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Full text of "Tonpsychologie"

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TONPSYCHOLOGIE. 


VON 


D^   CARL   STUMPF, 

PROFESSOR    DER    PHILOSOPHIE    AN    DER    UNIVERSITAT 
ZU    MtJNCHEN. 


ZWEITER   BAND. 


LEIPZIG 

VERLAG   VON    S.   HIRZEL 

1890. 


Das  Recht  der  Uebersetzung  ist  vorbehalten. 


-J 


DEM  LEHRER  UND  FREUNDE 

FRANZ  BRENTANO. 


Yorrede. 


Zu  meinem  Troste  geschieht  es  nicht  ganz  selten,  dass  ein 
zweiter  Band  mit  einem  „Ich  hatte  nicht  gedacht,  dass  es  so 
lange  dauern  wiirde"  eingefuhrt  werden  muss.  Ich  hatte  es 
wirklich  nicht  gedacht.  Denn  mit  Ausnahme  des  letzten  Para- 
graphen  war  alles  Wesentliche  im  Concept  fertig;  wie  ich  das 
Namliche  auch  jetzt  vom  nachsten  Bande  und  einem  grosseren 
Teile  des  vierten  sagen  darf.  Dennoch  reut  mich  die  aber- 
und  abermalige  Durcharbeitung  nicht,  da  es  sich  ja  nicht  um 
'brennende  Tagesfragen  soudern  um  Dinge  handelt,  bei  denen 
die  Genauigkeit  Alles  ist. 

Ausser  der  Arbeit  selbst  und  einigen  unfreiwilligen  Pausen 
verzogerten  jedoch  auch  Allotria  das  Erscheinen  dieses  Bandes. 
Man  kann  von  einem  deutschen  Professor  der  Philosophic  selbst 
im  letzten  Drittel  des  neunzehnten  Jahrhunderts  nicht  verlaugen, 
dass  er  immerfort  nur  mit  Pfeifen,  Zungeu  und  Gabeln  umgehe. 
Auch  wenn  das  Bediirfnis  ihn  nicht  triebe,  wiirden  schon  die 
Vorlesungen  bestandig  mahnen,  die  Breite  und  Holie  der  Wissen- 
schaft  im  Auge  zu  behalten. 

Ich  sage  Dies  nebenbei  auch  gleichsam  zum  Fenster  hinaus 
Denjenigen,  welche  mit  Arbeiteu  wie  der  vorliegendeu  die  alten 
Anspriiche  der  Philosophic  auf  Erfiillung  und  Erhebung  des 
ganzen   Geistes    und    Gemlites    fiir   aufgegeben    erachten.     Das 


"V'l  Vorrede. 

sind  sie  keineswegs.  Wir  bleiben  uns  bewusst,  class  die  Psycho- 
logie  nur  ein  Aussenwerk  der  Philosophie  mid  die  Lehre  von 
den  Sinneswahrnehmungen  nur  ein  Aussenwerk  der  Psycbologie 
ist.  Wir  sind  nun  einmal  iiberzeugt,  dass  diese  Arbeit  getan 
werden  muss,  und  dass  sie  auch  der  Metapbysik  und  Ethik  zu 
Gute  kommt.     Aber  an  diesen  bangt  das  Herz. 

Als  niichste  und  praktische  Folgerung  erlaube  ich  mir 
hieraus  abzuleiten,  dass  man  fiir  die  weiteren  Bande,  deren 
Vollendung  ich  ehrlich  beabsicbtige,  doch  lieber  von  vorn- 
herein  mit  grosseren  Paiisen  rechnen  moge.  Fiir  alle  Falle 
habe  ich  den  zwei  vorliegenden ,  welche  trotz  weiterlaufender 
Faden  ein  relativ  selbstandiges  Gauzes  bilden,  ein  Register 
beigegeben. 

Damit  erfiille  ich  zugleich  den  Wunsch  mehrerer  Recen- 
senten,  die  sich  mit  der  Anordnung  des  Stoffes  nicht  recht  be- 
freunden  konuten.  Mit  Hilfe  des  Registers  kann  sich  nun  Jeder 
nach  Bedarf  das  Buch  unter  verschiedenen  Gesichtspuncten  um- 
schreiben.  tlbrigens  muss  ich  sagen,  dass  mir  gerade  die  An- 
ordnung viele  Uberlegung  kostetc.  Dass  ich  nicht,  wie  Finer 
gewiinscht  hatte,  mit  den  Empfindungen  begann  und  dann  erst 
zu  den  Urteilen  fortging,  muss  ich  bei  dem  analytischen  Cha- 
rakter  meiner  Darstellung  nach  wie  vor  fiir  richtig  halten. 
Gegeben  sind  uns  die  Empfindungen  in  Auffassungen ,  unter 
denen  wir,  soweit  es  iiberhaupt  mbglich  ist,  die  subjectiv  wahren 
von  den  falschen  abscheiden  und  so  die  Empfindungen  er- 
kennen  miissen. 

Dieser  Band  behandelt  ausschliesslich  die  Frage:  Wie  ver- 
halt  sich  unser  Bewusstsein  gegeniiber  mehreren  gleichzeitigen 
Tonen,  abgesehen  noch  von  aller  eigentlich  musikalischen  Auf- 
fassung?  Es  war  mein  Bestreben,  die  in  dieser  anscheinend 
sehr  einfachen  Frage  enthaltene  grosse  Menge  von  Einzelfragen, 


Yorrede.  vn 

auch  soweit  sie  sich  nicht  sogleich  entscheidend  beantworten 
liessen,  wenigstens  vollstaiidig  aufzustelleu.  Man  wird  beim 
Nachschlagen  der  im  Register  aufgefuhrten  Stellen  zuweilen 
statt  auf  eine  materielle  Belelirimg  nur  auf  eine  solche  Frage 
stossen,  hoffentlich  aber  auch  dann  im  Zusammenhang,  in  der 
Gegeniiberstellung  und  Formulirung  der  Fragen  eine  Anregung 
finden. 

Als  einen  besouderen  Entschuldigungsgrund  fiir  Falle  letz- 
terer  Art  und  zugleich  fiir  die  Verzogerung  dieses  Bandes  muss 
ich  anfiihren,  dass  ich  in  Ermangeluug  eines  eigenen  akustischen 
Kabinets  die  notigen  Beobachtungen  bei  den  verschiedensten 
Gelegenheiten,  in  physikalischen  und  physiologischen  Instituten, 
bei  Orgelbauern  und  Mechanikern ,  auf  Kirchenorgeln ,  und  zu 
nicht  geringem  Teile  auf  Reiseu  zusammenzusuchen  gezwun- 
gen  war. 

Der  dritte  Band  soil  die  Intervallurteile  oder  das  eigent- 
lich  musikalische  Denken,  der  vierte  die  Ton-  und  Musikgefiihle 
untersuchen.  Ausdriicklich  bitte  ich  die  Leser,  nicht  zu  glau- 
ben,  dass  in  den  gelegentlich  bereits  eingestreuten  Bemerkungen 
hieriiber  meine  Theorie  der  Consonanz,  der  Musik  iiberhaupt 
auch  nur  in  ihren  GrundzUgen  angedeutet  sein  solle;  im  Be- 
souderen nicht  den  VerschmelzungsbegriiBf,  der  ohnedies  Vielen 
Anstoss  geben  wird,  schon  mit  Riicksicht  auf  seine  Verwend- 
barkeit  fiir  diese  Zwecke  anzusehen.  Ein  Mitforscher,  dessen  Ur- 
teil  ich  sonst  sehr  hoch  schatze,  hat  auf  Grund  eines  ahn- 
lichen  Verfahrens,  freilich  nicht  ohne  Anlass  meinerseits,  so- 
gar  eine  Art  Erpressungsversuch  veriibt,  indem  er  drohte,  ich 
wlirde  die  Tonpsychologie  nicht  weiterfiihren  konnen,  ohne  die 
unbewussten  intellectuellen  Tatigkeiten  in  aller  Form  herein- 
zunehmen.  Diese  Sorge  um  die  Brauchbarkeit  meiner  Grund- 
lagen  teile  ich  nicht,   da  vielmehr  gerade  die  Einsicht  in  die 


vm  Vorrede. 

Losbarkeit  jener  alteii  Probleme  micli  zu  einer  so  langgedehnten 
Untersuchung  der  Fundamente  am  allermeisten  angetrieben  hat. 
So  einfach  gebt  es  allerdiugs  damit  iiicht  wie  mit  dem  Uii- 
bewussten.  Sind  doch  auch  sowol  die  Musik  als  die  Seele  nicbt 
ganz  einfache  Dinge. 

Miincben,  Juni  1890. 

C.  Stuinpf. 


Inhalt  des  zweiten  Bandes. 


Seite 

Vorreile       V 

Abkiirzuugen xm 

Dritter  Abschnitt. 

Beurteilvmg  gleichzeitiger  Tone. 

Seite 

Vorbemerkungen 1 

§  16.    Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse  bci  objectiv 
gleichzeitigen  Tonen. 

1.  Wircl  Empfindung  diirch  Analyse  verandert? 9 

2.  Disjunction  der  Theorien 12 

3.  Erlauterung  und  Begriindung  dcr  Mehrheitslehre 13 

4.  Erlauterung  und  Begriindung  der  Einheitslehre 14 

5.  Erlauterung  und  Begriindung  der  Wettstrcitslehre 15 

6.  Historischer  tjberblick 17 

7.  Bedenken  gegen  die  Mehrheitslehre 22 

8.  Bedenken  gegen  die  Einheitslehre       23 

9.  Bedenken  gegen  die  Wettstreitslehrc       29 

§  17.    Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 
Losung  der  Principienfragen. 

1.  Weg  der  Untersuchung 39 

2.  Entkraftung  der  Grunde  fur  die  Einheitslehre 40 

3.  Entkraftung  der  Griinde  fur  die  Wettstreitslehrc 42 

4.  Losung  des  ersten  Argumentes  gegen  die  Mehrheitslehre      .     .  43 

5.  Excurs  iiber  die  raumlichen  Eigenschaften  der  Tonempfindungen  50 

6.  Losung  des  zweiten  Argumentes  gegen  die  Mehrheitslehre  .     .  60 

7.  Ursachen,   welche   zu   den  beiden   irrtiimlichen  Anschauungen 
hinfiihren  konnten 67 

8.  Einfluss  der  Erfahrung  auf  die  Analyse       69 

9.  Einfluss  des  Gefiihls  auf  die  Analyse.     Mittelbare  Kriterien     .  81 


X  Inhalt. 

Seite 

§  18.    Physiologische  Voraussetzungen  der  Klanganalyse  86 
I.    Anatomische  Vorrichtungen. 

1.  Postulat  der  anatomischen  Sonderung       87 

2.  Die  Hypothese  der  „Schneckenclaviatur" 90 

3.  Historische  uad  erganzende  Bemerkuugen 99 

II.   Specifische  Energien. 

1.  Altere  und  neuere  Fassung  der  Lehre 106 

2.  Ober  die  Trager  der  specifischeu  Energien 108 

3.  Accommodation  der  specifischen  Energien  innerhalb  enger  Gren- 

zen  des  Reizes Ill 

4.  Individuelle  Verschiedenheit  und  Entwickelung  der  specifischen 
Energien 116 

5.  Specifische  Energien  innerhalb  der  verschiedenen  Sinne  .     .     .  123 

§  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung. 

1.  Was  Tonverschmelzung  ist  und  was  sie  nicht  ist 127 

2.  Die  Verschmelzungsstufen 135 

3.  Gesetze  der  Yerschmelzung 136 

4.  Massregeln  bei  der  Beobachtung 140 

5.  Bestatigung  durch  Unmusikalische 142 

6.  Fortsetzung  der  Versuche 145 

7.  Discussion  der  letzteren  Versuche 149 

8.  Neue  Versuche 155 

9.  Discussion  dieser  Versuche 167 

10.  Abstande  zwischen  den  Verschmelzungstufen.    Verschmelzungs- 
curve.    Zweifelhafte  Puncte 173 

11.  Hypotbetische  Verschmelzung  der  Prime 178 

12.  Bestatigungen  durch  die  musikalische  Praxis  und  durch  Ausse- 
rungen  von  Theoretikern 179 

§  20.    tJber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung      .     .  184 

1.  Herbart's  Verschmelzungstheorie 185 

2.  Ist  Ahnlichkeit  Ursache  der  Verschmelzung? 193 

3.  Sind  Gefiihle  Ursache  der  Verschmelzung V 204 

4.  Ist   der    relative   Mangel    an    Schwebungen   Ursache    der    Ver- 
schmelzung?         206 

5.  Ist  haufige  Verbindung  Ursache  der  Verschmelzung?    ....  208 

6.  Die  Ursache  der  Verschmelzung  ist  eine  physiologische    .     .     .  211 

7.  Idee  einer  generellen  Entwickelung  der  Verschmelzungen     .     .  215 
§  21.    Analysiren  und  Heraushoren  bei  ungleicher 

Starke  der  Klangteile 219 

1.  Intensitatsschwelle 220 

2.  Wahrnehmung  regelmassiger  (unselbstandiger)  Beitone  im  AU- 
gemeinen 229 


Inhalt.  xr 

Seite 

3.  Specielles  iiber  Wahrnehmung  von  Obertonen 231 

4.  Specielles  iiber  Wahrnehmung  von  Combinationstonen      .     .    .  243 

5.  Gibt  es  einfache  Tone? 257 

§  22.  Function  der  Aufmerksamkeit  bei  cler  Analyse 

und  dera  Heraushoreu       276 

1.  Wesen  und  primare  Wirkung  der  Aufmerksamkeit 277 

2.  Anwendungen  auf  das  Tongebiet 286 

3.  Aufmerksamkeit  ist  zur  Analyse  uicht  unbedingt  notwendig      .  288 

4.  Worauf  richtet  sich  die  Aufmerksamkeit  bei  der  Analyse?  .     .  289 

5.  Verstarkung  durch  Aufmerksamkeit 290 

6.  Mechanismus  der  Verstarkung 294 

7.  Ist  es  moglich,  streng  gleichzeitig  mehrere  Klangteile  aufmerk- 

sam  herauszuhoren? 308 

§  23.  Bediugungen  fiir  die  Zuverlassigkeit  der  Analyse 

und  des  Heraushorens 318 

1.  Ubersicht  der  Bedingungen 319 

2.  Besprechung  einiger  besonderen  Erscheinungen 347 

a)  Einfluss  der  Klangfarbe 348 

b)  Verschwinden  des  hoheren  Octaventons 352 

c)  Analyse  von  Nachempfindnngen  und  Gedachtnisbildern     .  358 
§  24.  Individuelle  Unterschiede  im  Analysiren  und 

Heraushdren. 

1.  bis  4.  Unmusikalische 362 

5.  Musikalische 369 

6.  Kinder       370 

§  25.  Qualitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten 

Klang  und  seine  Teile. 
I.  Urteile  iiber  analysirte  Klange. 

1.  Hohe  des  Ganzen 383 

2.  Hohe  und  Abstand  der  Klangteile 396 

II.   Urteile  iiber  nichtanalysirte  Klange. 

1.  Scheinbare  Hohe  eines  Klanges 406 

2.  Distanz  nichtanalysirter  Klangmassen  von  ihren  Teilen  und  von 
einander 411 

§  26.    Intensitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten 
Klang  und  seine  Teile. 

1.  Urteile  iiber  das  Starkeverhaltnis  gleichzeitiger  Tone       .     .     .  416 

2.  Verandert  sich  die  Starke  eines  objectiv  gleichbleibenden  Tones, 
wenn  er  mit  anderen  zusammen  gehort  wird? 418 

3.  Macht  ein  Tonganzes  einen  starkeren  Eindruck  als  jedes  seiner 
Teile? 423 


XII  Inhalt. 

Seite 

4.  Dieselben  Frageu  bei  Verteilung  der  Tone  an  beicle  Ohren      .  430 

5.  Gibt  es  eine  Wechselwirkung  minimaler  akustischer  ErregungenV  436 

6.  Ohrenarztliche  Beobachtungen 440 

7.  Analoge  Fragen  bei  anderen  Sinnen 445 

§  27.    Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile  .     .  449 
I.    Definition,  Entstebung,  Bedingungen  der 
Merklichkeit  von  Schwebungen. 

1.  Wesen  und  begleitende  Erscheinungen 450 

2.  Entstehung  und  Sitz  der  Schwebungen 455 

3.  Grenzen  der  Schnelligkeit  fiir  Schwebungen 461 

4.  Starke  der  Schwebungen 465 

5.  Merklichkeit  von  Schwebungen 468 

6.  Schwebungen  verteilter  Gabeln 470 

II.    Tonhdhe  bei  Schwebungen 471 

1.  Bisherige  Beobachtungen  und  Theorien 472 

2.  Priifung  der  aus  den  objectiven  Schwiugungsverhaltnissen  ab- 
geleiteten  Folgerungen 477 

3.  Neue  Beobachtungen 480 

4.  Physiologische  Theorie 484 

III.    Zuteilung  der  Schwebungen 489 

§  28.   Gerausch  und  Klangfarbe. 
I.    Gerausche  und  ihr  Verhaltnis  zu  Tonen. 

1.  Stand  der  Frage 497 

2.  Gibt  es  Gerausche  ohue  Tone  und  Tone  ohne  Gerausche?    .     .  500 

3.  Besprechung  der  Ansichten  iiber  den  Begriff'  des  Gerausches    .  503 

II.    Klangfarbe. 

1.  Manichfaltigkeit   der   Praedicate.     Klangcharaktcr  durch  Asso- 
ciationen 514 

2.  Klangfarbe  als  das  Unterscheidende  der  Instrumeute    ....  516 

3.  Klangfarbe  im  eugereu  Siuue 520 

4.  Principielle  Schwierigkeiten.     Farben  einfacher  Tone  ....  524 

5.  Versuch,  Tonfarbe  mit  Tongefiihl  zu  identiticiren 527 

6.  Griinde  gegen  diese  Ansicht 528 

7.  Anteil  der  Tonhohe  an  der  Ton-  und  Klaugfarljc 531 

8.  Anteil  der  Tonstiirke  an  der  Ton-  uud  Klangfarbe       ....  532 

9.  Anteil  der  Tongrosse  an  der  Ton-  und  Klangfarbe       ....  535 

10.  Rlickblick  und  Anwendung 539 

11.  Unterscheidung    von    Instrumenteu    ungleicher    Klangfarbe    in 
einem  Zusammeuklang 545 

Berichtigungen  und  Zusatze  zum  I.  Band 550 

Berichtigungen  und  Zusatze  zum  II.  Band 561 

Register  zum  I.  und  II.  Band 564 


Abkurzuugeu. 

A.  f.  0.  =  Arcliiv  fiir  Ohrenlieilkunde ,  herausgegeben  von  Troltsch. 
PoLiTZER  und  ScHWABTZE  (im  I.  Bande  als  „Troltsch'  Arch." 
citirt). 

Fechnek,  Bin.  Sehen  =  Uber  einige  Verhaltnisse  des  binocularen  Sehens. 
Abhandlungen  d.  math.-iihys.  CI.  der  k.  sachsischen  Gesellsch. 
der  Wissenschaften.    Bd.  VII.    1860. 

WuNDT  =  Wundt's  Physiologische  Psychologic,  3.  Auflage,  1887. 

Z.  f.  0.  =  Zeitschrift  fiir  Ohrenheilkunde,  herausgegeben  vou  Knapp 
und  Moos  (im  I.  Bande  als  „Knapp's  Arch."  citirt). 

Die  iibrigen  Abkiirzungeu  wie  im  I.  Bande. 


Dritter  Abschnitt. 
Beurteiluiig  gleichzeitiger  Tone. 

Vorbemerkuugen. 

Wahrend  bei  aufcinanderfolgenden  Toncn  die  Functionen 
des  Vergleichens  das  Hauptinteresse  beanspruchen,  bildet  bei 
gleicbzeitigen  Tonen  schon  die  Moglichkeit  der  Analyse  ein 
wichtiges  uiid  schwieriges  Problem.  Niemand  leugnet  unsre 
Fabigkeit,  aufeinaiiderfolgcnde  Tone  bei  hinreichender  Differenz 
ihrer  Hohe  obne  weitere  Hilfsmittel,  speciell  auch  ohnc  voraus- 
gegangene  Erfahrungen,  als  eine  Mebrzablvon  Tonen  zu  er- 
kennen.  Hochstens  wird  man  annehmen,  dass  die  Differenz  der 
Tone,  welcbe  uns  veranlasst,  nacb  dem  zuerstgehorten  einen 
zweiten,  dritten  zu  constatiren,  urspriinglich  eine  grossere  sein 
muss  als  nach  eingetretener  tJbung  und  sonstiger  Entwickelung. 
Gleicbzeitige  Tone  dagegen  werden  oft  aucb  bei  bedeutenden 
Unterschieden  ibrer  Hohe  als  Einbeit  aufgefasst;  ja  man  bat 
die  Frage  aufgeworfen,  ob  nicht  die  Bebauptung,  mebrere  Tone 
gleicbzeitig  zu  boren,  in  alien  Fallen  auf  eine  Tauscbung  binaus- 
laufe.  Die  durcb  diese  Frage  angeregten  Betracbtungen  wer- 
den uns  in  ibren  weitoren  Verzweigungen  und  Consequenzen 
fast  diesen  ganzen  Abscbnitt  bindurcb  bescbaftigen.  Dabei  wer- 
den wir  auf  einem  bisber  noch  nicbt  bescbrittenen  Wege  aucb 
die  Grundlage  des  Consonanz-  und  des  Intervallbegriffes  finden, 
welcbe  in  ausdriicklicber  und  eingebender  Weise  jedocb  erst  im 
vierten  Abschnitt  behandelt  werden  soUen. 

Stumpf,  Tonpsychologie.    II.  1 


Vorbemerkungen. 


Hiusichtlich  der  Terminologie   miissen  wir  jetzt,   wo  der 
Unterschied  zwischen  einfachen  und  zusammengesetzteu  Klan- 
gen  von  principieller  Bedeutuug  wird,  bestimmte  unterscheidende 
Bezeiclinungen    anwendeii    (vgl.  I   135).     Wir   nenneii   Klang 
iiberhaupt  jeden  musikalischen,  nicht  gerauscharti'gen  Gehors- 
eindruck  (wobei  wir  diesen  Unterscliied  als  eiiien  in  gewohn- 
lichen  Fallen  hinreichend  bestimmten  hinnehmen  und  vorlaufig 
daliingestellt  sein  lassen,  ob  sich  nicM  etwa  in  gewisser  Weise 
Gerausclie   auf  eine  Summe  von  Tonen   zurlickfiihren   lassen). 
Unter  Ton  sei  der  einfache  Klang  verstanden,  unter  Einzel- 
klang   ein   solcher   zusammengesetzter  Klang,   worin  ein  Ton 
(der  Kegel  nach  der  tiefste)  an  Starke  bedeutend  die  anderen 
iiberwiegt,  unter  Zusammenklang  ein  solcher,  worin  mehrere 
Tone  Oder  Klange  von  annahernd  gleicher  Starke  entbalten  sind. 
Diese  Terminologie  fiigt  sich  moglichst  genau  sowol  dem  ge- 
wohnUchen  Sprachgebrauch  als  den  Bestimmungen  hervorragen- 
der  Theoretiker  der  neueren  Zeit.  ^) 

Die  in  einem  Zusammenklang  enthaltenen  Einzelklange  oder 
Tone  und  die  in  einem  Einzelklang  enthaltenen  Tone  nennen 
wir  seine  Componenten  oder  Telle,  die  Telle  eines  Zusam- 
meuklanges  speciell  auch'Teilklange,  die  eines  Einzelklan- 
ges  Teiltone.  Diejenigen  Teiltone,  welche  oberhalb  eines  in 
der  Kegel  starkeren  „Grundtones"  (eines  relativ  tiefsten  Tones) 
liegen  und  durch  den  namlichen  physikalischen  Process  erzeugt 
werden  wie  dieser,  werden  Obertone  genannt.-)  Sind  die  Ober- 
1)  Vgl.  Helmholtz  97.  Unter  den  alteren  Chladni,  Akustik  (1802) 
3  (§  6).    GoTTFR.  Weber,  Versuch  einer  geordneten  Theorie  der  Tonsetz- 

kunst  (1830)  1,143. 

Wenu  wir  gleichwol  (ebenso  wie  Helmholtz)  hie  und  da  auch  jetzt 
noch  von  dem  Ton  statt  dem  Klang  einer  Flote,  Clarinette  u.  dgl.  reden 
Oder  statt  Einzelklang  kurz  Klang  sagen,  so  mogc  dies  nicht  als  Incon- 
sequenz  vermerkt  werden,  sondern  als  Anpassung  an  den  popularen  Ge- 
brauch  in  unschadlichen  Fallen,  wo  Verwechselung  nicht  zu  befurchten  ist. 

2)  Auch  die  subjectiven  Obertone,  welche  physikalisch  im  Klange 
nicht  vertreten  sind,  heissen  nur  insofern  Obertone  desselben,  als  sie 
nicht  zufallig  (wie  z.  B.  ein  katarrhalisches  Ohrenklingen)  zugleich  ge- 
hort  werden,  sondern  das  Ohr  durch  den  objectiven  Klang  zu  ihrer  Er- 
zeugung  bestimmt  wird. 


Vorbemerkungen.  3 

tone  harmoniscli  d.  h.  die  entsprechenden  Schwingungszalilen 
ganzzahlige  Multipla  derjeiiigen  des  Grundtones  ^),  so  wird 
dieser  selbst  als  erster  Teilton  gerechiiet,  der  erste  Oberton 
als  zweiter  Teiltou  u.  s.  f.  Die  Numerirung  der  harmonischen 
Teiltoue  bedeutet  also  zugleicli  das  Zahleuverhaltuis  der  bez. 
Schwinguugen  zu  denen  des  Grundtons;  z.  B.  dem  siebenten 
Teilton  entspricht  die  siebenfache  Scbwingungszahl  des  Grund- 
tons. Endlicb  gebrauchen  wir  den  alteren  Ausdruck  Be  it  one 
fiir  alle  erheblich  schwacberen  Componenten  eines  Klanges  oder 
Zusammenklanges.  Er  umfasst  also  die  Obertone,  aber  aucb  die 
Combinationstone,  welche  erst  bei  Verbindung  mehrerer  an- 
nahernd  gleicbstarker  Tone  (Primartone)  auftreten  und  in  den 
auffallendsten  Beispielen  tiefer  liegen  als  diese. 

In  alien  diesen  Fallen  ist  von  den  Emp  fin  dun  gen  als 
solchen  die  Rede.  Wo  dieselben  Ausdriicke  fiir  die  entspre- 
chenden objectiven  Processe,  die  Luftschwingungen,  gebrauclit 
werden,  ist  dies  durch  „objectiver  Klang,  objectiver  Zusammen- 
klang"  u.  s.  f.  kenntlich  gemacht  (ausser  wo  auch  olme  Beisatz 
Misverstandnis  ausgeschlossen  ist).  Wenn  Jemand  einen  Zu- 
sammenklang  nicht  als  Mebrbeit  von  Empfindungen  (nicht  ein- 
mal  von  aufeinanderfolgenden)  auffasst,  so  liegt  fiir  seine  Auf- 
fassung  eben  nur  ein  Klang  bez.  ein  Toq  vor;  und  die  Frage 
kann  ja,  wie  oben  bemerkt,  iiberbaupt  aufgeworfen  werden,  ob 
nicht  diese  Auffassung  allgemein  richtig  ist.  Betrachten  wir  also 
die  Definitionen  zunachst  als  hypothetische.  Sie  wiirden  ja 
selbst  nach  jener  Meinuug  nicht  ganz  ihren  Wert  verlieren.  so- 
fern  doch  gewisse  Tone  unter  gewissen  Umstanden,  wenn  auch 
nur  zufolge  eines  sehr  bestandigen  und  verbreiteten  Irrtums, 
als  Mehrheit  regelmassig  aufgefasst  wiirden. 

Den  Begriff  der  Analyse  oder  Zerlegung  anlangend  wollen 
wir  einige  bereits  (I  96,  106f.)  beriihrte  Puncte  nun  etwas  aus- 
fiihrlicher  nochmals  hervorheben  und  eine  dort  nicht  gebiihrend 
betonte  Unterscheidung  nachholen. 

*)  Holiere  ganzzahlige  Multipla  ergeben  allerdings  auch  Teiltone, 
welche  nicht  mehr  einen  „harmonischen"  Eindruck  machen;  doch  mag 
dieser  Umstand  hier  noch  auf  sich  beruhen. 

1* 


4  Vorbemerkungen. 

Wir  verstehen  unter  Analyse  die  Wahrnehmung  einer  Mehr- 
heit,  unter  Klanganalyse  also  die  einer  Mehrheit  von  Tonen  in 
einem  Klang. 

Sie  hat  nichts  zu  thun  mit  der  physikalisclien  Analyse  der 
We  11  en  (deren  Zusammensetzung  ja  nicht  einmal  durchweg  mit 
derjenigeu  der  Empfindungen  parallel  gehen  muss).  Der  Phy- 
siker  verfolgt  ein  durchaus  anderes  Ziel  mit  teilweise  anderen 
Mitteln.  Ihm  ist  das  menschliclie  Ohr  nur  Ein  Apparat  neben 
anderen.  Fallt  es  ihm  schwer,  einen  Klang  mit  unbewaffnetem 
Ohr  zu  zerlegen,  so  greift  er  zu  Resonatoren,  loscht  wol  auch 
umgekehrt  durch  Interferenzrohren  gewisse  Wellen  aus,  um  an- 
dere  alleiu  zu  vernehmen,  oder  lasst  das  Ohr  ganz  aus  dem 
Spiel  und  sieht  zu,  wie  feinfiihligo  Flammen  auf  die  Luftwellen 
reagiren,  oder  welche  Curven  die  Stinungabel  unter  dem  Vibra- 
tionsmikroskop  bildet  oder  auf  berusster  Platte  selbst  aufzeichnet. 

Schon  die  Zerlogung  mit  Resonatoren  ist  genau  gesprochen 
nicht  mehr  eine  Zerlegung  in  unsrem  Sinn.  Indem  der  Reso- 
nator einen  Teiltou  verstarkt,  kommt  statt  des  Klanges,  um 
dessen  Zerlegbarkeit  als  Empfindung  es  sich  handelte,  ein 
anderer  Klang  in  mein  Ohr,  wenn  auch  die  vom  toncnden 
Korper  ausgehenden  Wellen  in  dessen  Umgebung  unveriindert 
bleiben.  Das  Object  des  Psychologcn  ist  verwandelt,  nur  das 
des  Physikers  noch  vorhandeu.  Fiir  jenen  aber  wiederholt  sich, 
solange  der  neue  Klang  noch  zusammengesetzt  ist  (die  iibrigen 
Teiltone  relativ  schwachcr  mitgehort  wcrden),  die  alte  Frage, 
ob  und  wie  es  moglich  sei,  mehrere  Tone  zugleich  zu  horen. 
Ist  der  neue  Klang  ganz  einfach,  so  ist  eben  auch  nur  die 
Moglichkeit  der  Wellen-  nicht  die  der  Empfindungszerlegung 
bewiesen. 

Nur  insofern  gchort  der  Fall  noch  in  das  Bereich  unsrer 
Frage,  als  etwa  durch  den  Gebrauch  eines  Resonators  die  nach- 
tragliche  rein  psychologische  Zerlegung  des  ersten  unverander- 
ten  Klanges  erleichtert  wird. 

Auch  ist  zuzugeben,  dass  ganz  kleine  und  zumal  voriiber- 
gehende  Anderungen  der  Intensitiit  von  Teiltonen  (wie  sie  z.  B. 
wahrend  eines  Clavierklanges  bestandig  vorkommen  und  sogar 


Vorbemerkungen.  g 

subjectiv  durcli  die  Aufmerksamkeit  erzeugt  werden  koimen) 
ebenso  wie  minimale  Hohenschwankungen  von  Componenten  uns 
nicht  veranlassen  konnen,  von  einem  neuen  Klange  zu  reden, 
wenn  wir  uns  nicht  iibertriebener  Spitzfindigkeit  schuldig  machen 
und  zugleich  sachlichen  Inconvenienzen  aussetzen  wollen,  da  ja 
am  Ende  keine  absolut  bestandige  Empfiudung  existirt. 

Wie  von  der  physikaliscben  Zerlegung  so  haben  wir  die 
Analyse  schon  friiher  audi  von  dem  blossenWissen  um  Empfin- 
dungsteile  (um  so  mehr  also  von  blossen  Hypothesen  in  dieser 
Beziehung)  unterschieden.  Ich  betone  es  aber  nochmals,  weil 
inzwischen  von  hervorragonder  Seite  gerade  dieser  entgegen- 
gesetzte  Spracligebrauch  adoptirt  worden  ist.  ^) 

Endlich  ist  schon  hervorgehoben,  dass  die  gegenseitige 
Unterscheidung  der  Inhalte,  die  wir  (und  soweit  wir  sie)  als 
mehrere  auffassen,  mit  der  Wahrnehmung  ihrer  Mehrheit  alle- 
mal  verbunden,  wenn  auch  nicht  identisch  ist.  ^)  Die  Analyse 
kann  mehr  oder  weniger  bestimmt,  zuversichtlich  oder  schwan- 
kend,  und  sie  kann 'mehr  oder  weniger  vollstiindig  sein  (es  kon- 
nen samtliche  oder  nur  einige  Tone  im  Klang  als  Mehrheit 
wahrgenommen  werden):  jedesmal  wird  das  Namliche  auch  von 
der  gegenseitigen  Unterscheidung  gelten,  sodass  das  Ergebnis 
in  der  einen  und  anderen  Weise  ausgedriickt  werden  kann. 

Von  der  Wahrnehmung  der  Mehrheit  als  solcher  unter- 
scheiden  wir  aber  weiter  5ie  besondere  Wahrnehmung  eines 
Einzelnen  in  der  Mehrheit  als  einen  hinzukommenden,  nicht 
notwendig  damit  verbundenen  Act.    Dieser  ist  es,  auf  den  wir 


^)  Mach,  Zur  Analyse  der  Tonempfindungen.  Wiener  Akad.  1885. 
Beitrage  zur  Analyse  der  Empfindungen.    1886. 

^)  Vgl.  nun  auch  Husserl,  Uber  den  Begriff  der  Zahl,  Hallenser 
Habilitationsschrift  1887,  besonders  S.  46.  Auch  Husserl  fasst  Mehr- 
heit als  eine  besondere  Relation  und  macht  auf  eine  fiir  den  Zahlbegriff 
wesentliche  Eigentiimlichkeit  dieser  Relation  gegeniiber  denen  der  Ahn- 
lichkeit,  Steigerung  u.  a.  aufmerksam :  den  Begriff"  von  Mehrheit  konnen 
wir  nicht  ohne  Reflexion  auf  den  zusammenfasseuden  psychischen  Act 
bilden,  wahrend  wir  die  Begriff"e  von  Gleichheit  u.  s.  f.  rein  aus  den  In- 
halten  selbst  gewinnen.  Fiir  unsren  Zweck  kommt  dieser  Unterschied 
jedoch  nicht  in  Betracht. 


6  Vorbemerkungen. 

im  §  6  noch  iiicht  hinreichend  (nur  voriibergehend)  liingewie- 
sen  haben.  Wahrend  bei  der  Analyse  im  ebenerwahnten  eng- 
sten  Sinue  eine  Mehrlieit  in  ihrer  Eigenschaft  als  Mehrheit  er- 
fasst  wird,  wird  hier  ein  Einzelnes  in  seiner  Eigenschaft  als 
Glied  einer  Mehrheit  erfasst.  Gegenstand  der  Wahrnehmung 
ist  ein  Einzelnes,  aber  riicht  in  seiner  Vereinzelung,  sbndern 
in  seiner  Umgebung,  welche  als  Umgebung  nebenbei  miterfasst 
wird.  So  verhalt  es  sich,  wenn  wir  in  einem  Accord  einen 
Einzelklang  oder  im  Einzelklang  einen  Teilton  besonders  heraus- 
horen.  Beim  Erfassen  einer  Melodie  ist  dieses  Besonders- Wahr- 
nehmen  sogar  immer  und  uotwendig  vorhanden,  uud  zwar  wird 
der  Kegel  nach  der  augenblicklich  gegenwartige  Ton  besonders 
wahrgenommen,  wahrend  zugleich  die  jiingstvergangenen  im 
Bewusstsein  noch  vorhanden  sind,  als  von  ihm  miterschiedene 
friihere,  als  eine  successive  Mehrheit,  in  welcher  der  gegen- 
wartige ein  Glied  bildet.  Wir  konnen  dieses  besondere  Wahr- 
nehmen  eines  Einzelnen  in  der  Mehrheit  als  Teilwahrneh- 
mung  bezeichnen.  Speciell  bei  gleichzeitigen  Tonen  sprechen 
wir  in  solchem  Falle  von  einem  Heraushoren. 

Dieses  trennen  wir  also  von  der  blossen  Analyse.  Aber 
allerdings  steht  es  zu  derselben  in  nachster  Beziehung  und  ist 
in  Wirklichkeit  vielfach  mit  ihr  aufs  Engste  verflochten.  Denn 
sobald  wir  versuchen,  uns  die  Mehrheit  „deutlich"  zu  vergegen- 
wartigen,  werden  wir  Teil  um  Teil  besonders  in's  Auge  oder 
Ohr  fassen.  Das  Heraushoren  gibt  uns  eine  Bestatigung  dafiir, 
dass  wir  uns  in  der  Wahrnehmung  einer  Mehrheit  nicht  ge- 
tauscht  haben,  und  bildet  einen  Beitrag  zu  dem,  was  man  Ver- 
deutlichung  des  Analysirten  nennt.  Insofern  kann  es  zur  Ana- 
lyse im  weiteren  Sinne  mitgerechnet  werden.  Wir  kehren  dann 
audi  wol  zu  dem  Ganzen  als  Ganzem  zuriick,  ohne  einzelne 
Telle  weiter  zu  bevorzugen,  und  glauben  nun  die  Mehrheit 
deutlicher  zu  bemerken,  wie  einer  der  an  einem  Bild  zuerst 
nur  einen  Knauel  von  Personen  oder  am  Himmel  einen  Haufen 
leuchtender  Puncte  wahrgenommen,  dann  einzelne  besonders  be- 
trachtet  hat,  und  nun 'das  Ganze  wieder  mit  Einem  ruhenden 
Blick  iibersieht. 


Vorbemerkungen.  7 

Von  dem  Teilwahrnehmen,  dem  Heraushoren  ist  wieder  zu 
scheiden  die  Auffassung  eiiies  Ganzen  unter  dem  Begriff 
eines  seiner*  Teile,  wie  die  Auffassung  eines  Klanges  als 
eines  Tones  von  der  Hohe  des  Grundtones.  Hier  wird  der  Grund- 
ton  nicht  in  der  Mehrheit  besonders  walirgenommen ,  es  wird 
iiberhaupt  keine  Mehrheit  wahrgenommen,  sondern  der  gehorte 
Klang  nur  an  diejenige  Stelle  der  Tonreihe  (mehr  oder  weni- 
ger  deutlich,  mit  oder  obne  Benennung  der  Stelle)  verlegt, 
welche  dem  Grundton  gebiihren  wiirde,  wenn  derselbe  fiir  sicb 
allein  gebort  wiirde. 

Nicht  unbedingt  gehort  es  zur  Analyse,  dass  eine  bestimmte 
Zahl  von  Empfinduugen  aiigegeben  werden  kann.  Obschon  auch 
dies  bei  einer  „deutlichen"  Analyse  moglich  sein  wird,  und  bei 
einer  voUstandigen  und  vollkommen  deutlichen  Analyse  die  an- 
gegebene  Zahl  auch  mit  der  wirklichen  Zahl  der  vorhandenen 
Empfindungen  iibereinstimmen  muss,  so  bildet  es  doch  einen 
vom  Analysiren  im  e^geren  Sinn  zu  unterscheidenden  Act.  Da- 
gegen  schliesst  natiirlich  umgekehrt  das  Ziihlen  ein  Analysiren 
(ja  auch  Teilwahrnehmungen)  ein;  wir  konnen  daher,  wo  eine 
bestimmte  Zahl  angegeben  wird,  dies  als  Beweis  einer  nach  der 
Meinung  des  Redendcn  voUzogenen  Analyse  ansehen  und,  wo 
in  einer  Reihe  von  Fallen  die  Zahl  mit  der  nach  Beschaffen- 
heit  des  ausseren  Reizes  zu  erwartenden  iibereinstimmt,  auch 
an  den  wirklichen  VoUzug  der  Analyse  in  seinem  Bewusstsein 
glauben. 

Die  Erkenntnis,  welche  Telle  im  Ganzen  (Tone  im  Klange) 
enthalten  sind,  gehort  insofern  natiirlich  mit  zur  Analyse,  als 
man  eine  Mehrheit  von  Teilen  nicht  als  solcho  wahmehmen 
kann,  ohne  jeden  der  Telle  seiner  Eigentiimlichkeit  nach  auf- 
zufassen,  soweit  dies  zur  gegenseitigen .  Unterscheidung  not- 
wendig  ist.  Aber  schon  das  Verlangen,  einen  dieser  Telle,  wenn  ^ 
er  sogleich  darauf  isolirt  gegeben  wird,  wiederzuerkennen, 
wiirde  eine  neue  Leistung,  eine  Vergleichung  erfordern^),  die 


^)  Die  vielen  neueren  Untersuchungen  ilber  das  „Wiedererkennen" 
beachten  nicht  eine  Mehrdeutigkeit  des  Ausdruckes.   Zuweilen  bedeutet 


8  Vorbemerkungen. 

in  der  Analyse  selbst  nicht  eiugesclilossen  ist.  Doch  gilt  hier- 
von  dasselbe  wie  vom  Zahlen:  bei  einer  deutlichen  Analyse  wird 
diese  einfache  Leistung  des  WiedererkennenS  immer  ohne 
Schwierigkeit  dazutreten  konnen  und,  wo  sie  erfolgt,  die  beste 
und  unentbehiiichste  Controle  abgeben,  durch  die  man  sich  ver- 
sichert,  dass  die  Versuchsperson  die  Analyse  vollzogen  hat.  Da- 
bei  bleibt  nur  das  Eine  zu  beacliten,  dass  die  Analyse  zuweilen 
erst  nachtiaglich  am  Erinuermigsbild  des  Eindruckes  in  dem- 
selben  Moment  vollzogen  wird,  in  welchem  die  isolirte  Wahr- 
nehmmig  des  betreffenden  nachtraglich  einzeln  angegebenen 
Teiles  stattfiudet.  Denn  die  letztere  bildet  zugleich  eiii  wesent- 
liches  Hilfsmittel  der  Analyse. 

Unter  der  Erkenntnis,  welche  Teile  in  einem  Ganzen,  welche 
Tone  in  einem  Klang  enthalten  seien,  kann  aber  auch  verstan- 
den  werden  die  Benennung  der  analysirten  bez.  herausgehor- 
ten  Tone  gemass  ihrer  absoluten  Hohe  durch  Buchstaben  oder 
sonstige  Beschreibung.  Diese  Fahigkeit  ^st  von  der  Analyse 
ganz  und  gar  zu  trennen.  Wir  wissen,  dass  sie  iiberhaupt  nur 
Wenigen,  selbst  unter  den  Musikalischen,  eignet  (I  305  f.).  Eine 
Mehrheit  von  Tonen  kami  in  einem  Klang  vollig  deutlich  wahr- 
genommen  werden,  ohne  dass  man  die  Tone  zu  benennen  weiss. 
Nicht  einmal  das  Nachsingen  der  wahrgenommenen  Tone  kann 
unbedingt  als  Beweis  einer  vollzogenen  Analyse  verlangt  werden, 
da  das  Treffen  eines  Tones,  dessen  Hohe  man  ganz  gut  im 
Sinne  haben  kann,  noch  von  besonderen  Bedingungen,  zumal 
von  einem  folgsamen  Kehlkopf  abhangt.  Wiederum  gilt  aber 
auch  von  den  boiden  letzterwahnten  Fahigkeiten  der  umgekehrte 
Schluss:  wo  ein  Nachsingen  oder  gar  ein  Benennen  der  heraus- 
gehorten  Tone  in  richtiger  Weise  stattfindet,  da  werden  wir 
a  fortiori  auf  eine  deutliche  Analyse  schliessen  diirfen. 


er  nur  „wiederholtes  Erkennen",  und  dann  involvirt  der  Act  keine  Ver- 
gleichung.  in  anderen  Fallen  bedeutet  er  „Erkenntnis  der  Gleichheit 
oder  gar  der  realen  Identitat  eines  Gegenwiirtigen  mit  einem  Vergan- 
genen,"  und  dann  involvirt  er  natiirlich  eine  Vergleicbung. 


Aporien .  9 

§  16.    Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse  bei    objectiv 
gleicbzeitigen  Tonen. 

"£'?i  dh  zoTq  evnoQfjGai  ^ovkofiivoiq  UQOvQyov 
TO  diaTtoQTJaai  xa?.(Sq. 

Aristoteles  Met.  B  zix  Anfang. 

1.  Wird  Empfindung  durch  Analyse  verandert? 

Halt  man  Umfrage,  ob  ein  aus  mehreren  objectiven  Tonen 
bestehender  Klang,  wie  der  Accord  ceg,  als  Einheit  oder  Viel- 
heit  erscheine,  so  lautet  die  Antwort  verschieden.  In  einer  Ge- 
sellschaft  von  sechs  Personen  behaupteten  beispielsweise  einmal 
alle  ausser  dem  Verfasser  dieses  Buches  die  Einheit.  Man  be- 
ziehe,  meinten  sie,  den  Klang  vieUeicht  unter  Umstanden  auf 
mehrere  Instrumente  •  als  erzeugende  Ursachen,  aber  er  selbst 
als  Sinneseindruck  sei  ganz  einheitlich.  Musiker  dagegen  be- 
haupten  meist  eine  Mehrheit  von  Tonen  wirklich  zu  horen,  und 
zwar  nicbt  etwa  abwechselnd  bald  den  einen  bald  den  anderen, 
sondern  streng  gleichzeitig. 

Man  wird  aber  auch  finden,  dass  ein  und  derselbe  Mensch 
seine  Aussage  verandert,  oft  unmittelbar  nachher,  oft  in  gros- 
seren  Zwischenzeiten,  dass  er  insbesondere  in  einer  und  der- 
selben  objectiven  Zusammensetzung  von  Tonen,  die  er  zucrst 
nur  als  Einheit  gelten  Hess,  spater  eine  Mehrheit  von  Tonen 
zu  finden  glaubt. 

Es  entsteht  zunachst  die  Frage:  ob  nicht  das  Empfin- 
dungsmaterial  wirklich  einer  Verschiedenheit  bei  verschie- 
denen  Personen  bez.  einer  Veranderung  bei  einer  und  derselben 
Person  unterliegt.  Vielleicht  hort  wirklich  mein  Nachbar  nur 
einen  einzigen  uuteilbaren  Schall,  ich  aber  einen  geteilten,  mehr- 
fach  gegliederten?  Vielleicht  tritt  wirklich  eine  Umwandlung 
der  Empfindungen  in  dieser  Richtuug  wahrend  des  Lebens  ein? 

Abgesehen  von  den  allerersten  Anfangen  des  Empfindungs- 
lebens,  iiber  die  wir  nur  uubestimmte  und  vorwiegend  deductive 
Vermutungen  aufstellen  konnen  (§18  Schluss),  abgesehen  auch 
von  der  Degeneration  der  Organe  im  Alter  und  von  patholo- 
gischen  Zufallen  miissen  wir  eine   so  wesentliche  Veranderung 


10  §  16.    Aporien  in  Beziig  anf  die  Analyse 

des  Empfindungsinlialtes,  wie  sie  hier  vorausgesetzt  wiirde,  ent- 
schieden  in  Abrede  stellen.  Wenu  sich  audi  Farbeublindheit 
und  Ahidiches  dafiir  anfiihren  lasst,  dass  ein  Teil  der  Mensch- 
heit  den  gleicben  objectiven  Eindruck  wesentlicli  anders  empfin- 
det  als  die  iibrigen  Menschen,  so.liesse  sich  docli  keine  Ana- 
logie  entdecken  fiir  eine  so  durchgreifende,  auffallende  und 
plotzlicbe  Umbildung  der  Sinnesempfindungen  walirend  des 
normalen  Lebens  des  erwachsenen  Individuums.  MUsste  ja  oft 
wahrend  weniger  Minuten  eine  solcho  Umbiklung,  eine  gleich- 
sam  cbemische  Dissociation  der  in  sick  einheitlicken  Empfin- 
dung  X  in  die  drei  Empfindungen  c  e  g  stattfinden.  Einige 
Minuten  darauf,  wenn  die  Analyse  wiederkolt  werden  soil,  ist 
sie  vielleicht  wieder  unmoglicli,  wird  aber  auch  gleich  wieder 
moglich  durch  grossero  Concentration  des  Bewusstseins:  in  kiir- 
zester  Frist  miisste  also  das  Gehirnorgan  oder  dex  Nervenpror 
cess,  von  welckem  die  Qualitiit  der  Empfindungen  abhangt, 
mebrmals  derart  umgostimmt  werden,  dass  bei  gleickeni  Reiz 
die-Empfindung  grundwesentlich  verschieden  ausfiele. 

Grundwesentlich  —  denn  wir  miissten  Ernst  maclien  mit 
der  Annakme  einer  in  sich  einheitlichen  Empfindung.  Wir 
diirfton  nicht  an  irgend  eine  unklare  „Mischung"  denken,  wie 
etwa  die  Alten  sich  das  Chaos  vor  der  Welt,  den  ccpaiQoq 
Oder  das  o^ov  jiarra  dachten,  in  deren  Einheit  das  Viele 
doch  auf  irgend  eine  dunkle  Art  schon  vorlianden  schi  sollte: 
sondern  die  gegebene  Empfindung  bei  einem  Accord  wiirde 
nichts  weiter  als  eben  Ein  Ton  sein,  genau  so  einheitlich 
wie  der  Ton  einer  auf  dem  Resonanzkasten  schwingenden 
Stimmgabel.  Dagegen  wiirde  sich  dieser  Ton  in  Hinsicht  sei- 
ner Qualitat  ungcheuer  von  alien  einfachen  Tonen  unterschei- 
den.  Er  wiirde  vollstandig  aus  ihrer  Reihe  heraustreten.  Denn 
welcher  Ton  wiire  es,  den  wir  horen,  wenn  auch  nur  zwei  ein- 
fache  Tone,  c  und  g,  zusammen  angegeben  werden?  Etwa  ein 
mittlerer,  es  oder  e?  Offenbar  nicht.  Oberhaupt  fallt  kein 
einfacher  Ton  des  gesammten  Tonbereiches  mit  diesem  Ein- 
druck *  zusammen.  Es  kann  also  auch  nicht  einmal  in  dem 
Sinne   von   einem   Mischton   die    Rede   sein,    wie    Violet   eine 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  11 

Mischfarbe  genannt  wird,  namlich  im  Sinn  eiuer  Zwischenfarbe, 
die  dem  Rot  uud  Blau  gleichermasseu  ahiilicli  ist  imd,  grapliisch 
dargestellt,  auf  ihrer  Verbindungslinie  liegt.  Der  eiiiheitliche 
Ton,  welcher  durcli  das  objective  c  und  g  entstande,  koniite 
nicht  zwischen  diesen  beiden,  konnte  iiberhaupt  nirgends  auf 
der  ganzeii  Tonliuie  liegeu.  Wir  miissten  also  geradezu  eine 
zweite  Dimension  der  Tonempfindungen  amiehmen;  ja  unbe- 
gren'zt  viele,  weiin  danu  zu  den  zweien  ein  dritter,  vierter  ob- 
jectiver  Ton  u.  s.  f.  hinzugefUgt  wird.  Dies  scheint  aber  dem 
Bewusstsein  ganz  und  gar  entgegen:  alle  Tone,  die  mis  erscbei- 
nen,  werden  mit  Notjvendigkeit  als  Glieder  einer  einzigen  ein- 
dimensionalen  Reibe  angeseben,  als  bobe,  tiefe  oder  mittlere. 
Einen  seitwarts  liegenden  Ton,  einen  Tonwinkel,  ein  Tonvier- 
eck  u.  dgl.  gibt  es  so  wenig  wie  eine  seitwarts  liegendo  Zeit 
und  ein  Zcitviereck.  Wenn  einige  Forscher  zur  Versinulicbung 
des  Eindrucks  der  Toideiter  das  Bild  einer  Spirale  benutzt 
baben,  so  berubt  dies  auf  der  Mitberiicksicbtigung  der  Conso- 
nanzverbaltnisse  neben  der  qualitativen  Natur  der  Tone  an  sicb, 
deren  einfacber  Fortscbritt  von  der  Tiefe  zur  Hobe  damit  nicbt 
geleugnet  sondeni  vielmebr  anerkannt  wird. 

Factiscb  wird  sicb  Derjenige,  dein  die  Analyse  eines  Drei- 
klangs  gelingt,  nacbdem  sie  unmittclbar  vorber  mislang,  oft 
deutlicb  erinnern,  dass  das  Tonmaterial,  welcbes  er  vorber  im 
Bewusstsein  liatte,  keineswegs  ein  qualitativ  grundwesentlicb 
anderes  war  als  das  jetzige  (vgl.  I  107). 

Es  ware  endlicb  nicbt  zu  sagen,  durcb  welcbe  Miicbte 
ein  Durcbbrecben  jenes  Ton-Spbairos  bewirkt  wiirde,  wenn 
wir  nicbt  irgend  ein  mytbiscbcs  Neikos-Princip  zu  Hilfe  nebmen 
wollen.  LedigHcb  durcb  besscres  Hinboren  sollte  die  Empfindung 
verwandelt  und  so  fundamental  verwandelt  werden? 

Wir  kommen  also  aucb  bier  zu  einem  aualogen  Resultat, 
wie  scbon  ofters  in  den  vorberigen  Untersucbungen :  iiberall 
verandert  Aufmerksamkeit,  Ubung  und  sonstige  psycbiscbe  Ein- 
fliisse  im  individuellen  Leben  wesentlicb  nur  die  Auffassung 
der  Empfindungen,  die  Empfindungen  selbst  nur  ganz  ausnabms- 
weise  und  in  selir  geringem  Masse.    In  crster  Linie  muss  man 


12  §  16.    Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

demnacli  jedenfalls  die  Unterschiede  mid  Verandemngen,  welche 
ein  und  derselbe  objective  Mehrklang  fiir  das  Bewusstsein  dar- 
bietet,  auf  Veranderungeii  uiid  Unterschiede  der  blossen  Auf- 
fassung  zuriickfiihren.  Und  wir  konnen  jetzt,  von  den  neben- 
sachlicheu  Ausnahmefallen  absehend  und  das  Empfindungsma- 
terial  bei  gegebenen  objectiven  Einwirkungen  als  identisch  und 
unveranderlich  voraussetzend,  die  Frage  so  stellen: 

Werden  bei  gleicbzeitiger  Einwirkung  mehrerer  einfacher 
Wellen  mebrere  oder  nur  Ein  Ton  empfunden?  Und  wie  er- 
klart  sich  im  ersten  Fall  die  Auffassung  der  Mekrheit  als 
Einheit,  im  letztcn  Fall  die  Auffassung  dei;Einheit  als  Mehrheit? 

2.  Disjunction  der  Theorien. 

Die  eben  aufgestellte  Alternative  wird  jedoch  fiir  die  Dis- 
cussion zweckmassig  zu  einer  Dreiteilung  erweitert.  Dauert 
namlicb  die  Einwirkung  der  zusammengesetzten  Scbwingungen 
auf  das  Ohr  eine  hinreichende  Zeit,  um  einen  Wechsel  mehrerer 
Empfindungen  zu  Stande  kommen  zu  lassen,  so  ist  offenbar 
auch  diese  Hypothcse  zu  beriicksichtigen :  dass  die  einzelnen 
Tone  nacheinander,  in  einem  sogen.  Wettstreit,  gehort  wiirden 
und  class  nicht  ihre  Mehrheit  sondern  nur  ihre  Gleichzeitig- 
keit  Tauschung  ware.  Da  wir  die  Frage  ganz  allgcmein  dis- 
cutiren  woUen,  erhalten  wir  also  drei  coordinirte  Annahmen: 
Es  konnen  bei  Einwirkung  einer  zusammengesetzten  Schwingung 
auf  das  Ohr  wahrend  einer  nicht  allzukurzen  Zeit  entweder 
mehrere  Empfindungen  gleichzeitig  oder  nur  Eine  Em- 
pfindung  oder  mehrere  Empfindungen  nacheinander 
vorhanden  sein.  Natiirlich  ist  auch  nicht  ausgeschlossen,  dass 
unter  gewissen  Umstanden  der  eine,  unter  anderen  Umstanden 
der  andere  Tatbestand  vorliegt.  Doch  wollen  wir  jcde  der 
Annahmen  zunachst  unter  der  Voraussetzung  hetrachten,  dass 
sie  die  allein  giiltige  ware.  Es  wird  sich  dann  schon  zeigen, 
ob  sie  unbediugt  oder  nur  unter  gewissen  besouderen  Umstan- 
den oder  iiberhaupt  nicht  mogUch  ist.  Wir  nennen  die  erste 
kurz  die  Annahme  der  Mehrheit  oder  I,  die  zweite  die 
Annahme  der  Einheit  oder  II,  die  dritte  die  Annahme 
des  Wettstreits   oder    III,   und    suchen  im  Folgenden   jede 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  13 

derselben  zu  erlautern  iind  in  einer  vorlaufigen  Weise  durch 
die  gleichsam  auf  der  Hand  liegenden  Motive  zu  stiitzen,  dann 
aber  auch  die  Gegengriinde  moglichst  scharf  zu  formuliren, 
welclie  gegen  jede  vorgebraclit  werden  konnen. 

3.  Erlauterung  und  Begriindung  der  Mehrheits- 
lehre  (I). 

Die  Annahme  der  Mehrbeit  erscheint  wol  den  Meisten 
als  die  nachstliegende  und  leichtestverstandlicbe.  Dass  in  vie- 
len  Fallen  und  besonders  bei  Ungeiibten  die  Tauscbung  eines 
einbeitlicben  Tons  entstebt,  wird  man  durcb  Hinweis  auf  die 
Masse  der  Empfindungen  erlautern,  die  wir  durcb  die  Tempe- 
ratur  der  Umgebung,  die  Beriibrung  der  Kleider,  das  Atmen 
und  andre  organiscbe  Processe  bestandig  zugleicb  empfangen: 
aucb  dieser  ganze  Empfindungscomplex  wird  nur  in  Ausnahme- 
f alien,  bei  ausdriicklicber  Zuwendung  der  Aufmerksamkeit  und 
sonstigen  giinstigen  Bedingungen  analysirt,  und  selbst  dann  nur 
bruchstiickweise.  Das  Gloicbe  gilt  von  der  Menge  der  seitwarts 
und  der  doppelt  gesebenen  Objecte,  die  bekanntlicb  die  weit 
iiberwiegende  Mebrzabl  der  Gesichtsemj)findungen  ausmacben. 

Die  Annabme  kann  in  verscbiedener  Weise  naher  durcb- 
gefiibrt  werden:  entweder  bilden  die  gleicbzeitigen  Tone  ur- 
spriinglicb  fiir  die  Auffassung  eine  Einbeit  und  .  werden  bei 
fortscbreitender  tlbung  mebr  und  mebr  zergliedert,  oder  es  ist 
umgekebrt  die  Vielheit  das  Urspriinglicbe  und  wir  gewobnen 
uns  mebr  und  mebr,  gewisse  Gruppen  als  Einbeiten  anzusebeu, 
wofiir  sicb  ebenfalls  Analogien  finden,  oder  endlicb  beiderlei 
Processe  finden  neben  einander  statt,  jeder  unter  seinen  beson- 
deren  Umstanden  und  Bedingungen.  Diese  verscbiedenen  Mog- 
licbkeiten  sind  bei  der  Priifung  im  Auge  zu  bebalten. 

Zur  Begriindung  des  allgemeinen  Teils  der-  Annabme  bie- 
ten  sicb  vor  AUcm  die  bcstimmten  Aussageri  der  Musiker  (dar- 
untor  immer  nicbt  bios  Facbmusiker  sondern  Musikaliscbe  ver- 
standeu).  Mir  wenigsteus  ist  nocb  kein  wirklicb  musikaliscber 
Mensch  vorgekommen,  der  an  der  Mebrbeit  der  Tone  in  einem 
Accord  gezweifelt  batte.  Und  gewiss  bedarf  es  starker  Gegen- 
griinde, urn  die   ganze  barmoniscbe  und  polypbone  Musik  auf 


14  §  16.   Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

einen  Irrtum  zuriickzufiihren.  Ganz  unsinnig  ware  freilich  der 
Versuch  von  vornhereiu  nicht.  Der  aesthetische  Genuss  griindet 
sich  in  mancher  Bezieliung  auf  Tauschungen,  nicht  bios  gegen- 
iiber  der.  objectiven  Welt  sondern  selbst  gegeuuber  misren 
eignen  Empfindungen;  wenn  diese  Tauschungen  nur  regelmassig 
und  zwingend  genug  sind.  Ehe  jedocb  ein  solcher  Nachweis 
in  unsrem  Fall  erbracht  ist,  hat  die  Annahme  I  von  dieser  Seite 
her  die  Praesumption  fiir  sich. 

4.  Erlauterung  und  Begriindung  der  Einheits- 
lehre  (II). 

Die  Annahme  der  Einheit  hat  zunachst,  um  auch  nur  ver- 
standlieh  zu  sein,  zu  zeigen,  wie  die  Tauschung  der  Mehrheit 
zu  Wege  kommt.  Dazu  bieten  sich  indes  die  Gesetze  der  As- 
sociation. Die  einheitliche  Tonempfindung,  welche  nach  dieser 
Annahme  durch  den  Anschlag  der  Tasteu  c  e  g  hervorgerufcn 
wird,  .hat  der  musikalische  Mensch  oft  genug  selbst  auf  diesem 
Wege  erzeugt  und  dabei  vielfach  auch  den  Ton  wahrgenommen, 
welchen  jede  der  Tasten  cinzeln  gibt.  Jctzt  ruft  jener  einheit- 
liche Eindruck  die  Eriunerung  an  die  drei  Tone  wach.  Es  ist 
also  die  sogen.  Analyse  hiernach  nicht  eigontlich  ein  Ileraus- 
sondern  ein  Hineinhoren,  noch  genauor  ein  Hineinphantasieren 
oder  Hineindenken  auf  Grund  von  Erfahrungen. 

Dass  solches  Hineindenken  bei  unsren  Wahrnehmungen 
eine  gi'osso  Rolle  spielt,  bedarf  kaum  der  Erwiihnung.  Eigen- 
schaftcn  eines  Dings,  die  nicht  dem  Gesichtssinn  angehoren, 
werden  zur  Gesichtsempfindung  hinzugedacht  u.  s.  f.  Wir  wiir- 
den  hier  auch  nur  einen  neuen  m.erkwiirdigon  Beleg  haben,  wie 
durch  eine  subjectiv  irrige,  den  Empfindungen  widersprechcnde 
Auffassung  objectiv  richtige  Urteile  zu  Standc  kommen,  wie 
Erfahrung  denliTtum  des  Sinnes  corrigirt. 

Fiir  diese  Annahme  II  sprechen  vor  Allem  die  Aussagen  von 
Nichtmusikern  und  ihre  grosse  Unfahigkeit,  die  in  eiuem  Klang 
enthaltenen  Tone  zu  erkenneu:  man  mochte  bei  der  auffallenden 
Ausdehnung  letzterer  Erscheinung  versucht  sein,  diese  objectiv 
falschen Urteile  fiir  die  subjectiv  richtigen  und  ihre  objective  Falsch- 
heitaus  dem  Mangel  jener  corrigirenden. Erfahrungen  zu  erklaren. 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen,  15 

Es  wiirde  sich  ferner  aus  der  Annahme  II  begreifen,  warum 
wir  Farbenmischungen  iiicht  ebeiiso  sicher  wie  Tonmischimgcn 
analysiren:  eine  und  dieselbe  Mischfarbe  kann  aus  vielen  ganz 
verschiedenen  Verbiuduugen  zweier  oder  mehrerer  Farben  resul- 
tiren,  Weiss  aus  Scharlachrot  und  Griinblau,  aber  aucb  aus  Gelb 
und  Ultramarinblau  u.  s.  f.  Daher  kann  sich  nicht  eine  feste 
Association  zwischen  Weiss  und  zwei  oder  drei  ganz  bestimmten 
anderen  Farben  bilden.  Bei  Tonen  gibt  dagegen  jede  andere 
Combination  auch  einen  anderen  Klang. 

Es  konnte  endlicb  fiir  diese  Amiabme  geltend  gemacht  wer- 
den,  dass  ein  Zusammenklang  doch  starker  klinge  als  jeder  seiner 
Componenten  fiir  sich  allein.  Wenn  wir  diese  gesondert  empfin- 
den,  sei  es  gleichzeitig  sei  es  nacheinander,  so  sieht  man  nicht 
ein,  wie  die  Intensitaten  derselben  sich  summireu  soUen.  Gibt 
es  doch  Uberhaupt  keine  Summation  von  Empfindungsstiirkeu  als 
solchen*  (nur  eine  von  empfindungserzeugenden  Processen).  Wenn 
dagegen  der  Summe  der  gleichzeitigen  Tonreize  immer  Eine  Em- 
pfindung  entspricht,  so  ist  es  natiirlich,  dass  sic  unter  sonst  glei- 
chen  Umstanden  starker  ausfallt  bei  dreien  als  bei  Einem  Tonreiz. 

5.  Erlautcrung  und  Begriindung  der  Wettstreits- 
lehre  (III). 

Die  Annahme  des  Wettstreits  endlich,  wonach  wir  beim 
Dreiklang,  aber  auch  beim  Einzelklang  die  Teile  immer  nur 
abwechselnd  horen,  hat  ebenfalls  ihre  Analogien.  So  zeigt  be- 
kamitlich,  wenn  man  mit  dem  rechten  Auge  durch  ein  blaues, 
mit  dem  linken  durch  ein  gelbes  Glas  sieht,  das  gemeinsame 
Gesichtsfeld  bald  diese  bald  jene  Farbe,  oder  auch  teilweise 
diese  teilweise  jene,  aber  auch  dann  in  der  Verteilung  unruhig 
wechselnd.  Zuweilen  tritt  hier  allerdings,  wie  es  scheint,  auch 
eine  Mischung,  eine  Zwischcnfarbe  auf,  wahrend  beim  Horen 
Zwischentone,  wie  schon  erwahnt,  sich  nicht  bilden.  Auch 
wiirde  der  Wettstreit  beim  Horen  nicht  bios  zwischen  beiden 
Ohren,  sondern  schon  zwischen  den  Tonen  in  emem  Ohr  statt- 
finden.    Doch  fehlcn  Analogien  hiefiir  beim  Auge  nicht  ganz^). 

^)  Vgl.  den  von  Plateau  zuerst  beobachteten  Wettstreit  der  Nacli- 
bilder  (Rot-Grun-Rot-Grun  etc.).    Pogg.  Ann.  Bd.  32  S.  550.    Fechner, 


16  §  16.   Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

Einfluss  der  Aufmerksamkeit  wird  auch  dort  behauptet,  miisste 
aber  jedenfalls  beim  Obr  viel  starker  und  haufiger  sein.  So 
wiirde  sich  das  Heraushoreu  und  die  individuellen  Unterscbiede 
in  dieser  Hinsicbt  erklaren;  vorgangige  besondere  Erfabrungen 
iiber  die  Klangzusammensetzung  waren  nicbt  mibedingt  er- 
fordert. 

Die  Tauscbung  der  Gleicbzeitigkeit  wiirde  man  bauptsacb- 
licb  ebenfalls  dadurcb  erklaren,  dass  es  jederzeit  in  unsrem  Be- 
lieben  staude,  den  einen  oder  anderen  Teilton  zu  boren;  wodurch 
die  Meinung  entsteben  kann,  dass  sie  alle  ununterbrocbfen  zu- 
gleicb  da  waren  ^).  Ausserdem  konnte  die  Abwecbslung  so  rascb 
vor  sicb  geben,  dass  man  nacbber  beim  Zuriickdenken  an  das 
Geborte  den  Eindruck  der  Gleicbzeitigkeit  erbielte.  Dass  es 
iiberbaupt  moglicb  ist,  Aufeinanderfolgendes  fiir  gleicbzeitig  zu 
nebmen,  lebren  die  nacb  Bessel's  Vorgang  in  mannicbfacber 
Weise  wiederbolten  Beobacbtungen  iiber  Zeitverfluss  zwiscben 
anscbeinend  gleicbzeitigon  Wabrncbuiungen  verscbiedcner  Sinne^). 

Fiir  III  spricbt  scbon  der  Umstand,  dass  die  Wabrbeit 
nacb  dem  Spricbwort  in  der  Mitte  liegt:  nacb  I  ware  die 
Wabrnebmuiig  ciuer  gloicbzeitigen  Mebrbeit  vollig  ricbtig,  nacb 
II  Yolligc  Tauscbung,  nacb  III  ware  die  Gleicbzeitigkeit  Tau- 
scbung, die  Mebibeit  aber  ricbtig.  So  bebalt  aucb  der  Mu- 
siker  und  der  Nicbtmusiker,  jeder  zur  Halfte,  Recbt,  und  be- 
greifen  sicb  gemiiss  obiger  Andeutung  die  individuellen  Unter- 
scbiedc.  Es  liesse  sicb  endlicb  auf  gcwisse  specielle  Erscbeinungen 
binweisen,  wie  auf  die  Unrube,  die.  sicb  oft  in  einem  Klange 


tJber  einige  Verhiiltnisse  cles  binocularen  Sehens.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss. 
I860.  S.  399.  Die  mosaikartige  Verteilung  zweier  Farben  in  Folge  der 
iibergreifenden  Zerstreuungskreise  bei  Kurzsichtigen ,  welche  ich  selbst 
beobachtet  und  als  mouocularcu  Wettstreit  bezcichnct  habe  (Ursprung 
der  Raumvorstellung  257),  lasst  sich  hier  weniger  gut  hcranziehen,  weil 
nicht  so  sehr  der  Wettstreit  selbst  als  das  ruhende  Ergebnis  cines  (viel- 
leicht  bios  physiologischen)  Wettstreits  vorliegt. 

')  Vgl.  Mill's  Theorie  der  ,.permanenten  Moglichkeiten  der  Empfin- 
dung",  worin  die  Aunahme  fortbestehender  objectiver  Dinge  aus  einem 
analogen  Fehlschluss  zu  erklaren  versucht  wird. 

2)  Hermann's  Handb.  II  2.  S.  256  f. 


bei  objecUv  gleichzeitigen  Tonen.  l7 

merklicli  macht,  das  tlberwiegen  gewisser,  besonders  hoher  Tone, 
welches  dem  Uberwiegen  gewisser  Farben  im  Wettstreit  eiit- 
sprache,  und  die  haufige  Aiiwendung  gebrochener  Accorde, 
welche  nichts  Anderes  ware  als  eine  in  bestimmter  Orduung 
vorgeschriebene  Ausfiibning  desselben  Processes,  der  sicli  beim 
gleichzeitigen  Anschlag  von  selbst  vollzieht,  und  welche  zugleich 
zu  beweisen  scheint,  dass  die  Wirkung  der  Harmonic  niclit  an 
wirkliche  Gleichzeitigkeit  gekniipft  ist. 

6.  Historischer  Uberblick. 

Akistoteles  discutirt  zuerst  die  Frage  nach  der  Moglichkeit 
mehrerer  gleichzeitiger  Empfiudungen,  und  bevorzugt  uuter  deu  Bei- 
spielen  gerade  die  Tonempfindungen  {jcsqI  aiod-rjOscoq  xal  aiod^tjrcov 
c.  7).  Man  koune  Mehrercs  nur  zugleich  empfindeu,  wenn  es  sich 
mische.  So  mischten  sich  hoher  und  tiefer  Ton  in  der  Consonanz. 
Dagegen  konue  sich  Vcrschiedenes  der  Gattung  nach,  wis  Weiss  und 
Siiss,  nicht  mischen,  und  sei  darum  nicht  gleichzeitig  empfindbar. 
Man  kanu  diese  Ausserungcn  wegeu  dcs  eigentiimlichcn  Begriffes 
der  Mischung  unter  die  Eiuhcits-  wie  unter  die  Mehrhcitslehre  sub- 
sumiren,  in  beiden  Fallen  mit  wesentlicher  Einschriiukung.  Auch 
ist  zu  beachten,  dass  Akistoteles  Empfindung  und  Wahmehmung 
nicht  scheidet.  Intcressant  ist,  was  dann  iiber  den  Wettstreit  gc- 
sagt  wird  (p.  448,  a,  19):  Einige  behaupteten,  die  Tone  kamen  beim 
Zusammenklang  nur  scheinbar  zugleich,  indem  man  die  bei  ihrem 
Wechscl  zwischeuliegeude  Zeit  (d.  h.  wol  die  Zeit  vera  Versch\Yiiiden 
eines  Tons  bis  zu  seincm  Wicderauftauchen,  die  durch  die  anderen 
Tone  ausgefullt  ist)  nicht  wahrnehme.  Es  sei  aber  nicht  moglich, 
eine  Zeit  nicht  wahrzunehmen. 

Dann  scheint  die  Fra^e  erst  in  neuerer  Zeit  wieder  selbstan- 
dig  behandelt  worden  zu  sein.  Condillac  (Traite  de  sensations,  in 
Johnson's  Ubersetzung  S.  61  f.)  ist  fur  die  Mehrheit,  halt  es  aber 
nicht  fiir  wahrscheinlich,  dass  man  eine  solche  erkennt,  ehe  man 
die  einzelnen  Tone  vorher  fiir  sich  gehort  hat,  und  stellt  geradezu 
das  Prinzip  auf,  dass  wir  an  den  Sinneseindriicken  nur  das  analy- 
siren,  was  wir  vorher  fiir  sich  allein  wahrgenommen  haben.  Selbst 
Tone  und  Geriiche  miissten  vorher  zusammenfliessen,  d.  h.  als  Ein- 
heit  aufgefasst  werden. 

Stumpf,  Tonpsycbologie.   n.  "2 


18  §  16.    Aporien  in  Bezug  a^f  die  Analyse 

Johannes  Mullee  (Handbucli  der  Physiologie,  1840,  II,  472  f.) 
schreibt  dem  Ohr  die  Faliigkeit  zu,  „die  durch  gleiche  lutervalle 
getrennten  Maxima  der  Stosse  zwischen  den  tibrigen  Stossen  wahr- 
zunehmen"  (unter  den  Stossmaxima  versteht  er  die  relativen  und 
absoluten  Maxima  der  Amplitude  in  einem  combinirten  Welleu- 
system,  unter  den  gleiclien  Intervallen  die  Distauzeu  der  von  Einer 
und  derselben  elementaren  Tonschwingung  herriihrenden  Maxima), 
und  vergleicht  den  Process  mit  der  Analyse  einer  zusammengesetzten 
Figur,  in  welcber  sich  verschiedene  Figuren  durchkreuzen:  „sie 
kommen  alie  zugleich  zur  Anschauuug,  aber  es  hangt  auch  von  der 
Vorstellung  ab,  welche  Impression  augenblicklich  die  lebhafteste  ist." 
Bei  dem  ersten  der  angefubrten  Satze  konnte  man  an  Wettstreit 
denken,  da  die  Maxima  aufeinauderfolgen ;  die  erlauternde  Analogie 
aus  den  Gesicbtswahrnebmungen  spricbt  dagegen  fiir  die  Mebrheit; 
und  diese  war  wol  Muller's  eigentliche  Meinung.  Von  der  Wabr- 
ncbmung  der  Wellenmaxima  kann  ja  obnedies  nicbt  im  wortlicben 
Sinne  die  Rede  sein. 

Earless  (Wagner's  Handworterb.  der  Pbysiol.  IV  429,  435  f.): 
„Haufig  wird  angenommen,  dass  das  Ohr  im  Stande  sei,  mehrerc 
Tone  gleicbzeitig  und  getrennt  von  einander  zur  Perception  zu 
bringeu.  Tbeoretiscbe  Bedenken  und  praktische  Erfabrungen  an 
mir  und  anderen  nicbt  musikalisch  Gebildeten  lassen  mich  daran 
zweifeln."  Docb  scheint  er  auf  das  Letztere  kcin  eutscbeidendes 
Gewicbt  zu  legen.  In  der  Ausfiibrung  der  tbeoretiscben  Bedenken, 
die  sicb  auf  die  Beschaffei)beit  der  zusammengesetzten  Scbwiugungen 
griinden,  kommt  er  auf  J.  Muller's  Ansicbt  zu  sprechen,  findet 
aber,  dass  der  psycbiscben  Tbiltigkeit  jeder  Anhaltspunct  des  Rai- 
sonuements  (der  Aussonderung  bestimmter  Maxima  im  Wellenzuge) 
feble.  Scbliesslicb  fiibrt  die  griindlicbe,  aber  etwas  gewundene 
Uberleguug  docb,  soviel  icb  verstehe,  zur  Mebrheit  der  Tonempfin- 
duugen,  vorausgesetzt,  dass  sich  auch  ein  pbysikalischer  Apparat  im 
Ohr  annehmen  liesse,  „durcb  welche  der  eiue  Ton  an  diesem,  der 
andere  an  jenem  Puuctc  vorwiegeud  resouirt  bestimmten  Nerven- 
fasern  iibergeben  wird",  in  welcber  Ilinsicht  er  auch  bereits  auf 
das  CoRTi'sche  Organ  hindeutet  (446). 

.    Zwei  Psychologen  HERBART'scher  Richtung  sprachen  fiir  die 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  19 

Eiuheit.  Th.  Waitz  (Grundleg.  der  Psych.,  1846,  S.  105):  „Werden 
die  Tone  c  uud  e  auf  einem  Clavier  zusarrmen  angeschlagen,  so  em- 
pfangen  dadurcli  alle  Faserii  des  Hornerven  einen  gemischten  Reiz, 
der  durch  die  Empfindung  uud  ihre  Perceptiou  urspriinglich  gar 
uicht  zerlegt  werden  kann  in  seine  Teile."  Ahnlich  „Psychol.  als 
Naturwisseusch.",  1849,  §  13,  mit  der  Begriindung,  dass  wir  tiber- 
haupt  nur  Eine  Vorstelluug  auf  einmal  haben  konnen.  F.  Volk- 
ikiAKN  (Grundriss  der  Psych.,  1856,  S.  110):  „Die  Empfindungdu 
sind  uicht  zuerst  jsolirt  und  sollen  dann  vereinigt  werden,  sondern 
sie  siud  gleich  von  Anfang  her  gleichzeitige  luteusitaten  desselben 
Wesens  uud  durchdriugen  eiuander  auf  alien  Puncten."  Es  ist  zwar 
hier  ofters  nur  von  „ursprunglicher"  Eiuheit  die  Rede,  aber  in 
Consequenz  der  Begriindung  scheint  Eiuheit  iiberhaupt  zu  liegen. 
LoTZE  (Med.  Psych.,  1852,  267  f.)  versteht  auch  Harless  da- 
hiu,  dass  wir  urspriinglich  eine  einzige  einfache  Empfindung  batten, 
und  polemisirt  gegen  diese  Annahme.  Man  konne  uicht  angeben,  wo- 
rin  solche  Empfindung  bestehen  sollte.  Auch  sei  die  Aufmerksam- 
keit  uicht  im  Stande,  etwas  wirklich  Eiuheitliches  zu  zerlegen;  sie 
konne  nur  vorhaudene  Verschiedenheiteu  schiirfer  boleuchten.  Ver- 
schiedene  Tone  wiirden  also  bereits  urspriinglich  als  verschiedeue 
zugleich  empfundcn,  ohne  qualitative  Verschmelzung  zu  einem  Total- 
eindruck,  ebenso  wie  auch  gleichzeitig  erfasste  (nebenoiuander  be- 
fiudliche)  Farbeu  im  Gesichtsbild  nicht  urspriinglich  als  ein  Grau 
gesehen  wiirden.  Die  Tone  kounten  nur  etwa  urspriinglich  weniger 
deutlich  gesojidert  und  ihre  Manichfaltigkeit  weniger  voUkommen 
iiberblickbar  seiu.  Ebenso  Mikrokosmus^  I  235:  „Am  wenigsten 
diirften  wir  annehmen,  dass  in  irgend  einem  friihen  Alter  die  Far- 
benpuncte  fiir  das  Auge,  die  Tone  fur  das  Ohr  nur  ein  unterschieds- 
loses  Gemisch  darboten,  aus  welchem  erst  die  wachseude  Aufmerk- 
samkeit  die  einzelnen  Elemente  scliiede.  Denn  weder  einen  Beweg- 
grund  wiirde  diese,  noch  eine  Picgel  des  Scheidens  haben,  wenu 
nicht  der  Eindruck  verschiedeuartige  Bestandteile  schou  erkennbar 
darbote,  zwischen  denen  sie  die  Teilstriche  wol  vertiefen  uud  zu- 
scharfen,  aber  da  nicht  Ziehen  kann,  wo  sie  durch  keine  Andeu- 
tuug  vorgezeichnet  sind."-  Iri  ahulichem  Sinne,  aber  nicht  ganz  so 
eutschieden,  aussert   er  sich   in   der   Metaphysik,    1879,   S.  514  f. 

2* 


20  §  16.    Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

tiber  den  „Chemismus"  der  Empfiuduugen:  sic  sclimelzen  nicht  zu- 
sammen,  uur  der  Act  ihrer  Unterscheidung  felilt.  Aber  maucbe 
uns  voUkommen  einfach  scheinende  Empfindung,  selbst  eine  Farbe, 
konute  mit  der  Zeit  noch  auf  diesem  Wege  „dissociirt"  werden. 

Helmholtz,  dem  die  Frage  besouders  wegen  der  Bedeutung 
der  Obertone  fiir  den  Zusammenhang  seiner  Theorie  wichtig  wurde, 
statuirte  Mehrheit  (Pogg.  Ann.  Bd.  99  und  108,  dann  „Lehre  von 
den  Tonempliudungen",  1863,  und  „Popular-wissenschaftl.  Vortrage"). 
Die  einheitliche  Auffassung  erklart  er  aber  in  ^er  letzten,  vierten 
Auflage  der  „Tonempfiudungen"  (1877)  anders  als  friiher,  namlicb 
nicht  mehr  als  Resultat  einer  Gewohnung,  sondern  als  das  Ursprung- 
•  liche,  und  die  Zerlegung  als  ein  spateres  Ergebnis  psychischer  Kriifte, 
Da  wir  im  folgendeu  Paragraphen  eingebender  hieriiber  bandeln 
mussen,  gentige  die  kurze  Anfiibrung. 

Fechner  (El.  II  272)  neigt  auf  Grund  eigener  Beobacbtung 
(er  recbnet  sich  zu  den  Unmusikalischen)  zur  Einbeitslebre,  consta- 
tirt  aber  den  bestimmten  Widersprucb  Musikaliscber,  wie  Haupt- 
mann's,  den  er  ausdriicklich  befragte,  und  Helmholtz',  In  der 
Abbandlung  „Uber  einige  Verbaltnisse  des  binocularen  Sehens", 
Sachs.  Akad,,  1860,  S.  542,  bespricht  er  spcciell  die  Frage,  ob  die 
Eindriicke  bcider  Obrcn  Eine  Empfindung  geben,  und  erwahnt  die 
Hypothese  eines  raschen  Wechsels,  verwirft  sie  aber,  weil  der  Ge- 
sammteindruck  eines  zweiohrig  gehorten  Tones  entschieden  starker 
sei,  als  der  des  objcctiv  gleichen,  nur  von  Einem  Ohre  veruorame- 
uen  Tones.  Es  mussen  sich,  schliesst  er,  die  Tone  beider  Ohreu 
zu  einem  gemeinsamen  Eiudruck  combiniren.  Nur  ein  Wettstreit 
der  Auffassung  fiude  Statt;  man  konne  nicht  beiden  Ohren  zu- 
gleich  seine  Aufmcrksamkeit  schenken. 

RiNNE  (Zeitschr.  fiir  rationelle  Medicin  von  Henle  und  Pfeuf- 
FER,  Bd.  24,  1865,  S.  39)  polemisirte  gegen  Helmholtz:  die  vieleu 
Empfiuduugen  miissten  doch  innerhalb  der  Seele  zu  einem  riiumlich 
uugetreunten,  rein  intensiven  Zustande  zusammeufliessen  und  ihre 
Trennung  dann  erst  auf  eine  vielleicht  weniger  leicht  nachweisbare 
Weise  vor  sich  geben.  Also  Einheit,  wenigstens  urspriinglicb.  Scbon 
an  der  Ausdrucksweise  ist  der  Eintiuss  von  Lotze's  Localzeichen- 
und  Herbart's  Seeleutheorie  ersichtlich. 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  21 

In  meiner  Schrift  „Uber  den  psychol.  Ursprung  der  Raumvorst.", 
1873,  vertrat  ich  S.  130 — 34  beziiglich  der  Tone  die  strenge  Ein- 
heitslehre  als  Consequenz  des  CoNBiLLAc'schen  Princips,  welches  durch 
die  Erfahrung  allgemein  bestatigt  werde,  und  mit  der  oben  wieder- 
gegebenen  Ausfiihrung  iiber  die  Entstehung  des  Scheiues  einer  Viel- 
heit;  doch  nicht  ohne  anzudeuten,  dass  noch  manche  Schwierigkeit 
in  der  Sache  liege. 

G.  E.  MuLLER  erhob  in  seiner  Dissertation  „Zur  Theorie  der 
sinnlichen  Aufmerksamkeit",  1873,  S.  24  f.,  eine  ganze  Reihe  von 
Einwanden  gegen  die  bezugliche  HBLMHOLTz'sche  Lehre,  und  kam 
ebenfalls  auf  die  Einheitslehre  zuriick  (die  Teiltone  bilden  „ge- 
wisserraassen  mit  Aufgabc  ihrer  selbstandigen  Existenz  gemeinsam 
eine  einzige  neue  Empfindung";  der  Klang  ist  die  „psychisclie  ein- 
heitliche  Resultante  gleichzeitiger  Nervenreize"). 

Die  neuesten  Schriften  dcutscher  Philosophen  huldigen  meist 
noch  der  alteren  HEL>raoLTz'schen  Ansicht  (vgl.  Lipps,  Psychol. 
Studien,  1885,  S.  36;  wol  auch  B.  Erdmann,  Viertelj.-Sch.  fur 
wiss.  Phil.  X  400,  wenn  er  von  „Association"  der  Obertone  mit  dem 
Grundton  als  Grund  der  Kichtunterscheidung  spricht).  Ebenso  Phy- 
siologen,  selbst  Hensen,  der  Bearbeiter  der  ganzen  Tonlehre  in  Herm. 
Hdb.  Ill,  2,  126  f.:  „Wir  diirfen  wol  annehmen,  dass  eine  der  zum 
Ohr  gehorenden  Sinnesflachen  im  Centralorgan  die  Teiltone  zu  Grup- 
pen  vereint,  zuweilen  (Composition  der  Vocale  durch  Stimmgabeln) 
wider  besseres  Wissen,  aber  eutsprechend  den  erapirisch  entweder 
friiher  oder  mit  Hilfe  anderer  Sinnesorgaue  gleichzeitig  als  einheit- 
lich  erkannten  Klangquellen.  Man  darf  vermuten,  dass  ein  von  Ge- 
burt  tauber  Mensch,  geheilt,  in  ahnlicher  Weiso  das  Horen  lernen 
miisste,  wie  wir  wissen,  dass  geheilte  Blinde  das  Sehen  lernen." 

Klirzlich  behauptet  aber  wieder  Tii.  Lowy,  „Die  Vorstellung 
des  Dinges  auf  Grund  der  Erfahrung",  1887,  S.  200:  „Kein  nicht- 
sichtbarer  Inhalt  ist  mit  cinem  anderen  nichtsichtbaren  Inhalt  oder 
mit  einem  sichtbaren  Inhalt  in  einem  Nebeneinander  gegeben . . . 
Ein  Mehrklang  von  Tonen  z.  B.  ist  eine  Zeitfolge  oder  eine  eigene 
Bestimmtheit,  gibt  aber  keinc  Gleichzeitigkeit  der  Tone  in  der 
Wahrnehmung."  So  einfach  dogmatisch  hingestellt,  ist  die  Be- 
hauptung  freilich  wertlos. 


22  §  16-    Aporien  iu  Beziig  auf  die  Analyse 

'7.  Bedeiikeu  gegen  die  Mehrheitslehre. 

Vergegenwartigen  wir  mis  nuu,  was  gogen  jede  der  drei 
Annahmen,  uud  darnit  jedesmal  fiir  die  beiden  anderen  zusam- 
mengeuommen  (alteriiativ)  in's  Gewicht  fallt. 

Gegen  die  Melirheitsansicht  kounteu  zwei  allgemeine  Be- 
denken  gerichtet  werden'): 

a)  Gleichzeitige  Empfindungen  Eines  Siniies  koiinen,  wie 
die  Erfahrung  au  alien  anderen  Sinnen  lelirt,  niir  dann  in  Mehr- 
zahl  vorhanden  sein,  weun  sie  verschieden  localisirt  sind:  so 
Farben,  Tasteindriicke,  Geschmacke,  Temperaturen  u.  s.  w. 
Warum  sollte  das  Gehor  hierin  eine  Ausnahme  machen?  Da 
nun  die  gleicbzeitig  demselben  Obr  zukommenden  Tone  offen- 
bar  nicbt  verscbieden  localisirt  werden,  da  nicbt  der  eine  recbts 
unten,  der  andere  links  oben  u.  s.  f.  erscheint,  so  wird  es  nicbt 
moglicb  sein,  zwei  verscbiedene  Tone  gleicbzeitig  mit  demselben 
Obr  zu  empfinden.  „Vielbeit",  sagt  bereits  Schopenhauer,  „ist 
nur  als  Nebeneinander  oder  als  Nacbeinander  vorstellbar". 

b)  Es  ist  scbwerer,  gleicbzeitig  zum  Obre  driugende  Tone 
zu  unterscbeiden  als  aufeiuanderfolgende.  Wenn  aber  die  ob- 
jectiv  gleicbzeitigen  wirklicb  aucb  im  Bewusstsein  gleicbzeitig 
waren,  so  sollte  man  das  Umgekebrte  erwarten.  Zwei  Sinnes- 
eindriicke  werden  in  irgeud  einer  Bcziebung  um  so  leicbter  be- 
urteilt,  je  weniger  sie  sonst  differiren.  So  werden  z.  B.  zwei 
Tone  binsicbtlicb  ibrer  Starke  um  so  leicbter  verglicben,  je  we- 
niger sie  der  Hobe  nacb  auseinanderliegen  (I  348).  So  legt  aucb 
der  Geometer,  dor  zwei  Linien  vergleicben  will,  sie  aufeinan- 

"der,  d.  b.  er  bebt,  um  die  Grossenunterscbiede  zu  ermitteln,  die 
Ortsunterscbiede  auf.    Dasselbe  muss  von  den  Zeitunterscbieden 


')  Ich  entnehme  dieselben  wie  aiich  Einzelnes  in  der  voraufgehen- 
den  Motivirung  der  entgegenstehenden  Aiischauungen  einer  mundlichen 
und  schriftlichen  Discussion  mit  Fr.  Bkentano,  der  sich  auch  in  Vor- 
lesiingen  eingehend  mit  der  Frage  zu  beschaftigen  pflegt  iind  in  der  an- 
geklindigten  „Descriptiven  Psycliologie"  seine  positiven  Anschauungen 
dariiber  formuliren  wird,  fiber  die  ich  vorlaufig  nicht  hinreichend  unter- 
richtet  bin.  Soviel  steht  ihm  fest,  „dass,  wie  beim  Gesicht,  aucb  bei 
jedem  anderen  Sinn  das  von  einer  Qualitat  occupirte  Empfindungsfeld 
alien  anderen  derselben  Gattung  gleicbzeitig  verschlossen  ist". 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  23 

gelten.  In  der  That  ist  die  Wahrnehmung  qualitativer  Unter- 
schiede  aufeinanderfolgender  Tone  um  so  leichter  und  genauer, 
je  geringer  die  Zeitunterschiede  (I  229).  Hieraus  scheint  aber 
unmittelbar  zu  folgeu,  dass  sie  dann  am  leichtesten  und  ge- 
nauesten  sein  miisste,  wenn  gar  kein  Zeitunterschied  stattfande, 
wenn  beide  Tone  gleichzeitig  im  Bewusstsein  waren.  Also  miis- 
sen  wir,  scbeint  es,  annehmen,  dass  die  Glcicbzeitigkeit  der 
Tone  subjectiv  nicht  vorhanden  ist,  dass  vielmebr  statt  des  er- 
leichternden  erschwerende  Umstande  fiir  die  Analyse  eintretcn; 
wie  dies  nach  beiden  anderen  Theorien  der  Fall  ist. 

8:  Bedenken  gegen  die  Einheitslehre. 

Gegen  diese  Anscbauung  lasst  sich  Folgendes  anfiihren: 

a)  Wir  macbten  gegen  die  Annahme,  dass  die  Tonempfin- 
dung  bei  gleicben  Reizen  sich  als  Empfindung  dissociiren  konne, 
geltend,  dass  die  dabei  vorausgesetzte  urspriinglicbe  Empfin- 
dungseinbeit  nicbt  in  der  oindimensionaleu  Tonlinie  Platz  fande 
(S.  10  f.).  Wenn  nun  die  Empfindung  nicbt  bios  urspriinglich 
und  bei  Unmusikaliscben  oder  Unaufmerksamen,  sondern  sogar 
iiberall  und  allezeit  eine  Einbeit  ware  und  bliebe,  so  wiirdc 
dasselbe  Bedenken  wiederkebren,  das  Tonreicb  miisste  eine 
Menge  qualitativer  Dimensionen  baben,  was  dem  sinnlichen  Ein- 
druck  widerspricbt. 

b)  Ein  gewandter  Akustiker  vermag  oft  aucb  Klange,  welcbe 
er  nie  gebort  oder  iiber  deren  objective  Zusammensetzung  er 
wenigstens  nocb  keine  Erfabrung  gesammelt  bat,  durcb  das 
blosse  Gebor  zu  analysiren.  Hierunter  ist  ja  nicbt  das  Erraten 
der  an  einem  Zusammenklang  beteiligten  Instrumente  zu  ver- 
steben,  sondern  die  Wabrnehmung  der  Componenten,  seien  sie 
von  gleicber  oder  ungleicber  Starke  und  Wirkungen  eines  oder 
mebrerer  Instrumente.  Icb  und  Jeder,  der  sicb  mit  akustiscben 
Studien  viel  bescbaftigt  hat,  kann  Teiltone  in  vorber  unbekann- 
ten  musikaliscben  oder  akustiscben  Instrumenten  berausboren. 
Aucb  bei  Instrumenten,  die  der  Art  nacb  bekanut  sind,  wie 
dem  Clavier,  zeigt  jedes  einzelne  Instrument  und  wieder  fast 
jeder  einzelne  Klang  desselben  in  Hinsicht  der  Teiltone  seine 
Eigenbeiten,  welcbe  beim   erstmaligen  Horen,  sobald  nur  Zeit 


24  §  16.    Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

zum  Aufmerken  unci  den  etwa  damit  verbundenen  organischen 
Processen  gegeben  ist,  sicli  dem  Gehor  offeubaren.  Ebenso  sind 
nie  gehorte  Zusammeuklango  analysirbar,  wenn  sie  nur  nicht 
zu  complicirt  sind  und  die  cinzelnen  Tone  nicht  zu  nahe  an- 
einanderliegen.  Ja  es  wird  auf  die  sofortige  Analyse  solcher 
neuen  Zusammensetzungen  beim  Musikhoren  in  der  ausgedehn- 
testen  Weise  gerechnet.  Denu  wenn  auch  eigentliclie  neue  Ac- 
cordbildungen  selten  eingefiihrt  werdeu,  so  entstehen  doch  in 
Folge  der  Durcbgangs-  und  Vorbaltstone,  der  Verzierungen  aller 
Art  bestandig  scbou  bei  simplen  Melodien,  die  sicb  frei  iiber 
barmonischer  Begleitung  bewegen,  genug  neue  unerborte  Ton- 
complexe.  Jeder  einigermassen  Musikfabige  bat  trotzdem  keine 
MUhe,  die  Melodie  und  selbst  die  wicbtigsten  Glieder  der  Har- 
monie  berauszuboren.  Nacb  der  Annahmc  II  wiirden  bier  lauter 
neue  einfacbe  und  eigenartige  Tonerscbeinungen  vorliegen,  und 
die  Anbaltspuncte  zum  Hineindenken,  worin  ja  die  Analyse  be- 
steben  miisste,  wiirden  feblen. 

c)  Ein  Umstand,  aus  dem  Helmholtz  folgerte,  dass  die 
Obertone  nicht  das  Werk  der  Pbantasie  seien,  steht  auch  ibrer 
Herleitung  aus.  der  Erfahrung  in  der  Weise  von  II  entgegen 
(wobei  sicb's  ja  ebcn  um  eine  durcb  Erfahrung  geleitete  Pban- 
tasie handoln  wiirde):  Wer  harmonische  Obertone  vernimmt, 
vernimmt  sie  mit  voller  Bestimmtlieit  und  Regelmassigkeit  in 
reiner  „natiirlicher"  Stimmung,  z.  B.  den  fiinften  Teilton  des 
C,  namlich  e*,  etwas  tiefcr  als  das  temperirte  e^  des  Claviers, 
den  sechsten,  g'^,  etwas  boher  als  das  g^  des  Claviers,  den  sie- 
benteu  merklich  ticfer  als  h\  Wer  iiberhaupt  Obertone  wahr- 
nebmen  kann  —  und  icb  mocbte  glauben,  dass  es  fast  Jedem 
bei  einiger  (Jbung  gelingt  —  unterliegt  in  dieser  Hinsicht  eiuem 
unbedingten  Zwang;  er  kann  sie  nicht  um  das  Geringste  boher 
oder  tiefer  horen.  Aber  nicht  bios  diese  starre  Bestimmtlieit 
der  Teiltono  Iiberhaupt  ware  unbegreif lich ,  weiin  ibre  Wahr- 
nebmung  nm-  ein  Hineindenken  gemiiss  don  vielfachen  Gedacht- 
nisbildern  ware,  und  nicht  bios  miisste  man  dann  einen  be- 
sonders  massgebenden  Einfluss  unmittelbar  vorangehender  Ein- 
driicke  auf  die  Stimmung  des  Teiltons  erwarten,  der  sicb  nicht 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  25 

findet:  sondern  man  mlisste  geradezu  eiue  durchschnittliche 
Neigung  erwarten,  die  Obertone  temperirt  vorzustellen.  Zum 
Mindesten  dem  Gedaclitnis  von  Clavierspielern  wiirde  sich  keine 
andere  Stimmung  gleicbstark  einpragen  koiiiien.  Die  Thatsachen 
lehren,  dass  das  frischeste  und  deutlichste  Gedachtnisbild  bier 
einflusslos  ist;  der  Oberton  orklingt  eigensimiig  in  seiner  ma- 
tbematiscb  notwendigen  Stimmung  und  dor  Unterscbied  zwi- 
schen  dieser  und  der  unmittelbar  vorber  geborten  tcmperirten 
Stimmung  tritt  erst  recbt  deutlicb  bervor. 

Man  konnte  erwidern:  die  aus  reinen  natiirlicben  Inter- 
vallen  bestebenden  Accorde  seien  angenebmer  als  die  temperir- 
ten.  Das  Gefiibl  nun,  welches  ein  Klang  mit  harmoniscben 
Teiltonen  erwecke,  sei  dem  des  reinen  Accords  abnlicber  als 
dem  des  temperirten,  und  so  batten  wir  an  diesem  uns  be- 
kannten  Gefiibl  einen  Anbaltspunct,.  rcine  Quinten  und  Terzen 
in  den  einbeitlicben  Klang  ebenso  bineinzuboren  wie  in  den 
Accord,  dessen  Entstebung  wir  durcb  Erfabrung  kenn^n. 

Docb  dieser  Zusatz  bilft  nicbt  viel  weiter.  Die  Meisten 
baben  iiberbaupt  nocb  keinen  reinen  Dreiklang  gebort,  selbst 
wenn  wir  von  der  idealen  Reinbeit  abseben  und  nur  von  dem 
fiir  das  musikaliscbe  Gcbor  erreicbbaren  Maximum  der  Rein- 
beit reden.  Aber  mag  Einer  viele  oder  wenige  odcr  keine 
reinen  Dreiklange  gebort  baben:  fiir  das  Erkennen  der  Ober- 
tone macbt  dies  keinen  Unterscbied.  Es  miisste  aber  nacb  jener 
Tbeorie  einen  Unterscbied  macben.  Ferner  baben  wir  die  so- 
gen.  natiirlicbe  Septime,  das  Verbaltnis  1 :  7  bez.  4:7,  in  der 
harmoniscben  Musik  niemals  oder  nur  zufallig  bei  abweicben- 
der  Intonation  gebort,  da  das  Intervall  in  unsrom  Musiksystem 
keine  Anwendung  findet,  und  so  kann  uns  das  beziiglicbe  Ge- 
fiibl aucb  nicbt  dabcr  vertraut  sein:  gleicbwol  wird  gerade  der 
siebente  Teilton  am  Clavier  meist  besonders  deutlicb  und  in 
seiner  Stimmung  ganz  bedcutend  von  dem  der  nacbstliegenden 
Taste  (der  kleinen  Septime)  abweicbend  vernommen.  Endlicb 
hort  der  Geiibte  nocb  viele  andere  bo.bere  Teiltone,  unter  Um- 
standen  den  20.,  ja  26.  (den  ich  z.  B.  am  B^  eines  Pianino  so 
stark  fand,  dass  er  sich  zuerst  mitten  im  Spielen  uuwillkiirlicb 


26  §  16.   Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

der  Beach tung  aufdrangte);  fiir  welche  unmoglicli  besoiidere  Er- 
fahrungen  iiber  die  entsprechendeii  Zusammenklange  imd  deren 
GefUhlscharaktere  vorliegen  konnen,  zumal  viele  davon  wie- 
derum  in  der  heutigen  Musik  ungebrauchlich  sind  (Obertone 
der  Glocken,  der  Glasinstrumente,  der  Stimmgabeln  unmittel- 
bar  nach  dem  Anschlagen,  und  bobere  Obertone  aller  anderen 
Instrumente). 

d)  Durcb  die  Veranderung  des  Phasenunterschiedes  zweier 
Tonwellen,  wie  sie  erfolgt,  weun  eine  derselben  mit  verschiedener 
Zeitdifferenz  gegeniiber  der  anderen  beginnt,  werden  in  der 
Form  der  Gesammtwelle  nicht  weniger  cingreifende  Veranderun- 
gen  erzeugt,  als  durcb  die  Veranderung  des  Langenunterscbie- 
des,  der  dem  Hobenunterscbied  der  Tone  entspricbt.  Aber 
wabrend  im  letzteren  Fall  entsprecbende  Veriinderungen  in  der 
Bescbaffenbeit  des  Klanges.  resultii-en,  ist  die  Veranderung  der 
Pbasendifferenz  und  damit  diese  selbst  einflusslos.  Dies  ergibt 
sicb  im  Allgemeinen  scbon  aus  der  tiiglicben  Erfabrung,  ist 
aber  (da  sicb  gegen  deren  Beweiskraft  noch  Einiges  einwenden 
liesse)  von  Helmholtz  nocb  mit  sinnreicben  genauen  Vor- 
ricbtungen  nacbgcwiesen  und  fiir  die  Lebre  vom  Zustandekom- 
men  der  Geborempfindungen  mit  Recbt  scbr  in  den  Vorder- 
grund  gestellt  worden. 

Nebmen  wir  an,  dass  jede  einfacbe  Welle  (Sinusscbwingung) 
die  ibr  entsprecbende .  besondcre  Tonempfinduiig  erzeugt,  unab- 
bangig  von  der  anderen  und  ungestort  dui'cb  sic,  so  wird  der 
Gesaramtcbarakter  des  Empfindungsinbaltes  nur  von  der  Starke 
und  Lange  der  Teilwellen  abbangen,  deren  Pbasenunterscbied 
hingegen  einflusslos  sein.  Ist  die  durcb  cin  zusammengesetztes 
Wellensystem  erzeugte  Empfindung  dagegen  eine  einfacbe,  so 
muss  man  erwarten,  dass  alio  bedeutenderen  Veranderungen  in 
der  Wellenform  audi  die  Empfindung  verlindern.  Die  Erfabrung 
entscbeidet  also  fiir  die  erstere  Annabme. 

Zwar  bat  Pt.  Konig  (Wied.  Ann.  XIV,  1881,  S.  374  f.)  nacb 
Untersucbungen  mit  der  yon  ibm  construirten  Wellensirene  einen 
Einfluss  der  Pbasenveranderung  dennocb  bebauptet;  wenn  aucb 
nur   geringere   Unterscbiede   des   Klanges,    abnlicb    etwa    den 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  27 

Klangfarbenuntcrschieden  auf  eiiiem  und  demselben  Instrument 
oder  beim  Aussprecben  desselben  Vocales  von  Seiten  verschic- 
dener  Menscben,  dadurcb  bedingt  sein  sollen.  Es  gibt  aber 
kaum  eineu  Weg,  dies  mit  den  erwabnten  Tatsacben  zu  ver- 
einigen,  als  die  Annabme,  dass  in  Folge  oder  zugleicb  mit  der 
Pbasendifferenz  bier  auf  irgend  eine  Weise  im  Obr  Unterscbiedc 
der  Obertone  erzeugt  wurden.  Hocbstens  konnte  man  nocb 
daran  denken,  dass  neb  en  den  Einzelscbwingungen  docb  aucb 
die  Gesammtscbwingung  als  solcbe  einen  gewissen  Eiufluss  batte, 
indem  sie  mit  einem  Teil  ibrer  lebendigen  Kraft  etwa  auf  an- 
dere  Perceptionsorgane  innerbalb  des  Obres  wirkte.  Weitere 
tbeoretiscbe  und  experimentelle  Untersucbungen  bieriiber  sind 
erforderlicb,  konnen  aber  an  dem  Wesentlicben  der  obigen  Tat- 
sacbe  und  der  daraus  gezogencn  Folgeruug  nicbts  iindern, 

Der  Folgerung  selbst  konnte  man  nocb  dadurcb  zu  ent- 
geben  sucben,  dass  man  eine  pbysikaliscbe  Zerlegung  der  Ge- 
sammtwelle  im  Obr  mit  Helmholtz  annabme,  dann  aber  eine 
Wiedervereinigung  im  Gebirn  nocb  binzupostulirte.  Dadurcb 
wUrde  der  Einfluss  der  Pbasenuntcrscbied;)  ausgemerzt  und  dcn- 
nocb  eine  einbeitlicbe  Empfindung  erzeugt.  Aber  eine  solcbe 
doppelte  Umformung  des  Reizes  in  entgegengcsetztem  Sinne, 
Zerlegung  und  Wiedervereinigung,  wiirdc  die  Grenzen  glaub- 
licber  Hypotbesenbildung  docb  stark  iiberscbreiten. 

e)  Zu  gleicber  Folgerung  gelangen  wir,  wenn  wir,  ganz 
abgeseben  von  Pbasenanderungen,  die  Gestalt  einer  beliebigen 
Gesammtwelle  in  sicb  selbst  genauer  in's  Auge  fassen,  wie  sie 
durcb  Combination  zweier  Sinuswellen  von  gleicber  AmpUtude 
ohne  anfanglicbe  Pbasendifferenz  entstebt,  z.  B.  die  durcb  die 
Sinuswellen  vom  Verbaltuis  2:3  gcbildete  Gesammtwelle. 

Sie  besitzt  nicbt  eine  einbcitlicb  gleicbbleibende,  sondern 
eine  wecbselnde  Lange;  und  zwar  wecbselt,  wie  eine  geome- 
triscbe  Untersucbung  zeigt^),  diese  Lange  zwiscben  den  Wer- 

*)  Ich  babe  diese,  deren  Veroffentlichung  anderwarts  erfolgen  muss, 
zu  einer  Zeit  angestellt,  als  mir  selbst  die  Empfindung  nocb  als  einheit- 
licb  gait,  und  bin  durcb  die  Consequenzen  zum  Aufgeben  dieser  Ansicbt 
veranlasst  worden.    Es  war  mir  damals  gerade  darum  zu  tbun,  aus  der 


28 


§  16.    Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 


ten    ^         (beim  Maximum   der  Amplitude)  und    ,       ,  (beim 

Li  -\-  I  XJ  -\-  I 

Minimum),  wenn  unter  L  und  I  die  Langen  der  grosseren  und 
kleineren  Sinus welle  verstanden  sind. 


Halten  wir  uun  fest,  dass  die  Tonhohe  der  Wellenlange 
corresponclirt  —  was  Ij^i  aufeinanderfolgenden  Tonen  sich  durch- 
aus  bestatigt  und  als  erstes  Grundgesetz  der  Akustik  gelten 
muss  —  so  miisste  man  hier  statt  c  und  ()  vielmehr  einen  zwi- 
sclien  e  und  e^  (und  zuglcich  der  Intensitat  nacb)  wechselnden 
Ton  boren,  woven  keine  Spur  zu  finden  ist.  Oder  wenn  man 
etwa  versucht,  das  Princip  fiir  die  Tonbobe  so  auszusprecben, 
dass  nicbt  die  Lange  der  Wello  sondern  die  Anzabl  der  in  der 
Secunde  in's  Obr  gelangendcn  Wellengipfel  (Scbwingungsmaxima) 
die  Tonbobe  bestimme;  so  zeigt  ein  Blick  auf  die  Figur,  dass 
an  Stelle  der  2  bez.  3  Maxima  der  Sinuswellen  ein  einziges 
absolutes  Maximum,  neben  ibm  nocb  zwei  kleinere  relative 
Maxima,  gotreten  sincl.  Man  miisste  danacb  also  an  Stelle 
von  c  und  g  entweder  den  Ton  1  (0)  oder,  wenn  die  relativen 
Maxima  mitgcrecbnet  werden,  ausscbliesslicb  g  boren.  Alles 
dieses  bestatigt  sicb  nicbt. 


Form  der  rosultirendeu  Gesammtwelle  irgendwelche  Eegeln  fiir  die  Be- 
schaffenheit  des  zu  horenden  einfachcn  Tons  abzuleiten. 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  29 

Analoges  ergibt  sich  fiir  4:5  unci  jede  beliebige  Combi- 
nation ^). 

9.  Bedenken  gegen  die  Wettstreitslehre. 

Gegen  diese  lasst  sich  Folgendes  einwenden: 

a)  Wenu  man  die  Aufmorksamkeit  absichtlich  auf  eine  ein- 
zelne  Stimme  concentrirt  halt,  -wiirde  man  hienach  die  iibrigen 
Stimmen  nicht  etwa  nebenbei  sondern  gar  nicht  horen.  Dann 
konnte  man  sich  dieselben  aber  auch  nicht  nacljtraglich  iu's 
Gedachtnis  rufen,  was  doch  factisch  fiir  einigormassen  Geiibte 
moglich   ist.     Man  halte   beispielsweise  in  folgendem  Satzchen 

3 

_3 3  _     r^-*-    ^  « 


EeEf 


)e3^ 


'       1       I 

die  Aufmerksamkeit  fest  auf  die  Oberstimme  gerichtet,  der  sie 
sich  ohnodies  von  selbst  zuwenden  wird.  Die  P'igur  werde  so 
schnell  als  moglich  ausgefiihrt.  Dann  ist  nicht  einmal  Zeit, 
zwischen  ihren  einzelnen  Noten  auf  eine  andere  Stimme  iiber- 
und  wieder  zuriickzuspringen,  wenn  man  auch  woUte.  Dennoch 
wird  ein  Musiker  unschwer  die  ganze  Figur  mitsammt  der  Be- 
gleitung  aufs  erstemal  nacli  dem  Gehor  niederschreiben.  Dies 
begreift  sich,  wenn  die  Begleitung  wirklich  gehort  wurde,  sei's 
auch  nur  gauz  nebenbei,  iihnlich  etwa  dem  indirecten  Sehen. 
Dann  kann  man  das  indirect  Gehorte  sich  gleich  nachher  in's 
Gedachtnis  rufen  und,  wie  der  gewohnliche  Ausdruck  lautet, 
„zum  Bewusstsein  bringen",  genauer  gesagt  zur  Beachtung  brin- 
gen.  Dann  kann  man  auch  durch  fortgesetzte  Obung  solch' 
erhebUche  Fertigkeit  hierin  erwerben,  wie  sie  zum  voilen  Ver- 
standnis  pol^'phoner  Musikwerke  vorausgesetzt  wird.  (Jbrigens 
vermogen    wir  schon   im  gewohnlichen  Leben  oft  eine   an  uns 


')  Fiir  y  >  3  wird  jedoch  die  Lange  der  Resultirenden  beim  Maxi- 

mum  =  -J :   und  nahert  sich  mit  wachsendem  -^    immer    mebr    der 

Minimumlange. 


30  §  16.    AiDorien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

gGricttete  Frage  oder  das  Stundenschlagen  einer  Uhr,  das  man, 
in  eino  andere  Bescliaftigung  vertieft,  5,iiberliort"  hatte,  unmit- 
telbar  nachter  auf  solclie  Weise  zu  reconstruiren.  Aber  immer 
setzt  dies  voraus,  dass  die  Eindriicke  wirklicb  empfunden  wur- 
den.  Hat  man  sie  so  wenig  gehort,  wie  Einer,  der  fiinfzig  Mei- 
len  entfernt  und  olmo  teleplionisclie  Verbindung  ist,  so  fallt 
natiirlich  auch  die  Moglichkeit  der  Reproduction;  und  dies 
miisste  nach  III  in  der  That  eintreten,  sobald  und  solange 
durch  die  Concentration  der  Aufmerksamkeit  der  Wettstreit 
zu  Gunsten  Einer  Stimme  entscliieden  ist. 

Man  kann  nicht  erwidern,  es  sei  unmoglich,  die  Aufmerk- 
samkeit auch  nur  so  lange,  als  es  hier  verlangt  wird,  auf  eine 
Stimme  conceutrirt  zu  halten.  Weun  wir  die  Kraft  haben, 
durch  Concentration  der  Aufmerksamkeit  andere  Empfindungen 
desselben  Sinnes  vollkommen,  als  waren  die  cntsprechenden 
Reize  iiberhaupt  nicht  vorhanden,  zu  verdrangen,  und  wenn 
diese,  sonst  immerhin  ungewuhnliche,  beim  Furbenwettstreit  nur 
mit  bedeutenden  Beschrankungeu  und  von  Manchen  gar  nicht 
bestatigte  Leistung  beim  Tonsinne  ex  hypothesi  etwas  gauz  Ge- 
wohnliches- ist:  so  miissen  wir  auch  die  Kraft  haben,  die  Auf- 
merksamkeit etwa  eine  Secunde  lang  in  gleicher  Richtung  zu 
erhalten,  eine  Fiihigkoit,  die  uns  ohnedies  sonst  nirgends  zweifel- 
liaft  erscheint.  Tatsiichlich  siud  ja  oft  schon  Kinder  von  zwei 
Jahren  im  Standc,  eine  zuerst  unbegleitete,  dann  mit  harmo- 
nischer  Begleitung  gehorte  Melodie  wiederzuerkennen,  was  nicht 
moglich  wiire,  wenn  sie  die  Aufmerksamkeit  nicht  auf  die 
Oberstimme  concentrirten. 

b)  Ferner  miisstu  durch  Concentration  der  Aufmerksamkeit 
auf  eiiien  einzelnen  Ton  nach  der  Annahme  III  die  Klangfarbe 
und  das  Harmoiiiegefiihl  hinwegfallen.  Die  Klangfarbe  hangt 
wesentlich  an  den  Obertonen.  Wenn  wir  nun  auf  den  Grund- 
ton  eiues  Trompetenklangs  acliten,  so  horen  wir  zufolge  der 
Annahme  III  wahreuddessen  die  mitklingenden  Obertone  nicht, 
miissten  also  den  Ton  als  vollig  einfachen,  mit  einer  floten- 
artigen  und  noch  milderen  Farbung,  vernehmen. 

Ein    tiefer    Clavierton    klingt    merklich    rauh    infolge    der 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  31 

Schwebungen  seiner  Obertone.  Beim  C  z.  B.  schwebeu  h^ 
(7.  Teilton),  c^  und  d^  uutereinander.  Achtet  nun  Eiuer  auf 
diese  Schwebungen,  so  konnte  er  nach  der  Hypotliese  das  C 
nicht  horen;  achtet  er  auf  dieses,  so  wiirden  mit  den  Obertonen 
auch.deren  Schwebungen  hinwegfallen.  Wie  sollte  C  rauh  er- 
scheinen? 

Man  konnte  sogar  folgern,  dass  es  iiberhaupt  keine  Un- 
terschiede  der  Klangfarbe  geben  diirfte,  wenn  immer  nur  ein 
Teilton  auf  Einmal  empfunden  werden  soil.  Hiegegen  liesse 
sich  zwar  versuchsweise  noch  erwidern,  dass  an  eine  rasche 
Folge  einfacher  Tone  vielleicht  durch  irgendeinen  psychophy- 
sischen  Mechanismus  Klangfarbe  gekniipft  sei.  Wir  konnen 
aber  diese  dunkle  Hilfshypothese  (wie  soil  durch  nachfolgende 
Tone  audi  den  vorausgehenden  cine  Farbe  zuwachsen?)  auf  sich 
beruhen  lassen,  da  schon  der  Wegfall  der  Klangfarbe  unter  den 
geuannten  spcciellercn  Umstandon   der  Erfahrung  widerspricht. 

Auch  dem  Harmoniegefiihl  wiirde  unter  gleichen  Bedingun- 
gen  der  Boden  cntzogen.  Es  konnte  kcinen  Unterschied  machen, 
ob  wir  c  allein  ocler  mit  anderen  Tonen  zusammenanschlagen, 
solangc  wir  nur  ausschliesslich  auf  c  achten:  die  anderen  Tone 
wiirden  nicht  empfunden,  konntcn  also  auch  keine  Gefiihlsver- 
schiedenheit  erzeugen.  Es  ware  einerlei,  welche'n  der  beiden 
Zusammenklange 


m^ 


ich  angebe,  wenn  beidemale  c^  fixirt  wird.  Da  bei  Solovor- 
triigen  ohnedies  die  Aufmerksamkeit  der  Solostimme  zugewandt 
ist,  konnte  diese  mit  beliebiger  Begleitung  gespielt  werden:  sie 
bliebe  Solo  im  wortlichsten  Sinne.  In  demselben  -Moment,  wo 
wir  etwas  von  der  Begleitung  zu  erliaschen  suchten,  wiirde  der 
Ton  des  Sangers  zerrissen,  vernichtet. 

c)  Woher  der  Unterschied  fiir  das  Gefiihl,  jenachdem  ich 
d  nach  c  oder  zugleich  mit  c  angebe?  Nur  im  letzteren  Fall 
entsteht  Disharmouie.  Nach  der  Hypothese  ist  aber  das  Horen 
in  beiden  Fallen  ein  successives.     Sollte  etwa  die  Schnelligkeit 


32  §  16.    Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

des  Wechsels  den  Unterschied  machen?  Aber  wir  kouneu  aucli 
den  objectiven  Wecbsel  beliebig  rascb  vollzieheu.  Hiebei  ent- 
stelit  allerdings  bei  ausserster  Rascliheit  des  Trillers  eine  Art 
Disbarmoniegefiihl,  aber  eben  dies  weist  darauf  bin,  dass  eine 
wesentlicbe  Anderung  in  der  Empfindung  vorgebt,  welche  da- 
durcb  erklarbar  wird,  dass  jetzt  durcb  objectives  oder  subjec- 
tives  Nacbklingen  die  Tone  gleichzeitig  werden.  Und  andrer- 
seits  konnten  wir  ja  den  Wettstreit,  wenn  er  sicb  obne  Wil- 
lenseinfluss  etwa  sebr  rascb  voUziebt,  ex  bypotbesi  willkiirlich 
verlaugsamen ,  somit  aucb  in  dieser  Ricbtung  beide  Falle  fiir 
die  Empfindung  vollig  gleicb  macben. 

Es  gibt  wol  wenige  aestbetiscb  so  widerwartige  Dingfi,  als 
es  der  Wettstreit  der  Farben  ist.  Ein  so  mu'einlicbes,  regellos 
fliessendes  Cbaos  ware  aucb  jeder  Dreiklaug.  Wer  mochte  auf 
das  Wettstreitspbaenomen  beim  Auge  eine  Kunst  griinden? 

.  d)  Die  Entstebung  von  Scbwebungen  (auf  welcbe  vielleicbt 
Einer  in  den  vorigen  Scbwicrigkciten  recurriren  mocbte,  zumal 
da  sie  sclbst  als  eine  Art  von  Wettstreit  erscbeinen)  ist,  ge- 
nauer  betracbtet,  mit  dem  Wettstreit  unvertraglicb.  Scbwebun- 
gen sind  in  crstcr  Linie  periodiscbe  Intensitatsscbwankungen  in 
Folge  der  Combmation  gcwisser  Tone.  Man  kann  sicb  ibr  Zu- 
standckommen  nur  so  vorstellen,  dass  irgendwo  im  pbysiolo- 
giscbcn  Gebicte  die  zwei  Erregungen,  welcbe  scbwebenden  To- 
nen  (z.  B.  c  und  cis)  entsprecben,  gcgen  die  sonstige  Rcgel 
aufeinander  einwirken;  uiid  dies  nicbt  in  der  Weiso  dass  die 
resultirende  Erregung  sicb  alternirend  aus  beiden  zusammen- 
setzte,  und  jetzt  bios  die  c-,  dann  die  cis-,  dann  wieder  die  c- 
Erregung  stattfiinde:  sondern  in  jedem  Augenblick  miissen  beide 
vereinigt  sein,  so  wie  objectiv  die  Einzelwellen  in  der  einbeit- 
licben  Gesammtwelle  vereinigt  sind.  Nun  obliegt  es  allerdings 
aucb  der  Ansicbt  I,  zu  erkliiren,  warum  Solcbes  nur  unter  ge- 
wissen  Bedingungen,  bei  relativ  nabeliegenden  Tonen,  eintritt. 
Aber  es  ist  danach  nicbt  von  vornberein  die  Moglicbkeit  aus- 
gescblossen,  deu  Scbwebungs-Erscbeinungen  gerecbt  zu  werden. 
Es  ist  mit  I  nicbt  gesagt,  dass  in  alien  Fallen  der  objectiven 
Mebrzabl    von    Tonen    mebi'ere    Touempfindungen    entsprecben 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  33 

miissen,  sondern  iiur  dass  uberliaupt  mehrere  zugleicli  statt- 
habeii  konnen.  Es  ist  ferner  Nichts  dariiber  gesagt,  wie  sich 
die  vieleu  Empfiiidungen,  weim  sie  vorhauden  siiid,  zu  einander 
verhalten,  ob  sie,  bez.  die  ihnen  zu  Gruiide  liegenden  Nerven- 
vorgange,  allezeit  ungestort  und  ohne  gegenseitigen  Einfluss  zu- 
sammensein  konnen.  Hingegen  die  Annahme  eines  Wettstreites 
scheint  von  vornherein  mit  deni  Vorkonimen  von  Scliwebungen 
ini  Widersprucli,  da  ja  die  entsprechenden  Vorgange  hiernach 
iiberbaupt  nicht  gleicbzeitig  existiren  und  somit  auch  nicht  sich 
gegenseitig  verstarken  und  schwacheu  konnen. 

Man  konute  auf  die  Ausflucht  verfallen,  die  Entstehung  des 
Wettstreits  gar  nicht  im  physischen  Gebiet  sondern  erst  im  Be- 
wusstsein  zu  suchen,  wahrend  man  die  Schwebungen  physiologisch 
begriindet  diichte.  Aber  abgeseheu  von  allgemeineren  Bedenken 
wiirde  solche  Ausflucht  schon  durch  ihre  Willkiirlichkeit  sich 
verbieten.  Man  miisste  dann  auch  die  Schwebungen  rein  psy- 
chisch  interpretiren  und  dann  wiirde  die  ganze  Aporie  wieder- 
auftauchen. 

e)  Man  ware  nach  III  auf  keine  Weise  im  Stande,  durch  das 
Gehor  den  exact  gleichzeitigen  Anschlag  zweier  Claviertasten  zu 
controliren.  Die  Clavierlehrer  batten  keinen  Grund,  darauf  so 
erpicht  und  iiber  das  Arpeggiren  so  erziirnt  zu  sein.  Factisch 
controlirt  dies  aber  der  Horer  mit  ausserordentlicher  Feinheit. 

f)  Wenn  ein  Musiker  Beispiele  wie  das  sub  a)  unmittelbar 
nachher  niederschreiben  kann  (was  feststeht),  so  miisste  er  alle 
Noten  in  der  Weise  gehort  haben,  dass  die  Aufmerksamkeit 
aufs  Schnellste  zwischen  ihnen  bin-  und  herrannte,  ohne  eine 
davon  zu  versaumen.  Es  sei  dies  moglich:  aber  in  welcher  Auf- 
einanderfolge  wiirde  er  sie  denn  horen  und  nach  welchen  Kriterien 
aus  der  blossen  Succession  das  Notenbild  construiren?  Sehr  viele 
Reihenfolgen  sind  denkbar,  z.  B.  folgende: 


P=r=q 


— I — I — I — . — 0. — p.- 1 — __| — I — p—\ — I 


Stumpf,  Tonpsychologie.   n. 


34  §  16.   Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

Woher  erfiihrt  nun  der  Horer  schon  das  Eine,  dass  es  sich 
nicht  wirklicli  um  eine  unbegleitete  Figur  von  dieser  Form 
handelt?  Die  dicken  Kopfe,  durch  welclie  wir  die  Melodie  vor 
der  Begleitung  hier  fiir  das  Auge  auszeichneten,  zeichnen  sicli 
fiir  seine  Gehorsempfindung  nicht  aus.  Und  wemi  nun  das 
Ganze,  ein  zweites  Mai  gespielt,  eine  andere  Figur  im  Wett- 
streit  gibt:  warum  identificirt  er  es?  Will  man  vielleicht  sagen, 
die  Figur  sei  fiir  eine  bios  melodiscbe  zu  ungewohnlicli,  und 
die  Erfabrung  babe  uns  gelebrt,  derartige  sprungbafte  Erschein- 
ungen  auf  objective  Gleicbzeitigkeit  zu  deuten,  so  ware  es  eine 
Kleinigkeit,  Beispiele  zu  ersinnen,  die  entsprecbend  aufgelost 
ganz  annebmbare  melodiscbe  Wendungen  geben.  Oder  will 
man  darauf  binweisen,  dass  die  Begleitungstone  beim  Clavier 
nur  im  ersten  Moment  gleicbstark  mit  den  Melodietonen  sind, 
sich  also,  wenn  sie  erst  nacb  diesen  im  Wettstreit  auftaucben, 
durch.  ibre  Schwache  kennzeicbnen ,  so  kaun  man  das  Ganze 
durch  drei  Violinen  auffiihren  lassen  und  die  Starke  wird  con- 
stant bleiben. 

Fiir  die  Annahme  I  wird  die  Tbeorie  der  Stimmentrennung 
durch  das  Gebor  auch  nicht  in  alien  Fallen  leicht.  Aber  im 
obenerwahnten  Beispiel  wird  das  Kriterium  fiir  die  Trennung 
der  Stimmen  einfach  sein:  die  beiden  unteren  Tone  werden 
iinmer  wahrend  eines  Tactviertels  als  liegenbleibende  wahrge- 
nommen,  wenn  auch  nur  nebenbei.  Sie  gehen  nach  Tempo  und 
Rhythmus  ihren  eigenen  Gang. 

g)  Warum  sollte  die  Tiiuschung,  durch  welche  uns  das 
Aufeinanderfolgende  gleichzeitig  schiene,  bei  den  Tonen  so  hart- 
nackig,  ja  uniiberwindlich  sein?  Factisch  wird  sie  doch  auch 
der  Aufmerksamste  und  in  sinnlicher  Beobachtung  Geiibteste 
nicht  ganz  los,  auch  wenn  er  der  Wettstreitslehre  huldigt. 
Sonst  miisste  er  zum  Mindesten  ohne  Schwanken  sagen  konnen, 
in  welcher  Reihenfolge  er  die  Dreiklangstone  soeben  gehort 
hat.  Es  miisste  sich  auch  eine  gewisse  Kegel  finden  lassen, 
nach  welcher  beim  unwillkiirlichen  Wettstreit  die  Tone  sich 
folgen,  etwa  von  der  Hohe  zur  Tiefe  oder  umgekehrt;  denn 
die  Kegel  konnte  hier  wegen  der  Einheit  der  Dimension  nur 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  35 

eine  ganz  einfache  sein  (anders  als  bei  den   Farben).     Nichts 
von  Dem.     Die  Tauscliung  ist  uniiberwindlich. 

Nun  kommen  miiiberwindliche  Tauschungen  im  Sinnesge- 
biet  wol  vor,  aber  nur,  wo  es  sich  um  absolut  oder  relativ 
verscbwindende  Empfinduugsmomente  handelt  (vgl.  I  33;  ferner 
380:  Tauscliung  der  Stille).  So  wurde  denn  zu  Gunsten  der 
Hypotbese  auf  die  Unwahrnebmbarkeit  kleinster  Zeitunter- 
schiede  nacb  Bessel  u.  A.  hingewiesen.  Allein  die  Dinge  liegen 
in  unserem  Fall  doch  ganz  anders.  Dort  bandelt  sicb's  um 
scheinbare  Gleichzeitigkeit  zweier  selbst  nur  momentaner  (mini- 
mal dauernder)  Eindriicke,  z.  B.  des  Gesicbtseindrucks  durcb 
einen  elektriscben  Funken  und  des  Geborseindrucks  durcb  einen 
Glockenscblag,  oder  (innerbalb  Fines  Sinnes)  der  Geborseiu- 
driicke  zweier  durcb  den  elektriscben  Funken  erzeugter  Knister- 
gerauscbe.  Gebt  die  Zeitdistanz  beider  Eindriicke  unter  einen 
gewissen  Betrag,  so  wird  das  Ui*teil  iiber  die  Zeitfolge  unsicber. 
Aber  in  unserem  Fall  bandelt  sicb's  nicbt  um  eine  kleinste 
Zeitdistanz  momentaner  Eindriicke,  sondern  um  die  Aufein- 
anderfolge  nicbt  momentaner  Eindriicke,  zwiscben  denen  eine 
Pause  iiberbaupt  nicbt  zu  existiren  braucbt.  Bei  objectiver 
Succession  kann  ein  Ton  obne  die  geringste  Pause  dem  anderen 
folgen:  die  Aufeinanderfolge  wird  wabrgenommen,  wenn  nur  die 
Dauer  der  Tone  selbst  nicbt  zu  kurz  ist.  Und  so  ist  aucb 
nicbt  einzuseben,  warum  die  angeblicbe  Succession  im  Wett- 
streit  unwabrnebmbar  sein  miisste.  Selbst  wenn  wir  annebmen, 
dass  beim  unwillkiirlicben  Wettstreit  jeder  Ton  nur  momentan 
auftrete,  die  Tone  also  in  rapidestem  Wecbsel  durcb  das 
Obr  stiirmten  (was  der  Analogic  mit  dem  tragen  Farbenwett- 
streit   keineswegs   entspricbt  ^),   so   koimten   wir   docb   voraus- 

^)  Wettstreit  beim  Auge  hangt  doch  wol  mit  Ermudung  zusammen, 
wenn  auch  nicht  bios  yon  dieser  ab.  Ermudung  tritt  aber  beim  Ohre, 
abgesehen  von  den  hocbsten  Tonen,  weit  langsamer  ein  (I  18,  360  f.), 
und  so  ware  auch  ein  viel  langsamerer  Wettstreit  hier  zu  erwarten. 
Wollte  man  aber  als  Ursache  desselben  hier  etwa  die  Aufeinanderfolge  der 
verschiedenen  Wellenmaxima  ansehen,  deren  jedes  dem  betreffenden 
Ton  das  Ubergewicht  verschaflfte,  so  miissten,  von  allem  Anderen  ab- 
gesehen,  tiefe   Zusammenklange   leichter    als    mittlere    und    hohe    von 


36  §  16.   Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

setzungsgemass  durch  den  Willen  retardirend  einwirken,  um 
die  einzelnen  Tone  nach  Belieben  zu  beobacliten,  und  dann 
miisste  doch  der  Schein  ihrer  Gleichzeitigkeit  in  Nichts  zerfliessen. 

Wenn  icli  auf  einen  Oberton  horche,  so  soil  nach  der  An- 
nahme  der  Grundton,  obgleich  starker  als  jener,  vollig  ver- 
schwinden.  Komme  icb  nun  auf  diesen  zuriick,  so  soil  die 
Einbildung  entsteben,  dass  er  wahrend  der  gauzen  Zeit  in  der 
Empfindung  fortbestanden  babe.  Man  kann  sicb  aber  diese 
Frage  scbon  vorlegen,  wahrend  man  den  Oberton  hort:  und 
warufla  miisste  auch  dann  die  Einbildung  entstehen?  Vielleicht 
weil  scbon  durch  die  Frage  die  Aufmerksamkeit  wieder  auf 
den  Grundton  gelenkt  und  so  dieser  wirklich  zuriickgefiihrt 
wiirde?  So  nachgiebig  sind  die  Empfindungen  gegeniiber  der  Auf- 
merksamkeit soust  nicht;  es  bedarf  immer  einiger  Zeit  und 
Anstrengung,  um  Empfindungen  willkiirlich  zu  verandern,  wo 
und  soweit  dies  iiberhaupt  moglich  ist,  und  speciell  beim  Wett- 
streit  der  Farben  kann  man  erfahren,  dass  sie  keineswegs 
augenblicklich  dem  Rufe  folgen. 

Die  Ouvertui-e  zum  Sommernachtstraum  beginnt  mit  einer 
Fermate  zweier  Floten  im  Intervall  der  grossen  Terz.  Wir 
wiirden  den  Klang  als  ein  unstetes  Wechseln,  wie  das  Lauten 
zweier  Glocken  horen.  Wir  glauben  ihn  aber  factisch  als  un- 
verandert  ruhiges  Zusammenkliugen  zu  vernehmen,  genau  so 
ruhig  wie  den  Klang  Einer  Flote.  Und  die  Tauschung  sollte 
so  uniiberwindlich  soin,  dass  wir  bei  aller  Aufmerksamkeit  iiicht 
dahinter  kamen,  was  wir  eigentlich  horen? 

Wenn  ich  jetzt  einen  Menschen  sehe,  dann  einen  zweiten, 
dann  wieder  den  ersten,  so  bin  ich  sicher  iiberzeugt,  dass  dieser 
iiizwischen  fortexistirt  hat,  dass  ich  ihn  also  batte  sehen  konnen. 
Aber  ich  erinnere  mich  doch  ganz  .deutlich,  das's  ich  ihn  nicht 
wirklich  gesehen  babe.  Dagegen  glauben  wir  uns  ganz  deut- 
lich zu  erinnern,  dass  wir  die  beiden  Tone  die  ganze  Zeit 
wirklich  gehort  haben^). 

gleichem  Intervall  analysirbar  sein,  da  die  Wellenkopfe  sich  weniger 
rascli  folgen.    Das  Gegenteil  tindet  Statt. 

V  Hierin    hinkt   auch    der  Vergleich   der  Wettstreitslehre  mit   der 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tdnen,  37 

Im  zweiten  Satz  der  5.  Symphonie  Beethoven's  (Partitur 
Peters  S.  22)  halt  die  Clarinette  den  Ton  es^  durch  mehrere 
Tacte,  wahrend  Viola  und  Cello  eine  bewegte  Figur  ausfiihren. 
Ich  habe  bei  einer  Auffiihrung  eigens  darauf  gemerkt:  der  ge- 
haltene  Ton  erschien  ganz  ununterbroclien.  Ebenso  mag  man 
den  Schluss  des  3.  Satzes  derselben  Symphonie  (S.  46  f.),  das 
zweite  (Clarinetten-)Thema  der  Freischiitz-Ouverture  und  zahl- 
lose  ahnliche  Stellen  vergleichen.  •• 

h)  Wiirde  ein  kurz  angegebener  Accord  nur  successiv  ge- 
hort,  so  entfiele  auf  die  Wahrnehmung  der  einzelnen  Tone  zu 
geringe  Zeit.  Um  einen  Ton  als  hoher  gegeniiber  einem  anderen 
zu  erkennen,  bedarf  es  einer  gewissen  Zeit  (I  216),  welche  sich 
notwendig  noch  vergrossert,  wenn  wir  die  Tone  so  genau  auf- 
fassen  sollen,  dass  sie  wiedererkannt,  nachgesungen ,  ihrer  ab- 
soluten  Hohe  nach  oder  ihrem  Interval!  nach  bestimmt  werden 
konnen.  Geben  wir  nun  den  8 stimmigen  Accord: 
kurz  abgestossen  auf  dem  Clavier  an,  so  ist  d§r  ^J^ 

geiibte  Musiker  im  Stande,  den  ganzen  Accord,     Fa,      ^^~~fF 
wie  er  hier  auf  dem  Papier  steht,  nach  alien     "-^ — w*r— 
seinen  Tonen  zu  bestimmen.    Die  Fahigkeit  hat  "^ 

ihre  Grenzen  in  verschiedener  Richtung,  aber  sie 
besteht  noch  unter  den  angegebenen  Umstanden.  Haben  wir 
nun  die  acht  Empfinditngen  zugleich,  so  kommt  auf  jede  die 
ganze  Dauer  des  Accords;  und  wenn  diese  Zeit  auch  nicht  hin- 
reicht,  die  sammtlichen  Urteile  zu  bilden,  so  konnen  wir  doch 
nachher  gleichsam  die  Phonogramme  der  Empfindungen  im  Ge- 
dachtnis  mit  Musse  betrachten.  Haben  wir  sie  aber  nacheinander, 
so  kommt  au|  jede  nur  ^/g  jener  Zeit,  wahrend  dessen  sie  ihr 
Bild  im  Bewusstsein  wahrnehmbar,  wiedererkennbar  entwerfen 
muss.  Dass  diese  Zeit  ungenligend  ist,  liesse  sich  vielleicht 
experimentell   exact  dartun;   man  wird   sich  aber  dieser  tlber- 


oben  angezogenen  „Theorie  der  permanenten  Moglichkeiten  der  Empfin- 
dung'"  hinsichtlich  der  Aussenwelt,  die  imUbrigen  ihren  Zweck  auch  keines- 
wegs  erfullt,  aber  ihn  wenigstens  in  diesem  Puncte  nicht  so  ohnc  Weiteres 
verfehlt. 


3/S!  /?  K-yj^  ^ 


gg  §  16.    Aporien  in  Bezug  auf  die  Analyse 

zeugimg  schon  in  Beriicksichtigung  der  zum  Anklingen  sowie 
zur  Unterscheidung  notigen  Zeit  kaum  verscliliessen  konnen, 
denn  die  letztere  ist  ja  imter  alien  Umstanden  zur  deutliclien 
Einpragung  in's  Gedaclitnis  erforderlich. 

Noch  Bin  Beispiel.  Im  MENDELSSOHN'schen  Streichquajtett 
D  dm  op.  44  n.  1  kommt  gegen  Schluss  des  dritteu  Satzes 
folgende  Stelle: 

■     ^  =  126. 
Viol.  I. 


Ijg-Lirfte^ 


2>P 


bei  objectiv  gleichzeitigen  Tonen.  39 

Sie  trat  mir  schon  beim  erstmaligen  Horen  vollstaudig  und 
durchsichtig  vor  das  Bewusstsein;  ich.  glaubte  sie  in  Noten  vor 
mir  zu  selien,  ohne  dass  dieses  vorher  wirklich  der  Fall  ge- 
wesen  war.  Der  Triller,  welchen  ein  virtuoser  Spieler  rasend 
sclinell  ausfiihrte,  erschien  in  ununterbrochenem  Fluss  neben 
den  gleichzeitigen  rascben  Figuren  der  Unterstimmen,  und 
diese  wieder  mit  alien  ihren  gleichzeitigen  Intervallen. 

Ebenso  vermag  wol  ein  geiibtes  Ohr  die  mit  elfenahnlicher 
Geschwindigkeit  vorbeifliehenden  Accorde  der  Holzblaser  in  der 
Einleitung  zur  Oberon-Ouverture  ohne  vorherige  Bekanntschaft 
mit  derselben  deutlich  aufzufassen.  Ahnliches  gilt  von  unzahligen 
anderen  Stellen,  die  man  fast  aus  alien  bewegteren  mehrstimmigen 
Stucken  beliebig  herausgreifen  kann. 

Soil  vielleicht  die  Aufmerksamkeit  oder  der  Wille  hier  in 
der  Weise  rettend  eingreifen,  dass  der  Wettstreit  willkiirlich 
beschleunigt  (wie  frilher  verlangsamt)  wiirde?  Aber  man  wusste 
ja  vorerst  noch  nicht  einmal,  ob  von  dem  Ton  aus,  w.elcher 
zunachst  in's  Bewusstsein  trate,  der  Zusammenklang  sich  nach 
oben  oder  nach  unten  oder  nach  beiden  Seiten  erstreckt,  miisste 
also  zuerst  probiren,  nach  welcher  Seite  bin  neue  Empfindungen 
zu  erhalten  sind.  Geschwindigkeit  ist  nach  dem  Sprichwort 
keine  Hexerei  —  hier  ware  sie's  doch. 

§  17.    Mehrheit   gleichzeitiger   Tonempfindungen. 
Losung  der  Principienfragen. . 

,,How  come  we  to  notoce  the  simultaneous 
differences  at  all?  ...  .  This  is  the  problem 
of  Discrimination,  and  he  who  will  have 
thoroughly  answered  it  will  have  laid  tire 
keel  of  psychology." 
W.  James,  Journ.  of  Spec.  Phil.  XIII  79. 

1.  Weg  der  Untersuchung. 

Fiir  jede  der  drei  moglichen  Annahmen  liessen  sich  Ana- 
logien  und  Griinde  geltend  machen.  Dann  aber  zeigte  sich 
wieder  jede  mit  anscheinend  uniiberwindlichcn  Schwierigkeiten 
verkniipft.  Man  ist  vielleicht  versucht,  Zollner  zu  beneiden, 
wenn  er  einen  durchgeschlungenen  und  versiegelten  Faden 
fiir  losbar  durch  eiue  neue  Dimension  erachtete.    Die  Annahme 


40  §  17.   Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

neuer  Dimensionen  des  Wirklichen  zur  Erklarung  der  Er- 
scheinungen  war  doch  wenigstens  nicht  von  vornherein  ab- 
surd: hier  dagegen,  wo  wir  es  nur  mit  der  Beschreibung  der 
Erscheiimngen  selbst  zu  tun  haben,  fanden  wir  auch  diesen 
Sprung  in  neue  Dimensionen  des  Tonreichs  unstatthaft. 

Bei  der  Disjunction  der  drei  Ansichten  wurde  auf  die  Mog- 
lichkeit  hingewiesen,  dass  vielleicht  keine  derselben  ausschliess- 
lich,  wol  aber  jede  oder  doch  zwei  davon  unter  verschiedenen 
Umstanden  zutrafen,  dass  z.  B.  in  gewissen  Fallen  Einheit,  in 
anderen  Wettstreit  stattfande.  Wenn  man  jedoch  die  Argu- 
mente  durchgeht,  die  gegen  jede  dieser  Ansichten  gerichtet 
wurden,  so  wird  man  finden,  dass  die  meisten  Griinde,  wenn 
sie  iiberhaupt  zwingend  sind,  die  bezugliche  Ansicht  unter  alien 
Umstanden  unmoglich  machen. 

Dagegen  wird  man  bei  einer  solchen  vergleichenden  Durch- 
priifung  wahrnehmen,  dass  die  Kraft  der  Beweisfiihning  doch 
nicht  iiberall  eine  vollig  zwingende,  dass  die  Verschanzungen 
ringsum  nicht  in  alien  Puncten  gleich  fest  sind,  und  dass 
speciell  die  Argumente  gegen  I  nicht  bios  der  Zahl  sondern 
auch  der  Beschaffenheit  nach  hintcr  den  iibrigen  zurlickstehen. 
Hingegen  scheint  mir  alles  gegen  II  und  III  Vorgebrachte 
unwiderleglich  und  damit  bercits  ein  indirecter  Beweis  fur  I 
geliofcrt.  Diese  erste  allgemeinste  und  njichstliegende  Annahme, 
welche  auch  Helmholtz  sowol  seiner  iiltcren  als  neueren  Theorie 
zu  Grundc  legte,  halte  ich  fiir  die  richtige.  Aber  die  gegen- 
iiberstehenden  Zweifel  machen  nahere  Bestimmungen  notwendig. 
Wir  werden  also  das,  was  fiir  II  und  III  (und  damit  indirect 
gegen  I),  ferner  was  direct  gegen  I  zu  sprechen  schien,  zu  ent- 
kraften  suchen  und  dabei  zugleiclj  auf  genauere  Bestimmungen 
dieser  Anschauung  stossen,  die  in  spateren  Paragraphen  weiter 
entwickelt  werden  sollen. 

2.  Entkraftung   der  Griinde   fiir   die  Einheitslehre. 

Fiir  diese  (II)  schienen  dieAussagen  vieler  Unmusikalischen 
und  ihre  grosse  Unfahigkeit  zur  Analyse  zu  sprechen.  Allein  es 
kommt  sehr  darauf  an,  welches  Intervall  die  zusammenklingenden 
Tone  bilden.     Nonen,   Septimen,    Secunden   in    mittlerer  Lage 


Losung  der  Principienfragen.  41 

werden  auch  von  Unmiisikalischen  fast  ausnahmslos  als  eine 
Mehrheit  von  Tonen  crkannt.  Die  Unfaliigkeit  zur  Analyse 
erscheint  nur  darum  so  auffallend,  well  man  dabei  fast  immer 
Dreiklange  oder  Einzelklange  mit  nachstliegonden  harmonisclien 
Obertonen  als  Beispicle  im  Sinne  hat,  welche  allerdings  scliwerer 
zu  analysiren  sind.  Gibt  es  abcr  in  dicscr  Hinsiclit  Unter- 
schiede  je  nacli  dem  Material,  so  fallt  die  Kraft  des  Argu- 
ments; denn  nun  entstcht.die  Aufgabe,  zunachst  diesc  EinflUsse 
zu  untersuchen,  und  blcibt  die  Moglichkeit,  dass  dieselben  aucb  • 
oder  nur  von  einem  andcren  Standpuncte  als  II  begriffen 
werden  konnen. 

Man  muss  aucb  nicht  glauben,  dass  es  Unniusikalischen 
unmoglich  ware,  Obertone  wahrzunehmen;  eine  Bebauptung  die 
vielfach  verbreitet  ist.  Zuweilen  werden  Obertone  sogar  auf- 
fallend leicht  und  sicher  wahrgenommen,  besonders  von  Solchen, 
die  in  sinnlicher  Beobachtung  im  Allgemeinen  geiibt  -sind  und 
die  im  gegebenen  Fall  ibrc  Aufmerksamkeit  gerade  wegen  des 
Mangels  musikalischer  Gefiihle  ganz  der  Natur  des  einzelnen 
Klangpliaenomens  in  sieb  selbst  widmen  konnen  (vgl.  I  315).  Und 
wiederura  koramt  es  auch  bier  nicht  nur  auf  die  Starke  sondern 
.  auch  auf  das  Intervall  dos  Obcrtons  zum  Grundton  an. 

Es  wurde  ferner  fiir  II  geltend  gemacht,  dass  ein  Zu- 
sammenklang  doch  starker  klingc  als  jeder  Teilklang  fiir  sicb 
allein,  was  imr  aus  II  sicb  begreife.  Wir  miissen  auch  diesem 
Argument  in  Bezug  auf  das  Tatsachliche  entgegentreten :  der 
Zusammenklang  ist  nicht  starker  als  jeder  Teilklang.  Die  ge- 
wohnliche  Meinung  riihrt  von  eijier  Reihe  von  Nobenumstiinden 
her,  die  in  der  Musik  durchschnittlich  beim  Zusammenspielen 
auftreten,  fiir  das-  Experiment  aber  beseitigt  werden  miissen. 
Man  versuche  nur  am  Clavier  eine  einzelne  Taste  und  dann 
einen  Accord,  z.  B.  c^  und  dann  c*  e^  //^  mit  moglichst  gleicher, 
z.  B.  geringstmoglicher,  Kraft  der  beteiligten  Finger  anzu- 
schlagen,  und  frage  sicb,  ob  im  letzteren  Fall  ein  starkerer 
Gesammteindruck  rcsultirt  oder  nur  etwa  ein  vollercr.  Man 
wird  dann  wenigstens  zugeben,  dass  aucb  hieriiber  eine  nahere 
Untersuchung  notig  ist. 


42  §  17.   Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

3.  Entkraftung  der'Griinde  fiir  die  Wettstreits- 
lehre. 

Fiir  diese  (III)  liess  sich  anfiihren,  dass  Musiker  und  Nicht- 
musiker  so  zu  gleichen  Teilen  Recht  erhielten  und  die  indi- 
viduellen  Unterschiede  selbst  durch  die  Analogie  init  dam  Farben- 
wettstreit  begreiflicher  wiirden.  Allein  wir  horten  soeben,  dass 
schon  das  Verhalten  der  Nichtmusiker  keineswegs  in  alien 
Fallen  liber  Einen  Leisten  gescblagen  werden  kann,  sondern 
in  seiner  Verschiedenlieit  aus  wechselnden  Umstanden  erklart 
werden  rauss.  Die  Analogie  des  Farbenwettstreits  verliert  schon 
dadurch  an  Wert,  dass  sie  auch  das  gelegentliche  Vorkommen 
wirklicher  Mischungen  oder  Zwiscbenempfindungen  erwarten 
lasst,  wahrend  solche  bei  Tonen,  wenn  wir  Zusammenklange 
ausserst  naheliegender  Tone  ausnehmen,  nie  und  nirgends 
nachgewiesen  sind. 

Noch'  besondere  Erscheinungen  deuteten  auf  Wettstreit:  die 
Unrube  in  Klangen  und  Accorden,  das  Hervortreten  gewisser, 
namentlicb  boherer  Tone,  und  die  Benutzung  gebrocbener 
Accorde.  Jene  Unrube  orkliirt  sich  indess,  wenn  nicht  aus 
unrubiger  Tongebung,  aus  den  Scbwebungen,  welcbe  besonders 
bei  dissonanten,  aber  auch  einigermassen  bei  den  meisten  (auf 
temperirtcn  Instrumenten  sogar  alien)  consonanten  Accorden, 
endlicb  aucb  bei  Einzelklangen  durcli  die  einander  nabeliegen- 
den  Obertone  entsteben.  Die  Scbwebungen  selbst  aber  sind 
nicbt  im  Sinne  des  Wettstreits  zu  interpretiren ,  vielmehr,  wie 
wir  saben,  mit  einem  solcbeu  unvcrtraglicb.  tlbrigens  lassen 
sich  auch  vollkommen  rubige  Zusammenklange  berstellen.  Jeder 
gute  Geiger  mag  die  fP-Saite  zuerst  allein  und  dann  mit 
der  hoheren  Octave  oder  auch  mit  der  reingestimmten  a*-Saite 
zusammen  gleicbmassig  streichen  und  zuhoren,  ob  der  Klang 
unrubiger  wuxl,  ob  ctwas  dem  Durcheinander  des  Farbenwett- 
streits Analoges  zum  Vorschein  kommt.  Noch  iiberzeugcndcr 
werden  auf  Rcsonanzkasten  befestigte  mit  demBogen  gcstrichenc 
Stimmgabeln  wirken.  Jede  Spur  von  Unruhe  im  Zusammenklange 
ist  bier  getilgt.     Sie  verklingen  in   absoluter  Gleichmassigkeit. 

Dass  wir  gewisse  und  besonders  bohe  Tone  leichter  her- 


Losung  der  Priucipienfragen.  43 

aushoren,  erklart  sicli  aus  der  Gewohnheit,  auf  die  meistens 
in  der  Hohe  liegende  Melodie  zu  achten;  und  dass  die  Melodie 
meist  in  der  Hohe  liegt,  hat  verschiedene  Griinde,  so  die 
grossere  Empfiudungsstarke  und  grossere  rehitive  Unterschieds- 
empfindlichkeit  in  der  hoheren  Region. 

Die  gebrochenen  Accorde  endlich  sind  historisch  aus  un- 
gebrochenen  entstanden,  als  man  das  Bediirfnis  fiihlte,  den  ein- 
fcirmigen  Zusanimenklangen,  mit  welchen  der  Sologesang  be- 
gleitet  wurde,  durch  Figuration  ncuen  Reiz  zu  geben.  Die 
Einfiihrung  der  Laute  als  Salon-  und  Soloinstrument  gab  dann 
wol  neucn  Anstoss.  Aus  den  anfanglich  einfachsten  Brechungen 
(ALBERTi'schen  Bassen,  Brillenbassen  u.  s,  w.)  haben  sich  durch 
jenes  aesthetische  Bediirfnis  mit  fortsehreitender  Technik  immer 
manichfaltigere  entwickelt.  Aber  beliebig  an  jeder  Stelle  zu 
arpeggiren,  gilt  auch  heute  keineswegs  fiir  erlaubt,  obgleich  die 
Unsitte  selbst  von  grossen  Clavierspielern ,  dcnen  die  Finger 
prickeln,  leider  nicht  hinlanglich  vermieden  wird.  Die  Era- 
pfindlichkeit  des  guten  Geschmacks  und  die  scharfe  Controle 
des  Ohres  in  dieser  Hinsicht  zeugen,  wic  bereits  erwahnt  wuide, 
geradezu  gegen  die  Wettstreitshypothese. 

So  erweisen  sich  deun  alio  als  positive  Stiitzc  fiii'  II  und 
III  anfiihrbaren  Griinde  als  hinfallig,  und  damit  .erlangt  zu- 
gleich  die  Annahme  I  (Mehrheitslehre) ,  die  schon  durch  die 
Widerlegung  der  beiden  andcrcn  im  vorigen  §  indirect  etablirt 
ist,  cine  neue  Stiitze.  Es  eriibrigt,  die  gegen  sic  selbst  vorgc- 
brachten  Griinde  zu  entkraften. 

4.  Losung  des  ersten  Argumontes  gegen  die  Mehr- 
heitslehre. 

Dasselbe  fusste  auf  dem  Satze,  dass  mehrerc  glcichlocalisirte 
Empfindungen  Fines  Sinnes  nicht  gleichzeitig  gcgeben  sein  konnen. 

Dieses  Argument  hat  von  vornherein  keine  Kraft  unter 
der  von  den  Meisten  gebilligten  Voraussctzmig,  dass  den  Tonen 
an  und  fiir  sich  in  der  Empfindung  gar  kein  Ort  zukomme, 
dass  vielmehr  die  Orte,  an  welche  der  erwachsene  Mensch  sie 
verlegt,  sammtlich  nur  associirte  Vorstellungen  sind,  die  dem 
Gesichts-5   Tast-   oder   Muskelsinn   angehoren    oder   durch   sie 


44  §  I'''.  Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

irgendwie  vermittelt  werden.  Ein  Ton  scheint  uns  einmal  im 
Ohr,  ein  anderinal  im  Hinterkopf,  im  ganzen  Schadel,  im  ob- 
jectiven  Luftraum  oder  in  einem  Instrument,  auch  wol  in  der 
Kehle  des  Sangers  zu  sitzen,  aus  der  er  zuweilen  „nicht  heraus- 
kommcn  will":  Vorstelliingen  des  Gesichtssinnes,  welche  wir 
nach  *  unserer  erworbenen  Kenntnis  vom  Ursprungsorte  des 
Tones  damit  verbinden.  Tritt  man  dieser  empiristischen  An- 
sicht  in  ibrer  allgemeincn  Fassung  bei,  so  liegt  eine  Schwierig- 
keit  fiir  unsere  Frage  gar  nicht  vor.  Denn  das  Princip  des 
obigen  Argumentes  konnte  doch,  wenn  iiberhaupt,  nur  fiir  die 
Falle  gelten,  wo  die  Localisation  den  Empfindungen  urspriing- 
licb  und  in  sicb  selbst  anbaftete.  Wie  sollte  ein  zur  Empfindung 
bios  ausserlicb  hinzukommendes,  associirtes  Merkmal  ein  Hinder- 
nis  ibrer  qualifativen  Unterscbeidung  werden?  Die  Fahigkeit 
zur  letzteren  hat  nach  den  Grundannahmen  der  empiristischen 
Kaumlehre  mit  der  Localisation  nichts  zu  tun  und  geht  der- 
selben  sogar  vorher.  Auch  beim  Gesichtssinn  nimmt  ja  der 
Empirismus  an,  dass  die  durch  Reizung  der  Netzhaut  gleich- 
zeilig  erregten  Farbenempfindungen  ursprlinglich  als  eine  blosse 
Summe  raum-  und  ortloser  Qualitaten  im  Bewusstsein  bei- 
sammen  seien  und  erst  spater  in  Folge  gewisser  damit  ver- 
bundener  Nebeneindriicko  raumlich  ausgebreitet  und  geordnet 
wiirden.  Damit  dies  geschehe,  miissen  sie  aber  bereits  qualitativ 
unterschieden  sein. 

Geht  man  von  der  nativistischen  Voraussetzung  aus,  wo- 
nach  jeder  Ton  notwendig  und  urspriinglicb  an  einem  Ort  er- 
scheint,  der  ihm  ebenso  wie  Qualitiit  und  Starke  als  ein 
immanentes  Moment  zukommt,  so  ist  soviel  klar,  dass  dieser 
Tonort  jedenfalls  nicht  in  der  Weise  veranderlich  sein  kann, 
wie  der  Ort  einer  Farbe  im  Gesichtsfeld.  Dieselbe  Farbe 
crscheint  rechts  oder  links  je  nach  der  getroffenen  Netzhaut- 
faser.  Im  Ohr  wird  entweder  (nach  alterer  Annahme)  immer 
der  ganze  Nerv  erregt  oder  doch  (nach  Helmholtz)  immer  die- 
selbe Faser  von  demselben  Ton.  In  beiden  Fallen  ist  keine 
selbstandige  Ortsveranderung  moglich.  Hiernach  bleiben  zwei 
Wege  fiir  den  Nativisten:  er  kann 


Losung  der  Principienfragen.  45 

a)  jedem  Ton  desselben  Ohres  eiueu  besonderen  aber  un- 
veranderlichen  Ort  in  der  Empfindmig  zuschreiben,  wie  jeder 
Ton  objectiv  auf  dem  Clavier  mid  mutmasslich  im  inueren  Obr 
seinen  besonderen  Ort  besitzt.  Die  raumliche  Ordnung  der 
Tone  wiirde  dann  immer  mit  der  qualitativen  zusammenfallen 
und  eben  deswegen  ignorirt  werden.  Audi  fiir  diese  Annahme 
wiirde  offenbar  die  obige  Schwierigkeit  hinwegfallen:  Melirheit 
gleicbzeitiger  Tone  ware  moglicli,  da  sie  ja  verscbieden  localisirt 
waren.     Der  Nativist  kann  aber  auch 

b)  den  sammtlichen  Touen,  wenigstens  denen  des  nam- 
licheii  Ohres,  Einen  geineinsamen  unveranderlichen  Ort  zu- 
schreiben. Unter  dieser,  aber  auch  nur  unter  dieser  ganz 
speciellen  Voraussetzung  konnte  das  Princip  des  Arguments  An- 
wendung  finden  im  Sinne  des  Arguments. 

Lasst  man  dabei  fiir  das  rechte  und  linke  Ohr  noch  eiue 
verschiedene  Ortsempfindung  bestehen,  so  muss  man  es  auch 
fur  moglich  halten,  dass  ein  Ton  im  rechten  und  ein  anderer 
Ton  im"  linken  Ohr  strong  gleichzeitig  empfunden  werden.  Fiir 
diesen  besonderen  Fall  hatten  wir  also  doch  gleichzeitige  Tone. 
Muss  man  aber  dies  zugestehen,  so  fuhren  die  Tatsachen 
weiter:  d^nn  es  ist  kein  wesentlicher  qualitativer  Uuterschied 
zwischen  dem  Eindruck,  welcher  durch  gleichzeitige  Zuleitung 
verschiedener  Tone  zu  beiden  Ohren  entsteht,  und  dem  Eindruck, 
den  dieselben  zwei  Tone  auf  Ein  Ohr  machen.  Nur  von 
Schwebungen  und  Combinationstonen  muss  abgesehen  oder  sie 
miissen  ausgeschlossen  werden. 

Man  halte  zu  diesem  Zwecke  etwa  eine  c^-Gabel  vor  das 
eine  Ohr  und  eine  ^^-Gabel  vor  das  andere;  hierauf  beide 
Gabeln  vor  ein  und  dasselbo  Ohr.  Wenn  auch  die  Schwingungen 
der  linken  Gabel  sich  durch  den  Kopf  schwach  bis  in's  rechte 
Ohr  fortpflanzen  und  umgekehrt,  sodass  jedem  Ohr  doch  auch 
der  Ton  des  andereii,  wenngleich  viel  schwacher,  dargeboten 
wird:  so  kann  einesteils  diese  tibertragung  durch  Herstellung 
schwacherer  Tone  so  gut  wie  vollig  ausgeschlossen  werden, 
andernteils  konnen  ja  nach  keiner  Theorie  die  Tonempfindungen 
in  beiden  Ohren   identisch  ausfallen,  wenn  sie   sich'im  einen 


46  §  17.  Mehrheit  gleichzeitlger  Tonempfindungen. 

Ohr  aus  einem  schwachen  c^  und  einem  starken  g\  im  anderen 
aus  einem  starken  c^  und  einem  schwachen  (/^  in  welcher  Weise 
auch  immer,  zusammensetzen.  Unterdriickt  aber  der  starkere 
den  schwacheren,  so  horen  wir  eben  einerseits  nur  c',  andrer- 
seits  nur  g^.  Es  kann  also  nichts  an  dem  Zugestaudnis  geandert 
werden,  dass  wir  liier  beiderseits  verschiedene  Tone  empfinden, 
die  ex  hypotliesi  in  der  Emplindung  auch  verschieden  localisirt 
sind.  Somit  steht  sicher  nichts  im  Wege,  dass  sie  streng  gleich- 
zeitig  geliort  werden. 

Mag  man  nun  die  Eindriicke  in  beiden  Fallen  vergleichen: 
c^  und  ^r^  an  beide  Ohren  verteilt,  dann  c^  und  ^^  in  einem 
und  demselben  Ohr.  Man  wird  zugestehen  mlissen,  dass  kein 
wesentlicher  Unterschied  des  sinnlichen  Eindrucks  besteht, 
insbesondere  auch  kein  Unterschied  in  Hinsicht  der  Einheitlich- 
keit  und  Ruhe  des  Eindrucks;  dass  es  also  nicht  augeht,  fiir 
den  einen-Fall  wirkliche  Gleichzeitigkeit,  fiir  den  anderen  Fall 
Wettstreit  oder  einen  ganz  neuen  einheitlichen  Ton  zu  sta- 
tuiren.  Somit  fuhrt  obige  Form  des  Nativismus  vielmehr  dazu, 
das  Princip  des  Argumentes  zu  bestreiten. 

Der  Gegner  miisste  sich  also  auf  die  abgeschwachteste 
Form  des  raumlichen  Nativismus  zuriickziehen ,  wonach  auch 
selbst  die  Tone  des  rechten  und  linken  Ohrs  nur  Einen  ge- 
meinsamen  Ort  in  der  Empfinduug  besassen:  dann  allein  konnte 
er  das  Princip  des  Arguments  ohne  Inconsequenz  durchfuhren 
und  aus  diesen  beiden  Praemissen  die  Unmoglichkeit  gleich- 
zeitiger  Tonempfindungen  dartun. 

Diesem  Standpunct  gegeniiber  miissen  wir,  was  bisher  nicht 
notig  war,  die  Berechtigung  des  Princips  selbst  untersuchen. 
Auf  welchem  Wege  leuchtet  es  denn  ein,  dass  gleichzeitige 
Empfiudungen  Fines  Sinnes  notwendig  verschieden  localisirt 
sein  miissen?  Lasst  es  sich  deductiv  aus  irgend  einer  physio- 
logischen  oder  psychologischen  Wahrheit  ableiten?  Schwerlich. 
Wenn  Empfindungen  verschiedener  Sinne  gleichzeitig  sein  konuen 
ohne  Verschiedenheit  der  Localisation,  warum  nicht  auch  Em- 
pfindungen desselben  Sinnes?  Welcher  Grund  zwingt  zu  solcher 
Beschrankung?  Was   ist   iiberhaupt   „Ein  Sinn"?    Doch   nichts 


Losung  der  Principienfragen.  47 

Anderes  als  eine  Classe  von  Empfiudungen,  die  unter  einander 
qualitativ  in  liervon'agendein  Masse  gleichartig  siud^).  Der' 
tiefste  und  hochste  Ton  sind  einander  immer  noch  ahnlicher 
als  jeder  von  ihnen  einer  Farbe.  Aber  wenn  wir  Tone  und 
Farben  absolut  unvergleichbar  nennen,  so.liegt  dies  wol  nur 
daran,  dass  uns  noch  ungleichartigere  Empfindungen  eben  nicht 
bekannt  sind.  Sonst  wiirden  wir,  denke  ich,  aucb  da  nur  eine 
relative  Ungleichartigkeit  statuiren,  ebenso  wie  wir  dies  ohne 
Zweifel  innerhalb  der  sogenannten  niederen  Sinne  tun  miissen. 
Bei  welcbem  Masse  von  Ungleicliartigkeit  nun  soil  die  Mog- 
lichkeit  gleichzeitiger  gleichlocalisirter  Empfindungen  beginnen? 
und  aus  welchem  Grunde  soil  "gerade  in  dieser  Hinsicht  eine 
absolute  Grenze  unter  den  „Sinnen"  gezogen  werden? 

Vielleicht  liegt  die  Sache  so,  dass  bei  den  Sinnen  ausser 
dem  Gebor  nur  die  Vorbedingungen  in  der  Reizung  oder  ini 
Organ  feblen,  um  mehrere  gleichlocalisirte  Empfindungen  zu- 
gleich  zu  erzeugen.  Vieles  liesse  sich  dafiii'  sagen.  Oft  lassen 
sich  z.  B.  zwei  Reize  nicht  auf  derselben  Stelle  anbringen,  ohne 
sich  schon  objectiv  in  einer  Weise  zu  mischen,  die  jede  Wieder- 
zerlegung  ausschliesst;  oder  es  wird  ein  zusammengesetzter 
Reiz  vom  Organ  nicht  zerlegt,  weil  eine  entsprechende  Vor- 
richtung,  wie  sie  beim  Ohre  voraussetzlich  die  Basilarmembran 
bildet,  fehlt,  und  in  Einer  Faser  nicht  mehrere  Processe  un- 
vermischt  verlaufen  konnen  u.  s.  f. 

Man  kann  erwidern,  dass  wir  zwei  gleichlocalisirte.  Quali- 
taten  desselben  Sinnes  auch  nicht  einmal  in  der  Phantasie  als 
gleichzeitige  vorstellen  konnen,  dass  also  eine  allgemeinere  und 
psychologische  Unmoglichkeit  vorliegen  miisse.  Hieriiber  miisste 
zuerst  das  Tatsachliche  mit  Sicherheit  festgestellt  werden,  was 
bei  Fragen  iiber  die  Phantasie  bekanntlich  nicht  leicht  ist. 
Behauptet  doch  z.  B.  Ward  noch  neuerdings  geradezu,  dass  er 
auf  den  dunklen  Sternenhimmel  sehend  sich  Sonnenschein  dazu 
vorstellen  konne,  dass  man  Uberhaupt  zu  beliebigen  Empfin- 
dungen Beliebiges  imaginiren    konne!   Ich  f\ihre  dies    nur    als 

^)  Andere  Merkmale  soUen  damil  nicht  ausgeschlossen  seiu;  doch 
wird  dieses  wol  als  das  entscheidendste  gelten  miissen. 


48  §  17.  Mehrheit  gleichzeitiger  f  onempfindungen. 

Beleg  fiir  die  hier  noch  vorlianclenen  Meinuugsdifferenzen  der 
Beobachter  an,  ohue  -es  damit  selbst  zu  unterschreiben. 

Aus  allgemeinereu  Griinden  diirfte  sich  also  das  Princip  des 
Argumentes  vorlaufig  uicht  ableiten  lassen.  Konnen  wir  nun 
rein  inductiv,  ohne  Einsicht  in  den  Zusammeuhang,  in  die  Be- 
dingungen  der  Sacbe  etwas  bei  vier  Sinnen  Gefundeues  als 
Gesetz  hiustellen  und  den  fUnften  causa  incognita  danacb  ricbten? 
Gewiss  nicbt.  Und  wenn  nocb  die  Tatsacben  bei  den  iibrigen 
Sinnen  unbestritten  waren.  Aber  z.  B.  HERUsra  bebauptet,  dass 
man  bei  Berlibrung  einer  warmen  Hautstelle  mit  der  kiiblen 
Hand,  oder  der  beiden  ungleicb  temperirteu  Hande  mit  einander, 
Warme  und  Kalte  zugleicb  an  gleicbem  Ort  fiible^).  Gabe  es 
aber  aucb  keine  eiuzige  negative  Instanz:  eine  Induction  lasst 
sich  nicbt  macben,  wo  so  viele  Verdacbtsgriinde  vorliegen,  dass 
das  entsprecbende  Yerbalten  nur  in  speciellen  Einricbtungen 
griinde.  Es  bleibt  dem  Scbluss  bocbstens  die  Bedeutung  einer 
Analogic. 

Aber  nicbt  einmal  als  solcbe  kaun  er  ein  erbeblicbes 
Gewicbt  beansprucben.    Verbielten  sich  die  verscbiedeneu  Sinne 


;■)  Herm.  Handb.  Ill,  2,  437.  Hering  citirt  auch  E.  H.  Weber  fur 
diese  Meinung ;  doch  hat  Letzterer  sie  nicht  ganz  in  dieser  Weise  aus- 
gesprochen.  Auch  Czermak  glaubte,  als  er  die  Enden  eines  kalten 
und  eines  warmen  Stabchens  so  nahe  nebeneinander  auf  die  Haut  setzte, 
dass  ihre  Ortsverschiedenheit  unwahrnehmbar  wiirde,  an  Einer  und  der- 
selben  Stelle  Warm  und  Kalt  zugleich  wahrzunehmen.  Klug  bestatigte 
dies,  fand  aber  auch,  dass  die  Feiuheit  der  Ortswahrnehmung  selbst  mit 
dem  Temperaturunterschied  der  Stabchen  wachst.  (IIerm.  Ildb.  Ill,  2, 
438).  In  Ankntipfung  hieran  konnte  man  allerdings  diese  Falle  auch  so 
deuten,  dass  nicht  eigentlich  gleichlocalisirte  sondern  nur  solche  Em- 
pfindungen  vorlagen,  dereu  Ortsunterschied  augenblicklich  nicht  bemerkt 
wurde.  Ich  mochte  nicht  einmal  die  obige  Beobachtung  IIering's  dahin 
auslegen,  dass  die  beiden  Temperaturempfindungen  wirklich  gleiche  Ort- 
lichkeit  im  nativistischeu  Sinne  besassen;  da  wir  die  Kenntnis  von  der 
Lage  unsrer  Glieder  sicherlich  nicht  den  Beriihrungsempfindungen  als 
solchen  allein  verdanken,  die  ja  bei  jeder  beliebigen  Lage  eines  Gliedea 
die  namlichen  sind.  •  Aber  Ausserungen  dieser  Art  sind  doch  insofern 
bezeichnend,  als  daraus  hervorgeht,  dass  man  das  fragliche  Princip  nicht 
allgemein  fiir  einleuchtend  halt. 


•   Losung  der  Principienfragen.  49 

erfahrungsmassig  durchgelieiids  ocler  in  den  meisten  Puncten 
einander  analog  —  dann  wol.  So  aber  zeigen  sicli  Besonder- 
heiten  auffallendster  Art  fast  bei  jedem  Sinne;  und  namentlich 
verlialten  sich  Gesicht  und  Gehor  in  vielen  wesentlichen  Puncten 
keineswegs  parallel.  Fechner  hat  ihre  Abnlichkeiten  und  Ver- 
schiedenheiten  ausfiihrlicli  zusammengestellt  (El.  II,  267  f.). 
An  der  Tabelle  wiire  nach  dem  beutigen  Stand  der  Siuneslebre 
Vieles  zu  andern,  aber  der  Verschiedenheitspuncte  diirften  es 
niclat  weniger  werden.  Tone  haben  Eine  Dimension,  Farben- 
qualitaten,  wenn  man  da  iiberhaupt  von  Dimensionen  reden  will, 
mehrere.  Tone  zeigen  eine  qualitative  Steigerung,  Farben  nicht 
oder  nur  innerhalb  gewisser  Grenzen,  niclit  z.  B.  von  Blau  nach 
Gelb.  Der  Contrast,  der  simultane  wie  successive,  spielt  bei 
Farben  eine  miichtige  Rolle;  jede  Farbenemptindung  ist  mehr 
oder  weniger  davon  beeinflusst.  Bei  Tonen  ist  bis  jetzt,  abge- 
sehen  von  Tauschungen  der  blossen  Auffassung,  iiberhaupt 
Nichts  davon  beobachtet;  ein  Ton  mag  gelegentlich  tiefer 
scheinen,  wenn  ein  lioherer  ihm  vorausging,  aber  das  feiue  Ge- 
bor  erkenut  ihn  als  genau  denselben  wie  im  uragekehrten  Falle 
(oben  I  20).  Nachhilder  treten  beim  Auge  kraftig  und  an- 
haltend  auf  und  unterlicgen  bostimmten  qualitativen  Umwand- 
lungen:  beim  Ohr  sind  nur  selten  und  untor  besonderen  Um- 
stiinden  Nachempfindungen  bemerklich  und  dann  fast  immer 
von  glcicher  Hohe  wie  die  Anfangsempfindung  (I  212,  278). 
Schwebungen  finden  sich  nur  beim  Ohrc;  der  Wettstreit  der 
Sehfelder  ist  kein  Analogon,  da  Schwebungen  nicht  in  QualitLits- 
sondern  in  Intensitatsschwankungen  bestehen,  iiberdies  am 
stiirksten  oder  ausschliesslich  innerhalb  Eines  Ohres  zu  Staude 
kommen.  (Tone  des  rechten  und  des  linken  Ohrs  geben  nur 
dann  Schwebungen,  wenn  sie  in's  entgegengesetzte  Ohr  hin- 
iiberklingen.)  Consonanz  und  Dissonanz  finden  sich  bei  Tonen, 
nicht  bei  Farben.  Wie  man  sich  auch  bemiihe,  die  sogenannte 
Farbenharmonie  mit  der  Consonanz  in  Parallele  zu  bvingen, 
die  Parallele  bleibt  eine  gewaltsame,  erkiinstelte;  wie*  schon 
die  Tatsache  lehrt,  dass  geringe  Abweichungen  von  der  Con- 
sonanz die  grosste   Dissonanz   erzeugen,  wahrend   die  Farben- 

Stuinpf,  Tonpsychologle.    II.  4 


50  §  17.  Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

harmonie  durch  geringe  Andemngen  nicht  oder  nur  wenig  ge- 
stort  wird.  Uberdies  besteht  Cousonauz  gar  nicht  in  der  An- 
nehmlichkeit,  wie  wir  spater  ausfiihrlich  zeigeu  werden. 

So  ist  es  auch  eine  Eigentiimlichkeit  der  Tone  gegeniiber 
den  Farben,  dass  sie  ausdehnungslos,  oder  jeder  in  immer 
gleicher  Ausdehnung,  empfunden  werden;  dass  sie  ferner, 
wenigstens  nach  der  Ansicbt,  auf  Grund  dcren  wir  jetzt  dis- 
cutiren,  stets  auch  mit  gleichbleibender  Ortsbestimmtheit  em- 
pfunden werden.  Diese  Ansicht  selbst  also  bezeugt  es  uns, 
dass  man  sich  auf  Analogien  anderer  Sinne  nicht  verlassen 
kann.  Warum  sollte  es  nun  nicht  auch  als  eine  Eigenheit  des 
Tonsinnes  gelten,  dass  mehrere  Tone,  ohne  verschieden  localisirt 
zu  sein,  gleichzeitig  im  Bewusstsein  gegenwiirtig  sein  konnen? 
Unter  so  vielen  Besonderheiten  kann  die  Eine  nicht  mehr 
Wunder  nehmen. 

