlangt werben; wenn nit voll⸗
Händig, doch wenigſtend vollſtändiger, als man es unter taufend gewöhn⸗
lichen Menſchen bei einem findet.
Auch Dürfen wir nicht vergefien, daß bei eines folchen Natur biefes
Mel nicht leicht zu erreichen was, und daß da, wo es viel zu entwickeln gab,
2 ”*
biefe oder jene Unvollkommenheit verzichen werben muß. Allerdings führen
Die gebahnten Pfade der Literatur am ficherften zum Biel und das Talent
gefällt und am meiften, welches ſich darein findet, in alten Formen mit neuer
Grazie zu glänzen. Auch iſt der edelſte und eigenthümlichfte Geiſt nicht zu
edel oder zu eigenthüͤmlich, um nach vorgeichriebenen Gefegen zu wirten.
Sophokles, Shaffpeare, Gervantes und, in Richter's eigenem SBeitalter,
Goethe, — wie wenig neuerten fle an den gegebenen Formen des Gedanken⸗
ausdruds, wie viel Dagegen an dem Geiſte, ten fie in dieſelben hauchten
Alles dies ift wahr und Richter muß im Berbälmiß damit an unferer
Achtung verlieren. Viel jedoch wird ihm davon noch bleiben und warum
follten wir mit dem Hohen zürnen, weil e8 nicht das Höchſte iſt? Richter's
ſchlimmſte Behler ſtehen mit feinen beften Vorzügen in enger Verbindung,
denn fie beſtehen größtentheild in einem Lieberwallen des Guten, in einem
Berfchleudern feines Reichthums und in dem Blenden, welches eine Folge
des Uebermaßes an wahrem Lichte iſt. Diefe Dinge können um jo leichter
verziehen werben, da fle fo leicht nicht nachgeahmt werben.
Hierbei dürfen wir nicht überfehen, daß das Genie jeine eigenen Vor⸗
rechte bat. Es wählt fi feine eigene Bahn und fei diefe noch fo excentrifch,
fo müflen, wenn fle in der That eine himmlische Bahn iR, wir bloßen Stern-
guder und endlich damit einverflanden erklären ; wir müflen aufhören, Aus⸗
ftellungen dagegen zu machen, fondern vielmehr beginnen, fie zu beobachten
und ihre Befege zu berechnen. Daß Richter ein neuer Planet an dem in-
tellectuellen Himmel fei, wagen wir nicht zu behaupten; ein bloßes atmo⸗
ſphaäriſches Meteor iſt er aber auch nicht, vielleicht ein Komet, welcher, ob⸗
ſchon mit langen Aberrarionen und in einen nebelhaften Schleier gehällt,
dennoch am Birmament feinen Plaß bat.
Bon Richter's einzelnen Werken, von feinen Anſichten, feiner alge-
meinen Lebensphiloſophie zu ſprechen, iſt uns bei dem noch übrigen be⸗
ſchraͤnkten Raum nicht verſtattet. In Bezug auf feine Erzählungen können
wir fagen, daß diefelben, ausgenommen in wenigen Fällen und dann haupt⸗
ſächlich, wenn fie zur kürzeren Battung gehören, nicht bad find, was man im
firengen Sinne Einheiten nennt, benn bei einem hoben Grade von callida
junctura der Theile tft es felten, daß eine dieſer Erzählungen den Eindruck eines
vollkommenen, homogenen, untheilbaren Ganzen auf uns macht. Ein aͤchtes
Kunſtwerk muß in dem Geiſte ſeines Schoͤpfers gleichſam geſchmolzen werden
und aus ſeiner Phantaſte, wenn auch nicht aus ſeiner Feder, wie aus einem
21
Guſſe hervorgehen. Richter's Werke tragen nicht immer genügende Spuren,
daß fie geſchmelzt find, doch find fle auch nicht blos zufammengenietet,
fondern, um das Wenigfte zu fagen, geſchweißt.
Eine ähnlihe Bemerkung gilt von vielen feiner Charaktere, in ber
hat mehr oder weniger von ihnen allen, audgenommen von foldyen, bie
dur und durch humoriſtiſch find oder einen großen Anflug von Humor
haben. In diefem legten Bereich iſt er zu Haufe, ein ächter Poet, ein
Schöpfer; fein „Siebenfäs*, fein „Schmelzle”, fogar fein „Kibel* und
Firlein“ find lebende Geſtalten. In feinen beroifchen, Teidenfchaftlichen
und mafflven Geſtalten fehen wir, fo gewaltig er auch iſt, kaum je ein volle
Rändiges Ideal; die Kunft Hat es noch nicht bis zum Verbergen ihrer Selbft
gebradht.
Mit feinen Heldinnen dagegen gelingt es ihm beſſer; dieſe find oft
wahre Helden, obſchon nielleiht mit einer zu geringen Rannigfaltigkeit des
Charakters ; gefhäftige, rüftige Mütter und Haudfrauen mit all’ den Launen,
Verkehrtheiten und dem warmen hülfreichen Edelmuth der Frauen; ober
weiße, halb englifche Weſen, ichüchtern, fill, duldend, hochſinnig, mit den
jarteflen Neigungen und gebrochenen, aber feine Klage laut werben laflen-
den ‚Herzen.
Uebernatürliche Geſtalten hat er nicht verfucht und zwar wohlweislich,
denn er kann nicht fchreiben,, ohne zu glauben. Und dennoch zeigt er oft
eine Phantafle von einer Eigenthümlichkeit, ja im Ganzen genommen von
einer Wahrheit und Größe, die nirgends ihres Gleichen findet. In feinen
„Träumen * Tiegt eine geheimnißvolle Düfterheit und zwifchen den nebelhaf«
ten riefigen, zuweilen entfeglichen Schatten brechen dann und wann Strah⸗
len eines zauberbaften Glanzes hervor, die faft an die Viflonen eines Ezechiel
erinnern. Leſer, welche den „Traum in der Neufahrsnadt ſtudirt Haben,
werben und nicht mißverſtehen.
Auf Richters Philoſophie, einen Gegenſtand von nicht gewöhnlichem
Interefſſe, ſowohl weil fie mit der gewöhnlichen Philoſophie Deutfchlands
übereinftimmt, ald auch, weil fle davon abweicht, können wir vor der Hand
nicht eingehen. ine einzige Bemerkung jedoch wollen wir Darüber madıen.
Sie iſt nämlich nicht mechaniſch oder ſkeptiſch; fle geht nicht aus dem Forum
oder dem Laboratorium hervor, fondern aus den Tiefen des menſchlichen
Geiſtes, und gewährt als ihr ſchoͤnſtes Ergebniß ein edles Syſtem der Mo⸗
salität und Die feftefle Ueberzeugung von der Wahrheit der Religion.
In viefem letztern Bunkte erachten wir ihn des Gtubtums ganz beſon⸗
ders würdig. Cinem oberflädlichen Lefer koͤnnte er als der wilbeſte Un⸗
gläubige erſcheinen, denn niches geht über die Freiheit, mit weicher er die
Dogmen der Religion, fa zuweilen vie höchſten Gegenftände der chriſtlichen
Ehrerbietung Yin und her wirft. Eo kommen Gtellen diejer Art vor, Die
jedem ſeiner Lefer auffallen werben, Die wir aber, um nicht in den Fehler
ya verfallen, den wir ſchon an Frau von Staël getadelt haben, bier nicht
anführen wollen. Wehr Lit if Im der folgenden: „Oder,“ fragt er in
feiner gemöhnligen abrupten EBeife, „oder find Mofchern, Episkopalklirchen,
Bagoden, Filiale, Stiftshütten and Panthea etwas Anderes als der Heiden
vorhof zum unfihtbaren Tempel und zu deffen Allerheiltgftem ?“
Und dennoch ift, abgejehen von allen Dogmen, ja vielleicht trog vieler
derfelben, Richter im höchſten Sinne des Worts religids. Ehrfurcht, nicht
eigennüßige Scheu, fondern edle Ehrfurcht vor dem Geiſt aller Güte bildet
die Krone und den Ruhm feines Kultus. Die feurigen Elemente feiner
Ratur find unter heiligen Einflüffen gereinigt und durch ein Prinzip ber
Gnade und Demuth zu Frieden und Wohlthun geläutert worden. Gin
fnniger und fortwährender Glaube an die Unfterblichfeit und angeborene
Größe des Menfchen begleitet ihn. Aus den Strubdeln des Lebens blickt er
zu einem himmliſchen Zeitftern empor und die Lölung Deſſen, was ſichtbar
und vergänglich ift, findet er In Dem, was unſichtbar und ewig if. Er bat
gezweifelt, er Teugnet und dennoch glaubt er. „Wenn in Eurer letzten
Stande," fagt er, „wenn in Eurer Iehten Stunde, bedenkt 28, alles im
gebrochenen Geiſte abblüht und berabflirbt, Diäten, Denken, Streben,
Freuen: fo grünt endlich nur noch die Nachtblume des Glaubens fort, und
Rärkt mit Duft im letzten Duntel.*
Diefe fcheinbaren Widerſprüche zu verföhnen, die Gründe, die Art
und Weije, tie Uebereinftimmung von Richter'8 Glauben zu erflären, kann
bier nicht verfucht werden. Wir enipfeblen ihn dem Studium, der Toleranz
und felbft dem Lobe Aller, welche in tiefe höchſte aller Kragen mit ädhtem
Geifte, mit der Furchtloſigkeit eines Märtyrers, aber auch mit der Ehrfurcht
eines Märtyrerd eingedrungen find; Aller, welche die Wahrheit lieben um®
son Rügen nichts wiffen wollen. Ein freimüthiger, furchtloſer, ehrlicher
und doch wahrhaft geiftiger Glaube tft von allen Dingen in ımierer Zeit
das feltenfte.
Unſere Leſer werben wtelleiht von Schriften, die wir, obſchon mit
vielen Berbehalten, fo hoch geprieien, eine Probe verlangen. Yür Ungläus
Sige haben wir ungluͤcklicherweiſe von übergeugender Urt Teine zu geben.
Dan verlange wit von nd, Daß wir nem den perurianifchen Waͤdern durch
drei in ihnen grepflückte Zweige, ober von den Faͤllen bes Nil durch eine
Gandvoll feined Waſſers einen Begriff geben tollen! Denen jedoch, welche
Bweige blos als abgeriffene Zweige, und eine Handuoll Wafler blos ats fo
viele Tropfen betrachten, legen wir das folgende Bruchſtück vor.
„Wir wurden alle zu ſehr bewegt. Wir rifien imd endlich aus wie
berhelten Umarmungen, und mein Freund enwich mit der Geele, die er
liebt — ich blieb allein zuräd Hei der Nacht.
„Und ich aing ohne Ziel durch Wälder, durch Thäler und Aber Bäche
und durch fchlafende Dörfer, um die große Nacht zu genießen wie einen
Tag. Ih ging und ſah gleich dem Magnet, imsmer auf die Mitternadhtt«
gegend bin, um bad Herz an der nachglimmenden Abendröthe zu flärken,
an dieſer heraufreihenden Aurora eined Morgend unter unfern Füßen.
Weiße Nachtſchmetterlinge zogen, weiße Blüthen flatterten, weiße Sterne
flelen, und das lichte Schneegeftöber fläubte filbern an dem hohen Schatten
ber Erde, der über den Mond fisigt und der unfere Nacht ift. Da fing die
Aeolsharfe der Schöpfung an zu zittern und zu Flingen, von oben herunter
angemeht, und meine unfterbliche Seele war eine Saite auf Tiefer Raute. —
Das Herz bed verwandten ewigen Menfchen ſchwoll unter dem ewigen Him⸗
mel, wie die Meere fchwellen unter der Sonne und nnter dem Mond. —
Die fernen Dorfgloden ſchlugen um Mitternacht gleichſam in das fortſum⸗
mende Seläute der alten Ewigkeit. — Die Glieder meiner Tobten berühr-
ten talt meine Seele und vertrieben ihre Flecken, wie todte Hände Hautaus⸗
tchläge Heilen. — Ich ging Kill durch Meine Dörfer hindurch und nahe an
ihren äußern Kirchhöfen vorbei, auf denen morſche berausgeworfene Sarg-
breter glimmten, indeß die funkelnden Augen, die in ihnen gewefen waren,
als graue Asche Häubten. — Kalter Gedanke! greife nicht wie ein kaltes
Geſpenſt an mein Gerz: ich ſchaue auf zum Sternenhimmel und eine ewige
Reihe zieht fih hinauf, und hinüber und hinunter, und alles ift Leben und
Gluth und Licht und alles iR Böttlich oder Gott ...
„Gegen Morgen fah’ ich deine fpäten Lichter, Fleine Wohnſtadt, in bie
ich gehöre dieſſeits des Sarges; ich Fam auf die Erbe zurück und in deinen
Thürmen flug es, Hinter der vorübergezogenen großen Mitternacht, bald
drei Uhr: da ging um diefe Stunde 1794 der Mars in Weſten unter
a
und der Mond in Rorgm auf; und meine Seele wünidte, beflommen
vom Bedauern des edlen Friegerifhen Blut, dad noch auf die Frühlinge«-
blumen firömt: „ad, blutiger Krieg, weiche wie ber röthliche Mars, umd,
ftiller Sriede! komme wie der milde zeribeilte Mond !* — *
So haben wir aud büfterer Ferne und in einigen raſchen flüchtigen
Umriffen ein Bild von Jean Paul Friedrich Nichter und feinen Werken ent-
worfen. Deutichland Tiebt ihn ſchon lange; auch England muß er eines
Tages bekannt werben, denn ein Mann von diefer Größe gehört nicht
einem Volke, fondern der Welt an. Wie unfere Landsleute über ihn
urteilen werden und welches Schickſal ihm von der Nachwelt beſchieden
werden wird, darüber wollen wir feine Prophezeihung aufzuftellen verſuchen.
Die Zeit äußert auf mand einen weit außgebreiteten Ruhm einen feltfamen
zufammenziehenden Einfluß, von Richter jedoch laßt fi) behaupten, daß er
Vieles überleben werde. 8 liegt in ihm Das, was nicht flirbt, jene Schön«-
beit und Innigkeit der Seele, jener Geiſt der Humanität, der Liebe und
milder Weisheit, worüber die Wechielfälle der Mobe keine Gewalt haben.
Er befigt jene Vortrefflichkeit der innerften Natur, welche allein Schriften
unfterblich macht; jenen Zauber, der trog jeder Veraͤnderung uns an die
Schriften unferer Hookerd, Taylors und Brownes fefielt, wenn ihre Denke
weiſe ſchon Jängft aufgehört hat, die unferige zu fein und die geichägteften
ihrer bloß intellectuellen Anftchten, eben fo wie bereinft die unferen mit den
Umfländen und Greigniflen, in welchen fle ihre Entſtehung oder Form fan⸗
den, binweggefhiwunden find. Für Menſchen von rechtem Geiſte wird in
Richter noch lange Vieles liegen, was Anziehungefraft und Werth beftgt.
In der moralifhen Wüfte ter gemeinen Literatur mit ihren Sande
wüften und verdorrten,, bitteren und nur zu oft giftigen Geſtraͤuchen werben
die Schriften dieſes Mannes in ihrer wilden Leppigfeit emporragen, um
gleich einer Gruppe von Dattelbäumen mit ihrem grünen Raſen und ihrer
jprudelnden Quelle den Wanderer in der fehwülen Ginöde mit Nahrung
and Schatten zu erquiden.
Jean Paul Srievrih Kichter *)..
\ Zweiter Artikel.
(1830.)
Es find etwa ſechs Jahre Her, feitbem der Name Jean Paul Friedrich
Richter zuerft mit engliſchen Typen gedruckt ward und etwa ſechsundvierzig,
feitdem er am literartichen Himmel Deutſchlands in voller Glorie ſtrahlt —
eine Thatſache, weldye, wenn wir die Befchichte eines fo manchen Kogebue
und Chateaubriand innerhalb diefer Zeit betrachten, den alten Erfahrungs⸗
fag beftätigt, daß die beſte Berühmtheit fich nicht immer am fchnellften aus⸗
breitet, fondern vielmehr im Gegentheile, eben fo wie mit Luft gefüllte
Blaſen weit leichter getragen werben als Metallmaflen, obſchon goldene, von
gleichem Umfange, fo auch der Dramenſchmied, Poetafter und Pſeudophi⸗
loſoph oft flegreich über Land und Meere ſchwebt, während der Dichter und
Philoſoph ruhig daheim bleiben. So iſt der natürliche Verlauf. Ein
Spurzheim fliegt innerhalb eines Iahred von Wien nad Paris und Lons
don; ein Kant gelangt vielleicht erft in einem Jahrhundert von Königsberg
bis zu und; Newton brauchte, um blos den ſchmalen Kanal zu überjchreis
ten, fünfzig Jahre, und Syafipeare drei Mal fo lange.
Allerdings giebt es auch Beifpiele vom Gegentheil, und dann und
wann taucht in Folge eines feltenen Zufalld ein Goethe und ein Gervantes
in der Literatur auf, und Könige lachen über Don Quirote, „ehe dad
Buch noch fertig ift*, und Scenen aud Werther’3 Leiden werden auf chine⸗
*) Wahrheit aus Sean Baus Leben, erſtes bis drittes Heftlein. Breslau,
1836— 28.
ſiſche Theetaſſen gemalt, während der Berfafter noch ein ganz junger
Mann if.
Dies iſt jedoch nicht die Regel, fondern es find die Ausnahmen, ja,
richtig aufgefaßt,, Die Ausnahmen, welche fle beflätigen.. Im Allgemeinen
bat diefe plögliche Färmende Popularität ihren Grund mehr in einem theil⸗
weiien Delirtum auf beiden Seiten als in Harer Einſicht, und iſt für alle
dabei Betheiligten von ſchlimmer Vorbedeutung. Wie viele laute Bacchus⸗
fefte diefer Art haben wir als Pfeudo-Backhanalien fidy erweifen und gerade
mit dem Begentheil von Orgien enten jehen! Bon feines: Löwengefpann
gezogen kommt der muntere Bott als ein wirklicher Gott mit al’ feinen
Thyrſen, Eymbeln, Phalophoren und Mänaden einhergezogen ; Luft und
Erde Hallen wieder von ihrem Jubel, aber ad, nad) Eurzer Zeit ſchon zeigt
das Löwengelpann lange Ohren und wird zu unverkennbar ein Efeldgefpann
in Löwenhaͤuten, die Mänaden drehen fi entfegt herum, und der muntere
Gott wird von feinem Wagen herabgegerrt und als ein trunfener Sterblicher
im den Koth getreten.
Daß Richter in feinen Vaterlande feine ſolche Apotheoſe beſchieden
war und nun auch in feinem andern eine zu erwarten ſteht, können wir nicht
umhin, als einen natürlihen und keineswegs unglüdlichen Umftand zu be⸗
trachten. Die Goͤttlichkeit, welche in ihm Liegt, verlangt eine ruhigere Ver⸗
ehrung und von einer ganz andern Klaſſe von Verehrern. hen fo wenig
wollen wir troß dieſes vierzigjährigen Wartend England einer ungewöhn«
lichen Blindheit gegen ihn anklagen; ja, Alles erwogen, möchten wir den
Umfland, daß er nun wirflich feften Fuß bei uns gefaßt, ald einen Beweis
von nicht blos vermehrter Raſchheit des kiterarifchen Verkehrs, fondern auch
als eine weientlihe Verbeſſerung in der Art und Weile und in den Gegen⸗
ffänden deſſelben betrachten.
Unfer Gefühl für ausländiiche Vortrefflichkett muß, hoffen wir, wahrer
werben; unfer Infulanergefhmad muß fih mehr und mehr zu einem eurv⸗
pätichen ausbilden. Richter iſt nämlid durchaus nicht ein Mann, tefien
Vorzüge, eben fo wie feine Sonterbarfeiten, fih dem allgemeinen Blide
aufträngen, ja, ohne große Geduld und einen bedeutenden Katholiciduns
der Gefinnung hat fein Leier Ausſicht, fich wirklich mit ihm zu befreunden.
Er beſitzt ein ſchönes, hohes, ganz ungewöhnliches Talent, und jeine Art,
Demfelden Ausdru zu geben, tt vielleicht noch ungewöhnlicher. Er if
durch und durch und von gunzem Herzen Humorift, nicht blos in niedrigen
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Bereichen des Denkens, wo dies gewöhnlicher iſt, ſondern au In den hoͤch⸗
fen Regionen, wo er faft feinen Borgänger hat, und indem er jo in toller
Luk mit Sonne und Mond Fangeball fpielt, geftaltet er die fektfamfte
Meale Welt, welche auf den erften Anblick nicht viel beſſer ausſteht als ein
Chass.
Die Deutfchen felbft haben ihre Schwierigkeiren mit ihm, und für
keſer von irgend einer andern Nation {fl er ein grenzenloſes, gewaltigeß,
verwideltes Labyrinth, in welchem der Grundriß oter die Spuren eine
Grundriſſes nirgends fihhtbar find, Weit entfernt, den Geiſt feiner Schrife
ten nach feinem ganzen Umfange würbigen zu können, finden es Ausländer
im höchſten Grade fchwierig, auch aur ihren grammatifchen Sinn richtig zu
foflen. Wahrfcheinlich giebt es in einer modernen Sprache einen fo ſchwie⸗
tigen Schriftſteller, der einen fo unermeßlichen Ueberfluß an dunklen An-
fpielungen in der verwideltften Phrafeologie darbietet, Barentheie in Pa⸗
rentheſe fchiebt, ohne Dabei Auslaſſungen, plögliche Sprünge und alle Arten
unerflärlicher Brillen zu vergeflen, während das Ganze in der heiterfien
Weiſe ſich fortbewegt,, keineswegs aber in militatrifchen fireng geregelten
Reiben, fondern gleichfam in bunten, wunderlich gemifchten Volkshaufen.
Wie Ausländer mit der Lectäre feiner Werke zurechte fommen, mögen
unfere Leſer am beften nach der Thatſache beurteilen, Daß vor etwa zwanzig
Jahren zum Gebrauch für Richter's eigene Landéleute der Anfang eines
Werts erſchien, welches den Titel führte: „K. Reinhold's Wörterbuch zu
Sean Paul's fämmtlihen Schriften, oder Erflärung aller in deſſen Schriften
vorfommenden fremden Wörter und ungewöhnlidden Redensarten, nebft kur⸗
zen biftorifchen Notizen der angeführten Perfonen aus der Geſchichte u. ſ. w.
und faßlichen Berdeutihungen der ſchwierigſten Stellen im Zuſammenhange.
Ein nothwendiges Hülfsbuch für Alle, welche jene Schriften mit Nutzen
Iefen wollen. *' |
Eo viel über das Gewand ober die Einfleidung von Richter's Gedan⸗
fen. Berner aber bedenke man noch, daß die Gedanken felbft oft von der
abftrujeften Art find, fo daß nur nad eifrigem Nachtenfen irgend eine
nennendwertbe Quantität, fei ed nun Wahrheit ober Unwahrheit, erfannt
werden kann, und wir haben in ihm einen Mann, von welchem Lefer mit
ſchwachen Nerven und einem einigermaßen krankhaften Gefchmad nicht ver⸗
fehlen werben, mit einem vielleiht an Entfegen grenzenden Gefühl zurück
zuprallen.
Und dennoch findet Richter trog aller dieſer Schattenfelten,, wie wir
oben gefagt, in England ſchon einen gewiffen Brad von Anerkennung. Er
bat feine Lefer und Bewunderer. Verſchiedene Ueberfegungen feiner Werke
find bei und erſchienen, auch Mecenflonen, denen man eine klare Einſicht im
den Gegenfland nit abſprechen Tann und denen es daher auch durchaus
nicht an Beifall gefehlt Hat. Und allem bdiefen bat, fo weit unfer Blick
reicht, ſelbſt der nichtdeutiche Theil unſeres Publikums mit einiger Neugier
und hoffnungsvoller Erwartung Gehör geſchenkt.
Aus diefen Symptomen können wir Bweierlei fchließen, was uns in
unferer gegenwärtigen @igenfchaft beides fehr troͤſtlich iſt: Erftens, daß bie
alte fteifgefchnürte mikroskopiſche Sekte von Belletriften, deren Gottheit Die
„ Eleganz” war, ein Slaube, der auf franzöftichem Boden gewachſen, und
mebr für Damenfchneider als für Kritiker und Philofophen taugt, auf unfern
Infeln in rafcher Abnahme begriffen fein muß; und zweitens — was eine
weit periönlichere Rückſicht iſt — daß wir, indem wir dieien wunderfamen
Sean Paul einer nochmaligen Beſprechung und Erörterung unterziehen,
etwad verfuchen, was vielen unſerer Zefer Fein unwilllommener Dienft fein
wird.
Unfere Beſprechung zerfällt natürlich in zwei Theile, in den biographi⸗
fhen und in den Fritifchen, in Bezug auf welche beide wir nach der Reihe
einige Bemerkungen zu machen und — was wir, wenigftens in Bezug auf
den legten Theil, als nüglicher betrachten — einige interefiante Documente
vorzulegen haben.
- Es fcheint nit, als ob Richter's Leben äußerlich betrachtet in feinen
allgemeinen Beziehungen weſentlich verfchieden von dem anderer Literatoren
geweien wäre, welches größtentheild fo arm an Ereigniflen if. Der Anfang
bewegte ſich in ziemlich knappen Umftänden, ohne fi auf andere Weiſe aus-
zuzeichnen ; der letztere und geichäftigfte Theil war gleichfalls ein gänzlich
privater und ward größtentheils in Provinzialftädten und fern von vorneh⸗
men Regionen ober Perjonen zugebradt. Die Gauptereigniffe in Richter's
Leben waren die neuen Bücher, die er ſchrieb, und fein ganzer Lebenslauf
ein geiftiger und ftiller.
Er ward in feinem neunzehnten Jahre ſchon Schriftflellee und blieb
biefer Beichäftigung mit gewiſſenhaftem Eifer treu, fo daß er jede Unter
brechung ober Störung derfelben, wäre es auch nur auf einen Tag ober eine
Gtunde gewefen, nit blos nicht fuchte, fondern ihr auch forgfältig aus
dem Wege ging.
Tropdem ift e8 und, wenn wir biefe feine ſechzig Bände betrachten,
als ob Richter's Geſchichte noch ein anderes und viel tieferes Interefie ge⸗
babt haben müffe, als äußere Freigniffe ihm mittheilen konnten, denn ber
Geift, welcher mehr oder weniger vollftändig durch feine Schriften hindurch⸗
blickt, ift ein Geiſt von dauerndem Werth, felten in allen Zeiten und Situa-
tionen und vielleicht nirgends und zu Feiner Beit feltener, ald in bem litera-
riſchen Europa zur gegenwärtigen Zeit.
Wir ſehen In diefem Manne einen hohen, felbftftändigen, originellen
und in vielen Beziehungen fogar großen Charakter. Er zeigt fih als ein
Bann von wunderbaren Gaben und mit vielleicht einer noch glücklicheren
Gombination derfelben,, in welchem Philoſophie und Poeſie fich nicht blos
verföhnt, fondern zu etwas unendlich Höherem und Reinerem, zu Religion,
verihmolzen haben; der bei der weichſten umfafjendften Sympathie für
äußere Dinge Innerlih ruhig und undurchdringlich iſt, durch alle Verſu⸗
dungen und Drangfale hindurch fH und doch unbeugjam feinen Weg ver-
folgt; als Achter Mann der Literatur unter taufend unädhten, mit einem
Worte als ein Mann, der das neunzehnte Jahrhundert verfleht und mitten
darin lebt, und deſſen Zeben doch gewiffermaßen ein heroiſches und auf
opferndes iſt.
Wir wiſſen, daß ein Charakter diejer Art fi nicht ohne mannigfadhe
und fiegreiche Kämpfe mit der Welt bildet und die Erzählung ſolcher Kämpfe,
bes Wenigen, was davon erzählt oder gedeutet werden kann, gehört der
hoͤchſten Battung der Geihichte an. Das Leben eines ſolchen Mannes, hat
man gefagt, iſt gleichſam eine Vibel, ein Evangelium der Freiheit, welches
allen Menfchen gepredigt wird und wodurd wir unter fo vielen ungläubigen
Seelen erfahren, daß hoher Sinn noch nicht unmöglich geworden iſt; woran
wir, von grenzenloſer Trivialitaͤt und Verächtlichkeit umgeben, doch erfen-
uen, daß die Natur des Menſchen unauslöſchlich göttlich ift, und worin wir
eine Mahnung finden, feſt zu halten an Dem, was der wichtigfte Blaube
iſt, dem Glauben an uns ſelbſt.
Wenn aber dad Leben eined pius vates ein fo hoher Gegenitand ift,
fo muß die Lebensgeſchichte, welche, wenn fte angemeffen geichrieben, eine
Ueberfegung und Deutung deffelben ift, ebenfalls großen Werth haben.
Man bat gefagt, kein Dichter ſtehe mir feinem Gedicht auf gleicher .
Gähe, welcher Ausferuch zum Theil wahr iſt; Im einer tiefern Beratung
aber kann man auch und zwar mit noch größerer Wahrheit behaupten, deß
tein Gedicht mit feinem Dichter auf gleichen Höhe ſtehe. Nun ift es aber
Die Biographie, welche uns erſt fowohl den Dichter als daS Gedicht gieht,
indem fie durch die Bedeutung des einen die des andern erläutert und ver⸗
vollſtaͤndigt. Jener ideale Umriß von ſich ſelbſt, den ein Meuſch unbewußt
in feinen Schriften andeutet und welcher, richtig entziſſert, treuer iſt als
irgend eine andere Darfiellung von ihm, bei ber Biograph zu einem wisb
lichen zufammenhängenden Bild auszufüllen und unſerer Erfahrung oder
wenigſtens unierer flaren, nit mehr zweifelnden Bewunderung einzu⸗
prägen, um und badurd auf manderlei Weile zu belehren und zu erbauen,
Rad diefen Brundjägen gehandhabt, fünnte die Biographie areßer
Männer, befonder8 großer Dichter, das heißt im höchſten Grade edelfinniger
und weifer Männer, eine der würdigſten und wertbeollfien Gattungen von
Schriften werben.
Wie die Sachen ſtehen, giebt es freilich wenig Biographien, welche
etwa diefer Art Leiften. Die meiften ſind bloße Regiſter zu einer Biogres
phie, die jeder Lefer bei der Durchſicht dann ſelbſt ichreiben muß, nicht Der
Icbende Körper, ſondern bie trockenen Gebeine eines Körpers, welcher leben⸗
dig fein follte. Cine folge Tugend bes Premetheus von einem gewähm
lichen Xebensgefchichtöfchreiber erwarten, wäre unbillig genug, Wie fell
diefe unglüdliche biographifche Brüderſchaft, anflett wie Megiftermadger und
Amtscopiften zu ſchreiben, plöglich von einigen Funken der Intelligenz oder
fogar genialen Feuers entzündet werben und nicht blos Data und Thatſachen
fammeln, ſondern indem fie davon Gebrauch macht, durch die Oberflädge
und Sfonomilhe Form eines Menſchenlebens in fein innerſtes Weſen und
feinen Geiſt hineinſchauen?
Die Wahrheit iſt, daß Biographien ſich in einem aͤhnlichen Falle be⸗
finden, wie Predigten und Lieder. Ste haben ihre wiſſenſchaftlichen Regein
und ihr Ideal von Volllommenheit und Unvollkommenheit, wie alle Dinge
haben ; bis jetzt aber find ihre Regeln gleichſam nur unfihtbare Naturge⸗
feße, nicht Fritifche Parlamentdacten, und bedrohen und mit feiner wamitieh-
Karen Strafe, Ueberdies können im Gegenſatz zu Tragödien und epifchen
Gedichten ſolche Werke Etwas fein, ohne Alles zu fein, die Einfaihheit her
Form wird dabei oft für Leichtigkeit der Ausführung angefehen und dethalb
haben wir auf einen Künftler in dieſem Fache taufend Stümpee.
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» Bollten wir mit fpezieller Beziehung auf Richter fagen, feine biogra⸗
phiſche Behandlung fei fchledhter geweien als .gewöbnlih, fo würden wir
damit vielleicht zu viel jagen; aber ſchlimmer als wir erwarteten, if fie
ficherlich geweſen. Verſchiedene Lebensgeſchichten Jean Paul's, die eifrig
bedacht waren, die öffentliche Aufregung zu benugen, fo lange ſie dauerte,
und in einem gegebenen Raume faft ein Minimum von Belchrung mitiheis
im, find von uns innerhalb der legten vier Jahre mit Feiner großen Taäu⸗
ſchung gelelen worden. Wir bemüheten uns dankbar, das Wenige zu neh⸗
men, was fie zu geben hatten und ſahen Hoffnungsvoll jener verſprochenen
Selbſtbiographie“ entgegen, in welcher alle Mängel ergänzt werden follten.
Mehrere Jahre vor feinem Tode nämlich hatte Michter beſchloſſen, die
Geſchichte feines Lebens zu fchreiben und mit gewohnter Reblichkeit begon-
nen, gründliche Vorbereitung zur Löfung diejer Aufgabe zu treffen. Nach⸗
bem er manche Pläne, unter denen ſich viele ziemlich fonderbare befanden,
überlegt, ward er endlich über die Form mit fi einig und hatte mit einer
halb ſcherzenden Anfpielung auf Goethes „Wahrheit und Dichtung aus
meinem Lehen”, feinem Werke den Titel „ Wahrheit aus meinem Leben *
vorgeſegt. Die fonderbare Idee, feinen Lebenslauf auch ald Dichtung und
Barallele mit der Lebensgeſchichte des Apothefers Nikolaus Markgraf, der
nur als Held eines feines lebten Romane eriftirte, zu fchreiben, hatte er als
unpraftifch aufgegeben.
In diefem Werke, welches durch dringendere Arbeiten dann und warn
berzögert worden, war er ſchon bebeutend vorgeſchritten, und nach Richter's
erfolgtem Ableben überuahm Herr Otto, ein Mann von Talenten, der ein
halbes Menfchenalter lang fein intiner Freund gewefen, die Herausgabe
aud Vollendung nit ohne wiederholte Berfündung und Behauptung —
bie mittlerweile glaubhaft genug war — daß nur ihm ter Poſten eines
Biographen Ican Paul's gebühren fönne.
Drei kleine Bände biefer „Wahrheit aus Jean Paul’s Leben”, im
Laufe eben fo vieler Jahre erfchienen, Tiegen endlich vor und.
Der erfte Band, welder 1826 erfchlen, verurjachte einige Weber»
safhung und mande Erwartung ſah ſich getäufcht, doch blieb immer noch
Raum zur Hoffnung. Es war der Anfang einer wirklichen Autobiographie
und mit einem hohen Grade von Treubersigfeit und Würde gefchrieben, ob»
ſchon von einem ganz unerwarteten Geſichtspunkte aufgefaßt; dabei aber in
jenem Beifte genialen Humors und heiteren Ernſtes, welcher bei all’ feinen
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feltfamen phantaftifchen Beimifchungen doch Iean Paul fo anmuthig fand
und dem auf jeden Ball Tein Lefer feiner Werke fremd jein konnte. Kraft
eines autographiſchen Ukaſes hatte Sean Paul ih ſelbſt zum „Profeflor
feiner eigenen Geſchichte“ ernagnt, und hielt dem Univerfum drei fhöne
„Vorlefungen * über diefen Gegenſtand, wobei er fib allerdings mit vollem
Rechte rühmte, daß er in feinen fveziellen Fach beſſer unterrichtet fei, ale
fonft Jemand. Dabei hatte ex auch jeine oratorifchen Geheimniffe und pro⸗
tefforenmäßigen Gewohnheiten, und fo wie Mr. Wortley, als er feine Bar-
lamentsrede niederfchrieb,, um fie aus feinem Hute vorzulefen, an verſchie⸗
denen Stellen bemerkt Hatte: „Bier wird gehuftet*, fo hatte aud Jean
Paul mit mehr Kürze eine willfürliche Hieroglyphe unter feinen Papieren
angebracht, welche, wie er und mittheilt, bedeutete: „Meine Herren, Nie
mand feharre, Niemand gähne* — eine Hieroglyphe, die, wie wir aus⸗
drüclic bemerken müflen, viele ffentliche Hedner weit nothwendiger brau⸗
hen möchten, als er.
Unglüdlicherweife kamen in dem zweiten Bande Feine weiteren Vor⸗
lefungen an's Licht, jondern nur eine Reihe unzufammenhängenter, ganz
heterogener Notizen, welche zu weiterer Umarbeitung beftimmt geweien
waren, und der volle freie Strom des Redevortrags Löfte fich in ungenü⸗
gende Tropfen auf.
Mit dem dritten Bande, welcher bei weitem der Tängfte ift, tritt Herr
Otto entichiedener in feiner eigenen PBerfon auf, obſchon immer noch mehr
mit der Scheere als mit der Feder, und bemüht ſich Hinter einer Menge
Verſchanzungen und Borpoften feine Gefchichte ein weniger vorzufchieben,
nachdem die Vorleſungen fte faft an der Schwelle ftehen gelaffen haben.
Sein eigenthümlicher Plan und die allzubeutliche Abſicht, in Jean Paul’s
Manier weiter zu fprechen, hemmen jeinen Bortfchritt jehr, der auch in ber
That jo unbedeutend ift, daß wir am Ende diefes dritten Bandes, das beißt,
nach gegen flebenhundert Fleinen Octavfeiten, den Helden kaum über das
zwanzigfte Jahr Hinaus und die eigentliche Geſchichte noch gleichſam beim
Anfange finden.
Wir können nur bedauern, daß Herr Otto, deſſen Talent und gute
Nbfiht, auch abgeſehen von feinem Verhältniß zu Richter, Anſpruch auf
unjere Berücdfichtigung haben, nicht einen geraderen Weg eingefchlagen und
Das, was er und über dieſe Sache zu fagen hatte, in fchlichter Profa heraus-
fagt, die für ihn ein weit natürlicherer Dialekt zu fein ſcheint. Anftatt einer
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bunten Combination, die fe laugſam vielleicht gar wicht zur Einheit führt,
hätte er ohne jene „Vorlefungen * uber irgend eine werthvolle Notiz wegzu⸗
laſſen, uns eine direete Erzählung geben fünnen, welde, wenn ihr auch tie
Schönfeitölinte fehlte, doc vielleicht Die noch weit unentbehrlichere Linie der
Negekmaͤßigkeit gehabt hätte und auf alle Bälle writ kürzer gewefen wäre.
So Lange Heren Otto's Werk nicht vollſtaͤndig vorliegt, können wir
fein poſtijves Urtheil abgeben; mittlerweile aber müſſen wir fagen, daß es
ein eben nicht verheißungsvolles Anſehen bat und ber Befürchtung Raum
laͤßt, daß Richter's Lebensgeſchichte vielleicht noch lange ein Problem bleibe.
Was und ſelbſt betrifft, fo Finnen wir bei dieſem Stande der Dinge
zur Charakteriſtik von Jean Paul's praktiſchem Leben weiter nichts beitra⸗
gen, als einige aus Otto's und einigen andern Werken gefchöpfte kleine
Thatſachen, die felbft in unferen eigenen Augen auferordentlich ungenü⸗
gend find.
Richter war geboren zu MWonftebel (unrichtiger Wunſiedel) am Fichtel⸗
gebirge, im Jahre 1763, und da fen Geburtstag auf den 21. März fiel,
fo ward zumellm wißigerweife gefagt, daß er und ber Frühling mit einander
geboren fein. Er ſelbſt erwähnt Dies und zwar in lobendwerther Abfidt.
„Diefen Einfall,“ fagt er, „daß ich Profefior und der Frühling mit ein⸗
ander geboren worden, Habe ich in Geſpraͤchen wohl ſchon hundertmal vor«
gebracht; aßer ich brenne ihn hier abfichtlich wie einen Ehrenkanonenſchuß
zum hundert und erflen Male ab, damit ich mich Dur den Abdruck außer‘
Stand fee, einen durch den Preßbengel ſchon an die ganze Welt herum⸗
gegebenen Bonmot-Bonbon von Neuem anzubieten, *
Das Schickſal, feheint er zu glauben, machte noch einen andern Wig
auf ihn, weil das Wort Richter im Deutfchen nicht 6108 ein Eigenname,
fordern auch ein Appellationame iſt.
Seinen Taufnamen, Jean Paul, den man Tange für einen Einfall von
ihm ſelbſt und einen Pfeudonamen hielt, hatte er, wie wir bier lefen, ganz
ehrlich von jeinem mütterlichen Großvater Johann Paul Kuhn, einem ch
lichen Tuchmacher in Hof, entfehnt, und foäter blos das deutſche Johann in
Das franzöftfche Jean überfekt.
Die Richter waren feit wentgftend zwei @enerattonen Schulmeifter ge⸗
wefen und hatten fich durch nichts ala durch ihre Armuth und ihre Froͤm⸗
migkeit ausgezeichnet. Des Großbaters gedachte man in feinem Heinen Cirkel
noch als eines Mannes von ganz außerordentlicher Unſchuld und Heiligkeit.
Gariyle. 18. 3
34
„In Neuſtadt,“ fagt fein Enkel, „zeigt man noch ein Bänkchen hinter ber
Orgel, wo er jeden Sonntag betend gefniet; und eine Höhle, die er fid
felber in den fogenannten fleinen Culm gemadt, um darin zu beten. *
Obſchon er drei Schule und Kirchenämter befleidere und nach beften Kräften
verſah, fo belief ſich fein jährliches Einkommen doch auf nit mehr als Hödh«
ſtens hundertundfünfzig Gulden und „an biefer gewöhnlichen Baireuthiſchen
Sungerquelle für Schulleute fand der Mann fünfunddreißig Jahre lang und
ſchöpfte.“ Mit feiner Beförderung war ed langfam gegangen, „endlich
aber, * erzählt Jean Paul, „traf es fich im Jahre 1763 — eben in meinem
Geburtsjahr — daß er am 6. Auguſt, wahrſcheinlich durch befondere Con⸗
nerionen mit Höheren fleigend, eine der wichtigſten Stellen erhielt, wor
gegen freilich Rectorat und Stabt und der Eulmberg leicht hinzugeben waren,
und zwar zählte er gerade erft 76 Jahre 4 Monate und 8 Tage, ald er bie
gedachte Stelle wirklich erhielt, im Neuflädter — Gottedader ; feine Gattin
aber war ihm fon zwanzig Jahre vorher dahin voraudgegangen in bie
Nebenftelle. — Meine Eltern waren mit mir als fünf Monat altem Kinde
zu feinem Sterbelager gereifet. Er war im Sterben, als ein Geiftlicher
(wie mir mein Vater öfter erzählte) zu meinen Eltern fagte: Lafſet doch
den alten Jakob die Sand auf das Kind legen, damit er es fegne. Ich wurde
in das Sterbebett hineingereicht und er legte die Hand auf meinen Kopf. —
Srommer Großvater! oft babe ih an Deine im Erkalten ſegnende Hand
gedacht, wenn mich das Schidfal aus dunflen Stunden in hellere führte,
und id darf fhon den Blauben an Deinen Segen fefthalten,, in diefer von
Wundern und Geiſtern durchdrungenen, regierten und befeelten Welt. *
Der Bater, welcher damals ten befcheidenen Poften eines Tertius und
Drganiften in Wonſiedel befleidete, ward kurz darauf zum Prediger in dem
Dorfe Iodig befördert und von da nad) einigen Jahren nah Schwarzenbach
an der Saale verfegt. Auch er war von ächt frommer Gefinnung, obfchon
er damit mehr Energie des Charakters und wie es fheint, mehr allgemeines
Zalent verband, denn er war in feiner Gegend ala ein muthiger, eifriger
Prediger, und in größeren Kreifen als verbienftroller Componiſt von einigen
guten Kirchenmuftfen bekannt. An Armuth ſcheint er feinem Vater, ber
fein 2ebenlang faft nichts genoß als Brod und Bier, nicht ganz gleich ge⸗
kommen zu fein, aber arın genug war er beöwegen immer und nicht weniger
heiter als arm. Die Tochter des wohlhabenden Bürgers, bie er zur Frau
nahm, Hatte, wie wir vermuthen, Tein Geld mitgebracht, fondern blos Ge⸗
u re u nö
35
wohnbeiten und Bebürfnifle, die für einen Schulmeifter oder Pfarrer keines⸗
wegs vortheilhaft find; auf alle Bälle Hatte der würdige Mann, fo befcheiden
auch fein Haushalt war, mit fortwährenden Schwierigkeiten zu kämpfen und
binterließ fogar Schulden.
Paul, der in jenen Tagen Brit genannt ward, erzählt in heiterem
Zone, wie feine Mutter ihn nach Hof, ihrer Geburtsſtadt, zu ſchicken pflegte,
mit einem Duerfad auf dem Rüden und unter dem Vorwande, dort wohl⸗
feiler einzufaufen,, in der That aber, um jeine Gewürze und Delifateflen
von der Großmutter gratis geliefert zu befonmen. Er pflegte ſeinem Groß⸗
vater hinter dem Webftuhle die Hand zu Eüffen und mit ihm zu fprechen,
während die gute alte Frau, kargend gegen alle Welt, aber verjhwenderifch
gegen die Ihrigen, beimfich feinen Querſack mit Dem füllte, was er bringen
follte und ihm jogar Mandeln für fich felbft gab, die er jedoch für eine
Freundin aufbob. Ä
Einen andern Fleinen Bug, der in kirchlichen Annalen ganz neu if,
müffen wir hier mittheilen. Indem Paul die Freuden jeiner Eriftenz in
Joditz erzählt, erwähnt er unter andern auch folgende:
„sn den Herbftabenden (nody dazu an trüben) ging der Vater im
Shlafrocde mit Paul und Adam auf ein über der Saale gelegenes Kartoffel«
feld. Der eine Junge trug eine Grabhaue, der andere ein Handkörbchen.
Draußen wurden nun neue Kartoffeln, fo viel für das Abendeflen nöthig
waren, vom Vater ausgegraben ; Paul warf fie aus dem Beete in den Korb,
während Adam an dem Hafelnußgebüjche die beſten Nüffe erflettern durfte.
Nach einiger Zeit mußte diefer von den Aeften herunter und Paul flieg
feinerfeitö hinauf. Und fo zog man denn mit Kartoffeln und Nüſſen zu⸗
frieden nah Haufe; und die Freude, auf eine DViertelftunde weit und eine
Stunde lang Ind Freie gelaufen zu fein und zu Haufe bei Lichte dad Erntes
feft zu feiern, male ſich jeder Selber fo flark wie der Empfänger. “
Den Leuten, welche meinen, daß die Achtbarkeit des Tuches von dem
Breije abhängt, den es bei dem Tuchmacher hat, muß es überrafchend er»
feinen, daß ein proteflantifcher Geiftlicher, der nicht blos nicht im Stande
war, Fuchshunde zu halten, fondern e8 auch angemefien fand, feine Kar⸗
toffeln ſelbſt auszugraben, nicht mit allgemeiner Verachtung betrachtet oder
fein nügliches Wirken bedeutend beeinträchtigt ward. Davon wird jedoch
in der Gefchichte diefes Pfarrers von Joditz durchaus nichts fihtbar. Wir
feben in ihm einen Mann, der feinem Amt Eräftig. vorfland und von feiner
| 3.
3
Heerde geliebt und verehrt ward, ja er bejuchte nach Belichen und ſtets als
geehrter Gaſt die Hänfer des voigtländifchen Adeld, allerdingd nit in dem
Charakter eine® Edelmann, aber doch im dem eines Prieſters, den er viel
höher flellte. „ &leich einem alten lutheriſchen Gofprediger, * fagt fein Sohn,
„erkannte er die unabſehliche Größe des Stanted wie dad Erfcheinen ter
Geipenfter an, ohne vor beiden zu Beben.” Die Wahrheit iſt, der Mann
hatte ein heiteres, reines, religiöfes Herz, war fleißig im feinem Amte und
feurigen Geiftes, und fand in allen Verhältniffen des Lebens, daß er damit
fo ziemlich auskam.
Für unfern Profeſſor wie für Dichter überhaupt haben die Erinnerun-
gen der Kindheit ſtets etwas Ideales, fat Himmliſches. Oft fchilbert er im
feinen Phantaften folde Scenen mit liebender Genauigkeit; auch ift Armut
darin keine töptliche, ja nicht einmal eine unwilllommene Ingredienz. Im
Grunde genommen iſt e8 doch aud nit das Geld ober der Werth des
Geldes, woburd und wofür der Menfch lebt. Iſt nicht Gottes Weltall in
unferm Kopfe, möge berfelbe nun auswendig eine zerriffene Müge oder
ein Eönjgliches Diadem tragen? Es möge daher Niemand glauben, daß
Paul's Sugendjahre unglüdlich geweſen felen und noch viel weniger, daß er
auf fentimental weinerliche Weiſe oder mit der leiſeſten Spur von Prahleret
oder Wehklagen darauf zurüdgeblict hätte. Noch weit härtere Armuth als
diefe wäre ihm etwas Leichtes geweien, denn eine gütige Mutter, die Natur
ſelbſt, hatte ſchon dafür geforgt und gleich der Mutter des Achifles ihn gegen
äußere Dinge unverwundbar gemacht. Es war ein kühner, Eeder, freudiger
Geiſt, der durch diefe jungen Augen fhauete und für einen ſolchen Geiſt Hat
die Welt nichts Armes, fondern Alles ift reich und voll von Lieblichfeit und
Wunder.
Um unſere Leſer einen Blick in dieſes deutſche Pfarrhaus werfen zu
laſſen, theilen wir hier einige Säge aus Paul's zweiter Vorleſung mit, wo⸗
durch fle zugleich einen Begriff von feinem Profefiorenftyle erhalten.
„Um das Joditzer Leben unfered Hans Baul — denn fo wollen wir
ihn einige Zeit lang nennen, jedoch immer mit andern Namen abwechieln —
am treuefien barzuftellen, thun wir, glaub’ ih, am beſten, wenn wir daſſelbe
durch ein ganzes Idyllenjahr durchführen, und das Normaljahr in vier Jahr»
zeiten als eben fo viele Idyllenquatember abtheilen; vier Idyllen erfchöpfen
fein Glück.
„Niemand übrigend wundere ſich über ein Idyllenreich und Echäfer-
37
weltchen in einem fleinen- Dörfchen und Pfarrhaus. Im fchmalften Beete
iſt ein Tulpenbaum zu ziehen, der feine Blüthenzweige über den ganzen
Garten ausdehnt; und Die Lebensluft der Freude kann man aus einem Fen⸗
fler fo gut einathmen, als im weiten Wald und Himmel. If denn nicht
felbft der Menfchengeift (mit allen feinen unendlichen Himmelsräumen) ein⸗
gepfählt in einen fünf Buß hohen Körper mit Häuten und malvigiſchem
Schleim und Haarröhren und bat nur fünf enge Weltfenfter von fünf Sin»
nentreffern aufzumadıen für das ungeheure rundaugige und rundjonnige
AU; — und doc flieht und wiedergebärt er ein AU.
„Kaum würd’ ich wiflen, mit welchem unter den vier Idyllenquatem⸗
bern anzufangen wäre; denn jeder iſt ein Meiner Vorhimmel des nädhften ;
indeß geräch do, wenn wir mit dem Winter und Januar anheben, bad
Steigern der Freuden am beflen. In ter Kälte war ber Väter, wie eine
Sonne, gewöhnlid von der Treppenhöhe der Studierftube herabgezogen und
bielt zur Breube der Kinder fi in der Ebene der allgemeinen Wohnftube
auf. Am Morgen ſaß er. an einer Fenſterecke und lernte feine Sonntage
Predigt audwendig, und die drei Söhne Frig, das bin ich ſelbſt, und Adam
und Gottlieb (denn Heinrich Fam erft gegen das Ende des Jodiger Idyllen⸗
lebens dazu) trugen abwechſelnd die volle Kaffeetaffe zu ihm, um noch frober
die leere zurüdzubolen, weil der Träger aus ihr die ungeſchmolzenen Reſte
Des gegen Huften genofienen Kandidzuder frei nehmen durfte. Draußen
dedte zwar der Himmel alles mit Stille zu, den Bach dur EIS, dad Dorf .
mit Schnee, aber in der Wohnftube war Leben, unter den Ofen ein Tau⸗
benſtall, an den Fenſtern Zeiflg« und Stieglighäufer, auf dem Boten bie
unbändige Bullenbeigerin, unfere Bonne, die Nadhtwächterin des Pfarrhofs,
und ein Spighund, und der artige Scharmantel, ein Geſchenk der Frau von
Plotho, — und barneben bie Gefindeftube mit zwei Mägden; und weiter
gegen daB andere Ende des Pfarrhauſes der Stall mit allem möglichen
Rinde, Schwein- und Federvieh und deffen Befchrei ; unfere auch vom Pfarre
hofe umſchloſſenen Drefcher könnt’ ich mit ihren Blegeln auch rehnen. So
von lauter Geſellſchaft umgeben, brachte num leicht der ganze männliche Theil
der Wohnflube den Vormittag mit Auswendiglernen zu, nahe neben dem
weiblichen Kochen,
„Berien fehlen keinem Gefchäfte in der Welt, und fo hatt' aud ich
die Luftferien — ähnlich den Brunnenftrien — daß ih in den Schnee des
Hofö geben durfte und an tie drefchende Scheune. Ja, war im Dorfe ein
38
ſchweres Medegeihäft auszurichten, 3. B. bei dem Schul⸗ oder bei dem
Schneidermeiſter, fo wurde id tahin mitten aus meinen Lerngeſchäften ver⸗
fhiekt, und fo Fam ich denn immer ins Freie und Kalte und fonnte mid
mit dem neuen Schnee meſſen. Mittags konnten wir Kinder noch vor un«
ferem Efien die hungrige Freude haben, daß wir Die Dreſcher in der Gefinde-
ſtube einbeißen und aufeflen faben.
„Der Nachmittag wurde ſchon bedeutender und freudenreiher. Der
Winter verfürzte und verjüßte die Lernfunden. In der langen Dämmerung
ging der Vater auf und ab, und bie Kinder trabten unter feinem Schlaf-
ro nad Dermögen an feinen Händen. Unter dem Gebetläuten flellten fidh
alle in Einen Kreis und beteten das Lied einflimmig ab: „Die finftre Nacht
Bricht flark herein.” Nur in Dörfern — nicht in der Stadt, wo es eigent«
ih mehr Nacıt- als Tagarbeiten giebt — bat das Abendläuten Sinn und
Werth und ifl der Schwanengefang des Tags; die Abendglode iſt gleichſam
der Dänpfer der überlauten Herzen und ruft, als der Kubreigen der Ebene,
die Menfchen von ihren Räufen und Mühen in das Land der Stille und des
Traum. — Nach dem füßen Warten auf den Mondaufgang des Talglichtes
unter der Thüre des Gefindeſtübchens, wurde die weite Wohnftube zu gleis
her Zeit erleuchtet und verſchanzt, nämlich die Benfterladen wurten zuges
fchlofien und eingeriegelt, und das Kind fühlte nun Hinter diefen Fenſter⸗
bafteten und Bruftwehren fi traulich eingehegt und binlänglich gedeckt
gegen den Knecht Ruprecht, der draußen nidht bereinfam, fondern nur ver⸗
geblich brummte. |
„Um diefelbe Zeit geſchah es dann, daß wir Kinder und ausfleiden
und in bloßen langen Schlepphemden auf und ab herumhüpfen turften.
Idyllenfreuden verichiedener Art wechſelten. Entweder trug der Vater in
eine mit leeren Bolioblättern durchſchoſſene Duartbibel bei jedem Verſe tie
Nachweiſung auf das Buch ein, worin er über ihn etwas gelefen; ober
er hatte gewöhnlicher fein raftriertes Folioſchreibbuch vor fih, worauf er
eine vollſtaͤndige Kirchenmuflt mit der ganzen Partitur mitten unter dem
Kinderlärmen ſetzte: in beiden Fällen, im lebten aber am Tiebften, ſah ich
dem Schreiben zu und freute mich befonders, wenn durch Paufen mancher
Inftrumente ſchnell ganze Viertelfeiten fich füllten. Er dichtete feine innere
Muſik ganz ohne alle äußere Hülftöne — was auch Reichard den Tonſetzern
anrietd — und unverflimmt vom Kinderlärm. Die Kinder faßen fpielend
alle am langen Schreibe und Eßtiſche, ja fogar aud unter ihm — — —
39
„Wie flieg wöchentlich vollends der Winterabend an Werth, wenn die
alte Botenfrau mit Schnee überzogen mit ihrem Frucht⸗ und Fleiſch⸗ und
Waarenkorbe aus der Stadt in die Geſindeſtube einlief, und wir alle im
Stübchen die ferne Stadt im Kleinen und Auszuge vor und hatten und vor
der Nafe, wegen einiger Butterweden! *
So fünnen in einförmiger Winterferferhaft unter allen Arten von
NRind⸗, Schweine» und Federvieh mit ihrem Geräufch idylliſche Freuden ges
funden werden, wenn nur ein Auge da iſt, fle zu fehen und ein Herz, um
Geſchmack daran zu finden, Im der That, das Glück if wohlfell, dafern
wir e8 nur bei dem rechten Krämer ſuchen. Paul warnt uns jedoch, zu
glauben, daß in diefem idylliſchen Leben nicht auch faure Tage, Scheltworte
u. dergl. in Jodig vorgekommen ſeien; doch Hatte er im Ganzen genommen
guten rund, fich feiner Eltern zu freuen. Ste Tiebten ihn innig; fein
Bater, erzählt er, vergoß Thränen, wenn der Fleine Fritz einen Beweis von
Talent oder rafcher Faſſungskraft gab; fle waren auch tugenbhaft und
fromm, was am Ende beffer ift als reich fein. „Zuweilen,“ jagt er, „hörte
ih meinen Vater erzählen, wie er und andere @eiflliche ihre Kleidungd-
ſtücke den Armen geichenft. Er erzählte es mit Freude, nicht ald Anmah⸗
nung, fondern ald Notbwendigkeit. O Gott! ih danke Dir für meinen
Bater!®
Richter's Erziehung war von eben fo beicheidener ‘Art, als feine Woh⸗
nung und Beköfligung. Ein Heiner Zwift mit dem Schulmeifter in Joditz
hatte den Pfarrer bewogen, feine Söhne aus der Schule zu nehmen und fie
felbft zu unterrichten. Diefen Entichluß führte er allerdings treulich auß,
aber in der befhränfteften Weiſe. Seine Methode war nänlidh feine Peſta⸗
lozziſche, fondern einfach das alte Aufgabeinftem mit Hülfe einer lateiniſchen
Grammatik und eined Wörterbuds, und die beiden Knaben faßen jahraus
jahrein zu Haufe, ohne andere geiftige Nahrung, als daß fle lange Wörter-
reihen auswendig Iernen mußten. Frit lernte jedoch redlich und rechtſchaffen
und ohne fih an das Ichlechte Betipiel feines Bruderd Adam zu kehren.
Uebrigens mangelte e8 ihm gänzlih an Büchern, mit Ausnahme der
theologifchen feines Vaters, wenn er einmal auf verftohlene Weiſe dazu ges
langen Fonnte. Diele verfchlang er in Ermangelung anderer und befierer
aufs begierigfle, ohne jedoch, wie er ſelbſt fagf, etwas von ihrem Inhalt zu
verfichen.. Mit nicht weniger Ungeſtüm und nicht weniger Nugen las er
andy die veralteten Stöße Beitungen, welche eine freundliche Gönnerin, die
fon erwähnte Frau von Pisthe, feinem Bater zu leihen pflegte, aber niät
im eingeinen Mummesn, fondeen in monatlichen Staßen.
Dies wer feine ganze Bectüre. Dabei war Joditz ein ungemein abge
Segenes Dorf, beſaß weder natürlidde noch künftläche Schönfeit, und wer hier
wohnte, befam fein ganzes Leben lang nichts Merkwürbiges zu ſehen. Aber
trogdem fland es doch unter einem unermeßlichen Himmel und in einer gan
wunderfamen Welt, und Blide in die unenblidden Räume des Weltalls und
jogar in die unendlichen Raͤume der menſchlichen Seele Eounten bier eben fo
gut gethan werden ald anderwärts. Fritz Hatte trog der Schulmeifter feine
eigenen Bedanfen. Eine Heine himmlische Saat des Willens, ja der Weis
heit, war in ihn geſtreut werben und wuchs, ohne einen andern Bärtner ale
die Natur, fill enwer. inigen unferer Leſer wird der folgende Umſtand
Höchft fonderbar, wo nicht unbegreiflih, andern aber keineswegs fo er-
feinen.
„In der fünftigen Kulturgeichichte unferes Helden wird es zweifelhaft
werben, ob er nicht vielleicht mehr der Vhiloſophie als der Dichtkunſt zu-
geboren war. In früheſter Zeit war das Wort Welmweispeit — jedoch
aud ein zweites Wort Morgenlaud — mir wie eine offene Himmelspforte,
durch welche ich hineinſah in Lange, Iange Freudengärten. Mie vergeſſ' ich
die noch keinem Menſchen erzählte Ericheinung in mir, wo ich bei der Ge⸗
Gurt meines Selbfibewußtfeind fland, von der ich Ort und Zeit anzugeben
weiß. An einem Vormittag fand ich als rin fehr junges Kind unter ter
Haustbür und fah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Beflcht,
id bin ein Ich, wie ein Blitzſtrahl vom Himmel vor mid fuhr und feit-
dem leuchtend fichen blieb: da hatte mein Ich zum erften Male ich felber
gefehen und auf ewig. Taͤuſchungen des Grinnerns find Hier ſchwerlich ge⸗
denkbar, da kein fremdes Erzählen ſich in eine blos im verhangenen Aller
beiligften des Menfchen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein fo
alltäglichen Nebenumftänden das Bleiben gegeben, mit Bufägen mengen
fonnte. *
Er fland in feinem dreizehnten Jahre, als feine Familie nach Schwar⸗
zeubach zog, wo fein Bater eine etwas befiere Stelle erhalten hatte, mit wel-
her Veränderung, fo weit der Schulunterricht in Frage kam, die Ausſichten
für unfern Helden fi bedeutend freundlicher geflalteten. Der bertige Leh⸗
ver war nicht gerade ein großer Gelehrter oder tiefer Denker, aber doch ein
Iebhafter, freundlicher Mann, der ſich für fetwe Schuler intereffirte und unter
4
biefen unfern Brig als einen Knaben von überaus hoher Begabung bald
auszeichnen lernte. Was aber noch wichtiger war, Fritz befam nun Bücher
in die Hände, begann fofort einen Kurſus ſehr gemiichter, felbfigewählter
Lectüre und fab-unter Nomanen, Gedichten, philofophifchen und theologi⸗
fen Schriften fi ringsum ein erflaunliches Schaufpiel vor feinen Augen
Öffuen. Sein Latein und Griechiſch wurden nun beſſer gelehrt, ja er fing
foger an Hebräiih zu lernen. Zwei Geifliche der Umgegend fanden, fo
fung er audy noch war, Vergnügen an feiner Gefellihaft und waren ihm
jegt und ipäter von großem Nutzen. Unter ihren Aufpicien begann er
ſchriftliche Ausarbeitungen und theologifge Studien, wobei er ſich flark auf
die keterodore Seite neigte.
In dem Familienzimmer jedoch geftalteten fich Die Dinge nicht ganz fo
gedeihlih. Die drei Borlefungen des Profeffors fchließen vor diefer Zeit;
aus feinen Notizen aber entnehmen wir, daß trübe Wolfen über Schwarzen-
bach hingen, daß feine böfen Tage hier begannen. Der Vater hatte vielfäl«
tigere Pflichten zu erfüllen als früher, war oft vom Hauſe abweiend, hatte
ſich in Schulden geſteckt und verlor feine frühere Heiterkeit des Tempera⸗
ments. Für feine Söhne fah er feinen andern Ausweg, als das erbliche
Schulmeiſterhandwerk und ließ die Sache dabei bewenden, ohne ſich weiter
viel darum zu befümmern. Nach etwa drei Jahren ſchied der arme Mann
von Sorgen nicdergebeugt aus diefem Leben und hinterließ feine finanziellen
Angelegenheiten, die er durch das befiere Einkommen in Schwarzenbach zu
verbeſſern gedachte, in traurig zerrüttetem Zuſtande.
Mittlerweile war Friedrich nach Hof auf das Gymnaſium geſchickt wor«
den, wo er ungeadhtet des eben erwähnten Ereigniſſes einige Zeit blieb —
im Banzen zwei Jahre, wie es fcheint, die gewinnreichfte Periode feines
ganzen Linterrichts, ja bie einzige Periode, wo er im eigentlichen Sinne ded
Worts noch einen andern Lehrer Hatte, als fich ſelbſt. Der gute, alte, tuch⸗
machende Großvater und die Großmutter nahmen ihn In ihr Haus und in
ihre Pflege und er Hatte eine Menge Lehrer, die alle in ihren Faͤchern Tüch⸗
tiges leifteten.
Otto ſchildert Ihn als einen trefflichen, zuverläiftgen, fanften, aber
doch entfhloffenen Süngling, der feine Benorzugungen, Burüdjegungen,
Studien, Freundſchaften und anderen Squlſchickſale auf höchſt rühmlicye
Weiſe durchmachte und beweift Died ausführlich durch verſchiedene That⸗
fon erwähnte Frau von Plothe, feinem Bater zu leihen pflegte, aber nicht
im einzelnen Nummern, fondeen in monatlichen Stößen.
Dies wer feine ganze Bectüre. Dabei war Joditz ein ungemein abge:
Segenes Derf, beſaß weder natürliche noch Fünftläche Schönßeit, und wer Hier
wohnte, bekam fein ganzes Leben lang nichts Merkwürdiges zu ſehen. Aber
trogdem fand es doch unter einem unermeßliden Himmel und in einer ganz
wunderfamen Welt, und Blide in die unendlichen Räume des Weltalld und
fogar in die unendlichen Räume der menſchlichen Seele Eonunten bier eben fo
gut gethan werden als auderwärte. Frit hatte trog der Schulmeifter feine
zigenen Bedanfen. Eine Heine himmliſche Saat des Wiffene, ja der Weit
beit, war in ihn gefireut werben und wuchs, ohne einen andern @ärtner ale
die Natur, fill enger. Cinigen unferer Leſer wird der folgente Umſtaud
Höhft fonderbar, wo nicht unbegreiflih, andern aber Eeinedwege jo er.
feinen.
„In der künftigen Rulturgefihichte unſeres Helden wird es zweifelhaft
werden, ob er nicht vielleicht mehr der Philoſophie als der Dichtfunft zu-
geboren war. In frühefler Zeit war das Wort Weltweisheit — jedoch
auch ein zweites Wort Morgenland — mir wie eine offene Öimmelspforte,
durch welche ih hineinſah in Lange, lange Freudengaͤrten. Nie vergeil’ ich
die nody feinem Menſchen erzählte Ericheinung in mir, wo id bei der Ge⸗
burt meined Selbſtbewußtſeins fland, von der id Ort und Zeit anzugeben
weiß. An einem Vormittag fland ich als cin fehr junges Kind unter ber
Hausthür und ſah links nach der Holzlege, als auf einmal das innere Geſtcht,
ich bin ein Ich, wie ein Blitzſtrahl vom Himmel vor mich fuhr und ſeit⸗
dem leuchtend ſtehen blieb: da Hatte mein Ich zum erſten Male ſich ſelber
gefehen und auf ewig. Taͤuſchungen bed Erinnerns find bier ſchwerlich ge=
denkbar, da kein fremdes Erzählen ſich in eine blos im verhangenen Aller«
heiligſten des Menfchen vorgefallene Begebenheit, deren Neuheit allein fo
alltäglichen Nebenumfländen das Bleiben gegeben, mit Zufähen mengen
Tonnte. *
Er ftand in feinem breizehnten Jahre, als feine Familie nad) Schwar=
zeubach zog, wo fein Bater wine etwas beſſere Stelle erhalten Hatte, mit wel«
cher Veränderung, jo weit der Schulunterricht In Frage fam, die Ausfihten
für unfern Helden fid bedeutend freundlicher geflalteten. Der bartige Leh⸗
ver war nicht gerabe ein großer Gelehrter oder tiefer Denker, aber body ein
Iehhafter, freundlicher Mann, ber fid4 für feine Schüler Intereffirte und unter
4
biefen unfern Brig als einen Knaben von überaus hoher Begabung bald
auszeichnen lernte. Was aber noch wichtiger war, Brig befam nun Bücher
in die Hände, begann fofort einen Kurſus ſehr gemiichter, felbfigewählter
Zertüre und fah-unter Momanen, Gedichten, philoſophiſchen und theologi-
ſchen Schriften fih ringsum ein erflaunliches Schaufpiel vor feinen Augen
öffnen. Sein Latein und Griechiſch wurden nun befler gelehrt, ja er fing
ſogar an Hebrätich zu lernen. Zwei Geifliche der Umgegend fanden, fo
jung er auch noch war, Vergnügen an feiner Gefellihaft und waren ihm
jegt und ipäter von großem Nutzen. Unter ihren Auſpicien begann er
[hriftlicde Ausarbeitungen und theologiſche Etudien, wobei er ſich flarf auf
die keterodore Seite neigte.
In dem Bamilienzimmer jedoch geftalteten fich die Dinge nicht ganz fo
gebeihlih. Die drei Borlefungen des Profeſſors fehließen vor biefer Zeit;
aus feinen Notizen aber entnehmen wir, daß trübe Wolken über Schwarzen«
bach hingen, daß feine böfen Tage hier begannen. Der Bater hatte vielfäl-
tigere Pflichten zu erfüllen als früher, war oft vom Haufe abweiend, hatte
fih in Schulden geſteckt und verlor feine frühere Heiterkeit des Tempera⸗
ments. Für feine Söhne fah er feinen andern Ausweg, als das erbliche
Schulmeiſterhandwerk und ließ die Sadye dabei bewenden, ohne fich weiter
viel darum zu befümmern. Nach etwa drei Jahren fäled der arme Mann
von Sorgen niedergebeugt aus diefem Leben und binterlich feine finanziellen
Angelegenheiten, die er durch das befiere Einkommen in Schwarzenbach zu
verbeffern gedachte, in traurig zerrüttetem Zuſtande.
Mittlerweile war Friedrich nach Hof auf das Gymnaſium gefchict wor-
den, wo er ungeachtet des eben erwähnten Ereigniſſes einige Zeit blieb —
im Ganzen zweit Jahre, wie es fcheint, die gewinnreichſte Periode feines
ganzen Unterrichts, ja die einzige Periode, wo er im eigentlichen Sinne des
Worts noch einen andern Lehrer Hatte, als ſich ſelbſt. Der gute, alte, tuch⸗
machende Großvater und die Broßmutter nahmen ihn in ihr Haus und in
ihre Pflege und er hatte eine Menge Lehrer, die alle in ihren Bädern Tuͤch⸗
tige leifteten.
Otto ſchildert Ihn als einen trefflidhen, zuverläifigen, fanften, aber
doch entfchloffenen Süngling, der feine Bevorzugungen, Burüdjegungen,
Studien, Freundſchaften und anderen Schulſchickſale auf höchſt rühmliche
Weiſe durchmachte und beweift dies ausführlid durch verſchiedene That⸗
42
ſachen und Einzelnheiten, deren Mitthellung uns jedoch Bier zu welt führen
würbe.
Als ein Beifpiel von Paul's intellectuellen Eigenfhaften mag bier er⸗
wähnt werden, daß er damals in Gefchichte oder Geographie faſt gar feine
Fortichritte machte, obſchon er fich in allen antern Faͤchern des Lernens fehr
gut anließ. Hierbei war nicht blos der etwas langweilige Lehrer zu tadelm,
fondern auch der Schüler, welcher Feine Luft hatte. Range nachher erft über-
wand oder unterdrüdte er feine Verachtung für biefe Studien unt erwarb
fi) durch eigene Anftrengung einige Fertigkeit in denfelben*). Wir haben
ein Gleiches auch von andern Dichtern und Philoſophen gehört, beſonders
wenn ihre Lehrer zufällig profatih und unpbiloiophifä waren.
Richter rühmt fi, daß er in der Schule niemals geftraft warb; doch
beftand zwiichen ihm und dem hiſtoriſch⸗geographiſchen Gonrector durchaus
fein ‚gute® Einvernehmen. Bel einer gewiflen tragikomiſchen Gelegenheit
anderer Urt kamen fie in noch entſchiednere Colliſton.
Der eifrige Eonrector, ein fehr braver, thätiger Mann, welder fein
Bymnaftum fo viel als möglich einer Univerfität ähnlich zu machen wünfchte,
hatte geglaubt, daß eine Reihe von Disputationen als Vorgeſchmack von
den auf der Univerfität üblichen fehr nüglich fein, ober dod auf jeden Fall
der Schule zur Zierde gereichen würden. Unglücklicherweiſe hatte ber wür«
dige Praͤſident eine Theſis aud der Dogmatik zum Thema einer ſolchen Dis«
putation gewählt. Ein Schüler follte das Dogma veriheidigen und Paul
e8 angreifen — eine Aufgabe, zu deren Ausführung er, wie wir ſchon oben
andeuteten, ganz befonderd befähigt war. Nun wußte der ehrliche Paul
durchaus nichts von den Grenzen eines ſolchen Streites, fondern glaubte
er könne, wie nun auch ter Ausgang fein möge, mit voller Kraft darauf
Iosgehen, Nach wenigen Bängen fihon ward daher fein Gegner fo gut wie
todt vom Kampfplage getragen und der Gonrector ſelbſt mußte, als er bie
Gefahr fah, gleihfam von feinem Präftdentenftuhle herabfteigen, um die
*) „Die ganze Geſchichte,“ fchreibt er in feinem zweiundpreißigfien Jahre, „iR,
infofern fie ein Gewaͤchs des Gedachtniſſes ift, nichts ale eine kraft: und faftlofe Diſtel
für pebantifche Stiegligen, aber infofern ift fie, wie bie Natur Alles werih, inwiefern
wir, wie aus diefer, den unendlichen Geift erraten und ablefen, ter mit ver Natur
und Beichichte wie mit Buchſtaben an uns — fchreibt. Wer einen Gott in der phyſi⸗
fhen Welt findet, findet auch einen in der moralifchen, welches die Geſchichte iſt: die
Ratur dringet unfern Herzen einen Echöpfer, die Geſchichte eine Vorfehung auf.“
43
dem Refpondenten aus der Hand gefhlagene Waffe in die eigene erfahrnere
zu nehmen. Paul aber rüdte ihm, ohne fich einihüchtern zu Laffen, eben
fo herzhaft zu Leibe, ja trieb ihn, wie Allen immer Flarer warb, ebenfalls
feßr bald in die fehauderhaftefte Enge. Dem Conrector drohte die Zunge
am Baumen Pleben zu bleiben, denn fein Gehirn ſchwindelte, während fein
Berftand ftillftand ; nur feine Galle war noch in thätiger Bewegung. 8
blieb ihm nichts weiter übrig, als mit einem , Halt's Maul!* die Debatte
zu ſchließen und mit einem Gefidht (gleich dem des weit berühmteren Sub⸗
reetord Hand von Füchslein) von gemifchter Farbe „wie rother Bolus,
grüne Kreide, Raufchgelb und vomissement de la reine* das Zimmer zu
verlaſſen.
Mit feinen Studien auf der Univerfltät Leipzig, wohin er ſich im Jahre
1781 begab, beginnt eine weit wichtigere Aera für Baul, eigentlich die Aera
feiner Mannheit und erften gänzlichen Abhängigkeit von ſich ſelbſt.
In Bezug auf Titerarifche oder wiſſenſchaftliche Ausbildung iſt ed nicht
far, ob er in Leipzig viel dafür gewann, wenigftens ſcheint es nicht viel
mehr geweien zu fein, als die bloße Nähe von Bibliotheken und Mit⸗
fiudirenden ihm überall gewährt haben würde. Gewiſſe Collegia befuchte
er allerdings und mit Fleiß, aber zu fehr in der Eigenſchaft eines Kritikers
fowohl als eines Schülere. Er war gewohnt, fih mit Männern, die an
Alter und Anſehen body über ihm flanden, geiftig zu meſſen und e8 dauerte
nicht Tange, fo Hatte ſich feine Achtung vor vielen derſelben bedeutend ver⸗
mindert. Was fein urjprünglicher Studienplan war oder ob er überhaupt
einen feften Plan hatte, erfahren wir nidt. In Hof war er, ohne Wahl
oder Widerſpruch von feiner Seite, für die Theologie vorgebildet worden ;
dieſes und jedes antere Fachziel aber fhwand in Leipzig in Folge einer
Menge von Urfachen bald wieder hinweg und Richter, der jetzt noch weit
entſchiedener ein Selbftlehrer war, fagte ſich von allen gelehrten Bünften los
und fuchte fich durch Ausbildung feines Geiſtes wie in anderen Beziehungen
eine eigene Bafld zu gründen. Er las Mafien von Büchern und fchrieb
ganze Dicke Hefte Ercerpte und Notizen, arbeitete in allen Richtungen mit
unerfättlicher Gier, erhielt aber von der Univerfität wenig Anleitung und
erwartete au bald Feine. Erneſti, der einzige wahrhaft audgezeichnete
Mann des Plages, war kurz nach Paul's Ankunft dafelbft geftorben.
Uebrigens war es nicht bloß freie Wahl, fondern auch Nothwendigkeit,
was ihn von den Fachſtudien abwendig machte; er hatte nicht die nöthigen
4
Mittel, eins derfelben zu beenden. Ganz andere und weit brüdendere Sor⸗
gen ummlagerten ihn. Nicht wie ex in Zukunft bequem leben, fondern wie
er in der Begenwart überhaupt leben könne, war die große Trage, die ihn
beſchaͤftigte. Wie es nun auch in Bezug auf intellectuelle Gegenftände fein
mochte, fo war tod fiherli in moraliidher Beziehung Leipzig feine wahre
Schule, wo die Erfahrung ihm unter vielen Streichen die weifeften Lehren
beibrachte. Hier ſah er zuerfi Die Armuth, nicht in der Geſtalt der Spar-
famfeit, ſondern in der weit drohenderen des wirklichen Mangels, und unge⸗
ſehen und allein, mit dem Schidfal auf Leben und Tod kämpfend, bewies er,
was für eine tiefgewurzelte, unbezähmbare Stärke unter feiner freundlichen
Milde wohnte, und aus einem Hoffnungsvollen, von drauenden Wolfen um⸗
lagerten Juͤngling vervollfommnete er fi zu einem Klaren, freien, gütigen
und hochfinnigen Manne.
Mittlerweile ward ihm der Weg zur Erreihung dieſes Ziels ziemlich
fauer gemadt. Sein alter Schullehrer in Schwarzenbach, felbfi ein Leipzi⸗
ger, hatte ihm wiederholt verfichert, daß er in Leipzig fall umfonft leben
Fönne, fo leicht wären Sreitifche, Stipentien, Privatunterricht u. dergl. für
tüchtige junge Männer zu haben. Daß Nicter zu diefer Kategorie gehörte,
batte ihm der Reetor des Gymnaflums zu Hof auf ehrenvolle Weiſe bezeugt
und in feinem Teftimonium die Würbenträger Leipzigs aufgefordert, dem
jungen Wanne felbft auf den Zahn zu fühlen; ja er hatte ihn — denn bie
Beiden waren zufammengereifi — bei verſchiedenen einflußreichen Leuten
periönlich vorgeftellt, aber alles Died nügte ihm nichts.
Die Profefforen fand er von einem Heer hungriger Schmaroger be=
lagert, deren ganze Taftif ihm viel zu widerli war, ald daß er Luft gehabt
hätte, fie nachzuahmen, und von allen Seiten vernahm er den niederſchlagen-
den Ausſpruch: Lipsia vult expectari, die Wohlthaten Leipzigd wollen er-
wartet fein. Nun war aber dad Warten von allen Dingen für den armen
Richter Dad Unbequemfle. Im feiner Tafche hatte er wenig; Freunde, mit
Ausnahme eines einzigen Mirftudenten, Feine, und zu Haufe war das Fi⸗
nanztepartement in einen Zuftand gerathen, der ſich mit fchnellen Schritten
dem gänglichen Ruin näherte. Der mürdige alte Tuchmacher war geftorben,
feine Gattin folgte ihm bald nad und die Wittwe Richter, ihre Lieblinge-
tochter, welche, obſchon gegen den Math aller Freunde, nad) Hof gezogen
war, um in ihrer Nähe zu fein, fland jegt mit ihren Kindern allein und
zwar unter den beflagenswertheften Umfländen. Allerdings war fie Haupt⸗
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erbin, aber die früher empfangenen Wohlthaten Hatten weit weniger zu
erben übrig gelaflen, als fle vielleicht erwartete, ja die andern Berwanbten
machten das ganze Arrangement fireitig und fie mußte ihre noch übrige Habe
durch Prozeſſe vergeuben, fo daß es ihr kaum möglich ward, durd Aufnahme
von Darlchen und Berfauf von allerlei Gegenfländen fo viel zufammenzus
Bringen, ald fle zum täglichen Brode brauchte.
Auch war ed nicht Armut allein, was fte zu dulden Hatte, ſondern
auch Beratung und Schmähung ; die Klatſchſchweſtern von Hof beſchuldig⸗
ten fie öffentlich der Verſchwendung und erwähnten, anftatt ihr beizuflehen,
bei ihrem Kaffee das alte Spridwort: „Der Sparer will einen Zehrer ha⸗
ben.” Allen diefen Liebeln vermochte fie nichts weiter entgegenzufegen, ald
eitles Klagen.
Die gute Frau fcheint bei der rechrichaffenften Geſinnung doch nicht mit
übergroßer Klugheit begabt gewefen zu jetn, wentgftend nicht mit fo viel,
als ihre gegenwärtigen Fritifchen Umftände erheifchten. Otto fagt, Richter's
Bortrait von Lenette in den „DBlumen-, Frudit- und Dornmflücden * enthalte
viele Züge feiner Mutter. Lenette tft ein aufrichtiges, aber gewähnliches
und befchränftes Gemüth; bis zum Uebermaß fleißig im Kehren und
Scheuern ; treuberzig und fromm nach ihrer Weife, aber voll von Unzufrie⸗
denheit, Mißtrauen und eigenfinnigen Grillen, ein ſtets geplagte® und
plagende® Weib, wie der brave Stanislaus Siebenfks, diefer ächte Dio⸗
genes dürftiger Armenadvocaten, an ihrer Seite oft ſchmerzlich empfinden
mußte.
Die Familie der Wittwe Richter fland eben fo wie ihr Bermögen un«
ter fchlechter Leitung und gerieth in immer tieferen Verfall. Adam, der
früger als Paul's Genoß beim Lateiniſchlernen und Kartoffelgraben erwähnte
Bruder, hatte jeht fogar den befcheidenen Anſpruch, ein Schulmeifter oder
überhaupt irgend etwa zu werben, aufgegeben, denn nach Tängerem Herum⸗
fireihen ging er unter die Soldaten und zog nun welter In der Welt herum,
bis ihn endlich der große Quartiermeifter Tod zur Ruhe brachte. Das Schiff
der Familie Nichter war von jeinem alten Ankergrunde Iosgerifien und
warb jetzt durch Wind und Fluth immer ſchneller verbängnißvollen Strudeln
und Untiefen zugetrieben.
Dei diefem Zuftande der Dinge konnte dem Mangel in Leipzig durch
ben Ueberfluß von Hof keineswegs abgehelfen werden, fondern bie beiden
Haushalte ftanden einander mehr wie concave Spiegel gegenüber, die einer
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des andern Hunger zu noch größerem für beide reflectirten. Welche Aus
fit für den armen neunzebnjährigen Bhilofophen! Sogar fein magereö
Frühſtück von Brod und Mil war nit umfonft zu haben und es war ein
bedenblicher Umſtand für ihn, daß der Schuhmacher, der feine Stiefel befoh-
Ien follte, Teinen Credit gab. Weit entfernt, ihm Hinreichendes Geld zu
ſchicken, hätte es feine bebrängte Mutter gern gefehen, wenn er für ihre
eigenen Bebürfniffe Geld geborgt hätte und fle lag ihn unaufbhörlih an,
feinen Brüdern ein Unterkommen zu verichaffen.
Richter fühlte überdies, daB trogdem er fo arm und hülflos daſtand,
doc diefe Brüder und diefe alte Mutter Eeine weitere Stüge auf Erden
hätten ala ihn. Es giebt Menfchen, bei welchen es wie bei Schiller'8 Wal-
Ienflein Heißt: „Nacht muß es fein, wo Friedland’8 Sterne ſtrahlen.“ Auf
diefen armen verlafienen jungen Mann ſchien das Schickſal feine Spürhunde
Io8gelafien zu haben und der bungrige Ruin witterte ihn fon. Außer
ihm gab e8 Feine Hülfe und feinen Rath, aber in ihm Tag eine Rieſenkraft,
und aud den Tiefen diefer Leiden und Ernietrigung erhob feine beflere
Seele fi geläutert und unüberwindlich wie Herfuled von feinen langen
Arbeiten.
Ein hoher, Heiterer Stoicismus wuchs in ihm empor. Armutb,
Schmerz und alle Mebel Iernte er nicht ald Das, was fie fhienen, fondern
als Das, was fie waren, betradhten ; er lernte fie verachten, ja mit ihnen
fpielen wie mit wilden Beftien, die er überwunden und gezähmt. „Was iſt
Armuth,“ fagte er; „wer iſt der Mann, ber deswegen webllagt? Der
Schmerz ift nur der wie beim Durchbohren des Ohrs für ein Mädchen und
man hängt Juwelen in die Wunde. *
Binflere Gedanken hatte er allerdings zuweilen, aber fie vermochten Die
Heiterkeit feined Geiſtes nicht auf Die Dauer zu trüben. „Zuweilen,“ fagt
Otto, „geihah es, daß er mit einer fhmerzlichen Bewegung der Hand über
bie Stirne einen Ideengang, den er befeitigen wollte, gleichſam ab- und hin⸗
wegſtreifte;“ weitere Klagen äußerte er nicht *).
) Bei Körperfchmerzen zeigte er diefelbe Ausdauer und Gleichgültigkeit. Waͤh⸗
rend einer Periode feines Lebens litt er an heftigen Kopfſchmerzen, vie ihn, um ſich
eine Heine Linderung zu verfchaffen, zwangen, den Kopf vollkommen gerade zu halten.
Trotzdem aber fah man ihn mit ruhigem Antlig und all feiner gewohnten Heiterkeit
an der Unterhaltung Theil nehmen und nur feine Haltung verrieth, daß er Schmers
zen litt.
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Während diefer für ihn fo traurigen Bett fehrieb er für fi ſelbſt ein
Meines Handbuch über praftifche Phtlofophie und nannte e8 „ Andachtsbuch.“
Daflelbe enthält Marimen, wie z. B. folgende:
„Jede unangenehme Fmpfindung iſt ein Zeichen, daß ich meinen Ent»
ſchlüſſen untreu werte. — Epiktet war nicht ungluͤcklich.
„Nicht der Zufall, fondern ich verfhulde meinen Schmerz.
„Es wäre ein unmögliches Wunder, wenn Dich keiner anflele. Stelle
. Dir daher feine Ankunft vor; jeden Tag made Dich auf viele gefaßt.
„Sage nie, wenn nur dieſe Leiden nicht wären, andere ertrügefi Du
beffer.
„Denke Dir das Weltenheer und die Plagen auf dieſem Weltfläub-
en. — Der Tod vernichtet Die ganzen Leidendfcenen.
„Bur Tugend bin id da; wenn einer aber über feine Geſchaäfte alles
vergiffet und aufopfert, warum Du nicht?
„ Erwarte Beleidigungen, da die Menſchen ſchwach find und Du ſelbſt
welche zufügſt.
„Erweiche Dich durch die Ausmalung der Leiden des Feindes; denke
Dir ihn als einen geiſtig Gebrechlichen, der Mitleid verdient.
„Die meiften Menſchen urtheilen ſo elend; warum willſt Du von
einem Kinde gelobt werden? — Niemand achtet Dich in einem Bettelrock;
ſei alſo nicht auf eine Achtung ſtolz, die man dem Kleide bezeigt.“
Dies find allerdings weiſe Marimen für einen fo jungen Mann; noch
weifer aber war, daß er fich nicht mit bloßen Maximen begnügte, die, fo
wahr fle auch immer jein mögen, doch fo lange ein todter Buchftabe bleiben,
bis das Handeln ihnen Leben und Werth giebt. Er betete fromm zu ben
Göttern und fiemmte fih mit eigener Schulter gegen dad Rad. „Das
Uebel,” fagt er, „ift wie ein mächtlicher Alp; in dem Augenblide, wo
man dagegen zu kämpfen und ſich zu rühren beginnt, iſt es auch ſchon zu
Ende. *
Ohne weiter lange Worte zu verlieren, begann Richter demgemäß
ſtehenden Fußes mit feinem Schickſal zu ringen und war feft entfchloffen,
fi jelbft zu Helfen. Sein. Mittel war allerdingd von keineswegs viel ver
ſprechender Art, aber dennoch das einzige, dad er hatte, namlich Bücher
freien !
Er begann auch fofort damit. Die „Grönländifchen Prozeſſe“, eine
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Sammlung ſatyriſcher, ungemein wigiger und fharfiinniger Skizzen, wurden
in jenen mißlihen Tagen der unbezahlten Milchrechnungen und unbejohlten
Stiefel gefchrieben und leben noch, obſchon der Berfafler, abgeichen non
allen anderen dradenden Umflänten, damals erft in feinem neunzehnten
Lebensjahre fland.
Der ſchwierigſte Theil des Geſchäfts aber, nämlich einen Käufer und
Verleger zu finden, war mit dem Schreiben nicht erledigt. Richter ſchickte
fein Manufcript bet jämmtlichen Buchhändlern in ganz Leipzig herum; fie
verriethen ſammt und fonderd jene gänzliche Verachtung der Megeln ber
Grammatik, worüber fih ſchon Jedediah Cleisbotham beklagte — fie
„beklinirten den Artikel.“ Paul mußte, wie fo viele Andere, zuſehen,
wie man feine Sonnenftraflen auf einer Heuwage wog und wie Pie Heu⸗
wage fich nicht rührte.
Paul’8 Herz aber mar eben jo unerfchätterlih als die Wage. Da
Leipzig nun erichöpft war, fo fland ihm die ganze übrige Welt offen und es
blieb ihm auch nichts weiter übrig, als zu ſuchen, bis er fände oder bis er
über dem Suchen ſtürbe. Endlich regte fih ein gewiſſer Voß in Berlin,
nahm dad Buch an, druckte ed und bezahlte ihm jogar ſechzehn Louisd'or
dafür.
Welch ein Potoft hatte ſich nun erihloffen! Paul befhloß, von nun
an Autor und nichts als Autor zu fein, da er bo nun Ausſicht Hatte, durch
den Ertrag dieſes Handwerks wenigftens Seele und Leib zufammenzubalten.
Seine Mutter glaubte, al@ fie hörte, er habe ein Buch gefchrieben, er könne
vielleicht auch fogar eine Predigt fchreiben und forberte ihn auf, nad Hof
zu fommen, um in der Spitalfirche einmal zu predigen. „Was ifl eine
Predigt,“ entgegnete Baul, „die jeder miferable Student maden Tann 3
Oder glauben Sie, daß alle Geiftlihen in Hof eine Zeile von meinem
Bude verſtehen, geſchweige machen können? *
Unglücdlicderweije aber war jein Potoſi wie andere Minen; tie golde
haltige Ader bielt nicht aus und es blieb nun nichts übrig, ald weiter in
den harten Felſen hineinzubauen. Die „Grönländifchen Prozeſſe“ fanden,
obſchon fle gedrudt waren, Erinen Abfag ; das Publikum verlangte Brei und
Syrup, aber Feine jo ſtark gepfefferte Sauce wie dieſe. Die Recenfentenwelt
nahm größtentheild Feine Notiz davon; nur ein einziger armer Hund in
Reipzig hob das Bein dagegen auf.
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„Es mag vielleicht, * fagte er,, Vieles, wo nicht Alles wahr fein, was
bier (in den Skizzen) ‚ber Autor in einem bittern Ton über Schriftftelleret,
Theologen, Weiber, Super u. ſ. w. jagt; allein die Sucht wigig zu ſein,
reißt ihn durch daB ganze Werfchen zu ſehr Hin, daß wir nicht zweifeln, die
Zectüre deflelben werde jedem vernünftigen Leſer gleich bein Anfang io viel
Gel erregen, daß er fi ſolches aus der Hand zu legen gendthigt ſehen
wird.” Und damit läuft der unglüdliche Bierfüßler weiter, als ob
gar nichts Beſonderes gefchehen wäre. „Sonderbar!* fegt Oito hinzu,
„biefe Recenfion, die bei ihrem Ericheinen auf eine ephemere Aufmerkſamkeit
Anſpruch machen modte und fie wohl aud erhielt, würde in ewige Ver⸗
gefienheit gerathen fein, wofern fle derielben nicht auf kurze Zeit wegen eben
derjelben Schrift hätte entrüdt werden müflen, welde jeder Leſer nad tem
erften. Hineinblick mit Efel aus der Hand legen oder vielmehr gar nicht in
die Sand nehmen fol! *
Ein Augenblid, fagen wir, ift genug. Möge fie wieder hinabſinken
in die endlofen Tiefen jenes ſchlammigen Pfuhls, denn alles Fleiſch, auch
Recenjentenfleifch, ift ſchwach und verdient Nachſicht.
Richter's nächfted Buch war bald fertig, aber bei dieſem Stante ber
Dinge wollte Fein Menich e8 kaufen, Die „Auswahl aus den Bapieren des
Teufel8 * — fo lautete der wunderfame Titel — blieb ihm aus ganz andern
Gründen, ald welche Horaz angiebt, fleben lange Jahre liegen. Vergebens
ſchickte er das Manufeript umher und correjpontirte und ließ feinen Stein
unumgewendet und durchwühlte die Welt nady einem Verleger. Es war
nirgends einer zu finden. “
Nun verfuhte der unermüdliche Richter andere Wege. Er uberjendete
an Sournalsedacteure allerhand Aufiäte und Abhandlungen, von denen viel«
leicht von zehnen einer angenommen ward; er machte gemeinjane Gejchäfte
mit gewiflen Provinzialliteraten der Umgegend von Hof, weldhe Geld hatten
und ihre Sachen felbft verlegten; zuweilen borgte er, ließ ſich aber eben
nicht angelegen fein, fehr fchnell wiederzubezahlen; er Tebte wie die jungen
Haben, er war in Gefahr zu verhungern. „Die Gefangenkoſt,“ fagte er,
„befteht aus Brod und Wafler, id) hatte aber blos das letztere.“
„Nirgends, * bemerkt Richter bei einer andern Gelegenheit, „Tammelt
man die Noth= und Belagerungdmünzen der Armuth Tufliger und philos
fophifcher, als auf ter Univerfität; der akademifche Bürger thut dar, wie
Carlyle. I. ä
viele Humoriſten und Diogenefle Deutichlend habe. ”*) Durch dieſe audge-
trodnete Sahara pilgesnd , von nichts umgeben ald von öder fandiger Ein⸗
famfeit und ohne eine Landmarfe auf Erben, nur Leitfierne am Himmel er-
blickend, ſcheint Richter doch nirgendE auf feinem Wege wankend geworben
zu jein und einen Augenblid den Muth oder auch nur die frohe Laune ver⸗
Ioren zu haben. „Der Mann, der den Tod nicht fürchtet,“ fagt der grie⸗
chiſche Dichter, „fchredit vor feinem Schatten zurüd;* Baul hatte der Ver⸗
zweiflung in das Antlig geſchaut und gefunden, daB fie für Ihn nichts
Berzweiflungsvolles hatte. Hart bedrängt von außen, nahm feine innere
Energie und feine Kraft, jowohl des Denkens als der Entſchließung, immer
mehr zu und fußte auf einer immer fihreren Srundlage. Er fland wie ein
Felſen unter tem Toſen ununterbrodyener Stürme, ja wie ein Wellen, ter
mit grünem Laub geſchmückt ift und in feinen Spalten Blumen vom jüpeften
Wohlgeruch nährt.
Denn in ihm lebte leidenſchaftliches Feuer eben jo wie floifche Ruhe;
die zartefle Liebe wohnte bier neben frommer Ehrfurdt und über Allem lag
ein tiefer Humor wie warmer Sonnenjchein audgegoffen, der Alles zu leich⸗
ter jpielender Harmonie verihmolz. In diefen harten Brüfungen ftellte ſich
Das Grelfte, was feine Natur befaß, in noch reinerer Klarheit heraus. Hier
lernte er Das, was im Menſchen ewig und unvergänglid) it, vom Irdiſchen
und Vergaͤnglichen unterſcheiden und das Letztere, felbft wenn es Koͤnigs⸗
kronen und Siegeswagen wären, nur als die Umhüllung des Juwels oder
.*) Ueber das deutſche Burſchenleben oder das Thun und Treiben ber jungen
Leute auf den deutfchen Univerittäten ist bei uns in England viel gefchrieben und ges
fprochen worden. Wir müflen bedauern, daß bei Beſprechung dieſer Angelegenheit,
da man fie einmal der Beiprehung würdig erachtete, nicht auch zugleich auf die wahre
Bedeutiamkeit und Seele aufmerkſam gemacht worden it. Abgefehen von feinen Duells
fineffien und Gommersliedern und Tabatrauchen und anderen dergleichen Spielereien,
welche für den deutfchen Studenten weiter nichts als was Kutichenfahren und Pferdes
Handel und andere ähnliche Spielereien für den englifchen find, hat das Burſchenthum
feine Bedeutung eben fo gut als der Orfordismus oder Cambridgismus. Der Burfch
bemüht fich in der Härkiten Sprace, die ihm zu Gebote fteht, zu fagen: „Seht! id,
bin ein Gelehrter ohne Geld und ein freier Mann;“ der Orforter und Gambritger
Student dagegen fagt: „Seht, ich bin ein Gelehrter mit Geld und ein aufgeweckter
Gentleman.“ Rad) unierer Meinung ift von diefen beiden Brflärungen die des
Burfchen die profitablere.
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gleichſam als daß feinere ober größere Papier jchägen, auf welches das Hel⸗
dengedicht des Lebens geſchrieben werten fol.
Ein Hoher unzerlörbarer Glaube an die Würde Des Menfchen bemädh-
tigte fich feiner, eben jo wie ein Unglaube an alle andern Würden, und bie
gemeine Welt und was fie ihm geben oder vorenthalten konnte, war in
feinen Augen nur eine Kleinigkeit. Ja, er hatte eine Stimme für viefe
Dinge gefunden, welche, obſchon Niemand darauf hören wollte, doch, wie er
fühlte, eine ächte war, und eben fo feft war ex überzeugt, daß, wenn dieſe
Stimme ächt wäre, Fein Ton davon ganz verloren gehen könne.
Laut die Weisheit predigend, die er aus dem finftern tiefen Brunnen
des Rißgeſchicks Heraufgezogen, fühlte er fich ſtark, muthig, fogar heiter.
Er befaß eine innere Welt, die ihn vor dem Froſt und der Hige der äußeren
ſchutzte. Im diefer Gemüthsſtimmung fiudirend und ſchreibend, obſchon der
grimmige Mangel durch die Fenſter bineinblicte, betrachtete er Diefen Damon
mit ruhigem, halbiatyriihem Auge. Allerdings würden wir feiner edel⸗
müthigen genialen Natur ein ſolches Schickſal wuͤnſchen, und doch iſt ein
einziger folder Mann, unter diefen harten, die nadte Wahrheit predigenden
Einfläffen groß geworden, mehr werth, als taufend populäre Dichterlinge
und gefchniegelte vornehme Literaten, die durch lügenhafte Einflüffe in forte
währender Kindheit erhalten werben.
„In meinen hiſtoriſchen Vorlefungen wird zwar das Sungern immer
flärker vorfommen — bei dem Helden flcigt’8 ſehr — und wohl fo oft als
das Schmaufen in Thümmel's Reifen und das Theetrinken In Richardſon's
Klariſſa; aber ich kann doch nicht umhin, zur Armuth zu jagen: ſei wills
kommen! fobald du nur nicht in gar zu fpäten Jahren kommſt. Reichthum
laſtet mehr das Talent ald Armuth — unter Ooldbergen und Thronen liegt
vielleicht mancher geiftige Rieſe erbrüdt begraben. Wenn in die Flammen
der Jugend und vollends der heißeren Kräfte zugleich noch das Del des
Reichthums gegoffen wird: fo wird wenig mehr als Afche vom Phönix übrig
bleiben ; und nur ein Goethe hatte die Kraft, fogar an der Sonne des Glüͤcks
feine PHönirflügel nicht kürzer zu verfengen. Der arme hiſtoriſche Profeſſor
bier möchte um vieles Geld nicht in der Jugend viel Geld gehabt haben.
Das Schickſal macht es mit Dichtern, wie wir mit Vögeln, und verhängt
dem Sänger fo Tange den Bauer finfter, bis er endlich die vorgefpielten
<öne behalten, bie er fingen joll, *
Es Hat viele Johnſons, Heynes umd andere geringere Naturen in
ä *
52
jedem Lande gegeben, die eine eben fo harte Prüfung wie die unſeres Richter
durchgemacht und dauernde Spuren ihrer guten und verderblidhen Einflüffe
an fi behalten haben. Einige verbanden mit ihrer Beicheidenheit und
ruhigen Duldung eine Trankhafte Muthlofigkeit, andere Stumpfheit ober
fogar Tod des Herzend ; ja, es giebt deren, welche das Unglück nicht Ichren,
fondern nur erbittern kann; welche, wett entfernt, ſich von tem Spiegel
ihrer Eitelkeit, wenn er in Stüden getreten wird, zu trennen, lieber die
hundert Scherben deffelben zufammenlefen und mit größerem Eifer und grö«
Berer Bitterkeit als je nicht ein, fondern Hundert Bilder ihres Ih darin
erblicken. Zür ſolche Menichen ift der Schmerz ein reines Uebel und ihr
barter Zehrmeifter wird fie als ungelehrige Schüler peiticden bis an's Ende.
In der neuern Beit jedod und felbft unter den befferen Veifpielen
können wir und faum eines Menfchen entfinnen, der von Armuth und Lei⸗
den jo ungemilchten Gewinn gezogen hätte, wie Jean Paul. Er erlangt
dadurch nicht blos herkuliſche Stärke, fondern auch die zartefte Weichheit der
Seele und eine Anficht von der Menichheit und dem menfchlidhen Leben, bie
nicht weniger heiter, ja fogar ſpielend, als tief und rubig ifl. Furcht if
ihm fremd; nicht blos der Zorn der Menſchen, fondern auch die Trümmer
der Natur würden ihn als einen Burchtloien treffen, und dennoch befißt er
ein Herz, in welchem die zarteflen Regungen wohnen, eine innige liebende
Sympathie mit allen gefchaffenen Weſen.
Es Liegt — wir müflen dies fagen — etwas Altgriechifches in dieſer
Geiftesform, aber etwas Altgriechifches unter den neuen Bedingungen unferer
Zeit, nicht eine heidniſche, fondern eine hriftliche Größe. Richter hätte als
treuer, obſchon etwas rebellifher Jünger, neben Socrates fliehen oder, noch
befier, er hätte Rede und Gegenrede mit Diogenes tauſchen können, der,
- wenn er nirgends Menfchen finden fonnte, wenigftens hätte zugeben müflen,
daß auch dies ein junger Spartaner war. Diogened und er würden, troß
ihrer Verſchiedenheit, die größtentheils zum Nachtheil des letztern entſchied,
Vieled mit einander gemein gehabt haben, befonderd jene entſchloſſene Un«
abhängigfeit und entſchiedene Gleichgültigfeit gegen die Macht der öffent-
lihen Meinung.
Bon diefer letztern Eigenſchaft fowohl wie von verfchiebenen andern
Eigenſchaften Richter’ 8 haben wir einen merfwürdigen Beweis in der Epi-
fode, welche Otto bier über die Eoftümsftreitigkeiten zum erften Male genau
und ausführlich erzählt. Es Tiegt in diefer ganzen Coſtümgeſchichte etwas
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Großes ſowohl ald etwas Laͤcherliches, was wir beides hier nicht übergehen
dürfen.
Im zweiten Jahre feine® Aufenthalts in Reipzig, wo wir gefehen haben,
daß feine Umſtaͤnde durchaus nicht zu den glänzenbften gehörten, glaubte
Richter, da er fah, daß die Welt ihm ihre Gunſt verfagte, er werde wohl
daran thun, wenn er fo weit als thunlic, den Wünfchen, vernünftigen Bes
fehlen und fogar Brillen feine® einzigen anderen Gönners, nämlich feiner
eigenen Perfon, einige Aufmerkſamkeit fchenkte. Nun waren ihm die langen
Beſuche des Friſeurs mit feinem Puder, feinen Puderquaften und Pomaden
entihieden zuwider und fogar zu koſtſpielig. Ueberdies bewog ihn feine
Liebe zu Swift und Sterne die Engländer und ihre Moden zu lieben, und
in Anbetracht aller diefer Dinge nahm Paul fidy die Freiheit, feinen Zopf
ganz und gar abzufchneiden und nah Vornahme noch einiger anderen Ab⸗
änderungen in feinem Coſtum nach fogenannter englifcher Weile gefleidet
auf die Straße zu gehen.
Wir vermuthen, daß diefe Mode in gewiflen Punkten eine nur pjeudo-
englifche war; wenigftens erzäglt die Tradition nichts tavon, daß damals
oder zu irgend einer andern Zeit eine Mode in dieſen Detaild bei und in
England herrſchend gewefen fei. Außer dem abgefchnittenen Zopfe trug er
namlih Hemden A la Hamlet mit offener Bruft ohne Halstuch. So erfchien
er öffentlih. Die Menfchen erflaunten nicht wenig. Deutiche Studenten
genießen in der Wahl eines phantaftifchen Coſtüms mehr Freiheit als andere
Menihen, aber der bloße Hald und der Mangel eines Zopfes ſchien doch
über dad Bereich diefer Breiheit hinauszugehen.
Wir denfen und den flarf und groß gewachlenen Eynifer und mit
welchem in feinem Auge funfelnden Humor er unter die eleganten Herren
heraustrat, gleich jenem, den Miiftonairen der Wiedertäufer wohlbefannten
Bögen Ramdaß, fühlend, daß er Beuer genug in feinem Leibe hätte, um
alle Sünden der Welt hinwegzubrennen. &8 war eine Art Stolz, ja wir
wollen zugeben, vielleicht Gedenhaftigfeit, aber eine zähe muskuloͤſe Art,
gleich der, welche in zerlumptem Gewande den Stolz Plato’3 mit Füßen trat.
Ein gewifler Magifter, der in Richter's Nachbarfchaft wohnte, betrach⸗
tete die Sache jedoch feinedwegd von einem fo toleranten Geflhtöpunfte.
Der arme Richter, arm an Geld, aber übrigens reich, Hatte fih damals ein
feines Gartenhaus gemiethet, um während des Sommers bei feinen Stu-
dien einige friiche Luft zu genießen. Der Nagifter, der in demfelben Garten
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ein größeres und ſchöneres Haus inne hatte, begegnete natürlich ihm, dem
Bopflofen und Nadthalfigen, auf feinen Spaziergäangen, und da ihm auch
vieleicht fein trog feines ehrlichen und wohlwellenden Ausdruckes ſardo⸗
niſch verzogenes Geſicht nicht geflel, fo nahm er es ſehr übel, daß fo ein
illegitimer Charakter e8 wagen konnte, neben ihm bie Natur genießen zu
wollen.
Jedoch was war zu thun? Sochmüthige, ja fogar zornige Blicke rich⸗
teten nichts aus; das ſardoniſche Geſicht verrieth deswegen nicht die mindeſte
Furcht. Der Magiſter ſchrieb an den Hauswirth und verlangte, daß dieſet
Aergerniß abgeftellt werde. Richter ſchrieb mit lobenswerther Friedensliebe
an ten Magifter und verfprach zu thun, was er könnte. Er wollte ſich Dem
Haufe des Magiſters nicht wieder fo weit nähern, als geftern Abend, blos
Abends und am Morgen den Barten befuchen und auf diefe Weiſe feinem
Nachbar größtentheild den Anblick der Kleidung erfparen, die ihn Bequeme
lichkeit, Armuth und Gefundbeit tragen Tießen.
Dies waren ganz annehmbare Bedingungen eines Greuztractats, der
Magifter aber legte fie in allzubuchſtäblichem Sinne aus und fand bald
Grund, Beichwerbe zu führen, daß fie übertreten worten felen. Gr griff
wieder zu Tinte und Feder und flellte in peremptoriſcher Sprache vor, Daß
Paul eine gewiſſe Statue überfchritten habe, die allerdings innerhalb de
ftreitigen Terrains fland. Er drobte ihm daher mit Serrn Kömers, des
Hauswirths, Rache und daß er feine eigene Verachtung und gerechte Wuth
gegen ihn öffentlich an den Tag legen werde.
Paul antwortete ebenfalls fhriftlich, er habe Feineawegs fein Berfpres
fhen gebrochen, denn die erwähnte Statue ober irgend eine andere Statue
Habe nicht das mindefte damit zu thun; nun aber wolle er jein Verſprechen
bollfiändig wieder zurücknehmen und werde fünftig gehen, warn und wohin
es ihm beliche, da er ja auch die Erlaubnig Dazu bezahle. „Herr Körner, *
bemerkte er, „iſt mir nicht fürchterlich,“ und für den Magifter ſelbſt fügte er
die denkwürdigen Worte hinzu: „Sie verahten meinen geringen Na⸗
men, aber merken Sie ihn au, denn Sie werden das Letzte nicht Tange
gethan haben und dad Erfte nit mehr thun können. Ich ſcheine unver⸗
Rändlih, um nicht unbefcheiden zu fcheinen, *
Bleichzeitig müfjen wir bemerken, daß Richter mit edler Nachgiebigkeit
dennoch neue Unterhandlungsbedingungen vorſchlug, weldge angenommen
wurden und in deren Folge ex mit Sad und Pad den Garten fofort räumte
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und in feine flädtifhe Wohnung In den Drei Rofen in der Betersftraße
zurädtehrte. „So verließ er, * wie Otto mit einigem Dünfel bemerkt, „fein
Paradies eben fo unverichuldet als unfreimillig wegen einiger Hald- und
Bruftentblößung, ungeadbtet bie erften Eltern das ihrige nur fo lange be⸗
halten Eonnten, ala fie ſich unfchuldig fühlten Hei gänzlicher Nadtheit. *
Was der Magifter von dem „geringen Namen * einige Sabre fpäter dachte,
erfahren wir nicht.
Wenn aber fo tragiſche Dinge in Leipzig vorgingen, wie viel mehr
mußte dies der Fall fein, wenn er während der Ferien nad Hof fam, wo
die Richter’8 auf jeden Fall in feinem großen Anſehen fanden. Unfere Lefer
werden erflaunen, wenn fie erfahren, dag Paul mit der farffteften Hart⸗
nädigfeit allen Vorftellungen feiner Breunde und Verfolgungen feiner Feinde
in diefer großen Sache Widerſtand leiſtete und nicht weniger als firben ganze
Sabre à la Hamlet einherging! Er ſelbſt ſchien ſich ein wenig bewußt zu fein,
daß es Affectation war, aber er wollte einmal ſeinen Willen durchſetzen.
„Ueberhaupt,“ ſagt er, „halte ich Die beſtändige Rüdiicdt,
die wir in allen unſern Handlungen auf fremde Urtheile
achmen, für dad Gift unferer Rube, unferer Bernunft
und unferer Tugend. An diefer Sflavenkette habe Ih Tange gefeilt,
aber ich hoffe kaum, fie jemald ganz zu zerreißen. Ich wünicde mich an den
Tadel Anderer zu gewöhnen und |cheine ein Narr, um die Narren ertras
gen zu lernen.”
So ſpricht ter junge Diogenes und umarmt, um fi zu üben, die eiflge
Säule, ale ob Tie Welt nit Eisfäulen diefer Art genug darböte, ohne daß
der Menfch vom Wege abzuweichen braudte, um fie zu fuchen! Beſſer ift
jene andere Marime: „Wer in wichtigen Dingen von der Welt abweicht,
muß fih ihr in gleihgültigen um fo jorgfältiger anbequemen. * Ja, allmälig
fah Kichter dies ſelbſt ein, und nachdem cr nun genügend dargethan, daß er
feinen Willen wohl durchfegen konnte, wenn er fonft wollte, richtete er an
feine Freunde (hauptiachli die oben erwähnten Literaten des Voigtlands)
dad folgende Rundſchreiben:
„Avertiſſement.
Endedunterſchrirbener ſteht nicht an, bekannt zu machen, daß, ta die
abgeſchnittenen Haare ſo viele Feinde haben, wie die rothen, und da die
namlichen Feinde zugleich es von der Perſon find, worauf fie wachſen; da
5
ferner fo eine Tracht in einer Rückſicht brifli iR, weil ſonſt Perfonen,
bie Ehriflen find, fle haben würden; und da befonderd dem Endesunter-
ſchriebenen feine Haare 10 viel geichadet, wie dem Abſalon bie feinigen,
wiewohl auß umgelehrten Bründen; und da ihm unter der Hand berichter
worden, daß man ihn in's Grab zu bringen fuchte, weil da die Haare unter
feiner Scheere wüchfen, jo macht er befannt, daß er freiwillig fo lange nicht
paſſen will, Es wird daher einem gnädigen hochebelgehorenen x. Publikum
gemeldet, daß Endeöunterzeichneter gejonnen if, am nächſten Sonntage in
verihiedenen wichtigen Baflen (Hof) mit einem kurzen falfchen Bopfe zu
erjcheinen, und mit dieſem Zopfe gleichiam wie mir einem Magnet und Eeile
ter Liebe und Zauberflabe ſich in den Beftg der Liebe eines Jeden, er heiße
wie er wolle, gewaltiam zu fegen. *
„Co ehrenvoll endete, * wie Otto meint, „das lange Kleidermartyr⸗
thum, * auß teffen Verlaufe wir, abgejehen von der darinliegenden komiſchen
Mirfung, BZweierlei lernen können: erſtens, daß es Paul feinesiwegd an
einer gehörigen Bleichgülrigfeit gegen ten populären Wind fehlte und er
bei paflender oder unpaflender Gelegenheit nach Gutdünken in feinen Mantel
gehüllt feſt auf der jelbfigewählten Baſis Reden konnte, und zweitend, daß
er einen fo elafliichen Humor des Geiſtes befaß, daß außer den Gegendruck
gegen Armuth und fogar Hunger nod ein Elarer Ueberfhuß da war, um
tamit phantaftifche Streiche zu fpielen, über welde die Engel allerdings
nicht weinen, wohl aber tie Köpfe ſchütteln und lächeln konnten.
Wir kehren jedod zu unferer Geſchichte zurüd.
Mehrere Jahre vor tem Datum dieſes Avertiffements, nämlihd im
Sabre 1784, kam Paul, der fih nun feſt vorgenommen Hatte, mit oter
ohne LZefer immer weiter zu ſchreiben, da er in Leipzig weiter nichts fand
ald Hunger und Drangjal, auf den Einfall, daß er ja eben jo gut in Hof
bei feiner Mutter jchreiben Eönne. Seine Verleger, wenn er deren hatte,
febten in andern Städten und die beiden Hauswirthſchaften Eonnten wie
zwei verglimmente Bunfen vielleicht noch eine Weile glüben, wenn fie auf
geſchickte Weile zufammengelegt wurden. Er verließ Leipzig demgemäß nad)
einem dreijährigen Aufenthalte und begann nun vollfländig auf eigene Fauft
zu leben.
Wahricheinlih enthalt die ganze Befchichte der Literatur fein zweites
Belipiel von einem literarischen Haudwefen, wie das in Hof war, fo ſchmuck⸗
[08 und unabhängig, fo einfach, um nicht zu fagen, ganz und gar unmöblirt.
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Die geführten Erbſchaftoprozeſſe hatten das Ihre gethan und die Wittwe
Richter Ichte mit ihrer Familie in einem Hause, weiches ein einziges Wohn-
zimmer enthielt. Paul hatte weiter keine Bücher, als zwölf gefchriebene
Bände Ercerpte und die bedeutende Bibliothek, die ex in feinem Kopfe trug,
und das Publikum konnte, beſonders da er noch keinen Zopf trug, nicht
recht einſehen, was bei tiefen geringen Hülfömitteln aus ihm werten follte.
Zwei große Vortheile aber beiaß er, welche das Publikum nicht genug
zu würdigen verftand: Ginen wirflihen Kopf auf feinen Schultern, nicht,
was gewöhnlicher ift, ein bloßes huttragendes, leeres Bild von einem Kopfe,
und das ſeltſamſte, tapferfle, in der That ein ganz edles Herz im Leibe.
Dier konnte er nun in der That, wie die Pflicht des Menfchen es verlangt,
feine Exiftenz höher fhägen, als feine Art und Weife zu eriftiren, welche
allerdings fehr leicht geringzufhägen war. Mochte daher kommen, was da
wollte, fo war er entfhloffen, auf feine eigene Kraft bin, den Kampf mit
dem Schidfale bis aufs Meußerfte fortzuießen, ja während er wie ein Ajar
focht, „dem Glück in's Geſicht zu lachen, bis es ebenfalls anfinge zu lachen *
und aufhörte, ihm zu zürnen.
Er verlor bei feiner Schriftfitllerei daher niemals den Muth, fondern
fuhr hartnäckig fort, daran ald an jeinem rechten Werke zu arbeiten, mochte
das Wetter nun fonnig oder flürmifch fein. Uebrigens ftand die Armuth
an den Pfoften jeiner Thür angefchrieben und Seder, der vorbeiging, konnte
in großen Buchſtaben lefen: „Lieben Ebriften, Ihr fehet, daß ich nicht viel
Geld habe; welchen Schluß zieht Ihr daraus?“
So dauerte der Kampf weiter und noch zeigten fih für Paul Feine
Ausfichten auf Sieg. Erft 1788 fand er einen Verleger für feine „ Papiere
des Teufels“ und felbit dann wenig Leſer. Aber feine Entmuthigung ver⸗
mochte ihn niederzubeugen ; die Schrififtellerei war, wie er ein für allemal
fühlte, fein wahrer Beruf, und darin fand er eine Aufforderung, auf alle
Gefahr hin auszubarren. Eine kurze Zeit war er Hauslehrer geweſen und
erhielt wieder ein weit verlockenderes Anerbieten von derſelben Art, ſchlug
es aber aus und nahm ſich vor, hinfort keine Kinder weiter zu erziehen, als
ſeine eigenen — ſeine Buͤcher, möge der Hunger dazu ſagen, was er wolle.
„Mit ſeiner Mutter,“ jagt Otto, „und zuweilen zugleich mit mehrern
Brütern, immer aber mit einem, lebte er in einer ärmlihen Wohnung,
d. i. in einer einzigen Stube zufammen, und Died fand fogar nod ftatt,
als — nah dem Erfcheinen der Mumien — fein Glädöfkern aufzugeben
anfing, um immer höher zu fleigen und nie wieder untergugeben. — — —
„Gleich wie Paul in den Charakteren von Walt und Bult*) — dieſe
Andeutung bat er wörtlich hinterlaſſen — ſich ſelber ſchildern wollte, fe
darf wohl and bemerft werden, daß ihm bei der Schilderung Lenetten's
feine Mutter in dem Zeitpunfte mit vorſchwebte, wo die Durch lange Zeiten
gedemüthigte und nicdergedrüdte Frau wieder aufzuleben und fi einiger«
maßen emporzuridhten begann **), weil fle an der Wahrheit feiner Voraus⸗
verfüntigung einer beglüdenten Echriftſtellerei nicht mehr zu zweifeln ver»
mochte. Sie beforgte nun auch um fo emfiger in einem und demfelben Zim⸗
mer, worin Paul ſchrieb und fludirte, Eochend, waſchend, reinigend und den
Beſen rührend, die häuslichen Geichäfte und fpann, wenn dieſe vollbracht
waren, Baumwolle. Ueber den fümmerlichen Erwerb, den fie ſich dadurch
verfhaffte, führte fie Buch und Rechnung. in ſolches Einnahmebüchlein
ift unter dem Titel „Was ich erfponnen * über die Monate vom März 1793
bi8 zum September 1794 noch vorhanden. Darin ift die Einnahme vom
März des erften Jahre mit 2 Fl. 51 Kr. 3 Pf.; die vom April mit 4 I.
3 Kr., tie vom Mai mit A Fl. 9 Kr. 3 Pf. u. f. w., zuleßt die vom Auguft
1794 mit 1 81. 24 Kr., die vom September deſſelben Jahres mit 2 ST.
1 Kr. aufgeführt und noch auf der Ichten Seite des Püchleind bemerkt, daß
Samuel (der jüngfte Sohn) am 9. des nämlichen Septembermonatd ncue
Stiefeln befommen, „die drei Thaler koſteten“, — beinahe die Ginnahme
eines ganzen Vierteljahres !
Wir haben bei dieſem Theile von Paul's Geſchichte um fo langer ver⸗
weilt, weil wir ihn für ganz beionders intereffant halten und well, wenn
ber Anblick eine8 großen Mannes, der mit dem Unglüd kämpft, ein Schau⸗
*) Gottwalt und Duoddeusvult, zwei Brüder (Hehe Baul’s „Wlegels
jahre”) von den entgegengeiepteften Temperamenten — der erflere ein Riller, weiche
herziger thränenvoller Enthuſiaſt; der andere ein toller Humoriſt, von Herzen ehrlich,
aber bei jeter Gelegenheit ten feltfamiten Brillen, theoretifchen fowohl als praftifchen,
huldigend.
**) Ganz enworrichten konnte ſie ſich nie mehr, und in fliller Demuth und fi
den lauten Ausdruck der Freude verſagend, erlebte fie noch und genoß furchtſam und
freudig zweifelnd die Wonne, den Werth des Sohnes noch öffentlich anerfannt und
bieien von bem bedeutendſten Menichen aufgefucht md auch fich dabei, twie zuvor nie,
geehrt zu fe. en,
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fiel iR, welches verdient, daß bie Götter darauf herabblicken, es für ges
wöhnliche Mitflerbliche noch weit erhebender und Iehrreicher fein muß, zu
tm hinaufzuſchauen. Für und im Iiterarifchen England vor allen Dingen
bet ein ſolches Leben und Handeln wie Michter'8 noch ein ganz hefondere#
Intereffe, daß Intereffe vollftändiger Neuheit. Bon allen literariſchen Phär
nomenen kann das, daß ein Literat an feine Urmuth zu glauben wagt, ale
das feltenfte betrachtet werden. Kann ein Menich ohne Kapital wirklich den
Mund öffnen und zur Menſchheit ſprechen? Hatte er alſo wirklich fein
Brundeigenthum, keine Eonnerion wit den höheren Klaffen? Nach den uns
vorliegenden Documenten fcheint ed fo. Er war weder ein Etelmann noch
ein Gentleman, fondern einfach ein Mann.
Welch ein wunderbarer Geift der Vornehmthuerei befeelt überhaupt
unfere britifche Titeratur der gegenwärtigen Zeit! Wir haben jegt Teine
Schriftſteller mehr, fondern blos Literarifche Bentlemen. Samuel Johnſon
war der Leite, welder in jener erflern Eigenfchaft zu exrfiheinen und ohne
sefaufte oder geftohlene Krüden auf feinen eigenen Beinen zu ſtehen wagte,
der naturwüdhfige alte Samuel, der Ießte aller Römer! &8 gab eine Zeit,
wo in der engliſchen Literatur eben fo wie tm engliichen Leben das Zuflipiel
„Seder nach feiner Laune * täglich unter und aufgeführt warb; jetzt Dagegen
hält das armielige franzöftfche Wort — franzöſiſch in jeder Beziehung —
„Qu’en dira-t-on ?“ uns alle wie ein Bauber umfchloflen und es bleibt und
wi ũbrig, als einander zu einer gleichförmigen Nation von Gentlemen
abzurichten und zu drefſtren, wie ein Regiment Soldaten.
Der, welcher Heldengedichte fchreiben will, muß zunächft fein Leben zu
einem Heldengedicht machen. Wir dagegen fagen, wer Heldengebichte ſchrei⸗
ben will, möge Geld in den Beutel fledden ; oder werm er frine Gelbmünzen
dat, fo möge er Kupfermünzen oder Kiefel hineinthun unt damit wie mit
aͤchtem Metall vor ten Ohren der Menfchen herumklimpern, damit fe ihm
Gehör ſchenken. Hierin beftcht jet das Geheimniß des Gutſchreibens, wie
das des Butlebens inımer darin beſtanden hat. NS wir dad erſte Mal
Grubſtreet befuchten und mit entblößtem Haupte und einem „‚Salre, magna
porens!‘“ dem Benius des Ortes unſere Ehrfurcht bezeigten, waren wir
ganz erflaunt, auf unfere Erkundigung zu erfahren, daß bie Autoren nicht
mehr hier wohnten, fendern ſchon fett vielen Iahren weiter nad Weſten ges
gegen feten, um ſich mehr dem Lehen der feinen Welt zu nähern.
Ohne Zweifel Hat das Bedürfnig unſerer Zeit es fo verlangt und die
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Folgen davon werden nicht außbleiben. ine dieſer Folgen zeigt ſich auch
jetzt fchon in einem Grade von Stümperei und Dilettantißmug, der in der
Geſchichte der Literatur nicht jeineß leihen bat und ſchon an und für fi
binreiht, uns den Neid der übrigen Nationen zuzuziehen, denn der einfl
für die Ruhe der Gefellihaft fo gefährliche Schriftfteller ift jegt vollfommen
unfhäblich geworden, fo daß er vor einem Blick erzittert und ſich mit einem
baummwollenen Faͤdchen Hände und Füße binden läßt.
Es ift bei und die gegrüntetfte Hoffnung vorhanden, daß fortan weder
Kirche noch Staat durch die Literatur in Gefahr gebracht werden. Der alte
Schhriftfteller fand, wie wir ſchon oben jagten, auf feinen eigenen Beinen,
trug ein ganzes ungetheilteß Herz in der Bruft und Fonnte zu Mancherlei
gereizt werden. Der neue Schrififteller dagegen kann gar nicht anders ftehen,
ald in einem Schnürleibe. Er muß erft feine ſchwachen Seiten mit dem
Fiſchbein eines gewiflen fajhionablen, vornehmen Air aufgürten, ſei das
Fiſchbein nun geerbt, gekauft oder, was wahrfcheinlicher ift, geborgt oder
geſtohlen, und damit flebt er ein wenig ohne zufammenzufallen. Und wenn
nun ein folcher Menſch fein Brummeifen fpielt, um den Kindern ein Ver⸗
gnügen zu machen, was iſt dann von ihm zu fürdsten oder was kann man
mebr von ihm verlangen?
Ernfthaft geiprochen, müflen wir es jedenfalls als eine merfwürbige
Erſcheinung betrachten, daß jeder Engländer ein „Gentleman“ fein will oder
fein jol, daß in einem fo demokratiſchen Lande unfer gemeinfamer Ehren-
titel, den Alle für fih in Anjprud nehmen, einer ift, welcher anerfannter-
maßen mehr von der Stellung und vom Zufall ald von Eigenfchaften ober,
im beften Kalle, wie Goleridge e8 erklärt, „von einer gewifien Gleichgültig⸗
feit gegen Geldangelegenheiten” abhängt, welde gewifle Gleichgültigkeit
wiederum weife oder unfinnig fein muß, je nachdem einer viel oder wenig
Geld Hefigt !
Nach unjerer Meinung ifl der Grund Hiervon in tem Handelsgeiſt der
Nation zu ſuchen, welder ihrem politifchen Geiſte entgegenwirft und diefen
unterdrüdt, denn bie Amerikaner follen fi in dieier Beziehung noch mehr
auszeichnen als wir. Aber weldy eine hohle windige Leere des inneren Cha⸗
rakters verräth dies, wenn wir anflatt eines waderen tüchtigen Herzens nur
eine volle Börfe aufzuzeigen bemüht find und Alles fi nad einem falichen
Ziele Hindrängt und ftößt. Der Höfling muß feine Hühneraugen immer
weiter und weiter zurückziehen, damit ihm der Bauer nicht mit dem Abſatze
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darauf trete und daß wir auf allen Seiten anflatt Glaube, Liebe und Hoffe
nung weiter nichts als Armuth, Habgier und Eiteffeit ſehen, das ift fo
ziemlich handgreiflich.
Narren, die wir find! Warum rutfchen vir uns die Knie wund und
Ihlagen befümmert an unſere Bruft und beten Tag und Nacht zum Mam⸗
mon, der, wenn er und aud hören wollte, und doch faft nicht einmal etwas
zu geben hat? Denn jelbft angenommen, daß der taube Gott unfere Opfer
erbörte, daß er unfer vergoldetes Meffing in maſſives Gold verwandelte und
und alle aus hungrigen Nadhäffern des Reichthums und der Vornehmheit,
morgen zu wirklichen Rotbihilts und Howards machte, was hätten wir
weiter Davon? Sind wir nicht ſchon Bürger dieſes wunderbaren England
mit feinen erbhabenen Shakfpeares und Hampdens, fa dieſes wunterbaren
Weltalls mit feinen Milchſtraßen und Emigfeiten und feinem unausſprech⸗
lichen Blanze, daß wir uns fo plagen und abmühen und einander in Stüden
reißen, um einige Ader (ja noch öfter nur den Schein einiger Adler) mehr
oder weniger zu gewinnen, während das größte diefer Beſitzthümer, der
Sutherland ſelbſt, fhon von dem Monde aus nicht mehr zu fehen ift?
Narren, die wir find, in diefen unferen Aeckern, felbft wenn wir deren
baten, zu graben und zu bohren wie Regenwürmer und weit entfernt, die
himmliſchen Lichter zu betrachten und uns ihrer zu freuen, fie blos vom
unbeachteten und ungeglaubten Hörenjagen zu kennen! Sollen gewifle Biund
Sterling, die wir vielleicht in der Banf von England haben oter die Ges
ſpenſter gewiffer Pfunde, deren Beflg wir heucheln, und die Schäge verber⸗
gen, zu denen wir alle in dieſer, der, Gottesſtadt“ geboren find?
Wenn wir aber auch die Geldwechsler, Ehren⸗ und Aemterjäger und
dergleichen ihre eigenen Elugen Wege, von welchen fie einmal nicht abweichen,
rubig geben laſſen, jo müſſen wir e8 doch als einen eigenthümlichen Umſtand
erwähnen, daß derfelbe Geift in foldem Umfange auch in der Literatur hat
Dlag ergreifen können. Die Literatur ift das Auge der Welt, welches Alles
erhellt und anflatt des Scheins der Dinge und die Dinge ſelbſt zeigt. If
nun auch dad Auge blind geworden? Hat der Dichter und Denker die Phi⸗
Iofophie des Gewürzfrämers und Livreebedienten angenommen? Hören wir
Lord Byron felbft über dieſen Gegenſtand.
Bor nıehrern Jahren erfhienen in den „Magazinen * und zur Bewun⸗
derung der meiften Leute vom Fache gewiffe Auszüge aus Briefen von Lord
Byron, welche diefe Philofophie ziemlich weit trieben. Seine Lordfchaft
eswähnte barin, daß alle Negeln der Poeſſe keinen Pfifferling werth feien;
nach welchem Aphorismus feine Lordſchaft weiter behauptete, der große Ruin
aller britifchen Dichter habe feinen Grund in einer ſehr einfachen Urſache,
nämlich in dem Umſtande, daß fie in den höchften Kiafien ber Geſellſchaft
feinen Zutritt hätten. Er für feine Perfon und Thomas Moore wären mit
diefem Leben der feinen Welt vollfommen vertraut, er in Folge feiner Ge
burt, Moore in Kolge eined glücklichen Zufall, und deshalb Fünnten fie
beide Gedichte ichreiben ; die andern dagegen wären damit nidt vertraut
und fönnten daher feine ichreiben.
Sicherlich wird es nun die höchſte Beit, daß alle dergleichen Dinge
aus unferem Blaneten hinausgetrommelt werden, um nie wieder zu kommen.
Richter feinerfeitd war von dem Weſtend Hoffe vollſtaͤndig ausge⸗
fchloffen, denn auch Hof hat fein Weftend. Jeder Sterbliche ſehnt fih nad
feinen: Paradeplatz und wünfcht bei Banfetten und @elagen fich eines oder
des andern Sitzes zu bemeiflern, worin er Diele oder jene gerupfte Gans ber
Nachbarſchaft überragt. — Der arme Richter Fonnte demzufolge nur zu
dem Weftend des Weltalld Zutritt erhalten, wo er allerdings ein pracht⸗
volles Befigthum inne hatte. Die juriftiichen, theologifchen und anderen
Sonoratioren von Kof hätten, wenn fie Luft gehabt, ihm einige Bücher
leihen, einige Zügen weniger von ihm erzählen oder glauben und auf Diefe
Weiſe pofltiv und negativ dem jungen Abenteurer manden kleinen Dienfl
erweifen können ; fle hatten aber einmal Feine Luft dazu und glücklicherweiſe
fah er fi in ven Stan geießt, auch ohne fie zurecht zu kommen.
Heiter, fanft und fröhlich wie ein Lamm, und doch flarf, grofmüthig
und königlich muthig wie ein Löwe, arbeitete er beim Sceuern der Keſſel,
beim Ziſchen und Sprudeln der Kochtöpfe, beim fummenden Spinnrad feiner
Mutter immer weiter und nicht ohne ſtolzes Gefühl hört unfer Lefer —
tenn aud er ift ein Menſch — daß der Sieg endlich errungen ward und daß
Werke, welche bie denkendſte Nation Europa's als klaſſiſch betrachtet, unter
ſolchen Umftänden gefchrieben wurden.
Eben an diejem tiefften Punkte der Erzählung aber macht Otto vor
laufig Halt und giebt uns nur die Verfiherung, daß beſſere Tage im An⸗
zuge find, fo daß wir in Bezug auf den ganzen fleigenden und herrſchenden
Theil von Richter's Geſchichte auf unfere eigenen Hülfsquellen angewirfen
find. Aus diejen haben wir nur einige Dürftige Andeutungen geſchöpft, die
wir hier mit freilich fehr unverhältnigmäßiger Kürze fummiren,
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Die „unfichtbare Loge”, die im Jahre 1793 aus ter Spinnflube zu
Sof hervorging, war, wie es ſcheint, daB erfte jeiner Werke, welches ent»
fhiedene Gunſt und beifällige Aufnahme fand. Eine lange Prüfung, denn
der Verfafler hatte nun feit länger als zehn Jahren die Gitadelle der Kitera-
tur belagert, ohne daß eine Breſche fich zeigte! Dit dem Erſcheinen des
„Hesperus“, einer abermaligen wunterbaren Erzählung, welche aus dem⸗
felben „einzigen Wohnzinmer* im Jahre 1796 hervorging, endete die Be⸗
lagerung fo zu fagen durch einen Fühnen Sturm und Jean Paul, von wels
chem die Meiften nicht wußten, was ſie denfen follten, der hier und da von
manchem Schwahfopf ohne Bedenken für halb wahnjinnig erflärt worden
war, ſetzte es allgemein außer Zweifel, daß er, obfhon noch von dämmerigen
Dünften umhüllt und nur in feltfamen vielfarbigen, unregelmäßigen Strah⸗
len glänzend, doch einer ter himmliſchen Kichtförper feiner Zeit und feiner
Generation fei und fein werde. Die intelleetuelle Energie, welche er im
„Hesperus“ entfaltere, noch mehr der Adel der Gefinnung, die Sympathie
mit der Natur, die warnıen, ungeflümen, aber doch reinen und erbabenen
Shilterungen der Freundſchaft und Liebe, im geringeren Grade vielleicht
der wilde geräufchvolle Humer, des überall darin vorherrſcht, erwarben
Richter nicht blos Bewunderer, fondern auch perſoͤnliche Gönner in allen
Gegenden feines Vaterlandes.
Gleim 3.3. konnte, obſchon damals achtzig Jahr alt und zu den legten
noch lebenten Juͤngern eines ganz andern Schule gehörend, fih vor Ent⸗
zäden gar nicht faſſen. „Weld ein Gottgeniuß,* jo fchrieb er einige Zeit
fpäter, „tft unfer Friedrich Michter! Ich leſe feine Blumenftüde zum zweis
ten Male. Hier iR mehr ald Shakſpeare, jagte ich, bei fünfzig angeftrichenen
Stellen! Welch ein Gottgenius! Ich bewundere durchaus den Menſchen⸗
Topf, aus welchem diefe Ströme, diefe Bäche, dieſe Rheinfälle, dieſe blan⸗
duflfchen Quellen auf die Menichheit fich ergießen, die Menjchheit zu Menfche
heit machen wollen, und bin ich Heute mit einigen Worten, mit ſolchen, die
die Mujen nicht eingeben, bin td mit dem Plane heut nicht zufrieden, fo
bin ich's morgen. *
Der gutmüthige muntere Greis hatte ihm, wie ſich jpäter ergab, einen
freundlichen „Septimus Firlein“ unterzeihneten Brief mit einem Geldges
Ihent überfendet, den Richter mit großer Herzlichkeit und einiger Neugier,
das Geheimniß zu durchdringen, in eben biefen „Blumenftüden * beantwor«
tete und fo entftand bald eine freudige Bekanntſchaft und Breundichaft.
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Baul flattete einen Beſuch in Halberſtadt ab, wo er die herzlichſte Aufnahme
fand und ſich malen ließ, welches Portrait nah tem Delgemälde von Pfen⸗
ainger in Gleim’s „Ehrentempel” noch jet zu ſehen ifl.
Ungefähr um biefelbe Beit that auch die Recenſentenwelt nad langem
gewifienhaften Stillfchweigen wieder ihren diden Mund auf und in einer
ganz andern Sprache, indem fie ein heiſeres Nunc Domine dimittas mit bes
deutender Zungenfraft hervorkreiſchte. Zur Ehre unferer Zunft hätten wir
gewünicht, daß die Hecenfentenwelt ihr Mimittas ein wenig eher angeftimmt
hätte.
Im Jahre 1797 ward die Witte HMichter dem feltfamen veränder-
lien Klima diefer Welt entboben und, wie wir hoffen, in ein fonnigeres
aufgenommen. Ihre Kefiel hingen ungefcheuert an ter Wand und die fo
oft mit ihrem baumwollenen Baden gefüllte und mit ihren Thränen benegte
Spindel drebete fich nicht mehr. Arme, alte, fhwerbeladene Seele! Und
dennoch fiel auch auf fle ein Lichtftrahl von oben herab und die „Drei Thaler
für Samuel’8 neue Stiefel* waren reichlicher und geiegneter als das Löſe⸗
geld manches Königs. Ja fle fah, ebe fie von Hinnen ſchied, daß fle, auch
fie, einen großen Menſchen zur Welt geboren, und der Sonnenichein ihrer
Jugend, der fo lange durch Ueberſchwemmungen erfäuft worden, blickte am
Abend mit freundlichem Lebewohl wieder hervor.
Nachdem der Haushalt in Hof auf diefe Weite ſich aufgelöft hatte,
führte Richter einige Jahre lang ein wanderndes Leben. Im Laufe diefes
jelben Jahres 1797 finden wir ihn wieder in Leipzig und zwar unter ganz
anderen Umfländen ald ehemald. Denn anflatt gefchniegelter anmaßender
Magifter, die ihn nicht einmal feine gemiethete Hundehütte in Frieden be⸗
wohnen laſſen wollten, ward er jeßt hier mit drei, mit allen Heizen bes
Körpers und des Geiſtes gefchmücten Pringeffinnen, den Töchtern ber Her-
zogin von Hildburghauſen, befannt. Der Herzog, welder feinen außer-
ordentlichen Verdienſten ebenfalld Gerechtigkeit widerfahren ließ, verlieh
ihm einige Jahre fpäter den Titel eines Legationsraths.
Ueberhaupt feheint Sean Paul von diefer Zeit an einen für und übers
rafchenden Zutritt bei Fürften und Bürftinnen gehabt zu Haben. So z. B.
in den gefelligen Eirkeln, in welchen die Herzogin Amalia von Weimar bie
talentvollften Männer erft in Etteröburg und fpäter in Tieffurt zu verſam⸗
meln pflegte; dann bei dem Herzog von Meiningen in Coburg, der ihn mit
dringender Freundlichkeit eingeladen hatte; bei dem Fuͤrſt Primas Dalberg,
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ber es nicht bei einer bloßen Einladung bewenden ließ; fpäter bei der hoch⸗
begabten Herzogin Dorothea in Loͤbichau, welchen Beſuch er als feflliche
Tage ſelbſt verewigt hat u. ſ. w. u. ſ. w.
Alle dieſe kleinen Umſtände ſollten von jener Klaſſe britiſcher Philo⸗
ſophen in Erwägung gezogen werden, bie in manchem intellectuellen Theecirkel
fo läftig find und den „Deutichen fchlehten Geſchmack“ aus unferem eigenen
alten ewigen „Mangel an Umgang“ herleiten, wornach, wenn es ihnen fo
gutdünkte, ihr Thee, jo lange nicht eine weniger jich von ſelbſt verſtehende
Behauptung aufgeftellt würde, mit einem gewiflen „flolzen und fleifen
Schweigen * conjumirt werden önnte.
In dem nächſten Jahre (1798) jedoch ward Paul eines noch weit
größeren Glückes theilhaftig, nämlich eines guten Weibes, welches, wie Sa-
lomo ſchon längft geichrieben, ein „hohes Gut“ if. Er war, immer noch
fleißig fchreibend, von Keipzig nach Berlin gereift und während eines fängern
Aufenthalts in dieſer letztern Stadt, fagt Döring, reichte ihm Karoline
Mayer, Tochter des Föniglich preußifchen Geheimraths und Profeſſors der
Redtzin, Dr. Johann Andreas Mayer (dies find feine Titel alle), ihre Hand,
ja fle drückte ihm, wie und der mifroffopiiche Döring erzählt, den Brautkuß
auf eigenen Antrieb auf. Aber noch mehr zu verwundern iſt, daß fle allen
vorhandenen Nachrichten zufolge wirklich eine Auscerwählte ihres Geſchlechts
war, die wie ein fanfter, die Sorgen vericheuchender Schutzgeiſt ihn auf
jeinem ganzen fernern Lebenspfad begleitete.
Bald nach diefem großen Ereigniß begab ſich Baul mit feiner jungen
Gattin nach Weimar, wo er einige Jahre gewohnt und bei Allem, was dieſe
Stadt Verühmtes enthielt, in hoher Gunſt geſtanden zu haben jcheint. Der
erſte Eindruck, den er auf Schiller machte, iſt ziemlich charakteriftiich.
„Vom Hesperus,“ fchreibt Schiller an Goethe, „habe ih Ihnen noch
nichts gefchrieben. Ich habe ihn ziemlich gefunden, wie ich ihn erwartete;
fremd wie einer, der aus dem Mond gefallen ift, voll guten Willens und
berzlich geneigt, die Dinge außer fidy zu fehen, nur nicht mit dem Organ,
womit man flieht. Doc ſprach ich ihn nur ein Mal und kann alſo nod
wenig von ihm fagen.” — Goethe giebt in feiner Antwort ebenfalls feinen
Wohlgefallen an Richter zu erkennen, „aber, * fagt er, „wenn ich es recht
bedenfe, fo zweifle ih, ob Richter im praftifchen Sinne ſich jemals uns
nähern wird, ob er gleich im theoretifchen viele Anmuthung zu und zu
haben jcheint. *
Carlyle. II. 5
Hedperus bewies fpäter, daß er mehr „Organ beſaß, als Stiller
ihm zutraute, nichtsdeſtoweniger war Goethe's Zweifel nicht ungegründet
gewefen. ‚Herder war ed namentlich, an ten Paul ich hauptſächlich anſchioß;
die Anderen fchägte er als hochbegabte befreuntete Männer, aber bloß Herder
ald Lehrer und geifligen Bater, von welchem legteren Berhältnig und ber
warmen Liebe und Dankbarkeit, welche ed vom Paul's Seite begleiteten,
feine Schriften häufige Beweife enthalten... „Wenn Herder fein Dishter
war,” jagt er einmal, „fo war er etwad mehr, — ein Gedicht!“
Au mir Wieland land er auf dem freundfchaftlichiten Fuße und ber
fuchte ihn oft draußen in Osmanſtedt, wohin fi der alte Hann jegt zurüd-
gezogen hatte.
Vielleicht gehörten dieſe in Weimar im vertrauten Umgange mit jo
vielen ausgezeichneten Berfonen verlebten Jahre, in Bezug auf äußere
Dinge, zu den Tehrreichften in Richter's Leben ; in Bezug auf innere Dinge
hatte er fon und zwar mit Ehren anderwärtd eine ſchwere Xehrzeit durch⸗
gemacht.
Wir dürfen nicht vergeſſen, zu erwähnen, daß „Titan”, eins ſeiner
Sauptwerfe (1800 in Berlin erfchienen), während feines Aufenthalts in
Weimar gefihrieben ward ; eben fo die „Wlegeljahre* und die Lobrede auf
Charlotte Corday, weldhe Ießtere, obſchon urſprünglich nur ein Iournal«
artikel, doch wegen ihrer Fühnen Beredſamkeit und des antifen republifanie
ſchen Geiſtes, der fi darin audfpricht, befondere Beachtung verdient.
Mas „Iitan” betrifft, welcher nebft feinen „Lomijchen Anhange“
ſechs ſehr außerordentliche Bande ausmacht, jo war Richter bei allen Ge
legenheiten gewohnt , dieſes Werk für fein Meiſterſtück und überhaupt Das
Befte zu erklären, was er jemald zu leiften hoffen könne, obſchon es nicht
an Leſern fehlt, welche „ Heöperus * fortwährend den Vorzug geben.
Wir für unfern Theil müſſen erklären, daß wir „Titan“, nachdem
wir fo viel davon gehört, mit einem gewiflen Grab von getäufchter Erwar⸗
tung gelefen haben, im Ganzen genommen aber und der Meinung bes
Antors zuneigen. rüber oder fpäter hoffen wir dem brittichen Publikum
eine Skizze von diefen beiden Werfen vorzulegen ‚- in Betreff deren gejagt
worden ift, daß fie malfined Metall genug in fih enthalten, um ganze Leih⸗
bibliothefen damit zu verforgen, wenn man es zu dem gewöhnlichen Fila⸗
gran aushämmern wollte und Bieles, wa, wir möchten ed verdimnen, wie
wir wollten, Fein Abonnent im Stande wäre, fortzutragen.
67
NRichter's andere vor dieſer Periode berausgegebene Romane find bie
unſichtbare Loge”, „Siebenkäs ober Blumen-, Frucht⸗ und Dormenflüde “,
Quintus Firlein“ und der „Jubelfenior“, während „Sean Paul's Briefe
und künftige Geſchichte“, Das „PBrühftüd in Kuhſchnappel“ und bie , bis⸗
graphiſchen Beluſtigungen unter der Hirnſchale einer Rieſin“ kaum zu dieſer
Gattung gehören. Die jpäter geſchriebenen Romane, die wir gleich hier
mit anführen Fönnen, find: Das „Leben Fibel's“, „Katzenberger's Babereije *,
„Schmelzle's Reife nah Flätz“, und „der Komet”, au „Nikolaus Marks
graf” genannt.
Ungefähr un dad Jahr 1802 erhielt Baul von dem Fürſten Primas
von Dalberg , einem wegen feiner Breigebigfeit berühmten Prälaten, von
welchem wir bereitd oben geſprochen, eine Penſion ausgeſetzt. Wie viel
biefelbe betrug, finden wir nicht angegeben *),, fondern blos, daß fie ihm
die Mittel zu einem bequemen Leben ficherte und ihm jpäter, wir vermuthen
nad dem Ableben des Fürſten Primas, von dem König von Baiern ausge⸗
zahlt ward.
Auf den Grund dieſes fihheren Einfommend hin etablirte nun Sean
Paul feinen eigenen Haushalt, und wählte zu dieſem Zwecke nach verfchies
denen Wanderungen die Stadt Baireuth mit ihrer freundlichen malerifchen
Umgebung, wo er mit nur Furzen gelegentlichen Ausflügen fortfuhr zu leben
und zu fchreiben. Wir haben gebört, dag er dort allgemein geliebt und
geachtet ward. Er war freundlich, treubergig und ebelfinnig, vebfelig und
humoriſtiſch, zufrieden mit einfachen Menjchen und einfachen Freuden, ein
Mann der einfachften Gewohnheiten und Wünſche. Er hatte drei Kinder
und einen Schugengel, ber ohne Zweifel nicht ganz ohne alle Mängel war,
aber doch ein ganz vernünftiger Engel war. Bür einen Mann, beffen Bruft
mit einem fo verbärteten Stoicismus wie mit dreifachen Erz gepanzert war
and in welder fo fanfte tiefliegende ewige Quellen der Liebe ſprudelten,
mag dies alles wohl ein glückliches Leben ausgemacht haben.
Ueberbies befaß Paul einen eremplarifchen, unermüblichen Fleiß in fet«
nem Berufe unb- hatte fo zu allen Beiten bauernde und feuerfefte Sreuben,
nämlich Beichäftigungen.
Außer bem Iegteren Theil der obengenannten Romane, welche aber wie
*) Sie beitrug 1000 Bulden.
A. d. uU.
5 *
68
bie andern fämmtlich mehr oder weniger ächt poetifche Productionen find, und
die wir daher mit einem fo gewöhnlichen Namen wie Roman nur ungern bes
zeichnen, gehören feine philoſophiſchen und kritiſchen Leiſtungen, befonders
die „ Vorschule der Aeſthetik“ und die „ Levana“ ganz dem Wirfen in Baireuth
an, abgefehen von einer Menge vermifchter Schriften — über moralifche,
fiterarifche und wiſſenſchaftliche Gegenftände ; aber ſtets in einem bumorifti-
fen, phantaftifchen und poetifchen Gewante — die ſchon an und für ſich
das Glück eines nicht gewöhnlichen Menfchen Hätten machen fönnen. Sein
Herz und fein Gewiflen waren eben jo wie fein Kopf und feine Sand bei
der Arbeit, von welcher keine Verſuchung ihn abwendig machen Fonnte.
„Sch halte e8 eben für meine Pflicht," fagt er in diefen biographifchen
Motizen, „nicht zu genießen oder zu erwerben, Tondern zu jchreiben — fo
viel Zeit es auch Fofte oder Geld weggehe — ja fo viel Freude z. B. die
Schweiz zu fehen, mir bloß das Opfer der Zeit veriagt.”r — „Ich verfage
mir mein Vespereffen, um zu arbeiten, aber ih kann mir die Störungen
durch meine Kinder nicht verjagen.* — Berner: „Ein Dichter, der zu er⸗
freuen glauben darf, follte alle Bequemlichfeiten, deren Opfer feinen Schöp⸗
ferfräften nichts entziehen, verſchmähen und gern entbehren, um vielleicht
ein Iahrhundert und ein ganzes Volk zu erfreuen. *
Wie glücklich war Richter in rorgerüdten Jahren, daß er von fid
fagen konnte: „Wenn id} fo anichaue, was gemacht iſt von mir, fo danke
ih Bott, daß ich nach nichts Aeußerlichem fragte, weder nach Zeit, noch
Koften,, noch Papier und Zeit — die Sache iſt da und die Hebezeuge habe
ich felber vergeffen und Niemand weiß fie ſonſt. — Auf diefe Weife wirb
die unbedeutende Bolge von Momenten in etwas Höheres, Stehendes ver⸗
wandelt.” — „Ich habe fo Vieles geſchildert,“ fagt er an einer andern
Stelle, „aber ich fierbe, ohne die Schweiz gejeben zu haben und dad Meer
und ıc, 20. Doch das Meer der Ewigfeit werde ich in jedem Ball zu ſehen
befonmen. ”
Ein Schwerer Schlag traf ihn im Jahre 1821, als fein einziger Sohn,
ein junger hoffnungsvoller Mann, auf der Univerfität ſtarb. Paul verlor
feine Faſſung nidt, ward aber dadurch tief und unheilbar verwundet.
„Bremdes Brieffammern über meinen Verluſt Iefe ich kalt,“ ſagt er, —
„denn das Heftigfte Hör’ ich in mir felber und muß bie Innern Herzohren
zubalten, aber ein einziger neuer Zug von Maxens ſchoͤnem Wefen reißet
69
das ganze wunbenvolle Herz weiter auf und es kann fein Blut nur in die
Augen treiben. * |
Neue perfönliche Leiden harreten fein, Abnahme der Geſundheit und,
was für einen fo unermädlichen Lefer und Schreiber noch ſchlimmer war,
eine Abnahme des Augenlichts, welde fih endlich bis zu faſt gänzlider
Blindheit verfchlimmerte. Auch dies ertrug er mit feiner alten Stanbhafe
tigkeit, indem er mit heiterem Muthe die Hülfe fuchte, die noch zu haben
war, und ala feine Hoffnung mehr übrig blieb, immer noch heiter trog
‚Krankheit und Blindheit in feinem Berufe fortarbeitete. Obſchon äußerlich
von Nacht umbüllt, ſtrahlte doch in feinem Innern ein helles Licht und er
war noch mit feinem Lieblingäthenia, der Unfterblichkeit der Seele, beſchäf⸗
tigt, als am 14. November 1825 der Tod fam und Paul's Werk nun
vollendet und jene große Frage für ihn auf einen weit höheren und unwider⸗
Ieglichen Beweis hin entfdieden war. Der unbeendete Band, ben wir jegt
unter dem Titel „ Selina” befigen, ward ihn: bei feiner Beftattung auf den
Sarg gelegt, denn fein Leihenbegängnig war öffentlich und in Baireuth
fowohl als anderwärtd wurden feinem Andenken alle möglichen Ehren er»
wiefen.
In Bezug auf Paul's Charakter ald Menſch haben wir wenig mehr
zu fagen, als was die Thatlachen dieler Erzählung jchon deutlicher gefagt
haben, als ed in Worten gefchehen kann. Wir hören von allen Seiten in
einem oder dem andern Dialekt, daß die reine, hohe Moral, weldhe feine
Schriften ſchmückt, fih auch feinem Leben und Thun aufpräagte. Er war
ein zärtlicher Batte und Bater und gegen feine Freunde und Alle, die in
feine Nähe famen, die Güte felbft. Die Bedeutſamkeit eines folchen Beiftes
wie Richter's, der fi in einem ſolchen Leben praktiſch Fundgab, ift tief und
mannigfach und verdient in unferem Zeitalter forgfältiged Studium. Bor
der Hand jedoch müflen wir fie in diefem Grade von Klarheit der eigenen
Betrachtung des Leferd anheimgeben, da eine andere und noch unmittelbarer
dringende Seite unferer Aufgabe uns übrig bleibt.
Richter's intellectueller und literarifcher Charakter ift vielleicht in höchſt
merkfwürbigem Grade das Seitenflüd und Ebenbild feined praftifchen und
moralifchen Charakters. Seine Werke fcheinen uns ein mehr ald gewöhn«-
lich treues Transſeript jeines Geiſtes und mit großer Wärme birect aus
dem ‚Herzen geſchrieben zu fein, benn es iſt eben fo wie er wild, ftarf, origi⸗
nel und aufrichtig. Man betrachte ihn von welchem Geſichtspunkte man
70
wolle, ob als Denter, MRoralift, Satyriter oder Bort, fo iſt er eine wun⸗
derbare Erſcheinung; eine unermeßliche, vielfeitige, unruhige und doch edfe
Natur, feiner Mängel wie feiner Vorzüge wegen „Iean Baul ber Einzige *.
In allen Fächern finden wir in ihm eine bezwingende Kraft, aber eine
gefehlofe, ungefääulte, gleichſam Halb barbariſche Kraft. So ik und z. ®.
fein Berfland befannt, der einen umwiterflehlicheren Charakter befäße, als
Kichter's, aber feine Kraft iſt eine naturwüchfige, alle künſtliche Waffen
verfchmähende. Er unterminirt nicht erft fchlan feinen Gegenftand, um ihn
dur follogiftifche Werkzeuge oder nach den Segeln der Kımfl bloszulegen;
fondern er zerbrüdt ihn in feinen Armen, tritt ihn nidt ohne wilden
Triumph in Trümmer und legt fo auf faft ungeheuerliche Weife und doch
mit Durchdringender Klarheit das innerfte Herz und Mark des Feindes vor
Aller Augen blos.
In der Leidenfchaft entwickelt er diefelbe wilde Vehenenz Es iſt eine
Stimme des weichſten Mitleids, endlofer, grenzenlofer Wehklage, eine
Stimme mie die der Rahel, als fie ihre Kinder beweinte; ober auch das
grimmige Gebrüll des Löwen im fchanerlihen Walde.
So liebt er auch nicht blos die Natur, fontern er jchwelgt in ihr; er
flürzt fih Hinab in ihren unendlichen Scheoß und füllt fein ganzed Herz bis
jur Betäubung mit ihren Reizen. Er erzählt und, daß er gewohnt war,
unter freiem Simmel zu flutiren, zu fchreiben , faft zu leben und fein An⸗
HE des Himmels war für ihn fo abſchreckend, daß er für ihn gänzlich der
Schönheit entbehrt hätte. Wir fennen feinen Dichter mit einem fo innigen,
leidenfhaftlichen und allgemeinen Gefühl flr die Natur. Von den erhabe
nen Geſtaltungen des geftirnten Gimmels an 6i8 zu dem einfachen Blümchen
der Wiefe herab iſt fein Auge und fein Herz Ihren Heizen und fhrer geheim⸗-
nißvollen Bedeutung offen.
Was aber die angeborene weſentliche Stimmung von Paul's Geift am
meiften verräth, iſt die fpielende Laune, der wilde, berzinnige Summor, ber
fih in feiner höchſten wie in feiner tiefften Stimmung ftetö als ein vollkom⸗
men unzertrennliches Element darftellt. Sein Humor tft bei afl feiner Wild-
bett von ber ernfteften und gutmüthigflen Art, ein ächter Humor, der fi
mit dem größten Ernſte verträgt oder vielmehr mit dem Mangel deſſelben
unvereinbar tft.
Ueberhaupt If es ihm unmöglich, auf andere als humoriſtiſche Weife
zu fchreiben, möge fein Gegenfland fein, welcher er wolle. eine phiko⸗
71
ſophiſchen Abhandlungen, ja, wie wir geiehen haben, fogar feine Selb
biographie, Alles, was von ihm kommt, ift in einen fonderbaren phantaſti⸗
ſchen Rahmen gefaßt und ſchalkhafte Augen fchanen uns, obfthon mit einer
feltfamen Sympathie für die Sache — denn fein Humor if, wie wir gefagt
Haben, Herzlich und acht — durch mande ernfle Schilderung hindurch an.
Fa ſeinen Romanen vor allen Dingen iſt fie ſtets eine unerläßliche Eigen⸗
haft und kündet fih in ver Regel glei zu Anfange oft ſchon auf dem
Titelblatt an. Ban denke z. B. an jene „Auswahl aus den Papieren des
Zeufels*; „Hetperus oder Ab Hundpoſttage“; „Siebenkäd’ Ehefland,
Tod and Hochzeit“ und jo weiter.
„Der erſte Anblick diefer Eigenthümlichkeiten,“ fagt einer von Rich⸗
ter’8 engliſchen Kritikern, „ann und nicht zu feinen Gunſten einnehnen.
Wir werden badurd zur fehr an theatraltiche Effecthaſcherei und Literarifche
GEharlatanerie erinnert, und wenn man eind biefer Werke jelbft aufichlägt,
fo wird Die Sache dadurch nicht viel gebeſſert. Durchdringende Gedanken⸗
blige entgehen und nicht ; eigenthümliche Wahrheiten in eben fo eigenthüm«
lihe Formen eingekleidet; pathetiſche, prachtvolle, weithin tönende Stellen,
Ergüffe voll Wig, Kenntniß und Phantafte, aber ſchwer unter irgend eine
Aubrik zu bringen ; furz alle @lemente eines herrlichen, aber jo wild durch
einander geworfenen Berſtandes, daß ihre Heihenfolge Tas leibhafte Ideal
der Berwirrung: zu fein jheint. Der Styl und Bau des Buches ſcheinen
eins fo unverfländfih zu fein wie das andere. Der Gang der Erzählung
wird fortwährend unterbroden, um Play zu maden für ein „Exrtrablatt*
- oder eine abenteuerlide Abſchweifung über irgend eimen Gegenſtand, nur
nicht den vorliegenden. Die Eprache Röhnt von unbefgreiblichen Metaphern
und Anfpielungen auf alle möglichen menſchlichen und göttlichen Dinge ;
dahinfträmend nicht wie ein Fluß, fondern wie eine Ueberſchwemmung, in
tauſendfachen Strudeln bald dahin bald dorthin ſchäumend und gurgelnd,
bie die eigentliche Strömung unter dem grenzenlofen Aufruhr aus den
Augen entſchwindet. Wir fchließen das Bub mit einem gemifchten Gefühl
von Erfiaunen, Bedrilung und Verwirrung und Richter flebt vor und in
glaͤnzender und dennoch unmsälfter Unbeflimmtheit, eine riefige Maſſe von
Verſtand, aber ohne Jorm, Schönheit oder begreiflichen Zweck.
„Leiern, welche glauben, daß innerliche Vorzüge von oberflächlichen
wunzertrennlich find und daß nichts gut ober jdn fein kann, wa ſich nicht
augenblicklich durchſchauen läßt, kann Richter. nur wenig. Schwierigkeit ver⸗
72
urfachen. Sie geben zu, daß er ein Mann von ungeheurer natürlicher Be⸗
gabung jei, dabei aber fehlt es ihm nad) ihrer Meinung an aller Ausbil-
dung und Beherrichung feiner Baben ; er ift voll von monftröfer Affertation,
der leibhafte Hohepriefter des ſchlechten Geſchmacks; verſteht nicht die Kunſt
des Schreibens, ja weiß kaum, daß es eine ſolche Kunſt giebt; ein überge-
fhnappter Träumer, der ewig in nebeligen Traumen fchwebt, welche bie
fefte Erde feinen Blicken entziehen; furz ein intellectueller Polyphem, ein
monstrum horrendum, informe, ingens (jorgfältig Hinzufegend), cui Jumen
ademptum ; und fie fchließen ihren Urtheilsſpruch rückſichtävoll mit feiner
eigenen lobendwerthen Marime: ‚Die Vorſehung bat den Engländern bie
Herrichaft des Meeres gegeben, den Sranzofen die des Landed, ben Deut-
ſchen die — ter Luft.’
„Auf diefe Weiſe wirb die Sache entſchieden — kurz, bequem und
falſch. Das Käftchen war ſchwer zu öffnen; erfannten wir ſchon an jeiner
äußern Geftalt, daß nichts darin fei und daß wir ed ohne Weiteres in das
Meer werfen könnten? Affectation iſt oft Eigenthümlichfeit, aber Eigen⸗
thümlichkeit ift nicht immer Affectation. Wenn die Natur und das Weſen
eines Menfchen wirklich und wahrhaft, nicht eingebildet und unwahr eigen-
thümlich iſt, fo wird. auch feine Manier fo fein oder follte es wenigftens
fein. Affectation ift die Frucht der Lüge, einer fchweren Sünde und Mutter
zahlreicher ſchwerer Sünden, man ftrafe fle daher fireng, Elage aber Nie»
manden berjelben allzuleidytfinnig an. Schwerlich ift irgend ein Sterblicher
ganz frei davon, wahrſcheinlich Richter auch nicht; doch fint ed Geiſter
anderer Art ald der feine, in. weldyen fle das herrichende Produkt wird.
Ueberdies ift er durchaus fein Träumer, fondern man wird bei allen jeinen
Träumen finten, daß er die fefte Erde in allen ihren Geflalten und Bezie-
bungen weit dentlicher fieht ald Taufende folder Kritifer, weldye nur zu
wahrſcheinlich nichts Anteres ſehen können. Dabei ift er weit entfernt,
ungebildet ober ungeſchult zu ſein und jene Kritiker werden überraſcht ſein,
zu entdecken, daß wenige Menichen die Kunſt des Schreibens und viele
antere Künfte außerdem forgfältiger fludirt haben ale er; daß feine „ Vor⸗
fehule der Heftgetit* eine Fülle von tiefgedacdhten und ſchlagenden Eritifchen
Marimen enthält, in deren Berlaufe viele ſchwierige Werke, unter andern
auch feine eigenen, ſtreng und gerecht geprüft und fogar die Schönheiten
und Fleinften Eigenthümlichfeiten ded Styls keineswegs überfehen oder une
angemefien behandelt werten.
713
„In Richter liegt etwas, was und zur zweiten, zur dritten Leſung
feiner Werfe auffordert. Seine Werke find fchwer zu verfichen, aber fie
Haben ſtets eine Bedeutung, oft eine wahre und tiefe. Werfen wir einen
genaueren, umfaflenderen Blid darauf, fo tritt ihre Wahrheit mit neuer
Deutlichkeit hervor, der Irrthum zerfireut fih und tritt zurüd, gebt in
etwas Erlaubte, oft jogar in Schönheit über und endlich ſchmilzt der Dide
Nebel, welcher die Geftalt des Verfaflerd umgab, hinweg und er flieht in
feinen wahren Zügen vor uns da, als folofjaler Geift, erhabener origineller
Denker, ädter Dichter, bochfinniger, wahrer und höchſt liebenswürdiger
Menſch.
„Ich habe ihn einen kolofſſalen Geiſt genannt, denn dieſer Eindruck
erhält fich in und. Bis zulegt ſteht er als etwas Gigantiſches vor und ba,
denn alle Elemente feines Baues find unermeplich und mehr in lebender und
belebenter,, ald in fchöner oder ſymmetriſcher Ordnung zufammengeftellt.
Sein Berftand ift jcharf, ungeſtüm, weitgreifend, geeignet, den hartnäckig⸗
fen Stoff in Stüden zu reißen und Die verborgenfte und wiberfpenftigfte
Wahrheit aus ihnen herauszuprefien. In jeinem Humor Ipielt er mit dem
Höchſten und dem Niedrigften; er kann mit Sonne und Mond Ball jpielen.
Seine Phantafle öffner uns das Land der Träume; wir fegeln mit ihm
durch den grenzenlofen Abgrund, und die Geheimnifle ded Raums, der Zeit,
des Lebens und der Vernichtung umſchweben und in düſteren nebeligen Ge⸗
Ralten und Binfternig, Vnermeßlicfeit und bange Scheu umhüllen und
uberfchatten uns. oo
„Isa, auch wenn er den geringften Stoff behandelt, bearbeitet er ihn
mit den Werkzeugen eincd Riefen. ine gewöhnliche Wahrheit wird aus
ihren alten Combinationen herausgeriffen und und in neuem, noch nie da⸗
gewejenem Gegenfag mit dem ihr entgegenflehenten Irrthum dargeboten.
Eine Kleinigkeit, ein geringfügiger Charakter, ein Scherz oder ein geifligeö
Spielzeug erhält eine höchſt fonderbare und doch oft wahrhaft lebende Ge⸗
ſtalt, aber durch den Hammer des Bulfan und mit drei Schlägen, die eine
Aegis Ichmieden könnten. Die Schäge feines Geiſtes find von ähnlicher
Art wie der Geiſt ſelbſt; feine Kenntniß ift aus allen Reichen der Kunfl,
Wiffenidaft und Natur zufanımengetragen und liegt in ungeheuren unförm«
lichen Haufen um ihn herum, Sogar feine Sprache ift titanifch, tief, ftark,
unzähmbar, in taufend Farben glänzend, aus taufend Elementen zuſammen⸗
geſchmolzen und in labyrinthifchen Bängen fi windend.
7A
- „Unter Richter's Begabungen," führt dieſer Kritifer fort, „if bie
erfte, welde uns als wahrhaft greß ericheint, feine PBhantafle; denn er
ltebt e8, in den erhabenften und feierlichften Wegionen des Denkens zu
wohnen; feine Werke enthalten eine Fülle von geheimnißvollen Allegorien,
Biflonen und Bildern; feine Träume beſonders bewegen ſich in einem düſte⸗
ren unermeßlichen Raume, deſſen Nacht dann und wann, bier und ba durch
wilden weithin fließenden Glanz unterbrochen wird, und nebelhafte beden⸗
tungsoolle Geftalten fleigen ans dem Schooße der leeren Unendlichkeit empor.
Und doch iſt, wenn ich nicht irre, der Humor feine herrſchende Eigenichaft,
die Eigenfchaft, welde am tiefften in feiner innern Natur lebt und auf ſein
Weſen den flärkiien Einfluß äußert. Hinſichtlich dieſer feltenen Begabung,
denn feine tft feltener als Achter Humor, fcht er in feinem Vaterlande und
unter den modernen Schriftflellern aller übrigen Länder unerreiht da. Den
Humor zu befhreiben, ift ſtets ichhwierig, und würte in Richter's Kalle viel«
leicht mehr als gewöhnlich ſchwierig ſein. Gleich allen feinen andern Eigen⸗
ſchaften if} fein Humor unermeßlich, ſchroff und unregelmäßig, oft vlelleicht
hberlaten und ertranagant, umd doch iſt e8 im Grunde aͤchter Humor, ber
Humor eines Gervanted umd Sterne, das Produkt nicht des Hohnesd,
fondern der Liebe, nicht oberflächlicher Verzerrung natürlicher Formen,
fondern inniger, obſchon muthwilliger Sympathie mit allen Formen der
Natur. — — —
„Se lange als der Humor ihm zur Seite ſteht, fann man feine Bes
handlung felbft höherer und flärferer Charaktere als glücklich bezeichnen;
überall aber, wo der Humor aufhört, iſt fein Erfolg mehr oder weniger
unvollkommen. Im der Behandlung eigentlicher Helden iſt er felten voll⸗
ſtaͤndig glücklich. Sie ſchießen unter feinen Händen zu überrmuchernden Ges
-Ralten empor ; ihre Empfindfamfelt wird zu norberrfchend und thränenreidh,
ihr Edelfinn zu wild, wunderli und radikal. In einigen wenigen Bällen
find fie faft vollfländig verfehlt. Im Vergleich mit ihren weniger ehrgei⸗
sigen Brüdern find fle fat von gemeiner Art und bei all ihrem Glanze und
ihrer Kraft jener pofttiven, entfchloffenen, vulkaniſchen Klaſſe von Menſchen,
bie wir in Romanen fo Häufig antreffen, zu ähnlid. Sie nennen ih Men⸗
fihen und thun ihr Aeußerftes, um die Behauptung zu beweiſen, aber fle
"können uns nicht daran glauben machen, denn Hei all ihrem Dampfen und
Stürmen fehen wir recht wohl, daß fie blos Maſchinen find, - Sie Haben
nicht mehr Leben, als das Modell des Freigeifſes in Martinus Scrihlerug,
75
jener Nürnberger NRenſch, der durch eine Combination von Möhren und
Sebeln agirte, und obfhon er volltommen athmen und verbauen und fogar
fo gut wie die meiften Landprediger phifofophiren konnte, doch blos auß
Hol; und Leder gemacht war. In der allgemeinen Behandlung folder Ge⸗
ſchichten and Schilderungen erfcheint Richter felten auf vortheilhafte Weiſe;
die Ereigniſſe find oft unerwartet und extravagant; ber ganze Bau der Er⸗
zaͤhlung bat ein unebenes, zerriffenes, unförmliches, erkünfteltes Anſehen
und widerfirebt der Wahrheit und Natürlichkeit. Und dennoch find alle
Klüfte wunderbar mit den köſtlichſten Stoffen ausgefüllt; eine Welt, ein
Univerfum von Wis, Wiffenichaft und Phantafte Hat ihre ſchönften Erzeug-
niffe geliefert, um das Gebände zu ſchmücken; die rauhen zerfpaltenen,
egelopifgen Mauern glänzen von Juwelen und gefihlagenem Gold; ein
reiches herrliches Laubwerk ſchirmt fie, die duftigften Wohlgerüche umſchwe⸗
ben fie, wir ſtehen erſtaunt, entzückt und bezaubert durch den Künftler und
feine Kunfl. *
Wir fehen wenig Grund, uns mit dieſen Anſichten, fo weit fle eben
gehen, nicht einverſtanden zu erffäten. Ohne Zweifel liegt eine tiefere Be⸗
deutung in der Sache, doch ift vieleicht jegt nicht die Bett, fle zu entwickeln.
