TONPSYCHOLOGIE.
VON
D^ CARL STUMPF,
PROFESSOR DER PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITAT
ZU MtJNCHEN.
ZWEITER BAND.
LEIPZIG
VERLAG VON S. HIRZEL
1890.
Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten.
-J
DEM LEHRER UND FREUNDE
FRANZ BRENTANO.
Yorrede.
Zu meinem Troste geschieht es nicht ganz selten, dass ein
zweiter Band mit einem „Ich hatte nicht gedacht, dass es so
lange dauern wiirde" eingefuhrt werden muss. Ich hatte es
wirklich nicht gedacht. Denn mit Ausnahme des letzten Para-
graphen war alles Wesentliche im Concept fertig; wie ich das
Namliche auch jetzt vom nachsten Bande und einem grosseren
Teile des vierten sagen darf. Dennoch reut mich die aber-
und abermalige Durcharbeitung nicht, da es sich ja nicht um
'brennende Tagesfragen soudern um Dinge handelt, bei denen
die Genauigkeit Alles ist.
Ausser der Arbeit selbst und einigen unfreiwilligen Pausen
verzogerten jedoch auch Allotria das Erscheinen dieses Bandes.
Man kann von einem deutschen Professor der Philosophic selbst
im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts nicht verlaugen,
dass er immerfort nur mit Pfeifen, Zungeu und Gabeln umgehe.
Auch wenn das Bediirfnis ihn nicht triebe, wiirden schon die
Vorlesungen bestandig mahnen, die Breite und Holie der Wissen-
schaft im Auge zu behalten.
Ich sage Dies nebenbei auch gleichsam zum Fenster hinaus
Denjenigen, welche mit Arbeiteu wie der vorliegendeu die alten
Anspriiche der Philosophic auf Erfiillung und Erhebung des
ganzen Geistes und Gemlites fiir aufgegeben erachten. Das
"V'l Vorrede.
sind sie keineswegs. Wir bleiben uns bewusst, class die Psycho-
logie nur ein Aussenwerk der Philosophie mid die Lehre von
den Sinneswahrnehmungen nur ein Aussenwerk der Psycbologie
ist. Wir sind nun einmal iiberzeugt, dass diese Arbeit getan
werden muss, und dass sie auch der Metapbysik und Ethik zu
Gute kommt. Aber an diesen bangt das Herz.
Als niichste und praktische Folgerung erlaube ich mir
hieraus abzuleiten, dass man fiir die weiteren Bande, deren
Vollendung ich ehrlich beabsicbtige, doch lieber von vorn-
herein mit grosseren Paiisen rechnen moge. Fiir alle Falle
habe ich den zwei vorliegenden , welche trotz weiterlaufender
Faden ein relativ selbstandiges Gauzes bilden, ein Register
beigegeben.
Damit erfiille ich zugleich den Wunsch mehrerer Recen-
senten, die sich mit der Anordnung des Stoffes nicht recht be-
freunden konuten. Mit Hilfe des Registers kann sich nun Jeder
nach Bedarf das Buch unter verschiedenen Gesichtspuncten um-
schreiben. tlbrigens muss ich sagen, dass mir gerade die An-
ordnung viele Uberlegung kostetc. Dass ich nicht, wie Finer
gewiinscht hatte, mit den Empfindungen begann und dann erst
zu den Urteilen fortging, muss ich bei dem analytischen Cha-
rakter meiner Darstellung nach wie vor fiir richtig halten.
Gegeben sind uns die Empfindungen in Auffassungen , unter
denen wir, soweit es iiberhaupt mbglich ist, die subjectiv wahren
von den falschen abscheiden und so die Empfindungen er-
kennen miissen.
Dieser Band behandelt ausschliesslich die Frage: Wie ver-
halt sich unser Bewusstsein gegeniiber mehreren gleichzeitigen
Tonen, abgesehen noch von aller eigentlich musikalischen Auf-
fassung? Es war mein Bestreben, die in dieser anscheinend
sehr einfachen Frage enthaltene grosse Menge von Einzelfragen,
Yorrede. vn
auch soweit sie sich nicht sogleich entscheidend beantworten
liessen, wenigstens vollstaiidig aufzustelleu. Man wird beim
Nachschlagen der im Register aufgefuhrten Stellen zuweilen
statt auf eine materielle Belelirimg nur auf eine solche Frage
stossen, hoffentlich aber auch dann im Zusammenhang, in der
Gegeniiberstellung und Formulirung der Fragen eine Anregung
finden.
Als einen besouderen Entschuldigungsgrund fiir Falle letz-
terer Art und zugleich fiir die Verzogerung dieses Bandes muss
ich anfiihren, dass ich in Ermangeluug eines eigenen akustischen
Kabinets die notigen Beobachtungen bei den verschiedensten
Gelegenheiten, in physikalischen und physiologischen Instituten,
bei Orgelbauern und Mechanikern , auf Kirchenorgeln , und zu
nicht geringem Teile auf Reiseu zusammenzusuchen gezwun-
gen war.
Der dritte Band soil die Intervallurteile oder das eigent-
lich musikalische Denken, der vierte die Ton- und Musikgefiihle
untersuchen. Ausdriicklich bitte ich die Leser, nicht zu glau-
ben, dass in den gelegentlich bereits eingestreuten Bemerkungen
hieriiber meine Theorie der Consonanz, der Musik iiberhaupt
auch nur in ihren GrundzUgen angedeutet sein solle; im Be-
souderen nicht den VerschmelzungsbegriiBf, der ohnedies Vielen
Anstoss geben wird, schon mit Riicksicht auf seine Verwend-
barkeit fiir diese Zwecke anzusehen. Ein Mitforscher, dessen Ur-
teil ich sonst sehr hoch schatze, hat auf Grund eines ahn-
lichen Verfahrens, freilich nicht ohne Anlass meinerseits, so-
gar eine Art Erpressungsversuch veriibt, indem er drohte, ich
wlirde die Tonpsychologie nicht weiterfiihren konnen, ohne die
unbewussten intellectuellen Tatigkeiten in aller Form herein-
zunehmen. Diese Sorge um die Brauchbarkeit meiner Grund-
lagen teile ich nicht, da vielmehr gerade die Einsicht in die
vm Vorrede.
Losbarkeit jener alteii Probleme micli zu einer so langgedehnten
Untersuchung der Fundamente am allermeisten angetrieben hat.
So einfach gebt es allerdiugs damit iiicht wie mit dem Uii-
bewussten. Sind doch auch sowol die Musik als die Seele nicbt
ganz einfache Dinge.
Miincben, Juni 1890.
C. Stuinpf.
Inhalt des zweiten Bandes.
Seite
Vorreile V
Abkiirzuugen xm
Dritter Abschnitt.
Beurteilvmg gleichzeitiger Tone.
Seite
Vorbemerkungen 1
§ 16. Aporien in Bezug auf die Analyse bci objectiv
gleichzeitigen Tonen.
1. Wircl Empfindung diirch Analyse verandert? 9
2. Disjunction der Theorien 12
3. Erlauterung und Begriindung dcr Mehrheitslehre 13
4. Erlauterung und Begriindung der Einheitslehre 14
5. Erlauterung und Begriindung der Wettstrcitslehre 15
6. Historischer tjberblick 17
7. Bedenken gegen die Mehrheitslehre 22
8. Bedenken gegen die Einheitslehre 23
9. Bedenken gegen die Wettstreitslehrc 29
§ 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
Losung der Principienfragen.
1. Weg der Untersuchung 39
2. Entkraftung der Grunde fur die Einheitslehre 40
3. Entkraftung der Griinde fur die Wettstreitslehrc 42
4. Losung des ersten Argumentes gegen die Mehrheitslehre . . 43
5. Excurs iiber die raumlichen Eigenschaften der Tonempfindungen 50
6. Losung des zweiten Argumentes gegen die Mehrheitslehre . . 60
7. Ursachen, welche zu den beiden irrtiimlichen Anschauungen
hinfiihren konnten 67
8. Einfluss der Erfahrung auf die Analyse 69
9. Einfluss des Gefiihls auf die Analyse. Mittelbare Kriterien . 81
X Inhalt.
Seite
§ 18. Physiologische Voraussetzungen der Klanganalyse 86
I. Anatomische Vorrichtungen.
1. Postulat der anatomischen Sonderung 87
2. Die Hypothese der „Schneckenclaviatur" 90
3. Historische uad erganzende Bemerkuugen 99
II. Specifische Energien.
1. Altere und neuere Fassung der Lehre 106
2. Ober die Trager der specifischeu Energien 108
3. Accommodation der specifischen Energien innerhalb enger Gren-
zen des Reizes Ill
4. Individuelle Verschiedenheit und Entwickelung der specifischen
Energien 116
5. Specifische Energien innerhalb der verschiedenen Sinne . . . 123
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung.
1. Was Tonverschmelzung ist und was sie nicht ist 127
2. Die Verschmelzungsstufen 135
3. Gesetze der Yerschmelzung 136
4. Massregeln bei der Beobachtung 140
5. Bestatigung durch Unmusikalische 142
6. Fortsetzung der Versuche 145
7. Discussion der letzteren Versuche 149
8. Neue Versuche 155
9. Discussion dieser Versuche 167
10. Abstande zwischen den Verschmelzungstufen. Verschmelzungs-
curve. Zweifelhafte Puncte 173
11. Hypotbetische Verschmelzung der Prime 178
12. Bestatigungen durch die musikalische Praxis und durch Ausse-
rungen von Theoretikern 179
§ 20. tJber die Ursache der Tonverschmelzung . . 184
1. Herbart's Verschmelzungstheorie 185
2. Ist Ahnlichkeit Ursache der Verschmelzung? 193
3. Sind Gefiihle Ursache der Verschmelzung V 204
4. Ist der relative Mangel an Schwebungen Ursache der Ver-
schmelzung? 206
5. Ist haufige Verbindung Ursache der Verschmelzung? .... 208
6. Die Ursache der Verschmelzung ist eine physiologische . . . 211
7. Idee einer generellen Entwickelung der Verschmelzungen . . 215
§ 21. Analysiren und Heraushoren bei ungleicher
Starke der Klangteile 219
1. Intensitatsschwelle 220
2. Wahrnehmung regelmassiger (unselbstandiger) Beitone im AU-
gemeinen 229
Inhalt. xr
Seite
3. Specielles iiber Wahrnehmung von Obertonen 231
4. Specielles iiber Wahrnehmung von Combinationstonen . . . 243
5. Gibt es einfache Tone? 257
§ 22. Function der Aufmerksamkeit bei cler Analyse
und dera Heraushoreu 276
1. Wesen und primare Wirkung der Aufmerksamkeit 277
2. Anwendungen auf das Tongebiet 286
3. Aufmerksamkeit ist zur Analyse uicht unbedingt notwendig . 288
4. Worauf richtet sich die Aufmerksamkeit bei der Analyse? . . 289
5. Verstarkung durch Aufmerksamkeit 290
6. Mechanismus der Verstarkung 294
7. Ist es moglich, streng gleichzeitig mehrere Klangteile aufmerk-
sam herauszuhoren? 308
§ 23. Bediugungen fiir die Zuverlassigkeit der Analyse
und des Heraushorens 318
1. Ubersicht der Bedingungen 319
2. Besprechung einiger besonderen Erscheinungen 347
a) Einfluss der Klangfarbe 348
b) Verschwinden des hoheren Octaventons 352
c) Analyse von Nachempfindnngen und Gedachtnisbildern . 358
§ 24. Individuelle Unterschiede im Analysiren und
Heraushdren.
1. bis 4. Unmusikalische 362
5. Musikalische 369
6. Kinder 370
§ 25. Qualitatsurteile iiber einen zusammengesetzten
Klang und seine Teile.
I. Urteile iiber analysirte Klange.
1. Hohe des Ganzen 383
2. Hohe und Abstand der Klangteile 396
II. Urteile iiber nichtanalysirte Klange.
1. Scheinbare Hohe eines Klanges 406
2. Distanz nichtanalysirter Klangmassen von ihren Teilen und von
einander 411
§ 26. Intensitatsurteile iiber einen zusammengesetzten
Klang und seine Teile.
1. Urteile iiber das Starkeverhaltnis gleichzeitiger Tone . . . 416
2. Verandert sich die Starke eines objectiv gleichbleibenden Tones,
wenn er mit anderen zusammen gehort wird? 418
3. Macht ein Tonganzes einen starkeren Eindruck als jedes seiner
Teile? 423
XII Inhalt.
Seite
4. Dieselben Frageu bei Verteilung der Tone an beicle Ohren . 430
5. Gibt es eine Wechselwirkung minimaler akustischer ErregungenV 436
6. Ohrenarztliche Beobachtungen 440
7. Analoge Fragen bei anderen Sinnen 445
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile . . 449
I. Definition, Entstebung, Bedingungen der
Merklichkeit von Schwebungen.
1. Wesen und begleitende Erscheinungen 450
2. Entstehung und Sitz der Schwebungen 455
3. Grenzen der Schnelligkeit fiir Schwebungen 461
4. Starke der Schwebungen 465
5. Merklichkeit von Schwebungen 468
6. Schwebungen verteilter Gabeln 470
II. Tonhdhe bei Schwebungen 471
1. Bisherige Beobachtungen und Theorien 472
2. Priifung der aus den objectiven Schwiugungsverhaltnissen ab-
geleiteten Folgerungen 477
3. Neue Beobachtungen 480
4. Physiologische Theorie 484
III. Zuteilung der Schwebungen 489
§ 28. Gerausch und Klangfarbe.
I. Gerausche und ihr Verhaltnis zu Tonen.
1. Stand der Frage 497
2. Gibt es Gerausche ohue Tone und Tone ohne Gerausche? . . 500
3. Besprechung der Ansichten iiber den Begriff' des Gerausches . 503
II. Klangfarbe.
1. Manichfaltigkeit der Praedicate. Klangcharaktcr durch Asso-
ciationen 514
2. Klangfarbe als das Unterscheidende der Instrumeute .... 516
3. Klangfarbe im eugereu Siuue 520
4. Principielle Schwierigkeiten. Farben einfacher Tone .... 524
5. Versuch, Tonfarbe mit Tongefiihl zu identiticiren 527
6. Griinde gegen diese Ansicht 528
7. Anteil der Tonhohe an der Ton- und Klaugfarljc 531
8. Anteil der Tonstiirke an der Ton- uud Klangfarbe .... 532
9. Anteil der Tongrosse an der Ton- und Klangfarbe .... 535
10. Rlickblick und Anwendung 539
11. Unterscheidung von Instrumenteu ungleicher Klangfarbe in
einem Zusammeuklang 545
Berichtigungen und Zusatze zum I. Band 550
Berichtigungen und Zusatze zum II. Band 561
Register zum I. und II. Band 564
Abkurzuugeu.
A. f. 0. = Arcliiv fiir Ohrenlieilkunde , herausgegeben von Troltsch.
PoLiTZER und ScHWABTZE (im I. Bande als „Troltsch' Arch."
citirt).
Fechnek, Bin. Sehen = Uber einige Verhaltnisse des binocularen Sehens.
Abhandlungen d. math.-iihys. CI. der k. sachsischen Gesellsch.
der Wissenschaften. Bd. VII. 1860.
WuNDT = Wundt's Physiologische Psychologic, 3. Auflage, 1887.
Z. f. 0. = Zeitschrift fiir Ohrenheilkunde, herausgegeben vou Knapp
und Moos (im I. Bande als „Knapp's Arch." citirt).
Die iibrigen Abkiirzungeu wie im I. Bande.
Dritter Abschnitt.
Beurteiluiig gleichzeitiger Tone.
Vorbemerkuugen.
Wahrend bei aufcinanderfolgenden Toncn die Functionen
des Vergleichens das Hauptinteresse beanspruchen, bildet bei
gleicbzeitigen Tonen schon die Moglichkeit der Analyse ein
wichtiges uiid schwieriges Problem. Niemand leugnet unsre
Fabigkeit, aufeinaiiderfolgcnde Tone bei hinreichender Differenz
ihrer Hohe obne weitere Hilfsmittel, speciell auch ohnc voraus-
gegangene Erfahrungen, als eine Mebrzablvon Tonen zu er-
kennen. Hochstens wird man annehmen, dass die Differenz der
Tone, welcbe uns veranlasst, nacb dem zuerstgehorten einen
zweiten, dritten zu constatiren, urspriinglich eine grossere sein
muss als nach eingetretener tJbung und sonstiger Entwickelung.
Gleicbzeitige Tone dagegen werden oft aucb bei bedeutenden
Unterschieden ibrer Hohe als Einbeit aufgefasst; ja man bat
die Frage aufgeworfen, ob nicht die Bebauptung, mebrere Tone
gleicbzeitig zu boren, in alien Fallen auf eine Tauscbung binaus-
laufe. Die durcb diese Frage angeregten Betracbtungen wer-
den uns in ibren weitoren Verzweigungen und Consequenzen
fast diesen ganzen Abscbnitt bindurcb bescbaftigen. Dabei wer-
den wir auf einem bisber noch nicbt bescbrittenen Wege aucb
die Grundlage des Consonanz- und des Intervallbegriffes finden,
welcbe in ausdriicklicber und eingebender Weise jedocb erst im
vierten Abschnitt behandelt werden soUen.
Stumpf, Tonpsychologie. II. 1
Vorbemerkungen.
Hiusichtlich der Terminologie miissen wir jetzt, wo der
Unterschied zwischen einfachen und zusammengesetzteu Klan-
gen von principieller Bedeutuug wird, bestimmte unterscheidende
Bezeiclinungen anwendeii (vgl. I 135). Wir nenneii Klang
iiberhaupt jeden musikalischen, nicht gerauscharti'gen Gehors-
eindruck (wobei wir diesen Unterscliied als eiiien in gewohn-
lichen Fallen hinreichend bestimmten hinnehmen und vorlaufig
daliingestellt sein lassen, ob sich nicM etwa in gewisser Weise
Gerausclie auf eine Summe von Tonen zurlickfiihren lassen).
Unter Ton sei der einfache Klang verstanden, unter Einzel-
klang ein solcher zusammengesetzter Klang, worin ein Ton
(der Kegel nach der tiefste) an Starke bedeutend die anderen
iiberwiegt, unter Zusammenklang ein solcher, worin mehrere
Tone Oder Klange von annahernd gleicher Starke entbalten sind.
Diese Terminologie fiigt sich moglichst genau sowol dem ge-
wohnUchen Sprachgebrauch als den Bestimmungen hervorragen-
der Theoretiker der neueren Zeit. ^)
Die in einem Zusammenklang enthaltenen Einzelklange oder
Tone und die in einem Einzelklang enthaltenen Tone nennen
wir seine Componenten oder Telle, die Telle eines Zusam-
meuklanges speciell auch'Teilklange, die eines Einzelklan-
ges Teiltone. Diejenigen Teiltone, welche oberhalb eines in
der Kegel starkeren „Grundtones" (eines relativ tiefsten Tones)
liegen und durch den namlichen physikalischen Process erzeugt
werden wie dieser, werden Obertone genannt.-) Sind die Ober-
1) Vgl. Helmholtz 97. Unter den alteren Chladni, Akustik (1802)
3 (§ 6). GoTTFR. Weber, Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetz-
kunst (1830) 1,143.
Wenu wir gleichwol (ebenso wie Helmholtz) hie und da auch jetzt
noch von dem Ton statt dem Klang einer Flote, Clarinette u. dgl. reden
Oder statt Einzelklang kurz Klang sagen, so mogc dies nicht als Incon-
sequenz vermerkt werden, sondern als Anpassung an den popularen Ge-
brauch in unschadlichen Fallen, wo Verwechselung nicht zu befurchten ist.
2) Auch die subjectiven Obertone, welche physikalisch im Klange
nicht vertreten sind, heissen nur insofern Obertone desselben, als sie
nicht zufallig (wie z. B. ein katarrhalisches Ohrenklingen) zugleich ge-
hort werden, sondern das Ohr durch den objectiven Klang zu ihrer Er-
zeugung bestimmt wird.
Vorbemerkungen. 3
tone harmoniscli d. h. die entsprechenden Schwingungszalilen
ganzzahlige Multipla derjeiiigen des Grundtones ^), so wird
dieser selbst als erster Teilton gerechiiet, der erste Oberton
als zweiter Teiltou u. s. f. Die Numerirung der harmonischen
Teiltoue bedeutet also zugleicli das Zahleuverhaltuis der bez.
Schwinguugen zu denen des Grundtons; z. B. dem siebenten
Teilton entspricht die siebenfache Scbwingungszahl des Grund-
tons. Endlicb gebrauchen wir den alteren Ausdruck Be it one
fiir alle erheblich schwacberen Componenten eines Klanges oder
Zusammenklanges. Er umfasst also die Obertone, aber aucb die
Combinationstone, welche erst bei Verbindung mehrerer an-
nahernd gleicbstarker Tone (Primartone) auftreten und in den
auffallendsten Beispielen tiefer liegen als diese.
In alien diesen Fallen ist von den Emp fin dun gen als
solchen die Rede. Wo dieselben Ausdriicke fiir die entspre-
chenden objectiven Processe, die Luftschwingungen, gebrauclit
werden, ist dies durch „objectiver Klang, objectiver Zusammen-
klang" u. s. f. kenntlich gemacht (ausser wo auch olme Beisatz
Misverstandnis ausgeschlossen ist). Wenn Jemand einen Zu-
sammenklang nicht als Mebrbeit von Empfindungen (nicht ein-
mal von aufeinanderfolgenden) auffasst, so liegt fiir seine Auf-
fassung eben nur ein Klang bez. ein Toq vor; und die Frage
kann ja, wie oben bemerkt, iiberbaupt aufgeworfen werden, ob
nicht diese Auffassung allgemein richtig ist. Betrachten wir also
die Definitionen zunachst als hypothetische. Sie wiirden ja
selbst nach jener Meinuug nicht ganz ihren Wert verlieren. so-
fern doch gewisse Tone unter gewissen Umstanden, wenn auch
nur zufolge eines sehr bestandigen und verbreiteten Irrtums,
als Mehrheit regelmassig aufgefasst wiirden.
Den Begriff der Analyse oder Zerlegung anlangend wollen
wir einige bereits (I 96, 106f.) beriihrte Puncte nun etwas aus-
fiihrlicher nochmals hervorheben und eine dort nicht gebiihrend
betonte Unterscheidung nachholen.
*) Holiere ganzzahlige Multipla ergeben allerdings auch Teiltone,
welche nicht mehr einen „harmonischen" Eindruck machen; doch mag
dieser Umstand hier noch auf sich beruhen.
1*
4 Vorbemerkungen.
Wir verstehen unter Analyse die Wahrnehmung einer Mehr-
heit, unter Klanganalyse also die einer Mehrheit von Tonen in
einem Klang.
Sie hat nichts zu thun mit der physikalisclien Analyse der
We 11 en (deren Zusammensetzung ja nicht einmal durchweg mit
derjenigeu der Empfindungen parallel gehen muss). Der Phy-
siker verfolgt ein durchaus anderes Ziel mit teilweise anderen
Mitteln. Ihm ist das menschliclie Ohr nur Ein Apparat neben
anderen. Fallt es ihm schwer, einen Klang mit unbewaffnetem
Ohr zu zerlegen, so greift er zu Resonatoren, loscht wol auch
umgekehrt durch Interferenzrohren gewisse Wellen aus, um an-
dere alleiu zu vernehmen, oder lasst das Ohr ganz aus dem
Spiel und sieht zu, wie feinfiihligo Flammen auf die Luftwellen
reagiren, oder welche Curven die Stinungabel unter dem Vibra-
tionsmikroskop bildet oder auf berusster Platte selbst aufzeichnet.
Schon die Zerlogung mit Resonatoren ist genau gesprochen
nicht mehr eine Zerlegung in unsrem Sinn. Indem der Reso-
nator einen Teiltou verstarkt, kommt statt des Klanges, um
dessen Zerlegbarkeit als Empfindung es sich handelte, ein
anderer Klang in mein Ohr, wenn auch die vom toncnden
Korper ausgehenden Wellen in dessen Umgebung unveriindert
bleiben. Das Object des Psychologcn ist verwandelt, nur das
des Physikers noch vorhandeu. Fiir jenen aber wiederholt sich,
solange der neue Klang noch zusammengesetzt ist (die iibrigen
Teiltone relativ schwachcr mitgehort wcrden), die alte Frage,
ob und wie es moglich sei, mehrere Tone zugleich zu horen.
Ist der neue Klang ganz einfach, so ist eben auch nur die
Moglichkeit der Wellen- nicht die der Empfindungszerlegung
bewiesen.
Nur insofern gchort der Fall noch in das Bereich unsrer
Frage, als etwa durch den Gebrauch eines Resonators die nach-
tragliche rein psychologische Zerlegung des ersten unverander-
ten Klanges erleichtert wird.
Auch ist zuzugeben, dass ganz kleine und zumal voriiber-
gehende Anderungen der Intensitiit von Teiltonen (wie sie z. B.
wahrend eines Clavierklanges bestandig vorkommen und sogar
Vorbemerkungen. g
subjectiv durcli die Aufmerksamkeit erzeugt werden koimen)
ebenso wie minimale Hohenschwankungen von Componenten uns
nicht veranlassen konnen, von einem neuen Klange zu reden,
wenn wir uns nicht iibertriebener Spitzfindigkeit schuldig machen
und zugleich sachlichen Inconvenienzen aussetzen wollen, da ja
am Ende keine absolut bestandige Empfiudung existirt.
Wie von der physikaliscben Zerlegung so haben wir die
Analyse schon friiher audi von dem blossenWissen um Empfin-
dungsteile (um so mehr also von blossen Hypothesen in dieser
Beziehung) unterschieden. Ich betone es aber nochmals, weil
inzwischen von hervorragonder Seite gerade dieser entgegen-
gesetzte Spracligebrauch adoptirt worden ist. ^)
Endlich ist schon hervorgehoben, dass die gegenseitige
Unterscheidung der Inhalte, die wir (und soweit wir sie) als
mehrere auffassen, mit der Wahrnehmung ihrer Mehrheit alle-
mal verbunden, wenn auch nicht identisch ist. ^) Die Analyse
kann mehr oder weniger bestimmt, zuversichtlich oder schwan-
kend, und sie kann 'mehr oder weniger vollstiindig sein (es kon-
nen samtliche oder nur einige Tone im Klang als Mehrheit
wahrgenommen werden): jedesmal wird das Namliche auch von
der gegenseitigen Unterscheidung gelten, sodass das Ergebnis
in der einen und anderen Weise ausgedriickt werden kann.
Von der Wahrnehmung der Mehrheit als solcher unter-
scheiden wir aber weiter 5ie besondere Wahrnehmung eines
Einzelnen in der Mehrheit als einen hinzukommenden, nicht
notwendig damit verbundenen Act. Dieser ist es, auf den wir
^) Mach, Zur Analyse der Tonempfindungen. Wiener Akad. 1885.
Beitrage zur Analyse der Empfindungen. 1886.
^) Vgl. nun auch Husserl, Uber den Begriff der Zahl, Hallenser
Habilitationsschrift 1887, besonders S. 46. Auch Husserl fasst Mehr-
heit als eine besondere Relation und macht auf eine fiir den Zahlbegriff
wesentliche Eigentiimlichkeit dieser Relation gegeniiber denen der Ahn-
lichkeit, Steigerung u. a. aufmerksam : den Begriff" von Mehrheit konnen
wir nicht ohne Reflexion auf den zusammenfasseuden psychischen Act
bilden, wahrend wir die Begriff"e von Gleichheit u. s. f. rein aus den In-
halten selbst gewinnen. Fiir unsren Zweck kommt dieser Unterschied
jedoch nicht in Betracht.
6 Vorbemerkungen.
im § 6 noch iiicht hinreichend (nur voriibergehend) liingewie-
sen haben. Wahrend bei der Analyse im ebenerwahnten eng-
sten Sinue eine Mehrlieit in ihrer Eigenschaft als Mehrheit er-
fasst wird, wird hier ein Einzelnes in seiner Eigenschaft als
Glied einer Mehrheit erfasst. Gegenstand der Wahrnehmung
ist ein Einzelnes, aber riicht in seiner Vereinzelung, sbndern
in seiner Umgebung, welche als Umgebung nebenbei miterfasst
wird. So verhalt es sich, wenn wir in einem Accord einen
Einzelklang oder im Einzelklang einen Teilton besonders heraus-
horen. Beim Erfassen einer Melodie ist dieses Besonders- Wahr-
nehmen sogar immer und uotwendig vorhanden, uud zwar wird
der Kegel nach der augenblicklich gegenwartige Ton besonders
wahrgenommen, wahrend zugleich die jiingstvergangenen im
Bewusstsein noch vorhanden sind, als von ihm miterschiedene
friihere, als eine successive Mehrheit, in welcher der gegen-
wartige ein Glied bildet. Wir konnen dieses besondere Wahr-
nehmen eines Einzelnen in der Mehrheit als Teilwahrneh-
mung bezeichnen. Speciell bei gleichzeitigen Tonen sprechen
wir in solchem Falle von einem Heraushoren.
Dieses trennen wir also von der blossen Analyse. Aber
allerdings steht es zu derselben in nachster Beziehung und ist
in Wirklichkeit vielfach mit ihr aufs Engste verflochten. Denn
sobald wir versuchen, uns die Mehrheit „deutlich" zu vergegen-
wartigen, werden wir Teil um Teil besonders in's Auge oder
Ohr fassen. Das Heraushoren gibt uns eine Bestatigung dafiir,
dass wir uns in der Wahrnehmung einer Mehrheit nicht ge-
tauscht haben, und bildet einen Beitrag zu dem, was man Ver-
deutlichung des Analysirten nennt. Insofern kann es zur Ana-
lyse im weiteren Sinne mitgerechnet werden. Wir kehren dann
audi wol zu dem Ganzen als Ganzem zuriick, ohne einzelne
Telle weiter zu bevorzugen, und glauben nun die Mehrheit
deutlicher zu bemerken, wie einer der an einem Bild zuerst
nur einen Knauel von Personen oder am Himmel einen Haufen
leuchtender Puncte wahrgenommen, dann einzelne besonders be-
trachtet hat, und nun 'das Ganze wieder mit Einem ruhenden
Blick iibersieht.
Vorbemerkungen. 7
Von dem Teilwahrnehmen, dem Heraushoren ist wieder zu
scheiden die Auffassung eiiies Ganzen unter dem Begriff
eines seiner* Teile, wie die Auffassung eines Klanges als
eines Tones von der Hohe des Grundtones. Hier wird der Grund-
ton nicht in der Mehrheit besonders walirgenommen , es wird
iiberhaupt keine Mehrheit wahrgenommen, sondern der gehorte
Klang nur an diejenige Stelle der Tonreihe (mehr oder weni-
ger deutlich, mit oder obne Benennung der Stelle) verlegt,
welche dem Grundton gebiihren wiirde, wenn derselbe fiir sicb
allein gebort wiirde.
Nicht unbedingt gehort es zur Analyse, dass eine bestimmte
Zahl von Empfinduugen aiigegeben werden kann. Obschon auch
dies bei einer „deutlichen" Analyse moglich sein wird, und bei
einer voUstandigen und vollkommen deutlichen Analyse die an-
gegebene Zahl auch mit der wirklichen Zahl der vorhandenen
Empfindungen iibereinstimmen muss, so bildet es doch einen
vom Analysiren im e^geren Sinn zu unterscheidenden Act. Da-
gegen schliesst natiirlich umgekehrt das Ziihlen ein Analysiren
(ja auch Teilwahrnehmungen) ein; wir konnen daher, wo eine
bestimmte Zahl angegeben wird, dies als Beweis einer nach der
Meinung des Redendcn voUzogenen Analyse ansehen und, wo
in einer Reihe von Fallen die Zahl mit der nach Beschaffen-
heit des ausseren Reizes zu erwartenden iibereinstimmt, auch
an den wirklichen VoUzug der Analyse in seinem Bewusstsein
glauben.
Die Erkenntnis, welche Telle im Ganzen (Tone im Klange)
enthalten sind, gehort insofern natiirlich mit zur Analyse, als
man eine Mehrheit von Teilen nicht als solcho wahmehmen
kann, ohne jeden der Telle seiner Eigentiimlichkeit nach auf-
zufassen, soweit dies zur gegenseitigen . Unterscheidung not-
wendig ist. Aber schon das Verlangen, einen dieser Telle, wenn ^
er sogleich darauf isolirt gegeben wird, wiederzuerkennen,
wiirde eine neue Leistung, eine Vergleichung erfordern^), die
^) Die vielen neueren Untersuchungen ilber das „Wiedererkennen"
beachten nicht eine Mehrdeutigkeit des Ausdruckes. Zuweilen bedeutet
8 Vorbemerkungen.
in der Analyse selbst nicht eiugesclilossen ist. Doch gilt hier-
von dasselbe wie vom Zahlen: bei einer deutlichen Analyse wird
diese einfache Leistung des WiedererkennenS immer ohne
Schwierigkeit dazutreten konnen und, wo sie erfolgt, die beste
und unentbehiiichste Controle abgeben, durch die man sich ver-
sichert, dass die Versuchsperson die Analyse vollzogen hat. Da-
bei bleibt nur das Eine zu beacliten, dass die Analyse zuweilen
erst nachtiaglich am Erinuermigsbild des Eindruckes in dem-
selben Moment vollzogen wird, in welchem die isolirte Wahr-
nehmmig des betreffenden nachtraglich einzeln angegebenen
Teiles stattfiudet. Denn die letztere bildet zugleich eiii wesent-
liches Hilfsmittel der Analyse.
Unter der Erkenntnis, welche Teile in einem Ganzen, welche
Tone in einem Klang enthalten seien, kann aber auch verstan-
den werden die Benennung der analysirten bez. herausgehor-
ten Tone gemass ihrer absoluten Hohe durch Buchstaben oder
sonstige Beschreibung. Diese Fahigkeit ^st von der Analyse
ganz und gar zu trennen. Wir wissen, dass sie iiberhaupt nur
Wenigen, selbst unter den Musikalischen, eignet (I 305 f.). Eine
Mehrheit von Tonen kami in einem Klang vollig deutlich wahr-
genommen werden, ohne dass man die Tone zu benennen weiss.
Nicht einmal das Nachsingen der wahrgenommenen Tone kann
unbedingt als Beweis einer vollzogenen Analyse verlangt werden,
da das Treffen eines Tones, dessen Hohe man ganz gut im
Sinne haben kann, noch von besonderen Bedingungen, zumal
von einem folgsamen Kehlkopf abhangt. Wiederum gilt aber
auch von den boiden letzterwahnten Fahigkeiten der umgekehrte
Schluss: wo ein Nachsingen oder gar ein Benennen der heraus-
gehorten Tone in richtiger Weise stattfindet, da werden wir
a fortiori auf eine deutliche Analyse schliessen diirfen.
er nur „wiederholtes Erkennen", und dann involvirt der Act keine Ver-
gleichung. in anderen Fallen bedeutet er „Erkenntnis der Gleichheit
oder gar der realen Identitat eines Gegenwiirtigen mit einem Vergan-
genen," und dann involvirt er natiirlich eine Vergleicbung.
Aporien . 9
§ 16. Aporien in Bezug auf die Analyse bei objectiv
gleicbzeitigen Tonen.
"£'?i dh zoTq evnoQfjGai ^ovkofiivoiq UQOvQyov
TO diaTtoQTJaai xa?.(Sq.
Aristoteles Met. B zix Anfang.
1. Wird Empfindung durch Analyse verandert?
Halt man Umfrage, ob ein aus mehreren objectiven Tonen
bestehender Klang, wie der Accord ceg, als Einheit oder Viel-
heit erscheine, so lautet die Antwort verschieden. In einer Ge-
sellschaft von sechs Personen behaupteten beispielsweise einmal
alle ausser dem Verfasser dieses Buches die Einheit. Man be-
ziehe, meinten sie, den Klang vieUeicht unter Umstanden auf
mehrere Instrumente • als erzeugende Ursachen, aber er selbst
als Sinneseindruck sei ganz einheitlich. Musiker dagegen be-
haupten meist eine Mehrheit von Tonen wirklich zu horen, und
zwar nicbt etwa abwechselnd bald den einen bald den anderen,
sondern streng gleichzeitig.
Man wird aber auch finden, dass ein und derselbe Mensch
seine Aussage verandert, oft unmittelbar nachher, oft in gros-
seren Zwischenzeiten, dass er insbesondere in einer und der-
selben objectiven Zusammensetzung von Tonen, die er zucrst
nur als Einheit gelten Hess, spater eine Mehrheit von Tonen
zu finden glaubt.
Es entsteht zunachst die Frage: ob nicht das Empfin-
dungsmaterial wirklich einer Verschiedenheit bei verschie-
denen Personen bez. einer Veranderung bei einer und derselben
Person unterliegt. Vielleicht hort wirklich mein Nachbar nur
einen einzigen uuteilbaren Schall, ich aber einen geteilten, mehr-
fach gegliederten? Vielleicht tritt wirklich eine Umwandlung
der Empfindungen in dieser Richtuug wahrend des Lebens ein?
Abgesehen von den allerersten Anfangen des Empfindungs-
lebens, iiber die wir nur uubestimmte und vorwiegend deductive
Vermutungen aufstellen konnen (§18 Schluss), abgesehen auch
von der Degeneration der Organe im Alter und von patholo-
gischen Zufallen miissen wir eine so wesentliche Veranderung
10 § 16. Aporien in Beziig anf die Analyse
des Empfindungsinlialtes, wie sie hier vorausgesetzt wiirde, ent-
schieden in Abrede stellen. Wenu sich audi Farbeublindheit
und Ahidiches dafiir anfiihren lasst, dass ein Teil der Mensch-
heit den gleicben objectiven Eindruck wesentlicli anders empfin-
det als die iibrigen Menschen, so.liesse sich docli keine Ana-
logie entdecken fiir eine so durchgreifende, auffallende und
plotzlicbe Umbildung der Sinnesempfindungen walirend des
normalen Lebens des erwachsenen Individuums. MUsste ja oft
wahrend weniger Minuten eine solcho Umbiklung, eine gleich-
sam cbemische Dissociation der in sick einheitlicken Empfin-
dung X in die drei Empfindungen c e g stattfinden. Einige
Minuten darauf, wenn die Analyse wiederkolt werden soil, ist
sie vielleicht wieder unmoglicli, wird aber auch gleich wieder
moglich durch grossero Concentration des Bewusstseins: in kiir-
zester Frist miisste also das Gehirnorgan oder dex Nervenpror
cess, von welckem die Qualitiit der Empfindungen abhangt,
mebrmals derart umgostimmt werden, dass bei gleickeni Reiz
die-Empfindung grundwesentlich verschieden ausfiele.
Grundwesentlich — denn wir miissten Ernst maclien mit
der Annakme einer in sich einheitlichen Empfindung. Wir
diirfton nicht an irgend eine unklare „Mischung" denken, wie
etwa die Alten sich das Chaos vor der Welt, den ccpaiQoq
Oder das o^ov jiarra dachten, in deren Einheit das Viele
doch auf irgend eine dunkle Art schon vorlianden schi sollte:
sondern die gegebene Empfindung bei einem Accord wiirde
nichts weiter als eben Ein Ton sein, genau so einheitlich
wie der Ton einer auf dem Resonanzkasten schwingenden
Stimmgabel. Dagegen wiirde sich dieser Ton in Hinsicht sei-
ner Qualitat ungcheuer von alien einfachen Tonen unterschei-
den. Er wiirde vollstandig aus ihrer Reihe heraustreten. Denn
welcher Ton wiire es, den wir horen, wenn auch nur zwei ein-
fache Tone, c und g, zusammen angegeben werden? Etwa ein
mittlerer, es oder e? Offenbar nicht. Oberhaupt fallt kein
einfacher Ton des gesammten Tonbereiches mit diesem Ein-
druck * zusammen. Es kann also auch nicht einmal in dem
Sinne von einem Mischton die Rede sein, wie Violet eine
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 11
Mischfarbe genannt wird, namlich im Sinn eiuer Zwischenfarbe,
die dem Rot uud Blau gleichermasseu ahiilicli ist imd, grapliisch
dargestellt, auf ihrer Verbindungslinie liegt. Der eiiiheitliche
Ton, welcher durcli das objective c und g entstande, koniite
nicht zwischen diesen beiden, konnte iiberhaupt nirgends auf
der ganzeii Tonliuie liegeu. Wir miissten also geradezu eine
zweite Dimension der Tonempfindungen amiehmen; ja unbe-
gren'zt viele, weiin danu zu den zweien ein dritter, vierter ob-
jectiver Ton u. s. f. hinzugefUgt wird. Dies scheint aber dem
Bewusstsein ganz und gar entgegen: alle Tone, die mis erscbei-
nen, werden mit Notjvendigkeit als Glieder einer einzigen ein-
dimensionalen Reibe angeseben, als bobe, tiefe oder mittlere.
Einen seitwarts liegenden Ton, einen Tonwinkel, ein Tonvier-
eck u. dgl. gibt es so wenig wie eine seitwarts liegendo Zeit
und ein Zcitviereck. Wenn einige Forscher zur Versinulicbung
des Eindrucks der Toideiter das Bild einer Spirale benutzt
baben, so berubt dies auf der Mitberiicksicbtigung der Conso-
nanzverbaltnisse neben der qualitativen Natur der Tone an sicb,
deren einfacber Fortscbritt von der Tiefe zur Hobe damit nicbt
geleugnet sondeni vielmebr anerkannt wird.
Factiscb wird sicb Derjenige, dein die Analyse eines Drei-
klangs gelingt, nacbdem sie unmittclbar vorber mislang, oft
deutlicb erinnern, dass das Tonmaterial, welcbes er vorber im
Bewusstsein liatte, keineswegs ein qualitativ grundwesentlicb
anderes war als das jetzige (vgl. I 107).
Es ware endlicb nicbt zu sagen, durcb welcbe Miicbte
ein Durcbbrecben jenes Ton-Spbairos bewirkt wiirde, wenn
wir nicbt irgend ein mytbiscbcs Neikos-Princip zu Hilfe nebmen
wollen. LedigHcb durcb besscres Hinboren sollte die Empfindung
verwandelt und so fundamental verwandelt werden?
Wir kommen also aucb bier zu einem aualogen Resultat,
wie scbon ofters in den vorberigen Untersucbungen : iiberall
verandert Aufmerksamkeit, Ubung und sonstige psycbiscbe Ein-
fliisse im individuellen Leben wesentlicb nur die Auffassung
der Empfindungen, die Empfindungen selbst nur ganz ausnabms-
weise und in selir geringem Masse. In crster Linie muss man
12 § 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
demnacli jedenfalls die Unterschiede mid Verandemngen, welche
ein und derselbe objective Mehrklang fiir das Bewusstsein dar-
bietet, auf Veranderungeii uiid Unterschiede der blossen Auf-
fassung zuriickfiihren. Und wir konnen jetzt, von den neben-
sachlicheu Ausnahmefallen absehend und das Empfindungsma-
terial bei gegebenen objectiven Einwirkungen als identisch und
unveranderlich voraussetzend, die Frage so stellen:
Werden bei gleicbzeitiger Einwirkung mehrerer einfacher
Wellen mebrere oder nur Ein Ton empfunden? Und wie er-
klart sich im ersten Fall die Auffassung der Mekrheit als
Einheit, im letztcn Fall die Auffassung dei;Einheit als Mehrheit?
2. Disjunction der Theorien.
Die eben aufgestellte Alternative wird jedoch fiir die Dis-
cussion zweckmassig zu einer Dreiteilung erweitert. Dauert
namlicb die Einwirkung der zusammengesetzten Scbwingungen
auf das Ohr eine hinreichende Zeit, um einen Wechsel mehrerer
Empfindungen zu Stande kommen zu lassen, so ist offenbar
auch diese Hypothcse zu beriicksichtigen : dass die einzelnen
Tone nacheinander, in einem sogen. Wettstreit, gehort wiirden
und class nicht ihre Mehrheit sondern nur ihre Gleichzeitig-
keit Tauschung ware. Da wir die Frage ganz allgcmein dis-
cutiren woUen, erhalten wir also drei coordinirte Annahmen:
Es konnen bei Einwirkung einer zusammengesetzten Schwingung
auf das Ohr wahrend einer nicht allzukurzen Zeit entweder
mehrere Empfindungen gleichzeitig oder nur Eine Em-
pfindung oder mehrere Empfindungen nacheinander
vorhanden sein. Natiirlich ist auch nicht ausgeschlossen, dass
unter gewissen Umstanden der eine, unter anderen Umstanden
der andere Tatbestand vorliegt. Doch wollen wir jcde der
Annahmen zunachst unter der Voraussetzung hetrachten, dass
sie die allein giiltige ware. Es wird sich dann schon zeigen,
ob sie unbediugt oder nur unter gewissen besouderen Umstan-
den oder iiberhaupt nicht mogUch ist. Wir nennen die erste
kurz die Annahme der Mehrheit oder I, die zweite die
Annahme der Einheit oder II, die dritte die Annahme
des Wettstreits oder III, und suchen im Folgenden jede
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 13
derselben zu erlautern iind in einer vorlaufigen Weise durch
die gleichsam auf der Hand liegenden Motive zu stiitzen, dann
aber auch die Gegengriinde moglichst scharf zu formuliren,
welclie gegen jede vorgebraclit werden konnen.
3. Erlauterung und Begriindung der Mehrheits-
lehre (I).
Die Annahme der Mehrbeit erscheint wol den Meisten
als die nachstliegende und leichtestverstandlicbe. Dass in vie-
len Fallen und besonders bei Ungeiibten die Tauscbung eines
einbeitlicben Tons entstebt, wird man durcb Hinweis auf die
Masse der Empfindungen erlautern, die wir durcb die Tempe-
ratur der Umgebung, die Beriibrung der Kleider, das Atmen
und andre organiscbe Processe bestandig zugleicb empfangen:
aucb dieser ganze Empfindungscomplex wird nur in Ausnahme-
f alien, bei ausdriicklicber Zuwendung der Aufmerksamkeit und
sonstigen giinstigen Bedingungen analysirt, und selbst dann nur
bruchstiickweise. Das Gloicbe gilt von der Menge der seitwarts
und der doppelt gesebenen Objecte, die bekanntlicb die weit
iiberwiegende Mebrzabl der Gesichtsemj)findungen ausmacben.
Die Annabme kann in verscbiedener Weise naher durcb-
gefiibrt werden: entweder bilden die gleicbzeitigen Tone ur-
spriinglicb fiir die Auffassung eine Einbeit und . werden bei
fortscbreitender tlbung mebr und mebr zergliedert, oder es ist
umgekebrt die Vielheit das Urspriinglicbe und wir gewobnen
uns mebr und mebr, gewisse Gruppen als Einbeiten anzusebeu,
wofiir sicb ebenfalls Analogien finden, oder endlicb beiderlei
Processe finden neben einander statt, jeder unter seinen beson-
deren Umstanden und Bedingungen. Diese verscbiedenen Mog-
licbkeiten sind bei der Priifung im Auge zu bebalten.
Zur Begriindung des allgemeinen Teils der- Annabme bie-
ten sicb vor AUcm die bcstimmten Aussageri der Musiker (dar-
untor immer nicbt bios Facbmusiker sondern Musikaliscbe ver-
standeu). Mir wenigsteus ist nocb kein wirklicb musikaliscber
Mensch vorgekommen, der an der Mebrbeit der Tone in einem
Accord gezweifelt batte. Und gewiss bedarf es starker Gegen-
griinde, urn die ganze barmoniscbe und polypbone Musik auf
14 § 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
einen Irrtum zuriickzufiihren. Ganz unsinnig ware freilich der
Versuch von vornhereiu nicht. Der aesthetische Genuss griindet
sich in mancher Bezieliung auf Tauschungen, nicht bios gegen-
iiber der. objectiven Welt sondern selbst gegeuuber misren
eignen Empfindungen; wenn diese Tauschungen nur regelmassig
und zwingend genug sind. Ehe jedocb ein solcher Nachweis
in unsrem Fall erbracht ist, hat die Annahme I von dieser Seite
her die Praesumption fiir sich.
4. Erlauterung und Begriindung der Einheits-
lehre (II).
Die Annahme der Einheit hat zunachst, um auch nur ver-
standlieh zu sein, zu zeigen, wie die Tauschung der Mehrheit
zu Wege kommt. Dazu bieten sich indes die Gesetze der As-
sociation. Die einheitliche Tonempfindung, welche nach dieser
Annahme durch den Anschlag der Tasteu c e g hervorgerufcn
wird, .hat der musikalische Mensch oft genug selbst auf diesem
Wege erzeugt und dabei vielfach auch den Ton wahrgenommen,
welchen jede der Tasten cinzeln gibt. Jctzt ruft jener einheit-
liche Eindruck die Eriunerung an die drei Tone wach. Es ist
also die sogen. Analyse hiernach nicht eigontlich ein Ileraus-
sondern ein Hineinhoren, noch genauor ein Hineinphantasieren
oder Hineindenken auf Grund von Erfahrungen.
Dass solches Hineindenken bei unsren Wahrnehmungen
eine gi'osso Rolle spielt, bedarf kaum der Erwiihnung. Eigen-
schaftcn eines Dings, die nicht dem Gesichtssinn angehoren,
werden zur Gesichtsempfindung hinzugedacht u. s. f. Wir wiir-
den hier auch nur einen neuen m.erkwiirdigon Beleg haben, wie
durch eine subjectiv irrige, den Empfindungen widersprechcnde
Auffassung objectiv richtige Urteile zu Standc kommen, wie
Erfahrung denliTtum des Sinnes corrigirt.
Fiir diese Annahme II sprechen vor Allem die Aussagen von
Nichtmusikern und ihre grosse Unfahigkeit, die in eiuem Klang
enthaltenen Tone zu erkenneu: man mochte bei der auffallenden
Ausdehnung letzterer Erscheinung versucht sein, diese objectiv
falschen Urteile fiir die subjectiv richtigen und ihre objective Falsch-
heitaus dem Mangel jener corrigirenden. Erfahrungen zu erklaren.
bei objectiv gleichzeitigen Tonen, 15
Es wiirde sich ferner aus der Annahme II begreifen, warum
wir Farbenmischungen iiicht ebeiiso sicher wie Tonmischimgcn
analysiren: eine und dieselbe Mischfarbe kann aus vielen ganz
verschiedenen Verbiuduugen zweier oder mehrerer Farben resul-
tiren, Weiss aus Scharlachrot und Griinblau, aber aucb aus Gelb
und Ultramarinblau u. s. f. Daher kann sich nicht eine feste
Association zwischen Weiss und zwei oder drei ganz bestimmten
anderen Farben bilden. Bei Tonen gibt dagegen jede andere
Combination auch einen anderen Klang.
Es konnte endlicb fiir diese Amiabme geltend gemacht wer-
den, dass ein Zusammenklang doch starker klinge als jeder seiner
Componenten fiir sich allein. Wenn wir diese gesondert empfin-
den, sei es gleichzeitig sei es nacheinander, so sieht man nicht
ein, wie die Intensitaten derselben sich summireu soUen. Gibt
es doch Uberhaupt keine Summation von Empfindungsstiirkeu als
solchen* (nur eine von empfindungserzeugenden Processen). Wenn
dagegen der Summe der gleichzeitigen Tonreize immer Eine Em-
pfindung entspricht, so ist es natiirlich, dass sic unter sonst glei-
chen Umstanden starker ausfallt bei dreien als bei Einem Tonreiz.
5. Erlautcrung und Begriindung der Wettstreits-
lehre (III).
Die Annahme des Wettstreits endlich, wonach wir beim
Dreiklang, aber auch beim Einzelklang die Teile immer nur
abwechselnd horen, hat ebenfalls ihre Analogien. So zeigt be-
kamitlich, wenn man mit dem rechten Auge durch ein blaues,
mit dem linken durch ein gelbes Glas sieht, das gemeinsame
Gesichtsfeld bald diese bald jene Farbe, oder auch teilweise
diese teilweise jene, aber auch dann in der Verteilung unruhig
wechselnd. Zuweilen tritt hier allerdings, wie es scheint, auch
eine Mischung, eine Zwischcnfarbe auf, wahrend beim Horen
Zwischentone, wie schon erwahnt, sich nicht bilden. Auch
wiirde der Wettstreit beim Horen nicht bios zwischen beiden
Ohren, sondern schon zwischen den Tonen in emem Ohr statt-
finden. Doch fehlcn Analogien hiefiir beim Auge nicht ganz^).
^) Vgl. den von Plateau zuerst beobachteten Wettstreit der Nacli-
bilder (Rot-Grun-Rot-Grun etc.). Pogg. Ann. Bd. 32 S. 550. Fechner,
16 § 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
Einfluss der Aufmerksamkeit wird auch dort behauptet, miisste
aber jedenfalls beim Obr viel starker und haufiger sein. So
wiirde sich das Heraushoreu und die individuellen Unterscbiede
in dieser Hinsicbt erklaren; vorgangige besondere Erfabrungen
iiber die Klangzusammensetzung waren nicbt mibedingt er-
fordert.
Die Tauscbung der Gleicbzeitigkeit wiirde man bauptsacb-
licb ebenfalls dadurcb erklaren, dass es jederzeit in unsrem Be-
lieben staude, den einen oder anderen Teilton zu boren; wodurch
die Meinung entsteben kann, dass sie alle ununterbrocbfen zu-
gleicb da waren ^). Ausserdem konnte die Abwecbslung so rascb
vor sicb geben, dass man nacbber beim Zuriickdenken an das
Geborte den Eindruck der Gleicbzeitigkeit erbielte. Dass es
iiberbaupt moglicb ist, Aufeinanderfolgendes fiir gleicbzeitig zu
nebmen, lebren die nacb Bessel's Vorgang in mannicbfacber
Weise wiederbolten Beobacbtungen iiber Zeitverfluss zwiscben
anscbeinend gleicbzeitigon Wabrncbuiungen verscbiedcner Sinne^).
Fiir III spricbt scbon der Umstand, dass die Wabrbeit
nacb dem Spricbwort in der Mitte liegt: nacb I ware die
Wabrnebmuiig ciuer gloicbzeitigen Mebrbeit vollig ricbtig, nacb
II Yolligc Tauscbung, nacb III ware die Gleicbzeitigkeit Tau-
scbung, die Mebibeit aber ricbtig. So bebalt aucb der Mu-
siker und der Nicbtmusiker, jeder zur Halfte, Recbt, und be-
greifen sicb gemiiss obiger Andeutung die individuellen Unter-
scbiedc. Es liesse sicb endlicb auf gcwisse specielle Erscbeinungen
binweisen, wie auf die Unrube, die. sicb oft in einem Klange
tJber einige Verhiiltnisse cles binocularen Sehens. Sachs. Ges. d. Wiss.
I860. S. 399. Die mosaikartige Verteilung zweier Farben in Folge der
iibergreifenden Zerstreuungskreise bei Kurzsichtigen , welche ich selbst
beobachtet und als mouocularcu Wettstreit bezcichnct habe (Ursprung
der Raumvorstellung 257), lasst sich hier weniger gut hcranziehen, weil
nicht so sehr der Wettstreit selbst als das ruhende Ergebnis cines (viel-
leicht bios physiologischen) Wettstreits vorliegt.
') Vgl. Mill's Theorie der ,.permanenten Moglichkeiten der Empfin-
dung", worin die Aunahme fortbestehender objectiver Dinge aus einem
analogen Fehlschluss zu erklaren versucht wird.
2) Hermann's Handb. II 2. S. 256 f.
bei objecUv gleichzeitigen Tonen. l7
merklicli macht, das tlberwiegen gewisser, besonders hoher Tone,
welches dem Uberwiegen gewisser Farben im Wettstreit eiit-
sprache, und die haufige Aiiwendung gebrochener Accorde,
welche nichts Anderes ware als eine in bestimmter Orduung
vorgeschriebene Ausfiibning desselben Processes, der sicli beim
gleichzeitigen Anschlag von selbst vollzieht, und welche zugleich
zu beweisen scheint, dass die Wirkung der Harmonic niclit an
wirkliche Gleichzeitigkeit gekniipft ist.
6. Historischer Uberblick.
Akistoteles discutirt zuerst die Frage nach der Moglichkeit
mehrerer gleichzeitiger Empfiudungen, und bevorzugt uuter deu Bei-
spielen gerade die Tonempfindungen {jcsqI aiod-rjOscoq xal aiod^tjrcov
c. 7). Man koune Mehrercs nur zugleich empfindeu, wenn es sich
mische. So mischten sich hoher und tiefer Ton in der Consonanz.
Dagegen konue sich Vcrschiedenes der Gattung nach, wis Weiss und
Siiss, nicht mischen, und sei darum nicht gleichzeitig empfindbar.
Man kanu diese Ausserungcn wegeu dcs eigentiimlichcn Begriffes
der Mischung unter die Eiuhcits- wie unter die Mehrhcitslehre sub-
sumiren, in beiden Fallen mit wesentlicher Einschriiukung. Auch
ist zu beachten, dass Akistoteles Empfindung und Wahmehmung
nicht scheidet. Intcressant ist, was dann iiber den Wettstreit gc-
sagt wird (p. 448, a, 19): Einige behaupteten, die Tone kamen beim
Zusammenklang nur scheinbar zugleich, indem man die bei ihrem
Wechscl zwischeuliegeude Zeit (d. h. wol die Zeit vera Versch\Yiiiden
eines Tons bis zu seincm Wicderauftauchen, die durch die anderen
Tone ausgefullt ist) nicht wahrnehme. Es sei aber nicht moglich,
eine Zeit nicht wahrzunehmen.
Dann scheint die Fra^e erst in neuerer Zeit wieder selbstan-
dig behandelt worden zu sein. Condillac (Traite de sensations, in
Johnson's Ubersetzung S. 61 f.) ist fur die Mehrheit, halt es aber
nicht fiir wahrscheinlich, dass man eine solche erkennt, ehe man
die einzelnen Tone vorher fiir sich gehort hat, und stellt geradezu
das Prinzip auf, dass wir an den Sinneseindriicken nur das analy-
siren, was wir vorher fiir sich allein wahrgenommen haben. Selbst
Tone und Geriiche miissten vorher zusammenfliessen, d. h. als Ein-
heit aufgefasst werden.
Stumpf, Tonpsycbologie. n. "2
18 § 16. Aporien in Bezug a^f die Analyse
Johannes Mullee (Handbucli der Physiologie, 1840, II, 472 f.)
schreibt dem Ohr die Faliigkeit zu, „die durch gleiche lutervalle
getrennten Maxima der Stosse zwischen den tibrigen Stossen wahr-
zunehmen" (unter den Stossmaxima versteht er die relativen und
absoluten Maxima der Amplitude in einem combinirten Welleu-
system, unter den gleiclien Intervallen die Distauzeu der von Einer
und derselben elementaren Tonschwingung herriihrenden Maxima),
und vergleicht den Process mit der Analyse einer zusammengesetzten
Figur, in welcber sich verschiedene Figuren durchkreuzen: „sie
kommen alie zugleich zur Anschauuug, aber es hangt auch von der
Vorstellung ab, welche Impression augenblicklich die lebhafteste ist."
Bei dem ersten der angefubrten Satze konnte man an Wettstreit
denken, da die Maxima aufeinauderfolgen ; die erlauternde Analogie
aus den Gesicbtswahrnebmungen spricbt dagegen fiir die Mebrheit;
und diese war wol Muller's eigentliche Meinung. Von der Wabr-
ncbmung der Wellenmaxima kann ja obnedies nicbt im wortlicben
Sinne die Rede sein.
Earless (Wagner's Handworterb. der Pbysiol. IV 429, 435 f.):
„Haufig wird angenommen, dass das Ohr im Stande sei, mehrerc
Tone gleicbzeitig und getrennt von einander zur Perception zu
bringeu. Tbeoretiscbe Bedenken und praktische Erfabrungen an
mir und anderen nicbt musikalisch Gebildeten lassen mich daran
zweifeln." Docb scheint er auf das Letztere kcin eutscbeidendes
Gewicbt zu legen. In der Ausfiibrung der tbeoretiscben Bedenken,
die sicb auf die Beschaffei)beit der zusammengesetzten Scbwiugungen
griinden, kommt er auf J. Muller's Ansicbt zu sprechen, findet
aber, dass der psycbiscben Tbiltigkeit jeder Anhaltspunct des Rai-
sonuements (der Aussonderung bestimmter Maxima im Wellenzuge)
feble. Scbliesslicb fiibrt die griindlicbe, aber etwas gewundene
Uberleguug docb, soviel icb verstehe, zur Mebrheit der Tonempfin-
duugen, vorausgesetzt, dass sich auch ein pbysikalischer Apparat im
Ohr annehmen liesse, „durcb welche der eiue Ton an diesem, der
andere an jenem Puuctc vorwiegeud resouirt bestimmten Nerven-
fasern iibergeben wird", in welcber Ilinsicht er auch bereits auf
das CoRTi'sche Organ hindeutet (446).
. Zwei Psychologen HERBART'scher Richtung sprachen fiir die
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 19
Eiuheit. Th. Waitz (Grundleg. der Psych., 1846, S. 105): „Werden
die Tone c uud e auf einem Clavier zusarrmen angeschlagen, so em-
pfangen dadurcli alle Faserii des Hornerven einen gemischten Reiz,
der durch die Empfindung uud ihre Perceptiou urspriinglich gar
uicht zerlegt werden kann in seine Teile." Ahnlich „Psychol. als
Naturwisseusch.", 1849, § 13, mit der Begriindung, dass wir tiber-
haupt nur Eine Vorstelluug auf einmal haben konnen. F. Volk-
ikiAKN (Grundriss der Psych., 1856, S. 110): „Die Empfindungdu
sind uicht zuerst jsolirt und sollen dann vereinigt werden, sondern
sie siud gleich von Anfang her gleichzeitige luteusitaten desselben
Wesens uud durchdriugen eiuander auf alien Puncten." Es ist zwar
hier ofters nur von „ursprunglicher" Eiuheit die Rede, aber in
Consequenz der Begriindung scheint Eiuheit iiberhaupt zu liegen.
LoTZE (Med. Psych., 1852, 267 f.) versteht auch Harless da-
hiu, dass wir urspriinglich eine einzige einfache Empfindung batten,
und polemisirt gegen diese Annahme. Man konne uicht angeben, wo-
rin solche Empfindung bestehen sollte. Auch sei die Aufmerksam-
keit uicht im Stande, etwas wirklich Eiuheitliches zu zerlegen; sie
konne nur vorhaudene Verschiedenheiteu schiirfer boleuchten. Ver-
schiedene Tone wiirden also bereits urspriinglich als verschiedeue
zugleich empfundcn, ohne qualitative Verschmelzung zu einem Total-
eindruck, ebenso wie auch gleichzeitig erfasste (nebenoiuander be-
fiudliche) Farbeu im Gesichtsbild nicht urspriinglich als ein Grau
gesehen wiirden. Die Tone kounten nur etwa urspriinglich weniger
deutlich gesojidert und ihre Manichfaltigkeit weniger voUkommen
iiberblickbar seiu. Ebenso Mikrokosmus^ I 235: „Am wenigsten
diirften wir annehmen, dass in irgend einem friihen Alter die Far-
benpuncte fiir das Auge, die Tone fur das Ohr nur ein unterschieds-
loses Gemisch darboten, aus welchem erst die wachseude Aufmerk-
samkeit die einzelnen Elemente scliiede. Denn weder einen Beweg-
grund wiirde diese, noch eine Picgel des Scheidens haben, wenu
nicht der Eindruck verschiedeuartige Bestandteile schou erkennbar
darbote, zwischen denen sie die Teilstriche wol vertiefen uud zu-
scharfen, aber da nicht Ziehen kann, wo sie durch keine Andeu-
tuug vorgezeichnet sind."- Iri ahulichem Sinne, aber nicht ganz so
eutschieden, aussert er sich in der Metaphysik, 1879, S. 514 f.
2*
20 § 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
tiber den „Chemismus" der Empfiuduugen: sic sclimelzen nicht zu-
sammen, uur der Act ihrer Unterscheidung felilt. Aber maucbe
uns voUkommen einfach scheinende Empfindung, selbst eine Farbe,
konute mit der Zeit noch auf diesem Wege „dissociirt" werden.
Helmholtz, dem die Frage besouders wegen der Bedeutung
der Obertone fiir den Zusammenhang seiner Theorie wichtig wurde,
statuirte Mehrheit (Pogg. Ann. Bd. 99 und 108, dann „Lehre von
den Tonempliudungen", 1863, und „Popular-wissenschaftl. Vortrage").
Die einheitliche Auffassung erklart er aber in ^er letzten, vierten
Auflage der „Tonempfiudungen" (1877) anders als friiher, namlicb
nicht mehr als Resultat einer Gewohnung, sondern als das Ursprung-
• liche, und die Zerlegung als ein spateres Ergebnis psychischer Kriifte,
Da wir im folgendeu Paragraphen eingebender hieriiber bandeln
mussen, gentige die kurze Anfiibrung.
Fechner (El. II 272) neigt auf Grund eigener Beobacbtung
(er recbnet sich zu den Unmusikalischen) zur Einbeitslebre, consta-
tirt aber den bestimmten Widersprucb Musikaliscber, wie Haupt-
mann's, den er ausdriicklich befragte, und Helmholtz', In der
Abbandlung „Uber einige Verbaltnisse des binocularen Sehens",
Sachs. Akad,, 1860, S. 542, bespricht er spcciell die Frage, ob die
Eindriicke bcider Obrcn Eine Empfindung geben, und erwahnt die
Hypothese eines raschen Wechsels, verwirft sie aber, weil der Ge-
sammteindruck eines zweiohrig gehorten Tones entschieden starker
sei, als der des objcctiv gleichen, nur von Einem Ohre veruorame-
uen Tones. Es mussen sich, schliesst er, die Tone beider Ohreu
zu einem gemeinsamen Eiudruck combiniren. Nur ein Wettstreit
der Auffassung fiude Statt; man konne nicht beiden Ohren zu-
gleich seine Aufmcrksamkeit schenken.
RiNNE (Zeitschr. fiir rationelle Medicin von Henle und Pfeuf-
FER, Bd. 24, 1865, S. 39) polemisirte gegen Helmholtz: die vieleu
Empfiuduugen miissten doch innerhalb der Seele zu einem riiumlich
uugetreunten, rein intensiven Zustande zusammeufliessen und ihre
Trennung dann erst auf eine vielleicht weniger leicht nachweisbare
Weise vor sich geben. Also Einheit, wenigstens urspriinglicb. Scbon
an der Ausdrucksweise ist der Eintiuss von Lotze's Localzeichen-
und Herbart's Seeleutheorie ersichtlich.
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 21
In meiner Schrift „Uber den psychol. Ursprung der Raumvorst.",
1873, vertrat ich S. 130 — 34 beziiglich der Tone die strenge Ein-
heitslehre als Consequenz des CoNBiLLAc'schen Princips, welches durch
die Erfahrung allgemein bestatigt werde, und mit der oben wieder-
gegebenen Ausfiihrung iiber die Entstehung des Scheiues einer Viel-
heit; doch nicht ohne anzudeuten, dass noch manche Schwierigkeit
in der Sache liege.
G. E. MuLLER erhob in seiner Dissertation „Zur Theorie der
sinnlichen Aufmerksamkeit", 1873, S. 24 f., eine ganze Reihe von
Einwanden gegen die bezugliche HBLMHOLTz'sche Lehre, und kam
ebenfalls auf die Einheitslehre zuriick (die Teiltone bilden „ge-
wisserraassen mit Aufgabc ihrer selbstandigen Existenz gemeinsam
eine einzige neue Empfindung"; der Klang ist die „psychisclie ein-
heitliche Resultante gleichzeitiger Nervenreize").
Die neuesten Schriften dcutscher Philosophen huldigen meist
noch der alteren HEL>raoLTz'schen Ansicht (vgl. Lipps, Psychol.
Studien, 1885, S. 36; wol auch B. Erdmann, Viertelj.-Sch. fur
wiss. Phil. X 400, wenn er von „Association" der Obertone mit dem
Grundton als Grund der Kichtunterscheidung spricht). Ebenso Phy-
siologen, selbst Hensen, der Bearbeiter der ganzen Tonlehre in Herm.
Hdb. Ill, 2, 126 f.: „Wir diirfen wol annehmen, dass eine der zum
Ohr gehorenden Sinnesflachen im Centralorgan die Teiltone zu Grup-
pen vereint, zuweilen (Composition der Vocale durch Stimmgabeln)
wider besseres Wissen, aber eutsprechend den erapirisch entweder
friiher oder mit Hilfe anderer Sinnesorgaue gleichzeitig als einheit-
lich erkannten Klangquellen. Man darf vermuten, dass ein von Ge-
burt tauber Mensch, geheilt, in ahnlicher Weiso das Horen lernen
miisste, wie wir wissen, dass geheilte Blinde das Sehen lernen."
Klirzlich behauptet aber wieder Tii. Lowy, „Die Vorstellung
des Dinges auf Grund der Erfahrung", 1887, S. 200: „Kein nicht-
sichtbarer Inhalt ist mit cinem anderen nichtsichtbaren Inhalt oder
mit einem sichtbaren Inhalt in einem Nebeneinander gegeben . . .
Ein Mehrklang von Tonen z. B. ist eine Zeitfolge oder eine eigene
Bestimmtheit, gibt aber keinc Gleichzeitigkeit der Tone in der
Wahrnehmung." So einfach dogmatisch hingestellt, ist die Be-
hauptung freilich wertlos.
22 § 16- Aporien iu Beziig auf die Analyse
'7. Bedeiikeu gegen die Mehrheitslehre.
Vergegenwartigen wir mis nuu, was gogen jede der drei
Annahmen, uud darnit jedesmal fiir die beiden anderen zusam-
mengeuommen (alteriiativ) in's Gewicht fallt.
Gegen die Melirheitsansicht kounteu zwei allgemeine Be-
denken gerichtet werden'):
a) Gleichzeitige Empfindungen Eines Siniies koiinen, wie
die Erfahrung au alien anderen Sinnen lelirt, niir dann in Mehr-
zahl vorhanden sein, weun sie verschieden localisirt sind: so
Farben, Tasteindriicke, Geschmacke, Temperaturen u. s. w.
Warum sollte das Gehor hierin eine Ausnahme machen? Da
nun die gleicbzeitig demselben Obr zukommenden Tone offen-
bar nicbt verscbieden localisirt werden, da nicbt der eine recbts
unten, der andere links oben u. s. f. erscheint, so wird es nicbt
moglicb sein, zwei verscbiedene Tone gleicbzeitig mit demselben
Obr zu empfinden. „Vielbeit", sagt bereits Schopenhauer, „ist
nur als Nebeneinander oder als Nacbeinander vorstellbar".
b) Es ist scbwerer, gleicbzeitig zum Obre driugende Tone
zu unterscbeiden als aufeiuanderfolgende. Wenn aber die ob-
jectiv gleicbzeitigen wirklicb aucb im Bewusstsein gleicbzeitig
waren, so sollte man das Umgekebrte erwarten. Zwei Sinnes-
eindriicke werden in irgeud einer Bcziebung um so leicbter be-
urteilt, je weniger sie sonst differiren. So werden z. B. zwei
Tone binsicbtlicb ibrer Starke um so leicbter verglicben, je we-
niger sie der Hobe nacb auseinanderliegen (I 348). So legt aucb
der Geometer, dor zwei Linien vergleicben will, sie aufeinan-
"der, d. b. er bebt, um die Grossenunterscbiede zu ermitteln, die
Ortsunterscbiede auf. Dasselbe muss von den Zeitunterscbieden
') Ich entnehme dieselben wie aiich Einzelnes in der voraufgehen-
den Motivirung der entgegenstehenden Aiischauungen einer mundlichen
und schriftlichen Discussion mit Fr. Bkentano, der sich auch in Vor-
lesiingen eingehend mit der Frage zu beschaftigen pflegt iind in der an-
geklindigten „Descriptiven Psycliologie" seine positiven Anschauungen
dariiber formuliren wird, fiber die ich vorlaufig nicht hinreichend unter-
richtet bin. Soviel steht ihm fest, „dass, wie beim Gesicht, aucb bei
jedem anderen Sinn das von einer Qualitat occupirte Empfindungsfeld
alien anderen derselben Gattung gleicbzeitig verschlossen ist".
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 23
gelten. In der That ist die Wahrnehmung qualitativer Unter-
schiede aufeinanderfolgender Tone um so leichter und genauer,
je geringer die Zeitunterschiede (I 229). Hieraus scheint aber
unmittelbar zu folgeu, dass sie dann am leichtesten und ge-
nauesten sein miisste, wenn gar kein Zeitunterschied stattfande,
wenn beide Tone gleichzeitig im Bewusstsein waren. Also miis-
sen wir, scbeint es, annehmen, dass die Glcicbzeitigkeit der
Tone subjectiv nicht vorhanden ist, dass vielmebr statt des er-
leichternden erschwerende Umstande fiir die Analyse eintretcn;
wie dies nach beiden anderen Theorien der Fall ist.
8: Bedenken gegen die Einheitslehre.
Gegen diese Anscbauung lasst sich Folgendes anfiihren:
a) Wir macbten gegen die Annahme, dass die Tonempfin-
dung bei gleicben Reizen sich als Empfindung dissociiren konne,
geltend, dass die dabei vorausgesetzte urspriinglicbe Empfin-
dungseinbeit nicbt in der oindimensionaleu Tonlinie Platz fande
(S. 10 f.). Wenn nun die Empfindung nicbt bios urspriinglich
und bei Unmusikaliscben oder Unaufmerksamen, sondern sogar
iiberall und allezeit eine Einbeit ware und bliebe, so wiirdc
dasselbe Bedenken wiederkebren, das Tonreicb miisste eine
Menge qualitativer Dimensionen baben, was dem sinnlichen Ein-
druck widerspricbt.
b) Ein gewandter Akustiker vermag oft aucb Klange, welcbe
er nie gebort oder iiber deren objective Zusammensetzung er
wenigstens nocb keine Erfabrung gesammelt bat, durcb das
blosse Gebor zu analysiren. Hierunter ist ja nicbt das Erraten
der an einem Zusammenklang beteiligten Instrumente zu ver-
steben, sondern die Wabrnehmung der Componenten, seien sie
von gleicber oder ungleicber Starke und Wirkungen eines oder
mebrerer Instrumente. Icb und Jeder, der sicb mit akustiscben
Studien viel bescbaftigt hat, kann Teiltone in vorber unbekann-
ten musikaliscben oder akustiscben Instrumenten berausboren.
Aucb bei Instrumenten, die der Art nacb bekanut sind, wie
dem Clavier, zeigt jedes einzelne Instrument und wieder fast
jeder einzelne Klang desselben in Hinsicht der Teiltone seine
Eigenbeiten, welcbe beim erstmaligen Horen, sobald nur Zeit
24 § 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
zum Aufmerken unci den etwa damit verbundenen organischen
Processen gegeben ist, sicli dem Gehor offeubaren. Ebenso sind
nie gehorte Zusammeuklango analysirbar, wenn sie nur nicht
zu complicirt sind und die cinzelnen Tone nicht zu nahe an-
einanderliegen. Ja es wird auf die sofortige Analyse solcher
neuen Zusammensetzungen beim Musikhoren in der ausgedehn-
testen Weise gerechnet. Denu wenn auch eigentliclie neue Ac-
cordbildungen selten eingefiihrt werdeu, so entstehen doch in
Folge der Durcbgangs- und Vorbaltstone, der Verzierungen aller
Art bestandig scbou bei simplen Melodien, die sicb frei iiber
barmonischer Begleitung bewegen, genug neue unerborte Ton-
complexe. Jeder einigermassen Musikfabige bat trotzdem keine
MUhe, die Melodie und selbst die wicbtigsten Glieder der Har-
monie berauszuboren. Nacb der Annahmc II wiirden bier lauter
neue einfacbe und eigenartige Tonerscbeinungen vorliegen, und
die Anbaltspuncte zum Hineindenken, worin ja die Analyse be-
steben miisste, wiirden feblen.
c) Ein Umstand, aus dem Helmholtz folgerte, dass die
Obertone nicht das Werk der Pbantasie seien, steht auch ibrer
Herleitung aus. der Erfahrung in der Weise von II entgegen
(wobei sicb's ja ebcn um eine durcb Erfahrung geleitete Pban-
tasie handoln wiirde): Wer harmonische Obertone vernimmt,
vernimmt sie mit voller Bestimmtlieit und Regelmassigkeit in
reiner „natiirlicher" Stimmung, z. B. den fiinften Teilton des
C, namlich e*, etwas tiefcr als das temperirte e^ des Claviers,
den sechsten, g'^, etwas boher als das g^ des Claviers, den sie-
benteu merklich ticfer als h\ Wer iiberhaupt Obertone wahr-
nebmen kann — und icb mocbte glauben, dass es fast Jedem
bei einiger (Jbung gelingt — unterliegt in dieser Hinsicht eiuem
unbedingten Zwang; er kann sie nicht um das Geringste boher
oder tiefer horen. Aber nicht bios diese starre Bestimmtlieit
der Teiltono Iiberhaupt ware unbegreif lich , weiin ibre Wahr-
nebmung nm- ein Hineindenken gemiiss don vielfachen Gedacht-
nisbildern ware, und nicht bios miisste man dann einen be-
sonders massgebenden Einfluss unmittelbar vorangehender Ein-
driicke auf die Stimmung des Teiltons erwarten, der sicb nicht
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 25
findet: sondern man mlisste geradezu eiue durchschnittliche
Neigung erwarten, die Obertone temperirt vorzustellen. Zum
Mindesten dem Gedaclitnis von Clavierspielern wiirde sich keine
andere Stimmung gleicbstark einpragen koiiiien. Die Thatsachen
lehren, dass das frischeste und deutlichste Gedachtnisbild bier
einflusslos ist; der Oberton orklingt eigensimiig in seiner ma-
tbematiscb notwendigen Stimmung und dor Unterscbied zwi-
schen dieser und der unmittelbar vorber geborten tcmperirten
Stimmung tritt erst recbt deutlicb bervor.
Man konnte erwidern: die aus reinen natiirlicben Inter-
vallen bestebenden Accorde seien angenebmer als die temperir-
ten. Das Gefiibl nun, welches ein Klang mit harmoniscben
Teiltonen erwecke, sei dem des reinen Accords abnlicber als
dem des temperirten, und so batten wir an diesem uns be-
kannten Gefiibl einen Anbaltspunct,. rcine Quinten und Terzen
in den einbeitlicben Klang ebenso bineinzuboren wie in den
Accord, dessen Entstebung wir durcb Erfabrung kenn^n.
Docb dieser Zusatz bilft nicbt viel weiter. Die Meisten
baben iiberbaupt nocb keinen reinen Dreiklang gebort, selbst
wenn wir von der idealen Reinbeit abseben und nur von dem
fiir das musikaliscbe Gcbor erreicbbaren Maximum der Rein-
beit reden. Aber mag Einer viele oder wenige odcr keine
reinen Dreiklange gebort baben: fiir das Erkennen der Ober-
tone macbt dies keinen Unterscbied. Es miisste aber nacb jener
Tbeorie einen Unterscbied macben. Ferner baben wir die so-
gen. natiirlicbe Septime, das Verbaltnis 1 : 7 bez. 4:7, in der
harmoniscben Musik niemals oder nur zufallig bei abweicben-
der Intonation gebort, da das Intervall in unsrom Musiksystem
keine Anwendung findet, und so kann uns das beziiglicbe Ge-
fiibl aucb nicbt dabcr vertraut sein: gleicbwol wird gerade der
siebente Teilton am Clavier meist besonders deutlicb und in
seiner Stimmung ganz bedcutend von dem der nacbstliegenden
Taste (der kleinen Septime) abweicbend vernommen. Endlicb
hort der Geiibte nocb viele andere bo.bere Teiltone, unter Um-
standen den 20., ja 26. (den ich z. B. am B^ eines Pianino so
stark fand, dass er sich zuerst mitten im Spielen uuwillkiirlicb
26 § 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
der Beach tung aufdrangte); fiir welche unmoglicli besoiidere Er-
fahrungen iiber die entsprechendeii Zusammenklange imd deren
GefUhlscharaktere vorliegen konnen, zumal viele davon wie-
derum in der heutigen Musik ungebrauchlich sind (Obertone
der Glocken, der Glasinstrumente, der Stimmgabeln unmittel-
bar nach dem Anschlagen, und bobere Obertone aller anderen
Instrumente).
d) Durcb die Veranderung des Phasenunterschiedes zweier
Tonwellen, wie sie erfolgt, weun eine derselben mit verschiedener
Zeitdifferenz gegeniiber der anderen beginnt, werden in der
Form der Gesammtwelle nicht weniger cingreifende Veranderun-
gen erzeugt, als durcb die Veranderung des Langenunterscbie-
des, der dem Hobenunterscbied der Tone entspricbt. Aber
wabrend im letzteren Fall entsprecbende Veriinderungen in der
Bescbaffenbeit des Klanges. resultii-en, ist die Veranderung der
Pbasendifferenz und damit diese selbst einflusslos. Dies ergibt
sicb im Allgemeinen scbon aus der tiiglicben Erfabrung, ist
aber (da sicb gegen deren Beweiskraft noch Einiges einwenden
liesse) von Helmholtz nocb mit sinnreicben genauen Vor-
ricbtungen nacbgcwiesen und fiir die Lebre vom Zustandekom-
men der Geborempfindungen mit Recbt scbr in den Vorder-
grund gestellt worden.
Nebmen wir an, dass jede einfacbe Welle (Sinusscbwingung)
die ibr entsprecbende . besondcre Tonempfinduiig erzeugt, unab-
bangig von der anderen und ungestort dui'cb sic, so wird der
Gesaramtcbarakter des Empfindungsinbaltes nur von der Starke
und Lange der Teilwellen abbangen, deren Pbasenunterscbied
hingegen einflusslos sein. Ist die durcb cin zusammengesetztes
Wellensystem erzeugte Empfindung dagegen eine einfacbe, so
muss man erwarten, dass alio bedeutenderen Veranderungen in
der Wellenform audi die Empfindung verlindern. Die Erfabrung
entscbeidet also fiir die erstere Annabme.
Zwar bat Pt. Konig (Wied. Ann. XIV, 1881, S. 374 f.) nacb
Untersucbungen mit der yon ibm construirten Wellensirene einen
Einfluss der Pbasenveranderung dennocb bebauptet; wenn aucb
nur geringere Unterscbiede des Klanges, abnlicb etwa den
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 27
Klangfarbenuntcrschieden auf eiiiem und demselben Instrument
oder beim Aussprecben desselben Vocales von Seiten verschic-
dener Menscben, dadurcb bedingt sein sollen. Es gibt aber
kaum eineu Weg, dies mit den erwabnten Tatsacben zu ver-
einigen, als die Annabme, dass in Folge oder zugleicb mit der
Pbasendifferenz bier auf irgend eine Weise im Obr Unterscbiedc
der Obertone erzeugt wurden. Hocbstens konnte man nocb
daran denken, dass neb en den Einzelscbwingungen docb aucb
die Gesammtscbwingung als solcbe einen gewissen Eiufluss batte,
indem sie mit einem Teil ibrer lebendigen Kraft etwa auf an-
dere Perceptionsorgane innerbalb des Obres wirkte. Weitere
tbeoretiscbe und experimentelle Untersucbungen bieriiber sind
erforderlicb, konnen aber an dem Wesentlicben der obigen Tat-
sacbe und der daraus gezogencn Folgeruug nicbts iindern,
Der Folgerung selbst konnte man nocb dadurcb zu ent-
geben sucben, dass man eine pbysikaliscbe Zerlegung der Ge-
sammtwelle im Obr mit Helmholtz annabme, dann aber eine
Wiedervereinigung im Gebirn nocb binzupostulirte. Dadurcb
wUrde der Einfluss der Pbasenuntcrscbied;) ausgemerzt und dcn-
nocb eine einbeitlicbe Empfindung erzeugt. Aber eine solcbe
doppelte Umformung des Reizes in entgegengcsetztem Sinne,
Zerlegung und Wiedervereinigung, wiirdc die Grenzen glaub-
licber Hypotbesenbildung docb stark iiberscbreiten.
e) Zu gleicber Folgerung gelangen wir, wenn wir, ganz
abgeseben von Pbasenanderungen, die Gestalt einer beliebigen
Gesammtwelle in sicb selbst genauer in's Auge fassen, wie sie
durcb Combination zweier Sinuswellen von gleicber AmpUtude
ohne anfanglicbe Pbasendifferenz entstebt, z. B. die durcb die
Sinuswellen vom Verbaltuis 2:3 gcbildete Gesammtwelle.
Sie besitzt nicbt eine einbcitlicb gleicbbleibende, sondern
eine wecbselnde Lange; und zwar wecbselt, wie eine geome-
triscbe Untersucbung zeigt^), diese Lange zwiscben den Wer-
*) Ich babe diese, deren Veroffentlichung anderwarts erfolgen muss,
zu einer Zeit angestellt, als mir selbst die Empfindung nocb als einheit-
licb gait, und bin durcb die Consequenzen zum Aufgeben dieser Ansicbt
veranlasst worden. Es war mir damals gerade darum zu tbun, aus der
28
§ 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
ten ^ (beim Maximum der Amplitude) und , , (beim
Li -\- I XJ -\- I
Minimum), wenn unter L und I die Langen der grosseren und
kleineren Sinus welle verstanden sind.
Halten wir uun fest, dass die Tonhohe der Wellenlange
corresponclirt — was Ij^i aufeinanderfolgenden Tonen sich durch-
aus bestatigt und als erstes Grundgesetz der Akustik gelten
muss — so miisste man hier statt c und () vielmehr einen zwi-
sclien e und e^ (und zuglcich der Intensitat nacb) wechselnden
Ton boren, woven keine Spur zu finden ist. Oder wenn man
etwa versucht, das Princip fiir die Tonbobe so auszusprecben,
dass nicbt die Lange der Wello sondern die Anzabl der in der
Secunde in's Obr gelangendcn Wellengipfel (Scbwingungsmaxima)
die Tonbobe bestimme; so zeigt ein Blick auf die Figur, dass
an Stelle der 2 bez. 3 Maxima der Sinuswellen ein einziges
absolutes Maximum, neben ibm nocb zwei kleinere relative
Maxima, gotreten sincl. Man miisste danacb also an Stelle
von c und g entweder den Ton 1 (0) oder, wenn die relativen
Maxima mitgcrecbnet werden, ausscbliesslicb g boren. Alles
dieses bestatigt sicb nicbt.
Form der rosultirendeu Gesammtwelle irgendwelche Eegeln fiir die Be-
schaffenheit des zu horenden einfachcn Tons abzuleiten.
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 29
Analoges ergibt sich fiir 4:5 unci jede beliebige Combi-
nation ^).
9. Bedenken gegen die Wettstreitslehre.
Gegen diese lasst sich Folgendes einwenden:
a) Wenu man die Aufmorksamkeit absichtlich auf eine ein-
zelne Stimme concentrirt halt, -wiirde man hienach die iibrigen
Stimmen nicht etwa nebenbei sondern gar nicht horen. Dann
konnte man sich dieselben aber auch nicht nacljtraglich iu's
Gedachtnis rufen, was doch factisch fiir einigormassen Geiibte
moglich ist. Man halte beispielsweise in folgendem Satzchen
3
_3 3 _ r^-*- ^ «
EeEf
)e3^
' 1 I
die Aufmerksamkeit fest auf die Oberstimme gerichtet, der sie
sich ohnodies von selbst zuwenden wird. Die P'igur werde so
schnell als moglich ausgefiihrt. Dann ist nicht einmal Zeit,
zwischen ihren einzelnen Noten auf eine andere Stimme iiber-
und wieder zuriickzuspringen, wenn man auch woUte. Dennoch
wird ein Musiker unschwer die ganze Figur mitsammt der Be-
gleitung aufs erstemal nacli dem Gehor niederschreiben. Dies
begreift sich, wenn die Begleitung wirklich gehort wurde, sei's
auch nur gauz nebenbei, iihnlich etwa dem indirecten Sehen.
Dann kann man das indirect Gehorte sich gleich nachher in's
Gedachtnis rufen und, wie der gewohnliche Ausdruck lautet,
„zum Bewusstsein bringen", genauer gesagt zur Beachtung brin-
gen. Dann kann man auch durch fortgesetzte Obung solch'
erhebUche Fertigkeit hierin erwerben, wie sie zum voilen Ver-
standnis pol^'phoner Musikwerke vorausgesetzt wird. (Jbrigens
vermogen wir schon im gewohnlichen Leben oft eine an uns
') Fiir y > 3 wird jedoch die Lange der Resultirenden beim Maxi-
mum = -J : und nahert sich mit wachsendem -^ immer mebr der
Minimumlange.
30 § 16. AiDorien in Bezug auf die Analyse
gGricttete Frage oder das Stundenschlagen einer Uhr, das man,
in eino andere Bescliaftigung vertieft, 5,iiberliort" hatte, unmit-
telbar nachter auf solclie Weise zu reconstruiren. Aber immer
setzt dies voraus, dass die Eindriicke wirklicb empfunden wur-
den. Hat man sie so wenig gehort, wie Einer, der fiinfzig Mei-
len entfernt und olmo teleplionisclie Verbindung ist, so fallt
natiirlich auch die Moglichkeit der Reproduction; und dies
miisste nach III in der That eintreten, sobald und solange
durch die Concentration der Aufmerksamkeit der Wettstreit
zu Gunsten Einer Stimme entscliieden ist.
Man kann nicht erwidern, es sei unmoglich, die Aufmerk-
samkeit auch nur so lange, als es hier verlangt wird, auf eine
Stimme conceutrirt zu halten. Weun wir die Kraft haben,
durch Concentration der Aufmerksamkeit andere Empfindungen
desselben Sinnes vollkommen, als waren die cntsprechenden
Reize iiberhaupt nicht vorhanden, zu verdrangen, und wenn
diese, sonst immerhin ungewuhnliche, beim Furbenwettstreit nur
mit bedeutenden Beschrankungeu und von Manchen gar nicht
bestatigte Leistung beim Tonsinne ex hypothesi etwas gauz Ge-
wohnliches- ist: so miissen wir auch die Kraft haben, die Auf-
merksamkeit etwa eine Secunde lang in gleicher Richtung zu
erhalten, eine Fiihigkoit, die uns ohnedies sonst nirgends zweifel-
liaft erscheint. Tatsiichlich siud ja oft schon Kinder von zwei
Jahren im Standc, eine zuerst unbegleitete, dann mit harmo-
nischer Begleitung gehorte Melodie wiederzuerkennen, was nicht
moglich wiire, wenn sie die Aufmerksamkeit nicht auf die
Oberstimme concentrirten.
b) Ferner miisstu durch Concentration der Aufmerksamkeit
auf eiiien einzelnen Ton nach der Annahme III die Klangfarbe
und das Harmoiiiegefiihl hinwegfallen. Die Klangfarbe hangt
wesentlich an den Obertonen. Wenn wir nun auf den Grund-
ton eiues Trompetenklangs acliten, so horen wir zufolge der
Annahme III wahreuddessen die mitklingenden Obertone nicht,
miissten also den Ton als vollig einfachen, mit einer floten-
artigen und noch milderen Farbung, vernehmen.
Ein tiefer Clavierton klingt merklich rauh infolge der
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 31
Schwebungen seiner Obertone. Beim C z. B. schwebeu h^
(7. Teilton), c^ und d^ uutereinander. Achtet nun Eiuer auf
diese Schwebungen, so konnte er nach der Hypotliese das C
nicht horen; achtet er auf dieses, so wiirden mit den Obertonen
auch.deren Schwebungen hinwegfallen. Wie sollte C rauh er-
scheinen?
Man konnte sogar folgern, dass es iiberhaupt keine Un-
terschiede der Klangfarbe geben diirfte, wenn immer nur ein
Teilton auf Einmal empfunden werden soil. Hiegegen liesse
sich zwar versuchsweise noch erwidern, dass an eine rasche
Folge einfacher Tone vielleicht durch irgendeinen psychophy-
sischen Mechanismus Klangfarbe gekniipft sei. Wir konnen
aber diese dunkle Hilfshypothese (wie soil durch nachfolgende
Tone audi den vorausgehenden cine Farbe zuwachsen?) auf sich
beruhen lassen, da schon der Wegfall der Klangfarbe unter den
geuannten spcciellercn Umstandon der Erfahrung widerspricht.
Auch dem Harmoniegefiihl wiirde unter gleichen Bedingun-
gen der Boden cntzogen. Es konnte kcinen Unterschied machen,
ob wir c allein ocler mit anderen Tonen zusammenanschlagen,
solangc wir nur ausschliesslich auf c achten: die anderen Tone
wiirden nicht empfunden, konntcn also auch keine Gefiihlsver-
schiedenheit erzeugen. Es ware einerlei, welche'n der beiden
Zusammenklange
m^
ich angebe, wenn beidemale c^ fixirt wird. Da bei Solovor-
triigen ohnedies die Aufmerksamkeit der Solostimme zugewandt
ist, konnte diese mit beliebiger Begleitung gespielt werden: sie
bliebe Solo im wortlichsten Sinne. In demselben -Moment, wo
wir etwas von der Begleitung zu erliaschen suchten, wiirde der
Ton des Sangers zerrissen, vernichtet.
c) Woher der Unterschied fiir das Gefiihl, jenachdem ich
d nach c oder zugleich mit c angebe? Nur im letzteren Fall
entsteht Disharmouie. Nach der Hypothese ist aber das Horen
in beiden Fallen ein successives. Sollte etwa die Schnelligkeit
32 § 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
des Wechsels den Unterschied machen? Aber wir kouneu aucli
den objectiven Wecbsel beliebig rascb vollzieheu. Hiebei ent-
stelit allerdings bei ausserster Rascliheit des Trillers eine Art
Disbarmoniegefiihl, aber eben dies weist darauf bin, dass eine
wesentlicbe Anderung in der Empfindung vorgebt, welche da-
durcb erklarbar wird, dass jetzt durcb objectives oder subjec-
tives Nacbklingen die Tone gleichzeitig werden. Und andrer-
seits konnten wir ja den Wettstreit, wenn er sicb obne Wil-
lenseinfluss etwa sebr rascb voUziebt, ex bypotbesi willkiirlich
verlaugsamen , somit aucb in dieser Ricbtung beide Falle fiir
die Empfindung vollig gleicb macben.
Es gibt wol wenige aestbetiscb so widerwartige Dingfi, als
es der Wettstreit der Farben ist. Ein so mu'einlicbes, regellos
fliessendes Cbaos ware aucb jeder Dreiklaug. Wer mochte auf
das Wettstreitspbaenomen beim Auge eine Kunst griinden?
. d) Die Entstebung von Scbwebungen (auf welcbe vielleicbt
Einer in den vorigen Scbwicrigkciten recurriren mocbte, zumal
da sie sclbst als eine Art von Wettstreit erscbeinen) ist, ge-
nauer betracbtet, mit dem Wettstreit unvertraglicb. Scbwebun-
gen sind in crstcr Linie periodiscbe Intensitatsscbwankungen in
Folge der Combmation gcwisser Tone. Man kann sicb ibr Zu-
standckommen nur so vorstellen, dass irgendwo im pbysiolo-
giscbcn Gebicte die zwei Erregungen, welcbe scbwebenden To-
nen (z. B. c und cis) entsprecben, gcgen die sonstige Rcgel
aufeinander einwirken; uiid dies nicbt in der Weiso dass die
resultirende Erregung sicb alternirend aus beiden zusammen-
setzte, und jetzt bios die c-, dann die cis-, dann wieder die c-
Erregung stattfiinde: sondern in jedem Augenblick miissen beide
vereinigt sein, so wie objectiv die Einzelwellen in der einbeit-
licben Gesammtwelle vereinigt sind. Nun obliegt es allerdings
aucb der Ansicbt I, zu erkliiren, warum Solcbes nur unter ge-
wissen Bedingungen, bei relativ nabeliegenden Tonen, eintritt.
Aber es ist danach nicbt von vornberein die Moglicbkeit aus-
gescblossen, deu Scbwebungs-Erscbeinungen gerecbt zu werden.
Es ist mit I nicbt gesagt, dass in alien Fallen der objectiven
Mebrzabl von Tonen mebi'ere Touempfindungen entsprecben
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 33
miissen, sondern iiur dass uberliaupt mehrere zugleicli statt-
habeii konnen. Es ist ferner Nichts dariiber gesagt, wie sich
die vieleu Empfiiidungen, weim sie vorhauden siiid, zu einander
verhalten, ob sie, bez. die ihnen zu Gruiide liegenden Nerven-
vorgange, allezeit ungestort und ohne gegenseitigen Einfluss zu-
sammensein konnen. Hingegen die Annahme eines Wettstreites
scheint von vornherein mit deni Vorkonimen von Scliwebungen
ini Widersprucli, da ja die entsprechenden Vorgange hiernach
iiberbaupt nicht gleicbzeitig existiren und somit auch nicht sich
gegenseitig verstarken und schwacheu konnen.
Man konute auf die Ausflucht verfallen, die Entstehung des
Wettstreits gar nicht im physischen Gebiet sondern erst im Be-
wusstsein zu suchen, wahrend man die Schwebungen physiologisch
begriindet diichte. Aber abgeseheu von allgemeineren Bedenken
wiirde solche Ausflucht schon durch ihre Willkiirlichkeit sich
verbieten. Man miisste dann auch die Schwebungen rein psy-
chisch interpretiren und dann wiirde die ganze Aporie wieder-
auftauchen.
e) Man ware nach III auf keine Weise im Stande, durch das
Gehor den exact gleichzeitigen Anschlag zweier Claviertasten zu
controliren. Die Clavierlehrer batten keinen Grund, darauf so
erpicht und iiber das Arpeggiren so erziirnt zu sein. Factisch
controlirt dies aber der Horer mit ausserordentlicher Feinheit.
f) Wenn ein Musiker Beispiele wie das sub a) unmittelbar
nachher niederschreiben kann (was feststeht), so miisste er alle
Noten in der Weise gehort haben, dass die Aufmerksamkeit
aufs Schnellste zwischen ihnen bin- und herrannte, ohne eine
davon zu versaumen. Es sei dies moglich: aber in welcher Auf-
einanderfolge wiirde er sie denn horen und nach welchen Kriterien
aus der blossen Succession das Notenbild construiren? Sehr viele
Reihenfolgen sind denkbar, z. B. folgende:
P=r=q
— I — I — I — . — 0. — p.- 1 — __| — I — p—\ — I
Stumpf, Tonpsychologie. n.
34 § 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
Woher erfiihrt nun der Horer schon das Eine, dass es sich
nicht wirklicli um eine unbegleitete Figur von dieser Form
handelt? Die dicken Kopfe, durch welclie wir die Melodie vor
der Begleitung hier fiir das Auge auszeichneten, zeichnen sicli
fiir seine Gehorsempfindung nicht aus. Und wemi nun das
Ganze, ein zweites Mai gespielt, eine andere Figur im Wett-
streit gibt: warum identificirt er es? Will man vielleicht sagen,
die Figur sei fiir eine bios melodiscbe zu ungewohnlicli, und
die Erfabrung babe uns gelebrt, derartige sprungbafte Erschein-
ungen auf objective Gleicbzeitigkeit zu deuten, so ware es eine
Kleinigkeit, Beispiele zu ersinnen, die entsprecbend aufgelost
ganz annebmbare melodiscbe Wendungen geben. Oder will
man darauf binweisen, dass die Begleitungstone beim Clavier
nur im ersten Moment gleicbstark mit den Melodietonen sind,
sich also, wenn sie erst nacb diesen im Wettstreit auftaucben,
durch. ibre Schwache kennzeicbnen , so kaun man das Ganze
durch drei Violinen auffiihren lassen und die Starke wird con-
stant bleiben.
Fiir die Annahme I wird die Tbeorie der Stimmentrennung
durch das Gebor auch nicht in alien Fallen leicht. Aber im
obenerwahnten Beispiel wird das Kriterium fiir die Trennung
der Stimmen einfach sein: die beiden unteren Tone werden
iinmer wahrend eines Tactviertels als liegenbleibende wahrge-
nommen, wenn auch nur nebenbei. Sie gehen nach Tempo und
Rhythmus ihren eigenen Gang.
g) Warum sollte die Tiiuschung, durch welche uns das
Aufeinanderfolgende gleichzeitig schiene, bei den Tonen so hart-
nackig, ja uniiberwindlich sein? Factisch wird sie doch auch
der Aufmerksamste und in sinnlicher Beobachtung Geiibteste
nicht ganz los, auch wenn er der Wettstreitslehre huldigt.
Sonst miisste er zum Mindesten ohne Schwanken sagen konnen,
in welcher Reihenfolge er die Dreiklangstone soeben gehort
hat. Es miisste sich auch eine gewisse Kegel finden lassen,
nach welcher beim unwillkiirlichen Wettstreit die Tone sich
folgen, etwa von der Hohe zur Tiefe oder umgekehrt; denn
die Kegel konnte hier wegen der Einheit der Dimension nur
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 35
eine ganz einfache sein (anders als bei den Farben). Nichts
von Dem. Die Tauscliung ist uniiberwindlich.
Nun kommen miiiberwindliche Tauschungen im Sinnesge-
biet wol vor, aber nur, wo es sich um absolut oder relativ
verscbwindende Empfinduugsmomente handelt (vgl. I 33; ferner
380: Tauscliung der Stille). So wurde denn zu Gunsten der
Hypotbese auf die Unwahrnebmbarkeit kleinster Zeitunter-
schiede nacb Bessel u. A. hingewiesen. Allein die Dinge liegen
in unserem Fall doch ganz anders. Dort bandelt sicb's um
scheinbare Gleichzeitigkeit zweier selbst nur momentaner (mini-
mal dauernder) Eindriicke, z. B. des Gesicbtseindrucks durcb
einen elektriscben Funken und des Geborseindrucks durcb einen
Glockenscblag, oder (innerbalb Fines Sinnes) der Geborseiu-
driicke zweier durcb den elektriscben Funken erzeugter Knister-
gerauscbe. Gebt die Zeitdistanz beider Eindriicke unter einen
gewissen Betrag, so wird das Ui*teil iiber die Zeitfolge unsicber.
Aber in unserem Fall bandelt sicb's nicbt um eine kleinste
Zeitdistanz momentaner Eindriicke, sondern um die Aufein-
anderfolge nicbt momentaner Eindriicke, zwiscben denen eine
Pause iiberbaupt nicbt zu existiren braucbt. Bei objectiver
Succession kann ein Ton obne die geringste Pause dem anderen
folgen: die Aufeinanderfolge wird wabrgenommen, wenn nur die
Dauer der Tone selbst nicbt zu kurz ist. Und so ist aucb
nicbt einzuseben, warum die angeblicbe Succession im Wett-
streit unwabrnebmbar sein miisste. Selbst wenn wir annebmen,
dass beim unwillkiirlicben Wettstreit jeder Ton nur momentan
auftrete, die Tone also in rapidestem Wecbsel durcb das
Obr stiirmten (was der Analogic mit dem tragen Farbenwett-
streit keineswegs entspricbt ^), so koimten wir docb voraus-
^) Wettstreit beim Auge hangt doch wol mit Ermudung zusammen,
wenn auch nicht bios yon dieser ab. Ermudung tritt aber beim Ohre,
abgesehen von den hocbsten Tonen, weit langsamer ein (I 18, 360 f.),
und so ware auch ein viel langsamerer Wettstreit hier zu erwarten.
Wollte man aber als Ursache desselben hier etwa die Aufeinanderfolge der
verschiedenen Wellenmaxima ansehen, deren jedes dem betreffenden
Ton das Ubergewicht verschaflfte, so miissten, von allem Anderen ab-
gesehen, tiefe Zusammenklange leichter als mittlere und hohe von
36 § 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
setzungsgemass durch den Willen retardirend einwirken, um
die einzelnen Tone nach Belieben zu beobacliten, und dann
miisste doch der Schein ihrer Gleichzeitigkeit in Nichts zerfliessen.
Wenn icli auf einen Oberton horche, so soil nach der An-
nahme der Grundton, obgleich starker als jener, vollig ver-
schwinden. Komme icb nun auf diesen zuriick, so soil die
Einbildung entsteben, dass er wahrend der gauzen Zeit in der
Empfindung fortbestanden babe. Man kann sicb aber diese
Frage scbon vorlegen, wahrend man den Oberton hort: und
warufla miisste auch dann die Einbildung entstehen? Vielleicht
weil scbon durch die Frage die Aufmerksamkeit wieder auf
den Grundton gelenkt und so dieser wirklich zuriickgefiihrt
wiirde? So nachgiebig sind die Empfindungen gegeniiber der Auf-
merksamkeit soust nicht; es bedarf immer einiger Zeit und
Anstrengung, um Empfindungen willkiirlich zu verandern, wo
und soweit dies iiberhaupt moglich ist, und speciell beim Wett-
streit der Farben kann man erfahren, dass sie keineswegs
augenblicklich dem Rufe folgen.
Die Ouvertui-e zum Sommernachtstraum beginnt mit einer
Fermate zweier Floten im Intervall der grossen Terz. Wir
wiirden den Klang als ein unstetes Wechseln, wie das Lauten
zweier Glocken horen. Wir glauben ihn aber factisch als un-
verandert ruhiges Zusammenkliugen zu vernehmen, genau so
ruhig wie den Klang Einer Flote. Und die Tauschung sollte
so uniiberwindlich soin, dass wir bei aller Aufmerksamkeit iiicht
dahinter kamen, was wir eigentlich horen?
Wenn ich jetzt einen Menschen sehe, dann einen zweiten,
dann wieder den ersten, so bin ich sicher iiberzeugt, dass dieser
iiizwischen fortexistirt hat, dass ich ihn also batte sehen konnen.
Aber ich erinnere mich doch ganz .deutlich, das's ich ihn nicht
wirklich gesehen babe. Dagegen glauben wir uns ganz deut-
lich zu erinnern, dass wir die beiden Tone die ganze Zeit
wirklich gehort haben^).
gleichem Intervall analysirbar sein, da die Wellenkopfe sich weniger
rascli folgen. Das Gegenteil tindet Statt.
V Hierin hinkt auch der Vergleich der Wettstreitslehre mit der
bei objectiv gleichzeitigen Tdnen, 37
Im zweiten Satz der 5. Symphonie Beethoven's (Partitur
Peters S. 22) halt die Clarinette den Ton es^ durch mehrere
Tacte, wahrend Viola und Cello eine bewegte Figur ausfiihren.
Ich habe bei einer Auffiihrung eigens darauf gemerkt: der ge-
haltene Ton erschien ganz ununterbroclien. Ebenso mag man
den Schluss des 3. Satzes derselben Symphonie (S. 46 f.), das
zweite (Clarinetten-)Thema der Freischiitz-Ouverture und zahl-
lose ahnliche Stellen vergleichen. ••
h) Wiirde ein kurz angegebener Accord nur successiv ge-
hort, so entfiele auf die Wahrnehmung der einzelnen Tone zu
geringe Zeit. Um einen Ton als hoher gegeniiber einem anderen
zu erkennen, bedarf es einer gewissen Zeit (I 216), welche sich
notwendig noch vergrossert, wenn wir die Tone so genau auf-
fassen sollen, dass sie wiedererkannt, nachgesungen , ihrer ab-
soluten Hohe nach oder ihrem Interval! nach bestimmt werden
konnen. Geben wir nun den 8 stimmigen Accord:
kurz abgestossen auf dem Clavier an, so ist d§r ^J^
geiibte Musiker im Stande, den ganzen Accord, Fa, ^^~~fF
wie er hier auf dem Papier steht, nach alien "-^ — w*r—
seinen Tonen zu bestimmen. Die Fahigkeit hat "^
ihre Grenzen in verschiedener Richtung, aber sie
besteht noch unter den angegebenen Umstanden. Haben wir
nun die acht Empfinditngen zugleich, so kommt auf jede die
ganze Dauer des Accords; und wenn diese Zeit auch nicht hin-
reicht, die sammtlichen Urteile zu bilden, so konnen wir doch
nachher gleichsam die Phonogramme der Empfindungen im Ge-
dachtnis mit Musse betrachten. Haben wir sie aber nacheinander,
so kommt au| jede nur ^/g jener Zeit, wahrend dessen sie ihr
Bild im Bewusstsein wahrnehmbar, wiedererkennbar entwerfen
muss. Dass diese Zeit ungenligend ist, liesse sich vielleicht
experimentell exact dartun; man wird sich aber dieser tlber-
oben angezogenen „Theorie der permanenten Moglichkeiten der Empfin-
dung'" hinsichtlich der Aussenwelt, die imUbrigen ihren Zweck auch keines-
wegs erfullt, aber ihn wenigstens in diesem Puncte nicht so ohnc Weiteres
verfehlt.
3/S! /? K-yj^ ^
gg § 16. Aporien in Bezug auf die Analyse
zeugimg schon in Beriicksichtigung der zum Anklingen sowie
zur Unterscheidung notigen Zeit kaum verscliliessen konnen,
denn die letztere ist ja imter alien Umstanden zur deutliclien
Einpragung in's Gedaclitnis erforderlich.
Noch Bin Beispiel. Im MENDELSSOHN'schen Streichquajtett
D dm op. 44 n. 1 kommt gegen Schluss des dritteu Satzes
folgende Stelle:
■ ^ = 126.
Viol. I.
Ijg-Lirfte^
2>P
bei objectiv gleichzeitigen Tonen. 39
Sie trat mir schon beim erstmaligen Horen vollstaudig und
durchsichtig vor das Bewusstsein; ich. glaubte sie in Noten vor
mir zu selien, ohne dass dieses vorher wirklich der Fall ge-
wesen war. Der Triller, welchen ein virtuoser Spieler rasend
sclinell ausfiihrte, erschien in ununterbrochenem Fluss neben
den gleichzeitigen rascben Figuren der Unterstimmen, und
diese wieder mit alien ihren gleichzeitigen Intervallen.
Ebenso vermag wol ein geiibtes Ohr die mit elfenahnlicher
Geschwindigkeit vorbeifliehenden Accorde der Holzblaser in der
Einleitung zur Oberon-Ouverture ohne vorherige Bekanntschaft
mit derselben deutlich aufzufassen. Ahnliches gilt von unzahligen
anderen Stellen, die man fast aus alien bewegteren mehrstimmigen
Stucken beliebig herausgreifen kann.
Soil vielleicht die Aufmerksamkeit oder der Wille hier in
der Weise rettend eingreifen, dass der Wettstreit willkiirlich
beschleunigt (wie frilher verlangsamt) wiirde? Aber man wusste
ja vorerst noch nicht einmal, ob von dem Ton aus, w.elcher
zunachst in's Bewusstsein trate, der Zusammenklang sich nach
oben oder nach unten oder nach beiden Seiten erstreckt, miisste
also zuerst probiren, nach welcher Seite bin neue Empfindungen
zu erhalten sind. Geschwindigkeit ist nach dem Sprichwort
keine Hexerei — hier ware sie's doch.
§ 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
Losung der Principienfragen. .
,,How come we to notoce the simultaneous
differences at all? ... . This is the problem
of Discrimination, and he who will have
thoroughly answered it will have laid tire
keel of psychology."
W. James, Journ. of Spec. Phil. XIII 79.
1. Weg der Untersuchung.
Fiir jede der drei moglichen Annahmen liessen sich Ana-
logien und Griinde geltend machen. Dann aber zeigte sich
wieder jede mit anscheinend uniiberwindlichcn Schwierigkeiten
verkniipft. Man ist vielleicht versucht, Zollner zu beneiden,
wenn er einen durchgeschlungenen und versiegelten Faden
fiir losbar durch eiue neue Dimension erachtete. Die Annahme
40 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
neuer Dimensionen des Wirklichen zur Erklarung der Er-
scheinungen war doch wenigstens nicht von vornherein ab-
surd: hier dagegen, wo wir es nur mit der Beschreibung der
Erscheiimngen selbst zu tun haben, fanden wir auch diesen
Sprung in neue Dimensionen des Tonreichs unstatthaft.
Bei der Disjunction der drei Ansichten wurde auf die Mog-
lichkeit hingewiesen, dass vielleicht keine derselben ausschliess-
lich, wol aber jede oder doch zwei davon unter verschiedenen
Umstanden zutrafen, dass z. B. in gewissen Fallen Einheit, in
anderen Wettstreit stattfande. Wenn man jedoch die Argu-
mente durchgeht, die gegen jede dieser Ansichten gerichtet
wurden, so wird man finden, dass die meisten Griinde, wenn
sie iiberhaupt zwingend sind, die bezugliche Ansicht unter alien
Umstanden unmoglich machen.
Dagegen wird man bei einer solchen vergleichenden Durch-
priifung wahrnehmen, dass die Kraft der Beweisfiihning doch
nicht iiberall eine vollig zwingende, dass die Verschanzungen
ringsum nicht in alien Puncten gleich fest sind, und dass
speciell die Argumente gegen I nicht bios der Zahl sondern
auch der Beschaffenheit nach hintcr den iibrigen zurlickstehen.
Hingegen scheint mir alles gegen II und III Vorgebrachte
unwiderleglich und damit bercits ein indirecter Beweis fur I
geliofcrt. Diese erste allgemeinste und njichstliegende Annahme,
welche auch Helmholtz sowol seiner iiltcren als neueren Theorie
zu Grundc legte, halte ich fiir die richtige. Aber die gegen-
iiberstehenden Zweifel machen nahere Bestimmungen notwendig.
Wir werden also das, was fiir II und III (und damit indirect
gegen I), ferner was direct gegen I zu sprechen schien, zu ent-
kraften suchen und dabei zugleiclj auf genauere Bestimmungen
dieser Anschauung stossen, die in spateren Paragraphen weiter
entwickelt werden sollen.
2. Entkraftung der Griinde fiir die Einheitslehre.
Fiir diese (II) schienen dieAussagen vieler Unmusikalischen
und ihre grosse Unfahigkeit zur Analyse zu sprechen. Allein es
kommt sehr darauf an, welches Intervall die zusammenklingenden
Tone bilden. Nonen, Septimen, Secunden in mittlerer Lage
Losung der Principienfragen. 41
werden auch von Unmiisikalischen fast ausnahmslos als eine
Mehrheit von Tonen crkannt. Die Unfaliigkeit zur Analyse
erscheint nur darum so auffallend, well man dabei fast immer
Dreiklange oder Einzelklange mit nachstliegonden harmonisclien
Obertonen als Beispicle im Sinne hat, welche allerdings scliwerer
zu analysiren sind. Gibt es abcr in dicscr Hinsiclit Unter-
schiede je nacli dem Material, so fallt die Kraft des Argu-
ments; denn nun entstcht.die Aufgabe, zunachst diesc EinflUsse
zu untersuchen, und blcibt die Moglichkeit, dass dieselben aucb •
oder nur von einem andcren Standpuncte als II begriffen
werden konnen.
Man muss aucb nicht glauben, dass es Unniusikalischen
unmoglich ware, Obertone wahrzunehmen; eine Bebauptung die
vielfach verbreitet ist. Zuweilen werden Obertone sogar auf-
fallend leicht und sicher wahrgenommen, besonders von Solchen,
die in sinnlicher Beobachtung im Allgemeinen geiibt -sind und
die im gegebenen Fall ibrc Aufmerksamkeit gerade wegen des
Mangels musikalischer Gefiihle ganz der Natur des einzelnen
Klangpliaenomens in sieb selbst widmen konnen (vgl. I 315). Und
wiederura koramt es auch bier nicht nur auf die Starke sondern
. auch auf das Intervall dos Obcrtons zum Grundton an.
Es wurde ferner fiir II geltend gemacht, dass ein Zu-
sammenklang doch starker klingc als jeder Teilklang fiir sicb
allein, was imr aus II sicb begreife. Wir miissen auch diesem
Argument in Bezug auf das Tatsachliche entgegentreten : der
Zusammenklang ist nicht starker als jeder Teilklang. Die ge-
wohnliche Meinung riihrt von eijier Reihe von Nobenumstiinden
her, die in der Musik durchschnittlich beim Zusammenspielen
auftreten, fiir das- Experiment aber beseitigt werden miissen.
Man versuche nur am Clavier eine einzelne Taste und dann
einen Accord, z. B. c^ und dann c* e^ //^ mit moglichst gleicher,
z. B. geringstmoglicher, Kraft der beteiligten Finger anzu-
schlagen, und frage sicb, ob im letzteren Fall ein starkerer
Gesammteindruck rcsultirt oder nur etwa ein vollercr. Man
wird dann wenigstens zugeben, dass aucb hieriiber eine nahere
Untersuchung notig ist.
42 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
3. Entkraftung der'Griinde fiir die Wettstreits-
lehre.
Fiir diese (III) liess sich anfiihren, dass Musiker und Nicht-
musiker so zu gleichen Teilen Recht erhielten und die indi-
viduellen Unterschiede selbst durch die Analogie init dam Farben-
wettstreit begreiflicher wiirden. Allein wir horten soeben, dass
schon das Verhalten der Nichtmusiker keineswegs in alien
Fallen liber Einen Leisten gescblagen werden kann, sondern
in seiner Verschiedenlieit aus wechselnden Umstanden erklart
werden rauss. Die Analogie des Farbenwettstreits verliert schon
dadurch an Wert, dass sie auch das gelegentliche Vorkommen
wirklicher Mischungen oder Zwiscbenempfindungen erwarten
lasst, wahrend solche bei Tonen, wenn wir Zusammenklange
ausserst naheliegender Tone ausnehmen, nie und nirgends
nachgewiesen sind.
Noch' besondere Erscheinungen deuteten auf Wettstreit: die
Unrube in Klangen und Accorden, das Hervortreten gewisser,
namentlicb boherer Tone, und die Benutzung gebrocbener
Accorde. Jene Unrube orkliirt sich indess, wenn nicht aus
unrubiger Tongebung, aus den Scbwebungen, welcbe besonders
bei dissonanten, aber auch einigermassen bei den meisten (auf
temperirtcn Instrumenten sogar alien) consonanten Accorden,
endlicb aucb bei Einzelklangen durcli die einander nabeliegen-
den Obertone entsteben. Die Scbwebungen selbst aber sind
nicbt im Sinne des Wettstreits zu interpretiren , vielmehr, wie
wir saben, mit einem solcbeu unvcrtraglicb. tlbrigens lassen
sich auch vollkommen rubige Zusammenklange berstellen. Jeder
gute Geiger mag die fP-Saite zuerst allein und dann mit
der hoheren Octave oder auch mit der reingestimmten a*-Saite
zusammen gleicbmassig streichen und zuhoren, ob der Klang
unrubiger wuxl, ob ctwas dem Durcheinander des Farbenwett-
streits Analoges zum Vorschein kommt. Noch iiberzeugcndcr
werden auf Rcsonanzkasten befestigte mit demBogen gcstrichenc
Stimmgabeln wirken. Jede Spur von Unruhe im Zusammenklange
ist bier getilgt. Sie verklingen in absoluter Gleichmassigkeit.
Dass wir gewisse und besonders bohe Tone leichter her-
Losung der Priucipienfragen. 43
aushoren, erklart sicli aus der Gewohnheit, auf die meistens
in der Hohe liegende Melodie zu achten; und dass die Melodie
meist in der Hohe liegt, hat verschiedene Griinde, so die
grossere Empfiudungsstarke und grossere rehitive Unterschieds-
empfindlichkeit in der hoheren Region.
Die gebrochenen Accorde endlich sind historisch aus un-
gebrochenen entstanden, als man das Bediirfnis fiihlte, den ein-
fcirmigen Zusanimenklangen, mit welchen der Sologesang be-
gleitet wurde, durch Figuration ncuen Reiz zu geben. Die
Einfiihrung der Laute als Salon- und Soloinstrument gab dann
wol neucn Anstoss. Aus den anfanglich einfachsten Brechungen
(ALBERTi'schen Bassen, Brillenbassen u. s, w.) haben sich durch
jenes aesthetische Bediirfnis mit fortsehreitender Technik immer
manichfaltigere entwickelt. Aber beliebig an jeder Stelle zu
arpeggiren, gilt auch heute keineswegs fiir erlaubt, obgleich die
Unsitte selbst von grossen Clavierspielern , dcnen die Finger
prickeln, leider nicht hinlanglich vermieden wird. Die Era-
pfindlichkeit des guten Geschmacks und die scharfe Controle
des Ohres in dieser Hinsicht zeugen, wic bereits erwahnt wuide,
geradezu gegen die Wettstreitshypothese.
So erweisen sich deun alio als positive Stiitzc fiii' II und
III anfiihrbaren Griinde als hinfallig, und damit .erlangt zu-
gleich die Annahme I (Mehrheitslehre) , die schon durch die
Widerlegung der beiden andcrcn im vorigen § indirect etablirt
ist, cine neue Stiitze. Es eriibrigt, die gegen sic selbst vorgc-
brachten Griinde zu entkraften.
4. Losung des ersten Argumontes gegen die Mehr-
heitslehre.
Dasselbe fusste auf dem Satze, dass mehrerc glcichlocalisirte
Empfindungen Fines Sinnes nicht gleichzeitig gcgeben sein konnen.
Dieses Argument hat von vornherein keine Kraft unter
der von den Meisten gebilligten Voraussctzmig, dass den Tonen
an und fiir sich in der Empfindung gar kein Ort zukomme,
dass vielmehr die Orte, an welche der erwachsene Mensch sie
verlegt, sammtlich nur associirte Vorstellungen sind, die dem
Gesichts-5 Tast- oder Muskelsinn angehoren oder durch sie
44 § I'''. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
irgendwie vermittelt werden. Ein Ton scheint uns einmal im
Ohr, ein anderinal im Hinterkopf, im ganzen Schadel, im ob-
jectiven Luftraum oder in einem Instrument, auch wol in der
Kehle des Sangers zu sitzen, aus der er zuweilen „nicht heraus-
kommcn will": Vorstelliingen des Gesichtssinnes, welche wir
nach * unserer erworbenen Kenntnis vom Ursprungsorte des
Tones damit verbinden. Tritt man dieser empiristischen An-
sicht in ibrer allgemeincn Fassung bei, so liegt eine Schwierig-
keit fiir unsere Frage gar nicht vor. Denn das Princip des
obigen Argumentes konnte doch, wenn iiberhaupt, nur fiir die
Falle gelten, wo die Localisation den Empfindungen urspriing-
licb und in sicb selbst anbaftete. Wie sollte ein zur Empfindung
bios ausserlicb hinzukommendes, associirtes Merkmal ein Hinder-
nis ibrer qualifativen Unterscbeidung werden? Die Fahigkeit
zur letzteren hat nach den Grundannahmen der empiristischen
Kaumlehre mit der Localisation nichts zu tun und geht der-
selben sogar vorher. Auch beim Gesichtssinn nimmt ja der
Empirismus an, dass die durch Reizung der Netzhaut gleich-
zeilig erregten Farbenempfindungen ursprlinglich als eine blosse
Summe raum- und ortloser Qualitaten im Bewusstsein bei-
sammen seien und erst spater in Folge gewisser damit ver-
bundener Nebeneindriicko raumlich ausgebreitet und geordnet
wiirden. Damit dies geschehe, miissen sie aber bereits qualitativ
unterschieden sein.
Geht man von der nativistischen Voraussetzung aus, wo-
nach jeder Ton notwendig und urspriinglicb an einem Ort er-
scheint, der ihm ebenso wie Qualitiit und Starke als ein
immanentes Moment zukommt, so ist soviel klar, dass dieser
Tonort jedenfalls nicht in der Weise veranderlich sein kann,
wie der Ort einer Farbe im Gesichtsfeld. Dieselbe Farbe
crscheint rechts oder links je nach der getroffenen Netzhaut-
faser. Im Ohr wird entweder (nach alterer Annahme) immer
der ganze Nerv erregt oder doch (nach Helmholtz) immer die-
selbe Faser von demselben Ton. In beiden Fallen ist keine
selbstandige Ortsveranderung moglich. Hiernach bleiben zwei
Wege fiir den Nativisten: er kann
Losung der Principienfragen. 45
a) jedem Ton desselben Ohres eiueu besonderen aber un-
veranderlichen Ort in der Empfindmig zuschreiben, wie jeder
Ton objectiv auf dem Clavier mid mutmasslich im inueren Obr
seinen besonderen Ort besitzt. Die raumliche Ordnung der
Tone wiirde dann immer mit der qualitativen zusammenfallen
und eben deswegen ignorirt werden. Audi fiir diese Annahme
wiirde offenbar die obige Schwierigkeit hinwegfallen: Melirheit
gleicbzeitiger Tone ware moglicli, da sie ja verscbieden localisirt
waren. Der Nativist kann aber auch
b) den sammtlichen Touen, wenigstens denen des nam-
licheii Ohres, Einen geineinsamen unveranderlichen Ort zu-
schreiben. Unter dieser, aber auch nur unter dieser ganz
speciellen Voraussetzung konnte das Princip des Arguments An-
wendung finden im Sinne des Arguments.
Lasst man dabei fiir das rechte und linke Ohr noch eiue
verschiedene Ortsempfindung bestehen, so muss man es auch
fur moglich halten, dass ein Ton im rechten und ein anderer
Ton im" linken Ohr strong gleichzeitig empfunden werden. Fiir
diesen besonderen Fall hatten wir also doch gleichzeitige Tone.
Muss man aber dies zugestehen, so fuhren die Tatsachen
weiter: d^nn es ist kein wesentlicher qualitativer Uuterschied
zwischen dem Eindruck, welcher durch gleichzeitige Zuleitung
verschiedener Tone zu beiden Ohren entsteht, und dem Eindruck,
den dieselben zwei Tone auf Ein Ohr machen. Nur von
Schwebungen und Combinationstonen muss abgesehen oder sie
miissen ausgeschlossen werden.
Man halte zu diesem Zwecke etwa eine c^-Gabel vor das
eine Ohr und eine ^^-Gabel vor das andere; hierauf beide
Gabeln vor ein und dasselbo Ohr. Wenn auch die Schwingungen
der linken Gabel sich durch den Kopf schwach bis in's rechte
Ohr fortpflanzen und umgekehrt, sodass jedem Ohr doch auch
der Ton des andereii, wenngleich viel schwacher, dargeboten
wird: so kann einesteils diese tibertragung durch Herstellung
schwacherer Tone so gut wie vollig ausgeschlossen werden,
andernteils konnen ja nach keiner Theorie die Tonempfindungen
in beiden Ohren identisch ausfallen, wenn sie sich'im einen
46 § 17. Mehrheit gleichzeitlger Tonempfindungen.
Ohr aus einem schwachen c^ und einem starken g\ im anderen
aus einem starken c^ und einem schwachen (/^ in welcher Weise
auch immer, zusammensetzen. Unterdriickt aber der starkere
den schwacheren, so horen wir eben einerseits nur c', andrer-
seits nur g^. Es kann also nichts an dem Zugestaudnis geandert
werden, dass wir liier beiderseits verschiedene Tone empfinden,
die ex hypotliesi in der Emplindung auch verschieden localisirt
sind. Somit steht sicher nichts im Wege, dass sie streng gleich-
zeitig geliort werden.
Mag man nun die Eindriicke in beiden Fallen vergleichen:
c^ und ^r^ an beide Ohren verteilt, dann c^ und ^^ in einem
und demselben Ohr. Man wird zugestehen mlissen, dass kein
wesentlicher Unterschied des sinnlichen Eindrucks besteht,
insbesondere auch kein Unterschied in Hinsicht der Einheitlich-
keit und Ruhe des Eindrucks; dass es also nicht augeht, fiir
den einen-Fall wirkliche Gleichzeitigkeit, fiir den anderen Fall
Wettstreit oder einen ganz neuen einheitlichen Ton zu sta-
tuiren. Somit fuhrt obige Form des Nativismus vielmehr dazu,
das Princip des Argumentes zu bestreiten.
Der Gegner miisste sich also auf die abgeschwachteste
Form des raumlichen Nativismus zuriickziehen , wonach auch
selbst die Tone des rechten und linken Ohrs nur Einen ge-
meinsamen Ort in der Empfinduug besassen: dann allein konnte
er das Princip des Arguments ohne Inconsequenz durchfuhren
und aus diesen beiden Praemissen die Unmoglichkeit gleich-
zeitiger Tonempfindungen dartun.
Diesem Standpunct gegeniiber miissen wir, was bisher nicht
notig war, die Berechtigung des Princips selbst untersuchen.
Auf welchem Wege leuchtet es denn ein, dass gleichzeitige
Empfiudungen Fines Sinnes notwendig verschieden localisirt
sein miissen? Lasst es sich deductiv aus irgend einer physio-
logischen oder psychologischen Wahrheit ableiten? Schwerlich.
Wenn Empfindungen verschiedener Sinne gleichzeitig sein konuen
ohne Verschiedenheit der Localisation, warum nicht auch Em-
pfindungen desselben Sinnes? Welcher Grund zwingt zu solcher
Beschrankung? Was ist iiberhaupt „Ein Sinn"? Doch nichts
Losung der Principienfragen. 47
Anderes als eine Classe von Empfiudungen, die unter einander
qualitativ in liervon'agendein Masse gleichartig siud^). Der'
tiefste und hochste Ton sind einander immer noch ahnlicher
als jeder von ihnen einer Farbe. Aber wenn wir Tone und
Farben absolut unvergleichbar nennen, so.liegt dies wol nur
daran, dass uns noch ungleichartigere Empfindungen eben nicht
bekannt sind. Sonst wiirden wir, denke ich, aucb da nur eine
relative Ungleichartigkeit statuiren, ebenso wie wir dies ohne
Zweifel innerhalb der sogenannten niederen Sinne tun miissen.
Bei welcbem Masse von Ungleicliartigkeit nun soil die Mog-
lichkeit gleichzeitiger gleichlocalisirter Empfindungen beginnen?
und aus welchem Grunde soil "gerade in dieser Hinsicht eine
absolute Grenze unter den „Sinnen" gezogen werden?
Vielleicht liegt die Sache so, dass bei den Sinnen ausser
dem Gebor nur die Vorbedingungen in der Reizung oder ini
Organ feblen, um mehrere gleichlocalisirte Empfindungen zu-
gleich zu erzeugen. Vieles liesse sich dafiii' sagen. Oft lassen
sich z. B. zwei Reize nicht auf derselben Stelle anbringen, ohne
sich schon objectiv in einer Weise zu mischen, die jede Wieder-
zerlegung ausschliesst; oder es wird ein zusammengesetzter
Reiz vom Organ nicht zerlegt, weil eine entsprechende Vor-
richtung, wie sie beim Ohre voraussetzlich die Basilarmembran
bildet, fehlt, und in Einer Faser nicht mehrere Processe un-
vermischt verlaufen konnen u. s. f.
Man kann erwidern, dass wir zwei gleichlocalisirte. Quali-
taten desselben Sinnes auch nicht einmal in der Phantasie als
gleichzeitige vorstellen konnen, dass also eine allgemeinere und
psychologische Unmoglichkeit vorliegen miisse. Hieriiber miisste
zuerst das Tatsachliche mit Sicherheit festgestellt werden, was
bei Fragen iiber die Phantasie bekanntlich nicht leicht ist.
Behauptet doch z. B. Ward noch neuerdings geradezu, dass er
auf den dunklen Sternenhimmel sehend sich Sonnenschein dazu
vorstellen konne, dass man Uberhaupt zu beliebigen Empfin-
dungen Beliebiges imaginiren konne! Ich f\ihre dies nur als
^) Andere Merkmale soUen damil nicht ausgeschlossen seiu; doch
wird dieses wol als das entscheidendste gelten miissen.
48 § 17. Mehrheit gleichzeitiger f onempfindungen.
Beleg fiir die hier noch vorlianclenen Meinuugsdifferenzen der
Beobachter an, ohue -es damit selbst zu unterschreiben.
Aus allgemeinereu Griinden diirfte sich also das Princip des
Argumentes vorlaufig uicht ableiten lassen. Konnen wir nun
rein inductiv, ohne Einsicht in den Zusammeuhang, in die Be-
dingungen der Sacbe etwas bei vier Sinnen Gefundeues als
Gesetz hiustellen und den fUnften causa incognita danacb ricbten?
Gewiss nicbt. Und wenn nocb die Tatsacben bei den iibrigen
Sinnen unbestritten waren. Aber z. B. HERUsra bebauptet, dass
man bei Berlibrung einer warmen Hautstelle mit der kiiblen
Hand, oder der beiden ungleicb temperirteu Hande mit einander,
Warme und Kalte zugleicb an gleicbem Ort fiible^). Gabe es
aber aucb keine eiuzige negative Instanz: eine Induction lasst
sich nicbt macben, wo so viele Verdacbtsgriinde vorliegen, dass
das entsprecbende Yerbalten nur in speciellen Einricbtungen
griinde. Es bleibt dem Scbluss bocbstens die Bedeutung einer
Analogic.
Aber nicbt einmal als solcbe kaun er ein erbeblicbes
Gewicbt beansprucben. Verbielten sich die verscbiedeneu Sinne
;■) Herm. Handb. Ill, 2, 437. Hering citirt auch E. H. Weber fur
diese Meinung ; doch hat Letzterer sie nicht ganz in dieser Weise aus-
gesprochen. Auch Czermak glaubte, als er die Enden eines kalten
und eines warmen Stabchens so nahe nebeneinander auf die Haut setzte,
dass ihre Ortsverschiedenheit unwahrnehmbar wiirde, an Einer und der-
selben Stelle Warm und Kalt zugleich wahrzunehmen. Klug bestatigte
dies, fand aber auch, dass die Feiuheit der Ortswahrnehmung selbst mit
dem Temperaturunterschied der Stabchen wachst. (IIerm. Ildb. Ill, 2,
438). In Ankntipfung hieran konnte man allerdings diese Falle auch so
deuten, dass nicht eigentlich gleichlocalisirte sondern nur solche Em-
pfindungen vorlagen, dereu Ortsunterschied augenblicklich nicht bemerkt
wurde. Ich mochte nicht einmal die obige Beobachtung IIering's dahin
auslegen, dass die beiden Temperaturempfindungen wirklich gleiche Ort-
lichkeit im nativistischeu Sinne besassen; da wir die Kenntnis von der
Lage unsrer Glieder sicherlich nicht den Beriihrungsempfindungen als
solchen allein verdanken, die ja bei jeder beliebigen Lage eines Gliedea
die namlichen sind. • Aber Ausserungen dieser Art sind doch insofern
bezeichnend, als daraus hervorgeht, dass man das fragliche Princip nicht
allgemein fiir einleuchtend halt.
• Losung der Principienfragen. 49
erfahrungsmassig durchgelieiids ocler in den meisten Puncten
einander analog — dann wol. So aber zeigen sicli Besonder-
heiten auffallendster Art fast bei jedem Sinne; und namentlich
verlialten sich Gesicht und Gehor in vielen wesentlichen Puncten
keineswegs parallel. Fechner hat ihre Abnlichkeiten und Ver-
schiedenheiten ausfiihrlicli zusammengestellt (El. II, 267 f.).
An der Tabelle wiire nach dem beutigen Stand der Siuneslebre
Vieles zu andern, aber der Verschiedenheitspuncte diirften es
niclat weniger werden. Tone haben Eine Dimension, Farben-
qualitaten, wenn man da iiberhaupt von Dimensionen reden will,
mehrere. Tone zeigen eine qualitative Steigerung, Farben nicht
oder nur innerhalb gewisser Grenzen, niclit z. B. von Blau nach
Gelb. Der Contrast, der simultane wie successive, spielt bei
Farben eine miichtige Rolle; jede Farbenemptindung ist mehr
oder weniger davon beeinflusst. Bei Tonen ist bis jetzt, abge-
sehen von Tauschungen der blossen Auffassung, iiberhaupt
Nichts davon beobachtet; ein Ton mag gelegentlich tiefer
scheinen, wenn ein lioherer ihm vorausging, aber das feiue Ge-
bor erkenut ihn als genau denselben wie im uragekehrten Falle
(oben I 20). Nachhilder treten beim Auge kraftig und an-
haltend auf und unterlicgen bostimmten qualitativen Umwand-
lungen: beim Ohr sind nur selten und untor besonderen Um-
stiinden Nachempfindungen bemerklich und dann fast immer
von glcicher Hohe wie die Anfangsempfindung (I 212, 278).
Schwebungen finden sich nur beim Ohrc; der Wettstreit der
Sehfelder ist kein Analogon, da Schwebungen nicht in QualitLits-
sondern in Intensitatsschwankungen bestehen, iiberdies am
stiirksten oder ausschliesslich innerhalb Eines Ohres zu Staude
kommen. (Tone des rechten und des linken Ohrs geben nur
dann Schwebungen, wenn sie in's entgegengesetzte Ohr hin-
iiberklingen.) Consonanz und Dissonanz finden sich bei Tonen,
nicht bei Farben. Wie man sich auch bemiihe, die sogenannte
Farbenharmonie mit der Consonanz in Parallele zu bvingen,
die Parallele bleibt eine gewaltsame, erkiinstelte; wie* schon
die Tatsache lehrt, dass geringe Abweichungen von der Con-
sonanz die grosste Dissonanz erzeugen, wahrend die Farben-
Stuinpf, Tonpsychologle. II. 4
50 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
harmonie durch geringe Andemngen nicht oder nur wenig ge-
stort wird. Uberdies besteht Cousonauz gar nicht in der An-
nehmlichkeit, wie wir spater ausfiihrlich zeigeu werden.
So ist es auch eine Eigentiimlichkeit der Tone gegeniiber
den Farben, dass sie ausdehnungslos, oder jeder in immer
gleicher Ausdehnung, empfunden werden; dass sie ferner,
wenigstens nach der Ansicbt, auf Grund dcren wir jetzt dis-
cutiren, stets auch mit gleichbleibender Ortsbestimmtheit em-
pfunden werden. Diese Ansicht selbst also bezeugt es uns,
dass man sich auf Analogien anderer Sinne nicht verlassen
kann. Warum sollte es nun nicht auch als eine Eigenheit des
Tonsinnes gelten, dass mehrere Tone, ohne verschieden localisirt
zu sein, gleichzeitig im Bewusstsein gegenwiirtig sein konnen?
Unter so vielen Besonderheiten kann die Eine nicht mehr
Wunder nehmen.
Speciell Demjenigen, der auf das fragliche Argument hin
sich zur Annahme eines Wettstreits der Tone veranlasst sieht,
lasst sich noch entgegenhalten, dass solcher Wettstreit, wie er
hier stattfinden miisste, doch auch nur sehr geringe und zweifel-
hafte Analogien in andern Sinnen hatte, und sich von dem
einzig sicher constatirten, dem Wettstreit der Sehfelder, bei-
nahe in alien Stiicken unterscheiden wiirde; wie wir dies oben
gesehen haben.
5. Excurs iiber die riiumlichen Eigenschaften der
Tonempfindungen.
Von dieser Frage suchten wir uns, da sie ihre besonderen
Schwierigkeiten hat, im Vorangehenden unabhangig zu machen,
indem wir zeigten, dass aus keiner der denkbaren Ansichten
iiber die Localisation der Gehorseindriicke ein durchschlagen-
des Bedenken gegen die Vielheit gleichzeitiger Tone in der
Empfindung erwiichst. Nachtraglich aber wollen wir auch iiber
die Localisationsfrage selbst und iiber die riiumlichen Eigen-
schaften der Tone iiberhaupt eine bestimmtere Ansicht be-
'griinden, womit dann zugleich derjenige Teil der vorigen Argu-
mentation, welcher nicht bios ad hominem gelten soil, .in den
Vordergrund geriickt wird. Doch gehen wir nur insoweit auf
Losung der Principienfragen. 51
die raumliclien Eigenschaften der Tone ein, als es der Zu-
sainmenliang des vorliegenden Werkes verlangt ^),
Gegeben siud uns nur die raumlicheu Auffassungen oder
Urteile. Die Frage ist: beruhen sie auf raumliclien Eigen-
schaften der Tonempfindungen selbst, die ihnen in analoger
We'ise immanent waron, wie ihre Stiirke imd Qualitat, oder
beruhen sie auf anderen bios begleitenden Empfindungen, aus
deren Verkniipfung mit den Tonempfindungen durch irgend
einen psychologischen Process die riiumliche Auffassung der
letzteren sich entwickelt?
Die Fragestellung ist dieselbe wie beim Gesichtssinn (Nati-
vismus — Empirismus). Wir antworten wie dort : Die erste und
unentbehrliche Grundlagc fiir die raumliche Auffassung der
Tonempfindungen liegt in ihnen selbst, in einem immanenten
Moment derselben. Ob wir es geradezu als ein raumliches be-
zeichnen wollen, ist secundar; genug, dass es neben Qualitat
(Hohe) und Intensitiit als ein drittes genannt werden muss, um
die Tonempfinduug vollstiindig zu beschreiben. Bezeichnen wir
es vorlaufig mit riiumlichen Ausdriicken, so ist weiter zu sagen,
dass es nur zwei Unterschiede des Ortes aufweist, welche den
Tonen des- rechten gegeniiber denen des linken Ohres eigen
sind, ausserdem aber zahlreiche Unterschiede der Ausdehnung,
welche im Allgemeinen parallel der Hohe der Tonqualitaten
jedes Ohres abgestuft sind.
Weitaus das Meiste in unsren raumlicheu Auffassungen der
Gehorseindriicke beruht allerdings auf hinzukommenden anderen
Sinnesempfindungen , reproducirten Vorstellungen und Erfahr-
ungen, ebeuso wie beim Gesichtssinn. Aber hier wie dort gibt
es ein geringes raumliches Grundcapital, auf welchem erst jener
reiche Besitz sich aufbauen kann.
Zunachst der Unterschied der Tonempfindungen des rechten
und linken Ohres erffibt sich aus Folgendem.
1) Der Frage sind in neuerer Zeit ausserst zahlreiche Untersuchuugen
und Experimente mit teilweise recht merkwiirdigen Ergebnissen ge-
■widmet. Ausfiihrliches anderwarts.
52 § 17. Mehrheit gleiclizeitiger Tonempfindungen.
Wenn wir die Augen scliliessen, konnen wir gleichwol
sageii, ob eine Tonquelle rechts ocler links liegt, sobald nur der
Starkeunterscliied des rechten und linken Eindruckes gross ge-
nug ist, Selbst bei einem 4^/2 jabrigen Kinde, dem icb eine
leise tonende Stimmgabel unter Beseitigung aller sonstigen An-
haltspuncte vor eines der Obren bielt, babe icb in alien Fallen
das Urteil ricbtig und vollkommen sicber gefunden. Wenn
mir ferner gleicbzeitig eine Gabel recbts, eine andere links ge-
balten wird, mag die letztere denselben Ton angebeu oder
nicbt? und iiun eine der Gabeln entfernt wird, so kann icb
regelmassig sagen, ob dies die recbte oder die linke war. Wenn
die Tone verscbieden sind, kann icb bereits, wabrend sie nocb
gleicbzeitig sicb vor beiden Obren befinden, mit Sicberbeit
sagen, vor welcbem Obr die bobere, vor welcbem die tiefere
Gabel tont.
Es ist offenbar, dass der Unterscbied der Starke, auf
die man sicb gewobnlicb beruft, um die ersterwabnte Fabig-
keit zu erklaren, zur Erkliirung nicbt ausreicbt. Denn es fragt
sicb eben, woran wir erkennen, ob das linke Obr starker von
einem Ton afficirt ist oder das recbte. Dass eines von
beiden starker, das andere scbwiicber afficirt ist, bilft fiir sicb
allein natiirlicb nicbt zur Localisation der Tonquelle. Eben
darum bilft es aucb nicbts, sicb auf die Bewegungen des
Kopfes oder Korpers zu berufen, so lange die Eindriicke beider
Obren sicb nur durcb ibre Stiirke unterscbeiden sollen. Denn
abgeseben davon, dass solcbe Bewegungen ausgescblossen werden
konnen, wird dadurcb eben wieder nur das Starkeverbaltniss
geandert. Wird also z. B. durcb eine Viertelsdrebuug meines
Kopfes nacb Recbts eiu Scballeindruck stiirker, so muss icb
docb erst wissen, ob dies der recbte oder linke ist, um weiter
zu scbliessen, dass die Scballquelle auf der beziiglicben Seite
liegt. Nur also wenn der Ton selbst ausser seiner Qualitat
und Intensitat nocb ein Moment p q besitzt, wodurcb er sicb
fiir's recbte und linke Obr als verscbieden kennzeicbnet, nur
dann sind weitere Scbliisse moglicb. Dasselbe ergibt sicb aus
den iibrigen oben angefiibrteu Versucben.
Losung der Principienfragen. ' 53
Man hat die Tastempfindungen des Ohres, besonders die
des Trommel fells, zu der verlangten Leistung lierangezogen.
AUeiu erstlich ist es bci aller .Empfindlichkeit des Trommel-
fells fiir Beriihrungen docli mehr als zweifelhaft, ob so unge-
heuer geringe scbnell periodische Veranderungen der Luftdichtig-
keit, wie sie bei einer leisen Tonschwingung stattfinden, uocli
eiiie Beriihriingsempfindung erzeugen konuen. Zweitens ware
die Frage, woran man denn Rechts und Links bei den Tast-
empfindungen unterscheidet. Und wollen wir bier wieder annexe
Empfindungen einer dritten Gattung beranziehen, so wieder-
holt sicb die Frage unerbittlicb. Drittens: Wenn zu gleicber
Zeit ein Ton c rechts, ein anderer Ton, z. B. e, links erklingt,
woran soil man erkennen, welche Tastempfindung zu welcbem
Ton gebort? Nach der Hypothese batten wir bier vier Em-
pfindungen, zwei Tonempfindungen c und e und zwei Tastem-
pfindungen a und /9. Selbst wenn man nun den letzteren die
urspriingliche Localisation im Bewusstsein zugestebt, die den
Tonen abgesprochen wird, wober wissen wir, dass der Ton c
demselben Obr angebort wie die rechts localisirte Tastempfindung,
also dem recbten? Es ist ja nicbt eine bestimmte Tastempfin-
dung mit einem bestimmten Ton im Bewusstsein zusammen-
geleimt, vielmebr ist kcinerlei Anhaltspunct gegeben, c mehr auf
a als auf (3 zu bezieben. Dennocb erfolgt, wie oben erwabnt,
auch in diesem Falle sicber die ricbtige Auffassung. Endlicb:
Wober die Localisation subjcctiver Tone, bei denen Trommelfell
und Tastsinn oft ganz unbeteiligt sind und die gleicbwol aucb dann
meistens einseitig localisirt werden? In vielen patbologiscben
Fallen kann uns allerdings ein Gefiibl des Druckcs, der Voile
im Mittelobr oder cine emptindlicbe Spannung im Trommelfell
der einen Seite veranlassen, aucb die subjectiven Gerausche oder
Tone dortbin zu verlegen. Li anderen Fallen aber sind solcbe
Ncbenempfindungen nicbt mit irgend welcber Deutlichkeit vor-
banden/
Es bestebt also ein Unterscbied p q zwiscben den Ton-
empfindungen des recbten und linken Obres. Wir nannten ibn
vorlaufig einen localen. Die Ausdriicke „Ort" und „Ausdebnung"
54 * § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
haben indess fiir uns in erster Linie eine optische (fiir
Blindgeborne eine " hap tische) Bedeiitung; man kann daher
fragen, ob dieser Unterschied p q unter ganz deuselben Be-
griff fallt, den wir beim Gesichtssinn als „Ort" bezeicbnen.
Soviel ist gewiss uud selbstverstandlich: Wenn wir einen Ton
als cinen solchen „des rechten Ohres" oder gar eine Scballquelle
als „auf dor rechten Seite (uusres Korpers) liegend" aiiffassen
iind bezeicbnen, so ist dies nicht eine blosse Aussage des Ge-
hors, sondern dazu muss bereits die Vorstellung des Ohres als
eines Teils des Kopfes und Korpers durch den Tast-, Muskel-
und Gesichtssinn entwickelt sein — das Ohr selbst kennen wir
nicht durch's Ohr, wenn auch das Auge durch's Auge — ; es
muss der eigene Korper von der Aussenwelt unterschieden sein;
und es muss jener Unterschied p q sich mit •den so etablir-
ten optisch-haptischen Unterschieden Rechts- Links in zahl-
reichen Fiiilen associirt haben. Dann kann p die Vorstellung
des rechten Ohrs, der rechten Seite reproducircn, q die umge-
kehrte Vorstellung. Aber wir haben, scheint niir, keinen Grund,
p q selbst als Rechts-Links und das beziiglichc Moment als
Ort im gewohnlichen- Sinn zu bezeicbnen. Nur insofern mogen
wir dieso. Ausdriicke iibertragen, als p erfahrungsgemiiss dem
Rechts, q dem Links entspricht.
Der Unterschied p q muss natiirlich auch physiologisch be-
dingt sein. Welche Eigentiimlichkeiten der beiden Gehornerven
oder der centralen Gebilde ihm zu Grande liegen, dariiber ist
so wenig wie bei den Raummomenten anderer Sinue eine
Vermutung moglich.
Nicht undenkbar scheint es mir, dass unter besonderen
Umstanden p und q zusammenfallen. Doch mag dies als fiir
unsre weiteren Untersuchungen irrelevant hier auf sich beruhen ^).
^) Ich denke dabei z. B. an die in gewissen Fallen beobachtete
Localisation zweiseitigcr Gehorseindriicke im Ilintcrhaupt (wenn hier
nicht bios eine vcriindcrte Deutung vorliegt); ferner an die von Gell6
behauptete Unfahigkcit zur Localisation der Gehorseindriicke von Seite
solcher Personen, dcren Trommelfcll gegen Beriihrung vollkommen uuem-
piindlich geworden. Da dem Schluss, dass das Trommelfell uud speciell
Losung der Principienfragen. 55
Umgekehrt kann man auch fragen, ob nicht* auch schon
uiiter den Toneii eincs unci desselben Obres Unterschiede von
der Art des p q sicb finden. Fiir eine solcbe Bebauptung
scbeint mir aber jeder Anbalt zu feblen. Abgeseben von den
offeubar nur associirten Vorstellungen, in Folge deren die Aus-
driicke „boberer, tieferer Ton" auf die an sicb qualitativen Ton-
unterscbiede angewandt werden, bemerken wir kein raumlicbes
Nebeneinander der Tone und ist darum bis in die neueste Zeit
von Niemand ein solcbcs bebauptet worden. Keiner glaiibt
beim Dreiklang die Terz raumlicb zwiscben der Tonica und
Dominant liegen zu boren, mag er sicb auch die Tasten in
dieser Lage dabei vorstellen. Driickt man zuweilen die
HELMHOLTz'sche Lehre von der Scbneckenclaviatur dabin aus,
dass die einzebien T5ne „in der Scbnecke localisirt" seieu, so
meint man damit docb nur eine anatomiscbe Verteilung der
Scbwingungen an nebeneinanderliegende Fasern, nicht eine
Verteilung der Tone in einem empfundenen Tonraum.
Erst Mach und er allein bat die Idee ausgesprocheu , dass
die Tone in einem Empfindungsraum nebeneinanderlagen, wie
die Farben im Gesicbtsfeld, nui" mit dem Unterschied, dass der
Ort einer bestimmten Farbe veriinderlich, der eines bestimmten
Tones uuveranderlich ware. Die Tone soUen sicb von der
Tiefe zur Hobe bin nicht bios qualitativ sonderu auch local
unterscheiden; docb nicht local im gewohnlichen sondern nur in
einem analogeu Sinue').
Nun ist freilich die qualitative Ordnung der Tone selbst
schon eine raum-analoge. Was berecbtigt, ausser ihr noch
eine zweite, damit parallel laufende, Quasilocalisirung anzu-
nehmen? Fiir ]\Iach ist die Annahme Icdiglicb Ausfluss einer
theoretischen Erwagung. Er halt es nur unter dieser Voraus-
setzmig fiir moglich, dass mehrere Tone zugleich empfunden
dessen Tastempfindiingen die Bedingung fiir die Localisation der Ge-
horseindriicke bildeu, wieder andere Tatsachen entgegenstehen , so sind
diese Beobachtungen wol so zu deiiten, dass'gleichzeitig mit der Tast-
empfindlichkeit auch der Unterschied p q aufgehoben wurde.
^) Beitrage zur Analyse der Empfiudungen. 188G. S. 122 f.
56 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
und unterschieden werden konnen und uicht zu einem Misch-
ton von mittlerer Holie zusammenschmelzen. Da er sich indessen
.hierbei auf ein vom Gesichtssinn entnommenes Princip stiitzt
und obendrein den Tonraum nicht als etwas dem optischen
Raum Homogenes fasst, so scheint mir die Beweiskraft dieser
tjberlegung doppelt fraglich. Aucb mlisste man erwarten, dass
die tonlocalen Merkmale gerade nacb Mach nicht bios hypo-
thetisch sondern deutlich wahrnehmbar und von den qualitativen
unterscbeidbar sein miissten, da nach einer weiteren Hypothese
alle Tonqualitaten nur aus zweien besteben, die er B und H
nennt, somit die gleicben elementaren Qualitaten an alien mog-
licben verscbiedenen Ton-Orten vorkamen. Es miissten also die
localen und die qualitativen Ekmente gegenseitig leicbt und
deutlich in der Vorstellung trennbar sein^).
Einen anderen raumlichen oder quasi-raumlichen Unter-
schied dagegen miissen wir unter den Tonen Eines Ohres
statuiren, den wir oben vorlaufig als einen Unterschied der
Ausdehnung bezeichnet haben. I 207 f. babe ich den aus-
gedehnteren Eindruck tieferer Tone wesentlich auf associirte
Vorstellungen des Gesichtssinnes zuriickgefiihrt und das Vor-
handensein eines entsprechenden immanenten Unterschiedes
noch dahingestellt. Ich glaube jetzt mit Bestimmtheit behaupten
zu diirfen, dass den Toncn ein mit ihrer Hobo abnehmendes
quantitatives oder quasi-quantitatives Moment eigen sei; und
dass Einer aucb dann tiefe Tone als etwas Voluminoseres,
Breiteres, Massigeres auffassen wiirde, als hobo, wenn er zeit-
lebens nur die Tone eines rechteckigen Tafelpianos gehort und
niemals in dessen Inneres geblickt, aucb nicmals Physik ge-
trieben, kurz keinerlei Vorstellungen dicker oder langer Saiten
oder Tonwellen u. dg]. damit verbande. Was mich zur bestimmtcren
Anerkennung dieses quantitativen Momentes gefiihrt hat, war
ausser dem Eindruck der einfachen Tone selbst, dem ioh erst
nachtraglich ganz vertraute, die Erklarung der Klangfarbe, in
welcher deutlich dieses Moment enthalten ist (§ 28). Aber im
^) Vgl. u. § 21 Schluss.
Losung der Principienfragen. 57
Grunde lasst auch die directe Beobachtung einfacher Tone
keinen Zweifel. Man vergleiche uur die nadelspitzen feinen
Tone der 7 gestrichenen Octave mit dem Ton einer c-GabeL
auf . Resonanzkasten (um von dem Tone einer Gabel mit 14
Scliwingmigen gar nicht zu reden). Maine friihere Reserve, trotz-
dem mir solche Eindriicke langst wolvertraut waren, wurzelte
in dem Bestreben, iiber ursprlinglicbe Eigenscbaften moglicbst
wenig zu bebaupten, einem metbodiscben Princip, das, im Allge-
meinen nlitzlicb, docb audi sonst gelegentlicb zu weit ge-
fiibrt bat.
Als pbysiologiscbe Unterlage dieses Momentes wlirden zu-
nacbst dieselben Bedingungen in Betracbt kommen, von welcben
die quabtativen (Hoben-) Unterscbiede der Tone abbiingig
sind; da ja beide Eigenscbaften im Allgemeinen sicb mit einander
verandern, uud nur fur das unabbiingig Veranderlicbe im Sinnes-
eindruck ein besonderer pbysiologiscber Factor gesucbt werden
muss. Ob im Einzebien Abweicbungen moglicb sind, ob eine
und dieselbe Tonqualitat uns unter Umstiinden ausgedebnter
erscbeinen kann, baben wir friiher obne ganz bestimmtes Er-
gebnis erwogen (I 210 f.) und batten aucb jetzt nicbts Ent-
scbeidcndes binzuzufiigen, Auf ein besonderes pbysiologiscbcs
Moment als Unterlage der Tonqtiantitateji konnte man aber
daraus scbliessen, dass die Unterscbiedsempfindlicbkeit fUr diese
sicb nicbt mit der qualitativen zu decken scbeint. Bis etwa
zur Ggestricbenen Octave ist die qualitative Unterscbeidungs-
fabigkeit feiner, wir merken nocb keinen Unterscbied der Aus-
debnung, wenn ein solcber der Qualitat scbon dcutlicb ist.
Wollte man dies nun aucb aus einer geringeren Ubung er-
klaren (da wir auf das Quantitative bei Tonen weniger zu
acbten gewobnt sind), so wlirde diese Erklarung docb febl-
scblagen gegeniibcr der bocbsten Region, wo sicb das Ver-
baltnis nacb meinem (von Dr. Schafee in Jena bei gemeinsamen
Versucben an den AppuNN'scben Stimmgabelcben bestatigten)
Urteil umkebrt; wo man nocb den bestimmten Eiudruck bat, dass
ein Ton spitzer ist als ein anderer, den man docb seiner
Qualitat nacb nicbt mebr davon unterscbeiden wiirde.
58 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
Bei dieser sogenannten Ausdehnung der Tone zeigt sich
mm aber gauz deutlich, dass wir es niclit mit einer Aus-
delimmg oder Grosse in demselben Sinne wie beim Gesichts-
raum zu tun haben. Wir konnen nicbt sagen: Dieser tiefe
Ton ist zweimal so umfangieich als jener hohe. Wir konnen
innerbalb der einzelnen Ausdebnung hier keine Teile setzen,
keine Linien ziehen, keine Figuren bilden. Aucb die Unter-
sucbung liber Klangfarbe wird uns eine Bestatigung geben, dass
die sogenannte Ausdebnung bei Tonen sicb in bestimmter Be-
ziebung vielmebr den qualitativen Momenten der Empfindungen
analog verblilt als dem raumlichen Moment d6r Gesichtsem-
pfindung. (Die Ausdebnungen der Obertone addiren sich nicht
zu der des Grundtoncs.) Man darf daber aus dem Namen der
Ausdebnung, wenn wir ibn bier verwenden, keinerlei Scbliisse
zieben, die nicbt durcb besondere Beobachtung bestatigt werden.
So konnte ja Einer z. B. daraus, dass alle Tone eines Obres
den gleicben Ort, aber verscbiedene Ausdebnung baben, folgern:
„Also muss der Tonraum sicb von der Hobe zur Tiefe bin con-
centriscb, etwa in concentriscben Kreisen, erweitern (insofern
kaun also die Gleicbbeit des Ortes nur eine partielle sein)."
Dem wiirde icb aber nicbt mebr zustimmen. Wol scbliesst
die grossere Ausdebaung aucb hier gewissermassen die geriugere
ein, aber nicht in dem Sinne wie bei Raumgrossen, sondern
wie bei den Intensitaten, wo man aucb nicbt die geringere
von der grosseren abzieben und den Rest wieder als eine
Intensitat fiir sich angeben kann. Wol scbeint uns ein hoher
Ton gegeniiber einem gleicbzeitigen tiefen gleicbsam auf diesem
aufgetragen, „wie ein diinner heller Streifen auf einem breiteren
dunkleren Untergrund" ^), aber kein Teil des tieferen wird durch
ihn verdeckt, ,und vergeblicb wiirden wir durch eine Ver-
einigung mebrerer hoher Tone die Breite des tiefen zu er-
zielen suchen. Keine Subtraction, keine Addition.
Warum wonden wir aber dann iiberhaupt raumliche Aus-
driicke auf diesen Pseudo-Raum an? Es geschieht bauptsach-
^) W. James, Spatial Quale. Journ. of Spec. Philos. XIII 84.
Losung der Principieufragen. 59
lich mit Riicksiclit darauf, class mit den pseudo-localen und
-quantitativen Unterschieden die im eigentlichen (optiscbeii)
Sinne raiimlichen Unterscliiede sich in Folge unserer Erfahr-
ungen imiigst in dor Vorstellung verkniipfen; wie wir dies in
beiden Beziehungen vorher bereits erwahnt haben. Ferner be-
stehen docli auch manche bedeutsame Analogien; schon darin
liegt eine, dass der Quasi-Ort bei den Tonen ebenso quasi-aus-
gedehnt ist, wie der wirkliche Ort wirklich ausgedelnit ist;
derart dass wir in beiden Fallen dieso Eigenschaften nicht als
zwei gesonderte Momente aufzahlcn sondern nur als Modifica-
tionen Eines, des raumlichen (quasi-raumlicben) Momentes.
Und so lassen sich wol noch audere Analogien anfiibren. Aber
es ware auch Nichts einzuwenden, wenn Finer fiir die be-
sprochene Seite der Tonempfindungen einen besonderen Aus-
druck erfinden Avill; mir ist nur kein passender 'eingefallen.
Da die Fragc i>ach einem raumlichen Moment der Tonem-
ptiudungen uur selten iu ithnlichem Sinne beaiitwortet wird, freue
ich mich umsomehr, nicht bios mit Akistoteles, der die Quantitilt als
xoivov aicd^fjTOv bezcichuet, sondern auch mit einigen dor besten
Psychologen der Gegenwart hicriiber nahezii iibercinzustimmcu.
William Jajies statuirt 1. c. p. 74 „a certain spatial quantification
given as a universal datum of sensibility", und zwar nicht im KANT'schen
Sinne als Form sondern alslnlialt der Empfindung, als „Spatial Quale". ■
Er halt daran auch in den ueueren scbarfsinnigen Beitrilgen zur Raura-
theorie fest (Mind XII, Nr. 45 — 48), wo er dieses Moment „the exten-
sive quality" nennt. Auch Waed (Encyclopaedia Britanuica, Art.
„Psychology" p. 46, 53) erkeunt eine „Extensity" als drittes Moment
neben der Qualitat und Intensitat bei sammtlichen Empfindungcn
an. Ebenso Bkentano, dem ich in dieser wie in alien Fragen die
wichtigsten Anregungen von alter Zeit her verdanke. Er statuirt
ausserdem nicht bios einen quasi-localen sondern einen im eigent-
lichen Sinne ortlichen Uuterschied zwischcn den Tonen beidcr Ohren.
James Sully lasst es in seinen „Outlines of Psychology" 1884
p. 129 dahingestellt, wieweit das Ohr als solches Uuterschiede der
Ausdehuung erkemie, schliesst aber aus der Unterscheidung der Tone
beider Ohren auf einen quasi-localen Uuterschied.
60 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindiingen.
Fiir unsre Hauptuntersuchung ergibt sich nacli dieser Ab-
schweifung Folgendes, Zunachst tritt die Sclilussfolgerung S. 45
nicht mehr hypothetisch sondern kategorisch in Kraft: die Tone
c^ und g\ an beide Ohren verteilt, ersclieinen versdiieden
localisirt, vor Einem Ohre gleich localisirt; trotzdem ist der
Eindruck qualitativ ganz derselbe; wenn also kein Wettstreit,
keine Mischung im ersten Falle, so aucb keine im zweiten.
Vielleicht entzielit man sich aber dieser Schlussfolgerung nun
gerade durch den Hinweis darauf, dass die Verschiedenheit p q
nur eine quasi-locale sei. Eine solcbe, konnte man sagen,
geniige nicht, um die Empfindungen auseinanderzuhalten; nur
die" locale im eigentlichen Sinn sei dazu im Stande. Es finde
daher auch bei verteilten Tonen Mischung oder Wettstreit
Statt, und so miisse der Eindruck beider Falle der gleiche sein.
Fiir mein Ohr findet freilich Beides in beiden Fallen eben
nicht Statt, und beruht hierauf die Gleiehheit des Eindrucks.
Ich kaun auch nicht beurteilen, warum der quasi-locale Unter-
schied weniger Kraft haben sollte als der locale, da mir die
Notwendigkeit* raumlicher Trennung auch schon beziiglich des
letzteren nicht einleuchten will. Aber jedenfalls treten gegen-
iiber dieser Ausflucht mit um so grosserer Kraft unsre weiteren
Betrachtungen S. 46 f. in Geltung: denn nun zeigt sich ja an
dem raumlichen Moment selbst aufs Neue, wie ungleich die
Erscheinungen bei verschicdenen Sinnen sin(J, da auch dieses
Moment sich nur scheinbar gemeinsam erweist; wie wenig wir
also berechtigt sind, ein nicht a priori einleuchtendes Princip
von einem Sinn, auf den anderen zu iibertragen.
6. Losung des zweiten Argumentes gegen dieMehr-
heitslehre.
„Gleichzeitige Tone mlissten leichter unterscheidbar sein
als aufeinanderfolgende, da zwei Inhalte um so leichter in
irgend einer Beziehung unterschieden werden, je mehr sie in
den iibrigen Beziehungen gleich sind" (o. S. 22).
Dieses Argument fordert in der Tat sehr zum Nach-
denken heraus. Was wir zur Losung sagen werden, wird nicht
Jedcn soglcich befriedigen, zeigt aber hoffentlich, dass wir vor
Losung der Principienfragen. 61
einem allgemeineren Ratsel stelien, das uns die Tatsachen des
Tonreiclies nur genauer zu formuliren gestatten — und in ge-
wissem Sinn lauft ja imsere Erkenutnis immer auf genauere
Formulirung allgemeinerer Ratsel hinaus.
E. H. Weber, der fUr das Wesentliche ein besonders
scharfes Auge hatte, hat auch diesen Gegenstand schon be-
riihrt: „Zwei gleichzeitige Tastempfindungen", sagt er, „lassen
sich nicht so gnt untereiuander vergleichen, als zwei aufein-
anderfolgende. Eine Reihe von Versucben bat bewiesen, dass
man zwei Gewicbte am allergeuauesten vergleicben kann, wenn
man sie successive auf dieselben Teile von derselben Hand
legt. Etwas weniger vorteilbaft ist es, wenn man das Gewicbt
zuerst auf die eine Hand legt, es wieder binwegnimmt und
hierauf* das andere zu vergleicbende Gewicbt auf die andere
Hand legt. Am wenigsten vorteilbaft ist es, wenn man beide
Gewicbte gleicbzeitig auf beide Hande legt. Denn die eine
Empfindung stort die andere, indem sicb beide Empfindungen
vermischen, auf abnlicbe Weise wie zwei gleicbzeitige Tone,
deren Abstand in der Tonleiter auch nicht so gut aufgefasst
werden kann als der von zwei ungleichzeitigen, von denen der
eine auf den anderen folgt. Noch weit mehr als beim Tast-
und Geborsinn findet diese Vermischung von zwei gleichzeitigen
Empfindungen hinsichtlicb der Geruchsempfinduugen Statt, denn
man ist ausserordentlich gehindert, zwei Geriiche zu vergleicben,
wenn man zwei Riecbflaschchen zugleicb an beide Nasenlocber
halt. Diese Vermischung ist ein interessantes Factum..."^)
Fechner fand bei seinen Gewichtsversuchen das Namliche.
Hinsichtlicb des Tastsinnes gehort besonders die Tatsache
hierher, dass wir zwei Zirkelspitzen bei einer geringeren
Offnung des Zirkels noch als distant erkennen, wenn sie nach-
einander die Haut beriihren, als wenn gleicbzeitig.
') Tastsinn und GemeingefiiH. Wagner's Hdwb. Ill, 2, S. 544
(Sep. Abdr. 85). So spricht Weber auch von der betrachtlicheu Stoning,
die durch gleichzeitiges Vorhandensein zweier entgegengesetzter Tem-
peraturempfindungen verursacht sei, obgleich sie uicht verschmolzen
(S. 554, Sep. Abdr. 103). Vgl. o. 48.
62 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
Diese Erfalirungen erklareii sich iiur teilweise aus clem
psychologischen Princip, auf welchem das obige Argument ruht.
Es ist nach diesem Priiicip wol begreiflich, dass zwei Gewichte
besser verglicheii werden, wemi man sie successive auf dieselbe
Hand legt als wenn successive auf verschiedenc Hande: weil
im ersten Fall ausser dem Druck selbst bios die Zeit, im
zweiten aber audi der Ort verschieden ist. Ganz Dasselbe
findet denn auch bei den Ohren Statt. Aber es begreift
sich aus dem Princip nicht, dass zwei Gewiclite besser ver-
glichen werden, wenn man sie successive auf beide Hande
als wenn man sie zugleich auf beide Hande legt (je eines auf
eine Hand). Im ersteren Fall ist Zeit und Ort, im letzteren nur
der Ort verschieden^).
Vielleicht erklart Finer diese Tatsache daraus, dass im
letzten Fall die Aufmerksamkeit sich nicht ungeteilt jeder der
beideu Empfinduugen zuwenden konne, wol aber im ersten
Fall. Allein was hilft es fiir die Vergleichung, wenn ich zu-
erst A mit voller Aufmerksamkeit, dann B mit ebenso voller,
') Auch schon dies ist nicht ci'kliirt, warum besser vcrglichen wird,
wenn die Gewichte successive auf die namlicho Hand, als wenn sie
gleichzcitig auf verschicdeue Hiinde gelegt werden. Hier ist cin ort-
licber, dort ein zeitlicher Unterschied. Doch liegt in dieser Tatsache
wenigstens kein Widerspruch gegen das Princip. Sie wiirde an und fiir
sich nur lehren, dass geringe zeitliche Unterschiede nicht in gleichem
Masse stdren wie die Ortsunterschiede von homologen Gliederh. Aber
mit Eiicksicht auf die im Text erwilhntc Tatsache wird man den Zeit-
untcrschied unraittelbar aufeinanderfolgender Empfindungen iiberhaupt
nicht als eine storende, sondern als die denkbar giinstigste Bedingung
beti'achten. Dieselbe Ansicht liegt offenbar auch bei Lotze zu Grunde,
wenn er (Grundz. der Ps.ych. ^ S. 41) fiir die Vergleichung sinulicher
Qualitatcn verlangt, ,,dass das-priifcude Organ ganz dasselbe sei, damit
nicht die verschiedeuen Localzeichen verschiedener Organe die Ein-
driicke modificiren — man priift deshalb nicht simultan mit zwei Fingern
die Warme zweier Wassermassen , sondern successiv mit demselben
Finger — ". Die Zeitverschiedenheit betrachtet also Lotze nicht unter
dem gleichen Gesichtspunct wie die Ortsverschiedenheit, es scheint ihm
dariiber ein Bedenken gar nicht zu kommen ; er erinnert our, dass man
die Zwischenzeit nicht zu gross nehme.
Losung cler Priucipienfragen. 63
dafiir aber nun A mit urn so geringerer oder gar keiner Auf-
merksamkeit im Bewusstsein liabe? Wann soil icli vergleicben?
Auch beim successiven Empfinden muss icb docli wabrend
der Empfindung B die eben vergangene A beacbten, und zwar
genau in gleicbem Masse, weuu icb gut vergleicben will (I,
98 — 100). Nun wird aber das Bild des eben vergangenen A
nicbt notwendig absolut genau mit A, wie es empfunden wurde,
iibereinstimmen. Also sollte man erwarten, dass die Vergleicb-
ung eines gegenwiirtigen B mit einem gegenwartigen A leicbter
und zuverlassiger sein mlisste als die mit einem eben ver-
gangenen A.
Man kounte nocb daran denken, dass durcb gleicbzeitiges
Stattfinden zweier Nervenprocesse eines und desselben Sinnes
Nebenempfindungen oder Modificationen der bezUglicben Em-
pfindungen selbst bervorgcrufcn wiii'den, welcbe die Aufmerk-
samkeit abzieben oder sonst ungiinstig wirken. Solcbes muss
z. B. der Fall sein, wenn wir mit beiden Handen gleicbzeitig
Gewichte frei beben, weil dann durcb den gemeinsamen Zug
der bescbwerten Arme gegen die Mittollinie des Korpers eine
Summe neuer Muskel- und Hautempfindungen zu .den zu ver-
gleichenden Gewicbtsempfindungen binzukommt. Beiili' Riecb-
flascbchen-Versucb Weber's mag docb von jedem Flascbcben
etwas audi in die andere Nasenabteilung dringen und so beide
Geriicbe sicb abnlicber werden. Bei gleicbzeitigcn Klangen
entstehen, wenigstens wenn sie oder ibrc Obertone einander
nabe genug liegen, Scbwebungen, welcbe die Beurteilung storen.
Ferner tritt bei iiusserst nabe liegonden gleicbzeitigen Xoneu
eine wirklicbe Veranderung nacb der qualitativen Seite auf:
Reize, welcbe in der Aufeinanderfolge nocb eben verscbiedene
Empfindungen bervorrufen, rufen bier nur Eine mittlere Em-
pfindung liervor; die Unterscbiedsempfindlicbkeit flir gleicb-
zeitige Tone (und wabrscbeinlich fUr gleicbzeitige Empfindungen
iiberbaupt) ist geringer als die fiir aufeinanderfolgende. Ferner
kommt in Betracbt, dass, audi abgeseben von Scbwebungen, die
Intensitiit eines Tones durcb einen gleicbzeitigen anderen Ton
beeinflusst wird, indem jeder dem anderen etwas abziebt und
64 § li^- Mehrheit gleichzeitiger Tonempfiudungen.
dadurcli bei ' sehr ungleicher Intensitat der schwachere ganz
unterdriickt werdeii kanu. Von diesen besondereii Fallen werden
wir spater Naheres horen.
Aber diese Erklarung reicbt nicbt iiberall aus. Sie trifft
niclit zu fiir die Gewichtsversuche, bei denen die Hande auf
den Tisch und die Gewiclite auf die Hande gelegt werden;
niclit fiir die Tastversuche mit dem Zirkel; nicht fiir die gleich-
zeitigen, gleichstarken, iibermerklich verschiedenen Tone ohne
Schwebuugen z. B. c und cK
Der Hauptgrund fiir die geringere Unterscheidbarkeit gleich-
zeitiger Empfindungen gegeniiber unmittelbar aufeinanderfolgen-
den, liegt in einer allgemeineren Tatsache^). Alle Empfin-
dungsqualitaten treten, wenn sie aus aufeinanderfolgenden in
gleichzeitige iibergehen, ausser in dieses Verhaltnis der Gleich-
zeitigkeit noch in ein anderes Yerlialtnis, dem zu Folge sie als
Teile eines Empfindungsganzen erscheinen. Aufeinander-
folgende Empfindungen bilden als Empfindungen eine blosse
Summe, gleichzeitige schon als Empfindungen ein Gauzes. Die
Qualitiiten werden, abgcsehen von dem ebenerwiihnten Aus-
nahmefall, nicht im Geringsten verilndert, geschweige denn zu
einer einzigen neuen Qualitat umgewandelt, aber es tritt ein
neues Verhaltnis zwischen ihnen auf, das eine engere Einheit
herstellt, als sie zwischen den Gliedern einer blossen Summe
stattfindet, deren Einheit hiiufig nur eben darin besteht, dass
sie als Glieder dicser Summe zusammengerechnet werden (man
kann ja das Heterogenstc und ganzlich Verbindungslose, selbst
einen Affect und einen Apfel, zusammenziihlen ^). In Folge
dieses neuen Verhiiltnisses wird der Eindruck gleichzeitiger
Empfindungen dem einer einzigen Emptindung iihnlicher als
derjenige derselben Empfindungen in blosser Aufeinanderfolge.
Dieses eigentlimliche Verhiiltnis gleichzeitiger Empfindungen
^) Auch IIoFFDiNG bezeichnet es als ein „allgeraeines Gesetz", dass
die Uuterscheidung dcs Aufeinanderfolgenden leicliter sei als die des
Gleichzeitigen (Philos. Monatshefte 1888, S. 427), obne doch uaher auf
die Definition dieser Tatsache einzugelien.
^) Vgl. HussERL in der S. 5 citirten Scbrift.
Losung der Principienfragen. 65
ist es, welches E. H. Weber unter dem Namen der Ver-
mischung oder Verschmelzung, iind welclies schon Aeistoteles
in der S. 17 erwahnten Stelle mit dem ffsitr/^&cu oder xexQccOd-ca
gemeint, obschon nicht vollkommen deutlich und ricLtig ge-
fasst hat.
Weiin es sich darum handelt, zunachst den Begriff des
Empfindungsganzen gegeniiber dem einer blossen Sumrae klaf
zu machen, so bietet sich als schlagendstos Beispiel die Ver-
einigung der „Momente" einer Empfindung,. z. B. Qualitat und
Intensitat. Man kann nicht leugneu, dass Beides verschieden ist,
ebensowenig aber leugnen, dass es eine Art von Einhcit, ein
Ganzes bildet. Man muss daher Qualitat und Intensitat als Telle
dieses Ganzen bezeichnen, wenn audi natiirlich nicht als Telle
im raumlichen Sinn. Zu dieser Art von Teilen ist bei der Ge-
sichtsempfindung nach nativistischer Ansicht auch die Ausdehnung
zu rechnen, und mir wenigstons ist und bleibt es evident, dass
eine Farbe ebensowenig ohne Extensitat wie ohne Intensitiit
empfunden werden kann.
An dieser Weise der Vereinigung zu einem Ganzeli also kann
man sich den Begriflf eines Empfindungsganzen am besten klar
machen, well sie zugleich die engste Weise der Vereinigung ist
Eine losere, gleichwol aber von der bios collectiven noch wol
zu unterscheidende Einheit ist die der gleichzeitigen Empfin-
dungsqualitaten unter einander. Diese speciell wollen wir Ver-
schmelzung nennen. Sie ist der vorhin genannten insofern
analog, als auch hier verschiedene Inhalte ein Ganzes mitein-
ander bilden; aber die Telle sind nicht mchr wie dort untrenn-
bar. Ich kann eine Intensitat nicht ohne Qualitat und umge-
kehrt empfinden, wol aber einen der gleichzeitigen Tone auch
ohne den andern. Nur wenn sie zugleich empfunden werden,
dann ist es unmoglich, sie nicht als Ganzes, nicht im Ver-
schmelzungsverhiiltnis zu empfinden.
Aber die Verschmelzung hat auch noch verschiedene Grade.
Die gleichzeitigen Empfindungen Eines Sinnes verschmelzen in
hoherem Masse als die verschiedener Sinne. Unter diesen
wiederum verschmelzen die der sogenannteu uiederen Sinne, z. B.
Stumpf, Tonpsychologie. 11. 5
66 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
Geschitiaclve mit Gqriichen ocler Temperaturen, starker als Farben
mit Tonen. Im letzteren Fall wird man vielleicht iiberhaupt
niclits Derartiges finden wollen, aber wol nur darum, weil es
einen noch geringeren Verschmelzungsgrad fiir unsere Erfahrung
nicbt gibt; analog wie man Farben und Tone fiir absolut un-
ahnlich zu erklaren geneigt ist, weil wir eben noch unahnlichere
Empfindungsqualitaten zufallig nicht kennen.
Endlicb gibt es auch Unterscbiede der Verscbmelzung
innerbalb Eines Sinnes, und dafiir haben wir unzweifelhaftc
Belege beim Tonsinn. Die starkste Verscbmelzung findet sich
bier bei den Octaven. An diesem Beispiel als dem extremsten
im Tonsinn und durcli Vergleicbung mit den geringeren Gradon,
die derselbe Sinn bietet, kann man das Wcsen der Verscbmel-
zung ebenso am deutlicbsten erfassen, wie man das Wesen
des Empfindungsganzen Uberbaupt am deutlicbsten an dem
extremsten Fall, den sogenannten Empfindungsmomenten, er-
fassen kann^).
Man wird nun die Frage aufwerfcn, ob wir biermit nicbt
docb die Ansicbt von einer Mebrbeit gleicbzeitiger Toncmpfin-
dungen verlassen und uns zur Einbeitslebro bekobren. Qualitiit
und Intensitiit nennt man ja nicbt zwei Empfiiidungen. Und
so scheint es, dass wir audi die gleicbzeitigen Tone, wenn sie
nur Teile eines Empfindungsganzen bilden, eben als Eine Em-
pfindung bezeicbncn miissen. Indessen liegt jetzt, wenn alles
Vorangehendc zugestanden wird, nichts weiter als eine Wort-
frage mehr vor. Das tatsacblicb Wicbtige ist lediglicb dies,
dass wir die gleicben Qualitiiten, welcbe sonst aufeinanderfolgen,
aucb streng gleicbzeitig als diese Qualitiiten in unsrem Be-
wusstsein baben konncn: dies war von der Einbeitslebre be-
') Dass die Vereinigung mehrerer Tone in einem Accord eine engere
sei als z. B. die von Gerucheu und Tonen, habe icb bereits .,Urspr. d.
Raumvorst." 107 — 8, ..Empir. Psychol, der Gegenwart" (Im neuen Reich,
1874, Heft 32, S. 13) betont und den Unterschied an ersterem Orte zur
Erlauterung des Verhaltnisses zwischen Farbe und Ausdehnung benutzt.
Genauer habe ich jenes Verhaltnis seit der Mitte der 70 er Jahre
verfolgt. Die expei'imentellen Uutersuchungen dariiber s. in § 19.
Losung der Principienfragen. 67
stritten. Ob man diese mehreren gleichzeitigeii Tonqualitaten
nun als eine Mehrlieit von Tonempfindungen oder bios von
Empfindungsteilen bezeichnen will, ist eine terminologische und .
weniger wichtige Frage. Da wir aber iiberhaupt Empfindungen
nacb ihrer Qualitat benennen („Farb en empfindungen", „T on em-
pfindungen"), obgleicli sie nocli andere Soiten haben, so meine
ich, dass wir reclit und consequent daran tun, bei einer Mebr-
beit von Qualitaten auch von einer Mebrheit von Empfindungen
zu sprechen. Und wenn wir dies hier bei den Tonen nicht
taten, so wiirden wir iiberhaupt nicht mehr in irgend einem
Falle von mehreren gleichzeitigen Empfindungen reden diirfon,
nicht einmal wenn Farben und Tone zusammen vorhanden sind,
da auch sie, wie erwahut, ein Empfindungsgaiizes bilden. Als
das Zweckmiissigste erscheint also, dass wir nach wie vor die
mehreren gleichzeitigen Qualitaten als mehrere Empfindungen
bezeichnen, uns ajjer bewusst bleiben, dass sie Teile eiues Em-
pfindungsganzen bilden. Dann wird ein Missverstanduis nicht
zu befiirchten sein.
Die Erwiderung auf das zweite Argument gegen die Mehr-
heitsansicht konnen wir demuach kurz so zusammenfassen:
Obschon die Gleichzeitigkeit der Empfindungen gemass dem
Princip des Argumentes ihre Analyse an und fiir sich erleichtern
miisste, kommt docb ein neues Verhaltnis hinzu, welches die
Analyse erschwort. Es kommen ausserdem in besondercn Fiillen
noch besondere Hindernisse hinzu, welche nur bei gleichzeitigen
Empfindungen auftauchen ^).
7. Ursachen, welche zu den beiden irrtiimlichen
Anschauungon hinfiihren konnten.
Solche liegeu zum Teil in den soeben kritisirten Argumenten,
zum Teil aber auch in anderen Umstanden, die sich nicht in
^) Das Princip des Arguments: dass zwei Inhalte in irgend einer
Beziehung umso leichter unterschieden und 'verglichen werden, je mehr
alles Ubrige gleich ist — bleibt also unangetastet. Es gibt allerdings
Falle, die eine scheinbare Ausnahme bilden. So die obenerwahnten
KLTJG'schen Versuche, nach welchen der Ortssinn an Feinheit zunimmt,
•wenn der Temperaturunterschied der beriihrenden Taster wachst. Nach
5*
QS § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
die Form strenger Argumente fassen lassen und nur die Be-
deutung psychologischer Yeranlassungen liaben.
Die Motive fiir die Annalime eines Wetts^reits liegen wol
nur in den angefiihrten Griinden in Verbindung mit den Schwierig-
keiten der beiden concurrirenden Theorien. Diese Annahme
ist wesentlich eine Ausflucht. Die Wenigen, die auf sie ver-
fielen, glaubten sich durch Exclusion auf sie hingewiesen.
Dagegen hat die Einheitslehre zahlreichere und positive
Wurzeln, und nicht bei Allen die namlichen, Eine derselben
liegt in den besonderen Voraussetzungen und Neigungen der
HERBAET'schen Psychologie. Die Einfachheit der Seele sollte
nach den Herbartianeru ein Hindernis sein fiir die Mebrheit
gleichzeitiger Tonempfindungen; wie sie ihnen in der Raumtheorie
als ein Hindernis fiir die Empfindung eines ausgcdehuten Farbeu-
eindrucks gait. Wie unklar sowol jener Begriif der Einfach-
heit der Seele selbst als auch die Folgerungen daraus siud,
bedarf wol nicht der Ausfiihrung. Liige hier iiberhaupt ein
triftiger Grund, so wiirde man die Ausdehnuiig nicht bios nicht
urspriinglich sondern gar nicht empfinden und vorstellen konnen,
und ebenso konnte man dann iiberhaupt keine Mehrhcit von
Inhalten irgcnd welcher Art zugleich im Bewusstsein haben,
und was sollte dann z. B. aus der Vergleichuug werden? Diesen
angeblichen Grund konnen wir also nur als ein im Finstern
wirkendes Motiv gelten lassen, dessen Kraft raehr auf seltsamen
Nebenvorstellungen beruht, auf der Vorstcllung eines Punctes,
in welchen eine Flache oder eine Mebrheit von anderen Puncten
unmoglich eindringen kann u. dgl.
Ein zweites Motiv fiir die Einheitslehre liegt darin, dass
die psychologische Entwicklung allenthalben von geringerer zu
grosserer Unterscheidungsfiihigkeit fortzuschreiten scheint. Hiilt
man nun das unterscheidende Urteil und die Empfindungs-
uuterschiede selbst nicht scharf auseinander, wie dies vielfach
(lem Prhicip sollte man das Gegeuteil erwarten. Es diirfle aber auch
hier die Ausnahme an besonderen Umstauden liegen, iiber die manche
Vermutung moglich ist.
Losung der Principienfragen. 69
geschieht, so muss man zu der Folgerung kommen, class die
Tonempfindungen selbst sich im Laufe des Lebens mehr und
mehr differenziren, dass also wenigstens iirspriinglicli, und bei
Unmusikalischen in weitem Umfang auch spaterhin, die gleich-
zeitigen Tone eine einzige Empfindung bilden.
Ein drittes Motiv liegt darin, dass das vorausgehende
Horen der Klangteile eincn machtigen Einfluss auf die Leiclitig-
keit der Unterscheidung hat. Dies scheint darauf hinzuweisen,
dass ohne solche vorausgehende Erfahrungen plie Analyse iiber-
haupt unmoglich ist, und so liegt es nahe, die Tonempfindnng in
alien Fallen fUr eineEinheit und die Analyse. nur als ein Hinein-
denken aufzufassen. Dies war wenigstens das Motiv, welches mich
selbst (Urspr. d. Raumvorst.) zur Einheitslehre hinleitete, Wir
sprechen liber das zu Grunde liegende Princip alsbald eingehender.
Endlich liegt ein sehr wesentliches Motiv in der Ver-
schmelzung der gleichzeitigen Tone und besonders in der starken
Verschmelzung der Consonanzen. Denn vorzugsweise an Bei-
spiele der letzteren Art pflegt man zu denken, vor Allem an
das des Dreiklangs, wenn von gleichzeitigen Tonen die Rede
ist; er gilt gleichsara als das Musterbeispiel. Es erkliirt sicli
hieraus, wie selbst Musiker nach einer Bemerkung Brentano's
(mir ist es nicht vorgckommen) sich zweifelhaft dariiber aus-
sprechen konnen, ob sie mehrere Tone horen. Die Sprache
selbst bezeichnet ja den Eindruck als „den Dreiklang", sie ge-
braucht die Einzahl, wahrend doch zugleich in dem Namen
selbst die Mehrzahl angedeutet ist. Drei Tone, Ein Klang.
Darum hat denn auch fiir die Dreifaltigkeit ausser dem Drei-
fuss und der dreizinkigen Gabel der Dreiklang oft genug als
Erlauterung dieuen miissen. Die Octave, das starkstverschmel-
zende Intervall, heisst sogar Einklang: nicht einmal im Namen
wird hier die Zweiheit der Tone angedeutet, obschon sie auch
hier unzweifelhaft vorhanden ist. Der Eindruck wird dem der
wirklichen Einheit bis zum Verwechseln ahnlich.
8. Einfluss der Erfahrung auf die Analyse.
Betrachten wir nun als feststehend, dass eine Mehrheit von
Tonen in der Empfindung gleichzeitig gegeben sein kann, so
70 § l"^- Mehrheit gleichzeitiger Touempfindungen.
fragt es sich weiter nach den Bedingungen, an welche die
Analyse gekniipftist. Die wiclitigsten derselben discutiren wir
spater und versuclien dann auch eine vollstandige Ubersicht.
Aber zwei Fragen, die mit der allgemeinsten Fassung der
Theorie zusammenliangen, woUeu wir sogleich besprechen. Zu-
erst die Frage nacli Art und Umfang des Einflusses, welcben
die Erfahrung auf die Moglichkeit und Leichtigkeit der Ana-
lyse ausiibt; wobei unter Erfabrung vorlaufig das vorherige
Horen ahnlicber^ Klange verstanden und nabere Determination
des Begriffes vorbebalten wird.
Die Discussion bieriiber kniipft am besten an die Helm-
HOLTz'scbeLebre an. Diese bat eine anatomisch-pbysiologiscbe
und eine psycbologiscbe Seite. Dass die anatomiscbe Sonderung
der die Tonwellen aufnebmenden Elemente nicbt fiir sicb scbon
binreicbt, um die gesonderte Wabrnebmung zu erklaren, ver-
stebt sicb. Laien zwar besticbt das „Clavier im Obre" ebenso
wie das „Bildcben" auf dor Netzbaut, welcbes fiir die Tbeorie
der raumlicben Wabrnebmung diesen Scbnellfertigen nur die
Eine Scbwierigkeit bietet (die gerade keine ist), dass es um-
gekebrt stebt. Aber in beiden Fallen ist ja damit nicbts ge-
geben als eine Summe pbysiscber Antecedentien, und im Falle
des Horens ist nicbt einmal unsre Hauptfrage damit beant-
wortet, warum boi gleicber Reizung ein Mai die Analyse statt-
findet, ein andres Mai nicbt.
Helmholtz selbst bat die psycbologiscbe Frage nicbts
weniger als iiberseben. Er stellt sie in der speciellen Fassung:
Wober kommt die Scbwierigkeit, die Obertone aus einem Klang
berauszuboren? und beantwortet sie in den drei ersten Auf-
lagen seines Werkes durcb den Hinweis auf das allgemeine
Gesetz, wonacb wir, wenn eine Summe von Empfindungen uns
als Zeicben eines einzigen Objectes dient, stets erst einer be-
sonderen tJbung bediirfen, um das gewobnte Zeicben in seine
Elemente aufzulosen. So dienen die verscbiedenen Bilder, die
unsre beiden Augen von Einem Gegenstande geben, erfabrungs-
und gewobnbeitsmassig als Zeicben dieses Einen Gegenstandes
und werden darum scbwer als zwei erkannt. So aucb der
Losung der Pi'incipienfragen. 71
Toncomplex aiis einem Grund- und mehreren Obertonen, den
wir als Geigeuklang bezeichneii, weil wir ibn als Wirkuug imd
als Erkenuungszeiclien der Geige kennen gelernt haben.
Beinahe alle Pbysiologen und Psychologen scheinen von
dieser Losung noch beute ganz befriedigt. ^) Dem grosseren
wissenschaftlichen Publicum ist sie ohnedies durch unzahlige
Darstellungen, unter Anderem durch Helmholtz' bewunde-
rungswurdige popular -wissenschaftlicbe Vortrage vertraut und
gilt als einer der wesentlichsten Ziige der durch Helmholtz
geschaffenen Lehre von den Tonempfindungen, ja der empiristi-
schen Theorie von den Siimeswahrnehmungen iiberbaupt; denn
kein andres als das obige Princip hat Helmholtz auch
dem Empirismus in seiner physiologischen Optik zu Grunde
gelegt.
* In der vierten Auflage (1877) hat Helmholtz dieses
Princip und die Erklarung aus ihm verlassen, aber keine Griiude
fUr die Anderung angegeben. Und so wird eine Priifung der
bereits verlassenen Form der Lehre in diesem besonderen Fall
gerechtfertigt und notwendig sein; die Lehre ist zwar fUr den
Urheber, aber noch nicht fiir die wissenschaftliche Welt veral-
tet (ich habe nirgends gefunden, dass man die Anderung auch
nur bemerkt hatte), und die tJberzeugung, die sich Einer
friiher auf Helmholtz' Griinde hin gebildet, wird er sich
nicht anders als wiederum durch Griinde umstossen lassen.
a) Die alt ere HELMHOLTz'sche Lehre ist wirklich eine
evident in-ige. Wenn wir die Erklarung fiir den Fall der
Obertone annehmen woUten, so ist sie doch unanwendbar auf
den Zusammenklang gleichstarker Tone, der doch unter dasselbe
allgemeinc Problem faUt. Die Erfahrung hat uns nicht gewohnt,
^) S. 0. 21. Von den Einwanden G. E. Muller's batten einige (S. 29 —
30, 34, 35 der Schrift) ernstliche Beachtung verdient. Aber Disserta-
tionen werden wenig gelesen, zumal so unlibersichtlicb gescbriebene.
tJberdies konnten einzelne schiefe Bebauptungen des Verfassers (wie
S. 30), dem damals das Tongebiet wol noch nicbt binreicbend aus eigener
Erfabrung bekannt war, Misstrauen erwecken. Und so blieb die ver-
einzelte Kritik wirkungslos.