Speciell  Demjenigen,  der  auf  das  fragliche  Argument  hin 
sich  zur  Annahme  eines  Wettstreits  der  Tone  veranlasst  sieht, 
lasst  sich  noch  entgegenhalten,  dass  solcher  Wettstreit,  wie  er 
hier  stattfinden  miisste,  doch  auch  nur  sehr  geringe  und  zweifel- 
hafte  Analogien  in  andern  Sinnen  hatte,  und  sich  von  dem 
einzig  sicher  constatirten,  dem  Wettstreit  der  Sehfelder,  bei- 
nahe  in  alien  Stiicken  unterscheiden  wiirde;  wie  wir  dies  oben 
gesehen  haben. 

5.  Excurs  iiber  die  riiumlichen  Eigenschaften  der 
Tonempfindungen. 

Von  dieser  Frage  suchten  wir  uns,  da  sie  ihre  besonderen 
Schwierigkeiten  hat,  im  Vorangehenden  unabhangig  zu  machen, 
indem  wir  zeigten,  dass  aus  keiner  der  denkbaren  Ansichten 
iiber  die  Localisation  der  Gehorseindriicke  ein  durchschlagen- 
des  Bedenken  gegen  die  Vielheit  gleichzeitiger  Tone  in  der 
Empfindung  erwiichst.  Nachtraglich  aber  wollen  wir  auch  iiber 
die  Localisationsfrage  selbst  und  iiber  die  riiumlichen  Eigen- 
schaften der  Tone  iiberhaupt  eine  bestimmtere  Ansicht  be- 
'griinden,  womit  dann  zugleich  derjenige  Teil  der  vorigen  Argu- 
mentation, welcher  nicht  bios  ad  hominem  gelten  soil,  .in  den 
Vordergrund  geriickt  wird.     Doch  gehen  wir  nur  insoweit  auf 


Losung  der  Principienfragen.  51 

die  raumliclien  Eigenschaften  der  Tone  ein,  als  es  der  Zu- 
sainmenliang  des  vorliegenden  Werkes  verlangt  ^), 

Gegeben  siud  uns  nur  die  raumlicheu  Auffassungen  oder 
Urteile.  Die  Frage  ist:  beruhen  sie  auf  raumliclien  Eigen- 
schaften der  Tonempfindungen  selbst,  die  ihnen  in  analoger 
We'ise  immanent  waron,  wie  ihre  Stiirke  imd  Qualitat,  oder 
beruhen  sie  auf  anderen  bios  begleitenden  Empfindungen,  aus 
deren  Verkniipfung  mit  den  Tonempfindungen  durch  irgend 
einen  psychologischen  Process  die  riiumliche  Auffassung  der 
letzteren  sich  entwickelt? 

Die  Fragestellung  ist  dieselbe  wie  beim  Gesichtssinn  (Nati- 
vismus  —  Empirismus).  Wir  antworten  wie  dort :  Die  erste  und 
unentbehrliche  Grundlagc  fiir  die  raumliche  Auffassung  der 
Tonempfindungen  liegt  in  ihnen  selbst,  in  einem  immanenten 
Moment  derselben.  Ob  wir  es  geradezu  als  ein  raumliches  be- 
zeichnen  wollen,  ist  secundar;  genug,  dass  es  neben  Qualitat 
(Hohe)  und  Intensitiit  als  ein  drittes  genannt  werden  muss,  um 
die  Tonempfinduug  vollstiindig  zu  beschreiben.  Bezeichnen  wir 
es  vorlaufig  mit  riiumlichen  Ausdriicken,  so  ist  weiter  zu  sagen, 
dass  es  nur  zwei  Unterschiede  des  Ortes  aufweist,  welche  den 
Tonen  des-  rechten  gegeniiber  denen  des  linken  Ohres  eigen 
sind,  ausserdem  aber  zahlreiche  Unterschiede  der  Ausdehnung, 
welche  im  Allgemeinen  parallel  der  Hohe  der  Tonqualitaten 
jedes  Ohres  abgestuft  sind. 

Weitaus  das  Meiste  in  unsren  raumlicheu  Auffassungen  der 
Gehorseindriicke  beruht  allerdings  auf  hinzukommenden  anderen 
Sinnesempfindungen ,  reproducirten  Vorstellungen  und  Erfahr- 
ungen,  ebeuso  wie  beim  Gesichtssinn.  Aber  hier  wie  dort  gibt 
es  ein  geringes  raumliches  Grundcapital,  auf  welchem  erst  jener 
reiche  Besitz  sich  aufbauen  kann. 

Zunachst  der  Unterschied  der  Tonempfindungen  des  rechten 
und  linken  Ohres  erffibt  sich  aus  Folgendem. 


1)  Der  Frage  sind  in  neuerer  Zeit  ausserst  zahlreiche  Untersuchuugen 
und  Experimente  mit  teilweise  recht  merkwiirdigen  Ergebnissen  ge- 
■widmet.     Ausfiihrliches  anderwarts. 


52  §  17.  Mehrheit  gleiclizeitiger  Tonempfindungen. 

Wenn  wir  die  Augen  scliliessen,  konnen  wir  gleichwol 
sageii,  ob  eine  Tonquelle  rechts  ocler  links  liegt,  sobald  nur  der 
Starkeunterscliied  des  rechten  und  linken  Eindruckes  gross  ge- 
nug  ist,  Selbst  bei  einem  4^/2  jabrigen  Kinde,  dem  icb  eine 
leise  tonende  Stimmgabel  unter  Beseitigung  aller  sonstigen  An- 
haltspuncte  vor  eines  der  Obren  bielt,  babe  icb  in  alien  Fallen 
das  Urteil  ricbtig  und  vollkommen  sicber  gefunden.  Wenn 
mir  ferner  gleicbzeitig  eine  Gabel  recbts,  eine  andere  links  ge- 
balten  wird,  mag  die  letztere  denselben  Ton  angebeu  oder 
nicbt?  und  iiun  eine  der  Gabeln  entfernt  wird,  so  kann  icb 
regelmassig  sagen,  ob  dies  die  recbte  oder  die  linke  war.  Wenn 
die  Tone  verscbieden  sind,  kann  icb  bereits,  wabrend  sie  nocb 
gleicbzeitig  sicb  vor  beiden  Obren  befinden,  mit  Sicberbeit 
sagen,  vor  welcbem  Obr  die  bobere,  vor  welcbem  die  tiefere 
Gabel  tont. 

Es  ist  offenbar,  dass  der  Unterscbied  der  Starke,  auf 
die  man  sicb  gewobnlicb  beruft,  um  die  ersterwabnte  Fabig- 
keit  zu  erklaren,  zur  Erkliirung  nicbt  ausreicbt.  Denn  es  fragt 
sicb  eben,  woran  wir  erkennen,  ob  das  linke  Obr  starker  von 
einem  Ton  afficirt  ist  oder  das  recbte.  Dass  eines  von 
beiden  starker,  das  andere  scbwiicber  afficirt  ist,  bilft  fiir  sicb 
allein  natiirlicb  nicbt  zur  Localisation  der  Tonquelle.  Eben 
darum  bilft  es  aucb  nicbts,  sicb  auf  die  Bewegungen  des 
Kopfes  oder  Korpers  zu  berufen,  so  lange  die  Eindriicke  beider 
Obren  sicb  nur  durcb  ibre  Stiirke  unterscbeiden  sollen.  Denn 
abgeseben  davon,  dass  solcbe  Bewegungen  ausgescblossen  werden 
konnen,  wird  dadurcb  eben  wieder  nur  das  Starkeverbaltniss 
geandert.  Wird  also  z.  B.  durcb  eine  Viertelsdrebuug  meines 
Kopfes  nacb  Recbts  eiu  Scballeindruck  stiirker,  so  muss  icb 
docb  erst  wissen,  ob  dies  der  recbte  oder  linke  ist,  um  weiter 
zu  scbliessen,  dass  die  Scballquelle  auf  der  beziiglicben  Seite 
liegt.  Nur  also  wenn  der  Ton  selbst  ausser  seiner  Qualitat 
und  Intensitat  nocb  ein  Moment  p  q  besitzt,  wodurcb  er  sicb 
fiir's  recbte  und  linke  Obr  als  verscbieden  kennzeicbnet,  nur 
dann  sind  weitere  Scbliisse  moglicb.  Dasselbe  ergibt  sicb  aus 
den  iibrigen  oben  angefiibrteu  Versucben. 


Losung  der  Principienfragen.  '         53 

Man  hat  die  Tastempfindungen  des  Ohres,  besonders  die 
des  Trommel  fells,  zu  der  verlangten  Leistung  lierangezogen. 
AUeiu  erstlich  ist  es  bci  aller  .Empfindlichkeit  des  Trommel- 
fells  fiir  Beriihrungen  docli  mehr  als  zweifelhaft,  ob  so  unge- 
heuer  geringe  scbnell  periodische  Veranderungen  der  Luftdichtig- 
keit,  wie  sie  bei  einer  leisen  Tonschwingung  stattfinden,  uocli 
eiiie  Beriihriingsempfindung  erzeugen  konuen.  Zweitens  ware 
die  Frage,  woran  man  denn  Rechts  und  Links  bei  den  Tast- 
empfindungen unterscheidet.  Und  wollen  wir  bier  wieder  annexe 
Empfindungen  einer  dritten  Gattung  beranziehen,  so  wieder- 
holt  sicb  die  Frage  unerbittlicb.  Drittens:  Wenn  zu  gleicber 
Zeit  ein  Ton  c  rechts,  ein  anderer  Ton,  z.  B.  e,  links  erklingt, 
woran  soil  man  erkennen,  welche  Tastempfindung  zu  welcbem 
Ton  gebort?  Nach  der  Hypothese  batten  wir  bier  vier  Em- 
pfindungen, zwei  Tonempfindungen  c  und  e  und  zwei  Tastem- 
pfindungen a  und  /9.  Selbst  wenn  man  nun  den  letzteren  die 
urspriingliche  Localisation  im  Bewusstsein  zugestebt,  die  den 
Tonen  abgesprochen  wird,  wober  wissen  wir,  dass  der  Ton  c 
demselben  Obr  angebort  wie  die  rechts  localisirte  Tastempfindung, 
also  dem  recbten?  Es  ist  ja  nicbt  eine  bestimmte  Tastempfin- 
dung mit  einem  bestimmten  Ton  im  Bewusstsein  zusammen- 
geleimt,  vielmebr  ist  kcinerlei  Anhaltspunct  gegeben,  c  mehr  auf 
a  als  auf  (3  zu  bezieben.  Dennocb  erfolgt,  wie  oben  erwabnt, 
auch  in  diesem  Falle  sicber  die  ricbtige  Auffassung.  Endlicb: 
Wober  die  Localisation  subjcctiver  Tone,  bei  denen  Trommelfell 
und  Tastsinn  oft  ganz  unbeteiligt  sind  und  die  gleicbwol  aucb  dann 
meistens  einseitig  localisirt  werden?  In  vielen  patbologiscben 
Fallen  kann  uns  allerdings  ein  Gefiibl  des  Druckcs,  der  Voile 
im  Mittelobr  oder  cine  emptindlicbe  Spannung  im  Trommelfell 
der  einen  Seite  veranlassen,  aucb  die  subjectiven  Gerausche  oder 
Tone  dortbin  zu  verlegen.  Li  anderen  Fallen  aber  sind  solcbe 
Ncbenempfindungen  nicbt  mit  irgend  welcber  Deutlichkeit  vor- 
banden/ 

Es  bestebt  also  ein  Unterscbied  p  q  zwiscben  den  Ton- 
empfindungen des  recbten  und  linken  Obres.  Wir  nannten  ibn 
vorlaufig  einen  localen.    Die  Ausdriicke  „Ort"  und  „Ausdebnung" 


54         *        §  17.   Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

haben  indess  fiir  uns  in  erster  Linie  eine  optische  (fiir 
Blindgeborne  eine "  hap tische)  Bedeiitung;  man  kann  daher 
fragen,  ob  dieser  Unterschied  p  q  unter  ganz  deuselben  Be- 
griff  fallt,  den  wir  beim  Gesichtssinn  als  „Ort"  bezeicbnen. 
Soviel  ist  gewiss  uud  selbstverstandlich:  Wenn  wir  einen  Ton 
als  cinen  solchen  „des  rechten  Ohres"  oder  gar  eine  Scballquelle 
als  „auf  dor  rechten  Seite  (uusres  Korpers)  liegend"  aiiffassen 
iind  bezeicbnen,  so  ist  dies  nicht  eine  blosse  Aussage  des  Ge- 
hors,  sondern  dazu  muss  bereits  die  Vorstellung  des  Ohres  als 
eines  Teils  des  Kopfes  und  Korpers  durch  den  Tast-,  Muskel- 
und  Gesichtssinn  entwickelt  sein  —  das  Ohr  selbst  kennen  wir 
nicht  durch's  Ohr,  wenn  auch  das  Auge  durch's  Auge  — ;  es 
muss  der  eigene  Korper  von  der  Aussenwelt  unterschieden  sein; 
und  es  muss  jener  Unterschied  p  q  sich  mit  •den  so  etablir- 
ten  optisch-haptischen  Unterschieden  Rechts- Links  in  zahl- 
reichen  Fiiilen  associirt  haben.  Dann  kann  p  die  Vorstellung 
des  rechten  Ohrs,  der  rechten  Seite  reproducircn,  q  die  umge- 
kehrte  Vorstellung.  Aber  wir  haben,  scheint  niir,  keinen  Grund, 
p  q  selbst  als  Rechts-Links  und  das  beziiglichc  Moment  als 
Ort  im  gewohnlichen-  Sinn  zu  bezeicbnen.  Nur  insofern  mogen 
wir  dieso.  Ausdriicke  iibertragen,  als  p  erfahrungsgemiiss  dem 
Rechts,  q  dem  Links  entspricht. 

Der  Unterschied  p  q  muss  natiirlich  auch  physiologisch  be- 
dingt  sein.  Welche  Eigentiimlichkeiten  der  beiden  Gehornerven 
oder  der  centralen  Gebilde  ihm  zu  Grande  liegen,  dariiber  ist 
so  wenig  wie  bei  den  Raummomenten  anderer  Sinue  eine 
Vermutung  moglich. 

Nicht  undenkbar  scheint  es  mir,  dass  unter  besonderen 
Umstanden  p  und  q  zusammenfallen.  Doch  mag  dies  als  fiir 
unsre  weiteren  Untersuchungen  irrelevant  hier  auf  sich  beruhen  ^). 


^)  Ich  denke  dabei  z.  B.  an  die  in  gewissen  Fallen  beobachtete 
Localisation  zweiseitigcr  Gehorseindriicke  im  Ilintcrhaupt  (wenn  hier 
nicht  bios  eine  vcriindcrte  Deutung  vorliegt);  ferner  an  die  von  Gell6 
behauptete  Unfahigkcit  zur  Localisation  der  Gehorseindriicke  von  Seite 
solcher  Personen,  dcren  Trommelfcll  gegen  Beriihrung  vollkommen  uuem- 
piindlich  geworden.    Da  dem  Schluss,  dass  das  Trommelfell  uud  speciell 


Losung  der  Principienfragen.  55 

Umgekehrt  kann  man  auch  fragen,  ob  nicht*  auch  schon 
uiiter  den  Toneii  eincs  unci  desselben  Obres  Unterschiede  von 
der  Art  des  p  q  sicb  finden.  Fiir  eine  solcbe  Bebauptung 
scbeint  mir  aber  jeder  Anbalt  zu  feblen.  Abgeseben  von  den 
offeubar  nur  associirten  Vorstellungen,  in  Folge  deren  die  Aus- 
driicke  „boberer,  tieferer  Ton"  auf  die  an  sicb  qualitativen  Ton- 
unterscbiede  angewandt  werden,  bemerken  wir  kein  raumlicbes 
Nebeneinander  der  Tone  und  ist  darum  bis  in  die  neueste  Zeit 
von  Niemand  ein  solcbcs  bebauptet  worden.  Keiner  glaiibt 
beim  Dreiklang  die  Terz  raumlicb  zwiscben  der  Tonica  und 
Dominant  liegen  zu  boren,  mag  er  sicb  auch  die  Tasten  in 
dieser  Lage  dabei  vorstellen.  Driickt  man  zuweilen  die 
HELMHOLTz'sche  Lehre  von  der  Scbneckenclaviatur  dabin  aus, 
dass  die  einzebien  T5ne  „in  der  Scbnecke  localisirt"  seieu,  so 
meint  man  damit  docb  nur  eine  anatomiscbe  Verteilung  der 
Scbwingungen  an  nebeneinanderliegende  Fasern,  nicht  eine 
Verteilung  der  Tone  in  einem  empfundenen  Tonraum. 

Erst  Mach  und  er  allein  bat  die  Idee  ausgesprocheu ,  dass 
die  Tone  in  einem  Empfindungsraum  nebeneinanderlagen,  wie 
die  Farben  im  Gesicbtsfeld,  nui"  mit  dem  Unterschied,  dass  der 
Ort  einer  bestimmten  Farbe  veriinderlich,  der  eines  bestimmten 
Tones  uuveranderlich  ware.  Die  Tone  soUen  sicb  von  der 
Tiefe  zur  Hobe  bin  nicht  bios  qualitativ  sonderu  auch  local 
unterscheiden;  docb  nicht  local  im  gewohnlichen  sondern  nur  in 
einem  analogeu  Sinue'). 

Nun  ist  freilich  die  qualitative  Ordnung  der  Tone  selbst 
schon  eine  raum-analoge.  Was  berecbtigt,  ausser  ihr  noch 
eine  zweite,  damit  parallel  laufende,  Quasilocalisirung  anzu- 
nehmen?  Fiir  ]\Iach  ist  die  Annahme  Icdiglicb  Ausfluss  einer 
theoretischen  Erwagung.  Er  halt  es  nur  unter  dieser  Voraus- 
setzmig  fiir  moglich,   dass  mehrere  Tone    zugleich  empfunden 


dessen  Tastempfindiingen    die  Bedingung    fiir  die  Localisation  der  Ge- 
horseindriicke  bildeu,   wieder  andere  Tatsachen  entgegenstehen ,  so  sind 
diese  Beobachtungen  wol  so  zu  deiiten,  dass'gleichzeitig  mit  der  Tast- 
empfindlichkeit  auch  der  Unterschied  p  q  aufgehoben  wurde. 
^)  Beitrage  zur  Analyse  der  Empfiudungen.     188G.    S.  122  f. 


56  §  17.  Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

und  unterschieden  werden  konnen  und  uicht  zu  einem  Misch- 
ton  von  mittlerer  Holie  zusammenschmelzen.  Da  er  sich  indessen 
.hierbei  auf  ein  vom  Gesichtssinn  entnommenes  Princip  stiitzt 
und  obendrein  den  Tonraum  nicht  als  etwas  dem  optischen 
Raum  Homogenes  fasst,  so  scheint  mir  die  Beweiskraft  dieser 
tjberlegung  doppelt  fraglich.  Aucb  mlisste  man  erwarten,  dass 
die  tonlocalen  Merkmale  gerade  nacb  Mach  nicht  bios  hypo- 
thetisch  sondern  deutlich  wahrnehmbar  und  von  den  qualitativen 
unterscbeidbar  sein  miissten,  da  nach  einer  weiteren  Hypothese 
alle  Tonqualitaten  nur  aus  zweien  besteben,  die  er  B  und  H 
nennt,  somit  die  gleicben  elementaren  Qualitaten  an  alien  mog- 
licben  verscbiedenen  Ton-Orten  vorkamen.  Es  miissten  also  die 
localen  und  die  qualitativen  Ekmente  gegenseitig  leicbt  und 
deutlich  in  der  Vorstellung  trennbar  sein^). 

Einen  anderen  raumlichen  oder  quasi-raumlichen  Unter- 
schied  dagegen  miissen  wir  unter  den  Tonen  Eines  Ohres 
statuiren,  den  wir  oben  vorlaufig  als  einen  Unterschied  der 
Ausdehnung  bezeichnet  haben.  I  207  f.  babe  ich  den  aus- 
gedehnteren  Eindruck  tieferer  Tone  wesentlich  auf  associirte 
Vorstellungen  des  Gesichtssinnes  zuriickgefiihrt  und  das  Vor- 
handensein  eines  entsprechenden  immanenten  Unterschiedes 
noch  dahingestellt.  Ich  glaube  jetzt  mit  Bestimmtheit  behaupten 
zu  diirfen,  dass  den  Toncn  ein  mit  ihrer  Hobo  abnehmendes 
quantitatives  oder  quasi-quantitatives  Moment  eigen  sei;  und 
dass  Einer  aucb  dann  tiefe  Tone  als  etwas  Voluminoseres, 
Breiteres,  Massigeres  auffassen  wiirde,  als  hobo,  wenn  er  zeit- 
lebens  nur  die  Tone  eines  rechteckigen  Tafelpianos  gehort  und 
niemals  in  dessen  Inneres  geblickt,  aucb  nicmals  Physik  ge- 
trieben,  kurz  keinerlei  Vorstellungen  dicker  oder  langer  Saiten 
oder  Tonwellen  u.  dg].  damit  verbande.  Was  mich  zur  bestimmtcren 
Anerkennung  dieses  quantitativen  Momentes  gefiihrt  hat,  war 
ausser  dem  Eindruck  der  einfachen  Tone  selbst,  dem  ioh  erst 
nachtraglich  ganz  vertraute,  die  Erklarung  der  Klangfarbe,  in 
welcher  deutlich  dieses  Moment  enthalten  ist  (§  28).    Aber  im 


^)  Vgl.  u.  §  21  Schluss. 


Losung  der  Principienfragen.  57 

Grunde  lasst  auch  die  directe  Beobachtung  einfacher  Tone 
keinen  Zweifel.  Man  vergleiche  uur  die  nadelspitzen  feinen 
Tone  der  7  gestrichenen  Octave  mit  dem  Ton  einer  c-GabeL 
auf .  Resonanzkasten  (um  von  dem  Tone  einer  Gabel  mit  14 
Scliwingmigen  gar  nicht  zu  reden).  Maine  friihere  Reserve,  trotz- 
dem  mir  solche  Eindriicke  langst  wolvertraut  waren,  wurzelte 
in  dem  Bestreben,  iiber  ursprlinglicbe  Eigenscbaften  moglicbst 
wenig  zu  bebaupten,  einem  metbodiscben  Princip,  das,  im  Allge- 
meinen  nlitzlicb,  docb  audi  sonst  gelegentlicb  zu  weit  ge- 
fiibrt  bat. 

Als  pbysiologiscbe  Unterlage  dieses  Momentes  wlirden  zu- 
nacbst  dieselben  Bedingungen  in  Betracbt  kommen,  von  welcben 
die  quabtativen  (Hoben-)  Unterscbiede  der  Tone  abbiingig 
sind;  da  ja  beide  Eigenscbaften  im  Allgemeinen  sicb  mit  einander 
verandern,  uud  nur  fur  das  unabbiingig  Veranderlicbe  im  Sinnes- 
eindruck  ein  besonderer  pbysiologiscber  Factor  gesucbt  werden 
muss.  Ob  im  Einzebien  Abweicbungen  moglicb  sind,  ob  eine 
und  dieselbe  Tonqualitat  uns  unter  Umstiinden  ausgedebnter 
erscbeinen  kann,  baben  wir  friiher  obne  ganz  bestimmtes  Er- 
gebnis  erwogen  (I  210  f.)  und  batten  aucb  jetzt  nicbts  Ent- 
scbeidcndes  binzuzufiigen,  Auf  ein  besonderes  pbysiologiscbcs 
Moment  als  Unterlage  der  Tonqtiantitateji  konnte  man  aber 
daraus  scbliessen,  dass  die  Unterscbiedsempfindlicbkeit  fUr  diese 
sicb  nicbt  mit  der  qualitativen  zu  decken  scbeint.  Bis  etwa 
zur  Ggestricbenen  Octave  ist  die  qualitative  Unterscbeidungs- 
fabigkeit  feiner,  wir  merken  nocb  keinen  Unterscbied  der  Aus- 
debnung,  wenn  ein  solcber  der  Qualitat  scbon  dcutlicb  ist. 
Wollte  man  dies  nun  aucb  aus  einer  geringeren  Ubung  er- 
klaren  (da  wir  auf  das  Quantitative  bei  Tonen  weniger  zu 
acbten  gewobnt  sind),  so  wlirde  diese  Erklarung  docb  febl- 
scblagen  gegeniibcr  der  bocbsten  Region,  wo  sicb  das  Ver- 
baltnis  nacb  meinem  (von  Dr.  Schafee  in  Jena  bei  gemeinsamen 
Versucben  an  den  AppuNN'scben  Stimmgabelcben  bestatigten) 
Urteil  umkebrt;  wo  man  nocb  den  bestimmten  Eiudruck  bat,  dass 
ein  Ton  spitzer  ist  als  ein  anderer,  den  man  docb  seiner 
Qualitat  nacb  nicbt  mebr  davon  unterscbeiden  wiirde. 


58  §  17.   Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

Bei  dieser  sogenannten  Ausdehnung  der  Tone  zeigt  sich 
mm  aber  gauz  deutlich,  dass  wir  es  niclit  mit  einer  Aus- 
delimmg  oder  Grosse  in  demselben  Sinne  wie  beim  Gesichts- 
raum  zu  tun  haben.  Wir  konnen  nicbt  sagen:  Dieser  tiefe 
Ton  ist  zweimal  so  umfangieich  als  jener  hohe.  Wir  konnen 
innerbalb  der  einzelnen  Ausdebnung  hier  keine  Teile  setzen, 
keine  Linien  ziehen,  keine  Figuren  bilden.  Aucb  die  Unter- 
sucbung  liber  Klangfarbe  wird  uns  eine  Bestatigung  geben,  dass 
die  sogenannte  Ausdebnung  bei  Tonen  sicb  in  bestimmter  Be- 
ziebung  vielmebr  den  qualitativen  Momenten  der  Empfindungen 
analog  verblilt  als  dem  raumlichen  Moment  d6r  Gesichtsem- 
pfindung.  (Die  Ausdebnungen  der  Obertone  addiren  sich  nicht 
zu  der  des  Grundtoncs.)  Man  darf  daber  aus  dem  Namen  der 
Ausdebnung,  wenn  wir  ibn  bier  verwenden,  keinerlei  Scbliisse 
zieben,  die  nicbt  durcb  besondere  Beobachtung  bestatigt  werden. 
So  konnte  ja  Einer  z.  B.  daraus,  dass  alle  Tone  eines  Obres 
den  gleicben  Ort,  aber  verscbiedene  Ausdebnung  baben,  folgern: 
„Also  muss  der  Tonraum  sicb  von  der  Hobe  zur  Tiefe  bin  con- 
centriscb,  etwa  in  concentriscben  Kreisen,  erweitern  (insofern 
kaun  also  die  Gleicbbeit  des  Ortes  nur  eine  partielle  sein)." 
Dem  wiirde  icb  aber  nicbt  mebr  zustimmen.  Wol  scbliesst 
die  grossere  Ausdebaung  aucb  hier  gewissermassen  die  geriugere 
ein,  aber  nicht  in  dem  Sinne  wie  bei  Raumgrossen,  sondern 
wie  bei  den  Intensitaten,  wo  man  aucb  nicbt  die  geringere 
von  der  grosseren  abzieben  und  den  Rest  wieder  als  eine 
Intensitat  fiir  sich  angeben  kann.  Wol  scbeint  uns  ein  hoher 
Ton  gegeniiber  einem  gleicbzeitigen  tiefen  gleicbsam  auf  diesem 
aufgetragen,  „wie  ein  diinner  heller  Streifen  auf  einem  breiteren 
dunkleren  Untergrund"  ^),  aber  kein  Teil  des  tieferen  wird  durch 
ihn  verdeckt,  ,und  vergeblicb  wiirden  wir  durch  eine  Ver- 
einigung  mebrerer  hoher  Tone  die  Breite  des  tiefen  zu  er- 
zielen  suchen.     Keine  Subtraction,  keine  Addition. 

Warum  wonden  wir  aber  dann  iiberhaupt  raumliche  Aus- 
driicke   auf  diesen  Pseudo-Raum  an?    Es  geschieht  bauptsach- 


^)  W.  James,  Spatial  Quale.  Journ.  of  Spec.  Philos.  XIII  84. 


Losung  der  Principieufragen.  59 

lich  mit  Riicksiclit  darauf,  class  mit  den  pseudo-localen  und 
-quantitativen  Unterschieden  die  im  eigentlichen  (optiscbeii) 
Sinne  raiimlichen  Unterscliiede  sich  in  Folge  unserer  Erfahr- 
ungen  imiigst  in  dor  Vorstellung  verkniipfen;  wie  wir  dies  in 
beiden  Beziehungen  vorher  bereits  erwahnt  haben.  Ferner  be- 
stehen  docli  auch  manche  bedeutsame  Analogien;  schon  darin 
liegt  eine,  dass  der  Quasi-Ort  bei  den  Tonen  ebenso  quasi-aus- 
gedehnt  ist,  wie  der  wirkliche  Ort  wirklich  ausgedelnit  ist; 
derart  dass  wir  in  beiden  Fallen  dieso  Eigenschaften  nicht  als 
zwei  gesonderte  Momente  aufzahlcn  sondern  nur  als  Modifica- 
tionen  Eines,  des  raumlichen  (quasi-raumlicben)  Momentes. 
Und  so  lassen  sich  wol  noch  audere  Analogien  anfiibren.  Aber 
es  ware  auch  Nichts  einzuwenden,  wenn  Finer  fiir  die  be- 
sprochene  Seite  der  Tonempfindungen  einen  besonderen  Aus- 
druck  erfinden  Avill;  mir  ist  nur  kein  passender  'eingefallen. 

Da  die  Fragc  i>ach  einem  raumlichen  Moment  der  Tonem- 
ptiudungen  uur  selten  iu  ithnlichem  Sinne  beaiitwortet  wird,  freue 
ich  mich  umsomehr,  nicht  bios  mit  Akistoteles,  der  die  Quantitilt  als 
xoivov  aicd^fjTOv  bezcichuet,  sondern  auch  mit  einigen  dor  besten 
Psychologen  der  Gegenwart  hicriiber  nahezii  iibercinzustimmcu. 
William  Jajies  statuirt  1.  c.  p.  74  „a  certain  spatial  quantification 
given  as  a  universal  datum  of  sensibility",  und  zwar  nicht  im  KANT'schen 
Sinne  als  Form  sondern  alslnlialt  der  Empfindung,  als  „Spatial  Quale".  ■ 
Er  halt  daran  auch  in  den  ueueren  scbarfsinnigen  Beitrilgen  zur  Raura- 
theorie  fest  (Mind  XII,  Nr.  45 — 48),  wo  er  dieses  Moment  „the  exten- 
sive quality"  nennt.  Auch  Waed  (Encyclopaedia  Britanuica,  Art. 
„Psychology"  p.  46,  53)  erkeunt  eine  „Extensity"  als  drittes  Moment 
neben  der  Qualitat  und  Intensitat  bei  sammtlichen  Empfindungcn 
an.  Ebenso  Bkentano,  dem  ich  in  dieser  wie  in  alien  Fragen  die 
wichtigsten  Anregungen  von  alter  Zeit  her  verdanke.  Er  statuirt 
ausserdem  nicht  bios  einen  quasi-localen  sondern  einen  im  eigent- 
lichen Sinne  ortlichen  Uuterschied  zwischcn  den  Tonen  beidcr  Ohren. 
James  Sully  lasst  es  in  seinen  „Outlines  of  Psychology"  1884 
p.  129  dahingestellt,  wieweit  das  Ohr  als  solches  Uuterschiede  der 
Ausdehuung  erkemie,  schliesst  aber  aus  der  Unterscheidung  der  Tone 
beider  Ohren  auf  einen  quasi-localen  Uuterschied. 


60  §  17.  Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindiingen. 

Fiir  unsre  Hauptuntersuchung  ergibt  sich  nacli  dieser  Ab- 
schweifung  Folgendes,  Zunachst  tritt  die  Sclilussfolgerung  S.  45 
nicht  mehr  hypothetisch  sondern  kategorisch  in  Kraft:  die  Tone 
c^  und  g\  an  beide  Ohren  verteilt,  ersclieinen  versdiieden 
localisirt,  vor  Einem  Ohre  gleich  localisirt;  trotzdem  ist  der 
Eindruck  qualitativ  ganz  derselbe;  wenn  also  kein  Wettstreit, 
keine  Mischung  im  ersten  Falle,  so  aucb  keine  im  zweiten. 
Vielleicht  entzielit  man  sich  aber  dieser  Schlussfolgerung  nun 
gerade  durch  den  Hinweis  darauf,  dass  die  Verschiedenheit  p  q 
nur  eine  quasi-locale  sei.  Eine  solcbe,  konnte  man  sagen, 
geniige  nicht,  um  die  Empfindungen  auseinanderzuhalten;  nur 
die"  locale  im  eigentlichen  Sinn  sei  dazu  im  Stande.  Es  finde 
daher  auch  bei  verteilten  Tonen  Mischung  oder  Wettstreit 
Statt,  und  so  miisse  der  Eindruck  beider  Falle  der  gleiche  sein. 

Fiir  mein  Ohr  findet  freilich  Beides  in  beiden  Fallen  eben 
nicht  Statt,  und  beruht  hierauf  die  Gleiehheit  des  Eindrucks. 
Ich  kaun  auch  nicht  beurteilen,  warum  der  quasi-locale  Unter- 
schied  weniger  Kraft  haben  sollte  als  der  locale,  da  mir  die 
Notwendigkeit*  raumlicher  Trennung  auch  schon  beziiglich  des 
letzteren  nicht  einleuchten  will.  Aber  jedenfalls  treten  gegen- 
iiber  dieser  Ausflucht  mit  um  so  grosserer  Kraft  unsre  weiteren 
Betrachtungen  S.  46  f.  in  Geltung:  denn  nun  zeigt  sich  ja  an 
dem  raumlichen  Moment  selbst  aufs  Neue,  wie  ungleich  die 
Erscheinungen  bei  verschicdenen  Sinnen  sin(J,  da  auch  dieses 
Moment  sich  nur  scheinbar  gemeinsam  erweist;  wie  wenig  wir 
also  berechtigt  sind,  ein  nicht  a  priori  einleuchtendes  Princip 
von  einem  Sinn,  auf  den  anderen  zu  iibertragen. 

6.  Losung  des  zweiten  Argumentes  gegen  dieMehr- 
heitslehre. 

„Gleichzeitige  Tone  mlissten  leichter  unterscheidbar  sein 
als  aufeinanderfolgende,  da  zwei  Inhalte  um  so  leichter  in 
irgend  einer  Beziehung  unterschieden  werden,  je  mehr  sie  in 
den  iibrigen  Beziehungen  gleich  sind"  (o.  S.   22). 

Dieses  Argument  fordert  in  der  Tat  sehr  zum  Nach- 
denken  heraus.  Was  wir  zur  Losung  sagen  werden,  wird  nicht 
Jedcn  soglcich  befriedigen,  zeigt  aber  hoffentlich,  dass  wir  vor 


Losung  der  Principienfragen.  61 

einem  allgemeineren  Ratsel  stelien,  das  uns  die  Tatsachen  des 
Tonreiclies  nur  genauer  zu  formuliren  gestatten  —  und  in  ge- 
wissem  Sinn  lauft  ja  imsere  Erkenutnis  immer  auf  genauere 
Formulirung  allgemeinerer  Ratsel  hinaus. 

E.  H.  Weber,  der  fUr  das  Wesentliche  ein  besonders 
scharfes  Auge  hatte,  hat  auch  diesen  Gegenstand  schon  be- 
riihrt:  „Zwei  gleichzeitige  Tastempfindungen",  sagt  er,  „lassen 
sich  nicht  so  gnt  untereiuander  vergleichen,  als  zwei  aufein- 
anderfolgende.  Eine  Reihe  von  Versucben  bat  bewiesen,  dass 
man  zwei  Gewicbte  am  allergeuauesten  vergleicben  kann,  wenn 
man  sie  successive  auf  dieselben  Teile  von  derselben  Hand 
legt.  Etwas  weniger  vorteilbaft  ist  es,  wenn  man  das  Gewicbt 
zuerst  auf  die  eine  Hand  legt,  es  wieder  binwegnimmt  und 
hierauf*  das  andere  zu  vergleicbende  Gewicbt  auf  die  andere 
Hand  legt.  Am  wenigsten  vorteilbaft  ist  es,  wenn  man  beide 
Gewicbte  gleicbzeitig  auf  beide  Hande  legt.  Denn  die  eine 
Empfindung  stort  die  andere,  indem  sicb  beide  Empfindungen 
vermischen,  auf  abnlicbe  Weise  wie  zwei  gleicbzeitige  Tone, 
deren  Abstand  in  der  Tonleiter  auch  nicht  so  gut  aufgefasst 
werden  kann  als  der  von  zwei  ungleichzeitigen,  von  denen  der 
eine  auf  den  anderen  folgt.  Noch  weit  mehr  als  beim  Tast- 
und  Geborsinn  findet  diese  Vermischung  von  zwei  gleichzeitigen 
Empfindungen  hinsichtlicb  der  Geruchsempfinduugen  Statt,  denn 
man  ist  ausserordentlich  gehindert,  zwei  Geriiche  zu  vergleicben, 
wenn  man  zwei  Riecbflaschchen  zugleicb  an  beide  Nasenlocber 
halt.  Diese  Vermischung  ist  ein  interessantes  Factum..."^) 

Fechner  fand  bei  seinen  Gewichtsversuchen  das  Namliche. 
Hinsichtlicb  des  Tastsinnes  gehort  besonders  die  Tatsache 
hierher,  dass  wir  zwei  Zirkelspitzen  bei  einer  geringeren 
Offnung  des  Zirkels  noch  als  distant  erkennen,  wenn  sie  nach- 
einander  die  Haut  beriihren,  als  wenn  gleicbzeitig. 


')  Tastsinn  und  GemeingefiiH.  Wagner's  Hdwb.  Ill,  2,  S.  544 
(Sep.  Abdr.  85).  So  spricht  Weber  auch  von  der  betrachtlicheu  Stoning, 
die  durch  gleichzeitiges  Vorhandensein  zweier  entgegengesetzter  Tem- 
peraturempfindungen  verursacht  sei,  obgleich  sie  uicht  verschmolzen 
(S.  554,  Sep.  Abdr.  103).    Vgl.  o.  48. 


62  §  17.   Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

Diese  Erfalirungen  erklareii  sich  iiur  teilweise  aus  clem 
psychologischen  Princip,  auf  welchem  das  obige  Argument  ruht. 
Es  ist  nach  diesem  Priiicip  wol  begreiflich,  dass  zwei  Gewichte 
besser  verglicheii  werden,  wemi  man  sie  successive  auf  dieselbe 
Hand  legt  als  wenn  successive  auf  verschiedenc  Hande:  weil 
im  ersten  Fall  ausser  dem  Druck  selbst  bios  die  Zeit,  im 
zweiten  aber  audi  der  Ort  verschieden  ist.  Ganz  Dasselbe 
findet  denn  auch  bei  den  Ohren  Statt.  Aber  es  begreift 
sich  aus  dem  Princip  nicht,  dass  zwei  Gewiclite  besser  ver- 
glichen  werden,  wenn  man  sie  successive  auf  beide  Hande 
als  wenn  man  sie  zugleich  auf  beide  Hande  legt  (je  eines  auf 
eine  Hand).  Im  ersteren  Fall  ist  Zeit  und  Ort,  im  letzteren  nur 
der  Ort  verschieden^). 

Vielleicht  erklart  Finer  diese  Tatsache  daraus,  dass  im 
letzten  Fall  die  Aufmerksamkeit  sich  nicht  ungeteilt  jeder  der 
beideu  Empfinduugen  zuwenden  konne,  wol  aber  im  ersten 
Fall.  Allein  was  hilft  es  fiir  die  Vergleichung,  wenn  ich  zu- 
erst  A  mit  voller  Aufmerksamkeit,  dann  B   mit  ebenso  voller, 


')  Auch  schon  dies  ist  nicht  ci'kliirt,  warum  besser  vcrglichen  wird, 
wenn  die  Gewichte  successive  auf  die  namlicho  Hand,  als  wenn  sie 
gleichzcitig  auf  verschicdeue  Hiinde  gelegt  werden.  Hier  ist  cin  ort- 
licber,  dort  ein  zeitlicher  Unterschied.  Doch  liegt  in  dieser  Tatsache 
wenigstens  kein  Widerspruch  gegen  das  Princip.  Sie  wiirde  an  und  fiir 
sich  nur  lehren,  dass  geringe  zeitliche  Unterschiede  nicht  in  gleichem 
Masse  stdren  wie  die  Ortsunterschiede  von  homologen  Gliederh.  Aber 
mit  Eiicksicht  auf  die  im  Text  erwilhntc  Tatsache  wird  man  den  Zeit- 
untcrschied  unraittelbar  aufeinanderfolgender  Empfindungen  iiberhaupt 
nicht  als  eine  storende,  sondern  als  die  denkbar  giinstigste  Bedingung 
beti'achten.  Dieselbe  Ansicht  liegt  offenbar  auch  bei  Lotze  zu  Grunde, 
wenn  er  (Grundz.  der  Ps.ych.  ^  S.  41)  fiir  die  Vergleichung  sinulicher 
Qualitatcn  verlangt,  ,,dass  das-priifcude  Organ  ganz  dasselbe  sei,  damit 
nicht  die  verschiedeuen  Localzeichen  verschiedener  Organe  die  Ein- 
driicke  modificiren  —  man  priift  deshalb  nicht  simultan  mit  zwei  Fingern 
die  Warme  zweier  Wassermassen ,  sondern  successiv  mit  demselben 
Finger  — ".  Die  Zeitverschiedenheit  betrachtet  also  Lotze  nicht  unter 
dem  gleichen  Gesichtspunct  wie  die  Ortsverschiedenheit,  es  scheint  ihm 
dariiber  ein  Bedenken  gar  nicht  zu  kommen ;  er  erinnert  our,  dass  man 
die  Zwischenzeit  nicht  zu  gross  nehme. 


Losung  cler  Priucipienfragen.  63 

dafiir  aber  nun  A  mit  urn  so  geringerer  oder  gar  keiner  Auf- 
merksamkeit  im  Bewusstsein  liabe?  Wann  soil  icli  vergleicben? 
Auch  beim  successiven  Empfinden  muss  icb  docli  wabrend 
der  Empfindung  B  die  eben  vergangene  A  beacbten,  und  zwar 
genau  in  gleicbem  Masse,  weuu  icb  gut  vergleicben  will  (I, 
98 — 100).  Nun  wird  aber  das  Bild  des  eben  vergangenen  A 
nicbt  notwendig  absolut  genau  mit  A,  wie  es  empfunden  wurde, 
iibereinstimmen.  Also  sollte  man  erwarten,  dass  die  Vergleicb- 
ung  eines  gegenwiirtigen  B  mit  einem  gegenwartigen  A  leicbter 
und  zuverlassiger  sein  mlisste  als  die  mit  einem  eben  ver- 
gangenen A. 

Man  kounte  nocb  daran  denken,  dass  durcb  gleicbzeitiges 
Stattfinden  zweier  Nervenprocesse  eines  und  desselben  Sinnes 
Nebenempfindungen  oder  Modificationen  der  bezUglicben  Em- 
pfindungen  selbst  bervorgcrufcn  wiii'den,  welcbe  die  Aufmerk- 
samkeit  abzieben  oder  sonst  ungiinstig  wirken.  Solcbes  muss 
z.  B.  der  Fall  sein,  wenn  wir  mit  beiden  Handen  gleicbzeitig 
Gewichte  frei  beben,  weil  dann  durcb  den  gemeinsamen  Zug 
der  bescbwerten  Arme  gegen  die  Mittollinie  des  Korpers  eine 
Summe  neuer  Muskel-  und  Hautempfindungen  zu  .den  zu  ver- 
gleichenden  Gewicbtsempfindungen  binzukommt.  Beiili'  Riecb- 
flascbchen-Versucb  Weber's  mag  docb  von  jedem  Flascbcben 
etwas  audi  in  die  andere  Nasenabteilung  dringen  und  so  beide 
Geriicbe  sicb  abnlicber  werden.  Bei  gleicbzeitigcn  Klangen 
entstehen,  wenigstens  wenn  sie  oder  ibrc  Obertone  einander 
nabe  genug  liegen,  Scbwebungen,  welcbe  die  Beurteilung  storen. 
Ferner  tritt  bei  iiusserst  nabe  liegonden  gleicbzeitigen  Xoneu 
eine  wirklicbe  Veranderung  nacb  der  qualitativen  Seite  auf: 
Reize,  welcbe  in  der  Aufeinanderfolge  nocb  eben  verscbiedene 
Empfindungen  bervorrufen,  rufen  bier  nur  Eine  mittlere  Em- 
pfindung liervor;  die  Unterscbiedsempfindlicbkeit  flir  gleicb- 
zeitige  Tone  (und  wabrscbeinlich  fUr  gleicbzeitige  Empfindungen 
iiberbaupt)  ist  geringer  als  die  fiir  aufeinanderfolgende.  Ferner 
kommt  in  Betracbt,  dass,  audi  abgeseben  von  Scbwebungen,  die 
Intensitiit  eines  Tones  durcb  einen  gleicbzeitigen  anderen  Ton 
beeinflusst  wird,   indem  jeder  dem  anderen  etwas  abziebt  und 


64  §  li^-   Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfiudungen. 

dadurcli  bei '  sehr  ungleicher  Intensitat  der  schwachere  ganz 
unterdriickt  werdeii  kanu.  Von  diesen  besondereii  Fallen  werden 
wir  spater  Naheres  horen. 

Aber  diese  Erklarung  reicbt  nicbt  iiberall  aus.  Sie  trifft 
niclit  zu  fiir  die  Gewichtsversuche,  bei  denen  die  Hande  auf 
den  Tisch  und  die  Gewiclite  auf  die  Hande  gelegt  werden; 
niclit  fiir  die  Tastversuche  mit  dem  Zirkel;  nicht  fiir  die  gleich- 
zeitigen,  gleichstarken,  iibermerklich  verschiedenen  Tone  ohne 
Schwebuugen  z.  B.  c  und  cK 

Der  Hauptgrund  fiir  die  geringere  Unterscheidbarkeit  gleich- 
zeitiger Empfindungen  gegeniiber  unmittelbar  aufeinanderfolgen- 
den,  liegt  in  einer  allgemeineren  Tatsache^).  Alle  Empfin- 
dungsqualitaten  treten,  wenn  sie  aus  aufeinanderfolgenden  in 
gleichzeitige  iibergehen,  ausser  in  dieses  Verhaltnis  der  Gleich- 
zeitigkeit  noch  in  ein  anderes  Yerlialtnis,  dem  zu  Folge  sie  als 
Teile  eines  Empfindungsganzen  erscheinen.  Aufeinander- 
folgende  Empfindungen  bilden  als  Empfindungen  eine  blosse 
Summe,  gleichzeitige  schon  als  Empfindungen  ein  Gauzes.  Die 
Qualitiiten  werden,  abgcsehen  von  dem  ebenerwiihnten  Aus- 
nahmefall,  nicht  im  Geringsten  verilndert,  geschweige  denn  zu 
einer  einzigen  neuen  Qualitat  umgewandelt,  aber  es  tritt  ein 
neues  Verhaltnis  zwischen  ihnen  auf,  das  eine  engere  Einheit 
herstellt,  als  sie  zwischen  den  Gliedern  einer  blossen  Summe 
stattfindet,  deren  Einheit  hiiufig  nur  eben  darin  besteht,  dass 
sie  als  Glieder  dicser  Summe  zusammengerechnet  werden  (man 
kann  ja  das  Heterogenstc  und  ganzlich  Verbindungslose,  selbst 
einen  Affect  und  einen  Apfel,  zusammenziihlen  ^).  In  Folge 
dieses  neuen  Verhiiltnisses  wird  der  Eindruck  gleichzeitiger 
Empfindungen  dem  einer  einzigen  Emptindung  iihnlicher  als 
derjenige  derselben  Empfindungen  in  blosser  Aufeinanderfolge. 
Dieses    eigentlimliche    Verhiiltnis    gleichzeitiger    Empfindungen 


^)  Auch  IIoFFDiNG  bezeichnet  es  als  ein  „allgeraeines  Gesetz",  dass 
die  Uuterscheidung  dcs  Aufeinanderfolgenden  leicliter  sei  als  die  des 
Gleichzeitigen  (Philos.  Monatshefte  1888,  S.  427),  obne  doch  uaher  auf 
die  Definition  dieser  Tatsache  einzugelien. 

^)  Vgl.  HussERL  in  der  S.  5  citirten  Scbrift. 


Losung  der  Principienfragen.  65 

ist  es,  welches  E.  H.  Weber  unter  dem  Namen  der  Ver- 
mischung  oder  Verschmelzung,  iind  welclies  schon  Aeistoteles 
in  der  S.  17  erwahnten  Stelle  mit  dem  ffsitr/^&cu  oder  xexQccOd-ca 
gemeint,  obschon  nicht  vollkommen  deutlich  und  ricLtig  ge- 
fasst  hat. 

Weiin  es  sich  darum  handelt,  zunachst  den  Begriff  des 
Empfindungsganzen  gegeniiber  dem  einer  blossen  Sumrae  klaf 
zu  machen,  so  bietet  sich  als  schlagendstos  Beispiel  die  Ver- 
einigung  der  „Momente"  einer  Empfindung,.  z.  B.  Qualitat  und 
Intensitat.  Man  kann  nicht  leugneu,  dass  Beides  verschieden  ist, 
ebensowenig  aber  leugnen,  dass  es  eine  Art  von  Einhcit,  ein 
Ganzes  bildet.  Man  muss  daher  Qualitat  und  Intensitat  als  Telle 
dieses  Ganzen  bezeichnen,  wenn  audi  natiirlich  nicht  als  Telle 
im  raumlichen  Sinn.  Zu  dieser  Art  von  Teilen  ist  bei  der  Ge- 
sichtsempfindung  nach  nativistischer  Ansicht  auch  die  Ausdehnung 
zu  rechnen,  und  mir  wenigstons  ist  und  bleibt  es  evident,  dass 
eine  Farbe  ebensowenig  ohne  Extensitat  wie  ohne  Intensitiit 
empfunden  werden  kann. 

An  dieser  Weise  der  Vereinigung  zu  einem  Ganzeli  also  kann 
man  sich  den  Begriflf  eines  Empfindungsganzen  am  besten  klar 
machen,  well  sie  zugleich  die  engste  Weise  der  Vereinigung  ist 
Eine  losere,  gleichwol  aber  von  der  bios  collectiven  noch  wol 
zu  unterscheidende  Einheit  ist  die  der  gleichzeitigen  Empfin- 
dungsqualitaten  unter  einander.  Diese  speciell  wollen  wir  Ver- 
schmelzung nennen.  Sie  ist  der  vorhin  genannten  insofern 
analog,  als  auch  hier  verschiedene  Inhalte  ein  Ganzes  mitein- 
ander  bilden;  aber  die  Telle  sind  nicht  mchr  wie  dort  untrenn- 
bar.  Ich  kann  eine  Intensitat  nicht  ohne  Qualitat  und  umge- 
kehrt  empfinden,  wol  aber  einen  der  gleichzeitigen  Tone  auch 
ohne  den  andern.  Nur  wenn  sie  zugleich  empfunden  werden, 
dann  ist  es  unmoglich,  sie  nicht  als  Ganzes,  nicht  im  Ver- 
schmelzungsverhiiltnis  zu  empfinden. 

Aber  die  Verschmelzung  hat  auch  noch  verschiedene  Grade. 
Die  gleichzeitigen  Empfindungen  Eines  Sinnes  verschmelzen  in 
hoherem  Masse  als  die  verschiedener  Sinne.  Unter  diesen 
wiederum  verschmelzen  die  der  sogenannteu  uiederen  Sinne,  z.  B. 

Stumpf,  Tonpsychologie.  11.  5 


66  §  17.   Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

Geschitiaclve  mit  Gqriichen  ocler  Temperaturen,  starker  als  Farben 
mit  Tonen.  Im  letzteren  Fall  wird  man  vielleicht  iiberhaupt 
niclits  Derartiges  finden  wollen,  aber  wol  nur  darum,  weil  es 
einen  noch  geringeren  Verschmelzungsgrad  fiir  unsere  Erfahrung 
nicbt  gibt;  analog  wie  man  Farben  und  Tone  fiir  absolut  un- 
ahnlich  zu  erklaren  geneigt  ist,  weil  wir  eben  noch  unahnlichere 
Empfindungsqualitaten  zufallig  nicht  kennen. 

Endlicb  gibt  es  auch  Unterscbiede  der  Verscbmelzung 
innerbalb  Eines  Sinnes,  und  dafiir  haben  wir  unzweifelhaftc 
Belege  beim  Tonsinn.  Die  starkste  Verscbmelzung  findet  sich 
bier  bei  den  Octaven.  An  diesem  Beispiel  als  dem  extremsten 
im  Tonsinn  und  durcli  Vergleicbung  mit  den  geringeren  Gradon, 
die  derselbe  Sinn  bietet,  kann  man  das  Wcsen  der  Verscbmel- 
zung ebenso  am  deutlicbsten  erfassen,  wie  man  das  Wesen 
des  Empfindungsganzen  Uberbaupt  am  deutlicbsten  an  dem 
extremsten  Fall,  den  sogenannten  Empfindungsmomenten,  er- 
fassen kann^). 

Man  wird  nun  die  Frage  aufwerfcn,  ob  wir  biermit  nicbt 
docb  die  Ansicbt  von  einer  Mebrbeit  gleicbzeitiger  Toncmpfin- 
dungen  verlassen  und  uns  zur  Einbeitslebro  bekobren.  Qualitiit 
und  Intensitiit  nennt  man  ja  nicbt  zwei  Empfiiidungen.  Und 
so  scheint  es,  dass  wir  audi  die  gleicbzeitigen  Tone,  wenn  sie 
nur  Teile  eines  Empfindungsganzen  bilden,  eben  als  Eine  Em- 
pfindung  bezeicbncn  miissen.  Indessen  liegt  jetzt,  wenn  alles 
Vorangehendc  zugestanden  wird,  nichts  weiter  als  eine  Wort- 
frage  mehr  vor.  Das  tatsacblicb  Wicbtige  ist  lediglicb  dies, 
dass  wir  die  gleicben  Qualitiiten,  welcbe  sonst  aufeinanderfolgen, 
aucb  streng  gleicbzeitig  als  diese  Qualitiiten  in  unsrem  Be- 
wusstsein  baben   konncn:   dies    war  von   der  Einbeitslebre  be- 


')  Dass  die  Vereinigung  mehrerer  Tone  in  einem  Accord  eine  engere 
sei  als  z.  B.  die  von  Gerucheu  und  Tonen,  habe  icb  bereits  .,Urspr.  d. 
Raumvorst."  107 — 8,  ..Empir.  Psychol,  der  Gegenwart"  (Im  neuen  Reich, 
1874,  Heft  32,  S.  13)  betont  und  den  Unterschied  an  ersterem  Orte  zur 
Erlauterung  des  Verhaltnisses  zwischen  Farbe  und  Ausdehnung  benutzt. 
Genauer  habe  ich  jenes  Verhaltnis  seit  der  Mitte  der  70 er  Jahre 
verfolgt.    Die  expei'imentellen  Uutersuchungen  dariiber  s.  in  §  19. 


Losung  der  Principienfragen.  67 

stritten.  Ob  man  diese  mehreren  gleichzeitigeii  Tonqualitaten 
nun  als  eine  Mehrlieit  von  Tonempfindungen  oder  bios  von 
Empfindungsteilen  bezeichnen  will,  ist  eine  terminologische  und . 
weniger  wichtige  Frage.  Da  wir  aber  iiberhaupt  Empfindungen 
nacb  ihrer  Qualitat  benennen  („Farb  en  empfindungen",  „T  on  em- 
pfindungen"), obgleicli  sie  nocli  andere  Soiten  haben,  so  meine 
ich,  dass  wir  reclit  und  consequent  daran  tun,  bei  einer  Mebr- 
beit  von  Qualitaten  auch  von  einer  Mebrheit  von  Empfindungen 
zu  sprechen.  Und  wenn  wir  dies  hier  bei  den  Tonen  nicht 
taten,  so  wiirden  wir  iiberhaupt  nicht  mehr  in  irgend  einem 
Falle  von  mehreren  gleichzeitigen  Empfindungen  reden  diirfon, 
nicht  einmal  wenn  Farben  und  Tone  zusammen  vorhanden  sind, 
da  auch  sie,  wie  erwahut,  ein  Empfindungsgaiizes  bilden.  Als 
das  Zweckmiissigste  erscheint  also,  dass  wir  nach  wie  vor  die 
mehreren  gleichzeitigen  Qualitaten  als  mehrere  Empfindungen 
bezeichnen,  uns  ajjer  bewusst  bleiben,  dass  sie  Teile  eiues  Em- 
pfindungsganzen  bilden.  Dann  wird  ein  Missverstanduis  nicht 
zu  befiirchten  sein. 

Die  Erwiderung  auf  das  zweite  Argument  gegen  die  Mehr- 
heitsansicht  konnen  wir  demuach  kurz  so  zusammenfassen: 

Obschon  die  Gleichzeitigkeit  der  Empfindungen  gemass  dem 
Princip  des  Argumentes  ihre  Analyse  an  und  fiir  sich  erleichtern 
miisste,  kommt  docb  ein  neues  Verhaltnis  hinzu,  welches  die 
Analyse  erschwort.  Es  kommen  ausserdem  in  besondercn  Fiillen 
noch  besondere  Hindernisse  hinzu,  welche  nur  bei  gleichzeitigen 
Empfindungen  auftauchen  ^). 

7.  Ursachen,  welche  zu  den  beiden  irrtiimlichen 
Anschauungon  hinfiihren  konnten. 

Solche  liegeu  zum  Teil  in  den  soeben  kritisirten  Argumenten, 
zum  Teil   aber  auch  in  anderen  Umstanden,   die  sich  nicht  in 


^)  Das  Princip  des  Arguments:  dass  zwei  Inhalte  in  irgend  einer 
Beziehung  umso  leichter  unterschieden  und 'verglichen  werden,  je  mehr 
alles  Ubrige  gleich  ist  —  bleibt  also  unangetastet.  Es  gibt  allerdings 
Falle,  die  eine  scheinbare  Ausnahme  bilden.  So  die  obenerwahnten 
KLTJG'schen  Versuche,  nach  welchen  der  Ortssinn  an  Feinheit  zunimmt, 
•wenn  der  Temperaturunterschied  der  beriihrenden  Taster  wachst.    Nach 

5* 


QS  §  17.   Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

die  Form  strenger  Argumente  fassen  lassen  und  nur  die  Be- 
deutung  psychologischer  Yeranlassungen  liaben. 

Die  Motive  fiir  die  Annalime  eines  Wetts^reits  liegen  wol 
nur  in  den  angefiihrten  Griinden  in  Verbindung  mit  den  Schwierig- 
keiten  der  beiden  concurrirenden  Theorien.  Diese  Annahme 
ist  wesentlich  eine  Ausflucht.  Die  Wenigen,  die  auf  sie  ver- 
fielen,  glaubten  sich  durch  Exclusion  auf  sie  hingewiesen. 

Dagegen  hat  die  Einheitslehre  zahlreichere  und  positive 
Wurzeln,  und  nicht  bei  Allen  die  namlichen,  Eine  derselben 
liegt  in  den  besonderen  Voraussetzungen  und  Neigungen  der 
HERBAET'schen  Psychologie.  Die  Einfachheit  der  Seele  sollte 
nach  den  Herbartianeru  ein  Hindernis  sein  fiir  die  Mebrheit 
gleichzeitiger  Tonempfindungen;  wie  sie  ihnen  in  der  Raumtheorie 
als  ein  Hindernis  fiir  die  Empfindung  eines  ausgcdehuten  Farbeu- 
eindrucks  gait.  Wie  unklar  sowol  jener  Begriif  der  Einfach- 
heit der  Seele  selbst  als  auch  die  Folgerungen  daraus  siud, 
bedarf  wol  nicht  der  Ausfiihrung.  Liige  hier  iiberhaupt  ein 
triftiger  Grund,  so  wiirde  man  die  Ausdehnuiig  nicht  bios  nicht 
urspriinglich  sondern  gar  nicht  empfinden  und  vorstellen  konnen, 
und  ebenso  konnte  man  dann  iiberhaupt  keine  Mehrhcit  von 
Inhalten  irgcnd  welcher  Art  zugleich  im  Bewusstsein  haben, 
und  was  sollte  dann  z.  B.  aus  der  Vergleichuug  werden?  Diesen 
angeblichen  Grund  konnen  wir  also  nur  als  ein  im  Finstern 
wirkendes  Motiv  gelten  lassen,  dessen  Kraft  raehr  auf  seltsamen 
Nebenvorstellungen  beruht,  auf  der  Vorstcllung  eines  Punctes, 
in  welchen  eine  Flache  oder  eine  Mebrheit  von  anderen  Puncten 
unmoglich  eindringen  kann  u.  dgl. 

Ein  zweites  Motiv  fiir  die  Einheitslehre  liegt  darin,  dass 
die  psychologische  Entwicklung  allenthalben  von  geringerer  zu 
grosserer  Unterscheidungsfiihigkeit  fortzuschreiten  scheint.  Hiilt 
man  nun  das  unterscheidende  Urteil  und  die  Empfindungs- 
uuterschiede  selbst  nicht  scharf  auseinander,  wie  dies  vielfach 


(lem  Prhicip  sollte  man  das  Gegeuteil  erwarten.  Es  diirfle  aber  auch 
hier  die  Ausnahme  an  besonderen  Umstauden  liegen,  iiber  die  manche 
Vermutung  moglich  ist. 


Losung  der  Principienfragen.  69 

geschieht,  so  muss  man  zu  der  Folgerung  kommen,  class  die 
Tonempfindungen  selbst  sich  im  Laufe  des  Lebens  mehr  und 
mehr  differenziren,  dass  also  wenigstens  iirspriinglicli,  und  bei 
Unmusikalischen  in  weitem  Umfang  auch  spaterhin,  die  gleich- 
zeitigen  Tone  eine  einzige  Empfindung  bilden. 

Ein  drittes  Motiv  liegt  darin,  dass  das  vorausgehende 
Horen  der  Klangteile  eincn  machtigen  Einfluss  auf  die  Leiclitig- 
keit  der  Unterscheidung  hat.  Dies  scheint  darauf  hinzuweisen, 
dass  ohne  solche  vorausgehende  Erfahrungen  plie  Analyse  iiber- 
haupt  unmoglich  ist,  und  so  liegt  es  nahe,  die  Tonempfindnng  in 
alien  Fallen  fUr  eineEinheit  und  die  Analyse. nur  als  ein  Hinein- 
denken  aufzufassen.  Dies  war  wenigstens  das  Motiv,  welches  mich 
selbst  (Urspr.  d.  Raumvorst.)  zur  Einheitslehre  hinleitete,  Wir 
sprechen  liber  das  zu  Grunde  liegende  Princip  alsbald  eingehender. 

Endlich  liegt  ein  sehr  wesentliches  Motiv  in  der  Ver- 
schmelzung  der  gleichzeitigen  Tone  und  besonders  in  der  starken 
Verschmelzung  der  Consonanzen.  Denn  vorzugsweise  an  Bei- 
spiele  der  letzteren  Art  pflegt  man  zu  denken,  vor  Allem  an 
das  des  Dreiklangs,  wenn  von  gleichzeitigen  Tonen  die  Rede 
ist;  er  gilt  gleichsara  als  das  Musterbeispiel.  Es  erkliirt  sicli 
hieraus,  wie  selbst  Musiker  nach  einer  Bemerkung  Brentano's 
(mir  ist  es  nicht  vorgckommen)  sich  zweifelhaft  dariiber  aus- 
sprechen  konnen,  ob  sie  mehrere  Tone  horen.  Die  Sprache 
selbst  bezeichnet  ja  den  Eindruck  als  „den  Dreiklang",  sie  ge- 
braucht  die  Einzahl,  wahrend  doch  zugleich  in  dem  Namen 
selbst  die  Mehrzahl  angedeutet  ist.  Drei  Tone,  Ein  Klang. 
Darum  hat  denn  auch  fiir  die  Dreifaltigkeit  ausser  dem  Drei- 
fuss  und  der  dreizinkigen  Gabel  der  Dreiklang  oft  genug  als 
Erlauterung  dieuen  miissen.  Die  Octave,  das  starkstverschmel- 
zende  Intervall,  heisst  sogar  Einklang:  nicht  einmal  im  Namen 
wird  hier  die  Zweiheit  der  Tone  angedeutet,  obschon  sie  auch 
hier  unzweifelhaft  vorhanden  ist.  Der  Eindruck  wird  dem  der 
wirklichen  Einheit  bis  zum  Verwechseln  ahnlich. 

8.    Einfluss  der  Erfahrung  auf  die  Analyse. 

Betrachten  wir  nun  als  feststehend,  dass  eine  Mehrheit  von 
Tonen  in   der  Empfindung  gleichzeitig  gegeben  sein  kann,  so 


70  §  l"^-    Mehrheit  gleichzeitiger  Touempfindungen. 

fragt  es  sich  weiter  nach  den  Bedingungen,  an  welche  die 
Analyse  gekniipftist.  Die  wiclitigsten  derselben  discutiren  wir 
spater  und  versuclien  dann  auch  eine  vollstandige  Ubersicht. 
Aber  zwei  Fragen,  die  mit  der  allgemeinsten  Fassung  der 
Theorie  zusammenliangen,  woUeu  wir  sogleich  besprechen.  Zu- 
erst  die  Frage  nacli  Art  und  Umfang  des  Einflusses,  welcben 
die  Erfahrung  auf  die  Moglichkeit  und  Leichtigkeit  der  Ana- 
lyse ausiibt;  wobei  unter  Erfabrung  vorlaufig  das  vorherige 
Horen  ahnlicber^  Klange  verstanden  und  nabere  Determination 
des  Begriffes  vorbebalten  wird. 

Die  Discussion  bieriiber  kniipft  am  besten  an  die  Helm- 
HOLTz'scbeLebre  an.  Diese  bat  eine  anatomisch-pbysiologiscbe 
und  eine  psycbologiscbe  Seite.  Dass  die  anatomiscbe  Sonderung 
der  die  Tonwellen  aufnebmenden  Elemente  nicbt  fiir  sicb  scbon 
binreicbt,  um  die  gesonderte  Wabrnebmung  zu  erklaren,  ver- 
stebt  sicb.  Laien  zwar  besticbt  das  „Clavier  im  Obre"  ebenso 
wie  das  „Bildcben"  auf  dor  Netzbaut,  welcbes  fiir  die  Tbeorie 
der  raumlicben  Wabrnebmung  diesen  Scbnellfertigen  nur  die 
Eine  Scbwierigkeit  bietet  (die  gerade  keine  ist),  dass  es  um- 
gekebrt  stebt.  Aber  in  beiden  Fallen  ist  ja  damit  nicbts  ge- 
geben  als  eine  Summe  pbysiscber  Antecedentien,  und  im  Falle 
des  Horens  ist  nicbt  einmal  unsre  Hauptfrage  damit  beant- 
wortet,  warum  boi  gleicber  Reizung  ein  Mai  die  Analyse  statt- 
findet,  ein  andres  Mai  nicbt. 

Helmholtz  selbst  bat  die  psycbologiscbe  Frage  nicbts 
weniger  als  iiberseben.  Er  stellt  sie  in  der  speciellen  Fassung: 
Wober  kommt  die  Scbwierigkeit,  die  Obertone  aus  einem  Klang 
berauszuboren?  und  beantwortet  sie  in  den  drei  ersten  Auf- 
lagen  seines  Werkes  durcb  den  Hinweis  auf  das  allgemeine 
Gesetz,  wonacb  wir,  wenn  eine  Summe  von  Empfindungen  uns 
als  Zeicben  eines  einzigen  Objectes  dient,  stets  erst  einer  be- 
sonderen  tJbung  bediirfen,  um  das  gewobnte  Zeicben  in  seine 
Elemente  aufzulosen.  So  dienen  die  verscbiedenen  Bilder,  die 
unsre  beiden  Augen  von  Einem  Gegenstande  geben,  erfabrungs- 
und  gewobnbeitsmassig  als  Zeicben  dieses  Einen  Gegenstandes 
und   werden   darum   scbwer   als   zwei    erkannt.     So   aucb   der 


Losung  der  Pi'incipienfragen.  71 

Toncomplex  aiis  einem  Grund-  und  mehreren  Obertonen,  den 
wir  als  Geigeuklang  bezeichneii,  weil  wir  ibn  als  Wirkuug  imd 
als  Erkenuungszeiclien  der  Geige  kennen  gelernt  haben. 

Beinahe  alle  Pbysiologen  und  Psychologen  scheinen  von 
dieser  Losung  noch  beute  ganz  befriedigt.  ^)  Dem  grosseren 
wissenschaftlichen  Publicum  ist  sie  ohnedies  durch  unzahlige 
Darstellungen,  unter  Anderem  durch  Helmholtz'  bewunde- 
rungswurdige  popular -wissenschaftlicbe  Vortrage  vertraut  und 
gilt  als  einer  der  wesentlichsten  Ziige  der  durch  Helmholtz 
geschaffenen  Lehre  von  den  Tonempfindungen,  ja  der  empiristi- 
schen  Theorie  von  den  Siimeswahrnehmungen  iiberbaupt;  denn 
kein  andres  als  das  obige  Princip  hat  Helmholtz  auch 
dem  Empirismus  in  seiner  physiologischen  Optik  zu  Grunde 
gelegt. 

*  In  der  vierten  Auflage  (1877)  hat  Helmholtz  dieses 
Princip  und  die  Erklarung  aus  ihm  verlassen,  aber  keine  Griiude 
fUr  die  Anderung  angegeben.  Und  so  wird  eine  Priifung  der 
bereits  verlassenen  Form  der  Lehre  in  diesem  besonderen  Fall 
gerechtfertigt  und  notwendig  sein;  die  Lehre  ist  zwar  fUr  den 
Urheber,  aber  noch  nicht  fiir  die  wissenschaftliche  Welt  veral- 
tet  (ich  habe  nirgends  gefunden,  dass  man  die  Anderung  auch 
nur  bemerkt  hatte),  und  die  tJberzeugung,  die  sich  Einer 
friiher  auf  Helmholtz'  Griinde  hin  gebildet,  wird  er  sich 
nicht  anders  als  wiederum  durch  Griinde  umstossen  lassen. 

a)  Die  alt  ere  HELMHOLTz'sche  Lehre  ist  wirklich  eine 
evident  in-ige.  Wenn  wir  die  Erklarung  fiir  den  Fall  der 
Obertone  annehmen  woUten,  so  ist  sie  doch  unanwendbar  auf 
den  Zusammenklang  gleichstarker  Tone,  der  doch  unter  dasselbe 
allgemeinc  Problem  faUt.  Die  Erfahrung  hat  uns  nicht  gewohnt, 


^)  S.  0.  21.  Von  den  Einwanden  G.  E.  Muller's  batten  einige  (S.  29  — 
30,  34,  35  der  Schrift)  ernstliche  Beachtung  verdient.  Aber  Disserta- 
tionen  werden  wenig  gelesen,  zumal  so  unlibersichtlicb  gescbriebene. 
tJberdies  konnten  einzelne  schiefe  Bebauptungen  des  Verfassers  (wie 
S.  30),  dem  damals  das  Tongebiet  wol  noch  nicbt  binreicbend  aus  eigener 
Erfabrung  bekannt  war,  Misstrauen  erwecken.  Und  so  blieb  die  ver- 
einzelte  Kritik  wirkungslos. 


72  §  l"?-   Mehrheit  gleiclizeitiger  Tonempfindungen. 

den  Dur -Accord  als  Zeichen  irgend  eines  Instruments  zu  be- 
tracliten.  Er  wird  von  den  verschiedensten  Instrumenten,  oft 
auch  durch  ein  Zusammenwirken  mehrerer  hervorgebraclit.  Und 
docli  finden  viele  Menschen  hier  eine  ganz  ahnliche  Scbwierig- 
keit,  wie  gegeniiber  den  Obertonen;  was  man  an  Unmusika- 
liscben  jederzeit  erproben  kann  und  u.  A.  Fechnee  nacb  seiner 
eigenen  Erfabrung  bezeugt  (s.  o.  20).  Eben  darum  wird  ja  von 
Mancben  bezweifelt,  ob  iiberbaupt  ein  wirklicbes  Herausboren 
einzelner  Tone  aus  einem  Tongemisch  moglicb  sei.  Da  nun 
diese  beiden  Falle,  der  Klang  und  der  Zusammenklang,  sich 
nur  graduell  durcb  das  Starkeverbaltnis  der  zusammenklin gen- 
den  Tone  unterscbeiden ,  so  wird  aucb  die  psycbologiscbe  In- 
terpretation fiir  beide  die  namHcbe  sein  miissen,  und  erscbeint 
scbon  darum  Helmholtz'  Princip  ungeniigeud. 

Aber  selbst  fiir  die  Analyse  eines  einzeluen  Klanges  kann 
das  Princip  uicbt  gelten.  Ein  Oboist  gewobnlicben  Scblages, 
der  erfabrt,  dass  jeder  Ton,  den  er  blast,  eigentlicb  eine  Mebr- 
beit  von  5 — 6  Tonen  darstellt,  wird  sicb  anfanglicb  nocb  mebr 
verwundern',  als  ein  Nicbtmusiker,  der  seinem  Urteil  in  dieser 
Ricbtung  iiberbaupt  wenig  zutraut;  insoweit  stimmt  das  Ver- 
balten  mit  dem  Princip.  Yeranlasst  man  aber  den  Oboisten, 
auf  Obertone  zu  borcben,  so  bort  er  sie  docb  um  Vieles 
scbneller  und  leicbter  heraus  als  der  Nicbtmusiker.  Nacb  dem 
Princip  ware  das  Gegenteil  zu  erwarten;  demi  der  letztere  bat 
die  Erfabrung  iiber  diesen  bestimmten  Toncomplex  als  Zeicben 
dieses  bestimmten  Instrumentes  kaum  ein  oder  das  andere  Mai 
gemacht,  der  Oboist  immerfort.  Nocb  mebr:  einem  und  dem- 
selben,  musikaliscben  oder  unmusikaliscben ,  Individuum  moge 
der  Klang  eines  ibm  bekannten  und  eines  ibm  unbekannten 
Instruments  vorgefiibrt  werden.  Den  ersteren  bat  man  sicb 
nacb  Helmholtz  gewobnt  als  cinbeitlicbes  Zeicben  zu  betracb- 
ten,  den  anderen  nicbt.  Und  docb  zeigt  sicb  kein  Unterscbied 
in  der  Fabigkeit,  die  Obertone  des  einen  und  des  anderen 
Klanges  berauszuboren.  Der  Musikaliscbe  und  der  akustiscb 
Geiibte  bort  sie  in  beiden  Fallen  gleicb  gut,  der  andere  in' 
beiden  Fallen  gleicb  schlecbt.    Somit  kann  der  genannte  Um- 


Losiing  der  Principieufragen.  73 

stand,  auf  den  Helmholtz   das   entscheidende   Gewiclit  legte, 
solches  Gewiclit  nicht  besitzeu. 

Zudem  ist  das  HELMHOLTz'sche  Princip  nicht  einmal  un- 
l)estreitbar  und  fiihrt  auch,  wenn  es  unbestreitbar  ware,  nicht 
notwendig  zu  der  daraus  gezogenen  Folgerung.  Es  bedarf  zuerst 
der  Interpretation.  Wenn  Helmholtz  gewisse  Empfindungen 
als  Zeichen  von  „Objecten"  betrachtet,  so  denkt  er  hier  wol 
nicht  an  die,  von  ihni  allerdings  sonst  auch  befiirwortete  An- 
sicht,  dass  unsre  sammtlichen  Empfindungen  nur  als  Zeichen 
der  unbekanuten  Dinge  an  sich  gelten  konnen.  Sbndern  unter 
„Objecten"  versteht  er  hier  sinnlich  vorgestellte  Objecte  als 
solche.  Eine  gewisse  Tastempfindung,  welche  mir  in  einem 
dunklen  Zimmer  plotzlich  zu  Teil  wird,  ist  mir  ein  Zeichen 
fiir  ein  Gesichtsobject,  z.  B.  einen  Tisch,  dem  mein  (als  Ge- 
sichtsobject  vorgestellter)  Korper  unmittelbar  nahegekommen. 
Umgekehrt  dienen  Gesichtsempfindungen  als  Zeichen  fiir  Tast- 
objecte  u.  s.  f.  Hieuach  haben  wir  das  Princip  so  auszusprechen : 
,,Eine  Mehrheit  von  Empfindungen,  die  fiir  ein  gemeinsames  Sinnes- 
object  als  Zeichen  dient,  wird  um  so  weniger  leicht  analysirt, 
je  haufiger  sie  dem  Bewusstsein  in  dieser  ihrer  Function 
gegenwiirtig  war".  Danu  ist  aber  klar,  dass  es  auf  das  Tonge- 
biet  nur  eine  gelegentliche  und  beschrankte  Anwendung  finden 
kann.  Tone  dienen  factisch  viel  seltener  als  Zeichen  fiir  Sinnes- 
objecte,  als  z.  B.  Tastempfindungen  und  riiumliche  Gesichts- 
empfindungen. Der  Pfiff  der  Locomotive,  das  Lauten  und  Schla- 
gen  der  Glocke  und  dgl.  dienen  uns  allerdings  als  Zeichen 
objectiver  Vorgange,  und  die  Sprachlaute  bilden  ein  umfassen- 
des  System  solcher  Zeichen  (bei  welchem  iibrigens  ebensosehr 
Ein  Zeichen  fiir  eine  Vielheit  von  Vorgangen  oder  Dingen  als 
eine  Vielheit  von  Zeichen  fiir  Ein  Ding  angewandt  wird).  Hin- 
gegen  von  den  musikalischen  Tonen  kann  man  nicht  eigent- 
lich  behaupten,  dass  sie  uns  vorwiegend  oder  auch  nur  in  erheb- 
lichem  Masse  als  Zeichen  dienten.  Wenn  auch  Associationen 
mit  Bewegungen,  Stimmungen  und  dgl.  zu  dem  Vergniigen  an 
Musik  W^esentliches  beitragen:  die  Aufmerksamkeit  des  Musik- 
horenden  ist  doch  in  erster  Linie  den  Tonen  selbst  zugewandt. 


74  §  17.  Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

Das  Interessante  beim  Pfiff  einer  Locomotive  liegt  in  der  Tat- 
sache,  class  der  Zug  abgeht.  Aber  das  Interessante  der  Musik 
liegt  nicht  in  der  Tatsacbe,  dass  eine  Liiftmasse  oder  die 
Saiten  iiber  einem  Hohlraum  in  Scbwingungon  vorsetzt  werden, 
sondern  in  den  Kliingen  und  ibren  Verbindungen  selbst;  nicht 
darin,  dass,  sondern  in  dem,  was  gcblason  und  gegeigt  wird. 

Aber  nicht  einmal  in  den  Fallen,  wo  wirklich  gewisse 
Empfindungen  als  regelmassige  Zeichen  von  Sinnesobjecten 
dienen,  scheint  mir  das  HELMHOLTz'sche  Princip  clem  wahren 
Sachverhalt  entsprechend.  Durch  die  Gewohnung,  mehrere 
Empfindungen  auf  Ein  Object  zu  beziehen,  wird  es  uns  natiir- 
lich  immer  schwieriger,  sie  auf  mehrere  Objecte  zu  beziehen: 
aber  man  sieht  nicht  ein,  warum  es  schwieriger  werden  soUte, 
als  es  Anfangs  war,  diese  Empfindungen  selbst  zu  analysiren, 
gleiche  Aufmerksamkeit  u.  s.  w.  vorausgesetzt.  Die  starkste 
Gewohnung  der  hieher  gehorigen  Art  findet  wol  Statt,  wenn 
wir,  ohne  das  Auge  zu  Hilfe  zu  nehmen,  die  mehrfachen 
Beriihrungsempfindungen,  welche  ein  mit  der  Hand  erfasster" 
Gegenstand  erregt,  auf  eben  dieses  einheitliche  Object  deuten. 
Dies  ist  gewiss  Sache  der  Gewohnung  oder  Erfahrung.  Das 
bekannte.  Doppelterscheinen  eines  zwischen  gekreuzten  Fingern 
geriebenen  Brodkiigelchens  zeigt  ja  auch  deutlich,  dass  die 
gleichzeitige  Beriihrung  zweier  Hautpartien,  die  nicht  gewohnt 
sind,  zugleich  von  demselben  festen  Object  beriihrt  zu  werden, 
uns  zur  Deutung  auf  zwei  Objecte  verleitet.  Aber  wie  schwer 
es  uns  auch  werden  mag,  bei  gewohnlicher  Finger stellung  die 
mehrfachen  Beriihrungsempfindungen  auf  zwei  Kiigelchen  zu 
beziehen:  dass  es  zwei  und  nicht  Eine  Beriihrungsemp fin- 
dung  ist,  bemerken  wir  ohne  Schwierigkeit. 

•Wenn  die  Gewohnheit,  eine  Summe  von  Empfindungen 
auf  Ein  Object  zu  beziehen,  an  und  fiir  sich  schon  ein  Hin- 
dernis  ihrer  Analyse  ware,  so  wiirden  wir  ein  mehrsilbiges 
Wort,  mit  dem  wir  einen  einheitlichen  Gegenstand  zu  benen- 
nen  pflegen  z.  B.  „Papier",  schwerer  in  seine  Silben  zerlegen 
als  eine  ungewohnte  Zusammenfiigung  von  Silben,  wie  „Piepar". 
Hier  handelt  sich's  allerdings  um  successive  Telle;  aber  in  dem 


Losung  der  Principienfragen.  75 

Princip  ist  nichts  dariiber  gesagt  unci  es  folgt  iiiclit  aus  ihm, 
dass  es  nur  auf  gleichzeitige  anzuwenden  ware.  Nimmt  man  an, 
dass  Gleichzeitigkeit  von  Empfindungen  an  sich  ein  Hindernis 
der  Analyse  ist,  so  hat  man,  eben  ein  neues  Princip  und  gibt 
zu,  dass  gewohnbeitsmassige  Bezicbung  auf  Ein  Object  den 
Unferscbied  in  der  Moglicbkeit  der  Analyse  uicbt  erklart. 

Aucb  die  besondere  Scbwierigkeit,  Doppelbilder  wabrzu- 
nebmen,  auf  welcbe  Helmholtz  verweist,  kann  nicbt  in  diesem 
Umstand  griinden.  Das  zweiaugig  Fixirte  doppelt  zu  seben, 
gelingt  Uberbaupt  Niemand.  Hicr  muss  'also  wol  ein  ganz  un- 
iiberwindlicbes  Hindernis  in  den  Empfindungen  selbst  vorliegen; 
es  wird  eben  nur  Eine  Empfindung  da  sein.  Im  Ubrigen  aber  ist 
fUr  die  Wabrnebmung  von  Doppelbildern  die  Aufgabe  gestellt, 
dass  die  Aufmerksamkeit  auf  nicbtfixirte,  seitlicb  oder  biuter 
oder  vor  dem  fixirten  Punct  gelegene  Telle  des  Sebfeldes  ge- 
ricbtet  werde,  was  besondere  tJbung  erfordert.  Aucb  wird  das 
indirect  Gesebene  undeutlicb  geseben.  Diese  Umstande  geniigen 
zur  Erklarung  der  Scbwierigkeit.  Aualoges  gilt  beziiglicb  des 
blinden  Flecks. 

Das  von  Helmholtz  friiber  angewandte  Princip  ist  also 
nicbt  einmal  ricbtig.  Wir  betonen  dies  darum,  well  es  sicb 
als  ein  allgemeiner  Grundsatz  des  s.  g.  Empirismus  im  Gcbiet 
der  Sinneswabrnebmungen  iiberbaupt  eingebiirgert  hat.  An 
und  fiir  sicb  konnten  wir  es  bier  unbesehen  hinnebmen;  die 
Tatsacben  der  Klanganalyse  waren  doch  nicbt  damit  erklart. 

Etwas  Richtiges  ist  ja  an  dem  kritisirten  Princip  immer- 
bih:  dass  namlicb  gewisse  Verbindungen  mit  fortscbreitender 
tJbung  des  Wahrnebmens  in  immer  einbeitlicherer  Weise,  mit 
Einem  Blick  iiberschaut  und  aufgefasst  werden;  wie  die  Worte 
der  Scbrift  und  Spracbe.  Wir  erkennen  "ohne  Miibe,  dass  sie 
viele  einzelne  Buchstaben  enthalten  und  welcbe.  Aber  wir 
iiberseben  beim  Lesen  sogleich  das  ganze  Wort  und  erfassen 
seine  Bedeutung,  ohne  zu  bucbstabiren.  Nicbt  also  eine  Scbwie- 
rigkeit der  Analyse  entstebt_  mit  fortscbreitender  tJbung  des 
Wahrnebmens,  sondern  nur  eine  Leichtigkeit  der  Ubersicht 
iiber  ein  grosseres  Ganzes,  bestehe  es  aus  successiven  oder  gleich- 


76  §  1^-   Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfiiukmgen. 

zeitigen  Elemciiten.  In  diesem  Sinn  ist  denn  auch  wirklich 
der  Dreiklang  und  jeder  Accord  fiir  den  Musikgeiibten  eine 
Einheit  geworden;  er  wird  ohne  Weiteres,  s.  z.  s.  niit  Einem 
Blick  des  Ohres,  seiner  Structur  und  musikalischen  Bedeutung 
nach  aufgefasst  und  wiedererkannt.  Aber  eine  Schwierigkeit  der 
Analyse  folgt  daraus  natiirlich  nicht. 

Die  Ursache,  welche  Helmholtz  zu  der  offenbar  falschen 
Theorie  fiihrte,  ist  wol  in  erster  Linie  darin  zu  suchen,  dass 
er  von  dem  speciellen  Fall  der  Obertone  ausging,  welche  ge- 
meinsam  niit  dem  Grundton  durch  Ein  Instrument  und  Einen 
Act  erzeugt  werden;  statt  die  allgemeineren  Schwierigkeiten 
der  Analyse  gleicbzeitiger  Tone  beliebiger  Herkunft,  von  denen 
jene  nur  ein  besonderer  Fall  sind,  der  Erklarung  zu  unter- 
werfen. 

b)  Betrachten  wir  nun  die  neuere  HELMHOLTz'scbe  Lehre. 
Die  ganze  Darlegung  iiber  den  Unterschied  der  Empfindungen 
von  den  Wahrnehmungen,  iiber  die  Zusammengesetztheit  der 
letzteren,  iiber  den  Scbein  der  Einheit,  welcher  mehreren  Em- 
pfindungen durch  das  einheitliche  Object,  das  sie  bezeichnen, 
zuwachse  (S.  101  — 107^)  ist  hier  hinweggefallen;  dafiir  dem 
Abschnitt  ein  anderer  Schluss  beigefiigt  (S.  106  — 111^). 
Helmholtz  unterscheidet  jetzt  zwei  Grade  des  Bewusstseins  von 
P^mpfindungen.  Der  niedere  Grad  ist  der,  bei  welchem  der 
Einfluss  der  betreffenden  Empfindung  sich  nur  in  der  von  uns 
gebildeten  Vorstellung  von  den  ausseren  Dingen  und  Vorgan- 
gen  geltend  macht  („blos  percipirte  Empfindung");  wahrend  wir 
beim  hoheren  Grad  die  betreffende  Empfindung  unmittelbar  als 
einen  vorhandenen  Teil  der  zur  Zeit  in  uns  erregten  Summe 
von  Empfindungen  unterscheiden  („appercipirte  oder  wahrge- 
nommene  Empfindung").  An  verschiedenen  Sinnen  zeigt  sich 
nun,  dass  viele  Ubung  und  vielleicht  auch  besonderes  Talent 
dazu  gehort,  eine  Empfindung  in  gewissen  Fallen  zu  apperci- 
piren.  So  bei  dem  Urteil  iiber  Reinheit  einer  Weinsorte,  Zu- 
sammensetzung  einer  Speise,  bei  der  Tastempfindung  des  Nassen, 
die  aus  Gliitte  und  Kalte  zusammengesetzt  ist,  bei  den  Dop- 
pelbildern   der   beiden  Augen,  bei   den  unsre  Raumvorstellung 


Losuug  der  Princii)ienfragen.  77 

bedingenden  Muskelempfindungen.  Die  Elemente  der  Farben- 
empfindungen  konuen  wir  von  vorDherein  iiberbaupt  nicht, 
spater  iiiir  sehr  schwierig'  uud  unter  Anleitung  der  Erfahrun- 
gen  liber  kiinstlicbe  Zusammensetzung  erkenuen.  Flir's  Obr 
nun  liegen  Jedem  Erfabruugen  iiber  die  Zusammensetzung  von 
Klangen  in  ausgedebntestem  Masse  vor,  und  die  Fabigkeit, 
selbst  sebr  verwickelte  musikabscbe  Zusammenklange  in  die 
einzebien  Stimmen  der  sie  bervorbringenden  Instrumente  zu 
zerlegen,  kann  von  Jedem,  der  seine  Aufmerksamkeit  darauf 
wendet,  bald  erworben  werden.  (?)  Aber  die  letzten  Bestand- 
teile,  die  einfacben  Tone,  werden  selten  gebort;  die  Golegen- 
beit,  ein  genaues  und  sicheres  Eriunerungsbild  derselben 
unsrem  Gedacbtnis  einzuverleiben,  ist  sebr  bescbriinkt,  Daber 
wird  die  Zerlegung  der  Summe  selbst  in  entsprecbendem  Masse 
unsicber.  Desbalb  miissen  wir  bei  der  Analyse  eincs  Klanges 
wenigstens  im  Anfang  uns  die  Elemente,  die  unterscbieden 
werden  sollen,  vorber  einzeln  borbar  macben,  um  eine  ganz 
friscbe  Erinnerung  an  die  Empfindung  zu  baben,  die  ibnen 
entspricbt,  und  das  ganze  Gescbaft  erfordert  rubige  und  ge- 
sammelte  Aufmerksamkeit.  Accorde  werden  bingegen  leicbter 
analysirt,  weil  wir  die  Kliiuge,  aus  denen  sie  besteben,  genii- 
gend  oft  einzeln  vorber  gebort  baben. 

Man  siebt  bier  eiuen  wesentlicben  Gegensatz  gegen  die 
friibere  Lebre.  Das  ganze  Problem  ist  nicbt  mebr  dies,  warum 
uns  eine  Anzabl  von  Empfindungen,  wie  die  Teiltone,  als  Ein- 
beit  erscbeint  —  dies  wird  als  der  urspriinglicbe  Zustand  vor- 
ausgesetzt  —  sondern  warum  und  unter  welcben  Bedingungen 
wir  sie  auflosen.  Gewiss  die  ricbtigere  Fragestelluug.  Dem- 
gemass  findet  aucb  jenes  Princip  fiir  die  allmalige  Entstebung 
scbeinbarer  Einbeit  keinen  Platz  mebr.  Es  tritt  ein  anderes 
an  die  Stelle;  und  zwar,  wenn  icb  recbt  verstebe,  wird  als 
wesentlicbe  Bedingung  der  Analyse  angeseben,  dass  man  die  zu 
analysirenden  Bestandteile  vorber  einzeln  gebort  babe.  Je 
ofter  dies  der  Fall  war,  um  so  leicbter  gebe  die  Analyse  vor 
sicb.  Im  Ubrigen  wird  gesammelte  Aufmerksamkeit  und  (nacb 
den   Bemerkungen    iiber    andere    Sinne)    aucb    eine    besondere 


78  §  17.  Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfiudungen. 

tJbung  des  Aiialysirens  in  dem  betreffenden  Gebiet,  hypotbetiscli 
auch  ein   besonderes  Talent,  zu  den  Bediugungen  gerechuet.  ^) 

Den  Grundsatz,  dass  nur  das  unterscbieden  werden  konne, 
was  vorber  getrennt  wabrgenommen  wurde,  batte  icb  selbst 
friiber  fiir  sinnlicbe  Unterscheidungen  aufgestellt  und  an  den 
eiuzelneu  Sinnen,  besonders  aber  am  Tonsinn  zu  erbarten 
gesucbt.  ^) 

Er  scbeint  aber,  in  dieser  strengen  Form  wenigstens,  ein 
irriger.  Wenn  mebrere  sebr  verscbiedeue  Empfindungen  gleicb- 
zeitig  vo)"banden  sind,  so  ist  nicbt  einziisebeu,  warum  es  einer 
nocb  so  sebr  gesteigerten  Aufmerksamkeit  durcbaus  unmoglicb 
sein  sollte,  ibre  Mebrbeit  und  Verscbiedenbeit  obne  voraus- 
gebende  Erfabrungen  iiber  die  einzelnen  zu  erkennen.  Dass 
vorberiges  Horen,  namentlicb  unmittelbar  vorausgebendes,  einen 
giinstigen  Einfluss  bat,  erklart  sicb  geniigend  aus  der  der  Auf- 
merksamkeit erteilten  Richtung.  Man  vermag  concentrirter  zu 
borcben,  wenn  man  weiss,  worauf  man  zu  borcben  bat.  Der 
Umstand,  dass  die  Obertone  im  Allgemeinen  scbwerer  beraus- 
gebort  werden,  als  die  Einzelkliinge  eines  Accords,  begreift  sicb 

^)  Am  Schluss  des  ganzen  Abschnittes  fasst  Helmuoltz  das  Ergeb- 
nis  dabin  zusarumen:  1)  dass  die  Obertone  .  .  .  empfunden  (percipirt) 
werden,  wenn  sie  auch  nicbt  immer  zur  bewussten  Wahrnehmung  ge- 
langen  (nicbt  appercipirt  werden),  2)  dass  sie  obne  andere  Hilfe  als 
eine  zweckmassige  Leitung  der  Aufmerksamkeit  auch  zur  bewussten 
Wahrnehmung  gebracbt  (appercipirt)  werden  konnen,  3)  dass  sie  aber 
auch  in  dem  Fall  wo  sie  nicbt  isolirt  wabrgenommen  werden,  sondern 
in  die  Klangmasse  verschmelzen,  doch  ibre  Existenz  in  der  Empfindung 
erweisen  durch  die  Veranderung  der  Klangfarbe. 

Diese  Zusammenfassung  ist  nun  wieder,  abgesehen  von  den  einge- 
scbalteten  Kunstausdriicken.  ganz  identisch  mit  der  in  der  3.  Auflage. 
Aber  der  zweite  Punct  hiitte,  soviel  icb  sebe.  nicbt  unverandert  stehen 
bleiben  diirfen,  sofern  nach  der  neneren  Darstellung  die  Aufmerksam- 
keit allein  nicbts  niitzt ,  wenn  die  Bestandteile  nicbt  vorber  einzeln  ge- 
hort  wurden.  Ubrigens  ist  im  Inbaltsverzeichnis  des  Werkes  sogar  der 
Satz  stehen  geblieben:  „Wir  sind  in  der  Beobachtung  unserer  Sinnes- 
empfindungen  nur  soweit  geiibt,  als  sie  uns  zur  Erkenntnis  der  Aussen- 
welt  dienen"  —  was  sicb  doch  auf  den  aufgegebenen  und  gestrichenen 
Teil  der  Lehre  bezieht. 

■-)  Urspr.  d.  Raumvorst.  130  f. 


Losung  der  Principienfragen.  79 

hinreicliend  aus  ilirer  geringeren  relativeu  Starke,  aus  der 
exacteren  Gleiclizeitigkeit  ihres  Auftretens  mit  dem  Grundton 
uiid  dgl.  (§  21). 

Anders  verhielte  sich  die  Sache,  wenn  die  Empfindung 
bei  eiiiem  Accord  in  sich  selbst  nur  eine  einzige  einheitliche 
ware:  dann  wiirde  sich's  nur  um  ein  Hineindenken  handeln 
und  dazu  ware  die  Anleitung  friiherer  Erfahrungen  iiber  die 
Entstebung  eines  solcben  Klanges  unentbebrlicb. 

Die  scheinbar  eclatante  Bestatigung  des  Principes  durcb 
die  sog.  Farbenanalyse,  welche  icb  friiher  ebenfalls  beraiizog, 
verdankt  ibre  Kraft  aucb  nur  dieser  Voraussetzung:  dass  nam- 
licb  die  sg.  Miscbfarbe  fUr  das  Bewusstsein  eine  streng  einbeit- 
licbe  Qualitat  sei  ebenso  wie  die  sog.  reine  oder  Grundfarbe, 
dass  also  eine  wirklicbe  psycbiscbe  Analyse  bier  iiberbaupt 
nicbt,  sondern  nur  eine  Quasi -Analyse  stattfinde.  Und  bier 
diirfte  die  Voraussetzung  aucb  ricbtig,  darum  das  Princip  zu- 
treffend  seiu.  lui  Orange  seben  wir  nicbt  Rot  und  Gelb, 
sondern  es  erinuert  uns  an  diese  Farben,  weil  es  mit  beiden 
Abnlicbkeit  besitzt,  qualitativ  zwiscben  ibnen  stebt.  Als  Em- 
pfindungsinbalt  ist  es  ebensowenig  aus  jenen  zusammengesetzt, 
wie  ein  mittlerer  Ton  aus  einem  boberen  und  tieferen,  wie 
eine  lane  Temperaturempfindung  aus  einer  kalten  und  warmen, 
wie  ein  mittelstarker  Kopfscbmerz  aus  einem  starken  und 
scbwacben.  Es  kommt  allerdings  aucb  nocb  die  andere  Tat- 
sacbe  in  Betracbt,  dass  Orange  durcb  gleicbzeitige  Einwirkung 
zweier  Wellengattungen ,  deren  eine  fur  sicb  allein  Rot,  deren 
andere  Gelb  erzeugen  wiirde,  erzeugt  werden  kann.  Aucb  diese 
Tatsacbe  kann  uns  veranlassen.  Rot  und  Gelb  in  Orange  bin- 
einzudenken.  Aber  aucb  sie  ist  ja  mit  einer  Zusammengesetzt- 
heit  der  Empfindung  selbst  nicbt  zu  verwecbseln.  Darum  kann 
denn  dieser  Fall,  die  sog.  Miscbfarbenanalyse,  mit  dem  der  gleicb- 
zeitigen  Tonmebrbeit  und  ibrer  Analyse  keineswegs  parallelisirt 
und  ein  fiir  den  ersten  Fall  gliltiges  Princip  auf  den  zweiten 
nicbt  iibertragen  werden  ^). 

*)  Es  wird  allerdings  von  bedeutenden  Forschern  auch  die  Ansicht 
vertreten,  dass  im  Orange  das  Rot  und  Gelb  wirklicb  irgendwie  gesehen 


80  §  17.  Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindung-en. 

Selbstverstaudlich  soil  niclit  geleugnet  werdeii,  class  friihere 
Falle  der  Klanganalyse  giinstig  fiir  spiitere  Falle  wirken. 
tjbuiig  gibt  es  hier  wie  iiberall.  Nur  das  behaupten  wir,  dass 
ganz  neue  Tonzusammenstellungen  nicht  unter  alien  Umstan- 
den  unanalysirbar  sein  miissen.  Es  miissen  daher  aucb  schon 
in  den  Anfangen  des  psychischen  Lebens  vor  jeder  Erfahrung 
iiber  Klangzusammensetzung  manche  gleichzeitige  Toncombina- 
tionen  (auch  Combinationen  von  Tonen  und  Gerauschen)  als 
eine  Mehrheit  von  Tonen  nicht  bios  empfunden  sondern  auch 
aufgefasst  werden,  z.  B.  ein  Zusammenklang  aus  zwei  nach 
Hohe  und  Klangfarbe  ausserst  ungleichartigen  Kliingen,  deren 
einer  iiberdies  starker  das  rechte,  deren  anderer  starker  das 
linke  Ohr  trifft,  noch  dazu  unter  Umstanden,  welche  die  Auf- 
merksamkeit  besonders  auf  diesen  Zusammenklang  hinlenken 
und  concentriren.  Dieser  Schluss  ist  notwendig,  weil  die  Be- 
dingungon,  unter  denen  wir  jetzt  gleichzeitige  Tone  analysiren, 
nachdem  specielle  Erfahrungen  iiber  die  beziigliche  Klangzu- 
sammensetzung aus  der  Reihe  der  Bedingungen  gestrichen  sind, 
sich  von  den  ursprlinglich  vorhandenen  nur  graduell  unter- 
scheiden  konnen.  Die  tJbung  des  gewohnlichen  und  des  musi- 
kalischeu  Horens  kann  die  Hemmnisse  verringcrn,  die  Chancen 
des  richtigen  Urteils  vergrossern,  aber  nicht  das  Urteil  iiber- 

wiirden.  Ich  will  genaueren  Bestimmungen  hieriiber,  die  mit  den  ver- 
wickelten  Frageu  iiber  den  Begriff  der  Grundfarbe,  der  Farbenintensitat, 
Helligkeit,  Sattigung  n.  s.  f.  zusammenhaugen,  nicht  vorgreifen.  Aber 
soviel  scheint  mir  im  Voraus,  dass  Elementarfarben ,  wenn  dieser  Be- 
griff iiberbaupt  haltbar  ist,  nicht  in  demselben  Sinn  in  der  Mischung 
gesehen  werden,  wie  Tone  im  Klang  gehort  werden:  als  niehrere  gleich- 
zeitige nnd  gleichlocalisirte  Qiialitaten.  Gibt  doch  Jedermann  zu,  dass  wir 
die  absolut  reinen  Grnudfarben  niemals  wirklich  sehen,  sondern  hochstens 
Annaherungen  daran.  In  den  Mischungen  wiirden  wir  sie  ja  aber  sehen. 
Andrerseits,  wenn  der  sogenannte  Mischcharakter  des  Orange  nur 
in  der  Ahnlichkeit  nach  beiden  Seiten  besteht,  wird  allerdings  der  ganze 
psychologische  Begriff  von  Grundfarben  schwankend.  Denn  Rot  steht 
auch  zwischen  Violet  nnd  Orange,  es  hat  Ahnlichkeit  nach  beiden 
Seiten.  Nur  physikalische  oder  phj'siologische  (psychophysische)  Tatsachen 
bleiben  dann  zur  Definition  der  Grundfarben  iibrig.  Wirklich  ruht  ja 
aber  dieser  Begriff  wenigstens  bei  Helmholtz  auf  keiuer  anderen  Basis. 


Losung  der  Principienfragen.  81 

haupt  ermoglichen.  Vor  aller  Ubung  wird  also  iiur  unter  extrem 
giiustigen  Umstanden  Erkenntnis  der  Mehrheit  gleiclizeitiger 
Tone  stattfinden,  aber  sie  wird  nicht  unter  alien  Umstanden 
unmoglich  sein. 

9.  Einfluss  des  Gefiihls  (Klang-  oder  Harmoniegefuhls) 
auf  die  Analyse.     Mittelbare  Kriterien. 

.  Wir  erwahnten  I  87  eine  Anschauung,  wonach  alle  Unter- 
schiede  nur  durch's  Gefiihl  bemerkt  wiirden.  In  ihrer  Allge- 
meinheit  damals  bereits  als  irrig  erk'annt,  soil  sie  docli  bezUg- 
lich  der  Analyse  gleichzeitiger  Tone  nocli  besonders  widerlegt 
werden,  da  sie  gerade  liier  auch  besondere  Stiitzen  zu  baben 
scheint.  Dann  gilt  es  wiederum ,  das  Wahre  daran  herauszuheben. 

Durch  das  Gefiihl,  konnte  man  sagen,  unterscheiden  sicli 
Zusammenklange  gegcniiber  Einzelkliingen  und  diese  wieder 
untereinander  und  von  den  einfachen  Tonen.  Notwendig  muss 
ja  jede  Verscbiedenbeit  in  der  Klangzusammensetzung  eine 
Verscbiedenbeit  der  GefUhlswirkung  zur  Folge  baben. 

Sofern  Einer  biermit  bebaupten  wollte,  dass  wir  eine 
Vielbeit  gleichzeitiger  Componenten  iiberbaupt  nie  wirklich 
wahrnahmen,  sondern  nur  aus  den  Gefiihlen  auf  dieselbe 
schlossen  (indem  wir  bei  bestimmten  Klangen  bestimmte  Geflihle 
haufig  erlebt  und  uns  durch  objective  Untersuchung  von  der 
Mehrheit  der  beteiligten  objectiven  Tone  iiberzeugt  hiitten),  dass 
also  jede  Klanganalyse  ein  mittelbares  Urteil  sei ;  so  ware  diese  Be- 
hauptung  durch  die  Untersuchungen  des  vorigen  und  gegenwartigen 
Paragraphen  bereits  abgetan.  Nur  in  dem  Sinne  kommt  die  Ge- 
fUhlstbeorie  noch  in  Betracht ,  dass  das  G  e  f  ii h  1  ein  u n  e n t b  e h r- 
liches  Hilfsmittel  ware,  umzur  wirklichen  subjectiven  Analyse 
zu  gelangen,  dass  also  der  einzige  Weg  zum  uumittelbaren  Urteil 
in  jedemFall  durch  ein  mittelbares  fiihrte;  analog  der  Annahme, 
die  wir  beziiglich  der  Function  von  Muskelempfindungen  in  §  9 
besprachen. 

Man  sieht  nun  bier  wie  dort  nicht  ein,  warum  durchaus 
die  Natur  eines  vorliegenden  Tonmaterials  in  sich  selbst  keinen 
Anhaltspunct  geben  soil,  sondern  nur  die  Natur  eines  beglei- 
tenden  Phanomens.     Entweder  ist  das  Gefiihl  in  sich  einfach, 

•     Stumpf,  Tonpsychologie.   II.  6 


82  §  l"^-  Mehrheit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

und  wie  soil  es  dann  oline  Hilfe  der  Erfahrung  auf  die  Zu- 
sammengesetztheit  der  Empfindung  fiihren?  Oder  es  ist  selbst 
zusammengesetzt,  und  dann  entsteht  ja  die  ganze  Frage  uach 
der  Moglichkeit  der  Analyse  gegeniiber  dem  Gefiihl  ebenso  wie 
gegeniiber  dem  Tonmaterial.  Beruft  man  sich  auf  die  Erfabrung, 
wonach  wir  bei  bestimmten  Klangeu  bestimmte  Gefiible  haufig 
erlebten  und  so  Anhaltspuncte  gewiinnen  fiir  spiitere  wirkliche 
Analyse:  was  sollen  uns  solche  Anhaltspuncte  niitzen,  wenn 
wir  nicht  zugleich  wissen,  dass  die  friiheren  Klange  zusammen- 
gesetzte  Klange  waren?  Wir  miissten  dies  also  doch  scbon  in  den 
ersten  Fallen  aus  der  Natur  der  Gefiible  a  priori  erkannt  haben. 

Da  indessen  die  Berufung  auf  das  Gefiihl  bei  Vielen  be- 
liebt  ist,  die  der  Sache  nicht  niiher  nachdenken,  so  will  ich 
noch  Eines  beifiigen. 

Das  musikalische  Harmonie gefiihl  im  eigentlichen  Sinne 
des  Wortes  kann  den  verlangten  Dienst  schon  darum  nicht 
leisten,  weil  es  vielmehr  umgekehrt  die  Analyse  voraussetzt. 
Wir  zeigen  dies  spater  ganz  im  Einzelnen ;  vorliiufig  geniigen  viel- 
leicht  einige  Beispiele.  Der  abscheuliche  Eindruck  von  Quinten- 
parallelen  verschwindet  in  demselben  Masse  als  die  beiden  Tone 
weniger  deutlich  auseinandergehalten  werden.  Jedem  Musiker 
fallen  Belege  aus  der  Praxis  ein.  Fiir  den  Unmusikalischen, 
der  die  Zusammenklange  nicht  analysirt,  besteht,  wie  ich  mich 
vielfach  iiberzeugt  babe,  die  Unannehmlichkeit  der  Quinten- 
parallelen  iiberhaupt  nicht  (geschweige  denu  fiir  —  Hunde, 
wie  irgendwo  behauptet  ist).  Sie  ist  also  nicht  ein  unmitteibar 
dem  sinnlichen  Eindruck  anhaftendes  Gefiihl,  sondern  ruht  auf 
der  Analyse  desselben.  Ferner:  die  beiden  Accorde  unter  1. 
oder  die  beiden  Zweikliinge  unter  2. 


J-l « ffiS XL 


sind  auf  dem  Clavier  vollkommen  identisch.  Der  Gefiihlseindruck 
ist  durchaus  verschieden,  wenn  man  die  Noten  dazu  sieht: 
weil    beide    nur    in    verschiedenem  Zusammenhang   vorkommen 


Losung  der  Principienfragen.  83 

konnen  und  dieser  mogliche  Zusammenhang  eben  durch  die  Schrei- 
bung  es  oder  dis,  as  oder  gis  angedeutet  ist.  Und  zwar  ist 
der  Gefiihlseindruck  nicht  etwa  ausserhalb  alles  Zusammenbaugs 
auch  schon  da  und  wird  durch  diesen  nur  modificirt,  sondern 
er  ist  (soweit  das  Harmoniegefiihl  als  solcbes  in  Betracht 
kommt)  ganz  und  gar  vom  Zusammenhang  bestimmt.  Auch 
beim  isolirten  Accord  ist  er  durch  die  aus  der  musikalischen 
Erfahrung  oder  aus  dem  Geist  des  Musiksystems  hinzugedachte 
bez.  vei'misste  Auflosung  oder  sonstige  Fortsetzung  bestimmt. 
Der  erste  Zweiklaug,  isolirt  angegeben  und  so  aufgefasst,  wie 
die  Noten  es  andeuten,  ist  bei  2.  hochst  unangenehm,  der  zweite 
hochst  angenehm.  Es  ist  also  klar,  dass  nicht  der  sinnHche 
Eindruck,  sondern  die  Auffassung  desselben  das  musikaHsche 
Harmoniegefiihl  bestimmt;  jenachdem  wir  z.  B,  einen  Ton  als 
Touica  oder  als  Leitton,  als  kleine  Septime  oder  iibermassige 
Sext  auffassen  (wenn  auch  nicht  in  kunstmassiger  und  begriff- 
licher  Weise).  Diese  Auffassung  aber  setzt  natiirlich  Analyse 
voraus.  Und  so  ist  das  Harmoniegefiihl  im  eigeiitlichen  Sinne 
durch  die  Analyse  bedingt,  nicht  aber  umgekehrt. 

Es  bliebe  nur  das  elementare,  rein  sinnliche  Klang- 
gefiihl  iibrig.  ^)  Dieses  bildet  allerdings  manchmal  einen  An- 
haltspunct,  ein  mittelbares  Kriterium,  welches  dem  unmittel- 
baren  Urteil  unter  Umstanden  den  Weg  bereiten  kann.  ^) 
Ein  Klang  kann  uns  anmuten,  als  ware  er  zusammengesetzt 
und  sogar  in  bestimmter  Weise  zusammengesetzt,  Nachher.  be- 
merken  wu'  vielleicht  die  Teile  selbst  im  Ganzen.  Aber  es 
leuchtet    ein,    dass    gewisse    Erfahrungen    vorausgehen    miissen 

*)  Die  Aufmerksamkeit  rechnen  wir  allerdings  auch  zu  den  Ge- 
fiihlen,  aber  von  ihr  als  (nicht  unentbehrlicher)  Bedingung  der  Analyse 
ist  ja  bereits  gesprochen  und  wird  noch  naher  in  §  22  die  Rede  sein. 

-)  Von  solcher  vorbereiteuden  Function  mittelbarer  Kriterien  spricht 
auch  W.  James  einmal  als  von  einem  „allgemeinen  Gesetz  der  Unter- 
scheidung".  „It  seems  to  be  one  of  the  laws  of  discrimination,  that  two 
feelings,  whose  contrast  is  so  slight  as  to  pass  unnoticed,  may  end  by 
becoming  distinguished,  in  case  they  severally  form  associations  with 
other  bodies  of  feeling  whose  contrast  is  more  massive"  etc.  (Journ.  of 
Spec.  Philosophy,  XIII  81.) 

6* 


84  §  17.    Mehrbeit  gleichzeitiger  Tonempfindungen. 

und  dass  wir  me  aucli  nur  auf  die  Vermutung  einer  (subjec- 
tiven)  Toninehrheit  kommen  wiirden,  hatteu  wir  solclie  nicht 
bereits  erlebt,  d.  li.  in  einem  Klangganzeii  entsprecliende  Teile 
wabrgenommen. 

In  dieser  Weise  wirken  ja  auch  andere  mittelbare  Krite- 
rien  zur  Analyse  •  gelegentlich  mit:  die  Klangfarbe,  die  Schwe- 
bungen,  der  Anblick  mebrerer  Instrumente  u.  s.  w.  (wovon 
§  23,  1,  b).  Aber  alle  mittelbaren  Kiiterien  sind  triigeriscb, 
wie  wir  scbon  im  I.  Band  an  vielen  Beispielen  gesehen.  So 
konnen  zwei  Instrumente  docb  aucb  iinisono  spielen;  konnen 
Intensitatsscbwankungen,  die  den  Scbwebungcn  genau  gleicben, 
aucb  durcb  einen  einzelnen  Ton  bervorgebracbt  werden  u.  s.  w. 
Dies  ist  zugleich  wieder  ein  Beweis,  dass  in  keinem  bios  mit- 
telbaren Kriterium  ein  unentbcbrliclies  Hilfsmittel  der  Ana- 
lyse liegen  kann.  Unmittelbare  Urteile  aus  dem  Klangmaterial 
zeigen  ibre  selbstandige  Existenz,  indem  sie  der  durcb  das 
mittelbare  Kriterium  naliegelegten  Vermutung  widersprechen. 

Endlicb  'wollcn  wir  nicbt  leugncn,  dass  in  vereinzelten 
Fallen,  bei  im  bocbsten  Gradx)  unmusikaliscben  Personen,  jener 
Zustand  wenigstens  naliezu  verwirklicht  sein  kann,  dessen  all- 
gemeincs  oder  aucb  nur  normales  Vorkommen  wir  bestritten 
liaben:  dass  sie  liber  gleicbzeitigc  Tonmebrbeit  nur  mittelbar 
urteilen  und  sicb  dabei  durcb  ein  gewisses  Gefiiblsmoment 
leiten  (bez.  irreleiten)  lassen.  Mebrere  bervorragend  uimiusi- 
kaliscbe  Personen  (die  I  327  bescbriebenen)  liaben  sicb  in 
diesem  Sinne  geiiussert.  Die  eine  dersolben  unterscbied  aucb 
sehr  genau  diese  Quasi- Analyse  von  einer  wirklicben.  Sie 
gab  bestimmt  an,  immer  nur  Einen  Ton  walirzunebmen,  aber 
zu  wis  sen,  dass  es  zwei  seien,  weil  ibr  der  Eindruck  unan- 
gencbm  sei.  Nur  die  Octave  wurdo  meist  nicbt  unangenebm 
gefundei]  und  dementsprecbend  als  Ein  Ton  beurteilt.  Sonst 
wurde  immer  auf  zwei  Tone,  von  Seiten  der  iilteren  Dame  so- 
gar  immer  auf  drei  geraten,  moclite  das  Intcrvall  der  beiden 
gleicbzeitigen  Tone  sein,  welcbes  es  wollte.  (Der  Grund  fiir 
die  Unannebmlicbkeit  des  Eindrucks  ist  bier  wol  nicbt  in  den 
Scbwebungen  zy  sucben,  die  z.  B.  bei  Quintcn  in  boherer  Lago, 


Losung  der  Principienfragen.  85 

und  bei  kurzem  Aiischlage  auch  sonst,  kaum  merklicli  sincl. 
Er  liegt  vermutlich  in  der  Undeutlichkeit  des  Eindrucks.  Ein 
einzelner  Klang  mit  hervortretendem  Grundton  hat  eine  be- 
stimmte  Tonhohe;  ein  Ziisammenklang  nicht.  Fiir  den  Musiker, 
der  diesen  analysiren  kann,  bat  eben  jeder  Teilklang  bez.  dessen 
Grundton  seine  besondere  Hohe.  Wer  aber  zur  Analyse  un- 
fiihig  ist,  dem  muss  ein  Zusammenklaug  als  Ton  von  unbe- 
stimmtcr  Hohe  und  gegeniiber  den  gewohnteren  Einzelkliingen 
als  ein  in  gewisser  Hinsicht  undeutlicher  Toneindruck,  ahn- 
lich  einer  „schmutzigen"  Farbe,  erscheinen.  Namhaft  machen 
kann  er  freilich  auch  die  Hohe  des  Einzelklanges  niemals: 
aber  dieser  scheint  ihm  doch  in  der  oft  gehorten  und  nament- 
lich  vom  Clavier  her  bekannten  „jedem  Ohre  klingenden" 
Klangreihe  einen  Platz  einzunehmen,  was  von  den  Zusammen- 
klangen  nicht  gilt.  Ubrigens  sind  ja  auch  vielen  Naturvolkern 
Zusammenklange  widerwiirtig,  und  wahrscheinlich  aus  verwand- 
ten  Griinden.) 

Gcfiihlc  gohoren  also  ebensowenig  wie  vorausgehcnde  Er- 
fahrung  zu  den  intcgrirenden  Bedingungen  der  Analyse.  Ganz 
unentbchrlich  ist  koine  einzige  psychische  Fahigkeit  ausser  dor 
des  Wahrnehmens  Uberhaupt. 


So  sind  wir  in  den  Grundlagen  zu  der  einfachsten,  nachst- 
licgenden  und  von  den  Moisten  gebilligten  Annahme  zuriick- 
gefiihrt:  Mehrere  gleichzeitige  Tone  konnen  empfunden  und 
grobe  Unterschiede  derselben  ohne  Weiteres  bemerkt  werden, 
feinere  erst  bei  tJbung  und  sonst  giinstigen  Umstanden.  Aber 
man  wird  die  Discussion  der  Schwierigkeiten  und  die  Kritik 
der  entgegenstehenden  Annahmen  nicht  fiir  unniitz  erkliiren,  da 
auf  diesem  Wege  allein  nicht  bios  eine  wirkliche  Uborzeugung 
iiber  die  Frage  gewonnen  sondern  auch  der  Grund  des  ganzen 
weiteren  Baues  gelegt  werden  konnto  und  iiberdies  eine  Reihe 
allgemeinerer  Begriffe  und  Principien  aus  der  Theorie  der  Sinnes- 
wahrnehmuug  zur  Untersuchung  kam. 


86  §  18.  Physiologische  Voraussetzungen 

§  18.  Physiologische  Voraussetzungen 
der  Klanganalyse. 

Die  psychologische  Theorie  der  Empfindungen  stUtzt  sich 
zunachst  mit  Uberspringung  der  Nervenprocesse  direct  auf  die 
genaue  Betrachtung  der  Wahrnehmungen,  die  wir  durch  aussere 
Reize  erhalten.  Die  Ergebnisse  bilden  dann  ebensoviele  Postu- 
late, "welche  zusammen  mit  anatomischen  Daten  die  physiolo- 
gischen  Bedingungen  der  Empfindungen  erschliessen  helfen.  1st 
dies  bis  zu  gewissem  Grade  gcschehen,  so  kann  aus  den  so 
gebildeten  Vorstellungen  iiber  die  nervosen  Grundlagen  hie  und 
da  auch  deductiv  Einiges  iiber  die  Natur  der  Empfindungen 
erschlossen   werden. 

Aus  diesem  Verhaltnis  der  physiologischen  und  der  psycho- 
logischen  Forschung  iiber  Empfindungen  folgt,  dass  wir  an 
jedem  Punct  unsrer  Untersuchungen  die  Consequenzeu  dersel- 
ben  nach  der  physiologischen  Seite  im  Auge  behalten  mlissen. 
Hier  specicll  gilt  es,  iiber  die  Kraft  der  Griinde  kkxr  zu  wer- 
den, welche  der  Annahme  anatomisch  getrennter  Nervenelemente 
fiir  verschiedene  gleichzeitigc  Tone  das  Wort  reden,  sowol  in 
dieser  allgemeineren  Fassung  als  in  der  speciellen  Durchfuhrung, 
die  man  als  Lehre  von  der  Schneckenclaviatur  zu  bezeichnen 
pflegt. 

Insoweit  solche  anatomische  Sonderung  der  tonerzeugenden 
Processe  sich  etwa  auch  unabhtingig  von  den  psychologischen 
Betrachtungen  wahrscheinlich  machen  lasst,  liefert  sie  zugleich 
eine  Bestatigung  fiir  diese.  Denn  es  ware  nicht  abzusehen, 
wozu  dorartige  anatomisch -physiologische  Einrichtungen  ge- 
troffen  sein  sollten,  wenn  nicht  zur  Ermoglichung  des  glcich- 
zeitigen  Horens. 

•  Daran  werden  sich  weiter  einige  Untersuchungen  schliessen, 
die  das  Princip  der  specifischcn  Encrgien  betrefi"en  und  in  ihren 
Consequenzen  ebenfalls  nicht  bios  fiir  die  physiologische  Erkla- 
rung,  sondern  auch  fiir  die  Beschreibung  der  Empfindungstat- 
sachen  selbst  von  Wichtigkeit  sind. 


der  Klanganalyse.  87 

I.  Anatomisclie  Vorrichtungen. 

1.  Postulat  dcr  auatomischen  Sonderung. 

Wenu  wir  melirere  gleichzeitige  Tonreize  als  mehrere 
gleicbzeitige  Tone  empfiuden,  so  scheint  mir  der  Schluss  un- 
vermeidlich,  dass  irgendwo  im  Organismus,  sei  es  im  Ohr  oder 
erst  im  Gehirn,  eine  physische  Zerlegung  der  in  das  Ohr 
dringenden  Gesammterregurig  stattfinden  muss. 

Jedenfalls  muss  das  Princip  gelten,  dass  den  Unterschieden 
unsrer  Empfiudungen  Unterschiede  der  letzten  physischen  Pro- 
cesse  (derjenigen,  an  welche  unmittelbar  Erapfiudung  gekniipft 
ist)  correspondiren.  Nun  konnte  man  allerdings  fragen,  ob 
nicht  dui'cb  die  besondere  Form  der  Gesammtwelle,  beziebungs- 
weise  die  Bescbaffenheit  der  cbemiscben  oder  elektriscben 
Processe,  die  von  ihr  im  Nervensystem  erregt  werden,  die  Mehr- 
beit  gleicbzeitigcr  Tone  sicb  begreifen  liesse,  obue  dass  wir  eine 
locale  Zerlegung  dieser  Processe  annebmeu^).  'Macben  wir  dies 
concret  an  der  Gesammtwelle  der  vereinigten  Tone  einer  grossen 
Terz  (bei  gleicber  Amplitude  und  anfanglicber  Pbasendififerenz  0) 
oben  S.  28,  4:5.  Diese  Gesammtwelle  entbiilt  innerbalb  ihrer 
Periode  5  Wellen  des  hoberen,  4  des  tieferen  Tones.  Aber  man 
wird  scbwerlicb  in  ibr  irgendwelcben  Anlass  entdecken,  sicb  durcb 
zwei  Empfindungen  geltcnd  zu  macben.  Die  5  Maxima  und 
die  5  Wellen  des  boberen  Tones  fiuden  sicb  allerdiugs  in  ibr 
wieder,  wenn  aucb  wesentlicb  verandert  (nacb  Hobe  und  Lange 
variirend).  Man  kann  also,  wenn  man  die  Anzabl  der  successiven 
Anstosse  in  der  Secunde  und  die  dadurcb  bedingten  letzten 
pbysiologiscben  Processe  als  massgebend  fiir  die  Tonempfindung 
ansiebt,  den  boberen  Ton  erkliiren.   Aber  wo  bleibt  der  tiefere? 


^)  LoTZE  sprach  sich  in  dcr  Med.  Psychol.  270  dahin  aus.  „Wirken 
zwei  Tone  gleichzeitig  ein,  so  werden  ihnen  auch  stets  zwei  Keihen 
periodischer  Impulse  in  dem  Nerven  entsprechen  und  es  wird  mithin 
an  den  Gegenstanden  wenigstens  nicht  fehleu ,  welche  den  Inhalt  zweier 
gesonderten  Empfindungen  bilden  konnen,  indem  sowol  die  eine  als  die 
andere  zusammengehorige  Reihe  jener  ausgezeichneten  Werte  (Maxima) 
nach  der  Frequenz  ihrer  Wiederkehr  als  besonderer  Ton  percipirt 
werden  wiirde." 


83  §  18-  Physiologische  Voraussetzungen 

Die  mathematisclie  Betrachtung  mag  in  der  Modification  der 
Sinuswellen  des  hoheren  Tons  die  Existenz  des  tieferen  er- 
kennen.  Aber  der  Nerv?  Wenn  die  Zahl  der  successiven  Er- 
regungen  fiir  ihn  massgebend  ist,  um  eine  bestimmte  Empfiuduug 
zu  erzeugen  —  und  welche  andere  Auuahme  sollte  man  machen 
—  so  kann  er  eben  nur  den  lioheren  Ton  erzeugen.  Setzen 
wir  nun  fiir  die'  Schwingungen  eiiien  chemischen  oder  elek- 
trischen  Vorgang,  so  wird  die  Sacbe  in  keinem  Fall  besser: 
die  zeitlicbe  Gliederung  bleibt  dieselbe  oder  fallt  ganz  weg. 
Ich  meine  natiirlich  nicht,  dass  die  Empfindung  in  einem 
Zahlen  der  Impulse  bestande  oder  darauf  beruhte.  Die  Forde- 
rung  ist  nur  die:  es  miissen  in  der  Bescbaffenheit  der  Er- 
regung,  welclie  den  Nervenendigungen  und  weiter  den  Nerven 
und  Ganglien  mitgeteilt  wird,  ir gen d welche  —  ganz  einerlei 
welche  —  Momente  sein,  welche  es  moglich  erscheinen  lassen, 
dass  durch  den  'Einen  Reiz  zwei  Tone  in  der  Empfindung  er- 
zeugt  werden,  und  welche  variiren  je  nach  der  Combination 
dieser  Tone.  Dies  eben  scheint  mir  nicht  geleistet  zu  werden, 
solange  nicht  irgendwo  eine  locale  Sonderung  der  den  Touen 
entsprechenden  Processe  angenommen  wird. 

Hiernach  betrachte  ich  die  Fahigkeit  des  Menschen,  mehrere 
Tone  gleichzeitig  zu  horen,  als  einen  Beweis  fiir  eine  anatomisch- 
physiologische  Zerlegung  des  tonerzeugenden  Processes  und  diese 
Zerlegung  selbst  nicht  als  eine  blosse  Hypo'these  sondern  als 
cine-  Forderung  der  Theorie.  Helmholtz  spricht  dies  zwar, 
soviel  ich  sehe,  nicht  direct  aus,  aber  nach  der  ganzen  Anlage 
seiner  Untersuchung  und  Darstellung  diirfte  es  auch  seiner 
Meinung  entsprechen. 

Auch  die  Einflusslosigkeit  der  Phasenverschiebungen  auf 
die  Gehcirserschcinung  wiirde  sonst  wieder  nicht  begreiflich  sein, 
da  doch  sehr  wesentliche  Unterschiede  in  der  Form  der  Ge- 
sammtwelle  damit  vcrknupft  sind.  Findet  Sonderung  der  Gc- 
sammtwelle  in  Sinuswellen  Statt,  so  ist  auch  dieser  Umstand 
begreiflich,  ja  notwendig. 

Ausserdem  gibt  es  speciellerc  Erschcinungen,  welche  fiir  eine 
anatomische  Sonderung  der  Tone  sprechen.     So  die  Schwierig- 


der  Klanganalyse.  89 

keit  des  Trilleriis  in  der  Tiefe,  genauet  die  Schwierigkeit 
der  Unterscbeidung  der  getrillerten  tiefen  Tone.  Diese  Er- 
scheinung  stellt  Helmholtz  (235)  als  cntscheidenden  Grund 
liin,  da  sie  nur  iinter  der  Voraussetzung  begreiflich  sci,  dass 
Teile  von  geriugerer  Diimpfungsfahigkeit  (liingerer  Nacherreguug) 
diese  Tone  vermitteln,  dass  also  bohe  und  tiefe  Tone  anato- 
miscb  getrennt    sind. 

Auf  partielle  Anastbesien  wies  Helmholtz  gleicbfalls 
zuerst  als  auf  eiue  Bestatigung  bin.  Seitdem  sind  solcbe  Falle 
genauer  untersucbt  mid  bescbrieben;  wir  baben  I  403  f.  die 
wicbtigsten  Beispicle  zusammengestellt  ^).  Ebenso  lassen  sicb 
die  partielleu  Hyperastbesien  anfiibren  (1  269  Spalding's  <7^; 
ferner  I  413)-),  Sodann  die  partiellen  Yerstimmungen  (Doppelt- 
boreu  I  266  f.  275).  Aiicb  die  Moglicbkeit,  diircb  die  Auf- 
merksamkeit  Obertone  und  Combinationstone  einzeln  zu  ver- 
starken,  weist  auf  einen  local  gesonderten  Angriffspunct  fiir 
jeden  solcben  Ton  bin  (s.  u.  §  22).  Endlicb  Uisst  sicb  das  un- 
gleicbe  Verbalten  der  Scbwebungen  in  verscbiedenen  Regionen 
nicbt  gut  anders  als  durcb  anatomiscbe  Verscbiedcnbcit  der 
Trager  erklaren,  wenn  aucb  fiir  das  Zustandekommcn  von 
Scbwebungen  iiberbaupt  ein  Hilfsprincip  notwendig  wird  (§  27). 

Helmholtz  stiitzt  durcb  diese  Tatsacben,  soweit  er  sie 
beranziebt,  nicbt  bios  die  anatomiscbe  Sonderung  der  Tonreize 
im  Allgemeinen,  sondern  die  von  ibm  speciell  ausgebildete 
concrete  Anscbauung  von  der  Scbneckenclaviatur.    Und  sicher- 


>)  Weiter  vgl.  Gradenigo,  A.  f.  0.  XXVII  105  f.  (Taubheit  fiir 
mittlere  Region  als  besonderer  Typus).  Kirchner,  Sitz.  Ber.  d.  Wiirz- 
burger  med.-phys.  Ges.  1887  S.  78.  (Ein  musikalisch  feingebildeter  Mann 
horte  zwischen  C  und  c*  auf  dem  Clavier  in  j§der  Octave  nur  zwei  bis  fiinf 
Tone,  in  der  viergestrichenen  Octave  alle.  Ursache  wahrscheinl.  Syphilis.) 

^)  Aucb  Reflexe  sind  zuweilen  an  ganz  bestimmte  einzelne  Tone  ge- 
kniipft,  und  nicbt  bios  etwa  dann  wenn  diese  besonders  stark  gebort 
werden.  So  wurde  ein  stai-k  schwerboriger  Mann,  wenn  ibm  die  kraftig 
angeschlagene  c*-Gabel  vor  das  recbte  Obr  gehalten  wurde,  fiir  einige 
Secunden  ganz  scbwindlig  (optiscb  und  motoriscb);  wabrend  /is*  und 
iiberbaupt  andere  bohe  und  tiefe  Gabeln  keinen  Schwindel  erzeugten. 
Jacobson  im  A.  f.  0.  XXI  294  f. 


90  §  18-  Physiologi^che  Voraussetzungen 

lich  clienen  sie  gerade  dieser  bestimmten  Form  der  Vorstellung 
besonders  zur  Stiitze.  Aber  sie  wiirden  fiir  die  anatomisclie  Isolirung 
im  Allgemeiiien  aucb  danii  eine  Stiitze  bleiben,  wenn  diese 
bestimmtere  Form  der  Lehre  aufgegeben  werden  miisste.  Einen 
ganz  zwiiigenden  Beweis  liefert  kaum  eine  der  zuletzt  ange- 
fiihrten  Tatsachen,  weder  fiir  die  speciellere  Form  der  Lehre 
iioch  fiir  ihren  allgemeiuen  Grundgedankeu;  es  bleiben  fiir  jede 
dieser  Erscheinungen  iioch  andere  Erklaruugsgriinde  mehr  oder 
minder  leicht  denkbar.  Aber  es  wird  sich  doch  keiu  Nach- 
denkender  dem  Eindi'uck  derselben  in  ihrer  Gesammtheit  ent- 
zieben  konnen. 

2.  Die  Hypothese  der  „Sclineckenclaviatur". 

Betrachten  wir  nun  auch  die  concrete  HELMHOLTz'scbe 
Hypothese  selbst,  die  unter  obigem  Titel  popular  geworden  ist. 
Ibr  Grundgedanke  ist  die  Zerlegung  der  Gesammtwelle  in  Smus- 
wellen  durch  gesondert  mitschwingende  Telle  innerhalb  der 
Schnecke;  wodurch  der  Vorgang  auf  die  bekaunten  physi- 
kalischen  Gesetze  des  Mitschwingens  zuriickgefiihrt  und  uns  so 
in  seinem  Mechanismus  vollkommen  verstandlich  wird.  Als 
solche  auf  verschiedene  Tone  mitschwingende  (abgestimmte) 
Telle  hatte  Helmholtz  urspriinglich  die  CoRTi'schen  Bogen 
angesehen,  die,  aus  ausseren  und  inneren  Pfeilern  zusammcn- 
gesetzt,  die  Grundmembran  der  Schnecke  Uberdecken  und  an 
Spannweite  und  Hohe  von  der  Basis  bis  zur  Spitze  der  Schnecke 
zunehmen.  Nachdem  Hasse  gefunden,  dass  die  CoRTi'schen 
Bogen  bei  Vogeln  und  Amphibien  fehlen,  andererseits  Hensen 
durch  Messungen  der  Grundmembran  gezeigt,  dass  diese  selbst 
von  der  Basis  bis  zur  Spitze  der  Schnecke  an  Breite  (um  mehr 
als  das  12-fache)  zunimmt,  halt  nun  Helmholtz  mit  Hensen 
die  eiuzelnen  Fasern  der  Grundmembran  fiir  die  mitschwingenden 
und  zerlegenden  Gebilde.  Dass  einzelne  Faserbiindel  einersolchen 
zusammenhangenden  Membran  in  Mitschwingmigen  geraten 
konnen,  ohne  dass  die  benachbarten  merklich  in  Bewegung  ge- 
setzt  werden,  zeigt  er  durch  mathematische  Deduction. 

Die  tiefsten  Tone  werden  hiernach  (ebenso  wie  nach  der 
urspriinglichen  Hypothese)  durch  die  Spitze  oder  Kuppel  der 


der  Klanganalyse.  91 

Schnecke,  die  hochsten  durch  die  Basis,  dem  ovalcn  Fenster 
gegcniiber,  vcrmittelt. 

Uber  die  feineren  Bindeglieder  des  Mechanismus  gehen  die 
Anscliauungen  noch  auseinander.  Als  die  eigentlichen  peripbe- 
rischen  Eudorgane  der  Hornervenfasern  sind  die  Haarzellen  des 
CoKTi'schen  Organes  (welches  ausser  den  obengenannten  Bogen  noch 
verschiedenartige  Gebilde  in  sich  befasst)  zu  betrachten.  Sie  werden 
darum  auch  als  Gehorzellen  bezeichnet.  Hier  erst  erfolgt  die  Um- 
setzung  der  bis  dahin  mechanischen  Bewegung  in  den  Nerven- 
process.  Die  CoKTi'schen  Bogen  konnen  nicht  als  Nervenendgebilde 
angesehen  werden,  weil  sie  bei  Atrophic  des  Nerven  unversehrt 
gefunden  werden. 

Wahrend  aber  Hensen  und  Helmholtz  die  CoRTi'schen  Bogen 
als  ein  Mittelglied  fiir  die  tjberleitung  der  Erregung  von  der 
Grundmembran  auf  die  Haarzellen  aiiffassen,  behauptet  A.  Bottcher 
eiue  directe  Einwirkung  der  Grundmembran  auf  diese  und  fasst 
die  CoRTi'schen  Bogen  nur  als  einen  Stiitzapparat  ^)  (Waldeyer  als 
einen  Dampfungsapparat). 

Das  sind  intime  Fragen  der  mikroskopischen  Anatomic.  Aber 
Eine  Bemerkung  vom  Standpunct  uuserer  Erorterungen  mochte 
ich  nicht  unterdriicken :  die  Beobachtungen  Hasse's  uber  Vogel 
und  Amphibien  bilden  an  und  fiir  sich  keinen  zwingenden  Grund, 
die  altere  HELMHOLTz'sche  Ansicht  iiber  die  Bedeutung  der 
CoRTi'schen  Bogen  aufzugeben.  Denn  fiir  die  Wahrnehmung  der 
einzelnen  Tone  und  gewohnlicher  nicht  zu  schneller  Folgen  von 
Tonen .  brauchten  wir  iiberhaupt  keine  specificirten  Gebilde  im  Ohr 
auzunehmen.  Dass  aber  Vogel  und  Amphibien  die  Fahigkeit  be- 
sassen,  die  Tone  eines  Accords  zu  unterscheiden,  ist  nicht  bewiesen, 


^)  A.  f.  0.  XXIV  (1887)  95  f.,  131  f.,  151,  320  f.  XXV  (1887)  1  f. 
(,,Wie  kommt  die  Gehorsempfindung  in  der  Schnecke  zu  Stande?") 

Vgl.  Schwalbe's  Lehrb.  d.  Anatomie  der  Sinnesorgane  1887,  362  f. 
Nach  ScHWALBE  gehen  die  Fasern  der  Grundmembran  nicht,  wie  nach 
BoTTCHEK,  aus  dcu  Fussplatten  der  ausseren  CoRTi'schen  Pfeiler  hervor, 
sondern  sind  davon  noch  durch  eine  homogene  Schicht  getrennt.  Retzius 
fand  diese  trennende  Schicht  beim  Kaninchen  sogar  noch  aus  feinsten 
Faserchen  zusammengesetzt. 


92  §  18.'  Physiologische  Voraussetzungen 

ebensowenig,  dass  es  ihnen  mehr  Schwierigkeit  machte,  eiueu  Triller 
in  der  Tiefe  klar  zu  horen  als  einen  in  der  Hohe  u.  s.  w.  Nun 
ist  es  freilich  undenkbar,  dass  beim  Menscben,  der  gleichzeitige 
ebcuso  wie  aufeiiianderfolgende  Tone  unterscbeiden  kann,  beide 
Fabigkeiten  an  verscbiedene  Organe  im  Obr  geknliiift  waren.  Aber 
nicbt  undenkbar  scbeint  es,  dass  der  Lauf  der  generellen  Ent- 
wicklung  ein  und  dasselbe  urspriingliche  Organ  allmalig  in  solcber 
Weise  umgestaltct  batte,  dass  es  erst  in  seinen  boberen  Entwicke- 
lungsstufen,  mit  den  CoKTi'scben  Bogen  verseben,  zur  Unter- 
scbeidung  gleicbzeitiger  Tone  fabig  geworden  ware.  Auch  die 
Grundmenjbran  bat  sicb  gewiss  nicbt  vom  ersten  Anfang  an  dazu 
geeignet.  Sie  erscbeint  nacb  Retzius  zuerst  bei  den  Krokodilen 
fibrillar,  deutlicber  dann  bei  den  Vogeln  und  Saugern. 

Fragen  wir  nun  nacli  den  Griindeu,  welche  diese  besoudere 
uud  anschauliche  Form  der  Lehre  zu  stUtzen  dienen.  Wenn 
man  offeu  seiu  will,  wird  man  vielleicht  sagen  miissen,  dass  die 
Haupttriebfeder  zu  ihrer  Annabme  und  Festhaltung  bis  jetzt 
mehr  ein  Motiv  als  ein  eigentlicher  logischer  Grund  ist.  Nur 
nach  dieser  Anschauung  ebeu  gelingt  es  uns,  die  im  AUge- 
meinen  geforderte  Isolirung  der  tonerzcugondcn  Processe  be- 
kannten  Gesetzeu  untcrzuordnen;  in  keiner  aiideren  Weise 
konuen  wir  uns  ein  concretes  Bild  von  dem  Mechanismus  der 
pliysiologischcn  Analyse  maclien.  Die  Schwierigkeit  oder  Leichtig- 
keit,  mit  der  wir  etwas  unsren  bisherigen  Begriffen  und  An- 
schauungen  unterorduen,  ist  fiir  die  Natur  kein  Motiv,  die 
Sachc  auf  diese  Weise  cinzurichten ;  aber  sio  geniigt  uns,  um 
so  lange,  als  nicht  starkc  Gcgcngriiude  vorlicgen,  an  jener  Vor- 
stellung  festzuhalten. 

Wunderbar  bleibt  es  freilich,  wie  so  kleine  Tcilchcn  solbst 
auf  tiefste  Tone  mitschwingen  konnen,  die  wir  durch  Saiten 
von  gewaltiger  Grosse  erzeugen  und  durch  die  wir  auch  nur 
Saiten  von  gleichcr  Grosse  zum  Mitschwingen  bringen  konnen. 
Doch  sind  die  (Spannungs-Belastungs-  u.  s.  w.)  Verhaltnisse 
im  lebendigen  Organ  so  himmelweit  von  denen  unsrer  Instru- 
mente  verschieden,  dass  wenigstens  ein  triftiger  Einwand  da- 
raus  nicht  cntnommen  werden  kann;  und  Hensen's  Versuche 


der  Klanganalyse.  93 

an  den  Horharchen  von  Mysis  haben  tatsachlicli  gezeigt,  dass 
hier  verschiedene  Hiirchen  auf  verschiedene  Tone  eines  Klapp- 
liorns  mitschwingen  ^). 

Ausserdem  fehlt  es  indessen  auch  nicht  an  Gr linden  im 
eigentlichen  Sinne  zu  Gunsten  der  Hypothese.  Die  Tone,  welclie 
wir  nach  dem  Zeugnis  der  Wahrnehmung  aus  einem  Zusammen- 
klang  heraushoren,  entsprechen  ihrer  Hohe  nach  den  aus  der 
Gesammtwelle  durch  die  mitschwingenden  Fasern  ausgeschiedenen 
Sinuswellen;  z.  B.  wenn  die  Wellen  4:5  vereinigt  das  Ohr 
treffen,  horen  wir  audi  gerade  diese  Tone  aus  Aem.  Zusammen- 
klang  heraus.  tJberliaupt  treffen  die  zu  erwartenden  Conse- 
quenzen  in  Hinsicht  des  Horens  allerseits  zu,  oder  es  lassen 
sicli  wcnigstcns  fiir  anscheinende  Abweichungen  Erkliirungen 
denken  (wie  fiir  die  zu  geringe  Starke  der  Obertone,  s.  §  21). 

Nicht  iibel  lasst  sich  auch  die  grossere  Empfindungs- 
stiirke  und  die  vorwiegende  Neigung  zu  Hyperiisthesien, 
aber  auch  die  leichtere  Alteration  der  Empfindungsfahig- 
keit  fiir  hohere  Tone  ^)  aus  der  Schneckentheorie  begreifen  : 
die  hoheren  Tone  werden,  wie  erwahnt,  durch  die  Schnecken- 
basis  vermittelt,  an  welcher  die  lebendige  Kraft  des  ein- 
dringenden  Reizes  noch  am  grossten  ist,  wclche  aber  zugleich 
den  Schadlichkeiten  (momentanen  Druckschwankungen,  Bluter- 
giissen,  fortgepflanzten  Entziindungsprocessen  u.  s.  w.)  am  Meisten 
ausgesetzt   ist,    sowol    denjenigen,    welche    Hyperiisthesie,    als 


»)  Vgl.  Herm.  Hdb.  Ill,  2,  S.  100  f. 

2)  tjber  die  Tatsachen  s.  I  404,  413;  audi  Moos,  Pathologische 
Beobachtungen  iiber  die  physiologische  Bedeutung  der  hoheren  musi- 
kalischen  Tone,  Z.  f.  0.  II  (1872)  Abteil.  2  S.  139. 

Ich  hore  ausser  dem  ofters  erwahnten  subjectiven  fis^  sehr  haufig 
kurzdauernde  subjective  Tone,  deren  Hohe  ich  mir  seit  mehr  als  10 
jfahren  jedesmal  notire.  Sie  liegen  (ganz  wenige  ausserst  schwache 
etwas  tief ere  Tone  ausgenommen)  sammtlichjenseitsdesc'  nach  oben 
hin.  Von  grosser  Haufigkeit  sind  Tone  der  drei  hochsten  Octaven  (der 
sechs-  bis  achtgestrichenen),  deren  genaue  Hohe  sich  allerdings  meist  nicht 
bestimmen  lasst.  Auch  Oppel  beschreibt  Pogg.  Ann.  144  S.  47G  27 
Falle,  die  alle  zwischen  cP  und  ¥.  liegen. 


94  §  18-  Physiologische  Voraussetzungen 

welche  Scliwacliung  iind  Vernichtung  der  Empfindungsfahigkeit 
bediiigen  koniien^). 

Zwingende  Beweise  sind  dies  natiirlich  auch  niclit,  aber 
unleugbar  gute  Griinde. 

Man  bat  die  Hypotbese  aucb  durcb  Yergleicbung  der 
Anzabl  der  Fasern  mit  derjenigen  der  Tone  zu  controliren 
gesucbt,  und  die  erstere  bald  fiii"  mebr  als  binreicbend,.  bald 
fur  zu  gering  eracbtet  —  je  naeb  der  Art,  wie  man  die  Fa- 
sern und  wie  man  die  Tone  zablte.  Vgl.  I  301.  Da  die  iso- 
lirbaren  Fasern.  der  Grundmembran  viel  zablreicber  sind  als 
die  CoRTi'schen  Bogen  (etwa  4  derselben  entsprecben  der  Fuss- 
platte  eines  iiusseren  Pfeilers  beim  Menscben),  so  ist  die  neuere 
Form  der  HELMHOi^Tz'scben  Hypotbese  bier  im  Vorteil  gegen 
die  altere.  Docb  entbiilt  nur  die  aussere  Zone  der  Grundmem- 
bran (Zona  pectinata)  wirklicb  isolirbare  Radiarfasern.  Ibre 
Anzabl  wird  beim  Menscben  von  Retzius  auf  24  000,  von 
Hensen  auf  13  400  gescbatzt.  Die  Anzabl  der  ausseren  Haar- 
zellen,  denen  die  getremiten  Scbwingungen  iiberliefert  werden 
sollen,  scbiitzt  Retzius  auf  11500  — 12  000,  Waldeyer  auf 
18  000,  Krause  auf  19  800.  Was  die  Zabl  der  unterscbeid- 
baren  Tone  betrifft,  so  dlirfte  sie  sicb  allerdings  noch  immer 
grosser  berausstellen,  als  sie  bis  jetzt  im  Maximum  gefunden 
wurde  (s.  die  Bcrecbnung  a.  a,  0.  zusammcn  mit  den  Nacb- 
triigen  am  Scbluss  des  gegenwiirtigen  Bandes).  Aber  sie  er- 
reicbt  oben  bis  jetzt  aucb  nocb  lange  nicbt  die  angegebenen 
Zablen  fiir  die  anatbmischen  Elemente.  Und  selbst  .wenn  sie  viel 
grosser  als  diese  befunden  wiirde,  so  bliebe  noch  ein  Ausweg. 
Wir  mlissen  immer  im  Auge  bebalten,  dass  durcb  die  geson- 
derte  Leitung  nicbt  die  Unterscbeidung  aufeinanderfolgender, 
sondern  gleicbzeitiger  Tone  erklart  werden  soil.  Nur  bei  auf- 
einanderfolgenden  aber  sind  bis  jetzt  genauere  Scbwellenwerte 
ermittelt.  Die  simultane  Unterscbeidungsfabigkeit  ist,  obscho'n 
nocb  nicbt  mit  gleicber  Genauigkeit  untersucht,  docb  sicberlicb 
ganz  bedeutend  geringer  (§  23, 1,  a).    Wenn  nun  dariiber  binaus 


^)  Vgl.  Brunner  Z.  f.  0.  XIII  277  f. 


der  Klanganalyse.  95 

noch  feinere  successive  Unterschiede  bemerkt  werden,  so  kann 
man  sich  dies  so  vorstelleu,  dass  nicht  bios  eine  und  dieselbe 
Faser  im  Stande  ist,  sich  Unterschieden  der  Schwingungsdauer 
iimerhalb  eines  gewissen  Betrages  auzupassen  (was  unzweifel- 
haft  der  Fall  ist)  sondern  dass  audi  ein  und  dasselbe  mit  dieser 
Faser  in  Verbindung  stehende  centrale  Horganglion  eine  in- 
nerhalb  desselben  Betrages  (z.  B.  einer  Halbtonstufe)  verander- 
liche  specifisclie  Energie  besitzt.  Wir  werden  von  diesem  bisher 
allerdings  ungewohnten  Begriff  weiter  unten  noch  zu  spreclien 
haben.  Auf  diesem  Wege  wird  sogar  eine  unendliche  Zahl 
von  Tonempfindungeir,  d.  h.  eine  wahre  Continuitat  des  Ton- 
gebietes  denkbar  trotz  Discontinuitat  der  abgestimmten  Gebilde; 
obschon  auch  denkbar  bleibt,  dass  die  Continuitat  nicht  Sache 
der  Empfindung  sondern  der  blossen  Auffassung  ware  (1 184  f.). 

Man  hat  ferner  durch  Tierversuche  bald  den  Beweis 
bald  die  Widerlegung  der  HELMHOLTz'schen  Theorie  erbringen 
wollen.  MuNK  hat  die  untere  Wand  der  Schnecke  bei  Hunden 
weggebrochen  und  sagt,  dass  diese  Tiere,  nachdem  sie  zu- 
nachst  14  Tage  taub  gewesen,  spater  nur  auf  tiefe  Tone  und 
Gerausche  durch  Reflexbewegungen  reagirten ;  was  also  mit 
Helmholtz'  Lehre  Ubereinstimmen  wiirde.  ^)  Unter  seijier 
Leitung  unternahm  Baginskt  ausgedehntere  Versuche  in  glei- 
cher  Richtung  und  mit  ahnlichem  Ergebnis.  ^)  Andrerseits 
fiihrt  Stepanow  Versuche  an  Meerschweinchen  in's  Feld, 
welche  nach  Zerstorung  der  oberen  Schneckenteile  gleichwol 
nocli  auf  tiefere  Tone  reagirten,  und  erklart  damit  die  Helm- 
HOLTz'sche  Hypothese  fiir  abgetan.  ^) 

Als  Tonreize  beniitzte  Baginsky  ein  von  Munk  zusammenge- 
stelltes  Pfeifensystem  von  C^  bis  c^  (9  Pfeifeu;  die  mittlereu 
liessen  sich  aber  durch  Verschiebung  des  Deckels  noch  verscliiedeu 


^)  Monatsberichte  der  Berliner  Akademie,  Mai  1881. 

2)  ViRCHOw's  Arcli.  f.  pathol.  Anat.  94  (1883)  S.  65  f.  Ein  Vortrag 
Baginsky's  auf  dem  internationalen  Mediciner-Congress  in  Kopenbagen 
1886,  der  mir  nur  aus  einem  Referat  (Z.  f.  0.  XXV  138)  bekannt  ist, 
scheint  sich  nicht  auf  neue  Versuche  zu  beziehen. 

^)  Monatsschrift  f  Ohrenheilkunde  1888  Nr.  4  (S.  85  f ) 


96  §  18-  Physiologische  Voraussetzung  * 

abstimmen).  Nur  beieinem  Teil  der  Tiere  gelang  die  schwierige 
Operation.  Nach  Anbohrung  der  Schneckenspitze  reagirten  diese 
Hunde  einige  Tage  nach  der  Operation,  als  sie  sich  von  derselben 
erholt  batten,  noch  auf  keinen  Ton;  nur  der  Knall  eines  Ziind- 
hiitchens  schreckte  sie  auf.  Dann  reagirten  sie  auf  c  ^,  dann  auch 
auf  c*,  c^,  einige  auch  noch  schwach  auf  c^.  Dabei  blieb  es 
aber,  solange  sie  lebten.  Der  umgekehrte  Versuch  bei  Wegnahme  eines 
Knochenstiickchens  der  Schueckeubasis  gelang  weniger.  Eine  grossere 
Zahl  von  Huuden  blieb  hier  taub,  ausser  gegen  den  Knall  des  Ziind- 
hiitchens.  Etliche  reagirten  nach  einiger  Zeit  auf  hohe  wie  tiefe 
Tone,  wenn  auch  starker  auf  Ictztere.  Eine  geringere  Anzahl 
endlich  reagirte  langere  Zeit  hiudurch  blos  auf  tiefe  Tone  (die  3 
bis  4  tiefsten  Octaven  der  Reihe),  doch  wurden  auch  diese  nach 
3 — 4  Wochen  wieder  fur  hohe  Tone  cmpfindlich  und  schienen 
zuletzt  normal  zu  horen.  Durch  nachtragliche  Section  wurde 
jedesmal  Umfang.  und  Art  der  Zerstorung  geuauer  controlirt. 
Baginsky  hat  Nichts  iibcr  die  absolute  Anzahl  der  Versuche  ange- 
geben,  ebensowcuig  iiber  die  Starke  der  angewandten  Tone. 

Die  Schnecke  des  andcrcn  Ohres  wurde  in  einer  Reihe  dieser 
Versuche  gauz  zerstort,  in  einer  anderen  Reihe  einer  gleichen 
Verstummelung  unterworfen.  In  bciden  Fallen  waren  die  Ergeb- 
nisse  die  genannten. 

Dagcgcn  vcrnioclite  Baginsky  nach  beiderseitiger  Ausschaltung 
mittlcrer  Partien  der  Schnecke  nicht  einen  Ausfall  mittlerer 
Tonpartien  festzustcllen. 

Stepanow  wahlte  nach  Gellk's  Vorgang  Meerschweinchen, 
da  man  bei  diesen  Tieren  verhaltnismiissig  leicht  die  gewiinschte 
Zerstorung  hervorbringen  konne.  Dennoch  gelangen  in  der  ersten 
Reihe  nur  4  unter  30  Versuchen,  in  der  zweiten  3  unter  10,  die 
ubrigen  mussten  bei  Seite  gclassen  werden.  Als  Tonquellen  dienten 
eine  Harmonica  (/— /^),  Violine  (in  der  1.  Serie,  wie  es  scheint, 
nur  deren  e^-Saite),  5-Bass  (Blechinstrument  mit  den  Tonen  G^ — g) 
und  Galtonpfcife  mit  den  allerhochsten  Tonen.  Als  Reaction  be- 
trachtete  Stepanow  die  Reflexbewegungen  der  Ohrmuschel,  welche 
bei  diesen  Tieren  ausserst  regelmassig  und  bei  beliebiger  Wieder- 
holung  fast  nicht  schwacher  auftreten  (vgl.  Preyer,  Seele  d.  Kindes  58). 


der  Klanganalj'se.  97 

Dieselben  wachsen,  sagt  Stepanow,  rait  der  Hohe  der  Tone,  treteu 
aber  auch  nicht  bei  alien  Instrumenten  auf,  nicht  z.  B.  beim  Cello 
und  der  Stimmgabel,  selbst  Avenn  diese  mit  Resonanzkasten  ver- 
bunden  vor  das  Qhr  gehalten  wird,  also  sehr  starken  Ton  gibt 
(seltsam  und  fast  bedenklich).  In  den  Versuchen  erfolgten  un- 
mittelbar  nach  der  Operation  Reflexe  auf  alle  Tone  der  genafinten 
Instrumente,  dann  einige  Tage  Gehorsverminderung,  dann  Wieder- 
einstelluug;  jedoch  bei  4  Tieren  statt  dessen  fast  gauzlicher  Gehor- 
verlust  durch  Tage  und  Wochen  bis  zur  Todtung.  Auch  Stepanow 
machte  dann  die  mikroskopische  Untersuchung. 

Im  Allgemeinen  muss  man  Ergebnissen  auf  diesem  Gebiete 
um  so  zurilckhaltender  gegeniiberstelien,  je  zuversicbtliclier  sie 
vorgetragen  werdeii.  Schon  in  dieser  Hinsicht  scheinen  diejeni- 
gen  Baginsky's  •  das  grossere  Zutrauen  zu  verdienen.  Einwurfs- 
frei  sind  sie  allerdings  auch  nicht.  Esbleibt  namentlich  denkbar, 
dass  die  Huude  bei  grosserer  Tonstarke  (etwa  bei  Auwendung 
des  Bombardons)  auf  tiefe  Tone  reagirt  hiitten.  Andrerseits 
wUrde  man  freilich  hier  Obertone  verantwortlich  machen  kon- 
nen.  Man  kann  dies  in  der  Tat  bei  Stepanow's  Versuchen. 
Ausserdem  liisst  sich  gegen  diese  auch  einweuden,  dass  der 
Reflex  nicht  notwendig  und  ausschliesslich  Folge  einer  akus- 
tischeu  Empfinduug  zu  sein  braucht.  Deshalb  mochte  ich 
bezweifeln,  ob  ganz  entscheidende  Ergebnisse  auf  solchem  Wege 
zu  gewinnen  sind. 

Endlich  sind  pathologisch-anatomische  Beobachtungen 
beim  Menschen  zur  Entscheidung  verwertet  worden,  namlich 
die  nicht  ganz  seltenen  Falle  von  Ausstossung  nekrotischer 
Telle  der  Schnecke.  Moos  und  STEiNBEtiOGE  ^)  fanden  bei  Ne- 
krose  der  Basalteile  Gehorsverlust  fiir  hohe.  Tone,  Stepanow 
dagegen  wieder^)  nach  Ausstossung  der  oberen  P/^  Windungen 
Erhaltung    des    Gehors    fiir    alle    Tone.      Es    ist   indes    gegen 


»)  Z.  f.  0.  X,  1. 

-)  Monatsschr.  f.  Ohrenheilkunde  1886  Nr.  4,  S.  116.  1885  hatten 
sich  bereits  Gruber  (das.)  und  Kaufmann  (Prager  med.  Wochenschr ) 
auf  Grund  ahnlicher  Beobachtungen  zweifelhaft  tiber  die  Schneckentheorie 
ausgesprocben.     Auch   Lucae  beobachtete    einen   Fall   von    Ausstossung 

Stumpf,  Tonpsychologie.    n.  7 


98  §  18'  Physiologische  Voraussetzungen 

Stepanow  —  abgeselien  davon,  dass  vielleicht  die  weichen 
Teile  iiocli  bis  zu  einem  gewissen  Grade  erlialteu  uud  nur 
das  knocherne  Geriist  ausgestossen  war  —  besonders  erinuert 
worden,  dass  man  das  gewiinscbte  Resultat  in  die  Patienten 
gleichsam  hinein  examiniren  kann:  sie  lioren  eben  mit  dem 
gesmden  Ohr  und  verlegen  die  Tone  in  das  kranke  ^).  Aber 
die  Untersucbungen  sind  auch  in  dieser  Ricbtung  nicbt  sprucb- 
reif.  Nur  dass  Nekrose  der  gauzen  Scbnecke  vollige  Taub- 
beit  bedinge,  balten  F.  Bezold  und  A.  Hartmann  fiir 
sicher  nacbgewiesen  (wabrend  Stepanow,  Geubee  u.  A.  aucb 
dies  bczwcifehi)  -).  Aber  daraus  wiirde  ebon  nur  folgen,  dass 
die  Scbnecke  fiir  die  peripberiscbe  Erweckung  von  Tonempfin- 
dungen  auf  irgend  eine  Weise  unentbebrlicb.  nicbt  dass  sie  in 
verscbicdenen  Teilen  auf  verscbiedene  Tone  abgestimmt  ist. 

Aucb  diese  Classc  von  Beobacbtungen  diirfte,  selbst  wcnn 
sie  mit  allor  Exactbeit  gemacbt  werdcn  —  und  daran  wird  es 
ira  Laufe  der  Zeit  nicbt  feblen  —  koin  entscbeidendes  Ergeb- 
nis  liefern,  solauge  man  sicb  auf  die  Priifung  des  Horvermo- 
gens  fiir  isolirte  Tone  bcscbriinkt.  Denn  die  HELMHOLTz'sche 
Theorie  verlangt  nicbt  einmal  unumgiinglicb,  dass  die  Grund- 
membran  die  einzige  Briicke  zum  Horncrven  bilde.  Auf  einem 
Clavier  crfolgt  der  Kegel  nacb  die  Tongebung  durcb  den  An- 
scblag   der    Tasten,    ausnabmsweisc    und    wenigcr   vollkommen 


der  ersten  Windung  auf  der  rechten  Seite,  wahrend  c^  uud  c-  noch 
geliort  wurden,  und  zwar.  wie  Lucae  mit  einiger  Sicherheit  sagen  zu 
kiinnen  glaubt,  auf  dieser  Seite.  da  auch  links  sehr  starke  Schwerhorig- 
keit  bestand  (A.  f.  0.  XXIV  83,  aus  dem  Bericht  iiber  die  Naturforscher- 
versammlung  zu  Berlin  1886).  Ahnlich  Kirchner,  Sitzungsber.  der 
Wiirzburger  medic. -physikal.  Gesellsch.  1887,  S.  78. 

^)  Vgl.  die  eingehende  Kritik  von  Moos  und  Steinbrlgge  Z.  f.  0. 
XVI  245.  A.  Hartmann  das.  XVII  111  glaubt  sogar  nach  bestimmten 
Aflzeichen  an  Simulation  bei  dem  Patienten  Stepanow's. 

'^)  Bezold  Z.  f.  0.  XVI  119  f.  (Zusammenstcllung  allcr  Falle  von 
Labj^inthnekrose;  vgl,  146  und  191  den  von  Gruber  beobacbteten  Fall 
doppelseitiger  Ausstossung  der  Scbnecke  mit  absolutem  Gehorverlust 
fiir  Spracbe,  Geriiusche  und  Tone  verscbiedener  Instrumente).  A.  Hart- 
mann Z.  f.  0.  XVII  109  f.  (Erganzungen  dazu). 


(ler  Klanganalyse.  99 

kann  sie  aber  auch  durch  Zupfen  der  Saiten  erfolgen.  So  ist 
es  nun  auch  niclit  ein  notwendiges  Postulat  der  Schuecken- 
theorie,  dass  jeder  andere  Weg  der  Tonerzeugung  unmoglich 
wiire.  Nur  dann,  wenn  solche  Patienten  uach  wie  vor  die 
Componenten  eines  Accords  deutlich  unterscheiden  kounteu, 
dann  allerdings  wiirde  die  Scbneckentheorie  iiberfliissig  werden. 
Auf  diesen  Fragepunct  ware  also  die  Untersucbung  zu  richten. 

Fassen  wir  zusammen,  so  bleiben  die  zuerst  erwabnten 
Griinde,  die  sicb  auf  allgemeinere  Eigentiimlicbkeiten  der  Ton- 
wabrnebmungen  beziebeu,  einstweilen  immer  nocb  die  besten 
und  die  Scbneckentbeorie  auf  Grund  derselben  von  bober  Wabr- 
scbeinlicbkeit.  Jcdenfalls  ist  sie  vorlaufig  die  einzige  ganz 
concrete  Fassung  des  allgemcincn  und  unabweisbaren  Postula- 
tes, wonach  irgendwo  im  pbysiscben  Gebiet,  sei  es  im  Obr 
Oder  im  Centrum,  eine  Zerlegung  des  Processes  stattfinden  muss. 
Wir  werden  sie  daber  in  dieser  ihrcr  Eigeuscbaft  bei  allem 
Folgenden  beniitzen. 

3.  Historische  und  erganzende  Bemerkungen. 

Die  Vcrhandkmgeu  iiber  abnliche  Hypothesen  reichen  weit  zu- 
rlick  uud  sind  nicht  obne  sachliches  Interesse.  ■  Schou  1683  hat 
Du  Verney  in  seinem  „Traite  de  Torgaue  de  rouie"  (woven  eine 
lateinische  uud  eine  deutsche  Ubersetzung  erschien^))  der  Lamiua 
spiralis  der  Schnecke  genau  dieselbe  Function  zugeteilt,  wie  Helm- 
HOLTz  der  Grundmembrau,  indera  sie  von  Anfang  bis  zur  Spitze 
der  Schnecke  immer  schmaler  werde  und  die  einzelnen  Streifeu, 
durch  die  verschiedenen  Tone  selbstandig  bewegt,  auch  gesonderte 
Fasern  des  Gehomerven  in  Errcgung  setzten,  der  in  der  Lamina 
spiralis  ausgebreitet  sei.  Nur  wiirden  bieruach  die  tieferen  Tone 
gegen  die  Basis,  die  hoheren  gegen  die  Spitze  bin  liegeu.  Le  Cat 
acceptirte  diese  Hypothese  1744  (Traite  des  sensations,  Amsterdam, 
p.  60).  Haller  spielt  in  seinen  Elemeuta  Physiologiae  (1757  f.) 
darauf   an.      Merkwurdig  und   bis   jetzt    noch    nirgends    bervorge- 


^)  Aus  der  deutschen  (S.  82  f.)  citirt  v.  Wittich  in  den  Konigs- 
berger  Medic.  Jahrb.  3.  Heft  (1861);  aus  der  lateinischen  Schapringer 
Z.  f.  0.  IV  123.  Im  Original  steht  nach  Harless  (Wagn.  Handw.  IV) 
die  bezugliche  Stelle  II  96. 

7* 


100  §  18.  Physiologische  Voraussetzungen 

liobeu  ist  eine  Ausserung  des  jugendlicheu  Herder  (Werke  hrsg. ' 
von  SuPHAN  IV  102):  „Wir  geben  die  Schraubengaiige  (des 
ausseren  Ohres)  und  das  Tympanum  des  Obres  vorbei  .  .  .  und  da 
treffen  wir  eiu  Saitenspiel  von  Geborsfadeu  an,  die  in  Zabl,  in 
Lage,  in  Verbaltnis  gegen  einander,  in  Lange  verscbieden,  gleicb- 
sam  auf  den  modificirten  Schall  warten  (unter  Schall  versteht 
Herder  ein  Aggregat  einfacber  Tone,  das.  97  f.)-  Warum  war  ein 
Nerv  nicbt  zureicbend?  Warum  sind  nicbt  alle  Fibern  in  gleicber 
Starke  da?"  u.  s.  f.  Herder  liattc  eine  eigeutiimlicbe  Begabuug, 
Anscbauungen  sich  zu  eigen  zu  macben,  die  eine  Zukunft  batten 
und  uns  oft  wie  geniale  Anticipationen  erscbeinen.  Diese  batte 
er  wabrscbeinlicb  bei  Haller  gefunden.  Weiter  ist  es  in  Gehler's 
Worterbucb  der  Pbysik  (1828)  IV  1208  als  eine  Hypotbese  von 
Kerner  und  Autenrieth.  erwabnt,  dass  das  Trommelfell  durcb 
seine  kiirzeron  oder  liingeren  Fascrn  gleicbsam  verscbieden  klingende 
Saiten  fur  ticfere  und  bohere  Tone  abgebc;  und  bat  nacb  S.  1211 
Trevtranus  und  vor  ibm  bereits  Scarpa  die  verscbiedenen  Nerven- 
zweige  in  der  Scbuecke  den  verscbiedenen  Toneu  zugeteilt.  Ein 
verdienstvoller  Anatom  soil  sogar  bcbauptet  baben,  dass  die  Scbnecke 
mebr  fur  die  Saiteninstrumcnte,  die  Bogengiingc  (wegen  ibrer 
Form)  fiir  die  Blasinstrumente  da  wiiren.  Chladni,  der  diese  naive 
Ansicht  erwabnt,  Itlsst  jeden  Ton  durcb  das  Ganze  der  Nerven- 
endigungen  zu  Gcbor  kommen  (Akustik  §  241).  Dagegen  bielt 
unter  den  Pbilosopben  Herbart  Localisation  der  Tone  im  Organ 
fiir  wabrscbeinlicb,  und  zwar  wegen  der  gesonderten  Empfindung 
gleicbzeitigcr  Tone. 

Uumittclbar  vor  Helmholtz  war  wol  die  Meinuug  iibcrwiegend, 
dass  jede  Faser  jeden  Ton  enipfinde.  Vgl.  Henle  tiandb.  der 
allgem.  Anat.  1841,  S.  748.  Lotze  Med.  Psych.  269  f.  342. 
Herbartianer  strenger  Observanz,  wie  Voi.kmann  (Grundriss  der 
Psycbol.  1856,  68)  wicben  in  diesem  Punct  sogar  von  der  Lebre 
des  Meisters  ab,  durcb  dasselbe  Motiv  bestimrat,  welches  sie  auch 
veranlasste,  die  (ursprunglicbe)  Mebrbeit  der  gleicbzeitigen  Ton- 
empfindungen  selbst  zu  leugnen.  Einen  plausiblen  Grund  gegen 
die  Isolirung  der  Tone  im  Obre  bracbtc  jedocb  nu^  Waitz, 
Grundlegung  der  Psycbol.  (1846)  105:   Man  miisse   erwarten,  dass 


iler  Klanganalyse.  IQl 

daiiu  die  Tone  uus  auch  flaclieuhaft  ausgebreitet  uiid  augeordnet 
im  Bewusstsein  erscMeneu  ^).  Dass  Haeless  gegcn  seine  person- 
lichen  unmusikalischeu  Erfahrungeu  durcli  (Jberlegung  gezwungen 
einen  analysirenden  Apparat  und  sogar  bereits,  Avenn  auch  zogernd, 
das  CoKTi'sche  Organ  als  solchen  vermutet,  ist  hier  zu  wiedcr- 
holen  (o.  18).  Aber  uoch  1859  nannte  Dubois-Reymond  (Rede 
auf  J.  MuLLEK,  Berl.  Akad.)  diesen  Gegenstand  einen  fast  hoffnungs- 
los  dunklen. 

Nach  dem  Erscheinen  des  HELMHOLTz'schcn  Wcrkes  (1863) 
hielten  nur  Einzelne  an  der  vorherigen  Anschauung  fest.  So  Valentin 
(Phj'siol.  Pathologie  1864,  II  110).  Nachdrucklich  opponirte  Rinne, 
ein  verdienter  und  den  Otologeu  wolbekannter  Autor,  in  Henle's 
und  Pfeufer's  Z.  f.  rationclle  Medicin  1865,  XXIV  39,  wenn  auch 
nicht  mit  medicinischen  sondern  psychologischen  oder  cigentlich  meta- 
physischen  Griinden  (o.  20).  Aber  vergeblich  sucht  man  bei  ihm  nach 
einer  positiveu  Erklilruug,  wie  ein  ganz  einheitlichcr  Toncindruck 
auf  rein  psychologischcm  Wegc  in.  eine  Mehrheit  zerfallen  kann. 
Wir  haben  einen  solchen  Versuch  gemacht,  scheiterten  aber  damit 
(o.   14,  23  f.). 

Gegenwartig  ist  Voltolini,  Ohrenarzt,  wol  der  entschiedenste 
Gegner  der  Lehre.  Aber  in  seinen  Auslassungen  (Vikchow's  Arch, 
f.  pathol.  Anatomic  Bd.  100,  1885,  S.  27  f.)  findet  man  keine 
rechte  Begrundung  und  wird  das  Hauptproblem,  die  Moglichkeit 
des  gleichzeitigen  Horeus,  gar  nicht  beriihrt. 

1886  erklarte  auf  der  britischen  Naturforscherversammlung 
RuTHEKFOKD  die  Lehre  fur  unhaltbar,  well  die  J'asern  der  Grund- 
membran    zu    kurz   und    ihre  Liinge    zu  wenig  abge§tuft   sei.     Er 


*)  Derselbe  Punct  schicn  mir  friiher  (Urspr.  d.  Raumvorst.  300)  be- 
denklich;  doch  konnte  man,  raeinte  ich,  vielleicht  noch  die  Hilfsannahme 
versuchen,  dass  die  Tone  zwar  wirklich  einen  verschiedenen  Ort  in  der 
Empfindung  hiitten,  aber  jeder  immer  denselben,  wodurch  der  Ton- 
raum  ebenso  bedeutungslos  fiir  unset  Bewusstsein  wiirde,  als  wenn  er 
gar  nicht  existirte.  Neuerdings  uimmt  aber  noch  W.  James  an  der  obigen 
Consequenz,  die  er  fiir  unvermeidlich  halt,  derart  Austoss,  dass  er  die 
HELMHOLTz'sche  Hypothese  um  ihretwillen  ablehneu  mochte  (Journ.  of 
Specul.  Philos.  XIII  84-5.  Mind.  XII  Nr.  46  p.  186).  Daruber  vgl.  noch 
untea  S.  125  Anmerkung. 


102  §  18-  Physiologische  Voraussetzungen 

lasst  den  Hornerveu  einfach  die  Anzahl  der  getrennten  Anstosse, 
die  er  von  der  Schallwelle  empfangt,  ebenso  getrennt  dem  GeMrn 
zutragen  und  durch  diese  Zahl  die  Tonhohe  bestimmt  sein,  und 
beruft  sich  auf  Versuche  am  Kanincbenmuskel,  der  bis  zu  352 
elektrische  Impulse  in  der  Secunde  getrennt  aufnehme  und  als 
Muskelton  von  entsprechender  Hohe  horen  lasse^).  Wir  sehen 
wiederum  das  eigentlicbe  Problem  ganz  umgangen;  ja  Rutherford 
findet  gerade  darin  eiue  Schwierigkeit,  wie  es  moglich  sei,  dass 
drei  getrennte  Empfindungen  c,  e  und  g  in  der  Empfindung  der 
Harmonie  zusammenscbmelzen.  Waren  sic  in  der  Schnecke  ge- 
trennt, so  miissten  sie  sich  doch  im  Gebirn  wieder  vcreinigen  und  die 
Trennung  sei  (iberfliissig.  Dass  er  mit  der  „Verschmelzung"  an  etwas 
Richtiges  geriihrt  hat,  ist  sicher,  aber  die  Betrachtungen  bevvegen 
sich   eben  psychologisch  wie  physiologisch  nur  auf  der  Oberflache. 

Nicht  iibergehen  diirfen  wir  eine  Hypothese,  welche  zuerst 
wol  1872  in  einer  Dissertation  von  Osw.  Baer^)  auftaucht.  Mit 
Helmholtz  iiber  die  Notwendigkcit  eiues  zerlegenden  Apparats  einig, 
glaubte  Baer  (Schiller  von  Waldeyer  und  Gottstein)  deusclben 
doch  aus  anatomischen  Griinden  nicht  in  der  Grundmembran  sondern 
erst  in  den  Haarzellcn  des  CoRTi'scheu  Organs  zu  findcn,  und 
weist  u.  A.  nicht  mit  Unrecht  darauf  bin,  dass  Hensen's  Versuche 
an  den  Horharchcn  von  Mysis  (o.  03)  sich  director  auf  diese  als 
auf  die  HENSEN-HELMiioLxz'sche  Anschauung  anwendcu  lasscn,  da 
die  Hj|rchen  unsercr  Haarzellen  viel  eher  als  Analogon  der  Hor- 
harchen  des   Krebstieres  gelten  kounen  als   unsre   Grundmembran. 

Sicher  ohne  Kenntnis  dieses  Schriftchcns  gelangte  der  ameri- 
kanische  Physiker  Alfr.  Mayer  in  den  schonen  akustischen  Unter- 
suchungen,  wovon  ein  andcrer  Teil  bcreits  I  212  besprochen  ist, 
zu    derselben    Anschauung^).      Er    vermutet  mit    Anderen   in    den 

')  The  Sense  of  Hearing.  A  Lecture  etc.  6.  Sept.  1886.  (Separat 
gedruckt;  nicht  in  den  Reports  der  British  Association).  Bernstein 
hat  iibrigens  schon  friiher  die  Zahl  der  motorischen  Impulse  bis  etwa 
1000  steigern  und  die  Tone  horen  konnen  (Pflug.  Arch.  XI  (1875)  01). 

^)  Uber  das  Verhaltnis  des  heutigen  Standpunctes  der  Anatomic  des 
CoRTi'schen  Organs  zur  Theorie  der  Tonemptiudungen.    Breslau  1872. 