Mit wahrer wiffenfchaftficher Genauigkeit den weientlidien Zweck und Cha-
rafter von Richter's Genind und Titerarifchhem Streben zu ſchildern; wie
diefes Streben entfland, wohin es abzielt, wie es fich zu den allgemeinen
Tendenzen der Welt in ımferer Zeit verhäft,; vor allen Dingen, was ſein
-Bertb und fein Mangel an Berth für uns ſelbſt ift, dies kann eines Tags
ein nothwendiges Broblem werden, würde aber, wie die Sachen gegen⸗
wärtig ſtehen, ein fehr fſchwieriges und nicht ſehr nugenbringendes ſein.
Das engliiche Publikum hat Richter noch nicht geſehen und muß ihn fennen,
ehe es ihn beurtheilen fann. Für und erachten wir es daher in den gegen⸗
wärtigen Umftänden angemeffener, einige Broben feiner Arbeit felbft vorzu«
legen, anflatt daß wir verfuchen follten, ſie nochmals oder beffer zu beſchrei⸗
ben. Der allgemeine Umriß feiner intellectuellen Geſtaltung, fo wie fle
von dem bereits citirten Kritiker gezeichnet wird, mag bier als Vorrede zu
diefen kleinen Auszügen dienen. Was darin auch fehlen mag, fo enthält
fie doch, wie fhon oben der Fall war, nichts, womit wie nicht einverſtanden
wären. |
„Iean Paul's Werke zu charakteriſiren,“ fagt er, „würde ſelbſt nad
dem gründlichften Studium fehr ſchwierig fein; Ne engliſchen Leſern zu
76
ſchildern, wäre aber fafl geradezu unmöglich. Sie mögen nun poetifd,
philoſophiſch, didaktiſch oder phantaftifch fein, fo fcheinen fle alle mehr ober
weniger vollfländige Embleme des eigenthümlichen Geiſtes zu fein, aus wel⸗
chem fie hervorgegangen find. Als Ganzes betradhtet ift die erſte Leſung
berfelben, ganz befonders einem Ausländer, faſt ſtets wiberwärtig, und .
weder ihre Bedeutung noch ihre Nichtbedeutung find ohne langes und
eifriges Studium zu erforfhen. Sie find eine tropifche Wildniß voll end«
Iojer Rrümmungen ; aber mit den fhönften Blumen und den fühlften Quel⸗
Ien, uns bald mit hohem fchattigem Dunkel überwölbend, bald ſich zu
langen prächtigen Bernfihten öffnend. Wir wandeln in ihnen und freuen
uns ihrer wildromantifchen Schönheit und allınälig geht unfere halbverächt-
lihe Verwunderung über den Autor in Ehrerbietung und Liebe über. Sein
Antlig war und lange verhüllt, aber wir fehen ihn endlich in der feften Ge⸗
Ralt geiftiger Mannheit — eine unermeßliche eigenthümliche Natur, deren
Eigenthümlichfeit aber durch die Kraft, Schönheit unt Milde, von weldyen
fle durchdrungen iſt, gerechtfertigt wird. Wir nehmen ihn mit einem Worte
freudig für Das an, was er ift und was er fein will. Die Anmuth, die
Politur, die muntere Eleganz, welche Schriftftellern von leichterer Gattung
eigen find, können wir bei ihm nicht fuchen und nicht von ihm verlangen.
Seine Bewegung ift in ihrem Wefen langjam und ſchwerfällig, denn er rüdt
nicht mit einer Fähigkeit, ſondern mit ganzem @eifte vorwärts ; mit Intelli«
genz, Pathos, Wig, Humor und Phantafle bewegt er ſich weiter wie eine
gewaltige buntgemifchte, Ichwerfällige, unregelmäßige, unwiderſtehliche Schaar.
Er ift nicht Luftig, brillant und präcis, fondern tief, Hürmifh und unermeß-
lid. Die Melodie feiner Natur ift nicht in gewöhnlichen Noten ausgedrüdt
und auch nicht nach der Fritiichen Scala niedergefchrieben,, denn ſie ift wild
und mannigfach; ihre Stimme ift gleich der Stinnme von Waflerfällen und
dem Braufen der Urmwälder. Für ſchwache Ohren if fie Mißflang, aber
für Ohren, bie fe verſtehen, eine gewaltige majeftätifche Muſik *).“
Als erfte Probe, die au zum Beweis dienen Tann, daß Richter,
indem er feinen eigenen außerordentlihen Styl beibehielt, dies mit
Flarem Bewußtfein Defien that, was Bortrefflichfeit des Styls und die ver
fhiedenen Arten und Grade dieſer Vortrefflichkeit eigentlich zu bedeuten
baben, wählen wir aus feiner fhon oben erwähnten und empfohlenen Vor⸗
) German Romance, Ill. 6, 18.
77
ſchule der Aeſthetil die folgenden Kleinen Skizzen. Der mit den darin ge⸗
nannten Perjonen befannte Lefer wird dieſe urtheile ungemein treffend und
praͤcis finden.
„Beſucht Herder's Schöpfungen, wo wriethiſche Lebens⸗VFriſche und
indiſche Lebens⸗Müde ſich ſonderbar begegnen: fo gebt ihr gleichſam in
einem Mondſchein, in welchen ſchon Morgenröthe fällt, aber Eine verborgne
Sonne malt ja beide.
„Aehnlich, aber periodologiicher, ift Jacobi's ftraffe, fernbeutfche Brofe,
muftkalifch in jedem Sinne, denn fogar jeine Bilder ſind oft von Tönen
bergenommen. Der feltene Bund zwifchen fehneidender Drud-Kraft und der
Unendlichkeit de& Herzens giebt die geſpannte metallene Saite mit dem wei⸗
chen Tönen.
„In Goethe's Proſe bildet — wenn in der vorigen die Töne poetiſche
Geftalten legen — umgekehrt die feſte Form den Memnond-Ton. Gin
plaftifches Hünden und zeichnerifches Abfchneiden, das fogar den körper⸗
fihen Künftler verräth, machen jeine Werke zum feften ftillen Bilder - und
Abgußſaal.
„Hamann's Styl iſt ein Strom, den gegen die Quelle ein Sturm
zurũckdrängt, ſo daß die deutſchen Marktſchiffe darauf gar nicht anzukommen
wiſſen.
Luther's Proſe iſt eine halbe Schlacht; wenige Thaten gleichen feinen
Worten.
„Klopftod’8 Proſe, dem Schlegel zu viel Grammatik nicht ganz un⸗
richtig vorwarf, zeigt häufig eine faſt floffrearme Sprech⸗Schärfe, was eben
Grammatikern eigen ift, welde am meiften gewiß, aber am wenigften
viel wiſſen. Aus Mangel an Stoff denkt man Teicht zu ſehr an die Sprache.
Neue Welt-Anfihten, wie die genannten vorigen Dichter, gab er wenig.
Daher fommen die nadten Winteräfte in feiner Profe — die Menge ber
eircumferiptiven Säge — bie Kürze — die Wieterkehr der nämlichen nur
ſcharf umfchnittenen Bilder, 3. B. der Nuferftehung als eines Aehrenfeldes.
„Die vollendete PBrunf» und Glanzprofe ſchreibt Schiller, was die
Pracht der Reflexion in Bildern, Fülle und Gegenjägen geben kann, giebt
er; ja oft fpielet er auf den poetiſchen Saiten mit einer fo reichen zu Juwe⸗
Ien verfleinerten Sand, daß ber fihwere Glanz, wenn nicht das Spielen,
doch das Hören flört. *
Daß Richter's eigenes Spielen und Malen von dem aller Diefer
78
Schriftſteller weit verſchieden war, bat der Leier ſchon gehört und kaun ſich
nun ſelbſt davon überzeugen. Wan nehme z. DB. bie folgende Naturſchil⸗
terung, als Probe von den taufenden, die fich in feinen Schriften finden,
keineswegs als die beſte, fondern einfach als die kürzeſte.
„Einen folden Rai wie den heurigen (von 1794) hat Die Natur bei
Menſchengedenken nicht — angefangen: denn wir haben erſt den fünfzehn⸗
ten. Leute von Einfichten mußten ſich jeit Jahrhunderten jedes Sahr einmal
ärgern, daß Die Deutfchen Sänger Mailleter machten, da andere Monate
eine poetiſche Nachtmuflt weit eher verdienen, und id; bin oft jo weit ge»
gangen, daß ich den Spradgebraud der Marktweiber angriff, und flatt
Maibutter Juniusbutter fagte, deögleihen nur Juniud-MRärzeAprillieder. —
Aber du, heuriger Mai! verdieneft alle Lieder auf deine rauhen Namens⸗
vettern auf einmal! — Beim Himmel! wenn id) jegt aus der gaukelnden
helldunkeln Akazienlaube des Schloßgartens, in der ich dieſes Kapitel ſchreibe,
beraußtrete in den weiten lebendigen Tag, und zum wärmenden Gimmel
aufiehe, und über feine unter ihm aufquellende Erde: fo thut fi vor mir
der Frühling wie ein volles kräftiges Gewitter mit einem blauen und grünen
Slanze auf. — Ich fehe die Sonne am Abendhimmel in Rofen fiehen, in
die fle ihren Strablenpinfel, womit fle heute die Erde außgemalet, hinein⸗
wirft, — und wenn id mich ein wenig umſehe in ihrer Gemäldeausftellung:
fo ift ihre Schmelzmalerei auf den Bergen noch heiß, — auf dem naflen
Kalk der naffen Erde trodnen die Blumen mit Saftfarben gefüllt, und an
den Baͤchen die Vergißmeinnicht mit Miniaturfarben — unter die Blafur
ber Ströme hat die Malerin ihr eigned Auge gefaflet, und die Wolfen hat
fie wie ein Decorationdmaler nur mit wilden Umrifjen und einfachen Far⸗
ben gezeichnet; und jo flebt fle am Rande der Erde und blidt ihren großen
vor ihr flehenden Frühling an, deſſen Faltenwurf Thaͤler find, deſſen Bruſt⸗
Bouquet Bärten und beflen Erröthen ein Srüuhlingsabend iR und der, wenn
er ſich aufrichtet, der — Sommer wird. ®
Oder die folgende, in welcher überdies noch zwei glückliche lebende
Geftalten, eine Braut und ein Bräutigam an ihrem Hochzeitſtage vor⸗
kommen.
„Er führte ſie aus dem ſchwülen Tanzſaal in den kühlenden Abend.
Warum legt der Abend, warum die Nacht heißere Liebe in unſer Herz?
Iſt's der nächtliche Druc der Hülflofigkeit oder iſtss die erhebende Abſon⸗
derung aus dem Lebendgewühle, die Verhüllung ber Welt, worin der Seele
x
79
vide mehr bleibt ald Seelen, iſt's darum, weswegen bie Buchſtaben, wo⸗
mit der geliebte Name in unferem Innern ſteht, gleich als wären fie Phoa⸗
phor⸗Schrift, zu Nachts brennend ericheinen,, indeß fie am Tage nur im
Gewälften Umriß rauhen?! —
„Er ging mit feiner Braut ia den Schloßgarten:: fie eilte ſchnell Durch
Das Schloß amd vor deſſen Geſindſtube vorüber, wo die ſchönen Blumen bes
JFugendlebens unter einem Langen Druckwerk breit und troden gepzeflet wur«
ben, und ihre Serle that fih groß und athmend im freien offuen Garten
anf, in deſſen Blumenerde dad Schidjal den erſten Blumeniamen ihres
heutigen Lebensflores auögeworfen hatte. Stille Eren! Grünes mit Blüs
then zitterndes Helldunfel! — Der Mond ruht unter der Erde, wie ein
Zodter ; aber jenjeitd des Gartens find der Sonne helle rothe Abendwolken
wie Roſenblätter abgefallen, und der Abendſtern, der Brautführer der Sonne,
ſchwebt wie ein glänzender Schmetterling über dem Rofenrosh und nimmt,
beicheiden wie eine Braut, einen einzigen Sternchen fein Licht.
„Die zwei Menſchen kamen an die alte Gärtner Hütte, Die zuge»
ſchloſſen und flumm mit finftern Stuben im lichten Garten ſtand, wie eine
Bergangenheit in der Gegenwart. Entblößtes Gezweig ber Bäume ver⸗
ichränfte fig mit fetten halben Blättern über dem dichten fich durchgreifenden
Zaubwerf der Stauden. — Der Frühling ſtand ald Sieger neben dem zu
Füßen Tiegenden Winter. — Im blauen Teiche ohne Blut war ein dunkler
Abendhimmel ausgegraben, und fein Abfluß wäflerte raufchınd die Beete. —
Die Silberfunfen ber Sternbilder fprangen auf dem Altare des Morgend
auf, und fielen erloſchen in das rothe Meer des Abends nieder. — —
„Der Wind ſchwirrte wie em Nachtvogel lauter dur die Bäume,
und gab der Alnzienlaube Töne, und die Töne riefen den Menſchen, die in
ihr einſtmals glüdlih wurden, zu: „trete herein, neue Menfchenpaar, und
dent an das, was sergangen iſt, und an mein Verwelken und an Deines,
und fei Heilig wie die Ewigkeit, und weine nicht blos vor Freude, ſondern
auch vor Dankbarkeit!" — — —
„Sie kamen vor den raufchenden leuchtenden Gochzeithauſe an; aber
ihre erweichten Herzen ſuchten Stille auf und fremdes Anftreifen flörte wie
am blühenden Wein, die BlumensBermählung der. Seelen: fle kehrten lieber
sieder um, und wandten fich in den Gottesacker hinauf, um ihre Nührumgen
zu bewaßren Groß fand auf Gräbern und Bergen die Nadt vor bem
Gerzen und machte ed groß. Leber dem weißen Thurm⸗Obeliskus ruhte
80
der Himmel blauer und dunfler, und Hinter ihm flatterte der abge
dorrte Gipfel des niedrigern Maienbaums mit entfärbter Fahne. Da er-
blickte der Sohn das Grab feined Baterd, auf dem der Wind die Fleine
Thüre des metallenen Kreuzes knarrend auf« und zufchlug, um dad auf Mefe
fing eingeägte Jahr feined Todes leſen zu laflen. — — Eine heiße Weh⸗
muth ergriff mit heftigen Ihränenftrömen fein Toögeriffenes Herz und trieb
ihn an den verfallnen Hügel, und er führte feine Braut an das Grab und
fagte: „Hier jchläft er, mein guter Bater — ſchon im zweiunbbreißigften
Jahre ging er bier ein zur ewigen Ruhe. — O Du guter, tbeurer Vater,
fönnteft Du doch heute die Freude Deines Sohnes fehen wie meine Mut⸗
ter! — Ad Du befter Vater, Deine Augenhöhle ift Teer und Deine Bruſt
voll Aſche und Du ftebft und nicht.” — Er verflunmte. — Die bedrängte
Braut weinte laut, fe fab die morihen Särge ihrer Eltern aufgeben und
die zwei Todten fich aufrichten und fich umfchauen nad ihrer Tochter, die fo
lange von ihnen verlaffen auf der Erte blieb. — Sie flürzte an fein Gerz
und flammelte: O Theurer, ich babe weder Vater noch Mutter, verlaß
mid niemals.
„D Du, der Du nod einen Vater oder eine Mutter bafl, danfe Bott
an dem Tage dafür, wo Deine Seele voll Freudenthränen ift und eine Bruft
bedarf, an der fie fie vergießen fann. ...
„Und mit diefer edeln Umarmung am Grabe eines Vaters fchließe ſich
heilig diejer Breudentag! —“
In folden Stellen, fo kurz fie auch find, wird, glauben wir, ein er
fahrened Auge einige Züge von Originalität fowohl als allerdings auch von
Seltiamkeit finden, ein offener Sinn für Natur, ein weiches Herz, eine
warme reiche Phantafte und Hier und da eine tieferliegende Strömung des
Humors find deutlich genug erfennbar.
Bon diefer legtern Eigenfchaft, weldhe, wie oft gefagt worden, Rich⸗
ter’8 hervorragendſte und ftärffte Seite ift, möchten wir unfern Lefern gern
einen richtigen Begriff geben, wiſſen aber nicht recht, wie wir es machen
follen. Da es ächt poetifcher Humor iſt, feine bloße Wigelei oder gemeine
Karrifatur, fo ift er gleichfam wie eine feine Efienz, wie eine Seele. Wir
entdecken ihn nur in ganzen Werfen und Schilderungen, eben fo wie bie
Seele nur im Tebenten Körper, nicht in einzelnen Gliedern und Bruqhſtücken
zu ſehen iſt.
Richter's Humor nimmt eine große Menge Geſtalten an, von welchen
ME — — — —
8
einige ziemlich grotest und buntichedig find. Sie erſtrecken fi von ber
leichten freundlich komiſchen Ader Sterne'8 in feinem „Zrim* und „Onkel
Toby“ über alle dazwifchenliegenden Grabe bis zu dem Grimmigfchroffen,
Poffenhafttragifchen, wie wir e8 zuweilen in Hogarth's Zeichnungen fehen,
ja bis zu noch fchwärzeren und unheimlicheren Bildern als biefen.
Zu ber erſtern Battung gehören feine Charaktere Fixlein, Schmelzle,
Bibel ; zu den legtern fein Vult, Giannozzo, Leibgeber und Schoppe, welche
Iegtern eigentlich ein und berfelbe find. Won tiefen und dem Geifte, der
in ihnen berrfcht, würde es uns durch Auszüge oder Uebertragungen und
Umſchreibungen nicht möglich fein, eine andere als höchſt unangemefjene und
jogar unrichtige Idee zu geben.
Nicht ohne Widerftreben haben wir daher biefe urfprünglich gefaßte
Abficht wieder aufgegeben und müſſen und mit einem „Ertrablatt” oder
einer andern leicht auszuhebenden Stelle begnügen, weldhe, wenn fle auch
fein Emblem von Richter's Humor gewährt, doch dad Annaͤherndſte ift, was
wir unter diejen Umfländen bieten fünnen. Don ben „Ertrablättern” im
„Hesperus“ allein könnte man ein ziemlich umfängliches Bud) zufammen-
ftellen, welches zu den feltfamften feiner Gattung gehören dürfte. Die mei«
fien davon find jebodh national, würden ohne Commentar Faum verflanden
werden und ſelbſt dann immer noch verlieren, denn der Humor darf nicht.
durch ein Glas betradptet werden, fondern man muß ihn von Angeficht zu
Angefiht ſchauen.
Das nachftehende Ertrablatt ift Feind der beften, doch dreht es fih um
einen europäifchen Gegenfland; auf jeden Fall ift e8 ein englifcher.
„Ertrablatt über töhtervolle Käufer!
» Das Haus des Minifler war ein offner Buchladen, deſſen Werfe
(die Töchter) man da leſen, aber nicht nach Haufe nehmen konnte. Obgleich
bie fünf andern Töchter in fünf Privatbibliotheken ald Weiber fanden, und
eine in der Erde zu Matenthal die Kindereien des Lebens verfchlief; fo
waren doch in Liefem Töchter⸗Handelshaus noch drei Sreieremplare für gute
Breunde feil. Der Minifter gab bei den Ziehungen aus der Aemter⸗Lotterie
gern jeine Töchter zu Prämien für große Gewinnfte und Treffer ber. Wem
Gott ein Amt giebt, dem giebt er, wenn nicht Verfland, doch eine Frau.
In einem tochterreihen Haufe müflen, wie in der Peteröfiche, Beicht⸗
Rühle für alle Nationen, für alle Charaktere, für alle Fehler ftehen, damit
Carlyle. U, 6
die Töchter als Beigtmätter darin figen und von Allem abfolviren, blos bie
Ehelofigteit ausgenommen, Ich habe oft ald Naturforfcher die weilen An«
ftalten der Natur zur Verbreitung der Töchter und Kräuter bewunbert;
iſt's nicht eine weiſe Einrichtung, ſagt' ich zum naturhiſtoriſchen Göze, das
die Natur gerade denen Mädchen, die zu ihrem Reben einen reichen minera-
Tifchen Boden brauchen, etwas Anhäfelnbes giebt, womit fie ſich an elenbe
Ehe⸗Finken ſetzen, bie fle an fette Derter tragen? So bemerkt Kinnee*),
wie Sie wiffen, daß Saamenarten, die nur in fetter Erbe fortfommen,
Haͤkchen anhaben, um ſich leichter an’3 Vieh zu hängen, daß fe in den Stall
und Dünger trägt. Wunderbar fireuet die Natur durdy den Wind — Vater
und Mutter müfjen ihy machen — Töchter und Fichtenfaamen in die urbaren
Forftpläge bin. Wer bemerkt nicht Die Endabſicht, daB manche Toter darum
von der Natur gewifle Meize in benannten Zahlen hat, tamit irgend ein
Landſaſſe, ein infulirter Abt, ein Kardinaldiafonus, ein apanagirter Prinz
oder ein bloßer Land» Edelmann herkomme und befagte Reizende nehme, und
als Brautführer oder engliſcher Brautvater fle ſchon ganz fertig irgend einem
fonftigen Tropfen übergebe, als eine auf ben Kauf gemachte Frau? Und
finden wir bei den Heibelbeeren eine geringere Borforge der Natur? Merket
nicht derfelbe Linnse in derfelben Abhandlung an, daß fie in einen nähren»
den Saft gehüllet find, damit fle den Fuchs anreizen, fie zu freflen, worauf
ber Schelm — verbauen kann er fie nit — fo gut er weiß, ihr Säemann
wird? —
„D mein Inneres tft ernfihafter ald ihr meint, die Eltern ärgern
mid, die Seelenverfäufer And; die Töchter dauern mich, die Negerſklavinnen
werden — ad iſt's dann ein Wunder, wenn bie Töchter, die auf dem weſt⸗
indiſchen Markte tanzen, lachen, reden, fingen mußten, um vom Herrn einer
Plantage heimgeführt zu werden, wenn biefe, ſag' ich, eben fo ſklaviſch be⸗
handelt werden, als fie verfauft und eingekauft wurben? Ihr armen Laͤm⸗
mer! — Und doch, ihr feid eben fo arg wie eure Schaf-Mütter und Bäter
— mad foll man mit feinem Enthufladmus für euer Gefchledht machen, wenn
man durch deutſche Städte reilet, wo jeder Meichfle oder Vornehmſte, und
wenn er ein weitlänftiger Anverwandter vom Teufel felbft wäre, auf dreißig
Häufer mit dem Winger zeigen und fagen kann: „id weiß nich, fol ih aus
dem perlfarbenen, oder nußfarbenen, ober ftahlgrünen Haufe eine heirathen :
*) ©, vefien amoen. acad. die Abhandlung won der bewohnten Erde.
83
offen find die Kaufläben alle!" — Wie, ihr Mäbchen, ift benn euer Herz
fo wenig werth, daß ihr's wie alte Kleider, nach jeder Mode, nad) jeder
Bruſt zufchneidet, und wird's denn wie eine fineftfche Kugel, bald groß,
bald winzig, um tn eine männlihen Herzens Kugelform und Eheringe
Futteral einzupafien? — „Es muß wohl, wenn man nit fißen bleiben
will, wie die heilige N.“, antworten mir die, denen ih nit antworte,
weil id} mich mit Beratung wegwende von ihnen, um der fogenannten hei⸗
Hoen NN. zu fagen: „Derlaffene, aber Gebuldige! Verkannte und Ver⸗
blühte! Erinnere dich der Zeiten nicht, wo du noch auf beffere Hoffteft, als
die jegigen, und bereue ben ebeln Stolz deined Herzens nie! Es iſt nicht
allemal Pflicht, zu heiratben, aber es ift allemal Pflicht, fich nichts zu ver⸗
geben, auf Koften der Ehre nie glücklich zu werden, und Ehelofigfeit nicht
durch Ehrlofigfeit zu vermeiden. Unbewunderte, einfame Heldin! in deiner
legten Stunde, wo das ganze Leben und bie vorigen Güter und Gerüſte des
Lebens in Trümmer zerſchlagen voraus hinunterfallen, in jener Stunde
wirft du über dein andgeleertes Xeben hinſchauen, es werben zwar Feine
Kinder, kein Gatte, Feine naſſen Augen darin fliehen, aber in der Ieeren
Dämmerung wird einfam eine große, holde, englifch-lädhelnde, ſtrahlende,
göttliche und zu den Göttlichen auffleigende Geftalt ſchweben und dir win«
fen, mit ihr aufzufleigen — o fleige mit ihr auf, die Geſtalt ift deine
Tugend." —
Wir haben, und zwar mit Wärme, bereitö oben von Sean Paul’s
PHantafle, von feiner frommen erhabenen Beflinnung gefproden, und e8
mwürbe uns nicht anders ald angenehm fein, wenn wir unfern Lefern auch
hiervon Proben vorlegen könnten, Leider müffen fle fih jeboch auch in
dieſer Beziehung mit einigen unvollkommenen Etnbliden begnügen. Wels
hen religiöfen Anftchten und Beftrebungen er fpeziell huldigte, wie Diefer
ebelfte Theil des menfchlichen Intereffe ſich in einem folchen Geifte darftellte
— dazu bedürfte e8 einer langen Auseinanderfeßung, aud wenn wir es
mit Gewißheit wüßten. An einer Stelle feiner Werke deutet er an, baf
„die Seele, welde von Natur himmelwärts blicft, in biefer unferer Zeit
ohne Tempel ſei“, in welchem kleinen Sate ber denfende Xefer viel ent⸗
ziffern wird.
„sa, es wird zwar ein anderes Beitalter fommen, * fagt Paul, „wo
es Lit wird und wo der Menſch aus erhabnen Träumen erwacht und De
Träume — wieder findet, weil er nichts verlor ald den Schlaf. —
6*
8A
„Die Steine und Felfen, welche zwei eingehüllte Geſtalten, Nothwen⸗
Digfeit und Lafter, wie Deufalion und Pyrrha Hinter ſich werfen nach den
Guten, werden zu neuen Menſchen werden. —
„Und auf dem Abendthore diefes Jahrhunderts fleht: Gier geht der
Meg zur Tugend und Weisheit; fo wie auf dem Abendthor zu Cherſon bie
erhabene Inſchrift: Hier gebt der Weg nah Byzanz. — —
„Unendlidhe Vorfiht, du wirft Tag werden laſſen. —
„Aber noch fireitet Die zwölfte Stunde der Nacht: die Nachtraub⸗
vögel ziehen, die Gefpenfter poltern; die Todten gaufeln; die Lebendigen
träumen. *
Wunderbare Erzeugniffe des Jean Paul'ſchen Geiftes find feine
„räume“, Mit feltfamer poetifher Gewalt beberriht er bier jenes
Chaos der geifligen Natur und verkörpert in ihr eine ganze Welt voll
Naht, die nur von bleiben Schimmern oder grellen Lichtblitzen unter-
brochen wird und mit ungeheuerlichen, abenteuerlichen, aber großartigen
und bedeutungsvollen Geftalten bevölkert iſt. Kein und befannter Dichter,
nicht einmal Milton, befigt eine fo unermeßliche Einbildungsfraft, einen
folden Hinreißenden, tiefinnigen althebrätfchen Geiſt, wie Richter in dieſen
Scenen. In feinen biographifhen Notizen erwähnt er den Eindruck, den
die folgenden Zeilen aus Shakſpeare's, Sturm“ auf ihn madten:
„Wir find folcher Stoff
Wie der zu Träumen, und dies Feine Leben
Umfaßt ein Schlaf.“
„Die Stelle in Shakſpeare,“ fagt er, „mit Schlaf umgeben,
von Plattner ausgeſprochen, erfchuf ganze Bücher in mir. *
Hiermit müffen wir, vor der Hand wenigftens, unfere Zucubrationen
über Jean Paul fchliegen. Die ſpezifiſchen Eigenthümlichfeiten eines ſolchen
Genius und feines Wirkend und feiner Erfolge in den vielfältigen Re—
gionen, in weldyen er wohnte und thätig war, mit nur annähernter Ge⸗
nauigfeit zu jchildern und zu malen, wäre eine langwierige Aufgabe, zu
welcher wir vielleicht bier einigen Grund gelegt haben und bie wir bei
pafiender Gelegenheit mit großem Vergnügen wieder aufnehmen werden.
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Wahrfcheinlich werden unfere Lefer, wenn fle all diefe feltfamen Dinge
überdenken, nur zu oft an jene „ Coſtüm⸗Epiſode“ Paul's zurücdenfen und
fih der Meinung zuneigen, daß er wie im Leben, fo aud im Schreiben ein
Sonderling geweien jet und fortwährenden Affectationen gehultigt habe.
Wir wollen über diefen Punkt nicht ſtreiten und und nicht in das Labyrinth
hineinwagen, in welches ein ſolcher Streit uns führen würde.
Sleichzeitig aber hoffen wir, daß Viele, im Einverfländnig mit ung,
Richter fo wie er war, ehren und troß feiner hundert wirklichen und feiner
zehntaufend fcheinbaren Fehler unter dieſem wunderbaren Gewand den Geift
eines aͤchten Dichters und Philoſophen erkennen werben.
Als einen Dichter, und zwar ald einen der größten feiner Zeit, müflen
wir ihn betrachten, obſchon er Feine Verſe jchrieb; als einen Philofophen,
obichon er Feine Syſteme aufftellte, denn die „göttliche Weltidee“ fand in
klarem ätherifchem Lichte vor feinen Geiſte; er erkannte das LUnflchtbare
ſelbſt unter den niedrigen Formen biefer Tage und firebte mit hohem, ſtar⸗
Tem, begeiftertem Herzen, e8 in dem Sichtbaren barzuftellen und feinen
Mitmenſchen zu verfünden.
Diefe eine Tugend, die Grundlage aller anderen, und die und durch
gründliches Studium in Jean Paul immer deutlicher und deutlicher enthüllt
wird, bedeckt weit größere Sünden, ald bie feinen waren. Sie hebt ihn
in eine ganz andere Sphäre, als die der taufend zierlichen füßlichen Sänger
und von Urſache und Wirkung fchwagenden Philoſophen feines Vaterlandes
fowohl als anderer Nationen, der Million Romanfabrifanten, Skizzen⸗
fgmierer und dergleichen zu gefchweigen.
Einen folhen Mann können wir mit Recht zum allgemeinen Studium
empfehlen, während wir Die, welche bei dem gegenwärtigen Stande ber
Dinge ihn vielleicht am meiften tadeln, an den alten Sprud erinnern:
„Außerordentliche Erfcheinungen muß man; ſtets mit eigenen Augen zu be⸗
trachten fuchen. *
Boswell’s Lebensgefchichte Iohnfow’s*).
(1832.)
Aeſop's Fliege, die auf der Are des Wagens ſaß, ift ſehr ausgelacht
worden, weil fie ausrief: „Was für einen Staub jage ich doch in bie
Höhe!* Und wer von und hätte ſich in feiner Art und Weife nicht zuwei⸗
len einer ähnlichen Laͤcherlichkeit ſchuldig gemacht? Ja, fo thöricht find Die
Menſchen, daß fie oft ganz bequem als Zufchauer auf der Heerſtraße ſtehend,
freiwillig von der Bliege — ohne diefelbe Verfuhung zu haben wie dieſe —
außrufen und zwar zu demſelben Zwede: „Was für einen Staub jagft Du
in die Höhe!“ Ganz Eleine Sterbliche erfcheinen oft groß, wenn fie durch
die Umftände in die Höhe gehoben werben und ganz Fleine mit ihnen im
Verbindung ftehende Erfheinungen werben als wichtig behandelt, emfig
nach allen Seiten Hin unterſucht und mit lauter Emphafe beſprochen.
Dap Mr. Erofer eine neue Ausgabe von Boswell's Lebensgejchichte
Johnſon's veranftaltete, war ein lobenswerthes, aber keineswegs wunder»
bares Unternehmen; auch konnte die Vollendung eines ſolchen in einer
Epoche wie die unfere keineswegs als ein Ereigniß in der allgemeinen Welt-
geſchichte betrachtet werben, und die richtige ober unrichtige Ausführung
war in der That und Wahrheit ein ganz unbedeutender Gegenftand.
Und dennoch ſaß dieſes Kleine Ereigniß in großer Umgebung auf der
Are eines hohen, ſchnell dahinrollenden Parlamentswagens und alle Welt
bat über dafjelbe und feinen Autor ausgerufen: „Was für einen Staub
jagft du empor!" Man fehe die Revuen und anderen „Organe ber öffent-
®) The Life of Samuel Johnson, L. L. D.; including a Tour to the Hebrides :
By James Bosweli, Esg. — A new Edition, with numerous Additions and Notes :
By John Wilson Croker, L. L. D., F. R. S. 5 vols. London, 1831.
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lien Meinung *, von dem National Omnibus an aufwärts. Tadelnde und
Iobende Kritifen entfirömen ihren tauſend metallenen oder ledernen Kehlen;
Hier Iobfingende Jo-paeans, dort grollender Donner oder heftiges Spig-
maudgequife, bid das Ohr des Publikums davon faft betaubt ward. Bos⸗
well's Bud) Hatte im Bergleich mit diefer neuen Ausgabe von Boswell's Bud)
eine fehr geräufchlofe Geburt. Andererſeits erwäge man, mit welchem Ge
räuſch das „verlorene Paradies“ und bie „I lade* Milton’s ins Publitum
eingeführt wurden.
Einen folden Lärm noch mehr zu erhöhen oder über feine Zeit hinaus
zu verlängern, ſcheint keineswegs Hier unfer Beruf zu fein. Im äußerften
Balle find wir vielleicht verbunden, mit aller möglichen Kürze einfachen
Leſern mitzutheilen, welche Art von Leiflung dies if, befonderd ob fie nach
unferer befcheidenen Meinung verdient, daß man drei Pfund Sterling dafür
audgebe ober nicht. Die ganze Sache gehört unverkennbar ben niedrigen
Reihen ber trivialen Klaffe an.
Wir wollen daher bereitwilligft zugeftehen, daß, wie Johnſon einmal
fagte und der Herausgeber wiederholt, „alle Werke, welche Öffentliche Sit⸗
ten ſchildern, in ſechzig oder fiekzig Jahren oder auch noch eher mit Noten
verfehen werden müflen” ; daß demgemäß eine neue Ausgabe von Boswell
wünfchenswerth war und daß Mr. Grofer eine folcdhe gegeben hat. Bu bie»
fer Aufgabe hatte er verfchiedene Befähigungen: feinen eigenen freiwilligen
Entſchluß, fie zu übernehmen; feine hohe Stellung in der Gefellihaft, die
ihm alle Archive erſchloß; nicht weniger vielleicht eine gewiſſe natürliche
ober erworbene anekdotiſch⸗ biographiſche Beiftesrichtung, wir meinen eins
Borliebe für die Fleineren Greignifle der Gefchichte und Talent zur Er⸗
forſchung derfelben.
Hierbei müffen wir auch ferner zugeben, daß ex fehr fleißig geweien
if; mit ber größten Ausdauer nah und fern Nachforſchungen angeftellt,
auch aus feinen eigenen reichen Vorräthen in umfafiender Weife geichäpft
zu haben fcheint, und auf diefe Welfe und dem Anſcheine nad ganz genau
Vieles erzähle, was ey nicht auf den Heerſtraßen gefunden, ſondern juchen
und audgraben mußte.
Zehlreiche Perſonen, größtentheils von vornehmem Stande, treten in
diefen Anmerkungen auf; wann und aud wo fie das Kicht der Welt erblick⸗
tem, angeftellt ober befördert, qgu8 dem Leben abgerufen und begraben wur⸗
Den — nur was fie außer ihrer Verdauung noch tbaten, bleibt oft zu
geheimnißvoll — iſt ziemlich treu angegeben. Alles, was ihre verfchlebenen
und ohne Zweifel weit umbergeftreuten Grabfleine uns hätten Ichren kön⸗
nen, wird uns bier mit einem Male in einem gebundenen Buche vorgelegt.
Auf dieſe Weife ift ein unzweifelhafter, obſchon Fleiner Steg über
unfern großen Feind, Die alles vernichtende Zeit, errungen und foll uns als
folder willkommen fein. |
Ja, wir müffen auch Hinzufügen, daß der Geiſt des Fleißes, welcher
in diefer Beziehung entwidelt worden, dem Herausgeber bis an's Ende
feines Werks treulich zur Seite zu flehen ſcheint. Er behält den Tert überall
fharf im Auge; bringt das Entfernte mit dem Gegenwärtigen in Einflang
ober deutet wenigftens die Unvereinbarfeit an und bebauert fie; er erläutert
und glättet und übt in jeder Beziehung nach feinen beflen Kräften eine
firenge redactionelle Aufficht. Jede Fleine Inteinifche, ober auch griedhifche
Phraſe ift, und zwar größtentbeild mit volllommener Genauigkeit, in’s
Englifche übertragen ; bie vorfommenden Citate find nad Befinden berich-
tigt worden.
Dabei ift uͤberdies nach allen Seiten bin ein gewiſſer Geift des An⸗
flandes aufrecht erhalten und durchgeführt; wir bemerken, wenn auch nicht
gute Moral, doch gute Sitten, und wenn auch nicht Religion und ein froms
mes dhriftliches Gerz, Doch Orthodoxie und einen faubern fhaufelhütigen
Bid, — was im Bergleih mit dem platten Nichts fchon etwas jehr Bes
deutendes ift.
Ein nicht zu verachtender Triumph dieſes letztern Geiſtes Tiegt auch
darin, daß, obſchon der Seraußgeber als ein entfchiedener Politifer und
Parteimann befannt ift, er doch forgfältig alle Verfuchungen zu Ueberſchrei⸗
tungen nad diefer Seite hin forgfältig niedergefämpft hat, und ausgenom⸗
men an ganz unwillfürlichen Andeutungen und gleichfam der vorberrichenden
Stimmung des Ganzen, könnte man nicht entdecken, unter welder poli«
tifchen Fahne er fleht und kämpft.
Dies ift, wie wir ſchon bemerkt haben, ein großer Triumph des
Anftandsprinzips und dafür wie für jene anderen Leiftungen gebührt dem
Heraußgeber alles Lob.
Damit jedoch erreicht das Lob unglüdlicherweife ſchon fein Ende.
Fleiß, Treue, Anftand find gut und unerläßlih und dennoch reihen fie ohne
Bahigfeit und ohne Licht nicht aus. Bugleich mit jener Leichenſteinbeleh⸗
rung, vielleicht fogar ohne einen großen Theil berfelben, hätten wir gern
89
auf eine oder Die andere Weife eine Antwort auf die wichtige Frage ver-
nommen: Was und wie war das englifhe Leben in Iohnfon’s Zeit;
worin ift das unfere im Kaufe der Zeit abgewichen? Mit andern Worten:
Welche Dinge haben wir zu vergeffen und welche und vorzuftellen und in's
Gedächtnig zurüdzurufen, ehe wir auß einer folden Entfernung und an
Johnſon's Stelle feßen und fo im vollen Sinne des Worts ihn, feine
Worte und feine Thaten verftehen können?
Dies war in der That ganz fpeziell die Aufgabe, welche ein Commen⸗
tator und Herausgeber zu Iöfen Hatte. ine vollftändige Löſung Dderfelben
wäre feine Pflicht geweſen; fein ganzes Denken hätte von vollflommener
Einfiht in dieſelbe durchdrungen fein follen. Sowohl im Wege ausdrüde
licher Abhandlung, als auch beiläufiger Auseinanderfegung und Andeutung
würden fi Gelegenheiten genug dargeboten haben, auf diefes Ziel hinzu⸗
arbeiten. Was in der Geftalt der Vergangenheit dunkel war, wäre dadurch
aufgeklärt worden; Boswell wäre nicht blos dem Scheine und den Worten
nad, fondern in der That und Wahrheit wieder neu und für uns, die wir
von ihm getrennt find, eben jo lejerlich gemacht worden, wie er für feine
Beitgenoffen war.
Bon allem diefen ift aber bier fehr wenig verfucht worden, während
die Ausführung ſich auf fehr wenig oder geradezu auf nichts rebucirt.
Ohne Zweifel wird e8 für diefe Unterlaffung nicht an Entſchuldigungen
fehlen, eben fo wenig wie für unzählige andere Verfäumniffe und Ungehö⸗
rigfeiten, wie wenn z. B. der Herausgeber forgfältig etwas erklärt, was ſchon
fonnenflar ift und dann wieder mit ziemlich naiver Offenheit zugiebt, daß er
dies und jenes nicht verſtehe oder begreife, während doch größtentheilß ber
Leſer nicht umhin kann, die fraglichen Stellen recht wohl zu verftehen und
zu begreifen.
Wenn daher z. B. Johnſon an einer Stelle fagt, daß engliſche Eigen⸗
namen in Tateinifchen Verfen nicht gebraucht werden follten und fi dann
in dem naͤchſten Satze tadelnd darüber ausfpricht, daß „Earteret “ als Dacty«
lus gebraudt worden, wird da wohl die Mehrzahl ber Sterblichen etwas
Unklares entdedlen? Oder wiederum, wo der arme Boswell ſchreibt: „Ich
entfinne mich fehr oft einer Bemerkung, welche eine in Frankreich erzogene
türkifche Dame gegen mich machte, indem fie fagte: ‚Ma foi, monsieur, notre
bonheur depend de la facon que notre sang eircule;“ — wo iſt da, ob⸗
fhon Die türkifche Dame hier engliſch⸗franzoͤſtſch ſpricht, die Nothwendigfeit
zu einer Anmerkung vorhanden, wie folgende: „Mr. Boswell glaubte ohne
Zweifel, diefe Worte hätten eine gewille Bedeutung, fonft würde ex fie
ſchwerlich citirt haben; worin aber biefe Bedeutung befteht, vermag ter
Herausgeber nicht zu errathen“? Der Herausgeber ift offenbar Fein Hexen⸗
meifter im NRätbfelrathen.
Für diefe und ähnlihe Mängel if die Entſchuldigung, wie wir fchon
oben fagten, zur Band; die Thatſache aber, daß fie eriftiren, ift nit
weniger gewiß und bedauerlich.
In der That if ed gleich von vornherein auf betrübende Weiſe erſicht⸗
fi, wie fehr e8 dem Herausgeber, der doch mit allen außeren Mitteln fo
wohl verfehen iſt, innerlich an den Mitteln fehlt, fich ſelbſt einen richtigen
Begriff von Johnſon und Johnſon's Leben zu machen und deshalb mit gro⸗
Ber Hoffnung auf etwad Erbauliches über diefen Gegenfland zu ſprechen.
Biel zu leichtfinnig iſt gleich von Haus aus für auſsgemacht angenom⸗
men, daß der Hunger, die große Bafld unſeres Lebens, auch defien Gipfel⸗
punft und legte Vollkommenheit fei; daß fo wie „Dürftigfeit, Habgier
und Ehrgeiz * die Gaupteigenfchaften der meiften Menſchen find, fo auch kein
Menſch, nicht einmal ein Johnſon, nach irgend einem andern Prinzip han⸗
delt oder auch nur denkt zu handeln. Alles, wad daher nicht auf die beiden
erften Kategorien (Armuth und Habgier) zurüdgeführt werben kann, wird
ohne weitere Yimflände unter die lettere rangirt.
Dies if der eigentliche Punkt, wo unfer Herausgeber laͤſtig und für
ſchwaͤchere Leſer ſogar anftößig wird. „Was kann es nügen,” werben Diefe
ausrufen, „wenn wir noch einen ſchwachen Schatten von Glauben hatten,
daß der Menſch etwas Beſſeres fei, ald eine egoiftiiche Verdauungsmafchine,
was kann e8 dann nügen, bei jeder Gelegenheit zu erflären, wie died und
das, was und an dem alten Samuel edel erfchienen, im Grunde genommen,
gemein und niedrig fei, Daß es auch für ihn nichts Wirkliches gegeben, als
den Magen, und dab mit Ausnahme von Pudding und der feineren Art
Pudding, welde man Lob nennt, das Leben feinen Nahrungsftoff für ihn
batte? Warum zum Beifpiel, wenn wir willen, daß Johnſon jein Weib
liebte und ausdrücklich fagt, daß ihre Verbeirathung von beiden Seiten
eine Kiebeöheirath geweien, — warum, fragen wir, öffnen fi dann zwei
geichloffene Lippen, um und weiter nicht8 zu fagen, als: „If es nicht mög«
li, daß der offenbare Vortbeil, eine erfahrene Frau zu befigen, welche ein
Inftitut diefer Art (feine Schule) beaufſtchtigen konnte, viel zum Abſchluß
9 “
einer Seirath beigetragen haben mag, die in Bezug auf die Lebensjahre eine
fo ungleiche war. — Ed.“? — Oder wenn in dem Terte der ehrliche Cyniker
ungenirt von feiner früheren Armuth fpricht und es befannt iſt, daß er ein⸗
mal längere Zeit von fünfthalb PBence täglich Iehte, — braucht dann wohl
ein Kommentator vorzutreten, um die Bemerkung zu madhen: „Wenn wir
finden, daß Dr. Johnſon unangenehme Wahrheiten zu oder von andern Leu-
ten jagt, fo dürfen wir nicht vergeflen, baß er ſich auch felbft nicht geichont
zu haben fcheint und zwar bei @elegenheiten, wo ed ihm zu verzeihen geweſen
wäre, wenn er ed gethan hätte?’ — „Mit einem Worte,” fährt der erbit⸗
terte Leſer fort, „warum fliehen Noten dieſer Art gleihfam mir zum Trotze
Da, wo g8 eigentlich gar Feiner Note bedurft hätte?”
Lieber Lefer, antworten wir, ergürne Dich nicht. Was fonnte ein ehr⸗
ficher Eommentator weiter thun, als Dir das Befle geben, was er hatte?
So war das Bild und Theorem, welches er fidh von der Welt und von dem
menfhlihen Thun in derfelben gemacht; nimm ed bin und ziehe weife
Schlüffe daraus. Wenn ed wirklich einen Anführer der öffentlichen Mei⸗
nung und Borfämpfer der Orthoborte in der Kirche eined Jeſus von Naza⸗
reth gegeben, welcher der Meinung war, ber Ruhm des Menfchen beftehe
darin, nicht arm zu fein und dab ein Weifer und Prophet feiner Zeit
notbwendig erröthen muß, weil die Welt ihm nicht mehr bezahlt als fünft«
balb Bence per diem, — war nicht die Thatſache einer foldhen Eriftenz des
Wiſſens und des Beachtens werth?
Bon weit milderer Färbung und doch für und praktiſch von ganz ent⸗
flellender und für das gegenwärtige Unternehmen Höchft nachtheiliger Art,
ift ein zweiter großer Hauptfehler, der legte, deflen Darlegung wir bier
für unfere. Pflicht Halten,
Dieſer Fehler beſteht darin, daß unfer Herausgeber auf verberbliche
und faft überrafchende Welle die Grenzen der Bunction eines Herausgebers
verkannt bat und fo, anftatt mit feiner Feder am Rande zu arbeiten und
nach beften Kräften zu erläutern, kühn mit feiner Scheere mitten in das
Blatt bineinfährt und nah Gutdünken darin herumfchneider! Bier Bücher
hatte Mr. C. von ihm, aus welchen er Licht für das fünfte fchöpfen Eonnte,
welches von Boswell herrührte. Aber was macht er? Er ichneibet ganz
ungenirt fämmtliche fünf Bande in Stüde und nähet fle ganz nad feiner
Bequemlichkeit in ein sextum quid zuſammen und giebt Boswell für den
Berfafier des Ganzen aus.
92
Aber durch welche Zauberei, werden unfere Lefer fragen, bat er Died
bewirkt? Wir antworten: Auf die einfachfle Weife von der Welt, namlich
durch Klammern. Noch nie zuvor hat die Klammer in dieſem Maße gezeigt,
was fie vermag. Man beginnt einen Sag unter Boswell’d Leitung und
glaubt von derſelben gluͤcklich hindurdgeführt zu werden. ber damit iſt
ed nichts, denn in der Mitte, vielleicht nad) einem Semifolon und einem
darauffolgenden „denn“ taucht eine jener Klammerverbindungen empor unb
zwingt den Xefer, ſtatt einer halben Seite, zwanzig ober dreißig Seiten eines
Hawkins, Tyers, Murphy oder Piozzi durchzumachen, fo daß man oft bie
alte wehmüthige Betrachtung anftellen muß: Wo wir find, das wiflen wir ;
aber wohin wir gerathen, das weiß fein Menſch!
Eben fo fagt man auch fehr wahr: „BZwifchen dem Becher und der
Lippe liegt noch Vieles;“ Hier aber ift die Sache noch trauriger, denn erft
nach reiflicher Erwägung kann man, wenn der Becher ſchon an ter Lippe
fteht, ermitteln, was für eine Flüffigfeit es iſt, die man einſchluckt — ob
Boswell's franzöfticher Wein, mit welchem man begann, oder Piozzi's Ing⸗
werbier oder Hawkins' Doppelbier oder vielleicht irgend eines andern großen
Brauerd Kofent oder fogar Effig, der auf verflohlene Weife untergefhoben
worden. ine originelle Situation, die man nicht gern zum zweiten Male
verfucht! Welchen Begriff Mr. Erofer von einem Titerarifhen Ganzen
und dem Dinge hat, welded man ein Bud nennt und wie e8 kam, daß
nicht fogar der Preßbengel ſich gegen ein ſolches Sammeljurium empörte
und fich weigerte, ed zu Druden, — das iſt und unerflärlich.
Doch nun haben wir gefagt, was wir jagen wollten. Alle Fehler find,
wie die Morallehrer uns fagen, eigentlih blos Unzulänglidhfeiten;
fogar Verbrechen find weiter nichts als ein Nichtgenugthun, ein
Kampf, aber mit unzulängliher Kraft. Wie weit mehr muß daher bei
bloßer Handarbeit und zwar nad reblicher Auftrengung eine ſolche Unzu⸗
länglichkeit entfchultigt werden! Mr. Croker fagt: „Das Schlimmfle, was
gefchehen kann, ift, daß Alles, was ter gegenwärtige Seraudgeber beigetra=
gen bat, wenn es dem LXefer beliebt, als etwas Ueberfluͤſſtges betrachtet
werde. Es iſt unfere angenehme Pflicht, das, was er gegeben hat, herzlich
willkommen zu heißen und uns felbft für das zu bedanken, was er zu geben
gedachte. Zunaͤchſt aber und ſchließlich iſt e8 unfere ſchmerzliche Pflicht, da
nöthig, laut zu erklären, daß fein Geſchenk, wenn man es gegen das fchwere
Geld wiegt, welches bie Buchhändler dafür verlangen, nach unferer Anftcht
93
viel zu leicht iſt. Es iſt demgemäß Fein Theil unferes Fleinen ſchwebenden
Kapitals in diefem Gefchäft angelegt worden und foll e8 auch nie werden,
und wollten wir auch wirkli Geld für fo etwas auögeben, jo giebt e8 doch
einfach Feine Ausgabe von Boswell, welder dieſe Tegtere vorzuziehen
wäre. Und nun genug und mehr als genug!
Zunächſt nun haben wir ein Wort über James Boswell zu ſprechen.
Boswell ift fchon vielfady commentirt worden, mehr aber in tadelnder, ale
in wahrhaft anerfennender Welfe. Er war ein Mann, ber ſich den Augen
der Welt fehr Häufig vorführte. Cr bekannte felbft, daß er frühzeitig nach
Ruhm, oder wenn ihm dies nicht möglich war, wenigftend Aufſehen zu er-
regen trachtete, welches Iegtere ihn in größerem Maße gelang, als er eigent«
lich zu verdienen ſchien. Das Publikum ward nicht blos durch feine natür-
liche Liebe zu Skandal, fondern auch durch einen fpeziellen Grund des Neides
angeregt, ihm fo viel Uebles nachzuſagen, als ihm nur immer nachgeſagt
werden fonnte. Bon den fünfzehn Millionen, welche Damals Iebten und auf
den britifchen Infeln Koft und Schlafftelle Hatten, hat und diefer Mann ein
größeres Bergnügen verfhafft, als irgend ein anderes Individuum, auf
befien Koſten wir uns jetzt beluftigen. Vielleicht hat er uns aud einen
Dienft geleiftet, wie außer ihm Höchftens nur Zwei oder Drei. Und den⸗
noch — fo undankbar find wir — exiſtirt nirgend8 eine gefchriebene ober
geiprohene Lobrede auf James Boswell; fein Lohn an materiellem Pud⸗
ding — in fo weit fein Honorar in Brage kam — war nicht fehr reichlich,
und was leeres Lob betrifft, to ift ed ihm gänzlich verfagt worden. Die
Menſchen find thörichter ald Kinder, denn fe fennen nicht die Hand, welde
fie füttert.
Boswell war ein Mann, defien niedrige oder jchlechte Eigenſchaften
dem Auge der Welt offenkundig und auch dem blödeften Blicke fidhtbar
waren. Seine guten Eigenfchaften dagegen gehörten nicht der Zeit an, in
welcher er lebte. Sie waren damald weit entfernt, gewöhnlich zu fein und
batten in einem ſolchen Grade faft nicht ihres Gleichen. Daher wurden fie
auch nicht Fo leicht erfannt und es fonnte fogar — fo felten waren fie ges
worden — geichehen, daß man fie mit den Laftern vermengte, an welche fie
angrenzten und woraus fle entfprungen waren. Daß er ein Weinfäufer war
und gefräßig nach Allem hafchte, was ihm einigen Genuß bereitete, wäre es
auch 6108 für den Magen gewefen, das läßt fich faft nicht Teugnen. Daß er
eitel, Teichtfinnig und ein Schwäger war, bald den Schmaroper, bald den
92
Prahler, bald den Gecken fpielte; daß er fehr flolz that, wenn ber Schneider
durch einen Galaanzug einen neuen Menſchen aus ihm gemacht hatte; daß
er bei dem Shakipeare-Iubiläum mit einem Band, auf welchem die Worte
„Sorfita Bosmwell* Randen, um den Hut erfhien, und mit einem
Worte Eeinen Tag feines Lebens verbrachte, ohne mehr zu jagen und zu
thun, als eine einzige pratentiöje Albernheit — alles dies ift unglüdlicher«
weife fo Elar, wie die Sonne am Simmel.
. Sogar aus der Phyfiognomie Boswell’s fcheint ſich dies fchließen zu
laſſen. Diefe aufgeftülpte Nafe, welche fo geftaltet zu fein ſcheint, theilb
um über feine ſchwächeren Mitmenichen zu triumphiren,, theild um den Ge—
ruch des Eommenden Bergnügens einzufaugen und ihn von weitem zu wit
tern; dieſe wie halbgefüllte Weinjchläuche herabhängenden Baden, vieler
hervorragende Mund, diefe fette wammige Uinterfehle — wer ſieht nicht in
allem diefen Sinnlichkeit, Anmaßung und dreifte Dummheit! Der untere
Theil von Boswell's Geſicht Hat mit einem Worte einen niedrigen, faft
thieriſchen Charafter.
Unglüdliherweife ift dagegen das Große und wahrhaft Bute, was in
ihm Tag, keineswegs fo von felbft erfichtlih. Daß Boswell geiftigen Nota⸗
bilitäten nachjagte, daß er fie liebte und fogar kroch und rutichte, um nur
in ihre Nähe zu fommen; daß er erſt — um bie Worte des alten Touchwood
Auchinleck zu gebraudien — „fih mit Baoli einließ und dann, nachdem er ſich
mit dem corſikaniſchen Lantftreicher verunreintgt, fi zu einem Schulmeifter
gefellte, der eine Schule hielt und es eine Akademie nannte”, daß er alles
Dies that und nicht umhin fonnte, e8 zu thun, das rechnen wir ihm zu einem
ganz befonderen Verdienft an. Er hatte ein für allemal einen „offenen
Sinn*, ein offene liebendes Herz, welches ſo Wenige haben; wenn eine
geiftige Größe fich zeigte, fo fühlte er fich gedrungen, fie anzuerfennen ; er
fühlte fi zu ihr Hingezogen und Eonnte — mochte der alte Schwefelbrand
von einem Laird fagen, was er wollte — nicht anders als mit ihr gehen, —
wenn nicht als Herr oder auf gleichem Buße, dann als Untergeordneter und
Lakai; auf jeden Fall beſſer fo als gar nicht.
Wenn wir nun bedenfen, daß dieſe Liebe zu geiftiger Größe nicht blos
über eine üble Natur triumphiren mußte, fondern aud welch eine Er⸗
ziehung und geiellige Stellung ihr widerſtand und fie niederdrüdkte, fo
fann die angeborene Kraft, welche alles dies überwand, ung mit Recht in
Eritaunen fegen. Man bedenfe, welch ein innerer Impuls vorhanden gewefen
08
fein muß, wie viele Hindernde Berge auf die Seite gefchafft werben mußten,
ehe der fchottifche Laird als befcheidener Diener die Knie — die Bruft war
ihm nicht erlaubt — des englifchen Dominie umfaflen durfte. „Der ſchot⸗
tiſche Lord," fagt ein englifcher Schriftfteller jener Zeit, „Tann als ber
hungrigſte und eitelfte aller befannten Zweifüßler befinirt werden.” Auch
Boswell war ein Tory von ganz eigenthümlich feudaler, genealogifcher und
pragmatifcher Gefinnung. Er war in einer Atmofphäre der Heraldik, zu
den Füßen eines leibhaften Gamaltel in dieſer Hinftcht erzogen, innerhalb
nadter, nur mit Stammbäumen geſchmückter Mauern, unter Dienern in
fadenſcheinigen Livreen, jo daß alles von feiner Geburt an ihn lehrte einge-
denf fein, daß ein Laird ein Laird fei.
Vielleicht Tag eine fpezielle Eitelkeit fchon in feinem Blute. Der alte
Auchinleck beſaß, wenn auch nicht die prunfende, ſchweifſpreizende Pfauen-
eitelfeit feined Sohn, nicht wenig von der langſam einherfchreitenden, zank⸗
füchtigen, zifchenden Eitelkeit des Bänferih8 — eine noch weit verderblichere
Gattung. Schottiſche Advocaten erzählen jet noch, wie der alte Mann,
nachdem er zufällig nach Abſchaffung der erblichen Gerichtsbarkeit zum erften
Föniglichen Sheriff ernannt worden, gewohnt war, in eintönig jchnüffeln«
dem aufgeblähetem Tone feinen Urtheilsfprud von der Richterbank aus mit
den Worten einzuleiten: „Ih, der erfle königliche Sheriff in Schottland. *
Und nun ſehe man den würdigen Boswell, fo voreingenommen und
von Natur und Kunſt zurückgehalten, nichtödeftoweniger wie Eiſen feinem
Magnete entgegenfliegen, wohin fein befierer Genius ihn rief! Man kann
das Eifen und den Magnet umgeben, mit welchen Einhegungen und Eim-
büllungen man will — mit Holz, mit Kehricht, mit Meffing ; es hilft alles
nicht, die beiden fühlen einander, fie fireben einander raſtlos zu, fie wollen
beifammen fein. Das Eifen mag ein fchottifcher, bünfelhafter, aufgeblajener,
fleiner Squire und der Magnet ein englifcher Plebejer und ſich bewegender
flolzer, zornmütbiger, gebieteriicher Lumpen⸗ und Staubberg fein, fo werden
fle nichtsdeſtoweniger fih umarmen und unauflöslich aneinander haften!
Es ift eine der ſeltſamſten Erfcheinungen des vergangenen Jahrhun⸗
derts, Daß zu einer Zeit, wo das alte ehrfurdtävolle Gefühl der Jünger⸗
haft — fo wie e8 früher Menſchen mit reichen Gaben und bemüthiger
Seele aus fernen Ländern zu den Füßen der Propheten führte — aus der
praktiihen Erfahrung der Menfchen faft ganz hinweggefchwunden war und
man ſchon glaubte, ed fei nicht mehr vorhanden, obfchon ed dauernd und
9%
ungerftörbar im innerften Herzen bes, Menfchen wohnt, — James Boswell
von allen andern Menfchen derjenige war, weldyer dieſes Gefühl in fo fon«
derbarer Geftalt der verwunderten und lange Zeit lachenden und ſpottenden
Welt wieder vor Augen führte.
Man hat gewöhnlich geſagt: die gemeine Eitelkeit dieſes Menfchen war
der einzige Grund, der ihn an Johnſon feflelte; er wollte gern in feiner
Nähe gejeben werden, er wollte fi den Anfchein geben, als flünde er mit ihm
in Verbindung. Nun wollen wir zugeben, daß feine aus gemeiner Eitelfeit
entfpringende Rüdficht Iames Boswell bei dieſem feinem Verkehr mit John⸗
fon oder überhaupt bei irgend einer wichtigen Handlung feined Lebens fremd
fein konnte. Gleichzeitig aber frage man ſich, ob eine ſolche Eitelkeit und
nichts weiter ihn hierbei befeelte; ob die das wahre Wefen und bewegende
Prinzip der Erſcheinung und nicht vielmehr ihr äußeres Gewand und die
zufällige Umgebung (und Entftellung) war, in welder fie an’d Licht trat?
Der Mann war von Natur und Gewohnheit eitel, ein Schmaroger und Gech,
das räumen wir ein; aber wenn auch nichts weiter als Eitelkeit in ihm ge⸗
ſteckt hätte, wäre dann wohl Samuel Johnſon von allen Menſchen der gewe⸗
fen, an den er ſich hätte anjchließen müſſen?
Gab es zu ber Zeit, wo Iohnfon noch ein armer, in einem fchäbigen
Mode einhergebender, in Temple Lane mwohnender Gelehrter war, fo wie
überhaupt während ihres ganzen fpäteren Verkehrs, nicht genug Kanzler und
Premierminifter, liebenswürdige feine Modeberren,, ehrenfpendende Edel⸗
leute, Mahlzeiten fpendende reiche Leute, berühmte Feuerfreſſer, Bechter und
Gharlatane von allen Farben, von welchen jeder in den Augen der Welt
weit größer daftand, ale es mit Iohnfon jemals ter Fall war? Bei irgend
einem diefer Subjecte hätte unfer Bozzy fi) durch die Hälfte jener Unter
würfigfeiten und Ausdauer empfehlen, den Neid anderer Speichelledfer mit
anſehen, bald einen reellen Gewinn einfteden, bald gutgefochte Speijen und
Weine verfehlingen und auf jeden Ball auch im ſchimmernden Reflex des
Ruhmes glänzen können, fo daß er der Beobachtete unzähliger Beobachter
geworden wäre.
Aber an feinen derſelben, wie emſig er auch ſich jonft zeigte, ſchloß er
fih jo innig an. Dergleichen gemeine Höflingsdienſte waren feine bezahlte
Pladarbeit oder Erholung für feine Mußeflunden ; die Verehrung Johns
ſon's dagegen war fein großes ideales und freiwilliged Geſchäft. Der Falt«
berzige und doch enthuflaftiihe Mann fegt fih, feine Advocatenperrüde
97
herunterteißend, regelmäßig auf die Poft und eilt hauptſächlich um feines
Beifen willen nad London wie zu einem Lauberhüttenfeft, vem Sabbath
feine® ganzen Jahres. Der Tellerlecker und Weinfäufer verſenkt fich in
Bolt Court, um trüben Kaffee mit einem cyniſchen alten Mann und einer
mürrifhen,, blinden alten Frau zu ſchlürfen, welche mit dem Singer in die
Zaflen Himeinfühlt, um fih zu Überzeugen, ob fie voll find. Geduldig er-
trägt er Widerfprüche ohne Ende und fhägte fih ſchon glüdlih, wenn ihm
erlaubt ward, zuzuhören und zu leben.
Ja, es bat fogar nicht einmal den Anſchein, als ob der gemeinen
Eitelkeit durch Boswell's Verhältniß jemals fehr hätte gefchmeichelt werben
fönnen. Dr. Erofer fagt, Johnſon fei bis zulegt von der großen Welt,
von welcher Doch für eine gemeine Eitelkeit alle Ehre wie von ihrer Duelle
ausgeht, wenig geachtet worden. ‚Bozzy“' ſcheint felbft unter Johnſon's
Sreunten und fpeziellen Bewunderern mehr verlacht ale beneidet worden zu -
fein. Sein zudringliches Weſen, die täglichen Zurechtweilungen, die er
erfuhr, konnten der Welt feine goldenen, fondern nur bleierne Meinungen
abgewinnen. Sein eifriged Jüngerthum ſchien in dem Auge der Welt mei-
ter nichtẽ zu fein, als ein niedriges Pudelthum. Sein gewaltiged Geftirn
oter die Sonne, um weldye er ald Trabant fich drebete, war für die große
Maſſe der Menſchen blos ein ungeheures ſchlechtgeputztes Talgliht und er
eine ſchwache Nachtmotte, die thoricht ed umfreifte, ohne zu wiffen, was fie
wolite.
Obne Zweifel ward er wegen ſeines Johnſonismus ausgelacht und
hörte oft jelbft, daß er ausgeladt ward. Beneidet zu werden, ift das große
“amd alleinige Ziel gemeiner Eitelkeit; gut bewirthet zu werden, dad ber
Sinnlichkeit; um Iohnjon aber beneidete den armen Bozzy vielleicht
fein Menſch auf der ganzen Welt und von guter Bewirtfung — wenn er
fie nicht felbft bezahlte — war bei diefer Befanntfchaft Feine Epur. Wäre
weiter nichts oder nichts Beſſeres ala Eitelkeit und Sinnlichkeit im Spiele
geweien,, fo wäre Johnſon und Boswell niemals zuſammengekommen, oder
fie hätten fich wenigftens bald und auf immer wieder getrennt.
In der That macht und die fo reichliche irdifche Spreu, welche chaotiſch
die äußere Sphäre des Charakters dieſes Mannes bildet, den himmliſchen
Funken von Güte, von Licht und Ehrfurcht vor der Weisheit, welde in
feinem Innern wohnte und ſolche Hinderniffe überwinden konnte, nur um
fo merfiwürbiger und rührender. Im der Liebe Boswell’8 zu Johnſon Liegt
Carlyle. Il. 7
noch Vieles unentwidelt und if ein erheiternder Beweis in einer Zeit,
welde außerdem folche Beweiſe gänzlid, entbehrte und noch entbehrt, daß
lebendige Weisheit dem Menjchen unendlich Eoftbar, daß fle das Symbol des
Goͤttlichen für ihn if, was auch von ſchwachen Augen erkannt werben kann;
dag Loyalität, daß Jüngerthum und Alles, was man je unter Heroen⸗Ver⸗
ebrung verftanden bat, dauernd in der menſchlichen Bruft lebt und felbft in
diejen jegigen todten Tagen nur auf die Gelegenheit wartet, fi zu entfal
ten, alle Menſchen damit zu begeiftern und die Welt wieder lebendig zu
machen!
James Boswell können wir als einen praktiſchen Zeugen oder wirk⸗
lichen Märtyrer dieſer hohen ewigen Wahrheit betrachten. Gin wunderbarer
Märtyrer, wenn man will, und zwar zu einer Zeit, welche ein ſolches Mär⸗
tyrerthum doppelt wunderbar machte; und dennoch paßten die Zeit und ihr
Märtyrer vielleicht ganz gut zuſammen.
Ein Hinfälliges todtkrankes Zeitalter, wo die Gaunerſprache der Phi«
Iofophie zuerft entichieden ihre gifthauchenden Xippen geöffnet hatte, um zu
verfünden, daß Gottesvercehrung und Mammonverebrung eins und dafſelbe
feien , Daß das Leben eine Lüge und bie Erde das Erbtheil des größten
Charlatans jei; wo Alle feinem Verderben und feiner Fäulniß mit immer
fhnelleren Schritten entgegenging — ein ſolches Zeitalter verdiente vielleicht
feinen beflern Propheten, ald einen foldyen Parteimenſchen, der fih und
Anderen feine propbetiiche Bedeutfamfeit in einem fo unerwarteten Gewande
verbarg. Eine Foftbare Medizin lag in einer Fluth des gröbften zuſammen⸗
gefegteften Zuderfafted verborgen. Die Welt verfchlang den Zuderfaft, denn
er fagte ihrem Gaumen zu und jegt, nach einem balben Jahrhundert, kann
die Medizin ebenfall® anfangen, ſich zu zeigen.
James Boswell gehörte feinen verwerflihen Eigenſchaften nad) zu den
niedrigften Klafen der Menfchheit. Er war ein thörichtes aufgeblähetes
Geihöpf, weldhes in einem Meer von Einbildung und Dünfelbaftigfeit
ſchwamm. In dieſem Verwerflihen aber wohnte auch etwas Unverwerfliches,
welches um ber ſonderbaren Wohnung willen, bie es gewählt, um fo ein⸗
dringlicher und unzweifelhafter ift.
Hiernächſt betrachte man, mit welchem Fleiße, welcher Kraft und wel⸗
her Lebhaftigfeit er alled Das zurückgegeben hat, was in Johnſon's Nähe
jein offener Sinn fo begierig und treu aufgefaßt hatte. Diefes fein leicht
dahinfließendes, fo nachlaͤſſig ausfehendes Werk ift gleichlam ein Gemälde
99
ven einem von der Natur außerfehenen Künſtler, die befimdgliche Nachbil-
dung einer Wirklichkeit, gleichfam das Ebenbild davon in einem klaren
Spiegel.
Und das war es auch. Man jorge nur dafür, daß der Spiegel Hell
fei, dies ift die Hauptſache; das Bild wird und muß Acht fein. Iſt es nicht
wunderbar, wie der ſchwatzende Bozzy, nur von Liebe und der Anerfennung
und Bifton, welche Liebe leihen kann, begeiftert, allnächtlich die Worte der
Weisheit, Die Thaten und äußern Erſcheinungen der Weisheit niederſchreibt
und fo allmälig und fid, ſelbſt unbewußt für und eine ganze Sohnfoniade
aufbaut, ein freieres, volllommneres, helkered und fprechenderes Bildniß,
als fett vielen Jahrhunderten ein Menſch von dem andern gezeichnet hat!
Kaum ift feit den Tagen Homer's ein ähnliches Werk vollbracht wor⸗
ben und in der That iſt e8 auch in vielen Beziehungen gewiffermaßen ein
Heldengedicht. Die unferem unberoifchen Beitalter angemeſſene Odyſſee
mußte geſchrieben, nicht gejungen werden; von einem Denker, aber nicht
von einem Kämpfer und (in Ermangelung eined Homer) burd die erfle
offene Seele, die fich barbieten würde, jelbft wenn fie durch bie Organe
eined Boswell fchauete.
Wir thun der geiftigen Begabung des Mannes fehr unrecht, wenn wir
fie nach ihrer blos Iogifchen Aeußerung bemeflen ; obfchon es auch hier nicht
an einer gewiflen phantaflereihen Offenheit und Laune fehlt, während ſich
zugleich bier und da der Schimmer einer Einficht von mehr als gewöhnlicher
Ziefe zeigt. Dad größte intellectuelle Talent Boswell’8 aber war, wie dies
immer der Ball ift, ein unbewußtes von weit höherer Tragweite und
Bedeutung ald Logik und zeigte fih im Ganzen, nicht in Theilen. Wir
haben auch hier wieder eine Beftätigung jened alten Ausfpruches: „Das
Herz fieht weiter ald der Kopf. *
So zeigt fi} der arme Bozzy uns als ein ſchlecht zufammenpafiendes
grelles Gemiſch des Höchſten und bes Niedrigfien. Was ift aud in der
That das menfhliche Leben gewöhnlich weiter, als eine Urt Thiergottheit,
wobei der Gott in und immer mehr und mehr über das Thier triumphirt
und fi mehr und mehr bemüht, es zu feinen Büßen niederzumerfen? Stell«
ten nicht Die Alten in ihrer weifen, ewig bedeutſamen Manier die Natur
ſelbſt, ihr geheiligtes All oder Ban, als eine Mifhung dieſer beiden
Widerſprüche dar, als muflfalifh und menſchlich in feinem obern Theile,
aber unten in den gefpaltenen behaarten Füßen eines Bockes endend? Es
7 *2
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war die Berbindung des melodiſchen, himmliſchen, freien Willens und ber
Vernunſt mit niedriger Unvernunft und Fleiſchesluſt, worin trogdem eime
geheimnißvolle unausſprechliche Furcht und halb toller panifher Schreien
wohnte, wie dies für Sterbliche nicht anders jein konnte!
Und ift nicht der Menſch ein Witrofesmus oder unendlich kleiner
Spiegel dieſes ſelben Weltalls, oder ift nicht vielmehr dieſes Weltall Er
ſelbſt, das Spiegelbild feine® eigenen und wunterbaren Seins, „bie wüſte
Bhantafte feines eigenen Traum?“
Kein Wunder daher, daß der Menſch, daß jeder Menſch, und James
Doswell wie die andern, ihm gleicht! Die Eigenthümlichkeit in feinem Falle
war bloß ber ungewöhnliche Mangel an Amalgamation und Unterordnung.
Das Höchſte lag dicht neben dem Niedrigften, nicht moraliſch damit verbun⸗
ben und es geiftig verflärend, fondern in unregelmäßiger, halb mechaniſcher
Gombination und von Zeit zu Zeit, wie nun der tolle Wechſel traf, es bald
beſtrahlend, bald dadurch verdunfelt.
Die Welt it, wie wir fchon gefagt haben, nur ungerecht gegen ihn
gewefen ; fie fiebt im ihm nur bie äußere irdiſche und oft ſchmuzige Maffe,
ohne, wie died gewöhnlich gefchiebt, ein Auge für fein inneres göttliches
Geheimniß zu haben und ſtellt fih ihn Daher Erinedwegs als einen guten
Ban vor, fontern einfach als der Thiergattung angehörig, gleich den Heer⸗
den, die auf taufend Bergen weiden. Ja, zuweilen Hat man fogar eine
ztemlöch ſeltſame Hypotheſe über ihn aufgeſtellt, als ob er fein gutes Werk
Traft eben diefer jelben ſchlechten Bigenfchaften zu Stande gebracht hätte,
als ob er eben durch den Umſtand, daß er fih unter den ſchlechteſten Men⸗
ſchen in dieſer Welt Hefunden, befähigt worden wäre, eins der beſten Bücher
darin zu fehreiben !
Eine unrichtigere Hypotheſe — wir wagen ed zu ſagen — iſt wohl
niemals in einer menſchlichen Seele entflandn. Schlecht ift feiner Natur
nach negatfv und kann nichts thun; Alles, was uns befähigt, irgend
etwas zu thun, iſt eben feiner Ratur nah gut. Ach, daß ed nod) Lehrer
und fogar Schüler in Israel giebt, denen dieſe Thatfache, die doch fo alt
als die Welt, noch zweifelhaft oder fogar Icugbar ift!
Boswell jchrieb ein guted Buch, weil er Herz und Auge befaß, um die
Weisheit zu erfennen und eine Sprache, um fie wiederzugeben; er ſchrieb
es in Folge feiner freien Einftcht, feines lebendigen Talentes und vor allen
Dingen in Folge feiner Liebe und kindlichen Offenherzigkeit. Seine krie⸗
101
enden Schmarsgereien, feine Habgier und Voreiligkeit, Alles, was beftia«
liſch und irdiſch in ihm war, find eben fo viele lecken in feinem Buche,
welche Die Klarheit deſſelben trirben. Gegen Johnſon jedoch war fein Gefühl
nicht Schmaroferei, weldye das niedrigfte, fondern Hochachtung, welche das
höchſte aller menſchlichen Gefühle iſt. Nur ein von wahrer Achtung erfüllter
Menſch — was jo unausſprechlich wenige find — konnte den Weg vom
Boswell's Ungebung zu Johnſon's Mähe finden. Was uns beirifft, fo
wollen wir an dieſem bletzten Glaubendartikel feſthalten und ihn ald den
Anfang aller Erfenntniß, die diefen Namen verdient, betrachten: Daß weder
James Boswell's gutes Buch, noch irgend etwas andered Gutes zu irgend
einer Zeit oder an irgend einem Orte von irgend einem Menichen Fraft
feiner Schlechtigkeit, fondern fletd und einzig und allein trop derfelben zu
Stante gebracht worden iſt oder zu Stande gebracht werben Eonnte.
Was das Buch felbft betrifft, fo ift ohne Zweifel Die allgemeine Gunſt,
Die es gefunden, eine wohlverdiente. Hinfichtlich feines Werthes als Bud
ftellen wir e8 über jedes andere Titerariiche Produft des achtzehnten Jahr⸗
hunderts. Alle Schriften von Johnſon ſelbſt ſtehen trog aller ihrer Vorzüge
auf einer weit niedrigeren Stufe ; fchon fangen fie für die gegenwärtige Ges
neration an zu veralten und fir eine Fünftige Generation wird ihr Werth
bauptiädhlich darin beftehen, daß fie ald Prolegomena und erläuternde Scho⸗
lien für diefe Johnſoniade Boswell's dienen.
Bier von uns entiänne fich nicht als eineß der Lichtpunkte seines Das
feind des Tages, wo er diefe Bände auflchlug, die ihn durch einen wahrhaft
natürlichen Zauber feflelten! &8 war, ald ob der Vorhang der Vergangene
heit auf die Seite gezogen würde und wir fehauten geheimnißvoll in ein
befreundete® Land, wo unfere Bäter wohnten; in ein Land, welches uns
unausſprechlich theuer war, welches aber auf ewig unfern Augen verborgen
zu fein geidienen. Denn die jchweigende Nacht hatte es verichlungen ; alle®
war dahin, verſchwunden, ald ob es nicht geweien wäre. Und dennoch lag
ed, uns auf wunderbare Weife zuriidgegeben, wieter vor und — hell, klar
und blühend, eine Eleine Injel der Schöpfung mitten in dem jle umgeben»
den Ride.
Und da liegt fie noch wie etwas Wleibentes und Unvergängliches,
worüber die wechſelvolle Zeit ih umſonſt aufhäuft und ihm num nicht mehr
weder ſchaden noch es verhüllen Tann.
Wenn wir unterfuchen, durch welcdyen Zauber die Menſchen noch jegt
102
an diefe Lebensgefchichte Johnſon's gefeflelt werben, während ſchon fo vieles
Andere vergeffen ift, fo liegt der Haupttheil der Antwort vielleicht in jener
Theorie über die Wichtigkeit des Wirklichen, die wir unlängft ber Welt
vorgelegt baden. Die Johnſoniade Boswell's dreht fi uin Gegenftände,
die in der That exiſtirten; ſie ift bush und durh wahr. Wie verichieden
auch hinfichtlich des Wohlflanges, der Form, wetteifert fle doch in biefem
einen Punkte mit der Odyſſee oder übertrifft diefelbe fogar, denn uns find
dieſe gelefenen Seiten wie jene gefungenen Hexameter den erften grie-
chiſchen Hörern waren, im vollſten und umfaflendften Sinne vollftändig
glaubhaft.
Aller Wig und alle Weisheit, welche in Boswell's Buche Liegen und
fo reichlich fie auch vorhanden find, hätten es nicht retten fünnen. Weit
mehr wiflenfhhaftlihe Belehrung — bloße Aufregung und Aufflärung
der Denkkraft — laflen fih in zwanzig andern Werfen jener Zeit auf⸗
finden, Die nur einen ganz untergeorbneten Eindrud auf und maden. “Die
andern Werke jener Zeit jedoch fallen unter eine von zwei Klafien. Ent⸗
weder find fle ihrer eigenen Crflärung gemäß didaktiſch und in diefer Weiſe
bloße Abftractionen und philofophiiche Zeichnungen, die und faum auf
andere Weile intereiftren können, als, Encliv’3 Elemente* es thun; ober
aber fie find bei all ihrer ZXebbaftigfeit und ihrem malerifchen Farbenreich⸗
tbum, Erdichtungen und nicht Wirflidfeiten. Gewaltig in
ber That ift Die Kraft der Erwägung: Die bier torgetragene Sache if ein
Bactum dieſe Geftalten, dieſe Kocalitäten find nicht Schatten, fondern Mas
terie. Man febe, wie Eraft folder Vorteile fogar ein Boswell poetifch
werden Tann!
Die Kritiker machen dem Poeten zur Pfliht, Daß er feiner Schilde»
rung etwas Unendliches mittheile, daß er durch Höhe der Auffaffung, durch
jene Begabung des trandcendentalen Gedankens, die man mit Net Genius
und Begeifterung nennt, das Endliche Dur eine gewifle Unendlichkeit der
Bedeutung belehre oder wie man zuweilen fagt, dad Wirfliche zur Idea⸗
lität erbebe.
Diefe Kritiker haben mit ihrer Regel ganz Recht; ihre Abfict iſt jehr
richtig. In ſolchen Bällen aber, wie hier mit der Johnſoniade, ift die dunkle
Größe jenes „Zeitelement®*, worin die menfchliche Seele hienieden gefan⸗
gen gehalten wird, von der Art, daß dem Dichter bei feiner Aufgabe gleich
fam die Hand geführt wird, Die Zeit felbft, die nur ber äußere Schleier
103
der Ewigkeit iſt, begleitet aus eigenem Antrieb mit ächter gefühlter
Unendlichkeit“ Alles, was fie einmal in ihre geheimnißvollen Falten
gefchloflen bat. _
Man erwäge doch, was in dem einzigen Worte Vergangenheit
liegt! Welch eine patberiiche, Heilige, in jeder Beziehung poetifche Bedeu-
tung, eine Bedeutung, die immer klarer wird, je weiter wir in die Zeit
zurüdgeben, — je mehr von dieler felben Vergangenheit wir zu durch⸗
Idauen haben, fo daß man der feltiamen Theſis eines gewiſſen Philofophen
eine gewiſſe Plaufibilttät nicht abiprechen kann, der Thefis nämlich, daß bie
Beihichte im Grunde genommen die wahre Poefte, daß die Wirklichkeit,
richtig gedeutet, erhabener iſt als Dichtung ; ja, daß fogar in der richtigen
Deutung der Wirklichkeit und Geſchichte die ächte Poeſie befteht.
So hat fün Boswell's Lebensgeſchichte Johnſon's die Zeit gethan und
thut no, was feine Zierde der Kunft hätte dafür thun fünnen. Der raube
Samuel und der glatte webelnde Iamed waren, find aber nicht mehr.
Ihr Leben und ihre ganze perfönliche Umgebung tft in Luft zerflofien. Die
Nitra⸗Taverne fteht noch in Fleetſtreet; aber wo ift jegt der Rindfleiſch und
Bier liebende dickbaͤuchige Wirth, die rorhbädige geichäftige Wirthin mit all
ihren blanken Kupferpfannen, gebohnten Tifchen, wohlgefüllten Speiſekam⸗
mern, ihren Köchinnen, Hausknechten und Laufburfchen? Verſchwunden!
Berihwunten! Auch der blinzelnde Kellner, der mit füßlichem Lächeln ge⸗
wohnt war, Samuel und Bozzy Ihr Böttermahl aufzutragen, bat ſchon
langft feinen legten Sixpence eingeftedt und iſt mit Sirpenced und Allem
verihwunden, wie ein Geiſt bein Hahnenrufe. Die Blafchen, aus welchen
fle tranfen, find alle zerbrochen; die Stühle, auf tenen fie faßen, alle ver-
fault und verbrannt ; fogar die Mefler und Gabeln, mit welchen fie aßen,
ſind durch und —* verroſtet und braunes Eiſenoxyd geworden, welches
ſich wieder mit der Erde vermiſcht hat.
Alles, alles iſt verſchwunden in der That und Wahrheit, gleich jener
luftigen Viſion Prospero's. Bon der Mitra⸗Taverne iſt nichts mehr übrig,
als die kahlen Mauern; von London, von England, von der Welt iſt nichts
übrig als die kahlen Mauern und auch dieſe verfallen — ſelbſt wenn ſie von
Diamant wären — nur langſamer. Der geheimnißrolle Fluß des Daſeins
ranicht dahin; eine neue Woge fommt daher und peitfcht wild das alte
Ufer; aber die vorbergegangene Woge mit ihrem lauten, tofinden Schäus
men, wo ift fie? Wo!
104
Dieſes Buch Boswell's nun ift jo recht eigentlih ein Wirerruf des
Grifts des Schickſals, damit die Zeit nicht gänzlih, wenigflend mit Aus
nahme einiger Jahrhunderte, uns beberrfche. ine kleine Reihe von
Maphtalampen mit ihren Streifen von Naphtalicht brennt klar und beilig
in der dunfeln Nacht der Vergangenheit, Die Werſchwundenen find nod
bier ; obſchon verborgen, werden fie enthüllt; obſchon todt, reden fic doch.
Da glänzt er, jener Fleine wunderbar erleuchtete Pfad und verbreitet jein
ihwaches und immer ſchwächer werdendes Zwielicht in der grenzenloſen
dunfeln Vergeſſenheit, denn Alles, was unier Johnſon berührte, ift für
uns bell geworden und auf Dielen wunderbaren feinen Pfate fünnen wir
noch wandeln und Wunder jehen.
Wir fpreben nicht wit Uebertreibung,, fontern mit ſtreng gemeſſener
Befonnenheit, wenn wir fagen, daß dieſes Bud Voswell' und mehr wirf-
liche @infidt in die Geſchichte Englands während jener Zeit gewährt,
als zwanzig andere Bücher welche falichlid den Zitel „Geichichte” führen
und ſich ipeziell Diele Aufgabe ſtellen. Was nügt es mir, wenn unzählige
Smollettd und Belſhams mir fortwährend die Obren vollleiern, daß ein
ann, Namend Georg Ill., geboren und erzogen ward, und ein Mann,
Namens Georg 1l., farb; daß Walpole und die Pelhams und Chatham
und Nodingham und Shelburne und North mit ihren Coalitions⸗ oder
Separationd » Minifterion alle einer den andern verbrängten und fih ans
Leibeöfräften um das Ding balgten, was fie das Ruder des Staatd nann⸗
ten, was aber in der That blos ter Schlüffel zur Beheuerung war? Was
nützt e8 mir, wenn id erfabre, daß Debatten gehalten wurden und unend⸗
liches Fauterwelichee Grihwäg flattiant, und daß Chauffee-Billd und Jagr-
recht⸗Vills und India⸗Bills und Gefrge, Die fein Menich zählen kann, mit
welchen aber glücklicherweiſe fih außer in dem vorübergebenten Augenblid
Niemand den Kopf zu beſchweren braucht, beichloffen und in der könig⸗
lichen Buchdruderei gedrudt wurden? Daß Der, welder im Kanzleigericht
faß und von Wollſack aus feine Spekulationen betrieb, bald ein Dann war,
welcher ichielte, bald ein Mann, welcher nicht fchielte ?
Dem Hungrigen und durſtigen Geift hilft dies alles fo viel als nichts.
Diele Menſchen uns Dice Dinge, Das willen wir freilich, ſchwammen aller-
dings durch ihre Krafı oder auch durch ihre ſpezifiſche Leichtigfeie wie Aepfel
oder wic Pferdemiſt mit Ber Strömung oben auf; aber fann man mir wohl
tur forgfältige Beobachtung des Laufes, des Drehens und Hin» und Herr
105
ſchnellens ſolcher leichten Waare tie Natur des Stromes ſelbſt enthüllen,
diefes mächtig vollenden, Tautbrüllenden Lebensſtromes, der bodenlos if.
wie dad Fundament des Weltalld und geheimnißvoll wie ſein Schöpfer?
Was ich ſehen will, find nicht Hoffalender und PBarlamentöregifter, ſondern
dad Menfchenleben in England, was die Menſchen thaten, dachten,
litten und genoflen; die Form, beionders aber der Geiſt ihres irdiſchen
Dafeins, ihre Außere Umgebung, ihr inneres Prinzip; wie und. was ed
war; oder ed fam, wohin es ziclte.
Traurig ift es in der That zu fehen, was das Geicäft, welches mau
„Geſchichte“ nennt, in Dielen fo aufgeflärten und erleuchteten Zeiten immer
nob if. Kannft Du wohl, und wenn Du Deine Augen noch fo fehr
anftrengteft, auch nur den leiſeſten Schatten einer Antivort auf die große
Stage herausleien: Wie die Menichen lebten und webten, wäre e8 auch nur
in öfonomilcher Beziehung, nämlich welden Arbeitslohn fle befamen und
was fie Damit Eauften ?
Unglücklicherweiſe kannſt Du dieſe Antwort nice heraueleſen. Die
Geichichte verbreitet Fein Licht über dergleichen Gegenflänte.. Bon dem
Vunkte an, wo dic Grinnerung der Lebenden ausgeht, ift Alles in Nacht
und Dunfel gebüllt unt Dir. Scnior und Mr. Sadler müffen nodı über das
einfachfte aller Elemente in den Zuſtänden Der Vergangenheit Tebattirem,
namlich ob Die Menſchen blos mit Ruückſicht auf ihre Küchen und Speiſekam⸗
mern beffer oder ſchlimmer dran waren ald jetzt! Die Geſchichte ift, fo wie
fie jegt in vergolteten Bänden daſteht, blos um cinen Schatten Ichrreicher,
als die hölzernen Bände eines Puffipielbretes. Wie cin Premierminifter
ernannt wird, iſt für mich weit weniger intereflant,, als unter welchen Bes
tin sungen ein Hausdiener gemiethet ward. Wie gern würden wir in der
jegigen Zeit zehn aewöhnliche Geſchibten von Königen und Höflingen
gegen den zchnien Theil einer einzigen guten Geſchichte der Buchhändler
vertauſchen!
Zum Beiſpiel, ich möchte gern die Geſchichte von Schottland kennen;
wer fann fle mir erzählen? Robertſon, antworten unzählige Stimmen;
fein Menſch befler als Nobertion. — Id ſchlage Robertſon auf und finde
bier durch lange Jahrhunderte hindurch, Die für eine Erzählung viel zu ver⸗
worren ind und eigentlih nur fo zu fagen auszugs⸗ und andentungsweiie
Dıraeftellt werten fünnen, eine ichlaue Auswort und Hypotheſe nicht auf
Die Brage: Durd wen und durch welche Mittel, mann und wie ward
106
dieſes ſchöne, große Schortland mit feinen Künften und Ranufacturen, Tem-
peln, Schulen, Inſtituten, feiner Poefte, feinem Geifle und Nationalcharakter
geihaffen und urkar, grünend, eigenthümlich und groß gemacht, fo wie ich
bier von dem Schloßberge von Edinburg einen herrlichen Theil davon
freundlich und ſtark — wie einen vom Baus gezähmten Löwen — zu mei«
nen Füßen Liegen fehe? — fondern vielmehr auf die andere Frage: Wie
erhielt fi der König in jenen alten Zeiten am Leben und wie binderte er
fo viele Megger-Barone und habgierige Baiallen, ſich gegenfeitig mit Stumpf
und Stiel auszurotten, fo daß das Todtſchlagen noch mit einem gewifſen
Grade von Maͤßigung betrieben ward? In dem einzigen kleinen Briefe von
Aeneas Cyloius aus Altſchottland ift mehr Geſchichte enthalten, als in
allent diefen.
Endlich jetocd kommen wir zu einem Flaren und ebenfalld höchſt in-
tereffanten Zeitalter, zu tem Zeitalter ter Reformation. Ganz Schottland
erwacht zu einem höheren Leben; der Geiſt tes Allerhöchſten rührt ſich in
jeder Bruft und bewegt jedes Herz; Schottland liegt in Zudungen, in Gäh«
tung und kämpft, eine neue Geſtalt zu gewinnen; dem Hirten unter feiner
Herde in abgelegenen Wäldern, dent Handwerker in feiner plumpen, mit
Heidekraut gedeckten Werfflätte unter feinen roben Zunftgenoflen, den Gro⸗
Ben und den Kleinen ift ein neues Licht aufgegangen. In Stadt und Dorf
ftehen Bruppen beilammen mit beretten Blicken und gelenften oder unlenk⸗
famen Zungen ; die Großen und die Kleinen ziehen zufammen aus, um zu
tämpfen für den Herrn gegen die Gewaltigen.
Wir fragen mit athemlofer Bier: Wie war es; wie ging ed Damit?
Laßt ed und verftehen, laßt ed uns ſehen und wiflen ! Ä
Zur Antwort darauf wird uns eine wirklich nette und ſehr leckere
feine Sfandaldronif — wie für ein Modejournal — überreicht, die von
zwei Berfonen handelt, von Maria Stuart, einer leichtfinnigen Schönheit,
und Henry Darnley, einem Krautjunker, der ichöne Beine hatte. Wie diefe
beiden Menſchenkinder erft dem Laufe der Natur gemäß fich fehnäbelten und
girrten, dann fhmollten, zifchten, zulegt ganz wüthend wurden. unt einander
mit Schießpulver in die Luft Iprengten, dies und nicht die Geſchichte von
Schottland iſt e8, was wir in unferer Gutmüthigkeit Iefen. Sa, von andern
Händen iſt eine ganze Wagenladung anderer Bücher geichrieben worden, um
zu beweifen, daß e8 tie leichtfinnige Schönheit war, welde den Krautjunfer
in die Luft fprengte oder daß fie e8 nicht war. Wer aber oder was es war,
107
nachdem die Sache ein für allemal auf fo wirffame Weiſe geichehen, das
fümmert und wenig. Schottland in jener großen Epoche zu kennen, wäre
eine werthvolle Bermehrung unſeres Willens; den armen Darnley zu ken⸗
nen und ihn mit brennendem Lichte von innen heraus bis auf bie Haut zu
betrachten, wäre gar feine Vermehrung unſeres Wiffens.
So ſchreibt man Geſchichte.
Daher kommt es, daß die Geſchichte, welche die Quinteſſenz unzaͤhliger
Biographien ſein ſollte, uns, wir mögen fie befragen wie wir wollen, weni⸗
ger erzählt, als eine einzige ädte Biographie ungefragt und auf die zuvor⸗
kommendſte Weife. Die Zeit rücdt immer näher heran, wo man die Ge⸗
ſchichte nah ganz anderen Prinzipien zu fchreiben verfuchen wird; wo ber
Hof, der Senat und dad Schlachtfeld immer mehr und mehr in den Hinter-
grund und die Kirche, die Werfilätte und der Häusliche Heerd mehr und
mehr in den Vordergrund treten, und wo die Geſchichte fich nicht damit be⸗
gnügen wird, eine Antwort auf die Frage zu geben: wie bie Menfchen da⸗
mald befleuert und ruhig erhalten wurden? ſondern wo fie dieſe
andere, unendlicd weitere und höhere Frage zu beantworten ſuchen wird:
wie und wad waren die Menfhen damals? Nicht unfere Regierung
blos, oder das Hans, in welchem unfer Leben gefiihrt ward, fondern dad
Leben felbft, weiches wir darin führten, wird erforfcht werden. Auf dies
fem legtern Wege wird man vielleicht finden, daß die Regierung, in ber
modernen Bedeutung des Worts, beim Lichte beiehen nur ein untergeord-
neter Zuftand, in der bloßen Bedeutung der Befteuerung und des Ru⸗
higerhaltens aber ein Eleinlicher, faſt erbärmlicer if.
Mittlerweile wollen wir ſolche Boswells, jeden nad) feinem Grade,
willkommen heißen, vie und Achte Beiträge, wären fie auch noch fo unzureis
hend und unbedeutend, Tiefen.
Man Hat gegen diefe Lebensgeſchichte Johnſon's und alle ähnliche Un⸗
ternebmungen, die wir hier empfehlen, faft von Anbeginn einen Tadel er⸗
hoben, ver fih von einem Kritiker auf den andern fortgepflanzt hat und in
den verfchiedenartigften Einfleidungen unterbrochen wiederholt worden ift,
namlich dag ſolche Niederfchriften harmloſer Unterrebungen ein @ingriff in
das gefellige Privatleben feien, ein Berbrechenfgegen unfere höchfte Freiheit,
die Freiheit des menſchlichen gegenfeitigen Verkehrs.
Dieſer Anklage, die wir öfter ald genug gehört und gelefen, müffen
wir platterdings wiperfprechen und fie glei von vorn herein für gänzlich
108
unbegründet erflären. Nicht Larin, daß geiellige Geſpräche niedergeſchrieben
werden, liegt das Ueble, ſondern darin, Daß fie es nicht verdienen, niederge⸗
fhrichen zu werten. Allerdings. wenn ein Geſpräch unrichtig wiedergegeben
wird, fo if es einfach eine Rüge und verkient fo ſchnell als möglich befeitigt
und dem Vater der Lügen überantivortet zu werben. Kann Dagegen Das ge
ſellige Geſpräch authentifch aufgezeichnet werden und ift Jemand bereit, diefe
Aufgabe zu übernehmen, fo möge er nur damit fortfahren, damit Diele Ges
fpräce fo lange al& möglich im Andenken erhalten werden. Ja, follte das
Bewußtſein, daß ein Menſch fi in unferer Mitte befindet, welcher ſich über
unfer Geſpraͤch Notizen macht, in irgend einem Grade Tazu britragen, jene
Bluthen müßiger beuchleriiher Worte zu hemmen, Durch welde dad Den-
fen der Menfchheit fo zu fagen faft eriäuft wird, — wäre dich wohl erwas
anderes ald unzweifelhaftefter Nugen ?
Der, welder ehrlich ſpricht, kümmert fi nidıt darum und braucht fi
nicht darum zu fümmern, ob feine Worte bis auf tie fernfte Nachwelt kom⸗
men; für Den, der unreblid ſpricht, fcheint die paftendfte von allen Stra«
fen dieſe felbe zu fein, welche in der Natur der Sache liegt. Der unredlide
Spreder, nicht blos der, weldyer mit Fleiß Unwahrbetten ſpricht, fontern
auch der, der nicht abfihtlib und mit aufridtigem Herzen die Wahrbelt,
und die Wahrheit allein fpricht, welcher ſchwatzt, ohne zu wiffen was und
feiner Zunge feinen Bügel anzulegen verſteht, gehört zu ben unftreitigften
Uebelthätern, weldye das Criminalgeſetzbuch vergefien bat oder auch erwähnt.
Für Den, der Die Sache recht überlegt, ift müßiges Geſchwät eben ter
Anfang aller Hohlheit, aller Halbheit und alles Unglaubens; Die günftige
Atmofphäre, in welder wucherndes Unkraut aller Art die Herrſchaft über
die edferen Früchte des menichlichen Lebens erlangt und fie unterdrüdt und
erſtickt — eine der fchreiendften Krankheiten unferer Zeit, weldyer auf jede
Weite Widerſtanb geleiftet werden muß. Weife, von einer Weiäheit, die
weit über uniere jeichte Tiefe hinabreicht, war jene alte Megel: Hüte Deine
Zunge, denn aus ihr fommt der Strom des Lebens! Der Meni if im
Grunde genommen ein verförperte® Wort; das Wort, welches er fpricht, if
ber Menſch ſelbſt. Wurden wohl Augen in unfern Kopf eingeieht, damit
wir ſehen, oder bloß, dag wir uns einbilten und auf plaufible Weiſe bes
baupten möhten, wir hätten geieben? Ward und die Zunge in den
Gaumen gehängt, daß fie wahrbeitgetren erzählen, was wir geiehen und
daß fie den Menfhen zum Seelenbruter ded Menichen machen, oter bios
ba ſte eitle Töne und ſeelenverwirrendes Seihwag ausſtoßen und dadurch
wie durch bezauberte Mauern ter Yinfterniß Die Bereinigung des Menichen
mit dem Menichen bindern follte? Du, der Da im Bells jenes finnreichen,
vom Himmel gefchaffenen Organs, einer Zunge, bift, bedenke dies wohl.
Sprich, ich bitte Di dringend darum, nicht eher, als bis Dein Gedanke
fhweigend zur Reife gediehen ift, bis Du ein anderes als tolles umd toll⸗
machendes Geräuſch von Dir zu geben haſt; laß Deine Zunge ruhen, bis
ein vernünftiger Sinn ſich dahinter legt und fie in Bewegung ſetzt. Bedenke
die Bedentſamkeit des Schweigens; es iſt grenzenlos, niemals durch
Nachdenken zu erſchöpfen und unausſprechlich gewinnbringend für Dich!
Hoͤre auf mit jenem chaotiſchen Geplauder, durch welches Deine eigene Seele
verworrener, ſelbſtmoͤrderiſcher Verzerrung und Betäubung anheimfällt; in
dem Schweigen ruht Deine Kraft. Reden iR Silber, Schweigen iſt Gold;
Reden ift menſchlich, Schweigen iſt gönlih. Du Narr! glaubft Du, daß,
weil fein Boswell niit Eſelshaut und DBleiflift zur Hand if, um Dein Ge⸗
ſchwaͤg zu notiren, dieſes deshalb ſterbe und harmlos ſei? Nichts flirbt,
nichtö kann fierben. Dos müßige Wort, weldes Du ſprichſt, iſt ein in die
Beit geftreuted Saamenkorn, welches in alle Ewigfeit wähft! Der Engel,
weicher alte unjere Worte und Thaten in fein Buch einſchreibt, ift — Lied
vergeffe man nidt — Leine Fabel, fondern die wahrfte aller Wahrheiten ;
die papiernen Schreibtafeln Fannft Du verbrennen, aber dad „eiſerne
Blatt* kann niemals verbrannt werden. — Und in der That, wenn wir
dem allmächtigen Gott erlauben können, unfere Worte nieberzufhreiben und .
fie gut genug für ihn glauben, fo braudyt wohl aud) irgend ein armer Bos⸗
weil fein Bedenken zu tragen, damit zu machen, was er Luft hat.
— nn — —
Wir laffen num dieſe unfere englifche Odyſſee mit ihrem Sänger
und Schofiaften ruhen, um und zu dem Ulyſſes zu wenden, ben großen
Samuel Johnſon ſelbſt, dem vielerfahrenen, vielduldenden Manne, deffen
Arbeiten und Pllgerfadrten Hier beiungen werden. Ein lebensgroßes Bild
feines Dafeins ift und aufbewahrt worden und er war vielleicht von allen
lebenden Engländern der, welcher diefe Ehre am meiften verdiente.
Tenn wenn ed wahr und jegt faft iprichwörtlich geworben ift, daß das
Leben des niedrigſten Sterblichen, wahrbeitgetrew niedergejchrieben, ſelbft
110
für den höchſten intereflant fein würde, wie wiel mehr muß dies der Fall
fein, wenn der fragliche Sterbliche fich durch fein Schidfal und feine natür⸗
lichen Befähigungen ſchon fo auszeichnete, daß fein Denken und Thun nicht
blos für ihn, fondern aud für die große Mafle der Menfchen bedeutſam war.
„Ich begegne,* fagt Einer, „Teinem Menſchen auf der Straße, defien Lebens⸗
geichichte ich nicht wiſſen möchte, wenn es fonft nur anginge. “
Trogdem und wenn aud die aufgeflärte Neugier jo weit befriedigt
werden könnte, muß doch zugeflanden werben, daß bie Biographie der mei-
ſten Menſchen im höchſten Grade fummarifch fein ſoll. Es giebt in dieſer
Melt jo wunderbar wenig Selbſtſtändigkeit unter den Menſchen, faſt gar
feine Originalität (obſchon diefelbe niemald gänzlich mangelt), ein Leben
iR fo knechtiſch die Copie des andern, daß man in vielen Tauſenden we
nig findet, was eigentlih und wirflid neu ware. Ban hört nichts als das
alte Lied mit befferer ober fchledhterer Ausführung von einer neuen Stimme
gefungen, bier und da mit einem Berfiherungstriller und falichen Noten
genug ; der Brundton aber ift immer derfelbe, und was den Tert betrifft,
fo ſteht der Inhalt defielben gewöhnlih auf dem Leichenftein geſchrieben:
Natus sum; esuriebam, quaerebam ; nunc repletus requiesco.
Die Menfchheit macht ihre Lebensreife in ungeheuren Klotten, wobel
fle einem einzigen auf den Wallfiſch⸗ oder Heringsfang ausziehenden Com⸗
modore folgt. Das Logbuch des Einzelnen weicht in feiner wefentlichen
Bedeutung von dem des Andern ab; ja, die Meiften haben gar ein leſer⸗
. liche Logbuch, weil Nachdenken und Beobachtung nicht zu ihren Talenten
gebören;; fie führen feine Rechnung, fondern halten fich blos in Sicht des
Flaggenſchiffs und — fiſchen. Man leſe die Bapiere ded Commodore, das
heißt feine Lebensgefchichte und felhft der Freund jener Straßenbiogra«
phien wird dad Meifte von Dem erfahren haben, was er zu erfahren fuchte.
Die knechtiſche Nachahmungsſucht, aber auch zugleich eine edlere Bes
ziehung und geheimnißvolle Berwandtichaft, weldye in dieſem Nachahmen
liegt, könnte auch durch ben anderweiten, an und für ſich keineswegs origi«
nellen Vergleich mit einer Schafheerde erläutert werben.
Die Schafe gehen aus drei Gründen heerdenweis: Erftens, weil fle
von gefelligem Temperament find und gern mit einander laufen ; zweiten®
wegen ihrer Feigheit, denn fle fürchten fich, allein zu bleiben ; drittens weil
die Mehrzahl von ihnen ſprichwörtlich Furzfichtig iſt und ihren Weg nidt
ſelbſt zu wählen verficht. Die Schafe fehen in der That fo viel ald gar
1
111
nicht und würden an einem bimmlifchen Lichte und einer gefcheuerten Zinn⸗
fanne weiter nichts bemerken, als daß fle von beiden geblendet werden und
daß beide einen unausſprechlichen Glanz ausſtrahlen.
Wie ähnlich find ihnen in allen dieſen Beziehungen ihre der Menſchen⸗
gattung angehörigen Mitgeihöpfe! Auch die Menfchen find, wie wir gleich
von vorn herein behaupteten, gefellig und ziehen gern heerbenweiß ; zweiten
find fie auch furchtſam und bleiben fich nicht gern allein überlaffen; und
drittens und vor allen Dingen find fie faft bis zur Blindheit Furzfichtig.
Auf dieſe Weife kommt ed, daß wir fortwährend in Strömen und
Saufen rennen, wenn wir naͤmlich überhaupt rennen, und nach was für
albernen geſcheuerten Zinnkannen, die wir fälihlih für Sonnen halten!
Auch thörichte, allem Anſcheine nach übernatürlide Irrwifche erfüllen ganze
Nationen mit Zittern und Beben, fo daß ſich ihnen das Haar emporfträubt.
Auch willen wir nicht anders als in Folge blinder Gewohnheit, wo die gu⸗
ten Weitepläge liegen. Erſt wenn daß füße Gras ſich zwiſchen unfern
Zähnen befindet, wiffen wir e8 und kauen ed; auch wenn das Gras bitter
und mager ift, willen wir ed, — und blöfen und rennen mit den Köpfen
zuſammen. Diefe beiden legtern Thatfahen kennen wir in der That und
Wahrheit.
So jpielen Menichen und Schafe ihre Rollen auf diefer Erde. Sie
wandern raſtlos, in großen Mafien, ohne zu wiflen wohin und Jeder geht
meiftentheilß feinem Nachbar und feiner eigenen Naje nad.
Aber doch nicht immer; fieh Dich genau um und Du wirft einige fin-
den, bie, in wenn aud geringem Grade, wiffen wohin. Schafe haben
ihren Zeithammel, einen mit größerer Tapferkeit und hellerem Blid ald ans
dere Schafe begabten Widder. Er führt fie über Berg und Thal nach den
Wäldern, Waflerquellen in ein ficheres Verfted oder nad ſchönen Weide⸗
plägen. Muthig gebt ex voran, fpringt, wenn es fein muß und Fämpft mit
Huf und Horn. Dieſem folgen fie dreift und mit zuverſichtlichem Herzen.
Es iſt rührend, wie jeder Hirt erzählen Tann, mit welcher ritterlichen Hin⸗
gebung diefe wolligen Schaaren ihrem Witder anhängen und ihm nachſtür⸗
zen, durch dic und dünn, gehe ed nun unter ein fiheres Obdach und auf
grüne anmuthige Wiefen, oder in Asphaltfeen und in den Rachen grimmi«
ger Löwen. Wir erinnern bierbei an eine ſchon früher von und erwähnte
Zhatjache, auf weldhe auch Sean Paul aufmerfjam gemacht hat. Wenn man
nämlich dem Widder einen Steden vorhält, fo daß er nothwendig im Vor⸗
112
beigehen darüber fpringen muß und dann den Stecken wegzieht, fo ſpringt
nichtdeſtoweniger die ganze Heerbe eben fo wie er und das taufendfle Schaf
jet eben jo ungeflüm über die leere Luft hinweg, wie dad erfle über ein
nicht anterd zu umgehendes Hinderniß.
Willſt Du die Geſellſchaft verſtehen, Tieber Leſer, ſo denke wohl über
dieſes Thun und Treiben der Schafe nach; Du wirft finden, daß darin eine
große Bedeutung liegt.
Wenn nun ſchon die Schafe immer ihr Oberhaupt, chren Anführer
haben müflen, wie viel mehr muß dies mit den Menſchen der Fall fein!
Auch der Mensch ift feiner Natur nad durch und durch dazu gefchaffen,
beerdenweiß zu leben: ja er bemüht fi fogar, etwas Höheres zu er-
reichen, nämlich gefellig zu werden und nicht einmal, wenn die Gefellichaft
unmöglich geworden ift, verläßt ihm dieſes tiefgemurzelte Streben. Der
Menſch theilt wie Durch wunderbare Magie feine Gedanken und feine Ges
müthsftimmung dem Menichen mit; eine unausiprechliche Gemeinſchaft ver⸗
bindet alle vergangenen, gegenwärtigen und zufünftigen Menſchen zu einem
unauflöslihen Ganzen, faft zu einem einzigen Ichenden Individuum, und die
eonftantefte und eine der einfachften Kundgebungen vieler hoben, gebeimniß⸗
vollen Wahrheit ift diefer Hang, nadhzuabmen, zu führen und geführt
zu werten, dieſe Unmöglichkeit, nicht nachzuahmen.
Nachahmen! Wer von und allen Fann tie Bedeutung ermeflen, die in
biefem einzigen Worte liegt, kraft deflen der in Woolsthorpe geborene
Menſch nicht zu einem borftigen Kannibalen und Eichelfreſſer heranwächſt,
fondern zu einem Iſaak Newton und Entdeder von Sonnenfgftemen !
So find wir in himmliſchem wie in irdifchem Sinne eine Heerde,
wie e8 feine weiter giebt. Ja, wenn wir von der niedrigen und lächerlichen
Seite der Sache abfehen und die erhabene und heilige — denn jede Sache
bat zwei Seiten — ind Auge farfen, baben wir nicht auch einen Hirten,
dafern wir nur feine Stimmen hören wollen? Unter dieſen flumpffinnigen
Maflen giebt es nicht einen einzigen, der nicht cine unfterbfidhe Seele bes
fäße, einen Widerfchein und lebendiged Bild von Gottes ganzem Weltall.
Aug der düftern Umgebung durchſtrahlt ihn dennoch das Licht ded Höchiten
und aus diefem Grunde nennen wir ihn unfern Bruder und lieben e@, jeine
Geſchichte zu Fennen und mit Allem, was er fühlt und fagt und tHut, in
immer flarere Verbindung zu kommen.
113
Die Hauptiadge jedoch, welche Hierbei hervorzuheben, ift die: Unter
bieten flumpfiinnigen Millionen, welche fih als eine willenlofe Herde hin
und her wäßgen und faft nur Das erreichen zu wollen ſcheinen, was der thier
riſche Inſtinkt im feiner etwas höheren Potenz lehren könnte — nämlich fi
und ihre Jungen am Leben zu erhalten — trifft man aud bier und ba
Böhere Naturen an, deren Auge des freien Umblicks und deren den des
freien Willens nicht ermangelt.
Die Ledtern unterſuchen und beſchließen daher nicht, was Andere thun,
ſondern was recht iſt zu thun. Dies und nur dies ſuchen fie mit all der
Kraft, welche ihnen verliehen iſt, entſchloſſen zu erſtreben; denn wenn bie
Mafchine, ſei fle nun lebendig oder leblos, blos gefpeift wird oder ges
ſpeiſt zu werden verlangt und dann arbeitet, fo kann die Perfon dagegen
wollen und dann thun.
Dies find unfere eigentlichen Menſchen, unfere großen Menfchen, die
Führer der flumpffinnigen Menge, die ihnen wie durch einen unwiderruf⸗
lichen Schickſalsſchluß folgt. Sie find die Auserwählten der Welt. Sie
befaßen jene feltene Fähigkeit, nicht blos zu „vermuthen“ und zu „denken *,
fondern zu wiffen und zu glauben. Die Natur ihres Wejend war,
daß fie nicht vom Hörenfagen, fondern dur klare Anſchauung Ichten.
Während Andere fih auf dem großen Iahrmarft des Lebens, durch die bloße
Außenfeite der Dinge geblendet, zwecklos umbertrichen, durchſchaueten diefe
Die Dinge ſelbſt und Fonnten einherwandeln ald Menfchen, die einen ewigen
Leitſtern haben und mit ihren Füßen auf fiheren Pfaden wandeln.
Auf diefe Weiſe Iag in ihrem Dafein eine Wirflichfeit, etwas von
einem unvergänglichen Charakter, kraft deſſen auch ihr Andenken unvergäng-
lich ik. Wer blos feinem eigenen Zeitalter angehört und nur deſſen ver-
goldete Bapageien und mit Muß beichmierte Popanze verehrt, muß nothwen⸗
dig auch damit flerben. Und wenn er fieben Mal ober fiebenzig und fieben
Mal im Gapitol gefrönt worden wäre und bie Fama fein Lob nad allen
sier Winden auöpofaunt und aller Ohren damit betaubt Hätte, — es Hilft
ihm alle nichts. Es lag nichts Univerſelles, nichts Ewiges in ihm. Er
muß verfehwinden eben fo wie die Vergoldung des Papageien und das Ge⸗
wand der Bogelfcheuche, welches er nicht zu durchichauen vermochte. Der
große Mann gehört allerdings feinem eigenen Zeitalter an, ja mehr als
irgend ein anderer Menich, weil er eigentlid die Synopſis und die Quint⸗
effenz eines folden Zeitalters mit feinen Intereffen und Einflüffen ift; aber
Garlyle. IM. 8
114
er gehört auch eben fo allen Beitaltern an, ſonſt ift er nicht groß. Was in
ihm vergänglidh war, ſchwindet hinweg und ein unflerblidher Theil bleibt
zurüd, deſſen Bedeutſamkeit fireng genommen — wie der eines jeden wirf«
fidhen Segenflandes — unerfhöpflid if. Goch, Hervorragend, auf feiner
unerichütterlichen Baſis fleht er da, klar und unveränderlid und richtet
ſchweigend an jede neue Generation eine neue Lehre und Mahnung. Wohl
verdient fein Leben niedergejchrieben, wohl verdient e8 gedeutet, und in dem
neuen Dialekte neuer Zeiten immer wieder geichrieben und wieder gedeutet
zu werben.
Zu dieſen auserwählten Menſchen gehörte auch Samuel Johnſon.
Seinen Plag unter denfelben können wir ihm allerdings nicht unter den
höchſten, ja nicht einmal unter den hoben anweiſen, aber dennoch ifl er un«
verfennbar in jene heilige Schaar aufgenommen. Seine Eriftenz war nicht
ein müßiger Traum, fondern eine Wahrheit, welche er wach durchführte;
er war nicht eine bloße Mafchine, welche Kleider trägt und verbaut, fondern
ein ächter Menih. Die Natur Hatte ihn für die edelfte aller irdiſchen Aufs
gaben, zur Priefterihaft und Leitung der Menichheit begabt; das Schidfal
beftimmte ihn überdies zur Löſung diefer Aufgabe und er Töfte fle auch wirk⸗
lich nach feinen beften Kräften, fo dag in Bezug auf ihn die Brage: Wie;
in welchem Geifte; unter welder Geſtalt? fortwährend zu ſtel⸗
fen und zu löſen bleibt.
Denn fowie das höchſte Evangelium eine Biographie war, jo iſt auch
die Lebensgefchichte eined jeden guten Menſchen noch ein unzweifelhaftes
Evangelium und predigt dem Auge und Herzen und dem ganzen Menjchen,
fo daß ſelbſt Teufel glauben und zittern müflen, jene freudenreichfte Vers
fündung: „Der Menſch ift himmliſch geboren, nicht Sklave der Umſtaͤnde
und der Nothwendigfeit, fondern der flegreiche Bezwinger derfelben, Siehe,
wie er fich ſelbſt und feiner Freiheit fih bewußt werben kann und ftets if,
was der Denfer ihn genannt bat — der Meiftad der Natur! *
Ja, Leſer, Alles, was Du fo oft gehört haft von der, Macht ber Um⸗
fände *, von einem „Gejhöpf der Zeit“, vom „Abwägen ber Beweggründe *
und wer weiß noch was für trauriged Zeug von derfelben Art, worin Du
wie in einem von einem brüdenden Alp begleiteten Traume wie gelähmt
dafigeft und Feine Kraft mehr haſt, — war in der That und Wahrheit,
wenn wir Iohnfon und anderen wachenden @eiftern glauben dürfen, wenig
mehr als eine gejpenftifche Viflon von Todtenfchlaf, eine Halbe Thatſache,
115
die zuweilen verderblicher if, ald eine ganze Lüge. Schüttle fie ab, wach’
auf, erbebe Dich und wirfe, wozu Du berufen bift.
Der Widerſpruch, welcher in jedem Leben weit genug gähnt und defien
Berjöhnung die Bedeutung und Aufgabe des Lebens ift, war in Johnſon's
Leben greller als es fonft gewöhnlich der Ball zu fein pflegt. Selten ift bet
irgend einem Menfchen der Gegenſatz zwifchen ber ätheriſchen himmliſchen
Seite der Dinge und der dunfeln, ſchmutzigen, trbifchen ein fchreienderer ge⸗
wein. Wir mögen nun in Bezug auf ihn dad Walten der Natur oder dad
des Schickſals ind Auge faffen, fo fehen wir von Anfang bis zu Ende und
nach allen Seiten bin ein widerftrebended Gemiſch, wie von Sonnenftrablen
und Moraſt. Daraus geht Far hervor, daß ihm viel Leben gegeben
war, daß er über Vieles zu triumphiren, daß er ein großes Werk auszufüh-
ren hatte. Zum Glück that er dies auch, befier ald die meiften.
Die Natur hatte ihm eine hohe, fcharfblicdende, faft poetifche Seele
gegeben, die aber dennoch in einen trägen, unanſehnlichen Körper einge-
fhlofien war. Er, der niemals ruhen konnte, ‚hatte Feine Glieder, die fich
mit ibm bewegten, fondern blo8 watfchelten und ſich wälzten. Das innere,
Alles umfaffende Auge mußte durch körperliche Fenſter blicken, welche büfter
und halb erblindet waren. Er, der die Menſchen fo innig liebte, fah nit
ein einzige® Mal das göttliche Menfchenantlig !
Nicht weniger ſchätzte er die Liebe der Menſchen. Er war außer⸗
ordentlich gefellig, der Beifall feiner Mitmenfhen war ihm theuer und
werthuoll, wie er felbft geftand, felbft wenn er ihn von dem geringften
menfhlichen Wefen vernahm, und dennoch war der erfte Eindruck, den er
auf jeden Menſchen hervorbrachte, ein unangenehmer, fat widerwärtiger.
Die Natur hatte ferner gewollt, daß der gebieterifche Johnſon arm ge⸗
boren werben ſollte. Die gewaltige Seele, fo flarf in ihrer angeborenen
Königewürbde, großmäthig und unbezähmbar wie der Löwe der Wälder,
wohnte in einer Gülle von Häßlichkelt, von Körperfchwäce und einer Ar⸗
muth, die ihn zum Diener von Dienern machte,
So war der geborne König gleichzeitig ein geborner Sklave. Der
göttliche Geiſt der Muſik erwachte unter dumpf kraͤchzenden Mißklängen; ber
Ariel ſah fih in der plumpen Hülle eines Kaliban gefangen. So ift «8
mehr ober weniger — wir wiflen e8 und Du, o Lefer, weißt und fühlft es
auch — mit allen Menſchen; aber mit den wenigften in fo hohem Grade
wie mit Johnſon.
g*
116
Das Schickſal, welches ihn bei feinem erſten Ericheinen in der Wel
auf diefe Weiſe behandelt hatte, legte übrigens aud nit Tie Hände in den
Seo oder beſann fid anders, fondern arbeitete unermübdet im bemielben
Geiſte fort. Wozu ein foldher Geiſt, aus dem edelflen Metall der Natur,
obſchon in fo unanfehnlicher Form geprägter Geiſt ganz befonders und am
beften taugte, könnte no in Frage gezogen werben. In feine der wenigen
incorporirten BZünfte der Welt hätte er ſich ohne Schwierigkeit, ohne ges
wealtfame Verrenkung hineinſchicken, in Feiner ſich ala ihr Mitglied behaglich
fühlen können. Bielleiht, wenn wir die fireng praftiiche Natur feiner Fä⸗
higkeit, die Kraft, Entichiedenheit und Methode, die fid in ihm offenbart,
ind Auge faften, können wir fagen, daß er mehr zum praftiichen ald zum
theoretifchen Xeben berufen war, tag er fich ald Staatömann (in ber höhe
ren, jet veralteten Bedeutung), ald Geſetzgeber, Herrſcher, furz als Voll⸗
bringer des Werks noch mehr ausgezeichnet haben würde denn ald Spredyer
bes Wortes. Die Redlichkeit ſeines Herzens, fein muthiger Sinn, der
Werth, den er auf äußere und materielle Dinge fegte, hätte ihn zu einem
König unter Königen machen können. Wäre doc das goldene Zeitalter
jener neuen franzöflihen Propheten, wo es beißen wird: ‚A chacun selon
sa capacile, à chaque caparite seloa ses oeuvres“‘ ſchon da! Gogar in
unferem meifingenen, künſtlich polirten Zeitalter bedauerte er felbft, daß er
nicht Iurift geworden und bis zum Kanzler gefliegen war, was er wohl
hätte thun fönnen.
Jedoch ed war anders beflimmt. Keinem Nenſchen öffnet das Glüd
alle Reiche diefer Welt und fagt: „Ste ſind Dein, wähle, wo Du wohnen
willſt!“ Den meiften öffnet fie kaum die allerkleinfte Hundehütte und fagt
nicht ohne Rauheit: „Da, das ift Dein, fo lange Du es behaupten kannſt;
richte Dich darin fo gut ein als möglid und danke dem Himmel!“ Ach, lei⸗
ber müſſen die Menſchen ſich in viele Dinge ſchicken. Bor etwa vierzig
Jahren zum Beifpiel fah man den etelften und fähigften Mann in allen bris
tifhen Landen nicht das Fönigliche Scepter oder das Weihrauchfaß des
Papftes auf der höchſten Spige der Welt ſchwingen, fondern Biertonnen in
dem Fleinen Flecken Dumfries viſtren! Johnſon Fam dem Ziele ein wenig
näher, ald Burns, aber auch bei ihm war ber Kraft der angemeflene Spiel-
raum verſagt; er hatte fein ganzes Leben lang einen unaufhörlichen Kampf
gegen das übermächtige feindliche Geſchick zu führen.
Johnſon's Befähigung zum Königt um (wenn das Schidjal «8 fo
117
gewollt hätte) zeigt ſich fchon im frühen Knabenalter. „Seine Günftlinge, *
fagt Boswell, „erhielten gewöhnlich jchr freigebige Unterflügung von ihm
und die Untermürfigfeit und Rüdfiht, womit man ihn behandelte, war fo
aroß, daß drei der Kuaben, von weldden Mr. Hector zuweilen einer war,
des Morgens als feine gehorſamen Diener zu kommen und ihn in bie Schule
zu tragen pflegten. Einer in der -Mitte büdte fi, während er ſich ihm auf
den Ruͤcken feste, bie andern zwei flüßten ihn zu beiden Seiten und fo ward
er triumphirend dahingetragen. * Der arme blöbfichtige Lahme mit feinem
offenen Munde und blatternarbigen Geſicht herrſchte ſchon königlich und un⸗
widerfiehlih! Nicht in dem „Königsftubl" (von menfhlichen Armen, wie
wir fehen) tragen ihn feine drei Satelliten, fondern mehr auf dem Thy»
tannenfattel, den Rücken feiner Mitmenichen, reitet er triumphirend
einher !
Das Kind ift der Vater ded Mannes. Wer fünfzig Jahre in die Zus
funft hätte bineinfchauen können, würde gefühlt haben, daß diefes Eleine
Schauſpiel muthwilliger Schulfnaben ein großes war. Für und, die wir
darauf und was ferner folgte, jet von weitem zurüdblicen, ftellen ſich Fra⸗
gen genug heraus: Wie ſahen dieie Buben au8? Was für Jaden und Ho⸗
fen Hatten fie an? War ihre Kopfbebedung von Filz oder von Hundefell?
Was machte damals das alte KLichfield? Was dachte es? — und jo weiter
durch die ganze Reihe von Korporal Trims, Hülfdzeitwörtern. ” Gin Bilb
von alle dem ftellt fih wohl vor unfern Augen zufanımen, leider aber haben
wir feinen Pinfel und Feine kunſtgeübte Hand.
Dad Knabenalter iſt nun vorüber ; die Ruthe des Schulmeifters wird
unihädlich in weiter Gerne geihwungen. Samuel iſt zu tölpiiher Körper-
größe und Jugend herangewachſen und ringt immer noch mit Krankheit und
Armuth, weiche feine treueften Begleiter bleiben. Auf der Univerfität fehen
wir wenig von ihm, aber doch fo viel, Daß es nicht gut ging. Ein rauhes
Kind der Wüfte zum Selbfigefühl erwacht, ſtolz wie Der Stolzeſte, arnı wie
der Aermfte ; ſtoiſch, abgefchloffen und ſchweigend das Unvermeidliche dul⸗
dend — welch eine Welt von ſchwärzeſter Nacht mit kargem Sonnenſchim⸗
mer und bleichen thränenvollen Mondbliden und Bladern eines himmliſchen
und hölliſchen Glanzes war es, Die fich jegt ihm öffnete! Aber Tas Werter
iſt winterlich und die Zehen des Mannes ſchauen zu feinen Schuhen heraus,
feine ſchlammigen Züge nehmen eine purpurne und meergrüne Farbe an und
eine Fluth ſchwarzer Entrüftung fleigt babinter auf. Eine wilde, unförms
118
liche Geſtalt! Fleiſch zu effen Hat er wahrfgeinlich wenig; Hoffnung ‚hat er
noch weniger — feine Füße haben, wie wir fagten, genaue Velanntſchaft
mit dem Straßenkothe gemacht.
„Soll id in Einzelnheiten eingehen,“ fragt Sir John Hawkins,, und
einen Umftant feiner bedrängten Lage erzählen, der ihm nicht als Folge ſei⸗
ner eigenen Ertravaganz oder Unreglmäßigkeit zugefchrieben werden kann
und demzufolge auch keinen Schatten auf fein Andenfen wirft? Gr batte
faum einen vollſtändigen Anzug und nicht lange darauf, nachdem Gorbet
ihn verlaflen, nur ein einziged Paar Schuhe, die jo alt waren, daß die Füße
hindurchſahen. Einer feiner Mitſtudenten, Vater eines jeht lebenden aus-
gezeichneten Theologen, befahl eines Morgens feinem Bamulus, ein neueß
Baar vor Johnſon's Thür zu flellen, welder aber, als er fie beim Heraus⸗
treten aus feinem Zimmer erblicte, fih und die Gefinnung, welche feinen
unbekannten Wohlthäter befeelt haben mußte, fo weit vergaß, daß er mit
der ganzen Entrüftung eines Beleidigten das Geſchenk fortfchleuderte. *
Wie fonderbar! — Der ehrwürdige Dr. Hall bemerft: „So weit wir
nach einem flüchtigen Weberblid der wöchentlichen Rechnung in den Bictuas
lienbüchern abnehmen können, jcheint Iohnfon eben fo gut ald andere Stu⸗
denten gelebt zu haben.” Ad, leiter if ein folher lüchtiger Vlid in die
Victualienbücher jegt aus der fihern Entfernung eines Jahrhunterts in
dem fihern Stuble einer Profeflur etwas ganz anderes als der fortwährende
Anblid der leeren oder verichlofienen Victualienkammer felbft. Doch hören
wir unſern Ritter weiter.
„Johnſon,“ ſagt Sir Iohn, „Eonnte ſich in jener frühen Periode ſei⸗
ned Lebens nicht von Der Idee losmachen, daß Armuth eine Schande fei und
fprach fich mit firengem Tadel über Die an uniern beiden Univerfitäten ber .
ſtehende Einrichtung ans, welcher zufolge Die armen Studenten unter der
Benennung von Servilors in Oxford und Sizers in Cambridge bei Tiſche
aufwarten müflen. Gr meinte, daB das Studentenleben eben fo wie das
chriſtliche allen Unterichied des Ranges und weltlicher Vorzüge entferne;
bierin aber irrte er fih — der Staat" u. ſ. w. u. ſ. w. — Nur zu wahr!
Es iſt einmal des Menichen 2008, ſich zu irren.
Jedoch, dad Schickſal ift geionnen, den irrenden Samuel auf alle Weiſe
auf die Probe zu ficllen und zu ſehen, welcher Kern in ihm if. Er muß
die Victualienfammer Oxfords verlaffen; der Mangel zwingt ihn wie ein
gewappneter Mann ſich in die beicheidene Wohnung jeined Vaters zurückzu⸗
119
flübten. wo er ſich eine Zeitlang der Unthätigkeit, Täufchung und Schande
preiögegeben und dadurch faft zum Wahnſinn getrieben ſieht; wahrſcheinlich
iR er der unglücklichſte Menſch im ganzen weiten England. Aud er muß
auf ale Weife durch Leiden volllommen werben.
Hohe Gedanken haben ihn heimgefucht ; feine Univerfitätäarbeiten find
auch außerhalb der Mauern der Univerfität gelobt worden ; Pope ſelbſt hat
jene Ueberſetzung geſehen und gutgeheißen — Samuel hatte fich zuge⸗
flüſtert: „Auch id bin Einer und Etwas!“
Falſche Gedanken, die nur Elend zurüdlafien! Das Bicberfeuer des
Ehrgeizes wird in dem Eisbade der Armuth auf zu fehmerzenvolle Weife ges
loͤſcht (aber nicht geheilt). Johnſon bat im Gefühle feines Rechts an das
Thor angeffopft, aber man macht ihm nicht auf. Die Welt ift rings herum
wie mit Erz umgeben und nirgends kann er den fleiniten Eingang finden
oder erzwingen. Eine Lehrerftelle in Bosworth und ein „Zwift zwilchen
ihm ud Sir Wolften Dirie, tem Schulpatron* giebt ihm das Brod der
Trübſel und dad Wafler der Trübjal, aber fo bitter, daß tie menfchliche
Natur es nicht verſchlucken kann. Der junge Simfon will nicht mehr in
der Mühle der PHilifter von Bosworth mahlen; er läßt Sir Wolftan und
die Hmmscaplandwürde, die blos darin beftand, daß er das Tiſchgebet zu
verridien hatte, fahren; er will fih nicht mehr mit „ unerträglicher Schroffe
heit” dehandeln laſſen und giebt, ohne Zweifel in der Meinung, daß ein
ſchneller Hungertod noch nicht das Schlimmfle auf der Welt fei, eine Stels
lung auf, deren er fi fein ganzes Xeben lang mit dem unüberwindlichften
Widernillen und fogar Abſcheu erinnerte.
Menichen wie Johnſon werten mit Recht die verlorene Hoffnung der
Welt genannt. Ob feine Hoffnung verloren war oder nicht, beurtheile man
nah folgendem Briefe an einen flumpffinnigen, jchmierigen Buchdruder,
welcher fh Sylvanus Urban nannte:
„Sr, — da Sie die Mängel ihres poetiichen Artikels nicht weniger
zu fühlen feinen, als Ihre Leſer, fo werden Sie es vielleicht nicht ungern
fehen, wenn ich, um auf die Verbefferung deffelben hinzuwirken, Ihnen bie
Anfihten einer Berfon mittheile, weldye unter billigen Bedingungen erbötig
iR, zuweilen eine Columne zu füllen.
„Beine Meinung fl, daß das Publikum,” u. f. w. u. f. w.
» Wenn ein ſolcher Briefwechfel Ihnen angenehm if, fo haben Sie
die Güte, mih in zwei Poften zu benachrichtigen, welcher Art die Bedin⸗
120
gungen find, unter welchen Sie ihn erwarten. Ihr neulides Anerbieten
(wegen eines Preisgedichtes) giebt mir feinen Grund, Ihrer Generoftät zu
mißtrauen. Wenn Sie fi mit literariichen Brofecten auch aufer Yiefem
Sournal befafien, fo habe ih noch andere Pläne mitzutheilen. *
Lieber Xefer, der generöfe Mann, an welden tiefer Brief gerichtet
ward, iſt „Mr. Edmund Cave, St. Johns Bate, London“; ber Schriber
deffelben „ Samuel Johnſon in Birmingham, Warmidihire. *
Trotzdem aber fammelt das Leben in ihm neue Kräfte, es behaupter
fein Recht, gelebt, ja fogar genofien zu werden. „Befler cin Einer
Buſch,“ tagen die Schotten, „ald gar fein Obdach.“ Johnſon Iernı fi
mit beicheidenen menſchlichen Dingen begnügen und umgiebt ihn nicht ſchon
eine regjame, lebende menſchliche Eriftenz von allen Seiten? Gebe bin und
thue defielbengleihen. In Birmingham ſelbſt kann er mit feinem e.genen
gekauften Bäniefiele „fünf Guineen verdienen“ ; ja zulegt erwirbt « dad
höchſte irdifche Gut, eine Breundin, dic fein Weib jein will!
Johnſon's Verheirathung mit der guten Wittwe Porter iſt von vielen
Sterblichen, welche augenicheinlich nichts Davon verflanden, veripotzt und
lächerlich gemadt worden. Daß ter furziichtige Barbar mit feinem zrrifle
nen Geflcht, der einfam und nicdergebeugt einberichritt, deſſen Eprade Nie⸗
mand verftand, deſſen Ausfehen alle Menſchen zum Lachen reizte oder ihnen
Abfcheu einflößte, ein wackeres weibliches Herz fand, welches gleich, ald es
ihn zum erfien Mal geſehen und gehört, erklärte: „Dies iſt der verftindigfte
Mann, den ich jemald Eennen aclernt, * und dann mit Muth und Sdbſtver⸗
leugnung ſich entſchloß, ſich feiner anzunchmen und zu jagen: „Sd mein;
id will Dich erwärmen und zum Lehen aufthauen!“ — in allem deſen, in
der Liebe und dem Mitleiden der freundlichen Wittwe zu ihm, in Johnſon's
Liebe und Dankbarkeit, Tiegt wahrlich Eeine Urfache zum Spott. |
Ihr Ehefland war, wie Died gewöhnlich der Fall if, zuſammengeſetzt
aus guten und üblen Tagen, aber Unſchuld und Würdigkeit wohnte darin
und als der Tod ihn geendet hatte, ein gewifles Heiligthum. Johnſon's
unfterblihe Zuneigung zu feiner Teity war ſteis ehrwürdig und nobel.
Jedoch fei dem nun wie ihm wolle, Johnſon iR nun geſomen, zu hei⸗
zathen und will vom Schulmeiſterhandwerk leben, tenn aud auf tiefem
Wege läßt fih Das Leben nothdürftig friften. Die Welt mögı daher Notiz
nehmen von der Ankündigung: „In Edial bei Lichfield werden
121 .
jange Herren in Penſien genommen und im Lateiniidhen
und Griechiſchen unterrihtet von — Samuel Johnſon.“
Hätte dieſes Unternehmen in Edial einen gedeihlichen Fortgang ge=
habt, wie ganz anderd wäre dann der Ausgang geweien! Johnſon hätte
ein zwar verdienſtvolles, aber unbeachtetes Leben gelebt, oder wäre zu einem
geftaltlofen Wr. Barr aufgeihwollen, der und nichts genügt hätte, und Bos-
well wäre zu officieller Bedeutungsloſigkeit zuſammengeſchrumpft oder auf
eine andere Weiſe geftiegen.
Das Unternehmen in Edial hatte aber feinen gebeihlichen Bortgang ;
dad Schickſal Karte Samuel Johnſon für einen andern Wirkungskreis bes
ſtimmt, und die jungen Herren gingen in Benflon, mo fie anderwärtd der⸗
gleichen finden fonnten, Diejer Mann follte ein Lehrer erwachſener Herren
und zwar auf tie überraichendfte Weile werden, ein Schriftfteller und ein
Herrſcher der brisiichen Nation für einige Zeit; — nicht bloß ihrer Körper,
ſondern auch ihrer Geiſter; nicht über fie, fondern in ihnen.
Bon dem Beide der Literatur fonnte man zu Johnſon's Zeit chen fo
wenig jagen als jetzt, Taf es an den Ufer eined Pactolus läge, und was
auch jonft bier geiammelt werden mochte, jo war doch Goldſtaub keineswegs
das Haupiprotuft. Die Welt Hat von ten Zeiten eines Sofrates, eines
Paulus an und noch weit: cher ftetd ihre Lehrer gehabt und fic ſtets auf
aanz beiondere Weiſe behandelt. Gin ſchlauer Bürgermeifter (nit von
Gphrius) gab einmal bei Gründung einer Schule, als die Frage aufgewor⸗
fen ward, wie die Schulmeifter erhalten werten jollten? den kurzen Rath:
„Zun Teufel! erhaltet fie arm." Es fann in tiefem Aphorismus ein
ziemlicher Brad von Weisheit Liegen. Auf alle Bälle fehen wir, daß die
Welt ibn fett langer Zeit befolgt, zumweilen aber doch ein wenig mehr ges
than har, intem von ihr mander Lehrer an einer großen Schule einem Tode
überannwortet worten if, der ihr ſogar etwas koſtete.
Die erfien Schriftfteller waren Mönde und hatten als ſolche das Ge⸗
lübde der Armuth abgelegt ; Die modernen Autoren hatten nicht erft nöthig,
einen ſolchen Schwur zu thun. Es war die vie Zeit, wo ein Otway no
vor Hunger ſterben Fonnte, unzähliger Scrogginſes zu gefchweigen, welche
bie Mufe unter einer elenden Decke ausgeftredt fand: vor einem verrofteten
Kamin, welches nichts von Feuer mußte; auf mit Sand beſtreutem Fuß⸗
boden, umgeben von allen anderen Wappenbildern des Handwerks, bie feit
undenflichen Zeiten das Erbtheil der Schriftftellerei find.
123
Scroggins ſcheint jedoch dabei ein Rüfiggänger geweien zu fein, we⸗
nigftend auf feinen Fall fo fleißig, wie der würbige Mr. Boyce, welcher im
Bett ſaß. die Dede als Gewand um ſich herumgeſchlagen und ein Zoch hin⸗
eingefchnitten hatte, um mit der Hand frei in feinem Berufe arbeiten zu
fönnen. Das Schlimmſte dabei war, daß nur zu häufig eine rüdfichtölofe
Gemuthsſtimmung daraus hervorging, die nicht im Stande war, das Gute,
was die Götter jelbft unter diefen Umſtaͤnden beicherten, zu benugen. Die
Boyces verfuhren nach dem ſtoiſch epifuräifchen Prinzip ,‚Carpe diem!“ jo
wie die Menichen In bombartirten Städten und zu den Zeiten einer herr»
ſchenden Peſtilenz zu thun pflegen. Auf diefe Weile gingen fie nicht blos
ihres Lebens und ihrer Beifleögegenwart, fondern aud ihres Namens als
achtbare Leute verluſtig. — Mit einem Worte, das Schriftſtellerhandwerk
war io ziemlich auf fein tieffted Niveau herabgeſunken, als Johnſon ſich ihm
widneete.
Demgemäß finten wir von einer Illumination der Stadt London, ald
dieſer Herrſcher ter britifhen Nation in ihr ankam, nichts erwähnt; es
werden feine Kanonenſchüfſe gelöf, kein Pauken- und Trompetentuſch be⸗
grüßt fein Erfcheinen auf der Bühne. Gr kommt ganz ruhig mit einigen
Kupfermünzen in der Taſche, Ericcht in feine Wohnung in Ererer Street
und bat auch einen Krönungspontifer von nicht weniger eigenthümlicher
Art, welchen er mit aller Unterwürfigkeit in feinem Batican an St. Johns
Gate jeine Aufwertung machen muß. Dies ift der ſchon oben erwähnte
ftumpffinnige, ichmierige Buchdruder.
„Cave's Temperament,“ sagt Ritter Hawkins, „war phlegmatilch.
Obſchon cr als Herausgeber des Magazins den Namen Sylvanus Urban
annahm, beſaß er doch wenige ron ten Eigenidaften, melde die Urbanität
ausmachen. Einen Begriff von feinem Mangel daran kann man fidh nad
der Zrage machen, welde er cinmal an einen Autor ftellte: ‚Mr. —, wie
ih höre, Haben Sie kürzlich eine Broihüre herausgegeben, die, wie man mir
fagt, einen jehr guten Aufiag über Mufif enthält; haben Sie den jelbft ges
ſchrieben?“ — Seine Urtheildfraft war ebenfalls ſehr ſchwach, und da ihm
ſchon einige Autoren in Proſa und Berien zu Gebote flanden, die in der
Sprache der Buchhändler gute Arbeiter genannt werden, jo war er um fo
weniger bedacht, eine nähere Bekanntſchaft mit Johnſon zu fuchen. Wei der
erfien Annäherung eines Fremden pflegte er fißen zu bleiben und einige
Minuten lang zu fhweigen. Hatte er Luft, das Geſpraͤch zu beginnen, fo
123
geſchah es gewöhnlich dadurch, daß er feinem .Befucher die neueſte Num⸗
mer feined Magazins vorlegte und ihn um feine Meinung darüber
fragte. — — —
„Er war fo wenig im Stande, Johnſons Fähigkeiten zu beurtheilen,
daß er einmal in der Meinung, ihn durch den Glanz eined ber ‚Literarifchen
Lichter zu blenden, welche ihn mit ihrer Gorrefpondenz beehrten, ihm fagte,
wenn er Abends in ein gewiſſes Bierhaus in der Nähe von Elerfenwell
fommen wolle, fo werde er Gelegenheit Haben, Dir. Browne und noch einige
jener berühmten Mitarbeiter zu ſehen. Johnſon nahm die Einladung an
und nachdem er von Cave, der einen weiten Reitrod und eine große buichige
Perüde trug, Mr. Browne, den er am obern Ende eines langen Tiſches in
einer Wolke von Tabaksrauch figend fand, vorgeftellt worden, hatte er Ges
legenheit, feine Neugier zu befriedigen. *
In der That, wenn wir den Zufland der Scähriftflellerei zu jener Zeit
ernft ind Auge fallen, fo werden wir finden, daß Johnſon fidh mit einer der
fhwieriaften aller möglichen Unternehmungen befaßt und daß bier eben fo
wie anderwärtd das Schickſal ihm die Ausfühnung unfüglicher Widerfprüde
zur Aufgabe geftellt hatte. Für einen Mann: von Johnſon's Gepräge war
das Problem ein zwiefaches: Erſtens nicht bloß als Die befcheidene und doch
fo unerläßliche Bedingung, fih womöglich am Leben zu erhalten, fondern
aud zweitens, ſich Dadurch amı Leben zu erhalten, daß er die Wahrheit
verkündete, die in ihm war und zwar in dem klarſten und paffendflen Aus⸗
drude, den der Simmel ihm verftatter hatte, ihr zu leihen, möchte die Erte
dazu fagen, waß fie wollte.
Wenn es ſchon ſchwer if, von diefem zwiefachen Problem eined von
beiden Bliedern allein zu löfen, wie unendlid ſchwerer wird dann die Lö«
fung, wenn beide verbunten werden und mit endloſer Eomplication in ein-
ander wirfen! Der, welcher fein Leben ſchon gefichert findet, kann zuweilen
(unglücklicherweiſe nicht immer) ein wenig Wahrheit fprechen ; Der, welcher
im Stande und willig ifl, fortwährend Zügen zu fagen, fann, wenn er im⸗
mer genau Acht giebt, woher ter Wind kommt, ſich feinen Kebensunterhalt
manchmal auf pradtvolle Weile erwerben und Der zulegt, welcher fid mit
feiner von beiten Begabungen außgerüftet fühlt, hat ein ziemlich kitzliches
Spiel zu fpielen und verdient Lob, wenn er ed gewinnt.
Wir wollen einmal beide Seiten der Sache ein wenig in Augenicein
124
nehmen und feben, welde Stirn fie unlerm Abenteurer boten umd welde
Stirn er ihnen entgegenfepte.
Zu der Zeit, wo Johnſon auftrat, befand fid die Kiteratur in vielen
Beziehungen in einem Uebergangdzuftande, befonders in dem Punkte, der
die pefuniäre Subfiftenz ihrer Arbeiter betrifft. Sie ftand damals eben im
Begriff, aus dem Schupe einzelner Gönner in den des Bublifumd überzugehen
und fich die zu ihrer Eriftenz nöthigen Mittel nicht mehr dur lobpreiſende
Dedicationen an die Sroßen, fondern durch angemeffene Sandelöverträge
mit ten Buchhändlern zu verichaffen. Diefe glückliche Veränderung ifl viel⸗
fach beiungen und gepricfen worden; mancher ,Lord vom Löwenherzen und
Adlerauge* blickt mit Beratung auf das entihwundene Syſtem der Abs
bängigfett, fo daß es jetzt vielleicht an der Beit if, einen Augenblid lang
zu erwägen, was Gutes darin lag und welde Dankbarkeit wir diefer Ver⸗
änterung ſchulden.
Daß etwas Gutes darin lag, ift feinem Zweifel unterworfen. "Alles,
was eriftirt bat, Hat auch feinen Werth gehabt; wenn nicht ein gewifler
Brad von Wahrheit darin gelegen bätte, jo hatte es gar nit zufammen«
balten und für lebende vernünftige Menſchen das Organ und die Methode
ihres Handelns fein fünnen. Man überjeße eine Züge, welche Durch und
durd Rüge ift, in die Praxis und das Rejultal wird Null fein; es ik
feine Frucht Davon zu ernten,
Daß in einem Zeitalter, mo ein Edelmann wirklich noch edel, mit ſei⸗
nem Reichthume der Beſchützer des würdigen und nüglichen und als folder
verehrt war, ein armer Mann von Genie mit ungeheuchelter Ehrerbietung
fih an ihn wendete und zu ihm jagte: „Ich habe bier Weisheit gefunden
und möchte fie gern der Welt verfünden ; willſt Du von Deinem Ueberfluß
mir die Mittel dazu gewähren?“ darin lag durchaus keine Erniedrigung;
es war ein ganz redlicher Antrag, den ein freier Mann machen und dem ein
freier Mann Gehör fchenken Eonnte.
So Tonnte ein Tafſſo mit einem Gerusalemme in feiner Hand oder in
feinem Kopfe zu einem Herzog von Ferrara fprechen ; io konnte ein Schafe
fpeare zu feinem Southampton, jo konnten die Künftler des Continents ges
wöhnlidy zu ihren reichen Gönnern fprechen ; in einigen Xändern fünnen fie
es faſt jegt noch. Erſt ald tie Ehrerbietung erheuchelt wart, ald Nies
drigfeit auf beiden Seiten fi geltend machte und rafch und üppig zu wu⸗
125
dem begann, er dann war dab, was ein Shafefpeare ohne Anſtoß üben
konnte, für einen Droten ſchmachvoll.
Auch war der neue Weg des Buchhändler-Mäcenars, ber ſich jetzt, wo
der alte Weg zu fhmugig und ungangbar geworden, für den widtigfien
Zweig alled Transporthandels öffnete, ein keineswegs unwürdiger. Man
bemerfe übrigens, wie dieſe zweite Art deg Dräcenatd, nachdem fie uns durch
beinahe ein Jahrhundert der Iiterarlichen Zeit hindurchgeführt, ihre Aufgabe
ebenfalld jo ziemlich erfüllt zu haben und raich auf eine Dritte Methode
binzuarbeiten fcheint, deren genaue Bebingungen aber jept noch keineswegs
fihtbar find.
Sp haben alle Dinge ihr Ende und wir müffen von ihnen allen nicht
in Zorn, fondern in Frieden fetten. Das Buchhändlerſyſtem bat während
feines eigenthümlichen Jahrhunderts, dein ganzen achtzehnten, un® ein gutes
Stüd vorwärts gebracht, viele gute Werfe hinterlaffen und viele gute Men⸗
fhen ernägrt. Wenn es jetzt durch Charlatanerie feinem Ende ent-
grgengebt, eben fo wie das Gönnerſyſtem durch Schmeichelei — denn
die Lüge iſt ſtets die Borläuferin des Todes, ja der Tod felbft — feinem
Ende entgegenging, fo dürfen wir doch auch nicht feine Wohlthaten vergeſ⸗
fen — mie e8 die Literatur, die von tem Gönnerſyſtem in weiche Windeln
gewickelt werden, weiter aufzog und ihr die Kinder- und Schuljahre über-
eben half, fo daß wir fle jegt im Begriff jehen, die ‚‚toga virilis‘‘ anzus
legen, fobald fie dDiefe gefunden haben wird!
Auf der jegt gangbaren Straße findet eine ziemliche Frequenz ftatt ;
mir auf der noch nicht geebneten und gepflafterten neuen und auf der von
tiefen Gleiſen und Pfützen durchſchnittenen alten Straße iſt das Reiſen
ſchlecht oder unthunlich. Die Schwierigkeit Tiegt immer in dem Ueber—
gange von einer Methode zur andern. In dieſem Zuftande fand Iohnfon
bie Literatur, aber wir dürfen auch nicht vergeffen, hinzuzufügen, daß cr fle
muthig daraus befreite. Welcher merfwürdige Sterblihe in England das
erſte Honorar für ein Verlagsrecht bezahlte, haben wir nicht ermitteln kön⸗
nen. Vielleicht war ſchon feit beinahe Hundert Jahren dann und warn von
dem Verkäufer der Bücher an den Schreiber derfelben ein kaum ſichtbares
oder waͤgbares Fleined Arbeitslohn bezahlt worden. Der Originalvertrag,
welchem zufolge eincrjeit8 das „verlorene Paradies“ und andererſeits fünf
Pfund Sterling produrirt wurden, liegt, wie man uns erzählt hat, noch
126
jegt Schwarz auf Weiß für Die, welche ſich dafür intereffiren, in einem
Buchladen in Ehancery Lane zur Anſicht und zum Verkaufe.
So war die Sache in gemiſchter, verworrener Weiſe etwa ſechzig Jahre
lang gegangen. Wie es bei ſolchen Dingen fletö zu gefchehen pflegt, läuft
das alte Spflem noch ein paar Generationen neben dem neuen ber und flirbt
erfi vollends, wenn das neue eine vollfländige Organifation erlangt Hat.
Unter den erflen Autoren, der allererfle von einiger Bedeutung, der von
dem Tagelohn feines Handwerks lebte und auf biefer Bafld ruhig der Belt
gegenüber trat, war Samuel Johnfon.
Bu der Zeit, wo Johnfon auftrat, waren noch zwei Wege vorhanden,
auf welchen ein Autor vorwärts zu kommen fuchen fonnte.e Es gab die no—
minellen Mäcenafje im Weſtend von London und die factiihen Mäcenaffe
von St. Johns Gate und Paternofter Row. Gin umfichtiger Mann fonnte
in Berlegenheit fommen, weldem von beiden Wegen er den Vorzug geben
follte. Keiner von beiten war fehr verlodend. Die Unterſtützung des hoch⸗
adeligen Bönnerd ward jegt fa nothbwendig durd Schmarogerei befleckt,
ebe der Autor fie wirklich in die Hände befommen Eonnte ; die des Buchhaͤndlers
ward durch babgierige Dummheit — fo daß ein Osborne von einem muthie
gen Autor fogar geprügelt werden mußte — entftellt und fonnte faum den
Baden des Lebens zufammenhalten. Die eine Unterflügung war der Lohn
des Leidens und der Armuth; Die andere, wenn dabei nicht Die größte mo—
ralifche Vorficht gebraucht ward, der Kohn der Sünde.
Johnſon hatte im Lauf der. Zeit Gelegenheit, beide Methoden zu prü«
fen und ſich zu überzeugen, wie es damit beichaffen war, fand aber gleich bei
dem erſten Verſuche, dag die erſtere fh in feiner Weile für ihn eignete.
Man höre noch einmal jenen weitberühmten Pojaunenftoß des jüngften Ge⸗
richteö, welcher Lord Chefterfield und durch diefen der laufchenden Welt ver«
fündete, daß das Gönnerthum künftig nicht mehr fein ſolle!
„Sieben Jahre, Mylort, find nun vergangen, feitdem ich in Ihren
Vorzimmern wartete oder an Ihrer Thür abgewielen warb, während welcher
Zeit id) an meinem Werfe (dem englifchen Wörterbuch) trog aller Schwie-
zigfeiten, über welche e8 nutzlos wäre, zu klagen, fortgearbeitet und es end⸗
lih ohne irgendwelche Unterftügung, ohne ein Wort der Ermuthigung ober
ein Lächeln der Gunft, fo weit gebracht habe, daß es nun naͤchſtens erſchei⸗
nen Tann,
127
„Der Schäfer Virgils Iernte endlich die Liebe Eennen und fand, daß
fie dem Felfen entflammte.
„IR nicht ein Gönner, Mylord, ein Menſch, welcher einem andern,
ber im Waffer mit dem Tode fampft, theilnahmlos zufleht und wenn er end⸗
lich wieder feften Boden gewonnen hat, ihn mit Hülfe überhäuft? Die No«
tig, weldye Ste die Güte gehabt haben, von meinen Arbeiten zu nehmen,
würde, wenn fle früher erfolgt wäre, für mich fehr werthvoll gewefen fein ;
fle ift aber fo lange aufgefchoben worden, bis ich gleichgültig geworden bin
und mich nicht mehr daran erfreuen kann; ich bin jeßt bekannt und brauche
fie nicht. Ich Hoffe, es ift Feine fehr cyniſche Schroffheit, da, wo Keine Wohl⸗
that empfangen worden iſt, auch keine Berbindlichkeiten anzuerfennen oder
dem Publikum die Meinung zu benehmen, daß ich dad einem Gönner ver⸗
danke, was ich mit Hülfe ter Vorſehung allein zu Stande gebracht habe.
„Nachdem ich mein Merk mit fo wenig Verbindlichkeit gegen irgend
einen Gönner der Gelehrfamfeit fo weit gebracht habe, fo werde ih mid)
au weiter nicht getäufcht fühlen, wenn ich ed mit noch weniger — falle
dies möglich wäre — zu Ende bringe, denn ich bin jchon laͤngſt aus jenem
Hoffnungstraum erwacht, in welchem ich mich einft fo frohlodend wiegte.
„Ich bin, Mylord, Ihr geborfamfter Diener
‚Samuel Johnſon.“
Und fo muß der rebellifhe Samuel Johnſon fih zu der Buchhaͤndler⸗
zunft und dem wunderbaren Chaos eines „Schriftftellers von Profeffton *
wenden und, obſchon er von jenem flumpffinnigen ſchmierigen Buchdruder
in feinem weiten Reitrocke und mit der großen bufchigen Perüde, aber bloß
als Subaltern bei einem commandirenden Offizier, der unter Tabaksrauch
an der Spitze einer langen Tafel in der Kneipe zu Elerfenwell figt, einge.
führt wird, fih zum Kriege rüften, weil ihm feine weitere Alternative
bleibt. |
Baft eben fo widerfprechend war jener andere Zweig bes zwiefachen
Problems, welches Johnſon jeßt vorgelegt ward — das Berfünden der
Wahrheit. Ach, leider fließ der arme Johnſon auf eine Maffe von Wi⸗
derfprüchen, in geiftigen Dingen fowohl als in weltlichen, von innen und
von außen; mit der unüberwindlichflen Liebe zu richtiger Erkenntniß gebo⸗
sen, muß er jegt beginnen, in einer Umgebung zu leben und zu lernen, wo
dad Vorurtheil üppig wuchert. „Was ift Wahrheit?” fagte der ſcherzende
Pilatus. „Was ift Wahrheit ?* Eonnte der ernfte Sohnfon mit weit grö«
128
Gerem Nachdrucke jagen. Die Wahrheit Lie jegt nicht mehr wie der Phö⸗
nix in feinem Regenbogengefleder aus ihrem glitzernden Schnabel jene füß-
melodiicgen Töne erklingen, welche jedes Ohr gefangen nahm, ſondern ber
num altgeworbene Phönix hatte jein Singen fo ziemli ganz eingeftelle und
langweilige Rudufe, klaͤglich eintönige Eulen, auch unzählige Doblen und
zwitichernde Sperlinge auf den Dädern gaben vor, jeine Stimme nachzu⸗
ahmen. J
Es war ein gänzlich getheiltes Beitalter, dieſes Zeitalter Johnſon's;
Einheit eriflirte nirgendde. Die Geſellſchaft war bis in tie feinften Faſern
hinein auseinantergerifien. Alle Dinge — dies ward damals ſchon ſicht⸗
bar, fonnte aber noch nicht verflanten werden — bewegten fi in Folge
eines ſchon vor Jahrhunderten erhaltenen Impulſes, aber jegt erſt mit ent»
fbietener Schnelligkeit nah tem großen chaotiſchen Abgrunde, wo wir in
der Geftalt von franzöfifdien Revolutionen, Reformbills, oder welche andere
blutige oder blutlofe Form der Verfall annchmen mag. Alles fih ſchaͤumend
durch einander wälzen ſehen. Zwei entjeglidye Erfheinungen, Seuchelei
und Atheisſsmus, theilen ſchon fchweigend die Welt. Meinung und Han
deln, die mit einander leben follten, wie ein Fleiſch oder richtiger, wie
Seele und Körper, haben ihren offenen Zwift begonnen und trachten nad
getrennter Exiftenz, als ob eine ſolche möglich wäre. Dem ernften Gemüth
ward in jeder Stellung eine fefte Baſis und ein Leben der Wahrheit mit je⸗
dem Tage ſchwieriger; in Johnſon's Stellung aber war es fehwieriger alß
faft in jeder andern.
Wenn er, wie Dies für eine fromme Natur unvermeidlich und unum-
gänglich war, zur Religion ald zum Polarftern feiner Reife aufblidte, fo
war fchon fein fefter Bolarftern mehr fichtbar, fondern vielmehr zwei Sterne,
eine ganze Gonftellation von Sternen, von welchen jeder ſich für den wahren
ausgab. Man fah den rothen, unheilverfündenden Kometen des Unglam
bens und den düſteren, immer düſterer brennenden und zulegt faft blos
einem atmoiphäriihen Meteor gleichenden Firftern der Orthotorte. Wels
hen von beiden follte er wählen?
Die ſcharfſinnigeren Geifter Europa's hatten ſich faft ohne Ausnahme
unter den erflern gefchaart. Seit einem halben Jahrhunderte war dad all
gemeine Streben der europäifchen Bhilojophie darauf gerichtet gewefen, zu
verfünden, daß die Vernichtung der Lüge Die einzige Wahrheit ſei; täglich
war das Leugnen ftärfer und flärfer geworten und der Glaube mehr und
129
mebr in Verfall gerarhen. Bon unferen Bolingbrofe® und Tolands war
dad Yieber des Skepticismus nach Frankreich und Schottland getragen wor«
den und ſchon glemm es fern und nah und zehrte im Stillen an dem Her-
zen Englands, Bayle hatte feine Rolle geſpielt; Voltaire fpielte auf einem
größeren Iheater die feine, er war etwa fünfichn Jahre älter als Johnfon ;
Hume dagegen und Johnſon waren Kinder faft eines und deffelben Jahres
(3ohnfon, September 1709 — Hume, April 1711).
Zu diefer Anzahl ſcharfſinniger Geifter gehörte Johnſon unbeftreichar ;
follte er fi ihnen anſchließen? tollte er fich ihnen entgegenflelleu? Cine
werwidelte Frage, denn leider ift die Kirche ſelbſt auch für ihn nicht mehr
gänzlih von ächtem Diamant, jontern von Diamant und gebadenem Schlamm
durch einander gemiſcht. Der eifrig Fromme gewahrt, wie feine Kirche
ſchwankt und flieht mit Entiegen anſtatt begeifterter Prieſter fo manden
jchweinemäftenden Trulliber an ihren Altare fungiren. Es ift nicht der am
wenigften jonderbare von den Widerſprüchen, welche Johnſon auszuſöhnen
batte, daß er, obſchon von Natur zur Verachtung und zum Unglauben ge-
neigt, Damals fein Heil und jeinen Ruhm darin fand, daß er die Tradi⸗
tionen der Alten mit feiner ganzen Kraft vertheidigte.
Nicht weniger verwidelt und nach beiden Seiten bin hohl oder zwei⸗
felhaft war der Stand der Politik. Die Whigs ftrebten blind vorwärts,
tie Tories hielten blind zurüc, jeder mit einer Ahnung von einer halben
MWahrbeit, feiner mit einer Ahnung von der ganzen! Hier bewundere man
den anderweiten Wideriprud in dem Neben Johnſon's, daß er, obichon der
unlenfjanfte und in jener Handlungdweife der unabhängigfte Menſch, ein
Jakobit und Verehrer des göttlichen Rechts fein mußte.
Wenn die Neligion zerrifien und das innerfte Herz der menjchlichen
Eriftenz gegen fich felbf} empört wird, dann muß in allen untergeordneten
Käcern nothwenig Hohlheit und Zufammenhangsloftgkeit einreißen. Die
engliſche Nation hatte gegen einen Tyrannen rebellirt und Durch die Hände
frommer Tyrannenmörder blutige Nahe an ihm genommen. Die Demofra«
tie hatte ſich mit ihrer Niefenftärke erhoben und glei einem jungen Her⸗
fules Schlangen in der Wiege erdroffelt. Noch aber kannte Niemand den
Sinn oder die Tragweite tes Phänomens — Europa war noch nicht reif
dazu, fondern follte erſt dur die Kultur und die mannigfadhen Erfahrun«
gen von ferneren anderthalbhundert Jahren dazu gereift werden.
Garlple. II. 9
130
Und nun, da die Königdmörder alle befeitigt und ein freundlicheres
zweites Bild auf ie Leinwand bed erften gemalt und „glorreidhe Mevo-
Iution * betitelt worden war, wer hätte dann anders glauben können, ale
daß tie Kataftrophe vorüber, Die ganze Sache zu Ende und die Demofratie
in ihren langen Schlaf verjunfen jei? Und dennoch war die Sache beendet
und aud nicht beendet ; eine zögernde Unruhe wohnte in allen Gemüthern;
die tiefliegende unwiberftehlidye Tendenz, der man noch gehorchen mußte,
war nicht mebr füchtbar. Auf tiefe Weiſe entjtand Halbheit, Unredlichkeit
und Unſicherheit im Thun und Treiben der Menſchen; anftatı heldenmüthi—⸗
ger Buritaner und tapferer Gavaliere tauchte jegt eine müßige Schaar
fhwagender Whigs und eine müpige Schaar harthöriger Toried auf, von
welchen die einen wie die antern halb Thoren und halb Xügner waren. Die
Whigs waren Lügner nnd ohne Baſis, denn ihr ganzer Zwed war Wider⸗
ftand, Tadel, Zerſtörung. — fle wußten nicht, weshalb oder wohin es ent=
lich führen jolle. In tem Whiggismus konnte, ſeitdem ein Charles und
feine Jeffries aufgehört hatten, fich hineinzumiſchen und einen Auffell oter
Sydney zu haben, der fih gegen fie aufgelehnt hätte, Feine Göttlichfeit des
Charakters liegen und erft in der leßtern Zeit, wo er Die Geflalt eines
grüntlihen, Allem Trog bietenden Raticalidmud annahın, gewann cr eine
folive Baſis, auf ter er ftchen fonnte.
Bon derjelben unficheren bald hohlen Befchaffenheit war der Toryis⸗
mus in Johnſon's Zeit geworten. Allerdings predigte er die Pflicht der
Loyalität als eine ewige Wahrheit und dennoch hatte er feit der Definitiven
Vertreibung der Stuartd feine Berfon, fondern blos ein Amt, gegen
weldyeö er loyal jein Eonnte; jeine Verehrung galt feiner lebendigen Seele,
fontern bloß einem totten nit Sammet gepolfterten Stuhle Seine
Haltung war deshalb eine halsftarrige Weigerung fi) zu bewegen, eben jo
wie die des Whiggismus ein lauter lärmender Drang und Befehl zum Bor«
wärtöjchreiten, — modten nun Bernunft und Billigfeit auf beiden Seiten
dazu jagen, was fle Luft hatten.
Die Folge Hiervon war: Eine unermeßlide Fluth von flreitjüchtigem
Kauderweljch ohne alle Elare Tendenz; falfche Ucherzeugung ; falſcher Wider⸗
fland gegen Die Ucberzeugung ; Verfall — und entlid gänzliches Abiter-
ben — alles Defjen, was man früher unter den Worten Grundjaß ober
Ehrlichkeit des Herzens verfland; Der lautere und immer lautere
Triumph der Halbheit unt Plauftbilitäe über Ganzbeit und Wahr⸗
131
beit; — zuletzt jene Alles überjchattende Alüthe des Charlatanid-
mund, welche wir jegt mit all ihren tödtenden und mordenten Früchten tin
all ihren unzähligen Berzweigungen bis herab zum Geringften fehben. Wie
follte zwiſchen dieſen widerftreitenten Extremen, worin das Berfaulte fo
unentwirrbar mit dem Gefunden verihmolzen war und wo noch Fein Auge
die endlihe Bedeutung der Sache durchſchauen fonnte, ein rechtichaffener
und redlicher Mann ſich zurechtfinden?
Daß Johnſon trog aller Schattenfeiten fich zur confervativen Partei
ſchlug, al8 unerjchütterliher Gegner der Neuerung auftrat, entichloffen, an
der Form gejunder Worte feflzuhalten, mußte die Schwierigfeiten, mit wel-
‘hen er zu Fämpfen hatte, in nicht geringem Grade vermehren. Wir meinen
die moraliſchen Schwierigkeiten, denn in öfonomifcher Beziehung
wog fih die Sache fo ziemlich auf; der Tory« Diener des Publikums hatte
vielleicht ungefähr diejelbe Ausftcht auf Beförderung wie der Whig > Diener
und Johnfon trachtete nach Feiner anderen Beförderung, ald nad) Dem Recht,
zu leben. Für das aber, was, obſchon nicht eingeftanden, doch nicht
weniger unumgänglich nöthig war — für feine Gewiffensruhe und die flare
Erfenntniß jeiner Pflicht ald ein Bewohner von Gotted Welt ward Die
Sache Hierdurch nur um fo verwidelter gemacht.
Der Neuerung Widerftand leiften, ift ziemlich Teicht unter einer ein=
zigen Bedingung — ber Bedingung, daß man auch der Forſchung Wider:
fand leiftet. Dies ift und war dad gewöhnliche Auskunftsmittel der ges
wöhnlichen Conſervativen; für Iohnfon aber reichte ed nicht aus. Diejer
war ein eifriger Breund der Forſchung, die er auch jelbft thätig übte. Gr
fonnte und wollte ein für allemal feine Züge glauben, geichweige denn
reden oder thun; Die Korm gejunder Worte, Die er feftbielt, mußte eine
Bedeutung in fi Haben. | |
Hierin Tag die Schwierigkeit. Es galt hier, eine einflußreiche gewal«
tige Miſchung des Wahren und des Falſchen zu jehen; zu fühlen, daß er
bier wohnen und fänıpfen müſſe und dennoch nur dad Wahre zu lichen und
zu vertheidigen. Wie ſollſt du anbeten, wenn du fein Götendiener fein
fannft und jein willf, und dennod nicht umhin fannft, einzufchen, daB Tas
Symbol deiner Gottheit halb gößendieneriich geworden ift?
Dies war die Frage, welde Iohnfon, der Mann mit Flaren Blick
und frommem gläubigen Herzen, beantworten mußte, — auf Gefahr feines
Lebens Hin.
9%
132
Der Whig oder Steptiler dagegen Hatte eine weit einfachere Rolle zu
fpielen. Ihm lag blos die gögendienerifche Seite der Dinge, aber keines⸗
wegs die göttliche fihtbar offen ; von ihm ward daher feine Verehrung,
ja im firengen Sinne des Wortes nicht einmal Herzens⸗Ehrlichkeit, fondern
im höchſten Falle nur Lippen- und Hand« Ehrlichkeit verlangt. Die ganze
geiftige Kraft, welche fein if, Fann er gewifienhaft auf die Arbeit des Grü-
belns, auf das Niederreifen Deflen, was falſch ifl, verwenten; Daß es
übrigens eine Wahrheit vom höherer als finulicher Natur giebt ober geben
fönne, dies if ihm noch nicht eingefallen.
Das Höchſte, wornad daher ein Menfch zu fireben hat, iſt Achtbar⸗
Teit oder Reipeftabilität — der Beifall feiner Mitmenſchen. Diele Beifulls-
ſtimme fann er fowohl wägen ald zahlen, oder auch blos zählen — je nad
dem er ein Burke oder ein Wilfes if. Weiter darüber hinaus aber Tiegt
nichts Göttliches für ihn; find jene Beifallsſtimmen erlangt, fo ift Alles
erlangt. Auf diefe Weife iſt feine ganze Welt deutlih und abgerundet; er
ſteht ein klares Ziel vor fi, einen feften, bald rauberen, bald geebneteren
Pfad, im fchlimmften Falle einen feften Boden, auf welchem er einen Pfad
fuhen fann. So gürte er denn feine Lenden und wandere ohne bange
Ahnung oder Befürdtung !
Bür den ehrlihen Gonfervativen dagegen ift nichts deutlich, nichts ab⸗
geründet. Die Reſpektabilität fann in feiner Weile feine höchſte Gottheit
fein; er bat nicht nad einem Ziele zu fireben, fontern nach zwei wiber«
ſprechenden Zielen, die fortwährend durch ihn ausgeföhnt und in Einflang
gebracht werden müſſen. Es ift dies, wie wir ſchon jagten, eine ſchwierige
Pofttion, die demgemäß auch von den Meiften felbft in jener Zeit nur bald
vertheidigt ward, infofern naͤmlich, als fie ihre eigene allzubeichwerliche
Redlichkeit, oder auch fogar ihren Verſtand dem Feinde überlicfer
ten, wornach bie vollftäntigfte Verteidigung wenig werth war. Und in
dieſe ſchwierige Poſition warf fih Johnſon nichtödeftoweniger. Allerdings
fand er ſte voll Schwierigkeiten, behauptete ſie aber muthig als ein Mann
von ehrlichem Herzen und klarem Blick ſein ganzes Leben lang.
Bon dieſer Art war das „zwiefache Problem“, welches Samuel John⸗
ion geftellt ward. Man erwäge alle diefe moralifchen Schwierigfeiten und
bedenke außerdem noch den furchtbar erfchiwerenden Umſtand, welder darin
lag, daß er eine fortwährende Anſprache an dad Publikum bedurfte, forte
während einen gewiffen Eintrud auf das Publifum äußern und ihm Ucher-
133
zengung beibringen mußte. That er dies nicht, fo hörte er auf, „Lebens⸗
mittel für den laufenden Tag“ zu haben — er konnte nicht länger leben !
Wie ein gemeiner Charakter, einmal in dieſes wilde Element gewor⸗
fen, son Burdt und Hunger welter gepeitſcht, ohne ein anderes Ziel als
Alles, was in der Form von Genuß irgend einer Art fich ihm darbietet, an
fi zu raffen und fi dabei jo viel ald möglid von Galgen und Pranger
fern zu halten, das beißt fowohl Die „Berfon* ale auch den „ Charakter”
forgfältig in Acht nehmen, — wie ein folder Eharakter in diefem Element
bin und her geſchwommen und wie ed ihm möglich geworten wäre, täglich
Drei Mahlzeiten zu efien, fich jährlich drei Mal neu zu kleiden und kann
nachdem er feine Ichte Ration verzehrt, fortzugehen und zu verſchwinden —
alles dies wäre wohl des Wiſſens werth, an und fir ji aber doch nur eine
triviale Kennmiß.