72 § l"?- Mehrheit gleiclizeitiger Tonempfindungen.
den Dur -Accord als Zeichen irgend eines Instruments zu be-
tracliten. Er wird von den verschiedensten Instrumenten, oft
auch durch ein Zusammenwirken mehrerer hervorgebraclit. Und
docli finden viele Menschen hier eine ganz ahnliche Scbwierig-
keit, wie gegeniiber den Obertonen; was man an Unmusika-
liscben jederzeit erproben kann und u. A. Fechnee nacb seiner
eigenen Erfabrung bezeugt (s. o. 20). Eben darum wird ja von
Mancben bezweifelt, ob iiberbaupt ein wirklicbes Herausboren
einzelner Tone aus einem Tongemisch moglicb sei. Da nun
diese beiden Falle, der Klang und der Zusammenklang, sich
nur graduell durcb das Starkeverbaltnis der zusammenklin gen-
den Tone unterscbeiden , so wird aucb die psycbologiscbe In-
terpretation fiir beide die namHcbe sein miissen, und erscbeint
scbon darum Helmholtz' Princip ungeniigeud.
Aber selbst fiir die Analyse eines einzeluen Klanges kann
das Princip uicbt gelten. Ein Oboist gewobnlicben Scblages,
der erfabrt, dass jeder Ton, den er blast, eigentlicb eine Mebr-
beit von 5 — 6 Tonen darstellt, wird sicb anfanglicb nocb mebr
verwundern', als ein Nicbtmusiker, der seinem Urteil in dieser
Ricbtung iiberbaupt wenig zutraut; insoweit stimmt das Ver-
balten mit dem Princip. Yeranlasst man aber den Oboisten,
auf Obertone zu borcben, so bort er sie docb um Vieles
scbneller und leicbter heraus als der Nicbtmusiker. Nacb dem
Princip ware das Gegenteil zu erwarten; demi der letztere bat
die Erfabrung iiber diesen bestimmten Toncomplex als Zeicben
dieses bestimmten Instrumentes kaum ein oder das andere Mai
gemacht, der Oboist immerfort. Nocb mebr: einem und dem-
selben, musikaliscben oder unmusikaliscben , Individuum moge
der Klang eines ibm bekannten und eines ibm unbekannten
Instruments vorgefiibrt werden. Den ersteren bat man sicb
nacb Helmholtz gewobnt als cinbeitlicbes Zeicben zu betracb-
ten, den anderen nicbt. Und docb zeigt sicb kein Unterscbied
in der Fabigkeit, die Obertone des einen und des anderen
Klanges berauszuboren. Der Musikaliscbe und der akustiscb
Geiibte bort sie in beiden Fallen gleicb gut, der andere in'
beiden Fallen gleicb schlecbt. Somit kann der genannte Um-
Losiing der Principieufragen. 73
stand, auf den Helmholtz das entscheidende Gewiclit legte,
solches Gewiclit nicht besitzeu.
Zudem ist das HELMHOLTz'sche Princip nicht einmal un-
l)estreitbar und fiihrt auch, wenn es unbestreitbar ware, nicht
notwendig zu der daraus gezogenen Folgerung. Es bedarf zuerst
der Interpretation. Wenn Helmholtz gewisse Empfindungen
als Zeichen von „Objecten" betrachtet, so denkt er hier wol
nicht an die, von ihni allerdings sonst auch befiirwortete An-
sicht, dass unsre sammtlichen Empfindungen nur als Zeichen
der unbekanuten Dinge an sich gelten konnen. Sbndern unter
„Objecten" versteht er hier sinnlich vorgestellte Objecte als
solche. Eine gewisse Tastempfindung, welche mir in einem
dunklen Zimmer plotzlich zu Teil wird, ist mir ein Zeichen
fiir ein Gesichtsobject, z. B. einen Tisch, dem mein (als Ge-
sichtsobject vorgestellter) Korper unmittelbar nahegekommen.
Umgekehrt dienen Gesichtsempfindungen als Zeichen fiir Tast-
objecte u. s. f. Hieuach haben wir das Princip so auszusprechen :
,,Eine Mehrheit von Empfindungen, die fiir ein gemeinsames Sinnes-
object als Zeichen dient, wird um so weniger leicht analysirt,
je haufiger sie dem Bewusstsein in dieser ihrer Function
gegenwiirtig war". Danu ist aber klar, dass es auf das Tonge-
biet nur eine gelegentliche und beschrankte Anwendung finden
kann. Tone dienen factisch viel seltener als Zeichen fiir Sinnes-
objecte, als z. B. Tastempfindungen und riiumliche Gesichts-
empfindungen. Der Pfiff der Locomotive, das Lauten und Schla-
gen der Glocke und dgl. dienen uns allerdings als Zeichen
objectiver Vorgange, und die Sprachlaute bilden ein umfassen-
des System solcher Zeichen (bei welchem iibrigens ebensosehr
Ein Zeichen fiir eine Vielheit von Vorgangen oder Dingen als
eine Vielheit von Zeichen fiir Ein Ding angewandt wird). Hin-
gegen von den musikalischen Tonen kann man nicht eigent-
lich behaupten, dass sie uns vorwiegend oder auch nur in erheb-
lichem Masse als Zeichen dienten. Wenn auch Associationen
mit Bewegungen, Stimmungen und dgl. zu dem Vergniigen an
Musik W^esentliches beitragen: die Aufmerksamkeit des Musik-
horenden ist doch in erster Linie den Tonen selbst zugewandt.
74 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
Das Interessante beim Pfiff einer Locomotive liegt in der Tat-
sache, class der Zug abgeht. Aber das Interessante der Musik
liegt nicht in der Tatsacbe, dass eine Liiftmasse oder die
Saiten iiber einem Hohlraum in Scbwingungon vorsetzt werden,
sondern in den Kliingen und ibren Verbindungen selbst; nicht
darin, dass, sondern in dem, was gcblason und gegeigt wird.
Aber nicht einmal in den Fallen, wo wirklich gewisse
Empfindungen als regelmassige Zeichen von Sinnesobjecten
dienen, scheint mir das HELMHOLTz'sche Princip clem wahren
Sachverhalt entsprechend. Durch die Gewohnung, mehrere
Empfindungen auf Ein Object zu beziehen, wird es uns natiir-
lich immer schwieriger, sie auf mehrere Objecte zu beziehen:
aber man sieht nicht ein, warum es schwieriger werden soUte,
als es Anfangs war, diese Empfindungen selbst zu analysiren,
gleiche Aufmerksamkeit u. s. w. vorausgesetzt. Die starkste
Gewohnung der hieher gehorigen Art findet wol Statt, wenn
wir, ohne das Auge zu Hilfe zu nehmen, die mehrfachen
Beriihrungsempfindungen, welche ein mit der Hand erfasster"
Gegenstand erregt, auf eben dieses einheitliche Object deuten.
Dies ist gewiss Sache der Gewohnung oder Erfahrung. Das
bekannte. Doppelterscheinen eines zwischen gekreuzten Fingern
geriebenen Brodkiigelchens zeigt ja auch deutlich, dass die
gleichzeitige Beriihrung zweier Hautpartien, die nicht gewohnt
sind, zugleich von demselben festen Object beriihrt zu werden,
uns zur Deutung auf zwei Objecte verleitet. Aber wie schwer
es uns auch werden mag, bei gewohnlicher Finger stellung die
mehrfachen Beriihrungsempfindungen auf zwei Kiigelchen zu
beziehen: dass es zwei und nicht Eine Beriihrungsemp fin-
dung ist, bemerken wir ohne Schwierigkeit.
•Wenn die Gewohnheit, eine Summe von Empfindungen
auf Ein Object zu beziehen, an und fiir sich schon ein Hin-
dernis ihrer Analyse ware, so wiirden wir ein mehrsilbiges
Wort, mit dem wir einen einheitlichen Gegenstand zu benen-
nen pflegen z. B. „Papier", schwerer in seine Silben zerlegen
als eine ungewohnte Zusammenfiigung von Silben, wie „Piepar".
Hier handelt sich's allerdings um successive Telle; aber in dem
Losung der Principienfragen. 75
Princip ist nichts dariiber gesagt unci es folgt iiiclit aus ihm,
dass es nur auf gleichzeitige anzuwenden ware. Nimmt man an,
dass Gleichzeitigkeit von Empfindungen an sich ein Hindernis
der Analyse ist, so hat man, eben ein neues Princip und gibt
zu, dass gewohnbeitsmassige Bezicbung auf Ein Object den
Unferscbied in der Moglicbkeit der Analyse uicbt erklart.
Aucb die besondere Scbwierigkeit, Doppelbilder wabrzu-
nebmen, auf welcbe Helmholtz verweist, kann nicbt in diesem
Umstand griinden. Das zweiaugig Fixirte doppelt zu seben,
gelingt Uberbaupt Niemand. Hicr muss 'also wol ein ganz un-
iiberwindlicbes Hindernis in den Empfindungen selbst vorliegen;
es wird eben nur Eine Empfindung da sein. Im Ubrigen aber ist
fUr die Wabrnebmung von Doppelbildern die Aufgabe gestellt,
dass die Aufmerksamkeit auf nicbtfixirte, seitlicb oder biuter
oder vor dem fixirten Punct gelegene Telle des Sebfeldes ge-
ricbtet werde, was besondere tJbung erfordert. Aucb wird das
indirect Gesebene undeutlicb geseben. Diese Umstande geniigen
zur Erklarung der Scbwierigkeit. Aualoges gilt beziiglicb des
blinden Flecks.
Das von Helmholtz friiber angewandte Princip ist also
nicbt einmal ricbtig. Wir betonen dies darum, well es sicb
als ein allgemeiner Grundsatz des s. g. Empirismus im Gcbiet
der Sinneswabrnebmungen iiberbaupt eingebiirgert hat. An
und fiir sicb konnten wir es bier unbesehen hinnebmen; die
Tatsacben der Klanganalyse waren doch nicbt damit erklart.
Etwas Richtiges ist ja an dem kritisirten Princip immer-
bih: dass namlicb gewisse Verbindungen mit fortscbreitender
tJbung des Wahrnebmens in immer einbeitlicherer Weise, mit
Einem Blick iiberschaut und aufgefasst werden; wie die Worte
der Scbrift und Spracbe. Wir erkennen "ohne Miibe, dass sie
viele einzelne Buchstaben enthalten und welcbe. Aber wir
iiberseben beim Lesen sogleich das ganze Wort und erfassen
seine Bedeutung, ohne zu bucbstabiren. Nicbt also eine Scbwie-
rigkeit der Analyse entstebt_ mit fortscbreitender tJbung des
Wahrnebmens, sondern nur eine Leichtigkeit der Ubersicht
iiber ein grosseres Ganzes, bestehe es aus successiven oder gleich-
76 § 1^- Mehrheit gleichzeitiger Tonempfiiukmgen.
zeitigen Elemciiten. In diesem Sinn ist denn auch wirklich
der Dreiklang und jeder Accord fiir den Musikgeiibten eine
Einheit geworden; er wird ohne Weiteres, s. z. s. niit Einem
Blick des Ohres, seiner Structur und musikalischen Bedeutung
nach aufgefasst und wiedererkannt. Aber eine Schwierigkeit der
Analyse folgt daraus natiirlich nicht.
Die Ursache, welche Helmholtz zu der offenbar falschen
Theorie fiihrte, ist wol in erster Linie darin zu suchen, dass
er von dem speciellen Fall der Obertone ausging, welche ge-
meinsam niit dem Grundton durch Ein Instrument und Einen
Act erzeugt werden; statt die allgemeineren Schwierigkeiten
der Analyse gleicbzeitiger Tone beliebiger Herkunft, von denen
jene nur ein besonderer Fall sind, der Erklarung zu unter-
werfen.
b) Betrachten wir nun die neuere HELMHOLTz'scbe Lehre.
Die ganze Darlegung iiber den Unterschied der Empfindungen
von den Wahrnehmungen, iiber die Zusammengesetztheit der
letzteren, iiber den Scbein der Einheit, welcher mehreren Em-
pfindungen durch das einheitliche Object, das sie bezeichnen,
zuwachse (S. 101 — 107^) ist hier hinweggefallen; dafiir dem
Abschnitt ein anderer Schluss beigefiigt (S. 106 — 111^).
Helmholtz unterscheidet jetzt zwei Grade des Bewusstseins von
P^mpfindungen. Der niedere Grad ist der, bei welchem der
Einfluss der betreffenden Empfindung sich nur in der von uns
gebildeten Vorstellung von den ausseren Dingen und Vorgan-
gen geltend macht („blos percipirte Empfindung"); wahrend wir
beim hoheren Grad die betreffende Empfindung unmittelbar als
einen vorhandenen Teil der zur Zeit in uns erregten Summe
von Empfindungen unterscheiden („appercipirte oder wahrge-
nommene Empfindung"). An verschiedenen Sinnen zeigt sich
nun, dass viele Ubung und vielleicht auch besonderes Talent
dazu gehort, eine Empfindung in gewissen Fallen zu apperci-
piren. So bei dem Urteil iiber Reinheit einer Weinsorte, Zu-
sammensetzung einer Speise, bei der Tastempfindung des Nassen,
die aus Gliitte und Kalte zusammengesetzt ist, bei den Dop-
pelbildern der beiden Augen, bei den unsre Raumvorstellung
Losuug der Princii)ienfragen. 77
bedingenden Muskelempfindungen. Die Elemente der Farben-
empfindungen konuen wir von vorDherein iiberbaupt nicht,
spater iiiir sehr schwierig' uud unter Anleitung der Erfahrun-
gen liber kiinstlicbe Zusammensetzung erkenuen. Flir's Obr
nun liegen Jedem Erfabruugen iiber die Zusammensetzung von
Klangen in ausgedebntestem Masse vor, und die Fabigkeit,
selbst sebr verwickelte musikabscbe Zusammenklange in die
einzebien Stimmen der sie bervorbringenden Instrumente zu
zerlegen, kann von Jedem, der seine Aufmerksamkeit darauf
wendet, bald erworben werden. (?) Aber die letzten Bestand-
teile, die einfacben Tone, werden selten gebort; die Golegen-
beit, ein genaues und sicheres Eriunerungsbild derselben
unsrem Gedacbtnis einzuverleiben, ist sebr bescbriinkt, Daber
wird die Zerlegung der Summe selbst in entsprecbendem Masse
unsicber. Desbalb miissen wir bei der Analyse eincs Klanges
wenigstens im Anfang uns die Elemente, die unterscbieden
werden sollen, vorber einzeln borbar macben, um eine ganz
friscbe Erinnerung an die Empfindung zu baben, die ibnen
entspricbt, und das ganze Gescbaft erfordert rubige und ge-
sammelte Aufmerksamkeit. Accorde werden bingegen leicbter
analysirt, weil wir die Kliiuge, aus denen sie besteben, genii-
gend oft einzeln vorber gebort baben.
Man siebt bier eiuen wesentlicben Gegensatz gegen die
friibere Lebre. Das ganze Problem ist nicbt mebr dies, warum
uns eine Anzabl von Empfindungen, wie die Teiltone, als Ein-
beit erscbeint — dies wird als der urspriinglicbe Zustand vor-
ausgesetzt — sondern warum und unter welcben Bedingungen
wir sie auflosen. Gewiss die ricbtigere Fragestelluug. Dem-
gemass findet aucb jenes Princip fiir die allmalige Entstebung
scbeinbarer Einbeit keinen Platz mebr. Es tritt ein anderes
an die Stelle; und zwar, wenn icb recbt verstebe, wird als
wesentlicbe Bedingung der Analyse angeseben, dass man die zu
analysirenden Bestandteile vorber einzeln gebort babe. Je
ofter dies der Fall war, um so leicbter gebe die Analyse vor
sicb. Im Ubrigen wird gesammelte Aufmerksamkeit und (nacb
den Bemerkungen iiber andere Sinne) aucb eine besondere
78 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfiudungen.
tJbung des Aiialysirens in dem betreffenden Gebiet, hypotbetiscli
auch ein besonderes Talent, zu den Bediugungen gerechuet. ^)
Den Grundsatz, dass nur das unterscbieden werden konne,
was vorber getrennt wabrgenommen wurde, batte icb selbst
friiber fiir sinnlicbe Unterscheidungen aufgestellt und an den
eiuzelneu Sinnen, besonders aber am Tonsinn zu erbarten
gesucbt. ^)
Er scbeint aber, in dieser strengen Form wenigstens, ein
irriger. Wenn mebrere sebr verscbiedeue Empfindungen gleicb-
zeitig vo)"banden sind, so ist nicbt einziisebeu, warum es einer
nocb so sebr gesteigerten Aufmerksamkeit durcbaus unmoglicb
sein sollte, ibre Mebrbeit und Verscbiedenbeit obne voraus-
gebende Erfabrungen iiber die einzelnen zu erkennen. Dass
vorberiges Horen, namentlicb unmittelbar vorausgebendes, einen
giinstigen Einfluss bat, erklart sicb geniigend aus der der Auf-
merksamkeit erteilten Richtung. Man vermag concentrirter zu
borcben, wenn man weiss, worauf man zu borcben bat. Der
Umstand, dass die Obertone im Allgemeinen scbwerer beraus-
gebort werden, als die Einzelkliinge eines Accords, begreift sicb
^) Am Schluss des ganzen Abschnittes fasst Helmuoltz das Ergeb-
nis dabin zusarumen: 1) dass die Obertone . . . empfunden (percipirt)
werden, wenn sie auch nicbt immer zur bewussten Wahrnehmung ge-
langen (nicbt appercipirt werden), 2) dass sie obne andere Hilfe als
eine zweckmassige Leitung der Aufmerksamkeit auch zur bewussten
Wahrnehmung gebracbt (appercipirt) werden konnen, 3) dass sie aber
auch in dem Fall wo sie nicbt isolirt wabrgenommen werden, sondern
in die Klangmasse verschmelzen, doch ibre Existenz in der Empfindung
erweisen durch die Veranderung der Klangfarbe.
Diese Zusammenfassung ist nun wieder, abgesehen von den einge-
scbalteten Kunstausdriicken. ganz identisch mit der in der 3. Auflage.
Aber der zweite Punct hiitte, soviel icb sebe. nicbt unverandert stehen
bleiben diirfen, sofern nach der neneren Darstellung die Aufmerksam-
keit allein nicbts niitzt , wenn die Bestandteile nicbt vorber einzeln ge-
hort wurden. Ubrigens ist im Inbaltsverzeichnis des Werkes sogar der
Satz stehen geblieben: „Wir sind in der Beobachtung unserer Sinnes-
empfindungen nur soweit geiibt, als sie uns zur Erkenntnis der Aussen-
welt dienen" — was sicb doch auf den aufgegebenen und gestrichenen
Teil der Lehre bezieht.
■-) Urspr. d. Raumvorst. 130 f.
Losung der Principienfragen. 79
hinreicliend aus ilirer geringeren relativeu Starke, aus der
exacteren Gleiclizeitigkeit ihres Auftretens mit dem Grundton
uiid dgl. (§ 21).
Anders verhielte sich die Sache, wenn die Empfindung
bei eiiiem Accord in sich selbst nur eine einzige einheitliche
ware: dann wiirde sich's nur um ein Hineindenken handeln
und dazu ware die Anleitung friiherer Erfahrungen iiber die
Entstebung eines solcben Klanges unentbebrlicb.
Die scheinbar eclatante Bestatigung des Principes durcb
die sog. Farbenanalyse, welche icb friiher ebenfalls beraiizog,
verdankt ibre Kraft aucb nur dieser Voraussetzung: dass nam-
licb die sg. Miscbfarbe fUr das Bewusstsein eine streng einbeit-
licbe Qualitat sei ebenso wie die sog. reine oder Grundfarbe,
dass also eine wirklicbe psycbiscbe Analyse bier iiberbaupt
nicbt, sondern nur eine Quasi -Analyse stattfinde. Und bier
diirfte die Voraussetzung aucb ricbtig, darum das Princip zu-
treffend seiu. lui Orange seben wir nicbt Rot und Gelb,
sondern es erinuert uns an diese Farben, weil es mit beiden
Abnlicbkeit besitzt, qualitativ zwiscben ibnen stebt. Als Em-
pfindungsinbalt ist es ebensowenig aus jenen zusammengesetzt,
wie ein mittlerer Ton aus einem boberen und tieferen, wie
eine lane Temperaturempfindung aus einer kalten und warmen,
wie ein mittelstarker Kopfscbmerz aus einem starken und
scbwacben. Es kommt allerdings aucb nocb die andere Tat-
sacbe in Betracbt, dass Orange durcb gleicbzeitige Einwirkung
zweier Wellengattungen , deren eine fur sicb allein Rot, deren
andere Gelb erzeugen wiirde, erzeugt werden kann. Aucb diese
Tatsacbe kann uns veranlassen. Rot und Gelb in Orange bin-
einzudenken. Aber aucb sie ist ja mit einer Zusammengesetzt-
heit der Empfindung selbst nicbt zu verwecbseln. Darum kann
denn dieser Fall, die sog. Miscbfarbenanalyse, mit dem der gleicb-
zeitigen Tonmebrbeit und ibrer Analyse keineswegs parallelisirt
und ein fiir den ersten Fall gliltiges Princip auf den zweiten
nicbt iibertragen werden ^).
*) Es wird allerdings von bedeutenden Forschern auch die Ansicht
vertreten, dass im Orange das Rot und Gelb wirklicb irgendwie gesehen
80 § 17. Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindung-en.
Selbstverstaudlich soil niclit geleugnet werdeii, class friihere
Falle der Klanganalyse giinstig fiir spiitere Falle wirken.
tjbuiig gibt es hier wie iiberall. Nur das behaupten wir, dass
ganz neue Tonzusammenstellungen nicht unter alien Umstan-
den unanalysirbar sein miissen. Es miissen daher aucb schon
in den Anfangen des psychischen Lebens vor jeder Erfahrung
iiber Klangzusammensetzung manche gleichzeitige Toncombina-
tionen (auch Combinationen von Tonen und Gerauschen) als
eine Mehrheit von Tonen nicht bios empfunden sondern auch
aufgefasst werden, z. B. ein Zusammenklang aus zwei nach
Hohe und Klangfarbe ausserst ungleichartigen Kliingen, deren
einer iiberdies starker das rechte, deren anderer starker das
linke Ohr trifft, noch dazu unter Umstanden, welche die Auf-
merksamkeit besonders auf diesen Zusammenklang hinlenken
und concentriren. Dieser Schluss ist notwendig, weil die Be-
dingungon, unter denen wir jetzt gleichzeitige Tone analysiren,
nachdem specielle Erfahrungen iiber die beziigliche Klangzu-
sammensetzung aus der Reihe der Bedingungen gestrichen sind,
sich von den ursprlinglich vorhandenen nur graduell unter-
scheiden konnen. Die tJbung des gewohnlichen und des musi-
kalischeu Horens kann die Hemmnisse verringcrn, die Chancen
des richtigen Urteils vergrossern, aber nicht das Urteil iiber-
wiirden. Ich will genaueren Bestimmungen hieriiber, die mit den ver-
wickelten Frageu iiber den Begriff der Grundfarbe, der Farbenintensitat,
Helligkeit, Sattigung n. s. f. zusammenhaugen, nicht vorgreifen. Aber
soviel scheint mir im Voraus, dass Elementarfarben , wenn dieser Be-
griff iiberbaupt haltbar ist, nicht in demselben Sinn in der Mischung
gesehen werden, wie Tone im Klang gehort werden: als niehrere gleich-
zeitige nnd gleichlocalisirte Qiialitaten. Gibt doch Jedermann zu, dass wir
die absolut reinen Grnudfarben niemals wirklich sehen, sondern hochstens
Annaherungen daran. In den Mischungen wiirden wir sie ja aber sehen.
Andrerseits, wenn der sogenannte Mischcharakter des Orange nur
in der Ahnlichkeit nach beiden Seiten besteht, wird allerdings der ganze
psychologische Begriff von Grundfarben schwankend. Denn Rot steht
auch zwischen Violet nnd Orange, es hat Ahnlichkeit nach beiden
Seiten. Nur physikalische oder phj'siologische (psychophysische) Tatsachen
bleiben dann zur Definition der Grundfarben iibrig. Wirklich ruht ja
aber dieser Begriff wenigstens bei Helmholtz auf keiuer anderen Basis.
Losung der Principienfragen. 81
haupt ermoglichen. Vor aller Ubung wird also iiur unter extrem
giiustigen Umstanden Erkenntnis der Mehrheit gleiclizeitiger
Tone stattfinden, aber sie wird nicht unter alien Umstanden
unmoglich sein.
9. Einfluss des Gefiihls (Klang- oder Harmoniegefuhls)
auf die Analyse. Mittelbare Kriterien.
. Wir erwahnten I 87 eine Anschauung, wonach alle Unter-
schiede nur durch's Gefiihl bemerkt wiirden. In ihrer Allge-
meinheit damals bereits als irrig erk'annt, soil sie docli bezUg-
lich der Analyse gleichzeitiger Tone nocli besonders widerlegt
werden, da sie gerade liier auch besondere Stiitzen zu baben
scheint. Dann gilt es wiederum , das Wahre daran herauszuheben.
Durch das Gefiihl, konnte man sagen, unterscheiden sicli
Zusammenklange gegcniiber Einzelkliingen und diese wieder
untereinander und von den einfachen Tonen. Notwendig muss
ja jede Verscbiedenbeit in der Klangzusammensetzung eine
Verscbiedenbeit der GefUhlswirkung zur Folge baben.
Sofern Einer biermit bebaupten wollte, dass wir eine
Vielbeit gleichzeitiger Componenten iiberbaupt nie wirklich
wahrnahmen, sondern nur aus den Gefiihlen auf dieselbe
schlossen (indem wir bei bestimmten Klangen bestimmte Geflihle
haufig erlebt und uns durch objective Untersuchung von der
Mehrheit der beteiligten objectiven Tone iiberzeugt hiitten), dass
also jede Klanganalyse ein mittelbares Urteil sei ; so ware diese Be-
hauptung durch die Untersuchungen des vorigen und gegenwartigen
Paragraphen bereits abgetan. Nur in dem Sinne kommt die Ge-
fUhlstbeorie noch in Betracht , dass das G e f ii h 1 ein u n e n t b e h r-
liches Hilfsmittel ware, umzur wirklichen subjectiven Analyse
zu gelangen, dass also der einzige Weg zum uumittelbaren Urteil
in jedemFall durch ein mittelbares fiihrte; analog der Annahme,
die wir beziiglich der Function von Muskelempfindungen in § 9
besprachen.
Man sieht nun bier wie dort nicht ein, warum durchaus
die Natur eines vorliegenden Tonmaterials in sich selbst keinen
Anhaltspunct geben soil, sondern nur die Natur eines beglei-
tenden Phanomens. Entweder ist das Gefiihl in sich einfach,
• Stumpf, Tonpsychologie. II. 6
82 § l"^- Mehrheit gleichzeitiger Tonempfindungen.
und wie soil es dann oline Hilfe der Erfahrung auf die Zu-
sammengesetztheit der Empfindung fiihren? Oder es ist selbst
zusammengesetzt, und dann entsteht ja die ganze Frage uach
der Moglichkeit der Analyse gegeniiber dem Gefiihl ebenso wie
gegeniiber dem Tonmaterial. Beruft man sich auf die Erfabrung,
wonach wir bei bestimmten Klangeu bestimmte Gefiible haufig
erlebten und so Anhaltspuncte gewiinnen fiir spiitere wirkliche
Analyse: was sollen uns solche Anhaltspuncte niitzen, wenn
wir nicht zugleich wissen, dass die friiheren Klange zusammen-
gesetzte Klange waren? Wir miissten dies also doch scbon in den
ersten Fallen aus der Natur der Gefiible a priori erkannt haben.
Da indessen die Berufung auf das Gefiihl bei Vielen be-
liebt ist, die der Sache nicht niiher nachdenken, so will ich
noch Eines beifiigen.
Das musikalische Harmonie gefiihl im eigentlichen Sinne
des Wortes kann den verlangten Dienst schon darum nicht
leisten, weil es vielmehr umgekehrt die Analyse voraussetzt.
Wir zeigen dies spater ganz im Einzelnen ; vorliiufig geniigen viel-
leicht einige Beispiele. Der abscheuliche Eindruck von Quinten-
parallelen verschwindet in demselben Masse als die beiden Tone
weniger deutlich auseinandergehalten werden. Jedem Musiker
fallen Belege aus der Praxis ein. Fiir den Unmusikalischen,
der die Zusammenklange nicht analysirt, besteht, wie ich mich
vielfach iiberzeugt babe, die Unannehmlichkeit der Quinten-
parallelen iiberhaupt nicht (geschweige denu fiir — Hunde,
wie irgendwo behauptet ist). Sie ist also nicht ein unmitteibar
dem sinnlichen Eindruck anhaftendes Gefiihl, sondern ruht auf
der Analyse desselben. Ferner: die beiden Accorde unter 1.
oder die beiden Zweikliinge unter 2.
J-l « ffiS XL
sind auf dem Clavier vollkommen identisch. Der Gefiihlseindruck
ist durchaus verschieden, wenn man die Noten dazu sieht:
weil beide nur in verschiedenem Zusammenhang vorkommen
Losung der Principienfragen. 83
konnen und dieser mogliche Zusammenhang eben durch die Schrei-
bung es oder dis, as oder gis angedeutet ist. Und zwar ist
der Gefiihlseindruck nicht etwa ausserhalb alles Zusammenbaugs
auch schon da und wird durch diesen nur modificirt, sondern
er ist (soweit das Harmoniegefiihl als solcbes in Betracht
kommt) ganz und gar vom Zusammenhang bestimmt. Auch
beim isolirten Accord ist er durch die aus der musikalischen
Erfahrung oder aus dem Geist des Musiksystems hinzugedachte
bez. vei'misste Auflosung oder sonstige Fortsetzung bestimmt.
Der erste Zweiklaug, isolirt angegeben und so aufgefasst, wie
die Noten es andeuten, ist bei 2. hochst unangenehm, der zweite
hochst angenehm. Es ist also klar, dass nicht der sinnHche
Eindruck, sondern die Auffassung desselben das musikaHsche
Harmoniegefiihl bestimmt; jenachdem wir z. B, einen Ton als
Touica oder als Leitton, als kleine Septime oder iibermassige
Sext auffassen (wenn auch nicht in kunstmassiger und begriff-
licher Weise). Diese Auffassung aber setzt natiirlich Analyse
voraus. Und so ist das Harmoniegefiihl im eigeiitlichen Sinne
durch die Analyse bedingt, nicht aber umgekehrt.
Es bliebe nur das elementare, rein sinnliche Klang-
gefiihl iibrig. ^) Dieses bildet allerdings manchmal einen An-
haltspunct, ein mittelbares Kriterium, welches dem unmittel-
baren Urteil unter Umstanden den Weg bereiten kann. ^)
Ein Klang kann uns anmuten, als ware er zusammengesetzt
und sogar in bestimmter Weise zusammengesetzt, Nachher. be-
merken wu' vielleicht die Teile selbst im Ganzen. Aber es
leuchtet ein, dass gewisse Erfahrungen vorausgehen miissen
*) Die Aufmerksamkeit rechnen wir allerdings auch zu den Ge-
fiihlen, aber von ihr als (nicht unentbehrlicher) Bedingung der Analyse
ist ja bereits gesprochen und wird noch naher in § 22 die Rede sein.
-) Von solcher vorbereiteuden Function mittelbarer Kriterien spricht
auch W. James einmal als von einem „allgemeinen Gesetz der Unter-
scheidung". „It seems to be one of the laws of discrimination, that two
feelings, whose contrast is so slight as to pass unnoticed, may end by
becoming distinguished, in case they severally form associations with
other bodies of feeling whose contrast is more massive" etc. (Journ. of
Spec. Philosophy, XIII 81.)
6*
84 § 17. Mehrbeit gleichzeitiger Tonempfindungen.
und dass wir me aucli nur auf die Vermutung einer (subjec-
tiven) Toninehrheit kommen wiirden, hatteu wir solclie nicht
bereits erlebt, d. li. in einem Klangganzeii entsprecliende Teile
wabrgenommen.
In dieser Weise wirken ja auch andere mittelbare Krite-
rien zur Analyse • gelegentlich mit: die Klangfarbe, die Schwe-
bungen, der Anblick mebrerer Instrumente u. s. w. (wovon
§ 23, 1, b). Aber alle mittelbaren Kiiterien sind triigeriscb,
wie wir scbon im I. Band an vielen Beispielen gesehen. So
konnen zwei Instrumente docb aucb iinisono spielen; konnen
Intensitatsscbwankungen, die den Scbwebungcn genau gleicben,
aucb durcb einen einzelnen Ton bervorgebracbt werden u. s. w.
Dies ist zugleich wieder ein Beweis, dass in keinem bios mit-
telbaren Kriterium ein unentbcbrliclies Hilfsmittel der Ana-
lyse liegen kann. Unmittelbare Urteile aus dem Klangmaterial
zeigen ibre selbstandige Existenz, indem sie der durcb das
mittelbare Kriterium naliegelegten Vermutung widersprechen.
Endlicb 'wollcn wir nicbt leugncn, dass in vereinzelten
Fallen, bei im bocbsten Gradx) unmusikaliscben Personen, jener
Zustand wenigstens naliezu verwirklicht sein kann, dessen all-
gemeincs oder aucb nur normales Vorkommen wir bestritten
liaben: dass sie liber gleicbzeitigc Tonmebrbeit nur mittelbar
urteilen und sicb dabei durcb ein gewisses Gefiiblsmoment
leiten (bez. irreleiten) lassen. Mebrere bervorragend uimiusi-
kaliscbe Personen (die I 327 bescbriebenen) liaben sicb in
diesem Sinne geiiussert. Die eine dersolben unterscbied aucb
sehr genau diese Quasi- Analyse von einer wirklicben. Sie
gab bestimmt an, immer nur Einen Ton walirzunebmen, aber
zu wis sen, dass es zwei seien, weil ibr der Eindruck unan-
gencbm sei. Nur die Octave wurdo meist nicbt unangenebm
gefundei] und dementsprecbend als Ein Ton beurteilt. Sonst
wurde immer auf zwei Tone, von Seiten der iilteren Dame so-
gar immer auf drei geraten, moclite das Intcrvall der beiden
gleicbzeitigen Tone sein, welcbes es wollte. (Der Grund fiir
die Unannebmlicbkeit des Eindrucks ist bier wol nicbt in den
Scbwebungen zy sucben, die z. B. bei Quintcn in boherer Lago,
Losung der Principienfragen. 85
und bei kurzem Aiischlage auch sonst, kaum merklicli sincl.
Er liegt vermutlich in der Undeutlichkeit des Eindrucks. Ein
einzelner Klang mit hervortretendem Grundton hat eine be-
stimmte Tonhohe; ein Ziisammenklang nicht. Fiir den Musiker,
der diesen analysiren kann, bat eben jeder Teilklang bez. dessen
Grundton seine besondere Hohe. Wer aber zur Analyse un-
fiihig ist, dem muss ein Zusammenklaug als Ton von unbe-
stimmtcr Hohe und gegeniiber den gewohnteren Einzelkliingen
als ein in gewisser Hinsicht undeutlicher Toneindruck, ahn-
lich einer „schmutzigen" Farbe, erscheinen. Namhaft machen
kann er freilich auch die Hohe des Einzelklanges niemals:
aber dieser scheint ihm doch in der oft gehorten und nament-
lich vom Clavier her bekannten „jedem Ohre klingenden"
Klangreihe einen Platz einzunehmen, was von den Zusammen-
klangen nicht gilt. Ubrigens sind ja auch vielen Naturvolkern
Zusammenklange widerwiirtig, und wahrscheinlich aus verwand-
ten Griinden.)
Gcfiihlc gohoren also ebensowenig wie vorausgehcnde Er-
fahrung zu den intcgrirenden Bedingungen der Analyse. Ganz
unentbchrlich ist koine einzige psychische Fahigkeit ausser dor
des Wahrnehmens Uberhaupt.
So sind wir in den Grundlagen zu der einfachsten, nachst-
licgenden und von den Moisten gebilligten Annahme zuriick-
gefiihrt: Mehrere gleichzeitige Tone konnen empfunden und
grobe Unterschiede derselben ohne Weiteres bemerkt werden,
feinere erst bei tJbung und sonst giinstigen Umstanden. Aber
man wird die Discussion der Schwierigkeiten und die Kritik
der entgegenstehenden Annahmen nicht fiir unniitz erkliiren, da
auf diesem Wege allein nicht bios eine wirkliche Uborzeugung
iiber die Frage gewonnen sondern auch der Grund des ganzen
weiteren Baues gelegt werden konnto und iiberdies eine Reihe
allgemeinerer Begriffe und Principien aus der Theorie der Sinnes-
wahrnehmuug zur Untersuchung kam.
86 § 18. Physiologische Voraussetzungen
§ 18. Physiologische Voraussetzungen
der Klanganalyse.
Die psychologische Theorie der Empfindungen stUtzt sich
zunachst mit Uberspringung der Nervenprocesse direct auf die
genaue Betrachtung der Wahrnehmungen, die wir durch aussere
Reize erhalten. Die Ergebnisse bilden dann ebensoviele Postu-
late, "welche zusammen mit anatomischen Daten die physiolo-
gischen Bedingungen der Empfindungen erschliessen helfen. 1st
dies bis zu gewissem Grade gcschehen, so kann aus den so
gebildeten Vorstellungen iiber die nervosen Grundlagen hie und
da auch deductiv Einiges iiber die Natur der Empfindungen
erschlossen werden.
Aus diesem Verhaltnis der physiologischen und der psycho-
logischen Forschung iiber Empfindungen folgt, dass wir an
jedem Punct unsrer Untersuchungen die Consequenzeu dersel-
ben nach der physiologischen Seite im Auge behalten mlissen.
Hier specicll gilt es, iiber die Kraft der Griinde kkxr zu wer-
den, welche der Annahme anatomisch getrennter Nervenelemente
fiir verschiedene gleichzeitigc Tone das Wort reden, sowol in
dieser allgemeineren Fassung als in der speciellen Durchfuhrung,
die man als Lehre von der Schneckenclaviatur zu bezeichnen
pflegt.
Insoweit solche anatomische Sonderung der tonerzeugenden
Processe sich etwa auch unabhtingig von den psychologischen
Betrachtungen wahrscheinlich machen lasst, liefert sie zugleich
eine Bestatigung fiir diese. Denn es ware nicht abzusehen,
wozu dorartige anatomisch -physiologische Einrichtungen ge-
troffen sein sollten, wenn nicht zur Ermoglichung des glcich-
zeitigen Horens.
• Daran werden sich weiter einige Untersuchungen schliessen,
die das Princip der specifischcn Encrgien betrefi"en und in ihren
Consequenzen ebenfalls nicht bios fiir die physiologische Erkla-
rung, sondern auch fiir die Beschreibung der Empfindungstat-
sachen selbst von Wichtigkeit sind.
der Klanganalyse. 87
I. Anatomisclie Vorrichtungen.
1. Postulat dcr auatomischen Sonderung.
Wenu wir melirere gleichzeitige Tonreize als mehrere
gleicbzeitige Tone empfiuden, so scheint mir der Schluss un-
vermeidlich, dass irgendwo im Organismus, sei es im Ohr oder
erst im Gehirn, eine physische Zerlegung der in das Ohr
dringenden Gesammterregurig stattfinden muss.
Jedenfalls muss das Princip gelten, dass den Unterschieden
unsrer Empfiudungen Unterschiede der letzten physischen Pro-
cesse (derjenigen, an welche unmittelbar Erapfiudung gekniipft
ist) correspondiren. Nun konnte man allerdings fragen, ob
nicht dui'cb die besondere Form der Gesammtwelle, beziebungs-
weise die Bescbaffenheit der cbemiscben oder elektriscben
Processe, die von ihr im Nervensystem erregt werden, die Mehr-
beit gleicbzeitigcr Tone sicb begreifen liesse, obue dass wir eine
locale Zerlegung dieser Processe annebmeu^). 'Macben wir dies
concret an der Gesammtwelle der vereinigten Tone einer grossen
Terz (bei gleicber Amplitude und anfanglicber Pbasendififerenz 0)
oben S. 28, 4:5. Diese Gesammtwelle entbiilt innerbalb ihrer
Periode 5 Wellen des hoberen, 4 des tieferen Tones. Aber man
wird scbwerlicb in ibr irgendwelcben Anlass entdecken, sicb durcb
zwei Empfindungen geltcnd zu macben. Die 5 Maxima und
die 5 Wellen des boberen Tones fiuden sicb allerdiugs in ibr
wieder, wenn aucb wesentlicb verandert (nacb Hobe und Lange
variirend). Man kann also, wenn man die Anzabl der successiven
Anstosse in der Secunde und die dadurcb bedingten letzten
pbysiologiscben Processe als massgebend fiir die Tonempfindung
ansiebt, den boberen Ton erkliiren. Aber wo bleibt der tiefere?
^) LoTZE sprach sich in dcr Med. Psychol. 270 dahin aus. „Wirken
zwei Tone gleichzeitig ein, so werden ihnen auch stets zwei Keihen
periodischer Impulse in dem Nerven entsprechen und es wird mithin
an den Gegenstanden wenigstens nicht fehleu , welche den Inhalt zweier
gesonderten Empfindungen bilden konnen, indem sowol die eine als die
andere zusammengehorige Reihe jener ausgezeichneten Werte (Maxima)
nach der Frequenz ihrer Wiederkehr als besonderer Ton percipirt
werden wiirde."
83 § 18- Physiologische Voraussetzungen
Die mathematisclie Betrachtung mag in der Modification der
Sinuswellen des hoheren Tons die Existenz des tieferen er-
kennen. Aber der Nerv? Wenn die Zahl der successiven Er-
regungen fiir ihn massgebend ist, um eine bestimmte Empfiuduug
zu erzeugen — und welche andere Auuahme sollte man machen
— so kann er eben nur den lioheren Ton erzeugen. Setzen
wir nun fiir die' Schwingungen eiiien chemischen oder elek-
trischen Vorgang, so wird die Sacbe in keinem Fall besser:
die zeitlicbe Gliederung bleibt dieselbe oder fallt ganz weg.
Ich meine natiirlich nicht, dass die Empfindung in einem
Zahlen der Impulse bestande oder darauf beruhte. Die Forde-
rung ist nur die: es miissen in der Bescbaffenheit der Er-
regung, welclie den Nervenendigungen und weiter den Nerven
und Ganglien mitgeteilt wird, ir gen d welche — ganz einerlei
welche — Momente sein, welche es moglich erscheinen lassen,
dass durch den 'Einen Reiz zwei Tone in der Empfindung er-
zeugt werden, und welche variiren je nach der Combination
dieser Tone. Dies eben scheint mir nicht geleistet zu werden,
solange nicht irgendwo eine locale Sonderung der den Touen
entsprechenden Processe angenommen wird.
Hiernach betrachte ich die Fahigkeit des Menschen, mehrere
Tone gleichzeitig zu horen, als einen Beweis fiir eine anatomisch-
physiologische Zerlegung des tonerzeugenden Processes und diese
Zerlegung selbst nicht als eine blosse Hypo'these sondern als
cine- Forderung der Theorie. Helmholtz spricht dies zwar,
soviel ich sehe, nicht direct aus, aber nach der ganzen Anlage
seiner Untersuchung und Darstellung diirfte es auch seiner
Meinung entsprechen.
Auch die Einflusslosigkeit der Phasenverschiebungen auf
die Gehcirserschcinung wiirde sonst wieder nicht begreiflich sein,
da doch sehr wesentliche Unterschiede in der Form der Ge-
sammtwelle damit vcrknupft sind. Findet Sonderung der Gc-
sammtwelle in Sinuswellen Statt, so ist auch dieser Umstand
begreiflich, ja notwendig.
Ausserdem gibt es speciellerc Erschcinungen, welche fiir eine
anatomische Sonderung der Tone sprechen. So die Schwierig-
der Klanganalyse. 89
keit des Trilleriis in der Tiefe, genauet die Schwierigkeit
der Unterscbeidung der getrillerten tiefen Tone. Diese Er-
scheinung stellt Helmholtz (235) als cntscheidenden Grund
liin, da sie nur iinter der Voraussetzung begreiflich sci, dass
Teile von geriugerer Diimpfungsfahigkeit (liingerer Nacherreguug)
diese Tone vermitteln, dass also bohe und tiefe Tone anato-
miscb getrennt sind.
Auf partielle Anastbesien wies Helmholtz gleicbfalls
zuerst als auf eiue Bestatigung bin. Seitdem sind solcbe Falle
genauer untersucbt mid bescbrieben; wir baben I 403 f. die
wicbtigsten Beispicle zusammengestellt ^). Ebenso lassen sicb
die partielleu Hyperastbesien anfiibren (1 269 Spalding's <7^;
ferner I 413)-), Sodann die partiellen Yerstimmungen (Doppelt-
boreu I 266 f. 275). Aiicb die Moglicbkeit, diircb die Auf-
merksamkeit Obertone und Combinationstone einzeln zu ver-
starken, weist auf einen local gesonderten Angriffspunct fiir
jeden solcben Ton bin (s. u. § 22). Endlicb Uisst sicb das un-
gleicbe Verbalten der Scbwebungen in verscbiedenen Regionen
nicbt gut anders als durcb anatomiscbe Verscbiedcnbcit der
Trager erklaren, wenn aucb fiir das Zustandekommcn von
Scbwebungen iiberbaupt ein Hilfsprincip notwendig wird (§ 27).
Helmholtz stiitzt durcb diese Tatsacben, soweit er sie
beranziebt, nicbt bios die anatomiscbe Sonderung der Tonreize
im Allgemeinen, sondern die von ibm speciell ausgebildete
concrete Anscbauung von der Scbneckenclaviatur. Und sicher-
>) Weiter vgl. Gradenigo, A. f. 0. XXVII 105 f. (Taubheit fiir
mittlere Region als besonderer Typus). Kirchner, Sitz. Ber. d. Wiirz-
burger med.-phys. Ges. 1887 S. 78. (Ein musikalisch feingebildeter Mann
horte zwischen C und c* auf dem Clavier in j§der Octave nur zwei bis fiinf
Tone, in der viergestrichenen Octave alle. Ursache wahrscheinl. Syphilis.)
^) Aucb Reflexe sind zuweilen an ganz bestimmte einzelne Tone ge-
kniipft, und nicbt bios etwa dann wenn diese besonders stark gebort
werden. So wurde ein stai-k schwerboriger Mann, wenn ibm die kraftig
angeschlagene c*-Gabel vor das recbte Obr gehalten wurde, fiir einige
Secunden ganz scbwindlig (optiscb und motoriscb); wabrend /is* und
iiberbaupt andere bohe und tiefe Gabeln keinen Schwindel erzeugten.
Jacobson im A. f. 0. XXI 294 f.
90 § 18- Physiologi^che Voraussetzungen
lich clienen sie gerade dieser bestimmten Form der Vorstellung
besonders zur Stiitze. Aber sie wiirden fiir die anatomisclie Isolirung
im Allgemeiiien aucb danii eine Stiitze bleiben, wenn diese
bestimmtere Form der Lehre aufgegeben werden miisste. Einen
ganz zwiiigenden Beweis liefert kaum eine der zuletzt ange-
fiihrten Tatsachen, weder fiir die speciellere Form der Lehre
iioch fiir ihren allgemeiuen Grundgedankeu; es bleiben fiir jede
dieser Erscheinungen iioch andere Erklaruugsgriinde mehr oder
minder leicht denkbar. Aber es wird sich doch keiu Nach-
denkender dem Eindi'uck derselben in ihrer Gesammtheit ent-
zieben konnen.
2. Die Hypothese der „Sclineckenclaviatur".
Betrachten wir nun auch die concrete HELMHOLTz'scbe
Hypothese selbst, die unter obigem Titel popular geworden ist.
Ibr Grundgedanke ist die Zerlegung der Gesammtwelle in Smus-
wellen durch gesondert mitschwingende Telle innerhalb der
Schnecke; wodurch der Vorgang auf die bekaunten physi-
kalischen Gesetze des Mitschwingens zuriickgefiihrt und uns so
in seinem Mechanismus vollkommen verstandlich wird. Als
solche auf verschiedene Tone mitschwingende (abgestimmte)
Telle hatte Helmholtz urspriinglich die CoRTi'schen Bogen
angesehen, die, aus ausseren und inneren Pfeilern zusammcn-
gesetzt, die Grundmembran der Schnecke Uberdecken und an
Spannweite und Hohe von der Basis bis zur Spitze der Schnecke
zunehmen. Nachdem Hasse gefunden, dass die CoRTi'schen
Bogen bei Vogeln und Amphibien fehlen, andererseits Hensen
durch Messungen der Grundmembran gezeigt, dass diese selbst
von der Basis bis zur Spitze der Schnecke an Breite (um mehr
als das 12-fache) zunimmt, halt nun Helmholtz mit Hensen
die eiuzelnen Fasern der Grundmembran fiir die mitschwingenden
und zerlegenden Gebilde. Dass einzelne Faserbiindel einersolchen
zusammenhangenden Membran in Mitschwingmigen geraten
konnen, ohne dass die benachbarten merklich in Bewegung ge-
setzt werden, zeigt er durch mathematische Deduction.
Die tiefsten Tone werden hiernach (ebenso wie nach der
urspriinglichen Hypothese) durch die Spitze oder Kuppel der
der Klanganalyse. 91
Schnecke, die hochsten durch die Basis, dem ovalcn Fenster
gegcniiber, vcrmittelt.
Uber die feineren Bindeglieder des Mechanismus gehen die
Anscliauungen noch auseinander. Als die eigentlichen peripbe-
rischen Eudorgane der Hornervenfasern sind die Haarzellen des
CoKTi'schen Organes (welches ausser den obengenannten Bogen noch
verschiedenartige Gebilde in sich befasst) zu betrachten. Sie werden
darum auch als Gehorzellen bezeichnet. Hier erst erfolgt die Um-
setzung der bis dahin mechanischen Bewegung in den Nerven-
process. Die CoKTi'schen Bogen konnen nicht als Nervenendgebilde
angesehen werden, weil sie bei Atrophic des Nerven unversehrt
gefunden werden.
Wahrend aber Hensen und Helmholtz die CoRTi'schen Bogen
als ein Mittelglied fiir die tjberleitung der Erregung von der
Grundmembran auf die Haarzellen aiiffassen, behauptet A. Bottcher
eiue directe Einwirkung der Grundmembran auf diese und fasst
die CoRTi'schen Bogen nur als einen Stiitzapparat ^) (Waldeyer als
einen Dampfungsapparat).
Das sind intime Fragen der mikroskopischen Anatomic. Aber
Eine Bemerkung vom Standpunct uuserer Erorterungen mochte
ich nicht unterdriicken : die Beobachtungen Hasse's uber Vogel
und Amphibien bilden an und fiir sich keinen zwingenden Grund,
die altere HELMHOLTz'sche Ansicht iiber die Bedeutung der
CoRTi'schen Bogen aufzugeben. Denn fiir die Wahrnehmung der
einzelnen Tone und gewohnlicher nicht zu schneller Folgen von
Tonen . brauchten wir iiberhaupt keine specificirten Gebilde im Ohr
auzunehmen. Dass aber Vogel und Amphibien die Fahigkeit be-
sassen, die Tone eines Accords zu unterscheiden, ist nicht bewiesen,
^) A. f. 0. XXIV (1887) 95 f., 131 f., 151, 320 f. XXV (1887) 1 f.
(,,Wie kommt die Gehorsempfindung in der Schnecke zu Stande?")
Vgl. Schwalbe's Lehrb. d. Anatomie der Sinnesorgane 1887, 362 f.
Nach ScHWALBE gehen die Fasern der Grundmembran nicht, wie nach
BoTTCHEK, aus dcu Fussplatten der ausseren CoRTi'schen Pfeiler hervor,
sondern sind davon noch durch eine homogene Schicht getrennt. Retzius
fand diese trennende Schicht beim Kaninchen sogar noch aus feinsten
Faserchen zusammengesetzt.
92 § 18.' Physiologische Voraussetzungen
ebensowenig, dass es ihnen mehr Schwierigkeit machte, eiueu Triller
in der Tiefe klar zu horen als einen in der Hohe u. s. w. Nun
ist es freilich undenkbar, dass beim Menscben, der gleichzeitige
ebcuso wie aufeiiianderfolgende Tone unterscbeiden kann, beide
Fabigkeiten an verscbiedene Organe im Obr geknliiift waren. Aber
nicbt undenkbar scbeint es, dass der Lauf der generellen Ent-
wicklung ein und dasselbe urspriingliche Organ allmalig in solcber
Weise umgestaltct batte, dass es erst in seinen boberen Entwicke-
lungsstufen, mit den CoKTi'scben Bogen verseben, zur Unter-
scbeidung gleicbzeitiger Tone fabig geworden ware. Auch die
Grundmenjbran bat sicb gewiss nicbt vom ersten Anfang an dazu
geeignet. Sie erscbeint nacb Retzius zuerst bei den Krokodilen
fibrillar, deutlicber dann bei den Vogeln und Saugern.
Fragen wir nun nacli den Griindeu, welche diese besoudere
uud anschauliche Form der Lehre zu stUtzen dienen. Wenn
man offeu seiu will, wird man vielleicht sagen miissen, dass die
Haupttriebfeder zu ihrer Annabme und Festhaltung bis jetzt
mehr ein Motiv als ein eigentlicher logischer Grund ist. Nur
nach dieser Anschauung ebeu gelingt es uns, die im AUge-
meinen geforderte Isolirung der tonerzcugondcn Processe be-
kannten Gesetzeu untcrzuordnen; in keiner aiideren Weise
konuen wir uns ein concretes Bild von dem Mechanismus der
pliysiologischcn Analyse maclien. Die Schwierigkeit oder Leichtig-
keit, mit der wir etwas unsren bisherigen Begriffen und An-
schauungen unterorduen, ist fiir die Natur kein Motiv, die
Sachc auf diese Weise cinzurichten ; aber sio geniigt uns, um
so lange, als nicht starkc Gcgcngriiude vorlicgen, an jener Vor-
stellung festzuhalten.
Wunderbar bleibt es freilich, wie so kleine Tcilchcn solbst
auf tiefste Tone mitschwingen konnen, die wir durch Saiten
von gewaltiger Grosse erzeugen und durch die wir auch nur
Saiten von gleichcr Grosse zum Mitschwingen bringen konnen.
Doch sind die (Spannungs-Belastungs- u. s. w.) Verhaltnisse
im lebendigen Organ so himmelweit von denen unsrer Instru-
mente verschieden, dass wenigstens ein triftiger Einwand da-
raus nicht cntnommen werden kann; und Hensen's Versuche
der Klanganalyse. 93
an den Horharchen von Mysis haben tatsachlicli gezeigt, dass
hier verschiedene Hiirchen auf verschiedene Tone eines Klapp-
liorns mitschwingen ^).
Ausserdem fehlt es indessen auch nicht an Gr linden im
eigentlichen Sinne zu Gunsten der Hypothese. Die Tone, welclie
wir nach dem Zeugnis der Wahrnehmung aus einem Zusammen-
klang heraushoren, entsprechen ihrer Hohe nach den aus der
Gesammtwelle durch die mitschwingenden Fasern ausgeschiedenen
Sinuswellen; z. B. wenn die Wellen 4:5 vereinigt das Ohr
treffen, horen wir audi gerade diese Tone aus Aem. Zusammen-
klang heraus. tJberliaupt treffen die zu erwartenden Conse-
quenzen in Hinsicht des Horens allerseits zu, oder es lassen
sicli wcnigstcns fiir anscheinende Abweichungen Erkliirungen
denken (wie fiir die zu geringe Starke der Obertone, s. § 21).
Nicht iibel lasst sich auch die grossere Empfindungs-
stiirke und die vorwiegende Neigung zu Hyperiisthesien,
aber auch die leichtere Alteration der Empfindungsfahig-
keit fiir hohere Tone ^) aus der Schneckentheorie begreifen :
die hoheren Tone werden, wie erwahnt, durch die Schnecken-
basis vermittelt, an welcher die lebendige Kraft des ein-
dringenden Reizes noch am grossten ist, wclche aber zugleich
den Schadlichkeiten (momentanen Druckschwankungen, Bluter-
giissen, fortgepflanzten Entziindungsprocessen u. s. w.) am Meisten
ausgesetzt ist, sowol denjenigen, welche Hyperiisthesie, als
») Vgl. Herm. Hdb. Ill, 2, S. 100 f.
2) tjber die Tatsachen s. I 404, 413; audi Moos, Pathologische
Beobachtungen iiber die physiologische Bedeutung der hoheren musi-
kalischen Tone, Z. f. 0. II (1872) Abteil. 2 S. 139.
Ich hore ausser dem ofters erwahnten subjectiven fis^ sehr haufig
kurzdauernde subjective Tone, deren Hohe ich mir seit mehr als 10
jfahren jedesmal notire. Sie liegen (ganz wenige ausserst schwache
etwas tief ere Tone ausgenommen) sammtlichjenseitsdesc' nach oben
hin. Von grosser Haufigkeit sind Tone der drei hochsten Octaven (der
sechs- bis achtgestrichenen), deren genaue Hohe sich allerdings meist nicht
bestimmen lasst. Auch Oppel beschreibt Pogg. Ann. 144 S. 47G 27
Falle, die alle zwischen cP und ¥. liegen.
94 § 18- Physiologische Voraussetzungen
welche Scliwacliung iind Vernichtung der Empfindungsfahigkeit
bediiigen koniien^).
Zwingende Beweise sind dies natiirlich auch niclit, aber
unleugbar gute Griinde.
Man bat die Hypotbese aucb durcb Yergleicbung der
Anzabl der Fasern mit derjenigen der Tone zu controliren
gesucbt, und die erstere bald fiii" mebr als binreicbend,. bald
fur zu gering eracbtet — je naeb der Art, wie man die Fa-
sern und wie man die Tone zablte. Vgl. I 301. Da die iso-
lirbaren Fasern. der Grundmembran viel zablreicber sind als
die CoRTi'schen Bogen (etwa 4 derselben entsprecben der Fuss-
platte eines iiusseren Pfeilers beim Menscben), so ist die neuere
Form der HELMHOi^Tz'scben Hypotbese bier im Vorteil gegen
die altere. Docb entbiilt nur die aussere Zone der Grundmem-
bran (Zona pectinata) wirklicb isolirbare Radiarfasern. Ibre
Anzabl wird beim Menscben von Retzius auf 24 000, von
Hensen auf 13 400 gescbatzt. Die Anzabl der ausseren Haar-
zellen, denen die getremiten Scbwingungen iiberliefert werden
sollen, scbiitzt Retzius auf 11500 — 12 000, Waldeyer auf
18 000, Krause auf 19 800. Was die Zabl der unterscbeid-
baren Tone betrifft, so dlirfte sie sicb allerdings noch immer
grosser berausstellen, als sie bis jetzt im Maximum gefunden
wurde (s. die Bcrecbnung a. a, 0. zusammcn mit den Nacb-
triigen am Scbluss des gegenwiirtigen Bandes). Aber sie er-
reicbt oben bis jetzt aucb nocb lange nicbt die angegebenen
Zablen fiir die anatbmischen Elemente. Und selbst .wenn sie viel
grosser als diese befunden wiirde, so bliebe noch ein Ausweg.
Wir mlissen immer im Auge bebalten, dass durcb die geson-
derte Leitung nicbt die Unterscbeidung aufeinanderfolgender,
sondern gleicbzeitiger Tone erklart werden soil. Nur bei auf-
einanderfolgenden aber sind bis jetzt genauere Scbwellenwerte
ermittelt. Die simultane Unterscbeidungsfabigkeit ist, obscho'n
nocb nicbt mit gleicber Genauigkeit untersucht, docb sicberlicb
ganz bedeutend geringer (§ 23, 1, a). Wenn nun dariiber binaus
^) Vgl. Brunner Z. f. 0. XIII 277 f.
der Klanganalyse. 95
noch feinere successive Unterschiede bemerkt werden, so kann
man sich dies so vorstelleu, dass nicht bios eine und dieselbe
Faser im Stande ist, sich Unterschieden der Schwingungsdauer
iimerhalb eines gewissen Betrages auzupassen (was unzweifel-
haft der Fall ist) sondern dass audi ein und dasselbe mit dieser
Faser in Verbindung stehende centrale Horganglion eine in-
nerhalb desselben Betrages (z. B. einer Halbtonstufe) verander-
liche specifisclie Energie besitzt. Wir werden von diesem bisher
allerdings ungewohnten Begriff weiter unten noch zu spreclien
haben. Auf diesem Wege wird sogar eine unendliche Zahl
von Tonempfindungeir, d. h. eine wahre Continuitat des Ton-
gebietes denkbar trotz Discontinuitat der abgestimmten Gebilde;
obschon auch denkbar bleibt, dass die Continuitat nicht Sache
der Empfindung sondern der blossen Auffassung ware (1 184 f.).
Man hat ferner durch Tierversuche bald den Beweis
bald die Widerlegung der HELMHOLTz'schen Theorie erbringen
wollen. MuNK hat die untere Wand der Schnecke bei Hunden
weggebrochen und sagt, dass diese Tiere, nachdem sie zu-
nachst 14 Tage taub gewesen, spater nur auf tiefe Tone und
Gerausche durch Reflexbewegungen reagirten ; was also mit
Helmholtz' Lehre Ubereinstimmen wiirde. ^) Unter seijier
Leitung unternahm Baginskt ausgedehntere Versuche in glei-
cher Richtung und mit ahnlichem Ergebnis. ^) Andrerseits
fiihrt Stepanow Versuche an Meerschweinchen in's Feld,
welche nach Zerstorung der oberen Schneckenteile gleichwol
nocli auf tiefere Tone reagirten, und erklart damit die Helm-
HOLTz'sche Hypothese fiir abgetan. ^)
Als Tonreize beniitzte Baginsky ein von Munk zusammenge-
stelltes Pfeifensystem von C^ bis c^ (9 Pfeifeu; die mittlereu
liessen sich aber durch Verschiebung des Deckels noch verscliiedeu
^) Monatsberichte der Berliner Akademie, Mai 1881.
2) ViRCHOw's Arcli. f. pathol. Anat. 94 (1883) S. 65 f. Ein Vortrag
Baginsky's auf dem internationalen Mediciner-Congress in Kopenbagen
1886, der mir nur aus einem Referat (Z. f. 0. XXV 138) bekannt ist,
scheint sich nicht auf neue Versuche zu beziehen.
^) Monatsschrift f Ohrenheilkunde 1888 Nr. 4 (S. 85 f )
96 § 18- Physiologische Voraussetzung *
abstimmen). Nur beieinem Teil der Tiere gelang die schwierige
Operation. Nach Anbohrung der Schneckenspitze reagirten diese
Hunde einige Tage nach der Operation, als sie sich von derselben
erholt batten, noch auf keinen Ton; nur der Knall eines Ziind-
hiitchens schreckte sie auf. Dann reagirten sie auf c ^, dann auch
auf c*, c^, einige auch noch schwach auf c^. Dabei blieb es
aber, solange sie lebten. Der umgekehrte Versuch bei Wegnahme eines
Knochenstiickchens der Schueckeubasis gelang weniger. Eine grossere
Zahl von Huuden blieb hier taub, ausser gegen den Knall des Ziind-
hiitchens. Etliche reagirten nach einiger Zeit auf hohe wie tiefe
Tone, wenn auch starker auf Ictztere. Eine geringere Anzahl
endlich reagirte langere Zeit hiudurch blos auf tiefe Tone (die 3
bis 4 tiefsten Octaven der Reihe), doch wurden auch diese nach
3 — 4 Wochen wieder fur hohe Tone cmpfindlich und schienen
zuletzt normal zu horen. Durch nachtragliche Section wurde
jedesmal Umfang. und Art der Zerstorung geuauer controlirt.
Baginsky hat Nichts iibcr die absolute Anzahl der Versuche ange-
geben, ebensowcuig iiber die Starke der angewandten Tone.
Die Schnecke des andcrcn Ohres wurde in einer Reihe dieser
Versuche gauz zerstort, in einer anderen Reihe einer gleichen
Verstummelung unterworfen. In bciden Fallen waren die Ergeb-
nisse die genannten.
Dagcgcn vcrnioclite Baginsky nach beiderseitiger Ausschaltung
mittlcrer Partien der Schnecke nicht einen Ausfall mittlerer
Tonpartien festzustcllen.
Stepanow wahlte nach Gellk's Vorgang Meerschweinchen,
da man bei diesen Tieren verhaltnismiissig leicht die gewiinschte
Zerstorung hervorbringen konne. Dennoch gelangen in der ersten
Reihe nur 4 unter 30 Versuchen, in der zweiten 3 unter 10, die
ubrigen mussten bei Seite gclassen werden. Als Tonquellen dienten
eine Harmonica (/— /^), Violine (in der 1. Serie, wie es scheint,
nur deren e^-Saite), 5-Bass (Blechinstrument mit den Tonen G^ — g)
und Galtonpfcife mit den allerhochsten Tonen. Als Reaction be-
trachtete Stepanow die Reflexbewegungen der Ohrmuschel, welche
bei diesen Tieren ausserst regelmassig und bei beliebiger Wieder-
holung fast nicht schwacher auftreten (vgl. Preyer, Seele d. Kindes 58).
der Klanganalj'se. 97
Dieselben wachsen, sagt Stepanow, rait der Hohe der Tone, treteu
aber auch nicht bei alien Instrumenten auf, nicht z. B. beim Cello
und der Stimmgabel, selbst Avenn diese mit Resonanzkasten ver-
bunden vor das Qhr gehalten wird, also sehr starken Ton gibt
(seltsam und fast bedenklich). In den Versuchen erfolgten un-
mittelbar nach der Operation Reflexe auf alle Tone der genafinten
Instrumente, dann einige Tage Gehorsverminderung, dann Wieder-
einstelluug; jedoch bei 4 Tieren statt dessen fast gauzlicher Gehor-
verlust durch Tage und Wochen bis zur Todtung. Auch Stepanow
machte dann die mikroskopische Untersuchung.
Im Allgemeinen muss man Ergebnissen auf diesem Gebiete
um so zurilckhaltender gegeniiberstelien, je zuversicbtliclier sie
vorgetragen werdeii. Schon in dieser Hinsicht scheinen diejeni-
gen Baginsky's • das grossere Zutrauen zu verdienen. Einwurfs-
frei sind sie allerdings auch nicht. Esbleibt namentlich denkbar,
dass die Huude bei grosserer Tonstarke (etwa bei Auwendung
des Bombardons) auf tiefe Tone reagirt hiitten. Andrerseits
wUrde man freilich hier Obertone verantwortlich machen kon-
nen. Man kann dies in der Tat bei Stepanow's Versuchen.
Ausserdem liisst sich gegen diese auch einweuden, dass der
Reflex nicht notwendig und ausschliesslich Folge einer akus-
tischeu Empfinduug zu sein braucht. Deshalb mochte ich
bezweifeln, ob ganz entscheidende Ergebnisse auf solchem Wege
zu gewinnen sind.
Endlich sind pathologisch-anatomische Beobachtungen
beim Menschen zur Entscheidung verwertet worden, namlich
die nicht ganz seltenen Falle von Ausstossung nekrotischer
Telle der Schnecke. Moos und STEiNBEtiOGE ^) fanden bei Ne-
krose der Basalteile Gehorsverlust fiir hohe. Tone, Stepanow
dagegen wieder^) nach Ausstossung der oberen P/^ Windungen
Erhaltung des Gehors fiir alle Tone. Es ist indes gegen
») Z. f. 0. X, 1.
-) Monatsschr. f. Ohrenheilkunde 1886 Nr. 4, S. 116. 1885 hatten
sich bereits Gruber (das.) und Kaufmann (Prager med. Wochenschr )
auf Grund ahnlicher Beobachtungen zweifelhaft tiber die Schneckentheorie
ausgesprocben. Auch Lucae beobachtete einen Fall von Ausstossung
Stumpf, Tonpsychologie. n. 7
98 § 18' Physiologische Voraussetzungen
Stepanow — abgeselien davon, dass vielleicht die weichen
Teile iiocli bis zu einem gewissen Grade erlialteu uud nur
das knocherne Geriist ausgestossen war — besonders erinuert
worden, dass man das gewiinscbte Resultat in die Patienten
gleichsam hinein examiniren kann: sie lioren eben mit dem
gesmden Ohr und verlegen die Tone in das kranke ^). Aber
die Untersucbungen sind auch in dieser Ricbtung nicbt sprucb-
reif. Nur dass Nekrose der gauzen Scbnecke vollige Taub-
beit bedinge, balten F. Bezold und A. Hartmann fiir
sicher nacbgewiesen (wabrend Stepanow, Geubee u. A. aucb
dies bczwcifehi) -). Aber daraus wiirde ebon nur folgen, dass
die Scbnecke fiir die peripberiscbe Erweckung von Tonempfin-
dungen auf irgend eine Weise unentbebrlicb. nicbt dass sie in
verscbicdenen Teilen auf verscbiedene Tone abgestimmt ist.
Aucb diese Classc von Beobacbtungen diirfte, selbst wcnn
sie mit allor Exactbeit gemacbt werdcn — und daran wird es
ira Laufe der Zeit nicbt feblen — koin entscbeidendes Ergeb-
nis liefern, solauge man sicb auf die Priifung des Horvermo-
gens fiir isolirte Tone bcscbriinkt. Denn die HELMHOLTz'sche
Theorie verlangt nicbt einmal unumgiinglicb, dass die Grund-
membran die einzige Briicke zum Horncrven bilde. Auf einem
Clavier crfolgt der Kegel nacb die Tongebung durcb den An-
scblag der Tasten, ausnabmsweisc und wenigcr vollkommen
der ersten Windung auf der rechten Seite, wahrend c^ uud c- noch
geliort wurden, und zwar. wie Lucae mit einiger Sicherheit sagen zu
kiinnen glaubt, auf dieser Seite. da auch links sehr starke Schwerhorig-
keit bestand (A. f. 0. XXIV 83, aus dem Bericht iiber die Naturforscher-
versammlung zu Berlin 1886). Ahnlich Kirchner, Sitzungsber. der
Wiirzburger medic. -physikal. Gesellsch. 1887, S. 78.
^) Vgl. die eingehende Kritik von Moos und Steinbrlgge Z. f. 0.
XVI 245. A. Hartmann das. XVII 111 glaubt sogar nach bestimmten
Aflzeichen an Simulation bei dem Patienten Stepanow's.
'^) Bezold Z. f. 0. XVI 119 f. (Zusammenstcllung allcr Falle von
Labj^inthnekrose; vgl, 146 und 191 den von Gruber beobacbteten Fall
doppelseitiger Ausstossung der Scbnecke mit absolutem Gehorverlust
fiir Spracbe, Geriiusche und Tone verscbiedener Instrumente). A. Hart-
mann Z. f. 0. XVII 109 f. (Erganzungen dazu).
(ler Klanganalyse. 99
kann sie aber auch durch Zupfen der Saiten erfolgen. So ist
es nun auch niclit ein notwendiges Postulat der Schuecken-
theorie, dass jeder andere Weg der Tonerzeugung unmoglich
wiire. Nur dann, wenn solche Patienten uach wie vor die
Componenten eines Accords deutlich unterscheiden kounteu,
dann allerdings wiirde die Scbneckentheorie iiberfliissig werden.
Auf diesen Fragepunct ware also die Untersucbung zu richten.
Fassen wir zusammen, so bleiben die zuerst erwabnten
Griinde, die sicb auf allgemeinere Eigentiimlicbkeiten der Ton-
wabrnebmungen beziebeu, einstweilen immer nocb die besten
und die Scbneckentbeorie auf Grund derselben von bober Wabr-
scbeinlicbkeit. Jcdenfalls ist sie vorlaufig die einzige ganz
concrete Fassung des allgemcincn und unabweisbaren Postula-
tes, wonach irgendwo im pbysiscben Gebiet, sei es im Obr
Oder im Centrum, eine Zerlegung des Processes stattfinden muss.
Wir werden sie daber in dieser ihrcr Eigeuscbaft bei allem
Folgenden beniitzen.
3. Historische und erganzende Bemerkungen.
Die Vcrhandkmgeu iiber abnliche Hypothesen reichen weit zu-
rlick uud sind nicht obne sachliches Interesse. ■ Schou 1683 hat
Du Verney in seinem „Traite de Torgaue de rouie" (woven eine
lateinische uud eine deutsche Ubersetzung erschien^)) der Lamiua
spiralis der Schnecke genau dieselbe Function zugeteilt, wie Helm-
HOLTz der Grundmembrau, indera sie von Anfang bis zur Spitze
der Schnecke immer schmaler werde und die einzelnen Streifeu,
durch die verschiedenen Tone selbstandig bewegt, auch gesonderte
Fasern des Gehomerven in Errcgung setzten, der in der Lamina
spiralis ausgebreitet sei. Nur wiirden bieruach die tieferen Tone
gegen die Basis, die hoheren gegen die Spitze bin liegeu. Le Cat
acceptirte diese Hypothese 1744 (Traite des sensations, Amsterdam,
p. 60). Haller spielt in seinen Elemeuta Physiologiae (1757 f.)
darauf an. Merkwurdig und bis jetzt noch nirgends bervorge-
^) Aus der deutschen (S. 82 f.) citirt v. Wittich in den Konigs-
berger Medic. Jahrb. 3. Heft (1861); aus der lateinischen Schapringer
Z. f. 0. IV 123. Im Original steht nach Harless (Wagn. Handw. IV)
die bezugliche Stelle II 96.
7*
100 § 18. Physiologische Voraussetzungen
liobeu ist eine Ausserung des jugendlicheu Herder (Werke hrsg. '
von SuPHAN IV 102): „Wir geben die Schraubengaiige (des
ausseren Ohres) und das Tympanum des Obres vorbei . . . und da
treffen wir eiu Saitenspiel von Geborsfadeu an, die in Zabl, in
Lage, in Verbaltnis gegen einander, in Lange verscbieden, gleicb-
sam auf den modificirten Schall warten (unter Schall versteht
Herder ein Aggregat einfacber Tone, das. 97 f.)- Warum war ein
Nerv nicbt zureicbend? Warum sind nicbt alle Fibern in gleicber
Starke da?" u. s. f. Herder liattc eine eigeutiimlicbe Begabuug,
Anscbauungen sich zu eigen zu macben, die eine Zukunft batten
und uns oft wie geniale Anticipationen erscbeinen. Diese batte
er wabrscbeinlicb bei Haller gefunden. Weiter ist es in Gehler's
Worterbucb der Pbysik (1828) IV 1208 als eine Hypotbese von
Kerner und Autenrieth. erwabnt, dass das Trommelfell durcb
seine kiirzeron oder liingeren Fascrn gleicbsam verscbieden klingende
Saiten fur ticfere und bohere Tone abgebc; und bat nacb S. 1211
Trevtranus und vor ibm bereits Scarpa die verscbiedenen Nerven-
zweige in der Scbuecke den verscbiedenen Toneu zugeteilt. Ein
verdienstvoller Anatom soil sogar bcbauptet baben, dass die Scbnecke
mebr fur die Saiteninstrumcnte, die Bogengiingc (wegen ibrer
Form) fiir die Blasinstrumente da wiiren. Chladni, der diese naive
Ansicht erwabnt, Itlsst jeden Ton durcb das Ganze der Nerven-
endigungen zu Gcbor kommen (Akustik § 241). Dagegen bielt
unter den Pbilosopben Herbart Localisation der Tone im Organ
fiir wabrscbeinlicb, und zwar wegen der gesonderten Empfindung
gleicbzeitigcr Tone.
Uumittclbar vor Helmholtz war wol die Meinuug iibcrwiegend,
dass jede Faser jeden Ton enipfinde. Vgl. Henle tiandb. der
allgem. Anat. 1841, S. 748. Lotze Med. Psych. 269 f. 342.
Herbartianer strenger Observanz, wie Voi.kmann (Grundriss der
Psycbol. 1856, 68) wicben in diesem Punct sogar von der Lebre
des Meisters ab, durcb dasselbe Motiv bestimrat, welches sie auch
veranlasste, die (ursprunglicbe) Mebrbeit der gleicbzeitigen Ton-
empfindungen selbst zu leugnen. Einen plausiblen Grund gegen
die Isolirung der Tone im Obre bracbtc jedocb nu^ Waitz,
Grundlegung der Psycbol. (1846) 105: Man miisse erwarten, dass
iler Klanganalyse. IQl
daiiu die Tone uus auch flaclieuhaft ausgebreitet uiid augeordnet
im Bewusstsein erscMeneu ^). Dass Haeless gegcn seine person-
lichen unmusikalischeu Erfahrungeu durcli (Jberlegung gezwungen
einen analysirenden Apparat und sogar bereits, Avenn auch zogernd,
das CoKTi'sche Organ als solchen vermutet, ist hier zu wiedcr-
holen (o. 18). Aber uoch 1859 nannte Dubois-Reymond (Rede
auf J. MuLLEK, Berl. Akad.) diesen Gegenstand einen fast hoffnungs-
los dunklen.
Nach dem Erscheinen des HELMHOLTz'schcn Wcrkes (1863)
hielten nur Einzelne an der vorherigen Anschauung fest. So Valentin
(Phj'siol. Pathologie 1864, II 110). Nachdrucklich opponirte Rinne,
ein verdienter und den Otologeu wolbekannter Autor, in Henle's
und Pfeufer's Z. f. rationclle Medicin 1865, XXIV 39, wenn auch
nicht mit medicinischen sondern psychologischen oder cigentlich meta-
physischen Griinden (o. 20). Aber vergeblich sucht man bei ihm nach
einer positiveu Erklilruug, wie ein ganz einheitlichcr Toncindruck
auf rein psychologischcm Wegc in. eine Mehrheit zerfallen kann.
Wir haben einen solchen Versuch gemacht, scheiterten aber damit
(o. 14, 23 f.).
Gegenwartig ist Voltolini, Ohrenarzt, wol der entschiedenste
Gegner der Lehre. Aber in seinen Auslassungen (Vikchow's Arch,
f. pathol. Anatomic Bd. 100, 1885, S. 27 f.) findet man keine
rechte Begrundung und wird das Hauptproblem, die Moglichkeit
des gleichzeitigen Horeus, gar nicht beriihrt.
1886 erklarte auf der britischen Naturforscherversammlung
RuTHEKFOKD die Lehre fur unhaltbar, well die J'asern der Grund-
membran zu kurz und ihre Liinge zu wenig abge§tuft sei. Er
*) Derselbe Punct schicn mir friiher (Urspr. d. Raumvorst. 300) be-
denklich; doch konnte man, raeinte ich, vielleicht noch die Hilfsannahme
versuchen, dass die Tone zwar wirklich einen verschiedenen Ort in der
Empfindung hiitten, aber jeder immer denselben, wodurch der Ton-
raum ebenso bedeutungslos fiir unset Bewusstsein wiirde, als wenn er
gar nicht existirte. Neuerdings uimmt aber noch W. James an der obigen
Consequenz, die er fiir unvermeidlich halt, derart Austoss, dass er die
HELMHOLTz'sche Hypothese um ihretwillen ablehneu mochte (Journ. of
Specul. Philos. XIII 84-5. Mind. XII Nr. 46 p. 186). Daruber vgl. noch
untea S. 125 Anmerkung.
102 § 18- Physiologische Voraussetzungen
lasst den Hornerveu einfach die Anzahl der getrennten Anstosse,
die er von der Schallwelle empfangt, ebenso getrennt dem GeMrn
zutragen und durch diese Zahl die Tonhohe bestimmt sein, und
beruft sich auf Versuche am Kanincbenmuskel, der bis zu 352
elektrische Impulse in der Secunde getrennt aufnehme und als
Muskelton von entsprechender Hohe horen lasse^). Wir sehen
wiederum das eigentlicbe Problem ganz umgangen; ja Rutherford
findet gerade darin eiue Schwierigkeit, wie es moglich sei, dass
drei getrennte Empfindungen c, e und g in der Empfindung der
Harmonie zusammenscbmelzen. Waren sic in der Schnecke ge-
trennt, so miissten sie sich doch im Gebirn wieder vcreinigen und die
Trennung sei (iberfliissig. Dass er mit der „Verschmelzung" an etwas
Richtiges geriihrt hat, ist sicher, aber die Betrachtungen bevvegen
sich eben psychologisch wie physiologisch nur auf der Oberflache.
Nicht iibergehen diirfen wir eine Hypothese, welche zuerst
wol 1872 in einer Dissertation von Osw. Baer^) auftaucht. Mit
Helmholtz iiber die Notwendigkcit eiues zerlegenden Apparats einig,
glaubte Baer (Schiller von Waldeyer und Gottstein) deusclben
doch aus anatomischen Griinden nicht in der Grundmembran sondern
erst in den Haarzellcn des CoRTi'scheu Organs zu findcn, und
weist u. A. nicht mit Unrecht darauf bin, dass Hensen's Versuche
an den Horharchcn von Mysis (o. 03) sich director auf diese als
auf die HENSEN-HELMiioLxz'sche Anschauung anwendcu lasscn, da
die Hj|rchen unsercr Haarzellen viel eher als Analogon der Hor-
harchen des Krebstieres gelten kounen als unsre Grundmembran.
Sicher ohne Kenntnis dieses Schriftchcns gelangte der ameri-
kanische Physiker Alfr. Mayer in den schonen akustischen Unter-
suchungen, wovon ein andcrer Teil bcreits I 212 besprochen ist,
zu derselben Anschauung^). Er vermutet mit Anderen in den
') The Sense of Hearing. A Lecture etc. 6. Sept. 1886. (Separat
gedruckt; nicht in den Reports der British Association). Bernstein
hat iibrigens schon friiher die Zahl der motorischen Impulse bis etwa
1000 steigern und die Tone horen konnen (Pflug. Arch. XI (1875) 01).
^) Uber das Verhaltnis des heutigen Standpunctes der Anatomic des
CoRTi'schen Organs zur Theorie der Tonemptiudungen. Breslau 1872.
^) Researches in Acoustics. Nr. 5. Aitierican Jouru. of Science and
Arts VIII Nr. 44 (Aug. 1874). Da diese Arbeit in Deutschland fast un-
der Klanganalyse. 103
Fiihleru der Insecteii zugleich Tast- und Hororgane. Beim Culex
Mosquito nun, desseu Fiihler sebr zalilreiche und elastische Fasern
besitzen, beobachtete er an etwa einem Dutzend Exemplaren das
Mitscbwingen bestimmter Fasern auf bestimmte Gabeltone. In seiner
Tabelle sind fiir 9 Gabeln (c, dann c^ bis c^) die Scbwingungs-
weiten der beztiglicben Faserenden in Brucbteilen von Millimetern
augegeben. Die Tone, welcbe bedeutendere Mitscbwinguugen er-
zeugteu, lagen zwiscbeu c^ und c^ (in welclier Region wol aucb
ungefahr das Gebrunime dieser Insecten liegt), Mayer nahin dann
sorgfaltig die Maasse zweier Fasern, die auf c^ und c- raitschwangen,
und construirte nacb donselben Verhaltnissen ihr Modell im Grossen.
Es zeigte sicb, dass die Schwingungen dieser Modelle in der Tat im
Octa^ienverbaltnis standen ^).
Mayeb ist gleicbwol nicbt der Ansicht, dass der Apparat
zur ZerLegung der Kliinge fiir die Empfindung, zur Unterscheidung
der Tonhoben diene. Vielmebr scbreibt er ibm nur die Leistung
zu, welcbe Trommelfell und Gehorknocbelcben beim Menscben er-
fiillen: Aufnabme und Leitung des akustiscben Reizes iiberbaupt.
Die Stimme des Weibchens bat ebeu keine hinreicbend feste einzelne
Tonbobe, und so niusste sicb der Horapparat des Manncbens auf
einen gewissen Umfang von Scbwingungszablen anpassen. (Beim
Weibcben selbst ist der Apparat iiberbaupt viel weniger entwickelt,
was fiir seine akustiscbe Bedeutung spricbt.)
Mayer betracbtet daher seine Beobacbtungen ebensowenig wie
die aualogen Hensen's als eine Bestatigung fiir die HELMHOLTz'scbe
Deutuug der Gruudmembran beim Menscben. Dagegen vermutet
er in den zwiscben der Lamina reticularis und der Gruudmembran
ausgespannten Haarzellenfaden („bair-cell-cords"), deren Zabl aucb
mit der boberen Entwickelung des Obres zunimmt, das zerlegende
Organ. Sie konnten unter gcwobnlicben Umstanden aber nicbt
direct, sondern durch Vermittelung der Gruudmembran crregt werden.
bekannt ist (selbst Graber citirt in der unten zu erwahnenden Schrift
nur ein Referat dariiber), so charakterisire ich sie etwas eingehender.
^) Nach weiteren fein erdachten Versuchen Mayer's sollen die In-
secten durch diese Gehorfasern zugleich die Schallrichtung erkennen und
zwar viel genauer als irgend eine andere Tierclasse.
104 §.18- Physiologische Voraussetzungen
Unci dies beniitzt Mayek zu ciner experimentellen Controle. Unter
analogen physikalischen Bedingungen schwingen namlich (nach Melde)
die Saiten niir lialb so oft als die Membran. Setzt man nun eiuc
Gabcl auf den Schadel nahe an's Ohr, so gelangen die Schwingungen
durch Kuocbenleitung aucb direct in alle Teile dcs inncren Obrcs.
In solcbem Fall muss also, scbliesst Mayee, ausser dem gewobnlich
geborten Ton aucb dessen boberc Octave bervortreten. Wirklich
fand er und ein zweiter, musikaliscb wie pbysikaliscb gebildeter,
Beobacbter dies bestatigt, derart dass bei Gabeln der eingestricbeneu
Octave fast nur der bobcre Ton beobacbtet wurde.
Icb babe den Versucb mit den Gabeln c, c^, c^, c^, c^ wieder-
bolt, kaun aber von dieser Erscbeinung bei den hoberen Gabeln
absolut Nicbts und nur bei c cine Spur davon finden." Aber aucl; bier
keiu Uberscblagen in die Octave. Vor AUem viel macbtigere In-
tensitat. Dabei scbeint allerdiugs der erstc Oberton aucb relativ
etwas starker, die Klangfarbe bellcr zu werden, obgleicb es nicbt
leicbt ist, bier abzusonderu, was von der Klangfarbenanderung auf
Recbnung der absoluton Verstarkuug kommt. Aber nicbt einen
Augonblick bemerkc icb ein Ubcrwiegen des hoberen Tones.
Der Mecbanikcr Herr Wesselhoft in Halle, der sicb besonders
viel mit akustiscbcn Arbeiten bescbaftigt, glaubte bei c Anfangs
die Augabe Mayek's bestatigt zu finden, uberzeugte sicb aber bald
durcb Vergleicbuiig mit der c'-Gabel, dass er sicb getiiuscbt batte.
Bemerkenswert erscbien mir im Gegenteil eine Vertiefung des Tones,
wenn icb mit dem Gabclgriif den Tragus zuklappte und die Gabel von
aussen darauf bielt; zuglcicb ein starkes Klirren im Obr, welcbes die
Klangfarbe merklicb in's Drobnende verandert. Beides fand aucb Herr
Wesselhoft. Das Klirren ist sicber auf die Geborknocbelcben zu-
ritckzufiibren, die Vertiefung (die aucb scbon bei blosser Annaberung
der Gabel eintritt) wol auf die I 256 besprocbenen Umstande.
Mit den CoRTi'scben Haarzellen parallelisirt V. Geabee die
„cbordotoualen" Vorricbtungen, in denen er das Hororgan der lu-
secten erblickt, obne sicb jedocb iiber ibre Function in Hinsicbt
der Tonboben-Unterscbeidung auszusprecben ^).
^) Die chordotonalen Sinnesorgane der Insecten. Arch. f. mikro-
skopische Anatomie Bd. 20 und 21; bes. 21 S. 128. Bei den experi-
dcr Klangaualyse. 105
Neuerdings glaubt auch Gellk (Olironarzt) nach Versuchen
an cincm Moclell, wo die ScbwinguDgcn schr stark auf die nacLge-
bildeteii Haarzcllen, viel scliwaclicr auf die Fascrn dcr .Grimd-
incmbran iibcrgingen, uicbt dicsc sonderu die Haarzellen als das
zcrlcgende Organ auffassen zu miissen ^).
Man muss jcdcnfalls eine solcbe weiterg, dritto Modification
in dcr Ausfilbrung des IlKLMHOLTz'scben Grundgedankens, dcr Zer-
Icguug durcb mitschwingcndc Teilc, im Augc bebaltcn. An Dem,
was • fiir uns wcscutlicb ist, wiirde dadurcb nicbts gcandert. "Wir
lernen aber daraus, dass es fiir die Durebfiibrung des allgemeinstcn
Postulates, der anatomiscben Zcrlcgung ilberbaupt, nocb mancbe
Wege gibt, aucb wenn dcr gcgcnwiirtig bevorzugtc wicder ver-
lassen werden miisste.
Endlicb sei nocb cincr Ergiinzung kurz gcdacbt. Kessel bat
in jiiugerer Zcit aucb* fiir das Trommelfcll wicder (vgl. o. Trevi-
EANUs) cin selbstandigcs Vcrbaltcn seiner Radiiirfasern gegeniiber
boben und tiefen Tonen in Ansprucb genommen (einen Teil will
er aucb fiir die Geriiuscbe reserviren) ^) ; und neucstcns vermutet
mentellen Beweisen, dass nicht bloss Taytempfindungen in den Insecten
(Schwaben, Wauzen, Wasscrkiifern)" durcb Tonreiz^ erregt werden, hat
Gkaber, wie mir scheint, doch die Tastempfindungen bei uns selbst zu
gering angeschlagen (Bd. 21 , 84 f.). Bei Luftleitung sind sie freilicli
selten merklich, aber durch VermittUmg des Zimmerbodens werden uns
oft genug deutliche Erzitterungen fiihlbar, und diese Moglichkeit scheint
mir bei Gkaber's Versuchen nicht hinreichend ausgeschlossen. Die
morphologisch-vergleichenden Schlussfolgerungen diirften daher in dieser
. Ilinsicht gewichtiger sein als die aufs Experiment gegriindeteu. Immer-
hin will Graber nicht gerade akustische QualitLlten in unsrem Sinn,
sondern nur eine besondere Classe von Empfindungen neben den Tast-
empfindungen statuiren. Noch weniger zuversichtlich ist J. Ranke, der
bei einigen Acridiern „Gehorstabchen" von abgestuftcr Lange fand, be-
ziiglich der dadurch gelieferten EmpfmduugsquaHtaten; indem er auf eine
Entwickluug und Umbilduug der specifischen Energien hindeutet (Z. f.
wissensch. Zoologie 1875 Bd. 25).
') Ich kenne nur das Referat Z. f. 0. XVIII 342.
2) A. f. 0. XVIII 151. Kessel macht die Hypothese zur Erklilrung
gewisser akustischer Erscheinungcn, gegenseitiger Beeinflussuugen von
Tonen und Gerauschen, welche an der Stelle erfolgen solleu, wo die
entsprechenden Fasern aneinandergrenzen.
106 § 18. Physiologische Voraussetizungen
in ahnlicher Weise A. Fic^ nach Versucheu mit kiiustlichen Mem-
branen von Phonautographeu, dass das Trommelfell ein Resona-
torensyetem analog der Schnecke darstelle. Ebene Membranen
bevorzugen auffallig ihre Eigentoue, dagegen resonireu tricbter-
formig gekriimmte uud mit einem starren unsymmetriscb eingefugten
Radius (Avie es der • Hammerstiel ist) versehene uugefahr gleich
gut auf alle Tone, indem die Membran dadurcb in Streifen von
verscbiedener Lange und Spannung zerlegt wird^).
Da jedocb nacb Politzer's experimentellem Nacbweise die Ge-
horknocbelcheu nocb die unveranderte Gesammtscbwingung mit-
machen ^), so kann man nicbt daran deukcn, im Trommelfell selbst
etwa deujenigen Zerlegungsapparat zu findcn, der den Nerven-
fasern raumlicb getrennte Erregungen vermittelte. Fick hebt auch
ausdriicklich hervor, dass es sich bei diesem ersten Resonanzapparat
nur darum handeln kijnne, die Bewegungen der Art nach unvcr-
andert, aber mit grosserer Amplitude auf die Geborknocbelcben
zu iibcrtrageu, als wenn diese direct durcb die Luft errcgt wiirden.
Die Schneckentheorie kann und soil also dadurcb nicht beseitigt
sondern nur erganzt Averden.
II. Specifische Energicn.
1. Altere und nouerc Fassung der Lehre.
Unter specifischer Encrgie verstehen wir die Fahigkeit
eines nervosen Gebildcs (sei cs Faser oder peripherisches oder
centrales Endgebildc), in Folge einer ihm eigentlimlichen phy-
sisclien Bescliaffenlieit cine Empfindung von bestimmter Eigen-
tiimlichkcit zu erzeugen.
Das Princip der spccifischen Energien in seiner alteren
(J. MuLLER'schen) Fassung statuirt flir jedon Sinn cine boson-
dcre Nervengattung, durch dcren Bcscbaffenheit die Qualitat
der beziiglichen Empfindungen bestimmt ist, wahreud sie von
der Beschaflfenheit des Reizes unabhangig ist. Dadurch sollte
erklart werden, warum wir mit dem Auge bei jcder Art von
^) Verhandlungen der Wiirzburger med.-physik. Gesellsch. XX 73 f.
(1886). A. f. 0. XXIV 167 f.
2) A. f. 0. I 64.
der Klanganalyse. 107
ReizuDg immer Licht, mit dem Ohr immer Tone oder Geriiii-
sche empfinden u. s. f. ^).
Ill der neueren Fassung, die ihm Helmholtz gegeben,
statuirt, das Princip aucli iiinerhalb jedes Siiiiies besoiidere
Nervenfasern oder Nerveuelemeute, durch dereii Bescliajffeiilieit
die Hauptiinterschiede der Farben von einander, der Tone von
einander u. s. f. bedingt sind, wiederam unabhangig von der
Art der Reizung. In voller Ausdebnung bat Helmholtz dies
nur beim Ohr durcbgefiibrt, wabreud er beim Auge mit Young
nur drei Fasergattungen annimmt, deren verscbiedeii combinirte
Erregungen die sammtlicben Farbennnterscbiede bervorrufen.^)
In letzterer Hinsicbt muss icb bier zuiiachst eiiie Bemer-
kung einscbalten. Es scbeint nicbt, dass wir in den sogenanuten
Miscbfarben die Gruudfarben wirklicb seben (o. 79), wabrend
wir in dem Zusammenklange die einzebien Tone wirklicb boreu.
Wenn also unter specifiscber Energie die Fiibigkoit eines Ner-
veugebildes verstanden Avird, eine bestimmte Empfindung zu
erzeugen, so konnen die drei Fasergattungen nicbt als Trager
^) JoH. MtJLLER, Ziir vergleichenclen Physiologic des Gesichtssinnes
(1826) 44 f. Lehrb. d. Physiol. (1834) I 751; 3. Aufl. (1840) II 249 f.
J. MuLLER lasst ausdriicklich die Alternative often, ob die specitischen
Energien Eigenttimlichkeiten der Nervenfasern oder der centralen Nerven-
endgebilde seien (1. Aufl. I 762; 3. Aufl. II 261), obgleich jedenfalls
die letzteren daran participirten, da auch nach Degenex'ation der Faseru
Phantasmen iind bei Druck auf das Gehirn Lichtempfindungen entstehen
konnten. Etwas verdunkelt wird die Fassung des Princips bei ihm
durch die eigentumliche damit verkniipfte Behauptung, dass der Nerv
sich selbst, nicht aber die Qualitaten der ausseren Korper empfinde —
ein Gegensatz, der in sich unklar uud jedenfalls nicht mit dem hier in
Frage konynenden identisch ist. Hier fragt es sich nur, ob jeder Nerv
seiner Natur nach jede Empfindung oder nur eine bestimmte Classe von
Empfindungen liefern kann.
2) In allgemeinster Fassung spricht S. Exner das Princip aus:
„Nach den heutigeu Anschauungen bringt jede sensible Nerve n-
faser, sie mag auf welche Weise immer erregt werden, eine Empfin-
dung in das Bewusstsein, welohe sich von jeder Empfindung, die von einer
anderen Nervenfaser geliefert wird, unter scheidet". (Herm. Hdb. II,
2, S. 207.)
108 § 18. Physiologische Voraussetzungen
von eben sovielen specifisclien Energien bezeichnet werden. Sie
mogen dabei immer ilireii Erklarungswert behalten und sogar
als reale Elementc des Nervus opticus angesehen worden — es
ist bier nicbt unsre Sacbe, in dcni Streit zwiscben Helmholtz
und Hering Stellung zu uebinen — : aber sie babcn jedenfalls
mit dem Princip der specifiscben Energie Nicbts zu tbun. Viel-
mebr miisste bei alien Mischfarben scbon im pbysiologiscben
Gebiet irgendwo wiedcr einc Vereinigung der drei Grundpro-
cesse stattfinden und dem so cntstandenen einbeitlicben Pro-
cesse dann die gesebene Farbenqualitiit cntsprecben.
Der Tonsinn selbst abor, innerbalb dessen wir nacb dem
Vorausgcbenden das Princip aucb in der erweiterten Helm-
HOLTz'scben Fassung anerkennen miissen, gibt nocb zu meb-
reren Detailfragen in dieser Beziebung Anlass, und zunacbst:
2. iJber die Triiger der specifiscben Energien.
Sind die Energien Eigeuscbafteu der peripberiscben Ner-
venendgebilde oder der Nervenfasern oder der centralen End-
gebilde (Rbidenganglien)?
Es bandelt sicb nicbt etwa darum, wo die Empfindung
sitzt d. b. an welcbes Gebilde sie unmittelbar gekniipft ist,
sondern darum, wo die specifiscbe Energie sitzt d. b. durcb
welcbes Gebilde die Bescbaffenheit der Emptindung in letzter
Instanz bestimmt ist, mag dann der Process aucb nocb weiter-
laufen und an anderer Stelle Empfindung erregen. Man wird
zwar scbon aus allgemeineren Griinden geneigt sein, Beides zu
identificiren; aber notwendig ist dies nicbt. Es ware z. B. denk-
bar, dass die einer Scbneckenfaser eigentiimlicbe Scbwingungs-
dauer, vermoge deren diese Faser aus der Gesammtwelle eine
Sinusscbwingung aussondert, selbst bereits die gesucbte speci-
fiscbe Energie darstellte. Dies wiire sogar die anscbaulicbste
Annabme, die den Vorteil liatte, an Stelle des bios abstracten
Begriffes eine pbysikaliscbe Definition zu setzen. Den Sitz
der Empfindung konnte man dabei immerbin in der Rinde
sucben; aber ibre Qualitat ware bereits in der Scbnecke vor-
ausbestimmt.
Viele diirften in der Tat das Verbaltnis mebr oder we-
der Klanganalyse. 109
niger ausclriicklich so auffassen. Es wiirde daim folgen, class
z. B. bei einer pathologisclien Verdickung einer Sclineckenfaser
durch diese ein veranderter Ton erzeugt wiirde. Aber die
Faser wird ebeu aiicb nicht mehr auf denselben objectiven
Ton wie friiher, z. B. e, reagiren, sondern auf einen entspre-
cbend tieferen z. B. d. Der objective Ton e dagegen wird nun
durch eine andere ebenfalls veriinderte Faser vermittelt werden,
und so bleibt fiir das empfindende Bewusstsein Alles boim Alien.
1st dagegen die specifische Energie eine Eigenschaft def
Nervenfasern oder der centralen Ganglien, so wird in einem
solchen Falle durcli den objectiven Ton e zwar ebenfalls eine
andere Scbneckenfaser als vorher erregt: aber da diese zugleich
mit einer anderen ' Nervenfaser (bez. Ganglienzelle im Gehirn) •
in Verbindung steht, so muss jetzt auch ein anderer Ton als
friiher bei dem objectiven e zur Empfindung komnien.
Wir haben schon friiher auf diesen Unterschied der Con-
sequenzen hingewiesen und gesehen, dass die Erscheinungen
des Doppelthorens der letzteren Consequenz entsprechen (I 275).
Ebenso ist die Erhohung einer ausschwingenden Gabel nur
unter der zweiten Voraussetziing begreiflich. Die Schwingungs-
dauer der erregten Gruppe von Schneckenfasern andert sich
hier ebensowenig wie die dor Gabel selbst, durch welche jene
zum Mitschwiugen genotigt werden. Aber indem die schwerer
erregbaren Schneckenfasern nach und nach zu schwingen auf-
horenj und die leichter erregbaren, welche iibrig bleiben, mit
Ganglien fiir hohere Tone in Verbindung stehen, muss sich
der Ton in die Hohe ziehen. ^)
Diese Beobachtungen lassen nun also die Annahme bevor-
zugen, dass die Nervenfasern oder die centralen Ganglienzellen
des Acusticus Trager der specifischen Tonenorgien sind. Beziig-
lich dieses „oder" wiederum wird man wol fiir die Ganglien
entscheiden, da es doch von vornherein das Wahrscheinlichste
ist, dass die specifischen Energien denselben Sitz haben wie
1) I 256—57, 259. Uber -die dort noch oflfen gelassene Alternative
entscheideu wir uns unten (Nr. 3).
110 § 18. Physiologische V^oraussetzungen
die Empfindungen , und diese keinen andereu als die Geliirn-
ganglien (entstehen ja Hallucinationon auch bei Atrophic der
Nervenfasern) ^).
Helmholtz steht auf diesem Standpunct, weuu er (245) zur
Erlauterung der.specifischen Energien die Nerven mit Telegraphen-
driihten vergleicht, welche vermoge dcsselben elektrischen Stromes
je* nacb den Endapparaten, mit denen sie in Verbindung stehen,
Depescben liefern, Glocken liiuten, Mineu entziinden. In Conse-
qucnz dicser audi sonst verbreiteten Auffassung wird man aucb
die Trager der specifischen Energien inn orb alb eiues Sinnesge-
bietes erst im Centrum sucben konuen, obgleicb sowol binsicbtlich
des Obres als namentlicb dcs Auges die Ausdriicke der Scbrift-
steller und die Fragestellung der Forscher oft keineswegs damit
stimmen; — glaubtc man docb die drei Fascrgattungen bereits in der
Stiibchenscbicbt der Nctzbaut bei Vugeln und Reptilieu gefundeu
zu baben.
IIering scheint dagegen geneigt, ausdriicklicb auch die Nerven-
fasern, nicbt bios dip Centrcn, als Triigcr der spcciiiscbcn Energien
anzuscben-, wiibrend cr zuglcich die Energien inncrbalb cines Siunes
nicbt als vcrscbiedene Fiibigkeiten verscbiedener Fasern, sondern
als Fiibigkeiten allcr Fasern zu cincr gcwissen Anzahl verscbiedcn-
artiger, paarweise cntgegcngesctzter Errcgungcn auffasst. In Ictzterer
Beziebung vgl. seine Farben- und Tcmperaturlcbre und neuestens
seine Vorbemerkungen zu Hillebrand's scbarfsinniger Arbeit iiber
die spccifische Ilelligkcit der Farben, Sitzungsbericbt der Wiener
Akademic, Fcbruar 1889, S. 70. In erstercr Beziebung vgl. „Lotos.
Jabrb. f. Naturwisseuscbaft." N. F. Bd. V. (1884) S. 115; ferner
daselbst Bd. IX. (1888) S. 21.
Aucb Mach hat scbon frubcr wenigstcns die Moglicbkeit ver-
teidigt, dass bereits in den Nervenfasern die gesucbten Unter-
scbiede liigen. (Osterr, Zeitschr. f. prakt. Heilkunde 1873 S. 335.)
Und Soviel ist ja gewiss, dass wir sie in den Centren bis jetzt
ebensowenig wie in den Fasern finden; aber aucb, dass die da-
') Vgl. u. A. Griesinger, Pathologie -und Therapie der psychischen
Krankheiten § 54.
(ler Klanganalyse. Ill
raus erhobeneu Eimviinde beide Annabmen gleicbmassig nicbt
treffen.
3. Accommodation der specifischen Energien in-
nerhalb enger Grenzen des Reizes.
Es ist eine weitere iiicht miwichtige Frage: Verursacheii
die durch eine einfache Schwingung gemeinsam und gleichzei-
tig erregten benachbarten Schneckenteilchen eineu einzigen Ton
oder eine ihrer Anzalil entsprechende Anzalil von Tonen?
Notwendig werden durch eine einfache Tonwelle ausser
demjenigen Teilchen (Faser der Basilarmembran), dessen Eigen-
schwingung jener Tonwelle genau entspricbt, auch die bonacli-
barten miterregt, deren Eigenschwingung, wenn sie fiir sich
allein scbiwingen , nur wenig von der des erstgenannten Teil-
chens verschieden ist. Sie scbwingen in gleicber Scbwingungs-
dauer, aber entsprechend geringerer Stixrke mit. Wir glaubon
in solchem Falle einen einzigen Ton zu lioren. Aber man
konnte Dies fiir eine bestandige und unvermeidliche Tauschung
erkljiren, da die Unterschiede dor Tone eben zu gering seien,
urn wabrgenommen zu werden. Daher die obige Alternative.
Wenn die specifische Energie eine Eigenscbaft der peri-
pherischen Nervenanbange ist, so kann nur Ein Ton empfun-
den werden; da die durcb Eine Schwingung erregten Teilchen,
solange der Reiz dauert, nur in der gleichen Schwingungsdauer
wie jene selbst schwingen konnen. Erst wenn der Reiz aufhort,
machen sich die Eigenschwingungen geltend (Helmholtz 23G).
Wenn aber die specifische Energie eine Eigenscbaft der Fa-
sern oder Ganglien ist, so kann eine Vielheit von Empfindun-
gen im genannten Falle resultiren; ja man wird zu folgern
geneigt sein, dass eine solche resultiren mils so.
Wir haben diese Frage bei mehreren Untersuchungen des
ersten Bandes, um nicht vorzugreifen, offen gelassen und die
Fragen, bei denen sie dort in Betracht kam, unter beiden
Voraussetzuugen behandelt (I 256; 118 mit 425).
Jetzt wollen wir zeigen, dass die Vielheit der Empfin-
dungen keine notwendige, vielmehr hochst wahrscheinlich eine
falsche Amiahme ist. Dem objectiv einfachen Ton entspricbt
112 § 18. Physiologische Voraussetzungen
auch nur Eine Tonempfindung. (Dabei sehen wir ab von xlen
etwaigen Obertonen, welche ja nicbt der einfacben Schwin-
guiig soiidern Vielfacbeu derselben entsprechen und sich der
Hobe nacb von deni Grundton nicbt minioial sondern sebr
betracbtlicb unterscbeiden -wiirden. Ob Obertone immer und
notwendig audi von einfacben Reizen subjectiv bervorgcrufen
werden, untersucben wir spater, § 21 Scbluss. Hier bandelt
es sicb nur um die angeblicbe Vielbeit von — gegen 60 — un-
mittelbar benacbbarten minimal verscbiedenen Tonen.)
Den Ganglienproccss und desscn Gesetze kennen wir nicbt;
und sicberlicb bestebt er nicbt in Scbwinguugen derselben Art
wie die Scbwinguugen der Scbneckenfasorn. Aber d enkbar bleibt
es vor Allem, dass die durcb eine gleicbartig gereizte Gruppe
von Scbneckenfasern ebenfalls gleicbartig gereizte Gruppe von
Ganglien sicb zu einer gemeinsamen Energie ebenso vereinigt,
wie jene zu einer gemeinsamen Scbwingungsdauer. Eine solcbe
Accommodation iunerbalb enger Grenzen beobacbteh wir ja
aucb olijectiv in gewissen Fallen: benacbbarte und nicbt allzu-
verscbieden scbwingcndo Korper Ijeeinflusson sicb gegenseitig zur
Erzeugung einer gemeinsamen gleicbartigen Scbwingungsdauer;
oder, wenn bios die Pbasen verscbieden sind, accommodiren sie
sicb in dieser Bcziebung. ^) Dass die Ganglienzellen, in welcbe
l)enacbbarte Scbneckenfasern miinden, aucb benacbbart seien, ist
•) HuYGENS beobachtete das Erstere bei den Schliigen zweier Pendel-
iibren, die er au Einem und demselben Stiicke IIolz befestigt hatte.
S. Leibnitz, Oi)p. iihilos. ed. Erdmann p. 134 (oder dessen „Kleinere
philos. Schriften", Reclam's Bibl. Nr. 1898 f. S. 70V " Alfred Mayer,
Pogg. Ann. 14(5 S. 113 gibt an, dass zwei zusammen angeschlagene
Stimmgabeln zuweilen keine wabrnebmbaren Stosse gebcn, dass sie eine
gemeinsarae Oscillation von gleicber Scbwingungsdauer erzwiugen, ob-
gleicb sie eiuzeln angescblagen verscbieden scbwingen. Rayleigh, Pbilo-
sopbical Magazine 1879 p. 156 f., beobacbtete bci zwei nahezu gleich-
gestiramten Pfeifen, deren oftene Enden nabc bei oinauder standen. eben-
falls keine Schwebungen. Der entstehende Ton war hoher als der jeder
einzelnen Pfeife. Bosanquet (ibid. p. 299) beobachtete, dass bei zwei
gedackten Pfeifen unter gleichen Umstandcn der Ton tiefer wurde
als der jeder einzelnen. Der Gegenstand bediirfte, wie er mit Recht
hinzufiigt, ndch der Bearbeitung. IJber Accommodation der Pbasen bei
der Klanganalyse. 113
zwar nicht eine selbstverstandliche, aber doch eine wahrschein-
liclie Anuahme.
Hiemit wiirde nun allerdings gegeben sein, dass die spe-
cifischen Energien der Ganglienzellen (bez. Nervenfasern) nicht
ganz unveranderlich waren und uiclit ganz unabbangig von
ausseren Einfliissen. Aber im Grunde ist eine absolute Un-
veranderlichkeit organiscber Gebilde iiberbaupt ein Unding.
Es kann sicb nur fragen, innferhalb welcber Grenzen und durch
welcbe regelmiissigen Einfliisse etwa die Veranderung stattfin-
det. Darliber lasst sich a priori Nicbts bestimmen; man wird
aber zugeben, dass die obige Anschauung etwas fiir sich hat.
Gehen wir nun aber in die psychologische Discussion ein,
so ergibt sich diese Anschauung nicht bios als eine mogliche,
sondern als die hochstwahrscheinlich richtige.
Wenn ein starker Ton mit bedeutend schwacheren, doch
nicht allzuschwachen , zusammenklingt, so kann ein geiibter
Akustiker, wie wir im § 22 naher darlegen, die schwacheren
subjectiv verstarken und dadurch ihre Existenz im Tonganzen,
wenn er sie anfanglich nur vermutete, iiber alien Zweifel er-
heben. Eine lebhafte antecipirende Vorstellung des herauszuho-
renden Tones kommt diesem Process wesentlich zu Gute; aber
der herausgehorte Ton selbst ist nicht blosse Vorstellung son-
dern Empfindung. Dies lasst sich bei den Obertonen unschwer
constatiren. Dasselbe miisste aber auch in unsrem Falle mog-
lich sein, wenn neben dem Ton, welcher durch die starkst-
erregte Faser (deren Eigenschwingung genau der objectiven
Schwingung entspricht) geliefert wird, noch eine Reihe nach oben
und unten benachbarter Tone von den benachbarten Fasern
dazugeliefert wiirden. Nach Helmholtz' Tabelle der Intensi-
taten des Mitschwingens (238), die uns genauere Massbestim-
mungen einstweilen vertreten muss, schwingt ein um eine halbe
Tonstufe entferntes Schneckenteilchen (d. h. ein Teilchen, wel-
ches, fiir sich allein erregt, einen um eine Halbstufe hoheren
Pfeifen Wtjndt^I 436; iiber Accommodation der Intensitaten im gleichen
Falle Grimsehl in Wied. Ann. XXXIV 1028.
Stumpf, Tonpsychologie. II. " *
114 § 18. Physiologische Voraussetzungen
Ton liefern wiirde) noch mit etwa ^/k, von cler Intensitat des
am starksten erregteu Teilchens mit. Einen Oberton, dessen
Starke sicli zu der des Grundtons wie 1:10 verhalt, konnen
wir aber nocb ganz wol heraushoreu. Auch die lebhafte ante-
cipirende Vorstellung kann in unsrem Falle leicht von einem
musikalischen Bewusstsein erzeugt werden; denn einen Ton,
der urn eine Halbstufe holier ist als ein gegebener, konnen
wir uns mit aller Deutliclikeit vorstellen. Es miisste also auch.
eine' morkliche Verstarkung dieses mitklingenden Tones, umso-
mehr also eine deutliche Analyse des Klanges moglich sein,
Ein um ^j^ Tonstufe von dem mittleren cntferntes Teil-
chen der Gruppe schwingt nach der Tabelle mit ^/g der In-
tensitat mit. Hier ist die antecipirende Vorstellung zunachst
weniger deutlich, man kann in der Phantasie nicht so leicht
Vierteltone auseinanderhalten als Halbtone; aber dafiir ware
der Ton auch von um so betrachtlicherer relativer Starke. Auch
er miisste also unschwer herausgehort werden.
Keine Spur davon zeigt selbst die genaueste Beobach-
tung. ^) Es ist also anzunehmen, dass unsre Tonempfindung
^) Ich will nicht verschweigen, dass einfache milde Tone zuweilen eine
eigentiimliclie Dehnbarkeit hinsichtlich ihrer Hohe zu besitzen scheinen, die
mich voriibergehend der gegenteiligen Ansicbt giinstig stimmte. Vgl. die
Bemerkungen iiber den Einfluss der Willkiir auf die scheinbare Ton-
hohe I 243—4, 261. Wenn man den Ton einer Stimmgabel seiner Hohe
nach durch die Violine wiederzugeben .siicht, kann es geschehen, dass man
innerhalb eines Vierteltones schwankt. Wenn man eine Flasche an-
blast, deren Ton in der kleinen Octave liegt, und den beziiglichen
Ton am Clavier dazu siicht, kann jener z. B. bald wie / bald wie fis
klingen; er scheint dem von beiden Tonen gleich, den man gerade
spielt. Aber dies beriiht nur auf einer Unsicherheit des Urteils in
Folge der ungewohnten matten Klangfarbe; warum sollte es sonst
nicht ebenso bei scharferen Klangen eintreten, da doch die Anwesen-
heit von Obertonen den Grundton seiner Hohe nach als empfundenen
nicht beeinflusst. Wie sollteu auch Obertoue es zuwege bringen, die
qualitative Ausdehnung des Grundtons enger zu begrenzen? Die Dehn-
barkeit ist in den genaunten Fallen also nur eine scheinbare. Und
selbst wejin sie eine wirkliche ware, wenn der Ton wirklich in der Em-
pfindung seine Hohe innerhalb einer Halbstufe durch die augenblickliche
Richtung der Aufmerksamkeit veranderte, so ware dies immer noch
der Klanganalyse. 115
trotz der grosseren Aiizahl beteiligter Schneckenfaseru uiid
Ganglienzellen eine streng einfacbe ist. Man konnte eine solche
Abteilung der Basilarmembraii bez. des akustiscben Centrums,
welche von einem objectiv einfacben Ton erregt aucb nur Eine
Empfindung gibt, als „akustiscbeu Empfindungskreis" be-
zeicbnen.
Zu einer Erganzung dieser Anschauungen werden uns die
Untersuchungeu iiber die Tonhobe bei Scbwebungen (§ 27)
fiibren. In diesem Falle, wo zwei verscbiedene objective
Schwingungen auf eine gemeinsame Gruppe von Scbnecken-
teilchen wirken, vernimmt man allerdiugs unter besonderen Um-
standen zvi^iscben den beiden Tonen und gleicbzeitig mit ibnen
einen dritten; was sich aber, wie wir seben werden, ungezwungen
den bier entwickelten Vorstellungen iiber die specifischen Ener-
gien und iiber die begrenzte Accommodationsfabigkeit derselben
unterordnet.
Dass mit dem Gesagten das Princip der specifiscben Ener-
gien innerbalb des Geborsinnes nicbt wieder aufgehoben wird,
leucbtet ein. Es bleibt dabei, dass verscbiedene akustische
Nervenelemente Tone verscbiedener Hobe erzeugen, und nicbt
jedes Element jeden Ton. Die einzige Modification oder viel-
mebr nabere Bestimmung der Lebre, die wir binzufiigen,
bestebt darin, dass die empfundene Tonbobe, welcbe ein be-
stimmtes Nervenelement erzeugt, nicbt in alien Fallen absolutdie
gleicbe, starr unveranderlicbe ist, sondern innerbalb einer eng-
begrenzten Spbare veranderlich, und zwar in Abbangigkeit von
der Zahl der Schwingungen des beziiglicben Scbneckenteilchens,
die ibrerseits wieder von der objectiven Schwingungszahl be-
stimmt ist.
Nebenbei ist es aucb ein Vorteil dieser Anscbauung, dass
damit alle Einwande, welche sich auf eine Vergleichung der
Zahl der unterscheidbareu Tone und der dafiir disponiblen
etwas ganz Anderes, als weiin wir ausser einem mittleren noch gleicb-
zeitig andere um je einen Viertelton nach oben und unten von ibm ver-
scbiedene Tone borten. Debnbarkeit wiire nocb nicbt Ausdebnung.
116 § 18. Physiologische Voraiissetzungen
Nervenfasern (bez. deren peripherischen oder centralen Endig-
ungen) griinden (o. 94), principiell abgeschnitten sind. Ja es
kann liienach das Tonreich sogar ein coiitinuirliclies sein trotz
Discontinuitat der abgestimmten Nervcnelemente. Wir siud uiclit
genotigt, die stetige Erbohung eines Tones als blosse Tau-
schung der Auffassung zu bezeichnen; sie kann eine Tatsache
der reinen Empfinduug sein. Docb balte ich nacb wie vor
auch das Erstere fiir moglich, da uns minimale Unterscbiede
notwendig entgehen.
4. Individuelle Verscbiedenheit und Entwickelung
der specifiscben Energien.
Es ist nicbts Anderes zu erwarten, als dass die voran-
gebend besprochenen Einricbtungeu fiir die Zerlegung der Scbwin-
gungen im Organ, wie auch die Differeiizirung der Gauglien-
zellen im Geborcentrum individuelleu Verscbiedenbeiten unter-
liegen. Das Obr und Geborcentrum des Unmusikaliscben mag
sicb zu dem des musikaliscb Veranlagten abnlicb verbalten
wie die seitlicben Teile der Netzbaut zu dem gelben Fleck.
Bei aufeinanderfolgenden Tonen wiirde sicb dies nicbt in dem-
selben Masse geltend macben wie bei gleicbzeitigen, well klei-
nere Unterscbiede im ersteren Fall nacb dem eben Gesagten
aucb durcb eine und dieselbe Gruppe vou Scbneckenfasern und
Gebirnganglien zur Empfindung kommen konnen. In der Tat
zeigen sicb die auffallendsten individuellen Unterscbiede, die
ganze Kluft zwiscben musikaliscben und unmusikaliscben Obreu
erst bei gleicbzeitigen Tonen.
Ebeuso mag in den ersten Anfangen des individuellen
Lebens, aucb nacb der Geburt, nocb eine gewisse Entwicke-
lung der inneren Horapparate stattbnden, eine Differenzirung
der Basilarmembran und des Centrums, wodurcb denn aucb
die specifiscben Energien sicb scbiirfer soudern und vermebren.
Es wiirden bienacb vor binreicbender Sonderuug objective Tone
von bedeutender Verscbiedenbeit nur als Ein mittlerer Ton
empfunden (nicbt bios beurteilt), ebenso wie dies gegenwartig
von Seite des Erwacbsenen und Musikaliscben bei ausserst ge-
ringen Differenzen stattfindet, die uuterbalb der Empfindungs-
der Klanganalyse. 117
schwelle liegen. Dass aber docli schon im ersten Lebensjahre
Tone von nicht sclir verscliiedoner Hohe reclit gut auseinan-
dergehalten werden, beweist jeder Saugling, der auf die Stimme
der .Mutter, der Amme, der Geschwister verschieden reagirt.
Tatsiichliche Belege fUr den als deukbar zugegebenen Pro-
cess fortsclireitender Differenzirung in der ersten Zeit konnte
nur die mikroskopische Anatomie liefern. Die Beobachtung der
Functionen fiihrt viel mehr zu der Ansicjit, dass das Kind in
Hinsicht seiner Empfindungsfabigkeit den Mutterleib als ge-
machter Mann verliisst. Es besteben nur Hindernisse im iiussereii
Organ (z. B. Ausfiillung des Geborganges) , die bald verscbwin-
den, und natiirlicherweise eine absolute Unsicberbeit in ricbtiger
Auf fas sung, die erst wabrend der langen Kindheit, ja wali-
rend des gauzen Lebens sicb ausbildet. Der tibung im indivi-
duellen Leben konnen wir bier wie iiberall keinen oder nur
einen unmerklicben Einfluss auf die unmittelbaren anatomiscben
Grundlagen unsrer Siunesempfindungen zugesteben. Alles was
sie leistet, lasst sicb auf Erleichterungen der Auffassung zu-
riickfiibren, Lasst man diese selbst aucb organiscb bedingt
sein und diese organiscb en Bedingungen sicb individuell ent-
wickeln, so sind die betreifenden centralen Einricbtungen docb
jedenfalls ganz. andere als die fiir die Sinnesempfindungen selbst,
da eben Veranderungen der Auffassung im weitesten Umfang
obne Veranderung des Empfindungsinbaltes stattfinden.
Dass endlicb nicbt bios patbologiscbe Zufalle sondern aucb
normale Riickbildungen im Alter die anatomiscben Grundlagen
der Tonanalyse beeintrachtigen konnen, verstebt sicb; aucb
begreifen wir auf Grund der HELMHOLTz'schen Lebre, dass
wiederum gerade das gleicbzeitige Horen besonders darunter
leiden muss. ^)
') Es ist bekannt, dass Schwerhorige es am wenigsten vcrtragen,
wenn gleichzeitig Mehrerc sprechen und sie die einzelne Stimme aus der
Masse heraushoren sollen. Von Beethoven heisst es auch in musika-
lischer Hinsiclit, „er habe mit dem linken Ohr noch einzelne oder wenige
Stimmen, nicht aber Masscn auffassen d. h. in ihre Einzelheiten ein-
dringen konnen-- i^vgl. Tonpsych. I 378).
118 § 18. Physiologische Voraussetzungen
Kaum bedarf es cler Bemerkung, dass auch durch diese
Zugestanduisse, speciell durch die als moglich, wenn auch gar
nicht als bewiesei!, zugegebeiie Differenzirung der Horeinrich-
tungen in der ersten Zeit iiach der Geburt das Wesentliche
der Lehre von den specifischen Energien nicht angetastet wird;
und zwar weder in der alteren noch in der neueren Fassung^
welche verschiedene Energien auch innerhalb Eines Siimes an-
nimmt. Wir halten nicht bios daran fest, dass die Fasern
(bez. Centralgebilde) des Acusticus ihrem aiigeborenen Wesen
nach nur Schall empfinden konnen, sondern auch daran, dass
verschiedene derselben ihrem angeborenen Wesen nach ver-
schiedene Tone empfinden.
Im Gegensatz zu der alteren Form der Lehre haben
G. H. Meyer und Lotze ^), im Gegensatz auch zu der neueren
') G. H. Meyer, Untersuchungen uber die Physiologie der Nerven-
faser 1843. S. 54 f. Lotze „Seele und -Seelenleben" in Wagner's
Handw. d. Physiol. Ill (1846), abgedruckt iu „Kleine Schriften" II, wo
die betr. AusfUbruugen S. 31 f. stehen. Medic. Psychol. 18G f. („Speci-
fische Gewohnheiten"). In der neuen „Metaphysik" (1879) finde ich die
Moglichkeit einer Anpassung nicht mehr betont, aber Lotze verhalt sich
auch da (ebenso in den Psychologie-Dictaten von 1880/81) skeptisch
gegen die specifischen Energien und sucht zu zeigen, dass die soge-
naunten inadaequaten Reize doch durch Vermittlung adaequater Reize
wirken kiinnten, z. B. der elektrische Strom auf den Geschmacksnerv
durch Zersetzung der Mundfiiissigkeit. Aber es entsteht auch bei der
Durchleitung des Stromes durch die Paukenhohle, welche von der Ge-
schmacksfasern enthaltenden Chorda tympani durchkreixzt wird, ein
sauerer Geschmack, der auf die Zunge verlegt wird; wie vielfach und
auch von rair selbst beobaclitet worden ist. Stromschleifen bis zur Zunge
sind schwerlich daran Schuld; sonst miissten auch bei der Durchleitung
des Stromes durch andere Kopfteile, die der Zunge naher liegen, Ge-
schmacksempfindungen entstchen. Urbantschitsch berichtet einen Fall,
wo auch durch mechanische Betupfung der Chorda tympani abwechseind
susse und bittere Geschmacke auf der Zunge erzeugt wurden. A. f. 0.
XIX 135. liber elektrische Geruchsempfindungen s. Aronsohn, Central-
blatt fur die medic. Wissensch. 1888 S. 370.
Unklar ist dagegen allerdings gerade die Frage, wie der durch's
Ohr geleitete Strom Gehorsempfindungeu erzeugt. Die tatsachlichen
Angaben sind erst seit Kurzem zahlreicher und iibereinstimmender. Ritter,
ein alterer Beobachter, horte g'^, Brenner's Versuchspersonen c' und^%
der Klanganalyse. 119
Form haben WuNDT (Phys. Psych. ^I 332 f.) u. A. die Ansicht ver-
fochten, dass die einzelnen Nerven nur darum ausschliesslich
bestimmte Empfindungen liefern, weil sie im Laufe des indivi-
duellen Lebens durcb die ausseren Reize dazu erzogen seien, sich
denselben. angepasst batten; indem an jeden Nerv in Folge
der besondoren peripheriscben Endapparate ausscbliesslicb oder
hauptsachlich diese Classe von Reizen gelangt, an den Obr-
nerv Schallwellen, an den Augennerv Licbtwellen u. s. f.
Wenn dies richtig ware, wiirde ich nicbts weniger als
eine wesentlicbe Umgestaltung oder gar mit Wundt eine Be-
seitigung der Lebre von den specifischen Energien darin er-
bHcken. Demi bestritten wird docb nicbt, dass wir Erwach-
senen mit dem Augennerv nur Licbt, mit dem Obrnerv nur
Schall empfinden. . Mogen wir nun diese sonderbare Gewobn-
beit in unsren Kinderjabren erworben oder gleicb mit auf die
Welt gebracbt haben: unstreitig miissen die Nerven (Gang-
lien) jetzt eine besondere materielle Beschaffenheit besitzen,
welcbe sie zu dieser Functionsweise befahigt und notigt. Kann
KiESSELBACH dagcgen links a*, rechts h*, geiiaii die Resonanztone seiner
Ohren. Bel Mittelohrkatarrli ging a* auf g* herunter. Kiesselbach
schliesst nicht uuwahrsclieinlich, dass der Ton ein objectiver (d. h. im
Organ physikalisch verursachter) war und dass durch den Strom nur die
Erregbarkeit des Acusticus derart gesteigert wurde, dass der Resonanz-
ton horbar wurde. (Pflug. Arcb. Bd. 31, S. 95 f., 377 f.) Nacb Wbeden
(Z. f. 0. XVII, 1887, S. 113) soli die elektriscbe Reizung nm- indirect
wirken, indem durcb Reizung des N. facialis der M. stapedius contrabirt
und dadurcb auf die Endapparate des Hornerven ein Druck geiibt
wiirde. Gradenigo (Centralbl. f. die medicin. Wissensch. 1888 Nr. 39—41,
AUgem. Wiener medicin. Zeitung 1889 Nr. 1) bait es fiir wabrscbeinlich,
dass nicbt der Endapparat sondern der Stamm und die peripberen Ver-
astelungen des Acusticus, und zwar direct, gereizt werden. Nacb seinea
zahlreichen Versuchen und denen von Pollak und Gartner (Wiener
klin. Wocbenscbrift 1888 Nr. 31 und 32) reagirt jedocb der Acusticus
des gesunden Obres auf mittelstarke Strome iiberbaupt nicbt. Bezuglich
der Tonbobe fand Gradenigo zwei Classen von Fallen je nacb der Ver-
sucbsanordnung: ein bobes Klingen (ungefabr c^) und ein tiefes Sausen
(ungefahr C); nur zuweilen einen dritten glockenartigen Klang; aucb wol
• Combinationen jener beiden Erscheinungen, sowie individuelle Unter-
scbiede, aber niemals einen Ubergang jener beiden Falle in einander.
5 20 § 18- Physiologische Voraussetzimgen
man einem Stiick Leder die Leistungen eines Handschuhes,
einem ungeschliffenen Liimmel die graziosen Bewegungen eiuer
Tanzerin oder die gesellschaftlichen Alliiren eines Lebemannes
dauernd beibringen, olme ebenso dauernd materiell etwas an ihnen
zu andern? Eiue Anpassung der Fuuctionen obne Anpassung
der Structur ist ja ein anerkannter physiologischer, um nicht
zu sagen logischer Uusinn. Mogeu aucb die Empfindungen
nicht ganz in demselben Sinne Functionen der Nerven genannt
werden, wie die Leistungen in den genannten Fallen Functio-
nen der Subjecte, mag man sogar die Empfindungen einem
immateriellen Subjecte zuschreiben : die Forderungen der cau-
salen Erklarung bleiben genau die namlichen. Keine dauernde
Veranderung der Wirkungen ohne dauernde Veranderung ihrer
Ursachen. Die „ Anpassung", welclie man wie ein Zauberwort
der bisherigen Theorie gegeniiberstellt, bildet also gar keinen
Gegensatz zu derselben. Sie ist ein Process, der sich zugestan-
denermassen bereits an uns voUzogen und jein Ergebnis hinter-
lassen hat, und dieses Ergebnis kann in nichts Anderem als in
einer bestimmten Structur der Nervenelemente bestehen, welche
sie befahigt, gerade diese und keine anderen Empfindungen im
Bewusstsein zu erzeugen, d. h. in einer specifischen Energie.
Aber wie denkt man sich iiberhaupt diese Entwickelung?
Was sollen wir urspriinglicli empfunden haben? Soil es weder
Schall noch Licht noch Geruch noch Geschmack noch Getast
— was soil es denn gewesen sein? Eine verschwundene Ur-
empfindung x? Dann ist die Eigenschaft der sammtlichen
Nervenelemente, wonach sie nur dieses x und keine andere
Empfindung trotz verschiedenster Reizung hervorzurufen im
Stande waren, doch erst reclit eine specifische Energie.
Oder hatten wir urspriinglich nur Eine von den gegenwar-
tigen Empfindungsclassen, etwa Tastempfindungen? Dann gilt
ganz das Namliche.
Oder empfindet jeder Nerv urspriinglich jede der gegen-
wartigen Qualitaten, Farben, Tone, Geriiche, Beriihrungen, je
nach dem Fteiz? Und was empfindet er bei galvanischer Rei-,
zung? Und wie ware es moglich, dass derselbe Nerv, dier bei
tier Klanganalyse. 121
40 000 periodischen Wellenbewegungen aufhorte mit Empfindun-
gen zu antworten, bei 400 Billionen wieder anfinge? Wir
miissten also wol nocli mebr urspriingliche Empfinduiigsclassen
annebmen. Scbade, dass wir sie durcb Entwickelung verloren
haben. Aber zeigt iiberbaiipt die Erfahrung, dass ein Nerv
Empfindungen bios wegen ibrer Selteubeit verlernt und fiir
andere durcb ibre Haufigkeit empfanglicber wird? Eber das
Gegenteil. 1st nicbt endlich der Tastsinn auch beute noch
akustiscben Reizen offen? Empfinden nicbt Taubgewordene Er-
zitteruugen der Luft oft mit erstaunlicber Feiiibeit? ^) War-
urn nicbt als Tone sondern ,als Beriibrungen? Warum boren
sie nicbt im eigentlicbsten und wortlicbsten Siime mit den
Fingerspitzen? ^)
^) Beispielsweise bemerkt Helen Keller (die zweite Laura Bridge-
man) Pfeifen und gewohnliclie Tone der menschlichen Stimme durch die
Hand, wenn sie von dem Pfeifenden oder Sprechenden an der Hand
gefasst wird; im anderen Falle merkt sie Nichts davon. MinJ 1889,
Nr. 54, p. 305.
2) Ich weiss wol, dass das fabelhafte Lesen oder Schmecken mit der
Herzgrube von Seiten der Somnambulen in neueren Versuchen an Hyp-
notischen und Hysterischen sein reelles Seitenstuck findet. Binet ver-
oiSfentliclit soeben eine Reihe ausfiihrlich beschriebener Versuche mit
Hysterischen, welche gegen Beriibrungen als solche unempfindlich ge-
worden waren, dafiir aber ebensoviele helle und dunkle Puncte im Ge-
sichtsfeld erblickten als man Stiche in die Hand machte, und ebenso-
lang als diese Stiche dauerten („Vision mentale" Revue philos. 1889,
p. 337). Ob die tactile Empfindlichkeit vollkommen verschwunden
■war, scheint doch zweifelhaft, da Einige die „Puncte" mit „Eindrucken
in die Haut" verglichen (,,C'est comme si vous me piquiez la peau''),
ein Vergleich der doch sonst, bei rein optischen Punctbildern, nicbt
gerade nahe liegt. In je'dem Fall haben wir, wenn solche Versuche sich
bestatigen, nichts welter vor uns als eine sensible Reflexwirkung, eine
Reflexhallucination; analog den Fallen, wo beim sanften Bestreichen der
Backe ein Gerausch, beim Betupfen des Ohrlappchens Tone von gleicher
Dauer mit dem Reiz empfunden werden (s. I 421 f.), oder wo kranke
Zahne Schmerzen in den Ohren oder in den Schulter- und Brustdriisen
verursachen (Z. f. 0. XII 219, 301) u. dgl. Dabei ist es in der Tat
denkbar, dass, wenn einmal eine Leitung von einem Nervengebiet zum
anderen sich gebildet hat, bei Reizung des ersten nur die Empfindungen
des zweiten auftreten. Die Erregung der centralen Gebilde, an welche
122 § 18. Physiologische Voraussetzuugen
Man halt der Lehre von specifischen Energien entgegen,
dass sich unter den Nervenfasern wie unter den Ganglienzellen
keine hinreichenden anatomischen oder chemischen Unterschiede
finden. Aber sieht man denn nicht, dass solche hinreichenden
Unterschiede beim Erwachsenen in jedem Falle, nach jeder
Theorie da sein miissen, mogen wir sie finden oder nicht?
Wenn man sie also an Leichenpraeparaten von Erwachsenen
nicht findet, so wllrde diese Schwierigkeit, wenn sie iiberhaupt
eine ware, ganz in gleichem Masse gegen jede beliebige An-
schauung gelten.
Aber eine ernstliche Schwierigkeit liegt ja hier nicht vor.
Wir finden auch keinen Unterschied zwischen den Eiweisskliimp-
chen, aus denen ein Afte, ein Schwein, ein Mensch entsteht,
und doch miissen Unterschiede da sein. Eine sogenannte ein-
fache Zelle besteht aus unzahligen noch einfacheren Teilchen,
deren gegenseitige Lagerung verschieden genug sein kann.
Gegen die Feinheit der Structur, die wir hier schon aus an-
deren Griinden annehmen miissen, verschwindet eben die Leist-
ungsfahigkeit der Mikroskope. ^) Wenn wir aber absolute Mi-
kroskope hatten und auch mit diesen Nichts fanden, so miiss-
ten wir eben mit Zollner in die vierte Dimension gehen, um
die Unterschiede dort zu suchen. Da sein miissen sie.
Auch das specielle Argument aus der Continuitat des Ton-
Tastempfindung unmittelbar gekniipft ist, mag unter tier notigen Starke
(Schwelle) bleibeu, wabrend die Erregung auf den anderen (akustischen,
optischen) Nerven iiberstromt. Dass dies nicht gegen, sondern fiir die
specifischen Energien spricht. leuchtet ein.
^) LuDwiG soil einmal gesagt haben: .,Wenn uns die chemis-chen
Elemente eines Nerven gegeben sind, wissen wir von der Beschaffenheit
desselben nicht mehr als wir von einem Fernrohr wissen, wenn man uns
sagt, es bestehe aus Glas, Metall und Kienruss". Auch der elektrische
Strom, fiigt Mach bei, zeigt uns nur die Aussenseite der Nervenvorgange.
Wir erfahren, dass eine bestimmte Quantitat lebendiger Kraft in der
Zeiteinheit durch den Querschnitt des Nerven wandert. Welche mole-
cularen Bewegungen es sind, die diese lebendige Kraft befordern, wissen
wir nicht. Die verschiedensten Vorgange konnen derselben Strominten-
sitat zu Grunde liegen. (Osterr. Zeitschr. f. prakt. Heilk. 1S16, 335).
der Klanganalyse. 12S
gebietes, welches Wundt in der dritten Auflage seines Werkes
wiederholt, obschon ich es bereits Tonps. I 184 f. als einen
offenbaren Feblschluss kennzeichnete, wiirde sich, wenii es
beweisend ware, ganz ebenso gegen seine eigene Lehre kehren,
da er erstens mit Helmholtz die Zerlegiing der Gesammt-
schwingung durcb die Fasern der Basilarmembran lehrt (I319f.),
zweitens die Acusticusfasern sich den Schwingungen der Ba-
silarmembran anpassen lasst (ib. 335). Notwendig muss dann
auch jede einzelne Acusticusfaser sich den Schwingungen der-
jenigen Membranfaser anpassen, welche ihr anliegt, d. h. sie
muss die entsprechende specifische Energie erwerben und, nach-
dem sie sie erworben hat, besitzen. Innerhalb enger Grenzen
mag die so erworbene specifische Energie immerhin ebenso wie
die Schwingungsfahigkeit der Membranfaser veranderlich sein
— und daraus wiirde sich, wie oben erwahnt, eine wirkliche
Continuitat der Tonempfindungen ableiten lassen — , aber dieser
Gedanke bleibt natiirlich fiir die Anhanger der angeborenen
Energien ebenso wie fiir die der erworbenen frei.
So verwickelt sich Wundt in die grellsten Widerspriiche.
Seine eigene Ansicht fiihrt iiberall zu derjenigen zuriick, wel-
ch er er sie entgegensetzt; und die Griinde mit denen er diese
bekampft,,gelten ebenso gegen die eigene.
5, Specifische Energien innerhalb der verschiede-
nen Sinne.
Wir miissen uns bei allem Dem gegenwartig halten, dass
das Princip in der weiteren Ausdehnung, welche ihm Helm-
holtz beim Tonsinn gegeben, und welche Manche neuerdings
wie etwas Ausgemachtes oder gar Selbstverstandliches bei alien
Sinnen hinstellen, nicht eine iiotwendige Folge des Princips
in seiner alteren und engeren Fassung ist. Wir wiirden, um
dies zu wiederholen, auch beim Tonsinn nicht zur Annahme be-
sonderer Nervenelemente fiir besondere Tone genotigt sein,
wenn nicht die Erscheinungen des gleichzeitigen Horens und
die iibrigen angefiihrten Griinde dafiir sprachen. An sich ware
es ebenso denkbar, dass jeder Ton durch alle akustischen
Nervenelemente zusammen (oder nur je nach der Starke durch
124 § 18. Physiologische Voraussetzungen
verschiedene Mengen derselben) zur Empfiudung kame, dass
seine Hohe durch deren gemeinsameu Erreguugszustand mid
dieser einfach durcli die augenblickliche Schallwelle bestimmt
ware. Und so konnte bei jedem Sinu innerhalb der fiir ihn
zufolge seiner allgemeinen Energie verfiigbaren Qualitatengat-
tung die besondere augenblicklich empfundene Qualitat durch
den besonderen augenblicklichen Reiz ^) bedingt sein, ohne
Verteilung der verschiedenen Erregungsweisen an getrennte
Fasern und Ganglien.
Ich bin sogar der Meinung, dass wirklich der Tonsinn
uns bis jetzt das einzige wolverbiirgte Beispiel einer Durchfiih-
rung des Princips der specifischen Energien innerhalb eines
Sinnes bildet, vorausgesetzt, dass wir nur vom qualitativen
Moment der Empfindungen reden. Beim Farbensinn diirfte es
sich nach dem oben Bemerkten, auch wenn man die Yoijng-
HfiLMHOLTz'sche Lehre zu Grunde legt, nicht um specifische
Energien handehi, und bei den iibrigen Sinnen habeu wir
keine deutlichen Anhaltspuncte, die Verschiedenheit der eiuem
jeden eigenen Quahtaten an eine verschiedene Structur verschie-
dener Nervenelemente gebunden zu denken; sie kann einfach
bedingt sein durch die Verschiedenheit der Nervenprocesse in
den gleichen Nervenelementen.
Die Anschauung erweitert sich aber und die scheinbare
Abnormitat in der Organisation des Tonsinnes verschwindet,
wenn wir ausser dem qualitativen auch das raumliche Mo-
ment des Empfindungsinhaltes in Betracht ziehen. Fur die
Ortsverschiedenheiten unsrer Empfindungen miissen nach nati-
vistischer Anschauung — und diese ist im Princip zweifellos
die richtige — ebenso bestimmte physiologische Bedingungen
existiren, wie fiir die qualitativen Verschiedenheiten. Und zwar
miissen hier offenbar raumlich getrennte Nervenelemente selbst
es sein, welche vermoge einer verschiedenen materiellen Be-
*) Einscliliesslich der Unterschiede . die etwa durch die Aufnahms-
organe, die Nervenanhange hervorgerufen werden, wie ja z. B. die Ver-
auderimg der Farben beim Ubergang von der Mitte zur Peripherie des
Sehfeldes in solchen Unterschieden griinden mag. •
der Klanganalj'se. 125
schaffenheit verschiedene Orte in der Empfindung erzeugen. ^)
Wir miissen deshalb zwei Classen specifischer Energien
annelimen: neben den qualitativen (qualitatserzeugenden) die
localen (ortserzeiigenden).
Vergleichen wir nun zuerst den Temperatur-, Tast- und
Muskelsinn mit dem Tonsinn, so hat jeder der ersteren nur
eine oder zwei Qualitaten, dagegen hochst zahlreiche Ortsbe-
stimmtheiten der Empfindung (denn wir unterscheiden sowol
Temperaturen als Muskelcontractionen als Beriihrungen bei sonst
gleicher Beschaffenheit der Empfindung je nach den Korperstellen);
hingegen hat der Tonsinn umgekehrt nur zwei Ortsbestimmt-
heiten der Empfindung (p und q) bei hochst zahlreichen Quali-
taten. Specifische Energien in grosser Zahl brauchen wir also
in beiden Fallen, nur sind es im ersteren Fall wesentlich
locale, im letzteren qualitative. Der Gesichtssinn hat zwar
zahlreiche Qualitaten, aber specifische Energien brauchen wir
auch da nur fiir die localen Unterschiede in grosserer Anzahl
(vgl. 0. 107 2)). Beim Geruch und Geschmack haben wir weder
zureicheude Griinde, die qualitativen Verschiedenheiten auf ver-
^) Ich kann in dieser Hinsicht nicht mebr die in meinem „Urspr.
d. Raumvorst." (§ 7.) wenigstens als moglich verteidigte Ansicht gelten
lassen, dass die Verschiedenheit des objectiven Ortes selbst schon ge-
ntigte. Jede Bewegiing unseres Korpers verandert den objectiven Ort
eines Nervenelementes, aber nicht den empfundenen Ort der bezilg-
lichen Qualitat.
1st nicht die Ortsverschiedenheit als solche, die blosse Isoliruug der
Nervenelemente , sondern eine materielle Verschiedenheit derselben
die Ursache der empfundenen Raumunterschiede, so fallt auch die
Schwierigkeit, welche Waitz, W. James und ich selbst friiher in der
HELMHOLTz'schen Schneckentheorie fanden, sofern die Verteilung der
Tone in der Schnecke auch eine raumliche Ausbreitung und Diiferen-
zirung der Tone, in der Empfindung zu bedingen schien (o. S. 101). Wir
haben keinen apriorischen Grund, anzunehmen, dass jedes isolirt und selb-
standig functionirende nervose Element auch einen raumlich getrennten Ein-
druck geben miisse (was W. Hamilton geradezu als ein Gesetz aussprach).
^) Auch S. ExNEK beruft sich fiir die specifischen Energien inner-
halb des Gesichtssinnes auf die raum lie hen Unterschiede der Gesichts-
empfindungeu. Hekm. Handb. II, 2, S. 207.
126- § 18. Pbysiologische Voraussetzungen
schiedene Nervenfasern innerhalb jedes Sinnes zuriickzufiihren *),
noch brauchen wir zahlreiche topogene Energien, da eine Orts-
unterscheidung durch blossen Geruch oder Geschmack, wenn
uberhaupt, jedenfalls nur mit geringer Feinheit moglicli ist.
Wenn man nun auch bei den sogenannten niederen Sinnen
zweifeln kann, was zu Einem Sinn zu rechnen ist, da sie ein-
ander qualitativ naher steben als die hoheren, so wiirde sicb
docb die Zahl der anzunehmenden qualitativen specifischen
Energien bei ihnen sogar dann nicbt erheblicb vermebren,
wenn man sie alle zu einem einzigen Siim zusammenfassen
woUte. Man ware selbst dann nicbt genotigt, die Verscbieden-
beiten der Qualitaten in erbeblicbem Umfaug auf eine ver-
scbiedene Constitution getrennter Nervenfasern oder Ganglien
zu griinden.
Es erscbeint also, den Goscbmack und Gerucb etwa aus-
genommen, das Princip der specifiscben Energie innerhalb jedes
Sinnesgebietes in ausgiebigem Masse durcbgefiibrt, aber nicbt
iiberall so ausgiebig in qualitativer sondern entweder in qua-
litativer oder localer Hinsicbt. Wo besonders zablreicbe topogene
Energien ausgebildet sind, sind die qualitativen auf ein Minimum
reducirt (und werden Qualitatsunterscbicde der Empfindungen
nur nocb durcb die Reize bedingt), sowie umgekehrt. Es liegt
hierin eine Art von organiscber Okonomie oder Compensation ^) ;
^) Die 0. 118 erwahnten Beobachtungen von Urbantschitsch liber
Erregungen susser und bitterer (aucb prickelnder) Empfindungen durch
mechanische Betupfung der Chorda tympani sprechen, wie Urbantschitsch
selbst hervorhebt, nicht dafiir, das Bitter und Siiss durch verschiedene
Fasern empfunden wiirdeu. Hypothetisch aussert sich Hensen fiber eine
analytische Thatigkeit der Riechharchen bei Krebsen in einer Kieler
Dissertation von K. May 1887 (S. 31—33); wenigstens nach dem anato-
mischen Befund lasse sich hier eine Durchfiihrung der specifischen Energien
innerhalb des Geruchsinnes annehmen. Innerhalb des Temperatursinncs
statuiren einige neuere Physiologen auf Grund von Beobachtungen beim
Einschlafen der Glieder und bei Krankheitsfallen eine Trennung warme-
und kalteempfindender Nerven; die Empfindlichkeit fiir Kalte schwindet
z. B. im ersteren Falle eher als die fur Warme. PflUg. Arch. Bd. 38,
S. 93. Bd. 39, S. 96.
'■') Auch wenn wir Individuen vergleichen, bemerken wir haufig einen
der Klanganalyse. ' 127
mid vielleicht leitet diese Betrachtjjng in Verbindung mit der
Entwickelungsgeschichte nocli zu allgemeineren Aus- oder Ein-
sichten. Doch sollte sie hier nur als eingelegentlicher Durch-
blick stehen und zugleich Bedeiiken wegen der Sonderstellung
des Tonsinues besehwiclitigeu.
Nun miisseii wir die psychologische Beschreibung wieder-
aufnehmen. Sie fiihrt dann auch wiederum zu einer neuen
Anwendung des Begriffs specifiscber Energie (§ 20).
§ 19. Stufen der Tonverscbmelzung.
1. Was Tonverscbmelzung ist und was sie nicht ist.
Es wurde bereits im Voriibergeben erwabnt, dass nicbt
bios gleicbzeitige Tone iiberbaupt gegeniiber aufeinanderfolgeu-
den ein besonderes Verbaltnis in der Empfindung eingehen,
welches ihre Analyse erscbwert, sondern dass auch unter den
gleichzeitigen Tonen noch Unterschiede in dieser Hinsicht be-
stehen je nacb dem Verbaltnis ihrer Schwingungszablen, Dieser
Tatsache miissen wir nun unsre Aufmerksamkeit zuwenden.
Ich will sie zunachst an zwei extremen Beispielen erlauteni.
Werden zwei Tone, deren Schwingungszablen sich wie 1 : 2
verhalten, gleichzeitig angegeben, so konnen sie nur sehr un-
vollkommen gesondert werden gegeniiber etwa dem Falle, wo
unter sonst gleichen Umstanden die Verhaltniszahlen 40:77
obwalten, Indem ich sage: „unvollkommen", meine ich, dass
es sich nicht bios um eine Schwierigkeit handelt, die durch
gesteigerte Aufmerksamkeit und tJbung beseitigt werden konnte,
sondern um cine unveranderliche Eigentiimlicbkeit des Em-
pfindungsmateriales, welche immer noch iibrig bleibt, wenn alle
gewissen Antagonismus der qualitativen und raumlichen Elemente der
Wahrnehmungen. Freilich kann die ungleiche Begabung fiir Zeichnung
und fiir Colorit, die bei Malern oft so auffallig ist, auch noch andere
Grilnde haben (angeborene oder erworbene Vorliebe). Aber selbst bei
Einem Individuum scheint es vorzukommen, dass Ein Auge mehr fiir die
Farben-, das andere mehr fiir die Formenwahrnehmung geeignet ist;
was man doch nicht auf einen Unterschied der Vorliebe zuriickfiihren
kann (,Solche Falle citirt Spencee, Principien d, Psychol., deutsch, II 249).
128 § 19- Stnfen der Tonverschmelzung.
anderen Hindernisse der Analyse beseitigt werden, und welche
gerade nachdem die Analyse vollzogen und die Tone deutlich
als zwei erkannt sind, ebenfalls erst in sich selbst bemerkt
werden kann. Bei 40:77 treten die Tone in der Empfindung
so zu sagen mehr auseinander als bei 1:2, sodass im ersten Fall
auch derUngeiibte weniger oder nicht in die Gefabr kommt, sie
fiir Einen zu halten, wabrend umgekehrt Octaventone auch
von dem feinsten und geiibtesten Obr nicht in demselben Grade
wie die der Septime oder des nichtmusikalischen Verhaltnisses
40 : 77 auseinanderzuhalten sind. Bei dem Ungeiibten ist dem-
nach, wenn er gleichzeitige Octaventone als Einen Ton bezeichnet,
ein doppeltes Hindernis der Analyse vorhanden: eines in mangeln-
der Ubung, und eines in den Tonen selbst; eines, welches direct
das Urteil, und eines, welches die Empfindung und erst in
Folge davon das Urteil beeinflusst.
Das Wesentliche zur allgemeinen Charakteristik des „Ver-
schmelzungs"-Begriffes , wie wir ihn hier verstehen, diirfte mit
dem o. 64 f. Gesagten ziemlich erschopft sein und nur etwa
in dem weiteren Rahmen einer allgemeinen Verhaltnislehre, die
zu den dringendsten Bediirfnissen der philosophischen Wissen-
schaft gehort, noch deutlicher hervortreten. "Wir nannten
Verschmelzung dasjenige Verhaltnis zweier Inhalte, speciell Em-
pfindungsinhalte, wonach sic nicht eine blosse Surame sondern
ein Ganzes bilden. Die Folge dieses Verhaltnisses ist, dass
mit hoheren Stufen desselben der Gesammteindruck sich unter
sonst gleichen Umstanden immer mehr dem Einer Empfindung
nahert und immer schwerer analysirt wird. Auch diese Folgen
konnen zur Definition beniitzt werden, indem wir sagen: Ver-
schmelzung ist dagjenige Verhaltnis zweier Empfindungen, in
Folge dessen u. s. f. Aber auf die eine wie andere Weise
wiirde die Sache fiir Jemand, dem die beziiglichen Erscheinuugen
und zumal die Tonerscheinungen fremd waren, ein leerer Be-
griff bleiben. Was es in Wirklichkeit damit auf sich hat, dass
Empfindungen ein Ganzes bilden und sich mehr oder weniger
dem Eindruck Einer Empfindung nahern, das kann man doch
zuletzt nur ausund an Beispielen lernen.
§ 19. Stnfen der Tonverschmelzung. 129
Ich bemerke jedoch, class die Unterordnung des Begriffes
der TonYerschmelzung unter jene allgemeinere Eigentiimlichkeit
gleichzeitiger gegeniiber aufeinaiiderfolgenden Empfindungeu,
die wir a. a. 0. besprachen, fiir das Folgende nicht unentbehr-
lich ist. Die Tonverscbmelzung wird fiir uns immer mehr ein
selbstandiges, von den Fragen des § 16 und 17 unabhaugiges,
Interesse gewinnen und wiirde dijsselbe auch beansprucben,
wenn ein abnliches Verbaltnis im ganzen Gebiet der Empfin-
dungen nicbt weiter vorkame. Sie ist nicbts weniger als eine
zur Losung jener Scbwierigkeiten ausgesonnene. Hypotbese: sie
ist ein sinnlicbes Pbanomen, welches auch beobachtet worden
ist, ehe nocb jene theoretischen Scbwierigkeiten in den Ge-
sichtskreis traten. Es geniigt zur Gewinnung des bier not-
wendigen Begriffes vollkommen, die Unterschiede der Fallo
wahrzunebmen und wabrnehmend gegeneinanderzubalten, welcbe
sicb bereits innerbalb des Xongebietes finden und im Folgenden
naber beschrieben werden. Man muss die Tonverscbmelzungen
boren und vergleicben; ebenso wie man, um zu wissen, was
ein Ton ist, Tone boren und vergleicben muss.
Vielleicht ist es indessen von Nutzeu, auch nocb ausdriick-
licb einige Misverstandnisse abzuwebren, die der Name „Ver-
scbmelzung" bervorrufen konnte, Er gehort ja zu den psycbo-
logiscben Ausdriicken, die am meisten misbraucbt worden sind,
an die sicb die unmoglicbsten Vorstellungen und ganze fictive
Tbeorien angekniipft baben; wesbalb ich ibn auch nur mit
Widerwillen, in Ermangeluug eines unverfanglicberen und eben-
so Oder besser bezeichnenden, gewiiblt babe.
Es ist also vor Allem nicbt gemeint, dass die beiden gleicb-
zeitigen Tone erst nacb und nacb, wde schnell auch immer, zu einer
gewissen Einbeit im Bewusstsein zusammenwiichsen. Verscbmel-
zung bedeutet uns bier nicbt einen Process sondern ein vorhandenes
Verbaltnis. Icb wiirde daber lieber „Schmelz" oder „Scbmalz"
sagen, wenn dies nicbt auch sein Bedenkliches batte. Auch Aus-
driicke wie „auseinandertreten" sind in diesem Sinne eines fertigen
Seins zu versteben, wie sie ja auch bei der Bescbreibung archi-
tektoniscber Formen in rubeudem Sinn gebraucht werden.
Stximpf, Tonpsycliologie. II. 9
\^Q § 19. Stufen der Tonverschmelzung.
Dass die Verscbmelzung nicht als Entstehung einer dritten
Tonqualitat neben den beiden oder statt ibrer anzusoben ist,
bedarf nacb § 16 und 17 keiner Ausfiibrung mebr.
Speciell miissen wir ferner die tjbertragung raumlicber
Begriffe ablebnen. Der Naturforscber ist gewobnt, Alles mit
Hilfe raumlicber Aualogien zu denken, und aucb Psycbologen,
die der exacten Naturforscbung naber treten wollten, wie
Hebbart und Beneke, benutzten solcbe in ausgedebntester
Weise zu ibren psycbologiscben Bescbreibungen („Sinken und
Steigen, tJberfliessen" u. s. w.). Von jeder derartigen Analogie
ist bier abzuseben, aucb wenn Ausdriicke gebraucbt werden,
die dazu verleiten konnten. Alles im Raum Ausgedebnte ist
ausser einander oder identiscb. Aber die gleicbzeitigen Tone
bieten uns das Beispiel einer Durcbdringung; ja einer Durcb-
dringung niederen und boberen Grades. Der Mangel aller
raumlicben AnscbauHcbkeit verscblagt Nicbts. Feblt sie docb
scbon bei dem Verbaltnis von Qualitat und Intensitat. Bei
den psycbiscben Zustanden als solcben bort sie obnedies auf
(vgl. I 100 — 104), Den Beobacbtungen miissen sicb aucb bier
die Begriffe fiigen. Nur ein Widersprucb tragt die Unmoglicb-
keit von vornberein in sicb. Aber dass die zwei Tone zugleicb
Einer waren, wird nicbt bebauptet.
tjberbaupt diirften die Scbwierigkeiten, die man im Be-
griffe der Tonverscbmelzung, wie er bier gefasst ist, nocb finden
konnte und finden wird, von abnUcber Art .und Herkunft seim
wie die seit alter Zeit gegen den Bewegungsbegriff erbobenen.
Und wie der Pbysiker sicb diese nacb dem Vorgang des
Diogenes, der aus seinem Fasse tretend umberspazierte, mit
einem „Solvitur ambulando" vom Halse scbafft, so muss bier
in gleicber Weise zunacbst ein „Solvitur audiendo" allem Raison-
nement entgegengebalten werden. Dann aber wird sicb bier
wie dort zeigen, dass die Scbwierigkeiten vermieden werden,
wenn zuerst die Hereinmiscbung beterogener Begriffe ver-
mieden. wird.
Endlicb ist zu bemerkeu, dass der Ausdruck und Begriff
der Verscbmelzung bier in keinem, weder in sacblicbem nocb
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 131
historischem, Zusammenhang steht mit Herbart's allgemein-
psychologischer Lehre, woriu die „Verschmelzung" eiue so grosse
Rolle spielt; welche daher Jeder, der Kenntnis davon hat,
einstweileu der Klarheit halber seinen Gedanken fernezuhalten
gebeteu wird. Im folgenden Paragraphen , wo es sich una die
Ursacbe und Entstehung der Verschmelzung handelt, werden
wir darauf eingehen und zeigen, wie wenig Herbart's Lehre
iiber Verschmelzung iiberhaupt und iiber Tonverschme-lzung im
Besonderen das Richtige getroffen hat.
Nioht viel mehr Beriihrungspuncte hat unsre Tatsache mit
den Vorstellungen, die unter gleichem Namen in der neuesten
Psychologie vielfach, und meiner Meinung nach jedesmal mit
der Wirklichkeit im Widerspruch, wieder aufgebracht wurden.
An einigen derselben wollen wir dies in Kiirze darlegen, um
auch so das, was wir meiueu, durch das, was wir nicht meinen
zu verdeutlichen.
UolXa (ilv yaQ ^Jytrai jieqI XQa^scog, xal dieSm' avq-
vvTOi JcsQl tov jtQOxei(iivov Oxtfffiarog eloi jtaQa tolg ^oyfia-
Tixolg atdoeig — konute man hier mit Sextus Empiricus sagen.
WuNDT erlautert seinen Verschmelzungsbegriff durch zwei
Beispiele: Verschmelzung der Obertone im Klange und der Local-
zeichen in der Gesichts- (auch in der Tast-) Empfindung (Ph.
Ps. ^11 365. Logik I 11). Im ersten Fall spricht er von inten-
siver, im zweiten von exteusiver Verschmelzung. Er meint jedenfalls:
Verschmelzung des Intensiven — des (oder zum) Extensiven; nicht
als ob der Vorgang selbst ein verschiedener ware. Diesen definirt
er dahin, dass „in dem Complex der miteinander vereinigten Em-
pfindungeu eine einzige, und zwar im Allgemeinen die starkste, die
Herrschaft iiber alle anderen gewinnt, sodass diese nur noch die
Rolle modificirender Elemente. iibernehmen, deren selbstandige
Eigenschaften in dem Verschmelzungsproduct vollig untergehen".
Dass nun die Localzeichen in der Gesichtswahrnehmung vollig
untergehen (vgl. Ph. Ps. ,11 33, 190 f. Log. I 31), wollen wir hier
einmal den Freunden dieser Empfindungen glauben; sind sie ja in
der Tat nicht zu entdecken. Aber die Obertone konnen wir doch
heraushoreu. So vollig gehen sie also jedenfalls nicht unter wie
9*
132 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
jene. Andererseits was soil es bei den Elementen der Gesi'chts-
wahrnehmung bedeuten, dass ein eiuziges die Herrschaft gewinne?
Spielt nicht das Formbewusstsein eine gleich grosse Rolle wie das
Farbenbewusstsein ?
WuNDT fiihrt diese angeblicbe Verschmelzung auf eine „ur-
spriingliche Eigenscbaft des Bewusstseins" zuriick, namlicb auf die
„Eigenscbaft der Apperception, sicb auf einen bestiramten eng be-
grenzten Inhalt des Bewusstseins zu bescbranken". Wenn es sicb
um weiter Nicbts handelte, als dass beim Fixiren der Nase eines
Gesicbtes die tibrigen Telle nur als Hintergrund eine Rolle spielen,
so bediirfte der Verscbmelzungsbegriff freilicb nicbt vieler Worte.
Aber es ware scblimm, wenn die ubrigeu Telle ibre selbstandigen
Eigenscbaften vollig einbiissten.
„Bei der intensiven Syntbese", sagt Wundt (Log. I 14), „be-
stimmt lediglicb die Intensitat der Empfindung dieses berrschende
Element der Vorstellung. So ist in einem Klang der tiefste Ton
das berrscbende Element, well er die grosste Intensitat besitzt
Dennooh ist dieses Zurucktreten der subsidiaren vor den berrscben-
den Elementen der Vorstellung wabrscbeinlicb scbon bei der intensiven
Syntbese nicht allein aus ihrer geringeren Intensitat zu erklaren."
Dieses „Nicbt allein" nacb jenem „Lediglicb" bertihrt bcsonders
in einem Lebrbucb der Logik seltsam. Wundt fabrt erlauternd
fort: „Ein Ton . . . gibt gerade dann vorzugsweise leicbt seine
Selbstandigkeit auf, wenn er der barmonische Oberton zu einem
starker erklingenden Grundton ist" (also docb wieder grossere Inten-
sitat!). „Dies kann nur daraus erklart werden, dass gleicbzeitig
unser Bewusstsein iiber der Auffassung der berrschenden Elemente
einer Vorstellung die anderen vernacblassigt." Eine nicbtssagende
Erklarung, denn es fragt sicb eben, warum und wodurcb gerade
der barmonische Grundton ausser seiner Starke nocb .„herrschend"
werden kann. Wir stossen bier auf eine gewisse einsmachende
Kraft, die nach neueren Ausserungen Wundt's dem Ton 1 zukommen
soil. Dass diese Bebauptung ganz in der Luft schwebt, werden
wir § 23, 1, d, a) zeigen.
"Wundt lebrt aber ausser den obigen Verschmelzungen oder
Synthesen, die er uaber als „associative" bezeichnct, nocb eine
§ 19. Stufen der Tonverschmelziing. 133
„apperceptive" (Ph. Ps. II 385. Log. I 31), d. b. „die Verbindung
aufeinanderfolgender Vorstelluugeu, wenn die letztereu iu der ueuen
Vorstellung, die sie bervorgebracbt babeu, nicbt mebr fortbestebeu".
Wir borten zwar eben, dass die Apperception aucb an der associa-
tiven Verscbmelzung Scbuld ist, uud dass 'aucb dort die Elemeute
nicbt fortbestebeu. Trotzdem sei ein grosser Unterscbied. „Der
grosse Unterscbied bestebt dariu, dass sicb bei der apperceptiven
Verscbmelzung immer mebr oder weniger sicber eiue vorausgegangene •
Entwickelung nacbweiseu lasst, wabrend deren eine bewusste
Unterscbeiduug der Elemeute stattgefuuden bat. Dies berubt da-
rauf, dass bier immer die Verscbmelzung aus eiuer Agglutination siob
allmalig entwickelt". Also docb nur ein „mebr oder weniger
sicberer" Unterscbied in der Vorgescbicbte. Wesen wie Ergebnis
des Vorgangs wai'e dasselbe: Verscbwinden der Elemeute im Pro-
duct. Sucben wir nun bier wieder nacb Beispieleu, so werdeu fiir
die „Agglutination" wie fiir die daraus fliessende apperceptive
Syntbese Erscbeiuuugen aus der Spracbgescbicbte angefiibrt, die im
besten Fall als binkende Vergleicbe oder als Folgen, keiuesfalls als
Beispiele von Vorstellungsprocessen gelten konnen.
Im „System der Pbilosopbie" (1889) S. 343 beisst es: „Jede
Vorstellung bringt als eine neue in ibren Elementeu nocb nicbt
eutbaltene Eigenscbaft die Form der Ordnung der letzteren
binzu". Diese an Kant erinnernde Wendung des Verscbmelzungs-
begriffes, weiterbin aucb nocb die Verkniipfung mit der Teleologie
tragen nicbt eben zur Klarung bei, und die angefiibrten Bei-
spiele sind die friiberen.
Icb verkenne nicht, dass Einiges von dem was Wundt sagt,
sicb cum grano salis auf die Tonverscbmelzung in unsrem Sinn an-
wenden lasst. Wie sollte aucb unter so vielen Bestimmungen nicbt
etwas Hierbergeboriges sicb finden? Aber es kommt in diesem
Falle mebr als irgendwo gerade darauf an, nicbt aucb iu der
Definition der Verscbmelzung AUes zu verscbmelzen.
Soviel ist klar, dass Wundt's Verscbmelzungsbegriff, soferu er
als Finer bezeicbnet w^erden kann, in den wesentlicbsten Puncten
nicbt bios von dem unsrigen abweicbt sondern aucb nicbt durcb
ein eiuziges wirklicb passendes Beispiel belegt ist. Auf die genetiscbe
134 § 19. Stiifen der Tonverschmelzixng.
Seite der Lehre korameu wir im niichsten Paragraphen zurtick,
freilich nur ura auch sie ganzlich haltlos zu finden. —
Lipps betrachtet (Grundtatsachen des Seeleulebens, bes. 472f.)
Verschraelzungen als allgemeine notwendige Folge der Begrenzt-
heit der seelischen Krafts (doch nach 474 nicht als Deuknotwendig-
keit sondern nur als verstandliche Tatsacbe). Es entstebe ein
iieuer Bewusstseinsinbalt als Folge der Verscbmelzung (475); z. B.
gaben mebrere annahernd gleicbe Tasteindriicke die Empfindung
des Stumpfen. Lipps' eigentlicbe Meinuug ist aber nicbt Ver-
scbmelzung der Bewusstseinsinhalte als solcber sondern der un-
bewussten Erregungen, In's Bewusstsein tritt sogleicb das ein-
heitlicbe Product (also tiberbaupt nicbt „Product". Pdlemik gegen
die iiltere Fassung 44). Massgebend fiir dessen Bescbaffenheit ist
Starke und Qualitat der Elemente.
Lipps scheint mir in den Anwendungen des Begriffes bestandig
von seiner principiellen Meiuung abzuweichen. So sollen auch die
Obertone mit dem Grundtou verscbmelzen. Tone sind aber docli
Empfindungen, nicht bios unbewusste Erregungen. Und wir konnen
doch die Tone im Klange auffinden, wahrend das Verscbmelzungs-
product etwas inbaltlich Neues sein soil. Dies bringt Natokp
in seiner Recension (Getting, gelebrte Anzeigen 1885, 212)
zu dem Schmerzensruf: „Man mache mir doch die Verscbmelzung
deutlich, bei der das Verschmolzene uberdies unverschmolzen fort-
existirt."
Auch B. Erdmann hat diese Zweideutigkeit ebenso wie die
WuNDT'schen Unklarheiten bemerkt (Viertelj. Scbr, f. wiss. Phil. X
395 f.). Ihm selbst ist Verscbmelzung lediglicb das „Ineinander-
Aufgehen des durch den neuen Reiz Bedingten mit der erregten
Disposition der friiheren Vorstellung, sofern der neue Reiz dem
friiheren psychisch gleichartig ist." Unter dem „durch den Reiz
Bedingten" miissen wir bier, Avenn nicht die gleicbe Zweideutig-
keit bleiben soil, einen der Empfindung correspoudirenden ausser
dem Bewusstsein liegenden Process verstehen. Und „psychisch
gleichartig" muss in analoger Weise interpretirt werden. Mit einer
solchen ausserhalb des Bewusstseins stattfindenden „Verschmelzung",
die nur als Erklarungsprincip (fiir das Wiedererkennen) postulirt
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung, 135
wird, haben wir hier aber nichts zu tliun. Der Begriff hat nicht
ein einziges Merkmal mit dem unsrigen gemeinsam.
Lipps spricht tibrigens den Toneu, ohne Zusammenhang mit
seiner Verschmelzungslebre, audi eine „Freundschaft und Feindschaft,
Zuneigung und Abneigung" zu (251, 259 £), welche mit dem
Schwingungsverhaltnis zusammenhange, aber nicht an sich wahr-
nehmbar sei sondern nur in ihren Wirkungen, dem Harmonic- und
Disharmoniegefiihl. Diese eigentiimlichen Ausdriicke hat er in-
dessen alsbald selbst aufgegeben und in den „Psychol.Studien" (1885)
nur von der unbewussten Empfindung der Schwingungsrhythmen als
Grund des Harmoniegefiihls gesprochen.
2. Die Versclimelzungsstufen.
Halten wir uns zunachst in einem Tongebiet, welches durch
das Schwingungsverhaltnis 1 i 2 abgegrenzt ist, so bemerke icli
folgeude Stufen der Verschmelzung verschiedener Tiine, von der
starksten bis zur schwachsten Stufe.
Erstens* die Verschmelzung der Octave (1:2).
Zweitens die der Quinte (2:3).
Drittens die der Quarte (3:4).
Viertens die der sog. natiirlichen Terzen und Sexten
(4:5, 5:6, 3:5, 5:8), zwischen welchen ich in dieser
. Hinsicht keine deutlichen Unterschiede finde.
Fiinftens die aller iibrigen musikalischen und nicht-
musikalischen Toncombinationen, welche, fiir mein Ge-
hor wenigstens, untereinander keine deutlichen Unter-
schiede der Verschmelzung, vielmehr alle den geringsten
Grad derselben darbieten. Hochstens die sogenannte
natiirliche Septime (4:7) konnte noch um etwas mehr
als die anderen verschmelzen.
Wenn wir bier die modernen Intervallnamen und den all-
gemeinen Ausdruck „Intervall" selbst gebrauchen, so geschieht
es noch nicht in irgend einer musikalischen Bedeutuug, sondern
nur um einen bekannten und kurzen Ausdruck fiir die beziig-
lichen Zahlenverhaltnisse der Schwingungen zu haben.
Indem wir von' „Stufen" der Verschmelzung reden, wollen
wir andeuten, dass es sich um Gradunterschiede handelt, die
136 § 19. Stufen der Tonverschmelzung.
doch uicht stetig vom hochsten bis zum niedrigsteii Grade in-
einander iibergelien. Weiterhin bedieneu wir uns aber auch des
allgemeinen Ausdruckes „Yerscbnielzungsgrade".
3. Gesetze der Verschmelzung.
Die Abbangigkeit der Verscbmelzuugsstufen von den ge-
nannten Scbwingungsverbiiltnissen ist das Hauptgesetz der Tou-
verscbmelzung. Ibm zur Seite steben folgende:
a) Der Verscbmelzungsgrad ist unabbangig von der Ton-
region. In der tiefsten Lage, wo die Analyse auf Scbwierig-
keiten stosst, wird natiirlicb aucb die Erkennung und Yer-
gleicbung des Verscbmelzungsgrades scbwierig und unmoglich.
Aber wo sie moglicb ist, finden wir bei Veranderung der
Tonlage die Yerscbnielzung ungeanden-t, solange nur das
Schwingungsverbaltnis beider Tong dasselbe bleibt.
Nur in der allerbocbsten Region, etwa von 4000 Schwing-
ungen d. i. von der fUnfgestricbenen Octave an, scbeinen mir,
soweit icb bis jetzt darauf geacbtet babe, die Verscbmelzungs-
unterscbiede binwegzufallen. Bei den Gabehi 2000 : 3000 linde
icb nocb ganz deutlicb die Quintenverscbmelzung, wabrend icb
bei 3000 : 5000, 5000 : 10 000 u. s. f. ubcrall nur den geringsten
Yerscbmelzungsgrad finden kann.
b) Der Yerscbmelzungsgrad ist aucb unabbangig von der
Starke, und zwar sowol von der absoluten als relativen Starke.
Dass er durcb blosse Yeranderung der absoluten Starke beider
Tone nicbt geandert wird, ist sofort klar. Bei Yeranderung
der relativen Starke ist wieder zu beachten, dass zuletzt bei
grosser Starkeverscbiedenbeit die Analyse unmoglicb wird, in-
dem der scbwacbere durcb den stiirkeren Ton fiir die Wabr-
nebmung oder selbst fiir die Empfindung unterdriickt wird. Aber
solange sie unterscbeidbar bleiben, kann icb eine Yeranderung
des Yerscbmelzungsgrad es nicbt bemerken Beispielsweise wenn
icb c und g zuerst gleicbstark, dann c merklicb starker als g
(oder umgekebrt) angebe.
c) Durcb Hinzufiigung eines beliebigen dritten und
weiteren Tones wird der Yerscbmelzungsgrad zweier ge-
gebener Tone in keiner Weise beeinflusst. Wol wird ein Zu-
§ 19. Stufen der Touverschmelzung. 137
sammenklang um so weniger leiclit analysirt, je mehr Tone da-
rin enthalten sind, und wird zuletzt ganz verworren und un-
analysirbar. Solange aber zwei Tone in eiuem Mehrklaug
iiberhaupt unterscheidbar sind, wird auch ihre Verscbmelzung
als die namliche erkannt, wie wenn diese beiden allein zu-
sammenklingen.
In diesem Satz zusammen mit b) ist auch ausgesprochen,
dass speciell die Obertone und damit die Klangfarbe nichts
an dem Verhalten zweier Grundtone andern, und dass man den-
selben Verscbmelzungsgrad an zwei Tonen wabrnimn4, wenn
sie als einfacbe und wenn sie als Grundtone von Klangen
gegeben werden; wie dies auch directe Beobachtung bestatigt.
d) Wie iiberhaupt Reizanderungen unter einer gewissen
Grosse keine wahrnehmbaren Empiindungsanderungen verur-
sachen, so erzeugen auch sehr kleine Abweichungen der
Schwingungszahlen von den oben angegebenen Verhaltnissen noch
keine merkliche Veranderung des Verschmelzungsgrades. Wird
die Abweichung vergrossert, so geht die Verschmelzung bei alien
Tonpaaren, die nicht schon der niedrigsten Verschmelzungsstufe
angehoreu, in diese Stufe iiber, ohne die etwaigen Zwischenstufen
zu durchlaufen. Und dieser Ubergang erfolgt um so rascher (bei
um so kleineren relativen Schwingungsuuterschieden), je grosser
die anfangliche Verschmelzung war.
Wir sagen bei kleinen aber merklichen Abweichungen be-
kanntlich, das Intervall sei „Yerstimmt", „uurein". Diese Aus-
sage besitzt also, wie hier vorgreifend bemerkt sei, nicht bios
eine Beziehung auf das unangenehme Gefiihl, das erst die Folge
der Wahrnehmung ist, sondern vor Allem auf ein tatsachliches
und auch wahrgenommenes Verhalten der Empfindungen.
Hinsichtlich der Grosse der Abweichung, bei welcher die
Veranderung des Verschmelzungsgrades merklich wird, macht
ausser anderen Umstandeu (Tonregion u. s. w.) die Ubung einen
• Unterschied. Aber dies bildet keinen Einwand gegen die
Definition des Verschmelzungsgrades als Empfindungstatsache.
Wie eine Empfindung selbst, so kann sich auch das Verhaltnis
zweier Empfindungen andern, ohne dass die Anderung sogleich
138 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
bemerkt wird, und diese kann dem einen Individuum merklicli
seiii, wahrend sie bei gleichem Stand der Empfiudungen (nicht
bios der Reize) dem anderen noch unmerklich ist.
e) Die Verscbmelzung bleibt und behalt ihren Grad, wenn
beide Tone nicbt demselben Ohr, sondern der eine aus-
scbliesslicb dem recbten, der andere ausscbliesslicb dem linken
Obr geboten wird. Eine nicbt zu stark toneude Stimmgabel
mittlerer Hohe, vor ein Obr gebalten, wird vom anderen nicbt
vernommen, wie man daran erkennt, dass bei Verstopfung des
ersten Obres Nicbts gebort wird. Verteilt man nmi zwei solcbe
Gabeln, die z. B. eine Quinte mit einander bilden, an beide
Obren, so zeigt sich kein Unterscbied in der Verscbmelzung
gegeniiber der Perception durcb ein und dasselbe Obr^). Da-
gegen kann die Analyse durcb dieses Verfabren erleicbtert
werden (vgl. § 23, 1 f) und § 24, a).
f) Die Verscbmelzung bleibt aucb in der blossen Pban-
tasievorstellung erbalten. Wenn icb mircund ^r als gleicb-
zeitig erklingend bios vorstelle, so kann icb sie nur ver-
scbmelzend und zwar mit dem bestimmten Verscbmelzungsgrade
*) Es ist hier vorausgesetzt, dass der Unterschied beider Ohren hin-
sicMlich der Tonhohe, von welchem I 234—5 die Rede war, nicht grosser
ist als die unter d) erwahnten Abweichungen. Ist er grosser (wie in den
Fallen des „Doppelth6rens" I 266 f.), so muss die Gabel vor dem
hoher horenden Ohre durch Ankleben von Wachs bis zu derjenigen Ton-
hohe vertieft werden, welche sie fiir die Empfindung haben wiirde, wenn
sie vor dem anderen Ohr erklange.
Es trifft insofern fiir das ungleichseitige Horen nicht genau zu, dass
die hoheren Verscbmelzungsgrade sich bei den einfachsten Schwingungs-
verhaltnissen finden. Im genaunten Falle finden sie sich vielmehr bei
Schwingungsverhaltnissen, welche um einen Betrag, der der Hohen-
Differenz der Ohren entspricht, von den einfachsten abweichen. Aber
die besondere Erwahnung des abnormen Ausnahmefalles bei jeder
Erwahnung der allgemeinen Tatsache ware nutzlose Pedanterie; es ge-
niigt, hier voriibergehend davon gesprochen zu haben.
Es geht daraus hervor, was jedoch ohnedies selbstverstandlich ist,
dass die Abhangigkeit der Verschmelzungsstufen von den Schwingungs-
verhaltnissen keine unmittelbare sein kann. Liegen ja doch mindestens
physiologische Processe in der Mitte.
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 139
vorstellen, den sie beim wirklichen Horeu besitzen. Ebeuso
beliebige zwei aiidere Tone. A priori ist dies nicht notwendig
zii erwarten, aucb wenn man Empfindungen und Phantasievor-
stellungen im Allgemeinen als gleichartig anerkennt. Nicht
alle Eigentiiralichkeiten gleichzeitiger Empfindungen gehen auf
die Phantasievorstellung mit Notweudigkeit iiber: c und cis
machen beim wirklichen Horen (auf gleicher Seite) notwendig
Schwebungen, in der Phantasie kann ich sie vollkommen ohne
Schwebungen vorstellen. Und wenn ich sie schwebend vor-
stelle, so kann ich sie mit langsamen oder schnellen, starken
oder schwachen Schwebungen vorstellen; wahrend die Wahl des
Verschmelzungsgrades mir nicht frei steht.
Beziiglich der Phantasie-(Gedachtnis-)Vorstellungen miissen
wir hiernach das Hauptgesetz so erganzen: Als gleichzeitig vor-
gestellte Tone verschmelzen in dem Grade, welcher dem
Schwingungsverhaltnis objectiv erzeugter Tone von gleicher Hohe
entspricht.
g) Wenn wir iiber eine Octave hinausgehen, so kehren
dieselben Verschmelzungsgrade bei den um eine oder mehrere
Octaven erweiterten Schwingungsverhaltnissen wieder. Die
Nonen haben dieselbe Verschmelzung wie die Secunden, die
Decimen wie die Terzen, die Doppeloctave und Tripeloctave
wie die Octave, und iiberhaupt m : n • 2^ dieselbe wie m : n, wenn
m<ln und x eine (kleine) ganze Zahl.
Man muss sich auch hier nicht durch die grossere Leichtig-
keit der Analyse irre "machen lassen. C und c^ zusammen-
klingend werden von Ungeiibten leichter und sicherer analy-
sirt als C und c, ja sogar als C und G, obgleich diese
beiden Tone weniger mit einander verschmelzen als jene. Die
Analyse hangt eben noch von anderen Bedingungen ab; sie ist
namentlich in der Tiefe besonders schwierig; sie wird ferner
erleichtert durch wachsenden Hohenunterschied beider Tone.
Wenn aber in beiden Fallen Analyse stattfindet, so wird man
auch weiter find en, dass C und c^ doch weniger vollkommen
im Sinneseindruck auseinandertreten als C und G und nicht
vollkommener als C und c.
140 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
Vergleiche ich die Gabelklauge CG mit Cg, CA mit Ca
u. s. f., so ist es mir klar, dass die Uutersclieidung der je-
wciligeii zweiten Combination imnier leichter, aber die Ver-
sclimelzuug dieselbe ist wie bei der ersten.
Streiche ich auf der Violine zur (Z^-Saite die Octave d^,
dann die Doppeloctave fP (auf der a^-Saite), so babe ich in
beiden Fallen den gleichen Eiudruck von Einbeitlicbkeit, von
Annaberimg an wirklicbe Toneinbeit. Zur Contrastii'ung kann
man jedesmal das bezUglicbe b weiter mit der freien e'^-Saitezu-
sammen anstreichen: der Unterscbied der Verscbmelzuug ist
jedesmal derselbe, der des bocbsten und geringsten Grades.
Gibt ein Orcbester die sammtlicben 7 Octaventone vom
C bis zum c^ an, so bezeicbnen wir den Eindruck nocb als
„Unisono". Die sieben Tone sind einbeitlicber, als die zwei Tone
c und a oder gar c und h. Man kann bier nicbt etwa an-
nebmen, dass nur immer zwei benacbbarte Glieder der Reihe
mit eiuander verschmolzen, C mit c, c mit c^ u. s. f., und die
weiter entfernten nur durcb die mittleren: denn wenn C und c^
fiir sich allein weniger verscbmolzen als G und c oder gar c
und g, so konnte dies durcb die dazwiscbeu gescHobenen Octaven
gemass c) nicbt geandert werden.
Es lassen sicb iibrigens aucb alle in den vorbergebenden
Satzen ausgesprocbenen besonderen Gesetze an den erweiterten
Intervallen selbst direct beobacbten. Z. B. das unter b) aus-
gesprocbene, dessen Anerkennuug vielleicbt bei Vielen auf
Scbwierigkeiten stosst. Man gebe auf dem Clavier zuerst c
allein an und beobacbte den Oberton g'^ (die Duodecime), den
man deutlicb mitkliugen bort, in Hinsicbt seiner Verscbmelzung
mit dem Grundton. Nun scblage man g"^ dazu an, wodurcb
also dieser Ton bedeutend verstarkt wird: die Verscbmelzung
mit c bleibt ungeandert. Also aucb bei Intervallen jenseits einer
Octave ist die Verscbmelzung vom Starkeverbaltnis unabbangig.
4. Massregeln bei der Beobacbtung.
Die in Tonurteilen Geiibten mogen priifen, -ob das Vor-
anstebende ibren eigenen Wahrnebmungen entspricbt. Wo es
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 141
sich um Verhaltnisse handelt, die im Empfindungsmaterial
selbst griinden, da lasst sich ja nicht fiircliten, dass grossere
individuelle Unterschiede bei Normalhoreiiden bestehen, viel-
mehr erwarten, dass die Urteilsfahigen iinter ihnen sich, je
langer und genauer sie priifen, um so mohr in tJbereinstim-
mung finden warden. Ich will aber keineswegs den Anspruch
erheben, in jedem der genannten Puncte das Kichtige gefunden
und in ganz correcter Weise ausgesprochen zu.haben.
Notwendig wird es bei diesen Beobacbtungen vor Allem
sein, die Aufmerksamkeit ausschliesslicb auf den Fragepunct
zu richten, also namentlich abzusehen von tbeoretischen Kennt-
nissen iiber Verwandtschaft u. dgl., sowie von der musikalischen
Bedeutung und Stellung und von dem harmonischen oder dis-
harmonischen , angenelimen oder unangenehmen und wiederum
in verscbiedener Weise angenehmen oder unangenehmen Ge-
fiihlseindruck eines Intervalls. Der Charakter und Gefiihls-
wert eines Intervalls hangt zwar, wie wir spater zeigen werden,
mit seinem Verschmelzungsgrad zusammen, aber doch nicht
bios mit diesem. Das angenehmste Intervall ist nicht das
starkstverschmelzende. Die grosse Septimo ist im isolirten Zu-
stand unangenehmer als die kleine; dies darf nicht mit ge-
i-ingerer Verschmelzung verwechselt oder darauf gedeutet werden,
es hat andere Griinde. Ahnliches gilt von grosser und kleiner
Terz u. s. f.
Im Allgemeinen wird es auch gut sein, zunachst Tone von
gleicher Empfindungsstarke zu nehmen, woil dann die Gefahr
am besten vermieden wird, dass der eine derselben iiberhaupt
unwahrnehmbar oder undeutlich bleibe. (Um bei grossen Ton-
distanzen gleiche Empfindungsstarke herzustellen, muss man
ofters — je nach dem Instrument — den hoheren Ton mit
geringerer physikalischer Kraft angeben.) Ferner ist natiirhch
moglichste Gleichheit in Ansatz und Dauer der Tone vorteil-
haft, da Unebenheiten jeder Art die Aufmerksamkeit ablenken.
Ebenso gleiche Klangfarbe, obschon dieselbe auf die Ver-
schmelzung der Grundtone von keinem Einfluss ist. Reinheit
des Intervalls d. h. genaue tlbereinstimmung mit den beziig-
142 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
lichen Schwingungszahlen ist um so mehr erforderlich, je feiner
das Gehor; obgleich minimale Abweichungen, die ja niemals
zu vermeiden sind, nacli dem Obigen der Verschmelzung
namentlich bei den niederen Graden keinen erheblichen Ein-
trag tun. Das Clavier mit seiner temperirten Stimmung lasst
die Unterschiede der hoheren Stufen immerbin bervortreten
(die Octave ist ja aucb bier rein); nicbt aber den zwiscben
den zwei letzten Stufen. Es ist ja bier c dis=c es und c gis=c as.
Aber dies Alles sind Massnahmen von der Art, wie sie
sicb fUr jede Beobacbtung von selbst versteben. Keine Rede
davon, dass das Pbanomen nur unter besonders ausgesucbten
Umstanden iiberbaupt merkbar wiirde. Es ist vielmebr an sicb
eines der offenliegendsten und sozusagen unvermeidlicbsten im
gesammten Tongebiet. Die ganze Aufgabe bestebt nur darin,
es nicbt mit anderen, die sicb erst darauf griinden, uament-
licb mit Urteils- und Gefiihlstatsacben (Moglicbkeit und Un-
moglicbkeit der Analyse, Annebmlicbkeit und Unannebmlicb-
keit eines Intervalls) zu verwecbseln.
5. Bestatigung durcb Unmusikaliscbe.
Zur Controle des eigenen Urteils babe icb jedoch nocb
einen anderen Weg eingescblagen. So wie die Frage bier ge-
stellt ist, kann sie nur .an Solcbe gerichtet werden, die mit
Tonbeobacbtungen hinreicbend vertraut sind, um Quinten und
Octaven nocb leicbt und sofort zu analysiren. Bei Solcben
liegt nur eben die zuletzt genannte und vorber mebrfacb be-
riibrte Scbwierigkeit vor, das dominirende Bewusstsein des
harmoniscben Cbarakters und Gefiiblswertes der Intervalle.
Nun konnen wir aber von Unmusikaliscben und in Tonurteilen
Ungeiibten auf einem indirecten .Wege Aufscbluss erbalten:
gerade durcb Benutzung der erwabnten Scbwierigkeit der
Analyse. Die verschiedenen Verscbmelzuugsgrade miissen sicb
in ebenso verscbiedenen Graden der Scbwierigkeit der Analyse
kundgeben, weun alle iibrigen Umstande, von denen die letztere
abbangt, moglicbst gleicb genommen werden. An den Folgen
werden wir sie erkennen. Auf diesem Wege konnen wir sogar
Zablen erbalten, durcb Zablung der ricbtigen und falscben
§ 19. Stufeii (ler Tonverschmelzung. 143
Urteile iiber dieFrage, obEinoder mehrereTone vorliegen,
bei jedem Intervall. Die starker* verschmelzenden Toncom-
binationen werdeu unter sonst gleichen Umstanden seltener
als zwei Tone beurteilt werden als die weniger stark ver-
schmelzenden.
Versuche unter dieser Fragestellung macbte icli in WUrz-
burg zu einer Zeit, da ich nocli niclit an Verschmelzung dacbte,
um mir ein Bild von der Unterscheidungsfahigkeit Unmijsikalisclier
fUr Zusammenklange zu verschaffen. Zu Vorversuchen (am
Clavier) dienten* mir Dr. K., Fraulein C. und Privatier W.
(dieselben Personeu wie I 314), Bei dem Ersten zeigte sich
auch diesmal ein Einfluss der Obertone, auf welche er durch seine
physikalischen Studien schon friiher moclite aufmerksam ge-
worden sein. Er erklarte darum schon die einzelnen Klange
von Oi bis G^ fiir zwei Tone. Doch zeigte sich ein Unter-
schied unter den Obertonen selbst, sofern er, zur Angabe der-
selbeu aufgefordert, niemals die Octave, den ersten und starksteu
Oberton, wol aber Quinteu, Terzen, Septimen angab. Herr W.
hielt gleichzeitige Octaven in alien Tonregionen fiir Einen Ton,
selbst weun der hohere Ton vorher allein angegeben wurde;
bei anderen Intervallen war sein Urteil im Ganzen richtig,
doch, wie in den Versuchen I 315, augenscheinlich von der
Starke des Klanges beeinflusst. Fraulein C. beurteilte Octaven
und Quinten in der tiefen Region fast immer als Einen Ton;
im Ubrigen hatte ich bei ihr die Intervalle nicht gesondert auf-
geschrieben und mehr auf die Regionen geachtet (in der kleinen
Octave bestes Ergebnis; im Ganzen bei vorwiegeuder An-
wendung von Octaven, Quinten und Terzen auf 62 Falle 37
richtige).
Ausgefiihrtere Versuche machte ich dann ebenfalls noch
am Clavier mit Privatier S. und den Studenten B., Sch. und D.
Die musikalische Anamnese der beiden Ersteren s. I 314. Sch.
behauptete, die Guitarre stimmen zu konnen, gab die Tone des
Duraccordes singend leicht an, brachte aber den Mollaccord
nicht zuwege, verwechselte auch beide, wenn sie angegeben
wurden, sang statt der verlangten Secunde die Terz, statt der
144 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
Octave die Quinte. Theoretisch wusste er Nichts. D. nannte
sich ein klein wenig musikalisch, behauptete Zither spielen unci
sogar stimmen zu kounen, gab aber singeiid statt der Quarte
eine Terz, statt der Secunde ebenfalls eine Tcrz, statt einer
Terz die Quarte, Nur die Octave traf er ricbtig.
Dass mehrere Personen zu derartigeii Versuchen beigezogen
wurden, rechtfertigt sich auch bier durch den verwandten
musikalisch en Zustand dieser Herren, sofern eben keiner das
Pradicat „musikalisch" fiir sich in Anspruch nehmen konnte.
Factisch zeigen die Tabellen, worin die Urteile eines Jeden notirt
sind, ein ahnliches Verhalten des Urteils und lassen keine
constanten individuellen Unterschiede erkennen. Nur durch
dieses Verfahren gelingt es bei Versuchen solcher Art, grossere
Zahlenwerte zu gewinnen ohne Ermiidung oder sonstige Neben-
wirkungen allzu lange fortgesetzter oder zu haufig wieder-
holter Versuche am Einzehien.
Bei den verschiedenen Intervallen strebte icli auch hier nicht
nach gleicher Anzahl vou Urteilen, da es mir zwecklos schien, bei-
spielsweise bei Secunden, uachdem iu 42 Fallen (bei 27 grossen,
16 kleinen Secunden) keiu eiuziges falsches Urteil vorgekommen,
die Falle uoch waiter zu vermehren, bis die absolute Zahl der-
jenigen der Quinten-Urteile gleichkame. Ich setzte tiberall die
Versuche so lange fort, bis mir eine im Verhaltnis zum Grade der
Urteilsschwankungen geniigende Gesammtzahl vorhauden schien.