^)  Researches  in  Acoustics.  Nr.  5.  Aitierican  Jouru.  of  Science  and 
Arts  VIII  Nr.  44  (Aug.  1874).     Da  diese  Arbeit  in  Deutschland  fast  un- 


der  Klanganalyse.  103 

Fiihleru  der  Insecteii  zugleich  Tast-  und  Hororgane.  Beim  Culex 
Mosquito  nun,  desseu  Fiihler  sebr  zalilreiche  und  elastische  Fasern 
besitzen,  beobachtete  er  an  etwa  einem  Dutzend  Exemplaren  das 
Mitscbwingen  bestimmter  Fasern  auf  bestimmte  Gabeltone.  In  seiner 
Tabelle  sind  fiir  9  Gabeln  (c,  dann  c^  bis  c^)  die  Scbwingungs- 
weiten  der  beztiglicben  Faserenden  in  Brucbteilen  von  Millimetern 
augegeben.  Die  Tone,  welcbe  bedeutendere  Mitscbwinguugen  er- 
zeugteu,  lagen  zwiscbeu  c^  und  c^  (in  welclier  Region  wol  aucb 
ungefahr  das  Gebrunime  dieser  Insecten  liegt),  Mayer  nahin  dann 
sorgfaltig  die  Maasse  zweier  Fasern,  die  auf  c^  und  c-  raitschwangen, 
und  construirte  nacb  donselben  Verhaltnissen  ihr  Modell  im  Grossen. 
Es  zeigte  sicb,  dass  die  Schwingungen  dieser  Modelle  in  der  Tat  im 
Octa^ienverbaltnis  standen  ^). 

Mayeb  ist  gleicbwol  nicbt  der  Ansicht,  dass  der  Apparat 
zur  ZerLegung  der  Kliinge  fiir  die  Empfindung,  zur  Unterscheidung 
der  Tonhoben  diene.  Vielmebr  scbreibt  er  ibm  nur  die  Leistung 
zu,  welcbe  Trommelfell  und  Gehorknocbelcben  beim  Menscben  er- 
fiillen:  Aufnabme  und  Leitung  des  akustiscben  Reizes  iiberbaupt. 
Die  Stimme  des  Weibchens  bat  ebeu  keine  hinreicbend  feste  einzelne 
Tonbobe,  und  so  niusste  sicb  der  Horapparat  des  Manncbens  auf 
einen  gewissen  Umfang  von  Scbwingungszablen  anpassen.  (Beim 
Weibcben  selbst  ist  der  Apparat  iiberbaupt  viel  weniger  entwickelt, 
was  fiir  seine  akustiscbe  Bedeutung  spricbt.) 

Mayer  betracbtet  daher  seine  Beobacbtungen  ebensowenig  wie 
die  aualogen  Hensen's  als  eine  Bestatigung  fiir  die  HELMHOLTz'scbe 
Deutuug  der  Gruudmembran  beim  Menscben.  Dagegen  vermutet 
er  in  den  zwiscben  der  Lamina  reticularis  und  der  Gruudmembran 
ausgespannten  Haarzellenfaden  („bair-cell-cords"),  deren  Zabl  aucb 
mit  der  boberen  Entwickelung  des  Obres  zunimmt,  das  zerlegende 
Organ.  Sie  konnten  unter  gcwobnlicben  Umstanden  aber  nicbt 
direct,  sondern  durch  Vermittelung  der  Gruudmembran  crregt  werden. 


bekannt  ist  (selbst  Graber   citirt  in  der  unten  zu  erwahnenden  Schrift 
nur  ein  Referat  dariiber),  so  charakterisire  ich  sie  etwas  eingehender. 

^)  Nach  weiteren  fein  erdachten  Versuchen  Mayer's  sollen  die  In- 
secten durch  diese  Gehorfasern  zugleich  die  Schallrichtung  erkennen  und 
zwar  viel  genauer  als  irgend  eine  andere  Tierclasse. 


104  §.18-  Physiologische  Voraussetzungen 

Unci  dies  beniitzt  Mayek  zu  ciner  experimentellen  Controle.  Unter 
analogen  physikalischen  Bedingungen  schwingen  namlich  (nach  Melde) 
die  Saiten  niir  lialb  so  oft  als  die  Membran.  Setzt  man  nun  eiuc 
Gabcl  auf  den  Schadel  nahe  an's  Ohr,  so  gelangen  die  Schwingungen 
durch  Kuocbenleitung  aucb  direct  in  alle  Teile  dcs  inncren  Obrcs. 
In  solcbem  Fall  muss  also,  scbliesst  Mayee,  ausser  dem  gewobnlich 
geborten  Ton  aucb  dessen  boberc  Octave  bervortreten.  Wirklich 
fand  er  und  ein  zweiter,  musikaliscb  wie  pbysikaliscb  gebildeter, 
Beobacbter  dies  bestatigt,  derart  dass  bei  Gabeln  der  eingestricbeneu 
Octave  fast  nur  der  bobcre  Ton  beobacbtet  wurde. 

Icb  babe  den  Versucb  mit  den  Gabeln  c,  c^,  c^,  c^,  c^  wieder- 
bolt,  kaun  aber  von  dieser  Erscbeinung  bei  den  hoberen  Gabeln 
absolut  Nicbts  und  nur  bei  c  cine  Spur  davon  finden."  Aber  aucl;  bier 
keiu  Uberscblagen  in  die  Octave.  Vor  AUem  viel  macbtigere  In- 
tensitat.  Dabei  scbeint  allerdiugs  der  erstc  Oberton  aucb  relativ 
etwas  starker,  die  Klangfarbe  bellcr  zu  werden,  obgleicb  es  nicbt 
leicbt  ist,  bier  abzusonderu,  was  von  der  Klangfarbenanderung  auf 
Recbnung  der  absoluton  Verstarkuug  kommt.  Aber  nicbt  einen 
Augonblick  bemerkc  icb  ein  Ubcrwiegen  des  hoberen  Tones. 
Der  Mecbanikcr  Herr  Wesselhoft  in  Halle,  der  sicb  besonders 
viel  mit  akustiscbcn  Arbeiten  bescbaftigt,  glaubte  bei  c  Anfangs 
die  Augabe  Mayek's  bestatigt  zu  finden,  uberzeugte  sicb  aber  bald 
durcb  Vergleicbuiig  mit  der  c'-Gabel,  dass  er  sicb  getiiuscbt  batte. 
Bemerkenswert  erscbien  mir  im  Gegenteil  eine  Vertiefung  des  Tones, 
wenn  icb  mit  dem  Gabclgriif  den  Tragus  zuklappte  und  die  Gabel  von 
aussen  darauf  bielt;  zuglcicb  ein  starkes  Klirren  im  Obr,  welcbes  die 
Klangfarbe  merklicb  in's  Drobnende  verandert.  Beides  fand  aucb  Herr 
Wesselhoft.  Das  Klirren  ist  sicber  auf  die  Geborknocbelcben  zu- 
ritckzufiibren,  die  Vertiefung  (die  aucb  scbon  bei  blosser  Annaberung 
der  Gabel  eintritt)  wol  auf  die  I  256  besprocbenen  Umstande. 

Mit  den  CoRTi'scben  Haarzellen  parallelisirt  V.  Geabee  die 
„cbordotoualen"  Vorricbtungen,  in  denen  er  das  Hororgan  der  lu- 
secten  erblickt,  obne  sicb  jedocb  iiber  ibre  Function  in  Hinsicbt 
der  Tonboben-Unterscbeidung  auszusprecben  ^). 

^)  Die  chordotonalen  Sinnesorgane   der  Insecten.    Arch.    f.    mikro- 
skopische  Anatomie  Bd.  20  und  21;    bes.   21   S.  128.     Bei  den  experi- 


dcr  Klangaualyse.  105 

Neuerdings  glaubt  auch  Gellk  (Olironarzt)  nach  Versuchen 
an  cincm  Moclell,  wo  die  ScbwinguDgcn  schr  stark  auf  die  nacLge- 
bildeteii  Haarzcllen,  viel  scliwaclicr  auf  die  Fascrn  dcr  .Grimd- 
incmbran  iibcrgingen,  uicbt  dicsc  sonderu  die  Haarzellen  als  das 
zcrlcgende  Organ  auffassen  zu  miissen  ^). 

Man  muss  jcdcnfalls  eine  solcbe  weiterg,  dritto  Modification 
in  dcr  Ausfilbrung  des  IlKLMHOLTz'scben  Grundgedankens,  dcr  Zer- 
Icguug  durcb  mitschwingcndc  Teilc,  im  Augc  bebaltcn.  An  Dem, 
was  •  fiir  uns  wcscutlicb  ist,  wiirde  dadurcb  nicbts  gcandert.  "Wir 
lernen  aber  daraus,  dass  es  fiir  die  Durebfiibrung  des  allgemeinstcn 
Postulates,  der  anatomiscben  Zcrlcgung  ilberbaupt,  nocb  mancbe 
Wege  gibt,  aucb  wenn  dcr  gcgcnwiirtig  bevorzugtc  wicder  ver- 
lassen  werden  miisste. 

Endlicb  sei  nocb  cincr  Ergiinzung  kurz  gcdacbt.  Kessel  bat 
in  jiiugerer  Zcit  aucb*  fiir  das  Trommelfcll  wicder  (vgl.  o.  Trevi- 
EANUs)  cin  selbstandigcs  Vcrbaltcn  seiner  Radiiirfasern  gegeniiber 
boben  und  tiefen  Tonen  in  Ansprucb  genommen  (einen  Teil  will 
er  aucb  fiir  die  Geriiuscbe  reserviren)  ^) ;   und   neucstcns  vermutet 

mentellen  Beweisen,  dass  nicht  bloss  Taytempfindungen  in  den  Insecten 
(Schwaben,  Wauzen,  Wasscrkiifern)"  durcb  Tonreiz^  erregt  werden,  hat 
Gkaber,  wie  mir  scheint,  doch  die  Tastempfindungen  bei  uns  selbst  zu 
gering  angeschlagen  (Bd.  21 ,  84  f.).  Bei  Luftleitung  sind  sie  freilicli 
selten  merklich,  aber  durch  VermittUmg  des  Zimmerbodens  werden  uns 
oft  genug  deutliche  Erzitterungen  fiihlbar,  und  diese  Moglichkeit  scheint 
mir  bei  Gkaber's  Versuchen  nicht  hinreichend  ausgeschlossen.  Die 
morphologisch-vergleichenden  Schlussfolgerungen  diirften  daher  in  dieser 
. Ilinsicht  gewichtiger  sein  als  die  aufs  Experiment  gegriindeteu.  Immer- 
hin  will  Graber  nicht  gerade  akustische  QualitLlten  in  unsrem  Sinn, 
sondern  nur  eine  besondere  Classe  von  Empfindungen  neben  den  Tast- 
empfindungen statuiren.  Noch  weniger  zuversichtlich  ist  J.  Ranke,  der 
bei  einigen  Acridiern  „Gehorstabchen"  von  abgestuftcr  Lange  fand,  be- 
ziiglich  der  dadurch  gelieferten  EmpfmduugsquaHtaten;  indem  er  auf  eine 
Entwickluug  und  Umbilduug  der  specifischen  Energien  hindeutet  (Z.  f. 
wissensch.  Zoologie  1875  Bd.  25). 

')  Ich  kenne  nur  das  Referat  Z.  f.  0.  XVIII  342. 

2)  A.  f.  0.  XVIII  151.  Kessel  macht  die  Hypothese  zur  Erklilrung 
gewisser  akustischer  Erscheinungcn,  gegenseitiger  Beeinflussuugen  von 
Tonen  und  Gerauschen,  welche  an  der  Stelle  erfolgen  solleu,  wo  die 
entsprechenden  Fasern  aneinandergrenzen. 


106  §  18.  Physiologische  Voraussetizungen 

in  ahnlicher  Weise  A.  Fic^  nach  Versucheu  mit  kiiustlichen  Mem- 
branen  von  Phonautographeu,  dass  das  Trommelfell  ein  Resona- 
torensyetem  analog  der  Schnecke  darstelle.  Ebene  Membranen 
bevorzugen  auffallig  ihre  Eigentoue,  dagegen  resonireu  tricbter- 
formig  gekriimmte  uud  mit  einem  starren  unsymmetriscb  eingefugten 
Radius  (Avie  es  der  •  Hammerstiel  ist)  versehene  uugefahr  gleich 
gut  auf  alle  Tone,  indem  die  Membran  dadurcb  in  Streifen  von 
verscbiedener  Lange  und  Spannung  zerlegt  wird^). 

Da  jedocb  nacb  Politzer's  experimentellem  Nacbweise  die  Ge- 
horknocbelcheu  nocb  die  unveranderte  Gesammtscbwingung  mit- 
machen  ^),  so  kann  man  nicbt  daran  deukcn,  im  Trommelfell  selbst 
etwa  deujenigen  Zerlegungsapparat  zu  findcn,  der  den  Nerven- 
fasern  raumlicb  getrennte  Erregungen  vermittelte.  Fick  hebt  auch 
ausdriicklich  hervor,  dass  es  sich  bei  diesem  ersten  Resonanzapparat 
nur  darum  handeln  kijnne,  die  Bewegungen  der  Art  nach  unvcr- 
andert,  aber  mit  grosserer  Amplitude  auf  die  Geborknocbelcben 
zu  iibcrtrageu,  als  wenn  diese  direct  durcb  die  Luft  errcgt  wiirden. 
Die  Schneckentheorie  kann  und  soil  also  dadurcb  nicht  beseitigt 
sondern  nur  erganzt  Averden. 

II.    Specifische  Energicn. 

1.   Altere  und  nouerc  Fassung  der  Lehre. 

Unter  specifischer  Encrgie  verstehen  wir  die  Fahigkeit 
eines  nervosen  Gebildcs  (sei  cs  Faser  oder  peripherisches  oder 
centrales  Endgebildc),  in  Folge  einer  ihm  eigentlimlichen  phy- 
sisclien  Bescliaffenlieit  cine  Empfindung  von  bestimmter  Eigen- 
tiimlichkcit  zu  erzeugen. 

Das  Princip  der  spccifischen  Energien  in  seiner  alteren 
(J.  MuLLER'schen)  Fassung  statuirt  flir  jedon  Sinn  cine  boson- 
dcre  Nervengattung,  durch  dcren  Bcscbaffenheit  die  Qualitat 
der  beziiglichen  Empfindungen  bestimmt  ist,  wahreud  sie  von 
der  Beschaflfenheit  des  Reizes  unabhangig  ist.  Dadurch  sollte 
erklart  werden,   warum  wir  mit  dem  Auge  bei  jcder  Art  von 


^)  Verhandlungen  der  Wiirzburger  med.-physik.  Gesellsch.  XX  73  f. 
(1886).    A.  f.  0.  XXIV  167  f. 
2)  A.  f.  0.  I  64. 


der  Klanganalyse.  107 

ReizuDg  immer  Licht,  mit  dem  Ohr  immer  Tone  oder  Geriiii- 
sche  empfinden  u.  s.  f.  ^). 

Ill  der  neueren  Fassung,  die  ihm  Helmholtz  gegeben, 
statuirt,  das  Princip  aucli  iiinerhalb  jedes  Siiiiies  besoiidere 
Nervenfasern  oder  Nerveuelemeute,  durch  dereii  Bescliajffeiilieit 
die  Hauptiinterschiede  der  Farben  von  einander,  der  Tone  von 
einander  u.  s.  f.  bedingt  sind,  wiederam  unabhangig  von  der 
Art  der  Reizung.  In  voller  Ausdebnung  bat  Helmholtz  dies 
nur  beim  Ohr  durcbgefiibrt,  wabreud  er  beim  Auge  mit  Young 
nur  drei  Fasergattungen  annimmt,  deren  verscbiedeii  combinirte 
Erregungen  die  sammtlicben  Farbennnterscbiede  bervorrufen.^) 

In  letzterer  Hinsicbt  muss  icb  bier  zuiiachst  eiiie  Bemer- 
kung  einscbalten.  Es  scbeint  nicbt,  dass  wir  in  den  sogenanuten 
Miscbfarben  die  Gruudfarben  wirklicb  seben  (o.  79),  wabrend 
wir  in  dem  Zusammenklange  die  einzebien  Tone  wirklicb  boreu. 
Wenn  also  unter  specifiscber  Energie  die  Fiibigkoit  eines  Ner- 
veugebildes  verstanden  Avird,  eine  bestimmte  Empfindung  zu 
erzeugen,   so  konnen  die  drei  Fasergattungen  nicbt  als  Trager 


^)  JoH.  MtJLLER,  Ziir  vergleichenclen  Physiologic  des  Gesichtssinnes 
(1826)  44  f.  Lehrb.  d.  Physiol.  (1834)  I  751;  3.  Aufl.  (1840)  II  249  f. 
J.  MuLLER  lasst  ausdriicklich  die  Alternative  often,  ob  die  specitischen 
Energien  Eigenttimlichkeiten  der  Nervenfasern  oder  der  centralen  Nerven- 
endgebilde  seien  (1.  Aufl.  I  762;  3.  Aufl.  II  261),  obgleich  jedenfalls 
die  letzteren  daran  participirten,  da  auch  nach  Degenex'ation  der  Faseru 
Phantasmen  iind  bei  Druck  auf  das  Gehirn  Lichtempfindungen  entstehen 
konnten.  Etwas  verdunkelt  wird  die  Fassung  des  Princips  bei  ihm 
durch  die  eigentumliche  damit  verkniipfte  Behauptung,  dass  der  Nerv 
sich  selbst,  nicht  aber  die  Qualitaten  der  ausseren  Korper  empfinde  — 
ein  Gegensatz,  der  in  sich  unklar  uud  jedenfalls  nicht  mit  dem  hier  in 
Frage  konynenden  identisch  ist.  Hier  fragt  es  sich  nur,  ob  jeder  Nerv 
seiner  Natur  nach  jede  Empfindung  oder  nur  eine  bestimmte  Classe  von 
Empfindungen  liefern  kann. 

2)  In  allgemeinster  Fassung  spricht  S.  Exner  das  Princip  aus: 
„Nach  den  heutigeu  Anschauungen  bringt  jede  sensible  Nerve n- 
faser,  sie  mag  auf  welche  Weise  immer  erregt  werden,  eine  Empfin- 
dung in  das  Bewusstsein,  welohe  sich  von  jeder  Empfindung,  die  von  einer 
anderen  Nervenfaser  geliefert  wird,  unter scheidet".  (Herm.  Hdb.  II, 
2,  S.  207.) 


108  §  18.  Physiologische  Voraussetzungen 

von  eben  sovielen  specifisclien  Energien  bezeichnet  werden.  Sie 
mogen  dabei  immer  ilireii  Erklarungswert  behalten  und  sogar 
als  reale  Elementc  des  Nervus  opticus  angesehen  worden  —  es 
ist  bier  nicbt  unsre  Sacbe,  in  dcni  Streit  zwiscben  Helmholtz 
und  Hering  Stellung  zu  uebinen  — :  aber  sie  babcn  jedenfalls 
mit  dem  Princip  der  specifiscben  Energie  Nicbts  zu  tbun.  Viel- 
mebr  miisste  bei  alien  Mischfarben  scbon  im  pbysiologiscben 
Gebiet  irgendwo  wiedcr  einc  Vereinigung  der  drei  Grundpro- 
cesse  stattfinden  und  dem  so  cntstandenen  einbeitlicben  Pro- 
cesse  dann  die  gesebene  Farbenqualitiit  cntsprecben. 

Der  Tonsinn  selbst  abor,  innerbalb  dessen  wir  nacb  dem 
Vorausgcbenden  das  Princip  aucb  in  der  erweiterten  Helm- 
HOLTz'scben  Fassung  anerkennen  miissen,  gibt  nocb  zu  meb- 
reren  Detailfragen  in  dieser  Beziebung   Anlass,  und  zunacbst: 

2.    iJber  die  Triiger  der  specifiscben  Energien. 

Sind  die  Energien  Eigeuscbafteu  der  peripberiscben  Ner- 
venendgebilde  oder  der  Nervenfasern  oder  der  centralen  End- 
gebilde  (Rbidenganglien)? 

Es  bandelt  sicb  nicbt  etwa  darum,  wo  die  Empfindung 
sitzt  d.  b.  an  welcbes  Gebilde  sie  unmittelbar  gekniipft  ist, 
sondern  darum,  wo  die  specifiscbe  Energie  sitzt  d.  b.  durcb 
welcbes  Gebilde  die  Bescbaffenheit  der  Emptindung  in  letzter 
Instanz  bestimmt  ist,  mag  dann  der  Process  aucb  nocb  weiter- 
laufen  und  an  anderer  Stelle  Empfindung  erregen.  Man  wird 
zwar  scbon  aus  allgemeineren  Griinden  geneigt  sein,  Beides  zu 
identificiren;  aber  notwendig  ist  dies  nicbt.  Es  ware  z.  B.  denk- 
bar,  dass  die  einer  Scbneckenfaser  eigentiimlicbe  Scbwingungs- 
dauer,  vermoge  deren  diese  Faser  aus  der  Gesammtwelle  eine 
Sinusscbwingung  aussondert,  selbst  bereits  die  gesucbte  speci- 
fiscbe Energie  darstellte.  Dies  wiire  sogar  die  anscbaulicbste 
Annabme,  die  den  Vorteil  liatte,  an  Stelle  des  bios  abstracten 
Begriffes  eine  pbysikaliscbe  Definition  zu  setzen.  Den  Sitz 
der  Empfindung  konnte  man  dabei  immerbin  in  der  Rinde 
sucben;  aber  ibre  Qualitat  ware  bereits  in  der  Scbnecke  vor- 
ausbestimmt. 

Viele  diirften  in  der  Tat  das  Verbaltnis  mebr  oder  we- 


der  Klanganalyse.  109 

niger  ausclriicklich  so  auffassen.  Es  wiirde  daim  folgen,  class 
z.  B.  bei  einer  pathologisclien  Verdickung  einer  Sclineckenfaser 
durch  diese  ein  veranderter  Ton  erzeugt  wiirde.  Aber  die 
Faser  wird  ebeu  aiicb  nicht  mehr  auf  denselben  objectiven 
Ton  wie  friiher,  z.  B.  e,  reagiren,  sondern  auf  einen  entspre- 
cbend  tieferen  z.  B.  d.  Der  objective  Ton  e  dagegen  wird  nun 
durch  eine  andere  ebenfalls  veriinderte  Faser  vermittelt  werden, 
und  so  bleibt  fiir  das  empfindende  Bewusstsein  Alles  boim  Alien. 

1st  dagegen  die  specifische  Energie  eine  Eigenschaft  def 
Nervenfasern  oder  der  centralen  Ganglien,  so  wird  in  einem 
solchen  Falle  durcli  den  objectiven  Ton  e  zwar  ebenfalls  eine 
andere  Scbneckenfaser  als  vorher  erregt:  aber  da  diese  zugleich 
mit  einer  anderen '  Nervenfaser  (bez.  Ganglienzelle  im  Gehirn)  • 
in  Verbindung  steht,  so  muss  jetzt  auch  ein  anderer  Ton  als 
friiher  bei  dem  objectiven  e  zur  Empfindung  komnien. 

Wir  haben  schon  friiher  auf  diesen  Unterschied  der  Con- 
sequenzen  hingewiesen  und  gesehen,  dass  die  Erscheinungen 
des  Doppelthorens  der  letzteren  Consequenz  entsprechen  (I  275). 
Ebenso  ist  die  Erhohung  einer  ausschwingenden  Gabel  nur 
unter  der  zweiten  Voraussetziing  begreiflich.  Die  Schwingungs- 
dauer  der  erregten  Gruppe  von  Schneckenfasern  andert  sich 
hier  ebensowenig  wie  die  dor  Gabel  selbst,  durch  welche  jene 
zum  Mitschwiugen  genotigt  werden.  Aber  indem  die  schwerer 
erregbaren  Schneckenfasern  nach  und  nach  zu  schwingen  auf- 
horenj  und  die  leichter  erregbaren,  welche  iibrig  bleiben,  mit 
Ganglien  fiir  hohere  Tone  in  Verbindung  stehen,  muss  sich 
der  Ton  in  die  Hohe  ziehen.  ^) 

Diese  Beobachtungen  lassen  nun  also  die  Annahme  bevor- 
zugen,  dass  die  Nervenfasern  oder  die  centralen  Ganglienzellen 
des  Acusticus  Trager  der  specifischen  Tonenorgien  sind.  Beziig- 
lich  dieses  „oder"  wiederum  wird  man  wol  fiir  die  Ganglien 
entscheiden,  da  es  doch  von  vornherein  das  Wahrscheinlichste 
ist,  dass  die  specifischen  Energien    denselben   Sitz  haben  wie 


1)  I  256—57,  259.    Uber  -die   dort  noch  oflfen  gelassene  Alternative 
entscheideu  wir  uns  unten  (Nr.  3). 


110  §  18.  Physiologische  V^oraussetzungen 

die  Empfindungen ,  und  diese  keinen  andereu  als  die  Geliirn- 
ganglien  (entstehen  ja  Hallucinationon  auch  bei  Atrophic  der 
Nervenfasern)  ^). 

Helmholtz  steht  auf  diesem  Standpunct,  weuu  er  (245)  zur 
Erlauterung  der.specifischen  Energien  die  Nerven  mit  Telegraphen- 
driihten  vergleicht,  welche  vermoge  dcsselben  elektrischen  Stromes 
je*  nacb  den  Endapparaten,  mit  denen  sie  in  Verbindung  stehen, 
Depescben  liefern,  Glocken  liiuten,  Mineu  entziinden.  In  Conse- 
qucnz  dicser  audi  sonst  verbreiteten  Auffassung  wird  man  aucb 
die  Trager  der  specifischen  Energien  inn  orb  alb  eiues  Sinnesge- 
bietes  erst  im  Centrum  sucben  konuen,  obgleicb  sowol  binsicbtlich 
des  Obres  als  namentlicb  dcs  Auges  die  Ausdriicke  der  Scbrift- 
steller  und  die  Fragestellung  der  Forscher  oft  keineswegs  damit 
stimmen;  —  glaubtc  man  docb  die  drei  Fascrgattungen  bereits  in  der 
Stiibchenscbicbt  der  Nctzbaut  bei  Vugeln  und  Reptilieu  gefundeu 
zu  baben. 

IIering  scheint  dagegen  geneigt,  ausdriicklicb  auch  die  Nerven- 
fasern, nicbt  bios  dip  Centrcn,  als  Triigcr  der  spcciiiscbcn  Energien 
anzuscben-,  wiibrend  cr  zuglcich  die  Energien  inncrbalb  cines  Siunes 
nicbt  als  vcrscbiedene  Fiibigkeiten  verscbiedener  Fasern,  sondern 
als  Fiibigkeiten  allcr  Fasern  zu  cincr  gcwissen  Anzahl  verscbiedcn- 
artiger,  paarweise  cntgegcngesctzter  Errcgungcn  auffasst.  In  Ictzterer 
Beziebung  vgl.  seine  Farben-  und  Tcmperaturlcbre  und  neuestens 
seine  Vorbemerkungen  zu  Hillebrand's  scbarfsinniger  Arbeit  iiber 
die  spccifische  Ilelligkcit  der  Farben,  Sitzungsbericbt  der  Wiener 
Akademic,  Fcbruar  1889,  S.  70.  In  erstercr  Beziebung  vgl.  „Lotos. 
Jabrb.  f.  Naturwisseuscbaft."  N.  F.  Bd.  V.  (1884)  S.  115;  ferner 
daselbst  Bd.  IX.  (1888)  S.  21. 

Aucb  Mach  hat  scbon  frubcr  wenigstcns  die  Moglicbkeit  ver- 
teidigt,  dass  bereits  in  den  Nervenfasern  die  gesucbten  Unter- 
scbiede  liigen.  (Osterr,  Zeitschr.  f.  prakt.  Heilkunde  1873  S.  335.) 
Und  Soviel  ist  ja  gewiss,  dass  wir  sie  in  den  Centren  bis  jetzt 
ebensowenig  wie  in   den  Fasern   finden;  aber  aucb,  dass   die  da- 


')  Vgl.  u.  A.  Griesinger,  Pathologie  -und  Therapie  der  psychischen 
Krankheiten  §  54. 


(ler  Klanganalyse.  Ill 

raus  erhobeneu  Eimviinde  beide  Annabmen  gleicbmassig  nicbt 
treffen. 

3.  Accommodation  der  specifischen  Energien  in- 
nerhalb  enger  Grenzen  des  Reizes. 

Es  ist  eine  weitere  iiicht  miwichtige  Frage:  Verursacheii 
die  durch  eine  einfache  Schwingung  gemeinsam  und  gleichzei- 
tig  erregten  benachbarten  Schneckenteilchen  eineu  einzigen  Ton 
oder  eine  ihrer  Anzalil  entsprechende  Anzalil  von  Tonen? 

Notwendig  werden  durch  eine  einfache  Tonwelle  ausser 
demjenigen  Teilchen  (Faser  der  Basilarmembran),  dessen  Eigen- 
schwingung  jener  Tonwelle  genau  entspricbt,  auch  die  bonacli- 
barten  miterregt,  deren  Eigenschwingung,  wenn  sie  fiir  sich 
allein  scbiwingen ,  nur  wenig  von  der  des  erstgenannten  Teil- 
chens  verschieden  ist.  Sie  scbwingen  in  gleicber  Scbwingungs- 
dauer,  aber  entsprechend  geringerer  Stixrke  mit.  Wir  glaubon 
in  solchem  Falle  einen  einzigen  Ton  zu  lioren.  Aber  man 
konnte  Dies  fiir  eine  bestandige  und  unvermeidliche  Tauschung 
erkljiren,  da  die  Unterschiede  dor  Tone  eben  zu  gering  seien, 
urn  wabrgenommen  zu  werden.     Daher  die   obige  Alternative. 

Wenn  die  specifische  Energie  eine  Eigenscbaft  der  peri- 
pherischen  Nervenanbange  ist,  so  kann  nur  Ein  Ton  empfun- 
den  werden;  da  die  durcb  Eine  Schwingung  erregten  Teilchen, 
solange  der  Reiz  dauert,  nur  in  der  gleichen  Schwingungsdauer 
wie  jene  selbst  schwingen  konnen.  Erst  wenn  der  Reiz  aufhort, 
machen  sich  die  Eigenschwingungen  geltend  (Helmholtz  23G). 
Wenn  aber  die  specifische  Energie  eine  Eigenscbaft  der  Fa- 
sern  oder  Ganglien  ist,  so  kann  eine  Vielheit  von  Empfindun- 
gen  im  genannten  Falle  resultiren;  ja  man  wird  zu  folgern 
geneigt  sein,  dass  eine  solche  resultiren  mils  so. 

Wir  haben  diese  Frage  bei  mehreren  Untersuchungen  des 
ersten  Bandes,  um  nicht  vorzugreifen,  offen  gelassen  und  die 
Fragen,  bei  denen  sie  dort  in  Betracht  kam,  unter  beiden 
Voraussetzuugen  behandelt  (I  256;  118  mit  425). 

Jetzt  wollen  wir  zeigen,  dass  die  Vielheit  der  Empfin- 
dungen  keine  notwendige,  vielmehr  hochst  wahrscheinlich  eine 
falsche  Amiahme  ist.     Dem   objectiv   einfachen   Ton  entspricbt 


112  §  18.  Physiologische  Voraussetzungen 

auch  nur  Eine  Tonempfindung.  (Dabei  sehen  wir  ab  von  xlen 
etwaigen  Obertonen,  welche  ja  nicbt  der  einfacben  Schwin- 
guiig  soiidern  Vielfacbeu  derselben  entsprechen  und  sich  der 
Hobe  nacb  von  deni  Grundton  nicbt  minioial  sondern  sebr 
betracbtlicb  unterscbeiden  -wiirden.  Ob  Obertone  immer  und 
notwendig  audi  von  einfacben  Reizen  subjectiv  bervorgcrufen 
werden,  untersucben  wir  spater,  §  21  Scbluss.  Hier  bandelt 
es  sicb  nur  um  die  angeblicbe  Vielbeit  von  —  gegen  60  —  un- 
mittelbar  benacbbarten  minimal  verscbiedenen  Tonen.) 

Den  Ganglienproccss  und  desscn  Gesetze  kennen  wir  nicbt; 
und  sicberlicb  bestebt  er  nicbt  in  Scbwinguugen  derselben  Art 
wie  die  Scbwinguugen  der  Scbneckenfasorn.  Aber  d enkbar  bleibt 
es  vor  Allem,  dass  die  durcb  eine  gleicbartig  gereizte  Gruppe 
von  Scbneckenfasern  ebenfalls  gleicbartig  gereizte  Gruppe  von 
Ganglien  sicb  zu  einer  gemeinsamen  Energie  ebenso  vereinigt, 
wie  jene  zu  einer  gemeinsamen  Scbwingungsdauer.  Eine  solcbe 
Accommodation  iunerbalb  enger  Grenzen  beobacbteh  wir  ja 
aucb  olijectiv  in  gewissen  Fallen:  benacbbarte  und  nicbt  allzu- 
verscbieden  scbwingcndo  Korper  Ijeeinflusson  sicb  gegenseitig  zur 
Erzeugung  einer  gemeinsamen  gleicbartigen  Scbwingungsdauer; 
oder,  wenn  bios  die  Pbasen  verscbieden  sind,  accommodiren  sie 
sicb  in  dieser  Bcziebung.  ^)  Dass  die  Ganglienzellen,  in  welcbe 
l)enacbbarte  Scbneckenfasern  miinden,  aucb  benacbbart  seien,  ist 


•)  HuYGENS  beobachtete  das  Erstere  bei  den  Schliigen  zweier  Pendel- 
iibren,  die  er  au  Einem  und  demselben  Stiicke  IIolz  befestigt  hatte. 
S.  Leibnitz,  Oi)p.  iihilos.  ed.  Erdmann  p.  134  (oder  dessen  „Kleinere 
philos.  Schriften",  Reclam's  Bibl.  Nr.  1898  f.  S.  70V  "  Alfred  Mayer, 
Pogg.  Ann.  14(5  S.  113  gibt  an,  dass  zwei  zusammen  angeschlagene 
Stimmgabeln  zuweilen  keine  wabrnebmbaren  Stosse  gebcn,  dass  sie  eine 
gemeinsarae  Oscillation  von  gleicber  Scbwingungsdauer  erzwiugen,  ob- 
gleicb  sie  eiuzeln  angescblagen  verscbieden  scbwingen.  Rayleigh,  Pbilo- 
sopbical  Magazine  1879  p.  156  f.,  beobacbtete  bci  zwei  nahezu  gleich- 
gestiramten  Pfeifen,  deren  oftene  Enden  nabc  bei  oinauder  standen.  eben- 
falls keine  Schwebungen.  Der  entstehende  Ton  war  hoher  als  der  jeder 
einzelnen  Pfeife.  Bosanquet  (ibid.  p.  299)  beobachtete,  dass  bei  zwei 
gedackten  Pfeifen  unter  gleichen  Umstandcn  der  Ton  tiefer  wurde 
als  der  jeder  einzelnen.  Der  Gegenstand  bediirfte,  wie  er  mit  Recht 
hinzufiigt,  ndch  der  Bearbeitung.    IJber  Accommodation  der  Pbasen  bei 


der  Klanganalyse.  113 

zwar  nicht  eine  selbstverstandliche,  aber  doch  eine  wahrschein- 
liclie  Anuahme. 

Hiemit  wiirde  nun  allerdings  gegeben  sein,  dass  die  spe- 
cifischen  Energien  der  Ganglienzellen  (bez.  Nervenfasern)  nicht 
ganz  unveranderlich  waren  und  uiclit  ganz  unabbangig  von 
ausseren  Einfliissen.  Aber  im  Grunde  ist  eine  absolute  Un- 
veranderlichkeit  organiscber  Gebilde  iiberbaupt  ein  Unding. 
Es  kann  sicb  nur  fragen,  innferhalb  welcber  Grenzen  und  durch 
welcbe  regelmiissigen  Einfliisse  etwa  die  Veranderung  stattfin- 
det.  Darliber  lasst  sich  a  priori  Nicbts  bestimmen;  man  wird 
aber   zugeben,  dass  die   obige  Anschauung  etwas  fiir  sich  hat. 

Gehen  wir  nun  aber  in  die  psychologische  Discussion  ein, 
so  ergibt  sich  diese  Anschauung  nicht  bios  als  eine  mogliche, 
sondern  als  die  hochstwahrscheinlich  richtige. 

Wenn  ein  starker  Ton  mit  bedeutend  schwacheren,  doch 
nicht  allzuschwachen ,  zusammenklingt,  so  kann  ein  geiibter 
Akustiker,  wie  wir  im  §  22  naher  darlegen,  die  schwacheren 
subjectiv  verstarken  und  dadurch  ihre  Existenz  im  Tonganzen, 
wenn  er  sie  anfanglich  nur  vermutete,  iiber  alien  Zweifel  er- 
heben.  Eine  lebhafte  antecipirende  Vorstellung  des  herauszuho- 
renden  Tones  kommt  diesem  Process  wesentlich  zu  Gute;  aber 
der  herausgehorte  Ton  selbst  ist  nicht  blosse  Vorstellung  son- 
dern Empfindung.  Dies  lasst  sich  bei  den  Obertonen  unschwer 
constatiren.  Dasselbe  miisste  aber  auch  in  unsrem  Falle  mog- 
lich  sein,  wenn  neben  dem  Ton,  welcher  durch  die  starkst- 
erregte  Faser  (deren  Eigenschwingung  genau  der  objectiven 
Schwingung  entspricht)  geliefert  wird,  noch  eine  Reihe  nach  oben 
und  unten  benachbarter  Tone  von  den  benachbarten  Fasern 
dazugeliefert  wiirden.  Nach  Helmholtz'  Tabelle  der  Intensi- 
taten  des  Mitschwingens  (238),  die  uns  genauere  Massbestim- 
mungen  einstweilen  vertreten  muss,  schwingt  ein  um  eine  halbe 
Tonstufe  entferntes  Schneckenteilchen  (d.  h.  ein  Teilchen,  wel- 
ches, fiir  sich  allein  erregt,  einen  um  eine  Halbstufe  hoheren 


Pfeifen  Wtjndt^I  436;  iiber  Accommodation  der  Intensitaten  im  gleichen 
Falle  Grimsehl  in  Wied.  Ann.  XXXIV  1028. 

Stumpf,  Tonpsychologie.   II.  "  * 


114  §  18.   Physiologische  Voraussetzungen 

Ton  liefern  wiirde)  noch  mit  etwa  ^/k,  von  cler  Intensitat  des 
am  starksten  erregteu  Teilchens  mit.  Einen  Oberton,  dessen 
Starke  sicli  zu  der  des  Grundtons  wie  1:10  verhalt,  konnen 
wir  aber  nocb  ganz  wol  heraushoreu.  Auch  die  lebhafte  ante- 
cipirende  Vorstellung  kann  in  unsrem  Falle  leicht  von  einem 
musikalischen  Bewusstsein  erzeugt  werden;  denn  einen  Ton, 
der  urn  eine  Halbstufe  holier  ist  als  ein  gegebener,  konnen 
wir  uns  mit  aller  Deutliclikeit  vorstellen.  Es  miisste  also  auch. 
eine'  morkliche  Verstarkung  dieses  mitklingenden  Tones,  umso- 
mehr  also  eine  deutliche  Analyse  des  Klanges  moglich  sein, 

Ein  um  ^j^  Tonstufe  von  dem  mittleren  cntferntes  Teil- 
chen  der  Gruppe  schwingt  nach  der  Tabelle  mit  ^/g  der  In- 
tensitat mit.  Hier  ist  die  antecipirende  Vorstellung  zunachst 
weniger  deutlich,  man  kann  in  der  Phantasie  nicht  so  leicht 
Vierteltone  auseinanderhalten  als  Halbtone;  aber  dafiir  ware 
der  Ton  auch  von  um  so  betrachtlicherer  relativer  Starke.  Auch 
er  miisste  also  unschwer  herausgehort  werden. 

Keine  Spur  davon  zeigt  selbst  die  genaueste  Beobach- 
tung.  ^)     Es  ist   also  anzunehmen,    dass  unsre  Tonempfindung 

^)  Ich  will  nicht  verschweigen,  dass  einfache  milde  Tone  zuweilen  eine 
eigentiimliclie  Dehnbarkeit  hinsichtlich  ihrer  Hohe  zu  besitzen  scheinen,  die 
mich  voriibergehend  der  gegenteiligen  Ansicbt  giinstig  stimmte.  Vgl.  die 
Bemerkungen  iiber  den  Einfluss  der  Willkiir  auf  die  scheinbare  Ton- 
hohe  I  243—4,  261.  Wenn  man  den  Ton  einer  Stimmgabel  seiner  Hohe 
nach  durch  die  Violine  wiederzugeben  .siicht,  kann  es  geschehen,  dass  man 
innerhalb  eines  Vierteltones  schwankt.  Wenn  man  eine  Flasche  an- 
blast,  deren  Ton  in  der  kleinen  Octave  liegt,  und  den  beziiglichen 
Ton  am  Clavier  dazu  siicht,  kann  jener  z.  B.  bald  wie  /  bald  wie  fis 
klingen;  er  scheint  dem  von  beiden  Tonen  gleich,  den  man  gerade 
spielt.  Aber  dies  beriiht  nur  auf  einer  Unsicherheit  des  Urteils  in 
Folge  der  ungewohnten  matten  Klangfarbe;  warum  sollte  es  sonst 
nicht  ebenso  bei  scharferen  Klangen  eintreten,  da  doch  die  Anwesen- 
heit  von  Obertonen  den  Grundton  seiner  Hohe  nach  als  empfundenen 
nicht  beeinflusst.  Wie  sollteu  auch  Obertoue  es  zuwege  bringen,  die 
qualitative  Ausdehnung  des  Grundtons  enger  zu  begrenzen?  Die  Dehn- 
barkeit ist  in  den  genaunten  Fallen  also  nur  eine  scheinbare.  Und 
selbst  wejin  sie  eine  wirkliche  ware,  wenn  der  Ton  wirklich  in  der  Em- 
pfindung  seine  Hohe  innerhalb  einer  Halbstufe  durch  die  augenblickliche 
Richtung   der  Aufmerksamkeit    veranderte,    so   ware    dies    immer   noch 


der  Klanganalyse.  115 

trotz  der  grosseren  Aiizahl  beteiligter  Schneckenfaseru  uiid 
Ganglienzellen  eine  streng  einfacbe  ist.  Man  konnte  eine  solche 
Abteilung  der  Basilarmembraii  bez.  des  akustiscben  Centrums, 
welche  von  einem  objectiv  einfacben  Ton  erregt  aucb  nur  Eine 
Empfindung  gibt,  als  „akustiscbeu  Empfindungskreis"  be- 
zeicbnen. 

Zu  einer  Erganzung  dieser  Anschauungen  werden  uns  die 
Untersuchungeu  iiber  die  Tonhobe  bei  Scbwebungen  (§  27) 
fiibren.  In  diesem  Falle,  wo  zwei  verscbiedene  objective 
Schwingungen  auf  eine  gemeinsame  Gruppe  von  Scbnecken- 
teilchen  wirken,  vernimmt  man  allerdiugs  unter  besonderen  Um- 
standen  zvi^iscben  den  beiden  Tonen  und  gleicbzeitig  mit  ibnen 
einen  dritten;  was  sich  aber,  wie  wir  seben  werden,  ungezwungen 
den  bier  entwickelten  Vorstellungen  iiber  die  specifischen  Ener- 
gien  und  iiber  die  begrenzte  Accommodationsfabigkeit  derselben 
unterordnet. 

Dass  mit  dem  Gesagten  das  Princip  der  specifiscben  Ener- 
gien  innerbalb  des  Geborsinnes  nicbt  wieder  aufgehoben  wird, 
leucbtet  ein.  Es  bleibt  dabei,  dass  verscbiedene  akustische 
Nervenelemente  Tone  verscbiedener  Hobe  erzeugen,  und  nicbt 
jedes  Element  jeden  Ton.  Die  einzige  Modification  oder  viel- 
mebr  nabere  Bestimmung  der  Lebre,  die  wir  binzufiigen, 
bestebt  darin,  dass  die  empfundene  Tonbobe,  welcbe  ein  be- 
stimmtes  Nervenelement  erzeugt,  nicbt  in  alien  Fallen  absolutdie 
gleicbe,  starr  unveranderlicbe  ist,  sondern  innerbalb  einer  eng- 
begrenzten  Spbare  veranderlich,  und  zwar  in  Abbangigkeit  von 
der  Zahl  der  Schwingungen  des  beziiglicben  Scbneckenteilchens, 
die  ibrerseits  wieder  von  der  objectiven  Schwingungszahl  be- 
stimmt  ist. 

Nebenbei  ist  es  aucb  ein  Vorteil  dieser  Anscbauung,  dass 
damit  alle  Einwande,  welche  sich  auf  eine  Vergleichung  der 
Zahl    der   unterscheidbareu    Tone   und    der   dafiir    disponiblen 


etwas  ganz  Anderes,  als  weiin  wir  ausser  einem  mittleren  noch  gleicb- 
zeitig andere  um  je  einen  Viertelton  nach  oben  und  unten  von  ibm  ver- 
scbiedene Tone  borten.     Debnbarkeit  wiire  nocb  nicbt  Ausdebnung. 


116  §  18.  Physiologische  Voraiissetzungen 

Nervenfasern  (bez.  deren  peripherischen  oder  centralen  Endig- 
ungen)  griinden  (o.  94),  principiell  abgeschnitten  sind.  Ja  es 
kann  liienach  das  Tonreich  sogar  ein  coiitinuirliclies  sein  trotz 
Discontinuitat  der  abgestimmten  Nervcnelemente.  Wir  siud  uiclit 
genotigt,  die  stetige  Erbohung  eines  Tones  als  blosse  Tau- 
schung  der  Auffassung  zu  bezeichnen;  sie  kann  eine  Tatsache 
der  reinen  Empfinduug  sein.  Docb  balte  ich  nacb  wie  vor 
auch  das  Erstere  fiir  moglich,  da  uns  minimale  Unterscbiede 
notwendig  entgehen. 

4.  Individuelle  Verscbiedenheit  und  Entwickelung 
der  specifiscben  Energien. 

Es  ist  nicbts  Anderes  zu  erwarten,  als  dass  die  voran- 
gebend  besprochenen  Einricbtungeu  fiir  die  Zerlegung  der  Scbwin- 
gungen  im  Organ,  wie  auch  die  Differeiizirung  der  Gauglien- 
zellen  im  Geborcentrum  individuelleu  Verscbiedenbeiten  unter- 
liegen.  Das  Obr  und  Geborcentrum  des  Unmusikaliscben  mag 
sicb  zu  dem  des  musikaliscb  Veranlagten  abnlicb  verbalten 
wie  die  seitlicben  Teile  der  Netzbaut  zu  dem  gelben  Fleck. 
Bei  aufeinanderfolgenden  Tonen  wiirde  sicb  dies  nicbt  in  dem- 
selben  Masse  geltend  macben  wie  bei  gleicbzeitigen,  well  klei- 
nere  Unterscbiede  im  ersteren  Fall  nacb  dem  eben  Gesagten 
aucb  durcb  eine  und  dieselbe  Gruppe  vou  Scbneckenfasern  und 
Gebirnganglien  zur  Empfindung  kommen  konnen.  In  der  Tat 
zeigen  sicb  die  auffallendsten  individuellen  Unterscbiede,  die 
ganze  Kluft  zwiscben  musikaliscben  und  unmusikaliscben  Obreu 
erst  bei  gleicbzeitigen  Tonen. 

Ebeuso  mag  in  den  ersten  Anfangen  des  individuellen 
Lebens,  aucb  nacb  der  Geburt,  nocb  eine  gewisse  Entwicke- 
lung der  inneren  Horapparate  stattbnden,  eine  Differenzirung 
der  Basilarmembran  und  des  Centrums,  wodurcb  denn  aucb 
die  specifiscben  Energien  sicb  scbiirfer  soudern  und  vermebren. 
Es  wiirden  bienacb  vor  binreicbender  Sonderuug  objective  Tone 
von  bedeutender  Verscbiedenbeit  nur  als  Ein  mittlerer  Ton 
empfunden  (nicbt  bios  beurteilt),  ebenso  wie  dies  gegenwartig 
von  Seite  des  Erwacbsenen  und  Musikaliscben  bei  ausserst  ge- 
ringen  Differenzen  stattfindet,  die  uuterbalb  der  Empfindungs- 


der  Klanganalyse.  117 

schwelle  liegen.  Dass  aber  docli  schon  im  ersten  Lebensjahre 
Tone  von  nicht  sclir  verscliiedoner  Hohe  reclit  gut  auseinan- 
dergehalten  werden,  beweist  jeder  Saugling,  der  auf  die  Stimme 
der  .Mutter,  der  Amme,  der  Geschwister  verschieden  reagirt. 
Tatsiichliche  Belege  fUr  den  als  deukbar  zugegebenen  Pro- 
cess fortsclireitender  Differenzirung  in  der  ersten  Zeit  konnte 
nur  die  mikroskopische  Anatomie  liefern.  Die  Beobachtung  der 
Functionen  fiihrt  viel  mehr  zu  der  Ansicjit,  dass  das  Kind  in 
Hinsicht  seiner  Empfindungsfabigkeit  den  Mutterleib  als  ge- 
machter  Mann  verliisst.  Es  besteben  nur  Hindernisse  im  iiussereii 
Organ  (z.  B.  Ausfiillung  des  Geborganges) ,  die  bald  verscbwin- 
den,  und  natiirlicherweise  eine  absolute  Unsicberbeit  in  ricbtiger 
Auf  fas  sung,  die  erst  wabrend  der  langen  Kindheit,  ja  wali- 
rend  des  gauzen  Lebens  sicb  ausbildet.  Der  tibung  im  indivi- 
duellen  Leben  konnen  wir  bier  wie  iiberall  keinen  oder  nur 
einen  unmerklicben  Einfluss  auf  die  unmittelbaren  anatomiscben 
Grundlagen  unsrer  Siunesempfindungen  zugesteben.  Alles  was 
sie  leistet,  lasst  sicb  auf  Erleichterungen  der  Auffassung  zu- 
riickfiibren,  Lasst  man  diese  selbst  aucb  organiscb  bedingt 
sein  und  diese  organiscb  en  Bedingungen  sicb  individuell  ent- 
wickeln,  so  sind  die  betreifenden  centralen  Einricbtungen  docb 
jedenfalls  ganz.  andere  als  die  fiir  die  Sinnesempfindungen  selbst, 
da  eben  Veranderungen  der  Auffassung  im  weitesten  Umfang 
obne  Veranderung  des  Empfindungsinbaltes  stattfinden. 

Dass  endlicb  nicbt  bios  patbologiscbe  Zufalle  sondern  aucb 
normale  Riickbildungen  im  Alter  die  anatomiscben  Grundlagen 
der  Tonanalyse  beeintrachtigen  konnen,  verstebt  sicb;  aucb 
begreifen  wir  auf  Grund  der  HELMHOLTz'schen  Lebre,  dass 
wiederum  gerade  das  gleicbzeitige  Horen  besonders  darunter 
leiden  muss.  ^) 


')  Es  ist  bekannt,  dass  Schwerhorige  es  am  wenigsten  vcrtragen, 
wenn  gleichzeitig  Mehrerc  sprechen  und  sie  die  einzelne  Stimme  aus  der 
Masse  heraushoren  sollen.  Von  Beethoven  heisst  es  auch  in  musika- 
lischer  Hinsiclit,  „er  habe  mit  dem  linken  Ohr  noch  einzelne  oder  wenige 
Stimmen,  nicht  aber  Masscn  auffassen  d.  h.  in  ihre  Einzelheiten  ein- 
dringen  konnen--  i^vgl.  Tonpsych.  I  378). 


118  §  18.   Physiologische  Voraussetzungen 

Kaum  bedarf  es  cler  Bemerkung,  dass  auch  durch  diese 
Zugestanduisse,  speciell  durch  die  als  moglich,  wenn  auch  gar 
nicht  als  bewiesei!,  zugegebeiie  Differenzirung  der  Horeinrich- 
tungen  in  der  ersten  Zeit  iiach  der  Geburt  das  Wesentliche 
der  Lehre  von  den  specifischen  Energien  nicht  angetastet  wird; 
und  zwar  weder  in  der  alteren  noch  in  der  neueren  Fassung^ 
welche  verschiedene  Energien  auch  innerhalb  Eines  Siimes  an- 
nimmt.  Wir  halten  nicht  bios  daran  fest,  dass  die  Fasern 
(bez.  Centralgebilde)  des  Acusticus  ihrem  aiigeborenen  Wesen 
nach  nur  Schall  empfinden  konnen,  sondern  auch  daran,  dass 
verschiedene  derselben  ihrem  angeborenen  Wesen  nach  ver- 
schiedene Tone  empfinden. 

Im  Gegensatz  zu  der  alteren  Form  der  Lehre  haben 
G.  H.  Meyer  und  Lotze  ^),  im  Gegensatz  auch  zu  der  neueren 

')  G.  H.  Meyer,  Untersuchungen  uber  die  Physiologie  der  Nerven- 
faser  1843.  S.  54  f.  Lotze  „Seele  und  -Seelenleben"  in  Wagner's 
Handw.  d.  Physiol.  Ill  (1846),  abgedruckt  iu  „Kleine  Schriften"  II,  wo 
die  betr.  AusfUbruugen  S.  31  f.  stehen.  Medic.  Psychol.  18G  f.  („Speci- 
fische  Gewohnheiten").  In  der  neuen  „Metaphysik"  (1879)  finde  ich  die 
Moglichkeit  einer  Anpassung  nicht  mehr  betont,  aber  Lotze  verhalt  sich 
auch  da  (ebenso  in  den  Psychologie-Dictaten  von  1880/81)  skeptisch 
gegen  die  specifischen  Energien  und  sucht  zu  zeigen,  dass  die  soge- 
naunten  inadaequaten  Reize  doch  durch  Vermittlung  adaequater  Reize 
wirken  kiinnten,  z.  B.  der  elektrische  Strom  auf  den  Geschmacksnerv 
durch  Zersetzung  der  Mundfiiissigkeit.  Aber  es  entsteht  auch  bei  der 
Durchleitung  des  Stromes  durch  die  Paukenhohle,  welche  von  der  Ge- 
schmacksfasern  enthaltenden  Chorda  tympani  durchkreixzt  wird,  ein 
sauerer  Geschmack,  der  auf  die  Zunge  verlegt  wird;  wie  vielfach  und 
auch  von  rair  selbst  beobaclitet  worden  ist.  Stromschleifen  bis  zur  Zunge 
sind  schwerlich  daran  Schuld;  sonst  miissten  auch  bei  der  Durchleitung 
des  Stromes  durch  andere  Kopfteile,  die  der  Zunge  naher  liegen,  Ge- 
schmacksempfindungen  entstchen.  Urbantschitsch  berichtet  einen  Fall, 
wo  auch  durch  mechanische  Betupfung  der  Chorda  tympani  abwechseind 
susse  und  bittere  Geschmacke  auf  der  Zunge  erzeugt  wurden.  A.  f.  0. 
XIX  135.  liber  elektrische  Geruchsempfindungen  s.  Aronsohn,  Central- 
blatt  fur  die  medic.  Wissensch.  1888  S.  370. 

Unklar  ist  dagegen  allerdings  gerade  die  Frage,  wie  der  durch's 
Ohr  geleitete  Strom  Gehorsempfindungeu  erzeugt.  Die  tatsachlichen 
Angaben  sind  erst  seit  Kurzem  zahlreicher  und  iibereinstimmender.  Ritter, 
ein  alterer  Beobachter,  horte  g'^,  Brenner's  Versuchspersonen  c'  und^% 


der  Klanganalyse.  119 

Form  haben  WuNDT  (Phys.  Psych. ^I  332  f.)  u.  A.  die  Ansicht  ver- 
fochten,  dass  die  einzelnen  Nerven  nur  darum  ausschliesslich 
bestimmte  Empfindungen  liefern,  weil  sie  im  Laufe  des  indivi- 
duellen  Lebens  durcb  die  ausseren  Reize  dazu  erzogen  seien,  sich 
denselben.  angepasst  batten;  indem  an  jeden  Nerv  in  Folge 
der  besondoren  peripheriscben  Endapparate  ausscbliesslicb  oder 
hauptsachlich  diese  Classe  von  Reizen  gelangt,  an  den  Obr- 
nerv  Schallwellen,  an  den   Augennerv  Licbtwellen  u.  s.  f. 

Wenn  dies  richtig  ware,  wiirde  ich  nicbts  weniger  als 
eine  wesentlicbe  Umgestaltung  oder  gar  mit  Wundt  eine  Be- 
seitigung  der  Lebre  von  den  specifischen  Energien  darin  er- 
bHcken.  Demi  bestritten  wird  docb  nicbt,  dass  wir  Erwach- 
senen  mit  dem  Augennerv  nur  Licbt,  mit  dem  Obrnerv  nur 
Schall  empfinden.  .  Mogen  wir  nun  diese  sonderbare  Gewobn- 
beit  in  unsren  Kinderjabren  erworben  oder  gleicb  mit  auf  die 
Welt  gebracbt  haben:  unstreitig  miissen  die  Nerven  (Gang- 
lien)  jetzt  eine  besondere  materielle  Beschaffenheit  besitzen, 
welcbe  sie  zu  dieser  Functionsweise  befahigt  und  notigt.   Kann 

KiESSELBACH  dagcgen  links  a*,  rechts  h*,  geiiaii  die  Resonanztone  seiner 
Ohren.  Bel  Mittelohrkatarrli  ging  a*  auf  g*  herunter.  Kiesselbach 
schliesst  nicht  uuwahrsclieinlich,  dass  der  Ton  ein  objectiver  (d.  h.  im 
Organ  physikalisch  verursachter)  war  und  dass  durch  den  Strom  nur  die 
Erregbarkeit  des  Acusticus  derart  gesteigert  wurde,  dass  der  Resonanz- 
ton  horbar  wurde.  (Pflug.  Arcb.  Bd.  31,  S.  95  f.,  377  f.)  Nacb  Wbeden 
(Z.  f.  0.  XVII,  1887,  S.  113)  soli  die  elektriscbe  Reizung  nm-  indirect 
wirken,  indem  durcb  Reizung  des  N.  facialis  der  M.  stapedius  contrabirt 
und  dadurcb  auf  die  Endapparate  des  Hornerven  ein  Druck  geiibt 
wiirde.  Gradenigo  (Centralbl.  f.  die  medicin.  Wissensch.  1888  Nr.  39—41, 
AUgem.  Wiener  medicin.  Zeitung  1889  Nr.  1)  bait  es  fiir  wabrscbeinlich, 
dass  nicbt  der  Endapparat  sondern  der  Stamm  und  die  peripberen  Ver- 
astelungen  des  Acusticus,  und  zwar  direct,  gereizt  werden.  Nacb  seinea 
zahlreichen  Versuchen  und  denen  von  Pollak  und  Gartner  (Wiener 
klin.  Wocbenscbrift  1888  Nr.  31  und  32)  reagirt  jedocb  der  Acusticus 
des  gesunden  Obres  auf  mittelstarke  Strome  iiberbaupt  nicbt.  Bezuglich 
der  Tonbobe  fand  Gradenigo  zwei  Classen  von  Fallen  je  nacb  der  Ver- 
sucbsanordnung:  ein  bobes  Klingen  (ungefabr  c^)  und  ein  tiefes  Sausen 
(ungefahr  C);  nur  zuweilen  einen  dritten  glockenartigen  Klang;  aucb  wol 
•  Combinationen  jener  beiden  Erscheinungen,  sowie  individuelle  Unter- 
scbiede,  aber  niemals  einen  Ubergang  jener  beiden  Falle  in  einander. 


5  20  §  18-  Physiologische  Voraussetzimgen 

man  einem  Stiick  Leder  die  Leistungen  eines  Handschuhes, 
einem  ungeschliffenen  Liimmel  die  graziosen  Bewegungen  eiuer 
Tanzerin  oder  die  gesellschaftlichen  Alliiren  eines  Lebemannes 
dauernd  beibringen,  olme  ebenso  dauernd  materiell  etwas  an  ihnen 
zu  andern?  Eiue  Anpassung  der  Fuuctionen  obne  Anpassung 
der  Structur  ist  ja  ein  anerkannter  physiologischer,  um  nicht 
zu  sagen  logischer  Uusinn.  Mogeu  aucb  die  Empfindungen 
nicht  ganz  in  demselben  Sinne  Functionen  der  Nerven  genannt 
werden,  wie  die  Leistungen  in  den  genannten  Fallen  Functio- 
nen der  Subjecte,  mag  man  sogar  die  Empfindungen  einem 
immateriellen  Subjecte  zuschreiben :  die  Forderungen  der  cau- 
salen  Erklarung  bleiben  genau  die  namlichen.  Keine  dauernde 
Veranderung  der  Wirkungen  ohne  dauernde  Veranderung  ihrer 
Ursachen.  Die  „ Anpassung",  welclie  man  wie  ein  Zauberwort 
der  bisherigen  Theorie  gegeniiberstellt,  bildet  also  gar  keinen 
Gegensatz  zu  derselben.  Sie  ist  ein  Process,  der  sich  zugestan- 
denermassen  bereits  an  uns  voUzogen  und  jein  Ergebnis  hinter- 
lassen  hat,  und  dieses  Ergebnis  kann  in  nichts  Anderem  als  in 
einer  bestimmten  Structur  der  Nervenelemente  bestehen,  welche 
sie  befahigt,  gerade  diese  und  keine  anderen  Empfindungen  im 
Bewusstsein  zu  erzeugen,  d.  h.  in  einer  specifischen  Energie. 

Aber  wie  denkt  man  sich  iiberhaupt  diese  Entwickelung? 
Was  sollen  wir  urspriinglicli  empfunden  haben?  Soil  es  weder 
Schall  noch  Licht  noch  Geruch  noch  Geschmack  noch  Getast 
—  was  soil  es  denn  gewesen  sein?  Eine  verschwundene  Ur- 
empfindung  x?  Dann  ist  die  Eigenschaft  der  sammtlichen 
Nervenelemente,  wonach  sie  nur  dieses  x  und  keine  andere 
Empfindung  trotz  verschiedenster  Reizung  hervorzurufen  im 
Stande  waren,  doch  erst  reclit  eine  specifische  Energie. 

Oder  hatten  wir  urspriinglich  nur  Eine  von  den  gegenwar- 
tigen  Empfindungsclassen,  etwa  Tastempfindungen?  Dann  gilt 
ganz  das  Namliche. 

Oder   empfindet  jeder  Nerv   urspriinglich  jede  der  gegen- 
wartigen  Qualitaten,  Farben,  Tone,  Geriiche,  Beriihrungen,  je 
nach  dem  Fteiz?     Und  was  empfindet  er  bei  galvanischer  Rei-, 
zung?    Und  wie  ware  es  moglich,  dass  derselbe  Nerv,  dier  bei 


tier  Klanganalyse.  121 

40  000  periodischen  Wellenbewegungen  aufhorte  mit  Empfindun- 
gen  zu  antworten,  bei  400  Billionen  wieder  anfinge?  Wir 
miissten  also  wol  nocli  mebr  urspriingliche  Empfinduiigsclassen 
annebmen.  Scbade,  dass  wir  sie  durcb  Entwickelung  verloren 
haben.  Aber  zeigt  iiberbaiipt  die  Erfahrung,  dass  ein  Nerv 
Empfindungen  bios  wegen  ibrer  Selteubeit  verlernt  und  fiir 
andere  durcb  ibre  Haufigkeit  empfanglicber  wird?  Eber  das 
Gegenteil.  1st  nicbt  endlich  der  Tastsinn  auch  beute  noch 
akustiscben  Reizen  offen?  Empfinden  nicbt  Taubgewordene  Er- 
zitteruugen  der  Luft  oft  mit  erstaunlicber  Feiiibeit?  ^)  War- 
urn  nicbt  als  Tone  sondern  ,als  Beriibrungen?  Warum  boren 
sie  nicbt  im  eigentlicbsten  und  wortlicbsten  Siime  mit  den 
Fingerspitzen?  ^) 

^)  Beispielsweise  bemerkt  Helen  Keller  (die  zweite  Laura  Bridge- 
man)  Pfeifen  und  gewohnliclie  Tone  der  menschlichen  Stimme  durch  die 
Hand,  wenn  sie  von  dem  Pfeifenden  oder  Sprechenden  an  der  Hand 
gefasst  wird;  im  anderen  Falle  merkt  sie  Nichts  davon.  MinJ  1889, 
Nr.  54,  p.  305. 

2)  Ich  weiss  wol,  dass  das  fabelhafte  Lesen  oder  Schmecken  mit  der 
Herzgrube  von  Seiten  der  Somnambulen  in  neueren  Versuchen  an  Hyp- 
notischen  und  Hysterischen  sein  reelles  Seitenstuck  findet.  Binet  ver- 
oiSfentliclit  soeben  eine  Reihe  ausfiihrlich  beschriebener  Versuche  mit 
Hysterischen,  welche  gegen  Beriibrungen  als  solche  unempfindlich  ge- 
worden  waren,  dafiir  aber  ebensoviele  helle  und  dunkle  Puncte  im  Ge- 
sichtsfeld  erblickten  als  man  Stiche  in  die  Hand  machte,  und  ebenso- 
lang  als  diese  Stiche  dauerten  („Vision  mentale"  Revue  philos.  1889, 
p.  337).  Ob  die  tactile  Empfindlichkeit  vollkommen  verschwunden 
■war,  scheint  doch  zweifelhaft,  da  Einige  die  „Puncte"  mit  „Eindrucken 
in  die  Haut"  verglichen  (,,C'est  comme  si  vous  me  piquiez  la  peau''), 
ein  Vergleich  der  doch  sonst,  bei  rein  optischen  Punctbildern,  nicbt 
gerade  nahe  liegt.  In  je'dem  Fall  haben  wir,  wenn  solche  Versuche  sich 
bestatigen,  nichts  welter  vor  uns  als  eine  sensible  Reflexwirkung,  eine 
Reflexhallucination;  analog  den  Fallen,  wo  beim  sanften  Bestreichen  der 
Backe  ein  Gerausch,  beim  Betupfen  des  Ohrlappchens  Tone  von  gleicher 
Dauer  mit  dem  Reiz  empfunden  werden  (s.  I  421  f.),  oder  wo  kranke 
Zahne  Schmerzen  in  den  Ohren  oder  in  den  Schulter-  und  Brustdriisen 
verursachen  (Z.  f.  0.  XII  219,  301)  u.  dgl.  Dabei  ist  es  in  der  Tat 
denkbar,  dass,  wenn  einmal  eine  Leitung  von  einem  Nervengebiet  zum 
anderen  sich  gebildet  hat,  bei  Reizung  des  ersten  nur  die  Empfindungen 
des  zweiten  auftreten.     Die  Erregung  der  centralen  Gebilde,  an  welche 


122  §  18.   Physiologische  Voraussetzuugen 

Man  halt  der  Lehre  von  specifischen  Energien  entgegen, 
dass  sich  unter  den  Nervenfasern  wie  unter  den  Ganglienzellen 
keine  hinreichenden  anatomischen  oder  chemischen  Unterschiede 
finden.  Aber  sieht  man  denn  nicht,  dass  solche  hinreichenden 
Unterschiede  beim  Erwachsenen  in  jedem  Falle,  nach  jeder 
Theorie  da  sein  miissen,  mogen  wir  sie  finden  oder  nicht? 
Wenn  man  sie  also  an  Leichenpraeparaten  von  Erwachsenen 
nicht  findet,  so  wllrde  diese  Schwierigkeit,  wenn  sie  iiberhaupt 
eine  ware,  ganz  in  gleichem  Masse  gegen  jede  beliebige  An- 
schauung  gelten. 

Aber  eine  ernstliche  Schwierigkeit  liegt  ja  hier  nicht  vor. 
Wir  finden  auch  keinen  Unterschied  zwischen  den  Eiweisskliimp- 
chen,  aus  denen  ein  Afte,  ein  Schwein,  ein  Mensch  entsteht, 
und  doch  miissen  Unterschiede  da  sein.  Eine  sogenannte  ein- 
fache  Zelle  besteht  aus  unzahligen  noch  einfacheren  Teilchen, 
deren  gegenseitige  Lagerung  verschieden  genug  sein  kann. 
Gegen  die  Feinheit  der  Structur,  die  wir  hier  schon  aus  an- 
deren  Griinden  annehmen  miissen,  verschwindet  eben  die  Leist- 
ungsfahigkeit  der  Mikroskope.  ^)  Wenn  wir  aber  absolute  Mi- 
kroskope  hatten  und  auch  mit  diesen  Nichts  fanden,  so  miiss- 
ten  wir  eben  mit  Zollner  in  die  vierte  Dimension  gehen,  um 
die  Unterschiede  dort  zu  suchen.     Da  sein  miissen  sie. 

Auch  das  specielle  Argument  aus  der  Continuitat  des  Ton- 


Tastempfindung  unmittelbar  gekniipft  ist,  mag  unter  tier  notigen  Starke 
(Schwelle)  bleibeu,  wabrend  die  Erregung  auf  den  anderen  (akustischen, 
optischen)  Nerven  iiberstromt.  Dass  dies  nicht  gegen,  sondern  fiir  die 
specifischen  Energien  spricht.  leuchtet  ein. 

^)  LuDwiG  soil  einmal  gesagt  haben:  .,Wenn  uns  die  chemis-chen 
Elemente  eines  Nerven  gegeben  sind,  wissen  wir  von  der  Beschaffenheit 
desselben  nicht  mehr  als  wir  von  einem  Fernrohr  wissen,  wenn  man  uns 
sagt,  es  bestehe  aus  Glas,  Metall  und  Kienruss".  Auch  der  elektrische 
Strom,  fiigt  Mach  bei,  zeigt  uns  nur  die  Aussenseite  der  Nervenvorgange. 
Wir  erfahren,  dass  eine  bestimmte  Quantitat  lebendiger  Kraft  in  der 
Zeiteinheit  durch  den  Querschnitt  des  Nerven  wandert.  Welche  mole- 
cularen  Bewegungen  es  sind,  die  diese  lebendige  Kraft  befordern,  wissen 
wir  nicht.  Die  verschiedensten  Vorgange  konnen  derselben  Strominten- 
sitat  zu  Grunde  liegen.     (Osterr.  Zeitschr.  f.  prakt.  Heilk.   1S16,  335). 


der  Klanganalyse.  12S 

gebietes,  welches  Wundt  in  der  dritten  Auflage  seines  Werkes 
wiederholt,  obschon  ich  es  bereits  Tonps.  I  184  f.  als  einen 
offenbaren  Feblschluss  kennzeichnete,  wiirde  sich,  wenii  es 
beweisend  ware,  ganz  ebenso  gegen  seine  eigene  Lehre  kehren, 
da  er  erstens  mit  Helmholtz  die  Zerlegiing  der  Gesammt- 
schwingung  durcb  die  Fasern  der  Basilarmembran  lehrt  (I319f.), 
zweitens  die  Acusticusfasern  sich  den  Schwingungen  der  Ba- 
silarmembran anpassen  lasst  (ib.  335).  Notwendig  muss  dann 
auch  jede  einzelne  Acusticusfaser  sich  den  Schwingungen  der- 
jenigen  Membranfaser  anpassen,  welche  ihr  anliegt,  d.  h.  sie 
muss  die  entsprechende  specifische  Energie  erwerben  und,  nach- 
dem  sie  sie  erworben  hat,  besitzen.  Innerhalb  enger  Grenzen 
mag  die  so  erworbene  specifische  Energie  immerhin  ebenso  wie 
die  Schwingungsfahigkeit  der  Membranfaser  veranderlich  sein 
—  und  daraus  wiirde  sich,  wie  oben  erwahnt,  eine  wirkliche 
Continuitat  der  Tonempfindungen  ableiten  lassen  — ,  aber  dieser 
Gedanke  bleibt  natiirlich  fiir  die  Anhanger  der  angeborenen 
Energien  ebenso  wie  fiir  die  der  erworbenen  frei. 

So  verwickelt  sich  Wundt  in  die  grellsten  Widerspriiche. 
Seine  eigene  Ansicht  fiihrt  iiberall  zu  derjenigen  zuriick,  wel- 
ch er  er  sie  entgegensetzt;  und  die  Griinde  mit  denen  er  diese 
bekampft,,gelten  ebenso  gegen  die  eigene. 

5,  Specifische  Energien  innerhalb  der  verschiede- 
nen  Sinne. 

Wir  miissen  uns  bei  allem  Dem  gegenwartig  halten,  dass 
das  Princip  in  der  weiteren  Ausdehnung,  welche  ihm  Helm- 
holtz beim  Tonsinn  gegeben,  und  welche  Manche  neuerdings 
wie  etwas  Ausgemachtes  oder  gar  Selbstverstandliches  bei  alien 
Sinnen  hinstellen,  nicht  eine  iiotwendige  Folge  des  Princips 
in  seiner  alteren  und  engeren  Fassung  ist.  Wir  wiirden,  um 
dies  zu  wiederholen,  auch  beim  Tonsinn  nicht  zur  Annahme  be- 
sonderer  Nervenelemente  fiir  besondere  Tone  genotigt  sein, 
wenn  nicht  die  Erscheinungen  des  gleichzeitigen  Horens  und 
die  iibrigen  angefiihrten  Griinde  dafiir  sprachen.  An  sich  ware 
es  ebenso  denkbar,  dass  jeder  Ton  durch  alle  akustischen 
Nervenelemente  zusammen  (oder  nur  je  nach  der  Starke  durch 


124  §  18.  Physiologische  Voraussetzungen 

verschiedene  Mengen  derselben)  zur  Empfiudung  kame,  dass 
seine  Hohe  durch  deren  gemeinsameu  Erreguugszustand  mid 
dieser  einfach  durcli  die  augenblickliche  Schallwelle  bestimmt 
ware.  Und  so  konnte  bei  jedem  Sinu  innerhalb  der  fiir  ihn 
zufolge  seiner  allgemeinen  Energie  verfiigbaren  Qualitatengat- 
tung  die  besondere  augenblicklich  empfundene  Qualitat  durch 
den  besonderen  augenblicklichen  Reiz  ^)  bedingt  sein,  ohne 
Verteilung  der  verschiedenen  Erregungsweisen  an  getrennte 
Fasern  und  Ganglien. 

Ich  bin  sogar  der  Meinung,  dass  wirklich  der  Tonsinn 
uns  bis  jetzt  das  einzige  wolverbiirgte  Beispiel  einer  Durchfiih- 
rung  des  Princips  der  specifischen  Energien  innerhalb  eines 
Sinnes  bildet,  vorausgesetzt,  dass  wir  nur  vom  qualitativen 
Moment  der  Empfindungen  reden.  Beim  Farbensinn  diirfte  es 
sich  nach  dem  oben  Bemerkten,  auch  wenn  man  die  Yoijng- 
HfiLMHOLTz'sche  Lehre  zu  Grunde  legt,  nicht  um  specifische 
Energien  handehi,  und  bei  den  iibrigen  Sinnen  habeu  wir 
keine  deutlichen  Anhaltspuncte,  die  Verschiedenheit  der  eiuem 
jeden  eigenen  Quahtaten  an  eine  verschiedene  Structur  verschie- 
dener  Nervenelemente  gebunden  zu  denken;  sie  kann  einfach 
bedingt  sein  durch  die  Verschiedenheit  der  Nervenprocesse  in 
den  gleichen  Nervenelementen. 

Die  Anschauung  erweitert  sich  aber  und  die  scheinbare 
Abnormitat  in  der  Organisation  des  Tonsinnes  verschwindet, 
wenn  wir  ausser  dem  qualitativen  auch  das  raumliche  Mo- 
ment des  Empfindungsinhaltes  in  Betracht  ziehen.  Fur  die 
Ortsverschiedenheiten  unsrer  Empfindungen  miissen  nach  nati- 
vistischer  Anschauung  —  und  diese  ist  im  Princip  zweifellos 
die  richtige  —  ebenso  bestimmte  physiologische  Bedingungen 
existiren,  wie  fiir  die  qualitativen  Verschiedenheiten.  Und  zwar 
miissen  hier  offenbar  raumlich  getrennte  Nervenelemente  selbst 
es  sein,    welche    vermoge   einer  verschiedenen    materiellen   Be- 

*)  Einscliliesslich  der  Unterschiede .  die  etwa  durch  die  Aufnahms- 
organe,  die  Nervenanhange  hervorgerufen  werden,  wie  ja  z.  B.  die  Ver- 
auderimg  der  Farben  beim  Ubergang  von  der  Mitte  zur  Peripherie  des 
Sehfeldes  in  solchen  Unterschieden  griinden  mag.     • 


der  Klanganalj'se.  125 

schaffenheit  verschiedene  Orte  in  der  Empfindung  erzeugen.  ^) 
Wir  miissen  deshalb  zwei  Classen  specifischer  Energien 
annelimen:  neben  den  qualitativen  (qualitatserzeugenden)  die 
localen  (ortserzeiigenden). 

Vergleichen  wir  nun  zuerst  den  Temperatur-,  Tast-  und 
Muskelsinn  mit  dem  Tonsinn,  so  hat  jeder  der  ersteren  nur 
eine  oder  zwei  Qualitaten,  dagegen  hochst  zahlreiche  Ortsbe- 
stimmtheiten  der  Empfindung  (denn  wir  unterscheiden  sowol 
Temperaturen  als  Muskelcontractionen  als  Beriihrungen  bei  sonst 
gleicher  Beschaffenheit  der  Empfindung  je  nach  den  Korperstellen); 
hingegen  hat  der  Tonsinn  umgekehrt  nur  zwei  Ortsbestimmt- 
heiten  der  Empfindung  (p  und  q)  bei  hochst  zahlreichen  Quali- 
taten. Specifische  Energien  in  grosser  Zahl  brauchen  wir  also 
in  beiden  Fallen,  nur  sind  es  im  ersteren  Fall  wesentlich 
locale,  im  letzteren  qualitative.  Der  Gesichtssinn  hat  zwar 
zahlreiche  Qualitaten,  aber  specifische  Energien  brauchen  wir 
auch  da  nur  fiir  die  localen  Unterschiede  in  grosserer  Anzahl 
(vgl.  0.  107  2)).  Beim  Geruch  und  Geschmack  haben  wir  weder 
zureicheude  Griinde,  die  qualitativen  Verschiedenheiten  auf  ver- 


^)  Ich  kann  in  dieser  Hinsicht  nicht  mebr  die  in  meinem  „Urspr. 
d.  Raumvorst."  (§  7.)  wenigstens  als  moglich  verteidigte  Ansicht  gelten 
lassen,  dass  die  Verschiedenheit  des  objectiven  Ortes  selbst  schon  ge- 
ntigte.  Jede  Bewegiing  unseres  Korpers  verandert  den  objectiven  Ort 
eines  Nervenelementes,  aber  nicht  den  empfundenen  Ort  der  bezilg- 
lichen  Qualitat. 

1st  nicht  die  Ortsverschiedenheit  als  solche,  die  blosse  Isoliruug  der 
Nervenelemente ,  sondern  eine  materielle  Verschiedenheit  derselben 
die  Ursache  der  empfundenen  Raumunterschiede,  so  fallt  auch  die 
Schwierigkeit,  welche  Waitz,  W.  James  und  ich  selbst  friiher  in  der 
HELMHOLTz'schen  Schneckentheorie  fanden,  sofern  die  Verteilung  der 
Tone  in  der  Schnecke  auch  eine  raumliche  Ausbreitung  und  Diiferen- 
zirung  der  Tone,  in  der  Empfindung  zu  bedingen  schien  (o.  S.  101).  Wir 
haben  keinen  apriorischen  Grund,  anzunehmen,  dass  jedes  isolirt  und  selb- 
standig  functionirende  nervose  Element  auch  einen  raumlich  getrennten  Ein- 
druck  geben  miisse  (was  W.  Hamilton  geradezu  als  ein  Gesetz  aussprach). 

^)  Auch  S.  ExNEK  beruft  sich  fiir  die  specifischen  Energien  inner- 
halb  des  Gesichtssinnes  auf  die  raum  lie  hen  Unterschiede  der  Gesichts- 
empfindungeu.     Hekm.  Handb.  II,  2,  S.  207. 


126-  §  18.   Pbysiologische  Voraussetzungen 

schiedene  Nervenfasern  innerhalb  jedes  Sinnes  zuriickzufiihren  *), 
noch  brauchen  wir  zahlreiche  topogene  Energien,  da  eine  Orts- 
unterscheidung  durch  blossen  Geruch  oder  Geschmack,  wenn 
uberhaupt,  jedenfalls  nur  mit  geringer  Feinheit  moglicli  ist. 

Wenn  man  nun  auch  bei  den  sogenannten  niederen  Sinnen 
zweifeln  kann,  was  zu  Einem  Sinn  zu  rechnen  ist,  da  sie  ein- 
ander  qualitativ  naher  steben  als  die  hoheren,  so  wiirde  sicb 
docb  die  Zahl  der  anzunehmenden  qualitativen  specifischen 
Energien  bei  ihnen  sogar  dann  nicbt  erheblicb  vermebren, 
wenn  man  sie  alle  zu  einem  einzigen  Siim  zusammenfassen 
woUte.  Man  ware  selbst  dann  nicbt  genotigt,  die  Verscbieden- 
beiten  der  Qualitaten  in  erbeblicbem  Umfaug  auf  eine  ver- 
scbiedene  Constitution  getrennter  Nervenfasern  oder  Ganglien 
zu  griinden. 

Es  erscbeint  also,  den  Goscbmack  und  Gerucb  etwa  aus- 
genommen,  das  Princip  der  specifiscben  Energie  innerhalb  jedes 
Sinnesgebietes  in  ausgiebigem  Masse  durcbgefiibrt,  aber  nicbt 
iiberall  so  ausgiebig  in  qualitativer  sondern  entweder  in  qua- 
litativer  oder  localer  Hinsicbt.  Wo besonders  zablreicbe  topogene 
Energien  ausgebildet  sind,  sind  die  qualitativen  auf  ein  Minimum 
reducirt  (und  werden  Qualitatsunterscbicde  der  Empfindungen 
nur  nocb  durcb  die  Reize  bedingt),  sowie  umgekehrt.  Es  liegt 
hierin  eine  Art  von  organiscber  Okonomie  oder  Compensation  ^) ; 

^)  Die  0.  118  erwahnten  Beobachtungen  von  Urbantschitsch  liber 
Erregungen  susser  und  bitterer  (aucb  prickelnder)  Empfindungen  durch 
mechanische  Betupfung  der  Chorda  tympani  sprechen,  wie  Urbantschitsch 
selbst  hervorhebt,  nicht  dafiir,  das  Bitter  und  Siiss  durch  verschiedene 
Fasern  empfunden  wiirdeu.  Hypothetisch  aussert  sich  Hensen  fiber  eine 
analytische  Thatigkeit  der  Riechharchen  bei  Krebsen  in  einer  Kieler 
Dissertation  von  K.  May  1887  (S.  31—33);  wenigstens  nach  dem  anato- 
mischen  Befund  lasse  sich  hier  eine  Durchfiihrung  der  specifischen  Energien 
innerhalb  des  Geruchsinnes  annehmen.  Innerhalb  des  Temperatursinncs 
statuiren  einige  neuere  Physiologen  auf  Grund  von  Beobachtungen  beim 
Einschlafen  der  Glieder  und  bei  Krankheitsfallen  eine  Trennung  warme- 
und  kalteempfindender  Nerven;  die  Empfindlichkeit  fiir  Kalte  schwindet 
z.  B.  im  ersteren  Falle  eher  als  die  fur  Warme.  PflUg.  Arch.  Bd.  38, 
S.  93.  Bd.  39,  S.  96. 

'■')  Auch  wenn  wir  Individuen  vergleichen,  bemerken  wir  haufig  einen 


der  Klanganalyse.  '  127 

mid  vielleicht  leitet  diese  Betrachtjjng  in  Verbindung  mit  der 
Entwickelungsgeschichte  nocli  zu  allgemeineren  Aus-  oder  Ein- 
sichten.  Doch  sollte  sie  hier  nur  als  eingelegentlicher  Durch- 
blick  stehen  und  zugleich  Bedeiiken  wegen  der  Sonderstellung 
des  Tonsinues  besehwiclitigeu. 

Nun  miisseii  wir  die  psychologische  Beschreibung  wieder- 
aufnehmen.  Sie  fiihrt  dann  auch  wiederum  zu  einer  neuen 
Anwendung  des  Begriffs  specifiscber  Energie  (§  20). 

§  19.  Stufen  der  Tonverscbmelzung. 

1.  Was  Tonverscbmelzung  ist  und  was  sie  nicht  ist. 

Es  wurde  bereits  im  Voriibergeben  erwabnt,  dass  nicbt 
bios  gleicbzeitige  Tone  iiberbaupt  gegeniiber  aufeinanderfolgeu- 
den  ein  besonderes  Verbaltnis  in  der  Empfindung  eingehen, 
welches  ihre  Analyse  erscbwert,  sondern  dass  auch  unter  den 
gleichzeitigen  Tonen  noch  Unterschiede  in  dieser  Hinsicht  be- 
stehen  je  nacb  dem  Verbaltnis  ihrer  Schwingungszablen,  Dieser 
Tatsache  miissen  wir  nun  unsre  Aufmerksamkeit  zuwenden. 
Ich  will  sie  zunachst  an  zwei  extremen  Beispielen  erlauteni. 

Werden  zwei  Tone,  deren  Schwingungszablen  sich  wie  1 : 2 
verhalten,  gleichzeitig  angegeben,  so  konnen  sie  nur  sehr  un- 
vollkommen  gesondert  werden  gegeniiber  etwa  dem  Falle,  wo 
unter  sonst  gleichen  Umstanden  die  Verhaltniszahlen  40:77 
obwalten,  Indem  ich  sage:  „unvollkommen",  meine  ich,  dass 
es  sich  nicht  bios  um  eine  Schwierigkeit  handelt,  die  durch 
gesteigerte  Aufmerksamkeit  und  tJbung  beseitigt  werden  konnte, 
sondern  um  cine  unveranderliche  Eigentiimlicbkeit  des  Em- 
pfindungsmateriales,  welche  immer  noch  iibrig  bleibt,  wenn  alle 


gewissen  Antagonismus  der  qualitativen  und  raumlichen  Elemente  der 
Wahrnehmungen.  Freilich  kann  die  ungleiche  Begabung  fiir  Zeichnung 
und  fiir  Colorit,  die  bei  Malern  oft  so  auffallig  ist,  auch  noch  andere 
Grilnde  haben  (angeborene  oder  erworbene  Vorliebe).  Aber  selbst  bei 
Einem  Individuum  scheint  es  vorzukommen,  dass  Ein  Auge  mehr  fiir  die 
Farben-,  das  andere  mehr  fiir  die  Formenwahrnehmung  geeignet  ist; 
was  man  doch  nicht  auf  einen  Unterschied  der  Vorliebe  zuriickfiihren 
kann  (,Solche  Falle  citirt  Spencee,  Principien  d,  Psychol.,  deutsch,  II  249). 


128  §  19-  Stnfen  der  Tonverschmelzung. 

anderen  Hindernisse  der  Analyse  beseitigt  werden,  und  welche 
gerade  nachdem  die  Analyse  vollzogen  und  die  Tone  deutlich 
als  zwei  erkannt  sind,  ebenfalls  erst  in  sich  selbst  bemerkt 
werden  kann.  Bei  40:77  treten  die  Tone  in  der  Empfindung 
so  zu  sagen  mehr  auseinander  als  bei  1:2,  sodass  im  ersten  Fall 
auch  derUngeiibte  weniger  oder  nicht  in  die  Gefabr  kommt,  sie 
fiir  Einen  zu  halten,  wabrend  umgekehrt  Octaventone  auch 
von  dem  feinsten  und  geiibtesten  Obr  nicht  in  demselben  Grade 
wie  die  der  Septime  oder  des  nichtmusikalischen  Verhaltnisses 
40 :  77  auseinanderzuhalten  sind.  Bei  dem  Ungeiibten  ist  dem- 
nach,  wenn  er  gleichzeitige  Octaventone  als  Einen  Ton  bezeichnet, 
ein  doppeltes  Hindernis  der  Analyse  vorhanden:  eines  in  mangeln- 
der  Ubung,  und  eines  in  den  Tonen  selbst;  eines,  welches  direct 
das  Urteil,  und  eines,  welches  die  Empfindung  und  erst  in 
Folge  davon  das  Urteil  beeinflusst. 

Das  Wesentliche  zur  allgemeinen  Charakteristik  des  „Ver- 
schmelzungs"-Begriffes ,  wie  wir  ihn  hier  verstehen,  diirfte  mit 
dem  o.  64  f.  Gesagten  ziemlich  erschopft  sein  und  nur  etwa 
in  dem  weiteren  Rahmen  einer  allgemeinen  Verhaltnislehre,  die 
zu  den  dringendsten  Bediirfnissen  der  philosophischen  Wissen- 
schaft  gehort,  noch  deutlicher  hervortreten.  "Wir  nannten 
Verschmelzung  dasjenige  Verhaltnis  zweier  Inhalte,  speciell  Em- 
pfindungsinhalte,  wonach  sic  nicht  eine  blosse  Surame  sondern 
ein  Ganzes  bilden.  Die  Folge  dieses  Verhaltnisses  ist,  dass 
mit  hoheren  Stufen  desselben  der  Gesammteindruck  sich  unter 
sonst  gleichen  Umstanden  immer  mehr  dem  Einer  Empfindung 
nahert  und  immer  schwerer  analysirt  wird.  Auch  diese  Folgen 
konnen  zur  Definition  beniitzt  werden,  indem  wir  sagen:  Ver- 
schmelzung ist  dagjenige  Verhaltnis  zweier  Empfindungen,  in 
Folge  dessen  u.  s.  f.  Aber  auf  die  eine  wie  andere  Weise 
wiirde  die  Sache  fiir  Jemand,  dem  die  beziiglichen  Erscheinuugen 
und  zumal  die  Tonerscheinungen  fremd  waren,  ein  leerer  Be- 
griff  bleiben.  Was  es  in  Wirklichkeit  damit  auf  sich  hat,  dass 
Empfindungen  ein  Ganzes  bilden  und  sich  mehr  oder  weniger 
dem  Eindruck  Einer  Empfindung  nahern,  das  kann  man  doch 
zuletzt  nur  ausund  an  Beispielen  lernen. 


§  19.   Stnfen  der  Tonverschmelzung.  129 

Ich  bemerke  jedoch,  class  die  Unterordnung  des  Begriffes 
der  TonYerschmelzung  unter  jene  allgemeinere  Eigentiimlichkeit 
gleichzeitiger  gegeniiber  aufeinaiiderfolgenden  Empfindungeu, 
die  wir  a.  a.  0.  besprachen,  fiir  das  Folgende  nicht  unentbehr- 
lich  ist.  Die  Tonverscbmelzung  wird  fiir  uns  immer  mehr  ein 
selbstandiges,  von  den  Fragen  des  §  16  und  17  unabhaugiges, 
Interesse  gewinnen  und  wiirde  dijsselbe  auch  beansprucben, 
wenn  ein  abnliches  Verbaltnis  im  ganzen  Gebiet  der  Empfin- 
dungen  nicbt  weiter  vorkame.  Sie  ist  nicbts  weniger  als  eine 
zur  Losung  jener  Scbwierigkeiten  ausgesonnene.  Hypotbese:  sie 
ist  ein  sinnlicbes  Pbanomen,  welches  auch  beobachtet  worden 
ist,  ehe  nocb  jene  theoretischen  Scbwierigkeiten  in  den  Ge- 
sichtskreis  traten.  Es  geniigt  zur  Gewinnung  des  bier  not- 
wendigen  Begriffes  vollkommen,  die  Unterschiede  der  Fallo 
wahrzunebmen  und  wabrnehmend  gegeneinanderzubalten,  welcbe 
sicb  bereits  innerbalb  des  Xongebietes  finden  und  im  Folgenden 
naber  beschrieben  werden.  Man  muss  die  Tonverscbmelzungen 
boren  und  vergleicben;  ebenso  wie  man,  um  zu  wissen,  was 
ein  Ton  ist,  Tone  boren  und  vergleicben  muss. 

Vielleicht  ist  es  indessen  von  Nutzeu,  auch  nocb  ausdriick- 
licb  einige  Misverstandnisse  abzuwebren,  die  der  Name  „Ver- 
scbmelzung"  bervorrufen  konnte,  Er  gehort  ja  zu  den  psycbo- 
logiscben  Ausdriicken,  die  am  meisten  misbraucbt  worden  sind, 
an  die  sicb  die  unmoglicbsten  Vorstellungen  und  ganze  fictive 
Tbeorien  angekniipft  baben;  wesbalb  ich  ibn  auch  nur  mit 
Widerwillen,  in  Ermangeluug  eines  unverfanglicberen  und  eben- 
so Oder  besser  bezeichnenden,  gewiiblt  babe. 

Es  ist  also  vor  Allem  nicbt  gemeint,  dass  die  beiden  gleicb- 
zeitigen  Tone  erst  nacb  und  nacb,  wde  schnell  auch  immer,  zu  einer 
gewissen  Einbeit  im  Bewusstsein  zusammenwiichsen.  Verscbmel- 
zung  bedeutet  uns  bier  nicbt  einen  Process  sondern  ein  vorhandenes 
Verbaltnis.  Icb  wiirde  daber  lieber  „Schmelz"  oder  „Scbmalz" 
sagen,  wenn  dies  nicbt  auch  sein  Bedenkliches  batte.  Auch  Aus- 
driicke  wie  „auseinandertreten"  sind  in  diesem  Sinne  eines  fertigen 
Seins  zu  versteben,  wie  sie  ja  auch  bei  der  Bescbreibung  archi- 
tektoniscber  Formen  in  rubeudem  Sinn  gebraucht  werden. 

Stximpf,  Tonpsycliologie.    II.  9 


\^Q  §  19.   Stufen  der  Tonverschmelzung. 

Dass  die  Verscbmelzung  nicht  als  Entstehung  einer  dritten 
Tonqualitat  neben  den  beiden  oder  statt  ibrer  anzusoben  ist, 
bedarf  nacb  §  16  und  17  keiner  Ausfiibrung  mebr. 

Speciell  miissen  wir  ferner  die  tjbertragung  raumlicber 
Begriffe  ablebnen.  Der  Naturforscber  ist  gewobnt,  Alles  mit 
Hilfe  raumlicber  Aualogien  zu  denken,  und  aucb  Psycbologen, 
die  der  exacten  Naturforscbung  naber  treten  wollten,  wie 
Hebbart  und  Beneke,  benutzten  solcbe  in  ausgedebntester 
Weise  zu  ibren  psycbologiscben  Bescbreibungen  („Sinken  und 
Steigen,  tJberfliessen"  u.  s.  w.).  Von  jeder  derartigen  Analogie 
ist  bier  abzuseben,  aucb  wenn  Ausdriicke  gebraucbt  werden, 
die  dazu  verleiten  konnten.  Alles  im  Raum  Ausgedebnte  ist 
ausser  einander  oder  identiscb.  Aber  die  gleicbzeitigen  Tone 
bieten  uns  das  Beispiel  einer  Durcbdringung;  ja  einer  Durcb- 
dringung  niederen  und  boberen  Grades.  Der  Mangel  aller 
raumlicben  AnscbauHcbkeit  verscblagt  Nicbts.  Feblt  sie  docb 
scbon  bei  dem  Verbaltnis  von  Qualitat  und  Intensitat.  Bei 
den  psycbiscben  Zustanden  als  solcben  bort  sie  obnedies  auf 
(vgl.  I  100 — 104),  Den  Beobacbtungen  miissen  sicb  aucb  bier 
die  Begriffe  fiigen.  Nur  ein  Widersprucb  tragt  die  Unmoglicb- 
keit  von  vornberein  in  sicb.  Aber  dass  die  zwei  Tone  zugleicb 
Einer  waren,  wird  nicbt  bebauptet. 

tjberbaupt  diirften  die  Scbwierigkeiten,  die  man  im  Be- 
griffe der  Tonverscbmelzung,  wie  er  bier  gefasst  ist,  nocb  finden 
konnte  und  finden  wird,  von  abnUcber  Art  .und  Herkunft  seim 
wie  die  seit  alter  Zeit  gegen  den  Bewegungsbegriff  erbobenen. 
Und  wie  der  Pbysiker  sicb  diese  nacb  dem  Vorgang  des 
Diogenes,  der  aus  seinem  Fasse  tretend  umberspazierte,  mit 
einem  „Solvitur  ambulando"  vom  Halse  scbafft,  so  muss  bier 
in  gleicber  Weise  zunacbst  ein  „Solvitur  audiendo"  allem  Raison- 
nement  entgegengebalten  werden.  Dann  aber  wird  sicb  bier 
wie  dort  zeigen,  dass  die  Scbwierigkeiten  vermieden  werden, 
wenn  zuerst  die  Hereinmiscbung  beterogener  Begriffe  ver- 
mieden. wird. 

Endlicb  ist  zu  bemerkeu,  dass  der  Ausdruck  und  Begriff 
der  Verscbmelzung  bier  in  keinem,   weder  in  sacblicbem  nocb 


§  19.  Stufen  der  Tonverschmelzung.  131 

historischem,  Zusammenhang  steht  mit  Herbart's  allgemein- 
psychologischer  Lehre,  woriu  die  „Verschmelzung"  eiue  so  grosse 
Rolle  spielt;  welche  daher  Jeder,  der  Kenntnis  davon  hat, 
einstweileu  der  Klarheit  halber  seinen  Gedanken  fernezuhalten 
gebeteu  wird.  Im  folgenden  Paragraphen ,  wo  es  sich  una  die 
Ursacbe  und  Entstehung  der  Verschmelzung  handelt,  werden 
wir  darauf  eingehen  und  zeigen,  wie  wenig  Herbart's  Lehre 
iiber  Verschmelzung  iiberhaupt  und  iiber  Tonverschme-lzung  im 
Besonderen  das  Richtige  getroffen  hat. 

Nioht  viel  mehr  Beriihrungspuncte  hat  unsre  Tatsache  mit 
den  Vorstellungen,  die  unter  gleichem  Namen  in  der  neuesten 
Psychologie  vielfach,  und  meiner  Meinung  nach  jedesmal  mit 
der  Wirklichkeit  im  Widerspruch,  wieder  aufgebracht  wurden. 
An  einigen  derselben  wollen  wir  dies  in  Kiirze  darlegen,  um 
auch  so  das,  was  wir  meiueu,  durch  das,  was  wir  nicht  meinen 
zu  verdeutlichen. 

UolXa  (ilv  yaQ  ^Jytrai  jieqI  XQa^scog,  xal  dieSm'  avq- 
vvTOi  JcsQl  tov  jtQOxei(iivov  Oxtfffiarog  eloi  jtaQa  tolg  ^oyfia- 
Tixolg  atdoeig  —  konute   man  hier  mit   Sextus  Empiricus  sagen. 

WuNDT  erlautert  seinen  Verschmelzungsbegriff  durch  zwei 
Beispiele:  Verschmelzung  der  Obertone  im  Klange  und  der  Local- 
zeichen  in  der  Gesichts-  (auch  in  der  Tast-)  Empfindung  (Ph. 
Ps.  ^11  365.  Logik  I  11).  Im  ersten  Fall  spricht  er  von  inten- 
siver,  im  zweiten  von  exteusiver  Verschmelzung.  Er  meint  jedenfalls: 
Verschmelzung  des  Intensiven  —  des  (oder  zum)  Extensiven;  nicht 
als  ob  der  Vorgang  selbst  ein  verschiedener  ware.  Diesen  definirt 
er  dahin,  dass  „in  dem  Complex  der  miteinander  vereinigten  Em- 
pfindungeu  eine  einzige,  und  zwar  im  Allgemeinen  die  starkste,  die 
Herrschaft  iiber  alle  anderen  gewinnt,  sodass  diese  nur  noch  die 
Rolle  modificirender  Elemente.  iibernehmen,  deren  selbstandige 
Eigenschaften  in  dem  Verschmelzungsproduct  vollig  untergehen". 

Dass  nun  die  Localzeichen  in  der  Gesichtswahrnehmung  vollig 
untergehen  (vgl.  Ph.  Ps.  ,11  33,  190  f.  Log.  I  31),  wollen  wir  hier 
einmal  den  Freunden  dieser  Empfindungen  glauben;  sind  sie  ja  in 
der  Tat  nicht  zu  entdecken.  Aber  die  Obertone  konnen  wir  doch 
heraushoreu.     So  vollig  gehen  sie   also  jedenfalls   nicht   unter  wie 

9* 


132  §  19-  Stufen  der  Tonverschmelzung. 

jene.  Andererseits  was  soil  es  bei  den  Elementen  der  Gesi'chts- 
wahrnehmung  bedeuten,  dass  ein  eiuziges  die  Herrschaft  gewinne? 
Spielt  nicht  das  Formbewusstsein  eine  gleich  grosse  Rolle  wie  das 
Farbenbewusstsein  ? 

WuNDT  fiihrt  diese  angeblicbe  Verschmelzung  auf  eine  „ur- 
spriingliche  Eigenscbaft  des  Bewusstseins"  zuriick,  namlicb  auf  die 
„Eigenscbaft  der  Apperception,  sicb  auf  einen  bestiramten  eng  be- 
grenzten  Inhalt  des  Bewusstseins  zu  bescbranken".  Wenn  es  sicb 
um  weiter  Nicbts  handelte,  als  dass  beim  Fixiren  der  Nase  eines 
Gesicbtes  die  tibrigen  Telle  nur  als  Hintergrund  eine  Rolle  spielen, 
so  bediirfte  der  Verscbmelzungsbegriff  freilicb  nicbt  vieler  Worte. 
Aber  es  ware  scblimm,  wenn  die  ubrigeu  Telle  ibre  selbstandigen 
Eigenscbaften  vollig  einbiissten. 

„Bei  der  intensiven  Syntbese",  sagt  Wundt  (Log.  I  14),  „be- 
stimmt  lediglicb  die  Intensitat  der  Empfindung  dieses  berrschende 
Element   der  Vorstellung.     So  ist  in  einem  Klang  der  tiefste  Ton 

das  berrscbende  Element,  well  er  die  grosste  Intensitat  besitzt 

Dennooh  ist  dieses  Zurucktreten  der  subsidiaren  vor  den  berrscben- 
den  Elementen  der  Vorstellung  wabrscbeinlicb  scbon  bei  der  intensiven 
Syntbese  nicht  allein  aus  ihrer  geringeren  Intensitat  zu  erklaren." 

Dieses  „Nicbt  allein"  nacb  jenem  „Lediglicb"  bertihrt  bcsonders 
in  einem  Lebrbucb  der  Logik  seltsam.  Wundt  fabrt  erlauternd 
fort:  „Ein  Ton  .  .  .  gibt  gerade  dann  vorzugsweise  leicbt  seine 
Selbstandigkeit  auf,  wenn  er  der  barmonische  Oberton  zu  einem 
starker  erklingenden  Grundton  ist"  (also  docb  wieder  grossere  Inten- 
sitat!). „Dies  kann  nur  daraus  erklart  werden,  dass  gleicbzeitig 
unser  Bewusstsein  iiber  der  Auffassung  der  berrschenden  Elemente 
einer  Vorstellung  die  anderen  vernacblassigt."  Eine  nicbtssagende 
Erklarung,  denn  es  fragt  sicb  eben,  warum  und  wodurcb  gerade 
der  barmonische  Grundton  ausser  seiner  Starke  nocb  .„herrschend" 
werden  kann.  Wir  stossen  bier  auf  eine  gewisse  einsmachende 
Kraft,  die  nach  neueren  Ausserungen  Wundt's  dem  Ton  1  zukommen 
soil.  Dass  diese  Bebauptung  ganz  in  der  Luft  schwebt,  werden 
wir  §  23,  1,  d,  a)  zeigen. 

"Wundt  lebrt  aber  ausser  den  obigen  Verschmelzungen  oder 
Synthesen,    die   er  uaber  als    „associative"   bezeichnct,    nocb    eine 


§  19.  Stufen  der  Tonverschmelziing.  133 

„apperceptive"  (Ph.  Ps.  II  385.  Log.  I  31),  d.  b.  „die  Verbindung 
aufeinanderfolgender  Vorstelluugeu,  wenn  die  letztereu  iu  der  ueuen 
Vorstellung,  die  sie  bervorgebracbt  babeu,  nicbt  mebr  fortbestebeu". 
Wir  borten  zwar  eben,  dass  die  Apperception  aucb  an  der  associa- 
tiven  Verscbmelzung  Scbuld  ist,  uud  dass  'aucb  dort  die  Elemeute 
nicbt  fortbestebeu.  Trotzdem  sei  ein  grosser  Unterscbied.  „Der 
grosse  Unterscbied  bestebt  dariu,  dass  sicb  bei  der  apperceptiven 
Verscbmelzung  immer  mebr  oder  weniger  sicber  eiue  vorausgegangene  • 
Entwickelung  nacbweiseu  lasst,  wabrend  deren  eine  bewusste 
Unterscbeiduug  der  Elemeute  stattgefuuden  bat.  Dies  berubt  da- 
rauf,  dass  bier  immer  die  Verscbmelzung  aus  eiuer  Agglutination  siob 
allmalig  entwickelt".  Also  docb  nur  ein  „mebr  oder  weniger 
sicberer"  Unterscbied  in  der  Vorgescbicbte.  Wesen  wie  Ergebnis 
des  Vorgangs  wai'e  dasselbe:  Verscbwinden  der  Elemeute  im  Pro- 
duct. Sucben  wir  nun  bier  wieder  nacb  Beispieleu,  so  werdeu  fiir 
die  „Agglutination"  wie  fiir  die  daraus  fliessende  apperceptive 
Syntbese  Erscbeiuuugen  aus  der  Spracbgescbicbte  angefiibrt,  die  im 
besten  Fall  als  binkende  Vergleicbe  oder  als  Folgen,  keiuesfalls  als 
Beispiele  von  Vorstellungsprocessen  gelten  konnen. 

Im  „System  der  Pbilosopbie"  (1889)  S.  343  beisst  es:  „Jede 
Vorstellung  bringt  als  eine  neue  in  ibren  Elementeu  nocb  nicbt 
eutbaltene  Eigenscbaft  die  Form  der  Ordnung  der  letzteren 
binzu".  Diese  an  Kant  erinnernde  Wendung  des  Verscbmelzungs- 
begriffes,  weiterbin  aucb  nocb  die  Verkniipfung  mit  der  Teleologie 
tragen  nicbt  eben  zur  Klarung  bei,  und  die  angefiibrten  Bei- 
spiele sind  die  friiberen. 

Icb  verkenne  nicht,  dass  Einiges  von  dem  was  Wundt  sagt, 
sicb  cum  grano  salis  auf  die  Tonverscbmelzung  in  unsrem  Sinn  an- 
wenden  lasst.  Wie  sollte  aucb  unter  so  vielen  Bestimmungen  nicbt 
etwas  Hierbergeboriges  sicb  finden?  Aber  es  kommt  in  diesem 
Falle  mebr  als  irgendwo  gerade  darauf  an,  nicbt  aucb  iu  der 
Definition  der  Verscbmelzung  AUes  zu  verscbmelzen. 

Soviel  ist  klar,  dass  Wundt's  Verscbmelzungsbegriff,  soferu  er 
als  Finer  bezeicbnet  w^erden  kann,  in  den  wesentlicbsten  Puncten 
nicbt  bios  von  dem  unsrigen  abweicbt  sondern  aucb  nicbt  durcb 
ein  eiuziges  wirklicb  passendes  Beispiel  belegt  ist.    Auf  die  genetiscbe 


134  §  19.  Stiifen  der  Tonverschmelzixng. 

Seite  der  Lehre  korameu  wir  im  niichsten  Paragraphen  zurtick, 
freilich  nur  ura  auch  sie  ganzlich  haltlos  zu  finden.  — 

Lipps  betrachtet  (Grundtatsachen  des  Seeleulebens,  bes.  472f.) 
Verschraelzungen  als  allgemeine  notwendige  Folge  der  Begrenzt- 
heit  der  seelischen  Krafts  (doch  nach  474  nicht  als  Deuknotwendig- 
keit  sondern  nur  als  verstandliche  Tatsacbe).  Es  entstebe  ein 
iieuer  Bewusstseinsinbalt  als  Folge  der  Verscbmelzung  (475);  z.  B. 
gaben  mebrere  annahernd  gleicbe  Tasteindriicke  die  Empfindung 
des  Stumpfen.  Lipps'  eigentlicbe  Meinuug  ist  aber  nicbt  Ver- 
scbmelzung der  Bewusstseinsinhalte  als  solcber  sondern  der  un- 
bewussten  Erregungen,  In's  Bewusstsein  tritt  sogleicb  das  ein- 
heitlicbe  Product  (also  tiberbaupt  nicbt  „Product".  Pdlemik  gegen 
die  iiltere  Fassung  44).  Massgebend  fiir  dessen  Bescbaffenheit  ist 
Starke  und  Qualitat  der  Elemente. 

Lipps  scheint  mir  in  den  Anwendungen  des  Begriffes  bestandig 
von  seiner  principiellen  Meiuung  abzuweichen.  So  sollen  auch  die 
Obertone  mit  dem  Grundtou  verscbmelzen.  Tone  sind  aber  docli 
Empfindungen,  nicht  bios  unbewusste  Erregungen.  Und  wir  konnen 
doch  die  Tone  im  Klange  auffinden,  wahrend  das  Verscbmelzungs- 
product  etwas  inbaltlich  Neues  sein  soil.  Dies  bringt  Natokp 
in  seiner  Recension  (Getting,  gelebrte  Anzeigen  1885,  212) 
zu  dem  Schmerzensruf:  „Man  mache  mir  doch  die  Verscbmelzung 
deutlich,  bei  der  das  Verschmolzene  uberdies  unverschmolzen  fort- 
existirt." 

Auch  B.  Erdmann  hat  diese  Zweideutigkeit  ebenso  wie  die 
WuNDT'schen  Unklarheiten  bemerkt  (Viertelj.  Scbr,  f.  wiss.  Phil.  X 
395  f.).  Ihm  selbst  ist  Verscbmelzung  lediglicb  das  „Ineinander- 
Aufgehen  des  durch  den  neuen  Reiz  Bedingten  mit  der  erregten 
Disposition  der  friiheren  Vorstellung,  sofern  der  neue  Reiz  dem 
friiheren  psychisch  gleichartig  ist."  Unter  dem  „durch  den  Reiz 
Bedingten"  miissen  wir  bier,  Avenn  nicht  die  gleicbe  Zweideutig- 
keit bleiben  soil,  einen  der  Empfindung  correspoudirenden  ausser 
dem  Bewusstsein  liegenden  Process  verstehen.  Und  „psychisch 
gleichartig"  muss  in  analoger  Weise  interpretirt  werden.  Mit  einer 
solchen  ausserhalb  des  Bewusstseins  stattfindenden  „Verschmelzung", 
die   nur  als  Erklarungsprincip   (fiir   das   Wiedererkennen)  postulirt 


§  19.  Stufen  der  Tonverschmelzung,  135 

wird,  haben  wir  hier  aber  nichts  zu  tliun.     Der  Begriff  hat  nicht 
ein  einziges  Merkmal  mit  dem  unsrigen  gemeinsam. 

Lipps  spricht  tibrigens  den  Toneu,  ohne  Zusammenhang  mit 
seiner  Verschmelzungslebre,  audi  eine  „Freundschaft  und  Feindschaft, 
Zuneigung  und  Abneigung"  zu  (251,  259  £),  welche  mit  dem 
Schwingungsverhaltnis  zusammenhange,  aber  nicht  an  sich  wahr- 
nehmbar  sei  sondern  nur  in  ihren  Wirkungen,  dem  Harmonic-  und 
Disharmoniegefiihl.  Diese  eigentiimlichen  Ausdriicke  hat  er  in- 
dessen  alsbald  selbst  aufgegeben  und  in  den  „Psychol.Studien"  (1885) 
nur  von  der  unbewussten  Empfindung  der  Schwingungsrhythmen  als 
Grund  des  Harmoniegefiihls  gesprochen. 
2.  Die  Versclimelzungsstufen. 

Halten  wir  uns  zunachst  in  einem  Tongebiet,  welches  durch 
das  Schwingungsverhaltnis  1  i  2  abgegrenzt  ist,  so  bemerke  icli 
folgeude  Stufen  der  Verschmelzung  verschiedener  Tiine,  von  der 
starksten  bis  zur  schwachsten  Stufe. 

Erstens*  die  Verschmelzung  der  Octave  (1:2). 
Zweitens  die  der  Quinte  (2:3). 
Drittens  die  der  Quarte  (3:4). 

Viertens    die  der    sog.  natiirlichen  Terzen   und  Sexten 
(4:5,  5:6,  3:5,  5:8),  zwischen  welchen  ich  in  dieser 
.  Hinsicht  keine  deutlichen  Unterschiede  finde. 
Fiinftens    die    aller    iibrigen    musikalischen    und    nicht- 
musikalischen  Toncombinationen,  welche,  fiir  mein  Ge- 
hor  wenigstens,  untereinander  keine  deutlichen  Unter- 
schiede der  Verschmelzung,  vielmehr  alle  den  geringsten 
Grad  derselben   darbieten.     Hochstens  die  sogenannte 
natiirliche  Septime  (4:7)  konnte  noch  um  etwas  mehr 
als  die  anderen  verschmelzen. 
Wenn  wir  bier  die  modernen  Intervallnamen  und  den  all- 
gemeinen  Ausdruck  „Intervall"  selbst  gebrauchen,  so  geschieht 
es  noch  nicht  in  irgend  einer  musikalischen  Bedeutuug,  sondern 
nur  um  einen  bekannten  und   kurzen  Ausdruck  fiir  die  beziig- 
lichen  Zahlenverhaltnisse  der  Schwingungen  zu  haben. 

Indem  wir  von'  „Stufen"  der  Verschmelzung  reden,  wollen 
wir  andeuten,  dass  es  sich  um  Gradunterschiede  handelt,  die 


136  §  19.   Stufen  der  Tonverschmelzung. 

doch  uicht  stetig  vom  hochsten  bis  zum  niedrigsteii  Grade  in- 
einander  iibergelien.  Weiterhin  bedieneu  wir  uns  aber  auch  des 
allgemeinen  Ausdruckes  „Yerscbnielzungsgrade". 

3.  Gesetze  der  Verschmelzung. 

Die  Abbangigkeit  der  Verscbmelzuugsstufen  von  den  ge- 
nannten  Scbwingungsverbiiltnissen  ist  das  Hauptgesetz  der  Tou- 
verscbmelzung.     Ibm  zur  Seite  steben  folgende: 

a)  Der  Verscbmelzungsgrad  ist  unabbangig  von  der  Ton- 
region.  In  der  tiefsten  Lage,  wo  die  Analyse  auf  Scbwierig- 
keiten  stosst,  wird  natiirlicb  aucb  die  Erkennung  und  Yer- 
gleicbung  des  Verscbmelzungsgrades  scbwierig  und  unmoglich. 
Aber  wo  sie  moglicb  ist,  finden  wir  bei  Veranderung  der 
Tonlage  die  Yerscbnielzung  ungeanden-t,  solange  nur  das 
Schwingungsverbaltnis  beider  Tong  dasselbe  bleibt. 

Nur  in  der  allerbocbsten  Region,  etwa  von  4000  Schwing- 
ungen  d.  i.  von  der  fUnfgestricbenen  Octave  an,  scbeinen  mir, 
soweit  icb  bis  jetzt  darauf  geacbtet  babe,  die  Verscbmelzungs- 
unterscbiede  binwegzufallen.  Bei  den  Gabehi  2000 :  3000  linde 
icb  nocb  ganz  deutlicb  die  Quintenverscbmelzung,  wabrend  icb 
bei  3000 :  5000,  5000  :  10  000  u.  s.  f.  ubcrall  nur  den  geringsten 
Yerscbmelzungsgrad  finden  kann. 

b)  Der  Yerscbmelzungsgrad  ist  aucb  unabbangig  von  der 
Starke,  und  zwar  sowol  von  der  absoluten  als  relativen  Starke. 
Dass  er  durcb  blosse  Yeranderung  der  absoluten  Starke  beider 
Tone  nicbt  geandert  wird,  ist  sofort  klar.  Bei  Yeranderung 
der  relativen  Starke  ist  wieder  zu  beachten,  dass  zuletzt  bei 
grosser  Starkeverscbiedenbeit  die  Analyse  unmoglicb  wird,  in- 
dem  der  scbwacbere  durcb  den  stiirkeren  Ton  fiir  die  Wabr- 
nebmung  oder  selbst  fiir  die  Empfindung  unterdriickt  wird.  Aber 
solange  sie  unterscbeidbar  bleiben,  kann  icb  eine  Yeranderung 
des  Yerscbmelzungsgrad es  nicbt  bemerken  Beispielsweise  wenn 
icb  c  und  g  zuerst  gleicbstark,  dann  c  merklicb  starker  als  g 
(oder  umgekebrt)  angebe. 

c)  Durcb  Hinzufiigung  eines  beliebigen  dritten  und 
weiteren  Tones  wird  der  Yerscbmelzungsgrad  zweier  ge- 
gebener  Tone  in   keiner  Weise   beeinflusst.     Wol  wird  ein  Zu- 


§  19.  Stufen  der  Touverschmelzung.  137 

sammenklang  um  so  weniger  leiclit  analysirt,  je  mehr  Tone  da- 
rin  enthalten  sind,  und  wird  zuletzt  ganz  verworren  und  un- 
analysirbar.  Solange  aber  zwei  Tone  in  eiuem  Mehrklaug 
iiberhaupt  unterscheidbar  sind,  wird  auch  ihre  Verscbmelzung 
als  die  namliche  erkannt,  wie  wenn  diese  beiden  allein  zu- 
sammenklingen. 

In  diesem  Satz  zusammen  mit  b)  ist  auch  ausgesprochen, 
dass  speciell  die  Obertone  und  damit  die  Klangfarbe  nichts 
an  dem  Verhalten  zweier  Grundtone  andern,  und  dass  man  den- 
selben  Verscbmelzungsgrad  an  zwei  Tonen  wabrnimn4,  wenn 
sie  als  einfacbe  und  wenn  sie  als  Grundtone  von  Klangen 
gegeben  werden;  wie  dies  auch  directe  Beobachtung   bestatigt. 

d)  Wie  iiberhaupt  Reizanderungen  unter  einer  gewissen 
Grosse  keine  wahrnehmbaren  Empiindungsanderungen  verur- 
sachen,  so  erzeugen  auch  sehr  kleine  Abweichungen  der 
Schwingungszahlen  von  den  oben  angegebenen  Verhaltnissen  noch 
keine  merkliche  Veranderung  des  Verschmelzungsgrades.  Wird 
die  Abweichung  vergrossert,  so  geht  die  Verschmelzung  bei  alien 
Tonpaaren,  die  nicht  schon  der  niedrigsten  Verschmelzungsstufe 
angehoreu,  in  diese  Stufe  iiber,  ohne  die  etwaigen  Zwischenstufen 
zu  durchlaufen.  Und  dieser  Ubergang  erfolgt  um  so  rascher  (bei 
um  so  kleineren  relativen  Schwingungsuuterschieden),  je  grosser 
die  anfangliche  Verschmelzung  war. 

Wir  sagen  bei  kleinen  aber  merklichen  Abweichungen  be- 
kanntlich,  das  Intervall  sei  „Yerstimmt",  „uurein".  Diese  Aus- 
sage  besitzt  also,  wie  hier  vorgreifend  bemerkt  sei,  nicht  bios 
eine  Beziehung  auf  das  unangenehme  Gefiihl,  das  erst  die  Folge 
der  Wahrnehmung  ist,  sondern  vor  Allem  auf  ein  tatsachliches 
und  auch  wahrgenommenes  Verhalten  der  Empfindungen. 

Hinsichtlich  der  Grosse  der  Abweichung,  bei  welcher  die 
Veranderung  des  Verschmelzungsgrades  merklich  wird,  macht 
ausser  anderen  Umstandeu  (Tonregion  u.  s.  w.)  die  Ubung  einen 
•  Unterschied.  Aber  dies  bildet  keinen  Einwand  gegen  die 
Definition  des  Verschmelzungsgrades  als  Empfindungstatsache. 
Wie  eine  Empfindung  selbst,  so  kann  sich  auch  das  Verhaltnis 
zweier  Empfindungen  andern,  ohne  dass  die  Anderung  sogleich 


138  §  19-  Stufen  der  Tonverschmelzung. 

bemerkt  wird,  und  diese  kann  dem  einen  Individuum  merklicli 
seiii,  wahrend  sie  bei  gleichem  Stand  der  Empfiudungen  (nicht 
bios  der  Reize)  dem  anderen  noch  unmerklich  ist. 

e)  Die  Verscbmelzung  bleibt  und  behalt  ihren  Grad,  wenn 
beide  Tone  nicbt  demselben  Ohr,  sondern  der  eine  aus- 
scbliesslicb  dem  recbten,  der  andere  ausscbliesslicb  dem  linken 
Obr  geboten  wird.  Eine  nicbt  zu  stark  toneude  Stimmgabel 
mittlerer  Hohe,  vor  ein  Obr  gebalten,  wird  vom  anderen  nicbt 
vernommen,  wie  man  daran  erkennt,  dass  bei  Verstopfung  des 
ersten  Obres  Nicbts  gebort  wird.  Verteilt  man  nmi  zwei  solcbe 
Gabeln,  die  z.  B.  eine  Quinte  mit  einander  bilden,  an  beide 
Obren,  so  zeigt  sich  kein  Unterscbied  in  der  Verscbmelzung 
gegeniiber  der  Perception  durcb  ein  und  dasselbe  Obr^).  Da- 
gegen  kann  die  Analyse  durcb  dieses  Verfabren  erleicbtert 
werden  (vgl.  §  23,  1  f)  und  §  24,  a). 

f)  Die  Verscbmelzung  bleibt  aucb  in  der  blossen  Pban- 
tasievorstellung  erbalten.  Wenn  icb  mircund  ^r  als  gleicb- 
zeitig  erklingend  bios  vorstelle,  so  kann  icb  sie  nur  ver- 
scbmelzend  und  zwar  mit  dem  bestimmten  Verscbmelzungsgrade 


*)  Es  ist  hier  vorausgesetzt,  dass  der  Unterschied  beider  Ohren  hin- 
sicMlich  der  Tonhohe,  von  welchem  I  234—5  die  Rede  war,  nicht  grosser 
ist  als  die  unter  d)  erwahnten  Abweichungen.  Ist  er  grosser  (wie  in  den 
Fallen  des  „Doppelth6rens"  I  266  f.),  so  muss  die  Gabel  vor  dem 
hoher  horenden  Ohre  durch  Ankleben  von  Wachs  bis  zu  derjenigen  Ton- 
hohe vertieft  werden,  welche  sie  fiir  die  Empfindung  haben  wiirde,  wenn 
sie  vor  dem  anderen  Ohr  erklange. 

Es  trifft  insofern  fiir  das  ungleichseitige  Horen  nicht  genau  zu,  dass 
die  hoheren  Verscbmelzungsgrade  sich  bei  den  einfachsten  Schwingungs- 
verhaltnissen  finden.  Im  genaunten  Falle  finden  sie  sich  vielmehr  bei 
Schwingungsverhaltnissen,  welche  um  einen  Betrag,  der  der  Hohen- 
Differenz  der  Ohren  entspricht,  von  den  einfachsten  abweichen.  Aber 
die  besondere  Erwahnung  des  abnormen  Ausnahmefalles  bei  jeder 
Erwahnung  der  allgemeinen  Tatsache  ware  nutzlose  Pedanterie;  es  ge- 
niigt,  hier  voriibergehend  davon  gesprochen  zu  haben. 

Es  geht  daraus  hervor,  was  jedoch  ohnedies  selbstverstandlich  ist, 
dass  die  Abhangigkeit  der  Verschmelzungsstufen  von  den  Schwingungs- 
verhaltnissen keine  unmittelbare  sein  kann.  Liegen  ja  doch  mindestens 
physiologische  Processe  in  der  Mitte. 


§  19.  Stufen  der  Tonverschmelzung.  139 

vorstellen,  den  sie  beim  wirklichen  Horeu  besitzen.  Ebeuso 
beliebige  zwei  aiidere  Tone.  A  priori  ist  dies  nicht  notwendig 
zii  erwarten,  aucb  wenn  man  Empfindungen  und  Phantasievor- 
stellungen  im  Allgemeinen  als  gleichartig  anerkennt.  Nicht 
alle  Eigentiiralichkeiten  gleichzeitiger  Empfindungen  gehen  auf 
die  Phantasievorstellung  mit  Notweudigkeit  iiber:  c  und  cis 
machen  beim  wirklichen  Horen  (auf  gleicher  Seite)  notwendig 
Schwebungen,  in  der  Phantasie  kann  ich  sie  vollkommen  ohne 
Schwebungen  vorstellen.  Und  wenn  ich  sie  schwebend  vor- 
stelle,  so  kann  ich  sie  mit  langsamen  oder  schnellen,  starken 
oder  schwachen  Schwebungen  vorstellen;  wahrend  die  Wahl  des 
Verschmelzungsgrades  mir  nicht  frei  steht. 

Beziiglich  der  Phantasie-(Gedachtnis-)Vorstellungen  miissen 
wir  hiernach  das  Hauptgesetz  so  erganzen:  Als  gleichzeitig  vor- 
gestellte  Tone  verschmelzen  in  dem  Grade,  welcher  dem 
Schwingungsverhaltnis  objectiv  erzeugter  Tone  von  gleicher  Hohe 
entspricht. 

g)  Wenn  wir  iiber  eine  Octave  hinausgehen,  so  kehren 
dieselben  Verschmelzungsgrade  bei  den  um  eine  oder  mehrere 
Octaven  erweiterten  Schwingungsverhaltnissen  wieder.  Die 
Nonen  haben  dieselbe  Verschmelzung  wie  die  Secunden,  die 
Decimen  wie  die  Terzen,  die  Doppeloctave  und  Tripeloctave 
wie  die  Octave,  und  iiberhaupt  m :  n  •  2^  dieselbe  wie  m :  n,  wenn 
m<ln  und  x  eine  (kleine)  ganze  Zahl. 

Man  muss  sich  auch  hier  nicht  durch  die  grossere  Leichtig- 
keit  der  Analyse  irre  "machen  lassen.  C  und  c^  zusammen- 
klingend  werden  von  Ungeiibten  leichter  und  sicherer  analy- 
sirt  als  C  und  c,  ja  sogar  als  C  und  G,  obgleich  diese 
beiden  Tone  weniger  mit  einander  verschmelzen  als  jene.  Die 
Analyse  hangt  eben  noch  von  anderen  Bedingungen  ab;  sie  ist 
namentlich  in  der  Tiefe  besonders  schwierig;  sie  wird  ferner 
erleichtert  durch  wachsenden  Hohenunterschied  beider  Tone. 
Wenn  aber  in  beiden  Fallen  Analyse  stattfindet,  so  wird  man 
auch  weiter  find  en,  dass  C  und  c^  doch  weniger  vollkommen 
im  Sinneseindruck  auseinandertreten  als  C  und  G  und  nicht 
vollkommener  als  C  und  c. 


140  §  19-  Stufen  der  Tonverschmelzung. 

Vergleiche  ich  die  Gabelklauge  CG  mit  Cg,  CA  mit  Ca 
u.  s.  f.,  so  ist  es  mir  klar,  dass  die  Uutersclieidung  der  je- 
wciligeii  zweiten  Combination  imnier  leichter,  aber  die  Ver- 
sclimelzuug  dieselbe  ist  wie  bei  der  ersten. 

Streiche  ich  auf  der  Violine  zur  (Z^-Saite  die  Octave  d^, 
dann  die  Doppeloctave  fP  (auf  der  a^-Saite),  so  babe  ich  in 
beiden  Fallen  den  gleichen  Eiudruck  von  Einbeitlicbkeit,  von 
Annaberimg  an  wirklicbe  Toneinbeit.  Zur  Contrastii'ung  kann 
man  jedesmal  das  bezUglicbe  b  weiter  mit  der  freien  e'^-Saitezu- 
sammen  anstreichen:  der  Unterscbied  der  Verscbmelzuug  ist 
jedesmal  derselbe,  der  des  bocbsten  und  geringsten  Grades. 

Gibt  ein  Orcbester  die  sammtlicben  7  Octaventone  vom 
C  bis  zum  c^  an,  so  bezeicbnen  wir  den  Eindruck  nocb  als 
„Unisono".  Die  sieben  Tone  sind  einbeitlicber,  als  die  zwei  Tone 
c  und  a  oder  gar  c  und  h.  Man  kann  bier  nicbt  etwa  an- 
nebmen,  dass  nur  immer  zwei  benacbbarte  Glieder  der  Reihe 
mit  eiuander  verschmolzen,  C  mit  c,  c  mit  c^  u.  s.  f.,  und  die 
weiter  entfernten  nur  durcb  die  mittleren:  denn  wenn  C  und  c^ 
fiir  sich  allein  weniger  verscbmolzen  als  G  und  c  oder  gar  c 
und  g,  so  konnte  dies  durcb  die  dazwiscbeu  gescHobenen  Octaven 
gemass  c)  nicbt  geandert  werden. 

Es  lassen  sicb  iibrigens  aucb  alle  in  den  vorbergebenden 
Satzen  ausgesprocbenen  besonderen  Gesetze  an  den  erweiterten 
Intervallen  selbst  direct  beobacbten.  Z.  B.  das  unter  b)  aus- 
gesprocbene,  dessen  Anerkennuug  vielleicbt  bei  Vielen  auf 
Scbwierigkeiten  stosst.  Man  gebe  auf  dem  Clavier  zuerst  c 
allein  an  und  beobacbte  den  Oberton  g'^  (die  Duodecime),  den 
man  deutlicb  mitkliugen  bort,  in  Hinsicbt  seiner  Verscbmelzung 
mit  dem  Grundton.  Nun  scblage  man  g"^  dazu  an,  wodurcb 
also  dieser  Ton  bedeutend  verstarkt  wird:  die  Verscbmelzung 
mit  c  bleibt  ungeandert.  Also  aucb  bei  Intervallen  jenseits  einer 
Octave  ist  die  Verscbmelzung  vom  Starkeverbaltnis  unabbangig. 

4.  Massregeln  bei  der  Beobacbtung. 
Die  in  Tonurteilen  Geiibten  mogen  priifen,  -ob  das  Vor- 
anstebende  ibren  eigenen  Wahrnebmungen   entspricbt.    Wo  es 


§  19.  Stufen  der  Tonverschmelzung.  141 

sich  um  Verhaltnisse  handelt,  die  im  Empfindungsmaterial 
selbst  griinden,  da  lasst  sich  ja  nicht  fiircliten,  dass  grossere 
individuelle  Unterschiede  bei  Normalhoreiiden  bestehen,  viel- 
mehr  erwarten,  dass  die  Urteilsfahigen  iinter  ihnen  sich,  je 
langer  und  genauer  sie  priifen,  um  so  mohr  in  tJbereinstim- 
mung  finden  warden.  Ich  will  aber  keineswegs  den  Anspruch 
erheben,  in  jedem  der  genannten  Puncte  das  Kichtige  gefunden 
und  in  ganz  correcter  Weise  ausgesprochen  zu.haben. 

Notwendig  wird  es  bei  diesen  Beobacbtungen  vor  Allem 
sein,  die  Aufmerksamkeit  ausschliesslicb  auf  den  Fragepunct 
zu  richten,  also  namentlich  abzusehen  von  tbeoretischen  Kennt- 
nissen  iiber  Verwandtschaft  u.  dgl.,  sowie  von  der  musikalischen 
Bedeutung  und  Stellung  und  von  dem  harmonischen  oder  dis- 
harmonischen ,  angenelimen  oder  unangenehmen  und  wiederum 
in  verscbiedener  Weise  angenehmen  oder  unangenehmen  Ge- 
fiihlseindruck  eines  Intervalls.  Der  Charakter  und  Gefiihls- 
wert  eines  Intervalls  hangt  zwar,  wie  wir  spater  zeigen  werden, 
mit  seinem  Verschmelzungsgrad  zusammen,  aber  doch  nicht 
bios  mit  diesem.  Das  angenehmste  Intervall  ist  nicht  das 
starkstverschmelzende.  Die  grosse  Septimo  ist  im  isolirten  Zu- 
stand  unangenehmer  als  die  kleine;  dies  darf  nicht  mit  ge- 
i-ingerer  Verschmelzung  verwechselt  oder  darauf  gedeutet  werden, 
es  hat  andere  Griinde.  Ahnliches  gilt  von  grosser  und  kleiner 
Terz  u.  s.  f. 

Im  Allgemeinen  wird  es  auch  gut  sein,  zunachst  Tone  von 
gleicher  Empfindungsstarke  zu  nehmen,  woil  dann  die  Gefahr 
am  besten  vermieden  wird,  dass  der  eine  derselben  iiberhaupt 
unwahrnehmbar  oder  undeutlich  bleibe.  (Um  bei  grossen  Ton- 
distanzen  gleiche  Empfindungsstarke  herzustellen,  muss  man 
ofters  —  je  nach  dem  Instrument  —  den  hoheren  Ton  mit 
geringerer  physikalischer  Kraft  angeben.)  Ferner  ist  natiirhch 
moglichste  Gleichheit  in  Ansatz  und  Dauer  der  Tone  vorteil- 
haft,  da  Unebenheiten  jeder  Art  die  Aufmerksamkeit  ablenken. 
Ebenso  gleiche  Klangfarbe,  obschon  dieselbe  auf  die  Ver- 
schmelzung der  Grundtone  von  keinem  Einfluss  ist.  Reinheit 
des  Intervalls  d.  h.  genaue  tlbereinstimmung    mit    den    beziig- 


142  §  19-  Stufen  der  Tonverschmelzung. 

lichen  Schwingungszahlen  ist  um  so  mehr  erforderlich,  je  feiner 
das  Gehor;  obgleich  minimale  Abweichungen,  die  ja  niemals 
zu  vermeiden  sind,  nacli  dem  Obigen  der  Verschmelzung 
namentlich  bei  den  niederen  Graden  keinen  erheblichen  Ein- 
trag  tun.  Das  Clavier  mit  seiner  temperirten  Stimmung  lasst 
die  Unterschiede  der  hoheren  Stufen  immerbin  bervortreten 
(die  Octave  ist  ja  aucb  bier  rein);  nicbt  aber  den  zwiscben 
den  zwei  letzten  Stufen.    Es  ist  ja  bier  c  dis=c  es  und  c  gis=c  as. 

Aber  dies  Alles  sind  Massnahmen  von  der  Art,  wie  sie 
sicb  fUr  jede  Beobacbtung  von  selbst  versteben.  Keine  Rede 
davon,  dass  das  Pbanomen  nur  unter  besonders  ausgesucbten 
Umstanden  iiberbaupt  merkbar  wiirde.  Es  ist  vielmebr  an  sicb 
eines  der  offenliegendsten  und  sozusagen  unvermeidlicbsten  im 
gesammten  Tongebiet.  Die  ganze  Aufgabe  bestebt  nur  darin, 
es  nicbt  mit  anderen,  die  sicb  erst  darauf  griinden,  uament- 
licb  mit  Urteils-  und  Gefiihlstatsacben  (Moglicbkeit  und  Un- 
moglicbkeit  der  Analyse,  Annebmlicbkeit  und  Unannebmlicb- 
keit  eines  Intervalls)  zu  verwecbseln. 

5.  Bestatigung  durcb  Unmusikaliscbe. 

Zur  Controle  des  eigenen  Urteils  babe  icb  jedoch  nocb 
einen  anderen  Weg  eingescblagen.  So  wie  die  Frage  bier  ge- 
stellt  ist,  kann  sie  nur  .an  Solcbe  gerichtet  werden,  die  mit 
Tonbeobacbtungen  hinreicbend  vertraut  sind,  um  Quinten  und 
Octaven  nocb  leicbt  und  sofort  zu  analysiren.  Bei  Solcben 
liegt  nur  eben  die  zuletzt  genannte  und  vorber  mebrfacb  be- 
riibrte  Scbwierigkeit  vor,  das  dominirende  Bewusstsein  des 
harmoniscben  Cbarakters  und  Gefiiblswertes  der  Intervalle. 
Nun  konnen  wir  aber  von  Unmusikaliscben  und  in  Tonurteilen 
Ungeiibten  auf  einem  indirecten  .Wege  Aufscbluss  erbalten: 
gerade  durcb  Benutzung  der  erwabnten  Scbwierigkeit  der 
Analyse.  Die  verschiedenen  Verscbmelzuugsgrade  miissen  sicb 
in  ebenso  verscbiedenen  Graden  der  Scbwierigkeit  der  Analyse 
kundgeben,  weun  alle  iibrigen  Umstande,  von  denen  die  letztere 
abbangt,  moglicbst  gleicb  genommen  werden.  An  den  Folgen 
werden  wir  sie  erkennen.  Auf  diesem  Wege  konnen  wir  sogar 
Zablen  erbalten,  durcb  Zablung  der  ricbtigen  und  falscben 


§  19.  Stufeii  (ler  Tonverschmelzung.  143 

Urteile  iiber  dieFrage,  obEinoder  mehrereTone  vorliegen, 
bei  jedem  Intervall.  Die  starker*  verschmelzenden  Toncom- 
binationen  werdeu  unter  sonst  gleichen  Umstanden  seltener 
als  zwei  Tone  beurteilt  werden  als  die  weniger  stark  ver- 
schmelzenden. 

Versuche  unter  dieser  Fragestellung  macbte  icli  in  WUrz- 
burg  zu  einer  Zeit,  da  ich  nocli  niclit  an  Verschmelzung  dacbte, 
um  mir  ein  Bild  von  der  Unterscheidungsfahigkeit  Unmijsikalisclier 
fUr  Zusammenklange  zu  verschaffen.  Zu  Vorversuchen  (am 
Clavier)  dienten*  mir  Dr.  K.,  Fraulein  C.  und  Privatier  W. 
(dieselben  Personeu  wie  I  314),  Bei  dem  Ersten  zeigte  sich 
auch  diesmal  ein  Einfluss  der  Obertone,  auf  welche  er  durch  seine 
physikalischen  Studien  schon  friiher  moclite  aufmerksam  ge- 
worden  sein.  Er  erklarte  darum  schon  die  einzelnen  Klange 
von  Oi  bis  G^  fiir  zwei  Tone.  Doch  zeigte  sich  ein  Unter- 
schied  unter  den  Obertonen  selbst,  sofern  er,  zur  Angabe  der- 
selbeu  aufgefordert,  niemals  die  Octave,  den  ersten  und  starksteu 
Oberton,  wol  aber  Quinteu,  Terzen,  Septimen  angab.  Herr  W. 
hielt  gleichzeitige  Octaven  in  alien  Tonregionen  fiir  Einen  Ton, 
selbst  weun  der  hohere  Ton  vorher  allein  angegeben  wurde; 
bei  anderen  Intervallen  war  sein  Urteil  im  Ganzen  richtig, 
doch,  wie  in  den  Versuchen  I  315,  augenscheinlich  von  der 
Starke  des  Klanges  beeinflusst.  Fraulein  C.  beurteilte  Octaven 
und  Quinten  in  der  tiefen  Region  fast  immer  als  Einen  Ton; 
im  Ubrigen  hatte  ich  bei  ihr  die  Intervalle  nicht  gesondert  auf- 
geschrieben  und  mehr  auf  die  Regionen  geachtet  (in  der  kleinen 
Octave  bestes  Ergebnis;  im  Ganzen  bei  vorwiegeuder  An- 
wendung  von  Octaven,  Quinten  und  Terzen  auf  62  Falle  37 
richtige). 

Ausgefiihrtere  Versuche  machte  ich  dann  ebenfalls  noch 
am  Clavier  mit  Privatier  S.  und  den  Studenten  B.,  Sch.  und  D. 
Die  musikalische  Anamnese  der  beiden  Ersteren  s.  I  314.  Sch. 
behauptete,  die  Guitarre  stimmen  zu  konnen,  gab  die  Tone  des 
Duraccordes  singend  leicht  an,  brachte  aber  den  Mollaccord 
nicht  zuwege,  verwechselte  auch  beide,  wenn  sie  angegeben 
wurden,  sang  statt  der  verlangten  Secunde  die  Terz,  statt  der 


144  §  19-  Stufen  der  Tonverschmelzung. 

Octave  die  Quinte.  Theoretisch  wusste  er  Nichts.  D.  nannte 
sich  ein  klein  wenig  musikalisch,  behauptete  Zither  spielen  unci 
sogar  stimmen  zu  kounen,  gab  aber  singeiid  statt  der  Quarte 
eine  Terz,  statt  der  Secunde  ebenfalls  eine  Tcrz,  statt  einer 
Terz  die  Quarte,    Nur  die  Octave  traf  er  ricbtig. 

Dass  mehrere  Personen  zu  derartigeii  Versuchen  beigezogen 
wurden,  rechtfertigt  sich  auch  bier  durch  den  verwandten 
musikalisch  en  Zustand  dieser  Herren,  sofern  eben  keiner  das 
Pradicat  „musikalisch"  fiir  sich  in  Anspruch  nehmen  konnte. 
Factisch  zeigen  die  Tabellen,  worin  die  Urteile  eines  Jeden  notirt 
sind,  ein  ahnliches  Verhalten  des  Urteils  und  lassen  keine 
constanten  individuellen  Unterschiede  erkennen.  Nur  durch 
dieses  Verfahren  gelingt  es  bei  Versuchen  solcher  Art,  grossere 
Zahlenwerte  zu  gewinnen  ohne  Ermiidung  oder  sonstige  Neben- 
wirkungen  allzu  lange  fortgesetzter  oder  zu  haufig  wieder- 
holter  Versuche  am  Einzehien. 

Bei  den  verschiedenen  Intervallen  strebte  icli  auch  hier  nicht 
nach  gleicher  Anzahl  vou  Urteilen,  da  es  mir  zwecklos  schien,  bei- 
spielsweise  bei  Secunden,  uachdem  iu  42  Fallen  (bei  27  grossen, 
16  kleinen  Secunden)  keiu  eiuziges  falsches  Urteil  vorgekommen, 
die  Falle  uoch  waiter  zu  vermehren,  bis  die  absolute  Zahl  der- 
jenigen  der  Quinten-Urteile  gleichkame.  Ich  setzte  tiberall  die 
Versuche  so  lange  fort,  bis  mir  eine  im  Verhaltnis  zum  Grade  der 
Urteilsschwankungen  geniigende  Gesammtzahl  vorhauden  schien. 
Im  tJbrigen  batten  freiUch  die  absoluten  Zahlen  doch  regelmassiger, 
auch  grosser  sein  mussen,  um  den  Augen  des  modernen  psycho- 
physischen  Technikers  zu  gefallen.  Ich  babe  die  Studie  damals 
auch  nur  zu  meiner  privaten  Belehrung  beilaufig  und  ohne  den 
Gedanken  einer  Veroffentlichung  vorgenommen.  Jetzt  wollte  ich 
sie  doch  nicht  gauz  unerwahnt  lassen,  nachdem  trotz  ihrer  Mangel 
ein  deutliches  Ergebnis  fiir  die  gegenwartige  Frage  daraus  zu 
resultiren  schciut  und  dasselbe  durch  spatere  geuauere  Versuche 
bestatigt  wurde. 

In  folgender  tJbersicht  der  Ergebnisse  bezeichnen  T,  M,  H 
tiefe,  mittlere,  hobe  Region,  n  die  Zahl  der  Urteile,  r  die  der 
richtigen. 


Secunden 

M 

Terzen 

T 

M 

H 

Quinten 

T 

M 

H 

Octaven 

T 

M 

H 

r 

7or 

42 

100 

21 

100 

111 

96 

28 

90 

37 

70 

102 

81 

23 

79 

18 

38 

6 

11 

12 

27 

§  19.   Stufen  der  Tonverschmelzimg.  145 

n 

42 

21 
116 

31 

53 
126 

29 

47 

55 

45 

Vergleichen   wir  die  Intervalle    nur  in  der  Mitte,  so   ergeben 
sich  hienach  als  Procentzahlen  der  richtigen  Urteile  fiir  die 
Secunden  100     Terzen  96       Quinte  81     Octave  11. 
Vergleichen  wir  sie  in  der  Tiefe,  so  kommen  fiir  die 

Terzen  100     Quinte  70     Octave  38. 
Vergleichen  wir  sie  in  der  Hohe,  so  liefern 

Terzen  90       Quinte  79     Octave  27. 

Weun  wir  die  richtigen  Urteile  fiir  je  ein  Intervall  in 
alien  Regionen  zusammennehmen  und  in  Procente  der  sammt- 
lichen  Urteile  umrechnen,  so  erhalten  wir  fiir  die 

Secunden  100     Terzen  95     Quinte  78     Octave  24. 

Es  ergibt  sich  also  immer  im  Allgemeinen  derselbe  Gang 
der  Zahlen:  die  Procentzahl  der  richtigen  Urteile  nimmt  von 
den  Secunden  bez.  Terzen  bis  zu  den  Octaven  ab. 

6.  Fortsetzung  der  Versuche. 

Weitere  Versuche  in  dieser  Richtung  babe  ich  in  Prag  mit 
anderen  Personen,  diesmal  mit  Hinblick  auf  die  daraus  fiir  die 
Verschmelzungsunterschiede  zu  gewinnende  Erkenntnis,  ange- 
stellt  und  darum  ausser  den  bisherigen  Intervallen  noch  andere, 
zumal  die  Quarte,  beigezogen,  auch  statt  des  Claviers  die  Orgel 
beniitzt  und  ein  systematischeres  Verfahren  im  Ganzen  einge- 
halten.  Als  Subjecte  boten  sich  die  Herren:  Prof.  K.,  Stud.  L. 
und  Stud.  P.,  welche  drei  sich  bereits  bei  den  I  317  erwahnten 
Versuchen  als  vorzugsweise  unmusikalisch  erwiesen  batten; 
wahrend  der  etwas  weniger  amusische  Herr  B.  hier  unbeteiligt 

Stumpf.  Tonpsychologie.    11.  10 


146 


§  19.  Stufen  der  Tonverschmelzung. 


hlieb.  Drei  Versucbsreihen  wurden  gcmacht:  die  erste  (13.  I. 
1883)  mit  dem  sehr  mildeii,  obertonarmen  Register  ,,Hoblflote" 
in  der  eingestricbenen  Octave;  die  zweite  (16.  I.  83)  mit 
„Principal",  einera  bedentend  starkeren  und  obertonreicberen 
Register,  bei  welchem  naraentlicb  der  erste  Oberton  sebr  kraftig 
war,  in  derselben  Octave;  die  dritte  (20.  I.  83)  rait  demselben 
Register  in  der  zweigestricbenen  Octave.  Durcb  diese  Ver- 
iinderungen  sollte  besonders  ein  etwaiger  Einfluss  der  Ober- 
tone  (Klangfarbe)  ermittelt  werden.  Gewobnlicb  begann  ich 
mit  Secundenintervallen,  aucb  wol  Septimen,  gab  dann  Octaven, 
dann  Quinten  und  andere  Intervalle,  dann  wieder  Secunden 
und  Septimen,  docb  oline  irgend  eine  bindende  Regel,  ausser  dass 
nicbt  zu  oft  Ein  Intervall  wiederbolt  wurde.  Mit  den  Tonen 
fiir  ein  und  dasselbe  Intervall  wecbselte  icb  (wie  aucb  in  den 
friiheren  Versucben)  ab,  z.  B.  fiir  Quinten  bald  c'^g'^,  bald  a'^d^ 
(unter  Vermeidung  merklich  unreiner  Intervalle,  wie  sie  bei 
der  Orgel  leicht  vorkommen).  Aucb  diesesmal  legte  icb  von 
den  consonanten  Intervallen,  deren  Reibenfolge  in  Riicksicbt 
auf  den  Fragepunct  raicb  am  meisten  interessirte  und  inner- 
balb  deren  die  entscbeidendsten  Unterscbiede  zu  erwarten  wa- 
ren,  also  von  Octaven,  Quinten,  Quarten,  Terzen,  immer  eine 
grossere  Anzahl  vor,  behielt  also  insoweit  absichtlicb  das  friihere 
Verfabren  bei,  nur  war  jetzt  die  Anzabl  bei  jedem  dieser 
starker  verscbmelzenden  Intervalle  die  gleicbe. 

Die   folgenden   Tabellen    geben    die    Zablen    der   ricbtigen 
Urteile. 


I.  Reibe 

K. 

L. 

P. 

Summe 

Gr.  Secunde 
Tritonus 
Kl.  Septime 

12 

10 

8 

12 

8 

10 

12 
12 
12 

unter 
je  12 

36 

30     "^^'^" 

30|  J^  ^^ 

Gr.  Terz 

18 

18 

20' 

56 

Quarte 

19 

15 

19 

unter 

53     unter 

Quinte 

6 

4 

9 

je  20 

19 

je  60 

Octave 

5 

6 

4 

15 

§  10.  Stufen  der  Tonverschmelzung. 


147 


II.  ] 

ileihe. 

K. 

L. 

P.                Summe 

Gr.  Secunde 
Tritonus 
Kl.  Septime 

10 

9 
6 

8 
11 
11 

12] 

[   uiiter 

l,jjel2 

30 

,j.     unter 

28|  J^  ""^ 

Gr,  Terz 

15 

14 

16' 

45 

Quarte 

12 

12 

1 2  \   unter 

36|^  unter 

Quinte 

10 

8 

9 

je  20 

27 

je   60 

Octave 

5 

8 

4 

17 

III. 

Reihe. 

K. 

L. 

P. 

Summe 

'  Tritonus 

12 

18 

14  unter  je  25 

44  unter  75 

Gr.  Secunde 

11 

10 

111    unter 

32 1   unter 

Kl.  Septime 

8 

11 

10]  je   12 

29)  je  36 

Gr.  Terz 

13 

17 

15 

45' 

Quarte 

12 

20 

14     unter 

46 

unter 

Quinte 

11 

12 

12 

je  30 

35 

je  90 

Octave 

10 

4 

4 

18 

Beim  Tritonus  in  der  III.  Reihe  liat  ein  Versuchsfehler  statt- 
gefunden.  Ich  hatte  dieses  Intervall  hier  zuerst  uiclit  unter  die 
zu  untersuclienden  aufgenommen  und  braclite  es  dann  um  so  liiinfiger 
gegen  den  Schluss  der  Reihe  vor.  Hiebei  trat  Ermiidung  ein  (die 
Reihe  umfasste  169  Falle,  die  fruheren  nur  116),  die  sich  in 
Folge  jener  ungleiclimassigen  Verteilung  hauptsiichlich  fiir  den 
Tritonus  und  zwar  natlirlich  mit  der  Wirkung  des  Nichtunter- 
scheidens  (der  falschen  Urteile)  geltend  machen  musste.  Daher 
hier  die  auffallend  geringe  Zahl  der  richtigen  Urteile  gegentiber 
den  friiheren  Reihen.  Fiir  die  Discussion  muss  darum  diese 
Columne  (*)  ausser  Betracht  gelassen  werden. 

Die  drei  Individuen  weisen  zwar  in  den  einzelueu  Zahlen 
obiger  Haupttabellen  ofters  betriichtliche  Verschiedenheiten  auf; 
aber  es  lasst  sich  keine  irgend  constante  individuelle  Eigentiimlich- 
keit  des  Urteilens  daraus  entnehmen,  sodass  diese  Schwankungen 
denjenigen  gleichzuachten  sind,  welche  innerhalb  einer  Beobachtungs- 
reihe  bei   cinem    und   demselben  ludividuum   stattzufinden   pflegen, 

10* 


88 

unter  je  116 

75 

„       „    116 

66 

„       „  144 

148  §  19-   Stiifen  der  Tonverschmelziing. 

wo  ja  ebenfalls  oft  genug  beispielsweise  auf  das  erste  Dutzend  Ur- 
teile  4,  auf  das  zweite  7,  auf  das  dritte  2  richtige  entfallen  und 
erst  beim  Zusaramenrechnen  gewisse  Regelmassigkeiten  herausspringen; 
wie  wir  denn  aucb  bier  solcbe  alsbald  fiuden  werden.  Dass  die 
drei  Individuen  vergleichungsweise,  uamlicb  gegeniiber  musikaliscbeu 
Personen,  von  sehr  ahnlicher  Verfassung  untereinander  wareu, 
lehren  anschaulicb  die  Zablen  ibrer  ricbtigen  Urteile,  wenn  wir 
alle  Intervalle  zusammennebmen: 

K.         L.        P. 
I.  Reibe       78       73 
II.  Reibe       67       72 

III.  Reibe       65       74 .. 

Summe:  210  219  229  unter  je  376 
Musikaliscbe  batten  biebei  nur  ricbtige  Urteile  geliefert.  Man  ver- 
gleicbe  aucb  die  analogen  Ergebnisse  an  denselben  drei  Perso- 
nen bei  der  Fragestellung:  „welcber  Ton  ist  bober?"  I  320 — 1,  wo 
sogar  aucb  die  geriugen  individuellen  Unterscbiede  sicb  ziemlich 
ebenso  verteilen,  insofern  P.,  der  in  der  I.  Reibe  den  andereu  nocb 
erbeblicb  voraus  ist,  diesen  Vorrang  immer  mebr  einbiisst,  wabrend 
L.  zuerst  am  scblecbtesten,  zuletzt  am  besten  urteilt,  und  sicb 
iiberbaupt  die  Unterscbiede  mit  jeder  Reibe  mebr  ausgleicben. 

Wir  konnen  also  unbedenklicb  aucb  bier  die  Zablen  aller 
Individuen  zusammenrecbnen,  als  bandelte  es  sicb  um  Ein  Indi- 
viduum;  und  wenn  wir  zugleicb,  um  die  III.  Reibe  mit  den  ersten 
direct  vergleicbbar  zu  macben,  die  Summon  der  ricbtigen  Urteile 
in  Procenten  der  Gesammtzablen  ausdrucken,  so  ergibt  sicb  folgende 


Ub 

ersicht: 

I.  Reib> 

e 

II. 

Reibe 

III.  Reibe 

Mittel 

Gr.  Secunde 

100 

83 

89 

91 

Tritonus 

83 

86 

59* 

85 

KI.  Septime 

83 

78 

80 

81 

Gr.  Terz 

93 

75 

50 

70 

Quarto 

88 

60 

51 

64 

Quinte 

32 

44 

37 

38 

Octave 

25 

28 

20 

24 

§  19.  Stufen  der  Tonverschmelzung.  149 

Das  Mittel  ist  hier  nattirlich  nicht  aus  den  Procentzahlen  selbst 
gezogen,  sondern  aus  den  urspriiuglicheu  Zalileu  der  drei  Reihen, 
and  dann  erst  in  Procente  umgerechnet.  Beim  Tritoims  ist  wegen 
des  oben  beriihrten  Umstaudes  nur  das  Mittel  der  beideu  ersten 
Reihen  genommen. 

7.  Discussion  der  letzteren  Versuche. 

a)  Halteu  wir  uns  in  der  Untersuchung  dieser  Ergebnisse 
zunachst  an  diejenigen  Intervalle,  die  auch  in  den  Wiirzburger 
Versuchen unter  5.  vorkamen,  Secunde,  Terz,  Quinte,  Octave: 
so  stimmt,  wie  man  sieht,  die  Ordnung  derselben  in  Hinsicht 
der  richtigen  Falle  bei  den  Prager  Versuchen  vollstandig  mit 
der  damals  gefundenen  iiberein.  Sie  ist  die,  in  der  sie  soeben 
genannt  wurden.  Beidemale  entfallt  nicht  bios  im  Mittel, 
sondern  bei  alien  untersuchten  Individuen ,  in  jeder  einzelneu 
Versuchsreihe,  in  jeder  Tonregion  und  Klangfarbe  auf  die 
Octave  das  weitaus  grosste  Contingent  von  Tauschungen,  ein 
geringeres  auf  die  Quinte,  ein  wiederum  geringeres  auf  die 
Terz  und  ein  ganz  oder  nahezu  verschwindendes  auf  die  Secunde. 

Es  kann  hienach  kein  Zweifel  bestehen,  dass  sich  in  diesen 
Fallen  der  Analyse  ein  graduell  abgestuftes  Hindernis 
entgegenstellt,  welches  um  so  starker  ist,  je  kleiner 
die  Verhaltniszahlen  der  Schwingungen. 

Dieses  Hindernis  kann  kein  anderes  sein  als  die  Ver- 
schmelzung.  Halten  wir  Umschau,  welche  Umstande  etwa  fiir 
die  Erklarung  zu  Gebote  stehen.  Es  liegen  ja  immerhin  auch 
sonst  die  Umstande  nicht  ganz  gleich  fiir  die  genannten  Inter- 
valle. Vor  allem  muss  sich  eine  verschiedene  tJbung  in  der 
Analyse  der  eiuzelnen  Intervalle  auch  bei  sogen.  Ungeiibten 
und  Unmusikalischen  im  Laufe  des  Lebens  unvermeidlich  in 
gcwissem  Grade  einstellen.  Absolut  ungeiibt  im  Auffassen  der 
Tone,  auch  der  gleichzeitigen  Tonverbindungen,  ist  doch  heut- 
zutage  im  cultivirten  Europa  Niemand. 

Indessen  sieht  man  leicht,  dass,  soweit  IJbung  hier  iiber- 
haupt  einen  Einfluss  gewinnen  kann,  sie  ziemlich  zum  umge- 
kehrten  Erfolge  hinfiihren  musste.  Denn  Octaven  hort  man 
am   haufigsten   gleichzeitig,    Secunden    am    seltensten.     Terzen 


150  §  19.  Stufen  der  Touverschraelzuug. 

liort  man  irn  Volksgesaug  ebenfalls  weit  liaufiger  als  gleich- 
zeitige  Secunden,  die  fast  nur  durch  zufallig  falscbos  Sin- 
geu  zum  Vorscheiii  kommen.  Es  mlissten  also  Octaven  am 
besteu,  Terzen  weiiigor  gut,  Secunden  am  schleclitesten  aualysirt 
werden.  Man  kann  nicht  etwa  einwcnden,  dass  wir  Octaven 
als  Unisono  aufzufassen  pflegen,  denn  eben  dies  will  selbst  er- 
klart  sein  und  fiibrt  dann  geradewegs  auf  die  Tatsaclie  der 
Veischmelzung  bin. 

Ferner  liesse  sicb  an  die  Unterschiede  in  der  Distanz  der 
jeweiligen  Intervalltone  denken,  wovon  die  Unterscbeidbarkeit 
gleicbzeitiger  Tone  naturlicb  aucb  abbiingt.  Aber  ware  diese 
bier  ausscblaggebend,  so  miisste  wiederum  die  Octave  am  leicb- 
testen  analysirbar  sein,  Quinten  leicbter  als  Quarten,  Terzen 
und  Secunden,  wahrend  das  Umgekebrte  stattfindet. 

Endlicb  konnte  auf  die  Yerscbiedenbeit  der  Intervalle  bin- 
sicbtlicb  der  Obertone  bingewiesen  werden.  Bei  der  Octave 
coincidiren  die  nacbsten  und  starksten  Obertone,  bei  der  Quinte, 
Terz,  Secunde  immer  entfei'ntere  (bobere)  und  scbwacbere  — 
wenigstens  wenn  man  don  s.  z.  s.  idealen  Fall  zu  Grunde  legt, 
dass  sammtlicbe  Multipla  des  Grundtons  in  regelmassig  ab- 
nebmender  Starke  im  Klang  vertreten  sind.  Allein  erstlich  ist 
nicbt  abzuseben,  wie  iiberbaupt  coincidirende  Obertone  die 
Unterscbeidung  von  Grundtonen  bindern  konnten,  Im  Gegenteil, 
sollte  man  meinen,  wird  durcb  jede  Goincidenz  die  Zabl  der 
im  Klange  geborten  Tone  verringert,  also  die  einzelnen  Tone 
leicbter  unterscbeidbar.  Wenn  aber  docb  auf  irgend  eine  Weiso 
coincidirende  Obertone  die  Unterscbeidung  erscbweren  konnten, 
so  miisste  sicb  dies  um  so  starker  geltend  macben,  je  mebr 
Obertone  die  gewablte  Klanggattung  besitzt,  also  starker  in 
unsrer  11.  und  III.  als  in  der  I.  Reibo;  wLibrend  die  Abstande 
der  Zablen  gerade  in  dieser  bedeutend  grosser  sind.  (Hohl- 
Hote  bat  ausserst  scbwacbe  Obertone,  da  sie  bier  nicbt  durch 
Resonanz  verstarkt  werden;  Principal  sebr  starke.  Der  erste 
Oberton  war  bier,  wie  icb  mich  aucb  direct  iiberzeugte,  von 
ausserordentlicber  Starke.)  Vgl.  aucb  den  folgenden  Para- 
grapben  S.  194  f. 


§  19.   Stufen  cler  Toiivei'schmclzuug.  151 

Aucli  die  Scliwebuiigen  bilden  eiu  Pliaiiomen,  desseii 
Abstufuiigeii,  wenn  wir  dio  Schwebungen  dor  Obertoiie  mit  be- 
riicksichtigcn,  uiit  der  obigeii  Ordimiig  der  Iiitervalle  ziisammcii- 
fallen.  Dio  Octave  bietet  keine,  die  Quinte,  Terz,  Secuude 
iiurner  starkerc  Schwebungen  (unterdeu  Iiitervallen  Einer  Octavo). 
Aber  in  der  ein-  iind  zweigestridbeneii  Octave  sind  die  Schwe- 
bungen der  Quinte  und  ihrer  Obertone  unmerklich,  und  doch 
werden  Quinten  leichter  unterschieden  als  Octaven.  Auch  zei- 
gen  in  der  II.  Reihc  die  Secunden  eiue  starke  Abnahme  der 
richtigen  Urteile,  wiihrend  doch  bier  zu  den  Schwebungen  der 
Gruudtone  noch  die  ihrer  starkcn  ersten  Obertone  hinzukom- 
men.  (Die  Septime  zeigt  ebenfalls  in  der  II.  Reihe  eine  kleiue 
Abnahme,  wahrend  die  Schwebungen  gerade  fiir  dieses  Inter- 
val! gegeniiber  der  I.  Reihe  ausserordenthch  viel  kriiftiger  wer- 
den mussten.)     Vgl.  auch  hiezu  noch  unten  206  f. 

Endlich  konnte  man  an  die  Gefiihle  denken,  welche 
durch  die  verschiedenen  Toncombinationen  hervorgorufen  werden 
mochten.  Bildeten  vielleicht  diese  Gefiihle  eine  derartige  Reihe, 
dass  etwa  die  Octave  als  der  angenehmste,  die  Secunde  als 
der  unangenehmste  Toueindruck  erschien  und  das  Urteil  um 
so  entschiedener  auf  Einheit  lautete,  je  angenehmer  der  Ein- 
druck  war?  Warum  aber  miissten  die  Octaven  u.  s.  f,  eine  ab- 
steigende  Reihe  der  Annehmlichkeit  fiir  Unmusikalische  bilden, 
wenn  nicht  etwa  wegen  abnehmender  Einheitlichkeit  des  Ein- 
druckes?  (vgl.  o.  84  f.).  Musikalischen  ist  ja  nicht  die  Octave, 
sondern  die  Terz  im  Allgemeinen  das  angenehmste  Intervall. 

Ich  habe  nicht  versiiumt,  micli  bei  den  erwahnten  Ver- 
suchen  nach  derartigen  Einfliissen  direct  zu  erkundigen.  In 
den  Wiirzburger  Versuchen  habe  ich  sogar  in  jedem  einzelnen 
Urteilsfidl  nebst  dem  Urteil  auch  das  Gefiihl  abgefragt  und 
gebucht.  Es  zeigte  sich  kein  regelmassiger  Zusammenhang 
zwischen  der  Annehmlichkeit  und  dem  Urteil  iiber  Einheit  oder 
Mehrheit.  Secunden  waren  zwar  im  Ganzen  weniger  angenehm 
als  Octaven  und  Quinten,  aber  doch  wieder  angenehmer  als 
Terzeu.  Bei  den  Prager  Versuchsreihen  erkundigte  ich  mich 
nur  summarisch,  nach  welchem  Kriterium  die  Urteilenden  sich 


152  §  19-   Stufen  der  Tonverschmelzung. 

wol  gerichtet  hatten.  P.  ausserte  hier  allerdings:  nach  der 
Annehmlichkeit  oder  Unannehmlichkeit,  indem  die  einheitlicheren 
Eindriicke  ilim  angenehmer  seien.  Aber  eben  diese  Ausserung 
lehrt,  dass  das  Gefiihl  bei  ihm  erst  die  Wirkung  jener  mehr 
oder  weniger  einheitlichen  Beschaffenheit  des  Sinneseindrucks 
war,  und  dass  nicht  etwa  die  Gefiihlsunterschiede  vou  alien  Eigeu- 
tiimlichkeiten  der  fraglicben  Intervalle  die  eiuzigeu  oder  auch 
imr  die  primaren  wareu,  die  in  sein  Bewusstsein  fielen,  obschon 
sie  ihm  wegen  des  angegebenen  Zusammenhangs  als  Leitfadeu 
(secundares  Kriterium)  fiir  das  abverlangte  Urteil  dienen  konnten. 
Das  Primare  schien  das  zu  sein,  was  wir  Verscbmelzung  nennen. 
Die  librigen  Herren  erklarten,  dass  sie  uuter  den  vorgelegten 
Klangen  liberhaupt  keine  Unterscbiede  der  Annehmlichkeit  ge- 
funden  batten.  „Die  einen",  sagten  sie,  „beben  sicb  nur  besser 
ab,  streben  gleicbsam  auseinander.  Es  ist  dies  scbwer  zu  be- 
schreiben.  Sie  zeigeu  sich  eben  als  zwei  Empfindiingen,  die 
anderen  nicbt."  Auch  auf  die  Herauziehung  der  GefUble 
kommen  wir  iibrigens  im  nachsten  §  (204  f.)  aus  anderem  Ge- 
sichtspunct  noch  einmal  zuriick. 

Es  bleibt  demnacli  kein  anderer  Weg  der  Erklarung  fiir 
unsre  Versucbsergebnisse  in  Hinsicbt  der  genannten  vier  Inter- 
valle, als  dass  wir  das  Hindernis  der  Analyse  in  diesen  Fallen 
in  einem  besonderen  Verhaltnis  der  beziiglichen  Tone 
in  der  Empfindung  sucben.  Wir  wiirden  so  auf  die  Ver- 
schmelzungsgrade  als  Hypothese  bingefiihrt  werden,  selbst 
wenn  wir  nichts  dariiber  durcb  directe  Wabmehmung  wiissten. 
In  der  Tat  deckt  sich  die  gefundene  Ordnung  der  Intervalle: 
Octave,  Quinte,  Terz,  Secunde,  in  Hinsicbt  der  Schwierigkeit 
der  Analyse  vollkommen  mit  der  Reihenfolge  der  Verschmelzuugs- 
grade,  zu  welcher  ich  aus  directer  "Wahrnehmung  ganz  unab- 
hangig  von  diesen  Versuchen  gekommen  bin. 

b)  Was  nun  weiter  die  Quart  e  betrifft,  so  bin  ich  allerdings 
erst  durch  diese  Versuche  selbst  zu  einem  festen  Urteil  ge- 
leitet,  nachdem  ich  sie  auf  Gruhd  der  subjectiven  Beobachtung 
zuerst  zur  letzten  Classe,  dann  zu  Einer  Classe  mit  den  Quinten 
gerechnet  hatte.     Es  war  mir  offenbar  selbst  nicht  gelungen, 


§  19.   Stufen  der  Tonverschmelzung.  153 

mich  Yon  der  harmonischen  Bedeutung  dieses  lutervalls  hin- 
reicliend  zu  emancipiren,  welche  ja  eine  eigentiimlich  vielseitige 
und  darum  auch  historiscli  der  Anlass  gewesen  ist,  dass  sie 
bald  zu  den  vollkommenen  Consonanzeii  bald  zu  den  Dissonanzen 
gerechnet  wurde.  Auf  Grund  analoger  Uberlegungen  wie  vor- 
bin  ergibt  sicb  aus  den  obigen  Tabellen  soviel  unzweifelhaft, 
dass  sie  hinsicbtlicb  ihrer  Verscbmelzung  nacb  der  Quinte 
zu  steben  kommt.  Durcbgangig  weist  sie  eine  grossere  Zabl 
ricbtiger  Urteile  auf.  Weniger  ausgeprocben  erscheint  ibre 
Stellung  vor  der  Terz,  insofern  innerbalb  der  einzelnen  Reiben 
mebr  Scbwankungen  stattfinden,  in  der  III.  Reibe  sogar  eine 
geringfUgige  Umkebrung;  docb  diirfte  der  durcbscbnittlicbe  Unter- 
scbied  aus  alien  drei  Reiben  (6^/0)  zum  wabrscbeinlicben  Scblusse 
auf  starkere  Verscbmelzung  binreicben.  Und  nachtraglicb 
scbeint  mir  nun  auch  die  directe  Beobacbtung  dies  zu  be- 
statigen.  Der  Fall  ist  ja  nicbt  gar  selten,  dass  wir  eine  Eigen- 
tUmlicbkeit  von  Sinnesinbalten  erst  deutlicb  wabrnebmen,  wenn 
wir  vorber  auf  indirectem  Wege  auf  sie  bingewiesen  sind.  (Vgl. 
iiber  mittelbare  Urteile  als  Briicke  zu  unmittelbaren  §  5  und 
ofters.) 

c)  Fiir  die  iibrigen  Intervalle  dagegen  lasst  sicb  aus 
den  Zablen  kaum  eine  feste  Ordnung  ibrer  Verscbmelzung  er- 
scbliessen.  Mancberlei  Einwande,  teils  den  Ergebnissen  teils 
den  Umstanden  der  Versucbe  entnommen,  stellen  sicb  bier 
einem  aucb  nur  wabrscbeinlicben  Scblusse  entgegen.  Zuerst  ist 
auffallend,  dass  in  der  I.  Reibe  Tritouus  und  Septime  relativ 
geringere  Zablen  aufweisen  als  Quarte  und  Terz,  erst  in  den 
spateren  Reiben  bobere,  wie  sie  zu  erwarten  waren.  Man  konnte 
sicb  dies  so  erklaren:  je  mebr  die  Urteilenden  Gelegenbeit  er- 
hielten,  die  Eindriicke  unter  einander  zu  vergleicben  und  gewisse 
Classen  aus  ibnen  zu  bilden,  um  so  mebr  nabmen  sie  wahr, 
dass  bestimmte  cbarakteristiscbe  Eindriicke,  wie  sie  ibnen  beim 
Erklingen  von  Quarten  und  Terzen  verursacbt  wurden  (die  sie 
natUrlicb  nicbt  zu  benennen  wussten)  eine  grossere  Abnlicbkeit 
mit  den  einbeitlicbsten  EindLriicken,  die  iiberbaupt  vorkamen, 
besassen  als  mit  den  zweiheitlicbsten  (wenn  der  Ausdruck  erlaubt 


154  §  19-   Stufeii  der  Tonverhchraelzuug. 

ist).  Daher  vermehrten  sicli  die  falschen  Urteile  bei  den  Quar- 
teii  und  Terzeu.  Zugleich  miisste  aber  in  Folge  desselben  Pro- 
cesses die  wainre  Rangorduung  tier  Intervalle  in  Hinsicht  ihrer 
Eiuheitlicbkeit  in  den  Urteilszablen  besser  zu  Tage  treten. 

Dass  die  Secunde  im  Durcbschnitt  erbeblicb  mebr  richtige 
Urteile  liefert  als  die  kleiue  Septime  und  der  Tritonus,  kann 
auf  die  hier  docb  recbt  merklicbe  Unrube  des  Klanges  durch 
die  Scbwebuijgen  gescboben  werden,  berecbtigt  also  nicbt  zu 
einem  sicberen  Scbluss  auf  geringere  Verscbmelzung. 

Nicbt  gauz  ausgescblossen  erscbeint  es,  der  kleiuen  Septime 
auf  Grund  der  Tabellen  nocb  einen  besonderen  Platz,  vor  den 
wenigst-verscbmelzenden  Intervallen,  zuzugesteben;  was  mit  der 
S.  135  ausgesprocbenen  Vermutung  liber  die  natiirlicbe  Septime, 
die  ja  fiir  das  unmusikaliscbe  Obr  kaum  davon  verscbieden  ist, 
iibereinstimmen  wiirde.  Docb  kommt  gegeniiber  der  Secunde  der 
eben  erwabnte  Umstand  audi  bier  in  Betracbt;  und  wirklicb  riicken 
in  der  II.  und  III.  Reibe,  wo  durcb  den  starken  ersten  Ober- 
ton  aucb  der  Septime  starkere  Schwebungen  zu  Teil  werden, 
die  Zablen  beider  Intervalle  einander  uaber. 

Man  wiirde  endlich  aus  diesen  Versucben  allein  iiberbaupt 
nicbt  zu  scbliessen  berecbtigt  sein,  dass  die  Septime  weniger 
als  Terz,  Quarte  und  Quinte  verscbmilzt:  denn  die  bessere 
Unterscbeidbarkeit  ibrer  Tone  konnte  sie  aucb  der  grosseren 
Distanz  derselbeu  gegeniiber  jenen  drei  Intervallen  verdanken. 
Nur  wenn  wir  die  Aussage  der  directen  Beobacbtung  dazu  uehmen, 
konnen  wir  in  den  Zablen  eine  Bestiitigung  derselbeu  erblicken. 

In  dieser  Erwagung  babe  icb  von  Sexten  und  von  Inter- 
vallen iiber  Octavengrosse  bei  diesen  Versucben  von  vornlierein 
abgesebeii.  Es  war  zu  erwarten,  dass  Sexten  mebr  ricbtige 
Fiille  ergeben  wlirden  als  Terzen,  wegen  der  erbeblicb  grosseren 
Tondistanz;  ferner  Nonen  mebr  als  Secunden,  Decimen  mebr 
als  Terzen  u.  s.  f.  Auf  das  Verscbmelzungsverbaltnis  batte  da- 
rum  in  diesen  Fallen  kein  triftiger  Scbluss  gezogen  werden 
konnen;  wabrend  die  Distanzverscbiedenbeiten  zwiscben  den  vor- 
ber  betracbteten  Intervallen,  Octave,  Quinte,  Quarte,  Terz,  wie 
bereits    erwabnt    wurde,    vielmebr    zu    einer    Verstarkung    des 


§  10.  Stufeu  der  Tonverschmelzung.  155 

Schlusses    fiihreii    mussten;    cleun    weiin    trotz     dor    grossoren 

Distanz  die  crwartete  geringere  Untersclieidbarkeit  stattfaiid,  so 

war  der  Scliluss  auf  die  Verschmelzuug  urn  so  zwiugender. 

Bemerkeuswert  ist  noch,  dass,  weun  man  die  obigcu  drei  Ver- 

suchsreiheu    vergleicht,    keiu    Zeicheu    einer    eintretenden   Ubuiig 

hervortritt.     Die  Zalil  der  ricbtigeii  Urteile  im  Verhiiltnis  zur  Ge- 

samintzahl    nimmt   vielmehr    von   Reihe   zn    Reilie    ab   (1 :  209    auf 

312;  11:183  auf  312;  III  obne  Tritonus:  205  auf  432  oder  148 

auf  312).     Indessen  kommt  die  entschiedenc  Abuabme  lediglich  auf 

Rechnuug  der  Quarten  und  Terzen,  namlicb; 

I.      II.      III. 

Quarte     53     36     31  i 

^  }  auf  je  60. 

Terz         56     45     30)  ^ 

Die  ilbrigeu  lutervalle  zeigen  nur  geringere  und  uicht  in  gleich- 
bleibeudem  Sinn  fortgehende  Scbwaukungen.  Wenn  wir  ihre  Zahlen 
zusammenrechnen  (unter  Hinweglassung  des  Tritonus  in  alien  Reihen), 
so  ergibt  sicb 

1:100     11:102     111:96  auf  je  192. 

Nun  blieben  sich  allerdings  die  Versuchsumstande,  weuigstens 
Klafugfarbe  und  Tonregion,  uicht  gleich.  Aber  aus  diesen  Ver- 
anderungen  wiisste  icb  dock  die  Sache  nickt  zu  erklaren. 

Bezilglicb  der  Quarten  und  Terzen  ist  oben  bereits  eine  Er- 
klarung  fiir  die  Verrainderung  ihrer  Zahlen  von  der  I.  zur  II.  Reihe 
versucht.  Derselbe  Umstaud  wird  dieselbe  Folge  auch  weiterhin 
von  der  II.  zur  III.  Reihe  bewirkt  haben.  Das  durchschuittliche 
Gleichbleiben  des  Urteils  dagegen  bei  den  ubrigen  Intervallen,  den 
stark  wie  den  schwach  verschmelzenden,  belehrt  uns  ebeu,  dass  es 
Individuen  gibt,  die  nicht  bios  unmusikalisch  sender n  in  dieser 
ihrer  Eigeuschaft  auch  unverbesserlich  sind. 