Wie aber ein nah Wahrheit firebender edler Menfch, für welchen
Berftellung und Lüge ein für allemal ein Abſcheu waren, in diefem Elemente
bandein würde — darin lag das Geheimniß. Auf welche Weife, durch
welche Begabung des Auges und der Hand findet ein heldenmüthiger Sa-
nmel Johnſon, nun in jenes wüfte tolle Chaos des Schriftftellertbums, ein
Gemiſch von Phlegethon und Fleetgraben, mit feinem ſchwimmenden Holze
und Seekraken und Schlammgefpenftern gefchleudert — feinen richtigen
Cours; wie baut er fih auß dem vergängliden Xtreibholze und dau⸗
ernden Eiſen ein ſeewürdiges Rettungsboot und fegelt darin, ohne zu er⸗
trinken, ohne ſich zu beihmugen, durch die brüllende „ Mutter todter Hunde *
immer weiter nad) einer ewigen Landmarke und Stadt, welche auf feftem
©runte ftebt?
Dieje hohe Frage ift eben die, welche Boswell's Bud beantwortet,
welches Buch wir deshalb gar nicht mit Unrecht ein Heldengedicht ge
nannt haben, denn e8 liegt darin das ganze Argument eines jolden. Ehre
und Ruhm unferem waderen Samuel! Er löſte tiefes wunterbare Pro«
blem und nun zeigen wir durch lange Generationen zurüd auf ihn und
fagen: Dies war aud ein Menſch; möge kie Welt daher audı noch ferner
Bertrauen haben zu den Menſchen!
Hätte Johnſon, ale er fo dur dieſes Chaos dahinſchwamm, fein
anderes Kicht gehabt, ald ein irdiſches und Außeres, fo hätte audy er Schiff⸗
bruch leiden müffen. Wie leicht hätte er mit feinem fränflichen Körper und
heftigen gierigen Herzen ein Carpe diem + Philofoph werden und chen Io
134
elend wie irgend eine Boyce von dieſer Brüterfchaft leben unt ſterben
fönnen!
Glücklicherweiſe aber brannte für ihn ein höheres Licht, welches wie
eine Lampe jeinen Pfad erhellte, welches ihn auf allen Wegen gelehrt
haben würde zu handeln und wandeln nicht ale ein Thor, jontern ol& ein
Weiſer. Unter düfterern oder klarern Manifeflationen war ihm eine Wahr-
heit enthüllt worten: Auch ich bin ein Menſch; felbft in dieſem unaus«-
ſprechlichen Element des Schriftſtellerthums kann ich leben, wie es einem
Menſchen geziemt! Daß das Unrecht vom Recht nicht blos verſchieden,
ſondern daß ed, ſtreng wiſſenſchaftlich ausgedruͤckt, davon unendlich ver⸗
ſchieden iſt, eben ſo verſchieden wie der Gewinn der ganzen Welt im Ver⸗
gleich zu dem Verluſt der eigenen Scele oter — wie Johnſon ſagte — der
Simmel von der Hölle, daß in allen Lagen, in welchen ein lebender Menſch
fi befunden hat, oder befinden fann, wirflib ein Preis von gan uns
endlihem Werthe für ihn erreichbar it, namlich cine Pflicht, die er zu
erfüllen hat — dieſes höchſte Evangelium, welches Tie Baſis und den Werth
aller andern Evangelien, mögen fie heißen wie fie wollen, ausmacht, war
Samuel Johnfon offenbart worden und ber Menſch hatte ed geglaubt und
e8 treulich zu Herzen genommen.
Eine ſolche Erfenntnig des transcententalen unermeßlichen Charakters
der Pflicht nennen wir die Bafld aller Evangelien, dad Gruntweien aller
Religion und der, der mit feiner ganzen Seele nicht dies weiß, weiß über⸗
Haupt noch nichts, ja.ift eigentlich noch nichts.
Johnſon aber war zu feinem eigenen Glück einer von Denen, Die Died
wußten. Unter einem gewiffen autbentifhen Symbol war c8 jeinen Augen
flet8 gegenwärtig — einem Symbol, welches allertings veraltete wie cin
Kleid, aber dennoch unzählige Heilige und Zeugen, die Väter unierer nıo«
dernen Welt, als ihr Banner und ihre himmliſche Feuerſäule geleitet und
auch für ibn noch eine Heilige Beteutung hatte. Es icheint nicht, als ob
Johnſon zu irgend einer Zeit Das gewefen wäre, wad wir irreliyiod nennen,
aber erft in feinen Leiden und feiner VBereinfamung, als die Hoffnung hiu⸗
wegftarb und nur cine lange Bernfiht von Duldung und Mühe vor ihm lag
bis an's Ente — dann erjt erglänzte die Religion in ihrer ſchüchternen
ewigen Klarheit gerate jo wie die Sterne in fdywarzer Nacht bervortreten,
nachdem fie am Tage und in der Dämmerung durch geringere Xichter ver⸗
hüllt worden. Wie ein ächter wahrer Menfch mitten unter Irrthümern und
135
Ungewißheit fi eine fihere Lebendwahrheit erringen, das Vergangliche mit
dem Ewigen verbindend unter den Trümmern verfallener Tempel mit Mühe
und Arbeit einen Fleinen Altar für fich jelbft erbauen und an diefem an«
beten joll; wie Samuel Johnſon in dem Zeitalter eines Voltaire feine
Seele läutern und fräftigen und „in der Kirche von St. Element Dane *
wirfliben Umgang mit dem Höchſten pflegen kann — auch dies fteht alles
offenbart im jeiner Lebensgeſchichte und gehört darin zu den rührendften und
merfwürdigften Dingen — ein Ding-, welches wir nur mit Bewunderung,
Mitleid und Ehrfurcht betrachten können. Johnſon's Religion war für ihn
wie das Licht des Lebens; ohne daſſelbe war fein Herz durch und durch
franf, finfler und hatte feine andere Führung.
Nun ift er unter jene unausſprechliche ſchuhputzeriſch⸗ſeraphiſche
Säriftftellerarmee angeworben oder geprefit; aber er fühlt dabei, daf er
unter einer bimmlifchen Fabne kämpft, fich zeigen wird wie ein Mann.
Das erfte große Erforderniß, ein zuverfichtliches Gerz, befigt er daher;
worin jeine äußeren Ruͤſtſtücke und Waffen beftehen, ijt die nächte Frage —
eine wichtige, obichon untergeordnete. Sein geiftiged Eigenthum ift, an
und für fih betrachtet, vielleicht unbedeutend — Die Früchte einer engliichen
Schule und englifchen Liniverfität, gute Kenntniß der lateinischen Sprade,
feine ganz fo gute der griechiihen — dies ift ein etwas magerer Vorrath
von Wiffen, um damit der Welt gegenüber zu treten.
Hierbei aber darf man nicht vergeflen, daf feine Welt England war;
daß Dies die Ausbildung war, welde England gewöhnlich gewährte und er⸗
wartete. Ueberdies ift Johnſon ein gieriger Lefer, obſchon ein flüchtiger
und am öfterften in ſeltſamen fcholaftifchen allguveralteten Bibliotheken ge=
wein; cr bat fih nun auch feit einigen dreifig Jahren in dem Gedränge
des praktiſchen Lebens bewegt und Anſichten, richtige oder falfche, über un⸗
zählige Dinge wimmeln in ihm bunt durdyeinander.
Vor allen Dingen aber und mögen jeine Waffen fein, welde fie
wollen — er befißt einen Arm, der fie icwingen fann. Die Natur hat
ihm ihr edelftes Geſchenk verlichen — ein offened Auge und Herz. Er bes
trachtet die Welt überall, wo er einen Schimmer von ihr erbliden Tann,
mit Eifer und Wißbegier. Bis zum letzten Augentlid finden wir, daß dies
ein hervorftechender Charafterzug von ihm iſt. Yür alle menfchlichen Inter«
effen bat er Sinn. Der gewöhnlichfte Handwerksmann konnte ihn jelbft noch
in feinem Alter interefflren, wenn er von feinem Handwerk ſprach. Das
136
Thun umd Treiben der Menfchen ift ihm überall imtereffant und alle menich-
lichen Dinge, die er noch nicht wußte, wünfchte er zu wiflen. Dabei dachte
er mit oder ohne feinen Willen fortwährend über Alles nad und flellte Be
trachtungen an, denn fein Sinn war ernft, tief und menichenfreundlicd.
Auf tiefe Weile bildete fih die Welt, namlich der Theil davon, den
er überfchauen Tonnte, zu einem zufammenhängenden Ganzen oder ftrebt:
fortwährend fid dazu zu bilden — zu einem Ganzen, über deſſen Phaſen
es fi) wohl verlohnte, feiner Stimme zu laufhen. Als Spreder des Wor⸗
tes fpricht er wirklihe Worte; Fein müßiges Kauderwelſch, Feine Hole
Trivialität entſchlüpft ihm. Dabei iſt auch fein Ziel klar und erreichbar —
er will für feinen Lohn arbeiten. Dies möge er nur redlih thun
und alles Andere wird von felbft folgen.
So gerüftet zog Iohnfon in einen foldyen Krieg. Wit Rieſenkraft
arbeitet er; da dies einmal fein Loos tft und zeichnet fih auch ſchon durch
bloße Duantität aud, wenn feine andere Auszeichnung zu erlangen if. Er
Tann alles fchreiben — froftige Tateinifche Verfe, wenn diefe Die verfäufliche
Waare find; VBorreden zu Büchern, politifche PhHilippica, Recenſionen und
andere Iournalartifel, Parlamıentsdebatten — alles macht er ſchnell nad
einander und, was noch wunderbarer ift, er macht alles grüntlid und gut.
Wie fipt er da in feiner plumpen unförmlidhen Geftalt in jenem obern Zim⸗
mern in St. John's Gate und befördert einen Bogen der Debatten des
Senats von Riliput nah dem andern zu den Enurrenden Preßbengeln, Die
mit unerjättlihem Rachen unten darauf warten, mährend er jelbſt vielleicht
noch impransus ift.
Dabei bewundere man aud die Größe der Literatur; wir ein in ihr
Nilwaſſer geworfenes Senfforn fih in dem frudtbaren Schlamm einnifter
und eincd Tags als ein Baum wiedergefunten wird, in defien Zweigen alle
Vögel des Himmels wohnen können. War ed nicht fo mit diefen Liliputi⸗
hen Debatten? In diefem Eleinen Project und Act begann jener gewal⸗
fige vierte Stand, teflen weite die Welt umfaflende Einflüffe fein Auge
zu ermeflen vermag, in deffen Zweigen ſchon Vögel von feltiamem Geficder
wohnen.
Solche Dinge und noch weit feltiamere Dinge geſchahen in jenem
wunterbaren alten Bortal ielbfl noch in fpäteren Zeiten. Und dann denke
man fich Samuel wie er „binter dem Schirme” von einem Zeller fpeift, der
ihm auf einen verabredeten Winf der „großen buſchigen Berüde “ verftohlen
137
gereicht wird, denn Samuel ficht zu zerlumpt und fchäbig aus, als daß er
zum Vorſchein fommen fönnte, fühlt fi aber glücklich zu hören, wie man
Iobend von ihm fpriht. Wenn dieſes St. John's Bate ſchon für Johnſon
jelbR ein Ort war, an weldem er nie „ohne Ehrerbictung vorüber gehen“
fonnte, ſo muß died mit und noch weit mehr der Fall fein. *)
Armuth, Mangel und bi8 jegt auch noch Dunfel und Unbekanntbeit
“) Alle Derilichfeiten, an welchen Johnſon gemohnt und bie er befucht hat, find
ehrwürdig und zwar jetzt nicht blos für Wenige , fondern auch für Viele, denn fein
Name ih groß geworden und es giebt, wie wir oft mit einem Grade von wehmäthiger
Bewunterung anerkennen müffen , felbft für den roheſten Menfchen Feine Groͤße, die
fo ehrwürdig wäre wie intellectuelle oter geiftige Größe, ja eigentlich giebt es gar
feine andere, die verehrungswürdig wäre. Welcher feſſelnde Zauber liegt 3. B. ſogar
für den Bauer oder Handarbeiter unferes England in dem Worte „Gelehrter!“ „Gr
iR ein Gelehrter“, dies heißt, er iſt ein Menſch, ter weifer ift als wir; deffen Weiss
beit für uns grenzenlos und unendlich ift. |
Troptem hält es in tiefem toll durd einander wirbeinden, Alles vergeflenden
Zonten oft jehr fchwer, die Wohnungen der Gewaltigen zu entdeden, die nicht mehr
int. Kann uns 3. B. Jemand fagen, welde Steine in Lincoln’s Inn 28 waren,
die Ben Ichnfon’® Hand und Relle mauerte? Wir fürdten, daß es uns Niemand
fagen fann und grollen darüber. Mit Samuel Johnfon wird es vielleicht anders !
Ein Mitglied des Britifcben Muſeums hat, wie wir hören, Zeichnungen von allen
Häuiern gefertigt, in welchen er wohnte — möge es dafür gefegnet fein! Wir ſelbſt
enttedten nicht ohne Mühe und Gefahr kürzlich Gough's Square zwifchen Fleet⸗
Areet und Holborn, fewohl an Beltcourt als auch an Johnſon's Court anitoßend,
und am zweiten Tage unferes Suchens frgar das Haus, in welchem das englifche
MW örterbucd geichrieben ward. WE ift das crfle oter Eckhaus rechter Hand, menn
man durch den Thorweg von der nordweſtlichen Seite hereinfommt. Der gegenwärtige
Befiger, ein ältlidher Manu von fauberem, anfländigem Ausfehen forderte uns auf,
einzutreten und erbot fich fehr artig unfer Gicerone zu fein, obſchon in feiner Erinne:
rung bie feltfamfle und thörichite Confuſion herrſchte. Es ift ein ziemlich großes alt=
säteriiches Haus mit Seländern von Cichenholz. „Ich habe feitden manches Pfund
und manchen Penny darauf verwendet,“ fagte der würdige Hausbefißer; „hier, ſehen
Sie, vieles Schlafzimmer war das Etudirzimmer des Doctors ; dies da war der Gars
ten” — ein Plägchen nicht viel größer als ein Betttuch — „wo er fpazieren ging, um
ſich Bewegung zu mahen. In diefen trei Schlafzimmern unter dem Dache (mo feine
drei Copiſten ſaßen und fchrieben) wohnten feine — Schüler!” Tempus edaz
serum! Aber auch ferax, denn unfer Freund feßte hierauf mit einem Blick der rein
bikerifch fein wollte, Hinzu: „Ich vermiethe das ganze Haus ſtubenweiſe an anftäns
dige Herren — vierteljährlich oter monatlich; es ift mir ganz egal.” — „Mir au, *
fuͤſterte Samucl's Geil, als wir gedanfenvoll wieber unferer Wege gingen.
138
find feine Srfährten. Er ift fo arm, daß fein Weib ihn verlaffen und ein
Unterfommen bei Verwandten juchen muß, denn Johnſon's Haushalt fann
6lo8 einen einzigen Bewohner beherbergen. Zu all jeinen fortwährend
wechſelnden und fortwährend wicderfehrenden Leiden geiellte ſich auch noch
fortwährende Kränflichfeit und Damit verbundene Niedergeſchlagenheit. Eine
furchtbare Laft, melde tie meiften gewöhnlichen Sterbliben zur Verzweif⸗
lung getrieben bätte, ift fein ihm vom Schickſal zugetbeilter Ballaft und
feine Lebensbürde; er „fonnte jich feines Tages entjinnen, den er ohne
Schmerz zugebradt hätte. *
Irogten aber ift das Reben, wie wir jchon früher ſagten, ſtets Das
Leben. ine gejunte Seele, Terfere man fie ein wie man wolle, in eine
ſchmutzige Manſarde, einen fadenſcheinigen Rod, in Eörperlice Krankheit
oder was man fonft wolle, behauptet flet3 Die ihr vom Himmel verlichene
unveräußerliche Sreiheit, ihr Hecht, Schwierigkeiten zu befiegen, zu arbeiten,
ja fogar fih zu freuen. Johnſon bewingelt nicht fein Dajein, fondern jucht
es muthig jo gut ald möglich zu benugen, „Er fagte, der Menſch Fönne
recht wohl für achtzehn Pence Die Woche in einer Dachſtube leben. Nur
Wenige würden fragen, wo er wohne und wenn fic es thäten, jo fonne
man ja recht gut jagen: Ich bin Da und Da zu treffen. Wenn man drei
Pence in einem Kaffeehauie verthut, jo kann man ſich jeden Tag einige
Stunden lang in jehr guter Geſellſchaft befinden ; für fech8 Pence kann man
zu Mittag effen, für einen Benny bekommt man Brod und Milh zum Frühe
ſtück und das Abendbrod fann man recht wohl entbehren. An ten Tage,
wo man ein reined Hemd anzieht, geht man aus und flatter Bejuche ab.*
Man bedenke, von wen und über wen dies gefagt ward und frage dann, ob
darin mehr oter weniger Pathos liegt, ald in einer ganzen Leihbibliothek
von „ Giaurd” und „Harolds“.
Bei einer andern Gelegenheit, ald Dr. Johnſon eined Tags feine eigene
Satyre lad, worin das Leben eines Gelehrten mit den verichicdenen Hinters
niſſen geſchildert il, Die fih ihm auf dem Wege zum Glück und zum Ruhm
entgegenftellen, brach cr in einen leidenſchaftlichen Thräneuſtrom aus. Nios
Mr. Thrale's Bamilie und Mr. Scott waren gegenwärtig, welcher legtere
thn fcherzend auf den Rüden ſchlug und fagte: „Was foll das heißen, mein
guter Herr? Sie und ich und Herkules waren fü, wie Ste wiffen, alle mit
Schwermuth behaftet!“ Er war ein fchr großer ftarfer Mann und ver«
—_ 27 — u< Zu, wn 3 [| 7
139
vellfländigte mit Johnſon und Herfuled das Triumpirat auf ziemlich komiſche
Weiſe.
Es waren dies aber ſüße Thränen; es lag darin die freudige Erinne⸗
rung an allerdingd furchtbare Mühen, vor denen er aber niemals zurückge⸗
bebt war und die er nun flegreich übermunden hatte. Dereinft wird e8 auch
dich freuen, gethaner Arbeit zu gedenfen! — Obſchon Johnſon noch unbe=
fannt und arm ift, fo ift ihm doch der höchſte Genuß bes Dafeind, der des
freien Herzensumgangs, nicht verfagt. Savage und er wandern obdachlos
in ten Straßen umher, ohne Bett, aber nicht ohne freundliches Geſpräch
und in den flolzeften Geſellſchaftsſalon Londons findet dieſes Gefpräch nicht
feines Gleichen. Auch in der flillen leeren Nacht auf dem barten Straßen«
pflafter find ihre eigenen Leiden nicht Das einzige Thema ihrer Unterhaltung,
denn fie verfichern einander gegenfcitig, daß fie ihrem Vaterlande beiftehen
wollen, die beiden Hinterwäldler der Häuſerwüſte! |
Bon allen äußeren Uebeln ift Obfeurität oder Unbefanntheit an und
für ſich vielleicht da8 geringfte. Für Johnſon, als. einen Mann von gefuns
dem Geifte, hatte der phantaftifche Artikel, Der unter tem Titel des Ruhm
verfauft oder werichenft wird, wenig ober feinen Werth außer dem an und
für fih darin Tiegenden. Er ichägte ibn als das Mittel, Beichäftigung und
guten Lohn zus befommen, aber kaum als etwas weiter. Sein Licht und
feine Richtſchnur entflammten einer höheren Quelle, von welcher er bei feis
nem ehrlichen Widerwillen gegen alle Heuchelei oder Anmaßung mit Men⸗
ſchen nicht iprad ; ja woron er ald gefunder Geift viclleicht noch nicht
einmal mit fich ſelbſt geiproden hatte.
Diefe feine Nichtachtung des Ruhms und Gleichgültigkeit Dagegen bes
trachten wir als eine auffällige Thatſache in Johnſon's Geſchichte. Die
meiften Autoren fprechen von ihrem „Ruhm“, ald ob derſelbe etwad ganz
Unfhägbares wäre, das große Ultimatum und die himmlische Fahne, unter
der fie zum Kampf und Siege ziehen. — Dein ‚Ruhm!“ unglüdlicer
Sterl licher, wo wird er und du mit ihm in etwa fünfzig Jahren jein?
Shafipeare ſelbſt hat nur zweihuntert Jahr gedauert ; Homer (theild durch
Zufall) treitaufent und umgiebt nicht ſchon eine Ewigfeit jedes Ich und
jedes Dun? Höre daher auf, ficberhaft brütend auf dieſem deinem Rubnı zu
figen und mit den Flügeln zu klatſchen und grimmig zu ziſchen, wie eine
Brütgans auf ihrem letzten Ei, wenn ein Menicd ihm zu nahe zu kommen
wagt! Janke dich nicht mit mir, haſſe mich nit, mein Bruder; madır aus
140
deinem Ei was du fannft und behalte es. Gott weiß, dab ih es Dir nicht
fehlen will, venn ich glaube, es iſt ein Winden.
Sohnfon für feinen Theil war niet der Mann, der tur eine Recen⸗
flon todtgemacht werden fonnte. Ein Mann, deſſen mwohlwollende Renſchen⸗
liebe bekannt tft, hat gefägt, wenn ein Autor zu Tode recenflrt werben
Fann, fo möge es ja fo fchnell als möglih geſchehen. Johnſon ninnmt
dankbar jedes Wort auf, welches zu feinen Gunften gefprocden wird; ärgert
fi durdaud nicht über ein Basquill,, fondern flieht ed an, wenn er Darauf
aufmerffam gemadt wird und zeigt, wie es hätte beſſer gemacht werben
fonnen. Das Padquill ſelbſt iſt allerdings nichts, eine Seifenblaſe, vie
im nächſten Augenblide fi in einen Tropfen abgeftandenen Schmugwaffers
verwandelt, Mittlerweile aber nügt es doch fo viel, daß es die Augen ber
Melt um fo mehr auf ihn lenkt und das nähfte Geſchäft dann um fo
vortheilhafter ausfällt. „Wenn die Leute aufhören, von mir zu fpredien,
jo muß ich verhungern." Ein geiundes Herz und ein verfläntiger Kopf —
diefe werden Niemandem untreu, nicht einmal einem Schriftfteller!
Unbefanntheit war jedoch in Johnſon's Falle, mochte fie nun ein leich⸗
tes oder ein ſchweres Uebel fein, doch auf jeden Ball eins, von weichem ſich
voraußjegen ließ, Daß es fein immerwährendes fein würde. Er ift von dem
Geiſte eines Achten Arbeiter beicelt, entſchloſſen, feine Arbeit get zu
verrichten. Und er verrichtet auch feine Arbeit gut, nämlich feine ganze
Arbeit, nicht blos die des Schreibens, fondern aud Die des Lebens. Gin
Mann von dicjem Gepräge ift unglüdlicherweije in dem literariſchen ſowohl,
als in irgend einem andern Berciche der Welt nicht fo gewöhnlich, daß er
immer unbemerft bleiben könnte. Allmälig taucht Johnſon auf. Anfangs
dammert er in unförmlichen düfteren Umrifien vor den Augen einiger weni⸗
gen Benbadyter empor, zulegt aber zeigt er fich in feinen wahren Berbält«
niffen dem Auge der ganzen Welt, umgeben von einem Lichtſchein des
Ruhms, fo daß Jeder, der nicht blind ift, ihn fehen muß und wird.
Almälig, fagten wir, denn auch daß zeigt fi deutlich, langſam aber
ficher. So wie fein Ruhm nidyt durch übertriebenes Geſchrei von dem
wähft, was er zu fein ſcheint, fondern durch eine immer befiere und
beficre Einficht Deflen, was er ift, fo dauert er auch und widerſteht der
Abnugung, weil et ächt ifl.
So iſt es mit dem mahren Ruhme allerdings immer oder beinahe
immer. Das Himmlifhe Licht fleigt von Dünflen umgeben auf. Biele
141
erfpäben es und betrachten es Durch ihre kritiſchen Xeleifoye, Es lodert
nicht auf, möge nun die Welt es betrachten oder nicht und erſt nach einer
Beit, vielleicht nach langen Zeiten wird jeine himmliſche ewige Natur un«
peeifelbaft. Luſtig dagegen iſt dad Lodern einer Theertonne. Der große
Haufen tanzt mit lautem Hurrah um fir herum und fegnet wie Homer’d
Bauern das nügliche Licht; unglüdlicherweile aber endet er gar jo bald in
Nacht, ſtinkendem, erftidendem Qualm und wird als ein namenloſes Ge⸗
milch von verfoblten Faßdauben, Pechſchlacken und vomissement du diable
in die Goſſe geworfen. |
Johnſon aber genoß Alles, oter doch beinahe Alles, was der Ruhm
einem Menſchen gewähren kann — bie Achtung und den Gehorſam Derer,
bie um ihn find und unter ihm fliehen, fo wie auch Derer, deren Meinung
allein einen mädtigen Eindrud auf ihn äußern kann. in Fleiner Cirkel
fammelt ſich um bem Welfen, der fich aflmälig erweitert, fo wie fein Auf
Ad verbreitet und immer Mehrere kommen, um zu ſehen und zu glauben,
denn die Weisheit ift koſtbar und von unwiderſtehlicher Anziehungsfraft
für Alle.
„Ein begeifterter Schwachkopf“, Goldſmith, treibt ſich auf feltfame
Beile in feiner Nähe herum, obſchon er, wie Hawkins ſagt, „Johnſon nicht
liebte, fondern ihn eher um feiner Talentewillen beneidete und einmal einen
Freund bat, ihn nicht länger zu loben, ‚denn,‘ fagte er, ‚Ihr verivundet
mich in der tiefften Secle, wenn Ihr died thut!““ Lind dennoch liegt in
bem „Stagpelbeernarren“ nichts Böſes, fondern eher viel Gutes; von einer
ſchöneren, wenn aud von einer ſchwächeren Art ald Johnſon's und um fo
ächter, als er felbft fich befien niemals bewußt werben konnte, — obſchon
er unglücklicherweiſe nie aufhörte, e8 zu verfuchen. Der Autor bes ächten
„Vicar von Wakefield“ muß nolens volens einer folden Maſſe ächter Man-
neöfraft entgegenfliegen und ahwechſelnd angezogen und abgeftoßen dreht ſich
Dr. Minor fortwährend um Dr. Major.
Dann ſehen wir bier den ritterlihen Topham Beauclerf mit feinem
treffenden Witz und jeinem eleganten höfiichen Benehmen. Kerner Bennet
Langton, einen orthodoren würdigen Gentleman, obihon Johnſon einmal
über jeinen legten Willen und Teſtament faft lauter lachte, als ein Sterb-
liher vermag und „feine Heiterfeit nicht zügeln konnte, fondern ihr Naum
gab, bi8 er aud Temple Gate hinaus war, wo er dann in ein jo lau⸗
te8 Gelächter ausbrach, daß er faft von Krämpfen befallen zu fein fchien.
142
Er ergriff, um ſich aufrecht zu erhalten, einen der Pfähle neben Tem Trot⸗
toir und lachte 10 laut und fürchterlich, daß in dem Schweigen der Nacht
feine Stimme von Temple Bar bis Fleet Ditch zn ballen ſchien.“
Zulegt kommt auch noch fein folid denkender und folid ſpeiſender
Thrale, der vielgelichte Mann, mit feiner „ Thralia“, einem ſchönen ichmete
terlingdartigen Geſchöpf, mit weichem der Elephant gern fpielte und es auf
feinen Müffel hin und ber jchwenfte.
Bon dem ehrerbierigen Boswell ſprechen wir weiter nit, denn wozu
wäre dies nöthig? — Eben jo wenig von den geifligen Lichtern, die Durd
ihre Zunge oder Feder dieſes Zeitalter zu einem merkwürdigen machten ober
von Hochland Kairds, die in feurigem lidquebaugb „Ihre Geſundheit, Toetor
Schonſon!“ tranfen. — Noch weit weniger von vielen Solchen, wie 3. 2.
dem armen Mr. %. Lewis, von deſſen Geburt, Tod und ganzen irbiichen
rebus gestis weiter nichts als die einzige Zeile auf und gefonmen if:
„Sir, er lebte in Kondon und trieb fich in der Gefellichaft herum!“ Stat
Parvi nominis umhra. —
In feinem bdreiundfünfzigften Jahr wird Johnſon Turd königliche
Gnade mit einer Penflon von breihundert Pfund bedacht. Lautes Geichrei
ift allemal mehr oder weniger wahnftnnig, wahriceinlih aber war DaB
wahnfmnigfte von jedem lauten Geichrei im achtzehnten Jahrhundert jenes,
welches wegen Johnſon's Penſion erhoben ward. Die Menichen Icheinen an
den Nafen herumgeführt zu werden, in der That aber geſchieht es an ten
Ohren, wie man im Altertum mit den Sflaven that, denen zu dieſem
Zwecke die Ohren durchbohrt wurden, oder wie es mit gewillen modernen
Vierfüßlern geihehen könnte, deren Ohren lang find.
Sehr mit Unrecht bat man geſagt: Namen ändern die Dinge nict.
Die Namen ändern die Dinge allerdings, ja größtentheild find ſie dic ein-
zige Subftanz, welde die Menſchheit an Dingen unterjcheitet. Die ganze
Summe, weldye Johnſon während der nocd übrigen zweiuntzwanzig Jabre
jeined Lebens aus dem öffentlihen Fond Englands bezog, würde einen
unſerer Hohenpriefter ungefähr halb jo viel Wochen ernährt haben unt ke
trägt ziemlich jo viel, wie dad Einfommen unſeres ärmften Kirchenaufichers
in einem einzigen Sabre. Von Adminiftratoren von Provinzen, Pferde—
bändigern und Wildvernichtern wollen wir gar nicht einmal ſprechen; aber
wer waren die Primaten von England und die Primaten von ganz England
während Johnſon's Zeit? Niemand hat e8 ſich gemerkt. Berner fragen
' 143
wir: Iſt der Primas von ganz England etwas oder tft er nichts? Wenn er
etwas ift, was joll er dann anders jein, ald der Mann, welcher an höchfter
Stelle Ichrt und geiftig erbaut und die lebenden Seelen, welde England
bewohnen, durch weile Führung auf Erden zum Himmel leiter?
Wir berühren hier tiefe Gegegenſtände, die und nur entfernt angehen
und noch tiefer führen können; jo viel aber ift mittlerweile Klar, Taß der
„wahre geiftige Erbauer und Serclenvater von ganz England damald und
noch bis auf Die neucjte Zeit der Mann war, welcher Samuel Johnſon hieß
und dem dieſe erbärmlihe Welt e8 zum Vorwurf madıte, daß er ungefähr
die Einnahme eines Nccifeinipectord hatte!
Wenn das Scidjal den armen Samuel rauh behandelt hatte und auch
niemals aufhörte, ihn auf rauhe Weile heimzuſuchen, fo fonnte man tod
ten letzten Abjchnitt ſeines Lebens für fiegreidh und im Ganzen glücklich er«
flären. Er war allerdings nidyt mäßig, ward aber Loc fett nicht mehr
durb Mangel angejtadhelt; das Licht, weldes vie dunfeln Höhlen Ter
Armuth erhellt hatte, beleuchtet jegt die Cirkel des Reichthums, einer ge—
wiſſen Kultur und eleganten Intelligenz; er, der einſt vorgelaſſen worden,
um mit Edmund Cave und Taback-Bromwne zu ſprechen, läßt jetzt einen
Reinolds und einen Burfe vor, die mit ihm zu ſprechen wünſchen. Liebende
Sreunde find Da; man hört ihm zu, ja man antwortet ihm. Die Brüchte
jeiner langen Arbeiten liegen in ſchönen leſerlichen Schriften über Philo—
fophie, Beretjamfeit, Moral und Philologie um ihn herum. Einige dieſer
Werke find im höchften Grabe vortrefflich, alle aber acht und jeiner würdig,
und ein inniges Murmeln des Dankes dringt von allen Enten feines Vater⸗
lantı8 zu ihm. Ja e8 giebt Werfe der Güte, unfterblicher Barmherzigkeit,
welche jelbft cr die Macht gehabt hat zu thun: „Was ich gab, habe ich;
was ic) ſpendete, hatte ih!“ Jugentfreunde waren ſchon lange in das Grab
geiunfen und dennoch lebten fte in feiner Seele immer noch friih und Elar
und er hegte die frohe Hoffnung, jle Dereinft in reinerer Vereinigung
wieterzujchen.
So war Johnſon's Leben — der flrgreihe Kampf eines freien ächten
Mannes. „Zulegt ftarb er den Tod der Breien und Wahren. ine tunfle
Zotedwolfe, umjäumt von dem Goldglanze unfterblicher Hoffnung, nahm
ihn hinweg und unfere Augen Fonnten ihn nicht länger jehen, wohl aber
jeben fie nod) die Spur feines muthigen redlichen Geiſtes tief lesbar in Dem
Thun und Treiben der Welt überall wo er war unt wantelte.
144
Die Dyantität der Arbeit, welche Johnſon verrichtet, zu tariren end
zu jagen, wie viel ärımer die Welt wäre, wenn er ihr gefehlt batte, kaun
wie in allen tergleihen Källen nie genau, ja es kann erſt nad längerer Zeit
auch nur annähernd geiheben. Jede Arbeit iR wie eine geftreute Saat;
fie wächſt und breitet ib aud unt jaet fich wieter von Neuem und lebt und
wirkt io in endloſer Palinageneſie. Wir haben ſchon gelagt, daß wie gut
und tüdhtig und immer noch nugbar Johnſon's Schriften aud find, wir
doc fein Leben und seine Gonverfation noch böher flellen. Wer will be⸗
rechnen, welche Wirkungen durch das eine wie das andere hervorgebracht
worden und noch bis in ferne Zeiten werden hervorgebracht werden?
So viel jedoch fönnen wir ſchon ſehen: Es find jeht drei Viertel jahr⸗
hunderte, ſeitdem Johnſon der Prophet der Engländer iſt; der Mann, nach
deſſen Licht das engliſche Volk im öffentlichen und im Privatleben mehr ale
nach dem eines andern Mannes ſein Daſein geleitet hat. Ein höheres Licht
als jenes unmittelbar praktiſche, eine höhere Tugend als ehrliche Klug-
heit, konnte er damals nicht mitiheilen, auch hätte vielleicht nichts Ande⸗
res Aufnahme gefunden. Dieſes Licht aber und dieſe Tugend theilte er
wirklich mit.
Den Weg durch dieſe labyrinthiſche Zeit, die geſtürzte und ſtürzende
Ruine der Zeiten, zu finden; eitle Sfrupel zum Schweigen zu bringen; bis
zum lehten Augenblicke feftzubalten an ten Fragmenten des alten Glaubens
und mit eifrig forichendem Auge einige Schimmer des wahren Pfades zu
entdecken und auf demielben weiterzuichreiten, „in einer Welt, wo ed viel
zu tbun und wenig zu wiflen giebt," — dies ift e8, was Samuel Johnſon
durch Wort und That feine Nation gelehrt bat, was feine Nation von ihm
mehr als von einem Andern lernte und empfing.
Mir fönnen ihn ald den Erbalter und Uebermittler alles Deſſen be⸗
trachten, was der Geift des Toryismus Aechtes hatte, welcher ächte Geift —
ed wird jegt offenfundig — ſich wieder in allen neuen Karben der Geſell⸗
fhaft verförpern muß, mögen fie fein, was fie wollen, wenn ſie nämlid
anderd als auf dem Papier befteben und Dauer haben follen.
Der Legte in vielen Dingen war Johnſon aud) der legte ächte Tory;
ter letzte Engländer, ter mit flarfer Stimme und vollfländig gläubigem
Herzen die Theorie des Stillſtands predigte: der ohne Ggoißmuß oder ſkla⸗
viſche Geſinnung die beftchenden Gewalten ehrte und, obidıon ſelbſt arm,
vernacläfftgt und plebefiſch, Die Privilegien des Ranges verfocht; der ein
145
frommes Herz beſaß und jeden ſalſchen Schein herzlich haßte; ber orthoden-
seligtö® war und dennoch bie Augen offen hielt, und der in allen Dingen
und überall mit der Sprache offen herausging, and einem Herzen, in wel-
gem der Jeſuitiomus Beine Herberge fand und mit der Stirn und in dem
Tone nicht eines Diplomaten, ſondern eines Mannes.
Dieter legte der Torted war Johnfon, nicht Burke, wie oft behauptet
wird, Burke war feinem innerfien Weſen nad) Whig und erft als er den
Hand des Abgrunds erreichte, nach weldem der Whiggismus von Anfang
an unvermeidlich führte, prallte er zuräd nnd zwar mehr wie ein heftiger,
als wie ein reblich eifriger Mann; mehr wie ein glämzender weitblickender
Rhetoriker, als wie ein tiefer fiherer Denker prallte er ohne Maß und
frampfhaft zurüd und beihädigte, was er mit ſich zurüdriß.
In einer Welt, welche durch dad Gleichgewicht der Gegenfäge beſteht,
muß das beziehungsweiſe Verdienft des Erhalters und des Neuerers ſtets
fircitig bleiben. Groß tft mittlerweile und unzweifelhaft für beide Seiten
das Verdienſt Deffen, welcher in einer Zeit der Veränderung weiſe und
ehrlich einherfchreitet. Johnſon's Ziel war an und für fl ein unmögliches.
Wie fonnte fein Streben, ſich der ewigen Fluth der Zeit entgegenzuftemmen,
alle Dinge feftzuhalten,, fle an Ankerfetten zu legen und zu fagen: Rühre
dich nicht! — wie konnte, fragen wir, ein ſolches Streben jemals ein er-
folgreiches fein? Der ftärkfte Mann kann den Strom nur theilweife und
auf eine kurze Stunde zurückhalten.
Aber kann nicht auch in ciner fo kurzen Verzögerung ein unermeßlicher
Werth liegen? Wenn England dem Blutbade einer franzöfijchen Revolution
entgangen iſt und kraft diefer Verzögerung und der Erfahrung, welche Dies
felbe an die Hand gegeben hat, feine Befreiung ruhig zu einer neuen era
ausbilden kann, fo gebührt Samuel Johnfon mehr als allen feinen Zeitge⸗
nofien und Nachfolgern das Lob dafür.
Wir fagten oben, daß er eine Zeitlang beflimmt war, der Herrſcher
der britifchen Nation zu fein, und wer durch die Oberfläche hindurch in das
Herz der Weltbewegungen ſchaut, wird finden, daß alle Pitt-Rabinette und
Sontinentaljubfidien und Waterloo - Siege auf der Möglichfeit beruhten,
England noch eine kleine Weile toryiftifch, Ioyal gegen das Alte zu machen
und dies wiederum auf die vorbergegangene Wirklichkeit bin, dag der Weiſe
eine folche Loyalitaͤt noch ausführbar und empfchlendwerth gefunden Hatte,
Carlyle. I. 10
146
England Hatte feinen Hume, wie Frankreich feine Boltaires und Diderots
hatte; Iohnfon aber war und eigenthümlich.
Wenn wir nun fragen, durch welche Begabung Johnſon ein ſolches
Leben für fi und Andere hauptſächlich realifirte, aus welder Charakter
eigenfchaft die Hauptphänomene feines Lebens fih am natürlichſten ableiten
und welder feine übrigen Gigenfdhaften, wenn wir und ein Bild von ihm
machen, am natürlichften unterordnen laſſen, fo ift bie richtige Antwort viel-
leicht: dieſe Eigenfhaft war fein Muth, feine Tapferfeit, oder mit andern
Worten: Johnſon war ein muthiger, tapferer Mann.
Der Muth, weldyer den Menſchen treibt, heimlich auf die Seite zu
geben und ſich zu erfchießen, iſt Eeineswegs ganz Das, was wir hier meinen.
Einen folhen Ruth Halten wir fogar für etwas ſehr Geringfügiges, was
recht wohl neben einem Leben der Falſchheit, der Schwäche, der Beigheit
und DVerächtlichkeit beftehen fann. Ja, öfter iſt e8 mehr Beigheit ald Muth,
was zu dieſem Nefultate führt, denn man überlege wohl: Iſt der Selbfl-
mörder von einem vernünftigen Glauben und Beichluß befeelt oder feßt ihn
eine unflare Furcht, — wie man ihn an Öffentlihen Plägen über die Achſel
anfehen und wie „gerupfte Gänſe ber Nachbarſchaft“ fchnattern werben,
wenn fie in ihm ebenfalls eine gerupfte Gans erbliden? Wenn er daher
gebt und ohne weitere® Geſchrei oder börbaren Aufruhr fidh erichießt, fo ifl
e8 gut für ihn, aber troßdem iſt weiter nicht8 Erftaunliche8 Dabei, denn ber
Muth zu allem diejen ift vielleicht Niemandem, ja vielleicht nicht einmal
dem Weibe verſagt. Durchziehen nicht Werbeoffiziere trommelnd die Stras
ben von Babrifflädten und treiben genug zerlumpte Bagabunden zufammen,
von benen jeder, wenn er einmal den rothen Rod an hat und ein wenig
breffirt if, mit Vergnügen für Die Fleine Summe von einem Schilling täg-
lich auf fi feuern läßt? Der Muth, welcher blos zu erben wagt, ifl,
bei Lichte betrachtet, nicht gerade etwas Erhabenes, allerdings nothwendig,
aber dabei allgemein und erbärmlich, wenn er mit fich felbft Parade zu
machen beginnt, Auf unierm Erdball wird er in jeder Secunde Zeit von
einigen dreißig Perfonen an den Tag gelegt. Ja, man werfe einen Blid
auf Newgate. Wandeln nicht die Ausgeftoßenen der Schöpfung, wenn fie,
als ob fie nicht Menfchen, fondern Ungeziefer wären, zum Galgen verurtheilt
werden, mit Unftand den legten Bang und jagen dem Hohngeſchrei des gan«
zen Weltalld fchweigend gute Naht? Was nur einmal audgeftanden werden
muß, das flehen wir ſchon aus; was jein muß, kommt faft von felöfl.
147
Welche ärmlihe Figur ſpielt der grimmigfte iriſche Klopffechter ala Duellant
im Bergleih mit irgend einem englifhen Kampfhahne, wie man ihn für
fünfzehn Bence kaufen kann!
Der Ruth, den wir wünfchen und fchägen, ift nicht der Muth, anftän-
dig zu flerben, fondern männlich zu Ichen. Diefer Tiegt, wenn er durch
Gottes Gnade einmal verliehen worden, tief in der Seele; mit wohlthuen«
der milder Wärme nährt er alle anderen Tugenden und Gaben, die ohne
ton nicht leben könnten. Xrog unferer unzähligen Waterloos und Peter⸗
1008 und aller unſerer Feldzüge ift der Muth, den wir Hier meinen und den
wir den einzigen wahren nennen, in biefer legten Zeit vielleicht feltener ge=
wefen, als er zu irgend einer anderen feit der fächflichen Invaflon unter
Hengift geweien if. Ganz ausfterben fann er unter den Menfchen niemals,
ſonſt taugte das Geſchöpf Menſch nicht mehr für diefe Welt, denn bier und
dort, zu allen Zeiten und unter veridhiedenen Geftalten werden die Menſchen
bierhergejendet, nicht blo8 um damit zu paradiren, fondern um ihn auch
wirklich zu zeigen und wie vom Herzen zum Herzen zu beweifen, daß er noch
möglid, daß er noch ausführbar ift.
Johnſon in jeinem achtzehnten Jahrhundert und als Schriftfleller war
einer von Denen, welche ſolche Beweiſe Tiefern und in der That und Wahr-
beit der „Bravfte der Braven.” Welcher Sterbliche konnte einen anftren»
genderen Krieg zu führen baben? Und dennod wid und wanfte er nicht;
er focht und — fo body begnadigt ward er — errang den Sieg. Seber,
der da begreift, was es heißt, ein männliches Herz haben, wird finden, daß
feit John Milton's Zeit in feiner englifhen Bruft ein wadereres Herz ges
ſchlagen hatte, als Samuel Johnfon trug. - Hierbei bemerfe man, daß er
ſelbſt fich niemald tapfer nannte, fi niemals fo fühlte, aber e8 um deſto
vollländiger war. Keine Verzweiflung, fein Todtentanz oder Herenfabbath
des „literarifchen Lebens in Kondon * fchredt diefen Pilgrim zurüd; er are
beitet entichloffen an den Werfe der Befreiung und fchreitet ſtill und trogig
weiter. Er Tann ſich zwingen, bie ihm einmal geftellte Aufgabe zu Iöfen
und was geduldet werden muß, das duldet er fhweigend.
Wie erhaben erjcheint die große Seele bes alten Samuel, indem fle
täglich da8 ihr angemiefene bittere Theil von Elend und Arbeit hinnimmt
neben der ärmlidhen flatterhaften, Fleinen Seele des jungen Boswell, der
einen Tag fih im Kreife der Eitelfeit bewegt, beim Weindecher fitzt und
ruft: „Aha, der Wein ift roth!“ den nächſten Tag dagegen feinen nieber-
i0*
148
geſchlagenen, überfigatteten, ärmlicden Zuſtand beflagt und es rückſichtslos
Andet, daß die ganze Bewegung beö liniverfumd ungehindert fortgeht, wäh
rend fein Verbauungdapparat fliehen geblieben if!
Johnſon's Talent des Schweigens” rechnen wir zu feinen großen
und nur zu feltenen Begabungen. Wo ſich nichts weiter thun laßt, da fol
auch nichts weiter gefagt werben; gleich feiner armen blinden Walliſerin
sollbrachte er etwad und ertrug dabei „ein fünfzigjähriges Elend mit uner⸗
fgätterlicher Standhaftigkeit.“ Wie graufam war das Leben gegen ihn —
ein Gefaͤngniß und ein Krankenhaus! Seine größte Aufgabe war, wie er
oft erflärte, „fie felbft zu entrinnen * und dennoch hat er allemı dieſen gegen
über feine Stellung und feinen Entihluß gefaßt; er kann alles mit Falter
Bleichgültigkeit von fich weilen, denn er hat wenig zu hoffen oder zu fürde
ten. Seine Freunde find befchräntt, Fleinmürbhig und karg; feines Blei⸗
bens nrüde, nehmen fie ed doch übel, wenn er ſich entfernt. Die Welt madıt
es einmal jo. „Durch Zäufchung des PBublitums*, bemerkt er mit gigan-
tifcher Ruhe, „werden unwiflende Schrififticler berühmt.“ Es iſt dies ein
Theil der Gefchichte der engliichen Literatur, etwas Immerwährendes, dieſe
Täufchung des Publitums und fie — verändert den Gharafter der Sprade.
In engem Zufammenbange mit vieler Eigenſchaft des Muthes und der
Tapferkeit, theild als daraus hervorgehend, theild als dadurch befchügt, ſte⸗
ben die leichter erfenubaren Eigenichaften der Wahrhaftigkeit in Worten
und Gedanken und der Ehrlichkeit im Handeln. Hier findet eine Wechſel⸗
ſeitigkeit des Cinfluſſes flatt, denn fo wie die Berwirklihung der Wahrhafe
tigteit und Ehrlichkeit das Lebenslicht und Hauptziel des Muthes ift, fo
fönnen biefe wiederum ohne Muth in feiner Weiſe realifiet werben.
Nun aber wird trog aller praktifchen Unzulänglichkeit Niemand, ber
Die Bedeutung Johnſon's durchſchaut, fagen, daß fein Hauptziel nicht die
Wahrheit geweien ſei. In der Gonverfation bemerkt man allerdings dann
und wann, daß er wie um des bloßen Sieges willen zu kämpfen ſcheint und
man muß ihm diefe Aufwallungen einer forglofen Stunde verzeihen, beſon⸗
ders da er oft auf mannigfache Weife dazu verſucht und gereizt ward. ‚Gier
bei bemerke man auch noch Zweierlei — erftens, daß diefe Disputiräbungen
blos oberflaͤchliche Fragen betrafen und dann, daß fie gewöhnlich nad den
unvarteiiſchen Belegen eines Togifchen Kampfes durchgeführt wurden. Wenn
ihr Zweck zu entſchuldigen war, fo war auch ihre Wirfung harmlos, ja viel
leicht wohlthaͤtig. Die Iärmende Mittelmaͤßigkeit warb dadurch in ihre
149
Gärauten gewiefen und ihr die andere Seite eines ſtreitigen Gegenſtandes
gezeigt, deffen wahre Erſcheinung ja ohnehin nur dann erfannt werden
Ioante, wenn man beide Seiten fah.
In feinen Schriften felbft finden fih genug Irrthümer und ſonder⸗
bare Borurtheile, die aber auch von ganz äußerer und zufälliger Art find,
nirgends aber ein vorfägliche® Verfchließen ber Augen vor der Wahrheit.
Ganz matellod dagegen iſt Johnſon's Liebe zur Bahrheit, wenn wir
betrachten, wie fle fi in der Braris kundgiebt, als Das, was wir Ehrlich⸗
keit des Handelns genannt haben. „einige Dein Gemüth von Geuchelei“,
reinige «eb, verbanne Die Heuchelei gaͤnzlich — died war fein oft wieber-
boltes, nachdrückliches Gebot und kam er ihm nicht auch jelbft aufd Treu⸗
lichſte nach? Das Leben diefes Mannes iſt gleihfam um und um gewendet
and von Freund und Feind mit Mikroflopen unterfucdht werden, aber man
bat Erine Lüge in ihm gefunden. Sein Thun und feine Schriften find nicht
Shaufellungen, fondern wirffihe Leiftungen, man kann fie in
Ver Wage wägen und fie halten dad Gewicht. Keine Beile, fein Say If
mehrlich gemeint oder etwas Anderes als es fein ſoll. Ach, und er ſchrieb
nicht aus innerer Begeiſterung ſondern um feinen Lohn zu verdienen, wähe
rend jener immerwaͤhrende Strom der, Taͤuſchung des Publikums“ vorbei⸗
floß, in deſſen Fluthen er dennoch nicht fiſchen wollte, während dad Hinab⸗
tauchen zu den ergiebigen Aufternbänten ihm zu ſchlammig war. Dagegen
bemerfe man wieder, mit welchem angeborenen Haß gegen De Heuchelei ex
son feiner Arbeit, der er mit fo edler Gefinnung oblag, die anfpruchslofefle
Meinung hat und auch gegen Andere ausſpricht. Er hatte, wie er oft fefbf
fagte, feinen andern Beweggrund zum Gelderwerb, keinen andern Grund
zum Schreiben als Gelderwerb und dennoch ſchrieb er fo.
In die Region ‚der Dichtkunſt erhob er fich aflerdingd niemals. Es
gab fein Ideal außer ihm, welches fich in feinem Werke ausgeſprochen hätte;
um fo edler war jened unausgefprochene Ioeal, welches in ihm lag und ibm
befahl: Verrichte deine Arbeit im Geifte eined Arbeiterö! Die, melde am
Iauteften über die Würde der Kunft fprechen, und glauben, daß auch fle
künſtleriſche Zunftgenoffen find und zu den himmliſchen gehören, — biefe
mögen wohl betrachten, was für ein Mann dieſer war, ber ſich bios als
einen gemietheten Tagarbeiter betrachtete. Gin Arbeiter, der feines Lohnes
wertb war, der nicht als Augendiener gearbeitet hat, fondern als einer, ber
tren erfunden wurde.
150
Dabei and Johnſon aber in jener Zeit nicht vielleicht ‘ganz einzig da.
Es war damals eine Zeit, wo man für Geld Waare befommen fonnte und
wo man fich nicht mit der bloßen Ueberredung zu begnügen brauchte, daß
man Waare hätte. Es war eine glüdlichere Beit.
Daß Milde auch in einem tapferen muthigen Herzen wohnen Eönne, iſt
eine alte Wahrnehmung oder Behauptung, die dur Johnſon aufs Neue
beflätigt wird. Wenige Menſchen, von welden bie Geſchichte erzählt, has
ben ein mildered und liebreicheres Gemüth beſeſſen, als der alte Samuel.
Man nannte ihn den Bären und oft fah und brüllte er auch wie ein foldher,
nämlid wenn er gezwungen ward, fich zu veriheidigen. Und dennoch ſchlug
hinter diefer zottigen Außenjeite ein Herz fo warm, wie dad einer Mutter,
fo weich, wie das eines Kindes. Ja, größtentheild war eben jein Gebrüll
nur der Zorn der Liebe; die Wuth eine® Bären, wenn man will, aber einer
Bärin, der man ihre Jungen geraubt bat. Wer feine Religion, die Kirche
von England oder das göttliche Recht antaftete, der hatte itn auf fih! Dieſe
Dinge waren feine Symbole alled- Defien, was es für die Menfchen Butes
und Koſtbares giebt; jo zu fagen, feine Bundeslade, und wer an diefe Hand
anlegte, verwundete ihn in feinem innerflen Herzen. Nicht aus Haß gegen
den Opponenten, fondern aus Liebe zu der angefochtenen Sache ward John⸗
fon graufam und in feinem Widerfpruch grimmig. Dies ift eine wichtige
Unterſcheidung, die man beim Tadel feiner Uebergriffe in der Converfation
nie vergeflen darf.
Dabei aber bemerfe man auch, mit welcher Menichenfreundlichkeit, mit
welcher offenen treuherzigen Liebe er fih an alle Dinge anfchließen Tann, an
eine blinde alte Frau, an einen Dr. Levett, an eine Katze. „In der legten
Zeit feines Lebens beſchäftigten feine Gedanken fi häufig niit feinen ver-
florbenen Freunden; er murmelte oft Redensarten wie: „Der arme Bann,
ber ift nun audy fchon lange todt!* Wie geduldig verwandelt er feine ärmı-
liche Wohnung in ein Lazareth, dultet jahrelang den Wideriprud; der Uns
glüdlihen und Unnernünftigen, die in feinem andern Verhältniß zu ihm
fanden, ald daß file Niemanden weiter Hatten, der ihnen ein Obdach
gewährte !
Edelmüthiger Greis! Irdiſche Güter beſttzt er wenig und dennoch
giebt er davon reichlich. Von ſeinem eigenen ſauer verdienten Schilling
werden die halben Pence für die Armen, die auf fein Herauskommen warte
ten, nicht verweigert; die Armen warteten auf das Herausfommen Eines,
151
der nicht ganz fo arm war! Gin Sterne fchreibt Sentimentalitäten über
todte Efel — Johnſon hat eine rauhe Stimme, aber er findet die unglüd-
lihe Tochter des Laſters auf der Straße umgefunten, trägt fie auf feinen
eigenen Schultern nah Haufe und fpendet wie ein guter Samariter Hülfe
den Hülfsbedürftigen, den Würdigen wie den Unwürdigen. Muß nicht die
Mohlthätigkeit felbft in diefem Sinne eine Menge Sünden bededen? Dieler
rauhe Mann mit den harten Zügen war feine Comité⸗Dame eines Penny«
Bereind, er war nidht Dirigent einer Armenfpeifeanftalt, er tanzte nicht auf
Wohlthatigkeitsbaäͤllen und dennoch, wo hätte man in ganz England eine
zweite fo mitleidsvolle Seele, eine zweite fo himmliſch gütige Hand wie die
feine finten Eönnen? Das Scherflein der Wittwe war, wie wir wiflen,
mehr werth, wie alle anderen Geſchenke.
Vielleicht iſt es eben dieſes ſich überall und ſtets kundgebende göttliche
Gefühl der Liebe, was uns hauptſächlich zu Johnſon hinzieht. Er iſt ein
wahrer Bruder der Menſchen und ein liebendes Kind der Erde, welches
durch Eleine belle Tiebgewonnene Stellen, auf weldyen irgend ein gelichtes
Weſen lebt und wirkt, diefe rauhe einfame Erde zu einem bevölferten Gar⸗
ten verfchönert hat. LXichfield mit feinen größtentheild ftumpffinnigen und
befhränften Einwohnern ift bis zum legten Augenblide für ihn eine biefer
Heinen fonnigen Infeln: Salve magna parens! Oder man leſe jene Briefe
über den Tod feiner Mutter. Welch ein ächter erhabener Gram und Schmerz
IR darin ausgeiprodhen — ein Rückblick in die Vergangenheit, unaudfprech-
lich wehmüthig, unausſprechlich zart. Und dabei dennoch ruhig und erhaben,
denn nun muß er handeln und darf nicht müßig zufchauen. Seine innig
verehrte Mutter ift ihm entriffen und nun muß er einen „Nafjelad* fchrei«
ben, um die Koften ihres Begräbniffes zu bezahlen! Und liegen in jenem
Kleinen Vorfall, den er in feinem Andachtsbuche erzählt, nicht die Töne
beiliger Wehmuth unt Größe, tiefer als in mancher Tragödie, wie denn
überhaupt der fünfte Act einer Tragödie in jedem Sterbebett liegt, wäre es
au nur dad eines Bauern und von Stroh:
„ Sonntag, 18. October 1767. Geflern gegen zehn Uhr Vormittags
nahm ich auf immer Abſchied von meiner lieben alten Breundin Katharine
Chambers, die etwa im Jahre 1724 zu meiner Mutter zog und und ſeitdem
faſt nicht wieder verlaffen hat. Sie begrub meinen Vater, meinen Bruder
und meine Mutter. Sie ift jetzt achtundfünfzig Jahre alt. |
„Ich forderte die fämmtlichen Anwefenden auf, fich zu entfernen, fagte
159
ihr dann, daß wir auf immer fcheiden müßten, daB wir als Chriſten betend
fgeiden wollten und daß ich, wenn fle es wünfdte, ein kurzes Gebet am
threm Bett ſprechen würde. Gie gab den innigen Wunſch zu erkennen,
mi zu hören une hielt im Bett legend mit großer Inbrumft ihre armen
mageren Hände empor, während ich daneben niederkniete und betete.
„Dann küßte ich fie. Sie fagte mir, jeden fei der größte Schmerz,
den fie jemals empfunden und fie hoffe, daß wir und an einem beſſern Ort
wiederſehen würden. Sch ſprach mit überfließenden Augen und großer Ge⸗
mürhsbewegung diefelben Hoffnungen aus. Wir künten einander nochmals
und ſchieden dann, um uns, wie ich demätbig hoffe, einft wieberzufinden
und dann nie wieder zu trennen. ®
Thränen tröpfelten an dem Granttfelfen herab — ein weicher Quell
des Erbarmens rührt id) in ihm.
Noch tragiſcher iſt die folgende Scene.
Johnſon erwähnte oft, daß er im Allgemeinen ſich nicht anlagen
Pönne, ein ungeborjamer Sohn gewefen zu fein. „Einmal, * fagte er, „war
th allerdings ungeboriam — ich weigerte mi, meinen Bater nach Uttoreter
auf den Marft zu begleiten. Stolz war bie Urſache diefer Weigerung und
die Erinnerung daran mir fehr peinlid. Vor wenigen Sahren wünfchte id
für diefen Schler zu büßen.* — Aber auf welche Welle? Welche Buße
war jetzt noch möglih? Wir beantworten dieſe Frage durch Mittheilung
feiner eigenen Worte:
„Madame, ich bitte Sie wegen meines ſchnellen Fortgehens Heute
Morgen um Verzeihung, mein Gewiſſen nöthigte mich dazu. Vor fünfzig
Jahren machte ich mich an diefem Tage einer Verlegung meiner Kindespflicht
ſchuldig. Mein Bater pflegte den Markt in Uttoxeter zu befuchen und bier
eine Bude zur Beilbietung und zum Verkauf feiner Bücher zu eröffnen.
Durch Unwohlfeln gezwungen zu Haufe zu bleiben, forterte er an dieſem
Tage mich auf, an feiner Stelle die Bube zu beforgen. Wein Stolz hielt
mich ab und ich weigerte mich, den Wunfch meines Vaters zu erfüllen. —
Heute nun bin ich in Utioxeter geweien. Ich ging auf den Markt zur Ser
fhäftözeit, entblößte mein Haupt und blieb fo eine Stunde lang auf dem
Blape ftehen, wo vie Bude meined Vaters gewöhnlich fand. Zerknirſcht
Rand ich da und ich hoffe, daß mir uaı diefer Buße willen vergeben werben
wird. * ’
Wer veranſchaulicht fi nicht dieſes Scaufpiel bei dem Megenwetter
153
mad dem Hohn oder ter Berwunderung der Umflehenden! Das Anbenten
an den alten Michael Johnſon fleigt aud weiter Ferne empor und winkt
wehmäthig in dem „ Mondlicht der Erinnerung“ — wie er fich reblich ges
müht, von den Schlägen des Schickſals verfolgt und niedergeworfen, aber
fich immer wieder erhoben ober es wenigftend verfucht. Und o, als ber
müte alte Hann als Büchertrödler oder Keffelflider oder wozu ihn fonf
das Schickſal gemacht Haben mochte, dich auf einen einzigen Tag um deine
Hülfe bat — wie graufam, wie teufliih war jene gemeine @itelkeit, welche
antwortete: Nein! Er fchläft jegt, nachdem er das Mechielficber des Lebens
hberfianten ; aber bu, o Unbarmherziger, wie willſt tu den Stachel dieſer
®rinnerung beihwidhtigen? — Das Bild Samueld Iohnfon, der bar⸗
bäuptig dort auf dem Markte ſteht, iſt eins der großartigften und ergreifend⸗
fin, welche wir malen Eönnen. „Reue! Reue!“ ruft er mit bitterem
Schluchzen, aber nur zum Ohr des Himmels, wenn der Hinmel ihm Gehör
ſchenken will, denn das irdiſche Ohr und Herz, welches dieſe Neue hätte
hören ſollen, ift jegt gefchloffen und antwortet nie wieder.
Daß dieſes jo zarte Gefühl in einer oder der andern Form durch
Johnſon's ganzen Charakter, den praktiſchen ſowohl als den intellectuellen,
bindurchgeblickt und beide modificirt haben muß, iſt nicht zu bezweifeln.
Aber bei ſeiner rauhen Außenſeite und den vielen ſonderbaren Grillen,
denen er huldigte, ward es nicht erkannt und Johnſon galt nicht für ein
ſchönes Gemüth, ſondern für ein ſtoͤrriges, faſt brutales.
Hätte man z. B. nicht erwarten ſollen, daß bie erſte Frucht eines fo
liebreihen Herzens in Verbindung mit feinem Scharfblicke ein ganz vorzüg⸗
lich artiged Benehmen ald Menih unter Menichen fein würde? Johnſon's
Artigkeit aber, auf welche er flch zur Verwunderung Vieler nicht wenig ein⸗
bildete, war von der Art, daß fie einiger Erläuterung bedurfte. So lieh er
es ſich 3.8. durchaus nicht nehmen, die Damen, welche ihn befuchten, wieder
nach ihrem Wagen zu geleiten, obichon er gewiß darauf rechnen fonnte, daß
Rd eine Menge Zuſchauer in Fleetſtreet verfammeln mürden, denn er ber-
richtete diefen Cavalierdienſt in jeinem ſchäbigen braunen Schlafrod, ein
. Baar alten Schuhen, flatt der Pantoffeln, und einer Meinen verſchrumpften
Drrüde, die ihm ganı oben auf dem Kopfe faß, während feine Manſchetten
md Rniebänder ungebunden herabhingen.
Und doc fehen wir hierin den Bei wahrer Höflichkeit, obſchon er
fein Licht durch ein feltfames Medium wirft. So waren einmal in feinem
154
Bimmer unglüdlicderweife feine Stügle vorhanden. „Ein Herr, der ihn
häufig beſuchte, während er feine ‚Idiers* ſchrieb, fand ihn flets an feinem
Bulte auf einem Stuhl mit drei Beinen figent. Johnſon vergaß, wenn er
fih erhob, doc niemals das fehlende Bein, fondern hielt den Stuhl entwe⸗
der in der Hand oder Ichnte ihn gelaffen an irgend ein andere® Möbel,
ohne gegen Den, der ihn befuchte* — und der mittlerweile wie wir vers
muthen, auf einigen Bollobänden oder wie Türken und Schneider mit unter-
geichlagenen Beinen auf der Diele ſaß —, „weiter etwas darüber zu
bemerfen. Es war, * fahrt Miß Reynolds fort, „eine -merfwürbige Figen-
beit Johnſon's, daß äußere Umftände ihn niemals bewogen, eine Entſchul⸗
digung vorzubringen oder aud nur davon Notiz zu nehmen. Ob dies bie
Wirkung eines philofophiichen Stolzes oder ein theilweiier Begriff von
wirflihem guten Tone war, ift zweifelhaft. *
Nah unferer Meinung iſt es Feineswegd zweifelhaft, Daß es in ber
That die Wirkung ädter Höflichkeit war. Allerdings nicht jener phari⸗
ſäiſchen Höflichfeit des fogenannten feinen Tons, die fi lieber Freuzigen
ließe, als daß fie bei Tafel zwei Mal Suppe verlangen follte, jondern bie
edle allgemeine Höflichkeit eines Mannes, welcher tie Würde der Menichen
fennt und feine eigene füblt, fo wie man fle in der patriardalifchen Haltung
eines indiichen Sachem ficht, fo wie Johnfon ſelbſt zeigte, als ein plöglicyer
Zufall ihn zu einer Unterredung mit jeinem König führte. Uns erjcheint
e8 bei unfjerer Anftdht, Die wir von dem Manne haben, keineswegs jeltiam,
daß er ſich einer genauen Kenntniß der Gejege der Höflichfeit rühmte und
noch viel weniger feltfam, daß er der Uebung derfelben fortwährende Aufs
merkſamkeit witmete.
Noch deutlicher ift diefer Einfluß des liebreihen Herzens in jeinem
intellectuellen Charafter zu verfolgen. Was ift auch der Beginn der In⸗
telligenz, die erfte Veranlaffung zur Uebung bderfelben anderes als eine
Attraction zu etwas, eine Neigung dazu? Und wer hat wohl jemals ein
wahres Talent — des Genies zu geſchweigen — gefehen, deſſen Grundlage
nicht Güte und Liebe geweien wäre? In Johnſon's Menichenliebe finden
wir den Grund vieler jeiner intellectuellen Eigenthümlichkeiten, befonder®
jene drohende Reihe von Verkehrtheiten, die unter dem Namen von „Johns
fon’8 Vorurtheilen * bekannt find, Man betrachte wohl die Wurzel, aus
welcher dieſe hervorgingen; wir haben längft aufgehört, fie mit Feindſelig⸗
155
keit in’6 Auge zu faflen, ja wir koͤnnen fle verzeihen und ebrerbietig bes
mitleiden.
Man überlege, mit welcher Kraft früh eingefogene Meinungen an
einer Seele von folder Neigung gehaftet Haben müſſen. Seine vielgetabels
ten Borurtheile, jener Jakobitismus, Eifer für die Kirche von England,
Haß gegen die Schotten, Herenglaube und dergleihen — was war dies
alles weiter, als der gewöhnliche Glaube anfländiger wohlmeinender Pros
vinzial» Engländer jener Zeit? Zuerſt an dem Heerde feines Baterd im
heimiſchen Staffordihire gefammelt, wuchſen fle mit feinem Wachſthum und
gewannen Kraft mit jeiner Stärke; fle wurden geheiligt durd die innigften
heiligen Erinnerungen, und ihnen entfagen, hieß feinem Herzblut entiagen.
Wenn der Menſch, der feine Kraft der Liche und keine Kraft des Glaubens
befigt, auch Feine Kraft des Vorurtheils hat, jo möge er dem Himmel dafür
danken, aber nicht ſich ſelbſt.
Traurig war es in der That, daß der edle Johnſon ſich von dieſen
Anhaͤngſeln nicht loſreißen, daß er ſie blos läutern und mit einem gewiſſen
Grad von Adel zur Schau tragen fonnte. Und dennoch müflen wir wohl
verfiehen , wie ſie aus dem innerften Mittelpuntte ſeines Weſens heraus⸗
wuchſen, ja wie fie überdies in ihm ſich mit Dem vereinigten, was die
Arbeit und den Werth jeines Lebens, die Summe feiner ganzen geifligen
Beitrebungen bildete. Aus diefem felben Grunde ward er durch und durch
ein Erbauer und Audbeflerer und nicht wie Antere, mit gleichen @aben
Audgerüftete, ein Ginreißer, fo daß in einem Zeitalter des allgemeinen
Skepticismus England noch einen Gläubigen hervorbrachte. Auch hierin
bemerfe man feine Aufrichtigkeit, denn während ein Dr. Adams mit wohl»
gefälliger Berwunberung fragt: „Haben wir nicht Beweiß genug von der
Unfterblichkeit ter Seele?” antwortet Johnſon: „Ic wollte, wir hätten
deren nody mehr. *
Die Wahrheit aber ift, daß Johnſon im Vorurtbeil fowohl als in
allen andern Dingen das Produkt Englands war — einer jener guten
Untertdanen, deren Blieder in England gemacht waren, leider ber Iehte
Diejer nüberwindlichen, denn ihre Zeit iſt nun um! Seine Kultur iſt
durch und durch engliſch, nicht die eines Denters, fondern eines Gelehr⸗
ten“; feine Intereſſen find ganz engliſch; er fleht und kennt nichts ale
England; er tft ter John Bull des geiftigen Guropa — laßt ihn leben,
liebt ihn wie er war und nicht anders fein konnte!
156
Beklagenswerth iſt es allerbings, dag ein Samuel Johnſon die irreli⸗
giöfe Philoſophie eines Hume durch eine , Geſchichte von einem Beiftlichen
bes Bisthums Durham” widerlegte; daß er in dem großen Friedrich weiter
nichts ſah als, Voltaire's Lakat* ; in Voltaire ſelbſt blos einen Mann acer
rimi ingenii, pauearum literarum; in Roufſeau blos einen Menſchen, wel
cher verdiente, gehängt zu werden, und in der allgemeinen lange vorbereite⸗
ten unvermeidlichen Tendenz des europätfchen Denkens nur die Brille einer
Meihfühtigen Mildmagd, um der Abwechſelnng willen „den Stier zu
melfen. *
Unier guter theurer John! Und mas fleht er in der großen Stadt
Paris? Nicht den fchwächlten Schimmer von jenen d'Alembert's und Dide⸗
rot's oder von dem feltfamen, zweifelhaften Werke, welches fle verrichteten,
fondern 6lo8 einige Benedietinermoͤnche, mit welchen er fi In Küchenlatein
über Editiones Principes unterhält ! .
Unfer theurer thoͤrichter John; dennod trägt er ein Loͤwenherz in
feiner Bruft! — Beflagendwertb, fagen wir, waren alle biefe Dinge, aber
keineswegs unverzeihlich, ja als Bafld oder als Folie vieles Anderen, wa
tn Johnſon lag, faſt ehrwuͤrdig. Muͤſſen wir nit in der That England
und enaliſche Inftitutionen und Lebensweiſe ehren, daß fie noch einen ſol⸗
hen Mann ausrüften, daß fle ihn befähigen konnten, an Herz und Kopf ein
Samuel John zu fein und fle dennoch zu lieben und unerſchuͤtterlich für fle
zu fampfen? Welche Wahrheit und Lebenskraft mußten folche Inſtitutionen
einft beieflen haben, wenn fie in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts
noch eine foldye Erfcheinung zu Tage fürdern konnten! Es ift bemerkens⸗
werth, dag auf unjerer britiſchen Infel die zwei großen Gegenläge Europas
in Ihrer höchſten Eoncentration in zwei Männern verförpert waren, bie
gleichzeitig aus unferer Mitte Hervorgingen. Sammel Johnſon und Dasib
Hume waren, wie ſchon bemerkt worden, Kinder faft eined und beffelben
Jahres ; während ihres ganzen Lebens Zufchauer einer und derfelben Le
ben&brwegung, oft Bewohner einer und berfelben Stadt. Einen größeren
Eontraft in allen Dingen Eonnte es zwifchen zwei großen Männern kaum
geben. Hume von guter Bamilie und wohlhabend, gefund an Geiſt und
Körper, bahnt ſich aus freiem Antriebe einen Weg in die Literatur, wäh.
rend der arme, Franke und verlaflene Johnſon durch das Bajonet der Noth⸗
wendigfeit bineingetrieben wird.
Und weld eine Rolle fpielten fle hier jeder für feinen Theil! So wir
— m u — — 0 z ww
157
Zahnion der Bater aller fpäteren Tories ward, fo war auch Hume ber Vater
aller folgenden Whigs, denn fein eigener Jakobitismus war nur ein Zufell
and verdiente eben fo jehr den Namen eines Vorurtheils, wie irgend eins
derer, die wir an Johnſon kennen gelernt haben.
Serner, wenn Johnſon's Kultur ausſchließlich engliih war, fo warb
Hume's Kultur in Schottland europälfh und aus dieſem Grunde finden
wir aud, daß fein Einfluß fich über alle Länder Europas verbreitet, wäh
rend Johnſon's Name außerhalb England kaum irgendwo anzutreffen ifl.
An geiftiger Statur find fie einander faft gleich; beide find groß, beide
gehören zu den größten ihrer Zeit und dennod find fie einander fo unähn
ih! Hume beflßt den umfaflendften methodiſchen Blick, Johnſon's Auge
dagegen dringt am tiefften in @inzelnbeiten ein. Der Hauptgrund hiervon
lag wielleit bei beiden in ihrer Erziehung. Keiner von beiden erhob ſich
zur Poefle und dennoch beide zu einer gewiffen Annäherung daran, denn
Hume erreicht in feiner Schilderung der republifanifchen Kriege eine gewiſſe
epiſche Klarheit und Methode und Johnſon in vielen feiner flücdhtigeren Er-
zengniſſe einen Anflug von Tpritcher Wehmuch und, anmuthiger Kraft.
Beide bejaßen — und ihr Bublifum wunderte fih fa darüber — einen
gewifien rauhen Humor, der dur ihren Ernſt hindurchſchimmerte — ein
ſicheres Kennzeichen, daß fie wirklich ernfte Männer waren und ihre wilde
Welt zu einer einflweiligen Heimath und fiheren Wohnung gezähmt
Gatten. oo.
Beide waren ihren Grundjägen und Lebendgewohnhetten nad) Stoi⸗
fer; Iohnfon aber mit größerem DVerdienfte, denn er allein Hatte viel zu
überwinden und er allein veredelte feinen Stoicismus zur Frömmigkeit.
Für Johnſon war das Leben eine Gefangenschaft, die mit heldenmüthigem
Blauben ertragen fein wollte; für Hume war es wenig mehr al8 eine tolle
Jahrmarktſchaubude, in deren wirres Gedräng es fih kaum der Mühe ver»
lohnte, ſich hineinmiſchen zu wollen ; wie fange bauerte ed, fo war der ganze
Speftafel vorüber!
Beide erfüllten die höchſte Aufgabe der Menfchennatur, namlich die,
zu leben wie Männer und jeder flarb nicht unpaflend nad feiner Weile —
Hume ald ein Menih, der mit erfünftelter, halberlogener Heiterkeit Abſchied
von Dem nimmt, was an und für fi und durch und durch nur eine Lüge
war; Iohnfon wie einer, der mit von Ehrfurdt erfülltem, aber entichloffe«
nem und fromm zuverſichtlichem Kerzen Abfchied von einer Wirklichkeit
158
nimmt, um in eine noch höhere Wirklichkeit einzugeben. Johnſon hatte
von Anfang bis zu Ende von beiden bie fchwerere Aufgabe; ob er auch in-
nerlich der Beſtbegabte von beiden war, dad wollen wir bier weiter nicht
entjcheiden.
Dieje beiden Männer ruhen jett, der eine bier in der Weftminfter-
abtel, der andere auf dem Kirchhofe von Galton Hill in Ebinburg. In
ihrem ganzen Leben lernten fie einander nicht perſönlich kennen; jo wie
Gontrafte einander lieben, fo hätten auch dieſe beiden einander lieben ‚und
freundlich mit einander verfehren können, wenn nicht bie irdifhe Spreu und
Binfterniß, die in ihnen war, fle daran gehindert hätte! Dereinft werden
ihre Geiſter, nämlich Das, was Wahres in jedem war, felbft hienieden zu⸗
ſammenwirken und in freier Harmonie und Bereinigung leben. Sie waren
die beiden Halbmänner ihrer Zeit und wer die unerfhrodene Offenheit und
entfchiedene wiflenjchaftliche Klarheit eines Hume mit der Ehrfurcht, Liebe
und frommen Demuth eined Johnſon verfchmelzen Eönnte, der wäre ber
ganze Wann einer neuen Beit.
Bis ein ſolche ganzer Mann und erfcheint und bie zerfahrene Zeit
einen folchen auch zuläßt, möge der Himmel das arme England einftweilen
mit Halbmännern fegnen, die würdig find, jenen die Schuhriemen aufzu-
löfen, und die ihnen, wenn auch nur entfernt, gleihen! Mögen beide aufs
merkſam ind Auge gefaßt werden, mögen die ächten, wahren Beftrebungen
beider gedeihen! Mit diefem Wunſche fagen wir beiden für jetzt ein herz
liches Lebewohl.
Sir Walter Scott.
(1838.)
Der Amerikaner Cooper behauptet in einem feiner Bücher, daß die
Menſchen einen angeborenen Hang befiten, Jeden, der fib auf irgend eine
Weiſe auszeichnet, neugierig zu betrachten. Daß dies wahr ift. beweiſen
alle Beobadhtungen, die wir von China bis Peru, von Nebucadnezar bie
zum alten Hickory anftellen können.
Warum drängen fih die Menſchen fo neugierig nach dem verbeflerten
Balgen in Newgate? Der Delinquent, der eben gehangen werden foll, bes
finder ſich in einer audgezeichneten Lage und die Zufchauer drängen fich in
ſolchen Maſſen herbei, daß er wahrjcheinlich nicht der Einzige fein wird, den
man erwürgt.
Man frage ferner dieſe Tedernen Fuhrwerke, Equipagen, Cabrioletd
und Gigs mit Männern und Frauen darin, die freuz und quer alle Straßen
durchfegen: wohin fo Ihnell? Man will die Liebe Miſtreß Galimathias,
die audgezeichnete Brau, fehen oder den großen Mr. Galimathias, den aus⸗
gezeichneten Mann !
Oder man: betrachte jened Erönende Phänomen und den @ipfelpunft
der modernen Givilifation, eine Soiree von fogenannten Löwen. In den
glänzenden, Hell erleuchteten Zimmern wimmelt es; ein wogender Strom
bon Spigenkleidern und Ballfracks zieht fih Hindurch, während ein fanftes
Lächeln auf allen Gefichtern ruht, denn ſiehe, Hier ziehen auch die Löwen, die
Drafel ihrer Zeit, in einer oder der andern Weiſe. Es find in der That
angenehm zu fchauende Drafel und es verlohnt wohl der Mühe hinzugeben
umd fie anzufehben. Darum geh Hin und ſieh fle an, frage fle aber nichts,
fondern gehe wieder deiner Wege und fei dankbar. Eine ſolche Löwenſoirée
160
geftattet nämlich nicht, daß geſprochen werde; darin liegt eben ihr charak⸗
teriftifches Kennzeichen. Es ift eine Berfammlung menſchlicher Wefen und
dennoch — fo hoch iſt Die Givilijation gefliegen — kann der Hauptzweck
menschlicher VBerfammlungen, daß die Seele fib in artitulirten Aeuferungen
ber Seele entfalte, dabei gänzlich underüdfichtigt bleiben. ine eigentliche
Sprache ift dabei auch wirklich nicht vorhanden, fondern blos ein gewiſſes
lächelndes Zungenipiel und eine fogenannte Sprache, die viel ſchlimmer iſt
ald gar feine. Aus diefem Grunde hat man zur Beförderung der Aufrid-
tigkeit und Ruhe in dergleichen Köwenfoirsen vorgefihlagen, daß jeder Xöwe,
wie Weinflaihen, mit einer Etiquette verfehen werde. Uns ſcheint diefer
Vorſchlag angemefien. Dan Iafle einen jeden feine filberne Etiquette, bie
ja möglichft zierlih und Eünftlerijch angefertigt werben kann, um den Leib
gebunden tragen. Wan lieft fie dann, weiß woran man tft und der Worte
bedarf ed dann gar nicht,
O Benimore Cooper, ed iſt fehr wahr, daß die Menfchen einen ange
borenen Hang befigen, Jeden, der ſich auf irgend eine Welfe außzeichnet,
neugierig zu betrachten und überdies einen angeborenen Hang, auch felbſt
Außzeihnung zu erringen und ſich betrachten zu laſſen.
Andererfeitö wollen wir dies eine ſehr wichtige und werthvolle Ten⸗
benz nennen, die für die Menschheit unerläßlih if. Wo wäre ohne diefelbe
Stern und Orbendband und die Bedeutfamkfeit der Rangunterſchiede; wo
wäre aller Ehrgeiz, aller Gelverwerb, mit einem Worte die Haupttriebfeder,
meldhe die Gefellihaft in Bewegung feßt, die Hauptfraft, durch welche fie
zulanımenhängt? Es ift dies, fagen wir, eine Tendenz, Die zu mannigfachen
Ergebniffen führt und von mannigfadhem nicht blos Lächerlichen, fondern
auch erhabenen Uriprunge ift, wiewohl ihn Manche einzig und allein auf
den gefelligen blinden Trieb des Menfchen zurüdführen wollen, der ihn an«
treibt, wie furzfichtige Thiere nach irgend einem glänzenden Gegenftande,
wäre derjelbe auch nur eine gefcheuerte Binnfanne, zu rennen und fle für ein
Sonnenlidt zu halten oder aud den Schafen gleidy zu laufen und fich zu⸗
fammenzudrängen, weil fchon viele gelaufen find.
Es ift in der That intereffant zu erwägen, wie die Menſchen ſich bie
Bötter machen, die fle felbft anbeten. Der berühmtefle Mann, um welchen
die ganze Welt Hurrah ſchreiend herumtanzt und ben fle verehrt, ald ob «
niemals feines leihen gegeben hätte, iſt derfelbe Mann, ten bie ganze
|
161
Welt auf die Seite zu floßen pflegte; und doch iſt er nicht ein anderer,
fonderu in jeder Safer nody ganz derſelbe.
Thörichte Welt, was bift dis hinaudgegangen zu fehen? ine blank»
geiheuerte Kanne! und liegen nidyt von demfelben Metall noch ganze Fuder
folcher Kannen da, obſchon in Folge eines ungünftigeren Schickſals alle
noch in ungepugtem Zuftande?
Und dennoch ift e8 im Grunde genommen nicht blo unſer gefelliger,
ſchafähnlicher Trieb, ſondern etwas Beſſeres und ſogar dad Beſte, nämlich
Das, was man Lie „fortwährende Thatſache der Heldenverehrung“ genannt
hat, unjere angeborene, aufrichtige Xiebe zu großen Menſchen! Selbft Tho⸗
ren begehren nicht den vergoldeten Heller um feiner ſelbſt willen, fondern
bie goldene Guinee, für welde fie ihn fäljchlih halten. Die Verehrung
großer Menichen liegt dauernd in der Natur des Menichen und dies ift zu
allen Zeiten, bejonders in ben gegenwärtigen, eine feiner glüdlichften Eigen-
ſchaften.
Zu allen Zeiten und ſelbſt in den jetzigen anſcheinend ſo ungehorſamen
Zeiten iſt es eine nie genug zu preiſende Thatſache, daß — ſo ſchlau hat
die Natur es eingerichtt — der Menſch nicht umhin kann, Dem
zu gehorchen, dem er gehorchen ſoll. Man zeige dem ſtumpf⸗
ſinnigſten Erdenkloß, man zeige dem ſtolzeſten Federkopfe, daß es wirklich
eine Seele giebt, die hoch über der ſeinen ſteht und wären ſeine Kniee ſteif
geworden wie Erz, ſo muß er doch niederfallen und anbeten.
So ſteht es geſchrieben und kann geleſen und wiederholt werden, bis
es Alle wiſſen. Man verſtehe es wohl, dieje Heldenverehrung“ war der
erfte Glaube ; fie ift auch dem Weſen nach der zweite und dritte geweſen
und wird eben fo auch der letzte und endliche Blaube der Menichheit fein,
ungerftörbar, in der Form wechjelnd, aber im Weſen unveränderlich, worauf
Politik, Religionen, Loyalitäten und alle hödhften menfchlidhen Interefien
gebaut worden find und gebaut werden können, wie auf einen Selfen, wel⸗
er dauert, fo lange die Menichheit felbft dauert.
Dies iſt Heldenverehrung; fo viel Liegt in diefer unferer angeborenen,
aufrichtigen Liebe zu großen Menjchen! — Und was fünnen wir zum Dant
für die unausſprechlichen Wohlthaten der Wirklichkeit weiter thun, als mit
heiterem Sinne die vielfachen Albernheiten des leeren Sceind verzeihen
und jogar Yöwenfoireen, mögen nun ihre Löwen mit jenen vorgeichlagenen
Etiquetten verjehen fein oder nicht, alle Arten von Gedeihen wünjden?
Carlyle. III. 11
162
Möge die Geldenverehrung blühen, fagen wir, eben fo wie die immer eifti-
gere Jagd nad) vergoldeten ‚Hellern, fo lange Guineen nod nit zum Bon
fein fommen. Es Itegt darin mindeſtens ein Beweis, daß Buineen vor-
handen find, daß man an ihr Vorhandenfein glaubt und daß man fle Idhäßt.
Suchet große Männer fo viel ihr kennt; findet ihr Feine, fo gebt darum
die Nachſuchung nicht auf und in Ermangelung großer Männer liefert fo
viele berühmte Männer, ald der Appetit des Publikums nur immer vertra⸗
gen kann.
Ob Sir Walter Scott ein großer Mann war, ift für Biele nod eine
Frage; keine Frage aber ift, daß er ein jehr berühmter und auch wirklich
feine® Ruhmes würdiger Mann war. In der gegenwärtigen Generation
bat e8 feinen Scriftfieller gegeben, der in irgend einen Lande eine folde
Popularität genofien hätte und e8 hat, alle Generationen unt alle Länder
jufammengenonmien, feines Gleichen nur wenige gegeben.
Dabei wird auch noch fernerweit zugeflanden, daß Sir Walter Scott's
Popularität von ziemlid gewählter Art war, nicht eine Popularität des
großen Haufens. eine Bewunderer waren eine Zeit lang faft alle intellis
genten Geiſter civilifirier Ränder und noch jetzt ſchließen fle einen großen
Theil dieſer Klafle ein.
Ein ſolches Glück war ihm während eines Zeitraumd von einigen
zwanzig oder treißig Jahren ununterbroden beidieden. So lange ber
Beobachtete aller Beobachter, ein großer Mann oder auch nur ein bedeuten.
ber Mann! Ganz gewiß haben wir es hier oder nirgends mit einem Wanne
In eigenthümlichen Umfländen, mit einem audgezeichneten Manne zu thun,
in Bezug auf weldien ed an dem angeborenen Bang von Seiten anderer
Menſchen nicht fehlen ann. Mögen die Menjchen darum immer hinichauen,
wo die Welt ſchon fo lange hingeſchaut hat.
Und nun, wo die neue, ſehnlich erwartete Lebendgefhichte „von feinem
Schwiegerfohn und literariihen Teſtamentsvollſtrecker“ wieder die Aufmerk⸗
famfeit der ganzen Welt um ihn verſammelt, wahricheinlih zum legten
Male auf diefe Weife, und wo die Menſchen gewiflermagen von einer Nota-
bilitar Abjchied nehmen und im Begriff ſtehen, ihres Weged weiter zu geben
163
nad ihn auf ber Fluth der Dinge feinem Schickſal zu überlaflen, warum
fellten wir Hier nicht ebenfalld audiprechen, was wir von ihm denken?
Lefer von gemiſchter Battung und unbelannter Quantität und Qualis
tät warten darauf, und zu hören. Mit geringem inneren Berufe, aber dem
Schidiale und der Nothwendigfeit freudig gehorchend, folgt der Berfafler
den Schritten einer großen Menge; ob er aber Böfed thut ober nicht, das
wird nicht von der Menge abhängen, fondern von ihm ſelbſt.
Eind wünſchte er allerdings, nämlich wenigſtens zu warten, bis das
Wert fertig wäre, tenn die ſechs verſprochenen Bände find, wie die Welt
weiß, noch in einen fiebenten übergefloffen, der erft in einigen Wochen das
Licht der Welt erbliden wird.
Die Redaction des Journals aber, für welches wir dies fchreiben, iſt,
des Wartens übertrüffig, peremptoriſch geworden und erflärt, dab fle, möge
das Werk fertig fein oder nicht, ed gerade jet abgethan haben will.
Vielleicht iſt es auch jo am beften. Walter Scott's Phyſtognomie
wird durch dieſen flebenten Band nicht wefentlich geändert werden, tenn
fhon die bereits erjchienenen ſechs haben nur wenig daran geaͤndert, wie
denn überhaupt ein Mann, der circa zweihundert Bände Original geſchrie⸗
ben und dreißig Jahre im allgemeinen Geſpräch von Freunden gelebt hat,
ſchon ein Bildniß von ſich Hinterlaffen Haben muß. Es geſchehe denn, wie
Die gebieteriiche Nedaction befiehlt.
Zuerft daher ein Wort über Die Xebendgeichichte jelbfi. Mr. Lock⸗
hart's befannte Bähigfeiten rechtfertigen eine ftrenge Unterfuchung in feinem
Falle. ünſer Urtheil im Allgemeinen würde dahin lauten, daß er das Werk,
welches er fi vorgenommen, auf ehrenvolle und eines redlichen Arbeiters
würdige Weiſe durchgeführt hat. Allerdings fcheint fein Begriff von Dem,
was dieſes Werk fein follte, Eein ſehr hoher gewefen zu fein,
.Das Leben Scott's nad den Regeln der Kunft oder Gompofition zu
malen, daß ein Lejer nach reiflicher Prüfung bei fich felbft fagen Eönnte:
„Das iſt Scott, das ift die Phyſtognomie und Bedeutung von Scott's Er⸗
fheinung und Pilgrimſchaft auf diefer Erte; fo war er von Natur, fo
wirkte die Welt auf ihn, fo er auf die Welt mit diefem oder jenem Ergeb⸗
niß, mit Diefer oder jener Bedeutung für ihn felbft und uns,“ dies war
Mr. Lockhart's Plan Feineswegs.
Und dennoch ift dies ein Plan, der bei jeder Biographie zum Grunde
gelegt werben follte und ex hätte von der Odyſſee an bis herab auf Thomas
11*
denn es giebt in der ganzen Welt kein Geltengevicht, welches nicht im
Grunde genommen eine Biographie oter die Lebensgeſchichte eines Menfchen
wäre und eben jo Fann man auch fagen, Daß es Teine wahrbeitgetreue er⸗
zählte Lebensgeichichte eined Menſchen giebt, die nicht gewiffermaßen als ein
gereimted oder ungereimted Heldengedicht betrachtet werden Fönnte.
Diefem PBlane würde man, wie gefagt, den Borzug geben, wenn er in
anderer Hinficht zwedentiprechend wäre, waß er aber im der gegenwärtigen
Zeit nicht ift. Sieben Bände verkaufen fi viel theurer und find doch viel
leichter zu fchreiben wie einer. Was würde z. B. die Odyſſee Eoften, wenn
fie bogenweije verfauft würde? Wahrfcheinlich noch Tange nicht fo viel al6
die „ Pickwickier“ und in der commerciellen Algebra würde fich die Gleichung
folgendermaßen ſtellen: Odyſſee gleih Pickwick, dividirt durch ein unbefann-
tes Ganze.
Es iſt in der Literatur noch eine große Entdeckung zu machen, näms
lich die Schriftiteller nad der Quantität Deffen zu bezahlen, was fle nicht
fhreiben. Ja, ift dies in der That und Wahrheit nicht eigentlich die Megel
bei allem Schreiben und überdied bei allem Handeln und Thun? Nicht das,
was über dem Boden ſteht, fondern was als die Wurzel unt das unters
trdifche Element, auß welchem es hervorgegangen, unfihtbar Darunter
liegt, beftimmt den Werth. Linter allem Reden, wad zu irgend etwas gut
ift, liegt ein Schweigen, weldyes noch weit befler iſt. Das Schweigen if
tief wie die Ewigkeit; dad Reden ift feicht wie Die Zeit.
Dies klingt parador, nicht wahr? Aber wehe dem Zeitalter, wehe der
von Charlatanen gepeinigten, mit Reben überfchütteten, gleich einer uns
fruchtbaren Sahara hin und her gewehten Menfchheit, welder Diefe Mahrs
beit, die jo alt ift als die Welt, gänzlich fremd wäre!
Dies, fagen wir, tft die Negel, mag man darnach handeln, mag, man
fie anerfennen oder nicht, und Der, welcher ihr untreu wird, kann weiter
nichts thun, als ſich in die Breite und Länge ausdehnen, zur Oberflächlich⸗
feit und Verfäuflichfeit, jo daß er dann, ausgenommen als Filagran, vers
hältnigmäßig feinen Nutzen mehr hat. Man denkt: wäre Doch diefer Eimer
dünnen Spülichts, das in einer Woche fauer wird und dann in die Goſſe
geworfen werden muß, deftillirt oder concentrirt worden!
Unfer lieber Benimore Cooper, den wir gleih am Eingange erwähn«
ten, hätte und dann vielleicht einen einzigen Natty Lederſtrumpf,
164
Ellwood mit allen Graden der Vollkommenheit durchgeführt werden können,
|
|
165
eine einzige melodiſche Synopſis des Menſchen und der Natur im Weften
(denn es lag einmal in ihm) gegeben, faft eben jo wie es ein Saint Pierre
mit den Snfeln des Oftens machte, und die auf Befehl von Colburn und
Compagnie eiligft zufammengefuflerten hundert unzufammenhängenden
Dinge bätten ruhig im Chaos fortgeihlummert, wie alle zuſammenhangs-
loſen Dinge da möglich thun ſollen.
In der That, dieſer Genius des weitläufigen Schreibens und Handelns
iſt ein Moloch, dem eine Menge Seelen geopfert werden und wenn je eine
Entdeckung werthvoll und nothwendig war, ſo iſt es die oben angedeutete,
naͤmlich nach Der Arbeit zu bezahlen, die auf nicht ſichtbare Weile verrich⸗
tet wird. Für eine ſolche fo höchſt nothwendige Entdeckung würden wir
mit Freuden alle projectmachenden, Eifenbahnen bauenden, Kenntniß ver»
breitenden und fonftwie thätigen Promotiv⸗ und Rocomotivgejellihaften in
der alten und neuen Welt auf irgend eine beliebige Zahl von Jahrhunder⸗
ten bingeben. Wird dieſe Entdeckung wirflich einmal gemacht fein, jo wol«
Ien auch wir unfere Mütze in die Luft werfen und rufen: „Jo Paean! der
Zeufel ift überwunden, * — und mittlerweile wollen wir uns bemühen, e8
nit jonderbar zu finden,. Daß fleben biographiſche Bände gegeben werden,
wo einer viel beſſer geweſen wäre und daß mehrere andere Dinge gerade
noch fo gefchehen, wie fie von Alters ber zu geichehen pflegten und wahr⸗
ſcheinlich andy noch ferner geſchehen werben.
Mr. Lockhart's Vorſatz war, denken wir uns, Teineswegs, ein fo hoch⸗
fliegende® Kunftwerf, wie wir eben andeuteten, zu produciren oder übers
haupt etwas Anderes zu thun, ale alle Briefe, Documente und Notizen
über Scott, von denen fich erwarten ließ, daß die Welt fie Iefen würde, zu
druden und nad der Zeitordnung oder durch die erforderlichen erflärenden
Einſchaltungen auf verfländliche Weiſe aneinanterzureiben.
Sein Werk ift daher nicht ſowohl eine Compoſition, als vielmehr
Das, wad man eine gur ausgeführte Gompilation nennen Fann. Deswegen
aber iſt dieſe Aufgabe nicht ohne Schwierigkeiten, fondern kann mit außer⸗
ordentlich verſchiedenen Graden von Talent durchgeführt werden und von
„Hannah More's Leben und Briefwechſel“ z. B. bis zu dieſer Lebensge⸗
ſchichte Scott's iſt in der That ein weiter Abſtand.
"Wir wollen daber bie fleben Bände binnehmen und dankbar dafür
fein, daß fie in ihrer Art Acht find. Ja, was den Umſtand betrifft, daß es
ihrer fieben und nicht einer find, jo darf man nicht vergeflen, zu erwähnen,
166
daß das Publifum ed fo verlangte. Hätte ein Autor anders verfahren
wollen, fo würde er dadurch einen Mangel an Volitik verratben haben.
Hätte Mr. Lockhart ih mühfam eoneentrirt und anflatt einer guten Compi-⸗
lation in ſteben Bänden die von und gewünfchte gutgefchriebene Compoſttion
in einem Bande, zu welder er mehr ale fonft Jemand in England befähigt
war, zu Tage gefördert, jo laßt ſich kaum bezweifeln, daß feine Leſer für dem
Augenblick unermeßli wenigere geweſen wären. Wenn ihm daher bab
kob hoher Gefinnung veriagt werden muß, fo kann man ihm das der Klug⸗
beit nicht vorenthalten, und vielleicht {ft ihm dieſes auch lieber.
Es laͤßt fi nicht Tengnen, daß es gut ifl, daB Werk, wenn aud nur
auf dieſe Weile audgeführt, zu beſttzen. Scott's Biographie liegt, wenn
auch nicht eigentlich gefehrieben, im Slementarzuftande gedrudt und unzer⸗
flörbar vor und und fann nun, da nötbig, zu jeder Zeit von Jedem, der
Beruf dazu fühlt, gefchrieben werden. So wie es if und wie ed ber Ab⸗
fiht des Verfaſſers gemäß fein follte, it, wir fagen Died nochmals, da Werk
fehr gut und Eräftig durchgeführt. Scharfinn, Urtheil, Dffenheit, Blei,
geiunder Menſchenſtand — Diefe Eigenfchaften find überall bemerkbar. Die
Data, Berechnungen und nbrigen Angaben find, glauben wir, alle richtig.
Es find viele für jeden Andern zum Theil unmögliche Forſchungen angeftellt
und die Ergebnifle derfelben mit gebührender Kürze mitgetheilt worden.
Scott's Briefe, im Allgemeinen nidyt interefiant, aber doch nie ganz ohne
Intereffe, And in reicher Anzahl wiedergegeben; zahlreich aber mit Au
wahl und die Antworten darauf noch ausgewählter. Erzählungen, Schil⸗
berungen und endlich auch perſonliche Erinnerungen, zuwellen von großem
Werthe, ſtets aber Träftig. auftichtig ‚und maleriich, find Hier und da eine
geftreut.
Hier liegen In der That die zerftreuten Glieder von Stott's Lebend-
geſchichte und diefe Gompilation iſt mit einem Worte dad Werk eines Flar-
blickenden, richtig denfenden und fühlennen Mannes und mit der Fäbigfelt
und der Gombination von Fähigfeiten durchgeführt worden, welche das
Bublitum von dem fi daran Inüpfenten Namen zu erwarten berech⸗
tigt war.
Eins hören wir Mr. Lodhart fehr zum Vorwurfe machen, nämlid
baß er zu mittheilſam und indiseret geweſen und Vieles aufgezeichnet habe,
was lieber hätte verſchwiegen bleiben follen. Es werden Berjonen und
Umflänte auf eine Weife erwähnt, die ihnen nicht immer zur Bierbe gereicht.
167
Wie es ſcheint, iſt fomach die Zurückhaltung weis geringer geweien ald man
erwartete! DBerichiedene Perjonen, die hier mit Namen und Bornamen ges
nannt find, Gaben ſich verlegt gefühlt, ja fogar der Held der Biographie iſt
unbeldenmüthig gemacht, indem zweidentige Thatſachen von ihm und Denen,
mit welden er zu thun hatte, ganz offen und frei erzählt werben. Daber
ſpricht man von „Berfönlichkeit”, „Indiscretion * oder noch fhlimmer „Geis
ligkeit des Privatlebens“ u. ſ. w. u. f. w.
Wie delicat und decent iſt doch die engliſche Biographie, Gott ſegne
ihren zimperlichen Mund! Ein Damoklesſchwert der, Reſpektabilitaͤt“ hängt
unausgeſezt über dem armen engliſchen Biographen — fo wie über dem
armfeligen engliichen Leben im Allgemeinen — und lähmt ihn in allen feis
nen Bewegungen. Ban bat deöhalb auch gar nicht mit Unrecht gefagt, daß
«8 feine enalifchen Biographien giebt, die ſich des Leſens verlohnten, ald die
von Schauipielern, welche der Natur der Sache zufolge der Reſpektabilität
gute Nacht gefagt haben. Der engliihe Biograph hat ſchon laͤngſt gefühlt,
daß, wenn er bei Abfaflung der Biographie feines Mannes etwas nieder-
förlebe, was möglidyerweile irgend Iemanden beleidigen fünne, er dann
falich geibrieben habe,
Die einfache Folge davon war, daß eigentlich gar Feine Biographie zu
Stande kommen Fonnte. Der arme Biograph, der die Furcht nicht vor
Gott im Auge hatte. mußte Rich gleichſam in einem leeren Raum zurüdziehen
und auf die traurigfte beengtefle Weiſe fchreiben, je daß ebenfalls nur ein
leerer Raum Die Kolge war. Vergebens jchrieb ex und vergebens laſen wir
einen Band nad den andern. Es war keine Biographie, Sondern das weiße
farbloſe, unflare Geſpeuſt einer Biographie ohne ausgeprägte Büge ober
Materie — ein Nichte, wie wir fagen, und Wind und Schatten, — woraus
aud in der That die ganze Sache beſtand.
Kein Menſch lebt ohne anzuflegen und geſtoßen zu werden; er muß
Äh auf alle Weife mit den Ellbogen Bahn brechen. Sein Leben iſt ein
Kampf, injoweit es überhaupt etwas Vorhandenes iſt. Sogar die Aufter,
glauben wir, fommt in Gollifion mit andern Auftern; ganz unzweifelhaft
kemmt fie wenigftens mit Nothwendigkeit und Schwierigkeit in Colliſton
und hilft fih Durch, nicht ald eine vollkommene ideale Aufter; jondern al
eine unvollfommene wirklihe. Die Aufter muß einen aewiflen Grad von
Rene kennen, einen gewifien Grad von Haß, einen gewiffen Brad von Kleine
muih.
168
Was aber den Menichen betrifft, fo if fein Kampf mit dem Geiſte des
Widerſpruchs, der außer ihm und in ihm lebt, ein fortwährender ; wir mei»
nen den böjen Geiſt, oder man nenne ihn auch ten ſchwachen, erbärmlidyen
Geiſt, Der in Andern und in ihm felbft lebt. Sein Gang ift wie alles Gehen
— wenigftend fagen dies die Phyſiker — ein fortgelegte® Yallen.
Will man das Leben des Menſchen malen, fo muß man auch dies darftellen.
Deshalb ftelle man es angemeflen, mit Würde und Maß dar, vor allen
Dingen aber ftelle man es dar. Wir wollen keine Aufführung des
Hamlet, in welcher auf beiondered Verlangen die Rolle Hamlens ausgelaflen
iſt! Wir wollen kein Befpenft von einer Biographie, möge das Damokles⸗
jchwert der Nefpektabilität — welches im Grunde genommen doch nur von
Bappe ift — drohen wie es wolle! Man hofft, daß der Geſchmack des
Publikums in diefer Sache fih viel gebeflert Habe und daß leere Biographien
mit einer Menge anderer darauf bezüglicher Ieeren Dinge fidh immer mehr
in den leeren Raum zurüdziehen, in welden fle gehören.
Wahrſcheinlich fühlte Mr. Lockhart, was das große Publifum mit Vei⸗
fall aufnehmen würde und dies bewog ihn, mit offenen Augen dieſen Ver⸗
floß an dem kleinen Eritifirenden Publikum zu begehen. Wir find freudig
damit einverflanden.
Vielleicht ift Daher von allen Kobfprüden, die man diefem Werke in fo
reihen Maße geipendet, in der That Feiner für den Verfaſſer fo rühmlich
als eben diefer Tadel, welcher ebenfalls ziemlich häufig ausgeſprochen wor⸗
den. Es iſt dies ein Tadel, der viel beſſer ift, ald vieles Lob. Man findet
den Verfafſer ſchuldig, Dieb oder Jenes gejagt zu haben, was Diejem oder
Jenem nicht ganz angenehm fein kann, oder was, mit andern Worten, ger
eignet ift, der Lebensgeſchichte, die er gefchrieben, ein lebentiges Geftcht zu
geben und fie aud dem leeren weißsgefpenftiihem Zuſtande herauszubeben.
Wir hören wie Mehrere rufen: Seht, da flebt etwas geichrieben, was
mir nicht ganz angenehm iſt! — Guter Breund, du thuft mir leid, aber
wer fann ed ändern? Diejenigen, welde fi um ein Freudenfeuer herum⸗
drängen, verfengen fi, und zuweilen mit Mecht, die Bärte. Es ift dies
der Preis, den fie für eine ſolche Illumination bezahlen; das natürliche
Zwielicht dagegen ift für Alle fiher und frei.
Was und betrifft, fo hoffen wir, daß alle Arten von Biographien, die
man in England fchreibt, künftig auf dieſe Weiſe werden geichrieben werden.
Wenn ed angemefien ericheint, daß fie ander& gejchrieben werden, jo if eb
169
noch weit angemeilener, daß fle gar nicht gefchrieben werden, denn nicht
Dinge, fondern die Geſpenſter von Dingen erzeugen, kann niemals die
Pflicht des Menſchen fein.
Die Aufgabe des Biographen ift: ein treued Bild von ber irdifchen
Wallfahrt eines Menſchen zu entwerfen. Er wird wohl berechnen, welder
Vortheil dabei ift und welcher Nachtheil; unter welcher letzteren Rubrik er
die eben erwähnten Beleitigungen feiner Mitmenichen nicht vergeflen wird.
Dadurch kann allerdings tie Wagſchale des Nachtheils fo zum Sinfen ger
bracht werden, daß manche außerdem vielverfprechende biograpbifche Unter⸗
nehmen lieber aufgegeben werden muß.
Sat man fidy aber einmal damit befaßt, fo if die Regel vor allen an⸗
dern Regeln, e8 auch in Wirklichkeit durchzuführen und nicht ein bloßes
Geivenft davon zum Vorſchein zu bringen. Wenn der Berfafler einer fol
hen Lebensgeichichte von dem Manne und dem übrigen Menichen fpricht,
mit denen er zu thun bat, jo wird er natürlich fi feiner Menfchenliche
nicht entfchlagen, aber deswegen doch immer die Augen offen behalten. Bern
fei e8 von ihm, etwas Unwahres niederzufchreiben, ja er wird jogar
Vieles, was wahr tft, nicht weiter in Erwähnung bringen, fondern der Ver⸗
gefienheit anheimgeben.. Kat er aber gefunden, daß Died oder Jenes für
feinen Zweck wejentlich ift, Hat er dad Für und Wider richtig abgewogen,
fo wird er jenes wefentliche Gefundene in der That nieberfchreiben — er
wird, können wir fagen, die Furcht Gottes vor Augen haben, aber feinerlei
andere Furcht. Man tadle die Klugheit des Biographen, man fei mit der
Berechnung, die er gemacht, einverftanden oder nicht, fo mwifle man doch,
daß nur nach diefem Plane der Biograph hoffen konnte, eine Biograpbie zu
maden und man table ihn nicht, daß er etwas gethan, was zu unterlaflen
fein ihlimmfler Fehler gewefen wäre.
Was die Benauigfeit oder Irrthümlichkeit diefer Angaben über die
Ballantyned und andere angeblich verlegte Perſonen betrifft, worüber an
gewiffen Orten jetzt viel bin und ber geftritten wird, fo willen wir Davon
gar nichts. Wenn dieſe Angaben unrichtig nd, fo berichtige man fie;
wenn die Unrichtigfeit vermeidbar war, fo treife den Autor Zurechtweifung
und Strafe. Wir fönnen blos fagen, daß dieſe Dinge durchaus nicht das
Anfehen der Ungenauigfeit haben und eben fo menig ift irgends die Fleinfte
Spur von Bösmilligkeit oder Beindfeligkeit zu entdeden.
Die Wahricheinlichkeit berechtigt demnach, fo lange nicht beflere Bes
170
weife zum Borfchein kommen, entſchieden zu dem Schlufle, daß tiefe Sage
ziemlich fe ſteht, wie ſie ſtehen fell. Möge daher dad tabelnde Geichwag
fi) fo weit verbreiten, als «8 fann. Für Mr. Lockhart gereicht «8 faftiih
zu bem jehr bedeutenden Lobe, daß er furchtlos vor das Publikum hintre⸗
tend einer der Erften geweſen if, welche diefer öffentlichen Geudgelei Trap
bieten — einer Heuchelel, die bei uns zu den weiteft verbreiteten gebört
und, fo glatt fie auch ausficht, mit vielen andern von der grauſamſten Art
in engem Bunde fteht.
Der zweite Tadel, daß Ecott durch diele Biographie unheroiſch ge
macht worten, entiproßt demielben Stamme, und if vielleicht eine noch weit
wunderbarere Blüthe deſſelben. Der achte Held darf alio feine ausgepräg-
ten Züge haben, jondern muß weiß, fledenlos, ein unperjönlicher Geſpenſter⸗
held jein. Hiermit im Zufammenhange aber ſteht eine jegt überall umlau-
fende Hypotheſe, die wahri&einlic von irgend einem Manne, der einen Na
men bat, ausgeht, denn ihre eigene Kraft würde jle nicht weit tragen, näm-
N: Mr. Lockhart habe einen ftillen Groll gegegen Scott gebegt und bei
halb alles Mögliche getban, um unser ber Hand und auf verrätberiiche Weiſe
ihn der Gigenichaften eines Helden zu berauben'!
@ine ſolche Hypotheſe it wirflid im Umlaufe und wer Obren hat,
kann fie dann und wann hören. Muß. über dieſe erſtaunliche Hypotheſe
wirklich ein Wort geſagt werden, ſo kann es blos eine Entſchuldigung unſe⸗
res Schweigens fein, denn es giebt Dinge, vor welchen man verfiumunt, wie
vor den erfien Anbli des Unendlichen. Denn wenn man Wr. Lockhan
wirklich und mit Brund einen radifalen Mangel zum Borwurf machen fana,
wenn ihm nad irgend einer Seite Hin fein Scharfblid untreu wird, ie
fheint der Grund gerade darin zu liegen, Daß Scott für ihn tur und durd
liebenswürdig if, Daß Scott's Größe ſich für ihn nach allen Seiten weiter
auöbreitet, als fein Auge reicht; daB fogar feine Fehler ſchön werden; daß
feine gemeine Gewinnſucht blos Klugheit. und angemefiene Vorficht if; Taf
mit einem Worte jein Werth Erin Maß kennt. Verweilt nicht der gebufdige
Biograph bei feinen „Aecbten“, „ Piraten * und anderen bingeiworfenen thea⸗
traliichen Decorationdmalereien und analufirt fie, als ob es Gemälde vor
Raphael oder der Zeit troßende Hamlet's und Othello's wären? Die Ro
manfabrif mit ihren fünfzehntauiend Bfund Sterling jährlich if ihm heilig
als die Schöpfung eines Genins, weldye den edlen Sieger zum Simmel ew
porträgt. Scott ift für Lockhart der Unvergleichliche feiner Zeit, ein Gegen
171
Rand, der fid vor ihm ausbreitet, wie ein Meer ohne Küfe, und jene Hy⸗
potheſe Täpı ih ſonach durch nichts beantworten, als durch ausdrucktvolles
Stillſchweigen.
In Summa, Leſer, welche und glauben, werden Lockhart's Lebendge⸗
ſchichte Scott's mit der Ueberzeugung leſen, daß ein Mann von Talent, Ent⸗
fchiedenheit und Einſicht fie gefchrieben; daß er ſie in fieben Bänden und
nicht in einem gefchrieben, weil das Publikum fie in dieſer Geſtalt beffer
bezahlt, daß er fie dabei aber mit Much, mit Offenheit und Redlichkeit, mit
einem Worte auf fehr leferlihe und empfehlenswerthe Weife geichrieben.
Wer fie braucht, kann fle Faufen oder aud für eine geringe Gebühr Teihen
und dabei überzeugt fein, daß er für fein Geld bier mehr Waare bat als
dies in andern Fällen zu gefcheben pflegt.
Und nun genug von diefer geichriebenen Lebensgeſchichte; ſchauen wir
und nun den Mann und fein Handeln und Leben felbft ein wenig an.
In die Brage, ob Scott ein großer Mann war oder nicht, beabfichtigen
wir nicht tief einzugeben. Diefe Brage dreht fich, wie nur allzugebräuchlich ift,
um blofie Worte. Es laͤßt ſich nicht bezweifeln, daß viele Menihen groß
genannt und gedrudt worden find. Die viel, viel Fleiner waren ald er, und
eben je wenig Täßt fich bezweifeln, daß von den ſpeziell auten ein ſehr
groner Theil nach dem aͤchten Maßſtabe tes menidlichen Werthes in Ders
gleich zu ihm werthloß war.
Der, für welden Scott groß ifl, kann ihn gang unſchuldig fo nennen;
er kann mit Vortheil feine großen Eigenſchafien bewundern und muß ihnen
mit aufrichtigem Herzen naceifern.
Gleichzeitig aber iſt e8 auch gut, wenn wir In uniern Pradikaten einen
gewiſſen Brad von Präcifton zur Geltung zu bringen ſuchen. Es iſt gut,
wenn man begreift, Daß Feine Popularität und maulaufiperrende Verwun⸗
derung der ganzen Belt, ſelbſt wenn fle eine ganze Reihe von Jahren fort
geſeht würde, einen Menſchen wirklich groß machen kann. ine ſolche Por
pularitãt IR allerdings ein bemerfenswerthes Bläd und beweiſt, daß ber
Hann in fein Element, in feine Umflände paßte; daß aber wirklich etwas
Großes in ihm lag, daB gebt daraus noch nicht hervor. Für unfere Eins
bildungskraft liegt, wie oben angedeutet worden, eine gewifle Apotbeoie
darin, in der Wirklichkeit aber liegt durchaus keine Apotheoſe darin.
172
Popularität if wie die Flamme einer Illumination, ober auch einer
Feuerödrunft, die um einen Mann herum entzündet wird. Sie zeigt, wab
an ihm iſt; vermehrt aber feine Eigenihaften nicht im minteften, oft fogar
entfrembdet fie ihm Vieles und verzehrt den armen Mann felbit zu Aſche und
einem caput mortuum.
"Dann ift auch der Natur der Sache nad eine folhe Popularität von
übergehend und die „Reihe von Jahren * findet gewöhnlich ein ganz uner-
wartetes, ja oft plögliche® Ende. Denn die Dumnibeit der Menichen, be
fonder& der in Maflen um irgend einen Gegenſtand verfammelten Menſchen,
ift außerordentlih. Welche Illumination und Brände haben ſich entzündet,
ald 06 neue himmliſche Sonnen aufgegangen wären, und bie ſich doch nur
als Theertonnen und irdifche Strohwiſche erwieien! Profane Brinzeifinnen
riefen: „Gin Gott, ein Farinelli!“ und wohin find nun fie und Bari-
nelli?
Auch in der Literatur bat man Popularitäten geiehen, die fogar noch
größer waren als Scott’®, und ohne daß etwas Dauerndes in ihnen gelegen
hätte. Lope de Dega, bei deſſen Namen alle Welt ſchwur und der fürmlid
ſprichwörtlich geworden ; der ein des Beifalls ſicheres fünfactiged Trauer
ipiel in faſt ebenio viel Stunden machen konnte; die größte aller Populari⸗
täten der Vergangenheit oder Gegenwart und vielleicht einer der größten
Menſchen, die je unter die Zahl der Popularitäten gehört — Lope felbk,
fo glänzend, fo weithinftrahlend, hat fi nicht ald eine Sonne oder ein
Stern des Firmaments erwieſen, fondern ift fo gut wie verloren und aub
gegangen oder fpielt im beften Halle in den Augen einiger Wenigen wie ein
blendendes, bald wieder auf immer verfchwindendes Nordlicht. Der große
Mann Spaniens faß unbekannt und arm als verflümmelter Krieger im Ge
fangniß und fhrieb feinen Don Duirote. Und Lope's Schidial war troß
dem ein trauriges, feine Vopularität vielleicht ein Fluch für ihn, denn auf
in diefem Wanne lag etwa Aetheriſches, ein götilicher Funke, der in wenig
anderen populären Menichen erfennbar iſt, und dennoch that dieſer weithin
ſtrahlende Blanz, obihon alle Welt dabei ichwur, für fein wahres Leben,
felbd während er noch lebte, nichts. Er mußte in ein Kloſter, ın eine
Mönchskutte Eriehen und mit unendliher Wehmuth erfahren, daß feine
Slüdieligkeit in etwas Anderem lag, und daß, wenn das Leben des Mew
hen ih Eranf und verirrt fühlt, Fein Beifall der ganzen Welt e8 wieber
gefund und richtig machen Fann.
173
Oder wenn wir unfere eigene Zeit ins Auge faflen, war nicht Augufl
Kogebue auch populär? Kogebue ſah vor nicht erft vielen Jahren, wenn
Gefchrei und Händeklatſchen Glauben verdienten, den größten Mann in ſich;
er fab feine Gedanken ſichtbar in Plüich und Bappe gefleidet in dem civili⸗
firten Europa umperftolziren ; die etjernften Geſichter weinten mit ihm in
allen Theatern von Kadix bis Ramfchatla und fein „wunderbareö Genie *
producirte mittlerweile durchfchnittlich zwei Trauerfpiele pro Monat. Er
loderte im Ganzen genommen hoch genug, aber auch er ift in Nacht und
Orkus verfunfen und ſchon nicht mehr.
Aus diefen Gründen wollen wir von der Popularität ganz abfehen
und annehmen, Daß fle zu Scott's Größe oder Nichtgröße einfach nichts bei=
trage; wir wollen fie mit einem Worte nicht al8 eine Eigenfchaft, ſondern
als einen bloßen Zufall betrachten.
Dieſes trügerifhen Nimbus entkleidet und auf die eigenen natürlichen
Dimenflonen zurüdgeführt, bleibt und die Wirklichkeit übrig — Walter
Scott und was wir in ihm finden können, um es je nad den Dialekten der
Menfdyen groß oder nicht groß zu nennen. Freunde einer entichiedenen und
genauen Austrucdsmeife werden wahrfcheinlich jeinen Anfpruch auf den Na⸗
men „groß“ in Abrede ftellen. Wie und fcheint, gehört auch allerdings ein
anderer Stoff ald wir bier entdecken können, dazu, um einen großen Dann
zu machen. |
Man weiß nämlich nicht, von welcher Idee, die des Namens einer
großen würdig wäre, von welchem Beftreben oder Inftinkt, den man groß
nennen könnte, Scott jemals durchdrungen geweien wäre. Sein Xeben war
weltlich ; fein Ehrgeiz war weltlih. Es Liegt nichts Geiſtiges in ihm; fon«
dern Alles ift materiell und irdiſch. Liebe zum Malerifchen, zum Sc,önen,
Kräftigen und Anmuthigen; ; eine ächte Liebe, die aber nicht ächter war, ala
fie in hunderten von Menſchen gewohnt hat, weldhe man Eleinere Dichter
nennt, dies ift die höchſte Eigenfchaft, die in ihm zu erkennen ift.
Sein Talent, diefe Dinge darzuftellen, fein poetiſches Talent war eben
fo wie feine moralifche Fähigkeit ein Genius in extenso, wenn wir fo fagen
dürfen, nicht in intenso. In der Praris wie in der Theorie erhob er fich,
fo breit er audy war, doch nirgends hoch und, in Bezug auf Quantität über
alle Maßen fruchtbar, überfchritt er doch hinſichtlich der Qualitat die Region
bes Gemeinplatzes größtentheild nur ein ganz Elein wenig und man hat des⸗
174
Hals mit Hecht gefagt: Kein Autor bat fo vicle Bände mit fo wenigen zum
Gitiren geeigneten Sentenzen geſchrieben.
Beflügelte Werte waren nicht jein Beruf; nichts drängte ihn na
diefer Richtung Hin ; dad große Geheimniß des Dafeind war ihm nicht groß;
es trieb ihn nicht in felfige Einöden, um bier mit diefem Geheimnis um
eine Antwort zu ringen und diefe Antwort entweder zu erhalten oder unter
zugehen. Er beſaß nichts vom Märtyrer; er wagte fih in keine finfere
Region hinab, um zu unferem Beſten Ungeheuer zu erlegen. Seine Siege
galten der Hauptiadhe nah dem eigenen Nupen; ed waren Siege über ges
wöhnliche Marftarbeit, die nach guter Flingender Iandesüblicher Münze bes
rechnet werden konnte.
Es möchte ſchwer fein, zu fagen, worauf er fein Vertrauen feßte, ande
genommen auf Macht, nämlich Macht irgentwelder, ſelbſt der gemeinften
Art. Man fleht nicht, daß er an irgend etwad geglaubt hätte, ja er leugs
nete nicht einmal, fondern ſtimmte ruhig bei und machte ſich in einer Welt
der Sonventionalitäten nab Möglichkeit heimisch. Das Falſche, Das Halb⸗
faliche und das Wahre waren für ihn gleihmäßig wahr Darin, Dan fie da
waren und mehr oder weniger Gewalt in den Kanten hatten.
Es war ſchön, dieſer Anficht zu fein und dennod nicht ſchön! GE.
fteht gefchrieben: „Wehe Denen, die bequem figen in Zion,“ aber ſicherlich
beißt ed auch: Doppelt wehe Denen, die bequem figen in Babel, in Dom⸗
daniel. Andererfeitd fchrieb er vicle Bücher und amüfirte dadurch vice
taufend Menſchen. Sollen wir dic groß nennen? Wie und ſcheint, wohnt
und flrebt in dem Innern großer Menichen ein anderer Geiſt.
Bruder Ringletub, der Milfionair. fragte Nam Daß, einen hindu'ſchen
Menſchengott, der fich erft Fürzlich zur Gottheit aufgeworfen, was er wohl
mit den Sünden der Menſchheit anzufangen gedenfe? Worauf Ram Daß
fofort antwortete: er babe in feinem Bauche Keuer genug, um
alle Sünden in der Welt zu verbrennen. Ram Daß batte fo weit Recht
und es lag ein gemifier Sinn darin, denn fiherlich ijt Died das Kennzeichen
eined jeden göttlichen Menichen und ohne daſſelbe ift er meter göttlich noch
groß. Wozu ift er fonft da, ald daß er Feuer in fih habe, um einen Theil
von den Sünden der Welt, von dem Elend und den Irrthümern der Welt
zu verbrennen?
Fern fei ed von und, zu fagen, daß ein großer Mann nothwendig cin
fogenannter Breund des Menſchengeſchlechts werden müfſe, ja daß nicht Diele
175
ſich ſelbſt ſo nenmenden felbftbewußten Menichenfreunde die verderblichſten
Individuen feien, die wir in unierer Zeit antreffen können. Alle Größe iſt
mbewußt oder fie if gering und nichtig. Und dennoch wäre ein großer
Mann ohne ein ſolches Feuer, mag ed num düſter oder entwidelt als ein
göttlicher Funke in feinem Herzen der Gerzen brennen, ein Soloͤcismus in
der Ratur. Ein großer Mann if ſtets, wie die Trandcendentaliften fagen,
von einer Idee beieflen.
Napoleon felbft, gewiß nicht der fiperfeinfte der großen Männer und,
hinreichend mit Klugheiten und GEgoismen belaftet, hatte nichtädeftomeniger,
wie ziemlich Elar ift, eine Idee, von welcher er außging, — die Idee, daß
die Demofratie die Sache der Menſchheit fei, Die richtige und unendliche
Sache. Demgemäß machte er fih zum bewaffneten Soldaten der Demofra-
tie und vindicirte fie in allerdingd großartiger Weile. Ja, bis zum legten
Augenblide Hatte er eine Art von Idee, nämlich die, welche er mit den Wor⸗
ten ausſprach: „La carri&re ouverte aux talens,“ die Werfzeuge gebühren
Dem, der fie zu handhaben verſteht; in der That eine der beflen Ideen, die
jemal& über dirfen Gegenſtand ausgeſprochen worden, oder vielmehr die eine
wahre Gentralidee, nach weldyer alle übrigen, wenn fie überhaupt eine Ten-
denz haben, hinftreben müflen.
Unglüdlichermeife fonnte Napoleon dieje feine Idee nur auf dem mi⸗
litairiichen Felde verwirklichen, weil er lange Zeit gezwungen war, zu käm⸗
pfen, um fich felbft zu behaupten. Ehe er fie in einiger Ausdehnung in dem
Givilbereihe der Dinge erprobt hatte, warb fein Kopf durd viele Siege
ſchwindlig, denn fein Kopf kann mehr ald eine beſtimmte Quantität von
Gluͤck ertragen und er verlor den Kopf, wie man zu fagen pflegt, und ward
ein ehrgeisiger Egoift und Charlatan. Deshalb warf nıan ihn hinaus und
er hinterließ die Verwirklichung feiner Idee im Civilbereiche der Dinge An-
deren.
Sp war Napoleon ; jo find alle großen Männer Kinder ber Idee oder
wie Ram Daß fih ausdrüdt, mit Feuer begabt, un dad Elend der Menjchen
zu verbrennen. Bewußt oder unbewußt, fchlummernd oder entwickelt, iſt
in Scott's innerem Menſchen nur wenig Spur von einem folchen Feuer zu
eutdeden.
Und doch muß andererſeits ſelbſt der fauertöpfiichite Kritiker zugeben,
daß Scott ein ächter Mann war, was fchon an und für fi etmad Großes
if. Keine Affection oder Verzerrung wohnte in ihm, fein Schatten von
176
Seudelei. Sa, war er nicht in feiner Art ein waderer, tapferer und flarfer
Bann? Weld eine Laft von Mühe, wel ein Maß von Glückſeligkeit trag
er rubig mit fich entlang ; mit welcher ruhigen Kraft wirfte und freute er
fih auf dirier Erde, unüberwindlih für böſes Geſchick und für gutes! Ein
gefaßt unüberwindlicher Mann war er; in Schwierigkeit und Noth kanme
er feine Entmuthigung, fondern trug glei Simfon auf feinen flarfen Sim-
ſonſchultern die Thore fort, die ihn einferfern follten, und in Gefahr nd
Drohung verlachte er das Klüftern der Furcht.
Und welch ein fonniger Strom ächten Humor und älter Humanität,
welche freie, freudige Sympathie mit fo vielen Dingen befeelte ihn! Weldes
Feuer durchglühete ihn, welche verborgene fruchtbare, innere Wärme des
Lebend! Er war — dies läßt ſich nicht leugnen — ein rüftiger, geſunder
Mann.
Unjere beſte Definition von Scott ift vielleicht eben die, daß er, wenn
fein großer Mann, dann etwas war, was weit angenehmer ift, zu fein —
ein rüfliger, durch und durch gejunder und dabei ſehr glüdliher und ſteg⸗
reicher Mann. Er war ein Mann in eminent guten VBerbältniffen, geiumd
an Körper, gefund an Seele; wir nennen ihn einen ter gefündeftrt
Menſchen.
Und das iſt keine Kleinigkeit. Die Geſundheit iſt ein hochwichtiger
Gegenſtand für ihren Beſitzer ſowohl als für Andere. Im Ganzen genom⸗
men und bei Lichte betrachtet hatte daher jener Humoriſt nicht fo ganz Un
recht, wenn er ſich vornahm, bloß die Geſundheit zu ehren und, anftatt ih
vor den Hochgebornen, den Reichen und Wohlgefleideten zu demüthigen,
darauf beftand, blos vor den Befunden feinen Hut habzuzieben. Hoch⸗
adelige Equipagen mit bleichen Geſichtern darin rollten unbeachtet als er
barmlich und befagenswerth vorbei; Karren Dagegen, von rothiwangiger
Kraft gezogen, wurden ald erfolgreih und ehrwürdig begrüßt. Denn ber
deutet nicht Geſundheit Harmonie, ift fie nicht gleichbedeutend mit Allem,
was wahr, richtig geordnet und gut ift? Iſt fle nicht in einem gewiſſen
Sinne, wie die Erfahrung zeigt, die Totalſumme alles Werthes, der in und
liegt?
Der gejunde Mann ift ein höchſt ſchätzbares Naturproduft, injoweit er
ed eben fein fann. Gin gefunder Körper ift gut, aber eine gefunde Seelt
ift mehr als alles andere Das, was der Menſch ſich erbeten muß, das Herr
lihfte, womit ter Himmel unfere arnıe Erte beglückt. Ohne Fünftlid
177
vhilofophiſche Medikamente, ohne Die Schnürbruß der — doch ſtets ſehr
zweifelhaften — Slaubendbekenntniffe erfennt die gefunde Seele, was gut
if, nimmt es an und hält daran feſt; fie erfennt auch, was fchlecht ift und
Kößt es freiwillig vun ſich. Gin Inflinft gleih dem, welcher den wilden
Ihieren des Waldes den Weg zu ihrer Nahrung zeigt, ſagt dem mit einer
gefunden Seele begabten Menſchen, wad er ihun, was er laſſen fol. Was
fall und frembartig tft, haftet nicht an ihm. Heuchelei und alle phantaflie
fhen, frankhaften Incruftationen find unmöglich, eben jo wie Walter, das
Driginal, — einer fo außgezeichneten Geſundheit erfreute diefer ſich ſei⸗
nerfeitd — es trotz aller Enthaltiamfeit von Seife und Waſſer nicht zu
einem ſchmutzigen Sefiht bringen fonnte! Mit Diefem da kannſt du ars
beiten und Nugen davon haben, denn e8 iſt tüchtig und würdig ; mit Ienem
dagegen kannſt du nicht arbeiten, denn es iſt untüchtig und trivial — ſo
ſpricht untrüglich die innere Mahnung der ganzen Menſchennatur. Es bes
darf feiner Logik, um zu beweifen, "daß felbft die argumentenreichfte Abge⸗
ſchmacktheit dennoch abgeihmadt if, fo wie Goethe von ſich ſelbſt fagt:
„Alles dies ran von mir herab wie Wafler von einem Menſchen in Wachs⸗
tuchfleidern.” Geſegnet ift die geſunde Natur, denn fie tit die zufammen«
bängende mild zufammenwirfende, nicht unzuſammenhängende ſich ſelbſt zer⸗
ſtörende, fich feloft vernichtente! Bei der harmoniihen Abwägung und dem
Einklang aller Fähigkeiten verleihet das richtige Gleichgewicht des eigenen
Selb auch ein richtiges Gefühl gegen alle Menſchen und alle Dinge; ein
hehres Licht von innen ftrahlt nach außen und erleuchtet und verichönt.
Alles Died nun laßt fi auf Walter Scott anıvenden und von feinem
Manne der britiichen Xiteratur, deſſen wir uns in neuerer Zeit erinnern,
in folbem Grade — wenn nicht vielleicht von einem, dem fchroffften Gegner
Scott's, den man fid) tenfen kann, ober in diefer @igenihaft und mas Dazu
gehört, ihm ebenbürtig: William Cobbett. Ja, es bieten ſich zwifchen dies
fen beiden Männern nody andere Aehnlichkeiten dar, fo verſchieden fie auch
von einander ausichen.
Ein joldyer Bergleih hat für Scott durchaus nichts Beeinträchtigen«
des, denn auch Gobbrtt iſt ald der Mufter-John Bull feines Jahrhuntertg,
ſtark wie das Rhinoceros, während ganz eigenrhümliche Humanitäten und
Genialitären durch fein dickes Hell hindurchſchimmern, ein fehr wackeres
Bhänomen. In tem kränklichſten aller Zeitalter, von melden die Geſchichte
erzählt, als die bririjche Literatur gepeinigt von Wertherismus, Byronis⸗
Carlyle. III. 12
178
mus und anderem thränenreichen oder Erampfhaften, durch inneren Wind
erzeugten Sentimentalismus, fo zu jagen, in der Maufer lag, war die Ras
tur fo gütig, uns zwei gefunde Männer zu fenden, von welden fie noch nidt
ohne Stolz jagen Eonnte: „Auch diefe wurden in England geboren, auch
hier fchaffe ich noch ſolche Glieder!” Es ift dies eine der erfreulichften Er⸗
ſcheinungen, möge man die Frage über die Größe entfcheiden wie man wolle,
Ein gefunde Natur kann groß fein oder nicht groß fein; aber es giebt Feine
große Natur, die nicht gefund wäre.
Oder fünnen wir im Ganzen genommen nicht fagen, Scott fei in dem
neuen Gewande des neunzehnten Jahrhunderts ein treues Abbild tes alten
fampfluftigen &renzbewohners früherer Jahrhunderte geweſen; die Gattung
Menſch, weiche die Natur fonft in feinem Geburtölande jhuf? Im Sattel
mit dem Kampfipeere in der Hand würde er feine Aufgabe eben fo gut er«
füllt haben wie er am Pulte mit feiner Weder that. Man kann ſich faſt
vorftellen, wie er felbft ein folder rüfliger, mit dem Schwert umgürteter
terrae filius war, wie er fie in feiner Zeit zu malen liebte. Diefelbe rüftige
Selbftgülfe lag in Ihm; fein Herz war mit demfelben Eichenholz und dreis
fachen Erz umgeben. Er war ein Mann ohne Sfrupel oder phantaſtiſche
Brillen; ein Mann von hartem Kopf, gefundem Herzen, freudigem, rüftie
gem Temperament, der ſtets den Hauptfleg ind Auge faßte und direct darauf
zufoht. Auch er hätte in Redéwire mit gekämpft, auch er hätte Viehheer⸗
den vom Belde mit wegftehlen Helfen, auch er hätte fih für Beleidigungen
mit Zinfeszinfen wieder abgefunden. — Wie viel hätte in diefem Falle in
ihm gefhlummert und wäre mit ihm wieder verfchwunden, ohne ein Lebens⸗
zeichen von ſich zu geben!
Wer weiß aber überhaupt, wie viel in vielen Menſchen ſchlummert?
Vieleicht find unjere größten Dichter die ſtummen Miltond; bie Tauten
find die, welche wir durch glüdlichen Zufall erfafien — einen bier, einen
dort. Es iſt fogar die Brage, ob, wenn nicht Mangel, Noth und Verwicke⸗
lungen anderer Art in Stratford am Avon thätig gewefen wären, Shake
fpeare fel&ft fein ganzes Leben lang etwas Anderes gethan, als Wilddieberei
getrieben oder Wolle gefänmt Hätte! Wäre das Project mit der Penflonss
ſchule in Edial nicht verunglückt, fo hätten wir vielleicht niemals etwas von
Samuel Johnſon gehört; Samuel Johnſon wäre ein fetter Schulmeifter
und pedantifcher Gerundiumbrechöler geworben und hätte nie erfahren, daß
er mehr war. Die Natur iſt reich; diefe beiden Eier, welche du forglos
179
zum Frühſtück iffeft, hätten fle nicht zu ein Paar Hühnern audgebrütet wer«
den und die ganze Welt mit Geflügel bedecken können?
Der muthige Srenzhäuptling, von dem wir bier fprechen, war jedoch
nicht Geftimmt, eine wirflicdhe Zange zu brechen, das Schwert zu ziehen oder
Bichheerden wegtreiben zu Helfen. Seine Aufgabe war eine ganz andere,
Der Balladenfänger und angenehme Befchichtderzähler für Britannien und
Europa im Anfange des künſtlichen neunzehnten Sahrhunderts zu fein —
hierin und nicht dort lag fein Werk.
Wie er fi in diefes neue Element bineinfindet, wie er fi darin forte
Hilft, wie er audy dieſes für fih nugbar zu machen verfteht, gefund und fleg«
reich darin lebt und eine Beute über die Marſchen hinwegtreibt, gegen welche
alle von den Hardens jemald geraubten Viehheerden eine Kleinigkeit find
— dies ift die Geſchichte des Lebens und ber Heldenthaten unferes Sir
Walter Scott, Baronet, die wir jegt ein wenig ins Auge faflen wollen.
Es ift dies ein merkwürdiger, ein tüchtiger Gegenftand von freutiger, fieg⸗
reicher Art, welcher wohl verdient, daß man ihn richtig anſchaue.
Indeflen wird ein Blick auf dieſe und jene Seite genügen. Unſere
Grenzen find eng; die Sache if, wäre fie auch noch fo fiegreich, nicht von
erhabener Art und auch nicht außerordentlich erbaulih. Sie bietet nichts
dar, was man heftig tadeln oder heftig Tieben könnte; es giebt dabei mehr
zu vermwundern, ald zu bewundern und das ganze Geheimniß ift Fein ab»
ſtruſes.
Bis zu dem dreißigſten Jahre bietet Scott's Leben nichts dar, was
entſchieden auf die Literatur oder überhaupt auf Auszeichnung irgend einer
Art hindeutete. Er iſt verheirathet, haͤuslich und geſchaͤftlich eingerichtet
und hat bis jetzt noch ohne eine Symptom von Ruf oder Ruhm alle ſeine
vorläufigen Stufen durchgemacht. Es iſt die Lebensgeichichte eines jeden
anderen Edinburger jungen Mannes ſeines Standes und ſeiner Zeit.
In vieler Beziehung müflen wir dieſes Leben ein glückliches nennen.
Eltern in wohlhabenden Umfländen, aber frei von den Bebelligungen und
Verkehrtheiten der Ariftofratie ; nichts Hervorragendes in Bezug auf Rang,
Faͤhigkeit oder Kultur, aber doch auch Fein Mangel; alles rings umher ift
methodifche Ordnung, Klugheit, Gedeihen und Herzensgüte — ein Element
12*
180
von Wärme und Licht, Liebe, Betriebſamkeit und bürgerlichen zur Eleganz
erhöhten Comfort, worin das junge Gerz ſicher und gedeihlich wachen
kann.
Eine kräftige Geſundheit ſcheint ihm von der der Natur verliehen zu
fein und doch, ald ob die Narur gefagt hätte, „e# foll eine Geſundheit feim,
die fi durch ten Körper, nicht durch ben Geiſt ausſpricht“, tritt in ber
Kindheit eine Lähmung hinzu. Der wadere Eleine Knabe muß anflatt ber
umfpringen zu können, denken lernen oder wenigftend, was feine Kleinigfeit
if, flilligen. Für diefen jungen Walter giebt es fein Ballipiel und Fein
Meifentreiben, fondern Balladen, Geſchichtsbücher und eine ganze Welt voll
Sagen, womit jeine Mutter und die übrigen Berionen in feiner Umgebung
reichlich im Stande find, ihn zu verfeben. Die Krankheit, weldye nur ober-
flächlich iſt und mit äußerer Lahmheit endet, ummölft dad junge Daiein
nicht, jontern führt es mehr der Entfaltung entgegen, für welche es geichaf-
fen if. Die Kranfheit war eine der inneren edlen Theile geweien und hatte
die allgemeine Organifation beeinträchtigt, jo daß, wenn fie nicht geheilt
worden wäre, fein Walter Scott trog aller feiner anderen Begabungen er⸗
zeugbar oder möglidy geweien wäre. „Die Natur giebt gelunden Kindern
viel“, wie viel! ine weite Erziehung ift eine weife Entfaltung dieſes Ge⸗
ſchenks; oft aber entfaltet e8 fih von ſelbſt noch beſſer.
Man bedenke hierbei noch einen anderweiten Umſtand — den Drt,
naͤmlich das presbpterianifche Schottland. Die Einflüffe dieſes Umflantes
machen ſich unaufhörlich fühlbar, fie ſtrömen zu allen Poren herein. „E38
liegt, * fagt 2a Rochefoucault, „ein heimiſcher Accent nicht 6106 im- Reden,
fondern auch im Denken, Handeln, im Charafter und in der Lebensweiſe
bes Menſchen — ein Accent, der ihn niemals verläßt." Ecott war, glauben
wir, fein Leben lang ſchoitiſcher Diſſenter; Darauf kommt aber wenig an.
Niemand, der Schottland und Scott fennt, kann bezweifeln, DaB auch der
Presbyterianismus einen ungeheuern Antheil an feiner Ausbildung hatte.
Gin Land, deffen ganzes Volk im innerften Herzen von einer unend⸗
lichen religidien Idee ergriffen und erfüllt ift oder dies auch nur einmal ges
weien ift, bat einen Schritt gethan, den es nicht wieder zurüdthun kann.
Der Gedanke, das Bewußtfein, dad Gefühl, daß ter Menſch Bürger eines
Weltalls, Geſchöpf einer Ewigkeit ift, Hat die fernfte Hütte, das einfachfte
Herz durchdrungen. Schön und ehrfurdtgebietend überfchattet das Gefühl
eined himmlischen Berufes, einer von Gott auferlegten Pflicht, das ganze
181
Leben. Es lebt Begeifterung in einem ſolchen Volke und man fann in
engerem Sinne fagen: die Begeifterung des Allmächtigen giebt dieſen
Nenſchen Berftand.
Ehre allen TBaderen und Wahren; ewig dauernde Ehre dem braven
alten Knox, einem der Wahrften der Wahren! Daß er in dem Augenblide,
wo er und feine Sache unter bürgerlichen Wirrntiien noch ums Leben kaͤmpf⸗
ten, den Schulmeifter hinaus fendete an alle Eden und fagte: „Man uns
terrichte daS Volk“, dies ift 6lo8 ein und in der That unnermeidlicher und
verhältnismäßig unbedeutender Theil feiner großen Botſchaft an die Men«
fen. Seine Botſchaft in ihrem wahren Umfange lautete: Laſſet die Men⸗
ſchen wiffen, daß fie Menfchen find, von Bott gefchaffen, Bott verantwortlich
und die in dem geringften Augenblide der Beit wirken, was in alle Ewig⸗
keit dauert. Es ift in der That eine große Aufgabe. Nicht Pflüg- und
Sämmermafchinen, nicht Verdauungsmaſchinen, um das Produkt jener erften
zu verbauen, auch nicht geborene Sklaven, weder ihrer Mitmenfchen noch
ihrer eigenen Gelüſte, follen fle jein, fondern vor allen Dingen Menſchen!
Diefe große Botſchaft verfündete Knox mit der Stimme und Kraft eines
Mannes und fand ein Volk, welches ihm glaubte.
Eine folde That, jagen wir, bat, wenn fle auch nur ein einziges Mal
ausgeführt wird, unermeßliche Folgen. Der Gedanke kann in einem folchen
Lande wohl feine Form ändern, aber niemals erlöfhen. Das Land ift
majorenn geworden, der Gedanke und eine gewiſſe geiftige Mannheit,
bereit zu jedem Werke, welches der Menfch thun kann, dauert bier fort.
Diefer Gedanke kann viele. Kormen annehmen, die Form Fnauferigen,
geldgierigen Fleißes wie bei dem gemeinen Schotten, bei dem gemeinen Neu⸗
engländer ; aber als eine compakte, entwidelte Kraft ift er Immer noch da.
Bu einer Zeit kann diefer Gedanke ſich als der Foloffale Skepticiemus eines
Sume, der titanengleich durch Zweifel und Korfchung hindurch dem neuen
Glauben entgegenfämpft, oder zu einer beflern Zeit als die begeifterte Me⸗
Iodie eines Burns ausſprechen. Mit einem Worte, ex ift da und offenbart
Ah fortwährend in der Stimme und in dem Werfe einer Nation fleißiger,
Arebfamer, bedächtiger Menſchen und Allem, was darin liegt oder daraus
entwickelt werden fann. |
Der ſchottiſche Nationalcharakter hat feine Wurzel in vielen Umſtän⸗
den. Zuerft und vor Allem in dem ſächſtſchen Biute, auf welches hier einzu⸗
wirken war, zunächft aber, und mehr als in fonft etwas, in tem presbyte⸗
182
rianifchen Evangelium von John Anor. Es ſcheint ein guter National-
charakter zu fein, von manchen Seiten aber auch nicht fehr gut. Scott be=
danke fi bei Sohn Knor, denn er war ihm viel fchuldig, fo wenig er ſich
auch eine Schuld nach diefer Richtung bin träumen ließ. Kein Schotte ſei⸗
ner Beit war durch und durch ſchottiſcher als Walter Scott; das Bute und
das nicht jo Gute, welches allen Schotten angeboren iſt, durchdrang bei ihm
jede Faſer.
Scott's Kindheit, Schultage, Studentenjahre find angenehm zu lefen,
obſchon fie von denen Anterer an feiner Stelle und in feiner Zeit weiter
nicht verfchieden find. Das Andenken an ihn wird wahricheinlich jo lange
dauern, bis die Geſchichte dieſer feiner Iugendzeit weit intereflanter gewor⸗
den, als fie jetzt il. „Sp lebte ein noch unentwidelter Edinburger Schrift«
fleller zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts, * jagt vielleicht ein Fünftiger
ſchottiſcher Romanichreiber zu Ende des einundzwanzigfien bei ſich ſelbſt.
Das nachſtehende kleine Fragment Kindheit ift Alles, wad wir Bier
auszugsweiſe mittheilen können. Es ift einer Autobiographie entnommen,
die er begonnen und von weldyer man nur bedauern faun, daß es ihm nicht
bergönnt war, fie zu beenden. Scott's befle Eigenichaften entwidelten ſich
in keinem fchöneren Kichte, ale wenn er Anekdoten und Erinnerungen vers
arbeitete. Ein folcher Meifter im Erzählen und feiner ſelbſt würde eine
Geſchichte feiner eigenen Perſon gut durchgeführt haben. Hier, wenn
irgendwo, war feine Kenntniß vollfläntig und all fein Humor und feine
gute Laune hatten freien Spielraum.
„Gin feltiamer Zufall,* fagt er, „verdient, daß ih ihn erzähle. Meine
Mutter hatte, während ich mich auf diefem Meierhofe Sandy Knowe befand,
ein Mädchen zu meiner Abwartung mitgeſchickt, damit ich der Familie nicht
Taftig fallen möchte. Die mit dieſer wichtigen Miſſion beauftragte Dirne
aber hatte ihr Herz wahrfcheinlid in dem Gewahrfam irgend eines wilden
Burſchen gelaflen, der ihr mehr verfprochen, ald er zu halten geionnen war.
Deshalb Tag außerordentlich viel daran, wieder nah Edinburg zurüdzufch-
zen und da meine Mutter darauf befland, daß fie bliebe, wo fie wäre, fo
faßte fie einen gewifien Haß gegen mich, weil ich die Urſache war, daß fie in
Santy Knome bleiben mußte. Dieſes Gefühl fleigerte fib bis zu einem
gewifien Deliriun, denn fle geftand der alten Alizon Milion, der Haushäl«
terin, fie fei, während fie mic dorthin gebracht, vom Teufel verſucht wor⸗
den, mir mit ihrer Scheere Die Kehle abzufchneiden und mid in dem Moofe
183
zu vergraben. Alizon nahm fofort Beſitz von meiner Perſon und trug
Gorge, daß ihre Dertraute, wenigften® fo weit ich in Brage käme, keiner
weiteren Verſuchung ausgelegt würde. Sie ward, wie fih von felbft
verfieht, entlaſſen und ich babe gehört, daß fle fpäter wirklich wahnfinnig
ward. |
„Hier in Sandy Knowe, dem Wohnort meines ſchon erwähnten Groß⸗
satırd von väterlicher Seite, gewann ich das erſte Bewußtſein meiner Eriftenz
und ich entfinne mich deutlih, daß meine Situation und Erſcheinung ein
wenig grotesk war. inter vielen andern ſonderbaren Mitteln, zu welchen
man Zufludt nahm, um mid von meiner Lahmheit zu furiren, hatte Je⸗
wand empfohlen, daß fo oft als zum Gebrauche der Familie ein Schaf ge=
ſchlachtet würde, ich vollſtaͤndig entkleidet in die dem Thiere abgezogene, noch
warme Haut gewidelt werden follte. In dieſem Tartarengewande lag ich,
wie ich mich noch recht wohl entfinne, auf dem Fußboden des Fleinen Wohn-
zimmer& in dem Meierhofe, während mein Broßvater, ein ehrwürdiger alter
Mann mit weißem Haar, alle möglichen Berlodungen aufbot, um mich zum
Kriechen zu bewegen. Eben fo entfinne ich mich noch ganz deutlich, daß ber
verflorbene Sir Beorg M’Dougal von Maderstown, Bater des jegigen Sir
Henn Hay M’Dougal, an diefen Berfuchen Theil nahm. Er war, Gott
weiß wie, ein Berwandter von und und ich entfinne mic, feiner noch recht
gut, wie er in feiner altuäteriichen Uniform — er war Oberft bei dem
„grauen Meiterregiment* geweſen — mit einem Fleinen breitbetreßten drei⸗
eigen Hute, einer geſtickten ſcharlachrothen Weſte und einem beilfarbigen
Node, während feine mildhweißen. Loden nad militairifher Weife in die
Höhe gefrempelt waren, vor mir auf dem Boden kniete und feine Uhr den
Teppich entlang zog, damit ich ihr folgen möchte. Der gutmüthige alte
Soldat und das in fein Schaffell gewidelte Kind würden weiter nicht dabei
intereſſirten Zuſchauern eine feltiame Gruppe dargeboten haben. Es muß
Died ungefähr in meinem dritten Jahre (1774) geſchehen fein, denn Sir
Georg MDougal und mein Großvater flarben beide bald nach jener
Zeit."
Wir werfen num zunädhft einen Blick auf die Ausflüge in Liddesdale.
Scott if zu einem munteren, jovialen jungen Manne und Advocaten herane
gewachſen. In der Berienzeit macht er Ausflüge in die Hochlande und nad)
Northumberland; reitet frei und weit auf feinem flarfen Balloway « Hofie
über Moor und dur Geſtrüpp, über das büflere flreitbare Marichland,
184
über Flodden und andere Felder und Pläge, wo, obſchon er es nod nid
wußte, fein Werk lag. |
Es giebt fein Land, wie duͤſter und fumpfig ed auch fein möge, welches
nicht feinen Dichter gehabt Hätte oder noch haben wird und auf dieſe Weiſe
in der Welt des Geſanges nicht unbekannt if. Da Liddesdale, welthes
einft chen jo profaiich war wie die meiften Thäler, jet Berühmtheit erlangt
bat, fo wollen wir unfere Blicke dahin leuken. Auch Liddesdale liegt anf
diefer unferer alten Erde, unter diefem ewigen Himmel und giebt und
nimmt auf die unberechenbarfle Weife mit dem großen Weltall! Scott's Er»
fahrungen Hier And von ziemlich ländlich arfadifcher Art, wobri auch das
Element des Whisky nicht fehlt. Wir müſſen vorausichiden, daß hier und
da ein Zug vielleicht um des Effects willen übertrieben worden if.
„ Sieben Jahre hintereinander, * fchreib Mr. Lockhart — denn die Autos
biographie bat uns fchon lange verlafien — „machte Scott einen Ausflug
oder Einfall (raid, wie er es nannte) nad Liddesdale, wobei ihm Wr.
Shortreed, Unterſcherif von Rorburgh, als Bührer diente und wobei jeber
Bah bis an feine Duelle und jede Thurmruine von der Brundmauer bis
zur Zinne erforicht ward. Damald war noch nie ein Raͤderwagen in dieſer
Gegend geiehen worden und das erfte war ein Gig, in welchem Scott auf
ber Ichten dieſer ſieben Ausflüge einen Theil tes Weges zurüdlegte. Im
ganzen Thale gab ed feinen Gaſthof oder ein Wirthöhaus von irgendwelder
Art; die Reifenden gingen aus der Hütte des Schäfers in die Wohnung
des Beiftlihen und nachdem fie bier Heitere Gaſtfreundſchaft genofien, hieß
man fie in dem Bauergehöft mit bieberer Treuherzigfeit willfommen. Das
bei ſammelten fle überall Lieder und Melodien und dann und wann auch
materiellere Reliquien der alten Zeit und eine Menge alter Siebenſachen,
fo wie Burns tem Kapitain Brofe zufchreibt.
Diefen Streifzügen verdankte Scott einen großen Theil der Materla«
lien zu jeinem „ Rinnejang der fchottifchen Grenze“ und nicht weniger jene
genaue Belanntidaft miı den lebenden Sitten und Gebräuchen jener patrkare
halifhen Megionen, welche den Hauptreiz eines der anmutbigften feiner
profaifhen Werfe ausmadt. Wie bald er aber Hei diefen feinen Forſchun⸗
gen einen beſtimmten Zweck vor Augen hatte, ſcheint ſehr zweifelgaft zu
fein. „Er fammelte fortwährend, * fagte Mr. Shortreed, „aber er wußte
vielleicht erft nach Jahren, was er eigentli wollte, anfangs dachte er,
glaube ich, an weiter nichts, als an die Sonderbarfeit und die Kurzweil.“
u en FE DEE Ze _ Ze EEE O3 „3 1
183
„Zu jener Zeit,” jagt die mir vorliegende Notiz, „waren die Adtes
caten nicht fo Häufig — wenigfiend nit in der Gegend von Liddesdale.“
- Und der würbige Unterfcherif befchreibt nun dad faft an Schreien grenzende
Anffehen, welches fe in dem erſten Bauernhaufje (Willie Elliot's in Mills
buraholm) erregten, als der ehrliche Hauswirth von dem Stande eines feiner
Bäfte in Kenntniß gefept ward. Als fie abfliegen, empfing er daher Mr.
Scott mit großer Ceremonie und befland darauf, jein Pferd felbft in den
Stall zu führen. Shortreed begleitete Willie jedoch und nachdem der letz⸗
tere ih Scott durch tie Spalte zwiiden Thür und Thürpfoſte hindurch or»
dentlich beſehen, flüferte er: ‚Na, Robin, der Teufel ſoll mid holen, wenn
ich wich jet noch im minteften vor ihm fürchte; er fcheint mir gerade fo
An Burfche zu fein, wie wir felbft find.” Gin halbes Dutzend Hunde aller
Art hatten ſich ſchon um den Advocaten verſammelt und die Art und Weiſe,
wie er ihre Komplimente erwiederte, hatte Willie Elliot fofort wieder bes
mt
„Wie Mr. Shortrecd behauptet, war diefer gute Mann von Willburn«
holm dad große Original von Dantie Dinmond. # ** Sie fpeiften in
Millburnholm zu Rittag und nachdem fie noch eine Weile bei Willie Ellior’s
Bunichbowfe gefeflen, biß fie, wie Mr. Shortreed ſich ausdrückt, einen „Hals
ben Hieb* hatten, feßten fie fich wieder zu Pferde und machten fih auf den
Beg zu Dr. Elliot in Cleughead, wo („denn,* fagt meine Notiz, „damals
nahmen c& die Leute nicht fo genau”) die beiden Meifenden in einem und
demielben Bett jchliefen, wie dies überhaupt auf den meiften ihrer Ausflüge
in diefem patrarchaliſchen Diftrift ter Ball gewefen zu jein fcheint. Dr. El-⸗
liot (ein Geiftticher) befaß ſchon eine beteutende Manuferiptfammlung der
Balladen, weldhen Scott nachforſchte.
Den nächften Morgen fcheinen fie einen weiten Weg blos in der Ab⸗
fiht geritten zu fein, einen gewiflen alten Thomas von Tuzzilehope, wahr«
ſcheinlich auch einen Elliot, zu befuchen, ter wegen feiner Bertigfeit auf dem
Dudelſack berühmt war und ſich ganz befonders im Beflg der wirklichen
Melodie zu Dick 0’ the cow befand. be fie aufbrachen, das Heißt um
ſechs Uhr, genoflen die Balladenjäger, blos um nicht ganz nüchtern zu Pferde
zu fleigen, „ein paar Enten und etwas Londoner Porter. * Der alte Tho⸗
mad fand fie nichtsdeſtoweniger bei ihrer Anfunft in Tuzzilehope zum Frühe
füd wohl aufgelegt und nachdem dieſes vorüber war, entzüdte er fie dur
eins ter entfeglichften und unbeimlichften Mufttftüde, fo wie durch bedeu⸗
186
dende Libationen von Whisky⸗Punſch, den er in einem gewiſſen hölzernen
Gefäß fabrizirte, welches einen fehr Heinen Milcheimer gli und von ihm
„Weisheit“ genannt ward, weil es nur einige Köffel voll Spiritus faßte,
obſchon er die Kunft befaß, es fo geſchickt wieder zu füllen, daß es feit fünf
zig Jahren in dem Rufe fland, der Nüchternheit mehr geſchadet zu haben,
als irgend ein andered Gefäß im Kirchipielc..
Nachdem fie der „Weiöheit* gebührende Ehre angetban, faßen fie
wieder auf und ritten über Mood und Moor zu einem andern eben jo gaf-
freien Meifter des Dudelſacks. „Ad mein Himmel, * fagt Shortreed, „weis
den unendlichen Spaß hatten wir doch zufammen! Alle zehn Schritte fingen
wir an zu lachen oder zu fchreien ober zu fingen. Ueberall, wo wir ein-
fehrten, wußte er fi in die Leute zu ſchicken, ohne flolz zu thun oter den
vornehmen Mann zu fpielen. Ich babe ihn bei dieſen Belegenheiten in
allen möglihen Gemüthöfinimungen gefehen, ernft und heiter, nüchtern und
trunfen — dies fchtere jedoch war ſelbſt auf unferen tollſten Streifzügen
nur felten der Ball — aber trunfen oder nüchtern war er fletö der Gentle-
man. Wenn er zu viel getrunfen hatte, fab er außerorbentlidy trag und
ſchwerfaͤllig aus, verlor aber die gute Laune niemals." Dies find tadelnd-
werthe Dinge auf tadelnswerthe Weiſe erzaͤhlt ; aber was follen wir zu dem
Bolgenden fügen, worin Dad Element des Whisfy eine außerordentlich bervor-
zagende Rolle fpielt? Wir Hoffen, daß um des Effects willen die Sache ein
wenig übertrieben dargeftellt ift.
„Als fie eines Abends irgend ein Charlieshope oder andern Ort —
den Namen weiß ich nicht mehr — in diefer Wildniß erreichten, fanden fie
freundliche Aufnahme wie gewöhnlich; aber zu ihrer angenehmen Ueber⸗
raihung nach einigen fehr ſchwelgeriſch verlebten Tagen eine gemeflene und
nüchterne Gaflfreundfchaft in Bezug auf Spirituofen. Bald nad) dem Abend⸗
effen, bei welchem blos eine Flaſche Hollunderbeerwein zum Vorſchein ge⸗
fommen war, ward ein junger Student der Theologie, der zufällig im Haufe
war, aufgefordert, nad; ber guten alten Weiſe von Burns’ Sonnabenpfeier
die Bibel zur Hand zunehmen. Schon waren einige Kapitel gelefen, während
Alles andaͤchtig zubörte, ald der Bauer, der, wie Mr. Mitchell jagt, etwas
fchläfriger Tendenz war, zum Entſetzen feiner Frau und des jungen Theo
logen plöglidy von den Knieen auffprang, fi die Augen rieb und mit einer
Stentorftimme rief: ‚Himmel Donnermwetter, da Eonımt das Faß endlich!
Und herein ftolperten, indem er dies fagte, ein paar flämmige Knechte,
a ww ui
187
welche er, als er den Tag vorher von dem bevorſtehenden Befuche bes Advo⸗
eaten gehört, nach einer gewiffen ziemlich weit entfernten Schmugglerhöhle
geſchickt, um einen friichen Vorrath von Branntwein zu holen. Die fromme
Andachtsübung ward dadurd mit einem Male und für immer unterbrochen.
Unter taujend Entjehuldigungen wegen feines bis jet Enauferigen Bewir-
thung ließ diefer muntere Elliot oder Armflrong das willflommene Faß ſo⸗
fort auf tem Tifche befefligen und Alt und Yung, Herr und Knecht began-
nen mit Einfluß des Theologen zu zechen, bis das Morgenroth feinen
Schimmer durch die Kenfter warf. Sir Walter Scott verfehlte felten, wenn
ich ihn in Gefellichaft mit feinem Gefährten von Kiddesdale ſah, mit unend-
lichem Humor das plöglicde Aufipringen feines alten Wirthes, als dieſer
daß Klappern der Hufe vernahm, weldjes, wie er wußte, Die Anfunft deö
Faſſes verfündete — die Beftürzung der Wirthin und die Entrüftung und
Verzweiflung zu ſchildern, mit welcher der junge Geiſtliche feine Bibel zu-
machte.”
Aus diefen Ausflügen in Lidde&dale, welche wir Gier gleich dem jungen
Theologen nicht ohne eine gewifle Verzweiflung und Entrüftung Ichließen,
möge der Lejer fo viel Nahrung ziehen, als ihm möglich if. Sie thun zur
Gentge, obihon auf etwas rauhe Weiſe dar, daß zu jener Zeit junge Advo⸗
eaten und Scott eben fo wie die Mebrigen, munter und lebendluftig waren,
wobei der Whisky zuweilen eine etwas allzubervorragende Holle fpielte.
Wir wollen jedoch nun annehmen, daß der joniale junge Advocat fei-
nen erften ‘Prozeß geführt, Daß er fich verbeirathet und e8 — ohne Roman⸗
tif in dem einen wie in dem andern Falle — bis zum Scherif gebracht, daß
er mittlerweile eine wenig in Ueberſetzungen aus dem Deutichen, namentlich
in der Ueberſetzung von Goethe's Götz von Berlichingen mit der eifernen
Hand, herumgeftünpert hat und wir find damit an der Schwelle des „ Min-
negeſangs von ter ſchottiſchen Brenze* und ber Eröffnung eine neuen
Jahrhunderts angelangt.
Dis jetzt iſt ſonach Durd das Zufammenwirfen der Natur und ber
Umſtände noch nicht ungewöhnlich Bemerkenswerthes und dod etwas fehr
Schaͤtzbares herausgebildet worden — ein tüchtiger Mann von dreißig Jah⸗
sen. begabt mit Scharffinn und Humor, jeder Laſt von Geſchaͤften, Gafi⸗
freundſchaft und Pflicht, offizieller fowohl als Hürgerlicher, gewachſen.
Welche andere Fähigkeiten außerdem in ihm lagen, Tonnte noch Niemand
fagen.
Wer kann überhaupt ſelbſt nach Ichensfanger Betrachtung lagen, wa®
in irgend einem Dienfchen liegt? Der ausgeſprochene Theil eines Menſchen⸗
febens, Died müflen wir ſtets wiederholen, ſteht zu tem unausgeſprochenen
unbewußten Theile in einem Fleinen unbefannten Berbältnig. Er ſelbſt weiß
ed nicht, noch viel weniger aber wiflen e8 Antere. Man gebe ihm Raum,
man gebe ihm Impuls, er reicht mit feiner fo fer eingefchnürten Seele
dennoch hinab zu dem Unendlichen und kann Wunder thun, wenn es
fein muß.
Ea ift eine der tröftlichflen Wahrheiten, daß große Männer in Menge
vorhanden jind, obſchon in unbefanntem Zuſtande. Sa, wie ichon oben aw-
gedeutet worden, unfere größeften find, da fie von Natur auch umfere
rubigften find, vielleicht Die, welde unbelannt bleiben. Der Philoſoph
Fichte tröftete fi mit diefem Glauben, ald er von allen Kanzeln und Ras
thedern nichts bören fonnte, als das unendliche Gefhwäg und Gezwitſcher
ehrgeizig gewordener Gemeinpläße ; als durch die unentliche nach allen Sei«
ten hin zerfahrende Bewegung und durch das Betöfe, weldes Schweigen
hätte fein follen, Alles zu einem wie vom Sturne erregten Schaum geſchla⸗
gen zu fein ſchien und der ernfle Fichte faft wünfcdhte, daß man die Kenntniß
befteuern möchte, um fle ein wenig zu beſchwichtigen; — er tröftete fi, ſa⸗
gen wir, mit dem umnerfchütterlichen Blauben, daß das Denken in Deutfdge
land noch exiftire, daß denkende Menfchen, ein jeder in feinem Winfel,
wahrhaftig ihr Werk verrichteten, obſchon auf fchweigende verborgene Weiſe.
Walter Scott ald ein verborgener Walter hätte nicht zwanzig Jahre
lang tm Laufe von Jahrhunderten und Ewigfeiten alle Menfchen ergögt ober
einige hunderttaufend Pfund Sterling dur die Literatur gewonnen und
verloren, aber dennoch hätte er immer ein glücdlicher und keineswegs nuß=-
loſer, ja vielleicht im Grunde genommen ein noch weit nüßlicyerer Walter
fein Eönnen !
Jedoch dies war nicht feine Beflimmung. Der Genius eined etwas
eigenthümlichen Zeitalters, — eines Zeitalters, welchem es an Religion
mangelte, und das fih gleihwohl vor dem Skepticismus fürdytete, welches
ſelbſt nicht recht wußte, wo e8 war, viele Leiden zu ertragen und in diefen
neuen Umſtaͤnden gleihwohl ein Leben zu führen hatte, — dieſer Genius
Hatte zu fich ſelbſt gefagt: Welcher Menſch foll der einftweilige Tröfter, oder
wäre es auch nur ber geiftige Buderbäder diefes meines armen eigenthüm⸗
lichen Zeitalters fein, um e8 bei feiner tödtlichen Zangmweile und feinen man-
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nigfadgen Leiden ein wenig zu zerfireuen? Ge hatte der Genius gelagt, in
der ganzen Welt gefucht, ihn endlich im Advocatengewand in der Raubigen
Borballe des Parlamentöhaufes von Edinburg einberfchreiten fehen und
anögerufen: Das ift er!
"Der „Rinnefang von der ſchottiſchen Brenze* erwies fih als ein
Duell, aus welchem einer der breiteſten Flüſſe hervorſtrömte. Metrifche
Romane, die mit der Zeit in profaiiche Romane übergehen, das alte Leben
der Menſchen wird wieder auferwedt — es iſt ein gewaltiged Wort. Nicht
als eine todte Tradition, fondern als eine greifbare Gegenwart fand bie
Bergangenheit vor und. Da waren fie die rauben alten Kämpfer; in ihrer
zägen Einfachheit und Stärke, mit ihrer Biederfeit, ihrer Geſundheit und
Friſche, ihrer tapferen Seleftpülfe, in ihren eifernen Sturmhauben, Leder⸗
wänjern und Knieftiefeln, in ihren jonderbaren Manieren und Trachten, fo
Randen fie da wie fie leibten und lebten. Es war wie ein neuentdedter Con⸗
tinent in der Literatur; für dad neue Jahrhundert ein glänzentes Eldorado
oder doch irgend ein anderes fettes, glückſeliges Sälaraffenland und Müffig-
gaͤngerparadies.
Für dad in ſeiner Mattigkeit und Gelaähmtheit ſich eröffnende neun⸗
zehnte Jahrhundert Hätte nichts willkommener fein können. Wie unerwartet,
wie erfriichend und erheiternd! Man fche doch unfer neues Eldorado, unſer
fettes, glückſeliges Schlaraffenland, wo man genichen fann und nichts zu
tun braucht! Es war die Zeit für eine foldye neue Literatur und dieſer
Walter Scott war der Mann dazu. Die „Balladen *, die „Marmiond*, die
„Sungfrauen* und „Herren“ von „Sce* und „Injeln* folgten raſch auf
einander mit immer mehr zunchmendem Gewinn und Lob. Wie viele tau⸗
fend Buineen für jedes neue Werk bezahlt, wie vicle tauſend Gremplare
(fünfzig und zuweilen noch mehr) damals und fpäter abgedrudt wurten,
welches Eomplimentiren, Recenftren, Rühnıen und Vergöitern jie zur Folge
Batten — alles ift in dieſen fleben Bänden erzählt, die für tie literarifche
Statiftit deshalb einen Hohen Werth haben. Es ift eine glänzende und
merkwürdige Geſchichte, deren Umriſſe Allen befannt find. Der Leſer wird
fie fid) ind Gedaͤchtniß zurüdrufen, aber es ficht nicht zu vermuthen, daß die
Blamme feiner Phantaſie höher ſteigen werde als die Wirklichkeit.
In diefer mittleren Zeit feines Lebens erfcheint und daher Scott mit
feinen neuen amtlichen Einfünften und Würten, reih an Geld, reih an
Ruhm, als ein Mann, deſſen glüdliche Zukunft gefichert iſt. Geſundheit,
1%
Reichthum, und Verſtand, um einen weifen Gebrauch davon zu maden —
alles dies ift fein. Das Feld lebt ihm offen und der Sieg if da; jeime
eigene Fähigkeit, fein eigenes Ich entfaltet ſich feſſellos und flegreih, — das
hoͤchfte Glück, welches einem Menjchen beichteten fein Tann. Weite Kreife
von Freunden, perfönliche Tiebende Bewunderer, Wärme bauslicher Freuden,
die Allen beichieden find, die mit ächtem, wahren Derzen fih ihnen hingeben
fönnen; Glanz und Hluhm, wie fie nur Wenigen befchieden find — wer
wollte Scott nicht glücklich nennen ?
Der glücklichſte Umfland von allen aber ift, wie wir ſchon oben fagten,
daß Scott eine gefunde Seele in ſich trug, die ihn von äußeren Umfländen
nur wenig abhängig machtr. Die Dinge zeigten fi ihm nicht verzerrt oder
in einem fremden oder büfteren Licht, fondern wie fle waren. Streben lag
in ihm und Standhaftigfeit und ein Flarer Blid für Das, was zu erftreben
war. Wollte Jemand reine Predigt über die Gefundheit halten, die ſich
wirklich der Mühe verlohnte, fo müßte Scott der Text fein.
Theorien find auf dem Wege der Logik erweislich wahr und auf Dem
Wege der Praxis bewähren fie fih oder nicht; das große Experiment aber
ift: Erfüllen fie auch ihren Zweck? Was nüpt ed, daß das Glaubensbe⸗
Eenntniß eines Menfchen daB mweiiefte, daß fein Prinzipienfoflem das fuper-
feinfte ift, wenn fein Xeben, fobald es in Ihätigkeit gefegt wird, in aller
hand Widerfprüche geräth? Seine Prinzipien find dann, hierin wenigftens
wenn auch in nichts Anderem, unmwahr, der Unwahrheit offen überwieſen;
— follen wir fagen, daß fle weiter nichts verdienen, als daß man fie als ge⸗
faͤlſcht und unaͤcht gänzlich verwerfe? Wir fagen es nicht, wohl aber fagen
wir, daß Krankheit des Körpers oder des Geiftes eine Niederlage, daß
fle ein Kampf (in einer guten ober ſchlechten Sache) mit jchlechtem Erfolg,
daß Geſundheit allein der Sieg if.
Mögen daher alle Menfchen, wenn es ihnen nur einigermaßen möglich
ift, fich bemühen, gefund zu fein! Der, welcher, in welcher Sache es auch
fein möge, in Schmerz und Krankheit verfinft, möge dies wohl bedenfen;
er möge wiffen, daß e8 nichts Gutes ift, was er biß jeßt erreicht bat, ſon⸗
dern ficherlich Uebles, — daß er auf dem Wege zum Guten fein fann, aber
eben fo leicht auch nicht.
Scott's Gefundheit zeigte ſich entfchteden in allen Dingen und nirgends
entfchiedener, ald in der Art und Weife, auf welche er feinen Ruhm aufs
faßte, in dem Urtheil, welches er fi von vorn herein vom Ruhme biltete,
a u we EM a ou
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Mit Geld kann man Geldeswerth kaufen, aber das Ding, welches die Mens
ſchen Ruhm nennen, waß ift es? Ein glängender, bunter Wappenfchifd, welcher
nit viel nüßt, audgenommen, daß er ebenfall8 Geld erwerben helfen fann.