Im tJbrigen batten freiUch die absoluten Zahlen doch regelmassiger,
auch grosser sein mussen, um den Augen des modernen psycho-
physischen Technikers zu gefallen. Ich babe die Studie damals
auch nur zu meiner privaten Belehrung beilaufig und ohne den
Gedanken einer Veroffentlichung vorgenommen. Jetzt wollte ich
sie doch nicht gauz unerwahnt lassen, nachdem trotz ihrer Mangel
ein deutliches Ergebnis fiir die gegenwartige Frage daraus zu
resultiren schciut und dasselbe durch spatere geuauere Versuche
bestatigt wurde.
In folgender tJbersicht der Ergebnisse bezeichnen T, M, H
tiefe, mittlere, hobe Region, n die Zahl der Urteile, r die der
richtigen.
Secunden
M
Terzen
T
M
H
Quinten
T
M
H
Octaven
T
M
H
r
7or
42
100
21
100
111
96
28
90
37
70
102
81
23
79
18
38
6
11
12
27
§ 19. Stufen der Tonverschmelzimg. 145
n
42
21
116
31
53
126
29
47
55
45
Vergleichen wir die Intervalle nur in der Mitte, so ergeben
sich hienach als Procentzahlen der richtigen Urteile fiir die
Secunden 100 Terzen 96 Quinte 81 Octave 11.
Vergleichen wir sie in der Tiefe, so kommen fiir die
Terzen 100 Quinte 70 Octave 38.
Vergleichen wir sie in der Hohe, so liefern
Terzen 90 Quinte 79 Octave 27.
Weun wir die richtigen Urteile fiir je ein Intervall in
alien Regionen zusammennehmen und in Procente der sammt-
lichen Urteile umrechnen, so erhalten wir fiir die
Secunden 100 Terzen 95 Quinte 78 Octave 24.
Es ergibt sich also immer im Allgemeinen derselbe Gang
der Zahlen: die Procentzahl der richtigen Urteile nimmt von
den Secunden bez. Terzen bis zu den Octaven ab.
6. Fortsetzung der Versuche.
Weitere Versuche in dieser Richtung babe ich in Prag mit
anderen Personen, diesmal mit Hinblick auf die daraus fiir die
Verschmelzungsunterschiede zu gewinnende Erkenntnis, ange-
stellt und darum ausser den bisherigen Intervallen noch andere,
zumal die Quarte, beigezogen, auch statt des Claviers die Orgel
beniitzt und ein systematischeres Verfahren im Ganzen einge-
halten. Als Subjecte boten sich die Herren: Prof. K., Stud. L.
und Stud. P., welche drei sich bereits bei den I 317 erwahnten
Versuchen als vorzugsweise unmusikalisch erwiesen batten;
wahrend der etwas weniger amusische Herr B. hier unbeteiligt
Stumpf. Tonpsychologie. 11. 10
146
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung.
hlieb. Drei Versucbsreihen wurden gcmacht: die erste (13. I.
1883) mit dem sehr mildeii, obertonarmen Register ,,Hoblflote"
in der eingestricbenen Octave; die zweite (16. I. 83) mit
„Principal", einera bedentend starkeren und obertonreicberen
Register, bei welchem naraentlicb der erste Oberton sebr kraftig
war, in derselben Octave; die dritte (20. I. 83) rait demselben
Register in der zweigestricbenen Octave. Durcb diese Ver-
iinderungen sollte besonders ein etwaiger Einfluss der Ober-
tone (Klangfarbe) ermittelt werden. Gewobnlicb begann ich
mit Secundenintervallen, aucb wol Septimen, gab dann Octaven,
dann Quinten und andere Intervalle, dann wieder Secunden
und Septimen, docb oline irgend eine bindende Regel, ausser dass
nicbt zu oft Ein Intervall wiederbolt wurde. Mit den Tonen
fiir ein und dasselbe Intervall wecbselte icb (wie aucb in den
friiheren Versucben) ab, z. B. fiir Quinten bald c'^g'^, bald a'^d^
(unter Vermeidung merklich unreiner Intervalle, wie sie bei
der Orgel leicht vorkommen). Aucb diesesmal legte icb von
den consonanten Intervallen, deren Reibenfolge in Riicksicbt
auf den Fragepunct raicb am meisten interessirte und inner-
balb deren die entscbeidendsten Unterscbiede zu erwarten wa-
ren, also von Octaven, Quinten, Quarten, Terzen, immer eine
grossere Anzahl vor, behielt also insoweit absichtlicb das friihere
Verfabren bei, nur war jetzt die Anzabl bei jedem dieser
starker verscbmelzenden Intervalle die gleicbe.
Die folgenden Tabellen geben die Zablen der ricbtigen
Urteile.
I. Reibe
K.
L.
P.
Summe
Gr. Secunde
Tritonus
Kl. Septime
12
10
8
12
8
10
12
12
12
unter
je 12
36
30 "^^'^"
30| J^ ^^
Gr. Terz
18
18
20'
56
Quarte
19
15
19
unter
53 unter
Quinte
6
4
9
je 20
19
je 60
Octave
5
6
4
15
§ 10. Stufen der Tonverschmelzung.
147
II. ]
ileihe.
K.
L.
P. Summe
Gr. Secunde
Tritonus
Kl. Septime
10
9
6
8
11
11
12]
[ uiiter
l,jjel2
30
,j. unter
28| J^ ""^
Gr, Terz
15
14
16'
45
Quarte
12
12
1 2 \ unter
36|^ unter
Quinte
10
8
9
je 20
27
je 60
Octave
5
8
4
17
III.
Reihe.
K.
L.
P.
Summe
' Tritonus
12
18
14 unter je 25
44 unter 75
Gr. Secunde
11
10
111 unter
32 1 unter
Kl. Septime
8
11
10] je 12
29) je 36
Gr. Terz
13
17
15
45'
Quarte
12
20
14 unter
46
unter
Quinte
11
12
12
je 30
35
je 90
Octave
10
4
4
18
Beim Tritonus in der III. Reihe liat ein Versuchsfehler statt-
gefunden. Ich hatte dieses Intervall hier zuerst uiclit unter die
zu untersuclienden aufgenommen und braclite es dann um so liiinfiger
gegen den Schluss der Reihe vor. Hiebei trat Ermiidung ein (die
Reihe umfasste 169 Falle, die fruheren nur 116), die sich in
Folge jener ungleiclimassigen Verteilung hauptsiichlich fiir den
Tritonus und zwar natlirlich mit der Wirkung des Nichtunter-
scheidens (der falschen Urteile) geltend machen musste. Daher
hier die auffallend geringe Zahl der richtigen Urteile gegentiber
den friiheren Reihen. Fiir die Discussion muss darum diese
Columne (*) ausser Betracht gelassen werden.
Die drei Individuen weisen zwar in den einzelueu Zahlen
obiger Haupttabellen ofters betriichtliche Verschiedenheiten auf;
aber es lasst sich keine irgend constante individuelle Eigentiimlich-
keit des Urteilens daraus entnehmen, sodass diese Schwankungen
denjenigen gleichzuachten sind, welche innerhalb einer Beobachtungs-
reihe bei cinem und demselben ludividuum stattzufinden pflegen,
10*
88
unter je 116
75
„ „ 116
66
„ „ 144
148 § 19- Stiifen der Tonverschmelziing.
wo ja ebenfalls oft genug beispielsweise auf das erste Dutzend Ur-
teile 4, auf das zweite 7, auf das dritte 2 richtige entfallen und
erst beim Zusaramenrechnen gewisse Regelmassigkeiten herausspringen;
wie wir denn aucb bier solcbe alsbald fiuden werden. Dass die
drei Individuen vergleichungsweise, uamlicb gegeniiber musikaliscbeu
Personen, von sehr ahnlicher Verfassung untereinander wareu,
lehren anschaulicb die Zablen ibrer ricbtigen Urteile, wenn wir
alle Intervalle zusammennebmen:
K. L. P.
I. Reibe 78 73
II. Reibe 67 72
III. Reibe 65 74 ..
Summe: 210 219 229 unter je 376
Musikaliscbe batten biebei nur ricbtige Urteile geliefert. Man ver-
gleicbe aucb die analogen Ergebnisse an denselben drei Perso-
nen bei der Fragestellung: „welcber Ton ist bober?" I 320 — 1, wo
sogar aucb die geriugen individuellen Unterscbiede sicb ziemlich
ebenso verteilen, insofern P., der in der I. Reibe den andereu nocb
erbeblicb voraus ist, diesen Vorrang immer mebr einbiisst, wabrend
L. zuerst am scblecbtesten, zuletzt am besten urteilt, und sicb
iiberbaupt die Unterscbiede mit jeder Reibe mebr ausgleicben.
Wir konnen also unbedenklicb aucb bier die Zablen aller
Individuen zusammenrecbnen, als bandelte es sicb um Ein Indi-
viduum; und wenn wir zugleicb, um die III. Reibe mit den ersten
direct vergleicbbar zu macben, die Summon der ricbtigen Urteile
in Procenten der Gesammtzablen ausdrucken, so ergibt sicb folgende
Ub
ersicht:
I. Reib>
e
II.
Reibe
III. Reibe
Mittel
Gr. Secunde
100
83
89
91
Tritonus
83
86
59*
85
KI. Septime
83
78
80
81
Gr. Terz
93
75
50
70
Quarto
88
60
51
64
Quinte
32
44
37
38
Octave
25
28
20
24
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 149
Das Mittel ist hier nattirlich nicht aus den Procentzahlen selbst
gezogen, sondern aus den urspriiuglicheu Zalileu der drei Reihen,
and dann erst in Procente umgerechnet. Beim Tritoims ist wegen
des oben beriihrten Umstaudes nur das Mittel der beideu ersten
Reihen genommen.
7. Discussion der letzteren Versuche.
a) Halteu wir uns in der Untersuchung dieser Ergebnisse
zunachst an diejenigen Intervalle, die auch in den Wiirzburger
Versuchen unter 5. vorkamen, Secunde, Terz, Quinte, Octave:
so stimmt, wie man sieht, die Ordnung derselben in Hinsicht
der richtigen Falle bei den Prager Versuchen vollstandig mit
der damals gefundenen iiberein. Sie ist die, in der sie soeben
genannt wurden. Beidemale entfallt nicht bios im Mittel,
sondern bei alien untersuchten Individuen , in jeder einzelneu
Versuchsreihe, in jeder Tonregion und Klangfarbe auf die
Octave das weitaus grosste Contingent von Tauschungen, ein
geringeres auf die Quinte, ein wiederum geringeres auf die
Terz und ein ganz oder nahezu verschwindendes auf die Secunde.
Es kann hienach kein Zweifel bestehen, dass sich in diesen
Fallen der Analyse ein graduell abgestuftes Hindernis
entgegenstellt, welches um so starker ist, je kleiner
die Verhaltniszahlen der Schwingungen.
Dieses Hindernis kann kein anderes sein als die Ver-
schmelzung. Halten wir Umschau, welche Umstande etwa fiir
die Erklarung zu Gebote stehen. Es liegen ja immerhin auch
sonst die Umstande nicht ganz gleich fiir die genannten Inter-
valle. Vor allem muss sich eine verschiedene tJbung in der
Analyse der eiuzelnen Intervalle auch bei sogen. Ungeiibten
und Unmusikalischen im Laufe des Lebens unvermeidlich in
gcwissem Grade einstellen. Absolut ungeiibt im Auffassen der
Tone, auch der gleichzeitigen Tonverbindungen, ist doch heut-
zutage im cultivirten Europa Niemand.
Indessen sieht man leicht, dass, soweit IJbung hier iiber-
haupt einen Einfluss gewinnen kann, sie ziemlich zum umge-
kehrten Erfolge hinfiihren musste. Denn Octaven hort man
am haufigsten gleichzeitig, Secunden am seltensten. Terzen
150 § 19. Stufen der Touverschraelzuug.
liort man irn Volksgesaug ebenfalls weit liaufiger als gleich-
zeitige Secunden, die fast nur durch zufallig falscbos Sin-
geu zum Vorscheiii kommen. Es mlissten also Octaven am
besteu, Terzen weiiigor gut, Secunden am schleclitesten aualysirt
werden. Man kann nicht etwa einwcnden, dass wir Octaven
als Unisono aufzufassen pflegen, denn eben dies will selbst er-
klart sein und fiibrt dann geradewegs auf die Tatsaclie der
Veischmelzung bin.
Ferner liesse sicb an die Unterschiede in der Distanz der
jeweiligen Intervalltone denken, wovon die Unterscbeidbarkeit
gleicbzeitiger Tone naturlicb aucb abbiingt. Aber ware diese
bier ausscblaggebend, so miisste wiederum die Octave am leicb-
testen analysirbar sein, Quinten leicbter als Quarten, Terzen
und Secunden, wahrend das Umgekebrte stattfindet.
Endlicb konnte auf die Yerscbiedenbeit der Intervalle bin-
sicbtlicb der Obertone bingewiesen werden. Bei der Octave
coincidiren die nacbsten und starksten Obertone, bei der Quinte,
Terz, Secunde immer entfei'ntere (bobere) und scbwacbere —
wenigstens wenn man don s. z. s. idealen Fall zu Grunde legt,
dass sammtlicbe Multipla des Grundtons in regelmassig ab-
nebmender Starke im Klang vertreten sind. Allein erstlich ist
nicbt abzuseben, wie iiberbaupt coincidirende Obertone die
Unterscbeidung von Grundtonen bindern konnten, Im Gegenteil,
sollte man meinen, wird durcb jede Goincidenz die Zabl der
im Klange geborten Tone verringert, also die einzelnen Tone
leicbter unterscbeidbar. Wenn aber docb auf irgend eine Weiso
coincidirende Obertone die Unterscbeidung erscbweren konnten,
so miisste sicb dies um so starker geltend macben, je mebr
Obertone die gewablte Klanggattung besitzt, also starker in
unsrer 11. und III. als in der I. Reibo; wLibrend die Abstande
der Zablen gerade in dieser bedeutend grosser sind. (Hohl-
Hote bat ausserst scbwacbe Obertone, da sie bier nicbt durch
Resonanz verstarkt werden; Principal sebr starke. Der erste
Oberton war bier, wie icb mich aucb direct iiberzeugte, von
ausserordentlicber Starke.) Vgl. aucb den folgenden Para-
grapben S. 194 f.
§ 19. Stufen cler Toiivei'schmclzuug. 151
Aucli die Scliwebuiigen bilden eiu Pliaiiomen, desseii
Abstufuiigeii, wenn wir dio Schwebungen dor Obertoiie mit be-
riicksichtigcn, uiit der obigeii Ordimiig der Iiitervalle ziisammcii-
fallen. Dio Octave bietet keine, die Quinte, Terz, Secuude
iiurner starkerc Schwebungen (unterdeu Iiitervallen Einer Octavo).
Aber in der ein- iind zweigestridbeneii Octave sind die Schwe-
bungen der Quinte und ihrer Obertone unmerklich, und doch
werden Quinten leichter unterschieden als Octaven. Auch zei-
gen in der II. Reihc die Secunden eiue starke Abnahme der
richtigen Urteile, wiihrend doch bier zu den Schwebungen der
Gruudtone noch die ihrer starkcn ersten Obertone hinzukom-
men. (Die Septime zeigt ebenfalls in der II. Reihe eine kleiue
Abnahme, wahrend die Schwebungen gerade fiir dieses Inter-
val! gegeniiber der I. Reihe ausserordenthch viel kriiftiger wer-
den mussten.) Vgl. auch hiezu noch unten 206 f.
Endlich konnte man an die Gefiihle denken, welche
durch die verschiedenen Toncombinationen hervorgorufen werden
mochten. Bildeten vielleicht diese Gefiihle eine derartige Reihe,
dass etwa die Octave als der angenehmste, die Secunde als
der unangenehmste Toueindruck erschien und das Urteil um
so entschiedener auf Einheit lautete, je angenehmer der Ein-
druck war? Warum aber miissten die Octaven u. s. f, eine ab-
steigende Reihe der Annehmlichkeit fiir Unmusikalische bilden,
wenn nicht etwa wegen abnehmender Einheitlichkeit des Ein-
druckes? (vgl. o. 84 f.). Musikalischen ist ja nicht die Octave,
sondern die Terz im Allgemeinen das angenehmste Intervall.
Ich habe nicht versiiumt, micli bei den erwahnten Ver-
suchen nach derartigen Einfliissen direct zu erkundigen. In
den Wiirzburger Versuchen habe ich sogar in jedem einzelnen
Urteilsfidl nebst dem Urteil auch das Gefiihl abgefragt und
gebucht. Es zeigte sich kein regelmassiger Zusammenhang
zwischen der Annehmlichkeit und dem Urteil iiber Einheit oder
Mehrheit. Secunden waren zwar im Ganzen weniger angenehm
als Octaven und Quinten, aber doch wieder angenehmer als
Terzeu. Bei den Prager Versuchsreihen erkundigte ich mich
nur summarisch, nach welchem Kriterium die Urteilenden sich
152 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
wol gerichtet hatten. P. ausserte hier allerdings: nach der
Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit, indem die einheitlicheren
Eindriicke ilim angenehmer seien. Aber eben diese Ausserung
lehrt, dass das Gefiihl bei ihm erst die Wirkung jener mehr
oder weniger einheitlichen Beschaffenheit des Sinneseindrucks
war, und dass nicht etwa die Gefiihlsunterschiede vou alien Eigeu-
tiimlichkeiten der fraglicben Intervalle die eiuzigeu oder auch
imr die primaren wareu, die in sein Bewusstsein fielen, obschon
sie ihm wegen des angegebenen Zusammenhangs als Leitfadeu
(secundares Kriterium) fiir das abverlangte Urteil dienen konnten.
Das Primare schien das zu sein, was wir Verscbmelzung nennen.
Die librigen Herren erklarten, dass sie uuter den vorgelegten
Klangen liberhaupt keine Unterscbiede der Annehmlichkeit ge-
funden batten. „Die einen", sagten sie, „beben sicb nur besser
ab, streben gleicbsam auseinander. Es ist dies scbwer zu be-
schreiben. Sie zeigeu sich eben als zwei Empfindiingen, die
anderen nicbt." Auch auf die Herauziehung der GefUble
kommen wir iibrigens im nachsten § (204 f.) aus anderem Ge-
sichtspunct noch einmal zuriick.
Es bleibt demnacli kein anderer Weg der Erklarung fiir
unsre Versucbsergebnisse in Hinsicbt der genannten vier Inter-
valle, als dass wir das Hindernis der Analyse in diesen Fallen
in einem besonderen Verhaltnis der beziiglichen Tone
in der Empfindung sucben. Wir wiirden so auf die Ver-
schmelzungsgrade als Hypothese bingefiihrt werden, selbst
wenn wir nichts dariiber durcb directe Wabmehmung wiissten.
In der Tat deckt sich die gefundene Ordnung der Intervalle:
Octave, Quinte, Terz, Secunde, in Hinsicbt der Schwierigkeit
der Analyse vollkommen mit der Reihenfolge der Verschmelzuugs-
grade, zu welcher ich aus directer "Wahrnehmung ganz unab-
hangig von diesen Versuchen gekommen bin.
b) Was nun weiter die Quart e betrifft, so bin ich allerdings
erst durch diese Versuche selbst zu einem festen Urteil ge-
leitet, nachdem ich sie auf Gruhd der subjectiven Beobachtung
zuerst zur letzten Classe, dann zu Einer Classe mit den Quinten
gerechnet hatte. Es war mir offenbar selbst nicht gelungen,
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 153
mich Yon der harmonischen Bedeutung dieses lutervalls hin-
reicliend zu emancipiren, welche ja eine eigentiimlich vielseitige
und darum auch historiscli der Anlass gewesen ist, dass sie
bald zu den vollkommenen Consonanzeii bald zu den Dissonanzen
gerechnet wurde. Auf Grund analoger Uberlegungen wie vor-
bin ergibt sicb aus den obigen Tabellen soviel unzweifelhaft,
dass sie hinsicbtlicb ihrer Verscbmelzung nacb der Quinte
zu steben kommt. Durcbgangig weist sie eine grossere Zabl
ricbtiger Urteile auf. Weniger ausgeprocben erscheint ibre
Stellung vor der Terz, insofern innerbalb der einzelnen Reiben
mebr Scbwankungen stattfinden, in der III. Reibe sogar eine
geringfUgige Umkebrung; docb diirfte der durcbscbnittlicbe Unter-
scbied aus alien drei Reiben (6^/0) zum wabrscbeinlicben Scblusse
auf starkere Verscbmelzung binreicben. Und nachtraglicb
scbeint mir nun auch die directe Beobacbtung dies zu be-
statigen. Der Fall ist ja nicbt gar selten, dass wir eine Eigen-
tUmlicbkeit von Sinnesinbalten erst deutlicb wabrnebmen, wenn
wir vorber auf indirectem Wege auf sie bingewiesen sind. (Vgl.
iiber mittelbare Urteile als Briicke zu unmittelbaren § 5 und
ofters.)
c) Fiir die iibrigen Intervalle dagegen lasst sicb aus
den Zablen kaum eine feste Ordnung ibrer Verscbmelzung er-
scbliessen. Mancberlei Einwande, teils den Ergebnissen teils
den Umstanden der Versucbe entnommen, stellen sicb bier
einem aucb nur wabrscbeinlicben Scblusse entgegen. Zuerst ist
auffallend, dass in der I. Reibe Tritouus und Septime relativ
geringere Zablen aufweisen als Quarte und Terz, erst in den
spateren Reiben bobere, wie sie zu erwarten waren. Man konnte
sicb dies so erklaren: je mebr die Urteilenden Gelegenbeit er-
hielten, die Eindriicke unter einander zu vergleicben und gewisse
Classen aus ibnen zu bilden, um so mebr nabmen sie wahr,
dass bestimmte cbarakteristiscbe Eindriicke, wie sie ibnen beim
Erklingen von Quarten und Terzen verursacbt wurden (die sie
natUrlicb nicbt zu benennen wussten) eine grossere Abnlicbkeit
mit den einbeitlicbsten EindLriicken, die iiberbaupt vorkamen,
besassen als mit den zweiheitlicbsten (wenn der Ausdruck erlaubt
154 § 19- Stufeii der Tonverhchraelzuug.
ist). Daher vermehrten sicli die falschen Urteile bei den Quar-
teii und Terzeu. Zugleich miisste aber in Folge desselben Pro-
cesses die wainre Rangorduung tier Intervalle in Hinsicht ihrer
Eiuheitlicbkeit in den Urteilszablen besser zu Tage treten.
Dass die Secunde im Durcbschnitt erbeblicb mebr richtige
Urteile liefert als die kleiue Septime und der Tritonus, kann
auf die hier docb recbt merklicbe Unrube des Klanges durch
die Scbwebuijgen gescboben werden, berecbtigt also nicbt zu
einem sicberen Scbluss auf geringere Verscbmelzung.
Nicbt gauz ausgescblossen erscbeint es, der kleiuen Septime
auf Grund der Tabellen nocb einen besonderen Platz, vor den
wenigst-verscbmelzenden Intervallen, zuzugesteben; was mit der
S. 135 ausgesprocbenen Vermutung liber die natiirlicbe Septime,
die ja fiir das unmusikaliscbe Obr kaum davon verscbieden ist,
iibereinstimmen wiirde. Docb kommt gegeniiber der Secunde der
eben erwabnte Umstand audi bier in Betracbt; und wirklicb riicken
in der II. und III. Reibe, wo durcb den starken ersten Ober-
ton aucb der Septime starkere Schwebungen zu Teil werden,
die Zablen beider Intervalle einander uaber.
Man wiirde endlich aus diesen Versucben allein iiberbaupt
nicbt zu scbliessen berecbtigt sein, dass die Septime weniger
als Terz, Quarte und Quinte verscbmilzt: denn die bessere
Unterscbeidbarkeit ibrer Tone konnte sie aucb der grosseren
Distanz derselbeu gegeniiber jenen drei Intervallen verdanken.
Nur wenn wir die Aussage der directen Beobacbtung dazu uehmen,
konnen wir in den Zablen eine Bestiitigung derselbeu erblicken.
In dieser Erwagung babe icb von Sexten und von Inter-
vallen iiber Octavengrosse bei diesen Versucben von vornlierein
abgesebeii. Es war zu erwarten, dass Sexten mebr ricbtige
Fiille ergeben wlirden als Terzen, wegen der erbeblicb grosseren
Tondistanz; ferner Nonen mebr als Secunden, Decimen mebr
als Terzen u. s. f. Auf das Verscbmelzungsverbaltnis batte da-
rum in diesen Fallen kein triftiger Scbluss gezogen werden
konnen; wabrend die Distanzverscbiedenbeiten zwiscben den vor-
ber betracbteten Intervallen, Octave, Quinte, Quarte, Terz, wie
bereits erwabnt wurde, vielmebr zu einer Verstarkung des
§ 10. Stufeu der Tonverschmelzung. 155
Schlusses fiihreii mussten; cleun weiin trotz dor grossoren
Distanz die crwartete geringere Untersclieidbarkeit stattfaiid, so
war der Scliluss auf die Verschmelzuug urn so zwiugender.
Bemerkeuswert ist noch, dass, weun man die obigcu drei Ver-
suchsreiheu vergleicht, keiu Zeicheu einer eintretenden Ubuiig
hervortritt. Die Zalil der ricbtigeii Urteile im Verhiiltnis zur Ge-
samintzahl nimmt vielmehr von Reihe zn Reilie ab (1 : 209 auf
312; 11:183 auf 312; III obne Tritonus: 205 auf 432 oder 148
auf 312). Indessen kommt die entschiedenc Abuabme lediglich auf
Rechnuug der Quarten und Terzen, namlicb;
I. II. III.
Quarte 53 36 31 i
^ } auf je 60.
Terz 56 45 30) ^
Die ilbrigeu lutervalle zeigen nur geringere und uicht in gleich-
bleibeudem Sinn fortgehende Scbwaukungen. Wenn wir ihre Zahlen
zusammenrechnen (unter Hinweglassung des Tritonus in alien Reihen),
so ergibt sicb
1:100 11:102 111:96 auf je 192.
Nun blieben sich allerdings die Versuchsumstande, weuigstens
Klafugfarbe und Tonregion, uicht gleich. Aber aus diesen Ver-
anderungen wiisste icb dock die Sache nickt zu erklaren.
Bezilglicb der Quarten und Terzen ist oben bereits eine Er-
klarung fiir die Verrainderung ihrer Zahlen von der I. zur II. Reihe
versucht. Derselbe Umstaud wird dieselbe Folge auch weiterhin
von der II. zur III. Reihe bewirkt haben. Das durchschuittliche
Gleichbleiben des Urteils dagegen bei den ubrigen Intervallen, den
stark wie den schwach verschmelzenden, belehrt uns ebeu, dass es
Individuen gibt, die nicht bios unmusikalisch sender n in dieser
ihrer Eigeuschaft auch unverbesserlich sind.
8. Neue Versuche.
Im Sommer 1888, nachdem das Vorsteliende bereits zum
Druck niedergescliriebeu war, machte ich neue derartige Versuchs-
reihen in Halle, teilweise urn die friiheren Ergebnisse und be-
sonders die hinsichtlicli der Quarte einer nocbmaligen Controle
zu unterwerfen, teilweise um womoglich einem etwaigeu feineren
Unterschied zwischen den beiden Terzen auf die Spur zu kommen,
156 § 19 Stufen der Tonverschmelzung.
zwischen denen ich direct keiuen deutlichen Unterschied in der
Versclimelzung wahrnehmeu kann.
Da die Stellung der Octave an der Spitze der Verschmel-
zungen jeden Zweifel ausschliesst, so liess ich'sie diesmal aus
den Versuclien hinweg. Die Intervalle, iiber welche das Urteil,
ob ein oder zwei Tone, abgegeben werden sollte, waren: Quinte,
Tritonus, Quarte, grosse Terz, kleine Terz. Uber die Stellung
der Quinte und des Tritonus in dieser Reihe konnte zwar
ebenfalls nach dem Vorangehenden kein Zweifel sein. Sie
wurden aber mit aufgenommen, damit die Urteilenden auch
Klange wahrnahmen, welcbe entschiedener als die anderen als
Einheit bez. Zweiheit erscbeinen, und ibnen so der Unterschied,
um den es sicb handelte, der mebr oder weniger einbeitlicbe Ein-
druck eines Klanges, an diesen relativen Extremen recht deut-
lich wiirde. Ich erwartete, dass in Folge dessen auch die
feineren Unterschiede das Urteil kraftiger beeinflussen wiirden,
als wenn diese allein dargeboten wiirden. Nebenbei war ja aber
auch eine neue Bestatigung fiir die Stellung der Quinte und
des Tritonus selbst nicht unerwlinscht ^).
Die Aufeinanderfolge der Intervalle wurde diesmal ganz ge-
nau regulirt: Tritonus, Quinte, grosse Terz, Quarte, kleine Terz;
dann wieder Tritonus u. s. f. (natiirlich ohne dass die Urteilen-
den hievon Kenntnis batten; sie waren vielmehr nach der Na-
tur der Fragestellung der Meinung, dass bald Ein Ton, bald
mehrere angegeben wiirden). So kamen die beiden Extreme
immer unmittelbar nacheinander und folgten sich nieraals zwei
Intervalle von gleicher Verschmelzung, was wiederum das Her-
vortreten der Unterschiede begiinstigen musste.
Es sollten diesmal noch mehr Individuen zu den Versucheu
herangezogen werden als friiher. Je grossere Zahlen, um so
zuverlassigere Resultate und Schlussfolgerungen. Grosse Zahlen
konnen aber unter den gegebenen Umstanden, wie schon er-
wahnt, nur durch solche Massen- oder Mitrailleusen-Versuche
gewonnen werden, die sich auch bei anderen Untersuchungen
^) Ganz vereinzelt schob ich auch gelegentlich die Octave ein, die
dann fast durchgangig von Allen fur Einen Ton gehalten wurde.
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 157
noch. vielfach bewahreu diirften, Sie gewahren nocL. den be-
sonderen Vorteil, dass kleinere individuelle Eigenheiten, die bei
sorgfaltigster Auswahl der Personen immer iibrig bleiben, sich
ausgleichen oder abschwacheii, wahrend sie bei Versuchen mit
Einem Individuum leiclit erheblichen Einfluss gewinnen und
nicht abgesondert werden konnen.
Es zeigte sich auch jetzt, dass man nach geeigneten Indi-
viduen nicht lange zu suchen braucht. Eine mehrmalige Auf-
forderung an die augenblicklichen Horer meiner „Logik" und
„Cbungen", mit der Bitte, auch unter ihren Commilitonen da-
fiir zu wirken, hatte zur Folge, dass sich 14 Herren als sehr
unmusikahsch zu den Versuchen meldeteil. Ich priifte zunachst
Jeden einzehi in Bezug auf vier Aufgaben: einen gegebenen
Clavierton aus singbarer Lage nachzusingen; von zwei aufein-
anderfolgenden Tonen zu sagen, welcher der hohere; bei Zu-
sammenklangen anzugeben, ob ein oder zwei Tone wahrge-
nommen wiirden (sowol bei stark als schwach verschmelzenden
Intervallen); endlich bei je zwei durch eine kleine Pause ge-
trennteu Zusammenklangen zu bestimmen, welcher angenehmer
bez. unangenehmer empfunden werde. Unter den 14 Herren
zeigten sich nach diesen Kriterien (wie ich sie auch, obgleich
nicht ganz so systematisch, in fruheren Fallen benutzte) 12 als
von annahernd gleicher musikalischer bez. unmusikalischer Be-
schaffenheit ^). Sie gehoren unter dieselbe Classe, wie die in
§ 14, 4 und im gegenwartigen § erwahnten friiheren Ver-
suchssubjecte. Das Treffen eines Tones durch Nachsingen gelang
Einigen zwar nach wenigen Versuchen leidlich (hierin finden
sich begreiflicherweise, da auch die Kehlkopfinnervation eine
Rolle spielt, noch ziemliche Unterschiede). Aber bei der zweiten
Frage wurden besonders in der Tiefe allgemein Fehler be-
^) Da ich denselben fiir ihre geduldige Hingabe an die Sache zu
besonderem Dank verpflichtet bin und noch gelegentlich auf Wahrneh-
mungen an Einzehien derselben Bezug nehme, habe ich mir die Er-
laubnis erbeten, hier ihre Namen zu nennen: P. Brodhun, C. Grube,
G. Hager, H. Irmisch, G. Keil, 0. Lehmann, 0. Kaack, 0. Schulz,
H. Steudener, R. Tewes, P. Thiel, W. Wolfrom.
158 § 19. Stufen der Tonverschmelzung.
gangen, wenn auch die rich tigen Urteile iiberwogen. Bei der
dritten zeigte sicli der Unterschied der Intervalle, wie zu er-
warten war, und wurdcn besonders Octaven fast regelmassig,
Quinten nicht selten fiir Eineii Ton gehalteii. In Hinsicht des
Gefiihls endlicli konnte schon darum Keiner von ihnen als
musikalisch gelten, weil abscheuliche Tonzusammenstellungen,
wenn nur unmittelbar benacbbartc Tone nicbt darin vorkaraen,
zumeist gar nicht als unangenehm bezeichnet wurden '),
Zwei von den 14, die sich anfanglich gemehlet, erwiegen
sich bei dieser vorlaufigen Priifung sogleich als unbrauchbar
fiir den vorliegenden Zweck. Der Eine deswegen, weil er bei
der dritten Frage Octaven in mittlerer Lage nicht bios regel-
massig als zwei Tone erkannto, sondern sie nuHi als Octaven
bezeichnete. Wer dies vermag, besitzt schon eine hohere
musikalische Bildung als fiir gegenwartigen Zweck zulassig,
kann wenigstens nicht mehr mit den Ubrigen unter Eine
Gruppe gerechnet und zu den namlichen Massenversuchen ver-
wendet werden. Die musikalische Verfassung der Teihiohmer
muss moglichst gleich sein, wenn wir die zu gewinnenden
Zahlcn zusammen rechnen woUon. Auf die Mitwirkung oines
Anderen von den 14 musste ich umgekehrt deswegen vorzichten,
weil er sich in einem kaum glaublichen Grade umnusikalisch
zeigte, wahrend doch an der Ehrlichkeit seiner Antworten nicht der
leiseste Zweifel moglich war. Bei der zweiton Frage gab er in der
Hohe (g'^ — g^) und Tiefe (G^ — G) mehr falsche als richtige
Urteile. Bei der dritten war er in keinem einzigen unter
alien Fallen von gleichzeitigen Tiinen, die ihm vorgelegt wurden,
im Stande, die Zweiheit zu erkennen. Der Merkwurdigkeit
halber zog ich ihn doch bei der ersten Versuchsreihe mit bei;
unter seinen 60 Urteilen waren hier 4 richtige, wovon 2 auf
') Im Einzelnen ergaben sich hier freilich wieder interessante Unter-
schiede; wie z. B. Einer (Thiel) alle beliehigen Zusammenstellungen als
indifferent bezeichnete. wahrend Andere Dur und Moll hinsichtlich der
Annehralichkeit auseinanderhielten. Spater, bei der Gefiihlslehre, werde
ich hieriiber und iiber eingehendere systematische Versuche mit dicsen
Herren bezuglich der Gefiihle Mehr berichten.
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 159
die Quinte, eines auf den Tri tonus, eines auf die grosse Torz
entfielen. Sie miissen als rein zufallig angesehen werden. Die
Urteile dieses Herrn sind dalier aucb in dem folgenden Bericht
iiber die erste Reihe nicht mitgerechnet. Ich werde liber den
abnormen Fall weiter unten (§ 24) nocb Naberes beibringen.
Es wurden 4 Versuchsreihen (am 4., 7., 13., 26. Juli) in der
Domkirche zu Halle angestellt. Ich hatte es nicht sogleich auf alle
diese Reihen uud auf die einzeluen Touregionen, wodurch sie sich
unterscheiden , abgesehen, sondern Hess mich durch die Beob-
achtungen bei jeder Reihe und die danach bleibenden Zweifel und
Fragen zu weiteren Reihen und zur Wahl der neuen Versuchs-
umstande bestimmen. Yon Anfang wurden jedoch noch mehr
Vorsichtsmassregeln als friiher eingefiihrt. Vor jeder Reihe wurden
die in Gebrauch zu nehmenden Pfeifen durch einen tiichtigen
Orgelbauer in meiner Anwesenheit auf's Genaueste in die natiirliche
Stimmung unter einander gebracht, zugleich die Starke und die
Klangfarbe dieser Pfeifen genau regulirt, und darauf gesehen, dass
sie normal ansprachen und keiue auffallenden Nebengerausche
zeigten ^). Wie friiher wurde die Dauer der Zusammenklange und
die Pausen zwischen ihnen gleich gehalten, abgesehen von grosseren
Pausen, die nach je 20 oder je 10 Versuchen eingeschaltet wurden,
um der Ermiidung vorzubeugen. Die Dauer eines Zusammeu-
klanges betrug in der 1. Reihd 4, in den spateren 3 Secunden,
die der Pause 8 Secunden. Besondere Muhe gab ich mir auch
hier, die Tasten genau gleichzeitig niederzudriicken und wiedor
loszulassen, was man nach einiger Ubung mit grosser Exactheit
bewerkstelligen kann^). Da einzelne Herren nach der ersten Reihe
') Bei den fruhern Versuchen waren grobere Unreinheiten als die,
■welche die temperirte Stimmung mit sich bringt, und ebenso Ungleich-
heiten der Starke u. s. f. durch Auslassung der bezuglichen Pfeifen
vermieden, kleine Ungleichheiten auch durch mehrfache Vertretung Eines
Intervalls (z. B. c g, d a, es b) moglichst compensirt worden. Letzteres
Yerfahren bedingt indes einen grosseren Spielraum, als ich mir jetzt
gestattete, wo ich mich jedesmal auf eine ganz eng begrenzte Tonregion
beschranken, den Raum einer Quinte nicht iiberschreiten woUte.
^) Am hasten bedient man sich beider Hande, setzt die Finger aus
einiger Hohe mit einer gewissen Schnellkraft auf und hebt sie ebenso
160 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
angaben, durch den Nachhall in der Kirche, der in der Tat recht
merklich war, in ihren Urteilen mitbestimmt zu werden, indeni darin
ofters ein Ton hervortrate und sie daran die Zweiheit nachtraglich
merkten: so gab ich in den spateren Reihen immer zugleich mit
dem Loslassen der beiden Tasten ^) einen tiefen Accord an, welcher
die vorherigen Tone auch nicbt als Obertone entbielt; wodureb die
Nachklange jener unwabrnellrabar gemacbt wurden. Docb ist
nicbt anzunebmen, dass das Nacbklingen in der 1. Reibe die Ver-
teilung der ricbtigen und falscben Falle uuter den verscbiedenen
Intervallen beeiuflusste, da es sicb ja bei so nabe beisammenliegenden
Tonen in gleicber Weise geltend macben musste und das Heraus-
horen wabrscbeinlicb nur auf einer zufalligen Ricbtung beruhte,
welcbe die Aufmerksamkeit nacbtraglicb nabm.
Die Urteilenden sassen, wie friiher, mit dem Riicken gegen
die Orgel und scbrieben diesmal ibre Urteile selbst auf. Sie waren
ersucht, in Zweifelsfallen das irgend iiberwiegende Urteil aufzu-
scbreibeu und nur bei ganz indifferentem Zustand des Urteils das-
selbe als zweifelbaft zu bezeicbnen; welcbes dann mit dem Wert
^/g gerecbnet wurde. Ofters fand icb aber in den Tabellen hinter
einem „2" oder „1" nacbtraglicb ein Zweifelszeicben; in solchen
Fallen ist immer das erste Urteil allein gerecbnet. Docb sind auch
diese nacbtraglicben Zweifelszeicben vielfacb cbarakteristiscb, indem
sie sicb mit Vorliebe bei der Quinte linden, wenn diese zuerst als
Zweibeit beurteilt war.
Erste Reihe.
Hiezu wurden verwendet die Tone der kleinen Octave
c d e f fis g, worn it die Intervalle c g, c fis, c /', d g, d fis, e g
kraftig zu gleicher Hohe empor. Ich hatte zuerst daran gedacht, um
die genaueste Gleichzeitigkeit zu sichern, je zwei Pfeifen durch einen
T-Schlauch gemeinsam anblasen zu lassen, was naturlich in einem Labo-
ratorium hatte geschehen miissen. Aber dies erwies sich wegen des mangel-
haften Pfeifeumaterials der Hallischen Institute, wie auch wegen der Um-
standlichkeit und der Gefahr anderer Fehlerquellen weniger ratsam.
^) welche dann noch wahrend des Zusammenklanges mit der rechten
Hand allein erfasst wiu'den.
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 161
hergestellt wurden; und zwar aus dem Register Hohlflote^). Es
ergaben sich unter je 144 (= 12 X 12) Urteilen fiir jedes Inter-
vall folgende Zahlen der richtigen Urteile;
Kl. Terz 108 Triton 103 Gr. Terz 99 Quarte GiVa Quinte 36.
Die Reihenfolge war 'also die zu erwartende mit Ausnaliine
der kleinen Terz. Der Grund stellte sich alsbald lieraus, als
icli nach den Eriterien fragte, durch welche sich die Urteilen-
den etwa hatten bestimmen lassen. Mehrere gaben namlich an,
dass sie in zahlreichen Fallen durch Schwebungen bestimmt
worden seien, indem sie daraus auf eine Mehrheit von Tonen
geschlossen hatten (mittelbares Urteil). Es zeigte sich auch
bei einer eigens darauf gerichteten Priifung, dass sie Schwe-
bungen mit iiberraschender Genauigkeit und Sicherheit wahr-
nahmen^). Die Schwebungen mussten aber notwendig am meisten
merklich werden bei dem kleiusten Intervall, der kleinen Terz,
und waren hier wirklich sehr auffallig (32 in der Secunde),
auffalliger sogar, wie mir scheint, als bei Registern mit vielen
und starken Obertonen, wo auch bei weiteren Intervallen in
gleicher Tonlage starke Schwebungen durch benachbarte Ober-
tone eintreten und so der Unterschied der Rauhigkeit zwischen
diesen weiteren und den engeren Intervallen mit ihren directen
Schwebungen geringer wird. Auch bei der grossen Terz {d fis)
musste solcher Einfluss von Schwebungen (36 in der Secunde)
stattfinden, und in der Tat ist ihr Unterschied vom Tritonus
sehr gering.
^) Ich konnte hier immerhin poch den 5. Teilton bei besonders
scbarfem Hinhoren wahruebmen, was nach Helmholtz' Angaben nicht
zu erwarten war. Aber die Orgel bietet keine obertonarmeren Klange.
^) Zwei unter diesen waren Candidaten der Naturwissenschaft und
Matbematik, einer (Grube) Linguist, und besonders der Letztere konnte
mit Leichtigkeit Schwebungen bemerken und das Charakteristische (Schnel-
ligkeit u. s. f.) in den einzelnen Fallen beschreiben, obgleieh er iiber das
physikalische Wesen derselben keineswegs klar war. Sehr waTirschein-
lich hing diese besondere Fahigkeit mit der Gewohnung an die Analyse
der roUenden und gerauschahnlichen Sprachlaute zusammen.
Stumpf, Tonpsychologie. II. 11
162 § 19. Stufen der Tonverschmelzung.
Um nun diesen Nebeneinfluss auszuschliessen, machte ich
die Herren vor Allem aufmerksam, dass solche Rauliigkeit auch
bei einzelnen Tonen vorkommen konne (Intermittenz) und sie
sich iiberbaupt durch solche Nebenumstande, auch wenn sie
ihnen auffielen, nicht sollten bestimmen lassen, vielmehr ledig-
lich durch den qualitativen Toneindruck als solchen. Bei den
spateren Reihen wurde denn auch von sammtlichen Herren hervor-
gehoben, dass sie sich bewusst seien, nur durch den Klangeiu-
druck als solchen bestimmt zu sein, und dass die Abstraction
von den Nebenerscheinungen ihnen -keine Schwierigkeiten mache.
Zugleich aber veranderte ich der Sicherheit halber die Um-
stande in der folgenden Reihe so, dass Schwebungen nicht mehr
erheblich sich geltend machen konnten.
Zweite Reihe.
Hier wurden die analogen Tone der dreigestrichenen
Octave verwendet, die Intervalle eg, cfls, cf, ce, eg; aber aus
dem Register Geigenprincipal 4 Fuss, da die Hohlflote nicht
ganz so hoch hiuaufreichte. Die Obertone des Geigenprin-
cipals konnten aber keinen Unterschied machen (wie iiber-
haupt die Klangfarbenunterschiede nach oben hin immer mehr
verschwindcn), da sie in dieser Hohe sehr schwach und die
Schwebungen, die sie untereinander machen, zu rasch sind, um
ohne ganz besonders darauf concentrirte Aufmerksamkeit noch
wahrnehmbar zu sein (beim Tritonus c^ fis^ schweben die nachst-
liegenden Obertone g^ und /is"^ schon 235 mal in der Secunde,
bei den Ubrigen Intervallen noch ofter). Die directen Schwe-
bungen dor kleineren -Intervalle, c^e^ und e^ g^, betragen 26.4
in der Secunde^). Zugleich nahm ich die Dauer eines Zusam-
^) Es war mir von grossem Interesse, zu constatireu, class diese bei
ausdrixcklich darauf concentrirter Aufmerksamkeit von mehreren Beob-
achtern, vor Allem dem obenerwahnten Linguisten Herrn Grtjbe, doch
noch bemerkt wurden, sofern der Eindruck jener Intervalle noch deut-
lich rauher gefunden wurde als der eines einzelnen Tons, wenn dieser un-
mittelbar nachher angegeben wurde; was auch mein eigenes Ohr durch-
aus bestatigt. vS. § 27.) Innerhalb der Versuchsreihe selbst batten in-
§ 19. Stufen der Tonversch'melzung. 163
menklanges fortan etwas kiirzer als friiher, wodurch der Wahr-
nehmung der Schwebungen noch mehr vorgebeugt wurde. Hie-
nach durfte also dieser Nebenumstaud als ganz ausgeschlosseu
gelten.
Es ergaben sich unter je 216 (12 X 18) Urteilen fiir jedes
Intervall als Zahlen der ricbtigen Urteile:
Triton 178V2 Gr. Terz 153 Quarte 132V2 Kl. Terz 103 Quinte 100.
Hier ist nun die gegenseitige Stellung aller Intervalle mit
Ausnabme der kleinen Terz genau dieselbe wie in der ersten
Reibe und wie sie zu erwarten war. Die grosse Terz bat nun
auch eine erbeblicbere Differenz vom Triton. Die kleine Terz
stebt aber nicbt bios nicbt mebr an der Spitze, sondern fallt
nahezu mit dem anderen Ende, der Quinte, zusammen; was nocb
weniger als ibre vorberige Stellung dem allgemeinen Verscbmel-
zungscbarakter der Terzen, wie er mir nacb eigner Beobacbtung
und friiberen Erfabrungeu erscbien, entspricbt ^). Icb vermutete
sogleicb, dass bier ein besonderes Hindernis der Analyse in
der zu geringen Distanz der Tone gegeben sei. Natiirlicb ist
ja die Distanz der Tonqualitaten von Einfluss auf die Ana-
lyse. Sie wird aber von der Mitte des Tonreicbes gegen die Hobe
wie gegen die Tiefe bin bei gleicbem Intervall nacb unsren
friiberen Vermutungen (I 250 f.) eine geringere. Icb priifte
desbalb, ob in dieser . Region bei so engen Intervallen nicbt
etwa scbon die Grenze der moglicben Unterscbeidung (die qua-
litative Scbwelle) gleicbzeitiger Tone fiir unmusikaliscbe Obren
erreicbt sei, indem icb den vier Herren, welcbe besonders nie-
drige Zablen fiir die kleine Terz geliefert batten, die beiden
Tone zuerst aufeinanderfolgend vorlegte, wobei sie dieselben
ganz leicbt als zwei verscbiedene erkannten, und dann im Zu-
dessen die Urteilenden ihrer Aussage zufolge diese Wahrnebmung nur
ganz beilaufig hie und da gemacbt und sich auch dann nicbt dadurch,
sondern durch das qualitative Moment des Klanges zum Urteil bestim-
men lassen.
^) Herr Grube hatte in der ersten Reihe bei der kleinen Terz unter
10 Urteilen 9 Vo richtige, in der zweiten Reihe unter 18 Urteilen 1 richtiges 1
11*
164 § 19- Sftifen der Tonverschmelzung.
sammenklange. In der Tat gelang es ihuen nicht mit voUer
Sicherheit, darin die unmittelbar vorher einzeln gehorten Tone
wiederzufiuden. In der zwei- und eingestriclienen Octave gelang
es ohne Weiteres.
Ich ging dalier in einer neuen Versuchsreihe um eine Oc-
tave tiefer herab:
Dritte Reihe.
Es wurden wieder die analogen Tone und Intervalle, aber
in der zweigestrichenen Octave, benutzt; als Register konnte
wieder Hohlflote dienen. Die absoluten Versuchszablen steigerte
icb, wie schon von der ersten zur zweiten Reibe. Es ergaben
sicb unter je 240 (12 X 20) Urteilen fiir jedes Intervall als
Zahlen der richtigen Urteile:
QuartelSSV^ Gr. Terzl85 Triton 174 Kl. Terz 169V2 Quinte 156.
Da ich gerade von dieser Versuchsreihe nach den Finger-
zeigen der vorangehenden die durchsichtigsten Resultate erwartet
hatte, setzte niich dieses Durcheinander, worin nur die drei
letzten Intervalle eine nach dem Friiheren verstandliche Stellung
unter sich und nur die Quinte auch ihren bestandigen absoluten
Platz am Eude der Reihe einuahm, in einige Verzweiflung. Aber
eine nahere Betrachtung der Zahlen lehrte alsbald, dass die
Werte im Verhaltnis zur Gesammtzahl der Urteile ausserordent-
lich wenig verschieden sind. Es betragt namlich die Differenz
der Extreme in dieser Reihe (185^/2 — 156) nur 12^0 der Ge-
sammtzahl der Urteile fiir jedes Intervall, wahrend dieselbe
in der ersten Reihe 45"/o, in der zweiten 36*^/o betragt. Die
Ursachen sind nicht schwer zu finden. Sie lagen offenbar in der
nunmehr erlangten tJbung der Versuchspersonen (welche sogar
innerhalb dieser Reihe noch sehr bedeutend zunahm, sodass die
grossere Zahl der Versuche dem Zwecke geradezu entgegen-
arbeitete), in Verbindung mit dem Umstand, dass die zweige-
strichene Octave fiir Tonurteile jeder Art wol als die giinstigste
anzusehen ist. Gegeniiber der kleinen Octave hatte diese iiber-
dies eine betriichtlich grossere Tonstarke und hellere Farbe.
§ 19. Stufen der Tonversclimelzung. 165
So konnte dieser Versuchsreihe mit ihren relativ so geringen
Differenzen auch nur ein relativ geringer Wert beigelegt werden.
Die Wirksamkeit der constanten Coefficient en, die den einzelnen
Intervallen beziiglich ihrer Analysirbarkeit anhaften, war vor
den allgemeinen giinstigen Umstanden zuriickgetreten , und die
geringen librigbleibenden Unterschiede in den Zahlen der ricb-
tigen Urteile von Zufalligkeiten abbangig geworden. Es blieb
mir daber bocbstens nocb ein Versucb mit der eingestricbenen
Octave zu macben, obgleicb bier wieder zu fiircbten war, dass
die directen Scbwebungen der kleinen Terz storend wirken
wiirden. Da die Zwiscbenzeiten zwiscben den einzelnen Ver-
sucbsreiben immer grosser wurden (die zweite von der ersten
durcb drei, die dritte von der zweiten durch secbs, die vierte
von der dritten durcb dreizebn Tage getrennt), so konnte der
Einfluss der tJbung vielleicbt einigermassen paralysirt werden,
und jedenfalls war er, solange nur die Unterscbiede der Zablen
gross genug ausfielen, fiir meine Zwecke irrelevant, da es mir
eben nur auf die Stellung der Intervalle zu einander ankam.
Vierte Reibe.
Die analogen Tone und Intervalle wie vorber, in demselben
Register, aber in der eingestricbenen Octave. Es ergaben
sicb unter je 144 (12 X 12) Urteilen als Zablen der ricbtigen
Urteile:
Kl. Terz 127 Triton 111 V^ Gr. Terz IO8V2 Quarte IO6V2 QuinteSOVg.
Die kleine Terz tritt also in der Tat wieder an die Spitze;
ibre Scbwebungen waren eben wieder so stark, dass das Urteil,
selbst beim besten Willen, sicb nicbt ganz davon scbeint eman-
cipirt zu baben. Die Reibenfolge ist iiberbaupt die namlicbe
wie in der ersten Reibe. Aber die Differenzen sind viel ge-
ringer geworden in Folge der Ubung, aucb wol der etwas
giinstigeren Lage. Dennocb ist die relative Differenz der Ex-
treme bedeutend grosser als in der vorigen Reibe, namlicb 26*^/0
der Gesammtzabl der Urteile fiir jedes Intervall, sodass diese Reibe
immerbin Beacbtung verdient. Bemerkenswert erscbeint aucb,
166 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
dass von drei Versuchspersonen, die schon in der vorigen Reihe
besonders gut urteilten, nunmehr fast diu'chgaugig bios ricbtige
Urteile abgegeben wurden (von Zweien ausscbliesslicb ricbtige,
von Einem bei der Qiiarte ebenfalls bios ricbtige, bei den iibri-
gen Intervallen nur je ein falscbes). Diese Personen konnten
also roit Fug bei der Berecbnung ausgesondert werden, da sie
gemass der erlangten t)bung jetzt fiir solcberlei Urteile den
Musikaliscben gleicbgeacbtet werden durften (wenn sich auch
zweifellos die tJbung bald wieder verloren bat). Tun wir dies,
so ergeben sicb unter je 108 Urteilen fiir jedes Intervall 'als
Zablen der ricbtigen Urteile:
Kl.Terz92 Triton 76 V2 Gr. Terz TSVa Quarte 7OV2 Quinte 54V/2,
also die namlicbe Reibenfolge, aber eine nocb grossere relative
Differenz der Extreme (35 *'/^). Docb woUen wir im Folgenden
bei den Rechnungen der Gleicbformigkeit balber aucb bier alle
zwolf Urteilenden zusammennebmen.
Hiemit scbierf mir die Grenze erreicbt, bis zu welcher
unter den vorliegenden Umstanden iiberhaupt nocb Ergebnisse
zu erboffen waren. Zugleicb warcn wir ja aucb in der unmittel-
baren Nacbbarscbaft der Ausgangsoctave wieder angelangt und
batten die fiir Tonurteile wicbtigsten Octaven erscbopft.
Fiir kuuftige Versuche zu gleichem Zwecke mochte ich hie-
nach die zweigestrichene Octave nur etwa zum Beginn, vor Eiatritt
irgend merklicher Ubuug, empfehlen; ausserdem besouders die ein-
und dreigestrichene, bei helleren Klangfarben die kleine. Die
Klangfarben sind im Ubrigen ziemlich irrelevant, wie wir schon
bei den friiheren Versuchen gesehen; es ist nur der Unterschied,
dass hellere Farben fiir die Zuverlassigkeit des Urteils uberhaupt
gunstiger sind. Fiir unsere Zwecke wird aber eben nicht moglichste
Zuverlassigkeit, sondern ein mittlerer allgemeiner Stand derselben
vorausgesetzt, der durch constante Hindernisse nocb merklich be-
einflusst zu werden vermag. Als die Intervalle, welche die beweiskraf-
tigsten Ergebnisse liefern, sind Octave, Quinte, Quarte, grosse Terz
und Tritonus zu bezeichnen, die Terz aber wegen der Schwebungen
nicht in der kleinen Octave.
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 167
9. Discussion dieser Versuche.
Wir woUen nun die Ergebnisse dieser vier Versuchsreihen
(im Folgenden mit I, II, III, IV bezeichnet) mit Riicksiclit auf
unsre Frage in nahere Erwaguug zieben. Sehen wir von III
aus den erwahnten Griinden vorlaufig ab, und vergleichen wir
in den drei anderen die Reiheufolge der Intervalle, so springt
sogleich in die Augen, dass dieselben mit einziger Ausnahme
der kleinen Terz vollstandig iibereiustimmen. In alien drei
Reihen stehen
Triton — Grosse Terz — Quarte — Quinte
in eben dieser Folge. Die kleine Terz dagegen hat in II eine
wesentlich andere Stellung als in I und IV, und die Griinde
sind nach deni Obigen kaum zweifelhaft. Wollen wir nun auch
ihr einen Platz ausrechnen, wie sie ihn mutmasslich abgesehen
von den genannten variablen Einfliissen hatte, so miissen wir
mindestens I und II zusammenrechnen («), weil so jene cnt-
gegengesetzten Umstande sich ungefahr ausgleicben konnen.
Noch besser, wenn wir aucb IV dazunebmen Q3), weil der be-
sondere Einfluss, dem die kleine Terz. in II ibre enorm geringe
Zabl verdankt, augenscheinlicb noch starker war als der ent-
gegengesetzte in I und IV. Bei solchen Summirungen mehrerer
Reihen kann dann immerhin auch III noch dazugenommen wer-
den (y und d): denn wenn gleichmassige Eiufliisse in den iibrigen
Reihen machtig genug waren, so darf die erhaltene Reihenfolge
durch III mit ihren geringen Differenzen nicht mehr veriindert
werden, wir konnen also gleichsam die Probe machen. Damit
bei diesen Combinationen die einzelnen Reihen mit gleichem
Gewicht eintreten, erscheint es als das Richtige, eine gemein-
same Gesammtzahl fiir alle Intervalle in alien Reihen zu Grunde
zu legen. Wir wahlen als solche die Zahl 216 (die mittelgrosse,
aus II), rechnen also die obigen Zahlen der richtigen Urteile
alle auf diese Gesammtzahl um ^). Hienach ergibt sich folgende
^) Die Reihenfolge der Intervalle wiirde indessen auch ohne solche Um-
rechnung in der folgenden Tabelle iiberall die namliche sein; wie man
leicht bei Addirung der Reihen mit ihren urspriinglichen Zahlen sehen
kann.
168
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung.
Ubersicht:
Addirte Reihen
Gesammtzahl
der Urteile
fiir
jedes Intervall
Zahl der richtigen Urteile fur
Triton
Gr. Terz
Kl. Terz
Quarte
Quinte
(«) I, n
(/?) I, II, IV
(y) I, II, III
(d) I, II, III, IV
432
648
648
864
833
500
490
657
3OIV2
4B4V2
468
631
265
45572
417V2
608
2297^
38972
396V2 .
557
154
288
294
428
Wir erkennen an dieser Zusammenstellung, dass die Reihen-
folge der Intervalle, die Stellung jedes Intervalls gegen je-
des andere in Hinsicht der richtigen Urteile, bei jeder Com-
bination genau dieselbe ist. Auch die kleine Terz erhalt
nun einen festen Platz, den sie in alien Querreihen behauptet:
zwischen grosser Terz und Quarte^). Die iibrigen Intervalle, die
ohnedies schon in den isolirten Reihen I, II und IV identische
Platze einnahmen, behalten dieselben nicht bios, wie natiirlich,
auch in den Combinationen dieser Reihen, sondern auch bei
der Hinzurechnung der dritten Reihe zu einer dieser Com-
binationen.
Es ist hiemit, wie ich glaube, bewiesen, dass jedes der
untersuchten Intervalle als solches einem machtigen
constanten Einflusse in Hinsicht der Leichtigkeit sei-
ner Analyse unterworfen ist,
Und wiederum ist es auch diesmal nicht moglich, irgend
einen anderen Einfluss als den Verschmelzungsgrad hiefiir in
Anspruch zu nehmen. Ware die Distanz ausschlaggebend, so
^) Auch wenn wir II und IV zusammennehmen, ist diese Stellung
und die Folge der Intervalle iiberhaupt dieselbe. Es ergibt sich unter
je 432 fur den Triton 34572, g^"- Terz 316, kl. Terz 2937^, Quarte 29272,
Quinte 234. Aber diese Combination ist nicht in die Ubersicht aufgenom-
men, weil man mit Recht sagen kann, dass der Unterschied zwischen kleiner
Terz und Quarte hier minimal, daher die Stellung der kleinen Terz vor
der Quarte rein zufallig sei. Und dies begreift sich daraus, dass die
Schwebungen der Terz bei IV nicht so stark waren wie bei I, und darum
nicht geniigen, dem entgegengesetzten Umstand bei II das Gleichgewicht
zu halten.
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 169
miisste die Quinte am umgekehrten Ende der Reihe stehen, dann
Triton, Quarte, grosse und kleine Terz, also eigentlich nur die
Stellung der beiden letzteren gegen einander und gegen den
Tritonus diejenige sein, die sie wirklich einnehmen. Ein Ein-
fluss von Schwebungen war zwar in diesen Versuchsreihen
nach Aussage der Personen und nacb dem charakteristiscben
Detail der Ergebnisse mebrfacb unverkennbar (was ohne Zwei-
fel gegeniiber dem Befunde bei den friihereu Versucben mit
bereits angedeuteten individuellen Gewobnbeiten der beziiglicben
Personen zusammenbangt) , blieb jedoch auf die angegebenen
Grenzen bescbrankt und ist in den obigen Combinationen a— 6
als eliminirt zu betracbten.
Von dem Annehmlicbkeitsgefiihl baben sicb die Per-
sonen nach bestimmter Aussage nicbt leiten lasseu; es war obne-
dies sebr wenig ausgebildet und erst durcb absicbtlicbe Besin-
nung, wenn iiberhaupt, bestimmbar; auch die Schwebungen
traten nicht etwa als Moment der Annehmlicbkeit oder Unan-
nebmlichkeit sondern als eine indifferente siunliche Erscheinung
in's Bewusstsein. Besondere Versuche Uber die Annehmlicbkeit
von Intervallen lehrten iiberdies, dass z, B. Tritonus und grosse
Terz der Halfte der Personen gleich angenehm erschienen (den
tJbrigen teils Tritonus, teils Terz augenehmer, teils beide indiffe-
rent). Quinte und grosse Terz fanden in dieser Folge (doch mit
Pausen dazwiscben) die Halfte der Urteilenden gleich angenehm,
wahrend Vier die Terz angenehmer fanden; in der umgekehrten
Folge fanden Fiinf die Quinte angenehmer, Drei beide gleich an-
genehm. Bei Quarte und grosser Terz in dieser Folge scbien
sieben Herren die Terz angenehmer, bei kleiner Terz und Quarte
schien sechsen die Quarte angenehmer, wahrend die iibrigen Ur-
teile immer in den vorhin erwahnten Richtungen auseinander-
gingen. Man sieht schon aus diesen Proben, dass, welche Mo-
mente auch immer das Gefiihl bestimmen mochten, das Gefiihl
seinerseits nicht bestimmend war fiir das Urteil, ob ein oder
zwei Tone vorlagen.
An den Einfluss von Obertonen endlich ist aus denselben
Griinden wie in den friiheren Versucben nicht zu.denken.
170 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
Wir schliessen also aus diesen Versuchen mit neuer Zuver-
sicht, dass die Verschmelzungsgrade der geuannten Inter-
valle es sind, die auch diesmal ihre Reihenfolge in
Hinsicht der Analysirbarkeit in der Hauptsache be-
stimmten und in dieser Reihenfolge zum Ausdruck
kommen.
Nur beziiglich der Einen Frage, auf die es mir ausser der
Bestatigung des bereits friiher Gefundenen ankam, des Verhalt-
nisses von grosser und kleiner Terz, wage icb den entsprechen-
den Schluss nicht mit gleichem Zutrauen. Denn obgleicb auch
ihre Stellung bei alien obigen Combinationen dieselbe bleibt,
so bemerken wir doch, dass die Combination /9, durch welche
nach den obigen Bemerkungen Zufalligkeiten am besten com-
pensirt sein diirften, nur einen geriugen Unterschied zwischen
den Zahlen beider Intervalle bestehen lasst, wahrend alle iibri-
gen Zahlen in alien Querreihen ganz erhebliche Differenzen von
ihren Nachbarn zeigen. Bedenken wir dazu, dass die grosse
Terz eine etwas grossere Tondistanz darstellt als die kleine,
und dass dieser an sich unbedeutende Distanzunterschied doch
in der Nahe der qualitativen Unterscheidungsschwelle immer-
hin einen Unterschied fiir die Leichtigkeit der Analyse machen
kann (und zwar auch in denjenigeii Versuchsreihen , wo die
kleine Terz nicht so hart an die Schwelle streift, wie dies bei
II sicherlich der Fall war): so werden wir auf eine starkere
Verschmelzung der kleinen Terz gegeniiber der grossen keines-
wegs mit derselben Sicherheit schliessen diirfen, wie auf die
Verschmelzungsunterschiede der Ubrigen Intervalle untereinander
und der beiden Terzen gegeniiber den iibrigen. Vielmehr wird
es wahrscheinlich , dass die Terzen einander in der Verschmel-
zung gleichstehen — wie dies meiner subjectiven Wahrneh-
mung entspricht — , wenn nicht gar die grosse Terz eine starkere
Verschmelzung besitzt, wie dies Finer etwa deductiv aus dem
Umstand erschliessen konnte, dass im Allgemeinen mit wachsen-
der Grosse beider Verhaltniszahlen der Schwingungen die Ver-
schmelzungsgrade abnehmen. Absichtlich enthaltc ich mich je-
doch hier solcher Schliisse und bleibe daher einstweilen in
§ 19. Stufen def Tonverschmelzung. 171
Ermangelung deutlicher objectiver Ergebnisse fur das Verbaltnis
der Terzen zu einander bei der Aussage meines eigenen Be-
wusstseins.
So bat sicb denn auf dem Wege der Massenversucbe an
Unmusikaliscben die aufgestellte Hierarcbie so gut bestatigt,
als es nur immer bei Versucbeu an lebendem Material der Fall
sein kann, wo man bei aller Vorsicbt immer nocb mancberlei un-
vorbergesebeiie oder docb unabwendbare Einfliisse in den Kauf
nehmen muss; wis Jeder aus Erfabrung weiss, der bierin Er-
fahrung bat.
Nicht ohne Interesse und teilweise auch zu weiterer Bestati-
gung dienend ist der Fortschritt der Ubung in den vier Hallischeu
Versuchsreihen ; worauf schou voriibergehend hingewiesen wurde.
Es wurden abgegeben
in der Reihe I unter 720 Urteilen 410^/2 richtige, also 57"/^
„ „ „ II „ 1080 „ 667 „ „ 62«/o
„ „ „ III „ 1200 „ 870 „ „ 72,5«/,
„ „ „ IV „ 720 „ 543 „ „ 75,4«/o
Nun ist allerdings zu bedenken, dass die Tonregion nicht die-
selbe blieb-, was uns hindert, diese Zalilen als genauen Ausdruck
der fortschreiteuden tJbung zu betrachten. Doch konnte der Wechsel
der Region nur beim tJbergang von II zu III in erbeblich gunsti-
gem Sinne wirken, wo denn auch die tTbungszahlen den grossten
Fortschritt zeigen. Von III zu IV veranderte sich die Region viel-
mehr zu Ungunsten der Zuverlassigkeit, und dennoch ist ein, weun
auch geringer, Fortschritt in den Zahlen, der also wol auf Rech-
nung der Ubung gesetzt werden muss. Wahrsoheinlich waren die
Fortschritte uberhaupt noch bedeutender gewesen, wenn die Zwischen-
zeiten der Versuchsreihen nicht immer urn's Doppelte vergrossert
worden waren. Mir lag ja daran, den Eintritt der Ubung moglichst
hintanzuhalten.
Die Ubung verteilte sich verschieden auf verschiedene Perso-
nen. "Wie schon erwahnt, konnten am Schluss der vierten Reihe
drei Personen als geheilt entlassen werden, wahrend bei anderen
auch da noch starke Unsicherheit verblieb.
172 § 19. Stufen der Tonverschmelzung.
Auch die Intervalle waren aber der Ubung in verschiedenem
Masse zuganglich. Aus den obigen Tabellen ergibt sich, dass das
Urteil bei den starker verschmelzenden Intervallen im
Ganzen starkere Fortschritte macht, was offenbar damit
zusammenhangt, dass es bei diesen anfauglich am oftesten fehl-
geht (vgl. I 323, wo ebenfalls die zuerst am scblechtesten beur-
teilten Intervalle die grossten tJbungsergebnisse aufweisen). Die
Zunahme der Zabl der ricbtigen Urteile in der letzten gegeniiber
der ersten Reihe (beide auf 216 Gesammturteile fiir jedes Inter-
vall umgerechnet) betragt bei
Triton gr. Terz kl. Terz Quarte Quinte
12^2 14^2 28^2 63 80
Die Zunahme innerhalb der vier Reihen ist freilich nicht
tiberall gleichmiissig. Am besten lassen sich gerade I und IV
wegen der Ahnlichkeit aller Umstaude vergleichen. Doch ist
auch der Fortscbritt der zweiten gegen die erste Reihe lehrreich,
wenn man von der kleinen Terz absieht. Die Zahl der Quinte
nimmt hier beinahe um's Doppelte zu (von 54 auf 100, wenn I
auf 216 als Gesammtzahl umgerechnet wird), die der Quarte um
ein gutes Drittel (von 97 auf 132^/2), die der ubrigen Intervalle
viel weniger (gr. Terz von 148^/2 auf 153, Triton von 154^/2
auf 178 1/2).
Sehr bemerkenswert ist es, dass diejenigen Herren, welche in
der letzten Versuchsreihe fast regelmassig die Zweiheit der Tone
erkannten, doch ausdriicklich angaben, es sei ihnen diese Zwei-
heit nicht tiberall gleich deutlich gewesen. Einer formulirtc
diese Wahrnehmung zuerst dahin: manchmal schienen ihm beide
Tone „nebeneinander", manchmal aber „zusammen" zu sein. Weiter
erklarte er dies unter Zustimmung eines Anderen dadurch, dass
ihm das eine Mai die Tone eben deutlicher oder klarer, das an-
dere Mai weniger deutlich als zwei erschienen. Es sei ihnen dies
als ein eigentumlicher Unterschied der Klange aufgefallen. Ich
glaube hieraus schliessen zu diirfen, dass diesen Individuen bereits
das Phiinomen der Verschmelzuug in sich selbst direct wahrnehm-
bar wurde, wahrend vorher durch dasselbe zwar das Verhaltnis ihrer
§ 19. Stufeu der Tonverschmelzuiig. 173
richtigen und falschen Urteile bei den einzelnen Intervalleii mit-
bedingt worden, ihiien aber die Ursache ihrer Urteile uicht offen-
bar geworden war.
Endlich erwahue icb, dass in den Fallen, wo zwei Tone
wahrgenommen wurden, sammtliche Teilnehmer mit Bestimmtheit
gleichzeitige und nicht etwa abwechselnde Tone zu horen be-
haujiteten.
10. Abstande zwischen den Verschmelzungsstufen.
Verschmelzungscurve. Zweifelhafte Puncte.
Wir haben aus den erhaltenen Zahlen fiir Octave, Quinte,
Quarte, Terz und Secunde nur das Eine geschlossen , dass der
grosseren Zahl richtiger Urteile in einer und derselben Versuchs-
reihe im Allgemeineu geringere Verschmelzung entspreche; nicht
etwa, dass die Verschmelzungsgrade in dem durch diese Zahlen
ausgedriickten Verhaltnis standen. Die Voraussetzung einer ein-
fachen Proportionalitat zwischen Verschmelziingsgrad und Zu-
verlassigkeit der Analyse ware selbst dann willkiirlich, wenn
alle anderen Bedingungen der Analyse ausser der Verschmelzung
die gleichen waren. Nun aber variiren ■ iiberdies die Zahlen-
werte fiir ein und dasselbe Intervall erheblich in- den verschie-
denen Versuchsreihen, wahrend der Verschmelzungsgrad alien
unseren Erwagungen zufolge derselbe bleibt. Durch weitere
Fortsetzung solcher Versuche an ahnlichen Individuen, wobei
allemal mit dem Eintritt einer merklichen Ubung abzubrechen
ware, wiirden diese Schwankungen zwar immer mehr verschwin-
den und gewissermassen objectivere Durchschnittswerte fiir jedes
Intervall herauskommen. Aber auch dann wlirde man kaum
durch irgend eine bindende Folgerung aus diesen Werten zah-
lenmassige Bestimmungen der Verschmelzungsgrade selbst ab-
leiten konnen.
Dagegen kann und muss aus bedeutenden constanten Unter-
schieden in der Grosse der Zahlenabstande allerdings der Schluss
gezogen werden, dass auch die Verschmelzungsstufen un-
gleiche Abstande untereinander besitzen. Dies ist eine
notwendige Folgerung, wenn wir die Verschmelzung iiberhaupt
als die wesentlichste Ursache der gefundenen Zahlenunterschiede
174 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
betrachten. In dieser Beziehung verdieneu in der Tabelle S. 168
besondere Beachtung die ausserordentlich viel grosseren Ab-
stande zwischen Quarte und Quinte gegeniiber alien iibrigen Ab-
standen. In alien Querreihen der Tabelle wiederholt sich dies,
wie aus folgender Differenztafel ersichtlich:
Diff. Diff, Diff. Diff.
Gesammtzahl Triton gr. Terz kl. Terz Quarte Quinte
(«) 432 3IV2 36V2 35V2 75V2
(/?) 648 367-2 8 66 101 V^
(y) 648 22 507-2 21 102%
{6) 864 27 22 51 129
Der Abstand von Quarte und Quinte ist bei a, 7 und 6 Uber
doppelt so gross, als der grosste sonstige Abstand, bei /? iiber-
trifft er wenigstens denselben weitaus und ist so gross wie die
beiden nachstgrossten Abstande zusammengenommen.
Ziehen wir nun auch die Octave in die Vergleicbung, wie
sie in den friiheren Versuchen auftritt, so sehen wir in den
ersten Versuchen S, 145 zwischen Octave und Quinte einen un-
geheuer viel grosseren Abstand als zwischen Quinte und alien
folgenden Intervallen.
Dies fiihrt auf die Vermutung, dass mit zunehmender
Verschmelzung zugleich der Abstand zwischen den Ver-
schmelzungsstufcn zunehme. Dieser Vermutung widerspricht
allerdings die vereinigte Tabelle aus den weiteren Versuchen
S. 148 insofern, als hier der Abstand zwischen Octave und Quinte
kleiner ist als zwischen Quinte und Quarte; aber ein Blick auf
die drei einzelnen Versuchsreihen lehrt, dass dijese Verschie-
bung nur von der ersten Reihe kommt, wiihrend in der zwei-
ten und dritten der Abstand zwischen -Octave und Quinte den
von Quinte und Quaiie doch um etwas iibertriift. So ver-
liert die Ausnahme an Gewicht und wiirde vermutlich in einer
aus zahlreicheren Einzelreihen gebildeten Gesammttabelle ver-
schwinden.
Wir konnen diese Frage aber auch dem directen Urteil
unterwerfen. Ebenso wie es einen Sinn hat, die Distanzen von
Empfiudungsintensitaten untereinander zu vergleichen und die
§ 19. Stufen der Tonverschmelzimg. 175
eine als grosser, kleiner, gleich gegeniiber der anderen zu be-
zeichnen, ja auch infolge Dessen von doppelter. dreifacher
Intensitatsdistanz zu reden: so kann es audi Distanzurteile
iiber Verschmelzungsgrade geben (Urteile boherer Ordnung,
vgl. I 98, 122 f., 392 f.). Dergleichen Urteile konnen selbst-
verstandlich nur hochst Geiibten zugemutet werden, die zugleich
auch tbeoretisch alle in Betracbt bez, in Abrecbnung kommen-
den Umstande genau kennen und im gegebeuen Fall von den-
selben zu abstrabireu gelernt haben. Soweit ich mir in gegen-
wartiger Frage ein solcbes Urteil zutrauen darf, scheint mir
in der Tat das obige Gesetz zu besteben.
Auf diesem doppelten Wege konnten wir mit der Zeit
immerhin zu gewissen zablenmassigen Bestimmungen iiber die
Abstande der Verscbnjelzungsstufen gelangen, niemals aber zu
solcben iiber die Verscbmelzungsstufen selbst; ganz analog wie
bei den Intensitaten von Empfindungen ^).
Hicnach kann man auch versuchen, sich das System der
Verscbmelzungsstufen in einer Curve zu veranschaulichen, und
wir wollen dies tun, nicht so sehr dem „angenehmen Holz-
schnitt" an sich zu Liebe, als um einige weitere Bemerkungen
daran zu kniipfen iiber Puncte, welche noch genauerer Unter-
^) Wenn man die Querreihe /9 der Tafel S. 168 als diejenige zu
Grunde legt, worin die Verschmelzungsverhaltnisse am reinsten zum
Ausdruck kommen, und fur die Quarte rund 400, fiir die Quinte 300 an-
setzt, so konnte man die Octave nach den fruheren Erfahrungen mit
rund 100 anfiigen. Setzen wir dann diese Eeihe jenseits 400 nach glei-
chem Gesetz (die Differenz immer halbirend) waiter fort, so erhalten
wir 450, 475, 48772, 493%, 496V8 • • • • und wurden bei diesen Zahlen
zunachst an die grossen und kleinen Terzen und Sexten, dann an die
natiirliche Septime und etwaige ahnliche Intervalle denken konnen. Die
letzte der genannten Zahlen deckt sich aber bereits nahezu mit der-
jenigen des Tritonus in der Reihe /? (500). So wurden diese gleichsam
idealen Zahlen der richtigen Urteile, wenn wir die jeweilig kleinere
Zahl als Ausdruck der grflsseren Verschmelzung betrachten, das Gesetz
der Verschmelzungsabstande darstellen. Aber ich mochte auf eine solche
Speculation ausdriicklich nicht das mindeste Gewicht legen; wir bran-
ch en sie nicht.
176 § 19. Stiifen der Tonverschmelzung.
suchung beclurften. Denken wir einen Ton festgehalten und
einen anderen vom Einklang stetig in die Hohe steigend bis
zur Octave, so konnen wir uns von der Aufeinanderfolge der
Verschmelzungsstufeu folgendes Bild machen:
Die Wellengipfel bedeuten die hoheren Verschmelzungsgrade
und wieder der hohere Gipfel jedesmal den hoheren Grad, der
Wellenboden den niedersten Grad iiberhaupt. Die Unterschiede
zwischen den starkereu Verschmelzungsgraden sind gemass dem
eben Gesagten grosser genommen als die zwischen den schwa-
cheren, im Ubrigen allerdings willkiirlich. Dem unter 3.d) er-
wahnten Unterschied, wonach bei starkerer Verschmelzung der
tibergang in die unterste Stufe rascher erfolgt, ist durch die
steilere Form der bezUglichen Erhebung Rechnung getragen.
Bei Weiterbewegung des veranderlichen Tones iiber die Octave
hinaus wiirden sich die Formen identisch wiederholen.
Von den punctirten Linien bezieht sich die erste auf das
sogleich nachher zu besprechende hypothetische Verhaltnis der
Prime.
Die iibrigen punctirten Linien sollen den Zweifel andeuten,
ob zwischen den dadurch verbundenen Verschmelzungsstufen,
z. B. grosser und kleiner Terz, nicht vielleicht die Verschmel-
zung statt auf den niedersten Grad auf einen nur relativ ge-
ringeren zuriickgeht. Ich mochte dies nicht unbedingt aus-
schliessen. Besonders der t)bergang von der Quinte (2 : 3) zur
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 177
kleinen Sext (5:8) legt solchen Zweifel nahe; hier ist ja die
iibermassige Quinte bereits fast identisch rait der kleinen Sext.
Ebensowenig mochte kh praejudiciren iiber etwaige feinere
Unterseliiede der Verschmelzung innerhalb der sammtlichen Ton-
verhaltnisse, welche wir zur untersten Classe rechneten; wie
dies beziiglich 4 : 7 bereits oben ausgesprochen ist. Das letztere
wurde zwisclien den Gipfeln 5 : 6 und 1:2 als ein kleinerer
einzutragen sein. Entsprechend dann vielleicht auch 7 : 8 zwischen
1 r 1 und 5:6.
Es darf nicbt Wunder nehmen, dass in einer Angelegen-
heit, iiber welch e unmittelbare Beobachtung zuerst und zuletzt
entscheideu soil, gleichwol noch Zweifel bleiben. Leicht liessen
sich aus sonstigen Sinnosgebieten analoge Zweifel und Streitig-
keiten anfiihren iiber das, was man eigentlich unter bestimmten
Umstiinden sieht u. s. w., wahrend docb eben diese Wahrneh-
mungen, deren genaue inhaltliche Beschreibung Schwierigkeiten
macht, nicbt bios dera gewohnlichen Leben, sondern auch den
bildenden Kiinsten mit zu Grunde liegen. Man braucht sie
darum noch nicht zu den „unbewussten" zu zahlen; sie sind
nur schwer von den daran geknlipften sonstigen psychischen
Elementen zu trennen (vgl. o. iiber die Quarte). Die Zweifel
iiber die Senkung der Curve an den punctirten Stellen haben
noch eine besondere Ursache in dem Umstand, dass die an-
grenzenden Intervalle nur wenig (urn einen halben Ton) ver-
schieden sind und darum das Dazwischenliegende immer nur
unter dem Gesichtspunct einer Abweichung von jenen, einer
verstimmten Terz u: s. f. aufgefasst wird. Ausserdem sind die
hier zweifelhaft gelassenen Differenzen jedenfalls geringer als
die iibrigen: ihre Wahrnehmung wiirde daher ein ausserst ver-
feinertes Urteil iiber diesen besonderen Fragepunct erfordern.
Die Geschichte der Musik wie der Musiktheorie wird uns im
folgenden Bande noch sprechende Belege dafUr liefern, dass
das Verschmelzungsurteil sich im Laufe der Zeiten verfeinert
hat. dass selbst die Erhebung der Terzen und Sexten iiber den
Wellenboden im Altertum lange Zeit unbemerkt geblieben ist.
So ist es immer denkbar und sogar wahrscheinlich, dass nach
Stumpf, Tonpsychologie. 11. 12
178 § 19. Stufen der Tonverschmelzung.
und nach auch kiinftig innerhalb der Tonverhaltnisse der un-
tersten oder der beiden untersten Verschmelzungsstufen feinere
Unterschiede bemerkt und vielleicbt; auch praktisch verwertet
wurden; m. a. W. dass 4:7 (7:8), 6:7 (7:12) und dgl. zu
„Consonanzen'' erhoben wurden. Dies wiirde freilicli eine voll-
standige Umgestaltung unseres Musiksystems bedeuten.
11. Hypothetische Verschmelzung der Prime.
Kann man bei dem Scbwingungsverhaltnis 1 : 1 von zwei
Tonen gleicher Hohe reden? Der Umstand, dass zwei Wellen-
systeme zum Ohr dringen, die von zwei getrennten objectiven
Schallquellen herriihren, kann uns natiirlich nicbt dazu veran-
lassen, zwei Tonempfindungen zu statuiren. Wol aber lasst der
Umstand, dass wir gewohnlich mit zwei Obren horen, die Frage,
fiir diesen Fall wenigstens, berechtigt erscheinen. Aber es ist
nicht ganz leicht zu entscheiden, ob wir wirklich von den bei-
den Ohren zwei oder nur Einen Ton erhalten. Der Unterschied
pq, von dem wir o. 52 f. sprachen, scheint mir nicht notwendig
die Zweiheit der Empfindungen bei gleicher Qualitat derselben
zu bedingen. Wir miissen diese Frage hier auf sich beruhen
lassen, um uns nicht zu weit von der Richtung unserer Unter-
suchung zu entfernen; sie ist nur in Verbindung mit einer ein-
gehenderen Behandlung der Fragen iiber Tonlocalisation zu
erortern.
Setzen wir indessen einmal die Zweiheit voraus, so erhalt
damit das Verhaltnis der Prime fiir den Fall des zweiohrigen
Horens eine subjective Bedeutung (und zwar auch bei einer
objectiv einheitlichen Schallquelle und Schwingung); und es
kann dann weiter gefragt werden, ob hier der gleiche oder ein
starkerer Verschmelzungsgrad stattfindet als bei der Octave
(einen geringeren wird ohnedies Niemand annehmen).
Aber auch diese Frage ware schwer durch blosse Beob-
achtung zu losen, da jedenfalls die beiden Empfindungen schon
wegen des Mangels alles qualitativen Unterschiedes schwer
trennbar sein miissen (der natiirliche Hohenunterschied beider
Ohren wird hier als getilgt vorausgesetzt, vgl. o. 138). Die
Unterscheidung aber bildet die Voraussetzung des unmittelbaren
§ 19. Stufen tier Tonverschmelzimg. 179
Urteils iiber Verschmelzung. Deductiv jedoch ware aus dem
uiiter 2.g) erwahnten Gesetz, wonach Erweiterung eines Inter-
valls nm eine Octave das Verschmelzungsverhaltnis nicht ver-
iindert, zu schliessen, dass die Primen- der Octavenverschmelzung
gleich ware.
Die Frage sollte nur der Vollstaudigkeit halber hier an-
geregt und in dieser rein hypothetischen Weise beantwortet
werden. Fiir die spateren Untersucliungen dieses Werkes hat
sie keine Bedeutung, da musikalisch ein zweiohrig gehorter Ton
stets nur als Einer gilt und die etwaige drtliche Zweiheit der
Empfindung ignorirt wird.
12. Bestatigungen durch die musikalische Praxis
und durch Ausserungen von Theoretikern.
Ohne noch die Bedeutung der hier beschriebenen Verhalt-
nisse fiir die Musiktheorie zusammenhangend zu verfolgen, wol-
len wir doch einstweilen zum Be weise, dass sie dem mensch-
Hchen Ohr in friihesten Zeiten und weitesten Kreisen keineswegs
entgangen sind, kurz darauf hinweisen, dass nicht bios von Alters
her und, soviel wir wissen, selbst bei den wildesten Volkern,
Manner und Weiber in Octaven singen und dies dem ein-
stimmigen Gesang als aequivalent betrachten, sondern dass sich
in nicht geringer Zahl auch fortgefiihrte Quinten- oder Quarten-
parallelen in der Musik verschiedetier Volker finden^), analog den
Anfangen des mittelalterlichen „Organum"; dass endlich Natur-
sanger auch bei uns oft genug in Quinten singen, ohne es zu
beabsichtigen ^) , offenbar weil dieses Intervall auch noch einen
annahernd eiuheitlichen Eindruck macht. Es besteht zwischen
der Octave, die unsre Theoretiker dem „Unisono" gleichstellen,
und der Quinte in dieser Hinsicht ein bios gradueller Unter-
schiedr ein einziger Ton ist ja die Octave ebenfalls nicht.
^) Vgl. z. B. das von Ellis und mir Angefiihrte in der Vierteljahrs-
schrift f. Musikwissensch. II (1886) 522. Bei einer Singhaleseutruppe
habe ich inzwischen Analoges beobachtet.
2) Mozart erzahlt in seinen Briefen, dass er dies in Mailand gehort.
Ich hatte Gelegenbeit, es naher, in meiner Kiiche, zu vernehmen. Vgl.
auch Helmholtz 420.
12*
180 § 19- Stufen der Tonverschmelzung.
Wenn in der modernen Musik Quintenparallelen verboten sind,
so hat dies besondere Griinde, die aber viel schwerer ausein-
anderzusetzen sind, als die Griinde fiir ilire Anwendung. Eine
Sirene mit doppelter Locherreihe im Verbaltnis 2 : 3 macht
bei stetigem Emporsteigen der* beiden Tone von tiefster Tiefe
zur mittleren Region einen ganz grossartigen Eindruck. Wir
haben nur in unsrer Musik fiir stetige Veranderungen iiber-
haupt keine Verwendung, sonst wiirden solche Quintenparal-
lelen zu den beliebtesten Tonmalereien gehoren. Aber selbst
auf unsrer Orgel haben sich nicht bios Octaven-, sondern auch
Quinten- und Terzen- und Mixturen-Register trotz des heftigen
Widerspruches der Theoretiker ^) vom Mittelalter bis auf die
heutige Zeit erhalten. Bei den erstgenannten klingt durch
eigens angefiigte Pfeifen die hohere Octave, Quinte, Terz (De-
cime), bei den Mixturen klingen sogar Terz und Quinte zu-
gleich mit. Die Einrichtuiig ist so getroffen, dass bei verniinf-
tiger Anwendung (hinreichend iiberwiegender Verstiirkung des
Grundtons durch andere Register) ein annahernd einheitlicher
und doch vollerer Eindruck erzielt wird, obgleich feine Ohren
bei besonders darauf gerichteter Aufmerksamkeit die mitklin-
genden Tone heraushoren und dann natiirlich in ihi'en musi-
kalischen Gefiihlen durch solche barbarisch unvermittelte Drei-
klangsfolgen aufs Tiefste beleidigt werden. Das ist ja aber
ebenso der Fall bei den Obertonen^).
Ambkos gibt ein Beispiel, wie man auf dem Clavier die Quinten-
register ohne unangenehme Wirkung nachahmen konne^):
^) Z. B. Chladni und G. Weber. S. des Letzteren ,,Versuch einer
geordnetea Theorie der Tonsetzkunst" I 13; IV 92.
^) Es soil uicht geleugnet werden, das Mixturen ofters aucli nur des
Larms halber und in unsinniger Weise zusammengefiigt werden. So
findet sich in der grossen Orgel des Stiftes Strahow in Prag eine IGfache
Mixtur, worin sogar die grosse und kleine Terz zusammen vorkom-
men, wenn auch in verschiedenen Octaven. Eine Tonleiter, auf diesem
Register allein gespielt, kann „Stein' erweichen, Menschen rasend ma-
chen". Aber.aus Misbrauchen kann nicht gegen den Gebrauch argu-
mentirt werden.
^) Zur Lehre vom Quintenverbot 33.
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung.
181
Jeder Zusammenklang euthalt hier Octaven, Quinten und Quar-
ten; und doch, wenn das Ganze rasch und kraftig gespielt wird,
machen sich die Quinten- und Quartenparallelen nicht uuangenehm
geltend. Es kommt eben Alles darauf an, ob sie als solche be-
raerkt werden.
Das Interessanteste aber an diesem Beispiel ist Ambros selbst
entgangen. Man wird finden, dass nur am oberen Ende des Passus
die Wirkung sich zum Schlechteren andert, und mir war dies aufge-
fallen, ehe ich noch den Grund erkannte. Dieser liegt eiufach dariu,
dass bei h^f^h^ keine Quinte und Quarte, sondern eine verminderte
Quinte und tibermassige Quarte (beide auf dem Clavier gleich dem
Tritonus) verbunden sind. Ambros hatte daher besser fiir seinen
Zweck die Figur nur etwa bis ff^ und dann wieder zuriick laufen
lassen. Aber man sieht, wie sich fiir das Gehor augenblicklich selbst
bei raschem Tempo die geringere Verschmelzung geltend macht.
Eine weitere vorlaufige Bestatigung finden wir in Dem, was
liber den Eindruck der Octave, gelegentlich aber auch iiber den
der Quinte, von Musiktheoretikern und Akustikern selbst da oder
dort ausgesprochen wird — abgesehen noch von dem ausdriick-
lichen Hinweis auf die Verschmelzungstatsachen, wie er sich in den
alteren Definitionen von Consonanz und Dissonanz findet, woriiber
wir im folgenden Abschnitt Ausfiihrliches berichten.
So fragt der junge Descartes einmal, warum zwei Stimmen
nur in der Octave miteinandergehen diirfeu (die Frage selbst stellt
schon Aristoteles), und gibt als Grund an, dass bei der Quinte
die beiden Tone mehr das Gehor beschaftigen ^).
^) Musicae Compendium, Amstelod. 1683 (verfasst 1618) p. 19: „Ra-
tio enim quare ita octava possit poni, est, quia unisonum in se complec-
182 § 19. Stufen der Tonverschmelzung.
Rameau und D'Alembekt sprechen von einer Vermischung
der Octaventone ^) (die der Letztere allerdings falschlich auf ihre
Ahnlichkeit zuriickfiihrt) ; H. Belleemann von einer solchen in ge-
ringerem Grade auch bei Quinten^). H. Riemann bemerkt, „dass
fiir unsere Auffassung (uicht bios fiir die Auffassung!) schon im
einzelnen Klange mit Obertonen die Octaven noch in ganz beson-
derer Weise mit dem Grundton verschmelzen; . . . selbst in Klang-
farben, wo die 2 starker ist als die 1, ist es sehr schwer, sie ge-
trennt aufzufassen" ^).
E. H. Weber bemerkt einmal: „Wir sind nicht im Stande,
die Empfindungen der Warnie und Kalte in eine verschmolzen uns
vorzustellen, etwa wie wir uns einen hdheren und einen tieferen
Ton vorstellen, indem wir sie im Verhaltnisse einer Tertie auf-
titur, tuncque duae voces instar unius audiuntur, quod idem in quinta
non accidit; hujus eiiim termini magis inter se differunt, ideoque plenius
auditum occupant". Auch weiter unten (47) sagt er, es sei „minor dif-
ferentia" zwischen den Tonen der Octave als zwischen denen der Quinte.
Da dies offenbar von der Distanz der Tone nicht gilt, so kann ihm nur
die grossere Einheitlichkeit des Eindrucks vorgeschwebt haben.
*) Rameau, Demonstration du Principe de I'Harmonie, 1750, p. 16.
D'Alembekt, Systemat. Einleitung in die musikalische Setzkunst. Aus dem
Franzosischen mit Anmerkungen von F. W. Marpurg, 1757, S. 12—13.
^) Der Contrapunct ^ (1877) 127: „In beiden Intervallen vermischen
sich ihre Tone so vollkommen miteinander, dass, wenn zwei Stimmen in
Octaven- und Quintenparallelen einhergehen, wir die Verschiedenheit
zweier solcher Stimmen nicht mehr in geniigender und befriedigender
Weise mit dem Ohre wahrzunehmen im Stande sind. Bei der Octave
ist dies selbstverstandlich in noch hoherem Masse als bei der Quinte
der Fall".
^) Musikalische Syntaxis 1877, S. 10. In der Erstlingsschrift „Uber
das musikalische Horen" (Gottinger Diss., gedr. Leipzig 1874) veranlasst
diese Tatsache Riemann zu naturphilosophischen Speculationen, die er
wol jetzt selbst nicht mehr billigen diirfte. „Die Durchfiihrung der Zwei-
heit in den organischen Bildungen lasst darauf schliessen, dass diese
als einfachstes Vielfache die Stelle der Einheit, welche als ruhendes
Moment keine Fahigkeit zu Weiterbildungen hat, zu verwerten berufen
sei; sodass wir . . . die Zwei als eine aus sich heraustretende Eins
anzusehen batten und sie mit Eins nahezu identisch nennen miissten"
(S. 18). Der Vorgang M. Hauptmann's , den Riemann auch heranzieht,
verdiente gerade in dieser Richtung keine Nachfolge.
§ 19. Stufen der Tonverschmelzung. 183
fassen"^), Der Gegensatz ist freilich schief, da Weber eine Ver-
schmelzuug zu einer mittleren Temperatur im Auge hat^), wofur
ja auch das Toureich kein Analogou bieteu wiirde. Aber die Ton-
verschmelzung selbst hat er offeubar beobachtet.
Deutliche Hinweise liegen sodann in den Streitschriften, welche
Ohm und Seebeck iiber die Definition des Tones wechselten, und
in Dem, was Helmholtz iiber die Octavenverschraelzung aus Aniass
eines von Ohm angegebenen und von ihm modificirten Versuches
bemerkt hat (woriiber Naheres § 21, 3; § 23, 2, b); ebenso in den
Beschreibungen R Konig's ,,Uber den' Zusammenklang zweier Tone"'^),
in Bemerkungen Kessel's, A. f. 0. XVIII (1882) 137. Doch ist hier
uberall Verschraelzung identificirt mit Nichtunterscheidung beider Tone
Oder auch mit Unterdruckung des einen (hdheren) durch den au-
deren (tieferen) in der Wahrnehmung, was Alles wol auseinander-
gehalten werden muss. So sagt z. B. Kessel: „Sind die Tone (zweier
vor Ein Ohr gebrachter Stimmgabelu) von gleicher Intensitat und
stehen sie im harmonischen Verhaltnis, so verschmelzen sie zu einem
harmonischen Gauzen, sodass man sich der Resonatoren bedienen
muss, um die einzelnen Bestandteile des Klanges besonders heraus-
zuhoreu. Dies trifft aber nur dann zu, wenn die Tone des Klanges
innerhalb der Grenze zweier Octaven gewahlt werden." (Auch dann
ist es zuviel gesagt!) .,Liegen die Tone in der Scala weiter von-
einander ab, so rufen sie wol bei ihrem Zusammenklang einen har-
inonischen Eindruck hervor, aber die Obertone werden auch ohne
Resonator herausgehdrt. Dieses Trennungsvermdgen gewinnt an
Sicherheit, je weiter die Tone der Scala voneinander abliegen, so
dass eine Verschmelzung von Tonen der unteren und der oberen
Horgrenze zu Einem Eindruck gar nicht mehr stattfindet; sie wer-
den gesondert wahrgenommen, auch wenn sie von verschiedener
Starke sind."
^) Tastsinn und Gemeingefuhl. Wagner's Hdw. Ill, 2. S. 556.
^) „Bringen wir z. B. ein kalteres Glied mit einem warmeren in Be-
riihrung, so empfindeh wir nicht die mittlere Temperatur, sondern unter
manclien Umstanden Kalte, unter anderen Warme, und bisweilen ab-
wechselnd Kalte und Warme" (a. a. 0.).
3) Pogg. Ann. 157 (1876) S. 177 f. bes. 191, 192.
184 § 20. tJber die Ursache cler Tonverschmelzung.
§ 20. Tiber die Ursache der Tonverschmelzung.
Wir haben den Zusammenhang zwischen d6n Graden der
Tonverschmelzung und den Verhaltnissen der Schwingungszahlen
zunachst als einen rein empirischeu, als ein tatsachliches Zu-
sammentreffen hingestellt, ohne uns sogleich darum zu bekiim-
mern, ob und wie er weiter erklart werden konnte. Natiirlich
ist niclit daran zu denken, dass hier eine ganz unmittelbare
Causalverbiudung vorlage. Am* allerwenigsten daran, dass Schwin-
gungszahlen oder ihre Verhiiltnisse empfunden wiirden (den In-
halt der Empfindungen bildeten) und dass die Verschmelzungs-
grade nichts Anderes waren als die grossere oder geringere Ein-
fachheit dieser empfundenen Verhaltnisse selbst. Redewendungen
dieser Art konnen heute nur noch im unklaren Gewasser popularer
Schriften gedeihen. Wir wissen, dass Schwingungen und ihre
Zahlenverhaltnisse lediglich als Ursachen der Empfindungen in
Betracht kommen, ohne eine Verwandtschaft mit diesen beanspru-
.chen zu konnen; und nicht einmal als directe Ursachen, sondern
nur als entferntere. Dazwischen liegen nervose Vorgange.
Wahrscheinlich hat nun jeder Leser des vorigen- Paragraphen
sich bereits irgend eine psychologische Erklarung ausgedacht.
Wir wollen im Folgenden zeigen, dass nicht leicht eine genii-
gende Erklarung ausfindig zu machen ist, dass zumal die Be-
rufung auf psychologische Gesetze aller Art fruchtlos bleibt.
Nur eine physische Veranstaltung im Centralorgan kann den
unmittelbaren Grund der Verschmelzung enthalten. Von der
Beschaffenheit dieser Veranstaltung konnen wir uns aber einst-
weilen keine Vorstellung bilden und nur auf ihre Entstehungs-
geschichte vielleicht ein gewisses ungewisses Dammerlicht vom
Standpunct der Entwickelungslehre zu werfen versuchen. Diese
Erorterungen, wesentlich negativ wie sie sind, wiirden wir darum
auch viel kiirzer abmachen, wenn sie nicht zugleich Gelegenheit
gaben, den Begriff der Verschmelzung selbst gegeniiber nahe-
liegenden Misverstandnissen noch deutlicher in's Bewusstsein
zu heben.
§ 20. Uber dieUrsache der Tonverschmelzung. 185
Soviel ich sehe, konnen fiinf Erklarungsgriinde psycho-
logischer Art in Betracht kommen: Allgemeine Gesetze iiber
Wechselwirkung der Vorstellungen, wie solclie von Heebart '
entwickelt wurden; die Ahnlichkeit der beziiglichen Empfin-
dungen; die Mischung der begleitenden Gefiihle; der Glattegrad
der Empfinduiigen (relative Mangel an Schwebungen); die Hau-
figkeit ihres Zusammenseins im Bewusstsein.
1. Herbart's Verschmelzungstheorie.
Die Unzulangliclikeit der HERBART'schen Grundsatze iiber
Wechselwirkung der Vorstellungen und speciell iiber ihre „Ver-
schmelzung" ist unter unbefangeneu Psychologen allgemein an-
erkannt und zum Teil auch voli der Sctule zugegeben. Aber
da gerade Herbaet's Verscbmelzungsbegriff einige Berlihrungs-
puncte mit dem bier vertretenen bietet und zugleich von ihm
auf das Tongebiet vorziiglicb angewandt wurde, ist es um so
wicbtiger, aucb die Kluft hervorzuheben, die beide Begriffe
trennt und uns verbietet, die von Herbart gegebene Erklarung
zu der unsrigen zu macben;
Die einfachen Vorstellungen sind nach Herbart teils hete-
rogen, wie Farben und Tone, teils homogen, wie Tone unter
sicb. Erstere recbnet er zu verschiedenen, letztere zu Einem
„Continuum". Die Verbindung der heterogenen nennt er Com-
plication (sie soil uns nicht weiter bescbaftigen), die der homo-
genen Verschmelzung ^). Genauer gesagt verscbmelzen aber die
Empfindungen Eines Sinnes nicht ganz, sondern nur teilweise
mit einander. Man kann sie in Gedanken zerlegen in gleiclie
und entgegengesetzte Bestandteile. Soweit sie eutgegengesetzt
sind, hemmen sie sicli; soweit sie gleich sind, verscbmelzen sie.
Je geringer die Hemmung, um so grosser die Verschmelzung.
Diese ist aber nicht . so zu denken, als ob aus beiden Em-
pfindungen dem Inhalt nach eine neue dritte entstande, wo-
rin nur das Gleiche von Beiden enthalten ware. Vielmehr
bleiben sie, was sie sind, und trifft jene Wechselwirkung nur
die Innigkeit ihrer Verbindung im Bewusstsein und demzufolge
») Psychol, als Wissensch. I 197 f. 222 f. ; II 297 f.
186 § 20. Uber die Ursache der Tonverschmelzung.
auch ihre Unterscheidbarkeit ^). Die Zerlegung der Qualitaten
in der Theorie hat nur den Zweck, ein Mass fiir die Innig-
keit ihrer Verbindung zu gewinnen.
Warum miissen aber iiberhaupt Vorstellungen verschmelzen?
Die Notigung dazu ist in der einfachen Natur der Seele be-
griindet. „Darum weil die Vorstellungen alle in Einem Vor-
stellenden als Tatigkeiten (Selbsterhaltungen) desselben beisam-
men sind, miissen sie Ein intensives Tun ausmachen, sofern sie
nicht entgegengesetzt und nicht gehemmt sind".
Heebart bemiiht sich auch, den Process der Verschmelzung
naher zu beschreiben. „Da nun das Gleichartige gewiss und
sogleich verschmelzen -soUte, da es aber nicht losgerissen von
dem Entgegengesetzten fiir sich allein verschmelzen kann, da
es vielmehr das letztere in seine Verschmelzung mit hineinziehen
muss — so wird der wirklichen Vereinigung ein Kampf voran-
gehen, dessen Entscheidung bestimmt, wie innig die wirkliche
Vereinigung sein werde." Die Verschmelzung kann (bei end-
licher Grosse des Gegensatzes) „nur-allmalig zu Stande kommen,
in dem Masse namhch als die Gegensatze dem Streben zur
Vereinigung allmalig nachgeben".
Gerade bei Tonen hat nun Heebart die Lehre coucret
durchgefiihrt ^). Jeder Ton wird, lehrt er, dem Grundtou urn
so unahnlicher, je weiter er von ihm abliegt, bis zur Octave.
Diese selbst ist dem Grundton total unahnlich, steht zu ihm
im vollen Gegensatz. Theoretisch liisst sich dies dadurch aus-
driicken, dass man sich in jedem der zwischenliegenden Tone
dem Grundton gleiche und ihm entgegengesetzte Elemente vor-
^) Letzteres besonders von V. v. Volkmann betont, Grundriss der
Psychol. 109.
2) Hauptpuncte der Metaphysik (1808) § 13 ; in Heebart's Werken,
herausg. von Hartenstein, III 45. Psychologische Bemerkungen zur Ton-
lehre (1811); WerkeVIIl. Psychol. Untersuch. (1839); Werke VII 183. In
der ersten Schrift, lange vor der „Psychologie", sind die Grundztige der
allgemeinen Vorstellungslehre bereits gegeben. Von diesen aus ist Hee-
bart zur Anwendung auf die Tonlehre geschritten, nicht etwa durch die
Tonlehre selbst auf sie gefiihrt worden. Vgl. Zimmekmann in der unten
zu erwahnenden Abhandlung.
§ 20. 0ber die Ursache der Tonverschmelzung. 187
handeu denkt, obschon dies nur eine Fiction ist. Der Gegen-
satz des g zum c beispielsweise ist durch die 7 (temperirten)
Halbstufen zu messen, um welche sie von eiuander abstehen,
die Gleichheit durch die 5, um welche g von der hoheren Oc-
tave absteht^). Dies stimmt nun nahezu mit einem apriori auf-
gestellten und berechneten Fall, wo namlich die Gegensatze sich
zur Gleichheit verhalten wie V2 (d. i. wie 1,414 . . .) zu 1.
Ebenso bringt Herbabt die iibrigen Hauptintervalle in Beziehung
zu den apriori ausgerechneten Haupttallen der Verschmelzung.
Solche t)bereinstimmung zeigt sich allerdings weniger gegeniiber
den reinen als gegeniiber den temperirten Intervallen. Aber
diese entsprechen nach Herbart auch besser dem musikalischen
Gehor.
Ausser den in der Natur der Inhalte gelegenen Momenten
lasst iibrigens Herbart auch zufallige Momente den Verschmel-
zungsgrad mitbestimmen 2).
In den besonderen Bestimmungen iiber Tonverhaltnisse ist
nun geradezu Alles tatsachlich falsch. Die temperirte Leiter ist
nicht die Leiter des musikalischen Gehors; sie ist ein kiinst-
liches Compromiss, wenn auch zu Gunsten musikalischer Zwecke.
Ferner ist die Messung des Abstandes durch die Zahl der Halb-
stufen ein falsches Princip. Sodaun bildet die Octave, als einfacher
Ton betrachtet, durchaus keinen Gegensatz zum Grundton. Als
Klang betrachtet ist sie ihm sogar ahnlicher als jeder andere. Ein
voUer Gegensatz existirt hier nur zwischen Herbart und den Tat-
sachen. Auch die Consequenzen stimmen nicht: die Octave miisste
am v?^enigsten verschmelzen, die Secunde am meisten. Das Gegen-
teil ist richtig. Wie wenig Herbart hier sich von der Beob-
achtung hat leiten lassen, zeigt die ausdriickliche Berufung
darauf, dass die Octave „zwei sehr leicht zu unterscheidende
Tone horen lasse". tlbrigens liegt sogar ein innerer Wider-
spruch in Herbart's Annahme' iiber die Octave. Wenn alle
^) Von der genaueren Berechnung mit Hilfe der Logarithmen der
Verhaltniszahlen konnen wir hier absehen.
^) Psych, als Wissensch. I 222.
188 § 20. tjber die Ursache der Tonverschmelzung.
Ahnlichkeitsgrade innerhalb der Octave erschopft sind, wel-
ches Verlialtnis besteht denn zwischen Tonen, die melir als
eiue Octave von einander abstehen? Herbart kann nur an-
nehmen, dass sicli dieselben •Ahnlichkeitsverhaltnisse wieder-
holen, dass also c dem cis ebenso ahnlich sei als dem cis^, cis^
u. s. f. Aber wenn c ebenso ahnlich dem cis wie dem m\
wie konnen dann cis und cis^ unter sich total entgegengesetzt,
absolut unahnlich sein?
Bel der bekannten musikalischen Begabung Heebart's. ist eine
seiche, mau mdchte sageu feindliche, Stellung gegen die Wirklichkeit
doi^pelt wunderlich und nur aus der abnormen Constructionssucht
begreiflich, mit welcher er der Zeit seinen Tribut zahlte. Man
kann ihu daruni uicht zu Denen rechnen, welche die Verschmel-
zung im Tongebiete beobachtet haben, ebensowenig als man von
einem Astronomen sageu kann, er habe einen Kometen entdeckt,
wenn dieser zur angegebenen Zeit auf einer ganz anderen Seite des
Himmels stand als da, wo er ihn gesehen haben wollte. Fragt
man aber, welcher Umstand wol Herbaet zu seiner Behauptung
uber die Gegensatzlichkeit der Octave Anlass gegeben haben konute,
so wiisste ich keinen anderen, als dass die Octaventone eben die
entgegengesetzten Enden der — Octave bilden.
Bei Herbaet's Schiilern finden wir dier gleichen Verkehrtheiten.
•VoLKMANN, Grundr. d. Psych. 110: „Grundton und Secunde unter-
scheiden wir im gleichzeitigen Vorstellen nicht mehr . . . Auch die
kleine Terz unterscheidet das ungebildete Ohr kaum". (tFber die
spateren Auflagen des Werkes s. u,) Drbal, Erapir. Psych. § 50:
„Man versuche nur . . . den Ton c mit dem Tone h derselben
Octave im . Bewusstsein zu vereinigen, so wird dies . . . unmoglich
gelingen . . . Dagegen wird die Vereinigung von c und m ohne
merkliches Widerstreben vor sich gehen".
ZiMMERMAKN sucht') die Behauptung, dass die Octave dem
Grundton vollig entgegengesetzt sei, mit der HELMHOLTz'schen, wo-
nach vielmehr die grosste Ahnlichkeit besteht, durch einen dialekti-
^) liber den Einfluss der Tonlehre auf Heebart's Philosophie. Sitz.-
Ber. d. Wiener Akad. Phil. CI. 1873. S. 57.
§ 20. Uber die Ursache der Tonverschmelzimg. 189
schen Kunstgriff zu vereinigen. Das Klangverhaltnis namlich, wo-
rauf diese Ahnlichkeit beruhe, bedinge Abwesenheit aller Scliwe-
bungen, d. h. aller Notigung zum Einswerden, und dies wieder treffe
zu bei durchaus — entgegengesetzten Vorstellungen. Allein wenn
die Abwesenheit von Schwebungea durchaus. entgegengesetzte Vor-
stellungen anzeigt, dann sind nicht bios Octave und Grundton, son-
dern eine zahllose Menge von einfachen Tonen einander durchaus
entgegengesetzt; der einfache Grundton schwebt in mittlerer Lage
auch nicht mit der einfachen Septime, weder der grossen noch
kleinen, nicht mit der kleinen und grossen Sext, nicht mit der
Quinte, nicht mit der None, iiberhaupt nicht mit alien einfachen
Tonen, die nicht in seiner nachsten Umgebung liegen, mag das
Zahlenverhaltnis sein, welches es will. Damit fallt dann doch das
ganze HEEBART'sche Tonsystem, welches Zimmeemann retten wollte.
Aber auch der HEEBAEi'schen Psych ologie ist mit der Ausflucht
schlecht gedient. Denn die Schwebungen konnen doch nicht wol
Das sein, was Heebaet mit dem Streit der verschmelzenden Vor-
stellungen untereinander meinte. Sie sollen ja nach Zimmeemann's
Deutung nicht etwa Ursache des Streites, sondern eben der Streit
selbst als psychologische Erscheinung sein. Dann miissten sich aber
zwischen alien Vorstellungen desselben Sinnes, zwischen alien ahn-
lichen Vorstellungen Schwebungen zeigen. (Im Ubrigen s. iiber
Schwebungen und Verschmelzung unter 4.)
Aber auch wenn man statt dieser Irrtlimer Herbaet's
correctere Daten in die Reclinuug einsetzt, fiihren uns seine
allgemeinen Grundsiitze bier nicbt waiter. Fragen wir nur:
Warum tritt gerade bei dem Scbwinguugsverbaltnis 1 : 2 jener
ausgezeicbnete Punct eiii, den Herbart als vollen Gegeusatz,
Andere anders definiren? Warum kommt cin solcher Punct
mehrmals, immer mit Verdoppelung der Scbwingungszabl, zum
Vorscbein, und zwar all em Anscbein nacb aucb bei einfachen
Tonen? Aucb Zimmeemann gibt zu (S. 46), dass Herbart diese
Frage ungelost liess. Das ware aber nocb nicht so scblimm:
er bat sie, soviel icb sebe, nicbt einmal aufgeworfen. Und docb
liegt gerade bier der springende Punct. Wiissten wir erst ein-
mal, wie es kommt, dass die Octaven am starksten verscbmelzen,
190 § 20. Uber die Ursache der Tonverschmelzung.
so wiirden wir auch begreifen, warum die Quinten weniger ver-
schmelzen u. s. w.
Uberdies ist schon aus allgemeineren Griinden der ganze
Versclimelzungsapparat Herbart's fiir uns unbrauchbar. Hee-
BART hat zwar im Allgemeineft richtig bemerkt, dass gewisse
Vorstellungen enger, andere lockerer zusammenhangen. Aber
was seinen Begriff von Verscbmelzung sogleich wieder von dem
unsrigen trennt, ist die Auffassung derselben als eines Vorganges
zwischen den Vorstellungsacten, * wahrend wir ein Verhaltnis
zwisChen den Inhalten darunter verstehen. Eine Wechselwir-
kung und ein Geschehen zwischen den Inhalten gibt es aber
(auch nach Herbart) nicht. Schon dadurch wird seine ganze
Construction fiir uns unbrauchbar.
Angesichts seiner Schilderung des Kampfes zwischen den
Vorstellungen niochte man mit der vierten Idee seiner Sitten-
lehre ausrufen: „Streit misfallt!" Hier misfallt er besonders
dadurch, dass er nur im Buche steht, und wUrde iiberaus wol-
gefallen, wenn er irgendwo und irgendwie beobachtet werden
konnte. Der ganze Vorgang ist, wie so mancher in Herbart's
Seelenmechanik, ein aus physikalischen Erinnerungen gewobenes
Luftgebilde. Kein Psychologe hat mehr gegen die Mythologie
in seiner Wissenschaft geeifert und keiner sie so ausgiebig be-
trieben. Erscheinen die Vorstellungen nicht wie Passagiere, die,
in eine Postkutsche zusammengepackt, sich gegenseitig driicken,
stossen und gelegentlich hiuauswerfen? ^)
') Nur solchen Anthropomorphismen verdankt ja auch Herbart's Ab-
leituDg des Gefiihls aus blossen Vorstellungen ihr scheinbares Recht: ein
Gefiihl soil entstehen, indem eine Vorstellung, statt frei im Bewusstsein
zu schweben, zwischen zwei anderen festgeklemmt ist. Das tut weh,
wenn man Fleisch und Blut hat; ob auch, wenn man eine Vorstellung ist?
Von anderen Bedeuken ganz zu schweigen.
Dass die deutsche Psychologie noch immer an diesen Hypostasi-
rungen (Comte's metaphysischem oder gar theologischem Stadium) leidet,
sieht man z. B. an Lipps' sonst so verdienstvollen und scharfsinnigen Aus-
fiihrungen. Man vergleiche gerade seine Verschmelzungstheorie, Grundtats.
473, Avo aus der Begrenztheit der seelischen Kraft das Gegeneinander-
drangen aller Vorstellungen gegen alle , daraus dann die Verscbmelzung
§ 20. tjber die Ursache der Tonverschmelzung. 191
Wenn ferner Heebaet die Scheidung gleicher und entgegen-
gesetzter Bestandteile in zwei einfachen Vorstellungen, woraus
er ein Mass fur die Verschmelzung ableiten will, mit Recht als
eine blosse Fiction auffasst, muss dauu nicht aucli der ganze
Process, den er so auschaulich beschreibt, eine blosse Fiction
sein? Wol lasst Heebaet nicht die Inhalte, sondern die Vor-
stellungsacte gegeneinander kampfen. Aber sie klimpfen, sofern
sie teilweise entgegengesetzt sind, und verschmelzen zuletzt, so-
abgeleitet und geschlossen wird: „Je mehr also ahnliche Vorstellungen
unter diesem Drange leiden, um so elier werden sie sich zur Verschmel-
zung entschliessen". Dass eine Vorstellung unter einem Drange leiden
und sich zu etwas entschliessen kdnne, scheint mir doch selbst als blesses
Bild zu kiihn, und es wird mir nicht ganz leicht, die darunter verbor-
genen Grundtatsachen zu erkennen.
Bei anderen Schriftstellern wird denn auch, was hier mehr Bliite
des Ausdrucks ist, geradewegs zum bliihenden Unsinn. Man lese mit
Bedacht folgende Beschreibung aus einem „Abriss der philosophischen
Grundwissenschaften" II (1888) 33:
„Eine Naturerscheinung, die eine gewisse Verwandtschaft zu et-
welchen vertrauten Erlebnissen des praktischen Lebens zeigt, reizt die
hier entwickelten Vorstellungsketten. Und indem sie mit diesem inneren
Besitze verschmilzt, wird sie dadurch aus dem weiteren Wahrnehmungs-
horizonte herausgelost. So tritt sie durch die irfnere Verbindung in helle
Beleuchtung. Dennoch kann sie mit der praktischen Vorstellung nicht
ohne Reibung verschmelzen, well die fremdartige Legirung, die sie hinzu-
bringt, eine heftige Erschiitterung der Seele zur Folge hat. Da also die
Aneignung des Objects nur stockend und miihsam und unter mancherlei
Effimmungen sich vollzieht, wird der Act der Erzeugung neben dem Pro-
ducte etwie schon fiihlbar. Hier liegt der Keim des specifisch mensch-
lichen Bewusstseins." (Weiterhin ist von der Sprache die Rede.)
Der gelehrte A. W. Ambros unterscheidet einmal, wie einen ein-
fachen und doppelten Coutrapunct, so auch einen einfachen und doppelten
Galimathias. Der einfache ist der, bei welchem sich der Autor etwas
denkt und nur der Leser nichts Bestimmtes denken kann, der doppelte der,
bei welchem sich alle Beide nichts Bestimmtes denken. Es ist stark zu
vermuten, dass wir in der obigen Auseinandersetzung den ausgezeich-
neten Fall eines doppelten Galimathias vor uns haben. Man wird auch
nicht aus dem Zusammenhang etwie kltiger werden iiber all' diese Reizung,
Verschmelzung, Herauslosuug, Beleuchtung, Reibung, Legirung, Erschiit-
terung, Aneignung, Stockung, Hemmung, Erzeugung — da eben der Zu-
sammenhang von gleicher contrapimctischer BeschaiFenheit ist.
192 § 20. tJber die Ursache der Tonverschmelzung.
fern sie teilweise gleich sind, uud sie siiid dies, weil ihre Inhalte
es sind. 1st also die Unterscheidung bei den Inhalten nur
fictiv, so folgt notwendig das Namliche fiir die Vorstellungsacte,
und wis kann danu ein wirklicher Kampf, eine wirkliche Ver-
einigung zwischen bios fingirten Teilen der Vorstellungsacte
stattfindeu ? Verstehe es, wer kann ! ^)
Wenn endlich Heebart die Einfachheit der Seele als all-
gemeinsten Grund der Versclimelzuug betrachtet, so leuchtet ja
soviel ein, dass Verschmelzung nicht stattfinden kann, wenn die
zwei Empfindungen verschiedenen Seelen angeboren. Aber es
leuchtet nicht ein, dass sie verschmelzen miissen, wenn sie einer
und derselben Seele angehoren. Und wenn es wirklich der
Fall sein muss, so leuchtet wieder nicht ein, warum denn bios
das Gleiche und nicht auch das Entgegengesetzte und Disparate
verschmelzen muss 2). Eine Sonne scheint iiber Gerechte und
Ungerechte, Eine Seele umfasst Gleiches und Uugleiches. Was
immer zugleich in der Seele vorhauden ist, miisste ununter-
^) Eine seltsame Unterscheidung macht Heebaet noch zwischen Ver-
schmelzung vor der Hemmung und nach der Hemmung. Beides sei
eigentlich Verschmelzung wahrend der Hemmung, aber die Unter-
scheidung befdrdere die Fasslichkeit (Psych. I 222) — was ich nicht
finden kann. Das Harmonische in Tonen und Farben soil auf der Ver-
schmelzung vor der Hemmung, oder dem Streben dahin, beruhen (vgl.
auch Lehrb. z. Einleit. in die Philos. § 87).
2) VoLKMANN lasst dcuu auch das Entgegengesetzte verschmelzen. In
welche Not aber nun dieser geschatzte Psychologe gerat und durch welAe
Windungen er den drauenden Widerspruchen zu entgehen sucht („denn
das Vorstellen entgegengesetzter Vorstellungen vermogen wir uns nicht
anders denn als entgegengesetzt zu denken") — das muss man in seiner
Psych. ^ I 341 nacblesen. Eine „Paralyse" des Vorstellens erscheint ihm
als das erlosende Wort, wahrend man einem wirklichen Widerspruch —
und als solcher wird er in iiberzeugender Weise dargelegt — doch nur
durch eine Paralyse des Denkens gerecht werden kann.
VoLKMANN hat das Verschmelzen des Entgegengesetzten consequeu-
ter Weise auch als eiuen Einwand gegen die HERSART'sche Tonlehre
geltend gemacht, neben vier anderen, die sich zum Teil mit den unsrigen
beruhren. Psych. ^11, 336 f. Der Herausgeber Cornelius sucht freilich
diese betriibende Emancipation von der reinen Lehre wieder durch Ge-
genbemerkungen unter dem Stern unschadlich zu machen.
§ 20. Tiber die Ursache dcr Tonverschnielzung. 193-
scheidbar sein und bleiben. Es konnte daun aucb nicht ver-
schiedene Verschmelzungsgrade geben; denn die Seele ist nicht
einfacher fUr die einen Vorstellungen als fiir die anderen. Die
Erklarung aus der Einfachheit der Seele und die aus den
besonderen Inhalten machen sicli also nicht bios gegenseitig
iiberfliissig, sondern widersprechen sich auch in ihren Ergeb-
nissen.
2. Ist Ahnlichkeit Ursache der Verschmelzung?
Wenn man von der eben besprochenen Lehre alles speci-
fisch HEEBART'sche abstreift, bleibt doch noch ein Gedanke
iibrig, der Untersuchung verdient: vielleicht ist wirklich eine
abgestufte Ahnlichkeit Grund der abgestuften Verschmelzung,
wenn auch nicht wegen irgendwelcher Wechselwirkung der Vor-
stellungen, sondern einfach darum weil zwei gleichzeitige Inhalte
um so weniger leicht analysirt werden, je ahnlicher sie sind.
Eine Bestatigung dafiir konnte man dem Umstand entueh-
men, dass auch Empfindungen verschiedener Sinne verschmelzen
(o. 65), und um so starker, je ahnlicher sie sind; besonders
z. B. Geriiche und Geschmacke, die ihrer Qualitat nach einander
nahe stehen.
Zwingend ist letztere tJberlegung indessen nicht, da die
Ahnlichkeit und die Verschmelzung, soweit sie wirklich parallel
gehen, auch von einem gemeinsamen dritten Umstand abhangig
sein konnen.
Der Erklarung solbst wiirde ich schon darum nicht bei-
treten konnen, weil ich unter dem Verschmelzungsgrad nicht
die Leichtigkeit oder Schwierigkeit der Analyse, sondern ein
Empfindungsverhaltnis verstehe, das auch dann bleibt, wenn
die Analyse vollzogen ist. Doch abgesehen hievon: es lasst
sich zeigen, dass die Ursache fiir die Schwierigkeit der Ana-
lyse, auf welche wir im vorigen Paragraphen als etwas Tat-
sachliches gestossen sind, weder in dem Ahnlichkeitsgrad be-
stehen noch durch ihn in irgend einer Weise bedingt sein kann.
Wir miissen eine doppelte Ahnlichkeit unterscheiden: die
des Zusammengesetzton und die des Einfachen (I lllf.). Die
erstere ist bei Klangen verschiedener Hohe gegeben durch die
Sturapf, Tonpsychologie. II. 13
194 § 20. Tiber die Ursache der Tonverschmelzung.
etwa gemeinsamen Obertone. Bei einfaclieu Tonen bestelit na-
tUrlich nur die letztere,
a) Betrachten wir zuerst die Ahnlichkeit des Zusam-
mengesetzten. Die Octave ist im Allgemeinen am starksten
als Oberton in einem musikaliscbeu Klang enthalten, hat aucb,
selbstandig in gleicber Klangfarbe angegeben, keine anderen
Obertone als der Grundklang selbst. Sie ist also diesem von
alien Klangen durch die Obertone am ahnlicbsten. Quinten-
Klange haben einen scbon etwas hoher liegenden und schwache-
ren ersten gemeinsamen Oberton. Noch scbwacber ist das Ge-
meinsame der Terzen u. s. f. Es decken sicb also in der Tat
die Abstufungen dieser Ahnlichkeit mit denen der Unterscheid-
barkeit. Man konnte aucb, in Bildern redend, hinzufUgen: die
gemeinsamen Obertone sind gewissermassen der Leim fiir die
Grundtone, sie bringen dieselben, ohne ihre Hohe zu tindern,
im Bewusstsein einander naher, lassen sie nicht mehr zusam-
menbanglos erscheinen. Und das ware dann die Verschmelzung.
Aber Bilder aus dem Tischlerhandwerk beweisen ebenso-
wenig wie Bilder aus dem Gefiihls- oder Naturleben. Und ein
einfacher Versuch entzieht alien Deductionen den Boden. Wenn
der Umstand, dass c bereits in C enthalten ist, den Grund ihrer
Verschmelzung bei selbstandigem Erklingen bildet, so nehmen
wir zwei beliebige andere Tone, g und a, geben auf einem In-
strumente g nebst schwacherem a, und gleichzeitig auf einem
anderen Instrument a mit voller Starke: dann haben wir ja die-
selben Bedingungen der Verschmelzung hergestellt. Der ^-Klang,
welcher als Beiton a enthalt, miisste mit dem a-Klang, welcher
selbstandig dazu angegeben wird, dieselbe Verschmelzung zei-
gen wie C mit c. Keine Spur davoni
Oder wir nehmen g auf dem einen Instrument, a oder
einen beliebigen anderen Ton auf dem zweiten, und fiigen zu
jedem von ihnen einen und denselben dritten, iibrigens belie-
bigen, Ton in bestimmter geringerer Starke auf dem bezliglichen
Instrument hinzu: dann batten wir die Bedingungen fiir den
Verschmelzungsgrad der Quinte, Terz u. s. f. (je nach der Starke
des Beitons) bei ganz beliebigen zwei Tonen.
§ 20. Dber die Ursache der Tonverschmelzung. 195
Ubrigens liat sich ja auch in den Versuchen des vorigen
Paragraphen kein Einfluss der Obertone gezeigt (S. 150), und
baben wir bereits das allgemeine Gesetz bervorgeboben, dass
die Verscbmelzung zweier Tone nicbt von einem dritten Ton
abbangig ist. Aucb einfacbe Tone verschmelzen. Die Octave,
scbwacb angegeben durcb zwei auf Resonanzkasten stebende
Gabeln, wobei Obertone so gut wie ganz ausgescblossen sind,
macht einen um nicbts weniger einbeitlicben Eindruck, als wenn
sie durcb zwei Trompeten geblasen wird. Und selbst wenn
Einer sicb darauf steifen wollte, dass absolut einfacbe Tone
nicbt berzustellen seien, wiirde dies scbon darum nicbts niitzeu,
weil die Verscbmelzung docb eben mit der Annaberung an die
Einfacbbeit abnebmen und bei nabezu erreicbter Einfacbbeit
aucb nabezu null sein miisste.
Man kann aucb nicbt sagen, bei einfacben Tonen sei es
die Gewobnbeit oder die Erinnerung an die zusammengesetzten,
welcbe uns Verscbmelzung vortauscbe oder sie vielleicht sogar
wirklicb berbeifubr6. Das Letztere ist vor Allem unmoglicb.
Wenn die Kraft, welcbe allein Verscbmelzung bewirkt, wegfallt,
wird der Effect ebensowenig eintreten, als die Locomotive aus
Gewobnbeit lauft, wenn sie einmal nicbt gebeizt ist, oder als
(um ein Beispiel aus den Sinnen selbst zu nebmen) dem Kurz-
sicbtigen, der sicb eine Brille anscbafft, nun etwa gewobnbeits-
massig immer nocb alle Umrisse ineinanderlaufen. Aber aucb
auf blosser Tauscbung durcb Gewobnbeit oder Erinnerung kann
die Verscbmelzung (bez. das Verscbmelzungsurteil) bei einfacben
Tonen nicbt beruben. Ein in siunlicber Beobacbtung Geiibter
wiirde durcb den neuen Effect gegeniiber dem gewobnten eber
iiberrascht werdeu. Der Mangel an Verscbmelzung wiirde ibm
durcb den Gegensatz erst recbt zum Bewusstsein kommen. Man
findet wol, dass ein Gefiibl, wenn nicbt andere Krafte entgegen-
wirken, an einen Gegenstand gekniipft bleibt, nacbdem derselbe
die Eigenscbaft, durcb die er zuerst das Gefiibl erregte, ver-
loren bat. Aber das Urteil unterliegt einem solcben Vorgang
nicbt, ausser bei grosser Unaufmerksamkeit. Im Allgemeinen
bemerkt man docb leicbt, dass die Eigenscbaft, die man zu
13*
196 § 20. tfber die Ursache der Tonverschmelzung.
finclen gewohut war, nicht mehr vorhanden ist; ja der Wechsel
selbst erregt die Aufmerksamkeit. Auch der Wille, welcher
Urteilsgewohnheiten entgegenwirkt (willkiirliclie Aufmerksam-
keit), hat auf die wabrgeuommene Verschmelzung eiufacber Tone
keinen Einfluss. Man mag noch so oft und scbarf hinhoren,
die Tone der Octave treten nicht besser auseinander.
b) Wenn nun also die Verschmelzung schon darum aus der
Ahnlichkeit des Zusammengesetzten nicht ableitbar ist, weil
einfache Tone ebenfalls verschmelzen: gelingt es vielleicht mit
der Ahnlichkeit des Einfachen?
Nach der Anscbauung, die wir stets festhielten, ist die
Octave als einfacher Ton dem Grundton nicht hervorragend
ahnlich. Sie ist ihm ahnlicher als die in der Tonreihe weiter
abliegenden, aber unahnlicher als die dazwischen liegenden Tone.
Es miisste also, wenn solcbe Ahnlichkeit Grund der Verschmel-
zung ware, die Septime starker verschmelzen und schwieriger
analysirbar sein als die Octave, in noch hoherem Grade aber
der Tritonus und am allermeisten die Secunden; was Alles den
Tatsachen widerspricht.
Man miisste also hochstens versuchen, an jener Anscbauung
selbst zu riitteln. Ist nicht "doch die Octave, auch als einfacher
Ton, dem Grundton in besonderem Masse ahnlich zu nennen?
Fiir die Quinte miisste man dann den nachsthohen Grad der
Ahnlichkeit beanspruchen u. s. f.
Vielleicht wird man dafiir als Zeugnis anfiihren, dass die
Octave uns als eine Art Wiederholung des Grundtons auch bei
einfachen Tonen erscheint und leicbt mit dem Grundton ver-
wechselt wird, ja dass auch Quintentone zuwoilcu verwechselt wer-
den (z. B. wenn ein Unmusikaliscber eineu Ton nachsingen soil).
Indes werden sich uns diese Erscheinungen neben vielen
anderen im Fortschritt des Werkes eben aus der Verschmel-
zung selbst erklaren. Nicht diese ist Folge der Ahnlichkeit,
sondern der Schein der Ahnlichkeit ist Folge der Verschmelzung.
Den Eindruck, welchen die Tonqualitaten abgesehen von
jeder musikalischen Erfahrung macben, kann man sich einiger-
massen reproduciren, wenn man auf dem Clavier in moglichster
§ JO. liber die Ursache der Tonverscbmelzung. 197
Raschheit einen chromatischen Lauf ausfiilirt (audi schoii eiii
Glissando iiber die weissen Tasten geniigt) und den Ausgangs-
punct im Gedachtnis oder auch auf dem Clavier festhalt. Nur
etwa der Ton, mit welcliem man schliesst, wird in diesem Fall,
Avcil er notwendig etwas langer gehalten wird und weil er dem
Bewusstsein sich obnedies besonders aufdrangt, unvvillkiirlicb
nach seiner Leiterstellung zum Ausgangston, nacb seiner musi-
kalischen Bedeutung aufgefasst, Im Ubrigen aber erscheint
jeder Ton dieser Reihe als gleicbwertig und gleicbbedeutend
mit jedem anderen, alle erscbeinen ebeu als nur graduell ver-
scbiedene Glieder einer Reihe; ganz anders als bei einer Ton-
leiter, aucb anders als bei einem langsamen cbromatischen Gang,
wo jeder Ton mit seinem eigentiimlichen musikalischen Charakter,
als Tonica, Dominant, Leitton, erbohte Dominant u. s. f. im
musikalischen Bewusstsein auftritt. Und zwar hat man im obi-
gen Fall den Eindruck einer in gleicber Richtuiig fortlaufenden
Reihe; nicht den einer periodischen Umkehr und einer Wie-
derkehr vorzugsweise ahnlicher Tone. Die Ahnlichkeit mit dem
Ausgangston scheint uns ununterbrochen uud gleichmassig ab-
zunehmen. Nocb lehrreicher ist der Versuch, wenn man den
Ton continuirlich aufsteigen lasst, wie durcli entsprechende Be-
wegung des Fingers auf einer gestricheneu Saite oder durch
Verschiebung des Pfropfens einer tonenden gedackten Pfeife.
Auch beim Anstreichen der vier leeren Saiten der Violine, oder
bei weiter fortgesetzten Quintengangen auf dem Clavier tritt
die gleichsinnige qualitative Entfernung vom Ausgangston klar
hervor, weil solche Gauge kein Bewusstsein einer bestimmten
Tonart, einer Tonica, Dominant u. s. f. aufkommen lassen, oder
wenigstens die Anfange dazu alsbald vernichten.
In dem merkwiirdigen Fall, welchen Geant Allen beobachtet
und beschrieben hat (o. I 265), afficirte das lutervall einer Octave
(in aufeinanderfolgenden Tonen) den Mann nicht anders als irgeud
ein sonstiges: er konnte keine grossere Ahnlichkeit oder Ubcrein-
stimmuiig (congruit)') beraerken zwischeu c und c^ als zwischen c
und ^^ oder c und e^. Die sammtlicheu Unterschiede der Tone,
welche auf Zahlenverhaltnissen griinden, wareu fur ihn nicht
198 § 20. Tiber die Ursache der Tonverschmelzung.
vorhanden. Nur die Unterschiede der Tonhohe nahm er (bei gros-
sen Differenzen der Schwingungszahlen) wahr. Dasselbe wurde von
seinem Vater berichtet: „er sei fahig, zwei aueinanderliegeude
Tone zu unterscheiden, aber nicht fahig, eine besondere Beziehung
zwischen einem Ton und seiner Octave zu findeu." Wenu wir auch
aus solchen einzelnen Fallen an nicht gauz normalen Individuen
keinen bindenden Schluss Ziehen konnen, diirfen sie doch als Be-
statigung betrachtet werden. Sie lehren doch, dass ein „psycholo-
gisch und physiologisch wol Unterrichteter" bei aufeinanderfolgen-
den Tonen die Octave ganz gut und besser als die SeiDtime, Sext,
Quinte, Terz (soweit reichte sein Unterscheidungsvermogen) als vom
Grundton verschieden erkennen kann, ohne doch in der Octave eine
besondere Ahnlichkeit mit dem Grundton zu findeu. Es fehlten ihm
eben die musikalischen Erfahrungen, wclche allein diesen Eindruck
hervorrufen, da fiir ihn die Musik in Folge der abnorm geringen
Unterschiedsemjjfindlichkeit seiner Ohren von Anfang an vollig inter-
esselos geblieben war, so dass er als ganz musiktaub gelten konnte;
Avas von den gewohnlichcn „Unmusikalischen" nicht in diesem streu-
gen Sinn gesagt werden darf.
Die Annahme einer hervorragend einfachen Ahiiliclikeit der
Octaventone (einer griisseren als sie Sext und Septime be-
sitzeu) ist iiberhaupt widersiunig, so lange man die Eindimen-
sionalitat des Tongebietes festhalt. c soli dem C in solch' her-
vorragender Weise, zum Verwechseln, ahnlich sein. Aber auch
Des ist dem C in solcher Weise ahnlich und zwar von der
gleichen Seite her. Dann miissten also auch c und Des unter
sich hoebst ahnlich sein. Ja es miisste in der Nahe von Des
ein Ton existiren, der von der gleichen Seite her genau die
gleiche Ahnlichkeit mit C besasse wie c, der dem c selbst also
gleich ware. Aus diesen Widerspriichen konnte nur die An-
nahme einer Mehrheit von Tondimensionen retten. Nun hat
ja wirklich Deobisch, um das fragliche doppelte Ahnlichkeits-
verhaltnis darzustellen, die Versinnlichung durch eine Schrau-
benlinie ausgedacht, auf welcher die Tonbewegung sich immer
mebr vom Ausgangston entfernt und dennoch in hoherer Lage
zu ihm gewissermassen zuriickkehrt. Die Octaven liegen senk-
§ 20. Qber die Ursache der Tonverschmelzung. 199
recht liber einander und fallen, von oben betrachtet oder auf
eine Ebene projicirt, alle zusammen. Aber die psychologische
Interpretation, der reale Sinn dieser siunreicbeu Darstellung
scheint eben nur dadurch zu finden, dass man neben der Abn-
lichkeit der einfacben Tone in sicb die durcb Obertone ent-
stebende oder ein sonstiges Verbaltnis der Tone mitberiicksicb-
tigt. Es ist seltsam, dass man diese Consequenz nicht scbon
friiber beacbtete. Denn die Lebre von der Abnlicbkeit der
Octave, aucb selbst der Quinte, mit dem Grundton ist eine alte^),
die Erklarung derselben aus den Obertonen stammt aber mei-
nes Wissens erst von Helmholtz (419). Und docb liegt in
der friiberen Auffassung ein offener Widerspruch.
Der Scbarfsinn Beentano's bat einen Weg erdacbt, um
dem doppelten Abnlicbkeitsverbaltnis docb aucb bei einfacben
Tonen gerecbt zu werden. Icb weiss allerdings nicbt, ob er
die im Folgenden bescbriebene Anscbauung als die wabre oder
nur als eine bypotbetiscb-denkbare betracbtet, nicbt einmal, ob
sie sicb genau mit derjenigeu deckt, die er im Simie bat. Jeden-
falls mocbte icb nicbt versaumen, sie in Erwagung zu zieben.
Neben der Qualitiit einer Tonempfindung und ibrer Starke
habeu wir bienacb ein drittes Moment zu unterscbeiden, wel-
cbes als Helligkeit bezeicbnet werden kanu, analog der Hellig-
keit einer Farbe. Eine Tonverauderung, die wir gewobnlicb
Anderung der „Tonbobe" nennen, bestebt entweder in einer
blossen Veranderung der Helligkeit oder in einer Qualitats-
und Helligkeitsanderung zugleicb. Und zwar besitzen die musi-
kaliscb gleicbnamigen Tone (C, c, c^ . .) die gleicbe Qualitiit und
nur verscbiedene (zunebmende) Helligkeit; dagegen die ungleicb-
^) Vgl. Aristoteles Probl. 919, b, 17. 921, b, 17. Rameau hat die
Abnlicbkeit der Octaven als eiue Grundtatsacbe bingestellt iDemonstra-
tion du principe de I'harmonie p. 16. D'Alembert's Systemat. Einlei-
tung in die musikal. Setzkunst nach den Lehrsatzen des Hrn. Rameau,
iibersetzt von Marpurg, S. 12). Noch 1858 spricht C. E. Naumann ^Uber
die verschiedenen Bestimmungen der Tonverhaltnisse S. 4) von dem ,,Er-
klingen zweier einander ahnlicher, obgleicb an Hohe sehr verschiedener
TOne"; obne zu bemerken, welche Sonderbarkeit darin liegt.
200 § ~^- tJber dio Ursache der Tonverschmelzung.
namigen (c, d, e) verschiedeue Qualitat uud zugleich verschie-
dene (zunehmeude) Helligkeit. Die Octave ist also niclits Au-
deres als das Wiederauftreten der geiiau gleichen Qualitat,
nicM bios eiiier ahnlichen, Dass sie uicbt iu jedem Sinn als
derselbe Ton erscheint, bewirkt nur ihr Helligkeitsunterschied.
Diese Anschauung wiirde eine grosse Umwalzung in der
Theorie der Tonempfindungcn, der Empfindungen iiberbaupt be-
deuten. Was die Verschmelzung betrifft, so erklart sie sich,
wenigsteus die der Octave, fiir den orsten Anschein daraus mit
Leichtigkeit. Denu nun wird das allgemeinc Princip, wonacli
zwei gleichzeitige Eindriicke, je ahnlicher sie sind, um so we-
niger leicht auseinandergehalten warden, auf die Octaventone
auch als einfacbe Tone anwendbar.
Allein genaiier zugesehen miissten wir dann beim gleich-
zeitigen Erklingen der Octaventone eine strenge Ton-Einheit
boren. Denn zwei qualitativ gleicbe Tone in einem und dem-
selben Obr konnen wir doch nicbt auseinanderhalten. Es ist
also zu Viel erklart.
Aber auch die librigen Verschmelzungsgrade lassen sich so
wenig aus der Theorie herleiten, dass sie ihr vielmehr wider-
sprechen. Zunachst bedarf es hier einer Festsetzung iiber die
Reihenbildung der Qualitaten. Man kann nach den bisher er-
wahnten Grundziigen der Hypothese noch Dreierlei annehmen:
Entweder bilden die Qualitaten von c bis c^ eine blosse
Summe, die sich ihrer Natur nach beliebig anordnen lasst, und
ist die sogen. natiirliche Tonreihe nur eine Helligkeitsreihe;
Oder die Qualitaten bilden ebenfalls eine Reihe, und dann
kann man wieder annehmen, dass dieselbe in gleichbleibender
Richtung fortlauft, d. h. dass die Tone innerhalb einer Octave,
wie sie auf dem Clavier sich folgen, dem Grundton immer un-
ahnlicher werden;
Oder man kann annehmen, dass die Reihe in sich zuriick-
kehrt gleich einem Kreise, d. h. dass die Ahnlichkeit mit dem
Grundton von einem gewissen Punct, etwa fis oder g (wenn c
als Grundton gewahlt wird), wieder zunimmt. Im letzteren Fall
batten wir die Unterlagen fiir die Schraubenconstruction: Ver-
§ 20. 0ber die Ursache cler Touverschmelzung. 201
biudung der stetig aufsteigenden Helligkeitsgeradeu mit dem
Qualitatenkreis.
Allein nach der ersten Aunabme hatte c mit g oder e uicht
grossere Ahnlichkeit als mit irgeiid eiuem andereu Ton. Die
Verschmelzuug also uiid die Unterscheidbarkeit miisste (wenn
die Hypotbese Uberbaupt daraiif augewandt werden soil) fiir alio
Intervalle, ausgenommen die Octave, die namlicbe sein.
Nacb der zweiten Annabme miissten die Terzen, Quiuten
und Sexten weniger verscbmelzen als die Secundeii; die Quinteu
und Sexten audi weniger als der . Tritonus.
Nacb der dritteu Annabme miisste die Quintenverscbmel-
zmig ungefabr die geringste von alien sein, bocbstens der des
Tritonus voranstebend, da ja die Quinte oder der Tritonus in
der Kreislinie am weitesten vom Grundton entfernt ware, g
mit c zusammenklingend miisste also ungefabr ebenso leicbt
analysirbar sein als fis mit c. Terzen miissten aucb bienacb
leicbter unterscbeidbar sein als Secunden, da sie sowol nacb
Qualitat als Helligkeit grossere Verscbiedeubeiten darboten.
Die Verscbmelzungserscbeinungen werden also durcb diese
Anscbauungsweise uicbt erklart, widersprecben ibr vielmebr auf
alien Puncten.
Die Anscbauung ist aber aucb abgeseben davon nicbt durcb-
fiibrbar; und aucb dies will icb in Kiirze (eine Reibe auderer
Bedenken unterdriickend) zu zeigen sucben, da mit dem Princip
der Erklarung aucb die Erklarung selbst unmoglicb wird.
Von den drei erwabnten Annabmen Uber die Ordnung der
Tonqualitaten namlicb, zwiscbeu denen man sicb zu entscbeiden
batte, lasst sicb keine mit den Tatsacben des Tonbewusstseins
vereinigen.
Die erste wird von vornbereiu kaum vertreten werden, da
die Tonqualitaten nacb Aussage des unmittelbaren Tonbewusst-
seins entscbieden eine natiirlicbe Reibe bilden (I 140 f.).
Nacb der zweiten miisste die Reibe bei einer neuen Octave
immer mit einem Sprung von vorne anfangen. Der letzte Ton
der vorigen und der erste der neuen Octave waren sicb extrem
unabnlicb. Nun aber, wenn wir die Octave von c anfangen,
202 § 20. tjber die Ursache der Tonverschmelzung.
ware der Sprung zwischeii h uud c^. Wenn wir sie von a an-
fangen, ware er nicht zwischen h und c^; diese waren sich
jetzt vielmehr liochst alinlich. Dieselben zwei Tofiqualitaten
konnen aber nicht zwei verschiedene Ahnlichkeitsgrade besitzen.
Das soil ja aiich gerade durch die Theorie vermieden werden
Die dritte Annahme widerspraclie iinplicite deu bereits im
I. Band (142) erwahnten unmittelbaren Tonurteilen, wonaeh
von je drei Tonen nur Einer als zwischen den beiden andereu
liegend aufgefasst wird; wahrend bei kreisformiger Anordnung
jeder zwischen den beiden anderen liegt. Wir wolleu aber den
Widerspruch fUr den gegenwartigen Zweck noch in folgender
Art verdeutlichen.
Wenn wir die Tonart (r-dur in unsereni Bewusstsein zu
Grunde legen, was durch eine vorausgeschickte Cadeuz in dieser
Tonart geschehen kann, und nun die Leiter von d bis h empor-
steigen ;
so wird sicherlich Jeder den Eindruck haben, dass wir uns
immer weiter von d entfernen, und zwar schlechthin in jeder
Beziehung, mag man auch Helligkeit und Qualitat theoretisch
auseinanderhalten. Jeder wird sagen, dass hier einfach und unbe-
dingt h von d weiter abHegt als a. Wenn wir dann weitergehen
bis cZS so wird man diesen Rest der Tonbewegung, den Ab-
stand h — d^ zweifellos fiir kleiner erklaren als das bisherige
Stiick; h also dem d'^ ahnlicher als dem d. Es wird hier Keinem
in den Sinn kommen, zu sagen: In gewisser Beziehung ist h
dem d'^ ahnlicher und liegt ihm naher, in anderer Beziehung
dem d.
Man wendet vielleicht ein: Diese Aussageu stiitzen sich auf
das entwickelte musikalische Bewusstsein, auf Cousonanz- und
Leiterverhaltnisse, auf Reminiscenzen an Melodien u. dgl., nicht
auf das s. z. s. nackte Tonbewusstsein. Ich wiirde dies nicht
gelten lassen. Aber abgesehen davon: auf was Anderes stiitzt sich
denn gerade die Lehre von der Identitat der Octaven, die ganze
§ 20. tJber die Ursache der Tonverschmelzung. 203
hier besprochene Theorie, als auf das musikalische Bewusst-
seiu? Wenn man dieses nicht geltend lasst, so fallt von vorn-
lierein jeder Auhaltspunct fiir eine solclie Lehre. 1st doch so-
gar die gleichuamige Bezeichnung der Octaven erst ein ziem-
lich spates Entwickelungsproduct der Musikgeschichte. Man hat
zwar, wie bereits erwahnt, zugleich erklingende Octaventone von
jeher einem einzigen Ton aequivalent erachtet, aber man bat sie
bei gesondertem Erklingen nicht fiir gleich erachtet.
In obigem Beispiel haben wir absichtlich den Ausgang
nicht von der Touica genommen. Denken wir uns die kleine
Phrase mit denselben Tonen d e fis . . . in i)-dur, sodass also
der erste Ton zugleich Tonica ist, so kann schon eher der Ein-
druck einer Riickwendung entstehen. Noch leichter, wenn wir die
Accente anders verteilen, feruer auf dem h nicht Halt machen,
sondern durch cis^ nach d^ weitergehen. Ebon dies zeigt aber,
dass gerade der Eindruck der Riickwendung nicht in den Ver-
haltnissen der nackten Tonqualitaten griindet, sondern in den
besonderen Umstanden des musikalischen Zusammenhangs. Wir
merken eben in diesen Fallen, dass wir uns der Tonica wieder
nahern, einem Ton von gleicher fundamentaler Bedeutung
wie der Ausgangston. Dies nur vorlaufig. Die positive Erkla-
rung aller der Vorstellungen uud Auffassungen, die mit diesem
Begriff der Tonica und der Tonleiter zusammenhangen, kann
uns, ebenso wie die Erklarung der Aequipollenz der Octaven,
erst spater beschaftigen.
Wir miissen also dabei bleiben, dass zwischen c und c^ ein
Unterschied derselben Gattung stattfindet wie zwischen c und
g, c und a, c und h. Wollte man etwa diesen Unterschied selbst
als einen der Helligkeit, nicht als einen qualitativen, bezeichnen
und letzteren iiberhaupt leugnen, so ware dies zunachst eine
Frage der Terminologie, weiterhin eine Frage der vergleichen-
den Sinneslehre. Jedenfalis ware fiir unser Problem mit solcher
Anderung nichts gewonnen. Oder wollte man sagen, dass c und
g sich sowol durch Helligkeit als durch Qualitat unterscheiden,
ebenso aber auch c und c^ so wiirde ich dies in gewissem
Sinne sogar unterschreiben : wenn namlich mit Helligkeit das
204 § 20. (Jher die Ursache der Tonverschmelzung.
quasi -raumliclie Moment gemeint sein sollte (vgl. § 28). Aber
damit ware hier wieder nichts gewonnen. —
Sonach lassen sich die Versclimelzungserscheinungen aus
den Ahnlichkeitsverhaltnissen der Tone nicht heiieiten, weder
aus der Ahnliclikeit des Zusammengesetzteu noch des Einfachen.
3. Sind Gefiihle Ursache der Verschmelzung?
Gelingt es nun nicht, aus einem Verhaltnis der Empfin-
dungsqualitaten zu einander ihre Verschmelzung abzuleiten, so
konnte man weiter versuchen, sie aus Gefiihlsmomenten zu er-
klaren; sei es aus den die einzelnen Tone begleitenden Gefiih-
len, die sich natiirlich auch beim Zusammenklingen geltend
machen, sei es aus don durch das Zusammenklingen als solches
entstehenden Gefiihlen; und hier wieder entweder aus denjeui-
gen, welche an die Wahrnehmung eines Tonverhaltnisses ge-
kniipft sind oder aus denen, welche durch specifische Empfin-
dungsphanomene beim Zusammenklingen (Schwebungen) be-
dingt sind.
Auf dem erstgenannten Wege muss der Yersuch offen-
bar mislingen, wenn wir wie bisher annehmen, dass die Ton-
gefiihlsqualitaten eine ebensolche eindimensionale Reihe bilden
wie die Touqualitaten selbst. Man miisste also wie'der zu dem
Ahnlichkeitsprincip in Verbindung mit der Annahme greifen,
dass die an Octaventone gekniipften Elementargefiihle eine her-
vorragende Ahnlichkeit besiissen, eine etwas geringere die an
Quintentone gekniipften u. s. f. Da nun bei Gefiihlen ohnedies
schon langer von einer gewissen Verschmelzung die Rede ist
(Mischgefiihle), so wiirde hiemit die Tonverschmelzung anschei-
nend unter bereits bekannte Gesichtspuncte untergeordnet. Die
Empfindungen selbst waren allerdings bei der Octave nicht
inniger miteinander verbunden als bei der Septime, aber sie
wiirden uns in Folge der grosseren Einheitlichkeit des Misch-
gefiihls einheitlicher scheinen.
Schon hieraus geht aber hervor, dass die Erkliirung auch
so unannehmbar ist. Die Verschmelzung der Empfindungen
ware eine Tauschung, und diese miisste in dem Moment, wo
§ 20. Ober die Ursache der Tonverschmelzung. 205
die Tone als zwei erkannt werden, schwindeu. Ferner wiirdeu
wir zu einer grossen Zahl seltsamer primarer Gesetze iiber den
Zusammenhang von Tonempfindungen und elementaren Tonge-
fiihlen kommen, an Stelle des einzigen Gesetzes, wonach die
Gefuhle sich parallel mit den Empfindungen verandern. Und
wenn man dann versuclite, sich iiber die Anordnung der Ge-
fiihle klar zu werden, wiirde man zu genau denselben Unmog-
lichkeiten kommen, wie wir sie 198 f. in der entspreclienden
Annahme iiber die Empfindungen selbst fanden. Ausserdem
wiirde sich aus der Hypothese ergeben, dass Unmusikalische,
bei denen das Tongefiihl, auch das elementare, im Allgemeinen
entschieden geringere Starke besitzt, gleichzeitige Tonverbin-
dungen leichter analysiren miissten als Musikalische, da sie ja
weniger durch die begleitenden Gefiihlsphanomene in ihrem
Empfindungsurteil gestort werden, die Empfindungen selbst aber
keinerlei Verschmelzung besitzen sollen.
Wollte man nun zweitens die Gefiihle heranziehen, die in
der Wahrnehmung von Tonverhaltnissen griinden, so hiesse dies
vollends das Pferd vom Schwanze aufzaumen. Denn welches
Verhaltnis zwischen Grundton und Quinte oder Terz sollen wir
wahrnehmen? Das Zahlenverhaltnis doch gewiss nicht. Das
Abnlichkeitsverhaltnis fiihrt als wahrgenommenes so wenig zum
Ziel wie als bios empfundenes. Einzig und allein an das, wel-
ches wir Verschmelzung nannten, konnte gedacht werden. Aber
wenn durch die Wahrnehmung desselben Gefiihle bedingt sind,
so kann die Verschmelzung nicht umgekehrt durch diese Ge-
fiihle bedingt sein. Auch kann man Tonverhaltnisse nur wahr-
nehmen, wenn man die Tone unterscheidet. Die Unterschei-
dung ware also Voraussetzung des Gefiihls, das Gefiihl Voraus-
setzung der Verschmelzung; und da die Verschmelzung eine
der Ursachen der Nichtunterscheidung ist (ja sogar mit dieser
nach der hier discutirten Hypothese zusammenfiele), so fande
sich die Unterscheidung unter den Voraussetzungen oder Ur-
sachen der — Nichtunterscheidung.
Es blieben also hochstens noch solche Gefiihle als Erkla-
rungsmittel fiir die Verschmelzung zu erwagen, welche durch
206 § 20. Uber die Ursache der Tonverschmelzung.
die beim Zusammeuklingen auftretenden specifischeii Phanomene
bedingt sind, einerlei ob Analyse und "Wahrnebmimg der Yer-
haltnisse stattfindet oder nicM. Die Schwebungen sind solche
Phanomene, uud die einzigen, die biebei in Betraclit kamen
Da sie aber aucli in anderer Weise als Erklarungsprincip verwen-
det werden kounten, stellen ■v\'ir sie unter besondere Nummer:
4. 1st der relative Mangel an Schwebungen Ur-
sache der Verschmelzung?
Bereits als wii- die Versuchsergebnisse bei Unmusikalischen
besprachen, wurde bemerkt (S. 151), dass die Starke der Schwe-
bungen (unter bestinimten Voraussetzungen iiber Klangfarbe und
Tonlage) bei den verschiedenen Intervallen verschieden ist, und
dass diejenigen lutervalle, welche eine geringero Zahl richtiger
Urteile aufweiseu, zugleich geriugere Schwebungen zeigen. Den-
noch kounten wir einen Causalzusammenhang uicht zugeben.
Nun konnte Einer die Sache wiederum (wie bei den Obertonen
und den Gefiihlen als Erklaningsprincipien) so weuden, dass
die unmittelbare Ursache fiir die Unterschiede der Zuverlassig-
keit der Analyse, fiir die relative Schwierigkeit derselben bei
Octaven u.s. f., allerdings in der von uns sogenannten Ver-
schmelzung lage, dass diese selbst aber ihre Ursache in den
Schwebungen bez. dem relativen Mangel an Schwebungen be-
sasse. Obgleich die damals angefuhrten Gegengriinde auch diese
Wendung treffeu, soil sie zur Vollstandigkeit des Gedankengan-
ges noch besonders erwogen werden.
Schwebungen sind eine EigentUmlichkeit des Empfindungs-
inhalts^) und konnen als solche einen Gegenstand der Wahr-
nehmung bilden. Intervalle mit starken und nicht zu laugsamen
Schwebungen klingen rauher, solche mit schwachen klingen
glatter. Bei gi'osserer Glatte, konnte man nun sagen, schmiegen
sich die Tone inniger, gleichsam mit weniger Reibung anein-
ander an: und dies sei ebeji. was wir Verschmelzung nennen.
^) vrenigstens in dem weiteren Sinn, in welchem -wir auch solche Modi-
ficationen. die an den zeitlichen Yerlauf gebunden sind, znr Empfindung
rechnen. Im engsten Sinn ist allerdings uur das Gegenwartige Empfin-
dungsjuhalt. Der Unterschied ist aber bier gleichgtiltig.
§ 20. tJber die Ursache der Tonverschmelzung. 207
Schwebungen modificiren aber auch, mogen sie als solche
wabrgenommen werden oder nicbt, das Klanggefiibl. Und viel-
leicbt mochte man auch aus den so entstebenden Unterscbieden
des Klanggefiibls die Grade der Eiubeitlicbkeit ableiteu, die
den verscbiedenen Toncombinationen eigen sind oder scheineu;
etwa darauf binweisend, dass Ein Ton fiir sicb allein keine
Scbwebungen zeigt, also eine Toncombination sicb urn. so mebr
dem Gefiiblseindruck Eines Tones nabern wird, je weniger sie
Scbwebungen besitzt, mogen dieselben wabrgenommen werden
oder nicbt.
Was die erste Erklarungsweise betrifft, so siebt man leicbt,
dass der Scbein einer Erklarung bier nur durcb Anwendung
von pbysikaliscben Bildern oder von Yorstellungen aus dem
Tastsinne gewonnen wiirde, die auf Gehorsempfindungen nicbt
anwendbar sind. Scbwebungen sind periodiscbe Intensitats-
schwankungen. Die Verscbmelzung bingegen bat weder mit
dem zeitlicben Yerlauf nocb mit der Intensitat des Klanges
etwas zu tun.
In beiden Formen aber wird die Erklarung wieder unmog-
licb durcb die Verscbmelzung der einfacben Tone. Diese geben
zwar aucb Scbwebungen, wenn sie nabe an einander liegen,
nicbt aber, wenn sie weiter als etwa eine grosse Terz von
einander entfernt sind (nur in tiefer Lage aucb bei grosseren
Intervallen). Somit miissten bier Terz, Quarte, Tritonus, Quinte,
Septime, Octave sammtlicb die gleicbe Verscbmelzung zeigen,
und zwar die bocbste.
Wir konnen insbesondere genug Toncombinationen mit ein-
facben Tonen berstellen, welcbe nacb Aussage der directen Be-
obacbtung der niedersten, statt der bocbsten, Verscbmelzungs-
stufe angeboren und dennocb keine Scbwebungen zeigen (vgl.
S. 189).
Umgekebrt kann aucb Ein Ton periodiscbe Intensitats-
scbwankungen besitzen — dass man diese gewobnlicb nicbt
Scbwebungen sondern Intermittenzen nennt, ist fiir die Sache
gleicbgiiltig — : er miisste dann den Eiudruck einer Mebrbeit
macben.
208 § 20. tJber die Ursache der Tonverschmelzung.
Ferner wiirde nach der Hypothese in jeder der beiden
Formen die Verschmelzung eines mid desselben Intervalls bei
verscbiedenen Instrumenten verscbieden ausfallen, die der Quinte
auf einer Flote sicb etwa decken mit der einer Octave auf dem
Clavier, die der Secunde auf der Flote etwa mit der der Terz
auf dem Clavier u. s. f. Nicbt minder wiirde die Verscbmel-
zung desselben Intervalls auf demselben Instrument verscbieden
ausfallen in verscbiedener Tonlage, da die Scbwebungen je zweier.
Tone (Grund- oder Obertone) mit jeder Octave um's Doppelte
an Zabl zunebmen, ausserdem aucb die unter sicb scbwebenden
Obertone in verscbiedenen Lagen bei demselben Instrument sebr
ungleicbe Starke besitzen.
Endlicb werden Scbwebungen bei Verteilung zweier Stimm-
gabeln an beide Obren gegeniiber der einobrigen Perception
bedeutend gescbwacbt, unter Umstanden bis zur Unmerklicb-
keit; der Verscbmelzungsgrad der Tone erleidet aber durch
diese Zuleitungsform keine Anderung. Das Gleicbe gilt von
der Vorstellung in der Pbantasie, wodurch die Scbwebungen
wegfallen (wenn man sicb nicbt absicbtlicb daran erinnert),
wahrend die Verscbmelzung erbalten bleibt.
5, 1st baufige Verbindung Ursache der Verscbmel-
zung?
Wenn neuere Psycbologen Recbt baben, tritt durch die
blosse Haufigkeit des Zusammenseins zweier beliebiger Vorstel-
lungen im individuellen Bewusstsein allmalig aucb obne jedes Abn-
licbkeitsverhaltnis zwischen ibnen eine Art Verschmelzung ein.
Es entstebt eine „untrennbare Association" und zugleicb wandeln
sicb die so verwacbsenden Vorstellungen in eine qualitativ neue
einbeitlicbe Vorstellung um (Cbemie der Vorstellungen). Letz-
tere Angabe macbt zwar die Anwendung des Princips in unse-
rem Fall schon fraglicb; aber man wird vielleicbt das Princip
selbst in der notigen Weise um formen, um es anwendbar zu
machen; glaubt docb der Cbemiker aucb nicbt mebr an eine
wirklicbe Umwandlung der Stoffe. Man konnte sagen: Das qua-
litativ Neue ist eben nur das Verhaltnis, die grossere Einbeit-
licbkeit, Dasselbe, was als Tonverschmelzung bezeicbnet wird.
§ 20. liber die Ursache der Tonverschmelzung. 209
Und die Voraussetzung trafe ja zu. Wenn wir die har-
monischen Obertone eines Klanges beispielsweise bis zum 16. Teil-
toii (der vierten Octave des Grundtons) vorbanden denken, so
findet sicb das Verbiiltnis der Octave unter diesen 16 Tonen
9 mal (1:2, 2:4, 3:6, 4:8 u, s. f.), das der Quinte 5 mal, das
der Quarte 4 mal, das der grossen Terz und Sext 3 mal, das
der kleiuen Terz und Sext sowie der natiirlicben Septime 2 mal
(bei Beriicksicbtiguug der Teiltone bis zum 18. auch diese 3 mal),
das der grossen und kleinen Secunde 1 mal. Ausserdem wirkt
in gleicbem Sinne der Umstand, dass, wenn wir zunachst die
Reihe liicke.nlos und die Klange nur durcb die Zabl der vor-
handenen Obertone verscbieden denken, die boheren Obertone
nicbt ohne die niederen, diese aber ohne jene vorkommen, und
dass vom ersten zum zweiten Teilton eine Octave, vom zweiten
zum dritten eine Quinte, dann eine Quarte, dann Terzen statt-
finden; woraus folgt, dass auch in den verscbiedenen Klangen
das Octavenverbaltnis am baufigsten vertreten ist und dann
in abnebmender Anzabl die iibrigen genannten Intervalle.
Aber leider ist das Princip selbst, auch in der angedeuteten
Umformung, illusorisch. Es gibt keine untrennbaren Associa-
tionen (das Wort Association im gewobnlicben Sinne genommen),
da wir jede Association durcb noch baufigere Verkniipfung einer
der beiden Vorstellungen mit irgend einer dritten auflosen konnen.
Und es gibt keine Cbemie der Vorstellungen. Die gesammte
psychologiscbe Erfabrung zeigt, dass Vorstellungen unzablige
Male im individuellen Bewusstsein zusammen sein konnen und
doch weder in dem von uns festgehaltenen noch in irgend einem
anderen Sinne verscbmelzen, speciell auch fiir die Analyse nicbt
die geringsten Scbwierigkeitcn bieten.
Das Tonreich selbst bietet Beispiele genug. Die ganze
Tonreibe, die der iibende Scbiiler Tag fiir Tag stundenlang
binauf und binunter spielt, miisste ihm ja zu einem ununter-
scbeidbaren Klang zusammenscbmelzen, da die vorangebende
Vorstellung wabrend der nacbfolgenden im Bewusstsein bleibt
und woiter Nicbts als baufige Gleicbzeitigkeit zur Verscbmel-
zung verlangt wird. Sind die Octaven in der Harmonic und den
Stuiupf, Tonpsychologie. II. 14
210 § 20. Uber die Ursache der Tonverschmelznng.
musikalischen Eiiizelklangen bevorzugt, so sind es die Secunden
in der Melodie. Die Association eines Tons mit seinen Nachbarn
ist in der Tat mindestens so kraftig wie die mit seiner Octave.
Also miisste audi die Verschraelzung der Secunden mindestens
ebenso stark sein wie die der Octaven. Aber auch auf gleich-
zeitige Tone direct angewandt versagt das Princip. Der Drei-
klang miisste immer mehr in Einklang iibergehen; wer wenig
Musik hort, miisste Octaven-, Quintentone besser unterscheiden
als wer viel bort.
Es ist darum kaum notig, die zwei bis drei Beispiele,
welcbe man fiir eine Chemie associirter Vorstellungen gebracbt
bat, zu widerlegen. Das eine, der Farbenkreisel, beweist nichts
als eine rein pbysiologiscbe Mischung physiologischer Processe.
Uberdies wiirde ja bier die Haufigkeit und die Association keine
Rolle spielen. Das zweite und Hauptbeispiel , die Localisation
der Gesicbts- und Tastempfindungen durcb Verscbmelzung von
Muskelempfindungen (und sonstigen ,,Localzeicben") mit Farben-
bez. Tastqualitaten, ist nicbt Sacbe der Beobacbtung sondern ein
Postulat der empiristiscben Raumtbeorie; und man muss nicbt
schliessen, dass das Beispiel zutrifft, weil diese Tbeorie es verlangt,
sondern dass die Tbeorie verkebrt ist, weil sie zu einem Postulat
fiibrt, welcbes der gesammten psycbologiscben Erfabrung wider-
spricbt. Ausserdem liegt aucb bier keine Association vor.
Vgl. m. „Urspr. d. Raumvorst." 49 f. (das Verhiiltnis von
Farbe und Ausdehnung nicht eine Association) und 103 f. (keine
Chemie der Vorstellungen). Diese Lehre ist uberhaupt nur als
eine Art Rettungstau von dem englischen Empirismus ergriffen
worden, nachdem er zugeben musste, dass die augeblichen Elemente
der Raumvorstellung und besonders die Muskelempfindungen in
derselben nicht wirklich enthalten sind. „Drum hab' ich mich der
Magie ergeben". In Deutschland hat Wundt, nachdem sein erster
Versuch einer Bestimmung der „Localzeichen" an einem offenen
Cirkel gescheitert war (er wollte die Localisirung der Farben aus
ihrer localen Farbung erklaren, vgl. a. a. 0. 99), dasselbe Aus.-
kunftsmittel unter dem Namen der psychischen Synthese oder Ver-
scbmelzung eingefiihrt. Es enthebt von vornherein der Verpflich-
§ 20. tJber die Ursache der Tonverschmelzung. 211
tung, die fatalen Localzeiclien nalier zu bestimmen, da sie ja in
der chemisch producirten Raumvorstellung untergegangen sein sollen.
Auf die dagegen gerichteten Bemerkuugen von Lipps (Grundtats. 511)
und William James (Mind XII 208) antwortet Wundt nur mit
allgemeinen Betrachtungen tiber die Unmoglichkeit, „eiue geistige
Scbopfung aus ihren elementaren Bedingungen mit mathematischer
Evideuz vorauszusagen" (Phys. Ps. ^11 40), statt dass er Beispiele
anfuhrte, die das Vorkommen eines Processes, wie er ihn verlangt,
beweisen konnten. Vgl. oben 131 f. Dass audi die „Ai3perception",
welche nacb Wundt zur blossen Association hinzukommen muss,
ein solches Ergebnis nieht liefern kanu, ist bereits ebeudort er-
innert. Uberdies herrscht bei Wundt in der Definition und An-
wendung dieses modernen Steins der Weisen eine ebenso grosse
und nocb grossere Verwirrung wie in der des Yerschmelzungsbe-
griffes selbst. Icb verweise auf die erscbopfende Kritik von Marty
in der Viertelj. Scbr. f. wiss. Pbilos. X 346 f. XIII 195 f. 304 f.
G. Die Ursache der Versclimelzung ist eine physio-
logische.
AUe bisher betrachteten Erklarungsversuche waren psycho-
logiscb. Ihr Mislingen deutet an, dass wir auf psychischem
Gebiete den Grund der Tonverschmelzung iiberhaupt nicht zu
suchen haben. Dafiir sprach ohnedies schon von vornherein
der Umstand, dass dieselbe eine Tatsache der Empfindung, ein
den gleichzeitigen Tonqualitaten immanentes Verhiiltuis, und
von der Ubung ini individuellen Leben unabhangig ist. Em-
pfindungsverhaltnisse sind aber, wie Empfindungen selbst, nicht
auf weiter zuriickliegende psychische Ursachen sondern nur auf
physische zuriickzufiihren.
Die physikalisch-objectiven Eigenschaften der Wellenziige
helfen uns dabei Nichts. Allerdings ist die durch zwei Wellen
vom Verhaltnis 1 : 2 gebildete Gesammtwelle der einfachen Sinus-
welle am ahnlichsten, dann folgt 2:3, 3:4 u. s. f., immer com-
plicirtere Gestalten. Aber diese objectiven Verhaltnisse sind ja,
wie schon Anfangs erinnert ward, weder selbst Inhalt einer
Empfindung noch unmittelbare Ursache einer solchen, liegen
vielmehr in der Kette der Ursachen weit zuriick. Und tretcn
14*
212 § 20. Tiber die TTrsache der Tonverschmelzung.
wir von da aus naher, so findeii wir, dass die genannten Eigen-
tumliclikeitou der Luftscliwinguugen im Organ verscliwinden,
wenii anders liicr jede zusammengesetztc in einfaclio Scliwingungen
aufgelost wird. Auch was S. 138 Anm. erwahnt wurde, ferner
der Umstand, dass Farben, bei denen objectiv die niimlichen
Scliwingungsverlialtnisse vorkommen (1:2 bei den iiussersten
Farben des Spcctrums, 2:3 bei Blau und Rot, Orange und In-
digo-Violett, Griinblau und iiusserstem Rot), keine der Ton-
verschmelzung analoge Erscheinung zeigen, muss davon aljhalten,
die objectiven Wellenformeu irgendwie fiir die Verschmelzung
verantwortlicb zu machen ^).
Dass auch innerhalb des Organs, speciell des Labyrinthes
im Ohr, die physischen Vorgange noch nicht diejenige Eigen-
schaft besitzen, welche der Verschmelzung der Tone in der
Empfindung correspondirt, geht nicht bios aus der eben erwahnten
isolirtcn Leitung sondern auch daraus hervor, dass die Ver-
schmelzung bei Verteilung der beidon Tone an die beiden Ohren
sowie bei blosser Phantasievorstellung in gleicher Weise wahr-
^) Nachdem ich in der Abhandlung „Musikpsychologie in England"
(V. J. Schr. f. Musikwiss. 1885) die Verschmelzungstatsachen und ibre
Wicbtigkeit beruhrt batte, stellte sie Lipps in seiner Kritik jeuer Ab-
handlung (Zschr. f. Phil. u. pbil. Kritik Bd. 89 S. 305) als Nebenergebnis
der Tonverwandtscbaft bin, welche ihrerseits durch den Grad der Uber-
einstimmung der Scbwingungsrbytbmen gegeben sei. Diese Ubereinstim-
raung sei nach einem allgemeineren psychologiscben Gesetz geeignet.
einerseits Befriedigung zu erwecken, andererseits eine Verschmelzung
zu begunstigen. Was die Befriedigung betrifft, so kann ich hier weder
Lipps' eigene Erklarung des Harmoniegefiihls noch seine Einwilrfe gegen
meine Andeutungen fiber diesen Punct (die nur als solcbe gelten und
meiner Besprechung engliscber Theorien eine positive Wendung geben
sollten) erortern, da dies in die spateren Abteilungen dieses Werkes ge-
hort und Lipps' Kritik an fortgesetzten Misverstandnissen leidet, die
in der Kiirze meiner Andeutungen wurzeln und sich spater von selbst
auflosen werden. Was aber die Ableitung der Verschmelzung betrifft,
so ware ich begierig, zu horen, wie Lipps diese Em p fin dungs tat-
sache — als solche bezeicbnete ich sie auch damals ausdriicklich —
durch ein psychologisches Gesetz aus Schwingungsrhythmen
herloiten will. Vorlilufig crscheint rair dies eber wie eine contradictio
in adjecto.
§ 20. tjber die Ursache der Tonversclimelzung. 213
nehmbar ist. Weiiigstens wilre es cine gewaltsame mid uii-
wahrschoinlicho Aniiahme, dass bci gleichscitigom Horen der
verschraclzungserzeugcnde Vorgang schon ira Ohr, boi Vcrtci-
luiig der Tone abcr erst im Centrum stattfiindc.
Es miisscn also den Unterschieden der Verschmclzungsgrade
gcvvisse Unterschiede der letzten Vorgange im Horcentrum als
pliysisches Correlat odor als Ursache (jenachdem man monistiscli
oder dualistisch denkt) entsprechen. Welcber Art aber dicse
Unterschiede sind, dariiber wissen wir schon darum Nichts, weil
wir iiber die Beschaffenheit der letzten Processe iiberhaupt
Nichts wissen. Ja ich muss sagen, dass, wiihrend man sich das
Zustandekommen der Schwebungen, des Wettstreits, des Con-
trastes und anderer Erscheinungeu doch bis zu einem gewisscn
Grade physikalisch oder chemisch zurccht legen kann, mir hin-
sichtlich der Gehirnvorgange, welche den Verschmelzungser-
scheinungen zu Grunde liegen konnten, nicht einmal ein solches
hypothetisches Bild einfallen will. Vielleicht gelingt es der
bewilhrten Phantasie gewisser Gehirndeuter bosser. Wcr weiss
aber, ob wir uns nicht nach und nach veranlasst finden werden,
unsere physikalischen Grundbegriffo selbst umzuarbeiten oder
zu erweitern. Ist es denn apriori gewiss, dass die Welt jenseits
des Bewusstseins (zu der auch das Gehirn gehort) riiumlich
und nur raumlich ist oder gedacht werden darf? Die raum-
lichen Eigenschaften sind nichts als ein kleiner Teil derjenigen,
die wir aus unsren Siunesempfindungen abstrahiren. Man hat
sie zur verniinftigeu Construction der Aussenwelt, zur Ableitung
ihrer Gesetze, niitzlich gefunden. An sich haben aber alle anderen
qualitativen und sonstigen Momente und Verhaltnisse der Em-
ptindungen dasselbe Recht, duf die Aussenwelt iibcrtragcn zu
werden. Und vielleicht ist gerade die Verschmelzung selbst
bestimmt, einmal dieser Wiirde teilhaft zu werden; etwa in
Anwcndung auf chemische Vorgange. Aber das ist ein blosses
Spiel mit Denkmoglichkeiten, und wir wollen nicht statt physio-
logischer nun metaphysiologische Phantasien spinnen.
Wollen wir uns bei mangelnder Anschauung mit einem
Begriff begniigen (der doch nicht blosses Wort ist), so licssc
214 § 20. tJber die Ursache der Tonverschmelzung.
sich hier wol wieder von specifischen Energien reden. Die
specifischen Energien, welche der Verschmelzung zu Grunde
liegen, habcn nur das Besondere, dass sie nicht durch isolirte
Reize sondern durch cin Zusammentreffen zweier Reize ausge-
lost werden. Man kann sie darum specifische Energien lioherer
Ordnung, noch besser specifische Synergien nennen. Unter
eiuer solchen wiirden wir also verstehen eine in der Hirnstructur
griindende bestimmte Art des Zusammenwirkens zweier nervoser
Gebilde, wodurch jedesmal, wenn diese beiden Gebilde die ihnen
entsprechenden Empfindungen erzeugen, ein bostimmter Ver-
schmelzuugsgrad dieser Empfindungen miterzeugt wird. Wie
bci der Erzeugung von Empfindungen adaequate und inadae-
quate Reize uuterschieden werden, durch welche beiden doch
Eine und dieselbe Empfindungsqualitiit hervorgerufen wird, so
ist auch hier ein bestimmter Verschmelzungsgrad nicht aus-
schliesslich und unbedingt an das „adaequate" Reizverhaltnis
(z. B. 1:2) als solches gcbunden, sondern ausnahmsweiso kann
auch durch ein anderes objectives Schwingungsverhaltnis die-
selbe specifische Synergic angeregt, das Octavenverhaltnis u. s. f.
in der Empfindung hergestellt werden (o. 138 Anm.). Dagegen
sind allerdings diese specifischen Energien hohcrer Ordnung un-
trennbar verbunden mit denen erster Ordnung: denn die Verschmel-
zung zeigt sich stets als die namliche zwischen zwei bestimmten
Tonqualitaten.
Dass die Verschmelzung in der Phantasie erhalten bleibt,
steht dem Gesagten nicht entgegeu, sondern ist nur ein neuer
Beleg dafiir, dass auch die blossen Phantasievorstellungen eine
physischc Grundlage haben, und zwar im Allgemeinen dieselbe
wie die Empfindungen.
Gegeniiber den ausgefiihrten Verschmelzungstheorien, die
liber den Hergang ganz genauon Aufschluss geben, muss unsere
Formulirung diirftig erscheinen. Aber wir wollen ehrliche Armut
dem verdachtigen Reichtum vorziehen und eingedenk bleiben,
dass fiir die unmittelbaren und letzten Grundlagen des gesamm-
ten Empfindungslebens mit Sicherheit iiborall noch keine audere
als eine solche allgemein-begriffliche Formulirung moglich ist.
§ 20. tJber die Ursache der Tonverschmelzung. 215
7. Idee biner gcnerellen Entwickelung der Ver-
schmelzungen.
Dem Individuum ungeboren, konnte nun immerhin diese
physiologischc Eiurichtung im Leben der Generationen erworben
und sogar unter Mitwirkung psycliischer Tatigkeiten erworben
sein. In dieser Weise wlirde man, wenn man sich liberhaupt
auf Hypothesen einlasst, der relativen Haufigkeit eines Intervalls,
von der unter 5. die Rede war, einen indirecten Einfluss zu-
scbreiben konnen. Was wir haufig zusammcn horcn, konnte,
wenn es auch nicht im Bewusstsein als Bewusstseinsinhalt ver-
schmilzt, doch auf physischem Gebiet durch bestandiges Zu-
sammenwirken der Eindriicke, die in bestimmtem Verhaltnis
steben, eine Disposition herausbilden , in Folge deren solcbe
Eindriicke spater ein mehr oder weniger einheitliches Empfin-
dungsganzes hervorrufen. Die Herbeifiihrung aber von solchen
Eindrlicken konnte auf Lust, Absicht, auf psychisclien Motivcn
mitberuben und so aucb diesen ein sehr indirecter Antoil an
der Verscbmelzung zugescbrieben werden. Freilich gibt die
Erfabrung am Individuum auch fiir solcbe Weise des Einflusses
keinen Beleg. Aber sie gestattet natiirlich die Annabme, dass
ein winziger, unmerklicber, sozusagen unendlich kleiner Betrag
der Verscbmelzung wabrend des individuellen Lebens hinzu-
komme. Die Entwickelung miisste sich wahrend ungeheurer
Zeitraume und zwar in vorhistoriscber Zeit vollzogcn habcn,
da wir allezeit, soweit unsere musikhistorische Kenntnis zuriick-
reicht, und auch bei den uncultivirtesten Stammen der Gegen-
wart, die etwa als Bild der Urmenschen gelten konnten, den
Gebrauch von Octaven und anderen Intervallen antreffen, deren
Auswahl unter der unbegrenzten Zalil moglicher Toncombina-
tionen, wie wir spater sehen werden, eben auf ihrer Verscbmel-
zung beruht.
Naher konnte sich Einer den Hergang etwa so denken: Das
Interesse des Menschen richtete sich zunachst auf einzelne Klange
(seines Kehlkopfs odor irgend eines Hohlraums), die als Signale
benutzt wurden, dann auch fiir sich' Freude machten. Aus
beiden Griinden suchte er nach und nach verschiedenen Gegen-
216 § 20. tjber die Ursache cler Tonverschmelzung.
standen, auch Saiten, auf verschiedene Weise Tone zu entlocken,
geleitet flurch zufallige Wahrnehmungen. In den obertonreicheren
Klangquellen waren Octaven, Quinten u. s. f. etwa in dom oben
(208) angegebenen Verhaltnis vertreten. Aber auch bei nnr
6 Teiltonen war die Octave durch Smaliges, die Quintc durch
!2maliges Vorkommen vor den iibrigen Intervallen ausgezeichuet.
tlberdies in alien Fallen auch durch grossere Starke. So wur-
den die Intervalle zunachst unabsichtlich und ohne Unterschei-
dung ihrer gleichzeitigen Tone herbeigefiihrt, die Octave am
haufigsten, dann die Quinte u, s. f. Es konnten dadurch An-
fange physischer Dispositionen im Gehirn entstehen, wie wir
sie fiir die Verschmelzung voraussotzen miisseii. Dass eine solche
Disposition entstehen musste. konnen wir freilich nicht sagen,
da wir nicht wissen worin sie besteht.
Wurde nun gelegentlich die Octave, die Quinte als Zusam-
menklang zweier selbstandiger Klangquellen wahrgenommen (wie
beim gleichzeitigen Ausrufen von Signaleu durch einen Mann und
ein Weib oder durch zwei Manner von verschiedener Stimmlage,
wobei unter anderen Combinationen auch diese zufallig vor-
kamen), so konnte die bereits in ihren Anfangen vorhandene
Verschmelzung der beiden Tone zum Unterschied von anderen
Fallen des Zusammenklanges bemerkt werden; sie konnte Einen,
der besondere Lust an Tonen hatte, veranlassen, solche Zu-
sammenklange absichtlich herbeizufiihren, die beziiglichen Tone
auf Instrumenten zu fixiren (Pansflote, dann Flote mit mehreren
Lochern); es entstanden Anfange von Melodien aus festen Inter-
vallen, absichtliche Wiederholung durch den Gesang, wobei
gleichzeitiges Singen Mehrerer wieder Octaven- und Quinten-
gange (auch diese, da sie sich dem Eindruck des angestrebten
Unisono bereits einigermassen, wenn auch noch nicht in dem
gegenwartigen Masse naherten) zum Vorschein brachte. Da-
durch wurde dann wieder die obige physische Disposition ver-
starkt, die Verschmelzung in der Empfindung also ebenfalls.
Dass diese Zunahme spaterhin, je hohere Grade schon erreicht
waren, um so langsamer erfolgte und jetzt trotz der Uberhand-
nahme des Musicirens gar nicht mehr zu constatiren ist, wiirde
(
§ 20. tJber die Ui'sache der Tonverschmelzung. 217
sich mit Hinweis auf allgemeinere Erscheinungeii begreifen
lassen. Dass eiiie Entwickelung langsamer wird, wenn sie be-
rcits eino gewisse Hobo erreicbt hat, sehcn wir ja auch an
dcr pbysischcii wic geistigcn Bildung des Individuums. (Vgl.
auch die Analogie der Ubungscurve I 79, u. dgl.)
Das obige Erklarungspriucip liesso sich auch auf die Ver-
schmelzungen zwischen verschiedcnen Sinnon anwenden, indem
z. B. Geschmiicko und Gorilche rogclmassigcr erregt werden,
als Geschmacke und Tone.
Im Einzelnen erwachsen freilich wieder Schwicrigkoiten, auch
wenn wir von der allgemeinen Frage nach der Vererbung er-
worbener Eigenschaften absehen. Die Ableitung setzt Klange
mit harmonischen Obertonen voraus. Darf man seiche als
die ursprtinglicheren betrachten? Ferner warum verschmelzen
Quinten, Quarten, Terzen in der Tiefe eben so stark wie in der
Mitte, wahrend diese Intervalle in der Tiefe doch nicht bei
Obertonen vorkommen? Denn so ungehcure Blasraume oder Sai-
ten, dass beispielsweise C und G oder gar E und G als Ober-
tone zusammen darin vorkamen ( — sie miissten den Grundton C^
bez. C2 haben — ) wurden doch schwerlich von den Urmen-
schen benutzt, zuraal wenn das Ohr urspriinglich auf die hoberen
Tone gestimmt war (I 339 f.) Nach der biblischen Sage waren
zwar Tubalkaiu und seine Genossen Kiesen gewesen und batten
sich darum auch wol riesiger Instrumente bedient. Aber die ihres
Markes entleerten und mit einem Seitenloch versehenen Knochen,
welche zusammen mit Steinwerkzeugen im Departement Dordogue
ausgegraben wurden und unter die altesten Instrumente gerechnet
werden miisseu, gebeu keine sehr tiefen Tone.
Doch ware dies Bedenken vielleicht nicht uniiberwindlich. Da
wir nicht wissen, worin die Disposition fiir Verschmelzungen be-
stebt, bleibt auch die Mdglichkeit, dass durch Quinten in beliebiger
Tonregion die Disposition fur Quinten iiberhaupt oder doch inncr-
halb eines weiteren Tonbezirkes erzeugt wiirde. Aber auch wenn man
diese Annahme nicht macht, liesse sich auf einen besonderen Factor
hinweisen, durch welchen auch fiir die Tiefe die entsprechenden
Dispositionen bewirkt werden konnten: auf die Differenztone. Nohmen
218 § -0. (jbcr die Ursache dcr T onverschmelzung.
wir an, dass schou in ciner vorhistorischen Epoche gleichzeitige
Quintcn odcr klcincrc Intervallc gcbraucbt wurdcn (was kcincswcgs
mit „harnionisclicr Musik" zu vcrwcchseln und nicht ohnc alle
Analogien mit gegenwartigen exotischcn Musikzustanden ware) und
dass die musikalisclie Entwickeluug in dci- hoheren Region begann,
so mussten Diffcrcnztone erster und bcibcrer Ordnung cntstebcn,
wclchc crheblich tiefer lagen und den kleinereu ganzeu Zahlen
entsiiracbcn. Sogar Untertdne eines einzelnen Tones, welchc dcr
durcb klcinc ganze Zahlen dividirten ScbwingungszabI dieses Tones
entsprechen, konnteu mit in Betracht gezogcn werden. Obgleieh
sie in der Empfindung, wie wir alsbald ausfuLren werden, nicbt
vorhanden zu sein scheinen, konnten sie doch als unter der Em-
ptindungsscbwelle bleibende Erregungeu des Hurnerven pbysische
Dispositionen erzeugen belfen.
Eiuc andere Schwierigkeit lage darin, dass in den allcrboch-
sten Regionen anscheinend keine Verscbmclzungsunterscbiede statt-
finden (o. 136). Man musste sagen, diese Tone seien doch selbst
fiir die Urzeit zu hoch gewesen, um die Wirkuug ihres Zusam-
menklingens dem Ohr stark genug eiuzupragen.
Aber das Alles siud vage Vermutuiigen, auf die ich cben-
sowenig wie auf die iiber Entwickelung des Gchors von oben
nach unten ein Gewicht legen mochte. Wie alle Hypothesen
liber Urgeschichte der Organismen rulit auch diesc auf zu
viclen vorliiufig uncoutrolirbarcii Tcilliypothesen. Ich balte es
fast fiir zu viel gesagt, wenn wir sie auch nur cine Hypothese
neunen. Als eine Idee mag man sie gelten lassen. Wir haben
sie auch fiir die weiteren Untersuchungen in diesem Werke
nicbt notig.
Konnen wir nun also das Phanomen der Verschmelzung
rlickwarts in seine Ursachen nicht weiter verfolgen, so konnen
wir dies doch um so besser und reichlicber nach vorwiirts,
nach seinen Wirkungen. Es dient als Erklarungsgrund fiir
zahllose Ersclicinungen des Tonurteils und Tongefiihls. Fast
in alien folgenden Untersuchungen werden wir es unter den vor-
nehmsten Bcdinguugen der zu erkliirenden Tatsacben wieder-
lindcn.
§ 21. Aualysiren u. Heraushoren b. ungleich. Sttirkc d. Klangteile. 219
§ 21. Analysircn und Heraushoren bci ungleichor
Starke der Klangteile.
Ausgehond vom Problem der Analyse Avaren wir auf die Ver-
schmelzung gefiihrt wordon, als auf eincn der entsclieidendsten
Umstande, von denen die Analyse abhangt. Wir ziehen nun
einen weiteron Umstand in genauere Botrachtung, das Intensitlits-
verhaltiiis der Tone. Bislier wurde im Allgomeinen gleichc Starke
der Klangelemente vorausgesetzt. Jotzt fassen wir die Folgen in's
Auge, die sich an ungleiche Starke kniipfen, wobei wir ausser
dem Analysiren im engston Sinn (Gewalirwerden ciner Ton-
mehrheit als solchcr) aucli das besondere Wahrnelmien ein-
zclncr Telle im Ganzen, speciell das Heraushoren von Ober-
tonen und Combinationstonen untersuchen.
Unter der Starke verstohon wir im Folgcnden, wo niclits
Anderes bemerkt ist, die Empfinduugsstarke, wie sic erschoint,
wenn jeder der bczUglichen Tone bei unveranderter Reizstarke
allein erklingt. (Dass es niclit schlechthin unmoglich ist, bei
Tonen verschiedener Hohe zu sagen, ob sio gloiche oder un-
gleiche Starke fiir unsre Empfindung besitzen, wurde I 348
erwahnt; und wenn es sich, wie hier, nur um grobere Stiirke-
unterschiede handelt, so ist das Urteil audi leicht und zuver-
liissig genug.) Bei den Obertonen und Combinationstonen ist
diejenige Empfinduugsstarke gemeint, welche sie als selbstandig
erzeugte Tone von entsprechender Reizstarke haben wlirdcn.
Mit diesen Definitionen soil natiirlich nicht gesagt sein,
dass ein Ton seine Empfinduugsstarke unverandert beibehiilt,
wenn or mit unveranderter physikalischer Intensitiit in einen
Zusammenklang eintritt. Es soil nur unsre Frage: „In welch er
Weisc ist die Analyse eines Klanges oder Zusammenklanges ab-
hangig von der Starke der Componenten?" naher dahin be-
stimmt werden: „Wenn zwei verschiedene Tone, deren Intensi-
tiit beim isolirten Erklingen entschieden ungleich crscheint, mit
unveranderter physikalischer Intensitat zusammenklingen, was
220 § 21- Analysiren unci Heraushoren
ergibt sich danii erfahrungsgemass hinsichtlich fler Leichtigkeit
oder Moglichkeit der Analyse?"
1. Intensitatsschwelle.
Durcb ungleiche Starke wird, wie Jeder weiss, die Analyse
und das Heraushoren des schwacheren Tones erschwert. Man
nimmt dann hiiufig nur Einen, den starkeren, Ton wahr. Den
Grund davon darf man scbwerlicli in dem psychologischen Prin-
cip suchen, wonach ein Verhaltnis zweier Elemente (hier ihre
Mehrheit) um so besser erkannt wird, je mehr sie in alien iibrigen
Beziebungen sich der Gleicbbeit nabern. Rein psycbologisch
konnte ja Einer aucli umgekebrt scbliesseu, dass durcb den
Gegensatz in der Starke beide Tone, auch der schwacbere, erst
recbt deutlich bervortreten miissten. Aucb baben wir gesehen,
dass man das erste Princip nicht unterscbiedslos auf alle Falle
anwenden kann (S. 60 f.). Ebensowenig wird man daran denken
diirfen, etwa die Unterscbiede der tJbung verantwortlicb zu
macben, insofern bei Accorden, auf welcbe sich die analysirende
Tiitigkeit besonders erstreckt, die Componenten von glcicber
Starke zu sein pflegen.