8.  Neue  Versuche. 

Im  Sommer  1888,  nachdem  das  Vorsteliende  bereits  zum 
Druck  niedergescliriebeu  war,  machte  ich  neue  derartige  Versuchs- 
reihen  in  Halle,  teilweise  urn  die  friiheren  Ergebnisse  und  be- 
sonders  die  hinsichtlicli  der  Quarte  einer  nocbmaligen  Controle 
zu  unterwerfen,  teilweise  um  womoglich  einem  etwaigeu  feineren 
Unterschied  zwischen  den  beiden  Terzen  auf  die  Spur  zu  kommen, 


156  §  19    Stufen  der  Tonverschmelzung. 

zwischen  denen  ich  direct  keiuen  deutlichen  Unterschied  in  der 
Versclimelzung  wahrnehmeu  kann. 

Da  die  Stellung  der  Octave  an  der  Spitze  der  Verschmel- 
zungen  jeden  Zweifel  ausschliesst,  so  liess  ich'sie  diesmal  aus 
den  Versuclien  hinweg.  Die  Intervalle,  iiber  welche  das  Urteil, 
ob  ein  oder  zwei  Tone,  abgegeben  werden  sollte,  waren:  Quinte, 
Tritonus,  Quarte,  grosse  Terz,  kleine  Terz.  Uber  die  Stellung 
der  Quinte  und  des  Tritonus  in  dieser  Reihe  konnte  zwar 
ebenfalls  nach  dem  Vorangehenden  kein  Zweifel  sein.  Sie 
wurden  aber  mit  aufgenommen,  damit  die  Urteilenden  auch 
Klange  wahrnahmen,  welcbe  entschiedener  als  die  anderen  als 
Einheit  bez.  Zweiheit  erscbeinen,  und  ibnen  so  der  Unterschied, 
um  den  es  sicb  handelte,  der  mebr  oder  weniger  einbeitlicbe  Ein- 
druck  eines  Klanges,  an  diesen  relativen  Extremen  recht  deut- 
lich  wiirde.  Ich  erwartete,  dass  in  Folge  dessen  auch  die 
feineren  Unterschiede  das  Urteil  kraftiger  beeinflussen  wiirden, 
als  wenn  diese  allein  dargeboten  wiirden.  Nebenbei  war  ja  aber 
auch  eine  neue  Bestatigung  fiir  die  Stellung  der  Quinte  und 
des  Tritonus  selbst  nicht  unerwlinscht  ^). 

Die  Aufeinanderfolge  der  Intervalle  wurde  diesmal  ganz  ge- 
nau  regulirt:  Tritonus,  Quinte,  grosse  Terz,  Quarte,  kleine  Terz; 
dann  wieder  Tritonus  u.  s.  f.  (natiirlich  ohne  dass  die  Urteilen- 
den hievon  Kenntnis  batten;  sie  waren  vielmehr  nach  der  Na- 
tur  der  Fragestellung  der  Meinung,  dass  bald  Ein  Ton,  bald 
mehrere  angegeben  wiirden).  So  kamen  die  beiden  Extreme 
immer  unmittelbar  nacheinander  und  folgten  sich  nieraals  zwei 
Intervalle  von  gleicher  Verschmelzung,  was  wiederum  das  Her- 
vortreten  der  Unterschiede  begiinstigen  musste. 

Es  sollten  diesmal  noch  mehr  Individuen  zu  den  Versucheu 
herangezogen  werden  als  friiher.  Je  grossere  Zahlen,  um  so 
zuverlassigere  Resultate  und  Schlussfolgerungen.  Grosse  Zahlen 
konnen  aber  unter  den  gegebenen  Umstanden,  wie  schon  er- 
wahnt,  nur  durch  solche  Massen-  oder  Mitrailleusen-Versuche 
gewonnen  werden,   die    sich  auch  bei  anderen  Untersuchungen 

^)  Ganz  vereinzelt  schob  ich  auch  gelegentlich  die  Octave  ein,  die 
dann  fast  durchgangig  von  Allen  fur  Einen  Ton  gehalten  wurde. 


§  19.  Stufen  der  Tonverschmelzung.  157 

noch.  vielfach  bewahreu  diirften,  Sie  gewahren  nocL.  den  be- 
sonderen  Vorteil,  dass  kleinere  individuelle  Eigenheiten,  die  bei 
sorgfaltigster  Auswahl  der  Personen  immer  iibrig  bleiben,  sich 
ausgleichen  oder  abschwacheii,  wahrend  sie  bei  Versuchen  mit 
Einem  Individuum  leiclit  erheblichen  Einfluss  gewinnen  und 
nicht  abgesondert  werden  konnen. 

Es  zeigte  sich  auch  jetzt,  dass  man  nach  geeigneten  Indi- 
viduen  nicht  lange  zu  suchen  braucht.  Eine  mehrmalige  Auf- 
forderung  an  die  augenblicklichen  Horer  meiner  „Logik"  und 
„Cbungen",  mit  der  Bitte,  auch  unter  ihren  Commilitonen  da- 
fiir  zu  wirken,  hatte  zur  Folge,  dass  sich  14  Herren  als  sehr 
unmusikahsch  zu  den  Versuchen  meldeteil.  Ich  priifte  zunachst 
Jeden  einzehi  in  Bezug  auf  vier  Aufgaben:  einen  gegebenen 
Clavierton  aus  singbarer  Lage  nachzusingen;  von  zwei  aufein- 
anderfolgenden  Tonen  zu  sagen,  welcher  der  hohere;  bei  Zu- 
sammenklangen  anzugeben,  ob  ein  oder  zwei  Tone  wahrge- 
nommen  wiirden  (sowol  bei  stark  als  schwach  verschmelzenden 
Intervallen);  endlich  bei  je  zwei  durch  eine  kleine  Pause  ge- 
trennteu  Zusammenklangen  zu  bestimmen,  welcher  angenehmer 
bez.  unangenehmer  empfunden  werde.  Unter  den  14  Herren 
zeigten  sich  nach  diesen  Kriterien  (wie  ich  sie  auch,  obgleich 
nicht  ganz  so  systematisch,  in  fruheren  Fallen  benutzte)  12  als 
von  annahernd  gleicher  musikalischer  bez.  unmusikalischer  Be- 
schaffenheit  ^).  Sie  gehoren  unter  dieselbe  Classe,  wie  die  in 
§  14,  4  und  im  gegenwartigen  §  erwahnten  friiheren  Ver- 
suchssubjecte.  Das  Treffen  eines  Tones  durch  Nachsingen  gelang 
Einigen  zwar  nach  wenigen  Versuchen  leidlich  (hierin  finden 
sich  begreiflicherweise,  da  auch  die  Kehlkopfinnervation  eine 
Rolle  spielt,  noch  ziemliche  Unterschiede).  Aber  bei  der  zweiten 
Frage    wurden    besonders    in  der  Tiefe  allgemein    Fehler    be- 


^)  Da  ich  denselben  fiir  ihre  geduldige  Hingabe  an  die  Sache  zu 
besonderem  Dank  verpflichtet  bin  und  noch  gelegentlich  auf  Wahrneh- 
mungen  an  Einzehien  derselben  Bezug  nehme,  habe  ich  mir  die  Er- 
laubnis  erbeten,  hier  ihre  Namen  zu  nennen:  P.  Brodhun,  C.  Grube, 
G.  Hager,  H.  Irmisch,  G.  Keil,  0.  Lehmann,  0.  Kaack,  0.  Schulz, 
H.  Steudener,  R.  Tewes,  P.  Thiel,  W.  Wolfrom. 


158  §  19.  Stufen  der  Tonverschmelzung. 

gangen,  wenn  auch  die  rich tigen  Urteile  iiberwogen.  Bei  der 
dritten  zeigte  sicli  der  Unterschied  der  Intervalle,  wie  zu  er- 
warten  war,  und  wurdcn  besonders  Octaven  fast  regelmassig, 
Quinten  nicht  selten  fiir  Eineii  Ton  gehalteii.  In  Hinsicht  des 
Gefiihls  endlicli  konnte  schon  darum  Keiner  von  ihnen  als 
musikalisch  gelten,  weil  abscheuliche  Tonzusammenstellungen, 
wenn  nur  unmittelbar  benacbbartc  Tone  nicbt  darin  vorkaraen, 
zumeist  gar  nicht  als  unangenehm  bezeichnet  wurden '), 

Zwei  von  den  14,  die  sich  anfanglich  gemehlet,  erwiegen 
sich  bei  dieser  vorlaufigen  Priifung  sogleich  als  unbrauchbar 
fiir  den  vorliegenden  Zweck.  Der  Eine  deswegen,  weil  er  bei 
der  dritten  Frage  Octaven  in  mittlerer  Lage  nicht  bios  regel- 
massig als  zwei  Tone  erkannto,  sondern  sie  nuHi  als  Octaven 
bezeichnete.  Wer  dies  vermag,  besitzt  schon  eine  hohere 
musikalische  Bildung  als  fiir  gegenwartigen  Zweck  zulassig, 
kann  wenigstens  nicht  mehr  mit  den  Ubrigen  unter  Eine 
Gruppe  gerechnet  und  zu  den  namlichen  Massenversuchen  ver- 
wendet  werden.  Die  musikalische  Verfassung  der  Teihiohmer 
muss  moglichst  gleich  sein,  wenn  wir  die  zu  gewinnenden 
Zahlcn  zusammen  rechnen  woUon.  Auf  die  Mitwirkung  oines 
Anderen  von  den  14  musste  ich  umgekehrt  deswegen  vorzichten, 
weil  er  sich  in  einem  kaum  glaublichen  Grade  umnusikalisch 
zeigte,  wahrend  doch  an  der  Ehrlichkeit  seiner  Antworten  nicht  der 
leiseste  Zweifel  moglich  war.  Bei  der  zweiton  Frage  gab  er  in  der 
Hohe  (g'^ — g^)  und  Tiefe  (G^ — G)  mehr  falsche  als  richtige 
Urteile.  Bei  der  dritten  war  er  in  keinem  einzigen  unter 
alien  Fallen  von  gleichzeitigen  Tiinen,  die  ihm  vorgelegt  wurden, 
im  Stande,  die  Zweiheit  zu  erkennen.  Der  Merkwurdigkeit 
halber  zog  ich  ihn  doch  bei  der  ersten  Versuchsreihe  mit  bei; 
unter  seinen    60  Urteilen   waren   hier  4  richtige,  wovon  2  auf 


')  Im  Einzelnen  ergaben  sich  hier  freilich  wieder  interessante  Unter- 
schiede;  wie  z.  B.  Einer  (Thiel)  alle  beliehigen  Zusammenstellungen  als 
indifferent  bezeichnete.  wahrend  Andere  Dur  und  Moll  hinsichtlich  der 
Annehralichkeit  auseinanderhielten.  Spater,  bei  der  Gefiihlslehre,  werde 
ich  hieriiber  und  iiber  eingehendere  systematische  Versuche  mit  dicsen 
Herren  bezuglich  der  Gefiihle  Mehr  berichten. 


§  19.  Stufen  der  Tonverschmelzung.  159 

die  Quinte,  eines  auf  den  Tri tonus,  eines  auf  die  grosse  Torz 
entfielen.  Sie  miissen  als  rein  zufallig  angesehen  werden.  Die 
Urteile  dieses  Herrn  sind  dalier  aucb  in  dem  folgenden  Bericht 
iiber  die  erste  Reihe  nicht  mitgerechnet.  Ich  werde  liber  den 
abnormen  Fall  weiter  unten  (§  24)  nocb  Naberes  beibringen. 
Es  wurden  4  Versuchsreihen  (am  4.,  7.,  13.,  26.  Juli)  in  der 
Domkirche  zu  Halle  angestellt.  Ich  hatte  es  nicht  sogleich  auf  alle 
diese  Reihen  uud  auf  die  einzeluen  Touregionen,  wodurch  sie  sich 
unterscheiden ,  abgesehen,  sondern  Hess  mich  durch  die  Beob- 
achtungen  bei  jeder  Reihe  und  die  danach  bleibenden  Zweifel  und 
Fragen  zu  weiteren  Reihen  und  zur  Wahl  der  neuen  Versuchs- 
umstande  bestimmen.  Yon  Anfang  wurden  jedoch  noch  mehr 
Vorsichtsmassregeln  als  friiher  eingefiihrt.  Vor  jeder  Reihe  wurden 
die  in  Gebrauch  zu  nehmenden  Pfeifen  durch  einen  tiichtigen 
Orgelbauer  in  meiner  Anwesenheit  auf's  Genaueste  in  die  natiirliche 
Stimmung  unter  einander  gebracht,  zugleich  die  Starke  und  die 
Klangfarbe  dieser  Pfeifen  genau  regulirt,  und  darauf  gesehen,  dass 
sie  normal  ansprachen  und  keiue  auffallenden  Nebengerausche 
zeigten  ^).  Wie  friiher  wurde  die  Dauer  der  Zusammenklange  und 
die  Pausen  zwischen  ihnen  gleich  gehalten,  abgesehen  von  grosseren 
Pausen,  die  nach  je  20  oder  je  10  Versuchen  eingeschaltet  wurden, 
um  der  Ermiidung  vorzubeugen.  Die  Dauer  eines  Zusammeu- 
klanges  betrug  in  der  1.  Reihd  4,  in  den  spateren  3  Secunden, 
die  der  Pause  8  Secunden.  Besondere  Muhe  gab  ich  mir  auch 
hier,  die  Tasten  genau  gleichzeitig  niederzudriicken  und  wiedor 
loszulassen,  was  man  nach  einiger  Ubung  mit  grosser  Exactheit 
bewerkstelligen  kann^).    Da  einzelne  Herren  nach  der  ersten  Reihe 


')  Bei  den  fruhern  Versuchen  waren  grobere  Unreinheiten  als  die, 
■welche  die  temperirte  Stimmung  mit  sich  bringt,  und  ebenso  Ungleich- 
heiten  der  Starke  u.  s.  f.  durch  Auslassung  der  bezuglichen  Pfeifen 
vermieden,  kleine  Ungleichheiten  auch  durch  mehrfache  Vertretung  Eines 
Intervalls  (z.  B.  c  g,  d  a,  es  b)  moglichst  compensirt  worden.  Letzteres 
Yerfahren  bedingt  indes  einen  grosseren  Spielraum,  als  ich  mir  jetzt 
gestattete,  wo  ich  mich  jedesmal  auf  eine  ganz  eng  begrenzte  Tonregion 
beschranken,  den  Raum  einer  Quinte  nicht  iiberschreiten  woUte. 

^)  Am  hasten  bedient  man  sich  beider  Hande,  setzt  die  Finger  aus 
einiger  Hohe  mit  einer  gewissen  Schnellkraft  auf  und  hebt  sie  ebenso 


160  §  19-  Stufen  der  Tonverschmelzung. 

angaben,  durch  den  Nachhall  in  der  Kirche,  der  in  der  Tat  recht 
merklich  war,  in  ihren  Urteilen  mitbestimmt  zu  werden,  indeni  darin 
ofters  ein  Ton  hervortrate  und  sie  daran  die  Zweiheit  nachtraglich 
merkten:  so  gab  ich  in  den  spateren  Reihen  immer  zugleich  mit 
dem  Loslassen  der  beiden  Tasten  ^)  einen  tiefen  Accord  an,  welcher 
die  vorherigen  Tone  auch  nicbt  als  Obertone  entbielt;  wodureb  die 
Nachklange  jener  unwabrnellrabar  gemacbt  wurden.  Docb  ist 
nicbt  anzunebmen,  dass  das  Nacbklingen  in  der  1.  Reibe  die  Ver- 
teilung  der  ricbtigen  und  falscben  Falle  uuter  den  verscbiedenen 
Intervallen  beeiuflusste,  da  es  sicb  ja  bei  so  nabe  beisammenliegenden 
Tonen  in  gleicber  Weise  geltend  macben  musste  und  das  Heraus- 
horen  wabrscbeinlicb  nur  auf  einer  zufalligen  Ricbtung  beruhte, 
welcbe  die  Aufmerksamkeit  nacbtraglicb  nabm. 

Die  Urteilenden  sassen,  wie  friiher,  mit  dem  Riicken  gegen 
die  Orgel  und  scbrieben  diesmal  ibre  Urteile  selbst  auf.  Sie  waren 
ersucht,  in  Zweifelsfallen  das  irgend  iiberwiegende  Urteil  aufzu- 
scbreibeu  und  nur  bei  ganz  indifferentem  Zustand  des  Urteils  das- 
selbe  als  zweifelbaft  zu  bezeicbnen;  welcbes  dann  mit  dem  Wert 
^/g  gerecbnet  wurde.  Ofters  fand  icb  aber  in  den  Tabellen  hinter 
einem  „2"  oder  „1"  nacbtraglicb  ein  Zweifelszeicben;  in  solchen 
Fallen  ist  immer  das  erste  Urteil  allein  gerecbnet.  Docb  sind  auch 
diese  nacbtraglicben  Zweifelszeicben  vielfacb  cbarakteristiscb,  indem 
sie  sicb  mit  Vorliebe  bei  der  Quinte  linden,  wenn  diese  zuerst  als 
Zweibeit  beurteilt  war. 

Erste  Reihe. 

Hiezu  wurden  verwendet  die  Tone  der  kleinen  Octave 
c  d  e  f  fis  g,  worn  it  die  Intervalle  c  g,  c  fis,  c  /',  d  g,  d  fis,  e  g 


kraftig  zu  gleicher  Hohe  empor.  Ich  hatte  zuerst  daran  gedacht,  um 
die  genaueste  Gleichzeitigkeit  zu  sichern,  je  zwei  Pfeifen  durch  einen 
T-Schlauch  gemeinsam  anblasen  zu  lassen,  was  naturlich  in  einem  Labo- 
ratorium  hatte  geschehen  miissen.  Aber  dies  erwies  sich  wegen  des  mangel- 
haften  Pfeifeumaterials  der  Hallischen  Institute,  wie  auch  wegen  der  Um- 
standlichkeit  und  der  Gefahr  anderer  Fehlerquellen  weniger  ratsam. 

^)  welche  dann  noch  wahrend  des  Zusammenklanges  mit  der  rechten 
Hand  allein  erfasst  wiu'den. 


§  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung.  161 

hergestellt  wurden;  und  zwar  aus  dem  Register  Hohlflote^).  Es 
ergaben  sich  unter  je  144  (=  12  X  12)  Urteilen  fiir  jedes  Inter- 
vall  folgende  Zahlen  der  richtigen  Urteile; 

Kl.  Terz  108        Triton  103        Gr.  Terz  99        Quarte  GiVa        Quinte  36. 

Die  Reihenfolge  war  'also  die  zu  erwartende  mit  Ausnaliine 
der  kleinen  Terz.  Der  Grund  stellte  sich  alsbald  lieraus,  als 
icli  nach  den  Eriterien  fragte,  durch  welche  sich  die  Urteilen- 
den  etwa  hatten  bestimmen  lassen.  Mehrere  gaben  namlich  an, 
dass  sie  in  zahlreichen  Fallen  durch  Schwebungen  bestimmt 
worden  seien,  indem  sie  daraus  auf  eine  Mehrheit  von  Tonen 
geschlossen  hatten  (mittelbares  Urteil).  Es  zeigte  sich  auch 
bei  einer  eigens  darauf  gerichteten  Priifung,  dass  sie  Schwe- 
bungen mit  iiberraschender  Genauigkeit  und  Sicherheit  wahr- 
nahmen^).  Die  Schwebungen  mussten  aber  notwendig  am  meisten 
merklich  werden  bei  dem  kleiusten  Intervall,  der  kleinen  Terz, 
und  waren  hier  wirklich  sehr  auffallig  (32  in  der  Secunde), 
auffalliger  sogar,  wie  mir  scheint,  als  bei  Registern  mit  vielen 
und  starken  Obertonen,  wo  auch  bei  weiteren  Intervallen  in 
gleicher  Tonlage  starke  Schwebungen  durch  benachbarte  Ober- 
tone  eintreten  und  so  der  Unterschied  der  Rauhigkeit  zwischen 
diesen  weiteren  und  den  engeren  Intervallen  mit  ihren  directen 
Schwebungen  geringer  wird.  Auch  bei  der  grossen  Terz  {d  fis) 
musste  solcher  Einfluss  von  Schwebungen  (36  in  der  Secunde) 
stattfinden,  und  in  der  Tat  ist  ihr  Unterschied  vom  Tritonus 
sehr  gering. 


^)  Ich  konnte  hier  immerhin  poch  den  5.  Teilton  bei  besonders 
scbarfem  Hinhoren  wahruebmen,  was  nach  Helmholtz'  Angaben  nicht 
zu  erwarten  war.    Aber  die  Orgel  bietet  keine  obertonarmeren  Klange. 

^)  Zwei  unter  diesen  waren  Candidaten  der  Naturwissenschaft  und 
Matbematik,  einer  (Grube)  Linguist,  und  besonders  der  Letztere  konnte 
mit  Leichtigkeit  Schwebungen  bemerken  und  das  Charakteristische  (Schnel- 
ligkeit  u.  s.  f.)  in  den  einzelnen  Fallen  beschreiben,  obgleieh  er  iiber  das 
physikalische  Wesen  derselben  keineswegs  klar  war.  Sehr  waTirschein- 
lich  hing  diese  besondere  Fahigkeit  mit  der  Gewohnung  an  die  Analyse 
der  roUenden  und  gerauschahnlichen  Sprachlaute  zusammen. 

Stumpf,  Tonpsychologie.   II.  11 


162  §  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung. 

Um  nun  diesen  Nebeneinfluss  auszuschliessen,  machte  ich 
die  Herren  vor  Allem  aufmerksam,  dass  solche  Rauliigkeit  auch 
bei  einzelnen  Tonen  vorkommen  konne  (Intermittenz)  und  sie 
sich  iiberbaupt  durch  solche  Nebenumstande,  auch  wenn  sie 
ihnen  auffielen,  nicht  sollten  bestimmen  lassen,  vielmehr  ledig- 
lich  durch  den  qualitativen  Toneindruck  als  solchen.  Bei  den 
spateren  Reihen  wurde  denn  auch  von  sammtlichen  Herren  hervor- 
gehoben,  dass  sie  sich  bewusst  seien,  nur  durch  den  Klangeiu- 
druck  als  solchen  bestimmt  zu  sein,  und  dass  die  Abstraction 
von  den  Nebenerscheinungen  ihnen  -keine  Schwierigkeiten  mache. 
Zugleich  aber  veranderte  ich  der  Sicherheit  halber  die  Um- 
stande  in  der  folgenden  Reihe  so,  dass  Schwebungen  nicht  mehr 
erheblich  sich  geltend  machen  konnten. 

Zweite  Reihe. 
Hier  wurden  die  analogen  Tone  der  dreigestrichenen 
Octave  verwendet,  die  Intervalle  eg,  cfls,  cf,  ce,  eg;  aber  aus 
dem  Register  Geigenprincipal  4  Fuss,  da  die  Hohlflote  nicht 
ganz  so  hoch  hiuaufreichte.  Die  Obertone  des  Geigenprin- 
cipals  konnten  aber  keinen  Unterschied  machen  (wie  iiber- 
haupt  die  Klangfarbenunterschiede  nach  oben  hin  immer  mehr 
verschwindcn),  da  sie  in  dieser  Hohe  sehr  schwach  und  die 
Schwebungen,  die  sie  untereinander  machen,  zu  rasch  sind,  um 
ohne  ganz  besonders  darauf  concentrirte  Aufmerksamkeit  noch 
wahrnehmbar  zu  sein  (beim  Tritonus  c^  fis^  schweben  die  nachst- 
liegenden  Obertone  g^  und  /is"^  schon  235  mal  in  der  Secunde, 
bei  den  Ubrigen  Intervallen  noch  ofter).  Die  directen  Schwe- 
bungen dor  kleineren  -Intervalle,  c^e^  und  e^  g^,  betragen  26.4 
in  der  Secunde^).     Zugleich  nahm  ich  die  Dauer  eines  Zusam- 


^)  Es  war  mir  von  grossem  Interesse,  zu  constatireu,  class  diese  bei 
ausdrixcklich  darauf  concentrirter  Aufmerksamkeit  von  mehreren  Beob- 
achtern,  vor  Allem  dem  obenerwahnten  Linguisten  Herrn  Grtjbe,  doch 
noch  bemerkt  wurden,  sofern  der  Eindruck  jener  Intervalle  noch  deut- 
lich  rauher  gefunden  wurde  als  der  eines  einzelnen  Tons,  wenn  dieser  un- 
mittelbar  nachher  angegeben  wurde;  was  auch  mein  eigenes  Ohr  durch- 
aus   bestatigt.     vS.  §  27.)     Innerhalb   der  Versuchsreihe  selbst  batten   in- 


§  19.    Stufen  der  Tonversch'melzung.  163 

menklanges  fortan  etwas  kiirzer  als  friiher,  wodurch  der  Wahr- 
nehmung  der  Schwebungen  noch  mehr  vorgebeugt  wurde.  Hie- 
nach  durfte  also  dieser  Nebenumstaud  als  ganz  ausgeschlosseu 
gelten. 

Es  ergaben  sich  unter  je  216  (12  X  18)  Urteilen  fiir  jedes 
Intervall  als  Zahlen  der  ricbtigen  Urteile: 

Triton  178V2      Gr.  Terz  153      Quarte  132V2       Kl.  Terz  103      Quinte  100. 

Hier  ist  nun  die  gegenseitige  Stellung  aller  Intervalle  mit 
Ausnabme  der  kleinen  Terz  genau  dieselbe  wie  in  der  ersten 
Reibe  und  wie  sie  zu  erwarten  war.  Die  grosse  Terz  bat  nun 
auch  eine  erbeblicbere  Differenz  vom  Triton.  Die  kleine  Terz 
stebt  aber  nicbt  bios  nicbt  mebr  an  der  Spitze,  sondern  fallt 
nahezu  mit  dem  anderen  Ende,  der  Quinte,  zusammen;  was  nocb 
weniger  als  ibre  vorberige  Stellung  dem  allgemeinen  Verscbmel- 
zungscbarakter  der  Terzen,  wie  er  mir  nacb  eigner  Beobacbtung 
und  friiberen  Erfabrungeu  erscbien,  entspricbt  ^).  Icb  vermutete 
sogleicb,  dass  bier  ein  besonderes  Hindernis  der  Analyse  in 
der  zu  geringen  Distanz  der  Tone  gegeben  sei.  Natiirlicb  ist 
ja  die  Distanz  der  Tonqualitaten  von  Einfluss  auf  die  Ana- 
lyse. Sie  wird  aber  von  der  Mitte  des  Tonreicbes  gegen  die  Hobe 
wie  gegen  die  Tiefe  bin  bei  gleicbem  Intervall  nacb  unsren 
friiberen  Vermutungen  (I  250  f.)  eine  geringere.  Icb  priifte 
desbalb,  ob  in  dieser .  Region  bei  so  engen  Intervallen  nicbt 
etwa  scbon  die  Grenze  der  moglicben  Unterscbeidung  (die  qua- 
litative Scbwelle)  gleicbzeitiger  Tone  fiir  unmusikaliscbe  Obren 
erreicbt  sei,  indem  icb  den  vier  Herren,  welcbe  besonders  nie- 
drige  Zablen  fiir  die  kleine  Terz  geliefert  batten,  die  beiden 
Tone  zuerst  aufeinanderfolgend  vorlegte,  wobei  sie  dieselben 
ganz  leicbt  als  zwei  verscbiedene  erkannten,  und  dann  im  Zu- 


dessen  die  Urteilenden  ihrer  Aussage  zufolge  diese  Wahrnebmung  nur 
ganz  beilaufig  hie  und  da  gemacbt  und  sich  auch  dann  nicbt  dadurch, 
sondern  durch  das  qualitative  Moment  des  Klanges  zum  Urteil  bestim- 
men  lassen. 

^)  Herr  Grube  hatte  in  der  ersten  Reihe  bei  der  kleinen  Terz  unter 
10  Urteilen  9 Vo  richtige,  in  der  zweiten  Reihe  unter  18  Urteilen  1  richtiges  1 

11* 


164  §  19-    Sftifen  der  Tonverschmelzung. 

sammenklange.  In  der  Tat  gelang  es  ihuen  nicht  mit  voUer 
Sicherheit,  darin  die  unmittelbar  vorher  einzeln  gehorten  Tone 
wiederzufiuden.  In  der  zwei-  und  eingestriclienen  Octave  gelang 
es  ohne  Weiteres. 

Ich  ging  dalier  in  einer  neuen  Versuchsreihe  um  eine  Oc- 
tave tiefer  herab: 

Dritte  Reihe. 

Es  wurden  wieder  die  analogen  Tone  und  Intervalle,  aber 
in  der  zweigestrichenen  Octave,  benutzt;  als  Register  konnte 
wieder  Hohlflote  dienen.  Die  absoluten  Versuchszablen  steigerte 
icb,  wie  schon  von  der  ersten  zur  zweiten  Reibe.  Es  ergaben 
sicb  unter  je  240  (12  X  20)  Urteilen  fiir  jedes  Intervall  als 
Zahlen  der  richtigen  Urteile: 

QuartelSSV^      Gr.  Terzl85      Triton  174       Kl.  Terz  169V2      Quinte  156. 

Da  ich  gerade  von  dieser  Versuchsreihe  nach  den  Finger- 
zeigen  der  vorangehenden  die  durchsichtigsten  Resultate  erwartet 
hatte,  setzte  niich  dieses  Durcheinander,  worin  nur  die  drei 
letzten  Intervalle  eine  nach  dem  Friiheren  verstandliche  Stellung 
unter  sich  und  nur  die  Quinte  auch  ihren  bestandigen  absoluten 
Platz  am  Eude  der  Reihe  einuahm,  in  einige  Verzweiflung.  Aber 
eine  nahere  Betrachtung  der  Zahlen  lehrte  alsbald,  dass  die 
Werte  im  Verhaltnis  zur  Gesammtzahl  der  Urteile  ausserordent- 
lich  wenig  verschieden  sind.  Es  betragt  namlich  die  Differenz 
der  Extreme  in  dieser  Reihe  (185^/2 — 156)  nur  12^0  der  Ge- 
sammtzahl der  Urteile  fiir  jedes  Intervall,  wahrend  dieselbe 
in  der  ersten  Reihe  45"/o,  in  der  zweiten  36*^/o  betragt.  Die 
Ursachen  sind  nicht  schwer  zu  finden.  Sie  lagen  offenbar  in  der 
nunmehr  erlangten  tJbung  der  Versuchspersonen  (welche  sogar 
innerhalb  dieser  Reihe  noch  sehr  bedeutend  zunahm,  sodass  die 
grossere  Zahl  der  Versuche  dem  Zwecke  geradezu  entgegen- 
arbeitete),  in  Verbindung  mit  dem  Umstand,  dass  die  zweige- 
strichene  Octave  fiir  Tonurteile  jeder  Art  wol  als  die  giinstigste 
anzusehen  ist.  Gegeniiber  der  kleinen  Octave  hatte  diese  iiber- 
dies  eine  betriichtlich  grossere  Tonstarke  und  hellere  Farbe. 


§  19.    Stufen  der  Tonversclimelzung.  165 

So  konnte  dieser  Versuchsreihe  mit  ihren  relativ  so  geringen 
Differenzen  auch  nur  ein  relativ  geringer  Wert  beigelegt  werden. 
Die  Wirksamkeit  der  constanten  Coefficient  en,  die  den  einzelnen 
Intervallen  beziiglich  ihrer  Analysirbarkeit  anhaften,  war  vor 
den  allgemeinen  giinstigen  Umstanden  zuriickgetreten ,  und  die 
geringen  librigbleibenden  Unterschiede  in  den  Zahlen  der  ricb- 
tigen  Urteile  von  Zufalligkeiten  abbangig  geworden.  Es  blieb 
mir  daber  bocbstens  nocb  ein  Versucb  mit  der  eingestricbenen 
Octave  zu  macben,  obgleicb  bier  wieder  zu  fiircbten  war,  dass 
die  directen  Scbwebungen  der  kleinen  Terz  storend  wirken 
wiirden.  Da  die  Zwiscbenzeiten  zwiscben  den  einzelnen  Ver- 
sucbsreiben  immer  grosser  wurden  (die  zweite  von  der  ersten 
durcb  drei,  die  dritte  von  der  zweiten  durch  secbs,  die  vierte 
von  der  dritten  durcb  dreizebn  Tage  getrennt),  so  konnte  der 
Einfluss  der  tJbung  vielleicbt  einigermassen  paralysirt  werden, 
und  jedenfalls  war  er,  solange  nur  die  Unterscbiede  der  Zablen 
gross  genug  ausfielen,  fiir  meine  Zwecke  irrelevant,  da  es  mir 
eben  nur  auf  die  Stellung   der  Intervalle  zu  einander  ankam. 

Vierte  Reibe. 
Die  analogen  Tone  und  Intervalle  wie  vorber,  in  demselben 
Register,  aber  in  der  eingestricbenen  Octave.     Es  ergaben 
sicb  unter  je  144  (12  X  12)  Urteilen  als  Zablen  der  ricbtigen 
Urteile: 
Kl.  Terz  127     Triton  111 V^     Gr.  Terz  IO8V2     Quarte  IO6V2     QuinteSOVg. 

Die  kleine  Terz  tritt  also  in  der  Tat  wieder  an  die  Spitze; 
ibre  Scbwebungen  waren  eben  wieder  so  stark,  dass  das  Urteil, 
selbst  beim  besten  Willen,  sicb  nicbt  ganz  davon  scbeint  eman- 
cipirt  zu  baben.  Die  Reibenfolge  ist  iiberbaupt  die  namlicbe 
wie  in  der  ersten  Reibe.  Aber  die  Differenzen  sind  viel  ge- 
ringer geworden  in  Folge  der  Ubung,  aucb  wol  der  etwas 
giinstigeren  Lage.  Dennocb  ist  die  relative  Differenz  der  Ex- 
treme bedeutend  grosser  als  in  der  vorigen  Reibe,  namlicb  26*^/0 
der  Gesammtzabl  der  Urteile  fiir  jedes  Intervall,  sodass  diese  Reibe 
immerbin  Beacbtung  verdient.     Bemerkenswert  erscbeint  aucb, 


166  §  19-   Stufen  der  Tonverschmelzung. 

dass  von  drei  Versuchspersonen,  die  schon  in  der  vorigen  Reihe 
besonders  gut  urteilten,  nunmehr  fast  diu'chgaugig  bios  ricbtige 
Urteile  abgegeben  wurden  (von  Zweien  ausscbliesslicb  ricbtige, 
von  Einem  bei  der  Qiiarte  ebenfalls  bios  ricbtige,  bei  den  iibri- 
gen  Intervallen  nur  je  ein  falscbes).  Diese  Personen  konnten 
also  roit  Fug  bei  der  Berecbnung  ausgesondert  werden,  da  sie 
gemass  der  erlangten  t)bung  jetzt  fiir  solcberlei  Urteile  den 
Musikaliscben  gleicbgeacbtet  werden  durften  (wenn  sich  auch 
zweifellos  die  tJbung  bald  wieder  verloren  bat).  Tun  wir  dies, 
so  ergeben  sicb  unter  je  108  Urteilen  fiir  jedes  Intervall  'als 
Zablen  der  ricbtigen  Urteile: 

Kl.Terz92       Triton  76 V2       Gr.  Terz  TSVa       Quarte  7OV2      Quinte  54V/2, 

also  die  namlicbe  Reibenfolge,  aber  eine  nocb  grossere  relative 
Differenz  der  Extreme  (35 *'/^).  Docb  woUen  wir  im  Folgenden 
bei  den  Rechnungen  der  Gleicbformigkeit  balber  aucb  bier  alle 
zwolf  Urteilenden  zusammennebmen. 

Hiemit  scbierf  mir  die  Grenze  erreicbt,  bis  zu  welcher 
unter  den  vorliegenden  Umstanden  iiberhaupt  nocb  Ergebnisse 
zu  erboffen  waren.  Zugleicb  warcn  wir  ja  aucb  in  der  unmittel- 
baren  Nacbbarscbaft  der  Ausgangsoctave  wieder  angelangt  und 
batten  die  fiir  Tonurteile  wicbtigsten  Octaven  erscbopft. 

Fiir  kuuftige  Versuche  zu  gleichem  Zwecke  mochte  ich  hie- 
nach  die  zweigestrichene  Octave  nur  etwa  zum  Beginn,  vor  Eiatritt 
irgend  merklicher  Ubuug,  empfehlen;  ausserdem  besouders  die  ein- 
und  dreigestrichene,  bei  helleren  Klangfarben  die  kleine.  Die 
Klangfarben  sind  im  Ubrigen  ziemlich  irrelevant,  wie  wir  schon 
bei  den  friiheren  Versuchen  gesehen;  es  ist  nur  der  Unterschied, 
dass  hellere  Farben  fiir  die  Zuverlassigkeit  des  Urteils  uberhaupt 
gunstiger  sind.  Fiir  unsere  Zwecke  wird  aber  eben  nicht  moglichste 
Zuverlassigkeit,  sondern  ein  mittlerer  allgemeiner  Stand  derselben 
vorausgesetzt,  der  durch  constante  Hindernisse  nocb  merklich  be- 
einflusst  zu  werden  vermag.  Als  die  Intervalle,  welche  die  beweiskraf- 
tigsten  Ergebnisse  liefern,  sind  Octave,  Quinte,  Quarte,  grosse  Terz 
und  Tritonus  zu  bezeichnen,  die  Terz  aber  wegen  der  Schwebungen 
nicht  in  der  kleinen  Octave. 


§  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung.  167 

9.  Discussion  dieser  Versuche. 

Wir  woUen  nun  die  Ergebnisse  dieser  vier  Versuchsreihen 
(im  Folgenden  mit  I,  II,  III,  IV  bezeichnet)  mit  Riicksiclit  auf 
unsre  Frage  in  nahere  Erwaguug  zieben.  Sehen  wir  von  III 
aus  den  erwahnten  Griinden  vorlaufig  ab,  und  vergleichen  wir 
in  den  drei  anderen  die  Reiheufolge  der  Intervalle,  so  springt 
sogleich  in  die  Augen,  dass  dieselben  mit  einziger  Ausnahme 
der  kleinen  Terz  vollstandig  iibereiustimmen.  In  alien  drei 
Reihen  stehen 

Triton  —  Grosse  Terz  —  Quarte  —  Quinte 
in  eben  dieser  Folge.  Die  kleine  Terz  dagegen  hat  in  II  eine 
wesentlich  andere  Stellung  als  in  I  und  IV,  und  die  Griinde 
sind  nach  deni  Obigen  kaum  zweifelhaft.  Wollen  wir  nun  auch 
ihr  einen  Platz  ausrechnen,  wie  sie  ihn  mutmasslich  abgesehen 
von  den  genannten  variablen  Einfliissen  hatte,  so  miissen  wir 
mindestens  I  und  II  zusammenrechnen  («),  weil  so  jene  cnt- 
gegengesetzten  Umstande  sich  ungefahr  ausgleicben  konnen. 
Noch  besser,  wenn  wir  aucb  IV  dazunebmen  Q3),  weil  der  be- 
sondere  Einfluss,  dem  die  kleine  Terz.  in  II  ibre  enorm  geringe 
Zabl  verdankt,  augenscheinlicb  noch  starker  war  als  der  ent- 
gegengesetzte  in  I  und  IV.  Bei  solchen  Summirungen  mehrerer 
Reihen  kann  dann  immerhin  auch  III  noch  dazugenommen  wer- 
den  (y  und  d):  denn  wenn  gleichmassige  Eiufliisse  in  den  iibrigen 
Reihen  machtig  genug  waren,  so  darf  die  erhaltene  Reihenfolge 
durch  III  mit  ihren  geringen  Differenzen  nicht  mehr  veriindert 
werden,  wir  konnen  also  gleichsam  die  Probe  machen.  Damit 
bei  diesen  Combinationen  die  einzelnen  Reihen  mit  gleichem 
Gewicht  eintreten,  erscheint  es  als  das  Richtige,  eine  gemein- 
same  Gesammtzahl  fiir  alle  Intervalle  in  alien  Reihen  zu  Grunde 
zu  legen.  Wir  wahlen  als  solche  die  Zahl  216  (die  mittelgrosse, 
aus  II),  rechnen  also  die  obigen  Zahlen  der  richtigen  Urteile 
alle  auf  diese  Gesammtzahl  um  ^).    Hienach  ergibt  sich  folgende 

^)  Die  Reihenfolge  der  Intervalle  wiirde  indessen  auch  ohne  solche  Um- 
rechnung  in  der  folgenden  Tabelle  iiberall  die  namliche  sein;  wie  man 
leicht  bei  Addirung  der  Reihen  mit  ihren  urspriinglichen  Zahlen  sehen 
kann. 


168 


§  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung. 


Ubersicht: 


Addirte  Reihen 

Gesammtzahl 

der  Urteile 

fiir 

jedes  Intervall 

Zahl  der  richtigen  Urteile  fur 

Triton 

Gr.  Terz 

Kl.  Terz 

Quarte 

Quinte 

(«)  I,  n 

(/?)  I,  II,  IV 
(y)  I,  II,  III 
(d)  I,  II,  III,  IV 

432 
648 

648 
864 

833 
500 
490 
657 

3OIV2 
4B4V2 
468 
631 

265 
45572 

417V2 
608 

2297^ 
38972 
396V2 . 
557 

154 

288 
294 
428 

Wir  erkennen  an  dieser  Zusammenstellung,  dass  die  Reihen- 
folge  der  Intervalle,  die  Stellung  jedes  Intervalls  gegen  je- 
des andere  in  Hinsicht  der  richtigen  Urteile,  bei  jeder  Com- 
bination genau  dieselbe  ist.  Auch  die  kleine  Terz  erhalt 
nun  einen  festen  Platz,  den  sie  in  alien  Querreihen  behauptet: 
zwischen  grosser  Terz  und  Quarte^).  Die  iibrigen  Intervalle,  die 
ohnedies  schon  in  den  isolirten  Reihen  I,  II  und  IV  identische 
Platze  einnahmen,  behalten  dieselben  nicht  bios,  wie  natiirlich, 
auch  in  den  Combinationen  dieser  Reihen,  sondern  auch  bei 
der  Hinzurechnung  der  dritten  Reihe  zu  einer  dieser  Com- 
binationen. 

Es  ist  hiemit,  wie  ich  glaube,  bewiesen,  dass  jedes  der 
untersuchten  Intervalle  als  solches  einem  machtigen 
constanten  Einflusse  in  Hinsicht  der  Leichtigkeit  sei- 
ner Analyse  unterworfen  ist, 

Und  wiederum  ist  es  auch  diesmal  nicht  moglich,  irgend 
einen  anderen  Einfluss  als  den  Verschmelzungsgrad  hiefiir  in 
Anspruch  zu  nehmen.     Ware  die  Distanz  ausschlaggebend,  so 


^)  Auch  wenn  wir  II  und  IV  zusammennehmen,  ist  diese  Stellung 
und  die  Folge  der  Intervalle  iiberhaupt  dieselbe.  Es  ergibt  sich  unter 
je  432  fur  den  Triton  34572,  g^"-  Terz  316,  kl.  Terz  2937^,  Quarte  29272, 
Quinte  234.  Aber  diese  Combination  ist  nicht  in  die  Ubersicht  aufgenom- 
men,  weil  man  mit  Recht  sagen  kann,  dass  der  Unterschied  zwischen  kleiner 
Terz  und  Quarte  hier  minimal,  daher  die  Stellung  der  kleinen  Terz  vor 
der  Quarte  rein  zufallig  sei.  Und  dies  begreift  sich  daraus,  dass  die 
Schwebungen  der  Terz  bei  IV  nicht  so  stark  waren  wie  bei  I,  und  darum 
nicht  geniigen,  dem  entgegengesetzten  Umstand  bei  II  das  Gleichgewicht 
zu  halten. 


§  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung.  169 

miisste  die  Quinte  am  umgekehrten  Ende  der  Reihe  stehen,  dann 
Triton,  Quarte,  grosse  und  kleine  Terz,  also  eigentlich  nur  die 
Stellung  der  beiden  letzteren  gegen  einander  und  gegen  den 
Tritonus  diejenige  sein,  die  sie  wirklich  einnehmen.  Ein  Ein- 
fluss  von  Schwebungen  war  zwar  in  diesen  Versuchsreihen 
nach  Aussage  der  Personen  und  nacb  dem  charakteristiscben 
Detail  der  Ergebnisse  mebrfacb  unverkennbar  (was  ohne  Zwei- 
fel  gegeniiber  dem  Befunde  bei  den  friihereu  Versucben  mit 
bereits  angedeuteten  individuellen  Gewobnbeiten  der  beziiglicben 
Personen  zusammenbangt) ,  blieb  jedoch  auf  die  angegebenen 
Grenzen  bescbrankt  und  ist  in  den  obigen  Combinationen  a— 6 
als  eliminirt  zu  betracbten. 

Von  dem  Annehmlicbkeitsgefiihl  baben  sicb  die  Per- 
sonen nach  bestimmter  Aussage  nicbt  leiten  lasseu;  es  war  obne- 
dies  sebr  wenig  ausgebildet  und  erst  durcb  absicbtlicbe  Besin- 
nung,  wenn  iiberhaupt,  bestimmbar;  auch  die  Schwebungen 
traten  nicht  etwa  als  Moment  der  Annehmlicbkeit  oder  Unan- 
nebmlichkeit  sondern  als  eine  indifferente  siunliche  Erscheinung 
in's  Bewusstsein.  Besondere  Versuche  Uber  die  Annehmlicbkeit 
von  Intervallen  lehrten  iiberdies,  dass  z,  B.  Tritonus  und  grosse 
Terz  der  Halfte  der  Personen  gleich  angenehm  erschienen  (den 
tJbrigen  teils  Tritonus,  teils  Terz  augenehmer,  teils  beide  indiffe- 
rent). Quinte  und  grosse  Terz  fanden  in  dieser  Folge  (doch  mit 
Pausen  dazwiscben)  die  Halfte  der  Urteilenden  gleich  angenehm, 
wahrend  Vier  die  Terz  angenehmer  fanden;  in  der  umgekehrten 
Folge  fanden  Fiinf  die  Quinte  angenehmer,  Drei  beide  gleich  an- 
genehm. Bei  Quarte  und  grosser  Terz  in  dieser  Folge  scbien 
sieben  Herren  die  Terz  angenehmer,  bei  kleiner  Terz  und  Quarte 
schien  sechsen  die  Quarte  angenehmer,  wahrend  die  iibrigen  Ur- 
teile  immer  in  den  vorhin  erwahnten  Richtungen  auseinander- 
gingen.  Man  sieht  schon  aus  diesen  Proben,  dass,  welche  Mo- 
mente  auch  immer  das  Gefiihl  bestimmen  mochten,  das  Gefiihl 
seinerseits  nicht  bestimmend  war  fiir  das  Urteil,  ob  ein  oder 
zwei  Tone  vorlagen. 

An  den  Einfluss  von  Obertonen  endlich  ist  aus  denselben 
Griinden  wie  in  den  friiheren  Versucben  nicht  zu.denken. 


170  §  19-    Stufen  der  Tonverschmelzung. 

Wir  schliessen  also  aus  diesen  Versuchen  mit  neuer  Zuver- 
sicht,  dass  die  Verschmelzungsgrade  der  geuannten  Inter- 
valle  es  sind,  die  auch  diesmal  ihre  Reihenfolge  in 
Hinsicht  der  Analysirbarkeit  in  der  Hauptsache  be- 
stimmten  und  in  dieser  Reihenfolge  zum  Ausdruck 
kommen. 

Nur  beziiglich  der  Einen  Frage,  auf  die  es  mir  ausser  der 
Bestatigung  des  bereits  friiher  Gefundenen  ankam,  des  Verhalt- 
nisses  von  grosser  und  kleiner  Terz,  wage  icb  den  entsprechen- 
den  Schluss  nicht  mit  gleichem  Zutrauen.  Denn  obgleicb  auch 
ihre  Stellung  bei  alien  obigen  Combinationen  dieselbe  bleibt, 
so  bemerken  wir  doch,  dass  die  Combination  /9,  durch  welche 
nach  den  obigen  Bemerkungen  Zufalligkeiten  am  besten  com- 
pensirt  sein  diirften,  nur  einen  geriugen  Unterschied  zwischen 
den  Zahlen  beider  Intervalle  bestehen  lasst,  wahrend  alle  iibri- 
gen  Zahlen  in  alien  Querreihen  ganz  erhebliche  Differenzen  von 
ihren  Nachbarn  zeigen.  Bedenken  wir  dazu,  dass  die  grosse 
Terz  eine  etwas  grossere  Tondistanz  darstellt  als  die  kleine, 
und  dass  dieser  an  sich  unbedeutende  Distanzunterschied  doch 
in  der  Nahe  der  qualitativen  Unterscheidungsschwelle  immer- 
hin  einen  Unterschied  fiir  die  Leichtigkeit  der  Analyse  machen 
kann  (und  zwar  auch  in  denjenigeii  Versuchsreihen ,  wo  die 
kleine  Terz  nicht  so  hart  an  die  Schwelle  streift,  wie  dies  bei 
II  sicherlich  der  Fall  war):  so  werden  wir  auf  eine  starkere 
Verschmelzung  der  kleinen  Terz  gegeniiber  der  grossen  keines- 
wegs  mit  derselben  Sicherheit  schliessen  diirfen,  wie  auf  die 
Verschmelzungsunterschiede  der  Ubrigen  Intervalle  untereinander 
und  der  beiden  Terzen  gegeniiber  den  iibrigen.  Vielmehr  wird 
es  wahrscheinlich ,  dass  die  Terzen  einander  in  der  Verschmel- 
zung gleichstehen  —  wie  dies  meiner  subjectiven  Wahrneh- 
mung  entspricht  — ,  wenn  nicht  gar  die  grosse  Terz  eine  starkere 
Verschmelzung  besitzt,  wie  dies  Finer  etwa  deductiv  aus  dem 
Umstand  erschliessen  konnte,  dass  im  Allgemeinen  mit  wachsen- 
der  Grosse  beider  Verhaltniszahlen  der  Schwingungen  die  Ver- 
schmelzungsgrade abnehmen.  Absichtlich  enthaltc  ich  mich  je- 
doch   hier    solcher  Schliisse    und   bleibe    daher    einstweilen   in 


§  19.    Stufen  def  Tonverschmelzung.  171 

Ermangelung  deutlicher  objectiver  Ergebnisse  fur  das  Verbaltnis 
der  Terzen  zu  einander  bei  der  Aussage  meines  eigenen  Be- 
wusstseins. 

So  bat  sicb  denn  auf  dem  Wege  der  Massenversucbe  an 
Unmusikaliscben  die  aufgestellte  Hierarcbie  so  gut  bestatigt, 
als  es  nur  immer  bei  Versucbeu  an  lebendem  Material  der  Fall 
sein  kann,  wo  man  bei  aller  Vorsicbt  immer  nocb  mancberlei  un- 
vorbergesebeiie  oder  docb  unabwendbare  Einfliisse  in  den  Kauf 
nehmen  muss;  wis  Jeder  aus  Erfabrung  weiss,  der  bierin  Er- 
fahrung  bat. 

Nicht  ohne  Interesse  und  teilweise  auch  zu  weiterer  Bestati- 
gung  dienend  ist  der  Fortschritt  der  Ubung  in  den  vier  Hallischeu 
Versuchsreihen ;    worauf   schou    voriibergehend    hingewiesen    wurde. 

Es  wurden  abgegeben 

in  der  Reihe     I  unter     720  Urteilen  410^/2  richtige,  also  57"/^ 
„     „        „        II      „      1080        „        667  „  „     62«/o 

„     „        „       III      „      1200         „         870  „  „     72,5«/, 

„     „        „       IV      „        720        „         543  „  „     75,4«/o 

Nun  ist  allerdings  zu  bedenken,  dass  die  Tonregion  nicht  die- 
selbe  blieb-,  was  uns  hindert,  diese  Zalilen  als  genauen  Ausdruck 
der  fortschreiteuden  tJbung  zu  betrachten.  Doch  konnte  der  Wechsel 
der  Region  nur  beim  tJbergang  von  II  zu  III  in  erbeblich  gunsti- 
gem  Sinne  wirken,  wo  denn  auch  die  tTbungszahlen  den  grossten 
Fortschritt  zeigen.  Von  III  zu  IV  veranderte  sich  die  Region  viel- 
mehr  zu  Ungunsten  der  Zuverlassigkeit,  und  dennoch  ist  ein,  weun 
auch  geringer,  Fortschritt  in  den  Zahlen,  der  also  wol  auf  Rech- 
nung  der  Ubung  gesetzt  werden  muss.  Wahrsoheinlich  waren  die 
Fortschritte  uberhaupt  noch  bedeutender  gewesen,  wenn  die  Zwischen- 
zeiten  der  Versuchsreihen  nicht  immer  urn's  Doppelte  vergrossert 
worden  waren.  Mir  lag  ja  daran,  den  Eintritt  der  Ubung  moglichst 
hintanzuhalten. 

Die  Ubung  verteilte  sich  verschieden  auf  verschiedene  Perso- 
nen.  "Wie  schon  erwahnt,  konnten  am  Schluss  der  vierten  Reihe 
drei  Personen  als  geheilt  entlassen  werden,  wahrend  bei  anderen 
auch  da  noch  starke  Unsicherheit  verblieb. 


172  §  19.   Stufen  der  Tonverschmelzung. 

Auch  die  Intervalle  waren  aber  der  Ubung  in  verschiedenem 
Masse  zuganglich.  Aus  den  obigen  Tabellen  ergibt  sich,  dass  das 
Urteil  bei  den  starker  verschmelzenden  Intervallen  im 
Ganzen  starkere  Fortschritte  macht,  was  offenbar  damit 
zusammenhangt,  dass  es  bei  diesen  anfauglich  am  oftesten  fehl- 
geht  (vgl.  I  323,  wo  ebenfalls  die  zuerst  am  scblechtesten  beur- 
teilten  Intervalle  die  grossten  tJbungsergebnisse  aufweisen).  Die 
Zunahme  der  Zabl  der  ricbtigen  Urteile  in  der  letzten  gegeniiber 
der  ersten  Reihe  (beide  auf  216  Gesammturteile  fiir  jedes  Inter- 
vall  umgerechnet)  betragt  bei 

Triton  gr.  Terz         kl.  Terz        Quarte         Quinte 

12^2  14^2  28^2  63  80 

Die  Zunahme  innerhalb  der  vier  Reihen  ist  freilich  nicht 
tiberall  gleichmiissig.  Am  besten  lassen  sich  gerade  I  und  IV 
wegen  der  Ahnlichkeit  aller  Umstaude  vergleichen.  Doch  ist 
auch  der  Fortscbritt  der  zweiten  gegen  die  erste  Reihe  lehrreich, 
wenn  man  von  der  kleinen  Terz  absieht.  Die  Zahl  der  Quinte 
nimmt  hier  beinahe  um's  Doppelte  zu  (von  54  auf  100,  wenn  I 
auf  216  als  Gesammtzahl  umgerechnet  wird),  die  der  Quarte  um 
ein  gutes  Drittel  (von  97  auf  132^/2),  die  der  ubrigen  Intervalle 
viel  weniger  (gr.  Terz  von  148^/2  auf  153,  Triton  von  154^/2 
auf  178 1/2). 

Sehr  bemerkenswert  ist  es,  dass  diejenigen  Herren,  welche  in 
der  letzten  Versuchsreihe  fast  regelmassig  die  Zweiheit  der  Tone 
erkannten,  doch  ausdriicklich  angaben,  es  sei  ihnen  diese  Zwei- 
heit nicht  tiberall  gleich  deutlich  gewesen.  Einer  formulirtc 
diese  Wahrnehmung  zuerst  dahin:  manchmal  schienen  ihm  beide 
Tone  „nebeneinander",  manchmal  aber  „zusammen"  zu  sein.  Weiter 
erklarte  er  dies  unter  Zustimmung  eines  Anderen  dadurch,  dass 
ihm  das  eine  Mai  die  Tone  eben  deutlicher  oder  klarer,  das  an- 
dere  Mai  weniger  deutlich  als  zwei  erschienen.  Es  sei  ihnen  dies 
als  ein  eigentumlicher  Unterschied  der  Klange  aufgefallen.  Ich 
glaube  hieraus  schliessen  zu  diirfen,  dass  diesen  Individuen  bereits 
das  Phiinomen  der  Verschmelzuug  in  sich  selbst  direct  wahrnehm- 
bar  wurde,  wahrend  vorher  durch  dasselbe  zwar  das  Verhaltnis  ihrer 


§  19.    Stufeu  der  Tonverschmelzuiig.  173 

richtigen  und  falschen  Urteile  bei  den  einzelnen  Intervalleii  mit- 
bedingt  worden,  ihiien  aber  die  Ursache  ihrer  Urteile  uicht  offen- 
bar  geworden  war. 

Endlich  erwahue  icb,  dass  in  den  Fallen,  wo  zwei  Tone 
wahrgenommen  wurden,  sammtliche  Teilnehmer  mit  Bestimmtheit 
gleichzeitige  und  nicht  etwa  abwechselnde  Tone  zu  horen  be- 
haujiteten. 

10.  Abstande  zwischen  den  Verschmelzungsstufen. 
Verschmelzungscurve.     Zweifelhafte  Puncte. 

Wir  haben  aus  den  erhaltenen  Zahlen  fiir  Octave,  Quinte, 
Quarte,  Terz  und  Secunde  nur  das  Eine  geschlossen ,  dass  der 
grosseren  Zahl  richtiger  Urteile  in  einer  und  derselben  Versuchs- 
reihe  im  Allgemeineu  geringere  Verschmelzung  entspreche;  nicht 
etwa,  dass  die  Verschmelzungsgrade  in  dem  durch  diese  Zahlen 
ausgedriickten  Verhaltnis  standen.  Die  Voraussetzung  einer  ein- 
fachen  Proportionalitat  zwischen  Verschmelziingsgrad  und  Zu- 
verlassigkeit  der  Analyse  ware  selbst  dann  willkiirlich,  wenn 
alle  anderen  Bedingungen  der  Analyse  ausser  der  Verschmelzung 
die  gleichen  waren.  Nun  aber  variiren  ■  iiberdies  die  Zahlen- 
werte  fiir  ein  und  dasselbe  Intervall  erheblich  in-  den  verschie- 
denen  Versuchsreihen,  wahrend  der  Verschmelzungsgrad  alien 
unseren  Erwagungen  zufolge  derselbe  bleibt.  Durch  weitere 
Fortsetzung  solcher  Versuche  an  ahnlichen  Individuen,  wobei 
allemal  mit  dem  Eintritt  einer  merklichen  Ubung  abzubrechen 
ware,  wiirden  diese  Schwankungen  zwar  immer  mehr  verschwin- 
den  und  gewissermassen  objectivere  Durchschnittswerte  fiir  jedes 
Intervall  herauskommen.  Aber  auch  dann  wlirde  man  kaum 
durch  irgend  eine  bindende  Folgerung  aus  diesen  Werten  zah- 
lenmassige  Bestimmungen  der  Verschmelzungsgrade  selbst  ab- 
leiten  konnen. 

Dagegen  kann  und  muss  aus  bedeutenden  constanten  Unter- 
schieden  in  der  Grosse  der  Zahlenabstande  allerdings  der  Schluss 
gezogen  werden,  dass  auch  die  Verschmelzungsstufen  un- 
gleiche  Abstande  untereinander  besitzen.  Dies  ist  eine 
notwendige  Folgerung,  wenn  wir  die  Verschmelzung  iiberhaupt 
als  die  wesentlichste  Ursache  der  gefundenen  Zahlenunterschiede 


174  §  19-   Stufen  der  Tonverschmelzung. 

betrachten.  In  dieser  Beziehung  verdieneu  in  der  Tabelle  S.  168 
besondere  Beachtung  die  ausserordentlich  viel  grosseren  Ab- 
stande  zwischen  Quarte  und  Quinte  gegeniiber  alien  iibrigen  Ab- 
standen.  In  alien  Querreihen  der  Tabelle  wiederholt  sich  dies, 
wie  aus  folgender  Differenztafel  ersichtlich: 

Diff.  Diff,  Diff.  Diff. 

Gesammtzahl     Triton        gr.  Terz        kl.  Terz         Quarte        Quinte 
(«)  432  3IV2  36V2  35V2  75V2 

(/?)  648  367-2  8  66  101 V^ 

(y)  648  22  507-2  21  102% 

{6)  864  27  22  51  129 

Der  Abstand  von  Quarte  und  Quinte  ist  bei  a,  7  und  6  Uber 
doppelt  so  gross,  als  der  grosste  sonstige  Abstand,  bei  /?  iiber- 
trifft  er  wenigstens  denselben  weitaus  und  ist  so  gross  wie  die 
beiden  nachstgrossten  Abstande  zusammengenommen. 

Ziehen  wir  nun  auch  die  Octave  in  die  Vergleicbung,  wie 
sie  in  den  friiheren  Versuchen  auftritt,  so  sehen  wir  in  den 
ersten  Versuchen  S,  145  zwischen  Octave  und  Quinte  einen  un- 
geheuer  viel  grosseren  Abstand  als  zwischen  Quinte  und  alien 
folgenden  Intervallen. 

Dies  fiihrt  auf  die  Vermutung,  dass  mit  zunehmender 
Verschmelzung  zugleich  der  Abstand  zwischen  den  Ver- 
schmelzungsstufcn  zunehme.  Dieser  Vermutung  widerspricht 
allerdings  die  vereinigte  Tabelle  aus  den  weiteren  Versuchen 
S.  148  insofern,  als  hier  der  Abstand  zwischen  Octave  und  Quinte 
kleiner  ist  als  zwischen  Quinte  und  Quarte;  aber  ein  Blick  auf 
die  drei  einzelnen  Versuchsreihen  lehrt,  dass  dijese  Verschie- 
bung  nur  von  der  ersten  Reihe  kommt,  wiihrend  in  der  zwei- 
ten  und  dritten  der  Abstand  zwischen  -Octave  und  Quinte  den 
von  Quinte  und  Quaiie  doch  um  etwas  iibertriift.  So  ver- 
liert  die  Ausnahme  an  Gewicht  und  wiirde  vermutlich  in  einer 
aus  zahlreicheren  Einzelreihen  gebildeten  Gesammttabelle  ver- 
schwinden. 

Wir  konnen  diese  Frage  aber  auch  dem  directen  Urteil 
unterwerfen.  Ebenso  wie  es  einen  Sinn  hat,  die  Distanzen  von 
Empfiudungsintensitaten  untereinander  zu  vergleichen  und  die 


§  19.    Stufen  der  Tonverschmelzimg.  175 

eine  als  grosser,  kleiner,  gleich  gegeniiber  der  anderen  zu  be- 
zeichnen,  ja  auch  infolge  Dessen  von  doppelter.  dreifacher 
Intensitatsdistanz  zu  reden:  so  kann  es  audi  Distanzurteile 
iiber  Verschmelzungsgrade  geben  (Urteile  boherer  Ordnung, 
vgl.  I  98,  122  f.,  392  f.).  Dergleichen  Urteile  konnen  selbst- 
verstandlich  nur  hochst  Geiibten  zugemutet  werden,  die  zugleich 
auch  tbeoretisch  alle  in  Betracbt  bez,  in  Abrecbnung  kommen- 
den  Umstande  genau  kennen  und  im  gegebeuen  Fall  von  den- 
selben  zu  abstrabireu  gelernt  haben.  Soweit  ich  mir  in  gegen- 
wartiger  Frage  ein  solcbes  Urteil  zutrauen  darf,  scheint  mir 
in  der  Tat  das  obige  Gesetz  zu  besteben. 

Auf  diesem  doppelten  Wege  konnten  wir  mit  der  Zeit 
immerhin  zu  gewissen  zablenmassigen  Bestimmungen  iiber  die 
Abstande  der  Verscbnjelzungsstufen  gelangen,  niemals  aber  zu 
solcben  iiber  die  Verscbmelzungsstufen  selbst;  ganz  analog  wie 
bei  den  Intensitaten  von  Empfindungen  ^). 

Hicnach  kann  man  auch  versuchen,  sich  das  System  der 
Verscbmelzungsstufen  in  einer  Curve  zu  veranschaulichen,  und 
wir  wollen  dies  tun,  nicht  so  sehr  dem  „angenehmen  Holz- 
schnitt"  an  sich  zu  Liebe,  als  um  einige  weitere  Bemerkungen 
daran  zu  kniipfen  iiber  Puncte,   welche  noch  genauerer  Unter- 


^)  Wenn  man  die  Querreihe  /9  der  Tafel  S.  168  als  diejenige  zu 
Grunde  legt,  worin  die  Verschmelzungsverhaltnisse  am  reinsten  zum 
Ausdruck  kommen,  und  fur  die  Quarte  rund  400,  fiir  die  Quinte  300  an- 
setzt,  so  konnte  man  die  Octave  nach  den  fruheren  Erfahrungen  mit 
rund  100  anfiigen.  Setzen  wir  dann  diese  Eeihe  jenseits  400  nach  glei- 
chem  Gesetz  (die  Differenz  immer  halbirend)  waiter  fort,  so  erhalten 
wir  450,  475,  48772,  493%,  496V8  •  •  •  •  und  wurden  bei  diesen  Zahlen 
zunachst  an  die  grossen  und  kleinen  Terzen  und  Sexten,  dann  an  die 
natiirliche  Septime  und  etwaige  ahnliche  Intervalle  denken  konnen.  Die 
letzte  der  genannten  Zahlen  deckt  sich  aber  bereits  nahezu  mit  der- 
jenigen  des  Tritonus  in  der  Reihe  /?  (500).  So  wurden  diese  gleichsam 
idealen  Zahlen  der  richtigen  Urteile,  wenn  wir  die  jeweilig  kleinere 
Zahl  als  Ausdruck  der  grflsseren  Verschmelzung  betrachten,  das  Gesetz 
der  Verschmelzungsabstande  darstellen.  Aber  ich  mochte  auf  eine  solche 
Speculation  ausdriicklich  nicht  das  mindeste  Gewicht  legen;  wir  bran- 
ch en  sie  nicht. 


176  §  19.    Stiifen  der  Tonverschmelzung. 

suchung  beclurften.  Denken  wir  einen  Ton  festgehalten  und 
einen  anderen  vom  Einklang  stetig  in  die  Hohe  steigend  bis 
zur  Octave,  so  konnen  wir  uns  von  der  Aufeinanderfolge  der 
Verschmelzungsstufeu  folgendes  Bild  machen: 


Die  Wellengipfel  bedeuten  die  hoheren  Verschmelzungsgrade 
und  wieder  der  hohere  Gipfel  jedesmal  den  hoheren  Grad,  der 
Wellenboden  den  niedersten  Grad  iiberhaupt.  Die  Unterschiede 
zwischen  den  starkereu  Verschmelzungsgraden  sind  gemass  dem 
eben  Gesagten  grosser  genommen  als  die  zwischen  den  schwa- 
cheren,  im  Ubrigen  allerdings  willkiirlich.  Dem  unter  3.d)  er- 
wahnten  Unterschied,  wonach  bei  starkerer  Verschmelzung  der 
tibergang  in  die  unterste  Stufe  rascher  erfolgt,  ist  durch  die 
steilere  Form  der  bezUglichen  Erhebung  Rechnung  getragen. 
Bei  Weiterbewegung  des  veranderlichen  Tones  iiber  die  Octave 
hinaus  wiirden  sich  die  Formen  identisch  wiederholen. 

Von  den  punctirten  Linien  bezieht  sich  die  erste  auf  das 
sogleich  nachher  zu  besprechende  hypothetische  Verhaltnis  der 
Prime. 

Die  iibrigen  punctirten  Linien  sollen  den  Zweifel  andeuten, 
ob  zwischen  den  dadurch  verbundenen  Verschmelzungsstufen, 
z.  B.  grosser  und  kleiner  Terz,  nicht  vielleicht  die  Verschmel- 
zung statt  auf  den  niedersten  Grad  auf  einen  nur  relativ  ge- 
ringeren  zuriickgeht.  Ich  mochte  dies  nicht  unbedingt  aus- 
schliessen.    Besonders  der  t)bergang  von  der  Quinte  (2 : 3)  zur 


§  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung.  177 

kleinen  Sext  (5:8)  legt  solchen  Zweifel  nahe;  hier  ist  ja  die 
iibermassige  Quinte  bereits  fast  identisch  rait  der  kleinen  Sext. 

Ebensowenig  mochte  kh  praejudiciren  iiber  etwaige  feinere 
Unterseliiede  der  Verschmelzung  innerhalb  der  sammtlichen  Ton- 
verhaltnisse,  welche  wir  zur  untersten  Classe  rechneten;  wie 
dies  beziiglich  4 :  7  bereits  oben  ausgesprochen  ist.  Das  letztere 
wurde  zwisclien  den  Gipfeln  5 : 6  und  1:2  als  ein  kleinerer 
einzutragen  sein.  Entsprechend  dann  vielleicht  auch  7  :  8  zwischen 
1  r  1  und  5:6. 

Es  darf  nicbt  Wunder  nehmen,  dass  in  einer  Angelegen- 
heit,  iiber  welch e  unmittelbare  Beobachtung  zuerst  und  zuletzt 
entscheideu  soil,  gleichwol  noch  Zweifel  bleiben.  Leicht  liessen 
sich  aus  sonstigen  Sinnosgebieten  analoge  Zweifel  und  Streitig- 
keiten  anfiihren  iiber  das,  was  man  eigentlich  unter  bestimmten 
Umstiinden  sieht  u.  s.  w.,  wahrend  docb  eben  diese  Wahrneh- 
mungen,  deren  genaue  inhaltliche  Beschreibung  Schwierigkeiten 
macht,  nicbt  bios  dera  gewohnlichen  Leben,  sondern  auch  den 
bildenden  Kiinsten  mit  zu  Grunde  liegen.  Man  braucht  sie 
darum  noch  nicht  zu  den  „unbewussten"  zu  zahlen;  sie  sind 
nur  schwer  von  den  daran  geknlipften  sonstigen  psychischen 
Elementen  zu  trennen  (vgl.  o.  iiber  die  Quarte).  Die  Zweifel 
iiber  die  Senkung  der  Curve  an  den  punctirten  Stellen  haben 
noch  eine  besondere  Ursache  in  dem  Umstand,  dass  die  an- 
grenzenden  Intervalle  nur  wenig  (urn  einen  halben  Ton)  ver- 
schieden  sind  und  darum  das  Dazwischenliegende  immer  nur 
unter  dem  Gesichtspunct  einer  Abweichung  von  jenen,  einer 
verstimmten  Terz  u:  s.  f.  aufgefasst  wird.  Ausserdem  sind  die 
hier  zweifelhaft  gelassenen  Differenzen  jedenfalls  geringer  als 
die  iibrigen:  ihre  Wahrnehmung  wiirde  daher  ein  ausserst  ver- 
feinertes  Urteil  iiber  diesen  besonderen  Fragepunct  erfordern. 
Die  Geschichte  der  Musik  wie  der  Musiktheorie  wird  uns  im 
folgenden  Bande  noch  sprechende  Belege  dafUr  liefern,  dass 
das  Verschmelzungsurteil  sich  im  Laufe  der  Zeiten  verfeinert 
hat.  dass  selbst  die  Erhebung  der  Terzen  und  Sexten  iiber  den 
Wellenboden  im  Altertum  lange  Zeit  unbemerkt  geblieben  ist. 
So  ist  es  immer  denkbar  und  sogar  wahrscheinlich,   dass  nach 

Stumpf,  Tonpsychologie.   11.  12 


178  §  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung. 

und  nach  auch  kiinftig  innerhalb  der  Tonverhaltnisse  der  un- 
tersten  oder  der  beiden  untersten  Verschmelzungsstufen  feinere 
Unterschiede  bemerkt  und  vielleicbt;  auch  praktisch  verwertet 
wurden;  m.  a.  W.  dass  4:7  (7:8),  6:7  (7:12)  und  dgl.  zu 
„Consonanzen''  erhoben  wurden.  Dies  wiirde  freilicli  eine  voll- 
standige  Umgestaltung  unseres  Musiksystems  bedeuten. 

11.  Hypothetische  Verschmelzung  der  Prime. 

Kann  man  bei  dem  Scbwingungsverhaltnis  1 : 1  von  zwei 
Tonen  gleicher  Hohe  reden?  Der  Umstand,  dass  zwei  Wellen- 
systeme  zum  Ohr  dringen,  die  von  zwei  getrennten  objectiven 
Schallquellen  herriihren,  kann  uns  natiirlich  nicbt  dazu  veran- 
lassen,  zwei  Tonempfindungen  zu  statuiren.  Wol  aber  lasst  der 
Umstand,  dass  wir  gewohnlich  mit  zwei  Obren  horen,  die  Frage, 
fiir  diesen  Fall  wenigstens,  berechtigt  erscheinen.  Aber  es  ist 
nicht  ganz  leicht  zu  entscheiden,  ob  wir  wirklich  von  den  bei- 
den Ohren  zwei  oder  nur  Einen  Ton  erhalten.  Der  Unterschied 
pq,  von  dem  wir  o.  52  f.  sprachen,  scheint  mir  nicht  notwendig 
die  Zweiheit  der  Empfindungen  bei  gleicher  Qualitat  derselben 
zu  bedingen.  Wir  miissen  diese  Frage  hier  auf  sich  beruhen 
lassen,  um  uns  nicht  zu  weit  von  der  Richtung  unserer  Unter- 
suchung  zu  entfernen;  sie  ist  nur  in  Verbindung  mit  einer  ein- 
gehenderen  Behandlung  der  Fragen  iiber  Tonlocalisation  zu 
erortern. 

Setzen  wir  indessen  einmal  die  Zweiheit  voraus,  so  erhalt 
damit  das  Verhaltnis  der  Prime  fiir  den  Fall  des  zweiohrigen 
Horens  eine  subjective  Bedeutung  (und  zwar  auch  bei  einer 
objectiv  einheitlichen  Schallquelle  und  Schwingung);  und  es 
kann  dann  weiter  gefragt  werden,  ob  hier  der  gleiche  oder  ein 
starkerer  Verschmelzungsgrad  stattfindet  als  bei  der  Octave 
(einen  geringeren  wird  ohnedies  Niemand  annehmen). 

Aber  auch  diese  Frage  ware  schwer  durch  blosse  Beob- 
achtung  zu  losen,  da  jedenfalls  die  beiden  Empfindungen  schon 
wegen  des  Mangels  alles  qualitativen  Unterschiedes  schwer 
trennbar  sein  miissen  (der  natiirliche  Hohenunterschied  beider 
Ohren  wird  hier  als  getilgt  vorausgesetzt,  vgl.  o.  138).  Die 
Unterscheidung  aber  bildet  die  Voraussetzung  des  unmittelbaren 


§  19.    Stufen  tier  Tonverschmelzimg.  179 

Urteils  iiber  Verschmelzung.  Deductiv  jedoch  ware  aus  dem 
uiiter  2.g)  erwahnten  Gesetz,  wonach  Erweiterung  eines  Inter- 
valls  nm  eine  Octave  das  Verschmelzungsverhaltnis  nicht  ver- 
iindert,  zu  schliessen,  dass  die  Primen-  der  Octavenverschmelzung 
gleich  ware. 

Die  Frage  sollte  nur  der  Vollstaudigkeit  halber  hier  an- 
geregt  und  in  dieser  rein  hypothetischen  Weise  beantwortet 
werden.  Fiir  die  spateren  Untersucliungen  dieses  Werkes  hat 
sie  keine  Bedeutung,  da  musikalisch  ein  zweiohrig  gehorter  Ton 
stets  nur  als  Einer  gilt  und  die  etwaige  drtliche  Zweiheit  der 
Empfindung  ignorirt  wird. 

12.  Bestatigungen  durch  die  musikalische  Praxis 
und  durch  Ausserungen  von  Theoretikern. 

Ohne  noch  die  Bedeutung  der  hier  beschriebenen  Verhalt- 
nisse  fiir  die  Musiktheorie  zusammenhangend  zu  verfolgen,  wol- 
len  wir  doch  einstweilen  zum  Be  weise,  dass  sie  dem  mensch- 
Hchen  Ohr  in  friihesten  Zeiten  und  weitesten  Kreisen  keineswegs 
entgangen  sind,  kurz  darauf  hinweisen,  dass  nicht  bios  von  Alters 
her  und,  soviel  wir  wissen,  selbst  bei  den  wildesten  Volkern, 
Manner  und  Weiber  in  Octaven  singen  und  dies  dem  ein- 
stimmigen  Gesang  als  aequivalent  betrachten,  sondern  dass  sich 
in  nicht  geringer  Zahl  auch  fortgefiihrte  Quinten-  oder  Quarten- 
parallelen  in  der  Musik  verschiedetier  Volker  finden^),  analog  den 
Anfangen  des  mittelalterlichen  „Organum";  dass  endlich  Natur- 
sanger  auch  bei  uns  oft  genug  in  Quinten  singen,  ohne  es  zu 
beabsichtigen  ^) ,  offenbar  weil  dieses  Intervall  auch  noch  einen 
annahernd  eiuheitlichen  Eindruck  macht.  Es  besteht  zwischen 
der  Octave,  die  unsre  Theoretiker  dem  „Unisono"  gleichstellen, 
und  der  Quinte  in  dieser  Hinsicht  ein  bios  gradueller  Unter- 
schiedr    ein    einziger    Ton    ist  ja    die    Octave    ebenfalls    nicht. 


^)  Vgl.  z.  B.  das  von  Ellis  und  mir  Angefiihrte  in  der  Vierteljahrs- 
schrift  f.  Musikwissensch.  II  (1886)  522.  Bei  einer  Singhaleseutruppe 
habe  ich  inzwischen  Analoges  beobachtet. 

2)  Mozart  erzahlt  in  seinen  Briefen,  dass  er  dies  in  Mailand  gehort. 
Ich  hatte  Gelegenbeit,  es  naher,  in  meiner  Kiiche,  zu  vernehmen.  Vgl. 
auch  Helmholtz  420. 

12* 


180  §  19-    Stufen  der  Tonverschmelzung. 

Wenn  in  der  modernen  Musik  Quintenparallelen  verboten  sind, 
so  hat  dies  besondere  Griinde,  die  aber  viel  schwerer  ausein- 
anderzusetzen  sind,  als  die  Griinde  fiir  ilire  Anwendung.  Eine 
Sirene  mit  doppelter  Locherreihe  im  Verbaltnis  2 : 3  macht 
bei  stetigem  Emporsteigen  der*  beiden  Tone  von  tiefster  Tiefe 
zur  mittleren  Region  einen  ganz  grossartigen  Eindruck.  Wir 
haben  nur  in  unsrer  Musik  fiir  stetige  Veranderungen  iiber- 
haupt  keine  Verwendung,  sonst  wiirden  solche  Quintenparal- 
lelen zu  den  beliebtesten  Tonmalereien  gehoren.  Aber  selbst 
auf  unsrer  Orgel  haben  sich  nicht  bios  Octaven-,  sondern  auch 
Quinten-  und  Terzen-  und  Mixturen-Register  trotz  des  heftigen 
Widerspruches  der  Theoretiker  ^)  vom  Mittelalter  bis  auf  die 
heutige  Zeit  erhalten.  Bei  den  erstgenannten  klingt  durch 
eigens  angefiigte  Pfeifen  die  hohere  Octave,  Quinte,  Terz  (De- 
cime),  bei  den  Mixturen  klingen  sogar  Terz  und  Quinte  zu- 
gleich  mit.  Die  Einrichtuiig  ist  so  getroffen,  dass  bei  verniinf- 
tiger  Anwendung  (hinreichend  iiberwiegender  Verstiirkung  des 
Grundtons  durch  andere  Register)  ein  annahernd  einheitlicher 
und  doch  vollerer  Eindruck  erzielt  wird,  obgleich  feine  Ohren 
bei  besonders  darauf  gerichteter  Aufmerksamkeit  die  mitklin- 
genden  Tone  heraushoren  und  dann  natiirlich  in  ihi'en  musi- 
kalischen  Gefiihlen  durch  solche  barbarisch  unvermittelte  Drei- 
klangsfolgen  aufs  Tiefste  beleidigt  werden.  Das  ist  ja  aber 
ebenso  der  Fall  bei  den  Obertonen^). 

Ambkos  gibt  ein  Beispiel,  wie  man  auf  dem  Clavier  die  Quinten- 
register  ohne  unangenehme  Wirkung  nachahmen  konne^): 


^)  Z.  B.  Chladni  und  G.  Weber.  S.  des  Letzteren  ,,Versuch  einer 
geordnetea  Theorie  der  Tonsetzkunst"  I  13;  IV  92. 

^)  Es  soil  uicht  geleugnet  werden,  das  Mixturen  ofters  aucli  nur  des 
Larms  halber  und  in  unsinniger  Weise  zusammengefiigt  werden.  So 
findet  sich  in  der  grossen  Orgel  des  Stiftes  Strahow  in  Prag  eine  IGfache 
Mixtur,  worin  sogar  die  grosse  und  kleine  Terz  zusammen  vorkom- 
men,  wenn  auch  in  verschiedenen  Octaven.  Eine  Tonleiter,  auf  diesem 
Register  allein  gespielt,  kann  „Stein'  erweichen,  Menschen  rasend  ma- 
chen".  Aber.aus  Misbrauchen  kann  nicht  gegen  den  Gebrauch  argu- 
mentirt  werden. 

^)  Zur  Lehre  vom  Quintenverbot  33. 


§  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung. 


181 


Jeder  Zusammenklang  euthalt  hier  Octaven,  Quinten  und  Quar- 
ten;  und  doch,  wenn  das  Ganze  rasch  und  kraftig  gespielt  wird, 
machen  sich  die  Quinten-  und  Quartenparallelen  nicht  uuangenehm 
geltend.  Es  kommt  eben  Alles  darauf  an,  ob  sie  als  solche  be- 
raerkt  werden. 

Das  Interessanteste  aber  an  diesem  Beispiel  ist  Ambros  selbst 
entgangen.  Man  wird  finden,  dass  nur  am  oberen  Ende  des  Passus 
die  Wirkung  sich  zum  Schlechteren  andert,  und  mir  war  dies  aufge- 
fallen,  ehe  ich  noch  den  Grund  erkannte.  Dieser  liegt  eiufach  dariu, 
dass  bei  h^f^h^  keine  Quinte  und  Quarte,  sondern  eine  verminderte 
Quinte  und  tibermassige  Quarte  (beide  auf  dem  Clavier  gleich  dem 
Tritonus)  verbunden  sind.  Ambros  hatte  daher  besser  fiir  seinen 
Zweck  die  Figur  nur  etwa  bis  ff^  und  dann  wieder  zuriick  laufen 
lassen.  Aber  man  sieht,  wie  sich  fiir  das  Gehor  augenblicklich  selbst 
bei  raschem  Tempo  die  geringere  Verschmelzung  geltend  macht. 

Eine  weitere  vorlaufige  Bestatigung  finden  wir  in  Dem,  was 
liber  den  Eindruck  der  Octave,  gelegentlich  aber  auch  iiber  den 
der  Quinte,  von  Musiktheoretikern  und  Akustikern  selbst  da  oder 
dort  ausgesprochen  wird  —  abgesehen  noch  von  dem  ausdriick- 
lichen  Hinweis  auf  die  Verschmelzungstatsachen,  wie  er  sich  in  den 
alteren  Definitionen  von  Consonanz  und  Dissonanz  findet,  woriiber 
wir  im  folgenden  Abschnitt  Ausfiihrliches  berichten. 

So  fragt  der  junge  Descartes  einmal,  warum  zwei  Stimmen 
nur  in  der  Octave  miteinandergehen  diirfeu  (die  Frage  selbst  stellt 
schon  Aristoteles),  und  gibt  als  Grund  an,  dass  bei  der  Quinte 
die  beiden  Tone  mehr  das  Gehor  beschaftigen  ^). 


^)  Musicae  Compendium,  Amstelod.  1683  (verfasst  1618)  p.  19:  „Ra- 
tio  enim  quare  ita  octava  possit  poni,  est,  quia  unisonum  in  se  complec- 


182  §  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung. 

Rameau  und  D'Alembekt  sprechen  von  einer  Vermischung 
der  Octaventone  ^)  (die  der  Letztere  allerdings  falschlich  auf  ihre 
Ahnlichkeit  zuriickfiihrt) ;  H.  Belleemann  von  einer  solchen  in  ge- 
ringerem  Grade  auch  bei  Quinten^).  H.  Riemann  bemerkt,  „dass 
fiir  unsere  Auffassung  (uicht  bios  fiir  die  Auffassung!)  schon  im 
einzelnen  Klange  mit  Obertonen  die  Octaven  noch  in  ganz  beson- 
derer  Weise  mit  dem  Grundton  verschmelzen;  .  .  .  selbst  in  Klang- 
farben,  wo  die  2  starker  ist  als  die  1,  ist  es  sehr  schwer,  sie  ge- 
trennt  aufzufassen"  ^). 

E.  H.  Weber  bemerkt  einmal:  „Wir  sind  nicht  im  Stande, 
die  Empfindungen  der  Warnie  und  Kalte  in  eine  verschmolzen  uns 
vorzustellen,  etwa  wie  wir  uns  einen  hdheren  und  einen  tieferen 
Ton  vorstellen,  indem    wir   sie   im  Verhaltnisse   einer  Tertie  auf- 

titur,  tuncque  duae  voces  instar  unius  audiuntur,  quod  idem  in  quinta 
non  accidit;  hujus  eiiim  termini  magis  inter  se  differunt,  ideoque  plenius 
auditum  occupant".  Auch  weiter  unten  (47)  sagt  er,  es  sei  „minor  dif- 
ferentia" zwischen  den  Tonen  der  Octave  als  zwischen  denen  der  Quinte. 
Da  dies  offenbar  von  der  Distanz  der  Tone  nicht  gilt,  so  kann  ihm  nur 
die  grossere  Einheitlichkeit  des  Eindrucks  vorgeschwebt  haben. 

*)  Rameau,  Demonstration  du  Principe  de  I'Harmonie,  1750,  p.  16. 
D'Alembekt,  Systemat.  Einleitung  in  die  musikalische  Setzkunst.  Aus  dem 
Franzosischen   mit  Anmerkungen   von  F.  W.  Marpurg,   1757,   S.  12—13. 

^)  Der  Contrapunct  ^  (1877)  127:  „In  beiden  Intervallen  vermischen 
sich  ihre  Tone  so  vollkommen  miteinander,  dass,  wenn  zwei  Stimmen  in 
Octaven-  und  Quintenparallelen  einhergehen,  wir  die  Verschiedenheit 
zweier  solcher  Stimmen  nicht  mehr  in  geniigender  und  befriedigender 
Weise  mit  dem  Ohre  wahrzunehmen  im  Stande  sind.  Bei  der  Octave 
ist  dies  selbstverstandlich  in  noch  hoherem  Masse  als  bei  der  Quinte 
der  Fall". 

^)  Musikalische  Syntaxis  1877,  S.  10.  In  der  Erstlingsschrift  „Uber 
das  musikalische  Horen"  (Gottinger  Diss.,  gedr.  Leipzig  1874)  veranlasst 
diese  Tatsache  Riemann  zu  naturphilosophischen  Speculationen,  die  er 
wol  jetzt  selbst  nicht  mehr  billigen  diirfte.  „Die  Durchfiihrung  der  Zwei- 
heit  in  den  organischen  Bildungen  lasst  darauf  schliessen,  dass  diese 
als  einfachstes  Vielfache  die  Stelle  der  Einheit,  welche  als  ruhendes 
Moment  keine  Fahigkeit  zu  Weiterbildungen  hat,  zu  verwerten  berufen 
sei;  sodass  wir  .  .  .  die  Zwei  als  eine  aus  sich  heraustretende  Eins 
anzusehen  batten  und  sie  mit  Eins  nahezu  identisch  nennen  miissten" 
(S.  18).  Der  Vorgang  M.  Hauptmann's  ,  den  Riemann  auch  heranzieht, 
verdiente  gerade  in  dieser  Richtung  keine  Nachfolge. 


§  19.    Stufen  der  Tonverschmelzung.  183 

fassen"^),  Der  Gegensatz  ist  freilich  schief,  da  Weber  eine  Ver- 
schmelzuug  zu  einer  mittleren  Temperatur  im  Auge  hat^),  wofur 
ja  auch  das  Toureich  kein  Analogou  bieteu  wiirde.  Aber  die  Ton- 
verschmelzung selbst  hat  er  offeubar  beobachtet. 

Deutliche  Hinweise  liegen  sodann  in  den  Streitschriften,  welche 
Ohm  und  Seebeck  iiber  die  Definition  des  Tones  wechselten,  und 
in  Dem,  was  Helmholtz  iiber  die  Octavenverschraelzung  aus  Aniass 
eines  von  Ohm  angegebenen  und  von  ihm  modificirten  Versuches 
bemerkt  hat  (woriiber  Naheres  §  21,  3;  §  23,  2,  b);  ebenso  in  den 
Beschreibungen  R  Konig's  ,,Uber  den'  Zusammenklang  zweier  Tone"'^), 
in  Bemerkungen  Kessel's,  A.  f.  0.  XVIII  (1882)  137.  Doch  ist  hier 
uberall  Verschraelzung  identificirt  mit  Nichtunterscheidung  beider  Tone 
Oder  auch  mit  Unterdruckung  des  einen  (hdheren)  durch  den  au- 
deren  (tieferen)  in  der  Wahrnehmung,  was  Alles  wol  auseinander- 
gehalten  werden  muss.  So  sagt  z.  B.  Kessel:  „Sind  die  Tone  (zweier 
vor  Ein  Ohr  gebrachter  Stimmgabelu)  von  gleicher  Intensitat  und 
stehen  sie  im  harmonischen  Verhaltnis,  so  verschmelzen  sie  zu  einem 
harmonischen  Gauzen,  sodass  man  sich  der  Resonatoren  bedienen 
muss,  um  die  einzelnen  Bestandteile  des  Klanges  besonders  heraus- 
zuhoreu.  Dies  trifft  aber  nur  dann  zu,  wenn  die  Tone  des  Klanges 
innerhalb  der  Grenze  zweier  Octaven  gewahlt  werden."  (Auch  dann 
ist  es  zuviel  gesagt!)  .,Liegen  die  Tone  in  der  Scala  weiter  von- 
einander  ab,  so  rufen  sie  wol  bei  ihrem  Zusammenklang  einen  har- 
inonischen  Eindruck  hervor,  aber  die  Obertone  werden  auch  ohne 
Resonator  herausgehdrt.  Dieses  Trennungsvermdgen  gewinnt  an 
Sicherheit,  je  weiter  die  Tone  der  Scala  voneinander  abliegen,  so 
dass  eine  Verschmelzung  von  Tonen  der  unteren  und  der  oberen 
Horgrenze  zu  Einem  Eindruck  gar  nicht  mehr  stattfindet;  sie  wer- 
den gesondert  wahrgenommen,  auch  wenn  sie  von  verschiedener 
Starke  sind." 


^)  Tastsinn  und  Gemeingefuhl.    Wagner's  Hdw.  Ill,  2.  S.  556. 

^)  „Bringen  wir  z.  B.  ein  kalteres  Glied  mit  einem  warmeren  in  Be- 
riihrung,  so  empfindeh  wir  nicht  die  mittlere  Temperatur,  sondern  unter 
manclien  Umstanden  Kalte,  unter  anderen  Warme,  und  bisweilen  ab- 
wechselnd  Kalte  und  Warme"  (a.  a.  0.). 

3)  Pogg.  Ann.  157  (1876)  S.  177  f.  bes.  191,  192. 


184  §  20.    tJber  die  Ursache  cler  Tonverschmelzung. 


§  20.    Tiber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

Wir  haben  den  Zusammenhang  zwischen  d6n  Graden  der 
Tonverschmelzung  und  den  Verhaltnissen  der  Schwingungszahlen 
zunachst  als  einen  rein  empirischeu,  als  ein  tatsachliches  Zu- 
sammentreffen  hingestellt,  ohne  uns  sogleich  darum  zu  bekiim- 
mern,  ob  und  wie  er  weiter  erklart  werden  konnte.  Natiirlich 
ist  niclit  daran  zu  denken,  dass  hier  eine  ganz  unmittelbare 
Causalverbiudung  vorlage.  Am*  allerwenigsten  daran,  dass  Schwin- 
gungszahlen oder  ihre  Verhiiltnisse  empfunden  wiirden  (den  In- 
halt  der  Empfindungen  bildeten)  und  dass  die  Verschmelzungs- 
grade  nichts  Anderes  waren  als  die  grossere  oder  geringere  Ein- 
fachheit  dieser  empfundenen  Verhaltnisse  selbst.  Redewendungen 
dieser  Art  konnen  heute  nur  noch  im  unklaren  Gewasser  popularer 
Schriften  gedeihen.  Wir  wissen,  dass  Schwingungen  und  ihre 
Zahlenverhaltnisse  lediglich  als  Ursachen  der  Empfindungen  in 
Betracht  kommen,  ohne  eine  Verwandtschaft  mit  diesen  beanspru- 
.chen  zu  konnen;  und  nicht  einmal  als  directe  Ursachen,  sondern 
nur  als  entferntere.     Dazwischen  liegen  nervose  Vorgange. 

Wahrscheinlich  hat  nun  jeder  Leser  des  vorigen- Paragraphen 
sich  bereits  irgend  eine  psychologische  Erklarung  ausgedacht. 
Wir  wollen  im  Folgenden  zeigen,  dass  nicht  leicht  eine  genii- 
gende  Erklarung  ausfindig  zu  machen  ist,  dass  zumal  die  Be- 
rufung  auf  psychologische  Gesetze  aller  Art  fruchtlos  bleibt. 
Nur  eine  physische  Veranstaltung  im  Centralorgan  kann  den 
unmittelbaren  Grund  der  Verschmelzung  enthalten.  Von  der 
Beschaffenheit  dieser  Veranstaltung  konnen  wir  uns  aber  einst- 
weilen  keine  Vorstellung  bilden  und  nur  auf  ihre  Entstehungs- 
geschichte  vielleicht  ein  gewisses  ungewisses  Dammerlicht  vom 
Standpunct  der  Entwickelungslehre  zu  werfen  versuchen.  Diese 
Erorterungen,  wesentlich  negativ  wie  sie  sind,  wiirden  wir  darum 
auch  viel  kiirzer  abmachen,  wenn  sie  nicht  zugleich  Gelegenheit 
gaben,  den  Begriff  der  Verschmelzung  selbst  gegeniiber  nahe- 
liegenden  Misverstandnissen  noch  deutlicher  in's  Bewusstsein 
zu  heben. 


§  20.   Uber  dieUrsache  der  Tonverschmelzung.  185 

Soviel  ich  sehe,  konnen  fiinf  Erklarungsgriinde  psycho- 
logischer  Art  in  Betracht  kommen:  Allgemeine  Gesetze  iiber 
Wechselwirkung  der  Vorstellungen,  wie  solclie  von  Heebart  ' 
entwickelt  wurden;  die  Ahnlichkeit  der  beziiglichen  Empfin- 
dungen;  die  Mischung  der  begleitenden  Gefiihle;  der  Glattegrad 
der  Empfinduiigen  (relative  Mangel  an  Schwebungen);  die  Hau- 
figkeit  ihres  Zusammenseins  im  Bewusstsein. 

1.  Herbart's  Verschmelzungstheorie. 

Die  Unzulangliclikeit  der  HERBART'schen  Grundsatze  iiber 
Wechselwirkung  der  Vorstellungen  und  speciell  iiber  ihre  „Ver- 
schmelzung"  ist  unter  unbefangeneu  Psychologen  allgemein  an- 
erkannt  und  zum  Teil  auch  voli  der  Sctule  zugegeben.  Aber 
da  gerade  Herbaet's  Verscbmelzungsbegriff  einige  Berlihrungs- 
puncte  mit  dem  bier  vertretenen  bietet  und  zugleich  von  ihm 
auf  das  Tongebiet  vorziiglicb  angewandt  wurde,  ist  es  um  so 
wicbtiger,  aucb  die  Kluft  hervorzuheben,  die  beide  Begriffe 
trennt  und  uns  verbietet,  die  von  Herbart  gegebene  Erklarung 
zu  der  unsrigen  zu  macben; 

Die  einfachen  Vorstellungen  sind  nach  Herbart  teils  hete- 
rogen,  wie  Farben  und  Tone,  teils  homogen,  wie  Tone  unter 
sicb.  Erstere  recbnet  er  zu  verschiedenen,  letztere  zu  Einem 
„Continuum".  Die  Verbindung  der  heterogenen  nennt  er  Com- 
plication (sie  soil  uns  nicht  weiter  bescbaftigen),  die  der  homo- 
genen  Verschmelzung  ^).  Genauer  gesagt  verscbmelzen  aber  die 
Empfindungen  Eines  Sinnes  nicht  ganz,  sondern  nur  teilweise 
mit  einander.  Man  kann  sie  in  Gedanken  zerlegen  in  gleiclie 
und  entgegengesetzte  Bestandteile.  Soweit  sie  eutgegengesetzt 
sind,  hemmen  sie  sicli;  soweit  sie  gleich  sind,  verscbmelzen  sie. 
Je  geringer  die  Hemmung,  um  so  grosser  die  Verschmelzung. 
Diese  ist  aber  nicht .  so  zu  denken,  als  ob  aus  beiden  Em- 
pfindungen dem  Inhalt  nach  eine  neue  dritte  entstande,  wo- 
rin  nur  das  Gleiche  von  Beiden  enthalten  ware.  Vielmehr 
bleiben  sie,  was  sie  sind,  und  trifft  jene  Wechselwirkung  nur 
die  Innigkeit  ihrer  Verbindung  im  Bewusstsein  und  demzufolge 


»)  Psychol,  als  Wissensch.  I  197  f.  222  f. ;  II  297  f. 


186  §  20.   Uber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

auch  ihre  Unterscheidbarkeit  ^).  Die  Zerlegung  der  Qualitaten 
in  der  Theorie  hat  nur  den  Zweck,  ein  Mass  fiir  die  Innig- 
keit  ihrer  Verbindung  zu  gewinnen. 

Warum  miissen  aber  iiberhaupt  Vorstellungen  verschmelzen? 
Die  Notigung  dazu  ist  in  der  einfachen  Natur  der  Seele  be- 
griindet.  „Darum  weil  die  Vorstellungen  alle  in  Einem  Vor- 
stellenden  als  Tatigkeiten  (Selbsterhaltungen)  desselben  beisam- 
men  sind,  miissen  sie  Ein  intensives  Tun  ausmachen,  sofern  sie 
nicht  entgegengesetzt  und  nicht  gehemmt  sind". 

Heebart  bemiiht  sich  auch,  den  Process  der  Verschmelzung 
naher  zu  beschreiben.  „Da  nun  das  Gleichartige  gewiss  und 
sogleich  verschmelzen  -soUte,  da  es  aber  nicht  losgerissen  von 
dem  Entgegengesetzten  fiir  sich  allein  verschmelzen  kann,  da 
es  vielmehr  das  letztere  in  seine  Verschmelzung  mit  hineinziehen 
muss  —  so  wird  der  wirklichen  Vereinigung  ein  Kampf  voran- 
gehen,  dessen  Entscheidung  bestimmt,  wie  innig  die  wirkliche 
Vereinigung  sein  werde."  Die  Verschmelzung  kann  (bei  end- 
licher  Grosse  des  Gegensatzes)  „nur-allmalig  zu  Stande  kommen, 
in  dem  Masse  namhch  als  die  Gegensatze  dem  Streben  zur 
Vereinigung  allmalig  nachgeben". 

Gerade  bei  Tonen  hat  nun  Heebart  die  Lehre  coucret 
durchgefiihrt  ^).  Jeder  Ton  wird,  lehrt  er,  dem  Grundtou  urn 
so  unahnlicher,  je  weiter  er  von  ihm  abliegt,  bis  zur  Octave. 
Diese  selbst  ist  dem  Grundton  total  unahnlich,  steht  zu  ihm 
im  vollen  Gegensatz.  Theoretisch  liisst  sich  dies  dadurch  aus- 
driicken,  dass  man  sich  in  jedem  der  zwischenliegenden  Tone 
dem  Grundton  gleiche  und  ihm  entgegengesetzte  Elemente  vor- 

^)  Letzteres  besonders  von  V.  v.  Volkmann  betont,  Grundriss  der 
Psychol.  109. 

2)  Hauptpuncte  der  Metaphysik  (1808)  §  13 ;  in  Heebart's  Werken, 
herausg.  von  Hartenstein,  III  45.  Psychologische  Bemerkungen  zur  Ton- 
lehre  (1811);  WerkeVIIl.  Psychol.  Untersuch.  (1839);  Werke  VII 183.  In 
der  ersten  Schrift,  lange  vor  der  „Psychologie",  sind  die  Grundztige  der 
allgemeinen  Vorstellungslehre  bereits  gegeben.  Von  diesen  aus  ist  Hee- 
bart zur  Anwendung  auf  die  Tonlehre  geschritten,  nicht  etwa  durch  die 
Tonlehre  selbst  auf  sie  gefiihrt  worden.  Vgl.  Zimmekmann  in  der  unten 
zu  erwahnenden  Abhandlung. 


§  20.   0ber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung.  187 

handeu  denkt,  obschon  dies  nur  eine  Fiction  ist.  Der  Gegen- 
satz  des  g  zum  c  beispielsweise  ist  durch  die  7  (temperirten) 
Halbstufen  zu  messen,  um  welche  sie  von  eiuander  abstehen, 
die  Gleichheit  durch  die  5,  um  welche  g  von  der  hoheren  Oc- 
tave absteht^).  Dies  stimmt  nun  nahezu  mit  einem  apriori  auf- 
gestellten  und  berechneten  Fall,  wo  namlich  die  Gegensatze  sich 
zur  Gleichheit  verhalten  wie  V2  (d.  i.  wie  1,414  .  .  .)  zu  1. 
Ebenso  bringt  Herbabt  die  iibrigen  Hauptintervalle  in  Beziehung 
zu  den  apriori  ausgerechneten  Haupttallen  der  Verschmelzung. 
Solche  t)bereinstimmung  zeigt  sich  allerdings  weniger  gegeniiber 
den  reinen  als  gegeniiber  den  temperirten  Intervallen.  Aber 
diese  entsprechen  nach  Herbart  auch  besser  dem  musikalischen 
Gehor. 

Ausser  den  in  der  Natur  der  Inhalte  gelegenen  Momenten 
lasst  iibrigens  Herbart  auch  zufallige  Momente  den  Verschmel- 
zungsgrad  mitbestimmen  2). 

In  den  besonderen  Bestimmungen  iiber  Tonverhaltnisse  ist 
nun  geradezu  Alles  tatsachlich  falsch.  Die  temperirte  Leiter  ist 
nicht  die  Leiter  des  musikalischen  Gehors;  sie  ist  ein  kiinst- 
liches  Compromiss,  wenn  auch  zu  Gunsten  musikalischer  Zwecke. 
Ferner  ist  die  Messung  des  Abstandes  durch  die  Zahl  der  Halb- 
stufen ein  falsches  Princip.  Sodaun  bildet  die  Octave,  als  einfacher 
Ton  betrachtet,  durchaus  keinen  Gegensatz  zum  Grundton.  Als 
Klang  betrachtet  ist  sie  ihm  sogar  ahnlicher  als  jeder  andere.  Ein 
voUer  Gegensatz  existirt  hier  nur  zwischen  Herbart  und  den  Tat- 
sachen.  Auch  die  Consequenzen  stimmen  nicht:  die  Octave  miisste 
am  v?^enigsten  verschmelzen,  die  Secunde  am  meisten.  Das  Gegen- 
teil  ist  richtig.  Wie  wenig  Herbart  hier  sich  von  der  Beob- 
achtung  hat  leiten  lassen,  zeigt  die  ausdriickliche  Berufung 
darauf,  dass  die  Octave  „zwei  sehr  leicht  zu  unterscheidende 
Tone  horen  lasse".  tlbrigens  liegt  sogar  ein  innerer  Wider- 
spruch   in  Herbart's  Annahme'  iiber  die  Octave.     Wenn  alle 


^)  Von  der  genaueren  Berechnung  mit  Hilfe  der  Logarithmen  der 
Verhaltniszahlen  konnen  wir  hier  absehen. 
^)  Psych,  als  Wissensch.  I  222. 


188  §  20.    tjber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

Ahnlichkeitsgrade  innerhalb  der  Octave  erschopft  sind,  wel- 
ches Verlialtnis  besteht  denn  zwischen  Tonen,  die  melir  als 
eiue  Octave  von  einander  abstehen?  Herbart  kann  nur  an- 
nehmen,  dass  sicli  dieselben  •Ahnlichkeitsverhaltnisse  wieder- 
holen,  dass  also  c  dem  cis  ebenso  ahnlich  sei  als  dem  cis^,  cis^ 
u.  s.  f.  Aber  wenn  c  ebenso  ahnlich  dem  cis  wie  dem  m\ 
wie  konnen  dann  cis  und  cis^  unter  sich  total  entgegengesetzt, 
absolut  unahnlich  sein? 

Bel  der  bekannten  musikalischen  Begabung  Heebart's.  ist  eine 
seiche,  mau  mdchte  sageu  feindliche,  Stellung  gegen  die  Wirklichkeit 
doi^pelt  wunderlich  und  nur  aus  der  abnormen  Constructionssucht 
begreiflich,  mit  welcher  er  der  Zeit  seinen  Tribut  zahlte.  Man 
kann  ihu  daruni  uicht  zu  Denen  rechnen,  welche  die  Verschmel- 
zung  im  Tongebiete  beobachtet  haben,  ebensowenig  als  man  von 
einem  Astronomen  sageu  kann,  er  habe  einen  Kometen  entdeckt, 
wenn  dieser  zur  angegebenen  Zeit  auf  einer  ganz  anderen  Seite  des 
Himmels  stand  als  da,  wo  er  ihn  gesehen  haben  wollte.  Fragt 
man  aber,  welcher  Umstand  wol  Herbaet  zu  seiner  Behauptung 
uber  die  Gegensatzlichkeit  der  Octave  Anlass  gegeben  haben  konute, 
so  wiisste  ich  keinen  anderen,  als  dass  die  Octaventone  eben  die 
entgegengesetzten  Enden  der  —  Octave  bilden. 

Bei  Herbaet's  Schiilern  finden  wir  dier  gleichen  Verkehrtheiten. 
•VoLKMANN,  Grundr.  d.  Psych.  110:  „Grundton  und  Secunde  unter- 
scheiden  wir  im  gleichzeitigen  Vorstellen  nicht  mehr  .  .  .  Auch  die 
kleine  Terz  unterscheidet  das  ungebildete  Ohr  kaum".  (tFber  die 
spateren  Auflagen  des  Werkes  s.  u,)  Drbal,  Erapir.  Psych.  §  50: 
„Man  versuche  nur  .  .  .  den  Ton  c  mit  dem  Tone  h  derselben 
Octave  im .  Bewusstsein  zu  vereinigen,  so  wird  dies  .  .  .  unmoglich 
gelingen  .  .  .  Dagegen  wird  die  Vereinigung  von  c  und  m  ohne 
merkliches  Widerstreben  vor  sich  gehen". 

ZiMMERMAKN  sucht')  die  Behauptung,  dass  die  Octave  dem 
Grundton  vollig  entgegengesetzt  sei,  mit  der  HELMHOLTz'schen,  wo- 
nach  vielmehr  die  grosste  Ahnlichkeit  besteht,  durch  einen  dialekti- 


^)  liber  den  Einfluss  der  Tonlehre  auf  Heebart's  Philosophie.    Sitz.- 
Ber.  d.  Wiener  Akad.  Phil.  CI.  1873.  S.  57. 


§  20.    Uber  die  Ursache  der  Tonverschmelzimg.  189 

schen  Kunstgriff  zu  vereinigen.  Das  Klangverhaltnis  namlich,  wo- 
rauf  diese  Ahnlichkeit  beruhe,  bedinge  Abwesenheit  aller  Scliwe- 
bungen,  d.  h.  aller  Notigung  zum  Einswerden,  und  dies  wieder  treffe 
zu  bei  durchaus  —  entgegengesetzten  Vorstellungen.  Allein  wenn 
die  Abwesenheit  von  Schwebungea  durchaus.  entgegengesetzte  Vor- 
stellungen anzeigt,  dann  sind  nicht  bios  Octave  und  Grundton,  son- 
dern  eine  zahllose  Menge  von  einfachen  Tonen  einander  durchaus 
entgegengesetzt;  der  einfache  Grundton  schwebt  in  mittlerer  Lage 
auch  nicht  mit  der  einfachen  Septime,  weder  der  grossen  noch 
kleinen,  nicht  mit  der  kleinen  und  grossen  Sext,  nicht  mit  der 
Quinte,  nicht  mit  der  None,  iiberhaupt  nicht  mit  alien  einfachen 
Tonen,  die  nicht  in  seiner  nachsten  Umgebung  liegen,  mag  das 
Zahlenverhaltnis  sein,  welches  es  will.  Damit  fallt  dann  doch  das 
ganze  HEEBART'sche  Tonsystem,  welches  Zimmeemann  retten  wollte. 
Aber  auch  der  HEEBAEi'schen  Psych ologie  ist  mit  der  Ausflucht 
schlecht  gedient.  Denn  die  Schwebungen  konnen  doch  nicht  wol 
Das  sein,  was  Heebaet  mit  dem  Streit  der  verschmelzenden  Vor- 
stellungen untereinander  meinte.  Sie  sollen  ja  nach  Zimmeemann's 
Deutung  nicht  etwa  Ursache  des  Streites,  sondern  eben  der  Streit 
selbst  als  psychologische  Erscheinung  sein.  Dann  miissten  sich  aber 
zwischen  alien  Vorstellungen  desselben  Sinnes,  zwischen  alien  ahn- 
lichen  Vorstellungen  Schwebungen  zeigen.  (Im  Ubrigen  s.  iiber 
Schwebungen  und  Verschmelzung  unter  4.) 

Aber  auch  wenn  man  statt  dieser  Irrtlimer  Herbaet's 
correctere  Daten  in  die  Reclinuug  einsetzt,  fiihren  uns  seine 
allgemeinen  Grundsiitze  bier  nicbt  waiter.  Fragen  wir  nur: 
Warum  tritt  gerade  bei  dem  Scbwinguugsverbaltnis  1 : 2  jener 
ausgezeicbnete  Punct  eiii,  den  Herbart  als  vollen  Gegeusatz, 
Andere  anders  definiren?  Warum  kommt  cin  solcher  Punct 
mehrmals,  immer  mit  Verdoppelung  der  Scbwingungszabl,  zum 
Vorscbein,  und  zwar  all  em  Anscbein  nacb  aucb  bei  einfachen 
Tonen?  Aucb  Zimmeemann  gibt  zu  (S.  46),  dass  Herbart  diese 
Frage  ungelost  liess.  Das  ware  aber  nocb  nicht  so  scblimm: 
er  bat  sie,  soviel  icb  sebe,  nicbt  einmal  aufgeworfen.  Und  docb 
liegt  gerade  bier  der  springende  Punct.  Wiissten  wir  erst  ein- 
mal, wie  es  kommt,  dass  die  Octaven  am  starksten  verscbmelzen, 


190  §  20.    Uber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

so  wiirden  wir  auch  begreifen,  warum  die  Quinten  weniger  ver- 
schmelzen  u.  s.  w. 

Uberdies  ist  schon  aus  allgemeineren  Griinden  der  ganze 
Versclimelzungsapparat  Herbart's  fiir  uns  unbrauchbar.  Hee- 
BART  hat  zwar  im  Allgemeineft  richtig  bemerkt,  dass  gewisse 
Vorstellungen  enger,  andere  lockerer  zusammenhangen.  Aber 
was  seinen  Begriff  von  Verscbmelzung  sogleich  wieder  von  dem 
unsrigen  trennt,  ist  die  Auffassung  derselben  als  eines  Vorganges 
zwischen  den  Vorstellungsacten,  *  wahrend  wir  ein  Verhaltnis 
zwisChen  den  Inhalten  darunter  verstehen.  Eine  Wechselwir- 
kung  und  ein  Geschehen  zwischen  den  Inhalten  gibt  es  aber 
(auch  nach  Herbart)  nicht.  Schon  dadurch  wird  seine  ganze 
Construction  fiir  uns  unbrauchbar. 

Angesichts  seiner  Schilderung  des  Kampfes  zwischen  den 
Vorstellungen  niochte  man  mit  der  vierten  Idee  seiner  Sitten- 
lehre  ausrufen:  „Streit  misfallt!"  Hier  misfallt  er  besonders 
dadurch,  dass  er  nur  im  Buche  steht,  und  wUrde  iiberaus  wol- 
gefallen,  wenn  er  irgendwo  und  irgendwie  beobachtet  werden 
konnte.  Der  ganze  Vorgang  ist,  wie  so  mancher  in  Herbart's 
Seelenmechanik,  ein  aus  physikalischen  Erinnerungen  gewobenes 
Luftgebilde.  Kein  Psychologe  hat  mehr  gegen  die  Mythologie 
in  seiner  Wissenschaft  geeifert  und  keiner  sie  so  ausgiebig  be- 
trieben.  Erscheinen  die  Vorstellungen  nicht  wie  Passagiere,  die, 
in  eine  Postkutsche  zusammengepackt,  sich  gegenseitig  driicken, 
stossen  und  gelegentlich  hiuauswerfen?  ^) 


')  Nur  solchen  Anthropomorphismen  verdankt  ja  auch  Herbart's  Ab- 
leituDg  des  Gefiihls  aus  blossen  Vorstellungen  ihr  scheinbares  Recht:  ein 
Gefiihl  soil  entstehen,  indem  eine  Vorstellung,  statt  frei  im  Bewusstsein 
zu  schweben,  zwischen  zwei  anderen  festgeklemmt  ist.  Das  tut  weh, 
wenn  man  Fleisch  und  Blut  hat;  ob  auch,  wenn  man  eine  Vorstellung  ist? 
Von  anderen  Bedeuken  ganz  zu  schweigen. 

Dass  die  deutsche  Psychologie  noch  immer  an  diesen  Hypostasi- 
rungen  (Comte's  metaphysischem  oder  gar  theologischem  Stadium)  leidet, 
sieht  man  z.  B.  an  Lipps'  sonst  so  verdienstvollen  und  scharfsinnigen  Aus- 
fiihrungen.  Man  vergleiche  gerade  seine  Verschmelzungstheorie,  Grundtats. 
473,  Avo  aus  der  Begrenztheit  der  seelischen  Kraft  das  Gegeneinander- 
drangen  aller  Vorstellungen  gegen  alle ,  daraus  dann  die  Verscbmelzung 


§  20.    tjber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung.  191 

Wenn  ferner  Heebaet  die  Scheidung  gleicher  und  entgegen- 
gesetzter  Bestandteile  in  zwei  einfachen  Vorstellungen,  woraus 
er  ein  Mass  fur  die  Verschmelzung  ableiten  will,  mit  Recht  als 
eine  blosse  Fiction  auffasst,  muss  dauu  nicht  aucli  der  ganze 
Process,  den  er  so  auschaulich  beschreibt,  eine  blosse  Fiction 
sein?  Wol  lasst  Heebaet  nicht  die  Inhalte,  sondern  die  Vor- 
stellungsacte  gegeneinander  kampfen.  Aber  sie  klimpfen,  sofern 
sie  teilweise  entgegengesetzt  sind,  und  verschmelzen  zuletzt,  so- 

abgeleitet  und  geschlossen  wird:  „Je  mehr  also  ahnliche  Vorstellungen 
unter  diesem  Drange  leiden,  um  so  elier  werden  sie  sich  zur  Verschmel- 
zung entschliessen".  Dass  eine  Vorstellung  unter  einem  Drange  leiden 
und  sich  zu  etwas  entschliessen  kdnne,  scheint  mir  doch  selbst  als  blesses 
Bild  zu  kiihn,  und  es  wird  mir  nicht  ganz  leicht,  die  darunter  verbor- 
genen  Grundtatsachen  zu  erkennen. 

Bei  anderen  Schriftstellern  wird  denn  auch,  was  hier  mehr  Bliite 
des  Ausdrucks  ist,  geradewegs  zum  bliihenden  Unsinn.  Man  lese  mit 
Bedacht  folgende  Beschreibung  aus  einem  „Abriss  der  philosophischen 
Grundwissenschaften"  II  (1888)  33: 

„Eine  Naturerscheinung,  die  eine  gewisse  Verwandtschaft  zu  et- 
welchen  vertrauten  Erlebnissen  des  praktischen  Lebens  zeigt,  reizt  die 
hier  entwickelten  Vorstellungsketten.  Und  indem  sie  mit  diesem  inneren 
Besitze  verschmilzt,  wird  sie  dadurch  aus  dem  weiteren  Wahrnehmungs- 
horizonte  herausgelost.  So  tritt  sie  durch  die  irfnere  Verbindung  in  helle 
Beleuchtung.  Dennoch  kann  sie  mit  der  praktischen  Vorstellung  nicht 
ohne  Reibung  verschmelzen,  well  die  fremdartige  Legirung,  die  sie  hinzu- 
bringt,  eine  heftige  Erschiitterung  der  Seele  zur  Folge  hat.  Da  also  die 
Aneignung  des  Objects  nur  stockend  und  miihsam  und  unter  mancherlei 
Effimmungen  sich  vollzieht,  wird  der  Act  der  Erzeugung  neben  dem  Pro- 
ducte  etwie  schon  fiihlbar.  Hier  liegt  der  Keim  des  specifisch  mensch- 
lichen  Bewusstseins."     (Weiterhin  ist  von  der  Sprache  die  Rede.) 

Der  gelehrte  A.  W.  Ambros  unterscheidet  einmal,  wie  einen  ein- 
fachen und  doppelten  Coutrapunct,  so  auch  einen  einfachen  und  doppelten 
Galimathias.  Der  einfache  ist  der,  bei  welchem  sich  der  Autor  etwas 
denkt  und  nur  der  Leser  nichts  Bestimmtes  denken  kann,  der  doppelte  der, 
bei  welchem  sich  alle  Beide  nichts  Bestimmtes  denken.  Es  ist  stark  zu 
vermuten,  dass  wir  in  der  obigen  Auseinandersetzung  den  ausgezeich- 
neten  Fall  eines  doppelten  Galimathias  vor  uns  haben.  Man  wird  auch 
nicht  aus  dem  Zusammenhang  etwie  kltiger  werden  iiber  all'  diese  Reizung, 
Verschmelzung,  Herauslosuug,  Beleuchtung,  Reibung,  Legirung,  Erschiit- 
terung, Aneignung,  Stockung,  Hemmung,  Erzeugung  —  da  eben  der  Zu- 
sammenhang von  gleicher  contrapimctischer  BeschaiFenheit  ist. 


192  §  20.    tJber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

fern  sie  teilweise  gleich  sind,  uud  sie  siiid  dies,  weil  ihre  Inhalte 
es  sind.  1st  also  die  Unterscheidung  bei  den  Inhalten  nur 
fictiv,  so  folgt  notwendig  das  Namliche  fiir  die  Vorstellungsacte, 
und  wis  kann  danu  ein  wirklicher  Kampf,  eine  wirkliche  Ver- 
einigung  zwischen  bios  fingirten  Teilen  der  Vorstellungsacte 
stattfindeu  ?    Verstehe  es,  wer  kann !  ^) 

Wenn  endlich  Heebart  die  Einfachheit  der  Seele  als  all- 
gemeinsten  Grund  der  Versclimelzuug  betrachtet,  so  leuchtet  ja 
soviel  ein,  dass  Verschmelzung  nicht  stattfinden  kann,  wenn  die 
zwei  Empfindungen  verschiedenen  Seelen  angeboren.  Aber  es 
leuchtet  nicht  ein,  dass  sie  verschmelzen  miissen,  wenn  sie  einer 
und  derselben  Seele  angehoren.  Und  wenn  es  wirklich  der 
Fall  sein  muss,  so  leuchtet  wieder  nicht  ein,  warum  denn  bios 
das  Gleiche  und  nicht  auch  das  Entgegengesetzte  und  Disparate 
verschmelzen  muss  2).  Eine  Sonne  scheint  iiber  Gerechte  und 
Ungerechte,  Eine  Seele  umfasst  Gleiches  und  Uugleiches.  Was 
immer  zugleich  in  der  Seele  vorhauden  ist,    miisste  ununter- 


^)  Eine  seltsame  Unterscheidung  macht  Heebaet  noch  zwischen  Ver- 
schmelzung vor  der  Hemmung  und  nach  der  Hemmung.  Beides  sei 
eigentlich  Verschmelzung  wahrend  der  Hemmung,  aber  die  Unter- 
scheidung befdrdere  die  Fasslichkeit  (Psych.  I  222)  —  was  ich  nicht 
finden  kann.  Das  Harmonische  in  Tonen  und  Farben  soil  auf  der  Ver- 
schmelzung vor  der  Hemmung,  oder  dem  Streben  dahin,  beruhen  (vgl. 
auch  Lehrb.  z.  Einleit.  in  die  Philos.  §  87). 

2)  VoLKMANN  lasst  dcuu  auch  das  Entgegengesetzte  verschmelzen.  In 
welche  Not  aber  nun  dieser  geschatzte  Psychologe  gerat  und  durch  welAe 
Windungen  er  den  drauenden  Widerspruchen  zu  entgehen  sucht  („denn 
das  Vorstellen  entgegengesetzter  Vorstellungen  vermogen  wir  uns  nicht 
anders  denn  als  entgegengesetzt  zu  denken")  —  das  muss  man  in  seiner 
Psych.  ^  I  341  nacblesen.  Eine  „Paralyse"  des  Vorstellens  erscheint  ihm 
als  das  erlosende  Wort,  wahrend  man  einem  wirklichen  Widerspruch  — 
und  als  solcher  wird  er  in  iiberzeugender  Weise  dargelegt  —  doch  nur 
durch  eine  Paralyse  des  Denkens  gerecht  werden  kann. 

VoLKMANN  hat  das  Verschmelzen  des  Entgegengesetzten  consequeu- 
ter  Weise  auch  als  eiuen  Einwand  gegen  die  HERSART'sche  Tonlehre 
geltend  gemacht,  neben  vier  anderen,  die  sich  zum  Teil  mit  den  unsrigen 
beruhren.  Psych.  ^11,  336  f.  Der  Herausgeber  Cornelius  sucht  freilich 
diese  betriibende  Emancipation  von  der  reinen  Lehre  wieder  durch  Ge- 
genbemerkungen  unter  dem  Stern  unschadlich  zu  machen. 


§  20.    Tiber  die  Ursache  dcr  Tonverschnielzung.  193- 

scheidbar  sein  und  bleiben.  Es  konnte  daun  aucb  nicht  ver- 
schiedene  Verschmelzungsgrade  geben;  denn  die  Seele  ist  nicht 
einfacher  fUr  die  einen  Vorstellungen  als  fiir  die  anderen.  Die 
Erklarung  aus  der  Einfachheit  der  Seele  und  die  aus  den 
besonderen  Inhalten  machen  sicli  also  nicht  bios  gegenseitig 
iiberfliissig,  sondern  widersprechen  sich  auch  in  ihren  Ergeb- 
nissen. 

2.   Ist  Ahnlichkeit  Ursache  der  Verschmelzung? 

Wenn  man  von  der  eben  besprochenen  Lehre  alles  speci- 
fisch  HEEBART'sche  abstreift,  bleibt  doch  noch  ein  Gedanke 
iibrig,  der  Untersuchung  verdient:  vielleicht  ist  wirklich  eine 
abgestufte  Ahnlichkeit  Grund  der  abgestuften  Verschmelzung, 
wenn  auch  nicht  wegen  irgendwelcher  Wechselwirkung  der  Vor- 
stellungen, sondern  einfach  darum  weil  zwei  gleichzeitige  Inhalte 
um  so  weniger  leicht  analysirt  werden,  je  ahnlicher  sie   sind. 

Eine  Bestatigung  dafiir  konnte  man  dem  Umstand  entueh- 
men,  dass  auch  Empfindungen  verschiedener  Sinne  verschmelzen 
(o.  65),  und  um  so  starker,  je  ahnlicher  sie  sind;  besonders 
z.  B.  Geriiche  und  Geschmacke,  die  ihrer  Qualitat  nach  einander 
nahe  stehen. 

Zwingend  ist  letztere  tJberlegung  indessen  nicht,  da  die 
Ahnlichkeit  und  die  Verschmelzung,  soweit  sie  wirklich  parallel 
gehen,  auch  von  einem  gemeinsamen  dritten  Umstand  abhangig 
sein  konnen. 

Der  Erklarung  solbst  wiirde  ich  schon  darum  nicht  bei- 
treten  konnen,  weil  ich  unter  dem  Verschmelzungsgrad  nicht 
die  Leichtigkeit  oder  Schwierigkeit  der  Analyse,  sondern  ein 
Empfindungsverhaltnis  verstehe,  das  auch  dann  bleibt,  wenn 
die  Analyse  vollzogen  ist.  Doch  abgesehen  hievon:  es  lasst 
sich  zeigen,  dass  die  Ursache  fiir  die  Schwierigkeit  der  Ana- 
lyse, auf  welche  wir  im  vorigen  Paragraphen  als  etwas  Tat- 
sachliches  gestossen  sind,  weder  in  dem  Ahnlichkeitsgrad  be- 
stehen  noch  durch  ihn  in  irgend  einer  Weise  bedingt  sein  kann. 

Wir  miissen  eine  doppelte  Ahnlichkeit  unterscheiden:  die 
des  Zusammengesetzton  und  die  des  Einfachen  (I  lllf.).  Die 
erstere  ist  bei  Klangen  verschiedener  Hohe  gegeben  durch  die 

Sturapf,  Tonpsychologie.  II.  13 


194  §  20.   Tiber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

etwa  gemeinsamen  Obertone.  Bei  einfaclieu  Tonen  bestelit  na- 
tUrlich  nur  die  letztere, 

a)  Betrachten  wir  zuerst  die  Ahnlichkeit  des  Zusam- 
mengesetzten.  Die  Octave  ist  im  Allgemeinen  am  starksten 
als  Oberton  in  einem  musikaliscbeu  Klang  enthalten,  hat  aucb, 
selbstandig  in  gleicber  Klangfarbe  angegeben,  keine  anderen 
Obertone  als  der  Grundklang  selbst.  Sie  ist  also  diesem  von 
alien  Klangen  durch  die  Obertone  am  ahnlicbsten.  Quinten- 
Klange  haben  einen  scbon  etwas  hoher  liegenden  und  schwache- 
ren  ersten  gemeinsamen  Oberton.  Noch  scbwacber  ist  das  Ge- 
meinsame  der  Terzen  u.  s.  f.  Es  decken  sicb  also  in  der  Tat 
die  Abstufungen  dieser  Ahnlichkeit  mit  denen  der  Unterscheid- 
barkeit.  Man  konnte  aucb,  in  Bildern  redend,  hinzufUgen:  die 
gemeinsamen  Obertone  sind  gewissermassen  der  Leim  fiir  die 
Grundtone,  sie  bringen  dieselben,  ohne  ihre  Hohe  zu  tindern, 
im  Bewusstsein  einander  naher,  lassen  sie  nicht  mehr  zusam- 
menbanglos  erscheinen.    Und  das  ware  dann  die  Verschmelzung. 

Aber  Bilder  aus  dem  Tischlerhandwerk  beweisen  ebenso- 
wenig  wie  Bilder  aus  dem  Gefiihls-  oder  Naturleben.  Und  ein 
einfacher  Versuch  entzieht  alien  Deductionen  den  Boden.  Wenn 
der  Umstand,  dass  c  bereits  in  C  enthalten  ist,  den  Grund  ihrer 
Verschmelzung  bei  selbstandigem  Erklingen  bildet,  so  nehmen 
wir  zwei  beliebige  andere  Tone,  g  und  a,  geben  auf  einem  In- 
strumente  g  nebst  schwacherem  a,  und  gleichzeitig  auf  einem 
anderen  Instrument  a  mit  voller  Starke:  dann  haben  wir  ja  die- 
selben Bedingungen  der  Verschmelzung  hergestellt.  Der  ^-Klang, 
welcher  als  Beiton  a  enthalt,  miisste  mit  dem  a-Klang,  welcher 
selbstandig  dazu  angegeben  wird,  dieselbe  Verschmelzung  zei- 
gen  wie  C  mit  c.    Keine  Spur  davoni 

Oder  wir  nehmen  g  auf  dem  einen  Instrument,  a  oder 
einen  beliebigen  anderen  Ton  auf  dem  zweiten,  und  fiigen  zu 
jedem  von  ihnen  einen  und  denselben  dritten,  iibrigens  belie- 
bigen, Ton  in  bestimmter  geringerer  Starke  auf  dem  bezliglichen 
Instrument  hinzu:  dann  batten  wir  die  Bedingungen  fiir  den 
Verschmelzungsgrad  der  Quinte,  Terz  u.  s.  f.  (je  nach  der  Starke 
des  Beitons)  bei  ganz  beliebigen  zwei  Tonen. 


§  20.    Dber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung.  195 

Ubrigens  liat  sich  ja  auch  in  den  Versuchen  des  vorigen 
Paragraphen  kein  Einfluss  der  Obertone  gezeigt  (S.  150),  und 
baben  wir  bereits  das  allgemeine  Gesetz  bervorgeboben,  dass 
die  Verscbmelzung  zweier  Tone  nicbt  von  einem  dritten  Ton 
abbangig  ist.  Aucb  einfacbe  Tone  verschmelzen.  Die  Octave, 
scbwacb  angegeben  durcb  zwei  auf  Resonanzkasten  stebende 
Gabeln,  wobei  Obertone  so  gut  wie  ganz  ausgescblossen  sind, 
macht  einen  um  nicbts  weniger  einbeitlicben  Eindruck,  als  wenn 
sie  durcb  zwei  Trompeten  geblasen  wird.  Und  selbst  wenn 
Einer  sicb  darauf  steifen  wollte,  dass  absolut  einfacbe  Tone 
nicbt  berzustellen  seien,  wiirde  dies  scbon  darum  nicbts  niitzeu, 
weil  die  Verscbmelzung  docb  eben  mit  der  Annaberung  an  die 
Einfacbbeit  abnebmen  und  bei  nabezu  erreicbter  Einfacbbeit 
aucb  nabezu  null  sein  miisste. 

Man  kann  aucb  nicbt  sagen,  bei  einfacben  Tonen  sei  es 
die  Gewobnbeit  oder  die  Erinnerung  an  die  zusammengesetzten, 
welcbe  uns  Verscbmelzung  vortauscbe  oder  sie  vielleicht  sogar 
wirklicb  berbeifubr6.  Das  Letztere  ist  vor  Allem  unmoglicb. 
Wenn  die  Kraft,  welcbe  allein  Verscbmelzung  bewirkt,  wegfallt, 
wird  der  Effect  ebensowenig  eintreten,  als  die  Locomotive  aus 
Gewobnbeit  lauft,  wenn  sie  einmal  nicbt  gebeizt  ist,  oder  als 
(um  ein  Beispiel  aus  den  Sinnen  selbst  zu  nebmen)  dem  Kurz- 
sicbtigen,  der  sicb  eine  Brille  anscbafft,  nun  etwa  gewobnbeits- 
massig  immer  nocb  alle  Umrisse  ineinanderlaufen.  Aber  aucb 
auf  blosser  Tauscbung  durcb  Gewobnbeit  oder  Erinnerung  kann 
die  Verscbmelzung  (bez.  das  Verscbmelzungsurteil)  bei  einfacben 
Tonen  nicbt  beruben.  Ein  in  siunlicber  Beobacbtung  Geiibter 
wiirde  durcb  den  neuen  Effect  gegeniiber  dem  gewobnten  eber 
iiberrascht  werdeu.  Der  Mangel  an  Verscbmelzung  wiirde  ibm 
durcb  den  Gegensatz  erst  recbt  zum  Bewusstsein  kommen.  Man 
findet  wol,  dass  ein  Gefiibl,  wenn  nicbt  andere  Krafte  entgegen- 
wirken,  an  einen  Gegenstand  gekniipft  bleibt,  nacbdem  derselbe 
die  Eigenscbaft,  durcb  die  er  zuerst  das  Gefiibl  erregte,  ver- 
loren  bat.  Aber  das  Urteil  unterliegt  einem  solcben  Vorgang 
nicbt,  ausser  bei  grosser  Unaufmerksamkeit.  Im  Allgemeinen 
bemerkt  man   docb  leicbt,    dass   die  Eigenscbaft,    die  man  zu 

13* 


196  §  20.   tfber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

finclen  gewohut  war,  nicht  mehr  vorhanden  ist;  ja  der  Wechsel 
selbst  erregt  die  Aufmerksamkeit.  Auch  der  Wille,  welcher 
Urteilsgewohnheiten  entgegenwirkt  (willkiirliclie  Aufmerksam- 
keit), hat  auf  die  wabrgeuommene  Verschmelzung  eiufacber  Tone 
keinen  Einfluss.  Man  mag  noch  so  oft  und  scbarf  hinhoren, 
die  Tone  der  Octave  treten  nicht  besser  auseinander. 

b)  Wenn  nun  also  die  Verschmelzung  schon  darum  aus  der 
Ahnlichkeit  des  Zusammengesetzten  nicht  ableitbar  ist,  weil 
einfache  Tone  ebenfalls  verschmelzen:  gelingt  es  vielleicht  mit 
der  Ahnlichkeit  des  Einfachen? 

Nach  der  Anscbauung,  die  wir  stets  festhielten,  ist  die 
Octave  als  einfacher  Ton  dem  Grundton  nicht  hervorragend 
ahnlich.  Sie  ist  ihm  ahnlicher  als  die  in  der  Tonreihe  weiter 
abliegenden,  aber  unahnlicher  als  die  dazwischen  liegenden  Tone. 
Es  miisste  also,  wenn  solcbe  Ahnlichkeit  Grund  der  Verschmel- 
zung ware,  die  Septime  starker  verschmelzen  und  schwieriger 
analysirbar  sein  als  die  Octave,  in  noch  hoherem  Grade  aber 
der  Tritonus  und  am  allermeisten  die  Secunden;  was  Alles  den 
Tatsachen  widerspricht. 

Man  miisste  also  hochstens  versuchen,  an  jener  Anscbauung 
selbst  zu  riitteln.  Ist  nicht  "doch  die  Octave,  auch  als  einfacher 
Ton,  dem  Grundton  in  besonderem  Masse  ahnlich  zu  nennen? 
Fiir  die  Quinte  miisste  man  dann  den  nachsthohen  Grad  der 
Ahnlichkeit  beanspruchen  u.  s.  f. 

Vielleicht  wird  man  dafiir  als  Zeugnis  anfiihren,  dass  die 
Octave  uns  als  eine  Art  Wiederholung  des  Grundtons  auch  bei 
einfachen  Tonen  erscheint  und  leicbt  mit  dem  Grundton  ver- 
wechselt  wird,  ja  dass  auch  Quintentone  zuwoilcu  verwechselt  wer- 
den  (z.  B.  wenn  ein  Unmusikaliscber  eineu  Ton  nachsingen  soil). 

Indes  werden  sich  uns  diese  Erscheinungen  neben  vielen 
anderen  im  Fortschritt  des  Werkes  eben  aus  der  Verschmel- 
zung selbst  erklaren.  Nicht  diese  ist  Folge  der  Ahnlichkeit, 
sondern  der  Schein  der  Ahnlichkeit  ist  Folge  der  Verschmelzung. 

Den  Eindruck,  welchen  die  Tonqualitaten  abgesehen  von 
jeder  musikalischen  Erfahrung  macben,  kann  man  sich  einiger- 
massen  reproduciren,  wenn  man  auf  dem  Clavier  in  moglichster 


§  JO.    liber  die  Ursache  der  Tonverscbmelzung.  197 

Raschheit  einen  chromatischen  Lauf  ausfiilirt  (audi  schoii  eiii 
Glissando  iiber  die  weissen  Tasten  geniigt)  und  den  Ausgangs- 
punct  im  Gedachtnis  oder  auch  auf  dem  Clavier  festhalt.  Nur 
etwa  der  Ton,  mit  welcliem  man  schliesst,  wird  in  diesem  Fall, 
Avcil  er  notwendig  etwas  langer  gehalten  wird  und  weil  er  dem 
Bewusstsein  sich  obnedies  besonders  aufdrangt,  unvvillkiirlicb 
nach  seiner  Leiterstellung  zum  Ausgangston,  nacb  seiner  musi- 
kalischen  Bedeutung  aufgefasst,  Im  Ubrigen  aber  erscheint 
jeder  Ton  dieser  Reihe  als  gleicbwertig  und  gleicbbedeutend 
mit  jedem  anderen,  alle  erscbeinen  ebeu  als  nur  graduell  ver- 
scbiedene  Glieder  einer  Reihe;  ganz  anders  als  bei  einer  Ton- 
leiter,  aucb  anders  als  bei  einem  langsamen  cbromatischen  Gang, 
wo  jeder  Ton  mit  seinem  eigentiimlichen  musikalischen  Charakter, 
als  Tonica,  Dominant,  Leitton,  erbohte  Dominant  u.  s.  f.  im 
musikalischen  Bewusstsein  auftritt.  Und  zwar  hat  man  im  obi- 
gen  Fall  den  Eindruck  einer  in  gleicber  Richtuiig  fortlaufenden 
Reihe;  nicht  den  einer  periodischen  Umkehr  und  einer  Wie- 
derkehr  vorzugsweise  ahnlicher  Tone.  Die  Ahnlichkeit  mit  dem 
Ausgangston  scheint  uns  ununterbrochen  uud  gleichmassig  ab- 
zunehmen.  Nocb  lehrreicher  ist  der  Versuch,  wenn  man  den 
Ton  continuirlich  aufsteigen  lasst,  wie  durcli  entsprechende  Be- 
wegung  des  Fingers  auf  einer  gestricheneu  Saite  oder  durch 
Verschiebung  des  Pfropfens  einer  tonenden  gedackten  Pfeife. 
Auch  beim  Anstreichen  der  vier  leeren  Saiten  der  Violine,  oder 
bei  weiter  fortgesetzten  Quintengangen  auf  dem  Clavier  tritt 
die  gleichsinnige  qualitative  Entfernung  vom  Ausgangston  klar 
hervor,  weil  solche  Gauge  kein  Bewusstsein  einer  bestimmten 
Tonart,  einer  Tonica,  Dominant  u.  s.  f.  aufkommen  lassen,  oder 
wenigstens  die  Anfange  dazu  alsbald  vernichten. 

In  dem  merkwiirdigen  Fall,  welchen  Geant  Allen  beobachtet 
und  beschrieben  hat  (o.  I  265),  afficirte  das  lutervall  einer  Octave 
(in  aufeinanderfolgenden  Tonen)  den  Mann  nicht  anders  als  irgeud 
ein  sonstiges:  er  konnte  keine  grossere  Ahnlichkeit  oder  Ubcrein- 
stimmuiig  (congruit)')  beraerken  zwischeu  c  und  c^  als  zwischen  c 
und  ^^  oder  c  und  e^.  Die  sammtlicheu  Unterschiede  der  Tone, 
welche   auf  Zahlenverhaltnissen   griinden,    wareu   fur    ihn  nicht 


198  §  20.    Tiber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

vorhanden.  Nur  die  Unterschiede  der  Tonhohe  nahm  er  (bei  gros- 
sen  Differenzen  der  Schwingungszahlen)  wahr.  Dasselbe  wurde  von 
seinem  Vater  berichtet:  „er  sei  fahig,  zwei  aueinanderliegeude 
Tone  zu  unterscheiden,  aber  nicht  fahig,  eine  besondere  Beziehung 
zwischen  einem  Ton  und  seiner  Octave  zu  findeu."  Wenu  wir  auch 
aus  solchen  einzelnen  Fallen  an  nicht  gauz  normalen  Individuen 
keinen  bindenden  Schluss  Ziehen  konnen,  diirfen  sie  doch  als  Be- 
statigung  betrachtet  werden.  Sie  lehren  doch,  dass  ein  „psycholo- 
gisch  und  physiologisch  wol  Unterrichteter"  bei  aufeinanderfolgen- 
den  Tonen  die  Octave  ganz  gut  und  besser  als  die  SeiDtime,  Sext, 
Quinte,  Terz  (soweit  reichte  sein  Unterscheidungsvermogen)  als  vom 
Grundton  verschieden  erkennen  kann,  ohne  doch  in  der  Octave  eine 
besondere  Ahnlichkeit  mit  dem  Grundton  zu  findeu.  Es  fehlten  ihm 
eben  die  musikalischen  Erfahrungen,  wclche  allein  diesen  Eindruck 
hervorrufen,  da  fiir  ihn  die  Musik  in  Folge  der  abnorm  geringen 
Unterschiedsemjjfindlichkeit  seiner  Ohren  von  Anfang  an  vollig  inter- 
esselos  geblieben  war,  so  dass  er  als  ganz  musiktaub  gelten  konnte; 
Avas  von  den  gewohnlichcn  „Unmusikalischen"  nicht  in  diesem  streu- 
gen  Sinn  gesagt  werden  darf. 

Die  Annahme  einer  hervorragend  einfachen  Ahiiliclikeit  der 
Octaventone  (einer  griisseren  als  sie  Sext  und  Septime  be- 
sitzeu)  ist  iiberhaupt  widersiunig,  so  lange  man  die  Eindimen- 
sionalitat  des  Tongebietes  festhalt.  c  soli  dem  C  in  solch'  her- 
vorragender  Weise,  zum  Verwechseln,  ahnlich  sein.  Aber  auch 
Des  ist  dem  C  in  solcher  Weise  ahnlich  und  zwar  von  der 
gleichen  Seite  her.  Dann  miissten  also  auch  c  und  Des  unter 
sich  hoebst  ahnlich  sein.  Ja  es  miisste  in  der  Nahe  von  Des 
ein  Ton  existiren,  der  von  der  gleichen  Seite  her  genau  die 
gleiche  Ahnlichkeit  mit  C  besasse  wie  c,  der  dem  c  selbst  also 
gleich  ware.  Aus  diesen  Widerspriichen  konnte  nur  die  An- 
nahme einer  Mehrheit  von  Tondimensionen  retten.  Nun  hat 
ja  wirklich  Deobisch,  um  das  fragliche  doppelte  Ahnlichkeits- 
verhaltnis  darzustellen,  die  Versinnlichung  durch  eine  Schrau- 
benlinie  ausgedacht,  auf  welcher  die  Tonbewegung  sich  immer 
mebr  vom  Ausgangston  entfernt  und  dennoch  in  hoherer  Lage 
zu  ihm  gewissermassen  zuriickkehrt.    Die  Octaven  liegen  senk- 


§  20.    Qber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung.  199 

recht  liber  einander  und  fallen,  von  oben  betrachtet  oder  auf 
eine  Ebene  projicirt,  alle  zusammen.  Aber  die  psychologische 
Interpretation,  der  reale  Sinn  dieser  siunreicbeu  Darstellung 
scheint  eben  nur  dadurch  zu  finden,  dass  man  neben  der  Abn- 
lichkeit  der  einfacben  Tone  in  sicb  die  durcb  Obertone  ent- 
stebende  oder  ein  sonstiges  Verbaltnis  der  Tone  mitberiicksicb- 
tigt.  Es  ist  seltsam,  dass  man  diese  Consequenz  nicht  scbon 
friiber  beacbtete.  Denn  die  Lebre  von  der  Abnlicbkeit  der 
Octave,  aucb  selbst  der  Quinte,  mit  dem  Grundton  ist  eine  alte^), 
die  Erklarung  derselben  aus  den  Obertonen  stammt  aber  mei- 
nes  Wissens  erst  von  Helmholtz  (419).  Und  docb  liegt  in 
der  friiberen  Auffassung  ein  offener  Widerspruch. 

Der  Scbarfsinn  Beentano's  bat  einen  Weg  erdacbt,  um 
dem  doppelten  Abnlicbkeitsverbaltnis  docb  aucb  bei  einfacben 
Tonen  gerecbt  zu  werden.  Icb  weiss  allerdings  nicbt,  ob  er 
die  im  Folgenden  bescbriebene  Anscbauung  als  die  wabre  oder 
nur  als  eine  bypotbetiscb-denkbare  betracbtet,  nicbt  einmal,  ob 
sie  sicb  genau  mit  derjenigeu  deckt,  die  er  im  Simie  bat.  Jeden- 
falls  mocbte  icb  nicbt  versaumen,  sie  in  Erwagung  zu  zieben. 

Neben  der  Qualitiit  einer  Tonempfindung  und  ibrer  Starke 
habeu  wir  bienacb  ein  drittes  Moment  zu  unterscbeiden,  wel- 
cbes  als  Helligkeit  bezeicbnet  werden  kanu,  analog  der  Hellig- 
keit  einer  Farbe.  Eine  Tonverauderung,  die  wir  gewobnlicb 
Anderung  der  „Tonbobe"  nennen,  bestebt  entweder  in  einer 
blossen  Veranderung  der  Helligkeit  oder  in  einer  Qualitats- 
und  Helligkeitsanderung  zugleicb.  Und  zwar  besitzen  die  musi- 
kaliscb  gleicbnamigen  Tone  (C,  c,  c^  .  .)  die  gleicbe  Qualitiit  und 
nur  verscbiedene  (zunebmende)  Helligkeit;  dagegen  die  ungleicb- 


^)  Vgl.  Aristoteles  Probl.  919,  b,  17.  921,  b,  17.  Rameau  hat  die 
Abnlicbkeit  der  Octaven  als  eiue  Grundtatsacbe  bingestellt  iDemonstra- 
tion  du  principe  de  I'harmonie  p.  16.  D'Alembert's  Systemat.  Einlei- 
tung  in  die  musikal.  Setzkunst  nach  den  Lehrsatzen  des  Hrn.  Rameau, 
iibersetzt  von  Marpurg,  S.  12).  Noch  1858  spricht  C.  E.  Naumann  ^Uber 
die  verschiedenen  Bestimmungen  der  Tonverhaltnisse  S.  4)  von  dem  ,,Er- 
klingen  zweier  einander  ahnlicher,  obgleicb  an  Hohe  sehr  verschiedener 
TOne";  obne  zu  bemerken,  welche  Sonderbarkeit  darin  liegt. 


200  §  ~^-    tJber  dio  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

namigen  (c,  d,  e)  verschiedeue  Qualitat  uud  zugleich  verschie- 
dene  (zunehmeude)  Helligkeit.  Die  Octave  ist  also  niclits  Au- 
deres  als  das  Wiederauftreten  der  geiiau  gleichen  Qualitat, 
nicM  bios  eiiier  ahnlichen,  Dass  sie  uicbt  iu  jedem  Sinn  als 
derselbe  Ton  erscheint,  bewirkt  nur  ihr  Helligkeitsunterschied. 

Diese  Anschauung  wiirde  eine  grosse  Umwalzung  in  der 
Theorie  der  Tonempfindungcn,  der  Empfindungen  iiberbaupt  be- 
deuten.  Was  die  Verschmelzung  betrifft,  so  erklart  sie  sich, 
wenigsteus  die  der  Octave,  fiir  den  orsten  Anschein  daraus  mit 
Leichtigkeit.  Denu  nun  wird  das  allgemeinc  Princip,  wonacli 
zwei  gleichzeitige  Eindriicke,  je  ahnlicher  sie  sind,  um  so  we- 
niger  leicht  auseinandergehalten  warden,  auf  die  Octaventone 
auch  als  einfacbe  Tone  anwendbar. 

Allein  genaiier  zugesehen  miissten  wir  dann  beim  gleich- 
zeitigen  Erklingen  der  Octaventone  eine  strenge  Ton-Einheit 
boren.  Denn  zwei  qualitativ  gleicbe  Tone  in  einem  und  dem- 
selben  Obr  konnen  wir  doch  nicbt  auseinanderhalten.  Es  ist 
also  zu  Viel  erklart. 

Aber  auch  die  librigen  Verschmelzungsgrade  lassen  sich  so 
wenig  aus  der  Theorie  herleiten,  dass  sie  ihr  vielmehr  wider- 
sprechen.  Zunachst  bedarf  es  hier  einer  Festsetzung  iiber  die 
Reihenbildung  der  Qualitaten.  Man  kann  nach  den  bisher  er- 
wahnten  Grundziigen  der  Hypothese  noch  Dreierlei  annehmen: 

Entweder  bilden  die  Qualitaten  von  c  bis  c^  eine  blosse 
Summe,  die  sich  ihrer  Natur  nach  beliebig  anordnen  lasst,  und 
ist  die  sogen.  natiirliche  Tonreihe  nur  eine  Helligkeitsreihe; 

Oder  die  Qualitaten  bilden  ebenfalls  eine  Reihe,  und  dann 
kann  man  wieder  annehmen,  dass  dieselbe  in  gleichbleibender 
Richtung  fortlauft,  d.  h.  dass  die  Tone  innerhalb  einer  Octave, 
wie  sie  auf  dem  Clavier  sich  folgen,  dem  Grundton  immer  un- 
ahnlicher  werden; 

Oder  man  kann  annehmen,  dass  die  Reihe  in  sich  zuriick- 
kehrt  gleich  einem  Kreise,  d.  h.  dass  die  Ahnlichkeit  mit  dem 
Grundton  von  einem  gewissen  Punct,  etwa  fis  oder  g  (wenn  c 
als  Grundton  gewahlt  wird),  wieder  zunimmt.  Im  letzteren  Fall 
batten  wir  die  Unterlagen  fiir  die  Schraubenconstruction:  Ver- 


§  20.    0ber  die  Ursache  cler  Touverschmelzung.  201 

biudung  der  stetig  aufsteigenden  Helligkeitsgeradeu  mit  dem 
Qualitatenkreis. 

Allein  nach  der  ersten  Aunabme  hatte  c  mit  g  oder  e  uicht 
grossere  Ahnlichkeit  als  mit  irgeiid  eiuem  andereu  Ton.  Die 
Verschmelzuug  also  uiid  die  Unterscheidbarkeit  miisste  (wenn 
die  Hypotbese  Uberbaupt  daraiif  augewandt  werden  soil)  fiir  alio 
Intervalle,  ausgenommen  die  Octave,  die  namlicbe  sein. 

Nacb  der  zweiten  Annabme  miissten  die  Terzen,  Quiuten 
und  Sexten  weniger  verscbmelzen  als  die  Secundeii;  die  Quinteu 
und  Sexten  audi  weniger  als  der .  Tritonus. 

Nacb  der  dritteu  Annabme  miisste  die  Quintenverscbmel- 
zmig  ungefabr  die  geringste  von  alien  sein,  bocbstens  der  des 
Tritonus  voranstebend,  da  ja  die  Quinte  oder  der  Tritonus  in 
der  Kreislinie  am  weitesten  vom  Grundton  entfernt  ware,  g 
mit  c  zusammenklingend  miisste  also  ungefabr  ebenso  leicbt 
analysirbar  sein  als  fis  mit  c.  Terzen  miissten  aucb  bienacb 
leicbter  unterscbeidbar  sein  als  Secunden,  da  sie  sowol  nacb 
Qualitat  als  Helligkeit  grossere  Verscbiedeubeiten  darboten. 

Die  Verscbmelzungserscbeinungen  werden  also  durcb  diese 
Anscbauungsweise  uicbt  erklart,  widersprecben  ibr  vielmebr  auf 
alien  Puncten. 

Die  Anscbauung  ist  aber  aucb  abgeseben  davon  nicbt  durcb- 
fiibrbar;  und  aucb  dies  will  icb  in  Kiirze  (eine  Reibe  auderer 
Bedenken  unterdriickend)  zu  zeigen  sucben,  da  mit  dem  Princip 
der  Erklarung  aucb  die  Erklarung  selbst  unmoglicb  wird. 

Von  den  drei  erwabnten  Annabmen  Uber  die  Ordnung  der 
Tonqualitaten  namlicb,  zwiscbeu  denen  man  sicb  zu  entscbeiden 
batte,  lasst  sicb  keine  mit  den  Tatsacben  des  Tonbewusstseins 
vereinigen. 

Die  erste  wird  von  vornbereiu  kaum  vertreten  werden,  da 
die  Tonqualitaten  nacb  Aussage  des  unmittelbaren  Tonbewusst- 
seins entscbieden  eine  natiirlicbe  Reibe  bilden  (I  140  f.). 

Nacb  der  zweiten  miisste  die  Reibe  bei  einer  neuen  Octave 
immer  mit  einem  Sprung  von  vorne  anfangen.  Der  letzte  Ton 
der  vorigen  und  der  erste  der  neuen  Octave  waren  sicb  extrem 
unabnlicb.     Nun  aber,    wenn   wir  die  Octave   von  c  anfangen, 


202  §  20.    tjber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

ware  der  Sprung  zwischeii  h  uud  c^.  Wenn  wir  sie  von  a  an- 
fangen,  ware  er  nicht  zwischen  h  und  c^;  diese  waren  sich 
jetzt  vielmehr  liochst  alinlich.  Dieselben  zwei  Tofiqualitaten 
konnen  aber  nicht  zwei  verschiedene  Ahnlichkeitsgrade  besitzen. 
Das  soil  ja  aiich   gerade  durch  die  Theorie  vermieden  werden 

Die  dritte  Annahme  widerspraclie  iinplicite  deu  bereits  im 
I.  Band  (142)  erwahnten  unmittelbaren  Tonurteilen,  wonaeh 
von  je  drei  Tonen  nur  Einer  als  zwischen  den  beiden  andereu 
liegend  aufgefasst  wird;  wahrend  bei  kreisformiger  Anordnung 
jeder  zwischen  den  beiden  anderen  liegt.  Wir  wolleu  aber  den 
Widerspruch  fUr  den  gegenwartigen  Zweck  noch  in  folgender 
Art  verdeutlichen. 

Wenn  wir  die  Tonart  (r-dur  in  unsereni  Bewusstsein  zu 
Grunde  legen,  was  durch  eine  vorausgeschickte  Cadeuz  in  dieser 
Tonart  geschehen  kann,  und  nun  die  Leiter  von  d  bis  h  empor- 
steigen ; 

so  wird  sicherlich  Jeder  den  Eindruck  haben,  dass  wir  uns 
immer  weiter  von  d  entfernen,  und  zwar  schlechthin  in  jeder 
Beziehung,  mag  man  auch  Helligkeit  und  Qualitat  theoretisch 
auseinanderhalten.  Jeder  wird  sagen,  dass  hier  einfach  und  unbe- 
dingt  h  von  d  weiter  abHegt  als  a.  Wenn  wir  dann  weitergehen 
bis  cZS  so  wird  man  diesen  Rest  der  Tonbewegung,  den  Ab- 
stand  h — d^  zweifellos  fiir  kleiner  erklaren  als  das  bisherige 
Stiick;  h  also  dem  d'^  ahnlicher  als  dem  d.  Es  wird  hier  Keinem 
in  den  Sinn  kommen,  zu  sagen:  In  gewisser  Beziehung  ist  h 
dem  d'^  ahnlicher  und  liegt  ihm  naher,  in  anderer  Beziehung 
dem  d. 

Man  wendet  vielleicht  ein:  Diese  Aussageu  stiitzen  sich  auf 
das  entwickelte  musikalische  Bewusstsein,  auf  Cousonanz-  und 
Leiterverhaltnisse,  auf  Reminiscenzen  an  Melodien  u.  dgl.,  nicht 
auf  das  s.  z.  s.  nackte  Tonbewusstsein.  Ich  wiirde  dies  nicht 
gelten  lassen.  Aber  abgesehen  davon:  auf  was  Anderes  stiitzt  sich 
denn  gerade  die  Lehre  von  der  Identitat  der  Octaven,  die  ganze 


§  20.   tJber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung.  203 

hier  besprochene  Theorie,  als  auf  das  musikalische  Bewusst- 
seiu?  Wenn  man  dieses  nicht  geltend  lasst,  so  fallt  von  vorn- 
lierein  jeder  Auhaltspunct  fiir  eine  solclie  Lehre.  1st  doch  so- 
gar  die  gleichuamige  Bezeichnung  der  Octaven  erst  ein  ziem- 
lich  spates  Entwickelungsproduct  der  Musikgeschichte.  Man  hat 
zwar,  wie  bereits  erwahnt,  zugleich  erklingende  Octaventone  von 
jeher  einem  einzigen  Ton  aequivalent  erachtet,  aber  man  bat  sie 
bei  gesondertem  Erklingen  nicht  fiir  gleich  erachtet. 

In  obigem  Beispiel  haben  wir  absichtlich  den  Ausgang 
nicht  von  der  Touica  genommen.  Denken  wir  uns  die  kleine 
Phrase  mit  denselben  Tonen  d  e  fis  .  .  .  in  i)-dur,  sodass  also 
der  erste  Ton  zugleich  Tonica  ist,  so  kann  schon  eher  der  Ein- 
druck  einer  Riickwendung  entstehen.  Noch  leichter,  wenn  wir  die 
Accente  anders  verteilen,  feruer  auf  dem  h  nicht  Halt  machen, 
sondern  durch  cis^  nach  d^  weitergehen.  Ebon  dies  zeigt  aber, 
dass  gerade  der  Eindruck  der  Riickwendung  nicht  in  den  Ver- 
haltnissen  der  nackten  Tonqualitaten  griindet,  sondern  in  den 
besonderen  Umstanden  des  musikalischen  Zusammenhangs.  Wir 
merken  eben  in  diesen  Fallen,  dass  wir  uns  der  Tonica  wieder 
nahern,  einem  Ton  von  gleicher  fundamentaler  Bedeutung 
wie  der  Ausgangston.  Dies  nur  vorlaufig.  Die  positive  Erkla- 
rung  aller  der  Vorstellungen  uud  Auffassungen,  die  mit  diesem 
Begriff  der  Tonica  und  der  Tonleiter  zusammenhangen,  kann 
uns,  ebenso  wie  die  Erklarung  der  Aequipollenz  der  Octaven, 
erst  spater  beschaftigen. 

Wir  miissen  also  dabei  bleiben,  dass  zwischen  c  und  c^  ein 
Unterschied  derselben  Gattung  stattfindet  wie  zwischen  c  und 
g,  c  und  a,  c  und  h.  Wollte  man  etwa  diesen  Unterschied  selbst 
als  einen  der  Helligkeit,  nicht  als  einen  qualitativen,  bezeichnen 
und  letzteren  iiberhaupt  leugnen,  so  ware  dies  zunachst  eine 
Frage  der  Terminologie,  weiterhin  eine  Frage  der  vergleichen- 
den  Sinneslehre.  Jedenfalis  ware  fiir  unser  Problem  mit  solcher 
Anderung  nichts  gewonnen.  Oder  wollte  man  sagen,  dass  c  und 
g  sich  sowol  durch  Helligkeit  als  durch  Qualitat  unterscheiden, 
ebenso  aber  auch  c  und  c^  so  wiirde  ich  dies  in  gewissem 
Sinne  sogar  unterschreiben :  wenn   namlich  mit  Helligkeit  das 


204  §  20.    (Jher  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

quasi -raumliclie  Moment  gemeint  sein  sollte  (vgl.  §  28).    Aber 
damit  ware  hier  wieder  nichts  gewonnen.  — 

Sonach  lassen  sich  die  Versclimelzungserscheinungen  aus 
den  Ahnlichkeitsverhaltnissen  der  Tone  nicht  heiieiten,  weder 
aus  der  Ahnliclikeit  des  Zusammengesetzteu  noch  des  Einfachen. 

3.    Sind  Gefiihle  Ursache  der  Verschmelzung? 

Gelingt  es  nun  nicht,  aus  einem  Verhaltnis  der  Empfin- 
dungsqualitaten  zu  einander  ihre  Verschmelzung  abzuleiten,  so 
konnte  man  weiter  versuchen,  sie  aus  Gefiihlsmomenten  zu  er- 
klaren;  sei  es  aus  den  die  einzelnen  Tone  begleitenden  Gefiih- 
len,  die  sich  natiirlich  auch  beim  Zusammenklingen  geltend 
machen,  sei  es  aus  don  durch  das  Zusammenklingen  als  solches 
entstehenden  Gefiihlen;  und  hier  wieder  entweder  aus  denjeui- 
gen,  welche  an  die  Wahrnehmung  eines  Tonverhaltnisses  ge- 
kniipft  sind  oder  aus  denen,  welche  durch  specifische  Empfin- 
dungsphanomene  beim  Zusammenklingen  (Schwebungen)  be- 
dingt  sind. 

Auf  dem  erstgenannten  Wege  muss  der  Yersuch  offen- 
bar  mislingen,  wenn  wir  wie  bisher  annehmen,  dass  die  Ton- 
gefiihlsqualitaten  eine  ebensolche  eindimensionale  Reihe  bilden 
wie  die  Touqualitaten  selbst.  Man  miisste  also  wie'der  zu  dem 
Ahnlichkeitsprincip  in  Verbindung  mit  der  Annahme  greifen, 
dass  die  an  Octaventone  gekniipften  Elementargefiihle  eine  her- 
vorragende  Ahnlichkeit  besiissen,  eine  etwas  geringere  die  an 
Quintentone  gekniipften  u.  s.  f.  Da  nun  bei  Gefiihlen  ohnedies 
schon  langer  von  einer  gewissen  Verschmelzung  die  Rede  ist 
(Mischgefiihle),  so  wiirde  hiemit  die  Tonverschmelzung  anschei- 
nend  unter  bereits  bekannte  Gesichtspuncte  untergeordnet.  Die 
Empfindungen  selbst  waren  allerdings  bei  der  Octave  nicht 
inniger  miteinander  verbunden  als  bei  der  Septime,  aber  sie 
wiirden  uns  in  Folge  der  grosseren  Einheitlichkeit  des  Misch- 
gefiihls  einheitlicher  scheinen. 

Schon  hieraus  geht  aber  hervor,  dass  die  Erkliirung  auch 
so  unannehmbar  ist.  Die  Verschmelzung  der  Empfindungen 
ware  eine  Tauschung,  und  diese  miisste  in   dem  Moment,  wo 


§  20.    Ober  die  Ursache  der  Tonverschmelzung.  205 

die  Tone  als  zwei  erkannt  werden,  schwindeu.  Ferner  wiirdeu 
wir  zu  einer  grossen  Zahl  seltsamer  primarer  Gesetze  iiber  den 
Zusammenhang  von  Tonempfindungen  und  elementaren  Tonge- 
fiihlen  kommen,  an  Stelle  des  einzigen  Gesetzes,  wonach  die 
Gefuhle  sich  parallel  mit  den  Empfindungen  verandern.  Und 
wenn  man  dann  versuclite,  sich  iiber  die  Anordnung  der  Ge- 
fiihle  klar  zu  werden,  wiirde  man  zu  genau  denselben  Unmog- 
lichkeiten  kommen,  wie  wir  sie  198  f.  in  der  entspreclienden 
Annahme  iiber  die  Empfindungen  selbst  fanden.  Ausserdem 
wiirde  sich  aus  der  Hypothese  ergeben,  dass  Unmusikalische, 
bei  denen  das  Tongefiihl,  auch  das  elementare,  im  Allgemeinen 
entschieden  geringere  Starke  besitzt,  gleichzeitige  Tonverbin- 
dungen  leichter  analysiren  miissten  als  Musikalische,  da  sie  ja 
weniger  durch  die  begleitenden  Gefiihlsphanomene  in  ihrem 
Empfindungsurteil  gestort  werden,  die  Empfindungen  selbst  aber 
keinerlei  Verschmelzung  besitzen  sollen. 

Wollte  man  nun  zweitens  die  Gefiihle  heranziehen,  die  in 
der  Wahrnehmung  von  Tonverhaltnissen  griinden,  so  hiesse  dies 
vollends  das  Pferd  vom  Schwanze  aufzaumen.  Denn  welches 
Verhaltnis  zwischen  Grundton  und  Quinte  oder  Terz  sollen  wir 
wahrnehmen?  Das  Zahlenverhaltnis  doch  gewiss  nicht.  Das 
Abnlichkeitsverhaltnis  fiihrt  als  wahrgenommenes  so  wenig  zum 
Ziel  wie  als  bios  empfundenes.  Einzig  und  allein  an  das,  wel- 
ches wir  Verschmelzung  nannten,  konnte  gedacht  werden.  Aber 
wenn  durch  die  Wahrnehmung  desselben  Gefiihle  bedingt  sind, 
so  kann  die  Verschmelzung  nicht  umgekehrt  durch  diese  Ge- 
fiihle bedingt  sein.  Auch  kann  man  Tonverhaltnisse  nur  wahr- 
nehmen, wenn  man  die  Tone  unterscheidet.  Die  Unterschei- 
dung  ware  also  Voraussetzung  des  Gefiihls,  das  Gefiihl  Voraus- 
setzung  der  Verschmelzung;  und  da  die  Verschmelzung  eine 
der  Ursachen  der  Nichtunterscheidung  ist  (ja  sogar  mit  dieser 
nach  der  hier  discutirten  Hypothese  zusammenfiele),  so  fande 
sich  die  Unterscheidung  unter  den  Voraussetzungen  oder  Ur- 
sachen der  —  Nichtunterscheidung. 

Es  blieben  also  hochstens  noch  solche  Gefiihle  als  Erkla- 
rungsmittel  fiir  die  Verschmelzung  zu   erwagen,  welche   durch 


206  §  20.   Uber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

die  beim  Zusammeuklingen  auftretenden  specifischeii  Phanomene 
bedingt  sind,  einerlei  ob  Analyse  und  "Wahrnebmimg  der  Yer- 
haltnisse  stattfindet  oder  nicM.  Die  Schwebungen  sind  solche 
Phanomene,  uud  die  einzigen,  die  biebei  in  Betraclit  kamen 
Da  sie  aber  aucli  in  anderer  Weise  als  Erklarungsprincip  verwen- 
det  werden  kounten,  stellen  ■v\'ir  sie  unter  besondere  Nummer: 

4.  1st  der  relative  Mangel  an  Schwebungen  Ur- 
sache der  Verschmelzung? 

Bereits  als  wii-  die  Versuchsergebnisse  bei  Unmusikalischen 
besprachen,  wurde  bemerkt  (S.  151),  dass  die  Starke  der  Schwe- 
bungen (unter  bestinimten  Voraussetzungen  iiber  Klangfarbe  und 
Tonlage)  bei  den  verschiedenen  Intervallen  verschieden  ist,  und 
dass  diejenigen  lutervalle,  welche  eine  geringero  Zahl  richtiger 
Urteile  aufweiseu,  zugleich  geriugere  Schwebungen  zeigen.  Den- 
noch  kounten  wir  einen  Causalzusammenhang  uicht  zugeben. 
Nun  konnte  Einer  die  Sache  wiederum  (wie  bei  den  Obertonen 
und  den  Gefiihlen  als  Erklaningsprincipien)  so  weuden,  dass 
die  unmittelbare  Ursache  fiir  die  Unterschiede  der  Zuverlassig- 
keit  der  Analyse,  fiir  die  relative  Schwierigkeit  derselben  bei 
Octaven  u.s.  f.,  allerdings  in  der  von  uns  sogenannten  Ver- 
schmelzung lage,  dass  diese  selbst  aber  ihre  Ursache  in  den 
Schwebungen  bez.  dem  relativen  Mangel  an  Schwebungen  be- 
sasse.  Obgleich  die  damals  angefuhrten  Gegengriinde  auch  diese 
Wendung  treffeu,  soil  sie  zur  Vollstandigkeit  des  Gedankengan- 
ges  noch  besonders  erwogen  werden. 

Schwebungen  sind  eine  EigentUmlichkeit  des  Empfindungs- 
inhalts^)  und  konnen  als  solche  einen  Gegenstand  der  Wahr- 
nehmung  bilden.  Intervalle  mit  starken  und  nicht  zu  laugsamen 
Schwebungen  klingen  rauher,  solche  mit  schwachen  klingen 
glatter.  Bei  gi'osserer  Glatte,  konnte  man  nun  sagen,  schmiegen 
sich  die  Tone  inniger,  gleichsam  mit  weniger  Reibung  anein- 
ander  an:   und  dies  sei   ebeji.  was  wir  Verschmelzung  nennen. 


^)  vrenigstens  in  dem  weiteren  Sinn,  in  welchem  -wir  auch  solche  Modi- 
ficationen.  die  an  den  zeitlichen  Yerlauf  gebunden  sind,  znr  Empfindung 
rechnen.  Im  engsten  Sinn  ist  allerdings  uur  das  Gegenwartige  Empfin- 
dungsjuhalt.    Der  Unterschied  ist  aber  bier  gleichgtiltig. 


§  20.    tJber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung.  207 

Schwebungen  modificiren  aber  auch,  mogen  sie  als  solche 
wabrgenommen  werden  oder  nicbt,  das  Klanggefiibl.  Und  viel- 
leicbt  mochte  man  auch  aus  den  so  entstebenden  Unterscbieden 
des  Klanggefiibls  die  Grade  der  Eiubeitlicbkeit  ableiteu,  die 
den  verscbiedenen  Toncombinationen  eigen  sind  oder  scheineu; 
etwa  darauf  binweisend,  dass  Ein  Ton  fiir  sicb  allein  keine 
Scbwebungen  zeigt,  also  eine  Toncombination  sicb  urn. so  mebr 
dem  Gefiiblseindruck  Eines  Tones  nabern  wird,  je  weniger  sie 
Scbwebungen  besitzt,  mogen  dieselben  wabrgenommen  werden 
oder  nicbt. 

Was  die  erste  Erklarungsweise  betrifft,  so  siebt  man  leicbt, 
dass  der  Scbein  einer  Erklarung  bier  nur  durcb  Anwendung 
von  pbysikaliscben  Bildern  oder  von  Yorstellungen  aus  dem 
Tastsinne  gewonnen  wiirde,  die  auf  Gehorsempfindungen  nicbt 
anwendbar  sind.  Scbwebungen  sind  periodiscbe  Intensitats- 
schwankungen.  Die  Verscbmelzung  bingegen  bat  weder  mit 
dem  zeitlicben  Yerlauf  nocb  mit  der  Intensitat  des  Klanges 
etwas  zu  tun. 

In  beiden  Formen  aber  wird  die  Erklarung  wieder  unmog- 
licb  durcb  die  Verscbmelzung  der  einfacben  Tone.  Diese  geben 
zwar  aucb  Scbwebungen,  wenn  sie  nabe  an  einander  liegen, 
nicbt  aber,  wenn  sie  weiter  als  etwa  eine  grosse  Terz  von 
einander  entfernt  sind  (nur  in  tiefer  Lage  aucb  bei  grosseren 
Intervallen).  Somit  miissten  bier  Terz,  Quarte,  Tritonus,  Quinte, 
Septime,  Octave  sammtlicb  die  gleicbe  Verscbmelzung  zeigen, 
und  zwar  die  bocbste. 

Wir  konnen  insbesondere  genug  Toncombinationen  mit  ein- 
facben Tonen  berstellen,  welcbe  nacb  Aussage  der  directen  Be- 
obacbtung  der  niedersten,  statt  der  bocbsten,  Verscbmelzungs- 
stufe  angeboren  und  dennocb  keine  Scbwebungen  zeigen  (vgl. 
S.  189). 

Umgekebrt  kann  aucb  Ein  Ton  periodiscbe  Intensitats- 
scbwankungen  besitzen  —  dass  man  diese  gewobnlicb  nicbt 
Scbwebungen  sondern  Intermittenzen  nennt,  ist  fiir  die  Sache 
gleicbgiiltig  — :  er  miisste  dann  den  Eiudruck  einer  Mebrbeit 
macben. 


208  §  20.    tJber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

Ferner  wiirde  nach  der  Hypothese  in  jeder  der  beiden 
Formen  die  Verschmelzung  eines  mid  desselben  Intervalls  bei 
verscbiedenen  Instrumenten  verscbieden  ausfallen,  die  der  Quinte 
auf  einer  Flote  sicb  etwa  decken  mit  der  einer  Octave  auf  dem 
Clavier,  die  der  Secunde  auf  der  Flote  etwa  mit  der  der  Terz 
auf  dem  Clavier  u.  s.  f.  Nicbt  minder  wiirde  die  Verscbmel- 
zung  desselben  Intervalls  auf  demselben  Instrument  verscbieden 
ausfallen  in  verscbiedener  Tonlage,  da  die  Scbwebungen  je  zweier. 
Tone  (Grund-  oder  Obertone)  mit  jeder  Octave  um's  Doppelte 
an  Zabl  zunebmen,  ausserdem  aucb  die  unter  sicb  scbwebenden 
Obertone  in  verscbiedenen  Lagen  bei  demselben  Instrument  sebr 
ungleicbe  Starke  besitzen. 

Endlicb  werden  Scbwebungen  bei  Verteilung  zweier  Stimm- 
gabeln  an  beide  Obren  gegeniiber  der  einobrigen  Perception 
bedeutend  gescbwacbt,  unter  Umstanden  bis  zur  Unmerklicb- 
keit;  der  Verscbmelzungsgrad  der  Tone  erleidet  aber  durch 
diese  Zuleitungsform  keine  Anderung.  Das  Gleicbe  gilt  von 
der  Vorstellung  in  der  Pbantasie,  wodurch  die  Scbwebungen 
wegfallen  (wenn  man  sicb  nicbt  absicbtlicb  daran  erinnert), 
wahrend  die  Verscbmelzung  erbalten  bleibt. 

5,  1st  baufige  Verbindung  Ursache  der  Verscbmel- 
zung? 

Wenn  neuere  Psycbologen  Recbt  baben,  tritt  durch  die 
blosse  Haufigkeit  des  Zusammenseins  zweier  beliebiger  Vorstel- 
lungen  im  individuellen  Bewusstsein  allmalig  aucb  obne  jedes  Abn- 
licbkeitsverhaltnis  zwischen  ibnen  eine  Art  Verschmelzung  ein. 
Es  entstebt  eine  „untrennbare  Association"  und  zugleicb  wandeln 
sicb  die  so  verwacbsenden  Vorstellungen  in  eine  qualitativ  neue 
einbeitlicbe  Vorstellung  um  (Cbemie  der  Vorstellungen).  Letz- 
tere  Angabe  macbt  zwar  die  Anwendung  des  Princips  in  unse- 
rem  Fall  schon  fraglicb;  aber  man  wird  vielleicbt  das  Princip 
selbst  in  der  notigen  Weise  um  formen,  um  es  anwendbar  zu 
machen;  glaubt  docb  der  Cbemiker  aucb  nicbt  mebr  an  eine 
wirklicbe  Umwandlung  der  Stoffe.  Man  konnte  sagen:  Das  qua- 
litativ Neue  ist  eben  nur  das  Verhaltnis,  die  grossere  Einbeit- 
licbkeit,  Dasselbe,  was  als  Tonverschmelzung  bezeicbnet  wird. 


§  20.    liber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung.  209 

Und  die  Voraussetzung  trafe  ja  zu.  Wenn  wir  die  har- 
monischen  Obertone  eines  Klanges  beispielsweise  bis  zum  16.  Teil- 
toii  (der  vierten  Octave  des  Grundtons)  vorbanden  denken,  so 
findet  sicb  das  Verbiiltnis  der  Octave  unter  diesen  16  Tonen 
9  mal  (1:2,  2:4,  3:6,  4:8  u,  s.  f.),  das  der  Quinte  5  mal,  das 
der  Quarte  4  mal,  das  der  grossen  Terz  und  Sext  3  mal,  das 
der  kleiuen  Terz  und  Sext  sowie  der  natiirlicben  Septime  2  mal 
(bei  Beriicksicbtiguug  der  Teiltone  bis  zum  18.  auch  diese  3  mal), 
das  der  grossen  und  kleinen  Secunde  1  mal.  Ausserdem  wirkt 
in  gleicbem  Sinne  der  Umstand,  dass,  wenn  wir  zunachst  die 
Reihe  liicke.nlos  und  die  Klange  nur  durcb  die  Zabl  der  vor- 
handenen  Obertone  verscbieden  denken,  die  boheren  Obertone 
nicbt  ohne  die  niederen,  diese  aber  ohne  jene  vorkommen,  und 
dass  vom  ersten  zum  zweiten  Teilton  eine  Octave,  vom  zweiten 
zum  dritten  eine  Quinte,  dann  eine  Quarte,  dann  Terzen  statt- 
finden;  woraus  folgt,  dass  auch  in  den  verscbiedenen  Klangen 
das  Octavenverbaltnis  am  baufigsten  vertreten  ist  und  dann 
in  abnebmender  Anzabl  die  iibrigen  genannten  Intervalle. 

Aber  leider  ist  das  Princip  selbst,  auch  in  der  angedeuteten 
Umformung,  illusorisch.  Es  gibt  keine  untrennbaren  Associa- 
tionen  (das  Wort  Association  im  gewobnlicben  Sinne  genommen), 
da  wir  jede  Association  durcb  noch  baufigere  Verkniipfung  einer 
der  beiden  Vorstellungen  mit  irgend  einer  dritten  auflosen  konnen. 
Und  es  gibt  keine  Cbemie  der  Vorstellungen.  Die  gesammte 
psychologiscbe  Erfabrung  zeigt,  dass  Vorstellungen  unzablige 
Male  im  individuellen  Bewusstsein  zusammen  sein  konnen  und 
doch  weder  in  dem  von  uns  festgehaltenen  noch  in  irgend  einem 
anderen  Sinne  verscbmelzen,  speciell  auch  fiir  die  Analyse  nicbt 
die  geringsten  Scbwierigkeitcn  bieten. 