Für Scott war er ein gewinnbringender, angenehmer Luxusartikel, Fein Lebens»
bedürfniß. Anfcheinend ohne große Anftrengung , aber von der Natur ges
ſchult und dem Inſtinkt, welder dem gefunden Herzen fagt, was ihm gut ift
und was ihm nicht gut ift, fühlte er, Daß er dDiefen Wappenſchild des Ruhms
ſtets entbehren könne, daß er kein Vertrauen darauf fegen dürfe, fondern
bereit jein müffe, ihn fich zu irgend einer beliebigen Zeit wieder entriffen zu
ſehen und feinen Weg weiter: zu verfolgen, wie vorher.
Es ift, glauben wir, unberechenbar, wie vielen Uebeln er auf diefe
Weile enıging, von weldhen Verkehrtheiten, Anreizungen und niedrigen
namenlofen Qualereien er vollfländig getrennt Iebte, ja ohne etwas davon
zu wiffen. Zum Glück hatte er, ehe der Ruhm kam, ſchon das reife Alter
erreicht, in welchem ihm alles dies leichter war.
Weldy eine feltfame Nemefld Tauert in dem Glück des Menihen! In
dem Munde ſchmeckt e8 wie Honigſeim, dann aber macht es Grinmen im
Bauche! Irgend ein ſchwach organifirtes Individuum, wir wollen fagen,
vielleicht fünfundzwanzig Jahr alt, deffen ganzes oder hauptſaͤchliches Talent
auf einer juckenden Empfaͤnglichkeit beruht, unter welcher nichts ſteckt, als
Seichtheit und Hohlheit, wird von der allgemeinen Phantafle gepackt, zu
einer ſchwindelnden Höhe emporgewirbelt und gelehrt, die göttlich fcheinente
Botſchaft zu glauben, daß es ein großer Mann fei. Ein folches Individuum
ſcheint der glücklichſte Menſch zu fein und ach, ift es nicht der unglück⸗
lichſte?
Schlinge ihn nicht hinunter den Trank der Circe, o ſchwach organifir⸗
tes Individuum; es iſt grauſames Gift; es wird die Quellen deines gan⸗
zen Seins austrocknen, du wirſt verdorren und verwelken und unglücklich
fein unter der Sonne! Giebt es z.B, ein traurigeres Buch, als die Lebend-
geihichte Byron’s von Moore? Man betrachte doc dieſen armen Byron,
der wirflich viel Stoff tn fich hatte. Dort faß er in feiner Selbftverbannung
mit einem folgen Herzen, welches fich zu überreden fuchte, daß es die ganze
gefchaffene Welt veracdhte, und wenn fern davon im nebeligen Babylon einer
der erbärmlichflen Scribler die Feder gegen ihn zog, fo frümmte und wand
fi der ſtolze Byron, als ob der erbärmliche Scribler ein Magiker oder feine
Feder ein galvanifcher Draht geweſen wäre, der Byron's Rückenmark be⸗
m J
rührt hätte! WBeflagenswerth verächtlich, — man möchte lieber ein Kähchen
fein und miauen !
D Sohn Adam's, groß oder Flein, je nachdem du liebenswürdig biſt,
werden Die, nit welchen du lebſt, Tich lichen. Kommt aber wohl hinſicht⸗
lich Deren, mit welchen du nicht lebfl, etwas darauf an, daß die Buchflaben
deined Namens ihrem Gedaächtniß eingegraben find und daneben cin ſchlech⸗
gemalte® Portrait von dir — fo ähnlich wie ich dem Herkules — ange
bradt ift?
Es fommt nichts darauf an; in der That und Wahrheit, e8 Tommt
gar nichts darauf an. Und dennoch, flehe, es giebt feine Seele, welche du
frei Tieben fannfl, — von einer einzigen Seele nur fannft du ſtets Ver»
ehrung genug erwarten, in Gegenwart feiner Seele ift ed gut mit bir!
Wie if deine Welt öde geworden und du bift um eines geringfügigen
Zungengeſchwätzes willen arm, bankerott, infolvent, nicht am Beutel, wohl
aber an Herzen und Geiſt. Das goldene Kalb ter Selbſtliebe, fagt Iran
Baul, iſt zu einem glühenden Phalarisftier herangewachſen, um feinen Be-
figer und Anbeter zu verzehren. Der Ehrgeiz, die Suct zu glänzen und zw
verdunfeln, war der Anfang der Sünde in diefer Welt. Erklärt der Schrift.
fteller, der fi auf feinen Ruhm verläßt, nicht ſchon hierdurch allein fich ala
einen Anhänger Lucifer'd, auch Satan oder ber Feind genannt, und ale
ein Mitglied der fataniihen Schule?
In diejer poetiichen Beriode war ed, wo Scott jeine Verbindung mit
den Ballantynes fchloß und ſich, obſchon im Stillen, an bedeutenden Handels⸗
geichäften betheiligte. Kür Die, welche ihn als einen Heroen betradhten und
verlangen, daß Vates eben fo gut Dichter als Boet bedeute, ſcheint dieſer
Theil feiner Biographie etwas widerfprechend zu fein. Betrachtet man Die
Sadıe und ihn fo wie fie in der Wirklichfeit waren, fo fann man bad
Unternehmen, da es fo unglücklich ablief, wohl beflagenswerth, aber nicht
unnatürlidh nennen. Der praktiſche Scott, ter in allen Dingen auf den
praftifchen Erfolg ſah, Fonnte nicht umhin, zu finden, daß baares Geld von
allen Erfolgen einer der praftifhiten wäre, und wenn durch irgend ein Mite
tel auf ehrliche Weife Geld verdient werden fonnte, mochte e8 nun Dur
bad Schreiben von Gedichten oder durch das Druden derſelben geichehen,
warum follte er von dieſem Mittel nicht Gebrauch machen?
Große Dinge konnten entlih auögeführt werden, große Schwierig«
feiten wurden dadurch mit einem Wale befeitigt, das Feilſchen und Knidern
193
der Buchhändler 3.2. fiel fofort hinweg. Eine Buchdruck⸗ und Buchver⸗
tauf- Spekulation war für einen Buchmacher gar nicht etwas fo Bremdartiges,
Boltaire, der allerdings Feine Gonorare befam, verdiente zu feiner Zeit viel
Geld mit dem Kriegscommiffartat, namentlich mit Lebensmittellicferungen.
Der heilige @eorg ſelbſt, fagt man, handelte in Cappadocien mit Sped. Ein
betriebfamer Mann hilft ſich zu feinem Ziele dadurch, daß er die Stufen
fleigt, Die dahin führen. Stellung in der Befellichaft, folide Macht über die
guten Dinge dieier Welt, war Scott's eingeftandened Ziel und zur Er⸗
reichung deffelben giebt es Keine beffere Vorfchrift, ald die Jago's: „Fülle
deinen Beutel mit Geld. *
Hierbei muß bemerkt werden, daß vielleicht Fein Schriftfteller irgend
einer Generation weniger Werth auf den immateriellen Theil feiner Miffton
in irgend einer Beziehung gelegt hat. Wir meinen Hier nicht blos das Hirn«
gefpinnft, weldyes man Ruhm nennt, mit dem wirklichen oder eingebildeten
Elend, welches ihn begleitet, fontern auch die geiftige Tendenz feiner Werke.
Ihm war es gleich, ob diefe Tendenz dahin oder torthin zielte oder ob über⸗
haupt eine Tendenz vorhanten war. Ihm lag blos an den Ergebniffen,
welche fi fo zu fagen dem Auge darboten und in einem oder dem andern
Sinne in die Hand genommen, betrachtet und in die Tafche gefteckt werten
tonnten. Diefer unfer Vates war ſonach allzuwenig Phantaft, aber e8 war
einmal fo. In diefem neunzehnten Jahrhundert hatte unfer größter Schrift«
fteller oder wenigftend der, welcher mehr als alle anderen über das Ohr der
Welt verfügte, an diefe Welt gleihfam gar feine Botſchaft auszurichten. Er
wünfchte nicht, daß die Welt ſich erheben, daß fte fich beſſern, daß fie Dies
oder Jenes thun möchte, jontern erwartete blos, daß fle ihn für die Bücher
bezahle, die er unaufhörlich fchrich.
Sehr merfwürdig! War eö vielleicht fo am beften für ein Zeitalter,
welches in Erichlaffung verfunfen, alled religiöfen Glaubens letig war und
dennoch den Skepticismus fürchtete? Oder vielleicht für ein gang anderes
Beitalter, für ein Zeitalter, welches durch und durch in friedlicher, triumphi⸗
tender Bewegung begriffen ift?
Doch, fei dem wie ihm wolle, fo iſt doc ganz gewiß feit Shaffpeare's
Zeit fein großer Sprecher ſich eines Ziels beim Sprechen fo unbewußt ge⸗
weien, ald Walter Scott. Gleich unbewußt waren diefe beiden Gedanken⸗
äußerungen; beide, eine wie die andere, die aufrichtigen und vollfändigen
Erzeugnifle der Gemüther, aus denen ſie kamen, und nun gilt es die Frage,
Gariyle. II, 13
194
ob ſie auch beide gleich tief waren? oder: war bie eine biefer beiden
Tätigkeiten lebendiges Feuer und die andere ein trügerijcher phosphoresti⸗
render Schimmer?
Die Beantwortung biefer Frage wird von dem relativen Werth ber
beiden Beifter abhängen, denn beide waren in ihrer Thaͤtigkeit gleih unwill⸗
führlich, beide ſprachen fih, einer wie der andere, ungehemmt durch eine
fernerweite Abfiht aus. Shakſpeare fuchte durch feine Stüde das Publikum
in dad BlobesXheater zu loden — weiter ging feine Abſicht nicht. Und
welche Erfolge haben fie dennoch gehabt!
Sprich mit freiem Herzen aus, was dein eigner Dämon dir giebt. IR
es Beuer vom Himmel, fo iſt es gut; ift es bloßes Harzfeuer, jo iſt es —
fo gut als es jein Fonnte, oder beſſer als anderes! Der freimüthige Richter
wird im Allgemeinen verlangen, daß ein Sprecher in einer fo außerordent⸗
lich ernfihaften Welt wie die unfere auch über etwas zu fprcchen habe. In
dem Herzen des Sprechers muß ein gewifled Evangelium vorhanden fein,
welche8 glühend darnach verlangt, ausgeiprochen zu werden; außerdem wäre
es beffer für ihn, wenn er ganz ftill ſchwiege. Und ein Evangelium muß es
jein, welches etwas entichiedener lautet, als tiefes Evangelium Scott's, aus⸗
genommen für ein ganz ſchlaffes Zeitalter, weldes weder Sfepticismus noch
Religion beſitzt!
Die Dinge wird der freimüthige aufrichtige Richter von Männern der
Literatur verlangen, aber dabei dennoch den großen Werth anerkennen, ber,
wenn auch in weiter nichts, doch in Scott's Ehrlichkeit lag, darin, daß er
Daß, wad er war, mit fo gänzlicher Redlichkeit und Treue war. Er iſt ein
Etwas, nicht ein Nichts. Wenn auch fein von oben gefendeter Bote, durch
defien Augen der Himmel blickt, fo ift er doch audy Feine Hölle voll aller
band Syſteme, Grillen, Heucyelei, Fanatismus, Unruhe und Groll, fondern
ein folider, friedlicher, irdiſcher Menſch. So tief als die Erde unter dem
Himmel, ſteht Scott unter der erflern Kategorie, aber auch hoch wie die hei⸗
tere, blumengeſchmückte Erde über der legtern. Man laffe ihn deshalb nad
feiner eigenen Weife leben und ihn in dieler ehren.
Wir würden jegt ziemlich fpät kommen, wenn wir eine Kritik über jene
metrifhen Produkte Scott's fchreiben wollten ; gleichzeitig aber wollen wir
bemerken, daß die große Popularität, die fle hatten, ſehr natürlich zu fein
fheint. Erſtens trugen fie das unbeftreitbare Gepräge des Werthes, ber
Achten menſchlichen Kraft in fih. Diefe, welche in gewiſſem Grade aller Pos
195
prlarität zum Grunde liegt — wenigftend glaubt man es — zeigte ſich in
biejen gereimten Romanen Scott's in ganz ungewöhnlichen Maße. Hier fah
man wirkliche Lebensbilder und ächte Darftellung menfchlicher Gefühle und
Erregungen. Wenn man bedenkt, welches Flickwerk von alten abgetragenen
Teen damals der Sauptartifel auf Dem poetifchen Marfte war, fo wird man
zugeben, daß Scott's Vortrefflichkeit eine wirklich weit überlegene war. Zu
einer Zeit, wo ein Hayley der Hauptfänger war, Eonnte cin Scott wohl mit
warmem Willlommen begrüßt werden, Man bedenke doch, ob die „Liebe
ter Pflanzen * und fogar die „Liebe der Dreiecke“ die Liebe und den Haß
von Menfchen und Frauen werth fein konnte. Scott war Dem, was er ber«
drängte, ebenjo vorzuziehen, ald die Subſtanz dem auf ermüdende Weiſe
wiederholten Schatten einer Subſtanz vorzuziehen ifl.
Zweitens aber können wir audy jagen, daß die Art von Werth, welche
Scott an den Tag legte, ganz befonders für dic damalige Stimmung der
Menſchen geeignet war. Wir haben gefagt, jenes Zeitalter war ein Zeitalter
geiftiger Erfchlaffung, alles Glaubens ledig und dennoch voll Furcht vor
dem Skepticismus; man führte aber noch ein verkümmertes Halbleben unter
feltfamen neuen Umftänden. Jetzt nun ſah man auf einmal ein Fräftiges
ganzes Reben, denn dies war daß, was diefe Gemälde vor allen Dingen bos
ten. Der Lefer ward in rauhe flarfe Zeiten zurüdgeführe, worin Diele uns
fere Krankheiten noch nicht entflanden waren. Muthige Kämpfer, in Leder
und Eijen gehüllt, fprengten auf ihren rieſigen Streitroffen einher, ſchüttel⸗
ten ihre tödtlichen Speere und zogen entichloffen und unverzagt hinaus.
Der Lefer feufzte, aber nicht ohne Troftrefler: O, daß ich doch auch in jenen
Seiten gelebt, daß ich doch nie dieſe logiſchen Spinnweben, dieie Zweifel,
diefe Krankhaftigkeit kennen gelernt, fondern lebend unter Ten Lebenden
eriftirt und mich gefühlt Hätte!
Hierzu fommt noch, daß in tiefer neugefundenen poetiſchen Welt von
Seiten des Leſers durchaus Feine Anftrengung nöthig war, denn ihre Genüſſe
traten gleich auf den erften Blid hervor. Es war für den Leſer nicht blos
das Eldorado, fondern wie wir ſchon gefagt haben, ein glückſeliges Schlarafe
fenland und Müßiggängerparabied. Der Leſer konnte — und Lie ungeheure
Rehrzahl der Leſer wünicht ja fo ſehr Died zu können — fid) bequem hin⸗
ſtrecen und bedienen laflen. Was ter türkiiche Batewärter wit feinem Reis
den, Bürften und Kneten mehr oder weniger wirkſam beabfihtigt, naͤmlich
daß der Patient in totaler Trägheit die Freuden ber Thätigfeit genichen
13*
196
könne, — bie war bier in einem bebeutenden Grabe verwirklicht. Die
träge Einbildungskraft Iehnte ſich ruhend zurüd, denn ein Künftler war da,
ber ihr fchöngemalte, lebensvolle Bilder vorführte und ihr zuflüfterte: Made
dir’d bequem und erfreue dich deines Iaumarmen Elemente, „Der rohe
Menſch,“ fagt ein Kritiker, „verlangt blos, etwas vorgeben zu fehen. Der
Mann von mehr Bildung verlangt, daß er zum Fühlen, der vollfländig ger
bildete Mann aber, daß er zum Nachdenken angeregt werde, *
Wir nannten den „ Minnefang von der fehottifhen Grenze“ Die Quelle,
aus welcher diejer große Fluß metrifcher Romane bervorfirömte; Einige je
doch wollen, daß man fie auf eine noch Höhere dunklere Duelle zurudführe,
naͤmlich auf Goethe'8 „Ritter Götz von Berlichingen mit der eifernen Hand“,
wovon, wie wir ſchon geliehen haben, Scott in feinen früheren Jahren eine
Ueberfegung außsarbeitete. Vor vielen Jahren ſchon wurden in einer Kritif
über Goethe die folgenden Worte gefchrieben, welche wahrjcheinlich für bie
meiften Zefer des vorliegenden Artifeld noch neu find:
„ Die eben erwähnten Werke „ Götz“ und „ Werther", zeichnen ſich, ob⸗
ichon ſie glänzende Proben eines jugendlichen Talentes find, doch nicht io
wohl durch ihren inneren Werth, ald durch ihr unerhörtes Glück aus. Et
möchte ſchwer fein, zwei Bücher zu nennen, die auf die fpätere Literatur
Europas einen tieferen Einfluß audgeübt haben, als diefe beiden Werft
eined jungen Autors, feine Erftlingdfrüchte, dad Produft feines vierunds
zwanzigften Jahres. „Werther ” jchien die Herzen der Menfchen in allen
Theilen der Welt zu erfaffen und an ihrer Stelle das Wort andzujprecen,
welches fie ſchon längft zu hören erwartet: Wie gewöhnlich zu geichehen
pflegt, ward dieſes Wort, fobald es einmal audgeiproden war, bald überall
wiederholt, in allen Dialeften nachgeſprochen und durch die ganze Skala hin
durchgefungen, bis ed endlid, mehr zum Ueberdruß, ald zum Vergnügen ger
reichte. Skeptiſche Sentimentalität, Scenenmalerei, Liebe, Breundfchaft,
Selbfimord und Berzweiflung wurden die Kauptartifel des Titerarifchen
Marktes und obſchon die Epidemie nad einer langen Reihe von Jahren in
Deutſchland ſich allmälig legte, fo kam fie doch mit verfchietenen Mobifica
tionen wieder in andern Ländern zum Vorſchein, fo daß noch überall reich⸗
liche Spuren ihrer guten und ſchlechten Wirkungen zu erfennen find. Das
Glück des „Ritters Götz von Berlichingen mit der eifernen Sand * war, ob⸗
ſchon weniger plöglich, Doc keineswegs ein weniger umfaflendes. In feinem
eigenen Lande ward Götz, obſchon er jegt einfam und Finderlos daſteht, der
197
Bater einer unzähligen Nachfommenfhaft von Ritterfhaufpielen, Schilde»
rungen des Mittelalter und poetifchsantiquarifchen Leiftungen, welche, ob⸗
ſchon nun längft wieder verihwunden und vergeflen, doch zur Zeit ihres
Entfiehens Lärm genug machten und bei und in England tft fein Einfluß
vielleicht noch bemerfenswerther geweien. Sir Walter Scott's erſtes litera-
rifcheö Unternehmen war eine Ueberfegung von , Götz von Berlichingen *
und wenn Dad Genie fich ebenfo mittheilen Ließe, wie die Belehrung, fo möch⸗
ten wir dieſes Werk Goethe's die veranlaffende Urfache von „ Marmiton * und
der „ Iungfrau vom See* nebft Allem nennen, was fpäter aus derielben
Ihaffenten Hand hervorgegangen iſt. Es war in der That ein Saamenkorn,
welches auf den rechten Boden fiel, denn wenn auch nicht fefter und ſchöner,
if e8 doch höher und breiter emporgewachfen, al8 irgend ein anderer Baum,
und alle Nationen der Erde ernten noch jährlich feine Frucht.“
Inwieweit , Götz von Berlichingen“ wirklichen Einfluß auf Scott's
literariſche Beftimmung äußerte und ob ohne fie die gereimten Romane und
dann die proſaiſchen Romane des Verfaſſers des Waverley nicht nachgefolgt
fein würden, bleibt natürlich eine fehr dunfle Frage — dunkel und unwich⸗
tig. Nicht zweifeln Täßt fich jedoch an der Thatfache, daß dieſe beiden Ten-
denzen, welche man Götzismus und Wertherismuß nennen Tann, und von
welden Scott bei und die erflere repräferitirte, die Rundreiſe durch ganz
Europa gemacht haben und zum Theil noch madıen.
In Deutfchland machte ſich diefer fehnfüchtige Nücbli auf die Ver⸗
gangenbeit chbenfall3 geltend; Deutſchland hatte feine Tendenumgürtete
Wachtthurmperiode in der Literatur und war damit fertig, ehe Scott bes
gann, und Hatten, was den Wertherismud betraf, nicht wir Engländer un«
feren Byron und feine Zunft? Keine Borm des Wertherismus äußerte in
irgend einem andern Lande nur halb fo viel Kraft, und fo wie unfer Scott
die Nitterliteratur bis and Ende der Welt trug, fo geſchah es auch durch
unferen Byron mit dem Wertherismus.
Das mit feiner Revolution und Napoleon befchäftigte Sranfreich Hatte
damals feine Zeit zum Götzismus oder Wertherismus, Hat fle aber fpäter
beide, wenn auch unter etwas eigenthümlicher Geſtalt, Tennen gelernt. Ein
Beweis davon iſt die ganze jebige „ Verzweiflungdliteratur*, die bettelhafe
tefte Form des Wertherismus, die man bis jet geſehen, wahrſcheinlich bie
legte und binfterbende Form. Ein fernerweiter, dem andern Extrem an«
108
gehörenter Beweis ift ein Hochbegabter Chataubriand, Gög und Werther in
einer Perſon.
Es {ft ſeltſam, wie ganz Europa gleichſam nur eine Anzahl Kirchipiele
in einer und derfelben Provinz iſt und feit den Kreuzzügen und nody früßer
von Finflüffen beherrſcht wird, die überall Diefelben find. Auch unfere rubm⸗
reichen Kriege find im Brunde genommen weiter nichts als Dorffneipenprü-
geleien, tie mit wechielfeitiger Unwiſſenheit, Trunfenheit und Großſprecherti
beginnen, mit zerbrodenen Senftern, Scaten, Verwüflung und blutigen
Naien enten, und von weldyen man hofft, Laß der allgemeine gefunde Men⸗
ſchenverſtand fie endlich fo viel als möglich in den Hintergrund drängen
werde. .
Doc Hiervon ſehen wir jegt ab. Unſere eigentliche Abfiht war hier,
hervorzuheben, taß der britifhe Wertberismusd in Geſtalt jener fo mächti⸗
gen und pifanten Byron'ſchen Gedichte auf den ichlaffen Appetit der Men⸗
ſchen eine gewaltige Wirkung äußerte. Auch dies war eine Kategorie von
Gefühlen, weldye für moderne Gemüther höchſt wichtig war, Gefühle, welde
ihren Grund in einer Paſſivität haben, welde nicht im Stande
ift, in Thäatigfeit verwantelt zu werden, die einem fo trägen,
eultivirten und ungläubigen Zeitalter, wie das unfere iſt, eigenthümlich find.
Das „ſchlaffe Zeitalter ohne Religion oder Sfepticismus * wendete ſich dem
Byronismus mit einem ganz eigenthümlichen Intereffe zu. Hier hatte man,
wenn auch fein Heilmittel für ihre erbärmliche Lähmung und Mattigfeit,
doch wenigſtens eine entrüftete Darlegung des Jammers; ein zorniger Er⸗
nulphus jprad) feinen Fluch darüber aus und alle Menſchen fühlten, daß dies
etwas ſei. Die ſehnſüchtigen Blicke nady der Vergangenheit wichen an vielen
Orten diefen Verwünſchungen der Gegenwart.
Scott gehörte zu den Erſten, weldye gewahrten, daß der Tag der me
trirchen Nitterromane zu Ende ging. Er hatte gegen zebn Jahr, eine ver
hältnipmäpig lange Zeit, dieſen Thron inne gehabt, und nun fehien Die Beit
ta zu fein zur Entthronung oder zur Abdanfung — ein unangenehmes Ge⸗
ſchäft, welches er jedoch als braver, muthiger Mann ſich bereit hielt, gelaffen
und ſchweigend vorzunehmen. Im Grunde genommen war ja die Poeſte
nicht fein Broderwerb; fie hatte ihm fchon viel Geld eingebracht, dies wer
nigftend Eonnte fie ihm nicht wieder nehmen. Immer befhäftigt mit Editi⸗
ten, mit Compiliren, mit vielfachen officiellen und commerciellen Arbeiten
199
und foliden Intereflen ſah er der bevorſtehenden Veränderung mit unerfchüts
tertem Blick entgegen.
Er war bereit, in diefer Sache Reſignation an den Tag zu legen, und
fiebe da, zulegt ergab fih, Daß gar Feine Refignation nötbig war. Vers
wandle den metrifchen Roman in einen profaifchen, wirf bie Feſſeln des Reis
mes von dir und verfuche einen höheren Flug!
Im Frühling 1814 erſchien, Waverley“, ein in den Annalen ter bri⸗
tiihen Literatur denkwürdiges Ereigniß; in den Annalen des britifchen
Buhhandeld aber drei und vier Mal denkwürdig. Byron fang, aber Scott
erzählte, und als Byron fih Durch alle Variationen bis zu „Don Juan *
hindurchgeſungen, erzählte Scott immer noch und riß Die ganze Welt mit
fih fort. Alle frühere Popularität der gereimten Rittergefchidhten warb von
einer weit größeren verfchlungen. |
Welche Reihe von Romanen aus und auf „Wanerley * folgte und wie
und mit welchem Reſultat ift Allen befannt, und ward von Allen mit einer
Art von faunendem Entzüden beobachtet. Kaum ſtieg irgend ein literaris
fer Auf jemals fo Hoch auf unferer Infel und Fein Ruf verbreitete fich je
jo weit. Walter Scott ward Str Walter Scott, Baronet von Abbotsford,
auf welchen das Glück fein ganzes Füllhorn von Reichthum, Ehre und irdi⸗
fen Gütern anszufchätten ſchien; er war der Günſtling der Bürften und
Bauern und aller Menfchen, die fih zwifchen diefen beiden Ertremen bewes
gen. Seine „ Waverley- Romane, * vie raſch und, wie es fchien, ohne Ende
auf einander folgten, wurden allgemein gelefen und von allen Klaffen in
allen europälfchen Ländern wie eine alljährliche Ernte erwartet.
Hierzu gefellte ſich noch ein fonderbarer Umftand, nämlich der, daß der
Berfaffer, obſchon befannt, doc unbefann® war. Bleih von vornherein
vermutheten fehr Viele, und nach kurzer Beit zweifelten von dent intelligen-
ten Theil des Publitums fehr Wenige, daß der Berfafier von Waverley
Walter Scott fei. Und dennoch ward dabei fortwährent ein gewifies Ge⸗
beimniß bewahrt, weldhes für das Publikum jehr pikant und für den Autor
ohne Zweifel fehr angenehm war. Er brauchte trotz des Geheimnifjes nicht,
wie es oft mit anderen unglüdlichen Individuen der Ball geweſen, biefen
oder jenen fang audgefponnenen „Tlaren Beweis * anzuhören, daß der Autor
nit Walter Geott fei, fondern ein gewiſſer Mr. Soundfo.
Dabei aber konnte der bevorrechtete Autor ſich gehaben wie ein König,
welcher ineognito reift. Alle Menfchen wiflen, daß er ein hoher König, ein
200
ritterlicher Guſtav ober Kaiſer Joſeph ift, aber er miſcht ſich als Chevalier
du Nord oder als Graf von Lothringen, ohne den Zwang der Etiquette oder
F Ceremonie unter fie; er hat nicht das Ermüdende und Langweilige
der Königswürde zu tragen, und genießt doch alles Lob und die Sreube, es
mit feinen eigenen Ohren zu hören.
Mit einem Worte, die Waverley⸗Romane circulirten und berrichten
triumpbirend, und für die Phantafle des Publifums war der Verfafler von
„Waverley“ gleihfam eine lebende mythologifche Perſon, welder ein Plak
unter den größten Wundern der Welt gebührte.
Wie ein Menfd in fo ungewohnten Umfländen lebte und fidh gehabte,
dies zu fehen, verlohnt wohl ber Mühe. Gern würden wir einige Stellen
aus Scott's Briefwechiel in jener Zeit anführen, doch würde dadurch Die
Sache nicht Elarer werden. Seine Briefe find, wie wir ſchon oben jagten,
niemals ohne Intereſſe, aber auch felten oder nie ſehr intereflant. Sie find
voll von Heiterkeit, Wi und Scharffinn, aber ihr Ton ift niemals ein redht
vertraulicher und ohne ihre Aufrichtigfeit, was man fo Aufrichtigfeit nennt,
in Zweifel zu ziehen, kann man fagen, daß fle auf feinen Fall aus ben in-
nerften Tiefen ded Gemüths hervorgehen. Gonventionelle Formen und ges
bührende Rückſicht auf die Anfprüche und Eitelkeit des Schreiber und Ems
pfängers werben feinen Augenblid aus den Augen geießt. Der Epiftelftrom
fliegt Elax, frei und heiter entlang, aber fletö gleihfam parallel mit dem
wirklichen Kern der Sache, niemald mit demfelben untermiſcht. Man fühlt
den Boden gleichfam Hohl unter den Füßen. Es find Briefe eines höchſt
humanen Weltmannes und Eönnen in diefer Beziehung zum Mufter dienen;
aber ftetö fchaut der Weltmann aus ihnen heraus, wie denn überhaupt Scott,
vielleicht fogar mit fich ſelbſt, uie anders zu ſprechen pflegte.
Wir wählen daher lieber einige Eurze Stellen aus Mr. Lockhart's Er⸗
zäblung aus. Die erfte betrifft fein Diner bei dem Prinz Regenten — eine
faft officielle Sache:
„8 der Prinz von Mr. Broker (damals Gecretatr der Admiralität)
hörte, daß Scott gegen die Mitte Mär; (1815) in London fein merde,
fagte er: ‚Laien Ste mich wiffen, wann er kommt, und ich will ein kleines
gemüthliches Diner veranftalten, welches ihm zuiagen wird.‘ Nachdem er
daher bei dem ever vorgeflellt und gnädig empfangen worden, warb er dem⸗
gemäß durch feinen vortreffliden Breund Mr. Adam (jetzt Lord Obercom-
miſſair des Jurygerichtshofes in Schottland), der damals in dem koͤniglichen
|
|
201
denshalt ein vertraufiche® Amt bekleidete, zum Diner eingeladen. Der
Regent hatte ſich auch mit Mr. Adam über die Bufammenfegung der Tifch-
gefellfgaft beratben. ‚Bringen Sie’, fagte er, ‚einige von feinen Freunden
mit und je mehr Schotten, defto beſſer!“ Sowohl der Commiſſair, ald auch
Mr. Broter verfihern mir, daß diefe Tifchgeiellfchaft bie intereffantefte und
angenehmfle war, deren fie fih entfinnen können. Sie umfaßte, glaube ich,
den Herzog von Dorf, den Herzog von Gordon (damald Marquis von
Huntly), den Marquis von Hertford (damald Lord Darmouth), den Earl
von Fife und Scott's Jugendfreund, Lord Merville. ‚Der Prinz und Scott‘,
fagt Mr. Broker, ‚waren die zwei brillanteften Erzähler, jeder in feiner Weiſe,
die ich jemals kennen gelernt. Beide waren auch ihres Talents fich recht
wohl bemußt und beide übten ed an dieſem Abend mit ganz herrlicher Wir⸗
fung. Als ich nach Haufe ging, Tonnte ich wirklich nicht mit mir darüber
einig werden, welcher von ihnen beiden am meiften geglänzt habe. Der Re⸗
gent war vom Scott ebenfo entzüdt, ald Scott von ihm und bei allen feinen
fpätern Beſuchen in London war er ein häufiger Gaſt an der Eöniglichen
Zafell —
„Der Lord Obercommiffair erinnert fi, daß der Prinz ſich vorzüglich
über die Anekdoten freute, welche der Dichter von den alten fchottifchen
Richtern und Advocaten erzählte, und welche feine Fönigliche Hoheit durch
fpaßhafte Züge von gewiflen mit dem Richterhermelin befleideten weifen
Männern feiner eigenen Defanntfchaft noch zu übertreffen wußte.
Scott erzählte unter andern eine Geſchichte, die er jehr gern auftifchte,
von feinem alten Freunde, dem Lord Gerichtöfecretair Brarfleld, und der
Commentar feiner königlichen Hoheit darüber amüftrte Scott, der fpäter oft
davon fprach. Die Anekdote ift folgende:
„So oft Brarfleld feine amtliche Rundreiſe machte, pflegte er einen
wohlbabenten Mann in der Nachbarſchaft einer der Afflienflädte zu befuchen
und wenigftend eine Nacht zu bleiben, welche fie, da fie beide eifrige Schach⸗
fpieler waren, gewöhnlich mit Diefem ihren Lieblingsipiel beichlofien. Wäh-
rend einer Frühjahrsrundreiſe war der Kampf bei Tagesanbruch noch nicht
entichieden und der Lord Oberrichter fagte: ‚Wohlan, Donald, im Herbſte
fomme ich wieder; laß daher die Partie nur einftweilen fo fieben!’ Im
October kam er audy wieder, aber nicht in das gaftfreundliche Haus feines
alten Freundes, denn diefer war mittlerweile der Fälſchung, eines Kapitale
verbrechens, angeflagt, verhaftet werden, und fein Name fland auf der Liſte
Derer, welche im Begriff fanden, unter dem Borfige feines früheren Gaſtes
gerichtet zu werben. Der Delinquent ward demgcmäß vorgeführt, verhört
und von der Jury ſchuldig gefunden. Brarfield ſetzte fofort feinen drei⸗
edigen Hut — welder Die Stelle ter in England bei diefen Belegenheiten
gebräuchlichen ſchwarzen Müge vertritt — auf und verfündete den Sprud
des Geſetzes mit den gewöhnliden Worten: ‚Ihr werdet an Eurem Halſe
aufgebangen werten, bis Ihr tobt feid, und möge Gott Eurer armen Seele
gnadig fein!‘ Nachdem Brarfieln dieſe furchtbare Formel in fonorem aus
drudövollem Tone geſprochen, nidte er feinem unglüdliden Befannten vertraus
lich zu und fagte, ſtill und zufrieden in ſich hineinkichernd: ‚Na, Donald, ik
glaube, jegt habe ih Euch doch einmal matt geicht.”
„Der Regent lachte herzlich über diefes Beiipiel von araufamem Humor
und fagte: ‚In der That, Walter, dieſe alte Berrüde fcheint Die Dinge eben
fo Faltblütig betrachtet zu Haben, wie meine eigene tyrannifche Perfon es zu
thun pflegt. Willen Sie nicht, wie Thomas Moore mich beim Frühſtück
ſchildert:
‚Der Tiſch beſetzt mit Thee und Toaſt,
Tod'surtheln und der Morning Bor?’
„Gegen Mitternacht forderte der Prinz feine Gaͤſte auf, ‚einen Hum⸗
pen mit allen gebührenten Ehren auf das Wohl des Verfaſſers von Waver⸗
ley“ zu lesuen, und fchaute, während er fein Glas füllte, Scott mit bedeut-
fanem Blicke an. Scott ſchien einen Augenblid Tang ein wenig verlegen zu
werden, faßte ſich aber fofort wieder, füllte fein Glas bis zum Rande und
fagte: ‚Ihre königliche Hoheit fehen mid an, als ob Sie glaubten, ich Hätte
einigen Anſpruch auf die Ehre dieſes Toaſtes. Es flieht mir Fein folder
Anfpruch zu, ich werde aber Sorge tragen, daß der wirkliche Simon Pure
baß Hohe Kompliment erfahre, welches ihm jetzt gemacht worden.‘ Mi
diefen Worten tranf er fein Glas aus und flimmte mit feinem volltönenden
Organ in dad Vivat ein, welches der Prinz felbft ausbrachte. Ehe aber bie
Geſellſchaft fih wieder ſehen Fonnte, rief der Prinz: ‚Noch ein Glad, meine
Herren, auf das Wohl des Verfaflers von Marmion, — und nun, Walter,
lieber Freund, glaube ich, habe ich Sie doch noch matt geſetzt. Auf dieſes
zweite Glas folgte ein noch lauterer Vivatruf und Scott erhob ſich und bes
dankte fi in einer kurzen Rede, welche dem Lord Obercommiflate ebenfo
wuͤrdevoll, ald anmuthig erfchien. Dieſe Gefchichte ift fpäter mit vielen Ent-
flellungen verbreitet worden. — Ehe Scott Bonbon verließ, fpeifte ex noch⸗
203
mals in Carlton Bouſe, wo dann die Geſellſchaft noch kleiner war, als erſt,
und die beitere Unterhaltung womöglich noch freier. Damit e8 an nichts
fehle, fang der Prinz mehrere ganz charmante Liedchen. *
Dder man werfe über einen großen Zwifchenraum und Abfland in
vieler Beziehung hinweg einen Bli auf ein andere Diner, welches ganz
unoffciell war und weit beffer beichrieben if. Es ift James Ballantyıne, des
Druders und Verlegerd Diner in Saint John Street, Canon Gate, Edin⸗
burg, am Geburtstage eined Waverley⸗Romans:
„Das Feſtmahl war, um einen von James’ Lieblingsausprüden zu ges
brauchen, prachtvoll, eine rathöäherrlihe Entfaltung von Scildfrötenjuppe
und Wiltpret mit dem angemeſſenen Zubehör von Eispunich, ſtarkem Ale und
feurigem Madeira. Als abgeräumt war, erbob fih der flammige Präfes,
fuchte fo viel ald möglich die Haltung und Geberde John Kenible's nachzu⸗
abmen und rief mit den Worten Macbeth's:
‚güllt voll!
Ich trinke jegt zur allgemeinen Freude
Des ganzen Tiſches!“
„Hierauf folgte: ‚Der König, Bott fegne ihn!‘ und dann hieß «8:
‚Meine Herren, es giebt noch einen Toaſt, der in diefem meinen Haufe noch
niemal8 vergeffen worden und auch niemals vergeflen werben wird: Ich
trinfe hiermit auf die Geſundheit des Dir. Walter Scott mit einem neun»
fahen Hurrah!“ Nachdem diefer Gefundheit alle gebührende Ehre gezollt
worden und Scott der Geſellſchaft kurz gedunft, entfernte ſich Miftreh Bal⸗
lantyne; die Flaſchen Freiften zwei oder drei Mal auf die gewöhnliche Weile.
Hierauf erhob ſich James nochmals. Die Adern feiner Stirn waren bid
angeihwollen,, feine Augen blicten feierlich empor und er fagte, nicht wie
vorher mit Donnerflimme, fondern mit verhaltenem Athem nad Art tes
Geflũſters, Durch welches ein Verfchwörer auf der Bühne die Gallerie mit
Entſehen erfüllt: Meine Herren, ein Blas auf das Wohl des
unferblihen Berfafferste8 Waverley! Auf den lauten Vivat-
ruf, in weldjen Scott ebenfalld mit einflimmte, folgte tiefe® Schweigen und
dann fuhr Ballantyne fort, das Dunkel zu beflagen, in welches fein berühm⸗
ter, aber allzubefcheidener Befchäftöfreund fih immer nod dem Beifall der
Welt zu entziehen ſuche, der Geſellſchaft für die Art und Welfe zu danfen,
auf welche die nominis umbra aufgenommen worden, und ihr zu verfichern,
der Derfafler von Waverley werde, wenn er von dem Umflanb unserrichtet
204
würde, darüber fehr erfreut fein „die flolzefle Stunde feine® Lebens” u. f.w.
u.f.w. Die gleichgültige Miene, welde Scott's Geficht während diefer
Spiegelfechterei zeigte, war vollfommen und Erskine's Bemühen, eine beitere
Nonchalance zu Heucheln, noch ſpaßhafter. Aldiborontivhoscophornio war,
obſchon es ihm faſt das Herz abtrüdte, Doch zu Flug, als daß er den neuen
Roman zum Genenftand der Discurfion hätte madyen Taffen follen. Der
Name ward genannt und auf feinen glüdlichen Erfolg ein Glas geleert,
aber dann Jedediah weiter nicht erwähnt. Um den Baden abzujchneiden,
ſtimmte er eins feiner vielen Lieder an und trug ed auf eine Weile vor,
welche einem Sänger von Profelfign feine Schande gemacht hätte. Hierauf
folgten andere Toafte und dazwifchen Lieder von anderen Sängern und ſo
ging es fort, bis Scott und Erskine mit einigen dem geiftlihen Stante an-
gehörigen oder fonft fchr gefegten ‘Berfonen, die dem Gaſtmahl beigemwohnt,
es räthlich fanden, fidh zu entfernen. Run veränderte fich Die Scene. Der
Claret machte Plaß für eine mächtige Bowle Punfh und als einige Gläſer
bes heißen Betänfes den guten James hinreichend reftaurirt hatten, ging er
ore rotundo über die Vorzüge des nächftens erfcheinenden Romans mit der
Sprade heraus. ‚Ein Kapitel — nur ein Kapitel!’ rief man von allen
Seiten. Nady einigen verftellten Weigerungen wurden endlich die Aus
bängebogen hHerbeigebraht und James lad nun laut den Dialog vor, der
nach feiner Meinung einen der Lichtpunfte des neuen Werks bildete.
» Das erſte Bruchſtück, welches ich auf dieſe Weife Iefen hörte, war
die Unterredung zwiſchen Jeanie Deans, dem Herzog von Argyle und ber
Königin Karoline in Richmond Park und trog ter Dem guten James eigenen
pomphaften Weile muß ich fagen, daß er diefe unnachahmliche Scene fehr
gut vortrug. Auf alle Bälle war die Wirkung, die fie bervorbrachte, eine
tiefe und merkwürdige und man Eonnte ſich nicht wundern, daß der froßs
lodende Buchdrucker „nod einen Humpen auf Jedediah Cleisbotham“ aus
brachte, ehe er fein letztes Lied fang, welches ſtets die legten Worte Mar⸗
mion’3 waren und die er mit einer gar nicht zu verachtenden Nachahmung
Braham's vortrug. ”
Drüben in Abbotöford tragen die Dinge ein noch gebeihlichered An-
feben. Hier Tapt Scott an den reigenden Ufern des Tweed bauen und fchafe
fen. Er bat bier Land gefauft und Fauft deifen noch mehr und fo fehnell
als das neue Bold für einen neuen Waverley⸗Roman einkommt, ober auch
205
noch fchneller, verwandelt es ſich in Stein und niedergeichlageneß oder ange«
pflanztes Holz.
„Ungefähr in der Mitte des Monats Februar (1820), * fagt Mr. Lock⸗
hart, „nachdem wir bereitö übereingefommen waren, daß ich im Laufe des
Frühlings feine ältefte Tochter heirathen follte, begleitete ih ihn und einen
Theil feiner Familie auf einem jener fliegenden Beſuche in Abbotäford,
weldhe er während der Gertchtöjefilon des Sonnabends fehr oft vorzuneh⸗
men pflegte. Bei ſolchen Gelegenheiten erſchien Scott zu der gewöhnlichen
Stunde im Gerihtöhofe, trug aber anftatt des offiziellen ſchwarzen Anzug
bie grüne Jagdpikeſche u. |. w. unter feiner amtlichen Robe. — Mittags,
wenn der Gerichtshof die Sigung aufhob, fand Peter Mathiefon an dem
Thore des Parlamentöhaufes fchon bereit und fünf Minuten fpäter war die
Robe abgeworfen und Scott befand ſich vor Freuden die Hände reibend auf
dem Wege nach Tweedſide.
„Nächten Morgen erfchien beim Frühſtück John Ballantyne, der da⸗
mald in dem Thale des Leader ein Fleined Jagdhaus hatte und mit ihm
Mr. Eonflable, fein Gaſt. Da es ein ſchöner heller Tag war, fo machten
wir und, fobald als Scott das Kirchengebet und eine von Jeremy Taylor's
Predigten geleien hatte, alle nody vor Mittag auf den Weg, um einen Spa⸗
ziergang auf feinem Gebiete zu machen; Maida (der Jagdhund) und die
übrigen Zavoriten begleiteten und auf unjerm Marfh. Beim Aufbruche
geſellte fich der flete Schildfnappe Tom Purtie zu und und ich kann mir die
Mühe eines Verſuchs, feine äußere Erſcheinung zu befchreiben,. erfparen,
denn fein Herr hat und fhon in einer gemiffen Perfon feined Redgauntlet
eine unnachahmlich treue gegeben: Er war vielleicht jechzig Jahre alt, aber
dennod war feine Stirn noch ziemlicdy glatt und fein Eohljchwarzed Haar
durch die Zahl der Jahre nur bier und da ein wenig ergraut, nicht gebleicht.
Alle feine Bewegungen verriethen unverminderte Kraft und obſchon etwas
unter Mittelgröge, beiaß er doch jehr breite Schultern, war flarf gebaut und
Ihien in feinem Körper Muskelftärfe und Behendigkeit zu verbinden. Die
legtere hatte durch die Iahre vielleicht ein wenig verloren, die erftere aber
war noch unvermindert. in hartes, fchroffes Geſicht, tief eingefunfene
Augen unter hervorragenden Brauen, bie eben fo grau gefprenfelt waren
wie fein Haar; ein breiter Mund von Ohr zu Ohr reidhent, mit einer
Doppelreihe ungewöhnlich weißer und großer Zähne befegt, welche den Kinn-
laden eines Menſchenfreſſers zur Zierde gereicht hätten, - vollendete jein rei
306
zendes Portrait. — Diefe Geftalt denke man fi in Scott's abgefrkter grü
ner Jade, weißem Hut und grauen Hoſen und der Tom Purdie von 1820
ſteht vor und.
„Wir freuten uns alle, zu fehen, wie vollfländig Scott feine Körper
kraft wietergewonnen hatte und feiner mehr als Eonftable, der, als er einen
Hohlweg hinauf und einen andern hinab hinter ihm berfeuchte, oft ſtehen
blieb, um ſich die Stien abzutrodnen und bemerkte, daß nicht jeder Autor
ihn zu einem folchen Tanz aufziehen würde. Purdie's Geſicht aber glänzte
vor Frende als er bemerkte, auf welche fchwere Probe die Behendigkeit des
didwanftigen Buchbändlers geftellt ward. Scott rief einmal über dat
andere froblodend aus: ‚Das wird ein berrliches Frühjahr für uniere
Bäume, Tom!’ — ‚Das wollte id meinen, Sceriff,' entgegnete Tom
and dann wartete er einen Augenblid auf Gonftable, kratzte ſich im
Kopfe und fegte hinzu: ‚Meiner Treu, ich glaube, c8 wird auch ein gw
tes Jahr für unjere Bücher.‘ Tom ſprach naͤmlich fletd von „uniern Bü⸗
dern”, als ob dieſe fo regelmäßige Erzeugnifle ded Bodens wären, wie
‚unfer Hafer‘ und ‚unfere Birken. Nachdem wir erfl den Herilcleugb umd
dann den Rhymer's Glen durchgemacht, kamen wir in Huntly Burn an, wo
die Gaſtfreundſchaft der freundlichen Zauberſchweſtern, wie Scott die Ri
Ferguſons nannte, unfere erfchöpften Bibliopolen wieder von Neuem flärfte
und ihnen Muth gab, ihren Mari an demfelben berühmten Bade hinab
noch ein wenig weiter audsutchnen. Hier fland eine Eleine Hinte an einem
ſehr flillen gefchügten Plage und Scott war der Meinung, Diefelbe könne
durch einige Reparaturen und Erweiterungen in eine paflende Sommerrefi-
benz für feine Tochter und feinen fünftigen Schwiegerfohn verwandelt wer»
den. — Als wir wieder heimwaͤrts gingen, legte Scott, der ein wenig müde
geworten, feine linfe Hand auf Tom's Schulter, flüßte ſich ziemlich ſchwer⸗
fällig auf ihn und fhwagte mit jeinem Sonntagepony, wie er den trenen
Burfchen nannte, eben fo vertraulich, wie mit der übrigen Geſellſchaft. Tom
gab, fo oft der Gegenftand des Geſpraͤchs nicht über feinem Horizont bin
ausging, fein Wort fhlan und muthig cbenfalld mit dazu und ſchmunzelte
und grinfte, wo er ed angemefien fand. Es war leicht zu fchen, daß von
tem Augenblide an, wo der Echeriff ihn beim Kragen padte, fein Selbſt⸗
gefühl höher flieg.“
Daß Abborsford bald von einer Menge Touriften, Nengierigen und
dergleichen widerwärtigen Individuen heimgefucht ward, faun man ſich leicht
}
)
207
denken. Das einfame Ettrick ſah fih auf einmal bevölkert und alle Pfade
wurden von ten Füßen und Hufen eined entlofen Gemiſches von Pilgern
betreten. Oft kamen bid zu ſechzehn Partien an einem einzigen Tage in
Abbotsford an, Männer und Brauen, Pairs, ſocinianiſche Geiftliche, Alles,
was ausgezeichnet war, Alles, was Liebe zur Auszeichnung in fich trug !
Mr. Lodhart glaubt, es fei niemals zu einem literarifhen Altar fo
viel gewallfahrtet worden, ausgenommen nach Ferney zu Voltaire's Beit,
ber aber nicht Halb jo zugänglid war. |
Dergleichen fummende Shwärme von Schmeißfliegen fehlen überall
nicht, wo fi) eine Spur von menfchlidhen Ruhme oder anderer Fäulnig
wittern läßt. So Hat es die Natur einmal beſtimmt. Scott's Geſundheit,
ſowohl an Körper wie an Geift, die maſſtve Tüchtigfeit feines Charakters
zeigte ſich nirgends entichiedener, als in feiner Art und Weife, wie er biefen
Theil feines Schickſals über fih ergeben lief. Man höre, was Kapitain
Bafll Hall Darüber fagt, defien Worte wir jedoch nur audzugsweiſe mittheilen.
„Wir famen ziemlich zeitig an und fanten fchon mehrere andere Gäfte
bei Tiſche. Die Gaftzimmer find mit Oelgas und zwar auf ganz prachtvolle
Weiſe beleuchtet. — Hätte ich hundert Federn, von welchen jede gleichzeitig
eine Anekdote niederfchriebe, fo könnte ich doch nicht hoffen, aud nur die
Hälfte von denen zu berichten, welche unfer Wirkh, um Spenzer'd Auddruck
zu gebrauchen, fortwährend von fich fprudelte. — Er unterbielt uns auf
dem ganzen Wege mit einer endlojen Reihe von Anekdoten, die wie ein
Strom von feinen Lippen flojien. — Der Weg war jhmugig und faum
gangbar und dennoch entfinne ich mic nicht, je einen Play geſehen zu ha⸗
ben, der 10 intereffant gewefen wäre, wie die Geſchicklichkeit dieſes mächti-
gen Bauberer& dieſe enge Schlucht gemacht hatte. — Es ift unmögfid, ir⸗
gend ein Thema zu berühren, über welches er nicht fofort eine Anekdote zu
erzählen wüßte. — So ſchlenderten wir entlang, gleichfam auf der Fluth
des Geſanges und des Erzählens dahingetragen. — Am Abend hatten wir
einen großartigen Schmaus. Sir Walter fragte und, ob wir jemals Chriſta⸗
bei gelefen hätten. — In diefe verſchiedenen Borlejungen wurden einige
hundert Geſchichten eingeflreut, von denen einige drollig, andere rührend
waren. — Beim Frühſtück Hatten wir heute wie gewöhnlich einige hundert
und fünfzig Befchichten — Gott weiß, wo fie alle herkamen. — In der
kat, diefer Mann ift ganz dazu geeignet, den höchſten und flolzeften Play
an der Spige der Literatur des Geſchmacks und ber Phantafle der ganzen
Welt einzunehmen. — Bei Tiſche Hat er niemals einen befimmten Pak,
fondern figt bald Hier, bald da,” u. ſ. w. u. f. w.
Unter foldhen Berehrern, Tie glei in ſechzehn Partien taͤglich an⸗
famen, würde ein gewöhnlicher Menſch ſich aflmälig ale Bott gefühlt, zu
niden angefangen und den Erdfreid zu erfchüttern gefchienen haben. Gin
etwas milzfüchtiger Menſch hätte fein Haus von dieſer ganzen Gefellichaft
rein zu erhalten gewußt und fich von ſolchen Schmeißfliegen nicht bei feiner
Arbeit Hören lafien. Der gute Sir Walter aber that ale ruhiger, braver
Mann keins von beiden. Er ließ die Sache ihren Gang gehen, genoß da⸗
von, was genießbar war, duldete, was fid einmal nicht ändern Tieß, fchrieb
mittlerweile feine tägliche Portion Roman, blieb ruhig und gelaflen —
fügte fi mit einem Worte in diefe Tautfunmende Umgebung eben jo wie er
ſich (vielleicht Lieber) in eine flille, arme und einfame gefügt haben würde
Ohne Zweifel war ed für ihn angreifend und verießte fein inneres Leben oft
in eine beflagenswerthe Aufregung, obſchon er dieſe gut nieberzufämpfen
verfland, aber dennoch griff es ihn weniger an, als es faft jeden andern
Menichen angegriffen haben würde. Seine Gäfte gehörten nämlich nit
durchgängig der Schmeißfliegengattung an. Wr. Lockhart foll und das
fhönfte Schaufpiel zeigen, welches das britijche Ferney jemals gewährte oder
jemald gewähren wird und damit wollen wir von Abbotsford und der Eul-
minationöpertode von Scott's Leben Abſchied nehmen:
„Es war ein heller ſchöner Septembermorgen, die friſche Luft verdop⸗
pelte ven belebenten Eifluß des Sonnenicheind und Alles war bereit zum
Aufbruce zu der großen Jagdpartie auf Newark Hill. Der einzige Gaft,
der fi ein anderes Vergnügen vorgenommen, war der unerfättlichfte aller
Angler, Pr. Roſe, doch war er ebenfalls mit zur Stelle auf feinem Rößlein,
bewaffnet mit feiner Lachsruthe und feinem Meg, begleitet von feinem Hinves
und Sharlie Purdie, einen Bruder Tom's, der damals der berühmtefte Fi⸗
fcher des ganzen Diftrifts war. Diele Eleine Gruppe von Waltonianern
trieb fid) noch eine Weile herum, um erft den Aufbruch der großen Gaval-
eade mit anzufehen. Sir Walter auf feine „ Sybille” figend, ordnete Die
Reihenfolge des Zugd mit einer ungeheuern Jagdpeitiche und unter einem
Dutzend fröhlicher junger Herren und Damen, welche Luft zu haben ſchienen,
aller Disciplin zu fpotten, erfchienen ebenfalld zu Pferde und ed an Flinf⸗
heit mit Dem jüngften Jäger aufnebmend, Sir Humphry Daoy, Dr. Wolle
on und der Patriarch der ſchottiſchen Belletriftif, Henry Madenzie. Der
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209
‚Rann von Gefühl’ ward jedoch mit einiger Mühe überredet, fein Roß einfte
weilen feinem treuen.Reger zu übergeben und fi zu Lady Scott in den
Wagen zu feßen, bis wir an Ort und Stelle fämen. Laidlaw auf einem
ſtarkſchweiſigen tüchtigen Holländer, Namens Hoddin Greyh, der ihn raſch
und wader trug, obichon die Füße des Reiters faſt den Boden berührten,
war der Adjutant. Die malerifchfte Figur aber war der berühmte Erfinder
ber Sicherheitslampe. Gr war wegen ſeines Lieblingdzeitvertreibd, des
Angelnd, gefommen und hatte ſich fchon feit zwei oder drei Tagen mit Roſe,
feinem Reiſegefährten, daran ergögt; entweder aber hatte er ſich auf einen
ſolchen Jagdausflug nicht gefaßt gemacht oder Charlie Purdie's Gefellfchaft
in Folge eines plöglichen Einfall mit Sir Walter's vertaufcht und fein
Fiſchercoſtum — ein brauner Hut mit biegfamer Krampe, mit einer Maffe
Schnure und Angelhafen umwidelt, große ungeheure Stiefel, die eines hol«
ländiihen Schmugglerd würdig gewefen wären und ein mit Lachsblut bes
fprigter Barchentrod — bildete einen niedlichen Gegenſatz zu den knappen
Saden, weißen Beinkleidern und fchön Tadirten Iodepfticfein der weniger
außgezeichneren Gavaliere, von welchen er umgeben war. Dr. Wollafton
ging ganz ſchwarz und hätte bei feiner würdevollen Haltung für einen auf
die Jagd gehenden Erzbifchof angefehen werden können. Mr. Mackenzie,
der damals in feinem fechöundfichenzigften Lebensjahre fland, trug einen
weißen, grün aufgepugten Hut, eine grüne Brille, eine grüne Jade, Tange
braune Ledergamalchen, eine Hundepfeife am Halſe hängend und hatte Durch
aus das Anſehen eined eben fo eifrigen Jägers als ter Iuftige Kapitain von
Huntly Burn war. Tom Purdie und feine Xeute waren ſchon einige Stun
den vorher mit allen Iagbhunden, die man in Abboreford, Darnid und
Melroſe auftreiben konnte, vorangegangen, der riefige Maida jedoch war ale
Ordonnanz feines Herrn zurücgeblieben und fprang um Sybille herum und
bellte vor purer Freude, wie ein kleines Wachtelhündchen.
„Die Marfhortnung war endlich geregelt und der Wagen fegte fich
eben in Bewegung, ald Lady Anna aus Reihe und Glied hervorritt und
mit lauten Gelächter ausrief: ‚Bapa, Bapa, ich tadıte mir glei, dag Du
Deinen Liebling mitnehmen würdeſt!“ Scott ſah ſich um und id glaube, c&
flog ſowohl ein Erröthen als ein Lächeln über fein Geſicht, als er ein Fleie
nes ſchwarzes Schwein bemerkte, weldyes um fein Pferd herum hüpfte und
offenbar Willend war, fi aus eigenem Untricbe der Geſellſchaft anzufchlie=
en. Er veriuchte, eine finflere Miene zu machen und fchlug mit der Peitjche
Carlyle. I. 14
210
nach dem Thiere, mußte aber gleich darauf in das allgemeine Gelächter ein-
flimmen. Das arme Schwein fühlte bald einen Riemen ih um feinen Hals
fhlingen und ward in den Hintergrund gefihleppt. Scott ſah ihm nad,
declamirte mit verflellten Pathos den erften Vers eines alten Hirten⸗
liedchens:
„Was werd' ich thun, wenn mein Schweinchen ſtirbt?
Mein Stolz, meine Freude, mein Schweinchen!
Mein einziges Thier, horcht, wie es zirpt!
Ach, was für ein herrliches Schweinchen!“
— das Gelächter verdoppelte ſich und der Zug ſetzte fih nun endlich wirt
lih in Bewegung.
„ Diefed Schwein hatte, Niemand wußte wie, eine höchſt fentimentale
Anhaͤnglichkeit zu Scott gefaßt und war fortwährend bemüht, ſich unter die
Hunde zu milden und auf diefe Weiſe ein Glied feines Gefolges zu fein;
doch entfinne ich mid, daß er während eined andern Sommers von Seiten
einer Tiebreihen Henne diefelbe Zudringlichfeit zu erdulden hatte. Die Er⸗
Flärung überlaffe ih Naturfundigen, die Thatfache aber war fo. Ich habe
zu viel Achtung vor dem gewöhnlich viel verleumdeten Eſel, um ihn mit
dem Schwein und der Henne in eine und biefelbe Kategorie von Lieblings⸗
thieren zu rechnen, kann aber nidht unerwähnt laflen, daß ein paar Jahre
nach diefer Zeit meine Gattin ein Paar dieſer Ihiere beſaß, mit denen fie
in einem Fleinen Gartenwagen herumfuhr. So oft nun ihr Bater an der
Thür unferer Hütte erfchien, Eonnten wir überzeugt fein, Hannah More und
Lady Morgan (wie Anna Scott boshafterweife die beiden Ejel getauft hatte)
bon ihrem Weideplage herbeitraben zu ſehen, um ihre Schnaugen über ben
Baun herüberzuftreden.
„Hier in Chieföwood verlebten meine Gattin und id Diefen Sommer
und Herbft 1821, — die erfle von mehreren Saifons, welche ſtets als bie
gluklichften meines Lebens in meiner Erinnerung weilen werden, Wir was
ren nahe genug bei Abbotsford, um uns der dort Icbenden und fortwährend
wechſelnden Geſellſchaft anzufchließen, fo oft wir Luft hatten, und Eonnten
Dies doch thun, ohne der Plage und Erfchöpfung audgefegt zu fein, welde
der täglich Empfang neuer Anfümmlinge der ganzen Familie, ausgenommen
Sir Walter felbft, auflegte. Aber auch er war doch nicht immer ganz un«
verwundbar gegen die Behelligungen, von welchen ein ſolcher offener Haus⸗
| j
211
halt nothwendig begleitet fein mußte. Selbft fein Gleichmuth hielt nicht
immer Stand gegen den falbungdvollen Beifall Iangweiliger Pedanten, das
leere, nichtöfagende Entzüden gefchininkter und gepußter alter Damen, bie
unverſchaͤnte Meugier, womit ungebildete Ausländer ihn mit Fragen bes
flürmten und das aufgeblafene Lächeln herablaflender Magnaten.
„Wenn ihm auf dieje Weile einmal in unerträglichem Grade zugefeßt
ward, pflegte er ſich plöplich zu befinnen, daß er in einer entfernten Gegend
ein nothwendiges Geichäft zu verrichten hatte. Er bat dann feine Gaͤſte,
ihn auf einige Zeit zu entichuldigen und eridhien dann des Morgens vor
unjerm Haufe, ehe wir noch aufgeftanten waren. Der Hufſchlag feines
Pferdes, das Gebell der ihn begleitenden beiden Hunde und fein eigener
freudiger Weckruf unter unfern Fenſtern waren das Zeichen, daß er feine
deſſeln geiprengt hatte und gejonnen war, ſich es einmal einen Tag lang be>
quem zu machen. Wenn wir herunter Famen, fahen wir ihn mit allen fei-
nen und unferen Hunden um ihn herum unter einer weit audgebreiteten
Eiche ſitzend, welche die Hälfte deö Lifer8 zwifchen dem Haufe und dem Bache
überfchattete, während er die Schneide feiner Holzart fhärfte und Tom Pur⸗
dies Borlefung über die Pflanzungen anhörte, die am meiften des Lichtens
oder Durchforftens bedurften. Nach dem Frühſtück nahm er Beſitz von einem
Zimmer im obern Stod und jchrieb ein Kapitel zu dem ‚Piraten‘ und nach⸗
dem er dann Dad Manufeript zufammengepadt und an Mr. Ballantyne ab-
geiendet, eilte er Zom Purdie nad an den Pla, wo die Holzfäller bei der
Arbeit waren. Hier arbeitete er nun jo angeftrengt mit wie irgend einer,
bis es Zeit war, fi entweder wieder zu feiner Gefellfchaft nad) Abbotsford
zu begeben oder fi) dem ftillen Kreife in unferem Haufe anzuichließen.
Waren jeine Gaͤſte wenig an der Zahl und nähere Bekannte von ihm, fo
ließ er fie oft gegen Abend alle zufammen nad Chiefswood herüberfommen
und zeigte fich nie liebenswürdiger, als wenn er feinen jungen Leuten in
ihren Eleinen Vorkehrungen bei ſolchen Gelegenheiten mit zur Hand ging.
Er wußte eine Menge Ausfunftömittel, um den Mängeln eines Eleinen Haus»
bald abzuhelfen. Befondered Vergnügen machte e8 ihm, ehe er in den Wald
ging, den Wein in einen Brunnen zu verſenken und furz zuvor, ehe daß
Diner angemeldet ward, ten Korb wieder heraufzuminden. Dieſes Mittel
war nach feiner Meinung in feinen Ergebniffen viel beſſer, ald die Anwen⸗
dung von Eis, weshalb er auch früher ald noch junger Haudvater davon
Gebrauch gemacht hatte. Eben fo trug er, fo oft die Witterung hinreichend
14*
212
mild war, darauf an, daß das Diner im Freien flattfänbe, woburd wir der
Unbequemlichfeit fehr Eleiner Zimmer fofort überhoben wurden, während
dann auch Lie Herren bei Tifche die Damen bedienen Eonnten, jo daß bie
geringe Anzahl unferer Dienftleute weiter nicht auffällig war.”
Dies iſt allerdings alles fehr ſchön, gleich einem Gemälde Borcaccio's,
das Ideal eined Landlebens in unferer Zeit. Warum konnte es nicht dauern?
An Einkommen fehlte ed nicht, denn Scott's amtliche und permanente Ein⸗
fünfte waren vollauf hinreichend, die Koften alles Defien zu beflreiten, was
in einem folchen Leben werthvoll, ja alles Deflen, wad nicht quälend, uns
finnig und verädhtlih war, Scott hatte jährlich gegen zweitaufend Pfund
Einkünfte, ohne alles Bücherſchreiben. Warum fabricirte er nun, um im»
mer mehr Geld zu machen und bäufte Mafle auf Maſſe, bis der Gipfel
überſchlug, Erachend berunterflärzte und das ganze Gebäude ihn in feinen
Trümmern begrub, während er doch fhon von Haus aus mit einem anges
nehmen und fiheren Wohnftge beglädt war?
Ad, leiter war Scott bei all feiner Befundheit doch inficirt; er lag
franf an der furchtbarften aller Krankheiten, an der Krankheit des Ehr-
geizes. So weit hatten ihn die Baronifirung, der Beifall der Welt und
die vornehmen Gefellichuften gebracht. Und deshalb mauern Die Maurer
und die Gräber graben und es wird auf entlofe, wirklich beflagendwerthe
Meile hin und Her correfpondirt, über Marmorplatten, über Tapeten und
Vorhänge und ob der Auspug der letztern orangefarben oder hellbraun jein
folle. Walter Scott, einer der Begabten der Welt, den feine Bewunderer
den Begabteften nennen, arbeitete fih zu Tode, um ein Rantedelmann, um
der Gründer eines Geſchlechts ſchottiſcher Lairds zu werten. Es ift eine der
feltfamften tragifchften Gefchichten, die jemald unter der Sonne vorgefom«
men. So fann eine armſelige Leidenſchaft einen fo ftarfen Mann zu folchen
wahnfinnigen Ertremen verleiten !
In der That, wäre der Menfch nicht ſtets ein Narr, jo müßte man,
möchte die Sache nun enden wie fie wollte, eine ganz außerordentliche Narr«
beit darin fehen, wenn ein Walter Scott Tag für Tag mit der Unermüd⸗
lichkeit und Schnelligkeit einer Dampfmafdyine fehreibt, um jührlih fünf
zehntaufend Pfund zu verdienen und allerhand unnöthige Hausgeräthichaften
dafür zu Faufen. Können wir es anter@ ald einen Beweis von gelintem
Wahnſinn nennen, wenn er die Wände eined Hauſes in Selfirfihire mit
allerhand Siebenſachen, alterthümlichen Rüftungen und genealogiſchen Wap⸗
213
penſchildern bedeckt? Diefe Sucht, einen Strich Moorland nad dem andern
in dem Shire von Selfirk auf dem Pergament und durch Umzäunungen zu
vereinigen und nach feinem Namen zu nermen, iſt eine Elägliche Miniatur«
auögabe des Ehrgeizes unferer gemeinen Napoleon’s, Alexander's und ande⸗
ser Eroberer — eined Ehrgelzed, den kein Lehrer der Menſchen für etwas
Schönes und Erhabenes erklären wird!
Und wenn vom Monde aus gefeben, der felbft noch jehr weit von ber
Unendlidyfeit entfernt ift, Napoleon's Befigungen eben fo Flein waren als
die meinigen find, was fonnte dann wohl möglicherweife jemald aus dem
Landgute Abbotsford werden? Es giebt, wie die Araber fagen, in jeder
Seele einen fhwarzen Punkt, wenn er auch nicht größer wäre, ald ein Boh⸗
nenauge und der, wenn er einmal in Thaͤtigkeit verjegt wird, dennoch den
ganzen Menſchen mit Finfterniß und Wahnfinn ummölft und in den Ab⸗
grund der Nacht binunterflürgt. ,
In Bezug auf den literarifchen Charakter diefer Waverley⸗Romane,
die in ihrer commerziellen Bedeutung fo außerordentlich find, bleibt nad
jo vielen Kereitö vorhandenen guten und fchlechten NRecenflonen nur wenig
Erfprießliche® zu jagen übrig. Die Hauptthatfache in Bezug auf dielelben ift,
daß fie fehneller geichrieben und befler bezahlt wurden als irgend andere Bür
Ger in der Welt. Lieberdied muß auch zugegeben werben, daß fie einen
Berth ‚haben, der das, was In foldhen Hallen gewöhnlich ift, weit übertrifft;
ja wenn Lie Literatur feine andere Aufgabe hätte, ald unthätige träge Men⸗
ſchen auf harmloſe Weile zu amüflren, fo wären diefe Romane das Bollen-
betfte, was die Literatur aufzuweiien hätte und der Menſch könnte ſich nie-
derfireden und ausrufen: Sei mir dad Loos beichieden, fortwährend auf
diefem Sopha zu liegen und ewig Romane von Walter Scott zu lefen!
Die Compofition diefer Romane, fo leicht gehalten fle auch oft iſt,
bängt doch einigermaßen zufammen und ift eine Gompofition. Es iſt ein
frifcher, freier Fluß in diefen Erzählungen von Ereigniffen und Gefühlen,
durchweg ein ungezwungener gentaler Zufammenhang gleich dem freien Zuge
einer Meifterhand, rund wie dad O Biotto’s*). Es ift die höchſte Vollen-
bung des ertemporirten Schreibend.
*) „‚„Venne a Firenze‘‘ (il vortigiano del Papa), „e andato una mattina in bot-
tega di Giotto, che lavorava, gli chiese un poco di disegno per mandarlo a sua San-
tith. Giolto, che garbatissimo era, prese un foglio, ed in quello con un pennello
214
Berner wäre Der ganz gewiß ein blinder Kritiker, der Hier nicht eine
gewiffe wohltHätige Sonnenhelle und malerifche Friſche erkennen wollte.
Die Schilderungen fowohl der Natur ale der Menichen find anmuthig und
glänzend und verratben eine tieffinnige Liebe zum Schönen in der Natur
und im Menfchen, fo wie die bereitefte Fähigkeit, Died durch Phantafle und
Worte audzudrüden.
Nirgends findet man friichere Naturgemälde als Scott's und faum
irgendwo eine unfaflendere Sympathie mit dem Menſchengeſchlecht. Dies
gilt von Davie Deans bid hinauf zu Richard Löwenherz, von Meg Merrplies
bie Die Vernon und Königin Elifaberh ' Es ift die Sprache eines Mannes
von offener Serfe, eines wadern, weit und frei ſehenden Mannes, der alle
Menfchen als feine wahren Brüder betrachtet. Diefe Romane beweiien, daß
an freudiger Anſchauung und Sympathie, an Freiheit ded Auges und Her-
jend oder, um es mit einem Worte zu fagen, an allgemeiner Geſundheit des
Geiſtes Scott unter allen Schrififtellern eine der erften Stellen gebührt.
Auch an dem höheren und höchſten Verdienfte, der Eharakterzeichnung,
mangelt ed ihm niemald ganz, obſchon wir ihn niemals im beften Sinne
glüclich nennen können. Seine Baillie Jarvies, Dinmonts und Dalgertys
(denn ihr Name ift Legion) ſehen aus und fprechen wirklich wie Das, wofür
fie fih ausgeben; fe find, wenn nicht gefhaffen und mit voetiſchem
Leben begabt, doch ſehr täufchenn gefpielt, wie ein guter Schaufpieler fie
ipielen würde,
Und was bedarf ed denn mehr? Kür den auf dem Sopha Tiegenden
Lefer weiter nichts, für eine andere Sorte von Leſern aber viel.
Es wäre ein langes Kapitel, wenn man den Unterfchied in der Cha⸗
rakterzeihnung zwilchen einem Scott und einem Shafeipeare oder Goethe
nachweiſen und begründen wollte. Und dennoch iſt dies ein Unterichien, der
buchfäblich unermeßlich if; fe find von ganz verichiedener Gattung und der
tinto di rosso, fermato il braccio al flanco per farne compasso, e girato la mano fece
un tondo si pari di sesto e di profilo, che fu a vederlo una maraviglia. Cid fatto
ghignando dısse al cortigiano, Eccovi il disegno.‘‘... . „„Onde il Papa, e molti
cortigiani intendenti cunohbhero percıiö, quanto Giolto aranzasse d’eccelenza tutti gli
altri pittori del suo tempo. Divolgatasi poi questa cosa, ne nacque il proverbio, che
ancora & in uso dirsi a gli uomini di grossa pasta: „Tu sei piü tondo che U O di
Giotto.‘* — Vasari, Vite (Roma, 1759), 1. 46.
.. U =. wa. =
215
Werth des einen fann in ber Münze des andern gar nicht berechnet werben.
Bir möchten mit kurzen Worten, worin aber fehr viel Liegt, jagen, daß
Shafefpeare feine Charaktere von dem Herzen heraus formt, während Scott
fie von der Haut an nad innen entwidelt, aber niemals bis zum Herzen ges
langt! Die erftern werden demzufolge lebende Männer und rauen, die an⸗
dern find wenig mehr ald mechanische Figuren oder trügerifch bemalte Auto«
maten.
Man vergleiche 3. B. Fenella mit Goethe's Mignon, welche, wie man
einmal jagte, Scott dem deutichen Dichter die Ehre angethan hat, von ihm
zu entlehnen. Er bat von Mignon entlehnt, was er konnte. Die Eleine
Geftalt, daB Klettertalent, die Berfchmigtheit, die mechaniſche Figur,
wie wir fagen, hat er allerdings entlehnt, aber Mignon's Seele hat er vers
geſſen. Benella ift ein für Scott ungünftig gewähltes Beifpiel, aber es
veranfchaulicht in verihlimmertem Zuftande Das, was in allen Charakteren,
die er zeichnete, aufzufinden iſt.
Eben fo müſſen wir fagen, daß diefe berühmten Bücher ausſchließlich
für alltägliche SGemüther beftimmt find und daß für jedes andere fo gut wie
gar feine Nahrung darin liegt. Meinungen, Anſichten, Grundfäte, Zwei⸗
fel, Glauben über dad Map hinaus, welches der intelligente Landedelmann
mit ſich berumtragen kann, find nicht zu finden. Es iſt alles ordentlich,
herfömmlich, Flug und anfländig — aber nichts weiter. Man möchte fagen,
es habe nicht in Scott gelegen, viel mehr als dies zu geben. Berläßt er
einmal das gewöhnliche Gebiet und verfucht er ſich in dem Heroifchen, was
nur felten der Fall ift, fo verfällt er faſt fofort in rofenfarbene Sentimenta-
lität, — erblickt die Kritik von ferne und verläßt diefe Bahn eiligft wieder,
denn Niemand wußte befier ald er, daß er auf derfelben ſchwerlich an's Biel
gelangen würbe.
Im Ganzen genommen muß man, wenn man „WWaverley*, welder
iorgfältig gefchrieben war, mit den meiften feiner Nachfolger, welche ex tem-
pore geichrieben wurden, vergleicht, dieje ex tempore-Metode nur beklagen.
Seott Hätte etwas ſehr Vollkommenes tin feiner Art leiften können; auch
war e8 feine niedrige Art; ja, wer weiß, wie hoch er bei forgfältiger Selbfl-
eoncentration geftiegen fein würde, — welden Reichthum die Natur ihm
tingepflanzt, den feine LImflände, die trog ihres günftigen Anſcheins den⸗
noch für ihn fehr ungünflig waren, ihn niemald gedrängt Hatten, zu ent«
wideln.
216
Und doch muß ſelbſt bei dem lauteſten Trompetengeichmetter der Be
pularität es als eine ewig wahr bleibende Wahrbeit ind Auge gefaßt wer
den, daß die Literatur ganz andere Zwede bat, ald den, unthätige, träge
Menſchen auf harmlofe Weiſe zu amüftren. Oder wenn die Literatur dieſe
Bwede nicht Hat, fo ift fie eine fehr armielige Sache und etwas Anders
muß diefe Zwecke haben und erreichen, mit Dank oder ohne Dank, dem
die danfbare oder danflofe Welt würde fonft nicht lange mehr eine Welt
bleiben.
In diefer Beziehung aber ift in den Waverley⸗Romanen wenig zu ſu⸗
den oder zu finden. Sie taugen weder zur Lehre no zur Warnung, noch
zur Erbauung oder Erhebung in irgend einem Sinne! Das kranke Her
findet darin Feine Heilung, das im Finſtern ſtrauchelnde Herz feine Führung,
das Heroifche, welches in allen Menſchen liegt, Eeine göttliche erweckende
Stimme. Deshalb fagen wir, daß fie ſich nicht auf tiefe Intereffen grün
den, fondern auf verhältnigmäßig triviale, nicht auf dad Ewige, ja vielleicht
nicht einmal auf das Dauernde.
In der That geht ein großer Theil des Interefle, welches dieſe Ro⸗
mane bieten, aus Gontraften des Coſtüms, wie man fie nennen fann, berver.
Die einem gewillen Zeitalter angehörende Phrafeologie, die Mode in Waf⸗
fen, Kleidung und Lebensweife, wird ploͤtzlich mit eigenthümlicher Lebhaftig⸗
feit den Augen eines anderen Zeitalters vorgeführt. Es ift dies allerdings
ein großer Effect, aber dennoch ſchon feiner Natur nad ein ganz vorüber-
gehender. Wan bedenke doch — werden wir nicht eines Tages ebenfalls
antik fein und ein eben fo ſonderbares und altuäterifches Coſtüm tragen,
wie unfere Vorgänger? in ausdgeftopfter Stuger wird, dafern man ihm
nur Zeit läßt, endlich eine der wunderbarfien Mumien. In kaum zwei Jahr⸗
hunderten hängt in den antiquarifhen Mufeen der Hut des Kirchthurm-
renners an dem naͤchſten Nagel neben dem Patenthute von Frank und Com⸗
pagnie, während die Alterthumsforſcher ſich darüber flreiten, welcher von
beiden der häßlichere ift, und der Schwalbenichwanzfrad der Iegtzeit wird
hoffentlich al ein eben fo unglaubliche Kleidungöftüd betrachtet werden,
wie irgend eins, welded den ehrwürbigen Rüden des Menichen jemals lä-
cherlich machte. Nicht durch geicpligte Hofen, Kirchthurmhüte, Ledergürtel
oder veraltete Redensarten Finnen Romanhelden auf die Dauer und intereis
firen, fondern einzig und allein Dadurch, daß fie Menfchen find. Ledergürtel
und alle Arten von Wänfern und Coſtümen find vergänglich, der Menſch
217
allein ift dauernd. Der, welcher hierin tiefer eingedrungen ift ald andere
Menſchen, wird auch langer als diefe In ber Erinnerung leben, im entgegen-
geſetzten Falle aber nicht.
Unter diefer Kategorie betrachtet, iſt Scott mit feiner Elaren praftiichen
Einfiht, feinem heitern Temperament und anderen gefunden Yähigfeiten
nicht gering anzuſchlagen, — unter den gewöhnlichen Leihbibliothekshelden
fonnte er wohl für einen Halbgott gelten. Er ift nicht Hein, aber er ift
aud nicht groß; es gab Größere und zwar mehr ald einen oder zwei in ſei⸗
nem eigenen Zeitalter und unter den Großen aller Zeiten dürfte er kaum
Anwartihaft auf einen Platz haben.
Was ift aljo das Ergebnif, das Ergebniß diefer Waverley-Romane?
Sollen fie blos eine Generation amüflren? ine oder mehrere! fo viele
Generationen als fie fönnen, aber nicht alle Generationen ; ach nein, wenn
unfer Schwalbenſchwanz eben fo phantaftifch und wunderlich geworben if,
wie eine Pluderhoſe, dann werden fie aufhören zu amüfiren.
Rittlerweile find, fo viel wir zu unterjcheiten vermögen, die Reiultate
biejer Romane mehrfady geweſen. Zuerſt von allen, und fiherlid nicht am
mindeften von allen, haben fie vielleicht das Refultar gehabt, Daß eine bedeu⸗
tende Anzahl Menichen dadurd mit bloßem Amüfement gefättigt und auf
diefe Weife veranlaßt worben ift, etwas Beſſeres zu fuhen. Das Amüſe⸗
ment in der Geſtalt von Lectüre kann durch menfchlihe Macht nicht weiter
geben und nichts Beſſeres thun, und die Menichen fragen: Iſt ed Das, was
fie thun fann? Scott brachte nach unferer Anficht mehrere Dinge zu ihrer
endlichen Entwidelung und Krifts, fo Daß eine Veränderung unvermeidlich
ward — ein großer Dienft, obſchon ein indirecter.
Zweitens aber können wir fagen, Daß dieſe Hiftorifchen Romane alle
Menichen, die bis dahin Geſchichtsſchreibern und Anderen noch jo gut wie
unbefannte Wahrheit gelehrt haben, daß die vergangenen Zeitalter der Welt
wirklich wurd lebende Menichen und nicht Durch Protokolle, Staatsfchriften,
Eontroverjen und theoretiihe Begriffe vom Menſchen ausgefüllt worden.
Sie waren feine Abſtraction, feine Zeichnungen und Xheorien, fondern
Menſchen in Leder» oder andern Jacken und Goien, mit Barbe auf den
Wangen, mit Leidenfchaften im Herzen, und der Spracde, den Zügen und
der Lebenskraft wirklicher Menfchen.
Es if dies ein Kleines Wort, aber es Liegt eine bobe Bedeutung darin!
Die Geſchichte wird hinfort wohl Darauf Acht zu geben haben. Ihr mattes
218
Hörenfagen, daß „die Bhilofophie durch Erfahrung lehre“, wird ſich über
all mit directer Einfigt und Verförperung vertaufchen müffen. Died und
dieß allein wird man als Erfahrung betrachten und fo lange nicht wirklid
die Erfahrung eingetreten iſt, wird die Philoſophie fi begnügen, an ber
Thür zu warten. Es iſt ein großer, an Folgen frucdhtbarer Dienſt, den Scott
und auf dieſe Wetje geleiftet hat, eine große Wahrheit, die durch ihn offen-
bart worden; — und fle entfpridt auch in der That der tüchtigen Natur
diefed Mannes, der Gediegenheit und Wahrhaftigkeit fugar jeiner Einbil-
dungdfraft, die all bei feiner lebhaften Vielſeitigkeit ein charakteriſtiſchet
Kennzeichen von ihn war.
Wir Enüpfen hieran einige Worte über dad ex tempore-Schreiben, welches
in unferer Zeit eine immer größere Berühmtheit erlangt. Scott fcheint ed
hierin fehr weit gebracht zu haben. Seine Schnelligkeit war außerordentlid
und der erzeugte Stoff, wenn man die erwägt, ganz vortrefflid. Die Um
fände, unter welden einige feiner Romane, wenn er nicht felbft fchreiben
konnte, dictirt wurden, betradytet man mit Recht ald wunderbar.
Es iſt eine ſehr werthvolle Fähigkeit, diefe Fähigkeit des Schnellſchrei⸗
bens, ja für Scott's Zweck war es offenbar die einzige gute Methode. Durch
viel Arbeit hatte er fein Honorar nicht um eine einzige Guinee vermehren
fönnen und der Xefer auf dem Sopha hätte nicht um einen Grad weider
gelegen. Es war durdaus notbwendig, daß diele Werfe rafch producirt
und rund oder gar nicht hingeworfen wurden, wie Giotto's O.
Ucherhaupt liegt in allen Dingen, im Schreiben oder jedem andern
Geſchaäͤft, womit der Menich fich befaßt, die unerläßlichfte Schönheit darin,
daß er fertig zu werden weiß. Wander Menich aͤngſtet fich vergebens
ab; er kann nit den richtigen Handgriff wegfriegen, er ift fein Meifter,
fondern ein unglüdlicher Pfufcher und Stümper, wenn er nidt weiß, wann
er fertig iſt. Abſolute Vollkommenheit iſt einmal unerreichbar ; fein Zim⸗
mermann machte jemals einen mathematiſch ganz genauen rechten Winfel;
und dennoch wiflen alle Zimmerleute, wenn er recht genug iſt und hämmern
nicht noch lange daran herum und verlieren ihr Arbeitslohn dadurch, daß
fie ihn zu richtig machen. Wer fih zu viel Mühe giebt, verräth eben jo
einen Franfhaften Geift, wie der, welcher fich zu wenig Mühe gicht. Der
gewantte Mann von gefundem Geifte wird fi bemühen, auf jedes Geſchäft
annähernd fo viel Mühe zu verwenden, ald ed verdient und e8 dann ohne
Gewiſſensbifſe ruben Taffen.
219
Alles dies Tann zu Gunſten des Schnellichreibens zugegeben und da
nöthig empfohlen und eingeprägt werben.
Und dennoch muß andererfeitö nicht weniger, fondern weit dringender
bervorgehoben werden, daß im Bereiche der Literatur nichts Großes mit
Leichtigkeit, fondern nur mit Mühe gethan worden tft oder jemals gethan
werden wird! Schnellichreiber, welche Talent in fich verfpüren, mögen dies
wohl zu Herzen nehmen. Kann ein Menſch fein Beſtes in irgend einer
Geſtalt mit Leichtigkeit thun, namentlich in diefer Geflalt, die man
mit Recht „Seelenarbeit” nennt und wo es gilt, in den tiefen Schad-
ten des Denfend zu arbeiten und aus dem auf allen Seiten mit dem
ungeſchaffenen Falſchen umgebenen Dunfeln. und Möglichen das Wahre
zu verförpern? Dies iſt niemald der Fall geweſen, weder jetzt noch zu ir⸗
gend einer Zeit. Die Erfahrung aller Menichen firaft eine folde Annahme
Lügen; die Natur der Dinge widerfpricht ir. Waren Birgil und Tacitus
wohl Schnellfchreiber? Die ganzen Prophezeihungen des Jeſaias kommen
diefer Spinnwebe von einem Journalartikel an Umfang nicht gleih. Shafe-
freare fchrieb, glauben wir, jehr rafch, aber nicht eher ald bis er jorgfältig
nachgedacht Hatte. Lange und peinlich hatte, wie das fehende Auge wohl
erkennen kann, diefer Mann nachgedacht und mit bangen Zweifeln gefämpft
und gerungen, bis endlich feine große Seele fiegreich daftand. Seine Mes
thode war, in geeigneten Augenblicken raſch zu ſchreiben, wenn er ſich dazu
aufgelegt fühlte.
Und Hierin Tiegt eigentlih dad ganze Geheimniß ter Sache. ine
ſolche Schnelligkeit des bloßen Schreibens nadı gebührender energifcher Vor⸗
bereitung ift ohne Zweifel die richtige Methode und nachdem der Schmelz-
ofen lange genug geheizt worden, lajfe man das reine Gold in einem Strome
berausfließen. So war Shafeipeare'3 Methode, aber er war durchaus fein
leichtfertiger Schriftfteller, denn dann wäre er niemals ein Shakeſpeare ge⸗
worden.
Auch Milton gehörte nicht zu dem großen Haufen der «Herren, welche
mit Leichtigkeit jchreiben ; er erlangte, wie man recht wohl gemerft, nicht
Shafeipeare'3 Faͤhigkeit, auch nach Ianger Vorbereitung ſchnell zu ſchreiben,
fondern fämpfte und mühte fldh, während er ſchrieb. Goethe jagt und auch,
daß ihm nichts im Schlafe gefchenft worden, und in feinen ganzen Werfen
gab es fein Blatt, von welchem er nicht gewußt hätte, auf welche Weiſe «8
entflauden war. Deshalb aber gilt feine Brofa auch für die befle unter
allen modernen Schriftftellern.
Schiller, als unglüdliher und ungefunder Mann, „konnte nie fertig
werden *, fein edler Genius kaͤmpfte nicht weile, fondern zu eifrig und nagte
an feinem Leben, bis es Heldenmüthig erloſch.
Oder fchrieb Petrarka fehnell und ohne Mühe? Dante fleht fidy über
feiner göttliben Komödie „mager werden.” Gr fänpft einen einjamen
Todeskampf mit ihr, um fle zu bezwingen und fertig zu bringen, wenn feine
äußerfie Häbigfeit ed im Stande iſt. Und deshalb wird fie auch fertig und
bezwungen und ihr feurigeö Xeben dauert unter den Menfchen nun fort.
Nein, das Schaffen kann nicht leicht fein. Jupiter empfindet heftige
Schmerzen und fühlt Beuerflammen in dem Kopfe, aus welchem Die gewapp
nete Ballas fi bemüht, hervorzubrechen. Was das Yabriciren betrifft, fo
ift dies eine andere Sache und fann leicht oder nicht leicht werden, je nad
dem man ed anfaßt. Aber auch von Fabrikarbeit gilt die allgemeine Wahr
heit, daß ihr Werth in genauem Verhältniß zu der Mühe ftebt, Die daranf
berwendet worden.
Höre daher auf, o Schnellichreiber, mit Deiner Schnelligkeit und Leid
tigfeit offen zu prahlen; für Dich iſt fle, wenn Du zu der Klaffe der Bahr
fanten gehbörft, eine Wohlthat, eine Vermehrung des Arbeitslohnes; für
mich aber iſt fie reiner Verluſt, weil die Waare, die ich Faufe, dadurch rer-
fdhlechtert wird — warum willft du daher vor mir damit prahlen? Schreibe
leicht und mit Dampf, wenn du es möglid machen und verfaufen kannſt,
aber verbirg e8 wie Die Tugend! „Leicht geichriebene Sachen, * fagte Sheri⸗
dan, „laſſen fly zumeilen verdammt fühwer leſen.“ Zuweilen; aber fiel
{ft dieſe Lectüre auch eine ziemlich nuglofe und dieje kann für einen Re
ſchen, dem bei wenigen Jahren viel Arbeit befchieden ift, als die ſchlimmſt
von allen betrachtet werden.
Scott's Leichtigkeit des Producirens fegte alle Welt in Exrflaunen um
brachte Kapitain Hall auf eine fehr feltfame Methode, fie ohne Wunder zu
erflären, worüber man. fein ſchon oben citirte8 Tagebuch fehe. Als der
Kapitain nämlich Zeile für Zeile zählte, fand er, daß er felbft in io md
fo viel Stunden innerhalb einer gegebenen Anzahl von Tagen in bielel
fein Tagebuch faft eben fo viel geichrieben hatte, als Scott; „und was di
Erfindung betrifft, * fagt ex, „fo iſt es befannt, daß dieſe Scott nichts koſtet,
fondern fich bei ihm ganz von felbft mat." Nicht übel!
221
Aber auch für uns iſt Seott's Schnelligkeit groß; fie ift und ein Be»
weis und eine Folge der gediegenen Befundheit des Mannes, Eörperlicher
ſowohl als geiftiger; fie if! groß, aber nicht wunderbar; nicht größer als
die vieler anderen außer Kapitain Hall. Man bewundere fle, aber mit Ma⸗
fen. Man bemerke nämlich immer, Daß hier zwei Bedingungen thätig find:
ih will die Qualität beſtimmen und du follft die Quantität beftimmen !
Jeder fann mit feiner Arbeit raſch fertig werden, wenn er ſich leicht zu
Danke arbeitet. Man trude die geiprochenen Worte eines Mannes und fie
werden täglich einen dien Octavband füllen; man made das, waß er
fhreibt, Drei Mal jo gut, als dad, was er ſpricht und dann hat man täglich
den dritten Theil eined Bandes, was immer noch ein tüchtiged Stud Ar⸗
beit if.
Wenn daher einer mit noch fo großer Schnelligfett in leidlicher Weife
fchreibt, fo ift Died nicht ein Maßſtab für fein Genie, fondern blos ein Kenn⸗
zeichen feiner Beſchaffenheit. Es beweift die Geſundheit feined Nerven
ſyſtems, feinen praftiichen Geift und zulegt, daß er fein Handwerf gut los
bat. Auf die fchmeichelhaftefte Weite betrachtet, verräthb Schnelligfeit Ges
fundheit des Geiſted, aber Vieles, vielleicht beinahe Alles, hängt von Ge⸗
funtheit des Körpers ab.
Man bezweifle es daher nicht — der Menfh Fann die Bähigfeit des
leihten und ſchnellen Schreibens fih aneignen. Der menſchliche Genius
bringt e8, wenn er einmal auf diefe Bahn gelenkt wird, darin fehr weit.
William Cobbet, einer der gejündeften Menfcden, war fogar ein noch größe-
ter Improvifator als Walter Scott. Seine Schriften, aus Erzählungen,
Ucherfihten, ®rammatifen, Predigten, Rrformationdgefhichten, Abhand⸗
lungen über Kartoffeln und Papiergeld u. |. w. beftehent, erfcheinen uns in
Bezug auf Qualität und Quantität noch weit wunderbarer. Pierre Baple
frieb ungeheure Foliobände, man weiß nicht recht, aus welchem Beweg«
grunte. Er ſchwamm gleichſam in einer mächtigen Fluth von Sumpfiwaffer
und ſtarb fogar darin, während er die Feder noch feft in der Hand hielt.
Der räthielhaftefte und unerklärlichfte Schnellihreiber von allen aber
ift wahricheinlich der gewöhnliche Redacteur einer täglich ericheinenden Zeit⸗
ſchrift. Man betrachte feine Leitartikel, was fle behandeln, wie leidlich fie
geichrieben find. Stroh, weldes ſchon Hundert Mal ausgedrofchen worden,
ohne ein Körnchen Weizen zu geben, der ephemere Wiederhall eines Klangeß,
eine vorübergehende Erjcheinung von der Art, wie alle Menjchen ſie jchon
hundert Mal ich als leer und nichtöbedeutend haben erweiten ſehen — wie
ein Menſch mit 6108 menſchlichen Fähigkeiten fih allnähtlih mit neuer
Kraft und neuem Interefie über dieſes ausgedroſchene Stroh hermacht,
allnächtlich von Neuem ausdriicht, allnächtlich einen neuen Laͤrm —— er⸗ |
bebt und fo eine beträchtliche Meihe von Jahren drifcht und laͤrmt — dies iR |
eine Thatſache, die in der menfchlichen Phoflologie erſt noch zu erklären iß.
Der Menſch befigt doch ein merkwürdig zähes Leben!
Oder follen wir fagen, daß Scott unter den vielen Dingen, die er
ihrer Kriſis entgegenführte, auch diefe Schnellichreiberei fo weit trieb, daß
alle Menfchen recht wohl fehen Eonnten, was dahinter fledt? Dann iſt bie
Zeiftung eine ganz wertbvolle, die auch nicht ohne Reiultate it — Refultate,
vor deren einigen Scott als Torg-Politifer nit wenig zurüdgeichaubert
fein würde. Denn wenn dad Druden einmal fo geläufig und häufig wir
wie dad Sprechen, dann if die Demokratie (wenn wir auf die Wurzel
der Dinge ſchauen) nicht ein Bopanz und eine Wahrfcheinlichfeit, ſondern
eine Gewißheit und ein Ereigniß, welches ſchon -fo gut wie da ii! „Un
vermeidlich fcheint ed mir! *
Doch, abgeſehen hiervon, fcheint der Triumph des Schnellichreibens
mir ſchon jetzt ziemlich gewiß zu fein, denn überall fieht man, wie ber
Schnellſchreiber fih feltfam feiner Schnelligfelt rühmt. In einem furzlid
überfegten „Don Carlos,“ einer der ſchlechteſten Ueberjegungen, die jemals
mit einer Spur von Fähigkeit zu Stande gebracht worden, verfichert ein bis
jegt undefannted Individuum:
„Der Lefer wird ed möglicherweile ald eine Entſchuldigung gelten
laſſen, wenn ich ihm verfichere, daß das ganze Stüd in einem Zeitraume von
zehn Wochen fertig gemacht ward, dad heißt vom 6. Januar bis zum 18.
März dieſes Jahres — einſchließlich einer vierzgehntägigen Unterbrechung
wegen allzugroßer Anftrengung — daß ich oft in einem Tage zwanzig Seis
ten überfeßte, und daB der fünfte Act da8 Werk von fünf Tagen war. *
D bisher unbekanntes Individuum, was geht es mich an, in welder
Zeit du das Werk fertig gemadt haft, ob in fünf Tagen oder in fünfzig
Fahren? Die einzige Brage ift: Wie haft du e8 gemacht?
Aber dennoch, fo fteht die Sache, der Genius der ex tempore-Schrift⸗
ftellerei herrſcht unwiderruflich und rüdt gegen und vor, wie Oceanfluthen,
wie eine Sündfluth von Sumpfwaſſer. Diefe Ausficht fcheint allerdings
eine fehr beklagenswerthe. Soll denn wirklich alle Literatur durch Diele
223
wäflerigen Improvifationen hinweggeſchwemmt werden und eine geiftige Noah⸗
zeit eintreten? Das wäre in der That ein entießlicher Gedanke, aber tröfte
dich, lieber Leſer, es ift nicht die Literatur, was man hinwegichwenmt, fon-
bern blos das Bücherverlegen und Bicherverfaufen. Gab es nicht eine Lite⸗
ratur fhon vor der Buchdruderfunft oder Bauft von Mainz, und dennoch
fhrieben die Menjchen ex tempore? Ya, ehe noch die Buchſtaben erfunden
waren oder Kabmus von Theben lebte, und dennoch Sprachen die Menichen ex
tempore? Die Literatur ift der Gedanke denfender Seelen und diejer fann
nach Gottes Fügung in feiner Generation Hinweggefchwenmt werden, fon«
dern beibt bei und bis and Ende.
— — — — —
Scott's Thätigfeit, improviſirte Romane zu ſchreiben, um dafür Lands
güter zu Faufen, war nicht von der Art, daß fle freiwillig geendet hätte,
jondern mußte fi immer mehr und mehr beichleunigen, und man ficht nicht,
zu welchem Elugen Ziele fie ihn in irgend einem Balle hätte führen können.
Dadurh, daß ter Buchhändler Gonftable Bankerott machte, ward Scott
nit ruinirt ; fein Muin war vielmehr fener Ehrgeiz, nämlich jener faliche
Ehrgeiz, der fich feiner bemächtigt hatte und zwar in Verbindung mit feiner
unflugen Lebensweiſe. Wohin konnte dies führen? Wo Eonnte ed fichen
bleiben? Neue Landgüter gab e8 fortwährend zu faufen, fo lange neue Mo»
mane probucirt wurden, um ſie zu bezahlen. Mehr und mehr Erfolg ver=
lieh audy immer mehr und mehr Appetit, mehr und mehr Kühnpeit.
Natürlich mußte dieſes improvifirte Schreiben auch immer dünner und
dünner werden; ed artete immer fchneller und fehneller in die zweifelhafte
und endlich in die verwerfliche Kategorie aus. Schon gab «8 im Geheimen
überall eine beträchtliche Oppofltionspartei, Zeugen der Waverleywunder,
die aber nicht im Stande waren, fie zu glauben, fahen ſich gezwungen,
ſchweigend Tagegen zu protefliren. Bon einer folden Oppofltionspartei Tieß
fh mit Sicherheit annehmen, daß fle wachſen, und, weil die improviftrende
Feder immer matter ward, auch die übrige Welt auf ihre Seite zieben
würde. Die ftummen Proteftationen mußten endlih Worte finden, herbe
Wahrheiten, geflügt auf noch herbere Thatfachen, einer überfpannten und
eben dadurch dem Erfchlaffen um fo näher gerüdten Popularität mußten
endlich zu Tage kommen, fo wie fle jet ohne Zögern ausgeiprochen werben
224
fönnen, weil das Gerz des braven Mannes dadurch nicht mehr verlegt wer-
den fann.
Mer weiß, ob e8 nicht vielleicht beſſer war, daß e8 anters fam? Und
anders Fam es auf jeden Fall. Eines Tages ließ der Gonftable-Perk, wel
er feſt zu ſtehen ſchien, gleich anderen Gebirgen, plößlic, wie Die Eisberge
zu thun pflegen, ein lautes, weithinhallendes Krachen hören und zeriplitterte
mit einem Male in verfinfenden Eisſtaub. In einem einzigen Tage zerflois
fen Scott's hochgethürmte Geldhaufen in nichts, in einem Tage jah der
reihe Mann und Gutsherr fih verarmt und ald Schuldner unter Blän-
bigern. J
Es war eine ſchwere Prüfung. Er ging ihr muthig und ſtolz entgegen,
— mie ein muthiger ſtolzer Mann der Welt. Vielleicht haͤtte es noch einen
ſtolzeren Weg gegeben, nämlich wenn er offen eingeſtanden hätte, daß er
vollftändig banferott war, an irdiiher Habe ſowohl ald Ruhm, und dann
hätte er anderswo Zuflucht ſuchen müflen. Eine ſolche Zufludt war aud
in ter That vorhanden, aber e8 lag nicht in Scott's Natur, fie dort zu fu-
hen. Es lag nicht in ihm, zu fagen: Bis jegt bin ih auf irrigen Wegen
gewandelt und died mein jegt in Irüummern liegender Ruhm und Stolz war
eine leere Taäuſchung und ein bölliiher Zauberbann.
Er fagte vielmehr: Ih will mich wieder emporarbeiten und meinen
Stantpunft behaupten oder darüber fterben. Schweigend wie ein ftolger
ftarfer Mann machte er ſich an die Herfuled- Arbeit, Berge von Unrath hin-
wegzuräumen und mit dem, a8 er noch ſchreiben und verkaufen Eonnte,
große Löſegelder zu bezahlen. Und dies geſchah in feinen ſchon vorgerückten
Jahren, wo dad Unglück doppelt und dreifach unglücklich ift.
Scott griff jeine Herfuled« Arbeit an wie ein Mann und fuhr unermüs
det damit fort. Wit erbabener Heiterkeit, während feine Lebenskraft tod
immer ſchwächer ward, padte er fle und rang mit ihr jahrelang auf Tod und
Leben — und ſiehe da, die Arbeit erwies ſich al8 die flärfere und fein Leben
und Herz erloſch und brach darüber.
Ueber dieje Iegten Schriften Scott'8, feine Napoleons, Dämonoloyien,
ſchottiſche Geſchichten u. ſ. w. fpricht die Kritik Fein Wort des Tadels aus,
ſondern nur das einzige Wort: Wehe! wehe! Das edle Streitroß, welches
einſt das Schütteln des Speers verlachte, iſt jetzt verurtheilt, einen ſchweren
Karren zu ziehen und ſich zu Tode zu arbeiten! Scott's Niedergang war
wie der eines mattgewordenen Wurfgeſchoſſes — raſch und faſt ſenkrecht
herab; — vielleicht war es au fo für ihn felb am beſten. Es iſt eine
Tragödie, wie dad ganze Leben ift, ein abermaliger Beweis, daß das Glück
auf einer vaftlofen Kugel Rebt, und daß Ehrgeiz, Literariicher fowohl als
friegKicher, politifcher und pefuniärer, noch niemals einem Menſchen etwas
genügt bat.
Unfern legten Auszug entlehnen wir dem ſechſten Bande. 3 iſt ein
fehr tragiſcher — tragifch, aber dennoch ſchön, denn bie Dede des Ruins
wird durch eine noch ernflere Seimfuchung, die des Todes, gewiffermaßen
geheiligt! Scott hat fih in ein einfames Wohnhaus in Epinburg zurüdte
gezogen, um hier ſeine tägliche Arbeit zu leiſten und mußte ſein Weib in
Abbotsford in dem legten Stadium ihrer Krankheit zurücklaſſen. Er ging
ſchweigend fort und blickte ftumm auf das fchlafende Antlitz, welches er kaum
wiederzufeben hoffte. Wir citixen hier einige Stellen aus einem Tagebuch,
welches er in diefen Monaten zu führen angefangen, und durch weldyes diefer
ſechſte Band imtereffanter gemacht wird, als irgend einer der vorigen.
„Abbotsford, 11.Mai (1826). — ES zerfleifcht mir das Herz, wenn
id daran denke, daß ih faum hoffen kann, wieder Vertrauen bei dem Ohr
zu ſuchen, dem ich fo ficher Alles anvertrauen konnte. Was aber Hätte bei
ihrem gegenwärtigen letbargiichen Zuflante meine Anwefenheit weiter nügen
können? Uebrigens bat Unna mir ja verfprochen, mir fortwährend genaue
Nachricht zu geben. Ich muß heute bei James Ballantyne en famille ſpei⸗
fen. Ich kann nicht anders, obſchon ich lieber zu Haufe und allein wäre.
Indefien, ich darf tiefem Gefühle der Hoffnungsloftgfeit, weldyes ſich meiner
zu bemächtigen droht, nicht Raum geben.
„Edinburg, 12. Mai. — Ich habe bei 3. B. einen angenehmen Tag
verlebt, und darin eine große Erleichterung des Herzenskummers gefunden,
ber mich daheim gepeinigt haben würde. Gr war ganz allein.
„Alfo Hier bin ich nun in Arden und kann mit Touchſtone fagen: Als
ich zu Hauſe war, befand ich mich befler, wiewohl ich mich mit den Worten
Nicol Jarvie's tröften muß: „Man kann die Bequemlichfeiten der Heimath
nicht mit ſich herumtragen.“ Wäre nur mein Gemüth ruhig; der Körper
befindet fi, glaube ich, jo leidlich. Es wohnt nuur noch ein einziger Miether
im Haufe, ein Mr. Shandy, —. ein Geiftlicher, der trog feined Namens
ein jehr ruhiger Mann fein foll.
„14. Mai. — Guten Morgen, guten Morgen, liebe Sonne, die bu
fo ſchön und hell auf dieje düſtern Wände ſcheinſt! Mid dunft, als ob du
Carlyle. II. 15
an den Ufern des Tweed ebenſo heil ſchieneſt: aber fhaue, wohin du wii,
jo eh du Kummer und Leiden. — Hogg war geflern bier und zwar im
großer Bedrängniß, weil er früher einmal hundert Pfund von James Bal⸗
lantyne geliehen, die er nun wiederbezahlen muß. Ich bin außer Stante,
dem armen Manne zu helfen, denn ich muß felbft borgen.
„15. Mat. — So eben erhalte ich die traurige Nachricht, daß in Abe
botsford Alles vorüber iſt.
„Abbotsford, 16. Mai. — Sie flarb Vormittag neun Uhr, nachdem
fle zwei Tage lang jehr Eranf geweien — zulekt hatte fie ſich ſehr Teicht umd
frei gefühlt. Ic fam geftern Abend ſpät bier an. Anna ift fehr abgemat-
tet und bat Krämpfe gehabt, welche bei meiner Anfunft wieterfehrten. Ihr
Stammeln war wie dad eines Kindes, aber dabei ift fie immer ſanft und
unterwürfig. „Die arme Mama — kommt nie wieder — ift auf immer von
und geichieden — ihr tft nun wohl.” Als fie wieder zu fi kam, ſprach fie
mit viel Berftand und Gemüthörube, bis ihr Anfall wiederkehrte. Es würde
dies, wenn ich ein Bremder geweſen wäre, ſchon außerordentlich ergreifend
gewejen fein — was mußte ich erft ald Gatte und Vater fühlen! Ich weiß
faum, wie mir zu Muthe ifl. Zumeilen fühle ih mid ſtark wie ein Fels,
zuweilen fo ſchwach wie dad Wafler, welches fih an ihm bricht. Im
Denken und Entſcheiden bin ich noch fo rüflig und aufgewedt, wie id in
meinem 2eben jemald geweien. Und dann, wenn ich das, was dieſes Haus
früher war, mit dem vergleiche, was es jegt ift, fo iſt es mir, ald müßte
mir dad Herz brechen. Einfam, alt, meiner Samilie beraubt, bis auf Pie
arme Anna — ein verarmter, in Berlegenheiten fledenter Mann, beraubt
der Genoifin meiner Gedanken, die meine trübe Stimmung ſo oft zu ver=
ſcheuchen wußte! Selbft ihre Schwächen waren mir nützlich, denn fie be=
Ichäftigten meine Gedanfen und zogen ſte auf dieje Weife von Manchem ab,
was mich marterte und quälte.
„Sch babe fie geliehen. Die Geftalt, die ich ſah, ift und iſt nicht meine
Charlotte — meine dreißigjährige Lebensgefährtin. Es ift noch daſſelbe
Ebenmaß der Form, obſchon dieje @lieder flarr find, die einft fo anmuthig
elaftifch waren — aber diefe gelbe Maske mit eingefallenen Zügen, welche
des Lebens eher zu ſpotten, als ed nachzuahmen fcheinen, kann dies noch Daß
Gefläht fein, welches einft fo lebhaft und ausdrucksvoll war? Ih will fie
nicht wieder fehen. Anna meint, fle habe fi) wenig verändert, weil fie ſich
die legte Vorftellung von ihrer Mutter zu einer Stunde gemacht, wo fie mit
227
außerortentlichen Schmerzen zu fämpfen hatte. Die meine gebt bis auf eine
Zeit zurüd, wo fle fih noch verhältnigmäßig wohl befand. Wenn ih nod)
lange fo fortichreibe, fo fchreibe ih mich traurig, während ich Doch durch das
Schreiben cher Much und Faflung zu erringen glaubte.
„18. Mai. — Ein Gewand von Blei und Holz umgiebt fie ſchon;
bald wird fie der falten Erde überantwortet werden. Aber es ift nicht meine
Charlotte, es ift nicht Die Braut meiner Jugend, die Mutter meiner Kinder,
welche unter den Ruinen von Dryburgh, die wir jo oft in heiterer Stim-
mung befucdht, gebettet werden wird. Nein, nein!
„22. Mai. — Ich bebe vor Dem, was meine Pflicht ift, nicht fo leicht
deshalb zurüd, weil e8 ſchmerzlich iſt, aber ich wünſchte, daß dieſer Begräb»
nißtag vorüber wäre, Ich bin wie von einer Betäubung umfangen, als
ob Alles, was die Menichen zu thun und zu ſprechen fcheinen, nicht wirk⸗
li wäre.
„26. Mai. — Wenn ein Beind in mein Haus eindränge, würde ich
dann nicht, wenn meine Stimmung auch noch fo niedergefchlagen wäre, mein
Möglihftes thun, um ihn zu befämpfen? und foll eine ähnliche Niederge-
ſchlagenheit mic) an dem Gebrauche meiner Geiftesfräfte verhindern? Nein,
beim Himmel, das foll fle nicht.
„Edinburg, 30. Mai. — Geftern Abend mit Charles Hierher zurück⸗
gekehrt. Mit Heute Morgen beginne ich wieder wie gewöhnlih früh aufzus
fliehen, des Vormittags zu arbeiten und den Gerichtsverhandlungen beizu⸗
wohnen. — Ich habe die legten Correcturbogen für das Quarterly gelejen ;
der Artikel ift nicht beionders, aber die Umflände, unter denen er geichrieben
ward, waren auch jehr ungünftig. — Es war heute ein trauriger Tag —
ſehr traurig. Ich fürdte, der arme Charles ſah mich weinen. Ich weiß
nicht, was andere Leute fühlen, mid aber martert die Erampfhafte Empfin⸗
dung, welde mir Thränen auspreßt, mit furdhtbarer Heftigkeit — es ift
ein Gefühl, als wenn ich erfticden müßte, und dann folgt ein Bufland von
Betäubung, in welchem ich mid frage, ob meine arme Charlotte wirklich
todt fein kann.“
Dies ift nicht blos tragisch, fondern auch ſchön. Im dem noch rüd-
fländigen fiebenten Bande müſſen andere Scenen fommen, die feine Schön»
heit befißen, fondern blos tragifch fein werden. Es iſt daher beffer, wenn
wir bier enden.
Und fomit fällt der Vorhang und der ſtarke Walter Scott ift nicht
15*
mehr bei und. Ein Beftgthum von ihm bleibt zuräc, weit zerfireut, aber dech
erseihbar und nicht unbedeutend. Man kann von ihn fagen: Als er fchie,
nahm er dad Leben eines Mannes mit fi fort. Kein gefündereö Eremplar
brittfcher Manneskraft ward in diefem achtzehnten Jahrhundert der Zeit zuſam⸗
mengeſeht. Ach, fein jchönes ſchottiſches Geſicht mit feinem ehrlicgen, ſcharf⸗
finnigen und gutmütbigen Ausdrud, war, ald wir es bad Ichte Mal auf
den Straßen von Edinburg fahen, durchfurcht von Kummer und Sorgen
und alle Freude daraus entflohen! Wir werden es niemals vergeflen, wir |
werden es niemald wieberfehen. Leb' wohl, Sir Walter, Stolz aller Schot⸗
ten, empfange unfern ftolzen und wehmüthigen Abſchiedsgruß!
Meber Geſchichte.
Erſter Artikel,
(1830.)
Klio war bei den Alten die Altefte Tochter der Erinnerung und die
erfte der Mufen, welche Würde, mögen wir nun die wefentlihen Eigenſchaf⸗
ten ihrer Kunſt oder ihre Hebung und Aufnahme unter den Menfchen be=
trachten, ihr noch jegt mit vollem Mechte zuzufommen fcheint.
Die Geſchichte ift eben fo wie die Wurzel aller Wiffenihaft auch das
erfle beftimmte Produkt der geiftigen Natur des RMenſchen, fein frühefter
Ausdrud Defien, was man Denken nennen fann. Sie iſt ſowohl ein Vor⸗
als ein Rückblick, wie denn In der That die Zukunft ſchon ungeſehen, aber
deutlich geftaltet, vorherbeftimmt und unvermeidlich in der Gegenwart Tauert
und nur durd die Zufammenflellung beider die Bedeutung einer jeden ver⸗
vollftländigt wird.
Die jpbilliniihen Bücher find, obſchon alt, doch nicht die älteften.
Manche Nationen haben Prophezeihungen, manche dagegen nicht, aber unter
der ganzen Menſchheit giebt ed feinen Stamm, der fo roh wäre, daß er nicht
Beichichte verfucht batte, obſchon mehrere in der Arithmetif noch nicht ein⸗
mal fo weit gefommen find, daß fle bis fünf zählen fünnen. Die Geſchichte
ift nicht blos mit Griffel und Federn, fontern auch mit Wampumfchnuren,
noch öfter aber mit Erdhügeln und Steinhaufen geichrieben worden, denn
der Gelte und Kopte, der rothe Dann fo gut wie der weiße, lebt zwifchen
zwei Gwigfeiten, fämpft gegen die Vergefienheit und möchte fih gern mit
der ganzen Zufunft und der ganzen Bergangenpeit in ein flared, bewußtes
Verhaͤltniß jegen, während er durch ein unflared und unbewußtes ſchon da=
mit verfnupft if.
230
Man kann fagen, dab und ein Talent für die Geſchichte als unfer
bauptjächliches Erbtheil angeboren it. In einem gewiflen Sinne find alle
Menſchen Hiftorifer. IM nicht jedes Gedaͤchtniß ganz vollgeichrieben wit
Annalen, in weldyen Freude und Trauer, Gewinn und Berluft auf mannig-
fache Weite abwechieln und mit oder ohne Philofophie die ganzen Schidfale
eines einzigen Fleinen innern Königreichs, und all feine Politik, auswärtige
fowoh! als innere, unauslöfchlich verzeichnet ſtehen?
Sogar unfere Rede ift merfwürbigerweiie hiſtoriſch. Die meifen
Menſchen reden, wie man bemerken wird, blos um zu erzählen. Sie theilen
nicht mit, was fle gedacht haben, was allerdings oft auch fehr wenig wäre,
fondern fle tragen vor, was fle erfahren und gefehen haben, was allerdings
ein ganz unermeßliches Feld if. Man ſchneide die Erzählung ab und wie
würde dann der Strom der Sonverfation felbft unter den Flügften Leuten
ſich in vereinzelte winzige Waflerflächen verwandeln und unter den Thörid«
ten und Befchränkten gänzlich verdunften !
Auf diefe Weife und eben fo wie wir nichts thun, als Geſchichte auf
führen, fpreden wir auch wenig außer dem, was wir wiedererzäblen ; ja in
biefem weiteflen Sinne fönnen wir jagen, daß unfer ganzes geiſtiges Leben
darauf gebaut if. Denn was ift, fireng erwogen, wohl alle Kenntniß weiter,
als aufgezeichnete Erfahrung und ein Produkt ver Geſchichte, von welder
daber Folgerung und Glaube, ebenjo wie thätiger und leidender Zufland,
wejentliche Beftandtpeile find?
In befhränfter und der einzig ausführbarın Form hat die eigentliche
Geſchichte, namlich der Theil der Befchichte, welcher von merkwürdigen Bor
fällen handelt, in allen modernen ſowohl als alten Zeiten zu den höchſten
Künften gehört und vielleicht niemals höher geflanden als in diefen unieren
gegenwärtigen Zeiten. Denn während früher der Heiz der Geichichte haupts
fachlich in der Befriedigung unjerer gemeinen Sucht nad dem Wunder⸗
baren, nad dem Unbefannten lag, und ihr Amt gleidhjam nur das eines
Minnefängerd und Erzählers war, ift fie nun auch eine Schulmeifterin ger
worden und will nicht blos ergögen, fondern auch belehren.
Ob fie mit diefem ehrwürdigen Charakter nicht auch zugleich etwas
Starred und Ralted angenommen bat, ob in ter logtihen Trodenheit eine
Hume oder Robertion die anmutbige Leichtigkeit und beitere maleriiche Hery⸗
lichfeit eined Herotot oder Froiffart nicht jehmerzlid vermißt werden, Died
ift eine Frage, die und hier nicht weiter befchäftigen fann. Genug, daß
231
alle Iernende, alle forfchende Beifter jeder Art ſich um ihren Seffel verſam⸗
meln und ehrerbietig über ihre Lehren als die aͤchte Baſis der Weisheit
nachdenken. Poefle, Theologie, Politik, Naturkunde haben alle ihre An
bänger und Gegner, und jede Eleine Gilde führt einen Defenſtv⸗ und Offenfiv⸗
Kampf für ihr eigenes fyezielles Gebiet, während das Gebiet der Ge⸗
schichte gleichſam ein Freihafen iſt, wo alle diefe Kriegführenden friedlich
ſich begegnen und fich verforgen, und Gefühldmenfchen wie Utilitarier,
Sfeptifer und Theologen rufen und wie mit einer Stimme den Math zu:
Prüfer die Gefchichte, denn fle ift die Durch Erfahrung lehrende Philofophie!
Bern fei e8 von unß, eine ſolche Lehre gering anjchlagen zu wollen, da
ſchon der Verſuch einen hoben Werth Haben muß. Ebenſo wollen wir auch
nicht allzuftreng fragen, wieviel fle bis jegt genügt bat; ob der größte Theil
Der geringen praftiichen Weisheit, welche die Menſchen beflgen, aus dem
Studium ter Geſchichte oder aus anderen weniger gerühmten Quellen her⸗
vorgegangen ift; wodurd, wie die Dinge jet fliehen, ein Marlborougb in
dem Treiben der Welt groß werden Tann, ohne von der Geſchichte eine an«
dere Kenntniß zu befigen, als bie, welde er aus Shakſpeare 8 Dramen
ſchöpft? Ja, ob bei diefem Lehren durch die Erfahrung die hiſtoriſche Phi⸗
loſophie das erſte Element aller Wiſſenſchaft in dieſer Art auch richtig ent⸗
ziffert bat? Was wohl das Biel und die Bedeutung jenes wunderbaren
seränderlichen Lebens, welches fie erforfcht und malt, fein mag? Wo bie
Bahn des menſchlichen Schickſals auf: diefer Erde ihren Urfprung hat, und
wohin file endlich führt? Oder aber, wenn ed wirklich eine Bahn und Ten»
den; bat, ob es dann in der That von einer unfichtbaren gebeimnißvollen
Weisheit geleitet wird, oder blo8 in blinden Irrgängen ohne eine erkenn⸗
bare Führung durcheinander kreiſt?
Dieje dur und durch fundamentalen Bragen find, wie es ſcheint, in
irgend einer Philoſophie der Geichichte feit der Uera, wo mönchiſche Ge⸗
ſchichtsſchreiber gewohnt waren, fie durch das ſchon längft erloichene Licht
ihres Miffald und Brevierd zu beantworten, von den meiſten Geſchichts⸗
philofophen nur zweifelhaft und von weitem, von mandıen aber gar nicht
berührt worden.
Der Grund Hiervon ift, daß zwei Schwierigfeiten, die aber niemals
ganz unüberwindlih find, im Wege liegen. Ehe die Philoſophie durch Er⸗
fabrung lehren kann, muß die PhHilofophie erſt bereit und die Erfahrung
gejammelt und auf verfländliche Weife aufgezeichnet fein. Sehen wir nun
232
von der erftern Rückſicht ab und faffen wir blos die letztere ins Auge, ſo
fragen wir emen Ieden, welder den Bang der menſchlichen Dinge unter
fucht Hat, und weiß, wie verwidelt und unentwirrbar ſelbſt wit unferen
eigenen Augen gelben, ihre tauſendfach ſich verſchmelzenden Bewegungen
find, 05 die treue Darſtellung eine leichte oder unmögltche ifl.
Das foctale Leben if das Aggregat aller einzelnen Menichenleben,
welche die Geſellſchaft ausmachen ; die Geſchichte ift die Quinteſſenz unzdh
liger Biographien. Wenn aber eine einzige Biographie, ja unfere eigene
Lebensgeſchichte, wir mögen ſte fludiren und recapituliren wie wir wollen,
uns in fo vielen Punkten unverftändlich Bleibt, wie viel mehr muß es mit
dieſen Millionen der Fall fein, von denen wir nicht einmal alle Thatſachen
kennen, geichweige denn daB innere Weſen derſelben!
Ebenfo wird es uns nicht viel helfen, wenn wir behaupten wollen, daß
der allgemeine innere Zufland des Lebens in allen Jahrhunderten derfelbe
fei und daß blos die merfwärdigen Abweichungen von der gewöhnlichen Be⸗ |
gabung und dem gewöhnlichen Loos, fo wie die widhtigeren Variationen,
welche die Außere Geftalt des Lebens von Beit zu Zeit erfahren hat, Erin
nerung und Aufzeichnung verdienen.
Es laͤßt fi aber weit eher behaupten, daß der innere Zufland des Le⸗
Send, daB bewußte oder halbbewußte Ziel der Menfchheit, ſoweit die Men⸗
Then nicht bloße Verdauungsmafchinen find, fe nach den verfchiedenen Zeit⸗
altern auch ſtets verfchieden tft. Ebenſo find audy die wichtigeren äußeren
Beränderungen nicht fo leicht zu erkennen oder ſtets einer Darftellung gut
faͤhig. Wer mar wohl der größte Neuerer, welcher Menſch war für die Ger
ſchichte des Menſchen wohl wichtiger, der, welder zuerft Armeen über die Alpen
führte und die Siege bei Cannä und Thraſymenes erfocht, oder der unbe
Tannte Bauer, der fidh zuerft einen eilernen Spaten hämmerte ?
Wenn der Eichbaum gefällt wird, fo hallt der ganze Wald davon wir-
der, aber hundert Eicheln werden ſchweigend durch einen unbeadhteten Luft⸗
hauch gepflanzt. Schlachten und Kriegsereigniffe, welche für den Augenblid
jedes Ohr betäußen und jedes Herz mit Breude oder Schreien erfüllen,
gehen vorüber wie Wirchöhausprügeleien und werden mit Ausnabme einiger
weniger Marathond und Morgartens, nur zufällig, nicht um ihrer Verdienſte
willen, ermähnt.
Selbſt Geſetze, politiiche Eonftttutionen find nicht unfer Leben, fondern
6108 das Haus, worin unfer Leben geführt wird, fa fle find nur bie nackten
233
Bände des Haufes und defien ſaͤmmtliches weſentliches Beräth, die Erfindungen
and Traditionen und die täglichen Gewohnheiten, welche unjere Eriftenz
regeln und ftügen, find das Werk nit von Dracos und Hampdens, fon-
bern von phönizifchen Seeleuten,, italteniihen Baurern und jächftichen Be
tallurgen, von Bhilofophen, Aldhymiften, Propheten und dem ganzen längſt⸗
vergefienen Befolge von Künftlern und Handwerkern, welche vereint und von
Anfang an gelehrt haben, wie wir denfen und wie wir handeln und wie wir
über die geiftige und über die phyſiſche Natur herrſchen follen.
Wohl fünuen wir jagen, daß von unferer Geſchichte der wichtigere
Theil unwiderbringlidh verloren gegangen iſt und eben fo wie früher Dante
gebete „für unerfannte Wohlthaten * gefeiert wurden, fo fchaue man auch
mit Ehrfurdt in die finfteren leeren Stellen der Vergangenheit, wo geftalt«
los und vergefien unſere größten Wohlthäter mit all’ ihren fleißigen Be⸗
mühungen, aber nicht mit der Frucht derfelben, begraben liegen.
So unvollfommen ift diefe Erfahrung, durch welche die Philoſophie
lehren ſoll. Ia, if fogar mit Rückſicht auf jene Vorfälle, welche wirklid
aufgezeichnet find, die bei ihrem Entſtehen des Aufzeichuens werth fchienen,
und deren gelammter Inhalt Das ausmacht, was wir jetzt Geſchichte nennen,
nit unfer Verſtaäͤndniß derjelben ganz und gar unvollftändig, und iſt es
auch nur möglich, fie jo darzuftellen, wie fie wirklich waren?
Die alte Geihichte von Sir Walter Raleigh, der aus dem Benfler
feines Gefängniffes einem Straßentumult zufah, den fpäter drei Beugen auf
dreierlei verjchiedene Weile berichteten, während Sir Walter felbft wiederum
von ihnen allen abwich, ift immer noch eine wichtige Lehre für und.
Man erwäge doch, auf weldhe Weile Hiftorifche Documente und Bes
richte entftchen, jelbft ehrliche Berichte, wo die Berichterftatter frei von allen
beriönlichen Rüdfichten waren — ein Fall, der zu den allerfeltenften gehört.
Die wirkfichen leitenden Grundzüge eines biftorifhen Vorgangs, jene Bes
megungen, welche ihn weientlidy darafterifiren und allein Aufzeichnung ver«
bienen, find dennoch nicht die erften, welche man niederſchreibt. Anfangs
zeigt ſich unter den verichiedenen Zeugen, die gewöhnlich auch intereffirte
Berionen find, blos vage Neugier, Verwunderung, Furcht oder Hoffnung
und dad Geſumm des tauiendzüngigen Gerüchts, bis nad) einiger Beit der
Kiderfireit der einzelnen Audjagen zum Austrag fommt und dann mit
Etimmenmehrhbeit geſchloſſen wird, daß dieſes oder jenes, Ueberſchreiten des
Nubitons“, eine, Anklage Straffords *, eine, Einberufung der Notabeln“,
234
Epochen in der Weltgefgichte und die Angelpuntte der großen Weltrevolu⸗
tion geweien find.
Geſetzt aber, die Mehrzahl ver Stimmen hätte durchaus Unrecht ge
babt, Die eigentlichen Cardinalvunkte hätten viel tiefer gelegen und wärek
unbeachtet vorübergegangen, weil fein Seher, fondern bloße Baffer babei
zugegen waren! Unſere Uhr fchlägt beim Stundenwechſel, aber in ter
großen Zeitenuhr dröhnt fein Hammerſchlag durch das Weltall, wenn ein
Zeitalter mit dem andern wechſelt. Die Menichen nerfieben nicht, was unter
ihren Händen ift, und ebenfo wie Ruhe das Kennzeichen der Kraft iſt, te
Fönnen auch die wichtigſten Grundurſachen die ſtummſten fein.
Das, was wir daher jemals zu fehen hoffen Fönnen, ift auf keinen Ball
der eigentliche wirfliche biftorifche Vorgang, fondern bloß eine mehr ober
weniger plaufible Theorie dieſes Vorgangs, oder dad fo viel als möglich in
Einklang gebrachte Ergebniß vieler foldyer Theorien, die eine von der andern
und alle wiederum von der Wahrheit abweichen.
Sa, wäre unfere Faͤhigkeit der Einfidht in vorübergehende Dinge noch
fo vollfländig, fo eriftirt dann immer noch ein ſehr mißlicher Unterichied
zwifchen unferer Art und Weiſe, dDiefe Dinge zu beobachten, und der Art
und Weije, wie tiefe Dinge gefhehen. Der begabtefte Mann Tann nur
die Reihenfolge feiner eigenen Eindrüde beobachten und aufzeichnen;
feine Beobachtung muß daher, abgefehen von ihren andern Unvollkommen⸗
beiten, eine ſucceſſive fein, während die Ereigniffe oft gleichzeitig
waren; die Vorgänge bildeten nit eine Reihenfolge, fondern eine
Gruppe. Es iſt in der wirklichen, handelnden Geſchichte keineswegs fo
wie in der geichriebenen. Wirkliche Ereigniffe ftehen feineswegs in einer
fo einfachen Berwandtichaft zu einander, wie Mutter und Kind; jedes ein⸗
zelne Ereigniß iſt die Bruce nicht eines, fondern aller anderen früheren
oder gleichzeitigen Ereigniſſe und verbindet ſich feinerjeits mit allen anderen,
um wiederum neue zu erzeugen — ed ift ein ewig lebendes, ewig arbeitendes
Chaos von Sein, worin eine Geftalt nach der andern fih aus unzähligen
Elementen verkörpert.
Und dieſes Chaos, grenzenlos wie die Wohnung und Dauer des Men-
fchen, unergründlich wie die Scele und das Schidial des Menſchen, ift Das,
wad der Hiftoriker fhildern und mit einem Senkblei von wenigen Ellen
Länge wiſſenſchaftlich ausmeſſen will! Denn fo wie alle Handlung ihrer
Natur nah Breite, Tiefe und Länge bat, das heißt, fih auf Geheimnif
235
gründet, wenn wir ihrem Urfprunge nachgeben, ſich umgeflaltend und um⸗
gefaltet, nach allen Seiten hin außbreitet und ihrer Vollendung entgegen-
geht, fo Hat Dagegen jede Erzählung ihrer Natur nach Hlo8 eine Dimenflon,
indem fie blos nad einem oder mehreren aufeinander folgenden Punkten
fortfchreitet — mit einem Worte, das Erzählen if eine Linie, das Han-
dein eine Maſſe.
Wie unzulänglic find daher unfere „Ketten von Urfahen und Wir⸗
tungen *, Die wir jo emflg durch eine Kleine Anzahl von Jahren und Qua⸗
dratmeilen verfolgen, während doc das Ganze eine breite, tiefe Linermeß-
lichkeit und jedes Atom mit allen übrigen verfettet und verfchmolzen tft!
In der That, wenn die Geſchichte die durch Erfahrung lehrende Philo⸗
fophie ift, fo iſt der Schriftfteller, welcher im Stande wäre, eine Gefchichte
zu ſchreiben, bis jeßt no ein unbekannter Menſch. Die Erfahrung an
und fur Ach würde Allwiffenheit bedürfen, um fle niederzufchreiben , felbft
wenn die zur Auslegung nöthige Allweisheit umfonft zu haben wäre.
Beſſer wäre e8, wenn 6108 irdiſche Hiftoriker ſolche Anſprüche, die mehr für
die Allwifienbeit als für menſchliches Willen fi eignen, herabſtimmten,
bloß nach einem Bilde der gefchehenen Dinge, welches Bild im beften Falle
auch nur eine armielige Annäherung fein wird, tradhteten, und in dem uns
ergründlichen inneren Wejen der Dinge ein nicht binwegzuleugnendes Ge⸗
beimniß fähen ; oder wenn ſie höchſtens in ehrerbietigem Glauben, ber weit
verſchieden ift von ber Lehre jener Philofopbie, die geheimnißvollen Spuren
Deflen betrachteten, deflen Pfad in der unergründlichen Tiefe der Zeiten
liegt, den die Geſchichte allerdings offenbart, aber den nur die ganze Ge⸗
ſchichte und erft in der Ewigkeit deutlich offenbaren wird.
Solche Erwägungen würden freilih von geringem Nugen fein, wenn
fe, anflatt uns Wachſamkeit und ehrerbietige Demuth bei unferen Forſchun⸗
gen in der Gefchichte zu lehren, unfere Achtung vor denfelben verminderten
oder und Den Muth zu unermüdlicher Berfolgung derfelben raubten. Wir
wollen vielmehr immer tiefer in die Vergangenheit eindringen und mögen
alle Menichen fie als die Achte Duelle der Erkenntniß zu ergründen fuchen,
denn uur bet ihrem Licht, mag man es bewußt oder unbewußt anwenden,
kann die Gegenwart und die Zufunft gedeutet werden. Ihre ganze Bes
deutung Itegt allerdings weit außerhalb des Bereichs unferes Wiſſens, aber
doch können in diefem mit formlofen, unentwirrbaren, unbekannten Charak⸗
teren bedeckten, verwidelten Manufeript — ja, welches ein Balimpfer ift
und einfl eime prombetifge, noch jept umtewtlih lesbare Schrift enthielt
— einige Buchſtaben, einige Worte entziffert und — wenn auch feine well-
fländige Philofophie — doch bier und da eine verflänplidhe, in der Braris
nusbare Regel daraus abgenommen werden, wobei jedoch wohl zu bedenken
iR, Daß es nur ein Kleiner Theil iR, den wir entziffert haben, daß noch viel
zu deuten bleibt, daß die Geſchichte ein wirkliches, prophetiſches Manufcript
if und von keinem Menſchen vellftändig gedeutet werden fann.
Aber der Künftler in der Geſchichte iſt wohl zu unterfcheiden von dem
Sandwerfer in der Geſchichte, denn Hier, wie in allen andern Bäcern, giebt
es KRünftler und Handwerker, Menſchen, welche mechaniſch in irgend einem
Badge arbeiten, ohne Blick für das Ganze, tie nicht fühlen, daß es ein
Ganzes giebt, und Menſchen, welche daS beſcheidenſte Fach durch die Idee
von dem Ganzen ausbilden und veredeln, und wohl wiflen, daß das Theil«
weile nur in dem Ganzen richtig zu erfennen if.
Die Berfahrungsweiie, die Pflichten diefer beiden Kategorien in Bes
zug auf die Befchichte, müflen nothwendig ganz verichiedeu fein. Damit
ſoll nicht etwa gefagt fein, daß nicht Ieder auf dem ihm eigenthümlichen
Standpunkt einen wirklihen Werth babe. Der fchlichte Adersmann kann
fein Feld pflügen und nach der Kenntniß, die er von deilen Boden erlangt
bat, es mit der geeigneten Getreideart befüen, obſchon die tiefen Felſen und
Gentralfeuer ihm unbefannt find. Seine fleine Ernte hängt unter und über
dem Firmament der Sterne, und fegelt durch unerforfchte himmliſche Räume,
aber trotzdem reift fle für ihn in der gehörigen Zeit und er fammelt fle wohl
behalten in feine Scheuer.
ALS Ackersmann kann ihn fein Vorwurf treffen, wenn er jene höberen
Wunder nicht beachtet. Wollte er dagegen für einen Denker und redlichen
Erforicher der Natur gelten, fo wäre es damit etwas anderes.
Ebenio ift es auch mit dem Hiſtoriker, welcher irgend eine ſpezielle
Phaſe der Geſchichte ind Auge faßt und aus dieſer oder jener Combination
von politifhen, moralifchen und öfonomifchen Unftänden, fowie aus ben
Ergebniften, zu welden dieſe Sombination geführt hat, Ichließt, daß die und
die Eigenichaften der menſchlichen Geſellſchaft angehören, und daß “unlide
Umſtände auch zu einem ähnlichen Ergebniß führen werden, welder Schluß,
wenn er durch andere Erprobungen beftätigt wird, für wahr und praktiſch
werthvoll gehalten werden muß. Dagegen iſt der Geſchichtsforſcher in Irr⸗
thum befangen und wandelt auf Abwegen, wenn er glaubt, daß dieſe ent⸗
231
beiten ober entdeckbaren Gigenfchaften die Sache erſchöpfen, und wenn er
wicht bei jedem Schritte flieht, daß fie unegi@röpflidh iR.
Diefe Klafle ven Urſache- und Wirkungs⸗Mannern, für welche fein
Wunder lange wunderbar blieb, fondern bie alle Dinge im Himmel und auf
Erden zu berechnen und „erflären" fuchten, und ſelbſt dem Linbelannten,
dem Unendlichen tm Menfchenleben unter den Worten Entbufiasmus,
Aberglaube, Zeitgeift u. f.w. gleichſam ein algebraifches Symbol und
einen gegebenen Werth verliehen, — haben jegt in der enropälfhen Kultur
ihre Rolle fo ziemlich ausgespielt und find in den meiften Ländern, felbft in
England, we fie ſich noch am Tängften halten, ihrem Erlöfchen nahe. Der,
welcher dad unergründliche Bud, der Natur lieft, als ob es die Strazze eines
Kaufmannd wäre, ſetzt fich mit Recht dem Verdacht aus, daß er dieſes Bud
niemals geiehen, fonvdern blos eine abgefürzte Schulausgabe deſſelben, auß
welder, wenn man fle für das wirkliche Buch hält, mehr Irrthum als Ein-
fiht zu Ichöpfen if.
Ohne Zweifel Tiegt in dem wachſenden Gefühl der Unendlichkeit der
Geſchichte aud der Grund, weshalb in den gegenwärtigen Beiten das alte
Prinzip, Iheilung ter Arbeit, in fo weitem Umfange darauf angewendet
worden if. Der politifche Hiftorifer,, der früher dad Feld der Gefchichte
faſt ganz allein bebaute, hat fett verſchiedene Genoflen gefunden, welche fih
bemühen, andere Phaſen des meniclichen Lebens aufzuhellen, von weldem,
wie fchon oben angedeutet, die politifchen Zuflände, in welden ed ſich bes
wegt, nur eine, und obſchon die primäre, doc vielleicht nicht die michtigfte
feiner vielen äußeren Ericheinungen find.
Aber auch von diefem SHiftorifer felbft, in feinem eigenen fpeziellen
Bade, fängt man jetzt an, neue und höhere Dinge zu erwarten. Bon Alters
ber hat man es zu oft mit Mißfallen an ihm bemerkt, daß er mit unver-
hältnigmäßtger Vorliebe in Senatöhäufern, auf Schlachtfeldern, ja fogar in
den Borzimmern der Könige verweilte, wobei er ganz vergaß, daß in weiter
Ferne von ſolchen Scenen die gewaltige Fluth des Denkens und Handelns
bald dunfel, bald hell ihren wunderbaren Lauf verfolgte, und daß in ihren
taufend abgelegenen Thaͤlern eine ganze Welt des Dafeins mit oter ohne
eine irdifche Sonne des Glückes, die ed erwärmte, mit oder ohne eine himm⸗
liſche Sonne der Frömmigkeit, die es erläuterte und beiligte, im Blühen
und Berwelfen begriffen war, mochte nun der berühmte Sieg gewonnen
oder verloren werden.
238
Die Zeit ſcheint zu fommen, wo Bieles von diefem befjer werben muß,
und Der, welcher feine Welt weiter fieht, als die der Höfe und Feldlager,
und 6lo8 ſchreibt, wie Soldaten exercirt und erfchoflen wurden und wie die⸗
fer minifterielle Herenmeifter jenen andern aud dem Wege herte und dann
etwas führte oder wenigſtens hielt, was er das Ruder der Regierung nannte,
was aber vielmehr der Faßhahn der Beſteuerung war — wird für einen
mebr oder weniger lehrreichen Zeitungßichreiber gelten, aber man wird ihn
feinen Hiftorifer mehr nennen.
Indefien kann der politiſche Hiftorifer, felbft wenn er fein Werk mit
aller nur erdenklichen Vollkommenheit ausführte, doch nur einen Theil zu
Stande bringen und läßt immer noch Raum für zahlreiche Mitarbeiter.
Der erfle unter dieſen iſt der Kirchenbiftorifer, welcher fih bemüht,
den geſchichtlichen Entwidelungsgang der Kirche zu verfolgen, naͤmlich des
Theils der joctalen Einrichtungen, welcher unjeren veligiöfen Zuftand an=
gebt, ebenſo wie der andere Theil unferen bürgerlichen, oder vielmehr, wenn
ed um und um fommt, unieren öfonomiichen Zuftand betrifft.
Richtig behandelt wäre dieſes Fach unzweifelhaft dad wichtigere von
den beiden, da und weit mehr daran liegt, zu wiflen, wie dad moraliide
Wohlbefinden des Menfchen befördert worden und befördert werden fünnte,
als auf gleiche Weife fein phyſtſches Wohlfein zu begreifen, welches letztere
der Endzwed aller politiichen Einrichtungen if. Denn ver phyſiſch Glück⸗
Lichfte ift einfach der Sichere und Stärffte, nnd unter allen Regierungs⸗
bedingungen die Macht — ob nun des Reichthums, wie in unjerer Zeit,
oder der Waffen und Anhänger, wie im Alterthum — bad einzige äußere
Emblem und Kaufgeld ded Guten.
Das wahre Gute aber wird, wenn wir niht Bergnügen für
gleichbedeutend damit halten, auf dem Markte, wo jene Münze gilt, nur
felten, oder vielmehr niemald, zum Verkauf audgeboten. Yür den wahren
Bortheil des Menfchen iſt daher nicht der äußere Zuftand jeines Lebens, ſon⸗
bern der innere und geiflige von einflußreichfler Bedeutung, nicht die es
gierungdform, unter der er lebt, und dad Anſehen, welches er hier erlangen
kann, fondern die Kirche, deren Mitglied er ift, und der Grad moraliſcher
Veredlung, den er vermittelft ihrer Belehrung erlangen Tann,
Die Kirchengeichichte würde daher, wenn fte weife fpräche, und wichtige
Geheimniffe zu Iehren haben, ja fie wäre in ihrer höchſten Potenz eine Art
fortgefegter Heiliger Schrift, da unfere Bibel in der That nur eine Beichichte
l
239
der uranfänglicden Kirche ift, wie fle zuerſt in der Seele des Menichen er⸗
wachte und fich ſymboliſch in feinem äußern Leben verkörperte.
Wie weit unfere gegenwärtigen Kirchenhiſtoriker Hinter diefem uners
reihbaren Ziele zurückbleiben, ja wie fie ſich demſelben nicht einmal bis auf
einen ſehr wohl erreichbaren Bunft nähern, das brauchen wir bier nicht aus⸗
zuführen. Ueber ben Kirchenhiftorifer haben wir diefelbe Klage zu führen,
wie über feinen politiihen Mithandwerker, nämlich daß feine Forſchungen
ſich mehr um den äußeren Mechanismus und die oberflächlichen Ereigniffe
des Begenflandes drehen, ald um ten Gegenftand ſelbſt; als ob die Kirche
in Kapitelhäufern der Bifchöfe, in öfumentfchen Synoden und in den Con⸗
claves der Cardinaͤle läge und nicht weit mehr in den Herzen gläubiger
Menſchen, in deren dadurch beſtimmten Handlungsweiſe und Worten ihre
hauptſächlichen Manifeflationen zu fuchen und thr Fortſchritt oder Verfall
zu erfennen waren. Die Geſchichte der Kirche ift eine Gefchichte der unſicht⸗
baren Kirche ſowohl als der fihtbaren, welche Iegtere, wenn fle von der er-
flern getrennt wird, nur ein leeres Gebäude ift, vielleicht vergoldet und mit
alten Botingeichenfen behangen, aber doch nuglos, ja peftilenzialifch unrein
und deren Gefchichte zu jchreiben weniger wichtig ift, ald ihren Sturz zu des
fördern.
Von weniger ehrgeizigem Charakter find die Geichichten, welche ſich
auf befondere getrennte Bücher der menjchlichen Thätigkeit beziehen, auf
Wiſſenſchaften, praftiiche Künfte, Inftitutionen u. dergl. — Gegenflände,
in welchen nicht fomohl die Quinteſſenz von dem ganzen Intereffe und der
Form des Menfchenlebens liegt, jondern worin, obſchon ein Jeder mit allen
Uebrigen im Zuſammenhange fteht, der Geift eines Jeden wenigftend in feis
nen materiellen Mefultaten, in gewiſſem Grade ohne zu ſtrenge Beziehung
auf ten der Andern, entwidelt werden kann.
Am höchſten der Würde und der Schwierigfeit nad) flünden in biefer
Beziehung unfere Geſchichten der Philoſophie, der menſchlichen Meinungen
und Theorien in Bezug auf die Natur feines Weſens und ſeiner Stellung
zur ſichtbaren und unſichtbaren Welt, welche Geſchichte freilich, wenn fle an⸗
gemefjen behandelt würde oder fi zur angemeflenen Behandlung eignete,
eine Abtheilung der Kirchengefchichte fein würde, nämlich die logiſche oder
dogmatifche Abtheilung derfelben, denn die Philofophie ift in ihrer wahren
Bedeutung die Seele oder follte Die Seele fein, von welcher Religion, An⸗
betung. der Körper ift und in dem gefunden Zuflande der Dinge wären
Philoſoph und Prieſter eins und daffelbe.
Die Philofophie an und für ſich iſt aber weit entfernt, diefen Gharafter
zu tragen, auch find ihre Hiftoriker, im Allgemeinen geſprochen, nicht Leute
geweien, die nur im geringften Grabe fte diefem Ideal hätten näher bringen
fönnen. Kaum bat feit der rauhen Aera ter Magier und Druiden biefe
gefunde Verſchmelzung von Priefter und Philofoph in irgend einem Lande
Rattgefunden, vielmehr ift die Anbetung göttlicher Dinge und Die wiflen
ſchaftliche Erforſchung göttliher Dinge in ganz verſchiedenen Händen ger
weien, deren Beziehungen nicht freundlid, ſondern feindfelig waren. ben
fo find die Bruders und Buhles, der vielen unglüdlichen Enflelds, welde
diefeß legtere Bach behandelt haben, zu geihweigen, nichts weiter gewefen,
als kahle, trodene Berichterftatter, ja oft unverfländige und unverftändlice
Berichterftatter der ausgefprochenen Theorie, ohne Kraft zu entdedfen, worin
die Theorie ihren Urjprung batte oder in welcher Beziehung fle zu ihrer
Zeit und ihrem Lande und zu ber dortigen und damaligen geiftigen Stel
lung der Menfchheit land. Ya, eine ſolche Aufgabe lag ihnen vielleicht gar
nicht vor, weil fle nicht glaubten, daß ſo etwas aud nur verſucht werten
fönne.
Kunft und Literatur find ebenfalld aufs Imnigfte mit der Religion
verſchmolzen. Sie find gleichjam die Außenwerke und Etrebepfeiler, durch
welche dieſer höchſte Gipfel in unferer innern Welt fi allmälig mit der all-
gemeinen bene verbindet und von diefer aus zugänglich wird.
Der, welcher eine eigentliche Geſchichte der Poeſte ſchreiben follte, müßte |
und die auf einander. folgenden Offenbarungen ſchildern, weldye der Menſch
von dem Geifte der Natur empfangen, unter weldyen Erideinungen er einen
Schimmer jener unausſprechlichen Schönheit erhaſcht und zu verfürpern ge
ftrebt, welche in ihrer höchſten Klarheit, Religion, die Begeifterung eines
Bropheten ift und in höherem oder geringerem Grade jeden ächten Sänger
begeiftern muß, jelbft wenn fein Thema ein noch fo befcheidenes wäre. Wir
wärden fehen, auf welden Stufen die Menſchen zu dem Tempel binaufge
fliegen, wie nahe fie ihm gefommen wären oder durch welches Mißgeihid
ſie oft auf fo Tange Zeit fi davon abgewentet, zwecklos auf der Ebene vers
mweilt oder, mit Blindheit geichlagen, andere Höhen zu erflimmen verfudt
hätten.
Daß unter allen unjern Eihhorns und Wartond e8 keinen folden Hi⸗
241
' Rorifer giebt, dies muß einem Jeden Elat fein, aber dennod wollen wir nicht
daran verzweifeln, daß wir jener Höhe und noch um vieles nähern werben.
Bor allen Dingen wollen wir dad Ideale davon ſtets im Auge behalten, denn
; dadurch allein haben wir Ausficht an's Ziel zu gelangen.
Unfere Gefchichten der Sefege und Eonftitutionen, worin fo mancher
Montedquieu und Hallam mit Beifall gearbeitet, find von viel einfacherer
Art, aber doch tief genug, wenn fle gründlich erforfcht werben und, dafern
fie autbentifch find, auch bei geringer Tiefe nüglih. Dann haben wir noch
Geſchichten der Medizin, der Mathematik, der Aftronomie, des Handels, des
Ritterthums, des Möndsweiend, und Goguetd und Beckmanns find mit
einem Beitrag aufgetreten, welcher der eriprießlichfte von allen fein könnte,
namlich einer Geſchichte der Erfindungen.
Ueber dad Berdienft und den eigentlichen Plan aller dieſer Geſchichts⸗
gettungen "und vieler anderen bier nicht aufgezäblten und noch nicht erſonne⸗
nen und in Ausübung gebrachten bedarf es hier weiter Feiner Auseinander«
fegung.
Auf diefe Weile und obſchon, wie oben bemerkt, alle Thätigfeit eine
dreifache Ausdehnung bat und die Totalfumme der menichlichen Thätigkrit
ein ganzed Uiniverfum mit durchaus unbekannten Grenzen ift, jo bemüht ſich
doch die Geſchichte, indem fie in den mannigfachften Richtungen und Durch⸗
Ereuzungen einen Pfad nad dem andern durchläuft, und einen Ueberblid
| über das Banze zu verichaffen. Und dieſes Beftreben ift, wenn jeder Hiſtori⸗
fer fich auf feinem Pfade wohl umſchaut und ihn mit dem Auge, nicht,
wie ed gewöhnlidyer ift, mit der Nafe, aufiucht, vielleicht zulegr ein nicht
‚ ganz erfolglofes! Indem wir daher nur beten, daß vermehrte Theilung der
Arbeit nicht hier wie anderwärtß unfere ſchon flarfen mechaniſchen Tenden⸗
zen verihlimmere, fo daß wir in der Handfertigkeit für die Theile alle Herr-
(haft über dad Ganze verlieren und dadurch die Hoffnung auf wahre Philos
fophie der Geſchichte in weitere Berne hinausgerüdt wird als je — wollen
wir alle ihr großen und Immer größeren Erfolg wünfcen.
Gariyle, 111. 16
Meber BGeſchichte.
Zweiter Artikel.
(1833.)
Die Gefchichte empfiehlt fih als das Nüslichfte aller Studien und in
der That fann für ein Weſen wie der Menich, welcher geboren ift, Iernen
und arbeiten und dann nad einer gewiflen Anzahl von Jahren wieder ver⸗
fhwinden, Nachkommen und Werke zurücklaſſen und fi io auf alle Weiſe
ala ein lebender Theil des Menfchengefchlechts vindiciren muß, fein Stubium
geeigneter fein.
Die Geſchichte iſt der Inftructiondbrief, den die alten Generationen
fchreiben und nad) ihrem Tode der neuen überliefern, ja man Tann fie no
allgemeiner tie mündliche oder fchriftliche Borichaft nennen, welche das ganze
Menfchengeichlecht an jeden Menichen richtet; fie ift die einzige artifu=
lirte Mittheilung — während die unartifulirte und ſtumme, verftänpfid
oder nicht, in jeder Fiber unferes Eeins, in jedem Scht.tt unierer Thätig⸗
feit Tiegt — welche Die Bergangenheit mit der @egenwart und das Entfernte
mit Dem haben Tann, was bier iſt.
Alle Bücher, wären es auch nur Lieberbücher oder Abhandlungen über
Mathematik, find am Ende hiftoriiche Documente, eben fo wie auch alle Rede
ſelbſt ift, uud wir können ſonach fagen: die Geſchichte ift nicht blos daß
geeignetfte Studium, fondern auch dad einzige Studium und fchließt
alle anderen in fi.
Der in der Geſchichte Volllommene, der, welder Alles, was bie
ganze Bamilie Adams bisher geweſen und biöher gethan, verflünde,
fähe und wüßte, wäre in aller vorhandenen oder möglichen Gelehrſamkeit
vollfommen ; er brauchte binfort nicht mehr zu Rudiren, fondern es bliebe
ihm weiter nichts übrig, ald etwas zu jein und zu thun, bamit Andere
Geſchichte Daraus machen und von ihm lernen fönnen.
Bolllommenheit irgend einer Art iſt befanntlih dem Menjchen nicht
beichieden, von allen übernatürlich vollkommenen Charakteren aber wäre die⸗
243
jex des vollfommenen Geſchichtskenners — den man fi gleichwohl fo Teicht
denken Tann — vielleicht der wunberbarfte und ein fehlerlofes Ungeheuer,
weldyes die Welt niemals jehen wird, nicht einmal auf dem Papier. Hätte
nur der ewige Jude ſchon im Paradies angefangen zu wandern und zwar
mit einem Fortunatushütlein auf dem Kopfe! Auch Nanak Schah taudıte
fih, wie wir und entfinnen, drei Tage lang in einen geheiligten Brunnen
und Ternte bier genug. Diefe Methode Nanak's war eine allerdings jehr
leichte, unglücklicherweiſe aber ift fle in unferm Klima nicht ausführbar.
Man erwäge jedoch, in welder unermeßlichen Entfernung von dieſem
vollkommenen Nanak unfere höchſt unvolllommenen Gibbons ihre Rolle fpies
Im! Glaubft du, ed habe‘ vor Agamemnon Feine braven Leute gegeben ?
Glaubſt du, daß jenſeits des thraziſchen Bosporus alles todt und öde ge=
weien fei und daß vom Gap Korn bis nah Nova Zembla um den ganzen
bewohnbaren Erbball herum fich keine Maus gerührt habe? Und dann wie-
der in Bezug auf die Zeit — die Erfchaffung der Welt ift allerdings alt,
wenn man fie mit dem Jahre Eins vergleicht, aber jung und fo gut wie von
geftern, wenn man fie mit der Emigfeit vergleicht !
Ach, alle Univerfalgefchichte ift weiter nichts als eine Art Dorf oder
Stadtgejchichte, welche ein Mitglied dieſes oder jenes Bierhausclubs fo zu-
fammenftellt, daß fie. jeinen übrigen Collegen gefällt.
Bon dem Ding, weldes jegt verfiummt if, Vergangenheit genannt,
die einft Gegenwart und laut genug war, wie viel wifien wir Davon? Un⸗
fer „Inftructiondbrief” erreicht und im traurigften Zuſtande — verfälicht,
verwiſcht. zerfegt und zerrifien, fo daß wir ihn nur mit größter Mühe zu
leſen oder vielmehr zu buchſtabiren vermögen,
Und dennoch, unausſprechlich Foftbar ift unfer Fetzen von einem Briefe,
iſt unfere geichriebene oder gefprochene Botſchaft, fo wie wir fie haben.
Nur Der, welcher verfleht, mas geweien if, kann willen, was jein follte
und was fein wird. Es ift höchſt wichtig, daß das Individuum fein Ver⸗
hältniß zum Ganzen erkannt habe. „Ein Einzelner Hilft nicht, * ſteht ge=
Ihrieben, „fontern nur Der, der fi zur rechten Stunde mit Dielen ver⸗
bündet.“
Wie leicht iſt es in gewiſſer Beziehung fuͤr einen Alles wiſſenden Na⸗
nak ohne Verſchwendung von Kraft (oder was wir Fehler nennen) zu arbei⸗
ten und in der Praxis die neue Gefchichte eben fo vollfommen zu fpielen,
wie er in der Theorie die alte Tannte. Da er begriff, was die gegebene
16*
244
Melt war, was fie hatte und was ihr fehlte, fo konnte fein Elares Streben .
jehr wohl die rechte Zeit umd den rechten Punkt treffen, indem fle den ächten
Strom und die wahre Tendenz fleigerte, obne fi Dur den Widerfland da⸗
gegen zu neutraliftren.
Unglüdlicherweife tft ein folder glatt rinnender, fortwährend beſchlen⸗
nigter Lauf keineswegs der und beſchiedene. Wir haben Querfirömungen,
und flörende Rückfluthen und unzählige Beftrebungen — jeter nene Menſch
ift eine neue Beftrebung — verzehren fih in zweckloſen Strudeln. So ift
der Fluß des Dafeins fo reißend und verbeerend und ganze Maffen und ganze
©enerationen vergeuden fi in fchmerzlicher Unvernunft und werden vers
geudet für dad, was niemals nüßen kann. Und entfpringt von allem dieſen
die eine Hälfte nicht in Dem, was mir Mangel an Bolltommenheit in der
Geſchichte genannt haben, und die andere Hälfte in einem fogar noch tiefes
ten, noch unbeilbareren Mangel?
Hier jedoch müfjen wir zugeben, daß die Natur in Bezug auf folchen
biftorifchen Mangel durchaus fein Vorwurf trifft. Wir wollen vielmehr
die Sache von der andern Seite betrachten und die Mühe bewundern, die fle
fih gegeben und die wahrhaft großartige Fürſorge, die fie getroffen, daß
diefe felbe Belehrungsbotſchaft uns in grenzenlofer Fülle erreihe. Begas
bungen und Fähigkeiten befigen wir genug, aber es tft auch ihr weifer Wille,
tab feine und verlichene Fähigkeit aus Mangel an Gebrauch roſte. Die
wunderbare Bähigfeit der Sprache wird einmal gegeben, nicht ſowohl ein
Geſchenk ald vielmehr eine Nothwendigkeit; die Zunge erhält ſich mit oder
ohne viel Bedeutung in fortwährender Bewegung, die fle nur bei einem 2a
Trappe in Folge eined unausſprechlichen Sclöflzwanges aufgiebt.
Eben fo wenig fünnen die Finger, welche das Wunder des Schreibens
gelernt haben, müßig liegen, und wenn ed eine Sprechwuth giebt, fo wiſſen
wir auch, daß es eine Schreibwuth giebt, die vielleicht noch wüthender ifl
als die erfte. Man jagt von manchen Menſchen, fie feien fo redielig. Daß
fle untere gar nicht zu Worte fommen laſſen wollen; das Schreiben aber
wird gemöhnlih im Geheimen beforgt und ein Ieder bat fein eigenes Pult
und Tintenfaß, und figt unabhängig davor und ohne daß ihm Jemand ins
Wort fallen fann. Und nun vervielfältige man diefe Macht der Zeder einige
zehntaufend Mal, das heißt. man erfinte die Wuchdruderpreffe mit ihren
Preßbengeln, mit ihren Redacteuren, Mitarbeitern, Buchhäntlern, Zettels
trägern und ſehe, was fle außrichten wird ! j
25
Dies find die Mittel, womit die Natur und die Kunft, die Tochter der
Natur, ihren Günſtling, den Menſchen, ausgerüftet haben, damit er fly dem
Menſchen bekannt gebe.
Nun erwäge man Zweierlei — erftend, daß eine einzige Zunge von
durchſchnittlicher Geſchwindigkeit täglich einen bien Octavband zu liefern
vermag, und wie viele flinfe Zungen mögen wohl auf unferm Planeten oder
auch nur in diejer Stadt London in der gegenwärtigen Stunde thätig fein!
Zweitens, daß ein Journaliſt, wenn er guten Willen bat und vom Hunger
getrichen wird, fehr oft, wie man uns auf glaubwürdige Weiſe mitgetheilt
bat, binnen vierundzwanzig Stunden feine zwei Druckbogen liefert. Solche
Mitarbeiter find jept nicht zu Taufenden, fondern zu Millionen zu haben.
Nimmt man vie Gejdhichte in ihrer engeren gemeinen Bedeutung als
die bloße Chronik von „Vorfällen*, von Dingen, die, wie wir fagen, erzählt
werten fönnen, fo wird dadurch unfere Rechnung doch nur wenig geändert.
Die einfache Erzählung if, wie man bemerken wird, das Hauptprodukt der
Sprache; der gemeine Mann ift reich an Erzählungen, arm an Nachdenken;
nur mit dem Gebildeten ift es anders und umgefehrt. Nimmt man nun
an. daß ſelbſt der taufendfte Theil der Menichheit nur Gedanken außere, ob»
ſchon vielleicht der millionte genug wäre, fo haben wir immer noch neunhun⸗
dert und neunundneungig, die ſich mir eigentlicher Geſchichte beichäftigen,
indem fie Vorgänge erzählen oder Wahrfcheinlichkeiten über dergleichen auf
ſtellen, das heißt, entweder mit Gefchichte oder Prophezeihung, weldye eine
neue Form der Geſchicte iſt.
Darnach kann der Leſer beurtheilen, in welcher Fülle dieſer Lebens⸗
athem der menſchlichen Intelligenz unſerer Welt geliefert worden, ob bie
Natur gegen ihn Fnaujerig oder freigebtg geweien if. Muth, Leier! Es
fann tem Geſchichtsforſcher niemals an beſſerem oder fchlechterem Futter feh⸗
Ien, tenn enthält nicht ſchon deine tägliche Zeitung fünfzig und mehr Qua⸗
dratfuß Fleingedrudter Gerichte?
Wenn demnach die Univerfalgeichichte ein ſo elender, mangelhafter
Fetzen iſt, wie wir fie genannt haben, fo liegt der Fehler nicht in unferen
biftoriihen Organen, ſondern einzig und allein in unferm Mißbraud der
felben oder vielmehr in fo vielen, je nad ten verſchiedenen Zeitaltern. ver«
ſchiedenen Mängeln und Hinderniffen, weldye ten rechten Gebrauch terfelben
vereiteln. Ganz beſonders find es zwei Mängel, welche ſchwer auf allen
Zeitaltern Iaften — Mangel an Redlichteit, Mangel an Verſtändniß.
246
Wenn die bekannt gegebene Sache nicht wahr, wenn fie bloß eine Ver⸗
muthung oder auch vorjäglide Erfindung ift, was laßt fi dann damit wei«
ter thun, ald daß man file auszurotten und zu vernichten ſucht? „Die Wahr
heit aber, * fagt Horne Toofe, „bedeutet weiter nichts, als das, was man
für wahr Hält, was man glaubt," und welde neue verberbliche Deduc⸗
tion haben wir davon bis zur Sache [elbft Hinzunehmen.
Ohne Berfländnig aber nützt felbft das Glauben wenig und wie kann
dad Befanntgeben etwas nügen, wenn Feine Sehkraft darin lag, jondern
bloße Blinpheit. Eben fo wie bei politifchen Ernennungen ift der Mann,
den man ernennt, nicht der, welcher am fähigften war, das Amt zu beklei⸗
den, jondern bloß der, welder am fählgflen war, dazu ernannt zu werden,
Sp gebt auch bei allen biforiihen Wahlen und Auswählungen das tollfte
Zeug vor. Das Ereigniß, welches das wiffendwürbigfte ift, wird vielleicht
von allen andern am wentgften beiprodhen, ja Manche fagen, es liege eben in
der Natur foldder Ereignifie, daß dem ſo ſei.
So liegt vielleicht in jenen felben fünfzig Quadratfuß Geſchichte. oder
auch wenn fe fi bis auf fünfzig Quadratmeilen von derfelben Qualität
ausgedehnt Hat, viellerht nicht der fünfzigfte Theil von der Breite eines
Haared, woraus ſich wirflich etwas ergiebt. In der That, Die Duantität
von Drudjachen, Die in unierer Zeit vom Weuer verzehrt werden müßte, ebe
der Eleinfte permanente Vortheil daraus gefchöpft werden fann, ifl geeignet,
und mit Erflaunen, ja faR mit Furcht zu erfüllen. Ad, wo ift der Uner⸗
fhrodene, der alle dieie Papiergebirge in’ Zunder verwandelt und dann die
drei Tropfen Zunderwajlerelirir zu ertrahiren verſteht?
In der That, wenn man die Thätigkeit der biftoriichen Yeder und
Preffe während dieſes legten halben Jahrhunderté betrachtet, und welche
Mafle von Geſchichte fie während dieſer Periode allein zu Tage gefördert bat
und wie fie binfort wahrſcheinlich in zehn⸗ oder zwanzigfacher geometriſcher
Progreliton zunehmen wird, follte man meinen, der Tag ſei nicht mehr fern,
wo die ganze Erde diefe Schriften über Das, was auf der Erde gefchehen,
nicht mehr faflen könne und das menſchliche Gedächtniß verwirrt und über
wältigt aufhören werde, etwas zu behalten.
Für Manche mag der Gedanke neu und tröftlich fein, daß diefer unier
Zuftand nicht fo beifpiellos if, wie er jheint und dag mit dem Gedächtniß
und mit denfwürdigen Dingen der Ball ſtets ein ganz ähnlicher war. Das
Leben Nero’8 nimmt in unferm Tacitus einige Eleine Seiten ein; mic viele
\
247
derielben aber füllte e8 in den Pergament- und Papyrus-Arhiven von Nes
10'8 Generation? Der Verfafler von ‚.Vie de Seneque‘ hat jetzt nach vielen
Jahrhunderten einige wenige noch übrige Schnigel davon aufgelefen und
mit leichter Mühe zwei Octavbände daraus gemacht. Wäre nun der Inhalt
der damals vorhandenen römifchen Bebächtniffe oder vollends Alles, was
damals darüber gefprochen ward, gebrudt worden, wie viele Quadratfuß
mit Perlichrift bevedt hätten wir, — in Gürteln, weldhe um ben ganzen
Erdball reichten !
Die Geſchichte muß daher, ehe fie Univerfalgefchichte werden kann, vor
allen Dingen zulammengedrängt werden. Wollte man die Geſchichte nicht
zufammenziehen, fo fönnte man nicht über eine Woche im Gedächtniß behal-
ten. Ja, wollte man die Zujammendrängung ganz außfchließen, fo fönnten
wir nicht eine Stunde oder überhaupt gar nichts der Erinnerung einverlei«
ben, denn die Zeit ift wie der Raum unendlich theilbar und eine Stunde
mit ihren Greigniflen, mit ihren Gefühlen und Erregungen könnte in fol
ber Ausdehnung geichildert werden, daß fie das ganze Feld des Gedaͤcht⸗
nifles bedeckte und alles Andere über die Grenzen hinausſchöbe.
Die Gewohnheit jedoch und die natürliche Gonftitution des Menfchen
ſchreiben ſchon von ſelbſt dienliche Gedächtnißregeln vor und halten alle
ſolche pbantaftifche Viöglichfeiten von und entfernt, in welche nur fo ein
thörichter muhamedaniſcher Kalif, der feinen Kopf in einen Eimer bezau-
bertes Wafler tauchte und auf dieſe Weiſe eine einzige nafle Minute in fieben
lange Jahre der Knechtichaft und Drangjale aushämmerte, verfallen Eonnte.
Erinnerung und Bergefienbeit find wie Tag und Nacht, fo wie über
haupt alle anderen Wideriprüce in diefem unjeren feltiamen bualiftiichen
Leben eind für ded andern Dafein nothwentig. Die Vergeffenheit iſt die
ſchwarze Tafel, auf welche die Erinnerung ihre lichtſtrahlenden Charaktere
fhreibt und fie lesbar macht; wäre Alles Hell, jo könnte man bier nichts
Iefen, eben jo wenig, al8 wenn Alles finfter wäre.
- So wie mit dem Menfcdhen und jeinen autobiograpbifchen Tagebůͤchern,
die er ſelbſt unbewußt im Gedächtniß führt, geht es auch mit der Menſchheit
und ihrer Univerſalgeſchichte, welche ebenfalls ihre Autobiographie iſt —
eine ähnliche, unbewußte Faͤhigkeit des Erinnerns und Vergeſſens verrichtet
auch Hier dad Werk. Die Borgänge des Tages, wären ſie auch noch fo ge⸗
raͤuſchvoll, können nicht immer laut bleiben; der Morgen kammt mit feinem
neuen Lärm, der ebenfalls will, daß man von ihm Notiz nehme. In dem
248
umermeßlihen Kampfe und Widerftreite dieſes Chaos des Dafeins finft eine
Geſtalt nah der andern, wie Alles, was aufgetaucht iſt, auch einft wieder
finfen muß. Was nit in der Erinnerung bleiben fan, entidhwindet dar⸗
auß; die Geſchichte sicht fich im eine lesbare Ausdehnung zufammen und
endlich if in den Händen irgend eined Boſſuet ober Müller die ganze ges
drucdte Befchichte der Welt von der Schöpfung an kürzer geworden, als die
des Wächterd von Portsoken in einem einzigen Sonnentage.
Ob eine ſolche Zulammenziebung, ein folder Auszug ſtets auf die
befte Weiſe erfolgt, iſt freilih eine andere Frage, oder vielmehr, ed läpt
ſich behaupten, Daß die Zufammenziehung auf eine keineswegs wünſchens⸗
werthe Weiſe flattfindet. Verworfene Cleopatras und Meſſalinas, Galigu- .
lad und Commoduſſe leben in unerquicklicher Maſſe noch in unſerer Erinne⸗
rung, während ein wiſſenſchaftlicher Pancirollus ſein Buch über verlorene
Künfte fchreiben muß und ein moralifher Banctrollus, wenn er bie dazu er=
forderliche Einſicht Gefäße, ein noch viel traurigeres Buch über verlorene
Tugenden fchreiben könnte, über edle, ſchaffende, wagende und buldende
Menichen, deren heldenmüthiges Leben als eine neue Offenbarung und Ent⸗
widelung des Leben? felbft ein hohes Gut für Alle wäre, aber nun verloren
und vergeflen iſt, weil die Gefchichte ihr Blatt auf andere Weife gefüllt Hat.
In der That beherricht hier, wie anderwärts. Das, mad wir Zufall
nennen, Vieles, und auf jeden Fall kommt die Gefchichte nicht jo zufammen,
wie fte follte, fondern wie fie kann und will.
Nichtödeftoweniger bemerfe man, wie fon durch den natürlichen Gang
allein und gleihfam ohne menſchlichen Vorbedacht eine gewifie Angemeffenbeit
der Auswahl und zwar in hohem Grabe unvermeidlih iſt. Ganz werthlos
fönnte die Wahl nicht fein, ſelbſt wenn fie nach Feiner beſſern Megel erfolgte,
als nach der, daß die Menichen blos von Dem ſprechen, wad neben ihnen
befteht und thätig lebendig iſt.
Sp werden tie Dinge, welche Früchte erzeugt haben, ja deren Frucht
noch wächſt, zulegt die Dinge, welche man zur Aufzeichnung auswählt, weil
diefe Dinge allein groß und des Aufzeichnens würdig waren.
Die Schlacht bei Chalons, wo das Sunnenland mit Rom zufammen-
ſtieß und zwei Riefen, deren Schwerter Königreiche in Stüden hieben, mit
einander um den Beflg ber Erde fämpften, lebt nur matt in der trüben Er⸗
innerung einiger Wenigen, während die armfelige Verrätherei eines erbärm-
lichen Iſcharioth, für dreißig Silberlinge in dem erbärnliden Lande Bald»
249
ſtina verübt, noch klar und deutlich in den Köpfen und Herzen aller Men-
ſchen lebt. Ja überdies, da blos Das, was Frucht trug, groß war, fo muß
von allen Dingen das, deſſen Frucht noch ta ift und noch wächſt, das arößte
und denfwürtigfte fein, was wiederum, wie wir fehen, fchon nad ter Ratur
des Falles Hauptfächlic Die Sache ift, deren man ſich erinnert.
Hierbei bemerfe man au, wie diefed „bauptjächlich * ſtets darnach
frebt, ein „einzig und allein” zu werden und wie dad Nahe fortwährend
näher kommt, denn Trivialität nadı Trivialität entſchwindet, fo wie aus der
lebenten Thätigkett der Menichen auch aus ihrer Rede und Erinnerung, und
nur das Große und Lebenskräftige lebt immer audfchließlicher darin fort.
So corrigirt ein Ereigniß dad andere und in dem wunderbaren, gren-
zenloien Durcheinander der Dinge — während eine, ein gewifles Ziel ver-
folgende Madıt fie beherrſcht oder vielmehr darin wohnt — kommt ein Re-
fultat zu Tage, welches man ſich ſchon gefallen laſſen fan.
Merkwürdig auf alle Bälle und wenigſtens einmal in unjerm Leben des
Anſchauens werth ift dieſe Zuſammenziehung der Geſchichte, möge das Ver⸗
fahren Dabei jein, welches es wolle. Wie die fünfzig Duadratfuß nach einem
Jahrhundert, nad zehn Jahrhunderten doc zufammengejhrumpft find!
Ran betrachte von Anfang bis zu Ende irgent eine Geſchichte, z. B. die
unfered eigenen Englands, und ſehe, wie fie Dem rajcheften Geſetz der Per⸗
fpeetive folgend von der Leinwand hinwegſchwindet!