Die Hauptrolle spielen vielmebr sicberlicb aucb bier rein
pbysiologische Ursacben. Gleicbzeitige akustische Nervenprocesse
bccintracbtigen gegenseitig ibre Intensitat, wo von wir Naberes
boren werden, wenn wir die Intensitatsurteile liber analysirte
Tone bebaudeln (§ 26). Daber kommt es, dass der scbwiicbore,
der nun fiir die Empfindung nocb scbwacber ausfallt, als es
seiner Reizstarke bei isolirtem Erklingen entspracbe, leicbt iiber-
bort werden kann.
Nicbt bios erscbwert aber Starkeverscbiedenbeit die Ana-
lyse und das Heraushoren, sondern macht sic zuletzt bei einem
gewissen Betrag ganz unmoglicb. Auch fiir das feinste Ohr
tritt eine Grenze ein, wo durcb keine Anstrengung mehr die
Unterscheidung des schwacheren neben dem starkeren Ton ge-
lingt, obgleicb der schwacbere, fiir sich allein erklingend, hor-
bar sein kann. Diese „Unterdriickung", die sich aucb Gerau-
schen gegeniiber findct, ist fiir die Musik von hochstem Werte.
Miissten wir ja sonst schon durcb die unvermeidlichen inneren
bei ungleicher Starke der Klangteile. 221
Ohrgerausche und die subjective Nachdauer der Tonempfin-
dungen ebenso belastigt werden, wie wir es durch das objective
Nachklingen eines schlecht dampfenden Claviers wirklicli werden.
Auch in den pathologischen Fallen des „Doppeltliorens"
(I 266) findet solche Unterdriickung statt, weiin der erliohte
oder -vertiefte Ton des kranken Ohres zugleich bedeutend
scbwacher ist. Als Wittich die Gabel auf den Schadel setzte,
gab sie h^ oder a^, je nachdem sie dem kranken (hoher horen-
den) Ohr niiher oder ferner lag. Ebenso bemerkte E. H. Weber
am Clavier keinen Doppelton, auch nicht, wenn er das eine oder
andere Ohr zuhielt.^) Nur wenn er eine Gabel ausschliesslich
zuerst dem einen, dann dem anderen Ohr bot, zeigte sich der
Unterschied.
Verschwindet nun der viel schwachere Ton iiberhaupt aus
dem Empfindungsinhalt oder nur aus der Wahrnehmung? Der
^) Der Claviertoa wird eben durch das Zuhalten der Ohren so we-
nig geschwacht, dass selbst das Zuhalten des gesunden Ohres nicht ge-
nixgte, um den Pseudoton gegenuber dem gleichzeitigen Normalton her-
vortreten zu lassen. Weber deutet die Unterdriickung dahin, dass die
Aufmerksamkeit dem gesunden Ohr allein zugewandt sei, ahnlich wie
Schielende haufig das Schielauge ignoriren. Allein eine gewohnheits-
massige Vernachlassigung konnte sich bei ihm doch noch nicht ausge-
bildet haben, und so ware nicht begreiflich, warum es seiner Beob-
achtung nicht hatte gelingen sollen, den Pseudoton neben dem Normal-
ton zu entdecken, wenn jener nicht sehr schwach gewesen ware.
Was Wittich noch erwahnt: dass die Gabel sich doch immer zu-
letzt nach b^ gezogen babe, auch wenn sie dem gesunden Ohr naher
lag, — dies hangt wol nicht mit der Verstimmung des kranken Ohres
zusammen , sondern mit der allgemein zu beobachtenden Erhohung aus-
schwingender Gabeln (I 242, 255).
Die im Text erwahnte Beobachtung Wittich's habe ich kiirzlich
bei einem nach Paracentese des linken Trommelfells eingetretenen Doii-
pelthoren an mir selb.st bestatigen konnen (nicht so diejenige Weber's,
da ich den Doppelton auch am Clavier vernahm). Doch schien mir
ausser der Nahe der Stimmgabel am gesunden oder kranken Ohr auch
die Beschaffenheit der beziiglichen Kopfstelle von Einfluss, jenachdem
sie der Knochenleitung in's kranke Ohr hinuber mehr oder weniger
gtiustig war. Es gab Stellen ganz in der Nahe des gesunden Ohres, wo
gleichwol der Pseudoton entstand, wahrend unmittelbar daneben aufge-
setzt die Gabel wieder den Normalton horen liess.
222 § 21. Analysiren unci Heraushoren
Umstaiifl, class er bei Beseitigung des starkeren wieder hervor-
tritt, liesse sicli mit beiden Auffassungen vereinigen. Nur aus
theoretischen Griinden glaube ich aimehmen zu miissen, dass
l)ei fortgesetzter Abnalime der physikalisclien Tonstarke zuerst
die Wahrnehmung, danu aber audi die Empfindung wegfallt.
Vorerst ist es ein falsches Princip, dass Alles, was im Em-
pfinduiigsinlialt vorhanden ist, bei gehoriger Aufmerksamkeit
wahrnelimbar sein miisste, Es gibt unbemerkbare Empfin-
dungen und Empfindungsunterschiede ^), und so wird es auch
V) I 33. Das dort gegebene Argument ist von Sully (Mind. Oct,
1884 p. 600) und Natorp (Gotting. gel. Anz. 1886 S. 149) bestritten wor-
den. Das iibereinstimmende Urteil dieser beiden Eecensenten kann ich
nicht unbeachtet lassen. Freilich muss es schlecht stehen um die Phi-
losophic, wenn iiber so einfache und handgreifliche Folgerungen noch
Streit moglich ist. Ich habe dieselben daher wieder und wieder gepriift,
kann sie aber nicht anders als voUkommen zwingend finden.
Nehmen wir an, zwei Empfindungen, die nicht von einander unter-
schieden warden konnen, seien einander allemal gleich. d sei eine Diflfe-
renz der Schwingungszahl, bei welcher zwei Tone nicht mehr unterschie-
den werden. Diese Differenz wollen wir der Einfachheit halber zunachst
im ganzen Tonreich als dieselbe annehmen. Dann sind also die zwei
Tonempfindungen, welche den Schwingungszahlen a und a -{- 6 ent-
sprechen, einander gleich; aber auch die, welche a -\- 6 und 0 + 2^,
a-\-2d und a -{-3 6 entsprechen, u. s. f. Also ist auch die Tonempfin-
dung bei a gleich der bei a + nd, kurz alle Tonempfindungen sind ein-
ander gleich.
Die Folgerung verandert sich nicht, wenn wir die Inconstanz des
Schwellenwertes mitberiicksichtigen. Sind 6, rf,, 6.^, 6^ .... aufeinander-
folgende Schwellenwerte bei zunehmender Schwingungszahl, so werden
die Empfindungen bei a, a -j- 6, a -\- di -{- 6^ u. s. f. bis a -j~ ^ + '^i "f" • • • • ^"
sammtlich einander gleich.
Kurz und allgemein: Welches auch der Schwellenwert in jedera
Falle sein mag, wenn die Empfindungen A und B, B und C, C und D
.... eben nicht mehr unterscheidbar sind und wenn nicht mehr unter-
scheidbare Empfindungen allemal einander gleich sind, so ist eben
A = B =- C^ D . . . . Man sieht, ich kann Nichts tun, als das Argument
wiederholen, denn es ist genau dasselbe wie I 33.
Stjlly nennt das Argument ,,thc puzzle, with wich the author, show-
ing an excess of ingenuity not unprecedented in his writings, perplexes
his imwary reader", und meint es durch Hinweis auf die Tatsache,
bei nngleicher Starke der Klangteile. 223
eine Schwelle der Analysirbarkeit fiir gleichzeitige verschie-
den starke Empfindungeu geben. Bleibt ein Ton gleich stark,
wahrend der andere abiiimmt, so sinkt der letztere zuniichst un-
ter diese Wahrnehmungsscbwelle. Aber es muss auch eine
Schwelle der Empfindbarkeit, kiirzer Empfindungsschwelle,
fiir den schwacheren Ton geben, wenn auders der abtragliche
Einfluss, den wir annehmen, ein physiologischer ist. Es muss
ein Punct kommen, bei welchem der starkere physiologische
Process den schwacheren iiberhaupt ausloscht. Natiirlich ist
aber nicht diese, sondern nur die erste Schwelle durch psycho-
physische Versuche feststellbar.
Vgl. I 379 f. iiber Empfindungs- und Wahrnehmungsschwelle
bei isolirten Tonen. Es wurde I 400 auch bereits bemerkt, dass
die Wahruehmung schwachster isolirter Tone eigentlich schon eine
Unterscheidung derselben von den gleichzeitigen inneren Gerauschen
ist, wenn anders solche ununterbrocben stattfinden. Aber da wir
als Mass der Schwelle immer den Unterschied der ausseren Reize
im Auge haben, durcb welcbe Empfindungen erzeugt werden, so
miissen wir jene inneren Gerausche beim Schwellenbegriff ignoriren
und bei der Feststellung der Schwelle sowol fiir isolirte wie gleich-
zeitig verbundene Tone sie als constant und nicbt iiber die nor-
male Starke hinausgehend voraussetzen. Unter dieser Voraussetzung
bleibt ein begrifflicher und experimenteller Unterschied zwischen
der Schwelle fiir isolirte und derjenigen fiir gleichzeitige Gehors-
empfindungen bestehen. Ausserdem natiirlich auch ein Unterschied
dass die Wahrnehmung eines Unterschiedes ausser gewissen inneren Be-
dingungen auch einen gewissen Reizunterschied voraussetze, zu losen.
Die Frage ist aber nicht, ob jeder Reizunterschied, sondern ob jeder
Empfindungsunterschied bemerkt werde, und ich hatte gewiinscht, dass
Sully seinen Angriff in scholastischer Weise specificirt hatte.
Wie es einen Unterschied machen soil, ob von Gleichheit in quali-
tativer, intensiver oder quantitativer Hinsicht die Rede ist, vermag
ich nicht einzusehen. Wenn Natoep zu behaupten scheint, dass bei
Qnalitaten der Begriff Gleichheit iiberhaupt keinen Sinn babe (vgl.
jetzt auch seine „Einleitung in die Psychologie" 1888 S. 84), so ist mir
eben diese Behauptung selbst ganz unverstiindlich.
224 § 21. Analysiren unci Heraushoren
zwischen dor Schwelle von Tonen gegentiber gleichzeitigen Tonen
und gegentiber gleichzeitigen Gerauschen.
Fechner nannte die Schwelle von Tonen gegentiber gleich-
zeitigen Gerauschen, uberhaupt von Empfindungen gegentiber gleich-
zeitigen ungleichartigen Empfindungen „Mischungsschwelle" (In
Sachen d. Ps. 106, Revis. 179). Vielleicht ware es besser, diesen
Oder einen verwandten kurzen Ausdruck fur die Schwelle gleich-
zeitiger Empfindungen tiberhaupt zu gebraucheu.
Spater werden wir noch in anderer Beziehuug eine Empfin-
dungs- und eine Wahruehmungsschwelle gleichzeitiger Tone kenuen
lernen: da bei Annaherung zweier Tone hinsichtlich ihrer Hohe
ebenfalls ein Punct kommen muss, wo sie nicht mehr unterschieden
werden, und ein Punct, wo sie tiberhaupt nicht mehr zwei, sondern
Eine Empfindung sind. Wir konnen dies die qualitative gegentiber
der intensiven Schwelle nennen.
Nehmen wir an, die intensive Schwelle eines Tones von
bestimmter Hohe gegentiber einem gleichzeitigen anderen Ton
von bestimmter Hohe und Starke sei durch den Versuch ge-
funden, also diejenige Differenz ihrer physikalischen Intensitaten
angegeben, bei welcher der schwachere vor dera stiirkeren eben
verschwindet (bez. eben nocli wahniehmbar ist): so wird sich
weiter fragen, wie sich die Schw-elle verhalt, wenn wir
bei unveranderter Hohe beider Tone deren absolute
Starke verandern. Bleibt etwa in solchem Fall der Ton
eben nicht mebr (bez. eben noch) heraushorbar, wenn das Ver-
bal tnis ihrer physikalischen Intensitaten dasselbe bleibt? Dies
wiirde der Formel des WEBER'schen Gesetzes entsprechen.
Empirisch ist zunachst bekannt, dass man die Stimme urn so
mehr anstrengen muss, um eben vernommen zu werden, je
grosser der Larm ist. Dabei konnte indes audi die Dififerenz
der physikalischen Intensitaten, nicht das Verhaltnis, dasselbe
bleiben. Denn auch um das gleiche Plus von Intensitat her-
zustellen, muss ich natiirlich starker singen, wenn der Larm
grosser ist.
Alfred Mayer, dessen Untersuchungen wir I 212 und II 102
erwahnten, hat auch dieser Frage eine experimentelle Studio
bei nngleicher Starke der Klangteile. 225
gewidmet^) und zu finden geglaubt, dass die Inteusitat des
verdrangenden Tons immer etwa dreimal so gross sein miisse,
wie die des verdrangten. Dabei mass er die Intensitat durch
Aufsuchung derjenigen Entfernung, in welcher der beziigliche
Ton, fiir sich allein angegeben, eben verschwand. UnterVoraus-
setzung der Intensitatsabnahme mit dem Quadrat der Entfernung
berechnete er aus dem Verhaltnis der gefundenen Entfernungen
das Intensitatsverhaltnis der Tone bei gleicher Entfernung.
Hienacb ware also in der Tat das Verhaltnis, nicht die
Differenz der pbysikalisclien Intensitaten constant, wenn ein
Ton den anderen eben unterdriickt. Allein es ist nicht denk-
bar, dass es Ein solches constantes Verhaltnis gabe, gleichviel
welche Tone man nahme. Wenn der eine Ton die Octave des
anderen ist, muss er eine andere Schwelle haben, als wenn er
der Tritonus ist; ausserdem spielen wahrscheinlicherweise noch
andere Umstande mit (Hohendistanz, Tonregion, s. u.). Die
Nichtberiicksichtigung dieser Umstande und besonders der Ver-
schmelzuugsstufen, deren Einfluss hier ganz zweifellos ist, lassen
jenes Versuchsergebnis selbst zweifelhaft und die Versuche
nur von provisorischem Wert erscheinen.^)
Ein interessantes Ziel bei weiterer Verfolgung derselben,
welches auch Mayer bereits angedeutet hat, ware die Einrich-
tung eines Phonometers nach Art des Photometers. Wir
konnten diejenigen Tone als gleichstarke definiren, deren jeder
eiuen gleichbleibenden dritten eben zu verdrangen vermag.
Eine Definition der Empfindungsstarke ware dies nicht, aber
eine Definition der physiologischen Starke; wenn anders
das, was wir hier als Verdrangung oder Unterdriickung be-
zeichnen, ein physiologischer Process ist. Aber auch eine De-
*) American Journal of Science and Arts, Vol. XII, Nov. 1876,
p. 329. Auch im Philos. Magazine 1876 No. XIV. Suppl. p. 500.
^) Nachdem auf Anregungen von Kundt fiir einzelne Falle durch
Dvorak und in allgemeinerem Umfang durch A. Raps eine Messungs-
methode fiir physikalische Tonstarken ausgebildet ist (Wiedem. Ann.
Bd. 36, 1889, S. 273 f.), ware es nun wol moglich, die obigen Versuche
exacter durchzufuhren.
Stumpf, Tonpsychologie. II. 15
226 § 21. Analysiren und Heraushoren
finition dieser physiologischen Tonstarke ware wertvoU, da sie
zum Unterschied von der bios physikalischen in directester
Beziehung zur Empfindungsstarke steht.
Wenn iibrigens die WEBER'sche Formel sich in der er-
wahnten Frage anwendbar fande, so wiirden wir es doch keines-
wegs wirklich mit dem WEBER'schen Gesetze selbst hier zu
tun haben. Dieses berubt auf der Fragestellung: „Sind zwei
Empfindungen einander gleicb oder nicht?" Dass sie zwei sind,
steht fest. Hier dagegen bandelt sich's um die Frage, ob
Uberhaupt zwei Tone wahrgenommen werden oder nur Einer.
Spricht man beide Male von „Unterscheidung", so wird eben
dieses Wort in doppeltem Sinn gebraucht. Moglich ware es
ja, dass die Analyse im letzteren und das Ungleicbheitsurteil
im ersteren Fall den namlichen oder analogen Bedingungen
(physischen wie psychischen) unterlagen und darum die gleiche
Formel lieferten; aber sicber ist dies gar nicht, und die Materien
sind einstweilen auseinanderzuhalten.
Es ist auch noch eine veranderte Fragestellung in dieser
Sache moglich. Statt die physikalischen Tonstarken zu messen,
bei welchen Unterdriickung stattfindet, konnen wir auch die
Empfindungsstarken selbst, genauer ihre Distanzen, messen.
Wir wissen aus § 15, dass Distanzen von Empfindungsstarken
als gleich oder ungleich erkannt und mit Beziehung darauf auch
von einer doppelten, dreifachen Empfindungsstarke gesprochen
werden kann. Es konnten darum die beiden Tone, deren einer
den anderen bei gleichzeitigem Erklingen unterdriickt, jedesmal
auch isolirt in Hinsicht ihrer Starke verglichen und konnte
untersucht werden, ob etwa eine solche Unterdriickung jedesmal
bei gleicher Starkedistanz stattfindo. Welches Resultat sich
auch hier ergeben mochte: von einem „psychophysischen" Gesetz
wiirde nun voUends nicht mehr die Rede sein. Der Schwellen-
wert ware in Empfindungsmassen (genauer Empfindungsdistanz-
massen) selbst angegeben.
Weiter konnte sich die Untersuchung auf den Schwellen-
wert, zunachst den physikalischen, bei Concurrenz eines Tons
mit zwei oder mehr gleichzeitigen starkeren Tonen richten.
bei ungleicher Starke der Klangteile. 227
Eine Formel ware denkbar, welclie alle Falle iiberhaupt um-
fasste, in denen ein Ton von gegebener Hohe durch eine be-
stimmte Zabl anderer Tone von gegebener Hohe unterdriickt
wiirde. Freilich ist zu bezweifeln, ob ein so miihsames Unter-
nehmen sich lohnte. Doch gewahrt es in diesen Dingen schon
eine gewisse Befriedigung, die moglichen Ziele in's Auge zu
fassen, die moglichen Fragen bestimmt auszusprechen.
Wir haben bisher zwei (oder mehr) Tone von bestimmter
unveranderter Hohe vorausgesetzt. Verandern wir nun die
relative oder absolute Hohe zweier gegebener Tone von
ungleicher Starke, so ist wiederum die Frage, ob der Inten-
sitats-Schwellenwert derselbe bleibt.
Wir erwahnten schon, dass der Verschmelzungsgrad ganz be-
trachtliche Unterschiede im Schwellenwert bedingt; dieser liegt
entschieden um so niedriger, je weniger die beiden Tone ver-
schmelzen.
Es konnte aber weiter auch einen Unterschied machen,
ob der starkere Ton iiber oder unter dem schwacheren
liegt. A. Mayek stellt in dieser Hinsicht die nierkwiirdige
Behauptung auf (a. a. 0.), dass durch tiefere Tone wol hohere
verdrangt wlirden, nicht aber umgekehrt.
Dies scheint mir, so extrem ausgesprochen, jedenfalls un-
richtig. Es widerstreitet alltaglichen Erfahrungen und lasst
sich durch Versuche leicht widerlegen. Das Summen einer
tiefen Gabel ist neben dem schreienden Accord hoher Zungen-
pfeifen oder Trompeten, Ja neben einer einzelnen, unhorbar.
Halte ich eine im Ausschwingen begriifene aber noch gut hor-
bare 0- Gabel vor das linke Ohr, welchem ich dann eine F-
Gabel periodisch nahere, so verschwindet das C und kommt
wieder, jenachdem die i^- Gabel nah oder fern, stark oder
schwach ist. C wird also durch den hoheren Ton bei einer
gewissen Starke desselben unterdriickt. Ahnliches ergibt sich
bei einer Fis- und einer ^-Gabel, die also mehr als eine Octave
zwischen sich haben. Hier bemerke ich, wenn die jP«s- Gabel
vor das Ohr gehalten und die ^- Gabel aus der Feme immer
naher gebracht wird, vier Stadien, Zuerst ist nur Fis horbar;
15=^
228 § 21. Analysiren und Heraushoren
dann fangt es an zu schweben (der Oberton fis scbwebt mit
g), ohne dass g schon fiir sich horbar ware; dann vernehme
ich beide Tone; endlich, wenn g vor dem Ohr und demselben
noch naher ist als Fis, verscbwindet der tiefe Ton vor dem
hoheren. Bei C und c, C und g, c und c^ ist das zweite
Stadium statt durch Schwebungen durch eine geringe Verstark-
ung und eine bedeutende Erhellung des tiefen Tones charak-
terisirt (vergl. § 23, 2, b), im tlbrigen aber die Erscheinung
die namliche.^)
Soviel jedoch scheint rich tig, dass der bohere Ton ein
grosseres Ubergewicbt an Empfindungsstarke besitzen
muss, um den tieferen zuzudecken als umgekehrt. Man
kann bei den Gabelversuchen viel leichter fiir die hohere Gabel
einen Punct finden, wo sie bei allmaliger Entfernuug un-
wahrnehmbar wird, als fiir die tiefere; vorausgesetzt, dass der
verscbwindende Gabelton, fiir sich allein gehort, doch noch
wahrnehmbar sein soil. Und wenn man dann die unterdriickende
Gabel beseitigt und den nunmehr wahrnehmbaren Ton in Be-
zug auf seine Starke priift, hat man den Eindruck, dass sie
im ersten Fall grosser ist als im zweiten. Tiefe Tone werden
also bei geringerer Empfindungsstarke durch hohe hindurchge-
hort als hohe durch tiefe. Wie es sich in dieser Beziehung
mit der physikalischen Starke verhalt, ware noch zu untersuchen.
Erst durch Vergleichung derselben waren auch genaue Mass-
bestimmungen zu gewinnen, wiihrend es sich bei den Empfin-
dungsstarken nur um Schatzungen handelt.
Fragen wir nach dem Grunde des eben erwahnten Ver-
haltens, so konnte man an die grossere Ausdehnung tieferer
Tone denken (o, 56). Sie ist zwar nicht eine Ausdehnung im
^) Auch folgende Erscheinung gehort hierher. Wenn ich durch das
Zusammenwirken der drei Zungenpfeifen e^g'^c^ den tiefen Differenzton
C erzeuge, hierauf zu den dreien noch die c^-Pfeife fiige, so hore ich
C jetzt weniger machtig. Nach Mayer mtisste man es noch machtiger
hoien, da es nun auch durch c' miterzeugt wird und einer Verdrangung
nicht unterliegen soil. Aber factisch nimmt eben das hinzukommende
Starke c^ dem C mehr an Starke, als es ihm durch seine Verbindung
mit den ubrigen primaren Tdnen zubringen wilrde.
bei ungleicher Starke der Klangteile. 229
optischen Sinne und darum das relative Hervortreten der tiefeii
Tone auch nicht selbstverstandlicb. Aber sie ist doch eiii
Moment, welches eincr Steigerung unterliegt und zwar von den
hobeu nacb den tiefen Tonen zu. Darum konnte grossere Aus-
dehnung wie grossere lutensitat wirken, als Aequivalent der-
selben, in einem fiir das Heraushoren giinstigen Sinne.
Docb. bleibt audi denkbar, dass der Grund in jener Wechsel-
wirkung gleicbzeitiger Tone (bez. der entspreclienden pbysio-
logischen Processe) Hegt, derzufolge sie sich gegenseitig etwas
von ihrer Starke abziehen. Man miisste annebmen, dass die
tiefen Tone den hohen mebr abzieben, als umgekebrt.
Dass endlich die absolute Hohe (Tonregion) einen be-
deutenden Unterscbied machen muss, dass die Schwelle eine
liohere sein wird , wcim zwei tiefe als wenn zwei mittlere
oder massig bobeTone unter sonst gleicben Umstiinden analysirt
werden soUen, ist nacb Allem, was wir bereits Uber die Unter-
scbiede der Regionen wisseu, nicht zu bezweifeln.
Diese Untersuchungcn verdienen auch auf das Verhaltnis
von Tonen und Gerauschen ausgedehnt zu werden. Hier-
iiber bemerkt Kessel^): „Die drei untersten Octaven, 63 bis c,
werden relativ leichter (von Geriiuscben) iiberdeckt als die
folgenden. Von c bis c^ beeinflussen die Geriiusche die Tone
noch sehr betrachtlich, von c^ aufwiirts schon weit weniger."
Kessel schliesst aus Versuchen, dass die'geringere Empfindungs-
starke der tiefen Tone nicht zur Erklarung dieses Unterscbieds
ausreiche.
2. Wahrnehmung regelmassiger (unselbstandiger)
Beitone im Allgemeinen.
Beitone bieten fiir unsere gegenwartige Betrachtung nur
dann noch weiteren Stoff, wenn sie, wie die Obertone und
Combinationstone, mit einer gewissen Regelmassigkeit Haupt-
tone begleiten. Wir betrachten zuerst das Gemeinsame dieser bei-
den Falle hinsichtlich der Analyse, dann das Besondere eines jeden.
Zuletzt untersucben wir, ob noch andere Beitone mit Regel-
^) Uber das Horen von Tonen und Gerauschen. A. f. 0. XVIII 140.
230 § 21. Analysireu unci Heraushoren
massigkeit in cler Empfindung vorhanden sind (Untertone), und
ob es iiberhaupt ganz einfache Tone gebon kann.
Die Entstehungsweise sowol von Obertonen als Combinations-
tonen bedingt gewisse Erschwerungen oder den Hinwegfall ge-
wisser Erleichterungen fiir das Heraushoren gegeniiber anderen
Zusammenklangen von ungleicher Starke der Telle.
Erstens setzen diese Classen von Boitonen physikalisch exact
mit dem oder den primaren Tonen ein, wahrend sonst bei Zu-
sammenklangen vielfach schon objectiv kleine Zeitunterschiede
im Einsatz der Componenten stattfinden und die Analyse er-
leichtern.
Sodann verandert sicb ihre Starke wahrend der Dauer
des Klanges entweder nicht oder in gloichem Sinne mit der
Starke der primaren Tone, wahrend sonst vielfach selbstandige
Starkeschwankungen der Componenten die Analyse erleichtern.
(Damit soil nicht gesagt sein, dass die regelmiissigen Beitone
in gleichem Maasse wie die Haupttone ab- und zunehmen.
Vielmehr sind in dieser Beziehung in vielen Fallen durch
Anderung des Starkeverhaltnisses Erleichterungen des Heraus-
horens gegeben. Auch sehen wir hier noch ab von der bios
subjectiven Verstarkung von Beitonen, welche als Folge des
Heraushorens eintretcn kann.)
Drittens und hauptsachlich bilden die nachstliegenden und
starkeren Obertone bei fast alien gebrauchlichen Musikinstru-
menten, mid ebenso die Combinationstone bei alien consonanten
Intervallen, mit den beziiglichen Primartonen Octaven, Quinten,
Terzen: also starkere Verschmelzungen.
Viertens sind Obertone und Combinationstone einfache Tone,
jedenfalls die einfachsten, die wir kennen; und da wir es sowol
in der Musik als im Leben fast immer mit zusammengesetzten
Klangen zu tun haben, so ist begreiflich, dass die ungewohnte
Farbung jener Tone ihre Auffindung zunachst erschwert.^)
') In diesem Erklarimgsgrunde wiirde ein Cirkel liegen, wenn er der
einzige ware: wir wiirden dann das Nichtwahrnehmen dieser Beitone
aus dem gewohnheitsmassigen Nichtwahrnehmen derselben erklaren. Da
aber das Letztere noch besondere vorher erwahute Griinde hat, so muss
bei ungleicher Starke der Klangteile. 231
Bei allem Dem mussen wir aber festhalteii, dass Obertone
iind Combinationstone fur die Empfindung und das Bewusstsein
iiberhaupt nicbts weiter siud als erbeblich schwachere Tone
nebeu stiirkeren, und dass die das Heraushoren erscbwerenden
Umstande auch bei selbstandig erzeugten Beitonen hergestellt
werden konneu. Dies ist fiir die spateren Frageu nach ihrer
Bedeutuug fiir die Consonanz u. s. f. von Wichtigkeit.
3. Specielles iiber Wahrnehmung von Obertonen.
Man bat an den Obertonen verwunderlicb gefunden die
im Vergleicb mit der berecbneten physikaliscben Starke zu
geringe Empfindungsstarke, die sie fiir den, der sie berausbort,
zu baben scbeinen; sodann die besondere Scbwierigkeit und die
ausserordentbcben individuellen Unterscbiede in Hinsicbt des
Herausborens.
Die zu geringe Starke erklart sicb, wie ich meine, hin-
reicbend aus dem scbon mebrfacb erwabnten Umstande, dass
gleicbzeitige Tone iiberbaupt sicb scbwacben. Wenn aucb der
absolute Starkeverlust der scbwiicberen dabei vielleicbt nicbt
grosser ist als der der starkeren, so werden sie docb jedenfalls
eine grossere scbeinbare Einbusse erleiden. Dasselbe gilt, wie
es scheint, fiir bobere Tone gegeniiber tieferen (s. o.). Am
Meisten also werden scbwiicbere bobere Tone neben starkeren
tieferen beeintracbtigt sein.
Die Scbwierigkeiten des Herausborens aber sind vor alien
Dingen stark iibertrieben worden. Man findet in vielen Scbriften
Ausserungen, als ob es fiir Laien in der Akustik unmoglich
und iiberbaupt nur fiir wenige Menscben moglicb ware, obne
Resonatoren Obertone zu vernebmen.^) Icb babe fast immer
allerdings die so entstehende Gewohnung an die scharferen Klangfarben
die Scbwierigkeit noch vergrossern; wenn auch nur solange, als Einer
nicbt scbon binreicbend oft einfacbere Tone gebort und sicb mit ibrer
Farbe vertraut gemacht hat.
^) WuNDT bebauptet einmal (Logik I 14): ,,Die Obertone werden nicbt
bios schwacber empfunden, sondern sie werden als gesonderte Tonboben
iiberbaupt erst in Folge der Einfuhrung besonderer Versuchsbedinguugeu
empfunden". Auch G. E. Muller sagt scbon zu Viel (Sinnl. Aufmerks.
18 und 20): „Es gelingt nur Wenigen bei angestrengter Aufmerksam-
232 § 21. Analysiren und Heraushoren
gefunden, dass es Menschen olme besondere musikalische Be-
gabung und ohne jegliche akustische tJbung iiach kurzer Zeit
gelang; besonders allerdings, wenn ihnen in den ersten Fallen
die beziiglichen Teiltone vorher angegeben wurden, aber auch
gelegentlicli ohne dieses Hilfsmittel. Selbst der ganz unmusi-
kalische Dr. K. (I 314 — 15) horte bei tiefen Claviertonen Ober-
tone und wusste dieselben durcli Singen richtig anzugeben, in-
dem er sie nur in eine fiir seine Stimme zugaugliche oder be-
quemere Octave transponirte; so sang er bei A^: cis und e, bei
E^: e und h, ferner cis (womit wabrscheinlich der etwas zu
tief intonirte 7. Teilton gemeint war, der zwiscben cis^ und d^
liegt). Es kann sogar gescbehen, dass ein Oberton einmal eher
von einem Unmusikaliscben als eiuem Musikalischen vernommen
wird. Unmusikalischo bemerken auch verhaltnismassig leicht
Scbwebungen und sonstige Nebenerscbeinungen (Reibungsge-
rausch beim Violinspiel u. dgl.), weil ihre Aufmerksamkeit we-
niger durcb das musikalisch Wesentlicbe, die Qualitat der Haupt-
tone und den (wirklichen oder auch bios gedacbten) Zusammen-
hang abgezogen wird. So kann es ja einem Musiker aucb
begegnen, dass er, von dem Gebalt eines Stiickes in Anspruch
genommen, technische Unvollkommenheiten der Ausfiihrung iiber-
hort, die selbst dem Laien auffallen.
Fast allgemein aber wurden bei den bisherigen Betrach-
tungen ilber das Heraushoren der Obertone iibersehen die star-
ken Unterschiede der Falle je uach der Ordnungszahl
des Teiltons; mit anderen Worten und genauer: je nach der
Verschmelzung desselben mit dem Grundton. Die nachst-
liegenden und bei voller Klangfarbe starksten Obertone sind
Octave und Duodecime (Quinte der Octave). Diese, zumal die
Octave, sind aber nicht bios im Verhaltnis zu ihrer Starke,
sondern in der Kegel schlechtweg am schwersten herauszuhoren.
keit die Obertone zu vernelimen." Auch die Behauptung, dass die
Menschen „bis auf die neueste Zeit nichts von Obertonen gewusst haben''
(das.), ist ein Irrtum. Sie sind mindestens seit den Zeiten des Cartesius
bekannt. Vgl. dessen Musicae Compendium (verfasst 1618) p. 19, Epistolae
P. II ep. 68; ferner was wir unten 235 iiber Meksenne sagen.
bei ungleicher Starke der Klangteile. 233
Wenn Ungoiibte die Octavo selbst bei gleicher Starke mit dam
Grundton von diesem nur schwer unterscheiden , so begreift
sich, dass sie bei geringerer Starke vollig ununterscheidbar
wird. Sie bietet daim auch fiir musikalisch und akustisch
Geiibte solche Schwierigkeit, dass ausgezeichnete Beobacbter
bei Stimmgabehi das Vorbandensein harmonischer Obertone
einschliesslich der Octave und Duodecime geleugnet oder sie
nur durcb kiinstlicbe Mittel fiir nachweisbar erkliirt baben.^)
^) Henrici Pogg. Ann. Bd. 58 S. 265 (horte mit blossem Ohr meist
einen ganzen Septimenaccord, darin die Duodecime oder deren hohero
Octave, aber nicht die Octave des Grundtons). Dove das. Bd. 115, S. 650
(keine Spur der Octave; nur bei Schwebungen der Gabel mit einer
anderen hervortretend). Helmholtz Tonempf. * 94, 119—121, 263 (nur
bei sehr starkem Anschlag Spuren harmonischer Obertone mit Resona-
toren horbar). Dagegen schwingen bei gestricheuen Gabelu nach Preyer
Akust. Unters. 15 — 17 Secundargabeln auf Resouanzkasten, welche die 4
ersten harmonischen Teiltone geben, stark mit. R. Konig (Wied. Ann.
XII 337) wiederum konnte bei einer c- Gabel mit sehr dicken Zinken
nicht die geringste Spur eines Obertons auffinden. Die Obertone seien
abhangig von der Dicke der Zinken.
Was Konict bier sagt, erklart mauche Differenz der Angaben; wie
es auch einen Unterschied macht, ob man eine Gabel anschlagt oder
streicht, ob sie auf Resouanzkasten oder frei schwingt u. A.
Ich habe bei manchen freischwingenden Gabeln die Duodecime leicht
mit blossem Ohr wahrgenommen, die Octave mit einiger Mtihe. Bei
einer c-Gabel auf Resonanzkasten konnte ich selbst mit Resonatoren
weder c' noch g^ vi^ahrnehmen , wie stark jene auch gestrichen wurde.
Ebenso bei c' weder c^ noch g'^. Dagegen kann man auch hier durch
Hilfsgabeln von der Hohe des gesuchten Obertons, welche gleichfalls
auf Resonanzkasten befestigt sind, Obertone noch objectiv nachweisen.
Ich finde Preyer's Angaben in dieser Hinsicht bestatigt. Wenn ich die
Hilfsgabel in den Resonanzraum der gestrichenen Primargabel halte,
dann letztere dampfe und den Kasten der Hilfsgabel dicht an's Ohr
bringe, so hore ich diese Gabel leise tonen. Gabeln von anderer Ton-
hohe bleiben vollkommen still. (Preyer stellte den einen Kasten auf
den anderen, wobei die aufgesetzte Gabel viel starker mitklingt, aber
auch der Einwand bleibt, dass nicht Ubertragung durch die Luft sondern
durch die sich beriihrenden Resonanzkasten stattfindet. Preyer hebt
allerdings hervor, dass andere Gabeln auch bei dieser Methode vollig
ruhig blieben. Dies ist aber nicht ganz richtig. Eine &-Gabel z. B.
234 § 21. Analysiren und Heraushoren
Gleichwol zeigen sie sich, unci besonders die Octave, rait iiber-
i-MScbender Intensitat aucb bier vorbanden, sobald man durcb
eine Interferenzrobre, wie sie Quincke (Pogg. 128, S. 177) ange-
geben bat, den Grundton der Gabel ausloscbt. Das Gleicbe gilt
fur die sog. Flageolettone der Streicbinstrumente, welcbe man
f'iir einfacbe Tone zu baltcn geneigt ist, wabrend sie mindestens
nocb ibre bobere Octave mit sicb fiibren ^).
Wo nun aber bobere Teiltone als die genanuten vorbanden
sind, da sind solcbe, obgleicb im Allgemeinen scbwacber als
die tieferen, dennocb oft leicbter als diese wabrzunebmen; be-
sonders der 7. und 9. Teilton, weil diese mit dem Grundton
weniger verscbmelzen als alio vorangebenden. Icb babe dies
biiutig bci Ungeiibten und unzabligemale bei mir selbst beob-
acbtet. Man gebe C auf dem Clavier oder Cello an: fast immer
wird man obne Scbwierigkeit den 7. Teilton {b^, etwas tiefer als
das h^ auf dem Clavier) uud wabrscheinlicb aucb den 9. (d^)
berausboren.
Diese paradoxe Erscbeinung, dass gewisse scbwachere
Gbertone leicbter berauszuboren sind als gewissestarkere,
bildet eine dor auffallendsten Consequenzen der Verscbmelzungs-
verbaltnisse. Sie ist um so lebrreicber in dieser Ricbtung", als
wir es bier mit Verschmelzungen zwiscben einfacben Tonen
wurde durch c auf diesem Wege deutlich zum Tonen gebracht, wenn
auch viel schwacher als eine c^-Gabel.)
Es ist hienach kein Zweifel, dass stark gestrichene auf Resonanz-
kasten steliende Gabeln der kleinen Octave die vier ersten harmouischen
Teiltone (drei ersten Obertone) objectiv euthalten.
Hier sei noch erw^hnt, dass man die hohen unharmonischen Beitone
angeschlagener Gabeln, die sich der Wahrnehmung so sehr aufdrangen
und bei vielen Versuchen ausserst storend wirken, leicht dadurch be-
seitigen kann, dass man die Gabel wahrend des Anschlagens oder un-
mittelbar nachher am unteren Teil der Schenkel anfasst (worauf wol
LucAE zuerst aufmerksam machte) oder, wie dies neuerdings vielfach
gescMeht, ein filr allemal einen Kautschukring an dieser Stelle anbringt
Es geniigt schon, wenn ein solcher Ring an Einem Schenkel sitzt.
^) J. RiTz, Untersuchungen uber die Zusammensetzung der Klange
der Streicbinstrumente, 1883, S. 67.
bei uugleicher Starke der Klangteile. 235
(den Partialtonen) zii tun liaben, ohne class wir solche kiinst-
lich herzustellen genotigt waren.
Die genannten Tatsachen sind als solche iibrigens auch
Andercn niclit ganzlicli entgangen, wenngleich sie niclit auf
ein allgemeineres Princip zuriickgefiihrt wurden. Tartini be-
tont^), dass die Teiltone 2 und 4 als Octaven weniger gut
unterscheidbar seien als 3 und 5. Helmholtz sagt beziiglich
der unharmoniscben Obertone der Stimmgabel (121): „Das
Olir trennt den Grundton leicht von den Obertonen und hat
keine Neigung, beide zu verschmelzen." G. ApI>unn erkliirte
mir miindlich, dass er einen ungeradzahligen Teilton immer
besser hore als den nachst-tieferen geradzahligen, also den
5. Teilton besser als den 4., den 7. besser als den 6., den
9. besser als den 8.^) Dies stimmt voUkommen mit der
Verschmelzungsordnung iiberein; dcnn der 5. ist Terz, der
4. Octave — der 7. Septime, der 6. Quinte — der 9. None, der
8. Octave des Grundtons (abgerechnet die Octavenverdoppel-
ungen).
Schon Meesenne gibt in seiner Harmonie universelle (1636)
an, dass er „nicht bios die Octave und den 15. Ton, sondern auch
den 12. und den grossen 17. bore, und iiber diesen auch noch deu
grossen 23. bemerkt habe". Da Meesenne hier nicht die Teiltone
als solche in unsrer Weise numerirt, sondern die Nummern sich
auf die Reiheufolge der Tone in der diatonischeu Leiter beziehen,
so ist der 12. Ton, wenn wir von C ausgehen, =g, der 15, = c^
der grosse 17. = e^, der grosse 23. = (P. Meesenne hat also den
9. Teilton herausgehort. In den Cogitata physico-mathematica (1644)
werden p. 354—55 der 3. und 5. Teilton angefiihrt.
Nicht uniuteressant ist auch, dass See. Bach in der Trauer-
ode auf die Konigiu Christiane, wo er das Glockengelaute durch
^) De' principj dell' armonia (1767) p. 2.
^) In einem Aufsatz ,,Uber die HELMHOLTz'sche Lehre von den Ton-
empfindungen" (Bericht d. Wetterauischen Gesellschaft f. d. gesammte
Naturkuude zu Hanaii, Jahrg. 1863 — 7) sagt Appunn sogar noch allge-
meiner, dass die ungeradzahligen Obertone 3, 5, 7, 9 u. s. f. deutlicher
zu horen seien als die geradzahligen.
236 § 21- Analysiren udcI Ileraushoren
Oboeu u. s. w, nachahmt, zuletzt audi die Septime zu dem Accord
fiigt {c in D-dur) und sie von da an bestiludig, auch am Schluss noch,
iiiittonen lasst. Offenbar liegt bior cine akustische Beobacbtuug zu
Grunde, wenu auch viclleicht nur indirect an einer Mixtur, deren
Zusammensetzung aber selbst wieder auf Beobachtung gegriindct
sein musste.
Im tJbrigeii sind mauclicrlei Einfliissc zu erwahneu. Schon
die Tageszeit macht eiuen Uuterscbied. Man hort Obertoue
am leichtesten und deutlichstcn in der Nacht^), was nicht bios
auf stillerc Umgcbung, sondcrn wol auch auf giinstigerc Ner-
vendisposition zuriickzufiihren ist.
Ferner ist es vorteilhaft, die Aufmerksamkeit auf Ein Ohr
zu concentrirei), uud wenn es da nicht gliicken will, es mit dem
aiideren zu versucheu. Ja es scheint, dass man in solcheii Fallen
schon unwillkiirlich nach rechts oder links horcht. Man
nimmt dann auch den Oberton in dem betreffenden Ohr locali-
sirt wahr. Nur Obertone von c-^ aufwlirts schienen mir ofters
in der Mitte der Schadeldecke localisirt, uud bci solchen ist es
denn audi niitzlich die Aufmerksamkeit auf diese Schadelgegend
zu lenken. Ferner schliesse ich bei diesen und anderen
akustischen Beobachtungen oft unwillkiirlich die Augen und
halte dies fiir gut.
In gewohnlichen Fallen, l)ei nicht abnormer Starke der
Obertone, ist eine merkliche Zeit zum deutlichen Heraushoren
notwendig, was mit einer durch die Aufmerksamkeit bewirkten
subjectiven Verstarkung der Obertone zusammenhangt, von der
wir im § 22 naher handeln. Bei musikalischen Auffiihrungen,
wo sich die Klange moist zu rasch folgen und die Aufmerksam-
keit anderen Momenten zugewandt ist, haben sich mir nur zwei-
oder dreimal von selbst, ohne dass ich absichtlich darauf horte,
Obertone aufgedrangt; so vernahm ich bei einem C-dur- kccoY(\
^) Vgl. I 358. Auch G. Engel, Das mathematische Harmonium 32.
Und schon Sorge, Vorgemach d. musik. Composition (1745) S. 13: „Wem
Dieses noch etwas Uubekanntes ist, der nehme nur auf einem Clavecin
etwa das tiefe G. schlage solches zumal bei stiller Nachtzeit an, so wird
er gar deutlich das ungestricheue g und eingestrichene e mit horen."
bei ungleichcr Starke der Klangteile. 237
von Blechinstrumenten mit unangenehmer Deutlichkeit den 7. Teil-
ton des c, beim Anschlag des B auf einem Pianino wahrend des
Spielens dessen 27. Teilton (dcm g^ sehr nahe liegend) mit
gellender Starke. Audi eine gut musikalische Dame erzahlte
mir, dass sie, als Tausig die Bassregion eines BECHSTEiN'schen
Fliigels bearbeitete, durch die hohen Obertone sehr gestort
worden sei. Dies sind verhaltnismassig seltene Falle. Bei dem
langsamen Clioralsingen friiherer Zeiten sind die Obertone guten
Beobachtern ofters aufgefallen. ^)
Wenn eine Klangquelle ausklingt, wie die angesdilagenen
Claviersaiten bei aufgehobener Damj^fung, so treten meist nach-
einander verschiedene Teiltone relativ starker hervor, was
einen objectiven Grund haben muss.-) Ausserdem wird in
solchen Fallen, wo durch die Aufmerksamkeit auf einen Ober-
ton derselbe subjectiv verstarkt wird, mit der Ermiidung der
Aufmerksamkeit zugleidi die Verstarkung nachlassen, sodass
nun andere Teiltone relativ starker werden. Es entstehen so
Unterschiede in dem zu analysirenden Tonmaterial, ahnlidi
wie durch die Resonatoren, wenn auch nicht in demselben
Grade.
Dahin gehoren auch die Unterschiede je nach der Hal-
tung des Kopfes und der Stellung des Korpers. Eine kleine
Kopfwendung macht oft sofort einen Oberton hervorspringen.
Die Ursache liegt oifenbar in der complicirten Gestalt der
^) Mersenne Cogitata physico-mathematica p. 355: perpetuam duo-
decimam in nostris choris resonare. Sorge sagt sogar (a. a. 0. S. 13):
„Man hore in einer grossen Kirche einem Prediger, der eine starke
Stimme hat, genau zu, so wird sich allemal wenigstens die Octave und
Quinte sachte mit horen lassen."
^) Bei Claviersaiten scheinen die holieren Teiltone nach und nach
mehr hervorzutreten, jedoch nicht mit Regelmassigkeit. Es miissen hier
verwickelte Bedingungen walten. Die Anderungen erfolgen merklich
ruckweise. Bei Stimmgabeln findet ein solches discontinuirliches Her-
vortreten der Obertone beim Ausschwingen niemals Statt. Dagegen be-
wii'kt die langsamere Abschwachuug der Obertone gegeniiber dem Grund-
ton in diesem Falle jene continuirliche Anderung der Klangfarbe und
jene scheinbare und zum Teil wirkliche Hohenanderung der Empfindung,
von der I 242, 255 f. die Rede war.
238 § 21. Analysiren und Herai«h6ren
Ohrmuschel (welche nur tiefen Tonen gegeniiber einflusslos ist*)),
teilweise vielleicht auch in objectiven Klangverschiedenheiten
an verschiedenen Stellen des Raumes. Auch Entfernung oder
Naherung im Raum kann Gleiches bewirken.
Man kann auch durch Vergrosserung der Ohrmuschel
mittelst der hohlen Hand leicht verschiedeue Teiltone verstar-
ken.2) Resonatoren sind ja nichts Anderes als solche ange-
setzte HoWraume. In beiden Fallen kommt es iibrigens auch
sehr auf die Stellung des Hohlraumes an. Wenn man einen
Resonator nicht fest in das Ohr steckt sondern nur davor halt,
so verstarkt er bei mehr oder minder schiefer Haltung Tail-
tone, die bis zu einer Quinte auseinanderliegen konnen. So
kann man z. B. &^ c'^, cP, e'^, also den 7. bis 10. Teilton
von C successive durch Einen Resonator verstarken. ^)
^) Mach, a. f. 0. IX 75. Mach definirt die Ohrmuschel als Reso-
nator flir hohere Tone, die ja auch (wie das Gerausch des Grases und
der Blatter, das Knistern der Reiser) fur die Tiere am wichtigsten seien.
Beim Menschen sei ihr allerdings nur ein Rest dieser Function geblieben.
Burnett (das. IX 127 Ref.) schreibt verschiedenen Teilen der Ohrmuschel
verschiedeue Resonanz zu: Helix und Fossa helicis fiir tiefe, Antihelix
fiir mittlere, Concha fiir hohe Teiltone. Driicke man das Ohr am aus-
seren Rande sanft vorwarts, so werde der Schall tiefer u. s. f. A. G. Brown
(das. XIX 79) will beim Betupfen des Ohrrandes eine ganze Tonleiter
mittlerer Region gebort haben.
-) Einmal, als eine Sangerin die Tonleiter von c' bis c^ iibte, unter-
hielt ich mich damit, ihren Gesang durch Decimen oder Octaven zu be-
gleiten, indem ich auf die genannte Weise in meinem linken Ohr Ober-
tone zwischen g"^ und e^ hervortreten Hess, die bald als Decimen bald
als Octaven oder Doppeloctaven zu den gesungenen Tonen passten.
^) Statt Resonatoren an's Ohr zu setzen, kann man sie auch mit der
weiteren Oifnung an eine Schallquelle z. B. das obere Eude einer Zungen-
pfeife mit Schalltrichter halten, und dann ihre kleinere Offnung (welche
sonst in's Ohr gesteckt wird) abwechselnd mit dem Finger schliessen
und offnen. Auf diese Methode, Obertone einer Mehrzahl von Men-
schen zugleich wahrnehmbar zu machen, hat mich Hr. Prof. Lommel
aufmerksam gemacht.
Unter den Apparaten, welche durch eine Veranderung des Klang-
materials, durch relative Verstarkung von Obertonen, dieselben besser
wahrnehmbar machen, empfehlen sich uoch vorziiglich die Vocalrohren
bei ungleicher Starke der Klangteile. 239
Von hervorragendem Einfluss ist die Tonregion der zu
hdrenden Obertone. Die Tone urn c* herum, etwa eine Quiute
nach oben uiid unten, sind besonders leicht zu horen. Noch
mehr ist aber, fiir mein Ohr weuigstens, in Bezug auf das
Heraushoren von Obertonen die Gegend urn c^ bevorzugt. Teil-
tone, welcbe in den Umkreis von etwa einer Terz nach beiden
Seiten dieses Tons fallen, hore ich am deutlichsten und leich-
testen von alien. Es scheint also zwei Maxima der subjectiven
Tonstarke fiir Obertone zu geben: die Gegend um c^ und
um c*.^)
Endlich bemerke ich hinsichtlich der tJbung, dass kaum
bei irgend einer anderen Erscheinung im Tongebiet ihr Ein-
tritt, ihre rasche Steigerung, aber auch bei langerem Nicht-
gebrauch ihr Verlust und dann ihr doppelt rascher Wiederer-
werb so auffallend ist, wie bei den Obertonen. Sie ist eine
Specielle fiir die einzelnen Regionen. Die fiir die Obertone der
zweigestrichenen Octave erlangte tJbung iibertragt sich nicht
ohne Weiteres vollwirksam auf die viergestrichene und um-
gekehrt, wenn auch ein giinstiger Einfluss vom einen auf den
anderen Fall schon durch die leichtere Lenkung der Aufmerk-
samkeit vom Grundton aus nach der Richtung hoherer Tone
iiberhaupt gegeben ist.
Hienach mochte ich die angebliche Unfahigkeit Vieler, die
Schwierigkeit des Heraushorens iiberhaupt, von der so oft ge-
sprochen wird, grossenteils als eine bios augenblickliche, in dem
Mangel an tlbung griindende, betrachten.
nach Willis. Ein Zungenpfeifchen ist mit einem auszielibaren Ansatz-
rohr verbunden. Der Klang wird beim Hineinschieben immer sch^rfer,
und man bemerkt alsbald, dass immer hohere harmonische Obertone liin-
zukommen, welche eben jene Verscharfung bewirken. So auffallig sind
dieselben, dass ein SVzJabriges Kind sie entdeckte („Es sind hohe Tone
dabei"), ohne darauf aufmerksam gemacht zu sein. Es kommt hier der
besondere Vorteil hinzu, welchen die Bewegung oder massig rasche Auf-
einanderfolge von Objecten fiir die Wahrnehmung derselben bietet; wo-
ven unten § 23, 1, g) Naheres.
^) Vgl. I 370 iiber subjective Resonanz isolirter Tone, namentlich
in der viergestrichenen Octave.
240 § 21. Analy siren und Heraushoren
Wer sich unter Beachtung der obigen erleichternden Um-
stande darauf einiibt, wird der Resonatoren (deren langerer
Gebrauch das Ohr ausserordentlich angreift) kaum bediirfen.
Er wird nunmehr nicht bios die Unterschiede zwischen den
Iiistrumenten verschiedener Gattung entdecken, sondern audi
die einzelnen Klange jedes Instrumentes in Riicksicht ihrer
Obertone gar sehr verschieden fiiiden. Beim Clavier sind kaum
zwei neben cinander liegende Klange von genau gleicher Structur.
Hier woUen wir uns zuletzt der bertihmten, schon gefiihrten
Controverse zwischen Ohm und Seebeck uber das Horen
der Obertone erinuern.^) Auch darauf fallt, glaube ich, erst
durch die Verschmelzungslehre das voile Licht.
Ohm hatte den Ton physikalisch als eine Sinusschwingung
definirt. Seebeck wandte dagegen ein, dass hienach der Grundton
in einem zusammengesetzten Klange verhaltnismassig schwacher und
die Beitone starker gekort werden mtissten, als dies tatsachlich der
Fall sei. Ohm, der sich auf scharfsiunige mathematische Erwa-
gungen stutzte, dabei aber zugab, dass er „mit dem Ohr in dieser
Sache nichts tun konne, weil ihm die Natur ein musikalisches Ge-
hor ganz und gar versagt habe", dass er „beinahe wie ein Blinder
von der Farbe rede", hielt jene Behauptung iiber die geringe Starke
der Obertone fiir eine „unwillkurliche Tauschung oder auch Ver-
wohnung des Gehors, derart, dass es zum tiefsten Ton solche hohere
Tone, welche zu ihm das Verhiiltnis eines Beitons haben, ganz oder
teilweise heriiberzieht und als ihm zugehorig ansieht, aber darum
unwillkiirlich ein falsches Urteil uber die relative Starke solcher
Tone fallt". Ohm wies auch auf die Mixturen bin, und veranlasste
endlich einen Frer.nd, der sich fruher viel mit Musik abgegeben,
an der Violine zu untersuchen, ob nicht auch bei zwei Haupttonen
eine analoge Tauschung eintrete, „ob nicht, wenn er einen Ton
sammt seiner Octave zugleich anstreiche und dann plotzlich den
tieferen Ton weglasse, der tibrigbleibende hohere Ton ihm starker
zu werden scheiue." Dieser Freund brachte kurz darauf die Kunde,
^) Pogg. Ann. Bd. 53 (1841) S. 417. Bd. 59 (1843) S. 513. Bd. 60
(1843) S. 449. Bd. 62 (1844) S. 1. Bd. 63 (1844) S. 353. 368.
bei ungleicher Starke cler Klangteile. 241
dass allerdings namentlich bei den tieferen Octaven und wenn man
die beiden Tone zugleich fest und wiederholt anstreiche, eine solche
Verstarkung des hdheren Tons gut merklich werde, dass aber auch,
was ihm besonders auffallend gewesen sei, der tiefere Ton eine
recbt fiiblbare Scbwacbung erleide, wenn man unter den gleicben
Bedingungen den Bogen plotzlicb iiber der tieferen Saite allein weg-
streicben lasse. Spater bericbtete derselbe, dass jene Erscbeinung
der Scbwacbung und Verstarkung nicbt mebr oder mindestens lange
nicbt mebr in dem Grade bemerkbar sei, wenn man die beiden
Tone absicbtlicb unrein greife.
Hienacb wiirde, sagt Seebeck in seiner Replik, die Annabme
Ohm's allgemeiner so lauten: „Tone, wenn aucb in betracbtlicber
Starke vorbanden, werden stets als solcbe ganz oder fast ganz un-
horbar, sobald ein Ton ibrer barmoniscben Unterreibe binzutritt;
sie tragen aber zur Verstarkung dieses Untertons bei." Seebeck
lasst aber diese Annabme einer regelmassigen Geborstauscbung iiber-
baupt nicbt gelten. „"Wodurcb kann iiber die Frage, was zu einem
Ton gebort, entscbieden werden als eben durcb das Obr? Auf jede
andere Weise erkennen wir nur die Bewegung; das Obr allein em-
pfindet diese Bewegung als Ton, und was dasselbe stets zu einem
Ton ziebt, das gebort aucb wirklicb zu demselben, so wie das nicbt
Ton ist, was nicbt als solcber empfunden wird." Der Versucb mit
den Octaventonen scbeine ibm nicbt immer denselben Erfolg zu
haben. Bei Saiten und Orgelpfeifen babe er weder die Verstarkung
des tieferen, nocb die Scbwacbung des boberen Tones mit einiger
Deutlicbkeit bemerken konnen, indem er immer „beide Tone nocb
zu kenntlicb unterscbied."
Wir seben bier den alten Zwiespalt der Pytbagoreer und der
Aristoxener, der Kanoniker und der Harmoniker, der sicb durcb
die ganze Gescbicbte der Akustik und Musiktbeorie und mutatis
mutandis durcb die der Empfindungstbeorie uberbaupt biudurcb-
ziebt. Die Einen griinden ibre Bebauptungen iiber die Sinnes-
inbalte auf Kecbnung oder „Vernunft", die anderen auf Wahr-
nebmung. (Ptolemaeus erortert ausfiibrlicb diese Gegensatze. In
neuerer Zeit lagen sie aucb dem Streit Goethe's gegen Newton's
Farbenlebre mit zu Grunde.) Uber diese Standpuncte in ibrer All-
stum pf, Tonpsycliologie. 11. 16
242 § 21. Analysiren und Heraushoren
gemeinheit ist hier nicht der Ort weitlaufiger zu werden. Einiges
ist in § 2 gesagt (z. B. dass keineswegs Alles, was in den Empfin-
dungen gegeben ist, wahrnehmbar sein muss), und spater fiihren
uns umfassendere Probleme (Entstehung der Leitern) darauf zu-
riick. Aber in der Beschreibung der Wabrnehmungen selbst sind
von beiden Forschern mehrere Umstande nicht binreichend ausein-
audergebalten worden, deren Unterscheidung uns nun gelaufig ist.
Es ist vermengt 1) die im Verbaltnis zur lebendigen Kraft der ent-
sprecbenden Sinusscbwingungen zu geringe Starke der Beitone —
welche aber keineswegs nur bei Tonverbindungen von einfachen
Zahlenverbaltnissen, wie es die der barmoniscben Obertone mit
ihrem Grundton ist, sondern bei Verbindungen beliebiger Tone be-
obacbtet werden kann — , 2) die Verscbmelzung, welcbe speciell bei
Tonverbindungen mit einfacben Zahlenverbaltnissen, am meisten bei
der Octave, bervortritt, 3) die Moglichkeit bez. Leichtigkeit der
Analyse eines Zusammenklangs, welcbe zwar mit der Verscbmelzung
zusammenbangt, aber nicht allein von ihr abhangt (weshalb Seebeck
in gewissen Fallen Octaveutdne „noch zu kenutlicb uuterschied"",
in anderen weniger). ,
Helmholtz erklart in den ersten Auflagen seines Werkes die
Behauptungen Seebeck's iiber das schwache Hervortreten der Teil-
tone aus dem Princip des gewohubeitsmassigen Zusammenwahr-
nebmens und der Beziehung auf ein einbeitliches Object. Aber dann
wiirden sie eben doch auf Tauscbung binauslaufen, womit sicb
Seebeck, „ein in akustischeu Versucben und Beobacbtungen aus-
gezeicbnet gewandter Forscber", wie ibn Helmholtz nennt, kaum
berubigt haben wiirde. In der 4. Auflage erklart Heliuholtz die
Moglichkeit des Streites nur aus der allgemeinen Schwierigkeit
der Analyse von Sinneswahrnehmungen, was gegenuber einem so
geiibten Beobachter wiederum nicht recht geniigt. Seebeck's Be-
merkungeu iiber das Verschmelzen des Obertons mit dem Grund-
ton entbalten vielmebr tatsacbliche Wahrbeit. Und da Ohm selbst
diese Tatsacbe bei gleicbstarken Tonen durch seinen musikalischen
Freund bestatigt fand, so wiirden sicb beide Forscber durch weitere
Verfolgung derselben einander geuabert haben. Ja auch Helm-
holtz ist gerade bei Discussion dieses Streites und aus Aulass des
bei ungleicher Starke der Klangteile. 243
OHM'schen Experimentes auf diese Erscheinung, die uns die Diver-
genz der Ansichten hauptsachlich begreifen hilft, gestossen, ohne
sie freilich in gleicher Weise zu verwerten. Vgl. § 23, 2, b.
4. Specielles Uber Wahrnelimung von Combinations-
tonen.
Combinationstone entsteben bekanntlicb durcb das Zusam-
menwirken zweier verscbiedener Tonwellen. Helmholtz unter-
scbeidet Differenz- und Summationstone, wovon die ersteren der
Differenz, die letzteren der Summe der Scbwingungszablen der
primaren Tone entsprecben.
Die Differenztone, die wir zuerst naber betracbten,
erzeugen ibrerseits mit den primaren Tonen oder aucb unter sicb
neue Differenztone. So z. B. wenn das Verbaltnis der Primar-
tone 4:5 ist, entstebt als Differenzton 1. Ordnung der Ton 1,
als solcbe boberer Ordnung die Tone 4 — 1 = 3 und 5—3 (oder
3 — 1) = 2. Es erganzt sicb so immer voUstandig die Reibe
der einfacben Zablen unterbalb der Verbaltniszabl des boberen
Primartons; wenigstens der Recbnung nacb^).
Betracbten wir zunacbst die Differenztone erster Ord-
nung. Dieselben liegen stets tiefer als die beiden Primartoue,
wenn diese innerbalb einer Octave liegen; ausserdem liegt der
Differenzton zwiscben den Primartonen. Je kleiner ein Inter-
vall innerbalb der Octave, um so tiefer liegt der Differenzton
unter dem tieferen Primarton. Bei den kleinsten musikaliscben
^) Vor Hallstrom dachte man sich den Combinationston, wenn das
Verbaltnis der Primartone durcb zwei relative Primzablen ausgedriickt
wird, stets durcb die Verbaltniszabl 1 gegeben. Danacb wiirde aucb z. B.
3 : 5 nur diesen Ton geben. Hallstrom hat zuerst (in einer Dissertation
1819, dann Pogg. Ann. Bd. 24, 1832, S. 438 f.) die Kegel aufgestellt, dass
der erste Combinationston durcb die Dift'erenz der Scbwingungszablen
(also seine Verbaltniszabl durcb die Differenz der Verbaltniszablen) der
Primartone gegeben sei, dass es aber aucb gleicbzeitig nocb andere
Combinationstone geben konne, die sich in obiger Weise durcb fort-
gesetzte Subtractionen berechnen lassen, und er bat diese Kegel durcb
ausgezeichnete Beobacbtungen gestiitzt. Helmholtz legt dieselbe Ab-
leitung fiir den Fall einfacber Primarklange zu Grunde; bei zusammen-
gesetzten Px'imarklaugen leitet er aber die secundaren Diiferenztone
hauptsachlich aus den Obertonen der Primarklange ab. S. u.
16*
244 § 21. Analysiren und Heraushoren
Intervallen liegt er um 4 — 5 Octaven tiefer. Erweitern wir
claim das Intervall durch Erliohung des hoheren Primartones,
so macht der Differenzton stets grossere Schritte als dieser^).
Aber dieser Unterschied verringert sich, je mehr er sich den
Primartonen nahert. Folgende Tabelle macht dies anschaulich.
Die ganzen Noten bedeuten die Primartone, die Viertelnoten
die Differenztone erster Ordnung. Die Zeichen x und o iiber den
Noten bedeuten eine ausserst geringe Erhohung und Vertiefung,
die durch die gebrauchlichen musikalischen Zeichen nicht aus-
zudriicken ist.
X , , J+ ffi ^ fa^ ^-^ fe-Q- —
Am Clavier sind diese Tone wegen des schnellen Verklingens
der Primartone nicht sonderlich gut zu horen, besser an Pfeifen
oder Geigen. Man wird aber auch bei Differenztonen eben so
viele und verschiedene Umstande von Einfluss finden, wie bei
den Obertonen.
^) In Folge Dessen bietet der Differenzton 1. Ordnung ein vorziig-
liches Mittel, um sehr feine Intervallunterschiede nicht bios begrifflich
zu erlautern, sondern auch fiir das Gehor controlirbar zu machen; wie
etwa den Unterschied der beiden Halbtonstufen 24 : 25 und 15 : 16. Den
ersteren Schritt macht der obere Primarton beispielsweise in der C-Ton-
art von es^ nach e"-, den zweiten von e^ nach f-. Der Differenzton zeigt
diesen Unterschied dadurch an, dass er im ersten Fall um eine grosse
Terz, im zweiten aber um eine Quarte in die Hohe geht. Derselbe
Unterschied findet in umgekehrter Richtung Statt, wenn der obere Pri-
marton von ^^ nach as''' und a"- weitergeht: hier reagirt der Differenzton
immer noch durch den Unterschied einer kleinen Terz (c^ — es^) von
einem Ganzton (es^ — f-).
bei ungleicher Starke der Klangtcile. 245
Vor Allem sind gewisse Lag en des Differ onztons bevor-
zugt. Die tiefsten unter den hier notirten hort man nicht leicht
wegen zu grosser Schwache. Gut treten die der grosson uud
eingestrichenen Octave hervor. Nimmt man die Primartone
eiue Octave holier, so treten auch die Differenztone in der
zweigestrichenen Octave gut hervor. Die zu nahe an dem un-
teren Primarton oder zwischen beiden Primartonen liegenden
sind schwer zu horen.
Ich finde, wie bei den Obertonen, einen Vorteil darin, die
Aufmerksamkeit auf Ein Ohr zu concentriren, und vernehme
dann tiefere Differenztone in demselben localisirt, die ganz tiefen
auch gelegentlich im Schadel. Die tieferen erscheinen zugleich
brummend wegen der Schwebungen der Primartone, und gerade
wenn man auf dieses Brummen achtet, welches mit dem Diffe-
renzton zugleich zu entstehen und zu wachsen scheint, wird
der letztere besonders leicht wahrnehmbar ^).
Ferner scheint mir bei den starker verschmelzenden Inter-
vallen der Grad ihrer Reinheit einen Unterschied zu machen.
Wenn man die Quinte oder eine Terz nicht ganz rein angibt
und dann der Reinheit nahert, scheint mir der Differenzton,
wahrend er sich in seiner Hohe erheblich verandert, zugleich
bis zum Punct der Reinheit an Starke zu wachsen. Am deut-
lichsten beobachtete ich dies bei Flotenpfeifen, welche sich
durch ein am oberen Ende angebrachtes Stimmblattchen leicht
verstimmen liessen. Wahrend z. B. eine ^^-Pfeife constant tonte.
^) Schon Thomas Young verglich die Empfindung des Combinations-
tons mit dem des Summens im Ohre, und Vieth, ein guter Akustiker,
stimmt dieser Bemerkung zu. Er mochte sogar diese Empfindung „ein
Mittel zwischen Horen und Ftihlen" nennen (Gilbert's Ann. Bd. 21, 1805,
S. 308). Aberle (Tauschungen in der Wahrnehmung der Entfernung
der Tonquellen, Diss. 1868) sagt zwar, der Combinationston scheine ihm
in der Luft zu schweben, trennt aber doch ebenfalls seine Localisation
von der der Primartone. Dvorak (Sitz.-Ber. d. Wiener Akad. 1874, S. 648
Anm.) localisirt ihn im Ohr. Preyer (Akust. Unt. 33, Anm.) gibt an,
dass er beim Horen tiefster Combinationstone ebenso wie bei starken
Schwebungen das Gefiihl von Bewegungen des Trommelfells neben dem
akustischen Eindruck habe; was ich nur bestatigeu kann.
246 § 21. Analysiren und Heraushoren
verstimmte ich eine e^-Pfeife langsam bis es^ nach der einen
und bis nahezu f^ nach der anderen Seite. Das reine e^ und
es^ gabeu den starksten Combinationston (C bez. Es); da-
zwischen war er, indem er selbst von C nach Es stetig iiber-
ging, schwacher. Entsprechend wenn ich e^ unverandert liess
und g^ bis gis^ verstimmte, wobei der Combinationston von C
nach E iiberging. Ahnliches, wenn auch weniger deutlich und
nicht ausnahmslos, fand ich am AppuNN'schen Obertonapparat
und Tonmesser (frei schwingenden Zungen von scharfer Klang-
farbe), mit welchen man sehr geringe, wenn auch nicht stetige,
Anderungen von Schwinguugsverhaltnissen erzeugen kann. Die
Ausnahmen diirften ihren Grund darin haben, dass nicht alle
Zungen mit gleicher Starke ansprechen, wodurch die Versuchs-
umstande alterirt werden.
Die Erscheinung selbst aber griindet meiner Meinung nach
darin, dass bei Abweichungen von der Reinheit zahlreichere
secundare Combinationstone auftreten miissen, auf welche sich
die lebendige Kraft des Reizes verteilt. Wenn sie auch nur
teilweise horbar sind, konnen doch die der Rechnung ent-
sprechenden Nervenerregungen als solche stattfinden und jede
ihren Bruchteil der Reizstarke absorbiren. Die Primartone
3 und 2 geben den Differenzton 1 und weiter Nichts. Da-
gegen 31 und 20 geben 11, dann als Differenzton 2. Ord-
nuug 20 — 11 = 9. Man kann die Spaltung des vorherigen
einzigen Combinationstons in diese zwei noch bemerken. Ausser-
dem ergibt die Rechnung weiter die nicht wol horbaren Tone
31 — 9 = 22, 11 — 9 = 2, 31 — 2 = 29, 20 — 2 = 18 u. s. f.
Unreine Consonanzen miissen ja durch grossere Verhaltniszahlen
ausgedriickt werden als reine, welche den kleinsten Zahlen ent-
sprechen. Je grosser aber die Verhaltniszahlen, um so zahl-
reicher die Differenztone , da sich immer die Reihe der
ganzen Zahlen unterhalb derselben erzeugt.
Dieser Zusammenhang der Reinheit von Consonanzen mit der
Starke der Combinatioustone, der fiir die Intervallenlehre von Be-
deutung wird, ist von der Theorie noch kaum gewiirdigt. Da die
Tatsache selbst Zweifeln begegnen kdnnte, sei es gestattet, auch
bei ungleicher Starke der Klangteile. 247
hier alle iibereinstimmendeu gelegentlichen Aussagen fruherer Be-
obachter, die ich finden konnte, anzufuhren.
So sagt Chladni (Akustik § 186, in der 2. Aufl. S. 163):
„Wenn man einen solcben tiefen Ton (Differenzton) gehorig ver-
uehmen soil, so miissen die zwei Tone etwas anhaltend und ziem-
lich in gleicher Starke angegeben werden, und entweder ganz rein
sein Oder nur wenig von der wahren Reinigkeit abweichen, es muss
auch AUes umher still sein. Am vernehmlichsten ist es bei der
grossen Terz." Ebenso Vieth (a. a. 0. 277): „Die Finger miissen so
lange ein wenig gerucket werden, bis die Terz in ihrer volligen Rein-
heit da ist." W.Webek (Pogg. Bd. 15, 1829, S. 219) weist ausdruck-
lich darauf bin, dass bei kleinen Abweichungen der Combinatiouston
schwacher gehort werde (wobei er ihm nur irrtiimliclierweise eine
zunachst unveranderte und dann sprungweise veranderliche Hohe
zuschreibt, so dass er z. B. beim tfbergang der Primartone von der
kleinen Terz e'^g'^ zur grossen es'^ g'^ von C nach Es springen wiirde).
Der gut musikalische Philosoph Kkause bebauptet sogar (Anfangs-
griinde der allgemeinen Theorie der Musik 1838, S. 52), dass man
bei uureinen Intervallen die Combinationstone gar nicht bore-
Db Moegan hat, wie Bosanquet berichtet (Philosoph. Magaz. 1881,
XII 270 f.), Combinationstone nur bei Consonanzen augenommen,
was freilich ebenfalls zu weit geht. Sie kdnnen bei Dissonanzen
eben so stark sein wie bei Consonanzen; nur bei verstiramten Con-
sonanzen sind sie schwacher. Doch scheinen bei den drei letzt-
genannten Autoren ahnliche Beobachtungen wie die unsrigen zu
Grunde zu liegen. Ebenso wenn Helmholtz (255) fiir die Wahr-
nehmung des Differenztones u. A. empfiehlt, zwei Klange zu wahleu,
die ein rein gestimmtes harmonisches Intervall bilden.
G. Engel, welcher viele Ubung fiir Combinationstone ^mensch-
licher Stimmen besitzt, antwortete mir auf eine bezugliche Anfrage,
dass seine bisherigen Erfahrungen ihn nichts Derartiges gelehrt
batten, liess aber die Moglichkeit einer Correctur bei genauerer
ausdriicklicher Beobachtung offen. Ich glaube, dass sich die Be-
merkung richtig erweisen wird, da mehrere Beobachter sie unab-
hangig von einander gemacht haben; ich selbst babe die erwahnten
Aussagen erst nachtraglich in der Litteratur aufgefunden.
248 § 21. Analysiren unci Heraushoren
Es ist wol auch nicht Zufall, dass Tartini, ein Geiger, die
Differenztdne zuerst (1714) entdeckt und grosses Gewicht darauf gelegt
hat. Man kann eben auf der Geige rein spielen, wahreud bei Tasten-
instrumenten wegen der temperirten Stimmung Reinheit nicht (oder
bei der ungleichmassigen Temperatur nur in einzehien Fallen) erzielt
werden kann. Die Differenztone warden darum von Taetini geradezu
zur Controle der Reinheit benutzt und seinen Schiilern zur Beach-
tung empfohlen. Allerdings geben auch die mittleren Saiten der
Geige, die zu Doppelgriffen am meisten gebraucht werden, gerade
die gut horbaren Dilferenztone der grossen Octave. Auch wird beim
Clavier und der Orgel schon die Aufmerksamkeit zu sehr durch
die Menge der primaren Tone (Accorde etc.) beschaftigt. Soege,
der die Differenztone an der Orgel beobachtete, dtirfte sie beim
Stimmen wahrgenommen haben, wobei immer nur zwei Primilrtone
gleichzeitig gegeben sind und die Aufmerksamkeit intensiv auf das
rein Sinnliche der Erscheinung gerichtet wird (Yorgemach musik.
Compos. 1745, S. 12—13: „Wenn man in einer Orgel eine Quinte,
z. B. c^ <7^, rein gestimmt, so wird sich das c^ auch ganz gelinde
mit horen lassen ... Ja sogar zwei Flutes douces geben, wenn man
c^ und a^ rein zusammen anblaset, noch den dritten Klang, namlich
ein /, welches zu probiren stehet").
Durch den eben besprocheaen Umstand wird der Nachteil
ausgeglichen, in welcbem sich der Differenzton eines reinen
consonanten Intervalls fiir die Wahrnehmung dadurch befindet,
dass er notwendig immer mit den Primartonen stark ver-
schmilzt, ja bei den consonanten Intervallen innerhalb der
Octave starker mit einem der Primartone, als die beiden Pri-
martone unter sich (s. Quinten, Quarten, Terzen, Sexten 'in
obigem Notenschema); was seine Intensitat zwar ungeandert
lasst, aber seine Wahrnehmbarkeit gleichwol beeintrachtigt.
Grosse absolute Starke der Primartone ist zur Entstehuug
und Wahrnehmung von Differenztonen nicht unbedingt er-
forderlich. Zu Zeiten, wo ich viel darauf achtete, habe ich
Differenztone an der Violine, am Clavier, bei gedackten Pfei-
fen u. s. f. hundertfach auch in Fallen gehort, wo die Ton-
gebung die schwachste war, die iiberhaupt hergestellt werden
bei ungleicher Starke der Klangteile. 249
konnte. Ja bei solohem Pianissimo traten die Differenztone
(z. B. bei a^ c^ auf der Violine das F) noch deutlicher bervor
als bei starkerem Primarklang. Sie waren dann natiirlicb nicht
absolut starker, scbienen aber relativ starker gegen den Primar-
klang und waren jcdenfalls von vorziiglicher Deutlicbkeit.
Es ist auch nicht notwendig, dass die Primartone gleiche
Starke untereinander besitzen. Man hort z. B. den Com-
binationston C der Flotenpfeifen e^ und g^ oder c^ und e^
besonders stark, wenn man das Ohr an die Offnung einer
der beiden -Pfeifen halt; und zwar am starksteri bei der
hoheren Pfeife.
Einen Unterschied scheint die Klangfarbe der Primar-
tone zu machen. Man hort die tiefen Differenztone ausgezeichnet
bei hellen, scharfen, diinnen Farben, wie bei Mundharmonika's
und Kindertrompeten. Wahrscheinlich verstarken hier die Ober-
tone der Primarklange durcli ihre Differenzen unter einander
und mit den Grundtonen den Differenzton,
tJber den ausserordentlichen Einfluss der tJbung, ebenso
den der Tageszeit, ist Dasselbe zu sagen wie bei den Ober-
tonen. Ist man gerade in der tJbung, so treten Einem Com-
binationstone fast unvermeidlich bei langer andauernden Zu-
sammenklangen und besonders bei Terzen in mittlerer Lage
entgegen, Aber die tlbung schwindet auch sehr leicht. Sie
ist auch eine verschiedene fiir Obertone und fiir Differenz-
tone, und iibertragt sich zwar teilweise, aber nicht vollstandig
vom einen auf den anderen Fall. Sie entsteht bei Differenz-
tonen wol langsamer, wegen der gewohnheitsmassigen Richtung
der Aufmerksamkeit nach der Hohe bin.
Andrerseits sind die Differenztone gegeniiber den Ober-
tonen dadurch im Vorteil, dass tiefe Tone, wie es uns o. 228
schien , schon bei geringerer Empfindungsstarke durch hohe
hindurchgehort werden als umgekehrt. Freilich haben sie
auch immer die Concurrenz zweier starkerer Tone zu
bestehen.
Endlich sind veranderliche Zustande im Organ von Ein-
fluss, indem sie die Starke der Differenztone erhohen oder ver-
250 § 21. Analysiren und Heraushoren
ringern*). Dies hangt mit der besonderen Bedeutung zusammen,
welche namentlich das Trommelfell fiir die Bildung dieser Tone
besitzt (s. u.).
Die Differenztone hoherer Ordnung, welche je nach
dem Verhaltnis der Primartone hoher oder tiefer sein konnen
als diejenigen erster Ordnung, sind keinoswegs immer schwacher
als diese. Im Gegenteil tritt derjenige Differenzton, welcher
zunachst unterhalb der beiden Primartone liegt, in vielen Fallen
unzweifelhaft am starksten hervor, aucli wenn er ein Differenz-
ton zweiter Ordnung ist ^). So bore ich bei beliebigen Doppel-
griffen auf den zwei bochsten Violinsaiten fast ausnahmslos
diesen Ton am starksten mitklingen. Man konnte denselben
statt als Differenzton des tieferen Primartons mit dem ersten
Differenzton aucb auffassen als Differenzton des boheren Primar-
tons mit dem ersten Oberton des tieferen Primartons, z. B. bei
4 : 5 den Ton 3 statt als 4 — (5 — 4) vielmebr als 4.2 — 5,
und die Erscheinung demgemass aus der besonderen Starke des
ersten Obertons herleiten. Damit wUrde iibereinstimmen, dass
bei Flotenpfeifen und noch einfacheren Primarklangen die Diffe-
renztone hoherer Ordnung weniger stark sind als bei Zungen-
instrumenten oder bei der Sirene ^). Aber bei letzteren pflegt auch
^) Wahrend eines geringen Tubenkatarrhes tiel mir beim Violinspiel
die ungewohnliche Machtigkeit der Diflferenztone selbst bei leisestmog-
licher Tongebung auf. Ein anderes Mai fand ich bei erhohter Reizbarkeit
des rechten Ohres den Differenzton schwingender Zungen genau im
Rhythmus des Pulses intermittirend. Zuweilen ist bei mir das rechte,
zuweilen das linke Ohr von grosserer Empfindlichkeit fiir Differenz-
tone.
Es scheint sogar wahrend einer Versuchsreihe die Disposition des
Organes (nicht bios die Ubung) erheblich zu wachsen.
^) Diese merkwiirdige Tatsache ist schon von Hallstrom beobachtet
(a. a. 0. 463 f.).
^) Helmholtz hat dies zuerst mit Stimmgabelu auf Resonanzkasten
festgestellt (Pogg. Ann. Bd. 99, S. 501 f.) und daraus die obige Erklarung
fiir die secundaren Differenztone abgeleitet, nach welcher sie nicht eigent-
lich als Differenztone zweiter Ordnung zu bezeichnen waren, da ja zu
ihrer Ableitung der Differenzton erster Ordnung nicht notwendig ware.
bei ungleicher Starke der Klangteile. 251
die Starke der Tongebung uberhaupt eine grossere zu sein. Und
jedenfalls wurde sich nicht gut begreifen, wie der Differenzton
hoherer Ordnung bei einer und derselben Klangquelle starker
werden miisste, als der erster Ordnung. Auch sollte man er-
warten, dass der Differenzton des tieferen Primartons mit dem
ersten Oberton des boheren Primartons ebenso stark auftrete,
also in obigem Beispiel der Ton 5.2 — 4 = 6; was nicht der
Fall ist.
Es walten also bier sonderbar verwickelte Verhaltnisse, die
aber keinesfalls etwa nur mit der zufalligen oder willkiirlicben
Ricbtung der Aufmerksamkeit, sondern mit der Entstehungs-
weise der Combinationstone und der Construction des Sinnes-
organs zusammenbangen miissen^).
Der Einfluss der Verscbmelzung zeigt sich aber auch
hier wieder. Dass z. B. die Differenztone 1 und 2 oft schwer
auseinandergehalten oder verwechselt werden, begreift sich
jedenfalls mit daraus. Hieriiber sind die Beschreibungen
R. KoNiG's lehrreich^). Beispielsweise bei der Quarte c^ P
(Stimmgabeln) schienen ihm beide Differenztone 1 und 2 zu
einem Klange zu verschmelzen , der bald wie f, bald wie f^
zu klingen schien. Und so auch in anderen Fallen. Dass
Taetini die Combinationstone anfanglich^) um eine Octave „zu
Doch verwirft Helmholtz nicht unbedingt die altere Ableitung, da er
solche „mehrfache" Combinationstone auch bei einfachen Primarklangen
schwach vorfand.
^) Ich gestehe, dass mir Preyer's abstracte Combinationen behufs
Losung dieser Fragen in seiner sonst verdienstlichen Untersuchung (Akust.
Unt. 38 f.) nicht einleuchten. Ob der Versuch Bosanquet's (Phil. Mag. XI,
1881, p. 492 f.), die sg. Differenztone hoherer Ordnung ebenso direct wie
die erster Ordnung aus der Verbindung der primaren Schwingungen
abzuleiten, gelungen ist, kann ich nicht entscheiden ; aber die Intensitats-
verhaltnisse der wirklich gehorten Differenztone sind je nach Umstandeu
so wechselnd, dass eine mathematische Discussion derresultirenden Schwiu-
gungsformen ihnen alien sicher nicht gerecht werden kann.
*) in der vorziiglichen experimentellen Studie Pogg. Ann. Bd. 157
(1876) S. 177 f.
^) Trattato di musica 1754 p. 14 (bei den Terzen und Quarten).
252
§ 21. Analysiren und HeraushOren
hoch notirt hat" (wie man gewohnlich sagt), beruht wahrschein-
lich auch mit darauf.
Eine Behauptung Hugo Riemann's^) muss hier noch besonders
erwahut werden, obschon sie implicite bereits besprocheu ist: da-
nach trate an einem Harmonium (desseu Zuugen entsprechend ver-
stimmt Averden) immer der Ton 1 auf, mag die Differenz der Ver-
haltniszahlen sein welche sie will. Die Folge davon sei ein Springen
des Combinationstones, wie dies ein Stiick der RiEMANN'schen Ta-
belle (bier von I) nacb C transponirt und mit den oben gebrauchten
Zeicben verseben) anscbaulicb macht.
Die nacb oben geschwilnzten Bassnoten sind die Combinations-
tone, welcbe der Differenz der Scbwingungszablen der Primartone
entsprecben (Differenztone erster Ordnung). Die nacb unten ge-
scbwanzten entsprecben der Verbaltniszabl 1 und werden nacb Rie-
MANN gebort. Bei den Intervallen, deren Verbaltniszablen nur um
1 differiren, fallen beide zusammen. Diesen Ton 1 nun will Rie-
MANN, da er immer der grdsste gemeinsame Divisor der Primar-
tone ist, als Divisionston, und in analoger Weise den ersten
gemeinsamen Oberton als Multiplications ton bezeicbnen. Beide
Classen von Tonen besitzen nacb der von Riemann befiirworteteu
dualistiscben Consonanztbeorie Ottingen's eine ganz principielle
Bedeutung.
*) Die objective Existenz der Untertone in der Schallwelle. 1875,
bei ungleicher Starke der Klangteile. 253
Freilich ist hier Riemann, ohne es zu wissen, nur in die altere,
schon von Hallstrom widerlegte Anschauung zuriickgefallen ^). Wegen
der theoretischen Wichtigkeit, die er der Sache beimisst, habe ich
ihr aber genaueste Priifung gewidmet und nach einigen anfanglichen
Tauschungen schliesslich bei hinreichender tibung und Aufmerk-
samkeit die Veranderung eines Combinationstons bei stetiger Ver-
anderung des primaren Intervalles uiemals anders als stetig ge-
funden. Mehrere Umstande konnen allerdings zuerst tauschen und
haben ja selbst W. Webee getauscht. So die grossere Starke bei
reinen consonanten Intervallen. Ferner das Hinzutreten von Com-
binationstonen hoherer Ordnung, welches oft sebr rasch von tiefster
Tiefe herauf erfolgt, obschon aucb hierin bei genauerem Hinhoren
Stetigkeit waltet. Dann die eben besprochene Octavenverschmelzung,
und die Unregelmassigkeiten in der relativen Starke der Com-
binationstone verschiedener Ordnung.
Vielleicht hat sich Riemann auch zu sehr durch die Postulate
der von ihm fiir richtig gehaltenen Consonanztheorie leiten lassen;
ebenso wie dies gewiss der Fall ist in der sich anschliessenden
Behauptung, dass, sobald wir die Sexte ^ eMm Mollsinne auffassen,
mit einem Male der erste gemeinsarae Oberton h^ (Multiplications-
ton) scharf und schrillend in's Gehor falle, wahrend man ihn nicht
bemerke, solange man dieselbe Sexte im Dursinne auffasse^).
Ein Beispiel mag erlautern, wie auch Differenztone verschiedener
Ordnung stetig in einander iibergehen,
4 3 8
3 2 5
pE^E-..^i
-^-
—d-
gi=^^<^
r^
2 13
1
1) S. 0. 243. Hallsteom richtet sich ausdrucklich S. 441 f. auch gegen
das Springen des Tones, welches die Consequenz ware.
2) Wenn Riemann S. 7 behauptet, dass auch nach Helmholtz ein
Springen beim Ubergang von 4 : 5 nach 13 : 16 stattfinden miisse, indem
254 § 21. Analysiren und Heraushftren
Die Ziffern bedeuten die Verhaltniszahlen. Wenn man hier c^ liegen
lasst und g'^ stetig in/^ und c^ iiberfiihrt, so kann man beobachten,
wie 1) von c^ (Differenzton 2. Ordnung) sich ein Ton stetig nacli
/ (1. Ordnung) hinunterbewegt, welches bei der reinen Quinte ein-
tritt — und diese Bewegung ist besonders deutlich — ; wie 2) von
c (1. Ordnung) aus ebenfalls eine Tonbewegung nach / stattfindet;
wie endlicb 3) von c^ aus eine leise Tonbewegung sogar in der
Richtung gegen den Primarton /^ aufwarts geht, Dann spaltet sich
wieder der Differenzton 1. Ordnung / und geht stetig einerseits
nach g (1. Ordnung), andererseits nach c (2. Ordnung) uber. Den
Ton C=l (3, Ordnung) konnte ich in diesem Falle (an Floten-
pfeifen) gerade nicht wahrnehmen, ebenso wie den Ton c^ = 4
(4. Ordnung). Ware C horbar, so wurde es, wie die Rechnung ver-
langt, als Endpunct einer vor Eintritt der reinen kleinen Sexte
stetig von unten heraufkommenden sehr raschen Tonbewegung auf-
treten. Nirgends also Sprunge.
Endlich ein Wort iiber die sg. Summation stone. Diese
konnen, wie zuerst (1856) Robee, dann unabhangig G. Appunn,
R. Fabei und Andere bemerkt haben, als Differenztone des
ersten Differenztons mit dem ersten Oberton des hoheren Pri-
martons angesehen werden (z. B. der Ton 8 bei der Sexte 3 : 5
als 5.2 — (5 — 3)). Sie sind, wie ebenfalls Appunn hervorhob'),
nur auf Instrumenten mit scharfer Klangfarbe in tieferen Lagen
zu horen, und immer sehr schwach. Miissten wir doch sonst
bei dem Accord c^e^^^c^, der durcb die Zahlen 4:5:6:8
dargestellt ist, die Tone horen: 9, 10, 11, 12, 13, 14, das heisst
o X o
cV, e^, fis'^, g^, as^, ais^. Was soUte daraus werden, wenn z. B.
in der Zauberflote die Priester den herrlichen dreifachen B-dur-
Accord in die Horner stossen? Was die obige Herleitung be-
trifft, so habe ich ebenfalls bei einer Reihe von Beobachtungen
der Differenzton von d nach Cis springe, so beruht dies nur auf einem
o o
Rechenfehler: dem Tone 3 entspricht nicht Cis, sondern cis. In der
Notentabelle ist dies ja von Riemann selbst ersichtlich gemacht (s. in
unserer Transscription den Ubergang von c nach H).
*) In dem o. 235 genannten Schriftcheu.
bei ungleicher Starke der Klangteile. 255
am Harmonium, an der Sirene, an Zungen- und Flotenpfeifen
gefunden, dass der Summationston um so starker auftritt, je
starkere Obertone vorhanden sind, am besten beim Harmonium,
gar nicht bei Flotenpfeifen. Es ist daher sehr wahrscheinlich,
dass jene Herleitung (welcbe sich analog auch auf die „Sum-
mationstone hoherer Ordnung" ausdebnen lasst) zugleicb die
reale Entstebung des Tones trifft.
Hinsichtlich der Entstebung der Combinationstone iiber-
haupt wurde bekanntlich gegen die seit Lagrange und Young all-
gemein geltende Anschauung, wonach sie eine Folge der Scbwebungen
seien (deren Zahl ja ebenfalls durch die Differenz der schwebenden
Tone gegeben ist), von Helmholtz eingewendet, dass dadurcb der
Summationston nicbt erklart wurde, dass ferner die Combinations-
tone unter Umstanden objectiv existiren, unabbangig vom Ohr,
Welches die Scbwebungen zu einem Ton gestalten soil, und dass
drittens diese Ansicbt sich nicht mit dem durch alle ubrigen Er-
fahrungen bestatigten Gesetz vereinigen lasse, wonach das Ohr nur
solche Tone empfindet, die pendelartigen Bewegungen der Luft ent-
sprechen. Helmholtz hat dann mathematiscb gezeigt, dass, wenn
ein elastischer Korper von zwei primaren Tonen so heftig in
Schwingungen versetzt wird, dass diese nicht mehr als unendlich
klein gelten konnen, neue Tone von der Hohe der Differenz- und
Summationstone entstehen mtissen.
Der erste Grund gegen die friihere Annahme verliert jedoch
durch das oben Erwahnte seine Kraft. Was den zweiten betrifft,
so ist die Verstarkung von Combinationstonen durch Resonatoren,
welche Helmholtz (und ebeuso Appunn) fiir mauche Falle be-
hauptete, von anderen Beobachtern, auch von mir, niemals wahr-
genommen worden. tlberdies gilt der Grund nur gegen solche
Fassungen der alteren Lehre, welche die Combinationstone aus-
schliesslich im Gehirn oder durch einen rein psychischen Act ent-
stehen liessen*). In dieseni Sinne „subjectiv" konnen sie allerdings
^) So liess noch z. B. Lotze in der Med. Psych. 231 die „subjectiveii
TARTiNi'schen Tone" nicht wie andere subjective Empfindungen durch
einen Nervenprocess entstehen, sondern durch „Oscillationen einer psy-
25fi § 21, Analysiren unci Heraushoren
eben so wenig sein wie die Scbwebungen. Im Ubrigen aber ist
nicht einzuseben, warum sie nicbt ebenso wie diese sicb auch an
objectiv scbwingenden Korpern zeigen soUten, d. b. warum nicbt
elastische Korper von entsprecbender Scbwingungszabl in Mitscbwin-
gung geraten sollten. Gerade der Umstand, dass dies bis jetzt
nicbt uubestritten beobacbtet ist^), bildet eine Scbwierigkeit, die
fur beide Tbeorien nur dadurcb zu losen sein wird, dass die
objectiven Combinationsscbwingungen ausserst scbwacb sein und
dass gerade das menscblicbe Trommelfell besonders gtinstige Be-
dingungen fiir ibre Entstebung darbieten muss. Helmholtz selbst
betont in dieser Beziebung dessen Asymmetrie; und nach neueren
Angaben boren Patienten obne Trommelfell keine Combinationstone ^).
Helmholtz' drittera Argument baben Konig und Dennert
entgegengebalten, dass tatsacblicb aucb durch intermittirende Reizung
chischen Erregung in der Seele", indem „zwei Tonempfindungen eine
dritte erzeugten, obne selbst in ihr zu Grunde zu gehen". Das ware
freilich, wie er sagt, ein interessantes Beispiel.
In der Abhandlung Pogg. Ann. Bd. 99 S. 537 nennt Helmholtz die
Combinationstone zunachst auch nur in dem Sinne objectiv, als sie
„nicht notwendig in der Empfindungsweise des Hornerven", sondern in
„wirklicben Scbwingungen des Trommelfells und der Gehorknochelchen"
griinden.
1) Noch neuestens hat Max Wien (Wied. Ann. Bd. 36, 1889, S. 853)
durch sehr feine Methoden der objectiven Tonstarkemessung Nichts da-
von constatiren konnen.
2) Peeyer, Verhandlungen der Berliner physikal. Gesellsch. 1889, No. 3.
Wied. Ann. XXXVHI 131. Anders hingegen Dennert, A. f. 0. XXIV 173.
Man kann auch hinweisen auf das deutliche Gefuhl von der Erregung
des Trommelfells bei Combinationstonen und die entschiedene Localisation
der tieferen im Ohr, ferner auf den von Dove zuerst bemerkten
Umstand, dass bei Verteilung zweier Gabeln an beide Ohren kein Com-
binationston erscheint. Ich habe die Resonanzkasten zweier so stark als
moglich gestrichener consonanten Gabeln der eingestrichenen Octave
dicht an die Ohren gehalten, konnte aber bei grosster Aufmerksamkeit
niemals den Combinationston entdecken; wahrend er an Einem Ohr sbfort
stark da war. Nicht einmal beim Andriicken der Fiisse schwingender
Gabeln an den umgeklappten Tragus kann ich bei solcher Verteilung
der Tone Combinationstone erzielen. Es muss also, wenn sie entstehen
sollen, ein und dasselbe Trommelfell durch zwei Primartone von aussen
her erregt werden.
bei ungleicher Starke der Klangteile. 257
des Ohres, also uichtpendelformige Bewegungen, eiu der Zahl der
Stosse entsprechender Ton erzeugt wird.
Helmholtz' eigene Erklarung der Combinationstone endlich
scheint, wenn sie den ausschliesslichen Grund enthalten soil, nicht
damit ubereinzustimmen, dass man Combinationstone oft auch bei
minimaler Starke der Primartone wabrnimmt (s. o.).
Dennoch glaube ich, dass die neuere Theorie Richtiges und
die altere Unrichtiges entlialt. Man wird nicht sagen durfen, dass
die Combinationstone aus oder durch Schwebungen entstehen. Die
schwebenden Fasern sind ja ganz andere als die, welche die Com-
binationstone liefern; jene liegen zwischen den Fasern fiir die
Primartone. Aber beiden Erscheinungen ist gemeinsam, dass sie
durch eine Einwirkung nichtpendelformiger (wenn auch periodischer)
Schwingungeu, durch die Wirkung der Gesammtwelle als solcher
entstehen. Dies ist nattirlich nur moglich, wenn die lebendige
Kraft der Schwingung sich teilt: der Hauptteil wird durch die pendel-
fcirmige Mitschwingung der Fasern fiir die Primartone auf diese
Fasern ubergeleitet, eiu Bruchteil aber wirkt als uichtpendelformige
Beweguug auf die zwischenliegenden Fasern, wo er sich hauptsachlich
durch Intensitatsschwankungen der Primartone kundgibt, eiu weiterer
Bruchteil endlich wirkt auf tiefergestimmte Fasern, deren Eigen-
schwingung der Anzahl der Schwingungsmaxima der Gesammtwelle
entspricht.
Es ist nicht notwendig, hier naher auf diese physiologische
Frage einzugehen, da es sich nicht wie in § 18 um die Durchfiihr-
barkeit psychologischer Postulate und allgemeiner psychophysischer
Principien handelt. Die Combinationstone koramen fiir uns (s. Vor-
rede zum I. Band) wesentlich nur als schwache gleichzeitige Tone
in Betracht, und ihre Entstehung nur insoweit, als sie mit der Be.
schreibung der Erscheinung selbst und der Bedingungen, unter
denen sie wahrgenommen wird, zusammenhangt..
5. Gibt es einfaclie Tone?
Die Frage stellen wir hier natiirlich nicht in Bezug auf
objective Klange (Schwdngungen), sondern beziiglich der Empfin-
dungen, welche bei objectiv zusammengesetzten Kliingen inimer-
Stumpf, Tonpsychologie. II. 17
258 § 21. Analysiren und Heraushfiren
bin einfach, bei einfachen zusammeugesetzt sein konnten, ja
nach gewissen Theorien stets einfach, nach anderen stets zu-
sammeugesetzt sein mils sen. Das „Muss" in ersterer Hinsicht
besteht fiir uns nacb § 17 nicht mehr; in der zweiten Hinsicht
bleibt es nun noch zu iiberlegen.
Es ist bier wieder zu unterscheiden Wabrnehmung und
Empfindung. Zunachst fragt es sich, ob es Klange gibt, in
welchen das geiibteste Ohr bei bochster Aufmerksamkeit und
uberbaupt giinstigsten Umstanden Teiltone nicht mehr zu er-
kennen vermag. Diese Klange waren dann einfach wenig-
stens fiir die Wabrnehmung, einerlei ob noch Empfin-
dungsteile darin sind; und zwar fiir jede moglicbe normale
Wabrnehmung (abgeseben also von etwaigen pathologiscben
Hyperaesthesien) , soweit sich bisber menscbliches Gehor ent-
wickelt bat.
Solcbe Klange gibt es gewiss. Beispielsweise die Tone
ganz schwach erklingender auf Resonanzkasten befestigter Stimm-
gabeln oder schwach angeblasener Flaschen, ferner die subjec-
tiven Tone, welcbe aus inneren Ursacben oft voriibergebend oder
langer dauernd auftreten; waiter die herausgehorten Teiltone
und Combinationstone; endlicb die hochsten wabrnebmbaren
Tone in der 5- bis Sgestricbenen Octave. In alien diesen
Fallen bemerken wir denn auch keinerlei Unterschiede in der
Klangfarbe bei Klangen gleicher Hohe; es macht keinen Unter-
scbied, von welchem Instrument, auf welcbe Weise ein solcber
Klang erzeugt wird.
Scbwieriger ist die Frage zu beantworten, ob diese Klange
auch wirklicb als Empfindungen ganz einfach sind, oder
ob nicht bier eine der uniiberwindlicben Tauscbungen statt-
findet, deren Moglichkeit unter besonderen Umstanden zugegeben
werden muss.
Wenn wir alien Hypothesen in dieser Ricbtung Glauben
schenken wollen, so ware ein scheinbar einfachster Ton immer
noch
1) von schwachsten Obertonen objectiven Ursprungs,
2) von subjectiven Obertonen (J. J. Muxler),
bei ungleicher Starke der Klangteile. 259
3) von Untertonen (H. Riemann) begleitet. Er bestande
ferner
4) aus den vielen verschiedenen Tonempfindungen der
durch eine einfache Schwingung zusammen erregten
benachbarten Fasern (Hostinsky), sowie
5) aus den beiden Elementen der Hohe und Tiefe, „Dumpf
und Hell" (Mach). Eventuell wiirde sogar jede der
vielen Tonempfindungen aus diesen zwei Elementen
zusammengesetzt sein. Endlich
6) wiirde jeder Ton eine Anzahl von „Zusatzempfindungen"
mit sich fiihren, die uns zum Erkennen der Intervalle
dienen (Mach).
Zu diesen Elementen von tonalem Charakter kamen dann
nocb Mitempfindungen beterogener Qualitat, namlich eine
Empfindung (etwa Innervationsempfindung), welcbe dem Ton
seinen Platz im „Tonraum" anweist (Mach), und eine Empfin-
dung, welche seine Localisirung im gewohnlichen Raum (im
Ohr, Schadel oder einem objectiven Gegenstand) zur Folge hat.
Doch diirfen wir von letzteren beiden Empfindungsclassen an
dieser Stelle abseben, da es sich uns bier nur um tonale
Componenten bandelt, ebenso von den „Zusatzempfindungen",
die uns als eine speciell fiir die Intervallurteile aufgestellte
Hypotbese erst im nacbsten Abschnitt bescbaftigen werden.^)
Man sieht, dass zur Bebauung unseres Gebietes gewaltige
Anleiben aufgenommen worden sind, und darf wol verlangen,
dass ihre Notwendigkeit bewiesen und dass es aucb einiger-
massen glaublicb gemacbt werde, warum wir denn von alien
diesen Teilempfindungen so gar Nicbts bemerken konnen.
Zu 1). „Obertone, konnteEiner sagen, sindscbon objectiv
nicbt ganzlicb zu beseitigen. Man bat sie, nacbdem sie einmal
entdeckt waren, mit immer feineren Mitteln immer allgemeiner
nacbgewiesen, und so ist zu scbliessen, dass in den wenigen
Fallen, wo sie bis jetzt sich der Nacbweisung entzieben, nur
^) Ein Bedenken dagegen habe ich vorlaufig in der Deutschen
Litteraturzeitung 1886 No. 27 in Kiirze ausgesprochen.
17*
260 § 21. Analysiren und Heraushoren
die begrenzte Empfindlichkeit der Reagentien Schuld ist. Wenn
speciell bei starken Gabelklangen Obertone noch entschieden
nachweisbar sind, so werden sie bei schwachen nur eben
schwacher vorhanden sein. Und so auch in der Empfindung."
Aber an diesem „so auch" bleibt der Beweis bangen. Die
Nerven sind ein Reagens von begrenzter Empfindiichkeit, und
wer weiss, ob die Teilscbwingungen bei jeder Reizstarke stark
genug sind, um sich im Nervensystem geltend zu macben?
t)berdies fallt ja die Notwendigkeit solcher Beitone von
vomherein weg bei denjenigen der obenerwabnten Classen von
Klangen, die keinen (oder keinen selbstandigen) objectiven Ur-
sprung haben.
Zu 2). Auf das Dasein subjectiver Obertone, d.h. solcher,
die durcb eine objectiv einfache Schwingung im Ohr eutstanden,
schloss zuerst J. J. MtiLLEE') aus Schwebungen, welche zwei
Gabeln miteinander machen und deren Zahl nicht der Diffe-
renz der objectiven Gabelschwingungen entspricht. Wenn er
z. B. zwei c^- Gabeln so verstimmte, dass sie in 1,5 Secunde
einen Stoss gaben, so horte er ausser diesem noch einen Rhyth-
mus von zwei Stossen in der Secunde, den er von den objectiv
vorhandenen ersten Obertonen (Octaven) der beiden Grundtone
ableitete, aber auch einen von drei Stossen, der ihm nicht aus
objectiv vorhandenen Duodecimen ableitbar schien, da er solche
durch den Resonator nicht verstarkt fand.
Aber es ist die Frage, ob schwache objective Obertone
immer durch Resonatoren verstarkt werden. MtiLLEU hatte
»
noch empfindlichere Mittel anwenden miissen, etwa Hilfsgabeln
von der Hohe des fraglichen Obertons, durch welches Mittel
ja Peeyer die Duodecime selbst bei schwachem Anstreichen
der Hauptgabel regelmassig constatiren konnte.^)
^) tJber Tonempfindungen. Ber. d. sachs. Ges. d. Wiss. 1871.
2) ScHEiBLEE hatte die von ihm bereits beobachteten multiplen
Schwebungen aus dem Conflicte zweier Combinationstone hoherer Ord-
nung hergeleitet. Z. B. bei der unreinen Quinte (2n mit Sn -\- d)
sollen die Schwebungen durch die Differenztone 2. Ordnung n -\- 6 und
2{2n) — {Bn -\- 6) = n — 6 erzeugt sein. Ihre Zahl muss ja dann in der
bei ungleicher Starke der Klangteile. 261
Man konnte nun rein deductiv schliessen, dass subjective
Obertone immer da sein miissen, weil selbst durch eine ein-
fache Tonschwingung ausser dem direct auf den Ton abge-
stimmten Teilchen der Grundmembran auch das 2mal, 3mal
u. s. f. scbneller schwingende Teilchen in Mitschwingung ge-
raten miisse. (Wujstdt^ I 421.)
Indessen, wenn dies auch ganz allgemein richtig ware, so
erfolgt doch das An- und Abklingen der Teilchen nicht gleich
schnell, und so konnen wol Falle vorkommen, wo erst (oder
jiur noch) ein einziger einfacher Ton, wenn auch nur kurze
Zeit, erklingt. Auch werden, wenn der Grundton in hohere
Regionen riickt, die 2- und 3mal schueller schwingenden Teil-
chen immer schwerer erregbar, und zuletzt, wenn der Grund-
ton in die hochste Region eingeriickt ist, gibt es iiberhaupt
kein zweimal so schnell schwingendes Teilchen mehr. Ferner:
wenn der Ton sehr schwach angegeben wird, wie bei sanft
angeblasenen Flaschen, wird die Erregung der Teilchen, die
sonst nach der Deduction subjective Obertone gaben, nicht
immer stark genug sein, um auch nur die Empfindungsschwelle
zu iiberschreiten. In einem solchen Fall wird dann also der
Klang physikalisch einfach, physiologisch zusammengesetzt,
psychologisch (bez. central- physiologisch) wieder einfach sein.
Subjective Obertone waren also, wenn das Princip der Deduction
auch sonst uneingeschrankt richtig ware, gleichwol nicht unbe-
dingt und in alien Fallen zu erwarten.
Aber das Princip ist nicht einmal allgemein richtig. Durch
eine einfache Schwingung werden nur dann in einem elastischen
Tat =26 sein. Aber Mijller konnte den Combinationston n, auf wel-
chem hienach die Schwebungen stattfinden mtissten, nicht durch den
Eesonator verstarkt finden, und war iiberdies der Meinung, dass Combi-
nationstone hoherer Ordnung nur durch Obertone erzeugt werden konnen.
Dagegen miissen wir nun wieder einwenden, dass Combinationstone sehr
wol vorhanden sein konnen, ohne durch Resonatoren verstarkt zu wer-
den, und dass selbst die Unmoglichkeit der Erzeugung von Differenz-
tonen hoherer Ordnung durch einfache Tone keineswegs nachgewiesen
ist. (Vgl. BosANQUET 0. 251 Anm.).
262 § 21. Analysiren und Heraushoren
Korper ausser der gleichen einfachen Schwingung noch Multipla
derselben erzeugt, wenn jene eine gewisse Starke iiberschreitet^);
weshalb Helmholtz (263 — 64) auch nur schliesst, dass jeder
starke einfache Ton von schwachen harmonischen Obertonen
im Obre begleitet sein muss.
Und selbst dieser Schluss scheint mir nicht ganz zwiugend.
Die mitscbwingenden Teilcben im Ohr sind elastische Korper
besonderer Construction, und leicht konnen in ihrem Bau Hin-
dernisse fiir die Bildung multipler Schwingungeu gegeben sein,
wie Helmholtz selbst dergleichen fiir die nacbher zu erwab-
nenden Untertone annimmt. Darum kami bier wie dort nur
durcb directe Beobachtung der beziiglicben Teiltone oder wenigstens
durch Versuche, die keine andere Deutung zulassen, der Be-
weis ibrer wirklicben Existenz geliefert werden.
Hiezu ware vor Allem no tig, starke einfache Tone objectiv
herzustellen. Nach fast allgemeiner Erfahrung (nur R. Konig wider-
spricht) ist jeder einigermassen starke Ton schon von Obertonen
objectiven Ursprungs begleitet. Gelange es, die verlangte Voraus-
setzung zu erfiillen, dann batten wir allerdings, glaube ich, ein
experimentum crucis. Es lage dann ein Fall vor, wo man verlangeu
konnte, dass subjective Obertone, wenn sie tiberhaupt vorhanden
sind, auch durch Aufmerksamkeit wahrgenommen werden konnten —
was man ja nicht immer und liberall verlangen kann, Welches
Hindernis sollte entgegenstehen, das nicht ebenso bei schwachen
Obertonen objectiven Ursprungs entgegenstiinde? Wenn Avir also
solche durch concentrirte Aufmerksamkeit sogar neben starken Grund-
tonen heraushoren konnen, so mtisste dies hier ebenfalls moglich
sein (zumal wenn wir noch die verstarkende Kraft der Aufmerk-
samkeit bedenken, von der in § 22 naher die Rede sein wird).
^) Hiemit konnte es zusammenhangen, dass Ritz bei seinen schonen
,,Untersuchungen iiber die Zusammensetzung der Klange der Streich-
instrumente" niemals durch einen Flageoletton einen Oberton desselben
auf einer anderen Saite zum Mitklingen bringen konnte (S. 66); eine
Erscheinung, die sonst auffallen konnte. Ritz betont, dass er bei seinen
Untersuchungen nicht stark streichen durfte (69). — Zu obiger Frage
auch R. Konig, Wied. Ann. XI 857.
i
bei iingleicher Starke der Klangteile. 263
Der Beweis fiir die Allgemeinheit und Notwendigkeit von
Obertonen in der Empfindung ist also nicht erbracht. Im Gegen-
teil, wenn man die vorstehenden Erwagungen consequent durch-
denkt, wird man finden, dass sie positiv das Vorkommen audi
subjectiv obertonfreier Tone beweisen. Wenn scbwacher
werdende Reize zuletzt unter die Empfindungsschwelle sinken
und die Teiltone ungleich schnell abklingeii, so muss bei einer
ausschwingenden Gabel ein Teilton, sei es der Grundton oder
irgend ein Oberton, zuletzt allein iibrig bleiben, bis auch er
verschwindet. Da ferner auch das subjective Abklingen nicbt
gleichmassig erfolgt, so gilt dasselbe fiir etwaige subjective Ober-
tone. Speciell fiir die hochsten Tone folgt ebenfalls, dass sie
nicht bios obertonfrei sein konnen sondern miissen.
Vielleicht wendet Einer gegen die ersten Folgerungen noch
ein, dass sehr schwacho einfache Tone fur sich allein viel-
leicht iiberhaupt nicht empfindbar seien und die notige Em-
pfindungsstarke erst durch die Mitwirkung der Obertone er-
langten. Aber Tone verschiedener Hohe verstarken sich ja
nicht gegenseitig in der Empfiudung, sondern schwachen sich
vielmehr (§ 26).
Ich meine sogar, dass nicht nur in den besonderen Fallen,
von denen wir soeben sprachen, sondern in alien jenen Classen
von Fallen, die wir oben als Beispiele einfacher Tone fiir die
Wahrnehmung auffiihrten, auch die Empfindung nur ein-
fache Tone enthalt. Selbst v?^enn wir in solchen Fallen Ober-
tone noch objectiv durch gewisse indirecte Methoden nachweisen
konnen, selbst dann halte ich es, vorausgesetzt dass die Tone
nur schwach gegeben und die sonstigen Vorsichten beobachtet
werden, fiir sehr wahrscheinlich, dass der etwaige minimale
Beisatz von objectiven Obertonen auf dem Wege bis zum in-
neren Ohre aufgerieben wird.
Jedenfalls, wenn auch eine Spur von Obertonen in solchen
Fallen noch der Empfindung beigemischt sein sollte, so ware
es eben nichts als eine Spur, und konnte darum auch keinen
nennenswerten Einfluss auf weitere Eigentiimlichkeiten des
Klanges (Klangfarbe) und seiner psychischen Verarbeitung (Con-
264 § 21. Analysiren und Heraushoren
sonanz- und Intervallurteil, Harmoniegefiilil u. s. f.) ausuben.
Ich sage dies, weil sich an die Behauptung, es gabe keine ab-
solut obertonfreien Klange, hauptsachlich solche Theoretiker
anklammern, welche Alles und Jedes im Tongebiet auf Ober-
tone zuiiickfiiliren und daher in dem allgemeinen und notwen-
digen Vorhandensein derselben eine Lebensfrage der Theorie
erblicken. Solclie mogen bedenken, dass gerade Helmholtz,
auf desseu Grundlegung sie bauen, durchaus unbefangen ein-
fache Tone in viel weiterem Umfang einraumt, als wir dies
bier zu tun gewagt haben. Er sagte sich eben, dass mit mini-
malen und dazu bios hypothetischen Spuren der Theorie doch
nicht geholfen ware, und suchte andere Auswege.
Z u 3). Wenn wir einfache Tone nach dem Vorangehenden zu
statuiren uns berechtigt balten, so sind darunter nur eben ober-
tonfreie Tone gemeint. Nun ist aber von Helmholtz die Mog-
liclikeit und von Hugo Riemann auch das wirkliche Dasein
von Untertonen behauptet worden.
Helmholtz kommt in seiner Berechnung der Scbwingungen
der Grundmembran (Beilage XI seines Werkes, am Schluss) zu
der Folgerung, dass, wenn diese Membran von durchaus gleich-
massiger Structur ware, jede Erregung eines Querfaserbiindels
durch den betrefifenden Grundton auch begleitet sein miisste
von schwacheren Erregungen der ungeraden harmonischen Unter-
tone, deren Intensitat allerdings mit den Factoren ^/g, V255 ^^1"
gemein ^/ms multipKcirt sein wiirde (wenn m die Ordnungszahl
ist). Davon, fiigte er bei, sei im Ohr nichts zu bemerken; doch
diirfe man dies nicht notwendig als Einwand gegen seine Theorie
betrachten, da wahrscheinlich durch die Anhangsgebilde der
Grundmembran die Bildung soldier Scbwingungen (mit Knoten-
linien) sehr erschwert sei.
Hugo Riemann hat diese Bemerkung zu der Hypothese er-
weitert, wonach jeder Ton stets von alien harmonischen Unter-
tonen begleitet ware (z, B. c- von c^ /", c, As, F, B, C), wenn sie
auch mit fortschreitender Ordnungszahl immer schwacher wiir-
den. Die Untertone waren das genaue Spiegelbild der har-
monischen Obertone (^/g, Va? Vi' Vs u. s. f. von der Schwingungs-
bei ungleicher Starke der Klangteile. 265
zahl des Primartones). Aber wahrend die Obertone keineswegs
immer alle zugleich da sind, sondern bald dieser bald jener,
zuweilen auch keiuer, waren die Untertone stets vollzablig
und in gleichem Starkeverhaltnis vorhanden; da sie eben nicbt
von den wecbselnden Bedingungen objectiver Klangerzeugung,
sondern von der constanten und gleichmassigen Einrichtung des
Gebororgans abhangig waren. Diese Hypothese benutzte Rie-
MANN^) zur Neubegriindung der dualistischen Verwandtscbafts-
lehre, wie sie Otting-en gegeniiber Helmholtz vertreten hatte.
Spater glaubte er auch die objective Existenz von Untertonen,
d. h. das totale Mitschwingen eines tiefer gestimmten elastischen
Korpers bei primarer Erregung eines entsprechend hoher ge-
stimmten, experimentell nachweisen und in solchem Fall die
Untertone auch wirklich wahrnehmen zu konnen. „Ich mache
die eigentiimliche Erfahrung," sagt er^), „dass ich auf dem Piano-
forte bei Angabe eines g'^, welches ich sofort nach starkem Au-
schlag dampfe, schwach aber deutlich, freilich sehr schnell ver-
schwindend, c hore, von welchem Tone ich durch Herabdriicken
der Taste den Dampfer gehobeu habe."
Machen wir uns zuerst klar, was eigentlich dieser Versuch
beweisen kann. Gewiss nicht das allgemeine und notwendige
Vorhandensein objectiver Untertone, da ja nicht fiir jeden
Ton ein entsprechend tiefer gestimmter mitschwingender Korper
in der Nahe ist. Ebensowenig die subjective Erregung von
Untertonen durch eine objectiv einfache Luftschwingung, da ja
gerade auf das objective Vorhandensein des Untertons Nach-
druck gelegt wird. Der Wert des Versuchs fiir unsre Frage
konnte nur etwa darin gesucht werden, dass ein Fall aufgezeigt
ware, wo ein tiefer gestimmter elastischer Korper bei primarer
Erregung eines hoher gestimmten in totale Schwingungen gerat.
Wenn dies draussen stattfindet, so konnte man schliessen, dass
es auch im Ohre so sein wird. Also eine objective Analogic
ware gefunden, durch welche die allgemeine und notwendige
*) tJber das musikalische H6i*eii. Gottinger Dissert, v. J. 1873, gedr.
1874. Im Buchhandel unter dem Titel „Musikalische Logik" 1874.
*) Musikalische Syntaxis (,1877) 6 und 121.
266 § 21. Analysiren und Heraushoren
Entstehung von Untertonen im Ohre gestiitzt, wenn aucli nicht
bewiesen wiirde.
Allein die Theorie verlangt ja fiir dieseii Zweck gar nicht
ein totales Mitschwingen , ihr geniigt schon ein partielles Mit-
schwingen tiefergestimmter Teilchen der Grundmembran (Bil-
dung von Knotenpuncten), fiir welches die physischen Analogien
ohnedies langst bekannt sind. Wenn nur liberhaupt eine be-
stimmte Faser hinreichend stark in Erregung kommt, einerlei
in welcher Weise, total oder partiell, so geniigt dies nach dem
Princip der specifiscben Energien zur Empfindung des ihr ein
fiir allemal eigentiimlichen Tones; wie dies Riemann selbst
in seiner ersten Schrift hervorhebt. Ich kann also nicht ein-
sehen, in welcher Beziehung obiger Versuch, wenn er zutrifft, be-
weisend oder auch nur niitzlich fiir die Untertonlehre sein soil.
Tatsachlich nun trifft er nach meiner Beobachtuug zu. Aber
die Ursache ist eine andere: nicht die Mitschwingung dieses
speciellen Tons speciell auf seine hohere Duodecimo, sondern die
allgemeine Erschiitterung des Instrumentes. Man hort ein Ge-
rausch, in welchem aber natiirlicherweise c hervortritt, da der
Dampfer nur fiir diesen Ton aufgehoben ist. Hebt man ihn fiir
e oder f oder a auf, so hort man diese Tone, zum Teil sogar
deren Obertone. Ebenso verhalt es sich bei jedem anderen Ge-
rausch, z. B. wenn man auf den Deckel des Instrumentes klopft.
Auch dann hort man den Ton der nicht gedampften Saite oder
einen ihrer Obertone.
Eesonatoren sollen nach Riemann ebenfalls auf einen Haupt-
ton mitkhtigeu, der ihreu Eigenton als Unterton enthalt. Hier
scheint es sich ahnhch zu verhalten. Nicht bios durch einen Ober-
tou ihres Eigentons, sondern durch alle starkeu Tone werden Re-
sonatoren etwas erregt, und zwar, soviel ich hore, ganz fluchtig zu
Beginn des erregenden Tons und nach Aufhoren desselben.^)
^) Resonatoren und ahnliche Apparate klingen liberhaupt merklich
nach. Wenn man eine nicht zu kleine Flasche (halbe oder ganze Wein-
flasche) anblast und sofort an's Ohr halt, hort man den Ton nachklingen.
Lasst man sie nach dem Anblasen vor dem Munde, so ist der Ton sofort
erloschen; das Nachklingen dringt nicht bis zum Ohr.
bei ungleicher Starke der Klangteile, 267
An Stimragabein fand Peeyer, dass man durch hohere Gabeln
tiefere nicht zum Mitschwingen bringen kann, auch wenn diese im
Verhaltnis vou Untertonen zu jenen stehen^). Und Stimmgabeln
auf Resonanzkasten, wie er sie bentitzte, nennt er nicht mit Un-
recht „beispiellos empfindlich".
An der Violine finde ich Folgendes. Ich setze eiu Papier-
reitercben, wie es ofter zum Nachweise der Knotenpuncte einer
schwingenden Saite benutzt wird, auf die y-Saite uahe an den Steg, und
klebe es dann unten mit einem Stiickchen Papier zu, sodass es
nun als ein offenes dreiseitiges Prisma die Saite umschliesst, ohne
doch seine Beweglichkeit zu verlieren. Wenn ich nun g'^ auf der
r^^- Saite ganz leise anstreicbe und dabei den Kopf der Violine
schwach nach unten neige, so bewegt sich das Reiterchen in er-
gotzlicher Weise die Saite entlang, bleibt aber in der Mitte, genau
da wo g^ als Flageolet gegriffen wird, stehen. Hilft man ihm uber
diesen Punct hinaus, so bewegt es sich wieder von selbst weiter.
Streiche ich nun statt g'^ d''-, so bleibt es an zwei Puncten, an
jedem Drittel der Saite stehen. Streiche ich g^, an jedem Viertel;
bei ^^ an jedem Fiinftel; bei <^^ an jedem Sechstel.
Insoweit ist dies bios eine augenfallige Erlauterung fiir das
partiale Mitschwingen der tieferen Saite, indem sie durch Knoten-
bildung in solche schwingenden Telle zerfallt, welche dem jeweiligen
primar erklingenden Ton entsprechen. Wenn ich nun aber g''- sehr
stark streiche, so bewegt sich das Reiterchen auch ohne Nachhilfe
tiber den kritischen Punct hinaus ; und wenn es unten nicht ge-
schlossen ist, so fallt es auf diesem Puncte wie auf jedem anderen
ab, wahrend es bei schwachem Streichen auf diesem Punct sitzen
bleibt. Die tiefere Saite schwingt also bei starkem Streichen auch als
Ganzes mit. Wie leicht konnte man nun hieraus wieder auf die
objective Existenz der Untertone schliessen!
') Akust. Unters. 17. Ich habe dies bei zahlreichen Stimmgabeln
iiberall nur bestatigt gefunden. Nach einem Citat R. Konig's (Wied.
Ann. XI 858) hat auch schon Seebeck ausgesprochen, ,,dass ein tonfahiger
Korper in Schwingung versetzt wird durch jeden Ton seiner harmonischen
Unterreihe, nicht aber durch hohere Tone".
268 § 21. Analysiren und Heraushoren
Aber genauer zugesehen liegt die Ursache wiederum nur in
der allgemeinen Erschiitterung des Instrumentes. Denn das Rei-
terchen fallt ebenso ab, wenn ich einen beliebigeu anderen Ton
sehr stark streiche. Wenn ich dagegen g'^ auf einer zweiten Violine
sehr heftig angebe, bleibt es sitzen. Es fallt aber wieder ab, wenn
ich den Grundton g selbst auf der zweiten Violine heftig streiche.
Doch wird hier besser statt der ^-Saite eiue der hoheren Saiten
benutzt. (Auffallig ist nebenbei, dass das Reiterchen beim Angeben
des Grundtons durch eine andere Violine leichter abfallt, wenn es
uicht gerade in der Mitte sitzt. Es geht daraus hervor, dass sich
auch in diesem Fall Knotenpuncte in der bios mitschwingenden
Saite Widen und dass die Totalschwingung derselben viel geringer
ist als die Partialschwingungen.)
Auch das Ohr vernimmt, wenn g^ auf einer Violine stark an-
gegeben wird, nichts vom Mitklingen eines g als solchen; und wenn
man, nachdera g'^ angegeben war, auf das Nachklingeu der freien
y-Saite achtet, so hort man sic wiederum nur mit dem Ton g^
nachklingen, nicht mit ihrem eigenen. Dieses nachklingende g^
stamrat nicht etwa von dem angegebenen Primarton selbst. Man
kann denselben sofort dampfen und hort es doch; und andere Tone
auf derselben Saite, wie «^, /"^ liefern auch ungedampft bei weitem
uicht eiu so inteusives und langes Nachklingen.
Bei dem Versuch mit dem geschlossenen Reiterchen kann man
iibrigens wirklich unter Umstauden mit seinem leiblichen Ohre voll-
kommen deutlich den Ton g wahrnehmen, wahrend g^ gestrichen
wird. Aber leider ist's wieder nicht ein Unterton in dem Sinne,
wie er gesucht wird. Es entsteht namlich leicht durch die Be-
ruhrung des Reiterchens mit dem Griff brett ein sg. Klirrton, und
dieser ist, wenn g^ angegeben wird, kein anderer als eben ^.^) In
diesem Falle handelt es sich aber um einen objectiven Ton selb-
standigen Ursprunges, wie er auch in anderen Fallen (z. B. beim
lockeren Aufsetzen einer schwingenden Gabel) zum Vorschein kommt.
^) Beim Spielen auf Darmsaiten kann man zuweilen einen solchen
Klirrton, die tiefere Octave eines auf der Saite gegriffenen und primar
erklingenden Tones, horen, wenn sich ein Faserchen von der Saite teil-
weise abgedrdselt hat und das Griffbrett beriihrt.
bei ungleicher Starke der Klangteile. 269
"Wenn man diese Klirrtdne und Tone verwandten Ursprunges, well
sie arithmetisch den gesuchten Untertonen entsprechen (eine den
Obertonen reciproke Reihe geben), ebenfalls Untertone nennen
will ^), so mag man es tun. Aber mit den von Riemann postulirten
subjectiv-allgemein-notwendigen Untertonen haben sie Nichts zu
schaifen; und ich bin erstaunt, dass Riemann in seinem „Musik-
lexikon" nicht bios im Art. „Klirrtone" diese einfach unter seine
„Untert6ne" subsumirt, sondern auch im Art. „Untert6ne" zur Entschei-
dung uber seine Hypothese einen Versuch vorschlagt, welcher eben-
falls nur Untertone in einem ganz verschiedenen und fiir seine
Theorie irrelevanten Sinn beweisen wiirde. Man solle niimlich eine
Sirene unter zweierlei Wind von verschiedenem Druck setzen, wel-
cher durch Schlauche so nach den Offnungen geleitet wiirde, dass
z. B. bei 12 Lochern jedes zweite oder dritte verstarkten Wind
erhielte. Wenn man unter diesen Umstanden einen tieferen Ton
neben dera hoheren vernimmt — was folgt denn? Ebensogut konnen
wir ja zwei verschiedene Pfeifen, eine hohe und eine tiefe, durch
einen gemeinsamen Blasebalg anblasen. Das Wesen der Untertone,
wie sie Riemann zuerst postulirte, sollte doch nicht darin bestehen,
dass irgend eine ausserliche Manipulation hohe und tiefe Tone zu-
gleich hervorbringt, sondern dass selbst eine streng einfache Luft-
welle neben dem ihr entsprechenden Ton noch tiefere rein subjectiv
miterzeugt. Riemann scheiut mir daher auf seiner Suche nach
Untertonen von seinem urspriinglichen Begriffe ganz abgekommen
zu sein^). Wenn nur unter ganz zufalligen oder auch raffinirt aus-
gesonnenen Umstanden in vereinzelten Fallen Untertone zum Vor-
^) So F. AuERBACH, der die ,, Untertone" locker aufgesetzter Gabeln
auf der Casseler Naturforscherversammlung democstrirte (Tageblatt der
51. VersammluDg d. N. u. A. 1878 S. 40); ferner neuerdings H. Schroder,
der durch eigenartige gewaltsame Beriihrung der Violinsaiten mit dem
Bogen schlecht klingende „Untert6ne" erzeugte (Lessmann, Allgem. Musik-
zeitung 1886, S. 230 nach Ref).
2) Schon in dem o. 252 erwahnten Schriftchen Riemann's vom Jahre
1875 findet sich eine solche fisTd/iaGig dq alio yivoq. Dort werden die
Untertone mit den Diflferenztonen identificirt. Aber Differenztone werden
ja nicht durch eine einfache, sondern nur durch Verhindung zweier Luft-
wellen erregt.
270 § 21. Analysiren und Heraushoren
schein kamen, was sollten sie fiir eiue allgemeine Theorie der Con-
sonanz, fiir den Aufbau eines Musiksystems niitzen?
Also der Beweis fiir die Untertone ist iiicht erbracht.
Aber bleiben sie nicht wenigstens eine moglicbe Hypotbese,
oder baben wir Beweise dagegen?
Was micb an die wirklicbe Existenz der Untertone in der
Empfindung nicht glauben lasst, ist vor AUem der Umstand, dass
solcbe Tone durcbaus unwabrnebmbar sind, wenn sie nicbt etwa
scbon durcb die Bescbaffenbeit des ausseren Reizes miterzeugt
werden. Unwabrnebmbarkeit ist nicbt immer ein Beweis fiir
das Nicbtvorbandensein. Aber es stebt uns andererseits aucb
keineswegs frei, unwabrnebmbare Elemente unter beliebigen Um-
stiinden anzunebmen, sondern die Unwabrnebmbarkeit muss durcb
die besonderen Umstande psycbologiscb gerecbtfertigt werden.
RiEMANN nun erklart sie im vorliegenden Fall daraus, dass es
kein Mittel gebe, das Starkeverbaltnis der Untertone zum Haupt-
ton zu andern, und dass Vorstellungen von stets gleicbbleibender
Zusammensetzung uns als einfacbe erscbeinen miissen^).
Indessen, wenn man aucb das letzte Princip zugeben wollte:
das Starkeverbaltnis konnte docb kaum ganz unveranderlicb
sein. Scbwacbe Empfindungen und speciell Tonempfindungen
unterliegen Starkescbwankungen, selbst einem Wecbsel von
Verscbwinden und Wiederkommen, wabrend der starkere Ton
dauert^). Aucb sind wir im Stande, scbwacbe Teiltone obne
aussere Hilfsmittel willkiirlicb zu verstarken, und man siebt
nicbt ein, warum dies bei Untertonen unmoglicb sein sollte.
Das Mittel dazu ist bei Obertonen und Differenztonen einfach
die lebbafte Vergegenwartigung der beziiglicben Tonbobe in
der Pbantasie; dasselbe Mittel stebt uns natiirlicb gegeniiber
den Untertonen zu Gebote.
Ferner, wenn wir aucb zufolge der Hypotbese den Ton c^
niemals obne cS f, c, As u. s. f. gebort baben, so baben wir
^) tJber d. musik. Horen 13.
2) Helmholtz, Physiol. Optik ' 365. Uebantschitsch, Centralblatt
f. d. medicin. Wiss. 1875, No. 37, u. 6.
bei ungleicher Starke der Klangteile. 271
docli c\ f, c, As u. s. f. ohne c^ gehort. Also selbst weun wir
das obige Princip, woraus die Nichtwahrnehmung sich begreifen
soil, einraumen wollten: die Voraussetzung der regelmassigen
Coexistenz und des unveranderten Starkeverhaltnisses trifft
factiscb nicht zu. Die Untertone konnten schwerer wahrnehm-
bar sein als die Obertone, aber keineswegs diirften sie der
Wahrnehmuug sich ganz entziehen.
Es fehlt also an einer geniigenden Motivirung fiir jene an-
geblicb unbedingte Unmoglichkeit des Herausborens der Unter-
tone. Die eiuzige geniigende Erklaruug scheint doch eben die
zu sein, dass sie nicht da sind.
Schliesslich, wenn trotz Allem bei starken Tonen un-
wahrnehmbare Untertone mitempfunden wiirden, so ergabe sich
doch zum Mindesten fiir den Fall eines schwachen Tones die-
selbe Consequenz wie hinsichtlich der subject! ven Obertone: die
Erregung der Untertone muss von einem gewissen Punct an so
schwach sein, dass sie unter die Empfindungsschwelle sinkt.
Es wird also einen Starkegrad geben, bei welchem der Primar-
ton noch vollkommen deutlich gehort wird, wahrend seine Unter-
tone aus der Empfindung verschwundeu sind. Somit ist auch
schon aus diesem Grunde die notwendige und allgemeine Exi-
stenz von Untertonen in der Empfindung zu leugnen^).
^) Ich iiatte friiher nocli ein directeres Bedenken gegen die Unter-
tone. Wenn namlich c^ und g"^ zusammen angegeben werden; miissten
nicht durch ihre beiderseitigen Untertone subjective Schwebungen ent-
stehen? Die Untertonreihe von c^ enthalt z. B. f, die von g^ enthalt g
und es, welcbe sonst mit f deutliche Schwebungen geben. Nun sind
Schwebungen oft im Gesammtklang wahrnehmbar. wenn die sie erzeugen-
den Tone nicht wahrnehmbar sind und geben ein Mittel, das Vorhanden-
sein der letzteren zu constatiren. Von solchen Schwebungen ist aber
wiederum nichts zu bemerken.
Wenn ich dieses Bedenken jetzt nicht mehr fiir ganz durchschlagend
(obschon immerhin fiir beachtenswert) halte, so geschieht dies mit Riick-
sicht auf die ebenfalls nicht bemerkbaren Schwebungen von Summations-
tonen in dem o. 254 angefiihrten Beispiel (wo freilich 4 Primartone con-
curriren) und auf die mogliche Ausflucht, dass die Untertone in anderen
Teilen des Ohres als die Schwebungen entstanden (was sich doch auch
nur schwer vertreten liesse).
272 § 21. Analysiren und Heraushoren
Die Frage nacli dem Vorkommen einfacher Tonempfindungen
ist hienach, soweit sie sich auf die Freiheit von Ober- und
Untertonen bezieht, in bejahendem Sinne zu beantworten.
Zu 4) und 5). Diese beiden Annahmen, wonach ein ein-
fach scheinender Ton noch aus ebensovielen Tonen bestande, als
benachbarte initschwingende Fasern vorbanden sind (Hostlnskt),
und wonacb jeder Ton innerbalb der Tonreihe aus den Ele-
menten des „Dumpfen" und „Hellen" zusammengesetzt ware
(Mach), fallen insofern auch noch unter den allgemeinen Gegen-
stand dieses Paragrapben, als die Klangcomponenteii im Allge-
meinen ungleicbe Intensitat (bez. Quantitat) haben wiirden. Ver-
suche zur directen Nachweisung der Elemente liegen in beiden
Beziebungen nicbt vor, es handelt sich um reine Hypothesen.
Solche miissen sich durch ihren Zweck, durch das theoretische
Bediirfnis, dem sie dienen, rechtfertigen; und dieses liegt beider-
seits in der Erklarung der Tatsache, dass die sg. einfachen
Tone eine Reihe bilden, was bei wirklich einfachen Empfin-
dungen nach Ansicht der genannten Forscher nicht denkbar
ware. Wir haben indessen I 111 f. und 425 bereits gezeigt,
dass dem Begriffe einfacher Ahnlichkeiten nicht bios Nichts im
Wege steht, sondern dass er auch fiir die Anhanger solcher
Erklarungen selbst uuentbehrlich ist^). Die MAcn'sehe Hypo-
these war damals noch nicht aufgestellt ^). Es lasst sich aber
auch an ihr das Namliche dartun.
^) Die Hypothese Hostinsky's stiitzt sich ausser auf die Unmog-
lichkeit einfacher Ahnlichkeiten allerdings noch auf eine andere Grund-
lage, auf die physiologische Notwendigkeit der Miterregung benachbarter
Fasern. Dass aber hieraus nicht das Vorhandensein eben so vieler Em-
pfindungen folgt, dass vielmehr gewisse tatsachliche Wahrnehmungen
dieser Folgerung widersprechen, zeigten wir II 111 f.
'■^) Sie ist zuerst in den Sitz.-Ber. der Wiener Akad., Dec. 1885, dann
in Mach's „Beitragen zur Analyse der Empfindungen" 1886 (113 f.) ver-
offentlicht.
Mach lehnt meine Behauptung einfacher Ahnlichkeiten ab mit Be-
rufung auf sein Forschungsprincip des Parallelismus, wonach jeder Eigen-
tumlichkeit unsrer Empfindungen auch eine Eigenturalichkeit des Nerven-
vorgangs entsprechen muss. Ich erkenne dieses Princip an (und wer tate
es nicht), solange unter Empfindungen, wie hier, die gewohnlich so-
bei ungleicher Starke der Klangteile.
27:
Die Elemente „Dumpf" (D) unci „Hell" (H) sollen in den
Tonen der Tonreihe so gemischt sein, dass bei den tieferen das
D, bei den hoheren das H iiberwiegt,
wie dies die beistehende Figur, in
welcher D durch die scliraffirte, H
durch die freie Flache vertreten ist,
anscbaulich macht. Eine Senkrecbte
durch das ganze Rechteck bedeutet einen Ton. Jeder Ton
innerhalb des Recbtecks enthalt also etwas von D und
etwas von H.
Es leuchtet nun ein, dass die Hypothese ein Reihenver-
haltnis innerhalb der D-, und ein Reihenverhaltnis innerhalb
der H- Elemente voraussetzt. Um also die Reihenbildung der
Tone zu erklaren, muss sie zwei andere Reihenbildungen an-
nehmen. Und wenn diese wieder nach gleicher Methode er-
klart werden sollen, kommen wir in's Unendliche. Auch sieht
man, dass das eine der beiden Elemente iiberhaupt nicht notig
ware. Wenn jeder Ton nach seiner Stellung in der Tonreihe
nur durch seinen Anteil an D charakterisirt ware, oder nur
durch seinen Anteil an H, so kann das andere Element allezeit
Null sein, es wird doch eine Reihe unter den Tonen bestehen.
genannten Sinnesempfindungen, und nicht etwa sammtliche psychische
Zustande verstanden werden, finde es aber gerade von Mach's sonstigem
Standpunct, welchei- jede Art von Trennung oder Ungleichartigkeit der
beiden Gebiete des Physischen und Psychischen verneint, nichts weniger
als „beinahe selbstverstandlich" (28). Wenn das Physische selbst nur in
Empfindungen besteht, warum miisste denn ein Parallelismus zwischen
den einen und anderen Empfindungen stattfinden? Verstandlich wird mir
der Parallelismus gerade erst dann, wenn man die beiden Gebiete unter-
scheidet, geschehe dies nun in Cartesianischer oder Spinozistischer Weise.
Ursache und Wirkung miissen parallel laufen, nicht minder Convexitat
und Concavitat einer Curve (Fechner); warum aber eine und eine andere
Gruppe von Empfindungen?
Also das Princip in Ehren: aber warum soUte es mit den ein-
fachen Ahnlichkeiten unvereinbar sein? Mach de^utet Nichts dariiber
an. Wir werden eben im physischen Gebiet gleichfalls einfache Ahn-
lichkeiten statuiren.
stum pi', Tonpsychologie. II. 18
274 § 21. Analysiren iind Hcraushoren
Dies Eine Element aber ware dann nichts Anderes als eben die
Tonqualitateu selbst, wie wir sic wahrnclimcn ^).
Im Cbrigen hangt die Formulirung meiner Einwilnde noch
von speciellerer Fassung der Lehre ab. So ist es nicht ganz
klar, ob Mach unter den „Elementen" D und H Tone in dem
uns bekanntcn Sinn odor irgendwelclie lietcrogcno, uns ganz un-
bekannte Qualitilten vcrstclit (womit weiter aiich zusammenhangt:
ob das Vcrhaltnis, in welchem sich die Elemente mischen, ein
Intcnsitiitsverhaltnis oder sonst irgend ein graduell oder quanti-
tativ abgestuftes Verbaltnis sein soil). Einmal nennt er aller-
dings D und H „die Erapfindnngen, die einem hochsten und
tiefsten Ton ontsprechen" (Beitr. 137); und dies ist auch die
einzig mogliche Conscquenz. da im hcichstcn Ton eben nur H,
im tiefsten nur D onthalten sern kann-). Aber dann waren sie
ja Glieder ebon dor Reiho, deren Zustandekommen durch sie
erklart werdeu soil. Audi stande ibre unaufloslicbe Mischung,
wenn sie Tone im eigeutlicben Sinne sind, mit der von Mach
selbst ausserdem bervorgehobenon Tatsacbe im Widerspruch,
dass niemals zwei Tone sich zu einem mittleren vermiscben ^).
') Das gleiche Eedenkcn habe ich gcgen die Zerlegung des Grau in
Schwarz und Weiss, welche Mach als Analogie vorschwebt. Warum
miisste notwendig immer mit einer Abnahme an Scbwarz eine Zunahme
an Weiss verbunden sein, warum nicht auch der Fall vorkommen, dass
die Quantitjit von Schwarz dieselbe bliebe und nur die von Weiss sich
anderte? (bei Tonen: dass die Tiefe des Tons dieselbe bliebe. die
Hohe sich aber anderte?)
'^) Ob wir diese Endtiine wirklich isolirt horen konnen oder nur
eine Annaherung daran, ware hier eine secundare Frage; sie wiirden
sich doch, wenn wir die Horfahigkeit entsprechend erweitert denken,
als Empfindungen gleicher Gattung mit den jetzt gehorten darstellen
und sich von denselben nicht anders unterscheiden als diese unter sich.
*) Diesem Bedenken begegnet Mach in einer dariiber gefiihrten
Correspondenz durch die Erinnerung daran, dass die Tone der Tonreihe.
welche sich nicht mischen, nach seiner Meinung verschieden localisirt
seien, und zwar nicht bios in der Schnecke, sondern als Empfindungen,
wahrend D und H in jedem Ton der Tonreihe gleich localisirt seien.
Ich kann mich aber von der Existenz jener verscbiedenen Ton-Orte in
der Empfindung nicht iiberzeugen; s. o. .55 f.
bei ungleicher Starke rler Klangteilc. 275
Oder weiin das Zusammonsoiii von D und H etwa koine wirl:-
liche Mischung, sondern nur oin gleichzeitiges Erklingen sein
soil, so ware niclit dor goringstc Grund, warum wir diese beiden
Tone D und H niclit in allon Zwischentonen auch wirklich
sollten horaushoren konnen, ganz besonders in der mittleren
Lage, wo sic in nahezu gleicher Intensitat auftreten wUrden.
Es milsste libcrhaupt oin mitthn-er Ton uns qualitativ ganz den-
selben Eindruck maclien, wie die Gleiclizeitigkeit dos liochsten
und tiefsten.
Ein Auswog wiirc, D und H niclit fiir Tone im erfahrungs-
raiissigen Sinn, sondern fiir Empiindungen von ganz unbekannter
Qualitat zu erkliiren. Dies stimmt aber, wie orwiibnt, nicht mit
den Consequenzen der Theorie. Auch wiirden neue Schwierig-
keiten entstehen in Hi]isicht der ,,Cbemie der Empfindungen",
wie sie liiebei vorausgesetzt wiirde; worauf wir jedoch bier
nicht weiter einzugehen brauchen. Denn das Interesse an der
Theorie wiirde nach dieser Fassung fiir unsere gcgenwartigen
Zwecke aufhoren, da wir nur von der Verbindung gleicbzeitiger
Tone handeln.
Es ist sehr merkwiirdig, dass gerade Mach, der in dem
„()konoraischen" Princip das eigentliche Wesen des wissenschaft-
lichon Denkens erblickt — ganz in Ubereinstimmung mit dem
alten Satze „Entia non sunt multiplicanda praeter necessi-
tatem" — , dass gerade er sich veranlasst fand, in der An-
nahme von Entitiiten auf unsrem Gebiete weiter zu gehen, als
irgend ein Anderer. Ich muss gestehen, dass der von dem aus-
gezeichneten Forscher bier eingeschlagene Weg einer sg. Ana-
lyse der Empfindungen mir auf ein ahnliches Verfahren binaus-
zulaufen scheint, wie es Aeistoteles der platonischen Ideen-
lehre zum Vorwurf macht. Um die Ursachen des Seienden zu
finden, sagt or, babe sie es vordoppelt. Hier konnte man sogar
sagen: verdreifacbt. Denn der Ton soil seine Hobe haben
durch Teilnahme nicht bios an der Idee der Hobe sondern
auch der Tiefe. Und miissen wir nicht ebenso die Intensitaten,
da sic eine Reibo bilden, durch Teilhaben an einem idealen
F(ortissimo) und P(ianissimo), ein massiges Gerausch durch
18*
276 § 22. Function der Aufmerksarakeit
Mischuug eines ohrenzerreissenden Getoses mit dem leisesten
Fliistern, eine behagliche Zimmerwarme durch Mischung afri-
kanisclier Hitze und sibirischer Kalte, einen massigen Zahn-
schmerz durch Verkniipfung des wahnsinnigsten Reissens mit
hochster Zahnlust, eine biiigerlicli geniigende Tugendhaftigkeit
durch hypostatische Union von gottlicher Heiligkeit mit teuf-
lischer Verworfenheit erklaren und alle diese Dinge in die
Formel [1 — f (n)] x -[- f (n) y bringen? Unmoglich, dass dem
geistvollen Naturforscher solche Consequenzen entgangen waren,
und wieder unmoglich, ihnen zu entgehen! —
Wir kommen also zu dem Ergebnis, dass weder Schliisse
aus Beobachtungen noch allgemeine Erwagungen irgend einen
Grund an die Hand geben, das erfahrungsmassige Vorkommen
ganzlich einfacher Tonempfindungen zu leugnen, und dass
wir nach wie vor die oben bezeichneten Classen von Ton-
erscheinungen als Beispiele solcher Empfindungen betrachten
diirfen.
§ 22, Function der Aufmerksamkeit bei der Analyse
und dem Heraushoren.
In den vorangehenden Paragraphen sind einige Bedingungeu,
von denen die Leichtigkeit der Analyse gleichzeitiger Tone ab-
hangt, Verschmelzung und Intensitatsverhaltnis derselben, ge-
nauer untersucht. Der gegeuwartige ist einer anderen Be-
dingung gewidmet. Sie liegt nicht, wie jene, in dem Sinnesinhalt
selbst, sondern iiv einem psychischen Verhalten. Welche Theorie
man auch iiber das Zustandekommen der Klanganalyse geben
mag, nach jeder Theorie ist der Grad der Aufmerksamkeit von
Bedeutung. Art und Umfang ihres Einflusses muss nun genauer
untersucht werden, Dabei ziehen wir, wie im vorangehenden
Paragraphen, ausser dem Analysireu im engsten Sinne das
Heraushoren von Teiltonen besonders in Betracht, da gerade
in dieser Richtung nach allgemeiner Annahme eine Hauptleistung
der Aufmerksamkeit zu such en ist.
bei der Analyse und dem Heraushoren. 277
1. Wesen und primare Wirkung der Aufmerksamkeit.
Zuvorderst muss ich in Hinsicht dessen, was im § 4 iiber
das Wesen und die primare Wirkung der Aufmerksamkeit iiber-
liaupt gesagt wurde, eine Erganzung und eine Modification ein-
treten lassen. Die Aufmerksamkeit, sagten wir, sei ein Gefiihl,
und ihre primare Wirkung sei die langere Forterhaltung des be-
ziiglichen Inhaltes im Bewusstsein. Unter solcher Forterhaltung
war natiirlich nicht etwa bios verstanden die langere Dauer
der Vorstellung, nacbdem sie nicht mehr Empfindung ist, son-
dern aucb das Bewusstsein dieser Dauer, d. h. die Vorstellung
der bereits vergangenen zeitlichen Empfindungsstrecke als einer
vergangenen, mit diesem Merkmal behafteten, sodass der Ein-
druck, wahrend er im Bewusstsein erhalten bleibt, zugleich eine
immer grossere zeitliche Ausdehnung gewinnt^). Man wiirde
darum nicht mit Recht einwenden, dass die Aufmerksamkeit
durch eine langere Dauer der Empfindung vermoge langerer
Reizeinwirkung zu ersetzen sein miisste; denu die blosse Ein-
wirkung des ausseren Reizes ist nicht im Stande, die vergangene
Empfindungsstrecke als vergangene uns zum Bewusstsein zu
bringen.
Dennoch scheint mir jetzt die primare Wirkung des Auf-
merkens nicht richtig mit dem Obigen angegeben. Es ist offen-
bar noch zweierlei: die langere Forterhaltung (einschliesslich
der zeitlichen Vergrosserung) und die aufmerksame Fixirung
wahrend dieser Dauer. Wenn wir wahrend eines Gespraches
die Uhr schlagen horen und unmittelbar nach dem letzten
Schlag unsre Aufmerksamkeit dieser Eindrucksreihe zuwenden,
gelingt es nicht selten, sie vollstandig zu reproducireu und die
Zahl der Schlage anzugeben. Vor diesem Moment wurde jeder
Schlag nicht bios empfunden sondern audi im Bewusstsein fort-
erhalten und zeitlich zurtickgeschoben, sodass ims der jeweilig
vorangegangene nunmehr als der langervergangene, und der
Gesammteindruck als Eindruck von entsprechender zeitlicher
^) Diesen Umstand hat Brentano zuerst (in Vorlesungen) als eine
inhaltliche Vcranderung der Vorstellung mit begrifflicher Klarheit be-
schrieben.
278 § 22. Function der Aufmerksamkeit
Ausdehuung erscheint. Aber dies kann here its gescbehen, ebe
die Aufmerksamkeit ihm zugewandt wird. Wenn nun in einem
anderen Fall die Aufmerksamkeit von vornberein dieser Ein-
drucksreibe zugewandt ist: worin soil ibre Wirkung nocb be-
steben? Was sie nach obiger Annabme leisten sollte, wird ja
scbon obne sie geleistet. Und docb muss sie, einem Eindruck
zugewandt, scbon von Anfang an eine gewisse Wirkung aussern,
wenigstens den Anfang einer Wirkung. Nebmen wir an, dass
in Folge eiuer plotzlicben Gemiitserscblitterung mit dem letzten
Scblag der Eindruck der Ubr, auf den wir gemerkt batten,
vollkommen aus dem Bewusstsein binweggewiscbt werde, so
wUrde nacb unsrer friiberen Tbeorie die vorberige Zuwendung
der Aufmerksamkeit bier obne jeglicbe Wirkung geblieben sein.
Es ware psycbiscb vollig einerlei, ob Einer etwas aufmerksam
Oder unaufmerksam borte; erst nacbber wiirde sicb der Unter-
scbied geltend macben — wenn Nicbts dazwiscben kommt.
Welcbes ist also die primare Wirkung des Aufmerkens?
Nicbts anderes wol, als ein Bemerken. tlberall wo wir
auf einen Inhalt merken, mag es eine Empfindung oder blosse
Vorstellung sein, werden oder wollen wir etwas bemerken (letz-
teres bei der willkiirlicben Aufmerksamkeit) und zwar irgend-
welcbe Teile in diesem Inbalt oder irgendwelcbe Verbaltnisse
zwiscben diesen Teilen oder zwiscben dem Inbalt selbst und
anderen Inbalten. Wir sagten friiber, dass solcbes Bemerken
(Wabrnebmen) wabrend des durcb die Aufmerksamkeit ver-
ursacbten Aufentbaltes eintrete. Es scbeint mir jetzt aber
ricbtiger, zu sagen, dass es selbst die primare Wirkung des
Aufmerkens ist, die langere Dauer dagegen ein selbstverstand-
licbes Mitergebnis der fortgesetzten Urteilstatigkeiten, in welcbe
der Inbalt verflocbten wird.
Nacb dieser Auffassung von der primaren Wirkung des
Aufmerkens ergibt sicb zugleicb die Beziebung zwiscben Auf-
merksamkeit und Analyse als eine besonders innige. Ja, wenn
wir das Wort „Teilerscbeinuug''' im weitesten Sinne und „Ana-
lyse" als Bemerken von Teilerscbeinungen nebmen wollten, so
liesse sicb sagen, die Aufmerksamkeit sei eine analysirende
bei der Analyse and dem Heraushoren. 279
Kraft xat k^oy/iv. Denn als Teilerscheinungen im weitesten
Sinne konnen wir schliesslich uicht bios die in einer Vorstellung
enthaltenen absoluten Elemente (die einzelnen Tone, Linien)
bezeichnen, sondern auch die zwischen zwei solcbeu Elementen
stattfindenden Beziehungen. Auch diese sind im wahrgenommenen
oder wahrzunehmenden Gesamratinhalt eingeschlossen (vgl. I 97).
Im Wesentlicheu ist dies auch schon die Auffassung Lotze's
gewesen (Metaphysik 539 f.). Eineu anscheinenden Gegensatz dazu
bildet diejenige Ribot's, der als Folge der Aufmerksamkeit die An-
uaherung an den „Monoideismus" ansieht (Psychologie de I'Attention
1889); wahreud wir eher das Gegeuteil, die Vermehrung der
gleichzeitigen Vorstellungen durch die Vorstellungen der wahrge-
nommenen Verhaltnisse als das Werk des Aufmerkens, das blosse
Hinstarreu auf einen Gegeustand dagegen uberhaupt nicht fiir eine
intellectuelle Verfassung (etat intellectuel) sondern fur den Mangel
einer solchen erklaren wurden. Doch handelt es sich in gewdhnlichen
Fallen auch nach Ribot nicht um eine blosse Entleerung des Be-
wusstseins sondern auch um Anziehung aller Associationen durch eine
,,idde maitresse" (p. 6). Das ist freilich etwas Positives; ich sehe
nur nicht, wie es aus jener an sich bios negativen Wirkung
folgon soli.
Ehe ich das Gesagte waiter erlautere und erharte, fiige
ich eine damit in Verbindung steheude Erganzung (nicht Modi-
fication) der Ansieht iiber das allgemeine We sen der Aufmerk-
samkeit hinzu. Wir konnen wol naher bestimmen, was fiir
ein Gefiihl die Aufmerksamkeit ist. Jedes einfache Gefiihl
tragt einen mehr oder minder ausgesprochenen Charakter der
Lust oder Unlust, wenn wir diese Ausdriicke im weitesten Sinne
nehmen; es ist positiv oder negativ. Die Aufmerksamkeit ge-
hort zweifellos zu den positiven. Sie ist eine Teilnahme, ein
Interesse, eine Hinwendung zu etwas. Aber der Inhalt selbst,
auf den wir merken, kann ein schmerzlicher, hasslicher, ver-
abscheuungswiirdiger sein. Also ist Aufmerksamkeit nicht ein
Lustgefiihl, das der Eindruck, auf den wir merken, als solcher
mit sich fiihrt. Sie ist vielmehr, wie mir i^cheint, nichts anderes
als die Lust am Bemerken selbst: wobei natiirlich nicht aus-
280 § 22. Function der Aufmerksamkeit
geschlossen ist, dass ein Eindruck durch die an ilin gekiiiipfte
Lust auch eiue solche Lust des Bemerkens, Unterscheidens,
Vergleichens hervorruft.
Nicht bios an die Sinnesinhalte ist ja Lust und Unlust
gekniipft, sondern auch an psycliische Acte. Und iiberall wo
ein Wahrnehmen als solches uns Lust gewahrt, mag das Wahr-
genommene angenehm oder unaugenehm sein, da sprechen wir
von Aufmerksamkeit auf dasselbe. Das Bemerken ist also nicht
bios die primare Wirkung, sondern auch der eigentliche, nachste
Gegenstand des Aufmerksamkeits-Gefiihls, das woran wir
diese specifische Lust haben. Doch kann der Lihalt, auf den
wir gerade merken, natiirlich ebenfalls mit Recht als ein Gegen-
stand und Inhalt der Aufmerksamkeit bezeichnet werden, da
sich's eben um eine Lust am Bemerken dieses und keines an-
deren Inhalts handelt.
Auch das Wort „Interesse", wo es mit Aufmerksamkeit
gleichbedeutend gebraucht wird ^), besagt nicht sowol Lust an
^) Die Identification von Aufmerlfsamkeit und Interesse I 68 hat
Anstoss erregt. Soviel ist ja richtig, dass nach dem Sprachgebraucli
beide Ausdriicke nicht immer genau fiir einander eintreten konnen (auch
wenn wir von bios grammatikalischer Ungleichheit der Behandlung ab-
sehen), z. B. wenn ich sage: „ich nehme Interesse an diesem Menschen",
oder: ,.ich bin bei diesem Geschaft interessirt". Aber ich wollte auch
nicht behaupten, dass man die Ausdriicke immer fiir einander setzen
konne. Wer mochte in solchen Dingen die allgemeine und ausschliess-
liche Bedeutung eines Ausdrucks abzustecken unternehmen? Auch „ Auf-
merksamkeit'' fiir sich allein ist nichts weniger als eindeutig. Wenn ich
Jemand „eine Aufmerksamkeit erweise", so wird auf diese Aufmerk-
samkeit schwerlich irgend eine der psychologischen Definitionen passen.
Ich wollte nur die Bedeutung beider Ausdriicke fiir unsren Zweck be-
stimmter machen durch die Beschrankung beider auf die Falle, in denen
sie fiir einander gesetzt werden konnen (z. B. interessant = Aufmerk-
samkeit erregend). Jeder von beiden soil die Bedeutung haben, welche
ihm zukommt, wenn wir den anderen dafiir setzen konnen.
RiBOT bezeichnet die Verwunderung und das Staunen als eine ge-
steigerte Aufmerksamkeit und rechnet sie zur Gruppe der Gefuhle
(emotions, commotions 39 f.). Dann ist also auch Aufmerksamkeit ein
Gefuhl.
bei der Analyse und dem Heraushoren. 281
dem beziigliclieii Inlialt als an der Kenntnisnahme von dem-
selben. Wenn der Recensent ein Stiick weder von Herzen loben
uoch tadeln mag, wenn es ihn nicht erwiirmt und nicM aL-
gestossen hat, so kann es immer noch „interessant" gewesen
sein, und oft genug zieht er sich mit diesem Pilaster fur den
Autor aus der Sache. Das Stiick war ihm nicht angenehm;
aber wirkhch und aufrichtig angenehm kann es ihm gewesen
sein, dessen Bekanntschaft zu machen.
Dieses Lustgefiihl ist, wie jedes, trotz des gemeinsamen
positiven Grundcharakters, durchaus eigenartig, und insofern
bleibt die Aufmerksamkeit undefinirbar. Die Intensitat des-
selben kann unter Umstanden (bei neugierigen oder „theore-
tischen" Naturen) so stark werden, dass es selbst Entsetzlichem
gegeniiber nicht ganz verschwindet, ja auch heftige sinnliche
Schmerzen Ubertaubt oder lindert. Der Schmerz, den der sinn-
liche Eindruck an sich verursacht, kann unterdriickt werden
durch die Lust am Beobachten, durch intensivstes Aufmerken,
und zwar nicht bios durch Aufmerken auf Anderes sondern
auch auf diesen Schmerz selbst, d. h. auf Beziehungen, Unter-
schiede, Verhaltnisse, als deren Glied er erscheint.
Aber liegt nicht ein Cirkel in der Behauptung, dass ein
Bemerken sowol Inhalt als Wirkung der Aufmerksamkeit sei?
Muss nicht hienach, damit Aufmerksamkeit moglich sei, bereits
Meinesteils wiirde ich allerdings die Verwunderung nicht fiir eine
Steigerung der Aufmerksamkeit sondern nur fiir ein verwandtes Gefiihl
ansehen, welches der Aufmerksamkeit in vielen Fallen vorausgeht. Ihr
Object ist ein wahrgenommener Gegensatz, der Gegensatz eines Unge-
wohnten zum Gewohnten. Dieser Gegensatz als solcher (nicht bios die
neue Tatsache in sich selbst) kann wahrgenommen sein, ehe noch die
Aufmerksamkeit sich des neuen Objects bemachtigt, ohne ihre Hilfe, in
director Folge des sinnlichen Eindrucks. Die Wahrnehmung des Gegen-
satzes und die Verwunderung setzt dann die Aufmerksamkeit und mit
ihr die Erkenntnistatigkeiten in's Spiel; wie denn schon Aristoteles
sagt, dass aus der Verwunderung das Nachdenken entspringt.
Immerhin fallt die nahe Verwandtschaft des Gefuhls der Ver-
wunderung mit dem Zustaud der Aufmerksamkeit in's Auge und kann
zur Bekraftigung unsrer Auffassung dienen, welche die letztere eben-
falls unter die Gefiihle rechnet.
282 § 22. Function der Aufmerksamkeit
irgend eiue Wahrnehmung, und wiederum, damit eine Wahrneh-
mung moglich sei, bereits Aufmerksamkeit vorausgegangen sein?
Das Letztere geben wir nicht zii. Nicht jedes Bemerken
ist ein Beachten, d. li. bedingt und getragen durch Aufmerk-
samkeit. Machtige Verschiedenheiten gleichzeitiger Eindriicke,
intensive Sclimerz- oder Lustmomente oinzelner unter ihnen, so-
wic plotzliclie Veranderungon drangen von selbst zur Wahr-
nehmung. Und so werden die ersten Wahrnehmungen, aber auch
spater viele, ohne vorausgehende xiufmerksamkeit erfolgen^).
Nachdem dies einmal und ofter geschehen und mit dem Wahr-
nehmen als solchem eine instinctive Lust verkniipft war, ist
eine Lust des Bemerkens moglich geworden, welche diesem
selbst in einem einzelnen neuen Falle vorhergeht: die Lust
an einer nocli zu machenden, erwarteten, erwiinschten Wahr-
nehmung. In dem Moment, wo, wie wir sagen, ein Gegenstand
„unsre Aufmerksamkeit auf sich zieht", entsteht in uns dieses
Lustgefiihl, ein Nachklang, eine Reproduction der friiher mit
den spontanen Wahrnehmungen verkniipften Lust; und diese
Lust am Bemerken fUhrt nun ihrerseits zum wirklichen Be-
merken in dem neuen Falle. Dass sie es tut, ist eben ihre
natUrliche Function, s. z. s. ihre specifische Energie im psychi-
schen Organismus.
Hiemit lost sich zugleich ein anderes Bedenken. Gibt es
nicht Falle, in welchen wir weder ein Vergnligen an der Sache
uoch an der Wahrnehmung der Sache haben und uns dennoch
*) Hienach diirfte sich eine seinerzeit zwischen G. H. Schneider
uud Ulrici entstandene Conti'overse erledigen: Dieser behauptete, dass
das Bemerken immer niir Folge des Aufmerkens sei, wahrend Jener auf
Fiille hinwies, in denen das Bemerken vielmehr die Ursache einer Auf-
merksamkeit sei, wie wenn wir eine fiiehende Schlange plotzlich be-
merken, und eben dieses Bemerken unsre Aufmerksamkeit von den Ge-
dankcn, die sie vorher fesselten. auf die Erscheinung lenkt. (Viertel-
jahrsschr. f. wiss. PMl. II 377).
Schneider unterscbeidet iibrigens noch das Bemerken vom Wahr-
nebmen insofern, als er jenen Ausdruck nur fiir die Falle des eben-noch-
Wabrnebmens gebraucbt; was mir mit dem Sprachgebraucb nicht zu
stixnmen scbeint, aber naturlich keinem sachlichen Streit unterliegt.
bei der Analyse und dem Heraushoren. 283
gezwuugen tinden, aufzumerken? beispielsweise ein lastiges Ge-
riiusch Oder Zahnweh? Sollen wir nur der Theorie wegeu be-
haupten, dass hier docb immer ein wenngleich verstecktes Lust-
moment mitspiele?
Das sei feme. Es gibt zweifellos Fiille, wo keincrlei Lust
und dennocb Wabrnebmung stattfindet. Aber Aufmerksamkeit ?
Von einer solchen wiirde icb bier ebeu nicbt reden^). Die
Spracbe bedient sicb wol aucb bier dieses Ausdruckes, aber
sie begebt damit nur eine der vielen Inconsequenzen, durcb
welcbe sie namentlicb im Gefiiblsgebiete psycbologiscbe Er-
orterungen verwirrt. Dennocb glaube icb, dass man oine ge-
wisse Uneigentlicbkeit des Ausdruckes nicbt verkennen wird,
wenn Einer sagt, dass man cine Obrfeige mit Aufmerksamkeit
wabrnebme. Jedenfalls ist die Wabrnebmung oft scbon da, ebe
die Aufmerksamkeit sicb einstellt.
Auf s Engste und Natiirlicbste reibt sicb bieran die Auf-
fassung der willklirlicben Aufmerksamkeit, wie sie scbon I 69
definirt wurde. Sie ist nichts Auderes als der Wille, soferji er
auf ein Bemerken gericbtet ist. Jedes Lustgefiibl, welcbes auf
einen bios vorgestellten Gegenstand gericbtet ist, kanu in ein
Wollen iibergehen, sobald der Gegenstand wabrscbeinlicb oder
sicber erreicbbar crscbeint^). Der Gegenstand ist bier ein
Wabrnebmungsact. Irgend ein Wabrnebmen ist aber, wacben
normalen Zustaud vorausgesetzt, allezeit moglicb: und so kann
unwillkiirHcbe Aufmerksamkeit bei Solcben, die des Wollens
fabig sind, in jedem Augenblick in willkiirlicbe iibergeben. Sie
ist nicbt mebr davon verscbieden, als der Wille iiberhaupt
von Lustgefiibleu verscbieden ist. Fasseu wir „Gefiibl" im wei-
teren Sinne, so kann der Wille ja selbst zu den Gefiiblen,
und zwar natiirlicb zu den positiven Gefiiblen, gerecbnet werden ^).
^) Ebenso Ribot a. a. 0. 7.
'^) Ich sage nicht: „sie geht in ein Wollen iiber'-, weil natiirlich
der wirkliche Ubergang auch davon abhangt, ob uns nicht augenblicklicli
etwas Anderes als nocb wunschenswerter oder leichter erreichbai' er-
scheint, ob eine erkannte Pflicht nicht eutgegensteht u. s. f.
3) Was Ehrenpels (Wiener Akad. Phil.-hist. CI. Bd. 114, S. 537 f.)
gegen Brentano's Subsumtion der Gefuhle und des Willens unter Eine
284 § 22. Function cler Aufmerksamkeit
Auch diese Identification der willkiirlichen Aufmerksamkeit
mit dem WoUen des Bemerkens stimmt, wie mir scheint, mit
dem Bewusstsein durchaus iiberein. „Seine Aufmerksamkeit auf
Etwas richten" heisst nicht mehr und nicht weniger als dieses:
„einen Inlialt (als Teil eines Ganzen) oder etwas an einem
Inhalt (Teile oder Bezieliungen desselben) bemerken wollen."
Zwischen dem Wollen und seinem Erfolg, dem Wahrnehmen,
steht bier nicht noch Etwas in der Mitte, was als Aufmerk-
samkeit zu bezeicbnen ware, sondern der Wille ist eben bier
die Aufmerksamkeit ^).
Schliesslich sei es gestattet, noch einmal besonders zu betonen,
dass in dieser vielverbandelten Frage nach der Natur der Aufmerk-
samkeit die blossen Definitionsfragen (nach der zutreffendsten Aus-
legung der vorhaudeuen sprachlichen Bezeichnuugeu und den zweck-
massigsteu positiven Bestimmungen iiber den Sinn, den man ihnen
wisseuscbaftlicb beilegen will) nicht scharf genug von den sachlichen
Streitfragen geschieden werden konnen. Ich glaube nicht, dass es
gelingen wird, fiir das Wort Aufmerksamkeit, wie es nun einraal
ira Gebrauch ist, eine ganz einheitliche und consequent festgehaltene
Bedeutung zu finden. Irgendwelche positive Bestimmungen wird
sich also der Psychologe immer erlauben miissen, die nicht voU-
Grundclasse (Psychologie 1874) anfiihrt, scheint mir auf dem Misver-
standnis zu beruhen. als ob in beiderlei Zustanden ein gleichartiges
gemeinsames Element enthalten sein solle; was ja allerdings nicht der
Fall ist. Ich habe Brentano's Meinung stets nur dahin verstanden, dass
jene Zustande, auch als einfache Zustande betrachtet, einander ahnlicher
sein sollen als jeder von beiden einer blossen Vorstellung oder einem
Urteil; besonders aber dass sie unter gemeinsame Gesetze fallen sollen.
Und dies scheint mir in der Tat unbestreitbar.
^) Gewiss ist daher die willkiirliche Aufmerksamkeit ebenso wie
der Wille iiberhaupt nicht etwas ganz Urspriiugliches. Wenn freilich
RiBOT behauptet , dass die willkiirliche Aufmerksamkeit erst ein
Product der beginnenden Civilisation sei, so kommt es ganz darauf an.
wann man die Civilisation beginnen lasst. Und dass gerade die Weiber
der Wilden das erste Subject dieser Fahigkeit gewesen (p. 62), betrachtet
wol RiBOT selbst mehr als eine geistreiche Idee. Plausibler liesse sich
jedenfalls die Ansicht vertreten. dass das Weib das erste Object der
unwillkiirlichen Aufmerksamkeit war.
bei der Analyse unci dera Heraushoren. 285
kommen dem Sprachgebrauch eutsprechen. Es mag nun sein, dass
man weniger in Conflict mit der Sprache kommt, wenn man die
Aufraerksamkeit nur ganz allgeraein definirt als die „einem Act
des Bemerkens giinstige Verfassung der Seele" ^). In diesem Fall
vvtirde das, was wir Aufmerksamkeit nennen, das Interesse, nur ein
Teil, wenn auch der wichtigste, der Aufmerksamkeit sein, diese
selbst aber nicht ein bestimmter einfacher Act, sondern ein Complex
von wechselnder Zusammensetzung, dessen Einheit und Gleichmassig-
keit nur etwa in seiner Wirkung bestande. Aber auch dieser
Sprachgebrauch deckt sich nicht mit dem im Leben geltenden.
Reden wir doch z. B. von einer Intensitat des Aufmerkens, was
nun wieder als uneigentliche Ausdrucksweise aufgefasst und um-
gedeutet werden muss^).
Sachlich sind drei Puncte wesentlich:
1. Dass es Falle gibt, in denen ein Bemerken (Wahrnehmen)
unmittelbar durch inhaltliche Momente erzwungen wird. Wir
rechnen zu diesen hier auch die Annehmlichkeit oder Unan-
nehmlichkeit des Eindrucks. Eine Unterfrage ist dann, ob An-
nehmlichkeit und Unannehmlichkeit das alleinige unmittelbar die
Wahrnehmung bewirkende inhaltliche Moment sind, ob also die
Starke, die Yeranderung des Eindrucks u. dgl. nur in Folge der
damit verknupften Gefiihlsmodification Wahrnehmung erzwingen, oder
ob sie (wie ich glaube) auch unabhangig wirken;
2. dass es Falle gibt, in denen ein Bemerken durch die Lust
am Bemerken hervorgerufen wird, wobei der Gegenstand selbst an-
genehm oder unangenehm sein kanu;
') So Marty, Vierteljahrschr. f. wiss. Phil. XIII 198 (dessen kri-
tische Zergliederung der WuNDi'schen, von Widerspruchen strotzenden
Darstellung mir sachlich vollkommen zutreffend scheint).
Auch RiBOT nennt die Aufmerksamkeit in gleichem Sinn „un etat
intellectuel", ,,un etat purement formel", ,,une attitude de I'esprit" (1. c.
7, 19, 163, 165). Warum er sie iibrigens, als psychologischen Zustand be-
trachtet und von den physiologischen „Accompagnements" abgesehen,
,,une abstraction pure, uu fantome" nennt, ist mir auch von seinem Stand-
punct aus unerfindlich; es miisste denn sein, dass er auch die physio-
logischen Accompagnements als blosse Phantome ansahe.
"^) Marty daselbst.
286 § 22. Function der Aufmerksamkeit
3. dass es Falle gibt, in denen es durch einen Willen hervor-
gerufen wird, der selbst naturlich wieder verschiedene Bedingungen
haben kanu.
Manche sprechen nun in alien drei Fallen von Aufmerksam-
keit, Manclie bios im dritten Fall, wir im zweiten und dritten.
In terminis libertas. in notionibus nnitasi Noch besser freilich
auch in terminis unitas.
Ein weiteres Eingelien auf die Aufmerksamkeitstheorie liegt
hier niclit in nnsrem Plane. Das Vorstebende scbien mir aber zur
Klarheit des Folgenden erforderlicli, weiin es auch manchem Leser
pedantisch genug vorkommen Avird.
2. Anwendungen auf das Tongebiet.
Diese allgemeinen Bestimmungen iiber die Aufmerksamkeit
woUeii wir nun besonders auf das Tongebiet anwenden und
durcb dasselbe weiter erlautern und erharten; dann erst zu
den ganz speciellen Fragen iibergeben, welche die Leistungen
der Aufmerksamkeit fiir die Analyse im engeren Sinne und
das Herausboren betreffen.
Nehmen wir einen einzelnen Ton, der nicbt mit anderen
Tonen von erbeblicber Starke zusammenklingt. Was kann es
in diesem Falle noch beissen, dass wir auf den Ton merken
sollen? Es kann bedeuten, dass wir ihn in dem Ganzen der
sonstigen gleicbzeitigen Sinneserscbeinungen bemerken sollen,
wenn dies nicbt bereits gescbeben ist; dass wir femer die
Gleicbbeit mit sicb selbst wabrend seiner Dauer bemerken,
kleine Scbwankungen nicbt iiberboren sollen; dass wir seine
Stellung in der Tonreibe (bocb, tief, mittel, genauere absolute
Hobe), seine Klangfarbe und Angeborigkeit zu irgend einem
Instrument, seinen Starkegrad (scbwacb, stark, mittel), seine
ortlicben und zeitlicben Eigenscbaften bemerken sollen, Ist es
nicbt ein gewobnlicber musikaliscber Ton, sondern ein Pfiff,
Knall oder gerauscbartiger Klang, so wird seine sonstige Deu-
tung, als Signal u. s. f., die Aufgabe sein, immer also aucb
dann das Erfassen irgend einer Beziebung.
Nebmen wir einen mit anderen zusammenklingenden Ton.
Hier wird man es vor Allem als Aufgabe betracbten, ihn so
bei der Analyse und dem Heraushoren. 287
deutlich als moglich aus dem Klang herauszuhoren (womit, wie
wir unten sehen werden, in bestimmten Fallen subjective Ver-
starkung verbimden ist). dann wieder seine Stellung in der
Tonreihe womoglich bis zur Benennung zu erfassen, aber auch
besouders sein Verhaltnis zu den gleicbzeitig gegebenen zu er-
kennen, wonach er als tiefster, liocbster, mittleror unter diesen,
als Hauptton, Nebenton (und dies wieder nacb Starke und musi-
kaliscber Bedeutung), als raehr oder weniger qualitativ ab-
stehend von dem iibrigen nicbt analysirten Rest des Klanges
erseheint; u. dgl.
Sollen wir auf eine Folge von Tonen achten, so ist ohne-
dies klar, dass die Erfassung ihrer Bezieliungen in zeitliclier
und qualitativer Hinsicbt unsre Aufgabe ist.
Und ist endlich verlangt, dass wir einem mebrstimraig sich
entwickelnden Tonstiick, einer Aufeinanderfolge von Zusammen-
klangen aufmerksam folgen. so bandelt sicb's darum, erstlicli
die Stimmen herauszulosen . d. h, bestimmte Tone der aufein-
anderfolgenden Zusammenklange unter sich in melodiscbe Ver-
bindung zu setzen, sodann das Verhaltnis der so in der Auf-
fassung gebildeten Stimmen zu einander zu erkennen (Haupt-,
Nebenstimme, obere, untere, mittlere, langsame oder schneller
bewegte u. s. f.).
tJberall ist also die Leistung der Aufmerksamkeit ein Be-
merken von Teilen oder Beziehungen von Teilen. Alle diese
Wahrnehmungen bilden im Geiste einen innig zusammenhangen-
den Process, dessen erstes Glied die Analyse im engeren Sinne,
das Bemerken einer Mehrheit von Teilen, dessen fern ere Glie-
der das Heraushoren einzelner Telle und die Wahrnehmungen
von Verhaltnissen sind. Die letzteren Functionen sind aber
zugleich eine Controle fiir die erste, die Analyse im engeren
Sinne. Sie sind das, was wir die fortgesetzte Verdeutlichung
der unterschiedeneu Telle nenuen ^). Wenn ich mich frage :
„Wieviel Tone hat der analysirte Klang?" so muss ich mich
^) Insofern kann man die Definition Che. Wolf's billigen : „Facultas
efficiendi, ut in perceptione composita partialis una majorem clat-itatem
ceteris habeat, dicitur Attentio.'- (Psychol, empirica § 237.)
288 § 22. Function der Aufmerksamkeit
bemiihen, jeden fiir sich herauszuhoren. Und wenn icli micli
frage: „Habe ich diesen Teilton wirklich herausgehort?" so
suche ich ihn iiachzusingen oder sonst anzugeben, was eine
vergleicbende Wabrnehmung einscbliesst, oder nach seiner ab-
soluten Hobe zu benennen, oder sonstige Merkmale an ibm oder
Verbaltnisse zu anderen zu erfassen. Je mehr dies gelingt, urn
so mebr werden nicbt nur andere Personen, sondern aucb ich
selbst mir glauben, dass eine wirklicbe Analyse vorlag.
Insofern ist die Leistung der Aufmerksamkeit fiir die Ana-
lyse einer unbegrenzten Steigerung fahig. Ein analysirter Klang
und ein berausgeliorter Ton kann mir nach alien seinen inneren
Merkmalen und ausseren Beziehungen in alien Hinsichten und
Richtungen immer „deutlicher" werden. Wir beschranken uns
im Folgenden jedoch auf die nilhere Betrachtung derjenigen
Leistungen, welche bis zu dem Puncte fiihren, wo uns ein Ton
als Teil eines Klanges vollkommen deutlieh ist (Analyse ira
engeren Sinn und Heraushoren).
3. Aufmerksamkeit ist zur Analyse nicht unbe-
dingt notwendig.
Die erste Frage, welche unser specielles Thema angeht,
ist die, ob fiir jede Klanganalyse und fiir jedes Heraushoren
unbedingt ein gewisser, sei es auch geringer, Grad von Auf-
merksamkeit erforderlich sei. Sie schliesst sich an die obigen
principiellen Erwagungen an, worin wir diese Frage in Hin-
sicht des Bemerkens iiberhaupt mit Nein beantworteten. Ab-
stract genommen ware nun denkbar, dass zwar irgendwelches
Bemerken irgendwelcher Eigentiimlichkeiten oder Vcrhiiltnisse
den ersten Regungeu der Aufmerksamkeit im Leben des Indi-
viduums vorausgehen miisste, dass aber speciell das Bemerken
einer Mehrheit oder eines Teiles innerhalb einer Mehrheit nur
auf Grund bercits vorhandener und zwar im gegebenen Moment
vorhandener Aufmerksamkeit erfolgte. Aber die oben gegebenen
Beispiele scheinen mir hinreichend, um gerade auch fiir diese
speciellen Falle die allgemeine Anschauung zu erhiirten. Die
Frage ist darum hier eigentlich nur wegen des Zusammenhangs
mit der folgenden noch einmal erwahnt.
bei der Analyse unci dein Heraushoren. 289
4. Worauf riclitet sicli die Aufmerksamkeit bei
der Analyse?
Welches ist eigentlich das Object oder Material, dem sich
die Aufmerksamkeit bei der Analyse und dem Heraushoren zu-
wendet? Hier tritt uns wieder ein scheinbarer Cirkel entgegen.
Damit eine Mehrheit ' als solclic durch Aufmerksamkeit erkannt,
damit ein bestimmter Teilton aufmerksam herausgehort werde,
miisson wir doch, so scheint os, die Aufmerksamkeit auf die
Mehrheit als solche bez. den in ihr vorhandenen Teilton richten
konnen. Das heisst aber bereits die Mehrheit oder den Teil-
ton als solchen wahrnehmen. Dieser Cirkel erinnert an Lotze's
Bemerkung, die Aufmerksamkeit konne unmoglich Unterschiede
schaffen, wo keine sind, sie konne nur vorhandene A^erscharfen,
verdeutlichen (o. 19). Diese Bemerkung gilt jedoch in voller
Kraft nur gegen die Ansicht, wonach vor der Analyse die Em-
pfindung selbst eine streng eiuheitliche sein soil, eine Ansicht.
die wir nicht teilen. Und was von dem Anschein des Cirkels
noch iibrig bleibt, lost sich leicht.
Die Aufmerksamkeit wendet sich zunachst dem Klang als
Ganzem zu, wenn wir nicht bereits von vornherein Anhalts-
puncte haben, diesen oder jenen Bestandteil zu vermuten. In
leichten Fallen geuiigt diese Concentration des Interesses auf
den Klang und auf die Frage nach Einheit oder Mehrheit, um
die Teile hervortreten zu lassen. Wie dies geschieht, kann, wie
jede primare Wirkung, nicht weiter zergliedei't werden. Es liegt
Nichts dazwischen. In einem gewissen Moment taucht die Glie-
derung bez, das Element im Ganzen auf, die Analyse oder das
Heraushoren ist vollzogen. Sind die Umstande schwieriger, wie
bei den Obertonen, so werden wir, wahrend die Aufmerksam-
keit auf den Klang gerichtet bleibt, zugleich verschiedene Aus-
schnitte des Tonreichs uns moglichst lebendig vergegenwartigen,
von welchen wir nach dem ersten Eiudruck (z. B. je nachdem
uns das Gauze mehr tief oder hoch klingt) vermuten, dass er
Bestandteile des Klanges enthalt. Weiter wird man versuchen,
einzelne Tone einer solchen begrenzten Region lebendig vor-
zustellen und mit dem gehorten Klang zu confrontiren , sei es
Stumpf, Tonpsychologie. II. 19
290 § 22. Function der Aufmerksamkeit
bios versuchsweise, jeneu Ausschnitt in der Phantasie durch-
laufend, oder nach bestimmten Indicien (akustiscbeu Erfabrungen)
einen oder den anderen Ton auswahlend. Am meisten wird
naturlich dieses Sucben erleicbtert, wenn ein einzelner Ton
des Klanges uns vorber angegeben und als Teilton bezeicbnet
wurde.
5. Verstarkung durcb Aufmerksamkeit.
Eine weitere und vorzugsweise interessante Frage betrifft
die Verstarkung der berausgeborten oder berauszuborenden
Klangteile durcb die darauf gericbtete Aufmerksamkeit. Vielen
erscbeint ja die Verstarkung eines Eindrucks geradezu als die
eigentlicbe, primare Leistung der Aufmerksamkeit. Dass dies,
so ausgesprocben, falscb sein muss, erwabnten wir bereits I 71.
Das gleicbzeitige Horen bietet nun die beste Gelegenbeit, aucb
das Wahre in der Sacbe zu erkennen, Es lasst sicb namlich
bier ganz deutlicb beobacbten, dass wirklicb in bestimmten
Fallen eine Verstarkung durcb Aufmerksamkeit erfolgt; wab-
rend dies bei isolirten Tonen weniger leicbt und haufig fest-
zustellen ist (I 373).
Naber miissen wir in dieser Hinsicbt bei gleicbzeitigen
Tonen drei Falle auseinander balten:
a) Ein scbwacber Ton klinge zusammen mit anderen
scbwacben Tonen. Scblagen wir auf dem Clavier den Accord
an und lassen ibn bei aufgebobener Dampfung
verklingen, so baben die Tone bald die notige
Scbwacbe. Ich vermag alsdann durcb das blosse
Obr den Accord ganz so zu brecben, wie er
sicb bei wirklicber Brecbung mit aufgebobener
Dampfung darstellt, so also, dass alle Tone fort-
klingen, wabrend doch einer nacb dem anderen
starker bervortritt; kann aucb eine Melodie aus diesen Tonen
zusammensetzen, die von dem Accord begleitet bleibt. Dies
nicbt etwa nur in der Pbantasie, fiir welcbe icb den wirklicben
Accord iiberbaupt nicbt notig batte, sondern als unzweifelbafte
Geborsempfindungen, indem ich jeden Ton zur recbten Zeit in
dem fortklingenden Ganzen verstarke.
bei der Aualyse und dem Heraushoren. 291
b) Eiu schwaclier Ton erklinge zusammen mit einem
oder mehreren starken, Hier ist Verstarkung des schwacheii
moglicli. Geiibte konnen dies bei Obertonen jeden Augenblick
beobacliten. Wenn ich eiuen der tieferen Claviertone oder eine
Cello-Saite ertonen lasse, so kann ich die Reihe der Obertone
wie eine Leiter hinauf- und liinmitersteigen und willkiirlich den
verstarken, auf den ich besonders achten will. Durch solches
Hinauf- und Heruntersteigen gelingt es oft auch, Obertone erst
gewahr zu werden, die man, wenn die Aufmerksamkeit direct
auf sie gerichtet wurde, gleichsam frei zielend und zugreifend,
nicht erhaschen konnte^). Auch ist es hier wie bei a) mog-
lich, eine Melodie durch Verstarkung der beziiglicheu Tone zu
bilden, beispielsweise die vier ersten Tacte des BEAHMs'schen
Liedes „Ihr wunderschonen Augenblicke", die aus 5 Tonen,
darunter auch der Secunde der Tonica, bestehen, welche durch
die Teiltone 5, 6, 8, 9, 10 gegeben sind; diese Teiltoue finden
sich aber in jedem Klange der grossen Octave am Clavier, Man
kann also geradezu mit dem Ohre singe n. Der verstorbene
G. Appukn, mit welchem ich in den 70er Jahren dariiber sprach,
bestatigte an sich diese Fahigkeit. Ebenso sagt R. Natorp^):
„Ich kann, wenn ich auf meinem Clavier etwa den Ton G an-
schlage, nicht nur eine gewisse Zahl von Obertonen deutlich
nebeneinander horen, sondern innerhalb ihres Zusammenklanges,
der einen vielstimmigen iiberwiegend consonirenden Accord gibt,
auch die einzelnen Obertone nacheinander und abwechselnd mir
zu Gehor bringen; etwa die Tone
:^=J=:t:
biizirz— ij=J=:ta
^) So hatte ich in einem ausdriicklich notirten Fall bei dem C
einer schwingenden Metallzunge nicht sogleich den 9. und 11. Teilton
finden konnen: von unten hiuaufsteigend fasste ich leicht einen nach
dem anderen.
■^) Gottingische gelehrte Anzeigen 1885, No. 5, S. 212.
19*
292 § 22. Function der Aufmerksamkeit
in der Geschwindigkeit von vier Toneu in der Secuude, Dabei
verschwindet der Zusammenklaug dieser selben Tone g^h^cP
nicht, sondern dauert in der Art fort, dass ich den Unterschied
der willkiirlich nacheinander geliorten und der ohne meiue
Willkiir gleichzeitig fortklingeuden Tone gleicher Hohe nicht
auders denn als einen Unterschied der Toustarke zu bezeichuen
wusste."
Die jeweilig accentuirten Tone entstehen hiebei, wie Natorp
ganz richtig hervorliebt, uiclit erst als Empfindungen; sie klingen
vor- und nacbher in der Empfindung mit, wie die harmoniscbe
Begleituug eines Liedes: die cinzehien werden nur successive
willkiirlicb verstiirkt und zwar so lange als man will. Jeder
Ton spriclit hiebei, wie beim Horen der Beitone iiberhaupt,
rait volliger Bestimmtheit an; keine Moglichkeit, etwa an blosse
Phantasie zu denken. Die Yerstarkung begiunt dann sogleich
und erreicht schnell einen Grad, bei dem sie nicht mehr weiter-
schreitet. Die Schnelligkeit dieser Action scheint iibrigens indi-
viduell verschieden; ich bringe sie nicht mit der Geschwindig-
keit von vier Tonen in der Secunde zu Wege.
Auch Differenztoue, die nach Helmholtz nur bei zwei
verhaltnismassig starken Primartonen zu Stande kommen, kann
ich, zumal in der Nacht und nach vorausgehender besonderer
Einiibung, selbst beim leisest-moglichen Anschlag der Tasten
vollkommen deutlich wahrnehmen und auch sie durch con-
centrirte Aufmerksamkeit zu einem respectablen Brummeu an-
wachsen lassen.
Auch an Gerauschen, die ja immer Tone enthalten, lasst
sich Gleiches beobachten. So gelang es mir beispielsweise wah-
rend einer Bahnfahrt, in dem dumpfen Gerausch, das zunachst
keine Tone unterscheiden liess, indem ich die Aufmerksamkeit
versuchsweise auf verschiedene Tone und zugleich nur auf Ein
Ohr lenkte, mehrere Tone in der kleinen und cingestrichenen
Octave mit aller Bestimmtheit zu vernehmen und zu verstarken.
Sie traten jedesmal, wenn ich mit der gleichsam tastenden Auf-
merksamkeit in diese Tongegend kam, hervor. Es fiel mir audi
auf, dass sie leichter hervortraten, wenn ich von oben nach
bei der Analyse und dem Heraushdren. 293
unten, als wenii ich von unten nach oben fortschritt. Ein-
zelne von ihnen schienen besonders leicht anzusprechen, andere
weniger *).
c) Ein starker Ton klinge zusammen mit einem oder
mehreren starken Tonen. Man gebe z. B. durch Zungen-
pfeifen einen Accord an, Wenn ich in einem solchen Falle
die Aufmerksarakeit bald auf diesen bald auf jenen Ton des
Accords lenke, kann icli eine Verstarkung des Tones nicht
wahrnehmen. (So audi nicht, wenn ich im Falle b) die Auf-
merksamkeit dein starken Ton zuwende.)
Es mag seltsam erscheinen, dass nur schwache Empfin-
dungen durch Aufmerksamkeit verstarkt werden sollen. Aber
eine Kraft, die nur bis zu einer gewissen Grenze gesteigert
werden kann, bewegt auch nur Lasten bis zu einer gewissen
Schwere, schwerere nicht etwa weniger sondern gar nicht, da
sie die Reibung nicht mehr liberwinden kann. Vgl. das I 374
Gesagte.
Die objective Urteilszuverlassigkeit, auf welche die Auf-
merksamkeit gleichsam teleologisch eingerichtet ist (vgl. I 68,
71, 391 — 2), gewinnt auch nur durch eine Verstarkung schwacher,
nicht aber solcher Empfindungen, die bereits eine hinreichende
Starke besitzen. Im Gegenteil, sie miisste darunter leiden.
Oder ist vielleicht die Verstarkung im genannten Fall nicht
ganz aufgehoben sondern nur unmerklich? Das ist freilich denk-
bar. Als tatsiichlich kann ich nur das Letzte behaupten.
Mach behauptet, seinerseits auch in solchem Falle eine Ver-
starkung wahrzunehmen. Ich hatte Gelegenheit, im Prager physi-
kalischeu Institut an eiuem Zungenpfeifeiiaccord hieriiber gleich-
zeitig mit ihm Versuche zu machen. Wahreud Mach die Verstarkung
*) Ahnlich wird iu deu „Fortschrittea der Physik" XV 178 (aus
einer mir unzuganglichen Zeitschriffi berichtet: ,,Auf Eisenbahnfahrten
hat Reuleaux einen leisen constanteu Ton im Ohr bemerkt, dessen Ton-
bohe sich durch seinen Willen .... so verandern Hess, dass es ihm mog-
lich war, kleinere Melodien im Choraltempo gelaufig hervorzubi-ingen."
Wahrscheinlich handelte es sich hier auch um Heraushdren aus dem
Gerausch,
294 § 22. Function der Aufmerksamkeit
ganz deutlich zu hdren angab, konnte ich nichts davon fiuden. Nur
wenn ich plotzlich den Kopf nach der Klangquelle wandte, konnte
mir einer, und zwar ein beliebiger, der zusammenklingenden Tone
momeutan starker accentuirt scheinen. Durch die Kopfwendung wird
eine momentane Intensitatserhohung aller Tone Eines Ohres bedingt.
Entweder wurde nun dieses Plus bei der Richtung der Aufmerk-
samkeit auf Einen Ton diesem allein zugeschrieben, also ein
subjectiv falsches Urteil gefallt, oder es wurde wirklich unter diesen
besonderen Umstanden das Plus, welches ausserdem alien Tonen
momentan zuwachsen musste, durch die Aufmerksamkeit dem Einen
allein zugeschoben, sodass diese Empfindung in der Tat ver-
starkt und das Urteil subjectiv rich tig ware. Das Letztere halte
ich zwar fiir weniger wahrscheinlich, aber fiir physiologisch nicht
undenkbar.
Soviel ist sicher, dass bei ganz unveranderten Umstanden eine
Verstarkung starker Tone neben anderen gleichzeitigen starken
Tonen fiir mich nicht wahrnehmbar ist, wahreud Mach sie auch
dann wahrzunehmen erklart. Es mogen hienach gewisse indivi-
duelle Unterschiede hierin obwalten.