Das  Tonreich  selbst  bietet  Beispiele  genug.  Die  ganze 
Tonreibe,  die  der  iibende  Scbiiler  Tag  fiir  Tag  stundenlang 
binauf  und  binunter  spielt,  miisste  ihm  ja  zu  einem  ununter- 
scbeidbaren  Klang  zusammenscbmelzen,  da  die  vorangebende 
Vorstellung  wabrend  der  nacbfolgenden  im  Bewusstsein  bleibt 
und  woiter  Nicbts  als  baufige  Gleicbzeitigkeit  zur  Verscbmel- 
zung  verlangt  wird.    Sind  die  Octaven  in  der  Harmonic  und  den 

Stuiupf,  Tonpsychologie.  II.  14 


210  §  20.    Uber  die  Ursache  der  Tonverschmelznng. 

musikalischen  Eiiizelklangen  bevorzugt,  so  sind  es  die  Secunden 
in  der  Melodie.  Die  Association  eines  Tons  mit  seinen  Nachbarn 
ist  in  der  Tat  mindestens  so  kraftig  wie  die  mit  seiner  Octave. 
Also  miisste  audi  die  Verschraelzung  der  Secunden  mindestens 
ebenso  stark  sein  wie  die  der  Octaven.  Aber  auch  auf  gleich- 
zeitige  Tone  direct  angewandt  versagt  das  Princip.  Der  Drei- 
klang  miisste  immer  mehr  in  Einklang  iibergehen;  wer  wenig 
Musik  hort,  miisste  Octaven-,  Quintentone  besser  unterscheiden 
als  wer  viel  bort. 

Es  ist  darum  kaum  notig,  die  zwei  bis  drei  Beispiele, 
welcbe  man  fiir  eine  Chemie  associirter  Vorstellungen  gebracbt 
bat,  zu  widerlegen.  Das  eine,  der  Farbenkreisel,  beweist  nichts 
als  eine  rein  pbysiologiscbe  Mischung  physiologischer  Processe. 
Uberdies  wiirde  ja  bier  die  Haufigkeit  und  die  Association  keine 
Rolle  spielen.  Das  zweite  und  Hauptbeispiel ,  die  Localisation 
der  Gesicbts-  und  Tastempfindungen  durcb  Verscbmelzung  von 
Muskelempfindungen  (und  sonstigen  ,,Localzeicben")  mit  Farben- 
bez.  Tastqualitaten,  ist  nicbt  Sacbe  der  Beobacbtung  sondern  ein 
Postulat  der  empiristiscben  Raumtbeorie;  und  man  muss  nicbt 
schliessen,  dass  das  Beispiel  zutrifft,  weil  diese  Tbeorie  es  verlangt, 
sondern  dass  die  Tbeorie  verkebrt  ist,  weil  sie  zu  einem  Postulat 
fiibrt,  welcbes  der  gesammten  psycbologiscben  Erfabrung  wider- 
spricbt.     Ausserdem  liegt  aucb  bier  keine  Association  vor. 

Vgl.  m.  „Urspr.  d.  Raumvorst."  49  f.  (das  Verhiiltnis  von 
Farbe  und  Ausdehnung  nicht  eine  Association)  und  103  f.  (keine 
Chemie  der  Vorstellungen).  Diese  Lehre  ist  uberhaupt  nur  als 
eine  Art  Rettungstau  von  dem  englischen  Empirismus  ergriffen 
worden,  nachdem  er  zugeben  musste,  dass  die  augeblichen  Elemente 
der  Raumvorstellung  und  besonders  die  Muskelempfindungen  in 
derselben  nicht  wirklich  enthalten  sind.  „Drum  hab'  ich  mich  der 
Magie  ergeben".  In  Deutschland  hat  Wundt,  nachdem  sein  erster 
Versuch  einer  Bestimmung  der  „Localzeichen"  an  einem  offenen 
Cirkel  gescheitert  war  (er  wollte  die  Localisirung  der  Farben  aus 
ihrer  localen  Farbung  erklaren,  vgl.  a.  a.  0.  99),  dasselbe  Aus.- 
kunftsmittel  unter  dem  Namen  der  psychischen  Synthese  oder  Ver- 
scbmelzung eingefiihrt.     Es  enthebt  von   vornherein  der  Verpflich- 


§  20.    tJber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung.  211 

tung,  die  fatalen  Localzeiclien  nalier  zu  bestimmen,  da  sie  ja  in 
der  chemisch  producirten  Raumvorstellung  untergegangen  sein  sollen. 
Auf  die  dagegen  gerichteten  Bemerkuugen  von  Lipps  (Grundtats.  511) 
und  William  James  (Mind  XII  208)  antwortet  Wundt  nur  mit 
allgemeinen  Betrachtungen  tiber  die  Unmoglichkeit,  „eiue  geistige 
Scbopfung  aus  ihren  elementaren  Bedingungen  mit  mathematischer 
Evideuz  vorauszusagen"  (Phys.  Ps.  ^11  40),  statt  dass  er  Beispiele 
anfuhrte,  die  das  Vorkommen  eines  Processes,  wie  er  ihn  verlangt, 
beweisen  konnten.  Vgl.  oben  131  f.  Dass  audi  die  „Ai3perception", 
welche  nacb  Wundt  zur  blossen  Association  hinzukommen  muss, 
ein  solches  Ergebnis  nieht  liefern  kanu,  ist  bereits  ebeudort  er- 
innert.  Uberdies  herrscht  bei  Wundt  in  der  Definition  und  An- 
wendung  dieses  modernen  Steins  der  Weisen  eine  ebenso  grosse 
und  nocb  grossere  Verwirrung  wie  in  der  des  Yerschmelzungsbe- 
griffes  selbst.  Icb  verweise  auf  die  erscbopfende  Kritik  von  Marty 
in  der  Viertelj.  Scbr.  f.  wiss.  Pbilos.  X  346  f.  XIII  195  f.  304  f. 

G.  Die  Ursache  der  Versclimelzung  ist  eine  physio- 
logische. 

AUe  bisher  betrachteten  Erklarungsversuche  waren  psycho- 
logiscb.  Ihr  Mislingen  deutet  an,  dass  wir  auf  psychischem 
Gebiete  den  Grund  der  Tonverschmelzung  iiberhaupt  nicht  zu 
suchen  haben.  Dafiir  sprach  ohnedies  schon  von  vornherein 
der  Umstand,  dass  dieselbe  eine  Tatsache  der  Empfindung,  ein 
den  gleichzeitigen  Tonqualitaten  immanentes  Verhiiltuis,  und 
von  der  Ubung  ini  individuellen  Leben  unabhangig  ist.  Em- 
pfindungsverhaltnisse  sind  aber,  wie  Empfindungen  selbst,  nicht 
auf  weiter  zuriickliegende  psychische  Ursachen  sondern  nur  auf 
physische  zuriickzufiihren. 

Die  physikalisch-objectiven  Eigenschaften  der  Wellenziige 
helfen  uns  dabei  Nichts.  Allerdings  ist  die  durch  zwei  Wellen 
vom  Verhaltnis  1 : 2  gebildete  Gesammtwelle  der  einfachen  Sinus- 
welle  am  ahnlichsten,  dann  folgt  2:3,  3:4  u.  s.  f.,  immer  com- 
plicirtere  Gestalten.  Aber  diese  objectiven  Verhaltnisse  sind  ja, 
wie  schon  Anfangs  erinnert  ward,  weder  selbst  Inhalt  einer 
Empfindung  noch  unmittelbare  Ursache  einer  solchen,  liegen 
vielmehr  in   der  Kette  der  Ursachen  weit  zuriick.     Und  tretcn 

14* 


212  §  20.    Tiber  die  TTrsache  der  Tonverschmelzung. 

wir  von  da  aus  naher,  so  findeii  wir,  dass  die  genannten  Eigen- 
tumliclikeitou  der  Luftscliwinguugen  im  Organ  verscliwinden, 
wenii  anders  liicr  jede  zusammengesetztc  in  einfaclio  Scliwingungen 
aufgelost  wird.  Auch  was  S.  138  Anm.  erwahnt  wurde,  ferner 
der  Umstand,  dass  Farben,  bei  denen  objectiv  die  niimlichen 
Scliwingungsverlialtnisse  vorkommen  (1:2  bei  den  iiussersten 
Farben  des  Spcctrums,  2:3  bei  Blau  und  Rot,  Orange  und  In- 
digo-Violett,  Griinblau  und  iiusserstem  Rot),  keine  der  Ton- 
verschmelzung analoge  Erscheinung  zeigen,  muss  davon  aljhalten, 
die  objectiven  Wellenformeu  irgendwie  fiir  die  Verschmelzung 
verantwortlicb  zu  machen  ^). 

Dass  auch  innerhalb  des  Organs,  speciell  des  Labyrinthes 
im  Ohr,  die  physischen  Vorgange  noch  nicht  diejenige  Eigen- 
schaft  besitzen,  welche  der  Verschmelzung  der  Tone  in  der 
Empfindung  correspondirt,  geht  nicht  bios  aus  der  eben  erwahnten 
isolirtcn  Leitung  sondern  auch  daraus  hervor,  dass  die  Ver- 
schmelzung bei  Verteilung  der  beidon  Tone  an  die  beiden  Ohren 
sowie  bei  blosser  Phantasievorstellung  in  gleicher  Weise  wahr- 


^)  Nachdem  ich  in  der  Abhandlung  „Musikpsychologie  in  England" 
(V.  J.  Schr.  f.  Musikwiss.  1885)  die  Verschmelzungstatsachen  und  ibre 
Wicbtigkeit  beruhrt  batte,  stellte  sie  Lipps  in  seiner  Kritik  jeuer  Ab- 
handlung (Zschr.  f.  Phil.  u.  pbil.  Kritik  Bd.  89  S.  305)  als  Nebenergebnis 
der  Tonverwandtscbaft  bin,  welche  ihrerseits  durch  den  Grad  der  Uber- 
einstimmung  der  Scbwingungsrbytbmen  gegeben  sei.  Diese  Ubereinstim- 
raung  sei  nach  einem  allgemeineren  psychologiscben  Gesetz  geeignet. 
einerseits  Befriedigung  zu  erwecken,  andererseits  eine  Verschmelzung 
zu  begunstigen.  Was  die  Befriedigung  betrifft,  so  kann  ich  hier  weder 
Lipps'  eigene  Erklarung  des  Harmoniegefiihls  noch  seine  Einwilrfe  gegen 
meine  Andeutungen  fiber  diesen  Punct  (die  nur  als  solcbe  gelten  und 
meiner  Besprechung  engliscber  Theorien  eine  positive  Wendung  geben 
sollten)  erortern,  da  dies  in  die  spateren  Abteilungen  dieses  Werkes  ge- 
hort  und  Lipps'  Kritik  an  fortgesetzten  Misverstandnissen  leidet,  die 
in  der  Kiirze  meiner  Andeutungen  wurzeln  und  sich  spater  von  selbst 
auflosen  werden.  Was  aber  die  Ableitung  der  Verschmelzung  betrifft, 
so  ware  ich  begierig,  zu  horen,  wie  Lipps  diese  Em  p  fin  dungs  tat- 
sache  —  als  solche  bezeicbnete  ich  sie  auch  damals  ausdriicklich  — 
durch  ein  psychologisches  Gesetz  aus  Schwingungsrhythmen 
herloiten  will.  Vorlilufig  crscheint  rair  dies  eber  wie  eine  contradictio 
in  adjecto. 


§  20.    tjber  die  Ursache  der  Tonversclimelzung.  213 

nehmbar  ist.  Weiiigstens  wilre  es  cine  gewaltsame  mid  uii- 
wahrschoinlicho  Aniiahme,  dass  bci  gleichscitigom  Horen  der 
verschraclzungserzeugcnde  Vorgang  schon  ira  Ohr,  boi  Vcrtci- 
luiig  der  Tone  abcr  erst  im  Centrum  stattfiindc. 

Es  miisscn  also  den  Unterschieden  der  Verschmclzungsgrade 
gcvvisse  Unterschiede  der  letzten  Vorgange  im  Horcentrum  als 
pliysisches  Correlat  odor  als  Ursache  (jenachdem  man  monistiscli 
oder  dualistisch  denkt)  entsprechen.  Welcber  Art  aber  dicse 
Unterschiede  sind,  dariiber  wissen  wir  schon  darum  Nichts,  weil 
wir  iiber  die  Beschaffenheit  der  letzten  Processe  iiberhaupt 
Nichts  wissen.  Ja  ich  muss  sagen,  dass,  wiihrend  man  sich  das 
Zustandekommen  der  Schwebungen,  des  Wettstreits,  des  Con- 
trastes  und  anderer  Erscheinungeu  doch  bis  zu  einem  gewisscn 
Grade  physikalisch  oder  chemisch  zurccht  legen  kann,  mir  hin- 
sichtlich  der  Gehirnvorgange,  welche  den  Verschmelzungser- 
scheinungen  zu  Grunde  liegen  konnten,  nicht  einmal  ein  solches 
hypothetisches  Bild  einfallen  will.  Vielleicht  gelingt  es  der 
bewilhrten  Phantasie  gewisser  Gehirndeuter  bosser.  Wcr  weiss 
aber,  ob  wir  uns  nicht  nach  und  nach  veranlasst  finden  werden, 
unsere  physikalischen  Grundbegriffo  selbst  umzuarbeiten  oder 
zu  erweitern.  Ist  es  denn  apriori  gewiss,  dass  die  Welt  jenseits 
des  Bewusstseins  (zu  der  auch  das  Gehirn  gehort)  riiumlich 
und  nur  raumlich  ist  oder  gedacht  werden  darf?  Die  raum- 
lichen  Eigenschaften  sind  nichts  als  ein  kleiner  Teil  derjenigen, 
die  wir  aus  unsren  Siunesempfindungen  abstrahiren.  Man  hat 
sie  zur  verniinftigeu  Construction  der  Aussenwelt,  zur  Ableitung 
ihrer  Gesetze,  niitzlich  gefunden.  An  sich  haben  aber  alle  anderen 
qualitativen  und  sonstigen  Momente  und  Verhaltnisse  der  Em- 
ptindungen  dasselbe  Recht,  duf  die  Aussenwelt  iibcrtragcn  zu 
werden.  Und  vielleicht  ist  gerade  die  Verschmelzung  selbst 
bestimmt,  einmal  dieser  Wiirde  teilhaft  zu  werden;  etwa  in 
Anwcndung  auf  chemische  Vorgange.  Aber  das  ist  ein  blosses 
Spiel  mit  Denkmoglichkeiten,  und  wir  wollen  nicht  statt  physio- 
logischer  nun  metaphysiologische  Phantasien  spinnen. 

Wollen  wir  uns  bei  mangelnder  Anschauung  mit  einem 
Begriff  begniigen  (der  doch  nicht  blosses  Wort  ist),  so  licssc 


214  §  20.     tJber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung. 

sich  hier  wol  wieder  von  specifischen  Energien  reden.  Die 
specifischen  Energien,  welche  der  Verschmelzung  zu  Grunde 
liegen,  habcn  nur  das  Besondere,  dass  sie  nicht  durch  isolirte 
Reize  sondern  durch  cin  Zusammentreffen  zweier  Reize  ausge- 
lost  werden.  Man  kann  sie  darum  specifische  Energien  lioherer 
Ordnung,  noch  besser  specifische  Synergien  nennen.  Unter 
eiuer  solchen  wiirden  wir  also  verstehen  eine  in  der  Hirnstructur 
griindende  bestimmte  Art  des  Zusammenwirkens  zweier  nervoser 
Gebilde,  wodurch  jedesmal,  wenn  diese  beiden  Gebilde  die  ihnen 
entsprechenden  Empfindungen  erzeugen,  ein  bostimmter  Ver- 
schmelzuugsgrad  dieser  Empfindungen  miterzeugt  wird.  Wie 
bci  der  Erzeugung  von  Empfindungen  adaequate  und  inadae- 
quate  Reize  uuterschieden  werden,  durch  welche  beiden  doch 
Eine  und  dieselbe  Empfindungsqualitiit  hervorgerufen  wird,  so 
ist  auch  hier  ein  bestimmter  Verschmelzungsgrad  nicht  aus- 
schliesslich  und  unbedingt  an  das  „adaequate"  Reizverhaltnis 
(z.  B.  1:2)  als  solches  gcbunden,  sondern  ausnahmsweiso  kann 
auch  durch  ein  anderes  objectives  Schwingungsverhaltnis  die- 
selbe specifische  Synergic  angeregt,  das  Octavenverhaltnis  u.  s.  f. 
in  der  Empfindung  hergestellt  werden  (o.  138  Anm.).  Dagegen 
sind  allerdings  diese  specifischen  Energien  hohcrer  Ordnung  un- 
trennbar  verbunden  mit  denen  erster  Ordnung:  denn  die  Verschmel- 
zung zeigt  sich  stets  als  die  namliche  zwischen  zwei  bestimmten 
Tonqualitaten. 

Dass  die  Verschmelzung  in  der  Phantasie  erhalten  bleibt, 
steht  dem  Gesagten  nicht  entgegeu,  sondern  ist  nur  ein  neuer 
Beleg  dafiir,  dass  auch  die  blossen  Phantasievorstellungen  eine 
physischc  Grundlage  haben,  und  zwar  im  Allgemeinen  dieselbe 
wie  die  Empfindungen. 

Gegeniiber  den  ausgefiihrten  Verschmelzungstheorien,  die 
liber  den  Hergang  ganz  genauon  Aufschluss  geben,  muss  unsere 
Formulirung  diirftig  erscheinen.  Aber  wir  wollen  ehrliche  Armut 
dem  verdachtigen  Reichtum  vorziehen  und  eingedenk  bleiben, 
dass  fiir  die  unmittelbaren  und  letzten  Grundlagen  des  gesamm- 
ten  Empfindungslebens  mit  Sicherheit  iiborall  noch  keine  audere 
als  eine  solche  allgemein-begriffliche  Formulirung  moglich  ist. 


§  20.    tJber  die  Ursache  der  Tonverschmelzung.  215 

7.  Idee  biner  gcnerellen  Entwickelung  der  Ver- 
schmelzungen. 

Dem  Individuum  ungeboren,  konnte  nun  immerhin  diese 
physiologischc  Eiurichtung  im  Leben  der  Generationen  erworben 
und  sogar  unter  Mitwirkung  psycliischer  Tatigkeiten  erworben 
sein.  In  dieser  Weise  wlirde  man,  wenn  man  sich  liberhaupt 
auf  Hypothesen  einlasst,  der  relativen  Haufigkeit  eines  Intervalls, 
von  der  unter  5.  die  Rede  war,  einen  indirecten  Einfluss  zu- 
scbreiben  konnen.  Was  wir  haufig  zusammcn  horcn,  konnte, 
wenn  es  auch  nicht  im  Bewusstsein  als  Bewusstseinsinhalt  ver- 
schmilzt,  doch  auf  physischem  Gebiet  durch  bestandiges  Zu- 
sammenwirken  der  Eindriicke,  die  in  bestimmtem  Verhaltnis 
steben,  eine  Disposition  herausbilden ,  in  Folge  deren  solcbe 
Eindriicke  spater  ein  mehr  oder  weniger  einheitliches  Empfin- 
dungsganzes  hervorrufen.  Die  Herbeifiihrung  aber  von  solchen 
Eindrlicken  konnte  auf  Lust,  Absicht,  auf  psychisclien  Motivcn 
mitberuben  und  so  aucb  diesen  ein  sehr  indirecter  Antoil  an 
der  Verscbmelzung  zugescbrieben  werden.  Freilich  gibt  die 
Erfabrung  am  Individuum  auch  fiir  solcbe  Weise  des  Einflusses 
keinen  Beleg.  Aber  sie  gestattet  natiirlich  die  Annabme,  dass 
ein  winziger,  unmerklicber,  sozusagen  unendlich  kleiner  Betrag 
der  Verscbmelzung  wabrend  des  individuellen  Lebens  hinzu- 
komme.  Die  Entwickelung  miisste  sich  wahrend  ungeheurer 
Zeitraume  und  zwar  in  vorhistoriscber  Zeit  vollzogcn  habcn, 
da  wir  allezeit,  soweit  unsere  musikhistorische  Kenntnis  zuriick- 
reicht,  und  auch  bei  den  uncultivirtesten  Stammen  der  Gegen- 
wart,  die  etwa  als  Bild  der  Urmenschen  gelten  konnten,  den 
Gebrauch  von  Octaven  und  anderen  Intervallen  antreffen,  deren 
Auswahl  unter  der  unbegrenzten  Zalil  moglicher  Toncombina- 
tionen,  wie  wir  spater  sehen  werden,  eben  auf  ihrer  Verscbmel- 
zung beruht. 

Naher  konnte  sich  Einer  den  Hergang  etwa  so  denken:  Das 
Interesse  des  Menschen  richtete  sich  zunachst  auf  einzelne  Klange 
(seines  Kehlkopfs  odor  irgend  eines  Hohlraums),  die  als  Signale 
benutzt  wurden,  dann  auch  fiir  sich'  Freude  machten.  Aus 
beiden  Griinden  suchte  er  nach  und  nach  verschiedenen  Gegen- 


216  §  20.     tjber  die  Ursache  cler  Tonverschmelzung. 

standen,  auch  Saiten,  auf  verschiedene  Weise  Tone  zu  entlocken, 
geleitet  flurch  zufallige  Wahrnehmungen.  In  den  obertonreicheren 
Klangquellen  waren  Octaven,  Quinten  u.  s.  f.  etwa  in  dom  oben 
(208)  angegebenen  Verhaltnis  vertreten.  Aber  auch  bei  nnr 
6  Teiltonen  war  die  Octave  durch  Smaliges,  die  Quintc  durch 
!2maliges  Vorkommen  vor  den  iibrigen  Intervallen  ausgezeichuet. 
tlberdies  in  alien  Fallen  auch  durch  grossere  Starke.  So  wur- 
den  die  Intervalle  zunachst  unabsichtlich  und  ohne  Unterschei- 
dung  ihrer  gleichzeitigen  Tone  herbeigefiihrt,  die  Octave  am 
haufigsten,  dann  die  Quinte  u,  s.  f.  Es  konnten  dadurch  An- 
fange  physischer  Dispositionen  im  Gehirn  entstehen,  wie  wir 
sie  fiir  die  Verschmelzung  voraussotzen  miisseii.  Dass  eine  solche 
Disposition  entstehen  musste.  konnen  wir  freilich  nicht  sagen, 
da  wir  nicht  wissen  worin  sie  besteht. 

Wurde  nun  gelegentlich  die  Octave,  die  Quinte  als  Zusam- 
menklang  zweier  selbstandiger  Klangquellen  wahrgenommen  (wie 
beim  gleichzeitigen  Ausrufen  von  Signaleu  durch  einen  Mann  und 
ein  Weib  oder  durch  zwei  Manner  von  verschiedener  Stimmlage, 
wobei  unter  anderen  Combinationen  auch  diese  zufallig  vor- 
kamen),  so  konnte  die  bereits  in  ihren  Anfangen  vorhandene 
Verschmelzung  der  beiden  Tone  zum  Unterschied  von  anderen 
Fallen  des  Zusammenklanges  bemerkt  werden;  sie  konnte  Einen, 
der  besondere  Lust  an  Tonen  hatte,  veranlassen,  solche  Zu- 
sammenklange  absichtlich  herbeizufiihren,  die  beziiglichen  Tone 
auf  Instrumenten  zu  fixiren  (Pansflote,  dann  Flote  mit  mehreren 
Lochern);  es  entstanden  Anfange  von  Melodien  aus  festen  Inter- 
vallen, absichtliche  Wiederholung  durch  den  Gesang,  wobei 
gleichzeitiges  Singen  Mehrerer  wieder  Octaven-  und  Quinten- 
gange  (auch  diese,  da  sie  sich  dem  Eindruck  des  angestrebten 
Unisono  bereits  einigermassen,  wenn  auch  noch  nicht  in  dem 
gegenwartigen  Masse  naherten)  zum  Vorschein  brachte.  Da- 
durch wurde  dann  wieder  die  obige  physische  Disposition  ver- 
starkt,  die  Verschmelzung  in  der  Empfindung   also    ebenfalls. 

Dass  diese  Zunahme  spaterhin,  je  hohere  Grade  schon  erreicht 
waren,  um  so  langsamer  erfolgte  und  jetzt  trotz  der  Uberhand- 
nahme  des  Musicirens  gar  nicht  mehr  zu  constatiren  ist,  wiirde 


( 

§  20.     tJber  die  Ui'sache  der  Tonverschmelzung.  217 

sich  mit  Hinweis  auf  allgemeinere  Erscheinungeii  begreifen 
lassen.  Dass  eiiie  Entwickelung  langsamer  wird,  wenn  sie  be- 
rcits  eino  gewisse  Hobo  erreicbt  hat,  sehcn  wir  ja  auch  an 
dcr  pbysischcii  wic  geistigcn  Bildung  des  Individuums.  (Vgl. 
auch  die  Analogie  der  Ubungscurve  I  79,  u.  dgl.) 

Das  obige  Erklarungspriucip  liesso  sich  auch  auf  die  Ver- 
schmelzungen  zwischen  verschiedcnen  Sinnon  anwenden,  indem 
z.  B.  Geschmiicko  und  Gorilche  rogclmassigcr  erregt  werden, 
als  Geschmacke  und  Tone. 

Im  Einzelnen  erwachsen  freilich  wieder  Schwicrigkoiten,  auch 
wenn  wir  von  der  allgemeinen  Frage  nach  der  Vererbung  er- 
worbener  Eigenschaften  absehen.  Die  Ableitung  setzt  Klange 
mit  harmonischen  Obertonen  voraus.  Darf  man  seiche  als 
die  ursprtinglicheren  betrachten?  Ferner  warum  verschmelzen 
Quinten,  Quarten,  Terzen  in  der  Tiefe  eben  so  stark  wie  in  der 
Mitte,  wahrend  diese  Intervalle  in  der  Tiefe  doch  nicht  bei 
Obertonen  vorkommen?  Denn  so  ungehcure  Blasraume  oder  Sai- 
ten,  dass  beispielsweise  C  und  G  oder  gar  E  und  G  als  Ober- 
tone  zusammen  darin  vorkamen  ( —  sie  miissten  den  Grundton  C^ 
bez.  C2  haben  — )  wurden  doch  schwerlich  von  den  Urmen- 
schen  benutzt,  zuraal  wenn  das  Ohr  urspriinglich  auf  die  hoberen 
Tone  gestimmt  war  (I  339  f.)  Nach  der  biblischen  Sage  waren 
zwar  Tubalkaiu  und  seine  Genossen  Kiesen  gewesen  und  batten 
sich  darum  auch  wol  riesiger  Instrumente  bedient.  Aber  die  ihres 
Markes  entleerten  und  mit  einem  Seitenloch  versehenen  Knochen, 
welche  zusammen  mit  Steinwerkzeugen  im  Departement  Dordogue 
ausgegraben  wurden  und  unter  die  altesten  Instrumente  gerechnet 
werden  miisseu,  gebeu  keine  sehr  tiefen  Tone. 

Doch  ware  dies  Bedenken  vielleicht  nicht  uniiberwindlich.  Da 
wir  nicht  wissen,  worin  die  Disposition  fiir  Verschmelzungen  be- 
stebt,  bleibt  auch  die  Mdglichkeit,  dass  durch  Quinten  in  beliebiger 
Tonregion  die  Disposition  fur  Quinten  iiberhaupt  oder  doch  inncr- 
halb  eines  weiteren  Tonbezirkes  erzeugt  wiirde.  Aber  auch  wenn  man 
diese  Annahme  nicht  macht,  liesse  sich  auf  einen  besonderen  Factor 
hinweisen,  durch  welchen  auch  fiir  die  Tiefe  die  entsprechenden 
Dispositionen  bewirkt  werden  konnten:  auf  die  Differenztone.  Nohmen 


218  §  -0.     (jbcr  die  Ursache  dcr  T  onverschmelzung. 

wir  an,  dass  schou  in  ciner  vorhistorischen  Epoche  gleichzeitige 
Quintcn  odcr  klcincrc  Intervallc  gcbraucbt  wurdcn  (was  kcincswcgs 
mit  „harnionisclicr  Musik"  zu  vcrwcchseln  und  nicht  ohnc  alle 
Analogien  mit  gegenwartigen  exotischcn  Musikzustanden  ware)  und 
dass  die  musikalisclie  Entwickeluug  in  dci-  hoheren  Region  begann, 
so  mussten  Diffcrcnztone  erster  und  bcibcrer  Ordnung  cntstebcn, 
wclchc  crheblich  tiefer  lagen  und  den  kleinereu  ganzeu  Zahlen 
entsiiracbcn.  Sogar  Untertdne  eines  einzelnen  Tones,  welchc  dcr 
durcb  klcinc  ganze  Zahlen  dividirten  ScbwingungszabI  dieses  Tones 
entsprechen,  konnteu  mit  in  Betracht  gezogcn  werden.  Obgleieh 
sie  in  der  Empfindung,  wie  wir  alsbald  ausfuLren  werden,  nicbt 
vorhanden  zu  sein  scheinen,  konnten  sie  doch  als  unter  der  Em- 
ptindungsscbwelle  bleibende  Erregungeu  des  Hurnerven  pbysische 
Dispositionen  erzeugen  belfen. 

Eiuc  andere  Schwierigkeit  lage  darin,  dass  in  den  allcrboch- 
sten  Regionen  anscheinend  keine  Verscbmclzungsunterscbiede  statt- 
finden  (o.  136).  Man  musste  sagen,  diese  Tone  seien  doch  selbst 
fiir  die  Urzeit  zu  hoch  gewesen,  um  die  Wirkuug  ihres  Zusam- 
menklingens  dem  Ohr  stark  genug  eiuzupragen. 

Aber  das  Alles  siud  vage  Vermutuiigen,  auf  die  ich  cben- 
sowenig  wie  auf  die  iiber  Entwickelung  des  Gchors  von  oben 
nach  unten  ein  Gewicht  legen  mochte.  Wie  alle  Hypothesen 
liber  Urgeschichte  der  Organismen  rulit  auch  diesc  auf  zu 
viclen  vorliiufig  uncoutrolirbarcii  Tcilliypothesen.  Ich  balte  es 
fast  fiir  zu  viel  gesagt,  wenn  wir  sie  auch  nur  cine  Hypothese 
neunen.  Als  eine  Idee  mag  man  sie  gelten  lassen.  Wir  haben 
sie  auch  fiir  die  weiteren  Untersuchungen  in  diesem  Werke 
nicbt  notig. 

Konnen  wir  nun  also  das  Phanomen  der  Verschmelzung 
rlickwarts  in  seine  Ursachen  nicht  weiter  verfolgen,  so  konnen 
wir  dies  doch  um  so  besser  und  reichlicber  nach  vorwiirts, 
nach  seinen  Wirkungen.  Es  dient  als  Erklarungsgrund  fiir 
zahllose  Ersclicinungen  des  Tonurteils  und  Tongefiihls.  Fast 
in  alien  folgenden  Untersuchungen  werden  wir  es  unter  den  vor- 
nehmsten  Bcdinguugen  der  zu  erkliirenden  Tatsacben  wieder- 
lindcn. 


§  21.  Aualysiren  u.  Heraushoren  b.  ungleich.  Sttirkc  d.  Klangteile.    219 


§  21.   Analysircn  und  Heraushoren  bci  ungleichor 
Starke  der  Klangteile. 

Ausgehond  vom  Problem  der  Analyse  Avaren  wir  auf  die  Ver- 
schmelzung  gefiihrt  wordon,  als  auf  eincn  der  entsclieidendsten 
Umstande,  von  denen  die  Analyse  abhangt.  Wir  ziehen  nun 
einen  weiteron  Umstand  in  genauere  Botrachtung,  das  Intensitlits- 
verhaltiiis  der  Tone.  Bislier  wurde  im  Allgomeinen  gleichc  Starke 
der  Klangelemente  vorausgesetzt.  Jotzt  fassen  wir  die  Folgen  in's 
Auge,  die  sich  an  ungleiche  Starke  kniipfen,  wobei  wir  ausser 
dem  Analysiren  im  engston  Sinn  (Gewalirwerden  ciner  Ton- 
mehrheit  als  solchcr)  aucli  das  besondere  Wahrnelmien  ein- 
zclncr  Telle  im  Ganzen,  speciell  das  Heraushoren  von  Ober- 
tonen  und  Combinationstonen  untersuchen. 

Unter  der  Starke  verstohon  wir  im  Folgcnden,  wo  niclits 
Anderes  bemerkt  ist,  die  Empfinduugsstarke,  wie  sic  erschoint, 
wenn  jeder  der  bczUglichen  Tone  bei  unveranderter  Reizstarke 
allein  erklingt.  (Dass  es  niclit  schlechthin  unmoglich  ist,  bei 
Tonen  verschiedener  Hohe  zu  sagen,  ob  sio  gloiche  oder  un- 
gleiche Starke  fiir  unsre  Empfindung  besitzen,  wurde  I  348 
erwahnt;  und  wenn  es  sich,  wie  hier,  nur  um  grobere  Stiirke- 
unterschiede  handelt,  so  ist  das  Urteil  audi  leicht  und  zuver- 
liissig  genug.)  Bei  den  Obertonen  und  Combinationstonen  ist 
diejenige  Empfinduugsstarke  gemeint,  welche  sie  als  selbstandig 
erzeugte  Tone  von  entsprechender  Reizstarke  haben  wlirdcn. 

Mit  diesen  Definitionen  soil  natiirlich  nicht  gesagt  sein, 
dass  ein  Ton  seine  Empfinduugsstarke  unverandert  beibehiilt, 
wenn  or  mit  unveranderter  physikalischer  Intensitiit  in  einen 
Zusammenklang  eintritt.  Es  soil  nur  unsre  Frage:  „In  welch er 
Weisc  ist  die  Analyse  eines  Klanges  oder  Zusammenklanges  ab- 
hangig  von  der  Starke  der  Componenten?"  naher  dahin  be- 
stimmt  werden:  „Wenn  zwei  verschiedene  Tone,  deren  Intensi- 
tiit beim  isolirten  Erklingen  entschieden  ungleich  crscheint,  mit 
unveranderter   physikalischer  Intensitat  zusammenklingen,    was 


220  §  21-  Analysiren  unci  Heraushoren 

ergibt  sich  danii  erfahrungsgemass  hinsichtlich  fler  Leichtigkeit 
oder  Moglichkeit  der  Analyse?" 

1.  Intensitatsschwelle. 

Durcb  ungleiche  Starke  wird,  wie  Jeder  weiss,  die  Analyse 
und  das  Heraushoren  des  schwacheren  Tones  erschwert.  Man 
nimmt  dann  hiiufig  nur  Einen,  den  starkeren,  Ton  wahr.  Den 
Grund  davon  darf  man  scbwerlicli  in  dem  psychologischen  Prin- 
cip  suchen,  wonach  ein  Verhaltnis  zweier  Elemente  (hier  ihre 
Mehrheit)  um  so  besser  erkannt  wird,  je  mehr  sie  in  alien  iibrigen 
Beziebungen  sich  der  Gleicbbeit  nabern.  Rein  psycbologisch 
konnte  ja  Einer  aucli  umgekebrt  scbliesseu,  dass  durcb  den 
Gegensatz  in  der  Starke  beide  Tone,  auch  der  schwacbere,  erst 
recbt  deutlich  bervortreten  miissten.  Aucb  baben  wir  gesehen, 
dass  man  das  erste  Princip  nicht  unterscbiedslos  auf  alle  Falle 
anwenden  kann  (S.  60  f.).  Ebensowenig  wird  man  daran  denken 
diirfen,  etwa  die  Unterscbiede  der  tJbung  verantwortlicb  zu 
macben,  insofern  bei  Accorden,  auf  welcbe  sich  die  analysirende 
Tiitigkeit  besonders  erstreckt,  die  Componenten  von  glcicber 
Starke  zu  sein  pflegen. 

Die  Hauptrolle  spielen  vielmebr  sicberlicb  aucb  bier  rein 
pbysiologische  Ursacben.  Gleicbzeitige  akustische  Nervenprocesse 
bccintracbtigen  gegenseitig  ibre  Intensitat,  wo  von  wir  Naberes 
boren  werden,  wenn  wir  die  Intensitatsurteile  liber  analysirte 
Tone  bebaudeln  (§  26).  Daber  kommt  es,  dass  der  scbwiicbore, 
der  nun  fiir  die  Empfindung  nocb  scbwacber  ausfallt,  als  es 
seiner  Reizstarke  bei  isolirtem  Erklingen  entspracbe,  leicbt  iiber- 
bort  werden  kann. 

Nicbt  bios  erscbwert  aber  Starkeverscbiedenbeit  die  Ana- 
lyse und  das  Heraushoren,  sondern  macht  sic  zuletzt  bei  einem 
gewissen  Betrag  ganz  unmoglicb.  Auch  fiir  das  feinste  Ohr 
tritt  eine  Grenze  ein,  wo  durcb  keine  Anstrengung  mehr  die 
Unterscheidung  des  schwacheren  neben  dem  starkeren  Ton  ge- 
lingt,  obgleicb  der  schwacbere,  fiir  sich  allein  erklingend,  hor- 
bar  sein  kann.  Diese  „Unterdriickung",  die  sich  aucb  Gerau- 
schen  gegeniiber  findct,  ist  fiir  die  Musik  von  hochstem  Werte. 
Miissten  wir  ja  sonst  schon  durcb  die  unvermeidlichen  inneren 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  221 

Ohrgerausche  und  die  subjective  Nachdauer  der  Tonempfin- 
dungen  ebenso  belastigt  werden,  wie  wir  es  durch  das  objective 
Nachklingen  eines  schlecht  dampfenden  Claviers  wirklicli  werden. 

Auch  in  den  pathologischen  Fallen  des  „Doppeltliorens" 
(I  266)  findet  solche  Unterdriickung  statt,  weiin  der  erliohte 
oder  -vertiefte  Ton  des  kranken  Ohres  zugleich  bedeutend 
scbwacher  ist.  Als  Wittich  die  Gabel  auf  den  Schadel  setzte, 
gab  sie  h^  oder  a^,  je  nachdem  sie  dem  kranken  (hoher  horen- 
den)  Ohr  niiher  oder  ferner  lag.  Ebenso  bemerkte  E.  H.  Weber 
am  Clavier  keinen  Doppelton,  auch  nicht,  wenn  er  das  eine  oder 
andere  Ohr  zuhielt.^)  Nur  wenn  er  eine  Gabel  ausschliesslich 
zuerst  dem  einen,  dann  dem  anderen  Ohr  bot,  zeigte  sich  der 
Unterschied. 

Verschwindet  nun  der  viel  schwachere  Ton  iiberhaupt  aus 
dem  Empfindungsinhalt  oder  nur  aus  der  Wahrnehmung?    Der 

^)  Der  Claviertoa  wird  eben  durch  das  Zuhalten  der  Ohren  so  we- 
nig  geschwacht,  dass  selbst  das  Zuhalten  des  gesunden  Ohres  nicht  ge- 
nixgte,  um  den  Pseudoton  gegenuber  dem  gleichzeitigen  Normalton  her- 
vortreten  zu  lassen.  Weber  deutet  die  Unterdriickung  dahin,  dass  die 
Aufmerksamkeit  dem  gesunden  Ohr  allein  zugewandt  sei,  ahnlich  wie 
Schielende  haufig  das  Schielauge  ignoriren.  Allein  eine  gewohnheits- 
massige  Vernachlassigung  konnte  sich  bei  ihm  doch  noch  nicht  ausge- 
bildet  haben,  und  so  ware  nicht  begreiflich,  warum  es  seiner  Beob- 
achtung  nicht  hatte  gelingen  sollen,  den  Pseudoton  neben  dem  Normal- 
ton  zu  entdecken,  wenn  jener  nicht  sehr  schwach  gewesen  ware. 

Was  Wittich  noch  erwahnt:  dass  die  Gabel  sich  doch  immer  zu- 
letzt  nach  b^  gezogen  babe,  auch  wenn  sie  dem  gesunden  Ohr  naher 
lag,  —  dies  hangt  wol  nicht  mit  der  Verstimmung  des  kranken  Ohres 
zusammen ,  sondern  mit  der  allgemein  zu  beobachtenden  Erhohung  aus- 
schwingender  Gabeln  (I  242,  255). 

Die  im  Text  erwahnte  Beobachtung  Wittich's  habe  ich  kiirzlich 
bei  einem  nach  Paracentese  des  linken  Trommelfells  eingetretenen  Doii- 
pelthoren  an  mir  selb.st  bestatigen  konnen  (nicht  so  diejenige  Weber's, 
da  ich  den  Doppelton  auch  am  Clavier  vernahm).  Doch  schien  mir 
ausser  der  Nahe  der  Stimmgabel  am  gesunden  oder  kranken  Ohr  auch 
die  Beschaffenheit  der  beziiglichen  Kopfstelle  von  Einfluss,  jenachdem 
sie  der  Knochenleitung  in's  kranke  Ohr  hinuber  mehr  oder  weniger 
gtiustig  war.  Es  gab  Stellen  ganz  in  der  Nahe  des  gesunden  Ohres,  wo 
gleichwol  der  Pseudoton  entstand,  wahrend  unmittelbar  daneben  aufge- 
setzt  die  Gabel  wieder  den  Normalton  horen  liess. 


222  §  21.  Analysiren  unci  Heraushoren 

Umstaiifl,  class  er  bei  Beseitigung  des  starkeren  wieder  hervor- 
tritt,  liesse  sicli  mit  beiden  Auffassungen  vereinigen.  Nur  aus 
theoretischen  Griinden  glaube  ich  aimehmen  zu  miissen,  dass 
l)ei  fortgesetzter  Abnalime  der  physikalisclien  Tonstarke  zuerst 
die  Wahrnehmung,  danu  aber  audi  die  Empfindung  wegfallt. 
Vorerst  ist  es  ein  falsches  Princip,  dass  Alles,  was  im  Em- 
pfinduiigsinlialt  vorhanden  ist,  bei  gehoriger  Aufmerksamkeit 
wahrnelimbar  sein  miisste,  Es  gibt  unbemerkbare  Empfin- 
dungen  und  Empfindungsunterschiede  ^),  und  so  wird  es  auch 


V)  I  33.  Das  dort  gegebene  Argument  ist  von  Sully  (Mind.  Oct, 
1884  p.  600)  und  Natorp  (Gotting.  gel.  Anz.  1886  S.  149)  bestritten  wor- 
den.  Das  iibereinstimmende  Urteil  dieser  beiden  Eecensenten  kann  ich 
nicht  unbeachtet  lassen.  Freilich  muss  es  schlecht  stehen  um  die  Phi- 
losophic, wenn  iiber  so  einfache  und  handgreifliche  Folgerungen  noch 
Streit  moglich  ist.  Ich  habe  dieselben  daher  wieder  und  wieder  gepriift, 
kann  sie  aber  nicht  anders  als  voUkommen  zwingend  finden. 

Nehmen  wir  an,  zwei  Empfindungen,  die  nicht  von  einander  unter- 
schieden  warden  konnen,  seien  einander  allemal  gleich.  d  sei  eine  Diflfe- 
renz  der  Schwingungszahl,  bei  welcher  zwei  Tone  nicht  mehr  unterschie- 
den  werden.  Diese  Differenz  wollen  wir  der  Einfachheit  halber  zunachst 
im  ganzen  Tonreich  als  dieselbe  annehmen.  Dann  sind  also  die  zwei 
Tonempfindungen,  welche  den  Schwingungszahlen  a  und  a -{- 6  ent- 
sprechen,  einander  gleich;  aber  auch  die,  welche  a -\- 6  und  0  +  2^, 
a-\-2d  und  a -{-3  6  entsprechen,  u.  s.  f.  Also  ist  auch  die  Tonempfin- 
dung  bei  a  gleich  der  bei  a  +  nd,  kurz  alle  Tonempfindungen  sind  ein- 
ander gleich. 

Die  Folgerung  verandert  sich  nicht,  wenn  wir  die  Inconstanz  des 
Schwellenwertes  mitberiicksichtigen.  Sind  6,  rf,,  6.^,  6^  ....  aufeinander- 
folgende  Schwellenwerte  bei  zunehmender  Schwingungszahl,  so  werden 
die  Empfindungen  bei  a,  a  -j-  6,  a  -\-  di  -{-  6^  u.  s.  f.  bis  a  -j~  ^  +  '^i  "f"  •  •  •  •  ^" 
sammtlich  einander  gleich. 

Kurz  und  allgemein:  Welches  auch  der  Schwellenwert  in  jedera 
Falle  sein  mag,  wenn  die  Empfindungen  A  und  B,  B  und  C,  C  und  D 
....  eben  nicht  mehr  unterscheidbar  sind  und  wenn  nicht  mehr  unter- 
scheidbare  Empfindungen  allemal  einander  gleich  sind,  so  ist  eben 
A  =  B  =-  C^  D  . . . .  Man  sieht,  ich  kann  Nichts  tun,  als  das  Argument 
wiederholen,  denn  es  ist  genau  dasselbe  wie  I  33. 

Stjlly  nennt  das  Argument  ,,thc  puzzle,  with  wich  the  author,  show- 
ing an  excess  of  ingenuity  not  unprecedented  in  his  writings,  perplexes 
his  imwary  reader",    und  meint    es    durch  Hinweis    auf    die   Tatsache, 


bei  nngleicher  Starke  der  Klangteile.  223 

eine  Schwelle  der  Analysirbarkeit  fiir  gleichzeitige  verschie- 
den  starke  Empfindungeu  geben.  Bleibt  ein  Ton  gleich  stark, 
wahrend  der  andere  abiiimmt,  so  sinkt  der  letztere  zuniichst  un- 
ter  diese  Wahrnehmungsscbwelle.  Aber  es  muss  auch  eine 
Schwelle  der  Empfindbarkeit,  kiirzer  Empfindungsschwelle, 
fiir  den  schwacheren  Ton  geben,  wenn  auders  der  abtragliche 
Einfluss,  den  wir  annehmen,  ein  physiologischer  ist.  Es  muss 
ein  Punct  kommen,  bei  welchem  der  starkere  physiologische 
Process  den  schwacheren  iiberhaupt  ausloscht.  Natiirlich  ist 
aber  nicht  diese,  sondern  nur  die  erste  Schwelle  durch  psycho- 
physische   Versuche  feststellbar. 

Vgl.  I  379  f.  iiber  Empfindungs-  und  Wahrnehmungsschwelle 
bei  isolirten  Tonen.  Es  wurde  I  400  auch  bereits  bemerkt,  dass 
die  Wahruehmung  schwachster  isolirter  Tone  eigentlich  schon  eine 
Unterscheidung  derselben  von  den  gleichzeitigen  inneren  Gerauschen 
ist,  wenn  anders  solche  ununterbrocben  stattfinden.  Aber  da  wir 
als  Mass  der  Schwelle  immer  den  Unterschied  der  ausseren  Reize 
im  Auge  haben,  durcb  welcbe  Empfindungen  erzeugt  werden,  so 
miissen  wir  jene  inneren  Gerausche  beim  Schwellenbegriff  ignoriren 
und  bei  der  Feststellung  der  Schwelle  sowol  fiir  isolirte  wie  gleich- 
zeitig  verbundene  Tone  sie  als  constant  und  nicbt  iiber  die  nor- 
male  Starke  hinausgehend  voraussetzen.  Unter  dieser  Voraussetzung 
bleibt  ein  begrifflicher  und  experimenteller  Unterschied  zwischen 
der  Schwelle  fiir  isolirte  und  derjenigen  fiir  gleichzeitige  Gehors- 
empfindungen  bestehen.    Ausserdem  natiirlich  auch  ein  Unterschied 


dass  die  Wahrnehmung  eines  Unterschiedes  ausser  gewissen  inneren  Be- 
dingungen  auch  einen  gewissen  Reizunterschied  voraussetze,  zu  losen. 
Die  Frage  ist  aber  nicht,  ob  jeder  Reizunterschied,  sondern  ob  jeder 
Empfindungsunterschied  bemerkt  werde,  und  ich  hatte  gewiinscht,  dass 
Sully  seinen  Angriff  in  scholastischer  Weise  specificirt  hatte. 

Wie  es  einen  Unterschied  machen  soil,  ob  von  Gleichheit  in  quali- 
tativer,  intensiver  oder  quantitativer  Hinsicht  die  Rede  ist,  vermag 
ich  nicht  einzusehen.  Wenn  Natoep  zu  behaupten  scheint,  dass  bei 
Qnalitaten  der  Begriff  Gleichheit  iiberhaupt  keinen  Sinn  babe  (vgl. 
jetzt  auch  seine  „Einleitung  in  die  Psychologie"  1888  S.  84),  so  ist  mir 
eben  diese  Behauptung  selbst  ganz  unverstiindlich. 


224  §  21.  Analysiren  unci  Heraushoren 

zwischen  dor  Schwelle  von  Tonen  gegentiber  gleichzeitigen  Tonen 
und  gegentiber  gleichzeitigen  Gerauschen. 

Fechner  nannte  die  Schwelle  von  Tonen  gegentiber  gleich- 
zeitigen Gerauschen,  uberhaupt  von  Empfindungen  gegentiber  gleich- 
zeitigen ungleichartigen  Empfindungen  „Mischungsschwelle"  (In 
Sachen  d.  Ps.  106,  Revis.  179).  Vielleicht  ware  es  besser,  diesen 
Oder  einen  verwandten  kurzen  Ausdruck  fur  die  Schwelle  gleich- 
zeitiger  Empfindungen  tiberhaupt  zu  gebraucheu. 

Spater  werden  wir  noch  in  anderer  Beziehuug  eine  Empfin- 
dungs-  und  eine  Wahruehmungsschwelle  gleichzeitiger  Tone  kenuen 
lernen:  da  bei  Annaherung  zweier  Tone  hinsichtlich  ihrer  Hohe 
ebenfalls  ein  Punct  kommen  muss,  wo  sie  nicht  mehr  unterschieden 
werden,  und  ein  Punct,  wo  sie  tiberhaupt  nicht  mehr  zwei,  sondern 
Eine  Empfindung  sind.  Wir  konnen  dies  die  qualitative  gegentiber 
der  intensiven  Schwelle  nennen. 

Nehmen  wir  an,  die  intensive  Schwelle  eines  Tones  von 
bestimmter  Hohe  gegentiber  einem  gleichzeitigen  anderen  Ton 
von  bestimmter  Hohe  und  Starke  sei  durch  den  Versuch  ge- 
funden,  also  diejenige  Differenz  ihrer  physikalischen  Intensitaten 
angegeben,  bei  welcher  der  schwachere  vor  dera  stiirkeren  eben 
verschwindet  (bez.  eben  nocli  wahniehmbar  ist):  so  wird  sich 
weiter  fragen,  wie  sich  die  Schw-elle  verhalt,  wenn  wir 
bei  unveranderter  Hohe  beider  Tone  deren  absolute 
Starke  verandern.  Bleibt  etwa  in  solchem  Fall  der  Ton 
eben  nicht  mebr  (bez.  eben  noch)  heraushorbar,  wenn  das  Ver- 
bal tnis  ihrer  physikalischen  Intensitaten  dasselbe  bleibt?  Dies 
wiirde  der  Formel  des  WEBER'schen  Gesetzes  entsprechen. 
Empirisch  ist  zunachst  bekannt,  dass  man  die  Stimme  urn  so 
mehr  anstrengen  muss,  um  eben  vernommen  zu  werden,  je 
grosser  der  Larm  ist.  Dabei  konnte  indes  audi  die  Dififerenz 
der  physikalischen  Intensitaten,  nicht  das  Verhaltnis,  dasselbe 
bleiben.  Denn  auch  um  das  gleiche  Plus  von  Intensitat  her- 
zustellen,  muss  ich  natiirlich  starker  singen,  wenn  der  Larm 
grosser  ist. 

Alfred  Mayer,  dessen  Untersuchungen  wir  I  212  und  II 102 
erwahnten,    hat  auch   dieser  Frage  eine  experimentelle  Studio 


bei  nngleicher  Starke  der  Klangteile.  225 

gewidmet^)  und  zu  finden  geglaubt,  dass  die  Inteusitat  des 
verdrangenden  Tons  immer  etwa  dreimal  so  gross  sein  miisse, 
wie  die  des  verdrangten.  Dabei  mass  er  die  Intensitat  durch 
Aufsuchung  derjenigen  Entfernung,  in  welcher  der  beziigliche 
Ton,  fiir  sich  allein  angegeben,  eben  verschwand.  UnterVoraus- 
setzung  der  Intensitatsabnahme  mit  dem  Quadrat  der  Entfernung 
berechnete  er  aus  dem  Verhaltnis  der  gefundenen  Entfernungen 
das  Intensitatsverhaltnis  der  Tone  bei  gleicher  Entfernung. 

Hienacb  ware  also  in  der  Tat  das  Verhaltnis,  nicht  die 
Differenz  der  pbysikalisclien  Intensitaten  constant,  wenn  ein 
Ton  den  anderen  eben  unterdriickt.  Allein  es  ist  nicht  denk- 
bar,  dass  es  Ein  solches  constantes  Verhaltnis  gabe,  gleichviel 
welche  Tone  man  nahme.  Wenn  der  eine  Ton  die  Octave  des 
anderen  ist,  muss  er  eine  andere  Schwelle  haben,  als  wenn  er 
der  Tritonus  ist;  ausserdem  spielen  wahrscheinlicherweise  noch 
andere  Umstande  mit  (Hohendistanz,  Tonregion,  s.  u.).  Die 
Nichtberiicksichtigung  dieser  Umstande  und  besonders  der  Ver- 
schmelzuugsstufen,  deren  Einfluss  hier  ganz  zweifellos  ist,  lassen 
jenes  Versuchsergebnis  selbst  zweifelhaft  und  die  Versuche 
nur  von  provisorischem  Wert  erscheinen.^) 

Ein  interessantes  Ziel  bei  weiterer  Verfolgung  derselben, 
welches  auch  Mayer  bereits  angedeutet  hat,  ware  die  Einrich- 
tung  eines  Phonometers  nach  Art  des  Photometers.  Wir 
konnten  diejenigen  Tone  als  gleichstarke  definiren,  deren  jeder 
eiuen  gleichbleibenden  dritten  eben  zu  verdrangen  vermag. 
Eine  Definition  der  Empfindungsstarke  ware  dies  nicht,  aber 
eine  Definition  der  physiologischen  Starke;  wenn  anders 
das,  was  wir  hier  als  Verdrangung  oder  Unterdriickung  be- 
zeichnen,  ein  physiologischer  Process  ist.     Aber  auch  eine  De- 


*)  American  Journal  of  Science  and  Arts,  Vol.  XII,  Nov.  1876, 
p.  329.    Auch  im  Philos.  Magazine  1876  No.  XIV.  Suppl.  p.  500. 

^)  Nachdem  auf  Anregungen  von  Kundt  fiir  einzelne  Falle  durch 
Dvorak  und  in  allgemeinerem  Umfang  durch  A.  Raps  eine  Messungs- 
methode  fiir  physikalische  Tonstarken  ausgebildet  ist  (Wiedem.  Ann. 
Bd.  36,  1889,  S.  273  f.),  ware  es  nun  wol  moglich,  die  obigen  Versuche 
exacter  durchzufuhren. 

Stumpf,  Tonpsychologie.     II.  15 


226  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

finition  dieser  physiologischen  Tonstarke  ware  wertvoU,  da  sie 
zum  Unterschied  von  der  bios  physikalischen  in  directester 
Beziehung  zur  Empfindungsstarke  steht. 

Wenn  iibrigens  die  WEBER'sche  Formel  sich  in  der  er- 
wahnten  Frage  anwendbar  fande,  so  wiirden  wir  es  doch  keines- 
wegs  wirklich  mit  dem  WEBER'schen  Gesetze  selbst  hier  zu 
tun  haben.  Dieses  berubt  auf  der  Fragestellung:  „Sind  zwei 
Empfindungen  einander  gleicb  oder  nicht?"  Dass  sie  zwei  sind, 
steht  fest.  Hier  dagegen  bandelt  sich's  um  die  Frage,  ob 
Uberhaupt  zwei  Tone  wahrgenommen  werden  oder  nur  Einer. 
Spricht  man  beide  Male  von  „Unterscheidung",  so  wird  eben 
dieses  Wort  in  doppeltem  Sinn  gebraucht.  Moglich  ware  es 
ja,  dass  die  Analyse  im  letzteren  und  das  Ungleicbheitsurteil 
im  ersteren  Fall  den  namlichen  oder  analogen  Bedingungen 
(physischen  wie  psychischen)  unterlagen  und  darum  die  gleiche 
Formel  lieferten;  aber  sicber  ist  dies  gar  nicht,  und  die  Materien 
sind  einstweilen  auseinanderzuhalten. 

Es  ist  auch  noch  eine  veranderte  Fragestellung  in  dieser 
Sache  moglich.  Statt  die  physikalischen  Tonstarken  zu  messen, 
bei  welchen  Unterdriickung  stattfindet,  konnen  wir  auch  die 
Empfindungsstarken  selbst,  genauer  ihre  Distanzen,  messen. 
Wir  wissen  aus  §  15,  dass  Distanzen  von  Empfindungsstarken 
als  gleich  oder  ungleich  erkannt  und  mit  Beziehung  darauf  auch 
von  einer  doppelten,  dreifachen  Empfindungsstarke  gesprochen 
werden  kann.  Es  konnten  darum  die  beiden  Tone,  deren  einer 
den  anderen  bei  gleichzeitigem  Erklingen  unterdriickt,  jedesmal 
auch  isolirt  in  Hinsicht  ihrer  Starke  verglichen  und  konnte 
untersucht  werden,  ob  etwa  eine  solche  Unterdriickung  jedesmal 
bei  gleicher  Starkedistanz  stattfindo.  Welches  Resultat  sich 
auch  hier  ergeben  mochte:  von  einem  „psychophysischen"  Gesetz 
wiirde  nun  voUends  nicht  mehr  die  Rede  sein.  Der  Schwellen- 
wert  ware  in  Empfindungsmassen  (genauer  Empfindungsdistanz- 
massen)  selbst  angegeben. 

Weiter  konnte  sich  die  Untersuchung  auf  den  Schwellen- 
wert,  zunachst  den  physikalischen,  bei  Concurrenz  eines  Tons 
mit   zwei    oder   mehr    gleichzeitigen    starkeren    Tonen    richten. 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  227 

Eine  Formel  ware  denkbar,  welclie  alle  Falle  iiberhaupt  um- 
fasste,  in  denen  ein  Ton  von  gegebener  Hohe  durch  eine  be- 
stimmte  Zabl  anderer  Tone  von  gegebener  Hohe  unterdriickt 
wiirde.  Freilich  ist  zu  bezweifeln,  ob  ein  so  miihsames  Unter- 
nehmen  sich  lohnte.  Doch  gewahrt  es  in  diesen  Dingen  schon 
eine  gewisse  Befriedigung,  die  moglichen  Ziele  in's  Auge  zu 
fassen,  die  moglichen  Fragen  bestimmt  auszusprechen. 

Wir  haben  bisher  zwei  (oder  mehr)  Tone  von  bestimmter 
unveranderter  Hohe  vorausgesetzt.  Verandern  wir  nun  die 
relative  oder  absolute  Hohe  zweier  gegebener  Tone  von 
ungleicher  Starke,  so  ist  wiederum  die  Frage,  ob  der  Inten- 
sitats-Schwellenwert  derselbe  bleibt. 

Wir  erwahnten  schon,  dass  der  Verschmelzungsgrad  ganz  be- 
trachtliche  Unterschiede  im  Schwellenwert  bedingt;  dieser  liegt 
entschieden  um  so  niedriger,  je  weniger  die  beiden  Tone  ver- 
schmelzen. 

Es  konnte  aber  weiter  auch  einen  Unterschied  machen, 
ob  der  starkere  Ton  iiber  oder  unter  dem  schwacheren 
liegt.  A.  Mayek  stellt  in  dieser  Hinsicht  die  nierkwiirdige 
Behauptung  auf  (a.  a.  0.),  dass  durch  tiefere  Tone  wol  hohere 
verdrangt  wlirden,  nicht  aber  umgekehrt. 

Dies  scheint  mir,  so  extrem  ausgesprochen,  jedenfalls  un- 
richtig.  Es  widerstreitet  alltaglichen  Erfahrungen  und  lasst 
sich  durch  Versuche  leicht  widerlegen.  Das  Summen  einer 
tiefen  Gabel  ist  neben  dem  schreienden  Accord  hoher  Zungen- 
pfeifen  oder  Trompeten,  Ja  neben  einer  einzelnen,  unhorbar. 
Halte  ich  eine  im  Ausschwingen  begriifene  aber  noch  gut  hor- 
bare  0- Gabel  vor  das  linke  Ohr,  welchem  ich  dann  eine  F- 
Gabel  periodisch  nahere,  so  verschwindet  das  C  und  kommt 
wieder,  jenachdem  die  i^- Gabel  nah  oder  fern,  stark  oder 
schwach  ist.  C  wird  also  durch  den  hoheren  Ton  bei  einer 
gewissen  Starke  desselben  unterdriickt.  Ahnliches  ergibt  sich 
bei  einer  Fis-  und  einer  ^-Gabel,  die  also  mehr  als  eine  Octave 
zwischen  sich  haben.  Hier  bemerke  ich,  wenn  die  jP«s- Gabel 
vor  das  Ohr  gehalten  und  die  ^- Gabel  aus  der  Feme  immer 
naher  gebracht  wird,  vier  Stadien,    Zuerst  ist  nur  Fis  horbar; 

15=^ 


228  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

dann  fangt  es  an  zu  schweben  (der  Oberton  fis  scbwebt  mit 
g),  ohne  dass  g  schon  fiir  sich  horbar  ware;  dann  vernehme 
ich  beide  Tone;  endlich,  wenn  g  vor  dem  Ohr  und  demselben 
noch  naher  ist  als  Fis,  verscbwindet  der  tiefe  Ton  vor  dem 
hoheren.  Bei  C  und  c,  C  und  g,  c  und  c^  ist  das  zweite 
Stadium  statt  durch  Schwebungen  durch  eine  geringe  Verstark- 
ung  und  eine  bedeutende  Erhellung  des  tiefen  Tones  charak- 
terisirt  (vergl.  §  23,  2,  b),  im  tlbrigen  aber  die  Erscheinung 
die  namliche.^) 

Soviel  jedoch  scheint  rich  tig,  dass  der  bohere  Ton  ein 
grosseres  Ubergewicbt  an  Empfindungsstarke  besitzen 
muss,  um  den  tieferen  zuzudecken  als  umgekehrt.  Man 
kann  bei  den  Gabelversuchen  viel  leichter  fiir  die  hohere  Gabel 
einen  Punct  finden,  wo  sie  bei  allmaliger  Entfernuug  un- 
wahrnehmbar  wird,  als  fiir  die  tiefere;  vorausgesetzt,  dass  der 
verscbwindende  Gabelton,  fiir  sich  allein  gehort,  doch  noch 
wahrnehmbar  sein  soil.  Und  wenn  man  dann  die  unterdriickende 
Gabel  beseitigt  und  den  nunmehr  wahrnehmbaren  Ton  in  Be- 
zug  auf  seine  Starke  priift,  hat  man  den  Eindruck,  dass  sie 
im  ersten  Fall  grosser  ist  als  im  zweiten.  Tiefe  Tone  werden 
also  bei  geringerer  Empfindungsstarke  durch  hohe  hindurchge- 
hort  als  hohe  durch  tiefe.  Wie  es  sich  in  dieser  Beziehung 
mit  der  physikalischen  Starke  verhalt,  ware  noch  zu  untersuchen. 
Erst  durch  Vergleichung  derselben  waren  auch  genaue  Mass- 
bestimmungen  zu  gewinnen,  wiihrend  es  sich  bei  den  Empfin- 
dungsstarken  nur  um  Schatzungen  handelt. 

Fragen  wir  nach  dem  Grunde  des  eben  erwahnten  Ver- 
haltens,  so  konnte  man  an  die  grossere  Ausdehnung  tieferer 
Tone  denken  (o,  56).     Sie  ist  zwar  nicht  eine  Ausdehnung  im 

^)  Auch  folgende  Erscheinung  gehort  hierher.  Wenn  ich  durch  das 
Zusammenwirken  der  drei  Zungenpfeifen  e^g'^c^  den  tiefen  Differenzton 
C  erzeuge,  hierauf  zu  den  dreien  noch  die  c^-Pfeife  fiige,  so  hore  ich 
C  jetzt  weniger  machtig.  Nach  Mayer  mtisste  man  es  noch  machtiger 
hoien,  da  es  nun  auch  durch  c'  miterzeugt  wird  und  einer  Verdrangung 
nicht  unterliegen  soil.  Aber  factisch  nimmt  eben  das  hinzukommende 
Starke  c^  dem  C  mehr  an  Starke,  als  es  ihm  durch  seine  Verbindung 
mit  den  ubrigen  primaren  Tdnen  zubringen  wilrde. 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  229 

optischen  Sinne  und  darum  das  relative  Hervortreten  der  tiefeii 
Tone  auch  nicht  selbstverstandlicb.  Aber  sie  ist  doch  eiii 
Moment,  welches  eincr  Steigerung  unterliegt  und  zwar  von  den 
hobeu  nacb  den  tiefen  Tonen  zu.  Darum  konnte  grossere  Aus- 
dehnung  wie  grossere  lutensitat  wirken,  als  Aequivalent  der- 
selben,  in  einem  fiir  das  Heraushoren  giinstigen  Sinne. 

Docb.  bleibt  audi  denkbar,  dass  der  Grund  in  jener  Wechsel- 
wirkung  gleicbzeitiger  Tone  (bez.  der  entspreclienden  pbysio- 
logischen  Processe)  Hegt,  derzufolge  sie  sich  gegenseitig  etwas 
von  ihrer  Starke  abziehen.  Man  miisste  annebmen,  dass  die 
tiefen  Tone  den  hohen  mebr  abzieben,  als  umgekebrt. 

Dass  endlich  die  absolute  Hohe  (Tonregion)  einen  be- 
deutenden  Unterscbied  machen  muss,  dass  die  Schwelle  eine 
liohere  sein  wird ,  wcim  zwei  tiefe  als  wenn  zwei  mittlere 
oder  massig  bobeTone  unter  sonst  gleicben  Umstiinden  analysirt 
werden  soUen,  ist  nacb  Allem,  was  wir  bereits  Uber  die  Unter- 
scbiede  der  Regionen  wisseu,  nicht  zu  bezweifeln. 

Diese  Untersuchungcn  verdienen  auch  auf  das  Verhaltnis 
von  Tonen  und  Gerauschen  ausgedehnt  zu  werden.  Hier- 
iiber  bemerkt  Kessel^):  „Die  drei  untersten  Octaven,  63  bis  c, 
werden  relativ  leichter  (von  Geriiuscben)  iiberdeckt  als  die 
folgenden.  Von  c  bis  c^  beeinflussen  die  Geriiusche  die  Tone 
noch  sehr  betrachtlich,  von  c^  aufwiirts  schon  weit  weniger." 
Kessel  schliesst  aus  Versuchen,  dass  die'geringere  Empfindungs- 
starke  der  tiefen  Tone  nicht  zur  Erklarung  dieses  Unterscbieds 
ausreiche. 

2.  Wahrnehmung  regelmassiger  (unselbstandiger) 
Beitone  im  Allgemeinen. 

Beitone  bieten  fiir  unsere  gegenwartige  Betrachtung  nur 
dann  noch  weiteren  Stoff,  wenn  sie,  wie  die  Obertone  und 
Combinationstone,  mit  einer  gewissen Regelmassigkeit  Haupt- 
tone  begleiten.  Wir  betrachten  zuerst  das  Gemeinsame  dieser  bei- 
den  Falle  hinsichtlich  der  Analyse,  dann  das  Besondere  eines  jeden. 
Zuletzt   untersucben  wir,    ob   noch  andere   Beitone  mit  Regel- 


^)  Uber  das  Horen  von  Tonen  und  Gerauschen.    A.  f.  0.  XVIII  140. 


230  §  21.  Analysireu  unci  Heraushoren 

massigkeit  in  cler  Empfindung  vorhanden  sind  (Untertone),  und 
ob  es  iiberhaupt  ganz  einfache  Tone  gebon  kann. 

Die  Entstehungsweise  sowol  von  Obertonen  als  Combinations- 
tonen  bedingt  gewisse  Erschwerungen  oder  den  Hinwegfall  ge- 
wisser  Erleichterungen  fiir  das  Heraushoren  gegeniiber  anderen 
Zusammenklangen  von  ungleicher  Starke  der  Telle. 

Erstens  setzen  diese  Classen  von  Boitonen  physikalisch  exact 
mit  dem  oder  den  primaren  Tonen  ein,  wahrend  sonst  bei  Zu- 
sammenklangen vielfach  schon  objectiv  kleine  Zeitunterschiede 
im  Einsatz  der  Componenten  stattfinden  und  die  Analyse  er- 
leichtern. 

Sodann  verandert  sicb  ihre  Starke  wahrend  der  Dauer 
des  Klanges  entweder  nicht  oder  in  gloichem  Sinne  mit  der 
Starke  der  primaren  Tone,  wahrend  sonst  vielfach  selbstandige 
Starkeschwankungen  der  Componenten  die  Analyse  erleichtern. 
(Damit  soil  nicht  gesagt  sein,  dass  die  regelmiissigen  Beitone 
in  gleichem  Maasse  wie  die  Haupttone  ab-  und  zunehmen. 
Vielmehr  sind  in  dieser  Beziehung  in  vielen  Fallen  durch 
Anderung  des  Starkeverhaltnisses  Erleichterungen  des  Heraus- 
horens  gegeben.  Auch  sehen  wir  hier  noch  ab  von  der  bios 
subjectiven  Verstarkung  von  Beitonen,  welche  als  Folge  des 
Heraushorens  eintretcn  kann.) 

Drittens  und  hauptsachlich  bilden  die  nachstliegenden  und 
starkeren  Obertone  bei  fast  alien  gebrauchlichen  Musikinstru- 
menten,  mid  ebenso  die  Combinationstone  bei  alien  consonanten 
Intervallen,  mit  den  beziiglichen  Primartonen  Octaven,  Quinten, 
Terzen:  also  starkere  Verschmelzungen. 

Viertens  sind  Obertone  und  Combinationstone  einfache  Tone, 
jedenfalls  die  einfachsten,  die  wir  kennen;  und  da  wir  es  sowol 
in  der  Musik  als  im  Leben  fast  immer  mit  zusammengesetzten 
Klangen  zu  tun  haben,  so  ist  begreiflich,  dass  die  ungewohnte 
Farbung  jener  Tone  ihre  Auffindung  zunachst  erschwert.^) 


')  In  diesem  Erklarimgsgrunde  wiirde  ein  Cirkel  liegen,  wenn  er  der 
einzige  ware:  wir  wiirden  dann  das  Nichtwahrnehmen  dieser  Beitone 
aus  dem  gewohnheitsmassigen  Nichtwahrnehmen  derselben  erklaren.  Da 
aber  das  Letztere  noch  besondere  vorher  erwahute  Griinde  hat,  so  muss 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  231 

Bei  allem  Dem  mussen  wir  aber  festhalteii,  dass  Obertone 
iind  Combinationstone  fur  die  Empfindung  und  das  Bewusstsein 
iiberhaupt  nicbts  weiter  siud  als  erbeblich  schwachere  Tone 
nebeu  stiirkeren,  und  dass  die  das  Heraushoren  erscbwerenden 
Umstande  auch  bei  selbstandig  erzeugten  Beitonen  hergestellt 
werden  konneu.  Dies  ist  fiir  die  spateren  Frageu  nach  ihrer 
Bedeutuug  fiir  die  Consonanz  u.  s.  f.  von  Wichtigkeit. 

3.    Specielles    iiber  Wahrnehmung   von   Obertonen. 

Man  bat  an  den  Obertonen  verwunderlicb  gefunden  die 
im  Vergleicb  mit  der  berecbneten  physikaliscben  Starke  zu 
geringe  Empfindungsstarke,  die  sie  fiir  den,  der  sie  berausbort, 
zu  baben  scbeinen;  sodann  die  besondere  Scbwierigkeit  und  die 
ausserordentbcben  individuellen  Unterscbiede  in  Hinsicbt  des 
Herausborens. 

Die  zu  geringe  Starke  erklart  sicb,  wie  ich  meine,  hin- 
reicbend  aus  dem  scbon  mebrfacb  erwabnten  Umstande,  dass 
gleicbzeitige  Tone  iiberbaupt  sicb  scbwacben.  Wenn  aucb  der 
absolute  Starkeverlust  der  scbwiicberen  dabei  vielleicbt  nicbt 
grosser  ist  als  der  der  starkeren,  so  werden  sie  docb  jedenfalls 
eine  grossere  scbeinbare  Einbusse  erleiden.  Dasselbe  gilt,  wie 
es  scheint,  fiir  bobere  Tone  gegeniiber  tieferen  (s.  o.).  Am 
Meisten  also  werden  scbwiicbere  bobere  Tone  neben  starkeren 
tieferen  beeintracbtigt  sein. 

Die  Scbwierigkeiten  des  Herausborens  aber  sind  vor  alien 
Dingen  stark  iibertrieben  worden.  Man  findet  in  vielen  Scbriften 
Ausserungen,  als  ob  es  fiir  Laien  in  der  Akustik  unmoglich 
und  iiberbaupt  nur  fiir  wenige  Menscben  moglicb  ware,  obne 
Resonatoren  Obertone  zu  vernebmen.^)     Icb  babe  fast  immer 


allerdings  die  so  entstehende  Gewohnung  an  die  scharferen  Klangfarben 
die  Scbwierigkeit  noch  vergrossern;  wenn  auch  nur  solange,  als  Einer 
nicbt  scbon  binreicbend  oft  einfacbere  Tone  gebort  und  sicb  mit  ibrer 
Farbe  vertraut  gemacht  hat. 

^)  WuNDT  bebauptet  einmal  (Logik  I  14):  ,,Die  Obertone  werden  nicbt 
bios  schwacber  empfunden,  sondern  sie  werden  als  gesonderte  Tonboben 
iiberbaupt  erst  in  Folge  der  Einfuhrung  besonderer  Versuchsbedinguugeu 
empfunden".  Auch  G.  E.  Muller  sagt  scbon  zu  Viel  (Sinnl.  Aufmerks. 
18  und  20):    „Es  gelingt  nur  Wenigen  bei  angestrengter  Aufmerksam- 


232  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

gefunden,  dass  es  Menschen  olme  besondere  musikalische  Be- 
gabung  und  ohne  jegliche  akustische  tJbung  iiach  kurzer  Zeit 
gelang;  besonders  allerdings,  wenn  ihnen  in  den  ersten  Fallen 
die  beziiglichen  Teiltone  vorher  angegeben  wurden,  aber  auch 
gelegentlicli  ohne  dieses  Hilfsmittel.  Selbst  der  ganz  unmusi- 
kalische  Dr.  K.  (I  314 — 15)  horte  bei  tiefen  Claviertonen  Ober- 
tone  und  wusste  dieselben  durcli  Singen  richtig  anzugeben,  in- 
dem  er  sie  nur  in  eine  fiir  seine  Stimme  zugaugliche  oder  be- 
quemere  Octave  transponirte;  so  sang  er  bei  A^:  cis  und  e,  bei 
E^:  e  und  h,  ferner  cis  (womit  wabrscheinlich  der  etwas  zu 
tief  intonirte  7.  Teilton  gemeint  war,  der  zwiscben  cis^  und  d^ 
liegt).  Es  kann  sogar  gescbehen,  dass  ein  Oberton  einmal  eher 
von  einem  Unmusikaliscben  als  eiuem  Musikalischen  vernommen 
wird.  Unmusikalischo  bemerken  auch  verhaltnismassig  leicht 
Scbwebungen  und  sonstige  Nebenerscbeinungen  (Reibungsge- 
rausch  beim  Violinspiel  u.  dgl.),  weil  ihre  Aufmerksamkeit  we- 
niger  durcb  das  musikalisch  Wesentlicbe,  die  Qualitat  der  Haupt- 
tone  und  den  (wirklichen  oder  auch  bios  gedacbten)  Zusammen- 
hang  abgezogen  wird.  So  kann  es  ja  einem  Musiker  aucb 
begegnen,  dass  er,  von  dem  Gebalt  eines  Stiickes  in  Anspruch 
genommen,  technische  Unvollkommenheiten  der  Ausfiihrung  iiber- 
hort,  die  selbst  dem  Laien  auffallen. 

Fast  allgemein  aber  wurden  bei  den  bisherigen  Betrach- 
tungen  ilber  das  Heraushoren  der  Obertone  iibersehen  die  star- 
ken  Unterschiede  der  Falle  je  uach  der  Ordnungszahl 
des  Teiltons;  mit  anderen  Worten  und  genauer:  je  nach  der 
Verschmelzung  desselben  mit  dem  Grundton.  Die  nachst- 
liegenden  und  bei  voller  Klangfarbe  starksten  Obertone  sind 
Octave  und  Duodecime  (Quinte  der  Octave).  Diese,  zumal  die 
Octave,  sind  aber  nicht  bios  im  Verhaltnis  zu  ihrer  Starke, 
sondern  in  der  Kegel  schlechtweg  am  schwersten  herauszuhoren. 


keit  die  Obertone  zu  vernelimen."  Auch  die  Behauptung,  dass  die 
Menschen  „bis  auf  die  neueste  Zeit  nichts  von  Obertonen  gewusst  haben'' 
(das.),  ist  ein  Irrtum.  Sie  sind  mindestens  seit  den  Zeiten  des  Cartesius 
bekannt.  Vgl.  dessen  Musicae  Compendium  (verfasst  1618)  p.  19,  Epistolae 
P.  II  ep.  68;  ferner  was  wir  unten  235  iiber  Meksenne  sagen. 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  233 

Wenn  Ungoiibte  die  Octavo  selbst  bei  gleicher  Starke  mit  dam 
Grundton  von  diesem  nur  schwer  unterscheiden ,  so  begreift 
sich,  dass  sie  bei  geringerer  Starke  vollig  ununterscheidbar 
wird.  Sie  bietet  daim  auch  fiir  musikalisch  und  akustisch 
Geiibte  solche  Schwierigkeit,  dass  ausgezeichnete  Beobacbter 
bei  Stimmgabehi  das  Vorbandensein  harmonischer  Obertone 
einschliesslich  der  Octave  und  Duodecime  geleugnet  oder  sie 
nur  durcb  kiinstlicbe  Mittel  fiir    nachweisbar  erkliirt  baben.^) 


^)  Henrici  Pogg.  Ann.  Bd.  58  S.  265  (horte  mit  blossem  Ohr  meist 
einen  ganzen  Septimenaccord,  darin  die  Duodecime  oder  deren  hohero 
Octave,  aber  nicht  die  Octave  des  Grundtons).  Dove  das.  Bd.  115,  S.  650 
(keine  Spur  der  Octave;  nur  bei  Schwebungen  der  Gabel  mit  einer 
anderen  hervortretend).  Helmholtz  Tonempf.  *  94,  119—121,  263  (nur 
bei  sehr  starkem  Anschlag  Spuren  harmonischer  Obertone  mit  Resona- 
toren  horbar).  Dagegen  schwingen  bei  gestricheuen  Gabelu  nach  Preyer 
Akust.  Unters.  15 — 17  Secundargabeln  auf  Resouanzkasten,  welche  die  4 
ersten  harmonischen  Teiltone  geben,  stark  mit.  R.  Konig  (Wied.  Ann. 
XII  337)  wiederum  konnte  bei  einer  c- Gabel  mit  sehr  dicken  Zinken 
nicht  die  geringste  Spur  eines  Obertons  auffinden.  Die  Obertone  seien 
abhangig  von  der  Dicke  der  Zinken. 

Was  Konict  bier  sagt,  erklart  mauche  Differenz  der  Angaben;  wie 
es  auch  einen  Unterschied  macht,  ob  man  eine  Gabel  anschlagt  oder 
streicht,  ob  sie  auf  Resouanzkasten  oder  frei  schwingt  u.  A. 

Ich  habe  bei  manchen  freischwingenden  Gabeln  die  Duodecime  leicht 
mit  blossem  Ohr  wahrgenommen,  die  Octave  mit  einiger  Mtihe.  Bei 
einer  c-Gabel  auf  Resonanzkasten  konnte  ich  selbst  mit  Resonatoren 
weder  c'  noch  g^  vi^ahrnehmen ,  wie  stark  jene  auch  gestrichen  wurde. 
Ebenso  bei  c'  weder  c^  noch  g'^.  Dagegen  kann  man  auch  hier  durch 
Hilfsgabeln  von  der  Hohe  des  gesuchten  Obertons,  welche  gleichfalls 
auf  Resonanzkasten  befestigt  sind,  Obertone  noch  objectiv  nachweisen. 
Ich  finde  Preyer's  Angaben  in  dieser  Hinsicht  bestatigt.  Wenn  ich  die 
Hilfsgabel  in  den  Resonanzraum  der  gestrichenen  Primargabel  halte, 
dann  letztere  dampfe  und  den  Kasten  der  Hilfsgabel  dicht  an's  Ohr 
bringe,  so  hore  ich  diese  Gabel  leise  tonen.  Gabeln  von  anderer  Ton- 
hohe  bleiben  vollkommen  still.  (Preyer  stellte  den  einen  Kasten  auf 
den  anderen,  wobei  die  aufgesetzte  Gabel  viel  starker  mitklingt,  aber 
auch  der  Einwand  bleibt,  dass  nicht  Ubertragung  durch  die  Luft  sondern 
durch  die  sich  beriihrenden  Resonanzkasten  stattfindet.  Preyer  hebt 
allerdings  hervor,  dass  andere  Gabeln  auch  bei  dieser  Methode  vollig 
ruhig   blieben.     Dies  ist  aber  nicht  ganz  richtig.     Eine  &-Gabel  z.  B. 


234  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

Gleichwol  zeigen  sie  sich,  unci  besonders  die  Octave,  rait  iiber- 
i-MScbender  Intensitat  aucb  bier  vorbanden,  sobald  man  durcb 
eine  Interferenzrobre,  wie  sie  Quincke  (Pogg.  128,  S.  177)  ange- 
geben  bat,  den  Grundton  der  Gabel  ausloscbt.  Das  Gleicbe  gilt 
fur  die  sog.  Flageolettone  der  Streicbinstrumente,  welcbe  man 
f'iir  einfacbe  Tone  zu  baltcn  geneigt  ist,  wabrend  sie  mindestens 
nocb  ibre  bobere  Octave  mit  sicb  fiibren  ^). 

Wo  nun  aber  bobere  Teiltone  als  die  genanuten  vorbanden 
sind,  da  sind  solcbe,  obgleicb  im  Allgemeinen  scbwacber  als 
die  tieferen,  dennocb  oft  leicbter  als  diese  wabrzunebmen;  be- 
sonders der  7.  und  9.  Teilton,  weil  diese  mit  dem  Grundton 
weniger  verscbmelzen  als  alio  vorangebenden.  Icb  babe  dies 
biiutig  bci  Ungeiibten  und  unzabligemale  bei  mir  selbst  beob- 
acbtet.  Man  gebe  C  auf  dem  Clavier  oder  Cello  an:  fast  immer 
wird  man  obne  Scbwierigkeit  den  7.  Teilton  {b^,  etwas  tiefer  als 
das  h^  auf  dem  Clavier)  uud  wabrscheinlicb  aucb  den  9.  (d^) 
berausboren. 

Diese  paradoxe  Erscbeinung,  dass  gewisse  scbwachere 
Gbertone  leicbter  berauszuboren  sind  als  gewissestarkere, 
bildet  eine  dor  auffallendsten  Consequenzen  der  Verscbmelzungs- 
verbaltnisse.  Sie  ist  um  so  lebrreicber  in  dieser  Ricbtung",  als 
wir  es  bier  mit  Verschmelzungen  zwiscben   einfacben  Tonen 


wurde  durch  c  auf  diesem  Wege  deutlich  zum  Tonen  gebracht,  wenn 
auch  viel  schwacher  als  eine  c^-Gabel.) 

Es  ist  hienach  kein  Zweifel,  dass  stark  gestrichene  auf  Resonanz- 
kasten  steliende  Gabeln  der  kleinen  Octave  die  vier  ersten  harmouischen 
Teiltone  (drei  ersten  Obertone)  objectiv  euthalten. 

Hier  sei  noch  erw^hnt,  dass  man  die  hohen  unharmonischen  Beitone 
angeschlagener  Gabeln,  die  sich  der  Wahrnehmung  so  sehr  aufdrangen 
und  bei  vielen  Versuchen  ausserst  storend  wirken,  leicht  dadurch  be- 
seitigen  kann,  dass  man  die  Gabel  wahrend  des  Anschlagens  oder  un- 
mittelbar  nachher  am  unteren  Teil  der  Schenkel  anfasst  (worauf  wol 
LucAE  zuerst  aufmerksam  machte)  oder,  wie  dies  neuerdings  vielfach 
gescMeht,  ein  filr  allemal  einen  Kautschukring  an  dieser  Stelle  anbringt 
Es  geniigt  schon,  wenn  ein  solcher  Ring  an  Einem  Schenkel  sitzt. 

^)  J.  RiTz,  Untersuchungen  uber  die  Zusammensetzung  der  Klange 
der  Streicbinstrumente,  1883,  S.  67. 


bei  uugleicher  Starke  der  Klangteile.  235 

(den  Partialtonen)  zii  tun  liaben,  ohne  class  wir  solche  kiinst- 
lich  herzustellen  genotigt  waren. 

Die  genannten  Tatsachen  sind  als  solche  iibrigens  auch 
Andercn  niclit  ganzlicli  entgangen,  wenngleich  sie  niclit  auf 
ein  allgemeineres  Princip  zuriickgefiihrt  wurden.  Tartini  be- 
tont^),  dass  die  Teiltone  2  und  4  als  Octaven  weniger  gut 
unterscheidbar  seien  als  3  und  5.  Helmholtz  sagt  beziiglich 
der  unharmoniscben  Obertone  der  Stimmgabel  (121):  „Das 
Olir  trennt  den  Grundton  leicht  von  den  Obertonen  und  hat 
keine  Neigung,  beide  zu  verschmelzen."  G.  ApI>unn  erkliirte 
mir  miindlich,  dass  er  einen  ungeradzahligen  Teilton  immer 
besser  hore  als  den  nachst-tieferen  geradzahligen,  also  den 
5.  Teilton  besser  als  den  4.,  den  7.  besser  als  den  6.,  den 
9.  besser  als  den  8.^)  Dies  stimmt  voUkommen  mit  der 
Verschmelzungsordnung  iiberein;  dcnn  der  5.  ist  Terz,  der 
4.  Octave  —  der  7.  Septime,  der  6.  Quinte  —  der  9.  None,  der 

8.  Octave   des  Grundtons   (abgerechnet   die  Octavenverdoppel- 
ungen). 

Schon  Meesenne  gibt  in  seiner  Harmonie  universelle  (1636) 
an,  dass  er  „nicht  bios  die  Octave  und  den  15.  Ton,  sondern  auch 
den  12.  und  den  grossen  17.  bore,  und  iiber  diesen  auch  noch  deu 
grossen  23.  bemerkt  habe".  Da  Meesenne  hier  nicht  die  Teiltone 
als  solche  in  unsrer  Weise  numerirt,  sondern  die  Nummern  sich 
auf  die  Reiheufolge  der  Tone  in  der  diatonischeu  Leiter  beziehen, 
so  ist  der  12.  Ton,  wenn  wir  von  C  ausgehen,  =g,  der  15,  =  c^ 
der  grosse  17.  =  e^,  der  grosse  23.  =  (P.    Meesenne  hat  also  den 

9.  Teilton  herausgehort.    In  den  Cogitata  physico-mathematica  (1644) 
werden  p.  354—55  der  3.  und  5.  Teilton  angefiihrt. 

Nicht  uniuteressant  ist  auch,  dass  See.  Bach  in  der  Trauer- 
ode  auf  die  Konigiu  Christiane,   wo   er  das  Glockengelaute   durch 


^)  De'  principj  dell'  armonia  (1767)  p.  2. 

^)  In  einem  Aufsatz  ,,Uber  die  HELMHOLTz'sche  Lehre  von  den  Ton- 
empfindungen"  (Bericht  d.  Wetterauischen  Gesellschaft  f.  d.  gesammte 
Naturkuude  zu  Hanaii,  Jahrg.  1863 — 7)  sagt  Appunn  sogar  noch  allge- 
meiner,  dass  die  ungeradzahligen  Obertone  3,  5,  7,  9  u.  s.  f.  deutlicher 
zu  horen  seien  als  die  geradzahligen. 


236  §  21-  Analysiren  udcI  Ileraushoren 

Oboeu  u.  s.  w,  nachahmt,  zuletzt  audi  die  Septime  zu  dem  Accord 
fiigt  {c  in  D-dur)  und  sie  von  da  an  bestiludig,  auch  am  Schluss  noch, 
iiiittonen  lasst.  Offenbar  liegt  bior  cine  akustische  Beobacbtuug  zu 
Grunde,  wenu  auch  viclleicht  nur  indirect  an  einer  Mixtur,  deren 
Zusammensetzung  aber  selbst  wieder  auf  Beobachtung  gegriindct 
sein  musste. 

Im  tJbrigeii  sind  mauclicrlei  Einfliissc  zu  erwahneu.  Schon 
die  Tageszeit  macht  eiuen  Uuterscbied.  Man  hort  Obertoue 
am  leichtesten  und  deutlichstcn  in  der  Nacht^),  was  nicht  bios 
auf  stillerc  Umgcbung,  sondcrn  wol  auch  auf  giinstigerc  Ner- 
vendisposition  zuriickzufiihren  ist. 

Ferner  ist  es  vorteilhaft,  die  Aufmerksamkeit  auf  Ein  Ohr 
zu  concentrirei),  uud  wenn  es  da  nicht  gliicken  will,  es  mit  dem 
aiideren  zu  versucheu.  Ja  es  scheint,  dass  man  in  solcheii  Fallen 
schon  unwillkiirlich  nach  rechts  oder  links  horcht.  Man 
nimmt  dann  auch  den  Oberton  in  dem  betreffenden  Ohr  locali- 
sirt  wahr.  Nur  Obertone  von  c-^  aufwlirts  schienen  mir  ofters 
in  der  Mitte  der  Schadeldecke  localisirt,  uud  bci  solchen  ist  es 
denn  audi  niitzlich  die  Aufmerksamkeit  auf  diese  Schadelgegend 
zu  lenken.  Ferner  schliesse  ich  bei  diesen  und  anderen 
akustischen  Beobachtungen  oft  unwillkiirlich  die  Augen  und 
halte  dies  fiir  gut. 

In  gewohnlichen  Fallen,  l)ei  nicht  abnormer  Starke  der 
Obertone,  ist  eine  merkliche  Zeit  zum  deutlichen  Heraushoren 
notwendig,  was  mit  einer  durch  die  Aufmerksamkeit  bewirkten 
subjectiven  Verstarkung  der  Obertone  zusammenhangt,  von  der 
wir  im  §  22  naher  handeln.  Bei  musikalischen  Auffiihrungen, 
wo  sich  die  Klange  moist  zu  rasch  folgen  und  die  Aufmerksam- 
keit anderen  Momenten  zugewandt  ist,  haben  sich  mir  nur  zwei- 
oder  dreimal  von  selbst,  ohne  dass  ich  absichtlich  darauf  horte, 
Obertone  aufgedrangt;  so  vernahm  ich  bei  einem  C-dur- kccoY(\ 


^)  Vgl.  I  358.  Auch  G.  Engel,  Das  mathematische  Harmonium  32. 
Und  schon  Sorge,  Vorgemach  d.  musik.  Composition  (1745)  S.  13:  „Wem 
Dieses  noch  etwas  Uubekanntes  ist,  der  nehme  nur  auf  einem  Clavecin 
etwa  das  tiefe  G.  schlage  solches  zumal  bei  stiller  Nachtzeit  an,  so  wird 
er  gar  deutlich  das  ungestricheue  g  und  eingestrichene  e  mit  horen." 


bei  ungleichcr  Starke  der  Klangteile.  237 

von  Blechinstrumenten  mit  unangenehmer  Deutlichkeit  den  7.  Teil- 
ton  des  c,  beim  Anschlag  des  B  auf  einem  Pianino  wahrend  des 
Spielens  dessen  27.  Teilton  (dcm  g^  sehr  nahe  liegend)  mit 
gellender  Starke.  Audi  eine  gut  musikalische  Dame  erzahlte 
mir,  dass  sie,  als  Tausig  die  Bassregion  eines  BECHSTEiN'schen 
Fliigels  bearbeitete,  durch  die  hohen  Obertone  sehr  gestort 
worden  sei.  Dies  sind  verhaltnismassig  seltene  Falle.  Bei  dem 
langsamen  Clioralsingen  friiherer  Zeiten  sind  die  Obertone  guten 
Beobachtern  ofters  aufgefallen.  ^) 

Wenn  eine  Klangquelle  ausklingt,  wie  die  angesdilagenen 
Claviersaiten  bei  aufgehobener  Damj^fung,  so  treten  meist  nach- 
einander  verschiedene  Teiltone  relativ  starker  hervor,  was 
einen  objectiven  Grund  haben  muss.-)  Ausserdem  wird  in 
solchen  Fallen,  wo  durch  die  Aufmerksamkeit  auf  einen  Ober- 
ton  derselbe  subjectiv  verstarkt  wird,  mit  der  Ermiidung  der 
Aufmerksamkeit  zugleidi  die  Verstarkung  nachlassen,  sodass 
nun  andere  Teiltone  relativ  starker  werden.  Es  entstehen  so 
Unterschiede  in  dem  zu  analysirenden  Tonmaterial,  ahnlidi 
wie  durch  die  Resonatoren,  wenn  auch  nicht  in  demselben 
Grade. 

Dahin  gehoren  auch  die  Unterschiede  je  nach  der  Hal- 
tung  des  Kopfes  und  der  Stellung  des  Korpers.  Eine  kleine 
Kopfwendung  macht  oft  sofort  einen  Oberton  hervorspringen. 
Die    Ursache    liegt    oifenbar    in    der    complicirten    Gestalt   der 

^)  Mersenne  Cogitata  physico-mathematica  p.  355:  perpetuam  duo- 
decimam  in  nostris  choris  resonare.  Sorge  sagt  sogar  (a.  a.  0.  S.  13): 
„Man  hore  in  einer  grossen  Kirche  einem  Prediger,  der  eine  starke 
Stimme  hat,  genau  zu,  so  wird  sich  allemal  wenigstens  die  Octave  und 
Quinte  sachte  mit  horen  lassen." 

^)  Bei  Claviersaiten  scheinen  die  holieren  Teiltone  nach  und  nach 
mehr  hervorzutreten,  jedoch  nicht  mit  Regelmassigkeit.  Es  miissen  hier 
verwickelte  Bedingungen  walten.  Die  Anderungen  erfolgen  merklich 
ruckweise.  Bei  Stimmgabeln  findet  ein  solches  discontinuirliches  Her- 
vortreten  der  Obertone  beim  Ausschwingen  niemals  Statt.  Dagegen  be- 
wii'kt  die  langsamere  Abschwachuug  der  Obertone  gegeniiber  dem  Grund- 
ton  in  diesem  Falle  jene  continuirliche  Anderung  der  Klangfarbe  und 
jene  scheinbare  und  zum  Teil  wirkliche  Hohenanderung  der  Empfindung, 
von  der  I  242,  255  f.  die  Rede  war. 


238  §  21.  Analysiren  und  Herai«h6ren 

Ohrmuschel  (welche  nur  tiefen  Tonen  gegeniiber  einflusslos  ist*)), 
teilweise  vielleicht  auch  in  objectiven  Klangverschiedenheiten 
an  verschiedenen  Stellen  des  Raumes.  Auch  Entfernung  oder 
Naherung  im  Raum  kann  Gleiches  bewirken. 

Man  kann  auch  durch  Vergrosserung  der  Ohrmuschel 
mittelst  der  hohlen  Hand  leicht  verschiedeue  Teiltone  verstar- 
ken.2)  Resonatoren  sind  ja  nichts  Anderes  als  solche  ange- 
setzte  HoWraume.  In  beiden  Fallen  kommt  es  iibrigens  auch 
sehr  auf  die  Stellung  des  Hohlraumes  an.  Wenn  man  einen 
Resonator  nicht  fest  in  das  Ohr  steckt  sondern  nur  davor  halt, 
so  verstarkt  er  bei  mehr  oder  minder  schiefer  Haltung  Tail- 
tone,  die  bis  zu  einer  Quinte  auseinanderliegen  konnen.  So 
kann  man  z.  B.  &^  c'^,  cP,  e'^,  also  den  7.  bis  10.  Teilton 
von  C  successive  durch  Einen  Resonator  verstarken.  ^) 


^)  Mach,  a.  f.  0.  IX  75.  Mach  definirt  die  Ohrmuschel  als  Reso- 
nator flir  hohere  Tone,  die  ja  auch  (wie  das  Gerausch  des  Grases  und 
der  Blatter,  das  Knistern  der  Reiser)  fur  die  Tiere  am  wichtigsten  seien. 
Beim  Menschen  sei  ihr  allerdings  nur  ein  Rest  dieser  Function  geblieben. 
Burnett  (das.  IX  127  Ref.)  schreibt  verschiedenen  Teilen  der  Ohrmuschel 
verschiedeue  Resonanz  zu:  Helix  und  Fossa  helicis  fiir  tiefe,  Antihelix 
fiir  mittlere,  Concha  fiir  hohe  Teiltone.  Driicke  man  das  Ohr  am  aus- 
seren  Rande  sanft  vorwarts,  so  werde  der  Schall  tiefer  u.  s.  f.  A.  G.  Brown 
(das.  XIX  79)  will  beim  Betupfen  des  Ohrrandes  eine  ganze  Tonleiter 
mittlerer  Region  gebort  haben. 

-)  Einmal,  als  eine  Sangerin  die  Tonleiter  von  c'  bis  c^  iibte,  unter- 
hielt  ich  mich  damit,  ihren  Gesang  durch  Decimen  oder  Octaven  zu  be- 
gleiten,  indem  ich  auf  die  genannte  Weise  in  meinem  linken  Ohr  Ober- 
tone  zwischen  g"^  und  e^  hervortreten  Hess,  die  bald  als  Decimen  bald 
als  Octaven  oder  Doppeloctaven  zu  den  gesungenen  Tonen  passten. 

^)  Statt  Resonatoren  an's  Ohr  zu  setzen,  kann  man  sie  auch  mit  der 
weiteren  Oifnung  an  eine  Schallquelle  z.  B.  das  obere  Eude  einer  Zungen- 
pfeife  mit  Schalltrichter  halten,  und  dann  ihre  kleinere  Offnung  (welche 
sonst  in's  Ohr  gesteckt  wird)  abwechselnd  mit  dem  Finger  schliessen 
und  offnen.  Auf  diese  Methode,  Obertone  einer  Mehrzahl  von  Men- 
schen zugleich  wahrnehmbar  zu  machen,  hat  mich  Hr.  Prof.  Lommel 
aufmerksam  gemacht. 

Unter  den  Apparaten,  welche  durch  eine  Veranderung  des  Klang- 
materials,  durch  relative  Verstarkung  von  Obertonen,  dieselben  besser 
wahrnehmbar  machen,   empfehlen   sich  uoch  vorziiglich  die  Vocalrohren 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  239 

Von  hervorragendem  Einfluss  ist  die  Tonregion  der  zu 
hdrenden  Obertone.  Die  Tone  urn  c*  herum,  etwa  eine  Quiute 
nach  oben  uiid  unten,  sind  besonders  leicht  zu  horen.  Noch 
mehr  ist  aber,  fiir  mein  Ohr  weuigstens,  in  Bezug  auf  das 
Heraushoren  von  Obertonen  die  Gegend  urn  c^  bevorzugt.  Teil- 
tone,  welcbe  in  den  Umkreis  von  etwa  einer  Terz  nach  beiden 
Seiten  dieses  Tons  fallen,  hore  ich  am  deutlichsten  und  leich- 
testen  von  alien.  Es  scheint  also  zwei  Maxima  der  subjectiven 
Tonstarke  fiir  Obertone  zu  geben:  die  Gegend  um  c^  und 
um  c*.^) 

Endlich  bemerke  ich  hinsichtlich  der  tJbung,  dass  kaum 
bei  irgend  einer  anderen  Erscheinung  im  Tongebiet  ihr  Ein- 
tritt,  ihre  rasche  Steigerung,  aber  auch  bei  langerem  Nicht- 
gebrauch  ihr  Verlust  und  dann  ihr  doppelt  rascher  Wiederer- 
werb  so  auffallend  ist,  wie  bei  den  Obertonen.  Sie  ist  eine 
Specielle  fiir  die  einzelnen  Regionen.  Die  fiir  die  Obertone  der 
zweigestrichenen  Octave  erlangte  tJbung  iibertragt  sich  nicht 
ohne  Weiteres  vollwirksam  auf  die  viergestrichene  und  um- 
gekehrt,  wenn  auch  ein  giinstiger  Einfluss  vom  einen  auf  den 
anderen  Fall  schon  durch  die  leichtere  Lenkung  der  Aufmerk- 
samkeit  vom  Grundton  aus  nach  der  Richtung  hoherer  Tone 
iiberhaupt  gegeben  ist. 

Hienach  mochte  ich  die  angebliche  Unfahigkeit  Vieler,  die 
Schwierigkeit  des  Heraushorens  iiberhaupt,  von  der  so  oft  ge- 
sprochen  wird,  grossenteils  als  eine  bios  augenblickliche,  in  dem 
Mangel  an  tlbung  griindende,  betrachten. 


nach  Willis.  Ein  Zungenpfeifchen  ist  mit  einem  auszielibaren  Ansatz- 
rohr  verbunden.  Der  Klang  wird  beim  Hineinschieben  immer  sch^rfer, 
und  man  bemerkt  alsbald,  dass  immer  hohere  harmonische  Obertone  liin- 
zukommen,  welche  eben  jene  Verscharfung  bewirken.  So  auffallig  sind 
dieselben,  dass  ein  SVzJabriges  Kind  sie  entdeckte  („Es  sind  hohe  Tone 
dabei"),  ohne  darauf  aufmerksam  gemacht  zu  sein.  Es  kommt  hier  der 
besondere  Vorteil  hinzu,  welchen  die  Bewegung  oder  massig  rasche  Auf- 
einanderfolge  von  Objecten  fiir  die  Wahrnehmung  derselben  bietet;  wo- 
ven unten  §  23,  1,  g)  Naheres. 

^)  Vgl.  I  370  iiber  subjective  Resonanz  isolirter  Tone,  namentlich 
in  der  viergestrichenen  Octave. 


240  §  21.  Analy siren  und  Heraushoren 

Wer  sich  unter  Beachtung  der  obigen  erleichternden  Um- 
stande  darauf  einiibt,  wird  der  Resonatoren  (deren  langerer 
Gebrauch  das  Ohr  ausserordentlich  angreift)  kaum  bediirfen. 
Er  wird  nunmehr  nicht  bios  die  Unterschiede  zwischen  den 
Iiistrumenten  verschiedener  Gattung  entdecken,  sondern  audi 
die  einzelnen  Klange  jedes  Instrumentes  in  Riicksicht  ihrer 
Obertone  gar  sehr  verschieden  fiiiden.  Beim  Clavier  sind  kaum 
zwei  neben  cinander  liegende  Klange  von  genau  gleicher  Structur. 

Hier  woUen  wir  uns  zuletzt  der  bertihmten,  schon  gefiihrten 
Controverse  zwischen  Ohm  und  Seebeck  uber  das  Horen 
der  Obertone  erinuern.^)  Auch  darauf  fallt,  glaube  ich,  erst 
durch  die  Verschmelzungslehre  das  voile  Licht. 

Ohm  hatte  den  Ton  physikalisch  als  eine  Sinusschwingung 
definirt.  Seebeck  wandte  dagegen  ein,  dass  hienach  der  Grundton 
in  einem  zusammengesetzten  Klange  verhaltnismassig  schwacher  und 
die  Beitone  starker  gekort  werden  mtissten,  als  dies  tatsachlich  der 
Fall  sei.  Ohm,  der  sich  auf  scharfsiunige  mathematische  Erwa- 
gungen  stutzte,  dabei  aber  zugab,  dass  er  „mit  dem  Ohr  in  dieser 
Sache  nichts  tun  konne,  weil  ihm  die  Natur  ein  musikalisches  Ge- 
hor  ganz  und  gar  versagt  habe",  dass  er  „beinahe  wie  ein  Blinder 
von  der  Farbe  rede",  hielt  jene  Behauptung  iiber  die  geringe  Starke 
der  Obertone  fiir  eine  „unwillkurliche  Tauschung  oder  auch  Ver- 
wohnung  des  Gehors,  derart,  dass  es  zum  tiefsten  Ton  solche  hohere 
Tone,  welche  zu  ihm  das  Verhiiltnis  eines  Beitons  haben,  ganz  oder 
teilweise  heriiberzieht  und  als  ihm  zugehorig  ansieht,  aber  darum 
unwillkiirlich  ein  falsches  Urteil  uber  die  relative  Starke  solcher 
Tone  fallt".  Ohm  wies  auch  auf  die  Mixturen  bin,  und  veranlasste 
endlich  einen  Frer.nd,  der  sich  fruher  viel  mit  Musik  abgegeben, 
an  der  Violine  zu  untersuchen,  ob  nicht  auch  bei  zwei  Haupttonen 
eine  analoge  Tauschung  eintrete,  „ob  nicht,  wenn  er  einen  Ton 
sammt  seiner  Octave  zugleich  anstreiche  und  dann  plotzlich  den 
tieferen  Ton  weglasse,  der  tibrigbleibende  hohere  Ton  ihm  starker 
zu  werden  scheiue."    Dieser  Freund  brachte  kurz  darauf  die  Kunde, 


^)  Pogg.  Ann.    Bd.  53  (1841)  S.  417.    Bd.  59  (1843)  S.  513.    Bd.  60 
(1843)  S.  449.    Bd.  62  (1844)  S.  1.    Bd.  63  (1844)  S.  353.  368. 


bei  ungleicher  Starke  cler  Klangteile.  241 

dass  allerdings  namentlich  bei  den  tieferen  Octaven  und  wenn  man 
die  beiden  Tone  zugleich  fest  und  wiederholt  anstreiche,  eine  solche 
Verstarkung  des  hdheren  Tons  gut  merklich  werde,  dass  aber  auch, 
was  ihm  besonders  auffallend  gewesen  sei,  der  tiefere  Ton  eine 
recbt  fiiblbare  Scbwacbung  erleide,  wenn  man  unter  den  gleicben 
Bedingungen  den  Bogen  plotzlicb  iiber  der  tieferen  Saite  allein  weg- 
streicben  lasse.  Spater  bericbtete  derselbe,  dass  jene  Erscbeinung 
der  Scbwacbung  und  Verstarkung  nicbt  mebr  oder  mindestens  lange 
nicbt  mebr  in  dem  Grade  bemerkbar  sei,  wenn  man  die  beiden 
Tone  absicbtlicb  unrein  greife. 

Hienacb  wiirde,  sagt  Seebeck  in  seiner  Replik,  die  Annabme 
Ohm's  allgemeiner  so  lauten:  „Tone,  wenn  aucb  in  betracbtlicber 
Starke  vorbanden,  werden  stets  als  solcbe  ganz  oder  fast  ganz  un- 
horbar,  sobald  ein  Ton  ibrer  barmoniscben  Unterreibe  binzutritt; 
sie  tragen  aber  zur  Verstarkung  dieses  Untertons  bei."  Seebeck 
lasst  aber  diese  Annabme  einer  regelmassigen  Geborstauscbung  iiber- 
baupt  nicbt  gelten.  „"Wodurcb  kann  iiber  die  Frage,  was  zu  einem 
Ton  gebort,  entscbieden  werden  als  eben  durcb  das  Obr?  Auf  jede 
andere  Weise  erkennen  wir  nur  die  Bewegung;  das  Obr  allein  em- 
pfindet  diese  Bewegung  als  Ton,  und  was  dasselbe  stets  zu  einem 
Ton  ziebt,  das  gebort  aucb  wirklicb  zu  demselben,  so  wie  das  nicbt 
Ton  ist,  was  nicbt  als  solcber  empfunden  wird."  Der  Versucb  mit 
den  Octaventonen  scbeine  ibm  nicbt  immer  denselben  Erfolg  zu 
haben.  Bei  Saiten  und  Orgelpfeifen  babe  er  weder  die  Verstarkung 
des  tieferen,  nocb  die  Scbwacbung  des  boberen  Tones  mit  einiger 
Deutlicbkeit  bemerken  konnen,  indem  er  immer  „beide  Tone  nocb 
zu  kenntlicb  unterscbied." 

Wir  seben  bier  den  alten  Zwiespalt  der  Pytbagoreer  und  der 
Aristoxener,  der  Kanoniker  und  der  Harmoniker,  der  sicb  durcb 
die  ganze  Gescbicbte  der  Akustik  und  Musiktbeorie  und  mutatis 
mutandis  durcb  die  der  Empfindungstbeorie  uberbaupt  biudurcb- 
ziebt.  Die  Einen  griinden  ibre  Bebauptungen  iiber  die  Sinnes- 
inbalte  auf  Kecbnung  oder  „Vernunft",  die  anderen  auf  Wahr- 
nebmung.  (Ptolemaeus  erortert  ausfiibrlicb  diese  Gegensatze.  In 
neuerer  Zeit  lagen  sie  aucb  dem  Streit  Goethe's  gegen  Newton's 
Farbenlebre  mit  zu  Grunde.)  Uber  diese  Standpuncte  in  ibrer  All- 
stum  pf,  Tonpsycliologie.  11.  16 


242  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

gemeinheit  ist  hier  nicht  der  Ort  weitlaufiger  zu  werden.  Einiges 
ist  in  §  2  gesagt  (z.  B.  dass  keineswegs  Alles,  was  in  den  Empfin- 
dungen  gegeben  ist,  wahrnehmbar  sein  muss),  und  spater  fiihren 
uns  umfassendere  Probleme  (Entstehung  der  Leitern)  darauf  zu- 
riick.  Aber  in  der  Beschreibung  der  Wabrnehmungen  selbst  sind 
von  beiden  Forschern  mehrere  Umstande  nicht  binreichend  ausein- 
audergebalten  worden,  deren  Unterscheidung  uns  nun  gelaufig  ist. 
Es  ist  vermengt  1)  die  im  Verbaltnis  zur  lebendigen  Kraft  der  ent- 
sprecbenden  Sinusscbwingungen  zu  geringe  Starke  der  Beitone  — 
welche  aber  keineswegs  nur  bei  Tonverbindungen  von  einfachen 
Zahlenverbaltnissen,  wie  es  die  der  barmoniscben  Obertone  mit 
ihrem  Grundton  ist,  sondern  bei  Verbindungen  beliebiger  Tone  be- 
obacbtet  werden  kann  — ,  2)  die  Verscbmelzung,  welcbe  speciell  bei 
Tonverbindungen  mit  einfacben  Zahlenverbaltnissen,  am  meisten  bei 
der  Octave,  bervortritt,  3)  die  Moglichkeit  bez.  Leichtigkeit  der 
Analyse  eines  Zusammenklangs,  welcbe  zwar  mit  der  Verscbmelzung 
zusammenbangt,  aber  nicht  allein  von  ihr  abhangt  (weshalb  Seebeck 
in  gewissen  Fallen  Octaveutdne  „noch  zu  kenutlicb  uuterschied"", 
in  anderen  weniger).  , 

Helmholtz  erklart  in  den  ersten  Auflagen  seines  Werkes  die 
Behauptungen  Seebeck's  iiber  das  schwache  Hervortreten  der  Teil- 
tone  aus  dem  Princip  des  gewohubeitsmassigen  Zusammenwahr- 
nebmens  und  der  Beziehung  auf  ein  einbeitliches  Object.  Aber  dann 
wiirden  sie  eben  doch  auf  Tauscbung  binauslaufen,  womit  sicb 
Seebeck,  „ein  in  akustischeu  Versucben  und  Beobacbtungen  aus- 
gezeicbnet  gewandter  Forscber",  wie  ibn  Helmholtz  nennt,  kaum 
berubigt  haben  wiirde.  In  der  4.  Auflage  erklart  Heliuholtz  die 
Moglichkeit  des  Streites  nur  aus  der  allgemeinen  Schwierigkeit 
der  Analyse  von  Sinneswahrnehmungen,  was  gegenuber  einem  so 
geiibten  Beobachter  wiederum  nicht  recht  geniigt.  Seebeck's  Be- 
merkungeu  iiber  das  Verschmelzen  des  Obertons  mit  dem  Grund- 
ton entbalten  vielmebr  tatsacbliche  Wahrbeit.  Und  da  Ohm  selbst 
diese  Tatsacbe  bei  gleicbstarken  Tonen  durch  seinen  musikalischen 
Freund  bestatigt  fand,  so  wiirden  sicb  beide  Forscber  durch  weitere 
Verfolgung  derselben  einander  geuabert  haben.  Ja  auch  Helm- 
holtz ist  gerade  bei  Discussion  dieses  Streites  und  aus  Aulass  des 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  243 

OHM'schen  Experimentes  auf  diese  Erscheinung,  die  uns  die  Diver- 
genz  der  Ansichten  hauptsachlich  begreifen  hilft,  gestossen,  ohne 
sie  freilich  in  gleicher  Weise  zu  verwerten.    Vgl.  §  23,  2,  b. 

4.  Specielles  Uber  Wahrnelimung  von  Combinations- 
tonen. 

Combinationstone  entsteben  bekanntlicb  durcb  das  Zusam- 
menwirken  zweier  verscbiedener  Tonwellen.  Helmholtz  unter- 
scbeidet  Differenz-  und  Summationstone,  wovon  die  ersteren  der 
Differenz,  die  letzteren  der  Summe  der  Scbwingungszablen  der 
primaren  Tone  entsprecben. 

Die  Differenztone,  die  wir  zuerst  naber  betracbten, 
erzeugen  ibrerseits  mit  den  primaren  Tonen  oder  aucb  unter  sicb 
neue  Differenztone.  So  z.  B.  wenn  das  Verbaltnis  der  Primar- 
tone  4:5  ist,  entstebt  als  Differenzton  1.  Ordnung  der  Ton  1, 
als  solcbe  boberer  Ordnung  die  Tone  4  — 1  =  3  und  5—3  (oder 
3  —  1)  =  2.  Es  erganzt  sicb  so  immer  voUstandig  die  Reibe 
der  einfacben  Zablen  unterbalb  der  Verbaltniszabl  des  boberen 
Primartons;  wenigstens  der  Recbnung  nacb^). 

Betracbten  wir  zunacbst  die  Differenztone  erster  Ord- 
nung. Dieselben  liegen  stets  tiefer  als  die  beiden  Primartoue, 
wenn  diese  innerbalb  einer  Octave  liegen;  ausserdem  liegt  der 
Differenzton  zwiscben  den  Primartonen.  Je  kleiner  ein  Inter- 
vall  innerbalb  der  Octave,  um  so  tiefer  liegt  der  Differenzton 
unter  dem  tieferen  Primarton.    Bei  den  kleinsten  musikaliscben 


^)  Vor  Hallstrom  dachte  man  sich  den  Combinationston,  wenn  das 
Verbaltnis  der  Primartone  durcb  zwei  relative  Primzablen  ausgedriickt 
wird,  stets  durcb  die  Verbaltniszabl  1  gegeben.  Danacb  wiirde  aucb  z.  B. 
3 :  5  nur  diesen  Ton  geben.  Hallstrom  hat  zuerst  (in  einer  Dissertation 
1819,  dann  Pogg.  Ann.  Bd.  24,  1832,  S.  438  f.)  die  Kegel  aufgestellt,  dass 
der  erste  Combinationston  durcb  die  Dift'erenz  der  Scbwingungszablen 
(also  seine  Verbaltniszabl  durcb  die  Differenz  der  Verbaltniszablen)  der 
Primartone  gegeben  sei,  dass  es  aber  aucb  gleicbzeitig  nocb  andere 
Combinationstone  geben  konne,  die  sich  in  obiger  Weise  durcb  fort- 
gesetzte  Subtractionen  berechnen  lassen,  und  er  bat  diese  Kegel  durcb 
ausgezeichnete  Beobacbtungen  gestiitzt.  Helmholtz  legt  dieselbe  Ab- 
leitung  fiir  den  Fall  einfacber  Primarklange  zu  Grunde;  bei  zusammen- 
gesetzten  Px'imarklaugen  leitet  er  aber  die  secundaren  Diiferenztone 
hauptsachlich  aus  den  Obertonen  der  Primarklange  ab.    S.  u. 

16* 


244  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

Intervallen  liegt  er  um  4 — 5  Octaven  tiefer.  Erweitern  wir 
claim  das  Intervall  durch  Erliohung  des  hoheren  Primartones, 
so  macht  der  Differenzton  stets  grossere  Schritte  als  dieser^). 
Aber  dieser  Unterschied  verringert  sich,  je  mehr  er  sich  den 
Primartonen  nahert.  Folgende  Tabelle  macht  dies  anschaulich. 
Die  ganzen  Noten  bedeuten  die  Primartone,  die  Viertelnoten 
die  Differenztone  erster  Ordnung.  Die  Zeichen  x  und  o  iiber  den 
Noten  bedeuten  eine  ausserst  geringe  Erhohung  und  Vertiefung, 
die  durch  die  gebrauchlichen  musikalischen  Zeichen  nicht  aus- 
zudriicken  ist. 


X  ,         ,  J+         ffi       ^  fa^  ^-^  fe-Q-    — 


Am  Clavier  sind  diese  Tone  wegen  des  schnellen  Verklingens 
der  Primartone  nicht  sonderlich  gut  zu  horen,  besser  an  Pfeifen 
oder  Geigen.  Man  wird  aber  auch  bei  Differenztonen  eben  so 
viele  und  verschiedene  Umstande  von  Einfluss  finden,  wie  bei 
den  Obertonen. 


^)  In  Folge  Dessen  bietet  der  Differenzton  1.  Ordnung  ein  vorziig- 
liches  Mittel,  um  sehr  feine  Intervallunterschiede  nicht  bios  begrifflich 
zu  erlautern,  sondern  auch  fiir  das  Gehor  controlirbar  zu  machen;  wie 
etwa  den  Unterschied  der  beiden  Halbtonstufen  24  :  25  und  15  :  16.  Den 
ersteren  Schritt  macht  der  obere  Primarton  beispielsweise  in  der  C-Ton- 
art  von  es^  nach  e"-,  den  zweiten  von  e^  nach  f-.  Der  Differenzton  zeigt 
diesen  Unterschied  dadurch  an,  dass  er  im  ersten  Fall  um  eine  grosse 
Terz,  im  zweiten  aber  um  eine  Quarte  in  die  Hohe  geht.  Derselbe 
Unterschied  findet  in  umgekehrter  Richtung  Statt,  wenn  der  obere  Pri- 
marton von  ^^  nach  as'''  und  a"-  weitergeht:  hier  reagirt  der  Differenzton 
immer  noch  durch  den  Unterschied  einer  kleinen  Terz  (c^  —  es^)  von 
einem  Ganzton  (es^  —  f-). 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangtcile.  245 

Vor  Allem  sind  gewisse  Lag  en  des  Differ onztons  bevor- 
zugt.  Die  tiefsten  unter  den  hier  notirten  hort  man  nicht  leicht 
wegen  zu  grosser  Schwache.  Gut  treten  die  der  grosson  uud 
eingestrichenen  Octave  hervor.  Nimmt  man  die  Primartone 
eiue  Octave  holier,  so  treten  auch  die  Differenztone  in  der 
zweigestrichenen  Octave  gut  hervor.  Die  zu  nahe  an  dem  un- 
teren  Primarton  oder  zwischen  beiden  Primartonen  liegenden 
sind  schwer  zu  horen. 

Ich  finde,  wie  bei  den  Obertonen,  einen  Vorteil  darin,  die 
Aufmerksamkeit  auf  Ein  Ohr  zu  concentriren,  und  vernehme 
dann  tiefere  Differenztone  in  demselben  localisirt,  die  ganz  tiefen 
auch  gelegentlich  im  Schadel.  Die  tieferen  erscheinen  zugleich 
brummend  wegen  der  Schwebungen  der  Primartone,  und  gerade 
wenn  man  auf  dieses  Brummen  achtet,  welches  mit  dem  Diffe- 
renzton  zugleich  zu  entstehen  und  zu  wachsen  scheint,  wird 
der  letztere  besonders  leicht  wahrnehmbar  ^). 

Ferner  scheint  mir  bei  den  starker  verschmelzenden  Inter- 
vallen  der  Grad  ihrer  Reinheit  einen  Unterschied  zu  machen. 
Wenn  man  die  Quinte  oder  eine  Terz  nicht  ganz  rein  angibt 
und  dann  der  Reinheit  nahert,  scheint  mir  der  Differenzton, 
wahrend  er  sich  in  seiner  Hohe  erheblich  verandert,  zugleich 
bis  zum  Punct  der  Reinheit  an  Starke  zu  wachsen.  Am  deut- 
lichsten  beobachtete  ich  dies  bei  Flotenpfeifen,  welche  sich 
durch  ein  am  oberen  Ende  angebrachtes  Stimmblattchen  leicht 
verstimmen  liessen.  Wahrend  z.  B.  eine  ^^-Pfeife  constant  tonte. 


^)  Schon  Thomas  Young  verglich  die  Empfindung  des  Combinations- 
tons  mit  dem  des  Summens  im  Ohre,  und  Vieth,  ein  guter  Akustiker, 
stimmt  dieser  Bemerkung  zu.  Er  mochte  sogar  diese  Empfindung  „ein 
Mittel  zwischen  Horen  und  Ftihlen"  nennen  (Gilbert's  Ann.  Bd.  21,  1805, 
S.  308).  Aberle  (Tauschungen  in  der  Wahrnehmung  der  Entfernung 
der  Tonquellen,  Diss.  1868)  sagt  zwar,  der  Combinationston  scheine  ihm 
in  der  Luft  zu  schweben,  trennt  aber  doch  ebenfalls  seine  Localisation 
von  der  der  Primartone.  Dvorak  (Sitz.-Ber.  d.  Wiener  Akad.  1874,  S.  648 
Anm.)  localisirt  ihn  im  Ohr.  Preyer  (Akust.  Unt.  33,  Anm.)  gibt  an, 
dass  er  beim  Horen  tiefster  Combinationstone  ebenso  wie  bei  starken 
Schwebungen  das  Gefiihl  von  Bewegungen  des  Trommelfells  neben  dem 
akustischen  Eindruck  habe;  was  ich  nur  bestatigeu  kann. 


246  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

verstimmte  ich  eine  e^-Pfeife  langsam  bis  es^  nach  der  einen 
und  bis  nahezu  f^  nach  der  anderen  Seite.  Das  reine  e^  und 
es^  gabeu  den  starksten  Combinationston  (C  bez.  Es);  da- 
zwischen  war  er,  indem  er  selbst  von  C  nach  Es  stetig  iiber- 
ging,  schwacher.  Entsprechend  wenn  ich  e^  unverandert  liess 
und  g^  bis  gis^  verstimmte,  wobei  der  Combinationston  von  C 
nach  E  iiberging.  Ahnliches,  wenn  auch  weniger  deutlich  und 
nicht  ausnahmslos,  fand  ich  am  AppuNN'schen  Obertonapparat 
und  Tonmesser  (frei  schwingenden  Zungen  von  scharfer  Klang- 
farbe),  mit  welchen  man  sehr  geringe,  wenn  auch  nicht  stetige, 
Anderungen  von  Schwinguugsverhaltnissen  erzeugen  kann.  Die 
Ausnahmen  diirften  ihren  Grund  darin  haben,  dass  nicht  alle 
Zungen  mit  gleicher  Starke  ansprechen,  wodurch  die  Versuchs- 
umstande  alterirt  werden. 

Die  Erscheinung  selbst  aber  griindet  meiner  Meinung  nach 
darin,  dass  bei  Abweichungen  von  der  Reinheit  zahlreichere 
secundare  Combinationstone  auftreten  miissen,  auf  welche  sich 
die  lebendige  Kraft  des  Reizes  verteilt.  Wenn  sie  auch  nur 
teilweise  horbar  sind,  konnen  doch  die  der  Rechnung  ent- 
sprechenden  Nervenerregungen  als  solche  stattfinden  und  jede 
ihren  Bruchteil  der  Reizstarke  absorbiren.  Die  Primartone 
3  und  2  geben  den  Differenzton  1  und  weiter  Nichts.  Da- 
gegen  31  und  20  geben  11,  dann  als  Differenzton  2.  Ord- 
nuug  20  —  11  =  9.  Man  kann  die  Spaltung  des  vorherigen 
einzigen  Combinationstons  in  diese  zwei  noch  bemerken.  Ausser- 
dem  ergibt  die  Rechnung  weiter  die  nicht  wol  horbaren  Tone 
31  —  9  =  22,  11  —  9  =  2,  31  —  2  =  29,  20  —  2  =  18  u.  s.  f. 
Unreine  Consonanzen  miissen  ja  durch  grossere  Verhaltniszahlen 
ausgedriickt  werden  als  reine,  welche  den  kleinsten  Zahlen  ent- 
sprechen.  Je  grosser  aber  die  Verhaltniszahlen,  um  so  zahl- 
reicher  die  Differenztone ,  da  sich  immer  die  Reihe  der 
ganzen  Zahlen  unterhalb  derselben  erzeugt. 

Dieser  Zusammenhang  der  Reinheit  von  Consonanzen  mit  der 
Starke  der  Combinatioustone,  der  fiir  die  Intervallenlehre  von  Be- 
deutung  wird,  ist  von  der  Theorie  noch  kaum  gewiirdigt.  Da  die 
Tatsache  selbst  Zweifeln  begegnen  kdnnte,  sei  es  gestattet,   auch 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  247 

hier  alle  iibereinstimmendeu  gelegentlichen  Aussagen  fruherer  Be- 
obachter,  die  ich  finden  konnte,  anzufuhren. 

So  sagt  Chladni  (Akustik  §  186,  in  der  2.  Aufl.  S.  163): 
„Wenn  man  einen  solcben  tiefen  Ton  (Differenzton)  gehorig  ver- 
uehmen  soil,  so  miissen  die  zwei  Tone  etwas  anhaltend  und  ziem- 
lich  in  gleicher  Starke  angegeben  werden,  und  entweder  ganz  rein 
sein  Oder  nur  wenig  von  der  wahren  Reinigkeit  abweichen,  es  muss 
auch  AUes  umher  still  sein.  Am  vernehmlichsten  ist  es  bei  der 
grossen  Terz."  Ebenso  Vieth  (a.  a.  0.  277):  „Die  Finger  miissen  so 
lange  ein  wenig  gerucket  werden,  bis  die  Terz  in  ihrer  volligen  Rein- 
heit  da  ist."  W.Webek  (Pogg.  Bd.  15,  1829,  S.  219)  weist  ausdruck- 
lich  darauf  bin,  dass  bei  kleinen  Abweichungen  der  Combinatiouston 
schwacher  gehort  werde  (wobei  er  ihm  nur  irrtiimliclierweise  eine 
zunachst  unveranderte  und  dann  sprungweise  veranderliche  Hohe 
zuschreibt,  so  dass  er  z.  B.  beim  tfbergang  der  Primartone  von  der 
kleinen  Terz  e'^g'^  zur  grossen  es'^ g'^  von  C  nach  Es  springen  wiirde). 
Der  gut  musikalische  Philosoph  Kkause  bebauptet  sogar  (Anfangs- 
griinde  der  allgemeinen  Theorie  der  Musik  1838,  S.  52),  dass  man 
bei  uureinen  Intervallen  die  Combinationstone  gar  nicht  bore- 
Db  Moegan  hat,  wie  Bosanquet  berichtet  (Philosoph.  Magaz.  1881, 
XII  270  f.),  Combinationstone  nur  bei  Consonanzen  augenommen, 
was  freilich  ebenfalls  zu  weit  geht.  Sie  kdnnen  bei  Dissonanzen 
eben  so  stark  sein  wie  bei  Consonanzen;  nur  bei  verstiramten  Con- 
sonanzen sind  sie  schwacher.  Doch  scheinen  bei  den  drei  letzt- 
genannten  Autoren  ahnliche  Beobachtungen  wie  die  unsrigen  zu 
Grunde  zu  liegen.  Ebenso  wenn  Helmholtz  (255)  fiir  die  Wahr- 
nehmung  des  Differenztones  u.  A.  empfiehlt,  zwei  Klange  zu  wahleu, 
die  ein  rein  gestimmtes  harmonisches  Intervall  bilden. 

G.  Engel,  welcher  viele  Ubung  fiir  Combinationstone  ^mensch- 
licher  Stimmen  besitzt,  antwortete  mir  auf  eine  bezugliche  Anfrage, 
dass  seine  bisherigen  Erfahrungen  ihn  nichts  Derartiges  gelehrt 
batten,  liess  aber  die  Moglichkeit  einer  Correctur  bei  genauerer 
ausdriicklicher  Beobachtung  offen.  Ich  glaube,  dass  sich  die  Be- 
merkung  richtig  erweisen  wird,  da  mehrere  Beobachter  sie  unab- 
hangig  von  einander  gemacht  haben;  ich  selbst  babe  die  erwahnten 
Aussagen  erst  nachtraglich  in  der  Litteratur  aufgefunden. 


248  §  21.  Analysiren  unci  Heraushoren 

Es  ist  wol  auch  nicht  Zufall,  dass  Tartini,  ein  Geiger,  die 
Differenztdne  zuerst  (1714)  entdeckt  und  grosses  Gewicht  darauf  gelegt 
hat.  Man  kann  eben  auf  der  Geige  rein  spielen,  wahreud  bei  Tasten- 
instrumenten  wegen  der  temperirten  Stimmung  Reinheit  nicht  (oder 
bei  der  ungleichmassigen  Temperatur  nur  in  einzehien  Fallen)  erzielt 
werden  kann.  Die  Differenztone  warden  darum  von  Taetini  geradezu 
zur  Controle  der  Reinheit  benutzt  und  seinen  Schiilern  zur  Beach- 
tung  empfohlen.  Allerdings  geben  auch  die  mittleren  Saiten  der 
Geige,  die  zu  Doppelgriffen  am  meisten  gebraucht  werden,  gerade 
die  gut  horbaren  Dilferenztone  der  grossen  Octave.  Auch  wird  beim 
Clavier  und  der  Orgel  schon  die  Aufmerksamkeit  zu  sehr  durch 
die  Menge  der  primaren  Tone  (Accorde  etc.)  beschaftigt.  Soege, 
der  die  Differenztone  an  der  Orgel  beobachtete,  dtirfte  sie  beim 
Stimmen  wahrgenommen  haben,  wobei  immer  nur  zwei  Primilrtone 
gleichzeitig  gegeben  sind  und  die  Aufmerksamkeit  intensiv  auf  das 
rein  Sinnliche  der  Erscheinung  gerichtet  wird  (Yorgemach  musik. 
Compos.  1745,  S.  12—13:  „Wenn  man  in  einer  Orgel  eine  Quinte, 
z.  B.  c^  <7^,  rein  gestimmt,  so  wird  sich  das  c^  auch  ganz  gelinde 
mit  horen  lassen ...  Ja  sogar  zwei  Flutes  douces  geben,  wenn  man 
c^  und  a^  rein  zusammen  anblaset,  noch  den  dritten  Klang,  namlich 
ein  /,  welches  zu  probiren  stehet"). 

Durch  den  eben  besprocheaen  Umstand  wird  der  Nachteil 
ausgeglichen,  in  welcbem  sich  der  Differenzton  eines  reinen 
consonanten  Intervalls  fiir  die  Wahrnehmung  dadurch  befindet, 
dass  er  notwendig  immer  mit  den  Primartonen  stark  ver- 
schmilzt,  ja  bei  den  consonanten  Intervallen  innerhalb  der 
Octave  starker  mit  einem  der  Primartone,  als  die  beiden  Pri- 
martone  unter  sich  (s.  Quinten,  Quarten,  Terzen,  Sexten  'in 
obigem  Notenschema);  was  seine  Intensitat  zwar  ungeandert 
lasst,  aber  seine  Wahrnehmbarkeit  gleichwol  beeintrachtigt. 

Grosse  absolute  Starke  der  Primartone  ist  zur  Entstehuug 
und  Wahrnehmung  von  Differenztonen  nicht  unbedingt  er- 
forderlich.  Zu  Zeiten,  wo  ich  viel  darauf  achtete,  habe  ich 
Differenztone  an  der  Violine,  am  Clavier,  bei  gedackten  Pfei- 
fen  u.  s.  f.  hundertfach  auch  in  Fallen  gehort,  wo  die  Ton- 
gebung  die  schwachste  war,  die  iiberhaupt  hergestellt  werden 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  249 

konnte.  Ja  bei  solohem  Pianissimo  traten  die  Differenztone 
(z.  B.  bei  a^  c^  auf  der  Violine  das  F)  noch  deutlicher  bervor 
als  bei  starkerem  Primarklang.  Sie  waren  dann  natiirlicb  nicht 
absolut  starker,  scbienen  aber  relativ  starker  gegen  den  Primar- 
klang und  waren  jcdenfalls  von  vorziiglicher  Deutlicbkeit. 

Es  ist  auch  nicht  notwendig,  dass  die  Primartone  gleiche 
Starke  untereinander  besitzen.  Man  hort  z.  B.  den  Com- 
binationston  C  der  Flotenpfeifen  e^  und  g^  oder  c^  und  e^ 
besonders  stark,  wenn  man  das  Ohr  an  die  Offnung  einer 
der  beiden  -Pfeifen  halt;  und  zwar  am  starksteri  bei  der 
hoheren  Pfeife. 

Einen  Unterschied  scheint  die  Klangfarbe  der  Primar- 
tone zu  machen.  Man  hort  die  tiefen  Differenztone  ausgezeichnet 
bei  hellen,  scharfen,  diinnen  Farben,  wie  bei  Mundharmonika's 
und  Kindertrompeten.  Wahrscheinlich  verstarken  hier  die  Ober- 
tone  der  Primarklange  durcli  ihre  Differenzen  unter  einander 
und  mit  den  Grundtonen  den  Differenzton, 

tJber  den  ausserordentlichen  Einfluss  der  tJbung,  ebenso 
den  der  Tageszeit,  ist  Dasselbe  zu  sagen  wie  bei  den  Ober- 
tonen.  Ist  man  gerade  in  der  tJbung,  so  treten  Einem  Com- 
binationstone  fast  unvermeidlich  bei  langer  andauernden  Zu- 
sammenklangen  und  besonders  bei  Terzen  in  mittlerer  Lage 
entgegen,  Aber  die  tlbung  schwindet  auch  sehr  leicht.  Sie 
ist  auch  eine  verschiedene  fiir  Obertone  und  fiir  Differenz- 
tone, und  iibertragt  sich  zwar  teilweise,  aber  nicht  vollstandig 
vom  einen  auf  den  anderen  Fall.  Sie  entsteht  bei  Differenz- 
tonen  wol  langsamer,  wegen  der  gewohnheitsmassigen  Richtung 
der  Aufmerksamkeit  nach  der  Hohe  bin. 

Andrerseits  sind  die  Differenztone  gegeniiber  den  Ober- 
tonen  dadurch  im  Vorteil,  dass  tiefe  Tone,  wie  es  uns  o.  228 
schien ,  schon  bei  geringerer  Empfindungsstarke  durch  hohe 
hindurchgehort  werden  als  umgekehrt.  Freilich  haben  sie 
auch  immer  die  Concurrenz  zweier  starkerer  Tone  zu 
bestehen. 

Endlich  sind  veranderliche  Zustande  im  Organ  von  Ein- 
fluss, indem  sie  die  Starke  der  Differenztone  erhohen  oder  ver- 


250  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

ringern*).  Dies  hangt  mit  der  besonderen  Bedeutung  zusammen, 
welche  namentlich  das  Trommelfell  fiir  die  Bildung  dieser  Tone 
besitzt  (s.  u.). 

Die  Differenztone  hoherer  Ordnung,  welche  je  nach 
dem  Verhaltnis  der  Primartone  hoher  oder  tiefer  sein  konnen 
als  diejenigen  erster  Ordnung,  sind  keinoswegs  immer  schwacher 
als  diese.  Im  Gegenteil  tritt  derjenige  Differenzton,  welcher 
zunachst  unterhalb  der  beiden  Primartone  liegt,  in  vielen  Fallen 
unzweifelhaft  am  starksten  hervor,  aucli  wenn  er  ein  Differenz- 
ton zweiter  Ordnung  ist  ^).  So  bore  ich  bei  beliebigen  Doppel- 
griffen  auf  den  zwei  bochsten  Violinsaiten  fast  ausnahmslos 
diesen  Ton  am  starksten  mitklingen.  Man  konnte  denselben 
statt  als  Differenzton  des  tieferen  Primartons  mit  dem  ersten 
Differenzton  aucb  auffassen  als  Differenzton  des  boheren  Primar- 
tons mit  dem  ersten  Oberton  des  tieferen  Primartons,  z.  B.  bei 
4 : 5  den  Ton  3  statt  als  4  —  (5  —  4)  vielmebr  als  4.2  —  5, 
und  die  Erscheinung  demgemass  aus  der  besonderen  Starke  des 
ersten  Obertons  herleiten.  Damit  wUrde  iibereinstimmen,  dass 
bei  Flotenpfeifen  und  noch  einfacheren  Primarklangen  die  Diffe- 
renztone hoherer  Ordnung  weniger  stark  sind  als  bei  Zungen- 
instrumenten  oder  bei  der  Sirene  ^).  Aber  bei  letzteren  pflegt  auch 


^)  Wahrend  eines  geringen  Tubenkatarrhes  tiel  mir  beim  Violinspiel 
die  ungewohnliche  Machtigkeit  der  Diflferenztone  selbst  bei  leisestmog- 
licher  Tongebung  auf.  Ein  anderes  Mai  fand  ich  bei  erhohter  Reizbarkeit 
des  rechten  Ohres  den  Differenzton  schwingender  Zungen  genau  im 
Rhythmus  des  Pulses  intermittirend.  Zuweilen  ist  bei  mir  das  rechte, 
zuweilen  das  linke  Ohr  von  grosserer  Empfindlichkeit  fiir  Differenz- 
tone. 

Es  scheint  sogar  wahrend  einer  Versuchsreihe  die  Disposition  des 
Organes  (nicht  bios  die  Ubung)  erheblich  zu  wachsen. 

^)  Diese  merkwiirdige  Tatsache  ist  schon  von  Hallstrom  beobachtet 
(a.  a.  0.  463  f.). 

^)  Helmholtz  hat  dies  zuerst  mit  Stimmgabelu  auf  Resonanzkasten 
festgestellt  (Pogg.  Ann.  Bd.  99,  S.  501  f.)  und  daraus  die  obige  Erklarung 
fiir  die  secundaren  Differenztone  abgeleitet,  nach  welcher  sie  nicht  eigent- 
lich  als  Differenztone  zweiter  Ordnung  zu  bezeichnen  waren,  da  ja  zu 
ihrer  Ableitung  der  Differenzton  erster  Ordnung  nicht  notwendig  ware. 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  251 

die  Starke  der  Tongebung  uberhaupt  eine  grossere  zu  sein.  Und 
jedenfalls  wurde  sich  nicht  gut  begreifen,  wie  der  Differenzton 
hoherer  Ordnung  bei  einer  und  derselben  Klangquelle  starker 
werden  miisste,  als  der  erster  Ordnung.  Auch  sollte  man  er- 
warten,  dass  der  Differenzton  des  tieferen  Primartons  mit  dem 
ersten  Oberton  des  boheren  Primartons  ebenso  stark  auftrete, 
also  in  obigem  Beispiel  der  Ton  5.2  —  4  =  6;  was  nicht  der 
Fall  ist. 

Es  walten  also  bier  sonderbar  verwickelte  Verhaltnisse,  die 
aber  keinesfalls  etwa  nur  mit  der  zufalligen  oder  willkiirlicben 
Ricbtung  der  Aufmerksamkeit,  sondern  mit  der  Entstehungs- 
weise  der  Combinationstone  und  der  Construction  des  Sinnes- 
organs  zusammenbangen  miissen^). 

Der  Einfluss  der  Verscbmelzung  zeigt  sich  aber  auch 
hier  wieder.  Dass  z.  B.  die  Differenztone  1  und  2  oft  schwer 
auseinandergehalten  oder  verwechselt  werden,  begreift  sich 
jedenfalls  mit  daraus.  Hieriiber  sind  die  Beschreibungen 
R.  KoNiG's  lehrreich^).  Beispielsweise  bei  der  Quarte  c^  P 
(Stimmgabeln)  schienen  ihm  beide  Differenztone  1  und  2  zu 
einem  Klange  zu  verschmelzen ,  der  bald  wie  f,  bald  wie  f^ 
zu  klingen  schien.  Und  so  auch  in  anderen  Fallen.  Dass 
Taetini  die  Combinationstone  anfanglich^)  um  eine  Octave  „zu 


Doch  verwirft  Helmholtz  nicht  unbedingt  die  altere  Ableitung,  da  er 
solche  „mehrfache"  Combinationstone  auch  bei  einfachen  Primarklangen 
schwach  vorfand. 

^)  Ich  gestehe,  dass  mir  Preyer's  abstracte  Combinationen  behufs 
Losung  dieser  Fragen  in  seiner  sonst  verdienstlichen  Untersuchung  (Akust. 
Unt.  38  f.)  nicht  einleuchten.  Ob  der  Versuch  Bosanquet's  (Phil.  Mag.  XI, 
1881,  p.  492  f.),  die  sg.  Differenztone  hoherer  Ordnung  ebenso  direct  wie 
die  erster  Ordnung  aus  der  Verbindung  der  primaren  Schwingungen 
abzuleiten,  gelungen  ist,  kann  ich  nicht  entscheiden ;  aber  die  Intensitats- 
verhaltnisse  der  wirklich  gehorten  Differenztone  sind  je  nach  Umstandeu 
so  wechselnd,  dass  eine  mathematische  Discussion  derresultirenden  Schwiu- 
gungsformen  ihnen  alien  sicher  nicht  gerecht  werden  kann. 

*)  in  der  vorziiglichen  experimentellen  Studie  Pogg.  Ann.  Bd.  157 
(1876)  S.  177  f. 

^)  Trattato  di  musica  1754  p.  14  (bei  den  Terzen  und  Quarten). 


252 


§  21.  Analysiren  und  HeraushOren 


hoch  notirt  hat"  (wie  man  gewohnlich  sagt),  beruht  wahrschein- 
lich  auch  mit  darauf. 

Eine  Behauptung  Hugo  Riemann's^)  muss  hier  noch  besonders 
erwahut  werden,  obschon  sie  implicite  bereits  besprocheu  ist:  da- 
nach  trate  an  einem  Harmonium  (desseu  Zuugen  entsprechend  ver- 
stimmt  Averden)  immer  der  Ton  1  auf,  mag  die  Differenz  der  Ver- 
haltniszahlen  sein  welche  sie  will.  Die  Folge  davon  sei  ein  Springen 
des  Combinationstones,  wie  dies  ein  Stiick  der  RiEMANN'schen  Ta- 
belle  (bier  von  I)  nacb  C  transponirt  und  mit  den  oben  gebrauchten 
Zeicben  verseben)  anscbaulicb  macht. 


Die  nacb  oben  geschwilnzten  Bassnoten  sind  die  Combinations- 
tone,  welcbe  der  Differenz  der  Scbwingungszablen  der  Primartone 
entsprecben  (Differenztone  erster  Ordnung).  Die  nacb  unten  ge- 
scbwanzten  entsprecben  der  Verbaltniszabl  1  und  werden  nacb  Rie- 
MANN  gebort.  Bei  den  Intervallen,  deren  Verbaltniszablen  nur  um 
1  differiren,  fallen  beide  zusammen.  Diesen  Ton  1  nun  will  Rie- 
MANN,  da  er  immer  der  grdsste  gemeinsame  Divisor  der  Primar- 
tone ist,  als  Divisionston,  und  in  analoger  Weise  den  ersten 
gemeinsamen  Oberton  als  Multiplications  ton  bezeicbnen.  Beide 
Classen  von  Tonen  besitzen  nacb  der  von  Riemann  befiirworteteu 
dualistiscben  Consonanztbeorie  Ottingen's  eine  ganz  principielle 
Bedeutung. 


*)  Die  objective  Existenz  der  Untertone  in  der  Schallwelle.    1875, 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  253 

Freilich  ist  hier  Riemann,  ohne  es  zu  wissen,  nur  in  die  altere, 
schon  von  Hallstrom  widerlegte  Anschauung  zuriickgefallen  ^).  Wegen 
der  theoretischen  Wichtigkeit,  die  er  der  Sache  beimisst,  habe  ich 
ihr  aber  genaueste  Priifung  gewidmet  und  nach  einigen  anfanglichen 
Tauschungen  schliesslich  bei  hinreichender  tibung  und  Aufmerk- 
samkeit  die  Veranderung  eines  Combinationstons  bei  stetiger  Ver- 
anderung  des  primaren  Intervalles  uiemals  anders  als  stetig  ge- 
funden.  Mehrere  Umstande  konnen  allerdings  zuerst  tauschen  und 
haben  ja  selbst  W.  Webee  getauscht.  So  die  grossere  Starke  bei 
reinen  consonanten  Intervallen.  Ferner  das  Hinzutreten  von  Com- 
binationstonen  hoherer  Ordnung,  welches  oft  sebr  rasch  von  tiefster 
Tiefe  herauf  erfolgt,  obschon  aucb  hierin  bei  genauerem  Hinhoren 
Stetigkeit  waltet.  Dann  die  eben  besprochene  Octavenverschmelzung, 
und  die  Unregelmassigkeiten  in  der  relativen  Starke  der  Com- 
binationstone  verschiedener  Ordnung. 

Vielleicht  hat  sich  Riemann  auch  zu  sehr  durch  die  Postulate 
der  von  ihm  fiir  richtig  gehaltenen  Consonanztheorie  leiten  lassen; 
ebenso  wie  dies  gewiss  der  Fall  ist  in  der  sich  anschliessenden 
Behauptung,  dass,  sobald  wir  die  Sexte  ^  eMm  Mollsinne  auffassen, 
mit  einem  Male  der  erste  gemeinsarae  Oberton  h^  (Multiplications- 
ton)  scharf  und  schrillend  in's  Gehor  falle,  wahrend  man  ihn  nicht 
bemerke,  solange  man  dieselbe  Sexte  im  Dursinne  auffasse^). 

Ein  Beispiel  mag  erlautern,  wie  auch  Differenztone  verschiedener 
Ordnung  stetig  in  einander  iibergehen, 

4  3  8 

3  2  5 


pE^E-..^i 


-^- 


—d- 


gi=^^<^ 


r^ 


2  13 

1 


1)  S.  0.  243.  Hallsteom  richtet  sich  ausdrucklich  S.  441  f.  auch  gegen 
das  Springen  des  Tones,  welches  die  Consequenz  ware. 

2)  Wenn  Riemann  S.  7  behauptet,  dass  auch  nach  Helmholtz  ein 
Springen  beim  Ubergang  von  4  : 5  nach  13 :  16  stattfinden  miisse,  indem 


254  §  21.  Analysiren  und  Heraushftren 

Die  Ziffern  bedeuten  die  Verhaltniszahlen.  Wenn  man  hier  c^  liegen 
lasst  und  g'^  stetig  in/^  und  c^  iiberfiihrt,  so  kann  man  beobachten, 
wie  1)  von  c^  (Differenzton  2.  Ordnung)  sich  ein  Ton  stetig  nacli 
/  (1.  Ordnung)  hinunterbewegt,  welches  bei  der  reinen  Quinte  ein- 
tritt  —  und  diese  Bewegung  ist  besonders  deutlich  — ;  wie  2)  von 
c  (1.  Ordnung)  aus  ebenfalls  eine  Tonbewegung  nach  /  stattfindet; 
wie  endlicb  3)  von  c^  aus  eine  leise  Tonbewegung  sogar  in  der 
Richtung  gegen  den  Primarton  /^  aufwarts  geht,  Dann  spaltet  sich 
wieder  der  Differenzton  1.  Ordnung  /  und  geht  stetig  einerseits 
nach  g  (1.  Ordnung),  andererseits  nach  c  (2.  Ordnung)  uber.  Den 
Ton  C=l  (3,  Ordnung)  konnte  ich  in  diesem  Falle  (an  Floten- 
pfeifen)  gerade  nicht  wahrnehmen,  ebenso  wie  den  Ton  c^  =  4 
(4.  Ordnung).  Ware  C  horbar,  so  wurde  es,  wie  die  Rechnung  ver- 
langt,  als  Endpunct  einer  vor  Eintritt  der  reinen  kleinen  Sexte 
stetig  von  unten  heraufkommenden  sehr  raschen  Tonbewegung  auf- 
treten.     Nirgends  also  Sprunge. 

Endlich  ein  Wort  iiber  die  sg.  Summation  stone.  Diese 
konnen,  wie  zuerst  (1856)  Robee,  dann  unabhangig  G.  Appunn, 
R.  Fabei  und  Andere  bemerkt  haben,  als  Differenztone  des 
ersten  Differenztons  mit  dem  ersten  Oberton  des  hoheren  Pri- 
martons  angesehen  werden  (z.  B.  der  Ton  8  bei  der  Sexte  3 : 5 
als  5.2 — (5  —  3)).  Sie  sind,  wie  ebenfalls  Appunn  hervorhob'), 
nur  auf  Instrumenten  mit  scharfer  Klangfarbe  in  tieferen  Lagen 
zu  horen,  und  immer  sehr  schwach.  Miissten  wir  doch  sonst 
bei  dem  Accord  c^e^^^c^,  der  durcb  die  Zahlen  4:5:6:8 
dargestellt  ist,  die  Tone  horen:  9,  10,  11,  12,  13,  14,  das  heisst 

o  X  o 

cV,  e^,  fis'^,  g^,  as^,  ais^.  Was  soUte  daraus  werden,  wenn  z.  B. 
in  der  Zauberflote  die  Priester  den  herrlichen  dreifachen  B-dur- 
Accord  in  die  Horner  stossen?  Was  die  obige  Herleitung  be- 
trifft,  so  habe  ich  ebenfalls  bei  einer  Reihe  von  Beobachtungen 


der  Differenzton  von  d  nach  Cis  springe,  so  beruht  dies  nur  auf  einem 

o  o 

Rechenfehler:    dem  Tone  3  entspricht  nicht  Cis,  sondern  cis.     In  der 
Notentabelle  ist  dies  ja  von  Riemann  selbst  ersichtlich  gemacht  (s.  in 
unserer  Transscription  den  Ubergang  von  c  nach  H). 
*)  In  dem  o.  235  genannten  Schriftcheu. 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  255 

am  Harmonium,  an  der  Sirene,  an  Zungen-  und  Flotenpfeifen 
gefunden,  dass  der  Summationston  um  so  starker  auftritt,  je 
starkere  Obertone  vorhanden  sind,  am  besten  beim  Harmonium, 
gar  nicht  bei  Flotenpfeifen.  Es  ist  daher  sehr  wahrscheinlich, 
dass  jene  Herleitung  (welcbe  sich  analog  auch  auf  die  „Sum- 
mationstone  hoherer  Ordnung"  ausdebnen  lasst)  zugleicb  die 
reale  Entstebung  des  Tones  trifft. 

Hinsichtlich  der  Entstebung  der  Combinationstone  iiber- 
haupt  wurde  bekanntlich  gegen  die  seit  Lagrange  und  Young  all- 
gemein  geltende  Anschauung,  wonach  sie  eine  Folge  der  Scbwebungen 
seien  (deren  Zahl  ja  ebenfalls  durch  die  Differenz  der  schwebenden 
Tone  gegeben  ist),  von  Helmholtz  eingewendet,  dass  dadurcb  der 
Summationston  nicbt  erklart  wurde,  dass  ferner  die  Combinations- 
tone  unter  Umstanden  objectiv  existiren,  unabbangig  vom  Ohr, 
Welches  die  Scbwebungen  zu  einem  Ton  gestalten  soil,  und  dass 
drittens  diese  Ansicbt  sich  nicht  mit  dem  durch  alle  ubrigen  Er- 
fahrungen  bestatigten  Gesetz  vereinigen  lasse,  wonach  das  Ohr  nur 
solche  Tone  empfindet,  die  pendelartigen  Bewegungen  der  Luft  ent- 
sprechen.  Helmholtz  hat  dann  mathematiscb  gezeigt,  dass,  wenn 
ein  elastischer  Korper  von  zwei  primaren  Tonen  so  heftig  in 
Schwingungen  versetzt  wird,  dass  diese  nicht  mehr  als  unendlich 
klein  gelten  konnen,  neue  Tone  von  der  Hohe  der  Differenz-  und 
Summationstone  entstehen  mtissen. 

Der  erste  Grund  gegen  die  friihere  Annahme  verliert  jedoch 
durch  das  oben  Erwahnte  seine  Kraft.  Was  den  zweiten  betrifft, 
so  ist  die  Verstarkung  von  Combinationstonen  durch  Resonatoren, 
welche  Helmholtz  (und  ebeuso  Appunn)  fiir  mauche  Falle  be- 
hauptete,  von  anderen  Beobachtern,  auch  von  mir,  niemals  wahr- 
genommen  worden.  tlberdies  gilt  der  Grund  nur  gegen  solche 
Fassungen  der  alteren  Lehre,  welche  die  Combinationstone  aus- 
schliesslich  im  Gehirn  oder  durch  einen  rein  psychischen  Act  ent- 
stehen liessen*).    In  dieseni  Sinne  „subjectiv"  konnen  sie  allerdings 


^)  So  liess  noch  z.  B.  Lotze  in  der  Med.  Psych.  231  die  „subjectiveii 
TARTiNi'schen  Tone"  nicht  wie  andere  subjective  Empfindungen  durch 
einen  Nervenprocess  entstehen,  sondern  durch  „Oscillationen  einer  psy- 


25fi  §  21,  Analysiren  unci  Heraushoren 

eben  so  wenig  sein  wie  die  Scbwebungen.  Im  Ubrigen  aber  ist 
nicht  einzuseben,  warum  sie  nicbt  ebenso  wie  diese  sicb  auch  an 
objectiv  scbwingenden  Korpern  zeigen  soUten,  d.  b.  warum  nicbt 
elastische  Korper  von  entsprecbender  Scbwingungszabl  in  Mitscbwin- 
gung  geraten  sollten.  Gerade  der  Umstand,  dass  dies  bis  jetzt 
nicbt  uubestritten  beobacbtet  ist^),  bildet  eine  Scbwierigkeit,  die 
fur  beide  Tbeorien  nur  dadurcb  zu  losen  sein  wird,  dass  die 
objectiven  Combinationsscbwingungen  ausserst  scbwacb  sein  und 
dass  gerade  das  menscblicbe  Trommelfell  besonders  gtinstige  Be- 
dingungen  fiir  ibre  Entstebung  darbieten  muss.  Helmholtz  selbst 
betont  in  dieser  Beziebung  dessen  Asymmetrie;  und  nach  neueren 
Angaben  boren  Patienten  obne  Trommelfell  keine  Combinationstone  ^). 
Helmholtz'  drittera  Argument  baben  Konig  und  Dennert 
entgegengebalten,  dass  tatsacblicb  aucb  durch  intermittirende  Reizung 

chischen  Erregung  in  der  Seele",  indem  „zwei  Tonempfindungen  eine 
dritte  erzeugten,  obne  selbst  in  ihr  zu  Grunde  zu  gehen".  Das  ware 
freilich,  wie  er  sagt,  ein  interessantes  Beispiel. 

In  der  Abhandlung  Pogg.  Ann.  Bd.  99  S.  537  nennt  Helmholtz  die 
Combinationstone  zunachst  auch  nur  in  dem  Sinne  objectiv,  als  sie 
„nicht  notwendig  in  der  Empfindungsweise  des  Hornerven",  sondern  in 
„wirklicben  Scbwingungen  des  Trommelfells  und  der  Gehorknochelchen" 
griinden. 

1)  Noch  neuestens  hat  Max  Wien  (Wied.  Ann.  Bd.  36,  1889,  S.  853) 
durch  sehr  feine  Methoden  der  objectiven  Tonstarkemessung  Nichts  da- 
von  constatiren  konnen. 

2)  Peeyer,  Verhandlungen  der  Berliner  physikal.  Gesellsch.  1889,  No.  3. 
Wied.  Ann.  XXXVHI  131.  Anders  hingegen  Dennert,  A.  f.  0.  XXIV  173. 

Man  kann  auch  hinweisen  auf  das  deutliche  Gefuhl  von  der  Erregung 
des  Trommelfells  bei  Combinationstonen  und  die  entschiedene  Localisation 
der  tieferen  im  Ohr,  ferner  auf  den  von  Dove  zuerst  bemerkten 
Umstand,  dass  bei  Verteilung  zweier  Gabeln  an  beide  Ohren  kein  Com- 
binationston  erscheint.  Ich  habe  die  Resonanzkasten  zweier  so  stark  als 
moglich  gestrichener  consonanten  Gabeln  der  eingestrichenen  Octave 
dicht  an  die  Ohren  gehalten,  konnte  aber  bei  grosster  Aufmerksamkeit 
niemals  den  Combinationston  entdecken;  wahrend  er  an  Einem  Ohr  sbfort 
stark  da  war.  Nicht  einmal  beim  Andriicken  der  Fiisse  schwingender 
Gabeln  an  den  umgeklappten  Tragus  kann  ich  bei  solcher  Verteilung 
der  Tone  Combinationstone  erzielen.  Es  muss  also,  wenn  sie  entstehen 
sollen,  ein  und  dasselbe  Trommelfell  durch  zwei  Primartone  von  aussen 
her  erregt  werden. 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  257 

des  Ohres,  also  uichtpendelformige  Bewegungen,  eiu  der  Zahl  der 
Stosse  entsprechender  Ton  erzeugt  wird. 

Helmholtz'  eigene  Erklarung  der  Combinationstone  endlich 
scheint,  wenn  sie  den  ausschliesslichen  Grund  enthalten  soil,  nicht 
damit  ubereinzustimmen,  dass  man  Combinationstone  oft  auch  bei 
minimaler  Starke  der  Primartone  wabrnimmt  (s.  o.). 

Dennoch  glaube  ich,  dass  die  neuere  Theorie  Richtiges  und 
die  altere  Unrichtiges  entlialt.  Man  wird  nicht  sagen  durfen,  dass 
die  Combinationstone  aus  oder  durch  Schwebungen  entstehen.  Die 
schwebenden  Fasern  sind  ja  ganz  andere  als  die,  welche  die  Com- 
binationstone liefern;  jene  liegen  zwischen  den  Fasern  fiir  die 
Primartone.  Aber  beiden  Erscheinungen  ist  gemeinsam,  dass  sie 
durch  eine  Einwirkung  nichtpendelformiger  (wenn  auch  periodischer) 
Schwingungeu,  durch  die  Wirkung  der  Gesammtwelle  als  solcher 
entstehen.  Dies  ist  nattirlich  nur  moglich,  wenn  die  lebendige 
Kraft  der  Schwingung  sich  teilt:  der  Hauptteil  wird  durch  die  pendel- 
fcirmige  Mitschwingung  der  Fasern  fiir  die  Primartone  auf  diese 
Fasern  ubergeleitet,  eiu  Bruchteil  aber  wirkt  als  uichtpendelformige 
Beweguug  auf  die  zwischenliegenden  Fasern,  wo  er  sich  hauptsachlich 
durch  Intensitatsschwankungen  der  Primartone  kundgibt,  eiu  weiterer 
Bruchteil  endlich  wirkt  auf  tiefergestimmte  Fasern,  deren  Eigen- 
schwingung  der  Anzahl  der  Schwingungsmaxima  der  Gesammtwelle 
entspricht. 

Es  ist  nicht  notwendig,  hier  naher  auf  diese  physiologische 
Frage  einzugehen,  da  es  sich  nicht  wie  in  §  18  um  die  Durchfiihr- 
barkeit  psychologischer  Postulate  und  allgemeiner  psychophysischer 
Principien  handelt.  Die  Combinationstone  koramen  fiir  uns  (s.  Vor- 
rede  zum  I.  Band)  wesentlich  nur  als  schwache  gleichzeitige  Tone 
in  Betracht,  und  ihre  Entstehung  nur  insoweit,  als  sie  mit  der  Be. 
schreibung  der  Erscheinung  selbst  und  der  Bedingungen,  unter 
denen  sie  wahrgenommen  wird,  zusammenhangt.. 

5.  Gibt  es  einfaclie  Tone? 

Die  Frage  stellen  wir  hier  natiirlich  nicht  in  Bezug  auf 
objective  Klange  (Schwdngungen),  sondern  beziiglich  der  Empfin- 
dungen,  welche  bei  objectiv  zusammengesetzten  Kliingen  inimer- 

Stumpf,  Tonpsychologie.    II.  17 


258  §  21.  Analysiren  und  Heraushfiren 

bin  einfach,  bei  einfachen  zusammeugesetzt  sein  konnten,  ja 
nach  gewissen  Theorien  stets  einfach,  nach  anderen  stets  zu- 
sammeugesetzt sein  mils  sen.  Das  „Muss"  in  ersterer  Hinsicht 
besteht  fiir  uns  nacb  §  17  nicht  mehr;  in  der  zweiten  Hinsicht 
bleibt  es  nun  noch  zu  iiberlegen. 

Es  ist  bier  wieder  zu  unterscheiden  Wabrnehmung  und 
Empfindung.  Zunachst  fragt  es  sich,  ob  es  Klange  gibt,  in 
welchen  das  geiibteste  Ohr  bei  bochster  Aufmerksamkeit  und 
uberbaupt  giinstigsten  Umstanden  Teiltone  nicht  mehr  zu  er- 
kennen  vermag.  Diese  Klange  waren  dann  einfach  wenig- 
stens  fiir  die  Wabrnehmung,  einerlei  ob  noch  Empfin- 
dungsteile  darin  sind;  und  zwar  fiir  jede  moglicbe  normale 
Wabrnehmung  (abgeseben  also  von  etwaigen  pathologiscben 
Hyperaesthesien) ,  soweit  sich  bisber  menscbliches  Gehor  ent- 
wickelt  bat. 

Solcbe  Klange  gibt  es  gewiss.  Beispielsweise  die  Tone 
ganz  schwach  erklingender  auf  Resonanzkasten  befestigter  Stimm- 
gabeln  oder  schwach  angeblasener  Flaschen,  ferner  die  subjec- 
tiven  Tone,  welcbe  aus  inneren  Ursacben  oft  voriibergebend  oder 
langer  dauernd  auftreten;  waiter  die  herausgehorten  Teiltone 
und  Combinationstone;  endlicb  die  hochsten  wabrnebmbaren 
Tone  in  der  5-  bis  Sgestricbenen  Octave.  In  alien  diesen 
Fallen  bemerken  wir  denn  auch  keinerlei  Unterschiede  in  der 
Klangfarbe  bei  Klangen  gleicher  Hohe;  es  macht  keinen  Unter- 
scbied,  von  welchem  Instrument,  auf  welcbe  Weise  ein  solcber 
Klang  erzeugt  wird. 

Scbwieriger  ist  die  Frage  zu  beantworten,  ob  diese  Klange 
auch  wirklicb  als  Empfindungen  ganz  einfach  sind,  oder 
ob  nicht  bier  eine  der  uniiberwindlicben  Tauscbungen  statt- 
findet,  deren  Moglichkeit  unter  besonderen  Umstanden  zugegeben 
werden  muss. 

Wenn  wir  alien  Hypothesen  in  dieser  Ricbtung  Glauben 
schenken  wollen,  so  ware  ein  scheinbar  einfachster  Ton  immer 
noch 

1)  von  schwachsten  Obertonen  objectiven  Ursprungs, 

2)  von  subjectiven  Obertonen  (J.  J.  Muxler), 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  259 

3)  von  Untertonen  (H.  Riemann)  begleitet.  Er  bestande 
ferner 

4)  aus  den  vielen  verschiedenen  Tonempfindungen  der 
durch  eine  einfache  Schwingung  zusammen  erregten 
benachbarten  Fasern  (Hostinsky),  sowie 

5)  aus  den  beiden  Elementen  der  Hohe  und  Tiefe,  „Dumpf 
und  Hell"  (Mach).  Eventuell  wiirde  sogar  jede  der 
vielen  Tonempfindungen  aus  diesen  zwei  Elementen 
zusammengesetzt  sein.     Endlich 

6)  wiirde  jeder  Ton  eine  Anzahl  von  „Zusatzempfindungen" 
mit  sich  fiihren,  die  uns  zum  Erkennen  der  Intervalle 
dienen  (Mach). 

Zu  diesen  Elementen  von  tonalem  Charakter  kamen  dann 
nocb  Mitempfindungen  beterogener  Qualitat,  namlich  eine 
Empfindung  (etwa  Innervationsempfindung),  welcbe  dem  Ton 
seinen  Platz  im  „Tonraum"  anweist  (Mach),  und  eine  Empfin- 
dung, welche  seine  Localisirung  im  gewohnlichen  Raum  (im 
Ohr,  Schadel  oder  einem  objectiven  Gegenstand)  zur  Folge  hat. 
Doch  diirfen  wir  von  letzteren  beiden  Empfindungsclassen  an 
dieser  Stelle  abseben,  da  es  sich  uns  bier  nur  um  tonale 
Componenten  bandelt,  ebenso  von  den  „Zusatzempfindungen", 
die  uns  als  eine  speciell  fiir  die  Intervallurteile  aufgestellte 
Hypotbese  erst  im  nacbsten  Abschnitt   bescbaftigen   werden.^) 

Man  sieht,  dass  zur  Bebauung  unseres  Gebietes  gewaltige 
Anleiben  aufgenommen  worden  sind,  und  darf  wol  verlangen, 
dass  ihre  Notwendigkeit  bewiesen  und  dass  es  aucb  einiger- 
massen  glaublicb  gemacbt  werde,  warum  wir  denn  von  alien 
diesen  Teilempfindungen  so  gar  Nicbts  bemerken  konnen. 

Zu  1).  „Obertone,  konnteEiner  sagen,  sindscbon  objectiv 
nicbt  ganzlicb  zu  beseitigen.  Man  bat  sie,  nacbdem  sie  einmal 
entdeckt  waren,  mit  immer  feineren  Mitteln  immer  allgemeiner 
nacbgewiesen,  und  so  ist  zu  scbliessen,  dass  in  den  wenigen 
Fallen,    wo   sie  bis   jetzt  sich  der  Nacbweisung  entzieben,   nur 


^)  Ein  Bedenken   dagegen   habe   ich   vorlaufig   in  der  Deutschen 
Litteraturzeitung  1886  No.  27  in  Kiirze  ausgesprochen. 

17* 


260  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

die  begrenzte  Empfindlichkeit  der  Reagentien  Schuld  ist.  Wenn 
speciell  bei  starken  Gabelklangen  Obertone  noch  entschieden 
nachweisbar  sind,  so  werden  sie  bei  schwachen  nur  eben 
schwacher  vorhanden  sein.     Und  so  auch  in  der  Empfindung." 

Aber  an  diesem  „so  auch"  bleibt  der  Beweis  bangen.  Die 
Nerven  sind  ein  Reagens  von  begrenzter  Empfindiichkeit,  und 
wer  weiss,  ob  die  Teilscbwingungen  bei  jeder  Reizstarke  stark 
genug  sind,  um  sich  im  Nervensystem  geltend  zu  macben? 

t)berdies  fallt  ja  die  Notwendigkeit  solcher  Beitone  von 
vomherein  weg  bei  denjenigen  der  obenerwabnten  Classen  von 
Klangen,  die  keinen  (oder  keinen  selbstandigen)  objectiven  Ur- 
sprung  haben. 

Zu  2).  Auf  das Dasein  subjectiver  Obertone,  d.h.  solcher, 
die  durcb  eine  objectiv  einfache  Schwingung  im  Ohr  eutstanden, 
schloss  zuerst  J.  J.  MtiLLEE')  aus  Schwebungen,  welche  zwei 
Gabeln  miteinander  machen  und  deren  Zahl  nicht  der  Diffe- 
renz  der  objectiven  Gabelschwingungen  entspricht.  Wenn  er 
z.  B.  zwei  c^- Gabeln  so  verstimmte,  dass  sie  in  1,5  Secunde 
einen  Stoss  gaben,  so  horte  er  ausser  diesem  noch  einen  Rhyth- 
mus  von  zwei  Stossen  in  der  Secunde,  den  er  von  den  objectiv 
vorhandenen  ersten  Obertonen  (Octaven)  der  beiden  Grundtone 
ableitete,  aber  auch  einen  von  drei  Stossen,  der  ihm  nicht  aus 
objectiv  vorhandenen  Duodecimen  ableitbar  schien,  da  er  solche 
durch  den  Resonator  nicht  verstarkt  fand. 

Aber   es   ist  die  Frage,    ob    schwache  objective  Obertone 

immer    durch   Resonatoren    verstarkt    werden.      MtiLLEU   hatte 
» 

noch  empfindlichere  Mittel  anwenden  miissen,  etwa  Hilfsgabeln 
von  der  Hohe  des  fraglichen  Obertons,  durch  welches  Mittel 
ja  Peeyer  die  Duodecime  selbst  bei  schwachem  Anstreichen 
der  Hauptgabel  regelmassig  constatiren  konnte.^) 


^)  tJber  Tonempfindungen.    Ber.  d.  sachs.  Ges.  d.  Wiss.   1871. 

2)  ScHEiBLEE  hatte  die  von  ihm  bereits  beobachteten  multiplen 
Schwebungen  aus  dem  Conflicte  zweier  Combinationstone  hoherer  Ord- 
nung  hergeleitet.  Z.  B.  bei  der  unreinen  Quinte  (2n  mit  Sn  -\-  d) 
sollen  die  Schwebungen  durch  die  Differenztone  2.  Ordnung  n  -\-  6  und 
2{2n)  —  {Bn -\-  6)  =  n  —  6  erzeugt  sein.    Ihre  Zahl  muss  ja  dann  in  der 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  261 

Man  konnte  nun  rein  deductiv  schliessen,  dass  subjective 
Obertone  immer  da  sein  miissen,  weil  selbst  durch  eine  ein- 
fache  Tonschwingung  ausser  dem  direct  auf  den  Ton  abge- 
stimmten  Teilchen  der  Grundmembran  auch  das  2mal,  3mal 
u.  s.  f.  scbneller  schwingende  Teilchen  in  Mitschwingung  ge- 
raten  miisse.    (Wujstdt^  I  421.) 

Indessen,  wenn  dies  auch  ganz  allgemein  richtig  ware,  so 
erfolgt  doch  das  An-  und  Abklingen  der  Teilchen  nicht  gleich 
schnell,  und  so  konnen  wol  Falle  vorkommen,  wo  erst  (oder 
jiur  noch)  ein  einziger  einfacher  Ton,  wenn  auch  nur  kurze 
Zeit,  erklingt.  Auch  werden,  wenn  der  Grundton  in  hohere 
Regionen  riickt,  die  2-  und  3mal  schueller  schwingenden  Teil- 
chen immer  schwerer  erregbar,  und  zuletzt,  wenn  der  Grund- 
ton in  die  hochste  Region  eingeriickt  ist,  gibt  es  iiberhaupt 
kein  zweimal  so  schnell  schwingendes  Teilchen  mehr.  Ferner: 
wenn  der  Ton  sehr  schwach  angegeben  wird,  wie  bei  sanft 
angeblasenen  Flaschen,  wird  die  Erregung  der  Teilchen,  die 
sonst  nach  der  Deduction  subjective  Obertone  gaben,  nicht 
immer  stark  genug  sein,  um  auch  nur  die  Empfindungsschwelle 
zu  iiberschreiten.  In  einem  solchen  Fall  wird  dann  also  der 
Klang  physikalisch  einfach,  physiologisch  zusammengesetzt, 
psychologisch  (bez.  central- physiologisch)  wieder  einfach  sein. 
Subjective  Obertone  waren  also,  wenn  das  Princip  der  Deduction 
auch  sonst  uneingeschrankt  richtig  ware,  gleichwol  nicht  unbe- 
dingt  und  in  alien  Fallen  zu  erwarten. 

Aber  das  Princip  ist  nicht  einmal  allgemein  richtig.  Durch 
eine  einfache  Schwingung  werden  nur  dann  in  einem  elastischen 


Tat  =26  sein.  Aber  Mijller  konnte  den  Combinationston  n,  auf  wel- 
chem  hienach  die  Schwebungen  stattfinden  mtissten,  nicht  durch  den 
Eesonator  verstarkt  finden,  und  war  iiberdies  der  Meinung,  dass  Combi- 
nationstone  hoherer  Ordnung  nur  durch  Obertone  erzeugt  werden  konnen. 
Dagegen  miissen  wir  nun  wieder  einwenden,  dass  Combinationstone  sehr 
wol  vorhanden  sein  konnen,  ohne  durch  Resonatoren  verstarkt  zu  wer- 
den, und  dass  selbst  die  Unmoglichkeit  der  Erzeugung  von  Differenz- 
tonen  hoherer  Ordnung  durch  einfache  Tone  keineswegs  nachgewiesen 
ist.    (Vgl.  BosANQUET  0.  251  Anm.). 


262  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

Korper  ausser  der  gleichen  einfachen  Schwingung  noch  Multipla 
derselben  erzeugt,  wenn  jene  eine  gewisse  Starke  iiberschreitet^); 
weshalb  Helmholtz  (263 — 64)  auch  nur  schliesst,  dass  jeder 
starke  einfache  Ton  von  schwachen  harmonischen  Obertonen 
im  Obre  begleitet  sein  muss. 

Und  selbst  dieser  Schluss  scheint  mir  nicht  ganz  zwiugend. 
Die  mitscbwingenden  Teilcben  im  Ohr  sind  elastische  Korper 
besonderer  Construction,  und  leicht  konnen  in  ihrem  Bau  Hin- 
dernisse  fiir  die  Bildung  multipler  Schwingungeu  gegeben  sein, 
wie  Helmholtz  selbst  dergleichen  fiir  die  nacbher  zu  erwab- 
nenden  Untertone  annimmt.  Darum  kami  bier  wie  dort  nur 
durcb  directe  Beobachtung  der  beziiglicben  Teiltone  oder  wenigstens 
durch  Versuche,  die  keine  andere  Deutung  zulassen,  der  Be- 
weis  ibrer  wirklicben  Existenz  geliefert  werden. 

Hiezu  ware  vor  Allem  no  tig,  starke  einfache  Tone  objectiv 
herzustellen.  Nach  fast  allgemeiner  Erfahrung  (nur  R.  Konig  wider- 
spricht)  ist  jeder  einigermassen  starke  Ton  schon  von  Obertonen 
objectiven  Ursprungs  begleitet.  Gelange  es,  die  verlangte  Voraus- 
setzung  zu  erfiillen,  dann  batten  wir  allerdings,  glaube  ich,  ein 
experimentum  crucis.  Es  lage  dann  ein  Fall  vor,  wo  man  verlangeu 
konnte,  dass  subjective  Obertone,  wenn  sie  tiberhaupt  vorhanden 
sind,  auch  durch  Aufmerksamkeit  wahrgenommen  werden  konnten  — 
was  man  ja  nicht  immer  und  liberall  verlangen  kann,  Welches 
Hindernis  sollte  entgegenstehen,  das  nicht  ebenso  bei  schwachen 
Obertonen  objectiven  Ursprungs  entgegenstiinde?  Wenn  Avir  also 
solche  durch  concentrirte  Aufmerksamkeit  sogar  neben  starken  Grund- 
tonen  heraushoren  konnen,  so  mtisste  dies  hier  ebenfalls  moglich 
sein  (zumal  wenn  wir  noch  die  verstarkende  Kraft  der  Aufmerk- 
samkeit bedenken,  von  der  in  §  22  naher  die  Rede  sein  wird). 