Ein unglücklicher Sybarit, wenn wir zwei Sahrhunterte von ihm ent-
fernt find und ihn Karl II. nennen, befommt zwölf Mal fo viel Raum, als
ein beidenmüthiger Alfred und zwei oder drei tauſend Mal io viel, wenn
wir ihn Georg IV. nennen. Die ganze fähfliche Heptarchie, obſchon Ereig-
nifle, gegen welche die Magna Charta und die weltberüßnte dritte Lefung
And wie Staub in der Wagichale, damals flattfanden, — denn ward, um
anderer Dinge zu gefchweigen, England nicht damals, wenn auch nicht im
Parlament repräfentirt, doch zum Ghriftenthum bekehrt? — die ganze fäch-
ſiſche Heptarchie, fage ich, wird mit einer einzigen Sentenz Milton's abge
fertigt, der einzigen, welche jpätere Schriftfteller copirt oder Leſer gemerkt
baben, wir meinen die Stelle, wo er von den „Kämpfen und Flügen der
Geier und Kraͤhen“ fpricht.
Eben jo war es aud feinedwegs ein unwichtiges, nächtliches Gelag,
als die beiden emtfchloflenen, flarrköpfigen Brüder Hengift und Horfa den
Eniſchluß faßten, in Britannien eine Menfchenhag zu veranftalten, weil mit
250
der Eberhag in ihrer Heimath nicht mehr viel zu machen war. Und io ſchu⸗
fen fle aus einigen hungrigen Angeln eine engliſche Ration und pflanzten
fle hierher und — ſchufen Dich, o Leſer! Ueber Hengiſt's ſämmtliche Feld⸗
zuͤge aber läßt fich jegt kaum eine Seite guter Erzählung fchreiben, während
der Beſuch des Lordmahors in Oxford der Menſchheit in einem anfländigen
Bande enthüllt wird. Sa, was wollen wir — wird nicht nicht der Brand
des Theaters in Braunfchiweig mit millionenmal mehr Worten erzählt, als
die Schöpfung einer Welt? Um uns eines bereits fertigen Gleichniſſes zu
bedienen, möchten wir die Univerfalgeichichte mit einem magifchen Gewebe
vergleihen und mit Erflaunen erwägen, wie dur philoſophiſche Einſicht
und träge Bernadläffigung das ewig wachſende Gebäude ſich aus der uner⸗
meßlichen Maſſe von Faden und Enden berauswirrte, welche wir Memoiren
nennen, ja wie jede neue Verlängerung, jede neue Epoche die ganzen Ber»
hältnifje und Farbe und Bauart bis zum Urfprung zurüdtveränderte.
Erlangen nicht auf diefe Weile tie Geſchichtsbuͤcher eined Tacitus nad
fiebzehnhundert Jahren in den Händen eined Montesquieu neue Bedeutung?
Niebuhr muß uns nad) noch längerer Zeit die Schriften eined Titus Livius
wieder interpretiren, ja bie religiöjen Ehronifen eines hebräiſchen Prophe⸗
ten und Geſetzgebers haben ein gleiches Schidjal und mand ein tiefgelehrter
Eichhorn prüft mit frifchgeichliffener philofopbiicher Brille die Offenbarung
eined Mofed und bemüht ſich für vieles Jahrhundert wieder Das hervorzu-
bringen, was vor dreißig Iahrhunderten von offenbar unendlicher Bedeut⸗
famfeit für Alle war. Dan jehe, wie die Geſchichte mit ihren Anfängen
fi bis in die entfernte Zeit, welche dunfel aus der geheimnißvollen Ewig⸗
feit emportaucht, zurückreicht, wahrend ihr Ende un zu der gegenwärtigen
Stunde umfaßt, welcher wir nicht blos ald Erzähler, fondern aud als han»
deinde Perfon angehören! Ihrer Form nad möchten wir fie in mathemati-
(chem Sinne hyperbolifch » afymptotifch nennen; um uns herum fletö von
unendlicher Breite ſchrumpft fie Hinter uns in enge Grenzen zufammen und
nähert ſich immer fchmäler und fpiger der unendlichen Tiefe. Ihrem Weſen
und ihrer Bedeutung nad hat man fie das wahre epifche Gedicht und bie
univerfelle Heilige Schrift genannt, deren göttliche Gingebung kein Menſch,
möge er bei Sinnen fein oder nicht, in Zweifel ziehen wird.
Drud von Dtto Wigand in Leipzig.
Inh
Jean Paul Sriedrich Richter.
Erſter Artikel
Zweiter Artifel
Soswell’s Kebensgefchichte Iohnfon’s .
Sir Walter Scott
Ueber Geſchichte.
Erſter All . .
Zweiter Artikel
alt.
Seite
4
”
Thomas Carlple’s
ausgewählte Schriften.
Bierter Band.
Thomas Carlple’s
ausgewählte Schriften.
Deutſch
von
A. Areßſchmar.
——— — —
Vierter Band.
Dr. Grande, — Mirabean. — Burnd. — Dentſche Dramenſchmiede.
Leipzig
Berlag von Otto Wigand.
1855,
Dr. £ranctia”.
(1843.)
Die verworrene füdamerifaniiche Revolution oder Reihe von Revolu⸗
tionen ift eben fo wie der fübamerifantiche Eontinent felbft ohne Zweifel
ein großes verworrened Phänomen und einer befjern Kenntniß würtig als
die Menſchen bis jet davon haben. 8 find mehrere Bücher über diejen
Gegenftand geichrieben worden, aber größtentheild find es fchledte Bücher
von faft gar feiner Wirkung. Es ift den Helten Südamerikas noch nicht
gelungen, der cidatlantiichen Anfkauung oder Erinnerung irgend ein Bild
von fich, noch viel weniger aber ein mahre8 Bild von ſich vorzuführen.
Iturbide, der Napoleon Mexiko's, ein großer Mann in tiefem fleinen
ande, wer war er? Er ſchuf den drei Mal berühmten „Plan von Iguala *,
eine Conftitution von feiner Dauer. Er ward Kaifer von Merifo, der allers
gnädigſte Auguftin I.; er ward abgeſetzt, nady Livorno, nad) London vers
bannt, beichloß zurüczufehren, landete an der Küfle von Tamıpico, wo er
2) 4. Leichenrete bei Gelegenheit der feierlichen Beſtattung Er. Greeflenz bes
weiland lebenslänglichen Dictators der Republif Paraguay, Bürgers Dr. Joſe Gaepar
Francia, von dem Bürger Peter Manuel Antonio Perez an ter Kirche zur Empfängs
niß, am 20. Oct. 1840. (In engl. Ueberſctzung.)
2. Essai Historique sur la Revolution de Paraguay et le Gouvernement Dictato-
rial de Docteur Francia, par Rengger et Longchamp, Paris 1827.
3. Letters on Paraguay, by J. P. and W. P. Robertson. 2 vols. London 1839
4. Francia’s Reign of Terror. Bon denf. London 1839.
38. Letters on South America. Von tenf. 3 vols. London 1843.
6 Travels in Chile and La Plata. By John Miers. 2 vols. London 1826.
7. Memoirs of General Miller, in the Service of the Republic of Peru. 2 vols.
London 1829.
Carlyle. IV. 1
2
feindfelig empfangen und erfchoffen ward. Dies tft ungefähr, was die Welt
von dem mexikaniſchen Napoleon weiß, dem allergnädigften Auguflin dem
Erften, dem höchſt unglüdlichen Auguflin dem Lepten. Er gab auch ſelbſt
Memoiren Heraus, die aber nur Wenigen zugänglich find. Vergeſſenheit
und bie wüſten Panamas haben diefen braven Don Auguftin verichlungen
vate caruit sacro. |
Und Boltvar, der Waſhington Columbia's, der Liberator oliver,
auch dieſer ift dahin, ohne feinen Ruhm genofien zu haben. Ginige fchlechte
Lithographien zeigen und einen Mann mit langem Geſicht und vierediger
Stirn, ernfter Miene, einer fanft gebogenen Nafe, furchtbar fcharfwinfliger
Kinnlade und tunflen Augen, die etwas allzu bicht beiſammen fteben, wegen
welche8 Iegteren Umſtands, wie wir innig hoffen, der Lithograph allein zu
tadeln ift.
Dies iſt der Liberator Polivar, ein muthiger echter, fühner Reiter,
der ald Held und Charlatan viel Durdigemadht, viel außgerichtet und viel er-
Duldet und nun todt und verfchwunden ift — von dem mit Ausnahme jener
elenden Lithographie das gebildete europäifche Publifum jo viel ald nichts
weiß. Und flog er nit bin und her, oft auf die verzweifeltfie Weiſe mit
feinen wilden Reitern in ihren Ueberwürfen? Poncho nennen die Südame-
tifaner einen ſolchen Ueberwurf; derielbe befleht aus einem vieredfigen Stück
Zeug, mit einem kukzen Schlik in der Mitte, durch welchen man den Kopf
hindurchſteckt. Mancher Reiter dieſes Befreiungskrieges trug in dieſem
heißen Klima weiter gar keine Kleidung und kämpfte dennoch wacker und
wickelte den Poneho um den Arm, wenn es zum Angriff kam.
Mit folder Eavalerie und dazu paflender Artillerie und Infanterie if
Bolivar kaͤnpfend durdy fengende Wüften gezogen, dur heiße Sümpfe,
durch Eisklüfte Hoch über Der Schneelinie, — mehr Meilen als Ulyſſes je
mald jegelte; davon mögen Die Eünftigen Homere Notiz nehmen, Er if
mehr ald einmal über die Andes marſchirt — eine eben fo große That wie
Hannibal’8 Uebergang über die Alpen — und ſchien fein großes Aufheben
davon zu machen. Oft geichlagen, vom feiten Lande verbannt, fam er immer
wieder und erneuete den graufamen, unerbittlihen Kampf. In den Megio-
nen von Cumana errang er den unfterblichen Sieg bei Garababo und meh⸗
rere andere; unter ihm ward der entfcheidende Sieg bei Ayacucho in Peru
erfochten, wo dad alte Spanien zum legten Male in diejen Breitengraden
Pulver verbrannte und dann floh, ohne zurüdzufehren.
3
Er war Dictator, Liberator, faſt Kaifer, wenn er lange genug gelebt
hätte. Drei Mal nach einander legte er im feierlichen columbifchen Parla-
ment mit Baihington’scher Beredtfamfeit feine Dictatur nieder und nahm ſie
eben fo oft auf dringendes Bitten wieder an, weil er nicht entbehrt werben
konnte. Drei Mal oder wenigftens zwei Mal entwarf er an verfchiedenen
Orten mit großer Mühe eine freie Conftitution mit zwei Kammern und
einem auf Lebendzeit ernannten Obergouverneur, dem es freiftehen follte,
feinen Nachfolger zu ernennen, — bie vernünftigfte demokratiſche Conſtitu⸗
tion, die man entwerfen fonnte, und zwei Mal oder wenigjtens ein Mal er-
Härte fi das Volk, ald ed zum Treffen Fam, Dennoch nicht damit einver-
fanden.
In Paris war er früher fehr wohl befannt, namentlih in den aus⸗
fhweifenden, den philoſophiſchen, politifchen und anderen Eirfeln. Er hat
in mancher eleganten Parifer Soiree geglänzt, dieſer Simon Bolivar, und
in feinen fpätern Jahren, im Herbſt 1825 ritt er triumphirend in Potoft
und den fabelhaften Inca«- Städten ein, während ganze Schaaren gefiederter
Intianer um ihn herum ihre Purzelbäume ſchlugen und ihr Kriegsgeheul
anftimmten, — und „ald der berühmte Gerro, der metallhaltige Berg in
Sicht kam, fingen alle Glocken an zu läuten und die Gefchüge donnerten, *
fagt General Müller in feinen Memoiren.
Wenn dies nicht cin Ulyffes, ein Polytlas und Polymetis, ein an
Abenteuern und Erfahrungen reicher Mann war, wo follte es denn fonft
einen geben? Er war in der That ein Ulyfjes, deſſen Geſchichte die Dinte
verlohnen würde, wäre nur erft der Homer da, der fe ſchreiben könnte.
Auch über General San Martin läßt fih etwas fagen. General San
Martin beſaß, als wir ihn vor circa zwanzig Jahren — durch die Organe
des authentiichen zuverläffigen Neifenden Mr. Mierd — das legte Mal ſa⸗
ben, ein ſchoͤnes Haus in Mendoza und „fein eigned Portrait hing, wie id
bemerkte, zwifchen denen Napoleon’ und des Herzogs von Wellington. *
In Mendoza, der heiteren von Lehm erbauten, weiß getündten Stadt am
öftlihen Fuße der Andes, „mit ihrer wohlgepflafterten und gefegten, Tühlen,
fhattenipendenden Promenade, welche nad der einen Seite hin die ſchönſte
Ausfiht über die unermeßliche Pampas-Wüfte und auf der andern auf die
Eordillera genannte Belfenkette bietet, deren bimmelhohe Berge mit Schnee
bedeckt find oder vulfanifche Rauchjäulen auffleigen Taffen” — hier wohnte
ber General Er-Beneraliffimo San Martin und dachte über feine in ber
1 %
a
halben Welt erlebten Abenteuer nad, während fein Bortreit zwiſchen dem
Napoleons und dem bes Herzogs von Wellington hing.
Dat der Leſer jemals etwas von San Martin’ Mari Aber die A
bes nach Chile gehoͤrt? GE ift eine That, Die wohl einer nähern Betrachtung
würbig ifl, und ſehr wohl vergleichbar mit Hannibal's Mari über die U
pen, während es noch Feine Straße Über den Simplon oder Mont Genie gab.
Diefer Uebergang über die Andes geſchah im Jahre 1817.
Südamerifaniiche Armeen fürchten ſich weiter nicht, wenn ihnen befoh-
len wird, durch die Schluchten der Andes zu marfchiren. Deshalb dachten
die Einwohner von Buenos Ayres, nachdem fle ihre eigenen Sipanier ver⸗
trieben und das Neich der Freiheit, obſchon auf etwas zweifelhafte Weiſe
gegründet, ed wäre nun gut, die Spanier aus Chile zu vertreiben und bier
ebenfalls das Reich der Freiheit zu gründen, worauf San Martin atö Com⸗
mandant von Mendoza beauftragt ward, biefed Geſchaͤft zu beforgen.
San Rartin holt, um ſicher zu geben, fehr weit aus und verſammelt,
während die Armee fich bei Wendoza rüftet, in dem Yort San Garlos bei
dem Aguanda-Klufje einige Tagereifen füdlich alle zugänglichen Stämme ber
Pehuenche Indianer zu einer felerlichen Berathung, wie fle ed nennen, mit
darauf folgendem Schmaufe auf der Esplanade daſelbſt. Die Geremonten
und Berathungen find, wie General Miller fie befchreibt, etwad ſonderbar,
noch mehr aber den Schluß bildende Schmaus, weldger drei Tage Dauert,
während deſſen ungeheure Mafien Pferbefleiich als Speile und Pferteblut
mit Branntwein ald Getränk audgeiheilt und mit großer Gier nerichlungen
werden. Die Bolgen davon kann man fich Leicht denfen. Die Frauen ber
Indianer hatten jedoch fehr klüglich im Voraus alle Waffen auf die Seite
geſchafft, ja fünf oder ſechs dieſer armen Weiber, welche ſich wechſelſeitig ab⸗
löſten, waren ſtets nuͤchtern und bewachten die übrigen, jo daß verhältniß⸗
mäßig wenig Unheil angerichtet ward und nur zwei oder drei Todtſchlaͤge
vorkamen.
Nachdem die Pehuenches auf dieſe Weiſe ihr Feuerwaſſer und Pferdes
blut getrunfen und San Martin ewige Freundſchaft geſchworen hatten, gin⸗
gen fie wieder nach Haufe und — ſetzten feine Feinde jenjeitd der Andes
son der Straße in Kenntmiß, die er einzuſchlagen gedachte. Dies war aber
gerade das, was San Martin, der Schlaufuchs, vorausgeſehen und gewollt
hatte! Er befjleunigte feine Zurüftungen, ließ feine Geſchütze auf Stangen
binden, feine Leute mit Torniftern und Butterfäden verjeben, feine Raub
BE
thiere im Bereitfchaft ſeden und verlieh Mendoza in aller Stille auf einer
andern Strafe.
Die Kriegführung der Neuzeit hat, wie General Miller erflärt, wenig
aufzınweifen, was biefem Mari an die Seite geftellt werben könnte. Die
lange, ſchmale Reihe der Soldaten, über fechötaufend an der Zahl, ſchlaͤngelt
ſich mit ihren Thieren und ihrem Gepäd durch das Gerz der Andes und
| unterbricht auf einen kurzen Augenblid die Einfamkeit der Abgründe. —
Auf ſchmalen Wegen geht e8 dahin, durch fleinige Labyrinthe unter unge-
heuern überhängenden Zelfen hinweg, während tief unten wilde Gebirgs⸗
firöme Sraufen und bodenloſe Klüfte heranfgähnen und fogar Wind und
Echo in unheimlidyer, noch nie gehärter Weiſe heulen, Himmelhohe Felſen⸗
ſchranken thürmen ſich vorn, Hinten und ringsum herauf, ſodaß gar fein
Ausweg vorhanden zu fein fheint. Der Pfad ift ſchmal und das Fußen
fehr ſchwierig. Auch fcharfe Biegungen kommen bor, wo man wohltbun
wird, auf feine Schritte Acht zu geben — ein einziger falfcher Tritt und
man bedarf feines zweiten, denn man verichwindet in dem fchwarzen Rachen
des Abgrundes und die gefpenftifchen Winde heulen das Requiem. Etwas
befler find die Hängebrüden aus Bambus und Leder gefertigt, obſchon fie
| bin und ber baumeln wie Schaufeln. Männer flehen bier mit Laflos, um
die Paffanten auf geſchickte Weiſe anzuſchlingen und wieder aus dem Strome
herauszufiſchen, wenn ſie hineinpurzeln ſollten.
Auf dieſem Terrain marſchirte San Martin, gerade auf San Jago zu,
um mit den Spaniern zu kaͤmpfen und Chile zu befreien. Statt der Mu⸗
nitionswagen hatte er Sorras oder Schlitten aus getrocknetem Büffelleder
gefertigt. Die Geſchütze wurden von Maulthieren getragen, naͤmlich ein
jede8 auf je zwei Maulthieren, die auf finnreihe Weife aneinander geſchirrt
waren. Auf dem Padjattel des vorderfien Maulthieres ruhete, mit flarfen
Burten befeftigt, eine lange, flarfe Stange, und da8 andere, wahrſcheinlich
gabelförmige Ende auf diefelbe Weife Gefeftigt, auf dem Packſattel des hin⸗
tern Maulthiers; das Geſchützrohr ſelbſt hängt vermittelft Iederner Riemen
an dieſer Stange, und ſo geht der Transport ſchwankend und baumelnd,
aber dennoch verhaͤltnißmaͤßig ſicher vor ſich.
In dem Torniſter eines jeden Soldaten befanden ſich Lebensmittel auf
acht Tage, getrocknetes Rindfleiſch zu Schnupftabad gerieben mit einer Bei⸗
miſchung von Pfeffer und Amiebad oder Maismehl. An Zwiebeln und
Knoblauch war fein Mangel ; Abends konnte beim Beurer von furzem Ge⸗
6
firüpp und Belfenmoos oder gebörrtem Maulthiermiſt Thee gefocht werben.
Weiteres Bepäd war nicht geftattet, denn jeder Soldat lag des Nachts In
feinen Poncho gehüllt mit feinem Tornifter flatt des Kopfliffens unter dem
Baldachin des Himmels und fanf, von der ungeheuern Anſtrengung er⸗
fhöpft, ſehr bald in fchnarchenden Schlaf und wunderliche Träume. Hatte
er nit in den Pampas Vieles zurüdgelaffen, — Mutter, Geliebte, und
wer weiß, was fonft, und was erwartete ihn in Ehile, wenn er jemals
binüberfam ?
Welch einen Anblick muß dieſes Nactlager San Martins gewährt
haben, wenn feine Leute fo in dem Herzen der Andes unter den ewigen Sternen
lagen und ſchnarchten! Müde Schildwachen halten fi mit Mühe wach;
abgemartete Maufıhiere kauen ihr @erflenfutter oder fchlummern auf drei
Beinen. Das ſchwache Wachtfeuer zündet kaum eine Cigarre an; Canopus
und das fürliche Kreuz gligern vom jchwarzblauen Simmel herab und alles
ſchnarcht umgürtet von Granitwüften.
San Martin's unvorfihtige Soldaten verzebrten die ihnen auf eine
Woche zugetheilten Rationen fhon faft in der Hälfte diefer Zeit unt muß⸗
ten während der legten drei Tage, vom Hunger geipornt, fo ſchnell ald mög⸗
lich weiter eilen. Auch dies hatte der ſchlaue San Martin voraudgeichen
und wußte, daß jeine abgehärteten wilden Gauchos es wohl aushalten könn⸗
ten, ja, daß fie nur um defto fchneller marſchlren würden.
Am achten Tage brachen fie hungrig wie Wölfe und ſchnell und reißend
wie ein Gebirgäftrom hervor, marſchirten firadd auf San Jago, zum Ent⸗
jegen der Spanter, die von ihnen auf der Ebene von Maypo und dann
wieder zum legten Mal auf den Ebenen und Anhöhen von Ehacabuco voll⸗
fländig gefchlagen wurden. So war denn Chile, wie man glaubte, auf im⸗
mer befreit.
Ach, Leiter war die Befreiung von Chile damit blos begonnen, aber
weit entfernt, beendet zu jein. Chile ift nah noch vielen folgenden Be⸗
freiungen bi8 auf dieſe Stunde fortwährend aus den Händen einer Bande
von Mebelthätern in die der andern geratben.
San Martin’d Manöverd um Peru zu befreien, Peru und Chile zu
vereinigen und ein Wafhington-Napoleon diefed Landes zu werden, gerietben
nicht fo gut. Man faßte allerhand Verdacht gegen ihn, der Liberator Boli⸗
var ward herbeigerufen und c& fanden mittlerweile einige Revolutionen
hatt. San Martin flieht fi peremptoriſch, obſchon auf höfliche Weile wies
7
der über die Andes zurüdcomplimentirt und hängt nun in Mendoza mit
Muße fein Bortrait zwilchen dem Napolton's und Wellington’d auf. Mr.
Miers hält ihn für einen klugen, menfchenfreuntlichen, wenn aud etwas
liſtigen Mann. Hätten die EHilefen ihn nicht auch wirklich zu ihrem Napo-
leon wählen können? Sie find weiter gegangen und dabei bis jetzt wenig
befler gefahren.
Der weltberühmte General O'Higgins z. B. ward nadı einigen Revo⸗
Intionen Director von Chile, aber was fonnte er, von ter Legislatur auf
das Schauderhaftefte in die Enge getrieben, daraus machen. Faſt nichts!
D’Higgins iſt offenbar von iriſcher Abfunft und obichon geborener Chilefe
und natürliher Sohn von Don Ambrofio O'Higgins, den früheren fpanie
ſchen Vicekönig von Chile, fleht ihm doch der Irländer im Geſicht geichries
ben. Gin beiteres, jovialch, feſtes Geſicht iſt es, ſtrahlend von Geſundheit,
guter Laune und mannigfachen Erfolgen in Krieg und Frieden.
Bon feinen Schlachten und Abenteuern möge ein glüdlicherer Gpiker
fingen oder ſprechen. Eins aber werden wir ausländiichen Kritiker nie ver⸗
gefien — Die unermeßlichen Verdienſte feines Vaters um Chile hinſichtlich
des Straßenbaues. Als Don Ambroflo vor etwa einem halben Jahrhundert
die Megierung von Ehile antrat, eriftirten wahrjcheinlich von Panama bis
zum Gap Horn feine zehn Meilen Straße, wie ed denn außer feinen auch
jest noch kaum andere geben wird. Die alten Inca-Strafen fünnen nidt
in Anſchlag kommen, denn fie find zu ſchmal — nimlih nur drei Fuß
breit — und werben gegenwärtig garnicht nıehr benußt. Don Ambroſio
ſchuf mit einem unglaublichen Grade von Fleiß, Ausdauer und Geſchicklich⸗
feit Straßen und immer wieder Sıraßen nad allen Richtungen bin. Bon
San Iago nad Valparaiſo, wo bloß ſichere Maulihiere mit ihren Padjätteln
Güter beförderien, gehen jeßt ganz bequem lautfnarrende Karren mit
hölzernen Axen und alle anderen Gattungen von Fuhrwerken. Er war «8,
der Dieje Bälle turch die Andes bahnte und die ichmalen Maulthierpfade zu
Straßen erweiterte.
Und dann bedenfe man feine Caſuchas. Ueberall auf den höheren uns
wirtblichen Einöden in Entfernungen von wenigen Weiltn, ſteht ein nettes,
kleines, von Ziegelfteinen erbautes Haus oder eine Caſucha, in welcer der
eiuſame Wanderer Obdach, ja fogar Speiſe und Erwärmung findet, denn es
fiehen darin eilerne Kiſten mit präparirtem Rindfleiih und anteren Lebens⸗
mitteln, jowie cijerne Kiften mit Holzkohlen, zu welchen allen der Meijende,
nachdem er zuvor eine gewifle Gebühr an bie Voſtbehörde entrichtet, einen
Schlüſſel bei ih führ. Ein Feuerzeug bringt er mit, ebenfo wie einen
eifernen Kochtiegel mit Waffer aus dem Strom. Und nun fchlägt er Feuer
an und bereitet fich fein Abendbrod hier hoch oben auf den Zinnen der Erde
und feynet den Gouverneur O'Higgins.
Mit wirklichem Schmerze erfahrt man dur Mr. Miers, daß der Frei⸗
heitöfrieg dieie Caſuchas des menichenfreundlihen O'Higgins zur Hälfte
ruinirt hat. Patriotiiche Soldaten, die mehr Wärme bedurften, ale die
Kohblenfifte ihnen gewähren Eonnte, haben fi Fein Gewiſſen daraus ge=
macht, die Thürpfoften und alles fonftige Holzwerk abzureißen und zu ver⸗
brennen. Der von Stürmen aufgehaltene Wanderer, der zuweilen bei Dros
hendem Wetter tagelang, oft vierzehn Tage hintereinander bier warten
muß, bat allertings keinen Grund, dieje patriotiichen Krieger zu ſegnen.
Ja, es fcheint jogar, als ob die von ÖO’Higgins angelegten Straßen
ſelbſt im flachen Rande feit mehreren Iahren nicht mehr im Stande gehalten
worden ſeien, jo ſchlecht hat es fortwährend mit den Finanzen der Negierung
geftanden. Die Straßen werben demzufolge immer unpaifirbarer und nähern
fi) wieder dem Zuftande bloßer Maulthierpfade. Welch merkwürdige Weſen
find doch die Menſchen überhaupt und die Ghilefen insbelondere! Wenn
nicht dann und wann ein O'Higgins unter ihnen erſchiene, was würte da
aus ten Uinglüdtiben werden? Kann man fich wohl wundern, wenn ein
D’Higgins zuweilen die Geduld verliert, die überredende audgebreitete Hand
fließt. die Peitſche oder flatt deren ein furdtbares Schwert der Gerechtig⸗
feit oder einen Balgen-Laflo padt und dann und wann ein Dr. Francia
wird? Der O'Higgins ſowohl, ald auch Dr. Francia, find wahrſcheinlich
Phaſen eines und deffelben Charakters, und beide find, wie man zu fürchten
beginnen muß, in einer von Menſchen und Ehilejen bewohnten Welt von
Zeit zu Zeit unentbehrlic. >
Was O'Higgins den Zweiten, den Patrioten und natürlichen Sohn
von O’Higgind betrifft, jo hatte Diefer, wie wir gefagt haben, al& Gouver⸗
neur faft gar feinen Erfolg, weil er durch die Legislatur gehemmt ward.
Ah, in Chile kann fein Gouverneur Erfolge erringen. Ein Gounerneur
muß fich bier in den Mangel an Erfolg fügen und gleich jenem neuerwähl⸗
sen Wanfte, der als er fihh auf dem Balcon zeigte, mit lautem Gebeul be⸗
grüßt wart, in heiter fragentem Tone fagen: „Non piacemmo al popolo ?“
— und dann unzenirt zur nächſten Tharfadhe fhreiten.
9
Das Regteren ift überall eine ſchwere Arbeit, in Südamerifa aber ganz
befonderd. Man bat hier bis jegt noch Fein parlamentarijches Mittel, um
eine Beränderung des Minifleriums herbeizuführen, fondern begnügt fi da⸗
mit, daß man das alte Minifterium an den Balgen hängt, um ein neues ein⸗
fegen zu können. „Die Regierung hat den Namen geändert,“ fagt ter
wadre Mr. Miers, der durch das, was er dort fah, nicht wenig mürrifch ges
macht worden; „fie hat den Namen geändert, aber ihr Thun und Wefen
bleibt daffelbe wie zuvor. Schamloſe Beftechlichkeit, Faulheit und Verkehrt⸗
Beit, das ift die Regierung der Südamerifaner ; der früher von ſpaniſchen
Beamten auögehende Drud wird jegt durch Eingeborene, Haciendados und
Grundeigenthümer, ausgeübt, — und das, was man Gerechtigkeit nennt,
ift noch weit von ihnen entfernt, * fagt der mürrifche Mr. Miers.
Ja, aber fie nähert fi) doch, antworten wir; jeded neue Aufhängen
eines alten untauglichen Miniſteriums bringt die Gerechtigkeit etwas näher.
Miers felbft muß zugeftehen, Daß gewiſſe DVerbefierungen und Kortichritte
ſchon jetzt nicht in Abrede geftellt werten fönnen. Der Handel hat fi troß
der vielfachen Verwirrungen gehoben und hebt ſich fortwährend, die Tage
des ichläfrigen Monopols find Tängft entſchwunden.
Zwei gute oder theilweis qute Maßregeln hat eben die Nothwendigkeit
der Dinge überall in dieſen armen Ländern berbeigeführt. Sie beftehen
Darin, daß der Gciftlichfeit die ungeheuren Fledermausflügel verfchnitten
worden find, und in der Emancipation der Sklaven. Bledermausflügel, ſa⸗
gen wir, denn in der That war Die fütamerifanifche Geiftlichkeit zu einer
Art Fledermausvampyren herangewachſen. Du haft, lieber Leier, fchon von
jenem ungebeuren ſüdamerikaniſchen Blutſauger gehört, welcher feinen
Schnabel in dein Ereifendes Lebensblut ftect, während tu im Schlafe liegft
und es taugt. Durch Tie Bewegung ſeiner abſcheulichen Lederflügel fächelt
er dich in immer tieferen Schlaf und trinkt und trinft, bis er genug bat und
du nicht wicher erwachſt! i
Tie fütamerifaniihen Aegierungen, Die mit Ten alten firchlichen
Würtenträgern alle in narürlidyer Fehde liegen und ebenjo alle an großem
Geldmangel faboriren, haben überall die Klöfternüter confldcirt, Die unges
horſamen Geiſtlichen abgeſetzt, das überflüſſige Kirchengeräth in Viaſter uns
geſchmolzen und mit einem Worte ihrem Vamyyr die Flügel verſchnitten, fo
daß man, wenn er audı noch jaugt, wenigſtens noch Ausjiht hat, zu ers
wachen, ehe man todt if:
10
Berner führte eben der Ranzel an Kämpfern für die Freiheit zur Eman⸗
eipation der Schwarzen, Gelben und anderen Farbigen, denn ter Mulatte,
ja fogar der Neger, flieht, wenn er richtig dreifirt if, Im Feuer fo gut wie
ein Anderer.
Die armen ſüdamerikaniſchen Emanctpatoren! Sie begannen mit Vol⸗
ney Raynal und Compagnie bei jenem Evangelium vom gefellichaftlichen
Vertrage und von den Menfchenrechten unter den ungünftigften Umfländen
und find jegt erft fo weit gefommen, wie wir ſehen. Ja, fle befigen jegt
fogar „ Univerfitäten*, die wenigftend Schulen mit anderen als mönchiſchen
Lehrern find; fie haben Bibliotheken, obſchon fle bis jetzt faft noch Niemand licft
und unfer Freund Mierd, der wiederholt an alle Thüren der großen Nationals
bibliorhef non Chile pochte, bis zu Diefer Stunde noch nicht entdecken konnte,
wo der Schlüffel lag, und fi damit begnügen mußte, daß er zu den Fen⸗
ftern bineinichaute.
.Miers begehrt, wie wir ſchon angedeutet haben, uniägliche Verbeſſe⸗
rungen in Chile und als Bafld von allen begehrt er cine ungeheure Ver⸗
mebrung von Seife und Waſſer. Ia, ja, Du waderer Mierd, Schmutz
muß ganz gewiß weggeſchafft werden, welche fernerweite Verbeſſerungen,
geiſtliche ſowohl al& weltliche, auch außerdem noch beabſichtigt werten mö⸗
gen! Nah Miers' Angabe grenzt die offene, aber noch mehr Die gebeime
perfönliche Unjauberfeit dieſer entfernen Völferidaften fat and Erhabene.
Die Ichönften Scidenzeuge, Goltbrocat, Berlenhaldbänter und Diamantene
Obrgebänge find feine Sicherheit dagegen. Ach, leider! Es iſt nicht Alles
Gold, was glänzt; Manches, was da glänzt, ift weiter nichts als flinfende
Fiſchhaut! Entſchiedene, ungeheuer vermehrte Anwentung von Seifen⸗
waſſer in jeder Beziehung und mit allen Zubehör — dies wäre nach Miers
ein Hauptfortſchritt.
Auch ſagt er, alle Chileſen ſeien Lügner — alle, oder wenigſtens dem
Anſchein nach alle! Ein Volk aber, welches faſt keine Seife braucht und
faft feine Wahrheit ſpricht, ſondern auf dieſe Weiſe in cinem ſolchen an das
Erhabene grenzenden Zuftante körperlicher und auch geiftiger Uniauberfeit
herumläuft — ein ſolches Volt ift nicht io leicht gut zu regieren!
Das bemerkenawertheſte von allen diefen ſüdamerikaniſchen Phänomenen
aber ift unzweifelhaft Dr. Francia und feine Dictatur in Paraguay, worüber
wir jet fpeziell fprechen wollen.
Brancia und feine Schredlendregierung haben in unferem Lande Ver⸗
wunderung und Neugier erregt und beſonders ber conftitutionellen Gefin⸗
nung einen bedeutenden Stoß verfegt. Man möchte Dr. Francia fennen
lernen, aber unglüdlicherweiie fann man es nicht. Wer möchte ſich anhei«
fhig machen, aus einem folden Miſchmaſch zerfahrener Schatten und Ge⸗
rüchte in der andern Hemifphäre der Welt gegenwärtig dad wirkliche Por⸗
trait eines Dr. Francia und feine Lebensgefchichte zu entziffern? Niemand
von und kann dies. Einige glaubwürdige und in unferer conftitutionellen
Beit ziemlich wunderbare und originelle Züge enthüllen fih vielleicht dem
unparteiiichen Auge und diefe führen in Verbindung mit dem Beftreben, fie
zu deuten, gewifle Leſer anf verichiedene conflitutionelle und andere Betrach⸗
tungen, die nicht ganz ohne Nutzen jind.
Sicherlich konnte, wie wir eben fagten, nichts das conftitutionelle Ge⸗
fühl der Menfchheit jo erichüttern, wie Dr. Francia e8 erfchüstert hat. Dio⸗
nyfius, der Iyrann von Sprafus, und mit ihm die ganze Tyrannenbrut
waren, wie man hoffte, ſchon feit vielen Jahren von der Erde verichwunden
und batten ihren Lohn dahin und plöglich ſteht Dicht vor unferer Nafe ein
neuer Tyrann auf, der ebenfalld jeine Belohnung von uns in Anipruch
nimmt. Gerade ald die conftitutionelle Zreiheit ein wenig verflantden zu
werden begann und wir und jchmeichelten, daß durch Abflimmung, Proto⸗
folle und ‚parlamentarijche Beredtſamkeit ein wirkliches National⸗Plapper⸗
ment in dieſen Ländern zu Stande fommen würde, — gerade ta erhebt fich
biefer gelbhäutige, bagere, ‚unerbittliche Dr. Francia, legt Embargo auf alle
diefe Dinge und fagt in dem tyranniſchſten Tone zur conftitutionellen Frei⸗
heit: Bis Hierher und nicht. weiter!
Es iſt eine unleugbare, obſchon faft unglaubliche Thatſache, daß Francia,
ein hagerer Privatmann, Advocat und Doctor der Theologie, zwanzig oder
beinahe dreißig Jahre lang ſein Ruthe über den auswärtigen Handel von
Paraguay ausftredte und zu ihm fagte: Höre auf! Die Schiffe lagen hoch
und troden mit aufgeiprungenen gähnenten Planken an den Thonufern des
PBarana und Niemand fonnte anders ald mit Francia's Erlaubnig Handel
treiben.
Wenn Jemand nad) Paraguay kam und dem Doctor feine Papiere,
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feine Werte, fein Benehmen oder auch wur der Schnitt feine® Geſichts nicht
geflelen, fo war es für dieſen Fremden fehr ſchlimm! Niemand durfte unter
irgend einem Borwand Paraguay verlafien. Dabei war es ganz leid, ob
der Betreffende ein Mann des Wiffenihaft, Aftronom, Geolog, Aftrolog
vder nordifcher Herenmeifter war; Francia nahm auf alles dies nit Me
mindefte Rückſicht.
Die ganze Welt kennt die Geichihte mit Aims Bonpland ; wie Brancia
ihn feftmehmen ließ, nachdem er ihn auf feiner Theepflanzung in Entre⸗Rios
gleich einem Geier überfallen, und ihn gegen alles Bölferrecht in das Innere
fhleppte ; wie der große Humboldt und andere vornehme Berfonen fi aus⸗
drüdlic an Dr. Francia wenderen und ihn im Namen der menfchlichen Wif-
fenfchaft und gleihjam bei Strafe allgemeiner Verwünſchung aufforderten,
Bonplant in Freiheit zu feßen, und wie Dr. Brancia feine Antwort gab und
Bonpland nicht nach Europa zurückkehrte und in der That auch bis jetzt no
nicht tahin zurückgekehrt iſt.
Ebenſo weiß man auch, daß Dr. Francia einen Galgen, Henkersknechte,
Gerichtsbeamte und Kerkermeifter hatte, und während feiner Regierung über
vierzig Perfonen, und zwar einige Davon auf ſehr fummarifche Weile, hin⸗
richten ließ.
Mit der Freiheit des periönlichen Urtheils war es, wenn es nicht den
Bund hielt, in Paraguay zu Ende. Paraguay lag unter Bann und Inter⸗
diet, über zwanzig Iahre lang durch einen neuen Dionpfius von Paraguay
von der übrigen Welt abgefchnitten. Aller auswärtige Handel hatte aufe
gehört, wie viel mehr alles conftitutionelle Weſen im Inlande!
Dies find ſeltſame Thatſachen und Dr. Francia war, wie wir wenige
ſtens ichließen Eönnen, nicht ein gewöhnlicher Menſch, jondern ein unges
wöhnlicher. Welch ein Unglück, daB gegenwärtig faſt gar nichts über ihn
zu erfahren ift! Die Paraguener können in vielen Källen buchſtabiren und
Iefen , aber fie find fein literariiches Bolt und dieſer Doctor war vielleicht
ein zu entſetzlich praktiſches Phänomen, ald daß man ihn ruhig auf literari⸗
ſche Weile Hätte behandeln Eönnen. Gin Breugbel malt feinen Seeſturm
nicht während das Schiff arbeitet und Fracht, fondern nachdem er and Ufer
gelangt ift und unter fiherem Obdach figt! Unſere Breunde in Buenos
Ayres, die allertings dann und wann etwas druden, Tagen wieder in zu
großer Enıfernung von Francia; ihr unpartelifcher Blid ward durch eine
Menge Zwiſtigkeiten und Zerwürfnifle getrübt und ihr conftitutionelled Ger
u u
| fühl durch das, was der Dictator that, im höchſten Grade empört. Auf
jenen langen, ſchlammigen Fluthen, durch jene ungebeuren, unflaren Gegen»
den Fonnte wenig Nachricht bis zu ihnen herabfchwinmen, die nidht von
mehr oder weniger unklarcr Beichaffenbeit geweien wäre und dann beftcht
son Buenos Ayres bis nach Europa abermals eine weite Entfernung, weiche
neuen Unklarheiten unterworfen if.
| Brancia, Dietator von Paraguay, iſt gegenwärtig für den europätichen
Geift wenig mehr al8 eine Chimäre, im beften Kalle die Aufgabe eines
Räthſels, deſſen Löfung noch zu ſuchen iſt. Da die Paraguener, obſchon fle
fein literariiches Volk find, Doch zum großen Theil buchſtabiren und jchreis
ben fünnen und nicht ohne alle Fähigkeit find, dad Wahre vom Unmwahren
zu unterfcheiden, fo ift e8 immer noch möglid, daß wir einmal aus jenem
Lande ſelbſt eine Achte und wirkliche Lebensgeſchichte Francia's erhalten.
Wenn ein Schriftfteller von ®enie dort auftaucht, jo fei er hiermit von und
zu diejem Unternehmen aufgefordert. Das fchreibente Genie muß überall,
wo e8 mit einem handelnden Genie zujammentrifft, fi freuen und fagen:
Hier oder nirgents ift ein Stoff für mid zu verarbeiten! Weshalb führe
ih Dinte und Feder, wenn ed nicht geihieht, um die Menfchen von diefem
| jeltfamen hantelnden Genie und feines Gleichen in Kenntniß zu ſetzen?
Meine fhönen Künfte und Aeſthetik, meine Epik, Literatur und Poetif bes
deuten, wenn id) e3 mir recht überlege, im Grunde genommen entweder über-
haupt Died oder überhaupt gar nichts!
Bis jept war die Hauptquelle unferer Belehrung in Bezug auf Francia
ein Feines Bud, das zweite auf unferer Lifte, welches vor etwa ſechzehn
Jahren von Hengger und Longchamp in franzöflicher Sprache erſchien. Es
wurden VWeberfegungen in verfchiedene Sprachen bewirkt; — von der in
die englilche müflen wir zu unferem Leidweſen fagen, dab Niemand, ande
genommen im alle der äußerſten Noth, ſich ihrer ald Lectüre bedienen möge.
Der Ueberſetzer, der fih vor menſchlicher Entdeckung wenig und vor gött⸗
licher oter teuflifcher gar nicht gefürchtet zu haben fcheint, Hat feine Arbeit
über alle Maßen fchledt gemacht — mit Unwiſſenheit, mit Nachläffigkeit,
mit vorbetachter Linreblichkeit, indem er ganz Faltblütig wegläht, was er
nicht verficht. Der arme Mann, follte er noch leben, fo möge er fi bef-
fern, fo lange es nod Zeit il! Er Hat ein franzöftfche® Buch, welches
ſchon an und für ſich mager und trocken war, zu einem höchſt hölzernen enge
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liſchen falfchen Buche gemadt und dafür höchſt wahrfcheinlih noch guten
Lohn beanſprucht!
Wie nöthig find doch Reformen, ſelbſt in diefen Kleinigkeiten !
Die Herren Rengger und Longchamp waren, und wir hoffen, find noch,
zwei jchweizeriihe Chirurgen, die im Jahre 1819 beſchloſſen, ihre Talente
nach Südamerifa und zwar nad Paraguay zu tragen, wo fle unter anderen
Dingen auch naturhiftoriiche Studien zu machen beabfichtigten. Nach langem
Bugſiren und Arbeiten in den Gewäflern des Parana, nad vielem Aufent-
halt durch ftürmifche Witterung und Kriegsunruhen langten fie demgemäß
in Srancia’8 Lande an, erfuhren aber bier, baß fie es ohne Francia's Er-
laubniß nicht wieter verlaflen durften.
Brancia war jegt Dionyſius von Paraguay. Es war mit Paraguay
wie mit gewiflen Maujefallen und anderen Vorrichtungen der Kunft und
Natur — es war leicht hinein, aber unmöglich, wieder herauszukommen.
Unfere braven Chirurgen, unfer braver Rengger — denn dieſer iſt e8 von
den beiden allein, welder fpridt und ſchreibt — fügten fih, mußten Fran⸗
cia's Soldaten und Francia's eigene Perjon furiren, fammelten Pilanzen
und Käfer und ertrugen fech8 Jahr lang ihr Loos ziemlih flandhaft, bis
endlich im Jahre 1825 der Embargo eine Zeitlang aufgehoben ward und
fie nah Haufe reiſten.
Dieſes Buch war die Folge. Es iſt nicht ein gutes Buch, damals
aber gab es über dieſen Gegenſtand noch gar fein Buch weiter und auch jeht
nod haben wir Feind, welches beffer oder auch nur jo gut wäre Wir bes
trachten es als autbentifch, wahrheitögetreu und ziemlich genau; obſchon
mager und troden, ift es Doch verftändlich und vernünftig und lieft fih im
franzöftlihen Original ganz leidlich. Wir fönnen fagen, daß es bis zu den
gegenwärtigen Tagen alled Bedeutende umfaßt, was bis jegt über den des⸗
potijchen Doctor befannt iſt. Hierzu fommt noch feine unbeftreitbare Kürze
oder die Thatſache, daß es um einige Stunden jähneller gelefen werden kann,
al8 irgend ein anderer Dr. Francia. Dies find feine Vorzüge, — bedeu⸗
tente Vorzüge, obſchon gänzlich von vergleichungsweiier Art.
Und doch ift Kürze die Seele des Witzes! Es liegt ein unendliches
Verdienſt darin, daß der Menfch wife, wann er aufhören jol. Der dümmfte
Menſch kann, wenn er fi verhältnigmäßig kurz ausdrückt, mit Recht ver⸗
langen, daß wir ihn anhören. Auch er, der duͤmmſte Menſch, Hat etwas
gefehen, etwas gehört, was fein Eigenthum, deutlich von allem anderen
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unteriheidbar ift und noch von keinem Menfchen in dieſer Welt vorher ge⸗
feben oder gehört worden. Died möge er und fagen und womöglich nichts
weiter als dieſes; fobald er nur angemeſſen kurz iſt, foll er und willkom⸗
men fein.
Die Herren Robertfon mit ihrer „ Schredienäregierung Francia's“ und
anderen Büchern über Südamerika haben fidh in ter Icgten Zeit der Welt
fehr befannt gemacht und die Pflicht des Referenten verlangt, ein Wort über
fie zu fagen.
Die Herren Robertfon waren vor einigen dreißig oder fünfunddreißig
Jahren zwei junge Schotten aus der Gegend von Edinburg, die unter gün«
ſtigen Auſpicien nach Buenos Ayres und von da nad Paraguay und andes
ren Gegenden jenes fernen Gontinentd reiften, um Handelsverbindungen
anzufnüpfen. Da fle junge Leute von lebhaften offenen Sinn waren, fo
betrachteten fte dieſe convulfiviich bewegten Megionen der Welt mit aufmerf«
famen Blick. Es war Flar, daß die Revolution bier nicht wenig tobte, aber
auch, daß Eoftbare Metalle, Büfſelhäute, Chinarinde und viele andere Ar⸗
tifel nicht8 defto weniger vorhanden und eilerne oder meffingene Werkzeuge,
Bierathen, baummollene und wollene ®ewebe und antere britifche Babrif«
erzeugnifje von der Menichheit begehrt wurden.
Die Brüder Robertſon fcheinen demzufolge ausgedehnte und immer
blühendere Geſchäfte gemacht zu haben, welche fie allmälig den La Plata
hinauf bis zur Stadt der fleben Ströme — der fogenannten Corrientes —
und höher bis nad Aſſumpeion, der Metropole von Paraguay, erftredten.
An dieſem legtern Orte wurden die Handeldverbintungen jo zahlreich und
einträglich, daß es endlich räthlich erjchten, einen der glücklichen Brüder oder
auch alle beide ihren dauernden Wohnflg bier nehmen zu laſſen. Dem-
gemäß ließen fie fi Hier nieder und vermweilten abwechielnd bald in Diefer
Stadt, bald in denen des La Plata, Parana⸗, oder Paraguay⸗Landes eine
ziemliche Meihe von Jahren. Die Zahl diefer Jahre genau zu berechnen tft
nach tiefen unaudiprechlid verworrenen Documenten nicht möglid. Im
Parayıray ſelbſt, in der Stadt Affumpeion ſelbſt, Ichten die Brüder Robert⸗
fon nad) einander oder auch gleichzeitig eine gewifle Anzahl von Jahren in
hin⸗ und herſchwankender unentwirrbarer Weije und jahen dann und warn
Dr. Francia mit ihren eigenen Augen, obfchon er ihnen oder Andern damals
noch nicht auffällig geworden war.
Gebirge von Büffel- und anteren Häuten verließen dieje Länder für
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Rechnung der Gebrüder Robertfon, um in Europa ald gegerbte Stiefel und
Dferbegeichire mit mehr oder weniger Zufriedenheit und, wie wir hoffen {
wollen, nicht ohne anftändigen Gewinn für die Kaufleute abgenugt u
werten. | |
Ungefähr um die Zeit, wo Pr. Francia's Schredendregierung begann, |
oder auch vielleicht etwas eher — denn diefe unentwirrbaren Documente ente |
bebren aller Zeitangaben — waren die Herren Robertfon jo glücklich, fid |
von Paraguay zu verabichieden und ihre Handeldunternehmungen in andere . 2
Gegenden diefeß ungeheuren Eontinentd zu verlegen, wo die Regierung feine |
Schredenöregierung war. Ihre Reifen, ihr Kommen und Gehen fcheint ein
außgedehntes, häufige und ungemein verwickeltes geweſen zu fein — nad |
Europa, nach Tucuman, nad Glasgow, na Eile, nad) Laswade und jonft i
wohin. &8 genüge und zu wiflen, daß die Herren Mobertion in eigener
Perſon und auf immer teit einigen Jahren in ihr Vaterland zurüdgefehrt -
find. Mit weldem Nettogewinn an baarem Gelde, wird in dieſen Docu⸗
menten nur matt angedeutet, ganz gewiß aber mit vielen Erfahrungen, wäre |
nur auch die Mittbeilung derjelben verhältnigmäpig kurz geweien. |
Unftreitig batten die Herren Robertfon etwas zu erzählen; ihre Augen
hatten einige nene Dinge gejeben, welcde jich ihren Herzen und ihrem Ver⸗
ſtaͤndniß mehr oder weniger eingeprägt hatten. Unter dieſen Umſtänden be⸗
fchloffen tie Herren Hobertion, ein Buch herauszugeben. Nachdem bie
nöthigen Arrangements getroffen worden, erſchienen 1839 zwei Bände
„Briefe über Paraguay“, die von der Welt gebührend bewillfommnet
wurden.
Wir haben diefe Briefe fürzlih zum erflen Dale geleien. Sie geben
ein Buch von etirad wäfleriger Art und unermeßlich dünner, als man hätte
wünschen können, übrigens aber nicht ohne Verdienſt. Es ift in einem une
gezwungenen, fließenden, Eunfllofen und in Bezug auf Sprache, Gedanken
und Auffafjung jehr incorreetem Style gefchrieben ; athmet einen heiteren,
eupeptiichen,, jocialen Geiſt, wie er fih von unternehmungslnftigen,, ge=
Thäftsfuntigen, füdamerifanifhen Briten erwarten läßt, zeigt hier und ba
einen fihtbaren concreten Zug und ein lebendiged Bild aus jenen entfernten
fonnverbrannten Zändern, und es weht darin eine Art muthwilliger Humor
oder Quaſihumor, eine Iovialität und Bejundheit des Herzens, welche für
den Lefer in gewiffem Grabe ſehr angenehm ift. 5
Ein ſolches Buch ift in der gegenwärtigen langweiligen Zeit nicht zu
gi — uam
ni Dim
—— — 28—
)
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verachten, denn ed gehört zu jener umfangreichen Klaffe von Büchern, welche
der Lejer, fo zu fagen, „mit einem Auge zu und dem andern nicht offen ®
durchlaufen kann, was für gewifle Leſer ein großer Luxusgenuß if.
Da diefe Briefe über Paraguay einen, wie e8 ſcheint, einflimmigen
Beifall fanden, fo beichlofien nun die Herren Nobertfon einen dritten Band
folgen zu laffen und diefen „Dr. Francia's Schreckensregierung“ zu betiteln.
Sie thaten es und der Meferent hat diefen Band ebenfalls gelefen. Unglück⸗
licherweife wußten die Verfaſſer über Dr. Francia gar nichts, oder fo viel
wie nichts mehr zu jagen, und unter biefen Umftänden muß man gefleben,
dag fie in ihrem Buche alles Mögliche geleiftet haben. Man nehme einen
Eubifzoll gute caftilifche Seife und ſchlage fie in Wafler zu Schaum, bis
diefelbe ein Eimerfaß füllt — dies ift die Aufgabe, und ed gehört ſchan
ziemliches Geſchick dazu, dieſe Aufgabe zu löſen.
Die Herren Robertfon haben demzufolge aus Rengger und Longchamp
alles Bedeutendere ausgehoben, einige nicht jchr bedeutende eigene Reminis—
cenzen binzugethan, und dies ift der Cubikzoll Seife. Diefe jchlagen fie in
Mobertfon'idrer Gefhwägigfeit, Iovialität, Gafthofögeplauder, Leitartikels
pbilofophie oder anderen mwäflerigen Subftanzen, bis der Schaum das Eimer⸗
faß, den Band von vierhundert Seiten, füllt, und fagen: „Da!“
Das Publikum warf, wie es ſcheint, felhft dieſes Schaumfabrifat den
Verkäufern nicht ind Geſicht, fondern kaufte e8 für ein volles Faß und fchon
fehen wir die Bolgen davon: Abermald drei Bände über Südamerika von
denſelben fleißigen Herren Robertfon! Auch diefe bat Referent in feinem
Eifer gelefen, muß aber leider geftehen, daß fie weiter nichts find, als die
alten Bände in neuen Bocabeln unter einer neuen Geftalt, und es würde
eben feine große Kunft dazu gehören, Das, was wir von diefen drei Bänden
nicht ſchon wußten, auf einen einzigen Bogen zu Bringen! Und doc flehen
fie da, drei maſſive Bände, über taufend gebrucdte Seiten, abermals drei
Gimerfäfler voll Schaum von dem alten Eubifzoll caftiliiher Seife! Das
ift zu toll. Ein armer verjchmigter Irländer verfauft einen elenden Schims
mel, ftiehlt ihn während der Nacht, ftreicht ihn ſchwarz an und verkauft ihn
am andern Morgen noch einmal. Diejer wird vor Gericht geftellt, aufß
fhärffte inquirirt, und fann von Glück fagen, wenn er wegen ſeiner Geſchick⸗
Tigfeit im Umgang mit Pferdefleiih nicht gehängt wird; gegen dieſe ver-
wandte Büchermadjerei eriftirt aber noch fein Geſetz.
Herr de la Condamine war vor ungefähr hundert Jahren Mitglied
Garlyle. IV. 2
18
einer weltberühmten Geſellſchaft, welche jene Aequinoctialländer bereifte,
und feiftete in einem Zeitraum ven neun oder zehn Jahren wahrhaft Er⸗
ftaunliches. Don Quito bis Euenca maß er Grade ded Meridians, erflet-
terte Berge, ftellte Beobachtungen an und befand Abenteuer, während wilde
Creolen dem menſchlichen Wiſſen fpanifche Unwiflenheit entgegenfegten und
wilde Indianer dann und wann in dem Derzen ferner Wüſten Die ganze La⸗
dung von Inftrumenten binwarfen und den Gehorfam auffündigten. Herr
de Ia Eondamine jah in Cuenca Stiergefechte, die fünf Tage nach einander
dauerten, und am fünften Tage ward fein unglüdlidher, nur allzufühner
Ehirurg während eines Bolldauflaufs ermordet. Er befuhr in indiſchen
Ganoed den Amazonenflrom feiner ganzen Länge nach, über ſchmale Strom«
fhnellen, über unendlihe Schlammfluthen, währenn ringsum die faulende
Vegetation Peſtdüfte hauchte, und machte trogdem und ungeachtet aller Ge⸗
fahren und Abenteuer aſtronomiſche Beobachtungen und willenichaftliche
Notizen!
Ganz abgefehen von feinen Meridiangraden, welche in firengem Sinne
der Weltgefchichte und Dem Bortjchritte der gelammten ſündhaften Nacpfont«
menjchaft Adams angehören, fah und befand diefer Mann und feine Geſell⸗
fhaft Hundertmal mehr romantifche Abenteuer ald tie Herren Robertion.
Madame Godin's Fahrt den Amazonenftrom herab und furditbarer Aufente
halt in den Heulenden Waldlabyrinthen und unter den Leichnamen ihrer
todten Breunde, ift an und für fidh ein weit größeres Abenteuer, als je in
der Robertion’schen Welt eins geträumt ward. Und über alles dies erftattet
Herr de la Condamine Faren, zujammenhängenden, bündigen und glaub-
haften Bericht in einem ſehr Fleinen Octaubande, nicht ganz dem achten
Theile von dem, was die Herren Robertſon fhon in nicht flarer oder zuſam⸗
menhängender, oder bündiger und glaubhafter Weije gefchricben haben.
Und die Herren Robertfon ſprechen in ihren legten Bänden wiederholt da⸗
von, daß fle noch andere Bände über Chile jchreiben wollen, „wenn das
Publikum fie dadurch ermuthigt.“ Das Publikum müßte aber ein unges
heurer Narr fein, wenn es das thäte. Das Publikum muß vor allen Din
gen die Bedingung flellen, daß die wirkliche neu zu Tage fommende Kennt⸗
niß über Chile von der jchon befannten Kenntniß oder Unwiffenheit getrennt
werde, dag man mit aller Strenge die Präliminarfrage ftelle: Sind mehrere
Bände der Raum, der fie faffen foll, oder ein Eleiner Bruchteil von einem
einzigen Bande?
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Im Grunde genommen ift ſolche Bücherfabrikation eine wirkliche
Sünde, guter Leier, obſchon keine Parlamentsakte dagegen befleht — eine
unzweifelhafte Miſſethat oder ein Verbrechen. Kein GSterblicher bat das
Hecht, feine Zunge und noch viel weniger jeine Feder zu bewegen, ohne
etwad zu fagen; er weiß nicht, welches unberechenbare Unheil er anrichtet,
wenn er finnlofe Worte ausſtreut! Der weiche, dünne Flaum ber Diftel
fliegt auf allen Winden und Lüften umber; nutzloſe Difteln, nuglofer Loö⸗
wenzahn und andere nutloje Produkte der Natur oder des menſchlichen
Geiſtes verbreiten fi auf dDiefe Weile und würden endlich die ganze Ober⸗
fläche der Erde bededen, wenn nicht die entrüftete VBorfehung des Menichen
allherbftlich mit Stahl und Feuer intervenirte. Es iſt furchtbar, wenn man
bedenft, wie jedes nuglofe Buch umberfliegt gleich einem nutzloſen kleinen
Daunenbärtchen, den Embryo neuer Millionen. Jedes Wort iſt ein poten⸗
zirtes Saamenforn unendlicher neuer Daunenbärte und Bücher, denn ber
Beift des Menſchen ift ebenfo fruchtbar ald gefräßig. Das Autorenforps
in Großbritannien, welches jammt und jonderd, wenn ed nur jonft an⸗
ginge, recht wohl geneigt wäre, nichtd ald Löwenzahn zu produgiren, if
wie man berechnet hat, jest ungefähr zchntaufend Dann flark, und das
Korps der Leſer, melde blos leſen, um ſich felbft zu entfliehen, ein Auge
zumaden und das andere nicht öffnen und fi mit faft jeder Diftel oder ſonſt
etwas begnügen, was fie lefen fönnen, ohne beide Augen zu öffnen, beläuft
fih jo ziemlich auf ſiebenundzwanzig Millionen !
D, fünnten die Herren Robertjon, dieſe lebhaften artifulirt ſprechen⸗
den Männer nur einmal recht erfahren, in weld einer vergleichungsweis
glücklichen Laune man den Eurzen, verftändlichen, bündigen de la Condamine
zumadıt und fühlt, daß man den Abend gut und ſchön, gleichjam in einem
Zempel der Weisheit zugebracht hat, — nicht ſchlecht und ſchmachvoll in
einer geräufchvollen Kneipe mit Narren und Schreiern, — ad, in dieſem
Balle würden die Herren Robertſon ihr neues Werf über Chile vielleicht nur
al8 einen ganz ganz fleinen Band ericheinen laffen!
Doch genug von diefer Robertſon'ſchen Angelegenheit, bie wir den
Schickſalsgöttern und der Vorſehung anheimftellen müflen. Dieje lebhaften,
unartifulirt fprechenden Robertjond find noch fange nicht die ſchlimmſten
ihrer Art, ja, fle gehören fogar, wenn man will, zu den beflen und find
blos in der Beziehung unglücklich, daß fie dem herbftlichen Stahl und Feuer
in den Weg kommen! Wan höre auf, zornige Beuerfunfen auf fle herab⸗
2%
20
zegnen zu laflen —- genug nun, und mehr ald genug. Dieſes unglüdliche
Gebrechen unferer Literatur durch philofophifche Kritit zu heilen, if ja
ohnedies ein eitler Berfuch. Wer wird auf einer eiligen Neife, wenn der
Tag fich neigt, adfleigen, um mit der Reitpeitſche auf Musquitoihwärme
loszugehen? Dan gebe dem Roſſe tie Sporen und fprenge — vielleicht mit
einem frommen Stoßgebet gen Himmel — raſch hindurch. Mit der Reit-
peitfche kann man fie nicht vernichten. Man trodne die Sümpfe aus, in
weldhen fie audgebrütet werden. Ad Eönnteft du dazu etwas beitragen!
Und was wird mittlerweile aus unferm Doctor Yrancia ?
Die Materialien find, wie unfer 2efer flieht, von der erbärmlichften
Art, mit Ausnahme ded armen bölzernen Rengger ein bebeutungslofer
Miſchmaſch und weiter nichts; nicht Thatſachen, fondern zerrifiene Schatten
son Thatſachen, während die Robertions durch fortwährende conftitutionelle
Phraſen und Verwünſchungen des „blutdürftigen Tyrannen * dad Ganze
nod mehr verwirren. Wie foll man aus folden Materialien ein Bild von
Francia zufammenftellen? Sicherlid vor allen Dingen dadurch, daß man die
conftitutionellen Declamationen und Verwünfchungen wegläßt. Francia, ber
blutdürflige Tyrann, war nicht verbunden, die Welt durch Rengger's Augen,
durch Robertſon's Augen, fondern treulich durch feine eigenen Augen zu be=
trachten. Wir müſſen erwägen, daß aller menſchlichen Wahrfcheinlichkeit
nad diefer Dionyflus von Paraguay etwas beabfihtigte und dann ganz
rubig fragen: Was beabfichtigte er? Iſt einmal alles überflüjfige Gefchrei
und Gefhwäg zum Schweigen gebracht, fo wird fich vielleicht Vieles beffer
überfchauen laſſen und Fleine, oft unbedeutend fcheinende Notizen verbreiten
dann oft ein ganz unerwartetes Licht.
Ein ungebildeter Viehzüchter und Aderömann in irgend einer namen⸗
loſen Chacra, nicht weit von der Stadt Aſſumpcion, war der Vater dieſes
merfwürbigen menjchlichen Individuums und ſcheint e8 ungefähr um daß
Jahr 1757 ind Leben gerufen zu haben. Der Name dieſes Mannes ift und
nicht befannt, fogar die Nation, der er angehörte, iſt ein flreitiger Punkt.
Francia feldft gab ihn für einen Emigranten von franzöfticher Herkunft aus,
man glaubte jedoch allgemein, er fei von Braftlien eingewandert.
Doch mochte er nun PBortugiefe fein oder Branzofe, oder beides in
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einer Perfon, fo probueirte er dieſes menfchliche Individuum und ließ es in
dem oben genannten Jahre auf den Namen Iofe Gaspar Rodriguez Francia
taufen. Rodriguez hatte ohne Zweifel auch eine Mutter, aber auch ihr
Name, der fich nirgends erwähnt findet, muß in der gegenwärtigen Schilde⸗
rung weggelafien werden. Ihr Name und all ihre mütterlihen Zaͤrtlich⸗
feiten, Arbeiten und Leiden find in ſtumme Vergefienheit hinabgeſunken und
Viegen mit ihr unter dem fünfundzwanzigften Grade ſüdlicher Breite be⸗
graben.
Fofe Modriguez ſcheint ein ſtilles, ſchweigſames und dabei heftigen
Ausbrühen von Bosheit unterworfened Menſchenkind geweſen zu jein, fo daß
Vater Francia nad) reiflicher Ueberlegung zu dem Schluffe kam, jein Sohn
werde in einem Lande wie Paraguay feinen beffern Beruf wählen können
als das Evangelium zu predigen und das Amt eines Prieſters zu befleiden.
Es waren auch noch andere junge Francias da, wenigftend eine Schwe⸗
fter und noch ein Bruder, von welchen der legtere fpäter wahnftnnig ward.
Die Branciad hatten bei ihrer heftigen Gemüthsart und ihrem hitzigen
franzöftfch » portugieflfchen Blute vielleicht alle eine gewifie Anlage zum Ue⸗
berichnappen. Der Dictator felbft litt an den fürdterlichften Anfällen von
Hypochondrie, wie das mit genialen Menfchen ja nur zu häufig der Fall ift!
Der bagere Rodriguez fann dabei in der That einen gewiſſen Hang zur Fröm⸗
migfeit gehabt haben und ein halbes Iahrhundert früher geboren, wäre er
vielleicht ganz gewiß ein frommer Menſch geworden. Doc ob nun fromm
oder nicht, er joll nun einmal Priefter werben und in Paraguay vielleicht auf
fehr unerwartete Weife fungiren.
Nachdem Rodriguez in Aſſumpcion fein Abcbuch und bie übrigen
Zweige des Elementarunterrichts ftudirt, ward er demgemäß auf die Univer⸗
fität Cordova in Tucuman gefhicdt, um in diefem Seminar feine Curſus
durchzumachen. So weit wiſſen wir die Sache, aber faft nicht weiter. Don
welcher Art dieſer Eurfus war, mit welchen Lectionen und geiftigem Brei
der arme bagere, fahle Knabe auf dem hohen Seminar von Cordova voll⸗
geftopft ward, und wie ihm diefe Nahrung befam, darüber wiffen wir gar
nichts. Die Schüler folder Seminarien werden in Bezug auf ihre geiftige
Speiſe oft furchtbar gemißhandelt und oft geradezu mit Gift gefüttert, ale
ob man die Abficht Hätte, fie zu Mithridateffen zu machen, die von Gift
leben fönnen, was allerdings in feiner Art auch eine nügliche Kunft fein
kann.
Sa, wenn wir die Sache recht überlegen, fo beftehen Diele Hochſchulen
und andere ähnliche Inflitute in Zucuman und anderwärts nicht um feneß
hageren, blafien Knabens willen, fondern um ihrer felbft willen; denn fte
find ſchon laͤngſt gefhaffen und zufammengefegt, ohme bie mindefte Rückſtcht
auf den Heinen blafien Knaben zu nehmen. Häufig fcheinen fie zu ihm mit
bürren Worten zu fagen: „Dieſes koſtbare Ding, welches in Dir liegt, o
bleicher, fogenannt genialer. Knabe, kann für Dih und die ewige Natur
koſtbar fein, für und aber und daß irdijche Tucuman iſt e8 nicht Eoftbar, ſon⸗
dern ſchädlich und tödtlih. Wir forbern Di daher auf, Dich davon los⸗
zufagen oder Di auf Strafe gefaßt zu machen. *
Und dennoch, wie kann der arme Knabe fich davon loßfagen, wenn die
ewige Natur felbft aus den Tiefen des Univerſums ihm befiehlt, babei zu
beharren? Ad, der arme Knabe, der dem irdifchen Tucuman fo gern ge=
horchen möchte und der ewigen Natur doch nicht ungehorjam werden kann,
ift wahrhaft zu bemitleiden. „Du ſollſt Rodriguez Francia fein!” ruft die
Natur und der arme Knabe bei ftch ſelbſt. „ Du follft Ignatius Loyola oder
Pater Fettwanſto ſein!“ ruft Tucuman. Die ganze Jugend ded armen
Knaben wird demzufolge ein einziger langer Proceg — Rodriguez Francia
contra die ganze Welt. So ift e8 in Tucuman, fo iſt e8 an den meiften
Drten diefer Art. Doch, dem fei wie ihm wolle, der hagere Brancia vers
folgt feine Studien in Eordora weiter und reift allmälig neuen Geſchicken
entgegen. Rodriguez Francia, der mit feinem Sefuitenfappden auf dem
Kopfe und in feinem ſchwarzen wallenden Gewand, mit zu Boden geſenktem
Blick und einer Menge unausfprechlicher Gedanken in feinem Innern dur‘
Die Straßen von Cordova wandelt, ift für ben ‚Hiftorifer ein intereflanter
Gegenſtand.
Es iſt ja ſo Vieles unausſprechlich, o Rodriguez, und es iſt eine ſelt⸗
ſame Welt, in welche Du gekommen biſt und das Syſtem des Ignatius
Loyola und Pater Fettwanſto ſcheint mir etwas zu hinken! Vieles iſt un«
ausſprechlich und liegt in der menſchlichen Seele gleich einem ſchwarzen See
des Zweifels und acherontifcher Furcht, der sum Chaos felbft hinabführt. .
„3a, Vieles ift unausſprechlich,“ antwortete Francia; „aber etwaß iſt
auch ausſprechlich, z. B. daß ich unter diefen Umfländen in Tucuman kein
Prieſter werde, daß ich lieber eine weltliche Perfon werden möchte und wenn
ed ein Juriſt wäre. “
Francia fattelt daher an der Schwelle ded Mannedalterd wieder um
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und gebt von der Theologie zur Jurisprudenz über. Manche jagen, er babe
in der Theologie promovirt und den Doctorhut bekommen ; bie Robertiond
dagegen, melde aber die Sache wahricheinlich nicht richtig aufgefaßt Haben,
nennen ihn Doctor juris. Bür unfere Leſer iſt dies einerlei oder doch ziem⸗
Lich einerlei. Rodriguez verließ Die Alma Mater von Tucuman mit einem
Anflug von Bart am Kinn und erfchten wieder in Affumpeion, um fly nad
Praxis umzuſehen.
Was hatte Rodriguez unter den Fittigen feiner Alma Mater in Gor-
dova wohl gelernt, als er fie verließ? Die Antwort läßt ſich blos rarhen,
denn fein Lebenslauf ift, wie wir bier wiederholt bemerken, nody nicht genau
befannt. Etwas von Arithmetik oder den ewigen Gefegen der Zahlen, etwas
von Geometrie oder den ewigen Oefegen der Formen — dieſe Dinge lernte
Rodriguez wahrfcheinlih und fand fle außerordentfich merkwürdig. Es iſt
and iondertar. Dieſe runde Kugel ift, wenn man fe in Diele runde Trom⸗
mel ftedt, fo daß fle Diefelbe an den Enten und in der Mitte ringsherum
berührt, gerade ald ob man eine 2 in eine 3 fledte, nicht ein Jota mehr,
nicht ein Iota weniger. Wundere Dich darüber, o Francia, denn es ift in
der That eine Sache, die zum Nachdenken auffordert. Alte griechiſche Ar⸗
chimedeſſe, Pyrbagoraffe, gebräunte Indier, beinahe fo alt als die Berge,
enttecten ſolche Dinge und fte find binübergefommen nah Paraguay bis in
Dein Gehirn, Du glüdlicher Francia!
Und wie kommt es, daß die Planeten des‘ allmächtigen Schöpfers in
jenen bimmlifchen Räumen in Bahnen laufen, welche fih in Deinem arınen
menſchlichen Kopfe als Kegelfchnitte denken Iaflen? In dem, was Du eine
Eilipfe nennft, läßt der allmächtige Schöpfer jeine Planeten rollen. Ein
flarer Beweis, den weder Loyola noch Bettwanfto widerlegen fünnen, daß
auch Du ein Bürger dieſes Weltalls bift, daß auch Du auf irgend eine un«
begreifliche Weiſe beim Rathe der Götter gegenwärtig warft.
Bon diefen Dingen lernte Brancia in Tucuman ein wenig. Endloſe
fhwere Wagenladungen jefuitiiher Theologie, mit denen er unaufhörlich
überfchüttet ward, lernte er dagegen nicht, fondern ließ fie als Unrath unbe-
achtet liegen, Außerdem ſcheint es, als habe er fich noch ein wenig mit
menschlichen Vocabeln befannt gemacht — mit franzöflihen Vocabeln, dem
leibliden Gewande der Encyclopedie und des Evangeliums nah Volney,
Jean Jacques und Compagnie, fir Francia von unendlidher Bedeutung !
Ja, tft es nicht gewiſſermaßen ſchön, vie heilige Flamme menſchlicher
24
Wißdegier und Liebe zur Erkenntniß unter den feuchten jchläfrigen Dünften
— wirflichen ſowohl als metaphoriſchen — in ben tropiſchen Biftmoräften
und fetten lethiſche Betäubungen und Wirrnifien felbft in dem Herzen eine
armen Creolen von Paraguay erwachen zu fehen? Cine heilige Flamme,
noch nicht größer als die eined ‚Hellerlichtes, in wifjenichaftlicher Beziehung
blos mit alten franzoͤſiſchen Schulbüchern und in politiicher und moralifcher
blos von den Raynald und Moufleaus genährt — eine fchlecht genährte,
fladernde, blaue, far gefpenftiiche Flamme, aber dennoch nöthig und felbft
in tiefer Geftalt in gewiſſem Grade Heilig! Du ſollſt die Erfenntniß lieben;
Du ſollſt zu erforfchen fuchen, was in diefem Weltall Gottes die Wahrheit
ift; Du biſt verbunden und bevorrechtet, ſie zu lieben und fle zu fuchen, im
jefuitifchen Tucuman fowobl, als an allen andern Orten, fo weit der Him⸗
mel reiht und ſogar Volneys zu Hülfe nehmen, wenn fi feine andere Hülfe
darbietet !
Diefe armielige blaue, fo leicht auszulöfchende Flamme in Rodriguez
Francia’8 Seele, die Hier gut oder übel und in vielen Geſtalten fein ganzes
Leben hindurch brennt, iſt mir jehr merkwürdig. Obſchon nur ein kleines
blaues Blämmchen muß es doch bedeutende Quantitäten giftigen Unraths
von der Oberfläche Paraguay's hinwegbrennen und das undurdbringliche
Dſchungl des Waldes troß aller jeiner Dornbüjche und Lianen ichwarz fengen
und dabei andeuten, daß das genannte Dſchungl tem Tode und ter Vernich⸗
tung verfallen ift, peremtorijdher Vernichtung, daß die Sonne wieder auf
Die ihr feit fo vielen Jahrhunderten tyranniſch entzogene Erde herabblicken
fol. Muth, Rodriguez |
Rodriguez witmer fi, gleichgültig gegen fo fernliegende Betrachtun«
gen, mit gutem Erfolg der Jurifterei und allgemeinen Privatftudien in der
Stadt Aflumpeion. Wir haben fletö gehört, er fei einer der beften Advo⸗
caten, vielleicht der allerbefte gewejen und — was nody mehr iſt — auch
der geredhtefte, der jemals in dieſem Lande immatrikulirt worden. Dies
gefteht jogar die Mobertion’iche „Schredensregierung * zu, ja fie verſichert
es wiederholt und prägt e8 und ein. Er war ald junger Mann jo gerecht
und wahr, berechtigte zu jo ſchönen Hoffnungen auf ein herrliches, edles
Leben und ftrafte Dann in feinen reiferen Jahren als Died auf folche Weije
Lügen! Es ift eine Schmach, wenn man es bedenkt. Ran hatte allen Örund
zu glauben, er werde ein Freund ter Humanität vom reinften Wafler wer-
den und zuletzt ward er, durch politiiche Erfolge und Liebe zur Gewalt ver«
25
härtet, ein raubgieriger Dänon oder einfamer Dieb in ber Nacht, der das
Palladium der Conſtitution aus dem Parlamentshaufe ftahl und — über
vierzig Perfonen Hinrihten ließ! Es if traurig, wenn man bebenft, was
aus Menſchen und Freunden der Humanität zulegt werden kann.
Uebrigend ift es weder nnd noch irgend einem andern Herausgeber, fo
lange wir nicht eine Biographie aus Paraguay erhalten, auch nur im ente
fernteften möglich, eine Schilderung von Francia's Eriftenz als Advocat in
Affumpeion zu entwerfen. Der Schauplag ifl gar fo entfernt, die Berhält«
niffe find gar jo unbefannt.
Die Stadt Affumpeion, jet beinahe dreihundert Iahre alt, liegt frei
und offen am linfen Ufer des Paranafluffes, umſchloſſen von Obſtwaͤldern
und dichten ungeheuren Waldungen, welche auch zum Schuß gegen die In«
dianer dienen. Man mag fih ihr auf irgend einer der verichiedenen Stra-
Ben nähern, fo geſchieht es auf meilenlangen, einfamen fchattigen Alleen,
welche dad grelle Sonnenlicht abhalten und wie mit einem ſchönen grünen
Baldachin die lockere Sandftraße überwölben, wo zu Unfange des gegenwär⸗
tigen Jahrhunderts — ein näheres Datum ift in dieſen confujen Bänden
nicht zu entdecken — Mr. Pariſh Robertſon einem einzigen, von einem net«
ten braunen Mädchen in rothem Mieder, mit langem fchwarzen Haar, geführ« '
ten Karren und dann ſechs Wegftunden weit auch nicht einer einzigen menſch⸗
lien Seele weiter begegnete.
Die Bewohner jenes fruchtbaren Himmelsftriches leben in ſorgloſem
Ueberflug und befümmern fih um fehr wenig Dinge, verfertigen fo viel Höls
zerne Karren, Thierfellbetten und Lehmhäufer als unumgänglich nothwendig
find, importiren einige Schmudjäceldhen und taufchen fie gegen Paraguay
three in zufammengenähten Ziegenfellen aus. Wenn Du, lieber Lefer, mit
Pariſh Robertjon um drei Uhr Nachmittags Durch die Stadt Santa Fé rei«
teft, fo findeft Du die geſammte Bevölkerung jo eben von ihrer Siefta aufs
geftanten. Nachläſſig angekleidet und nur halb zugefnöpft figen diefe Leut⸗
hen in ihren nad der Straße hin geöffneten Verandas und eſſen mit wah⸗
ren Heißhunger eine zuderjüße Melone nah ter andern. Bei dem Schall
ber Hufichläge Deines Mofled Hlicen fie gutmüthig auf. Dichtbelaubte
Bäume verbreiten — Danf der Natur und der heiligen Jungfrau — Schat⸗
ten in der Straße. Sie heißen Dich willkommen und laden Dich zu ihren
Tertulias, einer Art Abenpgefellichaften, ein, welche um fleben Uhr beginnen.
Vorher geht die ganze Bevölkerung bunt durch einander in den Parana ba⸗
26
den — bunt durch einander, fagen wir, aber in leinenen Badehemden, fo
dag Du anftändig mit berumplätfchern kannſt, was in jenen Klimaten für
das menſchliche Tabernakel keine Fleine Wohlthat ift.
Bei der Tertulia find, wie man fagt, die andaluflichen noch in biefer
zehnten oder zwölften Generation fhönen Augen ziemlich verführeriich und
verrathen eine Seele, deren Ausbiltung wohl der Mühe verlohnen bürfte.
Die ſchönen Halbwilden, die jetzt nur dann und warn ein irrer Blitz durch⸗
zuckt, fönnten auf immerbar erleuchtet werten. Wenn die Tertulia vorüber
ift, Ichlafft Du auf einem Lager von Thierfellen, vielleiht audy hier und ba
auf einer civiliftrten Matrage in einem Zimmer oder auf dem Dadhe.
In ten feuchten flaben Begenten, wo es von Mosquitoé wimmelt,
ſchlaͤfft Du auf Hohen Gerüften, die auf vier Stangen vierzig Fuß hoch über
dem Boden ichweben und zu melden man auf Leitern binauffleigt — fo
hoch, gefegnet fei die heilige Jungfrau! daR die furchtbar ſtechenden Mos⸗
quitoß nicht nachfolgen fünnen. Hier Tchläft abermals bunt durd einander
Jeder in feinem Poncho oder Mantel, mit einem Sattel, einer hölzernen
Kifte, einem Scheit Holz oder dergleichen unter dem Kopfe. Der Bettbims
mel ift der ewig blaue Baldahin des Firmaments, flatt der Nachtlampe
brennt ter Canopus in feinen unendlichen Raumen und die Mosquitos kön⸗
nen Dich nicht erreichen. Lind der rofenfingrige Morgen, der den Often mit
plöglihem Roth und Gold und anderen Flammenzeichen des ſchnell vor⸗
rücenden Tages übergießt, laßt alle Träume entfliehen und die erfte horizon⸗
tale Kichtialve der Sonne feucht von allen lebenden Weſen den Schlaf bins
weg und die Menjchen erwacen Hier in ten Pampas auf ihren vierzig Fuß
hohen Schlafgerüflen und Fönnten den Tag mit Gebet beginnen, wenn fle
fonft Luft Härten. Steht dort drüben am Horizonte nicht ein hellſtrahlen⸗
der Altar? Wölbt fi über ihnen nicht eine ungeheure Kathedrale? —
Wie Du Di übrigens während ter Nadıt gegen die Bamphre vertheidigt
haft, das wiffen wir nicht.
Die Gauchos⸗Bevölkerung ift — Died muß man zugeben — zur con⸗
ftitutionellen Freiheit allerdings noch nicht reife Diele Menfchen find ein
rohes Bolf und führen ein Ichläfriges Xeben der Bequemlichfeit und ſchmuti⸗
gen Veberfluffes, welches nur um einen Schatten beſſer ift, ald ein Hunde⸗
leben, das man befanntlih als ein Keben der Ruhe und Armuth definirt.
Die Künfte und Handwerfe liegen noch in ihrer Kindheit, und die Tugen⸗
den ebenfulld. Was Kleitung, Betten, Haudgerätbfchaften und dergleichen
27
Betrifft, fo nehmen diefe einfachen Völkerfchaften ihre Zuflucht größtentheils
"zu der Haut der Kuh ımd fertigen daraus das Meifte, was fie brauchen —
Laffos, Bolas, Schifftaue, Einfaflung fir Wagenräder, Kamaſchen, Betten
und Hausthüren. Kubfchädel vertreten bie Stelle von Stühlen und Bän-
ten und als einer der Mobertfond den General Artigad ſprach, ſaß letzterer
mit feinen Stabsoffizieren auf Kuhſchädeln, röftete Fleifchichnitte und dik⸗
tirte drei Secretairen auf einmal. Das Gerippe der Kuh wirb überdies
auch als Heizungsmaterial und zum Kalfbrennen benugt.
Bine Kunft fcheinen fte allerdings vervollfommnet zu haben, aber bloß
eine, nämlich die Des Neitens. Aſtley's und Ducrom’s Cirkus muß ſich ver-
ſtecken und aller Glanz von Newmarket und Epſom verfchwinder in nichts,
wenn man die Reitfunft der Gauchos damit vergleiht. Wenn jemals wirks
lich Centauren auf ter Erde gelebt haben, fo find Die Gauchos ihre Nade
kommen. Sie fiten auf ihren Pferden als ob beide ein Fleiſch wären; ga—
Ioppiren, wo faum eine Gemie fußen zu fünnen fcheint, fpringen mie Kan«
guruhs und ſchwingen dabei ihre Laffod und Bolas. Sie Fünnen, wenn
eine Kriegsliſt e8 erheifcht, fi unter den Bauch des Pferdes ducken und fi
blos noch mit der großen Zehe und Ferſe anhalten. Man glaubt, e8 komme
eine Heerde wilder Pferde herangelauft und plötzlich verwandeln fie ſich mit
wildem Gefreifch in eine Schaar Centauren mit Pifen in den Händen. 9a,
ſie befigen die Geſchicklichkeit, welche mehr als alled andere Alles, was New⸗
marfet leiftet, in den Schatten ftellt — die Kunſt namlich, auf Pferden zu
reiten, die nicht gefüttert worden find und einen Pferde, welches eben fo
wie der Reiter im Begriff ftand, vor Mattigfeit ten Geift aufzugeben, wie⸗
der neues Leben und neue Schnelligfeit einzubauchen. Mit Ducrow auf
breit Pferden zu reiten, würden fle für eine geringe Leiftung achten; da⸗
gegen auf dem fchwindfüchtigen Brudtheil eines Pferdes zu reiten — das
ift die wahre Kunſt!
Ihre Hütten befigen Ueberfluß an Rindfleifh und Unratb und über«
treffen an Schmuß die meiſten Orte, welche die menfchliche Natur irgendwo
dewohnt bat. Die armen Gauchos! Sie trinken Paraguapthee, indem fle
ihn der Reihe nad durd ein und dafjelbe Blechrohr aus einem einzigen ge=
meinichaftlichen Kochtiegel ſaugen. Es find gaflfreie, ſchmutzige, hagere,
Tügenbafte, lachende Burſchen von vortrefflidem Talent in ihrer Sphäre,
Sie befigen Stoicismus, obichen fie von Zeno nichts wiffen, ja jogar Stot«
ciemus in Verbindung mit Achter Heiterfeit des Herzens. Mitten in ihrem
28
Schmutz und Elend lachen und fcherzen fie laut, fpielen einfache, wehfla-
gende Melodien auf einer Art Buitarre, rauchen unaufhörlich Tabaf und
ergögen ſich an Spiel und ſpirituoſen Getränfen, der gewöhnlichen Zuflucht
beißhungriger, leerer Seelen. Aus demielben Grunde und einem befieren
ergögen fie ſich auch an Brohnleichnamsceremonien, Mefgefängen und andern
gottesdienftlihen Verrichtungen.
Diefe Menichen find fähig, zu eiwas dreffirt zu werden! Ihr Xeben
ſteht da gleich .einer leeren geräumigen Flaſche, welche dem Himmel und der
Erde und allen Dr. Francia's, welche vorüberfommen, zuruft: Giebt es
denn gar nichts, was in und bineingefüllt werden fönnte, außer nomadis
ſchem Müßiggang, jefuitifhem Aberglauben, Unrath, Qualm und trodenen
Streifen zähen Rintfleifches? Ia, ihr unglüdlihen Gauchos, — ja, e8 giebt
noch etwas, es giebt noch mehrere Dinge, die in euch Hineingethan werden
könnten. Bor allen Dingen aber werdet ihr bemerken, daß erſt ſteben Teu⸗
fel aus euch heraudgetrieben werten müflen: Müßiggang, Rohheit, Gewif-
fenlofigfeit, Aberglauben, Falſchheit — und wie die fleben Teufel ſaͤmmtlich
heigen mögen. Und die Urt und Weile, auf welche etwas in euch hineinzu-
bringen wäre, ift leider gegenwärtig noch nicht jo klar. Befteht fle viclleicht
nidht leider in der Hauptſache darin, daß man euch vor allen Dingen mit
guten Reitpeitſchen tractirt und ald Beginn aller Kultur erft jene fleben
Teufel austreibt?
Wie verbrachte Brancia feine Tage in einer ſolchen Region, wo die
Philofophie, wie nur zu Flar ift, auf der tiefiten Stufe ſtand? Yrancia
hatte, wie Quintus Pirlein, dauernde probebaltige Freuden, naͤmlich Be⸗
fhäftigungen. Es befaß eine audgebreitete Praris und fland im immer
mebr zunehmenden Rufe eines in Führung von Prozeſſen nicht blos ges
wandten, fondern auch zuverläffigen und redlichen Sachwalters. In fele
nen Mußeſtunden hatte er jeine Volneys, Raynals und alte wiflenjchaftliche
Abhandlungen in franzöfliher Sprache; er liebte die Natur zu befragen,
wie man zu fagen pflegt, und trachtete nach dem Befige ron Theodoliten,
Teleffopen und allen Arten von Gläjern oder Büchern, mit deren Külfe er
einen Schimmer von Thatſachen in diefem ſeltſamen Univerfum erhaſchen
fonnte — der arme Francia!
Sa, man fagt, fein hartes Herz fei nicht ganz unentzündbar, jondern
namentlich für jene in der zehnten oder zwölften Generation immer noch
fhönen andalufifchen Augen empfänglich geweien. In dieſem alle mag es
29
wohl auch, follte man glauben, wie Anthracit und etwas heftig gebrannt
haben. 8 werden in diefer Beziehung allerhand Dinge erzählt, die nicht
fo ohne Weiteres als unglaubhaft zu verwerfen find. Schade, daß es nicht
ein andalufliches Augenpaar gab, welches Tiefe und Seele genug befaß, um
Dr. Brancia auf die Dauer zu fefleln und einen Hausvater aus ihm zu
maden. Es wäre beſſer geweſen, aber es geihah nicht. Was jened nette
braune Mädchen betrifft, welches zwanzig Jahre fpater auf den Straßen von
Aſſumpcion Blumen verkaufte und ein lockeres Leben führte, jo ift ed wohl
nie mit Gewißheit ermittelt worden, ob fie wirklich Dr. Francia's Tochter
war und felbft wenn fie es geweſen wäre, fo läßt fich immer noch bezweifeln,
06 er etwad Wichtiged für fie hätte thun können oder thun wollen.
Francia ift ein etwas zurückhaltender, verfchloflener Mann, der felbft
im Gewühl der Menſchen einſam bleibt. Sein Gefiht zeigt zumeilen ein
Lächeln, doch hat dieſes in der Regel einen ernften, wehmüthigen Anflug.
Er galt überall für einen Mann von der ftrengften Wahrhaftigkeit, Pünkt⸗
lichkeit, eiferner methodiicher Strenge und vor allen Dingen eiſerner Redt-
lichkeit. Es gilt Schon für einen hohen Ruf, wenn einer ein gejchickter Ad⸗
bocat und ein glehrter Advocat ift, und nun denfe man ſich erft einen ehr⸗
lihen, rehtfhaffenen Advocaten!
Die Robertſons erzählen, ehe ſie noch daran dachten, eine „Schreckens⸗
regierung Brancia’8* zu fchreiben, in dieſer Peziehung einen Vorfall, den
wir al8 einen für Srancia fehr charakteriſtiſchen bier mittheilen:
„Es iſt ſchon bemerkt worden, daß Francia's Muf ald Advocat nicht
blos von den Vorwurfe der Beftechlichkeit rein war, fondern daß er ſich aud
durch große Geratheit und Nechtfchaffenheit audzeichnete.
„Er hatte in. Aſſumpcion einen Freund Namend Domingo Rodriguez.
Diefer Mann hatte ein habgieriges Auge auf einen Naboth's Weinberg ge-
worfen und dieſer Naboth, deflen offener Beind Francia war, hieß Eſtanislav
Machain. Nicht zweifelnd, daß ter junge Doctor eben fo gut wie andere
Advocaten feine ungerechte Sache übernehmen würde, trug ihn Rodriguez
feinen Fall vor und verlangte feinen Rechtsbeiſtand, indem er ihm zugleich
ein anftändige8 Draufgeld bot. Francia fah fofort, daß die Anſprüche ſei⸗
ned Freundes fih auf Trug und Ungerechtigkeit gründeten und er weigerte
fih nicht blos, ihm als Anwalt zu dienen, fondern fagte ihm auch offen her⸗
aus, daß, jo fehr er auch feinen Gegner Machain haßte, diefer Doch feine
eifrigfte Unterflügung genießen follte, wenn er, Rodriguez, bei feinem unge⸗
B
rechten Prozeß beharrie. Die Habgier aber laßt fih, wie Abab's Geſchichte
und ſchon zeigt, nidyt fo leicht von ihren Aniprüchen zurüdbringen und Res
driguez bebarrte, trotz Francia's Warnung, auf jeinem Boriage. Da er in
Bezug auf Vermögen ein mächtiger Mann war, fo fam natürlihd Machain
mit feinem unglüdlichen Weinberge immer weiter ind Hintertreſſen.
„Bei diefem Stande der Dinge hüllte fih Brancia eines Nachts in ſei⸗
nen Mantel und jchritt nach dem Haufe feines eingefleifchten Feindes Machain.
Der Sklave, welcher die Thür öffnete und wußte, daß fein Herr und der
Doctor, gleih den Bäufern Montechi und apuleti, ſich gegenteitig ein
Dorn im Auge waren, verweigerte dem Advocaten den Einlaß und eilte, fei«
nen Herrn von dieſem feliamen und unerwarteten Beſuch in Kenntniß zu
jegen. Machain, der tarüber nicht weniger betroffen war als fein Sklave,
zögerte eine Weile, beſchloß aber endlich, Francia vorzulaflen. Herein trat
ber ſchweigende Doctor in Machain's Zimmer. Alle den Brozeß betreffende
Papiere — und ed waren deren, wie man mir verfihert hat, nicht menig —
lagen auf tem Bulte des Beklagten ausgebreitet.
„„Machain,“ fagte der Advocat zu ihm, ‚Ihr wißt, daß id Euer Feind
bin. Ich weiß aber, Daß mein Freund Nodriguez gegen Euch eine grobe,
gefegwidrige Beraubung im Schilte führt, die er, wenn ih mid nidt in
die Sache mifche, auch endlich Durdyfegen wirt. Deshalb bin ich gekommen,
um Eud) meine Dienfte ald Vertheitiger anzubieten.‘
„Der erftaunte Machain traute kaum jeinen Einnen, machte aber dem
aufwallenten Gefühl jeined Dankes in freudigen Worten Luft und erklärte
fid) bereit, die Dargebotene Hülfe anzunehmen.
„Das erfle escrito oder ˖ Actenſtück, welches Srancia an ven Juez de
Alzada oder Richter des Uppellhofes einjendete, erfüllte nicht blo8 die At»
vocaten Der Gegenpartei, jondern auch den Richter, der in ihrem Intereffe
war, mit Beitürzung. ‚Mein Freund,“ jagte der Richter zu Rodriguez? Ad⸗
bocaten, ‚ih kann in dieſer Sache nicht weiter gehen, wenn Ihr nicht Dr.
Francia's Schweigen erkauft. — ‚Ih will ed verfuchen,‘ entgegnete der
Advocat, und begab fih mit Hundert Dublonen — ungefähr dreihuntert
und fünfzig Guineen — zu Naboth's Anwalt und bot ihm dieſe Summe
zum Geſchenk an, wenn er die Sache ihren ungerechten Gang gehen ließe.
In der Meinung, daß e8 von weientlihem Gewicht fein würde, wenn er dar⸗
auf hindeutete, daß dieſes Geſchenk mit Zuftimmung des Richters geboten
31
würde, gab der fhurfilche Advocat dem rechtichaffenen zu verflehen, daß dies
allerdings der Ball jei.
„‚Salga Usted,‘ fagte Frantia, ‚con sus viles pensamientos y vilisimo
oro de mi casa!‘ (Hinaus mit Euren jhänblihen Andeutungen und Eurem
elenden Golde aus meinem Haufe!)
„Daß feile Werkzeug bed ungeredten Richters entfernte ſich und der
beleidigte Advocat warf fofort feinen Mantel um und begab fih in das Haus
der Juez de Alzada. Nachdem er kurz erzählt, was zwijchen ihm und dem
Abgeſandten des Richters vorgefallen, fuhr Francia fort:
„Ihr feid eine Schmad für Tas Geſetz und ein Schandfleck für die
Gerechtigkeit. Ueberdies feld Ihr vollftäntig in meiner Madıt und wenn
ich nicht bi8 morgen eine Entfcheidung zu Gunften meines Glienten habe; fo
will ih Eudy die Richterbanf fo heiß machen, daß Ihr nicht darauf fißen
bleiben könnt und die Inflgnien Eures richterlicen Amtes follen die Ems
bleme Eurer Schande werden.‘
„Am andern Morgen folgte in der That eine Enticheitung zu Ounften
von Francia's Glienten. Naboth behielt feinen Meinberg, der Richter ver-
Ior jeinen Ruf und der Ruhm des jungen Doctors verbreitete jich nah und
fern. *
Andererſeits wird aber auch zugegeben, daß er ſich Damals mit feinen
Vater veruneinigte und wie man erzählt, nie wieder mit ihm ſprach. Der
Grund des Streited war, wie man glaubt, eine gewiffe Oeldangelegenheit.
Man beichuldigt Francia durchaus nicht Der Habſucht, ja ſogar Rengger
ſpricht ihn ausdrüdlih von der Liebe zum Gelde frei. Aber er hafte die
Ungeredtigfeit und war höchſt wahricheinlich nidyt abgeneigt, ſich ſelbſt chen
fo gut ald Andern ein freies unparteiiſches Gebahren zu geftatten.
Er ift ein ftreng rechtlicher Mann, welder will, daß man eine Darfe
eine Harfe nenne, ein Mann, der e3 in der creolijchen Juridprudenz und
den verborgenen franzöfifhen Wiffenichaften weit gebradıt hat, ein Mann
von Talent, Energie und Treue, ein Mann, der aber unglüdlicherweije oft
von Hypochondrie und jchwarzen Donnerwolfen heimgejucht wird, twelde
wahrjcheinlid der Urjprung jener Blige find, wenn man in ihn hinein—
ftachelt !
. Er führt ein einfames abgejchloffened Leben, befragt Die Natur durch
Sternengläjer und zieht die Philofophie des Abbe Raynal zu Rathe, Der
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ihm aber in dieſer Beziehung feine jehr ausführliche Antwort giebt. Seine
Umgebung beſteht aus weiter nichtd ald aus Actenflüden, Advocatenrechnun«
gen, amtlihen Berrihtungen, Ehre und Lob und der Bewunderung der
Gauchos von Aſſumpcion. Selbſt der Lafſo eined ſchönen andaluflichen
Augenpaares kann ihn nur vorübergehend feſſeln. Man ſollte glauben, ein
ſolcher Mann ſei von der Natur nur karg bedacht worden und müſſe in ziem-
lih verihrumpftem Zuflande enden.
Hundert Jahre früher würde er mit jeinem fchwarzgalligen Ernfte und
einem ſolchen ®lühofen von LKeidenichaften, Forſchungen und Unausſprech⸗
lichkeiten in feinem Tiefinnerften einen gang vortrefflichen, faft zur Canoni⸗
fation reifen Dominifanermönd, ja vielleicht einen vortrefflichen Jeluiten-
general, Großinquiſitor oder dergleichen abgegeben haben, wenn er nach die
fer Ridytung bin entwidelt worden wäre.
Zu allem dieſen aber kommt er jegt einen Tag zu ſpät. Dergleichen
verunglücte Dominifanermönche produciren jegt anftatt fronımer Verzückun⸗
gen und wunderbarer Sufpenflonen im Gebet — braune zufällige Kinder
weiblichen Gefchlechts, welche in den Straßen von Affumprion in Dürftigfeit
einberwanteln und Blumen verkaufen.
Es ift wirklich eine fehr unfruchtbare Zeit geworden und was hat Die-
fer Francia mit feinen verfchloffenen Unaugfpreclichfeiten, mit feinem feft
unter Schloß und Riegel gehaltenen grimmigen Spleen zu erwarten? Einen
Platz auf der Richterbank, in dem MunicipalsEabilto, ja er hat fhon einen
Poſten in dem Cabilto; er ift Ihon Alcalde oder Kortmayor von Affump-
cion gewefen und in einem vergoldeten Wagen gefahren, fo gut als ſie ihn
hatten. Er fann, follte man meinen, wenig anderes erwarten, als guten,
aber kahlen Verdienft an Geld und kahlen Gauchos⸗Ruhm; die Philoſophie
des Abbe Raynal ift auch fehr kahl, Francia's ganze Lebensreiſe fcheint
fahl werden zu follen und endet vielleicht mit — Nichte, denft Abbe
Raynal.
Aber nein, zu jener Zeit ging es anders in der Welt her. Weit drü⸗
ben über dem Waſſer haben Föderationen auf dem Marsfelde ſtattgefunden;
man hat Guillotinen, tragbare Guillotinen gebaut und ein franzöftiches Volt
bat fih gegen feine Tyrannen erhoben. Ein Sansculottismus ift entſtan⸗
den, der endlih in Geſchützſalven jpricht und auf dem halben Erdkreiſe
Städte und Nationen in Trümmer fchlägt. Der glatte Bettwanfto Schlen-
Driano, der in feinem mwohlgepoffterten Lehnſtuhle wie im Todtenfchlafe Tag
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oder ſchlafwandelnd auf den Dächern umherſtolperte, fchien eine Stimme zu
vernehmen, welche rief: „Wach auf, Schlendrians, ſchlaf nicht mehr! *
Es war in der That eine furchtbare Erploflon, diefe Exploſton des
Sansculottismus, die den Tartarus gegen den Olymp fprengte und durch
ihr Setöfe fat Die Todten aufzumeden vermocht Hätte. Und aus biefer Ex⸗
ploflon waren Napoleonismen und Tamerlanismen hervorgegangen und
dann, ald ein Zweig von diefen, „ Eonventionen von Arranjuez“, auf welche
bald ſpaniſche Juntas, ſpaniſche Eorte u. dergl. felgten, bis endlih das
arme alte Spanien felbft zu feinem eigenen großen Erſtaunen vollftändig
erwachte. Auf das alte Spanien folgte ganz natürlich zunädhft Neufpanien,
welches doppelt erftaunte, als es ſich auf einmal wach ſah!
Und fo entfliehen aud in der neuen Hemiſphaͤre abenteuerliche Profecte
und es wird zornig hin und her geflritten ; es bilden ſich bewaffnete Zuſam⸗
menrottungen auf der Infel Santa Marguertta mit Bolivars und Invaflonen
son Cumana; Empörungen in La Plata, Empörungen da, Empörungen
dort und das untertirdijche eleftriihe Element zittert und exrplodirt Schlag
auf Schlag auch in der neuen Hemifphäre von Meer zu Meer. Ganz er-
ftaunlihe Dinge gefihehen vom Jahre 1810 an. Hätte Rodriguez Franeia
drei Obren, fo würde er hören; hätte er jo viel Augen wie Argus, fo
würde er fchauen! Er ift ganz Auge, er iſt ganz Ohr. Für Dr. Rodriguez
bildet ſich allmälig eine neue, ganz verfchiedene Geftaltung des Dafeins.
Die Einwohner von Paraguay waren als ein wett im Binnenlande
wohnendes und philofophifchen Spekulationen durchaus fremdes Volk keines⸗
wegs fo baftig hinter dem neuen republifanifchen Evangelium her, fondern
warteten erit ab, wie Dajlelbe fich als Thatfache ausnchmen würde. Buenos
Ayres, Tucuman, die meiften der La Plata- Provinzen, hatten ihre Revolu-
tionen gemacht, die Herrſchaft der Breiheit eingeführt und unglücklicherweiſe
die Herrſchaft des Geſetzes und der Ordnung ausgetrieben, ehe die Para⸗
guener fi zu einem folden Unternehmen entihließen Eonnten.
Fürchten fle ſich vielleicht? General Belgrano kam gegen dad Ende
1810 mit einer Streitmacht von taufend Mann von Buenos Apres entſen⸗
det, den Fluß herauf, um fle zu unterflügen, fließ aber an der Grenze auf
bewaffneten Widerftand, ward während der Nacht angegriffen oder wenige
Carlyle. IV. 3
34
ſtens erfchredt, fo daß alle feine Leute flohen. Am nachflen Morgen war
daher der arme General Belgrano nicht blos außer Stande, Unterſtützung
zu gewähren, fondern bedurfte felbft der Unterflügung und ward mit höf-
licher Manier wieder den Fluß hinabgeſchickt.
Erft ein Fahr nachher beichloffen die Paraguener aus freiwilligem An«
triebe die Bahn der Freiheit ebenfalls einzufchlagen, eine Art Congreß zu
verfammeln und die alte Regierung ihrer Wege gehen zu beißen. Francia
war, wie man boraußjegen Fann, thätig, um das Volk nicht blos aufzuregen,
fondern auch gleichzeitig zu zügeln; die Frucht war jetzt fo zu fagen reif
und fiel bein leifeften Schütteln. Unſer alter Eönigliher Gouverneur, der
würdige Mann, trat mit einer Eleinen Grimaſſe auf die Seite, ala ihm be⸗
fohlen ward, dies zu thun, der Nationalcongreß conftituirte fi, die Secre⸗
taire laſen Schriften vor, die hauptſächlich aus Rollin's Geſchichte des Alter»
thums zufammengeftoppelt waren und wir wurden eine Republif, mit Don
Fulgencio Degrod, einem der reichten Gauchos und dem beften Reiter der
Provinz, als Präfidenten und zwei Affefforen, auch Vocales genannt, deren
Namen und entfallen find. Brancia als Secretair war natürlid) der Con⸗
fonant oder die bewegende Seele der Combination.
Dies gefchah, fo weit wir dad Datum zu ermitteln im Stande find, im
Sabre 1811. Nachdem der Eongreß von Paraguay diefe Eonftitution fer«
tig gemacht, ging er wieder nach Haufe zu feinen Feldarbeiten und boffte
auf einen guten Ausgang. |
Ein mattered Licht Dämmerte wohl kaum für den Geſchichtsforſcher ala
das, welche8 durch Mengger, Nobertfond und Compagnie über die Geburt,
die Wiege, die Taufe und die erften Schidlfale der neuen Republik Baraguay
verbreitet wird. Zange, unflare und an und für ſich ganz leere Seiten ihres
Buches hindurch Liegt der Gegenftand von grauem Nebel umhüllt unerkenns
bar und geftaltloß.
Srancia war Secretair und eine Republik fand allerdings flatt. Dies
iſt die eine kleine hellbrennende Thatſache, die in der allgemeinen Finfternig
eine erfreuliche Sichtbarkeit und Begreiflichkeit verbreitet und fie in eine
Dämmerung verwandelt, in deren Mitte dieſes eine faktiſche Hellerlicht
brennt. So viel willen wir und, und heiter in die Nothwendigfeit fügend,
beichließen wir, daß Died und duch genügen foll.
Was kann ed auch weiter geben? Abgeichmadte, fchläfrige Menichen,
bie durch die untertrdifche Erfhütterung der bürgerlihen und religiöfen
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Breiheit, die fidy in der ganzen Welt fühlbar macht, endlich aus dem Schlafe
erwacht find und ſich nun verjammeln, um ein republifaniich freies Staats⸗
leben zu begründen und ihre amtlichen Papiere aus Rollin zufammenftop-
peln, find nicht ein Gegenfland, in Bezug auf welden der Hiftorifhe Sinn
erleuchtet werben Fann. Der hiflorifhe Sinn vergißt, Gott fel Dank, foldye
Menſchen und ihre Schriften eben jo ichnell, ald man fie nennen kann.
Ueberdies find dieſe Gauchos⸗Bevölkerungen habgierig, abergläubijch,
eitel und, wie Miers in jeiner Eile fagt, lügenhaft durch und durch. Inner»
bald der Grenzen von Paraguay kennen wir mit Gewißheit nur einen Mann,
ber aus Ueberzeugung wahr und recht handeln würde, nur einen Mann, ber
in feinem Herzen begreift, daß diefed Univerjum eine ewige Thatfache und
nicht eine ungeheure vergängliche Zudermelone ift.
Solche Menihen können feine Geſchichte haben und wenn ein Thuch-
dides fie ſchreiben wollte. Kür und reiche e8 hin, zuwiflen, daß Don Soundfo
ein alberner, blo8 feinen VBergnügungen nachgehender Dummkopf und Don
Wiederanderd einer defjelben gleichen war; daß eine Menge Mißgriffe und
Dummpeiten begangen wurden ; daß dann linzufriedenheit, Murren, Intri«
guen und Kabalen flattfanden, bis das Gouvernementshaus, erbärmlicher
als ta die Sejuiten es hatten, ein peftilenzialiicher flinfender Pfuhl ward,
bis Secretair Francia fühlte, daß er nicht länger der Conſonant folder Vo⸗
cale jein Fönnte, bis Secretair Francia eined Tags jeine Papiere hinwarf,
auf feine Füße fprang, mit oratoriſcher Lebhaftigfeit feine hagere rechte Hand
ausſtreckte und mit gerungelter Stirn in leijem, ſchnellem Tone fagte: „Adieu,
Senhores; Gott erhalte Sie noch viele Jahre!“
Francia zog ſich in feine chacra, ein hübſches Landhaus in den nicht
weit entfernten Wäldern von Mapua, zurüd, um bier die Natur zu befra-
gen und ſich jelbft zu leben. Pariſh Robertfon logirte um diefe Zeit — es
war, foviel wir erratben können, im Jahre 1812 — bei einer gewifjen alten
Donna Juana in derjelben Gegend, gab Tertulias von ganz unbefchreiblicher
Pracht und ging bes Abends oft auf die Jagd. An einem biejer — doch
wir wollen ihn ſelbſt erzählen laſſen.
„An einem diefer Lieblichen Abende in Paraguay, nachdem der Sid-
weihwind die Luft ſowohl gereinigt als abgefühlt hatte, ward ich beim Ver-
folgen meined Wildes in ein friedliches Thal nicht weit von Donna Juana's
Wohnung verlodt. Diefes Thal zeichnete fih dadurch aus, daß hier alle
hernorftechende Naturſchönheiten diefes Landes gleihfam en miniature und
3 *
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durch einander verſchmolzen anzutreffen waren. Plötzlich erblickte ich ein
nette®, anfpruch8lojes Landhaus. Ein Rebhuhn flog auf; ich ſchoß und der
Vogel fürzte. Eine Stimme hinter mir rief: Buen tiro — gut gefgoflen !
Ich drebte mich herum und erblidte einen Herm von ungefähr fünfzig Jah⸗
rem, ſchwarz gefleidet, mit einem großen, über die Schultern geworfenen
Scharladmantel. In der einen Hand hielt er eine Mate-Tafle und in
der andern eine Gigarre, während ein Fleiner Negerbube mit verfihränften
Armen daneben fland. Das Gefiht des Fremden war dunkel und feine
fhwarzen Augen jehr durchbohrend, während fein kohlſchwarzes, von der
fühnen freien Stirn zurüdgefänmmte® und in natürlichen Loden über feine
Schultern herabhängendes Haar ihm ein würdevolles und impofanted An⸗
jehen gab. Auf feinen Schuhen trug er eben fo wie an den Knieen feiner
kurzen Beinfleider große goldene Schnallen.
„Der in diefem Lande herrſchenden patriarhalifhen und einfachen
Gaſtfreundſchaft zufolge ward ich eingeladen, unter dem Eorridor Plag zu
nehmen, eine Girgarre zu rauen und Mate (Paraguaythee) zu trinken.
“ Unter dem Eleinen Portico bemerkte ich eine Himmelskugel, einen Theodoli«
ten und ein großes Teleffop und kam jofort zu dem Schluſſe, daß mein
freundlicher Wirth Niemand anders jei, ald Dr. Krancia. *
Ja, bier wird zum erften Male in der authentifchen Gefchichte aus
einem merkwürdigen Hörenſagen ein merfwürdiged ſichtbares Bild; durch
ein Baar klarer menſchlicher Augen flieht man die leibhafte Geftalt des Man⸗
ned von Angeficht zu Angeſicht. Iſt dies nicht in der That der genaue Be⸗
richt diefer Elaren Robertfon’ihen Augen und fteben Sinne, gleih an Ort
und Stelle und nicht fpäter in das Buch des Gedächtnifſes eingetragen?
Mir wollen ed hoffen; wer könnte e8 nicht Hoffen? Die Geftalt des Man«
nes ift auf alle Bälle genau. Bolgendes ift ein Bild feiner Bibliothek; —
bie Konverfation, wenn wirklich eine dergleichen flattfand, war im höchſten
Grade unbedeutend und kann entweder weggelaffen oder nach Belieben fup-
plirt werben.
‚ „Er führte mid in feine Bibliothek, ein ziemlich Kleines Zimmer mit
einem ſehr jchmalen Fenſter, welches überdies durch das Dach des Corridors
fo beſchattet ward, daß nur eben das zum Lefen nnumgänglich nothwendige
Licht Hereinficl. Die Bibliothek feldft fand auf einem dreifachen, ſich quer
durch; das Zimmer einziehenden Regal und zählte vielleicht dreihundert
Bande. Es befanden fich darunter viele umfangreiche Bände über Juris⸗
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prudenz, einige über die inductiven Wiſſenſchaften, einige in franzöfticher
und einige in Iateinifcher Sprache, über allgemeine Literatur nebſt Euclid's
Elementen und einigen Schularbeiten über Algebra. Auf einem großen
Tiſche Tagen Stöße von Acten und anderen gerichtlichen Documenten, Ginige
in Pergament gebundene Foliobaͤnde lagen aufgefchlagen daneben ; ein bren⸗
nendes Licht — welches jedoch hier blos die Beflimmung Hatte, zum Anzün⸗
ben ber Gigarren zu dienen — balf das Zimmer mit erleuchten, während
eine Mete-Taffe und ein Schreibzeug, beides von Silber, auf einem andern
Theile des Tiiches landen. Auf dem von Badfteinen zufammengejegten
Fußboden war weder Teppih noch Dede zu fehen und die Stühle waren
von jo plumper, altuäterifcher Form, daß eine bedeutende Anſtrengung dazu
gehörte, um fie von einem Plage auf den andern zu rücken.“
Die verichtedenen Formen von Dummheit und habgieriger Unehrlich«
feit nahmen in dem Megierungdweien von Aſſumpcion ihren gewöhnlichen
Verlauf, bis fle fo zu ſagen den hoͤchſten Brad erreichten und gleich anderen
Eiterbeulen und Tranfhaften Abionderungen in dem lebenden Syſtem aufs
plagten und ſich felbft befeitigten. Den Augen Paraguay's im Allgemeinen
war e8 klar geworden, daß eine foldhe Herrichaft der Breiheit unerträglich,
daß eine neue Revolution oder ein Wechfel des Miniferiumd unumgänglich
nothwendig ſei.
Rengger fagt, Francia habe ſich mehr als einmal auf feine chacra zus
rückgezogen und zwar auß Xerger über feine Gollegen, die ihn dann durch
unbegrenzte Berfpredhungen und Beiheuerungen allemal wieder zurüdioden
mußten und ihn aufd Neue ärgerten. Francia iſt der Conſonant diefer ab»
geichmadten „ Bocale”, ohne Francia kann kein Geſchaͤft abgemacht werden !
Und die Finanzen find zerrüttet und infolvent und das unbezahlte, unwirk⸗
ſame Milltair kann nicht einmal die Indianer abwehren und es kommen Un⸗
ruhen und neue Kriegsgerühte von Buenos Ayres herüber; — ach, aus
welchem Winkel des großen Continents fäme etwas Anderes als Unruhe und
Kriegägerücht!
Patriotiſche Generale verwandeln fich in verrätherifche Generale, were
den auf Marktplägen erſchoſſen und eine Revolution folgt auf die andere.
Artigas Hat dicht an unferen Grenzen begonnen, die Banda Oriental mit
Feuer und Schwert zu verheeren und auf Kubfchädeln figend Depefchen zu
diktiren. Gleich Schaaren von Wölfen — nur viel graufamer, weil fie bes
ritten und mit Pilen bewaffnet find — fallen die Indianer über uns ber
‘
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und verbreiten Feuersbrunſt und Entfegen. Paraguay muß eine Regierung
haben oder es wird aus mit Paraguay. Die Augen von ganz Paraguay
wenden fi auf den einzigen Mann von Talent, den man hat, den einzigen
Mann von Wahrhaftigkeit, den man hat.
Im Sabre 1813 wird ein zweiter Congreß zufammengebraht. Wir
glauben, Brancia gab der Regierungs- Eiterbeule, als fie ihn zum legten
Male zurüdlodte, den Rath, fih nun vollftändig aufzulöfen und einen neuen
Congreß zufammentreten zu lafien. In dem neuen Congreß werden bie
„DVocale* dur Abſtimmung befeitigt; Francia und Bulgencio werben mit
einander zu Confuln ernannt, nämlih Francia zum Conſul und Don Ful⸗
gencio Degros zum Mantel des Confuld. Don Fulgencio reitet in pracht⸗
ooller Schärpe und goldenen Epauletten umher, denn er ifl ein reicher
Mann und fühner Nopbäntiger und taugt recht wohl zum Mantel des Con«
ſuls, — aber wozu braudt der wirflihe Conſul eigentli einen Mantel?
Nächſtes Jahr auf dem dritten Gongrefle wird Francia „durch liſtiges
Manövriren“ durch „ Gunſt des Militairs*, aber au, und zwar wahrfchein«
lih hauptſächlich, dem ganz natürlichen Verlauf der Dinge nad, zum Dic⸗
tator „auf drei Jahre * oder auf Lebenszeit — was in foldhen Fällen ganz
daffelbe ift — ermwählt.
Dies geſchah 1814. Francia berief feinen Congreß wieder, nachdem
er nun das conftitutionelle Palladium glücklich geftoblen und feinen Willen
durchgeſetzt. Wer hätte auch ein ſolches Schidfal eines Congreſſes bedauern
können, welcher Conftitutionen aus Rollin zufanımenftoppelte? Diefer Con⸗
greß hätte wieder zufammenfommen ſollen! Es war in der That, fagen
Rengger und die Robertiong felbft, ein Kongreß, wie ihn die Welt noch nie
geiehen, ein Congreß, der nicht rechts von links zu unterfcheiden wußte, in
den Wirthshäuſern unendlihe Duantitäten Rum vertilgte und nur einen
Wunſch hatte, nämlich fi wieder aufs Pferd zu fhwingen, nad Haufe zu
reiten und wieder der Nebhühnerjagd obliegen zu Fünnen. Das Militair
ftand größtentheild auf der Seite Francia's, denn er — der Dieb des con⸗
ftitutionellen Palladiums — Hatte e8 für fi zu gewinnen gemußt.
Mit Francia's Negierungsantritt als Conjul und noch mehr ald Dic«
tator zeigte fidh, wie ſelbſt Rengger zugiebt, fofort überall eine bedeutende
Verbeſſerung. Die Steuern und Abgaben wurden regelmäßig erhoben und
zwecimäßig verwendet ; jeder Beamtete in Paraguay mußte fih zufamnıen«
taffen und anfangen, feine Arbeit wirklich zu verrichten, anftatt blos fo zu
39
thun. Francia ſah darauf, daß die Soldaten richtig beſoldet und exercirt
wurden, und ließ fie mit ſcharfer Munition und ebenſo ſcharfer Inſtruction
überall hin marſchiren, wo die Indianer oder andere Feinde ſich zeigten.
Guardias oder Wachthaͤuſer wurden in kurzen Entfernungen längs des
Fluſſes und rings um die gefährlichen Grenzen errichtet. Sobald der Cen⸗
taurenfchwarm der Indianer fich blicken ließ, ward ein Lärmichuß gelöft und
die raſch fl verfammelnden Soldaten trieben die hungrigen Wölfe zurüd,
welche fih in das Innere ihrer Wüften flüchteten und bald ganz vers
ſchwanden.
Das Land hatte Frieden. Weder Artigas, noch irgend einer der Feuer⸗
brände und Kriegsplagen, welche Südamerika von einer Küſte zur andern
verheerten, konnte über dieſe Grenze gelangen. Alle Unterhandlung und
jeder Verkehr mit Buenos Ayres oder irgend einem dieſer von Krieg zerriſ⸗
ſenen Länder ward peremtoriſch unterſagt. Weder dem Congrefſe von Lima,
noch dem Generalcongreß von Panama, oder irgend einem allgemeinen oder
befondern Congreß zollte Francia durch Deputarion oder Botſchaft aud nur
die geringfle Anerkennung.
Währent ganz Südamerika tobte und rafte gleich einem einzigen uns
gebeuern tollgewordenen Hundeflall, haben wir hier in Paraguay Frieden
und pflanzen unfere Theebäume — warum follen wir nicht hübſch für und
bleiben? Allmälig ward, nachdem eins zum andern gefommen und dieſer
Ring von Grenzwachthaͤuſern ſchon errichtet war, eine ſtrenge Sanitätdlinie,
undurchdringlich wie Erz, um ganz Paraguay gezogen und feine Communi⸗
cation oder Ein- und Ausfuhrhandel anders geflattet, als gegen die befon-
tere Erlaubniß des Dictators, die gegen Erlegung der feftgefegten Gebühr und
wenn der politifche Horizont unſchaͤdlich zu fein ſchien, ertheilt, außerdem aber
verweigert ward. Die Handelälicenzen des Dictatord waren ein bebeutenter
Zweig feiner Einkünfte; feine — wie die Herren NRobertfon glauben — für
den fremden Kaufmann etwas drüdenden Eingangezölle ein zweiter. Para⸗
guay fland iſolirt; Der tollgewordene Hundeſtall tobte und rafte ringe herum,
aber aller Zugang war verſchloſſen und verriegelt.
Dies waren fräftige Maßregeln, in welche fi die ſchlaäͤfrige Gauchos⸗
Bevölkerung allmälig finden mußte. Mittlerweile ſcheint ed, als ob felbft
nad der immerwährenden Dictatur und ungefähr bis zum fünften oder
fechften Jahre von Francia's Negierung, obſchon das conftitutionelle Pallas
dium geftohlen war, durchaus fein beionderer Grund zu Klagen ſich heraus⸗
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geſtellt haste. Paraguay hatte Frieden ; faß unter feinem Theebaume usb
ber tollgewordene Hunteftall konnte ihm ebenfo wenig anhaben als Indianer,
Artiguener und andere Kriegöfeuerbrände,
In diefem Jahre 1819 aber, dem zweiten Jahre ber immerwaͤhrenden
Dictatur, ergaben fi, wiewohl nicht zum erfben Male, unklare Andeutungen
von „ Complotten“, ſogar gefährlichen Eomplotten! In diefem Jahre ward
ber Beuerbrand Artigad vollfländig erftidt und ſah fi genöthigt, fogar
Francia, feinen Beind, um ein Aſol zu bitten, welches ihm gaflfrei, obſchon
mit Verachtung gewährt warb.
Unmittelbar darauf rüdte nun aus Artigas' verlorenem und verheer-
ben Lande ein gewifler Beneral Hamirez, fein Nebenbuhler und Befleger
und Mitbandit und Zeuerbrand, heran. Diefer General Ramirez marſchirte
bis dicht an die Grenze, erbot ſich erfi zu einem Bündnis und erflärte, als
dieſes abgelehnt ward, den Krieg. Auf dieſe letztere Erklärung hin warb
er angegriffen, in Stüden gehauen und — ein Brief bei ihm gefunden.
Diejer Brief war an Don Fulgencio Degros, den reihen Gauchos und Er-
conſul gerichtet, und als Dr. Yrancia ihn las, wäre ihm fein jonft fo ſtarker
und müchterner Verſtand beinahe ftehen geblieben! Eine Verſchwörung mit
Don Bulgencio an der Spige — eine Verſchwörung, welche ſich immer wei⸗
ter außzubreiten fheint, je näher man ihr nachforſcht! Die ſchon feit zwei
Jahren im Stillen betrieben wird und nun am nächſten Charfreitage zum
Ausbrud kommen und mit der Ermordung Dr. Francia's und Aller, die ſich
ihr widerfegen, beginnen fol!
Brancia war nicht der Mann, der in Bezug auf Complotte mit fich
fpielen ließ! Er ichauete, lauerte und forſchte, bis er Umfang, Lage, Be
fhaffenheit und Bau dieſes Complottes vollftändig vor Augen hatte und
Bann — nun dann ſchoß er wie ein Falke oder vielmehr wie ein Condor
plöglih aus der unficdhtbaren Bläue herab, parte e8 mit Schnabel und
Klauen, zerriß es in kleine Keygen und fraß es auf der Stelle. So madıt es
Srancia! Dies war das lebte, obſchon nicht das erfie Complott, von wel⸗
chem Francia je während feiner lebenslaͤnglichen Dictatur hörte.
Diefe zwei ober drei Jahre, während welcher das Complott Bulgencio
feinem Schickſale entgegenging,, find der Zeitraum, über welchen die eigent-
liche „ Schredienäregierung* jich erfiredt. Während dieſer firengen fchlim-
men Zeit war e8, wo Francia über vierzig Perſonen binrichten Tief. Die
Sache ift durchaus nicht unerflärlih! „Par Dios, Ihr follt Euch nicht gegen
4
mich verichwören ; ich will e8 nicht haben! Die Uera der Freiheit — mögen
alle Menichen und Gauchos es fi gelagt fein lafien — hat in diefem Lande
noch nicht begonnen, denn ich bin jet noch befchäftigt, die fieben Teufel aus⸗
zutreiben. Mein Vertrag mit Paraguay, der mir mehr Mühe und Arbeit
macht, ala Ihr in Eurer Dummpeit ahnt, lautet auf Lebendzeit und wenn
man mir ihn nimmt, jo muß ich flerben. Trachtet daher nicht nach meinem
Leben, Ihr conftitutionellen Gauchos, oder laßt ed wenigſtens durch einen
Hügeren Mann gefcheben, als tiefen Don Zulgencio, den Roßbändiger.
Beim Himmel, wenn Ihr nad meinem Leben tradhtet, fo werdet Ihr wohl
thun, auch das Eure in Acht zu nehmen. *
Er ließ über vierzig Perionen Hinrichten und außerdem noch jo und fo
viele einferfern, auspeitichen und ind Verhör nehmen, denn er ift ein un«
esbittliher Mann! Wenn du jehuldig oder der Schuld verbädtig biſt, jo
geht ed dir Hier ſchlimm. Francia's DVerhaftöbefehl wird dir von’ einem
Grenabier überbracdt ; du figefl im Gefängniß; du bift in Francia's perſön⸗
licher Gegenwart ; die durchbohrenden Dominikaneraugen, dieſer Dämontjche
Scharffinn wühlt in deinem Innern, bi das Geheimniß heraus if und
dann einer Schildwache die drei verbängnißvollen Patronen überreicht
werden.
Nachdem die Complotte in Folge diejer Radikalkur aufyehört hatten,
zeigte fich, wie es jcheint, während der näditen zwanzig Jahre von einer ſol⸗
hen Kur wenig oder nichts mehr, und zwar, weil fie wenig oder nicht mehr
nöthig war. Die „Schredensregierung * war, wie man nun allmälig fin«
bet, eigentlich nur eine firenge Regierung, die freilich jchredlicy genug were
den fonnte, wenn man ihre Befege übertrat, übrigens aber ganz friedlich
und regelmäßig war. Dies möge man bei dem Geſchrei, welches darüber
erhoben worden, nicht vergeflen.
In demjelben Jahre — 1820, fo viel wir ermitteln können — geſchah
es, wie Nengger und erzäblt, daß eine Heufchredenplage, wie fidh zuweilen
ereignet, die ganze Ernte von Paraguay vernidtete und feine andere Aus⸗
fiht als auf allgemeine Theurung oder Hungersnoth vorhanden zu fein
bien. Die Ernten find dahin, von Srujchreden verzehrt, ver Sommer zu
Ente! Wir haben feinen auswärtigen Handel oder fo gut wie feinen, und
haben fait niemals einen gehabt; was joll nun aus Paraguay und feinen
Gauchos werden? Die Gauchos wiſſen werer Rath noch Hülfe, weiß fie der
Dionyſius der Gauchos? Dictator Francia befichlt, dur die verborgenen
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franzöftichen Wiffenfchaften und feinen natürlichen Scharffinn veranlaßt, ja
von der Nothwendigfeit felbft getrieben, den Barmern in ganz Paraguay,
einen gewifien Theil ihrer Belder nochmals zu beisen, mit oter ohne Hoff-
nung, — bei ſchwerer Strafe! Die Folge davon war eine ganz leidlich
gute Ernte und die Entdedung, daß in Paraguay jedes Jahr zwei Ernten
möglid waren, und daß der Aderbau, wenn ein kräftiger Dictator ihn lei⸗
tete, noch unendlich verbeſſert werden Eonnte.
Da Paraguay gegen viertaniend Duadratmeilen größtentheild ſehr
fruchtbaren Boden hat und auf jede Quadratmeile ungefähr fünfzig Seelen
kommen, fo fchien e8 dem Dictator, als fei nicht ter auswärtige Handel,
fondern vielmehr der Aderbau für feine Barayuener das Beſte. Demgemäß
war bei den damaligen Ausfichten am politifhen Horizont der Aderbau und
nicht der auswärtige Handel das Spftem, weldes der Dietator einzuführen
beſchloß und auf welchem er mit aller Strenge beharrte. Die Vortheile da⸗
von zeigten ſich ſehr bald, fagt Rengger.
In Folge aller dieſer Umſtände und Vorkommnifſe, der Complotte im
Innern, der Anfechtungen von Außen, der Heuſchreckenſchwaͤrme, Fortſchritte
der Landwirthſchaft und jener laͤngs der Grenze errichteten Wahthäufer —
ward Paraguay immer hermetifcher verfchloffen und Francia beherrſchte es,
fo lange er lebte, als ein firenger Dionyflus von Paraguay ohne allen Ver⸗
fehr mit dem Auslande, oder bloß fo viel, ald Francia guttünfte.
Wie der Dietator nun tm fihern Beſitz dieſes ungeheuern Paraguay,
welches durch feltfame „ binterliftige* und andere Mittel fein lebenslaͤngliches
Pachteigenthum geworden, bewirthſchaftete, wäre intereffant zu wiflen. Was
beabfichtigte er wohl eigentlich, und welche Erfolge errang er? Man wünſcht
eine Biographie Francia's von einem Eingeborenen, und io lange wir bieje
nicht haben, müſſen wir und mit mangelhaften VBermuthungen und Aufs
ſchlüſſen begnügen.
Großen Genuß und Freude fheint Dictator Francia von feinem ſchwe⸗
ren Amte nicht gehabt zu haben, denn dad, was er genoß — fpartaniiche
Küche, einfache Wohnung, Einſamkeit, zwei Cigarren und eine Tafje Mate
täglich — Hatte er ſchon vorher. Uebrigens ift Dad Austreiben der ficben
Teufel aus einer Gauchos⸗Bevölkerung durdaus nichts Erheiternded und
madıt dem Erorciften cbenfo wie dem Erorcirten viel zu jchaffen. Indeffen
zeigt fih, Daß Doch Kortichritte geſchahen, denn Feine wirflide Arbeit, nicht
einmal tie eines Dr. Francia, ift vergebens.
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Von Francia's Verbeſſerungen Täßt fich ebenfo viel fprechen, ala von
feinen Graufamfeiten oder Härten, denn im Grunde genommen flanden bie
einen im VBerhältniß zu den andern. Er verbefierte den Aderbau und ließ
zwei Ernten da entftehen, wo früher nur eine gewachſen war; er errichtete
Schulen, Penftonsihulen, Elementarſchulen und andere, weldhen Rengger
ein Kapitel widmet; überall beförderte er Bildung und Erziehung und
unterdrüdte den Aberglauben fo gut er konnte. Die firengfle Gerechtigkeit
ward in feinen Gerichtshöfen gehandhabt und er felbft nahm nie ein Ge⸗
ſchenk an, auch nicht die mindefte Kleinigkeit. ALS Rengger feine Sachen
zuiammenpadte, Tieß er mit Fleiß ein Bildniß Napoleon's in Francia's
Händen zurüd. In Europa war das Blatt etwa einige Schillinge werth,
in Paraguay dagegen, wo Francia, der diefen Helden fehr bewunderte, bis
jest, außer einer Nürnberger Karrifatur, Fein Portrait von ihm geliehen
hatte, war fein Werth unſchaͤtzbar. Francia ſchickte Rengger einen exrpreffen
Boten nach und ließ ihn fragen, was dad Bild koſte. GA koſtete nichts,
Mengger war fein Bilderhänkler; es fland feiner Ercellenz umfonft zu
Dienften. Seine Excellenz ſchickte «8 fofort zurüd.
Unterſchleife, Müſſtggang und Nadhläifigfeit wurden bald in allen
Öffentlichen Aenıtern von Paraguay etwas Unerhörtes. Soviel auf Brancia
ankam, war feinem öffentlidien und feinem ‘Privatmann in Paraguay ger
flartet, fein Werk drüber hin zu verrichten und alle mußten, fo viel an
Francia lag, ihren Poften richtig ausfüllen oder fterben! Man Fönnte ihn
als den gebornen Feind aller Charlatane defintren, als einen Menden, ber
von Natur einen tief geivurzelten Haß gegen alles Unwahre hegt, mag er es
fehen, wo er will. Bor Menfchen, welche nicht die Wahrheit Tprechen und
nicht die Wahrheit thun, beſitzt er eine Art teufliich«göttliher Ungeduld und
fie werden wohlthun, wenn fie auß feiner Gegenwart verfchwinden.
Der arme Francia; fein Licht war nur ein fehr fehwefeliged, mageres
und blaubrennendes, aber er beftrahlte Paraguay damit fo gut er fonnte.
Daß er fich während diefer Zeit am Leben erhalten mußte und von
Niemantem Witerfpruch duldete, fondern allen dergleichen fofort unterdrücdkte,
— auch dies braudt und nicht erft ein Geift zu fagen, denn es lag in der
Natur der Sabe. Sein Pachtkontrakt über Paraguay war ein lebenslaͤng⸗
Tier. Er hatte feine drei ſcharfen Patronen für Jeden bereit, der ihm nad
dem Leben trachtete. Er hatte furchtbare Gefängnifle. Er hatte Tevego weit
draußen in den wilten Einöten, eine Art Paraguay Sibirien, wohin un«
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ruhige Individuen, die noch nicht zum Erſchießen reif waren, verbannt wur⸗
den. Die Mehrzahl ter Verbannten, jagt Rengger, beſtand aus verſoffenen
Mulatten und der Klaffe, welche man unglüdliche Brauenzimmer nennt. Sie
führten dort ein elendes Leben und wurden eine traurigere und vielleicht
klügere Geſellſchaft von Mulatten und unglüdlichen Srauenzimmern.
Doch hören wir einen Augenblid den hochwürdigen Manuel Perez,
der am 20. October 1840 in der Kirche zur Empfangniß in Aſſumpcion
feine Zeichenrede halt. Wir wählen einige Stellen aus derſelben aus und
geſtehen, daß man, wenn man diefer Rede Blauben fhhenfen darf — und
ed ſcheint fein Grund vorhanden zu fein, Die darin gemachten Angaben zu
bezweifeln — zu dem Schluffe kommt, es fei all jene verworrene Litanei
über Schredendregierung u. dergl. von etwad langohriger Beicaffenheit ges
weien.
„Unter den ®räueln der Revolution, * fagt der hochwürdige Manuel,
„erwedte ber Herr, der erbarmungsvoll auf Paraguay herabblidte, Don
Sofe Gaspar Francia zu feiner Befreiung. Und ald nach den Worten meie
nes Terted die Kinder Ifrael zu tem Herrn riefen, erweckte ber Herr ben
Kindern Iſrael einen Befreier, der fle befreiete.
„Welche Maßregeln ordnete feine Ercellenz an, welchen Arbeiten unter»
zog er fih, um den Frieden im Innern der Republik zu bewahren und ihr
- eine adtnnggebietende Stellung nah Außen zu verichaffen! Seine erſte
Sorge war darauf gerichtet, einen hinreichenden Vorrath an Waffen zu er⸗
balten und Soldaten zu fchulen. Allen, welche Waffen einführten, bewil⸗
ligte er Steuerfreiheit und die Erlaubniß, dagegen irgend beliebige Produkte
auszuführen. Auf dieſe Weile ward ein binreichender Vorrath von vor»
trefflihen Waffen erlangt. Ich erflaune, wenn ich bedenke, wie dieſer große
Mann einer folchen Menge von Dingen feine Aufmerkjamfeit widmen Eonnte,
Er legte fih auf das Studium der Kriegskunſt und lehrte ſchon nach kurzer
Zeit das Erercitium und leitete militairiſche Evolutionen wie der erfabrenfte
Beteran. Oft habe ich feine Excellenz zu einem Rekruten bingehen und
ihm zeigen ſehen, wie man nach der Scheibe zielen muß. Konnte ein Para-
guener e8 für anders als ehrenwerth halten, eine Muskete zu tragen, wenn
fein Dictator ihn Iehrte, wie diefelbe zu handhaben ſei? Auch das Savalerie-
erercitium, obſchon ed einen nicht bloß im Reiten erfahrenen, fondern auch
flarfen Mann zu verlangen fcheint, leitete feine Excellenz, wie Ihr wißt,
ſelbſt. An der Spige feiner Schwabronen mandvrirte er, als ob er dabei
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anfgewadgfen wäre und commandirte fle mit einer Energie und Kraft, welche
diefen Truppen feinen eigenen martialiſchen Geift einflößte. *
„Welche Uebel hat nicht das Volk von Straßenräubern zu erbulden! ®
fagt der ehrwürdige Herr ein wenig weiter bin, „Gemaltthätigkett, Plün«
derung, Word find die Verbrechen, die diefen Uebelthätern etwad ganz Ge⸗
wöhnliches find. Die unzugänglicden Berge und unermeßlichen Wüften dies
fer Republik fchienen ſolchen Menſchen Strafloſigkeit zu bieten. Unſerm
Dictator gelang e8, ihnen ſolchen Schreden einzufagen, daß fle gänzlich ver⸗
fhwanden und ihr Heil in Aenderung ihrer Lebensweiſe fuchten. Seine
&rcellenz ſah, daß die Art und Weiſe, die Strafe zu vollziehen wirffamer
war, als die Strafe felbft und nach diefem Princiv handelte er. Sobald ein
Raͤuber ergriffen ward, führte man ihm nad der nächften Guardia; bier
fand ein ſummariſches Verhör flatt, und fobald er übermiefen war oder bes
Tannt batte, ward er erſchoſſen. Diele Mittel erwieſen ſich als durchgreifend.
Es dauerte nicht lange, fo herrichte in der Republik ſolche Sicherheit, daß
ein Kind von dem Uruguay bid nad dem Parana hätte reifen können, ohne
andern Schup als die Furcht, welche der Dietator einzuflößen verftand.
„Aber was ift Alles dies im Vergleich mit dem Dämon der Anarchie?
D, meine Freunde, ich wollte, id befäße das Talent, Euch das Elend eines
Volkes zu Schildern, mweldes der Anarchie anheimfällt! Und fland unfere
Republik nicht amı äußerften Rande dieſes Zuftandes? Ja, meine Brüder,
fo war es. Es war Pflicht des Dictators, raſch zu fein und den Beind in
ber Wiege zu erwürgen! Er that ed. Er nahm die Anführer feſt, flellte
fie vor ein fummarifches Gericht und ſie wurden des Hochverrath8 gegen das
Baterland überwiefen. Welch ein Kampf aber fland ihm noch zwiſchen dem
Gebot der Pflicht und der Stimme des Gefühls bevor! Ich bin überzeugt,
wäre die Gefangenhaltung dieſer Perfonen für den Frieden des Staates
hinreichend gemefen, fo Hätte feine Ercellenz ihre Hinrichtung niemals ans
befohlen. Scheint e8 nicht eine Entweihung der heiligen Stätte, an welcher
ich jet ftebe, wenn ich auf diefe Weife blutige Maßregeln guiheiße, die mit
der Milde des Evangeliums in Widerſpruch ſtehen? Nein, Brüder, Gott
ſelbſt Hilligte Die Handlungsweiſe Salomo's, als diejer Joab und Adonijah
dem Tode überantwortete. Das Leben ift Heilig, aber es giebt noch etwaß
Heiligeres und wehe dem, der dieß nicht weiß! *
Ah, hochwürdiger Herr, es ift Paraguay alfo noch nicht gelungen, die
Todesſtrafe aufzuheben? Freilich ift es auch jelbft der Natur noch nicht ges
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lungen, eine folde Aenderung zu bewirken. Handle nur mit dem gehörigen
Stade von Verfehrtheit und du kannſt darauf rechnen, auf gemaltfame
Weiſe dem Tode überantwortet zu werden, im Hofpital oder auf der Heer⸗
frage, — durch Verdauungsbeſchwerden, Delirium tremens, oder durch die
entzündete Wuth Deiner Mitmenihen! Was kann der Breund der Huma⸗
nität thun? — In Exeter⸗Hall oder anderwärts ſchwatzen, bis es und lang⸗
weilig wird und vielleicht noch jchlimmer! Ein Advocat in Arras verzich⸗
tete einft auf eine jehr gute Gerichtöftelle und 309 ſich ins beichränfte Privat-
leben zurüd, weil es feinem Gefühle widerftrebte, auch nur einen einzigen
Verbrecher zum Tode durch dad Befeg zu verbanımen. Der Name diefes
Advocaten — man merke wohl! — war Warimilian NRobespierre. Es
giebt ſüße Arten von Geſchwätz, in welchen gleichwohl ein tödtliches heftiges
Gift verborgen ſteckt, gleich der Süßigkeit des Bleizuckers. Wäre es nicht
beffer, gerechte Geſetze zu machen, meint ihr, und fie dann auch fireng
auszuführen, — wie die Götter noch thun?
„Der Dictator richtete feine Aufmerkſamkeit zunächſt auf die Säube-
rung ded Staates von einer andern Klafle von Feinden”, fügt Perez in der
Kirche zur Empfängniß, „nämlich von den betrügeriichen Steuereinnehmern.
Mit der größten Wachſamkeit ihre Betrügereien entlarvend, zwang er fle,
die früher verübten Unterjchleife zu erlegen, und traf Vorkehrungen gegen
die Wiederkehr ähnlicher Dinge in Zukunft, und alle Rechnungen mußten
einmal jährlich zur Prüfung an ihn eingeiendet werben.
„ Seine Art und Weije, auf welche ex diefe oder jene Begenflände zum
öffentlichen Verbrauch audantworten ließ; dieſes weitſchweifige und genaue
Bählen von Dingen, die anjcheinend feiner Aufmerkſamkeit unwürdig waren,
rührte aus demſelben Beweggrunde her. Ich glaube, er that dies weniger
aus Mangel an Vertrauen zu den in legter Zeit zu diefen Aemtern ernann=
ten Berfonen, ald aus dem Wunfche, ihnen zu zeigen, mit welder Gewiſſen⸗
haftigfeit fle zu Werke gehen müßten.
„Republif Paraguay, wie viel haft du der Mühe, den Nachtwachen
und der Bürforge deines Dictatord zu verdanfen! Es war ald ob dieſer
außerordentliche Mann mit Allgegenwart begabt gewejen wäre, um alle beine
Mängel und Bedürfnifje ind Auge zu faflen. Während er in feinem Ka=
binet faß, bereifte er deine Grenzen, um dich wehrhaft zu machen. Welchen
ungeheuern Schaden fügten jene Einfälle der Indianer von dem Chaco den
“ Einwohnern von Rio Abafo zu? Bortwährend trafen in Aſſumpcion Nach⸗
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richten von den Berwüftungen ein, welde durch dieſe rauberifchen Einfälle
verurfacht worden waren. Wer von und hätte gehofft, daß jo weit verbrei«
teten Uebeln, jo entieglichen Verheerungen eutgegengewirft werden Fönnte ?
Und dennoch wußte unſer Dictator Mittel und Wege zu finden, diefem Theile
der Republik die Ruhe wiederzugeben.
„Vier achtunggebietende Beftungen .mit ausreichenden Sarnijonen find
die uneinnehmbare Schranfe geweien, weldye die Einfälle diefer grimmigen
Barbaren gehemmt bat. Einwohner von Rio Abajo! bleibet ruhig in
Euren Häufern, Ihr feid ein Theil des Volkes, welches der Herr ter Fürs
forge unſeres Dictatord anvertraute; Ihr jeid geborgen.
„Die weifen Maßregeln, die er anordnete, um Gewalt mit Gewalt zu
vertreiben und die Wilden in den Norden der Republif zurüdzujagen, die
Beftungen Climpo und San Carlos te Apa und die der Stadt Concepcion
ertbeilten Befehle und Inftructionen fiherten Dielen Theil der Nepublif vor
jedem Angriffe. .
» Der große Wall mit Graben und Feſtung auf der entgegengeiegten
Seite des Fluſſes Parana, die wirfiame und geichidte Aufftellung der im
Süden unferer Mepublif vertheilten Truppen haben ihren Feinden Achtung
und Scheu eingeflößt.
„Die Schönheit, das Ebenmaß und der gute Geſchmack, welche an der
Bauart großer Städte wahrnehmbar find, geben einen vortheilhaften Begriff
von ihren Einwohneru — ſo dachte Caractacus, König der Angeln. Unſer
Dietator jah, ald er den Zuftand der Hauptftadt der Republik betrachtete,
eine Stadt in Unordnung und ohne Polizei, Straßen ohne Regelmäßigfeit
und Käufer, je nach der Laune ihrer Beflger erbaut.”
Dod genug, 0 Peres, denn deine Predigt wird zulegt langweilig.
Perez fragt zulegt mit zuverfichtlicher Miene, ob nicht alle diefe Dinge allen
vernünftigen Menſchen und Gauchos deutlich beweilen, daB der Dictator
Brancia in der That der Befreier war, welchen der Herr erwedte, um Paras
guay von feinen Feinden zu erlöien? — Ganz gewiß, o Perez, denn die
Wohlthaten, die er Dem Lande erzeigt, icheinen bedeutend gewejen zu fein.
Unzweifelhaft war er ein Dann vom Himmel gefendet, wie wir alle find!
Ja, es ift fogar möglich, Daß der Nugen, den er geftiftet, felbft jetzt noch
nicht erihöpft, ja noch nicht einmal ganz fihtbar geworden ifl. Wer weiß,
ob nicht in Fünftigen Jahrhunderten die Paraguener auf ihren hageren eifers
nen Francia zurüdbliden, wie die Menjchen in jolden Zällen auf die eine
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wahrhafte Perſon zurücdzubliden pflegen. Oliver Cromwell, der fhon feit
zweihundert Jahren tobt ift, fpricht immer noch, ja er beginnt vielleicht jet
erft zu fprechen. Die Bedeutung und Meinungen des einen wahren Mannes,
fei er auch noch fo Hager und beſchraͤnkt, welcher in dieſer wüften Gauchos⸗
Welt unmittelbar aus dem Herzen der Natur auftaucht, während jene
Gauchos⸗Welt ſich weit von der Natur entfernt bat, find endlos.
Die Herren Robertſon machen fi ſehr Iuftig über dieſen Verſuch
Francia's, die Stadt Affumpcion nach einem beffern Plane umzubauen. Die
Stadt Affumpeion hat, voll von tropiſcher Begetation und „immerwähren-
den Heden, hinter welchen ſich Unrath und Ungeziefer fanımelt, fein Pflafter
und feine geraden Straßen. Dem jandige Fahrweg wird an vielen Stellen
durch Den Regen fo zerriffen, daß er dann faft nur noch von einem Känguruh
zu palftren iſt.“
Francia befchließt nad) reiflicher Ueberlegung, die Stadt theilweile um-
zubauen, pflaftern und gerade richten zu laflen, und Roberfon lacht, daß ein.
Dietator, ein fouverainer Herrſcher, mit jeinem Theotoliten Hin und ber
läuft und das Terrain aufnimmt. O Nobertion, warum lahft Du, fobald
weiter Niemand da war, der folche Urbeiten ausführen konnte?
Ja, e8 fcheint ferner, Daß die Verſchönerung Afſumpcion's noch einmal
von der furchtbarſten Tyrannei begleitet war. Briedlihe Bürger, die fi
nichts Arges träumen ließen, und mit feinen activen Unrecht gegen irgend
einen Menſchen, fondern blos mit friedlidem paſſivem Schnug und Uns
regelmäßigfeit gegen alle Menſchen umgingen, erhielten Befehl, ihre Häuſer,
die zufällig in der Mitte der Straße fanden, niederzureißen ; fie wurden
unter Androhung des Galgend gezwungen, ihre Beutel zu ziehen und bie
niedergeriffenen Wohnungen auderwärtd wieder aufzubauen! Es ift furcht⸗
bar. Ja, man fagte, Francia habe bei diefen Verbeflerungen, bei dieſem
Befeitigen üppiger Querzaͤune und anderer arditektonifchen Monftrofitäten
eigentlich weiter nichts beabfichtigt, al8 dadurch zu verhindern, daß er ein-
mal, wenn er durch die Stadt ritte, aus irgend einem Verſteck hervor er⸗
fhoffen würde. Dem mag ſo jein, aber Aflumpeion ift nun doch eine weit
ihönere, gepflafterte Stadt mit größtentheild geraden Straßen und ganz be=
quem, nicht blos für Kaͤnguruhs paſſtrbar, fondern auch für hölzerne Ochſen⸗
wagen und Fuhrwerke und Thiere aller Art.
Unfere Herren Robertfon finden an Dr. Brancia nicht bloß etwas Ko⸗
— Milunem
49
miſches, fondern auch etwas Tragiſches und ergehen ſich zumeilen über dieſe
Schreckensregierung in allerhand ſatyriſchen Bemerkungen.
Eines Abends z. B. als einer der Robertſon's im Begriff ſteht, von
Paraguay nach England zu reiſen und dem Dictator Francia ſeinen Ab⸗
ſchiedsbeſuch macht, laͤßt dieſer zu Robertſon's großem Erſtaunen einen
Ballen Waaren hereinbringen, öffnen und die Waaren auf dem Tiſche aus⸗
breiten — Tabak, Poncho⸗Tuch und andere Produfte des Lantes, alle von
befter Qualität und mit angebängten Preißzetteln. Diefe Waaren foll ber
erſtaunte Mobertfon vor der „ Schranfe des Unterhaufes“ nieterlegen und
bier in paffenden Ausdrücken, wie fle ein Englänter zu finden wiflen wird,
fagen:
„Herr Sprecher, — Dr. Francia ift Dictator von Paraguay, einem
Lande von tropiicher Fruchtbarkeit und hunderttaufend englifchen Quadrat⸗
meilen Slächengebalt, welches dieſe Waaren zu dieſen Preiſen producirt.
Mit beinahe allen fremden Nationen mag er feine Handeldverbindungen an⸗
knüpfen, sen den Engländern aber hat er eine jo gute Meinung, daß er
mit ihnen Handel zu treiben wünſcht. Dies find feine Waaren in endlofer
Duantität, von diefer Qualität, zu diefen Preifen. Er für feinen Theil
braucht Waffen. Was fagen Sie dazu, Herr Sprecher?“
Allerdings würde unfer Mobertion, wenn er mit einer foldyen Bot=
ſchaft an der Schranfe des Unterhaufed erfchienen wäre, eine jehr merfwür-
dige Figur geidhnitten haben! Uber nicht an das Unterhaus war diefe
Botichaft eigentlich gerichtet, fondern an die engliſche Nation, von welcher
Francia in feiner Dummheit glaubte, fte fei in dem Unterhaufe repräfentirt
und zugänglich gemacht. Welche ſeltſame Bornirtheit von einem Dictator !
Robertſon legte, wie wir demgemäß finden, diefen Waarenballen nicht
vor der Schranke des Unterhaufed nieder, ja, was noch ſchlimmer war, er
ging in Folge gewiſſer Zufälle gar nicht nad England und brachte Srancia
gar feine Waffen dafür. Daher rührte Francia's unbilliger Abſcheu vor
ihm, der ſich kaum in den Schranfen gewöhnlicher Höflichkeit zu halten ver⸗
mochte! Ein Menſch, welder fagte, er wollte etwas thun und ed dann
nicht that, war für Francia zu Feiner Zeit ein bewunderndwürdiger Menid.
Umfangreiche Abſchnitte diefer „ Schredfensregierung * find daher eine Urt
unmufifalifhe Sonate oder ein freicd Duett mit Variationen auf das
Thema: „Wie unbewundernswürdig ift ein Xederhändler, der fein Wort
Carlyle. IV. 4
50
nicht Hält!” — „Wie tadelndwertb, um nicht zu Tagen lächerlih und un«
vernünftig, ift der Mangel an gewöhnlicher Höflichkeit bei einem Dictator !*
Francia war ein Mann, welcher ganze Leiftungen liebte, und halbe oder
angebliche Leiftungen waren in Paraguay, wie anderwärtd, etwas allzuſehr
an der Tagesordnung. Weldye Mühe batte dieler firenge, thätige Mann mit
lälftgen Arbeitern, öffentlichen und privaten, Geiſtlichen und Laien! Ihr
Gauchos, — es ift Fein Kinderfpiel, dieje fleben Teufel von Euch auszu⸗
treiben !
Klöfterliche oder andere fchläfrige Kircheninftitute Eonnten von Francia
feine große Bunft erwarten. Diejenigen, welde unbeilbar und ganz in
Schlummer verfunfen zu fein fchienen, fhüttelte er mit etwa® rauber Sand
wach und befahl ihnen in etwas firengem Zone ſich zu paden. „Debout,
canaille faingante‘‘, wie fein Prophet Raynal jagt; „Debout: aux champs,
aux ateliers! Kann ich zugeben, daß Ihr Hier ſitzt und mechaniſch finget und
plärrt, während Euer Herz in Gefräßigfeit verſenkt ift und ganz Paraguay faft
noch wüft liegt, fo dag in dem gefegneten Sonnenfchein des Himmels nichts
gedeihen als Unkräuter, Lianen, gelbe Bicber, Klapperjchlangen und Jaguars ?
Auf! raſch an die Arbeit, oder ſeht Ihr Hier dieſe Peitſche, wie fie knallt
und was für Hiebe davon zu erwarten fichen! ”
Unheilbar ſchienen Erzbifchöfe, Biſchöfe und dergleichen zu fein, denn
biefe waren blos daran gewöhnt, einen fpiegelfechterifchen Krieg gegen längft
außgetriebene Teufel zu führen. Bei dem Knall von Francia's fürdhterlicher
Peitſche gingen fle, denn fie fürdhteten die Hiebe mit derjelben. Einen
wohlfeilen Eultus in Paraguay tn Uebereinftimmung mit der Gewohnheit
und dem Wunfche des Volkes ließ Francia beftehen, aber unter der Be»
dingung, daß er fein Unheil anrichte. Hölzerne Heilige und dergleihen
Waare ließ er ebenfalls in ihren Niichen figen, aber zur Anichaffung von
neuen gab er felbft auf dringendes Bitten feinen Deut her.
Als er einmal inftändig gebeten ward, für eins feiner neuen Feſtungs⸗
werfe einen neuen Scugheiligen zu beforgen, gab er zur Antwort: „DO
Bolf von Paraguay, wie lange willft Du in Deiner Dummheit verbarren ?
©o lange ich Katholik war, dachte ich ebenfo wie Ihr, jebt aber bin ich
überzeugt, daß es zur Bewachung unferer Grenzen Feine befieren Heiligen
giebt, als gute Kanonen. *
Auch folgende Aeußerung ift bemerkenswerth. Er fragte die beiden
ſchweizeriſchen Chirurgen, zu welder Religion fe fi befennten und fegte
*
51
dann hinzu: „Hier koͤnnt Ihr angehören, welcher Religion Ihr wollt —
jetet Ghriften, Juden oder Mufelmänner — nur feine Atheiften. ®
Ebenfo viel Mühe Harte Francia mit feinen nichtgeiftlichen Arbeitern,
wie überhaupt mit allen Klaffen von Arbeitern, denn es iſt in Paraguay
wie anderwärts — wie die Priefter, fo das Volk. Prancia hatte umfäflende
Kafernenbanten, ja Stadtbauten, wie wir geliehen haben, und Armees
Heferungen, mit einem Worte, er hatte ungeheuer viel zu thun und ſeine
Arbeiter hatten größtentheild feine Xufl, viel zu machen. Er Eonnte feine
Arbeit von ihnen bekommen, fondern blos eine mehr oder weniger trügerifche
Aehnlichkeit von Arbeit. Sogenannte Maurer und Bauleute bauten nicht,
fondern ſchienen blo8 zu bauen; ihre Mauern wurden vom legen zerweicht
und vom Winde umgeworfen. Diele Hantelöleute verfauften Rafirmefler,
die niemals zum Naflren, fondern blos zum Verkauf beflimmt waren.
Lange Zeit kämpfte Francia's rechtichaffener Sinn angeftrengt, aber
ohne zu erplodiren, mit den Neigungen diefer unglüdlichen Menichen. Durch
Berweife, durch Vorftellungen, durch Ermuthigung, durch Unerbieten von
Belohnungen und alle möglihe Wachſamkeit und Anftrengung bemühte er
fih, fle zu überzeugen, daß es für einen Sohn Adam's ein Unglüd fei, ein
eingebildeter Arbeiter zu jein, daß jeder Adamsſohn beffer thäte, Raſirmeſſer
zu fertigen, die wirflich zum Raſiren beſtimmt feien. Vergebens, alles ver⸗
gebeng !
Endlich verlor Francia die Geduld. „Du erbärmliche Fraction, willft
Du der neunte Theil fogar von einem Schneider fein? Geziemt es Dir,
Tuch aus Staub anftatt aus Achter Wolle zu wählen, und es zu jchneiderr
und zu nähen, ald ob Du nit ein Schneider, fondern die Braction von
einem Schneider wäreſt! Glaubſt Du, ich foll mir Alles gefallen Taffen! *
Francia errichtete nun in feiner Verzweiflung feinen „ Arbeitergalgen *.
Ja, dieſes Inftitut des Landes eriftirte wirklich in Paraguay; Männer und
Arbeiter fahen es mit eigenen Augen. &8 war dies ein höchſt merfiwürdiges
und im Grunde genommen durchaus nicht unwohlthätiges Inftitut.
Mobertfon erzählt und den folgenden Auftritt mit dem Gürtelmader
von Affumpeion, worin fih, ſei er nun buchſtäblich wahr oder zum Theil
poetifch, die Ratur ohne Zweifel auf gaͤnzlich wahre und ſicherlich fehr über«
raſchende Weife fpiegelt.
„Eines Nachmittags kam ein armer Schuhmacher mit ein paar Gres
4*
50
nicht Halt!” — „Wie tadelndwertb, um nicht zu fagen lächerlich und un⸗
vernünftig, iſt der Mangel an gewöhnlicher Höflichkeit bei einem Dictator ! *
Francia war ein Mann, welder ganze Leiftungen liebte, und Halbe oder
angebliche Leiftungen waren in Paraguay, wie anderwärtd, etwas allzuſehr
an der Tagesordnung. Welche Mühe hatte dieler firenge, thätige Mann mit
lälfigen Arbeitern, öffentlichen und privaten, Geifllihen und Laien! Ihr
Gauchos, — es ift fein Kinderfpiel, dieje fleben Teufel von Euch audzu⸗
treiben!
Klöfterliche oder andere fchläfrige Kircheninſtitute konnten von Francia
feine große Bunft erwarten. Diejenigen, welde unbeilbar und ganz in
Schlummer verfunfen zu fein fchienen, fchüttelte er mit enva® rauber Hand
wad und befahl ihnen in etwas firengem Tone fi zu paden. „Debout,
canaille ſainéante““, wie fein Prophet Raynal jagt; „Dehout: aux champs,
aux aleliers! Kann ich zugeben, dad Ihr Hier figt und mechanijch finget und
plärrt, während Euer Herz in Oefräßigfeit verjenkt ift und ganz Paraguay faft
noch wüſt liegt, fo daß in dem gefegneten Sonnenjdein des Himmels nichts
gedeihen ald Unfräuter, Lianen, gelbe Fieber, Klapperſchlangen und Jaguars?
Auf! raſch an die Arbeit, oder ſeht Ihr bier dieſe Peitſche, wie fie knallt
und was für Hiebe davon zu erwarten fichen! “
Unheilbar ſchienen Erzbifchöfe, Biſchöfe und dergleichen zu fein, denn
diefe waren blos daran gewöhnt, einen fpiegelfechterifchen Krieg gegen längft
außdgetriebene Teufel zu führen. Bei dem Knall von Brancia’8 fürdterlicher
Peitiche gingen fle, denn fie fürdteten die Hiebe mit derjelben. Einen
wohlfeilen Cultus in Paraguay tn Uebereinflimmung mit der Gewohnheit
und dem Wunfche des Volkes ließ Francia beftehen, aber unter der Be⸗
dingung, daß er fein Unheil anrichte. Hölzerne Heilige und dergleichen
Waare ließ er ebenfalld in ihren Niichen figen, aber zur Anſchaffung von
neuen gab er felbft auf Dringendes Bitten feinen Deut ber.
Als er einmal infläntig gebeten ward, für eind feiner neuen Feilungd-
werfe einen neuen Schugheiligen zu bejorgen, gab er zur Antwort: „O
Bolf von Paraguay, wie lange willft Du in Deiner Dummheit rerbarren ?
So lange id Katholik war, dachte ich ebenfo wie Ihr, jeht aber bin ich
überzeugt, daß es zur Bewachung unferer Grenzen feine befieren Heiligen
giebt, als gute Kanonen, *
Auch folgende Aeußerung ift bemerfendwerth. Er fragte die beiden
fhweizeriihen Chirurgen, zu welcher Religion fle ſich bekennten und fegte
[4
51
dann Hinzu: „Hier konnt Ihr angehören, welcher Religton Ihr wollt —
jetet Chriſten, Juden oder Mujelmänner — nur feine Atheiften. *
Ebenfo viel Mühe Hatte Francia mit feinen nichtgeiſtlichen Arbeitern,
wie überhaupt mit allen Klaffen von Arbeitern, denn es iſt in Paraguay
wie anderwärts — wie die Priefter, fo das Volk. Prancia hatte umfaflende
Kafernenbanten, ja Stadtbauten, wie wir geiehen haben, und Armee⸗
Heferungen,, mit einem Worte, er Hatte ungeheuer viel zu thun und feine
Arbeiter hatten größtentheild feine Kufl, viel zu machen. Er Eonnte feine
Arbeit von ihnen bekommen, fondern blo8 eine mehr oder weniger trügerifche
Aehnlichkelt von Arbeit. Sogenannte Maurer und Bauleute bauten nicht,
fondern ſchienen 6lo8 zu bauen; ihre Mauern wurden vom Regen zerweicdht
und vom Winde umgeworfen. Viele Hantelsleute verfauften Mafirmeffer,
die niemals zum Raſiren, fondern blos zum Verkauf beflimmt waren.
Lange Zeit kämpfte Francia's rechtfchaffener Sinn angeftrengt, aber
ohne zu erplodiren, mit den Neigungen biefer unglücklichen Menſchen. Durch
Bermeife, durd Vorftellungen, durch Ermuthigung, durch Anerbieten von
Belohnungen und alle möglihe Wachſamkeit und Anftrengung bemühte er
fich, fle zu überzeugen, daß e8 für einen Sohn Adam's ein Unglüd fei, ein
eingebildeter Arbeiter zu jein, daß jeder Adamsſohn beffer thäte, Raſtrmeſſer
zu fertigen, die wirflich zum Maflren beſtimmt feien. Vergebens, alles ver«
gebeng !
Endlich verlor Brancia die Geduld. „Tu erbärmliche Fraction, willſt
Du der neunte Theil fogar von einem Schneider fein? Geziemt es Dir,
Tuch aus Staub anftatt aus ächter Wolle zu wählen, und es zu jehneiderr
und zu nähen, ald ob Du nicht ein Schneider, fondern die Sraction von
einen Schneider wäre! Glaubſt Du, ich foll mir Alles gefallen Taflen ! *
Francia errichtete num in feiner Verzweiflung feinen „ Acbeitergalgen *.
Ja, dieſes Inflitut des Landes eriftirte wirklich in Paraguay; Männer und
Arbeiter ſahen es mit eigenen Augen. &8 war dies ein höchſt merfwürbiges-
und im Grunde genommen durchaus nicht unwohlthätiges Inftitut.
Mobertfon erzählt und den folgenden Auftritt mit dem GOürtelmacher
von Affumprion, worin fih, fei er nun buchſtäblich wahr oder zum Theil
poetifch, die Natur ohne Zweifel auf gänzlich wahre und ficherlich ſehr über«
raſchende Weife fpiegelt.
„Eines Nachmittags Fam ein armer Schuhmacher mit ein paar Gre⸗
4*
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nabierdegenfuppeln, die aber beide nicht fo gefertigt waren, wie der Dictator
fle verlangte.
„Schildwache!“ rief er, und herein trat die Schildwache, worauf dann
das folgende Geſpräch ſtattfand:
„Dictator. Führe dieſen bribonazo — ein Lieblingswort des
Dictators, welches ungefähr ſoviel als Schurke oder Halunke bedeutet —
führe dieſen bribonazo hinüber unter den Galgen, laß ihn ein halbes
Dutzend Mal darunter hinweggehen — und, fuhr er zu dem zitternden
Schuhmacher gewendet fort, wenn Du mir wieder ein ſolches Paar Degen⸗
gehänge bringſt, fo werden wir, anſtatt Did unter dem Galgen herum⸗
zuführen, Did an demjelben aufhängen lafſen.
„Schuhmacher. Entſchuldigen Sie, Ercellenz, ich babe mein
Beſtes getban.
„Dietator. Wohlan, bribon, wenn dies Dein Beftes ift, fo werde
ih mein Befted thun, damit Du nie wieder ein Stüd von dem Leder des
Staats verdirbft. Ich kann die Gehänge nicht gebrauchen, aber fle werben
fehr gut dazu dienen, Dich an das Fleine Gerüft zu hängen, welches der
Grenadier Dir zeigen wird.
„Shuhbmader Um Gottes willen, das werten Sie doch nicht
thun! Ich bin Ihr Knecht, Ihr Sklave; Tag und Nacht habe id meinem
Herrn gedient und werde ihm ferner dienen; geftatten Sie mir nur nod
zwei Tage, um die Gehänge noch einmal umzuarbeiten, y por el alma de un
triste zapatero (bei der Seele eines armen Schuhmaders), ich werde fe
machen, wie Ihre Excellenz fie wünfcht.
„Dietator. Fort mit ihm, Schildwache.
„Schildwache. Venga, bribon — komm, Halunfe.
„Shuhmader. Sennor Excelentesimo, — noch heute Naht will
ich die Gürtel nach Ihrer Excellenz Vorſchrift machen.
„Dietator. Wohlen, Du follft Zeit haben bis morgen; aber den-
noch mußt Du unter dem Balgen hinweggehen; es ift dies ein heilſames
Berfahren und wirb gleichzeitig dazu dienen, die Arbeit fchneller und beffer
zu machen.
‚Schildwade. Vamonos, bribon; der Herr befiehlt es.
„Und damit ward der Schuhmacher hinaus und dem Befehle gemäß
zwei Mal unter dem Galgen bin und ber geführt, worauf er nad feiner
Werkſtätte zurückkehren durfte, *
93
Hier arbeitete er die ganze Nacht mit ſolchem Eifer und fobillinifchem
Enthuflagmus, daß feine Degengehänge am naͤchſten Morgen in ganz Süd⸗
amerika nicht ihres Gleichen hatten, und jet ift er, wenn er noch lebt, Ge⸗
neralsDegengehängemadher von Paraguay und ein reicher Mann, von Dank
erfüllt gegen Francla und den Galgen, wie wir hoffen wollen, weil fie
einige der fieben Teufel aus ihm getrieben!
Ein ſolches Inftitut Eönnte in unferen nach alter Weije conflituirten
europäifchen Ländern unter diefer einfachen Form offenbar nicht eingeführt
werden. Und dennoch könnte man conftitutionell gefinnte Perfonen in un»
ferer Zeit fragen, durch welches Erfagmittel fie den Mangel daran zu er⸗
gänzen gedenken? Wie kann man in einer Staatögemeinde, die aus bloß
eingebildeten Arbeitern befteht, irgend eine Megierung ober irgend eine ſo⸗
etale Einrichtung Haben, welche wirklich wäre? Bei einer Staatögemeinde
von Pſeudo⸗Arbeitern ift e8 dem Geſetz der Natur nad unmöglich, daß eine
andere als eine Pieudo-Megierung exiſtire. Conflitutionell oder nicht, mit
Ballotage oder nicht, ift eine ſolche Gefellichaft in allen ihren Phafen, in
Adminiftration, Geſetzgebung, Kehren, Predigen und Beten und Journa⸗
Tiftit eine Pſeudo⸗Geſellſchaft; fchrecdlich für Den, der darin lebt, entfeglih
für Den, der fie betrachtet. Deshalb erfcheint ein ſolches ſociales Inftitut,
nnferer europätfchen Art und Weije angepaßt, dringend nothwendig. O
Gauchos, füdamerifanijche ſowohl als europäifche, welch eine furchtbare Aufe
gabe ift e8, Eure fieben Teufel außzutreiben !
Vielleiht aber wünfcht der Leſer auch ein Bild von Dr. Francia in
concreto zu erhalten, wie er leibt und lebt und zur Zeit des Chirurgen
Mengger die taufendfältigen Regierungsgeſchäfte feiner Paraguener beforgt.
Es ift unfer letzter Auszug, nniere letzte Anficht von dem Dictator, der nun
nicht länger an unferem Horizont verweilen darf.
„Ih habe ſchon gefagt, daß Dr. Francia, fobald als er ſich an der
Spige der Gefchäfte fab, in der Wohnung der früheren Gouverneure von
Paraguay jeine Reſtdenz aufſchlug. Diefed Gebäude, welches eines der
größten in Aſſumpcion iſt, war von den Jeſuiten kurze Zeit vor ihrer Ver⸗
treibung für Laien errichtet worden, welche ſich Hier gewiflen, von dem hei«
ligen Ignatius vorgefchriebenen geiftlichen Liebungen widmeten. Dieſes Ge⸗
bäude ließ der Dictator wieder in Stand ſetzen und verſchönern und durch
Anlegung breiter Straßen von den andern Käufern der Stadt trennen,
Hier wohnt er mit vier Sflaven, einem Eleinen Neger, einem Mulatten und
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zwei Mulattinnen, benen er ein fehr milder Herr iſt. Die beiden Männer
serrihten die Bunction eines Kammerdienerd und Meitknechts. Gine ber
beiden Rulattinnen if feine Köchin und Die andere beſergt feine Garderobe.
„Er führt ein ehr regelmäßiges Lehen. Die erſten Steahlen der Sonne
finden ihn fehr felten nod im Bett. Sobald als er aufficht, bringt der
Neger eine Wärmpfanne, einen Keffel und einen Krug Waller und ber
Dictator bereitet ſich Hierauf mit der guößtmöglichen Sorgfalt feinen Mate
oder Paraguay Thee. Nachdem er dieſen getrunfen, geht er in der inner
Kolonnade, welche die Ausſicht auf den Hof hat, fpazieren und raucht eine
Gigarre, welche er erſt jergfältig aufrollt, um ſich zu überzeugen, daß nichts
Gefaͤhrliches darin iſt, obſchon jeine eigene Schwefter fie ihm fertigt. Um
ſechs Uhr kommt der Barbier, ein ſchmuziger, zerlumpter, dem Trunk er⸗
gebener Mulatte, aber ter Einzige feines Gewerbed, dem er traut. Wenn
ber Dictator auf guter Laune it, fo plamdert er mit ihm und bedient fig
auf diefe Weiſe jeiner fehr oft, um das Publikam auf feine Projecte vorzu⸗
bereiten, ſodaß dieſer Barbier gewifiermaßen die Stelle einer offiziellen Zei⸗
Jung vertritt. Hierauf gebt er in feinem Schlafrock von gedrudtem Aatıum
in die äußere Kolonnade, einen offenen Säulengang, ber um das gonze Bes
bäude heruniführt. Hier geht er auf und ab und empfängt zugleich die Per⸗
fonen, welcdye zu einer Audienz zugelaflen werden, Gegen fieben Uhr zicht er
fi, wieder in fein Zimmer zurüd, wo ex bleibt bid neun. Dann kommen Die
Offiziere und andere Beamte, um ihre Rapporie abzuflatten und feine Be⸗
fehle zu empfangen. Um eilf Uhr bringt ber Kiel de fecho, oder der erſte
Secretair Die Schriften, die er durchzuſehen hat umd fchreibt nach feinem
Dictat bis Mittag. Schlag zwölf Uhr entfernen fi alle Beamtt und Dr.
Srancia fegt ſich zu Tiſche. Sein Diner, weldes außerordentlich frugal iſt,
beftellt er allemal ſelbſt. Wenn die Köchin vom Marft zurüdfchrt, fo lege
fie ihre Einfäufe an der Thür des Zimmers ihres Herrn nieder; Dann
kommt der Doctor heraus und wählt, was er zubereiter zu Haben wünſcht.