Dass die Sache uberhaupt bei einer Veranderung des Ton-
materiales wahrend des Hdractes anders liegt, werden wir spater
(zunachst § 26) an den Fallen sehen, wo aus dem Klaugganzen
ein Ton hiuwegfallt: hier tritt auch fiir mich und wohl fiir Jeden
eiue uuzweifelhafte wirkliche Verstarkung eines der zuriickbleibenden
Tone ein; eine Erscheinung, auf welche Mach auch besonders
hingewiesen hat. Diese hat aber ihre besonderen Griinde; sie ist
nicht Folge der Aufmerksamkeit, sondern wird durch die Aufmerk-
samkeit nur constatirt.
6. Mechanismus der Verstarkung.
Wie hat man sich nun das Zustandekommen der Verstar-
kung, wo eine solclie stattfindet, naher zu denken?
Man ist versuclit, zunachst an eine Muskeltatigkeit zu
denken, und wir begegnen hier wieder der bereits I 168 f. be-
sprochenen Hypothese von der Function des Musculus tensor
tympani, aber nach anderer Seite und in engerer Fassung.
Dort sollte jede Tonvorstellung, die einem Tonurteil zu Grunde
bei der Analyse und dem Heraushoren. 295
liegt, an einen bestimmten Contractionsgrad dieses Muskels ge-
bunden sein. Hier wiirde sich's bios darum handeln, dass die
Aufmerksamkeit an diesem Muskel einen Angriffspunct fande,
um einen einzeluen Ton vor anderen gleichzeitigen zu ver-
starken. Bei unwillkiirlicher Aufmerksamkeit wiirde es sich
um eine Reflexbewegung, bei willkiirlicher um eine willkiir-
liche Activirung des Muskels handeln.
Indessen auch so ist die Hypothese undurchfiihrbar. So-
wol nach mathematiscber Theorie als nacb Versucben (Schap-
BiNaEK's, Politzeb's, welch' letzterer durch Reizung des Tri-
geminus auf den Tensor wirkte, dessen Nerv in den Bahnen des
Trigeminus liegt) treten durch Contraction dieses Muskels die
hoheren Tone relativ gegen die tieferen hervor, aber sie er-
fahren zugleich mit diesen eine Verminderung ihrer absoluten
Intensitat. Nun aber zeigt die Beobachtung, dass beim Horchen
auf Obertoue diese nicht etwa nur weniger als der Grundtou
geschwacht, sondern dass sie geradezu verstarkt werden. Auch
die Differenztone kann man etwas verstarken, wahrend die rela-
tive Verstiirkung durch Contraction des Tensor nur die hoheren
Tone gegeniiber den tieferen trifft. Ferner besitzen bei Weitem
nicht alle Menschen, welche die Obertone willkiirlich hervor-
heben konnen, das Vermogen willkiirlicher Activirung des Ten-
sor. Es sind ilberhaupt nur sehr Wenige hiezu fahig, wie sich
durch ausserliche Beobachtung des Trommelfells im Moment
des Horchens herausgestellt hat. Und Solche, die zur Analyse
von Tongemischen in hohem Masse fahig sind, haben oft gar
keine Macht iiber ihren Tensor, wie beispielsweise ich. Sodann
ist es auch moglich, auf tiefe und hohe Tone streug gleichzeitig
zu horchen, z. B. bei:
296 § 22. Function der Aufmerksamkeit
Die Spanimng des Muskels kann aber zu gleicher Zeit doch
nur Eiiie seiii. Endlicb mag auch an die I 373 angefuhrte
Beobachtung liber den subjectiven Ton crinnert seiu.
Hienach hat der Trommelfellspauner cine wesentliche Be-
ziehung zur Aufmerksamkeit nicbt. Wahrscbeinlicb ist er docb
uicbts weiter als einc Scbutzvorricbtuug gegen zu starke Tone
(durcb Diimpfung) oder gegen zu hohen Luftdruck im Obr oder
auch beides zusammen ^).
Als Zeichen der willkiuiich erfolgtcn Contraction des Tensor
wurde friiher ein bestimmtes Knackeu im Ohr augesehen, bis Po-
LiTZER zeigte, dass dasselbe seinen Sitz vielmehr in der Eustachi-
scbeu Trompete hat iind durch die Offnung derselbeu entsteht. Nur
bei Eiuzelnen wurde dabei zugleich eiue Beweguug des Trommel-
fells beobachtet ^). Ich selbst vermag, wie viele andere Personen,
das Knackeu jederzeit willkiirlicb zu erzeugen uud habe dabei deut-
lich eine Muskelempfiudung in der Gegend des inueren Ohres,
scbrieb es darum gleichfalls mit Uberzeugung dem Tensor zu, bis
eine Untersuchung durch Prof. Zaufal ergab, dass zwar allemal
eine Bewegung des Gaumens, niemals aber eine des Trommelfells
stattfand. Ich versuchte auch, mich auf einseitige Hervorbringung
des Knackens einzuuben. Es gelaug, dasselbe zunachst in ver-
schiedener Starke zu erzeugen, und dann kounte ich es bei sehr
geriuger Starke auch willkiirlicb allein im liuken Ohr erhalten.
Bei grdsserer Starke erfolgt es jederzeit doppelseitig, Vor dem
Knacken hore ich bei hinreichender Stille immer eiu dumpfes Ge-
rausch, ahnlich dem bei Beriihruug des Auges zuweilen auftretenden
{I 421"), aber nicbt iutermittirend, nur raomentau. Dieses Gerausch
tritt auch ein, weun die willkiirliche Bewegung so schwach ist, dass
das Knacken ausbleibt. Es ist offenbar der Muskelton der Gaumen-
muskeln.
^) Die erste Ansicht ist bcreits in Gehler!s Worterb. d. Physik
1828 „Geh6r" S. 1209 f. erwahnt. dann durch Joh. MC'ller, neuerdings
durch 0. Wolf u. A. vertreten; die zweite („Luftung des Ohres") durch
Mach. Nach Politzer soil der Tensor hauptsachlich die Spannung der
Gehorknochelchen und des Labyrinthinhaltes reguliren.
'^) Politzer, Wiener Medicinalhalle 1862 No. 18.
bei der Analyse nnd dem Heraushoren. 297
Die Tensorfrage ist besonders discutirt in den ersten vier
Banden des A. f. 0. (von Schwartze, Lucae, Politzek, Kessel),
aber auch spater ofters (XIII 261, XIV 1}, ferner in Pfluger's
Archiv VI 576 (Wieden), in dor Berliner kliu. Woehenschr. 1874
No. 14—17 (Lucae); in den Sitz.-Ber. der Wiener Akad. 1861,
1863, 1865, 1870, 1872 (Mach, Politzer, Schapringer), Ferner
vgl. Preyer, Grenzen d. Tonwahrn. S. 16 (willkiirliche Contraction
des Tensor beim Vf.), Hensen in IIerm. Hdb. Ill, 2, 59 f. Einc
gute Ubersicht der Meinungon bis 1869 nebst eigenen Untersuchungen
gibt ScHMiDEKAM. Arbciten des physiol. Instituts zu Kiel 1869;
eine tlbersicht bis 1886 und eigene Versuche Pollak, Mediciuischc
Jahrbucher (her. von der k. k. Gesellschaft der Arzte) N. F. 1886,
S. 555 f.
Pollak's Versuche fordern zu einigeu kritischen Bemerkungen
heraus. Er wurde angeregt durch die SxRiCKER'sche Theorie der
Tonvorstellungen, die wir I 155 f. bekampften. Stricker hattc
ursprUnglich die Muskelenipfindungen des Kehlkopfs als die den
Tonen eutsprechenden Erinnerungsbilder angesehen. Nachdem ich
die offenbare Undurchfiihrbarkeit dieser Annahme gezeigt und zu-
gleich auf die feinere Form der Muskeltheorie Mach's hingewiesen
hatte, welche den Tensor tympani dafiir in Anspruch uahm, wandte
sich Stricker zu dieser von ihrem Urheber selbst langst wieder
verlassenen und von mir ebenfalls als undurchfiihrbar erwiesenen
Theorie in den „6tudes sur le langage et la musique" 1885, S. 165 f.
Darin verdreht er Henle's und meino Aussagen, bezichtigt mich
mangelnder Ubung in psychologischer Beobachtung, und gibt schliess-
lich doch zu, dass er selbst, nachdem er seit 5 Jahren auf der
Geige einige Fortschritte gemacht babe, nun wirklich Gehorsvor-
stellungeu in sich tiude. Meine Antwort s. Revue philosophiquc
XX, Dec. Zeitschrift f. Philos. u. phil. Kritik, Bd. 89, S. 45 1).
^) Auch die altera Theorie sucht Stricker jetzt doch noch gelegent-
lich zu stlltzen. So beruft er sich auf eine Beobachtung Stork's, der
bei einer Sangerin, wahrend sie an ein Musikstiick dachte oder sich
etwas vorsingeu liess, eine rhythmische Bewegung der Stimmbander fand
(Wiener medic. Presse 1886, S. 650\ Dei'gleichen Mitbewegungen habe
ich in viel grosserem Umfange I 156 zugegeben und mit Beispielen be-
298 § 22. Function der Aufmerksamkeit
PoLLAK und Gartnee experimentirten nun an Hunden in ahn-
licher Weise wie Hensen und Bockendahl, deren Versuche wir
bereits I 168 besprachen, und fanden bei verschiedenen Tonen einen
verschiedenen Ausschlag der in den Tensor eingesenkten Nadel.
Sie verwandten „in der Kegel den aufgelosten Duraccord nebst
der Octave, also z. B. c, ^, ^, c^". „Zur Tongebung bedienten wir
uns des Gesanges, des Lippenpfeifens, der Stimmgabel, des Streich-
instrumentes (welclies?) und auch des sogenannten Pizzicato's der
Geige. Lippenpfeifen hat sich indesseu als das bequemste Mittel
erwiesen. Auf ein einigermassen lautes Pfeifen reagirt die Nadel-
spitze ganz zuverlassig."
Der Ausscblag der Nadel fand sich bei den hoheren Tonen
grosser als bei den tieferen.
Nun muss man sich vergegenwartigen , dass die Geige nicht
unter q hinabgeht, und dass der tiefste Pfeifton ungefahr «^ ist,
welches die Menschen, die es iiberhaupt noch pfeifen konnen,
meistens nur sehr schwach hervorbringen ^). Man sieht daraus,
legt. Ich kann noch hinzufugen, dass ich beim aufmerksamen Horen
eines langeren anstrengenden Gesanges (wie z. B. wenn der Discant in
einem Chor sich lange in der Hohe bewegen muss und die Reinheit der
Intonation nur schwer festhalten kann) zuletzt selbst ein Gefiihl der An-
strengung im Halse empfinde, als wenn ich helfen miisste. Das mag
nun Steicker wieder fiir sich verwenden. Ich kann aber darin ebenso-
wenig ein unentbehrliches Mittel oder auch nur eine Hilfe fur das
Horen oder Vorstellen der Tone selbst erblicken. als es fiir das Denken
etwas hilft, wenn man die Stim runzelt oder sich hinter den Ohren
kratzt.
Dass es Individuen gibt, die des Tongedachtnisses fast unfahig sind
und sich mit dem kiimmerlichen Ersatz der Muskelerinnerungen be-
helfen, habe ich I 279, 291 selbst hervorgehoben; protestire jedoch.
wenn Personen mit solchem Defect die ihnen mangelnde Fahigkeit auch
Anderen nicht zugestehen wolleu. Kann doch nicht eiumal ein Mozart
pfeifend iiber die Strasse gehen, ohne sofort von Stricker (a. a. 0.) fiir
seine Muskeltheorie eingefangen zu werden.
^) Anfaugs wird man geneigt sein. diesen Ton und iiberhaupt die
Pfeiftone fiir bedeutend tiefer zu halteu, als sie wirklich sind, wird sich
aber durch Aufsuchung der iibereinstimmenden Tone am Clavier oder
noch besser durch Stimmgabeln auf Resonanzkasten , die auf den ge-
pfiffenen Ton am starksten mitschwingen . von der wahren Hohe uber-
bei der Analyse und dem Heraushoren. 299
dass die Angaben uber die absolute Hohe der angewandten T6ne
an Deutlichkeit zu wunschen ubrig lassen.
Uber die Hauptfrage aber, ob es nicbt die grosserc Starke
der hohereu Tone war, welche den starkeren Ausschlag bedingte
(vgl. I 169), geht PoLLAK sehr kurz hinweg. „Auf die Unterschiede,
welche sich durch die verschiedene Inteusitat der angeschlagenen
Tone ergeben, kann ich nicht nahcr eingehen . . . Doch liegt die
Sache nicht etwa so, als ob der Muskel ebensowol auf verschieden
intensive, wie auf verschieden hohe Tone mit verschieden grossen
Zuckungen antworten wiirde. Das Pizzicato z. B. hat uns prae-
cisere Resultate gegeben, wie die durch Streichen der Geigc er-
zeugten Tone/'
Man sollte denken, es sei selbstverstandlich, dass grossere In-
tensitat grosseren Ausschlag bewirken muss (und zwar auch bios
grossere phj'siologische Intensitat, wenn anders es sich nach dem
sogleich zu Erwahnenden hier um Empfindungsreflexe handelt). Der
Umstand, dass Lippenpfeifen sich am wirksamsten erwies, weist
sehr deutlich darauf hin, dass iiberhaupt nur die Starke mass-
gebend ist; deun fast Nichts greift den Hornerv starker an, als
Pfeifen hoher Tone in der Nahe, wie jeder Empfindliche erfahren
hat; zugleich ist aber hier in Bezug auf hohe und tiefe Tone ein
ausserordentlicher Unterschied, da die tiefen, wie erwahnt, schon
physikalisch nur schwach sind. "Was das Pizzicato betrifft, so kann
ein Ton unter Umstanden heftiger gezupft als gestrichen werden.
Es ist also nichts weniger als bewiesen, dass die verschiedene Hohe
als solche es war, die den verschiedenen Ausschlag bedingte.
PoLLAK fand auch eine verschiedene Reaction auf die Vocale
A, E, I, 0, U; und zwar auf U die geringste, auf A die starkste.
Wahrscheinlich war eben doch U am schwachsten, A am starksten
zeugen. Das menschliche Pfeifregister reicht im Allgemeinen etwa von
c'^ bis g*. Dalier ancb die unangenehm eingreifende Wirkung intensiver
hoherer Pfeiftone: fiir die drei- bis viergestrichene Octave ist das
menschliche Obr besonders empfindlich. Die tieferen Pfeifklange ent-
halten deutlich auch den ersten Oberton, ihre Octave, die (nach brief licher
Mitteilung G. Engel's) auch durch mitschwingende Gabeln nachweisbar ist.
Ira Ubrigen dilrften die Pfeifklange nicht weiter zusammengesetzt sein.
300 § 22. Function der Aufmerksamkeit
gesprochen warden. Dass er damit im Anschluss an Stricker's
Sprachtheorie die Frage entscheiden will, „ob Hunde im Stande
sind, die menschliche Sprache aufzufassen ", mag hier mit Still-
schweigeu iibergangeu werdcu.
Bel allem Dem bleibt auch uoch dor Widerspruch za losen,
in welchen diesc Ergebuisse iiber Bewegung des Tensor rait den-
jonigeu von Schapkinger und Mach treten, welche am Menschen
weder auf manometrischem uoch stroboskopischem Wege die geringste
Bewegung des Trommelfells beim wechselnden Horchen auf hohe
und tiefc Tone wahrnehracn konnten. Hensen sucht den Wider-
spruch dadurch zu losen, dass die Action des Tensor nur momentau
zu Beginn der Schallerregung eintrete und darum jenen Beobachtern
habe entgehen konnen (Herm. Hdb. Ill, 2, 64). Pollak aber, der
beim Hunde einen anhaltenden Ausschlag beobachtete, geht auf
eine Losung der Schwierigkeit gar nicht ein. Ebensowenig macht
er einen Versuch, seine Ergebnisse rait der Tatsache zu vereinigen,
dass Menschen rait zerstdrtem Trommelfell Tone verschiedener Hohe
noch sehr gut wahrnehmen. Der Tensor miisse eben, meint er,
statt durch Trommelfellspaunung auf irgend eine andero, uns gauz
unbekannte Weise die Wahrnehmung der verschieden hohen Tone
untersttitzen. Das heisst die Hypothese in die Luft setzen.
Neu und interessant ist nur die Eine Bemerkung, dass jede
Erschiitterung der Nadel ausbleibt, wenn man beiderseits die
Schnecke zerstdrt, und dass ein taubstummer Hund mit schou ent-
wickeltem Tensor nicht die geringste Spur einer Reaction des-
selben zeigte. Die Zuckungen des Tensor kommen also nur unter
Mitwirkung des Hornerven zu Stande und sind ein durch die Ge-
hdrsemplindung vermittelter Reflex. Es freut mich, Pollak und
Stricker hier wiederum durch einen literarischen Nachweis unter
die Arme zu greifen, auf den sie sich damals bereits batten bc-
ziehen konnen, zumal er sich im Archiv fiir pathologische Anatomic
tindet. Baginsky beraerkte uanilich bei seinem o. 95 erwahnten
Schneckenexstirpationen auf der Seite, wo durch die Operation voU-
standige Taubheit entstanden war, bei mikroskopischer Untersuchung
eine fast vollstandige fettige Degeneration des Tensor, wahrend
derselbe auf der anderen Seite bis auf einzelne Fasern intact war
Lei der Analyse und dem Herausboreu. 301
(a. a. 0. 76, 80). Allerdings soUte man danach auuehmeu, dass
auch bei einem von Geburt an taubstummeu Hunde Degeneration
des Tensor eintreten miisse.
Die Lelire vom Tensor tympani als ausfiihrendem Organ
der Aufmerksamkeit hat einen allgemeineren Hintergrund. Von
manclien Physiologen und Psycbophysikern wird behauptet, dass
die Aufmerksamkeit stets mit einer Muskeltiitigkeit
oder Bewegung verkniipft und in ihren Wirkungen an die-
selbe gebunden sei^). Mach, der diese Anscbauung friiber
teilte, bat nacb miindlicber Mitteilung mit der Tensor-Hypothese
zugleicb diese allgemeinere Grundlage aufgegeben, und auch
Andere werden dieselbe Consequenz ziehen mlissen.
Wie sollte auch die Aufmerksamkeit des stillen Denkers,
wenn er sich bestandig neuen Vorstellungen und Begriffen zu-
wendet, an Muskebi gekniipft sein? Welche Muskelaction sollte
den tJbergang auch nur von einem Sinn zum anderen vermitteln,
^) Z. B. AuBERT, Physiologic der Netzhaut 325—6. Fechnee, Uber
einige Verhaltn. d. binoc. Sehens, Abh. d. Sachs. Ges. d. Wiss. (1860) 400.
Elem. II, 475, 490—1. An letzterer Stelle bezeichnet Fechner die
Muskelspaunuug nur als ,,eiae Art Reflex". In der erstgenannten Schrift
fasst er sie aber ausdrucklich als eine Bedingung fiir den Erfolg der
Aufmerksamkeit. Neuerdings ist diese Frage zwischen Bradley und
Bain verhandelt (Mind Nr. 43 u. 44"), doch scheinen sie beide auf der
negativen Seite zu stehen. Bain erinnert, dass er ausdrucklich auf die
Falle des Heraushoreus eines Instrumentes hingewiesen habe (Emotions
and Will 3. ed. p. 372), wobei keine Muskeltatigkeit stattfinde. Dagegen
sind wieder Maudsley und Ribot der Muskeltheorie zugetan, s. des
Letzteren Psychologic de I'Attention p. 32 u. 6. Wundt's Stellung ist
wieder nicht ganz klar, doch scheint er bei jeder intensiveren Aufmerk-
samkeit eine Muskelspannung anzunehmen und spricht in dieser Riick-
sicht auch speciell uoch vom Tensor tympani (II ^ 265. Vgl. Marty,
Viertelj.-Schr. f wiss. Phil. XIII 199). In Wundt's Philos. Studien IV 414
halt N. Lange die Verstarkung durch willkiirliche Aufmerksamkeit nur
vermittclst Bewcgungen fiir moglich. Neuestens Ichrt Munsterberg
(Beitr. z. experimcntellen Psychol. Heft 2, 1889, S. 24) iibereinstimmend
mit Ribot: „Der Eintritt jener Spaunungsempfindungen und des Deut-
licherwerdens, das begleitet nicht raeine Aufmerksamkeit, soudern ist
die Aufmerksamkeit selbst,"
302 § 22. Function der Aufmerksamkeit
wenn z. B. die Aufmerksamkeit durcli eine juckende Empfin-
dung auf die Haut gelenkt wird, oder wenn Hungergefiihl sich
einstellt? Nicht einmal innerlialb des Gesichtssinnes, wo der
Zusammenhang der Aufmerksamkeit mit der Fixation wol haupt-
sachlich jene Ansicht begiinstigte, ist sie ausnahmslos richtig:
wir konnen auf Nichtfixirtes merken und mit der Aufmerk-
samkeit bei unveranderter Augenstellung einem seitlich bewegten
Objecte folgen.
Selbstverstandlicb unterstiitzen wir gewohnheitsmassig durcli
maucherlei Muskeltatigkeiteu die Wirkuugen der Aufmerksam-
keit, soweit dies Uberall moglich und nicht verboten ist. Man
drebt das Auge nach dem Object, den Kopf, den Korper nach
dem Schall, probirt, auf welchem Ohr Tone, speciell auch Ober-
tone, besser liorbar sind. Auch die Ohrmuschel wird in solchem
Fall bewegt von Tieren und vielleicht auch von den wenigen
Menschen, die es konnen.
Eine Spannungsempfindung beim Besinnen, auf die Fechner
Gewicht legt (Elem. II 491), riihrt her von den MuskeLu, die
die Kopfhaut spannen und von den Gesichts- und Augenmuskeln.
Doch handelt es sich hiebei offenbar nicht wesentlich um unter-
stiitzende sondern begleitende Bewegungen. Solche Mitbe-
wegungen sind zur Gewohnheit geworden, weil man haufig
Augen und Ohren zugleich anstrengt, um sich Uber einen Gegen-
stand, eine Situation zu orientiren. Zum kleineren Teil mogeu
sie auch auf augeborener Association motorischer Nervenprocesse
(Irradiation, Reflexverbinduug — wie man's nennen will)
beruhen, die selbst wieder teils in friiher erworbenen Gewohn-
heiten, teils in notwendigen Eigentiimlichkeiten des organischen
Baues iiberhaupt griinden kann^).
^) Es scheint mir, dass Darwin (Ausdruck der Gemiitsbewegungen)
vielfach unnotigerweise Vererbung von individuell erworbenen (ge-
wohnheitsmassigen) Mitbewegungen annimmt. Gerade z. B. das Stirn-
runzeln beim Nachdenken (9. Kap.) kann auf die von ihm angegebene
Weise, als Ubertragung von den Aden des scharfen Sehens nach fernen
Gegenstanden, von jedem Individuum neu erworben werden, ohne dass
eine angeborene (vererbte) Disposition dazu notig ware.
bei der Analyse unci deni Heraushoreu. 303
Auch bei der sg. binocularen Farbenmischung finde ich wie
Fechner eine Muskelspannung in demjenigen Auge, dem man die
Aufmerksamkeit zuwendet, urn die betreffende Farbe in der Mischung
hervortreten zu lassen. Sie hat wahrscheinlich keinen wirklichen
Nutzen fiir den beabsichtigten Zweck und ist doch unvermeidlich.
Dass man beim Lauschen die Augeu, selbst den Mund, nach
der bezuglichen Seite wendet, ist bereits ofter (von Lotze, von
Fechner Binoc. Sehen 539) betont worden. Eine hiibsche Be-
merkung, die man leicht bestatigen kann, macht Kessel (A. f. 0.
XVIII, 1882, S. 125): „Halt man einen Beobachter an, nur auf
Eine Uhr (von zwei Taschenuhren, die an beide Ohren verteilt
werden) zu horen, die andere aber zu iiberhoren, unter dem Vor-
wand, dass dies moglich sei, so dreht er bei dem vergeblichen Be-
miihen, der Aufforderung nachzukommen, umvillkurlich die Augeu
nach der Seite, wo die unmogliche Wahrnehmuug gemacht werden
sollte." Dies verhalt sich auch ahnlich, wenn man mit einer Person
spricht, wahrend man auf eine andere horen will. Man muss
sich dann sehr iu Acht nehmen, dabei die Augen nicht hinuber-
zudrehen ^).
In einer Abhandlung uber die Physiologic und Pathologic der
Acusticusreflexe (Ungarische Akademie 1885, mir nur aus dem Be-
richt in der Z. f. 0. 1885 S. 335 bekannt) statuirt A. Hogyes
eine Association zwischen dem akustischen Centrum und dem der
Augenbewegungen, und erwahnt Versuche an Hysterischeu, auch
im hypnotisirten Zustand. „Lasst man vor einer Hysterischen die
Stimmgabel ertonen, dann wendeu sich beide Augen gegen die Ton-
quelle bin. Tout die Stimmgabel iiber dem Kopf, so wenden sich
beide Augen und convergiren."
t)ber Bewegungen der Sauglinge (Spannung ira Auge und Lid-
schlag) bei Schalleindrucken s. Preyer, Seele d. Kindes 51 — 55, 113.
Bei einem halbjahrigen Kinde babe ich beobachtet, dass es die
^) Auf solcherlei Erfahrungen an sich selbst oder Anderen mag be-
ruhen, was Galton (Inquiries into human faculty 1883, p. 157) von einer
Dame berichtet, in deren Phantasie gedruckte Worter immer die Yor-
stellung von Gesichtern hervorriefen : das Wort „ Attention" hatte ein
Gesicht, welches die Augen gewaltig nach links drehte.
304 § 22. Function der Aufmcrksamkeit
Augen uacb der betreffenden Seite drehte, als icb ibm die Taschen-
uhr abwecbselnd vor das recbte uud linke Ohr bielt.
Bei deu im § 24 zu erwahuenden Yersucben mit meinem
Sobue Rudolf fiel mir auf, dass er iu der letzten Versucbsreihe
vor Abgabe des Urteils meistens mebreremale bintereinander kraftig
blinzelte. Auf Befragen meiute er, cs gebe so leicbter. Das
uamlicbc komiscbc Zwinkeru stellte sicb. verbunden mit Empor-
ziebeii der Augenbraueu. Jabre biiidurcb bei einem meiuer Freuude
ein, ^Yenu irgeud ciue nicbt augeublicklicb zu erledigeude Frage
oder Mitteiluug seiu geistigcs odor gemiitlicbes Gleicbgewicbt storte.
An mir selbst beobacbte icb das scbou erwabnte uuwillkurlicbe
Augenscbliesseu (eiues oder beider Augen) beim Sucben uacb Bei-
tonen in schwereu Fallen, aber aucb bei sonstigen feineren Wabr-
nehmuugen im Tongebiet. Beim Sucben nacb Corabinationstonen
wabreud des eigeneu Yiolinspiels scbloss icb zeitweise gern das
linke Auge, wiibrend sicb die Aufmerksamkeit auf das recbte Ohr
conceutrirte. Man wird gelegentlicb bei Weinpriifungen Abnlicbes
beobacbten konueu. Es muss dabiugestellt bleiben, ob diese Be-
wegungen nocb einen auderen Nutzen baben, als dass sie die Ab-
lenkung der Aufmerksamkeit verbiiten. Notwendig sind sie nicbt.
Nicbt leugnen wollen wir eudlicb, dass in mancben Fallen Be-
wegungen, besonders solcbe von ausgiebiger Art, das Denken in-
direct unterstutzen konneu durcb Beforderung der Blutcirculation
(vgl. Bain, Feke und Ribot in des Letzteren Psycb. de I'Attention
S. 30) oder aucb durcb eiue Art von katbartiscber Entladung
zuruckgebaltener Affecte u. dgl. Aber dies bat mit der obigen
These nicbts zu scbaffen.
Ribot stiitzt die Muskeltbeorie durch allgemeine Anscbauungen,
wie z. B. dass jeder Gedanke selbst scbon ein Anfang von Muskel-
tatigkeit sei (das. S. 20), sowie durcb pbysiologiscbe Deductionen.
welche nicbt uberzeugen (S. 32 f.); beziiglich der willkiirlicben Auf-
merksamkeit speciell nocb dadurcb, dass der Wille nur auf Muskeln
wirken konne (S. 73), was wir aber bestreiten, und durcb Einzel-
betracbtungen uber die Wirkung des Aufmerkens auf Empfindungen,
Pbantasiebilder und abstracte Begriffe [S. 74 f.). Bezuglicb der Em-
pbnduugen, die uns bier naber interessiren, beruft er sicb aber
bei der Analyse und dem Heraushoren. 305
ausserst kurz auf das Gesetz der Relativitat, das wir nicht
anerkennen, und iibergeht gerade die Erscheinungen beim
Horen, auf die es hier am meisten ankommt, mit Stillschweigen.
Endlich ist auch das Argument, dass Gefuhle unentbehrliche Vor-
bediugungen der Aufmerksamkeit und jedes Gefiiiil mit Bewegungen
verkniipft sei (S. 165 — 175), fiir mich nicht iiberzeugend, da ich
beide Pramissen nicht fiir allgemein erwiesen halte, wenn sie auch
fiir hohere Grade der genannten Zustande zutreffen. Aber auch
fiir diese Falle wiirde nicht folgen, dass die Bewegungen (Be-
wegungsempfinduugen) constitutive Momente der Aufmerksamkeit
selbst waren, wie dies Ribot behauptet.
Wenn demnach die Verstarkung eines aufmerksam heraus-
gehorten Tones nicht auf Muskeltatigkeit zuriickzufiihren ist,
so bleibt nur iibrig, sie als Folge eines im sensiblen Nerven
(Ganglion) central erregten Processes anzusehen. Wir haben
keinen Grand, die Moglichkeit centrifugal laufender sensibler
Erreguugen, wie sie fiir die „Innervationsempfindungen" postu-
lirt werden, zu leugnen. Auch bei der blossen Phantasievor-
stellung eines Tones, wenigstens der willkiirlichen, findet wol
eine solche statt^). Bei Verstarkung einer Empfindung durch
Aufmerksamkeit dringt sie vielleicht (aber keineswegs not-
wendig) bis in die Nahe des Organes vor oder in dasselbe
hinein^). Bei willkiirlicher Verstarkung miissen wir also folge-
recht dem Willen einen directen Einfluss auf sensible Nerven
(Ganglien) zuschreiben, ahnlich wie er einen solchen auf mo-
torische iibt. Auch dieser Consequenz diirfte Tatsachliches nicht
im Wege stehen.
Dabei ist es nicht notwendig, dass die Richtung dieser
Innervation gleich Anfangs genau dem Tone entspricht, den wir,
wenn sie beendigt bez. im Organ angelangt ist, starker heraus-
horen. Man hat oft, wie unter 4. erwahnt wurde, statt einer
genauen nur eine beilaufige Vorstellung des Tons, den man
durch Aufmerksamkeit heraushoren will. Der Oberton springt
dann, wenn man mit der suchenden Phantasie auch nur in die
^) Vgl. Henle, Anthropologische Vortrage II 49.
^) KussMAUL, Die Storuugen der Sprache 187.
Stumpf, Tonpsychologie. U. 20
306 § 22. Function dcr Aufmerksamkeit
Nahe kommt, hervor unci waclist zur volleii Starke heran^).
Der centrifugale Nervenprocess erlangt also erst wahrend seiner
Dauer bez. seines Verlaufes die genaue Determination, gleicli-
sam wie ein Bach, der, an der Wasserscheide entsprungen, im
Ganzen nach Norden fliesst, aber durcb mancherlei Einfliisse in
seiner Riclitung naher determinirt wird, oder wie am beschlagenen
Fenster ein vom oberen Rande kommender Tropfen durch die
am Wege liegenden, mit denen er sicb vereinigt, bestandig ein
wenig abgelenkt wird, obgleich er die allgemeine Riclitung bei-
behalt. In der bereits centripetal erregten Faser (Ganglion)
findet der centrifugale Process Unterstiitzung, anderwarts nicht.
Beide Erregungen summiren sich hier, der Ton wird merklich,
und nachdem er es geworden, ist der willkiirlichen Verstarkung
ihre genaue Richtung vorgezeichnet. Auch wendet er sich, wie
aus den Beobachtungen zu schliessen, nur Einem von beideu
Ohren zu, wenn die Wirkung merklich sein soil; mag man sich
dies BegUnstigen Eines Ohres wirklich als ein Hinlaufen zu dem
Organ oder als irgend einen Yorgang innerhalb des akustischen
Centrums denken.
Die Innervation, von der hier die Rede ist, bleibt natiir-
lich als solche, wie auch die motorische, uns vollig unbewusst.
Was wir dabei spiiren, sind nur etwa jene gelegentlich beglei-
tenden Muskelspannungen, die mit der sensiblen Innervation
als solcher nichts zu tun haben. Ausserdem sind wir uns des
Willens und Dessen, was wir wollen, bewusst. Dann nachdem
es erreicht ist, auch des Effectes, der zunehmenden Tonstarke.
Aber nicht Dessen, was dazwischen liegt. Die Erzeugung eines
Nervenprocesses durch die unwillkiirliche oder willkiirliche Auf-
*) Mit Riicksicht darauf sprachen wir oben zu Anfang von 5. von
einer Verstarkung der herausgehorten oder herauszuhorenden Klang-
teile. Es ist moglich, dass die Verstarkung bereits im Keime beginnt,
ehe noch die Teilwahrnehmung, ja sogar bevor die Analyse eintritt, und
jedenfalls schreitet sie gleichzeitig mit der immer volleren Verdeutlichung
des Teiltones fort und bildet eine Controle fur die Richtigkeit der ana-
lysirenden Wahrnehmung, sodass man sagen kann, sie gehe wenigstens
der voile n, evidenten Analyse voraus.
bei der Analyse unci dem Heraushoren. 307
merksamkeit gibt niclit eine besondere Empfindung. Ich er-
wiihiie dies wegen der unklaren Vorstellungen, die sich mit
dem Wort „lnnervation" verkniipft haben.
Nach dem, was wir iibcr das Wahrnehmen und die Ver-
starkung von Teiltoiien horten, muss der Erfolg der sciisiblen
Innervation nicht unabhangig von der tJbung und von indivi-
duellen Unterschieden sein. Ahnliches gilt ja aucli von der
motoriscben Innervation.
Soviel also iiber die Verstarkung. Wir diirfen sie (um es
wiederholt zu betonen), in welcbem Umfang und welcber Weise
sie auch erfolge, keinesfalls als die eigentlicbe und wesentlicbe
sondern nur als eine beilaufige, die Haupttatigkeit unterstiitzende
Leistung der Aufmerksamkeit ansehen. Das Walirnebmen eines
Klangteiles durcb Horcben erfolgt in vielen Fallen obne materielle
Veriinderung des Klanges und seiner Teile, insbesondere obne
einen Starkezuwacbs des Wabrgenommenen. Wo ein soldier mit
der Analyse zugleicb eintritt, da gereicbt er natiirlich der-
selben zum Vorteil. Der analysirte Klang ist dann freilich
genau gesprocben nicbt mebr ganz derselbe, welcber zu ana-
lysiren war. Doch sind seine Bestandteile wenigstens quali-
tativ unveriindert, und fallt die geringfUgige Anderung in
der relativen Starke der Teile auch wieder binweg, wenn
sich die Aufmerksamkeit zum Ganzen zuriickwendet, wahrend
der Gewinnst grosserer Deutlicbkeit in Hinsicht der vorher
berausgehorten Teile dann gleichwol fiir das Ganze zuriick-
bleibt.
Auch lasst sich vermuten, dass den schwacben Tonen durcb
die Verstarkung gleichsam nur Dasjenige zuriickgegeben wird,
was ihnen von den gleichzeitigen Tonen entzogen wurde, sodass
nun wenigstens anniihernd diejenige Empfindungsstarko her-
gestellt wird, die ihnen zufolge der Reizverbaltnisse zukommen
miisste, wenn sie isolirt empfunden wiirdon. Insofern liesse sich
auch sagen, dass der analysirte Klang erst durcb die Ver-
starkung der Teiltone sich dem Eindruck niihert, wie wir ibn
der Objectivitat gemass horen miissten. (Vgl. I 374.) Die Ver-
anderung des zu Analysirenden liesse sich also bier teleologiscb,
20*
308 § 22. Function der Aufmerksamkeit
im Interesse der objectiven Zuverlassigkeit des Urteils, recht-
fertigen, wahrend sie soiist teleologisch absurd erscheint.
7. 1st es moglich, streng gleichzeitig mehrere
Klangteile aufmerksam herauszuhoren?
Es verstebt sich von selbst, dass uberall, wo eine aufmerk-
same Analyse im engsten Sinn dieser Worte stattfiiidet, gleich-
zeitig eine Mehrheit von Tonen (Klangen) mit Aufmerksamkeit
wabrgenommen wird. Die Analyse bestebt ja nacb unsrer De-
finition eben in der Wabrnebmung einer Mebrbeit. Aber da-
mit ist die Frage binsicbtlicb des gleicbzeitigen Herausborens
einzelner Glieder nocb nicbt erledigt. Die Meisten werden sogar
geneigt sein, sie bier zu verneinen. Es scbeint ibnen gleicbsam
in der Natur des Aufmerkens zu liegen, dass immer nur Eines
im Vordergrund steht. So ganz apriori kann dies aber docb
nicbt bingestellt werden. Es konnte sicb nur etwa um den
vereinigten Eindruck der Erfabrungen oder um eine schnell in
der Pbantasie anzustellende und jederzeit zu wiederbolende
Probe bandeln. Auf Grund solcber Zeugnisse konnte Einer zu
der Meinung kommen, dass ein scbeinbar gleicbzeitiges Heraus-
horen immer nur auf dem scbnellen Wecbsel in der Ricbtung
der Aufmerksamkeit berube. Allein wie will er dieses „iEQmer"
beweisen, wenn ein Anderer an sicb auch nur in wenigen
Fallen deutlicb ein streng gleicbzeitiges Herausboren beobacbtet
haben will? Uberdies bezieben sich jene Erfabrungen vor-
wiegend auf zusammengesetztere Falle, wie diejenigen des Auf-
merkens auf zwei gleicbzeitige Reden, wo es sich nicbt bios
darum handelt sie zu horen, sondern auch sie zu verstehen,
also zwei Gedankenreihen zugleich zu begen. Auch die Er-
fabrungen am Gesichtssinn mogen Viele bestimmen, wo aber die
Notwendigkeit eines abwecbselnden Fixirens mehrerer Gegen-
stande (von einer gewissen Grosse an) nur durch den Bau der
Netzbaut bedingt ist, die uns nur eine kleine Stelle fiir das
deutlicbe Sehen zur Verfiigung stelit.
Nacb unsren allgemeinen Erorterungen lasst sich obige
Frage auch so aussprecben: Ist es moglich, dass mebreren Tei-
len eines analysirten Erapfindungsganzen zu gleicher Zeit ein
bei der Analyse und dem Heraushoren. 309
besonderes (nicht: ein ausschliessliches) Interesse zugewandt
ist? So die Frage gestellt, ist von vornherein zu vermuten,
dass die Moglichkeit im Allgemeinen vorliegt und es sich nur
darum handeln wird, die Bedingungen eines solchen Vorkomm-
nisses genauer anzugeben. Dazu gehoren nun gewiss eine grossere
individuelle Fertigkeit im Analysiren und Heraushoren iiber-
haupt und in der festen Richtung der Aufmerksamkeit auf be-
stimmte Teile eines Klangganzen. Ausserdem aber ist, wie mir
scheint, das gleichzeitige aufmerksame Heraushoren oder Be-
achten mehrerer Componenten an zwei allgemeine Bedingungen
gekniipft:
a) Die Componenten miissen als Glieder eines bestimm-
ten Verhaltnisses aufgefasst werden, welches zu dem Ver-
haltnis der blossen Gleichzeitigkeit noch hinzukommt, z. B. als
Glieder eines gewissen Intervalles (ohne dass dieses dem Namen
nach bekannt zu sein braucht). Ja, wenn in einem solchen
Fall das Interesse sich dem Verhaltnis als solchem zuwendet,
so kann es nicht bios, sondern muss es zugleich beiden Glie-
dern zugewandt sein. So ist es z. B. beim Stimmen eines Inter-
valles. Es sei die Aufgabe, zwischen der e^-Saite einer Violine
und der a^-Saite das reine Quinten verhaltnis herzustellen. Ob-
gleich die Manipulation sich in diesem Fall gewohnlich nur auf
die eine der beiden Saiten erstreckt, indem die andere vorher
fest gegeben ist, so setzt doch das Urteil, ob bei einer ge-
wissen Hohe der e^-Saite das reine Quinten verhaltnis erreicht
sei oder nicht, allemal ein streng gleichzeitiges Aufmerken auf
beide Tone voraus ^). Ware die Aufmerksamkeit immer nur ab-
*) Es geschieht wahreud des Stimmens auch gelegentlich, dass man
die einzelnen Saiten fiir sich angibt. Dies hat teils den Zweck, ihre
sg. Reinheit im isolirten Zustand, namlich ihre gleichmassige Structur
zu constatiren (der Ton unreiner Saiten hat etwas unsicher Schwanken-
des und Naselndes), teils den Zweck, sich die genaue Hohe der Saite
auch einmal im isolirten Zustand einzupragen, was fiir den Musiker
zwar nicht zur Analyse des Zusammenklanges notwendig, aber zur Er-
leichterung des Geschaftes der Aufmerksamkeit beim nachherigen Inter-
vallurteil doch zuweilen angenehm ist. Mit diesem, der eigentlichen
310 § 22. Function der Aufmerksamkeit
wechselnd auf den einen und daiin auf den anderen Ton ge-
richtet, so kounte sie niemals auf das Verhaltnis beider ge-
richtet sein, da das Verhaltnis eben nur in seinen Gliedern
wahrnehmbar ist.
Dasselbe findet statt, wenn einer von mehreren Tonen
audi nur als der hohere oder tiefere gegeniiber einem anderen
erkannt wird: die Aufmerksamkeit muss auch dann notwendig
auf den anderen mit gerichtet sein.
Auf diese Art konnen wir aber nicht bios zwoi sondern
aucb eine grossere Anzahl von Componenten zugleicli beachten,
wenn wir sie z. B. alle als untereinander consonirend erkennen,
wie beim Drei- oder Vierklang, vorausgesetzt, dass dies nicbt
bios aus dem Fehlen von Schwebungen oder aus sonstigen
Kennzeichen erschlossen, sondern aus den Tonen selbst un-
mittelbar erkannt wird, und auch dieses nicht in einer Reihe
aufeinanderfolgender Vergleichungen je zweier von ihnen, son-
dern in Einem Urteilsact. Man kann zwar die Frage aufwerfen,
ob wir iiberhaupt in irgend einer Beziehung mehr als zwei
Elemente auf einmal vergleichen konnen. Es scheint mir dies
aber nicht schlechterdings unmoglich; zum miudesten diirfte,
wenn ein paarweises Vergleichen vorausgegangen ist, ein solches
geistiges Zusammenschauen des Vielen in Einem Blick (Plato's
Ovi^Ldsiv) moglich sein.
Vielleicht muss man noch unterscheiden zwischen dem
Fall, wo die Aufmerksamkeit dem Verhaltnis als solchem zu-
gewandt ist z. B. dem Intervall, wiihrend die Tone nur eben
als Glieder, als Materie, Fundament des Verhaltnisses mit-
beachtet werden mlissen, und dem Fall, wo die Aufmerksam-
keit auf die Tone direct und primar gerichtet ist, wahrend deren
Verhaltnis nur eben als conditio sine qua non des gleichzeitigen
aufmerksamen Vorstellens mitbeachtet wird. Im ersten Fall
batten wir ein Interesse an den Tonen nur s. z. s. um des Ver-
Stimm- Arbeit von ihrer psychologischen Seite, hat jenes Verfahren direct
nichts zu tun.
Zuzugeben ist auch, dass eine gleichmassige Verteilung der
Aufmerksamkeit in unsrem Falle uur sehr kurze Zeit statthat. S. u.
bei der Analyse und dem Heraushoren. 311
haltnisses willen, im zweiten umgekehrt. Es scheint mir aller-
dings, dass diese Falle einen wirklichen Unterschied unsrer je-
weiligen Gefiihlsverfassung ausmachen. Aber wir wollen die
etwas spitzige Frage hier auf sich beruhen lassen, da ich Nichts
dariiber vorzubringen wiisste als dass es mir so scheint, und
daher anders Denkende nicbt zu iiberzeugen vermochte ^).
^) Die Notwendigkeit, eine Vielheit von Objecten in einer gewissen
Beziehung zu einander zu denken, wenn man sie zugleich mit Aufmerk-
samkeit auf jedes einzelne vorstellen will, ist ofters von Psychologen
betont. Thomas von Aquino sagt (und die Lehre geht auf Aristoteles
zuriick): „Intellectus noster non potest simul actu cognoscere nisi quod
per unam speciem cognoscit." (Summa theologica p. I q. 86 a. 2 corp.)
Beziiglich des sinnlichen Vorstellens s. Lotze in „Seele und Seelenleben",
Wagner's Hdw., abgedr. in den „Kleinen Schriften" II 114.
LoTZE verlangt hier speciell eine „drarQatische Beziehung". „Zu-
gleich sich eine Schlange und einen Lowen vorzustellen, ist unerreich-
bar; den Kampf beider konnen wir dagegen wol vorstellen, obgleich
auch hier die Aufmerksamkeit, wenn sie von diesem Verhaltnisse sich
auf die Gestalt der Kampfer scharfer richten woUte, immer nur von der
einen abwechselnd zur anderen tiberspringen wiirde." Diese Behauptung
hangt hier zusammen mit der anderen, dass wir nur durch Reproduction
eigener „Strebungen" etwas deutlich und vollstandig vorstellen konnten;
weshalb wir uns z. B. einer Melodic nur dann erinnerten, „wenn wir sie,
was fast immer zu gescbehen pflegt, selbst mit leisen innerlichen Stre-
bungen begleitet haben". So, meint Lotze, miissen wir uns in den
Lowen und die Schlange als Selbstkampfende hineindenken, um sie
gleichzeitig vorstellen zu konnen. Diese Lehre von der notwendigen
Vermittelung der eigenen Strebungen bat er, scheint es, spater auf-
gegeben. wie sie denn auch sehr bestreitbar ist. Damit fallt auch der
Grund, speciell eine „dramatische" Beziehung zwischen der gleichzeitigen
Mehrheit von Objecten zu verlangen.
Von Interesse ist es, dass Lotze in dem Lowenbeispiel nur den
ersteu der oben unterschiedenen Falle fiir moglich halten will: dass
namlich die Aufmerksamkeit, solange beide Objecte wirklich zugleich
vorgestellt werden sollen, primar auf das Verhaltnis als solches gerichtet
und die Objecte nur mitbeachtet werden. Ubrigens ist der Gesichtssinu
zur Discussion dieser ganzen Frage weniger geeignet wegen des schon
oben erwahnten Umstandes. Wie wir durch die Kleinheit der Stelle des
deutlichen Sehens beim wirklichen Sehen aller einigermassen grosseren
Gegenstande zu Bewegungen genotigt sind, so miissen wir auch, scheint
mir, in der blossen Phantasie zwei Gesichtsobjecte sehr klein und sehr
312 § 22. Function der Aufmerksamkeit
b) Die Aufmerksamkeit muss sich unter die mehreren
gleichzeitig zu beachtenden Tone verteilen. Eben darum sind
giinstige Bedingungen im Subject und den Umstanden notig,
damit trotz solcher Teilung den einzelnen Tonen nocb ein merk-
licbes gesondertes Interesse verbleibe; fiir weniger Geiibte wird
es in solchen Fallen besonders niitzlich sein, die Componenten
vorher einzeln zu horen und sich einzupragen, gleichsam das
Interesse daranzubeften.
Dass wir etwas „mit geteilter Aufmerksamkeit" horen oder
sehen, ist zwar eine bekannte Sache und eine gebrauchliche
Redeweise („Pluribus intentus minor est ad singula sensus"),
bedarf aber nur in den Fallen keiner weiteren Erlauterung, in
welchen die Teilung darin besteht, dass wir mit der Aufmerk-
samkeit zwischen mehreren Objecten bin und her gehen. Fiir
den Fall streng gleichzeitiger Aufmerksamkeit dagegen entsteht
die Frage, in welchem Sinn iiberhaupt ein psychischer Zustand
und speciell ein GefUhl sich teilen konne. Ware es nicht
richtiger zu sagen, dass zwei Aufmerksamkeiten vorhanden sind,
zwei Gefiihle gleicher Art, aber geringerer Intensitat, wie die
ungeteilte Aufmerksamkeit?
Die Frage kann, wie man sogleich sieht, fiir beliebige
andere Gefiihle ebenso gestellt werden. Wenn tells die aussere
Erscheinung, teils der Charakter eines Menschen mir Abscheu
einflosst, oder auch die Erscheinung Abscheu, der Charakter
Achtung, so wird man kaum einen blossen Wechsel beider Ge-
fiihle, vielmehr auch ein gleichzeitiges Vorhandensein annehmen
miisson, also sogar auch eine Gleichzeitigkeit entgegenge-
setzter Gefiihlsqualitiiten. Der tjbergang des blossen Wett-
nahe aneinauder vorstellen, wenn wir sie zugleich aufmerksam vorstellen
woUen. Auf das optische Vorstellungsfeld scheinen in dieser wie in
vielen anderen Beziehungen (z. B. in der Unmoglichkeit, ein Ding hinter
einem anderen vorzustellen) die Eigenschaften des Sehfeldes iibergegangen
zu sein. Soviel ist gewiss, dass wir Gesichtsdinge, die wir aufmerksam
vorstellen woUen, in die Mitte des Vorstellungsfeldes legen; woraus sich
schon ergibt, dass sie einander naheriicken. Vgl. auch Binet, La Vision
mentale, Revue philos. XVII (1889) 365.
bei der Analyse und dem Heraushoren. 313
streits in Gleichzeitigkeit scheint um so leichter einzutreten, je
wesentlicher und vielfaltigcr die wahrgenommenen Beziehungen
zwisclien den Objecten sind. Ganz gewiss findet Gleichzeitig-
keit statt, wenn wir Eines um des Anderen willen lieben, hassen,
furcliten, ersehnen u. s. f.
Aber sicherlich ist es in diesen Fallen wie in dem der Auf-
merksamkeit unrichtig, von zwei Lieben, Furchten, Sehnsucbten,
Aufmerksamkeiten zu reden. Schon die Sprache straubt sich
mit psychologischem Tacte dagegen (obgleich nicht ganz aus-
nahmslos, was man von ihr auch nicbt verlangen kann), Es
ist Ein Gefiihlszustand; aber er hat mehrere Seiten oder Teile.
Was das besagen will, lehrt uns, wie in anderen Fallen, wo
wir von Teilen oder Seiten reden, keinerlei bios begriffliche
Untersuchung sondern zuerst wie zuletzt immer nur die Be-
obachtung; und so wollen wir uns auch iiber die Moglichkeit
der Sache hier nicht weiter den Kopf zerbrechen.
Nicht minder ist es Aussage der Beobachtung, dass die
Teilgefiihle, und so hier die Aufmerksamkeitsteile, geringere In-
tensitat besitzen als ein ungeteiltes Gefiihl fiir sich allein be-
sitzen kann. Es ist s. z. s. ein disponibler Fouds von Aufmerk-
samkeit in jedem Moment vorhanden, in den sich die einzelnen
Tone teilen miissen. Nur darf man das Gleichnis nicht so weit
treiben, die Intensitat der ungeteilten Aufmerksamkeit gleich
der Summe der Aufmerksamkeitsteile zu setzen: da der Be-
griff addirbarer Intensitaten hier wie bei den Empfindungen
absurd ist.
Dagegen lehrt wieder die Beobachtung, dass die Teilung
der Aufmerksamkeit eine gleichmassige und eine ungleich-
massige sein kann, dass die Aufmerksamkeit dem einen Ton
mit grosserer, dem anderen mit geringerer Intensitat zugewandt
sein kann. Dieses z. B. wenn uns in einem Accord, dessen
Tone wir alle wol beachten, doch Einer ganz besonders auf-
fallt, wie etwa die Durterz im Dreiklang (der „charakteristische
Ton") wahrend eines Mollstiickes. Dagegen ware es unrichtig,
zu sagen, dass beim Horen eines unanalysirten Einzelklanges
die Aufmerksamkeit „vorzugsweise dem Grundton zugewandt
314 § 22. Function der Anfmerksamkeit
sei". Sie ist dem Klang ausschliesslicli als Ganzem zuge-
wandt; dem Gruudtou dagegen weder ausschliesslich noch vor-
zugsweise.
Die verschiedene Verteilung der Aufmerksamkeit wurde von
den letzten, etwas abstracten Betrachtungen wieder zu concre-
teren fiihren, namlich zu der Frage nach den Umstanden, durch
welche die Art der Verteilung der Aufmerksamkeit auf die
Componenten eines isolirten Zusammenklanges, ferner das Wan-
dem der Aufmerksamkeit innerhalb eines solchen, endlich das
Verhalten der Aufmerksamkeit beim Heraushoren von ,,Stimmen"
innerhalb einer Reihe aufeinanderfolgender Zusammenklange be-
stimmt wird. Da aber die Umstande, welche hier massgebend
sind, zum grossten Teile nichts anderes sind als Niederschlage
musikalischer Gewohnheiten oder Ausfliisse der musikalischen
Vernunft, deren Ausbildung sich erst auf Grund der Consonanz-
und IntervalUehre begreifen lasst, so tun wir besser, die an-
gedeuteten Ausfiihrungen zu verschieben, bis wir diese kennen
gelernt haben.
Zwei Bemerkuugen iiber gleichzeitiges Heraushoren sollen
noch besonders angefiihrt werden.
Zuerst eine iiber gleichzeitiges Heraushoren von Ob er ton en.
Auch solche, mid iiberhaupt schwachere Tone neben starkeren,
kann man zu zweien gleichzeitig heraushoren unter den an-
gegebenen allgemeiuen Bedingungen. Was aber diesen Fall be-
sonders erwiihnenswert macht, ist der Umstand, dass (nach
meiner Beobachtung wenigstens) mit dem gleichzeitigen
Heraushoren nicht, wie mit dem einzelner Obertone,
eine Verstarkung verbunden ist. Verstiirken kann man immer
nur Einen auf Einmal. Vielleicht konnte man sich auf gleich-
zeitige Verstarkung mehrerer einiiben. Naturgemass geht ja
unser Interesse, wenn wir iiberhaupt etwas heraushoren wollen,
auf das Einzelne. Es ware daher begreiflich, wenn selbst bei
akustisch Geiibten das gleichzeitige Verstarken einer absicht-
lichen und speciell darauf gerichteten Einlibung bediirfte, Sollte
es aber allgemein und dauernd unmoglich sein, so konnte der
Grund darin liegen, dass es schon einer sehr hohen und fest
bei der Analyse und dem Heraushoren, 315
auf ihr Object gerichteten Aufmerksamkeit bedarf, um bei ein-
zehien Tonen Verstarkung zu erzielen, und dass dieser Grad
der Aufmerksamkeit in Folge der Teilung hier nicht erreicht
werden kann.
Eine zweite Bemerkung betrifft das gleichzeitige Heraus-
horen von Tonen, die durch verschiedeneOhren gebort werden.
Fechner hat, veranlasst durch Beobachtungen E. H. Weber's,
bei Geriiuschen in solchem Falle immer nur Wettstreit finden
konnen^); nicht einen Wettstreit der Empfindungen (wie er
ausdriicklich S. 542 bemerkt), aber einen solchen der Aufmerk-
samkeit. So wenn er zwei ahnlich tickende Uhren rechts und
links hielt oder sich vor den Ohren kratzte. Dagegen wenn
er die Uhren vor ein und dasselbe Ohr hielt, vereinigte sich
ihr Ticken, so zwar, dass er das Ticken der einen und anderea
iiberhaupt nicht auseinander zu halten im Stande war.
Wir miissen hier aber solche Falle, in denen es sich um
Erkenntnis und Unterscheidung zweier gleichzeitiger Rhythraen
handelt, bei Seite lassen. Sie haben mit der Unterscheidung
gleichzeitiger Tone als solcher nichts zu tun. Die Gleichzeitig-
keit zweier Rhythmen besteht ja nicht in der Gleichzeitigkeit
ihrer einzelnen Schlage (nur hie und da werden periodisch zwei
Schlage zusammenfallen), sondern darin, dass die Schlage des
einen und des anderen Rhythmus sich zeitlich durchkreuzen
und manichfach innerhalb einer gegebenen Zeit mit einander
abwechseln. Die Schlage sind nur im Grossen und Ganzen
gleichzeitig. Die Aufgabe der Sonderung zweier Rhythmen ist
also eine vollstandig andere als die der Sonderung zweier Tone.
Dagegen bieten die sonstigen von Fechner erwahnten Ge-
rausche (am Einfachsten reibt man je zwei Finger an einander
vor jedem Ohr) allerdings das gleiche Problem wie die Tone.
Und da kann ich nun, mag man Gerausche oder Tone (leise
angeschlagene Stimmgabeln mittlerer Hohe) benutzen, nicht
finden, dass es unmoglich ware, die Aufmerksamkeit beiden
Ohren gleichzeitig zuzuwenden. Es scheint mir nicht einmal
1) Abh. d. sachs. Ges. d. Wiss. VII (1860) 537 f.
316 § 22. Function der Aufmerksamkeit
schwerer als gegeniiber zwei Tonen in Einem Ohr. Wenn ich
z. B. das ToninteiTall zweier rechts unci links verteilter Gabeln
als eine Quinte erkenne, so ist meine Aufmerksamkeit wahrend
des Actes der Beurteilung auf beide Ohren streng gleichzeitig
gerichtet ^),
Bei den Gerauschen gibt es freilich nicbt immer ein solches
tonales Verhaltnis, als dessen Glieder die beiden gleicbzeitigen
Empfindungen aufgefasst werden konnten, um gleichzeitig Gegen-
stand der Aufmerksamkeit zu sein. Aber es kann ja auch das
bios locale Verhaltnis selbst benutzt werden. Man vereinigt
beide Gerausche in der Auffassung als Teile eines gemeinsamen
Ortsbildes.
Es soil iibrigens nicht behauptet werden, dass man Alles mit
Allem zusammen vorstellen konne. Stricker lehrt, man konne nicht
zwei Vocale zugleich vorstellen, und streitet hieriiber mit Paulhan
(Revue philos. 1884. Anzeiger der k. k. Gesellsch. d. Arzte in Wien
1885 Nr. 14). Hier mochte ich unterscheiden: ich kann mir aller-
dings nicht vorstellen, dass ich selbst zwei Vocale zugleich sprache.
Aber ich glaube mir wol vorstellen zu konnen, wie es klingt,
wenn zwei andere Personen A und 0 oder I und U zugleich
sprechen, und diese Vocale auch unterscheiden zu konnen, voraus-
gesetzt, dass man in verschiedener Tonhohe spricht, wie ein Mann und
ein Weib, oder wenigstens aus verschiedenen Richtungen, von rechts
und links. Man hat freilich keine Veranlassung, sich hierin grossere
Cbung zu erwerben, well man beim gleicbzeitigen Reden Mehrerer
schon wegen der Unmoglichkeit des gleicbzeitigen Verstandnisses
nur Einem auf einmal zuhort. Das Verstehen ist aber wieder eine
Sache fiir sich.
Scbliesslich fiige ich dieser Untersuchung tiber gleichzeitiges
Beachten mehrerer Tone zur Abwehr von Misverstandnissen die
an sich iiberfliissige Erinnerung bei, dass es sich nur darum
^) Dass man beim Heraushoren von Beitonen die Aufmerksamkeit
mit Vorteil Einem Ohr allein zuwendet, hat seine besonderen Grunde:
die Verstarkung kann nicht auf beiden Seiten zugleich erfolgen.
Sonst wurde auch hier das doppelseitige Heraushoren ebenso leicht sein
wie das einseitige.
bei der Analyse und dem Heraushoren. 317
handeln konnte, die Moglichkeit und das Vorkommen einer
solchen Leistung der Aufmerksamkeit nachzuweisen. Aber es
soil nicht bestritten werden, dass eiu streng gleichzeitiges und
dazu streng gleichmassiges Aufmerken immer nur kurze Zeit
anhalten kann. Ein scheinbar langeres gleichmassiges Ver-
weilen bei den Tonen eines Accords, den Stimmen eines poly-
phonen Gesanges lost sicb bei naherer Betracbtung allemal in
ein Oscilliren um jenen Gleichgewichtszustand auf ^). Doch dies
gilt ja nicht bios vom Aufmerken auf zwei gleichzeitige In-
halte sondern vom Aufmerken iiberhaupt. Bestandig wirken
ablenkende Reize, und es gelingt ihnen auch immer wieder,
die Aufmerksamkeit wenigstens momentan und in geringem
Grad ihrem Gegenstand abspenstig zu machen, mogen wir sie
noch so sehr auf denselben concentriren^). Beim gleichzeitigen
y ^) Schon beim Reinstimmen eines Intervalles wechselt gleichmassige
mit ungleichmassiger Verteiluug. Nach dem ersten mit gleichmassig
verteilter Aufmerksamkeit gehorten Eindruck hat der Musiker ein Urteil,
ob das Intervall rein ist oder nicht. Meistens schliesst sich daran so-
gleich auch die Erkenntnis, ob es erweitert oder verengert werden muss;
und in diesem Falle concentrirt sich die Aufmerksamkeit nun vorwiegend
auf einen der beiden Tone, um sich dann wieder nach geschehener Ver-
anderung beiden gleichmassig zuzuwenden. Der angehende Stimmer
pflegt, wenn er die mangelnde Reinheit erkannt hat, durch Hin- und
Herdrehen des einen Zapfens zu probiren, auf welchem Wege Besserung
erzielt werden kann; wobei dann derselbe Wandel der Aufmerksamkeit
stattfindet.
'^) Diese allbekannten Schwankungen in der Richtung und auch in
der Intensitat des Aufmerkens sind nicht zu verwechseln mit den Schwan-
kungen in der Intensitat von Empfindungen, denen die Aufmerksamkeit
zugewandt ist; wenn auch an sich eine Verstarkung solcher Empfindungen
in gewissen Fallen die Folge einer Zuwendung (bez. Verstarkung) der
Aufmerksamkeit und eine Schwachung der Empfindungen die Folge ihrer
Abwendung (Schwachung) sein kann. Wir konnen das entsprechende Ver-
halten der Aufmerksamkeit in solchen Fallen durch (nachtragliche) Selbst-
beobachtung als die Ursache constatiren, Dagegen vollziehen sich jene
Schwankungen schwacher Empfindungen nach demselben Zeugnis unab-
hangig von der Aufmerksamkeit und griinden sicher in anderen nervosen
Processen als denjenigen, welche etwa der Aufmerksamkeit zu Grunde
liegen. Munsteeberg hat daher (Beitr. z. exp. Psych. II 69 f.) mit Recht
318 § 23. Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit
Aufmerken werden solche Ablenkiiiigen, wenn sie vora Ganzeii
zu den Teileii bin und zuriick stattfinden, den Erkeuntnis-
zwecken forderlich. Dieser bekannten Beweglichkeit der Auf-
mcrksamkeit steht aber aucb eine scbon (I 391) erwabnte Triig-
beit zur Seite, der zufolge docb eine gewisse Grosse des ab-
lenkenden Reizes erforderlicb ist. Und es ist zum Verstandnis
ibrer Leistungen bei der barmoniscben und polypbouen Musik
durcbaus notwendig, nicbt bios die Fabigkeit eines scbnellen
Hin- und Hergebens zwiscben den Stimmen sondern aucb die
eines streng gleichzeitigen und in gewissen Fallen aucb ganz
oder nabezu gleicbmassigen Beacbtens mebrerer Tone und
Stimmen bervorzubeben. Dies wird durcb die Ausfiibrungen
im folgenden Bande wol einleucbtend werden. Vorlaufig diirfte
die allgemeinere psycbologiscbe Bedeutung der Frage die vor-
stebende Erorterung biulanglicb recbtfertigen.
§ 23. Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit der Analyse
und des Herausborens.
Wie Wabrnebmungen iiberhaupt nicbt notwendig wabr sind,
weder subjectiv nocb objectiv, so gilt dies aucb von der Ana-
lyse und dem Herausboren. Und wie wir in § 12 die Bedin-
gungen zusaramenstellten, von denen die Zuverlassigkeit eines
Urteils Uber aufeinanderfolgende Tone abbangt, so versucben
wir jetzt das Gleicbe in Betreff der Analyse und des Heraus-
borens bei gleicbzeitigen Tonen. Es bandelt sicb also bier
nicbt um die unentbehrlicben Voraussetzungen, von welcben das
Zustandekommen einer Analyse abbangig ist (zu denen z. B.
die Aufraerksamkeit nicbt geboren wiirde), sondern um die Ein-
fliisse, welcbe ibre Zuverlassigkeit erboben oder vermindern.
Vollstandigkeit der Ubersicbt ist dabei unser Hauptzweck. Da
einige der Bedingungen im Vorangebenden ausfiibrlicb unter-
sucbt sind, geniigt es, an das Wesentlicbste zu erinneru; liber
gegen die Aufbauschung solcher Schwankungen zu wunderbaren Wesens-
eigentumlichkeiten der Aufmerksamkeit protestirt.
der Analyse und des Heraushorens. 319
andere wird das Notige liierselbst beigebracht. Untcr Zuverlassig-
keit ist die objective verstanden. Wir nennen also die Analyse,
das Heraushoren ricbtig, wenn objectiv melirere Schwingungs-
arten vorbanden sind und aucb die sonstigen etwa angegebenen
Bestimmungen iiber die geborten Tone objectiv zutreffen. Nach
der allgemeinen Aufzablung und Cbarakteristik der Bedingungen
besprechen wir einige Classen von Fallen besonders, deren Unter-
ordnung unter die allgemeinen Erklarungsprincipien zu Zweifeln
Anlass gibt.
1. tJbersicbt der Bedingungen.
Folgende Factoren sind es, von welcben die Zuverlassig-
keit der fraglicben Urteile abbangt:
a) Die qualitative Distanz der gleicbzeitig empfundenen
Tone (der Grad ibrer Unahulicbkeit oder ibr Hobenabstand,
als Empfindungsunterscliied betracbtet). Es lasst sich versteben,
dass die Analyse und das Herausboren urn so leicbter sein wer-
den, je weiter die Tone fiir unsre Empfindung (nicbt bios auf
dem Clavier oder in Scbwingungszahlen) von einander tonal
absteben. Je grosser der Unterscbied, um so leicbter die Unter-
sebeidung (mit welcher ja Analyse gegeben ist), um so leicbter
aucb die Teilwabrnebmung eines einzelnen unter ibnen; sie
beben sicb besser von einander ab. Mebrfach baben wir bereits
diesen Umstand zu Erklarungen benutzt, z. B. fiir die ver-
scbiedene Leichtigkeit, mit der Intervalle von gleicber Ver-
schmelzung analysirt werden, wie Octave und Doppeloctave,
Sexten und Terzeu, alle dissouauten Intervalle unter einander^).
Unterbalb einer gewissen Grosse der Tondistanz wird Ana-
lyse und Herausboren iiberbaupt unmoglich. Es gibt eine qua-
litative Scbwelle derUnterscbeidbarkeit gleicbzeitiger
Tone. Dieselbe fallt keineswegs mit derjenigen fiir aufeinander-
folgende Tone zusammen, sondern liogt bedeutend bober.
Den einfacbsten Beweis liefern die Empfindungen beider
Obren, zwiscben denen die meisten Menscben eine Verscbieden-
beit in der Tonbobe wabrnebmen, wenn sie den gleicben ob-
^) Oben S. 139, 154, 170, 178, 183.
320 § 23. Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit
jectiven Ton successive rechts und links horen, wahrend sie
bei gleichzeitigem Horen nur Einen zu horen glauben.
Bei meinen Ohren betragt der Hohenunterschied fiir c^
4 Scbwingungen, d. i. ^/^g Ton. Um so viel hore ich den Ton
rechts hoher als links. Ich habe dies dadurch ermittelt, dass
ich von zwei c'^-Gabeln die eine durch Aukleben von Wachs
so weit vertiefte, dass sie rechts gehalten der anderen links
gehaltenen bei abwechselndem Horen gerade gleich erschien ^).
Wenn ich nun das Wachs wieder entferne und die Gabeln
wie vorher an beide Ohren verteile, so vernimmt hienach das
rechte Ohr einen um ^/^g Tonstufe hoheren Ton als das linke.
Dieser Unterschied, der bei der Aufeinanderfolge der Tone weit
iibermerklich ist. wird bei gleichzeitigem Erklingen vollkommen
unmerklich. Ich glaube einen und denselben Ton zu horen.
Wir konnen aber den Unterschied auch noch vergrossern,
indem wir die Gabel vor dem tieferhorenden Ohr durch an-
geklebtes Wachs vertiefen. In diesem Fall konnen allerdings
durch starken Anschlag auch bei verteilten Gabeln Schwebungen
auftreten, bei schwacherem Anschlag sind sie aber nicht oder
nur durch besonders darauf concentrirte Aufmerksamkeit wahr-
zunehmen. Ich kann nun z. B., wenn die linke Gabel so ver-
stimrat ist, dass sie mit der anderen vor Einem Ohr 8 Schwe-
bungen macht, beim gleichzeitigen Horen durch verschiedene
Ohren immer noch nicht die Zweiheit erkennen. Der Unter-
schied betragt in diesem Falle mit Hinzurechnung der natiir-
lichen Differenz der Ohren 12 Schwingungen. Bei 16 Schwe-
bungen dagegen oder einem Unterschied von 20 Schwingungen
ist der Eindruck entschieden unrein. Die gleichzeitige Schwelle
betragt also unter diesen Umstanden zwischen 12 und 20 Schwin-
gungen; wahrend man bei der Aufeinanderfolge den Unterschied
von einer halben Schwingung noch gut bemerken kann 2).
') Ich hatte den Unterschied vorher auf Vs Ton geschatzt. Wieder
ein Beispiel, wie man kleine Distanzen uberschatzt (I 130, 259 — 60).
2) Es ist mir bei diesen Versuchen (Juli 1889) aufgefallen, dass
die Differenz meiner beidea Ohren von der tiefen bis zur mittleren
Region das Vorzeichen wechselte, indem ich Tone der kleinen Octave
der Analyse und des Heraushorens. 321
Aber auch endlich, weun wir Einem Olir zwei objective
Tone von einer bei der Aufeinanderfolge eben noch leicht
merklichen Verschiedenheit zugleich darbieten, vernehmen wir
nur Einen Ton. Hier muss die Verstimmuug der eineu Gabel
noch mehr betragen als vorhin.. wenn eiue Unreinheit des
Klanges deutlich merkbar sein soil. Die Schw^ebungen konnen
in diesem Falle allerdings eine objective Mehrheit von Tonen
verraten. Aber einerseits sind sie kein untriigliches Kenn-
zeichen, da auch ein einzelner Ton periodischen Intensitats-
schwankungen unterliegen kann; andererseits wird, auch wenn
sie als Kriterium beniitzt werden, die Mehrheit dann doch nicht
unmittelbar erkannt, und nur um solche unmittelbare Beurteilung
handelt es sich hier. Der Horende und Urteilende selbst ver-
mag dies sehr wol auseinander zu halten. Auch konnen die
Schwebungen unter Umstanden so langsam erfolgen, dass sie
wiihrend einer zur Urteilsbildung hinreichenden Zeit noch nicht
merklich werden, zumal wenn die Aufmerksamkeit nicht vorher
links hoher horte als rechts. Ich hatte damals nur wenige Gabeln zur
Verfiigung, doch umfassten sie einen grossen Tonbezirk. Eben w^hrend
ich Obiges zum Drucke sende, erhalte ich 94 Gabeln vom A^^ bis iiber c*
hinaus, und kann nun Genaueres angeben. Es finden drei Hauptwende-
puncte statt. Bis d hore ich rechts hoher, von e bis f^ links, von da
bis e^ rechts, dann wieder links. In der Nahe der Wendepuncte ver-
ringert sich natiirlich die Diifereuz. Zwischen cis^ und fis^ ist aber noch
eine geringe Ausbiegung nach der umgekehrten Seite, indem ich d^ und
e"^ links um eine Idee hoher hore. Der Betrag von 4 Schwingungen fiir
die Differeuz bei c'^ fand sich auch jetzt wieder.
Dieses merkwiirdige Verhalten konute, wenn es abnorm ist, in Zu-
Kammenhang stehen mit einer zweimaligen Paracentese, welcher das
rechte, und einer einmaligen, welcher das linke Trommelfell (wahrend
zweier Krankheiten Februar und April 1889) unterworfen werden musste,
und mit einer voriibergehenden Vertiefung aller Tone von c bis c* fur
das linke Ohr im letztereu Falle.
Vergleichende Untersuchungen hieriiber bei verschiedenen Personen,
die einer sehr genauen Tonunterscheidaug fahig sind, waren von In-
teresse. Herr Mechaniker Wesselhopt fand fiir seine Ohren die Gabeln
c, c^, a^ c', c* durchweg rechts hoher.
Auf den Betrag der Schwelle in den verschiedenen Tonregionen
kann der eben besprochene Umstand jedoch keinon Einfluss haben.
Stumpf, Tonpsychologie. II. 21
322 § 23. Bedingungen filr die Zuverlassigkeit
darauf gelenkt ist. Aber selbst wenn dies Letztere der Fall
ist, kann das Urteil schneller sein als die Schwebung. So ist
es mir z. B. bei C und E auf der Orgel (Differenz 16 Schwin-
gungen, also ebensoviel Schwebungen in der Secuude) klar ge-
wesen, dass ich zwei Tone horte, ehe ich noch Schwebungen
wahrnabra. A^^ und C (Differenz 11 Schwingungen), oder F^
und A^ (Differenz ebensoviel) konnte ich nicht mehr ausein-
anderhalten. In der Aufeinandorfolge ist mir die Verschieden-
heit auch dieser letzteren Tone ohne Weiteres klar. Daher
kommt es auch, dass der Contrabassist seine Saiten nicht, wie
der Geiger, durch gleichzeitiges Anstreichen stimmt.
€^brigens wird man am Clavier, an dem Harmonium, den
Streichinstrumenten in alien Regionen geringere Schwellenwerte
finden als bei verteilten Gabeln. Sogar C und Des, c^ und des^
halt man in der Musik noch sehr wol auseinander, wenn sie
gleichzeitig vorkoramen. Uber diese grossere Leichtigkeit der
Analyse bei scharferen Klangen s. 2, a. Aber immer bleibt die
Unterscheidungsschwelle unter gleichen Umstanden grosser als
bei aufeinanderfolgenden Tonen.
Ich bin nach dem Vorstehenden nicht (mit Wundt I 426) der
Meinung, dass die qualitative Schwelle nur bei aufeinanderfolgenden
Tonen iiberhaupt ermittelt warden konne; wenn auch die gleiche
Genauigkeit in unsrem Fall nicht zu erreichen sein wird. Es sind
iramer nur einzelne, besonders ausgesuchte Classen von Fallen, wo
Schwebungen ganz unwahrnehmbar gemacht werden konnen. Immer-
hin kann sich das Urteil auch da, wo sie uuvermeidlich bleiben,
mehr oder weniger von ihrem Einflusse eraancipiren. Sonst miisste
ja selbst bei c und d kein Urteil moglich sein, ob wir einen oder
zwei Tone horen, bez. immer nur auf Einen geraten werden. So-
mit kann man sich durch Cbung eine wachsende Fahigkeit in der
Abstraction von dieser Nebenerscheinung erwerben. In gewissem
Grade ist solche Ubung bei Musikalischen bereits ausgebildet. Aber
auch Unmusikalische, welche in der Kegel mehr als Musikalische
auf Nebenerscheiuungen achten, habe ich fahig gefunden, davon
zu abstrahiren (o. 162). Um sich ganz systematisch darin zu uben,
miisste man sich den Unterschied des Eindrucks einpragen, welchen
tier Analyse unci des Heraushorens. 323
zwei naheliegende gleichzeitige Tone einschliesslich ibrer Schwe-
bungen macben uud welcben ein einzelner dieser Tone (oder ein
zwiscben ibnen liegender) macbt, wenu man ibm kiinstlicb perio-
dische Intensitatsscbwankungen von gleicber Anzabl und Starke er-
teilt. Dadurcb wiirde man lernen, die Aufmerksamkeit imraer mebr
auf das beide Falle unterscheidende rein tonale, qualitative Moment
zu concentriren. Ja man konnte bei jedem eiuzelnen Falle einer
auszufiibrenden Versucbsreihe diesen Coutrolversuch macben. So-
lange der Unterscbied beider Falle nocb merklicb ist, solange wird
man sagen diirfen, dass die gleicbzeitigen Tone nocb als Mebrheit
wabrgeuommen und qualitativ unterschieden werden.
Ein anderes und scblimmeres Hindernis wiirden uns die Scbwe-
bungen dann bereiten, wenn es wabr ware, dass zwei schwebende
Tone liberbaupt nicbt als Mebrheit gleicbzeitiger Tone zur Empfin-
dung kamen, sonderu als Ein Ton von periodiscb wecbselnder Hohe;
wie mancbe Akustiker bebaupten. Dass dies nicbt ricbtig ist, wer-
den wir im § 27 zeigen.
Ausser dem Verhaltnis der gleiclizeitigen zur successiven
Scliwelle ist auch das Verhalten der gleicbzeitigen Schwelle
in verschiedenen Tonregionen von Wichtigkeit. Wahrend
die analoge Frage bei aufeinanderfolgenden Tonen mebrfacb
untersucbt und besprocben ist (§ 14), begt bier aucb in dieser
Beziebung bisber nocb nicbt das Mindeste vor.
Oben ist bereits erwabnt, dass dicht unterbalb der grossen
Octave selbst Terzen mit 11 Scbwingungen Differenz gleicb-
zeitig nicbt mebr auseinandergebalten werden konnen. Fiir die
grosse Octave babe icb wiederbolt (1876 und 1889 im Wiirz-
burger pbysikaHscben Institut) mit den scbonen KoNiG'scben
Gabeln fiir die LissAJOu'scben Figuren biebergeborige Versucbe
gemacbt. Die Gabeln, mit starken Holzgriffen verseben, geben
die Tone C (2 Gabeln), D, F, A, c. Das eine C, sowie die
iibrigen Gabeln bis c sind mit Laufgewicbten verseben, wo-
durcb sie bis zu einem Ganzton bober gestimmt und so alle
moglicben Combinationen erzeugt werden konnen. In der un-
teren Halfte der grossen Octave fand icb biermit die gleich-
zeitige Unterscbeidungsscbwelle bei Verteilung zweier Gabeln
21*
324 § 23. Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit
an beide Ohren etwa gleich eiiiem Ganzton, d. h. etwa gleich
8 Schwingungen Differenz, in der oberen Halfte etwa gleich
einem Halbton, d. h. ebenfalls gleich etwa 8 Schwingungen
Differenz.
Bei c^ betragt sie gleichfalls etwa 8 Schwingungen, d. h.
einen Viertelton. In der Gegend des c^ liegt sie nach dem
Obigen zwischen 12 und 20 Schwingungen, was in dieser Region
einem Viertelton entspricht. In der dreigestrichenen Octave end-
lich fand ich sie (an den AppuNN'schen fiir Preyer angefer-
tigten Gabeln von 1000 bis 2000 Schwingungen mit je 100
Schwingungen Differenz) durchschnittlich geich 100 Schwin-
gungen Differenz oder ^/^ Ton: die Gabeln von 1000 und 1100
Schwingungen konnte ich noch eben unterscheiden, Herr Dr.
K. ScHAFER, welcher in diesen Fallen mitbeobachtete, nicht
mehr; und die Gabeln 1500 und 1600 (Halbton in der Mitte
der dreigestrichenen Octave) erschienen auch mir als Ein Ton,
hochstens noch mit einem Anflug von Unreinlichkeit.
Sowol die relative Untorscheidungsfahigkeit (ge-
messen am Quotienten der Schwingungszahlen) als die abso-
lute (gemessen an ihrer Differenz) ist also — das folgt schon
aus diesen fragmentarischen Beobachtungen — auch bei
gleichzeitigen Tonen nicht constant von der Tiefe zur
Hohe. Die relative nimmt von der Tiefe bis zu einer mittleren
Region zu, dann wieder ab: die absolute nimmt einfach ab
(selbstverstandlich auch in den hochsten Regionen, wo ja schon
die successive Unterscheidungsfahigkeit enorm abnimrat).
Diesc Beobachtungen bestatigen alio zugleich auch wieder
die vorangehende Behauptung Uber das Verhaltnis der gleich-
zeitigen zur successiven Schwelle: denn alle eben angefiihrten
Unterschiede sind bei Aufeinanderfolge der Tone noch weit
iibermerklich.
Fragen wir nun nach dem Grunde der beiden gefundenen
Tatsachen, so ist die zweite dorselben, das Verhalten der Unter-
scheidungsfahigkeit in verschiedenen Regionen, wol keiner an-
deren Erkliirung bediirftig und fahig, als sie fiir das analoge
Verhalten bei aufeinanderfolgenden Tonen I 324 — 326, 332 f.
der Analyse und des Heraushorens. 325
gegeben ist: der Grund ist wesentlich in dem Verhalten der
Unterschiedsempfindlichkeit zu suchen, mit andcren Worten:
in der Construction der die Tonempfindungen vermittclnden
nervosen Einrichtungen. tJbungsunterschiede wUrden hier so
wenig wie dort zur Erklarung ausreichen, obgleich dieselben
auch hier nicht ganz unbeteiligt sein werden; z. B. mag die
auffallend rasclie Abnahme der Unterscheidungsfahigkeit in der
dreigestrichenen Octave doch auch einigermassen damit zu-
sammenhangen, dass in der Musik Zusammenklange in dieser
hohen Region sehr wenig gebraucht werden (teils weil sie leicht
unangenehme Nebenwirkungen mit sich fiihren, wie die heu-
lenden Differenztone beim geringsten Schwanken, teils weil die
hoher liegende Melodie gern von den begleitenden Accorden
durch einigen Zwischenraum getrennt wird, wodurch diese in
die mittlere oder tiefere Region verwiesen sind).
Die Veranderung des Schwellenwertes von Region zu Re-
gion bedarf also keines neuen Erkliirungsgrundes und liefert
fiir das bei aufeinanderfolgenden Tonen Gefundene nur eine
Bestatigung.
Warum aber liegt die Schwelle iiberhaupt bei gleichzeitigen
Tonen hoher als bei aufeinanderfolgenden?
Erinnern wir uns zuerst auch hier, dass wir es bei alien
erwahnten Beobachtungen direct nur mit der Wahrnehmungs-,
speciell Unterscheidungsschwelle zu tun haben und auf die Em-
pfindungsschwelle nur etwa aus dieser schliessen konnen. Fiir
die Wahrnehmungsschwelle kommt aber ausser der qualitativen
Distanz auch die Verschmelzung der gleichzeitigen Tone in Be-
tracht, welche unabhangig von ihrer Distanz dahin wirkt, sie
als Einen Ton erscheinen zu lassen; denn es ist ja auch den
innerhalb einer kleinen Terz liegenden Toncombinationen noch
eine gewisse Verschmelzung eigen. Es fragt sich daher nur,
ob dieser Umstand fiir sich allein schon geniigt, die Erhohung
der Unterscheidungsschwelle zu erklaren.
Wir raiissen hier die beiden oben erwahnten Versuchsclassen
auseinanderhalten : den Fall, wo zwei gleichzeitige ungleiche
Tone einem und demselben Ohr und wo sie verschiedenen Ohren
326 § ^3. Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit
angehoren. Im ersteren Fall (woliin auch die gewohulichen
Falle gleichzeitiger Tone gehoren, wo jecles Ohr beide Tone em-
pfangt) tritt bei fortschreitender Verringerung des objectiven
Tonunterschiedes an die Stelle zweier Empfindungen zuletzt eine
einzige, auch wenn die beziiglichen Tone nacheinander noch zu
unterscheiden sind. Wir werden dies in § 27 nach Beobach-
tungen wahrscheinlich machen und physiologisch erklaren. Inner-
halb eines Ohres also liegt die Empfindungs-, nicht bios die
Wahrnehmungsscliwelle hoher als bei aufeinanderfolgenden
Tonen; und zwar besagt die Tatsache der Schwelle hier nicht
wie sonst, dass die beiden Tone in der Empfindung gleich,
sondern dass sie Einer werden.
Diese Empfindungsschwelle unterliegt wol grossen indivi-
duellen Verschiedenheiten, namentlich zwischen Musikalischen
und Unmusikalischen. Fiir die Letzteren diirfte sie z. B. in der
dreigestrichenen Octave schon etwa mit Terzen gegeben sein;
wenigstens ist die ganz auffallende Unfahigkeit der Unterschei-
dung bei mehreren von den Versuchspersonen aus § 19 S. 163
kaum anders zu deuten.
Wenn dagegen die beiden Tone, deren Unterschied in der
Aufeinanderfolge noch Ubermerklich ist, bei der Gleichzeitigkeit
aber unmerklich wird, verschiedenen Ohren angehoren, so han-
delt es sich, wie ich glaube, nicht um ein Einswerden. Sie
bleiben auch bei der Gleichzeitigkeit zwei Empfindungen und
zwar von ungleicher Hohe. Ihr Unterschied ist unbemerkt, aber
doch vorhanden. Ich schliesse dies aus dem Umstande, dass
es in den beschriebenen Versuchen schwer fiillt, auf die Frage
zu antworten, ob der gehorte anscheinend einheitliche Ton
zwischen den beiden vorher und nachher einzeln gehorten und
wol unterschiedenen in der Mitte liegt, oder ob er etwa mit
einem derselben zusammenfallt.
Wenn ich bei dem oben beschriebenen Versuch mit den
verteilten c^-Gabeln die vor dem linken Ohr befindliche, also
tiefer klingende, entferne, so scheint mir allerdings der Ton
der rechten, nun allein gehorten, etwas hoher als vorher der
gemeinsame Ton; wenn ich jene wieder dazubringe, scheint der
der Analyse und des Heraushorens. 327
Ton wieder etwas tiefer zu werden. Aber iiicht eben so deut-
lich gelingt die umgekehrte Beobachtung, wenn ich die hohere
Gabel entferne und wieder dazubringe. Hier scheint vielmehr
die Tonhohe unverandert, elier noch in gleicher Riclitung wie
vorhin verandert als in entgegengesetzter. Dasselbe Verhalten
des Urteils, aber viel auffalleuder, ergab sicb, als die Gabel vor
dem linken Ohr um 8 Schwingungen tiefer gestimmt wurde.
Ahnliches auch bei den tiefeu Gabeln der grossen Octave mit
dem Unterschied eines Ganz- oder Halbtones. Ofters hatte ich
hier den Eindruck eines mittleren, in anderen Fallen wieder
mehr den des tieferen der beiden Tone; immer aber schien
mir die endgiiltige Bestimmung ziemlich schwierig.
Die absolute Starke der Tone darf bei alien dieseu zwei-
ohrigen Versuchen uicht gross genommen werden, well sonst durch
die Kopfknochen die Schwingungen von jedem Ohr auch in das
andere hiniibergeleitet und der Ton eines jeden so verstarkt wird.
Mit der Verstarkung tritt aber zugleich eine wirkliche Vertiefung
ein (I 256, II 104). Der Gesammtton erscheint dann also deut-
lich tiefer als jeder, auch der tiefere, von beideu. Besonders bei
den mittleren Gabeln macht sich dies geltend; und zwar auch wenn
die eine verstimmt ist. Es muss eben doch Verstarkung stattfindeu,
solange die Differenz nicht grosser ist als die einohrige Erapfin-
duugsschwelle. Ist sie grosser, dann kaun allerdings der heriiber-
geleitete Ton den direct zugeleiteten nicht mehr verstarken.
Die relative Starke der Tone miisste man genauer (durch
elektrische Erregung der Gabeln) zu reguliren suchen, wahrend
ich dies nur ungefahr durch entsprechende Kraft des Auschlages
fiir jede Gabel bewirkte und die Beobachtungen in den ersten
Momenten machte, ohne das Abklingen abzuwarten, welches un-
gleich rasch erfolgte. Klingt die eine Gabel erheblich starker, so
tritt natiirlich ihr Ton in den Vordergrund. Immerhiu ist das
Verhalten des Urteils auch schon bei dieser Versuchsweise sehr
charakteristisch und diirfte bei genauester Starkeregulirung sich
nicht wesentlich bessern.
Dieses Verhalten ist nun zunachst seltsam genug. Wie
kann iiberhaupt Zweifel dariiber Platz greifen, wie sich der
328 § '^3. Bedingungen fur die Zuverlassigkeit
vernommene, anscneinend einheitliche Ton beziiglich seiner Hohe
zu den isolirten Tonen verhalt? Denn wenn wir diese drei
mit einander vergleichen, so geschieht es ja in der Aufeinander-
folge. Ein Ton aber, der etwa in der Mitte zwischen 512 und
516 Schwingungen liegt, ebenso einer, der zwischen C und D
liegt, ist bei der Aufeinanderfolge noch mit Leichtigkeit in dieser
seiner Lage zu den beiden anderen zu erkennen; selbst bei
merklicber Verschiedenheit der Tonstarke. Ebenso kann fiir
mein Gehor in solchem Falle, wenn der zu vergleichende etwa
mit einem der beiden ausseren Tone zusammenfallt oder einem
solchen viel naher liegt als dem anderen, die entgegengesetzte
Vermutung gar nicht aufkommen.
Daher scheint mir aus dem Schwanken des Urteils, aus
der Schwierigkeit in der Bestimmung zu folgen, dass die Em-
pfindung der gleichzeitigen Gabeltone in diesen Fallen nicht
bios eine doppelte, sondern sogar eine ungleiche ist, deren Un-
gleichheit nicht mehr als solche wahrgenommen wird, sich aber
in dem Schwanken des Hohenurteils noch geltend macht.
Hienach halte ich es fiir wahrscheinlich , dass in alien
Fallen, wo wir zwei rechts und links verteilte Gabeln bei suc-
cessiver Vergleichung noch als verschieden hoch erkennen, auch
beim gleichzeitigen Horen ungleiche Tonempfindungen vorhanden
sind, und dass nur die Wahrnehmungs- (Unterscheidungs-), nicht
aber die Empfindungs- (Unterschieds-)Schwelle in beiden Fallen
verschieden ist. Es liesse sich beim zweiseitigen Horen auch
nicht so leicht wie beim einseitigen ein wirkliches Zusammen-
schmelzen der physiologischen Processe annehmen, auf denen
die Empfindung beruht.
Der Grund, warum die Unterscheidungsschwelle hoher liegt
bei gleichzeitigen als bei aufeinanderfolgenden Tonen beider
Ohren, kann also in der Tat schwerlich in etwas Anderem
gefunden werden als in der Verschraelzung, die alien gleich-
zeitigen gegeniiber aufeinanderfolgenden Tonen eignet.
b) Die absolute und relative Starke der gleichzeitigen
Tone. Beziiglich der relativen Starke wissen wir, dass eine
gleiche Empfindungsstarke fiir die Analyse und das Heraus-
der Analyse und des Heraushorens. 329
horen am gunstigsten ist unci wachsende Ungleichheit zuletzt
wiederum zu einer Schwelle (Intensitatsschwelle o. 220 f.) fiihrt,
jenseits deren Beides unmoglich ist. Hinsichtlich der absoluten
Starke ist jedenfalls ein mittlerer Grad aller betciligten Tone
die giinstigste Bedingung; doch haben kleinere Unterschiede
innerhalb dieser raittleren Starkezone keinen Einfluss. Bei sehr
geriuger absoluter Starke muss innere Arbeit auf moglicbste
subjective Verstarkung verwendet und die Aufmerksamkeit zu-
gleich von etwaigen Nebengerauschen u. dgl., die hier leicht
storend werden. abgezogen werden^). Bei sehr grosser abso-
luter Starke wiederum storen Mitempfindungen, sowol tonale als
sonstige (Beriihrungs-, Scbmerzempfindungen), die Auffassung.
c) Die Verschmelzungsstufen. Den Einfluss derselben
auf die Analyse haben wir bereits ausfiihrlich an Unmusika-
lischen und Ungeiibten kennen gelernt. An Musikalischen tritt
er nur im Falle ungleicher Starke (o. 232, 251) oder bei sehr
kurzer Dauer der Eindriicke oder bei sonst ungiinstigen Um-
standen hervor, wobei dann Octaven und Quinten auch von
Solchen gelegentlich als Einheit aufgefasst werden. Vgl. auch
Einiges unter d) und 2.
d) Die Zahl der gleichzeitigen zu analysirenden oder
herauszuhorenden Componenten (Tone oder Klange). Den Ein-
fluss dieses Umstandes miissen wir in mehreren Richtungen ge-
sondert betrachten, indem er ein verschiedenartiger ist je nach
der gestellten Aufgabe.
a) Je grosser die Zahl, um so leichter ist natlirlich der
Gesammteindruck als der einer Mehrheit erkennbar; voraus-
*) J. Sully bemerkt in dem 1874 zuerst erschienenen Buche „Sen-
Bation and Intuition" (Basis of musical sensation), dass ein auf dem Cla-
vier angeschlagener Accord beim Ausklingen mit aufgehobener Dampfung
viel weniger leicht zu analysiren sei als vorher. Dies kommt wol haupt-
sachlich daher, dass einige Tone bald tiberhaupt verschwinden, besonders
die tiefen eher als die iibrigen, und dass die Schwebungen, die beim
Ausschwingen mehr hervortreten, eine gewisse Rauhigkeit liber das Ganze
verbreiten, die der Analyse hinderlich wird. Bei ausklingenden Stimm-
gabelaccorden bloibt die Unterscheidbarkeit die namliche, solange sie
nicht der Intensitatsschwelle naheriicken.
330 § 23. Bedingungen fur die Zuverlassigkeit
gesetzt, dass durch die Vermehrung der Tone nicht zugleich
die Distanzen derselbeii von einander zu klein werden, storende
Schwebungen entstehen u. dgl. Aucli dann kann sich das Ver-
haltnis umkehren, wenn durch die hinzugeftigten Tone die Zahl
der Octaven im Zusammenklang vermehrt uud iiberwiegend
wird, indem dadurch die librigen Tone immer mehr gegen die
im Octavenverhaltnis stebenden im Gesammteindruck zuriick-
treten, die letzteren selbst aber leicht mit Einem Ton ver-
wecbselt werden. So lost sich die Paradoxic, dass durch Hin-
zufUgung von Tonen die sogenannte Einheitlichkeit des Ein-
drucks erhoht und das Urteil iiber Eiuheit oder Mehrheit bei
Ungeiibten unsicher und falsch werden kann. Z. B.:
t
'G>-
i
2.
m
Der jeweilige zweite Accord mag von Solchen, die iiberhaupt
unter diesen Umstanden noch irren konnen, als Einheit aufge-
fasst werden, wahrend sie in dem ersten eine Mehrheit erkennen.
Das erste der angefiihrten Beispiele, wobei sich die Tone
wie 1:2:3:4:5:6 verhalten, gibt uns Veranlassung zur Kritik
einer merkwlirdigen Behauptung. Wundt sagt (II ^ 53 — 54):
„Die Bedingung fiir das Zustandekommen der Vorstellung des
Einzelklanges ist lediglich die, dass in einer Reihe von Tonen,
deren Schwingungszahlou der Reihe der einfachen ganzen Zahlen
entsprechen, der Grundton mit der Schwiugungszahl 1 in hin-
reichender Starke vorkomme."
Das ware freilich eine einfache Losung der ganzen Frage,
die wir nun schon so lange verhandeln. Aber eine solche spe-
cifische einsmachende Kraft des Tones 1, welche allerdings
auch anderen Anhangern der sg. Klangvertretungslehre vor-
schwebt, ware in sich selbst erst recht unverstandlich und ist
auch von Wundt nicht weiter zu erklaren versucht worden.
Dass sie iiberhaupt eine Fabel ist, zeigt unser zweites Beispiel.
der Analyse und des Heraushorens. 331
Auch hier wird durch Hinzufiigung von Tonen der Gesammt-
eindruck nur einheitlicher und kann von Ungeiibten ebenso
und wol noch leichter als im ersten Beispiel mit Einem Klang
verwechselt werden; obgleich hier unter den vier Tonen das
Zablenverhaltnis 5 : 8 : 16 : 32 besteht. Der Grund liegt viel-
mebr in beiden Fallen darin, dass durcb die Beifiigung der
weiteren Tone die Octaven (im ersten Fall auch uocb die
Quinten) unter den entstebenden Intervallen Uberwiegen. Fiigt
man noch mebr S's bez. ^-'s bei, einerlei ob nach oben oder
unten bin, so wird der Eindruck noch einheitlicher. Der ein-
zige Ton e^ im ersten, A im zweiten Beispiel, der eine geringere
Verschmelzung mit den iibrigen besitzt, wird im Gesammtein-
druck immer weniger bemerkt.
Was soil es ubrigens heissen, dass der Ton 1 in „hinrei-
chender Starke" vorkommen musse? Wundt driickt es auch so
aus: er dtirfe nicht so schwach sein, dass er gegen die Obertone
verschwinde. Aber wenn das Ganze als Ein Klang erscheint, ver-
schwindet der Grundton ebensowol wie die anderen in dieser Eiu-
heit; und solange er von ihnen unterschieden wird, unterscheiden
wir auch sie von ihm. Wie sollen wir den Ton 1 als nicht ver-
schwindend gegen die anderen und zugleich das Ganze als Klang-
einheit beurteilen?
Die Empfindung der Klangeinheit, sagt Wundt, werde nicht
geschwacht, wenn die Obertone ebenso stark sind, wie der Grund-
ton, ja wenn einzelne ihn sogar iibertreffen. „Man kann sich hie-
von am Obertonapparat iiberzeugen, wenn man z. B. zuerst den Dur-
accord 4:5:6 angibt und dann dessen drei Untertone 1, 2, 3 in
gleicher Starke hinzufiigt: die bei dem Dreiklang trotz der auch
hier nicht fehlenden Empfindung der Klangeinheit so ausgepragte
Vorstellung eines Zusammenstimmeus mehrerer Tone hort augeu-
blicklich ganz auf, und man glaubt nur einen einzigen Klang von
sehr voller Klaugfarbe zu horen."
Ich habe den Versuch am Obertonapparat wiederholt. Es ver-
halt sich nicht anders als beim Clavier. Es ist keine Rede davon,
dass der Dreiklang durch die tieferen Tone plotzlich zum Einklang
wurde. Wenn man den Versuch mit den Zuugen No. 1 bis 6
332 § 23. Bedingungen fur die Zuverlassigkeit
selbst raacht (er lasst sich auch mit 2, 4, 6, 8, 10, 12 oder mit
•4, 8 u. s. f. anstellen), so kommt allerdiugs noch in Betracht, dass
diese tiefen Zungen — die Zuuge 1 gibt C^ — beim gleichzeitigen
Ansprechen durch ihre Schwebungen ein uugeheures Geschnatter
erzeugen und dadurch Undeutlichkeit in das Ganze bringen. Aber
man wird uicht sagen, dass dieses dadurch einheitlicher wiirde, und
jedenfalls ist die Ordnungszabl der Tone daran unschuldig. Die
drei Teilnehmer des Versuches, von denen zwei sich eines vorziig-
lich ausgebildeten Gehors erfreuen (Prof. Biedeemann und Dr.
K. ScHAPBK in Jena), waren iiber den negativen Ausfall gleich mir
keinen Augenblick im Zweifel.
Dbrigens mussen wir aucb gegeniiber der letzterwahnten Ausse-
rung wieder fragen, was es eigentlich heissen solle, dass beim Drei-
klang die Empfindung der Klangeiuheit nicht feble und doch die
Vorstellung mebrerer Tone ausgepragt sei. Die Tatsache, welche
WuNDT ira Auge hat, ist die der Verschmelzung. Aber wie er sie
hier formulirt, bedeutet sie doch einen einfachen Widerspruch.
Dessen Losung kann nicht etwa in den Ausdrucken Empfindung
und Vorstellung gesucht werden, da dieselben hier von Wundt
vielfach fiir einander gesetzt werden und ohnedies das Erfassen
der Einheit und das der Mehrheit Sache einer und derselben psy-
chischen Tatigkeit sein muss. Auch kann man nicht sagen, es seien
mehrere Tone und Ein Klang. Denn es fragt sich eben, worin
psychologisch der Unterschied von Ton und Klang bestande; und
physikalisch handelt sich's beim Obertonapparat wie beim Clavier
stets nur um Klange.
(9) Je grosser die Zahl, um so schwerer ist es be-
greiflicherweise, eine Mehrheit von einer anderen benach-
barten eben verschiedenen , d. h. um 1 grosseren oder ge-
ringeren Mehrheit zu unterscheiden, also den Wegfall oder
Zutritt eines Tons zu bemerken. Insofern lasst sich sagen,
dass die Wahrnehmung einer Mehrheit, die Analyse, immer
undeutlicher wird. Auch in dieser Beziehung konnen aber
die Umstande und vor Allem die Verschmelzungsverhaltnisse
gewaltige Unterschiede bedingen. Wenn zu cinem coiisonan-
ten Zusammenklang (dessen Glieder in hoheren Graden ver-
(ler Analyse unrl rtes Heraushorens. 333
sclimelzen^)), mag er audi aus selir vielen Gliedern bestehen,
ein einziger dissonanter (mit den ubrigen im geringsten Grade
verschmelzender) Ton von gleicher Starke mit den vorherigen
hinzutritt, so wird sehr leicht der Unterschied bemerkt. Auch
der Ungeiibte sagt sogleich: „es ist nicht mehr derselbe Ton-
complex, es ist etwas hinzugekomraen." Entsprechend wenn
ein dissonanter Ton aus einem sonst consonanteu Zusammen-
klang hinwegfallt. In geringerem Masse gilt Dasselbe beim
Hinzutritt oder Hiuwegfall jedes Tons, der eine niedrigere Ver-
schmelzungsstufe in das Ganze bringt. Man vergleiche das 1.
mit dem 2. Beispiel:
1. 2.
r:=iilli=r^
G>-
2: — SI — "■" — ''^ — 27
Der Unterschied wird viel leichter bemerkt bei 2 als bei 1.
Selbst Musikalisclie unterscheiden oft nicht den Dreiklang vom
Vierklang, der noch die Octave des Grundtons enthalt.
Fiigen wir zu einem Zusammenklang, der bereits Einen
dissonanten Ton enthalt, einen weiteren dissonanten hinzu u. s. f.,
so wachst wieder die Schwierigkeit, die Veranderung wahrzu-
nehmen, mit der Zahl der bereits vorhandenen Tone, auch wenn
nicht besondere Storung durch starke Schwebungen eintritt (was
durch geeignete Wahl der neu hinzukommenden Tone vermieden
werden kann).
Bei der Vermehrung kommt auch in Betracht, dass gleich-
zeitige Tone einander etwas schwachen, doch kann ja dieser
Verlust durch entsprechende objective Verstarkung ungefahr
ausgeglichen werden.
') Ich identificire hier wie auch gelegentlich an anderen Stellen
dieses Bandes Consonanz bereits mit hoheren Verschmelzungsstufen und
rechne die Dissouanzeu zur niedrigsten, obgleich erst im folgenden Bande
diese Begriffsbestimmungen gerechtfertigt werden. Die tatsachliche Paral-
lelitat wenigstens ist unverkennbar (abgesehen noch von den feineren
Unterschieden innerhalb dieser zwei Hauptclassen). Und so mag man
die Anweudung obiger Ausdrucke zunachst als kurze Bezeichnungsweise
gelten lassen.
334 § 23. Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit
Es waren hier noch Versuche zu machen, mit welcher An-
zahl von Tonen (consonanten — dissonanten, bcsonders ersteren)
die Fahigkeit der Unterscheiduug benachbarter Mehrheiten bei
verschiedenen Individuen, besonders den geiibtesten, ihre Grenze
erreicht. Das Ergebnis ware fiir die musikalische Theorie nicht
ohne Interesse.
/) Audi das Heraushoren wird insofern schwerer, als
man die Aufmerksamkeit nicht mebr so leicht auf eine be-
stimmte Tonhohe concentriren kann, wenn gleichzeitig viele
andere Tone gehort werdcn. Dass die Verschmelzung hier auch
wieder wesentliche Unterschiede macht, wissen wir.
Die mit dem Heraushoren in gewissen Fallen verbundene
und es unterstiitzende subjective Verstarkung wird durch die
Menge gleichzeitiger Tone nur dann erschwert, wenn dieselben
den herauszuhorenden nahe liegen, weil die Verstarkung sich
dann leicht einem dieser benachbarten Tone zuwendet und
mehreren zugleich nicht zu Teil werden kann (o. 305, 314).
6) Das Namliche, wachsende Schwierigkeit, ergibt sich end-
lich auch begreiflicherweise fiir das Zahlen der Componenten;
einer weiteren Stufe der „deutlichen" Analyse. Auch hier sind
aber die Unterschiede je nach den im Zusammenklang ver-
tretenen Verschmelzungen auffallend. Consonante Zusammen-
klange werden auch von Musikalischen leicht unterschatzt (s. o.
iiber den Vierklang), dissonante iiberschatzt. Das Letztere wie
das Erstere, sobald mehr als drei Tone beteiligt sind.
Zu unterscheiden ist hier allerdings ein actuelles Zahlen
und eine Zahlbestimmung nach mittelbaren Kriterien. Zuweilen
beurteilt man nach gewissen Anhaltspuncten einen gegebenen
Eindruck nicht bios als Mehrheit sondern als Dreiheit, Vier-
heit, ohne wirklich zu zahlen. Doch werden solche Bestim-
mungen bei Zusammenklangen stets sehr willkiirlich sein, da
eben die Erfahrung zuverlassige Zahlmerkmale soldier Art (Lo-
calzeichen fiir die Zahlenreihe) hier nicht darbietet.
e) Die Dauer des Klanges. Das Urteil, ob ein oder
mehrere Tone vorliegen, bedarf wie jedes Urteil einer gewissen
Dauer des Eindrucks, welche experimentell ermittelt werden
rter Analyse unci des Herausliorens. 335
kann, aber natiirlich nach Umstanden (Starke, Zahl der Tone
u. s. f.) verschieden ist. Einer langeren Dauer bedarf das Heraus-
horen eines Tones, da es ja das erstgenannte Urteil, die Analyse
im engsten Sinn, voraussetzt. Noch langere Zeit ist erforder-
lich, wenu damit auch eine subjective Verstarkung durch die
Aufmerksamkeit verbunden sein soil, wie bei den Obertonen.
Alle diese Zeiten sind iiberdies individuell verschieden (beziig-
lich der Verstarkungszeit s. o. 292).
Merkwiirdigerweise ist es bis jetzt noch Niemand ein-
gefallen, die beliebte Zeitraessung mittelst des Chronoskops auf
die Tonanalyse anzuwenden. Und doch wiirden die Ergebnisse
hier theoretisch bedeutungsvoller sein als in manchem anderen
Falle^). Nur fiir die DifFerentialdiagnose des Dur- und MoU-
dreiklanges hat E. Tanzt die Zeiten verglichen und fiir Moll
kiirzere gefunden^). Aber es ist dabei vielleicht nicht einmal
Analyse im Spiel gewesen, da das Moll sich auch unabhangig
von der Analyse durch gewisse weniger angenehme Neben-
wirkungen kenutlich macht (vorausgesetzt, dass nur der Unter-
schied vom Durdreiklang in Betracht kommt).
f) Gleich- oder ungleichseitiges Horen. Wahrend
man zu den feinsten Versuchen iiber Unterschiede aufein-
anderfolgender Tone beide Tone einem und demselben Ohr,
*) Vgl. 0. 37. Wiirde sich ein erheblicher Unterschied in der
kleinsten Zeitdauer ergeben, welche fur die Auffassung eines einzelnen
Tones als hoch oder tief, und welche fiir die Erkennung einer gleich-
zeitigen Mehrheit als Mehrheit erforderlich ist, so wiirde dies nicht etwa
ein Beweis sein, dass die Tone nur successive zur Empfindung kamen.
Denn die Leistung des Analysirens ist in jedem Falle die schwerere von
beiden. Wiirde sich dagegen kein sehr bedeutender Unterschied zeigen,
so ware dies ein neues Zeugnis gegen die Wettstreitslehre , nach der
man ja erwarten miisste, dass zur Empfindung dreier Tone dreimal so-
viel Zeit als zur Empfindung Eines Tones notig ware, dass also auch
die Auffassungszeit sich wenn nicht verdreifachen doch jedenfalls be-
deutend erhohen miisste.
Auch der Einfluss der Verschmelzungsstufen auf die Analyse Hesse
sich auf diesem Wege, und zwar besonders bei Musikalischen und Ge-
iibten, untersuchen.
■^) Rivista di filosofia scientifica VI (1887) 174.
336 § 23. Bedingungcn fiir die Zuverlassigkeit
dem rechteii oder linkeii, darbieten muss (1 234), erzeugen wenig
verschiedone glciclizeitigo Tone vor einem und demselben Ohr
Scbwebuiigun, welcbe das analysirendc Urteil storeu, ein Hinder-
iiis, von welchem man sicb nur kiinstlich bis zu einem gewissen
Grade befreien kann (s. o.). Man wird darum Stimmgabebi, die
um etwa ^j^ oder ^/g Ton verscliieden sind, leicbter auseinander-
balten, wenn man sie an beide Ohren verteilt, 1st der Unter-
scbied nocb geringer, dann kommt allerdings aucb bier die
Differenz beider Obron selbst in Betracbt, durcb welche je nacb
der Verteilungsart der Gabeln die Verschiedenheit der ent-
stebenden Tone entweder vergrossert oder verringert bez. auf-
geboben werden kann.
Bei grosseren Unterscbieden der zu analysirenden Tone
bietet das ungleicbseitige Horen besonders fiir Ungeiibte und
Unmusikalische einen wesentlicben Vorteil. Solcbe erkennen
namlicb in der Kegel leicbter die Verscbiedenbeit der Locali-
sation als die der Tone. 1st ihnen klar gewordeu, dass sie
recbts und dass sie links einen Toneindruck haben, dann wird
ibnen aucb die qualitative Trennung leicbter. Die locale Ver-
scbiedenbeit (woran sie aucb immer erkannt werden moge)
wirkt als mittelbares Kriteriura, dem unmittelbaren Urteil die
Wege bahnend. Ein Beispiel § 24. 1.^)
*) Wir haben gelegentlich (o. 228) auch die Moglichkeit offen ge-
lassen, dass die immanenten Unterschiede der „Ausdehnung" fiir die
Analyse von Bedeutung waren. Allerdings verandern sie sich nur mit
der Tonqualitat und hatte man insofern keinen Grund, neben der qualita-
tiven Distanz der zu analysirenden Tone auch noch ihren Ausdehnungs-
uuterschied als Factor anzufiihreu. Aber die Ausdehnung scheint sich
gegen die beiden Endeu des Tonreiches bin starker zu vorandcrn als
das qualitative Moment; und so konute, wo solche Tone in Zusammeu-
klangen gegeben sind, immerhin bei gleicher qualitativer Distanz in zwei
Fallen die Ungleichheit des Ausdehnungsunterschiedes selbstandigen Ein-
fluss auf die Zuverlassigkeit der Analyse haben. Die Ausdehnungsunter-
schiede wurden dann zusaramen mit den localen Unterscbieden p und q
unter dem Titel ,.Raumliches Moment der Tonempfinduug" neben den
iibrigen Bedingungsclassen aufzuzablen sein. Doch konnen wir bei dem
etwas problematiscben Stande der Sache uns mit dieser Erwahnuug be-
gnugen.
der Analyse und des Heraushorens. 337
g) Paitielle Veranderungen, d. h. Starkeschwankungen
odor stetige (auch geringe discrete) Hoheschwaiikungen ein-
zelner Componenten.
Wir denkeii au solche Falle, boi welcheii man trotz der
Veranderung uoch von einein und demselbcn Kkmg oder Zu-
sammenklang zu rcdeu pflegt, Eiliohe ich in einein Accord
einen Ton uin eine Halbstufe oder noch mehr, so habeii wir
eben einen anderen Zusammenkking. Wenn auch nun fiir das
Heraushoren einer „Stimme" in einor Aufeinanderfolge von Zu-
sammenklangen das sogleich zu crvvahnende Princip cbenfalls
GUltigkeit hat, so beschaftigen uns doch hier noch nicht diese
complicirteren Leistungen, sondern nur die Analyse Eines Ton-
complexes, also auch nur solche Anderungen innerhalb desselben,
bei denen er noch im Wesentlichen als der niimliche gelten
kann (o. S. 4).
Es ist eine in alien Sinnesgebieten vielfach bestatigte Tat-
sache, dass relativ veranderte (bewegte) Telle innerhalb
eines relativ ruhenden Empfindungsganzen leicht be-
merklich word en. Sternschnuppen, deren Bild auf seitliche
Netzhautteile fallt, werden doch in Folge ihrer raschen Bor
wegung sofort bemerkt. Der Nutzen des Winkens griindet ja
auch hierauf. Halt man einen Bleistift in solcher Entfernung
von einer brennenden Lampe, dass sein Schatten auf einer
weissen Papierflache auch im directen Sehen eben nicht mehr
erkennbar ist, so wird er sofort wieder erkennbar, wcnn man
den Bleistift bewegt. Beim Tastsinn fand E, H. Weber, dass
innerhalb der sg. Empfindungskreise, in welchen gleichzeitige
Beriihrungseindriicke nicht mehr unterschieden werden, doch
Bewegungen noch leicht wahrnehmbar sind. U. s. w. Das Ge-
sagte gilt aber nicht bios von Veranderutigen innerhalb eines
ruhenden, sondern auch von rascherer, ausgiebigerer Ver-
anderung innerhalb eines selbst in Veranderung begriffenen
Ganzen.
BegUnstigt wird hiedurch immer zunachst die Teilwahr-
nehmung des relativ Bewegten (Veranderten), also in unserem
Fall das Heraushoren des beziiglichen Tones; die Analyse, die
Stumpf, Tonpsychologie. 11. 22
338 § 23 • Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit
Wahrnehmung der Mehrheit von Tonen, nur wenu und insofern
als sie durch Teilwahriiehmungen unterstuzt wird (o. S. 6).
Man kann fragen, ob die erwahnte allgemeine Tatsache
der Sinneswahrnehmung sich ihrerseits noch weiter erklaren
lasst. Sie diirfte nur zum geringsten Teil in der sinnliclien
Ermiidung griinden, welche bei ruhenden Eindriicken sich ein-
stellt, da eine solche bei kurz dauernden Eindriicken, zumal
solchen des Gebors, nicht in Betracbt kommt (I 16 f., 362).
Hauptsachlich muss wol ein anderer Grund angenommen wer-
den: die instinctive und durch Gewohnheit noch vermehrte Er-
regung der Aufmerksamkeit durch Bewegtes. Dass schon in
der frithesten Zeit des erwachenden Bewusstseins Bewegungen
diese Wirkung haben, ist bekannt; diese Einrichtung ist also
eine individuell urspriingliche. Sie scheint mir aber nicht bios
urspriinglich sondern auch elementar, nicht weiter in andere
Vorgange zerlegbar. Irgend eine physiologische Basis wird sie
ja auch so haben; aber keinesfalls dieselbe, wie die blosse
Sinnesermiidung ^).
Man kann auch hier noch versuchen, hypothetisch das Individuell-
Ursprungliche auf ein Generell-Erworbenes zuriickzufiihren; etwa iu
folgender Art. Nehmeu wir an, dass ein Bewegtes bereits durch
irgend einen Umstaud die Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe,
so gibt es derselben offenbar mehr zu tun als ein Ruhendes, indem
die bestandig neue Situation zu bestandig neuen Unterscheidungen
und Vergleichungen veranlasst. Indem nun so das Bewegte fUr
die ihm zufallig zugewandte Aufmerksamkeit allemal mehr Spiel-
raum und Nahrung hot, hat es nach und nach die Kraft erlangt,
auch von vornhereiu mehr und leichter die Aufmerksamkeit auf
') Arago hat zuerst innerhalb des Gesichtsinnes diese Erschei-
nuugen untersucht, dann Volkmann, Forster, Fechner, G. H. Schnei-
der (der die Beobachtungen der Genannten anfiihrt und neue beifiigt,
beim Tonsinn aber die Gonstatirung fiir unmoglich erklart, weil er eben
bios an raumliche Bewegungen denkt, Vierteljahrschr. fiir wiss. Phil. II,
1878, S. 377). Ferner S. Exner, Sitz.-Ber. d. Wiener Akad. Bd. 72 III
(1875) S. 156, Pfluger's Arch. Bd. 11 (1875) S. 408, Bd. 38 (1886) S. 217
Biolog. Centralbl. Bd. 8 (1888) S. 437. Exner's Untersuchungen beziehen
sich sijeciell auf die peripherischen Netzhautstellcu.
der Analyse und des Heraushorens. 339
sich zu lenken. Ein Lustmoment hat sich daran gekniipft und
zwar eine Lust am Bemerken desselben, die dann in neuen Fallen
das Bemerken selbst zur Folge hat. (Ahnlich wie z. B. ein Brief-
markensammler eine Marke zwischen alien moglichen anderen Ob-
jecten und unter Umstanden bemerkt, unter denen sie einem An-
deren entgeht; well, nachdem er einmal angefangen, das wachsende
Material der Vergleichungen und Unterscheidungen zugleich der
einmal in's Spiel getretenen Aufmerksamkeit immer mehr Nahrungs-
stoff zufiihrte, sodass sie bei jedem neuen ahnlichen Fall nach den
Gesetzen der Ubung mit grosserer Intensitat einsetzt.) Die so zu-
nachst individuell tausendfaltig erworbene Wirksamkeit des Be-
wegten hat sich dann — wiirde man sagen konnen — mehr und
mehr im psychophysischen Organismus fixirt, ist daher jetzt an-
geboren, wird aber immer noch weiter durch individuelle Ge-
wohnung gestarkt. Ich meine nur: wenn man uberhaupt weiter
erklaren will, konnte es etwa so geschehen.
G, H. Schneider beruft sich in seinem Erklarungsversuche
zunachst auf die Relativitatstheorie , die wir ihm nach § 1 nicht
zugestehen konnen (die er ja auch mit w^enig Gliick auf ein spe-
cielles Tonproblem angewandt hat, o. I 152). Doch ist sein wei-
terer Gedankengang, wie er selbst andeutet („mag man hieriiber nun
auch denken wie man -will"), davon unabhangig. Er weist darauf
bin, dass ein ruhender Reiz auf der Netzhaut nur eine simultane
Differenz der Reizung (zwischen der beziiglichen Stelle und den
iibrigen) erzeugt, ein innerhalb des Gesichtsfeldes bewegtes Object
aber ausser der simultanen noch eine successive Differenz (zwischen
dem augenblicklichen und dem vorherigen Zustand der gerade ge-
troffenen Stelle). Es werde also gleichzeitig zweimal ein Unter-
schied von beispielsweise Vs ? ^^also im Ganzen eine Differenz von
^/g" empfunden. Dieses „also" will mir wieder gar nicht ein-
leuchten, trotzdem Fechner nach Angabe des Verfassers demselben
brieflich zustimmte. Wie solleu sich ein simultaner und ein suc-
cessiver Unterschied in der Empfindung summiren? Ubrigens liesse
sich wol auch eine experimentelle Probe auf die Erklarung machen :
bei solchen Sinneseindrticken, wo eine Veranderung ohne gleich-
zeitige Mehrheit stattfindet, wie bei der Bewegung eines die Haut
22*
340 § 23. Bedingungen flir die Zuverlassigkeit
beruhrendeu Punctes oder bei der Erhohuiig oder Vertiefung eines
einzelnen Tones. Es scheiut mir schon nach alltaglichen Erfabrungen
zweifellos, dass z. B. ein constauter Ton (der nicbt eiumal sebr
schwacb zu sein braucbt, urn doch „uberbort" zu werden) in dem
Moment die Aufmerksamkeit auf sicb ziebt, wo er seine Hohe
ilndert. Ich glaube darura, dass auch die Scbwelle, bei welcber
ein einzelner Ton fiir die bocbste Aufmerksamkeit verschwindet,
eine andere ist fur den ruhenden und eine andere fiir den nach
der Hobe oder Tiefe bewegten Ton; obgleicb experimentelle Unter-
suchungen mit dieser Fragestellung noch nicbt vorliegen.
SiGM. ExNEK statuirt auf Grund interessanter und scbarfsinnig
zusammengestellter Beobacbtungen (s. besonders die letzte der er-
wabnten Abbandlungen) eine Classe specifiscber Bewegungs-
empfindungen beim Gesicbtssinn, die weder mit der Bewegung
des Augapfels nocb mit den optiscben Emplindungen bei rubendem
Auge und rubendem Object etwas zu tun babe, und fiir welcbe die
Netzbautperipberie sogar gewissermassen hyperaestbetiscb sei. Docb
bezeicbnet er diese Empfindungen ausdriicklicb als unbewusste oder
subcorticale. Eine analoge Empfindungsclasse miisste bienacb folge-
reebt aucb beim Gebor angenommen werden; also Tonveranderungs-
empfindungen ueben den Tonempfindungen. Nun baben wir zwar
selbst I 184 eine Tonbewegung als Ton sui generis bezeicbnet,
aber docb eben als Ton. Es war nicbt eine Empfindung anderer
Qualitat gegeniiber den rubenden Tonen gemeint, sondern es sollte
nur der Gegensatz bervorgeboben werden, der begrilflicb zwiscben
einem Continuum und eiuer Summe discreter Qualitaten gleicber
Gattung bestebt. Jedenfalls wiirde ich den Ausdruck preisgeben,
wenn er im Sinne einer besonderen Qualitatengattung verstanden
wiirde; und muss aucb gesteben, dass Exner's obige Tbesen, ganz
abgeseben von dem Problem der ira voUen Sinne „unbewussten Em-
pfindung", mir durcb die von ihm angefiibrten Beobacbtungen nicbt
bewiesen scbeinen. Wenn man z. B. die Elongation eines schwin-
genden Pendels beim indirecten Sehen uberscbatzt, so liegt hier
nicbt notwendig eine Hyperaestbesie vor, sondern zunachst eben
eine falscbe Scbatzuug. Nach Czekmak's von Exxer selbst an-
gefiihrter Bemerkung scbeint ein Secundenzeiger langsamer zu
der Analyse uud des Hcraushorens 341
geheu beini bios indirecteu Anblick: hicr licgen doch dieselben
Empfindungsqualitateu zu Gruude wie in jenem Fcallc, uiid warum
sollte hier die Netzliautperipherie unterempfiudlich seiu, wenu sie
dort iiberempfindlicli ware? "Wol aber konneu entgegengesetztc
Schatzimgen vorkommen, deren Anlasse in diesen Fallen allerdings
noch aufzusucben sind. Ich glaube also niclit, dass der Auffassung
von Bewegungen bei rubendem Auge andere als die optischen Em-
ptindungen zu Grande liegen. Darin jedocb scheint rair Exnee Recht
zu haben, dass die Emplindungen der Netzhautperipberie (wie auch
des Facettenauges bei Insecteu) zufolge besonderer Einrichtungen
fiir die Erkennung von Bewegungen mehr geeignet sein miisseu als
fiir die ruhender Raumunterscbiede. Flbischl gibt eine sebr sinn-
reiche Erklarung dafiir durch die Hypotbese. dass auf den seit-
lichen Teilen der Netzbaut benacbbarle Zapfen zu verscbiedeuen
Nervenfasern gehoren (Sitz.-Ber. der Wiener Akad. 1883, Bd. 87,.
Wie man nun auch die Sache im Allgemeiuon weiter er-
klaren moge: dass sie sich audi im Tongebiete vielfaltig be-
wahrt, ist offenbar. Wenn in eiuom sonst ruhenden Klaug
(Zusammeuklang) ein Ton schwebt, also zwischen verschiedenen
Starkegraden bin- und herschwankt, oder gar intermittirt (zwi-
schen Erscheiuen und Verschwinden w^echselt), so wird er leicht
herausgehort. Es wurde schon erwahnt, dass Obertone am Clavier
sich durch Starkeschwankungen merkhch machen; auch durch
das subjective Anschwellen, w'eun die Aufmerksamkeit nur auf die
nahere tonale Umgebung gerichtet ist *). Bei Zusammenklangen
aus verschiedenen Instrumeuten sind kleine Starkeschwankungen
der Teilklange unvermeidlich, woran sich dann auch die dem
betreffenden Instrument eigenen Gerausche beteiligen. Manche
Instrumente setzen mit vollem Klang, andere mit anschwellen-
dem ein, manche halten ihn gleichmassig, andere vibriren oder
lassen nach u. s. f. Alles dies erleichtert ausserordentlich das
Heraushoreu und die Analyse.
*) Auch der Versuch mit der Vocalrohre S. 238 ist hier wieder zu
erwahnen. Hiebei wird man allerdings schon fast eher von einer Aufein-
anderfolge mehrerer Klange sprechen miissen, obschon der Grundton
derselbe bleibt. Ahnliches bei Helmholtz 94, Ritz Unters. 7ii.
342 § 23. Bedingungen ftir die Zuverlassigkeit
Kleine Hoheschwankungen wirken ebeuso, wie man nur
zu oft beobachteu kann. Grossere stetige Hoheschwankungen
werden, in der Musik wenigstens, nur den Differenztonen in
Folge unvermeidlicher kleiner Schwankungen der Primartone zu
Teil; aber hier ist die Erscheinung auch besonders lehrreich.
Die Schwankung eines Differenztons ist (nach dem o. 244 Be-
merkten) ein Vielfaches von derjenigen der Primartone, wenn
anders beide Schwankungen in Verhaltniszahlen ausgedriickt
werden. Ein Wievielfaches sie ist, haugt von dem Schwingungs-
verhaltnis der Primartone und der Verhaltnis- (bez. Ordnungs-)
Zahl des Differenztons ab. Wenn z. B. die grosse Terz 400:500
sich um 4 Schwingungen verstimmt, indem 400 zu 404 wird,
geht der erste Differenzton 100 in 96 iiber. Da er 2 Octaven
unter dem tieferen Primarton liegt, bedeutet hier die namliche
Differenz einen viermal grosseren Teil eines Ganztones als bei
diesem. 96 : 100 ist, wenn diese Zahlen zugleich die absoluten
Schwingungszahlen sind, etwa ein halber Ton, wahrend 404 : 400
nicht einmal die Halfte des enharmonischen Unterschieds von
gis^ und as'^ ist. Nun ist zwar die relative Unterschieds-
empfindlichkeit in der Tiefe geringer als in der Mitte des Ton-
reiches, aber eine Schwankung um einen Halbton macht sich
doch in der grossen Octave noch wol bemerklich. Lassen wir
die primaren Tone selbst hoch genug liegen, um Differenztone
in der kleinen, eingestrichenen oder einer noch hoheren Octave
zu erzeugen, so werden deren Schwankungen, da nun auch em-
pfindlichere Regionen darankommen, merklicher als die der
Primartone selbst. So bei hohen Terzen zweier Sopranstimmen.
Prof- G. Engel (Lehrer des Gesanges an der Berliner Hoch-
schule fiir Musik) teilte mir mit, dass ihm das abscheuliche
Hin- und Hergehen eines tieferen Tons in solchen Fallen auf-
gefallen sei, ehe er noch theoretisch etwas von Differenztonen
wusste. Noch umfangreicher und aufdringlicher wird dieses
Heulen, wenn zwei Personen auf Hohlschliisseln oder mit kleinen
Pfeifchen sehr hohe Tone hervorbringen; wahrend die geringen
Hoheschwankungen der Primartone hier gar nicht mehr be-
merkt werden.
der Analyse und des Heraushorens. 343
Ein nichtmusikalisches Beispiel liefern die sg. Variations-
tone, wie sie entstehen, wenn eine toncnde Stimmgabel vor
eine rotireude Sirenenscheibe gehalten wird. Es bilden sich
daun ausser dem Tone ii der Gabel die beiden Tone n -f- ni
und n — ni) wo m mit der Scbnelligkeit der Scheibendrehung
wachst^). Solche Tone sind selir leicht herauszuhoren.
Pfaundler, der auf dieselbe Locberreihe einer Sirene zwei
Blaserohren wirken liess, eine feststebende und eine langs der
Locberreihe beweglicbe, sagt: „Solange die Blaseoffnungen con-
stanten Abstand bebalten, ist der diesem Abstand entsprecbende
Ton nicht dcutlicb wahrnehmbar, er wird es aber sofort, wenn
man diesen Abstand variirt"^).
Es ware iiber die bier erwabnten Bedingungen des Heraus-
borens nocb manche experimentelle Nacbforscbung moglicb; so
iiber die Scbwellenwerte der Hobe- und Starkeschwan-
kungen, bei welcben der beziiglicbe Ton gesondert bemerkbar
wird. Hiebei kame ausser der Grosse aucb die Scbnelligkeit
der Sebwankung in Betracbt.
Ferner ware die Frage, ob bei langsamen Anderungen, die
nur in einer Ricbtung erfolgen, eine der beiden Richtungen
wirksamer ware als die andere. Beziiglicb der Starke wird
man obne Weiteres voraussetzen , dass zunebmende Starke den
^) Helmholtz 661. Alfr. Mayer, Americ. Journ. of Science and
Arts 1875 April (auch Philosoph, Magaz. 1875 Mai). Mayer gebrauchte
den ruhenden Ton c^; als die Variationstone e^ und g^ waren, vernahra
er auch den Combinationston c:
I
::]:
Bei noch schnellerer Rotation der Scheibe verschwanden die Variations-
tone sammt dem Combinationston und blieb nur der constante Gabelton
c^ ubrig. Vgl, ferner R. Konig, Pogg. Ann. Bd. 157, S. 228 f. Preyer,
Akust. Unt. 25. Uber die ersten Untersuchungen dieser Tone (Radau
1865) s. Beetz Pogg. Ann. Bd. 130, S. 587.
3) Sitz.-Ber. d. Wiener Akad. 1877 (Bd. 76, II) S. 570.
344 § 23. Bcdiuguiigou fiir die Zuvcrlassigkeit
Ton loichter merklicli niucht und die Wirksamkeit der ab-
nebmenden viollcicht iiberbaupt leugiien. Indcssen kann auch
lotztere unter Umstanden das Herausboren begiiustigen, wie
wenn von drei gleicbstarken Tonen eiuer sebr rascb abniniDit.
So lenkt ja aucb ein vorber „iiberbortes" Gerausch die Auf-
nierksamkeit auf sicb, wenn es rascb abnimmt. Bei der Zu-
nabme ist so eigentlicb ein doppeltes Moment wirksam, die Ver-
anderung als solcbe und die grossere Iritensitat, zu der sie
binfiihrt. Abnlicb kann man nun fragen, ob Vertiefung und
Erbobung in gleicber Weise wirken. Wabrscbeinlicb begiinstigt
Erbobung (auch ohne gleicbzeitige Verstarkung) das Heraus-
boren mebr als gleicbgrosse und gleicbrascbe Vertiefung, scbon
in P'olge musikaliscber wie aucb gewisser aussermusikaliscber
Gewobnheiten, welcbe zugleicb dem Aufsteigen in der Tonlinie
etwas Aufregendes, dem Absteigen etwas Berubigeudes ver-
leihen (I 365).
b) Der augenblickliche Aufmerksamkeitsgrad, der aller-
dings uur insoweit als selbstandiger Factor zu erwabnen ist,
als er nicbt seinerseits durcb bereits aufgezablte Momente be-
stimmt ist^). Er bangt ab von besonderen Umstiinden des
Falles und von Anlage und t)bung. Unter den erstereu ist
das vorberige Horen eines im Klange (Zusammenklange) vor-
kommenden Tons vorziiglicb wirksam; bei Zusammenklangen
aucb der musikaliscbe Zusammenbang, wo ein solcber vorbanden
ist. Das musikaliscbe Denken kann sicb dadurcb aucb auf einen
Ton besonders bingelenkt seben, der nicbt selbst scbon im
Vorangebenden entbalten ist. Nacb welcben Regeln, unter-
sucben wir spater. Ferner konnen im einzelnen Falle mancher-
lei mittelbare Kriterien uns auf die Zusammengesetztheit
und aucb in gewissem Masse auf die Art der Zusammensetzung
eines Klanges aufmerksam macben, so dass wir dieselbe dann
nacbtraglicb aucb direct wabrnebmen. So die Klangfarbe. Der
*) Die partiellen Veranderungen fiibrteu wir nur darum als selb-
standigen Factor auf, weil uber die Art ihrer Wirksamkeit noch Zweifel
obwalten und sie doch vielleicht nicht bios durch Erweckuug der Auf-
merksamkeit wirken.
dcr Analyse and des Heraushorons. 345
Kundige vermag aus der woll)ekannten Klangfarbe des Floten-
oder Clavierklanges schorl zu erschliessen, welche Gattung von
Obertonen darin enthalten sein werden, und danach seine Auf-
merksamkeit einzustellen. Ferner Verschiedenlieit dor Locali-
sation (s. g)). Selbst die Localisation durch das Auge hat in
solcher Weise Einfluss. ^) Jeder, der das unterirdischc Orchoster
Wagner's hort, wird sagen miissen, dass ihm die Analyse der
Klangmiscbungen weniger leiclit wird als wenn man die Musi-
kanten blasen und geigen sielit. Darauf hat es ja Wagner
auch mit abgesehen. Ebenso unterstiitzt natiirlich das Lesen
der Noten,
Auf Rechuung der Anlage und Ubung des Aufmorkens
kommen ausser den Verschiedenheiteu im Maximum des Auf-
merksamkeitsgrades iiberhaupt (I 70 — 71, 78) hier besonders
die Unterschiede in der Fahigkeit der Verteilung der Aufmerk-
samkeit. Es ist mir sehr wahrscheinlich, dass die ausscrordent-
liche Ungleichheit musikalischer und unmusikalischer
Naturen in Hinsicht der Analyse und des Heraushorens zum
grossten Teil darin griindet, dass die Unmusikalischen von Natur
aus nur in geringem Masse einer Verteilung der Aufmorksam-
keit auf gleichzeitige Tone fahig sind, sei es einer gleich-
massigen (wie bei der Analyse), sei es einer ungleichmassigen
(wie beim Heraushoren). Es diirften angeborene grosse Unter-
schiede bestehen nicht bios in der Lust an Tonen sondern auch
in der Lust am Bemerken der Tone gegeniiber anderen Sinnes-
inhalten; und so diirften Manche zur Verteilung der Aufmerk-
samkeit auf gleichzeitige Tone fast unfahig sein, wahrend sie
in anderen Sinnesgebieten solcher Verteilung recht wol fahig
^) Eine Bemerkung Heinrich Nob's, die mir zufallig aufstiess und
anfangs lacherlich schien, rechtfertigt sich so. Er sagt in seinen Schil-
derungeu aus Tirol und Vorarlberg: „Wieder ein Donner der Eisstiicke.
die vom Ortler-Ferner herabjagen — dann larraen fiir unser Ohr wieder
einzig die drei Brunnen. Sehen wir hinaus, dann erkennen wir freilich,
dass sich mit ihrem Rauschen das Gesumme zahlloser Wasser vereinigt,
die als Quellen aus den Lawinenrestcn hervorbrechen'- u. s. f. Man kaun
durch's Auge die Quellen und die Lawinenbache sondern, aber nicht das
Rauschen und das Summeu. Dcnnoch kann das Auge dem Ohr helt'eu.
346 § 23. Bedingungen fur die Zuverlassigkeit
sind. Solche werden nur dann einen Zusammenklang als gleich-
zeitige Mehrheit von Tonen auffassen oder einen Ton innerhalb
desselben herauslioren, wenu auch ohne bedeutendere Mitwirkung
der Aufmcrksamkeit (und speciell der willkihiichen Aufmerk-
samkeit) die Tone durch ilire grosse Hohendifferenz, ihre grosse
Starke, ihren ortlichen Unterscbied u. dgl, sicb der gesonderten
Wahrnebmung geradozu aufdraugen.
Es kommt aber bei den Musikaliscben natiirlicb die Ubuug
des Aufmerkens hinzu (zu welcher unmusikaliscbe Naturen eben
aucb wieder nur in geringem Masse fabig sind). Dadurcb wird
nicbt bios die Fabigkeit des Aufmerkens auf Tonerscheinungen
iiberhaupt gesteigert sondern aucb specielle Fabigkeiten in der
Direction und Concentration desselben erzeugt; so z. B. bei
iikustiscb Geiibten in der Ricbtung der Obertone oder Differenz-
tone. Ferner sind bei Zusaramenklangen die in der augenblick-
licben Musik gebrauchlicheren vor den weniger oder nicbt ge-
brauchlicben durcb solcbe Ubung bevorzugt. Unterscbeiden wir
ja auch leicbter die Umrisse bekannter Gegenstande, die Teile
bekannter Worter und Silben als unbekannter, wenn beide nur
momentan gesoben werden. Nicbt nur die Deutung, aucb die
blosse Wabrnebmung der Teile ist eine voUkommnere, leichtere.
Ebenso wird eine ungleicbe Ubung des Aufmerkens sich fiir
verscbiedene Tonregionen entwickeln. Speciell was das Heraus-
boren anlangt, hat sich in den letzten Jabrhunderten die Ge-
wohnheit gebildet, die Aufmerksamkeit vorzugsweise dem hoch-
sten Tone eines Zusammenklanges zuzuwenden; wenngleich selbst-
verstandlich mit Unterschieden je nach dem besonderen Fall.
i) Das Gedachtnis (die Vorstellungsiibung) fiir Tone der
beziiglichen Region. Je leicbter und rascher sich Einer Tone
von der Hohe der im Klange enthaltenen in der Phantasie,
aus dem Gedachtnis vorstellen kann, urn so leicbter die Ana-
lyse und das Heraushoren. Dies versteht sich fiir jede Theorie,
ist daher nicbt etwa ein Beweis fiir die Anscbauung, wonach
es sich bei der sg. Klanganalyse iiberhaupt nur um ein Hinein-
denken von Gedachtnisbildern bandelte. Solcbe Reproduction
ist ja auch keiueswegs in alien Fallen eine Notwendigkeit, son-
der Analyse und des Heraushorens. 347
dern nur in schwierigeren Fallen cine Erleichterung, wie beim
Aufsuchen der Obertone. In anderer Weise kommt die Treue
der Reproduction, aber audi die des unmittelbaren Gedaclit-
nisses (der nach Aufhoren der Empfindung noch actuell fort-
bestehenden Vorstellung) dann zur Geltung, wenn das Urteil
sich erst nach Aufhoren des Klanges bildet. Dann muss ja der
gesammte Klangeindruck erhalten bez. erneuert werden, solange
und so oft, bis das Urteil sich gebildet hat. Dass das Ge-
dachtnis oft genug audi in dieser Weise beteiligt ist oder sein
sollte, sieht man an den haufigen Fallen, in denen Personen
sich eine Wiederholung des Klanges, liber dessen Zusammen-
setzung sie urteilen sollen, ausbitten, weil er ihnen nicht mehr
oder nicht hinreichend mehr im Bewusstsein ist.
Auch hier, im Gedachtnis, liegt gewiss einer der durch-
greifendsten Griinde fiir die ungleiche Leistungsfahigkeit der
Individuen im Analysiren und Heraushoren. Wir kennen ja die
grossen Verschiedenheiten des Tongedachtnisses (I 279 f.) Was
man Ubung in der Wahrnehmung der Klangteile iieniit, ist,
wie ich glaube, auf diese beiden Puncte zuriickzufiihren: Ge-
dachtnis (Vorstellungsiibung) und tlbung der Aufmerksamkeit.
Es besteht auch hier keine Notigung, daneben noch etwa eine
besondere Urteilsiibung anzunehmen (vgl. I 75 f., 245 — 6). Viel-
leicht sind sogar diese beiden Factoren selbst in der Wurzel
nur Einer: wenn namlich die individuelle Anlage zum Ton-
gedachtnis identisch ist mit der zum Aufmerken auf Tone;
wie ich dies jetzt fiir sehr plausibel halte (vgl. I 287 f., ferner
die Bemerkungen unten 361).
2. Besprechung einiger besonderen Erscheinungen.
Sind wir nun gleichsam mit den Registern bekannt ge-
worden, durch deren verschiedenartige Verbindung in den ein-
zelnen Fallen erklart werden muss, wie und warum die Analyse
und das Heraushoren zu Stande kommt oder nicht, so ist damit
noch nicht gesagt, dass wir in jedem Fall auch die richtigen
Register zu ziehen wissen. Ganze Classen von Fallen konnen
der Erklarung noch Schwierigkeiten bieten. Solche Schwierig-
348 § 23. Bedingungeu fiir die Zuvnrlassigkeit
keiten will ich nicht verhehlen oder beschonigen sondern her-
vorheben und die beigefiigten Erklarungen zuin Teil nur als
vorlaufig plausibelste betrachtet wissen.
a) Einfluss der Klangfarbe.
t)bt die Klangfarbe und iiben die Uuterschiede der Klang-
fai'be zwisclien den Teilen eines Zusammenklangs einon Ein-
tluss auf die Leichtigkeit der Analyse und des Heraushorens?
Wir liaben sie nicht unter den Factoren erwahnt. Aber es
gibt zahlreiche Erfahrungen , welche anscheinend solchen Ein-
Huss beweisen. So steigerte sicla z. B. sofort die Unterschei-
dungsfahigkeit der zwolf Hallenser Versuclispersonen § 19, als
ich probeweise ein scharferes Register (Geigenprincipal) aufzog.
So erwahnten wir auch schon, dass die qualitative Uuterschei-
dungsschwelle hoher liegt bei Stimmgabeln als bei musikalischen
Instrumenten. Die Analyse eines Zusammenklanges scheint also
im Allgemeinen bei scharferen Farben der Componenten leichter
als bei milderen. Aber nicht bios die absolute Klangfarbe
sondern auch die alien fallsigeu Uuterschiede innerhalb eines
Zusammenklanges scheinen von Einfluss, und zwar in erleich-
terndem Sinne. Man unterscheidet meistens leichter eine mensch-
liche Stimme neben einer Orgelpfeife als zwei Orgelpfeifen.
Man hort einen scharfen Klang inmitten weicher leichter heraus
als einen weichen, eine Oboe unter Floteu leichter als eine Flote.
Ja es konnte scheinen, als ob selbst ein milder Klang sich
besser abhobe von scharfen als von gleich milden. So wird
der mild summende Differenzton besonders leicht neben scharfen
Primarklangen vernommen.
Diese Beobachtungen, die man anfangs vielleicht ohne prin-
cipielle Schwierigkeit, wenn nicht selbstverstandlich, finden wird,
geben doch naher betrachtet zu Bedenken Anlass. Beruhen die
Uuterschiede der Klangfarbe, wie wir mit Helmholtz annehmen,
wesentlich auf den Obertonen, so sieht man nicht ein, wie durch
das Hinzukommen von solchen die Trennung der Grundtone von
einander erleichtert werden soil. Die Klangfarbe ist ein Pra-
dicat eines aus Grundton und Obertonen bestehenden Klang-
ganzen, sie ist nicht ein Moment des Grundtons selbst wie
der Analyse und des Heraushorens. 349
etwa dessen Intensitat. Auf den Grundton selbst konnen die
Obertone Uberhaupt keinen Einfluss haben; wie also auf die
Unterscheidung der Grundtone voii einander? Und wollen wir
auch sagen, es handle sich bei der Zerlegung eines Zusammen-
klanges nicht um die Trennung der Grundtone sondern der
Klange von einander, so bleibt doch immer die Frage, wie
zwei Klange leichter analysirbar sein konnen, als zwei andere,
von denen sie sich durch Nichts unterscheiden, als dass sie mehr
Obertone enthalten. Man konnte audi umgekehrt schliessen,
dass die letzteren storten.
In der Tat muss man, wie ich glaube, den scheinbaren
Einfluss der Klangfarbe vielmehr auf andere bekannte Moraente
zuriickfiihren , und auf die Klangfarbe nur insoweit, als jene
etwa in den Begriff der Klangfarbe mit aufgenommen werden.
Vor Allem wenn Zusammenklange von scharfen Einzel-
klangen leichter analysirt werden als voii weichen, so lasst sich
anfiihren, dass sehr weiche Klange der Kegel nach zugleich
schwach sind. Obertone kommen eben nur bei Klangen von
einer gewissen Starke des Grundtons zum Vorschein und
wachsen an Zahl und Starke unter sonst gleichen Umstanden
mit der Starke des Grundtons; wahrend umgekehrt oberton-
freie Klange, wo sie Uberhaupt moglich sind, nur bei schwachster
Tongebung erzielt werden konnen (die hochsteu Octaven aus-
genommen). Es kommt dazu noch, dass der erste Differenzton
des Grundtons mit dem ersten Oberton eines Klanges (ebenso
wie iiberhaupt der erste Differenzton je zweier in der Reihe
der harmonischen Teiltone benachbarter Tone) gleich dem
Grundton selbst ist, dass somit dieser bei alien Klangen, die
den ersten Oberton (ev. auch weitere in der harmonischen Reihe
benachbarte Teiltone) kraftig enthalten, starker zu Gehor
kommt als es seiner physikalischen Intensitat entsprechen
wiirde. Handelt es sich um sehr tiefe Klange, so kaun man
auch annehmen, dass bei den scharferen Klangen gar nicht die
Grundtone selbst sondern die ersten Obertone, ihre Octaven,
analysirt werden, wahrend man bei den weichen auf die tiefeu
Grundtone angewiesen ist und darum mehr Schwierigkeit findet.
350 § 23. Bedingnngen fur die Zuverlassigkeit
Fiir Unmusikalische kommt auch der Umstand in Betracht,
dass Klange mit Obertoneii starkere Schwebungen geben, welche
von solchen Persouen ofters als Kriterium der Vielheit benutzt
werden; mogen sie dann, dadurch aufmerksam gemacht, die
Vielheit auch direct erkennen oder mag es bei der bios mittel-
baren (scheinbaren) Analyse bleiben.
Im librigen sind scharfere Klange keineswegs in alien
Fallen leichter auseinanderzuhalten; wir werden sogleich unter
b) den Fall der Octave besprecheu, wo gerade bei scharfen
Zimgenklangon c^ in c^ fast verschwindet, und die besonderen
Griinde dafiir aufsuchen.
Wenn sodann eine menschliche Stimme und eine Orgel-
pfeife leichter auseinandergehalten werden als zwei Orgelpfeifen
(die Einem Register angehoren), so ist zu beriicksichtigen, dass
nicht bios die Klangfarbe im engeren Sinn, der Bestand an
Obertonen, hier verschieden ist, sondern auch andere Eigentiim-
lichkeiten, die man zur Klangfarbe nur im weiteren Sinne
rechnen kann, namentlich der Ansatz und die Haltung der
Tone. Die Orgelpfeife ist sogleich mit ihrer ganzen Starke da
und behalt sie ebenso wie ihre Hohe unverandert bei, eine
Gleichmassigkeit, welche der menschlichen Stimme nur in
seltenen Ausnahmsfallen eigen ist (vgl. I 164 die Beobachtungen
KlUnder's liber Hoheschwankungen der Stimme. Von der
minimalen Dauer des subjectiven „Anklingens", welches aller-
dings auch Orgeltonen zukommt, kann hier abgesehen werden).
Wir haben also hier das Hilfsmittel der partiellen Veranderungen.
Natiirlich wird auch die verschiedene Localisation mitwirken,
wenn die Stimme vorwiegend zum einen Ohr, die Pfeife zum
anderen dringt, was unter Umstanden auch durch eine geringe
Bewegung des Kopfes bewirkt werden kann.
Wenn scharfe Klange neben weichen leichter als weiche
herausgehort werden, so kann wiederum schon die Starke der
Grundtone als Erklarung dienen. Wenn aber auch umgekehrt
ein weicher Klang inmitten mehrerer scharfen besouders leicht
wahrgenommen wird, wie der Differenzton , so wird daran in
erster Linie der bereits friiher angedeutete Umstand Schuld
der Analyse nnd des Heraushorens. 351
sein, dass der Differenzton hier nicht bios durch die Grund-
tone sondern audi durch die Obertone erzeugt und somit ver-
starkt wird. Ferner wird eben dadurcli auch das Intermittiren
(Brummen) desselben verstiirkt, welches seine Wahrnehmbarkeit
nach dem Princip der partiellen Veranderungen erleichtert.
Dazu kommt vielleicht iioch, dass man in dem Moment, wo er
in der Wahrnehmung aufzutauchen beginnt, sogleich mehr Ver-
gniigen an dem weichen tiefen Ton empfindet als an den oft
geradezu schreienden oder quakenden Primarklangen, und so die
Aufmerksamkeit sich intensiver darauf einstellt.
Hieuach betrachten wir einstweilen die Klangfarbe nicht
als einen Factor, der in selbstandiger Weise auf die Analyse
und das Heraushoren Einfluss hat; ausgenommen insofern etwa
die Starke mit in ihren Begriff eiugeht, in welcher Hinsicht
sie aber unter den aufgezahlten Bedingungsclassen bereits ent-
halten ist. Dennoch muss ich offen gestehen, dass die hier
versuchten Erklarungen mich selbst nicht in alien Puncten be-
friedigen. Die verteilten Stimmgabeln, kraftig angeschlagen und
dicht vor die Ohren gehalten, tonen doch sehr stark, und um-
gekehrt konnen scharfe Klange recht leise angegeben werden,
ohne dass die Schwelle im ersten Falle auf das Niveau des
zweiten Falles herabginge. Die absolute Intensitat macht eben
doch nur in ihren hochsten und geringsten Graden einen Unter-
schied fiir die Leichtigkeit der Analyse, nicht in der breiten
mittleren Zone der Intensitaten.
Allein die obigen principiellen Erwagungen hindern vor-
laufig, einen selbstandigen Einfluss der Klangfarbe anzunehmen.
Was sollen die hinzukommenden Obertone an den Grundtonen
verandern, um deren Analyse zu erleichtern, abgesehen von der
Starke? Nur eine wesentliche Umformung des Klangfarben-
begriffes wiirde bier eine Moglichkeit eroffnen. Wir kommen
im § 28 darauf zuriick, aber nur um diese Umformung selbst
nicht annehmbar zu finden.
Ein anderer Punct, der dort auch zur Sprache kommen
wird, kann hier nach seiner Beziehung zur Analyse kurz ab-
getan werden. Wir werden uiimlich horen, dass man auch den
352 § 23. Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit
einfacben Tonen noch einen Unterschied der 5,Farbe" zugestehen
muss und zwar wechselnd mit ihrer Hohe, indem sie von der
dunkelsten, dumpfesten bis zur bellsten, scharfsten Farbung
ubergeben. Auch diese „Tonfai'be" nun hat einen scheinbaren
Einfluss auf die Analyse, insofern bei gleichem Verhaltnis wie
nicht minder bei gleicber Differenz der Scbwingungszahlen die
Analyse in verschiedenen Tonregionen verschiedene Schwierig-
keit bietet. Aber es geniigt offenbar, hier die Verscliiedenheit
der qualitativen Distanz selbst als Grund anzusehen, da diese
bei gleichen Schwingungsdifferenzen (und -Verhaltnissen) in
verschiedener Region verschieden ist.
b) Verschwinden des hoheren Octaventons.
In gewissen Fallen kommt es vor, dass selbst von musi-
kalischen Ohren und bei anscheinend gleicber Starke beider
Tone doch nur der tiefere wahrgenommen wird. Eine solcbe
Beobacbtung machte Helmholtz 103 f. (als Modification des
oben 240 erwabnten OnM'schen Versuches) mit zwei Flaschen,
welche einfacbe Tone geben und sicb durch Eingiessung von
FlUssigkeit leicht auf ein gewunschtes Intervall stimmen lassen.
„Ich hatte eine grossere auf 5, eine kleinere auf b^ gestiramt,
und verband sie beide mit demselben Blasebalge, so dass beira Ge-
brauch des Balges beide zugleich ansprachen. Beide in dieser
Weise verbunden gaben einen Klang vou der Toubohe b der tie-
feren uuter ihnen, aber von der Klangfarbe des Vocals 0 (wah-
rend die tiefere alleiu wie U klang). Weun icb danu bald don
einen bald den anderen Kautschukschlauch zudruckte, so dass icb
nacbeinander die beiden Tone einzeln borte, war ich im Stande,
sie aucb in ibrer Vereinigung wol noch einzeln zu erkennen, aber
nicht fiir lange Zeit; allmalig verschmolz wieder der hohere mit
dem tieferen. Diese Verschmelzung tritt sogar ein, wenn der
hohere Ton etwas starker als der tiefere ist. Bei dieser allmalig
eintretenden Verschmelzung ist nun die Anderung der Klangfarbe
charakteristisch. Wenn man erst den hohen Ton augegeben hat,
dann den tieferen hinzukommen lasst, hort man anfangs, wie ich
finde, den hoheren Ton noch in seiner ganzen Starke weiter; da-
neben klingt der tiefe in seiner naturlichen Klangfarbe wie ein U.
der Analyse und des Heraushorens. 353
AUmalig aber, wie sich die Erinueruug des isolirt gehorten hoheren
Tones verliert, wird jener immer undeutlicher und dabei auch
schwacher, wahrend der tiefe Ton scheinbar starker wird und wie
0 lautet. Diese Schwachung des hohen und Verstarkung des tiefen
Tones hat Ohm auch an der Violine beobachtet^ sie tritt freilich,
wie Seebeck bemerkt, nicbt iramer ein, wahrscheinlich je nachdem
die Erinnerung an die einzein gehorten Tone raehr oder weniger
lebendig ist, und beide Tone mehr oder weniger gleichmassig neben-
eiuander hinklingen. Wo der Versuch aber gelingt, gibt er den
besten Beweis dafiir ab, dass es sich hier ganz wesentlich urn die
verscbiedene Tatigkeit der Aufmerksamkeit handelt."
Zunachst bemerke ich, dass das, was Helmholtz hier Ver-
schmelzung nennt, nicht Verschmelzung in unsrem Sinn son-
dern nur eben Nicht -Untersclieidung bedeutet, wahrend Ver-
schmelzung in unsrem Sinn, um wahrgenommen zu werden,
gerade Unterscheidung der Tone voraussetzt (obschon sie auch
den ununterschiedenen Empfindungen zukommt).
Was dann die Veranderung der Klangfarbe betrifft, so
wolleu wir sie hier ausser Betracht lassen, w^erdeu aber in
§ 28 horen, dass von Klangfarbe nur so lange iiberhaupt ge-
sprochen werden kann, als keine Unterscheidung der Tone
stattfindet. Es ist also begreiflich, dass mit dem Aufhoren der
Unterscheidung der hohere Ton sich durch seinen Einfluss auf
die Klangfarbe geltend macht.
Wieder eine Frage fiir sich ist es, warum dem Ganzen die
Hohe des tieferen Tons zugeschrieben wird; davon in § 25.
Was uns dagegen hier interessirt, ist, dass und warum die
Unterscheidung der Tone nach einiger Zeit unmoglich wird.
Um blosse Schwankungen der Aufmerksamkeit kann es sich
nicht handeln, da man sonst durch willkiirliche Richtung und
Verstarkung der Aufmerksamkeit den hoheren Ton sogleich
wieder ebenso heraushoren miisste. Mir hat vielmehr stets,
seit ich von dieser merkwiirdigen Beobachtung Kenntnis ge-
nommen, ein rein physikalischer oder physiologischer Erklarungs-
grund in erster Linie notwendig geschienen. Eine gelegentliche
Bemerkung Preyer's scheint mir denn auch auf denselben hin-
Stumpf, Tonpsychologie. II. 23
354 § '^3. Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit
zufiihren. Preter berichtet, ohne Helmholtz' und Ohm's Ver-
such zu erwahnen, also wahrscheinlich unabhangig von ihnen,
iiber eine ahnliche Beobachtung an Gabeln ^) : „Lasse ich eine
Stimmgabel von 128 Schwinguugen (c) tonen und zugleich
deren Octave, dann hore ich, so lange die letztere Gabel tont,
den Ton 128 ungemein stark, so stark, dass bald der Ton 256
gar nicht mehr geliort wird. Dieses kaun nur dadurch ge-
scbehen, dass der Combinationston 128 gleich ist dem ersten
Gabelton."
Indem also der Combinationston mit dem tieferen Primar-
ton zusammenfallt, iiberwiegt dieser an Starke den hoheren,
selbst wenn er einzeln etwas schwacher ist (wie in dem Helm-
HOLTz'schen Yersuche). Ein solches Mehr von Starke wiirde
bei anderen Intervallen noch nicht hinreichen, urn die Unter-
scheidung fiir ein geschultes Gehor unmoglich zu machen. Aber
bei der Octave mit ihrer hohen Verschmelzung kann es ge-
niigen. So spielt Verschmelzung allerdings auch hier mit, wenn-
gleich sie mit dem von Helmholtz geschilderten Vorgang nicht
zusammenfallt.
Es begreift sich aus obigem Erklarungsgrunde auch, dass
erst allmalig Nichtunterscheidung eintrat: der Differenzton ge-
winnt anfanglich immer etwas an Starke, namentlich von dem
Moment an, wo die Aufmerksamkeit sich auf ihn zu richten
beginnt ^).
Man konnte einwendeu, dass nach der Erklarung immer
bei Octaven derselbe Erfolg eintreten miisste. Indessen ver-
starkt man eben in der Musik, wenn beide Tone noch unter-
') Grenzen der Tonwahrnehmung 12.
*) Nicht ganz undenkbar ware auch, dass in den besonderen Um-
standen des Versuches bei anfanglich nicht vollkommener Reinheit der
Octave eine Accommodation stattfande, bis genau zwei Schwingungen,
des einen Tons mit einer des anderen zusammenfallen ; oder wenigstens
eine Accommodation hinsichtlich der Phasen, welche etwa einen gleich-
massigeren Abfluss der Empfindungen zur Folge hatte. Doch stehen
hieriiber noch keine ganz geniigenden Erfahrungen zu Gebote (vgl. o. 112).
Dass im Allgemeinen unreine Intervalle sich nicht selbst reinstimmen
ist ja leider Tatsache.
der Analyse und des Heraushorens. 355
scheidbar sein sollen, den hoheren, oder schwacht den tieferen
soviel, dass beide deutlich bleiben. Ausserdem kommt es ja
auch sehr auf die Tonregion an, wis iiberhaupt auf alle an-
deren Bedingungen der Analyse.
Ich konnte gerade bei Wiederholung des HBLMHOLTz'schen
Flaschenversucbes mit den Tonen a und «^ den hoheren nicht zum
Verschwinden bringen, wahrscheinlich well die hohere Flasche zu
stark tonte^). Dagegen gelang es mit tiefen Gabeln; am besten
mit C und c, woven die erstere, in ein Stativ eingeschraubt und
stark gestrichen, lange kraftig forttonte, wahrend ich c anschlug
und langsam dem Ohr naherte. Etwas weniger gut schon mit c
und c\ wobei c auf einem Resonanzkasten oder auch frei am Ohr
tonte, wahrend c^ wieder langsam genahert wurde^). Und so immer
weniger bei hoheren Gabeln. Die Tiefe ist ebeu der Nichtunter-
scheidung gunstig. Zuerst bemerkte ich eine blosse Verstarkung des
tieferen Tons. Dies bestatigten drei andere Beobachter. Einer
(der unmusikalische Prof. G., von welchem ira folgenden Paragraphen
die Rede ist) glaubte iiberhaupt kaum etwas anderes als Verstarkung
wahrzunehmeu. Wir anderen dagegen bemerkten bei grosserer Nahe
der hoheren Gabel eine Klangfarbenanderung. Nachdem ich mich
indessen wahrend mehrerer Tage ofters mit diesen Versuchen be-
schaftigt hatte, wurde und blieb mir die Zweiheit der Tone bei
der c- und c^-Gabel vollkommen deutlich. Es liegt also keine un-
tiberwindliche Tauschuug vor, die ja ohnedies bei der sonstigen
Analysirbarkeit der Octave in dieser Region nicht leicht begreif-
lich ware, soudern nur eine durch die besonderen Umstande er-
^) Zu dem Versuch geniigt eine T-formige Glasrohre, dereu Arme
mit steifem Papier so umwickelt werden, dass das Papier noch iiber die
Arme hinausreicht. Der freie Teil des Papiers wird dann beiderseits
zu einem schmalen Spalt plattgedriickt und uber die Offnung der beiden
Flaschen gehalten, wahrend man mit dem Munde in das Fussende der
Glasrohre hineinblast.
*) Am besten halt man c so, dass beide Zinken in gleicher Ent-
fernung vom Ohre stehen, aber so viel Raum lassen, um c* noch zwischen
die c- Gabel und das Ohr schieben zu kdnnen. Dann wird c^ von vom
Oder hinten in rechtwinkliger Richtung genahert. Auch die Zinken von
c' mixssen rechtwinklig zu denen von c stehen.
23*
356 § 2'^- Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit
bohte Schwierigkeit. Verteilt man die Gabein au beide Ohren, so
ist die Unterscheidung von voruberein leicht.
Was ergibt sicb nun, wenn wir umgekebrt die hobere Gabel
in gleicbbleibender Niibe balten, die tiefere dagegen von grosserer
Entfernung alhnalig niiher bringeu?') Man konnte erwarten, dass
die tiefere sicb nun ebenfalls zunScbst in einer Verstarkung, daun
in einer Klangfarbenanderung, und zwar einer Verdunkelung des
hoberen Tones gelteud machte. Aber bier ist, sobald nur iiber-
haupt eine Anderung bemerklich wird, sogleicb der tiefere Ton
als solcber unterscbeidbar. Dies bangt damit zusamraen, dass be-
trilcbtlicb tiefere Tone, wenn sie einmal solcbe Starke erlangt
haben, dass sie nicbt mebr ganz vom boberen unterdriickt werden,
sofort die Klangbobe determiniren. S. § 25. Es soUte bier nur
vorlaufig diese Modilication des Versucbs erwahnt werden.
Ausser dem von Pkeyek angedeuteteu Uinstand durfte nun
aber in gewissen Fallen noch ein anderer mitwirken. Wabrend
naralich Helmholtz und Peeyer das Verschwinden des boberen
Tones bei einfachen Tonen beobacbteten, ist mir vor vielen Jabren,
als ich meine akustiscben Studien begann und ebe icb noch auf
Helmholtz' Beobacbtung aufraerksam gewordeu, das Namlicbe gerade
bei einem System scbreiender Zungenpfeifen (ira Wiirzburger physi-
kalischen Institut) aufgefallen, welches die Zungen fiir c'^e'^-g^c^ in
einem gemeinsamen Ansatzrohr enthielt. Fugte ich bier zu dem
Dreiklaug c^ e^ g^ noch c^^ so konnte ich von dem Hinzutreten
dieses Tones so gut wie Nichts bemerken und dachte anfangs nicbt
anders, als dass etwas am Apparate verdorben sein miisse. Aber
c^ fiir sicb allein sprach voUkommen kriiftig an ^). Dieses Ver-
') Zn diesem Versuch wird am besten die hohere Gabel so wie
vorher die tiefere, aber dicht vor das Ohr, gehalten, wahrend die tiefere
mit paralleler Zinkeustellung und in gleicher Riclitung (der Richtung
des Gehorganges) aus der Feme genahert wird.
■■') Der Hallisclie Mechaniker Wesselhoft teilt mir mit. dass es
ihm genau ebenso gegangen, und zwar gleichfalls vorzugsweise mit
Zungenpfeifen. Auch Prof. G. Engel ausserte sich einmal bei gemein-
samen lieobachtungen an seinem Differenzapparat yebenfalls Zungen in
Einem Kasten), als wir uns durcb Vergrosserung der Septime der Octave
niiberteu: ., Der hohere Ton verschwindet in dem tiefereu. sobald vollige
der Analyse nnd des Heraushorens. 357
schwinden ini Zusammenklang frappirte mich dermassen, dass es
der Anstoss zu alien meinen Untersuchungen iiber Tonverschmelzung
geworden ist, obgleich ich die letztero als ein besonderes Phanomen
von dem hier besprocheneu unterscheidcn lernte.
In umfangreichercr Weise habe icb spater an cincm AppuNN'schen
Obertonapparat (cbenfalls Zungen in Einem Kasten) die Erscheinung
verfolgt. Dieser enthielt sammtliche Multipla des C^ bis zum G4.
(e^). Bei den tiefsten Octaven nnd Dreiklangeu bez. Vierklangeu
stort jedoch das Schnattern der raachtigen Zungen jcde andere Be-
obachtung. Ce lasst sich aber bier als Zweiheit crkennen. Ebenso
cc^. Auch wenn zum Dreiklang ce// noch c^ gefugt wird, lasst
dieses sich noch unterscheiden. Dagegen bei c^c^ ist schon Tau-
schung moglich, und bei c^ e'^ g'^ -\- c^ ist auch hier das Hinzu-
kommen des c^ fast unmerklich, wie in dem vorhin beschriebenen
Falle. c^ c^ sind wieder deutlicher unterscheidbar, und bei c^ e^ g"^ -\-
c^ der hinzutretende Ton wol bemerklich. Man kann iibrigens Ana-
loges auch am gewohnlichen Harmonium beobachten, das ja ebenso
gebaut ist wie der Obertonapparat.
Der friiher beobachtete Fall an dem kleineren Zungensystem
ist also zufallig gerade der fiir die Erscheinung gunstigste gewesen.
Diese Beobachtungen an Zungen geben nun weitere Anhalts-
puncte zur Erklarung. Gewiss ist die lebendige Kraft der Schwin-
gungen in diesen Apparaten bei den tieferen Klaugen bedeutend
grosser. Auch wird der Differenzton, der den tieferen Ton noch
weiter subjectiv gegeniiber dem hoheren verstarkt, hier durch zahl-
reiche Obertonc mit erzeugt. Aber es scheint mir noch Folgendes
in Betracht zu kommen. Die Zunge c^ enthalt bereits den Ton c^
als starken Oberton in sich. Tritt nun die Zunge c^ in Tatigkeit,
so verandert sich in der Gesammterscheinung nicht so Viel.
als wenn c^ zu dem einfachen oder nur von schwachen Ober-
Verschmelzung eintritt." Dieser Apparat enthalt fiinf verschiedene /t'
und ebensoviele /t^ jedes vom benachbarten um etwa 0.6 Schwingungen
unterschieden, sodass man eine unreine Octave /i' li'^ stufenweise in eine
reine verwandeln kann. In dem Moment, wo die Verschmelzung am
starksten wird, nimmt man hier nur noch einen Ton wahr und kann
dann naturlich die Verschmelzung selbst nicht wahrnehmen.
358 § 23. Bedingungen fur die Zuverlassigkeit
toneu begleiteten c^ hinzutritt, Und hat mau vorher den Klang
der Zunge c^ als Einheit aufgefasst, so wird diese Auffassung durch
die verhaltnismassig geringe Anderung der Gesammterscheinung nicht
umgestossen, obgleich c^ nun an sich stark genug ware, urn von
c^ unterschieden zu werden — eiue Tragheitserscheinung. die ihre
Analogien hat.
Der Unterschied des Ergebnisses in den verschiedenen Regionen
muss dann wol darauf beruhen, dass in der eingestrichenen Octave
der erste Oberton besonders stark ist. Bei Flotenpfeifen in der-
selben Region ist die Erscbeinung zwar auch zu beobachten-, doch,
wie mir scheint, nicht in demselben Grade wie bei Zungen, weil
eben die Obertone bei den Floten nicht so stark sind.
Die RoUe, welche die Verschmelzung spielt, ist auch bei den zu-
letzt erwahnten Beobachtungen durchgangig wieder leicht erkennbar.
Wenn man zu c^e^^^c^ noch als funften Ton e^ fttgt, so tritt dieser
nun wieder viel selbstandiger hervor als c^, obgleich er gegeniiber der
grdsseren bereits vorhandenen Tonmasse einen schwereren Stand hat,
Interessant ist es auch, an den Zungenapparaten bios Octaven
zusammenzuhaufen. Kommen imraer hohere Octaven dazu, so ist
meistens schon die dritte so gut wie unmerklich. Die Hinzufiigung
einer tieferen wird immer bemerkt.
Dieselbc Erscheinung wie bei der Octave lasst sich schliesslich
auch bei einer Duodecimo (z. B. Cy mit Gabeln) herstellen, nur muss
der hohere Ton etwas schwacher als bei der Octave genommen werden.
c) Analyse von Nachempfindungen und Gedachtnis-
bildern.
Helmholtz hat auf die Tatsache hingewiesen, dass man
im Stande ist, an optischen Nachbildern Manches zu erkennen,
was man im urspriinglichen Eindruck nicht erkannte^). Ahn-
liches behauptet nun Urbantschitsch beziiglich akustischer
Nachbilder 2). Wenn man zwei verschiedene Tone gleichzeitig
0 Physiol. Optik ' 858—9, 361. Brentano Psych. 154. Hauptsach-
lich erklart sich dies aus dem Wegfall einer starken Irradiation, wie
man gut beim Anblick elektrischer Gllihlampen beobachten kann, deren
Nachbilder die Form des Drahtes deutlicher zeigen.
2) Pflug. Arch. XXIV (1881) 592. Vgl. oben I 278.
der Analyse und des Heraushftrens. 359
zu Einem Ohre leitet, so treten die Nachbilder meistens ua-
gleichzeitig und miteinander wechseliid auf, kdimen aber auch
gleichzeitig erscheinen, und in diesem Fall wird, wie Urban-
TSCHiTSCH besonders hervorhebt, haufig angegeben, dass „keinos-
wegs jene schwirrenden Gerausche wahrgenommen werden,
welche im Olir bei gleichzeitiger Zuleituug gewisser unharmo-
nischer Tone so iiberaus lastig sind. Im Nachbild fiillt dieses
Schwirren voUstandig hinweg, sodass die beiden Tone neben-
einander, jeder vom anderen deutlich unterschiedeu zur Nach-
empfindung gelangen. Dieses interessante Phanomen tritt noch
auffalliger bei solchen Individuen hervor, welche die beiden
objectiven Tone nicht von einander unterscheiden konnen, son-
dern bei der Schallzuleitung nur ein confuses Tongewirr wahr-
nehmen. Ich habe mich wiederholt iiberzeugt, dass unmusika-
lische Versucbspersonen haufig die beiden objectiven Priifungs-
tone nicht zu differenziren vermogen, dagegen stets dieselben
im Nachbilde auftretenden Tone mit Leichtigkeit bestimmen
und von einander deutlich unterscheiden konnen."
Mit den schwirrenden Gerauschen meint Uebantschitsch
doch wol rasche Schwebungen und Schwebungsgerausche. Dass
diese wegfallen, begreift sich, da Schwebungen, soviel wir wissen,
nur entstehen, wenn ein und dasselbe Nervenanhangsel durch
zwei verschiedene objective Schwingungen zugleich erregt wird:
wahrend bei den Nachbildern zwei Nervenanhangsel (bez. zwei
Gruppen solcher), jedes in seiner Weise, nachschwingen. Im All-
gemeinen dienen nun gerade Schwebungen, wie wir ofters erwahnt
haben, unmusikalischen Person en als Kennzeichen der Mehrheit.
Allein es handelt sich dann auch nicht urn eine uumittelbare
oder wirkliche Analyse, sondern nur um eine Schlussfolgerung.
Fiir die wirkliche Analyse sind in der Tat die Schwebungen als
Nebenerscheinung nur storend und ihr Wegfall erleichternd. Es
ware von Interesse gewesen, wenn Urbantschitsch auch mit con-
sonanten Tonen, die keine Schwebungen geben, etwa der Octave,
versucht hatte, ob die Analyse bei Nachbildern leichter werde.
Wir sprachen zunachst von deu Nachempfindungen. Diese
sind nicht identisch mit Gedachtnisbildern, auch nicht mit den
360 § "23 Bedingungen fiir die Zuverlassigkeit
sg. „primareu Gedachtnisbilclern" (Exnee), die sich unmittel-
bar an die Empfindung anschliessen, sondern sind selbst noch
Empfindungen. Dass wir aber auch im Gedachtnis, an unwill-
kiirlich oder willkiirlich vorgestellten Klangen Unterscheidungen
macben, baben wir ofters bereits bervorgeboben und kann im
Allgemeinen leicbt constatirt wcrden. Wir konnen Accorde
ebenso deutlicb mit alien ibren Tonen in der Erinnerung oder
freien Pbantasie boren wie in wirklicber Empfindung, und
ebenso uns bci binreicbender tjbung aucb den Eindruck eines
Einzelklanges wieder vergegenwartigen, innerbalb dessen ein
Oberton uns besonders merklicb wurde.
Wie aber, wenn wir in einem Zusammenklang wabrend der
wirklicben Empfindung Nicbts unterscbieden baben, indem z. B.
die Aufmerksamkeit auf andere Gegenstande gericbtet war:
konnen wir ibn dann nacbtraglicb analysiren? Auffriscben
konnen wir ja aucb solcbe Eindriicke, wenn sie nocb im un-
mittelbaren Bewusstsein aufzutreiben und nicbt scbon vergessen
sind; d. b. wir konnen die Aufmerksamkeit nacbtraglicb auf das
primare Gedacbtnisbild binlenken. In diesem Fall ist obne
Zweifel gegeniiber Zusammenklangen baufig nocb Analyse mog-
lich. Icb babe sogar mebrfacb, micb beim Arbeiten unter-
brechend, mit Erfolg den Versuch gemacbt, die Tone eines so-
eben, wabrend des aufmerksamen Nacbdenkens iiber andere
Dinge, nebenbei geborten Accords zu benennen. Allerdings
ist die Frage, ob in solcben Fallen die Analyse nicbt docb
scbon wabrend der Empfindungsdauer begonnen baben muss,
ob die sg. nachtraglicbe Analyse nicbt bios in einer weiteren
Verdeutlicbung des bereits Unterscbiedenen bestebt. Es kann
ja aucb ein nebenbei geborter bekannter Accord durcb die
mecbaniscb nacbwirkende vielfacbe Obung als eine Tonmebr-
beit aufgefasst werden und der nacbtraglicben Besinnung nur
die Aufgabe bleiben, die Tone als consonant, als Dreiklang, als
d, fis, a u. dgl. zu erkennen.
Zweifelbaft kann es ferner erscbeinen, ob aucb Obertone
aus einem Klang nacbtragHcb berausgebort werden konnen.
Aucb dies scbeint bei unbarmoniscben boben Obertonen eines
der Analyse und des Heraushorens. 361
tiefeii oder mittleren Gruncltons moglich, wic bei dem gellenden
hohen Teilton einer angeschlagenen Stimmgabol. Man kann
sicli desselben nachlier „bewusst worden", iiachdem man zuerst
deu Grundton beachtete; ja audi umgekelirt kann es geschchen,
dass man zuerst mehr den Oberton und dann im Gedachtnis-
bild mehr den Grundton beachtet. Aber ein solcher Eindruck
ist von vornherein nicht voUstiindig unanalysirt geweson. Wo
dies der Fall, wie bei einem unaufmerksam gehorten Klang mit
consonanten Obertonen, da scheint mir nachtragliches Heraus-
horen ganz unmoglich. Ohnedies fallt die Moglichkeit der sub-
jectiven Verstarkung, die Obertonen gegeniiber so wesentlich
ist, hier hinweg.
Ja nicht bios einen Anfang spontaner Analyse wahrend
der Empfindung, sondern auch ein gewisses, sei es noch so ge-
ringes, Aufmerksamkeitsteilchen fiir die einzelnen Tone miissen
wir, wie ich glaiube, als Bedingung in solchen Fallen voraus-
setzen. Wie wir uns an Nichts erinnern konnen, was von keinem
noch so geringen Moment des Interesses begleitet war, so konnen
wir auch schwerlich einem Teil eines noch im unmittelbaren
Bewusstsein weilenden Inhaltes eine nachtragliche Aufmerksam-
keit schenken, wenn er vorher ganz und gar davon ausgeschlossen
war. „Aufmerksamkeit, Interesse" ist allerdings fiir solche neben-
her abfallende Regungen schon zu Viel gesagt, wenn wir die
Worte im popularen Sinn nehmen. Aber man muss sie eben
in der Theorie begrifflich-streng und allgemein verstehen, mag
es sich um Grosses oder Kleines derselben Gattung handeln.
Nun halten wir zwar fest, dass Analyse nicht schlechthin
und immer Aufmerksamkeit einschliesst. Aber ein nachtrag-
liches Erkennen von Teilen in einem vorher vollkommen un-
aufmerksam gehorten Ganzen scheint mir ausgeschlossen ; voraus-
gesetzt natiirlich, dass es sich nicht bios um eine mittelbare
Analyse, ein Erschliessen der Teile haudelt^).
^) tjber ahnliche Falle bei anderen Sinnen vgl. Exner, Herm. Hdb.
II, 2, 281. Exner spricht von „vollkommen abgelenkter Aufmerksamkeit/'
Das Gesagte andert Nichts an den Folgerungen, die wir aus ahu-
lichen Tatsachen o. 29 gegen die Annahme eines Wettstreits der Tone
362 § 24. Indivxduelle Unterschiede
§ 24. Individuelle Unterschiede im Analysiren
uiid Heraushoren.
Uber die mutmasslichen Wurzeln der wunderbaren indivi-
duellen Verschiedenheiten in der Fiihigkeit zur Analyse einer
gleichzeitigen Tonmehrheit ist im Vorangehenden gesprochen.
Tatsachliches iiber solche Verschiedenheiten ist ebenfalls bereits
vielfach eingeflochten. Ich will jedoch noch eine Reihe zu-
sammenhangender Beschreibungen gewissermassen typischer Zu-
stande anfiigen, um dem Leser ein Bild von der Beschaffenheit
der Auffassungsweise zu geben, welcher gleichzeitige Tone be-
sonders in unmusikalischen oder halbmusikalischen Seelen be-
gegnen. Die Ausfiihrlichkeit der Beschreibungen diirfte sich
durch den fast ganzlichen Mangel an solchen tatsachlichen
Feststellungen rechtfertigen.
1. Ausserste Unfahigkeit bei ubrigeus uormaler Gehdrscharfe
und Intelligenz fand ich bei Herru stud, (jetzt Dr.) W. Kessler,
der bereits o. 158 erwahnt ist. Derselbe hatte — um zuerst das
Ndtige aus seinen musikalischen Personalacteu anzufiihren — nie-
mals Instrumente erlernt und war auch zum Singen unbrauchbar
erfunden worden, uachdem er ein Vierteljahr in der Schule mit-
zusingeu versucht hatte. Er kann wirklich gegeuwartig keinen Ton
seiner Hdhe gemass nachsingen, ausgenommen innerhalb eines eugen
Bezirks, der etwa eine Quinte urafasst. Auf die Frage, welcher
von zwei aufeiuanderfolgeuden Tonen der hohere sei, gibt er in
der Mitte moistens richtige, in der Hohe und Tiefe sehr viel
falsche Antworten. Gleichzeitige Tonzusammenstellungen sind ihm
fast durchweg indifferent, und findet er einmal eine angenehmer
gezogen haben. Dort war nur die Rede von der Concentration der Auf-
merksamkeit auf Eine Stimme, was nicht gleichbedeutend ist mit aus-
schliesslicher Zuwendung. Schon durch solche vorwiegende Aufmerk-
samkeit auf Eine Stimme wahrend der ganzen Phrase mtissten nach der
Wettstreitslehre die anderen von der Emp find ung und dadurch natiir-
lich auch von der Reproduction ausgeschlossen werden.
im Analysiren und Heraushoren. 363
oder weniger angenehm, so trifft sein Gefiihl mit dem rausika-
lischen keineswegs zusammen; von solchem ist keine Spur zu ent-
decken.
In Bezug auf die hieher gehorige Frage nun, ob eine Ton-
zusammeustellung ihm als ein oder mehrere Tone erscheine, ent-
scheidet er sich so gut wie durcligangig fiir die Einheit. Ich lege
ihm am Clavier Dissonanzen vor, Triton, Secunde, grell dissouirendc
Accorde wie hf^a^^ Zusammenklange mit weitester Distanz ihrer
Teile, wie F und e^ — Alles umsonst. Ich spiele die Tone zuerst
isolirt, z. B. e«^, dann g'^^ und hierauf beide zusammen — umsonst.
Er erkennt nicht, dass sie in dem Zusammenklang enthalten sind.
Der Eindruck erscheint ihm als etwas Neues. In der ersten Reihe
der 0. 155 erwahnten Versuche an der Orgel liess ich ihn uoch
mitwirken: unter den 60 Fallen gab er nur zweimal an, zwei Tone
gehdrt zu haben, einmal bei einer grossen Terz, einmal beim Tri-
tonus-, in 4 Fallen blieb er zweifelhaft; in alien iibrigen stimmte
er fiir Einheit. Ganz ebenso verhielt er sich gegeniiber Violin-
zweiklangen.
Endlich versucLte ich Stimmgabeln, bei denen man den Vor-
teil hat, durch Verteilung an beide Ohren die Analyse erleichtern
zu konnen. Die Gabeln gehorten der ein- und zweigestrichenen
Octave an. Mit dem Tritonus beginnend, fand ich denn auch wirk-
lich, dass K. bei alien Intervallen, welche eine grosse Terz uber-
schritten, die Zweiheit erkannte, wenn die Gabeln an beide Ohren
verteilt wurden, und dass er sie unmittelbar nachher auch erkannte?
wenn sie Einem Ohr geboten wurden, nicht aber, wenn dies so-
gleich Anfangs geschah. Die Intervalle waren Quarte, Tritonus,
Quinte, grosse und kleine Septime, Octave. K. wusste auch fast
in alien diesen Fallen richtig anzugeben, auf welcher Seite bei
verteilten Gabeln er den hoheren Ton horte.
Dagegen die grosse und kleine Terz, wie die kleine Secunde
(«^ mit gis'^) konnte K. auch bei verteilten Gabeln nicht als Zwei-
heit erkennen. Bei der Secunde entging ihm auffallenderweise
auch das Rollen der Schwebungen, das sonst Unmusikalische auch
bei Verteilung der Gabeln in diesem Fall leicht bemerken. Bei
Aufeinanderfolge beider Tone fand er dagegen sogar zwischen a
364 § 24. Indiviflnelle Unterschiedc
iind gls^ noch einen Unterschied und gab auch richtig an, welcher
(der erste oder zweite) Ton der hohere war.
Ich stellte bci der Octave auch die Frage, ob beide Tone,
die er ja bier bei verteilten Gabeln unterschied, so deutlich aus-
eiuandertraten Avie beim Tritonus; was K. entschieden verneinte.
Ferner schien ihm im Falle der Octave, aber auch der grossen
Septime (a^ mit gis'^) der hohere Ton bedeutend schwacher und
fast im tieferen zu verschwinden , auch dann, als ich die hohere
Gabel starker anschlug. In zwei Fallen (einmal bei der Quinte)
machte er noch die besondere Bemerkung, dass der Klang, den er
zuerst als zwei Tone horte, beim Ausklingen Einer zu werden schien.
Wir erkenncn bier iiberall die allgemeinen Einfliisse: den der
qualitativen Distanz, der Localisation, des Verschmelzungsgrades,
der Intensitat. Das Zuriicktreten des hoheren gegen den tieferen
Ton bei Octave und Septime erinnert an die oben 352 f. besprochenen
Erscheinungen (bei der grossen Septime kann immerhin ebenfalls
eine Verstarkung des tieferen Tons durch den Diiferenzton statt-
gefunden haben, da beide cinander so nabe liegen, dass fiir ein so
unmusikalisch gebautes Ohr die Empfindungsschwelle gleichzeitiger
Tone hier nahezu erreicht sein mag, beide also als Ein Ton em-
pfunden werden).
Von grossem luteresse ist das gleichzeitige fast ganzliche
Fehlen des analysirenden Urteils und des Gefiihls fiir Zusammen-
klange; ein Punct, der uns spater wichtig wird.
Worin nun aber die ungeheuer geringe Fahigkeit zur Analyse
liberhaupt bei einem Solchen ihren Grund habe, dariiber konnen
wir nur auf die im vorigen Paragraphen geausserten allgemeinen
Vermutungen hinweisen. Gcnug, dass sie wenigstens keine un-
bedingte Unfahigkeit und der Ubung nicht ganz unzuganglich ist,
dass also selbst die Tonauffassung solcher Amusoi sich doch nur
graduell von der des Musikalischen unterscheidet.
2. Unter den Ubrigen Hallischen Versuchspersonen kam Herr
stud. Tewes diesem Zustand auch einigermassen nabe. Er weigerte
sich, einen Ton nachzusingen, da er sich ausser Stande fiible, ihn
zu trelFen. Doch entbehrte er nicht so ganz des Gefiihles fiir Zu-
sammenklange, indem er wenigstens den Durdreiklang anderen Ton-
im Analysiren und Heraushoren. 365
verbindungen vorzog. Bezuglich der Analyse uiitersuchte icli an
ihm nocli besonders, ob er die vorher oder nachher einzeln an-
gegebenen Tone der Orgel bei ihrem Zusammenkliugen wieder-
erkenne. Beim Tritouus war er dessen fahig. Bei der Terz c^ e^
aber nicht. Bei 1. oder 2.:
1. 2.
^ > 1 >
W^^^
glaubte er nur abwechselud eiuen tieferen und eineu bolieren Ton
zu horeu; dass der andere daneben fortklang, entging ihm. An-
hanger der Wettstreitslehre werden dies aufgreifen; es ist aber
fiir jede Anschauung erklarlich.
3. Prof. G. (Naturforscher), der entschieden in die Kategorie
der Unmusikalischeu gehort, da ihm z. B. fortgesetzte Quinten-
parallelen „ganz gut'' klingen und die Musik uberhaupt ihn gleich-
giiltig lasst, der jedoch consonante und dissonante Zusammenklange
ziemlich sicher auseinanderhalten kann, erkennt auch stets eine
Mehrheit darin, und zeigt sich nicht ganz unfahig, die analysirten
Tone durch Singen anzugeben. So bei dis'^ a^ c"^ den oberen und
unteren Ton, dagegen den mittleren nicht, obschon er drei Tone
zu horen sich bewusst war. Als ich diesen, «\ auf dem Clavier
angab, schien er G. allerdings in dem Zusammenklang enthalten,
aber „verdeckt durch die anderen" und nicht recht deutlich. (Dies
beruht auf einem allgemeineren Verhalteu, auf das wir im folgenden
Band bei der Analyse der ,,Stimmen" kommen.) In der Octave
konnte G. zwei Tone unterscheiden; um so mehr in den sonstigen
Intervallen.
4. Wiederum naher steht den Musikalischen Dr. H., obgleich
man ihn noch lange nicht wirklich dazu rechnen kann. Er hat nie
gesungen, aber mehrmals langere Zeit Violinspiel getrieben, auch
noch in letzter Zeit fast taglich geiibt, empfindet ein gewisses Yer-
gniigen an der Musik, ohne sie jedoch aufzusuchen. Fortgesetzte
Q.uintenparallelen, langsam gespielt, lindet er angenehm und bei
schnellerer Bewegung auch nicht unbedingt verwerflich. Zweite
Stimme kann er nicht singen, nicht einraal mit einem Anderen zu-
366 § 24. Individuelle Unterschiede
sammen, well ihn die erste irre macht. Seine analysirende Fahig-
keit habe ich sowol mit Zwei- als Dreiklangen am Clavier naher
studirt. Dabei kam es mir nicht so sehr auf eine grosse Zahl
von Fallen an als auf genaue Ermittelung Dessen, was in den ein-
zelnen Fallen vom Beobachter wahrgenoramen wurde, welcher zwar
akustisch ungeiibt, aber in der modernen Psychologic bewandert
und darum in der Lage war, sich psychologisch genau auszudriicken.
Da er einen einzelnen Ton (eventuell dessen fur seine Stimme be-
quemere Octave, aber auch wol den Ton selbst mit Fistelstimme)
leicht nachzusingen vermochte, so liess ich ihn durch dieses Mittel
die Tone bezeichnen, die er in einem Zusammenklang zu horen
glaubte.
Die Zweiklange bestanden in Intervallen mittlerer Tonlage von
der kleinen Secunde bis zur Octave. Bei der kleinen und grossen
Secunde glaubte H. wol zwei Tone zu vernehmen, die er auch
richtig nachsang, aber sie schieneu ihm aufeinanderzufolgen ; in
manchen Fallen schien sich noch etwas hineinzumischen, was er
vermutungsweise auf Schwebungen oder auf einen etwaigen dritten
Ton bezog. In der kleinen und grossen Terz bemerkte er zwei
Tone. Das letztere Interval 1 erkannte er sogar als grosse Terz
und sang die Tone richtig, wahrend er beim Nachsingen der
kleinen in die grosse geriet, durch welche jene zum Durdreiklang
erganzt wird (statt g'^h'^ sang er es^ g^), beim zweiten Versuch so-
gar in die Octave (gg^). In der Quarte und Quinte fand er
wiederum zwei Tone, erkannte auch wieder die Quinte als solche
(sie ist dem Violinspieler besonders gelaufig) und sang sie richtig,
statt der Quarte aber wieder eine Octave. Kleine Sexte und kleine
Septime wurden richtig nachgesungen. Bei der grossen iSeptime
{ha'^) glaubte er drei Tone zu horen, sang aber zunachst nur die
zwei wirklich vorhandenen, dann auf besondere Aufforderung als
dritten /^ Nachdem ich dieses auf dem Clavier angegeben, blieb
er dabei, dass es darin sei, wenn auch nur nebenbei; „vielleicht
deute er auch nur Schwebungen als Ton". Die Octave glaubte er
wunderlicherweise zuerst als zwei aufeinanderfolgende TOne vom
Intervall eines Ganztons zu horen, darauf erst wurde ihm der
grossere Abstand der Tone und ihr Octavenverhaltnis klar. Er
im Analysireu and Heraushoren.
367
meinte, dass die Verwechselung durch ein Misfallen hervorgerufen
sei, welches sich fiir ihu an die Octave kniipfe.
Aus diesen Beschreibungen kaiin man wenigstens das Eine
deutlich entnehmen, wie unvollkommen der wahre Tatbestaud sich
in der Auffassung selbst eines psychologisch Geschulten bei mangel-
hafter Musikbegabung spiegelt. Der wirklich Musikalische wird
solche Aussagen mit Kopfschtitteln leseu. Aber ich bin uberzeugt,
dass mehr als die Halfte der Musiktreibenden noch schlechter
bestehen wiirde. Weiter lasst sich nicht eben Vieles aus diesen
Angaben schliessen; es scheint, dass bei den Secunden und Septimen
die Schwebungen storten, wahrend die Ersetzung der kleinen Terz
durch ibr Dreiklangscomplement in musikalischen Reminiscenzen
griinden mochte.
Ich versuchte es nun auch mit 14 Dreiklangeu mittlerer Ton-
lage (zwischen / und es^ als unterstem der drei Tone) und Avechselte
mit Dur und Moll sowie mit der Lagerung (1., 2., 3. Lage nach
musikalischer Bezeichnung, also Tonica zu unterst, zu oberst oder
in der Mitte), H. bemerkte jedesmal drei Tone, aber nicht alle
drei mit gleicher Deutlichkeit. Er pflegte allerdings drei Tone zu
singen, aber davon standen zwei meistens im Octavenverhaltnis,
konnen also hinsichtlich des Dreiklangs nur fiir Einen gerechnet
werden. Beispielsweise in 1. und 2. unter den folgenden Fallen.
Die Viertelnoten bedeuten die von H. gesungenen Tone:
5^
In sechs Fallen fand er sogleich alle drei Tone, und zwar immer
von oben herab singend, aber nicht immer in der der Dreiklangs-
lage entsprechenden Folge; z. B. bei No. 3 der obigen Auswahl.
368 § 24. Individuelle Unterschiede
In zwei Fallen fand er den dritten Ton weuigstens nachtraglich
durch Fortsetzung seiner Singversuche, wtihrend ich den Accord
immer wieder angab, so in No. 4 und f). Aber im letzteren Fall
schien ihm doch der Ton «, nachdem cr ihn glucklich gesungen,
wieder zweifelhaft; ich musste seine Erkenutnis durch's Clavier be-
festigen, iudem ich zuerst A^, dann n^ isolirt angab; durch den
Gegensatz wurde ihm klar, dass ersteres nicht, wol aber letzteres
im Accord enthalten sei. Oberhaupt erkaunte er das Vorhanden-
sein eines Tones immer leicht, wenu zur Vergleichung auch ein
nicht im Accord enthaltener, aber dem wirklich vorhandeneu nahe-
liegender Ton abwcchselud mit diesem angegeben wurde.
Wie man schon an den angefiihrten Beispielen sieht, ging H.
meist von dem zuerst erfassten Ton in dcssen hoherc Octave (wo-
zu er ja auch bei Zwciklaugen neigte), dann zu eiuem dazwischen-
liegenden Dreiklangston. Er selbst fuhlte wol, dass er damit den
Tonvorrat noch nicht erschopft hatte. Es sei noch Etwas darin,
etwas Hineingemischtes, ein Medium, das die beiden anderen Tone
umfasse, das er aber nicht fiir sich herausbekomme. Einmal
wurde er doch auch zweifelhaft, ob nicht wirklich bios zwei Tone
vorlagen. Im zweiten der hier gegebenen Beispiele dem 7. der
Versuchsreihe) fiel ihm das Nachsingen selbst dann schwer, als
er durch das vorhin genannte Mittel vom Vorhandensein des g'^ sich
hatte uberzeugen lassen.