^)  Hiemit  konnte  es  zusammenhangen,  dass  Ritz  bei  seinen  schonen 
,,Untersuchungen  iiber  die  Zusammensetzung  der  Klange  der  Streich- 
instrumente"  niemals  durch  einen  Flageoletton  einen  Oberton  desselben 
auf  einer  anderen  Saite  zum  Mitklingen  bringen  konnte  (S.  66);  eine 
Erscheinung,  die  sonst  auffallen  konnte.  Ritz  betont,  dass  er  bei  seinen 
Untersuchungen  nicht  stark  streichen  durfte  (69).  —  Zu  obiger  Frage 
auch  R.  Konig,  Wied.  Ann.  XI  857. 


i 


bei  iingleicher  Starke  der  Klangteile.  263 

Der  Beweis  fiir  die  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  von 
Obertonen  in  der  Empfindung  ist  also  nicht  erbracht.  Im  Gegen- 
teil,  wenn  man  die  vorstehenden  Erwagungen  consequent  durch- 
denkt,  wird  man  finden,  dass  sie  positiv  das  Vorkommen  audi 
subjectiv  obertonfreier  Tone  beweisen.  Wenn  scbwacher 
werdende  Reize  zuletzt  unter  die  Empfindungsschwelle  sinken 
und  die  Teiltone  ungleich  schnell  abklingeii,  so  muss  bei  einer 
ausschwingenden  Gabel  ein  Teilton,  sei  es  der  Grundton  oder 
irgend  ein  Oberton,  zuletzt  allein  iibrig  bleiben,  bis  auch  er 
verschwindet.  Da  ferner  auch  das  subjective  Abklingen  nicbt 
gleichmassig  erfolgt,  so  gilt  dasselbe  fiir  etwaige  subjective  Ober- 
tone.  Speciell  fiir  die  hochsten  Tone  folgt  ebenfalls,  dass  sie 
nicht  bios  obertonfrei  sein  konnen  sondern  miissen. 

Vielleicht  wendet  Einer  gegen  die  ersten  Folgerungen  noch 
ein,  dass  sehr  schwacho  einfache  Tone  fur  sich  allein  viel- 
leicht iiberhaupt  nicht  empfindbar  seien  und  die  notige  Em- 
pfindungsstarke  erst  durch  die  Mitwirkung  der  Obertone  er- 
langten.  Aber  Tone  verschiedener  Hohe  verstarken  sich  ja 
nicht  gegenseitig  in  der  Empfiudung,  sondern  schwachen  sich 
vielmehr  (§  26). 

Ich  meine  sogar,  dass  nicht  nur  in  den  besonderen  Fallen, 
von  denen  wir  soeben  sprachen,  sondern  in  alien  jenen  Classen 
von  Fallen,  die  wir  oben  als  Beispiele  einfacher  Tone  fiir  die 
Wahrnehmung  auffiihrten,  auch  die  Empfindung  nur  ein- 
fache Tone  enthalt.  Selbst  v?^enn  wir  in  solchen  Fallen  Ober- 
tone noch  objectiv  durch  gewisse  indirecte  Methoden  nachweisen 
konnen,  selbst  dann  halte  ich  es,  vorausgesetzt  dass  die  Tone 
nur  schwach  gegeben  und  die  sonstigen  Vorsichten  beobachtet 
werden,  fiir  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  etwaige  minimale 
Beisatz  von  objectiven  Obertonen  auf  dem  Wege  bis  zum  in- 
neren  Ohre  aufgerieben  wird. 

Jedenfalls,  wenn  auch  eine  Spur  von  Obertonen  in  solchen 
Fallen  noch  der  Empfindung  beigemischt  sein  sollte,  so  ware 
es  eben  nichts  als  eine  Spur,  und  konnte  darum  auch  keinen 
nennenswerten  Einfluss  auf  weitere  Eigentiimlichkeiten  des 
Klanges  (Klangfarbe)  und  seiner  psychischen  Verarbeitung  (Con- 


264  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

sonanz-  und  Intervallurteil,  Harmoniegefiilil  u.  s.  f.)  ausuben. 
Ich  sage  dies,  weil  sich  an  die  Behauptung,  es  gabe  keine  ab- 
solut  obertonfreien  Klange,  hauptsachlich  solche  Theoretiker 
anklammern,  welche  Alles  und  Jedes  im  Tongebiet  auf  Ober- 
tone  zuiiickfiiliren  und  daher  in  dem  allgemeinen  und  notwen- 
digen  Vorhandensein  derselben  eine  Lebensfrage  der  Theorie 
erblicken.  Solclie  mogen  bedenken,  dass  gerade  Helmholtz, 
auf  desseu  Grundlegung  sie  bauen,  durchaus  unbefangen  ein- 
fache  Tone  in  viel  weiterem  Umfang  einraumt,  als  wir  dies 
bier  zu  tun  gewagt  haben.  Er  sagte  sich  eben,  dass  mit  mini- 
malen  und  dazu  bios  hypothetischen  Spuren  der  Theorie  doch 
nicht  geholfen  ware,  und  suchte  andere  Auswege. 

Z  u  3).  Wenn  wir  einfache  Tone  nach  dem  Vorangehenden  zu 
statuiren  uns  berechtigt  balten,  so  sind  darunter  nur  eben  ober- 
tonfreie  Tone  gemeint.  Nun  ist  aber  von  Helmholtz  die  Mog- 
liclikeit  und  von  Hugo  Riemann  auch  das  wirkliche  Dasein 
von  Untertonen  behauptet  worden. 

Helmholtz  kommt  in  seiner  Berechnung  der  Scbwingungen 
der  Grundmembran  (Beilage  XI  seines  Werkes,  am  Schluss)  zu 
der  Folgerung,  dass,  wenn  diese  Membran  von  durchaus  gleich- 
massiger  Structur  ware,  jede  Erregung  eines  Querfaserbiindels 
durch  den  betrefifenden  Grundton  auch  begleitet  sein  miisste 
von  schwacheren  Erregungen  der  ungeraden  harmonischen  Unter- 
tone,  deren  Intensitat  allerdings  mit  den  Factoren  ^/g,  V255  ^^1" 
gemein  ^/ms  multipKcirt  sein  wiirde  (wenn  m  die  Ordnungszahl 
ist).  Davon,  fiigte  er  bei,  sei  im  Ohr  nichts  zu  bemerken;  doch 
diirfe  man  dies  nicht  notwendig  als  Einwand  gegen  seine  Theorie 
betrachten,  da  wahrscheinlich  durch  die  Anhangsgebilde  der 
Grundmembran  die  Bildung  soldier  Scbwingungen  (mit  Knoten- 
linien)  sehr  erschwert  sei. 

Hugo  Riemann  hat  diese  Bemerkung  zu  der  Hypothese  er- 
weitert,  wonach  jeder  Ton  stets  von  alien  harmonischen  Unter- 

tonen  begleitet  ware  (z,  B.  c-  von  c^  /",  c,  As,  F,  B,  C),  wenn  sie 
auch  mit  fortschreitender  Ordnungszahl  immer  schwacher  wiir- 
den.  Die  Untertone  waren  das  genaue  Spiegelbild  der  har- 
monischen Obertone  (^/g,  Va?  Vi'  Vs  u.  s.  f.  von  der  Schwingungs- 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  265 

zahl  des  Primartones).  Aber  wahrend  die  Obertone  keineswegs 
immer  alle  zugleich  da  sind,  sondern  bald  dieser  bald  jener, 
zuweilen  auch  keiuer,  waren  die  Untertone  stets  vollzablig 
und  in  gleichem  Starkeverhaltnis  vorhanden;  da  sie  eben  nicbt 
von  den  wecbselnden  Bedingungen  objectiver  Klangerzeugung, 
sondern  von  der  constanten  und  gleichmassigen  Einrichtung  des 
Gebororgans  abhangig  waren.  Diese  Hypothese  benutzte  Rie- 
MANN^)  zur  Neubegriindung  der  dualistischen  Verwandtscbafts- 
lehre,  wie  sie  Otting-en  gegeniiber  Helmholtz  vertreten  hatte. 
Spater  glaubte  er  auch  die  objective  Existenz  von  Untertonen, 
d.  h.  das  totale  Mitschwingen  eines  tiefer  gestimmten  elastischen 
Korpers  bei  primarer  Erregung  eines  entsprechend  hoher  ge- 
stimmten, experimentell  nachweisen  und  in  solchem  Fall  die 
Untertone  auch  wirklich  wahrnehmen  zu  konnen.  „Ich  mache 
die  eigentiimliche  Erfahrung,"  sagt  er^),  „dass  ich  auf  dem  Piano- 
forte bei  Angabe  eines  g'^,  welches  ich  sofort  nach  starkem  Au- 
schlag  dampfe,  schwach  aber  deutlich,  freilich  sehr  schnell  ver- 
schwindend,  c  hore,  von  welchem  Tone  ich  durch  Herabdriicken 
der  Taste  den  Dampfer  gehobeu  habe." 

Machen  wir  uns  zuerst  klar,  was  eigentlich  dieser  Versuch 
beweisen  kann.  Gewiss  nicht  das  allgemeine  und  notwendige 
Vorhandensein  objectiver  Untertone,  da  ja  nicht  fiir  jeden 
Ton  ein  entsprechend  tiefer  gestimmter  mitschwingender  Korper 
in  der  Nahe  ist.  Ebensowenig  die  subjective  Erregung  von 
Untertonen  durch  eine  objectiv  einfache  Luftschwingung,  da  ja 
gerade  auf  das  objective  Vorhandensein  des  Untertons  Nach- 
druck  gelegt  wird.  Der  Wert  des  Versuchs  fiir  unsre  Frage 
konnte  nur  etwa  darin  gesucht  werden,  dass  ein  Fall  aufgezeigt 
ware,  wo  ein  tiefer  gestimmter  elastischer  Korper  bei  primarer 
Erregung  eines  hoher  gestimmten  in  totale  Schwingungen  gerat. 
Wenn  dies  draussen  stattfindet,  so  konnte  man  schliessen,  dass 
es  auch  im  Ohre  so  sein  wird.  Also  eine  objective  Analogic 
ware  gefunden,    durch  welche    die  allgemeine  und  notwendige 

*)  tJber  das  musikalische  H6i*eii.  Gottinger  Dissert,  v.  J.  1873,  gedr. 
1874.   Im  Buchhandel  unter  dem  Titel  „Musikalische  Logik"  1874. 
*)  Musikalische  Syntaxis  (,1877)  6  und  121. 


266  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

Entstehung  von  Untertonen  im  Ohre  gestiitzt,  wenn  aucli  nicht 
bewiesen  wiirde. 

Allein  die  Theorie  verlangt  ja  fiir  dieseii  Zweck  gar  nicht 
ein  totales  Mitschwingen ,  ihr  geniigt  schon  ein  partielles  Mit- 
schwingen  tiefergestimmter  Teilchen  der  Grundmembran  (Bil- 
dung  von  Knotenpuncten),  fiir  welches  die  physischen  Analogien 
ohnedies  langst  bekannt  sind.  Wenn  nur  liberhaupt  eine  be- 
stimmte  Faser  hinreichend  stark  in  Erregung  kommt,  einerlei 
in  welcher  Weise,  total  oder  partiell,  so  geniigt  dies  nach  dem 
Princip  der  specifiscben  Energien  zur  Empfindung  des  ihr  ein 
fiir  allemal  eigentiimlichen  Tones;  wie  dies  Riemann  selbst 
in  seiner  ersten  Schrift  hervorhebt.  Ich  kann  also  nicht  ein- 
sehen,  in  welcher  Beziehung  obiger  Versuch,  wenn  er  zutrifft,  be- 
weisend  oder  auch  nur  niitzlich  fiir  die  Untertonlehre  sein  soil. 

Tatsachlich  nun  trifft  er  nach  meiner  Beobachtuug  zu.  Aber 
die  Ursache  ist  eine  andere:  nicht  die  Mitschwingung  dieses 
speciellen  Tons  speciell  auf  seine  hohere  Duodecimo,  sondern  die 
allgemeine  Erschiitterung  des  Instrumentes.  Man  hort  ein  Ge- 
rausch,  in  welchem  aber  natiirlicherweise  c  hervortritt,  da  der 
Dampfer  nur  fiir  diesen  Ton  aufgehoben  ist.  Hebt  man  ihn  fiir 
e  oder  f  oder  a  auf,  so  hort  man  diese  Tone,  zum  Teil  sogar 
deren  Obertone.  Ebenso  verhalt  es  sich  bei  jedem  anderen  Ge- 
rausch,  z.  B.  wenn  man  auf  den  Deckel  des  Instrumentes  klopft. 
Auch  dann  hort  man  den  Ton  der  nicht  gedampften  Saite  oder 
einen  ihrer  Obertone. 

Eesonatoren  sollen  nach  Riemann  ebenfalls  auf  einen  Haupt- 
ton  mitkhtigeu,  der  ihreu  Eigenton  als  Unterton  enthalt.  Hier 
scheint  es  sich  ahnhch  zu  verhalten.  Nicht  bios  durch  einen  Ober- 
tou  ihres  Eigentons,  sondern  durch  alle  starkeu  Tone  werden  Re- 
sonatoren  etwas  erregt,  und  zwar,  soviel  ich  hore,  ganz  fluchtig  zu 
Beginn  des  erregenden  Tons  und  nach  Aufhoren  desselben.^) 


^)  Resonatoren  und  ahnliche  Apparate  klingen  liberhaupt  merklich 
nach.  Wenn  man  eine  nicht  zu  kleine  Flasche  (halbe  oder  ganze  Wein- 
flasche)  anblast  und  sofort  an's  Ohr  halt,  hort  man  den  Ton  nachklingen. 
Lasst  man  sie  nach  dem  Anblasen  vor  dem  Munde,  so  ist  der  Ton  sofort 
erloschen;  das  Nachklingen  dringt  nicht  bis  zum  Ohr. 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile,  267 

An  Stimragabein  fand  Peeyer,  dass  man  durch  hohere  Gabeln 
tiefere  nicht  zum  Mitschwingen  bringen  kann,  auch  wenn  diese  im 
Verhaltnis  vou  Untertonen  zu  jenen  stehen^).  Und  Stimmgabeln 
auf  Resonanzkasten,  wie  er  sie  bentitzte,  nennt  er  nicht  mit  Un- 
recht  „beispiellos  empfindlich". 

An  der  Violine  finde  ich  Folgendes.  Ich  setze  eiu  Papier- 
reitercben,  wie  es  ofter  zum  Nachweise  der  Knotenpuncte  einer 
schwingenden  Saite  benutzt  wird,  auf  die  y-Saite  uahe  an  den  Steg,  und 
klebe  es  dann  unten  mit  einem  Stiickchen  Papier  zu,  sodass  es 
nun  als  ein  offenes  dreiseitiges  Prisma  die  Saite  umschliesst,  ohne 
doch  seine  Beweglichkeit  zu  verlieren.  Wenn  ich  nun  g'^  auf  der 
r^^- Saite  ganz  leise  anstreicbe  und  dabei  den  Kopf  der  Violine 
schwach  nach  unten  neige,  so  bewegt  sich  das  Reiterchen  in  er- 
gotzlicher  Weise  die  Saite  entlang,  bleibt  aber  in  der  Mitte,  genau 
da  wo  g^  als  Flageolet  gegriffen  wird,  stehen.  Hilft  man  ihm  uber 
diesen  Punct  hinaus,  so  bewegt  es  sich  wieder  von  selbst  weiter. 
Streiche  ich  nun  statt  g'^  d''-,  so  bleibt  es  an  zwei  Puncten,  an 
jedem  Drittel  der  Saite  stehen.  Streiche  ich  g^,  an  jedem  Viertel; 
bei  ^^  an  jedem  Fiinftel;  bei  <^^  an  jedem  Sechstel. 

Insoweit  ist  dies  bios  eine  augenfallige  Erlauterung  fiir  das 
partiale  Mitschwingen  der  tieferen  Saite,  indem  sie  durch  Knoten- 
bildung  in  solche  schwingenden  Telle  zerfallt,  welche  dem  jeweiligen 
primar  erklingenden  Ton  entsprechen.  Wenn  ich  nun  aber  g''-  sehr 
stark  streiche,  so  bewegt  sich  das  Reiterchen  auch  ohne  Nachhilfe 
tiber  den  kritischen  Punct  hinaus ;  und  wenn  es  unten  nicht  ge- 
schlossen  ist,  so  fallt  es  auf  diesem  Puncte  wie  auf  jedem  anderen 
ab,  wahrend  es  bei  schwachem  Streichen  auf  diesem  Punct  sitzen 
bleibt.  Die  tiefere  Saite  schwingt  also  bei  starkem  Streichen  auch  als 
Ganzes  mit.  Wie  leicht  konnte  man  nun  hieraus  wieder  auf  die 
objective  Existenz  der  Untertone  schliessen! 


')  Akust.  Unters.  17.  Ich  habe  dies  bei  zahlreichen  Stimmgabeln 
iiberall  nur  bestatigt  gefunden.  Nach  einem  Citat  R.  Konig's  (Wied. 
Ann.  XI  858)  hat  auch  schon  Seebeck  ausgesprochen,  ,,dass  ein  tonfahiger 
Korper  in  Schwingung  versetzt  wird  durch  jeden  Ton  seiner  harmonischen 
Unterreihe,  nicht  aber  durch  hohere  Tone". 


268  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

Aber  genauer  zugesehen  liegt  die  Ursache  wiederum  nur  in 
der  allgemeinen  Erschiitterung  des  Instrumentes.  Denn  das  Rei- 
terchen  fallt  ebenso  ab,  wenn  ich  einen  beliebigeu  anderen  Ton 
sehr  stark  streiche.  Wenn  ich  dagegen  g'^  auf  einer  zweiten  Violine 
sehr  heftig  angebe,  bleibt  es  sitzen.  Es  fallt  aber  wieder  ab,  wenn 
ich  den  Grundton  g  selbst  auf  der  zweiten  Violine  heftig  streiche. 
Doch  wird  hier  besser  statt  der  ^-Saite  eiue  der  hoheren  Saiten 
benutzt.  (Auffallig  ist  nebenbei,  dass  das  Reiterchen  beim  Angeben 
des  Grundtons  durch  eine  andere  Violine  leichter  abfallt,  wenn  es 
uicht  gerade  in  der  Mitte  sitzt.  Es  geht  daraus  hervor,  dass  sich 
auch  in  diesem  Fall  Knotenpuncte  in  der  bios  mitschwingenden 
Saite  Widen  und  dass  die  Totalschwingung  derselben  viel  geringer 
ist  als  die  Partialschwingungen.) 

Auch  das  Ohr  vernimmt,  wenn  g^  auf  einer  Violine  stark  an- 
gegeben  wird,  nichts  vom  Mitklingen  eines  g  als  solchen;  und  wenn 
man,  nachdera  g'^  angegeben  war,  auf  das  Nachklingeu  der  freien 
y-Saite  achtet,  so  hort  man  sic  wiederum  nur  mit  dem  Ton  g^ 
nachklingen,  nicht  mit  ihrem  eigenen.  Dieses  nachklingende  g^ 
stamrat  nicht  etwa  von  dem  angegebenen  Primarton  selbst.  Man 
kann  denselben  sofort  dampfen  und  hort  es  doch;  und  andere  Tone 
auf  derselben  Saite,  wie  «^,  /"^  liefern  auch  ungedampft  bei  weitem 
uicht  eiu  so  inteusives  und  langes  Nachklingen. 

Bei  dem  Versuch  mit  dem  geschlossenen  Reiterchen  kann  man 
iibrigens  wirklich  unter  Umstauden  mit  seinem  leiblichen  Ohre  voll- 
kommen  deutlich  den  Ton  g  wahrnehmen,  wahrend  g^  gestrichen 
wird.  Aber  leider  ist's  wieder  nicht  ein  Unterton  in  dem  Sinne, 
wie  er  gesucht  wird.  Es  entsteht  namlich  leicht  durch  die  Be- 
ruhrung  des  Reiterchens  mit  dem  Griff brett  ein  sg.  Klirrton,  und 
dieser  ist,  wenn  g^  angegeben  wird,  kein  anderer  als  eben  ^.^)  In 
diesem  Falle  handelt  es  sich  aber  um  einen  objectiven  Ton  selb- 
standigen  Ursprunges,  wie  er  auch  in  anderen  Fallen  (z.  B.  beim 
lockeren  Aufsetzen  einer  schwingenden  Gabel)  zum  Vorschein  kommt. 

^)  Beim  Spielen  auf  Darmsaiten  kann  man  zuweilen  einen  solchen 
Klirrton,  die  tiefere  Octave  eines  auf  der  Saite  gegriffenen  und  primar 
erklingenden  Tones,  horen,  wenn  sich  ein  Faserchen  von  der  Saite  teil- 
weise  abgedrdselt  hat  und  das  Griffbrett  beriihrt. 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  269 

"Wenn  man  diese  Klirrtdne  und  Tone  verwandten  Ursprunges,  well 
sie  arithmetisch  den  gesuchten  Untertonen  entsprechen  (eine  den 
Obertonen  reciproke  Reihe  geben),  ebenfalls  Untertone  nennen 
will  ^),  so  mag  man  es  tun.  Aber  mit  den  von  Riemann  postulirten 
subjectiv-allgemein-notwendigen  Untertonen  haben  sie  Nichts  zu 
schaifen;  und  ich  bin  erstaunt,  dass  Riemann  in  seinem  „Musik- 
lexikon"  nicht  bios  im  Art.  „Klirrtone"  diese  einfach  unter  seine 
„Untert6ne"  subsumirt,  sondern  auch  im  Art.  „Untert6ne"  zur  Entschei- 
dung  uber  seine  Hypothese  einen  Versuch  vorschlagt,  welcher  eben- 
falls nur  Untertone  in  einem  ganz  verschiedenen  und  fiir  seine 
Theorie  irrelevanten  Sinn  beweisen  wiirde.  Man  solle  niimlich  eine 
Sirene  unter  zweierlei  Wind  von  verschiedenem  Druck  setzen,  wel- 
cher durch  Schlauche  so  nach  den  Offnungen  geleitet  wiirde,  dass 
z.  B.  bei  12  Lochern  jedes  zweite  oder  dritte  verstarkten  Wind 
erhielte.  Wenn  man  unter  diesen  Umstanden  einen  tieferen  Ton 
neben  dera  hoheren  vernimmt  —  was  folgt  denn?  Ebensogut  konnen 
wir  ja  zwei  verschiedene  Pfeifen,  eine  hohe  und  eine  tiefe,  durch 
einen  gemeinsamen  Blasebalg  anblasen.  Das  Wesen  der  Untertone, 
wie  sie  Riemann  zuerst  postulirte,  sollte  doch  nicht  darin  bestehen, 
dass  irgend  eine  ausserliche  Manipulation  hohe  und  tiefe  Tone  zu- 
gleich  hervorbringt,  sondern  dass  selbst  eine  streng  einfache  Luft- 
welle  neben  dem  ihr  entsprechenden  Ton  noch  tiefere  rein  subjectiv 
miterzeugt.  Riemann  scheiut  mir  daher  auf  seiner  Suche  nach 
Untertonen  von  seinem  urspriinglichen  Begriffe  ganz  abgekommen 
zu  sein^).  Wenn  nur  unter  ganz  zufalligen  oder  auch  raffinirt  aus- 
gesonnenen  Umstanden  in  vereinzelten  Fallen  Untertone  zum  Vor- 


^)  So  F.  AuERBACH,  der  die  ,, Untertone"  locker  aufgesetzter  Gabeln 
auf  der  Casseler  Naturforscherversammlung  democstrirte  (Tageblatt  der 
51.  VersammluDg  d.  N.  u.  A.  1878  S.  40);  ferner  neuerdings  H.  Schroder, 
der  durch  eigenartige  gewaltsame  Beriihrung  der  Violinsaiten  mit  dem 
Bogen  schlecht  klingende  „Untert6ne"  erzeugte  (Lessmann,  Allgem.  Musik- 
zeitung  1886,  S.  230  nach  Ref). 

2)  Schon  in  dem  o.  252  erwahnten  Schriftchen  Riemann's  vom  Jahre 
1875  findet  sich  eine  solche  fisTd/iaGig  dq  alio  yivoq.  Dort  werden  die 
Untertone  mit  den  Diflferenztonen  identificirt.  Aber  Differenztone  werden 
ja  nicht  durch  eine  einfache,  sondern  nur  durch  Verhindung  zweier  Luft- 
wellen  erregt. 


270  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

schein  kamen,  was  sollten  sie  fiir  eiue  allgemeine  Theorie  der  Con- 
sonanz,  fiir  den  Aufbau  eines  Musiksystems  niitzen? 

Also  der  Beweis  fiir  die  Untertone  ist  iiicht  erbracht. 
Aber  bleiben  sie  nicht  wenigstens  eine  moglicbe  Hypotbese, 
oder  baben  wir  Beweise  dagegen? 

Was  micb  an  die  wirklicbe  Existenz  der  Untertone  in  der 
Empfindung  nicht  glauben  lasst,  ist  vor  AUem  der  Umstand,  dass 
solcbe  Tone  durcbaus  unwabrnebmbar  sind,  wenn  sie  nicbt  etwa 
scbon  durcb  die  Bescbaffenbeit  des  ausseren  Reizes  miterzeugt 
werden.  Unwabrnebmbarkeit  ist  nicbt  immer  ein  Beweis  fiir 
das  Nicbtvorbandensein.  Aber  es  stebt  uns  andererseits  aucb 
keineswegs  frei,  unwabrnebmbare  Elemente  unter  beliebigen  Um- 
stiinden  anzunebmen,  sondern  die  Unwabrnebmbarkeit  muss  durcb 
die  besonderen  Umstande  psycbologiscb  gerecbtfertigt  werden. 
RiEMANN  nun  erklart  sie  im  vorliegenden  Fall  daraus,  dass  es 
kein  Mittel  gebe,  das  Starkeverbaltnis  der  Untertone  zum  Haupt- 
ton  zu  andern,  und  dass  Vorstellungen  von  stets  gleicbbleibender 
Zusammensetzung  uns  als  einfacbe  erscbeinen  miissen^). 

Indessen,  wenn  man  aucb  das  letzte  Princip  zugeben  wollte: 
das  Starkeverbaltnis  konnte  docb  kaum  ganz  unveranderlicb 
sein.  Scbwacbe  Empfindungen  und  speciell  Tonempfindungen 
unterliegen  Starkescbwankungen,  selbst  einem  Wecbsel  von 
Verscbwinden  und  Wiederkommen,  wabrend  der  starkere  Ton 
dauert^).  Aucb  sind  wir  im  Stande,  scbwacbe  Teiltone  obne 
aussere  Hilfsmittel  willkiirlicb  zu  verstarken,  und  man  siebt 
nicbt  ein,  warum  dies  bei  Untertonen  unmoglicb  sein  sollte. 
Das  Mittel  dazu  ist  bei  Obertonen  und  Differenztonen  einfach 
die  lebbafte  Vergegenwartigung  der  beziiglicben  Tonbobe  in 
der  Pbantasie;  dasselbe  Mittel  stebt  uns  natiirlicb  gegeniiber 
den  Untertonen  zu  Gebote. 

Ferner,  wenn  wir  aucb  zufolge  der  Hypotbese  den  Ton  c^ 
niemals  obne  cS  f,  c,  As  u.  s.  f.   gebort   baben,    so  baben   wir 


^)  tJber  d.  musik.  Horen  13. 

2)  Helmholtz,  Physiol.  Optik  '  365.    Uebantschitsch,  Centralblatt 
f.  d.  medicin.  Wiss.  1875,  No.  37,  u.  6. 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile.  271 

docli  c\  f,  c,  As  u.  s.  f.  ohne  c^  gehort.  Also  selbst  weun  wir 
das  obige  Princip,  woraus  die  Nichtwahrnehmung  sich  begreifen 
soil,  einraumen  wollten:  die  Voraussetzung  der  regelmassigen 
Coexistenz  und  des  unveranderten  Starkeverhaltnisses  trifft 
factiscb  nicht  zu.  Die  Untertone  konnten  schwerer  wahrnehm- 
bar  sein  als  die  Obertone,  aber  keineswegs  diirften  sie  der 
Wahrnehmuug  sich  ganz  entziehen. 

Es  fehlt  also  an  einer  geniigenden  Motivirung  fiir  jene  an- 
geblicb  unbedingte  Unmoglichkeit  des  Herausborens  der  Unter- 
tone. Die  eiuzige  geniigende  Erklaruug  scheint  doch  eben  die 
zu  sein,  dass  sie  nicht  da  sind. 

Schliesslich,  wenn  trotz  Allem  bei  starken  Tonen  un- 
wahrnehmbare  Untertone  mitempfunden  wiirden,  so  ergabe  sich 
doch  zum  Mindesten  fiir  den  Fall  eines  schwachen  Tones  die- 
selbe  Consequenz  wie  hinsichtlich  der  subject! ven  Obertone:  die 
Erregung  der  Untertone  muss  von  einem  gewissen  Punct  an  so 
schwach  sein,  dass  sie  unter  die  Empfindungsschwelle  sinkt. 
Es  wird  also  einen  Starkegrad  geben,  bei  welchem  der  Primar- 
ton  noch  vollkommen  deutlich  gehort  wird,  wahrend  seine  Unter- 
tone aus  der  Empfindung  verschwundeu  sind.  Somit  ist  auch 
schon  aus  diesem  Grunde  die  notwendige  und  allgemeine  Exi- 
stenz  von  Untertonen  in  der  Empfindung  zu  leugnen^). 

^)  Ich  iiatte  friiher  nocli  ein  directeres  Bedenken  gegen  die  Unter- 
tone. Wenn  namlich  c^  und  g"^  zusammen  angegeben  werden;  miissten 
nicht  durch  ihre  beiderseitigen  Untertone  subjective  Schwebungen  ent- 
stehen?  Die  Untertonreihe  von  c^  enthalt  z.  B.  f,  die  von  g^  enthalt  g 
und  es,  welcbe  sonst  mit  f  deutliche  Schwebungen  geben.  Nun  sind 
Schwebungen  oft  im  Gesammtklang  wahrnehmbar.  wenn  die  sie  erzeugen- 
den  Tone  nicht  wahrnehmbar  sind  und  geben  ein  Mittel,  das  Vorhanden- 
sein  der  letzteren  zu  constatiren.  Von  solchen  Schwebungen  ist  aber 
wiederum  nichts  zu  bemerken. 

Wenn  ich  dieses  Bedenken  jetzt  nicht  mehr  fiir  ganz  durchschlagend 
(obschon  immerhin  fiir  beachtenswert)  halte,  so  geschieht  dies  mit  Riick- 
sicht  auf  die  ebenfalls  nicht  bemerkbaren  Schwebungen  von  Summations- 
tonen  in  dem  o.  254  angefiihrten  Beispiel  (wo  freilich  4  Primartone  con- 
curriren)  und  auf  die  mogliche  Ausflucht,  dass  die  Untertone  in  anderen 
Teilen  des  Ohres  als  die  Schwebungen  entstanden  (was  sich  doch  auch 
nur  schwer  vertreten  liesse). 


272  §  21.  Analysiren  und  Heraushoren 

Die  Frage  nacli  dem  Vorkommen  einfacher  Tonempfindungen 
ist  hienach,  soweit  sie  sich  auf  die  Freiheit  von  Ober-  und 
Untertonen  bezieht,  in  bejahendem  Sinne  zu  beantworten. 

Zu  4)  und  5).  Diese  beiden  Annahmen,  wonach  ein  ein- 
fach  scheinender  Ton  noch  aus  ebensovielen  Tonen  bestande,  als 
benachbarte  initschwingende  Fasern  vorbanden  sind  (Hostlnskt), 
und  wonacb  jeder  Ton  innerbalb  der  Tonreihe  aus  den  Ele- 
menten  des  „Dumpfen"  und  „Hellen"  zusammengesetzt  ware 
(Mach),  fallen  insofern  auch  noch  unter  den  allgemeinen  Gegen- 
stand  dieses  Paragrapben,  als  die  Klangcomponenteii  im  Allge- 
meinen ungleicbe  Intensitat  (bez.  Quantitat)  haben  wiirden.  Ver- 
suche  zur  directen  Nachweisung  der  Elemente  liegen  in  beiden 
Beziebungen  nicbt  vor,  es  handelt  sich  um  reine  Hypothesen. 
Solche  miissen  sich  durch  ihren  Zweck,  durch  das  theoretische 
Bediirfnis,  dem  sie  dienen,  rechtfertigen;  und  dieses  liegt  beider- 
seits  in  der  Erklarung  der  Tatsache,  dass  die  sg.  einfachen 
Tone  eine  Reihe  bilden,  was  bei  wirklich  einfachen  Empfin- 
dungen  nach  Ansicht  der  genannten  Forscher  nicht  denkbar 
ware.  Wir  haben  indessen  I  111  f.  und  425  bereits  gezeigt, 
dass  dem  Begriffe  einfacher  Ahnlichkeiten  nicht  bios  Nichts  im 
Wege  steht,  sondern  dass  er  auch  fiir  die  Anhanger  solcher 
Erklarungen  selbst  uuentbehrlich  ist^).  Die  MAcn'sehe  Hypo- 
these  war  damals  noch  nicht  aufgestellt  ^).  Es  lasst  sich  aber 
auch  an  ihr  das  Namliche  dartun. 

^)  Die  Hypothese  Hostinsky's  stiitzt  sich  ausser  auf  die  Unmog- 
lichkeit  einfacher  Ahnlichkeiten  allerdings  noch  auf  eine  andere  Grund- 
lage,  auf  die  physiologische  Notwendigkeit  der  Miterregung  benachbarter 
Fasern.  Dass  aber  hieraus  nicht  das  Vorhandensein  eben  so  vieler  Em- 
pfindungen  folgt,  dass  vielmehr  gewisse  tatsachliche  Wahrnehmungen 
dieser  Folgerung  widersprechen,  zeigten  wir  II  111  f. 

'■^)  Sie  ist  zuerst  in  den  Sitz.-Ber.  der  Wiener  Akad.,  Dec.  1885,  dann 
in  Mach's  „Beitragen  zur  Analyse  der  Empfindungen"  1886  (113  f.)  ver- 
offentlicht. 

Mach  lehnt  meine  Behauptung  einfacher  Ahnlichkeiten  ab  mit  Be- 
rufung  auf  sein  Forschungsprincip  des  Parallelismus,  wonach  jeder  Eigen- 
tumlichkeit  unsrer  Empfindungen  auch  eine  Eigenturalichkeit  des  Nerven- 
vorgangs  entsprechen  muss.  Ich  erkenne  dieses  Princip  an  (und  wer  tate 
es  nicht),    solange   unter  Empfindungen,  wie   hier,    die    gewohnlich  so- 


bei  ungleicher  Starke  der  Klangteile. 


27: 


Die  Elemente  „Dumpf"  (D)  unci  „Hell"  (H)  sollen  in  den 
Tonen  der  Tonreihe  so  gemischt  sein,  dass  bei  den  tieferen  das 
D,  bei  den  hoheren  das  H  iiberwiegt, 
wie  dies  die  beistehende  Figur,  in 
welcher  D  durch  die  scliraffirte,  H 
durch  die  freie  Flache  vertreten  ist, 
anscbaulich  macht.  Eine  Senkrecbte 
durch  das  ganze  Rechteck  bedeutet  einen  Ton.  Jeder  Ton 
innerhalb  des  Recbtecks  enthalt  also  etwas  von  D  und 
etwas  von  H. 

Es  leuchtet  nun  ein,  dass  die  Hypothese  ein  Reihenver- 
haltnis  innerhalb  der  D-,  und  ein  Reihenverhaltnis  innerhalb 
der  H- Elemente  voraussetzt.  Um  also  die  Reihenbildung  der 
Tone  zu  erklaren,  muss  sie  zwei  andere  Reihenbildungen  an- 
nehmen.  Und  wenn  diese  wieder  nach  gleicher  Methode  er- 
klart  werden  sollen,  kommen  wir  in's  Unendliche.  Auch  sieht 
man,  dass  das  eine  der  beiden  Elemente  iiberhaupt  nicht  notig 
ware.  Wenn  jeder  Ton  nach  seiner  Stellung  in  der  Tonreihe 
nur  durch  seinen  Anteil  an  D  charakterisirt  ware,  oder  nur 
durch  seinen  Anteil  an  H,  so  kann  das  andere  Element  allezeit 
Null  sein,  es  wird  doch  eine  Reihe  unter  den  Tonen  bestehen. 


genannten  Sinnesempfindungen,  und  nicht  etwa  sammtliche  psychische 
Zustande  verstanden  werden,  finde  es  aber  gerade  von  Mach's  sonstigem 
Standpunct,  welchei-  jede  Art  von  Trennung  oder  Ungleichartigkeit  der 
beiden  Gebiete  des  Physischen  und  Psychischen  verneint,  nichts  weniger 
als  „beinahe  selbstverstandlich"  (28).  Wenn  das  Physische  selbst  nur  in 
Empfindungen  besteht,  warum  miisste  denn  ein  Parallelismus  zwischen 
den  einen  und  anderen  Empfindungen  stattfinden?  Verstandlich  wird  mir 
der  Parallelismus  gerade  erst  dann,  wenn  man  die  beiden  Gebiete  unter- 
scheidet,  geschehe  dies  nun  in  Cartesianischer  oder  Spinozistischer  Weise. 
Ursache  und  Wirkung  miissen  parallel  laufen,  nicht  minder  Convexitat 
und  Concavitat  einer  Curve  (Fechner);  warum  aber  eine  und  eine  andere 
Gruppe  von  Empfindungen? 

Also  das  Princip  in  Ehren:  aber  warum  soUte  es  mit  den  ein- 
fachen  Ahnlichkeiten  unvereinbar  sein?  Mach  de^utet  Nichts  dariiber 
an.  Wir  werden  eben  im  physischen  Gebiet  gleichfalls  einfache  Ahn- 
lichkeiten statuiren. 

stum  pi',  Tonpsychologie.    II.  18 


274  §  21.  Analysiren  iind  Hcraushoren 

Dies  Eine  Element  aber  ware  dann  nichts  Anderes  als  eben  die 
Tonqualitateu  selbst,  wie  wir  sic  wahrnclimcn  ^). 

Im  Cbrigen  hangt  die  Formulirung  meiner  Einwilnde  noch 
von  speciellerer  Fassung  der  Lehre  ab.  So  ist  es  nicht  ganz 
klar,  ob  Mach  unter  den  „Elementen"  D  und  H  Tone  in  dem 
uns  bekanntcn  Sinn  odor  irgendwelclie  lietcrogcno,  uns  ganz  un- 
bekannte  Qualitilten  vcrstclit  (womit  weiter  aiich  zusammenhangt: 
ob  das  Vcrhaltnis,  in  welchem  sich  die  Elemente  mischen,  ein 
Intcnsitiitsverhaltnis  oder  sonst  irgend  ein  graduell  oder  quanti- 
tativ  abgestuftes  Verbaltnis  sein  soil).  Einmal  nennt  er  aller- 
dings  D  und  H  „die  Erapfindnngen,  die  einem  hochsten  und 
tiefsten  Ton  ontsprechen"  (Beitr.  137);  und  dies  ist  auch  die 
einzig  mogliche  Conscquenz.  da  im  hcichstcn  Ton  eben  nur  H, 
im  tiefsten  nur  D  onthalten  sern  kann-).  Aber  dann  waren  sie 
ja  Glieder  ebon  dor  Reiho,  deren  Zustandekommen  durch  sie 
erklart  werdeu  soil.  Audi  stande  ibre  unaufloslicbe  Mischung, 
wenn  sie  Tone  im  eigeutlicben  Sinne  sind,  mit  der  von  Mach 
selbst  ausserdem  bervorgehobenon  Tatsacbe  im  Widerspruch, 
dass  niemals  zwei  Tone  sich  zu  einem  mittleren  vermiscben  ^). 


')  Das  gleiche  Eedenkcn  habe  ich  gcgen  die  Zerlegung  des  Grau  in 
Schwarz  und  Weiss,  welche  Mach  als  Analogie  vorschwebt.  Warum 
miisste  notwendig  immer  mit  einer  Abnahme  an  Scbwarz  eine  Zunahme 
an  Weiss  verbunden  sein,  warum  nicht  auch  der  Fall  vorkommen,  dass 
die  Quantitjit  von  Schwarz  dieselbe  bliebe  und  nur  die  von  Weiss  sich 
anderte?  (bei  Tonen:  dass  die  Tiefe  des  Tons  dieselbe  bliebe.  die 
Hohe  sich  aber  anderte?) 

'^)  Ob  wir  diese  Endtiine  wirklich  isolirt  horen  konnen  oder  nur 
eine  Annaherung  daran,  ware  hier  eine  secundare  Frage;  sie  wiirden 
sich  doch,  wenn  wir  die  Horfahigkeit  entsprechend  erweitert  denken, 
als  Empfindungen  gleicher  Gattung  mit  den  jetzt  gehorten  darstellen 
und  sich  von  denselben  nicht  anders  unterscheiden  als  diese  unter  sich. 

*)  Diesem  Bedenken  begegnet  Mach  in  einer  dariiber  gefiihrten 
Correspondenz  durch  die  Erinnerung  daran,  dass  die  Tone  der  Tonreihe. 
welche  sich  nicht  mischen,  nach  seiner  Meinung  verschieden  localisirt 
seien,  und  zwar  nicht  bios  in  der  Schnecke,  sondern  als  Empfindungen, 
wahrend  D  und  H  in  jedem  Ton  der  Tonreihe  gleich  localisirt  seien. 
Ich  kann  mich  aber  von  der  Existenz  jener  verscbiedenen  Ton-Orte  in 
der  Empfindung  nicht  iiberzeugen;  s.  o.  .55  f. 


bei  ungleicher  Starke  rler  Klangteilc.  275 

Oder  weiin  das  Zusammonsoiii  von  D  und  H  etwa  koine  wirl:- 
liche  Mischung,  sondern  nur  oin  gleichzeitiges  Erklingen  sein 
soil,  so  ware  niclit  dor  goringstc  Grund,  warum  wir  diese  beiden 
Tone  D  und  H  niclit  in  allon  Zwischentonen  auch  wirklich 
sollten  horaushoren  konnen,  ganz  besonders  in  der  mittleren 
Lage,  wo  sic  in  nahezu  gleicher  Intensitat  auftreten  wUrden. 
Es  milsste  libcrhaupt  oin  mitthn-er  Ton  uns  qualitativ  ganz  den- 
selben  Eindruck  maclien,  wie  die  Gleiclizeitigkeit  dos  liochsten 
und  tiefsten. 

Ein  Auswog  wiirc,  D  und  H  niclit  fiir  Tone  im  erfahrungs- 
raiissigen  Sinn,  sondern  fiir  Empiindungen  von  ganz  unbekannter 
Qualitat  zu  erkliiren.  Dies  stimmt  aber,  wie  orwiibnt,  nicht  mit 
den  Consequenzen  der  Theorie.  Auch  wiirden  neue  Schwierig- 
keiten  entstehen  in  Hi]isicht  der  ,,Cbemie  der  Empfindungen", 
wie  sie  liiebei  vorausgesetzt  wiirde;  worauf  wir  jedoch  bier 
nicht  weiter  einzugehen  brauchen.  Denn  das  Interesse  an  der 
Theorie  wiirde  nach  dieser  Fassung  fiir  unsere  gcgenwartigen 
Zwecke  aufhoren,  da  wir  nur  von  der  Verbindung  gleicbzeitiger 
Tone  handeln. 

Es  ist  sehr  merkwiirdig,  dass  gerade  Mach,  der  in  dem 
„()konoraischen"  Princip  das  eigentliche  Wesen  des  wissenschaft- 
lichon  Denkens  erblickt  —  ganz  in  Ubereinstimmung  mit  dem 
alten  Satze  „Entia  non  sunt  multiplicanda  praeter  necessi- 
tatem"  — ,  dass  gerade  er  sich  veranlasst  fand,  in  der  An- 
nahme  von  Entitiiten  auf  unsrem  Gebiete  weiter  zu  gehen,  als 
irgend  ein  Anderer.  Ich  muss  gestehen,  dass  der  von  dem  aus- 
gezeichneten  Forscher  bier  eingeschlagene  Weg  einer  sg.  Ana- 
lyse der  Empfindungen  mir  auf  ein  ahnliches  Verfahren  binaus- 
zulaufen  scheint,  wie  es  Aeistoteles  der  platonischen  Ideen- 
lehre  zum  Vorwurf  macht.  Um  die  Ursachen  des  Seienden  zu 
finden,  sagt  or,  babe  sie  es  vordoppelt.  Hier  konnte  man  sogar 
sagen:  verdreifacbt.  Denn  der  Ton  soil  seine  Hobe  haben 
durch  Teilnahme  nicht  bios  an  der  Idee  der  Hobe  sondern 
auch  der  Tiefe.  Und  miissen  wir  nicht  ebenso  die  Intensitaten, 
da  sic  eine  Reibo  bilden,  durch  Teilhaben  an  einem  idealen 
F(ortissimo)    und    P(ianissimo),    ein    massiges   Gerausch    durch 

18* 


276  §  22.  Function  der  Aufmerksarakeit 

Mischuug  eines  ohrenzerreissenden  Getoses  mit  dem  leisesten 
Fliistern,  eine  behagliche  Zimmerwarme  durch  Mischung  afri- 
kanisclier  Hitze  und  sibirischer  Kalte,  einen  massigen  Zahn- 
schmerz  durch  Verkniipfung  des  wahnsinnigsten  Reissens  mit 
hochster  Zahnlust,  eine  biiigerlicli  geniigende  Tugendhaftigkeit 
durch  hypostatische  Union  von  gottlicher  Heiligkeit  mit  teuf- 
lischer  Verworfenheit  erklaren  und  alle  diese  Dinge  in  die 
Formel  [1  —  f  (n)]  x -[- f  (n)  y  bringen?  Unmoglich,  dass  dem 
geistvollen  Naturforscher  solche  Consequenzen  entgangen  waren, 
und  wieder  unmoglich,  ihnen  zu  entgehen!  — 

Wir  kommen  also  zu  dem  Ergebnis,  dass  weder  Schliisse 
aus  Beobachtungen  noch  allgemeine  Erwagungen  irgend  einen 
Grund  an  die  Hand  geben,  das  erfahrungsmassige  Vorkommen 
ganzlich  einfacher  Tonempfindungen  zu  leugnen,  und  dass 
wir  nach  wie  vor  die  oben  bezeichneten  Classen  von  Ton- 
erscheinungen  als  Beispiele  solcher  Empfindungen  betrachten 
diirfen. 

§  22,   Function  der  Aufmerksamkeit   bei    der  Analyse 
und  dem  Heraushoren. 

In  den  vorangehenden  Paragraphen  sind  einige  Bedingungeu, 
von  denen  die  Leichtigkeit  der  Analyse  gleichzeitiger  Tone  ab- 
hangt,  Verschmelzung  und  Intensitatsverhaltnis  derselben,  ge- 
nauer  untersucht.  Der  gegeuwartige  ist  einer  anderen  Be- 
dingung  gewidmet.  Sie  liegt  nicht,  wie  jene,  in  dem  Sinnesinhalt 
selbst,  sondern  iiv  einem  psychischen  Verhalten.  Welche  Theorie 
man  auch  iiber  das  Zustandekommen  der  Klanganalyse  geben 
mag,  nach  jeder  Theorie  ist  der  Grad  der  Aufmerksamkeit  von 
Bedeutung.  Art  und  Umfang  ihres  Einflusses  muss  nun  genauer 
untersucht  werden,  Dabei  ziehen  wir,  wie  im  vorangehenden 
Paragraphen,  ausser  dem  Analysireu  im  engsten  Sinne  das 
Heraushoren  von  Teiltonen  besonders  in  Betracht,  da  gerade 
in  dieser  Richtung  nach  allgemeiner  Annahme  eine  Hauptleistung 
der  Aufmerksamkeit  zu  such  en  ist. 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  277 

1.  Wesen  und  primare  Wirkung  der  Aufmerksamkeit. 

Zuvorderst  muss  ich  in  Hinsicht  dessen,  was  im  §  4  iiber 
das  Wesen  und  die  primare  Wirkung  der  Aufmerksamkeit  iiber- 
liaupt  gesagt  wurde,  eine  Erganzung  und  eine  Modification  ein- 
treten  lassen.  Die  Aufmerksamkeit,  sagten  wir,  sei  ein  Gefiihl, 
und  ihre  primare  Wirkung  sei  die  langere  Forterhaltung  des  be- 
ziiglichen  Inhaltes  im  Bewusstsein.  Unter  solcher  Forterhaltung 
war  natiirlich  nicht  etwa  bios  verstanden  die  langere  Dauer 
der  Vorstellung,  nacbdem  sie  nicht  mehr  Empfindung  ist,  son- 
dern  aucb  das  Bewusstsein  dieser  Dauer,  d.  h.  die  Vorstellung 
der  bereits  vergangenen  zeitlichen  Empfindungsstrecke  als  einer 
vergangenen,  mit  diesem  Merkmal  behafteten,  sodass  der  Ein- 
druck,  wahrend  er  im  Bewusstsein  erhalten  bleibt,  zugleich  eine 
immer  grossere  zeitliche  Ausdehnung  gewinnt^).  Man  wiirde 
darum  nicht  mit  Recht  einwenden,  dass  die  Aufmerksamkeit 
durch  eine  langere  Dauer  der  Empfindung  vermoge  langerer 
Reizeinwirkung  zu  ersetzen  sein  miisste;  denu  die  blosse  Ein- 
wirkung  des  ausseren  Reizes  ist  nicht  im  Stande,  die  vergangene 
Empfindungsstrecke  als  vergangene  uns  zum  Bewusstsein  zu 
bringen. 

Dennoch  scheint  mir  jetzt  die  primare  Wirkung  des  Auf- 
merkens  nicht  richtig  mit  dem  Obigen  angegeben.  Es  ist  offen- 
bar  noch  zweierlei:  die  langere  Forterhaltung  (einschliesslich 
der  zeitlichen  Vergrosserung)  und  die  aufmerksame  Fixirung 
wahrend  dieser  Dauer.  Wenn  wir  wahrend  eines  Gespraches 
die  Uhr  schlagen  horen  und  unmittelbar  nach  dem  letzten 
Schlag  unsre  Aufmerksamkeit  dieser  Eindrucksreihe  zuwenden, 
gelingt  es  nicht  selten,  sie  vollstandig  zu  reproducireu  und  die 
Zahl  der  Schlage  anzugeben.  Vor  diesem  Moment  wurde  jeder 
Schlag  nicht  bios  empfunden  sondern  audi  im  Bewusstsein  fort- 
erhalten  und  zeitlich  zurtickgeschoben,  sodass  ims  der  jeweilig 
vorangegangene  nunmehr  als  der  langervergangene,  und  der 
Gesammteindruck    als   Eindruck    von    entsprechender    zeitlicher 

^)  Diesen  Umstand  hat  Brentano  zuerst  (in  Vorlesungen)  als  eine 
inhaltliche  Vcranderung  der  Vorstellung  mit  begrifflicher  Klarheit  be- 
schrieben. 


278  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

Ausdehuung  erscheint.  Aber  dies  kann  here  its  gescbehen,  ebe 
die  Aufmerksamkeit  ihm  zugewandt  wird.  Wenn  nun  in  einem 
anderen  Fall  die  Aufmerksamkeit  von  vornberein  dieser  Ein- 
drucksreibe  zugewandt  ist:  worin  soil  ibre  Wirkung  nocb  be- 
steben?  Was  sie  nach  obiger  Annabme  leisten  sollte,  wird  ja 
scbon  obne  sie  geleistet.  Und  docb  muss  sie,  einem  Eindruck 
zugewandt,  scbon  von  Anfang  an  eine  gewisse  Wirkung  aussern, 
wenigstens  den  Anfang  einer  Wirkung.  Nebmen  wir  an,  dass 
in  Folge  eiuer  plotzlicben  Gemiitserscblitterung  mit  dem  letzten 
Scblag  der  Eindruck  der  Ubr,  auf  den  wir  gemerkt  batten, 
vollkommen  aus  dem  Bewusstsein  binweggewiscbt  werde,  so 
wUrde  nacb  unsrer  friiberen  Tbeorie  die  vorberige  Zuwendung 
der  Aufmerksamkeit  bier  obne  jeglicbe  Wirkung  geblieben  sein. 
Es  ware  psycbiscb  vollig  einerlei,  ob  Einer  etwas  aufmerksam 
Oder  unaufmerksam  borte;  erst  nacbber  wiirde  sicb  der  Unter- 
scbied  geltend  macben  —  wenn  Nicbts  dazwiscben  kommt. 

Welcbes  ist  also   die  primare  Wirkung  des    Aufmerkens? 

Nicbts  anderes  wol,  als  ein  Bemerken.  tlberall  wo  wir 
auf  einen  Inhalt  merken,  mag  es  eine  Empfindung  oder  blosse 
Vorstellung  sein,  werden  oder  wollen  wir  etwas  bemerken  (letz- 
teres  bei  der  willkiirlicben  Aufmerksamkeit)  und  zwar  irgend- 
welcbe  Teile  in  diesem  Inbalt  oder  irgendwelcbe  Verbaltnisse 
zwiscben  diesen  Teilen  oder  zwiscben  dem  Inbalt  selbst  und 
anderen  Inbalten.  Wir  sagten  friiber,  dass  solcbes  Bemerken 
(Wabrnebmen)  wabrend  des  durcb  die  Aufmerksamkeit  ver- 
ursacbten  Aufentbaltes  eintrete.  Es  scbeint  mir  jetzt  aber 
ricbtiger,  zu  sagen,  dass  es  selbst  die  primare  Wirkung  des 
Aufmerkens  ist,  die  langere  Dauer  dagegen  ein  selbstverstand- 
licbes  Mitergebnis  der  fortgesetzten  Urteilstatigkeiten,  in  welcbe 
der  Inbalt  verflocbten  wird. 

Nacb  dieser  Auffassung  von  der  primaren  Wirkung  des 
Aufmerkens  ergibt  sicb  zugleicb  die  Beziebung  zwiscben  Auf- 
merksamkeit und  Analyse  als  eine  besonders  innige.  Ja,  wenn 
wir  das  Wort  „Teilerscbeinuug'''  im  weitesten  Sinne  und  „Ana- 
lyse"  als  Bemerken  von  Teilerscbeinungen  nebmen  wollten,  so 
liesse  sicb  sagen,  die  Aufmerksamkeit  sei   eine  analysirende 


bei  der  Analyse  and  dem  Heraushoren.  279 

Kraft  xat  k^oy/iv.  Denn  als  Teilerscheinungen  im  weitesten 
Sinne  konnen  wir  schliesslich  uicht  bios  die  in  einer  Vorstellung 
enthaltenen  absoluten  Elemente  (die  einzelnen  Tone,  Linien) 
bezeichnen,  sondern  auch  die  zwischen  zwei  solcbeu  Elementen 
stattfindenden  Beziehungen.  Auch  diese  sind  im  wahrgenommenen 
oder  wahrzunehmenden  Gesamratinhalt  eingeschlossen  (vgl.  I  97). 

Im  Wesentlicheu  ist  dies  auch  schon  die  Auffassung  Lotze's 
gewesen  (Metaphysik  539  f.).  Eineu  anscheinenden  Gegensatz  dazu 
bildet  diejenige  Ribot's,  der  als  Folge  der  Aufmerksamkeit  die  An- 
uaherung  an  den  „Monoideismus"  ansieht  (Psychologie  de  I'Attention 
1889);  wahreud  wir  eher  das  Gegeuteil,  die  Vermehrung  der 
gleichzeitigen  Vorstellungen  durch  die  Vorstellungen  der  wahrge- 
nommenen Verhaltnisse  als  das  Werk  des  Aufmerkens,  das  blosse 
Hinstarreu  auf  einen  Gegeustand  dagegen  uberhaupt  nicht  fiir  eine 
intellectuelle  Verfassung  (etat  intellectuel)  sondern  fur  den  Mangel 
einer  solchen  erklaren  wurden.  Doch  handelt  es  sich  in  gewdhnlichen 
Fallen  auch  nach  Ribot  nicht  um  eine  blosse  Entleerung  des  Be- 
wusstseins  sondern  auch  um  Anziehung  aller  Associationen  durch  eine 
,,idde  maitresse"  (p.  6).  Das  ist  freilich  etwas  Positives;  ich  sehe 
nur  nicht,  wie  es  aus  jener  an  sich  bios  negativen  Wirkung 
folgon  soli. 

Ehe  ich  das  Gesagte  waiter  erlautere  und  erharte,  fiige 
ich  eine  damit  in  Verbindung  steheude  Erganzung  (nicht  Modi- 
fication) der  Ansieht  iiber  das  allgemeine  We  sen  der  Aufmerk- 
samkeit hinzu.  Wir  konnen  wol  naher  bestimmen,  was  fiir 
ein  Gefiihl  die  Aufmerksamkeit  ist.  Jedes  einfache  Gefiihl 
tragt  einen  mehr  oder  minder  ausgesprochenen  Charakter  der 
Lust  oder  Unlust,  wenn  wir  diese  Ausdriicke  im  weitesten  Sinne 
nehmen;  es  ist  positiv  oder  negativ.  Die  Aufmerksamkeit  ge- 
hort  zweifellos  zu  den  positiven.  Sie  ist  eine  Teilnahme,  ein 
Interesse,  eine  Hinwendung  zu  etwas.  Aber  der  Inhalt  selbst, 
auf  den  wir  merken,  kann  ein  schmerzlicher,  hasslicher,  ver- 
abscheuungswiirdiger  sein.  Also  ist  Aufmerksamkeit  nicht  ein 
Lustgefiihl,  das  der  Eindruck,  auf  den  wir  merken,  als  solcher 
mit  sich  fiihrt.  Sie  ist  vielmehr,  wie  mir  i^cheint,  nichts  anderes 
als  die  Lust  am  Bemerken  selbst:  wobei  natiirlich  nicht  aus- 


280  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

geschlossen  ist,  dass  ein  Eindruck  durch  die  an  ilin  gekiiiipfte 
Lust  auch  eiue  solche  Lust  des  Bemerkens,  Unterscheidens, 
Vergleichens  hervorruft. 

Nicht  bios  an  die  Sinnesinhalte  ist  ja  Lust  und  Unlust 
gekniipft,  sondern  auch  an  psycliische  Acte.  Und  iiberall  wo 
ein  Wahrnehmen  als  solches  uns  Lust  gewahrt,  mag  das  Wahr- 
genommene  angenehm  oder  unaugenehm  sein,  da  sprechen  wir 
von  Aufmerksamkeit  auf  dasselbe.  Das  Bemerken  ist  also  nicht 
bios  die  primare  Wirkung,  sondern  auch  der  eigentliche,  nachste 
Gegenstand  des  Aufmerksamkeits-Gefiihls,  das  woran  wir 
diese  specifische  Lust  haben.  Doch  kann  der  Lihalt,  auf  den 
wir  gerade  merken,  natiirlich  ebenfalls  mit  Recht  als  ein  Gegen- 
stand und  Inhalt  der  Aufmerksamkeit  bezeichnet  werden,  da 
sich's  eben  um  eine  Lust  am  Bemerken  dieses  und  keines  an- 
deren  Inhalts  handelt. 

Auch  das  Wort  „Interesse",  wo  es  mit  Aufmerksamkeit 
gleichbedeutend  gebraucht  wird  ^),  besagt  nicht  sowol  Lust  an 


^)  Die  Identification  von  Aufmerlfsamkeit  und  Interesse  I  68  hat 
Anstoss  erregt.  Soviel  ist  ja  richtig,  dass  nach  dem  Sprachgebraucli 
beide  Ausdriicke  nicht  immer  genau  fiir  einander  eintreten  konnen  (auch 
wenn  wir  von  bios  grammatikalischer  Ungleichheit  der  Behandlung  ab- 
sehen),  z.  B.  wenn  ich  sage:  „ich  nehme  Interesse  an  diesem  Menschen", 
oder:  ,.ich  bin  bei  diesem  Geschaft  interessirt".  Aber  ich  wollte  auch 
nicht  behaupten,  dass  man  die  Ausdriicke  immer  fiir  einander  setzen 
konne.  Wer  mochte  in  solchen  Dingen  die  allgemeine  und  ausschliess- 
liche  Bedeutung  eines  Ausdrucks  abzustecken  unternehmen?  Auch  „ Auf- 
merksamkeit'' fiir  sich  allein  ist  nichts  weniger  als  eindeutig.  Wenn  ich 
Jemand  „eine  Aufmerksamkeit  erweise",  so  wird  auf  diese  Aufmerk- 
samkeit schwerlich  irgend  eine  der  psychologischen  Definitionen  passen. 
Ich  wollte  nur  die  Bedeutung  beider  Ausdriicke  fiir  unsren  Zweck  be- 
stimmter  machen  durch  die  Beschrankung  beider  auf  die  Falle,  in  denen 
sie  fiir  einander  gesetzt  werden  konnen  (z.  B.  interessant  =  Aufmerk- 
samkeit erregend).  Jeder  von  beiden  soil  die  Bedeutung  haben,  welche 
ihm  zukommt,  wenn  wir  den  anderen  dafiir  setzen  konnen. 

RiBOT  bezeichnet  die  Verwunderung  und  das  Staunen  als  eine  ge- 
steigerte  Aufmerksamkeit  und  rechnet  sie  zur  Gruppe  der  Gefuhle 
(emotions,  commotions  39  f.).  Dann  ist  also  auch  Aufmerksamkeit  ein 
Gefuhl. 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  281 

dem  beziigliclieii  Inlialt  als  an  der  Kenntnisnahme  von  dem- 
selben.  Wenn  der  Recensent  ein  Stiick  weder  von  Herzen  loben 
uoch  tadeln  mag,  wenn  es  ihn  nicht  erwiirmt  und  nicM  aL- 
gestossen  hat,  so  kann  es  immer  noch  „interessant"  gewesen 
sein,  und  oft  genug  zieht  er  sich  mit  diesem  Pilaster  fur  den 
Autor  aus  der  Sache.  Das  Stiick  war  ihm  nicht  angenehm; 
aber  wirkhch  und  aufrichtig  angenehm  kann  es  ihm  gewesen 
sein,  dessen  Bekanntschaft  zu  machen. 

Dieses  Lustgefiihl  ist,  wie  jedes,  trotz  des  gemeinsamen 
positiven  Grundcharakters,  durchaus  eigenartig,  und  insofern 
bleibt  die  Aufmerksamkeit  undefinirbar.  Die  Intensitat  des- 
selben  kann  unter  Umstanden  (bei  neugierigen  oder  „theore- 
tischen"  Naturen)  so  stark  werden,  dass  es  selbst  Entsetzlichem 
gegeniiber  nicht  ganz  verschwindet,  ja  auch  heftige  sinnliche 
Schmerzen  Ubertaubt  oder  lindert.  Der  Schmerz,  den  der  sinn- 
liche Eindruck  an  sich  verursacht,  kann  unterdriickt  werden 
durch  die  Lust  am  Beobachten,  durch  intensivstes  Aufmerken, 
und  zwar  nicht  bios  durch  Aufmerken  auf  Anderes  sondern 
auch  auf  diesen  Schmerz  selbst,  d.  h.  auf  Beziehungen,  Unter- 
schiede,  Verhaltnisse,  als  deren  Glied  er  erscheint. 

Aber  liegt  nicht  ein  Cirkel  in  der  Behauptung,  dass  ein 
Bemerken  sowol  Inhalt  als  Wirkung  der  Aufmerksamkeit  sei? 
Muss  nicht  hienach,  damit  Aufmerksamkeit  moglich  sei,  bereits 

Meinesteils  wiirde  ich  allerdings  die  Verwunderung  nicht  fiir  eine 
Steigerung  der  Aufmerksamkeit  sondern  nur  fiir  ein  verwandtes  Gefiihl 
ansehen,  welches  der  Aufmerksamkeit  in  vielen  Fallen  vorausgeht.  Ihr 
Object  ist  ein  wahrgenommener  Gegensatz,  der  Gegensatz  eines  Unge- 
wohnten  zum  Gewohnten.  Dieser  Gegensatz  als  solcher  (nicht  bios  die 
neue  Tatsache  in  sich  selbst)  kann  wahrgenommen  sein,  ehe  noch  die 
Aufmerksamkeit  sich  des  neuen  Objects  bemachtigt,  ohne  ihre  Hilfe,  in 
director  Folge  des  sinnlichen  Eindrucks.  Die  Wahrnehmung  des  Gegen- 
satzes  und  die  Verwunderung  setzt  dann  die  Aufmerksamkeit  und  mit 
ihr  die  Erkenntnistatigkeiten  in's  Spiel;  wie  denn  schon  Aristoteles 
sagt,  dass  aus  der  Verwunderung  das  Nachdenken  entspringt. 

Immerhin  fallt  die  nahe  Verwandtschaft  des  Gefuhls  der  Ver- 
wunderung mit  dem  Zustaud  der  Aufmerksamkeit  in's  Auge  und  kann 
zur  Bekraftigung  unsrer  Auffassung  dienen,  welche  die  letztere  eben- 
falls  unter  die  Gefiihle  rechnet. 


282  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

irgend  eiue  Wahrnehmung,  und  wiederum,  damit  eine  Wahrneh- 
mung  moglich  sei,  bereits  Aufmerksamkeit  vorausgegangen  sein? 

Das  Letztere  geben  wir  nicht  zii.  Nicht  jedes  Bemerken 
ist  ein  Beachten,  d.  li.  bedingt  und  getragen  durch  Aufmerk- 
samkeit. Machtige  Verschiedenheiten  gleichzeitiger  Eindriicke, 
intensive  Sclimerz-  oder  Lustmomente  oinzelner  unter  ihnen,  so- 
wic  plotzliclie  Veranderungon  drangen  von  selbst  zur  Wahr- 
nehmung. Und  so  werden  die  ersten  Wahrnehmungen,  aber  auch 
spater  viele,  ohne  vorausgehende  xiufmerksamkeit  erfolgen^). 
Nachdem  dies  einmal  und  ofter  geschehen  und  mit  dem  Wahr- 
nehmen  als  solchem  eine  instinctive  Lust  verkniipft  war,  ist 
eine  Lust  des  Bemerkens  moglich  geworden,  welche  diesem 
selbst  in  einem  einzelnen  neuen  Falle  vorhergeht:  die  Lust 
an  einer  nocli  zu  machenden,  erwarteten,  erwiinschten  Wahr- 
nehmung. In  dem  Moment,  wo,  wie  wir  sagen,  ein  Gegenstand 
„unsre  Aufmerksamkeit  auf  sich  zieht",  entsteht  in  uns  dieses 
Lustgefiihl,  ein  Nachklang,  eine  Reproduction  der  friiher  mit 
den  spontanen  Wahrnehmungen  verkniipften  Lust;  und  diese 
Lust  am  Bemerken  fUhrt  nun  ihrerseits  zum  wirklichen  Be- 
merken in  dem  neuen  Falle.  Dass  sie  es  tut,  ist  eben  ihre 
natUrliche  Function,  s.  z.  s.  ihre  specifische  Energie  im  psychi- 
schen  Organismus. 

Hiemit  lost  sich  zugleich  ein  anderes  Bedenken.  Gibt  es 
nicht  Falle,  in  welchen  wir  weder  ein  Vergnligen  an  der  Sache 
uoch  an  der  Wahrnehmung  der  Sache  haben  und  uns  dennoch 


*)  Hienach  diirfte  sich  eine  seinerzeit  zwischen  G.  H.  Schneider 
uud  Ulrici  entstandene  Conti'overse  erledigen:  Dieser  behauptete,  dass 
das  Bemerken  immer  niir  Folge  des  Aufmerkens  sei,  wahrend  Jener  auf 
Fiille  hinwies,  in  denen  das  Bemerken  vielmehr  die  Ursache  einer  Auf- 
merksamkeit sei,  wie  wenn  wir  eine  fiiehende  Schlange  plotzlich  be- 
merken, und  eben  dieses  Bemerken  unsre  Aufmerksamkeit  von  den  Ge- 
dankcn,  die  sie  vorher  fesselten.  auf  die  Erscheinung  lenkt.  (Viertel- 
jahrsschr.  f.  wiss.  PMl.  II  377). 

Schneider  unterscbeidet  iibrigens  noch  das  Bemerken  vom  Wahr- 
nebmen  insofern,  als  er  jenen  Ausdruck  nur  fiir  die  Falle  des  eben-noch- 
Wabrnebmens  gebraucbt;  was  mir  mit  dem  Sprachgebraucb  nicht  zu 
stixnmen  scbeint,  aber  naturlich  keinem  sachlichen  Streit  unterliegt. 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  283 

gezwuugen  tinden,  aufzumerken?  beispielsweise  ein  lastiges  Ge- 
riiusch  Oder  Zahnweh?  Sollen  wir  nur  der  Theorie  wegeu  be- 
haupten,  dass  hier  docb  immer  ein  wenngleich  verstecktes  Lust- 
moment  mitspiele? 

Das  sei  feme.  Es  gibt  zweifellos  Fiille,  wo  keincrlei  Lust 
und  dennocb  Wabrnebmung  stattfindet.  Aber  Aufmerksamkeit  ? 
Von  einer  solchen  wiirde  icb  bier  ebeu  nicbt  reden^).  Die 
Spracbe  bedient  sicb  wol  aucb  bier  dieses  Ausdruckes,  aber 
sie  begebt  damit  nur  eine  der  vielen  Inconsequenzen,  durcb 
welcbe  sie  namentlicb  im  Gefiiblsgebiete  psycbologiscbe  Er- 
orterungen  verwirrt.  Dennocb  glaube  icb,  dass  man  oine  ge- 
wisse  Uneigentlicbkeit  des  Ausdruckes  nicbt  verkennen  wird, 
wenn  Einer  sagt,  dass  man  cine  Obrfeige  mit  Aufmerksamkeit 
wabrnebme.  Jedenfalls  ist  die  Wabrnebmung  oft  scbon  da,  ebe 
die  Aufmerksamkeit  sicb  einstellt. 

Auf  s  Engste  und  Natiirlicbste  reibt  sicb  bieran  die  Auf- 
fassung  der  willklirlicben  Aufmerksamkeit,  wie  sie  scbon  I  69 
definirt  wurde.  Sie  ist  nichts  Auderes  als  der  Wille,  soferji  er 
auf  ein  Bemerken  gericbtet  ist.  Jedes  Lustgefiibl,  welcbes  auf 
einen  bios  vorgestellten  Gegenstand  gericbtet  ist,  kanu  in  ein 
Wollen  iibergehen,  sobald  der  Gegenstand  wabrscbeinlicb  oder 
sicber  erreicbbar  crscbeint^).  Der  Gegenstand  ist  bier  ein 
Wabrnebmungsact.  Irgend  ein  Wabrnebmen  ist  aber,  wacben 
normalen  Zustaud  vorausgesetzt,  allezeit  moglicb:  und  so  kann 
unwillkiirHcbe  Aufmerksamkeit  bei  Solcben,  die  des  Wollens 
fabig  sind,  in  jedem  Augenblick  in  willkiirlicbe  iibergeben.  Sie 
ist  nicbt  mebr  davon  verscbieden,  als  der  Wille  iiberhaupt 
von  Lustgefiibleu  verscbieden  ist.  Fasseu  wir  „Gefiibl"  im  wei- 
teren  Sinne,  so  kann  der  Wille  ja  selbst  zu  den  Gefiiblen, 
und  zwar  natiirlicb  zu  den  positiven  Gefiiblen,  gerecbnet  werden  ^). 

^)  Ebenso  Ribot  a.  a.  0.  7. 

'^)  Ich  sage  nicht:  „sie  geht  in  ein  Wollen  iiber'-,  weil  natiirlich 
der  wirkliche  Ubergang  auch  davon  abhangt,  ob  uns  nicht  augenblicklicli 
etwas  Anderes  als  nocb  wunschenswerter  oder  leichter  erreichbai'  er- 
scheint,  ob  eine  erkannte  Pflicht  nicht  eutgegensteht  u.  s.  f. 

3)  Was  Ehrenpels  (Wiener  Akad.  Phil.-hist.  CI.  Bd.  114,  S.  537  f.) 
gegen  Brentano's  Subsumtion  der  Gefuhle  und  des  Willens  unter  Eine 


284  §  22.  Function  cler  Aufmerksamkeit 

Auch  diese  Identification  der  willkiirlichen  Aufmerksamkeit 
mit  dem  WoUen  des  Bemerkens  stimmt,  wie  mir  scheint,  mit 
dem  Bewusstsein  durchaus  iiberein.  „Seine  Aufmerksamkeit  auf 
Etwas  richten"  heisst  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  dieses: 
„einen  Inlialt  (als  Teil  eines  Ganzen)  oder  etwas  an  einem 
Inhalt  (Teile  oder  Bezieliungen  desselben)  bemerken  wollen." 
Zwischen  dem  Wollen  und  seinem  Erfolg,  dem  Wahrnehmen, 
steht  bier  nicht  noch  Etwas  in  der  Mitte,  was  als  Aufmerk- 
samkeit zu  bezeicbnen  ware,  sondern  der  Wille  ist  eben  bier 
die  Aufmerksamkeit  ^). 

Schliesslich  sei  es  gestattet,  noch  einmal  besonders  zu  betonen, 
dass  in  dieser  vielverbandelten  Frage  nach  der  Natur  der  Aufmerk- 
samkeit die  blossen  Definitionsfragen  (nach  der  zutreffendsten  Aus- 
legung  der  vorhaudeuen  sprachlichen  Bezeichnuugeu  und  den  zweck- 
massigsteu  positiven  Bestimmungen  iiber  den  Sinn,  den  man  ihnen 
wisseuscbaftlicb  beilegen  will)  nicht  scharf  genug  von  den  sachlichen 
Streitfragen  geschieden  werden  konnen.  Ich  glaube  nicht,  dass  es 
gelingen  wird,  fiir  das  Wort  Aufmerksamkeit,  wie  es  nun  einraal 
ira  Gebrauch  ist,  eine  ganz  einheitliche  und  consequent  festgehaltene 
Bedeutung  zu  finden.  Irgendwelche  positive  Bestimmungen  wird 
sich  also   der  Psychologe   immer   erlauben  miissen,   die  nicht  voU- 


Grundclasse  (Psychologie  1874)  anfiihrt,  scheint  mir  auf  dem  Misver- 
standnis  zu  beruhen.  als  ob  in  beiderlei  Zustanden  ein  gleichartiges 
gemeinsames  Element  enthalten  sein  solle;  was  ja  allerdings  nicht  der 
Fall  ist.  Ich  habe  Brentano's  Meinung  stets  nur  dahin  verstanden,  dass 
jene  Zustande,  auch  als  einfache  Zustande  betrachtet,  einander  ahnlicher 
sein  sollen  als  jeder  von  beiden  einer  blossen  Vorstellung  oder  einem 
Urteil;  besonders  aber  dass  sie  unter  gemeinsame  Gesetze  fallen  sollen. 
Und  dies  scheint  mir  in  der  Tat  unbestreitbar. 

^)  Gewiss  ist  daher  die  willkiirliche  Aufmerksamkeit  ebenso  wie 
der  Wille  iiberhaupt  nicht  etwas  ganz  Urspriiugliches.  Wenn  freilich 
RiBOT  behauptet ,  dass  die  willkiirliche  Aufmerksamkeit  erst  ein 
Product  der  beginnenden  Civilisation  sei,  so  kommt  es  ganz  darauf  an. 
wann  man  die  Civilisation  beginnen  lasst.  Und  dass  gerade  die  Weiber 
der  Wilden  das  erste  Subject  dieser  Fahigkeit  gewesen  (p.  62),  betrachtet 
wol  RiBOT  selbst  mehr  als  eine  geistreiche  Idee.  Plausibler  liesse  sich 
jedenfalls  die  Ansicht  vertreten.  dass  das  Weib  das  erste  Object  der 
unwillkiirlichen  Aufmerksamkeit  war. 


bei  der  Analyse  unci  dera  Heraushoren.  285 

kommen  dem  Sprachgebrauch  eutsprechen.  Es  mag  nun  sein,  dass 
man  weniger  in  Conflict  mit  der  Sprache  kommt,  wenn  man  die 
Aufraerksamkeit  nur  ganz  allgeraein  definirt  als  die  „einem  Act 
des  Bemerkens  giinstige  Verfassung  der  Seele"  ^).  In  diesem  Fall 
vvtirde  das,  was  wir  Aufmerksamkeit  nennen,  das  Interesse,  nur  ein 
Teil,  wenn  auch  der  wichtigste,  der  Aufmerksamkeit  sein,  diese 
selbst  aber  nicht  ein  bestimmter  einfacher  Act,  sondern  ein  Complex 
von  wechselnder  Zusammensetzung,  dessen  Einheit  und  Gleichmassig- 
keit  nur  etwa  in  seiner  Wirkung  bestande.  Aber  auch  dieser 
Sprachgebrauch  deckt  sich  nicht  mit  dem  im  Leben  geltenden. 
Reden  wir  doch  z.  B.  von  einer  Intensitat  des  Aufmerkens,  was 
nun  wieder  als  uneigentliche  Ausdrucksweise  aufgefasst  und  um- 
gedeutet  werden  muss^). 

Sachlich  sind  drei  Puncte  wesentlich: 

1.  Dass  es  Falle  gibt,  in  denen  ein  Bemerken  (Wahrnehmen) 
unmittelbar  durch  inhaltliche  Momente  erzwungen  wird.  Wir 
rechnen  zu  diesen  hier  auch  die  Annehmlichkeit  oder  Unan- 
nehmlichkeit  des  Eindrucks.  Eine  Unterfrage  ist  dann,  ob  An- 
nehmlichkeit und  Unannehmlichkeit  das  alleinige  unmittelbar  die 
Wahrnehmung  bewirkende  inhaltliche  Moment  sind,  ob  also  die 
Starke,  die  Yeranderung  des  Eindrucks  u.  dgl.  nur  in  Folge  der 
damit  verknupften  Gefiihlsmodification  Wahrnehmung  erzwingen,  oder 
ob  sie  (wie  ich  glaube)  auch  unabhangig  wirken; 

2.  dass  es  Falle  gibt,  in  denen  ein  Bemerken  durch  die  Lust 
am  Bemerken  hervorgerufen  wird,  wobei  der  Gegenstand  selbst  an- 
genehm  oder  unangenehm  sein  kanu; 


')  So  Marty,  Vierteljahrschr.  f.  wiss.  Phil.  XIII  198  (dessen  kri- 
tische  Zergliederung  der  WuNDi'schen,  von  Widerspruchen  strotzenden 
Darstellung  mir  sachlich  vollkommen  zutreffend  scheint). 

Auch  RiBOT  nennt  die  Aufmerksamkeit  in  gleichem  Sinn  „un  etat 
intellectuel",  ,,un  etat  purement  formel",  ,,une  attitude  de  I'esprit"  (1.  c. 
7,  19,  163,  165).  Warum  er  sie  iibrigens,  als  psychologischen  Zustand  be- 
trachtet  und  von  den  physiologischen  „Accompagnements"  abgesehen, 
,,une  abstraction  pure,  uu  fantome"  nennt,  ist  mir  auch  von  seinem  Stand- 
punct  aus  unerfindlich;  es  miisste  denn  sein,  dass  er  auch  die  physio- 
logischen Accompagnements  als  blosse  Phantome  ansahe. 

"^)  Marty  daselbst. 


286  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

3.  dass  es  Falle  gibt,  in  denen  es  durch  einen  Willen  hervor- 
gerufen  wird,  der  selbst  naturlich  wieder  verschiedene  Bedingungen 
haben  kanu. 

Manche  sprechen  nun  in  alien  drei  Fallen  von  Aufmerksam- 
keit, Manclie  bios  im  dritten  Fall,  wir  im  zweiten  und  dritten. 
In  terminis  libertas.  in  notionibus  nnitasi  Noch  besser  freilich 
auch  in  terminis  unitas. 

Ein  weiteres  Eingelien  auf  die  Aufmerksamkeitstheorie  liegt 
hier  niclit  in  nnsrem  Plane.  Das  Vorstebende  scbien  mir  aber  zur 
Klarheit  des  Folgenden  erforderlicli,  weiin  es  auch  manchem  Leser 
pedantisch  genug  vorkommen  Avird. 

2.  Anwendungen  auf  das  Tongebiet. 

Diese  allgemeinen  Bestimmungen  iiber  die  Aufmerksamkeit 
woUeii  wir  nun  besonders  auf  das  Tongebiet  anwenden  und 
durcb  dasselbe  weiter  erlautern  und  erharten;  dann  erst  zu 
den  ganz  speciellen  Fragen  iibergeben,  welche  die  Leistungen 
der  Aufmerksamkeit  fiir  die  Analyse  im  engeren  Sinne  und 
das  Herausboren  betreffen. 

Nehmen  wir  einen  einzelnen  Ton,  der  nicbt  mit  anderen 
Tonen  von  erbeblicber  Starke  zusammenklingt.  Was  kann  es 
in  diesem  Falle  noch  beissen,  dass  wir  auf  den  Ton  merken 
sollen?  Es  kann  bedeuten,  dass  wir  ihn  in  dem  Ganzen  der 
sonstigen  gleicbzeitigen  Sinneserscbeinungen  bemerken  sollen, 
wenn  dies  nicbt  bereits  gescbeben  ist;  dass  wir  femer  die 
Gleicbbeit  mit  sicb  selbst  wabrend  seiner  Dauer  bemerken, 
kleine  Scbwankungen  nicbt  iiberboren  sollen;  dass  wir  seine 
Stellung  in  der  Tonreibe  (bocb,  tief,  mittel,  genauere  absolute 
Hobe),  seine  Klangfarbe  und  Angeborigkeit  zu  irgend  einem 
Instrument,  seinen  Starkegrad  (scbwacb,  stark,  mittel),  seine 
ortlicben  und  zeitlicben  Eigenscbaften  bemerken  sollen,  Ist  es 
nicbt  ein  gewobnlicber  musikaliscber  Ton,  sondern  ein  Pfiff, 
Knall  oder  gerauscbartiger  Klang,  so  wird  seine  sonstige  Deu- 
tung,  als  Signal  u.  s.  f.,  die  Aufgabe  sein,  immer  also  aucb 
dann  das  Erfassen  irgend  einer  Beziebung. 

Nebmen  wir  einen  mit  anderen  zusammenklingenden  Ton. 
Hier  wird  man  es  vor  Allem  als  Aufgabe  betracbten,  ihn  so 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  287 

deutlich  als  moglich  aus  dem  Klang  herauszuhoren  (womit,  wie 
wir  unten  sehen  werden,  in  bestimmten  Fallen  subjective  Ver- 
starkung  verbimden  ist).  dann  wieder  seine  Stellung  in  der 
Tonreihe  womoglich  bis  zur  Benennung  zu  erfassen,  aber  auch 
besouders  sein  Verhaltnis  zu  den  gleicbzeitig  gegebenen  zu  er- 
kennen,  wonach  er  als  tiefster,  liocbster,  mittleror  unter  diesen, 
als  Hauptton,  Nebenton  (und  dies  wieder  nacb  Starke  und  musi- 
kaliscber  Bedeutung),  als  raehr  oder  weniger  qualitativ  ab- 
stehend  von  dem  iibrigen  nicbt  analysirten  Rest  des  Klanges 
erseheint;  u.  dgl. 

Sollen  wir  auf  eine  Folge  von  Tonen  achten,  so  ist  ohne- 
dies  klar,  dass  die  Erfassung  ihrer  Bezieliungen  in  zeitliclier 
und  qualitativer  Hinsicbt  unsre  Aufgabe  ist. 

Und  ist  endlich  verlangt,  dass  wir  einem  mebrstimraig  sich 
entwickelnden  Tonstiick,  einer  Aufeinanderfolge  von  Zusammen- 
klangen  aufmerksam  folgen.  so  bandelt  sicb's  darum,  erstlicli 
die  Stimmen  herauszulosen .  d.  h,  bestimmte  Tone  der  aufein- 
anderfolgenden  Zusammenklange  unter  sich  in  melodiscbe  Ver- 
bindung  zu  setzen,  sodann  das  Verhaltnis  der  so  in  der  Auf- 
fassung  gebildeten  Stimmen  zu  einander  zu  erkennen  (Haupt-, 
Nebenstimme,  obere,  untere,  mittlere,  langsame  oder  schneller 
bewegte  u.  s.  f.). 

tJberall  ist  also  die  Leistung  der  Aufmerksamkeit  ein  Be- 
merken  von  Teilen  oder  Beziehungen  von  Teilen.  Alle  diese 
Wahrnehmungen  bilden  im  Geiste  einen  innig  zusammenhangen- 
den  Process,  dessen  erstes  Glied  die  Analyse  im  engeren  Sinne, 
das  Bemerken  einer  Mehrheit  von  Teilen,  dessen  fern  ere  Glie- 
der  das  Heraushoren  einzelner  Telle  und  die  Wahrnehmungen 
von  Verhaltnissen  sind.  Die  letzteren  Functionen  sind  aber 
zugleich  eine  Controle  fiir  die  erste,  die  Analyse  im  engeren 
Sinne.  Sie  sind  das,  was  wir  die  fortgesetzte  Verdeutlichung 
der  unterschiedeneu  Telle  nenuen  ^).  Wenn  ich  mich  frage  : 
„Wieviel  Tone  hat  der  analysirte  Klang?"    so  muss  ich  mich 

^)  Insofern  kann  man  die  Definition  Che.  Wolf's  billigen :  „Facultas 
efficiendi,  ut  in  perceptione  composita  partialis  una  majorem  clat-itatem 
ceteris  habeat,  dicitur  Attentio.'-  (Psychol,  empirica  §  237.) 


288  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

bemiihen,  jeden  fiir  sich  herauszuhoren.  Und  wenn  icli  micli 
frage:  „Habe  ich  diesen  Teilton  wirklich  herausgehort?"  so 
suche  ich  ihn  iiachzusingen  oder  sonst  anzugeben,  was  eine 
vergleicbende  Wabrnehmung  einscbliesst,  oder  nach  seiner  ab- 
soluten  Hobe  zu  benennen,  oder  sonstige  Merkmale  an  ibm  oder 
Verbaltnisse  zu  anderen  zu  erfassen.  Je  mehr  dies  gelingt,  urn 
so  mebr  werden  nicbt  nur  andere  Personen,  sondern  aucb  ich 
selbst  mir  glauben,  dass  eine  wirklicbe  Analyse  vorlag. 

Insofern  ist  die  Leistung  der  Aufmerksamkeit  fiir  die  Ana- 
lyse einer  unbegrenzten  Steigerung  fahig.  Ein  analysirter  Klang 
und  ein  berausgeliorter  Ton  kann  mir  nach  alien  seinen  inneren 
Merkmalen  und  ausseren  Beziehungen  in  alien  Hinsichten  und 
Richtungen  immer  „deutlicher"  werden.  Wir  beschranken  uns 
im  Folgenden  jedoch  auf  die  nilhere  Betrachtung  derjenigen 
Leistungen,  welche  bis  zu  dem  Puncte  fiihren,  wo  uns  ein  Ton 
als  Teil  eines  Klanges  vollkommen  deutlieh  ist  (Analyse  ira 
engeren  Sinn  und  Heraushoren). 

3.  Aufmerksamkeit  ist  zur  Analyse  nicht  unbe- 
dingt  notwendig. 

Die  erste  Frage,  welche  unser  specielles  Thema  angeht, 
ist  die,  ob  fiir  jede  Klanganalyse  und  fiir  jedes  Heraushoren 
unbedingt  ein  gewisser,  sei  es  auch  geringer,  Grad  von  Auf- 
merksamkeit erforderlich  sei.  Sie  schliesst  sich  an  die  obigen 
principiellen  Erwagungen  an,  worin  wir  diese  Frage  in  Hin- 
sicht  des  Bemerkens  iiberhaupt  mit  Nein  beantworteten.  Ab- 
stract genommen  ware  nun  denkbar,  dass  zwar  irgendwelches 
Bemerken  irgendwelcher  Eigentiimlichkeiten  oder  Vcrhiiltnisse 
den  ersten  Regungeu  der  Aufmerksamkeit  im  Leben  des  Indi- 
viduums  vorausgehen  miisste,  dass  aber  speciell  das  Bemerken 
einer  Mehrheit  oder  eines  Teiles  innerhalb  einer  Mehrheit  nur 
auf  Grund  bercits  vorhandener  und  zwar  im  gegebenen  Moment 
vorhandener  Aufmerksamkeit  erfolgte.  Aber  die  oben  gegebenen 
Beispiele  scheinen  mir  hinreichend,  um  gerade  auch  fiir  diese 
speciellen  Falle  die  allgemeine  Anschauung  zu  erhiirten.  Die 
Frage  ist  darum  hier  eigentlich  nur  wegen  des  Zusammenhangs 
mit  der  folgenden  noch  einmal  erwahnt. 


bei  der  Analyse  unci  dein  Heraushoren.  289 

4.  Worauf  riclitet  sicli  die  Aufmerksamkeit  bei 
der  Analyse? 

Welches  ist  eigentlich  das  Object  oder  Material,  dem  sich 
die  Aufmerksamkeit  bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren  zu- 
wendet?  Hier  tritt  uns  wieder  ein  scheinbarer  Cirkel  entgegen. 
Damit  eine  Mehrheit '  als  solclic  durch  Aufmerksamkeit  erkannt, 
damit  ein  bestimmter  Teilton  aufmerksam  herausgehort  werde, 
miisson  wir  doch,  so  scheint  os,  die  Aufmerksamkeit  auf  die 
Mehrheit  als  solche  bez.  den  in  ihr  vorhandenen  Teilton  richten 
konnen.  Das  heisst  aber  bereits  die  Mehrheit  oder  den  Teil- 
ton als  solchen  wahrnehmen.  Dieser  Cirkel  erinnert  an  Lotze's 
Bemerkung,  die  Aufmerksamkeit  konne  unmoglich  Unterschiede 
schaffen,  wo  keine  sind,  sie  konne  nur  vorhandene  A^erscharfen, 
verdeutlichen  (o.  19).  Diese  Bemerkung  gilt  jedoch  in  voller 
Kraft  nur  gegen  die  Ansicht,  wonach  vor  der  Analyse  die  Em- 
pfindung  selbst  eine  streng  eiuheitliche  sein  soil,  eine  Ansicht. 
die  wir  nicht  teilen.  Und  was  von  dem  Anschein  des  Cirkels 
noch  iibrig  bleibt,  lost  sich  leicht. 

Die  Aufmerksamkeit  wendet  sich  zunachst  dem  Klang  als 
Ganzem  zu,  wenn  wir  nicht  bereits  von  vornherein  Anhalts- 
puncte  haben,  diesen  oder  jenen  Bestandteil  zu  vermuten.  In 
leichten  Fallen  geuiigt  diese  Concentration  des  Interesses  auf 
den  Klang  und  auf  die  Frage  nach  Einheit  oder  Mehrheit,  um 
die  Teile  hervortreten  zu  lassen.  Wie  dies  geschieht,  kann,  wie 
jede  primare  Wirkung,  nicht  weiter  zergliedei't  werden.  Es  liegt 
Nichts  dazwischen.  In  einem  gewissen  Moment  taucht  die  Glie- 
derung  bez,  das  Element  im  Ganzen  auf,  die  Analyse  oder  das 
Heraushoren  ist  vollzogen.  Sind  die  Umstande  schwieriger,  wie 
bei  den  Obertonen,  so  werden  wir,  wahrend  die  Aufmerksam- 
keit auf  den  Klang  gerichtet  bleibt,  zugleich  verschiedene  Aus- 
schnitte  des  Tonreichs  uns  moglichst  lebendig  vergegenwartigen, 
von  welchen  wir  nach  dem  ersten  Eiudruck  (z.  B.  je  nachdem 
uns  das  Gauze  mehr  tief  oder  hoch  klingt)  vermuten,  dass  er 
Bestandteile  des  Klanges  enthalt.  Weiter  wird  man  versuchen, 
einzelne  Tone  einer  solchen  begrenzten  Region  lebendig  vor- 
zustellen  und  mit  dem  gehorten  Klang  zu  confrontiren ,  sei  es 

Stumpf,  Tonpsychologie.   II.  19 


290  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

bios  versuchsweise,  jeneu  Ausschnitt  in  der  Phantasie  durch- 
laufend,  oder  nach  bestimmten  Indicien  (akustiscbeu  Erfabrungen) 
einen  oder  den  anderen  Ton  auswahlend.  Am  meisten  wird 
naturlich  dieses  Sucben  erleicbtert,  wenn  ein  einzelner  Ton 
des  Klanges  uns  vorber  angegeben  und  als  Teilton  bezeicbnet 
wurde. 

5.  Verstarkung  durcb  Aufmerksamkeit. 
Eine  weitere  und  vorzugsweise  interessante  Frage  betrifft 
die  Verstarkung  der  berausgeborten  oder  berauszuborenden 
Klangteile  durcb  die  darauf  gericbtete  Aufmerksamkeit.  Vielen 
erscbeint  ja  die  Verstarkung  eines  Eindrucks  geradezu  als  die 
eigentlicbe,  primare  Leistung  der  Aufmerksamkeit.  Dass  dies, 
so  ausgesprocben,  falscb  sein  muss,  erwabnten  wir  bereits  I  71. 
Das  gleicbzeitige  Horen  bietet  nun  die  beste  Gelegenbeit,  aucb 
das  Wahre  in  der  Sacbe  zu  erkennen,  Es  lasst  sicb  namlich 
bier  ganz  deutlicb  beobacbten,  dass  wirklicb  in  bestimmten 
Fallen  eine  Verstarkung  durcb  Aufmerksamkeit  erfolgt;  wab- 
rend  dies  bei  isolirten  Tonen  weniger  leicbt  und  haufig  fest- 
zustellen  ist  (I  373). 

Naber   miissen  wir    in    dieser  Hinsicbt    bei    gleicbzeitigen 
Tonen  drei  Falle  auseinander  balten: 

a)  Ein  scbwacber  Ton  klinge  zusammen  mit  anderen 
scbwacben  Tonen.  Scblagen  wir  auf  dem  Clavier  den  Accord 
an  und  lassen  ibn  bei  aufgebobener  Dampfung 
verklingen,  so  baben  die  Tone  bald  die  notige 
Scbwacbe.  Ich  vermag  alsdann  durcb  das  blosse 
Obr  den  Accord  ganz  so  zu  brecben,  wie  er 
sicb  bei  wirklicber  Brecbung  mit  aufgebobener 
Dampfung  darstellt,  so  also,  dass  alle  Tone  fort- 
klingen,  wabrend  doch  einer  nacb  dem  anderen 
starker  bervortritt;  kann  aucb  eine  Melodie  aus  diesen  Tonen 
zusammensetzen,  die  von  dem  Accord  begleitet  bleibt.  Dies 
nicbt  etwa  nur  in  der  Pbantasie,  fiir  welcbe  icb  den  wirklicben 
Accord  iiberbaupt  nicbt  notig  batte,  sondern  als  unzweifelbafte 
Geborsempfindungen,  indem  ich  jeden  Ton  zur  recbten  Zeit  in 
dem  fortklingenden  Ganzen  verstarke. 


bei  der  Aualyse  und  dem  Heraushoren.  291 

b)  Eiu  schwaclier  Ton  erklinge  zusammen  mit  einem 
oder  mehreren  starken,  Hier  ist  Verstarkung  des  schwacheii 
moglicli.  Geiibte  konnen  dies  bei  Obertonen  jeden  Augenblick 
beobacliten.  Wenn  ich  eiuen  der  tieferen  Claviertone  oder  eine 
Cello-Saite  ertonen  lasse,  so  kann  ich  die  Reihe  der  Obertone 
wie  eine  Leiter  hinauf-  und  liinmitersteigen  und  willkiirlich  den 
verstarken,  auf  den  ich  besonders  achten  will.  Durch  solches 
Hinauf-  und  Heruntersteigen  gelingt  es  oft  auch,  Obertone  erst 
gewahr  zu  werden,  die  man,  wenn  die  Aufmerksamkeit  direct 
auf  sie  gerichtet  wurde,  gleichsam  frei  zielend  und  zugreifend, 
nicht  erhaschen  konnte^).  Auch  ist  es  hier  wie  bei  a)  mog- 
lich,  eine  Melodie  durch  Verstarkung  der  beziiglicheu  Tone  zu 
bilden,  beispielsweise  die  vier  ersten  Tacte  des  BEAHMs'schen 
Liedes  „Ihr  wunderschonen  Augenblicke",  die  aus  5  Tonen, 
darunter  auch  der  Secunde  der  Tonica,  bestehen,  welche  durch 
die  Teiltone  5,  6,  8,  9,  10  gegeben  sind;  diese  Teiltoue  finden 
sich  aber  in  jedem  Klange  der  grossen  Octave  am  Clavier,  Man 
kann  also  geradezu  mit  dem  Ohre  singe n.  Der  verstorbene 
G.  Appukn,  mit  welchem  ich  in  den  70er  Jahren  dariiber  sprach, 
bestatigte  an  sich  diese  Fahigkeit.  Ebenso  sagt  R.  Natorp^): 
„Ich  kann,  wenn  ich  auf  meinem  Clavier  etwa  den  Ton  G  an- 
schlage,  nicht  nur  eine  gewisse  Zahl  von  Obertonen  deutlich 
nebeneinander  horen,  sondern  innerhalb  ihres  Zusammenklanges, 
der  einen  vielstimmigen  iiberwiegend  consonirenden  Accord  gibt, 
auch  die  einzelnen  Obertone  nacheinander  und  abwechselnd  mir 
zu  Gehor  bringen;  etwa  die  Tone 


:^=J=:t: 


biizirz— ij=J=:ta 


^)  So  hatte  ich  in  einem  ausdriicklich  notirten  Fall  bei  dem  C 
einer  schwingenden  Metallzunge  nicht  sogleich  den  9.  und  11.  Teilton 
finden  konnen:  von  unten  hiuaufsteigend  fasste  ich  leicht  einen  nach 
dem  anderen. 

■^)  Gottingische  gelehrte  Anzeigen  1885,  No.  5,  S.  212. 

19* 


292  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

in  der  Geschwindigkeit  von  vier  Toneu  in  der  Secuude,  Dabei 
verschwindet  der  Zusammenklaug  dieser  selben  Tone  g^h^cP 
nicht,  sondern  dauert  in  der  Art  fort,  dass  ich  den  Unterschied 
der  willkiirlich  nacheinander  geliorten  und  der  ohne  meiue 
Willkiir  gleichzeitig  fortklingeuden  Tone  gleicher  Hohe  nicht 
auders  denn  als  einen  Unterschied  der  Toustarke  zu  bezeichuen 
wusste." 

Die  jeweilig  accentuirten  Tone  entstehen  hiebei,  wie  Natorp 
ganz  richtig  hervorliebt,  uiclit  erst  als  Empfindungen;  sie  klingen 
vor-  und  nacbher  in  der  Empfindung  mit,  wie  die  harmoniscbe 
Begleituug  eines  Liedes:  die  cinzehien  werden  nur  successive 
willkiirlicb  verstiirkt  und  zwar  so  lange  als  man  will.  Jeder 
Ton  spriclit  hiebei,  wie  beim  Horen  der  Beitone  iiberhaupt, 
rait  volliger  Bestimmtheit  an;  keine  Moglichkeit,  etwa  an  blosse 
Phantasie  zu  denken.  Die  Yerstarkung  begiunt  dann  sogleich 
und  erreicht  schnell  einen  Grad,  bei  dem  sie  nicht  mehr  weiter- 
schreitet.  Die  Schnelligkeit  dieser  Action  scheint  iibrigens  indi- 
viduell  verschieden;  ich  bringe  sie  nicht  mit  der  Geschwindig- 
keit von  vier  Tonen  in  der  Secunde  zu  Wege. 

Auch  Differenztoue,  die  nach  Helmholtz  nur  bei  zwei 
verhaltnismassig  starken  Primartonen  zu  Stande  kommen,  kann 
ich,  zumal  in  der  Nacht  und  nach  vorausgehender  besonderer 
Einiibung,  selbst  beim  leisest-moglichen  Anschlag  der  Tasten 
vollkommen  deutlich  wahrnehmen  und  auch  sie  durch  con- 
centrirte  Aufmerksamkeit  zu  einem  respectablen  Brummeu  an- 
wachsen  lassen. 

Auch  an  Gerauschen,  die  ja  immer  Tone  enthalten,  lasst 
sich  Gleiches  beobachten.  So  gelang  es  mir  beispielsweise  wah- 
rend  einer  Bahnfahrt,  in  dem  dumpfen  Gerausch,  das  zunachst 
keine  Tone  unterscheiden  liess,  indem  ich  die  Aufmerksamkeit 
versuchsweise  auf  verschiedene  Tone  und  zugleich  nur  auf  Ein 
Ohr  lenkte,  mehrere  Tone  in  der  kleinen  und  cingestrichenen 
Octave  mit  aller  Bestimmtheit  zu  vernehmen  und  zu  verstarken. 
Sie  traten  jedesmal,  wenn  ich  mit  der  gleichsam  tastenden  Auf- 
merksamkeit in  diese  Tongegend  kam,  hervor.  Es  fiel  mir  audi 
auf,   dass   sie  leichter  hervortraten,   wenn  ich   von   oben  nach 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushdren.  293 

unten,  als  wenii  ich  von  unten  nach  oben  fortschritt.  Ein- 
zelne  von  ihnen  schienen  besonders  leicht  anzusprechen,  andere 
weniger  *). 

c)  Ein  starker  Ton  klinge  zusammen  mit  einem  oder 
mehreren  starken  Tonen.  Man  gebe  z.  B.  durch  Zungen- 
pfeifen  einen  Accord  an,  Wenn  ich  in  einem  solchen  Falle 
die  Aufmerksarakeit  bald  auf  diesen  bald  auf  jenen  Ton  des 
Accords  lenke,  kann  icli  eine  Verstarkung  des  Tones  nicht 
wahrnehmen.  (So  audi  nicht,  wenn  ich  im  Falle  b)  die  Auf- 
merksamkeit  dein  starken  Ton  zuwende.) 

Es  mag  seltsam  erscheinen,  dass  nur  schwache  Empfin- 
dungen  durch  Aufmerksamkeit  verstarkt  werden  sollen.  Aber 
eine  Kraft,  die  nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  gesteigert 
werden  kann,  bewegt  auch  nur  Lasten  bis  zu  einer  gewissen 
Schwere,  schwerere  nicht  etwa  weniger  sondern  gar  nicht,  da 
sie  die  Reibung  nicht  mehr  liberwinden  kann.  Vgl.  das  I  374 
Gesagte. 

Die  objective  Urteilszuverlassigkeit,  auf  welche  die  Auf- 
merksamkeit gleichsam  teleologisch  eingerichtet  ist  (vgl.  I  68, 
71,  391 — 2),  gewinnt  auch  nur  durch  eine  Verstarkung  schwacher, 
nicht  aber  solcher  Empfindungen,  die  bereits  eine  hinreichende 
Starke  besitzen.     Im  Gegenteil,  sie  miisste  darunter  leiden. 

Oder  ist  vielleicht  die  Verstarkung  im  genannten  Fall  nicht 
ganz  aufgehoben  sondern  nur  unmerklich?  Das  ist  freilich  denk- 
bar.     Als  tatsiichlich  kann  ich  nur  das  Letzte  behaupten. 

Mach  behauptet,  seinerseits  auch  in  solchem  Falle  eine  Ver- 
starkung wahrzunehmen.  Ich  hatte  Gelegenheit,  im  Prager  physi- 
kalischeu  Institut  an  eiuem  Zungenpfeifeiiaccord  hieriiber  gleich- 
zeitig  mit  ihm  Versuche  zu  machen.   Wahreud  Mach  die  Verstarkung 


*)  Ahnlich  wird  iu  deu  „Fortschrittea  der  Physik"  XV  178  (aus 
einer  mir  unzuganglichen  Zeitschriffi  berichtet:  ,,Auf  Eisenbahnfahrten 
hat  Reuleaux  einen  leisen  constanteu  Ton  im  Ohr  bemerkt,  dessen  Ton- 
bohe  sich  durch  seinen  Willen  ....  so  verandern  Hess,  dass  es  ihm  mog- 
lich  war,  kleinere  Melodien  im  Choraltempo  gelaufig  hervorzubi-ingen." 
Wahrscheinlich  handelte  es  sich  hier  auch  um  Heraushdren  aus  dem 
Gerausch, 


294  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

ganz  deutlich  zu  hdren  angab,  konnte  ich  nichts  davon  fiuden.  Nur 
wenn  ich  plotzlich  den  Kopf  nach  der  Klangquelle  wandte,  konnte 
mir  einer,  und  zwar  ein  beliebiger,  der  zusammenklingenden  Tone 
momeutan  starker  accentuirt  scheinen.  Durch  die  Kopfwendung  wird 
eine  momentane  Intensitatserhohung  aller  Tone  Eines  Ohres  bedingt. 
Entweder  wurde  nun  dieses  Plus  bei  der  Richtung  der  Aufmerk- 
samkeit auf  Einen  Ton  diesem  allein  zugeschrieben,  also  ein 
subjectiv  falsches  Urteil  gefallt,  oder  es  wurde  wirklich  unter  diesen 
besonderen  Umstanden  das  Plus,  welches  ausserdem  alien  Tonen 
momentan  zuwachsen  musste,  durch  die  Aufmerksamkeit  dem  Einen 
allein  zugeschoben,  sodass  diese  Empfindung  in  der  Tat  ver- 
starkt  und  das  Urteil  subjectiv  rich  tig  ware.  Das  Letztere  halte 
ich  zwar  fiir  weniger  wahrscheinlich,  aber  fiir  physiologisch  nicht 
undenkbar. 

Soviel  ist  sicher,  dass  bei  ganz  unveranderten  Umstanden  eine 
Verstarkung  starker  Tone  neben  anderen  gleichzeitigen  starken 
Tonen  fiir  mich  nicht  wahrnehmbar  ist,  wahreud  Mach  sie  auch 
dann  wahrzunehmen  erklart.  Es  mogen  hienach  gewisse  indivi- 
duelle  Unterschiede  hierin  obwalten. 

Dass  die  Sache  uberhaupt  bei  einer  Veranderung  des  Ton- 
materiales  wahrend  des  Hdractes  anders  liegt,  werden  wir  spater 
(zunachst  §  26)  an  den  Fallen  sehen,  wo  aus  dem  Klaugganzen 
ein  Ton  hiuwegfallt:  hier  tritt  auch  fiir  mich  und  wohl  fiir  Jeden 
eiue  uuzweifelhafte  wirkliche  Verstarkung  eines  der  zuriickbleibenden 
Tone  ein;  eine  Erscheinung,  auf  welche  Mach  auch  besonders 
hingewiesen  hat.  Diese  hat  aber  ihre  besonderen  Griinde;  sie  ist 
nicht  Folge  der  Aufmerksamkeit,  sondern  wird  durch  die  Aufmerk- 
samkeit nur  constatirt. 

6.  Mechanismus  der  Verstarkung. 

Wie  hat  man  sich  nun  das  Zustandekommen  der  Verstar- 
kung, wo  eine  solclie  stattfindet,   naher  zu  denken? 

Man  ist  versuclit,  zunachst  an  eine  Muskeltatigkeit  zu 
denken,  und  wir  begegnen  hier  wieder  der  bereits  I  168  f.  be- 
sprochenen  Hypothese  von  der  Function  des  Musculus  tensor 
tympani,  aber  nach  anderer  Seite  und  in  engerer  Fassung. 
Dort  sollte  jede  Tonvorstellung,  die  einem  Tonurteil  zu  Grunde 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  295 

liegt,  an  einen  bestimmten  Contractionsgrad  dieses  Muskels  ge- 
bunden  sein.  Hier  wiirde  sich's  bios  darum  handeln,  dass  die 
Aufmerksamkeit  an  diesem  Muskel  einen  Angriffspunct  fande, 
um  einen  einzeluen  Ton  vor  anderen  gleichzeitigen  zu  ver- 
starken.  Bei  unwillkiirlicher  Aufmerksamkeit  wiirde  es  sich 
um  eine  Reflexbewegung,  bei  willkiirlicher  um  eine  willkiir- 
liche  Activirung  des  Muskels  handeln. 

Indessen  auch  so  ist  die  Hypothese  undurchfiihrbar.  So- 
wol  nach  mathematiscber  Theorie  als  nacb  Versucben  (Schap- 
BiNaEK's,  Politzeb's,  welch'  letzterer  durch  Reizung  des  Tri- 
geminus auf  den  Tensor  wirkte,  dessen  Nerv  in  den  Bahnen  des 
Trigeminus  liegt)  treten  durch  Contraction  dieses  Muskels  die 
hoheren  Tone  relativ  gegen  die  tieferen  hervor,  aber  sie  er- 
fahren  zugleich  mit  diesen  eine  Verminderung  ihrer  absoluten 
Intensitat.  Nun  aber  zeigt  die  Beobachtung,  dass  beim  Horchen 
auf  Obertoue  diese  nicht  etwa  nur  weniger  als  der  Grundtou 
geschwacht,  sondern  dass  sie  geradezu  verstarkt  werden.  Auch 
die  Differenztone  kann  man  etwas  verstarken,  wahrend  die  rela- 
tive Verstiirkung  durch  Contraction  des  Tensor  nur  die  hoheren 
Tone  gegeniiber  den  tieferen  trifft.  Ferner  besitzen  bei  Weitem 
nicht  alle  Menschen,  welche  die  Obertone  willkiirlich  hervor- 
heben  konnen,  das  Vermogen  willkiirlicher  Activirung  des  Ten- 
sor. Es  sind  ilberhaupt  nur  sehr  Wenige  hiezu  fahig,  wie  sich 
durch  ausserliche  Beobachtung  des  Trommelfells  im  Moment 
des  Horchens  herausgestellt  hat.  Und  Solche,  die  zur  Analyse 
von  Tongemischen  in  hohem  Masse  fahig  sind,  haben  oft  gar 
keine  Macht  iiber  ihren  Tensor,  wie  beispielsweise  ich.  Sodann 
ist  es  auch  moglich,  auf  tiefe  und  hohe  Tone  streug  gleichzeitig 
zu  horchen,  z.  B.  bei: 


296  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

Die  Spanimng  des  Muskels  kann  aber  zu  gleicher  Zeit  doch 
nur  Eiiie  seiii.  Endlicb  mag  auch  an  die  I  373  angefuhrte 
Beobachtung  liber  den  subjectiven  Ton  crinnert  seiu. 

Hienach  hat  der  Trommelfellspauner  cine  wesentliche  Be- 
ziehung  zur  Aufmerksamkeit  nicbt.  Wahrscbeinlicb  ist  er  docb 
uicbts  weiter  als  einc  Scbutzvorricbtuug  gegen  zu  starke  Tone 
(durcb  Diimpfung)  oder  gegen  zu  hohen  Luftdruck  im  Obr  oder 
auch  beides  zusammen  ^). 

Als  Zeichen  der  willkiuiich  erfolgtcn  Contraction  des  Tensor 
wurde  friiher  ein  bestimmtes  Knackeu  im  Ohr  augesehen,  bis  Po- 
LiTZER  zeigte,  dass  dasselbe  seinen  Sitz  vielmehr  in  der  Eustachi- 
scbeu  Trompete  hat  iind  durch  die  Offnung  derselbeu  entsteht.  Nur 
bei  Eiuzelnen  wurde  dabei  zugleich  eiue  Beweguug  des  Trommel- 
fells  beobachtet  ^).  Ich  selbst  vermag,  wie  viele  andere  Personen, 
das  Knackeu  jederzeit  willkiirlicb  zu  erzeugen  uud  habe  dabei  deut- 
lich  eine  Muskelempfiudung  in  der  Gegend  des  inueren  Ohres, 
scbrieb  es  darum  gleichfalls  mit  Uberzeugung  dem  Tensor  zu,  bis 
eine  Untersuchung  durch  Prof.  Zaufal  ergab,  dass  zwar  allemal 
eine  Bewegung  des  Gaumens,  niemals  aber  eine  des  Trommelfells 
stattfand.  Ich  versuchte  auch,  mich  auf  einseitige  Hervorbringung 
des  Knackens  einzuuben.  Es  gelaug,  dasselbe  zunachst  in  ver- 
schiedener  Starke  zu  erzeugen,  und  dann  kounte  ich  es  bei  sehr 
geriuger  Starke  auch  willkiirlicb  allein  im  liuken  Ohr  erhalten. 
Bei  grdsserer  Starke  erfolgt  es  jederzeit  doppelseitig,  Vor  dem 
Knacken  hore  ich  bei  hinreichender  Stille  immer  eiu  dumpfes  Ge- 
rausch,  ahnlich  dem  bei  Beriihruug  des  Auges  zuweilen  auftretenden 
{I  421"),  aber  nicbt  iutermittirend,  nur  raomentau.  Dieses  Gerausch 
tritt  auch  ein,  weun  die  willkiirliche  Bewegung  so  schwach  ist,  dass 
das  Knacken  ausbleibt.  Es  ist  offenbar  der  Muskelton  der  Gaumen- 
muskeln. 


^)  Die  erste  Ansicht  ist  bcreits  in  Gehler!s  Worterb.  d.  Physik 
1828  „Geh6r"  S.  1209  f.  erwahnt.  dann  durch  Joh.  MC'ller,  neuerdings 
durch  0.  Wolf  u.  A.  vertreten;  die  zweite  („Luftung  des  Ohres")  durch 
Mach.  Nach  Politzer  soil  der  Tensor  hauptsachlich  die  Spannung  der 
Gehorknochelchen  und  des  Labyrinthinhaltes  reguliren. 

'^)  Politzer,  Wiener  Medicinalhalle  1862  No.  18. 


bei  der  Analyse  nnd  dem  Heraushoren.  297 

Die  Tensorfrage  ist  besonders  discutirt  in  den  ersten  vier 
Banden  des  A.  f.  0.  (von  Schwartze,  Lucae,  Politzek,  Kessel), 
aber  auch  spater  ofters  (XIII  261,  XIV  1},  ferner  in  Pfluger's 
Archiv  VI  576  (Wieden),  in  dor  Berliner  kliu.  Woehenschr.  1874 
No.  14—17  (Lucae);  in  den  Sitz.-Ber.  der  Wiener  Akad.  1861, 
1863,  1865,  1870,  1872  (Mach,  Politzer,  Schapringer),  Ferner 
vgl.  Preyer,  Grenzen  d.  Tonwahrn.  S.  16  (willkiirliche  Contraction 
des  Tensor  beim  Vf.),  Hensen  in  IIerm.  Hdb.  Ill,  2,  59  f.  Einc 
gute  Ubersicht  der  Meinungon  bis  1869  nebst  eigenen  Untersuchungen 
gibt  ScHMiDEKAM.  Arbciten  des  physiol.  Instituts  zu  Kiel  1869; 
eine  tlbersicht  bis  1886  und  eigene  Versuche  Pollak,  Mediciuischc 
Jahrbucher  (her.  von  der  k.  k.  Gesellschaft  der  Arzte)  N.  F.  1886, 
S.  555  f. 

Pollak's  Versuche  fordern  zu  einigeu  kritischen  Bemerkungen 
heraus.  Er  wurde  angeregt  durch  die  SxRiCKER'sche  Theorie  der 
Tonvorstellungen,  die  wir  I  155  f.  bekampften.  Stricker  hattc 
ursprUnglich  die  Muskelenipfindungen  des  Kehlkopfs  als  die  den 
Tonen  eutsprechenden  Erinnerungsbilder  angesehen.  Nachdem  ich 
die  offenbare  Undurchfiihrbarkeit  dieser  Annahme  gezeigt  und  zu- 
gleich  auf  die  feinere  Form  der  Muskeltheorie  Mach's  hingewiesen 
hatte,  welche  den  Tensor  tympani  dafiir  in  Anspruch  uahm,  wandte 
sich  Stricker  zu  dieser  von  ihrem  Urheber  selbst  langst  wieder 
verlassenen  und  von  mir  ebenfalls  als  undurchfiihrbar  erwiesenen 
Theorie  in  den  „6tudes  sur  le  langage  et  la  musique"  1885,  S.  165  f. 
Darin  verdreht  er  Henle's  und  meino  Aussagen,  bezichtigt  mich 
mangelnder  Ubung  in  psychologischer  Beobachtung,  und  gibt  schliess- 
lich  doch  zu,  dass  er  selbst,  nachdem  er  seit  5  Jahren  auf  der 
Geige  einige  Fortschritte  gemacht  babe,  nun  wirklich  Gehorsvor- 
stellungeu  in  sich  tiude.  Meine  Antwort  s.  Revue  philosophiquc 
XX,  Dec.  Zeitschrift  f.  Philos.  u.  phil.  Kritik,  Bd.  89,  S.  45 1). 


^)  Auch  die  altera  Theorie  sucht  Stricker  jetzt  doch  noch  gelegent- 
lich  zu  stlltzen.  So  beruft  er  sich  auf  eine  Beobachtung  Stork's,  der 
bei  einer  Sangerin,  wahrend  sie  an  ein  Musikstiick  dachte  oder  sich 
etwas  vorsingeu  liess,  eine  rhythmische  Bewegung  der  Stimmbander  fand 
(Wiener  medic.  Presse  1886,  S.  650\  Dei'gleichen  Mitbewegungen  habe 
ich  in  viel  grosserem  Umfange  I  156  zugegeben  und  mit  Beispielen  be- 


298  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

PoLLAK  und  Gartnee  experimentirten  nun  an  Hunden  in  ahn- 
licher  Weise  wie  Hensen  und  Bockendahl,  deren  Versuche  wir 
bereits  I  168  besprachen,  und  fanden  bei  verschiedenen  Tonen  einen 
verschiedenen  Ausschlag  der  in  den  Tensor  eingesenkten  Nadel. 
Sie  verwandten  „in  der  Kegel  den  aufgelosten  Duraccord  nebst 
der  Octave,  also  z.  B.  c,  ^,  ^,  c^".  „Zur  Tongebung  bedienten  wir 
uns  des  Gesanges,  des  Lippenpfeifens,  der  Stimmgabel,  des  Streich- 
instrumentes  (welclies?)  und  auch  des  sogenannten  Pizzicato's  der 
Geige.  Lippenpfeifen  hat  sich  indesseu  als  das  bequemste  Mittel 
erwiesen.  Auf  ein  einigermassen  lautes  Pfeifen  reagirt  die  Nadel- 
spitze  ganz  zuverlassig." 

Der  Ausscblag  der  Nadel  fand  sich  bei  den  hoheren  Tonen 
grosser  als  bei  den  tieferen. 

Nun  muss  man  sich  vergegenwartigen ,  dass  die  Geige  nicht 
unter  q  hinabgeht,  und  dass  der  tiefste  Pfeifton  ungefahr  «^  ist, 
welches  die  Menschen,  die  es  iiberhaupt  noch  pfeifen  konnen, 
meistens    nur    sehr    schwach    hervorbringen  ^).     Man    sieht    daraus, 


legt.  Ich  kann  noch  hinzufugen,  dass  ich  beim  aufmerksamen  Horen 
eines  langeren  anstrengenden  Gesanges  (wie  z.  B.  wenn  der  Discant  in 
einem  Chor  sich  lange  in  der  Hohe  bewegen  muss  und  die  Reinheit  der 
Intonation  nur  schwer  festhalten  kann)  zuletzt  selbst  ein  Gefiihl  der  An- 
strengung  im  Halse  empfinde,  als  wenn  ich  helfen  miisste.  Das  mag 
nun  Steicker  wieder  fiir  sich  verwenden.  Ich  kann  aber  darin  ebenso- 
wenig  ein  unentbehrliches  Mittel  oder  auch  nur  eine  Hilfe  fur  das 
Horen  oder  Vorstellen  der  Tone  selbst  erblicken.  als  es  fiir  das  Denken 
etwas  hilft,  wenn  man  die  Stim  runzelt  oder  sich  hinter  den  Ohren 
kratzt. 

Dass  es  Individuen  gibt,  die  des  Tongedachtnisses  fast  unfahig  sind 
und  sich  mit  dem  kiimmerlichen  Ersatz  der  Muskelerinnerungen  be- 
helfen,  habe  ich  I  279,  291  selbst  hervorgehoben;  protestire  jedoch. 
wenn  Personen  mit  solchem  Defect  die  ihnen  mangelnde  Fahigkeit  auch 
Anderen  nicht  zugestehen  wolleu.  Kann  doch  nicht  eiumal  ein  Mozart 
pfeifend  iiber  die  Strasse  gehen,  ohne  sofort  von  Stricker  (a.  a.  0.)  fiir 
seine  Muskeltheorie  eingefangen  zu  werden. 

^)  Anfaugs  wird  man  geneigt  sein.  diesen  Ton  und  iiberhaupt  die 
Pfeiftone  fiir  bedeutend  tiefer  zu  halteu,  als  sie  wirklich  sind,  wird  sich 
aber  durch  Aufsuchung  der  iibereinstimmenden  Tone  am  Clavier  oder 
noch  besser  durch  Stimmgabeln  auf  Resonanzkasten ,  die  auf  den  ge- 
pfiffenen  Ton  am  starksten  mitschwingen .  von  der  wahren  Hohe  uber- 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  299 

dass  die  Angaben  uber  die  absolute  Hohe  der  angewandten  T6ne 
an  Deutlichkeit  zu  wunschen  ubrig  lassen. 

Uber  die  Hauptfrage  aber,  ob  es  nicbt  die  grosserc  Starke 
der  hohereu  Tone  war,  welche  den  starkeren  Ausschlag  bedingte 
(vgl.  I  169),  geht  PoLLAK  sehr  kurz  hinweg.  „Auf  die  Unterschiede, 
welche  sich  durch  die  verschiedene  Inteusitat  der  angeschlagenen 
Tone  ergeben,  kann  ich  nicht  nahcr  eingehen  .  .  .  Doch  liegt  die 
Sache  nicht  etwa  so,  als  ob  der  Muskel  ebensowol  auf  verschieden 
intensive,  wie  auf  verschieden  hohe  Tone  mit  verschieden  grossen 
Zuckungen  antworten  wiirde.  Das  Pizzicato  z.  B.  hat  uns  prae- 
cisere  Resultate  gegeben,  wie  die  durch  Streichen  der  Geigc  er- 
zeugten  Tone/' 

Man  sollte  denken,  es  sei  selbstverstandlich,  dass  grossere  In- 
tensitat  grosseren  Ausschlag  bewirken  muss  (und  zwar  auch  bios 
grossere  phj'siologische  Intensitat,  wenn  anders  es  sich  nach  dem 
sogleich  zu  Erwahnenden  hier  um  Empfindungsreflexe  handelt).  Der 
Umstand,  dass  Lippenpfeifen  sich  am  wirksamsten  erwies,  weist 
sehr  deutlich  darauf  hin,  dass  iiberhaupt  nur  die  Starke  mass- 
gebend  ist;  deun  fast  Nichts  greift  den  Hornerv  starker  an,  als 
Pfeifen  hoher  Tone  in  der  Nahe,  wie  jeder  Empfindliche  erfahren 
hat;  zugleich  ist  aber  hier  in  Bezug  auf  hohe  und  tiefe  Tone  ein 
ausserordentlicher  Unterschied,  da  die  tiefen,  wie  erwahnt,  schon 
physikalisch  nur  schwach  sind.  "Was  das  Pizzicato  betrifft,  so  kann 
ein  Ton  unter  Umstanden  heftiger  gezupft  als  gestrichen  werden. 
Es  ist  also  nichts  weniger  als  bewiesen,  dass  die  verschiedene  Hohe 
als  solche  es  war,  die  den  verschiedenen  Ausschlag  bedingte. 

PoLLAK  fand  auch  eine  verschiedene  Reaction  auf  die  Vocale 
A,  E,  I,  0,  U;  und  zwar  auf  U  die  geringste,  auf  A  die  starkste. 
Wahrscheinlich  war  eben  doch  U  am  schwachsten,  A  am  starksten 


zeugen.  Das  menschliche  Pfeifregister  reicht  im  Allgemeinen  etwa  von 
c'^  bis  g*.  Dalier  ancb  die  unangenehm  eingreifende  Wirkung  intensiver 
hoherer  Pfeiftone:  fiir  die  drei-  bis  viergestrichene  Octave  ist  das 
menschliche  Obr  besonders  empfindlich.  Die  tieferen  Pfeifklange  ent- 
halten  deutlich  auch  den  ersten  Oberton,  ihre  Octave,  die  (nach  brief  licher 
Mitteilung  G.  Engel's)  auch  durch  mitschwingende  Gabeln  nachweisbar  ist. 
Ira  Ubrigen  dilrften  die  Pfeifklange  nicht  weiter  zusammengesetzt  sein. 


300  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

gesprochen  warden.  Dass  er  damit  im  Anschluss  an  Stricker's 
Sprachtheorie  die  Frage  entscheiden  will,  „ob  Hunde  im  Stande 
sind,  die  menschliche  Sprache  aufzufassen ",  mag  hier  mit  Still- 
schweigeu  iibergangeu  werdcu. 

Bel  allem  Dem  bleibt  auch  uoch  dor  Widerspruch  za  losen, 
in  welchen  diesc  Ergebuisse  iiber  Bewegung  des  Tensor  rait  den- 
jonigeu  von  Schapkinger  und  Mach  treten,  welche  am  Menschen 
weder  auf  manometrischem  uoch  stroboskopischem  Wege  die  geringste 
Bewegung  des  Trommelfells  beim  wechselnden  Horchen  auf  hohe 
und  tiefc  Tone  wahrnehracn  konnten.  Hensen  sucht  den  Wider- 
spruch dadurch  zu  losen,  dass  die  Action  des  Tensor  nur  momentau 
zu  Beginn  der  Schallerregung  eintrete  und  darum  jenen  Beobachtern 
habe  entgehen  konnen  (Herm.  Hdb.  Ill,  2,  64).  Pollak  aber,  der 
beim  Hunde  einen  anhaltenden  Ausschlag  beobachtete,  geht  auf 
eine  Losung  der  Schwierigkeit  gar  nicht  ein.  Ebensowenig  macht 
er  einen  Versuch,  seine  Ergebnisse  rait  der  Tatsache  zu  vereinigen, 
dass  Menschen  rait  zerstdrtem  Trommelfell  Tone  verschiedener  Hohe 
noch  sehr  gut  wahrnehmen.  Der  Tensor  miisse  eben,  meint  er, 
statt  durch  Trommelfellspaunung  auf  irgend  eine  andero,  uns  gauz 
unbekannte  Weise  die  Wahrnehmung  der  verschieden  hohen  Tone 
untersttitzen.    Das  heisst  die  Hypothese  in  die  Luft  setzen. 

Neu  und  interessant  ist  nur  die  Eine  Bemerkung,  dass  jede 
Erschiitterung  der  Nadel  ausbleibt,  wenn  man  beiderseits  die 
Schnecke  zerstdrt,  und  dass  ein  taubstummer  Hund  mit  schou  ent- 
wickeltem  Tensor  nicht  die  geringste  Spur  einer  Reaction  des- 
selben  zeigte.  Die  Zuckungen  des  Tensor  kommen  also  nur  unter 
Mitwirkung  des  Hornerven  zu  Stande  und  sind  ein  durch  die  Ge- 
hdrsemplindung  vermittelter  Reflex.  Es  freut  mich,  Pollak  und 
Stricker  hier  wiederum  durch  einen  literarischen  Nachweis  unter 
die  Arme  zu  greifen,  auf  den  sie  sich  damals  bereits  batten  bc- 
ziehen  konnen,  zumal  er  sich  im  Archiv  fiir  pathologische  Anatomic 
tindet.  Baginsky  beraerkte  uanilich  bei  seinem  o.  95  erwahnten 
Schneckenexstirpationen  auf  der  Seite,  wo  durch  die  Operation  voU- 
standige  Taubheit  entstanden  war,  bei  mikroskopischer  Untersuchung 
eine  fast  vollstandige  fettige  Degeneration  des  Tensor,  wahrend 
derselbe  auf  der  anderen  Seite  bis  auf  einzelne  Fasern  intact  war 


Lei  der  Analyse  und  dem  Herausboreu.  301 

(a.  a.  0.  76,  80).  Allerdings  soUte  man  danach  auuehmeu,  dass 
auch  bei  einem  von  Geburt  an  taubstummeu  Hunde  Degeneration 
des  Tensor  eintreten  miisse. 

Die  Lelire  vom  Tensor  tympani  als  ausfiihrendem  Organ 
der  Aufmerksamkeit  hat  einen  allgemeineren  Hintergrund.  Von 
manclien  Physiologen  und  Psycbophysikern  wird  behauptet,  dass 
die  Aufmerksamkeit  stets  mit  einer  Muskeltiitigkeit 
oder  Bewegung  verkniipft  und  in  ihren  Wirkungen  an  die- 
selbe  gebunden  sei^).  Mach,  der  diese  Anscbauung  friiber 
teilte,  bat  nacb  miindlicber  Mitteilung  mit  der  Tensor-Hypothese 
zugleicb  diese  allgemeinere  Grundlage  aufgegeben,  und  auch 
Andere  werden  dieselbe  Consequenz  ziehen  mlissen. 

Wie  sollte  auch  die  Aufmerksamkeit  des  stillen  Denkers, 
wenn  er  sich  bestandig  neuen  Vorstellungen  und  Begriffen  zu- 
wendet,  an  Muskebi  gekniipft  sein?  Welche  Muskelaction  sollte 
den  tJbergang  auch  nur  von  einem  Sinn  zum  anderen  vermitteln, 


^)  Z.  B.  AuBERT,  Physiologic  der  Netzhaut  325—6.  Fechnee,  Uber 
einige  Verhaltn.  d.  binoc.  Sehens,  Abh.  d.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  (1860)  400. 
Elem.  II,  475,  490—1.  An  letzterer  Stelle  bezeichnet  Fechner  die 
Muskelspaunuug  nur  als  ,,eiae  Art  Reflex".  In  der  erstgenannten  Schrift 
fasst  er  sie  aber  ausdrucklich  als  eine  Bedingung  fiir  den  Erfolg  der 
Aufmerksamkeit.  Neuerdings  ist  diese  Frage  zwischen  Bradley  und 
Bain  verhandelt  (Mind  Nr.  43  u.  44"),  doch  scheinen  sie  beide  auf  der 
negativen  Seite  zu  stehen.  Bain  erinnert,  dass  er  ausdrucklich  auf  die 
Falle  des  Heraushoreus  eines  Instrumentes  hingewiesen  habe  (Emotions 
and  Will  3.  ed.  p.  372),  wobei  keine  Muskeltatigkeit  stattfinde.  Dagegen 
sind  wieder  Maudsley  und  Ribot  der  Muskeltheorie  zugetan,  s.  des 
Letzteren  Psychologic  de  I'Attention  p.  32  u.  6.  Wundt's  Stellung  ist 
wieder  nicht  ganz  klar,  doch  scheint  er  bei  jeder  intensiveren  Aufmerk- 
samkeit eine  Muskelspannung  anzunehmen  und  spricht  in  dieser  Riick- 
sicht  auch  speciell  uoch  vom  Tensor  tympani  (II  ^  265.  Vgl.  Marty, 
Viertelj.-Schr.  f  wiss.  Phil.  XIII  199).  In  Wundt's  Philos.  Studien  IV  414 
halt  N.  Lange  die  Verstarkung  durch  willkiirliche  Aufmerksamkeit  nur 
vermittclst  Bewcgungen  fiir  moglich.  Neuestens  Ichrt  Munsterberg 
(Beitr.  z.  experimcntellen  Psychol.  Heft  2,  1889,  S.  24)  iibereinstimmend 
mit  Ribot:  „Der  Eintritt  jener  Spaunungsempfindungen  und  des  Deut- 
licherwerdens,  das  begleitet  nicht  raeine  Aufmerksamkeit,  soudern  ist 
die  Aufmerksamkeit  selbst," 


302  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

wenn  z.  B.  die  Aufmerksamkeit  durcli  eine  juckende  Empfin- 
dung  auf  die  Haut  gelenkt  wird,  oder  wenn  Hungergefiihl  sich 
einstellt?  Nicht  einmal  innerlialb  des  Gesichtssinnes,  wo  der 
Zusammenhang  der  Aufmerksamkeit  mit  der  Fixation  wol  haupt- 
sachlich  jene  Ansicht  begiinstigte,  ist  sie  ausnahmslos  richtig: 
wir  konnen  auf  Nichtfixirtes  merken  und  mit  der  Aufmerk- 
samkeit bei  unveranderter  Augenstellung  einem  seitlich  bewegten 
Objecte  folgen. 

Selbstverstandlicb  unterstiitzen  wir  gewohnheitsmassig  durcli 
maucherlei  Muskeltatigkeiteu  die  Wirkuugen  der  Aufmerksam- 
keit, soweit  dies  Uberall  moglich  und  nicht  verboten  ist.  Man 
drebt  das  Auge  nach  dem  Object,  den  Kopf,  den  Korper  nach 
dem  Schall,  probirt,  auf  welchem  Ohr  Tone,  speciell  auch  Ober- 
tone,  besser  liorbar  sind.  Auch  die  Ohrmuschel  wird  in  solchem 
Fall  bewegt  von  Tieren  und  vielleicht  auch  von  den  wenigen 
Menschen,  die  es  konnen. 

Eine  Spannungsempfindung  beim  Besinnen,  auf  die  Fechner 
Gewicht  legt  (Elem.  II  491),  riihrt  her  von  den  MuskeLu,  die 
die  Kopfhaut  spannen  und  von  den  Gesichts-  und  Augenmuskeln. 
Doch  handelt  es  sich  hiebei  offenbar  nicht  wesentlich  um  unter- 
stiitzende  sondern  begleitende  Bewegungen.  Solche  Mitbe- 
wegungen  sind  zur  Gewohnheit  geworden,  weil  man  haufig 
Augen  und  Ohren  zugleich  anstrengt,  um  sich  Uber  einen  Gegen- 
stand,  eine  Situation  zu  orientiren.  Zum  kleineren  Teil  mogeu 
sie  auch  auf  augeborener  Association  motorischer  Nervenprocesse 
(Irradiation,  Reflexverbinduug  —  wie  man's  nennen  will) 
beruhen,  die  selbst  wieder  teils  in  friiher  erworbenen  Gewohn- 
heiten,  teils  in  notwendigen  Eigentiimlichkeiten  des  organischen 
Baues  iiberhaupt  griinden  kann^). 


^)  Es  scheint  mir,  dass  Darwin  (Ausdruck  der  Gemiitsbewegungen) 
vielfach  unnotigerweise  Vererbung  von  individuell  erworbenen  (ge- 
wohnheitsmassigen)  Mitbewegungen  annimmt.  Gerade  z.  B.  das  Stirn- 
runzeln  beim  Nachdenken  (9.  Kap.)  kann  auf  die  von  ihm  angegebene 
Weise,  als  Ubertragung  von  den  Aden  des  scharfen  Sehens  nach  fernen 
Gegenstanden,  von  jedem  Individuum  neu  erworben  werden,  ohne  dass 
eine  angeborene  (vererbte)  Disposition  dazu  notig  ware. 


bei  der  Analyse  unci  deni  Heraushoreu.  303 

Auch  bei  der  sg.  binocularen  Farbenmischung  finde  ich  wie 
Fechner  eine  Muskelspannung  in  demjenigen  Auge,  dem  man  die 
Aufmerksamkeit  zuwendet,  urn  die  betreffende  Farbe  in  der  Mischung 
hervortreten  zu  lassen.  Sie  hat  wahrscheinlich  keinen  wirklichen 
Nutzen  fiir  den  beabsichtigten  Zweck   und  ist  doch  unvermeidlich. 

Dass  man  beim  Lauschen  die  Augeu,  selbst  den  Mund,  nach 
der  bezuglichen  Seite  wendet,  ist  bereits  ofter  (von  Lotze,  von 
Fechner  Binoc.  Sehen  539)  betont  worden.  Eine  hiibsche  Be- 
merkung,  die  man  leicht  bestatigen  kann,  macht  Kessel  (A.  f.  0. 
XVIII,  1882,  S.  125):  „Halt  man  einen  Beobachter  an,  nur  auf 
Eine  Uhr  (von  zwei  Taschenuhren,  die  an  beide  Ohren  verteilt 
werden)  zu  horen,  die  andere  aber  zu  iiberhoren,  unter  dem  Vor- 
wand,  dass  dies  moglich  sei,  so  dreht  er  bei  dem  vergeblichen  Be- 
miihen,  der  Aufforderung  nachzukommen,  umvillkurlich  die  Augeu 
nach  der  Seite,  wo  die  unmogliche  Wahrnehmuug  gemacht  werden 
sollte."  Dies  verhalt  sich  auch  ahnlich,  wenn  man  mit  einer  Person 
spricht,  wahrend  man  auf  eine  andere  horen  will.  Man  muss 
sich  dann  sehr  iu  Acht  nehmen,  dabei  die  Augen  nicht  hinuber- 
zudrehen  ^). 

In  einer  Abhandlung  uber  die  Physiologic  und  Pathologic  der 
Acusticusreflexe  (Ungarische  Akademie  1885,  mir  nur  aus  dem  Be- 
richt  in  der  Z.  f.  0.  1885  S.  335  bekannt)  statuirt  A.  Hogyes 
eine  Association  zwischen  dem  akustischen  Centrum  und  dem  der 
Augenbewegungen,  und  erwahnt  Versuche  an  Hysterischeu,  auch 
im  hypnotisirten  Zustand.  „Lasst  man  vor  einer  Hysterischen  die 
Stimmgabel  ertonen,  dann  wendeu  sich  beide  Augen  gegen  die  Ton- 
quelle  bin.  Tout  die  Stimmgabel  iiber  dem  Kopf,  so  wenden  sich 
beide  Augen  und  convergiren." 

t)ber  Bewegungen  der  Sauglinge  (Spannung  ira  Auge  und  Lid- 
schlag)  bei  Schalleindrucken  s.  Preyer,  Seele  d.  Kindes  51 — 55,  113. 
Bei   einem  halbjahrigen  Kinde    babe    ich  beobachtet,    dass  es  die 


^)  Auf  solcherlei  Erfahrungen  an  sich  selbst  oder  Anderen  mag  be- 
ruhen,  was  Galton  (Inquiries  into  human  faculty  1883,  p.  157)  von  einer 
Dame  berichtet,  in  deren  Phantasie  gedruckte  Worter  immer  die  Yor- 
stellung  von  Gesichtern  hervorriefen :  das  Wort  „ Attention"  hatte  ein 
Gesicht,  welches  die  Augen  gewaltig  nach  links  drehte. 


304  §  22.  Function  der  Aufmcrksamkeit 

Augen  uacb  der  betreffenden  Seite  drehte,  als  icb  ibm  die  Taschen- 
uhr  abwecbselnd  vor  das  recbte  uud  linke  Ohr  bielt. 

Bei  deu  im  §  24  zu  erwahuenden  Yersucben  mit  meinem 
Sobue  Rudolf  fiel  mir  auf,  dass  er  iu  der  letzten  Versucbsreihe 
vor  Abgabe  des  Urteils  meistens  mebreremale  bintereinander  kraftig 
blinzelte.  Auf  Befragen  meiute  er,  cs  gebe  so  leicbter.  Das 
uamlicbc  komiscbc  Zwinkeru  stellte  sicb.  verbunden  mit  Empor- 
ziebeii  der  Augenbraueu.  Jabre  biiidurcb  bei  einem  meiuer  Freuude 
ein,  ^Yenu  irgeud  ciue  nicbt  augeublicklicb  zu  erledigeude  Frage 
oder  Mitteiluug  seiu  geistigcs  odor  gemiitlicbes  Gleicbgewicbt  storte. 
An  mir  selbst  beobacbte  icb  das  scbou  erwabnte  uuwillkurlicbe 
Augenscbliesseu  (eiues  oder  beider  Augen)  beim  Sucben  uacb  Bei- 
tonen  in  schwereu  Fallen,  aber  aucb  bei  sonstigen  feineren  Wabr- 
nehmuugen  im  Tongebiet.  Beim  Sucben  nacb  Corabinationstonen 
wabreud  des  eigeneu  Yiolinspiels  scbloss  icb  zeitweise  gern  das 
linke  Auge,  wiibrend  sicb  die  Aufmerksamkeit  auf  das  recbte  Ohr 
conceutrirte.  Man  wird  gelegentlicb  bei  Weinpriifungen  Abnlicbes 
beobacbten  konueu.  Es  muss  dabiugestellt  bleiben,  ob  diese  Be- 
wegungen  nocb  einen  auderen  Nutzen  baben,  als  dass  sie  die  Ab- 
lenkung  der  Aufmerksamkeit  verbiiten.     Notwendig  sind  sie  nicbt. 

Nicbt  leugnen  wollen  wir  eudlicb,  dass  in  mancben  Fallen  Be- 
wegungen,  besonders  solcbe  von  ausgiebiger  Art,  das  Denken  in- 
direct unterstutzen  konneu  durcb  Beforderung  der  Blutcirculation 
(vgl.  Bain,  Feke  und  Ribot  in  des  Letzteren  Psycb.  de  I'Attention 
S.  30)  oder  aucb  durcb  eiue  Art  von  katbartiscber  Entladung 
zuruckgebaltener  Affecte  u.  dgl.  Aber  dies  bat  mit  der  obigen 
These  nicbts  zu  scbaffen. 

Ribot  stiitzt  die  Muskeltbeorie  durch  allgemeine  Anscbauungen, 
wie  z.  B.  dass  jeder  Gedanke  selbst  scbon  ein  Anfang  von  Muskel- 
tatigkeit  sei  (das.  S.  20),  sowie  durcb  pbysiologiscbe  Deductionen. 
welche  nicbt  uberzeugen  (S.  32  f.);  beziiglich  der  willkiirlicben  Auf- 
merksamkeit speciell  nocb  dadurcb,  dass  der  Wille  nur  auf  Muskeln 
wirken  konne  (S.  73),  was  wir  aber  bestreiten,  und  durcb  Einzel- 
betracbtungen  uber  die  Wirkung  des  Aufmerkens  auf  Empfindungen, 
Pbantasiebilder  und  abstracte  Begriffe  [S.  74  f.).  Bezuglicb  der  Em- 
pbnduugen,   die   uns   bier  naber  interessiren,   beruft   er   sicb   aber 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  305 

ausserst  kurz  auf  das  Gesetz  der  Relativitat,  das  wir  nicht 
anerkennen,  und  iibergeht  gerade  die  Erscheinungen  beim 
Horen,  auf  die  es  hier  am  meisten  ankommt,  mit  Stillschweigen. 
Endlich  ist  auch  das  Argument,  dass  Gefuhle  unentbehrliche  Vor- 
bediugungen  der  Aufmerksamkeit  und  jedes  Gefiiiil  mit  Bewegungen 
verkniipft  sei  (S.  165 — 175),  fiir  mich  nicht  iiberzeugend,  da  ich 
beide  Pramissen  nicht  fiir  allgemein  erwiesen  halte,  wenn  sie  auch 
fiir  hohere  Grade  der  genannten  Zustande  zutreffen.  Aber  auch 
fiir  diese  Falle  wiirde  nicht  folgen,  dass  die  Bewegungen  (Be- 
wegungsempfinduugen)  constitutive  Momente  der  Aufmerksamkeit 
selbst  waren,  wie  dies  Ribot  behauptet. 

Wenn  demnach  die  Verstarkung  eines  aufmerksam  heraus- 
gehorten  Tones  nicht  auf  Muskeltatigkeit  zuriickzufiihren  ist, 
so  bleibt  nur  iibrig,  sie  als  Folge  eines  im  sensiblen  Nerven 
(Ganglion)  central  erregten  Processes  anzusehen.  Wir  haben 
keinen  Grand,  die  Moglichkeit  centrifugal  laufender  sensibler 
Erreguugen,  wie  sie  fiir  die  „Innervationsempfindungen"  postu- 
lirt  werden,  zu  leugnen.  Auch  bei  der  blossen  Phantasievor- 
stellung  eines  Tones,  wenigstens  der  willkiirlichen,  findet  wol 
eine  solche  statt^).  Bei  Verstarkung  einer  Empfindung  durch 
Aufmerksamkeit  dringt  sie  vielleicht  (aber  keineswegs  not- 
wendig)  bis  in  die  Nahe  des  Organes  vor  oder  in  dasselbe 
hinein^).  Bei  willkiirlicher  Verstarkung  miissen  wir  also  folge- 
recht  dem  Willen  einen  directen  Einfluss  auf  sensible  Nerven 
(Ganglien)  zuschreiben,  ahnlich  wie  er  einen  solchen  auf  mo- 
torische  iibt.  Auch  dieser  Consequenz  diirfte  Tatsachliches  nicht 
im  Wege  stehen. 

Dabei  ist  es  nicht  notwendig,  dass  die  Richtung  dieser 
Innervation  gleich  Anfangs  genau  dem  Tone  entspricht,  den  wir, 
wenn  sie  beendigt  bez.  im  Organ  angelangt  ist,  starker  heraus- 
horen. Man  hat  oft,  wie  unter  4.  erwahnt  wurde,  statt  einer 
genauen  nur  eine  beilaufige  Vorstellung  des  Tons,  den  man 
durch  Aufmerksamkeit  heraushoren  will.  Der  Oberton  springt 
dann,  wenn  man  mit  der  suchenden  Phantasie  auch  nur  in  die 

^)  Vgl.  Henle,  Anthropologische  Vortrage  II  49. 
^)  KussMAUL,  Die  Storuugen  der  Sprache  187. 

Stumpf,  Tonpsychologie.     U.  20 


306  §  22.  Function  dcr  Aufmerksamkeit 

Nahe  kommt,  hervor  unci  waclist  zur  volleii  Starke  heran^). 
Der  centrifugale  Nervenprocess  erlangt  also  erst  wahrend  seiner 
Dauer  bez.  seines  Verlaufes  die  genaue  Determination,  gleicli- 
sam  wie  ein  Bach,  der,  an  der  Wasserscheide  entsprungen,  im 
Ganzen  nach  Norden  fliesst,  aber  durcb  mancherlei  Einfliisse  in 
seiner  Riclitung  naher  determinirt  wird,  oder  wie  am  beschlagenen 
Fenster  ein  vom  oberen  Rande  kommender  Tropfen  durch  die 
am  Wege  liegenden,  mit  denen  er  sicb  vereinigt,  bestandig  ein 
wenig  abgelenkt  wird,  obgleich  er  die  allgemeine  Riclitung  bei- 
behalt.  In  der  bereits  centripetal  erregten  Faser  (Ganglion) 
findet  der  centrifugale  Process  Unterstiitzung,  anderwarts  nicht. 
Beide  Erregungen  summiren  sich  hier,  der  Ton  wird  merklich, 
und  nachdem  er  es  geworden,  ist  der  willkiirlichen  Verstarkung 
ihre  genaue  Richtung  vorgezeichnet.  Auch  wendet  er  sich,  wie 
aus  den  Beobachtungen  zu  schliessen,  nur  Einem  von  beideu 
Ohren  zu,  wenn  die  Wirkung  merklich  sein  soil;  mag  man  sich 
dies  BegUnstigen  Eines  Ohres  wirklich  als  ein  Hinlaufen  zu  dem 
Organ  oder  als  irgend  einen  Yorgang  innerhalb  des  akustischen 
Centrums  denken. 

Die  Innervation,  von  der  hier  die  Rede  ist,  bleibt  natiir- 
lich  als  solche,  wie  auch  die  motorische,  uns  vollig  unbewusst. 
Was  wir  dabei  spiiren,  sind  nur  etwa  jene  gelegentlich  beglei- 
tenden  Muskelspannungen,  die  mit  der  sensiblen  Innervation 
als  solcher  nichts  zu  tun  haben.  Ausserdem  sind  wir  uns  des 
Willens  und  Dessen,  was  wir  wollen,  bewusst.  Dann  nachdem 
es  erreicht  ist,  auch  des  Effectes,  der  zunehmenden  Tonstarke. 
Aber  nicht  Dessen,  was  dazwischen  liegt.  Die  Erzeugung  eines 
Nervenprocesses  durch  die  unwillkiirliche  oder  willkiirliche  Auf- 


*)  Mit  Riicksicht  darauf  sprachen  wir  oben  zu  Anfang  von  5.  von 
einer  Verstarkung  der  herausgehorten  oder  herauszuhorenden  Klang- 
teile.  Es  ist  moglich,  dass  die  Verstarkung  bereits  im  Keime  beginnt, 
ehe  noch  die  Teilwahrnehmung,  ja  sogar  bevor  die  Analyse  eintritt,  und 
jedenfalls  schreitet  sie  gleichzeitig  mit  der  immer  volleren  Verdeutlichung 
des  Teiltones  fort  und  bildet  eine  Controle  fur  die  Richtigkeit  der  ana- 
lysirenden  Wahrnehmung,  sodass  man  sagen  kann,  sie  gehe  wenigstens 
der  voile n,  evidenten  Analyse  voraus. 


bei  der  Analyse  unci  dem  Heraushoren.  307 

merksamkeit  gibt  niclit  eine  besondere  Empfindung.  Ich  er- 
wiihiie  dies  wegen  der  unklaren  Vorstellungen,  die  sich  mit 
dem  Wort  „lnnervation"  verkniipft  haben. 

Nach  dem,  was  wir  iibcr  das  Wahrnehmen  und  die  Ver- 
starkung  von  Teiltoiien  horten,  muss  der  Erfolg  der  sciisiblen 
Innervation  nicht  unabhangig  von  der  tJbung  und  von  indivi- 
duellen  Unterschieden  sein.  Ahnliches  gilt  ja  aucli  von  der 
motoriscben  Innervation. 

Soviel  also  iiber  die  Verstarkung.  Wir  diirfen  sie  (um  es 
wiederholt  zu  betonen),  in  welcbem  Umfang  und  welcber  Weise 
sie  auch  erfolge,  keinesfalls  als  die  eigentlicbe  und  wesentlicbe 
sondern  nur  als  eine  beilaufige,  die  Haupttatigkeit  unterstiitzende 
Leistung  der  Aufmerksamkeit  ansehen.  Das  Walirnebmen  eines 
Klangteiles  durcb  Horcben  erfolgt  in  vielen  Fallen  obne  materielle 
Veriinderung  des  Klanges  und  seiner  Teile,  insbesondere  obne 
einen  Starkezuwacbs  des  Wabrgenommenen.  Wo  ein  soldier  mit 
der  Analyse  zugleicb  eintritt,  da  gereicbt  er  natiirlich  der- 
selben  zum  Vorteil.  Der  analysirte  Klang  ist  dann  freilich 
genau  gesprocben  nicbt  mebr  ganz  derselbe,  welcber  zu  ana- 
lysiren  war.  Doch  sind  seine  Bestandteile  wenigstens  quali- 
tativ  unveriindert,  und  fallt  die  geringfUgige  Anderung  in 
der  relativen  Starke  der  Teile  auch  wieder  binweg,  wenn 
sich  die  Aufmerksamkeit  zum  Ganzen  zuriickwendet,  wahrend 
der  Gewinnst  grosserer  Deutlicbkeit  in  Hinsicht  der  vorher 
berausgehorten  Teile  dann  gleichwol  fiir  das  Ganze  zuriick- 
bleibt. 

Auch  lasst  sich  vermuten,  dass  den  schwacben  Tonen  durcb 
die  Verstarkung  gleichsam  nur  Dasjenige  zuriickgegeben  wird, 
was  ihnen  von  den  gleichzeitigen  Tonen  entzogen  wurde,  sodass 
nun  wenigstens  anniihernd  diejenige  Empfindungsstarko  her- 
gestellt  wird,  die  ihnen  zufolge  der  Reizverbaltnisse  zukommen 
miisste,  wenn  sie  isolirt  empfunden  wiirdon.  Insofern  liesse  sich 
auch  sagen,  dass  der  analysirte  Klang  erst  durcb  die  Ver- 
starkung der  Teiltone  sich  dem  Eindruck  niihert,  wie  wir  ibn 
der  Objectivitat  gemass  horen  miissten.  (Vgl.  I  374.)  Die  Ver- 
anderung  des  zu  Analysirenden  liesse  sich  also  bier  teleologiscb, 

20* 


308  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

im  Interesse  der  objectiven  Zuverlassigkeit  des  Urteils,  recht- 
fertigen,  wahrend  sie  soiist  teleologisch  absurd  erscheint. 

7.    1st    es    moglich,    streng    gleichzeitig    mehrere 
Klangteile  aufmerksam  herauszuhoren? 

Es  verstebt  sich  von  selbst,  dass  uberall,  wo  eine  aufmerk- 
same  Analyse  im  engsten  Sinn  dieser  Worte  stattfiiidet,  gleich- 
zeitig eine  Mehrheit  von  Tonen  (Klangen)  mit  Aufmerksamkeit 
wabrgenommen  wird.  Die  Analyse  bestebt  ja  nacb  unsrer  De- 
finition eben  in  der  Wabrnebmung  einer  Mebrbeit.  Aber  da- 
mit  ist  die  Frage  binsicbtlicb  des  gleicbzeitigen  Herausborens 
einzelner  Glieder  nocb  nicbt  erledigt.  Die  Meisten  werden  sogar 
geneigt  sein,  sie  bier  zu  verneinen.  Es  scbeint  ibnen  gleicbsam 
in  der  Natur  des  Aufmerkens  zu  liegen,  dass  immer  nur  Eines 
im  Vordergrund  steht.  So  ganz  apriori  kann  dies  aber  docb 
nicbt  bingestellt  werden.  Es  konnte  sicb  nur  etwa  um  den 
vereinigten  Eindruck  der  Erfabrungen  oder  um  eine  schnell  in 
der  Pbantasie  anzustellende  und  jederzeit  zu  wiederbolende 
Probe  bandeln.  Auf  Grund  solcber  Zeugnisse  konnte  Einer  zu 
der  Meinung  kommen,  dass  ein  scbeinbar  gleicbzeitiges  Heraus- 
horen  immer  nur  auf  dem  scbnellen  Wecbsel  in  der  Ricbtung 
der  Aufmerksamkeit  berube.  Allein  wie  will  er  dieses  „iEQmer" 
beweisen,  wenn  ein  Anderer  an  sicb  auch  nur  in  wenigen 
Fallen  deutlicb  ein  streng  gleicbzeitiges  Herausboren  beobacbtet 
haben  will?  Uberdies  bezieben  sich  jene  Erfabrungen  vor- 
wiegend  auf  zusammengesetztere  Falle,  wie  diejenigen  des  Auf- 
merkens auf  zwei  gleicbzeitige  Reden,  wo  es  sich  nicbt  bios 
darum  handelt  sie  zu  horen,  sondern  auch  sie  zu  verstehen, 
also  zwei  Gedankenreihen  zugleich  zu  begen.  Auch  die  Er- 
fabrungen am  Gesichtssinn  mogen  Viele  bestimmen,  wo  aber  die 
Notwendigkeit  eines  abwecbselnden  Fixirens  mehrerer  Gegen- 
stande  (von  einer  gewissen  Grosse  an)  nur  durch  den  Bau  der 
Netzbaut  bedingt  ist,  die  uns  nur  eine  kleine  Stelle  fiir  das 
deutlicbe  Sehen  zur  Verfiigung  stelit. 

Nacb  unsren  allgemeinen  Erorterungen  lasst  sich  obige 
Frage  auch  so  aussprecben:  Ist  es  moglich,  dass  mebreren  Tei- 
len   eines   analysirten   Erapfindungsganzen  zu  gleicher  Zeit  ein 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  309 

besonderes  (nicht:  ein  ausschliessliches)  Interesse  zugewandt 
ist?  So  die  Frage  gestellt,  ist  von  vornherein  zu  vermuten, 
dass  die  Moglichkeit  im  Allgemeinen  vorliegt  und  es  sich  nur 
darum  handeln  wird,  die  Bedingungen  eines  solchen  Vorkomm- 
nisses  genauer  anzugeben.  Dazu  gehoren  nun  gewiss  eine  grossere 
individuelle  Fertigkeit  im  Analysiren  und  Heraushoren  iiber- 
haupt  und  in  der  festen  Richtung  der  Aufmerksamkeit  auf  be- 
stimmte  Teile  eines  Klangganzen.  Ausserdem  aber  ist,  wie  mir 
scheint,  das  gleichzeitige  aufmerksame  Heraushoren  oder  Be- 
achten  mehrerer  Componenten  an  zwei  allgemeine  Bedingungen 
gekniipft: 

a)  Die  Componenten  miissen  als  Glieder  eines  bestimm- 
ten  Verhaltnisses  aufgefasst  werden,  welches  zu  dem  Ver- 
haltnis  der  blossen  Gleichzeitigkeit  noch  hinzukommt,  z.  B.  als 
Glieder  eines  gewissen  Intervalles  (ohne  dass  dieses  dem  Namen 
nach  bekannt  zu  sein  braucht).  Ja,  wenn  in  einem  solchen 
Fall  das  Interesse  sich  dem  Verhaltnis  als  solchem  zuwendet, 
so  kann  es  nicht  bios,  sondern  muss  es  zugleich  beiden  Glie- 
dern  zugewandt  sein.  So  ist  es  z.  B.  beim  Stimmen  eines  Inter- 
valles. Es  sei  die  Aufgabe,  zwischen  der  e^-Saite  einer  Violine 
und  der  a^-Saite  das  reine  Quinten verhaltnis  herzustellen.  Ob- 
gleich  die  Manipulation  sich  in  diesem  Fall  gewohnlich  nur  auf 
die  eine  der  beiden  Saiten  erstreckt,  indem  die  andere  vorher 
fest  gegeben  ist,  so  setzt  doch  das  Urteil,  ob  bei  einer  ge- 
wissen Hohe  der  e^-Saite  das  reine  Quinten  verhaltnis  erreicht 
sei  oder  nicht,  allemal  ein  streng  gleichzeitiges  Aufmerken  auf 
beide  Tone  voraus  ^).  Ware  die  Aufmerksamkeit  immer  nur  ab- 


*)  Es  geschieht  wahreud  des  Stimmens  auch  gelegentlich,  dass  man 
die  einzelnen  Saiten  fiir  sich  angibt.  Dies  hat  teils  den  Zweck,  ihre 
sg.  Reinheit  im  isolirten  Zustand,  namlich  ihre  gleichmassige  Structur 
zu  constatiren  (der  Ton  unreiner  Saiten  hat  etwas  unsicher  Schwanken- 
des  und  Naselndes),  teils  den  Zweck,  sich  die  genaue  Hohe  der  Saite 
auch  einmal  im  isolirten  Zustand  einzupragen,  was  fiir  den  Musiker 
zwar  nicht  zur  Analyse  des  Zusammenklanges  notwendig,  aber  zur  Er- 
leichterung  des  Geschaftes  der  Aufmerksamkeit  beim  nachherigen  Inter- 
vallurteil   doch   zuweilen   angenehm  ist.    Mit  diesem,    der  eigentlichen 


310  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

wechselnd  auf  den  einen  und  daiin  auf  den  anderen  Ton  ge- 
richtet,  so  kounte  sie  niemals  auf  das  Verhaltnis  beider  ge- 
richtet  sein,  da  das  Verhaltnis  eben  nur  in  seinen  Gliedern 
wahrnehmbar  ist. 

Dasselbe  findet  statt,  wenn  einer  von  mehreren  Tonen 
audi  nur  als  der  hohere  oder  tiefere  gegeniiber  einem  anderen 
erkannt  wird:  die  Aufmerksamkeit  muss  auch  dann  notwendig 
auf  den  anderen  mit  gerichtet  sein. 

Auf  diese  Art  konnen  wir  aber  nicht  bios  zwoi  sondern 
aucb  eine  grossere  Anzahl  von  Componenten  zugleicli  beachten, 
wenn  wir  sie  z.  B.  alle  als  untereinander  consonirend  erkennen, 
wie  beim  Drei-  oder  Vierklang,  vorausgesetzt,  dass  dies  nicbt 
bios  aus  dem  Fehlen  von  Schwebungen  oder  aus  sonstigen 
Kennzeichen  erschlossen,  sondern  aus  den  Tonen  selbst  un- 
mittelbar  erkannt  wird,  und  auch  dieses  nicht  in  einer  Reihe 
aufeinanderfolgender  Vergleichungen  je  zweier  von  ihnen,  son- 
dern in  Einem  Urteilsact.  Man  kann  zwar  die  Frage  aufwerfen, 
ob  wir  iiberhaupt  in  irgend  einer  Beziehung  mehr  als  zwei 
Elemente  auf  einmal  vergleichen  konnen.  Es  scheint  mir  dies 
aber  nicht  schlechterdings  unmoglich;  zum  miudesten  diirfte, 
wenn  ein  paarweises  Vergleichen  vorausgegangen  ist,  ein  solches 
geistiges  Zusammenschauen  des  Vielen  in  Einem  Blick  (Plato's 
Ovi^Ldsiv)  moglich  sein. 

Vielleicht  muss  man  noch  unterscheiden  zwischen  dem 
Fall,  wo  die  Aufmerksamkeit  dem  Verhaltnis  als  solchem  zu- 
gewandt  ist  z.  B.  dem  Intervall,  wiihrend  die  Tone  nur  eben 
als  Glieder,  als  Materie,  Fundament  des  Verhaltnisses  mit- 
beachtet  werden  mlissen,  und  dem  Fall,  wo  die  Aufmerksam- 
keit auf  die  Tone  direct  und  primar  gerichtet  ist,  wahrend  deren 
Verhaltnis  nur  eben  als  conditio  sine  qua  non  des  gleichzeitigen 
aufmerksamen  Vorstellens  mitbeachtet  wird.  Im  ersten  Fall 
batten  wir  ein  Interesse  an  den  Tonen  nur  s.  z.  s.  um  des  Ver- 


Stimm- Arbeit  von  ihrer  psychologischen  Seite,  hat  jenes  Verfahren  direct 
nichts  zu  tun. 

Zuzugeben  ist  auch,  dass  eine  gleichmassige  Verteilung  der 
Aufmerksamkeit  in  unsrem  Falle  uur  sehr  kurze  Zeit  statthat.    S.  u. 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  311 

haltnisses  willen,  im  zweiten  umgekehrt.  Es  scheint  mir  aller- 
dings,  dass  diese  Falle  einen  wirklichen  Unterschied  unsrer  je- 
weiligen  Gefiihlsverfassung  ausmachen.  Aber  wir  wollen  die 
etwas  spitzige  Frage  hier  auf  sich  beruhen  lassen,  da  ich  Nichts 
dariiber  vorzubringen  wiisste  als  dass  es  mir  so  scheint,  und 
daher  anders  Denkende  nicbt  zu  iiberzeugen  vermochte  ^). 

^)  Die  Notwendigkeit,  eine  Vielheit  von  Objecten  in  einer  gewissen 
Beziehung  zu  einander  zu  denken,  wenn  man  sie  zugleich  mit  Aufmerk- 
samkeit  auf  jedes  einzelne  vorstellen  will,  ist  ofters  von  Psychologen 
betont.  Thomas  von  Aquino  sagt  (und  die  Lehre  geht  auf  Aristoteles 
zuriick):  „Intellectus  noster  non  potest  simul  actu  cognoscere  nisi  quod 
per  unam  speciem  cognoscit."  (Summa  theologica  p.  I  q.  86  a.  2  corp.) 
Beziiglich  des  sinnlichen  Vorstellens  s.  Lotze  in  „Seele  und  Seelenleben", 
Wagner's  Hdw.,  abgedr.  in  den  „Kleinen  Schriften"  II  114. 

LoTZE  verlangt  hier  speciell  eine  „drarQatische  Beziehung".  „Zu- 
gleich  sich  eine  Schlange  und  einen  Lowen  vorzustellen,  ist  unerreich- 
bar;  den  Kampf  beider  konnen  wir  dagegen  wol  vorstellen,  obgleich 
auch  hier  die  Aufmerksamkeit,  wenn  sie  von  diesem  Verhaltnisse  sich 
auf  die  Gestalt  der  Kampfer  scharfer  richten  woUte,  immer  nur  von  der 
einen  abwechselnd  zur  anderen  tiberspringen  wiirde."  Diese  Behauptung 
hangt  hier  zusammen  mit  der  anderen,  dass  wir  nur  durch  Reproduction 
eigener  „Strebungen"  etwas  deutlich  und  vollstandig  vorstellen  konnten; 
weshalb  wir  uns  z.  B.  einer  Melodic  nur  dann  erinnerten,  „wenn  wir  sie, 
was  fast  immer  zu  gescbehen  pflegt,  selbst  mit  leisen  innerlichen  Stre- 
bungen  begleitet  haben".  So,  meint  Lotze,  miissen  wir  uns  in  den 
Lowen  und  die  Schlange  als  Selbstkampfende  hineindenken,  um  sie 
gleichzeitig  vorstellen  zu  konnen.  Diese  Lehre  von  der  notwendigen 
Vermittelung  der  eigenen  Strebungen  bat  er,  scheint  es,  spater  auf- 
gegeben.  wie  sie  denn  auch  sehr  bestreitbar  ist.  Damit  fallt  auch  der 
Grund,  speciell  eine  „dramatische"  Beziehung  zwischen  der  gleichzeitigen 
Mehrheit  von  Objecten  zu  verlangen. 

Von  Interesse  ist  es,  dass  Lotze  in  dem  Lowenbeispiel  nur  den 
ersteu  der  oben  unterschiedenen  Falle  fiir  moglich  halten  will:  dass 
namlich  die  Aufmerksamkeit,  solange  beide  Objecte  wirklich  zugleich 
vorgestellt  werden  sollen,  primar  auf  das  Verhaltnis  als  solches  gerichtet 
und  die  Objecte  nur  mitbeachtet  werden.  Ubrigens  ist  der  Gesichtssinu 
zur  Discussion  dieser  ganzen  Frage  weniger  geeignet  wegen  des  schon 
oben  erwahnten  Umstandes.  Wie  wir  durch  die  Kleinheit  der  Stelle  des 
deutlichen  Sehens  beim  wirklichen  Sehen  aller  einigermassen  grosseren 
Gegenstande  zu  Bewegungen  genotigt  sind,  so  miissen  wir  auch,  scheint 
mir,  in  der  blossen  Phantasie  zwei  Gesichtsobjecte  sehr  klein  und  sehr 


312  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

b)  Die  Aufmerksamkeit  muss  sich  unter  die  mehreren 
gleichzeitig  zu  beachtenden  Tone  verteilen.  Eben  darum  sind 
giinstige  Bedingungen  im  Subject  und  den  Umstanden  notig, 
damit  trotz  solcher  Teilung  den  einzelnen  Tonen  nocb  ein  merk- 
licbes  gesondertes  Interesse  verbleibe;  fiir  weniger  Geiibte  wird 
es  in  solchen  Fallen  besonders  niitzlich  sein,  die  Componenten 
vorher  einzeln  zu  horen  und  sich  einzupragen,  gleichsam  das 
Interesse  daranzubeften. 

Dass  wir  etwas  „mit  geteilter  Aufmerksamkeit"  horen  oder 
sehen,  ist  zwar  eine  bekannte  Sache  und  eine  gebrauchliche 
Redeweise  („Pluribus  intentus  minor  est  ad  singula  sensus"), 
bedarf  aber  nur  in  den  Fallen  keiner  weiteren  Erlauterung,  in 
welchen  die  Teilung  darin  besteht,  dass  wir  mit  der  Aufmerk- 
samkeit zwischen  mehreren  Objecten  bin  und  her  gehen.  Fiir 
den  Fall  streng  gleichzeitiger  Aufmerksamkeit  dagegen  entsteht 
die  Frage,  in  welchem  Sinn  iiberhaupt  ein  psychischer  Zustand 
und  speciell  ein  GefUhl  sich  teilen  konne.  Ware  es  nicht 
richtiger  zu  sagen,  dass  zwei  Aufmerksamkeiten  vorhanden  sind, 
zwei  Gefiihle  gleicher  Art,  aber  geringerer  Intensitat,  wie  die 
ungeteilte  Aufmerksamkeit? 

Die  Frage  kann,  wie  man  sogleich  sieht,  fiir  beliebige 
andere  Gefiihle  ebenso  gestellt  werden.  Wenn  tells  die  aussere 
Erscheinung,  teils  der  Charakter  eines  Menschen  mir  Abscheu 
einflosst,  oder  auch  die  Erscheinung  Abscheu,  der  Charakter 
Achtung,  so  wird  man  kaum  einen  blossen  Wechsel  beider  Ge- 
fiihle, vielmehr  auch  ein  gleichzeitiges  Vorhandensein  annehmen 
miisson,  also  sogar  auch  eine  Gleichzeitigkeit  entgegenge- 
setzter    Gefiihlsqualitiiten.     Der  tjbergang    des    blossen   Wett- 


nahe  aneinauder  vorstellen,  wenn  wir  sie  zugleich  aufmerksam  vorstellen 
woUen.  Auf  das  optische  Vorstellungsfeld  scheinen  in  dieser  wie  in 
vielen  anderen  Beziehungen  (z.  B.  in  der  Unmoglichkeit,  ein  Ding  hinter 
einem  anderen  vorzustellen)  die  Eigenschaften  des  Sehfeldes  iibergegangen 
zu  sein.  Soviel  ist  gewiss,  dass  wir  Gesichtsdinge,  die  wir  aufmerksam 
vorstellen  woUen,  in  die  Mitte  des  Vorstellungsfeldes  legen;  woraus  sich 
schon  ergibt,  dass  sie  einander  naheriicken.  Vgl.  auch  Binet,  La  Vision 
mentale,  Revue  philos.  XVII  (1889)  365. 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  313 

streits  in  Gleichzeitigkeit  scheint  um  so  leichter  einzutreten,  je 
wesentlicher  und  vielfaltigcr  die  wahrgenommenen  Beziehungen 
zwisclien  den  Objecten  sind.  Ganz  gewiss  findet  Gleichzeitig- 
keit  statt,  wenn  wir  Eines  um  des  Anderen  willen  lieben,  hassen, 
furcliten,  ersehnen  u.  s.  f. 

Aber  sicherlich  ist  es  in  diesen  Fallen  wie  in  dem  der  Auf- 
merksamkeit  unrichtig,  von  zwei  Lieben,  Furchten,  Sehnsucbten, 
Aufmerksamkeiten  zu  reden.  Schon  die  Sprache  straubt  sich 
mit  psychologischem  Tacte  dagegen  (obgleich  nicht  ganz  aus- 
nahmslos,  was  man  von  ihr  auch  nicbt  verlangen  kann),  Es 
ist  Ein  Gefiihlszustand;  aber  er  hat  mehrere  Seiten  oder  Teile. 
Was  das  besagen  will,  lehrt  uns,  wie  in  anderen  Fallen,  wo 
wir  von  Teilen  oder  Seiten  reden,  keinerlei  bios  begriffliche 
Untersuchung  sondern  zuerst  wie  zuletzt  immer  nur  die  Be- 
obachtung;  und  so  wollen  wir  uns  auch  iiber  die  Moglichkeit 
der  Sache  hier  nicht  weiter  den  Kopf  zerbrechen. 

Nicht  minder  ist  es  Aussage  der  Beobachtung,  dass  die 
Teilgefiihle,  und  so  hier  die  Aufmerksamkeitsteile,  geringere  In- 
tensitat  besitzen  als  ein  ungeteiltes  Gefiihl  fiir  sich  allein  be- 
sitzen  kann.  Es  ist  s.  z.  s.  ein  disponibler  Fouds  von  Aufmerk- 
samkeit  in  jedem  Moment  vorhanden,  in  den  sich  die  einzelnen 
Tone  teilen  miissen.  Nur  darf  man  das  Gleichnis  nicht  so  weit 
treiben,  die  Intensitat  der  ungeteilten  Aufmerksamkeit  gleich 
der  Summe  der  Aufmerksamkeitsteile  zu  setzen:  da  der  Be- 
griff  addirbarer  Intensitaten  hier  wie  bei  den  Empfindungen 
absurd  ist. 

Dagegen  lehrt  wieder  die  Beobachtung,  dass  die  Teilung 
der  Aufmerksamkeit  eine  gleichmassige  und  eine  ungleich- 
massige  sein  kann,  dass  die  Aufmerksamkeit  dem  einen  Ton 
mit  grosserer,  dem  anderen  mit  geringerer  Intensitat  zugewandt 
sein  kann.  Dieses  z.  B.  wenn  uns  in  einem  Accord,  dessen 
Tone  wir  alle  wol  beachten,  doch  Einer  ganz  besonders  auf- 
fallt,  wie  etwa  die  Durterz  im  Dreiklang  (der  „charakteristische 
Ton")  wahrend  eines  Mollstiickes.  Dagegen  ware  es  unrichtig, 
zu  sagen,  dass  beim  Horen  eines  unanalysirten  Einzelklanges 
die    Aufmerksamkeit    „vorzugsweise    dem   Grundton   zugewandt 


314  §  22.  Function  der  Anfmerksamkeit 

sei".  Sie  ist  dem  Klang  ausschliesslicli  als  Ganzem  zuge- 
wandt;  dem  Gruudtou  dagegen  weder  ausschliesslich  noch  vor- 
zugsweise. 

Die  verschiedene  Verteilung  der  Aufmerksamkeit  wurde  von 
den  letzten,  etwas  abstracten  Betrachtungen  wieder  zu  concre- 
teren  fiihren,  namlich  zu  der  Frage  nach  den  Umstanden,  durch 
welche  die  Art  der  Verteilung  der  Aufmerksamkeit  auf  die 
Componenten  eines  isolirten  Zusammenklanges,  ferner  das  Wan- 
dem  der  Aufmerksamkeit  innerhalb  eines  solchen,  endlich  das 
Verhalten  der  Aufmerksamkeit  beim  Heraushoren  von  ,,Stimmen" 
innerhalb  einer  Reihe  aufeinanderfolgender  Zusammenklange  be- 
stimmt  wird.  Da  aber  die  Umstande,  welche  hier  massgebend 
sind,  zum  grossten  Teile  nichts  anderes  sind  als  Niederschlage 
musikalischer  Gewohnheiten  oder  Ausfliisse  der  musikalischen 
Vernunft,  deren  Ausbildung  sich  erst  auf  Grund  der  Consonanz- 
und  IntervalUehre  begreifen  lasst,  so  tun  wir  besser,  die  an- 
gedeuteten  Ausfiihrungen  zu  verschieben,  bis  wir  diese  kennen 
gelernt  haben. 

Zwei  Bemerkuugen  iiber  gleichzeitiges  Heraushoren  sollen 
noch  besonders  angefiihrt  werden. 

Zuerst  eine  iiber  gleichzeitiges  Heraushoren  von  Ob  er  ton  en. 
Auch  solche,  mid  iiberhaupt  schwachere  Tone  neben  starkeren, 
kann  man  zu  zweien  gleichzeitig  heraushoren  unter  den  an- 
gegebenen  allgemeiuen  Bedingungen.  Was  aber  diesen  Fall  be- 
sonders erwiihnenswert  macht,  ist  der  Umstand,  dass  (nach 
meiner  Beobachtung  wenigstens)  mit  dem  gleichzeitigen 
Heraushoren  nicht,  wie  mit  dem  einzelner  Obertone, 
eine  Verstarkung  verbunden  ist.  Verstiirken  kann  man  immer 
nur  Einen  auf  Einmal.  Vielleicht  konnte  man  sich  auf  gleich- 
zeitige  Verstarkung  mehrerer  einiiben.  Naturgemass  geht  ja 
unser  Interesse,  wenn  wir  iiberhaupt  etwas  heraushoren  wollen, 
auf  das  Einzelne.  Es  ware  daher  begreiflich,  wenn  selbst  bei 
akustisch  Geiibten  das  gleichzeitige  Verstarken  einer  absicht- 
lichen  und  speciell  darauf  gerichteten  Einlibung  bediirfte,  Sollte 
es  aber  allgemein  und  dauernd  unmoglich  sein,  so  konnte  der 
Grund   darin  liegen,  dass  es  schon  einer  sehr  hohen  und  fest 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren,  315 

auf  ihr  Object  gerichteten  Aufmerksamkeit  bedarf,  um  bei  ein- 
zehien  Tonen  Verstarkung  zu  erzielen,  und  dass  dieser  Grad 
der  Aufmerksamkeit  in  Folge  der  Teilung  hier  nicht  erreicht 
werden  kann. 

Eine  zweite  Bemerkung  betrifft  das  gleichzeitige  Heraus- 
horen von  Tonen,  die  durch  verschiedeneOhren  gebort  werden. 
Fechner  hat,  veranlasst  durch  Beobachtungen  E.  H.  Weber's, 
bei  Geriiuschen  in  solchem  Falle  immer  nur  Wettstreit  finden 
konnen^);  nicht  einen  Wettstreit  der  Empfindungen  (wie  er 
ausdriicklich  S.  542  bemerkt),  aber  einen  solchen  der  Aufmerk- 
samkeit. So  wenn  er  zwei  ahnlich  tickende  Uhren  rechts  und 
links  hielt  oder  sich  vor  den  Ohren  kratzte.  Dagegen  wenn 
er  die  Uhren  vor  ein  und  dasselbe  Ohr  hielt,  vereinigte  sich 
ihr  Ticken,  so  zwar,  dass  er  das  Ticken  der  einen  und  anderea 
iiberhaupt  nicht  auseinander  zu  halten  im  Stande  war. 