„Nah Tiſche hält er feine Sieſta. Sobald er Davon erwacht, trinft ex
wieder feinen Mat und raucht eine Gigarre unter Beobachtung terfelben
Borfiht, wie am Morgen. Sodann widmet er fich bis vier oder fünf Uhr
den Beihäften, wo dann die Escorte aukommt, die ihn auf ſeinen Spazier⸗
zitte begleitet. Der Barbier tritt wieder ein und frifirt ihn, während ſein
Dferd gelattelt wird. Während dieſes Rittes infplcirt der Doctor die öffente
lichen Arbeiten und die Kafernen, befonderd die der Gavalerie, wo er eine
RER —57— —7 75757 — TU —
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Neihe von Gemädern zu feinem eigenen Gebrauch hat einrichten laſſen.
Auf diefem Mitte if er, obſchon von jeiner Edcorte umringt, mit einem
Säbel und ein Baar doppelläufigen Taſchenpiſtolen bewaffnet. Gegen Ein⸗
bruch der Nacht kehrt er nach Haufe zurüd und ſtudirt bis neun Uhr. Dann
fegt er fich zum Abendeſſen nieder, welches gewöhnlich aus einer gebratenen
Zaube und einem Glas Wein beſteht. Wenn das Wetter ſchön if, fo geht
er wieder oft bid zu einer fpäten Stunde der Nacht in der äußeren Kolon⸗
nade jpazieren. Um zehn Uhr theilt er die Parole aus. Wenn er in dad
Haus zurüdgefehrt ift, verichließt er alle Thüren felbfl. *
Francia's Bruder war ſchon wahnftimig. Seine Schweſter verbannte
Srancia fpäter, weil fle einmal einen jelner Grenadiere, einen Soldaten der
öffentlichen Regierung, zu einer Privatdienftleiftung gebraucht hatte. Du
einiamer Francia!
Francia's Cavalerie⸗Escorte pflegte die Leute mit flachen Säbelhieben
zu traftiren und mit den gröbften Echimpfworten zu überhäufen, wenn fie
verfäumten, den Dictator auf jeinem Außritte zu grüßen. Sowohl er felbft,
als auch feine Soldaten fahen ſich überdies fharf nah Meuchelmörbern um, -
fanden aber niemals einen, vielleicht eben in Bolge ihrer Wachſamkeit. Wäre
Francia in Paris geweſen!
Einmal nahm der Dictator wahr, daß oft Haufen von Müſſiggaͤngern
unt Gaffern fih vot feinem Negierungshaufe verfammelten und feinem Thun
und Treiden zuſahen. Es ward demgemäß Befehl gegeben, daß Jeder, den
der Weg über diefe Coplanade führte, unverweilt feinen Geſchäften nach-
gehen folge, und die Schiltwache ward inflruirt, wenn Jemand ftehen bliebe,
ihm fofort zu befchlen, weiter zu geben, und wenn er dann noch nicht ginge,
ohne Weiteres ſcharf auf ihn zu feuern. Nun gingen alle Einwohner von
Baraguay, vie der Weg in dieje gefährliche Region führte, io ichnell als
möglich und mit auf den Boden gehefteten Augen vorüber und das frühere
Leben an diefer Stelle verwandelte ſich faſt in Einſamkeit. Eines Tages,
nach vielen Wochen oder Monaten , verweilte eine menfchlidde Geſtalt doch
auf dem verbotenen Brunde und gaffte das Haus des Dictatord an. „Vor⸗
wärts!" rief tie Schildwache mit Nachdruck. Die Gefalt rührte fi
nicht. „Vorwärts!“ fchrie Die Schildpwache zum zweiten und dritten Male
— ad, die unglüdliche Menichengeftalt war ein Intianer, der feine civili⸗
firte Sprache verfiand und blos fragend und neagierig dad Manl aufſperrte.
56
Ein Schuß fnallte, eine Kugel pfiff, pfiff aber glücklicherweiſe blos und traf
nicht.
Der Schrecken des Indianer war natürlich nicht klein und fein Rück⸗
zug ein fehr raſcher. Was Francia betrifft, fo rief er die Schildwache mit
faum unterdbrüdtem Zorn heran. „Was giebtd, Amigo?" — „Ihre Er-
eellenz haben fo befohlen, * entgegnet die Schildwache. Francia kann fi
eines folhen Befehls nicht entfinnen und befiehlt auf alle Källe, daß dieſe
Ordre künftig außer Kraft trete.
Es bleibt und nod übrig, ein Wort, nicht der Entihuldigung, was
ſehr fhwer fein möchte, wohl aber der Erklärung, waß jehr möglich ift, in
Bezug auf die unverzeihliche Beleitigung hinzuzufügen, welche Francia der
menſchlichen Wiffenihaft in der Perfon des Herrn Aime Bonpland zu⸗
fügte. Aimé Bonpland, der Breund Humboldt's, Tieß fih nach vielen bo⸗
taniihen Wanderungen befanntlid, in Entre Rios nieder, einem indianiſchen
ober jefuitifchen Gebiete Dicht bei Francia's, welches fpäter von Artigas ver-
beert ward. Hier gründete Bonpland eine bedeutende Pflanzung zur ver⸗
befierten Kultur des Paraguaythees. Als Botaniker? — Nun ja, vielleicht
aber noch mehr ald Handeldmann.
„As Botaniker!* ruft Francia aus. „Das ift auf den Ruin meines
Theehandels abgeiehen. Wer ift diefer hergelaufene Franzoſe? Artigas
hatte kein Recht, ihm zu erlauben, fih in Entre Rios niederzulaffen; Entre
Rios gehört wenigftend eben jo gut mir als Artigas! Man bringe den
Mann zu mir!* Im der nächften Nacht umringen Soldaten der Regierung
von Paraguay Bonpland's Theepflanzung, galloppiren mit Bonpland über
die Grenze, nad) dem ihm zum Aufenthalte angewieienen Dorfe ig Innern,
rotten feine Theepflanzen auß, zerftreuen jeine vierhundert Indianer und —
dad Uebrige willen wir. Das hartherzige Monopol weigerte fih, den Bit⸗
ten und Lockungen ter öffentlidien Meinung und der Präfldenten der Aka⸗
demien Gehör zu ichenfen, mochten ihre Worte auch noch jo Elug und ver«
führeriich fein! Bonpland, der jeit einiger Zeit feine volle Breiheit wieder⸗
erhalten, wohnt no in Südamerifa, und die Robertſon's erwarten, daß er
feine Grefchichte mit gebührendem Geſchrei über Francia's Tyrannei veröffent-
lichen werte, eine Erwartung, welde der Verfaſſer des gegenwärtigen Aufe
fape8 aber keineswegs theilt.
Die Behandlung, welde Francia feinem alten Feinde Artigas, dem
Banditen und Beuerbrant, ber fich jegt in die Nothwendigkeit verjegt fa,
57
ihn um Obdach zu bitten, zu Theil werden ließ, war gut, menfchenfreunds
ih und fogar würbevoll. Francia weigerte fi, wie er von jeher gethan,
mit einem ſolchen Menfchen zu iprechen oder zu unterhandeln, gewährte ihm
aber bereitwillig einen Aufenthaltsort im Innern des Landes und dreißig
Piafter monatlich bis zu feinem Tode. Der Bandit baute das Feld, übte
menfchenfreundliche Thaten und verlebte feine noch übrigen wenigen Jahre
in Reue und Buße. Seine Mitbanditen, namlich die von ihnen, weldye fi
wieder auf Plünderung legten, wurden, wie Rengger erzählt, augenblicklich
feitgenommen und erfchoflen.
Andererfeitö bedarf jene Anekdote von Francia's flerbendem Vater noch
ber Beflätigung. Der alte Mann — erzählt man — der, wie wir geliehen
haben, ſich fchon jeit langer Zeit mit feinem Sohne veruneinigt Hatte,
wünfchte fi) wieder mit ihm auszuſöhnen, als er auf dem Sterbebette lag.
Francia aber ließ fagen, er hätte dringende Geſchäfte — e8 könnte ja jo
nichts nügen — mit einem Worte, er Eönne nicht fommen. Es kommt ein
zweiter, noch dringenderer Bote. Der alte Vater fann nicht flerben, wenn
er nicht zuvor feinen Sohn geſehen; er fürchtet, nicht in den Himmel zu
kommen, wenn fie fih nicht zunor mit einander außgeföhnt haben. — „Nun
fo möge er zur Hölle fahren!* rief Brancia; „ich komme nicht. *
Wenn diefe Anekdote wahr wäre, fo wäre fle allerdings von allen, die
über Pr. Francia in Umlauf find, die allerfchlimmfte. Wenn Francia in
dieſer Todesftunde feinem armen, alten Vater nicht verzeihen Eonnte, mochte
er nun an ihm gethan haben, was er wollte, wäre es ſelbſt das Lingeheuerfte
geweſen, was tie fhwärzefte und fhmülfte Phantafle fi denfen fann, dann
möge Fein Menſch Dr. Francia verzeihen! Die Genauigkeit eines öffentlichen
Gerüchte aber in Bezug auf einen Dictator, der vierzig Menfchen hat hin⸗
richten laffen, ift auch etwas, worüber fih allerhand Vermuthungen anftellen
laffen. Wie hieß der Mann mit Namen und Bunamen, dem Francia biefe
außerordentliche Antwort auftrug? Hat berjelbe vor glaubwürdigen, ver«
nünftigen, auf diefer Erbe wohnenden Menichen eidliche Ausſage darüber
erftattet, oder ift er noch jcht Dazu zu bringen? Wenn dies der Fall if, fo
möge er ed thun — wäre es auch blos um der pſychologiſchen Wiſſenſchaften
willen.
Noch eine legte Thatſache. Unfer einſamer Dictator, der unter Gau⸗
chos lebte, fand, wie es fcheint, da8 größte Vergnügen an einer rationellen
Unterhaltung, — mit Robertſon, mit Rengger oder mit irgend einem ans»
58
been intelligenten Menſchenkinde, wenn ihm eins in den Weg kam, was frei»
lic felten der Ball war. Gr erfundigte ſich mir Eifer nad) dem Thun uud
Treiben der Menichen in der Fremde, nad den Eigenſchaften ihm unbefann-
ter Dinge, alle menſchlichen Interefien und Kenntmifie waren Ihm interefiant.
Da er größtentheild nur Menſchen ohne Bildung um fi hatte, fo mußte er
fig mit Schweigen, einer tie flille Betrachtung fördernten Gigarre und
einer Tafle Mate begnügen. O Brancia, obſchon Du vierzig Perfonen hin⸗
sichten mußteft, jo kann ich mid) eines gewiſſen Mitleidens mit Dir nicht er⸗
wehren.
Auf diefe Weile und während für europäiiche Augen Alles noch dun⸗
Gel und leer if, müllen wir und denken, daß der Menſch Rotrigue; Francia
in einer entfernten, aber höchſt merkwürdigen, nicht unzweifel haften oter un⸗
begweifelten Weiſe über dad vermorrene Theater dieſer Welt ſchritt. Ginige
dreißig Sabre lung war er die ganze Regierung, bie fein Vaterland Para-
guay hatte. inige ſechſsundzwanzig Iahre war er ausdruͤcklich Souverain
dieſes Landes, zwei oder brei Jahre ein Souverain mit blanfem Schwert,
fireng wie Rhadamanııd und während aller feiner Jahre und feine® ganzen
Lebens von Anbeginn an ein Menſch oder Souverain von eifernem Fleiße,
eiferner Willenskraft und Thärigfeit.
So lebte Dictator Francia und hatte Feine Ruhe, erfl in ter Ewig⸗
keit Ausſicht Darauf. Ein Leben furchtbarer Arbeit, — indeſſen war es
während der letzten zwanzig Sabre, nachdem dad Gomplott Kulgencio
einmal in Städen gerifien worden und alles unter ihm ruhig war, eime
gleihmäßigere Arbeit — immer noch hart, doch gleichmäßig, wie die eines
arbeitfamen, in jein Geſchirr gewöhnten Karrengauld, der nicht mehr beit
und fchlägt, fondern flät und unverdrofien feine Laſt zieht, bis alle Diele
beſchwerlichen Meilen zurüdgelegt find und er feine file Heimath erw
reicht.
Die Herren Robertfon tappten in Berug auf Yrancia jo fehr im Dun⸗
keln, daß fie nicht im Stande gewejen waren, zu erfahren, ob er, als ihr
Buch erichien, noch lebte oder nicht. Damals lebte cr allerdings noch, icht
aber it er todt. Er if tobt, diefer iherfwürdige Francia, dies laßt fich nid
bezweifeln; Haben nicht wir und unjere Lefer Bruchftüden aus jeiner Leis
59
chenrede vernommen! Er flarb am 20. September 1840, wie der ehrwür⸗
dige Perez und mittbeilt ; dad Volk fammelte fih mit großer Theilnahme,
ja, wie Perez behauptet, mit Thränen um fein Gouvernementshaus. Drei
Ercellenzen waren feine Nachfolger, ald ein „Directorat”, eine „Iunta Gu⸗
bernativa *, oder wie fie fonft heißen mochte, vor welcher dieſer hochwürdige
Perez predigt. Bott erhalte fle viele Jahre!
Mirabeau".
(1837.)
Ein Sprihwort fagt: „Dad Haus, welches im Bau begriffen ift, ſieht
nicht wie das Haus, welches gebaut if.“ Umgeben von Geröll und Mörtel-
haufen, Rüftftangen, Handlangern und Staubwolfen enthüllen ſich während
des gemeinen Tumults des Dinge, welches zeither ift, ſelbſt dem fchärfften
Beobachter nur einige rohe Anfänge des Dinges, welches fein wird.
Wie wahr ift dies in Bezug auf alle Werke und Thatſachen in unjerer
Welt, mögen fie einen Namen haben, welchen fte wollen; wie wahr ift es
ganz beſonders in Bezug auf die höchſte Ihatiache und das höchſte Wert,
welches unjere Welt Eennt, — das Leben eines fogenannten originellen
Menſchen.
Ein ſolcher Menſch iſt, ſo zu ſagen, nicht über den allgemeinen Leiſten
geſchlagen; ſein Entwickelungsgang läßt fih nicht einmal annähernd pro=
phezeien, obſchon ſolche Menſchen eben wegen der Neuheit und Seltſamkeit
threr Erfcheinung mehr als alle anderen zum Prophezeien anreizen.
Ein Menſch diefer Art entwidelt fi, während er auf Erden lebt, auß
nichts zu etwaß, allerdingd unter ſehr complicirten Verbältniffen und Um—
ftänden. Gr zieht in fortwährender Neihenfolge und Abwechſelung die
Materialien feines Baues, ja fogar den Plan dazu aus dem ganzen Heide
des Zufalles, ja, jo zu jagen, aus dem ganzen Reiche des freien Willens ar
ſich — er baut fein Leben auf diefe Weile zufammen und es ift, während
*) Memoires biographiques, litteraires et politiques, de Mirabeau; ecrits par
lui-meme, par son Pöre, son Oncle et son Fils Adoptif. 8 vols. 8vo. Paris, 1834—
1836.
61
er dies thut, ein Mäthfel und ein Problem, nicht blos für Andere, fondern
auch für ihn ſelbſt.
Daher hört man folde Kritiken von den Umſtehenden, Taute Unkenntniß,
laute Berfennung! Es ift faft wie das Oeffnen des Käftchend jenes Fifchers in
dem arabifchen Mährchen — diefes Beginnen und Emporwachſen eines Lebens.
Unbeftimmter Hauch wallt dahin, dorthin, einige Züge eines Genius blicken
hindurch, aber über ihre endliche Geftalt vermag ſich weder ein Fiſcher noch
fonft Jemand ein Urtheil zu bilden. Und»dennoch urtheilen die Menichen,
wie wir eben fagten und fällen im Voraus ihr Urtheil, man Tann flch den⸗
Ten, mit welcher Richtigkeit.
„Dan fehe das Bublitum in einem Theater, * fagt ein Schriftfteller ;
„das Leben eines Menichen ift hier in eine Dauer von fünf Stunden zufam«
mengedrängt; ed wird auf einer offenen Bühne bei angezündeten Lampen
geipielt und mit Allen, was die paflendften Worte und der Kunftgenius
thun fönnen, um den Sinn Flar zu machen; und dennoch höre man, wenn
der Vorhang fällt, was das kritiſche Publikum dazu jagt!“
Nun aber nehme man an, daß dad Drama einen Zeitraum von ſiebzig
Fahren einnimmt und nicht mit Streben nach Klarheit, fondern eher mit
Streben nach Heimlichkeit und oft in dem tieflten, unentwirrbarften Dunfel
aufgeführt wird, während die Welt oder das Eritifche Publikum, anderwärts
beihäftigt, bald einen Augenblid Hier, bald einen Augenblick dort die Aus
gen auf ten Vorgang wirft!
Wehe ihm, antworten wir, der feinen Appellhof gegen das Urtheil der
Melt hat. Er ift ein verlorener Mann und wird, nachdem er für überführt
erachtet worden, zu harten Strafen verurtheilt oder er erfauft fich feine Brei«
fprehung nur allzumahrfcheinlich durch eine noch härtere Buße, nämlich bie,
ein trivialer, oberflaͤchlicher Auspoſauner feines eigenen Lobes und ein
theilweifer oder totaler Charlatan zu fein, was tie bärtefte Buße von
allen ift.
Aber nehmen wir weiter an, daß der Menſch, wie wir jagten, ein ori«
gineller Menſch ift, daß fein Lebensdrama nicht allein nach den drei Einhei-
ten bemefjen werden würde und könnte, fondern zum Theil auch nad) einer
rigenen Regel; ferner daß die Vorgänge, bei weldyen er betheiligt gewefen,
großartig und welterfchütternd find, daß es von allen feinen Richtern bier
nicht einen giebt, der nicht Grund hätte, ihn entweder über die Gebühr zu
62
lieben oder über die Gebühr zu haften! Ad, iſt es leider niet gerade diefer
Fall, wo die ganze Welt am rafcheften urtheilt und die ganze Welt am leich⸗
teſten falſch urtheilt, weil das natliclihe Dunkel durch zufällige Schwierig⸗
feiten und Verkehrtheiten jo Doppelt und dreifach verfinflert wird. Es if
baber bis zu einem gewiflen Grade ganz richtig und gegründet, wenn mau
gelagt hat: Um einen originellen Zettgenofien zu beurtbeilen, muß man
größtentheild das Urtheil der Welt über ihn umfchren, denn bie Welt Hat
nicht blos in diefee Sache Unrecht, fondern kann überhaupt in Deiner foldgen
Sache Recht haben.
Ein Troſt hierbei iſt, daß die Welt fi immer mehr und mehr in ſol⸗
hen Dingen auf den rechten Weg hin arbeitet, daß eine fortwährende Prü-
fung und Berichtigung des erften Urtheild ver Welt darüber unvermeidlich
vor fihh gebt. Denn im Grunde genommen liebt die Welt ihre originellen
Menſchen und kann fie in feiner Weife vergefien, wenigftens erft nad) langer
Beit, zuweilen erft nach Taufenden von Jahren.
Was wollte fie auch überhaupt in der Erinnerung aufbewahren, wenn
fie die ſe vergefien wollte? Der Reichthum der Welt beſteht eben iu ihren
originellen Menfchen. Durch dieſe und deren Werfe ift fie eben eine Welt
und nicht eine Wüfte. Die Erinnerung und Gejchichte der Menſchen,
bie fie trug — dies ift die Summe ihrer Kraft, ihr geheiligted Eigenthum
für immer, wodurd fie ſich aufrecht erhält und jo gut es gehen mag, durch
bie noch unentdeckte Tiefe der Zeit vorwärtd fleuert.
Ale Kenntniß, alle Kunfl, jeder fchöne oder koſtbare Beſitz des Da⸗
feins ift, wenn e8 um und um fommt, dies, oder ſteht damit in Verbindung.
Iſt nicht die Wiſſenſchaft felbft in einer ihrer interefjanteften Geftalten
hauptfächlich Biographie; iſt fle nicht die Gejchichte des Werkes, welches
ein origineller, von und noch genannter oder auch nicht mehr genannter
Menſch mit dem Segen des Himmel! vollbrachte? Sphäre und Eylinder
find da8 Monument und die abbrevirte Gejchichte des Menſchen Archimedes,
die wahrfcheinlich nicht eher vergeffen wird, als bis die Welt ſelbſt verſchwin⸗
det. Bon Dichtern und was fie gethan Haben und wie die Welt fie licht,
wollen wir in diefen, in Bezug auf die Kunft fehr eigenthümlichen Tagen
nichts oder ganz "wenig fagen. Der größte Moderne der poetijchen Zunft
hat ſchon gefagt: Ia, wenn Du willft, wer ander ald der Dichter hat und
zuerft Götter geformt, fie zu und hberabgebradt, und zu ihnen binaufges
hoben ?
63
Eine andere Bemerfung, die einer tiefern Region angehört, aber eben⸗
fall8 unfere Aufmerfianfeit in hohem Grate verdient, rührt von Jean Paul
ber, nämlich daß in in der Kunft eben jo wie im Handeln oder was wir
Moral nennen, ehe ein Ariftoteles mit feinen kritiſchen Regeln. auftreten
fann, ein Homer oder viele Homerd mit ihren heroiichen Leiftungen. voran«
gegangen fein müſſen. Mit jchlichteren Worten — der originelle Menſch
tft der wahre Schöpfer (oder Offenbarer, wenn man ihn fo nennen will)
auch der Moral. Bon feinem Beifpiele werden Vorfchriften genug herge⸗
leitet und in Büchern und Syſtemen niedergejchrieben. Gr ift eigentlich die
Sache; Alles, was hinterher folgt, ift blos Geſchwaͤtz über die Sache, eine
befiere oder ſchlechtere Auslegung derfelben, eine mehr oder weniger ermü⸗
dende und wirfungslofe Togtiche Abhandlung darüber.
Es ift dies eine Bemerkung Jean Paul's, welcde, wenn man fle wohl
überlegt, eine der inhaltichwerften zu fein fcheint, welche in der letzten Zeit
über dieſen Gegenftand geichrieben worden. Wenn Jemand den Ehrgeiz
hätte, ein neues Moraliyftem zu bauen, — was in ber jeßigen Zeit freilich
kein verheißungsvolles Unternehmen wäre — fo giebt es Feine und befannte
Bemerkung, welche befler als ein Hauptedflein dienen könnte, um auf den«
felben zu gründen und zu bauen, body genug ohne Zweifel, — hoch zum
Beiſplel wie das hriftliche Evangelium felbft und zu welchen anderen Höhen
das Schickſal ded Menichen ihn noch tragen möge.
Die beiden moſaiſchen Gefeßtafeln waren von einfachem, befchränftem
Steine; e8 war ihnen Feine Logik beigegeben. Wir dagegen in unferer Zeit
find reichlich mit Logik verfehen — wir haben Moralſyſteme, Profefioren
der Moralphilofophie und eine Maſſe Theorien, die für diejenigen, welche
Sefallen daran finden, fehr nüglich find. Iſt es aber dem beobachtenden
Auge nicht immer noch klar, daB die Hegel des Menfchenlebens nicht auf
Logik beruft; Daß vielmehr, wie von jeher, Das, was der Menfch thut,
ftet8 Das ift, was er ſich zu thun aufgefordert fühlt, von welcher Auffors
Derung der Grund wiederun oft von der Logik nit nachgewieſen werben
kann und der Hauptſache nach einfach Darin Tiegt, daß er ſchon anderwärtd
und beiler demonftrirt worden, nämlich durch Erperiment, oder mit andern
Worten, daß ein erperimentirender — oder, wie wir ed nennen, origincller
— Menſch ſchon fo etwas gethan und wir geſehen haben, dad es gut
und vernünftig war, fo daß wir ed nun ein⸗ für allemal tafür erkennen? —
Doc genug hiervon.
64
Es müßte ganz gewiß ein fehr fanguinifches Inpividuum fein, welches
in der franzöftichen Revolution neue Regeln für menſchliches Handeln und
Schöpfer oder Mufter der Moralität juchte. Gin größeres Werk, hat man
oft gefagt, iſt der Weltgefchichte niemals durch fo Eleine Menſchen ausgeführt
worden. Bünfundzwanzig Millionen — fagen diefe ftrengen Kritifer —
werden aus allen ihren alten Gewohnheiten, Arrangements, Geſchirren und
Garnituren in die neue volltändig leere Arena und Laufbahn des Sanscu⸗
lottism gefchleudert, um bier zu zeigen, melde Originalität in ihnen if.
Sanfaronaden und Geberden, Heftigfeit, Gährung und heroiſche Verzweif⸗
lung zeigen fle allerdings in Hülle und Fülle, aber von dem, wad man Dri=
ginalität, Erfindung, natürlihen Stoff oder Charafter nennen fann, er=
ftaunlih wenig. Ihre heroifche Verzweiflung, mochte nun ihre Beichaffen-
beit fein, welche fle wollte, wollen wir als ein neued Document, oder man
nenne es lieber eine Erneuung jened uriprünglichen, unvertilgbaren Docu=
mentes und Freibriefö, der Mannheit des Menjchen, adıten und ſelbſt ver⸗
ehren.
Uebrigend aber gab es Föderation; ed gab Verbrüderungsfefte, tie
„Statue der Natur ließ Waſſer aus ihren beiden mammelles ſtrömen“ und
die erhabenen Deputirten tranfen alle aus derfelben eifernen Scale; Ge—
wichte und Maße wurden verändert; Die Monate des Jabreö wurden Plu-
viose, Thermidor, Messidor, — bi8 Napoleon ſagte: „Il faudra se debar-
rasser de ce Messidor, man muß diejen Meifitor aus den Wege fchaften *
— auch Madame Miomoro und Andere fuhren ftolz und gedeihlich als Göt-
tinnen der Vernunft einher; und dann, nachdem dieſe zum größten Theile
guillotinirt worten, bielt Mahomed Robespierre mit einem Blumenftrauß
in der Hand und in neuen fhwarzen Hofen vor den Tuilerien den unbehol⸗
fenften aller prophetiihen Vorträge über das Etre Suprème und ſteckte eine
Mafle Pappdeckelkram in Brand: — alled dies und eine unermeßliche An
zahl nody anderer folder Dinge erfannen und vollführten die fünfuntzwanzig
Millionen ; aber — abgejchen von ihrer beroijchen Verzweiflung, die zum
Beiſpiel neben der der alten Holländer auch fein Wunder war — dies und
bem Aehnliches war beinahe Alles.
Die Arena ded Sandculottiöm war die originellfte Arena, die dem
Menichen feit über taufend Jahren eröffnet worden und dennod waren die
Menſchen, die fi darin bewegten, ganz unerwartet gewöhnlid. Der Graue
Borfter, der mitten in dieſem vulfaniichen Chaos der Schreckensregierung
— u u u — —— | mim — — a — -
65
langfam am gebrochenen Herzen ftarb und immer noch feft an ter Sadıe hielt,
die er, obfchon jet blutig und ſchrecklich, hoch und heilig glaubte und für
welche er Alles geopfert, Vaterland, Bamilie, Habe, Freunde und Leben —
Borfter, fagen wir, vergleicht die Revolution allerdings mit einer „Exrplofion
und neuen Schöpfung der Welt“, die in derfelben handelnden, ihn umfuns
menden Perfonen aber mit einer „ Handvoll Mücken.“
Und dennoch, kann man binzufegen, war tiefe felbe Erplofton einer
Melt ihr Werk, das Werk dieier — Müden? Die Wahrheit ift, daß weder
Vorfter noch irgend Jemand eine frangöftiche ARevolution jeben fann. Es
ift, ald wollte man den Ocean jehen. Der arme Charles Lamb beflante
fih, daß er nicht den unendlichen Dcean überhaupt, ſondern blos einen une
bedeutenden Theil Davon von dem Def tes Marktſchiffes ſehen könne.
Indeffen muß man zugeben — behaupten jene ftrengen Kritiker weiter
— daß Beiiviele von gleichfam tollgewordener Trivialität in der franzöji«
fhen Nevolution in beflagendwerther Menge und Größe vorfonmen. Man '
betrachte Maximilian Mobeöpierre, Der während beinahe zwei Jahren fo zu
fagen Autotrdt von Pranfreib war. ine arme meergrüne (verdätre),
fhwarsgallige Bormel von einem Menichen, ohne Kopf, ohne Herz oder
irgend eine außerordentliche Begabung oder aud nur ein außerordentliches
Kafter, wenn man nicht Eitelfeit, Verichlagenheit, krankhafte, Erampfhafte
Bewegung — die von einigen fälihlih für Kraft gehalten wird — tafür
gelten laffen will, mir einem Worte, ein böchft erbärmliches, meergrüncs In«
dividuum mit einer Brille auf der Nafe, von der Natur höchſtens zu einem
Methotiftenprediger der firengern Klaffe beſtimmt — das war ter Mann,
der, ein Spiel der Stürme, fid) emporgewirbelt fah, um la premiere nation
de l'univers zu commandiren, während Alle ihm ein lautes Vivat zuriefen
— eins der Häglichiten, tragiichften, meergrünen Objecte, die jemald in
irgend einem Lande zu ihrem eigenen jchnellen Untergange und zur langen
Verwunderung der Welt emporgewirbelt worden:
Sp folgern diefe flrengen Kritifer der franzöflichen Revolution, mit
welchen wir uns bier in feinen Streit einlaflen, fondern blos, worauf e8
bier mehr anfommt, bemerfen wollen, daß Die franzöſiſche Revolution wirk⸗
lich originelle Menfchen an's Licht treten ließ — unter den fünfuntzwanzig
Millionen wenigftend eine oder zwei @inheiten. inige redinen bei dem
gegenwärtigen Stadium der Sache ſchon drei: Napoleon, Danton, Miras
Garlnle. IV. 5
66
beau. Ob noch mehrere an's Licht kommen werden oder von welder Art
fie find, wenn die Berechnung vollfländig liquitirt if, das kann man nicht
fagen. Mittlerweile möge die Welt dankbar für dieſe Treue fein, wie fie
es in der That auch ift, denn fle liebt originelle Menichen ohne Zahl, wären
fie audy noch fo tadelnswerth, denn fie weiß wohl, wie felten fie find.
Für und ift es demgemäß intereffant, zu beobadıten, wie aud an die
fen Dreien, fo zweifelhaft und tadelnswerth fie auch übrigens find, der alte
Prozeß ſich wiederholt und wie auch dieſe in ihrer wahren Geſtalt erfannt
werden. ine zweite Generation, die bis zu einem gewiffen Grade frei iſt
von den gefpenftifchen Täuſchungen der hyſteriſchen Ophthalmie und dem na⸗
türlichen panifchen Delirium der erften zeitgenöfftichen, kommt allmälig, um
zu erkennen und zu bemeflen, was ihre Vorgängerin nur jchmähen und vers
wünfchen fonnte, denn, wie unjer Spridwort fagt, der Staub finkt, bie
Schutthaufen verfhwinten und Das gebauete Haus, fo wie es ift und jein
follte, ſteht fichtbar da.
| Bon Napoleon Bonaparte fann man bei fo vielen Bulletins und die-
fer Selbftproclamation durch Artillerie und Schladhtendonner, laut genug,
um auch das taubfle Gehirn in dem fernften Winfel diefer Erde zu erfchüt-
tern, bei den vielen Biographien, Geſchichten und hiſtoriſchen Argumenten
für und wider fagen, daß er fih nun recht wohl allein behelfen kann und
daß feine wahre Geftalt auf dem beften Wege ift, ermittelt zu werden.
Ohne Zweifel wird man eines Tages finden, welche Bedeutſamkeit in ihm
lag, wie — wir citiren bier eine Stelle aus einen amerifanifhen Bude —
„der Mann ein göttliher Gefandter war, obſchon er es felbft nicht wußte
und durch Feuerſchlünde die große Lehre prebigte: La carriöre ouverte aux
talens, die Werkzeuge Dem, der fie zu führen verfteht — eine Lehre, Die
unfer letztes politiſches Evangelium ift, in welchem allein die Freiheit liegen
Tann. Wahnfinnig genug predigte er allerdings, wie Enthuftaften und erfte
Miſſtonarien zu thun pflegen, mit unvollfommener Ausſprache und vielem
hochtrabenden, leeren Geihwäg, aber dennoch vielleicht fo deutlich als Die
Sache e8 erlaubte. Oder man nenne ihn, wenn man will, einen amerifanie
ſchen Hinterwäldler, der undurchdringliche Wälder zu fällen und mit unzäh—
ligen Wölfen zu fämpfen hatte und ſich dabei von ftarfen geiftigen Geträn«
fen, Excefien und jogar Diebſtahl nicht ganz frei erhielt; dem aber nichts⸗
deftoweniger der friedliche Säemann folgt und während er die unermefliche
Ernte jchneidet, feinen Namen ſegnet.“ — Bon dem „eingefleiichten Mo⸗
67
loch“, welches einft ver beliebte Ausdruck war, bis zu diefer ruhigen Ver⸗
fion ift fchon ein bedeutender Fortſchritt.
Noch intereffauter ift es und faſt nicht ohne einen Anflug von Pathos,
zu fehen, wie Der rauhe Terrae Filius Danton gleichfalld aus dem blutigen
Dunkel und dem Schatten gräßlicger Grauſamkeit in ruhiges Licht emporzu⸗
Reigen beginnt und allmälig nicht ausſchließlich ein Menſchenfreſſer, ſon⸗
dern mwenigftens theilweife ein Menſch zu fein fcheint. Im Ganzen genom⸗
men fühlt die Erde, daß ee ſchon etwas tft, einen „Sohn der Erde“ zu ha⸗
ben, irgend eine Wirklichkeit, Tieber al8 eine Heuchelei und Bormel!
Mit einem Manne, der ehrlich mit fich felbft zu Werke gebt und im
irgend einem Sinne mit ganzer Seele ſpricht und handelt, ift ſtets etwas
anzufangen. Der Satan felbft war nah Dante ein lobenswerther Gegen⸗
ftand im Bergleih mit jenen juste milieu-Engeln — in unfern Zeiten fo
überauß zahlreich, — die weder treu noch rebellifch waren, fondern nur an
ihr eigenes kleines Ich dachten — Zuftuger, gemäßigte, plaujible Menſchen,
bie in der Hölle Dante's zu der entieglichen Strafe verurtheilt find, daß fle
nicht die Hoffnung haben, zu ſterben (non han speranza di morte); fon«
dern in ein ſtarres Tod⸗Leben, in Schlamm umd von Bliegen gepeinigt ver«
funten, fortwährend ſchlummern und bulden müſſen, — „Gott eben fo ver⸗
haft ald den Feinden Gottes" —
Non ragionam di lor, ma guarda e passa |
Wenn Bonaparte, der „bewaffnete Soldat der Demokratie * und une
beftegbar war, während er diefer Aufgabe treu blieb, fo müflen wir biefen
Danton bad Enfant perdu und den nichtangeworbenen Empörer und Ti⸗
tanen der Demokratie nennen, der noch Feine Soldaten oter Disciplin ha⸗
ben konnie, jondern ihrer Natur zufolge gejeglos war. Ein Irdiſchgebore⸗
ner, fagen wir, aber vechtichaffen von der Erde geboren! In den Memoiren
Garat's und anterwärts fleht man, daß diefe Feueraugen von innigem Eine
blick ſtrahlen und fid mit Thränen füllen, die breiten rohen Züge verrathen
menfchliche Sympathien, die Bruft des Antäus barg aud ein Herz. „ES
ift nicht die Lärmfanone, die Ihr Hört, * ruft er den Erſchrockenen zu, als
die Preußen ſchon in Berdun ſtanden; „ed iſt ber pas de charge gegen un⸗
fere Feinde! De l’audace, et encore de l’audace, et toujours de l’audace,
Muth und abermald Muth und nichts als Muth!“ — 8 bleibt weiter
nichts übrig.
Armer „Mirabeau der Sandculotten“, wel eine Miſſion! Und ed
5*
68
fonnte nicht anders ald gefchehen und es geihab! Lind ifl Benno nicht,
wenn man es wohl überlegt, mehr Tugend in diefem Gefühle jelbft, ſobald
es nur einmal innig dem wilden Herzen entquillt, ald in dem ganzen langen
Leben makelloſer Pharifaer und Meipektabilitäten, die ihr Augenmerk fort⸗
während auf den „guten Ruf“ gerichtet halten, fo wie auf den Buchſtaben
bed Geſetzes: „Que mon nom soit fletri, möge mein Name gebrandmarft
werden ; wenn nur die Sache fiegreich tft und den Sieg erringt!“
Nah und nad) wird, wie wir voraudfagen, der Freund der Humanität
eine gewiſſe Geſchichte in dieſem Danton finden. Ein aus dem Rohen ge-
banener Rieſe von einem Menfchen, nicht ganz und gar Wenfchenfrefler,
deffen „Rebefiguren * eben jo wie fein Handeln alle gigantiih find; deſſen
„ Stimme von den Domen wiederhallt * und der Braunfchweig in fehr erbaͤrm⸗
lichem Zuftande über die Grenze hetzt. Sein gänzliches Freilein von heuch⸗
leriſchen Floskeln ift ſchon viel; felbft in feinen Beftechungen und anderen
Geldſünden liegt eine gewifle Sreimüthigfeit und ungenirte Größe. Aufe
richtigfeit, eine große rauhe Aufrictigfeit der Einficht und des Zweckes
wohnte in dem Manne, welche Eigenfchaft die Wurzel aller anderen ift —
ein Mann, der Vieles durchſchauen fonnte und nur vor ſehr wenigen Din-
gen zurüdichraf, der ungeftün in dem zweifelhafteften Elemente marſchirte
und ſich weiterfämpfte und nun bie Strafe trägt, in einem „gebrandmarften *
Namen, der aber, wie wir jagen, fi allmälig und ſichtbar Elart und reinigt.
Ift aber diefer Name einmal wieder gereinigt, warum jollte dann nicht auch
er Bedeutfamfeit für die Menichen haben ?
Die wildromantifche Geſchichte iſt eine Tragödie, mie alle menſchlichen
Geſchichten find. Rauhe, rüftige Dantons fpalten noch bis zur gegenwär⸗
tigen Stunde in Arcis für Aube als einfache rüftige Landwirthe die Scholle
und ſchneiden friedliche Ernten; und dagegen die ſer Danton! Es ift eine
ungereimte Tragödie, fehr blutig und rußig — nah Art der älteren
Dramatiker — aber doch erfüllt von tragifchen Elementen und nicht ohne
Anſpruch auf natürliches Mitleid und Furcht. In ruhigen Zeiten, vielleicht
aus weiter Kerne, kann der glüdlichere Zufchauer über dad Dunkel der Sabre
Hunderte hinweg ihm die Hand entgegenftreden und fagen: „unglüdlicher
Bruder, wie Du kämpfteft mit wilder Löwenkraft und doch nicht mit genug
Kraft, und hoch flammteft und niedergetreten wardſt von Sünde und Elend,
— ftehe, auch Du warft ein Menſch!“
Man fagt, ed liege in diefem Augenblid eine fertig gefchriebene Bio-
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graphie Danton's in Paris, aber der Herausgeber wolle erſt warten, bis Die
„Macht der öffentlichen Meinung“ fih ein wenig gelegt habe. Er möge
aber ja fo ſchnell als möglich fein Werk veröffentlichen und fagen, was er
weiß, wenn er wirklich etwas weiß. Die Lebendgefchichte merkwürdiger
Menichen ift fletö werth, dag man fie verſtehe, anſtatt mißverfiche und bie
öffentliche Meinung muß ſich pofltiv fo gut al8 möglich anbequemen.
Der Intereflantefte und Begabteſte vieles zweifelhaften Triumphirats
aber tft ohne Zweifel nicht der Mirabeau der Sansculotten, fondern der
eigentliche Mirabeau ſelbſt, ein Mann von viel edlerer Natur, als einer ber
beiden andern, ein Genius von gleicher Stärfe, wollen wir jagen, wie Na⸗
poleon, aber ein weit humanerer, faft ein poetiicher Genius. Mit umfaflen«
deren Sympathien des eigenen Gemüthes begabt, appellirt er auch in weit
überzeugenderer Weife an die Sympathien der Menſchen.
Auch in Bezug auf ihn ift es intereflant, den allmäligen Uebergang
aus der Dämmerung der Verleumdung, verfehrten Darftellung und verwor⸗
renen Finſterniß in Sichtbarkeit und Licht zu beobachten und wie die Welt
ihre fortwährende Wißbegier hinjictlich feiner an den Tag legt und wie, fo
wie Bud nach Buch mit neuen Beweiſen erfcheint, Die Sache wieder aufge⸗
nommen und dad frühere Urtheil darüber revidirt und immer wieder von
Neuem revidirt wird — wodurd zulegt, wie wir hoffen können, das Rechte,
oder doch annähernd Rechte, gefunden und damit die Frage entichieden wer«
den wird.
Denn diefer Mirabeau iſt auch ein Menſch, deffen Gedaͤchtniß die Welt
nod lange Zeit nicht fterben lafien wird — ganz im Gegenfag zu fo man⸗
chem hohen Gedachtniß, welches ſchon lange, lange todt und tief begraben
liegt! Während feines Xebend und ſelbſt in dem legten hellſtrahlenden
Theile defjelben fchrieb diefer Mirabeau mit einem gewifien Gefühl fcheuer
Ehrfurcht an unfern Mr. MWilberforce, befam aber, fo viel wir finden Eönnen,
feine Antwort. Pitt war Premierminifter, und dann Por, dann wieder
Pitt und dann Bor in lieblicher Abwechſelung, und das Geräufch, welches
dieſe beiden machten, erfüllte in den Glubzimmern, bei Zwedefjen, an Wahl⸗
ſchranken und in Leitartikeln wieberhallend, die ganze Erde und es ſchien,
ala ob diefe beiden — obſchon man nicht unterfcheiden Eonnte, wer diefer
70
oder jener wäre, der Ornnzd und Ahriman der politiſchen Ratur gewefen
feten; — und wie ſteht «8 jegt!
Ein folcher Unterſchied — wir wiederholen Died noch einmal — be»
ſteht zwiſchen einem originellen Menſchen, fet e8 von auch noch jo zweifel-
hafter Art, und der gewandteften, ſchlaueſt ausgeſonnenen Rarlamentömühfe.
Der Unterfhied ift groß und einer von denen, in Bezug worauf die Zufunft
den grellften Gontraft zur Gegenwart bildet. Nichts kann wichtiger fein,
als die Mühle, fo lange fle geht und mahlt, wichtig vor allen Dingen für
Die, welche im Begriff find, ihr Korn aufzufchütten. Iſt aber dad Mahlen
einmal beendet, wie fan dann das Andenken daran noch fortdauem?! Sie
hat ja jept für Niemanten eine Bedeutung mehr, nicht einmal für Den,
welcher gemahlt hat. Sf, Diefer Tumult einmal vorüber, fo tft die ganz
natürliche Folge, dap das Andenken an den originellen Menſchen und an bie
Beine Offenbarung, die er ald Sohn der Natur und ald Mitmenſch gewäh«-
sen kaun, für und wieder in den Vordergrund tritt, denn jeine denkwürdi⸗
gen Worte, Tas, was er gethan und gelitten, fogar die Lafler und Ber
brechen, in Pic er verfiel, find cine Art Speife, auf welde alle Menſchen ihr
Necht geltend machen.
| In Bezug auf Beuchet, Chauflard, Baifteourt, fo wie überhaupt alle
früheren Biographen Mirabeau's läßt fich hier wenig weiter fagen, als daß
fe von Irrthümern wimmeln und der gegenwärtige legte Fils Adoptif wird
mit dem Aufftechen diefer Bchler gar nicht fertig. Nicht als Memorialen
Mirabeau’s, fondern als Memorialen über das Berhäftniß der Welt zu ibm,
über die Behandlung, welche die Welt ihm zu Theil werden ließ, können ſie
noch einige Zeit eine wahrnehmbare Bedeutung haben. Don dem armen
Beuchet (er war einft im Moniteur befannt) und andern dergleichen Ars
beitern im Weinberge kann man mit Net fo viel verlangen, aber nicht
mehr.
Etienne Dumont's Souvenirs sur Mirabeau fcheinen auf den erſten
Anblick vielleicht nicht ein Kortfchritt zur wahren Erfenntniß, fondern cher
- eine Bewegung mach der andern Richtung bin zu fein und doch waren ſte
wirklich ein Fortſchritt. Erſtens ward das Buch von allen Journalen und
periodifchen Zeitichriften Europa’3 in allen Spraden laut begrüßt, wedurd
wenigftend die Aufmerkſamkeit der Menicyen wieder auf den Gegenftand ge=
lenft ward, fo daß trog aller alten oder neuerfonnenen Täufchungen ein
Wachsthum der Einfiht unvermeidlich war. Ueberdies that auch bad Buch
in Bin u —— Mo — CU —R —M 5 En Aut 9; > u U, 3922.
71
feloft etwad. Zablreiche Specialitäten über den großen Branzofen wie tie
Augen des Eleinen Genfers fte aufgefabt hatten, wurden bier mitgetbeilt
und konnten mit gebührenter Rückſtichtnahme entziffert werden. Dumont if
ein Freund der Wahrheit und innerhalb feiner eigenen Grenze beflgt er ſo⸗
gar eine gewiſſe Breiheit und eine malerifche ungezwungene Klarheit.
Allerdings gehört die Grille, den großen Mirabeau als einen Gegen»
ſtand zu betrachten, der hauptſächlich durch ihn (Dumont und feined Glei⸗
den) in Bewegung gefegt ward, zu den wunderbarften, die in der Pſycholo⸗
gie vorgefommen find. Ja, noch wunderbarer war e8, wie die Recenſenten
faft allgemein und währen? man von einigen ewas Beſſeres erwarten fonnte,
auf die Sache eingingen und fte verichlimmern halfen. Es ſchien Demgemäß
von allen Seiten ausgemacht zu fein, daß bier abermals ein Prätentent jeie
nes Gefieder? entfleidet und der Große — zu unferm Troſt — eben to Elein
gemacht worcen, wie wir übrigen Menſchen; Laß in der That bildlich ge=
fprochen, diefer enorme Mirabeau, deſſen Schall durch alle Lande ging, wei⸗
ter nichts war als eine ungeheure blankgeputzte Trompete, in welche ein ge⸗
wandter kleiner Dumont hineinblies und dadurch den Lärm hervorbrachte.
Manche Menſchen und Recenſenten haben ſeltſame Theorien vom Men⸗
ſchen. Moͤge doch irgend ein Sohn Adam's, der ſeichteſte von allen jetzt
lebenden, ſich ehrlich bemühen, in feinem Kopfe eine Exiſtenz dieſer Art aus⸗
zudenken und dann ſagen, wie wahrſcheinlich ſte ausfieht. Ein wirklich nad
einem ſolchen Trompeten⸗ oder Poſthorn⸗Prinzip geführtes Leben und Han⸗
deln — wir ſagen nicht das Leben und Handeln eines Staatsmannes und
Weltenlenkers, ſondern des ärmſten Handelsmannes und Bindfadenverkäu⸗
fers — wär’ eind der größten Wunder, von welchen bis jetzt Die Geſchichte
erzählte. O Dumont! War, ald der alte Sir Chriſtopher den legten Stein
in die Kuppel der St. Vaulskirche einfegte, er es jelbft, Der den Stein hin⸗
auftrug? Nein, e8 war ein gewiſſer Mann mit ftarfem Rücken, der, in be«
neidete oder unbrneidete Vergeſſenbeit verjunfen, niemald erwähnt ward;
wahrſcheinlich war es ein Bürger der Schwefteriniel.
Hierbei müffen wir jedoch ausdrücklich Hinzufügen, daB Dumont bier
weniger au tadeln war al8 feine Mecenfenten. Der gute Dumont erzählt
genau, welche finnreiche Tayelöhner- und Handlangerarbeit er für feinen
Mirabeau verrichtete, giebt dabei jo manche Anekdote zum beften, welde Die
Welt freutig aufninmt, beſchönigt nichts, hoffen wir, und übertreibt au
nichts. Dies ift es, was er that und was zu thun er unbeftritten Dad Mecht
72
und den Beruf hatte. Und was kommt darauf an, wenn ibm dabei nicht
einflel, daß er im Grunde genommen Tod nichts weiter war ald ein Du⸗
mont, ja, daf Die Gabe, die dieſer Mirabeau hatte, fo reipectable Dumonts,
Handlanger und ſogar geſchickte Kunftarbeit für ſich machen zu laflen, ſie
durch den Blick feines Auges zu beherrſchen und fle zu bewegen, daß fle für
ihn mit Heiterem Muthe apportirten und ihm mit einer Art Ritterlichfeit
und Willigfeit als loyale Unterthanen tienten, — daß diefe Gabe eben Die
fönigliche Eigenichaft ded Mannes war und ihn an und für fih ſchon zu
einen Anführer unter den Menſchen ſtempelte!
Deshalb möge Niemand den guten Dumont tadeln, wie Einige nur
allzubart gethan haben ; fein Irrthum ift ein ſehr verzeihlicher, fein Werth
dagegen für un unbeftreitbar. Andererſeits möge man die öffentliden
Kehrmeifter und periodifchen Individuen tateln, welde dieſen Schluß und
dieſe Lebenstheorie ihm ablodten und fe auf diele laute Weis: audfchrien ;
oder vielmehr, im Grunde genommen, man table fie nicht, fondern verzeihe
ihnen und trete auf Die andere Seite. Soldye Dinge find einmal eine be⸗
ſtimmte Prüfung der öffentlichen Geduld, welcher vielleicht ein wenig Zucht
fehr heilſam iſt und thun felten oder vielmehr niemald dauernden Schaden.
Dicht auf Dumont’8 Reminiscences folgte dieje Biographie von Lucas
Montigni, dem Adoptivfohn, der erſte Bann im Jahre 1834, die übrigen
in £urzen Zwiſchenräumen und liegt nun in acht beträchtlichen Bänden vor
und, hinftchtli deren wir uns bier außzufprechen haben; — es thut und
leid, daß dies in abfälliger Weife geicheben muß.
68 ift in der That feinem Menſchen möglich, über dieſes Werf blos
Butes zu fagen. Daß Lucas Montigni ald Adoptivfohn ſich fo entihloffen
dazu hergegeben hat, jeinen Helden weiß zu wafchen und ihn jogar da, wo
die natürliche Farbe ſchwarz war, zu übertünden, dies gereicht ihm nicht
zum Tadel, fondern vielleicht eher zum Lobe. Wenn der Adoptivfohn eines
Menjchen nicht das befte Buch über ihn jchreibt, welches er ichreiben fann,
wer toll ed dann thun? Der ſchlimme Umſtand aber ift, daß Lucas Mon⸗
tigni gar fein Bud) geſchrieben, ſondern blos die Materialien zu einem Buche
audgeichnitten und zuſammengeworfen hat, welches Buch erit noch geichrieben
werden muß.
Im Ganzen genommen wundern wir uns über Montigny. Wahr.
ſcheinlich weiß der Xefer bereits, was alle Welt ſich zuflüftert, daß, als Mis-
rabeau im Jahre 1783 dieſes im Damals legtvergangenen Jahre geborene
ee De uni nad De u En ⏑— il eh
73
Kind adoptirte, er Die drangendfte von allen nur denkbaren Berpflichtungen
hatte, ed zu adoptiren, weil er es durch feinen eigenen. — nicht notariellen
— Act vorgeladen, in biefer Welt zu erſcheinen. Und nun erwäge man,
was Shafejpeare’8 Edmund, wad der Dichter Savage und dergleichen Leute
geprahlt Haben, fo wie auch, daß die Mirabeaus jeit undenklihen Zeiten —
gleich einer gewiflen, und befannten britifhen Bamilie — wohl „manden Va⸗
gabunden, aber nicht einen einzigen Dummfopf* gezeugt hatten. Wir fönnen
jener Behauptung, welche alle Welt fich zuflüftert, faum Glauben beimefien,
oder wenn wir ihr Glauben beimefien, jo werben wir Dadurch auf allerhand
Betrachtungen über den Ruin der Bamilien geführt. Das Haarlemer Meer
ift nicht jeichter ald der Genius dieſes Montigny. Es fehlt ihm jogar das
Zalent, welches fonft allen Franzoſen angeboren zu fein ſcheint, das Talent,
die Kenntniß, die er befigt, in der verſtändlichſften Form darzubieten. Dabei
ift er übrigend ein ganz folider Mann, ohne Zweifel ein ganz achtungswer⸗
ther Mann, den wir mit dem größten Bergnügen loben würden, wenn wir
nur fönnten. Möge er in einer Privatftellung glüdlidh fein und niemals
mebr jchreiben, — audgenonmen für die Bureaux de Prefecture, mit einem
bübfchen firen Gehalt, was weit beffer if.
Sein biographiiches Werf iſt ein ungeheurer Steinbrudy oder Hügel
von Geröll in acht Schichten, in welchen werthvolle Dinge verborgen liegen,
die Der, welcher jucht, finten wird.
Wir jagen werthvolle Dinge, denn der Adoptivſohn hatte ungebinder-
ten Zutritt zu Bamilienarbiven und fonnte eine Menge Geheimpapiere und
Documente benugen. Lange Jahre bat er mit Eindlicher Unermüdlichkeit
darin gearbeitet und ſich in allen Winfeln der Sache heimiſch gemacht. Und
wie leicht wäre e8 für ihn geweſen, und auch darin heimiſch zu machen!
Aber Dad thut er nicht. Er bringt vielmehr neue und alte Dinge an’ Licht,
bald foftbare, werthvolle Aufichlüffe enthaltende Privatdocumente, bald bie
armjeligften Haufen von Blugichriften und Parlamentögeihwäg, welches
mit jo leichter Mühe anderwärts zu haben ift und oft ganz wohl zu entbeh-
ren jein würte, wenn es zufällig einmal nicht zu haben fein follte. Alles
Died wirft er fo rüdjichtelo8 und verworren und — da er Frachtwagen ge=
nug bat — in fo unendlicher Menge durch einander, daß der Lefer nicht
weiß, was er mit allem diefen anfangen fol. Sogar die Mühe, die er dar»
auf verwentet bat, ift oft verfehrt; dad Ganze ift jo hart und ſchwer gewor⸗
den, daß ed ter Leſer nur im Schweiße jrined Angeſichts genießen kann!
74
Dder man fann es auch eine Mine nennen, eine künſtlich natürliche Silber⸗
mine. Adern des fchönften Silbererzes zichen fich bier und da durch das
Geflein und man muß mit Mühe darnadı graben. Wan flößt auf eine und
verfolgt fie, plößlich aber und gerade während man fidh Die reichſte Ausbeute
verfpricht, verfchmindet fie — wie dies in dergleichen Gruben fehr oft ges
ſchieht — in dien Maſſen fremtartigen Geſteins, Niemand weiß wohin.
Dies ift allerdings nicht fo wie es fein jollte und dennoch konnte es
unglüdlicherweiie nicht anders fein. Ein langed ſchlechtes Buch ift viel Teich-
ter herzuſtellen, als cin kurzes guted und ein armer Buchhändler hat Feine
andere Art und Weile zu meflen und zu bezahlen, als nach der Elle. Sogar
der Weber kommt und fagt, nicht „Ich babe fo und fo viel Ellen Stoff ge=
webt. * fondern „So und jo viel von ſolchem Stoff, * Atlas oder Sad
leinwand.
Die Abſicht des Adoptiviohnd war ohne Zweifel gu. Müſſen wir uns
nicht über den Beflg dieſer felben Silberadern freuen und fle in Dem begra-
benen Mineralzuftande oder auch in einem andern Zuſtande binnchmen, mir
Dank, daß fie nun, da fle gedruct vor und liegen, unzerflörbar find? Die
Welt, fagen wir, möge Montigny dankbar fein und dennoch wiffen, wofür
fte ihm dankbar iſt. In dieſen Bänden ift feine Lebensgeſchichte Mirabeau's
zu finden, wohl aber das reichhaltigfte Material zum Schreiben einer Lebens⸗
geſchichte. Würden die acht Bände gut gefichtet und in einen einzigen Band
zufammengeichmolzen,, jo wäre dieſer eine Band der wahre und achte! Ya,
es fcheint Dies ein fo nuͤgliches und Dabei fo leicht ausführbared Unternehmen
zu fein, daß es früher oder fpäter ganz gewiß und zu wiederholten Malen
und endlich yut ausgeführt werten wird.
Der Berfaffer red gegenwärtigen Auflage hat fih, obſchon er auf
die engen Grenzen eines ſolchen angewieien ift, vorgenommen, ein wenig zu
fihten und zu ertrahiren. Er bat in dem Buche, fo zu jagen, Bohrverſuche
nach verichledenen Richtungen hin angeftellt, und weiß ziemlih wohl, was
darin fledt, obſchon er e8 nicht immer berauszubolen weiß. Wenn daber
nicht allemal die beften Auszüge Dargeboten werden, fo gebe man nicht Mon⸗
tigng die Schuld. Wir Hoffen nichtöteftoweniger eine Skizze von Mira⸗
beau's Befchichte zu liefern, was ihm der Reihe nad) in diefer Welt begeg⸗
nete, und welche Schritte er Demzufolge that, und wie er und tie Welt zu-
fammenwirfend dad Ding ſchufen, was wir Mirabeau’d Leben nennen.
Außerordentlich unvollfommen wird diefe Skizze allerdings nod ſein, aber
|) — — — — — —— ————— —
75
Hoffentlich viel richtiger und treuer, als die biographiſchen Lexika und die
gewöhnliche Stimme des Gerüchte fie mittbeilen.. Ob und wie und wo Die
herrſchende Anfiht über Mirabeau zu berichtigen oder zu beftätigen oder in
irgend einem wichtigen Bunkte zu widerlegen ift, das wird fich hierbei im
Laufe unferer Arbeit gleihfam von felbft ergeben. Es ift in der That,
wenn man bie täglich ichriftlich oder mündlich über diefen Mann ausgeſpro⸗
chenen emphatifchen Urtheile erwägt, ſehr eigenthämlich, welches egyptiſche
Dunkel nod über die bloßen Thatſachen feiner äußern Befchichte verbreitet
iſt, deren richtige Erkenntniß, wie man glauben follte, der Vorläufer irgend
eined, wenn auch ganz flüchtigen Urtheils fein müßte.
Auf diefe Weile aber werden, wie wir ſchon zum Oeftern hervorgeho⸗
ben haben, ſolche Urtheile gewöhnlich gefäͤllt. Es find unbeftimmte und
unſichere plebiseita, Audfprüche des gemeinen Volkes, aus unzähligen lauten,
leeren Jas und lauten, leeren Neind zufammengefegt, die eigentlich gar feine
Bedeutung, fondern bloß Klang und Geltung haben, denn alle plebiscita
bedürfen einer gründlichen Erörterung.
Nun jedoch and Wert.
Eins der jchägenswertheflen Efemente in dieſen acht chaotiichen Bänden
Montigny's ift die Kenntniß, die er über Mirabeau's Vater, über jeine Ber-
wantten und Familie, feiner Gegenwart fowohl ald der Vergangenheit an⸗
gehörende, mitteilt.
Der Vater war, wie wir bereits wiflen, Victor Riquetti, Marquis
son Mirabeau, der Menihenfreund genannt und ſich felbft fo nennend
— ein Prädifat, welches in unjern jebigen Zeiten al8 ein keineswegs gün⸗
ſtiges Omen betrachtet werben muf. Demgemäß wunderte man ſich aud
nicht, wenn man hörte, daß dieſer Freund der Menfchen der Yeind faſt eines
jeten Menfchen war, mit dem er zu tbun hatte, wobei er an feinem eigenen
Heerde begann und an dem Außerften Kreije feiner Bekannten aufbhörte, weil
er erft j. nſeits deffelben fi veranlaßt fühlte, die Menfchen zu lieben. „Der
alte Heuchler!“ werden Biele ausrufen, — wir nit. Ach leider iſt e8 ja
viel leichter, die Menſchen zu lieben, während fie blos auf dem Papier oder
vollfommen biegſam und ſchmiegſam in der Phantafle erifliren, ale Sand
und Grete zu Tichen, die hungrig und zur ungelegenen Zeit leibhaft daſtehen
76
und mit ihren fpigen Eldogen, mit ihren Gelüften, ihrer Reizbarkeit und
ihrem dummen Eigenwillen fortwährend gegen einen anrennen und den Weg
verfperren. Es ift fein Zweifel, daß der alte Marquis Mirabenu ed aufer-
ordentlich fchwer fand, mit feinen Brüdern, den Menſchen, auszukommen,
und daß er fidh deshalb oftmals als ein wunderlidyer, Taunenhafter, aufbrau⸗
fender alter Kauz erwies. Nichtöpeftoweniger giebt ed in dieſem Punkte
viel zu berichtigen und Lucas Montigny hat fih, wenn man ihn forgfältig
folgt, bemüht, es zu thun. Hätte e8 Lucas nur auch für gut gefunden, Diele
Privatbriefe, Samiliendocumente und dergleichen — denn er fagt, er fönne
davon mehr als dreißig Bände zufammenbringen — für fich allein drucken
zu laſſen, ganz einfach in chronologiſcher Reihenfolge mit Fleinen erläutern«
den Anmerkungen! — So aber muß man fuchen und fihten. Zum Glüd
fegte der alte Marquis felbft in Zeiten der Muße oder erzwungener Muße,
deren er viele hatte, gewifle „ ungedrudte Memoiren * über jeinen Vater und
feine Borfahren auf, aus weldhen der junge Mirabeau ebenfalld in gezwun⸗
genen — im Sclofle If noch weit gezwungeneren — WRußeflunden ein ein⸗
ziges Memoir von fehr lesbarer Art zufammenftellte. Bei dem Kichte dieſes
legteren wandeln wir, fo lange e8 Tauert, mit Bequemlichkeit.
Die Mirabeaus waren ihrem Zunamen nad) Riquettis, was eine Fleine
Verftümmelung bed italieniichen Arrighetti iſt. Sie ſtammten aus Florenz,
wo fie während eines der Kämpfe zwiichen den Guelphen und Ghibellinen,
wie fie dort und damals häufig vorfamen, im Jahre 1267 vertrieben
worden waren. Stürmijche Zeiten damald! Der Chronolog wird hierbei
bemerfen, daß Dante Aligbieri an jenem Morgen, wo die Arrighettis fort
mußten und tie Leute fagten: „Sie find fort, dieſe Schurken! Sie find
fort, diefe Märtyrer! * ein Fleiner Knabe von etwa zwei Iabren war. Der
Heine Knabe hörte mit Berwunderung dieſe entgegengefeßten Aeußerungen.
Man laſſe den Knaben einen Mann werden und auch er wird feine Heimath
meiden müflen und erfahren come & duro calle und was für eine Welt dies
if. Seine Dichternatur wird dadurch allerdings nicht getödtet — denn fie
ift unfterblid — wohl aber zu althebräifcher Strenge verbüftert und in den
Hades und in die Ewigfeit verwiefen, um ſich dort eine Heimath zu fuchen.
Auf diefe Weife überfliegen die Arrighertis — ohne Zweifel in grims«
migem longobardiihem Zorne — die Alpen und wurden trandmontane
franzöftfche Riquettis und erzeugten unter anderen Dingen aus die gegen»
wärtige Abhandlung.
— — — RE — — — nn — — * — — * — —ñ ———— —ñ ei —
77
Es ward ſchon oben angedentet, daß dieſe Riquettis ein angeſehenes
Geſchlecht waren, wie denn überhaupt, wenn wir es recht betrachten, die
Borfahren der meiften angefehenen Leute ebenfalls fchon angefehen oder doch
bemerfendwerth waren. Die Duelle von Bauclufe, welche ald Fluß bervor-
ſtromt, ift vielleicht fchon eine Strede weit unterirdiſch in diefer Eigenfchaft
gefloffen, ehe fie einen Ausweg fand. Ja, vielleicht ift es nicht immer oder
nicht oft der an und für fid, Größte einer Bamilienlinte, welcher der Be⸗
rühmte wird, fondern blos der vom Glück am meiften Begünftigte. So
reich ift bier wie anderwärt® die Natur, die mächtige Mutter, und ftreut von
einem einzigen Eichbaum ald Butter für Säue die Früchte, die den ganzen
Planeten in einen Eichenwald umpflanzen würten! Denn in der That,
wenn nicht eine ſtumme Kraft in ihr wäre, was follte dann durch die
fprehende und and Licht ftellende aus ihr werden? wenn unter diefer ſchäu—
menden Oberflähe von Schwägern, Prahlern und hochtrabenden reichdeco-
rirten Berfonen, welche fich brüftend unıherftofziren und fortwährend Quam
parva sapientia regatur predigen, nicht eine Unterfchrift von ſchweigſam
heroiſchen Menſchen läge, die als Menſchen arbeiten, mit männlicher Energie
und unbeflegbarer Ausdauer, die nicht einmal fi tetoft zuflüftern, wie ener⸗
giſch fie find?
Die Familie Riquetti war gewiffermaßen ſchon dur die Analogie mit
jener britifchen defintrt, als eine Bamilie, in der e8 durchaus feine Dumm
föpfe gab, Die aber ein wenig geneigt war, Vagabunden und Taugenichtje
zu produeiren. In der Provence faßte fie Wurzel und trug bier vollfaftige
Südfrühte — eine unruhige, flürmifche Neihe von Männern, in deren
Adern wildes Blut tobte, als ob fe einem düſtern Verhaͤngniß gemweihet
wären — „gleich dem Gefchleht des Atreus,“ pflegte Mirabeau zu fagen
— was auch wirflicdh der Fall war, denn das wilde Blut war ſchon an und
für fi) Verhängniß genug. Wie lange diefe Riquettid in Florenz und ans
derwaͤrts geftürntt hatten, weiß die Gefchichte nicht, während eines Zeit⸗
raums von fünf Jahrhunderten aber waren fle in der Brovence niemald ohne
einen Mann, der nad) Riquetti-Art auf der Erde fland. Es waren Männer
mit fcharfer Zunge, rajch bereit zum Dreinfchlagen, begabt mit Umſicht und
Entſchloſſenheit, Tec, verwegen und eigenwillig, bie oft die bürgerliche
Rennbahn für fle zu eng fanden und gegen die Pfähle anfchlugen oder Dies
und Ienes thaten, worüber die Welt fih in verfchledenen Dialekten tadelnd
ausſprach und es „durchaus nicht in der Ordnung“ fand.
18
Einer diejer Riquettid kettete in Folge eines Gelübdes, welches er der
Sage nad während einer Gefahr zur See gethan, zwei Berge antinander;
„die eiferne Kette ift bei Mouſtier noch zu fehen; fle erfiredt fid) von einem
Berge zum andern und in der Mitte befindet fidh ein großer Stern nrit fünf
Strahlen ;* die angebliche Jahrzahl ift 1390. Man denke fih die Schmiede
bei diefer Arbeit! Die Stadt Mouftier liegt in der Provence in dem
Departement der Niederalpen. Ob die RiquettisKette noch bie zu dieſer
Stunde fnarrt und fi träg im Winde Hin und Her ihwingt, mit ihrem
Stern von fünf Straßlen in der Mitte, und den Sperlingen einen unſtchern
Sig bietet, das wiflen wir nicht. Vielleicht ward fie zur Revolutionszeit,
wo ein folcher Haß gegen den Adel und ein folder Hunger nah Eiſen ent⸗
Rand, beruntergenommen und in Piken umgefchmiedet. Der Adoptivfohn,
der in der Regel fo ausführlich ift, hätte hierüber etwas erwähnen jollen,
thut ed aber nicht.
Das damals viel Hofpitäler gebaut und viel Klöfter, von den Karthäu⸗
fern an bid herab zu den Jeſuiten, dotirt wurden, daß fortwährente Wirr-
niſſe und Kämpfe flattfanden, brauchen wir nicht erfl zu eıwähnen, iondern
blos, daß alles dies unter den Miquettis mit ganz ungewöhnlichen Nach⸗
drud betrieben ward. Wie hätte ed jemals einen Streit geben fünnen, bei
‚welchem fein Riquetti betheiligt gewejen ware? Sie fämpften viel und
faßten dabei ihren Bortheil oder die Entibädigung für früher erlittene Nach-
teile ind Auge, wahrfcheinlich thaten fle e8 auch um der Kunft willen.
Später faßten fie in Marfeille — damald dem franzöftihen Venedig
— feften Buß als handeltreibende Edelleute und witmeten ſich dieſer In⸗
duſtrie mit großem Fleiße. Die Bamilienbiographen vergeflen jedoch nicht
zu fagen, es jei ganz nad venetianifhem Style gefchehen, ſodaß durchaus
nichts Ignobles darin gelegen habe. Im biefem Sinne gab aud einer
dDiefer jungen gewandten Riquettis, als ein gewiſſer Bifchof ihn ohne weitere
Unftände „Iean de Riquetti, Kaufmann von Warfeille* nannte, die treffende
Antwort: „Ich handle hier mit Polizei und Gerechtigfeit,” — er beklei⸗
tete nänlich zugleich das Amt eines erften Confuls, welches nur an Edel⸗
Icute verliehen ward — „ebenjo wie der Herr Bifchof mit Weihwafler hans
delt.” Diefen Hieb mußte der hochwürdige Herr ruhig einfteden.
Auf alle Fälle erwiefen fich Die zungenfertigen Riquettid auch ald Kauf
leute erften Ranges; erwarben ihre bastide, wie man die meiflen an ben
grünen Hügeln hinter Marfeille Liegenden flattlihen Landhäufer nennt, end⸗
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loſe Magazine, Ländereien, Dörfer und Schloͤfſer und endlich auch das
Schloß Mirabeau an den Ufern der Durance, das ſtattliche Schloß Mira⸗
beau auf feinem fteilen Felſen, in der Schlucht zweier Thaäͤler, vom Nord»
wind umbrauft.
Ein außerordentliher Vortheil für die Riquettis war, wie der alte
Marquis erzählt, daß ſie ein ganz eigenthümliches Talent beſaßen, fich did⸗
erete, wackere Gattinnen zu wählen, wodurch der Stamm nur um fo beſſer
erhalten ward. Eine diejer Grofmütter, deren der Marquis fidy faft ſelbſt
noch erinnert, pflegte in Bezug auf die Ausartung des Beitalterd zu fagen:
„Ihr wolle Männer fein? Ihr ſeid höchſtens Männdyen (sias houmacho-
mes in provengalifchem Dialekt); wir Frauen führten zu unferer Zeit Pi-
ftolen im Gürtel nnd verftanden auch Gebrauch davon zu machen.“ Ober
man denfe fih wie die Dame Mirabeau ftolz auf den Taufftein zufegelt.
Eine andere Dame ftellt fi) vor fie, um ihr den ang ftreitig zu machen ;
Dame Mirabeau aber fertigt fle mit einer Ohrfeige und den Worten ab:
„ Hier wie bei der Armee fommt die Bagage zuletzt!“
So wuchſen und gediehen die Miquettid und waren flarf und verrich⸗
teten Heldenthaten in ihrer engen Arena und warteten auf eine weitere.
Als fie an den Hof famen und der Kampfplag in das Oeil de Boeuf
verlegt ward, wo ein Grand Monarque von fcharlachrothen Weibsbildern
und Schmeichlern unringt einherwandelte, da ward das Verhalten der Mi⸗
rabeaus noch complicirter. Die Garriere der Waffen fland ihnen offen,
aber dies war nicht die einzige und auch nicht die hauptſächliche. Auf an
dere Laufbahnen fchien es goldene Uepfel zu regnen. auf Diefer größtentheils
hleierne Kugeln.
Man bemerfe, wie ein Bruno, Graf von Mirabeau fi} beträgt — wie
ein an eine Equipage geipanntes Rhinoceros, deſſen grimmiged Horn einen
wallenden Buſch von fleurs de lis tragen muß.
Eines Tage hatte er einen blauen Mann — eine Art Täftiger
Thürhüter in Verſailles — bi in das Kabinet des Königs gejagt, welcher
hierauf dem Herzog de la Beuillate befahl, Mirabeau in Arreft zu ſchicken.
Mirabeau weigerte fih zu geborchen; er wollte ſich nicht ftrafen laſſen, weil
er die Unverfchämtheit eines Dienerd gezüchtigt, und meinte übrigend, er
ginge ja ohnedies zum Diner des Königs, der es ihm dann Ichon felbft jagen
würde. Er fand ſich demgemäß auch bei Dem Diner cin und der König
fragte ten Herzog, warum er feinen Befehl nicht ausgeführt habe. Der
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Herzog mußte nun jagen, wie die Sade fand und der König benierfte mit
einer Güte, die feiner Größe gleihfam: „Wir wiflen ja nicht von heute
erft, daß er toll im Kopfe tft; man muß ihn nicht ruiniren, ” — und Tas
Rhinocerod Bruno fegte feinen Weg weiter fort.
Ein anderes Beifpiel diejer Art ift folgendes: An den Tage, wo Die
Statue des Königs Ludwig — ein Meifterwerf der Schmeichelei — auf ter
Place des Victoires eingeweiht ward, präfentirte Derielbe Mirabeau, al& er
mit den Barden über ten Pontnenf marichirte, feinen Eponton vor der
Statue Heinrich's IV. und fhrie dazu: „Meine Freunde, grüßen wir Dielen
ta; er verdient e8 fo gut al8 ein anderer, Mes amis, saluons celui-ci ; ıl
en vaut hien un autre. *
So treiben es dieje wilden Riquettis als Höflinge. Wilde Stiere
machen es, wie das Sprichwort fagt, einmal nicht anders, wenn fic unerwar⸗
tet in einen Töpferladen gerathen. O Bamilie Riquetti, in welbe Jahrhun⸗
derte und Umftände biſt Du gerathen!
Unmittelbar vor unjerm alten Marquis felbft wäre das Geſchlecht der
Miquetti beinahe audgeftorben. Jean Antoine, fpäter unter dem Nanıen
Silberfragen (col d’argent) befannt, hatte zu einer frühern Zeit ſeines Le⸗
bens unendliche Gefechte mitgemacht und unter andern einmal in ciner ein-
zigen Stunde flebenundzwanzig Wunden erhalten. Einen flolgeren, gered=
teren und bißigeren Menichen braucht man in der Biographie aller Länder
und Zeiten nicht zu ſuchen. Er warf Zolleinnehmer und Uccilebeante in
den Fluß Durance — obſchon er außerdem ein fehr würdevoller, methodi⸗
fher Mann war — wenn fie in ihren Forderungen zu weit gingen. Wittelft
deffelben kurzen Prozeſſes entfernte er alle Arten von Advofaten aus jeinen
Dörfern und Beſitzthümern; er pflanzte Weinberge und begünſtigte die
Bauern. Wenn er aud den Kriegen heimfehrte, zog er, wie alte Leute fidh
noch zu erinnern wußten, mit einem zahlreichen Gefolge durch Frankreich
und erfüllte Gaftwirthe und Jedermann dur den bloßen Blid feined Auges
nit Schreden und ſtummer Unterwürfigfeit. Dabei trank er viel, obſchon
man nie ſah, daß dies eine Wirkung auf ihn geäußert hätte. Er war ein
großer, flarfer, gerater Mann, an Geift jowohl ald an Körper, Ven⸗
dome's rechter Arm in allen Feldzügen. Vendome ſtellte ihn einft Ludwig
dem Großen vor und machte ihm megen feiner Tapferkeit einige Komplimente,
welche der mürrijche Riquetti vollſtändig verdarb. Seinen mit Wunten be-
dedten Kopf, der eben die ſilberne Halsbinde bedurfte, um die gerade Hal⸗
0 $
- — un u — — Dunn rn SS SS Duten.d
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tung nicht zu verlieren, emporrichtend, jagte er: „Ia, Sire; hätte ich nicht
fo viel gefochten, fondern. wäre an den Hof gekommen und hätte einer cadin
(einem ſcharlachnen Weibe!) Geſchenke gemacht, fo Hätte ich es vielleicht
weiter gebracht und nicht fo viel Wunden Davon getragen!“ Der große
König, jeder Zoll ein König, ſprach jofort von etwas Anderem.
Erſt jedoch Hätten wir dem Leier etwas über jencd Gefecht mittheilen
follen, wo der ‚genannte Held flebenundzwanzig Diefer unprofitablen Wunden
auf einmal erhielt. Die Schlacht bei Caſſano ift für die Meiften von und
ſehr dunkel geworden ; ja fogar Prinz Eugen und Bendome felbft werden
immer büfterer und büfterer, wie Menſchen und Schlachten aud werden
müſſen; fonterbarerweiie aber gewinnt Das nachfolgende kleine Bruchſtück
ein neues, wenn auch vorübergehendes Interefie. |
„Mein Großvater hatte dieſes Manöver vorausgeſehen,“ — es iſt
Mirabeau der Graf, nit der Marquis, welcher erzählt; Prinz Eugen
batte eine gewiſſe Brüce genommen, welde der Großvater zu vertheidigen
hatte; — „aber er beging nicht, wie dies fpater bei Dialplaquet und Fon⸗
tenoy gefchehen, den groben Fehler, eine Kolonne von diefer Wucht von
vorn anzugreifen. Gr lich fie dur ihr eigened Ungeflüm und durch den
Drud ihrer Nachhut getrieben, vorrüden, Tann, jobald fie weit genug vor⸗
über war, feine flah auf dem Boden liegenden Truppen aufftehen, und faßte,
er felbit voran, den Feind in der Flanke, fprengte Die Kolonnen und jagt
fle in großer Unordnung und Eile wieder über die Brüde hinüber. Nach«
dem auf dieſe Weile die Dinge wieder auf ihren alten Zuftand zurüdgeführt
find, nimmt er wieder feinen Poften an der Krone der Brüde ein, und deckt
wie vorher feine Truppen, weldye, da ſie während ded Kampfes Das tödt⸗
liche Teuer von den doppelten Linien des Beinded von dem andern Ufer des
Fluſſes auszuhalten gehabt, bedeutend gelitten hatten. Herr von Vendome
fommt in geſtrecktem Galopp zu dem Angriff herangefprengt, findet ihn
fhon beendet und Die ganze Linie flah auf der Erde liegend, während nur
die hohe Beftalt des Oberften aufrecht bafteht! Er befiehlt ihm zu thun
wie die Mebrigen und ſich nicht vor der Zeit erfchießen zu laſſen. Sein treuer
Diener ruft ihn zu: „Niemals würde idy ohne Noth mic; der Gefahr aus⸗
ſetzen; es ift meine Pflicht Hier zu fein, aber Sie, Monfeigneur, haben feine
ſolche Pfliht. Ich ſtehe Ihnen für den Poften, aber entfernen Sie fidh,
fonft gebe ich ihn auf.” — Der Prinz (Vendome) befiehlt ihm bierauf im
Namen des Königs fich nicderzulegen. „Ad, geben Sie doc mit fammt Ihrem
Carlyle. IV. 6
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König; ih bin bier und thue Tas Meine; gehen Sie und thun Sie daB
Ihre.” Der gute, edelmütbige Prinz gab nad. Der Boflen war gänzlich
unbaltbar.
„Nicht lange darauf ward meinem Großvater ber rechte Arm zerſchmet⸗
tert. Er machte aus jeinem Taſchentuch eine Art Schlinge und blieb auf
feinem Poften, denn ed bereitete fich eben ein neuer Angriff vor. Als der
rechte Augenblicd wiederum da war, faßte er mit der linken Sand eine Art,
wiederholt daſſelbe Manöver wie zuvor, fchlägt den Feind zurüd und treibt
ihn wieder über Die Brüde. Hier aber ereilte ihn das Unglüd. In dem⸗
jelben Augenblid, wo er feine Truppen zurüdrief und wieder orbnete, traf
ihn eine Kugel in den Hald und zerriß ihm die Flechſen und die Burgelader.
Er janf auf die Brücke nieder; feine Truppen gertetben in Unordnung und
flohen. Herr von Montolicu, Malteferritter, fein Berwandter, ward neben
ihm verwundet. Er riß fein eigened Hemd entzwei und die mehrer Andern, _
um das Blut zu ftillen, ward aber in Folge feiner eigenen Berwundung ohne
mädtig. Ein alter Sergeant, Namens Laprairie, bat ten Adjutanten des
Regiments, einen Gascogner, Namens Guadin, ihm den verwunteten Oberft
von der Brürfe forttragen zu helfen. Guadin weigerte fi, indem er ſagte,
er fei todt. Der gute Laprairie hatte blos noch Zeit, feinem Oberſt einen
Feldkeſſel über den Ropf zu flürzen und mußte dann machen, daß er forte
fam. Der Feind tramvelte in Strömen über ihn weg, um die Unordnung
zu benugen und Die Gavalerie fam in vollem Trabe dicht hinter der Infan⸗
terie ber. Als Herr von Vendome fah, daß die Linie durchbrochen war, der
Feind fich jenſeits des Bluffes formirte und folglih die Brüde genommen
hatte, rief er: ‚Ah! Mirabeau iR alfo todt;’ eine Xobrede, die und ewig
theuer und denfwürdig jein muß. “
Wie beinahe wäre ed in diefem Augenblid mit den Mirabeaus ganz
aus geweſen; wie ed ohne dad Umftürzen eines elenden Feldkeſſels nicht nur
nicht die vorliegende Abhantlung Mirabeau, fondern aud feine franzö⸗
ſiſche Revolution oder eine ganz andere gegeben und wie ganz Europa dann
zur gegenwärtigen Stunde rine ganz andere Geſtalt hätte, darüber mag Jeder
nachdenken, welcher dergleihen Betrachtungen anzuftellen liebt. Ja, er kann
ohne große Schwierigfeit dann noch weiter bedenfen, daß nicht blos die
franzöftfche Revolution und diefer Artifel, fondern aud alle Revolutionen,
Artikel und Leiftungen, mögen fie beißen wie fte wollen, die größten ſowohl
als die Fleinften, welche dieſe Welt je geiehen, nicht einmal, fondern oft
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im Laufe ihrer Entwidelung von den geringften Kleinigkeiten, Ueberſtürzen
von Feldkeſſeln, Umwenden von Steohhalmen und dergl. abgehangen haben,
nur daß wir nit allemal etwas davon fchen. So unergründli iſt die
genetifche Geſchichte, ſo unausführbar die Theorie von Urſache und Wir»
fung, fo unzureichend alle menſchliche Berehnung! Du felbft, o Lefer —
der Du doc eine Leiſtung von Wichtigkeit bit — über welche haarſchmale
Brücken des Zufalles, durch welche gähnende-Gefahren und den menſchenver⸗
ſchlingenden Schlund der Jahrhunderte biſt Du fiher und wohlbehalten bis
bierhergelangt, — von Adam bis anf Dich ſelbſt!
Doch jei dem wie ihm wolle. Col d’argent fam durch die Wunder ber
Ehirurgie wieder zum Leben, hielt feinen Kopf mittelft einer fllbernen Hals⸗
binde aufredyt, wandelte noch viele lange Tage angeſehen, geachtet, uner⸗
ſchrocken und mürrifch auf Erden, thas viele bemerfenswerthe Dinge, zeugte
unter andern in flandeögemäßer Ehe Mirabeau, den, Breund der Menichen *,
weldyer wiererum Mitrabeau, den Sormelfreffer, zeugte, von welchem letztern
und dem wunderbar lodernden Scheiterhaufen, den er fi errichtete, zulegt
ein Licht ausgeht, wodurch dieſe alten Schidfale der Riquettis und mander
feltfame, alte, verborgene Gegenfland erft erfennbar und bebeutfam werben.
Vielleicht aber giebt ed in dem ganzen Geſchlecht ber Riquetti Feine
feltfamere Geftalt,, als eben dieſen Breund der Menfchen, bei welchem wis
der Beitordnung gemäß jept angekommen find. Jener Riquetti, welcher die
Berge zufammenfettete und den Stern mit fünf Strahlen aufhing, war bios
ein Vorbild von ihm. Stark und zäh wie die Cichenwurzel und ebenſo
Inotig und unfpaltbar, weil feine Faſer in gleicher Richtung mit der andern
liegt, ein Blod, auf ten das Schidjal loshammern und die Welt mit Ver⸗
wunderung ſchauen fann! In der That ein höchſt merfwürbiger, zweifels
hafter, haflenswerther und liebenöwerther alter Marquis.
Wie wenig follte man unter dem trivialen Klingflang der Literatur,
Philoſophie und dem anmaßenden Gezader zahlreicher Baron Grimma mit
ihrer Gorrefpondenz und Gelbflauspofaunung glauben, daß Branfreich noch
ein ſolches Naturprobuft wie dieſen Freund der Menſchen in ſich getragen
babe! In diefem einen Marquis liegt fo viel Gehalt; daß man bei ange⸗
meflener Berdünnung ganze Armeen von Philofophen damit ausrüften
könnte. So viele arme Thomaſſe peroriren und Halten Lobreden, fo viele
arme Norelets philoſophiren, jo viele Marmontels moralifiren auf roſen⸗
farbene Weife, fo viele Diderots kommen in ben Befig encyklopädiſcher
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Köpfe, bagere Carons de Beaumarchais flattern auf Figaro⸗Flügeln einher,
und dieſer bandfefte, alte Marquts ſteckt mittlerweile unter dem Scheffel.
Er war auch Schriftfleller und Hatte Talent dazu, fowie e8 feit den Tagen
Montaigne's nur wenig Sranzofen gehabt haben. Freilich aber führt dies
zu weiter nichts, denn er ift, da er unfpaltbar war, in ben Raritätenkabi⸗
netten der Alterthumsforſcher Liegen geblieben, während die andern, fo Leicht
zu fpaltenden, die Waare find, die man in allen Marktbuden findet und nad
welcher die häufigfte Nachfrage iſt. So iſt der Lauf der Welt. Und dennoch
beflage man ſich nit; haben wir diefen reichbegabten, unjpaltbaren alten
Marquis nicht zulegt auch nody und können ihn weit Länger behalten, als
jene Thomaffe?
Der große Mirabeau pflegte immer zu fagen, fein Vater babe höhere
Geiftesfähigfeiten befeffen ald er, was dod ganz gewiß etwas fagen will,
felbft wen man diefen Ausipruch nicht in feinem vollen Umfange, fondern
6108 bis zu einem gewiſſen Grade gelten läßt. So weit als ber blos ſpeku⸗
lative Kopf in Betracht kommt, Hat Mirabeau wahrfcheinlih Neht. Wenn
wir den alten Marquis als ipekulativen Denker und Ausfprecher ſeines Ges
dankend betrachten und mit meld’ einem originellen Colorit dies geſchieht,
fo fühlt man ſich verfucht, ihn für einen der erften, ja vielleicht den aller-
erften Geift feiner Zeit zu erflären, denn fein Genius erhebt fih faft bis zum
poetifchen. Kennen unfere Leſer den Deutjchen Iean Paul und feine Denk⸗
weile? Diefer alte Marquis beflgt in dieſer Beziehung eine entfernte Aehn⸗
Vichfett mit Iean Paul und bringt fie nad feiner franzöftichen Weile zur
Anſchauung, infoweit Died eben auf franzöftfche Weite gefchehen kann.
Nichtsdeftoweniger iſt Einſicht nicht blos Eigenthum bes fpekulativen
Kopfe ; der große Zwed der Einficht tft, daB man etwas fehe, zu wel-
chem Endzweck der ganze Menſch mitwirken muß. In dem alten Marquis
dagegen liegt eine Berfchrumpftheit, ein ſteifer, widerhaariger Humor, eine
fhlummernde Wuth und Verfehrtheit, die mit ihrem Stolze, ihrer Hart⸗
nädigfeit und Affectation im Grunde genommen doch nicht weiter iſt, als
Mangelan Kraft. Die wirflihe Duantität unferer Einfiht, — wie gerecht
und gründlich wir die Natur eines Dinges, befonderd eines menſchlichen
Dinged begreifen — hängt von unferer Geduld, unferer Unparteilichkeit,
unferer Menfchenliebe und jeder Kraft ab, Die wir befiten oder, mit einem
Wort, die Intelligenz oder Einficht geht von dem ganzen Menfchen aus, weil
fie das Licht ift, welches den ganzen Menſchen erleuchtet.
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In diefem wahren Sinne fland der jüngere Mirabeau mit feinem-
großen bligenden Blide und feiner furctlofen Breiheit des Gemüthes offen«
bar über dem alten Marquis.
Im runde genommen ifi die Hauptdefinitton, Die man von dem alten
Marquis Mirabeau geben könnte, vielleicht Die, daß er zum Geſchlecht der
Pedanten gehörte. Starr wie Erz in jeder Beziehung, ohne Sympathie,
ohne Fügſamkeit, von endlofem, unergrünblichem Stolz, welcher eine end⸗
Ioje Eitelkeit und Sucht zu glänzen verhullt, aber keineswegs unterdrückt,
eine hochtrabende geſpreizte Manierirtheit, welche den Gedanken, die Mora⸗
litaͤt und das ganze Sein des Mannes umhüllt. Er iſt ein ſalbungsvoller,
hoch einher ſtolzirender Mann mit einem ungeheuern Vorrath von Ent⸗
ruͤſtung oder ſchlummernder Entrüſtung in fich und betrachtet nach langer
Erfahrung die Menſchheit und dieſe ihre Welt mit einem mürrifchen Worte
ber Verzeihung oder verächtlichen Entſchuldigung, am öfterften aber mit zu⸗
fammengefniffenen Lippen, ein wenig aufgebläheten Nüftern und ausdrucks⸗
vollem Schweigen.
Hier haben wir allerdings Pedanterie, aber Bedanterie unter den inter«
efianteften neuen Umfländen und dabei zu einer foldhen Höhe getrieben, daß
fie erbaben, ja man Fönnte faſt fagen, trandcentental wird. Man ermwäge,
ob Marquis Mirabeau überhaupt ein folder Pedant fein Eonnte, wie bie
gewöhnlichen Scaligerd und Scioppiufle find! Seine Arena ift nicht eine
Studirſtube mit griechijchen Manuferipten,, fondern die weite Welt und bie
Freundſchaft des Menſchengeſchlechts. Kreift nicht das Blut aller Mirabeaus
in feinen hochadeligen Adern! Auch er möchte etwas thun, um dieſes hohe
Haus noch höher zu heben und dennoch ift es ihm leider Elar, daß das Haus
finkt, daß Vieles finft.
Die Mirabeaus, und vor allen andern diejer Mirabeau, find in
ſchlimme Zeiten gerathen. Ed if dem alten Marquis nicht entgangen, wie
der Adel jetzt herabgefommen und feinem Verfalle nahe ift, wie er fich nicht
mebr auf herotiche Handlungsweife und VBeftrebungen, jondern auf Schma⸗
rotzerei, Formendienſt, Verſchmitztheit, auf Pergamente, fchöne Kleider und
Prieftergewand gründet, auf welcher legtern Baſis, wenn nicht jeine ganze
Einſicht in das Walten des Himmels auf Erden ihn irre geleitet hat, fein
Inſtitut in diefer von Gott regierten Welt auf die Dauer beftehen kann.
Ad, und der Priefter bat jegt feine Zunge nur noch zum Tellerleden und
der Steuereinnehmer drüdt und die Maitrefienherrichaft thront bebaglich
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auf weichen Kiffen unter Baldachinen und Goldſtoff, bis ed endlich fo weit
gefommen ift, daß die fünfundzwanzig Billtonen, mit denen e8 in Bezug
auf Kenntniß, auf Tugend, Glück und baares Beld ſchon Tängft fehr knapp
fieht, jezt auch anfangen, Mangel an Lebenämitteln zu leiden, während fie
mit jener natürlichen Wildheit, welche die Natur ihnen noch gelaſſen, durch⸗
aus keine Luft empfinden, Hunger& zu flerben. Alles neigt fi dem Chaos
zu und Niemand nimmt e6 zu Herzen. |
Nur ein Mann eriflirt, der die Kataſtrophe vielleicht aufhalten oder
abwenden fönnte, wenn er an das Staatöruder gerufen würde — der Mars
quts Mirabeau. Sein vornehmed, altadelige® Blut, feine heroiſche Liebe
zur Wahrheit, feine WBillensftärfe, feine Loyalität und tiefe ECinficht —
denn man kann ihn nicht ſprechen hören, ofme den Mann non Genie zu ent»
decken — dies würde bei der entfeglichen Geſtaltung, welche die Dinge an=
genommen, ihm Anfprücde auf eine ſolche Stellung gegeben haben. Bon
Beit zu Belt und in langen Zwiſchenräumen zudt ein folder Gedanke durch
das Hirn ded Marquis. Aber ach, wie foll in diefen ffandalöjen Tagen der
fiolzefte der Mirabeaus vor einer Pompadour niederfnien? Kann der Freund
der Menſchen die Farbe eines unausſprechlichen Weibes mit wirklicher Hoff⸗
nung auf Sieg als fein Schlachtenpanier aufpflanzen? Nein, nicht an dem
Schürzenbänvern einer ſolchen Perſon will diefer Mirabeau zur Würde eines
PBremierminifterd emporfteigen, fondern blos, wenn ihn Frankreich in dem
Tagen der Noth, in den Tagen der Biflon ruft, oder fonft gar nid.
Frankreich ruft ihm nicht und er bleibt folglich, was er ifl.
Marquis Mirabeau verfuchte fi, wie wir fon gejagt haben, auch in
der Literatur und zwar mit feinem unbedeutenden Talent, ja gewiffermaßen
mit Talenten erflen Ranges, aber auch Hierin machte er fein Olüf. Sein
Ecce siguum in einer foldyen Aera des Verfalld und alle® verbunfelnden
Auined war die Staatsöfonomie und ein gewifler Mann, den er den
„Meifter* nannte, daß heißt Dr. Queſönay. Um diefen Meifter — welchem
der Marquis felbft ala Meifter folgte — fanmelte er und einige andere
Goͤtzendiener fih in gößendieneriicher Weile, um Bücher und Traftätlein
und periodifche Literatur herauszugeben, um gleichſam durch Proclamationen,
durch Wort und That, das flumpfe Ohr der Welt ter Rettung zu er»
ſchließen.
Das ſtumpfe Ohr der Welt aber blieb verſchloſſen. Vergebens pre⸗
digte dieſer und jener andere Apoſtel gleichzeitig oder in meliböiſcher Folge
— — — — — — — — — — —
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in ter periodiſchen und ſtehenden Literatnr; vergebens predigte Marquis
Rirabeau in feinem Ami des Hommes Nummer nach Nummer lange Bände
durch, — obſchon wirklich auf die beredtefte Weile.
Marquis Mirabeau hatte die unwiderleglichften Ideen, aber fein Styl!
Es ift in der That und Wahrheit der feltfamfte aller Style, obſchon einer
der reichſten, ein Styl voll Ortginalität, Bilderreichthum und fonniger
Kraft, aber alles dreifach mit Metapbern und Tropen gepanzert, mit wun⸗
derlichen Krümmungen und Verrenkungen, unt ‚angefüllt mit wunderlichen
Anfpielungen und verſteckten fatyrifchen Hindeutungen, wofür der franzöftiche
Kopf kein Ohr hatte. Eine ſtarke Speife, obſchon zu zäh für Säuglinge!
Der Freund der Menſchen fand warme, weit über die ganze Erde zer⸗
freute Anhänger und ed wurden ihm Weihrauchfaͤſſer von Marquis, ja von
Königen und Zürften, über Meere und Alpengebirgöfetten übermittelt, und
dadurch der Stolz und Lie fchlummernde Entrüftung des Mannes nur noch
genäahrt ; im Vaterlande aber, bei der Million, die Alle, ein Jeder nad} feie
ner mißtönenden Pfeife, tanzten, fonnte er fih feine Bahn brechen, außges _
nommen, wenn er eine Monftrofität und etwas, was die Menſchen zu jehen
wünfchten, hätte jein wollen, nicht aber, was richtig war und noth that.
Iſt denn auch nicht durch die Breffe der Weg zur Premierminifteree
würde zu ermöglichen? Der Stand der franzöflfchen Staatsmänner befin«
det ſich in eben fo unfihern und ſchwankenden Verhältnifen wie alles An⸗
dere. Das leihtfinnige Publikum ſchäumt und gährt wegen Palifiot und
feiner Komödie Les Philosophes , über die Muflf eined Gluck und Piceini
und überhört den Auf des näher fchreitenden Verderbens.
Du, o Freund der Menfchen fneife die Lippen zufammen und warte
fhweigend wie tie alten Felſen. Unſer Breund der Menjchen that dies
oder etwas Beflered und ward ſich nicmald unten, der löwenherzige alte
Marquis! Denn feine ichlummernde Entrüftung bat auch eine Beimiichung
von einer gewiffen Frömmigkeit; es ift eine Art Heiliger Entrüftung. Der
Marquis hat, obſchon er die Enchelopädie Eennt, die höheren heiligen Bücher
nicht vergeflen, oder daß es einen Bott in diejer Welt giebt, der von dem
franzöftiden Eire Supröme weit verſchieden if. Er befennt fogar — oder
verfucht e8 wenigftend — eine Art vertünnten Katholicismus nad feiner
eigenen Weife und wendet fomit ein Auge nach dem Himmel, in welcer
Attitüde er fich ebenfalls fehr eigenthümlich ausnimmt.
8 fcheint fonach als ſei dieſe Belt ein toller Wirrwarr, ten kein
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Breund der Menſchen in Ordnung zu bringen vermag. Nun, fo möge denn
in Gottes Namen die Sache gehen, wie fie wolle, und der taumelnde Zu⸗
ftand aller Dinge taumeln, wohin er kann — in furdtbare, ſchwarze Tiefen,
— aber doch nicht in bodenlofe!
Aber wie fland es in dem Familienkreiſe? Gier iſt doch ganz gewiß
ein Mann und Freund der Menſchen vorzugsweiſe an feinem Plage und
fann, wenn er als weiſer Autofrat, herrſcht, etwas daraus machen. Ad, lei-
der ging e8 in dem Bamilienfreife nicht beſſer, fondern jhlimmer! Die Mis-
rabeaud befaßen früher ein Talent, gute, paflende Brauen zu wählen; war
e8 ihnen denn in diefem alle gerade, als fle ed am meiften bedurften, un⸗
treu geworden? Wir wollen jedoch das nicht unbedingt fagen; wir fagen
6108, daß die Frau Marquiie auch etwas menſchlichen freien Willen in fi
trug, daß die ſämmtlichen jungen Mirabeaus ihren menſchlichen freien Willen
in beteutendem Grabe entfalteten, daß mit einem Worte im Haufe fowohl al®
außer dem Haufe der Teufel los war. ’
Als Regierer der Menfchen hat der Marquis durchaus fein Glüd und
fein Samilienfönigreich befindet ſich meiftentheild im Zuftande der Meuterei
und Empörung. Ein Scepter wie dad des Rhadamanthus will dieſen Haus⸗
halt bis zur Vollkommeuheit eined Uhrwerkes dreifiren und kann es nicht. Der
fönigliche Ukas wird in feiner ruhigen, feinen Witerfprud duldenden Ges
rechtigfeit erlaffen und findet Zaudern und offenen oder verſteckten Ungehorſam.
Auf Borftellungen folgen Berweife, der Donner grollt von fern und rückt
immer näher, mit ungebeudelt erftauntem Auge appellirt der Marquid an
Schidjal und Himmel und erplodirt dann, wenn er durdaud muß, in einen
röthen Blitz väterlicher Autorität.
Wie e8 eigentlich Dabei zuging oder wer die wirflihe Schuld trug, daß
weiß Niemand, denn der Fils Adoptif, der auf noch lebende Verwandte Rückſicht
zu nehmen bat, ift in Diefen Punkten auperordentlicd zurüdhaltend. Cine
gewifle Frau von Pailly, „aus der Schweiz, ſehr fchön und fehr jchlau,.“
gleitet halb ſichtbar durd tie Häuslichfeit der Bamilie Mirabcau, denn die
Orthodorie des Marquid war, wie wir fhon angedeutet haben, von nur ver⸗
bunnter Urt; es giebt Horder, vertraute Tiener; es giebt Stolz, Zom,
Schonungslofigfeit, erhabene Pedanterie — mit einem Worte der Teufel
ift los, wie wir fhon einmal gejagt haben. ine folde Figur wie die
Pailly bedeutet ohnedies für Niemanden etwas Gutes.
Dann giebt e8 auch noch Prozeſſe, Leitres de Cachet; auf allen Sets
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ten peine forte et dure — lang audgeiponnene Prozeſſe vor gaffenden Par⸗
lamenten zwiſchen Mann und rau zum Skandal einer gottlojen Welt, wie
vielmehr zu dem eines rechtichaffenen Marquis, der einjt fih vorgenommen
Hatte, ihr zum Beifpiel zu dienen! Die Zahl der Lettres de Cachet betrug,
wie Einige berechnen, mit Einfluß bes erſten und legten nicht weniger als
vierundfünfzig für einen einzigen Marquis. BZuweilen war der ganze Heerd
der Mirabeauß leer, bis auf die Pailly und den alten Marquis, weil jedes
Individuum abgejondert hinter Schloß und Riegel jaß, um fich hier zu ber
finnen. Sartnädig find eure Gemüther, ihr jungen Mirabeaus, aber nicht
bartnädiger ale da8 meine, des alten!
Welche Schmerzen es dem zärtlihen Baterherzen gefoftet hat, alle dieſe
Brutusgefchichten durchzumachen, das weiß blos der Marquis und der Him⸗
mel. Und welche Schmerzen mag es auch Dem Herzen des Sohnes gefoftet
haben, fo mande Züchtigung binzunehmen! Die erflere Gattung von
Schmerzen kämpft er, vom Himmel unterftügt, mit Gewalt in feiner Seele
nieder, wie ed einem Manne und Mirabeau geziemt. Sind die lettern da⸗
gegen nicht ſelbſtgeſuchte, gewiſſermaßen mediziniihe Schmerzen, weldye von
felbft aufhören werden, wenn dieſe beifpielloje, kindliche Ruchlofigkeit aufs
zuhören beltebt ?
Uebrigend fann ein „Freund der Menfchen *, wenn er eine foldie Welt
und eine ſolche Bamilie, diefe Gefängnifle, dieje Berge von Eheſcheidungs⸗
aften und den wanfenden Zuftand der franzöflichen Staatsmänner betrachtet,
fih ganz natürlich fragen: „Bin ich nicht ein flarfer, alter Marquis, dem
Alles dies weder Wahnftnn, noch Hypochondrie, noch auch nur Dyspepſfte
zugezogen hat?” Der Himmel iſt gütig und forgt dafür, daß der Rücken
der Laft gewachſen fet.
Aus allen diefen Umftänden und aus dem Kanıpfe gegen dieſelben iſt
biejer Marquis von Mirabeau hervorgegangen und bat die Form eines der
feltfanften erhabenen Bendanten angenonimen, die jemald den Boden Frank⸗
reichs berraten. Wie die beiden göttlichen Mifftonen — denn beide Icheinen
ihm göttlich — eined Riquetti und eined Mannes von Genie oder Welt«
ſchulmeiſters fi verfchmelzen und Philoſophismus, ritterliche Ziererei und
preöbyterianiiche Strenge ſich vereinigen, um der Welt diefen Mann zu
geben! Nie entfland in dem Gehirn eined Hogarth oder des herrlichen alten
Ben eine jo das Hohe mir dem Niedrigen und Gclächter mit Thränen ver⸗
fchmelzende Humoriftiiche Geflalt, wie in diefem wadern alten Riquetti die
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Natur und gleich fertig vorführt, denn e8 liegt ein hoher Genius in ihm,
eine reiche Tiefe des Charakters, unverwüftliche Heiterfeit und Geſundheit⸗
die trog aller Eheiheidungdacten von Zeit zu Zeit hervorbrecdhen, wie Son
nenfchein durch die Wolfen. Wir haben gehört, daß ter Kampf des Schick
ſals mit dem freien Willen griediiche Traueripiele hervorgebracht babe,
feben nun aber, daß es auch ganz erſtaunliche komiſch⸗tragiſche franzöftiche
Boflen producirt. Geſegneter oder auch verwünſchter alter Marquis! Wir
fehen ihn mit feiner breiten Stirn gleich der eines Stiers, mit den ftarfen
hervorragenden Badenfnocen, den tiefliegenden, matıblidenden Augen, waͤh⸗
rend der untere Theil des Geflchts fi zu einem graztöfen Schmunzeln vers
zerrt, welches fih für ein Lächeln auögeben möchte. Was follen wir mit
Ihm anfangen? Wir heißen Dich willtommen, Du zäher alter Marquis, mit
all Deinen Borzügen und Deinen Mängeln! Es liegt Stoff in Dir —
ganz verihieden von Mondichein und Formelſyſtem, — und Stoff ift Stoff,
_ wäre er auch noch fo verworren.
Außer dem alten Marquis von Mirabeau ift aud noch ein Bruder,
der Bailli von Mirabeau da, ein Mann, der ald Malteferritter, Gouverneur
in Quadaloupe, in Gefechten und beichwerlibem Seedienft ſich die Hörner
ſchon längft abgelaufen und fih Hier auf tem alten Schloffe Mirabeau auf
feinem fteilen Belien — denn der Marquis wohnt gewöhnlid in Bignon,
einer anderen, nicht weit von Paris gelegenen Beflgung — als einer ber
würdigften ruhigen Onfel und Haudfreunde niedergelaflen hat. Diefe milde
Kraft, die Klarheit und Gerechtigkeit des wadern Bailli bilder einen ſchönen,
wohlthuenden Begenfag zu der Knorrigfeit feines Bruders, den er tröftet,
vertheidigt, ermahnt, jogar zurechtweiſt, im Grunde aber fowohl als erften
Riquetti und als Weltihulmeifter Höher achtet als ſonſt einen lebenden
Menſchen.
Die freimüthige wahre Liebe dieſer beiden Brüder iſt der ſchönfte
Bug im Mirabeauthum, ja der einzige Zug, welcher ſtets ſchön iſt. Briefe
werden fortwährend gewechielt; in Briefen und Auszügen hören wir bier
von Beit zu Zeit in in diefen acht chaotiſchen Bänden die verſchiedenen Per⸗
fonen ihre Spracde reden und ihre poflenhafte Tragödie entfalten. Der
Fils Adoptif läßt tie Menichheit in dieſen ſeltſamen Haushalt ein, obſchon
blos mit fo viel Licht als feine eigene launenhafte Blendlaterne verbreis
tet. Geſehen oder halb geiehen ift e8 ein Theater wie die ganze Welt
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[1
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1
eins if. Sowohl in Bezug auf die Verfonen ald auch auf die Geſchicke
ging damals kein feltiameres häusliches Drama auf Erden feinen Entwide-
Iungsgang.
Unter ſolchen Aufpieien, die noch nicht zu Ereigniſſen und Verhäng⸗
niffen gereift waren, aber folgen unvermeidlich entgegenreiften, erblickte
Gabriel Honore auf dem Schloffe Bignon zwifchen Send und Nemourd am
9. März 1749 zuerft das Licht der Well. Er war dat fünfte Kind, der
zweite Knabe, aber doch geborener Erbe, weil fein ältefter Bruder ſchon in
der Wiege geftorben war. Ein prächtiger „ungeheurer” Burfche war er,
wie die Frau Bafen faft mit Schreden zugeftehen mußten; der Kopf war
befonders groß und in tem Munde zeigten ſich zwei bereitö zum Durchbruch
gefommene Zähne! Plump und ungeichlacht fah er aus, aber feine Glieder
serriethen eine Kraft, welde dem Stamme Ehre zu machen verſprach.
Der väterlihe Marquis, zu dem man fagte: „N’ayez pas peur, fürd)
ten Sie fich nicht, * betrachtete, wie wir glauben, dieſes fein Produkt heiter
und nicht furdtiam und die fteifen pedantifchen Züge gingen in ein wirk⸗
liches Lächeln über. Xächle, o väterlicher Marquis; die Zukunft birgt aller⸗
dings Freude und Kummer, man weiß nicht, in welchem Maße, aber hier ift
doch ein neuer Riquetti, den die Götter jenden, begabt, wie es jcheint, mit
den Kräften eine® Herkules, gerüftet zu den zwölf Arbeiten, welche ficherlich
fon an und für fi die beflen Freuden fint. Wan ſehe nur den Heinen
Bengel an, wie er ſich fpreizt! Kein feltiamerer Riquetti ſpreizte fich je
unter unjerer Sonne; es iſt als hätte in diefem Mann⸗Kinde das Schidfal
alle Wildheiten und Kräfte des Geſchlechts Miquetti zufammengefegt und
ihn als das Finale in diefer Gattung daraus gebaden. Nicht ohne Beruf!
Er ift der leyte der Riquettis und foll eine Arbeit verrichten, bie unter den
Sterblichen lange denfwürdig bleibt.
In der That, wenn wir jet einen Blick auf dieſe Sache werfen, fo
mödten wir trog der Frau Bafen fagen, baß auf dieſem ganzen Planeten
tn dieſen Jahren fhwerlic ein ſolches Mann⸗Kind geboren ward, wie dieſes
auf dem Schloffe Bignon, nidyt weit von Paris, welches man Gabriel Ho»
nore nannte. Nirgends fagen wir, kam ein flämmigere® ober muthigere®
auf dieſe Erde, wohin fe doch auß Ewigkeit und Nacht zu Legionen und
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Myriaden anmarſchirt kommen! — Eine einzige und zwar jehr bemerfend-
wertbe Ausnahme möchten wir allerdings machen, nänılidh in Bezug auf ein
andered Mann⸗Kind, welches einige Monate fpäter in der Stadt Frankfurt
am Main anfam und Iohann Wolfgang Boethe getauft ward.
Dann, wieder etwa zehn Jahre fpäter, fam ein zweites, weldyes Gabriel Ho⸗
nor& in feiner Ternigen rauben Weiſe noch ähnlidher war. Es war eine
ärmliche Hütte, in welche dieſes Fam, eine gebrechliche Hütte, welche ber
Wind über den Haufen warf, in dem Shire von Ayr in Schottland ; dieſes
Kind nannte man Robert Burnd,
Diefe waren zur damaligen Zeit die Wohlgebornen der Welt, durch
welche die Gefchichte der Welt weitergeführt werden ſollte. Ad, Eönnten
die Wohlgebornen der Welt auch immer richtig aufgezogen und entwickelt
werden, welch eine Welt wäre es! Aber ed ift nicht fo, ed ift vielmehr das
Gegentheil. Und nur wenige Tönnen, wie jened Frankfurter Kind, die Welt
mit ihren fchwarzen Wirrniffen friedlih überwinden und darüber glänzen
wie eine Sonne. Die meiften fönnen fie nur titaniſch beflegen oder von
ihr beflegt werben; daher haben wir anftatı Licht — des ftillfien und flärk«
fien aller Dinge — nur Blige, rothes Feuer und oft Brände, die fehr viel
Unheil anrichten.
Doch fei dem wie ihm wolle, Marquis Mirabeau beſchloß, feinem
Sohne und dem Erben aller Riquettid eine Erziehung zu geben, wie fle noch
feinem NRiquetti befchieden geweien. Da er ein Weltjchulmeifter — und,
wie wir bier in mehr al® einer Beziehung finden, ein Martinus Scriblerus
war — fo war dies weiter nicht feltiam von ihm, die Refultate aber waren
fehr beklagenswerth. Betrachtet man die Sache jegt in diefer unparteiiichen
Entfernung, fo verliert man fid in Verwunderung über den guten Marquis
und weiß nicht, ob man über ihn Lachen oder weinen foll, bis man ſich end»
li überzeugt, daß man beides thun muß. Ein hinreichenderes Naturpros
dukt als diefen „ungeheuren Gabriel" brauchte man nicht zu wünſchen. Er
fchlug feine Amme, aber Tiebte fie audy, eben fo wie er die ganze Welt liebte.
Sein Begehren umfaßte alle Dinge, die höchften wie die tiefften, mit andern
Worten, e8 lag eine ungeheure Maſſe Zeben in ihm!
Wühlt er nit — der ungeledte Bär — jegt in Folge der Blattern
noch zehnmal ungeledter, überall herum und jucht etwas zu wiſſen; taucht
er nicht in die unerhörteften Schlupfwinfel hinab, um etwas zu leſen darin
zu fuhen? Giebt er nicht freiwillig einem Bauernknaben, deſſen Kopfbe-
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deckung mangelhaft war, feinen Hut? In feinem fünften Jahre fchreibt er
extempore und bei Tifche die fcharffinnigften Dinge, indem er audeinander-
jegt, wad „Monsieur Moi, Herr Ih," zu thun verbunden iſt. Eine raube,
ftarfe, achte Seele von dem freimüthiaften Temperament erfüllt, von lieben⸗
dem Feuer und von Kraft. Wie fhaut er doch fo munter mit feinen hell»
braunen Augen, mit feinem raſchen, flänımigen Körper! Was hätte nicht
eine richtige Erziehung für ihn thun fönnen! Bei fo vielen Gelegenheiten
fühlt man, als ob er in der Welt weiter nichts gebraucht hätte, als fich felbft
überlafjen zu bleiben.
Aber nein; die wiffenfchaftliche väterliche Hand mifcht fich überall ein,
um der Natur unter Die Arme zu greifen. Der junge Löwe muß auf die
außerordentlichfte Weife gefeffelt und bemaulkorbt aufwachſen; er Toll fi
nad) einer Erziehungstheorie, nach Winfelmaß und Regel entwideln und nad)
dem theoretifchen Programm pünktlich feinen Gang gehen, wie ein Uhrwerf.
D Marquis, o Weltihulmeifter, was iſt das für eine Erziehungstheorie!
Kein junger Löwe oder junger Mirabeau geht wie ein Uhrwerk, fondern
ganz anderd. „Wer die Ruthe fpart, haſſet das Kind”; dies ift einerſeits
wahr und tod tft die Natur auch ſtark, denn fie kommt wieder, felbft wenn
man fle mit der Gabel ausgrübe.
Von einem gewiſſen Gefihtöpunfte aus giebt es nichts Hogarthiſch⸗
Komiſcheres als dieſes ununterbrochene Ankanıpfen des Marquis Mirabeau
gegen bie Natur, und dennoch ift ed, von einem höheren Geſichtspunkte aufs
gefaßt, nur zu ernfthaft. Die freimüthige Gefchichte wird jagen, daß das
Schlimmſte, was in der Macht der Kunft fand, zu.tbun, an diefem jungen
Gabriel Honore gethan ward. Und zwar nicht in unfreundlichen Abflchten,
fondern mit Abftchten, die wenigſtens mit Güte begannen. Wie weit befler
war da Burns’ Erziehung — obſchon auch dieje unter dem grimmigften
Drud flattfand — am wildromantifhen Gebirgshange, am Heerde des bra⸗
ven Bauern, mit gar feiner Erziehungsdtheorie, fondern Armuth, Mühe,
Sturm und ſchwerer Arbeit.
Im Grunde genommen waren der Wunfh und Zweck des Marquis
nicht complictrt, fondern einfah. Diefer Gabriel Honore de Riquetti foll
ganz derſelbe Mann werden, welcher Victor de Riquetti ifl; vollkommen wie
er sollfommen tft — nur dies und nicht Geringeres Tann das Herz bed
zärtlichen Vaters zufrieden ftellen. Gin beſſeres Mufter wäre allerdings
fhwerlih zu finden und dennoch wünſcht, o Victor de Niquetti, der arme
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Gabriel feinerjeits, Gabriel und nicht Victor zu fein. Nie hatte ein Reife»
rer, liebender Bebant einen elaftiicheren liebenden Schüler. Uebelthaten —
die jedoch größtentbeild eben in dieſer Elafticität ihren Brund haben —
häufen fi immer mehr. Madame Bailly und die vertrauten Diener zeigen
fi in diefer Sache, wie in allen andern Dingen, fehr geihäftig. Der
Haushalt ſelbſt verfinfkert fi, die Hausfrau iſt fort; die Prozeile und alle
mälig aud) Die Ehefcheidungdprogeffe haben begonnen. Die Sache wird
ihlimmer und immer fchlinmer, bis Rhadamanthus Scriblerud Marquis
von Mirabeau, nergebend das Scepter der Ordnung fchwingend, fih von
einem wüften Chaos umgeben flieht. Steif if er; elaftiich und immer noch
lichend und chrerbietig ift fein Sohn und Schüler. So wechſeln Grauſam⸗
feit und unterdrüdte Sehnſucht, Empörung und heiße Reuethränen auf die
feltiamfte Weije zwifchen den beiden ab und lange Jahre werden unjerem
fungen Ulcides durd das Schickſal, durch feinen eigenen Dämon und Juno
von Pailly Arbeiten genug aufgelegt.
Um aber zu beurtbeilen, welche eine Aufgabe diefem armen väterlichen
Marquis geftellt ward, wollen wir die folgenden Heußerungen von ihm an«
hören, welche er in mebhrern Briefen größtentheils feinem Bruder, dem gu⸗
ten Bailli, gegenüber thut. Gluck! gluck! glud! — ift ed nidt, als ob
man eine bald von Furcht, bald von Zorn erfüllte Henne hörte, weldger ihre
Küchlein viel zu ſchaffen machen?
„Dieſes Geſchöpf verfpricht ein jehr hübſches Subject zu werben. *
„Talent vollauf und auch Scharfiinn, aber immer noch zu viel angeborne
Fehler.“ „Eben erft ind Leben gefommen und die Ertravafation (extra-
vasement) Led Dinges ſchon fihtbar. Gin widerbaariger, phantaftiicher,
zornmüthiger, launenbafter Geiſt, der fih dem Böſen zuneigt, ehe er es
fennt oder deſſen fähig if.” „Ein hohes Herz unter der Jade eines Kna⸗
ben ; er befigt einen feltiamen Inftinkt ded Stolzed, aber ift Dabei edel, ber
Embryo eines wilden Raufboldes, der die ganze Welt verſchlingen möchte
und nod nicht zwölf Jahre alt iſt.“ „Ein ganz unbegreiflicher Typus son
Gemeinheit, abfoluter Stuswpfhelt (platitude absolue) und der Eigenſchaft
einer ſchmutzigen, rauchhaarigen Raupe, die fidy niemals entpuppen oder flies
gen will." „Cine Intelligenz, ein Gedächtniß, eine Capacität, welche mit
Erſtaunen, ja mit Schreden erfüllen. * „Ein aus lauter wunderlichen Lau⸗
nen zujammengejegte® Nichts. Vielleicht fireut er einmal einfältigen Frauen
Sand in die Augen, wird aber nie der vierte Theil eines Mannes werben,
un 7 Se Dunn A RER
9%
wenn ihn das Glüͤck überhaupt noch zu irgend etwas macht. * „Dielen meinen
ältern Sohn kann man in der That eine Mißgeburt nennen, denn bis jegt
wenigftens fcheint es, als ob nichts ala höchſtens ein Wahnilnniger aus ihm
werten fönnte, während er auch überdies die ſämmtlichen fchlechten und
verworfenen Eigenfchaften feiner Muster geerbt zu haben fcheint. Da er
ziemlich viel Lehrer bat und dieje alle eben fo viele Berichterflatter für mid
find, fo fenne ich die Natur der Beitie fo ziemlich und glaube nicht, daß wir
jemals etwas Gutes daraus ziehen werten, *
Mit einem Worte, Die Uebelthaten (der Elafticität oter Expanſivität)
haben fidı in tem fünfzebnten Jahre des jungen Menſchen zu einer ſolchen
Höhe angehäuft. daß von Seiten des Rhadamanthus Scriblerus der Ent«
ſchluß gefaßt wird, ihn auf eine oder die andere Weile aus Dem Haufe zu
ſchaffen. Nach verfchicdenen Plänen verfällt nıan auf das PBenftondinititur
eines gewifien Abbe Choquenart ; Der rebellifhe Expanſive joll nah Paris,
um bier unter Rurhe und Zucht fid) zuſammenzuziehen und in ſich zu geben.
Da ferner Der Name Mirabeau ein hocdyateliger if, jo foll er nidht die Ehre
haben, denjelben au tragen, jontern jo lange Pierre Buffire genannt wer«
den, bis er ſich entichieden geändert hat. Pierre Buffidre war der Name
eined Landgutes feiner Muster in Limoufin — beflagenswertber Brennftoff
jener qualmenden Prozeffe, die eAdlich als Eheſcheidungsprozeſſe aufloder«
ten. Weit dieſem traurigen Spignamen Peter Bufiere ald immerwaͤhren⸗
tem Kennzeichen mußte ter arme Gabriel Honore cine Anzahl von Jahren
einberwandeln, gleich einem Soldaten, Dem zur Strafe Die Augenbrauen ab⸗
raftrt worden find. Ach, er ift ja erft cin Rekrut von fünfzehn Jahren und
nod) zu jung dazu!
Kichtödeftomeniger, mag man ibm nun einen Namen geben oder rau⸗
ben, mag man ihn Peter oder Gabriel nennen, jo blieb er doc immer wer
er war. In Choquenard's Penflonsidhule eben jo wie ipater im Leben trägt,
entfaltet und entwickelt er dic Eigenichaften, welche Lie Natur ihm gab und
die fein Scheeren oder Rajiren der Mißhandlung ihm nehmen konnte. Der
Fils Adoptif theilt eine fange Liſte der betriebenen Studien und erworbenen
Kenntnifle mit — alte Sprachen — und wir haben taujend Beweiſe jeiner
bewundernöwürdigen Gedäctniftreue in Diefer Beziehung — neuere Spra=
hen, Engliſch, Italieniſch, Deutſch, Spaniſch; dann leidenſchaftliches Stu⸗
dium der Mathematik, Zeichnen, Malen und Geometrie, Muſik in jo hohem
Grade, daß er vom Blatt zu ſpielen, ja ſogar zu componiren verſtand, Rei⸗
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ten, Bechten, Tanzen, Schwimmen, Ballichlagen — wenn nur die Hälfte
von diejem wahr war, fo können wir nicht fagen, Daß Pierre Bufftere feine
Zeit übel anwendete.
Ziemlich gewiß if, daß der vorftoßene Buffiere ſich in dieſem Hauie
der Zucht fehr bald die Liebe Aller erwarb, die mit ihm in Berührung ka⸗
men, feiner Schulfameraden, feiner Xehrer, auch des Abbes Choguenard
ſelbſt. Denn, fagte der väterliche Marquis, er beftgt Die Zunge der alten
Schlange! In ter That ift e8 merkwürdig, wie der arme Buffiere, Graf von
Mirabeau, Revolutiondfönig Riquetti oder wie man ihn jonft nennen modte,
Tobald er in irgend einen Kreid von Menſchen trat, jelbft wenn dieſelben
gegen ihn eingenommen waren, fie doch binnen Kurzem für fi gewann.
Bid an’d Ende teiner Laufbahn fonnte ihn Niemand mit eigenen Augen
betrachten umd fortfahren, ihn zu haffen.'
Konnte er denn die Menichen überreden? a, lieber Leſer; aber er
fonnte fie auch überbandeln und darin lag cigentlih das Geheimniß.
Man fühlte, daß tie große offene Seele des Mannes, der nie ewwas Ver⸗
werfliched, Ungütiged oder Unchrliches gegen irgend ein Geſchöpf vorbrachte,
eine Bruderfeele war. Daß ein Menich von feinen WMirmenfchen je
näher fie ihm Fommen, deſto mehr geliebt wird — ift dad nicht die That⸗
fache aller Ihatfaben? Will man wiffen, welden Grad von diplomariicher
Klugheit — ſei fle nun aut, gleichgültig oder auch ſchlecht — ein Menſch
beftgt, io frage man die öffentliche Dreinung, die Zeitungdgerüchte oder im
äußerften Balle die Perfonen, mit welchen er dinirt; um aber zu wiflen,
welchen wirklichen Werth er befigt, frage man unendlich tiefer und weiter
und vor allen Dingen Die, welche Erfahrungen mit ihm gemacht haben und
die, ſelbſt wenn fle auch übrigens die befchränfteften Menichen wären, in
dieſer Frage vollfländig competent find. „Die, welche mir fern ftehen,
beurtheilen mich ein wenig fchlimmer, als ich mich ſelbſt; Dagegen tie in
meiner Nähe ein wenig beſſer,“ ſagte der gute Sir Thomas Browne, und
fo werden alle Menidyen jagen, welche viel hierüber zu fagen haben.
Da die Rilitairpenftongichule Choquenard’8 ihre Beitimmung verfeblt
und aufgehört hatte, ein Zuchthaus zu fein, fo beſchloß Marquis Mirabeau,
es mit der Armee zu verſuchen. Ja, wie es fcheint, Hat die gottlofe Mutter
ihm heimlich Geld geſchickt, welches er, der Verräther, auh angenommen
hat! Alſo in die Armee. Und fomit bekommt Pierre Buffiere einen Helm
auf feinen dien Kopf gelegt, das zottige, blatternarbige Geſicht ſchaut mar⸗
9
tialifg unter Roßhaar und blankem Metall hervor; er reitet in Heiße und
Glied mit gezogenem Pallaſch in der Stadt Saintes als Leder, freiwilliger
Dragoner. Sein Alter betrug jet erſt achtzehn Iahre und einige Monate.
Die Einwohner von Saintes lernten ihn ungemein lieb gewinuen
und erboten ſich fogar, ihm Geld zu leihen, fo viel er wollte. Sein Oberft,
ein gewiſſer De Lambert, war ein ziemlich firenger Gaſt und fauertöpfifcher
Kauz, und Buffière's Geflht, durch deffen Narben allerlei Dinge hindurch⸗
leuchteten, hatte keineswegs dad Glück, ihm zu gefallen. Ueberdies gab es
in Saintes einen Archer oder Landvoigt, der eine Tochter hatte und biefer
albernen Dirne geflel das Geficht Buffire'® befier als das des Oberſt!
Denn man kann fi) denfen, wie geichickt Bufftöre in diefer wichtigen Ange»
Iegenbeit mit der Zunge der alten Schlange für fi zu fprechen verſtand.
Ed war feine erſte Amourette und augenfcheinlich flegreich, der Beginn einer
ganz unerbörten Garriere in diefer Art. Der gefränfte Oberft ließ am Of-
fiztertiiche allerhand fatyriiche Bemerkungen fallen, Bufftere war nicht der
Mann, der ihm in diefer Beziehung etwas ſchuldig geblieben wäre und es
trat ein ziemlich unerquickliches Verhaͤltniß ein.
Um der Sade die Krone aufzufegen, beſuchte Buffiere ganz gegen
feine Gewohnheit eines Abends ein Spielhaus und verlor vier Louisd'or.
Infubordination, Spiel, Landvoigtstochter! Mhadamanthus donnert von
Bignon; Buffidre fchleudert feinen Helm von fi und flieht heimlich nad
Daris. Nun werden Unterhandlungen gepflogen ; ein vertrauter Spion
gebt nad) Saintes; es werben Briefe gewechielt; Dupont de Nemours agirt
ale Schiedsrichter zwiſchen einem Oberft und einen Marquis, die beide vor
Muth ſchaͤumen. Der vertraute Spion hört Zeugen ab, der ganze Gräuel
fommt an’s Licht. Was willſt Du, o Marquis mit diefem Deinen Teufels⸗
fohne thun? Schide ihn nad Surinam, laß tropifche Sonnenhige und legen
feine Heiße Leber mürbe machen! — So flüfterte die väterliche Brutusgerech⸗
tigfeit und Dame Bailly ; doch behielten mildere Gedanken die Oberhand.
Zuerſt will man es mit Lettres de Cachet und der Infel Rhéͤ verfuchen.
Dorthin gebt es mit dem armen Buffiere unter dem Raſcheln der füllen«
den Blätter des Jahres 1768, feines meunzehnten Herbſtes. Es ift feine
zweite Herkulesarbeit; das Penflonsinftitut Choquenard war die erfle. Be⸗
klagt von dem lauten, atlantifchen Ocean figt er hier in der Winterzeit uns
ter der Aufficht eined Bailli D’Aulan, des Gouverneurs dieſes Platzes, der,
wie man jagt, ein wahrer Gerberus war.
Carlyle. IV. 7
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In RHE wiederholt fih das alte Spiel. Nah wenigen Wochen iſt der
Gerberus Bailli Buffiöre'd guter Freund und bellt aus allen feinen Schlünden
zu Buffiöre’8 Bunften! Welche Zauberkraft beflgt doch dieſes zebellifche
Wunderkind, o Marquis? weldye Heuchelei und Verftellung, fo daß ſelbſt
fein Beftungsgouverneur ibm widerfichen kann? Müſſen wir ihn denn
durchaus nad den heißen Sämpfen von Surinam fchaffen, um ihn zur Ruhe
zu bringen?
Zum Glück if jeht Krieg in Corſika. Paoli kämpft Hier auf feinen
legten Füßen und Baron de Baur verlangt friiche Truppen gegen ihn.
Buffiere will, obſchon ihm Die Sache an und für fi nicht gefällt, gern da-
bingeben und fiht fo gut er kann — wie glücklich, wenn er durch irgend
einen Kampf jeinen Taufnamen und einen Schimmer von väterlidher Tole⸗
ranz zurüderobern fann.
Nach vielem Bitten wird fein Wunfch gewährt. Buffitre wandert nun
mit dem Range eined Unterlieutenants der Infanterie in der Legion Loth⸗
ringen bekleidet, nad Toulon im Monat April und betritt „die Ebene,
welche ohne Pflug durdfurdt wird“, — wohlflingende Umfchreibung des
Wortes Ocean; „Bott gebe, daß er nicht eines Tages in rother Müpe als
Galeerenſclave darauf rudern muß!" So lautete der väterliche Segen, ber
auch in Erfüllung ging. Che Bufflere Rochelle verließ und nadtem er
faum zwei Stunden aus der Feſtung Rhéͤ heraus war, hatte er eine neue
Gräuelthat begangen, — fein erfted Duell. Ein gewiffer ehemaliger Ka⸗
merad, der wegen Schwinteleien den Abichied befommen, fuchte auf der
Straße die frühere Bekanntschaft mit ihm zu erneuen; Buffiere fand für
gut, dieſes Anftnnen zuruͤckzuweiſen, felbft als ed mit dem bloßen Degen in
der Sant wiederholt ward. Welch ein corflicher Flibuſtier!
Der corfliche Flibuſtier verrichtete, wie gewöhnlich, auch in Corſika
Miefenarbeit. Er focht, ſchrieb, Tiebte, „fludirte täglich acht Stunden * und
erwarb ſich goldene Meinungen bei Jedermann und jeder Frau. Es war
feine eigene Anftcht, daß die Natur ihn zum Krieger beftimmt babe; er
fühlte fich diefem Gefchäft fo gewachſen und darin fo heimifh, — der Wirr-
warr und Todestumnft und Kanonendonner war für ihn harmoniſche Marſch⸗
muſik. Ohne Zweifel hatte die Natur ihn zu einem Menfchen der Thätig-
feit beftimmt, wie fie dad mit allen großen Seelen thut, die in einem flar«
ten Körper wohnen, aber die Natur bequemt ſich vielem an.
Nach Verlauf von zwölf Monaten, im Mai 1770, kommt Buffiere zu⸗
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rüd nah Toulon. Er Hat viel Manufeript in der Taſche; fein Kopf iſt
angefüllt mit militairiichen und allen anderen Kenntniſſen, gleidy einer durch⸗
einander geworfenen Bibliothek, während fein Auf, wie wir ſchon fagten,
nad allen Seiten hin gewonnen bat. Der wadere Bailli Mirabeau kann
fih, obſchon es faft gegen fein Prinzip verftößt, nicht weigern, einen Neffen
zu feben, der fo nabe an dem alten Schlofle am Durance vorbeikommt.
Der gute Onkel iſt ganz entzüdt von ihm, findet unter furchtbar zere
riffenen und veränderten Geſichtszügen Törperlih und geiftig Alles, was
Löniglih und flarf ift, ja einen Ausprud von etwas Verfeinertem und Gra⸗
ziöfen. Nach mehrern Tagen ununterbrocdener Unterhaltung erflärt er ihn
für den allerbeften Menichen, fobald man ihn nur angemeffen behandelt, ber
fid) „zu einem Staatdmann, Generaliſſtmus, Papft, oder was man fonft zu
wünfchen beliebt”, entwideln Tann. Oder follen wir das Zeugniß bes
armen Buffiere im Kafernendialekt mittheilen, verbrämt mit alten Blüchen,
die leider für un jetzt faft alte Gebete geworben find: „‚Morbleu, Monsieur
FAbhé; c'est un garcon diablement vif; mais c'est un bon garcon, qui a
de l’esprit comme trois cent mille diables; et parbleu, un homme tr&s
brave.‘‘
Durch Zeugniffe und Bitten aller Art von Onkel und Bamilie beſtürmt,
willigt der firenge Marquis nicht ohne Schwierigkeit ein, vielen feinen ano⸗
malen Peter Buffiere zu fehen und dann nad feierlicher Berathung und
Ueberlegung ihn fogar zu entpetern und ihm feinen Namen zurüdıugeben.
Es war im September als fie fih wiederfaben, in Aiguefperfe im Limouſin,
nicht weit von dem Landgute Pierre Bufflere. Milde und Nachgiebigkeit
fchleichen fid in dad Gerz des Rhadamanthus, fogar zitternde Strahlen
ſchwacher Hoffnung, die fich jedoch in Strenge und Starrheit verhüllt.
Der Marquis fhreibt: „Ih nehme Ihn zuweilen tüchtig ins Gebet;
ich beobachte ihn, wie er die Nafe fenkt und flarr vor fih Hin flieht
— ein Beiden, daß er nachdenkt; oder wie er den Kopf wegwendet
und eine Thräne verbirgt. So behandeln wir ihn bald ernfthaft, bald
fireng und wiffen auf dieſe Weife dieſem feurigen Roß dad Gebiß anzu⸗
legen.“ Hätte er nur die Eph&merides, die Economiques, den Pr£cis des
Elements — „das mühfamfte Buch, welches ich gefchrieben, obſchon ih mich
Damals bei außerordentlich guter Gefundheit befand * — gelefen ; Hätte er
fi nur gründlid von meiner Staatsökonomie unterrihtet! Aber Damit
giebt er fih gar nicht ernftlich ab. Im Begentheile findet er unglücklicher⸗
7 %
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weife das Buch hohl, pragmatiſch, ein leeres Geklingel von Formeln, fogar
pedantiſch und unwahrbaft wie der Oftwind. Läfterliche Worte, bie irgend
ein Horcher dem „ Herrn * wur zu binterbringen braucht.
Und denvoch, iſt biefer plump gebaute junge Herkules im Grunde ge⸗
wommen nicht ein braver Gabriel, der feine zweite Arbeit glüdli beendet
bat? Der Kopf des jungen Rauned iſt eine „ Windmühle und eine Feuer⸗
müähle von Ideen“, das Kriegäeninifierium macht ihn zum Hauptmann und
ee ift leidenfchaftlich dafür eingenommen, beim Kriegshandwerk zu bleiben,
aber unglücklicherweiſe braucht ein ſolcher Alerander gar fo viel Werkzeuge
und eine ganze Welt zu feiner Werklätte! „Wo follen denn die Armeen
und Seringszüge von Menſchen herfommen?“ gerollt der alte Marquis.
„Glaubt er, ig Habe Geld genug, um für ihn Schlachten zu veranftalten ?*
Der Narr! Gr fol ih dem Landleben widmen, erſt jedoch, obſchon bie
Sache ihre Gefahren hat, ein wenig Paris ſehen.
In Paris wirft während des Winters ber tapfere Gabriel Alles vor
ich wieder ; er glänzt in Salons, in dem Oeil de Boeuf zu Verſailles, ſpeiſt
bei dem Herzog vom Orleans — ber junge Chartres, welcher jetzt noch nicht
Egalit6 geworden, ftößt mit ihm an —; er fpeift bei den Guemeènes, Brog-
lies und anderen Größen und wird zur Jagd eingeladen. Selbſt bie alten
Frauen find entzäcdt von ihm und rafcheln in ihren Atlaskleidern; fett lan⸗
ger Zeit ift in dem Oeil de Boeuf fein ſolches Licht aufgegangen. Gieb zu,
o Marquis, daß es ſchlimmere Saufewinde giebt als diefen. Der Marquis
giebt es theilweiſe zu und doch und doch! wenig Dinge find merkwürdiger
als dieſe aufeinander folgenden Ruͤckblicke des alten Marquis, indem er ſei⸗
nen jungen Grafen kritiſch ins Auge faßt:
„Ich bin auf meiner Gut; id weiß wohl, wie bie gebhafigkeit bes
Kopfes in Bezug auf den Charakter täufchen kann, aber alles erwogen, muß
man ihm einigen Spielraum geſtatten; was zum Teufel follte man fonft
mit einer ſolchen intellectuellen und fanguinifchen Veberfülle anfangen?
Ih Tenne fein Weib, als die Katjerin von Rußland, mit welcher man biefen
jungen Rann verheirathen Fönnte, *
Es möchte jchwer fein, einen jungen Mann zu finden, der mehr Ta⸗
Int und Thätigfeit in feinem Kopfe hätte als biefen; er würbe felbft ben
Zeufel zur Raifon bringen. *
„ Dein Neffe Wirbelwind (l’Ouragan) fieht mir bei. Geſtern fagte Der
Diener Luce, der eine Art vom privilegirtem Einfaltöpinfel iR: Geſtehen Sie,
101
Herr Braf, daß der Rumpf eines Menfchen fehr unglücklich iM, wenn er
einen ſolchen Kopf tragen muß.”
„Er beſiht die furchtbare Babe der Familiaritaͤt, wie Papft Gregor ed
nannte. Cr widelt bier die vornehmen Leute um die Finger, *
Und dann wieder einige Jahre foäter:
„Man fagt mir fortwährend, daß es ſehr leicht ſei, ihn zu veigen, aber
auch zu rühren; man kann ihn nicht hart anreden, ohne daß feine Augen,
feine Lippen und feine Farbe verrathen, daß ſich alles in ihm umswenbet ;
andererfeitö Dagegen bricht er bei dem geringften zärtlichen Worte in Thraͤ⸗
nen aus und würde für Den, der es ihm fagt, durchs Fener geben. *
„Ih verwende mein ganzes Leben darauf, ihn mit Prinzipien und
Allen, was ich weiß, vollzuftopfen, denn biefer Mann, der in Bezug auf feine
Grundeigenſchaften immer noch derfelbe iſt, Hat durch dieſe langen und bite
den Studien nichts gethan, als den Gerüllhaufen in feinem Kopfe vermehrt,
den man mit einer durcheinander geworfenen Bibliothek vergleicgen Tamm.
Dazu kommt noch fein Talent, durch Oberflaͤchlichkeiten zu bienden, benn ex
Hat 6108 alte Formeln verfchlungen und kann nichts gründlich darthun. *
„Er ift ein Kuthenkorb, der alles burchläßt, Die geborene Unordnung,
Teichtgläubig wie eine Amme, ein Lügner durch und durch, ohne Noth und
blos um Geſchichten zu erzählen ; indiscret, und befitt dabei eine Dreiſtigkeit,
welche in jeder Beziehung blendet, Gewandtheit und Talent ohne Grenzen,
Uebrigens Haben die Laſter in ihm unendlich weniger Wurzel als die Tugen⸗
den; alles if Keichtfinn, Ungeſtüm, Unwirkſamkeit (nicht aus Mangel an
euer, jondern des Planes); ein Geiſt, der im Unbeſtimmten denft und
Geifenblafen aufeinanderbaut. *
„Trog der fürchterlichen Häßlichkeit, des hinkenden Ganges, des athem⸗
Iofen eiligen Schnauben®, und bes Blickes, oder befier gejagt, der grimmigen
Stirn dieſes Mannes, wenn er zuhdrt und nachdenkt, verrietb mir do
etwas, daß all diefe wilde Äußere Erſcheinung weiter nichts fel, als eine
Bogelfheuche von altem Tuch, daß im Brunde genommen er in ganz Frank⸗
reich ber letzte Mann wäre, von bem eine überlegte Bosheit zu erwarten
fände.” °
„Ganz aus Nachdenken und Wiederjpiegelungen zufammengeiegt (tout
de refler et de reverbere) wird er durd fein Herz rechts und durch feinen
Kopf, den er vier Schritte von ſich entfernt trägt, nach linke gezogen. *
„Er kann der Korppbäus unferer Beit werden. *
102
Er befigt eine angeborene kurzſichtige (myope) Ueberflürzung, bie ihn
veranlaßt, den Sumpf für feiten Boden zu halten — *
— Gluck! glud! — im Namen aller Götter, was für ein Wunder⸗
thier habe ich Denn da ausgebrätet? Es bat Schwimmfüße und einen brei«
ten Schnabel ; es wird ind Wafler Iaufen und erfaufen, wenn die himmliſche
Barmberzigkeit und die Mutterhenne es nicht verhindern !
Wie unausſprechlich wahr aber ift doch, was der alte Marquis fagt:
„Er Hat alle Formeln verfhlungen (il a hume toutes les formules)" und
fie au dem Wege geräumt! Ja Bormeln, wenn wir es recht überlegen,
Formeln und Babriel Honoré waren von Anfang bis zu Ende Todfeinde
und mußten es fein. Welche Formel dieſer formalifirtien (beftehenden)
Welt war für Gabriel eine gütige geweien? Seine Seele konnte feinen
Schuß darin finden, denn fle waren unglaublich, fein Körper feine Tröflung,
denn file waren tyranniih und ungerecht. Wenn es nicht außer Formeln
und trog derſelben Speife und Subflanz gab, dann wehe ihn! Diefem
Manne fonnten Formeln feine Eriftenz und feine Wohnung gewähren, aus⸗
genommen höchſtens auf der Inſel Rhé und dergleichen Orten, fondern droh⸗
ten das Leben aus ihm berauszuwürgen. Entweder müflen bie Sormeln
unterliegen oder er, und nach einem harten Kampfe ergiebt fi, daß tie
Formeln beflege find. Go jhlau und gewandt iſt das Schidial; in aller
Ruhe formt e8 feine Werkzeuge für die Arbeit, Die fie verrichten follen, wäh
vend ed biefelben nur zu verderben und gu zerbrechen icheint! Denn bedenke
wohl, o Marquis, ob nicht Frankreich ſelbſt mit der Zeit ein paar Formeln
zu verichluden haben wird! Läßt ver Anblid, der fih Dir von ben Vätern
deö Mont d’Or darbieter, nicht ſchon auf etwas der Art ſchließen? Es iſt ein
Sommertag des Jahres 1777.
„D Madame, welche Geſchichten könnte pr Ionen erzählen, wenn id
nicht ein ganzes Schod trodene Gefchäftsbriefe zu beantworten hätte. Ic
würde Ihnen das Dankfeſt diefer Stadt malen, weldes am 14. flattfand,
Die Wilden famen in Strömen von den Gebirgen herab, unfere Leute bat»
ten Befehl, an Ort und Stelle zu bleiben. Der Priefter mit Meßgewand
und Stola, der öffentlihe Richter in jeiner Berüde, die Maréchaufſee mit
gezogenem Säbel befegten den Pla, „che die Tänze beginnen durften.
Schon nah einer Biertelftunde ward der Tanz durch Schlägerei unter.
brochen, die Kinder, die Gebrechlichen und andere Zufcdauer fdhrien und
Freifchten und gingen gleihwohl nicht von ter Stelle, eben fo wie der Pöbel
mE a — — wm CE — — — — — — — — — — — — —
— Ui —⸗——— — — He MER eig — ln
103
fi fammelt, wenn ſich die Hunde beißen. Furchtbare Menſchen oder viel⸗
mehr wilde Gefchöpfe bed Waldes in groben wollenen Kitteln und breiten
Ledergürteln mit Eupfernen Nägeln, von rieflger, durch die hohen Holzſchuhe
noch vermehrter Körpergröße. Ste flellten fih auf die Spigen, um den
Kampf genau zu fehen, fchlugen den Taft dazu und rieben fich die Seiten
mit den Ellbogen. Ihr hageres Geſicht war mit langem fchmierigem Haar
bedeckt; der obere Theil des Geſichts warb bleich, der untere Dagegen ver-
zerrie fi zu den Anfängen eines graufamen Gelächters, einer wilden Unge⸗
duld. — Und dieſe Leute bezahlen Die taille! Und Sie wollen ihnen auch
noch das Salz nehmen! Und Sie willen nicht, was Sie ſchinden oder —
wie Sie e8 nennen — regieren, denn Sie glauben, daß Ste mit einem feigen
Federſtrich ungeflraft fortfahren Eönnen, zu rauben, bis die Kataſtrophe
fommen wird! Solche Schaufpiele regen tiefe und ernfle Gedanken an.
„Der arme Jean Jacques!’ jagte ich zu mir felbft, ‚Die, welche Dih und Dein
Syſtem hierherſchickten, um unter einem foldden Volke Noten zu fchreiben,
Haben Dein Syſtem nur fchlecht überlegt!’ Andererſeits jedoch waren biefe
Gedanken auch tröftlich für einen Mann, welcher fein ganzes Leben lang die
Notwendigkeit der Unterflügung der Armen und des allgemeinen Unter
richts gepretiat hat; welcher verfucht bat, zu zeigen, worin dieſe Unter⸗
flügung und diefe Belehrung beſtehen muß, wenn fle eine Schranfe — die
einzige mögliche Schranke — zwiſchen Unterdrüdung und Empörung bilden
fol, den einzigen, aber untrüglichen Sriedendtractat zwifchen den Hohen und
den Niedern! Ach, Madame! Diefe wie beim Blindekuhfpiel umberftol«
pernde Regierung wird duch einen allgemeinen Umſturz enden. *
Prophetiſcher Marquis! Möchten andere Nationen Dich befler anhö⸗
ren, ale Sranfreid Dich anhörte, denn ed geht fie alle an. ber it es
nicht merfwürtig, wenn man bedenft, wie die ganze Welt ohne eben dieſen
Bropheten einen ganz andern Bang genonmen haben würde? Hätte der
junge Mirabeau einen Vater gehabt, wie ihn andere Menfchen haben, oder
auch gar keinen Vater! Ban bedenke ihn, wie er in diefem Balle durch na⸗
türliche Gradation, durch den Hang, die Belegenheit, die ununterdrüdbaren
elaftiichen Bähigkeiten, die er beſaß, Stufe um Stufe zu amtlicher Stelle, —
zu der höchſten amtlichen Stelle emporgeftiegen wäre, was zu einer Beit, wo
Zurgotd, Neders und talentvolle Zeute unentbehrlich geworden waren, noth⸗
wendig der Ball Hätte fein müflen. Durch natürlichen Zauber bezaubert er
Marien Antoinetten, fle am meiften von allen mit ihren rafchen empfäng⸗
104
lichen Inſtinkten, ihrem feinen Gefühl für Alles, was groß und edel wer,
ihrem raſchen Haß gegen Allee, was nur pedanttich, neckeriſch, lafayettiſch
war und fich für groß außgeben wolle. König Ludwig ift eine Null, zum
Glück war er auf eine ſolche reducirt; dann hätte an der Spige Fraukreichs
der einzige Franzoſe geflanden, welcher diefe große Frage anzufaflen ver»
mocht, der nachgebend und veriveigernd, mandurirend, leidend und mit einem
Worte Das, was zu thun war, jehend uud wagend, Frankreich vielleicht
feine Revolution eripart und ed auf friedlichem Wege umgeflaltet Hätte !
Aber die höchſten Mächte hatten es anders beſchloſſen. Einmal nah
taufend Jahren follten alle Rationen den großen Brand, die Selbfiverbren-
nung einer Ration jeher and davon fernen, wenn fle fönnten. Und fonnte
ed für einen Formelverichlinger auf ber Welt einen beſſern Schulmeiſter
geben als eben biefen Breund der Menſchen; Tonnte man Sich eine beſſere
Erziehung denten, als die, welche Aleides Mirabeau Hatte? Vertraue dem
Simmel, guter Lefer, er überwacht das Schickſal der Nationen eben fo mie
den Ball eined Sperlings.
Gabriel Honoré macht ſich in Paris ganz gut und widelt mit jenem
„ſond gaillard‘‘ mit jener „‚terrikle don de la familiarit&‘“, mit feinem gan-
zen einſchmeichelnden Weſen die vornehmen Leute um den Finger. Auch in
dem ganz entgegengefehten geichäftligen Deyartement, als der Senmer
fommt und mit diefem das Landieben, übertrifft ex alle Erwartungen. Im
Sommer des Jahres ſchickt ihn der alte Freund der Menſchen nach dem Li⸗
anoufin auf fein Gut oder bet dem zu Diefer Zeit noch ſchwebenden Prozeffe
— feines Weide But, Bierre Bufflöre, um zu fehen, ob ſich dort etwas für
Die Menfchen thun läßt. Allerdings giebt e8 bier fehr viel zu thun. Die
Bauern, denen ed an allen Dingen feblt, feld an Lebensmitteln, tragen das
fiebende Gepraͤge des Leidens auf ihren Gefichtern, ale ob fie meinten, bie
Ausplünderung der Menfchen fei eine unvermeidlidhe Bügung des Himmels
Die man ſich eben fo gefallen laffen müſſe wie Sturm und Hagelſchlag.
Hier in der Einſamkeit des Rimouftn iſt Gabriel immer wieder Ga⸗
briel. Er reitet, er fchreibt und ſchaut ſich überall um; er ift and dem
Töpfen der armen Xeute, ſpricht mit ihnen, verhilft ihnen zu ihrem Rechte,
fegt eine Art Schied&männergericht ein und gewinnt abermals Aller Herzen.
Geftehe, o Marquis Rhadamanthus — wir fagen es nochmals — Daß es
weit fchlimmere Saujewinde giebt als Diefen! „Erift," befennt der Mars
quis, „der Dämon des Unmöglichen, le demon de la chose impossibie. *
105
Dies tft auch ganz wahr — unmöglich ift ein Wort, welches micht
in feinem Woͤrterbuche ſteht. So befichlt 3. B. derſelbe Gabriel Honoro
lange nachher — wie Dumont bezeugt — feinem Secretair, irgend ein
Wunder zu thun — etwaß, was wenigften® zur damaligen Zeit für wunder
bar galt. Der Secretair antwortet: „Monfleur, das tft unmöglich.“ „Uns
mögli?* antwortet Babriel; „ ge, me dites jamais celte b&te de mot, nen»
nen Ste mir nicht dieſes Dumme on! * Wirkiih, man möchte fagen, er
war ein ganz guter Menſch, fobald man nur gut mit ihm umging, obſchon
immer noch breitſchnaͤbelig und mit einem mmüberwindlichen Hang, ins Waſ⸗
fer zu geben.
Der folgende an den Bailli gerichtete, übrigens bebeutungslofe Brief
ſcheint und tes Abſchreibens werth zu fein. Nimmt ſich der junge Herr,
wenn er fi no in der Stugerperiode befand, nicht fehr ſchoͤn darin au®,
wie er fo im Schnee daſteht? ES iſt im December 1771, auf dem Wege
nah Schloß Mirabean :
„Fracti bello satisque repulsi ductores Danaum: hier, lieber Onkel,
iſt ein Anfang in gutem Lateiniſch, welcher bedentet, daß ich vor Müdigkeit
kaum noch fort kann. Ich babe diefe ganze Woche nicht mehr gefchlafen,
als Schildwachen zu fchlafen pflegen und gleichzeitig mit den Raͤdern meines
Wagens die meiften Gleiſe und Pfühen fondirt, welche zwiſchen Paris unt
Marfeille liegen. Xief und zahlreich waren dieſe Gleiſe. Ueberdies brach
zwiſchen Mucreau, Romané, Chambertin und Beaune bie Are meines Wa⸗
gend — in der Mitte von vier Weindiſtricten; welch ein geographiſcher
Bunft, wenn ich fo Flug geweien wäre, ein Trunkenbold zu fein. Das Un⸗
glück geſchah gegen fünf Uhr Abends; mein Lakai war fchon voraut. Es
flel damals nichts als nafier Schnee; zum Glück gewann er fpäter einige
Conſtſtenz. Die Nähe von Beaune ließ mich hoffen, in den Eingebornen
des Landes einiges Genie zu finden. Ich bedurfte guten Rath; der Teufel
rieth mir anfangs zu fluchen, aber diefe Laune ging vorüber und ich fam in
Berfuchung, zu laden, denn bis an das Kinn ringewidelt kam ein fronrmer
Briefter berangetrabt, dem der Schnee und Regen ind Geſicht ſchlug und ihn
bewog, eine fo fonderbare Miene zu ziehen, daß ich glaube, es war eben
Dies, was mih vom Fluchen abbielt. Der fromme Bann fragte, ale er
meinen Wagen umgeworfen dallegen und eins der Mäder fehlen fab, ob
etwas vworgefallen ſei? Ich antwortete, es fiele bier nichts als Schnee.
„Ah,“ fagte er finnreih, „Ihr Wagen iſt alio zerbrochen. * Ich bewunberte
106
den Scharffinn des Mannes und bat ihn, mit Grlaubniß feines Pferdes —
welches ebenfalld ein niedliches Geſicht zog, ald ihm der Schnee fo auf die
Rate ſchlug — feinen Schritt zu vertoppeln und in Chaigny gefällig Nach⸗
richt zu geben, daB ich hier fäße und nicht weiter könnte. Er verſicherte
mir, er wolle es der Poſtmeiſterin felbft fagen, denn dieſe fei feine Couſine,
eine jebr liebenswürdige Frau und feit drei Jahren an einen ber rechtſchaf⸗
fenften Männer ber Statt, einen Neffen tes königlichen Procurators in —
verheirathet. Kurz, nachdem er mir über fi, feine Goufine, deren Gatten
und ih weiß nicht wen fonft noch alles Mögliche mitgerheilt, beliebte e#
ihm endlich, feinem Pferde die Sporen zu geben, welches hierauf cin kurzes
Grunzen hören ließ und fih in Bang jegte. Ich vergaß ihm zu jagen, Daß
ih den Poftillon nad Mucreau geſchickt Hatte, wohin er den Weg wußte,
denn er ging, wie er jagıe, täglich dorthin, um ein @lädchen zu trinken, was
ich recht gern glaubte, felbft wenn er mir verſichert hätte, daß er zwei Gläs—
chen trinfe. Der Mann war, als er ging, bloß ein wenig angeflodhen ; als
er wieberfam, was jehr fpät war, war er richtig ganz betrunfen. Ich mar«
ichirte wie eine Schildwache hin und ber, mehrere Einwohner von Beaune
famen vorüber und fragten mich einer nach dem andern, ob etwas paſſirt
fei? Einem von ihnen antwortete ich, es handle fid) um ein Experiment;
ich fei von Paris abgefchickt worden, um zu feben, ob eine Chaiſe auch mit
einem Rate liefe; bie meine wäre bis hierhergegangen, doch wollte id nun
zurückſchreiben, daß zwei Mäder jedenfalls befier wären. In diefem Augen-
blicke flich mein würdiger Sreund mit dem Scienbein an das antere im
Schnee liegende Rad, fuhr mit der Hand nad der verlegten Etelle, fludhte,
wie ich beinahe gethan hätte und fagte dann lächelnd: „Ah, Monfteur, da
ift ja das andere Rad!” „Zum Teufel au!” fagte ich, ald ob ich ganz
erflaunt wäre. in anderer theilte mir, nachdem er den Wagen lange bins
ten und vorn befichtigt, entlich mit fehr fchlauer Miene mit: „Ma foi Mou-
sieur! Es ift Ihre essi (er meinte damit essieu oder Are), die zerbre-
chen iſt.“
Mirabeau's Miifton in der Provence während diejer Winterfaifon war
eine mehrfache. : Er follte die Güter überwachen, fih unter feinen Unter
thanen und feines Gleichen in dieſer Gegend heimisch fühlen lernen, — viel»
leicht fi ein Weib wählen. Nod vor Kurzem hatte der alte Marquis, wie
wir geſehen haben, gemeint, es paſſe weiter feine für ihn, als höchſtens die
Kaiferin Katharine. Gabriel aber ift jeit jener Zeit unter diefem Sonnen-
—— Da A Me ⏑Â⏑——— — ll — RR u er il ee er er
107
fein vaͤterlicher Gunſt — dem erften Schimmer von folder Witterung, ten
er jemals gehabt — ganz erflaunlich gereift. Der Marquid glaubt jegt, fein
Sohn Fönne, wenn ed auch gerade nicht die Kaiferin wäre, recht wohl eine
Andere beiratben, dafern fie nur Geld Hätte.
Man findet endlich auch eine Braut, allerdings nicht mit Geld, wohl
aber mit Gonnerlonen und Ausfichten und erobert fle durch flürmifche Be»
tedtfamkeit, wobei der Marquis jecundirt. Ihr Portait iſt fo wie eö der
fecundirende Marquis felbft entwirft, gerade nicht fehr bezaubernd: „Marie
Emilie de Covet, einzige Tochter des Marquis von Marignane, fand das
mald in ihrem adhtzehnten Jahre. Ihr Geſicht nahm fich ſehr gewöhnlich,
ja auf den erſten Anblid faf gemein aus und war dabei braun, ja faft
ſchwarzgelb (mauricaud). Augen und Saar waren ſchön, die Zähne nicht
gut, doch umfpielte den Mund ein fortwährendes Tiebenswürbiges Lächeln.
Ihre Geſtalt war Flein, aber angenehm, obſchon ein wenig feitwärtd geneigt.
Dabei entwidelte fie große Lebhaftigfeit des Geiſtes, Scharfjinn, Gewandt⸗
heit, Zartgefühl und Ruthwillen. *
Diefe braune, faſt ſchwarzgelbe Fleine Dame, bie noch dazu eine große
Närrin war, befommt Mirabeau am 22. Juni 1772 zum Weihe. Mit ihr
und mit einer Benflon von dreitaufend Franes von feinem Schwiegervater
und einer von fehstaufend von feinem eigenen Vater und reichen Außfichten
foll er fih nun mitten in ber Brovence an feinem eigenen gemietheten Heerde
in der Stadt Air nieberfegen und den Himmel preifen.
Man muß zugeben, daß diefer junge Alexander, ber eben erſt fein vier-
undzwanzigfted Jahr begonnen, ein wenig grollen Eonnte, ald ex blos eine
ſolche Welt zu erobern ſah. Indeſſen, er hatte jeine Vuͤcher, er hatte feine
Soffnungen, Geſundheit, Fähigkeiten ; ein Univerfum, von weldhem auch die
Stadt Yir einen Theil bildete; ein Univerfum reich an verbotenen Brüchten
rings um ihn ber ; dad unausfpredhliche „ Saatfeld der Beit”, worin er fäen
fonnte und er fagte zu fich ſelbſt: Wohlen, ich will weile fein.
Und dennoch iſt die menſchliche Natur ſo ſchwach. Man kann ih au
denfen, ob der alte Marquis, der jegt mit feinen Weibe in einen immer
entfchiebneren Prozeß hineinfam, aufgelegt war, Fleine Sünden zu verzeis
ben. Die ſchreckliche, Heifereruhige rhadamanthiniſche Art und Weile, auf
welche er fich über dieſe Prozeßangelegenheit gegen feinen Bruder außipricht
und ibm das tiefſte Schweigen auferlegt, föunte fchwache Nerven bedeutend
erf&hüttern, weshalb wir ganz dem Zwede entgegen darüber hinweggehen.
108
O gerechter Marquis! Der RiquettirHaushalt kann in der That für
Die Schwache menſchliche Natur wenig thun, ausgenommen vielleicht fie nur
um fo fhneller zum Balle bringen. Der Riguetti» Haushalt wird aus ein.
anter geftreut; nicht Immer aus einander geleitet, fondern oft aus einander
gefchleudert — die Zeiten des Tornado haben für ihn begonnen. Die eine
Tochter ift Frau von Saillant, noch jeßt (1837) am Leben, eine ſehr gute
Schweſter; eine andere ift Frau von Cabris, nicht jo gut, denn ihr Semahl
hat Prozeſſe wegen verleumberifcher Berfe, die von ihm herrühren; fle wird
von einem gewiflen Baron von Pilleneuve Moans, der fi von einem biefer
verleumderifchen Verſe getroffen fühlt, auf der öffentlichen Promenade von
Grafe infultirt und alle bei diefer Angelegenheit berheiligte Berionen zeigen
fih ald wahrbafte Narren. Sa, die arme Frau läßt fi, wie wir finden,
allmälig fogar mit präternuptialen Berfonen ein, fo 3. ©. mit einem ges
wiffen Brianfon in Epauletten, den der Fils Adoptif als einen Mann des
Schreibt, der — fih unmöglich beſchreiben Täßt.
Bon einem jungen Erben_aller Mirabeaus verlangt man, daß er eine
gewifle Figur mache, befonders wenn er fi verheirathet. Der gegenwärtige
junge Erbe hat nichts, womit er eine Figur machen Fünnte, als unzuläng«
liche neuntauſend Francs jährlich and fehr bedeutende Schulden. Der alte
Mirabeau tft Hart wie der Felſen Mofls und kein Stab vermag Wunter an
ihm zu thun; für Trouffeaus, Gefchenfe, Fußwaſchungen, Feſtgelage und
Einzugsichmaufereien giebt er ganz einfach auch nicht einen Sous ber. Der
Erbe muß alles felbft fchaffen. Er thut es und reichlich, aber ach, was
wird aus den neuntaufent Francs jährlih und den fehr bedeutenden Schul⸗
den? Soll er Air und die Schmaufereien aufgeben und ſich auf das alte
Schloß in der wilden Thalſchlucht zurüdziehen? Ja wohl, es gefchieht.
Aber fann eine junge, an den Luxus des Lebens gewöhnte Frau nidyt ver⸗
langen, daß eine Reihe von Zimmern für fie eingerichtet werde? Die Tapes
zierer haͤmmern und poliren, mit gutem Erfolg, aber nicht ohne Meinungen.
Und nun die bedeutenden Judenſchulden!
Der arme Mirabeau flieht feinen andern Ausweg als mit thraͤnenden
Augen zu feinem Schwiegervater zu laufen und ihn zu beſchwören, jene
„reichen Ausfichten * einigermaßen in Genüfle umzuwandeln. Vierzigtaujend
Franks erklärt der durch dieſe Tihränen und fenrige Beredtſamkeit gerührte
Schwiegervater fich endlich bereit, baar zu zahlen, vorausgefegt, daß der alte
Marquis Mirabeau, der gewiſſe Voranſprüche hat, auf diefe verzichten. Der
109
alte Marquis Mirabeau, an den auf die leidenichaftlichite, überredenpfte
Weiſe gefchrieben worden, antwortet durch einen Brief von der Art, welche
man verfiegelte Briefe (Lettres de Cachet) nennt, und beflehlt dem
leidenfchaftlichen überredenden Briefichreiber unter des Könige Hant und
Siegel, fi fofort nach Manosque zu verfügen!
So lebe denn wohl, du altes Schloß, mit deinen neutapezirten Zim⸗
mern auf deinem fleilen Zelfen an dem reißend flrdmenden Durance ; wills
kommen, du erbärmliher Kleiner Fleden Manodque, da das Schidjal uns
einmal dahin treibt! Auch in Manosque kann der Menfch leben und leſen;
er kann einen Esssi sur le Despotisme fchreiben (und tm Jahre 1774 In
der Schweiz drucken laſſen) — eine Schrift voll Feuer und roher Kraft, die
noch jet gelefen zu werben verdient.
Die „Abhandlung über den Despotismus“, worin ſich von den Ephe-
merides und Quesnay fo wenig fand, konnte an dem alten Marquid nur
einen harten Kritiker finden. Wahrſcheinlich murmelte diefer etwas von vers
ſchlungenen Bormeln und jungen Menichen, die fich erbreifteten, über Dinge
zu fhreiben, welche Ernft und reife Erfahrung erforderten.
Unglüdlicherweife famen auch noch andere Uebelthaten hinzu. Ein ge-
wifler Ge, Namens Chevalier de Baffaut, welcher gewohnt ift, dad Haus
des jungen Berbannten zu Manodque zumeifen zu befuchen, läßt es fich ein⸗
fallen, eine Urt theoretifcher Liebelei mit der Kleinen, braunen Frau zu be⸗
ginnen, „welche diefe Annäherung theoretiſch erwiedert. Billet folgt auf
Billet, Bli auf Blick crescendo allegro; — bis der Gatte gleich einem
Bulfan den Mund aufthut und den Chevalier de Gaffaut zur Thür hinause
zuwerfen droht. Chevalier de Baflaut gebt, ohne fich erft werfen zu laſſen,
aber nicht ohne eine gewifie Exrplofion. Man vermuthet ein Duell, aber
dieſer Gaſſaut, welcher weiß, was für eine Klinge dieſer Riquetti führt,
will fih nicht jchlagen und fein Bater muß bitten und ihn entichuldigen.
„Cdelmüthiger Graf, ſtich meinen armen Sohn nicht todt; leider hat ſchon
dieſe höchſt beflagenswerthe Erploſton an und für ſich die fchönfte Partie
rũckgaͤngig gemacht und die Familie will nun nichts mehr von ihm hören!“
Der edelmuͤthige Graf verzichtet, nachdem er dies gehört, nicht blos auf das
Duell, fondern galloppirt au, den Lettre de Cachet ganz vergeflend, halb
verzweifelt fort, um mit ber eben erwähnten Familie zu ſprechen und fie fo
lange mit Bitten zu beflürmen, bis der arme Gaffaut wieder zu Gnaden aufe
genommen wird. Nachdem ex dies alüclich vollbsacht, denn nichts vermag
110
feiner Veredtſamkeit zu widerſtehen, reitet er mit dem Bewußtfein einer guten
That im Herzen gemädlich wieder nach Haufe.
Wir haben fchon angedeutet, daß diefer fein Mitt über die ihm in dem
Föniglichen verflegelten Briefe geſteckten Grenzen hinausgeht, aber ganz ge=
wiß wird Niemand darauf achten, Niemand ed der Behörde anzeigen. Es
ift ein ſchöner Sommerabend — o armer Gabriel, es iſt der Ichte friedliche,
glüdliche Ritt, den Du auf lange Zeit hinaus, vielleicht faſt auf immer in
der Welt haben ſollſt. Denn ſiehe, wer kommt da durch das gelbe Sonnen⸗
Licht einherkutſchirt? Himmel und Hölle! es if} jener nichtöwürdige Baron
von Villeneuve Moand, welcher Schwefter Cabris auf der Promenade von
Graſſe injultirte! Die menſchliche Natur verfällt fehr leicht in Uebereilung
und Irrthümer, wenn man ihr nicht Zeit zur Ueberlegung geftattet. Reiter
und Kutſche kommen einander immer näher, die Pferde baumen aneinander
hinaus und Du fleigft ab, faft ohne es zu wiſſen. Satisfaction wie Maͤn⸗
ner von Ehre fie erwarten, mein Monfleur! Nicht? KHöre ich recht?
Nicht? In diefem Balle Monfleur — Und diefer wilde Gabriel (horresco
referens!) padt den Baron von Villeneuve Moans und peitjht ihn, nicht
blos ſinnbildlich, ſondern praftifch auf der föniglichen Beerftraße, während
einige Bauern zujeben! Da hat die Fama nun wieder etwas in die Welt
binaudzupofaunen !
Die Kama bläſft — nach Paris ebenfo wie anderdwohin — und zur Ant⸗
wort trifft am 26. Juni 1774 ein frifcher verflegelter Brief von größerem
Nahdrude ein und mit ihm zugleich Fommen grimmige Häſcher und ihr
Wagen. Der Formelichluder wird von feinem Weibe, von feinem im Ster-
ben Tiegenden Kinde, von feinem lebten Schatten einer Heimath, ohnedies
ihon einer Heimath im Exil, hinweggeſchleppt nad Marfeille, nah dem
Schloffe If, welches dräuend auf dad weite Meer herabfhaut. Umgürtet
von dem blauen mittelländiichen Meere, mit eijernen Gittern vor dem Fen⸗
fter, abgefchnitten von Feder, Papier, Freunden und Menfchen, mit Aus
nahme des Cerberus des Platzes, welcher beauftragt ift, ihn ſehr Eurz zu
halten, muß er nun bier figen — folde Kraft hat ein verflegelter Brief,
fo hat ed der grimmige alte Marquis beftellt. Unfer kurzer Sonnenblid
gebt alio fchon wieder in Nacht über? Ja wohl, Du armer Mirabeau, in
dunfle Mitternacht! Ja, die Formeln find allzugraufam gegen Di, Du
verwickelſt Dich wirflih mit Formeln in Krieg, den ſchrecklichſten aller
111
Krtege, aber Du wirft fie mit Gottes und bed Teufels Hülfe aus dem
Wege räumen, auf die fchredllichfte Weiſe!
Bon diefer Stunde an fenkt fich immer dichtere Finſterniß auf den
armen Gabriel herab ; fein Kebenspfad wird immer peinlicher und unficherer
und von Irrlichtern, die nicht dem Himmel entflammen, umlagert. Solche
Alcided- Arbeiten find felten irgend einem Menfchen zugetbeilt worden.
Bügle Deine Wuth, Deine heißen Thränen, armer Mirabeau, füge
Di, fo gut es geben will, denn es Hilft einmal nichts. Aus dem Herbſt
wird Winter und diefer gebt in milden Brühling über, die Wogen umtofen
das Schloß If an der Mündung des Hafens von Marfeille und ſchließen den
unglüdlihften Menſchen ein. Doch nein, nicht den unglüdlidiften. Der
arme Gabriel befitt ja einen folchen fond gaillard, eine Bafld der Freude
und Heiterfeit ; es wohnt ein tiefes, feurige® Leben in ihm, welches felbft
durch das fchwärzefte Schickſal nicht ertödtet zu werden vermag. Der Ger-
berus von If, Herr Dallegre, wird endlich fanfter, wie alle Cerberuſſe un⸗
ferem Gabriel gegenüber werden; er giebt ihm Papier, er ſchenkt ihm
Theilnahme, er ertbeilt ihm gute Ratbichläge. Ja, es find ihm fchon Briefe
zugeftedt worden, die „irgend ein Halunke fih in die Kamaſchen gefnüpft
bat,” jagt der alte Marquis. Auf Schwefter du Eaillanı'8 freundlichen
Brief fallen „Ihränen*, aber nichtödefloweniger weint Du nicht immer.
Du thuf etwas Befleres, Du jchreibft die Memoiren eined tapferen Col
d’Argent (woraus wir oben Einiged mitgetheilt haben) ; Du beſchaͤftigſt Dich
mit Projecten und Beflrebungen. Zuweilen freilih thuſt Du aud etwas
Schlimmeres, obſchon in einer andern Nichtung, — wo Marketender hübiche
rauen haben! Es war — wie der Fils Adoptif meint — ein ſehr verzeib-
licher Behltritt von der fchönen, ſchwachen Cantiniere, worüber damals zu
viel Aufhebens gemacht warb.
Auch fehlt es nicht an gerechteren Tröftungen ; Schweftern und Brüder
ermahnen Did, gutes Muthes zu fein und die Hoffnung nicht aufzugeben.
Unfere Leſer haben Graf Mirabeau als „den Älteften von meinen Jungen *
bezeichnen hören ; wie wäre e8, wenn wir nun einmal den jüngeren einen
Augenblid lang vorführten? Wir meinen den Malteferrütter von Mira-
beau, damals einen rauben Sohn des Meeres. Er ift auch ein arger Saufe-
wind, bat aber den Bortheil, daß er nicht der Alteftle Sohn iſt. Er tft vom
Krankenlager aufgeftanden und mitten im Winter von Malta nach Marſeille
112
gereiſt, denn dal Band der Matur zieht ihn, ein fo ungelecktet Gesungehener
er auch iſt.