Unter den herausgehorten und nachgesungenen Tonen befand
sich in alien Fallen mit Ausnahrae eines einzigen (des ersten der
Reihe, eines .^- ?«<>//- Klanges in 3. Lage) die Tonica, einerlei
welche Stellung sie im Dreiklang einnahm. Diese war es auch.
welche mit Vorliebe doppelt (in der Octavenwiederholung) gesungen
wurde. In zwei Fallen wurde jedoch die Terz verdoppelt; sie sind
unter den hier angefiihrten als No. 1 und 5 enthalten.
Der Ton, welchen H. nur undeutlich wahrnahm und nicht
nachsingen konnte, das „Medium", war meistens der mittlere bei
der gewiihlten Dreiklangslage (vgl. oben Prof. G.), und dieser war
einmal Tonica (das einzigemal, wo diese nicht deutlich herausgehort
wurde), 2mal Terz (grosse und kleine), 4mal Quinte. Wahrschein-
lich war die Leiterstellung des beziiglichen Tones ohne Einfluss
im Analysiren und Heraushoreu. 369
und nur der Urastand massgebend, welcher Tou gerade in der
Mitte lag.
5. tJher die Analyse von Seiten wirklich rausikaliscli ver-
anlagter und durchgebildeter Personen bericbteu wir Naheres, wenn
von Intervall- und Accordurteilen die Rede sein wird, da ja init
einem solcben obnedies immer einc Analyse gegeben ist. Wir vver-
den seben. dass Solcbe nicbt nur die Zabl der Tone soudern audi
die Natur des Intervalls oder Accords mit grosser Sicberbeit au-
zugeben wissen, vorausgesetzt dass es sicb nicbt urn ganz un-
gebraucbliche Zusammenstellungen, um allzunabe zusammengedraugte
Tone, um die aussersten Tonlageu, um allzukurze oder zu schwacbe
Tone bandelt. Bei consonanten Vierklaugen kann es, wie erwalint,
vorkommen, dass sie als Dreiklange aufgefasst werdeu, indem eine
darin entbaltene Octave als Ein Ton gefasst wird. Sonst werden
aber consouante wie dissonante Vierklange aucb bei kurzem Au-
schlag unter obigen Voraussetzungen nocb leicht als Duraccord,
verminderter Septimenaccord u. s. f. erkannt; und wer absolute Ton-
hohen erkennt, weiss auch die einzelneu Tone des Accords ibrer
Hobe nacb zu benennen, ja sogar leicbter als wenn sie isolirt an-
gegeben werden (I 306).
Auffalleud sind bei dieser Classe fast mebr die Greuzen der
Leistungsfabigkeit , die negativen Falle. So begegnete es ciner
tiicbtigen Concertsangeriu doch, dass sie bei dem Accord No. 1 der
folgeuden Reibe die Zabl der Tone im ersten Augenblick als
„eine ganze Meuge" bezeicbnete; nacbber fand sie indessen das
Ricbtige. Den Cellisten Popper, desseu Leistungen in absoluter
Tonerkeuutnis wir I 305 f. bespracben ^), stellte icb in vorliegender
Sacbe durcb die ausgesucbt scbwierigen Fillle 2 — 6 auf die Probe.
8ia alta
1. 2. 3. 4. 5. 6.
|SipiipJi^«pipi
8l? bassa 81? bassa 12,
') In der Tabelle S. 310 muss es bei P. 14) statt 11 : 13 heisseii
10 : 13. Ich hatte einen Fall ubersehen, in welchem E fiir Es gehalten
wurde; wonach auch aut der folgenden Seite Z. 11 — 13 zu erganzen.
Stumpf, Tonpsvijhologio. II. 24
370
§ 24. Individuelle Unterschiede
7.
9.
"T-
ii^ii^
V}fz
^mm
H-
-^
:t=:
Jeder Accord wurde nur Ein Mai und kurz augegeben, Eine Mehr-
heit von Tonen nahm Popper immer wahr. Aber bei No. 2 konnte
er keinen Ton benennen, bei No. 3 nur das F. Dagegen wurden bei
4 und 5 alle Tone richtig benannt, bei 6 nur der tiefste nicht.
Ich selbst bestimmte bei der abscheulichen Zusammenstellung 7 alle
Tone richtig, den untersten jedocli nur mit Wabrscheinlichkeit. Bei
noch scheusslicheren Misbildungen, die zudem ganz kurz und mit
Anwendung der Verschiebung augegeben wurden, gelang es mir
wenigstens, den obersten Ton meist richtig zu benennen. Die Ton-
verbindungen 8 und 9, die auch eine Octave tiefer gelegt werden
konnen, sind als Musterbeispiele fiir ahnliche Versuche beigefugt,
denen sich freilich musikaliscbe Gemiiter nur ungern unterziehen
werden.
Bei gebrauchlicheren, wie auch immer grell dissonirenden, Ver-
bindungen ist auch eine grdssere Anzahl gleichzeitiger TQne noch
zu erkennen. Und auch bei den uugebrauchlichsten, die obigen
mit eingerechnet, andert sich die Sache, sobald sie im musikalischen
Zusammenhang vorkommen. Man ist dann durch das Vorausgehende
zusammen mit den aus der Erfahrung bekannten Moglichkeiten der
Stimmbewegung auf das Neue vorbereitet oder erwartet es geradezu.
Aber diese Einflusse haben wir erst spater zu verfolgen.
6. Ich habe endlich auch Kinder auf ihre Fahigkeit zu
gleichzeitiger Tonunterscheidung gepruft, um ein Bild von den An-
fangen dieses Vermdgens zu bekommen. Hiebei kam es mir auf
solche an, die noch keinen oder nur soviel Clavierunterricht ge-
nossen batten, urn zu wissen, dass mehrere Tasten zusammen anders
kliugen als eine allein, um also die Frage zu versteheu. Notigen-
falls liess sich dies ihnen kurz vorher beibringen.
a) Besonders untersuchte ich hiertiber an meinem Sohne Rudolf.
Derselbe hatte friiher wol Zeicben eines musikalischen Gehors, doch
im Analysiren und Heraushoren. 371
keine Beweise hervorragender Musikanlageu gegeben (vgl. I 293).
Nachdem er nun wahrend des Sommers 1886 in einem Kinder-
garten eifrig Lieder mitgesungen und fast taglich ein neues mit
nach Hause gebracht hatte, das er rait reiner Intonation zu singen
wusste, legte ich ihm im December desselben Jahres, als er 5 ^j^ Jahre
alt war, auf dem Clavier in mittlerer Tonlage eine Anzahl von
Octaven, Quinten und grossen Terzen (durclieinander) vor, am letzten
Versucbstag auch grosse Secunden. Die Versuche konnten jedes-
mal nur kurz dauern, da er der Sache iiberdrussig wurde. Die
Antworten waren merkwiirdig genug. Er behauptete namlich, je
nach den Fallen bis zu 5 Tone zu horen. Die Funfzahl wird ihm
dabei als solche kaum anschaulich vorgeschwebt haben, aber er
hatte eben den Eindruck einer grosseren Menge als in den Fallen.
wo er nur 2 oder 3 angab. Bei Octaven sagte er fast ausnahms-
los: Ein Ton, bei Quinten ofter 1 als 2, bei Terzen meistens iiber
2, ebenso bei Secunden. Naher wurden angegebeu
. . r.^ -r^ „ , f bei der Octave in Summa 21 Tone
m le 20 Fallen, also
. .^ a. ^ V ., Quinte „ 32 „
statt je 40 Tonen \ ' ^ "
I „ „ Terz „ 50 „
Bei der Secunde hatte ich nur 5 Falle, die zusammen 14 Tone er-
geben, was auf 20 Falle 56 ergeben wurde. Mogen wir diese mit-
vergleichen oder nicht, so sehen wir, dass hier die Zahl der an-
geblich gehorten Tone mit abnehmender Verschmelzung
zunimmt. Es stimmt dies auch recht wol mit dem Wesen der
Verschmelzung: je geringer sie ist, um so mehr entfernt sich der
Eindruck von dem der Einheit. Der Knabe druckte dies dadurch
aus, dass er hohere Zahlen wahlte. Freilich konnte man auch
folgern: „Je geringer die Verschmelzung, um so deutlicher miissen
die zwei Tone als zwei erkannt werden." Aber soweit reichte
das Auffassungsvermogen noch nicht, um die genaue Zahl zu er-
kennen. Nur eine Mehrheit uberhaupt wurde bemerkt, und je mehr
sie als solche merklich war, um so grosser schieu sie zu sein.
Die richtige Unterscheidung einer Mehrheit von einer anderen ist
bereits eine hohere Leistung als das Wahrnehmen einer Mehrheit
uberhaupt.
24*
372 ^ ^'^- Individuelle Unterschiede
Was wir vorhin von der Concertsangeriu sagten und weiterhin
von Kindern berichten werden, stimmt mit diesem Verhalten meines
Knaben uberein. Es liegt hier ein allgemeiuerer Zug der Auf-
fassung vor ^).
Vielleicht wird Einer sagen: „Man hSrt wirklich um so raehr
Tone, je weniger consonant ein Intervall ist. Denu um so grosser
ist die Zahl der Differenztone (o. 246), und zugleich fallen immer
weniger und immer schwachere (weil hohere) Obertone zusaramen,
sodass immer mehr und starkere von einander verschiedene Obertone
im Zusammenklang enthalten sind. Kinder sagen also auch hier
die Wahrheit."
Aber man kanu eine Mehrheit nicht bios nicht zahlen sondern
auch nicht als Mehrheit wahrnehmen, wenn man nicht die Glieder
wahrnimmt. Und dass das Kind die Beitdne als solche wahr-
') Ich will hier eiaer anscheinend analogen optischen Erfahrung
gedenken, welche ich mache, wenn ich bei Schliessung eines Auges mit
dem anderen eine Zirkelspitze fixire, wiihrend die zweite Spitze bei
grosserer oder geringerer Oifnung des Zirkels indirect gesehen wird.
Ich glaube dann die letztere mehrfach zu sehen. Der Eindruck ist ahn-
lich dem der zweiaugigen Doppelbilder, nur dass die Zahl der Bilder
weniger bestimmt ist und sie unmittelbar neben einander zu liegen
scheinen. In den mir bekannten Untersuchungen iiber indirectes Sehen
ist stets nur darauf Gewicht gelegt, dass zwei Puncte um so schwerer
unterscheidbar werden, je weiter ihr Bild nach aussen riickt, wahrend
das Mehrfachsehen Eines Punctes im normalen (nicht misbildeten) Auge
nicht erwahnt wird. Die eigentiimliche, so schwer zu beschreibende Un-
deutlichkeit des indirect Gesehenen (vgl. Brucke, Sitz.-Ber. der Wiener
Akad., Bd. 80, III. Abt. 1879) durfte damit zusammenhangen. Ob sie aber
die Ursache des Mehrfachsehens ist oder vielmehr eine Wirkung, wage
ich nicht zu entscheiden. Im ersten Fall ware das Mehrfachsehen als
Tauschung, auch subjectiv, zu erklareii. im zweiten dagegen wurde die
Undeutlichkeit gerade wesentlich auf dem wirklichen Vorhandensein der
mehrfachen Bilder beruhen. Und hiefiir wurde sich eine Erklarung aus
der 0. 341 erwahnten Hypothese Fleischl's ergeben, aus der die Er-
scheinung sogar notwendig und unmittelbar foigt.
Auffallend ist auch, dass der indirect gesehene Schenkel des Zir-
kels ganz erheblich grosser scheint, als der fixirte; was besonders bei
allmaliger Annaherung des nichtfixirten bis zum Zusammenfallen mit
dem fixirten hervortritt.
im Analysiren und Heraushoren. 373
genommen hatte, deutlich oder undeutlich, kounen wir doch nicht
voraussetzen. Auch widersprechen der Erklarung die Urteile uber
Dreiklange u. 376, 380, in denen doch noch viel mehr Beitone
und iiberdies auch mehr Haupttone enthalten waren.
Seltsames ergab sich aber beim Nachsingen, wozu ich den
Kleinen am dritten Tage vermochte. Er sang namlich immer bios
Einen der beideu Tone, auch wenn er behauptet hatte, zwei oder
mehr zu horen. Darauf angeredet meinte er: „Ich singe ja zwei,
hier an der Zunge und dann im Halse." Er hatte namlich den
Ton auf das Wort „Klang" gesungen, auf welches er von selbst
verfallen war (sicherlich ohne an seine Bedeutung zu denkeu); wo-
bei das „K1" mit der Zunge, der iibrige Teil welter hinten ge-
bildet wird. Gelegentlich driickte er die Zweiheit auch durch Bil-
I I
dungen, wie * ^ aus, wobei er auf der zweiten Silbe den
Klang - an
namlichen Ton wiederholte; ebenso die Dreiheit (bei einer Secunde,
die er fttr drei Tone erklart hatte) durch Lang - Lang - Lang. Wenn
ich dagegen das namliche Intervall unmittelbar nachher noch ein-
raal angab und wiederum die Tone gesungen wiinschte, so kam es
vor, dass er nun den anderen der beiden Tone sang. tTberhaupt
war es bald der tiefere, bald der hohere, den er nachsang, ohne
dass irgend eine Kegel dariiber aus den Aufzeichnungen ersicht-
lich ware; aber ausnahmslos war es einer von den beiden wirklich
vorhandeueu.
In vielen Fallen bediente er sich jedoch einer Art von Vor-
schlag oder auch eines eigentiimlichen leisen Hinauf- und Hinunter-
ziehens der Stimme, bevor er den intendirten Ton festnahm, und
zwar regelmassig von der Seite des anderen Tones her; wie bei
1, wo die ganzen Noten das aufgegebene Intervall, die Viertelnote
den nachgesungenen Ton darstellt.
1. 2. 3.
— H-
Mehrmals tiel der Vorschlag mit dem anderen Ton selbst zusammen,
wie bei 2 (wo er auch einen merklichen Nebenaccent erhielt).
374 § 24. Individuelle Unterschiede
andereraale lag er nur in der Richtung des zweiten Tons und ging
dann meist stetig in den mit fester Tonhohe gesungenen iiber. Den
Eindruck der grossen Secunde, die er nebenbei wiederholt un-
gefragt fiir einen „hubscheu Ton" erklarte, gab er einmal durch
ein ofteres Abwechsein der beiden Tone wieder (Beisp. 3).
Man kann daher nicht aus den Ergebnissen der Singpriifung
schliessen, dass er wirklich bios Einen Ton horte und die grosseren
Zahlen, die er nannte, etwa irgend einem tauschenden Zufall ent-
sprungeu waren. Dem wiirden die letzterwahuten Beobachtungen
widersprechen. Ebeusowenig aber, dass er ein blosses Nacheinander
von Tonen, einen Wettstreit, horte. Obschon die letzten Tatsachen
fiir sich allein dahin gedeutet werden konnten, wiirde wieder die
erste und seltsamste widersprechen: dass er die wahrgenommene
Tonmehrheit durch Wiederholung eines und desselben Tones
ausdriickte. Wenn in seiner Empfindung die Tone wahrend des
objectiven Klanges abwecbselten, so ware am wenigsteu begreiflich,
warum er diesen Hohenwechsel nicht leicht hatte uachahmen kdnnen.
Wenn er dagegen eine gleichzeitige qualitative Tonmehrheit wahr-
nahm, so lasst sich immerhin denken, dass er, da man doch nicht
zugleich zwei verschiedene Tone singen kann, das Auskunftsmittel
ergriif, einen Ton zweimal zu singen. Deutlicher hatte er freilich
beide Tone abwechselnd gesungen; das tat er ja aber auch ofters
in der obigen, mehr oder weniger genauen Form. Nicht ganz un-
moglich scheint es, dass auch die Gewohnheit mitwirkte, successive
zu zahlen und dabei von der Verschiedenheit des Gezahlten abzu-
sehen. Doch lege ich diesem Erklarungsgrund wenig Gewicht bei,
da ich die Frage in diesen Fallen ausdrticklich darauf gerichtet
hatte, was fiir Tone er horte.
Anderthalb Jahre spater fiel es mir auf, das derselbe Knabe
ein femes Trompetenduett (in Terzen, Quinten, Sexten sich be-
wegend) einer einzigen Trompete zuschrieb und sich formlich er-
eiferte, als ich dies bestritt, da es ihm durch das unmittelbare
Zeugnis seines Ohres festzustehen schieu. Hier nahm er also den
Zweiklang nicht als zwei oder mehr Tone. Da sich, wie wir sogleich
sehen werden, seine Auffassung isolirter Zusammenklange inzwischen
nicht so wesentlich geandert hatte, kann ich mir nur denken, dass
im Analysiren iiud Heraushbren 375
die Aufmerksamkeit hier ganz (lurch die Verfolgung der Melodie
(bekannter Volkslieder) in Anspruch gcnommen war. Wahrschein-
lich wurde aber ein einziges dissonantes Intervall ihn auf die Mehr-
heit der gleichzeitigen Tone hingelenkt haben.
Als der Knabe 7^/^ Jahre geworden und funf Wochen Clavier-
unterricht gehabt hatte (vvobei ihm das Zweihandigspielen, die
gleichzeitige Erzeugung zweier verschiedener Tonphrascu, grosse
Schwierigkeit maclite), priifte ich ihn wieder und legte ihm nun
ausser Octaven, Quinten und grossen Terzen auch noch den Tritouus
und die grosse Secunde vor, wiederum in der Mittelregiou (der
cingestrichenen Octave). Die Versuche wurden in funf kurzen Ab-
teilungen an verschiedenen Tagen wahrend einer langeren Periode
gemacht, um der Unlust und Ermudung vorzubeugen, und lieferteu
fiir jedes Intervall im Ganzen 16 Falle. Jetzt wurde die Octave
in den meisten Fallen fiir 2 Tone erklart, seltener (7 mal) fur 1 Ton ;
die Quinte nur ein einzigesmal fiir 1, meist fiir 2, 2 mal fur 3; die
grosse Terz bald fiir 2, bald fiir 3, Imal auch fur 4; ebenso der
Tritonus; wahrend bei der grossen Secunde auch sogar Imal auf 5
und nur selten auf bios 2 geraten wurde. Ich ziehe hier wieder
die Summe aller angeblich gehorteu Tone fiir jedes Intervall. Es
ergeben sich:
bei der Octave in Summa 25 Tone
, „ Quinte „ 31 „
„ „ Terz „ 41 „
je 32 Tonen I beim Tritonus „ 43 „
I bei der Secunde „ 49 „
Ganz dieselbe Zahlenordnung war auch schou innerhalb jeder der
fiinf kleinen Versuchsreihen aufgetreten, nur dass der Tritonus ge-
legentlich ein oder zwei Einheiten weniger als die Terz hatte.
Man sieht also, dass zwar Octave und Quinte jetzt leichter fiir
zwei Tone erkannt wurden als friiher, dass aber die Reihenfolge:
Octave, Quinte, Terz in Hinsicht der Gesammtzahl der angeblich
gehorten Tone dieselbe geblieben ist. Es entspricht nicht minder
dem zu Erwartenden, dass Tritonus und Secunde in der Reihen-
folge nach den genannten auftreten. Allein der Unterschied zwischen
Tritonus und Terz ist gering und kehrt sich, wie erwahnt, in den
in je 16 Fallen,
also statt
376 § 24. Individuelle Unterschiede
einzelnen Versuchsabteilungen aiich gelegentlich um; und was die
Secunde betriift, so diirften hier doch die Schwebungen auf das
Urteil mit eingewirkt haben. zumal da ich die Tone auf Wunsch
lange andauern lassen musste. Ich glaube daher, dass ohne die
Schwebungen die Zahlen ftir Terz, Triton und Secunde annahernd
gleich ausgefallen waren, dass der Unterschied des Verschmelzungs-
grades zwischen der Terz und den beiden Dissonanzen hier nicht
mehr ausschlaggebend genug war, wie er ja in der Tat geringer
ist als zwischen den starker verschmelzenden Intervallen.
Zum Nachsingen der gehorten Tone war der Knabe jetzt nicht
mehr zu bewegen. Es sei zu schwer, antwortete er jedesmal. Nur
Einmal entschloss er sich und sang den hoheren Ton einer Quinte
richtig; den anderen erklarte er nicht singen zu konnen. Jeden
einzeln angegebenen Ton sang er mit Leichtigkeit nach. Auch
wurden die Tone, wenn ich sie zuerst vereinigt, dann einzeln vor-
legte und fragte, ob diese darin seien, als darin befindlich an-
erkannt. Die Schwierigkeit, iiber welche das Kind diesmal nicht
hinwegkam, kann ich mir nur dadurch erklaren, dass ihm das
Eigenartige, Neue in dem Eindruck der gleichzeitigen Tone vor-
schwebte, welches man ja in der Tat nicht durch Singen nach-
bilden kann, da es integrirend an die Gleichzeitigkeit gekniipft ist.
Ich versuchte diesraal auch Dreiklange. Unter je 10 Fallen
wurde der Durdreiklang 5mal fiir 2, 5mal fiir 3 Tone erklart,
Moll abwechselnd fiir 2, 3 und 4; ebenso der dissonante Zusammen-
klang e'^d^f^ (oder auch c^es^f^\ auch die absolute Tonhdhe wech-
selte, wie immer, innerhalb der mittleren Octave). Der verminderte
Dreiklang {c^ es^ ges^) wurde einmal auch fiir 5 Tone gehalten.
Folgende Tabelle gibt die Ubersicht und die daraus resultirende
Sumrae der angeblich gehorten Tone:
Dur
Moll
cdf
vermindert
5.2
3.2
4.2
—
5.3
4.3
2.3
6.3
—
3.4
4.4
3.4
—
—
— ^
1.5
25
30
30
35 (anstatt je 30),
im Analysiren nnd Heraush^ren. 377
Doch tritt bei Beriicksichtigung nachtraglicher Selbstcorrecturen.
eine kleine Verschiebung des Moll gegen Dur bin ein und werden
die Summen = 25, 29, 31, 35; ferner, wenn ich die letzte Ver-
suchscolurane wegen sichtlicber Ermudung streicbe, = 22, 27, 29, 32.
Die Zablen sind nicht gross genug, urn Schlusse oder Erklaruugen
darauf zu bauen; doch tritt der Vorrang d. b. die grossere scbein-
bare Einbeitlichkeit des Dur- und der Gegensatz des verminderteu
Dreiklangs dazu iiberall stark hervor. Dur verhielt sich analog
der Octave, der verminderte Dreiklang analog den dissonanten
Intervallen.
Zuletzt untersuchte ich Rudolf ein Jahr spater, mit 8^/4 Jahren.
Der Clavierunterricht war bald nach den ersten Anfangen aus ver-
schiedenen Griinden unterbrochen und erst seit zwei Wochen wieder
aufgenommen worden. Es hatte iiberhaupt so gut wie keine rausi-
kaliscbe tlbung in der Zwischenzeit stattgefunden. Ich erhielt in
vier Versuchsreihen zu je vier Fallen fiir jedes Intervall, also bei
je 32 Tonen, folgende Suramenwerte:
Octave
Quinte
Gr. Terz
Tritonus
Gr. Secunde
26
33
34
43
51
Also fast dieselben Zahlen wie vor einem Jahre; nur ftir die Terz
eine bedeutend geringere. Terzen wurden jetzt ebenso wie Quinten
fast regelmassig (in der letzten Reihe, die nur durch eine kurze
Pause von der vorigen geschieden war, ausnahmslos) rich tig als
2 Tone erkannt. Die Tone consonanter Intervalle wurden jetzt auch
meist rich tig nachgesungen (der hohere zuerst), mindestens aber
einer derselben (statt des tieferen zuweilen ein dazwischen liegender
harmonischer Ton, die Dominante bei der Octave, die Mediante bei
der Quinte). Moll- und Durdreiklang wurden richtig als 3 Tone
bestimmt. Auch waren die Schwankungen bei einem und demsolben
Intervall geringer und wurde niemals mehr auf 5 Tone geraten.
b) Ein anderer Knabe, Hans G., war mir besonders von In-
teresse als ein von friihester Zeit an auffallend musikalisches Kind,
wahrend der Vater (0. 3.) unmusikalisch und die Mutter nicht eben
mit Betonung musikalisch zu nennen ist. Eine Urgrossmutter soil
sehr musikalisch gewesen sein. Hans konnte, wie ich mich iiber-
378 § "24. Individuelle Unterschiede
zeugt habe, bereits im zweiten Lebensjahre, mit etwa 1'^ Jahren
Melodien nachsingen. suchte spater am Clavier Octaveii und Ter-
zen, und freute sich, langere Parallelen mit jedem dieser Inter-
valle auszufiihren. Als ich ihn im Alter von 5 Jahren und
wenigen Wochen fur obige Zwecke einer Prufung unterzog, sang
er selbstverstiiudlich isolirte Tone jedesmal richtig nach, konnte
aber auch, was viele angeblich Musikalische unter den Erwachsenen
nicht vermogen, die zweite Stimme zu bekannten Melodien in musi-
kalisch fast correcter Weise singen, indem er zumeist Terzen der
betreffenden Tonart anwandte, bei Schlusswendungeu hingegen, wenn
die Melodie sich zur Tonica senkte, durch die Dominante zur Me-
diante herabstieg, oder auch auf der Dominante blieb. Uber die ge-
ringere Annehmlichkeit des Moll- gegeniiber dem Durdreiklang war
er keinen Augenblick im Zweifel, einerlei welcher von beiden zu-
erst angegeben wurde. Der grosse Septimenaccord wie der kleine
schienen ihm weniger schon als Dur, aber schoner als Moll; was
zwar gegen die Vorschrift, aber nicht ohne Analogien bei Solchen
ist, die der hoheren Musikbildung entbehren.
Von Zahlen hatte das Kind noch keine ganz genaue Vor-
stellung, doch wusste es auf die Frage, welche von zwei genannten
unter den sechs ersten Zahlen die grossere, befriedigend zu ant-
worten, ebenso auch vorgehaltene Finger bis zu fiinf richtig zu
zahlen. Doch handelt es sich in unsrem Falle ja sicherlich nicht
um ein wirkliches Zahlen und sind die angegebenen Zahlen nur im
Allgemeinen als Ausdrucke einer hoheren oder geringeren Mengen-
schatzung anzusehen. Die Tone der Intervalle gehdrten alle der
eingestrichenen Octave oder ihrer unmittelbaren Nachbarschaft an.
Die zwei Reihen, durch 2^/2 Monate getrennt, gaben bei je acht
Versuchen fiir jedes Intervall die Summenwerte:
Octave Quinte Gr. Terz Tritonus Gr. Secuude anstatt
I. Reihe 8 19 19 30 42 je 16
II. Reihe 8 18 21 18 19 je 16
16 37 40 48 61 je 32
Innerhalb der einzelnen Intervalle linden sich verhaltnismassig
wenige Schwankungen in den Zahlen. Die Octave ist unfehlbar
im Analysiren und Heraushoren. 379
als 1 Ton bezeichnet, die Quinte 2mal (I. Reihe) als 1, 8mal
(hauptsachlich gegen Ende von II.) als 2, 5mal als 3, Imal (I.)
als 4. Die grosse Terz bald als 3 bald als 2. Der Tritonus 2mal
als 6 (I.), 2mal als 4 (1.), sonst als 3 oder 2. Die Secunde 5mal
als 6 (I.), 3mal als 4 (I.), sonst als 3 oder 2.
Die Ahnlichkeit dieser Ergebnisse mit den unter a) beschrie-
beuen ist uicht zu verkennen. Dass die Summenwerte von den
wahreu Werten mehr abweichen als bei dem fast Achtjahrigen, ist
naturlich. Doch gilt auch dies nur von der I. Reihe, wahrend in
der II. alle lutervalle ausser der Octave aunahernd richtig be-
urteilt werden, was namentlich den beiden Dissonanzen zu Gate
kommt.
Bei II. wurde der Knabe auch zum Nachsingen der Tone ver-
anlasst, und sang dann entweder einen oder zwei, niemals mehr,
obgleich er auf den Widerspruch mit seinen Zahlenangaben auf-
merksam gemacht wurde. Er konnte sich ebeu auf rausikalischem
Wege besser iiber das Gehorte Rechenschaft geben als auf begriff-
lichem und sprachlichem. Das Ohr liess sich in seinen Befehlen
an den Kehlkopf nicht durch den Zahleneindruck irre machen.
Vielmehr trug dieses Verfahren in II. offenbar zur Verbesserung
des Zahlenurteils selbst bei, sodass gegen Ende der Reihe fast nur
richtige Urteile („2 Tone") abgegeben wurden.
Die Tone, welche Hans so angab, waren allemal wirklich in
dem Intervall enthalten. Einen Ton allein sang er in den meisten
Fallen der Octave, und zwar bald den hoheren bald den tieferen,
ohne bestimmte Regel. Doch sang er mehrmals auch bei der Oc-
tave im Widerspruch rait der hier stets gleichbleibenden Zahlen-
angabe beide Tone, den hoheren zuerst. Bei den iibrigen Inter-
vallen sang er iramer beide, und zwar ebenfalls durchweg den
hoheren zuerst. Bei der Secunde suchte er die Schwebungen ahu-
lich wie Rudolf auf irgend eine Weise nachzuahraen; z. B. sang er
die beiden Tone mehrmals miteinander abwechselnd, oder er sang
hauptsachlich einen, diesen aber eigentiimlich kollernd oder trerao-
lirend, oder er gab der Stirame einen ordentlichen Stoss und
schiittelte sich zugleich mit dem Korper. Einmal als zwei tiefere
Tone {bc^) gegeben waren, bruramte er nachtraglich Etwas sozusageu
380 § 24. Individuelle Unterschiede
in den Bart. Auch beim Tritonus gab er einmal dem tieferen Ton
einen koraischeu Accent: # « # J
> >
Ich legte zuletzt 4 Dur- und 4 Molldreiklange [1. Lage) mit
derselben Fragestellung vor. Sie warden immer f(ir zwei Tone er-
klart und auch beim Nachsingen nur zwei gesungen. Der aus-
fallende Ton war fast immer die Mediante. (Vgl. 3. und 4.)
c) Elisabeth W., ein 8V4Jahriges Madcheu von ausserordent-
lichen Gehorsgaben, welches die Fahigkeit besitzt, isolirte Clavier-
tone nach ihrer absoluten Hohe zu benennen (s. die Nachtrage zu
Bd. I am Schlusse des gegenwartigen Bandes), ersuchte ich, die in
folgenden Zusammenklangen enthaltenen Tone anzugeben.
1. 2. 3. 4. 5.
^^m^^^m
Bei 1 sagte sie; /, b, n. Bei 2: gis, f. Bei 3: ^, A, d. Bei 4:
/, i, h. Auf die Frage nach dem vierten Ton antwortete sie, es
seien nur drei. Als sie aber veranlasst wurde, die Tone des Accords
zu singen, kam sie auch auf den vierten, g. Bei 5 vermochte sie
die Tdne nicht zu nennen; wahrend sie, als der tiefste und der
hochste isolirt angeschlagen wurden, sie sofort als a und h erkannte.
Es mag hier die allgemeine Schwierigkeit der Analyse noch durch
Ermiidung verstarkt worden sein, da die Versuche gegen Ende
einer langen Versuchsreihe stattfanden. Im tibrigen ist aus den
Beispielen orsichtlich, wie die Tone der gebrauchlicheren Accorde
(3 und 4) sicherer erkannt wurden. Die Anzahl der Tone ist aber
auch bei 1 und 2 richtig erkannt, und die Fehler beziiglich der
absoluten Hohe sind nicht gross. (Ich verlangte nicht die Octaven-
bezeichnung, eingestrichen u. s. f., sondern nur die Buchstaben-
bezeichnung).
d) Endlich habe ich noch fiinf Knaben zwischen 5 und 1 1 Jahren
(darunter meinen eben funfjahrigen Sohn Felix) einzeln gepriift,
welche fast alle bisher spontan nicht das geringste Zeichen musi-
kalischer Anlage gegeben batten und auch von musikalischer Cultur
irn Analysiren and Heraushoren. 381
uubeleckt gebliebeu waren. Nur der T^/gjahrige Herbert C. schieu
nicht ohne musikalisches Talent und hatte mit meinem Sohne Ru-
dolf zusammen einige Clavierlectionen genossen, wobei er raschere
Fortschritte machte als dieser. Doch ergab die Frage, welcher
von zwei Tonen der hohere, fiir kleine Secunden mittlerer Lage
unter 20 Fallen 10 falsche Urteile (bei Rudolf ausschliesslich ricli-
tige). Auch die iibrigen vier Kinder begaunen erst bei kleineii
Terzen in dieser Hinsicht sicher zu werden. Einen einzelnen Ton
nachzusingen waren sie alle im Stande.
In solchen Fallen muss man nun bei der Priifung der Ana-
lysirungsfahigkeit dem Kinde zuerst am Clavier den Sinn der Frage
begreiflich machen, da es nie auf den Unterschied des Ein- und
Mehrklanges gemerkt hat. Felix erging sich, ehe dies geschah, in
hyperbolischen Behauptungen, indem er Zahlen wie 15, 18 nanute.
Nachher ermassigte er sie und hielt sich zwischen 5 und 1, wie
die 0brigen. Die Zahlen jener ersten Versuche sind natiir-
lich bei Seite gelassen. Ebenso eine Reihe, bei welcher das
Kind allem Anschein nach zerstreut war. Ich lernte hiebei, dass
die beste Tageszeit in solchen Fallen der friihe Vormittag ist.
Ferner empfiehlt sich, eine Versuchsreihe bei Kindern nicht uber
20 Falle (hier also 4 fiir jedes der 5 Intervalle) auszudehnen,
wie ich dies sowol hier als auch schon bei den Versuchen mit Ru-
dolf und Hans gehalten habe.
Die Ergebnissc an den einzelneu Kindern waren hier nicht
iiberall so klar wie bei diesen beiden. Dennoch stellt sich, Alles
zusammengenommen, wieder dieselbe Ordnung der Intervalle und
sogar ahnliche Verhaltnisse unter den Zahlen heraus. Es ergaben
sich bei je 40 Versuchen mit jedem Intervall, also statt eines je-
weiligen Summenwertes 80 die Werte:
Octave
Qiiinte
Gr. Terz
Tritonus
Gr. Secunde
76
84
99
103
117
Felix allein, welcher die Halfte der Falle lieferte, ergab die
Werte 35, 44, 47, 52, 61 (in derselben Folge der Intervalle)
statt je 40. Diese Regelmassigkeiten sind immerhin auffalleud
genug.
382 § 24. Individuelle Unterschiede.
Beobachtungen von der Art, wie sie hier an verschie-
clenen Individuen in verschiedenen Lebensaltern angestellt
sind, um die Haupttypen des Auffassungsvermogeus gegeniiber
Zusammenklangen zu erforschen, waren nun noch zu erganzen
durch eine Darstelluiig der fortschreitenden Gehorsentwicke-
lung und speciell der Anderungen in der Auffassung der
Zusammenklange von Seite eines einzelnen musikalisch be-
gabten und daher entwickelungsfahigen ludividuums von den
ersten Anfangen bis zur hochsten ihm erreicbbaren Stufe. Sei
dies also psychologischen Vatern musikalischer Kinder em-
pfohlen, ,
Priifungen von Kindern nach demselben Fragenregister,
wie ich es hier und bei den unmusikalischen Erwachsenen o.
157 anwandte, haben iibrigens auch eine recht praktische Seite.
Sie bieten einen viel einfacberen und kiirzeren Weg, um die
Frage nach der musikalischen Begabung eines Kindes zu ent-
scheiden, als das iibliche Verfahren, das Kind jahrelang im
Clavierspiel unterrichten zu lassen und dann das positive oder
negative Endergebnis zu beobachten. Ich will die Mdglich-
keit nicht in Abrede stellen, dass ein Individuum, welches
mit 8 Jahren uugewohnlich mangelhafte Gehorsurteile liefert,
spater nicht bios ein besseres, sondern ein gutes Gehor er-
langen und in die Reihe der entschieden Musikalischen iiber-
gehen konne. Aber eine derartige Umwandlung, wenn sie vor-
kommt, ist sicherlich eine Seltenheit, und jedenfalls geben
Versuche wie die obigen auf jedem Stadium des Weges in
einer Viertelstunde die deutlichsten Aufschliisse iiber den augen-
blicklichen Stand.
Aber nicht bios als Mittel der Priifung, sondern auch als
Hebel der musikalischen Bildung selbst halte ich solche Ver-
suche (unter entsprechenden Modificationen in der Anstellungs-
weise) fUr wichtig, indera sie die vorherrschende Fingererziehung
unsrer clavierspielenden Jugend durch Gehorserziehung erganzen
konnen. In dieser Hinsicht muss dann aber auch das obige
Fragenregister noch durch Fragen iiber Intervalle (Benennung
derselben u. s. f.) erweitert wcrden.
§ 25. Qualitatsurteile. 383
§ 25. Qualitatsurteile iiber einen zusammengesetzten
Klang und seine Teile.
Bisher beschaftigte uns hinsichtlich gleichzeitiger Tone fast
nur das Problem der Analyse. Urteile anderer Art kamen
wesentlicli nur insofern in Betracht als sie die vollzogene Ana-
lyse bestatigen. Jetzt fassen wir die Urteile in's Auge, welche
die Qualitat oder Hohe einer gleichzeitigen Tonmehrheit be-
treffen, sei sie eine analysirte oder nicht. Bei aufeinanderfol-
genden Tonen bildeten ja solche Urteile iiber Hohe und Hohen-
verhaltnisse sogar den Hauptgegenstand der Untersuchung. Nach
diesen kommen, wie bei aufeinanderfolgenden Tonen, Intensitats-
urteile zur Besprechung.
BezUglich der Qualitat eines zusammengesetzten Klanges
fragt es sich beispielsweise, welche Hohe er uns zu besitzen
scheint, wenn er nicht analysirt wird. Ferner ob nicht auch
einem analysirten Klange als Ganzem eine gewisse Hohe in der
Auffassung zugeschrieben wird, obgleich jeder einfache darin
enthaltene Ton seine eigene Hohe besitzt. Ferner, wenn wir
die Hohe der Teile selbst beurteilen sollen, fragt es sich, ob
uns die Hohe eines objectiv gleichbleibenden Tones durch das
Mitklingen eines anderen verandert erscheint. Sodann sind
Distanzurteile heranzuziehen: ob z. B, die qualitative Distanz
gleichzeitiger Tone grosser oder kleiner erscheint gegeniiber der
Distanz derselben objectiven Tone, wenn sie aufeinanderfolgen.
I. Urteile iiber analysirte Klange.
1. Hohe des Ganzen.
Seite 64 f. wurde hervorgehoben , dass gleichzeitige Tone,
wenn sie als Mehrheit erkannt werden, uns doch nicht als eine
blosse Summe, sondern als ein Ganzes von Tonen erscheinen.
Hiemit hangt es nun zusammen, dass auch eine Neigung be-
steht, diesem Ganzen als solchem eine Tonhohe zuzuschreiben,
wahrend doch genau genommen nur von einer Hohe jedes ein-
zelnen einfachen Tones gesprochen werden kann. Wir sagen
384 § 25. Qualitatsurteile liber einen zusammengesetzten Klang
nicht bios, dass ein Zusammenklang in der hohen oder tiefen
Region liege, in dem Sinne, dass jeder Teil desselben dieser
Region angehort, sondern wir schi'eiben auch innerlialb dieses
durch einen analysirten Zusammenklang umschriebenen engeren
Bezirkes demselben als Ganzem in gewissen Fallen die Ho he
eines seiner Teile zu. Dergleichen Inconsequenzen — Zu-
gleichbestehen einer richtigen und einer falschen Auffassung
oder auch zweier einander widersprechender falschen Auffass-
ungen einer und derselben Erscheinung — finden sich auch
sonst in unsren Sinneswahrnehmungen gelegentlich ^) und ver-
dienen genauere Betrachtung.
a) In einem ruhenden Zusammenklang scheint das
Ganze die Hohe des tiefsten Tones zu habeu, auch
wenn dieser nicht zugleich der starkste ist.
Nehmen wir zuerst Verbindungen zweier Tone.
Hier ist diese Neigung am auffallendsten bei der Octave.
Wenn man die Gabeln c und c^ an beide Ohren verteilt, wo-
bei sie leicht analysirt werden, und nun plotzlich die tiefere
entfernt, so springt der Klang in die Octave iiber. Entfernen
wir dagegen die hohere. so bleibt die scheinbare Tonhohe des
Ganzen bestehen. Ebenso bei anderen Tonquellen, wie Zungen-
oder Flotenpfeifen, und ohne Verteilung an beide Ohren. Doch
scheint mir der Versuch in obiger Weise am schlagendsten.
Es entsteht, um mich bildlich auszudriicken, beim Wegfall
des tieferen Tones ein ahnlicher Eindruck als wenn man in ein
hoheres Stockwerk versetzt wiirde, wahrend man beim Wegfall
des hoheren auf dem alten Standpunct verharrt.
Weniger bildlich werden wir sagen, dass ein Zweiklang als
Ganzes die scheinbare Hohe (Qualitat) des tieferen wahrgenom-
menen Teiles besitzt, auch wenn der hohere Ton zugleich be-
stimmt in seiner eigenen Hohe wahrgenommen wird.
^) Fleischl driickt dies so aus: „dass die Grundsatze der Logik
nur Geltung haben fiir die Gedanken und Vorstellungen aber nicht fiir die
unmittelbaren Empiindungen" (ich wiirde sagen Wahrnehmungen). Wiener
Ak. Sitz.-Ber. Bd. 86 III (1882), S. 25. Vgl. S. Exnee, Biolog. Centralbl.
VIII 442.
and seine Telle. 385
Man kann sich uberzeugen, dass nicht etwa die grossere
Intensitat des tieferen Tons die Schuld tragt. Man kann z. B.
eine C- und eiue c-Gabel anschlagen und ihre relative Eutfer-
nung vou den Ohren verandern, wodurcb jedes beliebigo Starke-
verhaltnis erzeugt wird; oder sie in Stativen befestigen, mit
dem Bogen anstreichen, den Kopf dazwiscben balten und nun
das rechte oder linke Stativ beliebig verscbieben. Immer wird
C als eigentlicber Trager der Tonbobe, c nur als eine Art von
Modification aufgefasst, solange C iiberbaupt unterscbeidbar ist.
Ebenso wenn man bei der S. 356 bescbriebenen "Versucbsanord-
nung fiir c und c^ die tiefere Gabel aus der Feme allmalig
naber bringt: von demselben Moment an, wo c iiberbaupt in der
Wabrnebmung auftaucbt, ist es aucb scbon Trager der Tonbobe.
Der Versucb kann aucb so verandert werden. Man ver-
gleicbe die Verbindung Cc (Gabeln) mit dem einzelnen c, dann
die Verbindung cc'^ ebenfalls mit c. Welcber Unterscbied ist
grosser? Man wird antworten: der erstere^). Hier liegt ein
Distanzurteil eigener Art vor, ein Urteil liber den qualitativen
Abstand der scbeinbaren Hobe des Ganzen von der Hobe eines
Teiles. Es gebt aucb aus diesem Urteil hervor, dass die Bei-
fiigung der tieferen Octave als eine viel wesentlicbere Anderung
aufgefasst wird als die der boberen.
Nebmen wir nun statt der Octave ein anderes Intervall, so
tritt der Erfolg ebenfalls ein, aber, wie mir scbeint, in um so
geringerem Grade, je geringer die Verscbmelzung ist. Docb ist
er bei der Quinte nocb auffallend genug.
Die Erweiterung des Hobenabstandes dagegen vermebrt
den Eindruck. Er entstebt bei Cg in starkerem Masse als
bei C(x u. s. f.
Man kann das Gesagte aucb an den Differenztonen gegen-
iiber den Obertonen bestatigt finden. Es ist in der genannten
Hinsicbt ein grosser Unterscbied zwiscben diesen beiden Classen
^) Ich habe die Frage auch elnem Unmusikalischen , dem Natur-
forscher Prof. G. (o. 365) vorgelegt, der die Gabeln bei Vertellung an
belde Ohren deutllch auselnanderhalten konnte. Er gab sofort die oblge
Antwort.
Stumpf, Tonpsychologie. II. 25
386 § 25. Qualitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
von Beitonen. Wenn ein Differenztou in der Wahrnehmung
auftritt, macht er sich sogleich als Grundlage und Trager des
Ganzen geltend. Es ist uns nachtraglich, als batten die Pri-
martone bis dabin in der Luft gescbwebt und nun erst ibre
feste Unterlage gewonnen; obgleicb wir vorber diesen Eindruck
nicbt batten, eine Unterlage nicbt vermissten. Anders bei den
Obertonen. Ein wabrgenommener Oberton erscbeint uns eben
als ein bober Beiton, obne irgendwie die Auffassung des Gan-
zen als solcben zu verandern.
Fiir den allgemeinen Zug der Auffassung, der sicb in alien
diesen Fallen offenbart, gibt es, soviel icb sebe, nur einen psy-
cbologiscben Erklarungsgrund. Das beisst, die Auffassungs-
weise wurzelt nicbt direct in den Eigentiimlicbkeiten der Ton-
qualitaten als solcber, sondern in anderen, wie innig aucb im-
mer damit verkniipften , Momenten, von welcben sie auf die
Tonqualitaten iibertragen wird. Und zv^rar miissen wir auf die
raumlicben Eigenscbaften der Tone zuriickgi-eifen , sowol die
immanenten als die associirten. Beiden zufolge erscbeinen uns
gewisse Qualitaten als raumlicb breitere und tiefere gegen-
iiber anderen; wober ja eben die raumlicben Ausdriicke stam-
men, mit denen wir die qualitativen Unterscbiede selbst be-
nennen. In Folge davon erscbeinen uns diese Qualitaten aucb
im Zusammenklange mit den anderen als das tragende Funda-
ment (Basso), die „boberen" dagegen als Aufsatz, Uberbau.
Es tritt biemit ein Standpunct in der Tonauffassung ber-
vor (vgl. I 131, 149); eine Tatsacbe, die uns im eigentlicb
musikaliscben Gebiet nocb viel bescbaftigen wird, da sie fiir
die entwickelte musikaliscbe Tonauffassung ganz unentbebrlicb ist.
Man konnte es bedenklicb finden, dass diese Grunderscbei-
nung unsrer musikaliscben Auffassung nicbt in den Tonquali-
taten selbst wurzeln soil. Aber die raumlicben Praedicate der
Tone sind, wie eben darum bereits I 223 u. ausdriicklicb ber-
vorgeboben wurde, durcb die engsten und vielfaltigsten Bande
mit den qualitativen verkniipft und wurzeln in wirklicben, dort
202 f. auseinandergesetzten , Eigentiimlicbkeiten der Tone. Zu
diesen miissen wir aber nunmebr nacb II 56 als wicbtigste ein
und seine Telle. 387
vorher nur hypothetisch erwahntes raumliches (raumahnliches)
Moment rechnen, welches parallel mit der Reihe der Tonquali-
taten abgestuft and den Tonen ganz ebenso wie die Intensitat
immanent ist. So griindet also obiger Zug der Auffassung, wenu
nicht auf der Beschaffenheit der Tonqualitaten , doch auf der-
jenigen der Tone.
Es erklaren sich auch die Modificationen der Erscheinung,
die oben erwahnt wurden. Dass der Eindruck bei geringerer
Verschmelzung der beiden Tone ein geringerer ist, liegt offen-
bar daran, dass, wenn die Tone ein weniger eng verkniipftes
Ganzes bilden, auch der Eindruck einer selbstandigen Tonhohe
des Ganzen weniger aufkommen kann. Dass er hingegen mit
dem Hohenabstand der Tone wachst, kommt daher, dass mit
den qualitative]! zugleich die raumlichen Verschiedenheiten
wachsen, welche den tieferen Ton als den tragenden erscheinen
lassen.
Mancher wird vielleicht Anfangs geneigt sein, in den Ur-
teilserscheinungen bei den obigen einfachsteu Versuchsumstan-
den nur eine Nachwirkung von Gewohnheiten zu erblicken, die
sich in der musikalischen Erziehung ausbilden und mit dieser
in der historischen Entwickelung unsres Musiksystems griinden.
Aber Dem widerspricht, dass sich die gleiche Auffassung mit
gleicher Kraft auch dem Unmusikalischen aufdrangt. Auch ist
mit der Berufung auf individuelle und historische Entwickelung
im Allgemeinen Nichts gesagt, man muss die treibenden Factoren
aufsuchen. Und wer iiber die Ursache nachdenkt, die in un-
serem Musiksystem dahin drangte, den Hauptton einer Leiter,
eines Accords in der Tiefe zu suchen („Grundton"), der wird
schliesslich auf keine anderen letzten Erklarungsgriinde stossen,
als auf den genannten. Er ist die gemeinsame Ursache der
Auffassungsweise, welche in unsren obigen Versuchen dem Gan-
zen die scheinbare Hohe des tieferen Tons 'erteilt und welche
in der Musik den Begriff des Grundtons schafft.
Diese beiden Folgeerscheinungen selbst sind nicht mitein-
ander zu verwechseln. Die erste ist eine Tauschung; die zweite
wiirde ich nach dem ebeu Bemerkten nicht als solche bezeichnen.
25*
888 § 25- Qualitatsurteile uber einen zusammengesetzten Elang
Musikalische Gewohuheiten koniien allerdings auch in uii-
seren Versucheu die Erscheinung complicireD, insofern in vielen
Fallen unter den reell vorbandenen tieferen Ton ein dritter
noch tieferer als „Grundton" hiuzugedacht wird. So pflegen
wir zur kleinen Terz eg, wenn sie ausser dem Zusammenhang
gehort wird, in Gedanken c zu erganzen, d. h. jene Terz als
obere Abteilung eines Dui'dreiklanges aufzufassen. Ahnlich wird
zur Sexte ge^ oder ges^ als Grundton c erganzt.
Dass nun bier iiberbaupt irgend ein 6 erganzt und nicht
es (e) oder g selbst als Grundton (Tonica) aufgefasst wird, ist
eine Sacbe fiir sich, die uns bier nicbt angebt. Dass wir aber,
wenn denn irgend ein © erganzt werden soil, in den genannten
Fallen nicbt das eben so nabe oder naber liegende c^ sondern
c erganzen: dieser Teil der Erscbeinung weist wieder auf die
obigen Erklarungsgriinde. Bei ganz Unmusikalischen fallen die
Zutaten weg: es wird nicbt irgend ein dritter noch tieferer Ton,
sondern der tiefere der beiden wirklicb vorbandenen auch in
diesen Beispielen als Trager der Tonbobe aufgefasst (soweit
solcbe Personen der Analyse und damit der Beantwortung uns-
rer Frage fabig sind). Auch bei Musikaliscben aber ist Das-
selbe der Fall, wenn die beiden Tone des Intervalles der tiefen
Region entnommen werden, z. B. bei CA, auch bei Ca. Hier
ist man eben nicht gewohnt, F^ als Grundton zu erganzen, da
ein solcber Accord F^CA in dieser Tiefe ungebrauchlich ist,
und schon der Versuch, F^ neben den wirklich gehorten Touen
in der Phantasie vorzustellen, auf Scbwierigkeiten stosst.
Wir untersucbten bisher Zusammenklange von zwei Tonen.
Gehen wir nun zu solcben von mehr als zwei (reellen) Tonen,
so zeigt sich auch bier derselbe Zug der Auffassung; z. B. bei 1.
^mm^-
und seine Teile. 3S9
Man lasse, nachdem dieser Accord angeschlagen ist, die drei
oberen Tone wegfallen, wahrend C fortklingt. Dann schlage
man wieder das Ganze an und lasse C wegfallon, wahrend der
obere Dreiklang fortklingt. Die Veranderung wird im zweiten
Fall als sine wesentlichere aufgefasst, obschon weniger Tone
wegfallen. Man wird vielleicht wieder sagen: (7 ist eben „Grund-
ton". Aber auch bei 2 findet Dasselbe statt, und hier ist G
nicht „Grundton" im musikalischen Sinne. Man wird nun sa-
gen: Der unterste Ton ist eben Basston, und dieser ist fiir
die musikalische Auffassung des Accords („erste, zweite, dritte
Lage") massgebend, daber sein Wegfall als wesentlichere An-
derung bemerkt wird. Ganz richtig. Nur fragt sich's wie-
der, warum gerade der unterste Ton als massgebend ange-
sehen wird.
Bei 3 und 4 ist Dasselbe zu beobachten. Man kann auch
nur den Wegfall des obersten mit dem Wegfall des tiefsten
Tones vergleichen. Im ersten Fall scheint uns weiter Nichts
zu geschehen, als dass dem Bau die Spitze genommen wird, im
zweiten wird er auf eine andere Basis gestellt.
Zu beachten ist auch bei den Mehrklangen, dass von Mu-
sikalischen in vielen Fallen unter die reell vorhandenen (bez.
iibrigbleibenden) Tone ein tieferer hinzugedacht oder postulirt
wird. So wird zu dem oberen Dreiklang in 3 und 4 das un-
tenstehende c^ hinzu erganzt, mag es vorher reell mitangegeben
sein oder nicht. Die reell vorhandene Basis e^ bez. g^ wird
von dem musikalischen Denken (seit einigen Jahrhunderten)
nur als eine provisorische, stellvertretende anerkannt und die
wahre, definitive dazu postulirt. Warum nun gerade ein (S er-
ganzt werden muss, ist wieder eine Sache fiir sich. Aber dass
das nachsttiefere postulirt wird, obgleich doch diesmal ein (S,
namlich c^, schon im Dreiklang reell vorhanden ist: dies beruht
wieder auf dem besprochenen Erklarungsgrund.
Wir sehen hier davon ab, dass einige Theoretiker neuerer
Zeit nur fur den Durdreiklaug den tiefsten Ton als Hauptton gelten
lassen, fiir den MoUdreiklang dagegen den hochsten, die bisher so-
genannte Dominante. Die Besprechung dieser, nach raeiner Meinung
390 § 25. Qualitatsurteile liber einen zusammengesetzten Klang
dem musikalischen Bewusstseiu nicht entsprechenden Behauptung
mussen wir uns fiir den folgenden Abschnitt aufsparen.
Die einfachen akustischen Erscheinungen, von denen wir aus-
gingen, sind meines Wissens nicht friiher beschriebeu und zu den
musikalischen in Beziehung gesetzt worden. Nur bei Aeistoteles
bez. dem Verfasser der musikalischen Probleme linden sich Be-
merkungen, welche wahrscheinlich in diesem Sinne zu deuten sind.
Eines der verlorenen Probleme war betitelt: Aia r'l rcov 6v(ig)(6voov
ofiov xQOvo^idvov Tov ^agvTSQOi) yivirai to {liloq ^). Ich ver-
stehe diese Frage so: „Warum entsteht, wenn consonante Tone
zugleich angegeben werden, die Tonhohe des tieferen?" Hienach
wiirde also der Verfasser unsre Tatsache beobachtet haben, die ja
bei consonanten Tonen besonders auffallt. Jedenfalls ist die in dem
verlorenen Problem behandelte Frage dieselbe wie in einem der
erhaltenen, wo sie aber weniger klar formulirt ist. Dieses lautet
(Probl. Sect. XIX, 12, p. 918, a, 37): Am rl tcov xoq^cov tj ^a-
QVTSQa del to fitkog Xccf^^dvEi.; dv yaQ dtrjtca aCai xrv Jtaga-
(isOrjP Ovv rpiXii t)j ^tcij, jivfrai to }itoov ovd-ev rjTTOv' lav
de Trjv (isOrjv dsov d^qxa, y)ild ov yivsTai. r otl to ^agv ^sya
MtIv, co6t£ XQUTSQOi^; xal eveCTiv Iv Tm (leydXco to (Iltcqov' xcd
t(j diaXr/rpsi dvo v/JTai tv tF] vjuxtij yivovTcu.
„Hoc problema mihi quidem obscurius esse fateor" sagt Bo-
JESEN und fiigt bei, dass er auch in Theodorus Gaza's Uber-
setzung keine Hilfe gefunden, kommt aber selbst schon auf die
richtige Fahrte. Vielleicht sei die Rede davon, warum bei conso-
nanten gleichzeitigen Tonen der tiefere „quasi fundamenti loco
ponatur", weshalb denn auch im folgenden Problem gefragt werde,
warum bei der Octave der tiefere Ton avTiipcovoq des hoheren sei
und nicht auch umgekehrt.
Ich mochte folgende Ubersetzung und Erklarung versuchen:
„Warum niramt (bestimmt) unter den Saiten die tiefere immer die
(scheinbare) Klanghohe?^) Wenn namlich die Aufgabe gestellt ist,
*) BojESEN, De Problematis Aristotelis Diss. Kopenh. 1836 p. 79.
*) Meloq bedeutet nicht immer Melodie. So sagt Aristoteles
in der Eriauterung seiner Definition der Tragoedie p. 1449, b, 29, die an-
genehme Rede habe Rhythmus, Harmonic und Melos. ag/xovla bedeutet
und seine Telle. 39 1
die Paramese zur instrumentalen Mese zu singeu^), so koramt nichts-
destoweniger die Mese zum Vorschein 2). Wenn aber Beide (Stirame
und Instrument die Mese angeben sollen^), so bort man nicht
etwa den instrumentalen Ton beraus^). Erfolgt die Bestiramung
der Klangbdhe durch den tiefereu Ton vielleicbt, weil der tiefe
zugleicb gross, also macbtig ist? Aucb ist das Kleiue im Grossen
hier, wie auch sonst vielfach, Das, was wir Melodle nennen. oder all-
gemeiner einen musikalisch anmutenden Tonfall (Harmonie in unsrem
Sinn kame ja bei der Rede keinesfalls in Betracht, wenn man auch
den Begriff sonst den Alten zuerkennen wollte). Es bleibt hienach fiir
(UfAoc hier nur iibrig: musikalischer Klang, woltuende Klangfarbe. (So
wenigstens liesse sich der liberlieferte Text rechtfertigen. Freilich scheint
es mir im Hinblick auf 1403, b, 27 — 32 zweifellos, dass ixiXoq hier fehler-
haft fiir [isyed-oq steht; womit auch die Lesart /xstqov, durch welche
nach Vettori's Vorgang Viele die Stelle zu heilen suchten, hinfallig
wird. Ohnedies wiirden sich ja Qv9^/.i6g und fiixQov gegenseitig ziemlich
uberflussig machen.) Ferner vgl. uber (xikoq 420, b, 8, wo es auch nur
Klanghohe oder Klangfarbe oder beides zusammen bedeuten kann; so-
wie Teichmuller Aristot. Forsch. II 357 und Westphal's Ausg. des
Aristoxenus S. 203, wo als allgemeinste Bedeutimg des Wortes bezeichnet
wird: „tonale Seite der Musik'". Wollte man indessen in unsrem Falle
„Melodie" darunter verstehen, so wilrde der Sinn gleichwol nicht wesent-
lich veraudert: ,,Warum nimmt die tiefere Saite die Melodie an sich?
d. h. Warum bildet sich die Melodie in unsrer Auffassung aus den je-
weilig tieferen Teilen der Zusammenklange ?"
*) Wunderlich bleibt, dass der Verfasser zur Erlauterung des ge-
stellten Problems auf das Zusammenwirken von Stimme und Instrument
verweist, wahrend im Problem von zwei Saiten die Rede war. Vielleicht
muss es statt /o^dwv x. x. A. heissen (f%-6yy(x)v 0 ^uQvxsQoq. — Uber
ipikfi vgl. 1339, b, 20. — Die Paramese liegt einen Ton hoher als die
Mese. Hier ist also nicht bios von consonanten Tonen die Rede.
^) /nsoov kann hier nicht gut etwas Anderes als die Mese bedeuten
(of. Probl. 8 xb (iaQv, nachdem vorher ^ (iaQela). Man konnte allerdings
daran denken, dass ein mittlerer Ton zwischen Mese und Paramese gemeint
ware. Doch scheint mir dann die Auslegung des Ganzen schwieriger.
^) BojESEN erganzt doaL nach rlnfoj und vermutet Komma nach
/xioTjv. Aber die Conjectur wiirde nur den Sinn alteriren.
*) Hiemit will der Verfasser zeigen, dass das Bestimmen der Klang-
hohe, das Ansichnehmen des Melos, nicht etwa eine Eigentiimlichkeit
des Instrumentes als solchen gegenuber der Stimme ist, dass es nicht
etwa auf grosserer Intensitat oder Scharfe des Klanges beruht.
392 § "^5. Qualitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
euthalten, und nach der Einteilung der Saiten ist der tiefste Ton
das Doppelte seiner Octave."
Wir sehen, wie Aristoteles auch in der Untersuchung die
Bahn betritt, die uns die richtige schieu; wie er auf das quantita-
tive Moment der Tonempfindungen hinweist. Nur die physikalisch-
mathematischen Verhaltuisse hatte er aus dem Spiel lassen miissen.
Westphal deutet die Stelle dahin, dass in Instrumentalduetten
das tiefere Instrument die Melodie gefiihrt habe; wie iiberhaupt
(nach Plutarch De Musica 18 — 20) bei den Alten die Melodie,
auch die gesungene, tiefer gelegen habe als die instrumentale Be-
gleitung ^). Allein es scheint aus der ganzen Fassung dieses Problems
wie aus der des oben erwahnten verlorenen deutlich hervorzugehen,
dass von einer akustischen Eigentumlichkeit die Rede ist, die sich
schon bei isolirten Zusammenklangen findet. Das Ansichnehmen
des Melos durch den tieferen Ton kann nicht fiiglich als Zuteilung
des Melos an die tiefere Stimme von Seiten des Componisten ge-
deutet werden. In dem erlauternden Beispiel ist ja auch voraus-
gesetzt, dass der Singende den hoheren Ton angebe; wahrend beim
Gesang mit Instrumentalbegleitung nach Westphal der Gesang
tiefer liegen miisste. Von dieser Frage also, vom Hohenverhaltnis
zwischen melodiefiihrender und begleitender Stimme scheint mir
hier nicht, wenigstens nicht direct, die Rede zu sein.
Zur Vergleichung dienen auch noch andere Probleme, in denen
derselbe oder ein ahnlicher Gedanke vorkommt: 7, 8, 13, 18.
Ich habe mir diese historische Abschweifung erlaubt, urn an
einem neuen Beispiele (vgl. I 224) zu zeigen, wie sehr sich diese
Problemensammlung nach Art und Umfang der behandelten Fragen
mit unsrem gegenwartigen Unternehmen beriihrt. Sie steht dem-
selben naher als irgend eine andere mir bekannte Schrift. Eine
emendirte Ausgabe ware freilich dringend zu wiinschen; aber gerade
die nunmehr durchgefuhrten oder angeregten sachlichen Unter-
suchungen diirften, wie auch sonst in der Wissenschaftsgeschichte,
eine Reihe von schwierigen Interpretationsfragen erleichtern und
iiberraschende Einblicke in die bereits von den Alten getane Arbeit
gestatten,
*) Die Musik des griechischen Altertums 1883, S. 64.
und seine Teile.
H93
b) Bei aufeinaiulerfolgenden Zusammenklangen
macht das Ganze scheinbar die Bewegung der in den
grossten Schritteu bewegten Stimme mit.
Unter einer „Stimme" verstehen wir hier zunachst nur die
durch bomologe Teile der einzelnen Zusammenklangc gebildete
Aufeinanderfolge von Tonen; also z. B. die jeweiligen hochsten
oder zweithocbsten Tone. Dies ist nicht die Definition einer
Stimme im musikaliscben Sinne, fiir welche eine einheitliche
Zusammeufassung aufeinanderfolgeuder Tone wesentlich ist, wah-
rend die zusammengefassten keineswegs immer homolog sind.
Aber wir untersuchen hier auch noch nicht die fiir das musi-
kalische Stimmenhoren massgebenden Bedingungen und Regeln;
die hier zu besprechenden Erscheinungeu sind wie die unter a)
allgemein - akustische.
Es handelt sich hier wieder um eine Tauschuug, die, den
wirklichen Empfindungen ebenso wie dem objectiven Tatbestand
gegeniiber sinnlos, doch als charakteristisches psychologisches
Vorkommnis verzeichnet werden muss. Sie tritt, wie alle solche
Tauschungen, nicht immer mit gleicher Starke ein und ver-
schwindet bei ausdriicklichem Aufmerken auf den wahren Sach-
verhalt. Bei Zusammenklangen aus bios zwei Tonen tritt sie
nicht leicht ein (ausser etwa fiir den Unmusikalischen), weil hier
zu deutlich die Bewegung jeder Stimme fiir sich verfolgt wird.
Folgende hierhergehorige Beobachtungen erwahnt Mach ^).
1. 2.
P
W-
^
„Fixire ich in 1 oder 2 die Oberstimme, so scheint sich nur
die Klangfarbe zu andern. Beachtet man aber in 1 den Bass,
^) Beitr. z. Analyse d. Empfinduugen 1886, S 126. Friiher schon
iu der „Einleitung in die HsLMHOLTz'sche Musiktheorie " 1867, S. 24.
Mach lasst die gleichbleibenden Tone nicht neu anschlagen, was mir
fiir die Entstehung der Tauschung wenigstens am Clavier weniger vorteil-
394 § 25. Qualitatsurteile liber einen zusammengesetzten Klang
so scheiiit die ganze Klangmasse in die Tiefe zu fallen, dagegen
zu steigen, wenn man in 2 den Schritt e^ — f^ beachtet ....
Lebhaft erinnern diese Beobaclitungen an den wechselnden Ein-
druck, den man erhalt, wenn man in einem Ornament bald
diesen bald jenen Punct fixirt".
Man konnte auch an die Verlegung eines fernen Objects
in die Ebene eines naheren, auf welches accommodirt ist, er-
innern; wodurch jenes zugleich die hochst frappante Verkleine-
rung erleidet. Zu bemerken ist aber, dass in unsrem Fall die
Tauschung nur bei sehr concentrirter Aufmerksamkeit auf die
bewegte Stimme eintritt, auch wol bei rasch voriibergehenden
Eindriicken oder sonstigen Hindernissen einer vollkommen deut-
lichen Analyse. Nur dann kann es geschehen, dass den iibrigen
Teilen und dem Ganzen ein gewisser Schein der Mitbewegung
zuwachst. Aber selbst dann ist die Tauschung fiir den Musi-
ker wenigstens an Kraft bei weitem nicht mit jener raumlichen
zu vergleichen.
Dass sie jedoch in der erwahnten Beschrankung und unter
den erwahnten Umstanden auch in der praktischen Musik eine
nicht unerhebliche Rolle spielt, mbgen einige Beispiele zeigen.
In Beethoven's 5. Symphonie gibt beim Wiedereintritt des
Thema's (Partitur Petebs S. 10) das gesammte Orchester mit Aus-
nahrae der 1. Flote, 1. Oboe, der Trompeten und der Pauke das
bekannte Terz-Motiv (g-es), die ebengenannten Instrumente aber
geben nur das (/ in entsprechend verschiedeneu Octaven. Dera
musikalischen Ohr entgeht dies nicht. Gleichwol scheint das Granze
der Klangmasse als seiches in der Terz herunterzustiirzen. (Bei-
spiel 1.) Ebenso S. 19.
Ein vorziigliches Beispiel (2.) bietet der Anfang von Schubbkt's
D-moli-Q^uartett: Die ganze Klangmasse scheint herunterzusteigen,
obschon die oberste und unterste Stimme liegen bleibt. Hier tragt
wieder die Schnelligkeit der Bewegung zur Wirkung bei. Freilich
haft scheint, da dann die bewegte Stimme fast allein hervortritt, wahrend
die iibrigen Tone schwacher werden, und so die Aufmerksamkeit zu sehr
vom Ganzen als solchem abgelenkt wird. Am Harmonium empfiehlt sich
vielleicht mehr Mach's Ausfiihrungsweise.
und seine Teile.
395
ist die Tauschuug lange uicht vollstandig und dicse Wirkung auch
vom Componisten nicht ausschliesslich beabsichtigt; sonst hatte er
eben alle Stimmen wirklich heruntersteigen lassen. Auch tritt joner
Schein beim ofteren Horen und bei der Kenntnis dcr Partitur
immer mehr zurtick, ohne doch ganz zu verschwinden.
1. 2.
1. Viol.
Ifo
S*
=^i^^
2^-f P P
2. Viol, ffo
-4
liEii^i^E^^ji^i
Pauke
lii^jE^iliiP
ffo ten. ffo
Ferner vgl. in Schubert's Mullerliedern No. 17 die Begleitung
zu „Horch, wenn im Wald ein Jagdhorn schallt". Oder in Men-
delssohn's Ouverture zum Sommernachtstraum die Schilderung des
Elfentanzes (Pianissimo). Alles erscbeint bier bewegt und doch
verharrt zunachst die 2., dann die 1. Violine auf dem namlichen
Ton. Auch die Fortestellen der Blaser S. 18, 34, 44 der Partitur
(Volksausg. Breitkopf). Hier machen einige tiefere Stimmen die
entgegengesetzte Bewegung zu den hoberen, vvahrend andere auf
ibrem Ton verbarren. Die Doppelbewegung erbobt den Eindruck
der Rubrigkeit im Allgemeinen, aber das Ganze als solcbes scbeint
sicb in der Ricbtung der boberen Stimmen zu bewegen, die die
grosseren Scbritte macben und obuedies die Aufmerksamkeit vor-
zugsweise anzieben. Und so findet man Beispiele uberallber, wenn
man einmal aufmerksam geworden.
396 § 2i^- Qualitatsurteile (iber oinen zusammengesetzten Klanji
2. Hohe und Abstand dor Klangtoile.
a) Urteile iiber die Fragen: ,.Sind zwoi Tone gleich
Oder nicht?" und: „Wclcher von zweien ist der hohore?",
wolche bei aufeinanderfolgendcn Tonen ausfuhrlichc Vorsuclio
und Erorterungen notig machen, liaben gegeniiber gleichzeitigen
nur in dem Falle einen Sinn, wenn dieselben verschiedenen
Ohren angeboren. Was sich in diesem Fall vorlaufig iiber Ur-
teile der ersteren Art (Schwellenfrage) beibringen liess, ist be-
reits 0. 319 f. angefiihrt. Uber Urteile der zweiten Art (ob der
rechte odor linke gleiclizeitige Ton der hohere) konnten ana-
loge Versuche besonders an Unmusikalischen angestellt werden
wie in § 14, 4. Wenn dort das Urteil solcher Individuen nicht
einmal beim Tritonus in mittlerer Lage sich sicher zeigte, so
wiirdeu bei gleichzeitigen Tonen vielleicht noch starkere Mis-
griffe vorkommen. Ich babe jedoch ausser einigen schon o. 363
erwahnten keine Versuche hieriiber gemacht.
Es kommt aber auch der Fall vor, dass zwei gleichzeitige
verschiedene Tone, die E in em und d ems el ben Ohr oder beide
beiden Ohren angeboren, als zwei und dennoch als gleich
beurteilt werden. Das Gleichheitsurteil ist dann natiirlich eine
Tauschung, um nicht zu sagen eine Absurditat, da wir nicht
gleichzeitig zwei gleichhohe Tone desselben Ohres horen kon-
nen^). Wir werden diese Falle, da es sich um eine scheinbare
Accommodation des einen Tones an den anderen handelt, waiter
unten bei b) besprechen.
b) Scheinbarer Einfluss eines Tones auf die Hohe
eines anderen gleichzeitigen Tones.
Wenn ich c zuerst allein, dann mit g zusammen angebe:
erleidet c irgend eine, wenn auch nur scheinbare, Veranderung
seiner Hohe?
') Nur insofern konnte man das Urteil vielleicht als nicht voU-
standig absurd verteidigen, als das Verhaltnis der Mehrheit begrifflich
nicht zusammenfallt mit dem der Verschiedenheit.
Auch Das kommt sogar vor, dass ein einziger Ton Eines Ohres als
zwei Tone aufgefasst wird, wenn er namlich doppelt (z. B. in zwei In-
strumenten^ localisirt wird.
iind seine Telle. 397
Aus der gewohnlichen musikalischen Erfahiuiig ist hieriiber
Niclits bekannt, oder vielmehr ist es bekaniit, dass koine Ver-
anderung stattfindot. Wenn eine Stimme anhebt eiiieii Tuu zu
singeii, darauf eine andere in der tiefereu oder biJheren Quinte
einsetzt, so erleidet der bereits vorhandene Ton dadurch keine
Verschiebung. Weder der erste n(»ch der zweite Sanger muss seine
Intonation mit Riicksiclit auf den anderen irgend inoditiciren.
Wenu ich jedocli zum a^ der vor das Ohr gehaltenen
Stimmgabel eine bedeutend tiefere Claviertaste anschlage und
wieder loslasse, so kann es den Anscliein gewinnen, als ob der
Gabelton um ein Geringes herunter- und dann wieder hinauf-
ginge. Noch besser verwendet man zwei Gabelu. So habe ich
es mit den Gabehi A und e (an beide Ohren verteilt, aber audi
an demselben Ohr) beobachtet. e wird durch A scheinbar ver-
tieft. Man ist versucht, dies aus der Schwachung des Tones e
durch den hinzutretenden starkeren zu erklaren, wodurch sich
das Urteil tiiuschen lasse. Aber wenn wir A constant tonen
und e abwechsehid hinzu- und hinwegtreten lassen, so miisste
dann auch A beim Hinzutreten des e tiefer zu werden scheinen.
Es wird aber dann scheinbar um ein Geringes hoher, und beim
Hinwegfallen von e wieder tiefer.
Die scheiubare Veranderung findet also in der Richtung
des hinzukommenden Tones statt. Ein hinzutretender betracht-
lich tieferer Ton scheint den vorhandenen zu vertiefen, ein
hoherer ihn zu erhohen. Es wird beim Hinzutritt des neuen
Tones, der fiir einen Moment einen Teil der Aufmerksamkeit
auf sich lenkt, gleichsam etwas von seiner QuaHtat auch auf
den anderen iibertragen.
Das Namliche habe ich auch bei Ag gefunden, obgleich
hier fast nur in Hinsicht des g. Es war als ob der hohere
Ton mehr diesen scheinbaren Einfluss erlitte. Ebenso trat die
Tauschung noch bei eg ein.
In alien diesen Fallen ist natiirlich zugleich eine schein-
bare Verkleinerung bez. Vergrosserung der Distanz gegebeu.
Aber wie alle blossen Urteilstauschungen tritt auch diese uur
unter besonderen Umstanden ein (z. B. in der Hohe nicht, weil
398 § 25. Qualitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
hier Veranderungen merklicher und somit auch die Constanz
deutlicher ist), und sie verschwindet iiberhaupt, wenn man seine
Aufmerksamkeit durch den neuen Ton niclit ablenken lasst
sondern auf den alien concentrirt halt.
Wir sehen insoweit, dass von einem simultanen Con-
trast (ebenso wie von einem successiven) beim Ohr nicht die
Rede ist. Die Beeinflussung gleichzeitiger Tone ist nur eine
scheinbare, und nicht einmal als solche findet sie im Sinne
des Contrastes statt, sonst miisste der hohe Ton den tiefen
noch vertiefen, der tiefe den hohen noch erhohen.
Nun aber kann man allerdings in gewissen Fallen auch
versucht sein, einen, wenn auch nur scheinbaren, Contrast zu
statuiren. So wenn man am Clavier zuerst etwa d allein, dann
mit G zusammen angibt: d scheint dann leicht ein wenig in
die Hohe zu gehen, ohne dass wir freilich angeben konnten,
wieviel. Der Grund liegt wol dai'in, dass durch G der Ober-
ton d'^ bedeutend verstarkt wird, sodass nun das Ganze heller
klingt^). Daher zeigt sich die Erscheinung auch nur in der
Bassregion, wo die Verstarkung der Obertone in solchem Fall
sich am Meisten geltend macht. Daher tritt sie auch bei Ga-
beln nicht ein, weil deren Teiltone viel schwacher sind.
Die Veranderung ist also wiederum nur eine scheinbare.
In der praktischen Musik fehlt davon jede Spur, weil zu viele
Momente hier die Tonhohe fiir das Urteil feststellen^).
^) Man konnte auch daran deiiken, dass durch das Hinzutreten
von G der Ton d fiir unsre musikalische Auffassung seine Eigenschaft
als .,Grundton" verliert. Aber das ist zu weit hergeholt und wiirde
ebenso fur andere Intervalle zutreffen, wo sich die Erscheinung nicht
findet. Auch der temperirten Stimmung mochte vielleicht Mancher die
Schuld geben, indem man die Quinte rein zu fassen suche und so un-
willkurlich d ein wenig hoher denke. Aber auch dies ware eine ge-
zwungene Erklarung (man konnte ja eben so gut zu diesem Zwecke G
tiefer denken) und wiirde erwarten lassen, dass bei der Quarte und
grossen Terz das Umgekehrte stattfande, was ich nicht finden kann.
-) Vgl. I "258 — 9: und iiber das Nichtvorkommen eines wirklichen
Empfindungscontrastes bei Tonen gegeniiber entgegengesetzten Behaup-
tungen auch I 20 — 1. Die Frage ist schon von Chevreul im Anschluss
an seine Untersuchungen iiber Farbencontrast in gleichem negativen
und seine Teile. 399
Dagegen findet sich jene Tauschung, deren wir oben als
einer nahezu absurden gedachten, in der Musik gar nicht selten.
Wenn zwei Klange nahe an einander (jedenfalls nicht iiber eine
Quinte auseinander) liegen und der mittleren oder tiefen Region
angehoren, und wenn der eine von ihnen einen dumpfen, ge-
rauschahnlichen Charakter hat und nur kurz dauert, so scheint
dieser sich bei nicht sehr genauem Hinhoren dem anderen in
der Hohe zu accommodiren. Wir fassen sie als gleich hocb,
obschon gerade die Verschiedenheit der Hohen es uns ermog-
licht, sie als zwei Tone zu erkennen. Der langer andauernde,
scharfere, reinere und gleichmassigere Klang bestimmt das
Hohenurteil.
Es wird also bier nicht dem Ganzen eine Hohe neben
seinen Teilen und jedem von diesen seine eigene Hohe zuge-
schrieben, wie unter 1., sondern es wird einem Teil die Hohe
des anderen zugeschrieben.
Man kann am Clavier den Versuch machen, indem man
eine grosse Flasche, welche (durch Eingiessen von Wasser) so
gestimmt wird, dass ihr Ton zwischen zwei tiefe Claviertone,
etwa B und H, fallt, kurz anblast und zugleich einen dieser
Tone dazu auf dem Clavier angibt. Sie scheint mit beiden
Ubereinzustimmen. Bei langerer Fortsetzung hort freilich die
Tauschung auf.
In der Musik tritt sie besonders auf bei den Schlaginstru-
menten. Auch wenn ein solches abgestimmt ist, wie die Or-
chesterpauke, finden sich genug Stellen, wo man anfanglich
glauben mochte, dass es mit dem gleichzeitigen starken Ton
eines anderen Instruments iibereinstimme. Beispiele liefert fast
jedes Orchesterstiick. Aber auch beim Pianissimo anderer In-
strumente und unter anscheinend gunstigen Bedingungen des
Sinne behandelt worden (De la Loi du Contraste simultane des Couleurs
1839, S. 689 f.). Was Mach als Beispiele von Toncontrasten in seinen
„Beitragen z. Analyse d. Empf." 130 — 1 anfiihrt, betriftt nicht die Qua-
litat der Tonempfindungeu sondern ihre Gefiihlswirkung; was auch Mach
selbst nicht verkennt. Ein Ton wirkt anders. wenn ein hoher, als wenn
ein tiefer vorausgegangen ; aber er ist seiner Hohe nach geuau dex'selbe.
400 § 25. Qualitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
Urteils kann Ahnliches eintreten; wie in der beriilimten Stelle
(ler 5. Symphonie Beethoven's, welche zum Finale iiberleitet,
wo die Streicher im aussersten Pianissimo auf As.^ (mit As) und
c (mit c^) liegen bleiben, wahrend die Pauke leise mit unregel-
massigem Puis c wiederholt. Ihr Ton scbeint sich anfanglich
fast mehr dem As anzupassen. Dieses fesselt eben vor Allem
die Aufmerksamkeit, die Erwartung; es ist der eigentliche
Mittelpunct und Trager der ungeheuren Spannung.
Ich mochte in Anbetracht dieser Accommodationsfahigkeit
der Pauke fast bezweifeln, ob die classischen Componisten bei
der Behandlung dieses Instruments nicht eine allzu gewissen-
hafte Riicksiclit auf das wirkliche Zusammenstimmen desselben
mit den anderen Instrumenten genommen haben. An vielen
kraftigen Stellen, wo die Pauke in riistigster Tatigkeit ist,
macht sie plotzlich eine Pause, ganz offenbar nur darum, weil
zufallig keiner ihrer zwei Tone zu dem augenblicklichen Accord
passt (Beispiel 1). Dem Gehor wUrde aber dieser Umstand ent-
gehen: der Paukenton wiirde sich scheinbar accommodiren, Und
was das partiturlesende Auge betrifft, so ist es diesem doch
auch ein Schrecken, wenn es in der Paukenstimrae Gauge wie
bei 2 erblickt.
1. Beethoven. 4. Symph. 2. Daselbst.
5: I
P ^-J-| -j =>!-* — *^— H. -4. -^
ffo ffo
Pauken in B. F.
J #--^— * ^^^ — - — ^ #
ffo ffo
Da kann die Pauke freilich durchweg mit accord-eigenen Tonen
aufwarten; aber die StimmfUhrung wiirde das gebildete Gehor,
wenn es die Tone nach ihrer eigenen Hohe auffasste, minde-
und seine Telle. 401
stens ebenso beleidigen, wie accordfremde Tone^). Neuere Cora-
ponisten haben zuweilen mehr als zwei Pauken vorgeschrieben.
So Meyerbeer gelegentlicU im Robert d. Teufel No. 17 drei
(ursprunglich sogar 4, aber iiicht wegen der Harmonie sondern
wegen einer Solo-Melodie, die sie pauken sollten). Aucb Schu-
mann beniitzt in der -B-dur-Symphonie drei; im ersten Satz
sind sie auf F, Ges, B gestimmt. Hier ware es nun von In-
teresse, wenn Orchesterdirigenten den Versucb machten (und
vielleicht haben ihn mancbe in Ermangelung der dritten Pauke
schon gemacbt), bios mit F und B auszukommen, Ob es ein
unkundiger aber gut auffassender Horer an den Stellen S. 20,
30, 34 u. s. f. (Part. Breitkopf Serien-Ausg.) merken wUrde,
■wenn bier F statt Ges gepaukt wiirde? Im „Ring des Nibe-
lungen" bat Wagner durchweg 4 Pauken vorgeschrieben. Ber-
lioz hat in seinem Requiem 16 (von 10 Mann bedient), wo-
durch alle Tone der chromatischen Leiter gegeben werden
konnen. In der Tat solange man nicht wenigstens 12 an-
wendet, wird es immer an gewissen Stellen schwer bleiben, die
Pauke wie eine andere Stimme zu fiihren. Die Schwierigkeit
ist praktisch durch den obigen Zug unserer Auffassung gelost;
wenigstens fur alle Falle, wo die Pauke mit starken anderen
Instrumenten zusammenwirkt. Aber sie wird eben langst nicht
mehr als blosses Fiillinstrument verwendet; und so wird sich die
Vermehrung ihrer Tone allerdings nicht immer umgehen lassen.
Eine analoge Behandlung wie der Pauke liessen die alteren
Tonsetzer auch den Blechinstrumenten zu Teil werden, weil
damals nur die Naturinstrumente mit ihrer beschrankten Aus-
wahl von Tonen zur Verfiigung standen. Hier macht sich der
tlbelstand, das sinnwidrige Pausiren und die regelwidrige Stimm-
*) Gevaert gibt in seinem „Traite generale d'Instrumentation"
p. 105 geradezu die Kegel: „La note donn^e aux timbales doit pouvoir
faire partie de Taccord; mais 11 n'est pas necessaire que ce soit la
vraie basse." Er fiigt in der Anmerkung bei: „Certains compositeurs
emploient dans les parties de timbales des sons qui n'entrent pas dans
I'accord." Mir sind solche Stellen, die also von seiner Kegel abweichen
wiirden, nicht bekannt, aber ich billige sie.
Stumpf, Tonpsyebologie. II. 26
402 § 25. Qnalitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
fuhrung, wirklich auch fiir's Ohr merklicli und hat immer wie-
der den Gedanken an entsprecliende Abanderungen in den Parti-
turen naho gelegt, die docli bei dem festen und feinen Gefiige
derselben ausserordentlich schwer durchzufiibren sind. Fiir die
Neueren ist dem Ubelstand durch die Ventilinstrumente ab-
geholfen.
Dagegen tindet Ahnliches wie bei der Pauke, und in noch
weiterer Ausdebnung, obne jeden Nacbteil Statt bei grosser und
kleiner Trommel, Becken, Triangel, Tamburin, Scbellen, Tam-
tam u. dgl. Fiir Trommel und Becken kann man's in der
Militarmusik jederzeit beobacbten; fiir den Triangel aucb gut
in Mozaet's Entfiihrung (Ouverture); fiir Tamburin, Scbellen,
Triangel und kleine Trommel in Weber's Preciosa (Zigeuner-
marscb). Auch scbou Gluck bat den Skytbentanz in der Ipbi-
genie in Tauris fortlaufend mit Trommel und Becken begleitet.
Je mehr Gerausch einem solcben Klang beigemischt ist, um so
leicbter die besprochene Tauscbung. So scheinen auch Gewiirze,
wie Pfeffer und Paprika, denen man ja solche Zutaten verglei-
chen kann, in gewissem Masse sich dem Hauptgeschmack der
Speise, der sie zugefiigt werden, anzupassen. Personen mit aus-
gebildetem Gescbmacksurteil mogen hieriiber Naheres wissen-
Einiges Licht fallt von hier aus wol auch auf die fiir unser
Auge mehr als befremdliche Zusammensetzung chinesischer und
javanischer Partituren, welche in neuerer Zeit bekannt ge-
worden sind ^). Eine Melodic wird hier durch die schreiendsten
Instruraente kraftig herausgehoben, dabei aber von einer Menge
anderer toils mit gleichbleibenden Tonen teils mit vielerlei
Schnorkeln begleitet, sodass die unglaublichsten gleichzeitigen
Tonverbindungen und eine nichts weniger als homophone Musik
herauskommt. Allein wir diirfen annehmen, dass diese ganze
^) Dr. MtJLLER in den „Mitteilungen der deutschen Gesellschaft fur
Natur- und Volkerkunde Ostasiens" 1876 gibt chiuesische Partituren.
S. meine Bemerkuugen in der Viertelj.-Schr. f. Musikw. II (1886) 522.
J. P. N. Land, Uber die Tonkunst der Javanen, das. V (1889) 193 f. Die
von Land veroifentlichte Partitur zeigt selir merkwurdige Anfange contra-
punctischer Bebandlung.
und seine Telle. 403
Masse mehr wie eine Art begleitenden Gerausches neben der
Hauptstimme veniommen wird und bis zu einem gewissen Grade
deren jeweilige Tonhohe fiir die Auffassung annimmt, Natiir-
lich beleidigt auch Das, was doch in der Form selbstandigcr
Stimmeu herausgehort wird, das Gehor der Einheimischen nicht,
da dieses keine barmonischen Forderungen stellt. Aber das
Ganze diirfte ibnen iiberbaupt nicht in dem Grade polyphon
kliugen, wie es aussieht.
Endlich auch beim Sprechen mit Musik, im Melodrama,
macht sich solcher Einfluss der gleichzeitigen Tone auf die
Auffassung geltend. Es mag wol sein, dass der Sprcchende
bier wirklich oft seine Intonation, so gut es geht, nach der
Begleitung richtet. Fiir correct wiirde ich dies nicht halten,
da es der Natur dieser Kunstform widerspricbt und doch nicht
vollstandig gelingt. Aber auch wo die Accommodation nicht
wirklich erfolgt, weder beabsichtigt noch unwillkiirlich , kann
doch fiir den Horer der Schein einer solchen entstehen, und
gerade dadurch wird das Abstossende ganz von selbst und
besser vermieden, als durch eine auffallige und nur halb ge-
lingende Bemlihung.
c) Distanzurteile iiber gleichzeitige Tone.
Um reine Distanzschatzungen zu erlangen, muss man, wie
bei aufeinanderfolgenden Tonen (I 249), den Einfluss der In-
tervallauffassung fernzuhalten suchen. Dann kann man sich
auch bier z. B. fragen, ob das uiimliche Intervall gleichzeitiger
Tone in verschiedenen Regionen die namliche Distanz darstellt.
Man kann auch fragen, welchem Intervall in Einer Region ein
gegebenes Intervall in einer anderen Region als Distanz be-
trachtet gleich ist.
Trotz der Schwierigkeit dieser Urteile scheint mir bier
wie bei der Aufeinanderfolgo der Tone soviel klar, dass die
Distanz der Tone eines und desselben Intervalls (d. h. also bei
gleichbleibendem Verhaltnis der Schwingungen) von der Tiefe
bis etwa zur dreigestrichenen Octave zunimmt. Die Verschmel-
zung bleibt dieselbe, aber der Hobenunterschied der Tone ist
in der Tiefe offenbar viel geringer.
20*
404 § 25. Qiialitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
Bei den o. 323 erwahnten Versuchen mit den tiefen Konig-
schen Gabeln war mir in der unteren Region der grossen Oc-
tave die Distanz einer Terz nur eben nocli als Distanz erkenn-
bar, die der Quinte (CCr) erschien fast jiicht grosser als die
einer grossen Secunde in mittlerer Lage, dergestalt dass das
Intervallurteil selbst in's Scbwanken geriet: denn wenn dieses
sich auch nicht auf die Distanz der Tone als Hauptmerkmal
stiitzt, so ist seine Sicherheit docb nicht ganz unabhangig von
so grossen Veranderungen der gewohnlichen Umstande. Die
grosse Terz FA war ich geneigt geradezu als grosse Secunde
zu schatzen (nur bei Verteilung der Gabeln an beide Ohren
und Andriicken an dieselben berichtigte sich das Urteil; nach-
her auch bei freier Haltung). Bei den kleinen Terzen FisA
und EG schien die Differenz nur einen Ganzton oder selbst
einen Halbton zu betragen, bei der grossen Secunde GA eben-
falls entsprechend weniger. Kurz es wurde derjenige Intervall-
begriif aus der mittleren Lage hieher iibertragen, welch er dort
ungefahr mit der gleichen Distanz verbunden ist. Weiter hinauf,
bei A c und in der kleinen Octave, verschwanden solche Tau-
schungen. Sie sind hier bei der Deutlichkeit der Verschmelzungs-
unterschiede, durch die das Intervallurteil gewohnlich in erster
Linie bestimmt wird, fiir geiibte Ohren nicht mehr moglich,
wenngleich die Distanzen der Intervalltone sich auch weiter
hinauf noch verandern. Es gewinnt vielmehr dann die Intervall-
auffassung die Oberhand auch iiber das Distaiizurteil und tauscht
uns gleiche Distanzen vor, wo nur die Verschmelzung gleich ist.
Ich habe auch Unmusikalische, namlich die in I 314 be-
zeichneten Personen in Wiirzburg, zu derartigen Urteilen heran-
zuziehen versucht, doch nur gelegentlich , da ich nicht Viel
davon erwartete. Vorher versicherte ich mich immer, dass
die gleichzeitigen Tone als zwei erkannt wurden. Dr. K., den
ich zuerst allein vornahm, war, wie in anderen Beziehungen,
so auch in den gewUnschten Distanzvergleichungeu sehr un-
sicher, erklarte in verschiedenen Lagen Septimen fiir grosser als
Octaven u. s. f. Aus gemeinsamen Versuchen mit den Herren
S., Be. und Bo, iiber Intervalle bis zur Quinte in mittlerer
und seine Teile. 405
Lage, wobei den verglichenen Tonpaaren immer ein Ton und
zwar der tiefere gemeinsam war, also z. B.:
schien hervorzugelien, dass das Urteil sehr zuverlassig war,
wenn es sich urn. Vergleichung schwacli- oder starkverschmel-
zender Combinationen handelte (z. B. der kleiiien mit der grossen
Secunde oder der Quinte mit der Quarte), dagegen sehr udzu-
verlassig, wenn lutervalle mittlerer Verschmelzung (Terzen) mit
solchen von starkerer (Quarten, Quinten) oder schwacherer (Se-
cunden) verglichen wurden, Es ergab die Vergleichung von
Quarten mit Quinten 16:17, d. h. unter 17 Fallen 16, wo die
Quinten rich tig als grossere Distanz bezeichnet wurden; die
von grossen mit kleinen Secunden 8:8; dagegen die von Quin-
ten mit Terzen 7:14, Quarten mit Terzen 8:20, Terzen mit
Secunden 9:17. (Die zweifelhaften Aussagen sind nicht ge-
rechnet. Davon kamen auf den 1., 2. und 5. Fall je 1, auf
den 3. 2, auf den 4. 7. Will man sie zur Halfte den richtigen
zurechnen, so verandern sie doch das Verhaltnis nicht.)
Ich lege auf dieses Ergebnis wegen der geringen absoluten
Zahlen keinen Wert, doch reizt es vielleicht Andere zur wei-
teren Verfolgung, und wiirde sich iibrigens, wenn es sich be-
statigte, einem begreif lichen Gesichtspunct unterordnen. Denn
man kann sich denken, dass ein stark verschmelzendes Inter-
vall leicht fUr zu Id ein gehalten wird, indem man die geringere
Uuterscheidbarkeit der Tone mit grosserer Ahnlichkeit derselben
verwechselt, wie dies ja beziiglich der Octave sogar sehr all-
gemein geschieht (vgl. auch Dr. K. iiber Septimon und Oc-
taven o.); und dass aus analogem Grunde die sehr schwach
verschmelzenden fiir zu gross gehalten werden. Es werden also
sowol Intervalle von hohem als von geringem Verschmelzungs-
grade, wenn sie mit solchen von mittlerer Verschmelzung (Ter-
zen) verglichen werden, leichter Tauschungen erzeugen, als wenn
Intervalle von gleicher Verschmelzungsstufe unter einander ver-
glichen werden.
406 § 25. Qualitatsurteile fiber einen zusammengesetzten Klang
Bei sehr grossen und sehr kleinen Distanzen der Tone
werden natiirlicli auch hier neue Fehlerquellen wirksam.
Die Fortsetzung solcher Versucbe ware nicht ohne In-
teresse, zumal wenn dann von den namlichon Individuen auch
Distanzvergleichungen von Tonpaaren mit aufeinanderfolgenden
Tonen abgefragt wurden, um festzustellen, ob bei gleicbzeitigen
oder bei aufeinanderfolgenden Tonen unter sonst gleichen Um-
standen grossere Zuverlassigkeitswerte fiir Distanzurteile beraus-
kommen. Wabrscbeiidicb bei aufeinanderfolgenden.
d) Vergleicbungen von Distanzen gleichzeitiger
mit solcben aufeinanderfolgender Tone.
Ob zwei gegebene Tone gleiohzeitig erklingend dieselbe
Distanz besitzen wie in der Aufeinanderfolge, dariiber kann
man sich bei binreicbender Aufmerksamkeit und tJbung nicht
tauschen, da die Tonqualitaten selbst sich durch die Gleich-
zeitigkeit nicht verandern. Aber anfanglich kann wegen der
geringeren Deutlichkeit, welche die Folge der Verschmelzung
ist, die Distanz bei der Gleichzeitigkeit geringer scheinen;
und so ist es mir selbst (auch anderen Musikalischen, z. B.
Prof. W, BiEDEKMANN in Jena) mehrfach bei tiefen Gabeln er-
gangen.
Eine wirkliche Verschiedenheit der Distanz kann sich nur
fiir den Fall der Schwelle ergeben, wo, wie wir wissen, zwei
successiv noch verschiedene Tone bei Gleichzeitigkeit als Einer
empfunden (nicht bios gescbiitzt) werden, also eine Distanz dort
vorhanden hier verschwunden ist. Hier ist es eben auch un-
richtig, von den namlichen zwei gegebenen Tonen zu reden.
Nur objectiv sind es dieselben zwei, subjectiv als Empfindungs-
material liegt im zwei ten Fall nur Ein Ton vor. Die Bedin-
gungen des Versuches sind also aufgehoben.
II. Urteile iiber nichtanalysirte Klange.
1. Scheinbaro Hohe eines Klanges
a) bei ungleicher Starke der Componeuten.
In dieser Hinsicht wissen wir bereits, dass durch bei-
gemischte nichtunterschiedene Obertone ein Klang scheinbar
unci seine Teile. 407
holier wird, wenii er auch bei genauerer Aufmerksamkeit und
Untersuchung seine Hohe behalt. Die Tauschung beruht auf
der Veranderung der Klangfarbe.
Zu beachten ist, dass die concreten Vorstcllungen, welcbe
der Musiker mit den Ausdriicken cS a^ u. s. f. verbindet (so-
fern er irgendwelche damit verbindet), nicbt die einfacher son-
dern ziemlicb zusammengesetzter Klange sind. Jene Benennungen
baben sich ihm eingepragt an Instrumenten mit meist zahl-
reichen Obertonen. Was wir bei c^ denken, ist nicbt der wahre
akustiscbe Reprasentant dieser Hohe, sondern ein musikalischcs
c^ Wenn wir daher sagen: „Einem Kkmg wird ini Allgemeinen
die Hohe seines Gruudtones zugeschrieben", so darf dies nur
so aufgefasst werden: „Der Klang wird an diejenige Stello
innerhalb des Tonreiches verlegt, welche theoretisch dem Grund-
ton allein gebiihren wUrde"; nicht aber: „er wird an die Stelle
verlegt, welche wir sonst dem Grundton allein zuerkennen".
Wir verlegen eben den Grundton, wenn wir ibn ausnahms-
weise einmal fiir sich allein horen, keineswegs an die ihm ge-
biihrende Stelle des abstracten Schema's, welches durch die
Buchstabenbezeichnung gegeben ist.
Niiher kommen hier zwei Classen von Tauschungen vor:
a) Wenn es sich darum handelt, einen einfachen mit einem
zusammengesetzten Klang zu vergleichen, so wird leicht ein
kleiner Unterschied gefunden, wo keiner mehr ist; der einfache
scheint ein wenig tiefer als er ist, „zu tief", insofern der zu-
sammengesetzte uns massgebend ist ^). Der Irrtum kann hier
nur Wenig betragen, weil beide Klange in der Empfindung
oder der unmittelbar vorausgegangene wenigstens in intcnsiver
deutlichster Vorstellung gegeben ist.
/3) Wenn es sich darum handelt, die absolute Hohe eines
isolirt angegebenen Klanges zu erkennen und denselben zu be-
nennen, so wird leicht der einfache Klang um eine, ja zuweilen
^) I 235, 240 f., 253 f. An Zithern kann man gut beobachten, dass
eine Saite merklich holier klingt, wenn man sie in Vsi als wenn man sie
in Va itrer Lange zupft. Im letzteren Fall fehlen die starksten (gerad-
zahligen) Teiltone.
408 § 25. Qualitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
um zwei ganze Octaven zii tief geschatzt. Hier kami der Irr-
tum so Viel betragen, weil eiu Vergleichungsklang entweder gar
nicht Oder nur in relativ schwacher Erinnerungsvorstelluug
gegeben ist^). Aber warum betragt er gerade eine oder
zwei Octaven, warum nicht eben so oft auch eine Sexte oder
Decime?
Teilweise beruht dies auf der Ahnlichkeit, welche zwischen
einem zusammengesetzten Klang, als Ganzes betrachtet, und
seinem Grundton, fiir sicb allein betrachtet, insofern besteht
als letzterer im ersteren als Teil enthalten ist (I 112). Da uns
nun der Grundton fiir sicli allein weniger vertraut ist, so be-
nennen wir ihn nach demjenigen gewohnten Klange, mit wel-
chem er die grosste Ahnlichkeit besitzt. Und diese Ahnlichkeit
wirkt auch, ohne dass der zusammengesetzte Klang selbst vor-
gestellt wird, indem sie als reproducirende Kraft die tlber-
tragung des entsprechenden Begriffes und Namens auf den vor-
liegenden einfachen Klang bewirkt ^). Derselbe besitzt allerdings
auch eine Ahnlichkeit mit seinen einfachen Nachbartonen; aber
diese sind uns als einfache Tone eben so wenig vertraut, wie
er selbst, also liegt die Verwechselung mit ihnen weniger nahe,
als mit der zusammengesetzten tieferen Octave.
Zum Teil aber beruht die Octaventauschung auf der Ver-
schmelzung. In den Fallen, wo die Benennung sich auf eine
Vergleichung des vorliegenden mit einem anderen concret vor-
gestellten Klang griindet, stellen wir uns einen solchen Klang
vor, mit welchem (mit dessen Grundton) der gegebene einfache
Klang am starksten verschmilzt, und benennen diesen danach.
In Folge davon konnte der einfache Klang zwar ebensowol um
eine oder mehrere Octaven zu hoch als zu tief geschatzt wer-
den: aber dass er iiberhaupt zu tief geschatzt wird, hat die
schon angefiihrten Griinde. Hier war nur zu erklaren, warum
gerade um Octaven.
^) tJber diesen Unterschied der Falle s. bei der Lehre von den
Intervallurteilen im nachsten Bande, wo wir auf die allgemeine Theorie
der „Wiedererkennung" und Benennung naher eingehen. Nicht alles
Erkennen und Benennen ist ein Vergleichen.
unci seine Telle. 409
So lost sich clio Paradoxic, dass Musiker bei absoluten
Hohenbestimmungen sich leichter urn eiuen bestimmteu grosseren
als urn einen geringeren Betrag irren. Wer den Begriff des In-
tervalls ganz in den der Distanz aufgeben lasst, dlirfte hier rait
der Erklarung sell wer zurechtkommen.
Uber das Vorkommeu der Octaventauscliungen vgl. I 270,
310 — 11. Ich habe selbst jahrelaug deii mehrerwahnten sub-
jectiven Ton fis^ urn eine Octave zu tief geschatzt, bis icb durch
genaue Vergleicbung mit/s^ und/s^ am Clavier seine wahre Hohe
erkannte. Bei den zahlreichen voriibergebenden subjectiven Tdnen
ist es mir von der viergestricbenen Octave an fast iramer mehr
Oder weniger zweifelhaft, ob icb z. B. ein vier- oder funf- oder
sechsgestricbenes e vor mir babe, vvabrend icb sehr wol erlienuen
kann, dass es Uberbaupt ein e ist. In welcber Kicbtung bier die
Tauscbung am baufigsten stattlindet, kann icb nicbt sagen, da
selbst bei einer sofortigen Vergleicbung mit Claviertoneu vielfacb
ilber die absolute Hohe Zweifel bleiben, wabrend docb die Stelluug
innerhalb der Leiter {e, d, es u. s. w.) in Zweifelsfallen dadurch
fast regelmassig sofort aufgeklart wird. Am auffallendsteu ist wol
die Tieferlegung der Pfeiftone (o. 298 Anm.), auf deren wabre Hohe
mich erst vor wenigen Jahren G. Engel aufmerksam gemacbt bat.
Man irrt sich hier sogar um zwei Octaven. Ja es kann geschehen,
dass man das gepfiffene c^ fiir die tief ere Octave des c^ halt,
wenn dies auf dem Clavierangegeben wird; solange bis man ganz
genau unter Abstraction von der Klangfarbe die Hoben als solche
vergleicbt.
Wir haben bisber die Falle betracbtet, in denen die nicht-
unterschiedenen Beitone hoher waren als der Hauptton. Man
konnte ebeuso den Einfluss von tieferen Beitonen untersucben.
Zu erwarten ware, dass ein solcher in analoger Weise die
scbeinbare Hohe vertiefte. Aber bei Individuen, die iiber feiuere
Hohenunterschiede iiberhaupt ein Urteil haben, ist der Fall
sob wer herzustellen, well der tiefere Beitou alsbald fiir sich
wahrnehmbar wird (o, 228). Doch finde ich dariiber eine Be-
merkung von Konig (Pogg. Ann. Bd. 157, S. 189) gelegentlich
seiner Gabelversuche: j,Lasst man zu dem c plotzlich g hinzu-
410 § 25. Qualitatsurteile liber einen zusammengesetzten Klang
treton, so klingt cs, als batto der Grundton (c) nur einen tieferen
Charaktor bekommen." Es tritt namlich dann auch der Com-
binationston C ausserst scbwach binzu.
Endlicb Hesse sicb aucb der Fall untersucben, wo zwiscben
2wei starkere Tone ein mittlerer scbwacber, nicbtunterscbiedener
eingescbaltet wiirde. Hieriiber ist mir nicbts Tatsacblicbes be-
kannt.
b) bei gleicber Starke der Componenten.
Hier sind besondere Umstande erforderlicb, wenn fiir musi-
kaliscbe Obren die Analyse ausgescblossen sein soil. So konnen
zwei gleicbzeitige Tone einander zu nabe liegen, um obne be-
sondere Anstrengung unterscbieden zu werden. Dann bestimmt
vorwiegend der tiefere die scbeinbare Hobe des Ganzen (o.
326 — 7). Ferner bei Octaven. Aucb bier wird in solcbem Fall
ausserbalb eines actuellen musikaliscben Zusammenbanges dem
Ganzen die Hobe des tieferen Tones zugescbrieben, ebenso und
nocb bestimmter als im Falle der Analyse (o. 384); weil ja
dann eben nur das Ganze eine Tonbohe zu besitzen scbeint.
Dem Uumusikaliscben gilt das Hinzutreten des boberen Tones
bier fast nur als eine Verstarkung, wabrend der Musikaliscbe
wenigstens eine Klangfarbenanderung statuirt. Der Hinzutritt
einer tieferen Octave dagegen verandert bei gleicber Starke
derselben stets sofort die Auffassung der Tonbobe.
Octaven konnen auch innerbalb und in Folge des musi-
kaliscben Zusammenbanges als Unisono im eigentlicben Sinne
gefasst werden. Wenn z, B. eine in Octavengangen vorgetragene
Melodie als solcbe grosses Interesse erweckt und zugleicb die
Begleitung einen Teil der Aufmerksamkeit abziebt, so kann uns
die Zusammensetzung der melodiefiibrenden Stimmen aus Oc-
taven entgeben. In solcben Fallen ist die Hobenauffassung bald
durcb den tieferen bald durcb den boberen Ton bestimmt, je
nacb naberen Umstanden (s. u.).
Unmusikaliscbe und Kinder fassen wol aucb oft genug
Quinten-, ja Terzengange nur als Unisono von der Hobe der
boberen Tone, die ibre Aufmerksamkeit gewobnbeitsmassig
fesseln (vgl. o. 374).
und seine Teile. 411
2. Distanz nichtanalysirter Klangraassen von ihren
Teilen und von einander.
Man kann die beiden nichtanalysirten Zusammenklange Cc
und cc^ mit dem Einzelklang oder Ton c vergleichen und die
Frage stellen, welcber Eindruck sich mehr von dem letzteren
unterscheidet, welcher Ubergang (c nach Cc und nach cc^) als
eine grossere Anderung aufgefasst wird. Ebenso bei nicht-
analysirten Quinten u. s. w.
Obne Zweifel wiirde hiebei nocb entscbiedener als bei I 1.
die Beifiigung des tieferen Tones als eine grossere Anderung
des Ganzen bezeicbnet werden. Icb babe solcbe Versucbe (die
nur mit Uiimusikaliscben anzustellen wiiren) nicht gemacht.
Statt Zusammenklangen kann man weiter audi Einzelklange
(mit ungleicber Intensitat der Teile) nebmen und nach ibrer
Distanz von einfacben Tonen fragen.
Eudlicb konnten aucb Distanzen je zweier nicbtanaly-
sirter Zusammenklange untereinander verglicben werden, z. B.
CG — eg — c^g^. Und aucb bier kann die relative Starke der
Teile verandert werden. Docb diirfte biebei scbwerlicb etwas
Interessantes und Neues berauskommen.
Die Musik bietet auch fiir die Betrachtungen unter II mancher-
lei Anregung und Auwendupg.
Wenn die Clarinette ein Thema in der ein- und zwei-
gestrichenen Region vortragt und vom Fagott in der nachsttieferen
Octave secuudirt wird, und wenn wir augeublicklich beide lustruraente
nicht auseinanderhalten, so glauben wir die Melodie in derjenigen
Region zu horen, in welcher sie von der Clarinette vorgetragen
wird. Wenn dagegen, wie dies sehr vielfach geschieht, die Flote in
nachsthdherer Octave mit der Violine oder Clarinette oder Oboe
geht, so glauben wir unter gleicher Voraussetzuug die Melodie in
der tieferen Lage zu horen, fasseu die letztgeuannten Instrumente
und nicht die Flote als ihren Trager. Hier ist die Nichtanalyse
auch wirklich die Regel. Die Flote ist eben bei gewohnlicher Be-
setzung und Tongebung schwacher als die anderen genannten In-
strumente (ausgenommen etwa ihre zwei hochsten Tone). Aber auch
412 § 25. Qualitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
wenn ihr Ton nicht ganz im Klange verschwindet, wird er mehr
als Modification aufgefasst; als eigentlicher Trager der Melodie er-
scheint bei Octavengangen dieser Art das tiefere Instrument.^)
Bei vorziiglichen Auffiihrungen der 9. Symphonie Beethoven's
sowie seiner Missa solemnis habe ich auf solche Stellen besonders
geachtet. Sie sind gerade in diesen an Feinheit und Genialitat
der Stimmenbehandlung unerreichten Werken sehr zahlreich. In
der Partitur der 9. Symphonie (Peteks) beispielsweise S. 27, 55,
104, 149, 154, 185 (Trompeten). Man betrachte namentlich die
Stelle S. 154 f. genau:
p dolce
2. Flote.
^fc+E?b^f±EE|££EH^^^*iEI£=^^E53
'tm
p dolce
1. Oboe.
fe^.^g|piEg^-g^^jg^^^
p dolce
2. Oboe.
^) In den vierhaudigen Clavierausziigen wird dieser Umstand zu wenig
berucksichtigt, die Melodie aus der Flotenstimme in die gleiche Octave
des Claviers herubergeschrieben und dadurch eine weniger angenehme
und den Absichten des Componisten nicht entsprechende Wirkung er.
zeugt, indem am Clavier die hohere Octave viel mehr hervortritt. Die
PETEEs'sche Ausgabe der BEETHOVEN'schen Symphonien fur vier Hande
hat es hierin besser getroffen als die Breitkopf - HiRTEL'sche Volks-
imd seine Teile. 413
Wir glauben die Melodie im zweiten Tact dieser Stella nicht so
zu horen und sollen sie niclit so horen, wie sie von der 1. Flote,
dera hochstliegenden Instrument, geblasen wird. Die Melodie geht
fur unser Gelior nicht von b^ nach /^, sondern nach /^, dem Ton
der 2. Flote, in welchen auch die 1. Oboe einstimmt, wahrend /^
nicht davon gesondert vernommen wird^). Die vereinigte 2. Flote
und 1. Oboe werden voriibergehend Trager des Gesanges, wozu auch
das wolvorbereitete Eingreifen der 2. Oboe raitwirkt. Am Schluss
des folgenden Tactes dagegen geht die Melodie wieder auf die
1. Flote tiber und das Ohr folgt in der Tat dieser Wendung, weil
die 2. hier auf h^ liegen bleibt und die Aufmerksamkeit sich dem
Bewegten zuwendet. Es ist ganz merkwurdig, wie hier keine der
hoheren Stiramen, der zwei Floten und zwei Oboen, die Melodie so
vortragt, wie wir sie zu horen glauben, und dass sich doch das rich-
tige Bild in uns zusammeusetzt. Aber die Griinde lassen sich bis
in's Einzelne angeben. Allerdings wirkt auch der Umstand hier
mit, dass wir die Melodie von ihrem erstmaligen Auftreten her im
Gedachtnis haben und dass sie gleichzeitig in tieferer Octave vom
Fagott vorgetragen wird, auch in verbliimter Weise in den Sechs-
zehntelfiguren der ersten Violine enthalten ist. Doch wurde sie
auch ohne diese Hilfen deutlich hervortreten, und dieselben wUrden
uns hier Nichts helfen, wenn die aus dem Zusammenwirken der
hoheren Blasinstrumente resultirende Melodie in Widerspruch da-
mit trate.
Solche Mischungen der Instrumente, wo der Tonsetzer eine
Melodie im Bewusstsein des Horers aufbaut, die in keiner be-
teiligten Stimrae enthalten ist, zeigen Beethoven's wunderbare
Meisterschaft. Aber es gilt auch hier — und ist bereits von
Richard Wagner hervorgehoben — , dass er zu solchen Kunst-
griffen manchmal durch selbstgezogene Schranken veranlasst wurde,
die heutzutage unnotig scheinen. Er liess die Flote und die Violine
im Orchester nicht tiber a^ hinaufgehen (ausser in wenigen Fallen,
wo hohere Tone stufenweise erreicht werden und darum kein
^) Das auf p am Schluss des 2. Tactes in der PETERs'schen Aus-
gabe folgende c^ der 2. Flote ist ein Druckfehler statt es^.
414 § 25. Qualitatsurteile uber einen zusamraengesetzten Klang
Misgriff zu befiirchten war, wie in den Ouverturen zu Egmont
und Konig Stefan). Er musste daher, wo die Melodie eine tTber-
schreitung dieser Grenze verlangte, danach trachten, das Ohr vor-
her schon an ein in der tieferen Octave mitgeheudes Instrument
als Melodietrager zu fesseln.
An einer spateren Stelle (S. 160) hatte die 1. Flote bis h^
gehen mtissen. Beethovek lasst sie in die tiefcre Octave springen,
was libel kliugt, wenn man es bemerkt. Nun wird sie hier wirk-
lich vorher als Tragerin der Melodie gefasst. Aber siehe da, sie
schien mir doch in die Hohe zu gehen. Vielleicht war die Tau-
schung durch das allgemeine Crescendo und das gemeinsame Hinauf-
gehen der Clarinetten und Fagotte begiinstigt. Doch weiss ich
uicht, ob sie auch bei Anderen und bei mir selbst ein anderes
Mai eben so sicher eintreten wiirde.
Das Scherzo derselben Symphonic enthalt eine ganze Reihe
solcher kritischen Stellen, wo Flote oder Violine P haben miissten
und diesen oder mehrere Tone aus der tieferen Octave entleiheu
(S. 72, 87, 88, 92, 128, 133, 135). Hier werden jetzt wol all-
gemein bei Auffuhrungen die hohen Tone selbst eingesetzt. Auf-
fallend bleibt allerdings, dass 2. Violine und Viola, die an solchen
Stellen die 1. Violine in tieferen Octaven begleiten, denselben Gang
nehmen und das Motiv in derselben alterirten Weise vortragen, ob-
schon hier nicht die mindeste Schwierigkeit in Hinsicht der Ton-
lage vorhanden sein wurde. Und es wiire an sich nicht undenkbar,
ja nicht einmal unwahrscheinlich, dass Beethoven aus der Not
eine Tugend, aus den Schranken in der Tonhohe einen Anlass zur
Avirklichen Umgestaltung des Motivs gemacht hiitte; in welchem Fall
man natiirlich Nichts daran andern dilrfte. Doch ware wenigstens
bei Stellen wie S. 92 im vorletzten Tact in der Flote diese Auf-
fassung kaum durchzufiihren.
Umgekehrt musste die melodiefiihrende Violine im Andante
S. 143 im voi'letzten Tact siungemass notwendig von ff auf Jis
heruntergehen, und ich kanu nicht leugnen, dass mich das /s^
immer stort. Ware hier statt dessen eine Achtelpause gelassen,
so wiirde das fs der Viola allein hervortretcn und die Phrase
richtig beendigen. Allerdings hat Beethoven auch hier vorgesorgt,
und seine Teile. 415
indem er gegen Ende derselben die Oboe in hoherer Octave mit-
gehen und den Schluss richtig ausfuliren liisst. Doch ist fur mein
Gehor die Storung damit nicht ganz bcseitigt.
Fur die Auffassung eines der Octaventoue als des Tragers der
Tonhohe bietet audi Beethoven's Claviersonate in B-dur op. lOG
ein Beispiel, welches mir oft aufgefallen ist. Im 22. Tacte des
Adagio geht die Melodie von a^ nicht etwa auf g'-^ sondern
naturlich auf y^, wahrend die hohere Octave nur zum Zweck
hellerer Klangwirkung hiuzugefiigt ist und dadurch auch ein ganz
unentbehrlicher iisthetischer Ausdruck in die Stelle kommt. Es
verhalt sich ahnlich wie in der obigen Stelle der Neunten mit
dem hohen f^ der ersten Flote, wenn auch der hohe Clavierton
nicht ebeuso in dem tiefereu verschwindet. Das "Wort, Beethoven's
Sonaten seien verkappte Symphonien, trifft bier wirklich zu, die
Stelle ist orchestral gedacht, auch in den folgenden Tacten.
RiCHAED Wagnee uimmt in seiner Besprechung der obigen
Stellen im Scherzo der Neunten an, dass das Gehor der hochsten
Stimme unbedingt folge und sorait die Melodie entstellt vernehme.
„In dieser Hinsicht", sagt er (Gesammelte Schriften ^ IX 291) be-
zuglich solcher Eutstellungen, „ist es nun eben vorziiglich die Flote,
welche, sobald sie eintritt, als iiusserste Oberstimme das melodie-
suchende Gehor unwillkiirlich anzieht, und wenn nun der melodische
Gang sich in ihren Noten und deren Folge nicht rein ausdruckt,
jenes notwendig irre fuhrt. Gegen die bier bezeichnete iible Wir-
kung scheint unser Meister mit der Zeit gauzlich achtlos geworden
zu sein."
Wagnee war unter den Neueren sicher der grosste Kenner or-
chestraler Wirkungen, deren Bereich er auch schopferisch erweitert
hat; und seine sorgfaltigen, ich mochte sagen philologischen, Detail-
studien iiber Beethoven's Partitur verdieuten von jedem Dirigenten,
der es kanu, nachgeahmt zu werden, mag man seine Anderungs-
vorschlage billigen oder nicht. Aber wir miissen annchmen, dass
er das Princip bezuglich der Flote nur eben im Hinblick auf
Stellen wie die im Scherzo formulirt hat. AUgemein ist es gewiss
nicht richtig, dass die Flote, wo sie die hochste Stimme hat, das
melodiesuchende Gehor anziehe. Bezuglich des Anfanges der
416 § 26. Intensitatsurteile iiber einen ziisammengesetzten Klang
8. Symphonie, wo sie gleichfalls einen das Thema entstellenden
Gang nimmt, miisste noch der Versuch gemacht werden, ob ein
musikalisch feinlioriges Ohr ohne Kenntnis der Partitur diese Ab-
weichung wirklich bemerken kann. Vielleicht hat sich Beethoven
doch auch bier nicht verrecbnet. Anders verhalt sich naturlich die
Sache, sobald man durch den Anblick der Noten von solchen Ab-
weichungen uuterrichtet ist. Im Allgemeinen gewinnt man doch
gerade durch akustische Erwagungen vorstehender Art an den
letzten Quartetten, Sonaten und Orchesterwerken die tlberzeugung,
dass der langst Taubgewordene die Wirkungen der Klangraischungen
sich sehr wol vergegenwartigen und kunstvoll berechnen konnte^
Was man gemeinhin in dieser Beziehung auf seine Taubheit schiebt
(auch weniger woltuende Zusammenklilnge, wie die Verbindung sehr
hoher und sehr tiefer Tone ohne Mittelglieder), scheint mir kiinst-
lerisch beabsichtigt. Diese Dinge hat aber auch R. Wagnek bei
seinem Ausspruch nicht im Auge. Und dass in einzelnen Fallen
die Berechnung der Klangwirkung nach blosser Erinnerung nicht
vollkommen gelang, dass Beethoven unter dem unmittelbaren Ein-
druck der Instrumente und ihrer Mischungen hie und da anders
geschrieben hatte, ist immerhin moglich. Verwischen sich doch die
Klangfarbenunterschiede in der Erinnerung besonders leicht^), und
combinirt doch Beethoven die langst nicht mehr gehorten In-
strumente jetzt in einem Umfang und einer Manichfaltigkeit, wie
nie zuvor.
§ 26. Intensitatsurteile iiber eineu zusammengesetzten
Klang und seine Telle.
1. Urteile iiber das Starkeverhaltnis gleichzeitiger
Tone.
Wie bei aufeinanderfolgenden, so kann bei gleichzeitigen
Tonen, vorausgesetzt dass sie von einander unterschieden wer-
den, zunachst die Frage gestellt werden: „Sind sie an Starke
^) Vgl. I 159 (Henle); Gurnet Power of Sound Ch. Ill §2, Ch. XII
§ 8; und meine Bemerkungen in der Zeitschr. f. Philos. u. phil. Kritik
Bd. 89, S. 45.
und seine Teile. 417
einander gleich oder ungleich?" Es kann so ein Intensi-
tatsschwellenwert ermittelt werden (nicht zu verwechseln
mit der Intensitatsschwelle beziiglich der Analyse o. 220), der
voraussichtlich nach Individuen, und besonders nach Tonregionen
und nach dem Versclimelzungsgrad wechseln, jedenfalls aber im
Allgemeinen hoher liegen wird, als bei Aufeinanderfolge der
Tone. Es wurden dann die absoluten Starken zu variiren und
die WEBER'sche Formel audi hier zu priifen sein. Doch liegen
noch keine Untersuchungen vor.
Sodann kann auch hier gefragt werden: jjWelcher Ton
ist der starkere?" Versuchsreihen Uber die Feinheit dieses
Urteils wUrden wiederum zu mancherlei Schlussfolgerungen dien-
lich sein.
Auch ohne besondere Versuche lasst sich wenigstens Ein
Ergebnis hier aus bekannten Erfahrungen ableiten. Die Ver-
gleichung gleichzeitiger Tone lehrt noch klarer als die aufein-
anderfolgender, dass die hoheren Tone bei gleicher Reiz-
starke grossere Empfindungsstarke besitzen. Die winzige
Pickelflote iibertont in ihren hohen Lagen in der viergestrichenen
Octave bequem das gesammte Orchester, selbst das Blech. Ein
einziger guter Solosopran beherrscht nicht minder Chor und Or-
chester, sobald seine Tone hoher liegen. Vgl. etwa den Schluss
von Schumann's Paradies und Peri, auch das erste Finale seiner
Faustscenen; von Opernarien gar nicht zu reden. Weiss sich
doch auch ein tiichtiges Kanarienvogelchen gegen grossen Larm
geltend zu machen.
Das Heraushoren kann in solchen Fallen nicht etwa aus
der blossen Gewohnung, auf die Hohe zu achten, erklart wer-
den. Denn diese Gewohnheit selbst griindet in der Praxis, die
Melodic in die Hohe zu legen, und diese wieder hauptsachlich
gerade in dem genannten Umstande. Je mehr die harmonische
Musik sich entwickelte, um so mehr trat diese Notwendigkeit
der Hoherlegung hervor. Im Altertum lag die diirftige Instru-
mentalbegleitung nach Westphal Uber der Singstimme. Der
Cantus firmus des Mittelalters lag, als die Mehrstimmigkeit im
12. Jahrhundert aufkam, ebenfalls zunachst unter der oder den
Stumpf, Tonpsychologie. II. 27
418 § 26. Intensitatsurteile ilber einen zusammengesetzten Klang
hinzugesetzten Stimmen^), dann zwischen deiiselben (Tenor
von Cantum tenere). Jetzt geschieht es nur eines besonderen
Effectes halber, wenn die Melodie in die Mitte oder nach unten
verlegt wird. Bei Bassgesangen , wo die Begleitung notwendig
zum Teil hoher liegen muss, pflegt diese selbst weniger con-
tinuirlich zu sein, um besonders an den accentuirten Stellen
die Stimme nicht zuzudecken.
Ausser der Lage waren wieder die absoluten Starken zu
variiren, die Zuverlassigkeitswerte bei der genannten Frage-
stellung zu ermitteln und mit der WEBER'schen Formel zu
vergleichen.
Wenn mehr als zwei Tone zusammenklingen und unter-
schieden werden, so konnten auch die Starkedistanzen ver-
glichen werden, wie bei aufeinanderfolgenden Tonen; und dies
wiirde sogar, wie dort, die directeste Methode fiir die Priifung
des FECHNER'schen Gesetzes sein.
2. Verandert sich die Starke eines objectiv gleich-
bleibenden Tones, wenn er mit anderen zusammen ge-
hort wird?
Hieriiber lassen sich einige Beobacbtungen anfubren, welche
meiner Meinung nach dartun, dass der Ton im isolirten Zu-
stande starker erscheint.
Mach erwahnt^), dass in folgenden Beispielen:
1. la. 2. 2a. 3. 3a.
....^_s^..
h. ^
1^=3:
m^^m^^^^^^^.
^ ]/ ^ I V
1 wie la klingt, 2 wie 2a, 3 wie 3a; und fUhrt dies darauf
zuriick, dass die Aufmerksamkeit sich accommodire und zwar
') .,Discantare est supra tenorem vel tenores voces alias simul cum
illis proferre voces illis concordantes." Autor bei Coussemakee Scriptores
de musica medii aevi II 387.
2) Sitz.-Ber. der Wiener Akad. 1865, S. 202 („Bemerkungeii uber
die Accommodation des Obres"). Einleitung in die HELMHOLTz'sche Musik-
theorie 1867 S. 24 f. Beitrage zur Analyse der Empfindungen 1886 S. 126.
Das Beispiel 4 nur in der zweiten unter diesen Publicationen.
und seine Telle. 419
allemal demjenigen Ton sich zuwende, der der losgelassenen
Taste zunachst liegt. Derselbe erklinge dadurcb mit einer
Deutlichkeit, als wenn er direct angeschlagen ware. Doch trete
die Verstarkung des Tones merklich nach dem Loslassen der
Taste ein. Beziiglich des Beispieles 4
4. 4a. 4b. 4a. 4/?.
iSiiiiliiglilipli
sagt Mach, dass es auf die willkiirliche Leitung der Aufmerk-
samkeit ankomme. Jeuachdem man den hoberen oder den tie-
feren Klang unter den beiden iibrigbleibenden zu beacbten
strebe, klinge. es wie 4a oder wie 4b.
Diese Beobacbtungen werden Jedem gelingen. Am Clavier
beniitzt man am Besten tiefere Tone (der grossen oder kleinen
Octave), weil sie langer fortklingen. Man kann dann mit je
zwei Tonen die Beobachtung macben, dass das Aufboren des
einen den anderen ein wenig verstarkt, besonders, wie mir
scbeint, das Aufboren des tieferen den boheren ^). Die Mach-
^) Octaven iind Duodecimen sind jedoch aus einem besonderen
Grunde hier nicht beweiskraftig, obgleich gerade bei der Octave die
Verstarliung des lioheren Tones wahrend der Pausen des tieferen be-
sonders auffallend ist. Es wird namlich durch das Anschlagen des tie-
feren Tones hier der hohere jedesmal schon physikalisch (durch Mit-
klingen) verstarkt, was auch nachwirkt, wenn die tiefere Taste sogleich
wieder losgelassen wird.
Man kann auf solche Art auch den ersten gemeinsamen Oberton
zweier Tone momentan bedeutend verstarken, indem man die eine der
beiden Tasten abwechselnd anschlagt und wieder loslasst. In den Pau-
sen tritt der Oberton immer ungewohnlich stark hervor, z. B. bei C und
G das g. Auch diese Beobachtung, die mich zuerst in Verwunderung
setzte, bis ich die einfache Erklarung fand, hat bereits Mach beschrie-
ben und richtig gedeutet (Einleitung 30). Man braucht den einen Ton
nicht einmal wirklich erklingen zu lassen, sondern nur die Taste nieder-
zuhalten, sodass die Saite schwingungsfahig wird: der Oberton tritt dann
gleichwol in den Pausen des anderen Tones, wahrend also k einer der
beiden Primartone klingt, hervor.
Man sieht hieraus, auf wievielerlei Umstande bei solchen Intensitats-
versuchen zu achteu ist.
27*
420 § 26. Intensitatsurteile tiber einen zusammengesetzten Klang
schen Notirungen unter 2a, 3a, 4a und 4b diirfen ubrigens
natiirlicb nicht so verstanclen werdeu, als horte man die Noten
von langerer Dauer nicbt, wabrend die anderen bervortreten.
Mach bat die Scbreibweise nur gewablt, um recbt deutlicb den
Eindruck der successiven Verstarkung zu veranscbaulicben. Docb
liesse sicb unbescbadet dieses Zweckes z. B. 4 a und 4 b wol
besser so scbreiben wie es in 4a und 4/3 gescbeben ist.
Wabrend icb nun in Bezug auf die Tatsacben Mach voll-
kommen zustimme, scbeint mir seine Auffassung derselben nicbt
ganz die ricbtige. Icb meine, dass bier nicbt eine Wirkung
der Aufmerksamkeit vorliegt, sondern dass vielmebr die Zu-
wendung der Aufmerksamkeit, wo sie nicbt gerade willklirlich
oder nicbt bereits vorber auf den beziiglicben Ton gericbtet
ist, eine Folge der Verstarkung ist, die Verstarkung selbst aber
die directe Folge des Hinwegfalles der einen Tonem-
p fin dung. Die gleicbzeitigen Tonempfindungen oder besser
die gleicbzeitigen Erregungen des Nervus acusticus tun sicb
gegenseitig einen Abbrucb. Das Mitklingen eines anderen lasst
einen Ton nicbt in der vollen der Reizstarke sonst entspre-
cbenden Intensitat zur Empfindung kommen.
Die Ricbtigkeit dieser Deutung scbeint mir daraus bervor-
zugeben, dass man die Erscbeinung besonders deutlicb wabr-
nimmt, wenn man die Aufmerksamkeit von vornberein auf den
nacbber iibrigbleibenden Ton (bez. bei mebreren iibrigbleibenden
auf einen derselben) gericbtet bait. Icb bin ja nicbt gezwungen,
mit der Zuwendung meiner Aufmerksamkeit beispielsweise an
den Ton h^ im Beispiel 2 zu warten, bis e^ wegfallt. Was
also die Aufmerksamkeit etwa an Verstarkung eines Tones
leisten kann, kann bezUglicb h^ scbon vorber geleistet sein.
Dessenungeacbtet lasst sicb gerade dann der Starkezuwacbs
beim Wegfall von e^ recbt deutlicb wabrnebmen. Was das Bei-
spiel 4 angebt, so scbeint mir aucb da eine andere Auslegung
ricbtig. Durcb den Wegfall des g^ werdeu beide iibrigblei-
bende Tone verstarkt; aber wenn man den einen vorzugsweise
beacbtet, beacbtet man natiirlicb aucb vorzugsweise seine Ver-
starkung. Es ist ebenso bei 2 und 3.
und seine Teile. 421
Zu untersuchen ware nun weiter, ob diese gegenseitige
Schwachung hohe und tiefe Tone in gleichem Masse trifft.
Manches scheint dafiir zu sprechen, dass tiefere woniger durch
hohere benachteiligt werden als umgekehrt (o. 229).
Auch ware das Starkeverhaltnis zu variiren, und zu fragen,
ob dann etwa jeder Ton im geraden oder umgekehrten oder
einem sonstigen Verhaltnis zu seiner Starke beeintrachtigt wird.
Die erhebliche Schwachung der Obertone scheint darauf hin-
zudeuten, dass schwachere mehr leiden als starkere; obschon
auch hier andere Umstande mit in Betracht kommen (o. 231 f.).
Die 0. 384 f. erwahuten Versuche, welche beweisen, dass dem
Ganzen die Hohe des tieferen Tones zugeschrieben wird, sind
auch fiir diese Fragen lehrreich. Man lasse z. B. eine c'- und
eine /"^-Gabel auf Resonanzkasten zugleich tonen und dampfe dann
eine der beiden. Auch ohne abgestimmte Resonanzkasten kann
man zwei frei angeschlagene Gabeln auf Einen Kasten setzen
und die eine dann wegnehmen. Besonders beim Wegfall der
tieferen Gabel bemerkt man einen Ruck, eine Art von Uber-
schnappen. Dieser Eindruck setzt sich zusamnien aus dem ver-
anderten Klanghohenurteil und aus der Verstarkung des iibrig-
bleibenden Tones. Beim Wegfall der hoheren findet nur die Ver-
starkung statt, aber auch diese, scheint es, in geringerem Masse.
Es scheint sich also auch hiebei zu bestatigen, dass der tiefere
Ton dem hoheren mehr entzieht als umgekehrt.
Aus der Musik ist iiber regelmassige Verstarkung beim
Wegfall und iiber Schwachung beim Hinzutritt anderer Tone
kaum Etwas bekannt. Die Verstarkung und Schwachung sind zu
gering, um bemerkt zu werden, wenn die Aufmerksamkeit auf
die Melodic, Harmonic, Modulation, kurz auf das musikalisch
Wesentlichere gerichtet ist. Auch wird der Starkeverlust des
einzelnen Tons durch den Eindruck grosserer Fiille gewisser-
massen compensirt, wenngleich diese, wic wir noch genauer
zeigen werden, keineswegs mit grosserer Starke verwechselt
werden darf. Endlich ist denkbar, dass gute Spieler und Sanger
unwillkiirlich durch eine wenig starkere Tongebung nachhelfeii,
wenn neue gleichzeitige Tone dazukommen und ea in der In-
422 § 26. Intensitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
tention des Stiickes liegt, dass ihr Part gleichstark horbar wie
vorher bleiben soil.
Zwei Stellen in Schumann's ersten Clavierwerken bieten
indessen musikalische Seitenstiicke zu Mach's Versuchen; die
erste steht in den „Variationen iiber den Namen Abegg" op. 1,
die zweite in den „Papillons" op. 2 (Schluss).
^^^-%Ef=f
ill
Fed.
t=l-
SiS
Die Accente im ersten Beispiel bat Schumann so hingeschrieben,
obgleicb sie der Spieler bei liegenbleibender Taste unmoglich
ausfiibren kann ^). Aber es kommt durcb den Wegfall je eines
Tons von selbst eiue leicbte Verstarkung. Moglich dass Schu-
mann daran gedacht hat. Nur der letzte Accent allerdings bat
keinen Sinn fiir den Horer und ist, wie Manches in Schumann's
iibermiitigen Jugendwerken, nur fiir's Auge und fiir das geistige
Ohr des Spielers hingesetzt.
Damit kein Misverstandnis platzgreifen kann, sei noch be-
merkt, dass Das, was wir als gegenseitige Scbwachung von Tonen
oder genauer von akustischen Nervenprocessen bezeicbnen, ebenso
wie die „Verscbmelzung" der Tone nicht als ein Process auf-
^) hochstens Einmal durcli plotzliche Unterbrechung und Wieder-
aufhebung des Pedals, das aber hier ausdriicklich erst bei der letzten
Note vorgeschrieben ist, wo es fiir diesen Zweck Nichts mehr niitzt.
und seine Telle. 423
zufassen ist, dessen Abwickelung noch io der Empfindung irgend-
wie beobachtet werden konnte, sondern als ein fertig gegebenes
Verhaltiiis. Wir wollen nur die Tatsache aussprechen, dass der
namliche Ton bei unveranderter Reizstarke schwacher empfunden
wird, wenn er mit anderen zusammenklingt. tlber den physio-
logischen Hergang der Sache kann man sich einstweilen noch
verschiedene Gedanken machen.
Im Gegensatz dazu steht das Zusammenwirken mehrerer
akustischer Nervenprocesse benachbarter Fasern zu Einem Ton,
wie es ja die Consequenz der Lehre von der Schneckenclaviatur
ist (o. 111). Hiebei muss natUrlich der Ton um so starker sein,
durch je mehr Nervenfasern die namliche specifische Energie
gleichzeitig ausgelost wird^).
Die obige Behauptung soil sich auch nicht auf den Eall
beziehen (den wir weiter unten besonders besprechen), dass
zwei gleichzeitige Tone verschiedenen Ohren, dem rechten und
linken, angehoren.
3. Macht ein Tonganzes einen starkeren Eindruck
als jedes seiner Teile?
Wenn es richtig ist (wie wir dies seit den Erorterungen
der §§16 und 17 festhalten), dass wir beim Dreiklang drei Tone
und nicht einen einzigen einheitlichen Ton horen, so gibt es
folgerecht keine Intensitat eines Dreiklangs, Uberhaupt eines
Zusammenklanges, sondern nur eine Intensitat jedes seiner ein-
zelnen Tone; ebenso wie ein Zusammenklang keine Hohe hat,
sondern nur der einzelne Ton. Aber es kann ihm gleichwol
in der Auffassung ebenso eine gewisse Starke wie eine Hohe
zugeschrieben werden, und dies sowol im Fall der Analyse wie
der Nichtanalyse. Wem der Dreiklang einheitlich erscheint, dem
^) G. E. MtJLLEE verteidigt in seiner Schrift iiber die sinnliche
Aufmerksamkeit (S. 71 — 77) die These, dass alle gleichzeitigen Empfin-
dungen, ja auch die nicht zur Empfindung kommenden Nervenerregungen,
einander Abbruch tun, besonders aber diejenigen, welche gewohnlich
eine gemeinsame physiologische Resultante bilden. Gerade dies Letztere
wiirde ich nicht zugeben, unterlasse aber nicht, die Ubereinstimmung
im Ubrigen hervorzuheben.
424 § 26. Intensitatsurteile iiber einen znsammengesetzten Klang
scheint er natiirlich auch eine einheitliche Starke zu haben.
Aber auch wer ihn zergliedert wahrnimmt, wird zuweilen und
in gewissem Sinne von einem starkeren, schwacberen Zusammen-
klang reden. Wenn die Teile gleicbe Starke baben, wird diese
Starke als die des Ganzen gelten, bei ungleicber Starke wird
der starkste Teil als Trager der Klangstarke aufgefasst werden.
So nennen wir aucb ein Gemalde beller bei Tage als in der
Dammerung, oder beller als ein anderes Gemalde. Wer den
Farben iiberbaupt keine eigentlicbe Intensitat zuerkennen will,
mag an die Temperatur eines Vollbades denken. Wenn man
bineinsteigt, empfindet man an verscbiedenen Korperteilen ver-
scbiedene Warmegrade, je nacb dem Gegensatz, in welcbem die
augenblicklicbe Eigentemperatur eines jeden zu derjenigen des
Wassers stebt. Man scbatzt trotzdem das eine Bad im Ganzen
als warmer oder kiibler gegeniiber einem anderen. Ein solcbes
Collectivurteil, wie man's nennen konnte, braucbt nicbt erst aus
einer zergliedernden Gegeuiiberstellung der Teile bervorzugeben,
sondern kniipft sicb scbon an den ersten Gesammteindruck.
Besonders massgebend wird dabei allerdings die Starke der
starksten Teilempfindung sein. Leicbter und bestimmter tritt
natiirlicb das Urteil ein, weim die iibrigen Umstande in zwei
zu vergleicbenden Fallen moglicbst unverandert bleiben (die
Qualitat der Farben und ibre Verteilung auf der Flacbe, die
Hobe und Anzabl der Tone eines Zusammenklangs); docb ist
aucb bei einer Veranderung derselben, wie wir beziiglicb der
Bilder scbon angedeutet baben, eine Starkevergleicbung nicbt
notwendig ausgescblossen. Es scbeint mir sogar, um dies neben-
bei zu bemerken, dass man unter Umstauden die Intensitat
eines Empfindungsganzen, welcbes aus Empfindungen verscbie-
dener Sinne zusammengesetzt ist, gegen die eines anderen eben-
falls zusainmengesetzten abscbatzt. Man scbatzt die Gesammt-
erregung in einem Augenblick grosser oder geringer als in
einem anderen.
Wir konnen daber der oben gestellten Frage von jedem
Standpunct aus einen Sinn beilegen und sie dem Versucb unter-
werfen. Es wird dieser Versucb und sein Ergebnis gerade ein
und seine Teile. 425
neues Mittel zur Priifung der Principienfrage selbst abg,eben,
ob mebrere oder ob nur Ein Ton in der Empfindung vor-
handen ist. Wenn mehrere, so kann ein Zusammenklang bei
genauer Beobacbtung nicht starker gescbatzt werden als der
starkste Teil. Wenn dagegen die mebreren objectiven Tone
sich subjectiv zu Einer Empfindung vermiscben, so muss die
Starke dieses empfundenen Tones mit jedem neuen objectiven
Ton wacbsen. (Fiir die Hypotbese des Wettstreites wiirde sicb
ebenfalls die erstere Consequenz ergeben: daher wiirde der
Versucb zwiscben ibr und der Mebrbeitsansicbt nicbt ent-
scheiden.)
Stellen wir den Versucb zunacbst so an, dass wir einen
Ton isolirt und dann obne Veranderung seiner Reizstarke mit
anderen Tonen zusammen angeben, z. B. auf dem Clavier:
_S!_K|_5_-|_B| -^_
-0- -»■ -0- -0- -0- -0-
po sempre
=ijz::l^=:]z:1:
-d—^—^—^—Ti--i-
zzl=:^z:::li=il:
^_j_^_^_^_^
:jz::t=:j=:ti:l=zt:
-^—^—t—T^—^—Ti-
wobei also sorgfaltig darauf zu acbten ist, dass die Basstaste
immer mit gleicber Starke angescblagen wird. Icb babe den
Fall guten Musikern ebenso wie Nichtmusikern vorgelegt und
einstimmig die Antwort erbalten, dass eine eigentlicbe Ver-
starkung des Eindrucks nicbt stattfinde. Er werde reicber,
voller, aber nicbt kraftiger. Besonders klar wird dies, wenn
man den Eindruck dagegen bait, den wirklicbo Verstarkung
eines einzelnen Tones macbt, wie wenn wir in obigem Beispiel
den Discant weglassen und den Bass dafiir im 2. Tacte forte
angeben. Niemand wird bebaupten wollen, dass der 2. Tact
dann in Hinsicbt der Starke einen abnlicben Eindruck macbt,
wie im vorberigen Fall.
"Wir diirfen dieses Sinnesurteil daber unbedenklicb als der
Wabrbeit entsprecbend annebmen, das beisst: Das Hinzu-
kommen anderer, selbst einer grossen Zabl anderer,
426 § 26. Intensitatsurteile tiber einen zusammengesetzten Klang
Tone bedingt keine Verstarkung des Empfindungs-
ganzen.
Nach dem Vorangehenden (2.) miissen wir sogar fiir den
Basston eine geringe Abschwachung beim Hinzutritt der iibrigen
erwarten, und man wird sie bei genauem Hinhoren auf diesen
einzelnen Ton auch bemerken. Aber das Ganze wird nicht
geradezu als scbwacher beurteilt im zweiten gegeniiber dem
ersten Tacte, da die Aufmerksamkeit hiebei voraussetzungs-
gemass eben nicht auf den Bass concentrirt bleiben, sondern
auf das Ganze als solches gerichtet werden soil, mag es analy-
sirt oder unanalysirt wabrgenommen werden. In Folge dessen
entgeht uns die geringe Abschwachung.
Wegen der Wichtigkeit der Sache will ich im Folgenden
einige Einwendungen besprechen, die vielleicht noch gegen
unsre Behauptung gerichtet werden und Manchen verhindern
konnten, derselben sogleieh beizustimmen. Man wird erstlich
sagen, ein Orchester klinge doch starker als ein einzelnes In-
strument. Zweitens, wenn sechs lustrumente bald in verschie-
denen Tonen, bald im Unisono spielen, so erscheine die Starke
des Gesammteindrucks nicht wesentlich verandert, wahrend sie
nach unsrer Behauptung beim Unisono stets erheblich wachsen
miisste. Speciell die Hinzufiigung der Octave gelte allgemein
auch als Verstarkung. Man betrachte es als im Wesentlichen
gleich wirksam, wenn zu 50 Sangern 50 andere in der Octave
und wenn sie im wirklichen Unisono hinzutreten.
Dass nun kein wesentlicher Unterschied sei, wenn sechs
Instrumente gelegentlich wahrend des Stiickes auf Einem Ton
zusammentreffen, ist einfach unrichtig. Freilich darf man nicht
die sechsfache Starke erwarten; das FECHNEE'sche Gesetz gibt
die Kegel.
Beim Hinzutreten der Octave hilte man sich, grossere Fiille
oder grossere Scharfe (Helligkeit) mit grosserer Starke zu ver-
wechseln; was hier besonders nahe liegt, weil Octaven musika-
lisch gewissermassen als Ein Ton gelten, oft auch wirklich nicht
auseinandergehalten werden. Sodann achte man genau darauf,
ob nicht der hohere Ton, wenn dieser der hinzukommende ist,
und seine Teile. 427
schon an sicli starker ist als der tiefere. Ferner lasse man
sich nicht durch den Umstand, dass jetzt mehr Stimmen oder
Instrumente zusammenwirken, im Urteil beeinflussen. Wenn
man dann in gewissen Fallen gleichwol eine geringe Verstar-
kung bemerkt, so riihrt sie vom Differenzton her, welcher
mit dem tieferen Octaventon zusammenfallt, und vom ersten
Oberton des tieferen Tones, der mit dem hoheren Octaventon
zusammenfallt; wodurch denn freilich eine leichte Verstarkung
beider, aber nicht durch verschiedene, sondern durch gleiche
Tone eintritt. Abgesehen davon aber wird man keine wirkliche
Verstarkung bei der „Verdoppelung" in der Octave beobachten,
ganz anders als beim Unisono. Gleich oder ahnlich wirksam
konnen beide immerhin unter Umstanden sein, namlich in Hin-
sicht ihrer asthetischen Wirkung.
Aus den eben angefiihrten Umstanden erklart sich u. A,
die Verstarkung des hoheren wie des tieferen Tones, welche
Ohm's Freund (o. 240 — 1) bei Octaven auf der Violine beob-
achtete, und zugleich begreift sich, warum diese Verstarkung bei
Unreinheit des Intervalls sowie bei anderen Klangfarben und
sonstigen Umstanden, die auf Differenz- und Obertone Einfluss
haben, nicht oder nicht in gleichem Masse beobachtet wurde.
Was den Fall des Orchesters betrifft, so ist vor Allem zu
bedenken, dass ein Teil der Instrumente Unisono spielen. So
muss uatUrlich grossere Starke herauskommen als bei Einem
Instrument. Ferner schatzt man die Starke des Gesammtein-
drucks nach dem starksten Teil; sodass wiederum natUrlicher-
weise Ein Instrument schwacher erscheint, wenn es nicht gerade
selbst dieses starkste im Ganzen ist. Beseitigt man jegliches
Unisono (auch innerhalb Finer Stimme) und vergleicht man
dann den Gesammteindruck mit dem des starksten Instrumentes
fiir sich allein, so zweifle ich nicht, dass man nurmehr einen
Unterschied der Fiille, nicht einen der Starke finden wird.
Auch sind die aus der Orchestermusik erinnerlichen Falle fiir
unsren Zweck vielfach schon darum ungenau, weil die Spieler
beim Ensemble und besonders bei polyphonen StUcken leicht
starker spielen als wenn sie allein zu spielen batten, um ihrc
428 § 26. Intensitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
Stimme neben den iibrigen zur Geltung zu bringen; ferner
weil in der Kegel bei zunehmender Stimmenzahl zugleich ein
Crescendo in der Tongebung vorgescbrieben oder vorausgesetzt
ist, aucb wol die hinzukommenden Instrumente an sicb starker
sind als die frliberen (man beginnt eine Steigerung nicbt mit
der Posaune, urn etwa die Viola als letzten Trumpf dazuzu-
fiigen).
Bei Vermehrung von Tonen, die an sicb schon stark sind,
darf man aucb nicbt iiberseben, dass Nebenwirkungen auf den
Tastsinn damit verbunden sein konnen, in deuen sicb dann
allerdings die verscbiedenen Tone zu gemeinsamer, also star-
kerer Wirkung vereinigen, obne dass docb die Tonstarke selbst
wiichse ^).
Ich habe in verschiedenen Fallen bei guten Auffiihrungen be-
sonders auch auf diesen Fragepunct geachtet. Was die Octaven be-
trifft, so gebraucht z. B. Mendelssohn in der ^-raoll-Symphonie
(Orig.-Part. Breitkopf 149 f.) Verdreifachung in der Octave beim
Piano. In Beahms' Requiem II. Satz beginnt das ganze Orchester fo
imd verbleibt dabei langere Zeit mitsammt dem Chor. Der Ein-
druck hat nicht die mindeste Verwaudtschaft mit dem einer einzigeu
Trompete im Forte. Und wenn dann wirklich das Forte eintritt
(„Denn alles Fleisch"), so ist es mir vollkommen deutlich, dass die
Posaune die namliche Starke hat, wie das Ganze, innerhalb dessen
ich sie hore, und dass dieses Ganze nicht starker ist als wenn ich
die Posaune allein horte. Aber es begreift sich leicht, dass das
Ganze fiir Jemand, der es nicht analysirt, beim Hinzutritt der
') Nebenbei beraerkt, darf man auch schon physikalisch die Ampli-
tude einer aus zwei Sinuswelleu von ungleicher Lange zusammengesetzten
Welle nicht etwa gleich der Summe der einzelnen Amplituden setzen.
Sie ist stets kleiner als diese Summe und weicht bei gleicher Amplitude
der Primarwellen um so mehr von der Summe ab, je mehr die Wellen-
langen von einander abweichen. Eine allgemeine Formel dafiir besitzen
wir nicht. Fur den Fall der Octave habe ich durch Annaherung (Auf-
suchung des Punctes der Abscisse, fiir welchen cost = — 2 cos 2 1, von
beiden Seiten her) ausgerechnet, dass, wenn beide einfache Wellen die
gleiche Amplitude 1 haben, die Amplitude der zusammengesetzten Welle
1,7601725 . . . betragt und zwischen 53° 37' 297^ und ^V' Hegt.
und seine Teile. 429
Posaune starker zu werden scheint. Bei einer Auffiihrung der
9. Symphonie Beethoven's im Leipziger Gewandhaus bemerkte ich
Seite 20 — 22 der Partitur (Petees) nur in dem Moment eine ge-
ringe Verstarkung, wo die Basshorner und die beiden Fagotte dazu-
treteu, was teils ihre an sich grossere Starke, teils der Umstand
bewirkt, dass einer der Tone schon vertreten ist (a im Cello).
Analog S. 68 f., S. 81. Auch Mendelssohn's Ouverture zum Sommer-
nachtstraum ist hier wieder lehrreich. (Ich citire dieses geniale
Werk mit Vorliebe; es ist auch in rein akustischer Hinsicht eine
wahre Fundgrube.) Zu den anfanglichen zwei Floten treten Oboen
und andere Instrumente, ohne dass das Piano wesentlich alterirt
wurde. Was etwa an Starke hinzukommt, stammt wieder von der
grosseren Schallkraft der neuen Instrumente (Fagotte, Horner) auch
schon im isolirten Zustand. Doch ich fiirchte, Sachverstandigen
Trivialitaten zu sagen.
Fur Diese sind gerade Ausnahmefalle interessanter. So konnte
man sogleich Stellen wie den Anfang des Hochzeitsmarsches in dem-
selben Werke entgegenhalten, wo zuerst drei Trompeten unisono,
dann nur zwei unisono, eine aber in der Terz, dann alle drei in
verschiedenen Tonen (Dreiklang) blasen. Man mtisste erwarten,
dass nach unseren Principien der Gesammteindruck hier zuerst am
starksten, zuletzt am schwachsten ware, wahrend entschieden eine
Steigerung bemerkbar und auch beabsichtigt ist. Indessen eine ge-
wisse, wenn auch nicht intensive, Steigerung liegt schon in der
Vermehrung der Stimmenzahl und in der aufsteigenden Dreiklangs-
melodie. Ausserdem blasen vielleicht die Trompeter unwillkiirlich
entsprechend starker. Aber ich konnte mir auch denken, dass
Mendelssohn, der sich gut auf dynamische Effecte verstand,
geradezu die leichte Tonschwachung, die doch wegen der sonstigen
Steigerungen nicht bemerkt wird, benutzt, um dann das gesammte
Orchester mit der brillanten Dissonanz um so raachtiger aufs Ohr
fallen zu lassen. Bei der Wiederholung, wo dieser Effect ja nicht
mehr so vollwirksam sein kann, hat er ein Crescendo fiir die Trom-
peten hingeschrieben.
Ich will hier noch einen Fall anschliessen, wo selbst ein guter
Akustiker Verstarkung behauptete. Der Prager Orgelbauer Schipfner
430 § 26. Intensitatsurteile iiber einen zusaramengesetztea Klang
zeigte mir eine Pfeifenreihe , welche das C mit seinen Obertonen
bis zum 7. Teilton einschliesslich gab und durch gemeinscliaftlicbes
Geblase zum Tonen gebracbt werden konnte. Ihm schien nun bie-
bei das C starker zu werden als beira isolirten Ertonen, mir hin-
gegen schwacher. Es diirfte in der Tat schon pbysikalisch schwacher
geworden sein, da sich der Wind auf die vielen Pfeifen verteilen
musste, abgeseben von der physiologiscben Scbwacbung, die wir be-
haupten. Aber Schipfner hatte sicb formlicb daran gewohnt, den
Klang als Einbeit aufzufassen, weil er sich den Apparat zu Ver-
suchen iiber Orgelmixturen gebaut hatte. So fasste er das Ganze
als C von scharferer Klangfarbe und mochte es um der grdsseren
Scharfe willen starker taxiren.
Der Fall war mir auch darum iuteressant, weil er ausnahms-
weise sich jener alteren HELivraoLTz'schen Theorie der Analyse
fugt, wonach fortschreitende Erfahrung in Klangwabrnehmungen
imraer grossere Schwierigkeit des Analysirens bedingen musste
(o. 71). Aber liier war eben eine besondere Intention des Horenden
massgebend.
Vielleicht wird uns auch entgegengehalten, dass es hienach
beim Rufen Nichts helfen wurde, gleichzeitig zu Zweien oder Dreien
zu rufen, ausser wenn man genau in der gleichen Tonhohe riefe.
Aber das ist auch nicht fiir alle Falle ausgemacht. Wo es hilft,
beruht dies vielleicht darauf, dass verschieden hohe Tone sich un-
gleich fortpflanzen und so die Chancen fiir den Horer vermehrt
werden (I 208). Auch kann die Aufmerksamkeit des Horers ein-
mal leichter durch hohere, ein anderesmal durch tiefere Tone er-
regt werden, je nach der augenblicklichen zufalligen Richtung der
Aufmerksamkeit; und so wird auch darum die Vereinigung vorteil-
haft sein. .
4. Dieselben Fragen bei Verteilung der Tone an
beide Ohren.
Wir setzten bisher voraus, dass die melirereu Tone ent-
weder nur von Einem Ohr oder gleichmassig von beiden zu-
gleich gehort werden. Es konnen aber die nanalichen Fragen —
„Bei welcher Starkedifferenz scbeinen die Tone noch gleich stark?
Bei welcher wird der starkere als solcher erkannt? Scheint
and seine Telle. 43]^
sich die Starke eines Tons durch einen hinzutretenden zu ver-
andern? Scheint das Ganze starker als jeder Teil?" — auch
fiii- den besonderen Fall untersucht werden, dass von zwei Ton-
empfindungen die eine dem rechten, die andere dem linken Ohr
angehort.
Abgesehen jedoch von ohrenarztlichen Erfahrungen, so-
wie von solchen iiber minimale Eindriicke, iiber welche beiden
wir in besonderen Nummern berichten, gibt vorlaufig nur
die letzte der genannten Fragen hier noch Stoff zur Dis-
cussion.
Wenn ich zwei Stimmgabeln mittlerer Region von un-
gleicher Tonhohe aber gleicher Tonstarke rechts und links ver-
teile, sodann eine derselben entferne, so bemerke ich auch hier
keine eigentliche Schwachung des Gesammteindrucks. Aber der
Doppeleindruck ist hier nicht bios qualitativ reicher, voller,
sonderu auch raumlich; und so kann noch leichter die Tau-
schung entstehen, als ware er starker. Es ist ahnlich, wie wenn
ich die eine Hand in warmeres, die andere in kalteres Wasser
tauche und dann eine Hand herausziehe; ich habe ein Mehr
und ein Weniger von Temperaturempfindungen, aber nicht eine
starkere und eine schwachere.
Selbst im Falle der Nichtanalyse scheint es mir nicht
anders zu stehen. Dieser Fall ist in der einfachsten Weise
bei gesunden Menschen fortwahrend dadurch verwirklicht, dass
sie einen und denselben. objectiven Ton doppelohrig horen. Wir
sind 0. 326 f. zu der Ansicht gekommen, dass wenigstens von
Solchen, deren Ohren denselben Ton bei successiver Einwirkung
merklich ungleich horen, auch bei gleichzeitiger Einwirkung
nicht Ein sondern zwei sogar qualitativ verschiedene Tone gehort
werden, obgleich dann der Unterschied und die Zweiheit nicht
bemerkt wird. Selbst solche Psychologen, die die Moglichkeit
eines gleichzeitigen Bestehens mehrerer Tonempfindungen sonst
leugnen, pflegen fiir den Fall der localen Trennung die Zwei-
heit anzunehmen. Auch sie miissten daher fiir diesen Fall
theoretisch keine Verstarkung erwarten. Dennoch wird man
gerade hier nach den Erinnerungen des Lebens zunachst ge-
432 § 26. Intensitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
neigt sein zu sagen: Wir horen mit zwei Ohren besser als mit
Einem.
Genauer zugesehen, muss man aber auch hier Mancherlei
auseinanderlialten. Vor Allem ist die grossere Leichtigkeit der
objectiven Orientirung iiber Bescliaffenbeit und Richtung einer
Schallwelle, die wir ja auch mit Recht als „besseres Horen"
bezeiehnen, nicht identisch mit grosserer Inteusitat des Eiu-
druckes und hangt auch nicht etwa bios von dieser ab. Der
einseitig Taube oder ein Ohr Zuhaltende muss, um das Maxi-
mum der Schallstarke von einer festliegenden Schallquelle zu
erhalten, seinen Kopf in den meisten Fallen ausgiebiger herum-
drehen. Er „hat es schwerer". Dies gilt fiir jede Art von
Orientirung (iiber lautliche Nuancen, iiber den Sinn einer Rede
u. s. f.), besonders aber fiir die raumliche.
Sodann kommt wieder das doppelte subjective Raummoment
p und q (o. 52 f.) in Betracht, welches auch im Fall der Nicht-
analyse dem Empfindungsganzen einen s. z. s. umfangreicheren
Charakter gibt.
Endlich ist zu beachten, dass die Versuche, durch welche
man die Sache leicht zu entscheiden denkt, in Wahrheit nur
unter ausgesuchten Vorsichtsmassregeln rein durchzufiihren sind.
Verteilt man zwei Gabeln rechts und links, so verbreiten sich
die Schallwellen bei einiger Starke des Anschlages nicht un-
betrachtlich durch den Kopf^). Wir erhalten dann bei objectiv
gleicher Tonhohe im rechten Ohr einen Hauptreiz a plus einem
von links heriiber kommenden Nebenreiz a, links analog ein
^1 H~ ^h ' Gleiche Reize im gleichen Ohr verstarken sich natiir-
lich. Dagegen bei bios einseitiger, z. B. rechtsseitiger Ein-
wirkung einer ebenso stark angeschlagenen Gabel erhalten wir
nur a rechts und a^ links, welch' letzteres aber nach unserer
Voraussetzung die dem a entsprechende Empfindung nicht
^) Bei starker und langer Einwirkung einer Stimmgabel auf das
Eine Ohr habe ich regelmassig sogar eine Nachempfindung im anderen
Ohr, welche eine ganze Minute lang andauern kann. Es ist damit zu-
gleich ein eigentiimliches Gefiihl im Kopf und Ohr verbunden, welches
oifenbar ebenfalls von den Nachschwingungen herriihrt.
und seine Teile. 433
verstarken kann. Die doppelseitige Einwirkung wird also in
diesem Fall zu etwas starkerer Empfindung fUhreii, aber
nicht wegen einer centralen Verbindung der beiderseitigen Er-
regungsstarken, sondern wegen Intensitatserhohung auf jeder
Seite.
Man muss daher schwacbe, wenn auch nicht gerade mini-
male Reizstarke wahlen. Und bier scheint mir in der Tat
nicht eine Verstarkung sondern hochstens eine Art von Ver-
breiterung des Eindrucks bemerkbar.
Bei der gewohnlichsten Versuchsweise: eine einheitliche
Schallquelle auf beide Ohren gleichmassig wirken zu lassen,
das eine aber abwechselnd zu offnen und zu sperren, macht
sich der aus so vielen Griinden bedauerliche Mangel eines
guten Ohrverschlusses geltend. Der beste bleibt immer die
Verstopfung mit dem Finger. Aber dann setzt der brummende
Muskelton ein und stort die genaue Vergleichung. Auch eine
Anderung der Klangfarbe des Gesammteindruckes findet beim
Schliessen des einen Ohres statt, die nicht ganz leicht von
einer Intensitatsanderung zu unterscheiden ist.
Doch scheint mir folgendes Verfahren auch bier zu einem
Urteil zu fiihren. Wir verstopfen zuerst beide Ohren und
horchen auf einen nicht zu schwachen constanten Ton. Im
ersten Augenblick hort man nur den tiefen Muskelton, dann
tritt der objective deutlich hervor. Wir merken uns den Starke-
grad a, den er zu haben scheint, offnen dann das eine Ohr
und beobachten die nunmehrige Starke b; dann bei Offnung
auch des anderen Ohres die Starke c. Man wird b entschieden
grosser als a, aber c kaum grosser als b finden. Von a zu b
fallt ein Teil der subjectiven Storung hinweg, von b zu c der
andere, insoweit sind die Bedingungen annahernd gleich. Von
a zu b erfolgt aber wirkliche Verstarkung auf dem geoffneten
Ohr durch grossere Reizstarke. Durch den Gegensatz gegen
diese wirkliche Verstarkung unter sonst gleichen Umstanden
wird der Schein der Verstarkung beim zweiten Ubergang
zerstort. Ist Dies doch nicht ganz der Fall, glaubt Jemand
eine geringe Verstarkung urileugbar zu erkennen, so diirfte
Stumpf, Tonpsychologie. II. 28
434 § 26. Intensitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
sich dies Wenige hinreichend durch die Knochenleitung er-
klfiren ^).
Endlicli ist wol auch folgende einfache Erfahrung ein
Zeichen, dass keine irgend erhebliche Verstarkuiig beim zwei-
ohrigen Horen stattfindet. Wenn wir einen Schall, besonders
einen scbwachen, recht gut horen wollen, wenden wir der Schall-
quelle nicht das Gesicht, sondern eines der Obren zu. Bel
feinen Unterscheidungen von Tonbohen und beim Horcben aiif
Obertone und Combinationstone hat Dies besondere, schon er-
wahnte Griinde. Aber bei sonstigen Tonbeobachtungen und
beim Horcben auf Gerausche fallen diese Motive hinweg. Wenn
nun beide Ohren (bez. ihre Centra) sicb verstarkten, so wiirden
wir durch Hinwendung des Einen Ohres zur Schallquelle den
Ton zwar fUr dieses Ohr starken, fiir das andere aber schwachen,
und fiir das Ganze der Empfindung schwerlich einen Vorteil er-
zielen. Dass wir dennoch unwillkiirlich ein Ohr der Schallquelle
zuwenden, scheint mir also ein Zeichen, dass die empfindungs-
erzeugenden Nervenprocesse beider Ohren sich nicht verstarken.
Wir setzten bisher ungleiche Hohe rechts und links, min-
destens die geringe Ungleichheit, wie sie durch die gewohnliche
Differenz der Ohren bedingt wird, voraus. Wenn nun aber
selbst diese durch Darbietung entsprechender (in umgekehrter
Richtung verschiedener) Gabeln kiinstlich getilgt wird, sodass
bei abwechselndem Horen des rechten und linken Tones kein
Unterschied mehr erkennbar ist: findet nicht wenigstens dann
eine gegenseitige Verstarkung statt?
Wenn wir die namlichen Vorsichten anwenden, besonders
also nicht zu grosse absolute und genau gleiche relative Starke,
^) Ein Physiker sagte mir, dass er den Schall einer Pfeife beim
Verschluss eines Ohres sogar starker wahrnehme als wenn beide Ohren
offen sind, und fixhrte Dies auf die durch das Zuhalten geanderten sub-
jectiven Resonanzverhaltnisse zuriick.
Naturlich kommt bei diesen Versuchen auch die Ungleichheit in
der Horscharfe des rechten und linken Ohres in Betracht, die bei man-
chen Personen erheblich sein kann, ohne dass sie etwas davon wissen.
Von solchen Fallen muss auch fiir die Beweiskraft der im Text folgenden
Erfahrung abgesehen werden.
und seine Telle. 435
so scheint mir cler Erfolg auch hier kaum ein anderer. Eine
Veranderung wird natiirlich wahrgenommen, aber, soviel mir
scheiut, nicht eine Verstarkung. Das Urteil stellt sich nicbt
ganz leicht fest. Schon daraus geht aber bervor, dass, wenn
iiberbaupt eine Verstarkung stattfindet, sie nur ausserst gering
sein kann.
Der Mangel einer Verstarkung wiirde darauf binweisen,
dass audi in dieseni Falle zwei Empfindungen vorliegon. Da-
gegen wiirde icb nicbt umgekebrt aus der Zweibeit der Em-
pfindungen, wenn wir sie aus anderen Griinden annebmen
miissen, auf die Unmoglicbkeit einer Verstarkung scbliessen.
Man kann iiber die Wecbselwirkung centraler Erregungen Nicbts
apriori sagen, Alles nur uacb besonderen Erfabrungen.
Soviel stebt jedenfalls nacb der Beobacbtung fest, dass
zwei Tone recbts und links, mogen sie gleicb oder ungleicb
sein, sicb wenigstens nicbt gegenseitig scbwacben; wie dies bei
mebreren Empfindungen Eines Obres der Fall ist. Deswegen
miissen zwei ungleicb bobe Gabeln, auf ein Obr wirkend, um
ein Weniges scbwacber empfunden werden als dieselben Gabeln,
wenn wir sie mit gleicber Empfindungsstarke an beide Obren
verteilen. Aber dieser Versucb ist wieder ausserst scbwer ge-
nau auszufiibren. —
A. J. DocQ behauptet in einer Specialuntersuchung iiber das
Zusammenwirken beider Ohren ^) nicht bios eine Verstarkung, son-
dern glaubt dieselbe gemessen und fur seine Ohren und die seines
Assistenten etwa = 2,7 gefunden zu haben. Er gibt jedoch selbst
zu (S. 20, 35 — 6), dass der unmittelbare Eindruck des Bewusstseins
diesem Ergebuis durchaus widerspricht, dass der zweiohrige Ton
kaum starker als der einohrige zu sein scheint. Das was er ge-
messen babe, sei daher nur die organische (physiologische) Starke.
Aber lasst sicb annehraen, dass eine fast dreifache Starke der
physiologischen Erregung sich im Bewusstsein fast gar nicht gelteud
mache?
') Recherches physico-physiologiques sur la Fonction collective des
deux Organes de I'Appareil auditif. Mem. cour. de I'Acad. royale de
Belgique T. 34 (1870).
28*
436 § 26. Intensitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
In der Tat beruhen Docq's Messungen auf mehreren teils
zweifelhaften teils sicher unhaltbaren Voraussetzungen. Er be-
stimmte die Entferuuugen d und D, in welchen eine objectiv un-
verandert tonende Schallquelle eiuohrig und zweiolirig gleichstark
vernommen wurde. Unter der Voraussetzung, dass die physikalische
Schallstarke im umgekehrten Verhaltnis des Quadrates der Ent-
fernung abnimmt, war dann zunachst das Verhaltnis der physika-
lischen Starke, mit welcher der zweiohrig und der einohrig geborte
Schall zum Obr gelangte, gegeben durch i:J = D2:d^ Aber
dieses Gesetz ist durcb neuere Untersucbungen Viekordt's er-
schiittert, wonacb (wenigstens bei Gerauscben) die Intensitat an-
nahernd reciprok der Entfernung ware. Unter dieser Annabme
wird die gefundene Zabl scbon auf etwa 1,6 herabgedriickt. Wei-
ter setzt Docq voraus, dass die physiologiscbe Starke der pby-
sikaliscben (abgeseben von den Grenzen) parallel gebe, was aucb
bestreitbar und jedenfalls ungenau ist. Endlich wird man nicht
beistimmen konnen, wenn er das Gerauscb, welches durch An-
pressung des Tragus behufs Ohrverschliessung entsteht, als ein
sehr geringes bezeichnet. Vielmehr scheint es mir ungefahr
gerade auszureichen, um den Unterschied des zweiohrigen vom
einohrigen Horen, welchen die directe Beobachtung zeigt, zu er-
klaren.
5. Gibt es eine Wechselwirkung minimaler akusti-
scher Erregungen?
Was fiir iibermerkliche Eindriicke gilt, gilt nicht notwendig
fUr ebenmerkliche und eben untermerkliche. Wollte man apriori
vorgehen, so liessen sich bier teleologiscbe Griinde fiir eine
gegenseitige Verstarkung geltend macben. Der Umfang der
nocb borbaren ScbaUreize wUrde dadurcb erweitert und be-
sonders solcbe Gerausche, die aus zablreicben scbwachsten
Tonen bestelien, nocb bei geringerer Intensitat als ausserdem
wabrnebmbar bleiben. Bei starkeren Tonen liegt dagegen eine
wechselseitige Scbwacbung im Interesse des Organismus.
Jedenfalls also muss die Frage bier besouders gepriift
werden. Aber es ist wieder sehr schwer, den Versuch rein
berzustellen. Nimmt man zunachst wieder eine Mebrheit von
und seine Teile. 437
Tonen in Einem Ohr (gleichmassige Darbietung derselben an
beide Ohren, die fiir starkere Tone als dem einseitigen Horen
aequivalent betracbtet wurde, wird sich bier von vornberein nicbt
empfeblen), so muss die Reizstarke ausserst genau regulirt und
langere Zeit constant erbalten werden, es miissen ferner zusam-
menfallende Obertone sowie Scbwebungen zwischen den Gruud-
tonen und zwiscben den Obertonen ausgescblossen werden. Gal-
vaniscb erregte Stimmgabehi, die im Octavenverbaltnis standen
(aucb Quinten der Octaventone konnten bei bobcren Regionen
darunter sein), wiirden wol am Besten diesen Bedingungen ge-
niigen. Man miisste jede fiir sicb allein eben uoter die Scbwelle
bringen und dann alle mit diesem Starkegrad zugleicb tonen
lassen, um zu ermitteln, ob sie sich iiber die Scbwelle beben.
Vielleicbt reizt die Untersucbung einmal Solcbe, die zur Her-
stellung feinster Experimente nicbt bios die Lust sondern aucb
die Mittel baben. Bisber scbeint noch Niemand an die so in-
teressante Frage berangetreten zu sein.
Einen nur vorlaufigen Versucb babe ich in Jena (1889)
mit den Herren Prof. W. Biedermann und Dr. K. Schafer ge-
macht, indem wir Tone eines Zungenapparates telepboniscb in
ein anderes Zimmer leiteten, wobei sich durch ein eingescbaltetes
Rheocbord die Starke leicbt reguliren liess. Bei C und c be-
merkte icb keine gegenseitige Verstarkung. Mocbte C oder c
zuerst angegeben werden: das Ganze blieb unwahrnebmbar, wenn
jeder Teil es war, und erfubr keine Verstarkung, wenn der zu-
erst angegebene Ton eben wahrnebmbar war. Bei Ccc^g^ be-
merkte icb, als die Tone in dieser Folge zu einander gefiigt
wurden, erst den letzten, (/S und zwar ibn allein. Er war eben
fiir sicb allein schon entweder objectiv starker (da die Zungen
nicbt genau gleicb stark scbwingen) oder im Ohr begiinstigt.
Ubrigens sind bei Zungen Quintenintervalle schon durch Ober-
tonscbwebungen dem Versuch gefahrlicb.
Vielleicbt argumentirt nun Einer: jedeufalls finde bei der
Combination ebenmerklicber Tone keine gegenseitige Schwacbung
statt, da sie sich sonst ausloschen miissten, was doch entschieden
nicht der Fall sei.
438 § 26. Intensitatsurteile liber einen zusammengesetzten Klang
Wir wollen davon absehen, ob dies ganz „entscbieden" ist.
Aber auch dann wiirde der Schluss nicht ohne Weiteres giiltig
sein. Die Empfindungsstarke kann immerliin noch herabgedriickt
werden, sodass jeder der Tone fiir sich allein, wenn er diese
Intensitat hatte, unwahrnehmbar ware. Aber es ist denkbar
und nach sonstigen Erfahrungen nicht einmal unwahrscbeinlich,
dass mehrere Empfindungen Eines Sinnes, deren jede fiir sicb
allein eben nicht mehr bemerkt wird, bei gleichzeitigem Auf-
treten wahrnehmbar werden, ohne irgend an Starke zu ge-
winnen; indem eben Mehreres an und fiir sich leichter wahr-
genommen wiirde als Eines. Das eben nicht mehr Bemerkte
liegt ja zunachst noch nicht unter der Empfindungsschwelle,
sondern nur unter der Wahrnehmungsschwelle, und es ist keines-
wegs gesagt, dass die Wahrnehmungsschwelle, wie sie fiir iso-
lirte Eindriicke ermittelt ist, dieselbe sein muss wie die fiir
gleichzeitig verbundene.
Es bliebe daher immer noch denkbar, dass auch schwachste
akustische Nervenerregungen sich gegenseitig nicht bios nicht
verstarken sondern geradezu noch weiter schwachen. Was
fiir die Wahrnehrabarkeit der Tone dadurch verloren ginge,
konnte durch die Vermehrung wieder gewonnen werden. Die
Empfindungen wiirden schwacher und doch nicht weniger merk-
lich werden.
Dieselbe Frage kann nun auch wieder beziiglich der Tone
des rechten und linken Ohres untersucht werden, und hier
liegen auch bereits Versuche und bestimmte Behauptungen vor.
Taechanow^) leitete einen Schall telephonisch an seine beiden
Ohren und schwachte ihn so ab, dass er mit jedem Ohr kaum
oder gar nicht mehr horbar war. Er erhielt dann doppelohrig
einen deutlichen, wenn auch schwachen, Ton, und zwar in der
verticalen Mittelebene des Kopfes localisirt. Preyer^) besta-
tigte diese Beobachtungen und schloss daraus mit Tarchanow,
dass eine „centrale Summation der subliminalen monotischen
^) Petersburger medicinische Wochenschrift 1878 Nr. 43.
2) Sitz.-Ber. d. Jenaischen Gesellsch. f. Medicin u. Naturwiss. 1879.
und seine Teile. 439
Erregungen stattfinde", das heisst, dass die uuter der Schwellc
befindlichen Erregungeu dos eiuen und anderen Ohres sich im
Gehirn verstarken. Dr. Korting^) fand dann an 283 Personen
nach dieser Methode die grossere Feinhcit des zweiohrigen
Horens und an 267 unter diesen Personen auch die Verlegung
in die Schadelmitte.
Ich war bemiiht, bei meinen akustischen Studien im Jenenser
physiologiscben Institut sowie auch bei Herrn Prof. Kessel da-
selbst, welcher sebr gute Telephone und Vorrichtuugen zur
Regulirung der Stromstarke besitzt, diese Beobachtungen zu
wiederholen. Aber wahrend sich die Angaben iiber die Locali-
sation bei iibermerklichen Eindrilcken leicht und deutlich be-
statigten, wollte es weder mir noch drei wolgeschulten Mit-
beobachtern gelingen, uns davon zu iiberzeugen, dass eben nicht
mehr wahrnehmbare Schalleindriicke beider Ohren durch ihre
Vereinigung iiber die Schwelle gehoben wiirden. Es sind ja
diese Versuche ohnedies ausserst heikler Natur, da der genaue
Punct des Verschwindeus schwer zu j&nden und auch wirk-
lichen Schwankungen ausgesetzt ist. Jedesmal aber, wenn
wir zweiohrig etwas vorher Unhorbares zu ho^en glaubten,
zeigte sich bei Wegnahme des einen Telephons, dass es doch
auch schon einohrig horbar war. Hatten wir den Ton des
Stromunterbrechers, welcher als Horobject beniitzt wurde (/?s^
bei Kessel) fiir beide Ohren deiinitiv und unzweifelhaft un-
ter die Schwelle gebracht, so vernahmeu wir auch zweiohrig
Nichts mehr.
Aber auch wenn Taechanow's und Preter's Angaben in
dieser Hinsicht sich bestatigten, so wiirde ich daraus noch nicht
ohne Weiteres auf eine gegenseitige Verstarkung schliessen, aus
ahnlichen Griinden wie oben. Hier kommen auch noch die
quasi-raumlichen Momente p und q hinzu, wir haben statt pa
oder qa jetzt pa-[- qa in der Empfindung, und fiir dieses Em-
pfindungsganze braucht die Schwelle des Wahrnehmens nicht
dieselbe zu sein wie fiir jeden seiner Teile.
') Ebendaselbst.
440 § 26. Intensitatsurteile uber einen zusammengesetzten Klang
6. Ohrenarztliche Beobachtungen.
Maucherlei zum Teil recht seltsame Berichte iiber die vor-
her besprochenen Fragepuncte liegen von Seiten der Ohrenarzte
vor. Da sie hauptsachlich, wenn auch nicht durchgaugig, patho-
logische Falle betreffen, und teilweise auf besondere Ursachen
zuriicTiZufiihren, teilweise iiberhaupt noch nicht zu erklaren sind,
stellen wir sie unter besondere Rubrik. ' Bei einigen daruuter
notigen uns die vorigen Betrachtungen allerdings auch zu
Zweifehi iiber das Tatsachliche oder liber die Auslegung des-
selben durch den Berichterstatter.
Es werden sowol gegenseitige Verstarkungen als Schwach-
ungen von Tonen oder Gerauschen erwahnt und beiderlei Ein-
fliisse wiederum sowol innerhalb Eines Ohres als von Ohr zu
Ohr. Wir wollen mit diesen kurzen Bezeichnungen nicht so-
gleich die Behauptung aussprechen, dass die Wirkungeu in alien
zu erwahnenden Fallen lediglich in den peripherischen Organen
vor sich gehen (obgleich dies fiir zahlreiche Falle sehr wahr-
scheinlicli zutrifft); sondern zunachst nur, dass die anzugebendeu
Beziehungen sich zwischen den Eindriicken finden, die den be-
treffenden Ohren geboten werden oder die, wenn es sich um
subjective Empfindungen handelt, deutlich in denselben locali-
sirt erscheinen.
a) Verstarkung innerhalb Eines Ohres.
Nach PoLiTZER^) kauu man das Uhrticken, wenn es beiden
Ohren unhorbar bleibt, mitunter dadurch zur Wahruehmung bringen,
dass man eine tdnende Gabel auf die Kopfknochen aufsetzt. Ukban-
TSCHiTSCH gibt an, Gehorzuuahme fiir schwache Schallreize gefundeu
zu haben, wenn gleichzeitig oder unmittelbar vorher dasselbe Ohr
einera anderen Schalleiufluss ausgesetzt war, der doch nicht so
stark war, dass or den ersteren unterdrtickte '^). Man kann wol
auch die Aussagen von Robert Fkanz I 415 hieherziehen. Be-
sonders aber die vielfach besprochenen Falle der sg. Parakusis
Willi si ana. Willis erzahlte (1680) von einer tauben Frau, die
^) A. f. 0. XVI (1880) 307.
-) Uber die Wechselwirkung der iunerhalb eines Sinnesgebietes ge-
setzten Erregungen. Pflug. Arch. Bd. 31 (1883) S. 280 f.
und seine Teile. 44 1
sich mit ihrem Manne unterhalten konnte, wenn der Bediente die
Trommel schlug. Ebenso erwahnt Fielitz einen Knaben, der in
einer stark klappernden Muhle sehr gut horen konnte, draussen
aber nicht. Ahnliches scheint bei Schwerhorigen nicht sclten (beim
Eisenbahnfahren u. dgl.) vorzukommeu^).
Diese Paradoxic, dass ein schwacherer Gehorsreiz durch einen
gleichzeitigen starkeren erst horbar gemacht wird, lost sich, wie
schon altere Autoren bemerkt haben, nur durch die Annahme, dass
durch die kraftige Einwirkung irgeud ein Hindernis des Horens
momentan beseitigt wird. Manche verlegen diesen Vorgang in das
Labyrinth, Andere mit mehr Wahrscheinlichkeit in das Mittelohr,
indem z. B. eine geringe pathologische Unterbrechuug der Leitung
in den Gehorkndchelchen, etwa eine Trennung des Steigbiigels vom
Ambos, durch den starken Eindruck gehoben werde (Tkoltsch),
Oder indem bei adhasiven Mittelohrentziindungen die Starrheit der
Kndchelchen-Gelenke momentan beseitigt werde (Politzer). Dass
dagegen eine gesteigerte Perceptionsfahigkeit der akustischen Nerven
durch den starken Schall bewirkt werde (Urbantschitsch) , diirfte
sich schwer rait den sonstigen Tatsachen vereinigen.
Natiirlich muss in solchen Fallen der Hilfsschall von der Art
sein, dass er, obgleich starker, doch vom gleichzeitigen schwachereu
auch fiir normales Gehor noch unterscheidbar ist. Denn eine ver-
mehrte Fahigkeit der Analyse anzunehmen, liegt vollends kein
Grand vor. Doch ist damit nicht gesagt, dass das Verhaltnis der
Reizstarken, welche noch gleichzeitig unterscheidbare Eindriicke
liefern (die Schwelle, von der 0. 220 die Rede war) fitr Schwer-
horige dasselbe sein musste wie fiir Normalhorige.
b) Verstarkung von Ohr zu Ohr.
Le Roux behauptete 1875, dass eine stark tonende Gabel, vor
einem Ohr vorbeigefiihrt, den Ton einer anderen gleichgestimmteu,
aber wegen Verklingens nicht mehr horbaren Gabel vor dem an-
^) Tiber die alteren Falle s. Gehler's Worterbuch d. Physik, Art.
„Gelior" S. 1220. Spatere ahnliche Beobachtungen und Erklarungsver-
suche in den Lehrbuchern der Ohrenheilkunde (Troltsch, Politzer,
Urbantschitsch), A. f. 0. XXIII 214, Berliner kliu. Wochenschr. 1885
No. 27 u. s. f.
442 § 26. Intensitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
deren Ohr plotzlich wieder horbar machte. Urbantschitsch fand
dies bestatigt (a. a. 0.). Selbst ein tiefer Ton rechts konne einen
hohen links verstarken und umgekehrt. Die Erscheinung sei nament-
lich bei Schwerhorigen gut zu beobachten, weil hier die Verstarkung
nicht augenblicklich, sondern etwas uachher erfolge. Zuweilen aller-
dings zeige sich auch Herabsetzung der Perceptionsfahigkeit auf
diesem Wege, und zwar auch gelegentlich bei demselben Individuum.
Auch Pbeyee fand bei seinen Telephonversuchen (o. 438) den Ton
eines Ohres erheblich verstarkt, wenn die audere Telephonplatte
dem anderen Ohre genahert wurde.
Ich glaube jedoch auch hier nicht an eine „Steigerung der
Perceptionsfahigkeit". Man konnte wol bei gleichen Tonen an ein
Hiniiberdringen des starkeren Tons in Folge der Knochenleitung
denken. Aber ich halte die Sache nach eigeneu Versuchen — und
Jeder kann sie wenigstens mit Stimmgabein leicht wiederholen
— vielraehr nur fiir eine Urteilstauschung. Man hat im ersten
Moment wol ofters einen solchen Eindruck. Aber bei genauerer
Beobachtung wird man linden, dass dabei nur die Starkezunahme
der dem einen Ohr genaherten Hilfsgabel auf das andere Ohr, dem
die Aufmerksamkeit des Horchenden zugewandt ist, iibertragen wird.
Sonst besteht ja das durch norraale wie pathologische Erscheinungen
reichlich bestatigte Gesetz, dass der Schall (bei Nichtanalyse) auf
die Seite des starkeren Eindruckes verlegt wird. Aber hier ist
die Aufmerksamkeit so sehr dem Einen Ohr zugewandt, dessen
Ton man beobachten will, dass man momentan die Schallzunahme
in diesem selbst wahrzunehmen glaubt. Bei hinreichender Auf-
merksamkeit auf den Ort der Tonanschwellung verschwindet diese
Tauschung und ist kaum wiederherzustellen.
Ubbantschitsch gibt auch an ^), dass er durch t)bung eines
Ohres Besserung des anderen erzielt habe. Auf seine Veranlassung
hat EiTELBERG dicsolbe Behandlungsweise vielfach versucht. Er
fand in sehr vielen Fallen Besserung, in seltenen Fallen Ver-
schlimmerung; die Besserung jedoch oft nicht sogleich, sondern
1) PFLtJGER's Arch. Bd. 30 (1883) 129 f. „Uber den Einfluss von
Trigemiuusreizen auf Sinnesempfindungen" (speciell 153).
und seine Teile. 443
spater. Als Vermittler der Einwirkuiig denken sich Beidc den
Trigeminus ^).
Dies gehort zu dem dunklon Capitel der „Mitubung", dunkel
besonders in Hinsicht Dessen, was davon eiucr gesteigerten Fahig-
keit in der Concentration und Lenkung der Aufmerksamkeit zuzu-
schreiben ist^).
c) Schwachung innerhalb Eines Ohres. -
Ubbantschitsch gibt an (a. a. 0. Bd. 31), dass Ohrenklingen
durch akustische Eiuwirkung auf das betreffende Ohr, namentlich
durch tiefe Tone, zeitweilig vermindert werden konne. Lucae ver-
drangte ebenfalls hohe subjective Tone durch tiefe objective und
umgekehrt, wenn auch uur filr Stunden, hochstens Tage^). Hiebei
handelte es sich offenbar uicht um jene allgemeine gegenseitige
Schwachung gleichzeitiger Tone Eines Ohres, die in centralen Pro-
cessen grundet, sondern um die Verminderung eines pathologischen
Zustandes im Mittelohr, in welchem die subjectiven Tone wurzelten*).
Der objective Ton mochte als mechanischer Reiz wirken, wie Luft-
eintreibung in's Mittelohr oder Anpressung des Tragus. Das Er-
klarungsprincip ware also dasselbe wie bei der Parakusis Willisii;
wie denn auch Ubbantschitsch geltend macht, dass die Ver-
besserung der objectiven Horfahigkeit mit der Abnahme der sub-
jectiven Empfindungen gleichen Schritt halt.
d) Schwachung von Ohr zu Ohr.
Das auffallendste Beispiel bietet hier der sg. Transfert, der
zuerst von Chaecot an Krauken, dann von Rumpf (1879) auch
an Gesunden beobachtet wurde: das Herilber- und Hintiberwanderu
der Empfindlichkeit bei Naherung eines Magneton. Auch Ukban-
TSCHiTSCH constatirte Dies in Gemeinschaft mit Rosenthal an
») Z. f. 0. XII (1883) 162 f., 258. Gradbnigo fand auch bei Gal-
vanisirung des einen Ohres einen Einfluss auf das andere, obwol dieses
nicht mit einer Schallempfindung darauf antwortete. Allgem. Wiener
medicin. Zeitung 1889 No. 1.
2) Vgl. I 81 f. ; sowie unteu 447.
^) Zur Entstehung und Behandlung der subjectiven Gehorsempfin-
dungen. 1884.
*) Subjective Tone konnen allerdings auch im Labyrinth oder gar
im Centrum entstehen. Daruber ist noch wenig Bestimmtes zu sagen.
444 § 26. Intensitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
einer einseitig taubeii Person ^). Bei Annaherung des Magncten an
das taube Ohr wurde dieses horfahig, wahrend auf dem bis dahin
horfiihigen voUige Taubheit eintrat; und so auch wieder riickwarts.
(Gleichzeitig wanderte auch die Gesichts- und Hautempfindlichkeit
immer auf dieselbe Seite.) Die hohen Tone wanderten stets zuerst
hiniiber, die tiefen zuletzt. (Die Farben erstarben in der Reihen-
folge von Violett gegen Rot und erwachten in der umgekehrten
Reihenfolge.) Dem Transfer! der Tone ging immer ein sehr tiefes
Brummen in dem bis dahin unempfindlichen Ohr voraus.
Diese Erscheinungen, die auch ohne magnetische Einwirkung
beim Hypnotismus vorkommen, sind noch ganz unerklarlich, Aber
jedenfalls wurde man sie falsch deuten, wcuu man sie auf einen
Antagonismus der beiderseitigen Empfindungen beziehen wollte, von
dem wir sonst keine Spur beobachten konnen, Es liegt vielmehr
sicherlich nur an den besonderen eimvirkenden Ursachen, dass sie
gleichzeitig auf der einen Seite die Emplinduug begiinstigen, auf
der anderen sie hemmen.
Nach Angabe von Magnus (A. f. 0. XVI 283) wird ferner
nicht selten beobachtet, dass ein lange Zeit sehr schlecht horendes
Ohr besser hort, wenn das bisher gute durch eine Entziindung
schlecht hort. Auch hier also scheinbarer Antagonismus. Aber
Magnus vermutet wol rait Recht darin nur eine Wirkung „ge-
spannter Seelentatigkeit, welche einen friiher vernachlassigten Ein-
druck zum Bewusstsein bringt". Also nur ein Antagonismus oder
Wechsel in der Richtung der Aufmerksarakeit; vielleicht auch eine
geringe Verstarkung in Folge der Aufmerksarakeit. Vgl. I 377 uber
Beethoven.
Eine eigentiimliche „functioneIle Synergic" beider Ohren, die
auch auf eine gegenseitige Schwachung hinausliefe, behauptete Gelle
(A. f. 0. XXII 99 Ref.). "Wenn man einem Ohr durch einen Gumrai-
schlauch einen Gabelton zufuhrt, das andere Ohr mit einem Gummi-
ballon anblast, so trete jedesraal eine Schwachung des Tones ein.
Gelle meint, dass die Biunenmuskeln sich beiderseits zugleich
*) A. f. 0. XVI 171 „Beobachtungen uber centrale Acusticus-Aflfec-
tioneu". ,
und seine Telle. 445
contrahireu; was ja Aiialogien beim Auge hatte und fur's Ohr
direct von Stricker uach Versuchen behauptet wird^). Bezold
fand jedoch jene Erscheinung nur bei der ^^-Gabel, nicht bei A
und niclit bei a^\ und halt es fur wahrscheinlich, dass physikalische
Ursachen im Apparat Schuld siud. Denu auch wenn der Ballon
nur in die Nahe des Ohres gehalten werde, konne man den Gabel-
ton bis zum Verschwindon schwachen (Z. f. 0. XVIII 198, 209).
Was PoLiTZER (Lehrb. ^ I 226) erwahnt: dass bei einseitig
Schwerhorigen durch Verschluss des norraalen Ohres haufig ein sub-
jectives Gerausch von grosster Intensitat im kranken Ohr hervor-
gebracht werde und beim Offnen des normalen Ohres wieder ver-
schwinde — kounte auf gleichzeitige reflectorische Muskelcontrac-
tionen gedeutet werden. — Wir mussen uus begniigen, durch diese
Beispiele die Manichfaltigkeit moglicher indirecter Beziehungen
von Ohr zu Ohr erlautert zu haben.
7. Analoge Fragen bei andereu Sinnen.
Vergleichungen des Gehors mit anderen Wahrnehmungsgebieten
Ziehen wir, um die Untersuchung sich nicht noch weiter ausbreiten
zu lassen, nur an einzelnen Puncten heran, wo es methodisch not-
wendig oder bei noch wenig ausgebauten Fragen fiir die Weiter-
forschung anregend erscheint. Aus dem letzteren Grunde besprechen
wir hier noch Eiuiges, was tiber die vorher behandelten Fragen
fiir andere Sinne behauptet worden ist.
In einem scherzhaften Aufsatz uber das Luftbad bemerkt
LiCHTENBERG ^) , „dass die Kiilte nicht zunehme, wenn man sich
nackend ausziehe, wenigstens nicht in dem Verhaltnis wie man es
erwarten sollte". Dagegen hob bekanntlich E. H. Weber hervor^),
dass eine Fliissigkeit uns warmer (kalter) erscheint, wenn wir die
ganze Hand oder gar den ganzen Korper, als wenn wir bios einen
Finger eintauchen. „Es scheinen sich deranach die durch viele
^) „Pfeift man dem Hunde in's Ohr hinein, so reagirt auch der
Tensor tympani des anderen Ohres. Nach Durchschneidung der Medulla
oblongata hort diese reflectorische Action auf." Wiener medic. Presse
1886 S. 650.
2) Vermischte Schriften V 192.
3) Wagner's Hdw. d. Physiol. Ill, 2, S. 553.
446 § 2G. Intensitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
erapfindliche Puncte aufgenommenen Temperatureindriicke im Ge-
hirn, Avohin sie fortgepflanzt werden, zu summiren und einen Ge-
sammteindruck hervorzubringen."