Wir  miissen  hier  aber  solche  Falle,  in  denen  es  sich  um 
Erkenntnis  und  Unterscheidung  zweier  gleichzeitiger  Rhythraen 
handelt,  bei  Seite  lassen.  Sie  haben  mit  der  Unterscheidung 
gleichzeitiger  Tone  als  solcher  nichts  zu  tun.  Die  Gleichzeitig- 
keit  zweier  Rhythmen  besteht  ja  nicht  in  der  Gleichzeitigkeit 
ihrer  einzelnen  Schlage  (nur  hie  und  da  werden  periodisch  zwei 
Schlage  zusammenfallen),  sondern  darin,  dass  die  Schlage  des 
einen  und  des  anderen  Rhythmus  sich  zeitlich  durchkreuzen 
und  manichfach  innerhalb  einer  gegebenen  Zeit  mit  einander 
abwechseln.  Die  Schlage  sind  nur  im  Grossen  und  Ganzen 
gleichzeitig.  Die  Aufgabe  der  Sonderung  zweier  Rhythmen  ist 
also  eine  vollstandig  andere  als  die  der  Sonderung  zweier  Tone. 

Dagegen  bieten  die  sonstigen  von  Fechner  erwahnten  Ge- 
rausche  (am  Einfachsten  reibt  man  je  zwei  Finger  an  einander 
vor  jedem  Ohr)  allerdings  das  gleiche  Problem  wie  die  Tone. 
Und  da  kann  ich  nun,  mag  man  Gerausche  oder  Tone  (leise 
angeschlagene  Stimmgabeln  mittlerer  Hohe)  benutzen,  nicht 
finden,  dass  es  unmoglich  ware,  die  Aufmerksamkeit  beiden 
Ohren   gleichzeitig  zuzuwenden.     Es  scheint  mir  nicht  einmal 


1)  Abh.  d.  sachs.  Ges.  d.  Wiss.  VII  (1860)  537  f. 


316  §  22.  Function  der  Aufmerksamkeit 

schwerer  als  gegeniiber  zwei  Tonen  in  Einem  Ohr.  Wenn  ich 
z.  B.  das  ToninteiTall  zweier  rechts  unci  links  verteilter  Gabeln 
als  eine  Quinte  erkenne,  so  ist  meine  Aufmerksamkeit  wahrend 
des  Actes  der  Beurteilung  auf  beide  Ohren  streng  gleichzeitig 
gerichtet  ^), 

Bei  den  Gerauschen  gibt  es  freilich  nicbt  immer  ein  solches 
tonales  Verhaltnis,  als  dessen  Glieder  die  beiden  gleicbzeitigen 
Empfindungen  aufgefasst  werden  konnten,  um  gleichzeitig  Gegen- 
stand  der  Aufmerksamkeit  zu  sein.  Aber  es  kann  ja  auch  das 
bios  locale  Verhaltnis  selbst  benutzt  werden.  Man  vereinigt 
beide  Gerausche  in  der  Auffassung  als  Teile  eines  gemeinsamen 
Ortsbildes. 

Es  soil  iibrigens  nicht  behauptet  werden,  dass  man  Alles  mit 
Allem  zusammen  vorstellen  konne.  Stricker  lehrt,  man  konne  nicht 
zwei  Vocale  zugleich  vorstellen,  und  streitet  hieriiber  mit  Paulhan 
(Revue  philos.  1884.  Anzeiger  der  k.  k.  Gesellsch.  d.  Arzte  in  Wien 
1885  Nr.  14).  Hier  mochte  ich  unterscheiden:  ich  kann  mir  aller- 
dings  nicht  vorstellen,  dass  ich  selbst  zwei  Vocale  zugleich  sprache. 
Aber  ich  glaube  mir  wol  vorstellen  zu  konnen,  wie  es  klingt, 
wenn  zwei  andere  Personen  A  und  0  oder  I  und  U  zugleich 
sprechen,  und  diese  Vocale  auch  unterscheiden  zu  konnen,  voraus- 
gesetzt,  dass  man  in  verschiedener  Tonhohe  spricht,  wie  ein  Mann  und 
ein  Weib,  oder  wenigstens  aus  verschiedenen  Richtungen,  von  rechts 
und  links.  Man  hat  freilich  keine  Veranlassung,  sich  hierin  grossere 
Cbung  zu  erwerben,  well  man  beim  gleicbzeitigen  Reden  Mehrerer 
schon  wegen  der  Unmoglichkeit  des  gleicbzeitigen  Verstandnisses 
nur  Einem  auf  einmal  zuhort.  Das  Verstehen  ist  aber  wieder  eine 
Sache  fiir  sich. 

Scbliesslich  fiige  ich  dieser  Untersuchung  tiber  gleichzeitiges 
Beachten  mehrerer  Tone  zur  Abwehr  von  Misverstandnissen  die 
an   sich  iiberfliissige  Erinnerung  bei,    dass   es  sich  nur  darum 


^)  Dass  man  beim  Heraushoren  von  Beitonen  die  Aufmerksamkeit 
mit  Vorteil  Einem  Ohr  allein  zuwendet,  hat  seine  besonderen  Grunde: 
die  Verstarkung  kann  nicht  auf  beiden  Seiten  zugleich  erfolgen. 
Sonst  wurde  auch  hier  das  doppelseitige  Heraushoren  ebenso  leicht  sein 
wie  das  einseitige. 


bei  der  Analyse  und  dem  Heraushoren.  317 

handeln  konnte,  die  Moglichkeit  und  das  Vorkommen  einer 
solchen  Leistung  der  Aufmerksamkeit  nachzuweisen.  Aber  es 
soil  nicht  bestritten  werden,  dass  eiu  streng  gleichzeitiges  und 
dazu  streng  gleichmassiges  Aufmerken  immer  nur  kurze  Zeit 
anhalten  kann.  Ein  scheinbar  langeres  gleichmassiges  Ver- 
weilen  bei  den  Tonen  eines  Accords,  den  Stimmen  eines  poly- 
phonen  Gesanges  lost  sicb  bei  naherer  Betracbtung  allemal  in 
ein  Oscilliren  um  jenen  Gleichgewichtszustand  auf  ^).  Doch  dies 
gilt  ja  nicht  bios  vom  Aufmerken  auf  zwei  gleichzeitige  In- 
halte  sondern  vom  Aufmerken  iiberhaupt.  Bestandig  wirken 
ablenkende  Reize,  und  es  gelingt  ihnen  auch  immer  wieder, 
die  Aufmerksamkeit  wenigstens  momentan  und  in  geringem 
Grad  ihrem  Gegenstand  abspenstig  zu  machen,  mogen  wir  sie 
noch  so  sehr  auf  denselben  concentriren^).    Beim  gleichzeitigen 


y  ^)  Schon  beim  Reinstimmen  eines  Intervalles  wechselt  gleichmassige 
mit  ungleichmassiger  Verteiluug.  Nach  dem  ersten  mit  gleichmassig 
verteilter  Aufmerksamkeit  gehorten  Eindruck  hat  der  Musiker  ein  Urteil, 
ob  das  Intervall  rein  ist  oder  nicht.  Meistens  schliesst  sich  daran  so- 
gleich  auch  die  Erkenntnis,  ob  es  erweitert  oder  verengert  werden  muss; 
und  in  diesem  Falle  concentrirt  sich  die  Aufmerksamkeit  nun  vorwiegend 
auf  einen  der  beiden  Tone,  um  sich  dann  wieder  nach  geschehener  Ver- 
anderung  beiden  gleichmassig  zuzuwenden.  Der  angehende  Stimmer 
pflegt,  wenn  er  die  mangelnde  Reinheit  erkannt  hat,  durch  Hin-  und 
Herdrehen  des  einen  Zapfens  zu  probiren,  auf  welchem  Wege  Besserung 
erzielt  werden  kann;  wobei  dann  derselbe  Wandel  der  Aufmerksamkeit 
stattfindet. 

'^)  Diese  allbekannten  Schwankungen  in  der  Richtung  und  auch  in 
der  Intensitat  des  Aufmerkens  sind  nicht  zu  verwechseln  mit  den  Schwan- 
kungen in  der  Intensitat  von  Empfindungen,  denen  die  Aufmerksamkeit 
zugewandt  ist;  wenn  auch  an  sich  eine  Verstarkung  solcher  Empfindungen 
in  gewissen  Fallen  die  Folge  einer  Zuwendung  (bez.  Verstarkung)  der 
Aufmerksamkeit  und  eine  Schwachung  der  Empfindungen  die  Folge  ihrer 
Abwendung  (Schwachung)  sein  kann.  Wir  konnen  das  entsprechende  Ver- 
halten  der  Aufmerksamkeit  in  solchen  Fallen  durch  (nachtragliche)  Selbst- 
beobachtung  als  die  Ursache  constatiren,  Dagegen  vollziehen  sich  jene 
Schwankungen  schwacher  Empfindungen  nach  demselben  Zeugnis  unab- 
hangig  von  der  Aufmerksamkeit  und  griinden  sicher  in  anderen  nervosen 
Processen  als  denjenigen,  welche  etwa  der  Aufmerksamkeit  zu  Grunde 
liegen.    Munsteeberg  hat  daher  (Beitr.  z.  exp.  Psych.  II  69  f.)  mit  Recht 


318  §  23.  Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit 

Aufmerken  werden  solche  Ablenkiiiigen,  wenn  sie  vora  Ganzeii 
zu  den  Teileii  bin  und  zuriick  stattfinden,  den  Erkeuntnis- 
zwecken  forderlich.  Dieser  bekannten  Beweglichkeit  der  Auf- 
mcrksamkeit  steht  aber  aucb  eine  scbon  (I  391)  erwabnte  Triig- 
beit  zur  Seite,  der  zufolge  docb  eine  gewisse  Grosse  des  ab- 
lenkenden  Reizes  erforderlicb  ist.  Und  es  ist  zum  Verstandnis 
ibrer  Leistungen  bei  der  barmoniscben  und  polypbouen  Musik 
durcbaus  notwendig,  nicbt  bios  die  Fabigkeit  eines  scbnellen 
Hin-  und  Hergebens  zwiscben  den  Stimmen  sondern  aucb  die 
eines  streng  gleichzeitigen  und  in  gewissen  Fallen  aucb  ganz 
oder  nabezu  gleicbmassigen  Beacbtens  mebrerer  Tone  und 
Stimmen  bervorzubeben.  Dies  wird  durcb  die  Ausfiibrungen 
im  folgenden  Bande  wol  einleucbtend  werden.  Vorlaufig  diirfte 
die  allgemeinere  psycbologiscbe  Bedeutung  der  Frage  die  vor- 
stebende  Erorterung  biulanglicb  recbtfertigen. 

§  23.  Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit  der  Analyse 
und  des  Herausborens. 

Wie  Wabrnebmungen  iiberhaupt  nicbt  notwendig  wabr  sind, 
weder  subjectiv  nocb  objectiv,  so  gilt  dies  aucb  von  der  Ana- 
lyse und  dem  Herausboren.  Und  wie  wir  in  §  12  die  Bedin- 
gungen zusaramenstellten,  von  denen  die  Zuverlassigkeit  eines 
Urteils  Uber  aufeinanderfolgende  Tone  abbangt,  so  versucben 
wir  jetzt  das  Gleicbe  in  Betreff  der  Analyse  und  des  Heraus- 
borens bei  gleicbzeitigen  Tonen.  Es  bandelt  sicb  also  bier 
nicbt  um  die  unentbehrlicben  Voraussetzungen,  von  welcben  das 
Zustandekommen  einer  Analyse  abbangig  ist  (zu  denen  z.  B. 
die  Aufraerksamkeit  nicbt  geboren  wiirde),  sondern  um  die  Ein- 
fliisse,  welcbe  ibre  Zuverlassigkeit  erboben  oder  vermindern. 
Vollstandigkeit  der  Ubersicbt  ist  dabei  unser  Hauptzweck.  Da 
einige  der  Bedingungen  im  Vorangebenden  ausfiibrlicb  unter- 
sucbt  sind,  geniigt  es,  an  das  Wesentlicbste  zu  erinneru;    liber 


gegen  die  Aufbauschung  solcher  Schwankungen  zu  wunderbaren  Wesens- 
eigentumlichkeiten  der  Aufmerksamkeit  protestirt. 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  319 

andere  wird  das  Notige  liierselbst  beigebracht.  Untcr  Zuverlassig- 
keit  ist  die  objective  verstanden.  Wir  nennen  also  die  Analyse, 
das  Heraushoren  ricbtig,  wenn  objectiv  melirere  Schwingungs- 
arten  vorbanden  sind  und  aucb  die  sonstigen  etwa  angegebenen 
Bestimmungen  iiber  die  geborten  Tone  objectiv  zutreffen.  Nach 
der  allgemeinen  Aufzablung  und  Cbarakteristik  der  Bedingungen 
besprechen  wir  einige  Classen  von  Fallen  besonders,  deren  Unter- 
ordnung  unter  die  allgemeinen  Erklarungsprincipien  zu  Zweifeln 
Anlass  gibt. 

1.  tJbersicbt  der  Bedingungen. 

Folgende  Factoren  sind  es,  von  welcben  die  Zuverlassig- 
keit  der  fraglicben  Urteile  abbangt: 

a)  Die  qualitative  Distanz  der  gleicbzeitig  empfundenen 
Tone  (der  Grad  ibrer  Unahulicbkeit  oder  ibr  Hobenabstand, 
als  Empfindungsunterscliied  betracbtet).  Es  lasst  sich  versteben, 
dass  die  Analyse  und  das  Herausboren  urn  so  leicbter  sein  wer- 
den,  je  weiter  die  Tone  fiir  unsre  Empfindung  (nicbt  bios  auf 
dem  Clavier  oder  in  Scbwingungszahlen)  von  einander  tonal 
absteben.  Je  grosser  der  Unterscbied,  um  so  leicbter  die  Unter- 
sebeidung  (mit  welcher  ja  Analyse  gegeben  ist),  um  so  leicbter 
aucb  die  Teilwabrnebmung  eines  einzelnen  unter  ibnen;  sie 
beben  sicb  besser  von  einander  ab.  Mebrfach  baben  wir  bereits 
diesen  Umstand  zu  Erklarungen  benutzt,  z.  B.  fiir  die  ver- 
scbiedene  Leichtigkeit,  mit  der  Intervalle  von  gleicber  Ver- 
schmelzung  analysirt  werden,  wie  Octave  und  Doppeloctave, 
Sexten  und  Terzeu,  alle  dissouauten  Intervalle  unter  einander^). 

Unterbalb  einer  gewissen  Grosse  der  Tondistanz  wird  Ana- 
lyse und  Herausboren  iiberbaupt  unmoglich.  Es  gibt  eine  qua- 
litative Scbwelle  derUnterscbeidbarkeit  gleicbzeitiger 
Tone.  Dieselbe  fallt  keineswegs  mit  derjenigen  fiir  aufeinander- 
folgende  Tone  zusammen,  sondern  liogt  bedeutend  bober. 

Den  einfacbsten  Beweis  liefern  die  Empfindungen  beider 
Obren,  zwiscben  denen  die  meisten  Menscben  eine  Verscbieden- 
beit  in  der  Tonbobe  wabrnebmen,  wenn  sie  den  gleicben  ob- 


^)  Oben  S.  139,  154,  170,  178,  183. 


320  §  23.  Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit 

jectiven  Ton  successive  rechts  und  links  horen,  wahrend  sie 
bei  gleichzeitigem  Horen  nur  Einen  zu  horen  glauben. 

Bei  meinen  Ohren  betragt  der  Hohenunterschied  fiir  c^ 
4  Scbwingungen,  d.  i.  ^/^g  Ton.  Um  so  viel  hore  ich  den  Ton 
rechts  hoher  als  links.  Ich  habe  dies  dadurch  ermittelt,  dass 
ich  von  zwei  c'^-Gabeln  die  eine  durch  Aukleben  von  Wachs 
so  weit  vertiefte,  dass  sie  rechts  gehalten  der  anderen  links 
gehaltenen  bei  abwechselndem  Horen  gerade  gleich  erschien  ^). 

Wenn  ich  nun  das  Wachs  wieder  entferne  und  die  Gabeln 
wie  vorher  an  beide  Ohren  verteile,  so  vernimmt  hienach  das 
rechte  Ohr  einen  um  ^/^g  Tonstufe  hoheren  Ton  als  das  linke. 
Dieser  Unterschied,  der  bei  der  Aufeinanderfolge  der  Tone  weit 
iibermerklich  ist.  wird  bei  gleichzeitigem  Erklingen  vollkommen 
unmerklich.     Ich  glaube  einen  und  denselben  Ton  zu  horen. 

Wir  konnen  aber  den  Unterschied  auch  noch  vergrossern, 
indem  wir  die  Gabel  vor  dem  tieferhorenden  Ohr  durch  an- 
geklebtes  Wachs  vertiefen.  In  diesem  Fall  konnen  allerdings 
durch  starken  Anschlag  auch  bei  verteilten  Gabeln  Schwebungen 
auftreten,  bei  schwacherem  Anschlag  sind  sie  aber  nicht  oder 
nur  durch  besonders  darauf  concentrirte  Aufmerksamkeit  wahr- 
zunehmen.  Ich  kann  nun  z.  B.,  wenn  die  linke  Gabel  so  ver- 
stimrat  ist,  dass  sie  mit  der  anderen  vor  Einem  Ohr  8  Schwe- 
bungen macht,  beim  gleichzeitigen  Horen  durch  verschiedene 
Ohren  immer  noch  nicht  die  Zweiheit  erkennen.  Der  Unter- 
schied betragt  in  diesem  Falle  mit  Hinzurechnung  der  natiir- 
lichen  Differenz  der  Ohren  12  Schwingungen.  Bei  16  Schwe- 
bungen dagegen  oder  einem  Unterschied  von  20  Schwingungen 
ist  der  Eindruck  entschieden  unrein.  Die  gleichzeitige  Schwelle 
betragt  also  unter  diesen  Umstanden  zwischen  12  und  20  Schwin- 
gungen; wahrend  man  bei  der  Aufeinanderfolge  den  Unterschied 
von  einer  halben  Schwingung  noch  gut  bemerken  kann  2). 


')  Ich  hatte  den  Unterschied  vorher  auf  Vs  Ton  geschatzt.  Wieder 
ein  Beispiel,  wie  man  kleine  Distanzen  uberschatzt  (I  130,  259 — 60). 

2)  Es  ist  mir  bei  diesen  Versuchen  (Juli  1889)  aufgefallen,  dass 
die  Differenz  meiner  beidea  Ohren  von  der  tiefen  bis  zur  mittleren 
Region   das  Vorzeichen  wechselte,   indem  ich  Tone   der  kleinen  Octave 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  321 

Aber  auch  endlich,  weun  wir  Einem  Olir  zwei  objective 
Tone  von  einer  bei  der  Aufeinanderfolge  eben  noch  leicht 
merklichen  Verschiedenheit  zugleich  darbieten,  vernehmen  wir 
nur  Einen  Ton.  Hier  muss  die  Verstimmuug  der  eineu  Gabel 
noch  mehr  betragen  als  vorhin..  wenn  eiue  Unreinheit  des 
Klanges  deutlich  merkbar  sein  soil.  Die  Schw^ebungen  konnen 
in  diesem  Falle  allerdings  eine  objective  Mehrheit  von  Tonen 
verraten.  Aber  einerseits  sind  sie  kein  untriigliches  Kenn- 
zeichen,  da  auch  ein  einzelner  Ton  periodischen  Intensitats- 
schwankungen  unterliegen  kann;  andererseits  wird,  auch  wenn 
sie  als  Kriterium  beniitzt  werden,  die  Mehrheit  dann  doch  nicht 
unmittelbar  erkannt,  und  nur  um  solche  unmittelbare  Beurteilung 
handelt  es  sich  hier.  Der  Horende  und  Urteilende  selbst  ver- 
mag  dies  sehr  wol  auseinander  zu  halten.  Auch  konnen  die 
Schwebungen  unter  Umstanden  so  langsam  erfolgen,  dass  sie 
wiihrend  einer  zur  Urteilsbildung  hinreichenden  Zeit  noch  nicht 
merklich  werden,  zumal  wenn  die  Aufmerksamkeit  nicht  vorher 


links  hoher  horte  als  rechts.  Ich  hatte  damals  nur  wenige  Gabeln  zur 
Verfiigung,  doch  umfassten  sie  einen  grossen  Tonbezirk.  Eben  w^hrend 
ich  Obiges  zum  Drucke  sende,  erhalte  ich  94  Gabeln  vom  A^^  bis  iiber  c* 
hinaus,  und  kann  nun  Genaueres  angeben.  Es  finden  drei  Hauptwende- 
puncte  statt.  Bis  d  hore  ich  rechts  hoher,  von  e  bis  f^  links,  von  da 
bis  e^  rechts,  dann  wieder  links.  In  der  Nahe  der  Wendepuncte  ver- 
ringert  sich  natiirlich  die  Diifereuz.  Zwischen  cis^  und  fis^  ist  aber  noch 
eine  geringe  Ausbiegung  nach  der  umgekehrten  Seite,  indem  ich  d^  und 
e"^  links  um  eine  Idee  hoher  hore.  Der  Betrag  von  4  Schwingungen  fiir 
die  Differeuz  bei  c'^  fand  sich  auch  jetzt  wieder. 

Dieses  merkwiirdige  Verhalten  konute,  wenn  es  abnorm  ist,  in  Zu- 
Kammenhang  stehen  mit  einer  zweimaligen  Paracentese,  welcher  das 
rechte,  und  einer  einmaligen,  welcher  das  linke  Trommelfell  (wahrend 
zweier  Krankheiten  Februar  und  April  1889)  unterworfen  werden  musste, 
und  mit  einer  voriibergehenden  Vertiefung  aller  Tone  von  c  bis  c*  fur 
das  linke  Ohr  im  letztereu  Falle. 

Vergleichende  Untersuchungen  hieriiber  bei  verschiedenen  Personen, 
die  einer  sehr  genauen  Tonunterscheidaug  fahig  sind,  waren  von  In- 
teresse.  Herr  Mechaniker  Wesselhopt  fand  fiir  seine  Ohren  die  Gabeln 
c,  c^,  a^  c',  c*  durchweg  rechts  hoher. 

Auf  den  Betrag  der  Schwelle  in  den  verschiedenen  Tonregionen 
kann  der  eben  besprochene  Umstand  jedoch  keinon  Einfluss  haben. 

Stumpf,  Tonpsychologie.    II.  21 


322  §  23.  Bedingungen  filr  die  Zuverlassigkeit 

darauf  gelenkt  ist.  Aber  selbst  wenn  dies  Letztere  der  Fall 
ist,  kann  das  Urteil  schneller  sein  als  die  Schwebung.  So  ist 
es  mir  z.  B.  bei  C  und  E  auf  der  Orgel  (Differenz  16  Schwin- 
gungen,  also  ebensoviel  Schwebungen  in  der  Secuude)  klar  ge- 
wesen,  dass  ich  zwei  Tone  horte,  ehe  ich  noch  Schwebungen 
wahrnabra.  A^^  und  C  (Differenz  11  Schwingungen),  oder  F^ 
und  A^  (Differenz  ebensoviel)  konnte  ich  nicht  mehr  ausein- 
anderhalten.  In  der  Aufeinandorfolge  ist  mir  die  Verschieden- 
heit  auch  dieser  letzteren  Tone  ohne  Weiteres  klar.  Daher 
kommt  es  auch,  dass  der  Contrabassist  seine  Saiten  nicht,  wie 
der  Geiger,  durch  gleichzeitiges  Anstreichen  stimmt. 

€^brigens  wird  man  am  Clavier,  an  dem  Harmonium,  den 
Streichinstrumenten  in  alien  Regionen  geringere  Schwellenwerte 
finden  als  bei  verteilten  Gabeln.  Sogar  C  und  Des,  c^  und  des^ 
halt  man  in  der  Musik  noch  sehr  wol  auseinander,  wenn  sie 
gleichzeitig  vorkoramen.  Uber  diese  grossere  Leichtigkeit  der 
Analyse  bei  scharferen  Klangen  s.  2,  a.  Aber  immer  bleibt  die 
Unterscheidungsschwelle  unter  gleichen  Umstanden  grosser  als 
bei  aufeinanderfolgenden  Tonen. 

Ich  bin  nach  dem  Vorstehenden  nicht  (mit  Wundt  I  426)  der 
Meinung,  dass  die  qualitative  Schwelle  nur  bei  aufeinanderfolgenden 
Tonen  iiberhaupt  ermittelt  warden  konne;  wenn  auch  die  gleiche 
Genauigkeit  in  unsrem  Fall  nicht  zu  erreichen  sein  wird.  Es  sind 
iramer  nur  einzelne,  besonders  ausgesuchte  Classen  von  Fallen,  wo 
Schwebungen  ganz  unwahrnehmbar  gemacht  werden  konnen.  Immer- 
hin  kann  sich  das  Urteil  auch  da,  wo  sie  uuvermeidlich  bleiben, 
mehr  oder  weniger  von  ihrem  Einflusse  eraancipiren.  Sonst  miisste 
ja  selbst  bei  c  und  d  kein  Urteil  moglich  sein,  ob  wir  einen  oder 
zwei  Tone  horen,  bez.  immer  nur  auf  Einen  geraten  werden.  So- 
mit  kann  man  sich  durch  Cbung  eine  wachsende  Fahigkeit  in  der 
Abstraction  von  dieser  Nebenerscheinung  erwerben.  In  gewissem 
Grade  ist  solche  Ubung  bei  Musikalischen  bereits  ausgebildet.  Aber 
auch  Unmusikalische,  welche  in  der  Kegel  mehr  als  Musikalische 
auf  Nebenerscheiuungen  achten,  habe  ich  fahig  gefunden,  davon 
zu  abstrahiren  (o.  162).  Um  sich  ganz  systematisch  darin  zu  uben, 
miisste  man  sich  den  Unterschied  des  Eindrucks  einpragen,  welchen 


tier  Analyse  unci  des  Heraushorens.  323 

zwei  naheliegende  gleichzeitige  Tone  einschliesslich  ibrer  Schwe- 
bungen  macben  uud  welcben  ein  einzelner  dieser  Tone  (oder  ein 
zwiscben  ibnen  liegender)  macbt,  wenu  man  ibm  kiinstlicb  perio- 
dische  Intensitatsscbwankungen  von  gleicber  Anzabl  und  Starke  er- 
teilt.  Dadurcb  wiirde  man  lernen,  die  Aufmerksamkeit  imraer  mebr 
auf  das  beide  Falle  unterscheidende  rein  tonale,  qualitative  Moment 
zu  concentriren.  Ja  man  konnte  bei  jedem  eiuzelnen  Falle  einer 
auszufiibrenden  Versucbsreihe  diesen  Coutrolversuch  macben.  So- 
lange  der  Unterscbied  beider  Falle  nocb  merklicb  ist,  solange  wird 
man  sagen  diirfen,  dass  die  gleicbzeitigen  Tone  nocb  als  Mebrheit 
wabrgeuommen  und  qualitativ  unterschieden  werden. 

Ein  anderes  und  scblimmeres  Hindernis  wiirden  uns  die  Scbwe- 
bungen  dann  bereiten,  wenn  es  wabr  ware,  dass  zwei  schwebende 
Tone  liberbaupt  nicbt  als  Mebrheit  gleicbzeitiger  Tone  zur  Empfin- 
dung  kamen,  sonderu  als  Ein  Ton  von  periodiscb  wecbselnder  Hohe; 
wie  mancbe  Akustiker  bebaupten.  Dass  dies  nicbt  ricbtig  ist,  wer- 
den wir  im  §  27  zeigen. 

Ausser  dem  Verhaltnis  der  gleiclizeitigen  zur  successiven 
Scliwelle  ist  auch  das  Verhalten  der  gleicbzeitigen  Schwelle 
in  verschiedenen  Tonregionen  von  Wichtigkeit.  Wahrend 
die  analoge  Frage  bei  aufeinanderfolgenden  Tonen  mebrfacb 
untersucbt  und  besprocben  ist  (§  14),  begt  bier  aucb  in  dieser 
Beziebung  bisber  nocb  nicbt  das  Mindeste  vor. 

Oben  ist  bereits  erwabnt,  dass  dicht  unterbalb  der  grossen 
Octave  selbst  Terzen  mit  11  Scbwingungen  Differenz  gleicb- 
zeitig  nicbt  mebr  auseinandergebalten  werden  konnen.  Fiir  die 
grosse  Octave  babe  icb  wiederbolt  (1876  und  1889  im  Wiirz- 
burger  pbysikaHscben  Institut)  mit  den  scbonen  KoNiG'scben 
Gabeln  fiir  die  LissAJOu'scben  Figuren  biebergeborige  Versucbe 
gemacbt.  Die  Gabeln,  mit  starken  Holzgriffen  verseben,  geben 
die  Tone  C  (2  Gabeln),  D,  F,  A,  c.  Das  eine  C,  sowie  die 
iibrigen  Gabeln  bis  c  sind  mit  Laufgewicbten  verseben,  wo- 
durcb  sie  bis  zu  einem  Ganzton  bober  gestimmt  und  so  alle 
moglicben  Combinationen  erzeugt  werden  konnen.  In  der  un- 
teren  Halfte  der  grossen  Octave  fand  icb  biermit  die  gleich- 
zeitige Unterscbeidungsscbwelle   bei   Verteilung   zweier   Gabeln 

21* 


324  §  23.  Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit 

an  beide  Ohren  etwa  gleich  eiiiem  Ganzton,  d.  h.  etwa  gleich 
8  Schwingungen  Differenz,  in  der  oberen  Halfte  etwa  gleich 
einem  Halbton,  d.  h.  ebenfalls  gleich  etwa  8  Schwingungen 
Differenz. 

Bei  c^  betragt  sie  gleichfalls  etwa  8  Schwingungen,  d.  h. 
einen  Viertelton.  In  der  Gegend  des  c^  liegt  sie  nach  dem 
Obigen  zwischen  12  und  20  Schwingungen,  was  in  dieser  Region 
einem  Viertelton  entspricht.  In  der  dreigestrichenen  Octave  end- 
lich  fand  ich  sie  (an  den  AppuNN'schen  fiir  Preyer  angefer- 
tigten  Gabeln  von  1000  bis  2000  Schwingungen  mit  je  100 
Schwingungen  Differenz)  durchschnittlich  geich  100  Schwin- 
gungen Differenz  oder  ^/^  Ton:  die  Gabeln  von  1000  und  1100 
Schwingungen  konnte  ich  noch  eben  unterscheiden,  Herr  Dr. 
K.  ScHAFER,  welcher  in  diesen  Fallen  mitbeobachtete,  nicht 
mehr;  und  die  Gabeln  1500  und  1600  (Halbton  in  der  Mitte 
der  dreigestrichenen  Octave)  erschienen  auch  mir  als  Ein  Ton, 
hochstens  noch  mit  einem  Anflug  von  Unreinlichkeit. 

Sowol  die  relative  Untorscheidungsfahigkeit  (ge- 
messen  am  Quotienten  der  Schwingungszahlen)  als  die  abso- 
lute (gemessen  an  ihrer  Differenz)  ist  also  —  das  folgt  schon 
aus  diesen  fragmentarischen  Beobachtungen  —  auch  bei 
gleichzeitigen  Tonen  nicht  constant  von  der  Tiefe  zur 
Hohe.  Die  relative  nimmt  von  der  Tiefe  bis  zu  einer  mittleren 
Region  zu,  dann  wieder  ab:  die  absolute  nimmt  einfach  ab 
(selbstverstandlich  auch  in  den  hochsten  Regionen,  wo  ja  schon 
die  successive  Unterscheidungsfahigkeit  enorm  abnimrat). 

Diesc  Beobachtungen  bestatigen  alio  zugleich  auch  wieder 
die  vorangehende  Behauptung  Uber  das  Verhaltnis  der  gleich- 
zeitigen zur  successiven  Schwelle:  denn  alle  eben  angefiihrten 
Unterschiede  sind  bei  Aufeinanderfolge  der  Tone  noch  weit 
iibermerklich. 

Fragen  wir  nun  nach  dem  Grunde  der  beiden  gefundenen 
Tatsachen,  so  ist  die  zweite  dorselben,  das  Verhalten  der  Unter- 
scheidungsfahigkeit in  verschiedenen  Regionen,  wol  keiner  an- 
deren  Erkliirung  bediirftig  und  fahig,  als  sie  fiir  das  analoge 
Verhalten  bei   aufeinanderfolgenden  Tonen  I  324  —  326,  332  f. 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  325 

gegeben  ist:  der  Grund  ist  wesentlich  in  dem  Verhalten  der 
Unterschiedsempfindlichkeit  zu  suchen,  mit  andcren  Worten: 
in  der  Construction  der  die  Tonempfindungen  vermittclnden 
nervosen  Einrichtungen.  tJbungsunterschiede  wUrden  hier  so 
wenig  wie  dort  zur  Erklarung  ausreichen,  obgleich  dieselben 
auch  hier  nicht  ganz  unbeteiligt  sein  werden;  z.  B.  mag  die 
auffallend  rasclie  Abnahme  der  Unterscheidungsfahigkeit  in  der 
dreigestrichenen  Octave  doch  auch  einigermassen  damit  zu- 
sammenhangen,  dass  in  der  Musik  Zusammenklange  in  dieser 
hohen  Region  sehr  wenig  gebraucht  werden  (teils  weil  sie  leicht 
unangenehme  Nebenwirkungen  mit  sich  fiihren,  wie  die  heu- 
lenden  Differenztone  beim  geringsten  Schwanken,  teils  weil  die 
hoher  liegende  Melodie  gern  von  den  begleitenden  Accorden 
durch  einigen  Zwischenraum  getrennt  wird,  wodurch  diese  in 
die  mittlere  oder  tiefere  Region  verwiesen  sind). 

Die  Veranderung  des  Schwellenwertes  von  Region  zu  Re- 
gion bedarf  also  keines  neuen  Erkliirungsgrundes  und  liefert 
fiir  das  bei  aufeinanderfolgenden  Tonen  Gefundene  nur  eine 
Bestatigung. 

Warum  aber  liegt  die  Schwelle  iiberhaupt  bei  gleichzeitigen 
Tonen  hoher  als  bei  aufeinanderfolgenden? 

Erinnern  wir  uns  zuerst  auch  hier,  dass  wir  es  bei  alien 
erwahnten  Beobachtungen  direct  nur  mit  der  Wahrnehmungs-, 
speciell  Unterscheidungsschwelle  zu  tun  haben  und  auf  die  Em- 
pfindungsschwelle  nur  etwa  aus  dieser  schliessen  konnen.  Fiir 
die  Wahrnehmungsschwelle  kommt  aber  ausser  der  qualitativen 
Distanz  auch  die  Verschmelzung  der  gleichzeitigen  Tone  in  Be- 
tracht,  welche  unabhangig  von  ihrer  Distanz  dahin  wirkt,  sie 
als  Einen  Ton  erscheinen  zu  lassen;  denn  es  ist  ja  auch  den 
innerhalb  einer  kleinen  Terz  liegenden  Toncombinationen  noch 
eine  gewisse  Verschmelzung  eigen.  Es  fragt  sich  daher  nur, 
ob  dieser  Umstand  fiir  sich  allein  schon  geniigt,  die  Erhohung 
der  Unterscheidungsschwelle  zu  erklaren. 

Wir  raiissen  hier  die  beiden  oben  erwahnten  Versuchsclassen 
auseinanderhalten :  den  Fall,  wo  zwei  gleichzeitige  ungleiche 
Tone  einem  und  demselben  Ohr  und  wo  sie  verschiedenen  Ohren 


326  §  ^3.  Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit 

angehoren.  Im  ersteren  Fall  (woliin  auch  die  gewohulichen 
Falle  gleichzeitiger  Tone  gehoren,  wo  jecles  Ohr  beide  Tone  em- 
pfangt)  tritt  bei  fortschreitender  Verringerung  des  objectiven 
Tonunterschiedes  an  die  Stelle  zweier  Empfindungen  zuletzt  eine 
einzige,  auch  wenn  die  beziiglichen  Tone  nacheinander  noch  zu 
unterscheiden  sind.  Wir  werden  dies  in  §  27  nach  Beobach- 
tungen  wahrscheinlich  machen  und  physiologisch  erklaren.  Inner- 
halb  eines  Ohres  also  liegt  die  Empfindungs-,  nicht  bios  die 
Wahrnehmungsscliwelle  hoher  als  bei  aufeinanderfolgenden 
Tonen;  und  zwar  besagt  die  Tatsache  der  Schwelle  hier  nicht 
wie  sonst,  dass  die  beiden  Tone  in  der  Empfindung  gleich, 
sondern  dass  sie  Einer  werden. 

Diese  Empfindungsschwelle  unterliegt  wol  grossen  indivi- 
duellen  Verschiedenheiten,  namentlich  zwischen  Musikalischen 
und  Unmusikalischen.  Fiir  die  Letzteren  diirfte  sie  z.  B.  in  der 
dreigestrichenen  Octave  schon  etwa  mit  Terzen  gegeben  sein; 
wenigstens  ist  die  ganz  auffallende  Unfahigkeit  der  Unterschei- 
dung  bei  mehreren  von  den  Versuchspersonen  aus  §  19  S.  163 
kaum  anders  zu  deuten. 

Wenn  dagegen  die  beiden  Tone,  deren  Unterschied  in  der 
Aufeinanderfolge  noch  Ubermerklich  ist,  bei  der  Gleichzeitigkeit 
aber  unmerklich  wird,  verschiedenen  Ohren  angehoren,  so  han- 
delt  es  sich,  wie  ich  glaube,  nicht  um  ein  Einswerden.  Sie 
bleiben  auch  bei  der  Gleichzeitigkeit  zwei  Empfindungen  und 
zwar  von  ungleicher  Hohe.  Ihr  Unterschied  ist  unbemerkt,  aber 
doch  vorhanden.  Ich  schliesse  dies  aus  dem  Umstande,  dass 
es  in  den  beschriebenen  Versuchen  schwer  fiillt,  auf  die  Frage 
zu  antworten,  ob  der  gehorte  anscheinend  einheitliche  Ton 
zwischen  den  beiden  vorher  und  nachher  einzeln  gehorten  und 
wol  unterschiedenen  in  der  Mitte  liegt,  oder  ob  er  etwa  mit 
einem  derselben  zusammenfallt. 

Wenn  ich  bei  dem  oben  beschriebenen  Versuch  mit  den 
verteilten  c^-Gabeln  die  vor  dem  linken  Ohr  befindliche,  also 
tiefer  klingende,  entferne,  so  scheint  mir  allerdings  der  Ton 
der  rechten,  nun  allein  gehorten,  etwas  hoher  als  vorher  der 
gemeinsame  Ton;  wenn  ich  jene  wieder  dazubringe,  scheint  der 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  327 

Ton  wieder  etwas  tiefer  zu  werden.  Aber  iiicht  eben  so  deut- 
lich  gelingt  die  umgekehrte  Beobachtung,  wenn  ich  die  hohere 
Gabel  entferne  und  wieder  dazubringe.  Hier  scheint  vielmehr 
die  Tonhohe  unverandert,  elier  noch  in  gleicher  Riclitung  wie 
vorhin  verandert  als  in  entgegengesetzter.  Dasselbe  Verhalten 
des  Urteils,  aber  viel  auffalleuder,  ergab  sicb,  als  die  Gabel  vor 
dem  linken  Ohr  um  8  Schwingungen  tiefer  gestimmt  wurde. 
Ahnliches  auch  bei  den  tiefeu  Gabeln  der  grossen  Octave  mit 
dem  Unterschied  eines  Ganz-  oder  Halbtones.  Ofters  hatte  ich 
hier  den  Eindruck  eines  mittleren,  in  anderen  Fallen  wieder 
mehr  den  des  tieferen  der  beiden  Tone;  immer  aber  schien 
mir  die  endgiiltige  Bestimmung  ziemlich  schwierig. 

Die  absolute  Starke  der  Tone  darf  bei  alien  dieseu  zwei- 
ohrigen  Versuchen  uicht  gross  genommen  werden,  well  sonst  durch 
die  Kopfknochen  die  Schwingungen  von  jedem  Ohr  auch  in  das 
andere  hiniibergeleitet  und  der  Ton  eines  jeden  so  verstarkt  wird. 
Mit  der  Verstarkung  tritt  aber  zugleich  eine  wirkliche  Vertiefung 
ein  (I  256,  II  104).  Der  Gesammtton  erscheint  dann  also  deut- 
lich  tiefer  als  jeder,  auch  der  tiefere,  von  beideu.  Besonders  bei 
den  mittleren  Gabeln  macht  sich  dies  geltend;  und  zwar  auch  wenn 
die  eine  verstimmt  ist.  Es  muss  eben  doch  Verstarkung  stattfindeu, 
solange  die  Differenz  nicht  grosser  ist  als  die  einohrige  Erapfin- 
duugsschwelle.  Ist  sie  grosser,  dann  kaun  allerdings  der  heriiber- 
geleitete  Ton  den  direct  zugeleiteten  nicht  mehr  verstarken. 

Die  relative  Starke  der  Tone  miisste  man  genauer  (durch 
elektrische  Erregung  der  Gabeln)  zu  reguliren  suchen,  wahrend 
ich  dies  nur  ungefahr  durch  entsprechende  Kraft  des  Auschlages 
fiir  jede  Gabel  bewirkte  und  die  Beobachtungen  in  den  ersten 
Momenten  machte,  ohne  das  Abklingen  abzuwarten,  welches  un- 
gleich  rasch  erfolgte.  Klingt  die  eine  Gabel  erheblich  starker,  so 
tritt  natiirlich  ihr  Ton  in  den  Vordergrund.  Immerhiu  ist  das 
Verhalten  des  Urteils  auch  schon  bei  dieser  Versuchsweise  sehr 
charakteristisch  und  diirfte  bei  genauester  Starkeregulirung  sich 
nicht  wesentlich  bessern. 

Dieses  Verhalten  ist  nun  zunachst  seltsam  genug.  Wie 
kann   iiberhaupt  Zweifel   dariiber  Platz   greifen,   wie  sich  der 


328  §  '^3.  Bedingungen  fur  die  Zuverlassigkeit 

vernommene,  anscneinend  einheitliche  Ton  beziiglich  seiner  Hohe 
zu  den  isolirten  Tonen  verhalt?  Denn  wenn  wir  diese  drei 
mit  einander  vergleichen,  so  geschieht  es  ja  in  der  Aufeinander- 
folge.  Ein  Ton  aber,  der  etwa  in  der  Mitte  zwischen  512  und 
516  Schwingungen  liegt,  ebenso  einer,  der  zwischen  C  und  D 
liegt,  ist  bei  der  Aufeinanderfolge  noch  mit  Leichtigkeit  in  dieser 
seiner  Lage  zu  den  beiden  anderen  zu  erkennen;  selbst  bei 
merklicber  Verschiedenheit  der  Tonstarke.  Ebenso  kann  fiir 
mein  Gehor  in  solchem  Falle,  wenn  der  zu  vergleichende  etwa 
mit  einem  der  beiden  ausseren  Tone  zusammenfallt  oder  einem 
solchen  viel  naher  liegt  als  dem  anderen,  die  entgegengesetzte 
Vermutung  gar  nicht  aufkommen. 

Daher  scheint  mir  aus  dem  Schwanken  des  Urteils,  aus 
der  Schwierigkeit  in  der  Bestimmung  zu  folgen,  dass  die  Em- 
pfindung  der  gleichzeitigen  Gabeltone  in  diesen  Fallen  nicht 
bios  eine  doppelte,  sondern  sogar  eine  ungleiche  ist,  deren  Un- 
gleichheit  nicht  mehr  als  solche  wahrgenommen  wird,  sich  aber 
in  dem  Schwanken  des  Hohenurteils  noch  geltend  macht. 

Hienach  halte  ich  es  fiir  wahrscheinlich ,  dass  in  alien 
Fallen,  wo  wir  zwei  rechts  und  links  verteilte  Gabeln  bei  suc- 
cessiver  Vergleichung  noch  als  verschieden  hoch  erkennen,  auch 
beim  gleichzeitigen  Horen  ungleiche  Tonempfindungen  vorhanden 
sind,  und  dass  nur  die  Wahrnehmungs-  (Unterscheidungs-),  nicht 
aber  die  Empfindungs-  (Unterschieds-)Schwelle  in  beiden  Fallen 
verschieden  ist.  Es  liesse  sich  beim  zweiseitigen  Horen  auch 
nicht  so  leicht  wie  beim  einseitigen  ein  wirkliches  Zusammen- 
schmelzen  der  physiologischen  Processe  annehmen,  auf  denen 
die  Empfindung  beruht. 

Der  Grund,  warum  die  Unterscheidungsschwelle  hoher  liegt 
bei  gleichzeitigen  als  bei  aufeinanderfolgenden  Tonen  beider 
Ohren,  kann  also  in  der  Tat  schwerlich  in  etwas  Anderem 
gefunden  werden  als  in  der  Verschraelzung,  die  alien  gleich- 
zeitigen gegeniiber  aufeinanderfolgenden  Tonen  eignet. 

b)  Die  absolute  und  relative  Starke  der  gleichzeitigen 
Tone.  Beziiglich  der  relativen  Starke  wissen  wir,  dass  eine 
gleiche   Empfindungsstarke    fiir    die  Analyse    und    das  Heraus- 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  329 

horen  am  gunstigsten  ist  unci  wachsende  Ungleichheit  zuletzt 
wiederum  zu  einer  Schwelle  (Intensitatsschwelle  o.  220  f.)  fiihrt, 
jenseits  deren  Beides  unmoglich  ist.  Hinsichtlich  der  absoluten 
Starke  ist  jedenfalls  ein  mittlerer  Grad  aller  betciligten  Tone 
die  giinstigste  Bedingung;  doch  haben  kleinere  Unterschiede 
innerhalb  dieser  raittleren  Starkezone  keinen  Einfluss.  Bei  sehr 
geriuger  absoluter  Starke  muss  innere  Arbeit  auf  moglicbste 
subjective  Verstarkung  verwendet  und  die  Aufmerksamkeit  zu- 
gleich  von  etwaigen  Nebengerauschen  u.  dgl.,  die  hier  leicht 
storend  werden.  abgezogen  werden^).  Bei  sehr  grosser  abso- 
luter Starke  wiederum  storen  Mitempfindungen,  sowol  tonale  als 
sonstige  (Beriihrungs-,    Scbmerzempfindungen),    die  Auffassung. 

c)  Die  Verschmelzungsstufen.  Den  Einfluss  derselben 
auf  die  Analyse  haben  wir  bereits  ausfiihrlich  an  Unmusika- 
lischen  und  Ungeiibten  kennen  gelernt.  An  Musikalischen  tritt 
er  nur  im  Falle  ungleicher  Starke  (o.  232,  251)  oder  bei  sehr 
kurzer  Dauer  der  Eindriicke  oder  bei  sonst  ungiinstigen  Um- 
standen  hervor,  wobei  dann  Octaven  und  Quinten  auch  von 
Solchen  gelegentlich  als  Einheit  aufgefasst  werden.  Vgl.  auch 
Einiges  unter  d)  und  2. 

d)  Die  Zahl  der  gleichzeitigen  zu  analysirenden  oder 
herauszuhorenden  Componenten  (Tone  oder  Klange).  Den  Ein- 
fluss dieses  Umstandes  miissen  wir  in  mehreren  Richtungen  ge- 
sondert  betrachten,  indem  er  ein  verschiedenartiger  ist  je  nach 
der  gestellten  Aufgabe. 

a)  Je  grosser  die  Zahl,  um  so  leichter  ist  natlirlich  der 
Gesammteindruck  als  der  einer  Mehrheit  erkennbar;    voraus- 


*)  J.  Sully  bemerkt  in  dem  1874  zuerst  erschienenen  Buche  „Sen- 
Bation  and  Intuition"  (Basis  of  musical  sensation),  dass  ein  auf  dem  Cla- 
vier angeschlagener  Accord  beim  Ausklingen  mit  aufgehobener  Dampfung 
viel  weniger  leicht  zu  analysiren  sei  als  vorher.  Dies  kommt  wol  haupt- 
sachlich  daher,  dass  einige  Tone  bald  tiberhaupt  verschwinden,  besonders 
die  tiefen  eher  als  die  iibrigen,  und  dass  die  Schwebungen,  die  beim 
Ausschwingen  mehr  hervortreten,  eine  gewisse  Rauhigkeit  liber  das  Ganze 
verbreiten,  die  der  Analyse  hinderlich  wird.  Bei  ausklingenden  Stimm- 
gabelaccorden  bloibt  die  Unterscheidbarkeit  die  namliche,  solange  sie 
nicht  der  Intensitatsschwelle  naheriicken. 


330  §  23.  Bedingungen  fur  die  Zuverlassigkeit 

gesetzt,  dass  durch  die  Vermehrung  der  Tone  nicht  zugleich 
die  Distanzen  derselbeii  von  einander  zu  klein  werden,  storende 
Schwebungen  entstehen  u.  dgl.  Aucli  dann  kann  sich  das  Ver- 
haltnis  umkehren,  wenn  durch  die  hinzugeftigten  Tone  die  Zahl 
der  Octaven  im  Zusammenklang  vermehrt  uud  iiberwiegend 
wird,  indem  dadurch  die  librigen  Tone  immer  mehr  gegen  die 
im  Octavenverhaltnis  stebenden  im  Gesammteindruck  zuriick- 
treten,  die  letzteren  selbst  aber  leicht  mit  Einem  Ton  ver- 
wecbselt  werden.  So  lost  sich  die  Paradoxic,  dass  durch  Hin- 
zufUgung  von  Tonen  die  sogenannte  Einheitlichkeit  des  Ein- 
drucks  erhoht  und  das  Urteil  iiber  Eiuheit  oder  Mehrheit  bei 
Ungeiibten  unsicher  und  falsch  werden  kann.     Z.  B.: 


t 


'G>- 


i 


2. 


m 


Der  jeweilige  zweite  Accord  mag  von  Solchen,  die  iiberhaupt 
unter  diesen  Umstanden  noch  irren  konnen,  als  Einheit  aufge- 
fasst  werden,  wahrend  sie  in  dem  ersten  eine  Mehrheit  erkennen. 

Das  erste  der  angefiihrten  Beispiele,  wobei  sich  die  Tone 
wie  1:2:3:4:5:6  verhalten,  gibt  uns  Veranlassung  zur  Kritik 
einer  merkwlirdigen  Behauptung.  Wundt  sagt  (II  ^  53 — 54): 
„Die  Bedingung  fiir  das  Zustandekommen  der  Vorstellung  des 
Einzelklanges  ist  lediglich  die,  dass  in  einer  Reihe  von  Tonen, 
deren  Schwingungszahlou  der  Reihe  der  einfachen  ganzen  Zahlen 
entsprechen,  der  Grundton  mit  der  Schwiugungszahl  1  in  hin- 
reichender  Starke  vorkomme." 

Das  ware  freilich  eine  einfache  Losung  der  ganzen  Frage, 
die  wir  nun  schon  so  lange  verhandeln.  Aber  eine  solche  spe- 
cifische  einsmachende  Kraft  des  Tones  1,  welche  allerdings 
auch  anderen  Anhangern  der  sg.  Klangvertretungslehre  vor- 
schwebt,  ware  in  sich  selbst  erst  recht  unverstandlich  und  ist 
auch  von  Wundt  nicht  weiter  zu  erklaren  versucht  worden. 
Dass  sie  iiberhaupt  eine  Fabel  ist,  zeigt  unser  zweites  Beispiel. 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  331 

Auch  hier  wird  durch  Hinzufiigung  von  Tonen  der  Gesammt- 
eindruck  nur  einheitlicher  und  kann  von  Ungeiibten  ebenso 
und  wol  noch  leichter  als  im  ersten  Beispiel  mit  Einem  Klang 
verwechselt  werden;  obgleich  hier  unter  den  vier  Tonen  das 
Zablenverhaltnis  5  :  8 :  16  :  32  besteht.  Der  Grund  liegt  viel- 
mebr  in  beiden  Fallen  darin,  dass  durcb  die  Beifiigung  der 
weiteren  Tone  die  Octaven  (im  ersten  Fall  auch  uocb  die 
Quinten)  unter  den  entstebenden  Intervallen  Uberwiegen.  Fiigt 
man  noch  mebr  S's  bez.  ^-'s  bei,  einerlei  ob  nach  oben  oder 
unten  bin,  so  wird  der  Eindruck  noch  einheitlicher.  Der  ein- 
zige  Ton  e^  im  ersten,  A  im  zweiten  Beispiel,  der  eine  geringere 
Verschmelzung  mit  den  iibrigen  besitzt,  wird  im  Gesammtein- 
druck  immer  weniger  bemerkt. 

Was  soil  es  ubrigens  heissen,  dass  der  Ton  1  in  „hinrei- 
chender  Starke"  vorkommen  musse?  Wundt  driickt  es  auch  so 
aus:  er  dtirfe  nicht  so  schwach  sein,  dass  er  gegen  die  Obertone 
verschwinde.  Aber  wenn  das  Ganze  als  Ein  Klang  erscheint,  ver- 
schwindet  der  Grundton  ebensowol  wie  die  anderen  in  dieser  Eiu- 
heit;  und  solange  er  von  ihnen  unterschieden  wird,  unterscheiden 
wir  auch  sie  von  ihm.  Wie  sollen  wir  den  Ton  1  als  nicht  ver- 
schwindend  gegen  die  anderen  und  zugleich  das  Ganze  als  Klang- 
einheit  beurteilen? 

Die  Empfindung  der  Klangeinheit,  sagt  Wundt,  werde  nicht 
geschwacht,  wenn  die  Obertone  ebenso  stark  sind,  wie  der  Grund- 
ton, ja  wenn  einzelne  ihn  sogar  iibertreffen.  „Man  kann  sich  hie- 
von  am  Obertonapparat  iiberzeugen,  wenn  man  z.  B.  zuerst  den  Dur- 
accord  4:5:6  angibt  und  dann  dessen  drei  Untertone  1,  2,  3  in 
gleicher  Starke  hinzufiigt:  die  bei  dem  Dreiklang  trotz  der  auch 
hier  nicht  fehlenden  Empfindung  der  Klangeinheit  so  ausgepragte 
Vorstellung  eines  Zusammenstimmeus  mehrerer  Tone  hort  augeu- 
blicklich  ganz  auf,  und  man  glaubt  nur  einen  einzigen  Klang  von 
sehr  voller  Klaugfarbe  zu  horen." 

Ich  habe  den  Versuch  am  Obertonapparat  wiederholt.  Es  ver- 
halt  sich  nicht  anders  als  beim  Clavier.  Es  ist  keine  Rede  davon, 
dass  der  Dreiklang  durch  die  tieferen  Tone  plotzlich  zum  Einklang 
wurde.     Wenn    man    den    Versuch    mit   den  Zuugen   No.  1  bis  6 


332  §  23.  Bedingungen  fur  die  Zuverlassigkeit 

selbst  raacht  (er  lasst  sich  auch  mit  2,  4,  6,  8,  10,  12  oder  mit 
•4,  8  u.  s.  f.  anstellen),  so  kommt  allerdiugs  noch  in  Betracht,  dass 
diese  tiefen  Zungen  —  die  Zuuge  1  gibt  C^  —  beim  gleichzeitigen 
Ansprechen  durch  ihre  Schwebungen  ein  uugeheures  Geschnatter 
erzeugen  und  dadurch  Undeutlichkeit  in  das  Ganze  bringen.  Aber 
man  wird  uicht  sagen,  dass  dieses  dadurch  einheitlicher  wiirde,  und 
jedenfalls  ist  die  Ordnungszabl  der  Tone  daran  unschuldig.  Die 
drei  Teilnehmer  des  Versuches,  von  denen  zwei  sich  eines  vorziig- 
lich  ausgebildeten  Gehors  erfreuen  (Prof.  Biedeemann  und  Dr. 
K.  ScHAPBK  in  Jena),  waren  iiber  den  negativen  Ausfall  gleich  mir 
keinen  Augenblick  im  Zweifel. 

Dbrigens  mussen  wir  aucb  gegeniiber  der  letzterwahnten  Ausse- 
rung  wieder  fragen,  was  es  eigentlich  heissen  solle,  dass  beim  Drei- 
klang  die  Empfindung  der  Klangeiuheit  nicht  feble  und  doch  die 
Vorstellung  mebrerer  Tone  ausgepragt  sei.  Die  Tatsache,  welche 
WuNDT  ira  Auge  hat,  ist  die  der  Verschmelzung.  Aber  wie  er  sie 
hier  formulirt,  bedeutet  sie  doch  einen  einfachen  Widerspruch. 
Dessen  Losung  kann  nicht  etwa  in  den  Ausdrucken  Empfindung 
und  Vorstellung  gesucht  werden,  da  dieselben  hier  von  Wundt 
vielfach  fiir  einander  gesetzt  werden  und  ohnedies  das  Erfassen 
der  Einheit  und  das  der  Mehrheit  Sache  einer  und  derselben  psy- 
chischen  Tatigkeit  sein  muss.  Auch  kann  man  nicht  sagen,  es  seien 
mehrere  Tone  und  Ein  Klang.  Denn  es  fragt  sich  eben,  worin 
psychologisch  der  Unterschied  von  Ton  und  Klang  bestande;  und 
physikalisch  handelt  sich's  beim  Obertonapparat  wie  beim  Clavier 
stets  nur  um  Klange. 

(9)  Je  grosser  die  Zahl,  um  so  schwerer  ist  es  be- 
greiflicherweise,  eine  Mehrheit  von  einer  anderen  benach- 
barten  eben  verschiedenen ,  d.  h.  um  1  grosseren  oder  ge- 
ringeren  Mehrheit  zu  unterscheiden,  also  den  Wegfall  oder 
Zutritt  eines  Tons  zu  bemerken.  Insofern  lasst  sich  sagen, 
dass  die  Wahrnehmung  einer  Mehrheit,  die  Analyse,  immer 
undeutlicher  wird.  Auch  in  dieser  Beziehung  konnen  aber 
die  Umstande  und  vor  Allem  die  Verschmelzungsverhaltnisse 
gewaltige  Unterschiede  bedingen.  Wenn  zu  cinem  coiisonan- 
ten  Zusammenklang  (dessen   Glieder   in   hoheren  Graden  ver- 


(ler  Analyse  unrl  rtes  Heraushorens.  333 

sclimelzen^)),  mag  er  audi  aus  selir  vielen  Gliedern  bestehen, 
ein  einziger  dissonanter  (mit  den  ubrigen  im  geringsten  Grade 
verschmelzender)  Ton  von  gleicher  Starke  mit  den  vorherigen 
hinzutritt,  so  wird  sehr  leicht  der  Unterschied  bemerkt.  Auch 
der  Ungeiibte  sagt  sogleich:  „es  ist  nicht  mehr  derselbe  Ton- 
complex,  es  ist  etwas  hinzugekomraen."  Entsprechend  wenn 
ein  dissonanter  Ton  aus  einem  sonst  consonanteu  Zusammen- 
klang  hinwegfallt.  In  geringerem  Masse  gilt  Dasselbe  beim 
Hinzutritt  oder  Hiuwegfall  jedes  Tons,  der  eine  niedrigere  Ver- 
schmelzungsstufe  in  das  Ganze  bringt.  Man  vergleiche  das  1. 
mit  dem  2.  Beispiel: 

1.  2. 


r:=iilli=r^ 


G>- 

2: —  SI — "■" — ''^ — 27 

Der  Unterschied  wird  viel  leichter  bemerkt  bei  2  als  bei  1. 
Selbst  Musikalisclie  unterscheiden  oft  nicht  den  Dreiklang  vom 
Vierklang,  der  noch  die  Octave  des  Grundtons  enthalt. 

Fiigen  wir  zu  einem  Zusammenklang,  der  bereits  Einen 
dissonanten  Ton  enthalt,  einen  weiteren  dissonanten  hinzu  u.  s.  f., 
so  wachst  wieder  die  Schwierigkeit,  die  Veranderung  wahrzu- 
nehmen,  mit  der  Zahl  der  bereits  vorhandenen  Tone,  auch  wenn 
nicht  besondere  Storung  durch  starke  Schwebungen  eintritt  (was 
durch  geeignete  Wahl  der  neu  hinzukommenden  Tone  vermieden 
werden  kann). 

Bei  der  Vermehrung  kommt  auch  in  Betracht,  dass  gleich- 
zeitige  Tone  einander  etwas  schwachen,  doch  kann  ja  dieser 
Verlust  durch  entsprechende  objective  Verstarkung  ungefahr 
ausgeglichen  werden. 

')  Ich  identificire  hier  wie  auch  gelegentlich  an  anderen  Stellen 
dieses  Bandes  Consonanz  bereits  mit  hoheren  Verschmelzungsstufen  und 
rechne  die  Dissouanzeu  zur  niedrigsten,  obgleich  erst  im  folgenden  Bande 
diese  Begriffsbestimmungen  gerechtfertigt  werden.  Die  tatsachliche  Paral- 
lelitat  wenigstens  ist  unverkennbar  (abgesehen  noch  von  den  feineren 
Unterschieden  innerhalb  dieser  zwei  Hauptclassen).  Und  so  mag  man 
die  Anweudung  obiger  Ausdrucke  zunachst  als  kurze  Bezeichnungsweise 
gelten  lassen. 


334  §  23.  Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit 

Es  waren  hier  noch  Versuche  zu  machen,  mit  welcher  An- 
zahl  von  Tonen  (consonanten  —  dissonanten,  bcsonders  ersteren) 
die  Fahigkeit  der  Unterscheiduug  benachbarter  Mehrheiten  bei 
verschiedenen  Individuen,  besonders  den  geiibtesten,  ihre  Grenze 
erreicht.  Das  Ergebnis  ware  fiir  die  musikalische  Theorie  nicht 
ohne  Interesse. 

/)  Audi  das  Heraushoren  wird  insofern  schwerer,  als 
man  die  Aufmerksamkeit  nicht  mebr  so  leicht  auf  eine  be- 
stimmte  Tonhohe  concentriren  kann,  wenn  gleichzeitig  viele 
andere  Tone  gehort  werdcn.  Dass  die  Verschmelzung  hier  auch 
wieder  wesentliche  Unterschiede  macht,  wissen  wir. 

Die  mit  dem  Heraushoren  in  gewissen  Fallen  verbundene 
und  es  unterstiitzende  subjective  Verstarkung  wird  durch  die 
Menge  gleichzeitiger  Tone  nur  dann  erschwert,  wenn  dieselben 
den  herauszuhorenden  nahe  liegen,  weil  die  Verstarkung  sich 
dann  leicht  einem  dieser  benachbarten  Tone  zuwendet  und 
mehreren  zugleich  nicht  zu  Teil  werden  kann  (o.  305,  314). 

6)  Das  Namliche,  wachsende  Schwierigkeit,  ergibt  sich  end- 
lich  auch  begreiflicherweise  fiir  das  Zahlen  der  Componenten; 
einer  weiteren  Stufe  der  „deutlichen"  Analyse.  Auch  hier  sind 
aber  die  Unterschiede  je  nach  den  im  Zusammenklang  ver- 
tretenen  Verschmelzungen  auffallend.  Consonante  Zusammen- 
klange  werden  auch  von  Musikalischen  leicht  unterschatzt  (s.  o. 
iiber  den  Vierklang),  dissonante  iiberschatzt.  Das  Letztere  wie 
das  Erstere,  sobald  mehr  als  drei  Tone  beteiligt  sind. 

Zu  unterscheiden  ist  hier  allerdings  ein  actuelles  Zahlen 
und  eine  Zahlbestimmung  nach  mittelbaren  Kriterien.  Zuweilen 
beurteilt  man  nach  gewissen  Anhaltspuncten  einen  gegebenen 
Eindruck  nicht  bios  als  Mehrheit  sondern  als  Dreiheit,  Vier- 
heit,  ohne  wirklich  zu  zahlen.  Doch  werden  solche  Bestim- 
mungen  bei  Zusammenklangen  stets  sehr  willkiirlich  sein,  da 
eben  die  Erfahrung  zuverlassige  Zahlmerkmale  soldier  Art  (Lo- 
calzeichen  fiir  die  Zahlenreihe)  hier  nicht  darbietet. 

e)  Die  Dauer  des  Klanges.  Das  Urteil,  ob  ein  oder 
mehrere  Tone  vorliegen,  bedarf  wie  jedes  Urteil  einer  gewissen 
Dauer    des  Eindrucks,    welche  experimentell    ermittelt  werden 


rter  Analyse  unci  des  Herausliorens.  335 

kann,  aber  natiirlich  nach  Umstanden  (Starke,  Zahl  der  Tone 
u.  s.  f.)  verschieden  ist.  Einer  langeren  Dauer  bedarf  das  Heraus- 
horen  eines  Tones,  da  es  ja  das  erstgenannte  Urteil,  die  Analyse 
im  engsten  Sinn,  voraussetzt.  Noch  langere  Zeit  ist  erforder- 
lich,  wenu  damit  auch  eine  subjective  Verstarkung  durch  die 
Aufmerksamkeit  verbunden  sein  soil,  wie  bei  den  Obertonen. 
Alle  diese  Zeiten  sind  iiberdies  individuell  verschieden  (beziig- 
lich  der  Verstarkungszeit  s.  o.  292). 

Merkwiirdigerweise  ist  es  bis  jetzt  noch  Niemand  ein- 
gefallen,  die  beliebte  Zeitraessung  mittelst  des  Chronoskops  auf 
die  Tonanalyse  anzuwenden.  Und  doch  wiirden  die  Ergebnisse 
hier  theoretisch  bedeutungsvoller  sein  als  in  manchem  anderen 
Falle^).  Nur  fiir  die  DifFerentialdiagnose  des  Dur-  und  MoU- 
dreiklanges  hat  E.  Tanzt  die  Zeiten  verglichen  und  fiir  Moll 
kiirzere  gefunden^).  Aber  es  ist  dabei  vielleicht  nicht  einmal 
Analyse  im  Spiel  gewesen,  da  das  Moll  sich  auch  unabhangig 
von  der  Analyse  durch  gewisse  weniger  angenehme  Neben- 
wirkungen  kenutlich  macht  (vorausgesetzt,  dass  nur  der  Unter- 
schied  vom  Durdreiklang  in  Betracht  kommt). 

f)  Gleich-  oder  ungleichseitiges  Horen.  Wahrend 
man  zu  den  feinsten  Versuchen  iiber  Unterschiede  aufein- 
anderfolgender  Tone   beide    Tone    einem    und    demselben  Ohr, 

*)  Vgl.  0.  37.  Wiirde  sich  ein  erheblicher  Unterschied  in  der 
kleinsten  Zeitdauer  ergeben,  welche  fur  die  Auffassung  eines  einzelnen 
Tones  als  hoch  oder  tief,  und  welche  fiir  die  Erkennung  einer  gleich- 
zeitigen  Mehrheit  als  Mehrheit  erforderlich  ist,  so  wiirde  dies  nicht  etwa 
ein  Beweis  sein,  dass  die  Tone  nur  successive  zur  Empfindung  kamen. 
Denn  die  Leistung  des  Analysirens  ist  in  jedem  Falle  die  schwerere  von 
beiden.  Wiirde  sich  dagegen  kein  sehr  bedeutender  Unterschied  zeigen, 
so  ware  dies  ein  neues  Zeugnis  gegen  die  Wettstreitslehre ,  nach  der 
man  ja  erwarten  miisste,  dass  zur  Empfindung  dreier  Tone  dreimal  so- 
viel  Zeit  als  zur  Empfindung  Eines  Tones  notig  ware,  dass  also  auch 
die  Auffassungszeit  sich  wenn  nicht  verdreifachen  doch  jedenfalls  be- 
deutend  erhohen  miisste. 

Auch  der  Einfluss  der  Verschmelzungsstufen  auf  die  Analyse  Hesse 
sich  auf  diesem  Wege,  und  zwar  besonders  bei  Musikalischen  und  Ge- 
iibten,  untersuchen. 

■^)  Rivista  di  filosofia  scientifica  VI  (1887)  174. 


336  §  23.  Bedingungcn  fiir  die  Zuverlassigkeit 

dem  rechteii  oder  linkeii,  darbieten  muss  (1 234),  erzeugen  wenig 
verschiedone  glciclizeitigo  Tone  vor  einem  und  demselben  Ohr 
Scbwebuiigun,  welcbe  das  analysirendc  Urteil  storeu,  ein  Hinder- 
iiis,  von  welchem  man  sicb  nur  kiinstlich  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  befreien  kann  (s.  o.).  Man  wird  darum  Stimmgabebi,  die 
um  etwa  ^j^  oder  ^/g  Ton  verscliieden  sind,  leicbter  auseinander- 
balten,  wenn  man  sie  an  beide  Ohren  verteilt,  1st  der  Unter- 
scbied  nocb  geringer,  dann  kommt  allerdings  aucb  bier  die 
Differenz  beider  Obron  selbst  in  Betracbt,  durcb  welche  je  nacb 
der  Verteilungsart  der  Gabeln  die  Verschiedenheit  der  ent- 
stebenden  Tone  entweder  vergrossert  oder  verringert  bez.  auf- 
geboben  werden  kann. 

Bei  grosseren  Unterscbieden  der  zu  analysirenden  Tone 
bietet  das  ungleicbseitige  Horen  besonders  fiir  Ungeiibte  und 
Unmusikalische  einen  wesentlicben  Vorteil.  Solcbe  erkennen 
namlicb  in  der  Kegel  leicbter  die  Verscbiedenbeit  der  Locali- 
sation als  die  der  Tone.  1st  ihnen  klar  gewordeu,  dass  sie 
recbts  und  dass  sie  links  einen  Toneindruck  haben,  dann  wird 
ibnen  aucb  die  qualitative  Trennung  leicbter.  Die  locale  Ver- 
scbiedenbeit (woran  sie  aucb  immer  erkannt  werden  moge) 
wirkt  als  mittelbares  Kriteriura,  dem  unmittelbaren  Urteil  die 
Wege  bahnend.     Ein  Beispiel  §  24.  1.^) 


*)  Wir  haben  gelegentlich  (o.  228)  auch  die  Moglichkeit  offen  ge- 
lassen,  dass  die  immanenten  Unterschiede  der  „Ausdehnung"  fiir  die 
Analyse  von  Bedeutung  waren.  Allerdings  verandern  sie  sich  nur  mit 
der  Tonqualitat  und  hatte  man  insofern  keinen  Grund,  neben  der  qualita- 
tiven  Distanz  der  zu  analysirenden  Tone  auch  noch  ihren  Ausdehnungs- 
uuterschied  als  Factor  anzufiihreu.  Aber  die  Ausdehnung  scheint  sich 
gegen  die  beiden  Endeu  des  Tonreiches  bin  starker  zu  vorandcrn  als 
das  qualitative  Moment;  und  so  konute,  wo  solche  Tone  in  Zusammeu- 
klangen  gegeben  sind,  immerhin  bei  gleicher  qualitativer  Distanz  in  zwei 
Fallen  die  Ungleichheit  des  Ausdehnungsunterschiedes  selbstandigen  Ein- 
fluss  auf  die  Zuverlassigkeit  der  Analyse  haben.  Die  Ausdehnungsunter- 
schiede  wurden  dann  zusaramen  mit  den  localen  Unterscbieden  p  und  q 
unter  dem  Titel  ,.Raumliches  Moment  der  Tonempfinduug"  neben  den 
iibrigen  Bedingungsclassen  aufzuzablen  sein.  Doch  konnen  wir  bei  dem 
etwas  problematiscben  Stande  der  Sache  uns  mit  dieser  Erwahnuug  be- 
gnugen. 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  337 

g)  Paitielle  Veranderungen,  d.  h.  Starkeschwankungen 
odor  stetige  (auch  geringe  discrete)  Hoheschwaiikungen  ein- 
zelner  Componenten. 

Wir  denkeii  au  solche  Falle,  boi  welcheii  man  trotz  der 
Veranderung  uoch  von  einein  und  demselbcn  Kkmg  oder  Zu- 
sammenklang  zu  rcdeu  pflegt,  Eiliohe  ich  in  einein  Accord 
einen  Ton  uin  eine  Halbstufe  oder  noch  mehr,  so  habeii  wir 
eben  einen  anderen  Zusammenkking.  Wenn  auch  nun  fiir  das 
Heraushoren  einer  „Stimme"  in  einor  Aufeinanderfolge  von  Zu- 
sammenklangen  das  sogleich  zu  crvvahnende  Princip  cbenfalls 
GUltigkeit  hat,  so  beschaftigen  uns  doch  hier  noch  nicht  diese 
complicirteren  Leistungen,  sondern  nur  die  Analyse  Eines  Ton- 
complexes,  also  auch  nur  solche  Anderungen  innerhalb  desselben, 
bei  denen  er  noch  im  Wesentlichen  als  der  niimliche  gelten 
kann  (o.  S.  4). 

Es  ist  eine  in  alien  Sinnesgebieten  vielfach  bestatigte  Tat- 
sache,  dass  relativ  veranderte  (bewegte)  Telle  innerhalb 
eines  relativ  ruhenden  Empfindungsganzen  leicht  be- 
merklich  word  en.  Sternschnuppen,  deren  Bild  auf  seitliche 
Netzhautteile  fallt,  werden  doch  in  Folge  ihrer  raschen  Bor 
wegung  sofort  bemerkt.  Der  Nutzen  des  Winkens  griindet  ja 
auch  hierauf.  Halt  man  einen  Bleistift  in  solcher  Entfernung 
von  einer  brennenden  Lampe,  dass  sein  Schatten  auf  einer 
weissen  Papierflache  auch  im  directen  Sehen  eben  nicht  mehr 
erkennbar  ist,  so  wird  er  sofort  wieder  erkennbar,  wcnn  man 
den  Bleistift  bewegt.  Beim  Tastsinn  fand  E,  H.  Weber,  dass 
innerhalb  der  sg.  Empfindungskreise,  in  welchen  gleichzeitige 
Beriihrungseindriicke  nicht  mehr  unterschieden  werden,  doch 
Bewegungen  noch  leicht  wahrnehmbar  sind.  U.  s.  w.  Das  Ge- 
sagte  gilt  aber  nicht  bios  von  Veranderutigen  innerhalb  eines 
ruhenden,  sondern  auch  von  rascherer,  ausgiebigerer  Ver- 
anderung innerhalb  eines  selbst  in  Veranderung  begriffenen 
Ganzen. 

BegUnstigt  wird  hiedurch  immer  zunachst  die  Teilwahr- 
nehmung  des  relativ  Bewegten  (Veranderten),  also  in  unserem 
Fall  das  Heraushoren  des  beziiglichen  Tones;    die  Analyse,  die 

Stumpf,  Tonpsychologie.  11.  22 


338  §  23 •  Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit 

Wahrnehmung  der  Mehrheit  von  Tonen,  nur  wenu  und  insofern 
als  sie  durch  Teilwahriiehmungen  unterstuzt  wird  (o.  S.  6). 

Man  kann  fragen,  ob  die  erwahnte  allgemeine  Tatsache 
der  Sinneswahrnehmung  sich  ihrerseits  noch  weiter  erklaren 
lasst.  Sie  diirfte  nur  zum  geringsten  Teil  in  der  sinnliclien 
Ermiidung  griinden,  welche  bei  ruhenden  Eindriicken  sich  ein- 
stellt,  da  eine  solche  bei  kurz  dauernden  Eindriicken,  zumal 
solchen  des  Gebors,  nicht  in  Betracbt  kommt  (I  16  f.,  362). 
Hauptsachlich  muss  wol  ein  anderer  Grund  angenommen  wer- 
den:  die  instinctive  und  durch  Gewohnheit  noch  vermehrte  Er- 
regung  der  Aufmerksamkeit  durch  Bewegtes.  Dass  schon  in 
der  frithesten  Zeit  des  erwachenden  Bewusstseins  Bewegungen 
diese  Wirkung  haben,  ist  bekannt;  diese  Einrichtung  ist  also 
eine  individuell  urspriingliche.  Sie  scheint  mir  aber  nicht  bios 
urspriinglich  sondern  auch  elementar,  nicht  weiter  in  andere 
Vorgange  zerlegbar.  Irgend  eine  physiologische  Basis  wird  sie 
ja  auch  so  haben;  aber  keinesfalls  dieselbe,  wie  die  blosse 
Sinnesermiidung  ^). 

Man  kann  auch  hier  noch  versuchen,  hypothetisch  das  Individuell- 
Ursprungliche  auf  ein  Generell-Erworbenes  zuriickzufiihren;  etwa  iu 
folgender  Art.  Nehmeu  wir  an,  dass  ein  Bewegtes  bereits  durch 
irgend  einen  Umstaud  die  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen  habe, 
so  gibt  es  derselben  offenbar  mehr  zu  tun  als  ein  Ruhendes,  indem 
die  bestandig  neue  Situation  zu  bestandig  neuen  Unterscheidungen 
und  Vergleichungen  veranlasst.  Indem  nun  so  das  Bewegte  fUr 
die  ihm  zufallig  zugewandte  Aufmerksamkeit  allemal  mehr  Spiel- 
raum  und  Nahrung  hot,  hat  es  nach  und  nach  die  Kraft  erlangt, 
auch  von  vornhereiu  mehr  und   leichter  die  Aufmerksamkeit  auf 


')  Arago  hat  zuerst  innerhalb  des  Gesichtsinnes  diese  Erschei- 
nuugen  untersucht,  dann  Volkmann,  Forster,  Fechner,  G.  H.  Schnei- 
der (der  die  Beobachtungen  der  Genannten  anfiihrt  und  neue  beifiigt, 
beim  Tonsinn  aber  die  Gonstatirung  fiir  unmoglich  erklart,  weil  er  eben 
bios  an  raumliche  Bewegungen  denkt,  Vierteljahrschr.  fiir  wiss.  Phil.  II, 
1878,  S.  377).  Ferner  S.  Exner,  Sitz.-Ber.  d.  Wiener  Akad.  Bd.  72  III 
(1875)  S.  156,  Pfluger's  Arch.  Bd.  11  (1875)  S.  408,  Bd.  38  (1886)  S.  217 
Biolog.  Centralbl.  Bd.  8  (1888)  S.  437.  Exner's  Untersuchungen  beziehen 
sich  sijeciell  auf  die  peripherischen  Netzhautstellcu. 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  339 

sich  zu  lenken.  Ein  Lustmoment  hat  sich  daran  gekniipft  und 
zwar  eine  Lust  am  Bemerken  desselben,  die  dann  in  neuen  Fallen 
das  Bemerken  selbst  zur  Folge  hat.  (Ahnlich  wie  z.  B.  ein  Brief- 
markensammler  eine  Marke  zwischen  alien  moglichen  anderen  Ob- 
jecten  und  unter  Umstanden  bemerkt,  unter  denen  sie  einem  An- 
deren entgeht;  well,  nachdem  er  einmal  angefangen,  das  wachsende 
Material  der  Vergleichungen  und  Unterscheidungen  zugleich  der 
einmal  in's  Spiel  getretenen  Aufmerksamkeit  immer  mehr  Nahrungs- 
stoff  zufiihrte,  sodass  sie  bei  jedem  neuen  ahnlichen  Fall  nach  den 
Gesetzen  der  Ubung  mit  grosserer  Intensitat  einsetzt.)  Die  so  zu- 
nachst  individuell  tausendfaltig  erworbene  Wirksamkeit  des  Be- 
wegten  hat  sich  dann  —  wiirde  man  sagen  konnen  —  mehr  und 
mehr  im  psychophysischen  Organismus  fixirt,  ist  daher  jetzt  an- 
geboren,  wird  aber  immer  noch  weiter  durch  individuelle  Ge- 
wohnung  gestarkt.  Ich  meine  nur:  wenn  man  uberhaupt  weiter 
erklaren  will,  konnte  es  etwa  so  geschehen. 

G,  H.  Schneider  beruft  sich  in  seinem  Erklarungsversuche 
zunachst  auf  die  Relativitatstheorie ,  die  wir  ihm  nach  §  1  nicht 
zugestehen  konnen  (die  er  ja  auch  mit  w^enig  Gliick  auf  ein  spe- 
cielles  Tonproblem  angewandt  hat,  o.  I  152).  Doch  ist  sein  wei- 
terer  Gedankengang,  wie  er  selbst  andeutet  („mag  man  hieriiber  nun 
auch  denken  wie  man  -will"),  davon  unabhangig.  Er  weist  darauf 
bin,  dass  ein  ruhender  Reiz  auf  der  Netzhaut  nur  eine  simultane 
Differenz  der  Reizung  (zwischen  der  beziiglichen  Stelle  und  den 
iibrigen)  erzeugt,  ein  innerhalb  des  Gesichtsfeldes  bewegtes  Object 
aber  ausser  der  simultanen  noch  eine  successive  Differenz  (zwischen 
dem  augenblicklichen  und  dem  vorherigen  Zustand  der  gerade  ge- 
troffenen  Stelle).  Es  werde  also  gleichzeitig  zweimal  ein  Unter- 
schied  von  beispielsweise  Vs  ?  ^^also  im  Ganzen  eine  Differenz  von 
^/g"  empfunden.  Dieses  „also"  will  mir  wieder  gar  nicht  ein- 
leuchten,  trotzdem  Fechner  nach  Angabe  des  Verfassers  demselben 
brieflich  zustimmte.  Wie  solleu  sich  ein  simultaner  und  ein  suc- 
cessiver  Unterschied  in  der  Empfindung  summiren?  Ubrigens  liesse 
sich  wol  auch  eine  experimentelle  Probe  auf  die  Erklarung  machen : 
bei  solchen  Sinneseindrticken,  wo  eine  Veranderung  ohne  gleich- 
zeitige  Mehrheit  stattfindet,  wie  bei  der  Bewegung  eines  die  Haut 

22* 


340  §  23.  Bedingungen  flir  die  Zuverlassigkeit 

beruhrendeu  Punctes  oder  bei  der  Erhohuiig  oder  Vertiefung  eines 
einzelnen  Tones.  Es  scheiut  mir  schon  nach  alltaglichen  Erfabrungen 
zweifellos,  dass  z.  B.  ein  constauter  Ton  (der  nicbt  eiumal  sebr 
schwacb  zu  sein  braucbt,  urn  doch  „uberbort"  zu  werden)  in  dem 
Moment  die  Aufmerksamkeit  auf  sicb  ziebt,  wo  er  seine  Hohe 
ilndert.  Ich  glaube  darura,  dass  auch  die  Scbwelle,  bei  welcber 
ein  einzelner  Ton  fiir  die  bocbste  Aufmerksamkeit  verschwindet, 
eine  andere  ist  fur  den  ruhenden  und  eine  andere  fiir  den  nach 
der  Hobe  oder  Tiefe  bewegten  Ton;  obgleicb  experimentelle  Unter- 
suchungen  mit  dieser  Fragestellung  noch  nicbt  vorliegen. 

SiGM.  ExNEK  statuirt  auf  Grund  interessanter  und  scbarfsinnig 
zusammengestellter  Beobacbtungen  (s.  besonders  die  letzte  der  er- 
wabnten  Abbandlungen)  eine  Classe  specifiscber  Bewegungs- 
empfindungen  beim  Gesicbtssinn,  die  weder  mit  der  Bewegung 
des  Augapfels  nocb  mit  den  optiscben  Emplindungen  bei  rubendem 
Auge  und  rubendem  Object  etwas  zu  tun  babe,  und  fiir  welcbe  die 
Netzbautperipberie  sogar  gewissermassen  hyperaestbetiscb  sei.  Docb 
bezeicbnet  er  diese  Empfindungen  ausdriicklicb  als  unbewusste  oder 
subcorticale.  Eine  analoge  Empfindungsclasse  miisste  bienacb  folge- 
reebt  aucb  beim  Gebor  angenommen  werden;  also  Tonveranderungs- 
empfindungen  ueben  den  Tonempfindungen.  Nun  baben  wir  zwar 
selbst  I  184  eine  Tonbewegung  als  Ton  sui  generis  bezeicbnet, 
aber  docb  eben  als  Ton.  Es  war  nicbt  eine  Empfindung  anderer 
Qualitat  gegeniiber  den  rubenden  Tonen  gemeint,  sondern  es  sollte 
nur  der  Gegensatz  bervorgeboben  werden,  der  begrilflicb  zwiscben 
einem  Continuum  und  eiuer  Summe  discreter  Qualitaten  gleicber 
Gattung  bestebt.  Jedenfalls  wiirde  ich  den  Ausdruck  preisgeben, 
wenn  er  im  Sinne  einer  besonderen  Qualitatengattung  verstanden 
wiirde;  und  muss  aucb  gesteben,  dass  Exner's  obige  Tbesen,  ganz 
abgeseben  von  dem  Problem  der  ira  voUen  Sinne  „unbewussten  Em- 
pfindung", mir  durcb  die  von  ihm  angefiibrten  Beobacbtungen  nicbt 
bewiesen  scbeinen.  Wenn  man  z.  B.  die  Elongation  eines  schwin- 
genden  Pendels  beim  indirecten  Sehen  uberscbatzt,  so  liegt  hier 
nicbt  notwendig  eine  Hyperaestbesie  vor,  sondern  zunachst  eben 
eine  falscbe  Scbatzuug.  Nach  Czekmak's  von  Exxer  selbst  an- 
gefiihrter  Bemerkung    scbeint    ein   Secundenzeiger    langsamer  zu 


der  Analyse  uud  des  Hcraushorens  341 

geheu  beini  bios  indirecteu  Anblick:  hicr  licgen  doch  dieselben 
Empfindungsqualitateu  zu  Gruude  wie  in  jenem  Fcallc,  uiid  warum 
sollte  hier  die  Netzliautperipherie  unterempfiudlich  seiu,  wenu  sie 
dort  iiberempfindlicli  ware?  "Wol  aber  konneu  entgegengesetztc 
Schatzimgen  vorkommen,  deren  Anlasse  in  diesen  Fallen  allerdings 
noch  aufzusucben  sind.  Ich  glaube  also  niclit,  dass  der  Auffassung 
von  Bewegungen  bei  rubendem  Auge  andere  als  die  optischen  Em- 
ptindungen  zu  Grande  liegen.  Darin  jedocb  scheint  rair  Exnee  Recht 
zu  haben,  dass  die  Emplindungen  der  Netzhautperipberie  (wie  auch 
des  Facettenauges  bei  Insecteu)  zufolge  besonderer  Einrichtungen 
fiir  die  Erkennung  von  Bewegungen  mehr  geeignet  sein  miisseu  als 
fiir  die  ruhender  Raumunterscbiede.  Flbischl  gibt  eine  sebr  sinn- 
reiche  Erklarung  dafiir  durch  die  Hypotbese.  dass  auf  den  seit- 
lichen  Teilen  der  Netzbaut  benacbbarle  Zapfen  zu  verscbiedeuen 
Nervenfasern  gehoren  (Sitz.-Ber.  der  Wiener  Akad.  1883,  Bd.  87,. 
Wie  man  nun  auch  die  Sache  im  Allgemeiuon  weiter  er- 
klaren  moge:  dass  sie  sich  audi  im  Tongebiete  vielfaltig  be- 
wahrt,  ist  offenbar.  Wenn  in  eiuom  sonst  ruhenden  Klaug 
(Zusammeuklang)  ein  Ton  schwebt,  also  zwischen  verschiedenen 
Starkegraden  bin-  und  herschwankt,  oder  gar  intermittirt  (zwi- 
schen Erscheiuen  und  Verschwinden  w^echselt),  so  wird  er  leicht 
herausgehort.  Es  wurde  schon  erwahnt,  dass  Obertone  am  Clavier 
sich  durch  Starkeschwankungen  merkhch  machen;  auch  durch 
das  subjective  Anschwellen,  w'eun  die  Aufmerksamkeit  nur  auf  die 
nahere  tonale  Umgebung  gerichtet  ist  *).  Bei  Zusammenklangen 
aus  verschiedenen  Instrumeuten  sind  kleine  Starkeschwankungen 
der  Teilklange  unvermeidlich,  woran  sich  dann  auch  die  dem 
betreffenden  Instrument  eigenen  Gerausche  beteiligen.  Manche 
Instrumente  setzen  mit  vollem  Klang,  andere  mit  anschwellen- 
dem  ein,  manche  halten  ihn  gleichmassig,  andere  vibriren  oder 
lassen  nach  u.  s.  f.  Alles  dies  erleichtert  ausserordentlich  das 
Heraushoreu  und  die  Analyse. 


*)  Auch  der  Versuch  mit  der  Vocalrohre  S.  238  ist  hier  wieder  zu 
erwahnen.  Hiebei  wird  man  allerdings  schon  fast  eher  von  einer  Aufein- 
anderfolge  mehrerer  Klange  sprechen  miissen,  obschon  der  Grundton 
derselbe  bleibt.    Ahnliches  bei  Helmholtz  94,  Ritz  Unters.  7ii. 


342  §  23.  Bedingungen  ftir  die  Zuverlassigkeit 

Kleine  Hoheschwankungen  wirken  ebeuso,  wie  man  nur 
zu  oft  beobachteu  kann.  Grossere  stetige  Hoheschwankungen 
werden,  in  der  Musik  wenigstens,  nur  den  Differenztonen  in 
Folge  unvermeidlicher  kleiner  Schwankungen  der  Primartone  zu 
Teil;  aber  hier  ist  die  Erscheinung  auch  besonders  lehrreich. 
Die  Schwankung  eines  Differenztons  ist  (nach  dem  o.  244  Be- 
merkten)  ein  Vielfaches  von  derjenigen  der  Primartone,  wenn 
anders  beide  Schwankungen  in  Verhaltniszahlen  ausgedriickt 
werden.  Ein  Wievielfaches  sie  ist,  haugt  von  dem  Schwingungs- 
verhaltnis  der  Primartone  und  der  Verhaltnis-  (bez.  Ordnungs-) 
Zahl  des  Differenztons  ab.  Wenn  z.  B.  die  grosse  Terz  400:500 
sich  um  4  Schwingungen  verstimmt,  indem  400  zu  404  wird, 
geht  der  erste  Differenzton  100  in  96  iiber.  Da  er  2  Octaven 
unter  dem  tieferen  Primarton  liegt,  bedeutet  hier  die  namliche 
Differenz  einen  viermal  grosseren  Teil  eines  Ganztones  als  bei 
diesem.  96 :  100  ist,  wenn  diese  Zahlen  zugleich  die  absoluten 
Schwingungszahlen  sind,  etwa  ein  halber  Ton,  wahrend  404 :  400 
nicht  einmal  die  Halfte  des  enharmonischen  Unterschieds  von 
gis^  und  as'^  ist.  Nun  ist  zwar  die  relative  Unterschieds- 
empfindlichkeit  in  der  Tiefe  geringer  als  in  der  Mitte  des  Ton- 
reiches,  aber  eine  Schwankung  um  einen  Halbton  macht  sich 
doch  in  der  grossen  Octave  noch  wol  bemerklich.  Lassen  wir 
die  primaren  Tone  selbst  hoch  genug  liegen,  um  Differenztone 
in  der  kleinen,  eingestrichenen  oder  einer  noch  hoheren  Octave 
zu  erzeugen,  so  werden  deren  Schwankungen,  da  nun  auch  em- 
pfindlichere  Regionen  darankommen,  merklicher  als  die  der 
Primartone  selbst.  So  bei  hohen  Terzen  zweier  Sopranstimmen. 
Prof-  G.  Engel  (Lehrer  des  Gesanges  an  der  Berliner  Hoch- 
schule  fiir  Musik)  teilte  mir  mit,  dass  ihm  das  abscheuliche 
Hin-  und  Hergehen  eines  tieferen  Tons  in  solchen  Fallen  auf- 
gefallen  sei,  ehe  er  noch  theoretisch  etwas  von  Differenztonen 
wusste.  Noch  umfangreicher  und  aufdringlicher  wird  dieses 
Heulen,  wenn  zwei  Personen  auf  Hohlschliisseln  oder  mit  kleinen 
Pfeifchen  sehr  hohe  Tone  hervorbringen;  wahrend  die  geringen 
Hoheschwankungen  der  Primartone  hier  gar  nicht  mehr  be- 
merkt  werden. 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  343 

Ein  nichtmusikalisches  Beispiel  liefern  die  sg.  Variations- 
tone,  wie  sie  entstehen,  wenn  eine  toncnde  Stimmgabel  vor 
eine  rotireude  Sirenenscheibe  gehalten  wird.  Es  bilden  sich 
daun  ausser  dem  Tone  ii  der  Gabel  die  beiden  Tone  n  -f-  ni 
und  n  —  ni)  wo  m  mit  der  Scbnelligkeit  der  Scheibendrehung 
wachst^).     Solche  Tone  sind  selir  leicht  herauszuhoren. 

Pfaundler,  der  auf  dieselbe  Locberreihe  einer  Sirene  zwei 
Blaserohren  wirken  liess,  eine  feststebende  und  eine  langs  der 
Locberreihe  beweglicbe,  sagt:  „Solange  die  Blaseoffnungen  con- 
stanten  Abstand  bebalten,  ist  der  diesem  Abstand  entsprecbende 
Ton  nicht  dcutlicb  wahrnehmbar,  er  wird  es  aber  sofort,  wenn 
man  diesen  Abstand  variirt"^). 

Es  ware  iiber  die  bier  erwabnten  Bedingungen  des  Heraus- 
borens  nocb  manche  experimentelle  Nacbforscbung  moglicb;  so 
iiber  die  Scbwellenwerte  der  Hobe-  und  Starkeschwan- 
kungen,  bei  welcben  der  beziiglicbe  Ton  gesondert  bemerkbar 
wird.  Hiebei  kame  ausser  der  Grosse  aucb  die  Scbnelligkeit 
der  Sebwankung  in  Betracbt. 

Ferner  ware  die  Frage,  ob  bei  langsamen  Anderungen,  die 
nur  in  einer  Ricbtung  erfolgen,  eine  der  beiden  Richtungen 
wirksamer  ware  als  die  andere.  Beziiglicb  der  Starke  wird 
man  obne  Weiteres  voraussetzen ,  dass  zunebmende  Starke  den 


^)  Helmholtz  661.  Alfr.  Mayer,  Americ.  Journ.  of  Science  and 
Arts  1875  April  (auch  Philosoph,  Magaz.  1875  Mai).  Mayer  gebrauchte 
den  ruhenden  Ton  c^;  als  die  Variationstone  e^  und  g^  waren,  vernahra 
er  auch  den  Combinationston  c: 


I 


::]: 


Bei  noch  schnellerer  Rotation  der  Scheibe  verschwanden  die  Variations- 
tone  sammt  dem  Combinationston  und  blieb  nur  der  constante  Gabelton 
c^  ubrig.  Vgl,  ferner  R.  Konig,  Pogg.  Ann.  Bd.  157,  S.  228  f.  Preyer, 
Akust.  Unt.  25.  Uber  die  ersten  Untersuchungen  dieser  Tone  (Radau 
1865)  s.  Beetz  Pogg.  Ann.  Bd.  130,  S.  587. 

3)  Sitz.-Ber.  d.  Wiener  Akad.  1877  (Bd.  76,  II)  S.  570. 


344  §  23.  Bcdiuguiigou  fiir  die  Zuvcrlassigkeit 

Ton  loichter  merklicli  niucht  und  die  Wirksamkeit  der  ab- 
nebmenden  viollcicht  iiberbaupt  leugiien.  Indcssen  kann  auch 
lotztere  unter  Umstanden  das  Herausboren  begiiustigen,  wie 
wenn  von  drei  gleicbstarken  Tonen  eiuer  sebr  rascb  abniniDit. 
So  lenkt  ja  aucb  ein  vorber  „iiberbortes"  Gerausch  die  Auf- 
nierksamkeit  auf  sicb,  wenn  es  rascb  abnimmt.  Bei  der  Zu- 
nabme  ist  so  eigentlicb  ein  doppeltes  Moment  wirksam,  die  Ver- 
anderung  als  solcbe  und  die  grossere  Iritensitat,  zu  der  sie 
binfiihrt.  Abnlicb  kann  man  nun  fragen,  ob  Vertiefung  und 
Erbobung  in  gleicber  Weise  wirken.  Wabrscbeinlicb  begiinstigt 
Erbobung  (auch  ohne  gleicbzeitige  Verstarkung)  das  Heraus- 
boren mebr  als  gleicbgrosse  und  gleicbrascbe  Vertiefung,  scbon 
in  P'olge  musikaliscber  wie  aucb  gewisser  aussermusikaliscber 
Gewobnheiten,  welcbe  zugleicb  dem  Aufsteigen  in  der  Tonlinie 
etwas  Aufregendes,  dem  Absteigen  etwas  Berubigeudes  ver- 
leihen  (I  365). 

b)  Der  augenblickliche  Aufmerksamkeitsgrad,  der  aller- 
dings  uur  insoweit  als  selbstandiger  Factor  zu  erwabnen  ist, 
als  er  nicbt  seinerseits  durcb  bereits  aufgezablte  Momente  be- 
stimmt  ist^).  Er  bangt  ab  von  besonderen  Umstiinden  des 
Falles  und  von  Anlage  und  t)bung.  Unter  den  erstereu  ist 
das  vorberige  Horen  eines  im  Klange  (Zusammenklange)  vor- 
kommenden  Tons  vorziiglicb  wirksam;  bei  Zusammenklangen 
aucb  der  musikaliscbe  Zusammenbang,  wo  ein  solcber  vorbanden 
ist.  Das  musikaliscbe  Denken  kann  sicb  dadurcb  aucb  auf  einen 
Ton  besonders  bingelenkt  seben,  der  nicbt  selbst  scbon  im 
Vorangebenden  entbalten  ist.  Nacb  welcben  Regeln,  unter- 
sucben  wir  spater.  Ferner  konnen  im  einzelnen  Falle  mancher- 
lei  mittelbare  Kriterien  uns  auf  die  Zusammengesetztheit 
und  aucb  in  gewissem  Masse  auf  die  Art  der  Zusammensetzung 
eines  Klanges  aufmerksam  macben,  so  dass  wir  dieselbe  dann 
nacbtraglicb  aucb  direct  wabrnebmen.    So  die  Klangfarbe.    Der 

*)  Die  partiellen  Veranderungen  fiibrteu  wir  nur  darum  als  selb- 
standigen  Factor  auf,  weil  uber  die  Art  ihrer  Wirksamkeit  noch  Zweifel 
obwalten  und  sie  doch  vielleicht  nicht  bios  durch  Erweckuug  der  Auf- 
merksamkeit  wirken. 


dcr  Analyse  and  des  Heraushorons.  345 

Kundige  vermag  aus  der  woll)ekannten  Klangfarbe  des  Floten- 
oder  Clavierklanges  schorl  zu  erschliessen,  welche  Gattung  von 
Obertonen  darin  enthalten  sein  werden,  und  danach  seine  Auf- 
merksamkeit  einzustellen.  Ferner  Verschiedenlieit  dor  Locali- 
sation (s.  g)).  Selbst  die  Localisation  durch  das  Auge  hat  in 
solcher  Weise  Einfluss.  ^)  Jeder,  der  das  unterirdischc  Orchoster 
Wagner's  hort,  wird  sagen  miissen,  dass  ihm  die  Analyse  der 
Klangmiscbungen  weniger  leiclit  wird  als  wenn  man  die  Musi- 
kanten  blasen  und  geigen  sielit.  Darauf  hat  es  ja  Wagner 
auch  mit  abgesehen.  Ebenso  unterstiitzt  natiirlich  das  Lesen 
der  Noten, 

Auf  Rechuung  der  Anlage  und  Ubung  des  Aufmorkens 
kommen  ausser  den  Verschiedenheiteu  im  Maximum  des  Auf- 
merksamkeitsgrades  iiberhaupt  (I  70  —  71,  78)  hier  besonders 
die  Unterschiede  in  der  Fahigkeit  der  Verteilung  der  Aufmerk- 
samkeit.  Es  ist  mir  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  ausscrordent- 
liche  Ungleichheit  musikalischer  und  unmusikalischer 
Naturen  in  Hinsicht  der  Analyse  und  des  Heraushorens  zum 
grossten  Teil  darin  griindet,  dass  die  Unmusikalischen  von  Natur 
aus  nur  in  geringem  Masse  einer  Verteilung  der  Aufmorksam- 
keit  auf  gleichzeitige  Tone  fahig  sind,  sei  es  einer  gleich- 
massigen  (wie  bei  der  Analyse),  sei  es  einer  ungleichmassigen 
(wie  beim  Heraushoren).  Es  diirften  angeborene  grosse  Unter- 
schiede bestehen  nicht  bios  in  der  Lust  an  Tonen  sondern  auch 
in  der  Lust  am  Bemerken  der  Tone  gegeniiber  anderen  Sinnes- 
inhalten;  und  so  diirften  Manche  zur  Verteilung  der  Aufmerk- 
samkeit  auf  gleichzeitige  Tone  fast  unfahig  sein,  wahrend  sie 
in  anderen   Sinnesgebieten   solcher  Verteilung  recht  wol  fahig 

^)  Eine  Bemerkung  Heinrich  Nob's,  die  mir  zufallig  aufstiess  und 
anfangs  lacherlich  schien,  rechtfertigt  sich  so.  Er  sagt  in  seinen  Schil- 
derungeu  aus  Tirol  und  Vorarlberg:  „Wieder  ein  Donner  der  Eisstiicke. 
die  vom  Ortler-Ferner  herabjagen  —  dann  larraen  fiir  unser  Ohr  wieder 
einzig  die  drei  Brunnen.  Sehen  wir  hinaus,  dann  erkennen  wir  freilich, 
dass  sich  mit  ihrem  Rauschen  das  Gesumme  zahlloser  Wasser  vereinigt, 
die  als  Quellen  aus  den  Lawinenrestcn  hervorbrechen'-  u.  s.  f.  Man  kaun 
durch's  Auge  die  Quellen  und  die  Lawinenbache  sondern,  aber  nicht  das 
Rauschen  und  das  Summeu.    Dcnnoch  kann  das  Auge  dem  Ohr  helt'eu. 


346  §  23.  Bedingungen  fur  die  Zuverlassigkeit 

sind.  Solche  werden  nur  dann  einen  Zusammenklang  als  gleich- 
zeitige  Mehrheit  von  Tonen  auffassen  oder  einen  Ton  innerhalb 
desselben  herauslioren,  wenu  auch  ohne  bedeutendere  Mitwirkung 
der  Aufmcrksamkeit  (und  speciell  der  willkihiichen  Aufmerk- 
samkeit)  die  Tone  durch  ilire  grosse  Hohendifferenz,  ihre  grosse 
Starke,  ihren  ortlichen  Unterscbied  u.  dgl,  sicb  der  gesonderten 
Wahrnebmung  geradozu  aufdraugen. 

Es  kommt  aber  bei  den  Musikaliscben  natiirlicb  die  Ubuug 
des  Aufmerkens  hinzu  (zu  welcher  unmusikaliscbe  Naturen  eben 
aucb  wieder  nur  in  geringem  Masse  fabig  sind).  Dadurcb  wird 
nicbt  bios  die  Fabigkeit  des  Aufmerkens  auf  Tonerscheinungen 
iiberhaupt  gesteigert  sondern  aucb  specielle  Fabigkeiten  in  der 
Direction  und  Concentration  desselben  erzeugt;  so  z.  B.  bei 
iikustiscb  Geiibten  in  der  Ricbtung  der  Obertone  oder  Differenz- 
tone.  Ferner  sind  bei  Zusaramenklangen  die  in  der  augenblick- 
licben  Musik  gebrauchlicheren  vor  den  weniger  oder  nicbt  ge- 
brauchlicben  durcb  solcbe  Ubung  bevorzugt.  Unterscbeiden  wir 
ja  auch  leicbter  die  Umrisse  bekannter  Gegenstande,  die  Teile 
bekannter  Worter  und  Silben  als  unbekannter,  wenn  beide  nur 
momentan  gesoben  werden.  Nicbt  nur  die  Deutung,  aucb  die 
blosse  Wabrnebmung  der  Teile  ist  eine  voUkommnere,  leichtere. 
Ebenso  wird  eine  ungleicbe  Ubung  des  Aufmerkens  sich  fiir 
verscbiedene  Tonregionen  entwickeln.  Speciell  was  das  Heraus- 
boren  anlangt,  hat  sich  in  den  letzten  Jabrhunderten  die  Ge- 
wohnheit  gebildet,  die  Aufmerksamkeit  vorzugsweise  dem  hoch- 
sten  Tone  eines  Zusammenklanges  zuzuwenden;  wenngleich  selbst- 
verstandlich  mit  Unterschieden  je  nach   dem  besonderen  Fall. 

i)  Das  Gedachtnis  (die  Vorstellungsiibung)  fiir  Tone  der 
beziiglichen  Region.  Je  leicbter  und  rascher  sich  Einer  Tone 
von  der  Hohe  der  im  Klange  enthaltenen  in  der  Phantasie, 
aus  dem  Gedachtnis  vorstellen  kann,  urn  so  leicbter  die  Ana- 
lyse und  das  Heraushoren.  Dies  versteht  sich  fiir  jede  Theorie, 
ist  daher  nicbt  etwa  ein  Beweis  fiir  die  Anscbauung,  wonach 
es  sich  bei  der  sg.  Klanganalyse  iiberhaupt  nur  um  ein  Hinein- 
denken  von  Gedachtnisbildern  bandelte.  Solcbe  Reproduction 
ist  ja  auch  keiueswegs  in  alien  Fallen  eine  Notwendigkeit,  son- 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  347 

dern  nur  in  schwierigeren  Fallen  cine  Erleichterung,  wie  beim 
Aufsuchen  der  Obertone.  In  anderer  Weise  kommt  die  Treue 
der  Reproduction,  aber  audi  die  des  unmittelbaren  Gedaclit- 
nisses  (der  nach  Aufhoren  der  Empfindung  noch  actuell  fort- 
bestehenden  Vorstellung)  dann  zur  Geltung,  wenn  das  Urteil 
sich  erst  nach  Aufhoren  des  Klanges  bildet.  Dann  muss  ja  der 
gesammte  Klangeindruck  erhalten  bez.  erneuert  werden,  solange 
und  so  oft,  bis  das  Urteil  sich  gebildet  hat.  Dass  das  Ge- 
dachtnis  oft  genug  audi  in  dieser  Weise  beteiligt  ist  oder  sein 
sollte,  sieht  man  an  den  haufigen  Fallen,  in  denen  Personen 
sich  eine  Wiederholung  des  Klanges,  liber  dessen  Zusammen- 
setzung  sie  urteilen  sollen,  ausbitten,  weil  er  ihnen  nicht  mehr 
oder  nicht  hinreichend  mehr  im  Bewusstsein  ist. 

Auch  hier,  im  Gedachtnis,  liegt  gewiss  einer  der  durch- 
greifendsten  Griinde  fiir  die  ungleiche  Leistungsfahigkeit  der 
Individuen  im  Analysiren  und  Heraushoren.  Wir  kennen  ja  die 
grossen  Verschiedenheiten  des  Tongedachtnisses  (I  279  f.)  Was 
man  Ubung  in  der  Wahrnehmung  der  Klangteile  iieniit,  ist, 
wie  ich  glaube,  auf  diese  beiden  Puncte  zuriickzufiihren:  Ge- 
dachtnis (Vorstellungsiibung)  und  tlbung  der  Aufmerksamkeit. 
Es  besteht  auch  hier  keine  Notigung,  daneben  noch  etwa  eine 
besondere  Urteilsiibung  anzunehmen  (vgl.  I  75  f.,  245 — 6).  Viel- 
leicht  sind  sogar  diese  beiden  Factoren  selbst  in  der  Wurzel 
nur  Einer:  wenn  namlich  die  individuelle  Anlage  zum  Ton- 
gedachtnis  identisch  ist  mit  der  zum  Aufmerken  auf  Tone; 
wie  ich  dies  jetzt  fiir  sehr  plausibel  halte  (vgl.  I  287  f.,  ferner 
die  Bemerkungen  unten  361). 

2.  Besprechung  einiger  besonderen  Erscheinungen. 

Sind  wir  nun  gleichsam  mit  den  Registern  bekannt  ge- 
worden,  durch  deren  verschiedenartige  Verbindung  in  den  ein- 
zelnen  Fallen  erklart  werden  muss,  wie  und  warum  die  Analyse 
und  das  Heraushoren  zu  Stande  kommt  oder  nicht,  so  ist  damit 
noch  nicht  gesagt,  dass  wir  in  jedem  Fall  auch  die  richtigen 
Register  zu  ziehen  wissen.  Ganze  Classen  von  Fallen  konnen 
der  Erklarung  noch  Schwierigkeiten  bieten.    Solche  Schwierig- 


348  §  23.  Bedingungeu  fiir  die  Zuvnrlassigkeit 

keiten  will  ich  nicht  verhehlen  oder  beschonigen  sondern  her- 
vorheben  und  die  beigefiigten  Erklarungen  zuin  Teil  nur  als 
vorlaufig  plausibelste  betrachtet  wissen. 

a)  Einfluss  der  Klangfarbe. 

t)bt  die  Klangfarbe  und  iiben  die  Uuterschiede  der  Klang- 
fai'be  zwisclien  den  Teilen  eines  Zusammenklangs  einon  Ein- 
tluss  auf  die  Leichtigkeit  der  Analyse  und  des  Heraushorens? 
Wir  liaben  sie  nicht  unter  den  Factoren  erwahnt.  Aber  es 
gibt  zahlreiche  Erfahrungen ,  welche  anscheinend  solchen  Ein- 
Huss  beweisen.  So  steigerte  sicla  z.  B.  sofort  die  Unterschei- 
dungsfahigkeit  der  zwolf  Hallenser  Versuclispersonen  §  19,  als 
ich  probeweise  ein  scharferes  Register  (Geigenprincipal)  aufzog. 
So  erwahnten  wir  auch  schon,  dass  die  qualitative  Uuterschei- 
dungsschwelle  hoher  liegt  bei  Stimmgabeln  als  bei  musikalischen 
Instrumenten.  Die  Analyse  eines  Zusammenklanges  scheint  also 
im  Allgemeinen  bei  scharferen  Farben  der  Componenten  leichter 
als  bei  milderen.  Aber  nicht  bios  die  absolute  Klangfarbe 
sondern  auch  die  alien fallsigeu  Uuterschiede  innerhalb  eines 
Zusammenklanges  scheinen  von  Einfluss,  und  zwar  in  erleich- 
terndem  Sinne.  Man  unterscheidet  meistens  leichter  eine  mensch- 
liche  Stimme  neben  einer  Orgelpfeife  als  zwei  Orgelpfeifen. 
Man  hort  einen  scharfen  Klang  inmitten  weicher  leichter  heraus 
als  einen  weichen,  eine  Oboe  unter  Floteu  leichter  als  eine  Flote. 
Ja  es  konnte  scheinen,  als  ob  selbst  ein  milder  Klang  sich 
besser  abhobe  von  scharfen  als  von  gleich  milden.  So  wird 
der  mild  summende  Differenzton  besonders  leicht  neben  scharfen 
Primarklangen  vernommen. 

Diese  Beobachtungen,  die  man  anfangs  vielleicht  ohne  prin- 
cipielle  Schwierigkeit,  wenn  nicht  selbstverstandlich,  finden  wird, 
geben  doch  naher  betrachtet  zu  Bedenken  Anlass.  Beruhen  die 
Uuterschiede  der  Klangfarbe,  wie  wir  mit  Helmholtz  annehmen, 
wesentlich  auf  den  Obertonen,  so  sieht  man  nicht  ein,  wie  durch 
das  Hinzukommen  von  solchen  die  Trennung  der  Grundtone  von 
einander  erleichtert  werden  soil.  Die  Klangfarbe  ist  ein  Pra- 
dicat  eines  aus  Grundton  und  Obertonen  bestehenden  Klang- 
ganzen,   sie   ist   nicht   ein  Moment   des  Grundtons  selbst   wie 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  349 

etwa  dessen  Intensitat.  Auf  den  Grundton  selbst  konnen  die 
Obertone  Uberhaupt  keinen  Einfluss  haben;  wie  also  auf  die 
Unterscheidung  der  Grundtone  voii  einander?  Und  wollen  wir 
auch  sagen,  es  handle  sich  bei  der  Zerlegung  eines  Zusammen- 
klanges  nicht  um  die  Trennung  der  Grundtone  sondern  der 
Klange  von  einander,  so  bleibt  doch  immer  die  Frage,  wie 
zwei  Klange  leichter  analysirbar  sein  konnen,  als  zwei  andere, 
von  denen  sie  sich  durch  Nichts  unterscheiden,  als  dass  sie  mehr 
Obertone  enthalten.  Man  konnte  audi  umgekehrt  schliessen, 
dass  die  letzteren  storten. 

In  der  Tat  muss  man,  wie  ich  glaube,  den  scheinbaren 
Einfluss  der  Klangfarbe  vielmehr  auf  andere  bekannte  Moraente 
zuriickfiihren ,  und  auf  die  Klangfarbe  nur  insoweit,  als  jene 
etwa  in  den  Begriff  der  Klangfarbe  mit  aufgenommen  werden. 

Vor  Allem  wenn  Zusammenklange  von  scharfen  Einzel- 
klangen  leichter  analysirt  werden  als  voii  weichen,  so  lasst  sich 
anfiihren,  dass  sehr  weiche  Klange  der  Kegel  nach  zugleich 
schwach  sind.  Obertone  kommen  eben  nur  bei  Klangen  von 
einer  gewissen  Starke  des  Grundtons  zum  Vorschein  und 
wachsen  an  Zahl  und  Starke  unter  sonst  gleichen  Umstanden 
mit  der  Starke  des  Grundtons;  wahrend  umgekehrt  oberton- 
freie  Klange,  wo  sie  Uberhaupt  moglich  sind,  nur  bei  schwachster 
Tongebung  erzielt  werden  konnen  (die  hochsteu  Octaven  aus- 
genommen).  Es  kommt  dazu  noch,  dass  der  erste  Differenzton 
des  Grundtons  mit  dem  ersten  Oberton  eines  Klanges  (ebenso 
wie  iiberhaupt  der  erste  Differenzton  je  zweier  in  der  Reihe 
der  harmonischen  Teiltone  benachbarter  Tone)  gleich  dem 
Grundton  selbst  ist,  dass  somit  dieser  bei  alien  Klangen,  die 
den  ersten  Oberton  (ev.  auch  weitere  in  der  harmonischen  Reihe 
benachbarte  Teiltone)  kraftig  enthalten,  starker  zu  Gehor 
kommt  als  es  seiner  physikalischen  Intensitat  entsprechen 
wiirde.  Handelt  es  sich  um  sehr  tiefe  Klange,  so  kaun  man 
auch  annehmen,  dass  bei  den  scharferen  Klangen  gar  nicht  die 
Grundtone  selbst  sondern  die  ersten  Obertone,  ihre  Octaven, 
analysirt  werden,  wahrend  man  bei  den  weichen  auf  die  tiefeu 
Grundtone  angewiesen  ist  und  darum  mehr  Schwierigkeit  findet. 


350  §  23.  Bedingnngen  fur  die  Zuverlassigkeit 

Fiir  Unmusikalische  kommt  auch  der  Umstand  in  Betracht, 
dass  Klange  mit  Obertoneii  starkere  Schwebungen  geben,  welche 
von  solchen  Persouen  ofters  als  Kriterium  der  Vielheit  benutzt 
werden;  mogen  sie  dann,  dadurch  aufmerksam  gemacht,  die 
Vielheit  auch  direct  erkennen  oder  mag  es  bei  der  bios  mittel- 
baren  (scheinbaren)  Analyse  bleiben. 

Im  librigen  sind  scharfere  Klange  keineswegs  in  alien 
Fallen  leichter  auseinanderzuhalten;  wir  werden  sogleich  unter 
b)  den  Fall  der  Octave  besprecheu,  wo  gerade  bei  scharfen 
Zimgenklangon  c^  in  c^  fast  verschwindet,  und  die  besonderen 
Griinde  dafiir  aufsuchen. 

Wenn  sodann  eine  menschliche  Stimme  und  eine  Orgel- 
pfeife  leichter  auseinandergehalten  werden  als  zwei  Orgelpfeifen 
(die  Einem  Register  angehoren),  so  ist  zu  beriicksichtigen,  dass 
nicht  bios  die  Klangfarbe  im  engeren  Sinn,  der  Bestand  an 
Obertonen,  hier  verschieden  ist,  sondern  auch  andere  Eigentiim- 
lichkeiten,  die  man  zur  Klangfarbe  nur  im  weiteren  Sinne 
rechnen  kann,  namentlich  der  Ansatz  und  die  Haltung  der 
Tone.  Die  Orgelpfeife  ist  sogleich  mit  ihrer  ganzen  Starke  da 
und  behalt  sie  ebenso  wie  ihre  Hohe  unverandert  bei,  eine 
Gleichmassigkeit,  welche  der  menschlichen  Stimme  nur  in 
seltenen  Ausnahmsfallen  eigen  ist  (vgl.  I  164  die  Beobachtungen 
KlUnder's  liber  Hoheschwankungen  der  Stimme.  Von  der 
minimalen  Dauer  des  subjectiven  „Anklingens",  welches  aller- 
dings  auch  Orgeltonen  zukommt,  kann  hier  abgesehen  werden). 
Wir  haben  also  hier  das  Hilfsmittel  der  partiellen  Veranderungen. 
Natiirlich  wird  auch  die  verschiedene  Localisation  mitwirken, 
wenn  die  Stimme  vorwiegend  zum  einen  Ohr,  die  Pfeife  zum 
anderen  dringt,  was  unter  Umstanden  auch  durch  eine  geringe 
Bewegung  des  Kopfes  bewirkt  werden  kann. 

Wenn  scharfe  Klange  neben  weichen  leichter  als  weiche 
herausgehort  werden,  so  kann  wiederum  schon  die  Starke  der 
Grundtone  als  Erklarung  dienen.  Wenn  aber  auch  umgekehrt 
ein  weicher  Klang  inmitten  mehrerer  scharfen  besouders  leicht 
wahrgenommen  wird,  wie  der  Differenzton ,  so  wird  daran  in 
erster  Linie    der    bereits  friiher   angedeutete   Umstand   Schuld 


der  Analyse  nnd  des  Heraushorens.  351 

sein,  dass  der  Differenzton  hier  nicht  bios  durch  die  Grund- 
tone  sondern  audi  durch  die  Obertone  erzeugt  und  somit  ver- 
starkt  wird.  Ferner  wird  eben  dadurcli  auch  das  Intermittiren 
(Brummen)  desselben  verstiirkt,  welches  seine  Wahrnehmbarkeit 
nach  dem  Princip  der  partiellen  Veranderungen  erleichtert. 
Dazu  kommt  vielleicht  iioch,  dass  man  in  dem  Moment,  wo  er 
in  der  Wahrnehmung  aufzutauchen  beginnt,  sogleich  mehr  Ver- 
gniigen  an  dem  weichen  tiefen  Ton  empfindet  als  an  den  oft 
geradezu  schreienden  oder  quakenden  Primarklangen,  und  so  die 
Aufmerksamkeit  sich  intensiver  darauf  einstellt. 

Hieuach  betrachten  wir  einstweilen  die  Klangfarbe  nicht 
als  einen  Factor,  der  in  selbstandiger  Weise  auf  die  Analyse 
und  das  Heraushoren  Einfluss  hat;  ausgenommen  insofern  etwa 
die  Starke  mit  in  ihren  Begriff  eiugeht,  in  welcher  Hinsicht 
sie  aber  unter  den  aufgezahlten  Bedingungsclassen  bereits  ent- 
halten  ist.  Dennoch  muss  ich  offen  gestehen,  dass  die  hier 
versuchten  Erklarungen  mich  selbst  nicht  in  alien  Puncten  be- 
friedigen.  Die  verteilten  Stimmgabeln,  kraftig  angeschlagen  und 
dicht  vor  die  Ohren  gehalten,  tonen  doch  sehr  stark,  und  um- 
gekehrt  konnen  scharfe  Klange  recht  leise  angegeben  werden, 
ohne  dass  die  Schwelle  im  ersten  Falle  auf  das  Niveau  des 
zweiten  Falles  herabginge.  Die  absolute  Intensitat  macht  eben 
doch  nur  in  ihren  hochsten  und  geringsten  Graden  einen  Unter- 
schied  fiir  die  Leichtigkeit  der  Analyse,  nicht  in  der  breiten 
mittleren  Zone  der  Intensitaten. 

Allein  die  obigen  principiellen  Erwagungen  hindern  vor- 
laufig,  einen  selbstandigen  Einfluss  der  Klangfarbe  anzunehmen. 
Was  sollen  die  hinzukommenden  Obertone  an  den  Grundtonen 
verandern,  um  deren  Analyse  zu  erleichtern,  abgesehen  von  der 
Starke?  Nur  eine  wesentliche  Umformung  des  Klangfarben- 
begriffes  wiirde  bier  eine  Moglichkeit  eroffnen.  Wir  kommen 
im  §  28  darauf  zuriick,  aber  nur  um  diese  Umformung  selbst 
nicht  annehmbar  zu  finden. 

Ein  anderer  Punct,  der  dort  auch  zur  Sprache  kommen 
wird,  kann  hier  nach  seiner  Beziehung  zur  Analyse  kurz  ab- 
getan  werden.    Wir  werden  uiimlich  horen,  dass  man  auch  den 


352  §  23.  Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit 

einfacben  Tonen  noch  einen  Unterschied  der  5,Farbe"  zugestehen 
muss  und  zwar  wechselnd  mit  ihrer  Hohe,  indem  sie  von  der 
dunkelsten,  dumpfesten  bis  zur  bellsten,  scharfsten  Farbung 
ubergeben.  Auch  diese  „Tonfai'be"  nun  hat  einen  scheinbaren 
Einfluss  auf  die  Analyse,  insofern  bei  gleichem  Verhaltnis  wie 
nicht  minder  bei  gleicber  Differenz  der  Scbwingungszahlen  die 
Analyse  in  verschiedenen  Tonregionen  verschiedene  Schwierig- 
keit  bietet.  Aber  es  geniigt  offenbar,  hier  die  Verscliiedenheit 
der  qualitativen  Distanz  selbst  als  Grund  anzusehen,  da  diese 
bei  gleichen  Schwingungsdifferenzen  (und  -Verhaltnissen)  in 
verschiedener  Region  verschieden  ist. 

b)  Verschwinden  des  hoheren  Octaventons. 

In  gewissen  Fallen  kommt  es  vor,  dass  selbst  von  musi- 
kalischen  Ohren  und  bei  anscheinend  gleicber  Starke  beider 
Tone  doch  nur  der  tiefere  wahrgenommen  wird.  Eine  solcbe 
Beobacbtung  machte  Helmholtz  103  f.  (als  Modification  des 
oben  240  erwabnten  OnM'schen  Versuches)  mit  zwei  Flaschen, 
welche  einfacbe  Tone  geben  und  sicb  durch  Eingiessung  von 
FlUssigkeit  leicht  auf  ein  gewunschtes  Intervall  stimmen  lassen. 

„Ich  hatte  eine  grossere  auf  5,  eine  kleinere  auf  b^  gestiramt, 
und  verband  sie  beide  mit  demselben  Blasebalge,  so  dass  beira  Ge- 
brauch  des  Balges  beide  zugleich  ansprachen.  Beide  in  dieser 
Weise  verbunden  gaben  einen  Klang  vou  der  Toubohe  b  der  tie- 
feren  uuter  ihnen,  aber  von  der  Klangfarbe  des  Vocals  0  (wah- 
rend  die  tiefere  alleiu  wie  U  klang).  Weun  icb  danu  bald  don 
einen  bald  den  anderen  Kautschukschlauch  zudruckte,  so  dass  icb 
nacbeinander  die  beiden  Tone  einzeln  borte,  war  ich  im  Stande, 
sie  aucb  in  ibrer  Vereinigung  wol  noch  einzeln  zu  erkennen,  aber 
nicht  fiir  lange  Zeit;  allmalig  verschmolz  wieder  der  hohere  mit 
dem  tieferen.  Diese  Verschmelzung  tritt  sogar  ein,  wenn  der 
hohere  Ton  etwas  starker  als  der  tiefere  ist.  Bei  dieser  allmalig 
eintretenden  Verschmelzung  ist  nun  die  Anderung  der  Klangfarbe 
charakteristisch.  Wenn  man  erst  den  hohen  Ton  augegeben  hat, 
dann  den  tieferen  hinzukommen  lasst,  hort  man  anfangs,  wie  ich 
finde,  den  hoheren  Ton  noch  in  seiner  ganzen  Starke  weiter;  da- 
neben  klingt  der  tiefe  in  seiner  naturlichen  Klangfarbe  wie  ein  U. 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  353 

AUmalig  aber,  wie  sich  die  Erinueruug  des  isolirt  gehorten  hoheren 
Tones  verliert,  wird  jener  immer  undeutlicher  und  dabei  auch 
schwacher,  wahrend  der  tiefe  Ton  scheinbar  starker  wird  und  wie 
0  lautet.  Diese  Schwachung  des  hohen  und  Verstarkung  des  tiefen 
Tones  hat  Ohm  auch  an  der  Violine  beobachtet^  sie  tritt  freilich, 
wie  Seebeck  bemerkt,  nicbt  iramer  ein,  wahrscheinlich  je  nachdem 
die  Erinnerung  an  die  einzein  gehorten  Tone  raehr  oder  weniger 
lebendig  ist,  und  beide  Tone  mehr  oder  weniger  gleichmassig  neben- 
eiuander  hinklingen.  Wo  der  Versuch  aber  gelingt,  gibt  er  den 
besten  Beweis  dafiir  ab,  dass  es  sich  hier  ganz  wesentlich  urn  die 
verscbiedene  Tatigkeit  der  Aufmerksamkeit  handelt." 

Zunachst  bemerke  ich,  dass  das,  was  Helmholtz  hier  Ver- 
schmelzung  nennt,  nicht  Verschmelzung  in  unsrem  Sinn  son- 
dern  nur  eben  Nicht -Untersclieidung  bedeutet,  wahrend  Ver- 
schmelzung in  unsrem  Sinn,  um  wahrgenommen  zu  werden, 
gerade  Unterscheidung  der  Tone  voraussetzt  (obschon  sie  auch 
den  ununterschiedenen  Empfindungen  zukommt). 

Was  dann  die  Veranderung  der  Klangfarbe  betrifft,  so 
wolleu  wir  sie  hier  ausser  Betracht  lassen,  w^erdeu  aber  in 
§  28  horen,  dass  von  Klangfarbe  nur  so  lange  iiberhaupt  ge- 
sprochen  werden  kann,  als  keine  Unterscheidung  der  Tone 
stattfindet.  Es  ist  also  begreiflich,  dass  mit  dem  Aufhoren  der 
Unterscheidung  der  hohere  Ton  sich  durch  seinen  Einfluss  auf 
die  Klangfarbe  geltend  macht. 

Wieder  eine  Frage  fiir  sich  ist  es,  warum  dem  Ganzen  die 
Hohe  des  tieferen  Tons  zugeschrieben  wird;  davon  in  §  25. 

Was  uns  dagegen  hier  interessirt,  ist,  dass  und  warum  die 
Unterscheidung  der  Tone  nach  einiger  Zeit  unmoglich  wird. 
Um  blosse  Schwankungen  der  Aufmerksamkeit  kann  es  sich 
nicht  handeln,  da  man  sonst  durch  willkiirliche  Richtung  und 
Verstarkung  der  Aufmerksamkeit  den  hoheren  Ton  sogleich 
wieder  ebenso  heraushoren  miisste.  Mir  hat  vielmehr  stets, 
seit  ich  von  dieser  merkwiirdigen  Beobachtung  Kenntnis  ge- 
nommen,  ein  rein  physikalischer  oder  physiologischer  Erklarungs- 
grund  in  erster  Linie  notwendig  geschienen.  Eine  gelegentliche 
Bemerkung  Preyer's  scheint  mir  denn  auch  auf  denselben  hin- 

Stumpf,  Tonpsychologie.    II.  23 


354  §  '^3.  Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit 

zufiihren.  Preter  berichtet,  ohne  Helmholtz'  und  Ohm's  Ver- 
such  zu  erwahnen,  also  wahrscheinlich  unabhangig  von  ihnen, 
iiber  eine  ahnliche  Beobachtung  an  Gabeln  ^) :  „Lasse  ich  eine 
Stimmgabel  von  128  Schwinguugen  (c)  tonen  und  zugleich 
deren  Octave,  dann  hore  ich,  so  lange  die  letztere  Gabel  tont, 
den  Ton  128  ungemein  stark,  so  stark,  dass  bald  der  Ton  256 
gar  nicht  mehr  geliort  wird.  Dieses  kaun  nur  dadurch  ge- 
scbehen,  dass  der  Combinationston  128  gleich  ist  dem  ersten 
Gabelton." 

Indem  also  der  Combinationston  mit  dem  tieferen  Primar- 
ton  zusammenfallt,  iiberwiegt  dieser  an  Starke  den  hoheren, 
selbst  wenn  er  einzeln  etwas  schwacher  ist  (wie  in  dem  Helm- 
HOLTz'schen  Yersuche).  Ein  solches  Mehr  von  Starke  wiirde 
bei  anderen  Intervallen  noch  nicht  hinreichen,  urn  die  Unter- 
scheidung  fiir  ein  geschultes  Gehor  unmoglich  zu  machen.  Aber 
bei  der  Octave  mit  ihrer  hohen  Verschmelzung  kann  es  ge- 
niigen.  So  spielt  Verschmelzung  allerdings  auch  hier  mit,  wenn- 
gleich  sie  mit  dem  von  Helmholtz  geschilderten  Vorgang  nicht 
zusammenfallt. 

Es  begreift  sich  aus  obigem  Erklarungsgrunde  auch,  dass 
erst  allmalig  Nichtunterscheidung  eintrat:  der  Differenzton  ge- 
winnt  anfanglich  immer  etwas  an  Starke,  namentlich  von  dem 
Moment  an,  wo  die  Aufmerksamkeit  sich  auf  ihn  zu  richten 
beginnt  ^). 

Man  konnte  einwendeu,  dass  nach  der  Erklarung  immer 
bei  Octaven  derselbe  Erfolg  eintreten  miisste.  Indessen  ver- 
starkt  man  eben  in  der  Musik,  wenn  beide  Tone  noch  unter- 


')  Grenzen  der  Tonwahrnehmung  12. 

*)  Nicht  ganz  undenkbar  ware  auch,  dass  in  den  besonderen  Um- 
standen  des  Versuches  bei  anfanglich  nicht  vollkommener  Reinheit  der 
Octave  eine  Accommodation  stattfande,  bis  genau  zwei  Schwingungen, 
des  einen  Tons  mit  einer  des  anderen  zusammenfallen ;  oder  wenigstens 
eine  Accommodation  hinsichtlich  der  Phasen,  welche  etwa  einen  gleich- 
massigeren  Abfluss  der  Empfindungen  zur  Folge  hatte.  Doch  stehen 
hieriiber  noch  keine  ganz  geniigenden  Erfahrungen  zu  Gebote  (vgl.  o.  112). 
Dass  im  Allgemeinen  unreine  Intervalle  sich  nicht  selbst  reinstimmen 
ist  ja  leider  Tatsache. 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  355 

scheidbar  sein  sollen,  den  hoheren,  oder  schwacht  den  tieferen 
soviel,  dass  beide  deutlich  bleiben.  Ausserdem  kommt  es  ja 
auch  sehr  auf  die  Tonregion  an,  wis  iiberhaupt  auf  alle  an- 
deren  Bedingungen  der  Analyse. 

Ich  konnte  gerade  bei  Wiederholung  des  HBLMHOLTz'schen 
Flaschenversucbes  mit  den  Tonen  a  und  «^  den  hoheren  nicht  zum 
Verschwinden  bringen,  wahrscheinlich  well  die  hohere  Flasche  zu 
stark  tonte^).  Dagegen  gelang  es  mit  tiefen  Gabeln;  am  besten 
mit  C  und  c,  woven  die  erstere,  in  ein  Stativ  eingeschraubt  und 
stark  gestrichen,  lange  kraftig  forttonte,  wahrend  ich  c  anschlug 
und  langsam  dem  Ohr  naherte.  Etwas  weniger  gut  schon  mit  c 
und  c\  wobei  c  auf  einem  Resonanzkasten  oder  auch  frei  am  Ohr 
tonte,  wahrend  c^  wieder  langsam  genahert  wurde^).  Und  so  immer 
weniger  bei  hoheren  Gabeln.  Die  Tiefe  ist  ebeu  der  Nichtunter- 
scheidung  gunstig.  Zuerst  bemerkte  ich  eine  blosse  Verstarkung  des 
tieferen  Tons.  Dies  bestatigten  drei  andere  Beobachter.  Einer 
(der  unmusikalische  Prof.  G.,  von  welchem  ira  folgenden  Paragraphen 
die  Rede  ist)  glaubte  iiberhaupt  kaum  etwas  anderes  als  Verstarkung 
wahrzunehmeu.  Wir  anderen  dagegen  bemerkten  bei  grosserer  Nahe 
der  hoheren  Gabel  eine  Klangfarbenanderung.  Nachdem  ich  mich 
indessen  wahrend  mehrerer  Tage  ofters  mit  diesen  Versuchen  be- 
schaftigt  hatte,  wurde  und  blieb  mir  die  Zweiheit  der  Tone  bei 
der  c-  und  c^-Gabel  vollkommen  deutlich.  Es  liegt  also  keine  un- 
tiberwindliche  Tauschuug  vor,  die  ja  ohnedies  bei  der  sonstigen 
Analysirbarkeit  der  Octave  in  dieser  Region  nicht  leicht  begreif- 
lich  ware,   soudern   nur   eine  durch   die   besonderen  Umstande  er- 


^)  Zu  dem  Versuch  geniigt  eine  T-formige  Glasrohre,  dereu  Arme 
mit  steifem  Papier  so  umwickelt  werden,  dass  das  Papier  noch  iiber  die 
Arme  hinausreicht.  Der  freie  Teil  des  Papiers  wird  dann  beiderseits 
zu  einem  schmalen  Spalt  plattgedriickt  und  uber  die  Offnung  der  beiden 
Flaschen  gehalten,  wahrend  man  mit  dem  Munde  in  das  Fussende  der 
Glasrohre  hineinblast. 

*)  Am  besten  halt  man  c  so,  dass  beide  Zinken  in  gleicher  Ent- 
fernung  vom  Ohre  stehen,  aber  so  viel  Raum  lassen,  um  c*  noch  zwischen 
die  c- Gabel  und  das  Ohr  schieben  zu  kdnnen.  Dann  wird  c^  von  vom 
Oder  hinten  in  rechtwinkliger  Richtung  genahert.  Auch  die  Zinken  von 
c'  mixssen  rechtwinklig  zu  denen  von  c  stehen. 

23* 


356  §  2'^-  Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit 

bohte  Schwierigkeit.  Verteilt  man  die  Gabein  au  beide  Ohren,  so 
ist  die  Unterscheidung  von  voruberein  leicht. 

Was  ergibt  sicb  nun,  wenn  wir  umgekebrt  die  hobere  Gabel 
in  gleicbbleibender  Niibe  balten,  die  tiefere  dagegen  von  grosserer 
Entfernung  alhnalig  niiher  bringeu?')  Man  konnte  erwarten,  dass 
die  tiefere  sicb  nun  ebenfalls  zunScbst  in  einer  Verstarkung,  daun 
in  einer  Klangfarbenanderung,  und  zwar  einer  Verdunkelung  des 
hoberen  Tones  gelteud  machte.  Aber  bier  ist,  sobald  nur  iiber- 
haupt  eine  Anderung  bemerklich  wird,  sogleicb  der  tiefere  Ton 
als  solcber  unterscbeidbar.  Dies  bangt  damit  zusamraen,  dass  be- 
trilcbtlicb  tiefere  Tone,  wenn  sie  einmal  solcbe  Starke  erlangt 
haben,  dass  sie  nicbt  mebr  ganz  vom  boberen  unterdriickt  werden, 
sofort  die  Klangbobe  determiniren.  S.  §  25.  Es  soUte  bier  nur 
vorlaufig  diese  Modilication  des  Versucbs  erwahnt  werden. 

Ausser  dem  von  Pkeyek  angedeuteteu  Uinstand  durfte  nun 
aber  in  gewissen  Fallen  noch  ein  anderer  mitwirken.  Wabrend 
naralich  Helmholtz  und  Peeyer  das  Verschwinden  des  boberen 
Tones  bei  einfachen  Tonen  beobacbteten,  ist  mir  vor  vielen  Jabren, 
als  ich  meine  akustiscben  Studien  begann  und  ebe  icb  noch  auf 
Helmholtz'  Beobacbtung  aufraerksam  gewordeu,  das  Namlicbe  gerade 
bei  einem  System  scbreiender  Zungenpfeifen  (ira  Wiirzburger  physi- 
kalischen  Institut)  aufgefallen,  welches  die  Zungen  fiir  c'^e'^-g^c^  in 
einem  gemeinsamen  Ansatzrohr  enthielt.  Fugte  ich  bier  zu  dem 
Dreiklaug  c^  e^ g^  noch  c^^  so  konnte  ich  von  dem  Hinzutreten 
dieses  Tones  so  gut  wie  Nichts  bemerken  und  dachte  anfangs  nicbt 
anders,  als  dass  etwas  am  Apparate  verdorben  sein  miisse.  Aber 
c^  fiir  sicb  allein    sprach   voUkommen  kriiftig  an  ^).     Dieses   Ver- 


')  Zn  diesem  Versuch  wird  am  besten  die  hohere  Gabel  so  wie 
vorher  die  tiefere,  aber  dicht  vor  das  Ohr,  gehalten,  wahrend  die  tiefere 
mit  paralleler  Zinkeustellung  und  in  gleicher  Riclitung  (der  Richtung 
des  Gehorganges)  aus  der  Feme  genahert  wird. 

■■')  Der  Hallisclie  Mechaniker  Wesselhoft  teilt  mir  mit.  dass  es 
ihm  genau  ebenso  gegangen,  und  zwar  gleichfalls  vorzugsweise  mit 
Zungenpfeifen.  Auch  Prof.  G.  Engel  ausserte  sich  einmal  bei  gemein- 
samen lieobachtungen  an  seinem  Differenzapparat  yebenfalls  Zungen  in 
Einem  Kasten),  als  wir  uns  durcb  Vergrosserung  der  Septime  der  Octave 
niiberteu:  ., Der  hohere  Ton  verschwindet  in  dem  tiefereu.  sobald  vollige 


der  Analyse  nnd  des  Heraushorens.  357 

schwinden  ini  Zusammenklang  frappirte  mich  dermassen,  dass  es 
der  Anstoss  zu  alien  meinen  Untersuchungen  iiber  Tonverschmelzung 
geworden  ist,  obgleich  ich  die  letztero  als  ein  besonderes  Phanomen 
von  dem  hier  besprocheneu  unterscheidcn  lernte. 

In  umfangreichercr  Weise  habe  icb  spater  an  cincm  AppuNN'schen 
Obertonapparat  (cbenfalls  Zungen  in  Einem  Kasten)  die  Erscheinung 
verfolgt.  Dieser  enthielt  sammtliche  Multipla  des  C^  bis  zum  G4. 
(e^).  Bei  den  tiefsten  Octaven  nnd  Dreiklangeu  bez.  Vierklangeu 
stort  jedoch  das  Schnattern  der  raachtigen  Zungen  jcde  andere  Be- 
obachtung.  Ce  lasst  sich  aber  bier  als  Zweiheit  crkennen.  Ebenso 
cc^.  Auch  wenn  zum  Dreiklang  ce//  noch  c^  gefugt  wird,  lasst 
dieses  sich  noch  unterscheiden.  Dagegen  bei  c^c^  ist  schon  Tau- 
schung  moglich,  und  bei  c^  e'^ g'^ -\- c^  ist  auch  hier  das  Hinzu- 
kommen  des  c^  fast  unmerklich,  wie  in  dem  vorhin  beschriebenen 
Falle.  c^  c^  sind  wieder  deutlicher  unterscheidbar,  und  bei  c^  e^ g"^  -\- 
c^  der  hinzutretende  Ton  wol  bemerklich.  Man  kann  iibrigens  Ana- 
loges  auch  am  gewohnlichen  Harmonium  beobachten,  das  ja  ebenso 
gebaut  ist  wie  der  Obertonapparat. 

Der  friiher  beobachtete  Fall  an  dem  kleineren  Zungensystem 
ist  also  zufallig  gerade  der  fiir  die  Erscheinung  gunstigste  gewesen. 

Diese  Beobachtungen  an  Zungen  geben  nun  weitere  Anhalts- 
puncte  zur  Erklarung.  Gewiss  ist  die  lebendige  Kraft  der  Schwin- 
gungen  in  diesen  Apparaten  bei  den  tieferen  Klaugen  bedeutend 
grosser.  Auch  wird  der  Differenzton,  der  den  tieferen  Ton  noch 
weiter  subjectiv  gegeniiber  dem  hoheren  verstarkt,  hier  durch  zahl- 
reiche  Obertonc  mit  erzeugt.  Aber  es  scheint  mir  noch  Folgendes 
in  Betracht  zu  kommen.  Die  Zunge  c^  enthalt  bereits  den  Ton  c^ 
als  starken  Oberton  in  sich.  Tritt  nun  die  Zunge  c^  in  Tatigkeit, 
so  verandert  sich  in  der  Gesammterscheinung  nicht  so  Viel. 
als   wenn   c^   zu   dem   einfachen   oder   nur  von   schwachen  Ober- 


Verschmelzung  eintritt."  Dieser  Apparat  enthalt  fiinf  verschiedene  /t' 
und  ebensoviele  /t^  jedes  vom  benachbarten  um  etwa  0.6  Schwingungen 
unterschieden,  sodass  man  eine  unreine  Octave  /i'  li'^  stufenweise  in  eine 
reine  verwandeln  kann.  In  dem  Moment,  wo  die  Verschmelzung  am 
starksten  wird,  nimmt  man  hier  nur  noch  einen  Ton  wahr  und  kann 
dann  naturlich  die  Verschmelzung  selbst  nicht  wahrnehmen. 


358  §  23.  Bedingungen  fur  die  Zuverlassigkeit 

toneu  begleiteten  c^  hinzutritt,  Und  hat  mau  vorher  den  Klang 
der  Zunge  c^  als  Einheit  aufgefasst,  so  wird  diese  Auffassung  durch 
die  verhaltnismassig  geringe  Anderung  der  Gesammterscheinung  nicht 
umgestossen,  obgleich  c^  nun  an  sich  stark  genug  ware,  urn  von 
c^  unterschieden  zu  werden  —  eiue  Tragheitserscheinung.  die  ihre 
Analogien  hat. 

Der  Unterschied  des  Ergebnisses  in  den  verschiedenen  Regionen 
muss  dann  wol  darauf  beruhen,  dass  in  der  eingestrichenen  Octave 
der  erste  Oberton  besonders  stark  ist.  Bei  Flotenpfeifen  in  der- 
selben  Region  ist  die  Erscbeinung  zwar  auch  zu  beobachten-,  doch, 
wie  mir  scheint,  nicht  in  demselben  Grade  wie  bei  Zungen,  weil 
eben  die  Obertone  bei  den  Floten  nicht  so  stark  sind. 

Die  RoUe,  welche  die  Verschmelzung  spielt,  ist  auch  bei  den  zu- 
letzt  erwahnten  Beobachtungen  durchgangig  wieder  leicht  erkennbar. 
Wenn  man  zu  c^e^^^c^  noch  als  funften  Ton  e^  fttgt,  so  tritt  dieser 
nun  wieder  viel  selbstandiger  hervor  als  c^,  obgleich  er  gegeniiber  der 
grdsseren  bereits  vorhandenen  Tonmasse  einen  schwereren  Stand  hat, 

Interessant  ist  es  auch,  an  den  Zungenapparaten  bios  Octaven 
zusammenzuhaufen.  Kommen  imraer  hohere  Octaven  dazu,  so  ist 
meistens  schon  die  dritte  so  gut  wie  unmerklich.  Die  Hinzufiigung 
einer  tieferen  wird  immer  bemerkt. 

Dieselbc  Erscheinung  wie  bei  der  Octave  lasst  sich  schliesslich 
auch  bei  einer  Duodecimo  (z.  B.  Cy  mit  Gabeln)  herstellen,  nur  muss 
der  hohere  Ton  etwas  schwacher  als  bei  der  Octave  genommen  werden. 

c)  Analyse  von  Nachempfindungen  und  Gedachtnis- 
bildern. 

Helmholtz  hat  auf  die  Tatsache  hingewiesen,  dass  man 
im  Stande  ist,  an  optischen  Nachbildern  Manches  zu  erkennen, 
was  man  im  urspriinglichen  Eindruck  nicht  erkannte^).  Ahn- 
liches  behauptet  nun  Urbantschitsch  beziiglich  akustischer 
Nachbilder  2).     Wenn  man  zwei  verschiedene  Tone  gleichzeitig 


0  Physiol.  Optik  '  858—9,  361.  Brentano  Psych.  154.  Hauptsach- 
lich  erklart  sich  dies  aus  dem  Wegfall  einer  starken  Irradiation,  wie 
man  gut  beim  Anblick  elektrischer  Gllihlampen  beobachten  kann,  deren 
Nachbilder  die  Form  des  Drahtes  deutlicher  zeigen. 

2)  Pflug.  Arch.  XXIV  (1881)  592.    Vgl.  oben  I  278. 


der  Analyse  und  des  Heraushftrens.  359 

zu  Einem  Ohre  leitet,  so  treten  die  Nachbilder  meistens  ua- 
gleichzeitig  und  miteinander  wechseliid  auf,  kdimen  aber  auch 
gleichzeitig  erscheinen,  und  in  diesem  Fall  wird,  wie  Urban- 
TSCHiTSCH  besonders  hervorhebt,  haufig  angegeben,  dass  „keinos- 
wegs  jene  schwirrenden  Gerausche  wahrgenommen  werden, 
welche  im  Olir  bei  gleichzeitiger  Zuleituug  gewisser  unharmo- 
nischer  Tone  so  iiberaus  lastig  sind.  Im  Nachbild  fiillt  dieses 
Schwirren  voUstandig  hinweg,  sodass  die  beiden  Tone  neben- 
einander,  jeder  vom  anderen  deutlich  unterschiedeu  zur  Nach- 
empfindung  gelangen.  Dieses  interessante  Phanomen  tritt  noch 
auffalliger  bei  solchen  Individuen  hervor,  welche  die  beiden 
objectiven  Tone  nicht  von  einander  unterscheiden  konnen,  son- 
dern  bei  der  Schallzuleitung  nur  ein  confuses  Tongewirr  wahr- 
nehmen.  Ich  habe  mich  wiederholt  iiberzeugt,  dass  unmusika- 
lische  Versucbspersonen  haufig  die  beiden  objectiven  Priifungs- 
tone  nicht  zu  differenziren  vermogen,  dagegen  stets  dieselben 
im  Nachbilde  auftretenden  Tone  mit  Leichtigkeit  bestimmen 
und  von  einander  deutlich  unterscheiden  konnen." 

Mit  den  schwirrenden  Gerauschen  meint  Uebantschitsch 
doch  wol  rasche  Schwebungen  und  Schwebungsgerausche.  Dass 
diese  wegfallen,  begreift  sich,  da  Schwebungen,  soviel  wir  wissen, 
nur  entstehen,  wenn  ein  und  dasselbe  Nervenanhangsel  durch 
zwei  verschiedene  objective  Schwingungen  zugleich  erregt  wird: 
wahrend  bei  den  Nachbildern  zwei  Nervenanhangsel  (bez.  zwei 
Gruppen  solcher),  jedes  in  seiner  Weise,  nachschwingen.  Im  All- 
gemeinen  dienen  nun  gerade  Schwebungen,  wie  wir  ofters  erwahnt 
haben,  unmusikalischen  Person  en  als  Kennzeichen  der  Mehrheit. 
Allein  es  handelt  sich  dann  auch  nicht  urn  eine  uumittelbare 
oder  wirkliche  Analyse,  sondern  nur  um  eine  Schlussfolgerung. 
Fiir  die  wirkliche  Analyse  sind  in  der  Tat  die  Schwebungen  als 
Nebenerscheinung  nur  storend  und  ihr  Wegfall  erleichternd.  Es 
ware  von  Interesse  gewesen,  wenn  Urbantschitsch  auch  mit  con- 
sonanten  Tonen,  die  keine  Schwebungen  geben,  etwa  der  Octave, 
versucht  hatte,  ob  die  Analyse  bei  Nachbildern  leichter  werde. 

Wir  sprachen  zunachst  von  deu  Nachempfindungen.  Diese 
sind  nicht  identisch  mit  Gedachtnisbildern,  auch  nicht  mit  den 


360  §  "23   Bedingungen  fiir  die  Zuverlassigkeit 

sg.  „primareu  Gedachtnisbilclern"  (Exnee),  die  sich  unmittel- 
bar  an  die  Empfindung  anschliessen,  sondern  sind  selbst  noch 
Empfindungen.  Dass  wir  aber  auch  im  Gedachtnis,  an  unwill- 
kiirlich  oder  willkiirlich  vorgestellten  Klangen  Unterscheidungen 
macben,  baben  wir  ofters  bereits  bervorgeboben  und  kann  im 
Allgemeinen  leicbt  constatirt  wcrden.  Wir  konnen  Accorde 
ebenso  deutlicb  mit  alien  ibren  Tonen  in  der  Erinnerung  oder 
freien  Pbantasie  boren  wie  in  wirklicber  Empfindung,  und 
ebenso  uns  bci  binreicbender  tjbung  aucb  den  Eindruck  eines 
Einzelklanges  wieder  vergegenwartigen,  innerbalb  dessen  ein 
Oberton  uns  besonders  merklicb  wurde. 

Wie  aber,  wenn  wir  in  einem  Zusammenklang  wabrend  der 
wirklicben  Empfindung  Nicbts  unterscbieden  baben,  indem  z.  B. 
die  Aufmerksamkeit  auf  andere  Gegenstande  gericbtet  war: 
konnen  wir  ibn  dann  nacbtraglicb  analysiren?  Auffriscben 
konnen  wir  ja  aucb  solcbe  Eindriicke,  wenn  sie  nocb  im  un- 
mittelbaren  Bewusstsein  aufzutreiben  und  nicbt  scbon  vergessen 
sind;  d.  b.  wir  konnen  die  Aufmerksamkeit  nacbtraglicb  auf  das 
primare  Gedacbtnisbild  binlenken.  In  diesem  Fall  ist  obne 
Zweifel  gegeniiber  Zusammenklangen  baufig  nocb  Analyse  mog- 
lich.  Icb  babe  sogar  mebrfacb,  micb  beim  Arbeiten  unter- 
brechend,  mit  Erfolg  den  Versuch  gemacbt,  die  Tone  eines  so- 
eben,  wabrend  des  aufmerksamen  Nacbdenkens  iiber  andere 
Dinge,  nebenbei  geborten  Accords  zu  benennen.  Allerdings 
ist  die  Frage,  ob  in  solcben  Fallen  die  Analyse  nicbt  docb 
scbon  wabrend  der  Empfindungsdauer  begonnen  baben  muss, 
ob  die  sg.  nachtraglicbe  Analyse  nicbt  bios  in  einer  weiteren 
Verdeutlicbung  des  bereits  Unterscbiedenen  bestebt.  Es  kann 
ja  aucb  ein  nebenbei  geborter  bekannter  Accord  durcb  die 
mecbaniscb  nacbwirkende  vielfacbe  Obung  als  eine  Tonmebr- 
beit  aufgefasst  werden  und  der  nacbtraglicben  Besinnung  nur 
die  Aufgabe  bleiben,  die  Tone  als  consonant,  als  Dreiklang,  als 
d,  fis,  a  u.  dgl.  zu  erkennen. 

Zweifelbaft  kann  es  ferner  erscbeinen,  ob  aucb  Obertone 
aus  einem  Klang  nacbtragHcb  berausgebort  werden  konnen. 
Aucb  dies  scbeint  bei  unbarmoniscben  boben  Obertonen  eines 


der  Analyse  und  des  Heraushorens.  361 

tiefeii  oder  mittleren  Gruncltons  moglich,  wic  bei  dem  gellenden 
hohen  Teilton  einer  angeschlagenen  Stimmgabol.  Man  kann 
sicli  desselben  nachlier  „bewusst  worden",  iiachdem  man  zuerst 
deu  Grundton  beachtete;  ja  audi  umgekelirt  kann  es  geschchen, 
dass  man  zuerst  mehr  den  Oberton  und  dann  im  Gedachtnis- 
bild  mehr  den  Grundton  beachtet.  Aber  ein  solcher  Eindruck 
ist  von  vornherein  nicht  voUstiindig  unanalysirt  geweson.  Wo 
dies  der  Fall,  wie  bei  einem  unaufmerksam  gehorten  Klang  mit 
consonanten  Obertonen,  da  scheint  mir  nachtragliches  Heraus- 
horen  ganz  unmoglich.  Ohnedies  fallt  die  Moglichkeit  der  sub- 
jectiven  Verstarkung,  die  Obertonen  gegeniiber  so  wesentlich 
ist,  hier  hinweg. 

Ja  nicht  bios  einen  Anfang  spontaner  Analyse  wahrend 
der  Empfindung,  sondern  auch  ein  gewisses,  sei  es  noch  so  ge- 
ringes,  Aufmerksamkeitsteilchen  fiir  die  einzelnen  Tone  miissen 
wir,  wie  ich  glaiube,  als  Bedingung  in  solchen  Fallen  voraus- 
setzen.  Wie  wir  uns  an  Nichts  erinnern  konnen,  was  von  keinem 
noch  so  geringen  Moment  des  Interesses  begleitet  war,  so  konnen 
wir  auch  schwerlich  einem  Teil  eines  noch  im  unmittelbaren 
Bewusstsein  weilenden  Inhaltes  eine  nachtragliche  Aufmerksam- 
keit  schenken,  wenn  er  vorher  ganz  und  gar  davon  ausgeschlossen 
war.  „Aufmerksamkeit,  Interesse"  ist  allerdings  fiir  solche  neben- 
her  abfallende  Regungen  schon  zu  Viel  gesagt,  wenn  wir  die 
Worte  im  popularen  Sinn  nehmen.  Aber  man  muss  sie  eben 
in  der  Theorie  begrifflich-streng  und  allgemein  verstehen,  mag 
es  sich  um   Grosses  oder  Kleines  derselben   Gattung  handeln. 

Nun  halten  wir  zwar  fest,  dass  Analyse  nicht  schlechthin 
und  immer  Aufmerksamkeit  einschliesst.  Aber  ein  nachtrag- 
liches Erkennen  von  Teilen  in  einem  vorher  vollkommen  un- 
aufmerksam gehorten  Ganzen  scheint  mir  ausgeschlossen ;  voraus- 
gesetzt  natiirlich,  dass  es  sich  nicht  bios  um  eine  mittelbare 
Analyse,  ein  Erschliessen  der  Teile  haudelt^). 

^)  tjber  ahnliche  Falle  bei  anderen  Sinnen  vgl.  Exner,  Herm.  Hdb. 
II,  2,  281.   Exner  spricht  von  „vollkommen  abgelenkter  Aufmerksamkeit/' 

Das  Gesagte  andert  Nichts  an  den  Folgerungen,  die  wir  aus  ahu- 
lichen  Tatsachen  o.  29  gegen  die  Annahme  eines  Wettstreits  der  Tone 


362  §  24.  Indivxduelle  Unterschiede 


§  24.   Individuelle  Unterschiede  im  Analysiren 
uiid  Heraushoren. 

Uber  die  mutmasslichen  Wurzeln  der  wunderbaren  indivi- 
duellen  Verschiedenheiten  in  der  Fiihigkeit  zur  Analyse  einer 
gleichzeitigen  Tonmehrheit  ist  im  Vorangehenden  gesprochen. 
Tatsachliches  iiber  solche  Verschiedenheiten  ist  ebenfalls  bereits 
vielfach  eingeflochten.  Ich  will  jedoch  noch  eine  Reihe  zu- 
sammenhangender  Beschreibungen  gewissermassen  typischer  Zu- 
stande  anfiigen,  um  dem  Leser  ein  Bild  von  der  Beschaffenheit 
der  Auffassungsweise  zu  geben,  welcher  gleichzeitige  Tone  be- 
sonders  in  unmusikalischen  oder  halbmusikalischen  Seelen  be- 
gegnen.  Die  Ausfiihrlichkeit  der  Beschreibungen  diirfte  sich 
durch  den  fast  ganzlichen  Mangel  an  solchen  tatsachlichen 
Feststellungen  rechtfertigen. 

1.  Ausserste  Unfahigkeit  bei  ubrigeus  uormaler  Gehdrscharfe 
und  Intelligenz  fand  ich  bei  Herru  stud,  (jetzt  Dr.)  W.  Kessler, 
der  bereits  o.  158  erwahnt  ist.  Derselbe  hatte  —  um  zuerst  das 
Ndtige  aus  seinen  musikalischen  Personalacteu  anzufiihren  —  nie- 
mals  Instrumente  erlernt  und  war  auch  zum  Singen  unbrauchbar 
erfunden  worden,  uachdem  er  ein  Vierteljahr  in  der  Schule  mit- 
zusingeu  versucht  hatte.  Er  kann  wirklich  gegeuwartig  keinen  Ton 
seiner  Hdhe  gemass  nachsingen,  ausgenommen  innerhalb  eines  eugen 
Bezirks,  der  etwa  eine  Quinte  urafasst.  Auf  die  Frage,  welcher 
von  zwei  aufeiuanderfolgeuden  Tonen  der  hohere  sei,  gibt  er  in 
der  Mitte  moistens  richtige,  in  der  Hohe  und  Tiefe  sehr  viel 
falsche  Antworten.  Gleichzeitige  Tonzusammenstellungen  sind  ihm 
fast    durchweg    indifferent,   und  findet   er  einmal  eine  angenehmer 


gezogen  haben.  Dort  war  nur  die  Rede  von  der  Concentration  der  Auf- 
merksamkeit  auf  Eine  Stimme,  was  nicht  gleichbedeutend  ist  mit  aus- 
schliesslicher  Zuwendung.  Schon  durch  solche  vorwiegende  Aufmerk- 
samkeit  auf  Eine  Stimme  wahrend  der  ganzen  Phrase  mtissten  nach  der 
Wettstreitslehre  die  anderen  von  der  Emp find ung  und  dadurch  natiir- 
lich  auch  von  der  Reproduction  ausgeschlossen  werden. 


im  Analysiren  und  Heraushoren.  363 

oder  weniger  angenehm,  so  trifft  sein  Gefiihl  mit  dem  rausika- 
lischen  keineswegs  zusammen;  von  solchem  ist  keine  Spur  zu  ent- 
decken. 

In  Bezug  auf  die  hieher  gehorige  Frage  nun,  ob  eine  Ton- 
zusammeustellung  ihm  als  ein  oder  mehrere  Tone  erscheine,  ent- 
scheidet  er  sich  so  gut  wie  durcligangig  fiir  die  Einheit.  Ich  lege 
ihm  am  Clavier  Dissonanzen  vor,  Triton,  Secunde,  grell  dissouirendc 
Accorde  wie  hf^a^^  Zusammenklange  mit  weitester  Distanz  ihrer 
Teile,  wie  F  und  e^  —  Alles  umsonst.  Ich  spiele  die  Tone  zuerst 
isolirt,  z.  B.  e«^,  dann  g'^^  und  hierauf  beide  zusammen  —  umsonst. 
Er  erkennt  nicht,  dass  sie  in  dem  Zusammenklang  enthalten  sind. 
Der  Eindruck  erscheint  ihm  als  etwas  Neues.  In  der  ersten  Reihe 
der  0.  155  erwahnten  Versuche  an  der  Orgel  liess  ich  ihn  uoch 
mitwirken:  unter  den  60  Fallen  gab  er  nur  zweimal  an,  zwei  Tone 
gehdrt  zu  haben,  einmal  bei  einer  grossen  Terz,  einmal  beim  Tri- 
tonus-,  in  4  Fallen  blieb  er  zweifelhaft;  in  alien  iibrigen  stimmte 
er  fiir  Einheit.  Ganz  ebenso  verhielt  er  sich  gegeniiber  Violin- 
zweiklangen. 

Endlich  versucLte  ich  Stimmgabeln,  bei  denen  man  den  Vor- 
teil  hat,  durch  Verteilung  an  beide  Ohren  die  Analyse  erleichtern 
zu  konnen.  Die  Gabeln  gehorten  der  ein-  und  zweigestrichenen 
Octave  an.  Mit  dem  Tritonus  beginnend,  fand  ich  denn  auch  wirk- 
lich,  dass  K.  bei  alien  Intervallen,  welche  eine  grosse  Terz  uber- 
schritten,  die  Zweiheit  erkannte,  wenn  die  Gabeln  an  beide  Ohren 
verteilt  wurden,  und  dass  er  sie  unmittelbar  nachher  auch  erkannte? 
wenn  sie  Einem  Ohr  geboten  wurden,  nicht  aber,  wenn  dies  so- 
gleich  Anfangs  geschah.  Die  Intervalle  waren  Quarte,  Tritonus, 
Quinte,  grosse  und  kleine  Septime,  Octave.  K.  wusste  auch  fast 
in  alien  diesen  Fallen  richtig  anzugeben,  auf  welcher  Seite  bei 
verteilten  Gabeln  er  den  hoheren  Ton  horte. 

Dagegen  die  grosse  und  kleine  Terz,  wie  die  kleine  Secunde 
(«^  mit  gis'^)  konnte  K.  auch  bei  verteilten  Gabeln  nicht  als  Zwei- 
heit erkennen.  Bei  der  Secunde  entging  ihm  auffallenderweise 
auch  das  Rollen  der  Schwebungen,  das  sonst  Unmusikalische  auch 
bei  Verteilung  der  Gabeln  in  diesem  Fall  leicht  bemerken.  Bei 
Aufeinanderfolge   beider  Tone   fand   er  dagegen  sogar  zwischen  a 


364  §  24.  Indiviflnelle  Unterschiedc 

iind  gls^  noch  einen  Unterschied  und  gab  auch  richtig  an,  welcher 
(der  erste  oder  zweite)  Ton  der  hohere  war. 

Ich  stellte  bci  der  Octave  auch  die  Frage,  ob  beide  Tone, 
die  er  ja  bier  bei  verteilten  Gabeln  unterschied,  so  deutlich  aus- 
eiuandertraten  Avie  beim  Tritonus;  was  K.  entschieden  verneinte. 
Ferner  schien  ihm  im  Falle  der  Octave,  aber  auch  der  grossen 
Septime  (a^  mit  gis'^)  der  hohere  Ton  bedeutend  schwacher  und 
fast  im  tieferen  zu  verschwinden ,  auch  dann,  als  ich  die  hohere 
Gabel  starker  anschlug.  In  zwei  Fallen  (einmal  bei  der  Quinte) 
machte  er  noch  die  besondere  Bemerkung,  dass  der  Klang,  den  er 
zuerst  als  zwei  Tone  horte,  beim  Ausklingen  Einer  zu  werden  schien. 

Wir  erkenncn  bier  iiberall  die  allgemeinen  Einfliisse:  den  der 
qualitativen  Distanz,  der  Localisation,  des  Verschmelzungsgrades, 
der  Intensitat.  Das  Zuriicktreten  des  hoheren  gegen  den  tieferen 
Ton  bei  Octave  und  Septime  erinnert  an  die  oben  352  f.  besprochenen 
Erscheinungen  (bei  der  grossen  Septime  kann  immerhin  ebenfalls 
eine  Verstarkung  des  tieferen  Tons  durch  den  Diiferenzton  statt- 
gefunden  haben,  da  beide  cinander  so  nabe  liegen,  dass  fiir  ein  so 
unmusikalisch  gebautes  Ohr  die  Empfindungsschwelle  gleichzeitiger 
Tone  hier  nahezu  erreicht  sein  mag,  beide  also  als  Ein  Ton  em- 
pfunden  werden). 

Von  grossem  luteresse  ist  das  gleichzeitige  fast  ganzliche 
Fehlen  des  analysirenden  Urteils  und  des  Gefiihls  fiir  Zusammen- 
klange;  ein  Punct,  der  uns  spater  wichtig  wird. 

Worin  nun  aber  die  ungeheuer  geringe  Fahigkeit  zur  Analyse 
liberhaupt  bei  einem  Solchen  ihren  Grund  habe,  dariiber  konnen 
wir  nur  auf  die  im  vorigen  Paragraphen  geausserten  allgemeinen 
Vermutungen  hinweisen.  Gcnug,  dass  sie  wenigstens  keine  un- 
bedingte  Unfahigkeit  und  der  Ubung  nicht  ganz  unzuganglich  ist, 
dass  also  selbst  die  Tonauffassung  solcher  Amusoi  sich  doch  nur 
graduell  von  der  des  Musikalischen  unterscheidet. 

2.  Unter  den  Ubrigen  Hallischen  Versuchspersonen  kam  Herr 
stud.  Tewes  diesem  Zustand  auch  einigermassen  nabe.  Er  weigerte 
sich,  einen  Ton  nachzusingen,  da  er  sich  ausser  Stande  fiible,  ihn 
zu  trelFen.  Doch  entbehrte  er  nicht  so  ganz  des  Gefiihles  fiir  Zu- 
sammenklange,  indem  er  wenigstens  den  Durdreiklang  anderen  Ton- 


im  Analysiren  und  Heraushoren.  365 

verbindungen  vorzog.     Bezuglich  der   Analyse    uiitersuchte   icli  an 

ihm  nocli   besonders,   ob   er   die  vorher  oder  nachher   einzeln  an- 

gegebenen   Tone    der    Orgel    bei  ihrem    Zusammenkliugen    wieder- 

erkenne.     Beim  Tritouus  war  er  dessen  fahig.     Bei  der  Terz  c^  e^ 
aber  nicht.     Bei  1.  oder  2.: 

1.  2. 

^    >      1    > 


W^^^ 


glaubte  er  nur  abwechselud  eiuen  tieferen  und  eineu  bolieren  Ton 
zu  horeu;  dass  der  andere  daneben  fortklang,  entging  ihm.  An- 
hanger  der  Wettstreitslehre  werden  dies  aufgreifen;  es  ist  aber 
fiir  jede  Anschauung  erklarlich. 

3.  Prof.  G.  (Naturforscher),  der  entschieden  in  die  Kategorie 
der  Unmusikalischeu  gehort,  da  ihm  z.  B.  fortgesetzte  Quinten- 
parallelen  „ganz  gut''  klingen  und  die  Musik  uberhaupt  ihn  gleich- 
giiltig  lasst,  der  jedoch  consonante  und  dissonante  Zusammenklange 
ziemlich  sicher  auseinanderhalten  kann,  erkennt  auch  stets  eine 
Mehrheit  darin,  und  zeigt  sich  nicht  ganz  unfahig,  die  analysirten 
Tone  durch  Singen  anzugeben.  So  bei  dis'^  a^  c"^  den  oberen  und 
unteren  Ton,  dagegen  den  mittleren  nicht,  obschon  er  drei  Tone 
zu  horen  sich  bewusst  war.  Als  ich  diesen,  «\  auf  dem  Clavier 
angab,  schien  er  G.  allerdings  in  dem  Zusammenklang  enthalten, 
aber  „verdeckt  durch  die  anderen"  und  nicht  recht  deutlich.  (Dies 
beruht  auf  einem  allgemeineren  Verhalteu,  auf  das  wir  im  folgenden 
Band  bei  der  Analyse  der  ,,Stimmen"  kommen.)  In  der  Octave 
konnte  G.  zwei  Tone  unterscheiden;  um  so  mehr  in  den  sonstigen 
Intervallen. 

4.  Wiederum  naher  steht  den  Musikalischen  Dr.  H.,  obgleich 
man  ihn  noch  lange  nicht  wirklich  dazu  rechnen  kann.  Er  hat  nie 
gesungen,  aber  mehrmals  langere  Zeit  Violinspiel  getrieben,  auch 
noch  in  letzter  Zeit  fast  taglich  geiibt,  empfindet  ein  gewisses  Yer- 
gniigen  an  der  Musik,  ohne  sie  jedoch  aufzusuchen.  Fortgesetzte 
Q.uintenparallelen,  langsam  gespielt,  lindet  er  angenehm  und  bei 
schnellerer  Bewegung  auch  nicht  unbedingt  verwerflich.  Zweite 
Stimme  kann  er  nicht  singen,  nicht  einraal  mit  einem  Anderen  zu- 


366  §  24.  Individuelle  Unterschiede 

sammen,  well  ihn  die  erste  irre  macht.  Seine  analysirende  Fahig- 
keit  habe  ich  sowol  mit  Zwei-  als  Dreiklangen  am  Clavier  naher 
studirt.  Dabei  kam  es  mir  nicht  so  sehr  auf  eine  grosse  Zahl 
von  Fallen  an  als  auf  genaue  Ermittelung  Dessen,  was  in  den  ein- 
zelnen  Fallen  vom  Beobachter  wahrgenoramen  wurde,  welcher  zwar 
akustisch  ungeiibt,  aber  in  der  modernen  Psychologic  bewandert 
und  darum  in  der  Lage  war,  sich  psychologisch  genau  auszudriicken. 
Da  er  einen  einzelnen  Ton  (eventuell  dessen  fur  seine  Stimme  be- 
quemere  Octave,  aber  auch  wol  den  Ton  selbst  mit  Fistelstimme) 
leicht  nachzusingen  vermochte,  so  liess  ich  ihn  durch  dieses  Mittel 
die  Tone  bezeichnen,  die  er  in  einem  Zusammenklang  zu  horen 
glaubte. 

Die  Zweiklange  bestanden  in  Intervallen  mittlerer  Tonlage  von 
der  kleinen  Secunde  bis  zur  Octave.  Bei  der  kleinen  und  grossen 
Secunde  glaubte  H.  wol  zwei  Tone  zu  vernehmen,  die  er  auch 
richtig  nachsang,  aber  sie  schieneu  ihm  aufeinanderzufolgen ;  in 
manchen  Fallen  schien  sich  noch  etwas  hineinzumischen,  was  er 
vermutungsweise  auf  Schwebungen  oder  auf  einen  etwaigen  dritten 
Ton  bezog.  In  der  kleinen  und  grossen  Terz  bemerkte  er  zwei 
Tone.  Das  letztere  Interval  1  erkannte  er  sogar  als  grosse  Terz 
und  sang  die  Tone  richtig,  wahrend  er  beim  Nachsingen  der 
kleinen  in  die  grosse  geriet,  durch  welche  jene  zum  Durdreiklang 
erganzt  wird  (statt  g'^h'^  sang  er  es^ g^),  beim  zweiten  Versuch  so- 
gar in  die  Octave  (gg^).  In  der  Quarte  und  Quinte  fand  er 
wiederum  zwei  Tone,  erkannte  auch  wieder  die  Quinte  als  solche 
(sie  ist  dem  Violinspieler  besonders  gelaufig)  und  sang  sie  richtig, 
statt  der  Quarte  aber  wieder  eine  Octave.  Kleine  Sexte  und  kleine 
Septime  wurden  richtig  nachgesungen.  Bei  der  grossen  iSeptime 
{ha'^)  glaubte  er  drei  Tone  zu  horen,  sang  aber  zunachst  nur  die 
zwei  wirklich  vorhandenen,  dann  auf  besondere  Aufforderung  als 
dritten  /^  Nachdem  ich  dieses  auf  dem  Clavier  angegeben,  blieb 
er  dabei,  dass  es  darin  sei,  wenn  auch  nur  nebenbei;  „vielleicht 
deute  er  auch  nur  Schwebungen  als  Ton".  Die  Octave  glaubte  er 
wunderlicherweise  zuerst  als  zwei  aufeinanderfolgende  TOne  vom 
Intervall  eines  Ganztons  zu  horen,  darauf  erst  wurde  ihm  der 
grossere   Abstand    der  Tone    und    ihr   Octavenverhaltnis  klar.     Er 


im  Analysireu  and  Heraushoren. 


367 


meinte,  dass  die  Verwechselung  durch  ein  Misfallen  hervorgerufen 
sei,  welches  sich  fiir  ihu  an  die  Octave  kniipfe. 

Aus  diesen  Beschreibungen  kaiin  man  wenigstens  das  Eine 
deutlich  entnehmen,  wie  unvollkommen  der  wahre  Tatbestaud  sich 
in  der  Auffassung  selbst  eines  psychologisch  Geschulten  bei  mangel- 
hafter  Musikbegabung  spiegelt.  Der  wirklich  Musikalische  wird 
solche  Aussagen  mit  Kopfschtitteln  leseu.  Aber  ich  bin  uberzeugt, 
dass  mehr  als  die  Halfte  der  Musiktreibenden  noch  schlechter 
bestehen  wiirde.  Weiter  lasst  sich  nicht  eben  Vieles  aus  diesen 
Angaben  schliessen;  es  scheint,  dass  bei  den  Secunden  und  Septimen 
die  Schwebungen  storten,  wahrend  die  Ersetzung  der  kleinen  Terz 
durch  ibr  Dreiklangscomplement  in  musikalischen  Reminiscenzen 
griinden  mochte. 

Ich  versuchte  es  nun  auch  mit  14  Dreiklangeu  mittlerer  Ton- 
lage  (zwischen  /  und  es^  als  unterstem  der  drei  Tone)  und  Avechselte 
mit  Dur  und  Moll  sowie  mit  der  Lagerung  (1.,  2.,  3.  Lage  nach 
musikalischer  Bezeichnung,  also  Tonica  zu  unterst,  zu  oberst  oder 
in  der  Mitte),  H.  bemerkte  jedesmal  drei  Tone,  aber  nicht  alle 
drei  mit  gleicher  Deutlichkeit.  Er  pflegte  allerdings  drei  Tone  zu 
singen,  aber  davon  standen  zwei  meistens  im  Octavenverhaltnis, 
konnen  also  hinsichtlich  des  Dreiklangs  nur  fiir  Einen  gerechnet 
werden.  Beispielsweise  in  1.  und  2.  unter  den  folgenden  Fallen. 
Die  Viertelnoten  bedeuten  die  von  H.  gesungenen  Tone: 


5^ 


In  sechs  Fallen  fand  er  sogleich  alle  drei  Tone,  und  zwar  immer 
von  oben  herab  singend,  aber  nicht  immer  in  der  der  Dreiklangs- 
lage   entsprechenden  Folge;    z.  B.  bei  No.  3   der  obigen  Auswahl. 


368  §  24.  Individuelle  Unterschiede 

In  zwei  Fallen  fand  er  den  dritten  Ton  weuigstens  nachtraglich 
durch  Fortsetzung  seiner  Singversuche,  wtihrend  ich  den  Accord 
immer  wieder  angab,  so  in  No.  4  und  f).  Aber  im  letzteren  Fall 
schien  ihm  doch  der  Ton  «,  nachdem  cr  ihn  glucklich  gesungen, 
wieder  zweifelhaft;  ich  musste  seine  Erkenutnis  durch's  Clavier  be- 
festigen,  iudem  ich  zuerst  A^,  dann  n^  isolirt  angab;  durch  den 
Gegensatz  wurde  ihm  klar,  dass  ersteres  nicht,  wol  aber  letzteres 
im  Accord  enthalten  sei.  Oberhaupt  erkaunte  er  das  Vorhanden- 
sein  eines  Tones  immer  leicht,  wenu  zur  Vergleichung  auch  ein 
nicht  im  Accord  enthaltener,  aber  dem  wirklich  vorhandeneu  nahe- 
liegender  Ton  abwcchselud  mit  diesem  angegeben  wurde. 

Wie  man  schon  an  den  angefiihrten  Beispielen  sieht,  ging  H. 
meist  von  dem  zuerst  erfassten  Ton  in  dcssen  hoherc  Octave  (wo- 
zu  er  ja  auch  bei  Zwciklaugen  neigte),  dann  zu  eiuem  dazwischen- 
liegenden  Dreiklangston.  Er  selbst  fuhlte  wol,  dass  er  damit  den 
Tonvorrat  noch  nicht  erschopft  hatte.  Es  sei  noch  Etwas  darin, 
etwas  Hineingemischtes,  ein  Medium,  das  die  beiden  anderen  Tone 
umfasse,  das  er  aber  nicht  fiir  sich  herausbekomme.  Einmal 
wurde  er  doch  auch  zweifelhaft,  ob  nicht  wirklich  bios  zwei  Tone 
vorlagen.  Im  zweiten  der  hier  gegebenen  Beispiele  dem  7.  der 
Versuchsreihe)  fiel  ihm  das  Nachsingen  selbst  dann  schwer,  als 
er  durch  das  vorhin  genannte  Mittel  vom  Vorhandensein  des  g'^  sich 
hatte  uberzeugen  lassen. 

Unter  den  herausgehorten  und  nachgesungenen  Tonen  befand 
sich  in  alien  Fallen  mit  Ausnahrae  eines  einzigen  (des  ersten  der 
Reihe,  eines  .^- ?«<>//- Klanges  in  3.  Lage)  die  Tonica,  einerlei 
welche  Stellung  sie  im  Dreiklang  einnahm.  Diese  war  es  auch. 
welche  mit  Vorliebe  doppelt  (in  der  Octavenwiederholung)  gesungen 
wurde.  In  zwei  Fallen  wurde  jedoch  die  Terz  verdoppelt;  sie  sind 
unter  den  hier  angefiihrten  als  No.  1  und  5  enthalten. 