„Es webete ein heftiger Wind; feiner der Bootleute wollte mit mir
den Duai verlaffen. Ich bewog endlich aber doc zwei von ihnen, mehr
turd Drohungen als durch Geld, denn Du weißt, ich habe Fein Geld, bin
aber, Bott fei Dank, mit der Gabe des Redens fo leidlich ausgeftattet. Ich
erreiche das Schloß If, die Thore find geichloffen und der Lieutenant —
Herr Dallegre war nicht ba — fagt mir in aller Ruhe, daß ich wieder gehen
muß, wie ich gekommen bin. — Nicht eher, als bis ich Gabriel geichen
babe. — Es ift nicht erlaubt. — Ich will an ihn ſchreiben. — Auch das
kann ih nicht geftatten. — Dann will ich auf Herrn Dallegre warten. —
Ganz wohl, aber blos vierundzwanzig Stunden, nit länger. — Hierauf
faffe ich meinen Entſchluß; ich gehe zu La Monret — der hübſchen Frau
des Marketenders oder Schenkwirths — wir fommen überein, daß ich, for
bald ald der Zapfenftreich vorüber iſt, dieſen armen Teufel feben fol. Ich
kam auch wirklich zu ihm, nicht wie ein Paladin, fondern wie ein Dieb oder
ein Liebhaber, welches Du will, und wir fihütteten unfer Herz aus. Man
hatte gefürchtet, daß er meinen Kopf bis zur Temperatur des feinen erbigen
würde, aber Schwefter Cabris, man beurteilt ihn folfh. Id kann Dir
verſichern, während er mir feine Geſchichte erzählte und meine Wuth ſich in
den Worten Luft machte: Obſchon noch halb frank und ſchwach, habe ih
doch zwei Arme, die ftarf genug find, um Villeneuve Moans oder wenig-
ſtens feinem feigen Bruder den Hals zu brechen,‘ fagte er zu mir: ‚Mon
ami, Du wirft und beide ind Verderben flürzen.‘ Und id geflebe, dag «8
vielleicht Diele Rückſicht allein war, die mich an der Ausübung eines Pros
ject8 hinderte, welches nichts hätte nügen können und welches nur das Aufe
brauien eined Kopfed wie der meine entfchuldigen Eonnte. ”
Lieber Leſer, diefer tele, junge Malteferritter ift der Vicomte de Mi«-
rabeau oder jüngere Mirabeau, von dem alle Menfchen in der Revolutions⸗
zeit hörten, — am öfterften unter dem aniprechenderen Namen Mirabeau
Tonneau oter Tonne Mirabeau, wegen feines Körperumfangs nnd der Quan⸗
tität Setränf, die er gewöhnlich in ſich faßte. Es tft Died derfelbe Tonne
Mirabeau, der in den Generalftaaten feinen Degen zerbrach, weil der Adel
nachgab und das Ritterthum damit zu Ende war, denn in der Politik war
er gerabe der Gegenjag feines Altern Bruders und ſprach als Mann ver
Deffentlichkeit ſehr viel und gut und machte die Menfchen zum Lachen (denn
N — — SV ⏑ — — — —
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er war ein wilder, ſauertöpfiſcher Kauz, ber viel Witz und noch mehr Spi⸗
ritus im Kopfe hatte), Er ging fpäter entrüftet über ben Rhein und
exereirte Emigrantenregimenter, als er aber eined Morgens in feinem
Zelt ſaß, ohne Zweifel an Magen⸗ und Herzverfäuerung leidend umd in
tartarifcher Laune über die Wendung nachdachte, welche die Dinge nahmen,
verlangte ein gewiſſer Rapitain oder anderer Subalterner in Dienflangele-
genheiten Zutritt. Er wird abgewielen, verlangt nochmals Einlaß und dann
nochmals, bi8 der Oberſt Bicomte Tonne WMirabeau zu einer brennenden
Branntweintonne auflodernd, feinen Degen ergreift und binausflürzt, um
biefer zudringlichen Kanaille Mores zu lehren, dabei aber unglücklicherweiſe
in eine andere raſch und gewandt gezogene Degenipige rennt und auf ber
Stelle todt niederfintt! Died war der fünfte Akt von Tonne Mirabeau’s
Lebendtragödie, unähnlich und doch Ähnlich jenem erften Aft in dem Schlofle
If, und fomit fiel der Vorhang.
Bruder und Schweftern, das Fleine braune Weib, der Gerberus von
If, alle Hitten für den reuigen, unglüdlichen Sünder. Das Ohr bes alten
Marquis aber ift fo taub wie das des Schidjald. Blos um der Abwechfes
ung, nicht um der Erleichterung willen und zwar hauptfächlich, weil der
Gerberus von If auch behert worden, laßt er nad neun Monaten im nädı«
fien Mai den Verbrecher nad) dem Schloffe Iour, einem „alten Eulennefte
mit einigen Invaliden * im SJuragebirge ſchaffen. Anftatt des eintönigen
Meeresfpiegeld möge ex es nun mit den eintönigen, zu dieſer Jahreszeit
noch mit Schnee bedeckten Branitgebirgen, mit ihren Nebeln und Raubvögeln
verſuchen und fih auf die Dauer bafelbft einrichten und zwar mit einem
Jahrgehalte von zwölfhundert Francs, da er mit neuntaufend nicht auskom⸗
men konnte!
Der arme Mirabeau; — und wie flieht es mit des armen Mirabeau
Weib? Lieber Kefer, das thörichte, Eleine, braune Weib wird des Bittend
müde. Ihr Kind ift wirklich begraben, ihr Batte lebendig begraben, und
da ihr kleines, braunes Ich noch auf Erden wandelt und noch nicht zwanzig
Jahr alt ift, fo fucht fle fich durch theoretifche Liebeleien zu zerftreuen, hört
auf zu bitten und beginnt mit Erfolg zu vergeflen. Die Ehe, weldhe an dem
Tage, wo der Häfcherwagen in Manosque anlangte, zerriffen ward, wird
trog aller Bemühungen niemals wieder zufammentommen, fondern fließt
weiter in zwei getrermten Strömen, um fid in den furdtbarften Sandwüſten
zu verlieren, Gatte und Gattin fahen ſich mit Augen niemals wicber.
Garlyle. IV. 8
114
.. Nicht weit von dem traurigen Gchleffe Jour liegt der Fleine traurige
Flecken Bontarlier, wohin unier Befangener auf fein Ehreuwort Erlaubniß
bat zu geben, fo oft es ihm beliebt. Es ift, wie wir ſchon gejagt haben,
ein teauriger , Fleiner Flecken, doch giebt es darin ein gewifles Haus Mon-
nier, woran fich eine Geſchichte knüpft und knuüpfen wird.
Bon dem alten Herren Monnier, dem achtungswerthen Gerictöpräft-
deuten, der gegenwärtig in feinem fünfundftebenzigften Jahre ſteht, werben
wir weniger fagen, als von feiner Gattin Sophie Monnier, einer gebornen
de Ruffey aus Dijon, und ebenfalls einer Gerihtöpräfidentenfamilie ent-
ſtammt. Und doch ift fle feit vier Jahren vermählt aber ſcheint vermählt zu
fein, eine der liebenswürdigſten, heroiſch⸗tragiſchen Frauen dieſes oder irgend
eined andern Diftrictes. Welche verwünfdte Grille des Schickſals führte
bier Januar und Mai abermals zufammen! Ad, es iſt bier jo gebräuchlich,
guter Xeier! So war es mit dem alten Naturforfcher Buffon, welcher, wie
dad manden Männern paffirt, in einem Alter von breiundfedhzig Iahren
dad ganze Land nad einer jungen Frau durchzog und beinahe eben diefe
Sophie bekommen hätte, endlich aber eine andere befam, die ald Frau von
Auffon befannt ward und jpäter die Bekanntſchaft eines gewiſſen Philipp
Egalite mabte. Sophie de Ruffey lichte weile Männer, Doch brauchten fie
gerate nicht fo gar alt zu fein. Indeſſen die Frage für fie it: Will fie Tie-
ber in ein Klofter gehen? Ihre Eltern find firengefromm und fireng=eitel
und arm; das arme, tragiſch⸗heroiſche Mädchen ift wahrſcheinlich eine Art
Freidenferin. Und nun fommt der alte Präfltent Monnier, der ih mit
feiner Tochter nicht vertragen fann, nah Pontarlier mit Goldfäden,
Heirathöcontracten und der Audfiht bald zu ſterben. Es ift dieſelbe un⸗
glückliche Geſchichte, gegen die ſo oft geſungen, gegen die ſo oft geſprochen
worden.
Nun aber bedenke man, welch eine Wirkung die feurige Beredtſamkeit
eines Mirabeau in dieſem düſtern Haushalt hervorbrachte; wie ſich bie
Träume eines jungen Mädchens ganz unerwartet in dieſer wildglühenden,
obſchon ziemlich häßlichen Maſſe von Mannheit verwirklichten und der alte
Monnier ſelbſt beim Anhören ſeiner Worte zu einem gewiſſen Grade von
Lebenskraft erwachte.
Mirabeau fühlte an bekannten, mehrfach dageweſenen Symptomen, daß
der füßefte, gefährlichfte Zauber ſich über ihn ſtahl, der für alle dabei bethei⸗
ligte Parteien nur zum Teufel führen konnte. Er fchrieb an feine ®attin
115
und bat fie ums Himmels willen zu ihm zu foinmen, damit er ſich durch den
„Anblick feiner Pflichten * Rärken könne, mittlerweile wolle er wenigſtens
Bontarlier meiden. Die Battin „antwortete durch einige wenige eifige Beis
fen, in welchen fie auf verſteckte Weiſe andeutete, daß fle glaube, ich fei nicht
recht bei Sinnen. * Er hört wieder auf, Pontarlier zu meiden, es iſt ja
viel Schöner als das Eulenneſt; er kehrt dahin zurück, wird immer freund«
licher willtommen geheißen und jo — ! —
- Der alte Monnier ſah nichts oder drückte ein Auge zu, — nicht fo unfer
alter thörichter Kommandant des Schlofies Sour. Er Hatte, obſchon an⸗
fangs fehr freundlich gegen feinen Gefangenen, „ſchon ſelbſt fih Sophien
zu nähern geſucht; er war nur vierzig oder fünfundvierzig Jahre äfter als
ich, meine Haͤßlichkeit war nicht größer ald die jeine und ich hatte überdies
den Vorzng, ein ehrlicher Dann zu ſein.“ Die grünäugige Eiferfucht
warnt in der Beftalt dieſes alten häßlichen Commandanten Monnier briefs
lich und befchranft auch auf einen fehr unhaltbaren Vorwand hin Diirabeau
hinfort auf die vier Mauern von Joux. Mirabeau weift im einem entruͤſte⸗
ten Briefe an diefen grünäugigen Commandanten eine folde Einſchränkung
zurüd, gebt entrüftet hinüber in die Schweiz, die nur wenige Meilen ent⸗
fernt tft, kehrt jedoch nach einigen Tagen (ed ift im dunfeln Januar 1776)
heimlich nach Pontarlier zurüd. Es findet eine Exploſton flatt, was man
in Frankreich Eclat nennt. Sophie Monnier, die man ſcharf ins Geber
nimmt, leiſtet Widerftand ; fie gefteht ihre Liebe zu Gabriel Honoré, bes
hauptet ihr Recht ihn zu lieben und erklärt ihren Vorfag, dies auch ferner‘
zu thun. Sie wird nach Haufe geſchickt nah Dijon; Gabriel Gonore folgt
ihr heimlich dahin. \
Welch eine ununterbrodhene Reihe von Erploflonen — während des
Winters, des Brühlings, ded Sommers! Es giebt Thränen, Andachts⸗
übungen, Selbftmorbdrobungen ; es giebt verftohlene Juſammenkünfte, Ge⸗
fahren, folge Bekenntniffe und furchtſame Geheimniffe. Er feinerjeits „ftellt
fich freiwillig al8 Gefangener* und thut noch andere ſtolze Heftige Dinge.
Einige Commandanten zeigen fi ehrenhaft und einige nit; ein Comman⸗
dant — der alte Marquis Mirabeau im Schkoffe Bignon — macht feine
Donnertkeile in der Ferne bereit. „Ich bin fo glüdlich gewefen, Mont St.
Michel in der Normandie zu erhalten, * fagt der alte Marquis. „Ich glaube
dieſes Gefängniß ift fehr gut, weil erftens das Schloß felbft da tft, dann
eine Ringmauer um den ganzen Berg herum, und nad diejer ein ziemlich
8*
116
langer Bang in dem Sand, wo man einen Führer mitnehmen muß, wenn
man nicht in dem Triebfand erfaufen will.“ Ja, da fleigt er empor, bieier
Mont St. Michel und Berg des Elends, hoch und fteil, mit feiner andern
Ausficht ald auf Salzwafler und Verzweiflung. Flieh, Du armer Gabriel
KHonore! Und Du, arme Sophie, kehre nad Pontarlier zurück, denn
Kloftermauern find zu grauſam!
Sabriel flieht und es fliehen mit ihm au Schweſter Cabris und ihr
präternuptialer Epauletten-Brianfon, die fhon in ihrem eigenen Intereffe
auf der Flucht find, in tiefe Diedichte und bedeckte Wege weit über den Süd⸗
weflen Frankreichs. Marquis Mirabeau, der mit ſchmerzlichem Kummer an
Mont St. Michel und deſſen Triebfand denkt, wählt die zwei beften Blut⸗
Bunde, weldye die Polizei von Paris aufzuweilen hat — Infpector Brug⸗
nidre unk einen andern — nimmt ihnen die Maulförbe ab und ſchreit:
„Allons! ſuch!“
Da der Menſch ein Geſchöpf ift, welches gern ein anderes jagt unb
ſich daher für die Jagd fortwährend intereffirt, jo haben wir geglaubt, e& fei
gut, einige Bruchftüde über dicfe Menſchenhatz durch das ſüdweſtliche Frank⸗
reich mitzutbeilen, worüber in Folge eines eigenthümlichen Glücksumſtandes
einige ſehr unorthographiſch geichriebene Berichte vorhanden find, die fla=
tiondweife von dem Oberheghund felbft niedergefchrieben worden, um dann
dem Jäger überliefert zu werden, weldyer die Jagd aud ter Berne mit ſchar⸗
fem Blick verfolgte. Nicht alle Tage wird ein ſolches Wild gebept, wie ein
Gabriel Honore, nicht alle Tage feuert ein foldyer Jäger, wie der alte Mar⸗
quis Mirabeau, aud der Ferne die Meute an, und nicht alle Tage hat man
einen Hetzhund, der, wäre e8 auch noch fo unorthographiſch, feine Anftchten
über die Sache nieberichreiben kann.
„Als wir in Dijon ankamen, begab ich mich zur Frau Präfldentin
Auffey, um von ihr weitere Aufichlüffe zu erhalten. Die Frau Präfldentin
tHeilte mir mit, daß in der Stadt ein gewifjer Chevalier de Macon wohne,
ein Offizier auf Halbfold, welder des Sieur Mirabeau’8 Breund und Ber-
trauter ſei und mir jedenfalld beſſer ala fonft Jemand die gewünichte Aud«-
Funft geben könne.” — Der Sieur Brugnitre nimmt demzufolge feine Woh⸗
nung in demfelben Gaſthauſe, wo dieſer Macon logirte, findet Mittel, fi
mit ihm befannt zu machen, affectirt dieſelben Geſchmacksrichtungen, be=
gleitet ihn nach Fechtböden, Billardſtuben und andern dergleichen Dertern.
„AB wir Genf erreichen, erfahren wir, daß der Sieur Mirabeau am
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117
5. Juni daſelbſt ankam. Er reifte von dort nah Thonnon in Savoyen;
zwei Frauen in Mannsfleivern kamen, um ihn abzuholen, und fie reiſten
dann alle weiter über Ehambery und von da über Turin. In Ihonnon
fonnten wir nicht erfahren, welchen Weg fle eingeichlagen hatten, fo geheim⸗
nißvoll gehen fie zu Werke und machen eine Menge Umwege. Nach dreis
tägiger und unglaublicher Mühe entdecden wir endlich den Mann, ber fle ge=
fahren. Sie find wieder zurüd nach Genf gereift; wir eilen ebenfalld wie-
der dahin zurüc und haben nun die befle Hoffnung, fle zu finden. —
Diefe Hoffnung ift ebenjo trügertfch wie die früheren.
„Indeflen, wad Brugniere und mir ein wenig hilft, iſt dies, daß der
Sieur Mirabeau und fein Gefolge, obichon bereitd bewaffnet wie Schmugg⸗
ler, doch noch andere Piftolen, ſowie auch Säbel und ſogar einen Hirſch⸗
fänger mit einem verſteckten Piftol flatt des Griffe Fauften; wir erfuhren
dies in Genf. Die Flüchtlinge fehlagen ganz verteufelte Wege ein, um
Frankreich nicht zu berühren. — — — Indem wir ihrer Spur auf dem
Fuße folgen, führt und diefe nad Lyon, wo fie auf ganz undurchdringlich
ſchlaue Welje in die Stadt gelangt fein müfjen. Wir verloren alle Spur
von ihnen und unfere Nachforfchungen waren höchft peinlich. Endlich ſtoßen
wir auf einen Mann Namens Saint Sean, den vertrauten Diener der Frau
von Cabris. — Als Herr von Mirabeau mit Brianjon, der, wie ich glaube,
ein fchlechted Subject iſt, von Hier abreifte, theilte er St. Jean mit, daß fie
nach Xorgue in der Provence reiften, was Brianfon’s Heimath if; daß
Brianfon fle dann bis Nizza begleiten follte, wo er ſich nach Genf einſchif⸗
fen und einen Monat dort zubringen wollte.
„Diefer Spur des Herrn von Mirabeau, der fih in Lyon auf der
Rhone eingefchifft, folgend, famen wir nach Avignon. Hier nahm er, wie
wir erfuhren, Poftpferde, tie er eine halbe Meile weit vor die Stadt her⸗
auskommen ließ. Ex ließ fi Hier wieder ein Paar Piflolen kaufen und
fuhr dann, gut in dem Gabriolet verftedt, durd; Avignon, wo er Briefe auf
die Poft gab; es war ungefähr zur Zeit der Abenddämmerung. Gerade
um bdiefe Zeit aber fand der Haupttumult ded Beaucaire-Marftes flatt und
das Cabriolet verlor fi fo unter der Menge, daß es und unmöglich war,’
feine Spur weiter zu verfolgen.” — — — „Ein Advocat Namend Mars’
fatıt, ein ehrenmwerther Mann, gab und alle möglihen Weiſungen.“ — „Er
machte und mit diefem Brianfon befannt, und ed gelang und, mit demfelben
zu foupiren. Wir gaben und für Meifende aus, für Lyoner Kaufleute,‘
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melde, der eine nad Genf und Italien, der audere blys nad Genf
zeiften. Auf diefe Weiſe gelang ed und, dieſen Beianjon zum Spreden zu
bringen. *
„ Wenn man die Brovenee verläßt und in die Gegend von Nizza kommt,
fo muß man burd den Bar waten, einen Strom, der faht immer gefährlich
und oft nicht zu paſſiren iR. Zuweilen wird er eine Biertelmrile breit und
{ft zu allen Zeiten ungemein reißend. Dem Mufe nad, in welchem er ficht,
follte er eigentlih noch ſchlimmer fein und die Reiſenden, welde ihn zu
durchſchreiten haben, ſprechen mit Furcht und Scäreden davon. Auf beibey
Ufern ſtehen flarke Leute, welche ein Beichäft daraus machen, die Reiſenden
hindurchzugeleiten, indem fie vor ihnen und um fie herum mit flarfen Stan
gen geben, um den Boten zu fondiren, ber ſich mehrmals täglich ändert.
Sie geben fih viel Mühe, die Furcht der Meifenden zu vermehren, aud
wenn feine Gefahr vorhanden ifl. Diele Beute, mit deren Hülfe wir den Fluß
poffirten, erzählten und, daß fie ſich erkoten hätten, einen. Herru gang von
den Anſehen, wie wir ihn fuchten, überzuführen; biefes Herr babe aber
Niemanden haben wollen und fei mit einigen Brauen ohne Führer hindurch⸗
gewatet. Ueberhaupt habe es geſchienen, als wollte er nicht ſich allzugenaqu
anſehen laſſen. Wir ſtellten bier die umfänglichſten Nachforſchungen an.
. Bir erfuhren, daß in einiger Entfernung von hier dieſer Herr in einem
Seinen Wirthöhaufe einige Erfriichungen eingenommen hate. Er führte
eine goldene Dofe mit einem weibliden Bortrait darauf ynd entſprach mit
einem Worte ganz genau der frübern Befchreibung. Er hatte gefragt, ob
man nicht wüßte, ob bald ein Schiff von Nizza nach Italien abginge, und
wan hatte ihm greiogt, daß eins nad England abgehen werde. Er batte
ben Bar paljirt, wie ich ſchon oben erwähnt. Noch habe ich die Ehre zu be⸗
merken, daß es in Nizza keine Polizei giebt. *
„Wir erfuhren, daß in Villefranche, einem Heinen Hafen nicht weit
gon Nizza, ein unbefannter Herr ſich eingelchifft, der unferem Signalement
. ebenfallö entipradh, audgenommen, daß er einen rothen Rock trug, wogegen
Herr von Mirabeau bis jegt in einem grünen Rock, einem rothbraunen und
einem graugerippten verfolgt worden if. Das betreffende Schiff war nad
England gegangen. Trogbem aber ſchickten wir mehrere Perſonen, welche
Die geheimen Gaͤnge kennen, in da& Gebirge; der Sieur Bugniere bes
flieg, ein an dieſe entjeglihen Gebirge gewöhntes Maulthier, nahm einen
Führer und flellte ebenfalls alle möglidgen Rachforfchungen an. Mit einem
119
Worte, Monfleur, wir haben Alles gethan, was der menfchliche Geift erfin-
nen kann und dies noch dazu bei biefer außerordentlichen Hige. Wir find
ganz müde und matt und unfere Glieder geſchwollen.“
Und doch ift Alles, was der menfchliche Geiſt erfinnen kann, vergeblich.
In der dreiundzwanzigften Nacht des Auguft (1776) überflettert Sophie
von Monnier in Manndfleidern ihre Bartenmauer in Pontarlier und eilt,
in den Mantel der Finſterniß gehüllt und auf den Fittichen der Kiebe und
Verzweiflung getragen, durch die Niederungen der Schweiz. Gabriel Honore,
in denjelben Mantel gehüllt und von demfelben Vehiculum getragen, ift mit
ihr nach Holland gegangen und von nun an ein ruinirter Mann.
„Ewig beflagendwerthed Verbrechen!” ruft der Fils Adoplif, „von
welchem die Welt fo viel gefprochen hat und für immer fprehen muß: * Es
giebt in der That viele Dinge, von denen man leicht ſprechen kann, fowie
andere, von denen fich nicht leicht fprechen läßt. Warum ;. B., Du tugend»
bafter Fils Adoptif, war der Kehltritt der Schenkwirthin zu If ein fo vers
zeihlicher Irrthum und warum ift der der Gerichtöpräfldentin ein ſolches in
alle Ewigkeit beflagenswerthed Verbrechen? Der Berfaller der gegenwaͤrti⸗
gen Abhantlung meint, es fei dies ganz dafjelbe Verbrechen. War ührls
gend nicht der erſte große Verbrecher und Sünder in dieſer Angelegenheit
ber Präfldent Monnter ſelbſt, diefer tolle, milz- und mondjüchtige alte
Mann, der an ber großen Schranfe der Natur ſchwerlich freigeiprocden wor«
den wäre? Und wer war der zweite Eünder? Und der dritte und ber
vierte? Und wer ift unter ECuch ohne Sünde? Der Verfafler kann weiter
nichts fagen, ald mit den Worten des alten Samuel Johnſon: „Mein lieber
Fils Adoptif, meine Tieben Mitmenſchen, bemüher Euch, Eure Gemüther von
Heuchelei zu ſäubern!“ Dies ift pofltiv die erſte und größte Nothwendig⸗
keit für alle Männer, alle Srauen und Kinder in unferer Zeit, welche wüne
fchen, daß ihre Seelen leben, wäre es auch nur ſchwach, um nicht an der ab»
fcheulichften Asphyrie, gleihlam in Kohlendampf zu flerben, der um fo
furchtbarer zum Arhmen ift, je Elarer und reiner er ausfleht.
Daß das Parlament von Veſançon Mirabeau der Entführung und des
Maubes anflagte, daß ed ibn in comtumaciam verurtheilte und fo weit ging,
ein papiernes Bild von ihm zu enthaupten, war vielleicht der Sache ganz
angemeflen, doc brauchen wir bier weiter nicht Dabei zu verweilen. Wir
wollen auch nicht einen neugierigen Späherblid in das Manſardenleben zu
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Holland und Amfterdam werfen, denn es fehlt uns an Raum. Der wilde
Mann und fein ſchönes, tragiſch⸗heroiſches Weib machten ihren Roman der
Wirklichkeit jo gut dur, ala fi erwarten ließ. Heißblütige Temperamente
geben nicht immer gut zufammen und bie Bahn der treuen Liebe ift in der
Ehe ſowohl, als bei Entführungen niemals eine ganz glatte. War fie im
dem vorliegenden Falle aber auch nicht glatt, io war fle doch abwechſelungs-
reich — mit Zwift und Verföhnung, Thränen und Herzendergiehungen,
tropifchen Stürmen, aber auch der Pracht und Ueppigfeit der tropiſchen Na⸗
tur. Es war wie ein Eleines Paphos in der Mitte der Finfterniß; eben die
Gefahr und Verzweiflung, welche die Infel umgab, machte dieſelbe wonne-
voll; eben kraft des Todes wird das Leben aud dem Geaͤngſtetſten erträglid
und füß, weil der Tod fo nahe if. Kann nicht zu jeder beliebigen Stunde
ein königlicher Sefreiter oder anderer gefürchteter Alguazil hier im „ Kalbe»
firand im Haufe des Schneiders Kequeöne * an unfer Manjardenetabliffement
Elopfen und es auflöfen?
Gabriel arbeitet für bolländifche Buchhändler und trägt ihre ſchwere
Laft. Er überjegt Watlon’d „Philipp II.“ und muß fi ehrlich plagen,
verdient aber doc täglich feinen goldenen Louis. Sophie naht und ſcheuert
mit ihren weichen Fingern, obne zu murren. In ſchwerer Arbeit, in zittern
den Freuden, umlagert von Befürdtungen, namentlich der Befürchtung,
daß man fle über furz über lang trennen werde, rollen ihre Tage raſch da⸗
hin. Acht tropifche Monate lang! — Ad, nach Berlauf diefer acht Monate,
am 14. Mai 1777, tritt der Alguazil wirklich herein! Er erfcheint in der
Geſtalt Brugnidre's, unfered alten Spürhundes aus dem Südweſten; die
Geſchwulſt feiner Beine bat ſich wieder gefegt, diesmal iſt der menſchliche
Geift im Stande gewefen, ed durdhzufegen. Er bringt königliche Ordres,
Sanctionen des Generalftatthalterd, beftegelte Bergamente. Gabriel Honore
foll vahin, Sophie torthin geichafft werden; Sophie, die nahe daran if,
Mutter zu werden, — foll ihn nicht mehr fehen — fie will ih in dieſer
Stunde das Leben nehmen, wie der Spürhund ſelbſt glaubt, — hätte nicht
eben der Spürhund aus Barmberzigfeit ihnen veriproden, daß es ihnen
vergönnt jein follte, mit einander zu correipondiren, daß es mit der Hoff»
nung nod nicht ganz zu Ende jei. Unter taujend Umarmungen, Thränen
und Seufzern, die ſich nicht wiedergeben lafien, reißen fie fi von einander
los, denn das fleinige Paris ift jegt nahe. Mirabeau wird weiter trand«
portirt nad) feinem Gefäängniß Vincennes, Sophie in ein milderes Klofter«
— — (| — — — — — — — — — ⸗ — —
— — — — — — — — — — — — m - ur — — —
121
exil, um bier zu erwarten, was das diesmal ſehr drohende Schickſal für gut
finden wird, zu bringen.
Man denke fid den Riefen Mirabeau nun in der gewaltigen Burg
Bincennes feſtgeſchloſſen; feine heiße Seele brauft auf und brandet wilb
gegen kalte Hemmniſſe; die Stimme feiner Verzweiflung hallt von todten
Steinmauern wieter. Geflürzt in den Augen der Welt ift der ehrgeizige
flolze Mann ; feine goldenen Lebenshoffnungen von außen find alle vernichtet
und zu Aſche verfohlt — und von innen — was hat er gethan, was hat er
verloren und vergeudet! Taub wie das Schidfal iſt Bater Rhadamanthus,
fogar unzugänglich für den Verſuch einer Vertheidigung. Schwere Thüren
find zugeſchlagen worden und ihre Riegel Freiichen: Wehe Dir! Das
ungeheuere Paris fendet fein tägliched, verworren durcheinander braufendes
Summen ofhwärtd; in der Abendſonne fiehft Du feine Wetterfahnen ſchim⸗
mern, und Du? — weder Abend noch Morgen, weder der Wechfel des Tages
noch der Iahreszeit bringt Befreiung. Bergefien von der Erbe; im Him⸗
mel nicht allzuhoffnungsvoll angejchrieben! Kein leidenfchaftliche® Pater
peccavi fann den alten MRarquid rühren, denn er ift, wie ſchon geſagt, taub
wie dad Schidjal. Du mußt hier figen bleiben — zweiundvierzig Monate !
Der Erbe der Riquettis ift mit jeiner Barderobe fa zu Ende; er beflagt
fih, daß feine Kleiter Löcher und Riſſe haben und ihn nicht mehr gegen die
Witterung fchügen. Seine Augen werden ſchwach; die in feiner Familie
erbliche Krankheit — Nephritis oder Nierenentzüntung — beginnt ſich zu
zeigen. Die Aerzte erklären das Reiten für eine ganz befonders zur Erhal⸗
tung jeined Lebens dienliche Keibesbewegung. „Nun gut, aber nur inner-
halb der Mauern! * antwortet der alte Marquis. Graf von Mirabeau reitet
in dem kaum vierzig Schritt Tangen Garten ringsum von hohen Mauern
und Thürmen eingefchlofien.
Und dennoch darf man nicht glauben, daß Drirabeau feine Zeit blos
mit Raien und Wehklagen zugebracht babe. Dieier Methode huldigte er
ebenfo wenig ald Diogenes es ıhat. ine zweite fo wild glühende Maſſe
Leben, die man mit Eyflopenhämmern hätte fchlagen können — leider aber
obne die Schladen heraußzubringen — gab ed damals in ganz Europa
nit. Man nenne ihn nicht den flärfiten der damals lebenden Menſchen,
denn Licht, wie wir ſchon gefagt, und nicht Feuer ift das eigentlih Starke.
Aber dennoch kann man ihn auch ſtark, fehr flarf nennen, und was Zähig-
feit, Bebarrlichkeit, Leben und einen fond gaillard betrifft, nenne man ihn
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den zähelten von allen. Raſende, ſchlecht gelenfte Leidenſchaften, rückſichta⸗
Iofer Tumult von innen, unbarmherziger Drud von außen — zehn Men—⸗
ſchen hätten an dem flerhen können, woran diefer Gabriel Honsre noch
wicht ſtarb.
Der Polizeilapitain Leneir erlaubte ihm aus Barmherzigkeit und dem
früher gegebenen Berfprechen gemäß, mit Sophien zu correipontiren, unter
der Betingung, daß bie Briefe von Lenoir geöffnet und fpäter in jeine Ver⸗
wahrung jurüdgegeben würden. Mirabeau correfpondirte in Feuer und
Thraͤnen reichlich, nicht A la Werther, fondern à la Mirabeau. Außerdem
hatte er reuige Betitionen und pater peccavi's zu ſchreiben und alle Arten von
Freunden anzugeben, dieſe Betitionen bei feinem Bater zu überreichen und
mit miündlicher Bürfprade zu begleiten. Das war eine Waffe Corre⸗
[pondenz.
Abgeſehen von dieſer Beichäftigung durfte er auch leſen, obſchon mit
großen Einichränkungen ; ex durfte auch fchreiben oder compilisen und ertras
Hirte — nicht nach Art der Biene — fogar aus der Bibel und Dom Cal⸗
met cin Biblion eroticon, welche weder einer Leierin noch einem Leier em⸗
yfohlen werden kann. Der frenmte Fils Adoptif verhüllt bei dieſem
Standal fein Antlitz umd fagt wehmüthig, es laſſe fidh eigentlich nichts dar⸗
über fagen.
Was die Gorreipondenz mit Sophie betrifft, ſo lag fie vergeflen in
Leneir’d Pult, ward aber hier im Jahre 1792, wo fo viele Pulte aufflogen,
son Manuel, dem Procurstor der Commune, gefunden und von ihm der
Welt geſchenkt. Es iR dies ein Buch, worüber fentimentale Serien zu
weinen pflegen. Der Berfafler der vorliegenden Abhandlung thut dies nur
in unbedeutendem Grade und am allerwenigfien bier, wo ibm ſchon ter
Raum dazu fehlt. Uebrigens find es in ihrer Art ganz gute Liebesbriefe.
Wenn aber irgend etwad die Thränen der Sentimentalitär über Mi⸗
rabeau’8 Eorrefponden; von Bincennes noch nıehr anichwellen kann, To iſt
es der Ausgang, den fie nahm. Nach mehreren Jahren jahen die beiden
Liebenden, die man in Holland auseinander gerifien, und denen man er»
laubt, zu correfpondiren, damit fie fih nicht vergiften möchten, ſich wieber.
Es geichah unter dem Schuge der dunkeln Nacht in Sophiens Zimmer, im
der Provinz, Mirabeau war als Laftträger verkleidet aud bedeutender Eut⸗
fernung dabingefommen. Und flogen fie wohl einander in bie Aeme, um
ihr todtes Kind, ihre langen unaudfprechlichen Beiden zu beweinen? Durch⸗
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aus nicht. Sie handen mit oratoriich ausgeſtreckten Armen einander gegen-
über und zogen einander wegen allerhand Eiferfüchteleien zur Verantınar«
tung, wurben dabei immer lauter, ſtemmten die Arme in die Seite und
trennten ſich ſehr laut, um ſich niemald auf Erben wiederzujehen.
Im September 1789 war Mirabeau zu einem Weltwunder enıpor«
geftiegen und Sophie war fern von ihm aus den Augen der Welt entſchwun⸗
den und fland nur noch in der Fleinen Stadt Gien in Anfehen. Am neun
ten Abend des September donnerte Mirabeau vielleicht in der Salle des
Menus zu Verjailles, um am nächflen Morgen jeine Rede in allen Journalen
zu fehen, und Sophie, die feitdem zwei Mal wieder unglücklich verhetrathet
geweien, deren tragtich- heroifches Temperament nun in vollfommened
Schwarz übergegangen, lag, während eine Pfanne mit glimmenden Holz«
kohlen nicht weit davon ftand, auf ihrem Sopha, um den Tod der Unglücklichen
zu fterben. Sagten wir nicht, daß die Bahn treuer Liebe niemals glatt und
eben if?
Indeſſen nach zweiundvierzig Monaten und nad) mehr Unterhandlungen
und Intercefflonen, als in katholiſchen Ländern dazu gehören, eine Seele
aus dem Begefeuer zu befreien, wird Mirabeau wiederum aus der Beflung
entlaffen, aber nicht in fein eigenes Haus (Haus, Weib und die ganze Ver⸗
gangenheit find weit getrennt von ihm), nicht in feines Vaters Haus, ſon⸗
dern hinaus wird er geichleudert,, um gleich Jomael auf dem weiten Jagd⸗
reviere der Welt fein Glück zu verfuchen.
Betrachte ihn, o Leſer, Du wirft ihn fehr merfwürtig finden. Er ifl
ein gefchändeter Dann, aber fein niedergebeugter; Außerlih ruinirt, aber
nicht innerlih, noch nit, denn von diefer Seite fann er überhaupt nicht
wuinirt werden. Weld eine Gchwimmkraft von radicalem Feuer und fond
gsillard befigt er; mit feiner Würde und Eitelkeit, mit feinem Leichtſtun
und feines Zuvesläffigfeit, niit feinen Tugenden und feinen Laſtern — wel
eine Stirn zeigt ee! Man möchte fagen, er läßt ſelbſt in dieſen traurigen
Umfländen von dem, was er nom Glück beanipruct, nicht ein Jota nad,
fondern verlangt eher mehr. Seine Ralze, dur Beffeln und Bauten er⸗
bitterte und entftellte Seele jchleudert ihr Gefaͤngnißkleid von fi und eilt
wieher zum Gefecht, ald ab der Sieg am Ende doch gewiß wäre.
MRaſch Poſtpferde nad Bontarlier und dem Parlament von Belangen,
damit jenes Urtheil in contumaciam annullirt werde und das Papierbild
feigen Kopf wieder aufgefet bekomme! Der wilde Rieſe figt nun frei«
124
willig in dem Gefängniß von Pentarlier, Hält donnernde Vertheidigungs⸗
reden, vor welchen die Barlamentömitglieder erzittern und denen ganz Srant»
reich lauſcht und der Kopf vereinigt ſich unter Höflichen Entſchuldigungen
wieder mit dem Papierbilbniß.
Monnier und die Ruffeys wiflen, wer der unverichämtefte Menich auf
Erden ift; die Welt lernt mit Erflaunen einen der fähigften Eenuen. Selbft
der alte Marquis murmelt Beifall, obfhen nur bedingten. Der zähe alte
Mann, er hat feinen eigenen weltberühmten Prozeß und andere Prozeſſe mit
ungebeuern Koften verloren; ex flieht feinen Reichthum entſchwunden, feine
Projecte vereitelt und felbft Lettres de Cachet bewähren fi nicht allemal
genügend oder heilfam. Deshalb verfammelt er feine Kinder um fi und
erklärt fi auf wirklich ſehr heitere Weife invalid und nur nod für den
Winfel am Feuer tauglih, um hier zu figen und feinen alten Kopf wieder
zufanmenzufliden (à rebouter sa tête, à se recoudre piece & piece); guten
Rath follen fie, inſoweit fte ihn verdienen, auch noch ferner genießen, Let-
tres de Cachet aber und andere dergleihen Wohlthaten nicht mehr. Recht
fo, Du befter aller alten Marquis! Hier ruht er denn, gleich dem flillen
Abend eines Gewittertaged ; er donnert nicht mehr, aber giebt noch manchen
feltfam gefärbten Lichtſtrahl, manche originelle Bemerfung über bad Leben
von fi, heiter und klar bis zum legten Augenblid. In Mirabeau's kleinem
Katalog von Tugenden, der fo ganz befonders arm iſt an formellen und
conventionellen Tugenden, darf man nicht wergeflen, daß er dieſen alten Va⸗
ter innig liebte, bi8 an’& Ende, und ihm feine Graufamfeiten verzieh oder
über ihrer milden Auslegung vergaß.
Mit dem Papierbild in Bontarlier ift fonach alles wieder in Ordnung
und dennoch kann der Menfch ohne Geld nicht wohl leben. Ad wäre nur
eine gewiſſe Ehe nicht zerrifien, denn der alte Schwiegervater wird bald
flerben und jene glänzenden Ausflchten würden ſich in Wirklichkeit verwan⸗
deln! Der gewandtefte und dabei nicht der ſchuͤchternſte Mann in Frankreich
begiedt fich nächftes Frühjahr (1783) nah Air und fegt dort Parlament,
Himmel und Erbe in Bewegung, um jein Weib zurüdzubefommen. Wie
arbeitet er; mit welchem Ebdelfinn, mit welchem Muth (meint der Fils
Adoptif) ; es tft eine Riefenarbeit! Sein Ruf verbreitet fi über Frankreich
und über die Welt; englifche Reiſende, vornehme fremde Herren, machen
einen Abftecher nach Aix und „Menfchenmaflen fammeln ſich fogar auf den
125
Dächern", um ihn zu hören, denn dad Gerichtshaus iſt zum Berſten voll«
geftopft. |
Mit Demofthenischem Feuer und Pathos verlangt ber reuige Gatte
Berzeihung und Reflitution: — ‚‚ce n'est qu'un claquedents et un fol!“
ftrablt der alte Marquis aus feinem Winfel am Kamin heraus, „ein Zäbn-
Happerer und Zollpäusler!* Die Welt und das Parlament dachten das
nicht; fie wußten nicht, was fie denken follten, wenn nicht etwa, daß bies
der rärbielhafteft-fähige Mann fet, den fie jemald gehört, und ach leiber fer⸗
ner, daß feine Sache unhaltbar lei.
Er bekam alfo fein Weib und folglich auch fein Geld!
Don diefem zweiten Angriff auf das Glück kehrt Mirabenu mit ges
täufchter Erwartung zurüd und es ſteht mit ihm fchlimmer al8 zuvor. Es
fehlt ihm jegt an allen Hülfäquellen, denn auch der alte Marquis flieht ihn
mit jcheelen Blicken an. Er muß, wie wir ſchon jagten, gleich dem Jomael
auf die Jagd gehen. Der Wig und die Kraft, die er in fich trägt, werden
ihm treu bleiben, auf dieſe kann er zählen, unglücklicherweiſe aber auf faft
nichts als dieſes.
Mirabeau's Keben’währent der nächſten fünf Jahre, welches fidy trübe
und dunkel durch mehrere dieſer acht Bände hinzieht, wird wahrſcheinlich in
dem einen ächten Bande, ber in ihnen enthalten ift, kurz gefchildert werden,
Es iſt die lang ausgeſponnene praktiſche Verbeſſerung der Predigt, die be⸗
reits in Rhé, in If, in Sour, in Holland, in Vincennes und anderwaͤrts
gehalten worten. in Niefenmenih in der Blüthe feiner Jahre, in dem
Winter feiner Audfichten, hat zuzufehen, wie er biefe beiden Wiberfprüche
mit einander ausjöhnen will, Mit riefigen Talenten und Energien, ja fo=
gar mit riefigen Tugenden audgeftattet, hat ex, während er brennt, ſich zu
entfalten, weiter feine Werkzeuge und Mittel in den Händen, als Schimpf,
Beratung und Hemmniſſe. Sein Auf ift auf diefelbe Weile erhöher wie
Haman. Sein Beutel iſt mit weiter nichts gefüllt als mit Schuldflagen ;
Haushalt, Heimath und Befigthümer find gleihfam mit Salz beſtreut und
die Pflugfchaar des Verderbens furcht zu tief ihn und Alles, was jein
war. Unter diefen und nicht unter andern Bedingungen foll diefer Mann
jegt Ieben und Fampfen. Wohl Eonnte er lange nachher (obſchon er nicht
fo Teicht zu rühren war) „weinen, wenn er mit Dumont bedadhte, wie fein
Leben durch ihn felbft und durch Andere fo zerrüttet worden“ und jegt fo
126
unſcheinbar und von Yligen zerriffen worden war, daß fein in Slanʒ es wieder
ganz machen konnte.
In der That, wie wir hier wiederholt bemerken, ein ſchwäͤcherer und
dennoch ſehr ſtarker Mann hätte fterben können, — an Hypochondrie, au
Branntwein oder an Arfenif, aber Rirabean ftarb nicht. Die Melt ift nicht
fein Freund, noch das Geſetz und die Formel der Welt. Dann wird fie
folglich fein Feind rein, fein Gieger und Beberrider aber nit ganz. Es
giebt ſtarke Männer, welche im Nothfall die Bormeln aus dem Wege räu⸗
men fönnen (humer les formules) und dennod eine Wohnung hinter den-
felben finden. Diele find vie fehr flarfen und WMirabeau gehörte zu dieſen.
Obſchon die Achtung der Welt fich ihm faft ganz entzogen bat und die mei«
ften Eirfel der Gefellihaft mit ihren Codices und Vorſchriften faft nur das
Anathema über ihn ausſprechen, jo ift er doch nichtödeflomeniger nicht ver⸗
loren; er finft nicht in Verzweiflung, er wird nicht kleinmüthig oder milz-
füchtig unfrudhtbar. Keineswegs! Trot der Welt ift er hier ein lebendiger,
flarfer Mann, die Welt kann ihm nicht dad gerechte Bewußtjein feiner jelbft,
noch fein warmes, offenberziged Gefühl gegen Andere rauben; es giebt auf
allen Seiten noch Grenzen, bis zu welchen weder die Welt noch der Teufel
ihn treiben können.
Der Rieſe, jagen wir! Wie er daſteht, gleich einem Berge, vom Blit
zerflüftet, aber mit breitem Buße in den Felſen der Erbe, der Natur wur⸗
zelnd, und wird nicht über den Saufen fallen. Gebr wahr ifl, was ein
Moralift gejagt hat: „Man kann nicht wünfchen, daß irgend Jemand in
einen Zehler verfalle, und dennoch geichieht e8 oft gerade nad ein m Fehler
oder jogar einen Verbrechen, daß die Moralität, welche in einem Menſchen
liegt, und die Kraft, die er als Mensch beſitzt, fich entfaltet, wenn alles An»
dere von ihm gewichen iſt.“
Während diefer büftern Jahre flieht man Mirabeau von Ort zu Ort
wandern, in Sranfreih, Deutfchland, Holland, England, nirgendE findet er
Ruhe für die Sohle jeines Fußes. E8 iſt ein Leben der Behelfe und Aus⸗
funftömittel, au jour le jour, verjchwenderiich in feinen Ausgaben ſchwimmt
er in einem Chaos von Schulden und Schwierigkeiten, die er tur ange»
ftrengten Fleiß und durch gefchidte Finanzwirthſchaft befeitigen fol. Die
Einnahmequelle des Mannes ift fein Witz, er befigt eine Feder und einen
Kopf und ift zu feinem eigenen Glüd der Damon des Unmöglichen. Zu Feiner
Zeit ift er ohne irgend ein oder dad andere großartige Project, welches weit
127
und fern leuchten und wärmen fol, Nur zu oft erplodirt es auf unwirk⸗
ſame Weije und in diefem Falle geftaltet er es um und ermeuet ed, denn
feine Hoffnung ift unerſchöpflich.
Er ſchreibt Blugfchriften mit der Unermüdlichkeit einer Dampfmaſchine,
über „die Deffnung der Schelde* und , Kaiſer Joſeph“, über „den Cincin⸗
natu8-Örden? und „ Wafbington *, über „ Graf Gaglioftro * und „Das Dia-
mantenhalsband.“ Unzaͤhlig. find die Gehülfen und Geſellen, die achtbaren
Mauvillons und Dumonts, die er in ſolchen Dingen für ſich in Thätigkeit
jegen kann; es ift das fo eine Gabe von ihm. Gr fchreibt Bücher in acht
Bänden, die eigentlich nur eine größere Art von Blugichriften find. Er
führt einen langen Streit mir Charon Beaumarchais über die Waffergefells
[haft von Paris; der hagere Charon ſchießt Icharfe Pfeile auf ihn ab,
welche er beantwortet, indem er damontid „Berge mit allen ihren Wäldern *
ſchleudert.
Er iſt der intime Freund und Bekannte von vielen Männern. Seine
„furdhtbare Gabe der Vertraulichkeit”, die heitere Kunſt zu gefallen, ver⸗
laflen ihn nicht. Aber es ift died eine etwas zweifelhafte Vertraulichkeit,
die man den Talenten des Mannes, trog feines Rufes, zugefteht — ein
Verhaͤltniß, welches der ftolze Riquetti, der jegt, wo er arm und ruinirt
ift, dennoch feinen ganzen frühern Stolz noch befigt, ſehr richtig fühlt.
Noch größer if feine intime Bekanntſchaft mit Srauen. In diefer
Beziehung iſt er mit einem ganzen Syſtem von Intriguen umgeben, mag er
ſich aufhalten, wo er wolle, und reift jelten ohne eine — Frau (wollen wir
fie nennen), die entweder aufs Jahr oder auf tie Dauer des beiderjeitigen
Gefallens an einander engagirt iſt. Was kann man über diejed umfaflende
Departement von Mirabeau’8 Geſchichte weiter fagen, al8 daß feine Unbe⸗
ftändigfeit groß, ungeheuer und durchaus nicht zu vertheidigen war? Wenn
Jemand — was mit und nicht der Fall ift — Luft hat, mit dem Fils Adoptif
bei der „Autopfle* und Todtenfchau gegenwärtig zu fein, fo fann er über
dieſen Punkt fehr merfwürdige Documente fehen und fich überzeugen, bis zu
welden Tiefen der Strafbarkeit die Natur in ihrer gerechten Selbſtverthei⸗
Digung die Menſchen zumetlen verbammen fann. Dem Fils Adoptif thut die
ganze Sache fehr leid. Nitödeftoweniger fcheint es, als hätte gegen die
Gattung Frauen, die man unglüdliche nennt, diefer unglüdliche Mann eine
Averfion befeilen, die bis zu einem vollfländigen nolo tangere ging.
Der alte Marquis figt allein in der Kaminecke und ftellt Betrachtungen
128
darüber an, was aus diefem herumichweifenden, unruhigen, rebelliiden Ti⸗
tan von einem Grafen am Ende wohl nod werde. Wird er nicht vielleicht,
o Marquis, zu dem Culbute generale, dem allgemeinen Umfturz mit beitra⸗
gn? Er verihlingt Formeln und macht endlofe Bekanntihaft mit den
Wirklichkeiten der Dinge und Menfchen; an Kedheit und ihonungslofen
Muth wird es ihm wahrſcheinlich auch nicht fehlen. Der alte Marquis
giebt merkwürdige Bemerkungen über das Leben von fi, gewährt aber feine
durchgreifende Geldunterflügung.
Minifterien wechſeln und ändern ſich, fo oft aber auch die Karten neu
gemifcht werden, fo befommt doc Mirabeau nie ein gutes Spiel in bie
Sand. Neder liebt er nicht und fie machen aus ihrer Abneigung gegen
einander audy Fein Hehl. Der plaufible Galonne Hört ihn gleih einem
Stentor gegen den Börfenjchwindel declamiren (Denonciation de l’Agiotage);
er fegt fih mit ihm in Verkehr, correfpondirt mit ihm und benugt die erfte
Gelegenheit, ihn in einer halb oftenfiblen @igenichaft oder au in der eines
diplomatifhen Spions nad Berlin zu fchiden, um ihm auf irgend eine
Weiſe, wie man zu fagen pflegt, das Maul zu ftopfen. Der große Friedrich
ſtand noch auf der Bühne, obſchon den Eouliffen jegt fehr nahe — der ha⸗
gere, zufammengefchrumpfte Exrerciermeifter der Welt und der flämmige,
süftige Meuterer der Welt fchauten einander erflaunt an. Der Eine trat
auf, der Andere ging ab. Dieiem Aufenthalte in Berlin verdanfen wir
mehrere Slugichriften, fo 3. B. Gorrespondences, die angeblich hinter feinem
Rücken, im Grunde genommen aber mit jeiner volllommenen Einwilligung
erichienen ; ferner — der wadere Major Mauvillon diente hierbei ald Hand»
Yanger — die Monarchie Prussienne, eine Flugſchrift in acht Octanbänden,
wovon ſelbſt jegt noch einzelne Theile leſenswerth find.
In der Regel ift man, wenn man mit Mirabeau als Schriftfteller oter
ale Redner die erfte perfönliche Bekanntſchaft macht, nicht wenig überraſcht.
Anftatt einer bilderreihen, gefühlvollen, glühenden Sprache, wie man fie
nad dem Mufe der meiften Redner erwartet, findet man zu feinem Erflaunen
eine gewifle fchroffe, edige Beftimmthelt, eine ganz ungezierte Kraft und
Wucht, Flare Auffaffung, ſcharfen Einblick, eine Ueberzeugung, weldye zu
überzeugen wünſcht, und zwar Died mehr ald alles andere und anftatt alles
anderen. Man jollte meinen, der Grundcharakter diefer Neben, ja des
Mannes jeldft, ſei Aufrichtigkeit und Intelligenz, Kraft und der ehrliche
Gebrauch der Kraft. Und dem ift au wirklich fo, o Leſer. Mirabeau's
— — m. X
129
geiflige Begabung war, wie man bei näherer Unterfuchung finden wird,
wirklich eine ehrliche und große; er befaß tie ftärkfte, praktifchfte Intelligenz
jener Zeit und hatte Anſpruch darauf, in biefer Beziehung einen Plag unter
den Starfen aller Zeiten einzunehmen. Alle feine Bücher verdienen, fo zu
fagen, wohl durchgeftebt zu werden, eben fo wie dieſes Buch des Fils Adoptif.
Es if koſtbarer Stoff darin enthalten, der zu gut if, um immer unter
werthlojem Schutt verborgen Liegen zu bleiben.
Ran höre diefen Mann über irgend einen Gegenftand und man wird
finden; daß feine Worte die reiflichfte Beachtung und Erwägung verdienen.
Oft wirft er kurze marfige Audjprüche Hin, die Keiner, der fie hört, jemals
wieder vergißt, 3. B.: „Ich Eenne nur drei Mittel, durch welche man in die
fer Welt feinen Lebendunterhalt erwirbt — durch Lohn für Arbeit, durch
Betteln oder durch Stehlen, mag man ed nun fo nennen oder anders. ®
Der: „Malebrandhe fah alle Dinge in Gott und Neder fieht alle Dinge
in Necker!“ Die Spignamen, die Mirabeau diefem oder jenem feiner Zeite
genoffen beilegt, find ganze Abhandlungen wert. „Grandifons Erommell«
Lafayhette“ — man fihreibe ein Buch über den Mann, wie vicle Bücher über
ihn gefchrieben worden find, und fche zu, ob man mehr fagen kann! 8 ift
das befte Portrait, welches jeniald von ihm gezeichnet worden, — mit einem
einzigen Zuge und zwei Puͤnkichen. Bon jo unausſprechlichem Vortheil ift
es, daß der Menſch „ein Auge babe, anftatt einer bloßen Brille”; daß er,
indem er tie Kormeln der Dinge durchſchaut und fogar mandye Formel bes
feitigt, einen Blick in Die Sache ſelbſt erhalte und dieſelbe auf dieje Weife
fennen und beberrichen lerne.
So wie die Jahre dahinrollen und jene verhängnißvolle Decade der
Achtziger oder der „Aera der Hoffnung * ihrer Vollendung entgegengeht und
es Mirabeau immer Elarer wird, Daß große Dinge herannahen, finden wir,
daß feine Wanderungen gleihfam immer raſcher werden. Plöglic aus Nacht
und Cimmerien auftaudyend, jchmettert er von Zeit zu Zeit in die Welt von
Paris herab, durchzuckt fie mit feinem Feuerblicke, erfennt, daß die Zeit noch
nicht gefommen ift, und zicht fid) wieder in fein Dunkel zurüd. Dann und
wann rufen feine Flugſchriften einen Blig der Staatögewalt und einen Vers
haftsbefehl bervor, fo daß er fih nur um fo fchneller entfernen muß. Sa,
der gute Calonne ift fo freuntlid, e8 im Voraus anzudeuten: „An dem
und dem Tage werte ich mich veranlaßt ſehen, Befehl zu Ihrer Verhaftung
zu geben; machen Sie daher ſchnell, daß Sie fortfonmen. *
Carlyle. IV. 9
130
Als im Frühling 1787 die Notabeln fi verfammeln, breitet Mira-
beau feine Schwingen aus und fenkt fih auf Baris und Berfailles herab;
ed fcheint ihm, als müßte er Secretair vieler Notabeln werden. Nein!
Freund Dupont de Nemours wird es; tie Zeit iſt noch nicht da. Es if
jegt noch die Zeit eines „Grispin-Batilina- * d'Espremenil und anderer der⸗
gleichen animaliſch⸗ magnetiſcher Berfonen. Nichtsdeſtoweniger find der ehr⸗
würdige Talleyrand, fharffinnige Herzöge, liberal gefiunte, vornehme Freunde
der feften Ueberzeugung, daß die Zeit Eommen wird. Erwarte daher Deine
Beit.
Horch! Am 27. December 1788 kündet endlich die längfl erwartete
ſich an — bie Eönigliche Proclamation beruft die Generalftaaten definitiv
auf den nächſten Monat Mai! Brauchen wir wohl erſt zu fragen, ob Mira-
beau fich jegt rührt; ob er ſich ſchleunigſt nach der Provence zur dortigen
Adelsverfammlung begiebt und alle feine Thatkraft auf einen Punft concen-
trirt? Thue einen einzigen Hub mit all Deiner Kraft, Du Titan, und viel⸗
Teicht erreichft Du Deinen Zwed! Wie mühte fih und Fämpfte Mirabeau
unter diejen Aufpicien! Den ganzen Tag mußte er fprechen und flreiten und
die ganze Nacht Flugſchriften und Artifel fchreiben, dabei Vieles leiden und
fein wildes Gemüth zügeln, damit es regungélos blieb unter Vorwürfen,
ſelbſt unter blanfen Schwertern, damit er feinen Feinden feine Blöße gebe.
Wie weiß er mit untrüglider Gewandtbeit, mit fchlaflojer Unermüdlichkeit
aufzuregen und zu dämpfen, als ein ächter „ Dämon des Unmöglichen.“ Mit
„einer Berfammlung von Ebdelleuten, die unwifjender, habgieriger und info-
Ienter ift, als irgend eine, die ich jemals gefchen *, mußte der Kormelfchluder
nothwendig ein jaured Stück Arbeit haben. Wir theilen hier eine Stelle
auß feiner berühmten Vertheidigungdrede mit, ald man ihn durch überwie-
gende Mejorität zum Austritt nöthigte:
„Was habe ich Strafbared gethan? Ich Habe gewünſcht, daß mein
Stand weife genug wäre, heute zu geben, was ihm unfehlbar morgen ent
riffen werden wird, daß er des Verdienſtes und des Ruhmes theilhaftig
werde, die Verfammlung der drei Stände zu janctioniren, welde die ganze
Provence mit lauter Stimme verlangt. Dies ift das Verbrechen ihres Fein⸗
des der Rube, wie fie ihn nennen, Oder vielmehr, ich babe gewagt zu
glauben, daß dad Volk Recht haben könne. Ach, ohne Zweifel verdient ein
Patrizier, der fi mit einem ſolchen Gedanken befudelt, die ſchwerſte Rache!
Id) bin aber noch weit firafbarer als Sie meinen, denu ich glaube, daß das
— — — — ⸗ — — — —
— — — — — — — —— — — un —* u — — — —
131
Volk, welches ſich beklagt, ſtets Recht hat; daß ſeine unermüdliche Geduld
unabaͤnderlich das äußerſte Uebermaß des Druckes abwartet, che es ſich zum
Widerſtand entſchließen kann, daß es niemals lange genug widerſteht, um
vollſtändige Genugthuung zu erhalten, und noch nicht genügend weiß, daß
es, um ſeine Feinde mit Furcht und Schrecken zu erfüllen, blos ſtill zu ſtehen
braucht, daß die unſchuldigſte eben ſo wie die unüberwindlichſte Macht in
der Weigerung, etwas zu thun, liegt. Dies glaube ich; ſtrafen Sie daher
den Feind der Ruhe!
„Sie aber, Diener eines Gottes des Friedens, deren Amt iſt, zu ſeg⸗
nen und nicht zu fluchen, und die dennoch ihr Anathema gegen mich ge⸗
ſchleudert haben, ohne auch nur einen Verſuch zu machen, mich aufzuklären
oder mit mir zu disputiren! Und Sie, Freunde des Friedens, die Sie bei
dem Volke den einzigen Vertheidiger verhaßt zu machen ſuchen, den es bis
jegt außerhalb feiner eigenen Reihen gefunden hat; — die, um Eintracht
herbeizuführen, Hauptſtadt und Provinz mit Anichlägen überjchweınmen,
weldye geeignet fein würden, die ländlichen Diftrifte gegen die Städte zu be=
waflnen, wenn Ihre Thaten nicht Ihre Schriften widerlegten; — die, um
den Weg der Verföhnung anzubahnen, gegen die füniglihe Beſtimmung
wegen Einberufung der Generalftaaten, weil fie dem Volke eben fo viel Des
putirte bewilligt, ald den beiden antern Ständen, jo wie gegen Alles pro⸗
tefliren, was die fünftige Nationalverfammlung thun wird, wenn nicht Ihre
Geſetze den Steg Ihrer Aniprüce, die Ewigkeit Ihrer Privilegien fichern !
Welche uneigennügige Freunde des Friedend! Ic habe an Ihre Ehre ap⸗
pellirt und fordere Sie auf, zu erklären, welche meiner Ausprüde den Re⸗
Ipeft, den wir der königlichen Autorität oder dem Rechte der Nation ſchul⸗
dig find, verlegt haben. Edle der Provence, Europa iſt aufmerkſam, er⸗
wägen Sie Ihre Antwort wohl. Männer Gottes, bedenken Sie, was Sie
thun; Gott hört Sie,
„Und wenn Sie nicht antworten, fondern fchweigen und fd hinter
bie eitlen Declamationen verfchanzen, die Sie mir entgegengefchleudert has
ben, dann erlauben Sie mir noch ein einziges Wort hinzuzufügen.
„In allen Ländern und zu allen Zeiten haben die Ariftofraten bie
Freunde des Volks auf die unverföhnlichfte Weife verfolgt, und wenn in
Folge einer eigenthünfichen Schickſalsfügung ein folher in ihrem eigenen
Kreife auffland, fo war vor allen er es, nach tem fie ihre Streiche führe
ten, um durch den hohen Standpunkt ihres Schladhtopferd um fo größeren
9*
132
Schreden zu verbreiten. Co fand der legte der Gracchen feinen Tod durch
die Hand der Patrizier; ald er aber den Todesſtreich empfing, warf er
Staub gen Himmel und rief die rächenden Götter an, und aus diefem Staub
entiprang Marius, — Marius, der fi durd die Ausrottung der Cinibern
nicht fo berühmt gemacht bat, als dadurch, daß er in Hom die Tyrannei des
Adels flürzte! *
Man bat das abgefchmadte Mährchen verbreitet, Mirabeau habe nun
in Marfeille einen Tuchladen eröffnet, um fi bei dem tritten Stande in
Gunſt zu fegen, worüber wir oft gelacht haben. Die Idee, daß Mirabeau
binter dem Ladentiſch geflanden und die Elle regiert habe, hat etwas unge
mein Spaßhaftes. Obſchon daher auch nicht ein Schatten von Wahrheit
in dieſer Befchichte liegt, fo kann doch felbft Die Lüge eben in ihrer Eigen-
ſchaft ald Lüge fih mit Hecht eine Zeitlang behaupten. Ganz anders war
bier die Wirklichkeit. Er Hatte eine „freiwillige Leibwache von hundert
Mann”; die Provence drängte fi zu Zchntaufenten um feinen Wagen,
bie Luft Hallte von Sreudenjchüffen und Jubelgejchrei wicder und Manche
bezahlten zwei Louisd'or für einen Plag am Benfter; jogar ten Hunger —
ber zu jener Zeit doch fehr bedeutend war — fann er durch Worte beichiwiche
tigen. Orwaltthätige Zufammenrottungen aus Anlaß ter Brodtheuerung
zu Marjeille und zu Aix, gegen welche Feuerwachen und Gouverneure nichts
vermögen, zerftreut er durch ein einziges Wort ſeines Mundes, nachdem ihn
der Gouverneur darum erſucht, obſchon er ibm nicht gewogen if. Es if
wie ein römijcdyer Triumph und mehr. Er wird für zwei Stüdte zum Ab⸗
geortneten gewählt; er muß Marfrille ablehnen, um Wir die Ehre geben zu
können. Mögen feine Feinde einander anjchen und fih verwundern und,
vergeſſen von ihm, feufzen. Auch für Liejen Mirabeau öffnet ſich endlich
die Bahn.
Endlich! Hat in einem ſolchen Kalle der genrigte Leſer, wäre er auch noch
fo frei von Ehrgeiz, nicht ein wenig Mitgefühl mit diefem armen Mititerb«
lichen? Der Sieg ift ftet3 etwas Freudiges, aber man denfe ſich einen fols
hen Mann in ter Stunde, wo er nad zwölf Herfulcd» Arbeiten endlich
triumphirt! So lange fämpfte er mit dem vielföpfigen Haufen lernäiſcher
Schlangen und rang mit ihnen feudyend aufXchen und Tod — vierzig lange,
bittere Jahre, und nun bat er fie zertreten! Die Bergesgipfel find erftiegen'
Er Elctterte lange an fteilen Felswänden empor, am fchlüpirigen Rande bo:
denlofer Abgründe entlang ; in Finſterniß, ohne daß cin freundliches Auge
— — Do, a 705 — — m — — -r- m — war X — | — — — —
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ihn ſah, unter Drachenbrut und der Muth war viele Mal nahe daran, ihm
in jeiner Einfamfeit, in feiner furdtbaren Bebrängniß zu entfinfen. Und
dennod) Fletterte und Fletterte er und Elebte den Tritt feiner Ferſe im eigenen
Blute feſt und nun fiche, dem Hyperion gleich hat er die Höhe erfliegen und
Ihwingt triumphirend den blanfen Speer. Welch eine Ausſicht, weld ein
neues Königreich für ihn, alles in den Morgenrotbglanz der Hoffnung ges
taucht, weithin ſich firediend, erhaben, freudig! Welche milde Memnons⸗
muflf tönt aus ten Tiefen der Natur dur die Seele, die plöglich aus
Kampf und Top zu Sieg und Leben emporgehoben wird! Ja, wir follten
meinen, felbft der bloße Zufchauer Fünnte mit diefem Mirabeau Thränen
der Frende weinen.
Die leider Thränen des Kummerd werden! Denn wifle, o Sohn Adams
(und Sohn Lucifer's mit diefem Deinem verwünſchten Ehrgeiz), daß all dies
fer Morgenrotbglang, diefer Zauber und dieſe Memnonsmuſik nichts ift als
Täuſchung und dämoniſche Schwarzfünftelei! Das, was Du als Sterblidher
baben mußt, iſt Gleichgewicht, oder wie man es mit andern Worten nennt,
RNuhe oder Frieden und was Du, wie Gott weiß, auf dieſe Weife niemals
befonmen wirft. Glücklich find Die, welche Ruhe finden, ohne jo darnach
zu ſuchen. Binnen faum bdreiundzwanzig Monaten Iodernden, jengenden
Sonnenbrandes ift diefer Mirabeau Staub und Aſche und liegt dunfel und
erlofhen in dem Pantheon großer Männer (oder wir wollen fagen in dem
franzöſiſchen Pantheon bedeutender oder für bedeutend erflärter Männer)
— nirgends Ruhe findend als in dem Schooß feiner Mutter Erde.
Es giebt Menſchen, denen die Götter in ihrer Gnade Ruhm verlei⸗
ben, weit öfter aber verleihen fie ihn im Zorn ald einen Fluch und als ein
Gift, denn er flört Die ganze innere Gefundheit und Induftrie des Menſchen
und führt ihn taumelnd und in wilden Sprüngen, als wäre er von der Ta⸗
rantel geftochen, zu — feinem Heiligenfchein. In der That, wenn der Tod
nicht dazwiſchen käme oder, noch glüdlicher, wenn das Leben und das Publi⸗
fum fein Dummkopf wären und plögliche unbillige Vergeſſenheit auf dieſen
plöglihen unbilligen Glanz folgte und ihn auf wohlthätige, obſchon höchſt
fihmerzbafte Weife niederbämpfte, fo laßt ſich nicht fagen, wo jo mancher
rubmreihe Mann, noch mehr, jo mande arme ruhmreiche Frau enden
würde.
Am 4. Mai 1789 ſchauete Frau von Stasl aus einem Fenſter in der
Hauptftraße von Berfailles, mitten in einer verfammelten Welt, ald die De⸗
134
Jutirten in Brocefflon von ber Kirche von Notres-Dame nad der des Heil.
Ludwig zogen, um die Mefle zu hören und als Beneralftaaten conflituirt zu
werden. Hierbei fah fie folgentes:
„Unter den Ebdelleuten,, welche vom dritten Stante zu Deputirten ge⸗
wählt worden, bemerkte man vor allen andern den Grafen von Mirabeau.
Die Meinung, welche die Menfchen von feinem Genie hatten, ward auf eigen⸗
thümliche Weiſe durch die Furcht vermehrt, die man vor feiner Immoralität
Beate, und dennoch war es eben dieſe Immoralität, welche den Einfluß ver-
minderte, den feine flaunendwerthen Faͤhigkeiten Ihm fiherten. Man Eonnte
nicht umhin, diefen Mann lange anzufeben, jobald man ihn einmal bemerft
Hatte. Sein ungeheurer fhwarzer Haarwuchs zeichnete ihn vor allen an
dern aud. Ban hätte meinen follen, feine Stärke hinge davon ab, wie bie
Simſon's. Sein Sefiht erhielt eben durch feine Häßlichkeit neuen Aus⸗
drud, feine ganze Perion gab die Idee einer unregelmäßigen Kraft, aber
einer Kraft, fo wie man fie fih in einem Volkstribun denkt.“
Mirabeau's Geſchichte während ber erften dDreiundzwanzig Monate der
Revolution foll nicht hier geichrieben werden, doch verlohnte es wohl der
Mühe, fie irgendwo zu fchreiben. Die conflituirende Verſammlung nahm
feinen Namen, als derfelbe zuerft verlefen ward, mit Murren auf, ohne zu
wifien, worüber fie murrte! Und dennoch war diejes ehrenwerthe Mitglied,
über welches fie murrten, das Mitglied aller Mitglieder, der erhabene Con⸗
ſtituent, ohne welchen fle gar Feine Eonftituenten waren.
Sehr merkwürdig in der That iſt fein Verhalten in diefer Abtheilung
der Weltgeihichte. Er war bei weitem das merhwürbdigfte einzelne Element
bier, keins fam ihm gleich oder auch nur nahe. Einmal ſieht man ihn ficht⸗
har mie durch feine eigene Kraft die Eriftenz der conflituirenden Verſamm-
lung retten und in einem jener Augenblide, welche auf Sahrbunterte hin⸗
aud enticheidr:, der ganzen Fluth der Dinge eine andere Wendung geben.
Die königliche Erklärung vom dreiundzwanzigften Juni wird
erlaffen. Es ift Militairgewalt genug da und dann folgt des Königs aud
drüdlicher Befehl, taß die Verſammlung auseinander geben folle. Baftillen
and Schaffotte find vielleicht die Strafe des Ungehorſams. Mirabeau if
ungehorſam und erhebt ſeine Stimme, um auch alle Anderen, die bleich und
von paniſchem Schrecken ergriffen daſttzen, zum Ungehorſam zu ermuthigen.
Der Oberceremonienmeifter, de Bréͤzée, tritt ein und wiederholt den Befehl
bes Königs an die Berlammlung, auseinander zu gehen. „Meine Herren! ®
135
fagt de Breeze, „haben Sie den Befehl bed Königs gebört?* Da ruft der
Sormelichluder jene für die Weltgefchichte ewig denkwürdigen Worte aus,
„Sa, mein Herr, wir haben gehört, wad man dem König gerathen hat, zu
fagen, und Sie, der Sie nicht der Dolmeticher feiner Meinung für die Generals
ftaaten fein können, Sie, der Sie hier weder Sig noch Stimme, noch ein
Hecht zum Sprechen haben, Sie find nicht der Mann, der uns daran erin-
nern fann. Gehen Ste, mein Herr, fagen Sie Denen, die Sie geſchickt
baben, daß wir durd den Willen der Nation bier find, und daß nur Die
Gewalt der Bajonette uns von bier vertreiben kann!“ Und der arme de
Brézé verfchwindet, — „fi mit dem Rüden voran hinausbewegend,“ fagt
der Fils Adoptif.
Und dennoch gehörte Tiefer große Augenblid, fo folgenſchwer er auch
war, doch vielleiht an und für fi zu feinen Heineren Geldenthaten. Im
Allgemeinen möchten wir noch einmal mit befonterem Nachdrud fagen: Er
bat ‚.hume& toutes les formules.“ Er betrachtet die Revolution wie eine
Materie und eine Kraft, nicht wie die Formel einer folhen. Während un⸗
zählige unfruchtbare Sieyed und Eonflitutionspebanten mit vieler Mühe und
unter großem Geräuſch ihre erhabene papierne Conſtitution — die elf Mo⸗
nate dauerte — zufammenbauen, faßt dieſer Mann nicht Spinnweben und
„geiellichaftlicde Verträge * ind Auge, fondern Dinge und Menſchen; er er⸗
fennt, was zu thun ift, und macht dann auch fofort Anftalt, es zu thun. Er
jagt den Oberceremonienmeifter de Bre&ze rüdlingd zur Thür hinaus, wenn
dies das Problem iſt. „Marie Antoinette ift entzückt von ihm“, wenn es
fo weit fommt. Er ift der Mann der Revolution, fo lange er lebt; er ift
König derfelben und würde nach unferer Meinung nur mit feinem Leben
diefe Königswürde niedergelegt haben. Allein von allen diefen Zwölfhun⸗
dert liegt in ibm Die Bähigfeit zu einem König, denn Haben wir nicht ge=
feben, wie emſig das Schickſal ihn während dieſer ganzen Zeit geformt hatte,
wie ausdrüdlich für das jept ihm in die Hand gegebene Werk?
O Du wunverlich verdrehter alter Freund der Menfchen, während Du
diefen Mann auf Infeln Rhé ſchickteſt, in Schlöffer If einfperrteft und ihn
mit fo vieler und ſcharfer Dreffur zu Deinem Ich, nicht zu dem feinen
zu machen ſuchteſt, — wie wenig ahneteſt Du da, wad Du eigentlich
thateft.
Wir wollen hier noch hinzufügen, daß der wadere alte Marquis den
Sieg feined Sohned über Schidfale und Menichen noch erlebte und fi
136
darüber freuete. In der Kaminecke zu Argenteuil bei Paris ſaß er, und
ftrahlte bis auf den. legten Augenblid merkwürdige und intereflante Beobach⸗
tungen von fi und farb drei Tage vor der Einnahme der Baflille, gerade
ald die Culbute generale ausbrach.
Endlich aber find die dreiundzwanzig zugetheilten Monate vorüber.
Frau von Stasl fah am 4. Mai 1789 den römiſchen Volfstribun und Sim⸗
fon mit feinem langen ſchwarzen Haar und am 4. April 1793 findet ein
Leichenbegängniß flatt, defien Zug eine geographiiche Meile lang it — kö⸗
niglihe Ninifter, Senatoren, Nationalgarden und ganz Paris, — Fackel⸗
fhein, Trauertöne gebämpfter Trommeln und Hörner und die Thränen von
Menfchen; die Trauer eined ganzen Volkes, — eine Trauer, wie fie noch
fein moderned Volk jemald um einen einzigen Menfchen ſah.
Somit it Mirabeau’d Werk vollbradt. Er ſchläft bei den Riefen der
Urwelt. Er ift zur Maforität übergegangen: Abiit ad plures.
— ———— — —
Was Lob und Tadel, fo wie allgemeine Charakterſchilderung betrifft,
fo laſſen fi ohne Zweifel in Bezug auf diefen Mirabeau ſehr viele Dinge
aufftellen, wie denn auch ſchon viel Discuifion über ihn gepflogen worden
if. Wir finden Died ganz in Ordnung, wie in Bezug auf alle Arten neuer
Gegenftände, felbft wenn fie weit weniger zweifelhaft wären, als diefer neue
Rieſe ift. Der BVerfaffer der vorliegenden Abhandlung findet es mittler«
weile angemefiener, fih und feine erichöpften Leſer auf die brei folgenten
moralifchen Betrachtungen zu beichränfen.
Erfte moraliihe Betrachtung: In den gegenwärtigen Sahrhunderten
werden die Menfchen nicht mehr als Halbgötter und vollfommene Charaf«
tere, fondern als unvollkommene und mangelhafte Menfchen geboren, näm«
lich als Menſchen, die in Folge ihrer eigenen Unaulänglichfeit, jo wie in
Bolge falicher Beurteilung durd andere, weniger Aehnlichkeit mit Halb⸗
göttern als vielmehr mit einer Art von Gott⸗Teufeln haben und allerdinge
ſehr unvollfommene Charaktere find. Das Halbgott-Arrangement wäre in⸗
deſſen das, welchem der Berfaffer auf den erſten Anblid den Borzug geben
möchte.
Die zweite moraliſche Betrachtung aber lautet: Wahrſcheinlich wur⸗
den die Menfchen in feinem Jahrhundert ald Halbgötter, ſondern gerade
— — — — — — u
137
auch ald Gott⸗Teufel geboren, von welchen dann einige in eine Art Halb⸗
götter verwandelten. Wie zahlreich find die Menfchen, die nicht blos ge⸗
tadelt, falſch beurteilt und verleumdet, fondern gemartert, gefreuzigt und
an den Galgen gehangen worden find, — nicht einmal als Gott = Teufel,
fondern als wirkliche Teufel, und die nichtödeftoweniger fpäter ein ungemein
hohes und achtunggebietende® AUnfehen gewonnen haben! Denn Das,
was fle nicht waren, was überhaupt nichts war, ift ſtückweiſe hinweg⸗
gefallen; es Hat ſich als Geichwäg, verworrener Schatten und überhaupt
ale nichts erwieſen; Das dagegen, was fie wirflid) waren, bleibt. Man
verlaffe fi darauf, Harmodius und Ariſtogiton, fo rein und groß fie auch
jegt erſcheinen, ſchmiedeten geiegmwibrige Gomplotte und hielten heimliche
Sigungen in der Iacobinerfirche zu Athen, wo fchr zügellofe Dinge geſpro⸗
hen und auch gethan wurden. Sind nicht auf diefelbe Weife Marcus Bru⸗
tu8 und der ältere Junius jet handgreifliche Helten? Ihr Lob wird in
allen Redeübungsvereinen geprieien; haft Du aber gelefen, wie die Zeitun⸗
gen ſich eine Woche nady ihren Thaten über Ddiefelben ausſprachen? Sa, ift
nicht der alte Cromwell, — deſſen Gebeine wieder audgegraben und als das
rechte Emblem feiner felbft und feiner Thaten, als Auswurf der Schöpfung
unter den Galgen verfcharrt wurden — iſt nicht auch er wieder eine ganz
reipeftable grimmige Bronzefigur geworden, obſchon es jet erfi anderthalb
Jahrhundert Her iſt, eine Bigur, auf welde England mehr ald auf fonft
etwas ftolz zu fein fcheint?
Dritte und letzte moraliihe Betrachtung: Weder Du noch ich, Tieber
Lefer, Hatten bei Erichaffung dieſes Mirabeau die Hand mit im Spiele,
Denn wer weiß, ob wir tann in unjerer Weigsheit nicht auch etwas da⸗
gegen einzuwenden gewußt hätten.
Aber was waren die Himmlifchen Mächte, die ihn fchufen, ohne uns
auch nur um Math zu fragen, fie und nicht wir, fo und nicht anders! Wir
haben und daher nad Möglichkeit blos bemüht, ein wenig zu verftehen und
zu begreifen, was für eine Art von Mirabeau jo geichaffen fein konnte; des⸗
halb nehmen wir nun mit Tebhafter Befriedigung Abſchied von ihm und
überlafien e8 ihm nun, zu gedeihen wie er kann.
8urns*).
(1828.)
Bei den modernen Zuftinden unferer Gefellichaft ift c8 nichts Un—
- gewöhnliches, daß ein Mann von Genie „um Brod bittet und einen Stein
empfaͤngi,“ denn trog unferer großartigen Marime von Nachfrage und An«
gebot, ift es doch keineswegs Die höchſte Vortrefflichkeit, welche die Menſchen
am bereitwilligßen anerfennen. Der Erfinder einer Spinnmaſchine Fann
ziemlich ficher ſein, daß er noch bei jeinen Lebzeiten feinen Lohn empfängt,
der Berfafler eined Achten Gedichts aber ifl, ebenjo wie der Apoftel einer äd
ten Religion, des Gegentheils faft ebenfo ficher.
Wir wiflen nicht, ob dieje Ungerechtigkeit nicht um fo fchroffer dadurch
beraudtritt, daß gewöhnlih nach dem Tode eine Vergeltung flattfinvet.
Mobert Burns hätte dem Laufe der Natur nad noch lange leben können,
aber jein kurzes Leben verging in ſchwerer Arbeit und Mangel und er flarb
in der Blüthe feined Mannedalters elend und vernachläſſigt. Schon aber
glänzt ein ſtattliches Maujoleum über feiner Aiche und mehr ale ein pracht⸗
volles Monument ift an andern Orten feinem Ruhme errichtet worden; vie
Straße, wo er in Armut ſchmachtete, wird nach feinem Namen genannt;
bie vornehmften Perfonen in unferer Literatur haben ihren Stolz darein ges
ſetzt, al8 feine Gommentatoren und Bewunderer aufzutreten, und Die und
jegt vorliegende Erzählung jeiner Lebensgefchichte ift die ſech ſte, womit
die Welt befchenft worden ift.
Mr. Lockhart halt es für notbwendig, fich wegen diefed neuen Verſucht
über einen ſolchen Gegenftand zu entichuldigen, feine Xefer aber werben,
®) The Life of Robert Burns, by J. G. Lockhart. Edinburgh, 1828.
— - — XX — — — — — wur —
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glauben wir, ihn gern freiſprechen, oder im ſchlimmſten Falle blos die Aus⸗
führung ſeiner Aufgabe tadeln, nicht die Wahl derſelben. Burns' Charakter
iſt in der That ein Thema, das ſich nicht ſo leicht abnutzen oder erſchöpfen
läßt, und durch die Entfernung, in welche ed durch die Zeit gerückt wird,
wabrfcheinlich eher gewinnen als verlieren wird.
Man bat gefagt: Niemand ift ein Held vor feinem Kammerbiener, und
es ift leicht möglich, dag dies wahr iſt; die Schuld aber Tiegt wahrſcheinlich
ebenfo jehr an dem Kammerdiener, als an dem ‚Helden, denn es tft gewiß,
dag für das gemeine Auge nur wenig Dinge wunderbar find, die nicht zus
glei der Entfernung angehören. Es iſt für die Menfchen jchwer zu glau⸗
ben, daß der Mann, der bloße Mann, den fie an ihrer Seite ſich Durch das
Daiein bindurcdlämpfen fehen, aus feinerem Stoffe geſchaffen fei, als fie
ſelbſt. Segen wir den Ball, daß ein Tifchgaft von Sir Thomas Lucy und
Nachbar von Iohn ſich ein paar Stunden von der Bewahung ſeines Wild«
prets abgemüßigt und uns eine Xebensgefchichte Shakſpeare's geichrieben
hätte! Was für Abhandlungen würden wir dann gehabt haben, — nidt
über Hamlet und den Sturm, fondern über den Wollbandel und Wilddie-
berei und über die Pasquill- und Bagabundengeiege und wie der Wilddieb
ein Schaufpieler ward und wie Str Thomas und Dr. John ein chriftliches
Herz im Leibe harten und ihn nicht zum Aeußerſten trieben !
Auf dieſelbe Weite glauben wir mit Bezug auf Burns, daß fo lange
nicht Die Gefährten feiner Pilgerfahrt, die ehrenwerthen Accidcommifjaire
und die Herren von der calebonifchen Jagd und die Ariftofraten von Dum⸗
fries und alle die Squires und Earls, ebenſo wie die Schriftſteller von Ayr,
in der Finſterniß der Vergangenheit unſichtbar oder nur durch das von ihm
entlehnte Licht ſichtbar geworden find, c& ſchwierig fein wird, ihn nad) irgend
einem wahren Maßſtabe zu mefjen oder zu überſchauen, was er im achtzehnten
Sabrhuntert für fein Yaterland und die Welt wirflih war und that. Es wird
fchwierig fein, fagen wir, aber Immer noch ein gutes Problem für Literarhiftos
rifer und wiederholte Berfuche werten und wiederholte Annäherungen geben.
Seine früheren Biograpben haben ohne Zweifel etwas, aber keines⸗
wegs viel zu unferer Unterflügung gethan. Dr. Gurrie und Mr. Walker,
Die nennenswertheften dieſer Schriftfteller, haben beide, glauben wir, einen
wefentlich wichtigen Bunte falich aufgefaßt, namlich Das eigentliche Berhälte
niß ihrer Perſon und der Welt und ihrem Autor, und die Art und Weiſe,
auf welche es ſolchen Männern geziemte, von einem folgen Mann zu denken
140
und zu fpreden. Dr, Gurrie liebte den Poeten wahrhaft, mehr vielleicht,
als er feinen Lefern oder auch fich felbft geftand, und dennoch führt er ihn
immer mit einer gewiſſen gönnerbaften Miene vor, als ob daß feine Rubli⸗
- fum es fonderbar und halb unverantwortli finden fünnte, daß er, ein
Mann der Wiffenichaft, ein Gelehrter und Gentleman, einem Bauer folde
Ehre erweift. Bei allem diejen aber geben wir gern zu, daß fein Fehler nicht
Mangel an Liebe, jondern Schwäche des Glaubens war und betauern, daß
der erſte und wohlwollendſte aller Biographen unſeres Dichters nicht weiter
geiehen oder nicht mutbiger geglaubt hat, was er fah.
Mr. Walfer verfällt noch tiefer in denſelben Fehler und beide irren
gleihmäßig, wenn fie und einen Katalog über feine verichiebenen vermeinten
Eigenfchaften, Tugenden und Lafter anflatt einer Schilderung bes Daraus
bervorgebenden Charakters als einer lebenden Einheit mittbeilen. Dies
heißt nicht ein Portrait malen, fondern die Lange und Breite der verfchies
denen Züge meflen und ihre Dimenfionen in arithmetifhen Ziffern nieder:
ſchreiben. Ja, es iſt nicht einmal fo viel, denn wir müflen erft noch erfah⸗
ren, durch welche Kunftgriffe oder Inftrumente der Geiſt auf diefe Weiſe
gemefien werden Fonnte.
Mr. Locdhart hat — wir freuen uns, dies fagen zu können — dieſe
Irrthümer beite vermieten. Er behandelt Burns ftetd al8 den hohen und
merfwürdigen Mann, für welchen die öffentliche Stimme ihn jcht erflärt hat.
Bei der Schilderung feiner Perfönlichkeit hat er Die Methode getrennter All«
gemeinheiten vermieden und mehr charafteriftiihe Vorfälle, Gewohnheiten,
Handlungen, Ausfprücde, mit einem Wort Erfcheinungen aufgelucht, welche
den ganzen Menfchen zeigen, fo wie er unter feinen Mitmenſchen leibte
und lebte.
Das Buch gewährt daher bei allen feinen Mängeln nad unjerer Mei⸗
nung mehr Einblid in den Achten Charakter Burn®’, als irgend eine frühere
Biographie, obſchon fie, da fle nach dem fehr populairen und gedrängten
Schema eines Artikels für Conſtable's „‚Miscellany‘‘ gefchrieben ifl, weniger
Tiefe befigt, als wir von einem Schriftſteller von ſolchem Zalent hätten
wünſchen und erwarten fönnen, und enthält mehr und mannigfaltigere Citate
als von Rechtswegen einem Originalwerf zufommen. Das, was Mr. Lock⸗
hart felbft fchreibt, iſt überhaupt größtentheile fo gut,. fo klar, präcis und
bündig, daß wir felten wünſchen, es den Worten eines Antern Plag machen
zu fehen. Indeſſen, der Geift des Werkes ift durchaus wohlwollend, tolerant
— — — — m —
141
und verföhnend,; Komplimente und Lob werden nad allen Seiten hin an
Große und Kleine mit freigebiger Hand audgetheilt, und, wie Mr. Morris
Birkbeck von ter Gefellichaft in den Hinterwäldern von Amerika bemerkt,
„bie Höflichkeiten des feinen Lebens niemald auch nur einen Augenblid aus
den Augen verloren. *
Aber ed giebt in dem Buche noch beſſere Dinge ald diefe und wir koͤn⸗
nen mit gutem Gewiſſen verfihern, nicht blos, daß es ſich das erfle Mal
leicht und angenehm leien läßt, fondern auch ohne Schwicrigfeit zum zwei⸗
ten Mal gelefen werden kann.
Nichtsdeſtoweniger find wir weit entfernt zu glauben, daß das Pro⸗
blem von Burnd’ Bioaraphie bis jetzt auf angemeffene Weife gelöft worten ſei.
Mir deuten hiermit nicht fomohl auf die Mangelhaftigfeit bezüglich der
Thatſachen und Documente hin — obidon wir von diefen noch jeden Tag
einen neuen Zuwachs erhalten — als vielmehr auf die befhränfte und un«
vollfonmene Anwendung bderfelben auf den Hauptzweck aller Lebend-
beſchreibung.
Unſere Anſichten über dieſen Gegenſtand erſcheinen vielleicht etwas
übertrieben; wenn aber ein Menſch wirklich bedeutend genug iſt, daß man
ſeine Lebensgeſchichte zur Erinnerung der Menſchheit niederſchreibe, ſo ſind
wir immer der Meinung geweſen, daß die Leſer dann auch mit allen innern
Triebfedern und Bezichungen ſeines Charakters bekannt gemacht werden
ſollten. Wie ſtellten ſich die Welt und das Menſchenleben von feinem indi—
viduellen Standpunkte aus nach ſeiner Anſchauung dar? Wie wirkten
gleichzeitig vorhandene Umſtände von außen auf ihn, wie wirkte er von
ſeinem Innern heraus auf dieſe ein? Mit welchen Beſtrebungen und mit
welchem Erfolge beherrſchte er ſie; mit welchem Widerſtand und Leiden ers
lag er ihnen? Mit einem Wort, von welcher Art und auf welche Weiſe er—⸗
zeugt war tie Wirfung der Geſellſchaft auf ihn; was und auf welche Weife
erzeugt war feine Wirkung auf die Geſellſchaft?
Mer diete Bragen in Bezug auf ein Individuum richtig und vollftän«
dig beantwortete, würde, glauben wir, ein Mujter von Bollfonmenbeit in
biographiicher Beziehung liefern. Freilich verdienen nur wenige Individuen
ein folhed Studium und viele Lebensgefhihten werden geſchrieben
und müffen zur Befriedigung unfduldiger Neugier geſchrieben werten und
werten gelejen und vergefien, bie nicht Biographien in tiefem
Einne find.
142
Burnd aber if jedenfalld eins dieler wenigen Individuen und ein
ſolches Studium hat His jegt noch nicht flattgefunden,, wenigſtens nicht mit
einem ſolchen Refultat. Unſere eigenen dazu Beiträge fönnen, wir wiſſen das
wohl, nur dürftig und jchwach fein, aber wir bieten fie gern und bereit»
willig dar und Hoffen, daß fie bei Denen, für die fie beſtimmt find, bei⸗
fällige Aufnahme finden werben.
Burns tauchte gleich als eine wunderbare Erfcheinung vor der Welt
auf und ward in diefer Figenichaft auf die gewöhnliche Weife mit lautem,
unklarem, lärmendem Erſtaunen begrüßt, welches fehr bald in Tadel umd
Bernadhläffigung überging, bi fein frübzeitiger und beflagenswertber Tod
einen Enthufiasmus für ihn erweckte, welcher, beſonders da fih nun nichts
mebr thun, wohl aber viel ſprechen ließ, ſich bis auf unfere Zeit verlängert
hat. Allerdings find die „neun Tage“ ſchon längft um und eben vie
Fortdauer jenes Rärmend beweiſt, daß Burnd fein gemeined Wunder war.
Demgemäß erjcheint er ſelbſt nüchtern urtheilenden Gemüthern, wo er
im Verlauf der Jahre immer ausſchließlicher auf fein eigenes ihm inwohnen⸗
des Verdienſt fi) retucirt Hat und jegt als jenes zufälligen Glanzed ent
fleidet betrachtet werden kann, nicht blos als ein ächter britischer Dichter,
fondern auch al8 einer der bedeutendflen britifchen Männer des acdhtzchnten
Jahrhunderts.
Man wende nicht hiergegen ein, daß er wenig gethan habe. Er that
viel, wenn wir erivägen wo und wie. Wenn das Werk, weldhes er au
führte, flein war, fo müflen wir betenfen, daß er ſelbſt feine Materialien
zu entdecken hatte, denn das Metall, in welchem er arbeitete, lag unter dem
wüften Moorboben verborgen, wo fein Auge ale das feine das Vorhanden⸗
fein eines folchen Metalld errathen hatte, und wir können faft fagen, taß er
mit feiner eigenen Hand auch die Werkzeuge zum Verarbeiten deſſelben erk
formen mußte, denn er fand fich in der tiefiten Dunkelheit, ohne Hülfe,
ohne Unterriht, ohne Modell, oder blos mit Modellen der niedrigfien
Gattung.
Ein Mann von Erziehung und Bildung ſteht gleichſam in der Mitte
eines unermeßlichen Arſenals und Magazins, das mit allen Waffen und
Maſchinen angefüllt iſt, welche der Scharfſinn des Menſchen ſeit den früheſten
— — — m — — — —
143
Beiten erfonnen, und er arbeitet vemgemäß mit einer Kraft, die er allen
früheren Jahrhunderten entlehnt Hat.
Wie ganz anders ift dagegen die Lage Defien, der außerhalb dieſes
Arfenals fieht und fühlt, daß die Thore deffelben entweder geflürmt oder
auf ewig vor ihm verfchloffen bleiben müflen. Seine Mittel find die ge⸗
wöhnlichſten und plumpften ; die verrichtete Arbeit an und für fich ift Fein
Mapftab feiner Kraft. Ein Zwerg hinter feiner Dampfmaſchine fann
Berge verfeßen, aber fein Zwerg wird fie mit der Spighade hinweg⸗
räumen und nur ein Titan kann ſie mit feinen Armen von der Stelle
ſchleudern.
In dieſer letztern Geſtalt erſcheint Burns. In dem proſaiſchſten Zeit⸗
alter geboren, welches Britannien je gekannt, und in den unguͤnſtigſten
Derbältnifien, wo fein Geift, wenn er trgend Etwas vollbrachte, es unter
dem Drud fortwährender, fehwerer, körperlicher Arbeit, ja des Mangels und
der niederfchlagenden Furcht vor den ſchlimmſten Uebeln vollbringen mußte,
ohne eine andere Beihülfe als die Kenntniß, welche in der Hütte des Ar⸗
nıen wohnt, und die Gedichte eines Ferguſon oder Ramſay ald Mapftab der
Schönheit, erliegt er allen diejen Hinderniffen dennoch nicht. Durch die
Nebel und die Binfterniß diefer dunkeln Region erkennt fein Luchsauge die
wahren Beziehungen der Welt und des Menjchenlebend ; er wächft zu geifti=
ger Kraft heran und erwirbt fih Intelligenz und Erfahrung. Vorwaͤrts ge⸗
trieben durch die Erpanflubemegung feines elaftiichen Geiſtes ſucht er einen
allgemeinen Ueberblick zu erringen und legt mit flolger Beicheidenheit uns
als die Frucht ſeiner Arbeit ein Geſchenk vor, weldyes die Zeit nun für uns
vergänglich erflärt hat.
Hierzu fommt noch, daß feine dunkle, mühenolle Kindheit und Jugend
bei weitem die freundlichfte Aera feines ganzen Lebens war und’ daß er in
feinem fiebenunddreißigften Jahre ftarb, und dann frage man, ob es wohl zu
serwundern ift, daß feine Gedichte unvolllommen und von geringem Um⸗
fange find, oder dag fein Genius fih nicht die Meiſterſchaft in feiner Kunft
errang. Ach, feine Sonne jchien wie durch einen tropiſchen Tornado und
der bleiche Schatten des Todes verdunfelte fie am Mittage! In diefe hem⸗
menden Dünfte gehüllt, ſah man Burns’ Genius niemald in Elarem, azurnem
Glanze die Welt erleuchtend ; blos einige Strahlen bradden dann und wann
hindurch und färbten dieſe Wolfen mit einem Negenbogenglange, den die
Menſchen ichweigend und mit Berwunderung und Thränen betrachteten !
144
Wir find forgfältig darauf bedacht, nicht zu übertreiben, denn es if
nicht ſowohl Bewunderung, ald vielmehr Darlegung, was unfjere Lejer
bier von und verlangen, und dennoch iſt es nicht leicht, einem gewiſſen Hange
nach diefer Seite hin nicht nachzugeben. Wir lieben Burns und wir bes
mitleiden ihn, und Liebe und Mitleid find fehr geneigt, dad Gute zu
vergrößern.
Die Kritit, meint man zuweilen, müſſe ſtets eine Sache des Talten
Berftandes fein. Wir find von der Nichtigkeit diejer Anſicht nicht ſo recht
überzeugt, auf alle Bälle aber haben wir «8 hier mit Burns nicht ausichlich
lich in unjerer Eigenfchaft als Kritiker zu thbun. So wahr und ächt audı
feine Poeſte und erfcheinen muß, fo intereffirt und rührt er und doch nicht
hauptfählich al8 Dichter, fondern ald Menſch. Man rieth ihm oft, eine
Tragödie zu fchreiben , Zeit und Mittel waren ihm nicht dazu vergönnt, aber
während jeined ganzen Lebens fpielte er eine Tragödie und zwar eine ber
rührendften. Wir zweifeln, ob die Welt jemald ein jo durch unt Durch be
trübendes Schaufpiel geſehen, ob Napoleon felbft auf jeinem Bellen dem
denfenden Geift ein ſolches, Schaufpiel von Mitleid und Kurdt * einflößte,
wie diefer an und für fich etlere, ſanftere und vielleicht größere Geift, ter
fi in hoffnungsloſem Kampfe mit niedrigen Hemmniſſen verzehrte, die ſich
immer dichter und dichter um ihn ſchlangen, bis nur der Tod ihm einen
Ausweg eröffnete.
Eroberer find eine Klaſſe von Menichen, weldye tie Welt großentheils _
recht wohl entbehren Fönnte, audy kann und der ſcharfe Verftand, der rück—
ſichtloſe Stolz und der hohe, aber egoiftifche Enthuſitasmus folder Menichen |
in der Regel feine Liebe einflößen. Im beften Halle erregen fie Erftaunen |
und ihr Sturz wird wie der einer Pyramide mit einer gewiſſen Wehmuth
und Scheu betrachtet. Ein ächter Dichter aber, ein Mann, in deſſen Gerzen
ein Ausflug von Weisheit, ein Ton jener „ewigen Melotien* wohnt, if
das Foftbarfte Geſchenk, welches einer Generation verlichen werden Eann.
Mir ſehen in ihm eine freicre, reinere Entwicelung alles teffen, wa® in und
felbjt das Erelfte if. Sein Leben ijt für und eine reiche Xchre und wir be
trauern feinen Tod ald den eines Wohlthäters, ter uns lichte und lehrte.
Ein ſolches Geſchenk hatte und Lie gütige Natur in Robert Burns ver«
lichen, aber mit königlicher Gleichgültigkeit ſchleuderte fie es aus ihrer Hand
wie einen bedeutungsloſen Gegenſtand und er ward als ein eitler Tand ver—⸗
ſtümmelt und zerriſſen, ehe wir ihn erkannten. Tem unglücklichen Burns
— — —— — .
®
.
.
[ | 7 Ve — — — —
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war die Faͤhigkeit gegeben, das Leben des Menſchen ebriwürbiger zu machen,
die Fähigkeit aber, fein eigenes Leben weife zu führen, war ihm nicht ver⸗
liehen. Das Schidfal, — denn fo müflen wir in unierer Unwiflenheit fa-
gen, — feine Fehler, Die Behler Anderer waren zu fireng gegen ihn, und
jener Geiſt, deſſen Flug ein fo hoher geworden wäre, wenn er nur erft
hätte geben fönnen, ſank bald in den Staub; feine herrlichen Fähigkeiten
wurden in der Blüthe zertreten und er flarb, wie wir faft jagen können, ohne
jemals gelebt zu haben.
Und wie wohlwollend und warm war dieſes Gemäth, wie erfüllt von
angebornem Reichthum, von Liebe zu allen Iebenden und Ieblofen Dingen !
Wie fließt fein Herz über von Sympathie gegen die allgemeine Natur und
weiß felbft in ihren kahlſten Regionen Schönheit und tiefen Sinn heraus⸗
zufinden. Das Gänfeblümdyen fällt nicht unbeadhtet unter feiner Pflugſchar
- und mit liebenden finnigen Betrachtungen wirft er das verlaffene Neft des
Fleinen ſchüchternen Vogels auf die Seite. Das ehrmwürtige weiße Antlig
des Winters entzüdt ihn; er verweilt mit wehmüthiger Zärtlichkeit bei die⸗
fen Scenen erhabener Dede; die Stimme bed Sturmes aber wird ein Hoch⸗
gefang für fein Ohr. Er liebt ed, in den braufenden Wältern einherzus
fchreiten, denn dies erhebt feine Gedanfen zu ihm, der auf den Flügeln des
Windes einherichreitet. Eine ächte Dichterfeele, denn fle braudt blos be⸗
rührt zu werden, und der Klang, den fle von fi giebt, iſt Mufif!
Hauptiächlich aber beobachte man ibn im Umgange mit feinen Mit«
menſchen. Welche warme, allumfaffende Menfchenliebe, welche zunerfichtliche,
grenzenlofe Sympathie, welde großmüthige Uebertreibung des g-lichten
Gegenſtandes! Sein fchlichter Freund, fein nußbraunes Mädchen find Ihm
nichts Geringes und Sewöhnliched, fondern ein Held und eine Köniyin, die
er als die unvergleichlichften Geſchöpfe der Erde preifl. Die rauben Scenen
des ſchottiſchen Lebens, die ex nicht in arfatiicher Illuflon, ſondern in dem
Rauch und Schmug einer nur zu herben Wirklichkeit betrachtet. findet er
dennoch anzichend und liebenswürdig. Die Armuth ift allerdings ſeine Ges
fährtin, aber die Liebe und der Muth auch; die einfachen Gefüble, Die
Würde, der Edelfinn, die unter dem Strohdache wohnen, find jeinem Her⸗
zen theuer und ehrwürdig, und fo verbreitet er über die niedrigſten Regionen
des menschlichen Dafeind den Glanz feiner eigenen Seele, und fie fleigen in
Schatten und Sonnenihein mild und hell zu einer Schönheit empor, welche
andere Augen nicht in ven höchſten erkennen.
Gariple. IV. 10
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Dabei befigt er ein gerechte Selbftbewußtjein, welches nur zu oft in
Stolz; ausartet, und dennoch iſt es ein edler Stolz, ber fi blos verthei«
digt, nicht angreift; Fein Faltes, mißtrauifches Gefühl, fondern ein offenes,
freie® und gefelliges. Der Dorfdichter geberdet fih, wir möchten fagen,
wie ein König im Eril; er fieht fih unter die Beringen verfeßt und fühlt
fich gleichwohl den Vornehmften ebenbürtig. Aber dennoch beanfprucdht er
feinen Rang, damit ihm feiner fireitig gemacht werde. Die Boreiligen
weiß er zurüdzumweifen, tie Uebermütbigen kann er tämpfen; Geld oder
Abnenftolz nügen ihm gegenüber nichts ; e® brennt ein Keuer in dieſem dun⸗
feln Auge, gegen welches die „Injolenz der Herablaſſung“ nichts ausrichten
kann. In feiner Erniedrigung, in feiner äußerfien Noth vergißt er nicht
auch nur einen Augenblid lang die Majeflät der Poeſie und bed Men-
ſchenthums.
Und dennoch, fo hoch er fih auch über gewöhnliche Menſchen erhaben
fühlt, ſondert er ſich doch nicht von ihnen ab, ſondern miſcht ſich theilneh⸗
mend in ihre Intereſſen, ja er wirft fih ihnen in die Arme und bittet fie
gleihfam ihn zu lieben. Es ift rührend zu ſehen, wie felbft in jeiner
fchwärzeften Verzweiflung diefer folge Mann noch bei der Freundſchaft Hülfe
fucht, oft vor dem Unwürdigen fein Herz ausſchüttet und unter Thränen an
fein glühende8 ‚Herz ein Gerz drüdt, weldes nur den Namen der Freund⸗
ſchaft kennt. Lind dennod) war er ein Mann von fharfem Blick, welder
eine gewöhnliche Masfe fofort durchſchauete, währen? dennoch gleichzeitig
eine großmüthige Leichtgläubigfeit in feinem Herzen wohnte.
Und jo zeigte fih unfer Bauer unter und; „eine Seele gleich einer
Aeoldharfe, in deren Saiten der gemeine Wind, während er hindurchſtrich,
fih in artifulirte Melodien verwandelte.“ Und dies war der Mann, für
weldhen die Welt feinen befleren Wirfungsfreis fand, als ſich mit Schmugg⸗
lern und Weinwirtben herumzuftreiten, tie Accifegebühren von Talg zu be»
rechnen und Bierfüfler zu aichen! Mit folhen Arbeiten mußte diefer ge⸗
waltige Geift fih auf Elägliche Weile abmühen und Hunderte von Jahren
können vergeben, ehe die Wiederholung eined ſolchen Mißbrauches mög—
lich iſt.
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Alles, was von Burns noch übrig iſt, Die Schriften, die er zurückge⸗
laflen, jcheinen uns, wie wir ſchon oben andeuteten, nicht mehr als ein arm⸗
feliges, verflümmeltesd Bruchtheil von dem, was in ihm war; Furze, unter-
brochene Blicke eines Genius, der ſich niemals vollftändig zeigen Fonnte, dem
zur Bollftändigfeit Alles fehlte — Kultur, Muße, wirklicher Fleiß, ja fogar
Lebensdauer. Seine Gedichte find mit kaum einer Ausnahme bloße gelegent-
liche Ergießungen, die er ohne Tange Vorberüberlegung ausftrömt und durch
bie fich eben darbietenden Mittel die LXeidenihaft, die Meinung oder Laune
ter Stunde ausdrüdt. Niemald war es ihm auch nur in einem Kalle ver-
gönnt, irgend einen Gegenſtand mit der vollen Sammlung feiner Kraft zu
erfaffen, in dem concentrirten euer jeined Genius zu ſchmelzen und zu
formen.
So unvollfommene Fragmente nad den firengen Negeln ter Kunft zu
prüfen, wäre nicht blos unnüg, fondern auch unbillig. NichtSdeftomentger
aber liegt etwas in diefen Gedichten, fo unentwidelt und mangelhaft fie auch
find, was felbft dem wählerifchfien Sreunde ter Poefle es unmöglich macht,
an ihnen vorüberzugehen, ohne davon Notiz zu nehmen. Irgend eine daus
ernde Eigenſchaft müflen fle befigen, denn nach fünfzig Jahren der abenteuer=
lichſten Veränderungen des poetiſchen Geſchmacks werden fle immer noch ge=
lefen, ja immer begieriger und in immer weiteren Kreijen, und zwar nicht
blos won Riteraturfreunden und der Klaffe, auf welche vorübergehende Ur⸗
ſachen am flärkften einwirken, fondern von allen Klaffen, bis berab zu ter
ungebildeten und wahrhaft natürlichen Klafle, welche wenig lieſt, ganz be»
ſonders aber Feine Gedichte, ausgenommen wenn fle Vergnügen daran findet.
Die Gründe einer fo eigenthümlichen und umfafjenden Popularität, die
fih in buchſtäblichem Sinne vom Palaft bis herab zur Hütte und über alle
Negionen erſtreckt, wo die englifche Sprache geiprochen wird, find wohl einer
genauen Erörterung werth und ſcheinen nothwendig auf einen feltenen Vorzug
in dieſen Werfen fließen zu lafien. Worin aber befteht diefer Vorzug?
Die Beantwortung diefer Brage wird und nicht weit führen. Burns’
Borzug gehört allerdings zu den feltenften, ſowohl im Reiche der Pocfte, als
in dem der Proſa; gleicyzeitig aber ift er auch klar und leicht zu erkennen
— es ift feine Aufrichtigkeit, feine unbeftreitbare Miene der Wahr:
heit. Hier giebt es feine gefabelten Leiden oder Breuden ; Feine hohlphan⸗
taftifchen Sentimentalitäten, fein an Drähten gezogened Raffinement des
Gedankens oder des Gefühls. Die Leidenfchaft, welche und gejchildert wird,
10*
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bat wirklich in einem lebenden Herzen geglüßet ; die Meinung, bie er aus⸗
ſpricht, ift aus feinem eigenen Verſtändniß hervorgegangen und ein Licht auf
feinem Wege geweien. Gr fohreibt nit vom Hörenfagen, fondern nad
eigener Anſchauung und Erfahrung; die Umgebungen, in deren Mitte ex
gelebt und fi gemüht Hat, find es, die er ſchildert, dieſe Umgebungen, fe
rauh und beſcheiden fie find, haben ſchöne Gefühle, edle Gedanken und bes
ſtimmte Entſchlüſſe in jeiner Seele entzüutet und er ſpricht aus, was in ihm
ift, nicht in Folge eines äußeren Rufs der Eitelkeit und des Interefie, ſon⸗
dern weil fein Herz zu voll if, um ſchweigen zu können. Er fpridt es mit
der Melodie und der Modulation aus, die ihm zu Gebote ſteht, „in beimifche
laͤndlichem Klingflang“, aber diefer ift fein Cigenthum und ädt.
Hierin ruht das große Geheimniß, Leſer zu finden und zu behalten,
und Der, welder Andere rühren und überzeugen will, muß allemal erſt ges
rührt und überzeugt fein. Horaz' Regel „Si vis me flere“‘, ift in einem
weiteren Sinne ald dem blos buchftäblichen anwendbar. Zu jedem Dichter, zu
jedem Schriftfteller mödten wir jagen: Sei wahr, wenn Du wünfcheft, daß
man Dir glaube. Der Menſch möge nur mit ächtem Ernfle den Gedanken,
das Gefühl und den wirklihen Zuftand feines eigenen Herzens außfprechen,
und andere Menfhen — fo wunde: bar find wir Alle dur das Band der
Sympathie an einander gefeſſelt — müflen und werben ihn beachten. Un
Bildung, an Ueberblid können wir über dem Sprecher ſtehen oder unter
ihm , aber in beiden Ballen wert n feine Worte, bafern ſie nur ernft und
aufrichtig find, einen Wiederhall in unferem Junern finden, denn troß aller
zufälligen Verfchiedenheiten in Auntcrem oder innerem Hang antwortet do
das Herz ded Menſchen dem Menſchen wie Geſicht dem Gefſicht.
Dies Tann ein fehr einfached Brinzip zu fein ſcheinen, deſſen Ent-
dedung Burns eben nidt zum großen DVerbienft angerechnet werden könne.
Allerdings ift die Entdeckung aud in der That ziemlich leicht, aber die praf-
tiſche Anwendung tft durchaus nicht Teicht, ja fle ift die Hauptſchwierigkeit,
mit welcher alle Dichter zu kämpfen haben, und die von hundert kaum einer
wirflih überwindet.
Ein Kopf, der zu flumpf if, um das Wahre vom Falſchen zu unter
ſcheiden, ein Herg, welches zu ſtumpf ift, um das Eine auf alle Gefahr bin
zu lieben und dad Untere troß aller Verſuchungen zu baflen, find einem
Schriftſteller gleich verderblich. Mit einem diefer Fehler oder — wie dies
häufiger der Ball ift — mir beiden verbinde man Liebe zur Auszeichnung,
7 m. mn — —
149
den ſelten fehlenden Wunſch, originell zu ſein, und wir haben Affectation,
den Fluch der Literatur, ebenſo wie die Heuchelei, ihre aͤltere Schweſter, der
Fluch der Moral iſt.
Mie oft tritt und in der Boefle ebenfo wie im Leben die eine und die
andere gegenüber! Selbſt große Dichter find nicht immer frei von diefem
Lafter, ja einem gewiſſen Grade von Größe ſcheint ed am häuſtgſten innezu⸗
wohnen. Heftiges Streben nad Auszeichnung tröftet ſich zuweilen auch mit
einem bloßen Schatten ded Erfolgs, und Der, welcher viel zu entfalten bat,
wird e8 zuweilen nur unvolllommen entfalten.
Byron 3.8. war kein gewöhnlicher Menſch, und dennoch, wenn wir feine
Poefie nach diefer Seite hin unterfuchen, fo werden wir finden, daß fle fehr
weit entfernt if, fehlerlos zu fein. Im Allgemeinen gefprochen möchten wir
fagen, fe ſei nicht mehr. Er erfriſcht uns nicht mit der göttlihen Quelle,
fondern nur zu oft mit gemeinen ſtarken Blüffigkeiten, die für den Geſchmack
allerdings anreizend find, aber fehr bald mit Widerwillen oder fogar Uebel⸗
keiten enden. Sind feine Harolds und Giaurs, möchten wir fragen, wirk⸗
liche Menſchen, wir wollen damit ſagen, poetifheconiequente und denfbare
Menſchen? Sceinen nicht diefe Charaktere, fcheint nicht der Charakter
ihres Autors, welcher mehr oder weniger durch fie alle hindurchſchimmert,
vielmehr ein für die Gelegenheit angelegter Gegenfland zu fein, feine natürs
liche oder mögliche Weile des Dafeins, fondern Etwas, was viel großartiger
ausichen foll al8 die Natur? Ganz gewiß haben alle diefe ſtürmiſchen Ago⸗
nien, biefer vulfanifche Heroismus, dieſe übermenichliche Verachtung und
rabenſchwarze Verzweiflung mit einem ſolchen Aufwand von Augenverdrehen
und Zähnefnirihen und anderem fchwefeligem Humor mehr Achnlichkett mit
der Gouliffenreißerei eines Schaufpielers in irgend einer geringfügigen Tra-
gödie, welche drei Stunden kauern foll, als mit der Haltung eined Mannes
im ernften Spiel des Lebens, welches flebzig Iahre dauern fol. Nach un»
ferm Gefühl Liegt ein Anflug diefer Art, etwad, was wir theatralifch, falſch
und affectirt nennen möchten, in jeder diefer fonft io gewaltigen Dichtungen.
Vielleicht ift „ Don Iuan *, befonders in feinen Tegteren Theilen, das cinzige,
einigermaßen aufrichtige Werk, welches er jemals gefchrieben, das ein»
zige Werk, worin er ſich einigermaßen zeigte wie er war, und ſich fo für fei«
nen Oegenftand zu interejfiren ſchien, daß er ſich auf Augenblide vergaß.
Und dennoch haßte Byron dieſes Laſter; wir glauben, daß er es herz⸗
lich verabfcheute, ja, er hatte ihn mit Worten förmlich den Krieg erklärt.
150
So ſchwer ift e8 ſelbſt für die flärffien Geifter, fich dieſes erfle Erforderniß
anzueignen, weldyed gleihwohl dad einfachfte von allen zu fein fcheint, naͤm⸗
lich das eigene Bewußtjein richtig und ohne unwillkührliche oder vorfäglice
Irrthümer zu lefen. Wir Eennen feinen Dichter von Burns' Empfänglich⸗
keit, der mit einem fo gänzlihen Mangel an Affectation vor uns erfcheint
und bis auf den legten Augenblid in terfelben Weiſe bei und ausharrt. Er
iſt ein ehrlicher Mann und ein ebrliher Schriftfteller, in feinen Erfolgen
und in feinen Niederlagen, in feiner Größe und in feiner Kleinheit iſt er
ftets Far, einfach, wahr und jhimmert nur im eigenen Glanze. Wir hal⸗
ten Dies für eine große Tugend, ja in der That für die Wurzel der meiften
anderen Tugenten, literarifcher ſowohl als moraliſcher.
Hierbei müffen wir jedoch bemerfen, daß wir jett blod von Burn#’
Gedichten Sprechen, von ten Schriften, welche er Zeit hatte, zu überlegen,
und wo fein fpezieller Grund vorhanden war, fein kritiſches Gefühl irre zu
leiten oder fein Streben zu hemmen. Diele feiner Briefe und andere feiner
profaiichen Schriften verdienen dieſes Rob Eeineswegd. Hier herricht ohne
Zweifel nicht dieſelbe natürliche Wahrheit des Styls, fondern im Gegen-
theile etwas nicht blos Steifes, ſondern Gezwungened und Verzerrted, ein
gewifler, hocdhtrabender, aufgebläheter Ton, deffen gefpreizte Emphafe zu der
Feſtigkeit und rauhen Einfachheit felbft ſeiner geringfügigften Berfe einen
unangenehm berührenden Gegenjug bildet,
Auf tiefe Weife jcheint e8, als fei eigentlich Fein Menſch ganz frei von
Affectation. Ueberlegt Shakſpeare felbft nicht zuweilen den leerfien Roms
daft! Aber ſelbſt mir Yezug auf diefe Briefe von Burnd verlangt Die Ge⸗
rechtigkeit, zu erklären, daß er zwei Entſchuldigungen hatte.
Die erfle war feine verhältnigmäßige Unbeholfenheit in Bezug auf die
Sprache. Burns ift, obfhon er größtenthrils mit ganz eigenthümlicher Kraft
und fogar Anmuth ſchreibt, nicht Meifler der englichen Proja, wie er Mei»
ſter des ſchottiſchen Verſes ift; er iſt der erftern nicht Meifter, meinen wir,
im Verbältniß zu der Tiefe und dem euer feines Gegenflanded. Diefe
Bricfe fommen und vor, wie das Beſtreben cined Mann, etwad auszu⸗
brüden, zu defien Austrud ihm das geeignete Organ abgeht.
Eine zweite und wichtigere Entichuldigung aber liegt auch in ter eigen⸗
tbümlichen focialen Stellung, welhe Burns einnahm. eine Correipon-
benten find oft Leute, deren Verhältniß zu ihm er niemald genau ermittelt
Hat, gegen Die er fidh daher entweder im Voraus waffnet, oder denen er,
151
ohne es zu wiflen, fehmeichelt, indem er den Styl annimmt, von tem er
glaubt, daß er ihnen gefallen werde.
Auf alle Fälle dürfen wir auch nicht vergeflen, daß diefe Fehler felbft
in feinen Briefen nicht die Regel, fondern die Ausnahme find. So oft ex
— wie man freilich gern Immer möchte — an vertraute Freunde und über
wirkliche Interefien fchreibt, wird fein Styl einfah, Eräftig, austruddnoll,
zuweilen fogar ſchön. Seine Briefe an Mrs. Dunlop find durchweg vor»
trefflich.
Doch kehren wir zu feiner Poeſie zurüd. Außer feiner Aufrichtigkeit
befigt er noch ein anderes eigenthümliches Verdienft, welches im Grunde ges
nommen nur eine andere Geltung oder vielleicht auch ein Mittel des erfl«
erwähnten ift und fid in der Wahl feines Gegenflanded zeigt oder vielmehr
in feiner Gleichgültigkeit in Bezug auf Gegenflände und die Macht, die er
befigt, alle Gegenftände intereffant zu machen. Der gewöhnliche Dichter
fucht ebenfo wie der gewöhnliche Menſch fortwährend in Äußeren Umftänden
die Hülfe, welche er nur in fi finden fan. In dem, was genau befannt
und nahe ift, erfennt er feine Form oder Anmuth; die Heimath iſt ihm
nicht poetifch, fondern profalich ; e8 iſt eine vergangene, ferne, conventionell⸗
beroifche Welt, wo die Poefle wohnt; wäre er dort und nicht hier, wäre er
fo und nicht fo, fo wäre ed gut mit ihm.
Daher rührt jene unzählige Schaar rofenfarbener Romane und ges
panzerter Heldengedichte, deren Schauplag nicht auf der Erde, fondern etwas
näher bein Mond iſt. Daher rühren unfere Sonnenjungfrauen und unfere
Kreuzfahrer, graulame Saracenen in Turbanen und Eupferfarbene Häupt⸗
linge mit Wampumfchnuren und fo viele andere unheimliche Geftalten aus
den heroiſchen Zeiten oder in den heroiſchen Klimaten, von welchen es überall
in unjerer Poefle wimmelt.
Friede fei mit ihnen! Uber dennoch möchten wir den Dichtern dieſelbe
Predigt halten, die ein großer Morallebrer den Menfchen feines Jahrhun⸗
dertö zu halten wünfchte, nämlich eine Predigt „über die Pflicht, zu Haufe
zu bleiben.“ Mögen fie überzeugt fein, daß beroifche Zeitalter und heroiſche
Klimate nur wenig für fle thun Eönnen. Diefe Form des Lebens hat etwas
Anzichendes für uns, weniger, weil fie beſſer oter edler ift ald unfere eigene,
als einfach deshalb, weil fle verfchieden ift, und ſelbſt Diefer Reiz kann nur
von der vorübergebenpften Art fein. Denn wird nicht unjer eigenes Zeit⸗
alter dereinft ebenfalls ein altes fein und ein eben fo altväteriiches, fonder-
bares Goftüm Haben wie bie übrigen, fo dab es zu dieſen keinen Gegeniak
mebr bildet, fondern mit ihnen auf gleicher Stufe ſteht? Interefftrt uns
jet Homer, weil er über Das rich, was außerhalb feines griechiſchen
Baterlandes und zwei Jahrhunderte vorher, che er geboren ward, vorging,
oder weil er Das ſchrieb, was in Gottes Welt und in dem Herzen bed Men⸗
fen vergeht und was nach dreißig Jahrhunderten noch immer bafjelbe it?
Darauf mögen unſere Dichter wohl achten. IR ihr Gefühl wirklich ſchoͤner,
wahrer und ihr Blick tiefer als der anderer Menſchen, fo haben fie nichts
zu fürchten, ſelbſt nicht von dem beicheidenften Begenflande ; iſt dem nicht
fo, fo haben fie ſelbſt von dem höchſten nichts zu hoffen als eine ephemere
Gunſt.
Der Dichter, meinen wir, kann nach einem Gegenſtande niemals weit
zu ſuchen haben. Die Elemente feines Kunſt liegen in ihm und rings um
ihn ber ; für ihn if die ideale Welt nicht von der materiellen getrennt, ſon⸗
dern in derfelden enthalten — ja er iR eben deshalb ein Dichter, weil er fie
bierin erfennen kann. Meberall, wo ein Himmel über ihm und eine Welt
um ihn if, da iſt der Dichter an feinem Orte, denn auch hier if Renſchen⸗
dafein mit feinen unendlichen Wünſchen und Kleinen Errungenichaften, feinen
ewig veseitelten, ewig erneueten Beftrebungen, feinen Befürchtungen und
Hoffnungen, welche durch die Ewigkeit fchweifen und all dem Gcheimniß von
Glanz und Nackt, aus dem es von jeber in jedem Zeitalter oder Klima ge⸗
ſchaffen worden, feitdem der erſte Menſch zu leben begann. Iſt nicht jedes
GSterbebett, wäre es auch das eines Bauern und von trodenem Laub, ber
fünfte Act einer Tragödie? Und find denn Liebesgefchichten und Hochzeiten
veraltet, Daß Feine Komödie mehr flattfinten kann? Oder ift der Mewich
plöglih fo weile geworden, daß fein Gelächter mehr feine Lenden er-
fhüttert ?
Das Leben und die Natur des Menichen find wie fle waren umd ſtets
fein werden. Der Dichter aber muß ein Auge haben, um bieie Dinge zu
lefen, und ein Herz, um fie zu verflehen, oder fie fommen und geben an ihm
vergebens vorüber. Er ift ein vates, ein Seher, ihm ift die Gabe der Viſton
verliehen. Hat Tas Leben Feine Bedeutungen für ihn, die ein Anderer nicht
mit derjelben Leichtigkeit entziffern kann, dann ift er fein Dichter und Delphi
ſelbſt würde ihm nicht zu einem machen.
In diejer Beziehung bethätigt Burns, obſchon vielleicht nicht abſolut
ein großer Dichter, feine Faͤhigkeit befler und beweiſt die Aechtheit feines
“iin, 3 U 2 GE | | CE mal — N EEE nm N — ER
153
Genins mehr, als wenn er eine weit größere Anzahl von Werken Hinter
lafien hätte, als wir von ihm wirklich Gefigen. Gr zeigt fi wenigſtens als
einen von der Natur felbR geichaffenen Dichter, und bie Ratur if, im
Grunde genommen, immer noch das Hauptagens bei Erſchaffung von
Dichtern.
Wir hören oft von dieſer und der anderen äußeren Bedingung, die
angeblih zur Exiſtenz eines Poeten erforderlich if. Zuweilen iR es eine
gewifie Drefiur; er muß gewifle Dinge, 3.8. „die älteren Dramatiker” ſtu⸗
dirt und auf dieſe Weile eine poetiſche Sprache gelernt haben, als ob bie
Poeſte in der Zunge, nicht im Herzen läge. Andere wieder behaupten, ber
Dichter müfle in einem gewiffen Stande geboren fein und auf vertrauten
Fuße mit den höhern Klaſſen fichen, weil er vor allen Dingen die Welt
fehen müfle. Was das, bie Welt jehen * betrifft, fo glauben wir, daß dies ihm
geringe Schwierigkeit machen wird, fo bald er nur Augen bat, um zu feben.
Ohne Augen freilih möchte die Aufgabe eine fchwierige fein. Der Blinde
oder der Kurzfihtige „reift von Dan nad Berſcheba und findet alles kahl
und öde. ® .
Glüucklicherweiſe aber iſt jeder Dichter in der Welt geboren und flebt
fie mit oder gegen feinen Willen jeden Tag und jede Stunde feines Lebens,
Die geheimnigvolle Maſchinerie des Menſchenherzens, das wahre Licht und
Die unergründliche Finſterniß des menſchlichen Schickſals offenbaren ſich nicht
blos in Hanptfläbten und wimmelnten Salons, fondern in jeder Hütte und
in jedem Weller, wo die Menſchen ihren Aufenthalt haben. Ja leben nicht
die Elemente aller menſchlichen Tugenden und aller menſchlichen Lafter, die
Leidenſchaften eined Borgia eben jo wie eines Luther in ſtaͤrkeren ober
ſchwaͤcheren Linien in dem Bewußtfein einer jeden Menfchenbruft gefchrieben,
die ehrliche Selbfiprüfung geübt hat ?
Zuweilen aber werden an ben armen Dichterafpiranten noch härtere
Anforderungen geflellt, denn man deutet an, daß er eigentlich zwei Jahr⸗
hunderte früher hätte geboren werben follen, weil die Poeſie ungefähr um
Diele Zeit von der Erde verfhwand und für die Menſchen nun unerreihbar
wart! Solhe Spinnwebenbehauptungen haben fih dann und wann über
dad ganze Feld ter Literatur verbreitet, aber fe hindern nicht das Wadsthum
der hier auffeimenden Pflanzen ; der Shakeſpeare oder der Burns ftreift le
unbewußt, und blos indem er weiter ſchreitet, Ichweigend hinweg. IR nicht
jeder Genius fo lange eine Unmöglichkeit, bis er zum Borfchein kommt?
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Warum nennen wir ihn neu und originell, wenn wir wußten, wo fein Mar⸗
mor lag und welches Gebäude er daraus aufbauen würde? Nicht dad Mater
rial ift e8, fondern der Arbeiter, was da fehle. Es ift nicht die dunkle
Stelle, welde hindert, fondern das trübe Auge. Das Leben eineb
ſchottiſchen Bauern war das niedrigſte und robefle von allen Leben, bis
Burns ein Dichter in demfelben und ein Dichter deſſelben ward, es ald ein
Menſchenleben und deshalb bedeutſam für alle Menſchen erfannte.
Zaufend Schlachtfelber bleiben unbefungen, aber der „verivundete Hafe“ if
nicht umgefommen, ohne feine Gedächtnißrede zu erhalten; ein Ballam des
Erbarmens Haudt und noch aus feinem ſtummen Todeskampfe an, weil ein
Dichter dabei war. Linier „ Allerheiligenabend * war feit dem Zeitalter der
Druiden fo oft unter roher Scheu und Iufligem Gelächter vorübergegingen,
aber kein Theokrit erfannte darin den Stoff zu einer ſchottiſchen Itylle, bis
Burns ed that. Wir fagen nod "einmal, man gebe und nur den wahren
Dichter, man flelle ihn wohin und wie man will und es wird an wahrer
Poefie nicht feblen. |
Abgejehen von der weientlihen Gabe des poctifchen Gefühls, fo wie
wir fie jegt zu jchildern verſucht haben, durchdringt auch ein gewifier rauher,
ächter, markiger Werth Alles, was Burns jemald geichrieben ; eine Kraft
wie von grünen Gefilden und Gebirgdlüften wohnt in einer Voeſie; fle
Duftet von natürlidem Leben und Fernigen Naturmenfhen. Es liegt eine
entichloffene Stärfe in ihm und dennoch eine fanfte, angeborene Anmuth.
Er iſt zart, er iſt heftig, aber doch ohne Zwang oder zu fihtbare Anftren-
gung; er rührt dad Herz oder entflammt e8 mit einer Gewalt, Die ihm ges
wohnt und vertraut zu fein ſcheint. Wir fehen, daß in tiefem Wanne die
Sanftmuth,, das zitternte Mitleid eines Weibes neben dem tiefinnigen
Ernte der Kraft und dem leidenſchaftlichen Beuer eines Helden wohnten.
Thränen liegen in ibm und verzehrende Gluth, jo wie der Blig in dem
Tropfen der Sommermwolfe lauert. Gr bat für fcden Ton des menjchlichen
Gefühle einen Wiederball in feiner Bruſt; das Hohe und Tas Niedrige, Tas
Zraurige, das Lächerlice, da8 Freudige — alles ift ter Reihe nach tiefem
„leicht gerührten und Alles umfafienden Beifte* willfommen.
Und man bemerfe, mit weldyer wilden, schnellen Kraft er feinen Gegen⸗
fland ergreift, fei derfelbe, weldher er wolle! Wie er gleichjam das volle
Bild der Sache ind Auge faßt; voll und Flar in jedem Lineament, und den
wirflihen Typus, das wahre Sein des Objectes unter taufend zufälligen
— — — — DU) [Fu oz —
155
und oberflächlichen Yimfländen erfennt, von welchen auch nicht ein einziger
ihn Irrezuleiten vermag. Gicht e8 eine Wahrheit zu entdecken? Keine So⸗
phiftif, Keine eitle, oberflächliche Logik Hält ihn zurück; raſch entſchloſſen mit
untrüglicher Sicherheit dringt er in das Mar der Frage ein und fällt feinen
Ausſpruch mit einer Emphafe, Die man nie vergißt. Gilt es eine Beſchrei⸗
bung, die Darftellung eines fihtbaren Gegenflanded? Kein Dichter irgend
einer Zeit oder einer Nation ift graphiicher als Burns; die charakteriſtiſchen
Züge enthüllen fi ihm auf einen Blick, drei Zeilen von feiner Hand und
wir haben ein Portrait. Lind in diefem rauhen Dialekt, in diefem plum⸗
pen, oft unbebolfenen Metrum ein fo flared und beflimmtes Portrait! Er
gleiht darin einem Zeichner, der mit einem verfoblten Stäbchen arbeitet,
und doch ift der Grabſtichel eines Retſch nicht ausdrucksvoller oder eracter.
Diefe Schärfe ded Blicks haben wir die Grundlage alled Talentes ges
nannt, denn in der That, wenn wir unfern Gegenftand nicht fehen, wis
follen wir dann wiflen, wie wir ihn in unierem Verftändniß, unferer Phan«
tafle und unferen Neigungen zu placiren oder zu Ichägen haben? Und den-
noch ift dies an und für fich vielleicht fein fehr hoher Vorzug, fondern kann
eben fo mit dem größten ald auch mit dem gewöhnliähfien Talent in Ver⸗
bindung fliehen. Homer übertrifft in diefer Eigenfchaft alle anderen Dichter
und Schriftfteller, ionderbarerweife aber ſtehen Richardſon und Defoe nicht
tief unter ihm. Sie gehört in ter That dem, was man einen lebhaften
Geiſt nennt, und giebt Feine fihere Andeutung in Bezug auf tie höheren
Begabungen, welche daneben criftiren fönnen. In den fänmtlichen von uns
erwähnten drei Bällen ficht fie mit großer Geihwägigfeit in Berbintung;
die Schilderungen find detaillirt, weitfchweifig und liebend genau; Homer's
Feuer bricht dann und wann wie zufällig hindurch, Defoe und Richardſon
aber haben fein Feuer.
Burns Dagegen zeichnet fi durch die Klarheit feiner Gedanken eben fo
aus, ald durch die ungeflüme Kraft derfelben. Bon der durchdringenden Eim-
phafe, mit welcher er dachte, giebt Die Emphaſe des Ausdrucks einen Fleinen,
aber den ſchlagendſten Beweis. Wer äußerte je denkwürdigere Worte, denk⸗
würdig bald durch ihre glühende Heftigkeit, bald durch ihre kühle Kraft und
lakoniſche Kürze und Präcifion? ine einzige Phrafe malt oft einen gan«
zen Segenfland, eine ganze Ecene.
In der That, einer der leitenden Züge in Burns’ Geiſt iſt Diele Kraft
feiner fireng intelligenten Wahrnehmungen. Entſchloſſenheit und Stärke
156
find in feinen Urtheilen, in feinen Gefühlen und Willensänferungen
ſtets ſichtbar. Prefeffer Stewart fagt von ihm mit einiger DBerwun-
derung: „Ale Fähigkeiten von Burne' Geiſt waren fo weit als ich fie be
urtbeilen Eonnte, gleich kräftig und feine Vorliebe für die Boefle mehr das
Ergebniß feines eigenen enthuflaftifchen und leidenſchaftlichen Gemüthes,
als eines Genius, der ausfchliehlich für dieſe Gattung ber Geiſtesthätigkeit
gefchaffen geweien wäre. Nach feinem Geſpräch zu urtbeilen, follte ich mei-
nen, ex fei wohl fähig geweien, ſich in jeder Garriere auszuzeichnen, in wel
Ger es ibm gefallen Hätte, feine Fähigkeiten aufzubieten. *
Dies iR aber, wenn wir nicht irren, zu allen Zeiten eben daß eigen"
biche und wahre Weſen einer wirflih poetiichen Begabung geweſen. Die
Poeſie if, außgenommen in ſolchen Fällen, wo fle in weiter nichts als eimer
Hlödfüchtigen, weinerlihen Empfindfamkeit und einer gewiflen unbeflimmten
muſtkaliſchen Natur beſteht, keine getrennte Fähigkeit, fein Organ, welches
den übrigen hinzugefegt oder von ihnen binweggenonmen werden fönnte,
fondern vielmehr das Ergebniß ihrer allgemeinen Harmonie und Vollſtän⸗
digkeit. Die Gefühle, Die Begabungen, weldhe in dem Dichter exiſtiren, ind
bie, welche mit mehr oder weniger Entwidelung in jeder menſchlichen Seele
erifiren. Die Phantaſie, welche bei Dante’3 Hölle ſchaudert, iſt dieſelbe,
nur ſchwächere Bähigkeit, wie die, welche diefe Schilderung ins Dafein rief.
Der Dichter Spricht dadurch fo gewaltig zu den Menichen, weil er in jeder
Beziehung mehr Menſch ift ala fie. Shafeipeare hat, wie man fehr richtig
bemerkt, in dem Entwurfe und der Ausführung feiner Tragödien einen
Berfland — wenn es nicht mehr wäre — bewieſen, mwelder befähigt ge-
wefen wäre, Staaten zu regieren ober ein Novum Organum aufzuftellen.
Ton welder Art Burns’ Verfiandesfraft geweien fein mag, vermögen
wir weniger zu beurteilen. Sie mußte unter den befcheidenften Begenflän-
ben verweilen, befam von Philoſophie niemald etwas zu fehen und erhob
ſich nur durch natürliche Anftrengung und auf kurze Zwifchenzeiten in bie
Region großer Ideen. Nichtsdeſtoweniger liefern und feine Werke hierüber
hinreichende Andeutungen, wenn auch nicht hinreichende Beweiſe. Wir er-
Bennen die unaufhaltfamen Bewegungen einer gigantifchen, obſchon unge»
ſchulten Kraft und können verfichen, wie in der Gonverfation fein raſcher,
ficherer Einblid in Menſchen und Dinge eben fo ſehr wie feine übrigen Ei⸗
genichaften die beften Denker feiner Zeit und feines Landes in Erflaunen
fegte.
— — —ñ N —⸗— — ⸗ ——— | ir 7 map
157
Dabei aber ifl, wenn wir nicht irren, Burns’ intelleötuelle Begabung
nicht blos ſtark, jondern aud fein. Auch die zarteren Verbältnifle der
Dinge konnten feinem Auge nicht wohl entgangen fein, denn fie waren ſei⸗
nem Kerzen vertraut und gegenwärtig. Die Logif des Senats und des Fo⸗
rums iſt unerläßlich, aber nicht durchgängig ausreichend, ja vielleicht iſt die
böcfte Wahrheit die, welche ihr am ficherfien entgeht. Denn diefe Logik
wirft durch Worte und „das Höchfle,* hat man gefagt, „läßt fi durch
Worte nicht ausdrüden.” Wir haben guten Grund zu glauben, daß Em⸗
pfäuglichkeit auch für dieſe Höhere Wahrheit eines zarten, obſchon unausge⸗
Kildeten Gefühls dafür in Burns eriflirt habe. Mr. Stewart „wundert
ſich“, wie man fldh erinnern wird, an der oben citirten Stelle, tab Burns
fi) einen ganz deutlichen Begriff von der Aflociationstheorie gebildet hatte,
Wir glauben aber, daß noch weit Höhere und erhabenere Dinge als die Affo-
ciationdtheorie ihm ſchon feit langer Zeit vertraut waren. Man höre z. B.
Solgendes: j
„Wir wiflen nichts, * fohreibt er, „oder fo viel wie nidts von tem
Bau unferer Seelen, deshalb können wir uns auch nicht jene fcheinbaren
@rillen erklären, in deren Bolge wir ganz befonderd Vergnügen über Dinge
empfinden, welche auf Gcmüther anderer Art Teinen außerortentliden Ein«
drud machen. Ih habe im Frühling einige Lieblingsblumen, darunter die
Bergmaßliebe, die engliſche Hyacinthe, den Bingerhut, die Hagebutte, die
Birkenblüthe, weldye ich mit ganz befonterem Bergnügen betradite. Nies
mals höre ich das laute, einſame Pfeifen des Kibitzes während eines Som⸗
mernittags oder das wild durcheinander fahrende Gezwitſcher einer Heerde
Krammetsvögel an einem Herbfimorgen, ohne eine Erhebung der Seele zu
fühlen, die dem Euthuſtasmus der Antadıt oder der Poefie gleichkommt.
Sage mir, tbeurer Freund, worin bat dies feinen Grund? Sind wir eine
Maſchine, welde paiftv wie die Aeolsharfe den Eindruck des vorübergehen⸗
den Zufalld aufnimmt, oder faffen Tirfe Vorgänge in und auf etwas Höheres
fliegen? Ich geſtehe, daß id) Hierin Berveife jener hoben und widtigen
Wahrheit in Vezug auf Tas Dajein eines Gottes erfenne, der alle Dinge
geſchaffen, auch die geiſtige und unfterblidde Natur des Menſchen und eine
Melt von Wohl und Wehe über Tod und Grab hinaus, *
Kraft und Feinheit des Verſtandes werden oft als etwas ton allge»
meiner Kraft und Beinheit der Natur, ald enwas theilweiie Unabhaͤngiges
davon betrachtet. Die Nothwendigfeiten ter Spradye verlangen dies fo, in
158
der That aber find diele Eigenfhaften nicht unterfchieden und unabhängig,
fondern geben, ausgenommen in befondern Ballen und aus befonderen Ur⸗
fachen, ftet8 zufammen. Ein Mann von ſtarkem Berftand iſt in ter Regel
aud ein Mann von flarfem Charakter und Bartheit in der einen Hinfiht if
nicht oft von Zartheit in der andern getrennt. Auf alle Fälle ift Jedem
befannt, daß in Burns’ Gerichten die Schärfe der Einſicht mit der Schärfe
des Gefühle Schritt Halt, Daß fein Licht nicht durchdringender ift, als jeine
Wärme. Er iſt ein Mann vom leidenſchaftlichſten Gemüth, aber jeine
Zeidenichaften find nicht blos ſtark, ſondern auch edel und von der Art, wel-
(her große Tugenden und große Gedichte ihre Entftehung verdanfen. Es iſt
Ehrfurcht, es iſt Liebe gegen tie ganze Natur, was ihn begeiftert, was feine
Augen itrer Schönheit öffnet und Herz und Stimme beredt in ihrem Lobe
macht. Es iſt ein altes wahres Sprichwort, daß „Die Liebe die Kenntniß
fördert *, vor allen Dingen aber ift e8 das lebendige Weſen diefer Kenntniß,
welches Dichter macht, das erfte Prinzip ihres Wachsthums, ihres Gedeihens
und ihrer Thaͤtigkeit.
Bon Burns’ glühender, alles umfaffender Liebe haben wir fhon als
von dem großen untericheidenden Kennzug feiner Natur geſprochen, ber im
Wort und That, in feinem Leben und in feinen Schriften gleihmäßig her⸗
vortrat. Es wäre fehr leicht, Hiervon vielfältige Beijpiele anzuführen.
Nicht blos der Menſch, fondern auch Alles, was in der materiellen und mo»
raliihen Welt den Menſchen umgiebt, ift in feinen Augen liebenswürbig ;
ber Hagedorn, ter einfame Kicbig, eine Heerde Krammetsvögel, alle find
ihm theuer, alle leben mit ihm auf diefer Erde und mit allen iſt er wie zu
einer geheimnißvollen Gemeinſchaft verbunden.
Wie rührend ift es z. B., daß er in ber Düfterheit feines eigenen
Elends und während er über der winterlichen Dede, die in ihm und um ihn
berricht, brütet, an die „albernen Schafe” und „hülfloſen Vögel* denft und
ihre Leiden in dem unbarmberzigen Sturme beklagt! Er, der Bewohner ber
niedern Hütte mit ihrem durchlöcherten Dad) und geborftenen Mauer wentet
dennod jeine Gedanken den Geichöpfen zu, die nicht einmal cined jo arms»
feligen Obdaches theilhaftig find. Dies if mehr. werth als viele Predig-
ten über die Tugend der Barmherzigkeit, denn es ift die Barmherzigkeit
ſelbſt.
Burns lebt fo zu ſagen in Sympathie; feine Seele flürzt fih in alle
Regionen des Seind und nichts, was Eriftenz hat, kann ihm gleichgültig
6 — (| — — ——— —
159
fein. Sogar den Teufel kann er nicht mit richtiger Orthodorie hafſen, fon«
bern empfiehlt ihm beim Abfchied, „in fih zu gehen und ſich zu beffern. * —
„Er ift der Vater der Flüche und Lügen, * fagte Dr. Slop, „und tft ſchon
verflucht und vertammt. * — „Das thut mir leid, * fagte mein Onkel Toby.
Ein Dichter ohne Liebe wäre eine phyſiſche und metaphyſtſche Unmög⸗
lichkeit.
Hat man aber nicht ganz im Gegenfag zu dieſem Prinzip gefagt, daß
„die Entrüftung Berfe mache?“ Wan hat died allerdings gefugt und es ift
aud ganz wahr; der Widerſpruch aber iſt nur ein fcheinbarer, nicht ein
wirklicher. Die Entrüftung, welche Verſe macht, ift im Grunde genommen
umgekehrte Liebe, die Liebe zu irgend einem Recht, einem uns oder Andern
zufommenden Werth, einer Güte, welche verlegt worden und melde dieſes
flürmifche Gefühl nun zu vertheidigen und zu rächen fucht. Keine egoiftifche
Wuth des Herzens, die ald primäre Gefühl und ohne deſſen Gegenſatz
darin eriftirt, erzeugte jemald viel Poefle, denn fonft müßte der Tiger eine
ungemein poetifche Natur fein.
Johnſon fagte, er Itebe einen guten Haffer, womit er nicht ſowohl
einen meinte, welcher heftig haßte, als vielmehr einen, welcder weile haßte,
der die Nicdrigfeit aus Liebe zur Großmuth haßte. Trotz Johnſon's Para-
doxon aber, welches einmal im Geſpraͤch ganz gut angebracht fein mochte,
aber welches man nicht To oft im Drud hätte wiederholen follen, glauben
wir, daß gute Menfchen mit ihrem Hafle, mag er nun weile oder unmeife
fein, ziemlich fparfam umgehen, ja taß ein „guter“ Haſſer auf diefer Melt
ein Geſchöpf ift, welches erft noch kommen foll. Der Teufel wenigftens, der
für den größten und beften diefer Klaſſe gilt, fol, wie man jagt, ein keines⸗
wegs liebendwürdiger Charafter fein.
Don den Berfen, welche die Entrüftung madt, bat Burns und eben«
falld Proben gegeben unt fie gehören zu den beften, was wir in diefer Be⸗
ziehung beflgen. Wer könnte feinen ‚„„Dweller in yon Dungeon dark‘ ver«
gefien, ein Gedicht, in welchem man den Gefang der Surien des Aeſchylos
zu hören glaubt?
Warum follten wir von „‚Scots, wha hae wi’ Wallace bled“ fpredıen,
da Alle, vom König an bis zum geringften feiner Unterthanen herab, dieſes
herrliche Gedicht kennen? Diefe Dithyrambe ward zu Pferte gedichte, als
Burns während eines raſenden Sturmes über ein ödes Moorland hingalop-
pirte. Es geſchah dies in Begleitung eines Mr. Syme, der, ald er bie
1
Diene dei Poeten bemerkte, fi enthielt zu ſprechen, woran er fehr Flug
that, denn es möchte nicht gerathen geweien fein, mit einem Manne zu fpie
len, weldyer ‚„‚Bruce's Address‘‘ dichtete. Ohne Zweifel tang biefe ernfle
Hymne fi, während er fie fchuf, durch Burns’ Seele, dem äußern Ohre
aber mußte fie aus ber Kehle des Wirbelwindes gefungen werden. So
lange als noch warmes Blut in dem Herzen eines Schotten oder eines Men
ſchen rinnt, wird es auch durch diefen Kriegsgeſang in Wallung verjekt
werden, denn es iſt, glauben wir, der beſte, der jemals von irgend einer
Feder geſchrieben worden.
Ein zweiter wild ſtürmiſcher Geſang. der mit ſeltſamer Zaähigkeit in
waferm Ohr und Herzen weilt, if „Macpherfon's Abſchied.“ Vielleicht
legt Hier in der Tradition felbft etwas, was mit dazu beiträgt. Denn war
diefer grimmige Celte, dieſer zottige Nordland Cacus, der „ein Leben des
Kampfes und Streites Ichte und durch Verrath feinen Tod fand *, nicht auch
einer der Nimrode und Napoleons der Erde in der Arena feiner fernen,
nebeligen Schluchten, in Ermangelung einer helleren und weiteren? Ja,
war ihm nicht eine gewifie Beimiſchung von Grazie verliehen? ine Fiber
der Liebe und Sanftheit, ja fogar der Boefle, muß in feinem wilden Herzen
gelebt haben, denn er tichtete diefen Geſang in der Nacht vor jeiner Hin⸗
ribtung ; auf den Schwingen diefer ſchlichten Melodie ſchwebte feine beſſere
Seele hoch empor über Vergeſſenheit, Schmerz und all den Schimpf und die
Verzweiflung, bie gleich einer Lawine ihn in den Abgrund binabichleuderten.
Hier auch wie in Theben und in Pelops’ Geſchlecht Tämpfte Dad materielle
Schickſal gegen den freien Willen des Menfchen und die ätheriiche Seele
fan ſelbſt in ihrer Blindheit nicht ohne einen Schrei, der fle überlcht bat.
Mer aber außer Burns hätte einer foldhen Seele Worte leihen können,
— — —
Worte, denen wir niemals ohne ein ſeltſames, halb barbariſches, halb poe⸗
tiſches Mitgefühl lauſchen können?
In einem freundlicheren Gewande offenbart ſich daſſelbe Prinzip der
Liebe, welches wir als die große charakteriſtiſche Eigenſchaft Burns' und aller
wahren Dichter anerkannt haben, dann und wann auch in der Form Ted
Humord. MUeberhaupt rollt in feinen fonnigen Launen ein voller Strom
der Heiterkeit durch Burns’ Geiſt; er erhebt fih zu Dem Hohen und lüpt
fih herab zu dem Tiefen und iſt Bruder und Spielgenofi der ganzen Natur.
Wir fprechen nicht von feiner fühnen und oft unwiderfichliden Fäbigkeit
zum SKarrifiren, denn diefe ift mehr drollig ald humoriſtiſch, jondern es
— U __ sun 7 En ou EG nn je DE | U u —D—
161
wohnt auch ein viel zarterer Scherz in ihm, der dann und wann in hell⸗
leuchtenden Funken zum Borfchein fommt, wie 3. B. in feiner „ Anrede an
die Maus” oder in feiner „Elegie auf die arme Mailie*, weldes letztere
Gedicht als feine glücklichſte Leiftung in dieſem Genre betrachtet werden
Tann. In diefen Gedichten zeigen ſich Züge eines Humors, der eben fo ſchön
iſt als Sterne’d, aber dabei doch ganz verfchteden, originell und eigenthüm⸗
li, denn es ift nicht Sterne'3 Humor, fondern Burns'.
Ueber die BZartheit, das Pathos und viele andere verwandte Eigen-
ihaften von Burns’ Poefte ließe ſich noch weit mehr fagen; bei den und ges
ſteckten engen Grenzen einer Skizze jedoch müflen wir nun von diefem Theile
unfered Gegenftandes Abjchied nehmen. Wollten wir auf angemefjene und
ausführliche Weife in die Beſprechung feiner einzelnen Schriften eingehen,
fo würde und dies weit über die eben bezeichneten Grenzen hinausführen.
Wie wir ſchon andeuteten, können wir nur wenige diefer Pitcen als
ſolche trachten, welche in ftreng Fritifher Sprache den Namen von Gedichten
verdienen. Sie find gereimte Beredtfamkeit, gereimtes Pathos, gereimter
Verſtand und doch felten weſentlich melodifch, Tuftig und poetiſch. Selbſt
„Tam 0’ Chanter*, der ſich einer fo bedeutenden Gunſt erfreut, ſcheint uns
nit ganz entſchieden unter diefe letzte Kategorie zu gehören. Es iſt nicht
fowohl ein Gedicht, ale vielmehr ein Werk brillanter Rhetorik. Das Herz
und der Körper der Gefchichte liegen noch fleif und todt da. In jenes dunkle,
ernfte, ſtaunende Zeitalter, wo die Tradition geglaubt warb und aus welchem
fie fi Herleitet, führt er und nicht zurück; er verſucht nicht durch Linfor-
men feiner übernatürlichen Produkte aufs Neue jene tiefe, geheimnißvolle
Saite der menſchlichen Natur anzuſchlagen, welde einft ſolchen Dingen ant⸗
wortete und weldye auch in ung lebt und ſtets leben wird, obſchon fie jetzt
ſchweigt oder von ganz anderen Tönen erzittert.
Unfere deutfchen Lefer werden uns verſtehen, wenn wir jagen, baß er
nicht der Tieck fondern der Muſäus dieſes Mährchend iſt. Aeußerlich if
ed grün und lebendig, wenn man aber genauer hinfieht, fo bemerkt man,
daß e8 kein feſtes Wachsthum bat, fondern Hlo8 dem Epheu auf einem Fel⸗
fen gleiht. Die Erzählung hat keinen rechten Zuſammenhang; die feltfame
Kluft, weldye in unferer ungläubigen Phantafle zwiichen dem Wirthöhaufe
von Ayr und dem Thore von Tophet gähnt, tft nirgends überbrüdt, ja ber
Gedanke an eine ſolche Brücke wird verlacht und auf diefe Weiſe wird bie
Tragödie des Abenteuers weiter nichts als eine trunkene Phantadmagorie
Gariyle. IV. 11
162
oder ein buntes, auf Bierdünſte gemaltes Geſpenſt und die VPoſſe allein hat
nod einige Wirflichkeit.
Mir fagen nicht, daß Burns aus dieſer Tradition viel mehr hätte
machen follen; wir glauben vielmehr, daß für fireng poetiſche Zwede nicht
viel daraus zu machen war. Aud find wir nicht blind für die tiefe, man⸗
nigfaltige und geniale Gewalt, die fih in Dem zeigt, was er wirflidy ge-
leiftet hat; doch finden wir in vielen feiner anderen Dichtungen weit mehr
„Shakeſpeare'ſche“ Eigenjchaften als in diefeın Tam 0’ Shanter, ja wir neie
gen und jogar der Meinung zu, daß dieſer Iegtere eben fo gut von einem
Manne hätte gefchrieben werden können, der anftatt de8 Geniesk blos Talent
befeflen Hätte.
Mir wagen die Behauptung aufzuflellen, daß das am firengfien poe⸗
tiſche aller feiner Gedichte eins iſt, welches wir in Currie's Ausgabe nicht
mit aufgenommen finden, welches aber unter dem beicheidenen Titel, „ Die
fivelen Bettelleute (The Jolly Beggars)*, oft gedrudt worden if. Der
Gegenftand gehört allerdings zu den niedrigften, die e8 geben Tann, zeigt |
aber nur um jo mebr dad Talent unfered Poeten, auch das Niedrige in das
Gebiet der Kunft binaufzubeben. Unferer Anſicht nach ift dieſes Gedicht
durch und durch compact und wie aus einem einzigen Gufle wahrer flüj-
figer Harmonie bervorgegangen. Es ift leicht, Tuftig und von fanfter
Bewegung, dabei aber ſcharf und genau in feinen Details; jedes Geficht if
ein Portrait — das alte Weib, der „Fleine Apollo”, der „ Sohn des Mars“
find Acht fchottifch und doch ideal; Die ganze Scene ift gleichzeitig ein Traum
und Poofi⸗Nanfie's „ Lumpenichloß. *
Berner fcheint es in bedeutendem Grade vollftändig, ein wirkliches ſich
ſelbſt tragendes Ganze zu jein, was an einem Gedicht das höchſte Verdienft
if. Der Schleier der Nacht wird auf einen Augenblid auseinandergerifien,
in vollem, grellem, flammendem Lichte jehen wir die ungeheuerlidhen zer-
Iumpten Gefellen bet ihrem lärmenden Gelag, denn auch Hier behauptet der
ſtarke Puls des Lebens fein Recht zur Heiterkeit, und wenn ber Borhang
fällt, fo verlängern wir die Handlung ohne Mühe. Den nähften Tag wer
den wieder Keffel geflikt und Mordgeichichten gefungen, die junge Bra
treist ſich bettelnd und fteblend umher und fobald ala möglich wird dem
Schickſal abermals eine Stunde wilder beranfchender Luft abgerungen.
Abgefehen von der allgemeinen Sympathie mit dem Menſchengeſchlecht,
welches ſich auch Hier wieder verräth, beurkunden fi hier auch Achte Begei⸗
163
flerung und ein nicht unbedeutendes tedhnifches Talent. Hier finden wir die
Treue, den Humor, dad warme Leben und bie forgfältige Malerei und Grup«
pirung eines Tenierd, für welchen Hausfnechte und zechende Bauern nicht:
ohne Bedeutung find. Es wäre allerdings jeltfam, wenn wir dieſe die
befte von Burns' Leiftungen nennen wollten und wir wollen blos fagen,
daß fle uns als die vollfommenfte ihrer Art, als acht poetifch erfcheint.
Die ausgearbeitetften, vollftändigften und wahrhaft begeifterten Leiſtun⸗
gen Burns’ find jedod ohne Widerrede unter feinen „Liedern (Songs) * zu
finden. Hier fcheint, obſchon nur durch eine Fleine Deffnung, fein Licht am
ungebindertften, in feiner höchſten Schönheit und reinen, fonnigen Klarheit.
Der Grund hiervon liegt vielleicht darin, daß das Lied eine kurze, einfache
Gedichtgattung iſt und zu feiner Vollkommenheit nichts mehr verlangt, als
aͤchtes poetifched Gefühl, ächte Muſik des Herzen®.
Und dennoch Hat das Lied jeine Regeln eben jo wie die Tragödie, Mes
geln, die in den meiften Bällen nur ungenügend beobadtet, in vielen Bällen
nicht einmal gefühlt werten.
Wir könnten eine lange Abhantlung über Burns’ Lieder jchreiben,
welche wir als die bei weitem beften betrachten, weldye Britannien bis jetzt
hervorgebracht, denn wir wüßten nicht, daß feit dem Zeitalter der Königin
Eliſabeth dur irgend eine andere Hand etwas wirklich der Aufmerffamfeit
MWürdiges in diefem Zweige producirt worden wäre. Allerdings haben wir
Lieder genug mitunter von ganz vornehmen Leuten; wir haben Teere, hoble,
vom Wein erzeugte Matrigale, jo manche gereimte Mede „in der fließenden
und wäflerigen Ader des Biſchofs Offorius, reich an fonoren” Worten
und was die Moral betrifft mit einer Fleinen Beimiſchung von Senti«
mentalität verfehen. Alle diefe Lieder beftreben viele Perfonen fih unaus⸗
gefegt zu fingen, obſchon größtentheild, fürchten wir, der Gefang nur aus
der Kehle oder im beiten Kalle aud einer Region fommt, die immer noch
ziemlich weit von der Seele entfernt ift, denn nicht in biefer, fondern in
irgend einer leeren Hülle der Phantaſte oder auch in einem dunftigen, zweifels
baften Lande an den äuferften Grenzen des Nervenſyſtems fcheinen die mei⸗
fien diefer Madrigale und gereimten Reben ihren Uriprung gehabt zu haben.
Ganz anders ift e8 mit Burns’ Liedern. Abgefehen von dem Flaren,
männlichen, herzlichen Gefühle, von welchem feine Poefle ſtets durchdrun⸗
gen ift, find feine Lieber auch von einem andern Geſichtspunkte aus betrach⸗
tet, ehrlich, nämlich der Form nad) ſowohl ald dem Geiſte nah. Sie af-
11?
164
feetiren nicht in Muſik gefegt zu fein, fondern fie find wirklich und an
und für fih Muſik; fie haben durch die Harmonie ihr Leben und ihre Ge⸗
flalt erhalten, eben fo wie Benus vollendet aus dem Schooße des Meeres
emporftieg. Die Geſchichte, das Gefühl, wird nicht geſchildert, fonbern eins
gegeben ; nicht in rhetorifcher, zufammenhängender Vollſtaͤndigkeit gefagt
oder hervorgefprubelt, fondern in wunderbaren Strömen, in glühenden An-
deutungen, in phantaftifhen Ausbrũchen, in Trillern, nicht blos der Stimme,
fondern des ganzen Geiſtes gefungen.
Dies halten wir für das wirflicde Weſen des Liedes und find der Mei⸗
nung, daß fein Lied feit den leicht und nachläſſig hingeworfenen, welche hier
und da in Shakeſpeare's Spielen vorfommen, dieſe Bedingungen in fo ho—
bem Grade erfüllt, wie die meiften von Burns’ Liedern. Dabei laßt eine
folge Anmuth und Wahrheit der äußern Bewegung im Allgemeinen auch
eine entfprechende Kraft und Wahrheit des Gefühls und des innern Sinns
voraußfegen. Burns' Lieder find in ber erflern Eigenſchaft nicht vollkom⸗
mener al& in der leztern. Mit welcher Zartheit fingt er und dennoch zu«
gleich mit welcher Gewalt und Ungetheiltheit! Es Liegt ein durchbohrendes
MWehklagen in feinem Kummer, das reinfte Entzüden in feiner Freude; er
glüht vom grimmigften Zorne oder lacht laut und ſchalkhaft und dennod if
er füß und wei, „füß wie das Lächeln, wenn zärtlich Liebende fich wieder
fehen, und weich, wie ihre Thräne beim Scheiden !*
Rechnen wir bierzu ferner die ungeheure Mannigfaltigkeit feiner Ge
genftände und wie er fafl für jede Regung des Menſchenherzens einen Ton
und Worte zu finden gewußt hat, fo ſcheint es ein Fleine® Lob zu fein, wenn
wir ihn als den erften aller unferer Xiederbichter betrachten, denn wir wüß-
ten nicht, wo wir einen finden follten, der nur würdig wäre, ihm an bie
Seite geftellt zu werben.
Eben fo find e8 auch feine Lieder, wovon nach unferer Anficht Burne'
hauptfächlichfter Einfluß als Autor abhängt und dies ift, wenn Fletcher's
Ausſpruch wahr tft, Fein geringer Einfluß. „Laßt mich die Lieder eines
Volkes machen, * fagte er, „und Ihr follt feine Geſetze machen.” In der
That, wenn jemald irgend ein Dichter ſich mit Gefeßgebern auf dieſen
Grunde gleihftellen Eonnte, fo war e8 Burns. Seine Lieder find ſchon ein
Theil der Mutterfprache, nicht blos Schottlands, fondern Britanniens und
ber Millionen, die an allen Enden der Erde eine britifche Sprache reden.
In der Hütte wie im Palaft, wo immer das Gerz ſich ber bunten Freude
165
und dem ſchwarzen Wehe des Dafeins erſchließt, ift der Name, die
Stimme diefer Freude und dieſes Wehe der Name und bie Stimme, welche
Burns ihnen gegeben. Streng genommen bat vielleicht Fein Brite die Ge⸗
danfen und Befühle fo vieler Menfchen fo tief ergriffen, wie biefer einfame
und anfcheinend völlig bedeutungslofe Menſch.
Bon einem andern Gefichtspunkte ausgehend neigen wir uns übrigens
der Meinung zu, daß Burns’ Einfluß bedeutend gewefen fein kann, wir mei⸗
nen, wie er fpeziell auf die Literatur feines Vaterlandes, wenigfiend auf die
Literatur Schottlands fich Außerte. Unter den großen Veränderungen, welche
mit der britifchen, ganz beſonders mit der fehottifchen Literatur feit jener Zeit
vorgegangen find, befteht eine der größten, wie man finden wird, in dem auf«
fälligen Wahsthum der Nationalität. Selbft die zu Burns' Zeiten populärften
englifchen Schriftfteller zeichneten ftch Hinfichtlich ihres Titerartichen Patriotid«
mus in diefem feinem beften Sinne nur wenig aus. Ein gewifler verbünnter
Kosmopolitismus war großentheild an bie Stelle der alten Infulaner-Baters
landsliebe getreten; tie Literatur hatte gleichfam keine Lokale Umgebung; ſie
ward nicht von den Gefühlen genährt, welche dem heimlichen Boden entſprie⸗
Ben. Unſere Grays und Bloverd ſchienen faft wie in vacuo zu fchreiben ; daß,
was fie fchrieben, trägt nicht das Gepräge des Entſtehungsortes; es ift nicht
ſowohl für Engländer als vielmehr für die Menichen überhaupt gefchrieben
oder vielmehr, was die unvermeibliche Folge davon iſt, für gewifle Genera⸗
Iifationen,, welche die Philofophie Menfchen nannte. Goldſmith macht
Hiervon eine Ausnahme, nicht fo Johnſon; der Schauplag feines „„Rambler‘“
ift wenig mehr englifch als der feines „Rasselas.“
Wenn aber dies in gewiflem Grade der Fall mit England war, fo
war es im höchſten Grade der Ball mit Schottland. Unſere fchottifche
Literatur bot überhaupt zu jener Beit einen fehr eigenthümlichen Anblick
dar, der, fo viel wir wiflen, feines leihen vielleicht nur in Genf hatte,
wo biefer Zufland der Dinge auch noch jegt fortzudauern ſcheint. Eine
ange Zeit, nachdem Schottland britifch geworden, hatten wir gar Feine
Literatur, und zu der Zeit, wo Addiſon und Steele ihre „„Spectators‘* ſchrie-
ben, ſchrieb unfer guter John Boflon in der edelften Abſtcht aber eben fo
zum Hohne der Grammatif als der PHilofophie feinen „Fourfold State of
Man.“ Dann kamen die Spaltungen in unferer Nationalfirhe und bie
noch grimmigeren Spaltungen in unferem politiihen Körper. Theologiſche
Tinte und jakobitifches Blut, in beiden Fällen reih an Galle, ſchienen bie
.
166
Intelligenz des Landes vertilgt zu haben, fie war intefien blos verdunfelt,
nicht verſchwunden.
Lord Kames machte fo ziemlich den erſten Verſuch, englifh zu ſchrei⸗
ben und e8 dauerte nicht lange, jo zogen Hume, Robertion, Smith und eine
ganze Schaar Nachfolger Die Augen von ganz Europa hierher. Lind den»
noch lag in Liefer glänzenden Wiedererweckung unſeres glühenden Genius
„nichts wahrhaft Schottiſches“, nichts Nationales, ausgenommen vielleicht
das natürliche Ungeftüm, welche® man und zuweilen ald ein charakteriſtiſches
Kennzeichen unferer Nation zum Vorwurf macht.
Es ift ein merhvürdiger Umftand, dag Schottland damals trog jeiner
vielen Schriftfteller keine ſchottiſche Kultur, ja jogar auch Feine engliſche
hatte; unſere Kultur war faft ausichließlih franzöſiſch. Durch das Stu⸗
dium eined Racine und Voltaire, eined Batteur und Boileau hatte Kames
fi zum Kritifer und Philojophen berangebildet ; das Licht Montesquieu’s
und Mably's leitete Mobertfon bei feinen politiſchen Speculationen und
Quehnay's Rampe entzündete die Lampe eines Adam Smith. Hume war
ein zu reicher Mann, als daß er nöthig gehabt hätte, zu borgen, und viels
leicht reagirte er auf die Branzofen mehr, als dieje auf ihn Einfluß äußerten,
aber auch er hatte nichts mit Schottland zu thun; Edinburg war eben fo
wie La Bleche nur die Wohnung und das Laboratorium, in weldem cr nit
ſowohl moraliſch Tebte, al& vielmehr metaphyſiſch forſchte.
Niemals vielleicht gab es eine ſo klare und wohlgeordnete Klaſſe von
Schriftſtellern, der es dennoch allem Anſcheine nah an jedem patriotiichen
Gefühl, ja fat ſogar an jedem menſchlichen Gefühl mangelte. Die franzö⸗
ſiſchen Wiglıinge der damaligen Zeit waren eben fo unpatriotiſch, aber ihr
gänzliher Mangel an moralijchen Brinzipien, um nicht zu fagen, ihre offen
eingeftandene Sinnlichkeit und ihr Unglaube an alle Tugend im firengen
Sinne, machen dies leicht erfläarlih. Wir hoffen, daß e8 einen Patriotie-
mus giebt, der fid) auf etwas Beſſeres gründet, als Vorurtheil; daß unjer
Vaterland uns theuer fein kann, ohne NadıtHeil für unſere Philoſophie;
Dad, indem wir alle anderen Ränder lieben und achten, wir doch vor allen
andern unier eigenes Vaterland und den chrwürdigen Bau bed moraliicen
und focialen Xebend lichen und achten fönnen, den der Geift im Kaufe lan⸗
ger Iahrhunterte Hier für und aufgerichtet hat. Ganz gewiß liegt in allem
diejen reiche Nahrung für den befferen Theil des menfchlichen Herzens ; ganz
gewiß Fönnen die Wurzeln, die fi in Dem innerſten Mark des menſchlichen
167
Seins befeftigt haben, fo Fultivirt werden, daß fle in dem Gefild feines
Lebens nicht zu Dornen, fondern zu Roſen emporwachſen! Unſere ſchotti⸗
ſchen Weiſen aber fühlen keinen Drang dazu; das Feld ihres Lebens zeigt
weder Dornen noch Roſen, ſondern blos eine glatte, ununterbrochene Tenne
für Logik, auf welcher alle Fragen, von der „Theorie des Grundzinſes“ an
bis zu der „Naturgeichichte der Religion“ mit derielben mechaniſchen Un«
parteilichkeit ausgedrofchen und durchgeſtebt werden !
Seitdem Sir Walter Scott an der Spige unferer Literatur ftebt, iR,
wie ſich nicht leugnen läßt, Diejer Uebelftand zum größten Theile gehoben
oder jhwindet immer mehr und mehr. Unſere nambafteften Schriftfteller
leben, weldye andere Fehler fie audy haben mögen, unter und nicht mehr wie
eine franzöflfche Kolonie oder wie die Emifjaire irgend einer Propaganda,
ſondern wie natürlich geborene Unterthanen des vaterländtichen Bodens, bie
alle unfere Neigungen, Launen und Gewohnheiten theilen. Linfere Kiteratur
wächt nicht mehr im Waller, fondern auf dem Lande, und mit den ächten,
friichen, Eräftigen Tugenden des Bodens und des Klimas.
Wie viel von diefer Veränderung auf Rechnung Burns’ oder irgend
eines anderen Individuums zu bringen iſt, möchte ſchwer zu ermitteln fein.
Eine directe literariiche Nachahmung des Dichter Burns fand nicht zu er=
warten; fein Beifpiel jedodb in Bezug auf die furdtlofe Wahl heimifcher
Gegenftände nıußte nothwendig eine entfernte Einwirkung äußern und ganz-
gewiß glühete die Liebe zum Vaterlande nie in einem Kerzen wärmer, als
in dem unferes Burnd. „Cine Fluth ſchottiſchen Vorurtheils, * wie er dies
fe tiefe, edelmütbige Gefühl befcheiden nennt, „flrömte in feinen Adern
und er fühlte, daß fie darin rollen würde, bis die Schleußenthore fih zur
ewigen Ruhe ſchlöſſen.“ Ihm ſchien ed, ald ob er jo wenig für fein Vater⸗
land thun fönnte und dennoch jo gern und freudig Alles gethan haben
würde. Gin einziges kleines Bereich ftand ihm offen, das des fchottifchen
Liedes, und wie eifrig betrat er dafjelbe, mit welcher Hingebung arbeitete
er darin! Auf feinen mübevollen Wanderungen verläßt dieſer Gegenftand
ihn niemals; es ift das Fleine glüdliche Thal feines von Sorgen belafteten
Herzend. In der Düfterheit feined eigenen Kummers jucht er begierig einen
einfamen Dichtergenofien auf, und freut fi, einen Namen der Bergeflen«
heit, die ihm bedeckte, entreißen zu Eönnen. Dies waren die Gefühle feiner
Jugend und fie blieben ihm treu bis ans Ende.
Dod wenden wir und nun ab von dem blos literariichen Charakter
168
Burns’, der und schon zu lange befchäftigt Hat. Weit intereffanter als irgend
eins feiner gefchriebenen Werke, find, wie und fcheint, die Werfe, die er
that — das Leben welches er feinem Willen und feinem Geſchicke nadı
unter feinen Mitmenfchen führte, Diele Gedichte find gleichſam nur Fleine
gereimte Sragmente, die hier und da in dem großartigen ungereimten Ro⸗
man feines irdifchen Dafeind eingefreut find, und nur wenn fie hier an den
betreffenden Stellen eingefchaltet werben, erhalten fie das volle Maß ihrer
Bedeutung.
Aber auch diefe Exiftenz war leider nur ein Fragment. Der Riß zu
einem mächtigen Gebäude war entworfen worden; einige Säulen, Gallen,
fefte Baumafien flehen fertig da. Das Liebrige iſt mehr oder weniger Har
angedeutet, und nur forfchende, liebende Augen koͤnnen die beabfidhtigte Voll⸗
endung errathen. Denn das Werk ift in der Mitte, ja faft im Beginn ab⸗
gebrochen und fleigt unter und traurig und fchön, unvollendet und dennoch
Muine, empor! Wenn bei Würdigung feiner Gedichte ein mildes Urtheil
nothwendig war und bie Gerechtigkeit verlangte, daß die Abfidht und Die
offenktundige Fähigkeit, fie durchzuführen, oft für die Erfüllung angenoms
men würde, fo ift died noch weit mehr ber Ball in Bezug auf fein Leben,
die Summe und das Refultat aller feiner Beflrebungen, wo die Schwierig-
Zeiten nicht im Einzelnen, fondern in Maffe über ihn kamen und fo Vieles
"unvollendet blieb, ja zuweilen falſch aufgefaßt ward und folglich elend ver⸗
fümmerte.
Im runde genommen giebt e8 nur eine Aera in Burns’ Leben und
zwar die frübefle. Wir fehen bei ihm nicht Jugend und Mannesalter, ſon⸗
dern blos Jugend, denn bis and Ende bemerken wir keine enticheidende Vers
änderung in der Bärbung feines Charakters; in feinem fiebenunddreißigften
Jahre lebte er gleichfam noch in der Jugend. Bei all jener Entſchloſſenheit
des Urtheild, jenem durchdringenden Scharfblid und der eigenthümlichen
Meife der Intelligenz, die fih in feinen Schriften Eund giebt, gelangt er
doch nie zu einer Klarheit über fih felbft. Bis zum Iekten Augenblide er»
fennt er fein ſpezielles Biel nicht einmal mit der Deutlichkeit, wie fle unter
gewöhnlichen Menfchen in der Regel vorkommt, und fann e8 daher auch nie=
mals mit jener Einheit des Willens verfolgen, welche ſolchen Menſchen Ge⸗
lingen und Bufriedenheit fihert. Bis zum legten Augenblide ſchwankt er
zwifchen zwei Vorfägen, Er ift, wie ein ächter Dichter, ſtolz auf fein Ta⸗
Ient, und dennoch kann er ſich nicht Dazu verſtehen, dies zu feinem haupt⸗
ſJſ
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ſächlichen und alleinigen Ruhme zu machen, und es durch Armuth ober
Reichthum, durch gute oder ſchlimme Tage hindurch zu verfolgen, als das
Eine, was noth ifl.