Diese anscheinend entgegengesetzten Bebauptungen lassen sich
docb vereinigen, insofern Weber iiber das Mass der Verstarkung
Nicbts aussagt und Lichtenbeeg nur cine Verstarkung im Ver-
haltnis zur Vergrosserung der erapfindlicben Flacbe leugnet.
Nun diirfte es wirklicb scbwer fallen, anzugeben, um wieviel die
Warme- oder Kalteempfindung in solchem Falle zunimmt; und dies
nicbt bios wegen der Scbwierigkeit solcher quantitativen Bestim-
mungen uberbaupt. Diese Scbwierigkeit ware nicbt uniiberwindlicb.
Man konnte an sicb recbt wol ein Urteil dariiber gewinnen, ob
bei objectiv gleicber Zunabme der empfindlichen Flacbe die In-
tensitat der Temperatur um gleicben, grosseren, geringeren Betrag
zunimmt (vgl. I 392 f.) Aber es diirfte vielmebr auch bier nur eine
scheinbare Verstarkung vorliegen, die natiirlicb solcber Grossen-
scbatzung nicbt zuganglicb ist, da sicb bei genauerer Betracbtung
der Scbein eben auflost. Dieser Scbein kann auf abniicbe Weise
wie bei den Tonempfindungen entsteben. Es wird Vermebrung der
Empfindungen oder grossere raumlicbe Ausbreitung als Verstarkung
gedeutet. Ferner wird die als einbeitlicb aufgefasste Warmeempfin-
dung in Bezug auf ihre Intensitat nach den empfindlicbsten Stellen
beurteilt; und da es am Korper Stellen gibt, die fiir Tempera-
turen nocb empfindlicber sind als die Fingerspitzen, so scheint uns
in dem unzergliederten Empfindungsganzen eine Steigerung der
Temperatur einzutreten. Endlicb findet eine Steigerung des an-
genehmen oder lastigen Geftibls statt, das an die Empfindung ge-
kniipft ist', und dieses Lust- oder Unlustgefiihl, resultirend aus den
sammtlicben gleicbzeitigen Temperaturempfindungen, wiicbst in der
Tat auch mit der blossen Ausdehnung des Reizes. Da liegt es
denn wiederum nabe, gerade bei Temperaturempfindungen, die von
sebr lebhaften Gefiiblen begleitet (man raocbte sagen durcbdrungen)
sind, Gefiiblssteigeruug mit Verstarkung der Empfindung zu ver-
wecbseln.
In Handscbuben scbwitzend hatte ich oft den Eindruck, als
ob durcb Ausziehen des einen von beiden eine Abkiibluna beider
und seine Teile. 447
Hande, ja sogar eine gewisse allgemeine Abkuhlung erzielt wurde.
Wenn dagegen ein Glied kalt, das andere warm ist, wie dies manclie
Personen ofters an ihren Fiissen erleben, so sclieint das kaltere
durch den Gegensatz noch kalter, das warmere noch warmer zu
werden, also simultaner Contrast stattzufiuden. Icli lasse dahin-
gestellt, ob auch bier blosse Tauschung waltet.
Gewiss ist es nicbt ausgescblossen, dass Veranderungen in
der Temperatur eines Korperteils durcb nervose Zusammenhange
aucb wirklicbe Veranderungen in bomologen Gliedern, ja sogar
in sonstigen Teilen des Korpers bervorrufen; wie wir ja auch von
Ohr zu Obr gewisse, mebr indirecte, Einwirkungen anerkennen
mussen. So fanden Franqgis-Fkanck, Brown -S^quard u. A.,
dass Kaltereize auf eine Extremitat Gefasscontraction in der
anderen bewirken, und nacb Istamanofp wird durcb ein kaltes
Handebad aucb die Temperatur des ausseren Geborganges er-
niedrigt ^).
Von Auge zu Auge wird meistens eine leicbte Verstarkung
der Helligkeit bebauptet (von Mancben aucb bestritten), wenn man
zuerst nur Ein Auge, dann beide offnet. Dass man den Eindruck
erbobter Helligkeit bat, ist gewiss. Valerius bat das Verbaltnis
sogar pbotometriscb zu bestimmen gesucbt (wie Docq das beim
Horen) und etwa gleicb 1 : 1,15 gefunden, vermutet aber wegen
nachtraglicb entdeckter Feblerquellen einen noch geringeren Wert^).
Es ist aber aucb tbeoretiscb bier eine Verstarkung nur zu er-
warten, wenn anders man mit den Nativisten annimmt, dass beide
Netzbautgruben zusammen nur Eine Empfindung geben^). Ob auch
die Angabe von Urbantschitsch (a. a. 0. Bd. 31), wonach eine
Stunde lang fortgesetzte Sehiibungen des recbten Auges eine Stei-
gerung des Sehvermogens im linken Auge bewirkt baben, eine Stei-
^) PPLtGER's Arch. Bd. 38 (1886) 114. Adamkiewicz setzte durch
Auflegung von Senfteig auf einen Arm die Empfindlichkeit der sym-
metrisch gelegenen Stelle des anderen Armes hei'ab (erwahnt bei Heiden-
HAiN, Der sg. tierische Magnetismus S. 37; woselbst auch allgemeinere
Betrachtungen iiber solche Zusammenhange).
2) PoGG. Ann. Bd. 150 (1873) 317.
^) M. „Psychol. Ursprung der Raumvorstellung" 247 f.
448 § 26. Intensitatsurteile iiber einen zusammengesetzten Klang
gerung des Empfindungsvermogens oder nur der Fahigkeit des
Fixirens, Aufraerkens, Erkennens bedeutet, muss hier wieder dahin-
gestellt bleiben ^).
Ferner sind von Auge zu Auge Farbenmischung, Contrast und
Nachbilder^) bebauptet worden; und obgleich aucb bierin nicht alle
Beobacbter iibereinstimmen, lassen sicb gewiss nicbt alle Einflusse
dieser Art in Abrede stellen.
Untersucbungen iiber den gegenseitigen Einfluss verscbiedener
Stellen Eines Auges sind mehrfacb, und speciell bei minimalen
Reizen, angestellt worden. Dabei bat sicb immer ergeben, dass
bei gleicber Intensitat des Reizes die Grosse der Netzbautbilder
einen Einfluss bat auf die Merklicbkeit, dass durcb blosse Ver-
grosserung ein nocb nicbt raerklicber Reiz raerklicb werden kann;
wenn aucb dieser Einfluss mit wacbsender Grosse des Feldes rascb
abnimmt^). Diese Beobacbtungen sind jedocb nicht notwendig auf
eine gegenseitige Verstarkung zuriickzufiibren; die Merklicbkeit kann
erboht werden obne Erbobung der Intensitat (bez. Helligkeit), wie
oben beziiglicb der akustiscben Eindriicke betoiit ist. Dass dagegen
in Gestalt des „simultanen Contrastes" ein wirklicber Einfluss der
Netzhautstellen auf einander stattfindet, ist seit Mach's und Heking's
Versuchen nicbt mebr zu bezweifeln.
Veranderung der Starke einer Empfindung durcb eine gleich-
zeitige andere bebauptet endlicb Ubbantschitsch aucb ftir andere
Sinne und zwar im Allgemeinen Steigerung, in einzelnen Fallen
aucb Herabsetzung; ja selbst Einwirkung eines Sinnes auf einen
^) In Hermann's Hdb. II, 2. 350 sagt allerdings Exner, dass bei
ihm sich nicht einmal die Ubung im Mikroskopiren vom rechten Auge,
mit dem er ausschliesslich zu mikroskopiren gewohnt sei, auf das linke
iibertragen babe. Es storten ihn bei Anwendung des linken die mouches
volantes, der Anblick der eigenen Wimpern u. dgl., wovon er soust langst
abzusehen gelernt habe.
2) letztere kiirzlich von Ebbinghaus, Pflug. Arch. Bd. 46, S. 498.
^) FoRSTER, Uber Hemeralopie 1857 (bei Fechner, Rev. 159).
A. W. Volkmann, Physiol. Unt. auf dem Gebiete d. Optik I 60 f. Aubert,
Physiol, der Netzhaut 83, Grundzg. der physiol. Optik 494. Eug. Fick
Ppluger's Arch. Bd. 17 (1878) 152, Bd. 39 (1886) 18, Bd. 43 (1888) 445.
Dobrowolsky das. Bd. 35, S. 536.
und seine Telle. « 449
anderen Sinn ^). Wir haben an dem Beispiel der Tfine gesehen,
wie schwer oft bei solchen feinsten lutensitatsfragen Tauschungen
zu vermeiden sind, mussen daher den Aussagen, besonders wenn
sie von nicht durch und durch gcschulten Personen stammen, mit
einiger Zuruckhaltung gegenuberstehen. Die an letzter Stelle er-
wahuten ruhren ohnedies bereits an das Capitel vom Farbenhoren
und Tonsehen, worin Viel gesiindigt worden ist und worauf wir
zweckraassiger erst bei der Discussion der Gefuhle eingeheu.
Im motorischen Gebiet sind gegenseitige Hemmungen eine
bekannte Tatsaclie. Aber aucb Summation in der Reflexwirkung
elektrischer Hautreize auf verscbiedene Teile, auch von Pfote zu
Pfote, wird erwahnt; ebenso eine gewisse Begiinstigung des Ablaufes
einer Erregung durch eine zweite, welchen Vorgang S. Exner als
„Bahnung" bezeichuet ^).
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile.
Die theoretische Bedeutung, welche den Schwebungen teils
mit Recht teils mit Unrecht zuerkannt worden ist, die beson-
deren Schwierigkeiten in der Beurteilung Dessen, was hier
eigentlich den Inhalt unsrer Empfindung bildet, die in beiden
Umstanden wurzelnden zahlreiclien neueren Untersuchungen
machen eine gesonderte Darstellung notwendig. Docli scheiden
wir hier noch alle Fragen ab, die den durch Schwebungen er-
zeugten Gefiihlseindruck, namentlich ihre angebliche Beziehung
zum Harmoniegefiihl, betreffen; wahrend eine andere Frage,
nach ihrer Beziehung zu den Combinationstonen, schon beriihrt
ist. Dessenungeachtet drangt sich hier noch eine grosse Fiille
von Fragen, die wir in Gruppen ordnen.
») Pflugeb's Arch. Bd. 42 (1888) S. 154. Vgl. auch oben 121,
Anm. 2.
2) Pfluger's Arch. Bd. 28 (1882) 487. Von Summation wird ge-
sprochen, — sagt Exner — , wenn an sich unwirksame Reize zusammen
eine merkbare Wirkung auslosen. Der Ausdruck ,,Bahnung" dagegen
bezieht sich auf den Zustand der Centralteile nach Ablauf eines Reizes,
der fiir sich schon eine motorische Wirkung hervorgerufen hat.
Stumpf, Tonpsyehologie. IT. 29
450 § 27. Schwebungen und darauf bezugliche Urteile.
I. Definition, Entstehung und Bedingungen der Merk-
lichkeit von Schwebungen.
1, Wesen und begleitende Ersclieinungen.
Zunachst eine Vorbemerkung iiber den allgemeineren Be-
griff, dem Helmholtz die Scbwebungen unterordnet. Er bringt
sie unter den Titel „Storungen des Zusammenklangs" ge-
meinscbaftlich mit den Combinationstonen. Diese nennt er in-
sofern Storungen des Zusammenklangs, als sie nach ihm dann
entstehen, wenn die Superposition der Schwingungen nicht mehr
eine ungestorte ist. Nicht also im Zusammenklang als solchem,
als empfundenem, macht sich hier eine Storung geltend: hier
erscheint jene physische „ Storung" nur als Erganzung, Be-
reicherung, als ein dritter Ton neben den zweien. Bei den
Schwebungen konnte man von einer physischen Storung nur
etwa dann reden, wenn man die gemeinsame Wirkuug zweier
objectiver Schwingungen auf Ein Teilchen eine Storung nennen
wollte. Aber Helmholtz denkt hier vielmehr an eine Storung
der Empfindung als solcher (277): „Erst wenn die Schwingungen
(der CoRTi'schen Bogen) Empfindungen in den Nerven erregen,
tritt die Abweichung von dem Gesetze ein, dass je zwei Tone
und je zwei Tonempfindungen ungestort nebeneinander bestehen."
Worin nun auch diese Empfindungsstorung bestehe: soviel
ist offenbar, dass Combinationstone und Schwebungen bei Helm-
holtz nicht unter einen gemeinsamen Begriff, sondern nur un-
ter einen gemeinsamen Namen gebracht sind. Das eine Mai
soil es sich um eine ausschliesslich physische Storung handeln,
die psychisch in keiner Weise als Storung zur Erscheinung
kommt, das andere Mai um eine Storung der Empfindung.
Fragen wir, worin Helmholtz die Storung des empfundeuen
Zusammenklangs bei den Schwebungen erblickt, so ist wol kein
Zweifel, dass er die Intensitatsschwankungon im Auge hat (eine
Schwankung in der Tonhohe erwahnt er nur nebenbei und erst
in den spateren Auflagen). Aber da wir doch im Allgemeinen
Intensitiitsschwankungen eines qualitativ unveranderten Zu-
sammenklanges, z. B. eines Dreiklanges, nicht als Storungen
des Zusammenklanges bezeichnen konneu, so bezieht sich der
§ 27. Schwebungen und darauf bezugliche Urteile. 451
Ausdruck wahrscheinlich genauer aiif die Storungen in der Auf-
fassung und in der Aunelimlichkeit des Klanges, wie sie spe-
ciell bei raschen Inteusitatsschwankungen eintreten. Dies' sind
jedoch wieder nicht Storungen der Empfiuduug als solcher, des
Zusammenklanges als eines Empfindungsinhaltes. Und wieder
leuchtet ein, dass von Storung in diesen Bedeutungen bei Com-
binationstonen nicht die Rede sein kann.
Wir konnen indessen von dieser nicht ganz gliicklichen
VerallgemeineruDg absehen und uns an den concreten Begi'iff
von Schwebungen halten, der Helmholtz' sonst so vorzUglicher
Darstellung zu Grunde liegt, indem wir sagen:
Schwebungen sind regelmassige Inteusitatsschwan-
kungen von Tonen, hervorgerufen durch gleichzeitige
Einwirkung zweier Tonwellen von verschiedener Wel-
lenzahP).
Als sinnlichfe Erscheinung sind also Schwebungen ihrem
Wesen nach in keiner Weise unterschieden von irgend welchen
anderen regelmassigen Inteusitatsschwankungen von Tonen, z. B.
denen, die durch Interferenz zweier Wellenziige von gleicher
Wellenzahl und nur verschiedener Wellenphase, oder durch
blosse Intermittenz eines Tones (mittelst einer vor der Ton-
quelle rotirenden durchbrochenen Scheibe oder durch einfaches
Herumdreheu einer Stimmgabel vor dem Ohr u. s. f. ^)) ent-
stehen. Nur eben die Entstehung ist verschieden; auch natiir-
lich das Tonmaterial in der Empfindung, welches schwebt; nicht
aber das Phanomeu selbst, das wir Schwebung nennen. Dies
hat auch Helmholtz hervorgehoben (266 f.) Halten wir es fest.
Wenn die Schwebungen sehr langsam erfolgen, bemerkt
man eine stetige Ab- und Zunahme der Intensitat, wie sie
*) Vgl. Helmholtz 273. Einiges zur Gescliichte des Schwebungs-
begriffes gibt De Morgan, Transact. Cambridge Phil. Soc. 1857 Nov.
S. 130, sowie Bosanquet PMlos. Magazine XII (1881) S. 270.
2) Auch wenn ich eine ausschwingende c^-Gabel mit sehr breitem
Fuss auf den umgestlilpten Tragus setze, wird der Ton intermittirend,
rollend. Zugleich bore ich den tiefen Muskelton, und wahrscheinlich
bewirkt der Muskeltetanus auch das lutermittiren des Gabeltones.
29*
452 § 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile.
der stetigen Ab- und Zunahme der objectiven Amplitude ent-
spricht. Erfolgen aber die Schwebungen rascher, so bemerkt
man durch Pausen unterbrochene scharf abgegrenzte Schlage
oder Stosse. Der Grund dieses Unterschieds muss im Mechanis-
mus des Ohres liegen, ist aber nocli nicht hinreicbend auf-
gedeckt^). Der Unterscbied der Erscheinung selbst fallt noch
voUstandig in die Grenzen der angegebenen Definition.
Auch wenn wir den Eindruck schneller Schwebungen als
ein Rollen, Kollern, Schnattern, Knattern, Schnarren, Rasseln,
Schwirreu (Rauhigkeit) , Zwitschern charakterisiren — lauter
Ausdriicke, die man je nach Umstanden vollkommen zutreffend
finden wird — , so kann man darin den ebenerwahnten Unter-
scbied, der natiirlich zahllose Grade zulasst, wiederfinden (z. B.
Rollen bezeichnet das tjbergangsstadium zwischen den stetigen
und den discreten Schwankungen, wahrend die folgenden Aus-
driicke sich alle auf das letztere Stadium beziehen); ausserdem
aber auch Unterschiede in der Empfindungsstarke der Schwe-
bungsmaxima (z. B. Schwirren und Zwitschern gegeniiber dem
Knattern). Insoweit batten wir es also nur mit Modificationen
in der Weise des Anschwellens zu tun, mit solchen, die streng
unter den eigentlichen Schwebungsbegriff fallen.
Aber ich zweiHe, ob hiemit die Beschreibung des Ein-
druckes crschopft ist. Helmholtz scheint dieser Meinung zu
sein (vgl. 279 — 286). Er nennt zwar das Knarren eine Art
Gerausch, fiihrt es aber auf weiter Nichts als die Schnelligkeit
der Stosse zuriick (281). AUein es scheint mir, dass in den
Fallen starkerer oder schnellerer Schwebungen noch gewisse
Nebenerscheinungen dazutreten. Erstlich ausserst hohe Tone,
durch welche sich namentlich das Schwirren und Zwitschern
von den in obiger Reihe vorherstehenden Eindriicken unter-
scheidet. Zweitens und hauptsachlich Geriiusche, welche nach
meiner Meinung nicht vollstandig auf Tonempfindungen oder
Modificationen solcher zuriickfiihrbar sind. Die Sprache ist
hier in hohem Grade onomatopoetisch, indem sie in obiger
1) Hensen, Heem. Hdb. Ill, 2, 98.
§ 27. Schwebungen unci darauf beziigliche Urteile. 453
Reihe von Ausclriicken sowol die Vocale immer heller werdoi
lasst — was dem Hinzutreteu immer hoherer Tone bei rascheren
Schwebungen entspricht — , als auch immer scharfere Conso-
nanten eiufiigt, durch welche die Art der begleitenden Gerausche
mit den unsrer Sprache verfiigbaren Lauten am bestcn nach-
geahmt wird. Wie es kommt, dass durch die Veriinderung der
Schnelligkeit und Starke von Intensitatsschwankungen ton-
erzeugender Reize nebenbei jene hohen Tone und diese Ge-
rausche miterzeugt werden, dariiber miissen wir auch erst von
einer Weiterentwickelung der median ischen Theorie des inneren
Ohres Aufschluss erwarten. Unabhangig von Starke und Schnellig-
keit der Schwebungen scheint aber auch die Hohe der schwe-
benden Tone Einfluss darauf zu haben. Ein Zwitschern, wie
ich es bei dem Doppelgriff c^ fP (schwacher auch noch bei
h^ d^) auf der Violine und viel starker, ja geradezu bosartig,
bei Zungen von gleicher Hohe und Tondistanz in den Ohren
localisirt vernehme, kommt bei gleicher Anzahl der Schwebungen
und beliebiger Starke in den tieferen Regionen nicht zu Stande.
Bei diesem Zwitschern sind nun allerhochste Tone beteiligt,
die wie auf Glas geritztc klingen, ferner Schwebungen der
Obertone von ausserster Schnelligkeit, wie sie eben nur bei
hohen Tonen noch merklich sind (s. u.) Aber der Eindruck
scheint mir nicht damit erschopft. Es scheinen noch eigent-
liche unauflosbare Gerausche dabei zu sein.
Soviel hebt auch Helmholtz hervor (286), dass die gleiche
Anzahl von Schwebungen (bei gleicher Starke der Tone) immer
weniger rauh klingt, je tiefer die schwebenden Tone, und dass
eine bestimmte Erklaruug dafiir sich einstweilen nicht geben lasse.
Unter besonderen Umstanden, bei sehr starken Schwe-
bungen, hat man wol auch noch eine dritte, gar nicht akustischc,
Classe begleitender Empfindungen, namlich Tastempfindungon
von der heftigen Bewegung des Trommelfells ^). Die Ausdriicke
*) Preyer, Ak. Unt. 33 sagt, dass er dasselbe Gefubl auch bei der
tiefsten Stimmgabel habe, deren Pendelschwingungen die starksten jemals
hergestellten und einzeln als Schallstosse horbar seien (18,6 Schwingungen
454 § 27. Schwebungen iind darauf beziigliche Urteile.
jjStosse, Schlage, pulsus, battemens, beats" ^) fiir die discreten
Schwebungen diirften damit zusammenhangen.
Alls diese Nebenersclieinuugen sind iibrigens wiederum
den Schwebungen im AUgemeinen mit den durch Interferenz
oder Intermittenz orzeugten Stiirkeschwankungen gemeinsam
und konnen im einzehien Fall durch solche ganz ebenso her-
gestellt werden. Man denke nur z. B. an die schrillen Signal-
Pfeiftone, wenn eine Erbse im Pfeifchen liegt: es ist derselbe
Eindruck wie wenn wir zwei Pfeifchen von nahe gleicher Ton-
hohe combiniren.
Zahlreiche kurze aber treffeude Angabeu iiber den verschie-
denen Charakter der Schwebungen unter verschiedeuen Umstanden
findet man bei R. Konig, Pogg. Ann. 157, S. 177 f. in den Tabellen.
Das fiirchterlichste Schnarren und Schnatteru babe ich bei den
tiefsten Tonen der AppuNN'scheu Zungeuapparato veruommen, wo
noch die Schwebungen der vielen und starken Obertone mit denen
in der Secunde), wenn er das Ohr dicht an die Zinke halte; nicht min-
der bei tiefsten Oombinationstonen.
') Den Ausdruck „pulsus" gebraucht Mersenne, der wol zuerst der
Schwebungen ixberhaupt Erwahnung tut. ,,Battements" ist seit Sauveur
(1702) die tecbnische Bezeicbnung im Franzosischen, wie „beats" im
Englischen (vermutlich seit Young, wiihrend Robert Smith 1749 sie —
ebenfalls sehr anschaulich — „flutterings" nannte). „St6sse" ist Scheib-
ler's stehender Ausdruck, dem franzosischen nachgebildet (von Chladni
nur voriibergehend gebraucht, wahrend Dieser ,, Schwebungen" als bereits
gebrauchlichen Ausdruck hinstellt, Akust. § 37).
Von Interesse ist die besonders drastische Beschreibung Wm. Hol-
der's, der als einer der Ersten den Schwebungen seine Aufmerksamkeit
schenkte (1694), nach De Morgan 1. c. 131: Man konne Trommel und
Pfeife durch die Orgel nachahmen, wenn man zwei benachbarte tiefe
Tasten nehme. „Though these of themselves should be exceeding smooth
and well voyced Pipes, yet, when struck together, there will be such a
Battel in the Air., such a Clatter and Thumping, that it will be like
the beating of a Drum, while a Jigg is played to it with the other hand."
Er pfiff zu einer Glocke, etwas hoher als diese: „its cross Motions were
so predominant, that my Breath and Lips were chek'd, that J could
not whistle at all. After, J sounded a shrill whistling Pipe, which was
out of Tune to te Bell, and their Motions so clashed, that they seemed
to sound like switching one another in the Aii'."'
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile. 455
der Gruudtdne zusammemvirken. Vor Larm ist da kaum noch cin
Ton zu horeii. (Diese tiefsteu Zungen, bis etwa zum E^ geben
aber auch schon Stdsse, wenngleich nicbt so gewaltige, wcnii eine
derselbeu fiir sich allein in Beweguug gesetzt wird: eine Disconti-
nuitat, die nicht oder nur zum geriugsten Teile an der Tonregion
als solcher, an den physiologischen Bedingungen fur tiefste Tone,
haftet, da ja Pfeifen und Saiteu in der Contraoctave schone stetige
Tone geben, sondern die hauptsachlich in der Scbwerbeweglichkeit
dieser Zungen und teilweise wol aucb in Schwebungen ihres Grund-
tons mit ihrem ersten Oberton wurzelt.) Ahnliches beim Harmonium.
Fldtcnpfeifen geben im Allgemeinen mildere Schwebungen als
Zungen oder Zungeupfeifen. Als ich eine Floten- mit einer Zungen-
pfeife zusaramen schweben liess, hdrte ich eine doppelte Art von
Schwebungen von gleicher Schnelligkeit aber verschiedenem Cha-
rakter: in der Nahe der Flotenpfeife waren sie mehr rollend, in
der Nahe der Zungenpfeife scharfer stossend. Starke Schwebungen
kann man jedoch auch mit Stimmgabeln erzeugen, welche man vor
ein und dasselbe Ohr halt und zwar rechtwinklig gegen einander.
Man wird iibrigens finden, dass solche Versuche immer nach einiger
Zeit das Ohr angreifen,
2. Entstehung und Sitz der Schwebungen.
Was iiber die Entstehung in der Definition selbst gesagt
ist, betrifft ebenso wie das Merkmal der Intensitatsschwankung
etwas rein Tatsachliches, unmittelbar zu Beobachtendes, das
objective Vorhandensein und Zusammenwirken von Tonwellen
verschiedener Lange. Des Weiteren pflegt man nach Anleitung
der HELMHOLTz'schen Lehre das Zustandekommen von Schwe-
bungen aus dem Princip des Mitschwingens abzuleiten. Es
folgt aus diesem Princip, dass durch eine objectiv einfache
Schwingung ein einzelnes abgestimmtes Teilchen, wie wir solche
in der Schnecke voraussetzen, am intensivsten zum Mitschwingen
angeregt wird, ausserdem aber in abnehmendem Grade auch
eine gewisse Anzahl benachbarter Teilchen; dass also zwei
Wellenziige, deren Langendifferenz eine gewisse (empirisch zu
bestimmende) Grosse nicht iiberschreitet, die zwischenliegenden
Teilchen gemeinsam erregeu miissen. Die resultirende Be-
456 § 27. SchwebuDgen mid daranf bezUgliche Urteile.
wegiing dieser Teilclioii ciitspriclit dann der ubjectiveu Re-
sultaute aiis bcidcn Wcllenziigcn. Es entstehcn, da dio Wellen-
phaseii abweclisclnd iu glcicliem und entgogeiigesctztem Siiinc
zusaminentrcffcn, vcrinclirte und vorraindcrtc Amplituden. Die
Zahl der ersteren (Maxima) ist glcich der Differenz der Schwin-
gungszablen. Da wir nun wirklicb Scbwcbungen von dieser
Anzabl vernebmen, so bestiitigt sicb obiges Princip und bilden
die Schwebungon geradc eine seiner Hauptstiitzen. Gleicliwol
werden wir gut tun, diesen Toil der Entstehuugsgeschicbte als
Hypotbese von der eigentlicben Definition nocb zu scbeidcn.
Unter dem Entstebungsort oder Sitz der Scbwebungen
versteben wir nicbt den Ort, wo die Umsetzang der pbysiolo-
giscben Processe in die Emptindungen vor sicb gebt, sondern
wo die Modificationen des pbysiologiscbcn Processes, welcbo
den bescbriebenen Eigcnscbaften tier Tonempfindungen bei
Scbwebungen entsprecben, zuerst ointreten. Jeue Umsetzung
(oder wie man's nennen will) kann immerbin anderwtirts und
tiefer im Gebirn erfolgen, wenn nur diese Modificationen bis
dabin erbalten bleiben.
Mancbe baben nun fiir die Scbwebungen ein besonderes
Organ im Obr vermutet, einen Apparat ausserbalb der Scbnecke,
sodass Tiere, welcbe letztere nicbt besitzen, keine Tone, aber
Scbwebungen boren konnten ^). Wenn es sicb nur um die mit
den Scbwebungen vielfacb verbundenen Gerauscbe bandelt, muss
allerdings aucb meiner Meinung nacb ein besonderes Aufnabms-
organ im Obr vorausgesetzt werden. Wenn wir dagegen un-
ter Scbwebungen Intensitatsscbwankungen der Tone versteben,
konnen sie unmoglicb einen anderen Entstebungsort baben als
die Tone selbst. Und zwar miissen sie da entsteben, wo die
objectiv zusammengesetzte Welle in pendelformige Bewegungen
aufgelost wird; wenn anders die obige Tbeorie ibrer Entstebung
zutrifft, die einzige, unter der es bisber cine Erklarung der
Scbwebungen gibt. Denn nur da, wo eine Reibe stufenweiso
abgestimmter, scbwingungsfabiger Teilcben vorhanden ist, kann
») Preyer, Akust. Unt. 30. Hensen, Herm. Hdb. Ill, 2, 99.
§ 27. Schwebungen iind darauf l)oziif5li{he Urtcilc. 457
Ein Teilchcii (lurch molum-c niclit zu verschiedcne Schwin-
gungen, die in ciuer zusamraengcsetzteu Welle vorluiiulen siiid,
gemcinsam erregt werdcii. Obgloicli also, wie Politzeu nach-
gevviesen, die Bewcgung dos Trumraelfells und der Geliorkiiocbel-
chcn oiii treues Abbild der zusammengesetzten Welle ist, ihrc
Maxima und Minima wiederliolt, so haben diesc Teile mit der
Entstehung der Schwebungen als solcher nicht Mchr zu tun
als die objective Luftwelle selbst: sie liefern diese unveriindert
weiter, ebenso wie die Luft die Schwingungen des toncndeu
Korpers weiterliefert.
Da die Anschauung iibcr Entstehung und Sitz der Schwe-
bungen, wie wir sehen, in unaufloslicher Verbindung steht mit
der Lehre vom Mechanismus und Sitz des analysirenden Appa-
rates, so konnen wir auch diese Lehre bier ciner ncucn Prii-
fung unterziehen. Einige besondere Consequenzen und Er-
schcinungen kommen hiebei in Betracht.
Vor Allem ist es eine Folgcrung aus der Theoric, dass die
Zabl der Schwebungen nicht in einer unveranderlichen Bezieh-
ung steht zu den empfundenon Tonen und ihrem Unterschiedj
sondern dass sie lediglich und unbedingt von den olijectiven
Schwingungszahlen abhaugt (anders als dies beim Verschmel-
zungsgrade nach S. 138, 214 der Fall ist). Deshalb muss die
Schwebungszahl z. B. unverandert bleiben, wenn eine Gabel
ausschwingt, wahrend eine andere constant tont, obgleich der
Ton der ersten Gabel sich hiebei fiir unsre Empfindung, nicht
bios fiir die Schatzuug, in die Hohe zieht (I 259). In der Tat
ist keine Verauderung in der Schnelligkeit der Schwebungen
bemerkbar. Es konnen wirklich, so paradox dies Manchem er-
scheinen mag, bei Anderung des Empfindungsunterschiedes die
Schwebungen ungeandert bleiben , und konnen umgekehrt die
niimlichen zwei Tone unter Umstiinden eine verschiedene Schwe-
bungszahl ergeben; wenn auch die Abweichungen der Tone im
ersten und der Schwebungszahl im zweiten Fall nur geringc
sein werden.
Ferner ergibt sich aus der Theorie, dass bei Nachempfin-
dungen, wenn die beiden ausseren Tonreize weggefallen sind,
458 § 27. Schwebungen unci darauf bezuglichc Urteile.
audi die Schwebungen wegfallen werden; da ja dann nicht
mehr die mittleren Fasern gemeinsam durcli die verschiedeneii
Tonwellen errcgt werden und die Schwebungen nach der Theorie
nicht etwa durch gegenseitige Einwirkung der Fasern sondern
nur durch objective Erregung zu Stande kommen. Auch diese
Folgerung scheint nach einer Bemerkung von Uebantschitsch
zuzutreffen (s. o. 359).
Dagegen ist es wol denkbar, dass ein bios nachkhngender,
also subjectiver, Ton mit einem objectiv erzeugten Schwe-
bungen bildet, wenn der letztero in das Fasergebiet des er-
steren iibergreift. Eine solche Beobachtung erwahnt gelegent-
lich S. P. Thompson^).
Weiter kommt hier in Betracht die bereits mehrfach er-
wahnte Tatsache, dass Schwebungen auch bci ungleichseitigem
Horen zu Stande kommen. Dove hat dies bei Verteilung nahezu
gleichgestimmter Gabeln an beide Ohren zuerst bemerkt; dann
Mach, S. p. Thompson, Graham Bell, W. Thomson, Alle unab-
hangig von einander^); und leicht kann es ein Jeder bestatigen.
Dies konnte nun auf Entstehung der Schwebungen im Gehirn
gedeutet werden. Aber einfacher ist es doch erklarbar durch
die Knochenleitung von Ohr zu Olir, deren Existenz im All-
gemeinen ja feststeht, Und so ordnet es sich in die sonst be-
wahrte Theorie ein und wird sofort verstandlich , wahrend die
Verlegung in's Gehirn das Verstandnis nur hinausschiebt ^).
Auch begreift sich so die grosse Abschwachung und andere
1) Philosophical Magazine XII (1881) 354.
2) Dove, Repertorium d. Physik III (1839) 404. Optische Stiidieu
(1859) 50. Mach, A. f. 0. IX (1874) 72 f. Die Ubrigen bei S. P. Thomp-
son a. a. 0. 351.
^) Nachdem Dove auf diese beiden Moglichkeiten hingewiesen, ent-
schied sich bereits Seebeck (Repert. d. Physik VIII, 1849, S. 107) nach
Versuchen mit der Sirene, wobei er den Kopf zwischen zwei Sirenen
brachte, fiir die zweite Annahme. Dove hatte beim Gesichtssinn eine
centrale Verbindung der Eindriicke beider Organe geleugnet, wahrend
er geneigt war, sie beim Gehorsinn anzunehmen. Seebeck meinte, gerade
das Umgekehrte erschliessen zu miissen.
§ 27. Schwebungen unci darauf bcziiglichc Urteilc. 459
Modificationen bei vcrteilten Gabeln, von rlcncn unten mehr
die Rede sein wird.
Auch bestatigt die Bcobachtung boi vertciltcii Gabclii unsre
obigeu Folgerungeu in Hinsicht der Zahl der Schwebungen, Sie
erfolgen trotz der gewohnlichen Differenz dev Ohren mit der
gleicben Schnelligkeit wie beim einseitigeu Horcn, und auch mit
der gleichen Schnelligkeit, mag ich die hohere Gabel rechts oder
links halten, wahrend in Folge jener Differenz der Tonunter-
schied ein ungleicher, das einemal (gegeniiber dcm einseitigen
Horen) verringert, das anderemal vergrossert ist. Die Differenz
der Tonhohe beider Ohren ist ja, wie wir o. 326 ausfiihrten,
auch beim gleichzeitigen Horen nicht aufgehoben.
Wenn die Schwebungen unverauderlich an bestimmte Tone
und ihre Unterschiede gebunden waren, so miisste bei den moi-
sten Menschen sogar schon ein einzelner objectiver Ton, da er
beiderseits ungleich gehort wird, Schwebungen machen; wovon
man bei aller Aufmerksamkeit Nichts wahrnehmen wird. Die
Erfahrungen mit beiden Ohren sprechen also durchweg zu
Gunsten der Theorie.
Nur Thompson berichtet (a. a. 0.) einen abweichendcn selt-
saraen Fall auf die Autoritat eines „eminenten Akustikers" bin.
Eine Person, welche an Mumps auf der einen Seite des Kopfes
gelitten hatte, horte in dem bezuglichen Ohr alle Tone um einc
Halbstufe hoher, und soil nun beim Erkliugeu eines Tones der
tieferen Region Schwebungen vernommen haben, durch Collision
der Tone beider Ohren. Einseitige Verstimmung (Doppelthoren)
ist uns aus I 266 f. bekannt, und gerade Verstimmungen um einen
Halbton sind durch zahlreiche Beobachtungen gut beglaubigt. Aber
in keinem dieser Falle (und ich babe alle mir zugauglichen Be-
richte genau studirt) ist etwas uber Schwebungen berichtet. In
der Tat waren Schwebungen nach der bisherigen Anschauuug unter
diesen Umstanden absolut unmoglich. Demi sie konuten, weuu sie
im Ohr zu Stande kommen, hier wieder nur durch Knochenleitung
entsteheu. Nun aber wenn vera kranken Ohr die Schwingung zum
gesunden hinuber geleitet wird, so ist cs ja nicht eine erhohte
Schwingung, soudern genau dieselbe, mit derselben Schwingungs-
460 § 27. Schwebungen unci darauf beziigliche Urteile.
zahl, wic sic ohnedies dera gesunden Ohr von ausseu zugeftihrt
wird. Ebenso weun vom gesunden Ohr zum kranken die Schwin-
gungen hiniiberwirken, so sind es geuau dieselben, durch welche
dieses Ohr ohnedies von aussen erregt wird. Wie und wo also sollen
Schwebungen zu Stande kommen? Nur im Gehirn konnte es gc-
schehen, an einer Stelle, wo die Nervenerreguugen von beiden
Ohren her zusammentrafeu : denn die Nervenerreguugen allerdings
miissen in Folge der krankhaften Veranderung des einen Ohres
ungleich sein. Indessen wird man, che wir den Schluss Ziehen,
eine Bcstatigung dieser vereinzelten Angabe durch ahnliche Beob-
achtungen verlangen miissen.
Acht Tage nachdem Vorstehendes niedergeschrieben war, hattc
ich das Gliick — wenn ich es so nenneu soli — , einen Fall des
Doppelthorens an mir selbst zu erleben. Eine schmerzhafte Ent-
zundung des linken Mittelohres war plotzlich und heftig aufgetreten.
Herr Dr. Hesslee in Halle hatte Paracentese des Trommelfells
vorgenommcn. Zwei Stunden nach der Operation hatte ich beim
Clavierspielen meines Sohnchens den Eindruck abscheulicher Ver-
stimmung, die ich im ersten Moment auf das Clavier bezog, dann
aber als subjectiv crkannte. Das kranke Ohr horte alle Tone
zwischen c und c* tiefer, und zwar betrug in der Mitte dieser
Zone die Differenz, wie ich mit einer abwechselnd rechts und
links gehalteneu Stimmgabel {a^) feststellte, ^/4 Ton, wahrend sie
nach den Greuzen bin abnahm. Beim Anschlag einer Claviertaste
kamen daher zwei Tone zum Vorschein, der „Pseudoton" tiefer,
schwacher und bei genauer Aufmerksamkeit im linken Ohr locali-
sirt. Von Schwebungen konnte ich aber Nichts bemerkeu, ob-
gleich meine Aufmerksamkeit begreiflicherweise (auch wegen der
Consequenzen fur die Dissouanzlehre) ganz besonders darauf ge-
richtet war. Auch nicht, als ich die Gabel auf verschiedene Teilo
des Schadels aufsetzte (wobei sie nur an gewisseu Stellen, besonders
an der rechten Schlafe, einen Finger breit vom' Tragus nach vom,
doppelt gehort wurde, wahrend sonst einer der beiden Tone oder
ein mittlerer allein auftrat). Vorziiglich lehrreich war mir die
Beobachtung mit einem Zungenpfeifchen («^), welches ich selbst
anblies und dabei auch gelegentlich mit den Zahnen festhielt:
§ 27. Schwebungen unci darauf beziigliche Urteile. 461
hier waren die beiden Tone voUkommen deutlich nebeneinander zu
horen, und zwar als entscbiedenste Dissonanz, aber ohne Schwe-
bungen. Ich balte daher, da individuelle Verschiedenheiten hierin
doch kaum anzunehmen sind, die vereinzelte Angabe des obigen
Patienten fur eine Tauscbung, vielleicbt darin begrundet, dass die
Gabel in der Hand zitterte, wie mir dies ebenfalls einmal be-
gegnete und momentau dieselbe Tauscbung erzeugte.
3. Grenzen der Scbnelligkeit fiir Schwebungen.
Von Wichtigkeit ist die hochste Zabl der Schwebungen in
der Secunde, bei welcher eben noch eine Rauhigkeit des Klanges
wabrgenommen werden kann. Helmholtz gibt an, dass bis zu
132 in der Secunde nocb bemerkbar seien, vermutet aber, dass
danait die obere Grenze noch nicht erreicht sei, dass viel hohere
und hinreichend starke Tone noch mehr horen lassen wiirden
(288). Hingegen behauptet Wundt (I ^ 438), dass schon bei
60 Schwebungen der intermittirende Charakter der Empfindung
ganzlich verschwunden sei, und fiihrt die Angabe von Helm-
holtz auf eine Verwechselung des Eindrucks der Rauhigkeit
mit dem der Dissonanz zuriick, welche letztere Wundt nicht
wie Helmholtz mit den Schwebungen selbst identificirt. Aber
hier ist Wundt's eigene Angabe ganz entschieden die irrtiim-
liche. Die Zahl der wahrnehmbaren Schwebungen ist allerdiugs
verschieden je nach der Tonregion; man kann in der Tiefe nicht
so viele horen wie in der Hohe (was auch noch der Erklarung
bedarf). Aber wenn von der grossten Zahl iiberhaupt die
Rede ist, so miissen wir etwa 400 dafiir setzen, also sogar
das Dreifache derjenigen Anzahl, die Helmholtz noch wabr-
genommen hat.
Ich bin hierauf zuerst bei den Orgelpfeifenversuchen mit
den unmusikalischen Herren aus § 19 S. 157 aufmerksam ge-
worden. Als ich fiir die damaligen Versuchszwecke die Schwe-
bungen durch die Wahl von Tonen der dreigestrichenen Octtive
auszuschliessen gedachte, fanden Einige (Gkube, Lehmann u. A.)
auch hier noch bei den Terzen c^e^ -jj^jj e^ g^, die in der da-
mals angewandten natiirlichen Stimmung beide 264 Schwebungen
geben, eine merkliche Rauhigkeit, und ich konnte dies nur be-
462 § 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile.
statigen. Wenn man den Eindruck vergleicht mit dem eines
einzelnen der genannten Tone, so ist der Unterschied in der
Glatte unverkennbar. Auch iiberzeugt man sich durcli successive
Beobachtung von c^e^ c^e^, c^e^, dass eine graduelle Ab-
nahme der Rauhigkeit, aber nicht ein volliges Verschwinden im
letzteren Falle eintritt. Von Verwechselung des Eindrucks mit
dem der Dissonanz kann natiirlich bei grossen Terzen nicht
die Rede sein.
Es fand sicli also die obige Vermutung von Helmholtz
bestatigt, nur dass nicht einmal eine ungewohnliche Hohe mid
Starke der Tone erforderlich war. Noch schnellere Schwebungen
kann man aber mit Stimmgabeln der vier- und fiinfgestrichenen
Octave vernehmen, wenn sie kraftig angeschlagen vor das Ohr
gehalten werden. Ich habe dies mit genau abgestimmten Ap-
puNN'schen Gabeln vom c^ bis zum c^ Stufe fUr Stufe verfolgt
und unter diesen Umstanden fiir mein Ohr die Greuze zwischen
427 und 512 gefunden. An den Versucheu haben sich auch
die Herren Prof. W. Biedermann und Dr. K. Schafer in Jena
beteiligt. Bei c^tZ^ oder d^e^ (=256 Schwebungen), aber auch
noch bei f'^g^ oder g^ a'^ oder e^p (=341) fanden wir iiber-
stimmend die Rauhigkeit noch sehr stark und auffallig. Bei
a^h^ (=427) war sie fiir mich auch noch deutlich und zwar
fasste ich sie als Rauhigkeit des Differenztons. Die Gabeln
mussten aber sehr stark angeschlagen und schnell an's Ohr
gehalten werden. Die beiden Mitbeobachter bemerkten hier
Nichts mehr. Bei c^e'^, c^cP, h^c'^ (=512) konnte auch ich
Nichts von Rauhigkeit mehr finden. Bei f^g^ (=683) war
weder Rauhigkeit noch auch die Zweiheit der Tone mehr er-
kennbar.
In den tieferen Lagen ist die Grenze nicht so leicht fest-
zustellen, weil man zu weite Intervalle nehmen muss, um
grossere Schwebungszahlen zu bekommen, und dann der erste
Oberton der tieferen Gabel mit dem Grundton der hoheren
Schwebungen von geringerer Anzahl macht, welche die beab-
sichtigte Beobachtung storen (s. u.). Aber soviel ist sicher,
dass die Maximalzahl nach unten hin immer geringer wird.
§ 27. Schwebuiigen und darauf bezugliche Urteile. 463
Man kann nun auch in diesem Puncte die durcli einfache
Intermittenz erzeugten Schwankungen mit den Schwebungen
vergleichen. R, Konig gibt an, dass er bei solclien die namliche
Maximalzahl wie bei Schwebungen (unter den besonderen Ver-
suchsumstanden) gefunden habe, namlich 128^). A. Mayer
fand auch hier Unterschiede je nach der Tonhohe, bei C war
die Grenze schon 25, bei c^ dagegen 180 ^j. Gewiss wiirde
sich auch diese Zahl fiir Intermittenz en (die Mayer selbst
der friiher gefundenen geringeren Zahl 130 bei genauerer
Untersuchung substituirte) bei starkeren Tonen ails denen von
Stimmgabeln noch erhohen^).
Von der Schnelligkeit der Schwebungen in Verbindung mit
der Tonregion ist die Grosse des Intervalls abhangig, wel-
ches noch Schwebungen horen lasst. Es ist ein weitverbreiteter
und fiir die Musiktheorie verhangnisvoller Irrtum, als ob Schwe-
bungen nur bei den kleinsten Intervallen (Secunden und un-
reinen Primen) stattfanden. In der grossen Octave kann ich,
wenn C als tieferer Ton genommen wird, mit an's Ohr ge-
haltenen Stimmgabeln directe Schwebungen mit Sicherheit und
vollkommener Deutlichkeit noch bis iiber die Quinte vernehmen.
R. Konig behauptet sogar (a. a. 0.) bei Intervallen iiber die
1) PoGG. Ann. Bd. 157 S. 228 f.
2) S. die Tabelle o. I 213.
^) Beim Auge wird diese Zahl langst nicht erreicht. Dagegen lie-
fert der Tastsinn noch mehr getrennte Eindriicke in der Secunde, nach
Valentin 640, nach Wittich 1000 (Herm. Handb. II, 2, 259). Peeyer
fuhrt an, dass man das Erzittern einer tonenden Gabel mit den Finger-
spitzen als eigentiimliches Kitzelgefiihl noch bei 1500 bis 1800 Schwin-
gungen wahrnimmt (Akust. Unt. 3. Dagegen wiirden punctuelle Reizungen
der Haut nach friiheren Schriften Preyer's nur bis zu etwa 36 getrennt
empfunden. Grenzen des Empfindungsvermogens 1868, Die fiinf Sinne
1870, S. 73). ExNER erwahnt, dass bei elektrischer Reizung der Haut
bereits 36, auf der Stirnhaut 60 Inductionsschlage eine continuirliche
Empfindung geben, die aber bei gesteigerter Reizstarke wieder discret
wird (Herm. Handb. 1. c). Die Angabe Preyer's beziiglich der Stimm-
gabeln finde ich an mir bestatigt, wenn ich die Lippen anwende, indem
ich dann 1760 Schwingungen (a^) noch entschieden als Kitzel empfinde.
464 § 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile.
Octave hinaus directe Schwebungen der Grundtone. Bei tiefen
elektromagnetiscli bewegten Gabeln babe er solche bis zu 1 : 10,
bei gedackten Pfeifen sogar bis 1 : 14 verfolgen konnen ^). Allein
es wiirde schwer sein, Dies mit der Lehre von der Entstehung
der Schwebungen zu vereinigen, da man nicht annehmen kann,
dass bei so grossen Tondistanzen noch zwischenliegende Fasern
durch beide Schwingungen gemeinschaftlich erregt wiirden. So-
lange wir daher an dieser Lehre und speciell an der Erregung
der Fasern durch Mitschwingung festhalten, sehe ich keinen
anderen Weg der Erklarung von Konig's Beobachtungen , als
entweder den von Helmholtz (263) eingeschlagenen: dass nam-
Hch Obertone der tieferen Gabel mit dem Grundton der hoheren
schweben (obgleich Konig die Beteiligung von Obertonen auf
Grund scharfsinniger Argumente mit Bestimmtheit in Abrede
stellt), oder den von Bosanquet eingeschlagenen, wonach Com-
binationstone diese Schwebungen verursachten (s. u. III).
Je hoher die Tonregion, um so kleiner das Intervall, inner-
halb dessen noch directe (Grundton-)Schwebungen stattfinden.
In der dreigestrichenen Octave ist nach dem Obigen ungefahr
die grosse Terz, in der viergestrichenen die grosse Secunde, in
der fiinfgestrichenen die kleine Secunde das weiteste schwebende
Intervall.
Man kann auch nach den langsamsten wahrnehmbaren
Schwebungen fragen. Bei sehr langsamen ist die Zu- und Ab-
nahme ganz stetig, daher schwer zu bemerken, wenn sie nicht
zugleich sehr bedeutend ist. A. Mayer hat eine Schwebung
von 8 Secunden Dauer, Rayleigh sogar solche von 24 Secunden
Dauer noch wahrgenommen, und Letzterer glaubt, dass man
noch langsamere beobachten konne^). Fiir die Musik haben
solche Schwebungen naturlich keine Bedeutung mehr. Die
Fahigkeit der Wahrnehmung langsamster Schwebungen wird
^) Letztere Angabe in der zweiten Abhandlung Wied. Ann. XII
(1881) 335, wo auch die Ergebnisse und Schliisse der ersten verteidigt
werden.
2) A. Mayer, Americ. Journ. of Sc. and Arts VIII 35. Eayleigh,
Philos. Mag. 1882, S. 343.
§ 27. Schwebungen und tlarauf beziiglicbc Urteile. 465
iibrigens individuell sehr verschieclen seiii, jo nach der Genauig-
keit des unmittelbaren Gedachtnisses fiir Intensitaten.
4. Starke der Schwebungen.
Wenn von der Empfindungsstarke von Schwebungen die Rede
ist, so ist darunter strenggenommen nicht eine Empfindungs-
starke ini gewohnlichen Sinn zu verstehen, sondern der Abstand
zweier solcher Empfindungsstarkon. Helmholtz hat daher
bei seiner Berechnung der liauhigkeits-(Dissonanz-)Tabelle als
Mass der Schwebungsstarke die Differenz zwischen der hochsten
und geringsten lebendigen Kraft in der von beiden objectiven
Schwingungen gemeinsam erregten mittleren Faser angenom-
men^). Indessen fragt es sich, ob hiemit auch das Mass der
Schwebungsstarke als einer Empfindungstatsache gegeben ist.
Zwischen der lebendigen Kraft bewegter Schneckenfasern und
der Empfindung liegen manche Glieder in der Mitte; und es
kommt darauf an, ob unter alien diesen Gliedern directe Pro-
portionalitat stattfindet, oder ob nicht z. B. das logarithmische
Verhaltnis, welches das FECHNER'sche Gesetz zwischen Reiz und
Empfindung annimmt, seine eigentliche Stelle irgendwo inner-
halb dieser physiologischen Kette hat. In diesem Fall wiirde
der Abstand der Empfindungsstiirken beim Minimum und Maxi-
mum nicht der Differenz sondern dem Quotienten der lebendigen
Krafte in der Faserschwingung proportional gehen.
Aber nicht bios milssen wir die physiologische Starke (ira
Organ) und die Empfindungsstarke, sondern auch wiederum
diese und die Auffassung derselben auseinanderhalten. Wir
beurteilen die Schwebungsstarke nach einer verschiedenen Me-
thode, jenachdem es sich urn langsame oder schnelle Schwe-
bungen handolt. Man konnte denken, wenn Schwebungsstarke
als Empfindungstatsache einen Abstand zweier Empfindungs-
*) Beilage XV. Die Gescbwiudigkeitsmaxima, welcbe zwei objective
Welleiiziige in dem mittleren Teilcheu erzeugen, seien B^ und B.,, also
seine grosste Gescbwindigkeit = Bj -}- B,,. Somit ist (Bj -}- B.^)^ die le-
bendige Kraft beim Maximum, {By — B^^i^ die beim Minimum der Schwe-
bung. Der Unterscbied bcider Werte (Bj + B.^V2 — (B, — B^)'^ = 4 B, Bj
ist die Starke der Scbwebung.
Stumpf, Tonpsychologie. II. 30
466 § 27. Schwebungen und darauf beziigliclie Urteile.
starken bedeutet, so mlisse die Scliatzung derselben immer auf
einer Vergleichung dieser Starken beruhen. Dies trifft aber
nur fiir ganz langsame Schwebuugen zu, wo die Empfindung
beim Minimum noch eiue endliche Starke besitzt und aucb
Zeit zur Vergleichung gelassen ist, Dagegen bei rascheu und
discreten Schwebungen (Stossen) kommt iiberhaupt nur das
Maximum fiir unsre Auffassung in Betracht, mag beim Minimum
noch eine Empfindung iiberhaupt da sein oder nicht. Auch der
letztere Fall kann als Grenzfall unter die obige Definition der
Schwebungsstarke als einer Empfindungstatsache gebracht wer-
den. Aber die Schatzung derselben beruht hier nicht auf
einer Vergleichung des Maximums und Minimums der Empfin-
dung, sondern nur auf der Wahrnehmung des Maximums oder
vielmehr der aufeinanderfolgenden Maxima. Die Schwebungs-
starke fallt daher fiir die Auffassung des Horenden hier in der
Tat unter den Begriff der Empfindungsstarke im gewohnlichen
Sinn, nicht unter den des Abstandes zweier Empfindungs-
starken. Vermutlich erscheint uns die so aufgefasste Schwe-
bungsstarke in Folge der Wiederholung der zu schatzenden
Eindriicke grosser als die Empfindungsstarke bei gleichstarker
constanter Reizung; vielleicht ist sie auch wirklich grosser^).
^) Helmholtz wenigstens ist der Ansiclit (281), dass intermittirende
Reize stets intensiver wirken als constante von gleicher Starke. Die
Belege scheinen mir jedoch nicht ganz iiberzeugend. Helmholtz beruft
sicb tails auf die Ermiidungstatsachen , tails auf die Widerwartigkeit
intermittirender Eindriicke. Aber die letztere kann noch andere Griinde
haben als eine erhohte Reizstarke, und die Ermiidung ist doch gerade
beim Ohr nur minimal und innerhalb weniger Secunden so gut wie Null.
Wenn gleichwol langer fortgesetzte Versuche mit raschen und starken
Schwebungen das Organ mehr angreifen als solche mit starken Tonen
gleicher Hohe, so mochte ich den Grund weniger in der Ermiidung
suchen als in der Miterregung hochster Tone und heftiger Gerausche.
Denkbar ist wol auch, dass die uugleichfdrmige Erregung fur die Ton-
ganglien anstrengender ware, da sie sich der gleichformigen Erregungs-
weise iiberwiegend angepasst haben. Aber dies AUes wiirde noch nicht
eine grossere Intensitat der schwebenden Tone beweisen. Vgl. auch
E. GuRNEY, Power of Sound, 1880, Appendix C.
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile. 467
Weiterliin kornien wir nun freilich auch hier je zwei
Schwebungsstarken dieser Classe untereinander vergleichen und
fragen, ob sie uns in gleichem Masse verschieden erscheinen,
wenn die pbysiologisclien Schwebungsstarken, hier also die
grossten Amplituden der durch je zwei Schwingungen gemein-
sam bewegteu mittleren Faser, um den gleichen Betrag verschie-
den sind; oder ob nicht auch hier das FECHNER'sche Gesetz mass-
gebend bleibt. Wahrscheinlich wiirde sich doch das Letztere
herausstellen. Keinesfalls also dlirfen wir ohne Weiteres jenen
physiologischen Wert als Mass der Schwebungsstarke betrachten.
Lassen wir daher in Ermangelung von hierauf bezUglichen
directen Versuchen das physiologische Mass der Schwebungs-
starke bei Seite und fragen wir nur nach den Umstanden, von
welchen sich dieselbe rein empirisch nach Aussage des Bewusst-
seins abhangig zeigt, so gehort dazu die absolute Starke der
Tone, mit welcher auch die Schwebungsstarke wachsen muss.
Ferner aber das Starkeverhaltnis; und zwar sind die Schwebungen
am starksten bei gleicher Starke der Tone^). Sodann kommt
es sehr auf die Schnelligkeit der Schwebungen an; was auch
Helmholtz mit in Rechnung zieht (318, 657). Sehr langsame
und sehr schnelle Schwebungen erreichen nicht dieselbe Starke
wie solche mittlerer Schnelligkeit. Die grosste Starke pflegt
man etwa 30 in der Secunde zuzuschreiben. Doch trifft Dies
nur fiir die mittleren Tonlagen zu, und auch da ist es nicht
leicht, die Zahl genauer anzugeben, weil sich zugleich mit der
Starke auch der Charakter der Schwebungen andert.
Bei langsameren Schwebungen scheint die Tonregion keinen
Unterschied in der Starke zu machen, wenn nur die Zahl der
Schwebungen und die Empfindungsstarke der Tone sich gleich
bleibt (soweit man eben die Tonstarke in verschiedenen Re-
gionen vergleichen kann)^). Besonders bequem lasst sich Dies
1) Ebenso R. Konig Wied. Ann. XII 335 f.
^J Die Betrachtung der Wellenformen, die durch Combination zweier
Sinusschwingungen entstehen, lehrt, dass die bdchste Amplitude der Ge-
sammtwelle und ihre Differenz von der geringsten Amplitude nicht etwa
von der Differenz der Schwingungszahlen sondern von ihrem Verhaltnis
80*
468 § 27. Schwebungen und darauf beziigliclie Urteile.
am Obertonapparat untersuchen, wo je zwei benachbarte Zungen
gleichviele Schwebungen miteinander erzeugen, so viele als die
tiefste Zunge Schwingungen macht. Bei einem Apparat, dessen
tiefste Zunge 16 Schwingungen gab, fand ich keinen merk-
lichen Unterschied der Schwebungsstarke in verschiedenen Ton-
regionen^). Die Schwebungen schienen uur etwas discreter zu
werden und wurden immer mehr in den Kopf bez. das zuge-
wandte Ohr, bei den hoheren Toneu in die Schadeldecke verlegt.
Dagegen bei schnelleren Schwebungen macht die Tonregion
einen Unterschied in der Starke; begreiflicherweise, weil die
Schwebungen in hohereu Regionen erst bei viel grosserer An-
zahl verschwinden, also die Ausgleichung zwischen Maximum
und Minimum, der Tetanus des Nerven, die Stetigkeit der Em-
pfindung sich auch erst bei grosserer Anzahl vorbereitet. Ich
habe eine Reihe von Fallen verglichen, in denen die Schwe-
bungen jedesmal genau 100 in der Secunde betrugen, mit ab-
gestimmten Stimmgabeln der ein- und der dreigestrichenen Oc-
tave. Je hoher die Tone, um so scharfer fand ich hier die
Schwebungen, und bin sicher, nicht etwa die zunehmende
Scharfe der Tone selbst mit derjenigen der Schwebungen ver-
wechselt zu haben. Beides lasst sich sehr gut unterscheiden.
5. Merklichkeit von Schwebungen.
In der Schnelligkeit und Starke der Schwebungen haben
wir zwei Bedingungen ihrer Merklichkeit kennen gelernt, die
abhangt. So gibt z. B. 7 : 9 bei gleicher Amplitude der einfachen Wellen
doch eine hohere Gesammtwelle und eine grossere Differenz ihres Maxi-
mums und Minimums, als 4:5. Da nun in der Tiefe bei gleicher Differenz
der Schwingungszahlen ein grosseres Verbaltnis derselben gegeben ist,
so konnte man hienach erwarten, dass bei gleichbleibender Starke der
Tone und gleichbleibender Differenz ihrer Schwingungszahlen die Schwe-
bungen in der Tiefe starker waren. Allein es ist eben in der Tiefe die
empfundene Tonstarke bei gleichbleibender Amplitude eine geringere.
^) Nur muss man von den etwa acht tiefsten Zungen absehen, deren
jede fur sich allein schon schnattert, ferner von denjenigen, die zufolge
der Anordnung des Apparates raumlich weiter als die anderen von ein-
ander getrennt sind (No. 16 und 17, 48 und 49). Denn auch die ob-
jective Nachbarschaft der Tonquellen erhoht hier die Schwebungsstarke.
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile. 469
aber selbst von eiuander nicht ganz uuabhaugig sind. Beziig-
lich der Starke als Bedingung der Merklichkeit entsteht nun
sogleicli die Frage, ob mit zu- oder abnehmender Starke audi
die Merklichkeit eiufacli zu- oder abnimmt. Es scheint dies
nicht der Fall zu sein. Wenn zwei schwebende Gabein aus-
schwingen, so werden die Schwebungen deutlicher, auf-
fallender, wenigstens eine Zeit lang, bis sie sich dem Ver-
schwinden nahern ^). Ob nun der Abstand des Maximums und
Minimums der Empfindung in diesem Falle wirklich wachst, ist
schwer zu sagen. Dem FECHNER'schen Gesetzo wiirde es nicht
widersprechen. Es fehlt aber hier schon an der Einsicht in
das objective Verhalten. Die Differenz des Reizmaximums und
-Minimums wird natiirlich immer geringer, aber das Verhaltnis
beider Werte konnte dabei doch wachsen. Eine notwendige
Annahme ist aber weder das objective noch das subjective
Wachstum der Schwebungsstarke. Die Schwebungen konnen
merklicher werden, auch ohne starker zu werden, ja sogar
wahrend sie schwacher werden. Denn es werden nun auch die
Tonqualitaten schwacher und lenken die Aufmerksamkeit we-
niger auf sich; es ist leichter, von ihneu zu abstrahiren ^).
Auch die Klangfarbe hat einen gewissen Einfluss auf die
Merklichkeit von Schwebungen. Sie sind bei railderen Klaugen
zuweilen auffalliger als bei scharferen. Dies liegt nicht an
grosserer Starke. Vielmehr scheinen mir bei Stimmgabeln von
16 Schwingungen Differenz die Schwebungen sowol ebenso discret
als auch ebenso stark, wie bei Zungen von gleicher Differenz,
gleicher absoluter Tonhohe und gleicher Starke, soweit sich der
letztere Punct control iren lasst. Dagegen konnen die Schwe-
bungen auffalliger sein bei milderen Klangen, weil eben den
scharfen ohnedies auch schon einzelu in Folge der unter sich
schwebenden Obertone Rauhigkeit anhaftet und so der Gegen-
*) Ahnlich imterscheidet Fechnbr Binoc. Sehen 541 die Starke iind
die Deutlichkeifc von Schwebungen; letztere werde grosser, erstere ge-
ringer, wenn man bei zweiohrigen Versuchen die eine Gabel vom Ohr
auf den Scheitel setzt, wahrend die andere vor dem anderen Ohr bleibt.
"^) Hienach wiirde ich jetzt das I 394 Gesagte genauer fassen.
470 § 27. Schwebungeii und darauf bezugliche Urteile.
satz dort grosser ist. Auch unterscheiden sich die weiten Inter-
valle scharfer Klange, wo secundare Schwebungen durcli colli-
dirende Obertone eintreten, weniger von den engen, wo die Grund-
tone selbst schweben, als dies bei den milden Klaugen der Fall ist.
Endlicli hangt die Merklicbkeit auch von Umstanden ab,
die gar nicbt in der Bescbaffenbeit des Empfindungsmateriales
selbst, sondern in der gewohnbeitsmassigen Richtung der Auf-
merksamkeit und dergleicben psycbiscben Dispositionen griinden;
wie wir denn z. B. bei verscbiedenen Gelegenbeiten bemerkt
baben, dass Kinder und Unmusikaliscbe Scbwebungen oft relativ
(gegeniiber den eigentlicb tonalen Merkmalen) und oft sogar
absolut leicbter wabrnebmen als Erwacbseue und Musikaliscbe.
Dazu kommen zufallige augenblicklicbe Umstande. Es ist also
klar, dass wir Merklicbkeit von Starke wol unterscbeiden miissen.
6. Scbwebungen verteilter Gabeln.
Dass bei Verteilung zweier Gabeln an beide Ohren Scbwe-
bungen entsteben konnen, wurde als ein interessantes Factum
erwabnt. Nun lassen sicb alle Fragen liber Cbarakter, Starke,
Scbnelligkeitsgrenzen, Merklicbkeit der Scbwebungen auch fiir
diesen besonderen kiinstlicben Fall untersucben, und da zeigt
sicb das nocb Wicbtigere, dass sie auf diese Art docb ausser-
ordentlicb verringert und baufig ganz beseitigt werden konnen,
und dass, wo sie nicbt ganz verscbwinden, nicbt bios die Starke
sondern auch der Cbarakter ein anderer, milderer, weniger dis-
continuirlicber wird. Etwaige Scbwebungen der Obertone konnen
auf diesem Wege ganz beseitigt werden. Bei e' und cUs^ z. B. ist
so keine Spur von Raubigkeit vernebmbar, wahrend vor Einem
Obr die Scbwebungen von dis^ mit dem Oberton e^ sicb nocb
geltend macben. Fiir die Beurteilung der HsLMHOLTz'scben
Dissonanz- und Disbarmonielehre sind diese Erscbeinungen von
einscbneidender Bedeutung, denn die Dissonanz wird durcb
dieses Verfabren nicbt beseitigt, nicbt einmal verringert; worauf
wir bier nur vorlaufig binweisen.
Die Grenze der Scbnelligkeit bei verteilten Gabeln bilden
in der grossen Octave 16 bis 20 Scbwebungen in der Secunde
(grosse Terz in der unteren, kleine in der oberen Halfte der
§ 27. Schwebungcn and clarauf beziigliche Urteile. 471
Octave). In der kleinen Octave 32 bis 40 (Intervalle ebeiiso;
doch sind sie schon bei Ganztonen sehr wenig bemerkbar) ^).
In der eingestrichenen Octave etwa 50 (kleine Terz in der un-
teren, Ganzton in der oberen Halfte). In der zweigestrichenen
etwa 70 (Ganzton in der unteren, Halbton in der oberen Halfte).
In der dreigestrichenen sind die Schwebungen verteilter Gabeln
in alien Fallen nur undeutlich. und schwer vernehmbar.
Man kann hier auch besonders gut beobachten, wie die
Schwebungen mit abnebmender Tonstarke deutlicber, wenn nicht
sogar relativ starker, werden. Bei kraftigem Anschlag von Ga-
beln der mittleren Octave werden sie erst nach ein bis zwei
Secunden deutlicb und dann immer deutlicher, bis sowol Tone
als Schwebungen wegen zu grosser Schwache verschwinden. An-
fangs dagegen glaubt man keine Schwebungen zu horen, ausser
etwa die ganz langsamen (vier in der Secunde). Schlagt man
die Gabeln sogleich nur schwach an, so konnen Einem die
Schwebungen leicht iiberhaupt entgehen, obgleich sie nicht
schwacher sind wie im ontsprechenden Stadium des Verklingens.
Die Aufmerksamkeit ist in diesem Falle noch zu sehr durch
die Auffassung der Tone selbst absorbirt.
II. Tonhohe bei Schwebungen.
Auch die Frage nach den Tonqualitaten, die bei Schwe-
bungen vernommen werden, muss als eine eigentiimlich ver-
wickelte und fiir die Theorie der gleichzeitigen Tonempfindungen
und ihrer Entstehung sowie fiir die Dissonanzlehre nicht un-
wichtige ausfiihrlicher untersucht werden. Es fragt sich: Hort
man stets beide Tone und zwar beide schwebend, oder nur
einen schwebend, den anderen stetig andauernd, oder hort man
statt ihrer einen einzigen und zwar einen der Hohe nach gleich-
bleibenden, etwa mittleren, oder einen der Hohe nach verander-
^) Wahrsclieiulich beruht hierauf die Angabe von Docq in seiner
0. 435 erwahnten Specialuntersuchung S. 34, dass bei verteilten Gabeln
keine Schwebungen entstanden. Die Angabe ist jedenfalls ein sprechendes
Zeugnis fiir ihre ausserordentlicbe Abschwachung, wenn auch nicht gerade
fiir die Genauigkeit dieses Beobachters.
472 § 27. Schwebungen mid darauf beziigliche Urteile.
lichen, etwa zwischen beideii oder in weitereu Grenzen hin-
iind hergehenden?
1. Bisherige Bcobaclitungen und Theorion.
Helmholtz bemcrkte^), dass bei Schwebungen zwoier sehr
wenig verschiedener Klange, die uns gleichzeitig niir als Ein
Klang erscheinen, wlihrend des Schwcbungsminimums die Ober-
tone relativ hervortroten und so eine Veranderung (Erhellung)
der Klangfarbe erzeugcn, welche leicht falschlich als eine
kleine Erhohung des schwebenden Klanges aufgefasst wird (vgl.
0. I 242). Diese bios scheiubare Erhohung hangt nicht mit
den Schwebungen als solchen, nicht mit dor Combination zweier
verschiedener Tone zusammen. sondern mit Interferenz und
dem Vorhandensein von Obertouen. Liisst man einen einzelnen
obertonhaltigen Klang mit sich selbst interferiren, so trcten in
den Pausen dessen Obertone ebenfalls hervor, er schlagt in die
Octave um (Helmholtz daselbst).
Wir fragcn aber nicht nach einer bios scheinbaren son-
dern nach einer wirklichen Veranderung der empfundenen Ton-
hohe und einer solchen, die auch ohne jede Beteiligung von
Obertonen durch Combination zweier verschiedener Grundtone
entstande.
Eine den Tatsachen evident zuwiderlaufende und darum
vorab bei Seite zu setzende Behauptung stellt hier wieder
WuNDT auf. Er sagt, bei etwa 30 Schwebungen in der Secunde,
wo die Rauhigkeit am starksten sei, sei eine deutliche Auf-
fassung der Tonhohe nicht mehr moglich und der Klang werde
zum Gerausch. Aber der Zweiklang ce macht 33 Schwebungen
— und hier soil eine deutliche Auffassung der Tonhohe un-
moglich sein, soil der Klang zum Gerausch werden? Man hort
ja c und e vollkommen klar. In dem ganzen Accord
m
^) Tonempf. 1. Aiifl. (1863) S. 246, 4. Aufl. S. 274 (Versuche mit
der Sirene). Ebeuso Mach, Sitz.-Ber. d. Wiener Ak. 1864, S. 14. Als
Mach zwei Stimmgabelii vor Eiiiem Ohr schwebeu liess, schien ihm zu-
§ 27. Schwebungen uml darauf beziigliche Urteile. 473
raacht jecler Ton mit jedem nachsthoheren und nachsttieferen
33 Schwebungen — und das Ganze ware ein blosses Gerausch?
Auch c^ mit d^ gibt dieselbe Anzahl — und sie waren nicht
deutlich aufzufasson? Was sollte aus der Musik word en oder wo
ware unsre Musik iiberhaupt geblieben, wenn sich alle diese
Tonpaare nicht mehr unterschoiden liessen? Nicht cinmal am
Harmonium mit soiucn vielen untereinander schwebenden Ober-
tonon entsteht bei obigem Accord ein blosses Gerausch, sondern
auch da ein herrlicher markiger Zusammenklang. Und behauptet
nicht WuNDT selbst, dass ceg (4:5:6) am Obertonapparat als
ein Zusammenstimmen mchrerer Tone aufgefasst werdo (s. o. 331)?
Er muss wol hier ganz specielle Fallo vor sich gehabt haben,
vielleicht Viertelton - Intervalle aus der Gegend des c^, welche
ebenfalls etwa 30 Schwebungen liefern und die beiden Tone
allerdings nicht mehr deutlich unterscheiden lassen. Aber ein
Gerausch statt des Klangos hort man auch hier keineswegs.
Uberdies ist die Behauptung ohnc jedc Andeutung einer solchen
Beschrankung ausgesprochen, und nicht gelegentlich sondern
als der Mittelpuuct der Theorie der Schwebungen^).
Sehen wir, was theoretisch aus den Principien folgt, die
sich sonst bewahren. Nach dem Princip der Erregung durch
Mitschwingen werden in alien Fallen, wo sich Schwebungen
zeigen, ausser den beiden am Meisten erregten Fasern alle
zwischenliegenden durch die Tonwellen erregt. Nach dem Prin-
cip der specifischen Energien in der Ausdehnung, die ihm Helm-
erst bald die hohere bald die tiefere zu iiberwiegen. Aber er erkannte
dies als eine Tauschung, beruhend auf obigen Umstanden.
^) I " 438. Gleich darauf steht noch zu lesen: „Bei Schwebungen,
welche die Zahl 30 erheblich iibersteigen, vermag unser Ohr die ein-
zclnen Tone nicht mehr auseinanderzuhalten."' Hier konnte man mm
einen blossen Druckfehler vermuten, der durch die drei Auflagen stehen
geblieben ware, namlich „T6ne" statt „St6sse". Denn Wxjndt fahrt fort :
„Schon bei 50 Schwebungen wird der intermittirende Charakter der Em-
pfindung sehr undeutlich, und bei 60 ist er ganzlich verschwunden."
Aber freilich ist in dem ganzen Passus bald von der Unterscheidung der
Tone bald von der der Stosse die Rede, was doch Zweierlei ist. Er
scheint mir daher kurz gesagt an einer unheilbaren Confusion zu leiden.
474 § '^^- Schwcbungon uiul ilarauf beziigliche Urteilc.
HOLTZ gegeben, muss jede erregte Faser, gleichvicl auf welchem
Wegc uiid mit wclclier (ob coustanter oder schwankender) Iii-
tensitJit sie errogt ist, ihren bestimmteu Ton in der Empfindung
crgeben. Gilt also dieses Princip auch liier, so wcrden erstens
die beiden primaren Tone *) gebort werden, zweitens aber alle
dazwiscbenliegenden, soweit sie durch besondore Fasern (und
Ganglion) vertreten sind. Die beiden primaren Tone werden
rubig gebort wcrden, da bier der Voraussetzung gemass die
Zone der gemcinsameu Erregung ibr Ende bat, die iibrigen in
verscbiedenem Masse scbwebend, am starksten scbwebend der
in der Mitte gelegene Ton.
Helmholtz erwabnt diese Consequenz nicbt. Er erwabnt
aber, durcb Gueroult aufmerksam gemacbt, in der dritten und
vierten Auflage seines Werkes eine Erscbeinung, welcbe mit
derselben im Widersprucb steben wiirde. Es werde namlicb
bei wenig verscbiedenen Wellenlangen nur Ein Ton gebort,
dieser aber mit einer zwiscben gewissen Grenzen bin-
und berscbwankenden Hobe (4. Aufl. 274). Also nicbt
bios die Intensitat soli periodiscb wecbseln — was Helmholtz
frliber allein bervorgeboben — soudern aucb die Hobe. Helm-
holtz gibt in der Beilage XIV aucb eine Berecbnung dieser
Scbwankung, worin er voraussetzt, dass die empf undone Ton-
bobe der jeweiligen Gescbwindigkeit eines unter dem Einflusse
zweier Tonwellen scbwingeuden Scbneckenteilcbens entsprecbe.
Diese Voraussetzung batte er aber jedenfalls nicbt stillscbweigend
zu Grunde legen sondern sebr bervorbeben miissen, da sie dem
sonst durcbgefiibrten Princip der specifiscben Energie direct
widerspricbt, wonacb die Tonbobe nur abbangig ist von der
Individualitat des Teilcbeus (oder seines centralen Ganglions),
*) So woUen wir im Folgenden der Klirze halber die beiden auf
Pendelschwingungen der Fasern bernhenden Tone nennen, wclche den
beiden scbwebiingserzeugenden objectiven Tonen entsprechen. Es soil
natiirlich nicht damit gemeint sein, dass der oder die etwaigen Schwe-
bungstone neben diesen beiden durch dieselben psycliologisch oder.physio-
logisch bedingt waren. Sie haben vielmehr mit denselben gemeinsame
objective Ursachen.
§ 27. Schwebungen und darauf Ijczugliche Urteile. 475
iinabhangig dagegen von dcr Art und Geschwindigkeit seiner
Erregung. Helmholtz berechnet speciell den Fall, in welchem
die Primartoue von ungleicher Intensitat sind, und erhalt als
Schwingungszahl des rosultircnden Tones
(m — n) A
beim Maximum der Schwebung: n-\-
beim Minimum der Schwebung: n-\-
A + B '
(m — n)A
worin m und n die (wenig verscbicdeuen) Schwingungszahlen
der gleichzeitig einwirkendcn Scbwingungen, A und B die zu-
gehorigen Amplituden, A'^B.
Beim Maximum liegt hienach die Tonhohe zwiscben den
beiden Primartouen, beim Minimum liegt sie, wenn der stiirkere
Ton zugleich der bobere ist, iiber den beiden Primartonen,
wenn er dagegen der tiefero ist, unter denselben. Helmholtz
fiigt bei, dass man mit gedackten Pfeifen diesc Unterscbiede
gut bore, auch mit zwei Stimmgabeln, wenn man abwecbselnd
die bobere oder tiefere der Resonanzrohre naber bringe.
Sedley Taylor hat dasselbe Resultat auf anderem Wege
abgeleitet und auch den Fall gleicher Intensitat der Primar-
tone in Betracht gezogen ^). Fiir diesen Fall kommt er zu
^) Philosophical Magazine Bd. 44 (1872) S. 56. Taylor erwahnt
hier, dass vor Gu^iroult bereits 1857 De Morgan in der o. 451 citirten
Abhandliing Hohenveranderungen mit Bestimmtheit als eine bekannte
und vou ihm selbst beobachtete Tatsache bezeichnet habe. Dies ist
nicht genau. De Morgan sagt S. 137 seiner Abhandlimg, bei verstimmten
Consonanzen, etwa Sexten, sei die Erscheimmg fiir verschiedene Ohren
verschieden. Fiir manche bestehe sie im Intensitatswechsel. Fiir andere
in abwechselnder Wahrnehmung (perception) der beiden Tone
des consonanten Intervalls. Fiir sein eigenes Ohr im Wechsel
der Klangfarbe (u-a-u-a, vowel -sounds, as pronounced in the Italian
way). Der zweite dieser Falle, an welchen Taylor zu denken scheint,
deckt sich keineswegs mit der Gu^roult - HELMHOLTz'schen Behauptung
und kann weiter Nichts bedeuten, als dass die beziiglichen Personen
ihre Aufmerksamkeit bald dem unteren bald dem oberen Ton des Inter-
valls (der grossen Sext) schenkten, was mit den Schwebungen schlechter-
dings Nichts zu tun hat.
476 § 27. Schwebungen and darauf beziigliche Urteile.
dcm Ergebnis, dass die Schwingungszahl des rosultirendon Tones
beim Maximum und Minimum die namliche und zwar =-—^ —
sei. Und diose Formel sei exact, wLihrcnd die fiir ungleiche
Intensitaten nur approximative Ableitung gestatte. Auch Taylor
bchauptet, die Tonhohenschwaukung bei ungleicher Intensitat
der Primartone sclbst wahrzunehmen, und crblickt in dieser
Erscbeinung, die Helmholtz nur als beilaufige betracbtet und
nicbt weiter verwertet, ein wesentlicbes Morkmal der Dis-
sonanz. Denn die blosso Intensitatsscbwankung und Rauhig-
keit finde sich ebenso bei einem einzebien bios intermittironden
Ton, dagegen diese Hobenschwankung bringe erst jene „eigen-
tiimlicbo Bitterkeit" (peculiar sourness) in den Eindruck, die
fiir ein dissonantes Intervall cbarakteristiscb sei. Bei grosseren
verstimmten Intervallen, z. B. einer unreinen Octave, ergebe
sicb eine solcbe Hobenscbwankung durch Collision des Grund-
tones mit dem ersten Combinationston, der diesem ganz nahe
liegt, u. s. w.^). Man wird zugesteben, dass Taylor bier eine
sebr bedeutende Erganzung, ja Umbildung der HELMHOLTz'schen
Dissonanzlebre zur Discussion gestellt bat.
Hensen, dem dies unbekannt zu sein scbeint, spricbt sicb
iibcr den Schwebungston so aus^): „Scbweben a und li mit-
einander, so wUrde die Faser fiir & am starksten in Scbwe-
bungen versetzt werden miissen.... und es scbeint, dass wir
^) Alfred Mayer bemerkt (Americ. Journ. of Science VIII 253)
gegen Taylor, er vernehme bei einer einzelnen in der Drehbank rapid
gedrehten Stimmgabel gleichfalls eine Erhohung des Tones bis zu einer
kleincn Terz. Aber diese fortschreitende, nicht periodische, Erhohung
muss andere Griinde haben (vgl. Beetz, Pogg. Ann. Bd. 128 S. 490,
Bd. 129 S. 313, 587). In unsrera Fall handelt es sich um periodische
Erhohung beina Minimum: und wie wollte man bei rapider Drehung
die Tonhohe des Minimums von der des Maximums unterscheiden?
Taylor hatte dieses Experiment bios dazu angefiihrt, um die Ent-
stehung der Rauhigkeit durch einen einzelnen Ton daran zu erlautern.
Dagegen dass keine Tonerhohung bei blosser Intermittenz eintritt, e
wies er durch langsame Drehung.
2) Heem. Handb. Ill, 2 (1880) 96.
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile. 477
den Ton h miissten schwebend horen konnen, wahrend wir in
der Tat wechselnd a und h horen." Hensen legt, wic wir
sehen, seinen Folgerungen zunachst das Princip der spccifischen
Energien zu Grunde, und findet in der Beobachtuiig ebenfalls
eine Abweichung davon, aber keineswegs die von Helmholtz
angegebene Erscheinung (deren er an anderer Stelle Erwahimng
tut, ohne den Widersprucb zu heben ^)).
BosANQUET gibt Folgendes an^). Bei nahezu gleich hohen
Primartonen wird nur Ein Ton vernommen, der zwischen beiden
liegt, diese selbst aber nicbt. Bei grosserem Unterschiede der
Primartone kommt ein Punct, wo zwei verschiedene Tone, aber
aucb immer noch Schwebungen gehort werden. Dieses „kri-
tische Intervall", wo der Eine Ton in zwei auseinandorgeht, be-
tragt in der mittleren Region etwa zwei Komma's, variirt jedoch
nach Personen. Etwa von der kleinen Terz an verschwinden
die Schwebungen und hort man zwei gleichmassig dauernde
Tone. Von einer Schwankung der Tonhohe erwahnt Bosan-
QUET in alien Fallen Nichts.
2. Priifung dor aus don objectiven Schwingungs-
verhaltnissen abgeleiteten Folgerungen.
Ich kann nun zunachst die von Helmholtz und Taylor
fiir den Fall ungleicher Intensitat der Primartone angegebenen
Erscheinungen nicht bestatigt finden. Machen wir den Fall
concret. Zwei Gabeln C° = 64 und C^ = 66 miissten beim
Stark everhaltnis 0°: O'^ = 11 : 10 nach den obigen Formeln um
eine voile Quarte nach oben, also zwischen C und F, und bei um-
gekehrtem Starkeverhaltnis 10:11 um eine Quinte nach unten,
also zwischen C und F^ schwanken. Denn der Maximumton
ware ein C=65, der Minimumton ware ein F=8Q, boz. ein
F, = 44.
Bei den Tonen 400 und 401 (g'^) und dem Starkeverhaltnis
50:51 wiirde fiir das Minimum der Ton 451 (^ais^) bez. 350
(etwa f^) resultiren.
^) S. 84. Vielleicht wiirde er ihn so losen, dass er selbst bei
gleichen, Helmholtz bei uugleichen Intensitatea beobachtet habe.
•') Philos. Mag. XI (1881) 420-1.
478 § 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile.
Man miisste also eine Art Trilier lioren zwischen dem
Maximum- und Minimumton, wenn auch einen sg. Bockstriller,
wie der Musiker sagt, wenn die Intensitat ungleich und die
Tone melir als einen Ganzton entfernt sind.
Moge nun Jeder zuhoren, ob er diese Erscheinungen wahr-
nimmt. Man wird seinen Ohren zelinmal mistrauen, ehe man
die Aussage eines Beobachters wie Helmholtz in Zweifel zieht.
Ich kann aber schliesslich nur sagen, dass ich bei aller Auf-
merksamkeit an alien moglichen Instrumenten diese Schwan-
kungen niclit habe beobachten konnen, und dass mir ihr Nicht-
vorhandensein nur um so evidenter wurde, je ofter und auf-
merksamer ich die Erscheinungen studirte.
Dass man zuerst glauben kann, wenn nicht solch' be-
deutende, doch wenigstens ilberhaupt ^ine Schwankung zu horen,
zumal wenn man nach der Berechnung eine erwartet, ist immer-
hin begreiflich. Denn beim Maximum soil ja der Ton sich nur
sehr wenig von den Primartonen unterscheiden; beim Minimum
aber ist eben die Tonstarke so gering, dass man jenachdem
sowol eine Erhohung als eine Vertiefung darin finden kann:
eine Erhohung wegen des oben 472 nach Helmholtz selbst er-
wahnten Tauschuugsmotivs — eine Vertiefung, weil schwachere
Tone leicht tiefer scheinen (I 237). Vielleicht konnte man so-
gar willkiirlich, jenachdem man mehr die Erhellung oder mehr
die Schwachung beachtet, die eine oder andere Tauschung her-
vorrufen. Ferner vgl. u. 481 Anm.
Fiir den Fall gleicher Amplitude ist schon das Rechnungs-
ergebnis S. Taylor's beziiglich der resultirenden Schwingungs-
dauer unrichtig. Es liegt ja in der Natur der Sache und springt
bei Betrachtung der Wellenfiguren (vgl. o. 28) sofort in's Auge,
dass sich auch hier die Wellenlange vom Maximum der Re-
sultirenden zum Minimum und umgekehrt verandert und beim
Maximum grosser als beim Minimum ist. Ich habe mir die
Frage nicht bios fiir kleine Tonunterschiede sondern allgemein
vorgelegt, nach welchem Gesetz bei der Superposition zweier
Sinuswellen die Lange der resultirenden Welle zwischen dem
Maximum ihrer Amplitude und dem Minimum wechselt; und da-
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile. 479
bei die bereits o. 27 — 28 erwalmten Formelu gefunden. Nennen
wir L und I die Langen der grosseren und kleineren Sinus-
welle, L' die grosste und V die kleinste Lange der Resultirenden,
so ist fiir y^^S, d. h. fiir alle Intervalle innerhalb der Duo-
decime, also audi fiir alle Falle von Schwebungen
t'—^Jl r—~—
L-\-l L+l
Die grosste Lange, welche zugleich beim Maximum der Ampli-
tude stattfindet, ist das liarmonische Mittel der beiden ur-
spriinglichen Wellenlangen, die kleinste, die beim Minimum der
Amplitude stattfindet, ist die Halfte der grossten. Man muss
also, wenn und solange nur Ein Ton geliort wird und dessen
Hohe durch die Lange der resultirenden Welle bedingt ist,
den Ton zwischen den Endpuncten einer vollen Octave
wechseln horen. Beim Maximum der Schwebungsstarke muss
er zwischen den Primartonen, beim Minimum eine Octave hoher
liegen. Wenn auch vielleicht der Minimumton wegen seiner
Schwache nicht deutlich vernommen wiirde, der Maximumton
miisste doch vollkommen deutlich sein.
Dass dies nun nicht allgemein, in alien Fallen von Schwe-
bungen, zutriift, ist offenbar. Es sind ja z. B. bei Anwendung
einer C- und einer G-Gahel noch deutlich Schwebungen zu
horen, 33 in der Secunde. Hier wiirde der berechnete einfache
Ton zwischen E und e abwechseln, C und G dagegen nicht
gehort werden. Factisch hort man nur das unveranderte C
und G. Bei C und E (16 V2 Schwebungen) miisste der Ton
zwischen D und d wechseln, C und E dagegen wieder nicht
gehort werden; was wiederum nicht zutrifft.
Lassen wir die Differenzen der Primarwellen immer kleiner
werden, so miisste allerdings der Maximumton zuletzt so wenig
von den Primartonen verschieden sein, dass er schwer oder
nicht mehr als verschieden und zwischen ihnen liegend erkannt
werden konnte. In diesem Falle wiirde es nun darauf an-
kommen, ob der Ubergang von der tieferen zur hoheren Octave
480 § 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile.
innerhalb der Resultirenden stetig oder sprungweise erfolgt.
Im ersteren Fall miisste man einen zwischen diesen Eudpuncten
rulielos auf und ab heulenden Ton statt der Primartone ver-
nehmen, und diese stetige Anderung wiirde sich bei kleineren
Differenzen der Primiirwellen immer langsamer vollziehen, konnte
also unsrer Walirnelimung um so weniger entgehen. Auch hie-
von ist absolut Nichts zu bemerken. Im zweiten Fall (und
dieser entspricht, soviel icli seho, den geometrischen Verhalt-
nissen) konnte uns der Minimumton allerdings wegen seiner
Kiirze und Schwache entgehen und wiirde dann bios ein zwi-
sclien den Primartonen in der Mitte liegender statt ihrer ver-
nommen - werden.
Nur also fiir selir kleine Differenzen der Primartone konnte
sicli eine leidliche tJbereinstimmung der auf die objectiven
Schwingungsverhaltnisse gegriindeten Berechnung mit den Be-
obachtungen ergeben. Aber die Scbwebungen sind eben nicht
auf solche Falle beschrankt.
Verlassen wir daher einstweilen den theoretiscben Leit-
faden und fragen wir mit um so besserer Beriicksichtigung der
verschiedenen Umstande die Beobachtung.
3. Neue Beobachtungen.
Es finden, soweit ich meinen Ohren in wesentlicher t)ber-
einstimmung mit mehreren anderen von guter Qualification
trauen darf, je nacb Umstanden verscbiedene Ersclieinungen
statt. Man kann dieselben auch unbedenklich an oberton-
haltigen Klangen studiren, da die Aufmerksamkeit ja auf die
Grundtone und ihre Umgegend concentrirt wird.
a) Wenn ich in mittlerer Region zwei um etwa einen
Halbton verscbiedene Tone zusammen angebe, z. B. gis^ und
a^ der Yioline, so hore ich die beiden Primartone, ausser
diesen aber einen dritten, der zwischen ihnen liegt, etwas
naher an dem tieferen als an dem hoheren. Derselbe besitzt
eine sehr weiche Farbe, wird bei starker Aufmerksamkeit
nnerhalb des Ohres localisirt; und er ist es, welcher
schwebt, wahrend die Primartone ruhig bleiben. Diese beiden
ausseren Tone sind dabei nach meinem Urteil merklich ab-
§ 27. Schwebungen und darauf beztigliche Urteile. 481
geschwacht, mehr als sonst die Abschwachung bei gleich-
zeitigem Erklingen zweier Tone betragt.
b) Nebme icli in derselben Region weiter auseinander-
liegende Tone, wie p^ und a^, so hore ioh nichts mehr von
dem mittleren Ton sondern nur die beiden Primartone; und
diese beiden scheinen selbst zu schweben. Wenn ich jedocli
die Aufmerksamkeit vorzugsweise einem von ihnen zuwende,
scheint immer dieser der scliwebende.
c) Nehme ich umgekebrt zwei Tone, die viel naher an-
einander liegen als eine Halbtonstufe, so dass sie der Unter-
scheidungsschwelle fUr gleichzeitige Tone nahekommen, so ver-
nehme ich Einen Ton, und diesen schwebend. Es ist schwer
zu sagen, ob er in der Mitte der primaren Tone hegt.
Auch Herr Prof. Joachim war so gutig, zu dergleichen
Versuchen sein Ohr zu leihen. Er spielte selbst auf seiner
Violine die Tone, die er mit allbekannter Reinheit der In-
tonation, Ruhe und Gleichmassigkeit des Striches wahrend lan-
gerer Zeit festhielt und wiederholte. Das Ergebnis war ein
ahnliches. Ich berichte aber nicht bios die Endurteile, zu denen
er gelangte, sondern auch die anfanglichen davon abweichenden,
da dies fiir Solche, die die Beobachtungen wiederholen, in-
structiv sein wird.
(a) Bei gzs'^ a'^ glaubte er anfiinglich „eiue Art Triller" wahr-
zunehmen ^). Dann fiel ihm eiu gewisses Knistern auf —
^) Diesen Eindruck hatte auch eine andere musikalische Person, die
ich nur vorubergehend einmal fragte ; obgleich man beim Musikhoren doch
den Zusammenklang gis^ a^ sehr wol unterscheidet von dem Triller zwi-
schen diesen Tonen. Die Ursache liegt oifenbar darin, dass man in der
Musik eben nicht auf Schwebungen hort und dass nun, wenn dieses
Phanomen zum deutlichen Bewusstsein kommt, das Kollern und Stossen
zunachst unter den musikalisch gewohnlichen und nachstliegenden Be-
griff des Trillers zwischen den gehorten Tonen gebracht wird. Der
rasche Intensitatswechsel wahrend der Tone wird als gleichrascher Wech-
sel der Tone selbst gedeutet. Die schnelle periodische Abwechselung
ist das Tertium comparationis. Bei schwebenden Terzen findet diese
Verwechselung nicht mehr Statt, weil eben auf Terzen der musikalische
Begriff des Trillers nicht mehr anwendbar ist.
Stumpf, Tonpsychologie. II. 31
482 § 27. Schwebungen und darauf bezUgliche Urteile.
er verglich es dem elektrischen Knistern — , dem er die
Tonhohe c^ zuscbrieb. Es zeigte sich, dass man diesen Ton
auch beim Hineinblaseu in die Schalllocher des Instruments
leise vernehmeu konnte. Es war also eine zufiillige Neben-
erscheinung, die aber seine Aufmerksamkeit ganz besonders
abzog, wahrend ich sie zuerst nicht wahrgenomraen hatte ^).
Die Tone gis^ und a'^ selbst vernahm J. ihrer Hdhe nach
vollig unverandert. Als das Subject der Schwebungen, des
Rollens, erschien ihm der Knisterton.
(|3) e^ dis'^ (auf der g- und <^^-Saite; der Halbtou absichtlicli
etwas kleiner genommen): Hier nahm J. ausser den Primar-
tonen einen dritten mittleren Ton wahr, welcher dem tie-
feren Primarton naher lag.
(/) gis^ a^ wiederholt: Jetzt glaubte J. auch hier einen mittleren
Ton zu horen und zwar von „hohler, weicher, trommelartiger
Klangfarbe". Vielleicht deutet letzterer Ausdruck zugleich
darauf, dass er die Schwebungsstosse jetzt auf diesen Ton
bezog, doch habe ich versaumt, iiber diesen Punct ausdriick-
lich zu fragen oder die Antwort zu notiren.
Versuche in Gemeinschaft mit Herrn Prof. Gustav Engel
in Berlin (3. I. 85) an dessen „mathematischem Harmonium",
welches Differenzen von einem oder zwei Komma's anzugeben
gestattet^), lieferten besonders ergiebige Bestatigungeu und zu-
gleich Erweiterungen dieser Beobachtungen durch Ausdehnung
auf verschiedene Tonregionen.
E^G^: Beide Tone deutlich zu horen ; im Ubrigen stort das
Schnarren die Beobachtuug.
CE: Beide Tone deutlich.
CCis: Ebenso. Beide Tone werden schwebend gehort, jeder
sobald man die Aufmerksamkeit auf ihn wendet. Ausser-
^) Die Gewohnheit, auf Harmonien zu achten — meinte Joachim
wol mit Recht — , habe ihm diesen durch ein grosseres Intervall von
den Primartonen getrennten Ton besonders auffallig gemacht.
^) Vgl. G. Engel, Das mathematische Harmonium, ein Hiilfsmittel
zur Veranschaulichung der reinen Tonverhaltnisse, 1881. EinKomma =
der 81. Teil eines Ganztons.
§ 27. Schwebungen und darauf bezugliche Urteile. 483
dem hort man zwar ebenfalls beide, bezieht aber das Schwe-
ben auf das Ganze.
ccis: Zunachst war auch bier nicbts weiter an Tonqualitaten
wabrzuiiebmen als die beiden Ttiue selbst (vgl. u. o des).
cc^ (ein Kreuz bedeutet: eiu Komma hober): Hier hort man
ebenfalls beide Tone mit der scharfen Klangfarbe der Zungen,
daneben aber einen mittleren weicben Ton, schwebend und
im Ohr localisirt. Ich vernahm diesen sogleich; Engel erst
nacbdem ich ibn aufmerksam gemacht.
g2^2x. Ebenso, nur dass die beiden Primartone noch deut-
licher von einander geschieden werden.
* c2^2xx (z^ei Komma's hoher): Ebenso, nur der mittlere Ton
weniger deutlicb, zu scbnell schwebend,
*gigixx. Dieselben Wahrnehmungen besonders deutlicb. Der
Zwischenton schien mir dem tieferen entschieden naher zu
liegen als dem hoheren.
Hierauf wurden grossere Intervalle in dieser Gegend unter-
sucht, Halbtonintervalle und dariiber: hier wurden wieder nur die
beiden primareu Tone, kein dritter vernommen.
Darauf ging ich mit den Versuchen wieder in tiefere Regionen:
* cAes: Ich bemerkte nun auch hier den mittleren Ton ausser
den primaren, und dem tieferen derselben naher liegend.
Engel konnte den mittleren nicht bemerken. Hier schien
also eine Grenze zu liegen (vgl. o. ccis).
cd: Nur die primaren Tone.
* ce'^'^: Auch der mittlere, mit dem tieferen fast zusammen-
fallend, gleichwol noch deutlicb von ihm unterscheidbar
(vgl. 0. cc^).
* CC^'^: Ebenso, nur alle Tone nicht mehr so scharf unter-
scheidbar.
CCis: Jetzt schien mir auch hier nach inzwischen erlangter
Chung ein mittlerer vorhanden, aber dem tieferen ausserst
nahe und sehr undeutlich.
Bei diesen Versuchen war stets zuerst jeder der beiden Primar-
tone einzeln angegeben und dem Gedachtnis eingepragt worden.
Der Zusammeuklang wurde so oft wiederholt, bis das Urteil sich
31*
484 § 27. Schwebungen unci darauf bezixgliche Urteile.
moglichst festgesetzt hatte, und dazwisclieu immer die Primartone
einzeln verglichen.
Nach obiger Reihe macbte icb nocb Versuche in der Art, dass
ich die mit * bezeicbneten Falle wiederbolte und jedesmal einen
mittleren Ton uuter den auf dem Instrument disponiblen aufsuchte,
welcber dem geborten mittleren Ton moglichst gleicbkam. Da-
durcb wurde wiederura das Urteil bedeutend befestigt, indem der
nun objectiv angegebene als identisch mit dem vorber geborten
vviedererkannt wurde. So wurde bei c^c^^^ der mittlere schwe-
bende Ton als gleich oder nabezu gleich dem c^^ gefunden; analog
bei c^c'^^^. Bei cdes wurde ein erbobtes c zur Controle beniitzt,
und bier kounte icb deutlicb bemerken, dass der mittlere Scbwe-
bungston etwas bober war als dieses. Sebr entscbieden gestaltete
sich das Urteil auf diese Weise auch bei cc^^ und CC^^.
4. Physiologische Theorie.
Suchen wir uns nun vom Zustandekommen clieser Er-
scheiniingen Rechenschaft zu geben, so ist uach dem Voran-
gegangenen klar, dass in den Eigentiimliclikeiten der Scliwe-
bungswellen die Erklarung niclit gefunden warden kann. Aber
die objectiven Schwingungen sind ja audi nur entferntere Ur-
sachen der Tonempfindungen, die nilheren sind die pbysiolo-
gischen Processe. Diese betreffend haben wir bereits mit Grund
angenommen, 1) dass eine objectiv unzerlegte aber in Sinus-
schwingungen zerlegbare Schwingung im Ohr in seiche zerlegt
wird, 2) dass umgekehrt eine objectiv einfache Schwingung im
Ohr eine gewisse Anzahl beuachbarter Fasern erregt, denen
verschiedene Endgebilde (sagen wir Ganglienzellen) und ver-
schiedeue specifische Energien entsprechen; dass aber dennoch
in diesem Falle vermoge einer gegenseitigen Beeinflussung eine
einzige Gesammtenergie entsteht, ein einziger Ton gehort wird
(o, lllf,), Lassen wir nun
(Zu a) gis'^ und a^ einwirken, so werden durcli jede dieser
Schwingungen eine Anzahl (sagen wir 60) Fasern erregt und
zwar ein Teil derselben gemeinsam, wodurch Schwebungen ent-
stehen. Bei einer mittleren Faser muss diese Erregungsweise am
kraftigsten eintreten, bei derjenigen, die von beiderlei Schwin-
§ 27. Schwebungen unci darauf beziiglichc Urteile. 485
gungen gleichstark erregt wird. Nun ist es bios eine weitere
Anwendung des obigen Princips der Bildung einer Gesammt-
enei'gie, wenn wir annehmen, dass diese Faser (bez. Ganglion)
die ihr bynachbarten in ihre specifische Energie hineinzwingt,
dass sie das Centrum einer besonderen, qualitativ einlieitlich
erregten Gruppe, die physiologisclie Unterlage eines besonderen
Tones wird. Es wird also ausser a^ und gis''^ ein zwischen
bciden liegender dritter Ton gehort. Und dieser muss
sell web end gehoit werden, dagegen gis''^ und a^ nicht schwe-
bend, da diese Tone eben nur solchen Fasern (Ganglieu) ent-
sprecheu, die ausserhalb der gemeinsamen Erregungszone liegen.
Ferner folgt, dass gis^ und a^ scbwacber gehort werden als
wenn sie isolirt mit gleicher Reizstarke angegeben werden, weil
nicht so viele Fasern auf jeden der Tone
kommen wie im letzteren Fall, sondern
ein Teil durch die mittlere Gruppe ab-
sorbirt wird.
Fiir diese selbst konncn wir die Starke
nach der HELMHOLTz'schen Tabelle liber
die Intensitat des Mitschwingens (238, vgl. 287) ungefahr be-
rechnen. Setzt man die Schwingungsintensitat einer primar
erregten Faser (d. h. einer solchen, deren Eigenschwingung mit
der objectiven iibereinstimmt) := 100, so wird eine Faser, welche
von der primar erregten um 0,2 Ganzton absteht, hienach durch
dieselbe objective Schwingung beilaufig (von genaueren Be-
stimmungen kann natiirlich noch keine Rede sein) mit der In-
tensitat 41, eine welche um 0,3 absteht, mit der Intensitat 24
miterregt. Wir konnen also fiir die Differeuz eines Vierteltons,
um welche in unsrem Falle die mittlere Faser von den beiden
primar erregten absteht, die Intensitat 30 annehmen. Da sie
von beiden Seiten zugleich miterregt wird, so wird ihre Schwin-
gungsintensitat beim Maximum der Schwebungen, wo sich beide
Wirkungen summiren, 2 X 1%% = I von der Schwingungsinten-
sitat jeder der beiden primar erregten Fasern sein. Der mitt-
lere schwebende Ton wird also schwacher sein als die Primar-
tone, aber sehr wol noch neben ihnen horbar sein.
486 § 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile.
Dieses Alles ist clenn auch clurch die Beobachtung be-
statigt.
Dass der Zwischenton im Ohr localisirt wircl, begreift sich.
Die Aufmerksamkeit ist eben von vornherein, sobald er Uber-
haupt wahrgenommen wird, auf ihii als auf eine subjective Er-
scheinung gerichtet. Unter ahnlichen Bedingungen werden aucb
Differenztone, Ohrenklingen und die bohen durcb die Construction
des Obres begiinstigten Obertone vorzugsweise in's Ohr verlegt.
Die besonders weiche Klangfarbe (Tonfarbe) hangt damit
zusammen und findet sich darum ebenso in den ebengenannten
Fallen bei Tonen gleicher Region. Nur unanalysirten Klangen
mit Obertonen wird die von diesen und ihren Schwebungen
herriihrende Helligkeit und Scharfe als Eigentiimlichkeit des
Ganzen zugeschrieben. Auch die Nebengerauscho bei der Ton-
erzeugung werden nur bei unanalysirten Primarklangen als
Eigenschaften derselben aufgefasst; sobald und soweit die
Grundtone der Primarklange (gis'^ und a^) von den iibrigen Be-
standteilen gesondert wahrgenommen werden, verlieren auch
diese Tone ihre Scharfe. Aber die gesonderte Wahrnehmung
ist hier eben schwerer, schon weil die beziiglichen Obertone,
die nachsten wenigstens, mit den Grundtonen stark verschmelzen ;
wahrend andrerseits der Zwischenton durch seine Schwebungen
sich von vornherein als ein von alien iibrigen Klangbestand-
teilen wolgesondertes Moment darbietet (vgl. o. 337), sobald
nur einmal die Aufmerksamkeit von den Primarklangen ab-
und diesem subjectiven Ton zugewandt ist.
Dass der Zwischenton dem tieferen Primiirton naher liegt
als dem hoheren, konnte man als eine Tauschung der Auf-
fassung bezeichnen, insofern einfache weiche Klange uns leicht
zu tief scheinen. Da aber das Urteil bei genauerer Controle
Stand hielt und nur bestimmter wurde, so mochte ich doch
hierin eine Tatsache der Empfindung erblicken. Vielleicht lasst
sie sich auf eine grossere Mitschwingungsfahigkeit der hoheren
gegeniiber den tieferen Fasern zuriickfiihren (worauf ja auch die
grossere Empfindungsstarke der hoheren Tone hinweist). Diese
muss zur Folge haben, dass der hohere Primarton bei gleicher
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile. 487
objectiver Starke mehr Fasern fiir sich in Ansprucli nimmt und
so die mittlere Gruppe, die im Allgemeinen zwischen beiden pri-
mar erregten Fasern liegt, mebr nacb der tieferen zu drangt.
Die maximal schwebende Zwischenfaser liegt dann also nicht
ganz in der Mitte sondern naher an der tieferen primar er-
regten. Freilicb ist die Frage, ob die Mitschwingungsfahigkeit
schon von gis^ nach a^ so viel wachst, dass eine merkliche Ver-
schiebung des Zwischentons eintreten kann. Man mlisste vor
Allem die Reizstarke auf's Genaueste reguliren konnen, um
dariiber zu entscheiden. Eine dritte Moglichkeit ware die, dass
durch die beiden primaren physiologischen Processe (oder durcli
einen von ihnen) der mittlere im Sinne der Vertiefung beein-
flusst wiirde; wovon allerdings unter gewohnlicben Umstanden
d. h. bei Tonen, die nur auf Pendelschwingungen der Fasern
beruhen, Nichts zu bemerken ist.
Endlich mag auch eine eigentiimlicli durchdringende Wir-
kung des ganzen Eindrucks auf der gescbilderten Entstehungs-
weise beruhen^). Bei einem sehr starken Ton diescr Region
sind unter gev^^ohnlichen Umstanden voraussetzlich mindestens
60 Fasern erregt, wahrend die sehr beftige Erregung beim
Scbwebungsmaximum nur auf wenige Fasern kommt. Man ver-
gleiche einen spitzen und einen breiten Eindruck auf die Haut
bei gleicher lebendiger Kraft der Einwirkung. Es sind wol
auch wirklich Tastempfindungen des Trommelfells hier beteiligt.
(Zu b) Riicken wir nun die Primartone weiter auseinander,
so werden bis zu einer gewissen Grenze noch zwischenliegende
Fasern (Ganglien) gemeinsam erregt. Aber schon ehe diese
Grenze eintritt, ist die Erregung des Centrums dieser Gruppe
nicht mehr kraftig genug, um die iibrigen ihr angehorigen
Teilchen in dessen specifische Energie hineinzuzwingen. Die-
selben werden vielmehr, obgleich die Intensitat ihrer Erregung
durch beide objective Schwingungen gemeinschaftlich bestimmt
wird und daher Schwebungen entstehen, doch in Bezug auf
^) Die oben erwahnte musikalische Person verspiirte, wie sie sich
ausdriickte, die Wirkung „bis in die Fussspitzen".
488 § 27. Schwebungen unci darauf beziigliche Urteile.
die Art der Ganglienerregung, also die Qualitat des geborten
Tones, sich teils der recbton toils der linken Gruppe anpassen,
derjenigen welcher sic zunachst liegen.
Und selbst wenn sie noch cine beson-
dere mittlere Gruppe bildeten, wiirde
der Ton ausserordentlicb scbwacb sein,
wegen der geringen Anzabl der Fasern
und der Schwacbe der Erregung. Man
wird daber keinen mittleren Ton mebr boren, sondern nur
die beiden Primartone, diese aber starker als im vorigen
Falle, da mebr Fasern auf jeden kommen. Die Scbwebungen wer-
den als solcbe der Primartone vornommen werden, da eben die
scbwebenden Teilcben nicbt mebr einen selbstandigen Ton liefern
sondern an der Erzeugung dor Primartone mitbeteiligt sind.
Dies ist nacb unseren obigen Beobacbtungen der Fall bei
g^ und a^. Dass die Scbwebungen je nacb der Ricbtung der
Aufmerksamkeit bald dem einen bald dem anderen Ton zu-
gescbrieben werden, begreift sicb leicbt und bildet nur einen
besonderen Fall eines allgemeinen Verbaltens, das wir weiter
unten besprecben. Die Intensitat des Scbwebungsmaximums
fiir die mittlere Faser berecbnet sicb in der obigen Weise bier
= ^/5 von derjenigen der primar errogten; wodurcb es voll-
komraen erklarlicb wird, dass man den entsprecbenden Zwiscben-
ton, aucb wenn ein solcber in dem Klangganzen nocb entbalten
sein sollte, nicbt berausbort.
(Zu c) Riicken wir umgekebrt die beiden Primartone von
gis^ a^ beginnend einander naber, so werden zuletzt die ge-
meinscbaftlicb erregten und scbwebenden Teil-
cben in die Mebrzabl kommen und immer
weniger fiir die Primartone auf beiden Seiten
iibrig bleiben; und diese wenigen sind scbwacb
erregt, weil sie scbon den Grenzen der je-
weiligen Erregungszone nabeliegen. Sie werden
also entweder in die specifiscbe Energie der mittleren Gruppe
bineingezogen oder wenigstens die ibrige so scbwacb zur Geltung
bringen, dass die entsprecbenden Tone, also die Primartone,
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile. 489
durch den mittleren fiir die Wahrnehmung uiiterdriickt werden.
Man wird also nur den mittleren Ton vernehmon und diesen
stark schwebend. Auch dies entspricht der Beobachtung.
Es ergibt sich also Alles aus den bereits friiher ange-
nommenen Principien. Das Princip der specifischen Energien
in der Fassung, die ihm Helmholtz fiir das Ohr gegeben,
unterliegt zwar einer Beschrankung, aber nicht etwa einer
neuen Beschrankung im Fall der Schwebungen, sondern nur
derselben, die wir bereits fiir die Falle einzelner einfacher
Tone angenommen haben: es wird erganzt durch das Princip
der gegenseitigen Beeinflussung benachbarter schwingender oder
sonstwie erregter Teilchon, durch das Princip der Accom-
modation, wie wir kurz sagen konnen. Dagegen bediirfen wir
nicht der Annahme, dass die Tonhohe in irgend einem Falle
durch die Form der zusammengosetzten, periodisch verander-
lichen Welle bedingt wiirde; woraus sich vielmehr flagrante
Widerspriiche gegen die Beobachtung ergeben wiirdon. Die
Tonhohe ist auch im Falle der Schwebungen lediglich bestimmt
durch die Natur der erregten nervosen Gebilde, und unterliegt
darum keiner period ischen Schwankung.
Zu erwarten ist danach, dass in alien Tonregionen analoge
Classen von Erscheinungen auftreten, aber auch, dass die Gren-
zen der drei Falle gegeneinander verschieden sein werden, da
man ja in der Tiofe Schwebungen noch mit Leichtigkeit bis
zur Quinte wahruimmt und zugleich innerhalb eines und des-
selben Intervalles weniger Fasern liegen (geringere relative
Unterschiedsempfindlichkeit), sodass z. B, die Fasern fiir Tone
vom Unterschied eines Komma's unmittelbar benachbarte wer-
den, wahrend sie in den hoheren Regionen noch eine Menge
Fasern zwischen sich haben.
III. Zuteilung der Schwebungen an das Ganze oder
bestimmte Tcile eines Klanges.
Fragten wir vorher, welche Tonqualitat den Schwebungen
zugeschrieben wird bez. wirklich zukommt, so ist jetzt die
Frage, welchem Ton die Schwebungen zugeschrieben werden.
490 § 2^- Schwebungen and darauf beziigliche Urteile.
Auch diese Frage musste zwar schon teilweise mitbesprochen
werden, gestattet und verdient aber eine allgemeinero Fassung
uiid Erorterung; wobei auch erheblich ungleiche Inteusitat der
Tone, Nichtanalyse des Klanges, feruer Schwebungen von Bei-
tonen in einem Klange und Schwebungen einzehier Teile in
einem Zusammenklang in Frage kommen und in dieser Be-
ziehung die regelmassigen Tiiuschungen der Auffassung be-
sonders hervorzuheben sind.
Haben wir nur zwei objective Tone (oder auch zwei Klange,
bei denen die Schwebungen der Obertone gegen die der Grund-
tone verschwinden), so erledigt sich die Frage ziemlich einfach.
Bei Nichtanalyse Averden naturlich die Schwebungen als Eigen-
tiimlichkeit des Ganzen aufgefasst. Bei Analyse werden sie im
Falle genauesten Hinhorens und hinreichender tJbung den
Tonen zugeschrieben, denen sie wirklich zukommen, also unter
Umstanden keinem der beiden Primartone, sondern einem
zwischenliegendeu. Bei weniger genauem Hinhoren aber ent-
weder den beiden Primartonen oder demjenigen von ihnen,
welchem etwa die Aufmerksamkeit besonders zugewandt ist.
Die Aufmerksamkeit vereinigt dann die beiden Momente, die
sie zugleich zu erfassen strebt, diesen Ton und die Schwebungen,
zu einem engeren Ganzen. Manche glauben dann auch, wie
schon erwahnt, die beiden Tone selbst abwechselnd zu horen
(nicht bios abwechselnd zu beachten), indem sie den Intensitats-
wechsel und den Aufmerksamkeitswechsel mit Tonwechsel ver-
wechseln und eben die bestandige Unterbrechung jedes Tones
ihnen die genauere Beobachtung erschwert.
Ob mit einer gewissen Regelmassigkeit dem tieferen oder
dem hoheren Primarton (bei gleicher Starke derselben) die
Schwebungen zugeschrieben werden, dariiber bin ich zu keinem
festen Ergebnis gelangt, und gerade dies ist hier auch ein Er-
gebnis. In manchen Fallen schien mir das Erste, in anderen
das Zweite eine fast zwingende Auffassung. Sie mag aber jedes-
mal besondere augenblickliche Ursachen gehabt haben.
Wenn einer der beiden Tone erheblich starker ist, so wird
regelmassig dieser als der schwebende aufgefasst; wie mir Herr
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile. 491
Dr. K. ScHAFEE mitteilt, welcher hieriiber eingehendere Versuche
gemacht hat ^). Fragmentarische Beobachtungon, die icb dariiber
zu verscliiedenen Zeiten notirte, stimmen liiermit uberein. Am
auffallendsten tritt cs hcrvor, wenn man zwoi Gabebi rechts
und links verteilt und die Entfernungon von don Ohren variirt.
t)ber scbeinbare Ausnahmen, wo nur der tiefere Ton schwebt,
s. u. Diese regelmassige Auffassungsweise nun konnte man
darauf zuriickfiibren , dass die Aufmerksamkeit sicb dem
starkeren Ton zuwendet, auch wenn der schwacbere daneben
unterschieden wird. Da wir jedocb auch auf den schwacberen
willkiirlich borcben konnen, so diirften hiebei noch andere und
kraftigerc Motive mitwirken, namentlich Gewobnheiten der Lo-
calisation, auf die wir bier nicbt oingeben konnen.
Nun kann es weiter geschehen, dass mebr als zwei Tone
in gleicber Starke combinirt sind, von denen docb nur zwei
untereinander scbweben, z. B. c g gis cA. Es kann ferner ge-
scbehen, dass scbwacbe Beitone, besonders Obcrtone, Schwe-
bungen bilden, wahrend ein oder auch mebrere gleicbzeitige
Grundtone unter sich keine bilden. So wenn ein Einzelklang
gehort wird, innerbalb dessen zwei Obertone merklicb scbweben
(wie beim G des Claviers die Obert(3ne c^ und d^)', oder ein
Accord, dessen Tone weit auseinander liegen, aber mit Ober-
tonen versehen sind, die nabe genug zusammen liegen.
In alien diesen Fallen bestebt zunacbst die Neigung, die
Schwebungen, so lange ibnen die Aufmerksamkeit nicbt be-
sonders zugewandt ist, als eine Eigentiimlicbkeit des ganzen
Klanges oder Zusammenklanges aufzufassen, d. b. diesen, wenn,
sie langsam erfolgen, als wiegend, scbwebend, wenn scbneller
als rollend, wenn noch scbneller, als raub oder markig aufzu-
fassen gegeniiber einem anderen, der keine oder weniger starke
Schwebungen bat ^).
^) Dieselben werden in der „Zeitschr. f. Psychologic u. Physiologic
der Sinnesorgane" 1890 veroffentlicht.
^) Vgl. Helmholtz, Popul.-wiss. Vortrage I 88: ,.SchwebiingeD der
Obertone werden als Rauhigkeit des Gesammtklanges empfunden".
492 § 27. Schwebnngen unci darauf beziigliche Urteile.
Selbst wenn man weiss, class das Rollen, die Raiihigkeit
nichts Auderes ist als ein rascher Intensitatswechsel eiiizelner
Tone, ist man insolange geneigt, sie dem Ganzen zuzuschreiben,
als man nicht diesen einzelnen Tonen besondere genaue Auf-
merksamkeit zuwendet. Erst dann (bei Obertonen freilich fast
immer, sobald sie liberhaupt berausgehort werden, da dies eben
nur bei genauer Aufmerksamkeit zu gescbebeu pflegt) erkennt
man diejeuigen Tone als Trager der Schwebungen, welcbe wirk-
licb Intensitatsscbwaukungen erleiden, iind die iibrigeu als ruhend
und glatt. Ich vermutc, dass die obige Tauschung begiinstigt
wird durcb die den eigeutlichen Intensitatswechsel begleitenden
Gerauscbe (unter Umstanden auch Tastempfindungen), welcbe
ja in der Tat jedem Ton des Ganzen mit gleichem Recht und
Unrecbt zugeteilt werden konnen.
Ein belebrender Versuch ergibt sick, wenn wir vor einem
Ohr zwei Stimmgabeln Schwebungen machen lassen, und zu-
gleich dem anderen Ohr eine von diesen beiden hinreichend
verschiedene, mit keiner von ihuen schwebende, Gabel bieten.
Auch hier werden die Schwebungen zunachst bei nicht einseitig
concentrirter Aufmerksamkeit dem Ganzen zugeschrieben , auch
hier aber konnen wir uns, und zwar leichter als gewohnlich,
von der Ruhe des nichtschwebenden Tones bei genauerem Hin-
horen iiberzeugen. Analogc Versuche hat Fechnee angestellt,
indem er vor dem eineu Ohr nicht Schwebungen aber Inter-
mittenzen erzeugte, durch Bewegung einer Gabel, wahrend die
vor dem anderen Ohr ruhte; und hat im AUgemeinen auch
analoge Ergebnisse gefunden^).
Zu den Fallen nun, wo in einem Zusammenklang zwei
schwebende und ein ruhender Ton enthalten sind, gehort, wie
es scheint, auch das (fast?) ausschliessliche Schweben des
tieferen Tones bei verstimmten Consonauzen vom Ver-
haltnis l:Ji, wo h nur wenig von emer ganzen Zahl differirt,
also der verstimmten Octave (1:2 + ^}? Duodecimo (1:3 + 6),
Doppeloctave (1 : 4 + (^) u. s. f. Bosanquet hat diese Erscheinung
') tJber einige Verb. d. binoc. Sehens, Sacbs. Ak. 1860, S. 550.
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile. 493
besonders verfolgt ^) unci selir plausibel daraus erkliirt, dass die
Schwebungen bier durcb das Hinzutreten eines dem tieferen
Ton sebr nabe liegenden Differenztons der beiden Primartone
entsteben (eines Differenztons erster Ordnung bei der Octave,
zweiter Ordnung bei der Duodecime u. s. f.). Es liegen also
nacb dieser Erklarung bier drei Tone vor, von deneu nur die
zwei tieferen Schwebungen biklen. Diese beiden aber liegen
einander zu nahe, um gesondert zu werden. Daher begreift es
sich, dass nur der tiefere Primarton schwebend erscheint.
R, KoNiG, welcher in seiner mehrerwahnten Versuchsreihe
auch zuerst liber das Schweben des tieferen Tones . Einiges be-
merkt hat^), gibt allerdings an, dass die Erscheinung nur dann
eintrete, wenn der hohere Primarton schw^ach genommen werde,
oder wenn die Schwebungen bei Yergrosserung von 6 eine ge-
wisse Schnelligkeit erreichen. Bei gleicher Starke der Primar-
tone und langsamen Schwebungen beobachtete er, dass diese
beiden Tone im Rhythmus der Schwebungen abwechsehid her-
vortreten. Indessen erklart sich auch Dieses: beim Maximum
wird durch die gegenseitige Verstarkung der beiden tiefen
Schwingungen der hohere Primarton fiir die Wahrnehmung
unterdriickt, beim Minimum kann er, da sich die tiefen Schwin-
gungen gegenseitig schwachen, hervortreten, wenn er nicht an
sich zu schwach ist. Dieser Tonwechsel ruht also auf analogen
Ursachen, wie die 0. 472 erwahnte Erscheinung des Hervor-
tretens der Octave, nur dass dort die zwei primaren Klange
selbst miteinander schweben und die hohere Octave nur als
Oberton in ihnen enthalten ist.
Auf eine briefliche Anfrage bin schrieb mir Herr R. Konig
noch Folgendes: „Man kaun immer mit eiuem Gruudtou von einiger
Starke und harmomscben Tonen (worunter K. bier die boberen
^) Pbilos. Magazine VIII (1879) S. 293; XI (1881) 420 f., 492 f.: XII
(1881) 270 f., 434. Ferner S. P. Thopmson daselbst XII 351 f. (bestatigt
es bei Scbwebungen verteiltei' Gabeln). Weitere Artikel beider Forscher
(XII 434, XIII 68, 131) betreffen wesentlich nur Misverstaudnisse und
Prioritatsfragen , indem Thompson die erste Entdeckuug R. Konig zu-
schrieb (s. im Text weiter).
•-) PoGG. Ann. Bd. 157, S. 188.
494 § 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile.
Priraartone, verstiramte Multipla des tieferen Primartons versteht)
bis zu einer gewissen Grenze Stosse hervorbringen, bei denen nur
der Grundton allein borbar pulsirt. 1st jedocb der Grundton sehr
scbwach, so wird es tiber eine schon weit niedrigere Grenze hinaus
nicht mehr gelingen, nocb Stosse mit harmoniscben Tonen von
solcher Scbwache zu erzeugen als notig sein wurden, um den Grund-
ton allein borbar pulsiren zu lassen. Man ist dann gezwungen, um
die Stosse uberhaupt noch hervortreten zu lassen, den harmoniscben
Tonen eine verbaltnismassig weit grossere Intensitat zu geben, bei
der ibr abwecbselndes Hervortreten praedominirend wird. Also
z. B. bei dem sehr schwachen Grundton der gedackten Pfeife A^,
mit der als Grundton ich Stosse bis zum Intervall 1 : 14 gehort
(s. 0. 464), erhalt man bis zu 1 : 6 und 1:7 die deutlichsten Stosse,
wenn die relative Intensitat der beiden primaren Tone der Art ist,
dass man nur den Grundton allein pulsiren hort-, aber iiber diese
Grenze hinaus muss man den harmoniscben Tonen Intensitaten
geben, bei denen ibr periodisches Hervortreten immer starker wird,
wahrend die geringen periodischen Intensitatsveranderungen des so
sehr schwachen und tiefen Grundtones sich dann immer schwerer
beobachten lassen. — Als ich die Experimente mit dieser gedackten
Pfeife A^ machte, war mein Augenmerk hauptsachlich nur auf die
Hdrbarkeit der Stosse uberhaupt gerichtet, und ich babe da denn
leider in der Bescbreibung der Erscheinungen eine kleine Lucke
gelassen, auf welche Ibr wertes Schreiben mich aufmerksam ge-
macht hat."
Es bleibt aber immer noch die Diflferenz, class iiacli Bo-
SANQUET auch bei gleicher Intensitat der Primartone der tiefere
allein schweben soli. Unter meinen Notizen aus alterer Zeit
finds ich die folgende: „Wenn ich die Gabel Fis an's Ohr halte
und mit der Gabel g demselben Ohr von der Feme naher
riicke, so entstehen Schwebungen von g mit fis, dem ersten
Oberton von Fis. Mir scheint hier aber nur Fis selbst zu
schweben, obgleich ich g uuterscheiden kann. Wenn ich um-
gekehrt die (/-Gabel vor das Ohr halte und die i^^'s-Gabel von
der Feme naher riicke, so scheint wieder nur Fis zu schweben,
welches an den Schwebungen doch ganz unbeteiligt ist." Ich
§ 27. Schwebungen und darauf beziigliche Urteile. 495
hatte damals noch keine Kenntnis von der Erklarung Bosan-
quet's und betrachtete die Sache als eine merkwurdig constante
Tauschung. Um so melir diirfte die Beobachtung in's Gewicht
fallen. Nun habe ich solche Versuche mit frei angeschlagenen
Gabeln wiederliolt, auch mit hoheren und bei geringerer Ver-
stimmung, und finde das Namliche. Besonders deutlich iramer
dann, wenn die bohere vor das Ohr gebalten und die tiefere
genabert wird. Sobald diese Uberbaupt, sei es aucb nocb so
scbwacb, vernommen wird, erscbeint sie mir meistens bereits
als die scbwebende; und sobald Schwebungen vernommen wer-
den, erscbeinen sie als Schwebungen der tieferen. Auch im
umgekehrten Fall tritt das Schweben der tieferen am klarsten
hervor, und sie beginnt schon rauh zu werden, ehe man noch die
hohere unterscheidet; doch fand ich bier auch diese zuweilen
schwach discontinuirlich, und zwar mit gleicher Zahl der Schwe-
bungen. Diese Schwebungen der hoheren sind leicht erklarbar
durch den ersten Oberton der tieferen und miissen in der Tat
die namliche Schnelligkeit haben wie die der tieferen mit dem
Combinationston. Man muss sicli nur wundern, dass sie nicht
deutlicher sind.
BosANQUET scheint mir also, soweit ich hienach urteilen
darf, im Tatsachlichen Recht zu haben; ja es wird sogar bei
viel geringerer Starke des tieferen Tones hauptsachlich dieser
als schwebender vernommen. Indessen tut die zufallige oder
willkiirliche Richtung der Aufmerksamkeit auch bier Vieles und
ist Fortsetzung der Beobachtungen erwiinscht. Theoretisch blei-
ben drei Fragen: 1. Kann man in unsren Fallen eine hin-
reichende Starke des Combinationstones voraussetzen , um so
merkliche Schwebungen zu erzeugen? 2. Warum sind die
Schwebungen der hoheren Gabel mit dem ihr zunachstliegenden
Oberton der tieferen nicht mindestens eben so merklich? 3. Sind
die sg. Combinationstone hoherer Ordnung, welche die Durch-
fUbrung der BosANQUET'schen Erklarung (bei Duodecimen u. s. w.)
verlangt, wirklich direct aus den Primartonen ableitbar?
Sehr merkwUrdig ist aber auch, dass dieses Schweben der
tieferen Gabel bei verstimmten Consonanzen h : 1 auch dann
496 § 27. Schwebungen und darauf bezugliche Urteile.
auftreten kaiin, wenn die Gabeln rechts und links verteilt
werden. S. P. Thompson hat dies beobachtet und ich kann es
im Allgemeinen bestatigen. Am besten gebraucht man dazu
Gabeln auf Resonanzkasten, etwa c und ein verstimmtes c^,
weil diese langer kraftig tonen. Man bringt den Kopf zwischen
die Offnungen beider Kasten und kann so leicht jedes beliebige
Starkeverlialtnis erzeugen. Die Schwebungen sind unverkenn-
bar, haben dieselbe Schnelligkeit wie beim einohrigen Horen
und finden sich nur auf der Seite der tieferen Gabel. Wenn nun
wirklich der Combinationston daraii Schuld ist, so haben wir
hier einen Beweis fiir die Bildung von Combinationstonen bei
verteilten Gabeln, welche man direct bis jetzt nicht hat beob-
achten konnen. Allerdings diirfte hier nicht die Knochenleituug
sondern die Luftleitung vermittelu. Aber auch diese ist sonst
nicht im Stande, Combinationstone von Ohr zu Ohr fiir sich
wahrnehmbar zu erzeugen^).
Dass Schwebungen der hoheren Gabel hier gar nicht be-
merkt werden (wenigstens konnte ich mich nicht mit Sicher-
heit von solchen iiberzeugen), begreift sich, da Gabeln auf
Resonanzkasten nur schwache Obertone haben und dieselben
auf dem Wege zum anderen Ohr noch schwacher werden.
Bei frei angeschlagenen verteilten Gabeln konnen, soweit
iiberhaupt Schwebungen wahrzunehmen sind, die der hoheren
Gabel eben so merklich und merklicher werden als die der tie-
feren. Hier wird die Bildung des Combinationstones eben nicht
^) S. 0. 256 Anm. 2. Nachtriiglich teilt mir Herr Dr. K. Schafer
als weiteres Ergebnis der oben erwahnten Studien mit, dass es ihm ge-
lungen sei, wirklich wahrnehmbare Combinationstone bei verteilten Ga-
beln zu erzeugen, und zwar sowol durch Luft- als Knochenleitung. Man
diirfe den Gabeln nicht maximale und nicht die gleiche Starke erteilen.
Der starkere Ton dringe dann zum anderen Ohr hintiber und erzeuge
hier, schwacher geworden, mit dem von vornherein schwacheren dieses
Ohres den Diiferenzton, der daher stets auf der Seite der leiseren Gabel
gehort werde. Doch sei das richtige Intensitatsverhaltnis schwer zu
finden. Ich habe augenblicklich , in Ferien weilend, nicht Gelegenheit,
diese interessante Beobachtuug, wodurch eine wundersame Liicke aus-
gefiillt wird, zu wiederholen, zweifle aber nicht an ihrer Richtigkeit.
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 497
durch die Luftleitung unterstutzt (ausser etwa in den hohen
Regionen), Dagegen sind hier kraftigere Obertone vorhanden,
welche auch durch die Knochenleitung hintiberdringen.
Docli ist von Schwebungen verstimmter Consonanzen h : I
unter diesen Umstanden Uberhaupt nur sehr wenig in besonders
ausgesuchten Fallen zu bemerken.
§ 28. Gerauscb und Klangfarbe.
Zwei schwierige Begriffe und die damit zusammenhangenden
Urteilstatsachen bleiben uns nocli zu besprechen; Begriffe, bei
deren richtiger Auffassung der Begriff der Auffassung selbst
eine Rolle spielt. Beide gehoren wie die Scbwebungslehre in
diesen Abschnitt unsres Werkes und in unmittelbare Niihe zu
einander. Denn dass die Klangfarbe wesentlich auf einer Mehr-
lieit gleicbzeitiger Tone beruht, ist anerkannt; fiir Gerauscbe
wild das Gleiche von Vielen beliauptet. In beiden Fallen wird
aucb die Nichtunterscbeidung der Bestandteile meistens als
etv?as Wesentliches hervorgeboben. Da iiberdies Klangfarben
zugleich vielfach durcb die Anwesenbeit von Gerauscben cba-
rakterisirt sind, andererseits manche „Gerauscbe" ebensogut als
kurze Tone von dumpfer Klangfarbe bezeichnet werden konnen,
so werden die Untersucbungen iiber diese beiden Begriffe und
die darauf beziiglichen Auffassungserscbeinungen manche Be-
riibrungspuncte bieten, um deren willen wir sie in Einem Para-
graphen zusamnienfassen.
I. Gerausche und ihr Verhaltnis zu Tonen.
1. Stand der Frage.
In neueren Darstellungen wird ein Gerausch vielfach als
eine grosse Anzahl benachbarter nichtunterschiedener Tone de-
finirt^). Helmholtz sagt in dieser Hinsicht (S. 14): „Man kann
^) Unter den alteren Definitionen sind die von Rameau und von
CoNDiLLAc merkwiirdig. Nach Rameau (Demonstr. du Princ. de I'Harm.
1750, p. 12) ist das Gerausch eine einfache, der Ton eine raehrfache
Empfindung (wegen der Obertone). Er bestimmt den Unterschied also
Stumpf, Tonpsychologle. U. 32
498 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
Gerausche aus musikalisclien Klangeu zusammensetzeu , wenn
man z. B. sammtliclie Tasten eines Claviers inuerhalb der Breite
von einer ocler zwei Octaven gleiclizeitig anschlagt." Jedoch
scheint Helmholtz in der vorausgeliendeu Beschreibung nocli
mehr Gewicht zu legeu auf den „sclinellen Weclisel verschieden-
artiger Schallempfindungen", „stossweise aufblitzeuder verscliie-
denartiger Laute". Er zogert wol nur darum, geradezu von
„Tonen" zu sprecben, well er diesen Ausdruck den langereu,
gleicbmassig dauernden Scballempfindungen vorbebalt; doch
nennt er die Elemente der Gerausche weuigstens auch „Klang-
empfindmigeu". Da er solcbergestalt die Gerauscbe auf die-
selben Elemente wie die Klauge zuriickfiihrt, so ist es auch
nur folgericbtig, wenn er in der letzten Auflage (247 f.) die
Gerauscbe nicbt mebr wie in den ersten durcb ein besonderes
Organ im Ohr vermittelt sein lasst. Er vermutet wol, dass die
Horbarchen in den Ampullen einzelne (quiekende, ziscbende,
scbrillende, knirpsende) Gerauscbe vermitteln; aber er denkt sie
in ibrer Reaction auch nur gradweiso von den Scbneckenfasern
verschieden.
Dass die Gerauscbe durcb die Scbneckenfasern vermittelt
seien, batte 1876 S. Exnee aus dem Umstand gescblosseu, dass
dem Wortlaut nach ungefahr umgekehrt wie er jetzt meistens bestimmt
wird. Er leitet daraus auch die individuellen Unterschiede in Hinsicht
der Musik ab: die Obertone seien eine nicht leicbt zu fassende Er-
scheinung; Menschen mit weniger feinem Ohr nahmen daher bios den
Grundton wahr, fur sie sei also Musik bios Gerausch. Sehr consequent!
CoNDiLLAc dagegen fiihrt im ,, Traits des Sensations" das Gerausch auf
eine Mehrheit gleichzeitiger Tone zuruck, die keine gemeinsamen Ober-
tone haben und darum incommeusurabel seien. Zehn Geigen, welche alle
ein etwas verschiedenes c^ angeben, machen, meint er, ein blosses Gerausch.
Man sieht hier die sogleich im Text zu erwahnende Ansicht vorgebildet.
Chladni bezeichnet als unterscheidendes Merkmal der Tone die
Bestimmbarkeit der Hohe und physikalisch die Gleichartigkeit der
Schwingungen (Akust. § 5 und § 43, mit Berufung auf Lagrange).
Nach Milne-Edwaeds Legons de Physiol. XII 65 soil bereits Duges
(Traite de Physiol, comp. 1838) nach Beobachtungen mit Wahrscheinlich-
keit die Schnecke fiir die Tone, den Vorhof fiir die Gerausche in An-
spruch genommen haben.
§ 28. Gerausch unci Klangfarbe. 499
an Gerauschen, selbst wenn man keine Tone darin wahrnimmt,
doch Tonerhohungen wahrgenommen werden kiinnen (so beim
Uberspringen zweier elektrischer Funken, wenn das Zeitintervall
immer mehr verkiirzt wird). Der Unterschied schien ihm phy-
siologisch teils in der geringeren Amplitude zu liegen, mit
welcher die Scbneckenteilchen bei Gerauscben schwingen, teils
und besonders in der Plotzlicbkeit der Erregung^),
BntJCKE hat sich dieser Anschauung augescblossen und sie
durcb zablreicbe Versucbe iiber Knallimpulse gestiitzt^). Die
Qualitat oder Hohe des Gerausches ricbte sich dabei nach der
Lange dieser einfachen Welle. Die continuirlichen Gerausche,
das Rauschen, Zischen, Wehen u, dgl. lassen sich nach seiner
Ansicht aus den momentanen ableiten, indem dabei sehr viele
kleine Explosivgerausche, aufs Schnellste intermittirend, auf-
einanderfolgen. Beim Zischen sind sie besonders hoch, beim
Wehen und Hauchen besonders leise. Wenn man die Zahl
dieser Einzelimpulse so vermehrte und sie so rasch intermittiren
liesse, dass gleichviele Anstosse entstehen, wie sie zu einem be-
stimmten Tone erforderlich sind, so wiirden wir nach Brucke
(S. 227) gleichwol nicht diesen Ton sondern ein Kreischen
horen, well zu einem Ton Nachschwingungen des Gebildes ge-
horen, die nicht durch kurzdauernde Einzelimpulse hervor-
gebracht werden konnen. Schliesslich halt BeIjcke aber doch
die Moglichkeit nicht ganz fiir ausgeschlossen, dass noch Nerven
vorhanden seien, mit welchen bios Gerausche und nicht Tone,
auch nicht verschiedene Hoheu der Gerausche, empfunden wiirden.
Auch Mach, der sich schon friiher viel mit der Frage be-
schaftigte, aussert sich in gleichem Sinne mit BrUcke und Exner.
Eine aperiodische Luftbewegung errege, wenn sie schwacher und
kiirzer ist, alle, vorzugsweise aber die kleineren leichter be-
weglichen Endorgane; wenn sie starker und langerdauernd ist,
die grosseren massigeren. Qualitativ scheint ihm die Empfin-
dung eines tiefen oder hoheu Knalles dieselbe wie die beim
1) Pflug. Arch. XIII 228 f.
2) Sitz.-Ber. d. Wiener Akad. Ill Abt. 1884, Bd. 90, S. 199.
32*
500 § 28. Ger^usch und Klangfarbe.
Niederdriicken einor grossen Anzahl benachbarter Claviertasten,
iiur intensiver und kiirzer (darum audi ohne Scliwebungen) ^).
Auf der anderon Seite niramt Peeyer^), mit Hinweis auf
die Tiere, welche keine Schnecke im Obr besitzen, die Vorbofs-
nerven (und darnit wol aucb eine besondere Qualitat der Scball-
empfindung) fiir Gorauscbo in Anspruch.
Hensen bespricbt die Frage ohne ganz bestimmte Ent-
scbeidung, neigt aber ebenfalls zur Annabme eines besonderen
Gerauscbapparates ^). Wenn Empfindungen in der Schnecke
erregt werden, so miissen, folgert ur, nicbt bios Tonbohen
sondern Tone empfunden werden. Ferner miisste nacb der
BRUCKE'scben Lebre jeder plotzlicb entstebende starke Ton im
Beginne der Empfindung einen Knall geben.
Die Frage ist nur auf Grund viel eingebenderer Versucbe,
als sie bis jetzt angestellt sind, ganz zu losen. Das Folgende will
nur als eine vorlaufige Orientirung Uber die in Betracht kom-
nieuden Einzelfragen, Standpuncte und A.rgumente gelten. Vor
Allem fragt es sicb:
2. Gibt es Gerauscbe obne Tone und Tone ohne
Gerauscbe?
a) Soviel scheint mir unbestreitbar, dass jedem nicbt allzu
leisen Gerausch objectiven Ursprunges Tone beigemischt sind;
wenn aucb in einzelnen Fallen die Tone schwer herauszuhoren,
nachzusingen oder namhaft zu macben sind. Man bebe die
Dampfung eines Claviers vorsichtig auf und erzeuge ein be-
liebiges nicbt zu leises Gerausch, man rauspere sicb, fauche,
pruste, brumme, rufe Brrr u. dgl.: stets hort man den tonalen
Teil im Saitenraume nachklingen; ausgenommen bei den ziscben-
den und ahnlicben Gerauschen, deren Tone zu bocb und unter
') Beitr. z. Analyse d. Empf. 117 f. Zu ahnlichem Ergebnis kommt
auch Barth, Zur Lehre von den Tonen imd Gerauschen, A. f. 0. XVII, 81 f.
2) Akust. Unt. 32.
3) Herm. Hdb. Ill, 2, 96—99. A. f. 0. XXIII 69 f. (hier mit Bezug
auf Brucke). Auch Wundt (I 240) erklart sich gegen die Zuriickfiihrung
auf Tone und fur einen besonderen Apparat, ohne jedoch naher in die
Discussion einzutreten.
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 501
den Claviersaiteu nicbt niehr vcrtrotcii sind. Man kann sodann
audi die Taste, welche dem vorzugsweise nachkliugenden Ton
entspricht, allein aufheben und den Versuch wiederholen. Dies
ist nun zunaclist nur ein Beweis, dass objectiv in dor Luft-
bcwegung beim Gcriiuscb die Scbwingung entbaltcn ist, wclcbe,
wcnn sie allein und nicbt zu kurz und schwacb auf unser Obr
wirkt, die bcziiglichc Tonempfindung in ibm erzeugt. Doch os
ist kein Grund abzusebeii, warum diese Erapfindung nicbt aucb
bier erzeugt wcrden sollte; dcnn der Reiz wirkt stark und lang
genug, wofiir ja cben die Mitschwingung der Saite ein Beweis
ist. Und es wird dem einigermassen Geiibten aucb nicbt
scbwer, nacbdem er so den Ton fUr sicb allein vernommen
bat, ibn aucb als Bestandteil der Empfindung wabreiid des Ge-
rauscbcs wirklicb wabrzunebmen. In vielen Fallen wird man
ibn scbon vorber darin finden und durcb den Versucb die Con-
trole macben konnen.
Wenn das Gerauscb, dem ein Ton beigemiscbt ist, sebr
kurz dauert, ist der Ton gcwobnlicb nicbt berauszuboren. Er
kann aber aucb in solcbem Falle wabrnebmbar wcrden, sobald
mcbrere Gerauscbe iibnlicber Art aufeinanderfolgen, welcbo ver-
schiedene Tone entbalten. „Man bort bei nacbeiuander hin-
gcworfenen Holzbrettcben die Melodic, wabrend die Tonbobe
eines einzelnen nur von einem besouders geiibten Obr erkannt
wird."') Es wird eben das Verscbiedene Jiun leicbt vom Ge-
meinsamen getrennt.
^) R. KoNiG WiEDEM. Ann. XIV 375. Konig hat Holzbrettcben im
Auge, die auf eine Tonleiter abgestimmt sind. Wirft man diese in der
Folge der Leitertone auf den Boden, so erleicbtert uatiirlich auch die
Erwartung der gewohnten Fortsetzung das Heraushoren der spateren
Tone. Aber es werden auch bei beliebiger Aufeinauderfolge die Tone
herausgehort.
Konig fiihrt dies als Analogic zur Beurteilung von Klangfarben an,
wo man z. B. den Unterschied in der Klangfarbe zweier Geigen sehr wol
bemerkt, wenn einc Melodie successive auf beiden gespielt wird, wahrend
man ihn beim einzelnen Ton vielleicht kaum bemerkt hat. Hier wird in
dem manichfachen Wechsel der Tonhohe das Gemeinsame der einem In-
strument eigenen Klange leichter abstrahirt.
502 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
Manchen Gerauschen, die anscheinend gleichmassig und
unverandert andauern, sind Tone beigemischt, die mit kurzen,
mehr oder weniger regelmassigen Pausen wiederkehren, teil-
weise auch einander nahe liegen, sodass eine Art von raschem
Lauten stattfindet. Bei hinreichender Aufmerksamkeit konnen
die Haupttone, die hieran beteiligt sind, herausgehort werden.
Gewohnlich werden sie es niclit; aber gerade dieser nichtana-
lysirte ton ale Teil bestimmt gewiss mit Das, was wir den Cha-
rakter solcher Gerausche nennen. „Dein Singen, Dein Klingen,
mein rauscbender Freund" — heisst es in den Miillerliedern.
In einem Gebirgsbach borte ich am starksten und bestandigsten
fis^, aber immer umspielt von benachbarten Tonen. Dazu ein
Glucksen und Gurgeln, aus momentanen tieferen Tonen be-
stehend, Ausserdem aber iioch das eigentliche gar nicht ana-
lysirbare Rauschen.
Subjective Gerausche scheinen weniger deutlich Tone zu
enthalten als objective. Wenigstens konnte icb in einem an-
baltonden Gerausch dieser Art wahrend einer Entziindung des
Mittelohres nur zuweilen mit einiger Bestimmtheit einen Ton
entdecken (gis^), ausserdem nur etwa mit einer gewissen Will-
kiir verschiedene hohere Tone zu horen glauben. Sicher lag
das, was an Tonen darin war, alles oberhalb des c^. Aber das
Gerausch schien mir in diesem Fall, wie gesagt, iiberhaupt
einen sehr wenig tonalen und fast rein gerauschigen Charakter
zu haben.
Lasst sich nun schliessen, dass auch in denjenigen Gerau-
schen, in denen wir auf keine Weise einen Ton wahrzunehmen
vermogen, doch noch Tone der Empfindung beigemischt sind?
Wenn man iiber einen gerippten Buchdcckel ganz langsam
mit dem Finger streicht, hort man zuniichst oin so gut wie ton-
loses Gerausch; und wenn auch Einer dasselbe als „hohes" oder
„tiefes" Gerausch bezeichnen will, ist er doch nicht im Stande,
einen Ton von bestimmter Hohe als darin enthalten anzugeben.
Bei schnellerem Streichen tritt aber immer deutlicher ein Ton
hervor, der zugleich immer mehr in die Hohe geht. Dies legt
den Schluss nahe, dass vorher ebenfalls ein Ton vorhanden war,
§ 28. Gerausch and Klangfarbe. 503
fler uns nur wegen sein'er Schwache und Tiefe entging. Aber
zwingend ist dieser Schluss nicht. Wer uicht von vornherein
geneigt ist, Gerausche ganzlich mit Tonen zu identificiren, kann
annehmen, dass die Empfinduiigsschwelle fiir reine Gerausche
eine andere ist als fiir Tone, und dass wir bei periodischen Im-
pulsen erst von einer gewissen Schnelligkeit der Wiederholung
an Tone empfinden, vorber tonlose Gerauscbe.
b) Viel bestimmter sprechen die Beobachtungen in Bezug
auf die umgekebrte Frage, ob Tone ohne Gerauscbe moglich
sind. Wabrend man immerbin nocb glauben kann, mit geringer
Deutlicbkeit ein tonales Element aucb bei leisen Gerauscben
wabrzunebmen , gibt es Tone und gerade sebr laute Tone, bei
denen jede Spur eines Gerauscbes ausgeschlossen ist. So z. B.
bei einer vor dem Obr scbwingeuden Gabel. Die Bebauptung,
dass es keine gerauscbfreien Tone gebe, ist ein blosses Vor-
urteil. Man kann iiber das Wabrgenommene binaus nocb Em-
pfindungselemente annebmen, wenn zwingende allgemeinere
Griinde vorliegen, oder aucb wenn die Aussagen der Wabr-
nebmung nicbt so ganz entscbieden sind und dem Verdacbt
der Unvollstiindigkeit irgend Raum geben. Aber bier scbeint
mir Beides nicbt zuzutreffen und keinerlei Handbabe fiir eine
solcbe Annabme geboten zu sein.
Im Ubrigen ist es eine ziemlicb gleichgiiltige Frage, ob in
diesen Fallen nocb unwabrnebmbare Empfindungsteile gerau-
scbiger Art da sind. Genug, dass wir in weitem Umfang reine
Tone berstellen konnen, die als solcbe aucb fiir die scbarfste
Wabrnebmung Stand balten.
3. Besprecbung der Ansicbten iiber den Begriff
des Gerauscbes.
Wenn wir nun in einem Falle Alles, was irgend als Ton
sich erkennen lasst, in der Vorstellung abscbeideu oder von
vornberein ein Gerauscb vor uns baben, welcbes keinerlei
tonale Bestandteile erkennen lasst, so fragt es sicb, ob nicbt
aucb ein solcber Eindruck durcb irgend eine Definition als ein
tonaler in Ansprucb genommen werden kann und ob er sich
den Bestimmungen fiigt, die wir in alien vorangebenden Unter-
504 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
suchungen fiir Tone gliltig gefunden habeu, besonders den-
jenigeii liber die Bedingungeu der Analyse. Wir haben ver-
schiedene Ansichten in der einleitenden Umschau erwahnt, die
wir nun systematisch auseinanderhalten und besprechen wollen.
Dabei mtissen wir aber auch die Moglichkeit in Acht behalten,
dass „Gerausch", selbst wenn wir von den erkennbaren to-
nalen Bestandteilen absohen (wie dies jetzt geschieht), immer
noch ein mehrdeutiger Name ware, fiir den je nach Umstanden
verschiedene Definitionen zutrafen.
a) „Gerauschc sind nichts Anderes als zahlreiche
gleichzeitige Tone von weuig verschiedener Hohe."
Die grosse Zahl der Tone wUrde an sich nicht die Un-
moglichkeit der Analyse erklaren. Der C-dur- Accord, in den
sechs Octaven vom C bis c^ zugleich angegeben, enthalt 19 Tone
(abgesehen von den Obertonen), die keineswegs alle dadurcli
unerkennbar werden. Die gcringe Verschiedenhoit ist daher
das Hauptmerkmal dieser Definition.
Man hat einen Beweis fiir diese Auffassung in dem Helm-
HOLTz'schen Versucb gesehen, wonach durch Niederdriicken
einer ganzen Clavieroctave ein gorauscliartiger Eindruck ent-
steht. Aber was hier die Analyse erschwert, ist weder die Zahl
noch die Nachbarschaft der Tone (da kleine Secunden an sich
noch recht gut unterschieden werden), noch auch beides zu-
sammen, sondern hauptsachlich die hochst wirr durcheinander-
wogenden Schwebungen. Und diese erschweren nicht bios die
Analyse, sondern es scheint, dass sie in Folge eiues noch un-
erforschten Zusammenhanges Gerausche hinzubringeu, die
ausserdem nicht in dem Klauge enthalten waren. Denn auch
die Schwebungen sind ja nicht Gerausche.
Ich kann aber nicht einmal zugeben, dass die Gehors-
empfindung in diesem Fall ihren toualen Charakter und ihre
Analysirbarkeit ganzlich verlore. Im Gegenteil, sie bleibt im
Wesentlichen ein Klang, aus welchem auch eine grossere oder
geringere Anzahl von Klangteilen herauszuhoren ist.
Bei der tiefen Region allerdings verhalt sich's anders.
Derselbe Versuch fiihrt hier wirklich zu einem beinahe reinen
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 505
Gerausch; hochstens wird man Einen tiefen Klang darin er-
kennen, aber nicbt eine Mehrheit von Tonen. Das rein Ge-
rauschigG an dem Eindruck kann man, wenn auch schwacher,
fiir sich allein erbaltcn, wenn man, obne die Tasten niederzu-
driicken, nur kraftig und rascb die Dampfung aufbebt: das
dann entstebende Gerauscb riibrt von den tiefen Saiten ber,
da es binwegfallt, wenn diese zugedeckt warden.
Dass nun bier Analyse unmoglicb wird, begreift sicb; es
sind selbst Quinten und Sexten in der tiefsten Region gleicb-
zeitig kaum analysirbar. Dass aber sogar der tiefe Klang liber-
baupt durcb das Gerauscb iiberdeckt wird, dass das Ganze nicbt
entfernt einen so lebbaften und deutlicben Eindruck des Tiefen
macbt, wie ein einzelner Ton dieser Region, begreift sicb nicbt,
wenn es sicb bier wirklicb bios um Tone bandelt. Dieses ist nur
dann zu begreifen, wenn die Summe der tiefen Tone nicbt an
sicb scbon ein Gerauscb ist, sondern wenn ein solcbes binzu-
kommt, und wenn es bedeutend starker ist als die in dieser
Region verbaltnismassig scbwacben Tone (die ja aucb durcb
ibre Vereinigung nacb § 26 nicbt starker werden). Die Ur-
sacbe fiir die Starke des Geriiuscbes aber liegt jedenfalls zum
Teil wieder in den Scbwebungen, da sowol die Grundtone als
die Obertone bier besonders starke Scbwebungen macben.
Kebren wir nun zur mittleren Region zuriick, so kann man
sicb sebr gut vorstellen, wie c und cis obne Scbwebungen klingt,
da man ja meistens die Scbwebungen gar nicbt bemerkt und
sie durch verteilte Gabeln aucb ausserst abscbwacben kann.
Ebenso kann icb nocb ziemlicb gut etwa e, fis, g in der Vor-
stellung binzufiigen. Und so kann man sicb wenigstens An-
naherungen an den Eindruck vorstellen, welcben die siimmt-
licben Tone der cbromatiscben Leiter obne Scbwebungen zu-
sammenklingend geben miissten. Soviel scheint mir klar, dass
der Eindruck nicbt die mindeste Abnlicbkeit batte mit einem
Gerauscb. Er ist und bleibt ein tonaler.
Wie nun aber, wenn die Verscbiedenbeit der Tone nocb
geringer als eine Halbstufe ist? — Man siebt nicbt ein, wie da-
durcb das Wesen des Eindrucks irgend geandert werden soil.
506 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
Es wird daun freilich eiue Grenze kommen, bei welcher die
Analyse je zweier benaclibarter Klangteile nicht mehr moglich
ist. Aber warum sollten nicht weiter entfernte Glieder dieser
zusammenklingenden Tonreihe analysirbar und einzelne fiir sich
heraushorbar sein? zumal wenn wir die Fahigkeit der subjec-
tiven Verstarkung durch die Aufmerksamkeit bedeuken?
Brucke erinnert (a. a. 0. 224), dass wir die Empfindung
nicht kennen, welche eiue dauernde gleichmassige Erregung
sammtlicher Nervenfasern einer Schneckenzone erzeugen wUrde,
die breiter ware, als die Zoneu siud, die durch einzelne Tone
in Action versetzt werden; da wir kein Mittel haben, eine
dauernde Erregung hervorzurufen, ohne zugleich Schwebungen,
also Ungleichmassigkeiten hervorzurufen. Aber die verteilten
Gabeln, denen wir jede kleinste Differenz geben konnen, lehren
uns in der Tat, wie eine solche Empfindung sich etwa aus-
nehmen wUrde; und wenn wir in gleicher Weise 12 Gabeln an
12 Ohren verteilen konnten: wie sollte dadurch der Eindruck
des Gerausches entstehen? Im Gegenteil, er muss durch den
Wegfall der Schwebungen nur reiner tonal werden.
Auch wenn man zu den genannten Bedingungen etwa uoch
die fiigen woUte, dass die zahlreichen benachbarten Fasern nur
sehr schwach erregt wUrdcn, scheinen mir nicht die Voraus-
setzungen eines Gerausches gegeben. Unterhalb einer gewissen
Starke der Erregung wird gar Nichts empfunden werden, da
eine gegenseitige Verstarkung ungleicher Tonprocesse nicht,
auch nicht bei minimaler Erregung, stattfindet. Ist die Em-
pfindungsschwelle iiberschritten, so konnte die Menge der gleich-
zeitigen schwachen Tone doch nie ganz unanalysirbar sein, viel-
mehr konnten diejenigen, die weiter auseinanderliegen, durch
Concentration der Aufmerksamkeit herausgehort werden.
Oder liegt vielleicht das Entscheidende und Unterscheidende
darin, dass bei Gerauschen nicht jene Accommodation benach-
barter specifischer Energien stattfindet, die wir bei einem Ton
voraussetzen? — Auch Dies wiirde die psychologische Sachlage
und die vorangehenden Betrachtungon nicht vcrandern. Ausser-
dem lasst sich die Annahme auch physiologisch schwer durch-
I
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 507
fiihren. Man miisste annehmen, class jeder Reizteil eine einzelne
Schneckenfaser zum Mitschwingen brachte, ohne die benach-
barten mit (und zwar in gleicher Schwingungsdauer) zu erregen.
Ein solcher Reiz miisste ungeheuer scbwacb sein, er miisste
unter der Reizschwelle fiir Tone liegen, d. h. unter derjenigen
Reizstarke, bei welcher in Folge des Mitschwingens mehrerer
Fasern ein fiir sich und als solcher wahrnehmbarer Ton gehort
wird. Nun ist es vielleicht noch denkbar, dass durch eine
minimale Faserschwingung eine and ere specifische Energie aus-
gelost, also eine andere Empfindungsqualitat erzeugt wiirde, als
durch starkere Schwingungen einer und derselben Faser; und
dass die specifischen Energien dieser Classe sich gegenseitig
verstarkten, was die tonalen nicht tun. Aber dann ware ebeu
das Gerausch als Empfindungsinhalt besonderer Classe und
nicht mehr als eine Summo von Tonen definirt. Nur auf
physiologischem Gebiet und zwar im Organ wiirde der Unter-
schied sich als ein bios gradueller erweisen; dagegen im Ge-
biet der Empfindungen selbst ware er ein qualitativer und
specifischer.
Schliesslich, um zusammenzufassen : warum sollte Undeut-
lichkeit der Teile eines Zusammenklanges, mag sie nun beruhen
worauf sie will, den Klang als ein Gerausch erscheinen lassen?
Sollen wir den beliebten Witz Unmusikalischer, dass ihnen die
Musik nur eines der weniger unangenehmen Gerausche sei, ganz
wortlich nehmen? Vielleicht trifft er fiir einzelne, im strengen
Sinne tontaube Individuen wirklich zu, wenigstens im Tierreich:
aber in den tausend und abertausend Fallen, wo Zusammen-
klange von Nicht- oder Halbmusikern nicht oder unvollkommen
analysirt werden, werdeu sie um deswillen doch noch lange
nicht als Gerausche aufgefasst, mogen sie auch im Punct der
Annehmlichkeit denselben gleichgestellt werden.
Hienach halto ich die obige Definition, wenu sie allgemein
gelten soil, nicht fiir zutreffend. Sie konnte es hochstens sein
in Bezug auf eine besondere Classe von Gerauschen, die wir
dann freilich nicht in gleichem Sinne mit den iibrigen als Ge-
rausche bezeichnen diirften. Bei den hohen zischenden, sau-
508 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
selnden, regenartigen Gerauschen wiirde ich es fiir moglich halten,
dass sie hauptsachlich aus einer grosseren Anzahl schwacher
hochster Tone bestelien. Die Unmoglichkeit vollcr Analyse
wiirde sich ja hier begreifen, Schwebungen komnien nicht mehr
in Betracht, und der Gesammteindi'uck ist demjenigen einzelner
schwacher Tone dieser Region ahnlich genug. Aber die Viel-
heit der Tone ist dabei wol auch weniger wesentlich, dagegen
sehr wesentlich das Intermittiren. S. c).
b) „Gerausche sind sehr zahlreiche sehr schnell
aufeinanderfolgendo Tone verschiedener Hohe".
Diese Ansicht erscheint ganz undurchfiihrbar. Wir konnen
ja den schnellsten Wechsel von Tonen herstellen, wenn wir mit
dem Finger iiber die Tasten streichen (gute Diimpfung des
Claviers vorausgesetzt) oder auf einer Violinsaite stetig hinauf-
rutschen oder den eine gedackte Pfeife verschliessendeu Pfropfen
hin- und herschieben. In den letzteren Fallen werden geradezu
alle zwisclien den Grenztonen liegenden Wellenliingen durch-
laufen, alle beziiglichen Fasern orregt, aber wir horen kein Ge-
rausch, sondern eben eine rasche Tonveranderung. Nicht ein-
mal wenn sie so rasch ist, dass durch das subjective Nach-
schwiugen eben vergangene Tone noch mit folgenden gleichzeitig
werden, nicht cinmal daun wird ein Gerausch daraus. (Neben-
bei bemerkt, ist in diesem Falle auch wieder eine annaherndo
Verwirklichung von Beucke's obigcm Desiderat gegcben).
Wenn man will, kann man freilich jede stetig veranderlichc
Tonhohe ein Gerausch nennen, entgcgen dem gewohnlichen
Sprachgebrauch ^) ; ebenso wie manche Vertreter der voran-
gehenden Definition kurzweg jede unanalysirte Vielheit von
Tonen ein Gerausch nennen, auch wenn der gewohnliche Mensch
flagegen protestirt, und ebenso wie Alfr. Mayer einmal die
blosso Intermittenz eines einzigen Tones dem Musiker zum Trotz
als Dissonanz bezeichnet, da ja Intermittenzen ganz ebenso wie
Schwebungen periodische Starkeveranderungen sind und die
Dissonanz als Schwebungen definirt wird. Consequenz ist eine
1) Dies tut z. B. Sedley Taylor Phil. Mag. Bd. 44 (1872) S. 63.
§ 28. Gerauscli und Klangfarbe. 509
schone Sache. Aber solche notgedrungene Consequenzen zeigcii
auch, dass man vom Ausgangspunct abgekommen ist und alles
Andere, nur niclit Dasjenige definirt hat, was gemeinhin mit
dem Namen bezeichnet wird,
c) „Gerausche sind Tone von einer bestimmten und
nicht notwendig wechselnden Hohe, aber dadurch von Tonen
im gewohnlicheu Sinne unterschieden, dass sie entweder nur
momentan sind (Knalle) oder eine rascbe Aufeinander-
folge iutermittirender momentaner Toneindriicke dar-
s tell en; wobei sicli auch eine Mehrheit solcher Successionen
zugleich vollziehen kann."
Der Wechsel der Tonhohe, der fiir b) wesentlich war, ist
hier im ersten Fall geradezu ausgeschlossen , im zweiten Fall
(bei den intermittirenden Gerauschen) wenigstens nicht ein-
geschlossen; ein solches Gerausch konnte eine eben so con-
stante Hohe besitzen wie ein gewohnlicher, als solcher erkenn-
barer, Ton.
Diese Ansicht, wesentlich diejenige Brucke's, diirfte viel
Richtiges enthalten, d. h. es diirften viele als Gerausche be-
zeichnete Erscheinungen in der Hauptsache dadurch definirt
sein. Sie ist ja schon darum im Vorteil, weil sie weniger ein-
seitig ist und auch sogleich eine Mehrheit von Classen zugibt,
wahrend sich die vorigen im besten Fall nur auf Eine Classe
beziehen konnteu, von der sie freilich nicht einmal das wesent-
liche Merkmal erfassten.
Eine Reihe sg. Gerausche sind intermittirende Tone der
tiefsten oder hochsten Region (Brummen, Zischen u. Dgl.). Hier
ist es auch keineswegs unmoglich, durch genauere Aufmerksam-
keit die Tone als solche zu erkennen, z. B. wenn man ein S
so leise als moglich flustert. Dennoch mochte ich nicht einmal
in diesen Fallen entschieden behaupten, dass nicht noch ein
Erdenrest als eigentliches Gerausch librig bliebe. Pathologische
Beobachtungen kommen hier in Betracht, indem nach der
Voraussetzung mit den Tonen der bezliglichen Region zugleich
diese Classe von Gerauschen hinwegfallen oder benachteiligt
sein muss. Vgl. I 402. An mir selbst habe ich bei der oben
510 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
erwahnten Ohreuentzunclung beobachtet, dass das kranke Ohr
hohe Tone und gleicbzeitig auch das Uhrticken sehr scblecht
horte, wahrend das Gerausch, wenn ich ein rauhes Tuch vor
dem Ohr zwischen den Fingern rieb, nicht viel scbwacher und
nicht viel anders empfunden wurde. Dieses macht denn auch
nicht ganz den hohen Eindruck \ne das Uhrticken.
Was die Knallgerausche betrifft, so scheint mir das Be-
denken Hensen's (o. 500) schwerwiegend. Auch hier ist wol
mit dem tonalen Element noch etwas qualitativ Anderes ver-
kniipft. Die blosse Kiirze und Starke scheint es nicht allein,
was den „Ton" vom „Knall" unterscheidet. Nur die dumpfen
und schwachen Knalle sind wirklich nichts Anderes als eben
dumpfe und schwache momentane Tone.
Endlich ist aber auch die Frage, ob auf alle Gerausche
eines der in der Definition genannten zwei Merkmale passt.
Viele scheinen doch weder momentan noch intermittirend, son-
dern constant, wie z. B. manche subjective Ohrgerausche.
d) „Gerausche sind Empfindungen besonderer Art,
insoweit zwar von einer allgemeinen Ahnlichkeit mit den Tonen,
dass wir sie, auch abgesehen vom physikaHschen Ursprung und
vora gemeinsamen Eindringen in die Ohrmuschel und das innere
Ohr, mit den Tonen unter Eine Hauptclasse von Empfindungen
rechnen miissen, aber innerhalb dieser doch qualitativ eine selb-
standige Elementargruppe."
Von diesem Standpuncte aus konnte man Hohe und Tiefe
den Gerauschen absprechen und diese Unterschiede nur auf die
beigemischten Tone zuriickfiihren. Doch ware dies nicht die
notwendige Consequenz des Standpuuctes. Es liesse sich immer-
hin auch annehmen, dass gewisse Gerausche den hohen, andere
den tiefen Tonen ahnlicher seien und um dessen willen eben-
falls hoch und tief genannt werden. Es wiirde insofern auch
die ofters gebrauchte Wendung, es sei ein Tonhohenunterschied
und doch kein Ton bemerkbar (o. 499), einen Sinn erhalten.
Elben darin, in diesem der Tonhohe und Tontiefe ahnlichen
Unterschied, in einer entsprechenden Reihenbildung, wiirde dann
auch eine der Ahnlichkeiten bestehen, um deren willen sie den
§ 28. Gerausch iind Klangfarbe. 511
Tonen iiberhaupt so nahe gestellt werden. Eine dritte zu be-
riicksichtigende Form der Grundansiclit aber wai'e, dass es qua-
litativ nur zwei Classen gebe, namlich bohe und tiefe (den hoben
mid tiefen Tonen abnlicbe) Gerauscbe, obne Mittelglieder und
obne Reibeubildung, dass die anscbeinend mittleren ibre Hobe
nur den beigemischten, bier besonders bervortretenden Tonen
verdankten (vgl. o. 119 u.).
Diese Unterfrage will icb bier nicbt weiter verfolgen. Die
Hauptanscbauung aber ist gegeniiber Dem, was Alles in Bausch
und Bogen Gerauscb genannt wird, zwar gewiss nicbt erscbopfend,
da, wie erwabnt, einige sg. Gerauscbe bauptsacblicb Tone sind,
viele andere, wie das Rauscben des Bacbes, wenigstens zu einem
erbeblicben Teil: aber fiir die Gerauscbe im eigentlicben und
engeren Sinne, bez. fiir den eigentlicb gerauscbigen Teil der
iibrigen, scbeint nacb dem Vorangebenden diese Auffassung als
die ricbtige iibrig zu bleiben; wie sie denn aucb Brucke als
Erganzung der seinigen im Auge bebalt. Man konnte sie die
nativistiscbe gegeniiber den empiristiscben nennen.
Aucb pbysiologiscb bleibt bienacb scbwerlicb eine andere
Annabme, als dass besondere Teilcben im Obr und nicbt minder
im Centrum (mit besonderen specifiscben Energien) die Ver-
mittler der Gerauscbempfindungen sind. Da es moglich ist,
zwei gleicbzeitige Gerauscbe auseinauderzubalten, wenn sie nicbt
zu abnlicb sind, z. B. Scbwirren und Summen^), so konnte man
aucb wieder einen analysirenden Apparat notig finden. Docb
scheint mir die Forderung bier weniger bindend, da es vielfacb
die Intermittenz der Gerauscbe oder des einen von ibnen ist,
welcbe die Trennung erm(3glicbt, und es sicb in den iibrigen
Fallen vielleicbt docb nur um die Beurteilung einer an sicb
einheitlicben Empfindungsqualitat auf Grund friiberer Er-
fahrungen iiber die objectiven Ursacben und iiber die jeder
derselben entsprecbenden Einzelgerauscbe bandelt.
^) PoLiTZER sagt auch von den subjectiven Gerauschen, nachdem
er deren erstaunliche Manichfaltigkeit geschildert: „Es konrien mehrere
Gerauscbe gleicbzeitig, sogar in demselben Ohr, wahrgenommen und
dentlich unterscbieden warden. '• (Lebi'b. * I 224.)
512 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
Fiir solche physiologische Trennung sprechen im Ganzen auch
die pathologischen Beobachtuugen. S. I 402. Nelierdings berichtet
Steinbeugge (Z. f. 0. XIX, 1889, S. 328) iiber eineu bysterischen
Kranken (eiuen 453abrigen Landmann), der regelmassig Krampf-
anfalle erlitt, Avenu er Instrumentalmusik irgend welcber Art borte,
scbon beim Blasen auf einer Kindertrompete ; nicbt aber bei Ge-
rauscben. Selbst Kuall und Scbuss, Trommel-, Strassen- und Eisen-
babnlarm iibteu keine unangenebme Wirkuug.
Bruckner (Arcb. f. patbol. Anat. Bd. 114, 2. Heft) ftibrt an,
dass er mebrmals, wenn er gerade wabrend des Scblagens seines
Regulators erwacbte, die ersten Scblage als zusammenbangenden
gleicbmassigen musikaliscben Ton und erst die letzten als einzelue
Gerauscbe vernommen babe, dass also das Organ friiber aufwacbe
fur Tone als fur Gerauscbe. Dies bedurfte doch nocb der Be-
statigung. Buffon erlebte an sicb ziemlicb das Umgekebrte: im
Halbscblaf borte er die Ubr scblagen und zablte fiinf Scblage, ob-
gleicb es nur Einer war. Er zog daraus den freilicb nocb kubneren
Scbluss, dass man im urspriinglicben Zustand des Bewusstseins die
einzelnen Scbwingungen vernebme, die man spater nur aus Gewobn-
beit zu Einem Ton verbinde, und dass der Halbscblaf uns in jenen
Zustand zuruckversetze. (Bei Condillac, Traite des Auimaux 1755
Cb. VI ; Oeuvres T. Ill p. 494).
Eine fur die Tbeorie der Anlagen nicbt unwicbtige Unter-
sucbung ware dariiber zu macben, ob die relative Starke von Ge-
rauscben gegeniiber Tonen dieselbe ist fiir Musikaliscbe und Un-
musikaliscbe, ob nicbt die Letzteren Gerauscbe relativ starker
horen. Dass ibre Aufmerksamkeit gewobnbeitsmassig mebr nacb
dieser Ricbtung gebt, baben wir ofters erwabnt. Aber es konnte
sicb aucb um grossere sinnlicbe Intensitat bandeln und dadurch
zugleicb die gewobnbeitsmassige Ricbtung der Aufmerksamkeit mit-
verursacbt sein. Einzelne Beobacbtungen scbeinen mir biefur zu
sprecben. Die Versucbe waren anzustellen teils durcb Vergleicbung
der Schwellen fur Tone und fur Gerauscbe bei denselben Individuen,
teils durcb Aufsucbung des Intensitatsverbaltnisses, bei welcbem ein
bestimmtes Gerauscb durcb einen bestimmten gleicbzeitigen Ton
Oder umgekebrt eben unterdriickt wird (o. 229).
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 513
Auch hieruber konnten pathologische Beobachtungen mitsprechen,
wenn die Aussageu der Kraiiken z. B. bei Mittelohrkatarrhen iu
dieser Riclituug classificirt warden. Ein hochst unmusikalischer
College horte iu solchem Fall eiu ungeheuer starkes Sausen; ich
selbst dagegen bei der erwalinten beftigen Eiitzundung nur ein
ganz massiges Gerausch. Wurde es gelegentlich starker, so traten
zugleicb Tone hervor. Im tFbrigen bore ich sehr oft subjective
Tone. Vgl. auch I 265, sowie die Angaben uber Rob. Fbanz, Schu-
mann, Smetana I 411 f.: die beiden Ersteren horten wesentlich
Tone, der Letztere auch ausserdem ein starkes Sausen. Eine aus-
nahmslose Kegel wird sich natiirlich hier nicht herausstellen, da die
Musikbegabung nicht bios auf der relativen Intensitat der Tone ruht ;
aber eine gewisse Regelmassigkeit ware nicht unwahrscheinlich.
Physikaliscli endlich pflegt man Gerausche auf aperiodische
Luftschwingungen zu beziehen. Hier verschwindet nun freilich
der specifische Unterschied , insofern man eine solche ansehen
kann als Aufeinanderfolge von Bruchstiicken periodischer Be-
wegungen: aber objectiv verschwindet ja der specifische Unter-
schied sogar zwischen Licht und Warme.
Eine wirkliche Schwierigkeit liegt hingegen darin, dass tat-
sachlich nicht bios aperiodische sondern auch complicirt-perio-
dische Bewegungen Gerausche erzeugen, wie in dem besprochenen
Clavierversuche (wo wir eine indirecte Erzeugung annahmen),
und dass umgekehrt gewisse aperiodische Bewegungen, wie die
bei einer stetigen Tonveranderung, Tone erzeugen. Der physi-
kalische Unterschied muss also in etwas anderer, genauerer
Weise bestimmt werden.
Eine weitere Frage ist die, ob beide Bewegungsarten, welche
doch, wie immer man sie abgrenze, graduell in einander iiber-
gehen konnen, nicht auch jedesmal beiderlei Teilchen im Ohr
erregen miissen. Darauf wird die Antwort sein, dass sie es
wirklich tun; nur werden die Schneckenfasern viel leichter durch
periodische (oder wie sie genauer bestimmt werden mogen), die
gerauschvermittelnden Teilchen viel leichter durch die nicht-
periodischen Bewegungen erregt. Aus dieser Vorstellungsweise
wiirde ich aber nicht etwa zuriickschliessen , dass darum Ge-
Stumpf, Tonpsychologie. n. 33
514 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
rausche und Tone jederzeit auch in der Empfindung verkniipft
sein miissen. Denn die Erregung der Teilchen der einen Art
kann unter Umstanden so scliwach sein, dass sie unter der
Empfindungsschwelle bleibt.
Man hat die Luftbewegung bei Gerauschen und besonders bei
Consonanten durch Phonogramme untersucht. R gab die zu er-
wartenden Stosswellen, S eine lange Reihe kleiner einfacher Wellen,
M, N, L regelmiissige periodiscbe Curven complicirter Art, weswegen
man diese geradezu als Vocale in Anspruch nahra. (S. Wieb. Ann.
Beibl. 1888, S. 29.) Aber die physikalische Definition kann psycho-
logisch nicht massgebend sein. Dass Consonanten zum Teil hohe
Tone entbalten (0. Wolf, Sprache und Ohr), baben sie mit an-
deren Gerauschen geraein.
II. Klangfarbe.
1. Manichfaltigkeit der Praedicate. Klangcbarak-
ter durcb Associationen.
Die Eigenschaften , welche man unter dem Begriff und
Namen der Klangfarbe^) zusammenfasst, bilden eine so bunte
Menge, dass man beim tjberblick scbier verzweifeln muss, sie
wirklicb unter Einen Begriff zu bringen. Wir finden als solche
erwahnt: angenebm und unangenebm im Allgemeinen; dann
mild, siiss, weich, schmelzend gegeniiber sebarf, hart, rauh;
dann voll, breit, pastos gegeniiber leer, spitz, diinn, naselnd;
dann bell, glanzend, metallisch, silberu gegeniiber dunkel, dumpf,
triib, verscbleiert, bolzern; dann kraftig, scbmetternd, drobnend,
edel, praehtig, feurig, majestatiscb, romantisch gegeniiber sanft,
trocken, gemein, diister, melancboliscb, elegisch, idylliscb u. s. w.
Man kann diesen Schatz von Beiwortern, mit welcbem sicb nur
derjenige der Weinhandler einigermassen vergleicben lasst, aus
den Werken iiber Instrumentatiouslebre leicbt nocb vervollstan-
^) Der Ausdruck ist neueren Datums. Chladni sagt noch (Akustik
1802 § 44 Anm.): „Im Deutschea hat man kein eigenes Wort fiir diese
Modificationen eines Klanges." Er gebraucht ., Timbre". Dieses selbst
findet sich bei Roxjsseatj auch noch nicht. Im Englischen wird heute
noch gewohnlich von ..Quality" in diesem Sinne gesprochen. Tyndall
sagt „Clangtint".
§ 28. Gerausch iind Klangfarbe. 515
digen; dock haben wir an dieseii Beispielen schon mehr als
genug Erldaruiigsmaterial.
Auf der Hand liegt, dass liier vielfach Folgen der Ton-
empfindungen, associirte Vorstellungen und Gefuhle, den
eigentlichen Grund der Bezeicbnung abgeben, und dass diese
Associationeu teilweise etwas zufalliger Art sind. Die Ver-
wendung der Trompete und Posaune zu festlichen Aufzugen,
wozu sie sich schon ihrer Starke wegen eignen (abgesehen von
anderen natiirlichen und liistorischen Griinden), ruft unbestimmte
Erinnerungeu an solclie Anlasse wach; spater wird ein feier-
liches Gefiihl durch diesen Klang auch ohne Vermittelung von
Erinnerungeu erweckt, ein tJbertragungsvorgang, den wir tau-
sendfach im Gefiiblsleben beobachten. Natiirlich kommt das
so iibertragene Gefiihlsmoment nicht unter alien Umstanden, in
jedem Zusammenhang, bei jeder Verwendungsart des Klanges
zum Vorschein, sondern nur unter bestimmten , dem urspriing-
lichen Zusammenhange einigermassen ahnlichen Umstanden, bei
stark accentuirten und melodiscli bestimmt charakterisirten
Phrasen u. s. f. Es ist nicht auf das Instrument oder den
Klang desselben schlechthin iibergegangen, sondern auf den
Klang in diesen Umstanden und Verbindungen. Ahnliches gilt
vom „romantischen" Hornklang^), dessen Romantik nicht ein-
mal so alten Datums ist (nach Spitta^) liat das Horn in musi-
kalischer Verwendung erst seit Weber's Freischiitz diesen Bei-
geschmack, jedenfalls bangt er aber damit zusammen, dass das
Horn jahrhundertelang vor der orchestralen Verwendung zu
Jagdfanfaren und Signalen diente). Ahnliches auch von der
„idyllischen" Oboe und Flote. Nicht weil sie den schaferlichsten
Klang gab, blies Damon die Flote, sondern weil er kein anderes
^) Gevaert spricht in seinei* .,Neuen Instrumentenlehre" (iibers.
von H. RiEMANN 1887, S. 215) sogar von einem .,gewissermassen meta-
physischen Charakter des Horns". So lacherlich Mancliem dieser Aus-
druck scheinen mag, kann man ihu doch wol verstehen in Erinueriing
an musikalische Zusammenhange, wo jenes Romantische durch besondere
(dynamische, modulatorische) Mittel noch weiter gesteigert ist.
2) Die alteste Faust-Oper, Deutsche Rundschau 1889 S. 394.
33*
516 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
Instrument hatte als dieses, welches er sich aus Rohr schneiden
konnte; und well Damon und seine Genossen Schafer waren,
darum ist die Flote schaferlich.
Allerdings wird die Verschiedenheit regelmassig und dauernd
associirter Vorstellungen und Gefiihle meistens auch in Ver-
schiedenheiten der Tonempfindungen selbst griinden, auf deren
Zergliederung wir also zuriickgefiihrt werden. So hat die Oboe
zugleich auch einen dem Gesang der Schafe und der Hahne
nicht ganz unahnlichen Klang, und hat deshalb auch zum Ofteren
in der alteren Musik bloken und krahen miissen, wenn diese
Tiere darzusteUen waren.
Wir wollen Das, was mit vorstehenden Bemerkungen vor-
laufig abgetan sein soil und uns erst in der Gefiihlslehre wieder
interessiren wird, als Klangcharakter von der eigentlichen
Klangfarbe unterscheiden und unter der letzteren nur solche
von den obigen Eigenschaften verstehen, die nicht in bios asso-
ciirten Vorstellungen und GefUhlen ihren Sitz haben.
2. Klangfarbe als das Unterscheidende der Instru-
mente.
Auch nach dieser Absonderung bleibt ein engerer und ein
weiterer Begriff von Klangfarbe zu scheiden; und bereits Helm-
HOLTz hat diese Scheidung gemacht. Im weiteren Sinn nennt
er Klangfarbe Das, was gleichhohe und gleichstarke Tone noch
fiir unsre Empfindung unterscheidet, wenn sie von verschiedenen
Instrumenten hervorgebracht werden. (Nicht ausdriicklich zwar
gibt er diese Definition, aber sie entspricht ohne Zweifel seiner
Absicht.) Diesen an sich bios negativen Begriff bestimmt er
naher dahin, dass dazu vor Allem
a) die Zusammensetzung des Klanges aus Teiltonen
gehore; und diese nennt er musikalische Klangfarbe. Wir wollen
sie Klangfarbe im engeren Sinne nennen. Ausserdem aber ist
in der Klangfarbe im weiteren Sinne noch inbegriffen eine
Reihe charakteristischer Merkmale der Instrumente, welche Helm-
HOLTz bereits annahernd vollstandig aufgefUhrt hat, namlich:
b) die eigentiimliche Art und Dauer des An- und Aus-
klingens, welche abhaugig ist von der Erzeugungsart des
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 517
Klanges und eine andere ist bei der Flote, bei Blechinstru-
menten (die relativ schwerfallig einsetzen), beim Clavier, der
Violine, und hier wieder beim Streichen und beim Zupfen, u. s. f.
Spricht man von einem trockenen, kurzen, klanglosen (und doch
oft durchdringenden) Ton, so ist grosstenteils eine solche Eigen-
tiimlichkeit gemeint, wie andererseits der gleichmassig anhal-
tende Ton schon darum etwas „Volleres" hat. Es gleicben diese
Unterschiede einigermassen den Consonanten (Mediae, Teuues),
mit denen wir einen und denselben Vocal ein- oder auslauten
lassen konnen. Ein wichtiges Merkmal bieten ferner
c) die begleitenden Gerausche. Bei den Blasinstru-
menten das Sausen und Zischen der Luft, bei der Geige das
Reibegerausch des Bogens (zumal in hoheren Regionen). Auch
die Vocale sind, wie Bonders zuerst bervorhob, nicht frei von
solchen Geriiuschen. In diesem Umstand liegen die Eigenheiten
des Klanges, zum Teil wenigstens, begriindet, die wir als rauh,
pelzig, streichend u. dgl. bezeichnen (durch. welcbe auch bei
gewissen Orgelregistern der Klang jener Instrumente kiinstlich
nachgeahmt wird). Diese begleitenden Gerausche sind sehr
wichtig fiir die Unterscheidung der Instrumente. Sie verschwin-
den mit der Entfernung, weshalb die Instrumente in grosserer
Entfernung viel weniger leicht unterschieden werden. Ritz be-
hauptet angesichts der von ihm erwiesenen Veranderlichkeit in
der Teiltonstructur des Violinklanges (der je nach der Bogen-
fiihrung und der Lange des schwingenden Saitenstucks bald 10,
bald nur 4 oder noch weniger Teiltone umfasst), dass die be-
gleitenden Erzeugungsgerausche geradezu das Hauptmerkmal
bilden, welches einen Klang als den eines bestimmten Instru-
mentes kennzeichnet. ^)
Ausser diesen Hauptmerkmalen dienen noch eine Reihe
anderer unter Umstanden zum Erkennen eines Instrumentes.
So kann schon die Ho he gelegentlich ein deutliches Kenn-
zeichen oder wenigstens einen Leitfaden abgeben. Ein Instru-
ment, das sich in der fiinfgestrichenen Octave tummelt, kann
^) Unters. iiber die Zusammensetzung der Klange der Streichinstr.
(1883) 36 f.
518 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
kaum ein anderes als Piccolo sein. Eines, dessen Bewegungen
unter a hinabgehen, kann jedenfalls nicht die Flote sein. So
dient iiberhaupt der Umfaiig der Instrumente (wenn Jemand
dariiber orientirt ist) und die gewohnliche Region seiner Ton-
gebung mit zu seiner Charakteristik oder wenigstens zur Ein-
schrankung der Mogliclikeiten, an die man in einem Falle
denken kann.
Ebenso dient die Starke. Wir wissen z, B., dass nur
durch Blechinstrumente Klange niittlerer Hohe von machtigster
Kraft erzeugt werden konnen. „ Viola, Bass und Geigen, die
mlissen alle scliweigen vor dem Trompetenton." In der Ent-
fernung freilich ist auch dieser schwach; wenn wir aber wissen,
dass im anstossenden Zimmer musicirt wird, kann die gewohn-
liche ebenso wie die extreme Starke eines Instrumentes ganz
wol mit als Erkennungszeichen dienen.
Auch Hohe- und Starkeschwankungen wahrend des
Einzelklauges sind charakteristisch. So z. B. das sentimentale
(weil an das geriihrto Singen erinnernde) Vibriren, womit Zither-
spieler den Ton ihres Instrumentes zu beseelen streben; welches
zugleich eine Hohe- und Starkeschwankung ist. Ebenso das
ostensible Hinaufrutschen auf der Saite, welches der Hand-
habung desselben Instrumentes vorzugsweise eigentiimlich ist
(und es z. B. von der ebenfalls gezupften Harfe unterscheidet),
in geringerem Grade aber, und doch schon zu viel, auch bei
Streichinstrumenten geiibt wird. Durch die Leichtigkeit des
Anschwellens, die feine Beweglichkeit in Hinsicht der Starke
iiberhaupt, ist besonders die Oboe ausgezeichnet, wodurch sie,
wie Gevaert sagt, ein unmittelbarer Dolmetsch der Empfin-
dungen, besonders der weiblichen Seele, wird^) (letzteres unter
Mitwirkung ihrer Hohe). Andere Instrumente wiederum sind
') Neue Instrumentenlehre S. 145. Bernhard Scholz bemerkt iu
seiner Besprechung (Viertelj.-Schr. f. Musikwiss. 1889), die Oboe werde
doch auch in so maucher lustigen Musik verwendet. Gewiss; aber dann
nicht mit gehalteuen, lang auschwelleuden Tonen. tJberhaupt gibt es
ja keinen Instrumentalcharakter abgesehen von den Umstanden (s. c).
Aber diese selbst entziehen sich nicht ganz der Classification.
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 519
gar keiner Starkeschwaukungeu tahig, so besonders die Orgel,
wenn man nicht zwischen verschiedenen Registern wechselt, imd
dann ist die Veranderung (vom Schwellregister abgeseheu) keine
stetige. Dadurch erhalt der Orgelklaug, zumal im langeren Zu-
sammenhang, etwas Starres (man moclite sagen Dogmatisches),
was in Verbindung mit der Starke und der Tiefe, wenn die
entsprechenden Register angewandt werden, die sinnliche Grund-
lage fiir die Gefiihle des Majestatischen u. s. w. abgibt, die hier
freilich auch durch Associationen genahrt sind.
Ferner sind gewisse melodische, rhythmische, auch
wol harmonische oder modulatorische Wendungen fiir
bestimmte Instrumente mehr oder weniger charakteristisch. Die
Flote ist das beweglichste unter den Orchesterinstrumenten.
Sie hat aber auch wieder anderes Passagenwerk als das Clavier.
Der unvermeidHche Doppelschlag der Dorfclarinettisten kehrt
sogar in R. Wagner's altereu Opern, wie Hanslick zu be-
merken nicht versaumt, mit einer fatalen Haufigkeit wieder.
r-ti »- :^
Die rhythmische Figur :fez:?zit^E^Ed ist charakteristisch
fiir die Trompete. Sie kommt auf dem Horn, der Posaune
nicht so scharf heraus^). Die Unmoglichkeit, zwei Klange auf
Einmal hervorzubringen, scheidet die sammtlichen (modernen)
Blasinstrumente von anderen. Die Violine kann nur Doppel-
griffe genau gleichzeitig hervorbringen u. s. f. Wissen wir
daher aus anderen Quellen etwas iiber die Zahl der tatigen
Instrumente, so dienen auch solche Kriterien zur naheren Be-
stimmung. Modulatorisch endlich (wir verstehen unter Modu-
lation hier allgemein eine Aufeinanderfolge von Zusammen-
klangen) sind z. B. die „Hornquinten", eine aus der Zeit der
Naturhorner stammende Wendung, gelegentlich mit fiir dieses
Instrument charakteristisch.
Alle diese Kriterien sind in ihrer Wirksamkeit natiirlich
abhangig von der Erfahrung des Einzelnen. Einige darunter
sind jedoch durch das gewohnliche Musikhoren Allen so sehr
') Jadassohn, Lehrbuch der Instrumentation 1889,
520 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
in Fleisch und Blut iibergegangen , dass danach auch Unmusi-
kalische die grossen Hauptclassen der Instrumente zu erkennen
vermogen.
Es unterscheidea sicli aber niclit bios die Classen der In-
strumente durch solche Kennzeiclien, sondern auch die indi-
viduellen Instrumente einer Classe; die beigemischten Gerausche
sind verschieden u. s. f. Und noch mehr uuterscheiden sich
die Tonregionen eines und desselben Instrumentes. Hauptsach-
lich allerdings liegen diese Unterschiede in dem ersten und
sogleich naher zu behandelnden Merkmal, der Klangfarbe im
engeren Sinne.
3. Klangfarbe im engeren Sinne.
Von den vorher aufgezahlten Momenten bietet nur dieses
theoretisch zu naherer Untersucliung Anlass: die „musikalische"
Klangfarbe, welche Helmholtz als die Art der Zusammen-
setzung des Klanges aus Teiltonen definirt.
Dass die Unterschiede im Klange der Instrumente. wenn
man von den unter 2. b) f. erwahnten, mehr ausserlichen , wie
auch immer wichtigen, Merkmalen absieht, von der Form der
Wellen bedingt seien, hat man bereits vor Helmholtz aus dem
Umstande crschlosscn, dass die Tonhohe von der Lange und
die Tonstarke von der Hohe der "Wellen abhangt, wonach fiir
die Klangfarbe eben nur die Form iibrig blieb. Aber erst Helm-
holtz hat ganz bestimmt die Art und Weise angegeben, in
welcher die Form Einfluss gewinnt, indem er die OnM'sche An-
nahme zu Grunde legte, dass nur Sinuswellen Tone erzeugen;
wonach die iibrigen Wellenformen nur dadurch den Klang mo-
dificiren konnen, dass das Ohr sie in Sinuswellen, den Klang
also in Teiltone zerlegt. Nicht direct also, sondern durch Ver-
mittelung der empfundenen Obertone gewinnt die Wellenform
Einfluss^). Dies bestatigt sich auf vielfache Weise. Wenn man
*) Von Helmholtz ermuntert veroffentlichte Brandt in Pogg. Ann.
Bd. 112 (1861) S. 324 einen 1855 entstandenen Aufsatz, worin dieselbe
Grundidee vorgetragen war. Dem Glanz der HELMHOLTz'schen Leistung
tnt dies keinen Eintrag, wie ja auch der Verfasser anerkennt. Es zeigt,
wie dieselbe durch den Streit Ohm's und Seebeck's unmittelbar vor-
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 521
kiinstlich gewisse Teiltone vor anderen verstarkt, verandert sich
die Klangfarbe; z. B. wenn man bei einem Zungenklang einen
Resonator an's Ohr halt, der den Grundton verstarkt, wird der
Klang weicher, und umgekehrt wird ein weiclier Klang durch Ver-
starkung von Obertonen scharfer (vgl. o. 239 Anm., 352). Die
Ergebnisse seiner Einzoluntersucliungen fasst Helmholtz so zu-
sanimen: (1) Einfaclie Tone klingen sehr weicli und angenehm,
ohne alle Rauhigkeit, aber unkraftig und in der Tiefe dumpf.
(2) Klange, welche von einer Reihe ihrer niederen Obertone
bis etwa zum seclistcn hinauf in massiger Starke begleitet sind,
sin<J klangvoller, musikalischer, reicher, praclitiger. (3) Wenn
nur die ungeradzahligen Teiltone da sind, bekommt der Klang
einen hohlen oder bei einer grosseren Zahl einen naselnden
Charakter. (4) Wenn der Grundton an Starke hinreicliend
iiberwiegt, ist der Klang voll, ausserdem leer'). (5) Wenn die
hoheren Teiltone jenseits des sechsten oder siebenten sehr deut-
lich sind, wird der Klang scharf und rauh. Der Grund liegt
in den Dissonanzen (Scliwebungen) der hoheren Obertone mit-
einander.
Spatere Einzelforschungcn bestatigten nur immer mehr den
Zusammenhang der Obertone mit der Klangfai'bc. Auch die
einzelnen Regionen und Klange Eines Instruments, auch die
bereitet war. Aber erst mit der Durchfiihrung in's Einzelnste konnte
sie Leben und Uberzeugungskraft gewinnen. In den OnM-SEEBECK'schen
Abhandlungen selbst ist besonders eine Stelle von historischem Interesse,
wo Seebeck sagt: Da aus der Sinusform die Klangfarbe nicht erklarlich
sei, so miisste man „alle dicse Verschiedenheiten entweder der Bei-
mischung von Gerauschen oder dem unvermerkten Mitklingen von Ober-
tonen .... zuschreiben, was gewiss nicht fiir alle jene Unterschiede,
namentlich nicht fiir die der Vocale, ausreichend ist". (Pogg. Ann.