Es flebt ihm nämlich noch ein zweiter, weit niedrigerer Ehrgeiz an.
Er träumt und fämpft für einen gewifien „ Felſen der Unabhängigkeit, was,
fo natürlich und felbft bewundernswürdig es aud fein mochte, doch weiter
nichts war, als ein Zwift mit der Welt, und zwar aus dem verhältnigmäßig
unbedeutenden Grunde, daß er mehr oder weniger mit Geld verjehen war,
als Andere, daß er in ber allgemeinen Schägung auf einer höhern ober tie⸗
fern Stufe ftand, als Andere. Denn die Welt ericheint ihm noch, wie der
Jugend, in geborgten Farben ; er erwartet von ihr, was fie feinem Menfchen
geben kann; er fucht Zufriedenheit nicht in fich ſelbſt, nicht in Thaͤtigkeit
und teilen Beftrebungen, fondern von außen, in der Breundlichkeit der
Umftände, in Liebe, Breundfchaft, Ehre und pecuniärem Wohlbehagen.
Er möchte glücklich fein, aber nicht activ und im fich ſelbſt, fondern paſſtv
und durd ein ideales Füllhorn von Genüffen, die er nicht durch feine eigene
Arbeit erwirbt, fondern mit welchen er durch die Freigebigkeit des Schickſals
überſchüttet wird.
Auf diefe Weite kann er als junger Mann fih nicht zur Erfämpfung
irgend eines würdigen, wohlberechneten Bieles rüflen, fondern ſchwankt hin
und her zwifchen leidenfchaftliher Hoffnung und Neue und Täufhung. Mit
flürmifcher Gewalt vorwärts flürzend, überfteigt oder fprengt er mandıe
Schranke, dringt weit vor, Täßt fih aber, da er einer unſichern Führung
folgt, fortwährend von feinem Pfade abwendig machen und fann bis zum
legten Augenblick das einzige wahre Glüd des Menfchen, nämlich das Süd
einer Haren entichiedenen Thaͤtigkeit in der Sphäre, für welche er dur Na⸗
tur und Umflände geeignet und beflimmt ifl, nicht erreichen.
Wir fagen dies nicht, um damit gegen Burns einen Tadel auszufpres
hen, ja es intereffirt und vielleicht unı fo mehr zu feinen Bunften. Das
foeben erwähnte Glüd wird nicht den Beften am fchnellften verliehen, fondern
fehr oft find Die größten Geifter die, welche feiner am fpäteften theilhaftig
werden, denn wo das Meifte zu entwideln ift, da bedarf es auch der längften
Beit zu diefer Entwidelung. Ein complicirter Zufland war ihm von außen
zugetheilt, ein ebenfo complicirter Zuftand von innen; feine „im Voraus
begründete Harmonie” befland zwilchen dem Thonboden von Moßgiel und
der feurigen Seele eined Robert Burns. Es war fein Wunder, daß «8
170
lange dauerte, ehe dieje beiden fi in einander richteten und fanten. Byron
war, ald er flarb, nur ein Jahr jünger als Burns, und währent ſeines
ganzen Lebens, wie e8 fcheinen konnte, weit einfacher fituirt, und doch kön⸗
nen wir aud in ihm feine folde Anbequemung, feine foldhe moraliiche
Mannheit finden, Sondern im beften Kalle, und erſt kurz vor jeinem Ende,
den Anfang von Etwaß, was eine ſolche Anbequemung zu fein ſchien.
Das bei weiten auffalligite Ercigniß in Burnd’ Leben ift jeine Meile
nach Etinburg; ein vielleicht aber noch widhtigered iſt fein Aufenthalt in
Irvine, als er erſt dreiuntzwanzig Jahr alt war. Bis jegt war fein Xchen
armfelig und mühſam, außerdem aber nit unfreundlih und bei all feinen
Entbehrungen keineswegs unglüdlich geweien. Was feine Abftammung be=
traf, fo hatte er, äußere Umſtände abgerechnet, jeden Grund, ſich glücklich
zu fhägen. Sein Bater war ein Mann von befonnenem, ernſtem Charakter
und warmem Herzen, wie die beften unierer Bauern find. Er wußte Kennt-
niffe zu fhägen, beſaß jelbft einige, und war, was weit befjer und ſeltener
ift, lets bereit, fich noch mehrere anzueignen — ein Mann von Scharfblid
und frommem Herzen, ehrfurdtsvoll gegen Gott und daher zugleich freunt«
lich und furchtlos gegen Alles, was Gott geichaffen bat, mir einem Worte,
obihon nur ein Bauer mit harten Händen, dennoch ein vollſtändiger unt
vollkommener, entwidelter Mann.
Einen foldien Vater findet man felten in irgend einem Range ber
Sefellihaft und es verlohnte wohl, weit in der Geſellſchaft hinabzuſteigen,
um ihn zu ſuchen. Linglüdlicherweiie war er fehr arm; wäre er nur ein
wenig, ja faft nur unmerklich reiher oder vielmehr weniger arm geweien, jo
hätte das Ganze ſehr leicht einen weit andern Ausgang genommen. Ges
waltige Ereigniffe drehen fih um einen Strobhalm ; das Ueberichreiten eines
Bachs enticheitet über die Eroberung der Welt. Hätten die firben Acer
Feld, welche dieſer William Burns befaß, einen einigermaßen leidlichen Er⸗
trag abgeworfen, ſo wäre der Knabe Robert auf eine Schule geſchickt worten;
er hätte fich, wie fo viele ſchwächere junge Leute thun, bis zu einer Univer⸗
fltät durchgekämpft uno wäre nicht als ein landliched Wunder, jondern als
ein regelmäßiger, wohlgeichulter, intelligenter Arbeiter aufgetaucht und bätte
der britifchen Literatur eine ganz andere Richtung gegeben, — Denn Dies lag
einmal in ihm!
Uber das Kleine, zu einem Gemüfegarten umgeichaffene Feld warf feis
nen binreichenden Ertrag ab; die ganze Bamilie war fo arm, daß fie nit
171
einmal von unferm wohlfeilen Schulſyſtem Gebrauch machen fonnte ; Burns
mußte binter dem Pfluge hergeben und die britiiche Literatur ging ihren
eigenen Gang. Nichtödeftoweniger liegt felbft in diefer rauhen Umgebung
Bieled, was ihn nährt. Wenn er fidh plagt und mühet, jo gefchieht es mit
feinem Bruter und für feinen Vater und jeine Mutter, welche er liebt und
gern vor Mangel fohügen möchte. Die Weisheit ift nicht von ihrem bürftt«
gen Heerde verbannt, eben jo wenig als der Balfam des natürlichen Gefühle,
Die erhabenen Worte: „Laffet und Bott anbeten”, hört man bier von einem
„priefterähnlihen Vater.” Wenn die Drohungen ungerechter Menfchen ber
Mutter und ihren Kindern Thränen auspreſſen, fo find dies nicht blos
Ihränen des Kummers, fondern aud der Heiligften Zuneigung; jedes Herz
in diefer fchlichten Gruppe fühlt ſich nur um jo unauflöslicher an das andere
gefejlelt; in ihrem ichweren. Kampfe ftehen fie beilammen als eine „Fleine
Schaar von Brüdern.“
Auch find diefe Thranen und die tiefe Schöngeit, die darin wohnt,
nicht ihr einziges Theil. Das Licht beſucht die Herzen wie die Augen aller
Lebenden ; auch Tiegt in dieſer Jugend eine Kraft, die ihn in den Stand
ſetzt, das Unglück mit Füßen zu treten, ja fi darüber luſtig zu machen.
Denn ein warmer, Eeder, elaftiiher Humor ift ibm verliehen und die dicht
auf einander folgenten Geftaltungen des Uebeld werden mit einer heitern
freundlichen Ironie bewillkommnet und jelbft während ihres harteften Druckes
verliert er fein Iota an Herz oder Hoffnung. Unbeflimmte Sehnſucht des
Ehrgeizes findet fih, jo wie er beranmwädhlt, ebenfalld ein; träumerijche
Phantaften umfchweben ihn wie Woltenflädte; der Vorhang des Daſeins
fteigt langlam in bunten Glanze empor und die Morgenrötbe der erfien
Kiebe vergoltet einen Horizont und bie Mufif ded Geſanges umtönt feinen
Piad und fo fchreitet er in Stolz und Freude am Bergedhange Hinter feinem
Pfluge ber. |
Wir felbft willen aud der beften Quclle, daß bis zu dieſer Zeit Burns
glücklich war; ja daß er Dad heiterfte, frohlichfte, phantaſtiſchſte und bezau⸗
berndfte Weſen war, was man in ter Welt finden Tann, weit mehr als er je=
mals fpäter ſchien. Nun aber, in dieſem frühen Alter, verläßt er dad väs
terliche Dad, geht hinaus in cine locrere, Tautere und aufregende Geſell⸗
ſchaft und wird in jene Ausſchweifungen und jene Laſter eingeweiht, welche,
wie eine gewiſſe Klaffe von Pbiloiophen behauptete, Die naturgemäße Vor⸗
bereitung auf den Eintritt in das thätige Leben find, eine Art Schlammbab,
172
in weldyes ber Iüngling gleichſam gendthigt wird, fidh zu tauchen und, wie
wir vermutben, zu fäubern, che ihm die wirkliche Toga des Mannes ange⸗
legt werden kann.
Wir wollen uns nicht weiter mit dieſer Klafſe von Philoſophen ſtreiten.
Wir hoffen, daß fie fih irren, denn Sünde und Neue umlagern uns fo fehr
auf allen unfern Lebenswegen und find ſtets fo wenig angenehme Gefellichaft,
daß e8 Hart fcheint, wenn wir zu irgend einer Zeit genäthigt werden, ihnen
zu weichen oder gar, wenn auch nur vorübergehend, unter ihnen zu Lienen.
Wir hoffen, daß dem nicht fo fei. Klar find wir auf alle Fälle darüber, daß
nicht die Schule, die man in dieſem Teufelsdienfte erhält, fondern blos un«
fer Entfchluß, diefen Dienft zu verlaflen, uns zur wahren männlichen Thäs
tigkeit geeignet mat. Wir werden Maͤnner, nicht nachdem wir ausge⸗
ſchweift und und in dem Jagen nach falfchen Freuden getäufcht gefunden ha⸗
ben, fondern nachdem und auf irgend eine Weife Flar geworden tft, welche
unüberfteiglihe Schranfen uns während dieſes ganzen Xeben® einengen ;
wie wahnfinnig e8 if, von den Geſchenken dieſer außerordentlich endle
hen Welt Zufriedenheit für unjere unendliche Seele zu hoffen, daß ber
Menic fly felbft genügen muß und daß es für Leiden und Dulden fein an«
dered Mittel giebt, ald Streben und Handeln. Die Mannheit beginnt,
wenn wir auf irgend eine Weile mit der Nothwendigkeit einen Waffenſtill⸗
ſtand abgefchloflen; fie beginnt jogar, wenn wir und der Nothwenbigfelt
gefügt haben, wie ja die Meiften thun; heiter und boffnungsvoll aber be⸗
ginnt fie blos, wenn wir und mit der Nothwendigkeit ausgefühnt und auf
diefe Weiſe wirflih triumphirt und gefühlt haben, daß wir frei find. Ganz
gewiß lernen ſich ſolche Lectionen wie dieſe legte, welche in einer oder ber
andern Geftalt die große Lection für jeden fterblichen Menſchen ift, befler
aus dem Munde einer frommen Mutter, aus den Blicken und Thaten eine
frommen Baterd, während das Herz noch weich und fügſam ift, als im
Kampfe mit dem Schickſale, wenn das Herz hart geworben iſt und eher zer-
bricht, als fih erweichen läßt. Hätte Burns fortgefahren, dies zu lernen, wie
er e8 ſchon in feines Vaters Hütte Iernte, fo würde er e8 vollftändig gelernt
haben, was er aber niemals that, und mancher lange Irrthum, mandhe bit⸗
tere Stunde, manches Jahr der Reue und bes Kummerd wäre ihm dadurch
erfpart worden.
Ein anderweiter verhängnifvoller Umfland in Burns’ Geſchichte fcheint
ung der zu fein, daß er zu jener Zeit aud In die religiöfen Streitigfeiten
173 "
feines Diſtrikts verwidelt, daß er zum Kämpfer für die „Priefterfhaft bes
neuen Lichts* angeworben ward, um ihren höͤchſt unerquidlichen Streit
durdführen zu helfen. An den Tiſchen diefer freifinnigen Geiſtlichen lernte
er weit mehr, als für ihn nöthig war. ine fo liberale Verfpottung des
Sanatiömus erweckte in feinem Gemüth Skrupel an der Religion ſelbſt und
eine ganze Welt von Zweifeln, zu deren Exorcismus e6 ganz anderer Des
ſchwörer bedurfte, ald dieſe Männer waren.
Wir jagen nicht, daß ein folder Verftand, wie der jeine, zu irgend
einer Zeit feiner Geſchichte ähnlichen Zweifeln hätte entgehen oder auch daß
ex in einer fpätern Periode ganz flegreih und unverlegt hätte hindurchkom⸗
men können, aber dennoch fcheint es ein ganz beſonderes Unglück gewefen zu
fein, daß gerade diefe Zeit von allen andern zu biefem Zufammenfloße aus⸗
erfehen war. Denn nun, wo jeine Grundfäße durch böfes Beiſpiel von
außen und durch teuflifch raiende Leidenfchaften von innen angegriffen wur«
den, bedurfte er Faum noch ffeptifcher Abnungen, um ihm in der Hige des
Kampfes Berrath zuzuflüflern oder ihm den Rüdzug abzufchneiden, wenn
er ſchon geichlagen wäre. Er verliert fein Gefühl der Unſchuld; fein Ge—
müth wird uneinig mit fidh ſelbſt; die alte Gottheit thront hier nicht mehr,
fondern er iſt abwechfelnd die Beute wilder Begierden und wilder Reue.
Auch dauert es nicht lange, fo compromittirt er ſich vor der Welt;
fein Ruf der Nüchternheit, der einem fchottifchen Bauer theurer if, als ein
corrupter Weltmenfch fich denken kann, ift in den Augen der Menſchen ver
nichtet und feine einzige Zuflucht befteht darin, daß er feine Strafbarkeit in
Abrede zu flellen ſucht — eine Zuflucht von Lügen.
Nun umhüllt ihn allmälig die fchwärzefte Verzweiflung, die nur durch
rothe Blide der Reue unterbrochen wird. Das ganze Gebäude feines Le⸗
bens wird auseinander geiprengt, denn nun foll nicht blos fein guter Auf,
fondern auch feine perfönliche Breiheit verloren geben, Menfchen und Schick⸗
fal haben ſich gegen ihn verbündet und das Verderben folgt gierig feiner
Spur. Er ſieht feinen andern Ausweg, ald den traurigften von allen —
Berbannung aus feinem geliebten Lande in ein Land, welches ihm in jeder
Beziehung unwirthlich und widerwärtig iſt. Während bie tüftere Nacht in
geiftigem Sturm und Einfamfeit fowohl als in phoflichem um ihn fich her⸗
abſenkt, fingt er fein leidenschaftlich erregtes Lebewohl an Schottland.
Plöglih ſtrömt Licht auf ihn herab, aber es ift immer noch ein trüges
rifche®, vorübergehendes Licht und Fein wirklicher Sonnenfchein. Gr wird
174
nad Edinburg eingeladen, eilt mit erwartungsvollem Herzen hin und wird
wie im Triumphe und mit allgemeinem Beifall willtommen gebeißen. Das
MWeifefte, das Größte und Kichendwürdigfte, was ed bier giebt, fammelt fidh
um ihn, um fein Ungefidt zu ichauen, um ihm Ehre, Symparhie und Liebe
zu bezeigen.
Burns’ Erfcheinen unter den Weifen und Edeln von Evinburg muß
als eind der eigenthümlichften Phänomene in der modernen Literatur bes
trachtet werden und bat faft Aehnlichkeit mit dem Erſcheinen eines Napoleon
unter den gefrönten Souverainen der modernen Politik. Denn er will fid
durchaus nicht wie einem durch bloße Gunſt, vorübergehend und um eines
gewiſſen Zweckes willen auf den Thron gefegten „Scheinfönig" begegnen
laſſen; noch weniger ift er ein toller Rienzi, deſſen plögliche Erhebung ihm
jeinen zu ſchwachen Kopf verdreht, fondern er flebt Hier auf jeiner eigenen
Bafts, Faltblütig, ohne zu erftaunen, von der Natur felbft für ebenbürtig
erflärt, ohne einen Anſpruch zu erheben, zu deflen Durdiegung ihm bie
innere oder äußere Kraft mangelte.
Mr. Lockhart ftellt über diefen Punkt einige eindringliche Betrachtun⸗
gen an.
„Es bedarf Feine große Anftrengung der Phantafte, * fagt er, „um fid
einen Begriff von den Empfindungen einer tiolirten Anzahl Gelehrter —
die faft alle entweder Geiftliche oder Profejforen waren — in der Gegen«
wart dieſes ſtämmigen, gebräunten, breitichulterigen Fremden mit feinen
großen bligenden Augen zu machen, welcher, nachdem er fih von dem Pfluge
hinweg den Weg zu ihnen mit einem einzigen Schritte gebahnt, in feiner
ganzen Haltung und Gonverfation bie fefle Ucberzeugung verricth, daß er
in der Gefellichaft der ausgezeichnetften Männer feiner Nation gerate da fei,
wo er ein Recht Hatte, zu fein. Nur felten lieg er fidy herab, ihnen dadurch
zu fchmeicheln, daß er fih dur ihre Aufmerfiamfeit fihhtbar geichmeichelt
fühlte. Dann und wann maß er fi) ruhig in der Discuffton mit den ges
hildetften Geiftern feiner Zeit, beflegte die Bonmotd der berühmteften Witz⸗
linge dur vom glühenden Xeben ded Genius durchdrungene Ausbrüche von
Heiterfeit, jeßte mit dem dreifachen Erz der forialen Zurückhaltung gepan⸗
zerte Herzen in Grftaunen, indem er fie zwang, unter der furdhtlofen Berüh⸗
zung bed natürlichen Pathos zu zittern — ja fihtbar zu zittern. Und alles
dies that er ohne die mindefte Geneigtheit zu verratben, jenen handwerks⸗
mäßigen Dienern der Erregung zugezählt zu werben, welche für Geld und
175
’
Beifall fi} dazu hergeben, etwas zu thun, was die Zufchauer und Zuhörer
fi ſchaͤmen würden, ſelbſt zu thun, felbft wenn fle das dazu nöthige Talent
befäßen. Dabei — und dies war am Ende das Schlimmſte — wußte mat,
daß er Gejellichaften, deren Befuch dieje vornehmen Herren verihmäht ha⸗
ben würden, noch weit häufiger ald Lie ihre durch eine nicht weniger pracht⸗
volle Beredtjamfeit erheiterte und belebte und fie dort — wie fih gleich von
vorn herein vermutben lieg — nicht jelten zum Stichblatt feines beißenden
Witzes machte. ”
Je weiter wir und von dieſer Scene entfernen, deſto eigenthuͤmlicher
wird fle und erjcheinen und die Details ihrer außeren Ericheinung find ſchon
jegt höchſt intereffant. Die meiften LXefer werden fich erinnern, daß Mr.
Walkers' perjönliche Unterredungen mit Burns zu den beiten Stellen feiner
Erzählung gehören, und e8 wird eine Zeit kommen, wo die nachftehende Mes
minifcenz Sir Walter Scott'8, jo flüchtig fle auch ift, ebenfalld ihren hohen
Werth haben wird.
„Was Burns betrifft,“ fchreibe Sir Walter, „jo fann ich in Wahre
beit fagen: Virgilium vidi tantum. Ich war, als er im Jahre 1786—87
dad erfte Mal nach Edinburg fam, ein Bürfhchen von fünfschn Jahren, be=
faß aber Verftand und Gefühl genug, um mid für jeine Poefte fehr zu ine
tereffiren, und würde die Welt darum gegeben haben, ihn Fennen zu lernen.
Leider aber hatte ich nur wenig Bekanntſchaft mit irgendwelchen Leuten der
Literatur und noch weniger mit dem Landadel der weſtlichen Provinzen, mit
welchen beiden Klaſſen er am bäufigften umging. Mr. Thonas Grierjon
war damals Secretair bei meinem Vater. Er kannte Burns und verſprach,
ihn zu fich zu Tifche einzuladen, Hatte aber feine Gelegenheit, fein Wort zu
halten, außerdem würde ich dieſen ausgezeichneten Mann öfter zu fehen bes
kommen haben. Endlich fah ich ihn eined Tages bei dem verflorbenen ehr⸗
würdigen PBrofeffor Ferguſon, bei weldyen mehrere Herren von literarifhem
Rufe verfanmelt waren, unter welcdyen ich mich ded berühmten Mr. Dugald
Stewart entfinne. Wir jungen Leutchen ſaßen natürlich ſchweigend da, fa=
ben zu und horchten. Das einzige Bemerfendwerthe, deflen ich mich in
Burnd' Benehmen entfinne, war die Wirkung, welche ein Kupferftih von
Bunburg auf ihn hervorbrachte. Das Bild ftellte einen Soldaten vor, der
todt auf dem Schnee lag; auf ber einen Seite jaß jein trauernder Hund,
auf der andern feine Wittwe mit einem Kind auf dem Arme. Unter dem
Bilde flanden folgende Zeilen:
176
„Kalt auf Kanadiens Hügeln rubt der Krieger,
Sein trauernd Weib neigt fich zu ihm herab;
Die Thränen miſchen mit der Mil ſich ihrer Bruft
Und geben ihrem Kind’ die Elendetaufe.“
„Burns ſchien durch das Bild oder vielmehr durch die Ideen, die es
in ihm anregte, fehr ergriffen zu werden und ich ſah, daß ihm die Thränen
in die Augen traten. Er fragte, von wen bie Verſe wären, und zufällig
befann fi außer mir Niemand darauf, daß fie in einem halbvergeſſenen
Gedicht Langhorne's vorkommen, weldes den eben nicht viel verſprechenden
Titel „Der Friedensrichter“ führt. Ich flüfterte meine Kenmtniß von ber
Sache einem anweienden Freunde zu, und diefer theilte ben auf diefe Weiſe
erhaltenen Aufſchluß Burns mit, der mich mit einem Blid und einem Worte
belohnte, deflen ich mich, obſchon es eine bloße höfliche Redensart war, noch
jegt mit großem Bergnügen erinnere.
„Bon Perfon war er flarf und rüftig, fein Benehmen laͤndlich, aber
durchaus nicht plump bäuerifh. Er befaß eine gewifle würdevolle Schlicht-
beit und Einfachheit, welche vielleicht Dadurch, dab man feine außerordent-
lichen Talente fannte, um fo mehr Wirkung erhielt. . Seine Züge find auf
Mr. Naſmyth's Gemälde dargeftellt, mir kommen fie jedoch bier etwad ver⸗
Fleinert vor, gleichſam ald ob man fle von weitem fahe. Sein Geſicht war
meiner Anfiht nad weit maffiver, als es auf irgend einem der Portraits
ausſieht. Ich würde den Dichter, wenn ich nicht gewußt hätte, wer er war,
für einen fehr Elugen Landpächter aus der alten ſchottiſchen Schule gehalten
Baben, das heißt, nidht etwa einen ber modernen Defonomen, welche alle
Sandarbeit durch ihre Leute verrichten laflen, jondern für den ächten Bauer,
der den Pflug felbft in die Hand nimmt. Im allen feinen Zügen drüdten
fih vorherrſchend Verſtand und Schlauheit aus und nur das Auge verrieth,
glaube ich, den poetiſchen Charakter. Es war groß und bunfel und glübete
(ih fage buchſtaͤblich glühete), wenn er mit Gefühl oder Intereffe fpradh.
Niemals ſah ich wieder ein ſolches Auge in einem menſchlichen Kopfe, ob-
fhon ich die ausgezeichneten Männer meiner Beit geieben habe. Seine
Converſation verrietb das vollkommenſte Selbflvertrauen, jedoch ohne die
geringfte Spur von Anmaßung. Unter den gelehrteften Männern ihrer
Beit und ihres Landes ſprach er fidh mit vollfommener Beftigfeit aus, aber
ohne die mindefle Voreiligfeit, und wenn er anderer Meinung war, fo zö⸗
gerte er nicht, biejelbe zu erfennen zu geben, wiewohl mit der größten Be-
177
ſcheidenheit. Ich entfinne mich keines Theils feiner Converſation noch ſo
deutlich, daß ich etwas Näͤheres darüber mittheilen Fönnte, au ſah ich ihn
nicht wieder, ausgenommen einige Mal auf der Straße, wo er mich nicht
wiedererkannte, was ſich am Ende auch nicht erwarten ließ. Er ward in
Edinburg ſehr fetirt; die Bemühungen zur Verbeſſerung feiner äußeren Rage
jedoch waren, wenn man bedenft, was in diefer Beziehung für Andere ges
ſchehen iſt, außerordentlich geringfügig.
„3 entfinne mid, daß es mir bei jener Gelegenheit vorfam, als ob
Burns' Befanntihaft mit der englifhen Poeſte etmad beſchraͤnkt wäre, fo
wie aud daß er, da er doch zwanzig Mal mehr Talent ald Allan Ramefay
und Berguflon beiaß, von diefen mit zu großer Demuth als von feinen Bor-
bildern ſpräche. Ohne Zweifel war nationale Vorliebe der Grund diefer
Ueberſchaͤtzung.
„Dies iſt Alles, was ich Ihnen von Burns erzählen kann. Ich habe
nur noch hinzuzufügen, daß fein Koſtüm mit feinem Benehmen überein—
flimmte. Er fah aus wie ein Pächter, der fein beſtes Zeug aufgelegt hac
um bei ſeinem Gutsherrn zu Tiſche zu gehen. Ich ſpreche durchaus nicht
in malam partem, wenn ich ſage, daß ich niemals einen Menſchen in Geſell⸗
ſchaft anderer, an Rang und Bildung über ihm ſtehender geſehen babe,‘ der
vollfommener frei von der Wirklichkeit oder auch dem Scheine der Verlegen⸗
heit geweien wäre. Man ſagte mir — obſchon ih nicht Gelegenheit hatte,
felbft Beobachtungen darüber zu machen — er fei Frauen gegenüber außer-
ordentlich artig und fuche tem Geſprach allemal eine pathetifche oder humo⸗
riftifche Wendung zu geben, wodurd er ihre Aufmerkſamkeit ganz befonderd
zu fefleln verftand. Ich hörte die verftorbene Herzogin von Gordon einige
Bemerfungen darüber machen. — Weiter wüßte ich diejen einer feit vierzig
Jahren entichwundenen Zeit angehörigen G@rinnerungen nichts binzuzus
fügen. *
Das Verhalten Burns’ während dieſes blendenten Sonnenfcheind von
Gunſt, das ruhige, natürliche, männliche Weſen, womit er ihn nicht bloß
ertrug, jondern auch defien Werth zu Ihäten wußte, ift mit Mecht ald der
befte Beweis betrachtet worden, den er von der wirflidhen Kraft und Un⸗
vertorbenheit feines Geiftes geben konnte. Gin wenig natürliche Eitelkeit,
ein Eleiner Anflug von heuchlerifcher Beſcheidenheit und Affectation, wenige
ftend einige Furcht, für affectirt gehalten zu werden, hätten wir faſt einem
Ieden verzeiben Eönnen, bier aber tft auch nicht einmal eine Epur davon
Carlyle. IV. 12
w"
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aufzufinden. In feiner beifpiellofen Lage verliert der junge Landmann
gleichwohl nicht einen einzigen Augenblid die Befinnung ; fo viele fremde
Lichter verwirren ihn nicht, leiten ihn nicht irre.
Nichtödeftoweniger können wir nicht umbin, zu bemerfen, daß dieſer
Winter ihm großen und dauernden Schaden zufügte. Gine etwas Elarere
Kenntniß der Angelegenheiten der Menichen, weniger ihrer Gharaftere, ges
währte ihm diejer Aufenthalt in der fchottiichen Hauptflabt allerdings, ließ
aber aud ein empfindlihes Gefühl für die ungleihen Austheilungen des
Glücks in Bezug auf fociale Beftimmung in ihm zurüd. Er hatte die glän-
zende, prachtvolle Arena geſehen, in welcher die Mächtigen geboren find, ihre
Rolle zu fpielen; ja er jelbft Hatte mitten darin geflanden und er füßlte
bitterer als je, daß er bier blos ein Zufchauer war und feinen Theil an die
fem glänzenten Spiele hatte.
Bon diefer Zeit an bemächtigt fich jeiner eine eiferfüchtige, entrüftete
Furcht vor focialer Herabfegung und äußert ſchädlichen Einfluß auf feine
perjönliche Zufriedenheit und feine Gefühle gegen feine reicheren Mitmen⸗
fhen. Es war ihn klar, dag er Talent genug bejaß, um ſich ein bedeuten-
bes Vermögen zu erwerben, wenn er nur den rechten Willen dazu gehabt
hätte; auch war es klar, daß er etwas ganz Anderes wollte und deshalb
nicht reich werden konnte. Gin Unglüd war es für ihn, daß er nicht die
Macht beſaß, das Eine zu wählen und dad Andere zu verwerfen, fontern
immerdar zwilchen zwei Meinungen, zwei Zielen bin und ber ſchwankte.
Aber jo ift ed mit vielen Menfchen; — wir möchten gern die Waare haben,
aber auch den Preis dafür behalten und mäfeln daher mit tem Schickſal in
ärgerlichem Wortwechjel hin und ber, bis die Nacht fommt und unfer Markt
vorüber ift!
Die Edinburger Gelehrten jener Zeit zeichneten fih im Allgemeinen
mehr durch Klarheit des Kopfes als durch Wärme des Herzens aus, und
mit Ausnahme ded guten alten Bladlod, deſſen Hülfe zu unwirkſam war,
fheint kaum einer Burns mit wahrer Sympathie oder viel anders al8 eine
höchſt merfwürdige und fonderbare Sache betrachtet zu haben. Bon den
Großen wird er ebenfalld auf die gewohnte Weile behandelt, an ihren Ta⸗
feln 6ewirthet und dann entlaflen. in gewiſſes Quantum Pudding und
Lob wird von Zeit zu Zeit fehr gern gegen den Zauber jeiner Gegenwart
ausgetaujcht. If dieſer Austaufch bewirkt, fo ift auch damit das Gefchäft
beendet und ein Jeder geht jeined Weges.
179
Nach Verlauf diejer ſeltſamen Saifon rechnet Burns in düfterer Stim⸗
mung feinen Gewinn und Verluft zufammen und denft über die haotiiche
Zukunft nab. An Geld ift er etwas reicher, an Ruhm und an dem Schein
von Glück unendlich reicher, am eigentlihen Sein beffelben aber fo arm
als je. Ja ärmer, denn fein Herz wird jetzt noch mehr von dem Fieber des
weltlichen Ehrgeizes gepeinigt und lange Jahre hindurc foltert ihn dieſe
Krankheit Durch nutzloſe Xeiden und raubt ibm die Kraft zu allen wahren
und edleren Beftrebungen.
Was Burnd nun thun oder meiden, wie ein Mann in dieien Umftän«
den fi nun zu feinem wahren Bortheil leiten jollte, Died wäre damals eine
Brage für den Weijeften geweſen. Aud war e8 eine Brage, welche er, wie
ed fchien, ganz allein beantworten follte, tenn von allen ieinen gelehrten
oder reichen Gönnern war es nicht einem einzigen eingefallen, diefer jo tri⸗
vialen Sache einen Gedanken zu widmen. Ohne für Burnd das Lob voll.
fommenen Scharffinnd in Anſpruch nehmen zu wollen, müflen wir doch ſa⸗
gen, daß fein Accijes und Landwirthſchafisplan uns gar nicht jo fehr unan—
gemeſſen ericheint, ja daß wir fogar jegt in Verlegenheit kommen würden,
wenn wir einen entichieden befferen in Borfchlag bringen follten.
Biele feiner Bewunderer find ganz empört darüber gewefen, daß er
fich zu einer fo projaifchen Beichäftigung hergab. Sie verlangten vielmehr,
er folle am Teiche Bethedda liegen bleiben, bis der Geift Der Gönnerſchaft
dad Wafler bewegte, auf daß er mit einem einzigen Sprunge von allen fei«
nen Leiden geheilt werden möchte. Unfluge Ratbgeber! fie fennen das We-
fen dieſes Geiſtes nicht ; ſie willen nicht, wie in dem Schooße der goldenften
Träume der Menſch allerdings wohl Glück haben Fönnte, wenn er nur nicht
mittlerweile verhungern müßte.
Es macht Burns’ männlihem Muthe und feinem gelunden Menſchen⸗
verſtand Ehre, daB er jo frühzeitig fühlte, auf welchem Boden er fland und
der Selbfthülfe felbft nach dem beicheidenften Maßftabe den Vorzug gab vor
Abhängigkeit und Unthaͤtigkeit, obſchon mit Hoffnung auf weit glänzendere
Möglichkeiten, Aber auch diefe Möglichkeiten waren in feinem Blanc nicht
zurüdgewiefen. Er fonnte, wenn der Zufall ihm einen Freund zuführte,
erwarten, in nicht langer Zeit einen gewiffen Grad von Wohlftand und
Muße zu erreichen, während, wenn er feinen Freund befam, er immer noch
in Sicherheit leben konnte, und übrigens war es auch „gar nicht jeine Ab⸗
fit, von irgend einem Stande Ehre zu borgen.” Nach unferer Meinung
12*
180
war jein Plan ein ehrlicher und wohlberedhneter und Alles drebte ich um
die Ausführung deſſelben. Allerdings flug er fehl, gleichwohl aber nad
unierer Meinung nicht in Folge eines von vorn herein darin liegenden Feh⸗
ers. Sa, im Grunde genommen war e8 fein Fehlſchlagen Außerlicher, fon-
dern innerlicher Mittel, welches Burns ereilte. Sein Banterott war fein
Banferoıt des Beuteld, jondern der Seele, und his auf feinen Icgten Tag
war er feinem Menſchen etwas ſchuldig.
Inteflen, er beginnt gut — mit zwei guten und weilen Thaten. Sein
Geſchenk an feine Mutter, freigebig von einem Manne, deflen Einkommen
fürzlih noch in ſteben Pfund jährlich beflanden, war feiner würdig und
nicht mehr ald würdig. Edelmüthig auch und jeiner würdig war die Bes
handlung des Weibes, deſſen Lebenéglück jetzt von jeinem Belieben abhing.
Ein freundlicher Beobachter hätte heitere Tage für ihn Hoffen können. Sein
Gemütd iſt auf tem richtigen Wege zum Frieden mit fi ſelbſt. Die Klar-
beit, die ibm noch fehlt, wird ihm, jo wie er auf diefem Wege weiter ichrei-
tet, verliehen werden, denn der befte Lehrer der Bflichten, die und noch dun⸗
fel find, ift Die Uebung derer, die wir iehen und zur Sand haben. Hätten
nur die „Gönner ded Genie”, die ihm nichts geben fonnten, ibm aud
nichts genommen, wenigftend nichts weiter! Die Wunden feines Herzens
würden geheilt, der gemeine Ehrgeiz binmeggeftorben ſein. Arbeit und
Mäßigkeit wären willfommen geweien, da die Tugend bei ihnen wohnte; die
Poeſte würte durch ſie hindurchgeſchimmert haben, wie in alten Zeiten und
in ihrem klaren ätberiichen Lichte, auf weldyeß er ein angeborencd Eigen»
thumsrecht beſaß, würde er auf fein irdiſches Geſchick und alle Hemmniſſe
defielben nicht blos mit Geduld, fondern auch mit Liebe berabgeblidt
haben.
Aber die Gönner ded Genies wollten das nicht. Malerifche Touriften,
alle Arten von falhionablen Kiteraturfägern und — was nod weit fchlim-
mer war — dlle Arten von zechluſtigen Mecänaffen umihwärmten ihn in
jeiner Zurüdgezogenheit und feine guten ſowohl als feine ſchwachen Eigen⸗
haften ficherten ihnen Einfluß auf ihn. Er fühlte fi) durch ihre Aufinerk⸗
fanıfeit geichmeichelt und fein warmes, gefelliged Gemüch machte es ihm
unmöglich, fte abzufchütteln und jeinen Weg getrennt von ihnen fortzu-
fegen.
Diefe Menſchen waren nach unferem Dafürhalten die mittelbare Ur⸗
ſache zu jeinem Verderben. Nicht daß fie es böſe mit ihm gemeint hätten;
181
fie meinten ed blos ein wenig gut mit fidh ſelbſt; wenn er dadurch zu Scha-
ven fam, fo war bie® feine Sade! Aber fie vergeudeten feine foftbare
Beit und fein koſtbares Talent ; fie ftörten feine Ruhe und Fafſung und tra⸗
ten feiner rüdfehrenden Gewöhnung an Maͤßigkeit und emflgen, zufriedenen
Fleiß Hindernd in den Weg. Ihr Häticheln war ihm verderblich; ihre
Graufamfett, die bald darauf folgte, war ebenfo verberblih. Der alte
Groll gegen die Ungleichheit des Schickſals erwachte in ihrer Nähe mir neuer
Bitterfeit und Burns hatte feine andere Zuflucht als den „Bellen der Un⸗
abhängigfeit*, der freilich nur ein Luftſchloß iſt, welched von weitem ganz
ſchön außfleht, aber Niemanden vor wirklichen Wind und Megen ſcüht.
Bon unregelmäßiger Aufregung bewegt, bald durch die Beratung Anderer,
bald durch die Verachtung feiner felbft erbittert, gewann Burns feine Ge⸗
mütbsrube nicht wieder, fondern verlor fie immer jchneller und auf immer,
Es lag eine Hoblheit in dem Herzen feines Lebens, denn fein Gewiſſen bil⸗
ligte jegt nicht, was er that.
Unter ten Dünften unweiſen Genuffes, vergeblicher Neue und zorniger
Unzufriedenheit mit dem Schidfale ward fein wahrer Leitſtern, ein Leben
der Porfle mit Armuth, ja mit Hunger, wenn es fein mußte, feinen Augen
nur allzuoft gänzlich entzogen. Und dennoch ſchiffte er auf einem Meere,
wo ohne einen folden Leitftern das richtige Steuern fa unmöglid war.
Meteore franzöftiber Politik fleigen vor ihm auf, aber dies waren nicht
feine Sterne. Es war dies ein Zufall, weldyer jeine fchlimmften Berlegen«
heiten befchleunigte, wenn aud nicht die Veranlaffung dazu gab. In den
wahnfinnigen Wirrnifien jener Zeit fommt er in Collifton mit gemiffen anıt«
lichen Yorgefegten, wird von ihnen verlegt, graufam zerfleifcht, würden wir
fagen, wenn ein todted, mechaniſches Werkzeug in irgend einem Balle graue
fam genannt werden Fönnte, und ziebt fih verwundet und entrüfter zurüd in
tiefere Abgefchloffenheit, in vüflrere Schwermuth alß je.
Nun hat fein Leben feine Einheit verloren. Es ift ein Leben von
Bragmenten, welches nun faft feinen andern Zwed hat, als den ſehr trauri⸗
gen, fich feine eigene Bortdauer zu fihern, — in Anwandlungen wilder, uns
ächter Freude, wenn fi folde darboten und ſchwarzer Verzweiflung und
Niedergeichlagenheit, wenn fle vorüber waren. Sein Ruf vor den Men«
ſchen beginnt zu leiden, die Verleumdung beſchäftigt fi mit ihm, denn ein
Unglücklicher erwirbt fih mehr Beinde ald Freunde. Allerdings hat er
einige Fehler begangen und taufenderlei Unglüd gehabt; jegt aber beſchul⸗
182
digt man ihn au wirklicher Verbrechen und Die, welche nit ohne Sünde
find, werfen den erften Stein auf ihn! Denn ift er nicht ein Gönner der
franzöftfchen Revolution, ein Jufobiner, und Deshalb durch diefe eine Sünde
aller andern ſchuldig?
Diefe politiichen und moralifchen Anklagen waren, wie fich ſpäter ges
zeigt hat, völlig unbegründet, aber die Welt zögerte nicht, ihnen Glauben
beizumefien. Sa, feine zechluftigen Mecänaffe ſelbſt waren nicht die legten,
Die Dies thaten. Es iſt Orund vorhanden, zu glauben, daß in feinen letz⸗
tern Jahren die Ariſtokratie von Dumfries ſich theilweiſe von Burns als
von einem ihrer Bekanntſchaft nicht mehr würdigen, anrüchigen Menſchen
zurüdigezogen batte.
Ad, wenn wir bedenken, daß Burns jept fchlaft, „wo graulame Ent⸗
rüftung fein Herz nicht mehr zerfleifchen Fann **), und daß die meiften jener
ſchönen Damen und feinen Herren ſchon an feiner Seite liegen, an einer
Stelle, wo von Rang und Standedunterjhieden feine Rede mehr ifl, —
wer möchte dann nicht über die armieligen Zäujchungen und thörichten Spie⸗
lereien ſeufzen, welche Herz von Herzen trennen und den Menſchen unbarm⸗
berzig gegen feinen Bruder machen!
Es fland nun nicht mehr zu hoffen, Laß Burns’ Genius jemals die
wirkliche Reife erlangen oder etwas jeiner Würdiged zu Stande bringen
würde, Die Melodie feines Geiſtes war zerftört; nicht der ſanfte Hauch
des natürlichen Gefühls, jondern die raube Hand des Schidials fuhr jegt
über die Saiten. Und dennoch, welche Harmonie lag in ibm, welde Mus
flf jogar in feinen Mißklaͤngen! Wie hatten die wilden Töne einen Zauber
für den Ginfachften wie für den Weiſeſten; wie fühlten und wußten alle
Menichen, daß er ein Hochbegabter war! „Wenn er des Mitternadhtd ein
Gafthaus betrat, nachdem alle Bewohner ſchon zu Bett waren, verbreitete
fih die Nachricht von ieiner Ankunft fofort vom tiefften Keller bis zum
oberften Boden und che zehn Minuten um waren, hatten Wirth und alle
feine ©äfte fi eingefunden! *
Einige kurze reine Augenblicke poetiichen Lebens waren ihm noch beim
Dichten feiner Lieder beichicden, wir Eönnen und denfen, wie haftig er nad
dieſer Befchäftigung griff und wie er jeden andern Lohn verihmähete als
den, welchen die Arbeit felbft ihm brachte. Denn Burns’ Seele lebte, ob⸗
*) Ubi sueva indignatio cor ulterius lacerare nequit. — Swift's Grabichrift.
JJ
183
ſchon verwundet und verſtümmelt, noch in ihrer vollen moraliſchen Kraft,
wenn ſie ſich auch ihrer Irrthümer und ihrer Erniedrigung ſchmerzlich be=
wußt war und bier blieb ihm ſelbſt in feiner Herabgekommenheit noch eine
edle That der Selbftaufopferung zu thun übrig. Er fühlte dabei auch, daß
bet all den „Leichtfinnigen Thorheiten“, die ihn „heruntergebracht“, Die
Welt doch auch ungerecht und graufam gegen ihn war und er appellirte
ſchweigend an eine andere und rubigere Zeit. Nicht ald gemietheter Sol⸗
bat, fondern ald Patriot wollte er für den Ruhm feines Landes fämpfen ;
deshalb warf er den armieligen Sold von fid) und diente eifrig ald Freiwil⸗
iger. Mißgönnen wir ihm nicht dieſen legten Luxus feines Daſeins; wir
wollen nicht geftatten, daß er vergebens an und appellirt habe! Das Geld
war ihm micht nothiwendig; er fämpfte ſich ohne dafielbe hindurch. Die
Guineen wären ichon längft wieder verfhmunden, während der hohe Sinn,
mit welchen er fie zurüchwies, noch lange in aller Herzen für ihn fprechen
wird. |
Hiermit find wir bei der Krifld in Burn®’ Leben angekommen, denn
die Dinge hatten jegt eine ſolche Beftalt gewonnen, daß fle nicht lange
fo fortdauern fonnten. Wenn feine Beflerung zu erwarten fland, fo
fonnte die Natur nur furze Beit noch dieſen wüſten Kampf gegen bie
Welt und fich felbf aushalten. Wir find nicht medizinifch unterrichtet, ob
noch eine längere Dauer von Jahren zu jener Zeit für Burns wahrfcein-
lih war; ob jein Tod als ein in gewiflem Sinne zufälliged Ereigniß zu
betrachten ift, oder blos ald die natürliche Bolge der langen Reihe von
Ereigniflen, weldhe vorausgegangen waren.
Das Letztere fcheint die wahrfheinlichere Meinung zu fein, und den⸗
noch ift fie keineswegs eine ſichere. Auf alle Fälle Fonnte, wie wir ſchon
geiagt haben, irgend eine Veränderung nicht mehr fehr fern jein. Drei
Thore der Befreiung — fo jcheint uns — flanten Burns offen: Flare poe⸗
tifche Thätigkeit, Wahnfinn oder Tod. Die erfte, mit längerem Leben, war
noch möglich, obſchon nicht wahricheinlich, denn phyſiſche Urſachen begannen
hierbei in Brage zu fonımen. Und dennoch bejaß Burns eine eiferne Ent-
ſchloſſenheit. Hätte er nur fehen und fühlen Eönnen, daß nicht blos fein
höchſter Ruhm, jondern auch feine erfte Pflicht und die wahre Medizin für
alle feine Leiden hierin Tag.
Der zweite Uusweg war noch weniger wahrſcheinlich, denn fein Geift
gehörte ſtets zu dem Flarflen und fefteften. Und fomit öffnete ſich ihm das
184
mildere dritte Thor und er ging nicht fanft, aber doch ſchnell in jenes ſtille
Land hinüber, wo bie Hagelftürme und Beuerregen nicht hintringen und
wo auch der fchwerfibeladene Wanderer endlich jeine Bürbe niederlegt.
Bei Betrachtung dieſes traurigen Endes des Dichters Burns' und wie
er von jeder wirfliden Hülfe entblößt und ohne durch weile Sympathie er⸗
mutbigt zu werben, hinabſank, haben edle Gemüther zuweilen mit vorwurfs«
vollem Kummer daran gedacht, daß vieles für ihn ſich Härte thun laſſen;
daß durch Rath, wahre Zuneigung und freundliche Handreibungen er ſich
und der Welt noch hätte gerettet werden können. Wir zweifeln, ob Diele
Anfiht nicht mehr ein Beweis von Weichheit des Herzens, ald von Richtig⸗
keit des Urtbeils iſt. Uns für unjern Theil ericheint es zweifelhaft, ob der
reichſte, weiiefte und wohlwollendfte Menſch dem unglüdlihen Burns auf in
der That wirkſame Weite hätte helfen können. Guten Rath, der ohnedies
felten Iemandem etwas nützt, brauchte er nicht; fein Verſtand vermochte
das Rechte von dem linrechten eben fo ſcharf zu untericheiten, wie es vicl-
leicht jemals ein Menſch gekonnt bat. Die Ueberzeugung aber, welche ihm
etwas hätte nügen können, liegt nidht fowohl im Kopfe, als im Herzen, wo
die Einpflanzung weder durch Argumente noch durch Borftellungen weient-
lich hätte beördert werden Eönnen.
Was wiederum Geld betrifft, fo glauben wir nicht, daß Died jein wer
fentlidher Mangel war und fünnen auch nicht recht einjeben, wie irgend ein
Privatmann, jelbft Burns’ Einwilligung voraudgefegt, ihm ein unabhängi⸗
ges Vermögen und dabei zugleid; gegründete Ausſicht auf eine entichiebene
Berbeflerung feiner Lage hätte gewähren Fönnen. Es ift eine betrübente
Wahrheit, Daß man kaum in irgend-einem Range ber Geſellſchaft zwei Men⸗
ſchen findet, bie tugenthaft genug wären, um ohne Schaten für die moralifche
Unverlegtheit des einen oder beider @eld geben und es al® eine nothwendige
Babe annehmen zu können. So ftcht aber einmal die Sache. Die Freundſchaft im
alten heroiſchen Sinne des Wortes eriftirt nit mehr; ausgenommen in allen
der Blutd« oder anderen gejeglichen Berwandtichaft wird fie in der That auch
gar nicht mehr erwartet oder unter den Menſchen ald eine Tugend anerfanat.
Ein ſcharfer Beobachter des Menichenlebens hat erflärt, daB Bönner-
weien, oder mit andern Worten pekuniäre und andere materielle linter-
185
ftügung, fei mit einem zweifachen Fluche beladen, für Den fowohl, welder
giebt, ala für Den, weldyer nimmt! Und fo if es aud in Bezug auf äußere
Angelegenheiten die Regel geworben, wie es in Bezug auf innere immer die
Regel war und fein muß, daß Keiner wirkjame Hülfe von einem Andern er«
warte, fondern daß Ieder fich mit der Hülfe begnüge, die er ſich ſelbſt ver-
fhaffen fann. Dies if, jagen wir, das Brinzip der modernen Ehre und
gebt ganz natürlich aus jenem Gefühl des Stolzes hervor, welches wir als
die Bafld unferer ganzen ſocialen Moralitär einpflanzen und ermuthigen.
Mancher Dichter if} ärmer geweien als Burns, aber feiner war je flolger
und es läßt ſich fogar bezweifeln, ob nicht — ohne große Vorſicht — eine
Penflon vom König felbft ihm nicht mehr zur Laſt geweien wäre, alö fle
ihm wirklich genügt hätte.
Wir find deshalb noch weit weniger geneigt, und einer andern Klaffe
von Burns’ Bewunderern anzuichließen, welche tie höheren Stände unter
uns beibuldigen, Burns durch ihre egoiftiihe Vernachläſſigung ind Verder⸗
ben geflürzt zu haben. Wir haben ſchon unfere Zweifel ausgeiprochen, ob
birecte Geldunterflügung, wenn man fie ihn angeboten hätte, auch ange⸗
nommen oder wirklid von Mugen für ihn geweien wäre. Dabei aber geben
wir fehr gern zu, daß für Burns jehr viel hätte geicheben können. So
mancher vergiftete Pfeil wäre dann vielleiht von feinem Herzen abgelenft,
fo manches Hindernig auf feinem Wege von mächtiger Hand beieitigt wor⸗
den. Licht und Wärme aud der Höhe herabgejendet, würde feine beſchei⸗
dene Atmoiphäre freundlicher gemacht baten und das weichfte Gerz, welches
damals athmete, hätte dann unter weniger Schmerzen gelebt und wäre un⸗
ter weniger Schmerzen geftorben.
Wir wollen aud ferner zugeben — und für Burns iſt es viel zuge-
geben — daß er bei all feinem Stolze fogar mit übertrichener Dankbarkeit
fidy an Jeden angefchlofjen haben würde, der ihm wirklich von Herzen Freund
gewefen ware. Auf alle Bälle hätte man die unerhebliche Beförderung, die
er in feinem Amte wünjchte, ihm gewähren können ; e8 war dies jein eige⸗
ner Plan und die Ausführung defielben daber von größerer Wahricheinlich«
feit eined Erfolges begleitet, ald die eined andern. Alles dies hätte für
uniern Adelfland ein wahrer Genuß fein müflen, ja es war für ihn eine
Pfliche, es zu thun. Über ed geichah nichts von allen; ja, wie es jcheint,
ward e8 jogar niemals verſucht oder auch nur gewuͤnſcht; — dies läßt ſich
letder nicht in Abrede flellen.
186
Was iſt num aber diefen Nadhläffigen wirklich zur Laſt zu legen? Ein⸗
fach weiter nichts, als daß fie Weltmenichen waren und nach den Grund»
fägen foldher handelten; daß fie Burnd begegneten, wie andere Edelleute
und andere Bürger andern Dichtern begegnet waren, wie die Englän⸗
der gegen Shakeſpeare, wie König Karl und feine Kavaliere gegen But-
fer, wie König Philipp und feine Granden fi gegen Cervantes zeigten.
Sammelt man Trauben von ten Dornen oder follen wir unfere Dornen nie⸗
derichlagen, weil fie blos einen Zaun und Heden geben? Wie hätte auch
der „bobe und niedere Adel feines Vaterlandes * irgendwelche Unterflügung
diejem „Ichottiihen Barden * bieten fönnen, ter auf feinen Namen und jein
Land fo ftolz war? Waren denn der „hohe und nictere Adel” auch nur im
Stande, ji felbft ordentlich zu Helfen? Hatten ſie nit ihr Wild zu hegen,
ihre Wahlfledeninterefien zu befeftigen und deshalb Dinerd veridiedener
Art zu eflen und zu geben? Waren ihre Mittel allen dieſen Gefchäften mehr
ald angemefjen oder weniger al8 angemefien? Größtentheils weniger als
angemeflen, denn nur wenige von ihnen waren in Der That reicher ale
Burn ; viele von ihnen waren Ärmer, denn zuweilen mußten fie ihre Be⸗
dürfniffe wie mit Daumenfchrauben aus der harten Hand beraudpreffen und
in ihrem Mangel an Guineen ihre Pflicht der Barmberzigfeit vergeflen, was
Burns niemals genötbigt war, zu thun.
Wir wollen fle daher bemitleiden und ihnen verzeiben. Das Wild
begten und fchhofien fie, die Dinerd aßen und gaben fle, die Wahlflecken⸗
interefien befeftigten fle, aber bie Eleinen Babylons, die fie einzeln durch Den
Glanz ihrer Macht baueten, find alle wieder in dad uriprüngliche Chaos
zurücdgeflürzt, wie dies mit den blos egoiftiichen Beftrcbungen der Menfdyen
ſtets der Fall it, während es bier eine That zu üben gab, die ſich Fraft ihres
weltlichen Einfluſſes fo zu fagen durch alle Zeiten erſtreckte und kraft ihrer mo⸗
raliichen Natur über alle Zeiten hinaus, denn fie war unfterblicd wie der Geiſt
der Güte ſelbſt. Dieſe That zu üben hatten fie Gelegenheit, aber die nötbige
Einfidt war ihnen verlag. Wir wollen fie bemitleiden und ihnen verzei⸗
hen, oder vielmehr, was beſſer ift als Mitleiden, wir wollen geben und an⸗
ders handeln. Die menſchlichen Leiden find mit Burns' Leben nicht zu
Ende gegangen und eben fo ift der feierliche Befehl: „Lieber einander und
traget einer ded andern Laſt“, nicht blo8 den reichen, jonbern allen Mens
fhen gegeben. Allerdings werden wir feinen Burns finten, den wir tröften
oder dur unſere Hülfe und unjer Mitleid aufrichten könnten; andere himm⸗
187
liſche Naturen aber, die eben fo wie diefer unter der Laſt eined ermüdenden
Lebens flöhnen, werden immer vorhanten jein und jenes Elend, welchem das
Schidjal die Stimme verjagt Hat, ift nicht das geringfte, fondern das
größte,
Und dennoch glauben wir nicht, daß die Schuld von Burns’ Unglüd
und lintergange hauptiädhlich an der Welt liegt. Die Welt begegnete ihm,
wie und ſcheint, eher mit mehr denn mit weniger Güte, als fie gewöhnlich
foldyen Menſchen zeigt. Sie hat, fürchten wir, ihren Xehrern von jeher nur
wenig Gunſt gezeigt. Hunger und Blöße, Gefahren und Schmähungen,
Gefängnig, Kreuz und @iftbecher find in den meiften Zeiten und Ländern
der Marftpreis geweſen, den fle für Weisheit geboten, und der Willkommen,
womit ſie die begrüßt Hat, welche gefommen jint, fie zu erleuchten und zu
reinigen. Homer und Sofrated und Die chriſtlichen Upoftel gehören der
alten Zeit an, aber tie Wartyrologie ter Welt war damit nicht geichloflen.
Roger Bacon und Galileo ſchmachten in den Kerfern der Beiftlichfeit, Taſſo
bärmt fich in der Zelle eines Irrenhaufes, Camoens flirbt bettelnd auf den
Straßen von Lifjabon. So vernadläfftgte, fo verfolgte fie die Propheten,
nicht blos in Iudäa, fondern an allen Orten, mo ed Menfchen gegeben bat.
Wir find der Meinung, daß jeder Dichter von Burns' Gattung feiner Zeit
Prophet unt Lehrer ift oter fein follte; daß er fein Recht hat, große Güte
von ihr zu erwarten, jontern cher verbunten iſt, ihr große Güte zu erzei⸗
gen; das Burns ganz bejonderd das gewöhnliche Maß von der Güte der
Welt vollftändig erfuhr und daß Lie Schuld jeined Unglücks, wie wir ſchon
geſagt haben, nicht bauptiächlich an der Welt liegt.
Aber an wem liegt fie denn? Wir find genöthigt, zu antworten: an
ihm ſelbſt; es ift fein inneres, nicht fein äußeres Mißgeſchick, was ihn nie
derwirft. Es ift überhaupt jelten anders; jelten geht ein Leben moraliſch
zu Grunde, ohne daß Die Hauptſchuld an einem verfehlten inneren Arranges
ment, an einem Mangel, weniger an gutem Glüd tenn an guter Führung
legt. Die Natur fornıt fein Geſchöpf, ohne ibm zugleich die Kraft einzu⸗
pflanzen, deren es zu feiner Thätigfeit und Dauer bedarf; am allerwenigfien
vernadhläffigt fie auf dieſe Weiſe ihr Meifterftüd und ihren Liebling, Pie
poetifche Seele. Auch fönnen wir nidt glauben, daß ed in der Macht
irgend welcher äußeren Umſtände liegt, den Geiſt eines Menichen gänze
lich zu Grunde zu richten; ja, wenn ibm die geeignete Weisheit gegeben
iſt, auch nur feine weientliche Geſundheit und Schönheit zu beeinträchtigen.
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Die höchſte Summe alles irdiſchen Unglücks ift der Tod; etwas Schlimmeres
ann nicht in dem Becher des menichlichen Wehe liegen und dod haben
viele Menſchen zu allen Zeiten über den Tod triumphirt und ihn gefangen
genommen, indem fte feinen phyſiſchen Sieg in einen moralifchen Sieg für
fich ſelbſt, in ein Siegel und eine unfterbliche Weihe alles Defien verwandel⸗
ten, was ihr vergangenes Reben zu Stande gebracht hatte. Was aber ge=
ſchehen ift, kann auch wieder gefcheben, ja, es ift nur der Grad und nicht
die Battung eines folden Heroismus, was in verſchiedenen Zeiten verſchie⸗
den ifl, denn ohne einen Theil dieſes Geiſtes, nicht geräufchvoller Kühnheit,
ſondern fiiller Furchiloſigkeit, der Seibfiverläugnung in allen ihren Formen
hat fein guter Menſch an irgend einem Orte oder zu irgend einer Zeit es
dahin gebracht, gut zu fein.
Wir haben Burns’ großen Irrthum ſchon bezeichnet und ihn mehr bes
klagt ald getavelt. Es war der Mangel an Einheit in feinen Vorjägen,
an Gonfequenz in feinen Beftrebungen, der fruchtlofe Verſuch, in freunds
liher Einigfeit den gewöhnliden Geiſt der Welt mit dein Geifte der Poeſie
zu verichmelzen, der von weit anderer und ganz unvertöhnlicher Natur if.
Burns war nichts ganz und Burns fonnte — wie dies mit jedem Menſchen
von feiner Natur ber Fall if, — aud nichts halb fein. Das Herz, nit
eines bloßen heißblütigen, volkothümlichen Dichterlings, fondern eines äch⸗
ten, der alten, veligiöß heroiihen Zeiten würdigen Boeten und Sängers
war ihm gegeben und er fiel in ein Zeitalter nicht des Heroismus und ber
Religion, fontern des Skepticismus, des Egoismus und der Trivialität, wo
wahrer Adel wenig verflanden und feine Stelle durch ein hohles, ungeiellis
ges, vollftändig unfruchtbared Prinzip des Stolzes vertreten ward. Seine
offene, empfänglice Natur, abgeichen von feiner höchſt ungünftigen Lage
machte es ihm ganz ungewöhnlich jchwierig, die Einflüffe dieſes Zeitalters
von fich zu weilen oder richtig unterzuorbnen. Der beflere Geiſt, der in ihm
lebte, verlangte fortwährend seine Rechte, feine Oberherrſchaft; er brachte
fein ganzes Leben mit dem Beſtreben zu, diefe beiden zu verföhnen und ging
feine Lebens verluftig, wie er deflen verluftig geben mußte, ohne fie mit
einander verföhnt zu haben.
Burnd war arm geboren und auch geboren, arm zu bleiben, denn er
wollte ſich nicht bemühen, anders zu jein. Dies wäre aud ganz gut gewe⸗
fen, wenn er ſich darein gefügt.und die Sadıe als ein für alle mal abgemadht
betrachtet hätte. Er war allerdings arm, aber Hunderte feine® Standes
189
und feined Geiſtes find noch ärmer geweſen, ohne dadurch etwas Tödtliches
zu leiden, ja fein eigener Bater hatte mit dem undankbaren Schidfale einen
weit härtern Kampf zu beftehen als der feine war und er gab nicht nad,
fondern ftarb muthig Fänıpfend und in moralifher Beziehung als Sieger.
Allerdings beſaß Burns wenig Mittel, jogar wenig Zeit zur Poeſie,
feinem einzigen wirflihen Berufe, um jo foflbarer aber war dad Wenige,
was er hatte. Im allen Dielen äußerlihen Beziehungen war feine Lage
fhlimm, aber noch lange nicht die fhlimmfte. Armuth, unaufbörlihe an⸗
geftreugte Arbeit und noch weit größere Uebel haben Dichter und weile Män«
ner zu befämpfen gehabt und oft auch ruhmvoll beflegt. Xode ward ale
Verraͤther verbannt und ichrieb feine „Abhandlung über den menichlichen
Berftand * in einer hollaͤndiſchen Dachſtube. War Milton reich oder befand
er fih nur auch in leidlichen Umſtänden, als er jein „DBerlorenes Paradies *
dichtete? Er ſtand nicht blos tief, jondern war von einer Höhe herabges
flürzt; er war nicht blos arm, fontern verarmt; in Yinfterniß und von
Gefahren umringt, fang er fein unfterbliches Lied und fand competente Zu-
börer, obfhon nur wenige. Beendete nicht Cervantes fein Werf als ver⸗
ftümmelter Soldat und im Gefängniß? Ja, warb nicht die Araucana, welche
Spanien als jein großes Epos anerkennt, jogar ohne Hülfe von Papier auf
Rederftreifen geichrieben, jo wie der tapfere Fechter und Reifende in dem wil«
den Kriegdgetümmel einen Augenblic für fi erhaſchen konnte? ‘
Und was hatten denn Diele Männer, was Burns fehlte? Zweierlei, was
beides, wie und fdheint, für folche Männer unumgänglich nothwentig if.
Sie befaßen ein ächtes religiöfed Moralprinzip und ein einziges, nicht dop⸗
pelted Ziel in ihrer Thätigkeit. Sie verfuchten und verehrten nicht fich
ſelbſt, ſondern etwas weit Beſſeres ald das eigene Ich. Nicht perfönlicher
Genuß war ihr Streben, fondern eine hohe herotfche Idee von Religion,
von Patriotismus, von bimmliicher Weisheit in einer oder der andern Form
ſchwebte ihnen flet8 vor, in welcher Sache fle weder vor Leiden zurückbebten,
noch die Erde aufricfen, ed als etwas Wunderbares zu betrachten, fondern .
getultig litten und dieſes Leiten felbft ald Glückſeligkeit prieſen. Auf Diele
Weiſe war dad „goldene Kalb der Selbftliebe”, wie fonderbar es auch ge⸗
fornıt fein mag, nicht ihre Gottheit, fondern die unftchtbare Güte, welde
allein der vernünftige Dienft des Menichen if. Diefes Gefühl war gleich
fam ein himmliſcher Brunnen, Teffen Ströme alle Bereiche ihres fonft zu
öden Daſeins erheiterten, erfrifchten und verſchönten. Bit einem Worte,
190
fie wollten nur Eins, dem alle anderen Dinge untergeordnet waren und
dienſtbar gemadt wurden und deshalb vollführten fie es auch. Der Keil
fpaltet Belien, aber feine Spige muß icharf und einfach fein; ift fie Doppelt,
fo bricht der Keil in Stüden und ſpaltet nichts.
Einen Theil diefer Ueberlegenbeit verdanken dieſe Männer ihrem Zeit⸗
alter, in welchem Heroißmus und Aufopferung noch geübt oder wenigflend
noch nicht in Abrede geftellt wurden, viel davon verdanfen fie auch fi
ſelbſt. Mit Burns war es hierin wieter anders. Seine Moralität if in
den meiften ihrer praktiſchen Beziehungen die eines bloßen Weltmannes;
Genuß, in feinerer oder gröberer Geftalt, iſt das Einzige, wornach er ſich
fehnt und wofür er kämpft. in edler Inftinft hebt ihn zuweilen darüber
binaus, aber es ift blos ein Inſtinkt, der nur auf Augenblide wirkt. Er
bat feine Religion ; in dem ſeichten Zeitalter, in welches jeine Tage fielen,
unterſchied man die Religion nicht von den neuen und alten Formen der
Religion und fle trat daher mit dieien immer mehr in den Hintergrund der
menſchlichen Gemürher. In feinem Herzen lebt allerdingd zitternde An⸗
betung, aber in feinem Berftande gab es keinen Tempel. Er lebt in Fin⸗
fterniß und in dem Schatten ded Zweifel. Seine Religion ift im beften
Balle ein angelegentlicher Wunfch oder wie Die Nabelaid’ „ein großes Biel»
leicht. *
Er liebte die Poefte warn und von ganzem Herzen; bätte er fle nur
rein und mit feinem ganzen ungetheilten Herzen lieben können, fo wäre es
gut geweien. Denn die PBoefle, wie Burns jie hätte ausüben fünnen, ift
6108 eine andere Form ter Weisheit, der Religion ; fle ift tie Weidheit und
Religion ſelbſt. Uber auch dies war ihm verfagt. Seine Poeſie ift ein
fladernder Schimmer, der nicht in ihm verlöjcht, aber ſich auch nicht zu dem
wahren Lichte feines Pfades erhebt, fondern oft ein Irrwiſch ift, der ihn auf
Abwege leitet. Es war für Burns nicht nothwendig, reich zu fein, „unab«
hängig“ zu fein oder zu fcheinen; wohl aber war ed nothwendig für ihn,
mit feinem eigenen Herzen einig zu fein; dad, waß in feiner Natur das
Höchſte war, au in jeinem Leben am höchſten zu flellen, „in ſich jelbft
jene Confequenz zu fuchen, welche äußere Ereigniffe ihm immer verweigern
mußten. ®
Er war ein geborener Dichter. Die Poefle war Das himmliſche Ele⸗
ment feines Weſens und hätte die Seele feiner ganzen Beftrebungen fein
follen. In jenen heiteren Aether emporgehoben, in welchem emporzufteigen
191
die Fittige ihm verliehen waren, würde er feine andere Erhebung gebraucht
haben. Armuth, Vernachläſſigung und alle Uebel außer der Entweihung
feiner felbft und feiner Kunft, waren für ihn eine Kleinigkeit ; der Stolz und
bie Leidenfchaften der Welt lagen weit unter feinen Füßen und er blickte auf
Edelmann wie auf Sklaven, auf Fürſt und Bettler und auf alles, was dad
Bepräge des Menfchen trug, mit Elarer Erfennung, mit brüderlicher Liebe,
mit Sympathie, mit Bedauern herab. Ja wir zweifeln, ob für feine Aus⸗
bildung als Dichter Armuth und zeitweiligeö Leiden nicht abfolut vortheil«
haft waren. Große Männer haben bei dem Rückblick auf ihr Lehen daſſelbe
bezeugt. „Ich möchte nicht, * jagt Sean Paul, „daß ich reicher geboren
wäre.” Und dennoch war Jean Paul’d Geburt eine ziemlih arme, denn an
einer andern Stelle jeßte er hinzu: „Die Gefangenkoft befteht in Brod und
MWaffer und ich hatıe oft nur das letztere.“ Das Gold aber, welches in dem
heißeften Ofen greläutert wird, fommt am reinflen heraus, oder, wie er «8
ſelbſt ausgedrückt hat, „der Kanarienvogel fingt um jo fchöner, je länger er
in einem verfinfterten Käfig gelehrt worden. *
Ein Mann wie Burns hätte feine Stunden wiichen Poefte und einem
tugendhaften Bleibe theilen können — einen Fleiße, den jedes Achte Gefühl
fanctionirt, ja vorfchreibt und der aus dieſem Grunde eine Schönheit befigt,
die den Pomp eines Thrones überftrahlt; seine Stunden aber zwiſchen
Poeſie und den Banquetté der Reichen zu theilen, war ein unglüdlicer,
nichts Gutes veriprechender Verſuch. Wie £onnte er ſich bei folden Ban⸗
quets wohl fühlen? Was hatte er bier zu thun? Sollte er feine Muſik
mit dem heiferen Gebrüll Durch und durch trdifcher Stimmen miſchen und
den dien Dampf der Betäubung mit ihm vom Himmel gelichenen Feuer
aufhellen? War ed fein Ziel, dad Xeben zu genießen? Morgen muß er
ja wieder als Uccijebeamter frobnden! Wir wundern und nicht, daB Burns
launenhaft und mürriſch ward und zuweilen gegen gewifie Regeln der Ges
fellichaft verftieß, fondern vielmehr, daß er nicht vollig überjchnappte und
allen Borichriften der Geſellſchaft Trog bot. Wie konnte ein durch feine
oder andere Schuld in eine fo fchiefe Stellung veriegter Menſch jemals auch
nur eine Stunde lang Zufriedenheit oder friedlichen Fleiß kennen lernen?
Was er unter jo verfehrter Leitung that und was er zu thun fich enthielt,
erfüllt und, eins wie dad andere, mit Erflaunen über die natürliche Kraft
und den Werth feines Charafters.
Ohne Zweifel gab e8 ein Mittel für diefe Verfehrtheit, aber nicht in
192
Andern, ſondern blos in ſich ſelbſt, am allerwenigften in einfachem Wachs⸗
thum an Geld und But und weltlicher „Mefpektabilität.* Wir hoffen, über
die Wirfung des Reichthums auf die Poeſte und über feine Faͤbigkeit die
Dichter glücklich zu machen, genug gehört zu haben. Ja, haben wir nicht
ganz in der letzten Zeit ein abermaliges Beiſpiel davon geſehen? Byron,
ein Mann von weit weniger ätherifcher Begabung als Burns, wirt in Dem
Mange nicht eines ſchottiſchen Aderömannes, jondern eines englijdben Pair
geboren; die höchſten meltlihen Ehren, die glängendfle irdiiche Laufbahn
fine fein Erbtheil; Die reichfte Ernte des Ruhms jchneider er bald in einem
andern Bereiche mit feiner eigenen Hand. Und was nützt ihm dies alles?
Iſt er glücklich? iſt er gut? iſt er wahr? Ach, er hat die Seele eines Dich⸗
ter& und ftrebt nah dem linendlidhen und dem Ewigen und fühlt bald, daß
alles dies blos fo viel heißen will, ald wenn man auf Dad Dad) des Haufes
fleigt, um die Sterne zu crreihen! Eben fo wie Burns ift er blos ein flol-
zer Mann, er hätte eben fo gern wie Dieler „eine Taihenausgabe von Mile
ton gefauft, um die Rolle ded Satan zu flutiren“, denn der Satan ifl
auch Byron's Ideal, der Heros jeiner Vocfle und wie es fcheint, Dad Vorbild
feine® eigenen Verhaltens. Eben jo wie in Burns’ Falle will fih auch bier
das himmlische Element nicht mit dem Staube der Erde mifchen » Poet und
MWeltmann fann er nicht gleichzeitig fein, gemeiner Ehrgeiz verträgt fich nicht
mit poetiiher Anderung, er kann nit Gott und dem Mammon dienen.
Byron ift, wıe Yurns, nicht glücklich, ja er iſt der unglüdlichfte aller Men⸗
ſchen. Sein Leben ift falich geordnet; Das Feuer, welches in ihm lebt, if
nicht ein ſtarkes, filled Sentralfeuer, welches die Produkte einer Welt zur
Schönheit erwärmt, jontern ed ift das wahnfinnige Beuer eines Vulkans
und nun — ſchauen wir wehmüthig in die Aſche eines Kraterd, der binnen
Kurzem ſich mit Schnee füllen wird.
Byron und Burnd wurden ihrer Generation als Milftonaire zugelen-
det, um ihr eine höhere Theorie, eine reinere Wahrheit zu Ichren. Gie
hatten eine Botjchaft auszurichten, die ihnen feine Ruhe ließ, bis fe erfüllt
war. Gleichſam glimmend und ſchmerzlich zuckend Tag dieſe göttliche Miſſton
in ihnen, denn ſte wußten nicht, was ſie bedeutete und fühlten ſte blos mit
geheimnißvoller Ahnung und mußten ſterben, ohne ihr beſtimmten Ausdruck
geliehen zu haben.
Wir geſtehen, daß wir das Schickſal dieſer ſo reich begabten edlen
Seelen, die dennoch mit allen ihren Begabungen zu Grunde gingen, nicht
193
ohne eine gewiffe Bange Wehmuth betrachten. Uns ſcheint, als würbe uns
dadurch eine ernfte Moral gepredigt und für Menfchen von gleichem Genius,
wenn es deren giebt, liegt darin eine Lehre von tief eindringender Bedeu⸗
tung. Ganz gewiß geziemt es einem foldden Menfchen, der für die höchſte
aller Unternehmungen, die, der Dichter feines Zeitalters zu fein, ausgeftattet
ift, wohl zu überlegen, was es ift, was er verfucht und in welchem Geifte er
es verfucht. Denn die Worte Milton’s find wahr für alle Zeiten und waren
niemal® wahrer als in der fegigen: „Wer Heldengedichte fhreiben will,
muß erft fein ganzes Leben zu einem SHeldengedicht machen.” Wenn er dies
nicht kann, dann möge er diefe Arena fchleunigft verlaffen, denn weder ihr
Blanz und Stolz noch ihre Gefahren taugen für ihn. Möge er zu
einem mobdifchen Dicterling zujammenfchrumpfen, möge er die Götzen
der Zeit anbeten und befingen und die Zeit wird nicht ermangeln, ihn zu
belohnen,
Dies letztere wirb aber nur dann gefchehen, wenn er lange in dieſer
Eigenichaft leben kann. Byron und Burns konnten nicht als Götzenprieſter
leben, fondern daB Feuer ihrer eigenen Herzen verzehrte fie und ed war
befier für fie, daß fie e8 nicht Eonnten. Denn nicht in der Gunſt der Gro⸗
fen oder der Kleinen, fondern in einem Leben der Wahrheit und in ber
uneinnehmbaren Eitadelle feiner eigenen Seele muß die Kraft eined Byron
oder Burns liegen. Mögen die Großen fidh fern von ihm halten, wenn fle
nicht wiffen, auf welche Weife fle ihn zu ehren haben. Schön ift die Vers
einigung des Reichthums mit Begünftigung und Förderung der Literatur
gleich dem Eoftbarften Blumentopf, der den lieblihften Amaranth umſchließt.
Und dennoch fafle man das Verhältniß nicht falich auf. in Achter Dichter
iſt nicht ein Mann, den die Reichen mit Geld oder Schmeichelei miethen
können, damit er der Diener ihrer Bergnügungen, der Verfaſſer ihrer Ge⸗
legenbeitögedichte, der Lieferant ihres Tafelwitzes ſei. Er kann nicht ihr
Knecht, ja er kann nicht einmal ihr Parteigänger fein. Auf die Gefahr
beider Parteien Hin verfuche man feinen folden Bund! Wird wohl ein
Sonnenroß fanft und geduldig in dem Geſchirr eines Karrengauled gehen?
Seine Hufe find von euer und fein Pfad führt durch die Himmel, um
allen Ländern Licht zu bringen ; wird es daher wohl auf kothigen Chaufſeen
patſchen und Bier zur Stillung irdiſchen Appetits von Thür zu Thür
ſchleppen?
Doch wir machen Halt in dieſen Betrachtungen, die uns unendlich
Carlyle. IV. 13
104
weit führen würden. Wir hatten und vorgenommen, auch noch etwas über
Burns’ dffentlichen, moralifchen Charakter zu fagen, aber auch davon müſſen
wie abfeben. Wir find weit entfernt, ihn vor der Welt firafbar oder doch
firafbarer als die meiften Menſchen zu glauben, ja wir zweifeln nidt, daß
ee weniger firafbar tft, ale einer von zehntauſend. Bor einem weit firenge-
ren Tribunal verhört, als wo die Plebiscita des gewöhnlichen bürgerlichen
Auf ausgeſprochen werben, hat er uns felbft hier weniger Tadel als viel⸗
mehr Mitleid und Berwunderung zu verbienen geſchienen. Die Welt if
aber gewößnlich ungerecht in ihren Urteilen über foldye Menſchen, unge
echt aus vielen Gründen, von welchen wir nur dieſen einen als den haupt⸗
ſaͤchlichſten anführen: Sie enticheidet wie ein Gerichtohof nad todten Ge—
fegesvorfchriften und nicht pofltio, fondern negativ, weniger nach Dem, was
recht gethan iſt, als nach Dem, was unrecht gefcheben oder nicht gefchehen
iR. Nice die wenigen Zolle Abweichung von dem mathematiſchen Kreife,
die fih ſo Leicht meſſen laſſen, ſondern das Verbälmiß derſelben zu dem
ganzen Durchmeſſer macht die wirkliche Aberration aus: Dieſer Kreis kann
der eines Planeten, fein Diameter die Breite des Sonnenfuflems fein, viel-
leicht aber au nur die Rennbahn einer Kunftreiterbude. Demo aber
mißt man blos die Zolle ter Abweichung und man nimmt an, daß ver
Durchmeſſer der Kunftteiterbahn und der des Blaneten im Vergleich das⸗
ſelbe Verhaͤltniß geben !
Hierin liegt die Wurzel fo mander blinden, graufamen Berdammung
eines Burns, Swift, Rouſſeau u. ſ. w. Geſetzt, das Schiff laͤuft mit be
fhädigtem Segel» und Takelwerk in den Hafen ein, fo iſt der Lootſe ta⸗
delnowerth; er ift nicht allweife und allmädhtig gewefen; um aber zu wiſſen,
wie tadelnswerth er iſt, müffen wir erſt fragen, ob er eine Reife um die
Erde oder blos nah Ramsgate und der Hundsinſel gemadt hat.
Bei unfern Lefern im Allgemeinen, fo wie überhaupt bei allen Men⸗
ſchen von richtigem Gefühl brauchen wir nicht als Vertheidiger für Burns
aufzutreten. In Mitleid und Bewunderung eingelargt, ruht er in unfer
aller Gerzen in einem meit edleren Manfoleum als jenem marmernen und
feine Werke werden ſelbſt bei ihrer Mangelhaftigkeit niemals aus dem An⸗
denken der Menſchen hinwegſchwinden. Während die Shafefpeare und
Milton gleich mächtigen Strömen durch das Land des Gedankens rollen und.
Flotten von Kauffahrern und fleißige Berlenfifcher auf ihren Wogen tragen,
feffelt auch dieſer Fleine Springquell unfer Auge, denn auch er iſt ein finn-
195
reiche® Werk der Natur und fprudelt aus den Tiefen der Erde voll und
frei in das Licht des Tages empor und oft wird der Meifende von der Heer⸗
ftraße feinen Schritt hierherlenken, um von feinen Tlaren Fluthen zu trin«
fen und unter feinen Belfen und Tannen ſich ſtillen Betrachtungen zu
widmen.
13*
Deutſche Dramenfchmiede.
(1829.)
Der Beruf eines Dramenfchmiedes iſt im dem jetzigen Entwidelungs-
ſtadium der Geſellſchaft ein ebenfo weientlicher und anerkannter, ald der
eines Zeugichmienes, Hufſchmiedes oder anderen Schmiedes, und es laßt fich
nicht abſehen, weshalb er in der allgemeinen Achtung tiefer ſtehen follte, als
dieje feine Gollegen, ausgenommen vielleicht auß dem einen Grunde, daß die
Letzteren, welche für die Bedürfniffe des Körpers in Eifen arbeiten, ein voll⸗
ftändig feinem Zweck entfprechended Werf liefern, während der Erftere, der
für die Bepürfniffe der Seele in Gedanken und Gefühlen arbeitet, ein Werf
liefert, weldes feinem Zwede nur unvollftändig entfpricht. In anderer
Beziehung fcheint er jedoch mit ihnen auf gleicher Stufe zu ftehen, denn wer
vorurtbeilsfrei denkt, wird, meinen wir, nicht bezweifeln, daß ein Talent,
welches ein entiprechendes Theaterſtück geichaffen, auch wohl unter angemel«
fener Xeitung hinreichend gewefen wäre, die Arbeiten eines Zeugs oder Huf⸗
ſchmieds zu liefern. Indeflen, wenn dad Publikum fid) gegen den Dramen-
fhmied in einer Beziehung Eniderig zeigt, fo muß es in der andern deſto
freigebiger fein, denn nah Adam Smith werden Die Erwerbözweige, welche
für weniger ehrenvoll gelten, dafür defto beffer bezahlt. Indem fo Eins
dad Andere außgleicht, kann der Dramenfchmied fich immer eine ganz gute
Griftenz gründen, wie er in der That auch thut, denn Dramenfchiede hat es
von jcher gegeben und wird es wahricheinlich ſtets geben, wenn nicht viels
leicht im Laufe der Jahre dad Theater ganz aufhört oder aber, wie bier und
da bereitd der Fall ift, jeder Schaufpieler auch fein eigener Dramenjchmied
wird und ſomit dieſes Handwerk fih mit dem anderen und älteren ver-
ſchmilzt.
197
Die britiſche Nation Hat auch ihre Dramenfchmiede, von weldhen meh⸗
rere ihr Handwerk fehr gut verſtehen, doch fcheint bei uns diefe Art Fabri⸗
fation nicht recht zu gedeihen, wenigſtens nicht mit jener hervorragenden
Kraft, weldhe die meiften anderen Zweige unferer nationalen Induftrie aus⸗
zeichnet. In Kurzwaaren und Baummollenwaaren, in allen Arten chemi⸗
cher, medhanifcher oder anderer materiellen Proceſſe thut ed England ber
ganzen übrigen Welt zuvor ; ja fogar in vielen Bächern der Titerarijchen
Manufaktur, wie 3. B. in der Fabrikation von Romanen, fteht es unerreicht
ba, in Bezug auf das Theater aber kann ed, der Grund möge nun fein,
welcher ex wolle, auf keine ſolche Ueberlegenheit Anſpruch maden. In dies
jer Beziehung fteht es ſchon Branfreich bedeutend nad, Hinter Deutichland
aber bleibt es vollends unendlich weit zurüd. Hören wir Engländer nicht
feit zwanzig Jahren tagtäglich, daß das Drama tobt oder wenigftend in einen
Zuftand von Scheintodt verjunfen fei und figen die Dramatiichen Aerzte nicht
beifammen, um wöchentlich, monatlich oder vierteljährlich, obſchon ſtets ver⸗
geblich, ihre Kuren vorzufchlagen, während in Deutichland dad Drama allem
Anfcheine nach nicht blos lebt, fondern auch in üppiger Fülle der Kraft fi
regt, gleichfam als ob es fich erft Die Hörner abliefe! Denn wenn die briti-
fhen Dramenfchmiede ſich kümmerlich Hinfriften und unfere Knowleſes, Ma⸗
turins, Shield und Shees vereinzelt und verlaffen wie Tannen auf einem
trifhen Sumpfe daftehen, find Die deutfche Dramenfchmiede eine flarfe fieg-
reiche Schaar, fo zahlreich, Daß, wie man berechnet bat, im Kricgöfalle ein
Megiment Infanterie daraus gebildet werben könnte, in welchem vom Oberft
an bis zum Tambour jeder Offizier und Gemeine jeine dramatifchen Erzeug-
nifje vorzeigen Eönnte.
Den Urfprung einer fo auffälligen Ericheinung zu erörtern, ift hier
nicht unfere Aufgabe. Die nächfte Urfache liegt ohne Zweifel in der größern
Nachfrage nach dem betreffenden Artikel; weldye größere Nachfrage wiederum
ihren Grund entweder — wie Monteöquieu glauben würde — in dem Klima
Deutfchlande, oder vielleicht natürlicher und unmittelbarer, in dem politi—
fhen Zuftande dieſes Landes hat, denn ber Menſch ift nicht bloß ein arbet-
tendes, fondern auch ein ſchwatzendes Thier und wo e3 keine Parlaments-
formen oder andere dergleichen Fragen in den Mußeftunden zu beſprechen
giebt, fallt man gern über Theater und Schaufpieler, oder was ſich ſonſt
darbietet, her, um ſich fo viel als möglich gegen die Angriffe der Langeweile
zu ſchützen.
138
Um uns von der Thatſache, daß wirklich eine ſolche überwiegende Nach⸗
frage nad) Dramen in Deutfchland vorhanden if, zu überzeugen, brauchen
wir blos irgend ein deutſches belletriſtiſches Jeurnal zur Hand zu nehmen.
Iſt nicht jedes Literaturblatt und Kunflblatt bis zum Verſten mit Theater⸗
angelegenheiten vollgeftopft? Ja, bat nicht der Redaeteur Correſpondenten
in allen Gauptftädten der eivilifirten Welt, weiche ibm über dieſen einen
Gegenftand und keinen andern rapportiren ?
Indeffen wir ſehen vor der Hand von dieſem journalifitfchen Corre⸗
fpondenzwefen ab und wenden uns der Aufgabe zu, welche wir und zunädfi
geftellt haben, indem wir den Zufland der Schaufpielbichtfumft in Deutſch⸗
land ein wenig näher ind Auge faflen und einzelne Siege berfelben ver Be⸗
trachtung unferer Lejer vorführen. Denn fo tief auch dieſe Branche der
Kiteratur ſtehen mag, fo ift fie Doch eine wirklich vorhandene, rührige und
dauernde, und ein Beruf, dem ſich Diele winmen, bat, felbft wenn es ein
nuglofer und thörichter Beruf ift, ſtets Anſpruch auf unfere Aufmerkfanfeis,
die wir ihm widmen müſſen, fet ed nun, um ihn zu loben und zu fördern,
oder um ihn zu tadeln und zu hemmen. Unſer Zwer if, das gründliche
Studium der ausläntifchen Literatur zu fördern, welches Studium, wie alle
anderen menſchlichen Unternehmungen, ſowohl feine negatine als feine pofl-
tive Seite Hat. Wir haben ſchon, fo wie die Gelegenheit fidh dazu darbot,
den Berdienften verichietener deutſcher Dichter Rechnung getragen und müſſen
nun ein Wort über gewifje deutſche Poetafter Tagen, in der Hoffnung, daß
e8 hauptſaächlich Die Achtung vor den erftern ifl, was uns bewogen hat, auf
nur dieje flüchtige Notiz von den legteren zu nehmen, denn dad Schlechte iſt
an und für fi von feinem Werthe und verdient blos deshalb nähere Schil⸗
derung, Damit man e8 nicht fälichlich für das Gute halte. Der Lefer darf
tabei durchaus nicht fürchten, daß wir ihn bei dieſer Gelegenheit mit einem
ganzen Gebirge Dramatiichen Gerülles überichütten werden, welches auf den
Böden der Schaufpielhänier ftill und harmlos vermodert und verfchinmelt.
Dies fei fein von uns! Lieberhaupt ift unfere Kenntniß tiefes Gegenſtandes
im höchſten Grate beihränft und ihn zu erichöpfen, ober mit wiſſenſchafi⸗
licher Genauigfeit beiprechen zu wollen, wäre ein für un gerabezu unmöge
liches Unternehmen. Der geneigte Lefer fühle Daher Muth, denn er if in
Händen, die ihm nicht viel Schaden thun wollen, ja was noch mehr ifl, es
nicht können. Ein einziger fchüchterner Blid in das ungeheure Lager ber
Dramenichmiede, die mit fo fürchterlihem Tumult durcheinander hämmern
199
und feilen — umd wir verlaffen es ſchnell wieder, wahrſcheinlich anf vide
Jahre.
Der deutſche Barnaf hat, wie einer feiner eigenen Bewohner bemerkt,
einen etwas breiten Gipfel und dennoch nimmt man an, daß innerhalb bed
legten Jahrhunderts nur zwei Dramatiker ibn erſtiegen haben: Schiller
und Goethe, wenn man nicht etwa aus Rückficht auf „ Minna von Barn⸗
helm“ und „Emilie Galdtti“, Leffing als dritten Hinzugefellen will. An
dem Abhange des Berges floßen wir auf einige wereinzelte Mitglieder der-
felben Genoſſenſchaft. Unter denfelben behaupten Tied und Maler Mül⸗
ler einen feften und ziemlich hohen Standpunkt, während weiter unten ver⸗
fhietene, ſehr rechtichaffene Leute, denen wir ein ſchleuniges Emporfommen
wünjchen, heftig drauf lodflettern, aber auf dem Iodern Sande immer wie
der zurüdrutfchen. Daß das Lager oder bie Werkflätte, von welcher wir
fprechen und in weldye wir einzutreten im Begriff ftehen, nicht an dem Ab⸗
hange des Berged, jondern ganz unten am Buße befielben auf ebenem Bo»
den liegt, wird der Leſer ſchon von felbft voraudgefegt haben, denn das cha⸗
rafteriftifche Weien eined Dramenfchmicbes befteht eben darin, daß er nicht
in Poefie, fontern in Proſa arbeitet, welche der erſtern mehr oder weniger
geſchickt nachgebilbet ift.
Und bier wird der einen Augenblid verweilende Leſer bemerken, daß
er ſich in einem ctotlifirten Lande befindet, denn gerade an der Grenzlinie
des Parnaß erhebt fih ein Balgen, an welchem eine menfchliche Geſtalt im
Kerten aufgehängt iſt! Es ift die Geſtalt Auguſt's von Kotzebue ud
ſie baumelt hier fchon jeit vielen Jahren zur Warnung für alle zu feden
Dramenjchmiede, die aber, wie wir ſehen, ſich fehr wenig darum Fümmern,
Unglücklicher Kopebue, fonft der Liebling des ganzen europälichen Theaters!
Es war der Fürſt aller Dramenjchmiede und verfland Theaterſtücke mit einer
Schnelligkeit und einem Gluͤcke zu fabriziren, wie noch Feiner vor ihm, den
feine Muße brütete wie andere Tauben allmonatlid Zwillinge aus und bie
Welt betrachtete fie mit einer Bewunderung, die zu groß war, ald daß man
fie in Worten hätte ausfprechen können. Was ift alle Popularität der Ver⸗
gangenheit oder Gegenwart gegen dieje? Wurden nicht feine Stüde in faft
jete Sprache artikulirt fprechender Menfchen überjegt oder wenigftend, wie
man buchftaͤblich fagen kann, auf jedem Theater von Kamſchatka bis Cadir
aufgeführt? Kührten fie nicht die verftocteften Herzen aller Zänder und
lockten fie nicht gleich der Muſik Orpheus’ Thraͤnen auf eiferne Wangen
herab? Wir haben ſelbſt Männer von kiefelhartem Herzen gekannt, welche
bekannten, daß fle bei diefen Stüden zum erften Mal in ihrem Leben ge⸗
weint. Go war ed vor mehr als vierzig Jahren und wie ſteht es heute?
Kotzebue glaubte, ald er fo auf dem hohlen Ballon des Beifalld der großen
Menge emporgetragen ward, es wären ihm Ylügel verlichen, um zu ben Un⸗
fterblicden hinaufzuſteigen. Froͤhlich flieg er empor und fchwebte und fegelte,
als ob er die Lüfte beberrfchte ; in der dünnen Luft der höheren Region aber
plagte fein Ballon oder die Pfeile kecker Bogenfchügen durchbohrten ihn
und fo fehen wir ihm endlich ale Vogelſcheuche hin- und herſchwanken, um
vor der Berührung verbotener Früchte zu warnen.
D ihr Dramenjchmiede und Titerarifchen Quackſalber jeter Gattung,
weinet über Koßebue und über euch ſelbſt! Wiſſet, daß das Tautefte Beifalls-
gebrüll des großen Haufens noch kein Ruhm tft; daß der Ballon, wenn ihr
fo wahnfinnig ſeid, ihn zu befteigen, endlich ganz gewiß platzt oder von
Pfeilen durchſchofſen wird und daß dann eure Gebeine ebenfalls als Vogel⸗
ſcheuchen dienen werden.
Jedoch verlaffen wir dieſes allegoriiche Gebiet, um und unferer proſai⸗
fhen Aufgabe zuzuwenden.
Unter den Hunderten deutfcher Dramatiker, wie man fie nennt können
drei Individuen, welche ihre fammtlichen Collegen überragen, ald die Mes
präfentanten der ganzen Zunft der Dramenfchmiede betrachtet werden, deren
verfchiedenartige Handgriffe und Manipulationen durd die Procedur diefer
drei in einen gewiflen Grade veranichaulicht werden. Mir ſprechen daher
der Reihe nad von Brillparzer, Klingemann und Müllner.
Franz Brillparzer ift ein Defterreicher und fein Vaterland wird
als keineswegs fruchtbar an Poeten betrachtet — ein Umftand, der vielleicht
zu feiner ziemlich raſchen Berühmtheit ein wenig beigetragen hat. Unſere
genauere Bekanntſchaft mit Brillparzer datirt erft auß neuerer Zeit, obſchon
fein Name und Proben feines Fabrikats ſchon feit längerer Zeit in vielen
britiichen und ausländifchen Iournalen oft mit Zeugniffen ausgehängt wor«
den find, welche vielleicht mandyen weniger erfahrenen Kunden verlodt haben.
Aud Haben wir im Grunde genommen diefe Zeugniffe nicht falicher gefun-
den, als dergleichen Zeugniffe gewöhnlich find oder vielmehr nicht fo falich,
tenn Grillparzer ift in der That ein fehr harmlofer Mann, dem man fogar
in gewifler Beziehung ein gewifles Verdienſt zuerfennen muß, fo daß wir
201
ihn nur wiberfirebend der Zahl der Dramenſchiede zugefellen, anftatt ihm
den Namen eines Dramatiferd beigulegen, worauf er allerdings Anſpruch
macht. Wäre dad Geſetz in Bezug auf mittelmäßige Dichter feit Horaz mil«
der geworben, fo wäre e8 mit Grillparzer ganz gut beftellt geweſen, denn es
läßt fich nicht Teugnen, daß er wirklich eine Fleine Ader von Grazie und poe⸗
tiſcher Zartheit beſitzt, eben fo wie eine ſcheinbare Beſcheidenheit und wirk⸗
liche Liebe zu ſeiner Kunſt, welche etwas Beſſeres verſpricht. Aber Götter
und Menſchen und Säulen find in Bezug auf dieſe unglückliche Mittelmaͤßig⸗
keit, felbft auf die gefällige und amüfante Mittelmäßigkeit noch gleich ſtark
und wir fennen bis jeßt von Grillparzer noch feine Scene oder Zeile, Die
etwas mehr ald mittelmäßig wäre. Non concessere iſt daher vor ber Hand
fein Urtheil und fe lauter feine ed mit ihm wohlmeinenden Bewunderer ihn
beraudftreichen, deſto nachdrüdlicher muß es ausgeſprochen und wiederholt
werden.
Nichtspeftoweniger if} Grillparzer's Anſpruch auf den Namen eines
Dramenfchmiedes vielleicht mehr fein Unglück ale fein Verbrechen. Da er
in einem Lande lebt, wo man den Drama fo große Aufmerkfamfeit erweift,
fo hat er fich verleiten laſſen, fih ebenfalld darin zu verfuchen, ohne doch
entfchiedene Befähigung zu einem ſolchen Unternehmen zu beflgen, fo daß
das ihm zugetheilte Maß von Talent, welches in irgend einem Zweige ber
Profa oder auch im Sonett, in der Elegie, im Liebe oder in. einer anderen
Nebengattung von Poeſte Gutes geleiftet haben würte, gleichlan einer Be⸗
flimmung zum Troß, gezwungen wird, Dramen zu fchreiben, welche, obſchon
regelmäßig in Scenen und einzelne Reden abgetheilt, Tem Weſen nach aus
lauter Monologen beftehen, und obſchon von Charakteren wimmelnd, nur zu
oft 6108 einen Churafter ausdrüden und obendrein Eeinen jehr außerorbent-
lichen — nämlidy den Charakter Branz Grillparzer's ſelbſt. Zu feinen noch
größeren Unglüd hat er auf diefer Laufbahn Beifall gefunden und er wird
fie daher wahricheinlich immer weiter und weiter verfolgen, mögen die Natur
und die Sterne fagen, was fie wollen.
Das eigenthünliche Kennzeichen eined Dramenfchmiedes ift, daß er in
Proſa fchreibt, welche Profa er, wahrfcheintich erft ſich jelbft, und dann tem
einfältigeren Theile des Publikums für Poefie aufihdmiert — sil venia verbo.
Die Art und Weile, auf welche er diefen Tajchenipiclerftreid ausführt, bes
gründet feine befondere Untericheidung und beflimmt die Spezies, welder er
in dem Genus Dramenſchmied angehört. Der allgemeine Kennzug aber,
weldger einem jeden dieſer ſich ſelbſt ſo nennenden Dichter eigenthümlich ift,
beſteht darin, daß er durch proſaiſche und gleichſam mechaniſche Mittel ein
Biel zu erſtreben ſucht, welches ohne poetiſchen Genius abſolut nicht zu er⸗
reichen iſt. Größtentheild Hat er einen gewiſſen Kniff oder Handwerkövor⸗
theil, den man bei genauerer Beſichtigung entdecken und dadurch das Herz
feines Geheimniſſes durchſchauen kann. Er bat entweder blos einen Kuiff
oder mehrere, und je ſchlauer er dieſe zu verbergen weiß, deflo rollfemmener
iR er in feinem Handwerk, denn fobald das Publikum einmal diefe feine
Kunfigriffe durchſchauete, wäre es aud mit ihm. Kein Zauberer gilt, ie
bald wir wiflen, wie er’s macht, wenn er Freuer frißt, mehr für einen Achten
Wunderthäter, ja er amüflrt uns nicht einmal mehr in feiner wahren Eigen-
haft ale Baufler und wenn er den ganzen Veſud auffräße. Zum Glück
aber für Dramenfchmiede und andere dergleichen Leute ift dad Publifum ein
kurzſichtiges Thier, welches fih unglaublich leicht täufchen läßt, ju in der
Hegel, wie ſchon das uralte Sprichwort fagt, getäufcht fein will.
Ueber Grillparzer's eigenthümlichen Kuiff Laßt fich nicht jehr viel jagen.
Er fheint nach der Meihe verfchiedene Rezepte verſucht zu haben und — zu
feiner Ehre fei ed gefagt — mit feinem berfelben vecht zufrieten zu fein.
Das Hei weitem fchlechtefte feiner Dramen, welches wir geliehen haben, iſt
die Ahnfrau, eine furchtbare Geſpenſtertragödie, deren verwerflicher
Mechanismus glei auf den erften Blick zu erkennen if. Es ift meiter
nichts als die alte Schickſalsgeſchichte. Eine unſichtbare Nemefid jucht Die
Sünden der Bäter an den Kindern beim bis ind dritte und vierte Glied —
eine Methode, die in der deutichen Kunft vor einiger Zeit eben jo allgemein
und berrichend war, wie der Dampf im englifchen Naſchinenweſen ift und
worüber wir gleich ‚Gelegenheit haben werten, noch mehr zu ſprechen.
In feiner Borrede bemühet fi Srillparzer, die Ihatfache, daß er ein
Schidialsdichter fei, zu leugnen oder abzuſchwächen; aber das hilft ihm
alle nichts, denn es ift eine Thatſache, die fi auf das Zeugniß unjerer
fünf Sinne gründet. Indeflen freuet e& und, zu bemerfen, daß er mit dies
fem einen Verſuche die Schickſalsbranche verlaffen und beffere, wenigflend
andere, eingeichlagen zu haben fcheint. '
Was tie Ahnfrau jelbft betrifft, fo wollen wir bemerken, daß uns noch
wenig Dinge jo frappirt haben, wie die Fleine Bemerkung des Grafen Bo⸗
rotin, die mitten unter den entfeglichften und unbeimlichften Nachtgedanfen
ganz unerwartet auf folgente Weiſe zum Borfchein fonımt:
Bertha.
Und ter Himmel, Rernelos,
Start aus leeren Augenhöhlen
In das ungeheure Brab
Schwarz herab!
Graf.
Die ſich doch die Stunden dehnen !
Was iſt wohl die Glocke, Bertha?
Eine zartere Wendung iſt wohl ſelten in einem tragiſchen Dialog vorge⸗
kommen.
Was die Geſchichte der, Ahnfrau“ betrifft, fo tft fie natürlich von der
berzzerreißendfien Art. Diele „ Abnfrau” if eine Dame oder vielmehr ber
Geiſt einer Dame, denn fie ift ſchon feit einigen Jahrhunderten todt, welche
im Leben eine fogenannte Indiscretion begangen hatte, welche Indiseretion
der unböfliche Herr Gemahl — man hätte meinen follen hinreichend —
dadurch frafte, daß er ihr dad Schwert Durch den Leib rannte, Grillparzer’s
Fatum aber ift damit noch nicht zufrieden, fondern verurtheilt die ſchöne
Büßende, auch noch ferner ald Gefpenft umzugeben, bis der legte Sprößling
ihrer Familie ſtirbt. Demgemäß hört man fle von Zeit zu Zeit Thüren zu-
ſchlagen und mehr dergleichen linfug verüben und dann und wann ficht man
He mit furchtbaren Glotzaugen und anderem gefpenftiichen Zubehör, zum
Schrecken nicht blos der Dienftleute, fondern auch des alten Grafen Borotin,
ihres jeßigen alleinigen männlichen Nachkommens, deilen Mittagichläfchen
fie bei einer Gelegenheit auf graufame Weife flört. Diefer Graf Borotin
ift ein guter, rebfeliger alter Herr. Er Hatte einen Sohn, der ſchon vor
langer Zeit in einem Teiche ertrank, obne daß man jedoch die Leiche gefun-
ben hätte. Außerdem befigt er noch eine hochgebildete Tochter, welche wei⸗
ter feine Freier bat, als einen gewiflen Jaromir, einen Menſchen von unbe⸗
tannter Herkunft und allem Anicheine nad fehr bürftigen VBermögensum-
fländen; ja foäter ergiebt fi jogar, daß er das Haupt einer Mäuberbande
ift, welche ſchon lange die benachbarten Wälder unfiher gemacht hat. Ge⸗
rade um dieje Zeit langt ein Offizier an, welder beauftragt iſt, mit feiner
Mannſchaft dieſe Räuber vollftäntig audzurotten, und nun fommen auf ein»
mal die feltiamften Dinge an’ Lit. Diefer Iaromir ift nämlich Niemand
weiter, als des armen alten Borotin ertrunfener Sohn, der aber nicht er-
teunfen, fondern von den Räubren geflohlen und aufgezogen worden ifl.
Demzufolge ift er der Bruder feiner Braut und ein ganz. entfeglicher Burſche,
der, indem er fein Leben vertheidigt, ohne es zu wiſſen, feinen eigenen Vater
umbringt und feine Braut zum Selbfimorbe treibt, fo daß aljo aus ber
Heirath auf feinen Fall etwas wird.
Der Leſer begreift Teiht, daß alle diefe Grfchichten nicht ohne einigen
Lärm und Tumult abgehen. In der That berricht auch während dieſer gan⸗
zen Nacht überall ein fürdterlicher Spektakel — Räuber fierben, Musketen
knallen, Frauen kreiſchen, Männer fluchen und die „ Ahnfrau“ felbft, der
Benius diefes ganzen Wirrwarrs, taucht zu wiederholten Malen auf. In⸗
deffen, mit der Zeit nimmt Alles ein Ende und fo auch bier. Jaromir ges
Iingt ed endlich, ebenfalld den Geiſt aufzugeben, worauf, nachdem das ganze
Geſchlecht der Borotine zum Teufel gegangen ift, die „Ahnfrau“ ſich eben⸗
falle dahin zurüdzieht oder wenigftend die Oberwelt von ihrer Gegenwart
befreit, worauf das Stüd in tiefer Stille endet. Wir wollen über diefe
arme Ahnfrau weiter nichts jagen, ald: „Wo fle auch jein möge, requies-
cal! requiescat!*
Wie wir fchon oben erwähnten, fcheint die Schickſalsmethode bei der
Fabrikation tragifcher Rührung Grillparzer ſelbſt nur wenig befriedigt zu
haben, denn nad diefer Ahnfrau hören wir nichtd weiter davon. Sein
„König Ottokar's Glück und Ende* ift ein weit unfchuldigeres
Stück und bewegt fi in einer ganz anteren Richtung, indem es nicht durch
alte Weibermaͤrchen von Schickſalsbeſtimmung auf und einzuwirken fucht, ſon⸗
dern durd den Glanz von Thronen und Fürftenthümern, den graufamen ober
hochherzigen Stolz von öfterreichtfchen Kaifern und böhmiſchen Eroberern, den
MWig ritterlicher Höflinge und fchöne, aber verichmigte Königinnen — alled
dies mit einer gehörigen Beimifhung von Krönungsceremonien, ungarijchen
Eoftümsd, bärtigen Hellebardierern, Schladhtenlarm und Kriegögetöje. Es
wird in diefem Stud fogar ein Verſuch zur Charafterzeihnung gemalt,
denn gewiſſe Berjonen des Drama's find offenbar beflimmt, fi) von gewiflen
andern nicht blo8 der Kleidung und den Namen, fondern aud ihrer Natur
und ihrem Weſen nach zu untericheiden ; wenigftens verfihern fie dies wie⸗
berbolt oder deuten ed an und thun alle8 Mögliche, um ed durch die That
zu beweilen, was ihnen aber unglüdlicherweile nur in fehr geringem Grade
gelingt. In der That find diefe Perfonen des Drama's mehr Rubrifen und
Zitel ald Perfonen und größtenıheild bloße theatraliiche Automaten, Lie
eine nur mechanifche Eriftenz befigen.. Das Wahre an der Sache ifl, daß
Grillparzer nicht im Stante if, irgend einem Charakter oder Gegenftande
205
ein poetiiche® Leben mitzutheilen, wodurd er, ſelbſt wenn es auch auf Feine
andere Weile gefchähe, das durch und durch profaifche Weſen feines Talentes
fundgiebt. Seine Perfonen befigen in einigen Fällen einen gewiſſen Grad
von metaphäflicher Wahrheit; das beißt: ein Theil ihres Baues ent|pricht,
vom pſychologiſchen Standpunfte aus betrachtet, dem andern, und ſoweit
wäre Alles gut; diefe blos wiſſenſchaftlichen und lebloſen Cigenſchaften
aber zu einem lebenden Menſchen vereinen, iſt die Aufgabe nicht eines Dra⸗
menſchmiedes, ſondern eines Dramatikers. Nichtsdeſtoweniger iſt „König
Dttofar * eine verhaͤltnißmäßig harmloſe Tragödie. Ste hat viel Handlung,
die ziemlich effectwoll ift, aber de8 Zufammenhangesd entbehrt, und dad Stück
muß fih in Folge der darin vorkommenden Xiebeshändel, Schlägereien,
Hochzeiten, Leichenbegängniffe, Prozeffionen, Lager ıc., befonders wenn der
Schneider und der Mafchinift ihre Schuldigkeit thun, ganz hübſch ausneh⸗
men, vorzüglich auf einem Wiener Theater, wo es eine nationale Bedeutung
bat, weil Mudolph von Habsburg eine der Hauptperfonen darin iſt.
Das Vorbild diefes „Ottofar* find wahrſcheinlich Schiller's Piccolo⸗
mini geweſen — ein Gedicht von ähnlicher Zufammenfeßung und Tendenz,
wiewohl von erfteren eben fo verfchieden, ald eine lebende Roſe von einer
Maffe todter Mofenblätter. Es jcheint, ald ob Grillparzer gehofft Hätte,
und durch eine hinreichende Menge wunderfamer Auftritte und Umftände zu
verblüffen, ohne weiter ängfllich darnad) zu fragen, ob Die Seele und Bedeu-
tung derjelben und deutlich werde oder nicht. Lind hierin eben Tiegt, glau⸗
ben wir, der eigenthümliche Kniff oder dad Dramenfchmietgeheimnif Ottos
kar's, nämlich darin, dag der Effect hauptſächlich von feiner Quantität ab⸗
hängt, von der großen Anzahl der Ueberraſchungen und freudigen oder bes
Flagendwerthen Abenteuer, die nady einander zum Vorſchein Eommen, fo daß
Die Menge des oberflädhlihen Inhalts den Mangel der callida junctura
aufwiegt.
Diefe zweite Methode bei der Fabrikation von Tragödien halten wir
für befler als die erfte. Gleichzeitig iſt e8 aber eine ſehr gebräuchliche Mes
thode, fowohl im Fache der Tragödie als in anderen, ja wir haben von Leu⸗
ten, deren Erwerb ed ift, Verſe zu ſchreiben oder die Phantaſie auf andere
Meile anzuftrengen, fagen hören, es fei dies die beſte Methode, die fie kenn⸗
ten. Sammeln nicht diefe Leute „ Stoff * auf der ganzen bewohnbaren Erde,
indem fie gefliffentlich feltfame Ereigniffe, Mordthaten, Duelle, Geifter-
erfheinungen u. dergl. außforfchen und zulammentragen? Haben fie von
dergleichen Stoffen einen hinreichenden Vorrath aefammelt, jo bebarf ed
dann vom ihrer Geite weiter nichts, als daß fie dieſelben gaſchickt und buni
zuftugen und in ein Yutteral bringen, welches dann Novelle, Drama ebter
Roman heißt. Aber alles dies ift nichts weiter ale Kombination und feine
Schöpfung und hat in der Literatur wenig Werth. Die Quantität — fe
viel iſt gewiß — kann die Oualität niemals erfegen und die brillanteften
Farben nügen nichts, wenn nicht eine lebensvolle Geſtalt Damit gemalt wird.
Für „ König Ottokar“ wäre es beſſer, wenn die Geſchichte halb fo lang und
dadurch um fo bändiger geworben wäre, denn eben jo wie zu Gervantes’ Zeit
iR es and jegt noch wahr: nunca lo hueno fud muche. Was nüßt der
Schluck Branntwein, fo lange er in chemiſcher Vermiſchung mit einem Faſſe
voll Spältht ſchwimmt! Der Deflillatenr möge ihn immer und immer wies
der durch feinen Apparat laufen lafien, denn es find die Tropfen reinen Als
kohols, die wir wollen, nicht die vielen Kannen Waffer, die in jeder Pfüge
zu baben find.
Im Ganzen genommen erinnern wir uns an „König Ditolar” ohne
Groll und um zu beweiſen, daß Grillparzer ihn, wenn auch nicht poetifcher,
doch weniger prefatich hätte machen können und wirklich etwas Beflered in
fi trägt, als ſich hier fund giebt, wollen wir eine Stelle citiren, bie uns
ſehr ſchön umd natürlich empfunden zu fein ſcheint. König Ottokar ſteht
auf dem legten feiner Schlachtfelder, wo er nichtd vor ſich flieht als Tod
oder Befangenfchaft, und er überbenkt feine vergangenen Miffethaten, indem
er fagt:
Sch hab’ nicht gut in deiner Welt gehauft,
Du großer Gott! Wie Sturm und Ungemwitter
Bin ich gezogen über deine Fluren;
Du aber biſt's allein, ber Hürmen kann,
Denn du allein fannft heilen, großer Gott.
Und hab’ ich auch das Echlimme nicht gewollt,
Wer war ih, Wurm? daß ich mich unterwand,
Den Herrn der Welten frevelnd nachzuſpielen,
Durchs Böfe fuchend einen Weg zum Buten !
Den Menfchen, den du hingeſetzt zur Lu,
Ein Zwed, ein Selbſt, im Weltall eine Welt —
Gebaut haft du ihn als ein Wunderwerf.
Mit Hoher Stirn und aufgerichttem Nacken,
Gekleidet in der Schönheit Feierkleid,
207
Und wunderbar mit Wundern ihn umringt,
Gr hört und fieht uud fuͤhlt und freut ſich.
Die Speife nimmt er auf in feinen Leib;
Da treten wirkende Sewalten auf,
Und mweben fort und fort mit Faſern und Gefaͤß,
Und zimmern ihm fein Haus; kein Koͤnigoſchloß
Mag fldy vergleichen mit dem Menfchenteib !
Ich aber Hab’ fie hin zu Taufenden geworfen,
Um einer Thorbeit, eines Binfalls willen,
Wie man den Kehricht fchüttet vor die Thür.
Und Keiner war von den Beblich’nen allen,
Den feine Mutter nicht, ale fle mit Schmerz geboren,
Mit Luſt geprüdt an ihre Nährerbruft,
Der Bater nicht als feinen Stolz gefegnet,
Und aufgezogen, Jahrelang gehütet ;
Wenn er am Finger ſich verlegt die Haut,
Da liefen fie herbei und banden’s ein,
Und ſahen zu, bis endlich es geheilt:
Und 's war ein Finger nur, die Haut am Finger!
Ich aber hab’ fie Schockweis hingefchleubert,
Und ſtarrem Eifen einen Weg gebahnt
In ihren warmen Leib. — Haft du befchloflen
Zu gehen in's Gericht mit Ottokar,
So triff mich, aber ſchone meines Volks!
Stellen diefer Art, deren in Grillparzer's Dramen bier und da me
rere vorkommen und bie wenigften® eine liebenswürdige Zartheit der Ems
pfindung beweifen, Taflen uns um fo mehr bebauern, daß wir ihn dennod
verdammen müfjen und berechtigen zu der Hoffnung, daß er nicht dazu ges
boren if, ſtets ein Dramenfchmieb zu bleiben. ine ädıte, obſchon ſchwache
poetiſche Aber ſcheint er wirklich zu beflgen und die Meinheit feines Herzens
Tann ihn bei ernſten Studien noch auf das ihm angemeflene Feld führen.
Wir halten ihn für einen rechtichaffenen, gewiffenhaften Mann und ehrlichen
Freund der Kunft; ja dieſes unaufhörlide Schwanken in feinen drama⸗
tifgen Entwürfen ift ſchon an und für ſich ein gutes Zeichen. Außer der
„Ahnfrau“ und „Ottofar* hat er noch drei Dramen: „Sappho“, daß
„Soldene Vließ* und „Ein treuer Diener feines Herrn*
nach ganz anderen Prinzipien geſchrieben, indem er, wie e8 ſcheint, einem
Hajfiiden Modell oder wenigftens einem franzöflfhen Spiegelbilde eines
ſolchen Modells nachſtrebt. „Sappho* ſcheint uns bei weitem bie fehler»
208
loſeſte feiner Arbeiten zu fein, die wir bis jet kennen gelernt haben. Es
liegt darin ein hoher Brad von Anmuth und Einfachheit, eine Weichheit,
Politur und guter Gefhmad, wie man ihn von dem Verfafler der „ Ahn⸗
frau * nicht erwarten jollte.
Wenn wir es aber nur mit Widerfireben über uns gewinnen Eonnten,
@rillparzer unter die Dramenfchmiebe zu zählen, fo Tann in Bezug auf den
zweiten Namen, der auf unferer Lifte flieht. — Dr. Auguft Klinge-
mann — von einem foldyen Hang zur Schonung nicht die Rede fein. Nr.
Klingemann war einer der unbeflreitbarften Dramenfchmiede, die es je ge
geben. Seine Procedur ift von der Brillparzer’® ganz verfchieden. Bei
ihm handelt es ſich nicht um eine fchwanfende, ſich ewig verändernde Me⸗
tbode oder um eine Sombination von Methoden, jondern um ein feftftehen-
des Prinzip der Thätigfeit, welchem er mit unbeugfamem Muthe folgt, wäh.
rend er mit jeinen eigenen Leiftungen höchlich zufrieden zu fein fcheint.
Während Grillparzer uns bald durch die Schickſalsmethode, bald durch
pomphafte Action und großſprecheriſche oder weinerliche, in allzureichlicher
Fülle fi) ergiegende Sentimentalität zu überwältigen fucht, ſcheint Klinge⸗
mann, ohne eines diefer Külfsmittel zu verfchmähen, ſich doch in der Haupt«
ſache auf zuverläffigere und allezeit fertigere Dinge zu flüßen — wir meinen
feine Vorräthe von Bligmehl, Delpapier, Masken, rothen Mänteln und
Schießpulver. Was durch Donner und Blig, magijche Laternenbilter,
Iodtenföpfe, Beuerregen und dergleichen geleiftet werden. fann, wird bier
geleiftet. Hierzu kommen nod eine Menge Kirchhof und Kapellenicenen
bei der flürmiichften Witterung, abgeſehen von Schlachtfeldern, bier und da
durch das Waldesdunkel Hligenden Waffen und den Schüffen, die man dann
und wann in der Berne fallen hört. Außerdem find bie boshaften Seiten
blide, die leichenhafte Bläffe, das Fußſtampfen und die Ohnmachten von der
Art, daß ſich darüber ein Stein in der Erde erbarmen möchte. Aber nicht
blo8 die Blicke und Geberden diefer Leute find von ber Herzzerreißentiien
Art, fondern ihre Worte und Gefühle — denn Klingemann iſt fein halber
Künftler — flimmen damit überein — hochtrabende Aufgeblafenheit, die
reinfte Unfchuld, die erhabenfte Seelengröge, göttliche Ideen aller Art —
überall der ſchönſte tragifche Humor. Die Morak ift Dabei von der trefflich-
ſten Art, auf die Tugend wird die ängftlichfte Nückficht genommen und das
Walten der Vorfehung und des Teufel! ſtreng von einander getrennt ge⸗
balten. Aus dieſen Beftandtheilen find die Klingemann’fchen Dranıen zu«
209
fammengefegt und es läßt ſich nicht leugnen, daß ihre Wirkung eine durch⸗
aus nicht unangenehme if, ja wir müffen zu unferer Schande geftehen, daß
wir diefe Schaujpiele mit einem gewiflen Brad von Benuß gelefen haben
und behaupten, wer Zuft bat, fi auf irrationelle Weiſe zu amüflren, der
findet hier für fein Geld die rechte Waare.
Klingemann’d letzte dramatiſche Arbeit ifl „Ahasver“. Diefer
Ahasver ift Niemand anders, als der ewige Jude oder Schuhmacher von Je»
rufalem, in Bezug auf welchen wir bier zwei Bemerfungen nit umgeben
fönnen. Die erfte gilt dem fonderbaren Namen ded Schuhmachers; warum
nennen Klingemann und die Deutfchen überhaupt diefen Mann Ahasver,
da jein authentifcher Name doch Johanned — Joannes a Temporibus Chri-
sti oder furzweg Joannes a Temporibus — iſt? Linfere zweite Bemerkung
gilt dem Umftande, daß fein Befchichtichreiber oder Erzähler, weder Schil⸗
ler, noch Strada, noch Thuanus, noch Monroe, noch Dugald Dalgerty, etwas
tavon erwähnen, daß Ahasver der Schlacht bei Lügen beigewohnt habe.
Es ift möglib, daß fie glaubten, Die Sache fei zu notorifch, als daß fle der
Erwähnung bedürfe. Alſo, er war auf alle Fälle dabei, ja er muß auch bet
Waterloo und wahrſcheinlich auch bei Trafalgar geweſen fein, obſchon es
nicht Flar if, auf welcher Flotte, denn er nimmt Theil an allen großen
Schlachten und weltgefhichtlichen Ereigniffen ; wenigftens ift er Zeuge der»
felben, weil fein Verhängnip ihn dazu zwingt.
Dies ift die eigenthümliche Befchäftigung des ewigen Juden, die wir
aus diefer Tragödie Eennen fernen; feine anderen Eigenthümlichfeiten —
Daß er nicht über drei Nächte an einen und demfelben Orte wohnen Eann,
"Daß er von jchiwermüthigem Temperament ift und vor allen Dingen, daß er
nicht flerben fann, weder durch Hanf, noch durch Stahl, ja nicht einmal
durch Blaufäure, jondern bi zum jüngften Tage weiter wandern muß —
find allen Leſern hinreichend befannt. Ahasëver's Aufgabe in der Schlacht
bei Lügen fcheint eine ſehr leichte geweien zu fein und einfach darin beftan- -
den zu haben, den Löwen ded Nordens fallen zu fehen, aber nicht durch eine
Stüdfugel, wie man gewöhnlich glaubt, fondern durch die verrätherifche
Piftolenfugel eines gewiflen Heinyn von Warth, cine bigotten Katholiken,
welcher fih für einen Dejerteur der Kaiferlichen auögiebt, um eine folche
Gelegenheit zu finden. Unglücklicherweiſe verfällt Heingn unmittelbar nad
feiner That in einen fchlaflofen, halb rafenden Zuſtand; gebt nad Haufe
auf fein Schloß Warth, erichredt jein armed Weib und feinen würdigen,
Cariyle. IV. 14
obſchon etwas fhwadgtünfigen Vater, ſchleicht dann einige Zeit Iang herum,
indem er bald betet, bald, umd zwar öfterer, ſchwoͤrt und flucht, bis endlich
die Schweden ihn feſtnehmen und umbringen. Abasver iſt wie gewöhnlich
bei dem Tore zugegen ; in der Zwiſchenzeit aber hat er Yran von Heinye
vom Tode des Ertrinkens gerettet, obſchon er fie zugleich durch den Blick
feiner unbeimlichen fileren Augen vergiftet und nun, da fein Geſchäft allem
Anſcheine nach zu Ende iR, giebt er In jeltfamen Worten zu erkennen, daß
er fort müfle. Hierauf fchreiter er feierlich in den Wald hinein, Waſaburg
lebt ihm überraſcht nach; Die Uebrigen Enien um den Leichnam, das Requiem
dauert leiſe fort, und, was noch wunderbarer ift, der Borbang fällt.
Dies ift die einfache Handlung und ernfle Kataſtrophe dieſer Tragödie,
in Bezug auf welche es überflüfflg wäre, und weiter in eine Kritik einlaffen
zu wollen. Wir wollen blos nod bemerken, daß unierem Eremplare eine
entfegliche Lithographie beigefügt if, welche Ludwig Devrient als Ahasver
vorftellt, wie er eben „feierlich in den Wald hineinſchreitet“ und die Schluß»
worte ſpricht: „Ich aber wandle weiter — weiter — weiter! *
Zunaͤchſt werfen wir nun einen Blid auf Klingemann’& zweite hervor⸗
sagente Leiflung ; wir meinen das Trauerfpiel „Fauft* Klingemann
giebt zu, daß der Gegenſtand ſchon oft bebandelt worden und daß bejonders
Goethe's Fauſt Dramatifche Momente babe; er aber ftellt ſich die Aufgabe,
ihm eine ganz dramatifche Geflalt zu geben oder, wie er ſelbſt fagt, eine ächt
dramatifche Tragödie daraus zu machen. Bon diefer Iobenswerthen Abſicht
audgehend, hat Klingemann einen Fauft geichaffen, der fih von dem Goethe’s
in mebr als einer Bezichung unterſcheidet. Der Held dieſes Stüdes if
nicht der alte Fauſt, Doctor der Philoſophie, welcher durch die Unzuläng«
lichkeit der menſchlichen Erfenntniß zur Berzweiflung getrieben wird, ſon⸗
bern der jhlichte Johannes Kauft. der Buchdrucker und zugleich Erfinder des
Scießpulverd, den fein ehrgeiziges Gemuͤth, noch mehr aber der gänzliche
Mangel an baarem Gelde zur Verzweiflung treibt. Er hat ein vortreffliches
Weib und einen vortrefflichen blinden Vater, welde beide fehr wünſchen,
dag er Ruhe halten und in feiner Werkflatt arbeiten möchte; va er fich aber
auf die ſchwarze Kunſt verſteht, fo befchließt er, fich lieber auf diefe Weife
zu helfen. Demgemäß macht er einen Eontraft mit dem Xeufel, unter,
wie ed fcheint, ziemlich vortheilhaften Bedingungen, indem der Teufel fi
verbindlich macht, ihm auf die wirkſamſte Weife zu dienen und Fauſt das
gegen vier Todſünden begehen kann, ehe ihm ein Haar auf feinem Haupte
De
211
gekraͤmmt werben darf. Indeſſen der Teufel if}, wie man leicht vor⸗
ausfegen kann, ein fchlauer Fuchs und Fauſt wird zuletzt doch über-
sölyelk. ’
Ein zweiter harakteriftifger Unterſchied Klingemann’s ift feine Art
und Weife, dieſes böfe Prinzip zu verkörpern, wenn er endlich beichließt, es
ſichtbar vorzuführen, denn alle dieſe Eontrafte und vorbereitenden Anſtalten
werden fehr angemeſſen / hinter den Gouliffen zu Stande gebracht und nur
die Hauptmomente des Geſchäfts dem Publikum durch einen Donnerfchlag
oder fo etwas angedeutet. Wir jehen bier feinen Falten, ironiſchen Mephi⸗
ſtopheles, ſondern einen etwas großmäuligen jovialen „ Fremden“ mit einem
fehr rothen Geſicht, deſſen Farbe, wie Kauft anfänglich glaubt, vom vielen
Trinken herrührt. Diejer Fremde hat indeffen die Eigenthümlichkeit an
fih, daß er, fo oft ein religiöfer Gegenftand zur Sprache gebracht oder cin
geheiligter Name erwähnt wird, fein Glas auf den Tiſch flampft und es ge⸗
wöhnlich zerbricht.
Eine Zeitlang nah Abſchluß dieſes Handels gehen Fauſt's Geſchäfte
ſehr gut und er fcheint fi ganz wohl zu befinden. Da zeigt ihm aber der
Fremde „fein Weib” Helena, das reizendſte Wefen von der Welt, aber auch
das hartherzigfte, denn trogdem, daß ihr Herr Gemahl nicht im mindeften
eiferfüchtig tft, will fie doch Fauſt nicht die geringfle Ermuthigung gewäh-
ren, bis er Käthe, feine eigene Gattin, ermordet bat, die ihn niemals etwas
zu Leide gethan und gegen welche er auch nidht den geringften Groll heat.
Nichtsdeſtoweniger befchließt er, in Erwägung, daß er ja vier Tobfünden
zuzufegen bat und es um eined fo hoben Gewinnes willen wohl auf eine
ankommen laffen kann, Käthe umzubringen. Hier aber nimmt tie Geſchichte
ſchon eine fchlinme Wendung, denn nachdem er die arme Käthe vergiftet
bat, macht er die ganz unerwartete Entdedung, daß fie guter Hoffnung ift
und daß er deshalb nicht eine Todſünde, fondern deren zwei begangen bat!
Ja, ehe noch das Begräbniß flattfindet, fieht er ſich durch eine Art zufälliger
Selbfivertheidigung genöthigt, feinen Vater umzubringen und die dritte
Todfünde zu begehen, mit welcher dritten, wie wir gleich fehen werden, jein
ganzer ihm zugeflandener Vorrath erfchöpft if, weil eine vierte, die er un-
wiffentlich begangen, ihm ſchon auf das Kerbholz gebracht if. Von nun an
kann e8 und nicht wundern, wenn die Sache immer bedenflicher wird —
e8 zeigen fich allerhand beunrufigende Erſcheinungen, ſchwarze Masken ume
tanzen ihn auf fehr verbächtige Weile, der Fremde mit dem rothen Geficht
14*
212
fheint ihn auszulachen und Helena will nirgends zum Vorſchein kommen.
Damit der theilnehmende Lefer mit eigenen Augen fehe, wie der arme Kauft
nun chicanirt wird, wollen wir hier einige Scenen anführen. Zur erſten
wählen wir die, wo die ſchwarzen Masten auftreten.
Erleuchteter Saal. (In der Ferne Hört man raſche Tanzmuflf. Masken geben abs
wechſelnd über die Bühne, aber alle ſchwarz gekleidet, und mit ganzen undurch⸗
fihtigen Larven. Fauſt ſtuͤrzt nach einer Baufe wild herein, einen gefüllten
Pokal in der Hand.)
Fauſt (in den Bordergrund flürmend.)
Sa, Gift Hatt Wein, daß ich mich d'rin beraufche !
Der Bein macht nuͤchtern — glübend Feuer will ich!
Fort mit dem Tranf —! Und Blut if’s obendrein!
(er Ichleudert ſchaudernd den Vokal weit von fidy.)
Des Baters Blut — — ich tranf mid) darin voll!
(in ſteigendem Aufrubre.)
Doch Fluch ihm! Fluch! daß er mich hat gezeugt!
Dem Mutterſchooße Fluch, der mich getragen!
Der Amme Fluch, die mich an's Licht gefördert,
Daß fie mich nicht erwürgt' im erſten Schreie!
Was kann denn ich für mein entieglih Dafein ?
Berfludt feift du Natur, die mich betrogen,
Berflucht ich ſelbſt, daß ich mich täufchen ließ! —
Und du gewaltig Weſen, das zum Hohne,
Den Feuergeift in diefen Kerker bannte,
Daß er verzweifelnd hin nach Freiheit ringt —
Dir — —
(er ſchaudert furdtbar zufammen.)
Rein, die vierte — Schwarze Sünde nicht!
Rein! Nein!
(er Schlägt im Uebermaße des ausbrechenden Schmerzes beide Haͤnde vor das Ges
ft.)
D ich bin unausſprechlich elend !!
(drei Schwarze männliche Masken treten zu ihm.)
Erfte Maste.
He! Lufig, Freund!
Zweite Maske.
Hei, luftig, Bruder!
Dritte Maske (mit einem fchneidenten Tone wiederholend).
Luſtig!
Fauſt (in wilder Laune auffahrend, und ſich unter ihnen umſehend).
Hei, luflig denn!
213
Erſte Maste.
Wer wollte Rüden faugen!
Zweite Maske.
Das Lehen währt ja lang’, bis Mitternacht!
Dritte Maske.
Und Hinterdrein Hat gar die Luft fein Ende!
(eie Muſil Hört plöglich auf, und eine Glocke fchlägt drei Mal an.)
Bauft (betäubt.)
Bas giebt's?
Grfte Maste.
Das dritte Biertel erſt auf Bwölf!
Zweite Maske.
Da iſ's noch Zeit!
Dritte Maske.
Genug zum Bafchingsfpiel!
Erſte Maske,
Um Mitternacht geht erft der Rebraus an!
Fauſt (ſchaudernd).
Bas wollt ihr?
Erſte Maske (faßt feine Hand raſch).
Hei! Wir tanzen ihn zufammen!
Fauft (reißt die Hand zurüd).
Bort! — Feuer!!!
Erfte Maske
Nicht doch; nur ein Schwefelfunten !
Zweite Maske.
Der Bruder phantaflet!
Dritte Maske.
Solla! Muſik!
(die Muſik hebt wieder in der Gerne an.)
Erſte Maske (heimlich lachend).
Die Milzſucht Kit ihn!
Zweite Maske,
Horch, am Rabenfleine
Hebt luſt'ger Tanz an!
Dritte Masfe.
Da muß ih hinaus:
(ab.)
Erſte Maske.
Auch drunten wirbeit’s ſchon im Fegefener!
Zweite Maste.
Da gilt eo Eile! — Hui! Auf Wiederfehn !
214
Sr Maske (u Kauf).
Um Mitlernacht
(beide Masten eilen fort.)
Baur (Euaßt Äh an die Gtim).
Se, was umgiebt mich bier!
(heftig vorwärts tretend.)
Hanser wit den Larven!
(Heftiges Klovfer von außen.)
Welch Getöſe! —
Beſchleicht mich Wahnſinn — ?
Stimme (heftig von außen).
Deffuet dem Gericht!
(die Muff hört auf, es donnert.)
Fa u ſt (fürzt betäubt zuriid).
Ich traum ſchwer! — No gebt die Welt nicht unter !
Stimme (wie vorher).
Hier muß ex fein! — Macht auf! Es mettert draußen!
Kauf (trodnet die Stirn).
Hat mid die Angft entmannt — !
Aus den Händen diefer irdiſchen Häſcher wird Fauft von dem jovialen
Fremden mit leichter Mühe befreit und nun fommt das längfl erjehnte Läte-
a-tdte mit Helena.
Fauſt zieht Helenen auf die Bühne, die ebenfalle ganz verlarvt il. Die andern
Masten entfernen ſich.
Kauf (erbist und glühend). .
Nicht länger ſtraͤube dich !
Helene.
Ha, wilder Stürmer!
Kauf.
Mein Bufen brennt —!
Helene.
Die Zeit iR noch nicht da!
Kauf.
Sie iſt's! Sie if’s! — Ha, Weib, fie foll es fein!
Statt einer Hab’ ich drei dir aufgeopfert!
Die Mutter ſchlaͤft, das Kindlein und der Alte,
Mit dir zu koſen fang ich Re in Schlummer! —
Ha, Beuerbraut, die Nacht if eingeweiht,
Gezahlt Hab’ ich die tbeure Morgengabe;
Drum gieb mir Gluth für Sluif!
215
Helene (mit Heimlidem Nachdrucke).
Sie brennt für dich!
Saußf.
Serrifien iR jedwedes Lebensband;
An dich bin ich gefeflelt, dein —
Helene (mit einem Triumph einfallend).
Auf ewig!
(die Muſik in der Ferne wird immer wilder und feltfamer, es rollen dumpfe Dons
ner hinein, die nach und nach flärker werden.)
Fauſt. |
Auf ewig dein! — Horch, wie die die Töne fchwellen !
Helıme.
Sie donnern uns den wilden Hechzeitäiubel!
Fauf (fie umſchlingend).
Ha, gieb den Brautluß mir!
Helene.
Um Mitiernacht!!
Bau.
Jedweder Puls wird mir zur Ewigkeit! —
Die Laive fort, die mir dein Wangenfeuer,
Der ſchwarzen Augen dunkle Gluth verkirgt !
(ee will ihr die Maske nehmen.)
Helene (firäubt ihm entgegen).
SR fie gefallen, wirft du treu verbleiben ?
Fauſt (ſtreckt vie Hand empor).
Ja bei dem —
Helene (zieht ihn raſch zuruͤck).
Halt!
Fauſt (als es Kärfer donnert).
Das donnert meinen Cid!
Die Töne ſchwoͤren Ihn, die Herzensſchlaͤge,
Mein ganzes Dafein, das in Flammen glüht!
Ha, immer wilder ſchwillt der Jubel an,
Schon wirbelt um uns her der Hochzeitercigen,
Die Fadel brennt —
Helene (mit wildem Tone). _
Ha denn, mein Bräutigam!
auf (auf ſio eindriwgend).
Hinweg tie Larve! —
Hebene (no wilder).
Se! Die Hochzeitoſtunde —
Funk
Die Larve fort!!!
216
Helene
Sie ſchlaͤgt!!
Fauſt.
Den Brautfuß!
(er iſt im Begriffe, ſie zu umſchlingen.)
Helene.
Nimm ihn!
(die Larve und die Hauptbededung entfallen ihr und fie grinſet ihn aus einem
Todtenſchaͤdel an; es donnert heftig und bie Muflf endet wie mit einem Schrei
in Diffonangen.)
Kauft (taumelt in Todesichredien zurüd).
Gntfegen — —! Beh! — —
Helene
Das Lager it bereit!
Folg, Bräutigam, hinab zur Feuerhochzeit!!
(Re verfinkt mit einem krachenden Donnerfchlage in den Boten, aus dem Flammen
emporlodern. Fauſt ſtuͤrzt von der Bühne, die fo lange leer bleibt, bis die jegt
einfallende Glocke zwölf geichlagen hat. Alles verbunfelt ſich tief und die Lichter
erlöfgen.)
Alles dies iſt ſchon nicht fehr erbaulih, aber immer noch Kinderei
gegen die dreizehnte Scene, die letzte dieſer feltfamen ereignigvollen Geſchichte,
womit wir unfere Lefer weinend zu Bett zu ſchicken gebenfen.
Der Fremde fchleudert den Fauſt, beflen Geſicht todtenbleich if, bei den Haas
ven auf die Bühne zurüd.
Fauf.
Sa, laß mich fliehen! — Fort! —
Der Fremde (mit wilden bonnernden Tone).
886 if vorbei!
Faufl.
Entchlihes Geht! ——
(Rd bebend an die Bruſt des Fremden werfen.)
Du biR mein Freund!
Drum fhüge mi! !
Fremder (aufladenp).
Haba!
Fauſt (dringender).
Mein letzter Freund!!
Frem der (mit triumphirender Bosheit).
Gi freilich!!
217
Gau.
Sa, fo laß uns fort!
Fremder.
Bohn?!
Faufl.
Zur Kirche!
Fremder.
Ich mit dir?!
auf (irre).
Wir wollen beten!
Ja beten! beten!! Ach mein Schlafgebet —
Aus meiner Kindheit — das wird mir getreu fein — —
Der Mutter Segenskreuz!! — Hinaus zur Kirche!! —
Dir thut's auch Noth — — der Himmel wird uns reiten! —
(wild wie im Wahnſinn.)
Hort! Fort!! —
Der Fremde (ſchleudert ihn zurüd).
Zurüd! — Dein Lebenefpiel iR aus! !
Fauſt (wie vorher).
Noch Hab’ ich Zeit bis zu dem vierten Frevel
D eine Spanne hat zur Buße Raum;
Sur Kirche hin — laß uns um Gnade fnieen!
Der Fremde.
Haha! — Kennft bu mid denn?
Kauf.
D reite mid!
Der Fremde (ergreift ihn mit übermächtiger Gewalt, ehrt ihn fo, daß Fauſt's
Geſicht gegen die Zuſchauer gewendet wird, indeß das feine von dieſen abgefchrt
iſt; und fo blickt er ihn an und ruft mit donnernder Stimme).
Ich bin’e!! —
(ein Donnerſchlag.)
(8a uf taumelt mit dem Ausbrude des hödfen Entſetzens zu Boten, indem er
einen unartifulirten Schrei ausſtoͤßt.)
(Iener fährt nach einer Baufe mit fhneitender Kälte fort.)
IR das der mädht’ge Höflenzwinger ?
Der mir — he, mir! — getropt ! | —
(mit empörendem Giolge.)
Gmürm des Etaubes!
Ich hatte reine Dual — mir!! aufgeſpart — !
Fahr? jegt binab zu andern Schavengeiflem —
Du BiR zu fein für mic !!
218
Fauſt (richtet ich in die Höhe und ſcheint feine Kraft wiederzugewinnen).
Ib bin der Fauſt!
Der Freude.
Da nicht!
Kauf (indem er ſich mit feinem ganzen Trope emporreißi). .
Berfluchter! Ha, ich bin’s! ich bins!
Zu meinem Füßen hin, id bin dein Meifer!
Der Gremde.
Nicht mehr!!!
Fauf (wild).
Sa, mein Bertrag?!
Der Fremde.
Er if am Ende!!
auf (wie vorher).
Drei Frevel nur!!
Der Fremde.
Der vierte iR vollbracht?
Fauſt.
Nur Weib und Kind — und meines Vaters Blut —
Der Fremde (hält ihm ein Pergament entgegen).
Und bier dein eignes! —
Kauf.
Ha, das iR mein Pact!
Der Fremde.
Die Unterſchrift — war deine ſchwerſte Eünde!
Fauſt (wüthend).
Ha, Lügengein!! — So haft du mich vergarnt!
Der Fremde.
Dein Blut iR mein! Das Buͤndniß iR zerriſſen!
Fauſt (mit feiner ganzen Kraft austobend).
Mein Buh!! Mein Buch! !
Der Fremde (mit tem höchſten Ausdrucke).
Da, jept — quäl' ih dich ſelbſt!
Fauft (mit fleigender Kraft).
Du mih?! — Ha, alle keine Hoͤllenſlammen,
Berfludhter, thhürme fe um mich zuſammen!
Ich trotze ihnen, trage deinen Mächten,
Der wilde Schmerz, ich will mit ihm wicht rechten,
Ihn jubelnd tragen, Leine Wuth verlachen,
Did und die Hölle felbf zu Schanden machen;
&o, wild und füge, mein wiltes Dafeln feönen,
Ih will's — der Kauf! — und ewig dich verhößnen!!
219
Der Fremde (in hoͤchſter Wurh).
Hinab, Verfluchter!!
(er reißt ihm mit den Haaren gegen den Hintergrund, in dieſem Augenblicke vers
wandelt ſich unter heftigen Bligen und Donnerfchlägen die Bühne in eine graufe
Wildniß, in deren Hintergrunde eine Maffende Höhle; in diefe ſchleudert der Teu⸗
fel den Kauft, von allen Seiten ſpruͤht Feuer herunter, fo daß die ganze innere
Hoͤhle im Brande zu fichen fgeint; ein fchwarzer Schleier fenkt ſich über beide,
als jener den Fauſt unter ich liegen hat.)
6. uf (in einem wilten Troße aufjubelnd).
Sa, hinab! hinab!
(Donner, Blig und euer. Beide verfinfen.)
Dies if alfo die Klingemann’fche Art und Weiſe, Trauerſpiele zu
ſchreiben. DBielleicht Tieße fih von unferer Seite dagegen ber Einwand er⸗
beben, daß dieſe Methode an einem Mangel an Moralität Taborire, denn bes
folgen nicht unfere britiihen Dramenichniede genau denſelben Plan! Wir
Lönnten hierauf antworten, daß Klingemann, wenn auch nicht durch feinen
Blan, ſich doch wenigſtens durch feine unendlich überlegene Ausführung
deſſelben auszeichnet; unfere Meinung aber ifl, daß fein Anfprud auf Oris
ginalität ſich auf etwas ganz Anderes gründet, nämlid auf ſeine vollſtän⸗
Dige Zufriedenheit mit ſich felbit und feiner Dramaturgie, fo wie auf dem
Kaltblütigen Heldenmuth, womit er bei allen Gelegenheiten diefe Zufrieden⸗
beit zu erfennen giebt. Klingemann war fein armer ſchüchterner Dramen»
ichmiet, ter das Publitum um Gottes willen gebeten hätte, ihm wicht die
Tracht Prügel zu verabreichen, die cr verdient, fontern ein Leder, ſtolzer
Dramenichmied, der fih als ſolchen befannte, ja fi jogar auf feine überein
andergehäuften Machwerke fegte und von dieler Höhe herab über das deutſche
Drama in Allgemeinen eine ſcharfe kritiſche Aufficht führte.
Intefien, wir müflen Klingemann, wie feinen Abasser, immer „weiter
— weiter — weiter" gehen laflen, denn es wird nun Beit, daß wir und zu
dem dritten ter obengenannten Schriftſteller wenden.
Dr. Adolph Müllner if von allen diefen Dramenfchmieden in
Ergland am beiten belannt und mehrere feiner Werte find in unfere Sprache
überfegt worden. In feinem Baterlante war fein Ruhm oder wenigfiend
fein Ruf ſebr bedeutend, denn wur felten hat ein Dramenſchmied jo viel
Aufichen gemacht als Müllner — ja es gab ſogar nicht Wenige, welche be⸗
haupteten, er ſei etwas weit beſſeres als ein Dramenſchmied: Kritiker des
fehlen eder eines noch tieferen Manges warfen in allen Winkeln Deutſch⸗
Iands bie Frage auf, ob Müliner nicht ein Voet und Dramatifer ſei? De
die Höheren Autoritäten dieſer Frage nur ein hartnädiges Schweigen ent
gegenſetzten, fo ſahen dieſe Kritifer jechften Ranges fi in die Nothwendig⸗
keit verfegt, fie ſelbſt zu beantworten und thaten es fo laut und nachdrück⸗
li, daß man hätte meinen follen, es feien dadurch alle Zweifel, weldye Dies
fer und Iener in diefer Beziehung noch gehegt, volltändig zerftreut worben.
In Rüllner ſelbſt ſcheint au nur wenig Zweifel an feiner eigenen Größe
übrig geblieben zu fein — eine Selbſttäuſchung, die um fo verzeißlidder war,
als das Theaterpublikum fie faR einftimmig zu theilen ſchien und ihm in fo
und jo vielen Theatern allabendlich donnernden Beifall ſpendete. Ein jol-
der Ruhm if eine angenehme Speiſe für den hbungrigen Appetit eines
Nenſchen und er wälzt ihn als einen füßen Biſſen natürlid fo lange als
möglih auf der Zunge herum, was ihm aber im Grunde genommen nur
wenig nügen kann, ja oft erweiſt fi das, was für den Geſchmack Zucker
war, als Bleizucker, io bald es Hinuntergeihludt if. Beſſer wäre es, glaus
ben wir, für Mällner geweien, wenn ibn ein ſchwächerer Beifalldonner und
von wenigeren Theatern begrüßt hätte. Denn was ift Gutes Dabei, ſelbſt
wenn nichts Uebles darin läge? Und wenn taufend Hüte bei der Nennung
des Namens eined Dichters in die Höhe fliegen, fo wird er fel6R doch des⸗
wegen um fein Saar breit größer, ja nid einmal die Borftellung, die man
fi von feiner Bröße macht, wird dadurch zuletzt im mindeflen zu feinen
Gunſten alterirt. Die Gegner werben durch dergleichen übertriebenen Bei⸗
fall zu nur um fo firengerer Prüfung angeſtachelt, die Sache wird endlich
genau befannt und der Dichter, weldger anfangs mit thörichter Freigebigkeit
behandelt worden, ſieht ſich fpäter um fo Eärglicher bedacht. Niemand wird
leugnen, daß Müllner ein Mann son bedeutendem Talent war. Er war
eigentlih Juriſt und wir glauben gern, daß er in diefer Eigenſchaft fehr gut
geichrieben habe; ſich aber zum Poeten aufwerfen, war ein ganz anderes
Unternehmen, durch welches er nad unferer Ueberzeugung auf eine Bahn
geführt warb, für welche er nicht geſchaffen war.
Das Erfte, was wir von Müllner Laien, war die „Albaneferin“,
deren Wirkung auf und ron der Art war, daß wir und nicht verfucht fühl⸗
ten, unſere Bekanntſchaft mit Düllner weiter fortzufegen. Cine bandgreife
liche Nachahmung von Schillers Braut von Meſſina, ohne irgeudwelche
Philoſophie oder Sentimentalität, die nicht entweder volllommen abge
drofchen oder vollfommen falich, oft fowohl daß eine ald dad andere wäre,
221
zu einem gewiflen hohlen Umfange aufgeblafen, aber ohne alle wirkliche
Größe und durdgängig auf leeres Geklingel und Betöfe und andere Ele⸗
mente der unzweifelbafteften Profa gebaut, konnte ein ſolches Werk uns in.
Bezug auf Müllner’8 Genius ald Poet durdaus nicht befriedigen, und da
die Zeit Eoflbar und tie Welt groß genug iſt, fo hatten wir uns im Stillen
vorgenommen, dieſem Dichter künftig auß dem Wege zu gehen. Nichts
befloweniger machte unfer würdiger Freund fpäter ſowohl in feinem Vater⸗
Iante als aud außerhalb defielben in der Gunſt des Publikums fo bedeu⸗
tende Fortſchritte, daß feine Arbeiten unfere Aufmerkfamkeit aufs Neue in
Anſpruch nahmen, denn wir halten die Exiſtenz eines Achten Dichters in
irgend einem Lande für eine jo wichtige Erſcheinung, daß felbft die mindefle
Wahrſcheinlichkeit eined ſolchen eine nähere Erörterung verdient. Demge⸗
maß lafen wir die „Albaneferin* noch einmal und fludirten jodann die
fämntlichen dramatiichen Werfe Müllner's aufs Bewifienhaftefte, wobei wir
die denfelben beigegebenen VBorreden, Anhänge und anderen profaiihen Zu⸗
fäge nicht uberfaben. Nachdem wir und auf diefe Weiſe alle Einficht ver-
ſchafft, welche in dieſer Beziehung zu erlangen möglich war, ſprechen wir
unfer Urtheil über Müllner nad beſtem Wiffen und Gewiffen in Folgen⸗
dem aus.
Müllner war nad unjerer Meberzeugung und trog Allem, was zum
Gegentheile gefagt oder gelungen worden, fein Dramatiker unt hat niemals
eine Tragödie geichrieben. Entfcheidungsgründe für dieſes Ichroff abſprechende
Urtheil könnten wir, wenn ber Beweis hauptfächlih und obläge, in großer
Menge anführen. Es iſt indefien ein Grund vorhanden, der, wenn unjere
Bemerkung richtig iſt, faftiih alle übrigen einſchließt. Müllner's ganzes
Denken und Weſen fcheint bis zur tiefften Wurzel ein profaifches, aber kein
poetiſches geweien zu fein; feine Dramen find daher wie alles andere, was
er zu Tage geförtert, nicht geſchaffen, fondern fabrizirt, ja wir glauben, daß
fein Sabrifationsprincip an und für fid ſchon ein duͤrftiges und entlehntes
if. Vergebens würde ber Leſer in fämmtlichen fieben Bänden eine tiefere
oder Elarere Anficht, einen fchöneren oder höheren Gedanken juchen, ald man
von dem gewöhnlichften prafticirenden Advocaten erwarten kann.
Nichtsdeſtoweniger müflen wir, indem wir Müllner als einen Dramen-
ſchmied Hinftellen, doc erwähnen, daß er an Talent und Intelligenz höher
ſteht, als feine beiden vorgenannten Collegen. Er bejaß einen beflern Ge—
ſchmack als Klingemann und verfchmähete die Hülfe von Blig und Schieß⸗
pulver faft gänzlich, nahm ſich die Mühe, einen großen Theil feiner Trago-
dien zu reimen und fchrieb Überhaupt mit einer gewifien Sorgfalt. von wel«
der der Braunfchweiger Theaterdirector nidyt8 zu wiſſen fchien.
Die Hauptfrage aber in Bezug auf Müllner ift eben fo wie hinfichtlich
jener anderen Dramenichmiede: Worin befteht der eigenthümliche Hand»
griff, deflen er fidh bei Ausäbung dieſes ſeines Handwerkes bediente? Wir
wollen uns demgcmäß bemühen, fein Geheimniß — fein Recept zum Schaus
ſpielmachen zu ergründen und e8 unfern Leſern mitzutbeilen. Büllner’s
Recept war aber im Grunde genommen gar Fein geheimnißvolles, fondern
ſchwamm, fo zu jagen, oben anf und fonnte, wie man glauben follte, ſelbſt
von einem Menichen von weit geringerer Begabung, als Müllner befaß, im
Anwendung gebracht werten. Zachariae Werner hat befanntlidy ein
entſetzliches Trauerſpiel gefchrieben, welches den Titel führt: „Der vierund«
zwanzigfte Februar.“ Die Geſchichte dreht fih um einen in fehr herabge-
fommenen Umftänden lebenden Bauer, deſſen Frau und einen reichen Frem⸗
den, welcher bei ihnen wohnt. Diefer legtere wird in der Nacht des vier-
undzwanziaften Februars von den beiden Erfiern ichändlicherweife ermordet
und giebt fidh fterbend als ihren eigenen einzigen Sohn zu erkennen, welcher
nad) Haufe zurüdgefehrt ift und ihnen ein behagliches, ſorgenfreies Alter
bereitet haben würde, wenn fie ſich nicht auf dieſe Weile übereilt Hätten.
Indeſſen, die verbrecheriſche That ift einmal begangen und zwar mit einer
halbverrofteten Sichel und e8 bleibt der ganzen Geſellſchaft natürlich weiter
nichts übrig, als vollends zu Grunde zu geben. Diele Leute find nämlich
einmal vom Schidjal ſchon verdammt, weil der Großvater ein Verbrechen
begangen hatte, wegen deſſen feine Nachkommen, gleich Atreus’ Söhnen,
unerbittlich verfolgt werden, ja das Schicdjal ninunt es damit fo genau, daß
diefer felbe vierundzwanzigfte Februar, der Tag, wo jene alte Sünde be=
gangen ward, für die Familie immer nod ein verhängnißvoller Tag und die
alte Sichel, das Werkzeug des erften Verbrechens, ſtets auch wieder das
Werkzeug eined neuen Verbrechens und einer neuen Züchtigung iſt, denn
unbegreiflichermeije haben diefe Leute während eines halben Jahrhunderts
nie daran gedacht, fle zum Schmied zu tragen, damit er Hufnaͤgel daraus
mache, fondern fie ganz ruhig und zwar fehr unflugerweiie faft wie eine Art
Köder für den Satan an der Wand hängen laſſen. Dies tft die tragiſche
Lehre, welche in Werner’8 „vierundzwanzigftem Februar“ enthalten iſt und
da die fämmtlihen Perfonen des Stücks mit kaltem Giien niedergeſtochen
—
223
oder in Hanf aufgebangen werben, fo kann man nicht fagen, daß fle de& er-
forderlichden Nachdrucks entbehre.
Werner's Stück ward 1809 in Weimar unter der Leitung des großen
Goethe ſelbſt aufgeführt und fcheint auf das Publikum feinen geringen Ein-
druck gemacht zu haben. In der That iſt dieſes Stück auch durchaus nicht
ohne Gehalt und eine gewifle rohe Kraft, und wenn Iemand fo verſtockt iſt,
daß er unbedingt in einem Schlachthauſe oder im Angefiht Ted Balgend
fteben muß, ehe er fi zu Thränen rühren läßt, -jo kann es eine fehr. behag⸗
liche Wirkung auf ihn äußern. Ein Verdienft wenigftens ‚läßt fich ihm
nicht abflreiten, nämlich das, dab es den Geſchmack des Publikums getroffen
hatte, ‚denn der fleine Keim von Originalität, welcher darin liegt, hat fi
bereit zu einem ganzen Walde Nabahmungen entwickelt. ine Zeit lang
war die Schickſalspoeſie ein förmlich feftfiehender Zweig der deutfchen Dras
maturgie und ed gab beſondere Schidjaldtragäden, gerate fo wie es Lein⸗
weber und Baummollenweber giebt. Aus diefer Schickſalsfabrik haben wir
fon in Grillparzer's „Ahnfrau* eine Probe gejehen, der größte Schickſals⸗
fabrifant aber, dad Haupt und der Fürſt aller Schidjaldpramatifer, war
Adolph Müllner. Er machte in Schickſal und nur in Schickſal; das Schick⸗
fal ift die Baſis und der Hauptbeftandtheil feiner fänımtlichen tragätifchen
Grzeugnifle; hätte man dieſes eine Princip abichneiden wollen, fo Hätte
man fein Rohmaterial vernichtet und er hätte nicht mehr fabrizirem
können.
Müllner erkannte es an, daß er Werner viel zu verdanken habe, wie⸗
wohl nach unſerer Meinung nicht mit der gebührenden Wärme. Werner
Hatte ihn zum Manne gemacht, denn hätte es feinen „vierund;wanzigften
Bebruar” gegeben, fo hätte es auch feinen „neunundzwanzigften
Sebruar”, feine „Schuld*, feine „Albanejerin” und wahrſchein⸗
lich aud feinen „Rönig Dngurd“ gegeben. Müllner begann nämlich
fein Geſchäft als Dramenfchmied mit einer Copie von Werner's „vierund⸗
zwanzigften Februar *, vor welchem Müllner’3 Stück indeflen doch injofern
etwas voraus hatte, al8 ein Scleifftein mit auf das Theater kam und der
Zuſchauer das Vergnügen hatte, dad Mordwerfzeug vor Verübung bed Ver⸗
brechens erft wegen zu fehen. Der Berfafler war dabei fo ehrlich, feine
Nahahmung öffentlich einzugeftehen, denn er nannte dieſes Stüdden „neun«
undzwanzigften Februar“ und bedankte fich in der Vorrede, obſchon etwas
zögernd, bei Werner, als jeinem Meifler und Urbilde. Aus irgend einem
unerflärliden Grunde ward Diejer „neunundzwanzigfte Februar“ nicht als
Makulatur in ten Höferladen geichidt, fondern fam in große Aufnahme.
&8 ward fogar unter bem Titel „ Eumenites Düfter * eine fehr matte Paro-
die Darauf geſchrieben, welche Müllner wieder abdruden ließ; eben fo gab
man den Wunſch zu erfennen, bag der Schluß des Stücks aus einem trauri»
gen in einen freudigen verwantelt werde — einen Wunſch, den der uner-
mübdliche Dramenichmied aud erfüllte und aus Rückſicht für ſchwache Nerven
den „Wahn“ fhrieb, welder zwar aud mit Thränen endet, aber mit Freu⸗
denthränen. WMüllner hat fi überhaupt mit diefen feinem „neunundzwans
- zigften Februar“ ein beſonderes Verdienft erworben, denn wer anders als
er hätte ein zweite® und ein drittes Geſicht auf einen und denſelben Kirſch⸗
tern ſchneiden können, welcher Kirſchkern erft geborgt, ja, io zu fagen, halb
geftohlen werden mußte?
Bon ta ab begann Müllner ſcheinbar auf eigenen Füßen zu fliehen
und bemühbete fich, fih und Andere zu überreden, daß ſeine Schuld an Wer-
ner hiermit abgeichlofien ſei. Nichtodeſtoweniger aber ift es klar, dag er
mit jedem Tage neue Schulden häufte. Denn hatte nicht dieie einzige Wer⸗
ner'jche Idee fi Müllner's Gemüth fo vollftändig bemächtigt, daß er ganz da⸗
von befefien war und jo zu fagen gar feinen andern tragiichen Gedanken hatte?
Dap ein Menſch an einen gewiflen Tage des Monats ein Verbrechen begeht,
für welches ein unfichtbared Fatum ibn fehweigend verfolgt, dad Vergeben
am wahrfcheinlichtien an demſelben Tage des Monate alljährlich ſtraft —
wenn nicht, wie im „neununtzwanzigften Februar“, ein Schaltjahr ift und
das Fatum deswegen in gewifler Beziehung geprellt werden fann — und
nicht eher ruhet, als bis der arme Wicht felbft und vielleicht fein letzter
Nachkomme mit dem Beſen der Bernichtung hinweggefegt find: Dies ift,
mehr oder weniger verftedt, die tragifche Eflenz, dad Zebensprincip — ob
ein natürliches oder galvaniiches, wollen wir nicht entfcheiden — aller Müll⸗
ner'jchen Dramen. So haben wir in jenem cwigen „neunundzwanzigfien
Februar? das Princip in feinem nadten Zuftante. in alter Holzhauer
oder Waldbewohner hat ſchon vor langer Zeit an diefem Schalttage mit der
Scweiter feines Weibes eine Zodjiinde begangen und deshalb muß ſeine
ganze Nachkommenſchaft bewußt oder unbewußt in Blutichande und Mord
bebarren, intem ter Tag ter Kataftrophe regelmäßig alle vier Jahre an
demielben neunundzwanzigſten wicderfchrr, bis endlich zum Glück tie ganze
Geſellſchaft umgebracht wird und damit tie Geſchichte ein Ende hat.
——
225
=. .
Inder „Schuld“, einer weit höher ftrebenden Leiftung, haben wir
genau biefelbe Doctrin einer jährlichen Wiederkehr und das Intereffe dreht
fih abermals um die zarte Brage von Mord und Incefl. In der Alba⸗
neferin?®, welche, wie fle nun eben ift, wirflich als Müllner’s beftes Wert
betrachtet werden fann, finden wir die Schickſalstheorie ein wenig colorirt,
als ob das Säftchen dem Berfaffer allgemach widerlich würde und er es des⸗
halb in einen Löffel Syrup hüllen möchte. Demgemäß ift es Hier der Fluch
eines Sterbenden, welcher auf den Verbrecher einmwirft, welcher Fluch, da er
noch durch eine altherkömmliche Sünde in der Familie des Fluchers unter-
fügt wird, einen ganz eigenthümlichen Effect Hat, indem die betreffen-
den Perfonen Batermord, Brudermord und die alte Inceftgeichichte, fo
wie zwei Selbftverbannungen und zwei fehr entichiedene Selbſtmorde durch⸗
machen,
Man muß in der That glauben, Müllner babe ohne diefe Schickſals⸗
panacee gar nichts fchaffen Fönnen, denn in „König Ungurd“ jcheint
es, als ob er einen ſolchen Verſuch gemacht und gefunden hätte, daß es doch
nicht gehe. Diefer „ König Ungurd“, ein erbichteter Bauernfönig von Nor⸗
. wegen, fol, wie man un mittheilt, eine rohe Skizze von Napoleon Bona-
parte fein und entwidelt allerdings in den erften zwei oder drei Acten einen
nicht geringen Brad von Tapferfeit. Dabei ift er ein fehr tugendhafter
Mann und Fühn wie Ruy Diaz, bis er plöglic mitten in einer Schlacht,
nachdem das Stud ſchon weit vorgerüdt iſt, von einer wunderlichen Laune
oder Brille ergriffen wird, fi an einen einfamen Ort unter Selfen zurüd-
zieht und ſich Hier auf jehr wohlfeile Weiſe mit lauter Stimme dem Teufel
überantwortet, der allerdings nicht perfönlich erjcheint, um ihn mit Befchlag
zu belegen, aber doch, wie ſich ſpäter heraußftellt, das Anerbieten bereit-
willigft angenommen hat. Denn Yngurd wird von diefer Zeit an ganz
entfeglich mürrifch und lafterhaft und thut fafl weiter gar nicht, als daß er
Menſchen Hicanirt und umbringt, bis endlich, nachdem das Maß feiner Un⸗
gerechtigfeiten voll ift, er ſelbſt hicanirt und umgebracht wird und der Aus
tor, durch dieſes fein tragiiches Untverfalelirir mächtig unterftügt, fein Stüd
zu einem ganz bebaglihen Schlufje bringt.
Dies aljo ift Muͤllner's dramatifches Geheimniß — dies war der ein⸗
zige und alleinige Patenthaken, mittelft welchem er feine aus irdiſchem
Staube geformten Iragödien an die höhere Geifterwelt anhängen wollte,
um auf diefe Weife fo zu fagen durch ein Zugwerf eine freie Communica⸗
„Gaslgle. IV. \ 15
=»
. “
’
tion zwiſchen ber Adtsaren profatichen Erbe und dem unfldtbaren poetiſchen
Himmel ind Werk zu fehen. Das größere oder geringere Verbienft diefer
feiner Erfindung oder vielmehr Berbefferung — denn Werner ift der eigent-
Tiche Patentinhaber — gab Damals, als fie auftaudgte und noch lange nach⸗
ber Stoff zu einem mit vieler Lebhaftigfeit und Erbitterung geführten
Kampfe.
Die Eleineren kritischen Lichter waren Über biegen Bunft jehr getheilter
Meinung und da die höheren Autoritäten, wie wir fchon früher bemerften,
fi nicht dazu verſtehen wollten, irgendwelches Licht darüber zu verbreiten,
fo dauerte der Streit ziemlid lange. Was uns betrifft, fo geftehen wir,
daß wir dieſes Merept zu dramatifchen Thränen nicht viel höher ſtellen
möchten, als die zerichnittene Zwiebel in der „BZähmung eier Widerfpen-
figen.*“ Schlau in dem Taſchentuch verborgen, reichte diefe Zwiebel bin,
um Chriſtoph Sly zu täuichen ; fie erreichte auf Diele Weiſe ihren Zweck,
was hinfichtlich der Schidjalderfindung mit den deutſchen Chriſtoph Siy’s
eben fo der Ball geweſen zu fein fcheint.
Mäüllner's Schidjaletheorie ift von wehrern feiner Gegner auch des⸗
wegen angegriffen worden, weil fie ter chriſtlichen Weligion feindlich fei.
Wir würden den Zuftand der chriſtlichen Religion allerdings für einen fehr
hinfälligen halten, wenn Müllner's Traueripielfabritation eine bemerlkbare
Wirkung darauf außern fönnte. Nichtsdeſtoweniger wollen wir, da wir die
Sache einmal zur Sprache gebracht haben, bemerken, daß dieſe Schidfals-
geichichte und keineswegs eine chriftlidhe Lchre, ja nicht einmal eine mu-
hamedaniſche oder heidniiche zu fein fcheint. Das Fatum der riechen war,
obſchon eine falfche, Doch eine erhabene Hypotheſe und harmonirte hiurel-
hend mit den ganzen finulichen und materiellen ®ebäude ihrer Theologie;
ed war ein Hintergrund vom ticfften Schwarz, auf welchem fich jene farben
reihe Phantasmagorie ſehr gut ausnahm. Ueberdies weilte bei ihnen bie
rächende Macht wenigftend in ihren fihtbaren Kundgebungen blos an den
hohen Stätten der Erde und bejuchte nur die Häufer fluchwürbiger Herr⸗
fcher oder anderer großer Berbrecder, vor denen die Welt ohne ſolch wun⸗
derthätiges Einjchreiten feinen Schuß gefunden haben würde, da ſie für Die
Mache derfelben unerreichbar waren. Niemals aber erniebrigten fidh, jo viel
wir wiflen, die Erinnyen zu gewöhnlichen Polizeidienern und dad Fatum zu
einem Briedensrichter, um arme Zeufel wegen Beraubung eines Hühner
ftalles zur Tretmühle zu verurtheilen oder den Boden mit Bußangeln zu
227
befireuen, um dadurch der Wiltdieberei Einhalt zu thun. Und, was hat
dies alled mit der geoffenbarten Vorſehung unferer Zeit zu thun — jener
Mat, Deren Thun und Walten fi nicht nad dem Jahre oder Jahrhun⸗
derte und nit blos an einzelnen Individuen oder Nationen fund giebt,
ſondern fih durch die ganze Ewigfeit und über die unendliche Mafle der
Weſen erſtreckt, welde fie regiert und erhält?
Indeflen, es bedarf Eeiner theologifchen Argumente, um biefer Müll»
ner'ſchen Schickſalotheorie ihr Urtheil zu fprehen. Ibr Werth als drama⸗
tiſches Princip laͤßt ſich, wie es fcheint, fchon durch die eine Erwägung feſt⸗
flellen, daß heutzutage kein Menſch im Geringſten mehr daran glaubt, und
dag Müllner ſelbſt nicht Daran. glaubte Wir behaupten nicht etwa, daß
die Dichtung eine Thatſache fein jolle oder daß kein dramatiſches Erzeugniß
ächt fei, wenn es nicht gerichtlich beichworen werden könne, fondern bloß,
daß die Dichtung nicht Lüge und Wahnflnn fein dürfe. Wie foll im
Drama oder in einem Gedicht irgend einer Urt eine confequente Lebens⸗
- philofophie, welche die Seele und das Urweſen aller Poeſie if, zur Ans
ſchauung gebracht werden, wenn der Dichter und jeder Sterbliche mit ihm
weiß, daß Die ganze moraliſche Bafls feiner Idealen Welt eine Lüge ift?
Und iſt es wohl etwes Anderes als eine Rüge, daB das menichlihe Leben
fih auf das abgeſchmackte Princip eines Fatums gründe oder gründen fünne,
welches Holzhauer und Kuhhirten an gewiflen, Tagen bed Monatd mit räth⸗
felhaften Heimſuchungen verfolgt ?
Wir Fönnten, wenn es in diefem Yale von irgendwelcher Bereutung
wäre, hinzufügen, daß wir Müllner's tragiichen Kunftgriff auch nod aus
einem umfaflenderen Grunde für gänzlich ungenügend halten und zwar ein»
fach aus dem Grunde, weil es ein Kunftgriff if, ein Recept oder ein
Handwerksvortheil, welcher, wenn er auch no jo vartrefflih wäre, durch
wieberholten Bebraud in gerazu anſtößige Manieririheit ausarten muß.
Hierin aber liegt eben der Unterichieb zwiigen Schaffen und Fabri⸗
ziren; das letztere bat feine Manipulationen und geheimgebaltenen Pros
cedusen, die won Jedem gelesnt werben können, das erſte aber nicht. Im
ber Poeſte giebt es Fein Sehetsunig, weldes die geringfte wirkiame Kraft
beſaͤße, als das eine Univerſalgeheimniß: daß der Dichter mit einer reine
ven, höheren swb reicheren Natur begabt fei, ald andere Menſchen, welche
Hößsre Natur ihm ſelbſt die geeignete Form zur Werkörperung ihrer In⸗
ſpiratjonen lehrt, wie denn auch in ber That die unpergängliche Schön.
15*
228
beit berfelben dur jede Form mehr oder weniger deutlich hindurch⸗
leuchtet.
Hätte Müllner irgendwelchen Anfprud auf dieſes letztere große Ge⸗
heimniß, fo wäre e8 unfere Pflicht, länger und’ ernfter bei feinen Eleineren
zu verweilen, wie unrichtig und dürftig Diefelben auch fein möchten. Weil
ihm aber ein folder Anfprud nit zur Seite fleht, fo glauben wir nun⸗
mehr von ihm Abſchied nehmen zu können. Cine nod weiter außgeführte
Analyfe feiner einzelnen Dramen zu geben, wäre eine leichte, aber lang»
weilige und undankbare Aufgabe. ine geſchickt gearbeitete Dampfmaſchine
kann mit einiger Ausfiht auf Ausbeute für die Wiffenfchaft aus einander
genommen werben, menn fie gleih auch nur eine aus Menfchenhänden
bervorgegangene Schöpfung iſt; wer aber würde feine Zeit damit ver-
fhwenden wollen, den Mechanismus von zehn Kaffeemühlen aus einander
und wieder zufammenzufchrauben? ben fo wenig wollen wir als Proben
der Diction und des Gedankenganges, welcher in diefen Dramen herrſcht,
Auszüge mittheilen. Wir haben fchon gefagt, daß der Gedankengang ein
ſchulgerechter, wohlgeordneter und bühnengerechter iſt, daß auch die Diction
gut und metrifch und grammatifch richtig iſt und ſich an beiden weiter Fein
Fehler auffinden läßt, als daß fle Poeſie fein wollen und dennoch durch und
durch Die unverfälfchtefte Brofa find. Diefe Thatfache dur Auszüge dar⸗
thun, wäre ein vergebliches Unternehmen. Nicht einige wenige Büfchel
Haidekraut, fondern taujend damit bewachiene Acer bilden die öde Haide
und wer einen netten Strauß davon begehrt, ter greife nur aufd Gerathe⸗
wohl in Müllner’3 gefammelte dramatifche Werke hinein; wir für unfern
Theil aber mögen nichts mehr damit zu thun haben.
Nicht aus Groll gegen die deutihe Nation, welche wir aufrichtig Ties
ben, haben wir auf dieſe Weife von ihren Dramenichmieden geforochen und
wenn wir und in unferm eigenen Baterlande umſehen, fo fühlen wir nur
zu wohl, daß die Deutichen zu und fagen können: „Nachbar, kehre vor
Deiner Thür." Uebrigens haben wir auch ſchon gefagt, daß es Dramen-
fhmiede geben muß und die drei Hiergenannten find die beften ihrer Klaſſe.
Wer von unfern Landsleuten dergleichen Produkte bezieht und findet, daß
fein innerer Menſch fich dabei wohlbefindet und gedeihet, nun der möge da⸗
mit fortfahren, aber wohl möge er nicht vergeilen, daß es nicht die deutſche
Ziteratur iſt, was er auf diefe Weife verfchlingt, fondern nur der Schaum,
um nicht zu fagen, der Abfchaum, der deutfchen Literatur, den er vielleicht,
wenn er warten gelernt bat, in nit allzu langer Beit in der neuen und
vielleicht wohlfeileren Form des Bodenſatzes genießen kann. Auf diefe Weiſe
thue Jeder das Seine:
„No iſt es Tag, da rühre fi der Mann;
Die Nacht tritt ein, wo Niemand wirken fann.”
Drad von Otto Wigand in Leipzig.
Inhalt.
Dr. Srancia
Mirabeau
Burus
| Deutſche Wramenfchmiede .
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