Bd. 139, S. 364.) Eben dies, dass es dennoch ausreiche, hat Helmholtz
zu erweisen gesucht.
*) Diese Kegel erwahnt Helmholtz mit unter 3, versteht sie aber
als eine selbstandige , nicht bios auf den Fall ungeradzahliger Teiltone
beschrankte, wie namentlich die zur Erlauteruug beigefiigten Beispiele
zeigen. Auch spricht er von ungeradzahligen Obertonen, wofiir ich hier
Teiltone gesetzt habe, well bei der Numerirung der Grundton mitge-
zahlt wird (o. S. 2—3).
522 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
Klauge einzelner Instrumente gleicher Gattung zeigten sicli ver-
schieden in der Zusammensetzung und ordneten sich unter die-
selben Regeln^).
Wenn das Material die Klangfarbe beeinflusst, wortiber die
Acton noch nicht geschlossen scheinen^), so wird wol auch
dieser Einfluss auf die Verschiedenheit der Obertone zuriick-
gefiihrt werdeu.
Sehr eng liaugt mit Helmholtz' Auffassung der Klang-
farbe die Frage zusammen, ob dieselbe durcli die Pbasenunter-
schiede der Teilwellen mit bedingt ist. Man kann sich leicht
iiberzeugen, dass die objective Wellenform durch Verschiebung
der Phasen bedeutende Veranderungen erleidet. Wenn aber die
zusammengesetzte Welle im Ohr zerlegt wird und die Klang-
farbe nicbts Andercs ist als die dadurch entstehonde Zusammen-
setzung des Empfindungsganzen, so muss immer das namliche
Empfinduugsganze und die namliche Klangfarbe herauskommen,
welche Phasenverschiebungen auch objectiv stattfinden. Die
Klangfarbe, sagt dahor Helmholtz, kann nur abhangen vom
Vorhandensein (der Hohe und Anzahl) und von der Starke der
Obertone. Nach Helmholtz' beriihmten Versuchen iiber kiinst-
liche Klangzusammensetzung sind nun in der Tat Phasenunter-
schiede in der Hauptsache einflusslos. Doch hat er, was haufig
^) Vgl. 0. 240 und die 517 erwahnte Schrift von Ritz. Eci Violinen
entstehen hienach immer weniger Obertone, je weiter man mit dem
Bogen gegen das Griffbrett riickt und ferner je hoher der Ton auf der
Saite gegriifen wird, je kiirzer also das schwingende Stiick ist. In ent-
sprechender Weise andert sich auch die Klangfarbe, wie dies alien Spie-
lern bekannt ist. Nach Lewis Wright, Tone of Violins, schwingen die
Saiten guter alter Violinen in cinfacheren Curven als die von Violinen
geringerer Qualitat, d. h. der Grundton hat relativ grossere Starke (Na-
ture XXII. No. 567, nach Fortschr. d. Phys. Bd. 36 S. 1118).
^) ScHAFHATTTL behauptete nach seinen Versuchen solchen Ein-
fluss, Gevaert leugnet ihn auf Grund der Erfahrungen von Sax und will
darum gar nicht mehr von Blech- und Holzinstrumenten als naturlichen
Classen gesprochen wissen (Neuc Instr.-Lehre S. 5). Boutet untersuchte
neuerdings die Frage in Bezug auf die Mundstiickc und fand den Klang
je nach dem Material der Flatten verschieden, am sanftesten bei solchen
aus Holz Oder Kork (Wied. Ann. Beibl. 1888, 319 Ref.).
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 523
iibersehen wird, von Anfang an Einschrankungen beigefiigt. Es
konnten Ausnahmen vorkommen, erstlich indem Combinations -
tone sich bildeu, welche die primaren Tone teils schvvachen
teils verstarken, zweitens indem hohere Obertone untereinander
schweben, wobei es wahrschoinlich nicht gleichgultig sei, ob
ihre Phasen zusammenfallen oder nicht, iiberdies audi Ge-
rausche erzeugt werden konnten^). R. Konig behauptet nun
nach Versuclien mit der von ihm gebauten „Wellensirene" mit
Bestimmtheit, dass Phasenverschiebungen merkliche Verande-
rungen der Klangfarbe bedingen, wenn auch nur von der Art,
wie wenn ein und derselbe Vocal von verschiedenen Personen
gesungen oder ein Ton von zwei Instrumenten gleicher Gattung
angegeben wird'^). Es bleibt zu priifen, ob diese Verschieden-
heiten innerhalb der von Helmholtz angedeuteten Erklarungs-
griinde fallen, die mir allerdings nicht vollkommen klar ge-
worden sind. Jedenfalls werden durch Unterschiede, die nur
von Schwebuugen herriihrcn, in keiner Weise die von Helm-
holtz durchgeflihrten allgemeincn Voraussetzungen betroifen, da
ja vielmehr die Schwebungen selbst Zerlegung der zusammen-
gesetzten Welle im Ohr voraussetzen. Auch miisste man, wenn
wir zur alten Anschauung zuriickkehrend irgend eine directere
Abhangigkeit der Klangfarbe von der Form der objectiven
Welle annehmen wollten, doch wol grossere Unterschiede als
Folge von Phasenverschiebungen erwarten.
Endlich hot sich zur Erprobung der Klangfarbenlehre die
Vocaltheorie. Hier war der massgebende Einfluss mitklingender
Tone bereits friiher erkannt^), ist aber durch Helmholtz ge-
nauer bestimmt und wiederum durch annahernde kiinstliche
1) PoGG. Ann. Bd. 108 (1859) S. 289. Tonempf. -* 207.
=2) WiED. Ann. XIV (1881) 369, XXXIX (1890) 403. Ber. d. Heidel-
berger Versammlung d. deutschen Naturforscher u. Arzte 1889 S. 199.
^) Vielleicht der Erste, welcher davon eine Ahnung hatte, war der
bekannte Automatenverfertiger Kempelen, nach einer „sonderbaren" Be-
merkiing, welche Willis (Pogg. Ann. Bd. 24 S. 415) von ihm citirt: „Weun
ich die verschiedenen Vocale auf demselben Ton spreche, haben sie doch
Etwas an sich, was eine Veranderung fiir mein Ohr ergibt und mich
glauben macht, dass eine gewisse Melodie vorliegt, welche doch. wie ich
524 § 28. Gerausch unci Klangfarbe.
Zusammensetzung controlirt worden; wenn auch iiber die Frage,
ob ein bestimmter Vocal hauptsachlich durch die absolute oder
durch die relative Hobe der Beitone bestimmt wird, noch nicht
tlbereinstimmung erzielt ist^).
4. Principielle Schwierigkeiten. Farben einfacber
Tone.
Der tatsacblicbe Zusammenbang der Klangfarbe mit den
Obertouen, und zwar als empf'uudenen, ist ausser allem Zweifel.
Aber man kann nicht sagen, dass derselbe, wie er in obigen
fiinf empirischen Regeln ausgesprochen ist, psychologisch voll-
kommen durchsichtig und verstandlich ware. Er bedarf selbst
wieder der Erklarung. Man fragt sich: Warum und wodurch
bewirken die ungeradzabligen Teiltone einen hohlen, naselnden
sehr wol weiss, nur durch eine Veranderung von Tonea in Bezug auf
Tiefe und Hohe erzeugt werden kann."
') Helmholtz vertritt die erste, Geassmann Wied. Ann. I 606 die
zweite Anschauung. Vgl. F. Auerbach das. Ill 152, IV 508. Lahe, Die
GRAssMANN'sche Vocaltheorie , Jenenser Diss. 1885, abgedr. Wied. Ann.
XXVII 94. Graham Bell (Americ. Journ. of Otol. I 1879) hat den Phon-
autographen, Lahr den Phonographen zur Priifuug beniitzt. tJber eine
neuere Untersuchung auf objectivem Wege von Doumer s. Wied. Ann-
Beibl. 1888 S. 318. Eichhoen priifte Lahr's Ergebnisse durch kiinst-
liche Zusammensetzung mit einer .,Vocalsirene" uach Art von Konig's
Wellensirene Wied. Ann. XXXIX (1890) 148.
Dass iibrigens Helmholtz selbst die relative Hohe der Teiltone
nicht fiir ganz einfiusslos halt, versteht sich, wie ich meine, von selbst,
und geht z. B. aus der o. 352 erwahnten Bemerkung hervor (wozu auch
die meinige I 260 unten, sowie Sievers' Grundziige der Lautphysiologie
S.,39 unten).
Geassmann ordnete nach seiner Analyse alle Vocale in ein Drei-
eck, analog dem bekannten Farbendreieck , etwa mit den Grundvocalen
All I. SiEVEES spricht von dieser Idee, welche auch Wundt sich an-
geeignet hat, bereits 1876 als einer alteren, findet aber die Darstellung
auf einer Geraden zwischen U und / (Winteler 1876) angemessener.
Nachher ordnet er mit Riicksicht auf feinere Unterschiede die Vocale
in conceutrische Kreise um den Mittelpunct A, wobei jedoch der Durch-
messer A U I besonders ausgezeichnet bleibt. Nicht uninteressant ist
es fiir uns, wie Sievers die Idee der Distanzschatzungen bei Vocalen
durchfiihrt, indem er auf dieser Geraden zuuachst bestimmte Vocale
(Kategorien) fixirt, dann die tibrigen zwischen ihnen eintragt.
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 525
Klang? Warum wird ein Klaiig durch Obertone kraftiger,
prachtiger? Warum auch nur reicher? Denn wer ihn nicht ana-
lysirt, fasst ilin als eben so einfach wie den wirklich einfacheu
Ton. Besonders aber: Warum wird er heller?
Helmholtz sagt ausdriicklich: „Einfaclie Tone konnen nur
Unterschiede der Starke, nicht der musikalischen Klangfarbe
darbieten"' (120). Hienach sollte man erwarten, dass durch den
Hinzutritt von eiufachen Tonen, wenn iiberhaupt Etwas, auch
nur die Starke, nicht aber die musikalische Klangfarbe geandert
Oder gar erst geschaffen wUrde. Kame dem einzelnen Ton keine
Starke zu, so wiirde doch erst recht auch dem Ganzen keine
zukommen. Ebenso wenn dem einzelnen Ton keine Farbe zu-
kommt, wie soil sie dem Ganzen eignen? Aus Nichts wird Nichts.
Wenn wir einen dunklen Raum erhellen wollen, sagt G. Engel
mit Recht, so miissen wir etwas Helles hineinbriugen; wollen
wir ein bitteres Getrank versiissen, so miissen wir einen Stoff
hinzumischen, der an sich selber siiss ist. 1st auch der Begriff
der Mischung hier wol nicht ganz derselbe wie der der Ver-
einigung von Tonen, so gilt doch der analoge Schluss.
Die unabweisbare Consequenz also und die Vorbedingung
zur Losung obiger Schwierigkeiten ist die, dass wir auch den
einfachen Tonen schon eine Farbe zuerkennen, die wir Ton-
far be nennen wollen, wahrend wir unter Klangfarbe im Fol-
genden die aus den Tonfarben resultirende Eigentiimlichkeit
der obertonhaltigen Klange (Einzelklange) verstehen ^).
*) Ich habe den Ausdruck Tonfarbe in diesem Siiine und zum Un-
terschiede von der Klangfarbe zuerst in der Revue philos. XX, 1885,
S. 618 und in der Z. f. Philos. u. phil. Krit. Bd. 89 S. 46 gebraucht. Der
Begriff der Tonfarbe als eines mit der Hohe veranderlichen Elementes
und als der Grundlage der Klangfarbe stand mir langst fest und ist
I 202 — 3 schon in Anwendung gebracht; aber ich fasste damals Ton-
und Klangfarbe als identisch mit Ton- und Klanggefiihl, woriiber sogleich
naher zu sprechen ist. Unabhangig von mir hat G. Engel die namliche
Consequenz gezogen und den einfachen Tonen eine mit ihrer Hohe ver-
anderliche Farbe zuerkannt in seiner sehr verdienstlichen Studie „Uber
den Begriflf der Klangfarbe" Philos. Vortrage d. phil. Gesellsch. zu Ber-
lin, N. F. 12. Heft 1887 (der Vortrag ist 1885 gehalten).
526 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
Das Namliche ergibt sich auch daraus, dass zwischen ein-
fachen und zusammengesetzten Klangen doch nur ein gradueller
Unterscliied ist. Lassen wir die Obertone schwaclier und
schwacher werden, so geht eben der zusammengesetzte in den
einfaclien iiber. Es ist nicht, wie sich mancbe den Erschei-
nungen Fernerstehende vorstellen, der einfache Ton etwas ganz
Unerhortes, specifisch Anderes, irgend ein unvorstellbares Ding
an sicb.
Auch die directe Beobachtung bestatigt dies, und sie lehrt
des Naheren, dass die Tonfarben eine mit der Tonhohe
fortschreitende Reihe bilden von der dunkelsten bis zur
hellsten. Und Helmholtz selbst aussert sich entsprechend,
wenn er z. B. einfache Tone in der Tiefe dumpf nennt (Kegel 1).
Dagegen ist es nicht genau, wenn einfache Tone schlechthin
als weich, angenehm, aber unkraftig bezeichnet werden. Sie
werden in den hoheren Regionen immer scharfer, spitziger und
bei objectiver Erzeugung meistens auch intensiver und durch-
dringeuder. Und hiemit niihern wir uns der Einsicht, warum
ein Klang um so heller, scharfer werden muss, je mehr und
je hohere Obertone dem Gruudton zugefUgt werden.
Freilich ist die Sache damit noch nicht erledigt. Worin
besteht Das, was wir hier Tonfarbe nennen? Ist es ein nicht
weitor dcfinirbares Moment, welches neben der Hohe (Qualitat)
und Starke der Tonempfindung als drittes aufzufUhren ist? Von
welch er EigentUmlichkeit des Reizes ware dieses abhangig, da
doch Sinusschwingungen sich nur durch Liinge und Amplitude
unterscheiden? Was berechtigt uns psychologisch, dieses Mo-
ment von der Qualitat der Tone noch zu unterscheiden, wenn
es doch derselben parallel veranderlich sein soil: lasst sich
jeder Einfluss, den es iiben soil, nicht ebensogut auf die Qualitat
zuriickflihron, und wie kann man zwei strong parallel ver-
anderliche Momente in der Wahrnehmung sondern oder fiir Un-
glaubige als zwei nachweisen? Was heisst es endlich, dass die
Tonfarben sich zur Klangfarbe mischen? Haben wir hier doch
einen Fall jener Chemie der Empfindungen, die sonst nirgends
vorkommt? Und miissten sich dann nicht eben die ganzen
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 527
Empfindungen eiuschliesslich ihrer Starke und Qualitat mischeii,
was doch uach alien unsren Feststellungen entschieden nicht
der Fall ist?
5. Versucli, Tonfarbe mit Tongefiihl zu identifi-
ciren.
Bis vor nicht langer Zeit glaubte ich liierauf eine ge-
niigende Antwort zu besitzen. Die Tonfarbe schien mir nichts
Anderes als das Tongefiihl und die Klangfarbe also das Klang-
gefiihl zu sein. An jede Empfindung kniipft sich ja ein, sei
es auch schwaches, Element der Lust oder Unlust. Speciell an
jede Tonempfindung ist im normalen Zustand ein gewisses Lust-
gefiihl gekniipft, wenn dasselbe auch in den hochsten Regionen
durch stechende Schmerzen in Folge von Nebenwirkungen auf
den Tastsinn paralysirt sein kann und ausserdem individuell
verschieden ist. Dieses Lustgefiihl wachst mit der Tonstarke
(abgesehen von Nebenwirkungen) und variirt qualitativ mit der
Tonhohe. Es gleicht bei tiefen Tonen dem Gefiihl, welches mit
dunklen Farben verkniipft ist, bei hohen dem bei lichten Farben.
Wir haben also hier eine regelmassige Begleiterscheinung und
doch nicht ein eigentliches Moment des Empfindungsiuhaltes
selbst, wie Qualitat und Starke. Und ebensowenig wie wir fiir
die Lust an einer Farbe eine besondere Eigentiimlichkeit der
Atherschwingung neben ihrer Lange und Amplitude als phy-
sisches Antecedens in Anspruch nehmen, ebensowenig haben
wir notig, hier nach einer entsprechenden Eigentiimlichkeit der
Touwellen zu suchen. Ein physiologischer Grund im Central-
nervensystem muss wol vorhanden sein, ist aber in beiden Fallen
gleich unbekannt.
Aber auch die psychologischen Schwierigkeiten schienen
mir erledigt, sobald Tonfarbe mit Tongefiihl identificirt wird.
Denn bei Gefiihlen schien es unleugbar, dass sie sich mischen.
Selbst fiir entgegengesetzte Gefiihle, Lust und Unlust, und gerade
fiir solche zuerst, wurde dies angenommen (Moses Mendelssohn's
„vermischte Empfindungen"), und Hume sprach auch geradezu
von einer „Chemie" der Gefiihle. Ferner schienen mir die
Klangfarbenpraedicate, wie wir sie zu Anfang aufzahlten, gerade-
528 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
wegs auf diese Auffassung hinzuweisen; denn z. B. als „an-
genehm, mild" bezeicbnen wir Sinneseindriicke doch gerade
nach ihrer Gefuhlsseite. Und da die durch Associationen be-
dingten Klangpraedicate, wie ,,inelancholisch" u. s. f. von vom-
hereiu unzweifelhaft Gefiihlspraedicate sind, so wurde die ge-
sammte Reihe der Praedicate auf diese Weise unter einen ge-
meinsamen Begriff gebracht. Aucb fiir den Unterschied in der
Wirkung der gerad- und ungeradzabligen Teiltone und noch
fiir mancbe andere Frage (vgl. o. 351) glaubte ich auf diesem
Wege eine Erklarung gewinnen zu konnen.
6. Griinde gegen diese Ausicbt.
Ein storender Umstand ist es nun zunachst, dass Unmusi-
kaliscbe, denen Tone iiberbaupt kaum eine merklicbe Lust er-
wecken, doch Unterscbiede der Klangfarbe verbaltnismassig gut
auseinderbalten. Allerdings bandelt es sicb dabei grossenteils
um die Klangfarbe im weiteren Sinne, es wirken die zahlreicbeu
unter 2, b) f. erwabnten Keunzeichen mit, und bliebe nocb zu
priifen, ob bei Beseitigung dieser Hilfen, z. B. wenn eine Flote,
dann eine Violine, dann eine Trompete dieselbe Melodie spielen,
jede in einer solcben Entfernung, dass die Gerausche unborbar
und die Starke die gleiche wiirde, ob dann noch der Unterschied
mit einiger Sicherheit von Unmusikalischen bemerkt wurde.
Doch offnet dieses Bedenken durchschlagenderen den Weg.
Auf das Klanggefiihl kann nicht wol die Analyse Einfluss
haben. Ein Accord aus drei bestimmten Tonen c^e'^y^ erweckt
das naraliche Klanggefiihl, mogen wir die Tone darin unter-
scheiden oder nicht, mogen wir sie deutlicher oder weniger
deutlich unterscheiden ^). Ebenso ist es bei einem Einzelklang
^) Ich trenne jedoch Klanggefiihl und Harmoniegeftihl. Das letztere
setzt allerdings meiner Meinuug nach Analyse des bezixglichen Zusammen-
klanges voraus. Harmonie kann nur zwischen Mehrerem gefunden wer-
den. Ein Klanggefiihl ist also in jedem Fall vorhanden. als unmittel-
bare Folge der Tonempfindungen ; ausserdem aber kann im Fall der
Analyse noch das eigentliche Harmoniegefiihl vorhanden sein. Ob es
wirklich vorhanden ist, hangt noch von manchen anderen Bedingungen
ab, wie man ja schon daraus schliessen kann, dass Accorde gar nicht
allezeit angenehm gefunden wurden.
§ 28. Gerausch unci Klangfarbe, 529
mit Obertonen. Auf die Klangfarbe dagegen hat die Analyse
Einfluss. Nicht dass sie dadurch verandert wiirde. Aber es
gibt iibeihaupt eine Klangfarbe nur unter der Bedingung, dass
keine Analyse oder wenigstens keine vollkommen deutliche Ana-
lyse stattfindet. Sie zerfliesst sozusagen in dem Masse als die
Analyse deutlicher und vollstandiger wird. Es verhalt sich da-
mit ahnlich wie mit der Hohe und. Starke eines Klanges oder
Zusamnaenklanges. Wir schreiben wol aucb einem analysirten
Zusammenklang unter Umstanden eine Hohe und eine Starke
zu, wie oben erlautert wurde; aber erst im Falle der Nicht-
analyse tritt diese Auffassung in ihre voile Kraft, So kann
man nun auch einem Zusammenklang und ebenso einem Einzel-
klang eine Klangfarbe im vollen Sinne nur zuschreiben, wenn
und soweit er nicht analysirt wird. Damit hangt es auch zu-
sammen, dass eine tiefere Gabel durch Annaherung einer hoheren,
solange diese noch nicht unterschieden wird, in ihrer Klang-
farbe verandert wird. Wird die hohere unterschieden, so hat
jede ihre eigene Klangfarbe. Umgekehrt ist eine Klangfarben-
anderung der hoheren bei Naherung der tieferen kaum zu
beobachten: die tiefere ist eben schon bei ausserst geringer
Starke unterscheidbar (o. 353, 356).
Kurz die Klangfarbe ist nicht wie das Klanggefiihl eine
directe Function der Empfindungen, sondern der Auffassung
der Empfindungen. Helmholtz hat diesen Punct meines Wissens
nicht principiell hervorgehoben , obgleich er ihn in der o. 352
citirten Beobachtung beriihrt. Dagegen hat ihn Mach aus-
driicklich erwahnt^).
Besteht nun die Klangfarbe nicht im Klanggefiihl, so kann
auch die Tonfarbe nicht im TongefUhl bestehen, und wir miissen
nach einer anderen Fassung suchen. Der Weg ist durch die
letzte Betrachtung nahegelegt. Es wird sich mit der Klang-
farbe ahnlich verhalteu wie mit der Klanghohe und Klang-
1) Einleitung in die Helmh. Musiktheorie 35: „Eine Klangfarbe
gibt es nur solange als man die Klangbestandteile ausser dem Grundton
undeutlich hdrt."
Stumpf, Tonpsychologie. n. 34
530 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
Starke, Der scheinbaren Hohe und Starke des Klangganzeii
liegt die wirkliche der Klangteile zu Grunde. Und so werden
wir auch die Basis der Klangfarbe oder die Tonfarbe docb in
den Empfindungsmomenten sucben miissen, welcbe den
Tonen eigen sind.
Zu gleicber Folgerung fUbrt eine andere Betracbtung. Wenn
wir die Anfangs aufgezablten Praedicate durcbmustern und die
durcb blosse Association bedingten sowie die auf die Starke
des Klanges und die Klangfarbe im weiteren Sinne beziig-
licben abscheiden, so liegen nocb drei Gegensatze vor: dunkel —
hell, stumpf (weicb) — scharf (rauh), voll (breit) — leer (diinn).
Mit denselben drei Gegensatzen werden Empfindungen anderer
Sinne bezeichnet, aber nicbt nach ihrer Gefiihlsseite, sondern
nacb Momenten der Empfindungen selbst. Bei Ubertragung
eines solcben Praedicates^ wie sie auch sonst stattfindet, erhalt
dasselbe allerdings einen Gefiihlsbeigeschmack. So wenn wir
von stumpfen Farben rcden. Gleichwol meinen wir auch in
diesen Fallen nicht die Gefiihlsseite als solche, sondern eine
Eigenschaft des Empfindungsinhaltes als solchen, der zufolge
an ihn ein ahnliches Gefiihl gekniipft ist, wie an einen stumpfen
Tasteindruck. Und so ist anzunehmen, dass auch bei t)ber-
tragung obiger Gegensatze auf Klange gewisse sinnliche Eigen-
schaften der Klange oder Klangteile bezeichnet sein sollen. Die
Gefiihlsseite mag es immerhin auch hier sein, welche durch
ihre Ahnlichkeit mit den Gefiihlswirkungen anderer Sinnesein-
driicke zur Ubertragung der Ausdriicke gefiihrt hat; ein dunkler
Ton mag so genannt worden sein, weil er uns ahnlich „au-
mutet" wie eine dunkle Farbe. Aber was wir seine Dunkelheit
nennen, ist nicht diese Gefiihlsreaction selbst, sondern deren
Ursache im Empfindungsinhalt.
Wir sehen uns also auf die Eigenschaften der Tonempfin-
dungen als solcher zuriickgefiihrt, und zwar auf die der ein-
fachen Tone, und wollen zunachst zusehen, ob nicht schon aus
den allgemein zugestandenen Eigenschaften der Hohe und Starke
die Unterschiede der Tonfarbe und die der Klangfarbe abge-
leitet werden konnen.
§ 28. Gerausch uiul Klangfarbe. 531
7. Anteil der Tonhohe an der Tonfarbe und Klang-
farbe.
Kanu man nicht ganz einfacli Tonfarbe mit Tonhohe
identisch setzen? Der Gegensatz von Duukel und Hell bei
Tonen kann in der Tat auch den Unterschied der Tonquali-
taten als soldier bedeuten. Tief und Hoch sind ja auch nur
metaphorische Ausdriicke. Wir erinnern mis, dass Mach die
Elemente, aus denen er sich die Tonqualitaten ihrer Hohe nach
zusammengesetzt denkt, als Dumpf und Hell bezeichnet (o. 273).
Einer der o. 380 erwahnten Knaben frug mich, als ich von ihm
wissen wollte, welchen von zwei Tonen er fiir den hohereu
halte: „Meinen Sie: welcher dumpf und hell ist?" Das S^/aJahrige
Kind hatte von seinen ganz unmusikalischen Eltern nie unsre
technischen Ausdriicke Hoch und Tief vernommen und war von
selbst auf die MAcn'schen Ausdriicke verfallen. Ahnlich sagte
ein 4^/2Jahriges Kind, mein Solin Rudolf, als er zwischen zwei
Trompetchen wahlen sollte, die um einen Ton verschieden waren:
„Ich will die dunklere haben."
Lassen wir nun zu einem gegebenen Grundton Obertone
treten, ohne dass sie von demselben unterschieden werden, so
wird zwar nicht eine Mischung, nicht ein mittlerer Ton die
Folge sein, wol aber wird der qualitative Charakter der schein-
bar einheitlichen Empfindung irgendwie fiir unser Urteil ver-
iindert werden. Und zwar werden wir diesem Empfindungs-
ganzen etwas von den Eigenschaften der Teilempfindungen zu-
schreiben, so wie wir dem Geschmack des Senfs, des Pfeffers,
dem Geruch des Ammoniaks etwas Beissendes, Stechendes zu-
schreiben, obschon Dies Eigenschaften der damit verbundenen
aber nicht unterschiedenen Tastempfinduugen des Trigeminus
sind, wie sie durch Einwirkuiig des Senfs auch an anderen
Korperstellen ohne Geschmacksempfindungen zu Stande kommen.
So geschieht es denn audi: ein Grundton mit Obertonen scheint
uns hoher als ein gleichhoher ohne Obertone.
Aber diese scheinbare Verschiebung auf der Tonlinie ist
doch nicht ganz identisch mit der eintretenden Klangfarben-
anderung. Wir konnen uns ja bei genauerer Aufmerksamkeit
34*
532 § 28. Gerausch nnd Klangfarbe.
iiberzeugen, dass eine wirkliche Erhohung niclit stattfindet.
Wir konnen obertonarme Pfeiftone als gleichhoch mit bestimm-
ten Claviertonen erkennen. Dann fallt also das Zuhoch- oder
Zutiefscheinen hinweg; trotzdem konnen wir nicht umhin, die
einen dunkler, die anderen heller zu finden. Es ist also doch
noch ein Unterschied zwischen Hoherwerdeu und Hellerwerden.
Beides deckt sich wenigstens niclit unbedingt.
Ferner konnen wir auf diesem Wege nicht die iibrigen Prae-
dicate der Ton- und Klangfarbe, den Gegensatz des Stumpfen
und Scharfen, Vollen und Leeren erklaren.
8. Anteil der Tonstarke an der Ton- und Klang-
farbe.
Vielleicht gelingt es besser, wenn wir Intensitatsunter-
schiede der hohen und tiefen Tone mit in Betracht ziehen.
Zwar eignet Tonen von bestimmter Hohe nicht regelmassig nur
eine bestimmte Starke. Doch besteht eine Parallelitat insofern,
als einfache Tone, je tiefer sie sind, um so schwacher ange-
geben werden mlissen, wenn nicht Obertone sich einstellen
sollen. In den hochsten Regionen sind einfache Tone auf ob-
jectivem Wege selten anders als sehr stark und durchdringend
zu erzielen (von ihrem Vorkommen in Gerauschen und von sub-
jectiven Empfindungen konnen wir hier absehen). Man kann
also sagen, dass die grosste erreichbare, sowie auch die grosste
gewohnliche Intensitat einfacher Tone mit ihrer Hohe zunimmt.
Ausserdem wissen wir, dass bei gleicher, also auch bei gleich-
massig mittlerer, Reizstarke die Empfindungsstarke mit der
Hohe der Tone zunimmt.
Hieraus begreift sich nun in der Tat wieder Einiges in
Hinsicht der Ton- und Klangfarbe. Wenn wir einfache Tone
(die wir natiirlich nicht als einfache zu erkennen brauchen)
weich, mild nennen, so bedeutet dieses Praedicat, wenn nicht
ausschliesslich , doch grossenteils ihre relativ sehr geringe In-
tensitat. Man wird sogleich einwenden, dass wir nicht alle
leisen Klange als weich und mild, sondern z. B. einen Oboen-
klang auch im Pianissimo nur als diinn bezeichnen. Aber daraus
folgt nur, dass hiebei irgend ein anderes Motiv bestimmend und
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 533
iiberwiegend ist, worauf wir auch noch kommen, nicht aber,
dass das angegebene Motiv bei den einfachen Tonen nicbt
massgebend ware.
Wenn wir gewisse Tone aucb dumpf nennen, so ist da-
mit ihre Schwache zusammen mit ihrer Tiefe ausgedriickt. Ein
dumpfer Ton ist immer ein scbwacher tiefer Ton. Dieses Wort
braucht nicbt einmal als eine Ubertragung von einem anderen
Sinnesgebiet ber gedeutet zu werden. Es mag auf verschiedenen
Gebieten eine gleich urspriingliche Bedeutung haben.
Wenn wir sodann sehr bobe einfacbe Tone scbrill, durch-
dringend nennen, so sind dies wieder nur Ausdriicke fiir ibre
gewobnlicbe und cbarakteristiscbe Intensitat bei objectiver Er-
regung. Sie konnen unter Umstanden aucb leise sein (wie die
meisten subjectiven Tone dieser Region, aucb die des Maus-
pfiffes oder der Galtonpfeife), dann nennen wir aber auch ihre
Farbe nicbt eine schrille.
Aus der Intensitat in Verbindung mit der Tonhohe lassen
sich also schon mancbe Eigenschaften begreifen, die man als
solcbe der Klangfarbe (Tonfarbe) ansiebt.
Es tragen aber auch die Nebenemptindungen bei sehr
hohen und starken Tonen zu den letztgenannten Bezeichnungen
bei, die stecbenden, ja schmerzhafteu Reizungen des Trigeminus
im Ohr, ofters sogar durch Reflex in anderen Korperteilen. Das
„Durchdringend" bezieht sich gewiss mit auf diese Wirkungen.
Welchen Einfluss miissen nun diese Umstande bei ober-
tonbaltigen Klangen haben? Wir wissen, dass eine Mehrzahl
von Empfindungen, welche nicht analysirt wird, leicht als starker
aufgefasst wird gegeniiber einem ihrer Telle. In Folge Dessen
nennt man den obertonhaltigen Klang kraf tiger, auch wenn
der Grundton nicht starker als bei einfachen Tonen erklingt.
Oft wird dabei aber der Grundton selbst wirklich starker sein,
als ein einfacher von gleicher Hohe es jemals werden kann,
well eben nur unter der Bedingung von Obertonen kraftigere
Tongebung moglich ist. Gehoren ferner Obertone von betracht-
licher Starke den hochsten Regionen an, so muss der Klang
dadurch das Gellende, Stechende erbalten, welches jenen
534 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
eignet. Gehoren sie der ersten Halfte der viergestriclienen Oc-
tave an, so sind sie ohnedies durch die subjective Resonanz be-
giinstigt, und ich kann den bedeutenden Einfluss auf die Klang-
farbe, welch en Helmholtz solchen Tonen zuerkeunt, nur be-
statigen.
Aber noch eiu Erklarungsmittel, das unter den Begriff der
Intensitat fallt, tritt bei obertonhaltigen Klangen hinzu: die
Schwebungen der Obertone unter einander. Helmholtz hat
dasselbe wol noch zu wenig ausgeniitzt, schon darum well er
die Grenze fiir die Geschwindigkeit merkbarer Schwebungen zu
niedrig setzte; aber auch weil er nur die Schwebungen der
hoheren Obertone heranzieht. Nun machen aber in der Reihe
der harmonischen Teiltone, wenn wir sie voUstandig vorhanden
denken, je zwei beuachbarte notwendig gleichviele Schwebungen
und zwar soviele als der Grundton objectiv Schwingungen hat.
Also auch niedrigere Obertone konnen sich durch Schwebungen
geltend machen. Und der Charakter dieser Schwebungen ist
nicht immer Rauhigkeit, sondern je nach ihrer Zahl und der
Lage der Tone Brummen, Rollen, Knarren u. s. f. Alle diese
Eigenschaften miissen dem Klaug (in entsprechender Abschwach-
ung, da es sich ja nur um Obertone handelt) mitgeteilt wer-
den, d. h. wir werden sie als Eigenschaften desselben auffassen.
Zunachst entsteht bei 30 bis 100 Schwebungen in der Se-
cunde, z. B. bei den 66, welche die Obertone von C erzeugen'
eine intensive Rauhigkeit (bei etwas rascheren Scharfe)
des Klanges, vorausgesetzt dass die Obertone zahlreich und
stark sind.
Weiter wird durch Schwebungen das Markige gewisser
Klange entstehen, was noch etwas mehr ist als blosse Kraftig-
keit. So machen z. B. alle unmittelbar benachbarten Teiltone
des c 132, die des c^ 264 Schwebungen, und selbst diese An-
zahl konnte sich nach dem Obigen (S. 461) wenigstens bei den
in der dreigestricheuen Octave liegenden Obertonen noch geltend
machen, wenn sie nur stark genug ira Klange vertreten sind.
Noch zahlreichere Schwebungen, z. B. die 352, welche die Teil-
tone des P untereinander machen, werden bei blossen Obertonen
§ 28. Gerausch unci Klangfarbe. 535
nicht mehr empfunden werden, obgleich sie bei Grundtonen
noch merklich sein konnen.
R. KoNiG betont neuestens^) besonders den Umstaud, dass
die harmonischen Obertone nie absolut genau ihren theoretischen
Werten entsprechen, und betrachtet die dadurch (indirect) ent-
stehenden Schwebungen als Hauptursache des Schmetterns
von Trompetenklangeu.
Auch die mit starken Schwebungen verkniipften Gerausche
spielen eine Rolle. Sie gehoren im Unterschied von den Rei-
bungsgerauschen bei der Klangerzeugung zur Klangfarbe im
engeren Sinne, sind an die Zusammensetzung des Klanges ge-
bunden und verschwinden auch nicht so schnell mit der Ent-
fernung. Auch ihr Einfluss diirfte noch nicht geniigend her-
vorgehoben sein. Ein gewisses feines Zischen bildet eine
wesentHche Beimischung mancher Klangfarben. Wenn man eine
angeschlagene a^-Gabel auf ein den Tisch nur lose bedeckendes
oder sich wulstformig dariiber erhebendes Blatt Papier aufsetzt,
so wird der Ton naselnd, leicht schnarrend, und nahert sich
dem einer Oboe oder eines gevv^ohnlichen Zungen - Stimmpfeif-
chens. Man kann auch einen Auflug von Rauhigkeit, Heiserkeit
darin finden. Ich schliesse, dass ein Gerausch, wie es hier durch
440 Schwingungen bei ihrer tJbertragung auf das Papier
entsteht (mag man es zu den Gerauschen im engsten Sinne
rechnen oder nicht), auch durch 440, in sich unmorkliche,
Schwebungen hinreichend starker Obertone im Ohr zu Stande
komme, und dass ein feineres, vielleicht durch noch schnellere
Schwebungen bewirktes Gerausch derselben Art jenes Zischen ist.
9. Anteil der Tongrosse an der Ton- und Klang-
farbe.
Waren wir im Vorangehenden alien Unterschieden gerecht
geworden, die man als solche der Klangfarbe zu bezeichnen
pflegt, so wiirde sie sich fiir uns aufgelost haben in die Merk-
male der Hohe und Starke der Teiltone (nur die zuletzt er-
wahnten Gerausche waren noch daneben zu nennen). Diese
^) „Klange mit ungleichformigen Wellen" Wied. Ann. XXXIX
(1890) 403.
536 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
beiden Merkmale zusammen wurclen zunachst die Tonfarbe
ausmachen, die entsprechenden Eigentiimlichkeiten aber gemass
dem oben erwahnten psychologiscben Princip dem nichtanaly-
sirten Klangganzen zugeschrieben.
Allein ich muss gestehen, dass mir die Analyse hiemit
noch nicht vollstandig scheint. Es gibt Klaugfarbenpraedicate,
welche eine entschieden quantitative Bedeutung habeu. Wir
reden von einem grossen, breiten, dicken, voUen, massigen
gegeniiber einem. kleinen, diinnen, spitzigen, feinen, atheriscben
Klang. Handelt es sicb nun biebei um einfache Tone, so kann
man diese Unterschiede zur Not auf bios associirte Raumvor-
stellungen (des Gesicbt- und Tastsinnes) zuriickfiibren , da mit
tieferen Tonen in Folge von Erfabrungen liber ihre objective
Entstehung oder in Folge von Nebenwirkungen die Vorstellung
grbsserer Ausdehnung sicb verkniipft bat (I 207).
Dagegen konnen wir zur Erklarung der Klangfarbe diese
bios associirten Raumvorstellungen nicbt beranzieben. Denn
die Obertone konnen, solange sie nicbt vom Grundton unter-
scbieden werden, unmoglicb von den ibnen sonst associirten
Raumvorstellungen begleitet sein. Die einem Sinneseindruck
associirten Vorstellungen v^^erden von demselben nur dann re-
producirt, wenn er selbst von anderen Sinneseindriicken unter-
scbieden wird, nicbt aber solange er als unbemerktes Glied
eines Empfindungsganzen bios da ist. Die vielen organischen
Empfindungen, die Beriibrungs-, Gerucbs-, Geschmacksempfin-
dungen u. s. f., die wir ununterbrochen baben, obne sie von
einander zu unterscheiden , sind im Einzelnen von keinerlei
Nebenvorstellungen begleitet. Nur das Ganze derselben, die
augenblicklicbe Gemeinempfindung (Gemeingefiibl) , reproducirt
Vorstellungen, nicht jedes seiner Glieder.
Somit konnen die an die einfacben Tone associirten Raum-
vorstellungen keine Wirkung tun, wenn diese Tone als ununter-
schiedene Obertone eines Klanges auftreten; konnen also Nichts
zur Erklarung der Klangfarbe helfen.
Nun sind freilicb diese Raumvorstellungen mebr an Klange
selbst als an einfache Tone associirt, da die letzteren nur selten
§ 28. Gerausch unci Klangfarbe. 537
in unsrer Erfahrung fur sich allein vorkommen. Aber daraus
folgt erst recht, dass sic iins hier Nichts helfen konnen. Nicht
einmal, wenn die von solchen Raumassociationen begleiteten
Klange als solche, nur entsprechend geschwacht, in einen un-
analysirten Klang als Teile aufgenommen wiirden, konnten sie
nach dem vorher Gesagten ihre Associatiouen mitbringen. Noch
weniger also wenn nur ihro Grundtone als Teile in einem un-
analysirten Klange vorkommen.
Wir miissen daher auf jenes raumliche oder raumverwandte
Moment zuriickgreifen, von welchem o. 56 als einer immanenten
Eigenschaft der einfachen Tone neben ihrer Hohe und Starke
gesprochen wurde, und welclies sich im Allgemeinen parallel
mit der Hohe, doch an den Grenzen des Tonreiches starker
und im tlbrigen schwacher als die Tonhohe verandert, eben
deshalb auch als ein selbstandiges Moment aufzeigbar ist.
Ubrigens spricht der Kindermund, den wir oben fiir „Hell und
Dunkel" citirten, auch fiir diese Eigenschaft der Tone. Manchc
Kinder unterscheiden die tiefen und hohen Tone als „grosse
und kleine". Zwei Briider von vier und fiinf Jahren nannten
die tiefen „alt" und die hohen „jung", was sich jedenfalls auch
auf das quantitative Moment bezieht; wahrend ihnen die Aus-
driicke Hoch und Tief, Hell und Dunkel nicht zu passen schienen.
Bei den ganz hohen brachen sie in ein Gelachter aus; diese
mochten ihnen gar zu winzig vorkommen.
Diese, mit den Unterschieden der Tonhohe gleich urspriing-
lichen, Unterschiede der immanenten Tongrosse sind es
sicherlich, auf denen in erster Linie die obigen Raumpraedicate,
die wir so wesentlich mit zur Klangfarbe rechnen, beruhen.
Zunachst wieder bei den einfachen Tonen. Wir nennen solche
breit, vol! — diinn, spitz nicht bios weil sie es in Folge
von Nebenvorstellungen zu sein scheinen, sondem hauptsachlich
weil sie es wirklich sind. Wiederum aber erfolgen, wenn sie als
Obertone im Klange vorkommen, entsprechende Praedicirungen
auch gegeniiber dem Klangganzen. Freilich zeigt sich hier wie-
der, dass es sich nicht um raumliche Eigenschaften im optischen
oder haptischen Siune handeln kann. Denn in diesom Falle
538 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
miisste durch das Hinzukommen von Obertonen. deren jeder
seine, wenn audi geringere, Ausdehnung mitbrachte, uns der
Klang immer breiter scheineu. Tatsachlich erhalt er aber da-
durch etwas Spitzeres, Scharferes, er scheint sozusagen be-
grenzter und bestimmter gegeniiber einem einfachen Ton von
gleicher Hohe ^). Wir praediciren also hier in derselben Weise
vom Ganzen die quantitativen Eigentiimlichkeiten darin ent-
haltener nichtanalysirter Teile, wie wenn es sich um qualitative
Merkmale handelte, in derselben Weise, wie wir einem Ge-
schmack das Stechende der beigemischten Tasteindrlicke zu-
schreiben.
Unter Umstanden, wenn vereiuzelte sehr hohe Tone be-
sonders stark im Klang enthalten sind, ohne doch deutlich fUr
sich wahrgenommen zu werden, diirfte der Eindruck des „Na-
selnden" sich auch auf solche quasi- quantitative Umstande be-
ziehen, Es macht sich etwas Diinnes, Feines mehr als in an-
deren Klangen gleicher Hohe geltend. Vielleicht ist die Unter-
scheidungsschwelle fiir das quantitative Moment hier wirklich
schon iiberschritten, wahrend die Qualitaten als solche nicht
geschieden werden?
Auch die Praedicate „Weich, Mild" sind nicht ohne Zu-
sammenhang mit der Tonbreite. Setzt doch, was wir beim
Tastsinn weich nennen, immer eine gewisse raumliche Breite
voraus. Ja es diirfte auch die grbssere „Helligkeit", die wir
obertonreicheren Klangen zuschreiben, mit in diesem Moment
griinden, insofern die grossere „Scharfe", die wir bereits daraus
ableiteten, an die scharferen, bestimmteren Umrisse des Helleren
erinnert. Doch stammt dieser Ausdruck in erster Linie gewiss
von dem qualitativen, ausserdem auch von dem intensiven Mo-
ment, sodass er also eine dreifache Wurzel besitzt.
Wenn man seiner Gehorsanschauung das Quantitative in
der Klangfarbe recht deutlich vorfiihren will, hore man nur
eine und dieselbe Note, etwa in der eingestrichenen Octave,
*) Eine Art von Verbreiterung scheint nur beim zweiohrigen gegen-
iiber dem einohrigen Horen einzutreten, wo ja auch ungleiche Locali-
sation stattfindet, wahrend sich die Tone Eines Ohres durchdriugen.
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 539
vom Horn (besonders dem Naturhorn) und von der Oboe, Der
Hornklang ist ohne alle Frage dicker. Das ist nicht blosse
Association,
10. Riickblick und Anwendung.
Auf diese drei Momente gehen, abgesehen von den Neben-
empfindungen und Vorstellungen, alle Praedicate der Tonfarbe
und damit der sg. Klangfarbe im engeren Wortsinne zuriick:
Hohe, Starke, Grosse. Alle drei sind im Grosseu und Ganzen
(die Starke freilich nur sehr bedingt) parallel veranderlich.
Weil die hoheren einfachen Tone hoher (heller), starker und
spitzer sind, darum scheinen uns auch die Klange, in denen sie
unanalysirt enthalten sind, gegcniiber anderen von gleicher
Hohe, Starke und Breite des Grundtons hoher (heller), starker,
scharfer; und dieser Unterschied muss um so betrachtlicher sein,
je zahlreichere und je hdhere Obertone dabei sind ^).
Wir sehen, dass die Klangfarbe im engeren Sinne
(Helmholtz' „musikalische Klangfarbe") ebensowenig eiu
einheitlicher Begriff ist, wie die Klangfarbe im wei-
') Im Wesentlichen scheiut mir das Ergebnis G. Engel's in der
obenerwahnten Abhandlung hiemit iibereinzustimmen. Auch er findet,
„dass jeder hohere Ton an Intensitat zii- und an Extensitat abnimmt"
(S. 321). Ja er scheint die qualitativen (Hohen-) Unterschiede selbst in
diese beiden Eigenschaften zii setzen, was ich freilich nicht billigeu
kaun. Besonders wertvoll ist die Auerkennung des extensiven Momentes.
Auch die Ansicht, dass dasselbe an den Grenzen sich starker verandere
als das qualitative, konnte man an einer Stelle ausgesprochen finden:
,,Gabe es keine tiefsteu und hochsten Tone, so wilrden, wie mir scheint,
Tonfarbe und Tonhohe in der Tat ganz identisch sein" (326). Doch denkt
Engel hier zunachst an die Tatsache der Tongrenzen, welche er er-
klaren will; die untere Grenze scheint ihm in der Abnahme der In-
tensitat. die obere in der der Extensitat begriindet. Ich ergreife diese
Gelegenheit, die Puucte der Ubereinstimmung hervorzuheben, um so
lieber, als ich in meiner Besprechung dieser Abhandlung (Viertelj.-Schr.
f. Musikwiss. 1888 S. 146) von meinem damaligen Standpiinct aus ihr
nicht voUstandig gerecht geworden bin. Auch iiber Gerausche, besonders
der menschlichen Stimme , gibt Engel lehrreiche Bemerkungen (344 f.)
und fuhi-t u. A. mit Recht die sg. verschleierte Klangfarbe, die bei
geringen Graden oft als besonderer Reiz empfunden wird (Jenny Lind),
auf leise Luftgerausche zuriick.
540 § 28. Gerausch imd Klangfarbe.
teren Sinne, unci dass es durchaus unberechtigt ist, von ihr
als einem der Hohe und Starke coordinirten Moment der Ton-
empfindungen zu sprechen, wie dies allgemeiu geschieht. Der
Klang als eine Verbindung von Tonen hat fiir Den, der ihu
analysirt, weder Hohe noch Starke noch Farbe. Wer ihn nicht
analysirt, schreibt ihm alles Dieses zu, aber er konnte es nicht
zuschreiben, wenn nicht die einfachen Tone es besassen. Und
bei diesen selbst ist die Tonfarbe, wenn wir das Wort nach
Massgabe der Epitheta fassen, die unter Klangfarbe vereinigt zu
werden pflegen, nicht etwas neb en der Starke und Hohe, son-
dern teils Starke, teils Hohe, teils Grosse.
Wollen wir aber unter Tonfarbe etwas neben Starke und
Hohe verstehen, dann mUssen wir sie eben mit Grosse iden-
tisch setzen. Dann miissen wir auch unter Klangfarbe nur die-
jenigen Praedicate rechnen, die ausschliesslich durch die Grosse
bedingt sind. Eine solche Verengerung der iiblichen Bedeu-
tung wiirde dem Wort einen einheitlichen Begriff unterlegen,
ware aber praktisch gewiss unbequem. Bleiben wir also bei
dem alten Gebrauch, nachdem wir unser theoretisches Gewissen
salvirt habeu.
Der in dieser Untersuchung (ebenso wie in den §§ 25, 26
und 27 HI.) hervorgehobene Zug, dass auf ein nichtanaly-
sirtes Ganzes scheinbar in gewissem Grade die Merk-
male darin enthaltener Teile iibergeheu, ist Dasjenige,
was an tatsachlicher Wahrheit von jener „Chemie der Empfin-
dungen" iibrig bleibt, die wir ofters bekampften. Falsch bleibt
es, dass eine Anderung im Empfindungsinhalte eintritt, noch
falscher, dass ein mittlerer Inhalt entstande, und am falschesten,
dass eine neue Gattung von Inhalten entstehen konnte. Wenn
wir aber obige Weise der Auffassung eines Ganzen unter dem
Begriff eines seiner Teile zum Ofteren als Schein, als Tauschung
bezeichnet haben, iiisofern mehrere Empfindungen nicht Eine
Hohe u. s. f. haben konnen, so ist sie doch insofern keine
Tauschung, als das Ganze unzweifelhaft mit Recbt jedem darin
enthaltenen Teil in gewissem Masse ahnlich genannt werden
darf (I 113). Findet es Einer gleichwol noch paradox, dass
§ 28. Gerausch iind Klangfarbe. 541
Etwas, was keine Hohe u. s. f. hat, einem Etwas, was eine Hohe
hat, m Bezug auf die Hohe ahnlich sein soil, so wollen wir uns
dieses Wortspiel in Gottes Nameii gefallen lassen und wieder
zur Einzelerklarung iibergehen.
Denn man wird fragen, ob auch die von Helmholtz em-
pirisch hingestellten Regeln (o. 521) aus diesen Principien ab-
leitbar seien. Die erste nun bedarf keiner weiteren Erorterung;
nur ist hinzuzufiigen , dass sie fiir die einfachen Tone der
hochsten Octaven nicht gilt und iiberhaupt die Farbe einfacher
Tone durchweg mit ihrer Hohe variirt. Die iibrigen Regeln
begreifen sich insoweit sofort, als mit Beifiigung immer zahl-
reicherer Obertone ein Klang immer heller, kraftiger, markiger
erscheinen, unter Umstanden auch rauh und scharf werden muss.
In Hinsicht der zweiten und fiinften Kegel kommt es aber
auch sehr auf den Gruudton an. Ein Klang mit gleichvielen
und relativ gleichstarken Obertonen klingt notwendig voUer,
prachtiger in der Tiefe als in der Hohe. Ferner kann ein Ton
mittlerer Region von Obertonen jenseits des sechsten in be-
trachtlicher Starke begleitet sein, ohne dadurch rauh zu wer-
den (wie z. B. auf meinem Clavier a, welches noch den 10. Teil-
ton cis^ kraftig mit sich fiihrt); weil eben die Schwebungen
der Obertone hier schon zu rasch erfolgen, um als Rauhigkeit
empfunden zu werden. Helmholtz scheint hiebei nur an tie-
fere Grundtone gedacht zu haben.
Wenn in der vierten Regel von „Voll" und „Leer" ge-
sprochen wird, so kann natiirlich nicht gemeint sein, dass wir
eine Fiille von Tonen fanden oder vermissten, da dies ja Ana-
lyse von Seiten der Horenden voraussetzen wUrde, sondern die
Ausdriicke sind etwa gleichbedeutend mit (relativ) Breit und
Spitz, und damit begreift sich die Regel aus den Principien.
Denn jeder Teil wird massgebend fiir die Auffassung des Ganzen
gemass seiner relativen Intensitat. Je starker also der Grund-
ton im Verhaltnis zu den Obertonen, um so mehr tritt die ihm
eigentiimliche Breite oder Fiille hervor.
In der dritten Regel endlich ist ein eigentiimlicher Unter-
schied erwahnt, der damit zusammenhangen konnte, dass die
542 § 28. Geraiisch nnd Klangfarbe.
Obertone mit dem Grundton in verschiedenem Grade ver-
schmelzen. Geradzahlige Teiltone sind die Octave, die Doppel-
octave, deren Quinte, die dreifache Octave u. s. f.; migerad-
zahlige die Quiute der Octave, die grosse Terz, natiirliche
Septime der Doppeloctave, die grosse Secunde der dreifachen
Octave u. s. f. Iiii ersten Fall sind also die lioheren, im zwei-
ten die mittleren und niederen Verschmelzungen iiberwiegend
vei-treten ^). Nun konnte man annebmen, dass im letzteren Fall
der Klang, wenn er aucb nicbt deutlich analysirt wird, uns
docb nicbt so einbeitlicb vorkommt, oder dass wenigstens die
Unterscbeidungsscbwelle fUr das quantitative Moment bereits
iiberscbritten ist, wabrend die Qualitateu ununterschieden blei-
ben, wie scbon oben angedeutet wurde. Wir wiirdeu dann im
Klange ausser einem breiten ein diinnes Element, wenu aucb
undeutlicb, bemerken; und darum ibn als ,,bobl" oder (bei
hoheren, feineren Obertonen) als „naselnd" bezeichnen. Auf
diese sozusagen halbwabrgenommene Doppelbeit wiirde auch
recbt gut jener Ausdruck „Clair-obscur" passen, mit welcbem
Gevaert^) das Eigentiimliche des hiebergeborigen Clarinetten-
klanges bezeicbnet. Zur Annaberung an die Analyse konnte
auch der Umstand beitragen, dass die ungeradzahligen Ober-
tone einen beziehungsweise grosseren Abstand vom Grundton
besitzen; der erste ungeradzablige (3) einen grosseren als der
geradzahlige (2) u. s. f.^) Dennoch scheint mir die Erklarungs-
weise nicbt ganz unbedenklich.
Vermutlich hangt der Unterschied (welcher iibrigens auch
wol noch eine experimentelle Einzeluntersuchung verdiente) gar
nicht mit den Verschmelzungsstufen zusammen, sondern mit den
*) Auch in der zvreiten Kegel ist dieser Unterschied einigermassen
eingeschlossen. Denn der 7. Teilton ist die erste Dissonanz.
-) Traite d'lnstrumentation 1863.
^) In der eben erschienenen Abhandlung (Wied. Ann. XXXIX ^3)
sagt auch R. Konig auf Grund kiinstlicher Klangzusammensetzungen :
„Befinden sich in der Reihe (der harmonischen Obertone) grosse Liicken
oder haben einzelne dieser Tone eine betrachtlich grossere Intensitat
als die anderen, so.verliert das Tongemisch dadurch mehr oder
weniger seinen einheitlichen Charakter.'"
§ 28. Gerauscli niul Klangfarbe. 543
entstehenden Differenztonen. Nehmen wir an, dass die Ober-
tone unter sich Differeuztone bilden, so miissen die gerad-
zahligeu Teiltone 2, 4, G ... Differenztone geben, welche sammt-
lich schon in der Reihe enthalten sind, also die vorbandenen
Tone verstarken; und hauptsacblicb muss dies dem Tone 2 zu
Gute kommen, denn wenn wir die Differenzen der Differenzen
mit beriicksicbtigen , ergibt sich zuletzt immer diese. Dei-
Ton 2 kann dadurcb stark genug werden, um nun aucb mit 1,
dem Grundton, einen Differenzton 1 zu bilden, der jenen merk-
lich verstarkt, Ungeradzablige Teiltone dagegen miissen, da die
Differenzen ungerader Zahlen gerade sind, Tone geben, die
nicbt in der Reihe vorhanden sind und, da sie fiir sich allein
zu schwach sind, ganz unwirksam bleiben. Speciell der Ton 2,
der aucb bier uberall resultirt, findet doch nicbt einen gleichen
bereits vor, den er verstarken konnte. Auf diese Art lasst
sich vielleicbt Regel 3 auf Regel 4 zuriickfUhren,
Abgesehen von dem letzten Punct, iiber den wir uns etwas
bypotbetisch ausdriicken mussten, konnen wir also nicbt bios
iiber die Griinde der einzelnen Regeln Rechenschaft geben, son-
dern sie auch genauer fassen, Und besonders sei noch hervor-
gehoben, weil es bisber besonders unbeacbtet geblieben ist, dass
die Klangfarbe keineswegs nur von der relativen sondern in
erster Linie von der absoluten Hobe der Teiltone (ein-
schliesslicb des Grundtones) abbangt; eine Einsicht,
welche wol auch fiir die Ausgestaltung der Vocaltbeorie un-
entbehrlicb ist. Schon Willis bemerkt, dass der Vocallaut sich
bis zu einem gewissen Grade an einfacben musikaliscben Tonen
wabrnehmen lasse; wobei er freilicb unter den letzteren Einzel-
klange verstebt, aber die Abhangigkeit ihrer Farbe von der
absoluten Hohe des Grundtons richtig erkannt bat. „Die hoben
Tone der Orgel oder Geige geben offenbar ein I an, die Bass-
tone ein U, und wenn man schnell die ganze Tonreibe hinauf
und binab durcblauft, glaubt man die Reihe U 0 A E I —
I EAO U zu. horen; sodass es den Anschein hat, als sei in
einfachen Tonen ein jeder Vocallaut unzertrennlich von einer
gewissen Tonbobe'^ (Pogg. Ann. Bd. 24, S. 415). Das U ist in
544 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
der Tat nicht bios durch den Mangel lioherer Beitone sondern
auch durch einen nicht zu hohen Grundton bedingt und schon
darum in den hochsten Gesangsregionen nicht hervorzubringen.
Innerhalb der tiefen und mittleren Region aber ist es gleich-
falls nicht das namliche U, wenu man den Grundton tiefer und
wenn man ihn hoher legt. Dass es dennoch im gewohnlichen
Gebrauch als das namliche aufgefasst wird, liegt wol zum Teil
an psychologischen Momenten; wie denn wiederum schon Kem-
PELEN und Willis betont haben, dass die Erkenntnis der Vo-
cale ausserordentlich durch den Contrast bedingt ist und dass
sie ihre voile Deutlichkeit nur in ihrer Verbindung zu Wortern
und Satzen erlangen^). Doch mochte ich den Anteil fester
Beitone hiemit nicht in Abrede stellen und diese verwickelte
Frage hier iiberhaupt nur gestreift haben.
Auch fur die Instrumente gilt es, dass sie in verschie-
denen Regionen, ja strenggenommen auf jeder einzelnen Ton-
hohe verschiedene Klangfarbe haben. FUr manche Instrumente
ist Dies auch in den Handbiichern der Instrumentation aner-
kannt. So pflegt man der Clarinette vier sehr verschiedene
Register zuzuschreiben, die an bestimmte Zonen ihres gi'ossen
Umfanges gekniipft sind ^). Der Unterschied griindet nur zum
Teil in der Anzahl und Ordnungszahl, zum Teil aber auch in
der absoluten Hohe der Teiltone, einschliesslich des Grundtones.
Verbinden sich mehrere Eiuzelklange von ungleicher Klang-
farbe zu einem Zusammenklang (Klangmischung), so erklart
sich die resultirende Klangfarbe aus den namlichen Principien.
Die Gesammtmasse der Teiltone bestimmt durch die ihnen
eigenen Beschaffenheiten uach Hohe, Starke und Grosse (sowie
*) a. a. 0. 400. So ist es ja auch bei feineren Unterschieden an-
derer Art (o. 501). Beide Autoren weisen auf den Umstand bin, dass
ein Vocal unkenntlich wird, wenn man ihn langere Zeit anhalt. Die be-
sondere Deutlichkeit in den ersten Momenten hat aber auch einen phy-
siologischen Grund (Helmholtz 184).
2) Jadassohn (Lehrb. d. Instrum. 1889 S. 217) nennt das tiefste Re-
gister {d — d^) ernst, das nachste schwacher und nicht von dem vollen,
weichen Klange des dritten (e" — c"), das hochste (bis P) endlich hart,
spitz, durchdringend. Auch das Fagott hat ziemlich ungleiche Register.
§ 28. Gerausch iind Klangfarbe. 545
durch die Schwebungen) die Farbe der Mischung^). Ausser-
dem sind aber auch die Bestaiidteile der Klangfarbe im wei-
teren Sinne nicht zu vergessen, die bei solchen Mischungen oft
ebenfalls eine grosse Rolle spielen.
Hier liegen keine neuen principiellen Schwierigkeiten. Da-
gegen entsteht in Bezug auf solche Falle eine ganz andere
Frage, die uns auf das Problem der Uuterscheidung beim gleicli-
zeitigen Horen, wovon wir in diesem Bande ausgingen, in einer
besonderen Form zuriickfiihrt: „Wie ist es moglich, in einer
Klangmiscbung zwei oder mehrere Klangfarben auseinanderzu-
halten?"
11. Unterscheidung von Instrumenten ungleieher
Klangfarbe in einem Zusammenklang.
Wenn zwei Instrumente zusammenspielen , so konnen wir
oft nicht bios sagen, dass wir z. B. c^ und e^ horen, sondern
auch dass eine Violine und eine Flote beteiligt sind, und sogar
dass c^ von der Violine, e^ von der Flote angegeben wird. Nun
aber ist Das, was wir hiebei horen, nichts Anderes als eine
grosse Reihe verhaltnismassig schwacher hoherer neben zwei
verhaltnismassig starken tieferen Tonen. Wie kommen wir da-
zu, einen Teil der ersteren, ehe und ohne dass wir sie iiber-
haupt heraushoren, mit c^, den anderen Teil mit e^ zu einer
engeren Einheit in unsrer Auffassung zu verbinden? Und warum
gerade diese mit e^, jene mit c^ und nicht ebensogut umge-
kehrt? Selbst wenn wir die Obertone heraushoren; woran
merken wir, zu welchem der Grundtone sie gehoren? Man
sollte zunachst erwarten, dass die Gesammtmasse der Obertone
gleichmassig ihren Einfluss auf die Auffassung des Klanges iiben
miisste, dass wir also hier einen Klang von mittlerer Farbe
^) Beispielsweise wenn Jahn (Mozaet * IV 625) vom Marsch in der
Zauberflote sagt: „Die Verbindung der Bassethdrner mit den Fagotts
bringt einen weichen, gedampften Klang hervor, der durch eine Flote
heller und milder wird. wahrend die vollen Accorde der Horner und
Posaunen demselben Macht und Fulle geben, ohne ihn laut und hart zu
machen" — so ist uns dies Alles nun voUkommen auf seine letzten
Griinde zuriickfiihrbar.
Stumpf, Tonpsychologie. n. 35
546 § 28. Gerausch unci Klangfarbe.
statuiren miissten, in welchem nur eben zwei Tone von ein-
ander unterschieden wiirden.
Die Frage scheint Anfangs heikel genug. Man hat sie
sogar nur unter der Voraussetzung losbar erachtet, dass das
gleichzeitige Horen iiberhaupt Tauschung sei und wir in Wirk-
lichkeit die Tone nur miteinander abwechselnd horten. Indessen
kehrt die Schwierigkeit fiir diesen Standpunct nicht bios wieder
sondern vermehrt sich. Wenn wir nicht zwei Tone gleichzeitig
horen konnen, so werden wir keineswegs abwechselnd Flote
und Violine horen, denn jeder dieser Klange ist schon wieder
durch eine Mehrzahl von Teiltonen charakterisirt, sondern wir
werden die Grundtone abwechselnd horen und dazwischen viel-
leicht zu noch grosserer Abwechselung auch Obertone des einen
und anderen Instrumentes. Und nun wird es erst recht schwierig
sein, in diesem wilden Heer Ordnung zu halten und jeden
Grundton mit seinen zugehorigen Obertonen irgendwie zu ver-
binden. Aber wir haben ja gesehen (o. 30 — 31), dass schon
die Klangfarbe eines einzelnen Instrumentes fiir diesen Stand-
punct unerklarlich wird.
Ehe wir erklaren, miissen wir bedenken, dass man die
fragliche Fahigkeit nicht unter alien Umstanden besitzt. Es
gibt Falle, wo es auch Geiibten schwer oder unmoglich wird,
zwei verschiedene Instrumente im Zusammenklang zu erkennen,
wahrend man zwei Tone recht wol heraushort. Beispielsweise
ist es mir so ergangen mit den Octaven von Cello und Oboe
in Schumann's D- moll -Symphonic 2. Satz, als ich sie zum
ersten Male in einer hochstvollendeten Weise aufgefiihrt horte
und diese beiden Instrumente auf's Genaueste zusammenspielten.
Zuerst konnte ich ein Unisono zu horen glauben, dann wol er-
kennen, dass es Octavengange waren, aber es schien als wiirden
sie von Einem Instrument vorgetragen, welches weder Cello noch
Oboe noch ein sonst bekanntes ware. Gegeniiber complicirteren
oder origin elleren Klangmischungen mag sich auch der Fach-
musiker ofters in diesem Falle befinden.
Wo wir aber zur Unterscheidung fahig sind, dienen uns
verschiedene Mittel. In manchen Fallen schon ungleiche Lo-
§ 28. Gerausch nnd Klangfarbe. 547
calisation; wenn namlich zwei Instrumente rechts und links
verteilt sind. Tont die Clarinette rechts, die Geige links, so
werden mit dem rechts localisirten Grundton zugleich die Ober-
tone der Clarinette, mit dem links localisirten die der Geige
besonders stark gehort und erzeugen die charakteristische Far-
bung des auf jeder Seite gehorten Klangganzen. Allerdings
werden auf jeder Seite auch die Obertone des entgegengesetzten
Instrumentes gehort, aber unter Umstanden so viel schwacher,
dass sie die Klangfarbe auf dieser Seite nur wenig verandern
und nicht ganz unkenntlich machen.
Sind wir bei ruhiger Kopfhaltung noch im Zweifel, so ge-
niigt ofters eine Drehung, um eine hinreichende Verstarkung
des von einem Instrument kommenden Klangganzen herbeizu-
fiihren und so die Trennung zu erleichtern. Selbst im eigent-
lichen Unisono konnen wir so zwei Instrumente auseinander-
halten, wenn sie raumlich weit genug rechts und links stehen.
Psychologisch miissen wir aber beachten, dass der Vorgang
schon unter den ebengenannten Voraussetzungen nicht ganz
derselbe ist wie beim Unterscheiden und Heraushoren zweier
Tone. Denn auch im giinstigsten Fall findet, wie gesagt, auf
jeder Seite eine leichte Modification der bekannten Klangfarbe
durch das andere Instrument statt, und es ist ein Act der
Deutung notwendig, um die Klangfarbe auf die gewohnte der
Violine zu beziehen, wenn auch in solchen Fallen die Deu-
tung fiir Alle, die den Klang sonst kennen, nicht die geringsten
Schwierigkeiten hat.
Das Namliche gilt, und in weiterer Ausdehnung, fiir die
nun zu erwahnenden Hilfsmittel, zunachst das der zeitlichen
Durch kreuzung. Wo der Componist beabsichtigt, dass wir
zwei Instrumente als verschiedene Individualitaten auseinander-
halten sollen, da pflegt er sie eben nicht genau gleichzeitig zu
gebrauchen. Das eine geht in Achteln, das andere in Vierteln,
das eine setzt etwas spater ein, wahrend das andere momentan
pausirt oder eine langere Note hat u. s. w. Man erhalt so Ge-
legenheit, jedes zuerst fiir sich oder wenigstens als selbstandig
bewegten Teil des Klangganzen zu horen. Vereinigen sie sich
35*
548 § 28. Gerausch und Klangfarbe.
dann zeitweilig zu strenger Gleichzeitigkeit, so beziehen wir
den entstehenden Zusammenklang auf beide, obgleich dann eine
wirklich einheitliche Klangfarbe entstebt.
Es besteben aber aucb obne solcbe vom Componisten vor-
geschriebene Zeitunterschiede charakteristiscbe Ungleicbbeiten
in Ansatz und Haltung des Klanges, die wir unter der „Klang-
farbe im weiteren Sinne" erwahnten. Die Obertone macben
natUrlicb diese kleinen Nuancen mit. Wir sagten o. 350, dass
diese Ungleicbbeiten als partielle Veranderungen die Analyse
eines beispielsweise aus meuscblicber Stimme und Orgel ge-
bildeten Zusammenklanges erleicbtern. Die Erkennung der
Klangquellen selbst aber erleicbtern sie nicbt bios, sondern er-
moglicben sie, und zwar nur in der vorbin definirten Weise.
In gleicber Weise dienen die cbarakteristiscben Erzeu-
gungsgerauscbe, das Blasen, Scblagen, Streichen, aucb wol
Kratzen. Aucb diese konnen uns sogar ein eigentlicbes Uni-
sono auf mebrere Instrumente deuten lassen, wenn wir ver-
scbiedene bekannte Gerauscbe wabrend des Klanges vernehmen ^).
Endlicb ist die durcb die Obertonscbwebungen bedingte
Rauhigkeit tieferer Klange dienlich. Reine barmonische Ober-
^) RiTZ, der, wie wir horten, diese Gerausche iiberhaupt als das
wesentlichste Merkmal der Instrumente bezeichnet, erblickt darin auch
das einzige Mittel, zeitlich zusammenfallende Instrumentalklange ausein-
anderzuhalten. „In der wirklichen Musik begleitet das Reibegerausch
des Bogens den Violinklang als Ganzes, aber es begleitet auch alle zu-
gehorigen Obertone in gleicber Weise; ebenso begleitet das Blasegerausch
der Oboe den Oboeklang in alien seinen Obertonen." (Unters. 41.) Frei-
lich ist die Schwierigkeit damit nicht gelost, solange man ein wirkliches
Heraushoren der Klangfarben als solcher annimmt; denn wenn Oboe und
Violine zusammenspielen , begleiten eben beide Gerausche beide Ton-
gruppen, und ich wiisste nicht, woran wir die Zugehorigkeit eines Ge-
rausches erkennen sollten. Wir konnen aus diesem Kriterium fiir sich
allein nur schliessen, dass die beiden Instrumente an dem Zusammen-
klang beteiligt sind, nicht aber. dass die Violine z. B. c^, die Oboe g"-
angibt. Aber es ist Ritz nachzuriihmen , dass er allein die vorliegende
Schwierigkeit iiberhaupt bemerkt hat, ausgenommen F. Beentano, wel-
cher sie im Zusammenhang mit dem Problem der Analyse in seinen Vor-
lesungen besonders zu betonen pflegt.
§ 28. Gerausch und Klangfarbe. 549
tone schweben in gleichem Rhythmus mit dem Grundton und
bei luckenlosem Vorhandensein auch mit gleicher Geschwindig-
keit. Gibt das Cello ein C, so schwebt die ganze Klangmasse
in der Weise, die wir als das Markige dieses Klanges kennen.
Wenn nun zugleich eine Flote deu Ton e^ blast, welcher voll-
kommen glatt ertont, so konnen wir diesen in der Auffassung
vom Gesammtklang trennen und seinen sonstigen Kennzeichen
gemass auf dieses Instrument beziehen. Freilich ist wieder eine
Art Abstraction notwendig, wie mehr oder weniger in alien ge-
nannten Fallen.
Negative Kriterien, wodurch wir das Bereich moglicher
Deutungen wenigstens einschranken, gibt es ohnehin genug.
Der Instrumentenkenner kennt auch den Umfang der Instru-
mente, wird also z. B. nicht in Gefahr kommen, ein c in einem
Zusammenklang auf die Flote zu beziehen. Dadurch wird den
positiven Kriterien die Arbeit erleichtert.
Die Theorie also, die wir in Bezug auf die Unterscheidung
gleichzeitiger Tone als irrig erkannten, dass es sich nur um
die Beziehung einer subjectiven Einheit auf eine objective
Mehrheit handle, erweist sich als richtig in Bezug auf das Er-
kennen mehrerer Instrumente in einem Zusammenklang; wes-
halb hier auch anders als dort die Erfahrung eine durchaus
unerlassliche Vorbedingung ist und zwei Instrumente im Zu-
sammenklang nicht bios nicht benannt sondern auch gar nicht
unterschieden werden konnen, wenn sie nicht einzeln irgend-
einmal vorher gehort wurden.
Berichtignngen und Zns&tze zum I. Band.
Zu S. 167, Anm.: tJber die Nichtexistenz von Innervationsempfin-
dungen vgl. nun auch Munsteebeeg (Willenshandlung 1888, S. 75 f.), der
sie ebenso wie ich auf Muskelvorstellungen zuriickfuhrt, und be-
sonders G. E. Muller und F. Schumann, Pflug. Arch. Bd. 45 (1889)
S. 80 f.
Zu S. 180 oben. Aristoxenus lehrt nicht, wie hier nach unvoll-
Btandigen Ausziigen, die ich mir gemacht hatte, angegeben ist, die End-
lichkeit des Tongebietes sans phrase (in welcher Hinsicht ich nach
Natorp's Urteil mit Unrecht von dem Griechen abgewichen ware), son-
dern aussert sich vielmehr ganz in der Richtung meiner eigenen Aus-
ftihrungen: „Wenn von der Stimme und dem Gehor die Rede ist, ist der
Abstand des Tiefen und Hohen (// rov fSaQaog re xal o^eoq Siaatttaig)
endlich. Wenn aber die Tonreihe, das System der Hohe (^ rov fjii^ovq
avoraaiq) an und fiir sich {avn) xaQ^^ airtjv) in's Auge gefasst wird,
dtirfte die Entscheidung anders lauten." (Marquardt's Ausg. S. 20.)
Diese Stelle beweist nebenbei auch deutlich {zu II 390 Anm. 2)
die Verwendung von f^eXoq im Sinne von Tonh5he.
Zu S. 210Schluss des 1. Absatzes: Wie II 56 ausgefiihrt ist, scheint
mir jetzt Hering's Annahme einer Tongrosse berechtigt und damit
auch die griechischen Ausdrucke „Schwer und Spitz" mit der Natur der
Tone viel enger zusammenzuhangen als I 194 angenommen wurde. Vgl.
auch die I 224 erwahnten Ausdriicke des Ptolemaeus.
Zu S. 231, nach dem 1. Absatz: Nach Wolfe's Untersuchungen iiber
das Tongedachtnis (Wcndt's Phil. Stud. Ill 534 f.) nimmt die Zahl der
richtigen Urteile iiber die Frage, welcher von zwei Tonen der hohere, mit
der Zwischenzeit zuerst rasch, dann langsamer ab. Doch scbien die Ab-
nahme nicht continuirlich, sondern unter gewissen Schwankungen einzu-
treten. (Ubrigens dtirften die in Stanley hall's American Journal ot
Psychology I 185 erwahnten Mangel dieser Untersuchung ihren Wert
in der Tat sehr beeintrachtigen.)
Berichtigungen und Zusatze zum I. Band. 551
Zu S. 251 vor c): Nun hat gleichwol Lorenz, wie es scheint ohne
Beachtung dieser Ausfiihrungen, Versuchsreihen mit der Fragestellung
gemacht, welcher Ton zwischen zwei gegebenen in der Mitte liege.
Die Unbrauchbarkeit dieser bis zu ungeheurer Anzahl ausgedehnten
Versuche, welche in Wundt's Phys. Ps. ^ I 428 vorlaufig erwahnt und
soeben in Wundt's Phil. Stud. IV (1890) 26 ausfuhrlich veroffentlicht
wurden, werde ich demnachst in der Zeitschr. f. Psychologie ganz im
Einzelnen erweisen. Sie liefern nur die schlagende Bestatigung fiir das
Vorausgeeagte. Nur wo das Intervallbewusstsein sichtlich bestimmend
war, zeigte sich hervorragende Bestimmtheit der Urteile, in den anderen
Fallen arge Schwankungen.
MtJNSTBEBBRG gibt (Beitf. z. exp. Psych. Heft S S. 37, 41) als
Ergebnis ahnlicher Versuche an, dass Unmusikalische einen Ton fiir die
Mitte zwischen zwei anderen erklaren, wenn er von beiden um die gleiche
Schwingungszahl verschieden sei, „wahrend der Musikalische natiirlich den
Ton als Mitte bezeichnet, dessen Schwingungszahl die mittlere Proportio-
nale zwischen den Zahlen der beiden anderen Tone ist." Die arith-
metische? Dann ware kein Gegensatz zu den Unmusikalischen und miisste
z. B. c als Mitte zwischen C und g bezeichnet werden, was ich wenigstens
entschieden irrig fande. Die geometrische? Dann musste ein etwas ver-
tieftes e (4 : 4,89) als Mitte zwischen c und g erscheinen. Die harmonische?
Dann f als Mitte zwischen c und c^ Belege sind Uberhaupt nicht bei-
geffigt; man muss also zimachst auf die in Aussicht gestellten warten,
um diese Angaben zu beurteilen. Fiir sehr ungenau und viel zu unbe-
dingt hingestellt hatte ich sie in jedem Fall.
Zu S. 264, 2. Absatz: Wundt meint in der 3. Aufl. seines Werkes,
dass die untere Tongrenze sogar auf 8 Schwingungen gesetzt wer-
den diirfe, und bezieht sich auf eine Mitteilung der 1. Aufl., wo er
den Differenzton von C^ mit G^, namlich Cg = 8 Schwingungen, ge-
h6rt haben woUte. Uber die Unzuverlassigkeit dieser Angabe s. meine
Besprechung der 3. Aufl. in der „Viertelj. -Sch. fUr Musikwiss." 1888
S. 540 f.
Zu S. 269, Schluss des 1. Absatzes: Uber weitere FS,lle von Dop-
pelthoren, wobei die Verstimmung nahezu einen Ganzton betrug, s.
Knapp's Z. f. 0. XV (1886) 107 — ein Musikdirector horte rechts alle
T6ne von a—f^ um soviel hoher — und meine Selbstbeobachtung o. II 460.
Wahrscheinlich sind solche Verstimmungen bei alien Mittelohrentziin-
dungen vorhanden, werden aber nur von Musikalischen bemerkt.
Zu S. 292 Schluss des 1. Absatzes: Vgl. A. East „Uber StOrungen
des Gesangs und des musikalischen Gehors bei Aphasischen" Mtinchener
Med. Wochenschr. (Arztl. Intelligenzbl.) 1885 No. 44, sowie East, Wbst-
phal's Arch. f. Psychiatrie XX (1889) 588. Die mitgeteilten Falle erlau-
tern die Unabh^ngigkeit des Gehors vom Singen und Spielen.
552 Berichtigungen und Zusatze zum I. Band.
Zu S. 295 Schluss des 2. Absatzes: Durch ein zu erstaunlicher
Fertigkeit entwickeltes reflexartiges Nachbilden von Tonen und Ge-
rJiuschen erregte, wie mir von amerikanischen Collegen berichtet wird,
ein halb Blodsinniger, „blind Tom", vor einigen Jahren dort vieles
Aufsehen.
Zu S. 301 vor No. 2: Neuerdings untersuchte E. Luft die Unter-
schiedsempfindlichkeit ftlr Tonhohen (Wtjndt's Phil. Stud. IV
511). Er beniitzte Stimmgabeln auf Resonanzkasten. Es wurde dem
Urteilenden jedesmal vorher mitgeteilt, dass der erste bez. zweite Ton
im Laufe einer Versuchsreihe eine Erhohung bez. eine Vertiefung er-
fahi'en werde; er hatte anzugeben, bei welchem der Versuche er einen
Unterschied bemerkte. Ltjft erhielt folgende Unterscheidungsschwellen
(Differenzen der Schwingungszahlen) je nach den Tonregionen:
C c c^ c^ c^ c*
0,149 0,159 0,232 0,251 0,218 0,862
Eb ist nicht ganz richtig, wenn Luft und Wundt behaupten, dass die
gefundenen Werte bedeutend geringer seien als die Pbeyee's. Peeyee
und Apponn untersuchten eben nur die Gegend des c^ und c^ und fan-
den in der ersteren (bei a*) die Schwelle ebenfalls = 0,25 (Peeyee
Grenzen d. Tonw. 28). Bei c" allerdings = 0,5 bez. 0,4. Aber gerade
hier sind Luft's Versuche nach seinen eigenen Bemerkungen (S. 527 — 8)
die weniger vertrauenerregenden, da sie hier die starksten Schwankungen
zeigen. Auch kann man schwer glaubeu, dass das Gehor eines G. Ap-
PUNN, das „empfindlichste, geiibteste und zuverlassigste Gehor", welches
„trotz der grossten Obung wahrend eines langen Lebens" in der Gegend
des c* die Differenz 0,25 nicht mehr sicher erkannte (Peeyee 31), dem-
jenigen Luft's nachstehen soUte. Die von Luft gefundene Zahl 0,218
ist also wahrscheinlich zu klein, womit auch die seltsame Ausbiegung
der sonst regelmassig fortschreitenden Zahleureihe verschwinden wiirde.
Gleichwol bin auch ich nach Versuchen, die G. Engel an Joachim und
einem anderen vorzliglichen Geiger gemacht hat, der Meinung, dass die
ausserste Schwelle bei einzelnen Individuen noch herabgedriickt werden
kann (Engbl's Aesthetik d. Tonkunst 294 f. Viertelj.-Schr. f. Musikwiss.
II, 1886, S. 513). Jedenfalls kann ich nicht einsehen, warum es sich
empfehlen soil, solche Versuche an Personen anzustellen, die nicht her-
vorragend musikalisch geschult sind (Luft S. 519, vgl. Wundt 427).
Fiir die relative Unterschiedsempfindlichkeit ergibt sich aus obigen
Zahlen, dass sie bis c* einfach zunimmt:
C c c^ c^ c^ c*
430 805 1103 2040 4697 5657
Somit stimmen die Ergebnisse hierin vortrefflich mit denen Peeyee's
und den meinigen in § 14 (299, 333); nur batten wir zunachst Zunahme
Berichtigungen und Zusatze ziim I. Band. 553
bis c^ erschlossen, da fur hohere Regionen nicht geniigende Anhalts-
puncte in den Versuchen vorlageu. Die Zunahme von c^ bis c* ist aber
bei LxJFT gering und mit Riicksicht auf die obigen Bedenken hinsicht-
lich der c^-Versuche auch verdachtig; wahrscheinlich ist doch eine ge-
ringe Abnahme das Richtigc. Ebeuso verdachtig ist einc Zunahme von
C abwarts, wie sie sich aus Luft's nachtraglichen Versuchen mit C,
(S. 534) ergeben wiirde. Diese liefcrten die Schwelle 0,44, was fiir die
relative Unterschiedsempfindlichkeit den Wert 727 ergabe.
Zu S. 313 vor No. 4: Ich habe inzwischen auch einige Kinder,
die der Erkenntnis absoluter Tonhohcn fahig waren, dariiber
gepriift.
a) In besonders auffalleudem Masse besass ein 8V4Jahriges Madchen,
die II 380 erwahnte Elisabeth W., diese Fahigkeit. Sie hatte sich nach
Aussage der Mutter bereits mit 4 Jahren Melodien am Clavier aufge-
sucht, spater auch die Begleitung zu einer Melodie. Sie ist im Stande,
vom Blatt zu singen und zwar mit reiner Intonation. Ihr Clavierspiel
land ich raerkwiirdig holzern und ausdruckslos. Die Frage nach der
absoluten Tonhohe wurde in 39 gleichmassig zwischeu C und c* verteil-
ten Fallen 23 mal sofort und 8 mal durch nachtragliche Selbstcorrectm*
richtig beantwortet. Verwechselt wurde Gis mit G, a mit cis^ (das Kind
sagtc eis, weil ich naturlich nur die Buchstabenbezeichnung verlangte),
dis^ mit cis^, dis^ mit cis^, fis^ mit <//s*, g^ mit d^ und mit e*, c* mit h^.
Diese Fehlgriffe fanden sich sammtlich am Eude je einer der drei durch
Pausen unterbrocheneu Versuchsabteilungen, beruhen also sicher auf
Ermiidung; die meisten liegen ausserdem in der dreigestrichenen Octave,
also an der Greuze, bis zu welcher die musikalische Erfahruug des Kin-
des reichte; auch gab das Versuchsclavier, ein alteres und dem Kinde
ungewohntes Instrument, hier unangenehme Nebengerausche. Man kanu
also sagen, dass das Urteil zwischen C und c^ fast ausnahmslos richtig
war. Die meisten Fehlurteile (wenn ich auch die nachtraglich corrigirteu
mit vergleiche) wurden bei schwarzen Tasten abgegeben und dann aUe-
mal der Ton einer anderen schwarzen Taste mit dem angegebenen ver-
wechselt z. B. 4 mal Cis mit Fis und umgekehrt.
Gegeniiber den I 305 f. erwahnten Fallen bei Erwachsenen fand
hier die giinstige Bedingung statt, dass die Tone nicht an einer anderen
Gattung von Instrumenten angegeben wurden als der am Meisten ge-
wohnten. An den gewohnten (Streich-) Instrumenten waren die dort ge-
nannten Personen unfehlbar.
Elisabeth kann auch Tone nach der Benennung singend angeben,
doch nicht so sicher als sie dieselben erkennt, wenn sie angegeben war-
den, und nur wenn sie vorher gerade wochenlang viel gesungen hat.
Ein Unterschied des Kindes gegenuber erwachsenen musikalischeu
Personen liegt darin, dass das Kind weniger leicht absolute Tonhoheu
554 Berichtigungen und Zusatze zum I. Band.
innerhalb eines Accords erkannte als an einzelnen Tonen (s. o. II 380),
wahrend bei Erwachsenen das Umgekehrte stattfindet. (I 306. Auch
Robert Franz sagte mir inzwischen, dass er die Tonart, C-diir, Des-dur etc.,
bei einem Accord auf dem Clavier oder im Orchester stets sicher erkannt
babe, eigentiimlicher Weise aber nicht bei der Orgel. Uber die absolute
Hohe einzelner Tone sei er nie sicher gewesen). Dieser Unterschied des
Kindes von Erwachsenen lasst sich vielleicht aus der vorwiegenden
Richtung des musikalischen Interesses erklaren: Accorde, und zu-
mal weniger gewohnte, mochten fiir das Kind noch etwas Verwirrendes
haben.
Von Interesse ist, dass nach Mitteilung des Vaters auf Grund der
Erinnerungen der Familie der Grossvater dieses Kindes miitterlicherseits,
der beriihmte Philologe Ritschl, dieselbe Fahigkeit, die Tone nach ihrer
absoluten Hohe zu erkennen, in ungewohnlich hohem Grade besessen
hat. Der Grossvater vaterlicherseits hatte ein .,sehr musikalisches Ohr",
und die Mutter ist eine gute Glavierspielerin.
b) Welter habe ich meinen Sohn Rudolf auch in dieser Richtung
untersucht, als er 7^4 Jahre alt war, einige Stunden Unterricht im Noten-
lesen und dann einige Stunden Cavierunterricht im Spielen der zuge-
horigen Tone der eingestrichenen Octave gehabt hatte. Da ihm die |f-
und b-Tone noch nicht vorgestellt waren, beniitzte ich zur Priifung nur
weisse Tasten dieser Octave.
Es fanden sich unter 18 Fallen 6 ganz richtig (darunter 3 mal c^),
in den ubrigeu betrug der Fehlgriff nur einen Ganzton. Auch mit
anderen Klangen machte ich hier einzelne Versuche, besonders mit ge-
sungenen, und fand wiederum ein auffallend richtiges Urteil; so wurde
das gesungene c richtig benannt, das a^ eines scharfen Zungenpfeifchens
als g bezeichnet. Der Knabe gab, ohne dariiber befragt zu sein, an,
dass er sich irgend ein Lied denke, worin der Ton vorkomme, und sang
zum Belege aus einem der vielen Lieder, die er im Kindergarten er-
lernt hatte, irgend ein Wort, welches auf den bezuglichen Ton zu stehen
kam. Wahrscheinlich hatte er sich die entsprechcnden Melodien am
Clavier gelegentlich zusammengesucht, sodass er nun mit Hilfe des
Wortes die dazu gehorige Taste im Gedachtnis auffand. Doch kann er
wol nur bei den zuletzt erwahnten Fallen einen solchen Umweg genom-
men haben.
In den folgendeu Monaten, als Clavier-Unterricht und Ubungen
fc.eltener und zuletzt ganz unterbrochen wurden, nahm auch diese Fahig-
keit alsbald merklich ab.
c) Eine als vorzugliche Sangerin in Wien bekannte Dame berichtet
mir, dass sie einen ihrer Sohne mit 4 Jahren formlich abrichtete, die
Tone nach den Buchstabenbezeichnungen zu singen und dass er auch
bald darauf, unter dem Clavier liegend, jeden Ton traf. Mit 4Va Jahren
Berichtigungen und Zusatze zum I. Band. 555
konnte er nach dem Tagebuch des Vaters den C-dur-Accord ganz genau
angeben, mit 5 Jahren alle Tone und Intervalle singen und erraten,
ausser in der hochsten und tiefsten Region. Ein anderer Sohn konnte
schon mit 18 Monaten auf Befehl das c' singen und zwar genau in der
Stimmung, welche das Clavier hatte. „Ich machte mir (schreibt die
Mutter) ganz kurze Zeit den Spass und sagte: Karl, singe c, und sang
es ihm vor. Bald lernte er es allein singen. Da geschah es, dass mich
Weinwurm (Dirigent des Mannergesangvereins) einmal besuchte. Ich
hatte gerade den kleinen Kerl auf dem Arm und sagte aus Spass:
„Sehen Sie, wie ich meine Kinder erziehe. Karl, singe das c!" Als er
es ohne Zogern auf ein Haar traf, fuhr Weinwurm fast erschreckt zu-
riick, da er nicht wusste, dass der Kleine uur fiir das c abgerichtet
war. tjbrigens sangen Beide, Fritz und Karl, die Melodie des Schlafliedes,
das ich ihnen immer vorsang, im Alter von 18 Monaten nach." (Dies
auch zu I 293.) Karl sang mit 5 und 6 Jahren zu ScHUBERT'schen Lie-
dern eine zweite Stimme aus dem Stegreif, componirte spater, lernte
aber wegen Kranklichkeit kein Instrument. Fritz lernte mit Leichtig-
keit Violine, ist aber der Musik nicht gerade i^it Leidenschaft er-
geben.
Die musikalischen Talente sind in dieser Familie in hervorragendem
Masse erblich, aber auch in gleichem Masse gepflegt. Der Urgrossvater
dieser Knaben miltterlicherseits war ein sehr musikalischer Schullehrer,
der Grossvater als Knabe „Hofsanger'' (wie Schubert), und spater, obgieich
Arzt von Beruf, tiichtiger Violinist, Arrangeur und Componist; dessen
Bruder ausserordentlicher Violinspieler. Zwei Briider der Mutter mussten
schon mit 2 und 3 Jahren Tone und Accorde singen und wurden dazu
vom Grossvater oft in der Nacht geweckt, obschon sie nicht sehr musik-
begabt waren. Der altere konnte nicht die kleinste Melodie behalten.
WoUte er eine auswendig lernen, so musste er zuerst die Namen der
betreffenden Noten auswendig lernen. (!) Als er als Sangerknabe in die
Hofkapelle kam, war dort die Stimmung hoher oder tiefer als zu Hause;
er aber sang unbekiimmert in der Stimmung des heimatlichen Clavieres
entsetzlich falsch fort. Er musste sich dann langerfe Zeit jeden Ton
transponiren , um rein singen zu konnen. (Das Namliche erzahlte mir
einmal Prof. G. Adler von einer bedeutenden Wiener Kirchensangerin,
die ausgezeichnet vom Blatt sang, aber ihre Sicherheit einbiisste, wenn
das Stuck auch nur um einen halben oder ganzen Ton transponirt
wurde. Dies sind sehr seltene Ausnahmen. Gewohulich ist das Intervall-
gedachtnis weit sicherer als das absolute Tonbewusstsein ; ja es kann
unfehlbar sein, wenn das letztere ganz mangelt.)
Die Mutter selbst ebenso wie ihre Schwester zeichnen sich durch
grosse Treffsicherheit (fiir Intervalle) aus. Eine Schwester obiger Knaben
war vor ihrer Verheiratung Opernsangerin und besitzt ebenfalls ein vor-
556 Berichtigungen und Zusatze zum I. Band.
ziigliches Gehor. Der Vater ist ein guter Cellist, componirt und hat ein
erstaunliches Melodiengedachtnis, und der Grossvater vaterlicherseits war
ebenfalls gut musikalisch.
Die Dame fiigt ihren dankenswerten Mitteilungen noch folgende
Bemerkung bei: ,,Ich habe in meinem Lebeu viele Sanger kennen gelernt,
aber wenige wareu unfehlbar im Treflfen der Tone (der absoluten Hohe).
. . . Merkwiirdig ist, dass ich nie in meinem Leben eine Sangerin ge-
troifen habe, die ganz unfehlbar im Treffen (der Intervalle) gewesen
ware." tjber die Seltenheit des absoluten Tonbewusstseins bei Frauen
vgl. 1 286.
Zu S. 313, Schluss des 2. Absatzes: Dass die blosse Verschiedenheit
zweier Tone leichter erkannt wird als ihr Hohenverhaltnis, haben auch
Wolfe (in der o. zu 231 erwahnten Untersuchung) und Munsteeberg
(Beitr. 3. Heft S.40) bestatigt. Ein vielerfahrener Geiger macht mich auch
auf das haufige Vorkommnis beim Quartettspiel aufmerksam, dass man
sich noch fragt: „Stimmt mein Instrument zu hoch oder zu tief?", nach-
dem man schon erkannt hat, dass es uicht stimmt.
Zu S. 329 vor^o. 5: Auch eiuer der II 157 erwahnten Unmusi-
kalischen (Hr. Thiel), welcher schon in der Vorpriifung auf die Frage,
welcher Ton hoher, auffallend schlecht in der hohen Region urteilte,
ergab uuter je 30 Fallen mit Ganztonintervall in der Tiefe 21, Mitte
24, Hohe 20 richtige Urteile; also wenigstens nicht besser in der Hohe
als in der Tiefe. Er gab auch an, sich in der Tiefe sicherer zu fiihlen.
Vielleicht gehdrt diese Abnormitat mit zu denjenigen, welche fiir Musik
besonders untauglich machen.
Zu S. 330, 1. Absatz: Diese von mir zuerst festgestellte Tatsache, dass
stark Unmusikalische ohne ausdriicklich darauf gerichtete I) bung ganz ge-
wohnlich erst bei Intervallen iiber eine Quinte in mittlerer Tonregion
sicher sagen konnen, welcher Ton der hohere ist, bestatigt nunmehr
auch MtJNSTERBERG (a. a. 0. 41). Zu denken gibt in dieser Hinsicht die
offene Selbstbeschreibung einer EnglS,nderin im Mind III 401 f., welche
sich in der namlichcn Verfassung befindet und doch „ Musik lernen"
und sogar Generalbass mit praktischen Ubungen betreiben musste. Man
kann sich nur mit einigem Gruseln vorstellen, wie oft bei der AUge-
meinheit des „ Musiklemens " und besonders des Clavierspielens solche
Faile vorkommen mogen.
Zu S. 335 vor No. G: Gegeu meine Versuche hat Luft in der
0. erwahnten Abhandlung, obgleich er die daraus gezogenen Schluss-
folgerungen bestatigte, unberechtigte und teilweise unverstandliche Ein-
wande erhobeu, worauf ich in der Viertelj.-Schr. f. Musikw. IV (1888)
542 f. antwortete. Lorenz kritisirt sie in der eben erschienenen Ar-
beit (s. 0.) wegen zu geringer Anzahl. Es kann mir nur erwiinscht sein,
wenn Jemand sie in grosserer Anzahl durchfiihren mdchte. Bis jetzt
Berichtigungen und Zusatze zum I. Band. 557
sind sie doch eben die einzigen, die mit dieser Fragestellung in Bezug
auf verschiedene Tonregionen tabellarisch veroffentlicht wurden. Auch
ist, wie ich an Lorenz' eigenen Versuchen zu zeigen gedenke, die genaue
vorgangige und begleitende Uberlegung der psychologischen Versuchs-
bedingimgen mindestens ebenso wichtig als die Anzahl der Versuche. Ich
habe selbst mehrfach erwahnt, dass einige Anomalien in meinen Tabellen
vielleicht bei grosserer Anzahl verschwunden waren. Aber Lorenz' Ta-
bellen zeigen trotz der grossen Zahlen viel grossere Schwankungen und
Spriinge, und schliesslich muss er sich fiir einige derselben doch auch
darauf berufen, dass die Versuche noch hatten vermehrt werden mussen
(S. 83 f. 93), wahrend er andererseits S. 49 behauptet, dass das allge-
meine Versuchsergebnis sich mit Wahrscheinlichkeit schon aus wenigen
Versuchen habe erschliessen lassen, und einen strengen Beweis auch
zuletzt aus den 110000 nicht entnehmen kann (S. 87).
Wtjndt's Einwand gegen meine Beobachtimgen , dass sie nicht
durchweg mit einander im Einklang standen (Ph. Ps.'' I 426, ebenso
Lorenz S. 40), muss ich zuriickweisen, solange er nicht specificirt wird.
Meine Beobachtungen in dieser Sache bestanden in der getreuen Wieder-
gabe der Aussagen Unmusikalischer. Wenn diese nicht in alien Puncten
untereinander iibereinstimmen , vielmehr charakteristische Unterschiede
zeigen, die ich selbst als seiche und als theoretisch bemei'kenswert
hervorgehoben habe, so kann man dies doch nicht ohne starke Zwei-
deutigkeit in obiger Weise ausdriicken. Ebensogut konnte man Einem,
der fiir zwei verschiedene Berge zwei verschiedene Hohen gefunden hat,
vorwerfen, dass seine Beobachtungen nicht mit einander stimmten.
Ich muss schliesslich die Voraussetzung ablehnen, von welcher meine
Kritiker auszugehen scheinen, als ob mir wie ihnen selbst die Un-
terschiedsempfindlichkeit und das WEBER'sche Gesetz das Alpha und
Omega der Versuche und dagegen die Ermittelung der durchschnitt-
lichen Urteilszuverlassigkeit Unmusikalischer in verschiedenen Regionen
nur etwa das Mittel dazu gewesen ware. Diese hat fiir mich ein selb-
standiges Interesse, da sie ein wesentliches Glied in der Reihe der Be-
schreibungen bildet, durch welche der Zustand des unmusikalischen Be-
wusstseins aufgeklart werden soli. Weiterhin wird sie uns auch fiir
die Lehre von den Tongefiihlen wichtig. Die Zuriickfuhrung dieser
Urteilstatsachen auf ein gewisses Verhalten der Unterschiedsempfind-
lichkeit (welches seinerseits doch auch wieder nicht als letzte Tat-
sache gelten darf , sondern physiologisch erklart werden muss) betrachte
ich als eine wahrscheinliche Hypothese, die ich als einen weiteren Ge-
winn gem mitnehme, und die ja auch durch Lupt nur bestatigt ist.
Mag sie sich aber sogar als falsch erweisen, so behalt gleichwol jede
der mitgeteilten Urteilstatsachen, imd jeder weitere Beitrag dazu, gross
Oder klein, seine ganz unabhangige Bedeutung.
55,c^ Berichtigungen unci Zusatze znm I. Band.
Zii S. 339 vor No. 7: Nunmehr hat sich doch auch Wundt (I* 224 f.)
auf Grund der Versuche von Luft und von Lorenz der Erkenntnis nicht
mehr verschliessen konnen, dass das Weber' sche Gesetz fiirTonquali-
taten ungiiltig ist. Gegeniiber den LoRENz'schen Versuchen freilich, die
er als reine Distanziirteile betrachtet, ohne den offenbaren Einfluss der
musikalischen Intervallurteile auch nur zu erwahnen, ware diese Ande-
rung seiner Uberzeugung gerade nicht notig gewesen. Auch ist mir nicht
klar, wie Wundt dabei noch das „Gesetz der Beziehung" als ein all-
gemeines festhalten kann, da das WsBER'sche Gesetz doch nur ein spe-
cieller Fall davon seiu soil.
Im vorigen Jahre hat nun aber wieder Kerr Love (Journ. of Anat.
and Physiol. XXIII, 1889. S. 336) nach Versuchen mit gedackten Pfeifen
(hauptsachlich c^ c^, c^, e*) die Giiltigkeit des WEBER'schen Gesetzes, ab-
gesehen von den Grenzen des Tonreiches, behauptet. Unmusikalische
erkannten iiberall bei '/g — V40 Halbton den hoheren Ton als solchen, ge-
wohnlich bei etwa V24' musikalisch Geschulte (Geiger u. dergl.) mit
einiger Sicherheit bei V04 — Vso- Erhohung wurde allgemein leichter als
Vertiefung erkannt. (Vgl. 0. II 344.) Es liegt indessen nur eine vor-
laufige Mitteilung der Ergebnisse dieser Untersuchung (Glasgower Dis-
sertation) vor, ohne Tabellen, so dass ein tJrteil ilber ihre Zuverlassig-
keit und Bedeutung nicht moglich ist.
Zu S. 351 nach dem 1. Absatz: Th. Lowy leugnet denn wirklich in
der Schrift „Die Vorstellung des Dinges auf Grund der Erfahrung" 1887
S. 52 f. ebenso die Reihenbildung der Intensitaten wie die der
Qualitaten (48) der Tone. „Ein intensiver Schmerz ist nicht starker als
ein milder, dem Inhalt nach. Es ist auch kein Ton lauter als der an-
dere. Die Starke eines Tons ist nur eine andere Gruppirung der In-
halte, ein Auftreten von bestimmten anderen Inhalten, etwa auch von
mehr Inhalten .... Die Starke des Tons liegt z. B. in Begleiter-
scheinungen der Ai't, dass ein starkerer Ton in weitere Entfernung reicht."
Ich fuhre dies nur als eine der Wunderlichkeiten an, zu denen die
Extreme des Empirismus verleiten.
MtJNSTERBERG kommt (a. a. 0. S. 8 f.) auf eine von mir bereits fruher
(Urspr. d. Raumvorst. § 6) ausgesprochene , aber als unfruchtbar wieder
verlassene Idee zuriick: dass namlich Intensitat, Qualitat u. s. f. nur
Veranderungen eines an sich einheitlichen Empfindungsinhaltes in ver-
schiedener Richtung seien. Man muss doch eben zugeben, dass wir die
verschiedenen Veranderungsrichtungen in gewisse Classen zu bringen
nicht bios im Stande, sondern gezwungen sind; und die Moglichkeit und
Notwendigkeit, sich in diesen Richtungen zu verandern, muss man dem
Eindruck doch als etwas Immanentes zuschreiben. Gewiss sind Intensitat
und Qualitat nur Abstractionen , aber als solche berechtigt und unent-
behrlich.
Berichtigungen und Zusatze zum I. Band. 559
Weiter lehrt MtJNSTERBERG, dass die qualitativen Unterschiede, die
wir Inteusitatsunterschiede nennen, erst durch ihre Verbindung mit
Muskelempfindungen fahig werden, eine Reihe zu bilden. Also ebenfalls
Intensitatszeichen. Den Muskelempfindungen komme eine voUig excep-
tionelle Stellung zu, hier sei wirklich die schwache in der starken ent-
halten u. s. f. Mir scbeinen die Intensitaten der Muskelempfindungen
nicht besser und nicht schlechter reihenbildungsfahig als alle ubrigen.
Der Metaphysik der Spannungsempfindungen — anders kann ich's nicht
nennen — , die Munsterberg dann aufbaut, nur um der vermeintlichen
„Metaphysik" zu entrinnen, die in der Unterscheidung des Urteils von
der Empfindung liegen soil, stehe icb als ein voUkommen Unglaubiger
gegentiber; obschon ich begreife, dass die WuNDT'sche Apperceptions-
lehre einen kritischen Schtiler zum Versuch einer Auflosung des ganzen
Apperceptionsbegriff'es fiihren kann.
Zu S. 355 vor dem letzten Absatz : Neuerdings fanden auch Lorenz
(Wunbt's Phil. St. II 394) und Starke (das. Ill 264) das FECHNER'sche
Gesetz fur Schallstarken bestatigt, Wien (Wied. Ann. Bd. 39, 1889,
S. 834) annahernd auch fiir einen musikalischen Ton (a^).
Zu S. 356, Schluss des Kleingedruckten : Weiteres hieriiber in den
vorher erwahnten Arbeiten von Lorenz und Starke (auch in einer
neueren von Starke , Wundt's Phil. St. V, 1888 , worin die Schallstarke
einfach proportional der lebendigen Kraft, bei constanter Fallhohe pro-
portional dem Gewicht, gefunden wird), dann bei Grimsehl, Wied. Ann.
Bd. 34, S. 1028. Das genaueste Verfahren zur objectiven Darstellung von
Schallstarken beschreibt A. Raps, Wied. Ann. Bd. 36, S. 273 f.
Zu S. 364 vor e): Lorenz gibt an (Wundt's Ph. Stud. II), dass
gleiche objective Schallstarken geringer geschatzt wurden im Vergleich
zu einem nachfolgenden , grosser im Vergleich zu einem vorausgehenden
Schalleindruck ; dass ferner der „Gleichheit8punct" bei aufsteigender
Verauderung in der Fallhohe der kleineren Kugel hoher lag als bei ab-
steigender.
Zu S. 369 (grossere Starke hoherer Tone) und 385 (mechanische
Arbeit des Schallreizes) vgl. auch Wien in der obigen Abhandlung (wo-
nach man wirklich einen Grashalm kdnnte wachsen horen, wenn nam-
lich die dabei verrichtete Arbeit in Form von Schallreizen das Ohr trafe).
Zu S. 392 vor 4.: Uber die Tragheit der Aufmerksamkeit auch
Feohner, Binoc. Sehen. 895 Rev. 283. F. Auerbach, Wied. Ann. IV 509.
Schumann, Nachr. d. Ges. d. Wiss. zu Gdttingen 1889, No. 20, S. 2.
Zu S. 395 f. Die hier vermutete Ungultigkeit des Gesetzes der
nmgekehrt quadratischen Abnahme der Schallstarke mit der Ent-
fernung wurde von K. Vierordt (Die Schall- und Tonstarke, Nachgel.
Werk, 1885, 235 — 245) durch Versuche dargetan. Die Schallstarke nimmt
hienach in der Tat viel weniger ab, ungefahr einfach mit der Ent-
560 Berichtigungen unci Zusatze zum I. Band.
fernung. Wien behauptet (a. a. 0. 853), dass ein Unterschied sei zwischen
geschlossenen und freien Raumen; fiir die letzteren treffe das alte Ge-
setz zu. ViEROEDT hatte indessen auch auf freiem Felde experimentirt.
Die Frage muss wol nock naher untersucht werden,. auch niit Riicksicht
auf den Unterschied von Tonen und Gerauschen, welche letzteren mir
allerdings rascher abzunehmen scheinen.
Zu S. 399 Z. 2: Bereits Helmholtz hat gelegentlich seiner Klang-
zusammensetzungen praktisch Starkedistanzvergleichungen ausge-
fiihrt (Tonempf. * 203) , indem er 10 Classen der Resonanzstarke unter-
schied und eine gegebene nach dem Gehor in dieselben einordnete.
BosANQUET (Phil. Magazine 1879, S. 299) construirte eine voUstandige In-
tensitatsscala aus 10 Graden, 5 lauten und 5 leisen. Als starksten Schall
nahm er den einer Glocke oder Kanone oder Dampfpfeife. wenn man
daneben steht, als schwachsten das Ticken einer Taschenuhr in 1 Meter
Entfernung. Das physikalische Starkeverhaltnis der aufeinanderfolgenden
Grade glaubt er dabei nach Versuchen etwa =3:1 setzen zu konnen.
Zu S. 399 vor No. 5: Auf ganz die namliche Auffassung der
FECHNER'schen Massformel sah sich Ebbinghaus in seinen Unter-
suchungen uber ,,Die Gesetzmassigkeit des Helligkeitscontrastes" gefiihrt
(Sitz.-Ber. d. Berliner Akad. Bd. 49, 1887, S. 995 f. Vgl. Ppltjg. Arch.
Bd. 45, S. 122).
Zu S. 408, 2. Zeile (auch zu S. 40 und 360): Wahrend eines
katarrhalischen Zustandes vernahm ich, mit der Prufung der Reinheit
von Intervallen auf der Orgel beschaftigt, starke und deutliche Inter-
mittenzen, genau wie Schwebungen. Der Puis ging in Folge einer
raschen Bewegung gerade sehr stark und schnell, und die Inter mittenz en
gingen genau isochron mit demselben, wurden auch mit ihm langsamer,
sodass jeder Zweifel ixber den Ursprung der vermeintlichen Schwebungen
ausgeschlossen war.
A. Raggi beobachtete (nach der Naturwiss. Rundschau 1886, S. 200)
an sich und Anderen, dass in tiefer Nacht das Uhrticken periodisch
verschwindet. Das positive Stadium schwankt etwa zwischen 4 und 11,
hCchstens 15 Secunden, das negative zwischen 7 und 22. Weder objec-
tive Ursachen noch der Puis konne daran Schuld sein, sondern wahr-
scheinlich handle es sich um Schwankungen der Aufmerksamkeit, weni-
ger wahrscheinlich um physiologische Empfindlichkeitsschwankungen.
Ich mochte das Letztere doch filr wahrscheinlicher halten.
S. 410 3. Zeile: Mozart's ungewohnlich grosse Ohrmuschel neben
einer gewohnlichen ist in Nissen's Biographie des Meisters abgebildet.
Die Breite des Gehorganges hat nach Burckhardt-Merian's Erfahrungen
(Resultats compares des differentes Methodes d'exploration de la fonction
auditive 1885, S. 5) wie nach 0. Wolf (das.) keinen Einfluss auf die Hor-
fahigkeit iiberhaupt. Von Schumann sind die Gehorkndchelchen und das
Berichtigungen unci Zusatze zum II. Band. 561
Labyrinth noch erhalten; die ersteren sind ausserordentlich stark
(ScHAAFFHAUSEN, Ubcr Beethoven's und Schumann's Schiidel, Corresp.-Bl.
der deutschen Gesellsch. f. Anthropol. Sept. 1885, S. 147, im Arch. f.
Anthr. XVI). Freilich werden eben so starke Knochelchen wie Schumann
und eben so grosse Ohren wie Mozart Tausende haben, die gleichwol
keine Symphonien im Kopfe tragen.
Kurze Correcturen zum I. Band.
S. 187 Z. G V. u. statt „der Membrana basilaris" zu lesen „des Acusticus".
S. 197 Z. G V. u. lies „dazwischen" statt „dazu" (sinnstorend!)
S. 214 Mitte statt „dieselbe plus der" setze bios „die", und in der vor-
letzten Textzeile schalte vor „gr6sser" ein: „vom Beginn des
Reizes gerechnet".
Die im I. Bande citirten Paragraphenzahlen des II. Bandes treffen
in Folge einer etwas veranderten Ordnung teilweise nicht mehr genau
zu. Man wird die beziiglichen Stellen des II. Bandes nunmehr mit Hilfe
des Registers finden.
Berichtigungen und ZusUtze zum II. Band.
Zu S. 17 unten: Nach Rousseau's Dictionnaire de Musique (erschie-
nen 1767, im Manuscript fertig 1750) Art. „Son" scheint die Frage der
Moglichkeit der gleichzeitigen Mehrheit von Tonen daraals viel verhan-
delt worden zu sein. De Mairan liess durch verschiedene Tone ver-
schiedene Teile des Ohres afficirt werden (eine auch von Condillac
erwahnte Ansicht). Mengoli liess die Tone nur successiv zur Empfin-
dung kommen. Rousseau findet in beiden Ansichten Schwierigkeiten.
Zu S. 55, 2. Absatz, 1. Zeile: Statt „ausgesprochen" lies „vertreten"
(ausgesprochen hatte ich die Idee selbst friiher, vgl. S. 101).
Zu S. 112 Anm.: Uber gegenseitige Beeinflussung zweier Pendel
auch Ellicot, Trans. Royal Soc. Bd. 41 (1739) No. 453 S. 126, 128.
Laplace und Chladni in Gilbert's Ann. Bd. 57 S. 229, Bd. 60 S. 63.
Isenkrahe in Carl's Repert. f. Exp. Physik XVI (1880) 110. Oberbeck
WiED. Ann. Bd. 34 (1888) 1041.
Zu S. 138 vor f): statt „24a)" zu lesen ,,24,1".
Zu S. 183 Z. 9: Ferner in Mach's Einleitung in die Helmh. Musikth.
S. 28 („Leichter ist dies — die Tone eines Accords herauszuhdren —
bei Dissonanzen, schwieriger bei Consonanzen").
Zu S. 199 Anm.: Probl. p. 918, b, 34—39 sagt Aristoteles, der tie-
fere Octaventon sei das Analogon des hdheren, er sei zugleich derselbe
und ein anderer; bei der Quinte und Quarte dagegen finde solches Ver-
Stumpf, Tonpsychologie. 11. 36
562 Berichtigungen imd Zusatze zum II. Band.
haltnis nicht statt. (In der ersten Zeile dieses Problems ist vor nevTs
natlirlich to 5lu oder etwas Aequivalentes einzusclialten.)
Zu S. 229 vor 2.: Sehr bemerkenswert ist die Tatsache, die mir
friiher bei Studien tiber Localisation nicht eutging, auf die mich aber
erst Herr Dr. K. Schafer wieder aufmerksam gemacht hat, dass die
Unterdriickung des schwacheren Tones bei Verteilung zweier
verscbiedener Tone (Gabeln) an beide Ohren erst unit viel bedeuten-
derem Starkeunterschied eintritt, als innerhalb eines und desselben Ohres.
Es ist ja iiberhaupt solche Verteilung giinstig filr die Analyse (335);
doch mogen hier noch direct-physiologische Ursachen mitwirken, ■welche
auch die Empfindungsschwelle herabdriicken. Auch Scott Alison hat
bei Versuchen mit verteilten Glocken (freilich einem schlechten Object)
bemerkt, dass keine Unterdriickung stattiinde, sobald nur beiderseits
ein geringer Unterschied des ..Charakters", worunter er anscheinend die
Hohe versteht, vorhanden sei („the louder and graver sound does not
render the other ear insensible to the weaker sound of the weaker
bell"). Proc. Roy. Soc. IX No. 31, S. 204, bei Fechner Bin. Sehen 548.
Zu S. 235 vor dem Kleingedruckten: F. Auerbach sagt Wied.
Ann. IV (1878) 510 gelegentlich der Vocaltheorie: „Man hort Obertone
desto leichter, je verscbiedener ihr Charakter von demjenigen des Grund-
tons ist ... . Ein Oberton markirt sich desto scharfer, je grosser die
grosste der Primzahlen ist, in welche man seine Schwingungszahlen zer-
legen kann, diejenigen des Grundtons = 1 gesetzt".
Der grossere Abstand eines hoheren Teiltons vom Grundton muss
natiirlich auch die Analyse erleichtern (gemass II 319). Aber der Unter-
schied zwischen dem 9. und 8. Teilton in dieser Beziehung ist doch sehr
gering, und tiberdies wird nicht bios der 9., sondern auch der 7. besser
als der 8. vernommen.
Zu S. 239 Anm.: „sowie I 419 tiber besondere Empfindlichkeit in
der Gegend des c^."
Zu S. 356 : Im 2. Absatz ist der Satz : „Dies hangt . . ." nebst dem
Folgenden zu streichen.
Zu S. 401 Anm.: In der „Neuen Instrumentationslehre" (deutsch
1887) fiihrt Gevaert ein Beispiel aus Herold's Zampa dafiir an.
Zu S. 410 3. Z.: Auch meine I 261 erwahnte Beobachtung bestatigt
den Schluss.
Zu S. 411 vor dem letzten Absatz: Die Octaventauschung bei
Einzelklangen in Folge der Obertone ist in Gevaert's Traite d'lnstru-
mentation 1863 S. 193 geradezu als Kegel der musikalischen Praxis aus-
gesprochen, indem er sagt, man miisse bei einer Melodie, welche stiick-
weise an verschiedene Instrumente verteilt wird, den tieferen Klang der
mildereu Klangfarben in Rechnung ziehen. Beispielsweise die melodi-
sche Phrase :
Berichtigungen iind Zusatze zum II. Band.
563
*EEEl:
l^^fe1^3^^^m=^J
durfe man an Fagott, Clarinette und Flote nicht so verteilen, wie sie
hier geschrieben ist, sondern immer nur eine Octave hoher:
Erst dann wird die Melodic so verstanden, wie sie gemeint ist.
Ich muss gestehen, dass mir auch einige Stellen in classischen
Stiicken fiir Violine und Clavier, wie in Beethoven's Senate op. 23
2. Satz die beiden Instrumenten stiickweise zugeteilten auf- und ab-
steigenden Gange, allemal ein wenig unnatiirlich vorkommen. Die Fort-
setzung der Leiter durch das andere Instrument hat etwas Sprunghaftes,
Gezwungenes.
36*
Register zuin I. uiid II. Baud.
A. nach einer Ziffer = Anmerkung. a. = aufeinanderfolgend. f. = Ausfiihrung von mehr
als zwei Seiten. g. = gleichzeitig. i. A. = im Allgemeineu. o. = oben. s. d. = siehe
dortselbst. T. = Ton , Tone. u. = unten. * = eine Worterklarung (bei f.* findet sich
dieselbe im Laufe der Ansfuluning).
Abkliugen s. Anklingen.
Absolutes Tonbewusstseiu s.
Hohenurteile a).
Accent I 366. 372. 375. Vgl.Rhyth-
mus.
Accommodation a) d. Ohres an
die Hohe I 168 f. 405: an die
Starke I 363.
b) d. Aufmerksamk. I 309.
c) scheinbare A. der T. an eiu-
ander II 114 A. 396 f.
d) d. specifischen Energien II 95.
lllf. 484 f.
e) schwingender Korper II 112.
354 A. 361.
Active Versuchsmethode I 63.
64.
Adaptation I 17 A.*.
Addition, Keine A. d. Empfind.-
Starke I 42. 121. 350. 399.
Keine A. der Aufmerksamkeits-
starke I 75 o. II 313.
Keine A. d. Tongrosse II 58. 537.
Ahnlicbkeit (u. A.-Urteile) a)i.A.
I 96. lllf. II 272. Vgl.Distanz,
Reibenbildung.
b) bei T. und Klangen I 114 f.
142 f. 425. II 194 f. 408.
c) bei Farben I 145. Vgl. Misch-
ung.
d) zwischen Empf. heterogener
Sinne I 113. 348. II 47. 530.
Analyse a) i. A. I 96*. 106 f. II
3f.* 22. 60 f. 78. Vgl._ Auf-
merks. 1) (3, Unterscheidung.
b) bei a. T. I 137. 184. 229. 232.
' 234. II 1.
c) bei g. T. II 1 f. Vgl. Heraus-
horen.
Richtigkeit und Zuverlassig-
keit d. A. g. T. II 318 f.*.
d) bei Gerauscben, Klangfarben,
Klangmiscbungen s. d.
e) Nacbtragliche A. I 107. II 8.
277. 358 f.
f) Mittelbare (scbeinbare) A. I
108. II 5. 81 f. 344. 545 f.
Vgl. Einheitslehre, Mittelbare
Kriterien, Schwebungen (Ein-
fluss d. Scbw. a)).
g) Objective (physikalische) A.
I 107. II 4. 238. 501.
b) Physiologische II 70. 87 f. 520.
S. auch Scbnecke.
Anatomiscbe Grundlagen s.
Ilorsphare, Korperliche Gr.,
Scbnecke, Specif. Energien.
Anatomiscbe Souderung der
Touprocesse, Postulat II 87 f.
Anklingen u. Abklingen (objec-
tives u. subjectives) 1 16. 211 f.
220. 277 f. 360. 391. II 237.
263. 266 A. 329 A. 364. 516 u.
Vgl. Nachempfindungen.
Anlagen a) Allgemeineres I 36. 37.
71. 77. 91. 262 u. 279. II 347.
Speciell: a) d. Aufmerksamk.
171. 74. 245. 263 0. II 345.
/?) d. Gedacbtnisses (d. Vor-
stellungfabigk.) I 77. 279.
II 347.
y) d. Urteils als solcben I 37,
52. 262.
b) im Tongebiet I 262 f. 330. 408.
II 116. 345. 347. 382. 512. 556.
560 u. Vgl. Individuelle Unter-
schiede, Kinder, Musikaliscbe,
Unmusikalische, Vererbung.
Register zum I. unci II. Band.
565
Anpassung II 120. S. Accommo-
dation, Adaptation.
Apperception I 5*. II 76*. 132.
211.
Aeistoteles' Musikalische Pro-
bleme I 195 A. (wozu II 267 u).
224. 381 A. II 199 A. 390 f.
(wozu 550). 5(J1 u.
Associationen a) zur Theorie d.
A. 178. 92. 201. 290 u. II 208 f.
360. 536.
b) an Tone I 153 f. 189 f. 207.
221 f. 239. 309 u. 366. II 515.
518. Vgl.Muskelempfindungen.
Auffassuug 15*. 42. S. Urteil.
A. eines Ganzen unter dem Be-
griff eines seiner Teile II 7.
383 f. 423 f. 486. 489 f. 531 f.
540.
Aufmerksamkeit a") Wesen, Ur-
sachen,Wirkungen i. A. I 67 f.*.
II 276 f.*. Vgl. Interesse. Spe-
ciell :
b) Accommodation, Anlage, Con-
centration, Ermiidung, Maxi-
mum, Messung, Ubung, Wett-
streit d. A. s. d.
c) Willkiirliche A. I 69 *. 249.
308. II 39. 114 A. 162. 283 *.
478. 502. S. n).
d) Gleichzeitige A. auf Mehreres
(gleich u. ungleich verteilte A.)
II 308 f. 345. 361. 490,
e) Nachtragl. A. I 389. II 29.
277. 360. Vgl. Analyse e).
f) Intensitatsschwankungen d. A.
I 70. II 317. 353. 360.
g) Beweglichk. d. A. II 317.
h) Tragheit d. A. I 244. 386. 391.
II 318. 358. 559.
i) Erregung der A. durch Be-
wegtes, Schwinden d. A. gegen-
iiber Constantem I 18. 388 f.
II 338.
k) Gewohuheitsmassige Richtun-
gen d. A. I 236. 331. 371. 388.
390. II 161 A. 232. 236. 239.
249. 338. 344. 346. 417. 482 A.
491. 512. 554. 558 (2. Ab-
satz).
(Wirkungen u. Begleiter-
scheinungen d. A.:)
1) A. als Bedingung der Zuver-
lassigkeit von Urteileu
a) iiber a. T. I 245, speciell
tlber absolute T. - Hohe
I 309, liber relative T.-
Hohe I 331, iiber T.-Starke
I 373 f.
/?) iiber g. T.-Mehrheit (Ana-
lyse u. Heraushoren) 1 107.
II 19. 29. 77. 78 f. 286 f.
344 f. 360.
m) BeziehungzumGedaclitnis I 73.
288. 289. II 347. 361.
n) Verstarkung, Veranderung, Er-
zeugung V. Emptindungen durch
A. (besonders durch willkiirl.
A.) I 71. 243, 260. 261 u. 373 f.
427 XX. II 290 f. 314. 316 A.
354. 419. 444.
0) Innervation durch 'A, I 375 f.
II 305 f.
p) A. u. Muskelaction 1 153 f. 168.
II 301 f.
q) Einfluss d. A. bei Schwebungen
s. das. m).
Augenmassurteile 125. 27. 57 f.
117. 129.
Ausdehnung, A. d. Tone I 207 f.
426. II 51. 56 f. 228 u. 336 A.
386 f. 432. 433. 535 f. 550.
A. u. Farbe beim Gesichtssinn
I 92 A. II 65. 210.
Aussenwelt 1 23. 101. II 70f. 213.
Beachten II 282*.
BedinguugenderZuverlassig-
keit s. Zuv.
Beitone II 3*. 229 f. Vgl. Com-
binations-, DitFerenz-, Ober-,
Summations-, Variations-T.
Bemerken I 96*. II 278. 282.
Benennungsurteile i. A. I 5. 25.
II 8. B. bei Tonen vgl. Hohen-
urteile a).
Bewegtes (Verandertes), Einfluss
auf die Auffassung II 239 A.
337 f. 393 f. 413. 490 f. 547 f.
Vgl. Schwebungen 1), Veran-
derungen.
Bewegungena) willkiirliche 1 158.
162 f. 167. 241. 293. II 295.
296. Vgl. Muskelempf., Singen.
b) unwillkiirliche und Reflex -B.
I 92. 154 f. 342. 363. 400 A.
II 89 A. 95. 96. 297 f. 302 f.
445. 512.
566
Register zum I. unci II. Band.
c) Tonbewegung I 184. II 340.
Vgl. Stetigkeit.
Bewegungsempfindungen siehe
Muskelempfindungen.
Optische B. II 340.
Bewusstsein I 8 A. 12* 34. 72.
lOB u. 389. II 30. 76. 361.
Unmittelbares B. (primares Ge-
dachtnis) I 98. 279. 283. 389.
II 277. 360.
Vgl. Merklichkeit, Unbewusstes.
Beziehen I 96*.
Beziehung, Gesetz d. Bez., s. Re-
lativitat.
Beziehungen, Anffassung von B.
als Bedingimg der gleichzeitigen
Aufmerksamk. II 309 f.
Breite d. T. s. Ausdehnung.
B. des T. bei den Alten I 188 *.
Charakter d. Klange u. Instru-
mente 11 515 f.
Chemie d. Vorstellungen 1107.
II 10. 131 f. 208 f. 275. 526. 540.
Coexistenz von Merkmalen
I 92.
Bewirkt haufige C. Verschmel-
zung? II 208.
Combinationstone II 3*. 243.
450. Vgl. Differenz-, Summa-
tions-T.
Concentratiou der Aufmerk-
samk. I 73. II 29 f. 78. 141.
162. 232. 236. 248. .289. 304.
Vgl. Aufm. d) — i). Ubung d).
Consonanten I 397. 423. II 453.
509. 514.
Consonanz (consonante Intervalle)
u. Verwandtschaft I 101. 339.
417. II 231. 333*. Vgl. Inter-
vall. Reinheit. Verschmelzung.
Dualistische Theorie d. C. II 252.
265. 389 u.
Wahrnehmung des Unterschieds
von G. u. Dissonanz I 48. 265 u.
II 365. 369. Vgl. Kinder, Uu-
musikalische (passim).
Schwebungen verstimmter C.-en
II 492 f.
Continuitat s. Glatte, Stetigkeit.
Contrast I 11. 20. 39. II 398. 447.
448. 543 u.
CoRTi'schesOrgan 1301. II90f.
94.
Dauer der Urteilsbildung I 4.
65 u. 214 f. 309. II 37. 236.
335. 372.
D. d. unmittelbaren Bewusstseins
I 72 u. 98 A. 283. 309. II 277.
278.
D. d. Empfindung gegeniiber dem
Reiz s. An- u. Abklingen, Nach-
empfindungen.
Einfluss der Reiz- u. Empfindungs-
D. s. Zeit.
Deutlichkeit II 6*. 287*. 288.
306 A. 307. 332. 334. 469. 507.
Differenztone I 204. II 228 A.
229 f. 243 f.* 260 A. 292. 342.
348. 351. 354. 364. 385 u. 427.
493 f. 542.
Dimensionen a) bei Tonquali-
taten I 140 f. II 10. 23. 198.
b) bei Farbenqualitaten I 29. 144.
Diplakusis s. Doppelthoren.
Discontinuitat a) der Tonreihe
I 184. II 95. 116.
b) d. Intensitatsreihe I 351. 427.
c) d. tiefenT. oder Klange I 173.
203. II 455. 468 A.
Dissonanz (diss. Intervalle) s. Con-
sonanz.
D. und Schwebungen II 460. 465.
470. 508 u.
D. und Hohenschwankung II 476.
Auflosungsbestreben d. D. I 14.
Distanz und D.-Urteile a) i. A.
I 57 f.*. 122 f.
b) bei Tonqualitaten I142f. 247 f.
259. 260. II 385. 397 u. 403 f.
551.
c) bei Tonstarken I 392 f. II 226.
418. 433. 465. 467. 560.
d) bei Verschmelzungsstufen
II 173 f.
e) bei Vocalen II 524 A.
Einfluss d. Hohen-, Starke-, Zeit-
D. s. Hohe, Starke, Zeit.
Divisionston II 252*.
Doppelseitigkeit des Tonge-
bietes I 143.
Doppelthoren I266f.424. II 109.
221. 459. 460. 551.
Doppeltsehen II 75. 372 A.
Dreiklang (Analysirbarkeit) II 9.
69. 302. 331. 367. 376. 380.
Vgl. Dur- und Molldreikl.
Dualism us s. Monismus.
Register zum I. unci II. Band.
567
Dualistische Consonanzlehre
I 150. 195 A. II 252. 265.
389 u.
Dumpf (Dunkel) unci Hell a) als
Elements d. T. II 272 f.
b) als Bezel chnungen d. Tonhohe
(u. Starke) II 531. 533. Vgl.
Helligkeit, Klangfarbe.
Dur- u. Molldreiklange a) Un-
terscheidungszeit II 335.
b) Schatzung der Tonzahl bei Kin-
dern II 376. 380.
c) Unterschied ihrer Annehmlich-
keit fiir Unmusikalische , fiir
Kinder II 158. 364 u. 378.
Durchdringung g. T. II 55. 58.
130.
Ebenmerkliche Empfindun-
gen a) i. A. I 40. 49 u.
b) im Tongebiet I 263. 373 f.
II 220 f. 348. 436 f. 500 f. 538.
542.
Ebenmerkliche Unterschiede
(und Urteile dariiber)
a) i. A. I 25. 27. 30 A. 51. 55. 56 f.
76. 78. 119. 123 f. Vgl. Be-
merken, Merklichk., Schwelle,
Unterscheidungsfahigk., Unter-
schiedsempfindlichk.
b) bei T.-Qualitaten I 138. 296 f.
313. II 163. 319 f. 396. 552.
c) bei T.-Distanzen I 248 f.
II 403 f.
d) bei T.-Starkeu I 349. 354.
371. II 416 u. 430 u. Vgl. auch
Schwebungen.
e) bei T.-Starkedistanzen I 392 f.
f) bei T.-Verschmelzungen (Rein-
heit V. Intervallen) II 137.
g) bei Gei auscbtonen und Klang-
farben II 501.
Einfacbe Tone II 257 f.
Farben e. Tone II 524 f.
E. Farben s. Mischung.
Einfacbheit d. Seele bei Her-
BART II 68. 186. 192.
Einheitslehre hinsichtlich g. T.
H 12 *. 14. 17 f. (histor.) 23 f.
40. 68. 425.
Einzelklang II 2*.
Elektriscbe Reizung des Hor-
nerven I 368. 404. II 118 A.
443 A.
Empfindlicbkeit (Umfangs-, Un-
terscbieds-) i. A. I 28 *. 49 f.
(Messung).
Vgl. Gedachtnis c), Grenzen, Hor-
scbarfe , Individuelle Unter-
schiede, Pathologisches, Unter-
schiedsempfindl. , WEBER'sches
Gesetz.
Veranderung d. E. durch indivi-
duelle u. generelle organ. Ent-
wickelung, durch Ubung, durch
physiol. Einfliisse wahrend der
Reizwirkung s. Entwickelung.
Schwankungen, Ubung.
Emp fin dung i. A. a) E. u. Urteil
I If.
b) Momente d. E. I 36 A. 238.
240 A. 347 f. II 65. 558. Vgl.
Ausdehnung, Helligkeit.
c) Reiue E. I 10. 34. 306. .
d) Negative u. unbewusste E. I 34.
172. 386.
e) Keine Addition von E. s. Ad-
dition.
f) E.-Ganzes u. -Telle II 64.
g) Einheit u. Mehrheit von E.
(Kriterium) II 66*.
h) Verhaltnisse v. E. I 96 f.
i) Kann man sich iiber seine E.
tiiuschen? I 31 f.
k) E. als Zeichen von Objecten
II 70 f.
1) Neben- u. Mit- (Reflex-) E. u.
Einfluss derselben I 34. 50.
92*. 203. 400 A. 421. 422.
II 63. 89 A. 121 A. 329. 533.
Vgl. Bewegungen, Muskel-,
Tast-E.
S. ferner Anklingen, Aufmerk-
samk. n), Empfindlichk. , Ent-
wickelung. Ermiidung, Locali-
sation, Merklichk., Sinne, Star-
ke, Urteil u. A.
Empfindungskreis, akustischer
n 115*.
Empirismus u. Nativismus I 95*.
173. 175. 331. 350. II 44. 51 f.
71 f. 511. 558.
Entfernuug a) Schallschwachung
mit der E. I 395. II 559 u.
Vgl. b).
b) Verschiedenes Verhalten von
Gerauschen u. Tonen, Conso-
nanten u. Vocalen, hohen u.
568
Register zum I. und II. Band.
tiefen Tonen bei d. E. I 208.
242. 396. 397. 426 (histor.)
II 430. 517. 559 u.
c) Anderung der Klangfarbe bei
d. E. I 208. 242. II 355. 517.
Entwickelung a) Individuelle u.
generelle organische E. d. Ton-
empfindlichkeit I 84. 92. 264.
339 f. 342. 378. 400. II 9. 92.
116 f. (der specif. Energien).
Vgl. Ubung.
b) Generelle E. der Verschmel-
zungsstufen II 215 f.
c) Indiv. u. generelle E, d. Ton-
auffassung I 91. 279. 331.
II 11 u. 68 u. 117. 177. 215 f.
297 u. 382. 417. S. auch Auf-
merksamk. k), Erfahrung, Ge-
wohnh. Auff., Kinder, Ubung.
d) Generelle E. d. Reactionszeit
bei T. I 378; der Merklichkeit
des Bewegten II 339.
Erfahrung I 87*.
Einfluss d. E. a) auf d. Analyse
II 14. 69 f. 430.
b) auf d. Unterscheidung zusam-
menklingender Instrumente
II 545 f.
Vgl. Empirismus, Gewohnh. AufF.,
Mittelb. Kriterien, 0bung.
Er ho hung ausschwingender Ga-
beln s. Stimmgabeln.
E. der Orchesterstimmung I 303.
Erholung I 86. 361. 362.
Erkennen I 96*. Wiederer-
kennen s. d.
Er mil dung a) Sinnes- I 16. 18.
85. 360 f. 389. II 466 A.
b) d. Aufmerksamkeit I 18 u. 85.
361 A. II 237. 381. Vgl. Auf-
merks. f), i).
Erscheinung u. Schein I 32.
Erziehung des Gehors II 382.
Ethnologisches I 192 f. 340.
II 85. 179. 215. 402.
Farben I 29. 144. 183. 282. 344.
381. 416. II 212. Vgl. Aus-
dehnung, Mischung, Sinne c).
Ton- und Klang-F. s. d.
Fechneb's Gesetz I 51. 395 f.
II 418. 465. 559. 560. Vgl.
Weber's Gesetz.
Frauen 1 161. 278. 286. II 380. 556.
Ganglien als Trager der specif.
Energien II 108 f. Ill f.
Anzahl d. Ton-G. s. Zahl a).
Ganzes gegeniiber Summe II 64.
Vgl. Auffassg., Verschmelzg.
Gedachtnis a) Begriff u. Einfluss
i. A. I 75 f.
b) Unmittelbares (primares) I 98.
279. 283. 309. 389. II 277.
347. 360.
c) Beziehung d. G. zur Vollkom-
menh. d. Sinnes I 166. 287.
312. 414 f. II 416.
d) Periodicitat (Schwankungen) d.
G. I 285. II 550.
e) Ubertragung d. G. I 82.
f ) G. fiir Tonhohen I 154 f. 230.
245 u. 279 f. 311. 414 f. II 346.
550. Vgl. Hohenurteile a).
g) G. fiir Toustarken I 346. 372.
399 u. 400 A. II 464 u.
h) G. fiir Intervalle u. Melodien
s. Intervall, Melodie, Singen.
i) G. fiir Klangfarben 1157 f. 166.
420. 424. II 416. Vgl. Instru-
mente.
k) G. fiir Muskelempfindungen
I 158. 162. 166. 291 f. 346.
424 u. II 553 u.
Vgl. ferner Anlagen, Hyper-
mnesien, Korperliche Grund-
lagen, Minimales e), Maxi-
mum, Phantasievorstellungen,
Ubung.
Gefiilil u. Einfluss desselben 1 16 A.
87. 177. 202. 227. 240. 289.
295 u. 304. 415 f. II 81 f. 141.
151. 204. 345. Vgl. Aufmerk-
samk., Harmonic-, Klang-, Ton-
gefiihl.
GehoT s. Anlagen b), Consonanz,
Dreiklang, Ebenmerkl. Unter-
sch., Entwickelung, Erziehung,
Gedachtnis, Gefuhl, Heraus-
horen, Hohenurteile, Intervalle,
Melodie, Patholog., Prufung,
Schwelle, Singen (nebst den je-
weiligen Verweisungen).
Gehorgang I 370. 560 u.
Gehorknochelchen I 369. 404 u.
409. II 104. 106. 441. 560 u.
Geistesstorungen in Folge von
Gehorleiden I 284.
Gemeingefiihl I 10. 70. 285. 389.
Register zum I. und II. Band.
569
Genauigkeit I 27*. 76.
Gerausche a) Weseu, Classen,
qualitatives Verhaltnis zu To-
nen, Hohe u. Tiefe II 497 f.
b) Organ f. G. I 205 A. II 105 A.
498 f. 511. 513.
c) Physik. Definition (ReizUI 498.
499. 513.
d) Schwelle fur G. I 384. II 503.
Vgl. g).
e) Ermiidung u. Nachempfinduug
bei G. I 360.
f ) Relative Zuverlassigk. (rel. Un-
terschiedsempfindl.) fiir G.-
Stilrken I 357.
g) Relative Starke (auch Aufmerk-
samkeit) fiir G. gegeniiber T.
I 265. 365 0. 396. II 161 A.
232. 512. 513.
Ungleiche Abuahme mit der
Entfernung I 396.
Ungleiche Herabsetzung in
pathol. Fallen I 402. 415.
h) Gegenseitige Beeiuflussung g.
T. u.G. (Unterdruckg.) II 105 A.
229. 332. 455 0. 505.
i) Heraushoren von T. aus G.
II 266. 292. 500 f. 504.
k) Uuterscheiduug und g. Auf-
merksamk. auf mehrere g. G.
II 316. 511.
1) G. der Instrumente II 266. 332.
455 0. 482. AlsTeil ihrerKlang-
farbe u. alsKennzeichen II 266.
482. 504. 517. 535. 539 A.
548.
m^ Schwebungs-G. II 452. 454.
472. 504.
n) Diffuses Tages-G. I 380.
0) Subjective G. I 255. 382. 420.
II 104. 223. 296. 502. 510.
511. 513.
Geschichtliches liber Theo-
rien I 8 A. 39 A. 51 A. 90 A.
224 f. 380 A. II 17 f. 99 f. 181 f.
232 A. 235. 247. 454 A. 497 A.
520. 561. Vgl. Akistoteles,
Griechische Musik, Ohm.
Gesichtssinu s. Augenmassurteilc,
Ausdehnung , Bewegungsem-
pfindungen, Farben, Indirectes
Sehen, Mischung, Sinne.
Gewohnheitsmassige Auffas-
sungen I 5. 10. 12. 189. 239.
II 70 f. 195. 387. Vgl. Auf-
merksamk. k), Erfahrung, Tau-
schungen.
Glatte s. Discontinuitat, Ober-
tone b) }'), Schwebungeu (Ein-
fluss d. S. d)).
Gleichheit I 111*.
Keine absolute G. bei Sinnes-
inbalten I 25. 51. 119.
G. d. Ebenmerklichen? I 51. 353.
G.-Urteile s. Ebenmerkl. Unter-
schiede. Unterscheidung.
Gleichzeitiges Aufmerken
11 308 f. 490.
G. Horen s. Mebrheitslehre.
Gleicbzeitigkeit, G. des Beur-
teilten im Bewusstsein I 98.
Einfluss d. G. des Empfundenen
auf das Urteil I 100. II 22.
60 f.
Gradverhiiltnis s. Steigerung.
Grenzen a) der Empfindung i. A.
I 28*. 49.
b) des Tongebietes I 178 f. 263.
II 539 A. 551. Vgl. Ton.
Vgl. Schwelle, Stctigkeit, Unend-
lichkeit.
Griechische Musik u. Musik-
theorie I 136 A. 139 u. 162 u.
186. 187 u. 193 f. 221. 224. 341.
II 17. 241. 390. 417. 550. Vgl.
Akistoteles.
Grosse, Begriff d G. uicht auf
Qualitiiten und Intensitaten an
sich, dagegen auf Distanzen
solcher anwendbar s. Addition,
Distanz, Starkenurteile a).
Grosse der Tone siehe Ausdeh-
nung.
Grossenschatzung s. Distanz.
Optische G. s. Augenmassur-
teile.
G. iu Beziehung zur Unterschieds-
empfindlichkeit I 61. 250.
Grundmembran s. Schnecke.
Grundton a) akustischer II 2*.
Angebl. einigende Kraft des-
selben II 330.
Bedeutung fiir d. Auffassung
der Klanghohe II 7. 407.
Bedeutung fiir die Klangfarbe
II 543.
b) musikalischer II 203. 368.
386 f.
570
Register zum I. iind II. Band.
Haarzellen I 301. 11 91. 94.
102 f .
Hallucinationen I 284. 376.
411 f. II 121 A.
Harmoniegefiihl II 31. 32. 135.
158. 212 A. 364. 374. 378.
528 A.
Helligkeit a) von T. I 203. 221.
II 199 f. 531 f.
b) von Klangfarben II 520 f.
c) von Farben I 145*. 221.
Helmholtz' Theorie der Ana-
lyse II 20. 24 f. 70 f. ; der
Combinationstone II 243 A.
250 A. 255 f. ; der Gerausche
II 497; der Klangfarbe II 516;
der Schnecke s. d.; der Schwe-
bungen II 450 f.
Heraushoren II 6*. 23 f. 70f.
219 f. 276 f. 318 f. 362 f. 500 f.
Speciell: H. von Beitonen s. Dif-
ferenztone, Obertone a).
H. d. ausseren T. eines Zusam-
menklanges II 346. 364. 368.
370. 380.
HEEBART'scbes s. Eiufachbeit,
Octaven a), Wecbselwirkung.
Ho be a) Begriff f=Qualitat) I 135*.
II 199. Vgl. Reihenbildiing,
Steigerung.
b) H. u. Tiefe, Ursprung dieser
Raumsymbolik I 189 f.; bei
anderen Sinnen I 225.
c) H. u. Tiefe von Gerauscben
I 365. II 119 A. 4.53. 499.
507 u. 509. 510.
d) H. eines Klangganzen II 7.
383 f. 406 f. Vgl. Octaven-
tauscbung.
e) H. d. Scbwebungstones II 471 f.
f) H. u. Klangfarbe II 531. Vgl.
Klangf., Vocale.
g) Ungleicbe H. in beiden Obreu
I 234. II 320. Vgl. Doppelt-
horen.
h) Merkmale, die sich mit der
H. verandern I 202 f. 231 u.
232. II 56. 532. 537. 538 u.
i) Parallelitat der H. mit den
Schwingungszahlen I 152. 174.
181. 225.
(Einfluss d. H. u. H.-Distanz:)
a) Einfluss auf Urteile
a) uber a. T. I 227. 29G f.
/?) uber Tonstarken I 365 f.
371. II 417.
Y) liber Mebrbeit g. T. (Ana-
lyse) II 136. 139. 154. 319 f.
542 A. 562.
6) iiber Klangbobe II 384 f.
b) Einfl. auf die Klangfarbe II531.
538. 539 f.
c) Einfl. auf die Verschmelzung
II 136. 139. 196 f. 218.
Hobengedacbtnis s.Gedacbtn.f).
Hohenurteile a) iiber absolute
T.-H6be I 25. 139. 157. 159.
280. 305 f. II 369. 380. 553 f.
b) iiber relative T.-Hohe (welcber
T. boher) I 140 f. 229. 235.
237 f. 313 f. II 157. 363. 381.
396. 556.
c) iiber Gleichheit d. Hohe and
Hohendistanz s. Ebenmerkl.
Unterscbiede b) und c).
Mittelbare H. s. Mittelbare Kri-
terien b), c).
Scbwankungen d. H. I 244. 260.
II 114 A. 326 f.
Zuverlassigkeit d. H. s. d.
Abbangigkeit d. H. a) von
der Hobe u. Hobendistanz s.
Hohe (Einfluss a) a) und d)).
b) von d. Starke I 236 f. 254 f.
265. 315. II 478.
c) von d. Ausdebnung II 386 f.
d) von d. Klangfarbe I 157. 159.
176. 235. 240 f. 253 f. 309.
426 u. II 406 f. 486. 531. 553.
554. 562 u. Vgl. a)— c).
e) von d. Anwesenbeit anderer T.
II 396 f. Vgl. d).
Horen (bez. Horcben) a) doppel-
ohriges gegeniiber einobrigem
H. I 235. 385. II 236. 315.
319 u. 430 f. 438. 441 u.
b) Ungleichseitiges gegeniiber
gleichseitigem H. I 234. 364.
II 245. 547. Vgl. Doppelt-
boren, Oliren. Speciell:
c) H. mit verteilten Gabeln
(bez. Telepbonen):
a) Analyse und Localisation
II 45. 52. 60. 336. 363.
/?) Unterdriickung II 562.
y) Verscbmelzung II 138.
S) G. Scbwelle II 320. 323 u.
326 u.
Register zum I. and II. Band.
571
e) G. Aufmerksamk. II 315.
^) Hohenurteil iiber Klange u.
ihre Telle II 384. 396. 397.
/;) Starkeurteil I 254. II 431.
432. 438 (Teleph.). 441 u.
442 (Teleph.)
&) Combinationstone II 256 A.
496.
/) Schwebungen II 458. 469 A.
470. 491. 492. 493 A. 496.
Horhaare II 93. 102. 498.
Horscharfe I 377 f. 400 f. 408 f.
H. fiir Gerausche gegenilber T.
s. Gerausche d), g).
Horsphare I 289.
Horstorungen s. Pathologisches.
Horzellen I 301. II 91. 94. 102 f.
Hyperaesthesie (Hyperakusie)
I 359. 402. 406. II 89. 93.
Hypermnesie I 285.
Indirectes Sehen I 17 A. 71.
II 312 A. 340. 372 A.
Individuelle Unterschiede
a) i. A. I 37. 47. 71. 74. 77. 91.
b) der T.-Empfindung., T.-Vor-
stellung, T.-Auffassung
a) bezugl. d. qualitativen Seite
(u.Analyse)I147. 148. 153f.
201. 228. 262 f. 308. 327 f.
330f.II9.20.72. 82.84. 116.
326.335.347. 362 f. 477. 507.
/?) bezugl. d. T.-Starke I 358.
384. 399 f. 512.
c) heziigl. d.willkiirl.Verstarkung
I 377. II 292. 294. 307.
Vgl. Frauen, Kinder, Musikalische,
Unmusikalische.
Innervation, centrale I. sensibler
Nervenelemente I 375. II 305.
Innervationsempfindungen
I 166. 176. 426. II 259. 306.
550.
Instrumente, Charakter der I.
II 515. 518.
Klangfarbe eiues I. in verschie-
denen Regionen II 240. 520.
521 u. 544.
Unterscheidungsmerkmale der I.
II 516 f.
Unterscheidung d. I. im Zusam-
menklang II 545 f.
Vgl. Klangfarbe, Obertone d),
Stimmen.
Intensitat s. Starke.
Interesse (= Aufmerksamk eit)
I 68*. II 280*. 309. 312. 361.
Interferenz II 4. 451. 454. 472.
Intermittirende Empfindun-
gen (bes. T.-Empf.) II 463 A.
466 A.
I. Tone I 212. II 256. 451. 452
(Stosse). 454. 463. 466. 508.
509 (Gerausche). 560.
Vgl. Puis, Schwankungen b), c).
Intervall II 135*.
I.-Urteile I 24. 26. II 244 A. 366.
369. VgirSingen. '
I. u. Distanz I 249. 337 f. II 403.
409.
Einfluss des I.-Urteils auf aadere
T.-Urteile I 48. 139. 249. 306.
308. 337 f. II 141. 188. 203. 551.
Relative Haufigk. verschiedener
I. unter den harm. Teiltonen
II 209. 216.
Schwebungen verschiedener I. in
verschied. Regionen II 461 f.
492.
Vgl. Consonanz, Dissonanz, Oc-
tave, Qnintenparallelen, Rein-
heit.
Isolirung d. T. im Gehirn I 289.
423. II 87 f.; in der Schnecke
s. d.
Kanonikeru. Harraoniker 1 136 A.
II 241.
Kehlkopfempfindungen u. ihr
Einfluss I 153 f. 175 f. 222.
291 f II 297 A.
Kinder I 280. 293 f. 312. 342. 400.
II 30. 52. 239 A. 303 u. 370 f.
531. 537. 553 f.
Klang I 135. II 2*.
Klangcharakter II 514. 516 f.*.
Klangeinheit s. Analyse, Empfin-
dung g), Verschmelzung.
K. durch den Grundton? II 330.
Klangfarbe a) Wesen 1203. 210.
II 31. 497. 514 f.*. Vgl. In-
strumente.
b) Anderung d. K. a) durch In-
tensitatsanderung der Schall-
quelle (Entfernung, Auskliugen
etc.) I 236. 242. 254 f. II 104.
109. 237. 327. 341. Vgl. Ent-
fernung.
572
Register zum I. unci II. Band.
^) durch Interferenz II 472.
y) durch subject. Bewegungeu
II 237. Vgl. Ohrmuschel.
d) durch einohriges gegeniiber
zweiohrigem Horen I 254.
II 431 f. 538 A.
c) Analyse vonK. in einemKIaug-
gemisch II 544 f.
d) Wahrnehmung feiner K.-Uu-
terschiede II 501 A.
e) Gediichtnis fiir K. s. Gedacbt-
uis i).
Einfluss d. K. auf Hoheuurteile
u. Starkenurteile s. d.; auf Ana-
lyse u. Heraushoren II 150.
249. 348 f. ; auf Merklichk. von
Schwebungen II 469.
Klanggefuhl I 203. II 83. 158.
207. 515. 518 u. 519. 527. 528.
Klanghohe I 135. II 7. 383f. 406 f.
Vgl. Octave h), Octaventauschng.
Klangmischungen II 416. 544f.
Klangvertretung II 330.
Klirren im Ohr II 104.
Klirrtone II 268.
Knack en im Ohr II 296.
Knall I 2.34. II 499. 509.
Knochenleitung II 221. 327.
432. 440. 458. 459 u. 496.
Korperliche Bedingungen oder
Grundlagen
a) der Tonempfindungen a) nach
qualitativer Seitc : s. Horspharc,
Schnccke, Specif. Energien;
;?) nach intensiver Seite s. An-
klingen, Ermiidung, Patho-
logisches, Stilrkc d), g^, I),
u. A.;
y) nach quantitativer Seite II 57.
b) der Coordination von T. mit
Kehlkopfempfindungen I 295.
c) der Aufmerksamkeit I 69 u.
d) des Gcdachtnisses i. A. I 77,
d. T.-Gedachtnisses I 289.
e) des Urteils I 100 f. 247.
Korperliche Wirkungen s. Be-
wegungen, Innervation.
liOcalisation d. T., bewusste a) i.
A. I 190. 207. II 50 f. 101 A.
103 A. 125 A. 274 A. 363. 432.
438. 442. Im Besonderen:
b) L. d. Beitone I 207. II 236.
245. 496 A.
c) L. d. Schwebungen II 453. 468.
491. 492. 496.
d) L. d. mittleren Schwebungs-
tones II 480. 486.
e) L. subjectiver T. s. Subj. T.
f) Doppelte L. Eines Tones I 273.
II 396 A.
Einfluss d. L. a) auf d. Analyse
des Gleichzeitigen iiberhaupt
II 46 f.
b) auf d. T.-Analyse II 22. 43 f.
336. 350. 363.
c) auf d. Unterscheidung zusam-
menklingender Instrumente
II 546.
Sg. unbewusste L. in d. Schnecke =
Erkenntnis d. Tonhohe I 171.
Physiologische L. s. Korperliche
Bedingungen.
Localzeichen I 168. 172. 174.
350. II 53. 131. 210. 334.
Masscnversuche i. A. I 316.
II 144. 156.
Maximum a) der Aufmerksamkeit
I 33. 70. 73. 78. 331.
b) d. Gedachtnisses I 279. 291.
c) d. tjbung und subj. Zuver-
lassigkeit 1 47. 80. 279. 297.
Mehrheit u. Wahrnehmung der-
selben i. A. I 96. 106. II 5.
Unterscheidung zweier M. bei T.
II 332. 371 f. Vgl. Analyse,
Ziihlen.
Mehrheitslehre bei g. T. II 12*.
13. 17 (histor.) 22. 43 f.
M c 1 0 d i e , Erfassen u. Heraushoren
einer M. II 6. 29. 33. 202.
290 f. 314. 337. 393. 411 f. 417.
Nachsingen von M. I 285. Vgl.
Kinder, Singen.
M.-Gedachtnis I 154 f. 280 f.
291 f. II 297.
M.- Horen im patholog. Sinn I 284.
411 f.
M.-Traller I 295. II 552 o.
Melodram II 403.
Merklichkeit (Principielles) I 33
34. 37. 50. 51. 179. 228 u. 379 f.
II 222. 270. 326. 337 f. 371.
438. 446. 448. 469. 501. 503.
Vgl. Bemerken, Ebenmerkliche
Unterschiede.
Mess end e Urteilslehre I 54.
Register zum I, imd II. Band.
573
Messung a) i. A. I 43*. 112.
b) von Ahnlichkeiten (Distanzen)
i. A. I 112. 120. 122 f.
c) von Hohe- u. Starkedistanzen
d. T. s. Distanz.
d) d. objectiven u. subj. Zuver-
lassigk. i. A. I 43 f.
e) d. Aufmerksamk. u. d. Gedacht-
nisses i. A. I 73. 76.
f) d. Umfangs- und Unterschieds-
empfindlichkeit i. A. I 49 f.
g) Physikal., pliysiolog., psychol.
M. der Toustarke s. Reiz e),
Starke n), Starkenurteile a).
Metaphern, zurTheorie d.M. 1199.
Methoden der Psychophysik I54f.
124. 392 f. Vgl. Distanz.
Minimales a) M. Erregungen, ver-
starken sie sich? s. Starke 1).
Geben m. E. des Acusticus e.
Gerilusch? I 255. II 50G.
Sind m. E. durch Aufmerk-
samk. iiber die Empfindiings-
schwelle zu heben? I 375 f.
Vergl. Schwelle.
b) M. Empfindungen II 258 f. S.
Ebenmerkl. Empf., Merklichk.,
Schwelle, Starke m).
c) M. Unterscbiede s. Ebenmerkl.
Unt.
d) M. Aufmerksamk. II 361.
e) M. Gedachtnis fur T. I 155.
279. 328. II 297.
Mischung, Sg. M. von Empfindun-
gen II 17. 61. 05. Vgl. Chemie.
Klang-M. II 544.
Farben-M. (und -Analyse) I 145.
II 15. 79. 107. 124. 274 A. 303.
Mischungsscbwelle II 224 *.
Mitbewegungen s. Bewegungen.
Mitempfindungen s. Empf. 1).
Mitklingen u.Mitschwingen 1 118.
195 A. (bistor.) 255. 425. II 112.
113. 233 A. 257. 262. 265 f.
455. 485. 486 u. 513 u. Vgl.
Schneoke. Scbwingungen.
Mitte des Tonreiches I 251. 334.
Mittelbare Kriterien u. Urteile
a) i. A. I 87 f. 173. 331.
b) bei a. T. (Qualitaten) I 153 f.
291 f. 345.
c) bei g. T. (Mehrh. und Quali-
tat) II 81 f. 151. 169. 321.334.
336. 546 f.
d) bei T.-Starken I 345. 350.
II 558. 559.
Mitiibung I 81. II 442. 448.
Mitvorstellungen s. Associatio-
nen, Nebenvorstellungen.
Mixturen II 180.
Moment e, M. d. Empfinduug i. A.
s. Empfiudung b).
. M. d. Tonempfindung 1 134. 238 A.
II 51 f. 199 f. 526. 539.
Monism us und Dualismus I 39.
100 f. 152. 387. II 57. 272 A.
Multiplicationston II 252*.
Musikalische a) Auffassungswei-
sen u. Urteilsleistungen von M.
I 148. 157 f. 253. 279 f. 296 f.
303. 305 f. 313. 334 u. 376.
II 9. 20. 29. 33. 37. 38. 72.
290 f. 322. 346. 369. 404. 406.
409. 429 u. 480 f. 546 f. 551.
552. 554. Vgl. Kinder.
b) M. Anlagen s. Anlagen b).
c) M. Fahigkeiten Aphatischer,
Blodsinniger. Epileptischer,
I 293. 295.
d) Horstorungen bei M. und Ein-
fluss derselben I 166. 377.
411 f. II 117 A. 416. Vgl.
Doppelthiiren.
Musikalisches I 191. 223. 258.
304. 393. 395. II 399 f. 411 f.
417. 422. S. Consonanz, Disso-
nanz, Dreiklang, Dualistiscbe
Theorie, Dur, Griechische Mu-
sik, Grundton, Harmoniegeftihl,
Hohenurteile a), Klangcharak-
ter, Klangfarbe , Instrumente,
Musikalische, Octave, Quinten-
parallelen, Singen, Stimmen
u. A.
Muskel-Empfindungen(M.-Vor-
stellungen) u. ihr Einfluss I 58.
82. 91. 92. 123. 139 u. 153 f.
282 A. 285. 291 f. 331. 345 f.
372. II 296. 297. 301 f. 559.
Vgl. Innervationsempfindungen,
Kehlkopfempfindungen, Singen,
Unterschiedsempfindlichk. e).
Musk el ton II 102. 296. 433. 451 A.
Nachempfindungen. akustische
I 213. 278. 360. 368. II 358.
432 A. 457 u. Vgl. Anklingen.
Nativismus s. Empirismus.
574
Register zum I. imd II. Band.
Nebenvorstellungen, Einfluss
auf (1. Urteil i. A. I 36. 47. 67.
Vgl. Associationen, Mittelbare
Krit. Empfindi;ng 1).
Obertone II 2 *
a) Heraushoren von 0. II 24.
70 f. 229 f. 341. 562.
Gleichzeitiges H. mebrerer 0,
II 314.
Nachtragliches H. II 360 u.
H. von Seiten Unmusikalischer
I 315. II 41. 232.
b) Starkeanderungen der 0.:
a) Verstarkung durch Resona-
toren, Kopf haltung etc. II 2.
237; durch einen zweiten
Grundton II 419 A.; subj.
V. durch Aufmerksamkeit
II 291 f. 305 u. 314. 316 A.
^) Schwaukungen d. 0. I 236.
II 341.
y) Schwebungen d. 0. (Rauhig-
keitdurchO.)I203f. II 464.
. 470. 491. 495. 496. 521. 534.
541.
6) Hervortreten d. 0. bei Schwe-
bungen der Grundtone II 472;
bei Interferenz II 234; beim
Ausklingen I 242. II 237.
c) Intervalle unter den 0. II 209.
216.
d) 0. des Claviers II 25 u. 234.
237; gedackt. Pfeifen II 161 A.;
d. menschl. Pfeiftone II 299 A.;
der menschl. Stimme I 371 A.
II 238 A.; der Stimmgabeln
II 233; der Violine I 240.
II 267. 517. 522; der Vocale
II 521. 544.
e) Unreine 0. I 254. 11 535.
f) Subjective 0. II 260 f.
(Einfluss der 0.;)
a) Ahnlichk. zweier Klange durch
0. I 113. II 194. 408.
b) Klangfarbe durch 0. II 520 f.
Vgl. oben b) y).
c) Einfluss auf die Verschmel-
zung? II 137. 194. 215 f.
d) Einfl. auf die Analyse II 150.
249. 348 f.
e) Einfl. auf Hohen- und Starken-
urteile s. Hohenurt. (Abhiiug.
d. H. d)), Starkenurteile.
f) scheinbarer Contrast durch 0.
II 398.
g) scheinb. Doppelthoren durch
0. I 270.
Objecte, Beurteilung d. 0. i. A.
I 23. II 70 f. (Vgl. II 5451)
Objective Zuverlassigkeit
I 23*.
Octaven a) Ahnlichkeit der Com-
ponenten der 0. II 194 f. 408.
Gegensatzlichkeit derselben
nach Herbart II 186 f.
b) Verschmelzung II 135. 139.
c) Analyse durch Unmusikalische
und Kinder II 143 f. 362 f. ;
durch Musikalische II 233.
352 f. 410 f.
d) Verschwinden des hoheren 0.-
Tones II 352 f. 364.
e) Einfluss zahlreicher 0. im Zu-
sammenklang II 330.
f) Haufigkeit unter den harmon.
Teiltonen II 209. 216.
g) Sind 0, starker als ihre Com-
ponenten? II 426.
h) Auffassung einer Componente
als Tragers der Hohe II 384.
410. 411 f.
Octaventauschung (in d. Hohen-
schatzung) 1 242. 310 u. II 407 f.
562 u.
OHM-SEEBECK'scherStreit II 183.
240 f. 353. 427. 520 A.
Ohren, Unterschied beiderO. hin-
sichtl. d. T.-H6he I 234. II 320
(vgl. Doppelthoren); hinsichtl.
d. T.-Starke I 364.
Im Ubrigen vgl. Horen, Schnecke
u. A.
Ohrmuschel I 409. II 238. 302.
560 u.
Organ a) i. A., nicht wesentlich
durch tJbung verandert I 84.
Vgl. Entwickelung, Ubung.
b) fiir Tone s. Schnecke u. A.
c) fiir Gerausche s. Gerausche b).
d) fiir Schwebungen I 205 A. II
456 f.
Parakusis Willisiana I 417.
427 (Urbant.). II 440.
Parallele Reihen I 92. Vgl.
Coexistenz, Hohe h), i), Zei-
chen.
Register zum I. imd II. Band.
575
Parallelismus, Princip des P.
II 272 A. Vgl. Monismus, Schwiu-
gungszahlen.
Pathologisches a) P. Sinneser-
scheinungen s. Doppelthoren,
Hallucinationen, Hyperaesthe-
sie, Musikalisches, Nachempf.
(passim), Parakusis, Puis, Sub-
jective Tone, Taubheit, Traus-
fert. Speciell:
b) P. betreifend Differenztone II
250 A. 256; Schwebungen II
459. 460; gegenseitige Ver-
starkung oder Schwachung von
T. I 427. II 440 f.
c) P. Reflexwirkungen I 421. 422.
II 89 A. 95. 121 A. 303. 512.
552 0.
Pauke (scheinbare Accommodation)
II 399 f.
Pfeiftone 11 298. 409.
Phantasievorstellungen I 1.
75. 154 f. 178. 185. 260. 279 f.
353. 372. 376. 377. 414 f. 420.
424. II 47. 114. 138. 297. 305.
311 A. 316. 360. 416. 417 u.
505. Vgl. Gedachtnis.
Phasenunterschiede, Einfluss
der P. II 26. 88. 522.
Phonometer II 225.
Physiologische u. psychologische
Forschung I 48. II 86. (Vgl.
Vorwort zu I.)
Physiologische und psychol. Er-
klarung I 38. Vgl. Monis-
mus.
Primartone II 3*. 474 A*.
Prime II 178. 435. (Vgl. 54 u.)
Priifung des Gehors a) in musik.
Hins. II 157. 370. 381. Vgl.
Kinder, Unmusikal.
b) hins. d. Horscharfe s. d.
Psychophysik I 43. 52 A. 53.
54 A.*.
Innere P. I 104.
Psychophysisches Gesetz s. Fech-
ner's Gesetz.
Psychophysische Repraesentation
I 100 f. Vgl. Monismus.
Psychophysische Versuchsmetho-
den I 54 f. 124. 392 f.
Puis, Einfluss des P. auf Empfin-
dungen I 40. 360. 407. II 250 A.
560.
Qualitat d. EmpfindungenimVer-
haltnis zum Reiz i. A. I 19.
Vgl. Specifische Energie.
Q. der T. (= Hohe) I 135. 190 u,
II 199. Vgl. Momente. Im
Einzelnen s. Hohe.
Quintenparallelen II 82. 179 f.
365 (3. und 4.)
Raumliche Eigenschaften d. T.
s. Ausdehnung, Localisation.
Rauhigkeit siehe Discontinuitat,
Schwebungen, Obertone b) y).
Raumsymbolik I 189.
Reactionszeiten I 65 u. 215. 378.
II 335.
Reflex-Bewegungen u. -Em-
pfindungen s. Bewegung,
Empfindung 1).
Reihenbildung 128. 115 f. 140 f.
168 f. 173. 202 f. 350 u. 425. II
272 f. 511. 526. 558. 559. Vgl.
Steigerung.
Reinheit u. Reinheitsurteil I
24 f. 34 0. II 137. 342. Vgl.
Singen, Stimmen.
R. von Obertonen I 254. II 24.
535.
R. des primaren Intervalls von
Einfluss auf die Starke d. Dif-
ferenztons II 245 f.
Reiz a) Verhaltn. zur Empfindung
i. A. I 15 f. 28 f. Vgl. An-
klingen. Contrast, Fechner's
Gesetz, Parallelismus, Schwelle,
Stetigkeit, Weber's Gesetz, Zeit
u. A.
b) Inadaequate R. II 118 A. 214.
513.
c) R. fur Tone gegeniiber Ge-
rauschen II 497 f. 513.
d) Geringste Impulszahl des Ton-
R. I 214. 232. 277.
e) R.-Starke bei T., Definition u.
Messung derselben I 355 *.
370*. II 225. 257. 436. 599.
Relativitat d. Empfindungen
I 7f. 67. 126 A. 136. 140.
152 u. 336. 338. II 339. 558.
Resonanz s. Mitklingen.
Resonanztone des Ohres I 370.
419. II 239.
Resonatoren II 4. 238. 255.
266.
576
Register zum I. und II. Band.
Rhythmus 1 135. 340. 375. II 314.
Vgl. Accent.
Richtung innerhalb einer Reihe
I 110. 141. 180.
Schall-R. s. Localisation.
Schlaginstruraente (scheinbare
Accommodation) II 399 f.
Schliisse in Beziehung zu Sinnes-
urteilen I 25. 89.
Unbewusste S. I 89 u. Vgl. Un-
bewusst.
Schnecke (Claviatur) im Ohr I
352. 184. 225. 255 f. 275. 301.
362. 403 f. 413. II 70. 88 f.
117. 125 A. 450. 455 f. 484 f.
498. 506. 513.
Schnelligkeitsgrenze a) von a.
T. I 212. 219. II 89.
b) V. Schwebungen II 461 f. 470 u.
c) von (einzelnen)Hohe-u.Starke-
schwankungen II 343.
Schwankungen a) des Reizes in
einer Versuchsreihe I 66. 236.
b) der Empfindungsstarke i. A. I
17 A. 40. 50. 360.
c) d. Tonstarke I 40. 359. 360.
362. 376. 385. 407. II 270.
317 A. 439. Vgl. Interferenz,
Intermittirende Empf. , Puis,
Schwebungen.
d) d.Tonhohe 1 187; speciell beim
Sprechen, Singen, Spieleu I
164. 188. II 343; bei Schwe-
bungen II 474 f.
e) d. Klangfarbe (Obertone), der
Aufmerks. , d. Gedachtnisses,
des Urteils siehe Klangf. b),
Aufm. f), Gedachtn. d),Urteil h).
(Einfluss d. S.:)
a) S. d. Hohe u. Starke erleich-
tern das Heraushoren II 337 f.
350; die Erkennung der In-
strumente II 518. 350.
b) S. d. Klangfarbe u. Starke be-
eintrachtigen die Hohenurteile
uber a. T. I 236.
Schwebungen a) Wesen u. be-
gleitende Erschein. II 450 f.
b) Entstehimg und Sitz II 32. 89.
455 f.
c) Grenzen der Schnelligkeit II
461 f. 470.
d) Starke I 394. II 465 f.
e) Merklichkeit II 468. Vgl. unt.
Einfluss d. S. a).
f) bei Nachbildern wegfallend II
359. 427 u.
g) S. von Obertonen s. Obert. b) y) ;
von Differenztdnen II 260; von
Beitonen mit Primartonen II
260. 464. 493 f.
h) S. der Intervalle in verschie-
denen Regionen II 463.
i) S. verteilter Gabeln II 458. 470.
k) Tonhohe bei S. II 471 f.
1) Zuteilung der S. in der Auf-
fassung II 480 f. 489 f.
m) Einfluss d. Aufmerksamk. bei
d. Auffassung von S. II 469.
471. 475 A. 481 f. 488. 490 f.
(Einfluss d. S.) a) S. als mittel-
bares Kriterium d. Tonmehr-
heit (auch Wahrnehmung von
S. durch Unmusikalische und
Kinder) II 84. 151. 154. 161.
169. 363 u. 373. 379.
b) S. erschweren die (wirkliche)
Analyse II 332. 472. 321 f. 481.
504.
c) S. und Gerausche II 504 f. 452.
d) S. u. Klangfarbe (Instrumente)
II 521. 534. 548. Rauhigk.
tiefer Klange durch S. I 203.
II 534. Vgl. Discontinuitat c).
e) S. u. Verschmelzung II 206 f.
Schwelle (Empfindungs-, Wahr-
nehmungs-):
a) i. A. I 33. 37. 52. 119. 379. II
222 A. Vgl. Merklichkeit.
b) Intensitats-S. fiir einzelne T.
(u. Gerausche) I 379 f. II 340.
512; fiir Componenten eines
Klangganzen II 220 f.
c) S. der Analyse a) bei a. T.
(qualitativ und zeitl.) I 137.
212. 232.
/?) beig.T. 1. intensive II220f.
329. 562.
2. qualitative II 163. 319 f.
363. 364. 472. 477. 180 f.
3. S. der Anzahl II 334. 358.
4. S. der Schwankungen II
343.
d) Unterscheidgs.- (Unterschieds-)
S. s. Ebenmerkl. Unterschiede,
Unterschiedsempfindlichkeit.
e) Zeit-S. s. d.
Reeister zum I. uud II. Band.
577
Schwingungen, Beschaffenh. zu-
sammengesetzter S. II 27 u. 87.
428 A. 467 A. 474. 478.
Lebendige Kraft der S. bei uu-
gleicher T.-Hohe I 370.
Vgl. Accommodation e), Mit-
schwing., Schnecke.
Schwingungszahlen. Tabelle d.
S. vor dem Text d. I Bds.
Parallelitat mit den T.-H6ben s.
Hohe i).
Selbstbetrug I 46 u. 260. 297.
304. Vgl. Aufmerksamk. c).
Sing en (u. Spielen) a) in Bez. zum
T.-Urteil u. T.-Gedachtnis I
139 u. 153 f. 175. 291 f. II 8.
551 u. 552 0. Vgl. :
b) Treffen I 158. 164. 305. 424.
II 8. 555. Siehe ferner:
c) S. u. Treffen von Unmusikali-
schenI265. 291. II 157. 362 f.;
von Kindern I 293. II 371.
373 f. 553. 554 u. ;
in pathologischen Zustanden I
285.292.295. II 551 u. 552 o.
d) S. kleinster Intervalle I 163.
260.
e) Schwankungen beim S. I 164.
188. II 342.
f) „Inneres S." I 155. 176.
g) S. mit dem Ohre II 291.
h) Herabsinken d. Stimmlage u.
Einfluss d. S. auf die Unter-
schiedsempfindlichk. in versch.
T.-Regioneu I 339 f.
Sinne a)i. A. 1135. II 46 u.*(Einh.
u. Mehrh.)
b) Lassen sich Empf. verscbied.
S.vergleichen? I 113. 135. 348.
II 47. 530.
c) Analogienu.Verschiedenheiten
d. S. I 11. 18. 20. 181. 225.
281 f. 331. 360 A. 381. 399.
II 47. 49. 61 f. 70 f. 123 f.
311 A. 337 f. 424. 431. 445 f.
463 A. 466 A. 530. 531.
d) Wecbselwirkung d. S. I 407.
422. II 121 A. 448 u. Vgl.
Empfindg. IV Bewegungen b),
Mittelb. Kriterien.
e) Sog. Vicariren d. S. I 414 u.
' II 121 A.
Vgl. Empfindung, Specif. Energie.
Sinnesinhalte I 1. 96.
S t u m p f , Tonpsychologie . II.
Sinnestauscbung I 31 f. 38*.
Vgl. Tauschung. Urteil.
Sinnesurteil I 1*. Vgl. Tau-
schung, Urteil, Zuverlassigkeit.
Spannungsempfindungen s.Iu-
nervationsempf., Muskelempf.
Specifische Energien 1275.425.
II 105 A. 106 f. 266. 473 u. 484 f.
511. Vgl. Accommodation d).
Specifische Synergien II 214*.
Sprachliches I 96. 115. 192 f.
221. 225. II 452 u. 514 A.
Sprachstorungen und musikal.
Fahigkeiten I 289. 295. 404.
423. II 551 u.
Sprachverstandnis I 386. 402.
403. II 300. 316.
Starke a) Empfindungs-S. i. A. I
19 (im Verb. z. Reiz). I 238.
349. II 558 (im Verb. z. d. ub-
rigen Empf.- Momenten).
b) Gibt es reine S.-Anderungen?
I 349.
c) Vergleicbung d. S. verschiede-
ner, selbst heterogener Quali-
taten I 347.
d) Erfolgt die S.-Zunahme stetig?
I 341 f. 427.
e) S. eines Empf.-Ganzen i. A. II
423.
f) S. von g. Tonen II 219*; be-
sonders S. von Beitonen II 231.
236 f. 240 f. 244 f. 254. 257.
g) Grossere Empf.-S. boherer T.
I 206. 342. 365 f. II 93. 417.
559.
h) S. von T. gegeniiber Gerauscben
s. Gerausche g).
i) Empf.-S. von Schwebungen I
394. 465 f.
k) S. des Zusammenklangs gegen-
iiber den Componenten II 41.
423 f.
1) g. T. (Eines Obres) schwachen
sich II 220 f. 231. 242. 418 f.
Der starkere kann den schwa-
cheren unterdriicken II 220 f.
Verstarkung der physiolog. Er-
regungen innerhalb e. akustisch.
Empf.-Kreises II 423. 485. 488.
Keine gegenseitige Verstarkung
schwachster Erregungen (aus-
serbalb e. akust. E.-Kreises) II
436 f. Keine Vereiuigung der-
37
578
Register zum I. und II. Band.
selben zu e. Gerausch I 255.
II 506. Verstarkung d. Ein-
drucke beider Ohren? II 430 f.
Ohrenarztliches ixber gegensei-
tige Verstarkung von T. II 440 f.
Analoge Fragen bei anderen
Sinnen II 445 f.
m) S.- Minimum vou isolirten T.
(u. Gerauschen) I 379 f. II 340.
512; von g. T. II 220 f.
n) Starkemesser der Empfindung
I 398. II 226; der physiolo-
gischen S. II 225.
o) Reiz-S. s. Reiz a), e).
Einfliisse auf die Empf.-S. s.
Accommodation a\ Anklingen,
Aufmerks. n), Ermiiduug, H6-
ren, Ohren, Pathologisches,
Puis , Schwankungen b) c),
Ubung.
Einfluss d. S. auf d. Hohenurteil
8. d.; auf Analyse u. Heraus-
horeu II 219 f. 328; auf Com-
binations-T. II 248; auf die
Klangfarbe II 532.
Starkegedachtnis s. Gediicht-
nis g).
Stiirkenurteile a) iiber Starke u.
St.-Distanzen von T. (oder Ge-
rauschen) I 345 f.
b) liber g. T. II 416 f. 560.
c) iiber Starke verschiedener,
selbst heterogener Qualitaten
I 347. 365 0.
Mittelbare S. s. Mittelb. Kriter.d).
Schwankungen d. S. I 375 f.
Zuverlassigk. d. S. s. Zuv.
Vgl. Starke.
Standpunct bei Auffassungen I
131 f. 149. 331. II 384 f.
Steigerung I 96 f. 109 f.*. 121.
140. 149. 399. II 58. 135. Vgl.
Reihenbildung.
Stetigkeit (Stetige Veranderun-
gen) im T.-Gebiet I 138. 142.
183 f. 426. II 95. 116. 122.
197. 340.
S. der Combinationstone II 252.
Stetige T.- Anderung nicht = Ge-
rausch II 508.
S. kein Einwand gegen die Helm-
HOLTz'sche Lehre v. d. Ton-
perception I 184. II 95. 116.
122 u.
Stille I 380 f.
Stimme in ■ a. Zusammenklangen
II 314. 318. 337. 393 *.
Menschliche S. s. Consonanten,
Obertone d), Singen, Vocale.
Stimmen, das S. von Instrumenten
I 63. 301 f. 426 u. II 309. 317 A.
322. 556.
Stimmfuhruug I 197. 220. II
400 f. 411 f. 417.
Stimmgabeln, Obertone d. S. II
233.
Erhohung (und Erhellung) aus-
schwingender. Vertiefung (und
Verdunkelung) angedriickter
oder sonst verstarkter S. I 242.
254 f. II 104. 109. 327.
Stimmung, Erhohung d. S. I 303.
Storungen d. Gehors s. Patholo-
gisches.
„S. d. Zusammenklangs" II 450*.
Strecken, Keine Ton-S. I 142.
Keine Intensitiits - S. I 394.
Subjective Tone (u. Gerausche)
I 40. 241. 255. 269. 368. 373.
377. 382. 410 f. II 260 f. (Subj.
Ober-T.) 296. 409. 433. 436.
443. 445. 502. 511 A. 513.
S. T. bei Schwebungen II 452.
480 f. (Zwischen-T.) 535.
Subjective Zuverlassigkeit s.
Maximum c). Zuverlass.
Summationstone II 254.
Synergic, specif. II 214*.
S. beider Ohren? s. Horen (mit
verteilten Gabeln).
Synthese, psychische s. Chemie.
Tatigkeit d. Urteilens I 104.
Tauschuugen, AUgemeineres iib.
Sinnes- u. Urteils-T. (uniiber-
windliche oder sonst theoret.
bemerkenswerte) I 25. 31 f. 38.
130. 184. 230. 235. 237 f. 303.
380. 388. II 34 f. 258 f. 326.
383 f. 393 f. 396 f. 490 f. 540.
559 (4. Absatz).
Vgl. Bemerken, Merklichk., Zu-
verlassigk.
Tastempfindungen des Trom-
melfells u. anderer Korperteile
bei T. 1 206. 207. 419. II 53.
105 A. 121. 245. 329 u. 428.
453 u. 463 A. 487.
Register zum I. iind II. Band.
579
Taubheit a) Partielle T. I 401 f.
4J4f. II 89. 95 f. 117.
b) ob. T. besonders haufig bei
Musikalischen? I 410.
c) Einfluss d. T. auf die Ton-
vorstelliingen Musikaliscber I
166. 377. 414 f. 420. 424. II
416.
Sog. ,,Tontaubheit" 8. d.
Teile der Empfindung II 65*; d.
Aufmerksamk. II 312. 361.
Teilerscheinungen im weitereu
Sinn (Verhaltuisse einschlies-
send) I 97. II 278.
Teilklang II 2*.
Teilton II 2*. Im Einzelnen s.
Obertone.
Teilwahrnebmung II 6*.
Tensor tympani 1 168f. II294f.
444 u.
Tie re I 342. 385 A. 410. II 82.
91. 93 0. 95 f. 102 f. 298 f.
Ton I 135*. II 2*.
Immanente Eigenschaften d. T.
s. Momente.
Merkmale, die sicb mit d. Ton-
Qualitat verandern s. Hohe h).
Hochste und tiefste T. I 205. 263.
II 551.
Einfache T. II 257 f.
Beitone etc. siehe unter den betr.
Titebi.
Tonbewegung I 184. II 340.
Tonbreite als Moment d. T.-Empf.
s. Ausdehnung.
T. bei den Alten I 188.
Tonfarbe II 525*.
TongefUhl u. Einfluss dess. I 177.
202. 420. II 527. 530. Vgl.
Harmonie-, Klanggeftihl.
Tonmitte (Mitte d. Tonreiches) I
251. 334.
Tonqualitat I 135*. II 199*.
514 A*. S. Hohe.
Tonregionen, Unterschiede nach
den T.
a) absol. Tonbewussts. I 310 f.
b) Schwelle a. T. I 298 f. 333 f.
II 552.
c) Schwelle g. T. II 323.
d) Zuverlassigkeit des relativen
Hohenurteils I 315 f. 324 f. II
556 f. 558.
e) Distauzen I 252. II 403.
f) Verschmelzuug II 136. 218.
g) Obertone II 239.
h) Schwebungen II 461. 463. 467.
470 u. 489.
i) DififerenzbeiderOhren II 320 A.
k) Aufmerksamk. II 239. 346.
S. ferner Anklingen, Ausdehnung,
Hohe h), Starke g), Taubheit
a) Triller.
Tonre'ihe I 115 f. 140 f. II 196 f.
Paiallelitat mit d. Schwingungs-
zahlen s. Scliwing.
Tontaubheit sg. (abnorme Unter-
schiedsempfiudl). I 184. 265.
327. 335. II 197. Vgl. Anla-
gen. Unmusikalische.
Topogene Energien II 124 f.
Transfert II 443. (Vgl. I 404).
Treffen s. Singen.
Triller in der Tiefe II 89.
Trommelfell, Bedeutung d. Tr.
fur d. Horen I 402. 403. 405,
408. 422. II 105. 256. 300.
457. Vgl. Tastempfindungen.
iibergangs-Empfindungen(U.-
Vorstellungen) I 62. 126. 151.
175 u. 0.-Gefiihl I 88.
Uberhoren I 18. 388. II 30.
Uberlegte Urteile I 6. 106.
Ubertragene Urteile I 94.
tjbertragung des Gedachtnisses
I 82; der Ubung iiberh. II 239.
Siehe Mitiibung.
Ubung a) i. A. tWesen, Elemente,
Gang, Maximum, Mit-U., Sitz
der U.) 1 75 f.
b) bei a. {n. einzelnen) T. I 245.
246. 279. 297. 312. 321 o. 323.
327. 332. 377. 398.
c) bei g. T. II 75. 80. 162. 164.
166. 171. 172. 239. 249. 325.
346. 347. 442. S. auch Kinder.
d) d. Aufmerksamk. I 77 f. 331.
II 322. 346.
e) d. Vorstellungsfahigkeit (Ge-
dachtnis) I 75. 82. 83. II 347.
f) des Urteils als solchen I 75.
II 347.
U. verandert hauptsilchl. d. Auf-
fassung, nicht d. Empf. u. d.
Organ I 84. 228. 264. 377. 378.
II 9f. 68 u. 117.
Vgl. Entwickeluug, Erfahrung,
37*
580
Register zum I. und II. Band.
Gediichtnis, Gewohnh. Auff.,
Maximum, Mitiibung.
Unbewusstes (Empf., Schliisse,
Einfliisse) I 34. 89 u. 172.^ iJl8.
225. 247. 386. II 177. Vgl.
Bewusstsein, Merklichk., Tilu-
schungen.
Unendlichkeit des Tongebietes
I 178 f. II 550; des Starkege-
bietes I 351.
Umfangsemi^findlichkeit i. A,
128*. 49. U. bei T. 1263; bei
T.-Starken I 379.
Unmerkliches s. Bewusstsein,
Merklichkeit, Tauschungen.
Unmusikalische Personeu,
Heranziehung solcher i. A. I 48
(u. Vorwort).
Prufung von U. II 157.
Beschreibungen von U. I 155.
160. 265. 291. 313 f. II 9. 20.
41. 72. 82. 84. 142 f. 197. 232.
297 u. 362 f. 404. 410. 461. 470.
520 0. 528. 551. 556.
Vgl. Anlagen, Dur, Obertone a),
Piiifung, Schwebungen (Einfluss
d. S. a)).
Unterdriickung eines T. durch e.
anderen (oder ein Gerausch)
II 105 A. 220 f. 562.
Unterscheidung i. A. I 12. 108*.
217. II 5. 22. 60 f. 78. Vgl.
Analyse, Bemerken,Ebenmerkl.
Unterscli., Gleichheit.
Unterscheidungsfahigkeit,
nicht Unterschiedsempfindlicli-
keit, wird direct gemessen I49f.
297. 330. II 57. 325. Im Ein-
zelnen s. Ebenmerkl. Untersch.
Unterscheidungsschwelle s.
Ebenmerkl. Untersch.
Unters cheidungszeit I 216.
426 (histor.). II 335.
Unterschiedsempfindlichkeit
a) i. A. (absolute, relative) I 30*.
50 f. 266. 298 A. 353. II 63.
Vgl. Weber's Gesetz.
b) U. fiir T.-Qualitaten I 220.
296 f. 333 f. II 63. 326. 480 f.
552.
Individuelle Verschiedenheiten
derselben I 264. 330. 335.
II 116. 326. Vgl. Tontaub-
heit.
c) U. fiir T.-Starken I 354 f. 400.
Vgl. auch Schwebungen.
d) U. fur T.-Ausdehnung II 57.
336 A. 537.
e) U. des Muskelsinnes I 91. 161 f.
170. 293. 295. 346.
Vgl. Ebenmerkl. Unterschiede.
„Unterschiedsempfindung'"
(= Wahrnehmuug) gegeniiber
,,Empfindungsunterschied" I 30
A. 40. 104. II 68 u.
Untertone I 117. II 218. 264 f.
Urteil a) U. u. Empf. I If.
U. begleitet alle Empf. des
Erwachsenen I 7. 22. 306.
U. verandert uicht die Empf.,
kann ungleich sein bei glei-
cher, gleich bei ungleicher
Empf. I 11. 15. 21. 31. 38.
40. 67. 99. 107 etc, II 11.
68 u. 128 etc. Vgl. Merk-
lichkeit.
b) Spontane, gewohnheitsmassige,
iiberlegte, Benennungs-U. I 4f.
Mittelb. u. iibertragene I 87 f.
Distanz-U. I 122 f. U. von
einem Standpunct I 131 f. Vgl.
die betr. Titel.
c) Zwei Classen von U. nach d.
Begriff der Zuverlassigkeit
I 24 f.
d) Classen nach den beurteilten
Materien, speciell Verhiiltnis-
sen I 96 f.
e) U. verschiedener Ordnung I 98.
110. 111. 122.
f) U. als Tatigkeit I 104.
g) Korperl. Grundlage I 100 f.
h) Schwankungen d. U. (zweifelh.
U.) i. A. I 44 A. 50.
Urteils-Anlage, -Dauer, -Schwelle,
-Ubung, -Zuverlassigkeit s. un-
ter den betr. Titeln.
Variationstone II 348. 476 A.
Veranderungen, partielle, er-
leichtern d. Analyse II 239 A.
337 f. 350. 351. 547.
Vererbung I 266. 294. 329.
II 302 A. 377 u. 554. 555. S.
Entwickelung.
Vergleichung i. A. I 96*. 104.
109 f. II 22. 61 f. Vgl. Ahn-
lichkeit.
Register zum i . und I i Band.
581
Verhaltnisse zwischen Si.nnosin-
halten I 96 f.
Verschiedenheit I 111*. S,
Gleichheit, j .
Verschmelzung a) Wesen. Stu-
feii, Gesetze d. V. I Ob. 101.
122. II 65*. 127 f.*.
b) Ursache d. V. I 101. II 184 f.
c) Folgen d. V. II 69. 232. 242.
248. 251. 325. 328. 329. 332.
334. 335. 358. 364. 369. 371.
376. 385. 387. 405. 406. 541.
d) v., auch vou Unmusikalischeu
bemerkt II 152. 172. 364.
Versuchsclassen, psychophysi-
sche I 54 f.
Verteilte Gabeln s. Horen.
Verteilung d. Aufmerks. s. Auf-
merks. d).
Verwandtschaft s. Consonauz.
Vicariren s. Sinne e).
Vocale I 114. 397. II 299 u. 316.
453 0. 523 u. 543.
Vorhof des Labyrinths I 403.
II 498. 500. 511.
Vorstellung I 1*. S. Empfindung,
Phantasie -V.
Vorstellungsilbung I 75. S.
Gedachtnis, Ubung e).
Wahrnehmen i. A. I 96*.
W. eines Einzelnen in d. Mehrh.
(TeilWahrn.) II 5*.
Wahrscheinlichkelt e. Sinnes-
urteils I 25. 26.
Weber's Gesetz (bez. Formel)
I 8 A. 51 A. 299. 335 f. 354.
357. 395 u. II 224. 226. 417.
418. 558. Vgl. Fechner's Ge-
setz.
Wechselwirkung,W. vonVorstel-
lungen nach Herbart II 185 f.,
nach WuNDT u. A. II 131 f.
208 f.
W. von Nervenprocessen s. Ac-
commodation d), Sinne d), Spe-
cif. Synergien, Starke 1).
W. schwingender Korper s. Ac-
commodation e).
Wettstreit a) W.-Lehre bezixgl.
g. T. II 12*. 15. 17 (histor.).
29 i. 42. 68. 173 o. 335 A. 365.
. 374. 481 A. 490. 545. 561
(histor.)
1)1 W. d. Aufmerksamk. II 315.
475 A. 490.
Widerspriiche in d. Auffassung
II 384. 396.
Wiedererkennen I 5. 103. 139.
II 7*. 134 n. 408.
Vgl. Benennungsurteile, Hohen-
urteile a).
Wille a) Willkiirl. Aufmerksamk.
s. Aufm. c), n).
b) Willkiirl. Bewegung s. Be-
wegiingen a).
c) W. und Gedachtnis I 279.
Zahlen u. Zahlbegriff i. A. I 25.
II 5. 7. Vgl. Mebrheit.
Erkenntnis d. Zahl g. T. II 334.
363 f. Vgl. Mehrheitslehre.
Mittelb. Kriterien c).
Zahl a) d. akustischen Fasern u.
Zellen im Vergleich zur Unter-
schiedsempf. u. zum Gedachtn.
I 290. 301. II 94. 115 u. Vgl.
Stetigkeit.
b) d. zwischenliegenden Empf. in
Bez. zur Distanzschatzung I 61.
127. 353.
c) d. g. T. von Einfluss auf d.
Analyse? II 329. 504.
d) hochste oder geringste der
Einzelimpulse, Scbwingungen,
Schwebungen , Intermittenzen
s. Grenzen, Reiz d), Schwe-
bungen c).
Zeichen u. Zeichentheorien s.
Empirismus, Localzeichen, Mit-
telb. Kriterien.
Empfindung als Z. von Objecten
II 70 f.
Zeit, Einfluss zeitlicher Umstaude
a) auf die Beurteilung a. (u. eiu-
zelner) T. I 214 f. 229 f.;
b) auf die Starke vergleichung
I 346. 363. II 559;
c) auf d. Analyse II 37. 334 u.
358 f. ;
d) auf d. Unterscheidung d. lu-
strumente II 516 u. 547;
e) auf d. Gedachtnis I 230. 309.
311. 346. 372. 414. 416.
II 371 f. 550.
Vgl. Gleichzeitigkeit.
Urteils-Z. s. Dauer.
ZeitschwelleI232. 1135.37.335.
582
Register zum I und II. Band.
Zeitvorstellungeu , as
I 218; urspriiiigliche II
Zusammenklang II 2*.
Zusatzempfindungen II 259.
Zuverlassigkeit von Sinnes-
urteilen
a'l i. A. (absolute, relative, objec-
tive, subjective) I 22 f. *. Mes-
sung derselbeu I 43 f. Maxi-
male subj. Z. I 47.
Classen v. Sinnesurteilen nach
d. Z. I 24 f. 56 f.
Bedingungen d. Z. fiir Distanz-
urteile i. A. I 128 f.
b) Bedingungen der Z. fiir T.-
Urteile
a) iiber Mehrheit a. T. I 137;
/?) iiber a. T. bins. d. Hohe
I 227 f.;
; lioer Distanzverhaltnisse a
T. I 247 f.;
6) uber Starken a. T. I 353 f.
e) iiber Starkedistauzen a. T
I 392 f. •
l;) uber Mebrheit g. T. II 318f.
//) iiber Hohe, Hohedistanzeu
Starke, Starkedistanzen g
T. II 383 f. 416 f. (pas-
sim');
&) iiber Scbwebungen u. Klang-
farben II 449 f. 516 f. (pas-
sim).
c) Z. Musikalischer, Unmusikali-
scher s. d.
Zweifelhafte Urteile i. A. I 44
A. 50.
Zwischenton bei Schwebungen
II 480 f.
Di'uck von Pose h el A Trepte in Leipzig.
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