Der  Ton,  welchen  H.  nur  undeutlich  wahrnahm  und  nicht 
nachsingen  konnte,  das  „Medium",  war  meistens  der  mittlere  bei 
der  gewiihlten  Dreiklangslage  (vgl.  oben  Prof.  G.),  und  dieser  war 
einmal  Tonica  (das  einzigemal,  wo  diese  nicht  deutlich  herausgehort 
wurde),  2mal  Terz  (grosse  und  kleine),  4mal  Quinte.  Wahrschein- 
lich   war   die  Leiterstellung    des    beziiglichen   Tones    ohne   Einfluss 


im  Analysiren  und  Heraushoreu.  369 

und  nur  der  Urastand  massgebend,  welcher  Tou  gerade  in  der 
Mitte  lag. 

5.  tJher  die  Analyse  von  Seiten  wirklich  rausikaliscli  ver- 
anlagter  und  durchgebildeter  Personen  bericbteu  wir  Naheres,  wenn 
von  Intervall-  und  Accordurteilen  die  Rede  sein  wird,  da  ja  init 
einem  solcben  obnedies  immer  einc  Analyse  gegeben  ist.  Wir  vver- 
den  seben.  dass  Solcbe  nicbt  nur  die  Zabl  der  Tone  soudern  audi 
die  Natur  des  Intervalls  oder  Accords  mit  grosser  Sicberbeit  au- 
zugeben  wissen,  vorausgesetzt  dass  es  sicb  nicbt  urn  ganz  un- 
gebraucbliche  Zusammenstellungen,  um  allzunabe  zusammengedraugte 
Tone,  um  die  aussersten  Tonlageu,  um  allzukurze  oder  zu  schwacbe 
Tone  bandelt.  Bei  consonanten  Vierklaugen  kann  es,  wie  erwalint, 
vorkommen,  dass  sie  als  Dreiklange  aufgefasst  werdeu,  indem  eine 
darin  entbaltene  Octave  als  Ein  Ton  gefasst  wird.  Sonst  werden 
aber  consouante  wie  dissonante  Vierklange  aucb  bei  kurzem  Au- 
schlag  unter  obigen  Voraussetzungen  nocb  leicht  als  Duraccord, 
verminderter  Septimenaccord  u.  s.  f.  erkannt;  und  wer  absolute  Ton- 
hohen  erkennt,  weiss  auch  die  einzelneu  Tone  des  Accords  ibrer 
Hobe  nacb  zu  benennen,  ja  sogar  leicbter  als  wenn  sie  isolirt  an- 
gegeben  werden  (I  306). 

Auffalleud  sind  bei  dieser  Classe  fast  mebr  die  Greuzen  der 
Leistungsfabigkeit ,  die  negativen  Falle.  So  begegnete  es  ciner 
tiicbtigen  Concertsangeriu  doch,  dass  sie  bei  dem  Accord  No.  1  der 
folgeuden  Reibe  die  Zabl  der  Tone  im  ersten  Augenblick  als 
„eine  ganze  Meuge"  bezeicbnete;  nacbber  fand  sie  indessen  das 
Ricbtige.  Den  Cellisten  Popper,  desseu  Leistungen  in  absoluter 
Tonerkeuutnis  wir  I  305  f.  bespracben  ^),  stellte  icb  in  vorliegender 
Sacbe  durcb  die  ausgesucbt  scbwierigen  Fillle  2  —  6  auf  die  Probe. 

8ia  alta 
1.  2.        3.  4.  5.  6. 


|SipiipJi^«pipi 


8l?  bassa  81?  bassa      12, 


')  In  der  Tabelle  S.  310  muss  es  bei  P.  14)  statt  11  :  13  heisseii 
10 :  13.  Ich  hatte  einen  Fall  ubersehen,  in  welchem  E  fiir  Es  gehalten 
wurde;  wonach  auch  aut  der  folgenden  Seite  Z.  11 — 13  zu  erganzen. 

Stumpf,  Tonpsvijhologio.    II.  24 


370 


§  24.  Individuelle  Unterschiede 


7. 


9. 


"T- 


ii^ii^ 


V}fz 


^mm 


H- 


-^ 


:t=: 


Jeder  Accord  wurde  nur  Ein  Mai  und  kurz  augegeben,  Eine  Mehr- 
heit  von  Tonen  nahm  Popper  immer  wahr.  Aber  bei  No.  2  konnte 
er  keinen  Ton  benennen,  bei  No.  3  nur  das  F.  Dagegen  wurden  bei 
4  und  5  alle  Tone  richtig  benannt,  bei  6  nur  der  tiefste  nicht. 
Ich  selbst  bestimmte  bei  der  abscheulichen  Zusammenstellung  7  alle 
Tone  richtig,  den  untersten  jedocli  nur  mit  Wabrscheinlichkeit.  Bei 
noch  scheusslicheren  Misbildungen,  die  zudem  ganz  kurz  und  mit 
Anwendung  der  Verschiebung  augegeben  wurden,  gelang  es  mir 
wenigstens,  den  obersten  Ton  meist  richtig  zu  benennen.  Die  Ton- 
verbindungen  8  und  9,  die  auch  eine  Octave  tiefer  gelegt  werden 
konnen,  sind  als  Musterbeispiele  fiir  ahnliche  Versuche  beigefugt, 
denen  sich  freilich  musikaliscbe  Gemiiter  nur  ungern  unterziehen 
werden. 

Bei  gebrauchlicheren,  wie  auch  immer  grell  dissonirenden,  Ver- 
bindungen  ist  auch  eine  grdssere  Anzahl  gleichzeitiger  TQne  noch 
zu  erkennen.  Und  auch  bei  den  uugebrauchlichsten,  die  obigen 
mit  eingerechnet,  andert  sich  die  Sache,  sobald  sie  im  musikalischen 
Zusammenhang  vorkommen.  Man  ist  dann  durch  das  Vorausgehende 
zusammen  mit  den  aus  der  Erfahrung  bekannten  Moglichkeiten  der 
Stimmbewegung  auf  das  Neue  vorbereitet  oder  erwartet  es  geradezu. 
Aber  diese  Einflusse  haben  wir  erst  spater  zu  verfolgen. 

6.  Ich  habe  endlich  auch  Kinder  auf  ihre  Fahigkeit  zu 
gleichzeitiger  Tonunterscheidung  gepruft,  um  ein  Bild  von  den  An- 
fangen  dieses  Vermdgens  zu  bekommen.  Hiebei  kam  es  mir  auf 
solche  an,  die  noch  keinen  oder  nur  soviel  Clavierunterricht  ge- 
nossen  batten,  urn  zu  wissen,  dass  mehrere  Tasten  zusammen  anders 
kliugen  als  eine  allein,  um  also  die  Frage  zu  versteheu.  Notigen- 
falls  liess  sich  dies  ihnen  kurz  vorher  beibringen. 

a)  Besonders  untersuchte  ich  hiertiber  an  meinem  Sohne  Rudolf. 
Derselbe  hatte  friiher  wol  Zeicben  eines  musikalischen  Gehors,  doch 


im  Analysiren  und  Heraushoren.  371 

keine  Beweise  hervorragender  Musikanlageu  gegeben  (vgl.  I  293). 
Nachdem  er  nun  wahrend  des  Sommers  1886  in  einem  Kinder- 
garten eifrig  Lieder  mitgesungen  und  fast  taglich  ein  neues  mit 
nach  Hause  gebracht  hatte,  das  er  rait  reiner  Intonation  zu  singen 
wusste,  legte  ich  ihm  im  December  desselben  Jahres,  als  er  5  ^j^  Jahre 
alt  war,  auf  dem  Clavier  in  mittlerer  Tonlage  eine  Anzahl  von 
Octaven,  Quinten  und  grossen  Terzen  (durclieinander)  vor,  am  letzten 
Versucbstag  auch  grosse  Secunden.  Die  Versuche  konnten  jedes- 
mal  nur  kurz  dauern,  da  er  der  Sache  iiberdrussig  wurde.  Die 
Antworten  waren  merkwiirdig  genug.  Er  behauptete  namlich,  je 
nach  den  Fallen  bis  zu  5  Tone  zu  horen.  Die  Funfzahl  wird  ihm 
dabei  als  solche  kaum  anschaulich  vorgeschwebt  haben,  aber  er 
hatte  eben  den  Eindruck  einer  grosseren  Menge  als  in  den  Fallen. 
wo  er  nur  2  oder  3  angab.  Bei  Octaven  sagte  er  fast  ausnahms- 
los:  Ein  Ton,  bei  Quinten  ofter  1  als  2,  bei  Terzen  meistens  iiber 
2,  ebenso  bei  Secunden.     Naher  wurden  angegebeu 

.     .     r.^  -r^  „          ,      f  bei  der  Octave  in  Summa  21  Tone 
m  le  20  Fallen,  also 

.     .^  a.            ^     V  .,  Quinte  „          32      „ 

statt  je  40  Tonen     \  '  ^  " 

I    „  „  Terz  „           50      „ 

Bei  der  Secunde  hatte  ich  nur  5  Falle,  die  zusammen  14  Tone  er- 
geben,  was  auf  20  Falle  56  ergeben  wurde.  Mogen  wir  diese  mit- 
vergleichen  oder  nicht,  so  sehen  wir,  dass  hier  die  Zahl  der  an- 
geblich  gehorten  Tone  mit  abnehmender  Verschmelzung 
zunimmt.  Es  stimmt  dies  auch  recht  wol  mit  dem  Wesen  der 
Verschmelzung:  je  geringer  sie  ist,  um  so  mehr  entfernt  sich  der 
Eindruck  von  dem  der  Einheit.  Der  Knabe  druckte  dies  dadurch 
aus,  dass  er  hohere  Zahlen  wahlte.  Freilich  konnte  man  auch 
folgern:  „Je  geringer  die  Verschmelzung,  um  so  deutlicher  miissen 
die  zwei  Tone  als  zwei  erkannt  werden."  Aber  soweit  reichte 
das  Auffassungsvermogen  noch  nicht,  um  die  genaue  Zahl  zu  er- 
kennen.  Nur  eine  Mehrheit  uberhaupt  wurde  bemerkt,  und  je  mehr 
sie  als  solche  merklich  war,  um  so  grosser  schieu  sie  zu  sein. 
Die  richtige  Unterscheidung  einer  Mehrheit  von  einer  anderen  ist 
bereits  eine  hohere  Leistung  als  das  Wahrnehmen  einer  Mehrheit 
uberhaupt. 

24* 


372  ^  ^'^-  Individuelle  Unterschiede 

Was  wir  vorhin  von  der  Concertsangeriu  sagten  und  weiterhin 
von  Kindern  berichten  werden,  stimmt  mit  diesem  Verhalten  meines 
Knaben  uberein.  Es  liegt  hier  ein  allgemeiuerer  Zug  der  Auf- 
fassung  vor  ^). 

Vielleicht  wird  Einer  sagen:  „Man  hSrt  wirklich  um  so  raehr 
Tone,  je  weniger  consonant  ein  Intervall  ist.  Denu  um  so  grosser 
ist  die  Zahl  der  Differenztone  (o.  246),  und  zugleich  fallen  immer 
weniger  und  immer  schwachere  (weil  hohere)  Obertone  zusaramen, 
sodass  immer  mehr  und  starkere  von  einander  verschiedene  Obertone 
im  Zusammenklang  enthalten  sind.  Kinder  sagen  also  auch  hier 
die  Wahrheit." 

Aber  man  kanu  eine  Mehrheit  nicht  bios  nicht  zahlen  sondern 
auch  nicht  als  Mehrheit  wahrnehmen,  wenn  man  nicht  die  Glieder 
wahrnimmt.     Und    dass    das   Kind    die   Beitdne    als    solche    wahr- 


')  Ich  will  hier  eiaer  anscheinend  analogen  optischen  Erfahrung 
gedenken,  welche  ich  mache,  wenn  ich  bei  Schliessung  eines  Auges  mit 
dem  anderen  eine  Zirkelspitze  fixire,  wiihrend  die  zweite  Spitze  bei 
grosserer  oder  geringerer  Oifnung  des  Zirkels  indirect  gesehen  wird. 
Ich  glaube  dann  die  letztere  mehrfach  zu  sehen.  Der  Eindruck  ist  ahn- 
lich  dem  der  zweiaugigen  Doppelbilder,  nur  dass  die  Zahl  der  Bilder 
weniger  bestimmt  ist  und  sie  unmittelbar  neben  einander  zu  liegen 
scheinen.  In  den  mir  bekannten  Untersuchungen  iiber  indirectes  Sehen 
ist  stets  nur  darauf  Gewicht  gelegt,  dass  zwei  Puncte  um  so  schwerer 
unterscheidbar  werden,  je  weiter  ihr  Bild  nach  aussen  riickt,  wahrend 
das  Mehrfachsehen  Eines  Punctes  im  normalen  (nicht  misbildeten)  Auge 
nicht  erwahnt  wird.  Die  eigentiimliche,  so  schwer  zu  beschreibende  Un- 
deutlichkeit  des  indirect  Gesehenen  (vgl.  Brucke,  Sitz.-Ber.  der  Wiener 
Akad.,  Bd.  80,  III.  Abt.  1879)  durfte  damit  zusammenhangen.  Ob  sie  aber 
die  Ursache  des  Mehrfachsehens  ist  oder  vielmehr  eine  Wirkung,  wage 
ich  nicht  zu  entscheiden.  Im  ersten  Fall  ware  das  Mehrfachsehen  als 
Tauschung,  auch  subjectiv,  zu  erklareii.  im  zweiten  dagegen  wurde  die 
Undeutlichkeit  gerade  wesentlich  auf  dem  wirklichen  Vorhandensein  der 
mehrfachen  Bilder  beruhen.  Und  hiefiir  wurde  sich  eine  Erklarung  aus 
der  0.  341  erwahnten  Hypothese  Fleischl's  ergeben,  aus  der  die  Er- 
scheinung  sogar  notwendig  und  unmittelbar  foigt. 

Auffallend  ist  auch,  dass  der  indirect  gesehene  Schenkel  des  Zir- 
kels ganz  erheblich  grosser  scheint,  als  der  fixirte;  was  besonders  bei 
allmaliger  Annaherung  des  nichtfixirten  bis  zum  Zusammenfallen  mit 
dem  fixirten  hervortritt. 


im  Analysiren  und  Heraushoren.  373 

genommen  hatte,  deutlich  oder  undeutlich,  kounen  wir  doch  nicht 

voraussetzen.     Auch  widersprechen  der  Erklarung  die  Urteile  uber 

Dreiklange  u.  376,  380,    in   denen   doch   noch   viel   mehr  Beitone 

und  iiberdies  auch  mehr  Haupttone  enthalten  waren. 

Seltsames    ergab    sich    aber  beim   Nachsingen,    wozu    ich    den 

Kleinen  am  dritten  Tage  vermochte.     Er  sang  namlich  immer  bios 

Einen  der  beideu  Tone,  auch  wenn  er  behauptet  hatte,  zwei  oder 

mehr  zu  horen.     Darauf  angeredet  meinte  er:   „Ich  singe  ja  zwei, 

hier  an   der   Zunge   und   dann   im  Halse."     Er  hatte   namlich  den 

Ton   auf  das  Wort  „Klang"   gesungen,    auf  welches   er  von  selbst 

verfallen  war  (sicherlich  ohne  an  seine  Bedeutung  zu  denkeu);  wo- 

bei  das  „K1"  mit  der  Zunge,    der  iibrige  Teil  welter  hinten  ge- 

bildet  wird.    Gelegentlich  driickte  er  die  Zweiheit  auch  durch  Bil- 

I         I 
dungen,  wie        *        ^    aus,   wobei   er  auf  der  zweiten  Silbe  den 
Klang  -  an 

namlichen  Ton  wiederholte;  ebenso  die  Dreiheit  (bei  einer  Secunde, 

die  er  fttr  drei  Tone  erklart  hatte)  durch  Lang  -  Lang  -  Lang.  Wenn 

ich  dagegen  das   namliche  Intervall   unmittelbar  nachher  noch  ein- 

raal  angab  und  wiederum  die  Tone  gesungen  wiinschte,  so  kam  es 

vor,  dass  er  nun  den  anderen  der  beiden  Tone  sang.     tTberhaupt 

war  es  bald  der  tiefere,   bald  der  hohere,   den  er  nachsang,   ohne 

dass  irgend   eine   Kegel  dariiber   aus  den  Aufzeichnungen   ersicht- 

lich  ware;  aber  ausnahmslos  war  es  einer  von  den  beiden  wirklich 

vorhandeueu. 

In  vielen  Fallen  bediente   er  sich  jedoch  einer  Art  von  Vor- 

schlag  oder  auch  eines  eigentiimlichen  leisen  Hinauf-  und  Hinunter- 

ziehens  der  Stimme,  bevor  er  den  intendirten  Ton  festnahm,   und 

zwar   regelmassig  von   der  Seite  des   anderen  Tones  her;    wie  bei 

1,  wo  die  ganzen  Noten  das  aufgegebene  Intervall,  die  Viertelnote 

den  nachgesungenen  Ton  darstellt. 

1.  2.  3. 

— H- 


Mehrmals  tiel  der  Vorschlag  mit  dem  anderen  Ton  selbst  zusammen, 
wie  bei   2    (wo    er    auch    einen    merklichen    Nebenaccent    erhielt). 


374  §  24.  Individuelle  Unterschiede 

andereraale  lag  er  nur  in  der  Richtung  des  zweiten  Tons  und  ging 
dann  meist  stetig  in  den  mit  fester  Tonhohe  gesungenen  iiber.  Den 
Eindruck  der  grossen  Secunde,  die  er  nebenbei  wiederholt  un- 
gefragt  fiir  einen  „hubscheu  Ton"  erklarte,  gab  er  einmal  durch 
ein  ofteres  Abwechsein  der  beiden  Tone  wieder  (Beisp.  3). 

Man  kann  daher  nicht  aus  den  Ergebnissen  der  Singpriifung 
schliessen,  dass  er  wirklich  bios  Einen  Ton  horte  und  die  grosseren 
Zahlen,  die  er  nannte,  etwa  irgend  einem  tauschenden  Zufall  ent- 
sprungeu  waren.  Dem  wiirden  die  letzterwahuten  Beobachtungen 
widersprechen.  Ebeusowenig  aber,  dass  er  ein  blosses  Nacheinander 
von  Tonen,  einen  Wettstreit,  horte.  Obschon  die  letzten  Tatsachen 
fiir  sich  allein  dahin  gedeutet  werden  konnten,  wiirde  wieder  die 
erste  und  seltsamste  widersprechen:  dass  er  die  wahrgenommene 
Tonmehrheit  durch  Wiederholung  eines  und  desselben  Tones 
ausdriickte.  Wenn  in  seiner  Empfindung  die  Tone  wahrend  des 
objectiven  Klanges  abwecbselten,  so  ware  am  wenigsteu  begreiflich, 
warum  er  diesen  Hohenwechsel  nicht  leicht  hatte  uachahmen  kdnnen. 
Wenn  er  dagegen  eine  gleichzeitige  qualitative  Tonmehrheit  wahr- 
nahm,  so  lasst  sich  immerhin  denken,  dass  er,  da  man  doch  nicht 
zugleich  zwei  verschiedene  Tone  singen  kann,  das  Auskunftsmittel 
ergriif,  einen  Ton  zweimal  zu  singen.  Deutlicher  hatte  er  freilich 
beide  Tone  abwechselnd  gesungen;  das  tat  er  ja  aber  auch  ofters 
in  der  obigen,  mehr  oder  weniger  genauen  Form.  Nicht  ganz  un- 
moglich  scheint  es,  dass  auch  die  Gewohnheit  mitwirkte,  successive 
zu  zahlen  und  dabei  von  der  Verschiedenheit  des  Gezahlten  abzu- 
sehen.  Doch  lege  ich  diesem  Erklarungsgrund  wenig  Gewicht  bei, 
da  ich  die  Frage  in  diesen  Fallen  ausdrticklich  darauf  gerichtet 
hatte,  was  fiir  Tone  er  horte. 

Anderthalb  Jahre  spater  fiel  es  mir  auf,  das  derselbe  Knabe 
ein  femes  Trompetenduett  (in  Terzen,  Quinten,  Sexten  sich  be- 
wegend)  einer  einzigen  Trompete  zuschrieb  und  sich  formlich  er- 
eiferte,  als  ich  dies  bestritt,  da  es  ihm  durch  das  unmittelbare 
Zeugnis  seines  Ohres  festzustehen  schieu.  Hier  nahm  er  also  den 
Zweiklang  nicht  als  zwei  oder  mehr  Tone.  Da  sich,  wie  wir  sogleich 
sehen  werden,  seine  Auffassung  isolirter  Zusammenklange  inzwischen 
nicht  so  wesentlich  geandert  hatte,  kann  ich  mir  nur  denken,  dass 


im  Analysiren  iiud  Heraushbren  375 

die  Aufmerksamkeit  hier  ganz  (lurch  die  Verfolgung  der  Melodie 
(bekannter  Volkslieder)  in  Anspruch  gcnommen  war.  Wahrschein- 
lich  wurde  aber  ein  einziges  dissonantes  Intervall  ihn  auf  die  Mehr- 
heit  der  gleichzeitigen  Tone  hingelenkt  haben. 

Als  der  Knabe  7^/^  Jahre  geworden  und  funf  Wochen  Clavier- 
unterricht  gehabt  hatte  (vvobei  ihm  das  Zweihandigspielen,  die 
gleichzeitige  Erzeugung  zweier  verschiedener  Tonphrascu,  grosse 
Schwierigkeit  maclite),  priifte  ich  ihn  wieder  und  legte  ihm  nun 
ausser  Octaven,  Quinten  und  grossen  Terzen  auch  noch  den  Tritouus 
und  die  grosse  Secunde  vor,  wiederum  in  der  Mittelregiou  (der 
cingestrichenen  Octave).  Die  Versuche  wurden  in  funf  kurzen  Ab- 
teilungen  an  verschiedenen  Tagen  wahrend  einer  langeren  Periode 
gemacht,  um  der  Unlust  und  Ermudung  vorzubeugen,  und  lieferteu 
fiir  jedes  Intervall  im  Ganzen  16  Falle.  Jetzt  wurde  die  Octave 
in  den  meisten  Fallen  fiir  2  Tone  erklart,  seltener  (7  mal)  fur  1  Ton ; 
die  Quinte  nur  ein  einzigesmal  fiir  1,  meist  fiir  2,  2  mal  fur  3;  die 
grosse  Terz  bald  fiir  2,  bald  fiir  3,  Imal  auch  fur  4;  ebenso  der 
Tritonus;  wahrend  bei  der  grossen  Secunde  auch  sogar  Imal  auf  5 
und  nur  selten  auf  bios  2  geraten  wurde.  Ich  ziehe  hier  wieder 
die  Summe  aller  angeblich  gehorteu  Tone  fiir  jedes  Intervall.  Es 
ergeben  sich: 

bei  der  Octave   in  Summa  25  Tone 
,      „     Quinte  „  31      „ 

„      „     Terz  „  41      „ 

je  32  Tonen       I   beim  Tritonus  „  43      „ 

I  bei  der  Secunde       „  49      „ 

Ganz  dieselbe  Zahlenordnung  war  auch  schou  innerhalb  jeder  der 
fiinf  kleinen  Versuchsreihen  aufgetreten,  nur  dass  der  Tritonus  ge- 
legentlich  ein  oder  zwei  Einheiten  weniger  als  die  Terz  hatte. 
Man  sieht  also,  dass  zwar  Octave  und  Quinte  jetzt  leichter  fiir 
zwei  Tone  erkannt  wurden  als  friiher,  dass  aber  die  Reihenfolge: 
Octave,  Quinte,  Terz  in  Hinsicht  der  Gesammtzahl  der  angeblich 
gehorten  Tone  dieselbe  geblieben  ist.  Es  entspricht  nicht  minder 
dem  zu  Erwartenden,  dass  Tritonus  und  Secunde  in  der  Reihen- 
folge nach  den  genannten  auftreten.  Allein  der  Unterschied  zwischen 
Tritonus  und  Terz  ist  gering  und  kehrt  sich,  wie  erwahnt,  in  den 


in  je   16  Fallen, 
also  statt 


376  §  24.  Individuelle  Unterschiede 

einzelnen  Versuchsabteilungen  aiich  gelegentlich  um;  und  was  die 
Secunde  betriift,  so  diirften  hier  doch  die  Schwebungen  auf  das 
Urteil  mit  eingewirkt  haben.  zumal  da  ich  die  Tone  auf  Wunsch 
lange  andauern  lassen  musste.  Ich  glaube  daher,  dass  ohne  die 
Schwebungen  die  Zahlen  ftir  Terz,  Triton  und  Secunde  annahernd 
gleich  ausgefallen  waren,  dass  der  Unterschied  des  Verschmelzungs- 
grades  zwischen  der  Terz  und  den  beiden  Dissonanzen  hier  nicht 
mehr  ausschlaggebend  genug  war,  wie  er  ja  in  der  Tat  geringer 
ist  als  zwischen  den  starker  verschmelzenden  Intervallen. 

Zum  Nachsingen  der  gehorten  Tone  war  der  Knabe  jetzt  nicht 
mehr  zu  bewegen.  Es  sei  zu  schwer,  antwortete  er  jedesmal.  Nur 
Einmal  entschloss  er  sich  und  sang  den  hoheren  Ton  einer  Quinte 
richtig;  den  anderen  erklarte  er  nicht  singen  zu  konnen.  Jeden 
einzeln  angegebenen  Ton  sang  er  mit  Leichtigkeit  nach.  Auch 
wurden  die  Tone,  wenn  ich  sie  zuerst  vereinigt,  dann  einzeln  vor- 
legte  und  fragte,  ob  diese  darin  seien,  als  darin  befindlich  an- 
erkannt.  Die  Schwierigkeit,  iiber  welche  das  Kind  diesmal  nicht 
hinwegkam,  kann  ich  mir  nur  dadurch  erklaren,  dass  ihm  das 
Eigenartige,  Neue  in  dem  Eindruck  der  gleichzeitigen  Tone  vor- 
schwebte,  welches  man  ja  in  der  Tat  nicht  durch  Singen  nach- 
bilden  kann,  da  es  integrirend  an  die  Gleichzeitigkeit  gekniipft  ist. 

Ich  versuchte  diesraal  auch  Dreiklange.  Unter  je  10  Fallen 
wurde  der  Durdreiklang  5mal  fiir  2,  5mal  fiir  3  Tone  erklart, 
Moll  abwechselnd  fiir  2,  3  und  4;  ebenso  der  dissonante  Zusammen- 
klang  e'^d^f^  (oder  auch  c^es^f^\  auch  die  absolute  Tonhdhe  wech- 
selte,  wie  immer,  innerhalb  der  mittleren  Octave).  Der  verminderte 
Dreiklang  {c^  es^  ges^)  wurde  einmal  auch  fiir  5  Tone  gehalten. 
Folgende  Tabelle  gibt  die  Ubersicht  und  die  daraus  resultirende 
Sumrae  der  angeblich  gehorten  Tone: 


Dur 

Moll 

cdf 

vermindert 

5.2 

3.2 

4.2 

— 

5.3 

4.3 

2.3 

6.3 

— 

3.4 

4.4 

3.4 

— 

— 

—  ^ 

1.5 

25 

30 

30 

35     (anstatt  je  30), 

im  Analysiren  nnd  Heraush^ren.  377 

Doch  tritt  bei  Beriicksichtigung  nachtraglicher  Selbstcorrecturen. 
eine  kleine  Verschiebung  des  Moll  gegen  Dur  bin  ein  und  werden 
die  Summen  =  25,  29,  31,  35;  ferner,  wenn  ich  die  letzte  Ver- 
suchscolurane  wegen  sichtlicber  Ermudung  streicbe,  =  22,  27,  29,  32. 
Die  Zablen  sind  nicht  gross  genug,  urn  Schlusse  oder  Erklaruugen 
darauf  zu  bauen;  doch  tritt  der  Vorrang  d.  b.  die  grossere  scbein- 
bare  Einbeitlichkeit  des  Dur-  und  der  Gegensatz  des  verminderteu 
Dreiklangs  dazu  iiberall  stark  hervor.  Dur  verhielt  sich  analog 
der  Octave,  der  verminderte  Dreiklang  analog  den  dissonanten 
Intervallen. 

Zuletzt  untersuchte  ich  Rudolf  ein  Jahr  spater,  mit  8^/4  Jahren. 
Der  Clavierunterricht  war  bald  nach  den  ersten  Anfangen  aus  ver- 
schiedenen  Griinden  unterbrochen  und  erst  seit  zwei  Wochen  wieder 
aufgenommen  worden.  Es  hatte  iiberhaupt  so  gut  wie  keine  rausi- 
kaliscbe  tlbung  in  der  Zwischenzeit  stattgefunden.  Ich  erhielt  in 
vier  Versuchsreihen  zu  je  vier  Fallen  fiir  jedes  Intervall,  also  bei 
je  32  Tonen,  folgende  Suramenwerte: 


Octave 

Quinte 

Gr.  Terz 

Tritonus 

Gr.  Secunde 

26 

33 

34 

43 

51 

Also  fast  dieselben  Zahlen  wie  vor  einem  Jahre;  nur  ftir  die  Terz 
eine  bedeutend  geringere.  Terzen  wurden  jetzt  ebenso  wie  Quinten 
fast  regelmassig  (in  der  letzten  Reihe,  die  nur  durch  eine  kurze 
Pause  von  der  vorigen  geschieden  war,  ausnahmslos)  rich  tig  als 
2  Tone  erkannt.  Die  Tone  consonanter  Intervalle  wurden  jetzt  auch 
meist  rich  tig  nachgesungen  (der  hohere  zuerst),  mindestens  aber 
einer  derselben  (statt  des  tieferen  zuweilen  ein  dazwischen  liegender 
harmonischer  Ton,  die  Dominante  bei  der  Octave,  die  Mediante  bei 
der  Quinte).  Moll-  und  Durdreiklang  wurden  richtig  als  3  Tone 
bestimmt.  Auch  waren  die  Schwankungen  bei  einem  und  demsolben 
Intervall  geringer  und  wurde  niemals  mehr  auf  5  Tone  geraten. 
b)  Ein  anderer  Knabe,  Hans  G.,  war  mir  besonders  von  In- 
teresse  als  ein  von  friihester  Zeit  an  auffallend  musikalisches  Kind, 
wahrend  der  Vater  (0.  3.)  unmusikalisch  und  die  Mutter  nicht  eben 
mit  Betonung  musikalisch  zu  nennen  ist.  Eine  Urgrossmutter  soil 
sehr  musikalisch  gewesen  sein.     Hans  konnte,   wie  ich  mich  iiber- 


378  §  "24.  Individuelle  Unterschiede 

zeugt  habe,  bereits  im  zweiten  Lebensjahre,  mit  etwa  1'^  Jahren 
Melodien  nachsingen.  suchte  spater  am  Clavier  Octaveii  und  Ter- 
zen,  und  freute  sich,  langere  Parallelen  mit  jedem  dieser  Inter- 
valle  auszufiihren.  Als  ich  ihn  im  Alter  von  5  Jahren  und 
wenigen  Wochen  fur  obige  Zwecke  einer  Prufung  unterzog,  sang 
er  selbstverstiiudlich  isolirte  Tone  jedesmal  richtig  nach,  konnte 
aber  auch,  was  viele  angeblich  Musikalische  unter  den  Erwachsenen 
nicht  vermogen,  die  zweite  Stimme  zu  bekannten  Melodien  in  musi- 
kalisch  fast  correcter  Weise  singen,  indem  er  zumeist  Terzen  der 
betreffenden  Tonart  anwandte,  bei  Schlusswendungeu  hingegen,  wenn 
die  Melodie  sich  zur  Tonica  senkte,  durch  die  Dominante  zur  Me- 
diante  herabstieg,  oder  auch  auf  der  Dominante  blieb.  Uber  die  ge- 
ringere  Annehmlichkeit  des  Moll-  gegeniiber  dem  Durdreiklang  war 
er  keinen  Augenblick  im  Zweifel,  einerlei  welcher  von  beiden  zu- 
erst  angegeben  wurde.  Der  grosse  Septimenaccord  wie  der  kleine 
schienen  ihm  weniger  schon  als  Dur,  aber  schoner  als  Moll;  was 
zwar  gegen  die  Vorschrift,  aber  nicht  ohne  Analogien  bei  Solchen 
ist,  die  der  hoheren  Musikbildung  entbehren. 

Von  Zahlen  hatte  das  Kind  noch  keine  ganz  genaue  Vor- 
stellung,  doch  wusste  es  auf  die  Frage,  welche  von  zwei  genannten 
unter  den  sechs  ersten  Zahlen  die  grossere,  befriedigend  zu  ant- 
worten,  ebenso  auch  vorgehaltene  Finger  bis  zu  fiinf  richtig  zu 
zahlen.  Doch  handelt  es  sich  in  unsrem  Falle  ja  sicherlich  nicht 
um  ein  wirkliches  Zahlen  und  sind  die  angegebenen  Zahlen  nur  im 
Allgemeinen  als  Ausdrucke  einer  hoheren  oder  geringeren  Mengen- 
schatzung  anzusehen.  Die  Tone  der  Intervalle  gehdrten  alle  der 
eingestrichenen  Octave  oder  ihrer  unmittelbaren  Nachbarschaft  an. 
Die  zwei  Reihen,  durch  2^/2  Monate  getrennt,  gaben  bei  je  acht 
Versuchen  fiir  jedes  Intervall  die  Summenwerte: 

Octave    Quinte    Gr.  Terz    Tritonus    Gr.  Secuude      anstatt 

I.  Reihe  8  19  19  30  42  je    16 

II.  Reihe  8  18  21  18  19  je    16 

16  37  40  48  61  je   32 

Innerhalb  der  einzelnen  Intervalle  linden  sich  verhaltnismassig 
wenige   Schwankungen  in  den  Zahlen.     Die   Octave    ist    unfehlbar 


im  Analysiren  und  Heraushoren.  379 

als  1  Ton  bezeichnet,  die  Quinte  2mal  (I.  Reihe)  als  1,  8mal 
(hauptsachlich  gegen  Ende  von  II.)  als  2,  5mal  als  3,  Imal  (I.) 
als  4.  Die  grosse  Terz  bald  als  3  bald  als  2.  Der  Tritonus  2mal 
als  6  (I.),  2mal  als  4  (1.),  sonst  als  3  oder  2.  Die  Secunde  5mal 
als  6  (I.),  3mal  als  4  (I.),  sonst  als  3  oder  2. 

Die  Ahnlichkeit  dieser  Ergebnisse  mit  den  unter  a)  beschrie- 
beuen  ist  uicht  zu  verkennen.  Dass  die  Summenwerte  von  den 
wahreu  Werten  mehr  abweichen  als  bei  dem  fast  Achtjahrigen,  ist 
naturlich.  Doch  gilt  auch  dies  nur  von  der  I.  Reihe,  wahrend  in 
der  II.  alle  lutervalle  ausser  der  Octave  aunahernd  richtig  be- 
urteilt  werden,  was  namentlich  den  beiden  Dissonanzen  zu  Gate 
kommt. 

Bei  II.  wurde  der  Knabe  auch  zum  Nachsingen  der  Tone  ver- 
anlasst,  und  sang  dann  entweder  einen  oder  zwei,  niemals  mehr, 
obgleich  er  auf  den  Widerspruch  mit  seinen  Zahlenangaben  auf- 
merksam  gemacht  wurde.  Er  konnte  sich  ebeu  auf  rausikalischem 
Wege  besser  iiber  das  Gehorte  Rechenschaft  geben  als  auf  begriff- 
lichem  und  sprachlichem.  Das  Ohr  liess  sich  in  seinen  Befehlen 
an  den  Kehlkopf  nicht  durch  den  Zahleneindruck  irre  machen. 
Vielmehr  trug  dieses  Verfahren  in  II.  offenbar  zur  Verbesserung 
des  Zahlenurteils  selbst  bei,  sodass  gegen  Ende  der  Reihe  fast  nur 
richtige  Urteile  („2  Tone")  abgegeben  wurden. 

Die  Tone,  welche  Hans  so  angab,  waren  allemal  wirklich  in 
dem  Intervall  enthalten.  Einen  Ton  allein  sang  er  in  den  meisten 
Fallen  der  Octave,  und  zwar  bald  den  hoheren  bald  den  tieferen, 
ohne  bestimmte  Regel.  Doch  sang  er  mehrmals  auch  bei  der  Oc- 
tave im  Widerspruch  rait  der  hier  stets  gleichbleibenden  Zahlen- 
angabe  beide  Tone,  den  hoheren  zuerst.  Bei  den  iibrigen  Inter- 
vallen  sang  er  iramer  beide,  und  zwar  ebenfalls  durchweg  den 
hoheren  zuerst.  Bei  der  Secunde  suchte  er  die  Schwebungen  ahu- 
lich  wie  Rudolf  auf  irgend  eine  Weise  nachzuahraen;  z.  B.  sang  er 
die  beiden  Tone  mehrmals  miteinander  abwechselnd,  oder  er  sang 
hauptsachlich  einen,  diesen  aber  eigentiimlich  kollernd  oder  trerao- 
lirend,  oder  er  gab  der  Stirame  einen  ordentlichen  Stoss  und 
schiittelte  sich  zugleich  mit  dem  Korper.  Einmal  als  zwei  tiefere 
Tone  {bc^)  gegeben  waren,  bruramte  er  nachtraglich  Etwas  sozusageu 


380  §  24.  Individuelle  Unterschiede 

in  den  Bart.    Auch  beim  Tritonus  gab  er  einmal   dem  tieferen  Ton 

einen  koraischeu  Accent:   #    «    #    J 

>         > 

Ich  legte  zuletzt  4  Dur-  und  4  Molldreiklange  [1.  Lage)  mit 
derselben  Fragestellung  vor.  Sie  warden  immer  f(ir  zwei  Tone  er- 
klart  und  auch  beim  Nachsingen  nur  zwei  gesungen.  Der  aus- 
fallende  Ton  war  fast  immer  die  Mediante.    (Vgl.  3.  und  4.) 

c)  Elisabeth  W.,  ein  8V4Jahriges  Madcheu  von  ausserordent- 
lichen  Gehorsgaben,  welches  die  Fahigkeit  besitzt,  isolirte  Clavier- 
tone  nach  ihrer  absoluten  Hohe  zu  benennen  (s.  die  Nachtrage  zu 
Bd.  I  am  Schlusse  des  gegenwartigen  Bandes),  ersuchte  ich,  die  in 
folgenden  Zusammenklangen  enthaltenen  Tone  anzugeben. 

1.  2.  3.  4.  5. 


^^m^^^m 


Bei  1  sagte  sie;  /,  b,  n.  Bei  2:  gis,  f.  Bei  3:  ^,  A,  d.  Bei  4: 
/,  i,  h.  Auf  die  Frage  nach  dem  vierten  Ton  antwortete  sie,  es 
seien  nur  drei.  Als  sie  aber  veranlasst  wurde,  die  Tone  des  Accords 
zu  singen,  kam  sie  auch  auf  den  vierten,  g.  Bei  5  vermochte  sie 
die  Tdne  nicht  zu  nennen;  wahrend  sie,  als  der  tiefste  und  der 
hochste  isolirt  angeschlagen  wurden,  sie  sofort  als  a  und  h  erkannte. 
Es  mag  hier  die  allgemeine  Schwierigkeit  der  Analyse  noch  durch 
Ermiidung  verstarkt  worden  sein,  da  die  Versuche  gegen  Ende 
einer  langen  Versuchsreihe  stattfanden.  Im  tibrigen  ist  aus  den 
Beispielen  orsichtlich,  wie  die  Tone  der  gebrauchlicheren  Accorde 
(3  und  4)  sicherer  erkannt  wurden.  Die  Anzahl  der  Tone  ist  aber 
auch  bei  1  und  2  richtig  erkannt,  und  die  Fehler  beziiglich  der 
absoluten  Hohe  sind  nicht  gross.  (Ich  verlangte  nicht  die  Octaven- 
bezeichnung,  eingestrichen  u.  s.  f.,  sondern  nur  die  Buchstaben- 
bezeichnung). 

d)  Endlich  habe  ich  noch  fiinf  Knaben  zwischen  5  und  1 1  Jahren 
(darunter  meinen  eben  funfjahrigen  Sohn  Felix)  einzeln  gepriift, 
welche  fast  alle  bisher  spontan  nicht  das  geringste  Zeichen  musi- 
kalischer  Anlage  gegeben  batten  und  auch  von  musikalischer  Cultur 


irn  Analysiren  and  Heraushoren.  381 

uubeleckt  gebliebeu  waren.  Nur  der  T^/gjahrige  Herbert  C.  schieu 
nicht  ohne  musikalisches  Talent  und  hatte  mit  meinem  Sohne  Ru- 
dolf zusammen  einige  Clavierlectionen  genossen,  wobei  er  raschere 
Fortschritte  machte  als  dieser.  Doch  ergab  die  Frage,  welcher 
von  zwei  Tonen  der  hohere,  fiir  kleine  Secunden  mittlerer  Lage 
unter  20  Fallen  10  falsche  Urteile  (bei  Rudolf  ausschliesslich  ricli- 
tige).  Auch  die  iibrigen  vier  Kinder  begaunen  erst  bei  kleineii 
Terzen  in  dieser  Hinsicht  sicher  zu  werden.  Einen  einzelnen  Ton 
nachzusingen  waren  sie  alle  im  Stande. 

In  solchen  Fallen  muss  man  nun  bei  der  Priifung  der  Ana- 
lysirungsfahigkeit  dem  Kinde  zuerst  am  Clavier  den  Sinn  der  Frage 
begreiflich  machen,  da  es  nie  auf  den  Unterschied  des  Ein-  und 
Mehrklanges  gemerkt  hat.  Felix  erging  sich,  ehe  dies  geschah,  in 
hyperbolischen  Behauptungen,  indem  er  Zahlen  wie  15,  18  nanute. 
Nachher  ermassigte  er  sie  und  hielt  sich  zwischen  5  und  1,  wie 
die  0brigen.  Die  Zahlen  jener  ersten  Versuche  sind  natiir- 
lich  bei  Seite  gelassen.  Ebenso  eine  Reihe,  bei  welcher  das 
Kind  allem  Anschein  nach  zerstreut  war.  Ich  lernte  hiebei,  dass 
die  beste  Tageszeit  in  solchen  Fallen  der  friihe  Vormittag  ist. 
Ferner  empfiehlt  sich,  eine  Versuchsreihe  bei  Kindern  nicht  uber 
20  Falle  (hier  also  4  fiir  jedes  der  5  Intervalle)  auszudehnen, 
wie  ich  dies  sowol  hier  als  auch  schon  bei  den  Versuchen  mit  Ru- 
dolf und  Hans  gehalten  habe. 

Die  Ergebnissc  an  den  einzelneu  Kindern  waren  hier  nicht 
iiberall  so  klar  wie  bei  diesen  beiden.  Dennoch  stellt  sich,  Alles 
zusammengenommen,  wieder  dieselbe  Ordnung  der  Intervalle  und 
sogar  ahnliche  Verhaltnisse  unter  den  Zahlen  heraus.  Es  ergaben 
sich  bei  je  40  Versuchen  mit  jedem  Intervall,  also  statt  eines  je- 
weiligen  Summenwertes  80  die  Werte: 


Octave 

Qiiinte 

Gr.  Terz 

Tritonus 

Gr.  Secunde 

76 

84 

99 

103 

117 

Felix  allein,  welcher  die  Halfte  der  Falle  lieferte,  ergab  die 
Werte  35,  44,  47,  52,  61  (in  derselben  Folge  der  Intervalle) 
statt  je  40.  Diese  Regelmassigkeiten  sind  immerhin  auffalleud 
genug. 


382  §  24.  Individuelle  Unterschiede. 

Beobachtungen  von  der  Art,  wie  sie  hier  an  verschie- 
clenen  Individuen  in  verschiedenen  Lebensaltern  angestellt 
sind,  um  die  Haupttypen  des  Auffassungsvermogeus  gegeniiber 
Zusammenklangen  zu  erforschen,  waren  nun  noch  zu  erganzen 
durch  eine  Darstelluiig  der  fortschreitenden  Gehorsentwicke- 
lung  und  speciell  der  Anderungen  in  der  Auffassung  der 
Zusammenklange  von  Seite  eines  einzelnen  musikalisch  be- 
gabten  und  daher  entwickelungsfahigen  ludividuums  von  den 
ersten  Anfangen  bis  zur  hochsten  ihm  erreicbbaren  Stufe.  Sei 
dies  also  psychologischen  Vatern  musikalischer  Kinder  em- 
pfohlen,  , 

Priifungen  von  Kindern  nach  demselben  Fragenregister, 
wie  ich  es  hier  und  bei  den  unmusikalischen  Erwachsenen  o. 
157  anwandte,  haben  iibrigens  auch  eine  recht  praktische  Seite. 
Sie  bieten  einen  viel  einfacberen  und  kiirzeren  Weg,  um  die 
Frage  nach  der  musikalischen  Begabung  eines  Kindes  zu  ent- 
scheiden,  als  das  iibliche  Verfahren,  das  Kind  jahrelang  im 
Clavierspiel  unterrichten  zu  lassen  und  dann  das  positive  oder 
negative  Endergebnis  zu  beobachten.  Ich  will  die  Mdglich- 
keit  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  ein  Individuum,  welches 
mit  8  Jahren  uugewohnlich  mangelhafte  Gehorsurteile  liefert, 
spater  nicht  bios  ein  besseres,  sondern  ein  gutes  Gehor  er- 
langen  und  in  die  Reihe  der  entschieden  Musikalischen  iiber- 
gehen  konne.  Aber  eine  derartige  Umwandlung,  wenn  sie  vor- 
kommt,  ist  sicherlich  eine  Seltenheit,  und  jedenfalls  geben 
Versuche  wie  die  obigen  auf  jedem  Stadium  des  Weges  in 
einer  Viertelstunde  die  deutlichsten  Aufschliisse  iiber  den  augen- 
blicklichen  Stand. 

Aber  nicht  bios  als  Mittel  der  Priifung,  sondern  auch  als 
Hebel  der  musikalischen  Bildung  selbst  halte  ich  solche  Ver- 
suche (unter  entsprechenden  Modificationen  in  der  Anstellungs- 
weise)  fUr  wichtig,  indera  sie  die  vorherrschende  Fingererziehung 
unsrer  clavierspielenden  Jugend  durch  Gehorserziehung  erganzen 
konnen.  In  dieser  Hinsicht  muss  dann  aber  auch  das  obige 
Fragenregister  noch  durch  Fragen  iiber  Intervalle  (Benennung 
derselben  u.  s.  f.)  erweitert  wcrden. 


§  25.  Qualitatsurteile.  383 


§  25.     Qualitatsurteile  iiber  einen   zusammengesetzten 
Klang  und  seine  Teile. 

Bisher  beschaftigte  uns  hinsichtlich  gleichzeitiger  Tone  fast 
nur  das  Problem  der  Analyse.  Urteile  anderer  Art  kamen 
wesentlicli  nur  insofern  in  Betracht  als  sie  die  vollzogene  Ana- 
lyse bestatigen.  Jetzt  fassen  wir  die  Urteile  in's  Auge,  welche 
die  Qualitat  oder  Hohe  einer  gleichzeitigen  Tonmehrheit  be- 
treffen,  sei  sie  eine  analysirte  oder  nicht.  Bei  aufeinanderfol- 
genden  Tonen  bildeten  ja  solche  Urteile  iiber  Hohe  und  Hohen- 
verhaltnisse  sogar  den  Hauptgegenstand  der  Untersuchung.  Nach 
diesen  kommen,  wie  bei  aufeinanderfolgenden  Tonen,  Intensitats- 
urteile  zur  Besprechung. 

BezUglich  der  Qualitat  eines  zusammengesetzten  Klanges 
fragt  es  sich  beispielsweise,  welche  Hohe  er  uns  zu  besitzen 
scheint,  wenn  er  nicht  analysirt  wird.  Ferner  ob  nicht  auch 
einem  analysirten  Klange  als  Ganzem  eine  gewisse  Hohe  in  der 
Auffassung  zugeschrieben  wird,  obgleich  jeder  einfache  darin 
enthaltene  Ton  seine  eigene  Hohe  besitzt.  Ferner,  wenn  wir 
die  Hohe  der  Teile  selbst  beurteilen  sollen,  fragt  es  sich,  ob 
uns  die  Hohe  eines  objectiv  gleichbleibenden  Tones  durch  das 
Mitklingen  eines  anderen  verandert  erscheint.  Sodann  sind 
Distanzurteile  heranzuziehen:  ob  z.  B,  die  qualitative  Distanz 
gleichzeitiger  Tone  grosser  oder  kleiner  erscheint  gegeniiber  der 
Distanz  derselben  objectiven  Tone,  wenn  sie  aufeinanderfolgen. 

I.    Urteile  iiber  analysirte  Klange. 

1.   Hohe  des  Ganzen. 

Seite  64  f.  wurde  hervorgehoben ,  dass  gleichzeitige  Tone, 
wenn  sie  als  Mehrheit  erkannt  werden,  uns  doch  nicht  als  eine 
blosse  Summe,  sondern  als  ein  Ganzes  von  Tonen  erscheinen. 
Hiemit  hangt  es  nun  zusammen,  dass  auch  eine  Neigung  be- 
steht,  diesem  Ganzen  als  solchem  eine  Tonhohe  zuzuschreiben, 
wahrend  doch  genau  genommen  nur  von  einer  Hohe  jedes  ein- 
zelnen  einfachen  Tones  gesprochen   werden  kann.     Wir   sagen 


384     §  25.  Qualitatsurteile  liber  einen  zusammengesetzten  Klang 

nicht  bios,  dass  ein  Zusammenklang  in  der  hohen  oder  tiefen 
Region  liege,  in  dem  Sinne,  dass  jeder  Teil  desselben  dieser 
Region  angehort,  sondern  wir  schi'eiben  auch  innerlialb  dieses 
durch  einen  analysirten  Zusammenklang  umschriebenen  engeren 
Bezirkes  demselben  als  Ganzem  in  gewissen  Fallen  die  Ho  he 
eines  seiner  Teile  zu.  Dergleichen  Inconsequenzen  —  Zu- 
gleichbestehen  einer  richtigen  und  einer  falschen  Auffassung 
oder  auch  zweier  einander  widersprechender  falschen  Auffass- 
ungen  einer  und  derselben  Erscheinung  —  finden  sich  auch 
sonst  in  unsren  Sinneswahrnehmungen  gelegentlich  ^)  und  ver- 
dienen  genauere  Betrachtung. 

a)  In  einem  ruhenden  Zusammenklang  scheint  das 
Ganze  die  Hohe  des  tiefsten  Tones  zu  habeu,  auch 
wenn  dieser  nicht  zugleich  der  starkste  ist. 

Nehmen  wir  zuerst  Verbindungen  zweier  Tone. 

Hier  ist  diese  Neigung  am  auffallendsten  bei  der  Octave. 
Wenn  man  die  Gabeln  c  und  c^  an  beide  Ohren  verteilt,  wo- 
bei  sie  leicht  analysirt  werden,  und  nun  plotzlich  die  tiefere 
entfernt,  so  springt  der  Klang  in  die  Octave  iiber.  Entfernen 
wir  dagegen  die  hohere.  so  bleibt  die  scheinbare  Tonhohe  des 
Ganzen  bestehen.  Ebenso  bei  anderen  Tonquellen,  wie  Zungen- 
oder  Flotenpfeifen,  und  ohne  Verteilung  an  beide  Ohren.  Doch 
scheint  mir  der  Versuch  in  obiger  Weise  am  schlagendsten. 

Es  entsteht,  um  mich  bildlich  auszudriicken,  beim  Wegfall 
des  tieferen  Tones  ein  ahnlicher  Eindruck  als  wenn  man  in  ein 
hoheres  Stockwerk  versetzt  wiirde,  wahrend  man  beim  Wegfall 
des  hoheren  auf  dem  alten  Standpunct  verharrt. 

Weniger  bildlich  werden  wir  sagen,  dass  ein  Zweiklang  als 
Ganzes  die  scheinbare  Hohe  (Qualitat)  des  tieferen  wahrgenom- 
menen  Teiles  besitzt,  auch  wenn  der  hohere  Ton  zugleich  be- 
stimmt  in  seiner  eigenen  Hohe  wahrgenommen  wird. 


^)  Fleischl  driickt  dies  so  aus:  „dass  die  Grundsatze  der  Logik 
nur  Geltung  haben  fiir  die  Gedanken  und  Vorstellungen  aber  nicht  fiir  die 
unmittelbaren  Empiindungen"  (ich  wiirde  sagen  Wahrnehmungen).  Wiener 
Ak.  Sitz.-Ber.  Bd.  86  III  (1882),  S.  25.  Vgl.  S.  Exnee,  Biolog.  Centralbl. 
VIII  442. 


and  seine  Telle.  385 

Man  kann  sich  uberzeugen,  dass  nicht  etwa  die  grossere 
Intensitat  des  tieferen  Tons  die  Schuld  tragt.  Man  kann  z.  B. 
eine  C-  und  eiue  c-Gabel  anschlagen  und  ihre  relative  Eutfer- 
nung  vou  den  Ohren  verandern,  wodurcb  jedes  beliebigo  Starke- 
verhaltnis  erzeugt  wird;  oder  sie  in  Stativen  befestigen,  mit 
dem  Bogen  anstreichen,  den  Kopf  dazwiscben  balten  und  nun 
das  rechte  oder  linke  Stativ  beliebig  verscbieben.  Immer  wird 
C  als  eigentlicber  Trager  der  Tonbobe,  c  nur  als  eine  Art  von 
Modification  aufgefasst,  solange  C  iiberbaupt  unterscbeidbar  ist. 
Ebenso  wenn  man  bei  der  S.  356  bescbriebenen  "Versucbsanord- 
nung  fiir  c  und  c^  die  tiefere  Gabel  aus  der  Feme  allmalig 
naber  bringt:  von  demselben  Moment  an,  wo  c  iiberbaupt  in  der 
Wabrnebmung  auftaucbt,  ist  es  aucb  scbon  Trager  der  Tonbobe. 

Der  Versucb  kann  aucb  so  verandert  werden.  Man  ver- 
gleicbe  die  Verbindung  Cc  (Gabeln)  mit  dem  einzelnen  c,  dann 
die  Verbindung  cc'^  ebenfalls  mit  c.  Welcber  Unterscbied  ist 
grosser?  Man  wird  antworten:  der  erstere^).  Hier  liegt  ein 
Distanzurteil  eigener  Art  vor,  ein  Urteil  liber  den  qualitativen 
Abstand  der  scbeinbaren  Hobe  des  Ganzen  von  der  Hobe  eines 
Teiles.  Es  gebt  aucb  aus  diesem  Urteil  hervor,  dass  die  Bei- 
fiigung  der  tieferen  Octave  als  eine  viel  wesentlicbere  Anderung 
aufgefasst  wird  als  die  der  boberen. 

Nebmen  wir  nun  statt  der  Octave  ein  anderes  Intervall,  so 
tritt  der  Erfolg  ebenfalls  ein,  aber,  wie  mir  scbeint,  in  um  so 
geringerem  Grade,  je  geringer  die  Verscbmelzung  ist.  Docb  ist 
er  bei  der  Quinte  nocb  auffallend  genug. 

Die  Erweiterung  des  Hobenabstandes  dagegen  vermebrt 
den  Eindruck.  Er  entstebt  bei  Cg  in  starkerem  Masse  als 
bei  C(x  u.  s.  f. 

Man  kann  das  Gesagte  aucb  an  den  Differenztonen  gegen- 
iiber  den  Obertonen  bestatigt  finden.  Es  ist  in  der  genannten 
Hinsicbt  ein  grosser  Unterscbied  zwiscben  diesen  beiden  Classen 

^)  Ich  habe  die  Frage  auch  elnem  Unmusikalischen ,  dem  Natur- 
forscher  Prof.  G.  (o.  365)  vorgelegt,  der  die  Gabeln  bei  Vertellung  an 
belde  Ohren  deutllch  auselnanderhalten  konnte.  Er  gab  sofort  die  oblge 
Antwort. 

Stumpf,  Tonpsychologie.    II.  25 


386     §  25.  Qualitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

von  Beitonen.  Wenn  ein  Differenztou  in  der  Wahrnehmung 
auftritt,  macht  er  sich  sogleich  als  Grundlage  und  Trager  des 
Ganzen  geltend.  Es  ist  uns  nachtraglich,  als  batten  die  Pri- 
martone  bis  dabin  in  der  Luft  gescbwebt  und  nun  erst  ibre 
feste  Unterlage  gewonnen;  obgleicb  wir  vorber  diesen  Eindruck 
nicbt  batten,  eine  Unterlage  nicbt  vermissten.  Anders  bei  den 
Obertonen.  Ein  wabrgenommener  Oberton  erscbeint  uns  eben 
als  ein  bober  Beiton,  obne  irgendwie  die  Auffassung  des  Gan- 
zen als  solcben  zu  verandern. 

Fiir  den  allgemeinen  Zug  der  Auffassung,  der  sicb  in  alien 
diesen  Fallen  offenbart,  gibt  es,  soviel  icb  sebe,  nur  einen  psy- 
cbologiscben  Erklarungsgrund.  Das  beisst,  die  Auffassungs- 
weise  wurzelt  nicbt  direct  in  den  Eigentiimlicbkeiten  der  Ton- 
qualitaten  als  solcber,  sondern  in  anderen,  wie  innig  aucb  im- 
mer  damit  verkniipften ,  Momenten,  von  welcben  sie  auf  die 
Tonqualitaten  iibertragen  wird.  Und  zv^rar  miissen  wir  auf  die 
raumlicben  Eigenscbaften  der  Tone  zuriickgi-eifen ,  sowol  die 
immanenten  als  die  associirten.  Beiden  zufolge  erscbeinen  uns 
gewisse  Qualitaten  als  raumlicb  breitere  und  tiefere  gegen- 
iiber  anderen;  wober  ja  eben  die  raumlicben  Ausdriicke  stam- 
men,  mit  denen  wir  die  qualitativen  Unterscbiede  selbst  be- 
nennen.  In  Folge  davon  erscbeinen  uns  diese  Qualitaten  aucb 
im  Zusammenklange  mit  den  anderen  als  das  tragende  Funda- 
ment (Basso),  die  „boberen"  dagegen  als  Aufsatz,  Uberbau. 

Es  tritt  biemit  ein  Standpunct  in  der  Tonauffassung  ber- 
vor  (vgl.  I  131,  149);  eine  Tatsacbe,  die  uns  im  eigentlicb 
musikaliscben  Gebiet  nocb  viel  bescbaftigen  wird,  da  sie  fiir 
die  entwickelte  musikaliscbe  Tonauffassung  ganz  unentbebrlicb  ist. 

Man  konnte  es  bedenklicb  finden,  dass  diese  Grunderscbei- 
nung  unsrer  musikaliscben  Auffassung  nicbt  in  den  Tonquali- 
taten selbst  wurzeln  soil.  Aber  die  raumlicben  Praedicate  der 
Tone  sind,  wie  eben  darum  bereits  I  223  u.  ausdriicklicb  ber- 
vorgeboben  wurde,  durcb  die  engsten  und  vielfaltigsten  Bande 
mit  den  qualitativen  verkniipft  und  wurzeln  in  wirklicben,  dort 
202  f.  auseinandergesetzten ,  Eigentiimlicbkeiten  der  Tone.  Zu 
diesen  miissen  wir  aber  nunmebr  nacb  II  56  als  wicbtigste  ein 


und  seine  Telle.  387 

vorher  nur  hypothetisch  erwahntes  raumliches  (raumahnliches) 
Moment  rechnen,  welches  parallel  mit  der  Reihe  der  Tonquali- 
taten  abgestuft  and  den  Tonen  ganz  ebenso  wie  die  Intensitat 
immanent  ist.  So  griindet  also  obiger  Zug  der  Auffassung,  wenu 
nicht  auf  der  Beschaffenheit  der  Tonqualitaten ,  doch  auf  der- 
jenigen  der  Tone. 

Es  erklaren  sich  auch  die  Modificationen  der  Erscheinung, 
die  oben  erwahnt  wurden.  Dass  der  Eindruck  bei  geringerer 
Verschmelzung  der  beiden  Tone  ein  geringerer  ist,  liegt  offen- 
bar  daran,  dass,  wenn  die  Tone  ein  weniger  eng  verkniipftes 
Ganzes  bilden,  auch  der  Eindruck  einer  selbstandigen  Tonhohe 
des  Ganzen  weniger  aufkommen  kann.  Dass  er  hingegen  mit 
dem  Hohenabstand  der  Tone  wachst,  kommt  daher,  dass  mit 
den  qualitative]!  zugleich  die  raumlichen  Verschiedenheiten 
wachsen,  welche  den  tieferen  Ton  als  den  tragenden  erscheinen 
lassen. 

Mancher  wird  vielleicht  Anfangs  geneigt  sein,  in  den  Ur- 
teilserscheinungen  bei  den  obigen  einfachsteu  Versuchsumstan- 
den  nur  eine  Nachwirkung  von  Gewohnheiten  zu  erblicken,  die 
sich  in  der  musikalischen  Erziehung  ausbilden  und  mit  dieser 
in  der  historischen  Entwickelung  unsres  Musiksystems  griinden. 
Aber  Dem  widerspricht,  dass  sich  die  gleiche  Auffassung  mit 
gleicher  Kraft  auch  dem  Unmusikalischen  aufdrangt.  Auch  ist 
mit  der  Berufung  auf  individuelle  und  historische  Entwickelung 
im  Allgemeinen  Nichts  gesagt,  man  muss  die  treibenden  Factoren 
aufsuchen.  Und  wer  iiber  die  Ursache  nachdenkt,  die  in  un- 
serem  Musiksystem  dahin  drangte,  den  Hauptton  einer  Leiter, 
eines  Accords  in  der  Tiefe  zu  suchen  („Grundton"),  der  wird 
schliesslich  auf  keine  anderen  letzten  Erklarungsgriinde  stossen, 
als  auf  den  genannten.  Er  ist  die  gemeinsame  Ursache  der 
Auffassungsweise,  welche  in  unsren  obigen  Versuchen  dem  Gan- 
zen die  scheinbare  Hohe  des  tieferen  Tons  'erteilt  und  welche 
in  der  Musik  den  Begriff  des  Grundtons  schafft. 

Diese  beiden  Folgeerscheinungen  selbst  sind  nicht  mitein- 
ander  zu  verwechseln.  Die  erste  ist  eine  Tauschung;  die  zweite 
wiirde  ich  nach  dem  ebeu  Bemerkten  nicht  als  solche  bezeichnen. 

25* 


888     §  25-  Qualitatsurteile  uber  einen  zusammengesetzten  Elang 

Musikalische  Gewohuheiten  koniien  allerdings  auch  in  uii- 
seren  Versucheu  die  Erscheinung  complicireD,  insofern  in  vielen 
Fallen  unter  den  reell  vorbandenen  tieferen  Ton  ein  dritter 
noch  tieferer  als  „Grundton"  hiuzugedacht  wird.  So  pflegen 
wir  zur  kleinen  Terz  eg,  wenn  sie  ausser  dem  Zusammenhang 
gehort  wird,  in  Gedanken  c  zu  erganzen,  d.  h.  jene  Terz  als 
obere  Abteilung  eines  Dui'dreiklanges  aufzufassen.  Ahnlich  wird 
zur  Sexte  ge^  oder  ges^  als  Grundton  c  erganzt. 

Dass  nun  bier  iiberbaupt  irgend  ein  6  erganzt  und  nicht 
es  (e)  oder  g  selbst  als  Grundton  (Tonica)  aufgefasst  wird,  ist 
eine  Sacbe  fiir  sich,  die  uns  bier  nicbt  angebt.  Dass  wir  aber, 
wenn  denn  irgend  ein  ©  erganzt  werden  soil,  in  den  genannten 
Fallen  nicbt  das  eben  so  nabe  oder  naber  liegende  c^  sondern 
c  erganzen:  dieser  Teil  der  Erscbeinung  weist  wieder  auf  die 
obigen  Erklarungsgriinde.  Bei  ganz  Unmusikalischen  fallen  die 
Zutaten  weg:  es  wird  nicbt  irgend  ein  dritter  noch  tieferer  Ton, 
sondern  der  tiefere  der  beiden  wirklicb  vorbandenen  auch  in 
diesen  Beispielen  als  Trager  der  Tonbobe  aufgefasst  (soweit 
solcbe  Personen  der  Analyse  und  damit  der  Beantwortung  uns- 
rer  Frage  fabig  sind).  Auch  bei  Musikaliscben  aber  ist  Das- 
selbe  der  Fall,  wenn  die  beiden  Tone  des  Intervalles  der  tiefen 
Region  entnommen  werden,  z.  B.  bei  CA,  auch  bei  Ca.  Hier 
ist  man  eben  nicht  gewohnt,  F^  als  Grundton  zu  erganzen,  da 
ein  solcber  Accord  F^CA  in  dieser  Tiefe  ungebrauchlich  ist, 
und  schon  der  Versuch,  F^  neben  den  wirklich  gehorten  Touen 
in  der  Phantasie  vorzustellen,  auf  Scbwierigkeiten  stosst. 

Wir  untersucbten  bisher  Zusammenklange  von  zwei  Tonen. 
Gehen  wir  nun  zu  solcben  von  mehr  als  zwei  (reellen)  Tonen, 
so  zeigt  sich  auch  bier  derselbe  Zug  der  Auffassung;  z.  B.  bei  1. 


^mm^- 


und  seine  Teile.  3S9 

Man  lasse,  nachdem  dieser  Accord  angeschlagen  ist,  die  drei 
oberen  Tone  wegfallen,  wahrend  C  fortklingt.  Dann  schlage 
man  wieder  das  Ganze  an  und  lasse  C  wegfallon,  wahrend  der 
obere  Dreiklang  fortklingt.  Die  Veranderung  wird  im  zweiten 
Fall  als  sine  wesentlichere  aufgefasst,  obschon  weniger  Tone 
wegfallen.  Man  wird  vielleicht  wieder  sagen:  (7  ist  eben  „Grund- 
ton".  Aber  auch  bei  2  findet  Dasselbe  statt,  und  hier  ist  G 
nicht  „Grundton"  im  musikalischen  Sinne.  Man  wird  nun  sa- 
gen: Der  unterste  Ton  ist  eben  Basston,  und  dieser  ist  fiir 
die  musikalische  Auffassung  des  Accords  („erste,  zweite,  dritte 
Lage")  massgebend,  daber  sein  Wegfall  als  wesentlichere  An- 
derung  bemerkt  wird.  Ganz  richtig.  Nur  fragt  sich's  wie- 
der, warum  gerade  der  unterste  Ton  als  massgebend  ange- 
sehen  wird. 

Bei  3  und  4  ist  Dasselbe  zu  beobachten.  Man  kann  auch 
nur  den  Wegfall  des  obersten  mit  dem  Wegfall  des  tiefsten 
Tones  vergleichen.  Im  ersten  Fall  scheint  uns  weiter  Nichts 
zu  geschehen,  als  dass  dem  Bau  die  Spitze  genommen  wird,  im 
zweiten  wird  er  auf  eine  andere  Basis  gestellt. 

Zu  beachten  ist  auch  bei  den  Mehrklangen,  dass  von  Mu- 
sikalischen in  vielen  Fallen  unter  die  reell  vorhandenen  (bez. 
iibrigbleibenden)  Tone  ein  tieferer  hinzugedacht  oder  postulirt 
wird.  So  wird  zu  dem  oberen  Dreiklang  in  3  und  4  das  un- 
tenstehende  c^  hinzu  erganzt,  mag  es  vorher  reell  mitangegeben 
sein  oder  nicht.  Die  reell  vorhandene  Basis  e^  bez.  g^  wird 
von  dem  musikalischen  Denken  (seit  einigen  Jahrhunderten) 
nur  als  eine  provisorische,  stellvertretende  anerkannt  und  die 
wahre,  definitive  dazu  postulirt.  Warum  nun  gerade  ein  (S  er- 
ganzt werden  muss,  ist  wieder  eine  Sache  fiir  sich.  Aber  dass 
das  nachsttiefere  postulirt  wird,  obgleich  doch  diesmal  ein  (S, 
namlich  c^,  schon  im  Dreiklang  reell  vorhanden  ist:  dies  beruht 
wieder  auf  dem  besprochenen  Erklarungsgrund. 

Wir  sehen  hier  davon  ab,  dass  einige  Theoretiker  neuerer 
Zeit  nur  fur  den  Durdreiklaug  den  tiefsten  Ton  als  Hauptton  gelten 
lassen,  fiir  den  MoUdreiklang  dagegen  den  hochsten,  die  bisher  so- 
genannte  Dominante.   Die  Besprechung  dieser,  nach  raeiner  Meinung 


390     §  25.  Qualitatsurteile  liber  einen  zusammengesetzten  Klang 

dem  musikalischen  Bewusstseiu  nicht  entsprechenden  Behauptung 
mussen  wir  uns  fiir  den  folgenden  Abschnitt  aufsparen. 

Die  einfachen  akustischen  Erscheinungen,  von  denen  wir  aus- 
gingen,  sind  meines  Wissens  nicht  friiher  beschriebeu  und  zu  den 
musikalischen  in  Beziehung  gesetzt  worden.  Nur  bei  Aeistoteles 
bez.  dem  Verfasser  der  musikalischen  Probleme  linden  sich  Be- 
merkungen,  welche  wahrscheinlich  in  diesem  Sinne  zu  deuten  sind. 
Eines  der  verlorenen  Probleme  war  betitelt:  Aia  r'l  rcov  6v(ig)(6voov 
ofiov  xQOvo^idvov  Tov  ^agvTSQOi)  yivirai  to  {liloq  ^).  Ich  ver- 
stehe  diese  Frage  so:  „Warum  entsteht,  wenn  consonante  Tone 
zugleich  angegeben  werden,  die  Tonhohe  des  tieferen?"  Hienach 
wiirde  also  der  Verfasser  unsre  Tatsache  beobachtet  haben,  die  ja 
bei  consonanten  Tonen  besonders  auffallt.  Jedenfalls  ist  die  in  dem 
verlorenen  Problem  behandelte  Frage  dieselbe  wie  in  einem  der 
erhaltenen,  wo  sie  aber  weniger  klar  formulirt  ist.  Dieses  lautet 
(Probl.  Sect.  XIX,  12,  p.  918,  a,  37):  Am  rl  tcov  xoq^cov  tj  ^a- 
QVTSQa  del  to  fitkog  Xccf^^dvEi.;  dv  yaQ  dtrjtca  aCai  xrv  Jtaga- 
(isOrjP  Ovv  rpiXii  t)j  ^tcij,  jivfrai  to  }itoov  ovd-ev  rjTTOv'  lav 
de  Trjv  (isOrjv  dsov  d^qxa,  y)ild  ov  yivsTai.  r  otl  to  ^agv  ^sya 
MtIv,  co6t£  XQUTSQOi^;  xal  eveCTiv  Iv  Tm  (leydXco  to  (Iltcqov'  xcd 
t(j  diaXr/rpsi  dvo  v/JTai  tv  tF]  vjuxtij  yivovTcu. 

„Hoc  problema  mihi  quidem  obscurius  esse  fateor"  sagt  Bo- 
JESEN  und  fiigt  bei,  dass  er  auch  in  Theodorus  Gaza's  Uber- 
setzung  keine  Hilfe  gefunden,  kommt  aber  selbst  schon  auf  die 
richtige  Fahrte.  Vielleicht  sei  die  Rede  davon,  warum  bei  conso- 
nanten gleichzeitigen  Tonen  der  tiefere  „quasi  fundamenti  loco 
ponatur",  weshalb  denn  auch  im  folgenden  Problem  gefragt  werde, 
warum  bei  der  Octave  der  tiefere  Ton  avTiipcovoq  des  hoheren  sei 
und  nicht  auch  umgekehrt. 

Ich  mochte  folgende  Ubersetzung  und  Erklarung  versuchen: 
„Warum  niramt  (bestimmt)  unter  den  Saiten  die  tiefere  immer  die 
(scheinbare)  Klanghohe?^)    Wenn  namlich  die  Aufgabe  gestellt  ist, 


*)  BojESEN,  De  Problematis  Aristotelis  Diss.  Kopenh.   1836  p.  79. 

*)  Meloq  bedeutet  nicht  immer  Melodie.  So  sagt  Aristoteles 
in  der  Eriauterung  seiner  Definition  der  Tragoedie  p.  1449,  b,  29,  die  an- 
genehme  Rede  habe  Rhythmus,  Harmonic  und  Melos.    ag/xovla  bedeutet 


und  seine  Telle.  39 1 

die  Paramese  zur  instrumentalen  Mese  zu  singeu^),  so  koramt  nichts- 
destoweniger  die  Mese  zum  Vorschein  2).  Wenn  aber  Beide  (Stirame 
und  Instrument  die  Mese  angeben  sollen^),  so  bort  man  nicht 
etwa  den  instrumentalen  Ton  beraus^).  Erfolgt  die  Bestiramung 
der  Klangbdhe  durch  den  tiefereu  Ton  vielleicbt,  weil  der  tiefe 
zugleicb  gross,  also  macbtig  ist?     Aucb  ist  das  Kleiue  im  Grossen 


hier,  wie  auch  sonst  vielfach,  Das,  was  wir  Melodle  nennen.  oder  all- 
gemeiner  einen  musikalisch  anmutenden  Tonfall  (Harmonie  in  unsrem 
Sinn  kame  ja  bei  der  Rede  keinesfalls  in  Betracht,  wenn  man  auch 
den  Begriff  sonst  den  Alten  zuerkennen  wollte).  Es  bleibt  hienach  fiir 
(UfAoc  hier  nur  iibrig:  musikalischer  Klang,  woltuende  Klangfarbe.  (So 
wenigstens  liesse  sich  der  liberlieferte  Text  rechtfertigen.  Freilich  scheint 
es  mir  im  Hinblick  auf  1403,  b,  27 — 32  zweifellos,  dass  ixiXoq  hier  fehler- 
haft  fiir  [isyed-oq  steht;  womit  auch  die  Lesart  /xstqov,  durch  welche 
nach  Vettori's  Vorgang  Viele  die  Stelle  zu  heilen  suchten,  hinfallig 
wird.  Ohnedies  wiirden  sich  ja  Qv9^/.i6g  und  fiixQov  gegenseitig  ziemlich 
uberflussig  machen.)  Ferner  vgl.  uber  (xikoq  420,  b,  8,  wo  es  auch  nur 
Klanghohe  oder  Klangfarbe  oder  beides  zusammen  bedeuten  kann;  so- 
wie  Teichmuller  Aristot.  Forsch.  II  357  und  Westphal's  Ausg.  des 
Aristoxenus  S.  203,  wo  als  allgemeinste  Bedeutimg  des  Wortes  bezeichnet 
wird:  „tonale  Seite  der  Musik'".  Wollte  man  indessen  in  unsrem  Falle 
„Melodie"  darunter  verstehen,  so  wilrde  der  Sinn  gleichwol  nicht  wesent- 
lich  veraudert:  ,,Warum  nimmt  die  tiefere  Saite  die  Melodie  an  sich? 
d.  h.  Warum  bildet  sich  die  Melodie  in  unsrer  Auffassung  aus  den  je- 
weilig  tieferen  Teilen  der  Zusammenklange  ?" 

*)  Wunderlich  bleibt,  dass  der  Verfasser  zur  Erlauterung  des  ge- 
stellten  Problems  auf  das  Zusammenwirken  von  Stimme  und  Instrument 
verweist,  wahrend  im  Problem  von  zwei  Saiten  die  Rede  war.  Vielleicht 
muss  es  statt  /o^dwv  x.  x.  A.  heissen  (f%-6yy(x)v  0  ^uQvxsQoq.  —  Uber 
ipikfi  vgl.  1339,  b,  20.  —  Die  Paramese  liegt  einen  Ton  hoher  als  die 
Mese.     Hier  ist  also  nicht  bios  von  consonanten  Tonen  die  Rede. 

^)  /nsoov  kann  hier  nicht  gut  etwas  Anderes  als  die  Mese  bedeuten 
(of.  Probl.  8  xb  (iaQv,  nachdem  vorher  ^  (iaQela).  Man  konnte  allerdings 
daran  denken,  dass  ein  mittlerer  Ton  zwischen  Mese  und  Paramese  gemeint 
ware.    Doch  scheint  mir  dann  die  Auslegung  des  Ganzen  schwieriger. 

^)  BojESEN  erganzt  doaL  nach  rlnfoj  und  vermutet  Komma  nach 
/xioTjv.    Aber  die  Conjectur  wiirde  nur  den  Sinn  alteriren. 

*)  Hiemit  will  der  Verfasser  zeigen,  dass  das  Bestimmen  der  Klang- 
hohe, das  Ansichnehmen  des  Melos,  nicht  etwa  eine  Eigentiimlichkeit 
des  Instrumentes  als  solchen  gegenuber  der  Stimme  ist,  dass  es  nicht 
etwa  auf  grosserer  Intensitat  oder  Scharfe  des  Klanges  beruht. 


392     §  "^5.  Qualitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

euthalten,  und  nach  der  Einteilung  der  Saiten  ist  der  tiefste  Ton 
das  Doppelte  seiner  Octave." 

Wir  sehen,  wie  Aristoteles  auch  in  der  Untersuchung  die 
Bahn  betritt,  die  uns  die  richtige  schieu;  wie  er  auf  das  quantita- 
tive Moment  der  Tonempfindungen  hinweist.  Nur  die  physikalisch- 
mathematischen  Verhaltuisse  hatte  er  aus  dem  Spiel  lassen  miissen. 

Westphal  deutet  die  Stelle  dahin,  dass  in  Instrumentalduetten 
das  tiefere  Instrument  die  Melodie  gefiihrt  habe;  wie  iiberhaupt 
(nach  Plutarch  De  Musica  18  —  20)  bei  den  Alten  die  Melodie, 
auch  die  gesungene,  tiefer  gelegen  habe  als  die  instrumentale  Be- 
gleitung  ^).  Allein  es  scheint  aus  der  ganzen  Fassung  dieses  Problems 
wie  aus  der  des  oben  erwahnten  verlorenen  deutlich  hervorzugehen, 
dass  von  einer  akustischen  Eigentumlichkeit  die  Rede  ist,  die  sich 
schon  bei  isolirten  Zusammenklangen  findet.  Das  Ansichnehmen 
des  Melos  durch  den  tieferen  Ton  kann  nicht  fiiglich  als  Zuteilung 
des  Melos  an  die  tiefere  Stimme  von  Seiten  des  Componisten  ge- 
deutet  werden.  In  dem  erlauternden  Beispiel  ist  ja  auch  voraus- 
gesetzt,  dass  der  Singende  den  hoheren  Ton  angebe;  wahrend  beim 
Gesang  mit  Instrumentalbegleitung  nach  Westphal  der  Gesang 
tiefer  liegen  miisste.  Von  dieser  Frage  also,  vom  Hohenverhaltnis 
zwischen  melodiefiihrender  und  begleitender  Stimme  scheint  mir 
hier  nicht,  wenigstens  nicht  direct,  die  Rede  zu  sein. 

Zur  Vergleichung  dienen  auch  noch  andere  Probleme,  in  denen 
derselbe  oder  ein  ahnlicher  Gedanke  vorkommt:  7,  8,  13,  18. 

Ich  habe  mir  diese  historische  Abschweifung  erlaubt,  urn  an 
einem  neuen  Beispiele  (vgl.  I  224)  zu  zeigen,  wie  sehr  sich  diese 
Problemensammlung  nach  Art  und  Umfang  der  behandelten  Fragen 
mit  unsrem  gegenwartigen  Unternehmen  beriihrt.  Sie  steht  dem- 
selben  naher  als  irgend  eine  andere  mir  bekannte  Schrift.  Eine 
emendirte  Ausgabe  ware  freilich  dringend  zu  wiinschen;  aber  gerade 
die  nunmehr  durchgefuhrten  oder  angeregten  sachlichen  Unter- 
suchungen  diirften,  wie  auch  sonst  in  der  Wissenschaftsgeschichte, 
eine  Reihe  von  schwierigen  Interpretationsfragen  erleichtern  und 
iiberraschende  Einblicke  in  die  bereits  von  den  Alten  getane  Arbeit 
gestatten, 

*)  Die  Musik  des  griechischen  Altertums  1883,  S.  64. 


und  seine  Teile. 


H93 


b)  Bei  aufeinaiulerfolgenden  Zusammenklangen 
macht  das  Ganze  scheinbar  die  Bewegung  der  in  den 
grossten  Schritteu  bewegten  Stimme  mit. 

Unter  einer  „Stimme"  verstehen  wir  hier  zunachst  nur  die 
durch  bomologe  Teile  der  einzelnen  Zusammenklangc  gebildete 
Aufeinanderfolge  von  Tonen;  also  z.  B.  die  jeweiligen  hochsten 
oder  zweithocbsten  Tone.  Dies  ist  nicht  die  Definition  einer 
Stimme  im  musikaliscben  Sinne,  fiir  welche  eine  einheitliche 
Zusammeufassung  aufeinanderfolgeuder  Tone  wesentlich  ist,  wah- 
rend  die  zusammengefassten  keineswegs  immer  homolog  sind. 
Aber  wir  untersuchen  hier  auch  noch  nicht  die  fiir  das  musi- 
kalische  Stimmenhoren  massgebenden  Bedingungen  und  Regeln; 
die  hier  zu  besprechenden  Erscheinungeu  sind  wie  die  unter  a) 
allgemein  -  akustische. 

Es  handelt  sich  hier  wieder  um  eine  Tauschuug,  die,  den 
wirklichen  Empfindungen  ebenso  wie  dem  objectiven  Tatbestand 
gegeniiber  sinnlos,  doch  als  charakteristisches  psychologisches 
Vorkommnis  verzeichnet  werden  muss.  Sie  tritt,  wie  alle  solche 
Tauschungen,  nicht  immer  mit  gleicher  Starke  ein  und  ver- 
schwindet  bei  ausdriicklichem  Aufmerken  auf  den  wahren  Sach- 
verhalt.  Bei  Zusammenklangen  aus  bios  zwei  Tonen  tritt  sie 
nicht  leicht  ein  (ausser  etwa  fiir  den  Unmusikalischen),  weil  hier 
zu  deutlich  die  Bewegung  jeder  Stimme  fiir  sich  verfolgt  wird. 

Folgende  hierhergehorige  Beobachtungen  erwahnt  Mach  ^). 

1.  2. 


P 


W- 


^ 


„Fixire  ich  in  1  oder  2  die  Oberstimme,  so   scheint  sich  nur 
die  Klangfarbe  zu  andern.    Beachtet  man  aber  in  1  den  Bass, 


^)  Beitr.  z.  Analyse  d.  Empfinduugen  1886,  S  126.  Friiher  schon 
iu  der  „Einleitung  in  die  HsLMHOLTz'sche  Musiktheorie "  1867,  S.  24. 
Mach  lasst  die  gleichbleibenden  Tone  nicht  neu  anschlagen,  was  mir 
fiir  die  Entstehung  der  Tauschung  wenigstens  am  Clavier  weniger  vorteil- 


394     §  25.  Qualitatsurteile  liber  einen  zusammengesetzten  Klang 

so  scheiiit  die  ganze  Klangmasse  in  die  Tiefe  zu  fallen,  dagegen 
zu  steigen,  wenn  man  in  2  den  Schritt  e^ — f^  beachtet  .... 
Lebhaft  erinnern  diese  Beobaclitungen  an  den  wechselnden  Ein- 
druck,  den  man  erhalt,  wenn  man  in  einem  Ornament  bald 
diesen  bald  jenen  Punct  fixirt". 

Man  konnte  auch  an  die  Verlegung  eines  fernen  Objects 
in  die  Ebene  eines  naheren,  auf  welches  accommodirt  ist,  er- 
innern; wodurch  jenes  zugleich  die  hochst  frappante  Verkleine- 
rung  erleidet.  Zu  bemerken  ist  aber,  dass  in  unsrem  Fall  die 
Tauschung  nur  bei  sehr  concentrirter  Aufmerksamkeit  auf  die 
bewegte  Stimme  eintritt,  auch  wol  bei  rasch  voriibergehenden 
Eindriicken  oder  sonstigen  Hindernissen  einer  vollkommen  deut- 
lichen  Analyse.  Nur  dann  kann  es  geschehen,  dass  den  iibrigen 
Teilen  und  dem  Ganzen  ein  gewisser  Schein  der  Mitbewegung 
zuwachst.  Aber  selbst  dann  ist  die  Tauschung  fiir  den  Musi- 
ker  wenigstens  an  Kraft  bei  weitem  nicht  mit  jener  raumlichen 
zu  vergleichen. 

Dass  sie  jedoch  in  der  erwahnten  Beschrankung  und  unter 
den  erwahnten  Umstanden  auch  in  der  praktischen  Musik  eine 
nicht  unerhebliche  Rolle  spielt,  mbgen  einige  Beispiele  zeigen. 

In  Beethoven's  5.  Symphonie  gibt  beim  Wiedereintritt  des 
Thema's  (Partitur  Petebs  S.  10)  das  gesammte  Orchester  mit  Aus- 
nahrae  der  1.  Flote,  1.  Oboe,  der  Trompeten  und  der  Pauke  das 
bekannte  Terz-Motiv  (g-es),  die  ebengenannten  Instrumente  aber 
geben  nur  das  (/  in  entsprechend  verschiedeneu  Octaven.  Dera 
musikalischen  Ohr  entgeht  dies  nicht.  Gleichwol  scheint  das  Granze 
der  Klangmasse  als  seiches  in  der  Terz  herunterzustiirzen.  (Bei- 
spiel  1.)     Ebenso  S.  19. 

Ein  vorziigliches  Beispiel  (2.)  bietet  der  Anfang  von  Schubbkt's 
D-moli-Q^uartett:  Die  ganze  Klangmasse  scheint  herunterzusteigen, 
obschon  die  oberste  und  unterste  Stimme  liegen  bleibt.  Hier  tragt 
wieder  die  Schnelligkeit  der  Bewegung  zur  Wirkung  bei.     Freilich 


haft  scheint,  da  dann  die  bewegte  Stimme  fast  allein  hervortritt,  wahrend 
die  iibrigen  Tone  schwacher  werden,  und  so  die  Aufmerksamkeit  zu  sehr 
vom  Ganzen  als  solchem  abgelenkt  wird.  Am  Harmonium  empfiehlt  sich 
vielleicht  mehr  Mach's  Ausfiihrungsweise. 


und  seine  Teile. 


395 


ist  die  Tauschuug  lange  uicht  vollstandig  und  dicse  Wirkung  auch 
vom  Componisten  nicht  ausschliesslich  beabsichtigt;  sonst  hatte  er 
eben  alle  Stimmen  wirklich  heruntersteigen  lassen.  Auch  tritt  joner 
Schein  beim  ofteren  Horen  und  bei  der  Kenntnis  dcr  Partitur 
immer  mehr  zurtick,  ohne  doch  ganz  zu  verschwinden. 
1.  2. 

1.  Viol. 


Ifo 


S* 


=^i^^ 


2^-f    P    P 


2.  Viol,  ffo 

-4 


liEii^i^E^^ji^i 


Pauke 


lii^jE^iliiP 


ffo  ten.  ffo 

Ferner  vgl.  in  Schubert's  Mullerliedern  No.  17  die  Begleitung 
zu  „Horch,  wenn  im  Wald  ein  Jagdhorn  schallt".  Oder  in  Men- 
delssohn's Ouverture  zum  Sommernachtstraum  die  Schilderung  des 
Elfentanzes  (Pianissimo).  Alles  erscbeint  bier  bewegt  und  doch 
verharrt  zunachst  die  2.,  dann  die  1.  Violine  auf  dem  namlichen 
Ton.  Auch  die  Fortestellen  der  Blaser  S.  18,  34,  44  der  Partitur 
(Volksausg.  Breitkopf).  Hier  machen  einige  tiefere  Stimmen  die 
entgegengesetzte  Bewegung  zu  den  hoberen,  vvahrend  andere  auf 
ibrem  Ton  verbarren.  Die  Doppelbewegung  erbobt  den  Eindruck 
der  Rubrigkeit  im  Allgemeinen,  aber  das  Ganze  als  solcbes  scbeint 
sicb  in  der  Ricbtung  der  boberen  Stimmen  zu  bewegen,  die  die 
grosseren  Scbritte  macben  und  obuedies  die  Aufmerksamkeit  vor- 
zugsweise  anzieben.  Und  so  findet  man  Beispiele  uberallber,  wenn 
man  einmal  aufmerksam  geworden. 


396     §  2i^-  Qualitatsurteile  (iber  oinen  zusammengesetzten  Klanji 

2.    Hohe  und  Abstand   dor  Klangtoile. 

a)  Urteile  iiber  die  Fragen:  ,.Sind  zwoi  Tone  gleich 
Oder  nicht?"  und:  „Wclcher  von  zweien  ist  der  hohore?", 
wolche  bei  aufeinanderfolgendcn  Tonen  ausfuhrlichc  Vorsuclio 
und  Erorterungen  notig  machen,  liaben  gegeniiber  gleichzeitigen 
nur  in  dem  Falle  einen  Sinn,  wenn  dieselben  verschiedenen 
Ohren  angeboren.  Was  sich  in  diesem  Fall  vorlaufig  iiber  Ur- 
teile der  ersteren  Art  (Schwellenfrage)  beibringen  liess,  ist  be- 
reits  0.  319  f.  angefiihrt.  Uber  Urteile  der  zweiten  Art  (ob  der 
rechte  odor  linke  gleiclizeitige  Ton  der  hohere)  konnten  ana- 
loge  Versuche  besonders  an  Unmusikalischen  angestellt  werden 
wie  in  §  14,  4.  Wenn  dort  das  Urteil  solcher  Individuen  nicht 
einmal  beim  Tritonus  in  mittlerer  Lage  sich  sicher  zeigte,  so 
wiirdeu  bei  gleichzeitigen  Tonen  vielleicht  noch  starkere  Mis- 
griffe  vorkommen.  Ich  babe  jedoch  ausser  einigen  schon  o.  363 
erwahnten  keine  Versuche  hieriiber  gemacht. 

Es  kommt  aber  auch  der  Fall  vor,  dass  zwei  gleichzeitige 
verschiedene  Tone,  die  E  in  em  und  d  ems  el  ben  Ohr  oder  beide 
beiden  Ohren  angeboren,  als  zwei  und  dennoch  als  gleich 
beurteilt  werden.  Das  Gleichheitsurteil  ist  dann  natiirlich  eine 
Tauschung,  um  nicht  zu  sagen  eine  Absurditat,  da  wir  nicht 
gleichzeitig  zwei  gleichhohe  Tone  desselben  Ohres  horen  kon- 
nen^).  Wir  werden  diese  Falle,  da  es  sich  um  eine  scheinbare 
Accommodation  des  einen  Tones  an  den  anderen  handelt,  waiter 
unten  bei  b)  besprechen. 

b)  Scheinbarer  Einfluss  eines  Tones  auf  die  Hohe 
eines  anderen  gleichzeitigen  Tones. 

Wenn  ich  c  zuerst  allein,  dann  mit  g  zusammen  angebe: 
erleidet  c  irgend  eine,  wenn  auch  nur  scheinbare,  Veranderung 
seiner  Hohe? 


')  Nur  insofern  konnte  man  das  Urteil  vielleicht  als  nicht  voU- 
standig  absurd  verteidigen,  als  das  Verhaltnis  der  Mehrheit  begrifflich 
nicht  zusammenfallt  mit  dem  der  Verschiedenheit. 

Auch  Das  kommt  sogar  vor,  dass  ein  einziger  Ton  Eines  Ohres  als 
zwei  Tone  aufgefasst  wird,  wenn  er  namlich  doppelt  (z.  B.  in  zwei  In- 
strumenten^  localisirt  wird. 


iind  seine  Telle.  397 

Aus  der  gewohnlichen  musikalischen  Erfahiuiig  ist  hieriiber 
Niclits  bekannt,  oder  vielmehr  ist  es  bekaniit,  dass  koine  Ver- 
anderung  stattfindot.  Wenn  eine  Stimme  anhebt  eiiieii  Tuu  zu 
singeii,  darauf  eine  andere  in  der  tiefereu  oder  biJheren  Quinte 
einsetzt,  so  erleidet  der  bereits  vorhandene  Ton  dadurch  keine 
Verschiebung.  Weder  der  erste  n(»ch  der  zweite  Sanger  muss  seine 
Intonation  mit  Riicksiclit  auf  den   anderen   irgend  inoditiciren. 

Wenu  ich  jedocli  zum  a^  der  vor  das  Ohr  gehaltenen 
Stimmgabel  eine  bedeutend  tiefere  Claviertaste  anschlage  und 
wieder  loslasse,  so  kann  es  den  Anscliein  gewinnen,  als  ob  der 
Gabelton  um  ein  Geringes  herunter-  und  dann  wieder  hinauf- 
ginge.  Noch  besser  verwendet  man  zwei  Gabelu.  So  habe  ich 
es  mit  den  Gabehi  A  und  e  (an  beide  Ohren  verteilt,  aber  audi 
an  demselben  Ohr)  beobachtet.  e  wird  durch  A  scheinbar  ver- 
tieft.  Man  ist  versucht,  dies  aus  der  Schwachung  des  Tones  e 
durch  den  hinzutretenden  starkeren  zu  erklaren,  wodurch  sich 
das  Urteil  tiiuschen  lasse.  Aber  wenn  wir  A  constant  tonen 
und  e  abwechsehid  hinzu-  und  hinwegtreten  lassen,  so  miisste 
dann  auch  A  beim  Hinzutreten  des  e  tiefer  zu  werden  scheinen. 
Es  wird  aber  dann  scheinbar  um  ein  Geringes  hoher,  und  beim 
Hinwegfallen  von  e  wieder  tiefer. 

Die  scheiubare  Veranderung  findet  also  in  der  Richtung 
des  hinzukommenden  Tones  statt.  Ein  hinzutretender  betracht- 
lich  tieferer  Ton  scheint  den  vorhandenen  zu  vertiefen,  ein 
hoherer  ihn  zu  erhohen.  Es  wird  beim  Hinzutritt  des  neuen 
Tones,  der  fiir  einen  Moment  einen  Teil  der  Aufmerksamkeit 
auf  sich  lenkt,  gleichsam  etwas  von  seiner  QuaHtat  auch  auf 
den  anderen  iibertragen. 

Das  Namliche  habe  ich  auch  bei  Ag  gefunden,  obgleich 
hier  fast  nur  in  Hinsicht  des  g.  Es  war  als  ob  der  hohere 
Ton  mehr  diesen  scheinbaren  Einfluss  erlitte.  Ebenso  trat  die 
Tauschung  noch  bei  eg  ein. 

In  alien  diesen  Fallen  ist  natiirlich  zugleich  eine  schein- 
bare  Verkleinerung  bez.  Vergrosserung  der  Distanz  gegebeu. 
Aber  wie  alle  blossen  Urteilstauschungen  tritt  auch  diese  uur 
unter  besonderen  Umstanden  ein  (z.  B.  in  der  Hohe  nicht,  weil 


398     §  25.  Qualitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

hier  Veranderungen  merklicher  und  somit  auch  die  Constanz 
deutlicher  ist),  und  sie  verschwindet  iiberhaupt,  wenn  man  seine 
Aufmerksamkeit  durch  den  neuen  Ton  niclit  ablenken  lasst 
sondern  auf  den  alien  concentrirt  halt. 

Wir  sehen  insoweit,  dass  von  einem  simultanen  Con- 
trast (ebenso  wie  von  einem  successiven)  beim  Ohr  nicht  die 
Rede  ist.  Die  Beeinflussung  gleichzeitiger  Tone  ist  nur  eine 
scheinbare,  und  nicht  einmal  als  solche  findet  sie  im  Sinne 
des  Contrastes  statt,  sonst  miisste  der  hohe  Ton  den  tiefen 
noch  vertiefen,  der  tiefe  den  hohen  noch  erhohen. 

Nun  aber  kann  man  allerdings  in  gewissen  Fallen  auch 
versucht  sein,  einen,  wenn  auch  nur  scheinbaren,  Contrast  zu 
statuiren.  So  wenn  man  am  Clavier  zuerst  etwa  d  allein,  dann 
mit  G  zusammen  angibt:  d  scheint  dann  leicht  ein  wenig  in 
die  Hohe  zu  gehen,  ohne  dass  wir  freilich  angeben  konnten, 
wieviel.  Der  Grund  liegt  wol  dai'in,  dass  durch  G  der  Ober- 
ton  d'^  bedeutend  verstarkt  wird,  sodass  nun  das  Ganze  heller 
klingt^).  Daher  zeigt  sich  die  Erscheinung  auch  nur  in  der 
Bassregion,  wo  die  Verstarkung  der  Obertone  in  solchem  Fall 
sich  am  Meisten  geltend  macht.  Daher  tritt  sie  auch  bei  Ga- 
beln  nicht  ein,  weil  deren  Teiltone  viel  schwacher  sind. 

Die  Veranderung  ist  also  wiederum  nur  eine  scheinbare. 
In  der  praktischen  Musik  fehlt  davon  jede  Spur,  weil  zu  viele 
Momente  hier  die  Tonhohe  fiir  das  Urteil  feststellen^). 

^)  Man  konnte  auch  daran  deiiken,  dass  durch  das  Hinzutreten 
von  G  der  Ton  d  fiir  unsre  musikalische  Auffassung  seine  Eigenschaft 
als  .,Grundton"  verliert.  Aber  das  ist  zu  weit  hergeholt  und  wiirde 
ebenso  fur  andere  Intervalle  zutreffen,  wo  sich  die  Erscheinung  nicht 
findet.  Auch  der  temperirten  Stimmung  mochte  vielleicht  Mancher  die 
Schuld  geben,  indem  man  die  Quinte  rein  zu  fassen  suche  und  so  un- 
willkurlich  d  ein  wenig  hoher  denke.  Aber  auch  dies  ware  eine  ge- 
zwungene  Erklarung  (man  konnte  ja  eben  so  gut  zu  diesem  Zwecke  G 
tiefer  denken)  und  wiirde  erwarten  lassen,  dass  bei  der  Quarte  und 
grossen  Terz  das  Umgekehrte  stattfande,  was  ich  nicht  finden  kann. 

-)  Vgl.  I  "258 — 9:  und  iiber  das  Nichtvorkommen  eines  wirklichen 
Empfindungscontrastes  bei  Tonen  gegeniiber  entgegengesetzten  Behaup- 
tungen  auch  I  20 — 1.  Die  Frage  ist  schon  von  Chevreul  im  Anschluss 
an   seine  Untersuchungen    iiber   Farbencontrast   in   gleichem    negativen 


und  seine  Teile.  399 

Dagegen  findet  sich  jene  Tauschung,  deren  wir  oben  als 
einer  nahezu  absurden  gedachten,  in  der  Musik  gar  nicht  selten. 
Wenn  zwei  Klange  nahe  an  einander  (jedenfalls  nicht  iiber  eine 
Quinte  auseinander)  liegen  und  der  mittleren  oder  tiefen  Region 
angehoren,  und  wenn  der  eine  von  ihnen  einen  dumpfen,  ge- 
rauschahnlichen  Charakter  hat  und  nur  kurz  dauert,  so  scheint 
dieser  sich  bei  nicht  sehr  genauem  Hinhoren  dem  anderen  in 
der  Hohe  zu  accommodiren.  Wir  fassen  sie  als  gleich  hocb, 
obschon  gerade  die  Verschiedenheit  der  Hohen  es  uns  ermog- 
licht,  sie  als  zwei  Tone  zu  erkennen.  Der  langer  andauernde, 
scharfere,  reinere  und  gleichmassigere  Klang  bestimmt  das 
Hohenurteil. 

Es  wird  also  bier  nicht  dem  Ganzen  eine  Hohe  neben 
seinen  Teilen  und  jedem  von  diesen  seine  eigene  Hohe  zuge- 
schrieben,  wie  unter  1.,  sondern  es  wird  einem  Teil  die  Hohe 
des  anderen  zugeschrieben. 

Man  kann  am  Clavier  den  Versuch  machen,  indem  man 
eine  grosse  Flasche,  welche  (durch  Eingiessen  von  Wasser)  so 
gestimmt  wird,  dass  ihr  Ton  zwischen  zwei  tiefe  Claviertone, 
etwa  B  und  H,  fallt,  kurz  anblast  und  zugleich  einen  dieser 
Tone  dazu  auf  dem  Clavier  angibt.  Sie  scheint  mit  beiden 
Ubereinzustimmen.  Bei  langerer  Fortsetzung  hort  freilich  die 
Tauschung  auf. 

In  der  Musik  tritt  sie  besonders  auf  bei  den  Schlaginstru- 
menten.  Auch  wenn  ein  solches  abgestimmt  ist,  wie  die  Or- 
chesterpauke,  finden  sich  genug  Stellen,  wo  man  anfanglich 
glauben  mochte,  dass  es  mit  dem  gleichzeitigen  starken  Ton 
eines  anderen  Instruments  iibereinstimme.  Beispiele  liefert  fast 
jedes  Orchesterstiick.  Aber  auch  beim  Pianissimo  anderer  In- 
strumente   und    unter  anscheinend  gunstigen  Bedingungen   des 


Sinne  behandelt  worden  (De  la  Loi  du  Contraste  simultane  des  Couleurs 
1839,  S.  689  f.).  Was  Mach  als  Beispiele  von  Toncontrasten  in  seinen 
„Beitragen  z.  Analyse  d.  Empf."  130 — 1  anfiihrt,  betriftt  nicht  die  Qua- 
litat  der  Tonempfindungeu  sondern  ihre  Gefiihlswirkung;  was  auch  Mach 
selbst  nicht  verkennt.  Ein  Ton  wirkt  anders.  wenn  ein  hoher,  als  wenn 
ein  tiefer  vorausgegangen ;  aber  er  ist  seiner  Hohe  nach  geuau  dex'selbe. 


400     §  25.  Qualitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

Urteils  kann  Ahnliches  eintreten;  wie  in  der  beriilimten  Stelle 
(ler  5.  Symphonie  Beethoven's,  welche  zum  Finale  iiberleitet, 
wo  die  Streicher  im  aussersten  Pianissimo  auf  As.^  (mit  As)  und 
c  (mit  c^)  liegen  bleiben,  wahrend  die  Pauke  leise  mit  unregel- 
massigem  Puis  c  wiederholt.  Ihr  Ton  scbeint  sich  anfanglich 
fast  mehr  dem  As  anzupassen.  Dieses  fesselt  eben  vor  Allem 
die  Aufmerksamkeit,  die  Erwartung;  es  ist  der  eigentliche 
Mittelpunct  und  Trager  der  ungeheuren  Spannung. 

Ich  mochte  in  Anbetracht  dieser  Accommodationsfahigkeit 
der  Pauke  fast  bezweifeln,  ob  die  classischen  Componisten  bei 
der  Behandlung  dieses  Instruments  nicht  eine  allzu  gewissen- 
hafte  Riicksiclit  auf  das  wirkliche  Zusammenstimmen  desselben 
mit  den  anderen  Instrumenten  genommen  haben.  An  vielen 
kraftigen  Stellen,  wo  die  Pauke  in  riistigster  Tatigkeit  ist, 
macht  sie  plotzlich  eine  Pause,  ganz  offenbar  nur  darum,  weil 
zufallig  keiner  ihrer  zwei  Tone  zu  dem  augenblicklichen  Accord 
passt  (Beispiel  1).  Dem  Gehor  wUrde  aber  dieser  Umstand  ent- 
gehen:  der  Paukenton  wiirde  sich  scheinbar  accommodiren,  Und 
was  das  partiturlesende  Auge  betrifft,  so  ist  es  diesem  doch 
auch  ein  Schrecken,  wenn  es  in  der  Paukenstimrae  Gauge  wie 
bei  2  erblickt. 

1.    Beethoven.    4.  Symph.  2.  Daselbst. 

5:  I 


P ^-J-| -j =>!-* — *^— H. -4. -^ 


ffo  ffo 


Pauken  in  B.  F. 


J #--^— * ^^^ — - — ^ # 


ffo  ffo 

Da  kann  die  Pauke  freilich  durchweg  mit  accord-eigenen  Tonen 
aufwarten;  aber  die  StimmfUhrung  wiirde  das  gebildete  Gehor, 
wenn  es  die  Tone  nach  ihrer  eigenen  Hohe  auffasste,   minde- 


und  seine  Telle.  401 

stens  ebenso  beleidigen,  wie  accordfremde  Tone^).  Neuere  Cora- 
ponisten  haben  zuweilen  mehr  als  zwei  Pauken  vorgeschrieben. 
So  Meyerbeer  gelegentlicU  im  Robert  d.  Teufel  No.  17  drei 
(ursprunglich  sogar  4,  aber  iiicht  wegen  der  Harmonie  sondern 
wegen  einer  Solo-Melodie,  die  sie  pauken  sollten).  Aucb  Schu- 
mann beniitzt  in  der  -B-dur-Symphonie  drei;  im  ersten  Satz 
sind  sie  auf  F,  Ges,  B  gestimmt.  Hier  ware  es  nun  von  In- 
teresse,  wenn  Orchesterdirigenten  den  Versucb  machten  (und 
vielleicht  haben  ihn  mancbe  in  Ermangelung  der  dritten  Pauke 
schon  gemacbt),  bios  mit  F  und  B  auszukommen,  Ob  es  ein 
unkundiger  aber  gut  auffassender  Horer  an  den  Stellen  S.  20, 
30,  34  u.  s.  f.  (Part.  Breitkopf  Serien-Ausg.)  merken  wUrde, 
■wenn  bier  F  statt  Ges  gepaukt  wiirde?  Im  „Ring  des  Nibe- 
lungen"  bat  Wagner  durchweg  4  Pauken  vorgeschrieben.  Ber- 
lioz hat  in  seinem  Requiem  16  (von  10  Mann  bedient),  wo- 
durch  alle  Tone  der  chromatischen  Leiter  gegeben  werden 
konnen.  In  der  Tat  solange  man  nicht  wenigstens  12  an- 
wendet,  wird  es  immer  an  gewissen  Stellen  schwer  bleiben,  die 
Pauke  wie  eine  andere  Stimme  zu  fiihren.  Die  Schwierigkeit 
ist  praktisch  durch  den  obigen  Zug  unserer  Auffassung  gelost; 
wenigstens  fur  alle  Falle,  wo  die  Pauke  mit  starken  anderen 
Instrumenten  zusammenwirkt.  Aber  sie  wird  eben  langst  nicht 
mehr  als  blosses  Fiillinstrument  verwendet;  und  so  wird  sich  die 
Vermehrung  ihrer  Tone  allerdings  nicht  immer  umgehen  lassen. 
Eine  analoge  Behandlung  wie  der  Pauke  liessen  die  alteren 
Tonsetzer  auch  den  Blechinstrumenten  zu  Teil  werden,  weil 
damals  nur  die  Naturinstrumente  mit  ihrer  beschrankten  Aus- 
wahl  von  Tonen  zur  Verfiigung  standen.  Hier  macht  sich  der 
tlbelstand,  das  sinnwidrige  Pausiren  und  die  regelwidrige  Stimm- 


*)  Gevaert  gibt  in  seinem  „Traite  generale  d'Instrumentation" 
p.  105  geradezu  die  Kegel:  „La  note  donn^e  aux  timbales  doit  pouvoir 
faire  partie  de  Taccord;  mais  11  n'est  pas  necessaire  que  ce  soit  la 
vraie  basse."  Er  fiigt  in  der  Anmerkung  bei:  „Certains  compositeurs 
emploient  dans  les  parties  de  timbales  des  sons  qui  n'entrent  pas  dans 
I'accord."  Mir  sind  solche  Stellen,  die  also  von  seiner  Kegel  abweichen 
wiirden,  nicht  bekannt,  aber  ich  billige  sie. 

Stumpf,  Tonpsyebologie.    II.  26 


402     §  25.  Qnalitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

fuhrung,  wirklich  auch  fiir's  Ohr  merklicli  und  hat  immer  wie- 
der  den  Gedanken  an  entsprecliende  Abanderungen  in  den  Parti- 
turen  naho  gelegt,  die  docli  bei  dem  festen  und  feinen  Gefiige 
derselben  ausserordentlich  schwer  durchzufiibren  sind.  Fiir  die 
Neueren  ist  dem  Ubelstand  durch  die  Ventilinstrumente  ab- 
geholfen. 

Dagegen  tindet  Ahnliches  wie  bei  der  Pauke,  und  in  noch 
weiterer  Ausdebnung,  obne  jeden  Nacbteil  Statt  bei  grosser  und 
kleiner  Trommel,  Becken,  Triangel,  Tamburin,  Scbellen,  Tam- 
tam u.  dgl.  Fiir  Trommel  und  Becken  kann  man's  in  der 
Militarmusik  jederzeit  beobacbten;  fiir  den  Triangel  aucb  gut 
in  Mozaet's  Entfiihrung  (Ouverture);  fiir  Tamburin,  Scbellen, 
Triangel  und  kleine  Trommel  in  Weber's  Preciosa  (Zigeuner- 
marscb).  Auch  scbou  Gluck  bat  den  Skytbentanz  in  der  Ipbi- 
genie  in  Tauris  fortlaufend  mit  Trommel  und  Becken  begleitet. 
Je  mehr  Gerausch  einem  solcben  Klang  beigemischt  ist,  um  so 
leicbter  die  besprochene  Tauscbung.  So  scheinen  auch  Gewiirze, 
wie  Pfeffer  und  Paprika,  denen  man  ja  solche  Zutaten  verglei- 
chen  kann,  in  gewissem  Masse  sich  dem  Hauptgeschmack  der 
Speise,  der  sie  zugefiigt  werden,  anzupassen.  Personen  mit  aus- 
gebildetem  Gescbmacksurteil    mogen   hieriiber  Naheres  wissen- 

Einiges  Licht  fallt  von  hier  aus  wol  auch  auf  die  fiir  unser 
Auge  mehr  als  befremdliche  Zusammensetzung  chinesischer  und 
javanischer  Partituren,  welche  in  neuerer  Zeit  bekannt  ge- 
worden  sind  ^).  Eine  Melodic  wird  hier  durch  die  schreiendsten 
Instruraente  kraftig  herausgehoben,  dabei  aber  von  einer  Menge 
anderer  toils  mit  gleichbleibenden  Tonen  teils  mit  vielerlei 
Schnorkeln  begleitet,  sodass  die  unglaublichsten  gleichzeitigen 
Tonverbindungen  und  eine  nichts  weniger  als  homophone  Musik 
herauskommt.    Allein  wir  diirfen   annehmen,  dass  diese  ganze 


^)  Dr.  MtJLLER  in  den  „Mitteilungen  der  deutschen  Gesellschaft  fur 
Natur-  und  Volkerkunde  Ostasiens"  1876  gibt  chiuesische  Partituren. 
S.  meine  Bemerkuugen  in  der  Viertelj.-Schr.  f.  Musikw.  II  (1886)  522. 
J.  P.  N.  Land,  Uber  die  Tonkunst  der  Javanen,  das.  V  (1889)  193  f.  Die 
von  Land  veroifentlichte  Partitur  zeigt  selir  merkwurdige  Anfange  contra- 
punctischer  Bebandlung. 


und  seine  Telle.  403 

Masse  mehr  wie  eine  Art  begleitenden  Gerausches  neben  der 
Hauptstimme  veniommen  wird  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
deren  jeweilige  Tonhohe  fiir  die  Auffassung  annimmt,  Natiir- 
lich  beleidigt  auch  Das,  was  doch  in  der  Form  selbstandigcr 
Stimmeu  herausgehort  wird,  das  Gehor  der  Einheimischen  nicht, 
da  dieses  keine  barmonischen  Forderungen  stellt.  Aber  das 
Ganze  diirfte  ibnen  iiberbaupt  nicht  in  dem  Grade  polyphon 
kliugen,  wie  es  aussieht. 

Endlich  auch  beim  Sprechen  mit  Musik,  im  Melodrama, 
macht  sich  solcher  Einfluss  der  gleichzeitigen  Tone  auf  die 
Auffassung  geltend.  Es  mag  wol  sein,  dass  der  Sprcchende 
bier  wirklich  oft  seine  Intonation,  so  gut  es  geht,  nach  der 
Begleitung  richtet.  Fiir  correct  wiirde  ich  dies  nicht  halten, 
da  es  der  Natur  dieser  Kunstform  widerspricbt  und  doch  nicht 
vollstandig  gelingt.  Aber  auch  wo  die  Accommodation  nicht 
wirklich  erfolgt,  weder  beabsichtigt  noch  unwillkiirlich ,  kann 
doch  fiir  den  Horer  der  Schein  einer  solchen  entstehen,  und 
gerade  dadurch  wird  das  Abstossende  ganz  von  selbst  und 
besser  vermieden,  als  durch  eine  auffallige  und  nur  halb  ge- 
lingende  Bemlihung. 

c)  Distanzurteile  iiber  gleichzeitige  Tone. 

Um  reine  Distanzschatzungen  zu  erlangen,  muss  man,  wie 
bei  aufeinanderfolgenden  Tonen  (I  249),  den  Einfluss  der  In- 
tervallauffassung  fernzuhalten  suchen.  Dann  kann  man  sich 
auch  bier  z.  B.  fragen,  ob  das  uiimliche  Intervall  gleichzeitiger 
Tone  in  verschiedenen  Regionen  die  namliche  Distanz  darstellt. 
Man  kann  auch  fragen,  welchem  Intervall  in  Einer  Region  ein 
gegebenes  Intervall  in  einer  anderen  Region  als  Distanz  be- 
trachtet  gleich  ist. 

Trotz  der  Schwierigkeit  dieser  Urteile  scheint  mir  bier 
wie  bei  der  Aufeinanderfolgo  der  Tone  soviel  klar,  dass  die 
Distanz  der  Tone  eines  und  desselben  Intervalls  (d.  h.  also  bei 
gleichbleibendem  Verhaltnis  der  Schwingungen)  von  der  Tiefe 
bis  etwa  zur  dreigestrichenen  Octave  zunimmt.  Die  Verschmel- 
zung  bleibt  dieselbe,  aber  der  Hobenunterschied  der  Tone  ist 
in  der  Tiefe  offenbar  viel  geringer. 

20* 


404     §  25.  Qiialitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

Bei  den  o.  323  erwahnten  Versuchen  mit  den  tiefen  Konig- 
schen  Gabeln  war  mir  in  der  unteren  Region  der  grossen  Oc- 
tave die  Distanz  einer  Terz  nur  eben  nocli  als  Distanz  erkenn- 
bar,  die  der  Quinte  (CCr)  erschien  fast  jiicht  grosser  als  die 
einer  grossen  Secunde  in  mittlerer  Lage,  dergestalt  dass  das 
Intervallurteil  selbst  in's  Scbwanken  geriet:  denn  wenn  dieses 
sich  auch  nicht  auf  die  Distanz  der  Tone  als  Hauptmerkmal 
stiitzt,  so  ist  seine  Sicherheit  docb  nicht  ganz  unabhangig  von 
so  grossen  Veranderungen  der  gewohnlichen  Umstande.  Die 
grosse  Terz  FA  war  ich  geneigt  geradezu  als  grosse  Secunde 
zu  schatzen  (nur  bei  Verteilung  der  Gabeln  an  beide  Ohren 
und  Andriicken  an  dieselben  berichtigte  sich  das  Urteil;  nach- 
her  auch  bei  freier  Haltung).  Bei  den  kleinen  Terzen  FisA 
und  EG  schien  die  Differenz  nur  einen  Ganzton  oder  selbst 
einen  Halbton  zu  betragen,  bei  der  grossen  Secunde  GA  eben- 
falls  entsprechend  weniger.  Kurz  es  wurde  derjenige  Intervall- 
begriif  aus  der  mittleren  Lage  hieher  iibertragen,  welch er  dort 
ungefahr  mit  der  gleichen  Distanz  verbunden  ist.  Weiter  hinauf, 
bei  A  c  und  in  der  kleinen  Octave,  verschwanden  solche  Tau- 
schungen.  Sie  sind  hier  bei  der  Deutlichkeit  der  Verschmelzungs- 
unterschiede,  durch  die  das  Intervallurteil  gewohnlich  in  erster 
Linie  bestimmt  wird,  fiir  geiibte  Ohren  nicht  mehr  moglich, 
wenngleich  die  Distanzen  der  Intervalltone  sich  auch  weiter 
hinauf  noch  verandern.  Es  gewinnt  vielmehr  dann  die  Intervall- 
auffassung  die  Oberhand  auch  iiber  das  Distaiizurteil  und  tauscht 
uns  gleiche  Distanzen  vor,  wo  nur  die  Verschmelzung  gleich  ist. 

Ich  habe  auch  Unmusikalische,  namlich  die  in  I  314  be- 
zeichneten  Personen  in  Wiirzburg,  zu  derartigen  Urteilen  heran- 
zuziehen  versucht,  doch  nur  gelegentlich ,  da  ich  nicht  Viel 
davon  erwartete.  Vorher  versicherte  ich  mich  immer,  dass 
die  gleichzeitigen  Tone  als  zwei  erkannt  wurden.  Dr.  K.,  den 
ich  zuerst  allein  vornahm,  war,  wie  in  anderen  Beziehungen, 
so  auch  in  den  gewUnschten  Distanzvergleichungeu  sehr  un- 
sicher,  erklarte  in  verschiedenen  Lagen  Septimen  fiir  grosser  als 
Octaven  u.  s.  f.  Aus  gemeinsamen  Versuchen  mit  den  Herren 
S.,   Be.  und  Bo,   iiber  Intervalle   bis  zur  Quinte   in  mittlerer 


und  seine  Teile.  405 

Lage,  wobei  den   verglichenen  Tonpaaren  immer  ein  Ton  und 
zwar  der  tiefere  gemeinsam  war,  also  z.  B.: 


schien  hervorzugelien,  dass  das  Urteil  sehr  zuverlassig  war, 
wenn  es  sich  urn.  Vergleichung  schwacli-  oder  starkverschmel- 
zender  Combinationen  handelte  (z.  B.  der  kleiiien  mit  der  grossen 
Secunde  oder  der  Quinte  mit  der  Quarte),  dagegen  sehr  udzu- 
verlassig,  wenn  lutervalle  mittlerer  Verschmelzung  (Terzen)  mit 
solchen  von  starkerer  (Quarten,  Quinten)  oder  schwacherer  (Se- 
cunden)  verglichen  wurden,  Es  ergab  die  Vergleichung  von 
Quarten  mit  Quinten  16:17,  d.  h.  unter  17  Fallen  16,  wo  die 
Quinten  rich  tig  als  grossere  Distanz  bezeichnet  wurden;  die 
von  grossen  mit  kleinen  Secunden  8:8;  dagegen  die  von  Quin- 
ten mit  Terzen  7:14,  Quarten  mit  Terzen  8:20,  Terzen  mit 
Secunden  9:17.  (Die  zweifelhaften  Aussagen  sind  nicht  ge- 
rechnet.  Davon  kamen  auf  den  1.,  2.  und  5.  Fall  je  1,  auf 
den  3.  2,  auf  den  4.  7.  Will  man  sie  zur  Halfte  den  richtigen 
zurechnen,  so  verandern  sie  doch  das  Verhaltnis  nicht.) 

Ich  lege  auf  dieses  Ergebnis  wegen  der  geringen  absoluten 
Zahlen  keinen  Wert,  doch  reizt  es  vielleicht  Andere  zur  wei- 
teren  Verfolgung,  und  wiirde  sich  iibrigens,  wenn  es  sich  be- 
statigte,  einem  begreif lichen  Gesichtspunct  unterordnen.  Denn 
man  kann  sich  denken,  dass  ein  stark  verschmelzendes  Inter- 
vall  leicht  fUr  zu  Id  ein  gehalten  wird,  indem  man  die  geringere 
Uuterscheidbarkeit  der  Tone  mit  grosserer  Ahnlichkeit  derselben 
verwechselt,  wie  dies  ja  beziiglich  der  Octave  sogar  sehr  all- 
gemein  geschieht  (vgl.  auch  Dr.  K.  iiber  Septimon  und  Oc- 
taven  o.);  und  dass  aus  analogem  Grunde  die  sehr  schwach 
verschmelzenden  fiir  zu  gross  gehalten  werden.  Es  werden  also 
sowol  Intervalle  von  hohem  als  von  geringem  Verschmelzungs- 
grade,  wenn  sie  mit  solchen  von  mittlerer  Verschmelzung  (Ter- 
zen) verglichen  werden,  leichter  Tauschungen  erzeugen,  als  wenn 
Intervalle  von  gleicher  Verschmelzungsstufe  unter  einander  ver- 
glichen werden. 


406     §  25.  Qualitatsurteile  fiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

Bei  sehr  grossen  und  sehr  kleinen  Distanzen  der  Tone 
werden  natiirlicli  auch  hier  neue  Fehlerquellen  wirksam. 

Die  Fortsetzung  solcher  Versucbe  ware  nicht  ohne  In- 
teresse,  zumal  wenn  dann  von  den  namlichon  Individuen  auch 
Distanzvergleichungen  von  Tonpaaren  mit  aufeinanderfolgenden 
Tonen  abgefragt  wurden,  um  festzustellen,  ob  bei  gleicbzeitigen 
oder  bei  aufeinanderfolgenden  Tonen  unter  sonst  gleichen  Um- 
standen  grossere  Zuverlassigkeitswerte  fiir  Distanzurteile  beraus- 
kommen.    Wabrscbeiidicb  bei  aufeinanderfolgenden. 

d)  Vergleicbungen  von  Distanzen  gleichzeitiger 
mit  solcben  aufeinanderfolgender  Tone. 

Ob  zwei  gegebene  Tone  gleiohzeitig  erklingend  dieselbe 
Distanz  besitzen  wie  in  der  Aufeinanderfolge,  dariiber  kann 
man  sich  bei  binreicbender  Aufmerksamkeit  und  tJbung  nicht 
tauschen,  da  die  Tonqualitaten  selbst  sich  durch  die  Gleich- 
zeitigkeit  nicht  verandern.  Aber  anfanglich  kann  wegen  der 
geringeren  Deutlichkeit,  welche  die  Folge  der  Verschmelzung 
ist,  die  Distanz  bei  der  Gleichzeitigkeit  geringer  scheinen; 
und  so  ist  es  mir  selbst  (auch  anderen  Musikalischen,  z.  B. 
Prof.  W,  BiEDEKMANN  in  Jena)  mehrfach  bei  tiefen  Gabeln  er- 
gangen. 

Eine  wirkliche  Verschiedenheit  der  Distanz  kann  sich  nur 
fiir  den  Fall  der  Schwelle  ergeben,  wo,  wie  wir  wissen,  zwei 
successiv  noch  verschiedene  Tone  bei  Gleichzeitigkeit  als  Einer 
empfunden  (nicht  bios  gescbiitzt)  werden,  also  eine  Distanz  dort 
vorhanden  hier  verschwunden  ist.  Hier  ist  es  eben  auch  un- 
richtig,  von  den  namlichen  zwei  gegebenen  Tonen  zu  reden. 
Nur  objectiv  sind  es  dieselben  zwei,  subjectiv  als  Empfindungs- 
material  liegt  im  zwei  ten  Fall  nur  Ein  Ton  vor.  Die  Bedin- 
gungen  des  Versuches  sind  also  aufgehoben. 

II.  Urteile  iiber  nichtanalysirte  Klange. 

1.  Scheinbaro  Hohe  eines  Klanges 
a)  bei  ungleicher  Starke  der  Componeuten. 
In   dieser   Hinsicht    wissen    wir    bereits,    dass    durch    bei- 
gemischte    nichtunterschiedene    Obertone    ein    Klang    scheinbar 


unci  seine  Teile.  407 

holier  wird,  wenii  er  auch  bei  genauerer  Aufmerksamkeit  und 
Untersuchung  seine  Hohe  behalt.  Die  Tauschung  beruht  auf 
der  Veranderung  der  Klangfarbe. 

Zu  beachten  ist,  dass  die  concreten  Vorstcllungen,  welcbe 
der  Musiker  mit  den  Ausdriicken  cS  a^  u.  s.  f.  verbindet  (so- 
fern  er  irgendwelche  damit  verbindet),  nicbt  die  einfacher  son- 
dern  ziemlicb  zusammengesetzter  Klange  sind.  Jene  Benennungen 
baben  sich  ihm  eingepragt  an  Instrumenten  mit  meist  zahl- 
reichen  Obertonen.  Was  wir  bei  c^  denken,  ist  nicbt  der  wahre 
akustiscbe  Reprasentant  dieser  Hohe,  sondern  ein  musikalischcs 
c^  Wenn  wir  daher  sagen:  „Einem  Kkmg  wird  ini  Allgemeinen 
die  Hohe  seines  Gruudtones  zugeschrieben",  so  darf  dies  nur 
so  aufgefasst  werden:  „Der  Klang  wird  an  diejenige  Stello 
innerhalb  des  Tonreiches  verlegt,  welche  theoretisch  dem  Grund- 
ton  allein  gebiihren  wUrde";  nicht  aber:  „er  wird  an  die  Stelle 
verlegt,  welche  wir  sonst  dem  Grundton  allein  zuerkennen". 
Wir  verlegen  eben  den  Grundton,  wenn  wir  ibn  ausnahms- 
weise  einmal  fiir  sich  allein  horen,  keineswegs  an  die  ihm  ge- 
biihrende  Stelle  des  abstracten  Schema's,  welches  durch  die 
Buchstabenbezeichnung  gegeben  ist. 

Niiher  kommen  hier  zwei  Classen  von  Tauschungen   vor: 

a)  Wenn  es  sich  darum  handelt,  einen  einfachen  mit  einem 
zusammengesetzten  Klang  zu  vergleichen,  so  wird  leicht  ein 
kleiner  Unterschied  gefunden,  wo  keiner  mehr  ist;  der  einfache 
scheint  ein  wenig  tiefer  als  er  ist,  „zu  tief",  insofern  der  zu- 
sammengesetzte  uns  massgebend  ist  ^).  Der  Irrtum  kann  hier 
nur  Wenig  betragen,  weil  beide  Klange  in  der  Empfindung 
oder  der  unmittelbar  vorausgegangene  wenigstens  in  intcnsiver 
deutlichster  Vorstellung  gegeben  ist. 

/3)  Wenn  es  sich  darum  handelt,  die  absolute  Hohe  eines 
isolirt  angegebenen  Klanges  zu  erkennen  und  denselben  zu  be- 
nennen,  so  wird  leicht  der  einfache  Klang  um  eine,  ja  zuweilen 


^)  I  235,  240  f.,  253  f.  An  Zithern  kann  man  gut  beobachten,  dass 
eine  Saite  merklich  holier  klingt,  wenn  man  sie  in  Vsi  als  wenn  man  sie 
in  Va  itrer  Lange  zupft.  Im  letzteren  Fall  fehlen  die  starksten  (gerad- 
zahligen)  Teiltone. 


408     §  25.  Qualitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

um  zwei  ganze  Octaven  zii  tief  geschatzt.  Hier  kami  der  Irr- 
tum  so  Viel  betragen,  weil  eiu  Vergleichungsklang  entweder  gar 
nicht  Oder  nur  in  relativ  schwacher  Erinnerungsvorstelluug 
gegeben  ist^).  Aber  warum  betragt  er  gerade  eine  oder 
zwei  Octaven,  warum  nicht  eben  so  oft  auch  eine  Sexte  oder 
Decime? 

Teilweise  beruht  dies  auf  der  Ahnlichkeit,  welche  zwischen 
einem  zusammengesetzten  Klang,  als  Ganzes  betrachtet,  und 
seinem  Grundton,  fiir  sicb  allein  betrachtet,  insofern  besteht 
als  letzterer  im  ersteren  als  Teil  enthalten  ist  (I  112).  Da  uns 
nun  der  Grundton  fiir  sicli  allein  weniger  vertraut  ist,  so  be- 
nennen  wir  ihn  nach  demjenigen  gewohnten  Klange,  mit  wel- 
chem  er  die  grosste  Ahnlichkeit  besitzt.  Und  diese  Ahnlichkeit 
wirkt  auch,  ohne  dass  der  zusammengesetzte  Klang  selbst  vor- 
gestellt  wird,  indem  sie  als  reproducirende  Kraft  die  tlber- 
tragung  des  entsprechenden  Begriffes  und  Namens  auf  den  vor- 
liegenden  einfachen  Klang  bewirkt  ^).  Derselbe  besitzt  allerdings 
auch  eine  Ahnlichkeit  mit  seinen  einfachen  Nachbartonen;  aber 
diese  sind  uns  als  einfache  Tone  eben  so  wenig  vertraut,  wie 
er  selbst,  also  liegt  die  Verwechselung  mit  ihnen  weniger  nahe, 
als  mit  der  zusammengesetzten  tieferen  Octave. 

Zum  Teil  aber  beruht  die  Octaventauschung  auf  der  Ver- 
schmelzung.  In  den  Fallen,  wo  die  Benennung  sich  auf  eine 
Vergleichung  des  vorliegenden  mit  einem  anderen  concret  vor- 
gestellten  Klang  griindet,  stellen  wir  uns  einen  solchen  Klang 
vor,  mit  welchem  (mit  dessen  Grundton)  der  gegebene  einfache 
Klang  am  starksten  verschmilzt,  und  benennen  diesen  danach. 
In  Folge  davon  konnte  der  einfache  Klang  zwar  ebensowol  um 
eine  oder  mehrere  Octaven  zu  hoch  als  zu  tief  geschatzt  wer- 
den:  aber  dass  er  iiberhaupt  zu  tief  geschatzt  wird,  hat  die 
schon  angefiihrten  Griinde.  Hier  war  nur  zu  erklaren,  warum 
gerade  um  Octaven. 


^)  tJber  diesen  Unterschied  der  Falle  s.  bei  der  Lehre  von  den 
Intervallurteilen  im  nachsten  Bande,  wo  wir  auf  die  allgemeine  Theorie 
der  „Wiedererkennung"  und  Benennung  naher  eingehen.  Nicht  alles 
Erkennen  und  Benennen  ist  ein  Vergleichen. 


unci  seine  Telle.  409 

So  lost  sich  clio  Paradoxic,  dass  Musiker  bei  absoluten 
Hohenbestimmungen  sich  leichter  urn  eiuen  bestimmteu  grosseren 
als  urn  einen  geringeren  Betrag  irren.  Wer  den  Begriff  des  In- 
tervalls  ganz  in  den  der  Distanz  aufgeben  lasst,  dlirfte  hier  rait 
der  Erklarung  sell  wer  zurechtkommen. 

Uber  das  Vorkommeu  der  Octaventauscliungen  vgl.  I  270, 
310 — 11.  Ich  habe  selbst  jahrelaug  deii  mehrerwahnten  sub- 
jectiven  Ton  fis^  urn  eine  Octave  zu  tief  geschatzt,  bis  icb  durch 
genaue  Vergleicbung  mit/s^  und/s^  am  Clavier  seine  wahre  Hohe 
erkannte.  Bei  den  zahlreichen  voriibergebenden  subjectiven  Tdnen 
ist  es  mir  von  der  viergestricbenen  Octave  an  fast  iramer  mehr 
Oder  weniger  zweifelhaft,  ob  icb  z.  B.  ein  vier-  oder  funf-  oder 
sechsgestricbenes  e  vor  mir  babe,  vvabrend  icb  sehr  wol  erlienuen 
kann,  dass  es  Uberbaupt  ein  e  ist.  In  welcber  Kicbtung  bier  die 
Tauscbung  am  baufigsten  stattlindet,  kann  icb  nicbt  sagen,  da 
selbst  bei  einer  sofortigen  Vergleicbung  mit  Claviertoneu  vielfacb 
ilber  die  absolute  Hohe  Zweifel  bleiben,  wabrend  docb  die  Stelluug 
innerhalb  der  Leiter  {e,  d,  es  u.  s.  w.)  in  Zweifelsfallen  dadurch 
fast  regelmassig  sofort  aufgeklart  wird.  Am  auffallendsteu  ist  wol 
die  Tieferlegung  der  Pfeiftone  (o.  298  Anm.),  auf  deren  wabre  Hohe 
mich  erst  vor  wenigen  Jahren  G.  Engel  aufmerksam  gemacbt  bat. 
Man  irrt  sich  hier  sogar  um  zwei  Octaven.  Ja  es  kann  geschehen, 
dass  man  das  gepfiffene  c^  fiir  die  tief  ere  Octave  des  c^  halt, 
wenn  dies  auf  dem  Clavierangegeben  wird;  solange  bis  man  ganz 
genau  unter  Abstraction  von  der  Klangfarbe  die  Hoben  als  solche 
vergleicbt. 

Wir  haben  bisber  die  Falle  betracbtet,  in  denen  die  nicht- 
unterschiedenen  Beitone  hoher  waren  als  der  Hauptton.  Man 
konnte  ebeuso  den  Einfluss  von  tieferen  Beitonen  untersucben. 
Zu  erwarten  ware,  dass  ein  solcher  in  analoger  Weise  die 
scbeinbare  Hohe  vertiefte.  Aber  bei  Individuen,  die  iiber  feiuere 
Hohenunterschiede  iiberhaupt  ein  Urteil  haben,  ist  der  Fall 
sob  wer  herzustellen,  well  der  tiefere  Beitou  alsbald  fiir  sich 
wahrnehmbar  wird  (o,  228).  Doch  finde  ich  dariiber  eine  Be- 
merkung  von  Konig  (Pogg.  Ann.  Bd.  157,  S.  189)  gelegentlich 
seiner  Gabelversuche:  j,Lasst  man  zu  dem  c  plotzlich  g  hinzu- 


410     §  25.  Qualitatsurteile  liber  einen  zusammengesetzten  Klang 

treton,  so  klingt  cs,  als  batto  der  Grundton  (c)  nur  einen  tieferen 
Charaktor  bekommen."  Es  tritt  namlich  dann  auch  der  Com- 
binationston  C  ausserst  scbwach  binzu. 

Endlicb  Hesse  sicb  aucb  der  Fall  untersucben,  wo  zwiscben 
2wei  starkere  Tone  ein  mittlerer  scbwacber,  nicbtunterscbiedener 
eingescbaltet  wiirde.  Hieriiber  ist  mir  nicbts  Tatsacblicbes  be- 
kannt. 

b)  bei  gleicber  Starke  der  Componenten. 

Hier  sind  besondere  Umstande  erforderlicb,  wenn  fiir  musi- 
kaliscbe  Obren  die  Analyse  ausgescblossen  sein  soil.  So  konnen 
zwei  gleicbzeitige  Tone  einander  zu  nabe  liegen,  um  obne  be- 
sondere Anstrengung  unterscbieden  zu  werden.  Dann  bestimmt 
vorwiegend  der  tiefere  die  scbeinbare  Hobe  des  Ganzen  (o. 
326 — 7).  Ferner  bei  Octaven.  Aucb  bier  wird  in  solcbem  Fall 
ausserbalb  eines  actuellen  musikaliscben  Zusammenbanges  dem 
Ganzen  die  Hobe  des  tieferen  Tones  zugescbrieben,  ebenso  und 
nocb  bestimmter  als  im  Falle  der  Analyse  (o.  384);  weil  ja 
dann  eben  nur  das  Ganze  eine  Tonbohe  zu  besitzen  scbeint. 
Dem  Uumusikaliscben  gilt  das  Hinzutreten  des  boberen  Tones 
bier  fast  nur  als  eine  Verstarkung,  wabrend  der  Musikaliscbe 
wenigstens  eine  Klangfarbenanderung  statuirt.  Der  Hinzutritt 
einer  tieferen  Octave  dagegen  verandert  bei  gleicber  Starke 
derselben  stets  sofort  die  Auffassung  der  Tonbobe. 

Octaven  konnen  auch  innerbalb  und  in  Folge  des  musi- 
kaliscben Zusammenbanges  als  Unisono  im  eigentlicben  Sinne 
gefasst  werden.  Wenn  z,  B.  eine  in  Octavengangen  vorgetragene 
Melodie  als  solcbe  grosses  Interesse  erweckt  und  zugleicb  die 
Begleitung  einen  Teil  der  Aufmerksamkeit  abziebt,  so  kann  uns 
die  Zusammensetzung  der  melodiefiibrenden  Stimmen  aus  Oc- 
taven entgeben.  In  solcben  Fallen  ist  die  Hobenauffassung  bald 
durcb  den  tieferen  bald  durcb  den  boberen  Ton  bestimmt,  je 
nacb  naberen  Umstanden  (s.  u.). 

Unmusikaliscbe  und  Kinder  fassen  wol  aucb  oft  genug 
Quinten-,  ja  Terzengange  nur  als  Unisono  von  der  Hobe  der 
boberen  Tone,  die  ibre  Aufmerksamkeit  gewobnbeitsmassig 
fesseln  (vgl.  o.  374). 


und  seine  Teile.  411 

2.  Distanz  nichtanalysirter  Klangraassen  von  ihren 
Teilen  und  von  einander. 

Man  kann  die  beiden  nichtanalysirten  Zusammenklange  Cc 
und  cc^  mit  dem  Einzelklang  oder  Ton  c  vergleichen  und  die 
Frage  stellen,  welcber  Eindruck  sich  mehr  von  dem  letzteren 
unterscheidet,  welcher  Ubergang  (c  nach  Cc  und  nach  cc^)  als 
eine  grossere  Anderung  aufgefasst  wird.  Ebenso  bei  nicht- 
analysirten Quinten  u.  s.  w. 

Obne  Zweifel  wiirde  hiebei  nocb  entscbiedener  als  bei  I  1. 
die  Beifiigung  des  tieferen  Tones  als  eine  grossere  Anderung 
des  Ganzen  bezeicbnet  werden.  Icb  babe  solcbe  Versucbe  (die 
nur  mit  Uiimusikaliscben  anzustellen  wiiren)  nicht  gemacht. 

Statt  Zusammenklangen  kann  man  weiter  audi  Einzelklange 
(mit  ungleicber  Intensitat  der  Teile)  nebmen  und  nach  ibrer 
Distanz  von  einfacben  Tonen  fragen. 

Eudlicb  konnten  aucb  Distanzen  je  zweier  nicbtanaly- 
sirter  Zusammenklange  untereinander  verglicben  werden,  z.  B. 
CG  —  eg  —  c^g^.  Und  aucb  bier  kann  die  relative  Starke  der 
Teile  verandert  werden.  Docb  diirfte  biebei  scbwerlicb  etwas 
Interessantes  und  Neues  berauskommen. 

Die  Musik  bietet  auch  fiir  die  Betrachtungen  unter  II  mancher- 
lei  Anregung  und  Auwendupg. 

Wenn  die  Clarinette  ein  Thema  in  der  ein-  und  zwei- 
gestrichenen  Region  vortragt  und  vom  Fagott  in  der  nachsttieferen 
Octave  secuudirt  wird,  und  wenn  wir  augeublicklich  beide  lustruraente 
nicht  auseinanderhalten,  so  glauben  wir  die  Melodie  in  derjenigen 
Region  zu  horen,  in  welcher  sie  von  der  Clarinette  vorgetragen 
wird.  Wenn  dagegen,  wie  dies  sehr  vielfach  geschieht,  die  Flote  in 
nachsthdherer  Octave  mit  der  Violine  oder  Clarinette  oder  Oboe 
geht,  so  glauben  wir  unter  gleicher  Voraussetzuug  die  Melodie  in 
der  tieferen  Lage  zu  horen,  fasseu  die  letztgeuannten  Instrumente 
und  nicht  die  Flote  als  ihren  Trager.  Hier  ist  die  Nichtanalyse 
auch  wirklich  die  Regel.  Die  Flote  ist  eben  bei  gewohnlicher  Be- 
setzung  und  Tongebung  schwacher  als  die  anderen  genannten  In- 
strumente (ausgenommen  etwa  ihre  zwei  hochsten  Tone).   Aber  auch 


412     §  25.  Qualitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

wenn  ihr  Ton  nicht  ganz  im  Klange  verschwindet,  wird  er  mehr 
als  Modification  aufgefasst;  als  eigentlicher  Trager  der  Melodie  er- 
scheint  bei  Octavengangen  dieser  Art  das  tiefere  Instrument.^) 

Bei  vorziiglichen  Auffiihrungen  der  9.  Symphonie  Beethoven's 
sowie  seiner  Missa  solemnis  habe  ich  auf  solche  Stellen  besonders 
geachtet.  Sie  sind  gerade  in  diesen  an  Feinheit  und  Genialitat 
der  Stimmenbehandlung  unerreichten  Werken  sehr  zahlreich.  In 
der  Partitur  der  9.  Symphonie  (Peteks)  beispielsweise  S.  27,  55, 
104,  149,  154,  185  (Trompeten).  Man  betrachte  namentlich  die 
Stelle  S.  154  f.  genau: 


p  dolce 
2.  Flote. 


^fc+E?b^f±EE|££EH^^^*iEI£=^^E53 


'tm 


p  dolce 
1.  Oboe. 


fe^.^g|piEg^-g^^jg^^^ 


p  dolce 
2.  Oboe. 


^)  In  den  vierhaudigen  Clavierausziigen  wird  dieser  Umstand  zu  wenig 
berucksichtigt,  die  Melodie  aus  der  Flotenstimme  in  die  gleiche  Octave 
des  Claviers  herubergeschrieben  und  dadurch  eine  weniger  angenehme 
und  den  Absichten  des  Componisten  nicht  entsprechende  Wirkung  er. 
zeugt,  indem  am  Clavier  die  hohere  Octave  viel  mehr  hervortritt.  Die 
PETEEs'sche  Ausgabe  der  BEETHOVEN'schen  Symphonien  fur  vier  Hande 
hat   es   hierin  besser  getroffen  als  die  Breitkopf  -  HiRTEL'sche  Volks- 


imd  seine  Teile.  413 

Wir  glauben  die  Melodie  im  zweiten  Tact  dieser  Stella  nicht  so 
zu  horen  und  sollen  sie  niclit  so  horen,  wie  sie  von  der  1.  Flote, 
dera  hochstliegenden  Instrument,  geblasen  wird.  Die  Melodie  geht 
fur  unser  Gelior  nicht  von  b^  nach  /^,  sondern  nach  /^,  dem  Ton 
der  2.  Flote,  in  welchen  auch  die  1.  Oboe  einstimmt,  wahrend  /^ 
nicht  davon  gesondert  vernommen  wird^).  Die  vereinigte  2.  Flote 
und  1.  Oboe  werden  voriibergehend  Trager  des  Gesanges,  wozu  auch 
das  wolvorbereitete  Eingreifen  der  2.  Oboe  raitwirkt.  Am  Schluss 
des  folgenden  Tactes  dagegen  geht  die  Melodie  wieder  auf  die 
1.  Flote  tiber  und  das  Ohr  folgt  in  der  Tat  dieser  Wendung,  weil 
die  2.  hier  auf  h^  liegen  bleibt  und  die  Aufmerksamkeit  sich  dem 
Bewegten  zuwendet.  Es  ist  ganz  merkwurdig,  wie  hier  keine  der 
hoheren  Stiramen,  der  zwei  Floten  und  zwei  Oboen,  die  Melodie  so 
vortragt,  wie  wir  sie  zu  horen  glauben,  und  dass  sich  doch  das  rich- 
tige  Bild  in  uns  zusammeusetzt.  Aber  die  Griinde  lassen  sich  bis 
in's  Einzelne  angeben.  Allerdings  wirkt  auch  der  Umstand  hier 
mit,  dass  wir  die  Melodie  von  ihrem  erstmaligen  Auftreten  her  im 
Gedachtnis  haben  und  dass  sie  gleichzeitig  in  tieferer  Octave  vom 
Fagott  vorgetragen  wird,  auch  in  verbliimter  Weise  in  den  Sechs- 
zehntelfiguren  der  ersten  Violine  enthalten  ist.  Doch  wurde  sie 
auch  ohne  diese  Hilfen  deutlich  hervortreten,  und  dieselben  wUrden 
uns  hier  Nichts  helfen,  wenn  die  aus  dem  Zusammenwirken  der 
hoheren  Blasinstrumente  resultirende  Melodie  in  Widerspruch  da- 
mit  trate. 

Solche  Mischungen  der  Instrumente,  wo  der  Tonsetzer  eine 
Melodie  im  Bewusstsein  des  Horers  aufbaut,  die  in  keiner  be- 
teiligten  Stimrae  enthalten  ist,  zeigen  Beethoven's  wunderbare 
Meisterschaft.  Aber  es  gilt  auch  hier  —  und  ist  bereits  von 
Richard  Wagner  hervorgehoben  — ,  dass  er  zu  solchen  Kunst- 
griffen  manchmal  durch  selbstgezogene  Schranken  veranlasst  wurde, 
die  heutzutage  unnotig  scheinen.  Er  liess  die  Flote  und  die  Violine 
im  Orchester  nicht  tiber  a^  hinaufgehen  (ausser  in  wenigen  Fallen, 
wo    hohere    Tone    stufenweise    erreicht   werden   und    darum    kein 


^)  Das  auf  p  am  Schluss  des  2.  Tactes  in  der  PETERs'schen  Aus- 
gabe  folgende  c^  der  2.  Flote  ist  ein  Druckfehler  statt  es^. 


414     §  25.  Qualitatsurteile  uber  einen  zusamraengesetzten  Klang 

Misgriff  zu  befiirchten  war,  wie  in  den  Ouverturen  zu  Egmont 
und  Konig  Stefan).  Er  musste  daher,  wo  die  Melodie  eine  tTber- 
schreitung  dieser  Grenze  verlangte,  danach  trachten,  das  Ohr  vor- 
her  schon  an  ein  in  der  tieferen  Octave  mitgeheudes  Instrument 
als  Melodietrager  zu  fesseln. 

An  einer  spateren  Stelle  (S.  160)  hatte  die  1.  Flote  bis  h^ 
gehen  mtissen.  Beethovek  lasst  sie  in  die  tiefcre  Octave  springen, 
was  libel  kliugt,  wenn  man  es  bemerkt.  Nun  wird  sie  hier  wirk- 
lich  vorher  als  Tragerin  der  Melodie  gefasst.  Aber  siehe  da,  sie 
schien  mir  doch  in  die  Hohe  zu  gehen.  Vielleicht  war  die  Tau- 
schung  durch  das  allgemeine  Crescendo  und  das  gemeinsame  Hinauf- 
gehen  der  Clarinetten  und  Fagotte  begiinstigt.  Doch  weiss  ich 
uicht,  ob  sie  auch  bei  Anderen  und  bei  mir  selbst  ein  anderes 
Mai  eben  so  sicher  eintreten  wiirde. 

Das  Scherzo  derselben  Symphonic  enthalt  eine  ganze  Reihe 
solcher  kritischen  Stellen,  wo  Flote  oder  Violine  P  haben  miissten 
und  diesen  oder  mehrere  Tone  aus  der  tieferen  Octave  entleiheu 
(S.  72,  87,  88,  92,  128,  133,  135).  Hier  werden  jetzt  wol  all- 
gemein  bei  Auffuhrungen  die  hohen  Tone  selbst  eingesetzt.  Auf- 
fallend  bleibt  allerdings,  dass  2.  Violine  und  Viola,  die  an  solchen 
Stellen  die  1.  Violine  in  tieferen  Octaven  begleiten,  denselben  Gang 
nehmen  und  das  Motiv  in  derselben  alterirten  Weise  vortragen,  ob- 
schon  hier  nicht  die  mindeste  Schwierigkeit  in  Hinsicht  der  Ton- 
lage  vorhanden  sein  wurde.  Und  es  wiire  an  sich  nicht  undenkbar, 
ja  nicht  einmal  unwahrscheinlich,  dass  Beethoven  aus  der  Not 
eine  Tugend,  aus  den  Schranken  in  der  Tonhohe  einen  Anlass  zur 
Avirklichen  Umgestaltung  des  Motivs  gemacht  hiitte;  in  welchem  Fall 
man  natiirlich  Nichts  daran  andern  dilrfte.  Doch  ware  wenigstens 
bei  Stellen  wie  S.  92  im  vorletzten  Tact  in  der  Flote  diese  Auf- 
fassung  kaum  durchzufiihren. 

Umgekehrt  musste  die  melodiefiihrende  Violine  im  Andante 
S.  143  im  voi'letzten  Tact  siungemass  notwendig  von  ff  auf  Jis 
heruntergehen,  und  ich  kanu  nicht  leugnen,  dass  mich  das  /s^ 
immer  stort.  Ware  hier  statt  dessen  eine  Achtelpause  gelassen, 
so  wiirde  das  fs  der  Viola  allein  hervortretcn  und  die  Phrase 
richtig  beendigen.    Allerdings  hat  Beethoven  auch  hier  vorgesorgt, 


und  seine  Teile.  415 

indem  er  gegen  Ende  derselben  die  Oboe  in  hoherer  Octave  mit- 
gehen  und  den  Schluss  richtig  ausfuliren  liisst.  Doch  ist  fur  mein 
Gehor  die  Storung  damit  nicht  ganz  bcseitigt. 

Fur  die  Auffassung  eines  der  Octaventoue  als  des  Tragers  der 
Tonhohe  bietet  audi  Beethoven's  Claviersonate  in  B-dur  op.  lOG 
ein  Beispiel,  welches  mir  oft  aufgefallen  ist.  Im  22.  Tacte  des 
Adagio  geht  die  Melodie  von  a^  nicht  etwa  auf  g'-^  sondern 
naturlich  auf  y^,  wahrend  die  hohere  Octave  nur  zum  Zweck 
hellerer  Klangwirkung  hiuzugefiigt  ist  und  dadurch  auch  ein  ganz 
unentbehrlicher  iisthetischer  Ausdruck  in  die  Stelle  kommt.  Es 
verhalt  sich  ahnlich  wie  in  der  obigen  Stelle  der  Neunten  mit 
dem  hohen  f^  der  ersten  Flote,  wenn  auch  der  hohe  Clavierton 
nicht  ebeuso  in  dem  tiefereu  verschwindet.  Das  "Wort,  Beethoven's 
Sonaten  seien  verkappte  Symphonien,  trifft  bier  wirklich  zu,  die 
Stelle  ist  orchestral  gedacht,  auch  in  den  folgenden  Tacten. 

RiCHAED  Wagnee  uimmt  in  seiner  Besprechung  der  obigen 
Stellen  im  Scherzo  der  Neunten  an,  dass  das  Gehor  der  hochsten 
Stimme  unbedingt  folge  und  sorait  die  Melodie  entstellt  vernehme. 
„In  dieser  Hinsicht",  sagt  er  (Gesammelte  Schriften  ^  IX  291)  be- 
zuglich  solcher  Eutstellungen,  „ist  es  nun  eben  vorziiglich  die  Flote, 
welche,  sobald  sie  eintritt,  als  iiusserste  Oberstimme  das  melodie- 
suchende  Gehor  unwillkiirlich  anzieht,  und  wenn  nun  der  melodische 
Gang  sich  in  ihren  Noten  und  deren  Folge  nicht  rein  ausdruckt, 
jenes  notwendig  irre  fuhrt.  Gegen  die  bier  bezeichnete  iible  Wir- 
kung  scheint  unser  Meister  mit  der  Zeit  gauzlich  achtlos  geworden 
zu  sein." 

Wagnee  war  unter  den  Neueren  sicher  der  grosste  Kenner  or- 
chestraler  Wirkungen,  deren  Bereich  er  auch  schopferisch  erweitert 
hat;  und  seine  sorgfaltigen,  ich  mochte  sagen  philologischen,  Detail- 
studien  iiber  Beethoven's  Partitur  verdieuten  von  jedem  Dirigenten, 
der  es  kanu,  nachgeahmt  zu  werden,  mag  man  seine  Anderungs- 
vorschlage  billigen  oder  nicht.  Aber  wir  miissen  annchmen,  dass 
er  das  Princip  bezuglich  der  Flote  nur  eben  im  Hinblick  auf 
Stellen  wie  die  im  Scherzo  formulirt  hat.  AUgemein  ist  es  gewiss 
nicht  richtig,  dass  die  Flote,  wo  sie  die  hochste  Stimme  hat,  das 
melodiesuchende     Gehor    anziehe.      Bezuglich    des    Anfanges    der 


416     §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  ziisammengesetzten  Klang 

8.  Symphonie,  wo  sie  gleichfalls  einen  das  Thema  entstellenden 
Gang  nimmt,  miisste  noch  der  Versuch  gemacht  werden,  ob  ein 
musikalisch  feinlioriges  Ohr  ohne  Kenntnis  der  Partitur  diese  Ab- 
weichung  wirklich  bemerken  kann.  Vielleicht  hat  sich  Beethoven 
doch  auch  bier  nicht  verrecbnet.  Anders  verhalt  sich  naturlich  die 
Sache,  sobald  man  durch  den  Anblick  der  Noten  von  solchen  Ab- 
weichungen  uuterrichtet  ist.  Im  Allgemeinen  gewinnt  man  doch 
gerade  durch  akustische  Erwagungen  vorstehender  Art  an  den 
letzten  Quartetten,  Sonaten  und  Orchesterwerken  die  tlberzeugung, 
dass  der  langst  Taubgewordene  die  Wirkungen  der  Klangraischungen 
sich  sehr  wol  vergegenwartigen  und  kunstvoll  berechnen  konnte^ 
Was  man  gemeinhin  in  dieser  Beziehung  auf  seine  Taubheit  schiebt 
(auch  weniger  woltuende  Zusammenklilnge,  wie  die  Verbindung  sehr 
hoher  und  sehr  tiefer  Tone  ohne  Mittelglieder),  scheint  mir  kiinst- 
lerisch  beabsichtigt.  Diese  Dinge  hat  aber  auch  R.  Wagnek  bei 
seinem  Ausspruch  nicht  im  Auge.  Und  dass  in  einzelnen  Fallen 
die  Berechnung  der  Klangwirkung  nach  blosser  Erinnerung  nicht 
vollkommen  gelang,  dass  Beethoven  unter  dem  unmittelbaren  Ein- 
druck  der  Instrumente  und  ihrer  Mischungen  hie  und  da  anders 
geschrieben  hatte,  ist  immerhin  moglich.  Verwischen  sich  doch  die 
Klangfarbenunterschiede  in  der  Erinnerung  besonders  leicht^),  und 
combinirt  doch  Beethoven  die  langst  nicht  mehr  gehorten  In- 
strumente jetzt  in  einem  Umfang  und  einer  Manichfaltigkeit,  wie 
nie  zuvor. 

§  26.  Intensitatsurteile  iiber  eineu  zusammengesetzten 
Klang  und  seine  Telle. 

1.  Urteile  iiber  das  Starkeverhaltnis  gleichzeitiger 
Tone. 

Wie  bei  aufeinanderfolgenden,  so  kann  bei  gleichzeitigen 
Tonen,  vorausgesetzt  dass  sie  von  einander  unterschieden  wer- 
den, zunachst  die  Frage  gestellt  werden:   „Sind  sie  an  Starke 

^)  Vgl.  I  159  (Henle);  Gurnet  Power  of  Sound  Ch.  Ill  §2,  Ch.  XII 
§  8;  und  meine  Bemerkungen  in  der  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  phil.  Kritik 
Bd.  89,  S.  45. 


und  seine  Teile.  417 

einander  gleich  oder  ungleich?"  Es  kann  so  ein  Intensi- 
tatsschwellenwert  ermittelt  werden  (nicht  zu  verwechseln 
mit  der  Intensitatsschwelle  beziiglich  der  Analyse  o.  220),  der 
voraussichtlich  nach  Individuen,  und  besonders  nach  Tonregionen 
und  nach  dem  Versclimelzungsgrad  wechseln,  jedenfalls  aber  im 
Allgemeinen  hoher  liegen  wird,  als  bei  Aufeinanderfolge  der 
Tone.  Es  wurden  dann  die  absoluten  Starken  zu  variiren  und 
die  WEBER'sche  Formel  audi  hier  zu  priifen  sein.  Doch  liegen 
noch  keine  Untersuchungen  vor. 

Sodann  kann  auch  hier  gefragt  werden:  jjWelcher  Ton 
ist  der  starkere?"  Versuchsreihen  Uber  die  Feinheit  dieses 
Urteils  wUrden  wiederum  zu  mancherlei  Schlussfolgerungen  dien- 
lich  sein. 

Auch  ohne  besondere  Versuche  lasst  sich  wenigstens  Ein 
Ergebnis  hier  aus  bekannten  Erfahrungen  ableiten.  Die  Ver- 
gleichung  gleichzeitiger  Tone  lehrt  noch  klarer  als  die  aufein- 
anderfolgender,  dass  die  hoheren  Tone  bei  gleicher  Reiz- 
starke  grossere  Empfindungsstarke  besitzen.  Die  winzige 
Pickelflote  iibertont  in  ihren  hohen  Lagen  in  der  viergestrichenen 
Octave  bequem  das  gesammte  Orchester,  selbst  das  Blech.  Ein 
einziger  guter  Solosopran  beherrscht  nicht  minder  Chor  und  Or- 
chester, sobald  seine  Tone  hoher  liegen.  Vgl.  etwa  den  Schluss 
von  Schumann's  Paradies  und  Peri,  auch  das  erste  Finale  seiner 
Faustscenen;  von  Opernarien  gar  nicht  zu  reden.  Weiss  sich 
doch  auch  ein  tiichtiges  Kanarienvogelchen  gegen  grossen  Larm 
geltend  zu  machen. 

Das  Heraushoren  kann  in  solchen  Fallen  nicht  etwa  aus 
der  blossen  Gewohnung,  auf  die  Hohe  zu  achten,  erklart  wer- 
den. Denn  diese  Gewohnheit  selbst  griindet  in  der  Praxis,  die 
Melodic  in  die  Hohe  zu  legen,  und  diese  wieder  hauptsachlich 
gerade  in  dem  genannten  Umstande.  Je  mehr  die  harmonische 
Musik  sich  entwickelte,  um  so  mehr  trat  diese  Notwendigkeit 
der  Hoherlegung  hervor.  Im  Altertum  lag  die  diirftige  Instru- 
mentalbegleitung  nach  Westphal  Uber  der  Singstimme.  Der 
Cantus  firmus  des  Mittelalters  lag,  als  die  Mehrstimmigkeit  im 
12.  Jahrhundert  aufkam,  ebenfalls  zunachst  unter  der  oder  den 

Stumpf,  Tonpsychologie.   II.  27 


418     §  26.  Intensitatsurteile  ilber  einen  zusammengesetzten  Klang 

hinzugesetzten  Stimmen^),  dann  zwischen  deiiselben  (Tenor 
von  Cantum  tenere).  Jetzt  geschieht  es  nur  eines  besonderen 
Effectes  halber,  wenn  die  Melodie  in  die  Mitte  oder  nach  unten 
verlegt  wird.  Bei  Bassgesangen ,  wo  die  Begleitung  notwendig 
zum  Teil  hoher  liegen  muss,  pflegt  diese  selbst  weniger  con- 
tinuirlich  zu  sein,  um  besonders  an  den  accentuirten  Stellen 
die  Stimme  nicht  zuzudecken. 

Ausser  der  Lage  waren  wieder  die  absoluten  Starken  zu 
variiren,  die  Zuverlassigkeitswerte  bei  der  genannten  Frage- 
stellung  zu  ermitteln  und  mit  der  WEBER'schen  Formel  zu 
vergleichen. 

Wenn  mehr  als  zwei  Tone  zusammenklingen  und  unter- 
schieden  werden,  so  konnten  auch  die  Starkedistanzen  ver- 
glichen  werden,  wie  bei  aufeinanderfolgenden  Tonen;  und  dies 
wiirde  sogar,  wie  dort,  die  directeste  Methode  fiir  die  Priifung 
des  FECHNER'schen  Gesetzes  sein. 

2.  Verandert  sich  die  Starke  eines  objectiv  gleich- 
bleibenden  Tones,  wenn  er  mit  anderen  zusammen  ge- 
hort  wird? 

Hieriiber  lassen  sich  einige  Beobacbtungen  anfubren,  welche 
meiner  Meinung  nach  dartun,  dass  der  Ton  im  isolirten  Zu- 
stande  starker  erscheint. 

Mach  erwahnt^),  dass  in  folgenden  Beispielen: 

1.  la.        2.  2a.  3.  3a. 


....^_s^.. 


h.    ^ 


1^=3: 


m^^m^^^^^^^. 


^  ]/  ^  I    V 

1  wie  la  klingt,  2  wie  2a,  3  wie  3a;  und  fUhrt  dies  darauf 
zuriick,   dass  die  Aufmerksamkeit  sich  accommodire  und  zwar 

')  .,Discantare  est  supra  tenorem  vel  tenores  voces  alias  simul  cum 
illis  proferre  voces  illis  concordantes."  Autor  bei  Coussemakee  Scriptores 
de  musica  medii  aevi  II  387. 

2)  Sitz.-Ber.  der  Wiener  Akad.  1865,  S.  202  („Bemerkungeii  uber 
die  Accommodation  des  Obres").  Einleitung  in  die  HELMHOLTz'sche  Musik- 
theorie  1867  S.  24  f.  Beitrage  zur  Analyse  der  Empfindungen  1886  S.  126. 
Das  Beispiel  4  nur  in  der  zweiten  unter  diesen  Publicationen. 


und  seine  Telle.  419 

allemal  demjenigen  Ton  sich  zuwende,  der  der  losgelassenen 
Taste  zunachst  liegt.  Derselbe  erklinge  dadurcb  mit  einer 
Deutlichkeit,  als  wenn  er  direct  angeschlagen  ware.  Doch  trete 
die  Verstarkung  des  Tones  merklich  nach  dem  Loslassen  der 
Taste  ein.     Beziiglich  des  Beispieles  4 

4.  4a.  4b.  4a.  4/?. 


iSiiiiliiglilipli 


sagt  Mach,  dass  es  auf  die  willkiirliche  Leitung  der  Aufmerk- 
samkeit  ankomme.  Jeuachdem  man  den  hoberen  oder  den  tie- 
feren  Klang  unter  den  beiden  iibrigbleibenden  zu  beacbten 
strebe,  klinge.  es  wie  4a  oder  wie  4b. 

Diese  Beobacbtungen  werden  Jedem  gelingen.  Am  Clavier 
beniitzt  man  am  Besten  tiefere  Tone  (der  grossen  oder  kleinen 
Octave),  weil  sie  langer  fortklingen.  Man  kann  dann  mit  je 
zwei  Tonen  die  Beobachtung  macben,  dass  das  Aufboren  des 
einen  den  anderen  ein  wenig  verstarkt,  besonders,  wie  mir 
scbeint,  das  Aufboren  des  tieferen  den  boheren  ^).    Die  Mach- 

^)  Octaven  iind  Duodecimen  sind  jedoch  aus  einem  besonderen 
Grunde  hier  nicht  beweiskraftig,  obgleich  gerade  bei  der  Octave  die 
Verstarliung  des  lioheren  Tones  wahrend  der  Pausen  des  tieferen  be- 
sonders auffallend  ist.  Es  wird  namlich  durch  das  Anschlagen  des  tie- 
feren Tones  hier  der  hohere  jedesmal  schon  physikalisch  (durch  Mit- 
klingen)  verstarkt,  was  auch  nachwirkt,  wenn  die  tiefere  Taste  sogleich 
wieder  losgelassen  wird. 

Man  kann  auf  solche  Art  auch  den  ersten  gemeinsamen  Oberton 
zweier  Tone  momentan  bedeutend  verstarken,  indem  man  die  eine  der 
beiden  Tasten  abwechselnd  anschlagt  und  wieder  loslasst.  In  den  Pau- 
sen tritt  der  Oberton  immer  ungewohnlich  stark  hervor,  z.  B.  bei  C  und 
G  das  g.  Auch  diese  Beobachtung,  die  mich  zuerst  in  Verwunderung 
setzte,  bis  ich  die  einfache  Erklarung  fand,  hat  bereits  Mach  beschrie- 
ben  und  richtig  gedeutet  (Einleitung  30).  Man  braucht  den  einen  Ton 
nicht  einmal  wirklich  erklingen  zu  lassen,  sondern  nur  die  Taste  nieder- 
zuhalten,  sodass  die  Saite  schwingungsfahig  wird:  der  Oberton  tritt  dann 
gleichwol  in  den  Pausen  des  anderen  Tones,  wahrend  also  k  einer  der 
beiden  Primartone  klingt,  hervor. 

Man  sieht  hieraus,  auf  wievielerlei  Umstande  bei  solchen  Intensitats- 
versuchen  zu  achteu  ist. 

27* 


420     §  26.  Intensitatsurteile  tiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

schen  Notirungen  unter  2a,  3a,  4a  und  4b  diirfen  ubrigens 
natiirlicb  nicht  so  verstanclen  werdeu,  als  horte  man  die  Noten 
von  langerer  Dauer  nicbt,  wabrend  die  anderen  bervortreten. 
Mach  bat  die  Scbreibweise  nur  gewablt,  um  recbt  deutlicb  den 
Eindruck  der  successiven  Verstarkung  zu  veranscbaulicben.  Docb 
liesse  sicb  unbescbadet  dieses  Zweckes  z.  B.  4  a  und  4  b  wol 
besser  so  scbreiben  wie  es  in  4a  und  4/3  gescbeben  ist. 

Wabrend  icb  nun  in  Bezug  auf  die  Tatsacben  Mach  voll- 
kommen  zustimme,  scbeint  mir  seine  Auffassung  derselben  nicbt 
ganz  die  ricbtige.  Icb  meine,  dass  bier  nicbt  eine  Wirkung 
der  Aufmerksamkeit  vorliegt,  sondern  dass  vielmebr  die  Zu- 
wendung  der  Aufmerksamkeit,  wo  sie  nicbt  gerade  willklirlich 
oder  nicbt  bereits  vorber  auf  den  beziiglicben  Ton  gericbtet 
ist,  eine  Folge  der  Verstarkung  ist,  die  Verstarkung  selbst  aber 
die  directe  Folge  des  Hinwegfalles  der  einen  Tonem- 
p  fin  dung.  Die  gleicbzeitigen  Tonempfindungen  oder  besser 
die  gleicbzeitigen  Erregungen  des  Nervus  acusticus  tun  sicb 
gegenseitig  einen  Abbrucb.  Das  Mitklingen  eines  anderen  lasst 
einen  Ton  nicbt  in  der  vollen  der  Reizstarke  sonst  entspre- 
cbenden  Intensitat  zur  Empfindung  kommen. 

Die  Ricbtigkeit  dieser  Deutung  scbeint  mir  daraus  bervor- 
zugeben,  dass  man  die  Erscbeinung  besonders  deutlicb  wabr- 
nimmt,  wenn  man  die  Aufmerksamkeit  von  vornberein  auf  den 
nacbber  iibrigbleibenden  Ton  (bez.  bei  mebreren  iibrigbleibenden 
auf  einen  derselben)  gericbtet  bait.  Icb  bin  ja  nicbt  gezwungen, 
mit  der  Zuwendung  meiner  Aufmerksamkeit  beispielsweise  an 
den  Ton  h^  im  Beispiel  2  zu  warten,  bis  e^  wegfallt.  Was 
also  die  Aufmerksamkeit  etwa  an  Verstarkung  eines  Tones 
leisten  kann,  kann  bezUglicb  h^  scbon  vorber  geleistet  sein. 
Dessenungeacbtet  lasst  sicb  gerade  dann  der  Starkezuwacbs 
beim  Wegfall  von  e^  recbt  deutlicb  wabrnebmen.  Was  das  Bei- 
spiel 4  angebt,  so  scbeint  mir  aucb  da  eine  andere  Auslegung 
ricbtig.  Durcb  den  Wegfall  des  g^  werdeu  beide  iibrigblei- 
bende  Tone  verstarkt;  aber  wenn  man  den  einen  vorzugsweise 
beacbtet,  beacbtet  man  natiirlicb  aucb  vorzugsweise  seine  Ver- 
starkung.    Es  ist  ebenso  bei  2  und  3. 


und  seine  Teile.  421 

Zu  untersuchen  ware  nun  weiter,  ob  diese  gegenseitige 
Schwachung  hohe  und  tiefe  Tone  in  gleichem  Masse  trifft. 
Manches  scheint  dafiir  zu  sprechen,  dass  tiefere  woniger  durch 
hohere  benachteiligt  werden  als  umgekehrt  (o.  229). 

Auch  ware  das  Starkeverhaltnis  zu  variiren,  und  zu  fragen, 
ob  dann  etwa  jeder  Ton  im  geraden  oder  umgekehrten  oder 
einem  sonstigen  Verhaltnis  zu  seiner  Starke  beeintrachtigt  wird. 
Die  erhebliche  Schwachung  der  Obertone  scheint  darauf  hin- 
zudeuten,  dass  schwachere  mehr  leiden  als  starkere;  obschon 
auch  hier  andere  Umstande  mit  in  Betracht  kommen  (o.  231  f.). 

Die  0. 384  f.  erwahuten  Versuche,  welche  beweisen,  dass  dem 
Ganzen  die  Hohe  des  tieferen  Tones  zugeschrieben  wird,  sind 
auch  fiir  diese  Fragen  lehrreich.  Man  lasse  z.  B.  eine  c'-  und 
eine /"^-Gabel  auf  Resonanzkasten  zugleich  tonen  und  dampfe  dann 
eine  der  beiden.  Auch  ohne  abgestimmte  Resonanzkasten  kann 
man  zwei  frei  angeschlagene  Gabeln  auf  Einen  Kasten  setzen 
und  die  eine  dann  wegnehmen.  Besonders  beim  Wegfall  der 
tieferen  Gabel  bemerkt  man  einen  Ruck,  eine  Art  von  Uber- 
schnappen.  Dieser  Eindruck  setzt  sich  zusamnien  aus  dem  ver- 
anderten  Klanghohenurteil  und  aus  der  Verstarkung  des  iibrig- 
bleibenden  Tones.  Beim  Wegfall  der  hoheren  findet  nur  die  Ver- 
starkung statt,  aber  auch  diese,  scheint  es,  in  geringerem  Masse. 
Es  scheint  sich  also  auch  hiebei  zu  bestatigen,  dass  der  tiefere 
Ton  dem  hoheren  mehr  entzieht  als  umgekehrt. 

Aus  der  Musik  ist  iiber  regelmassige  Verstarkung  beim 
Wegfall  und  iiber  Schwachung  beim  Hinzutritt  anderer  Tone 
kaum  Etwas  bekannt.  Die  Verstarkung  und  Schwachung  sind  zu 
gering,  um  bemerkt  zu  werden,  wenn  die  Aufmerksamkeit  auf 
die  Melodic,  Harmonic,  Modulation,  kurz  auf  das  musikalisch 
Wesentlichere  gerichtet  ist.  Auch  wird  der  Starkeverlust  des 
einzelnen  Tons  durch  den  Eindruck  grosserer  Fiille  gewisser- 
massen  compensirt,  wenngleich  diese,  wic  wir  noch  genauer 
zeigen  werden,  keineswegs  mit  grosserer  Starke  verwechselt 
werden  darf.  Endlich  ist  denkbar,  dass  gute  Spieler  und  Sanger 
unwillkiirlich  durch  eine  wenig  starkere  Tongebung  nachhelfeii, 
wenn  neue  gleichzeitige  Tone  dazukommen   und  ea  in  der  In- 


422     §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

tention  des  Stiickes  liegt,  dass  ihr  Part  gleichstark  horbar  wie 
vorher  bleiben  soil. 

Zwei  Stellen  in  Schumann's  ersten  Clavierwerken  bieten 
indessen  musikalische  Seitenstiicke  zu  Mach's  Versuchen;  die 
erste  steht  in  den  „Variationen  iiber  den  Namen  Abegg"  op.  1, 
die  zweite  in  den  „Papillons"  op.  2  (Schluss). 


^^^-%Ef=f 


ill 


Fed. 


t=l- 


SiS 


Die  Accente  im  ersten  Beispiel  bat  Schumann  so  hingeschrieben, 
obgleicb  sie  der  Spieler  bei  liegenbleibender  Taste  unmoglich 
ausfiibren  kann  ^).  Aber  es  kommt  durcb  den  Wegfall  je  eines 
Tons  von  selbst  eiue  leicbte  Verstarkung.  Moglich  dass  Schu- 
mann daran  gedacht  hat.  Nur  der  letzte  Accent  allerdings  bat 
keinen  Sinn  fiir  den  Horer  und  ist,  wie  Manches  in  Schumann's 
iibermiitigen  Jugendwerken,  nur  fiir's  Auge  und  fiir  das  geistige 
Ohr  des  Spielers  hingesetzt. 

Damit  kein  Misverstandnis  platzgreifen  kann,  sei  noch  be- 
merkt,  dass  Das,  was  wir  als  gegenseitige  Scbwachung  von  Tonen 
oder  genauer  von  akustischen  Nervenprocessen  bezeicbnen,  ebenso 
wie  die  „Verscbmelzung"  der  Tone  nicht  als  ein  Process  auf- 

^)  hochstens  Einmal  durcli  plotzliche  Unterbrechung  und  Wieder- 
aufhebung  des  Pedals,  das  aber  hier  ausdriicklich  erst  bei  der  letzten 
Note  vorgeschrieben  ist,  wo  es  fiir  diesen  Zweck  Nichts  mehr  niitzt. 


und  seine  Telle.  423 

zufassen  ist,  dessen  Abwickelung  noch  io  der  Empfindung  irgend- 
wie  beobachtet  werden  konnte,  sondern  als  ein  fertig  gegebenes 
Verhaltiiis.  Wir  wollen  nur  die  Tatsache  aussprechen,  dass  der 
namliche  Ton  bei  unveranderter  Reizstarke  schwacher  empfunden 
wird,  wenn  er  mit  anderen  zusammenklingt.  tlber  den  physio- 
logischen  Hergang  der  Sache  kann  man  sich  einstweilen  noch 
verschiedene  Gedanken  machen. 

Im  Gegensatz  dazu  steht  das  Zusammenwirken  mehrerer 
akustischer  Nervenprocesse  benachbarter  Fasern  zu  Einem  Ton, 
wie  es  ja  die  Consequenz  der  Lehre  von  der  Schneckenclaviatur 
ist  (o.  111).  Hiebei  muss  natUrlich  der  Ton  um  so  starker  sein, 
durch  je  mehr  Nervenfasern  die  namliche  specifische  Energie 
gleichzeitig  ausgelost  wird^). 

Die  obige  Behauptung  soil  sich  auch  nicht  auf  den  Eall 
beziehen  (den  wir  weiter  unten  besonders  besprechen),  dass 
zwei  gleichzeitige  Tone  verschiedenen  Ohren,  dem  rechten  und 
linken,  angehoren. 

3.  Macht  ein  Tonganzes  einen  starkeren  Eindruck 
als  jedes  seiner  Teile? 

Wenn  es  richtig  ist  (wie  wir  dies  seit  den  Erorterungen 
der  §§16  und  17  festhalten),  dass  wir  beim  Dreiklang  drei  Tone 
und  nicht  einen  einzigen  einheitlichen  Ton  horen,  so  gibt  es 
folgerecht  keine  Intensitat  eines  Dreiklangs,  Uberhaupt  eines 
Zusammenklanges,  sondern  nur  eine  Intensitat  jedes  seiner  ein- 
zelnen  Tone;  ebenso  wie  ein  Zusammenklang  keine  Hohe  hat, 
sondern  nur  der  einzelne  Ton.  Aber  es  kann  ihm  gleichwol 
in  der  Auffassung  ebenso  eine  gewisse  Starke  wie  eine  Hohe 
zugeschrieben  werden,  und  dies  sowol  im  Fall  der  Analyse  wie 
der  Nichtanalyse.   Wem  der  Dreiklang  einheitlich  erscheint,  dem 


^)  G.  E.  MtJLLEE  verteidigt  in  seiner  Schrift  iiber  die  sinnliche 
Aufmerksamkeit  (S.  71 — 77)  die  These,  dass  alle  gleichzeitigen  Empfin- 
dungen,  ja  auch  die  nicht  zur  Empfindung  kommenden  Nervenerregungen, 
einander  Abbruch  tun,  besonders  aber  diejenigen,  welche  gewohnlich 
eine  gemeinsame  physiologische  Resultante  bilden.  Gerade  dies  Letztere 
wiirde  ich  nicht  zugeben,  unterlasse  aber  nicht,  die  Ubereinstimmung 
im  Ubrigen  hervorzuheben. 


424     §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  znsammengesetzten  Klang 

scheint  er  natiirlich  auch  eine  einheitliche  Starke  zu  haben. 
Aber  auch  wer  ihn  zergliedert  wahrnimmt,  wird  zuweilen  und 
in  gewissem  Sinne  von  einem  starkeren,  schwacberen  Zusammen- 
klang  reden.  Wenn  die  Teile  gleicbe  Starke  baben,  wird  diese 
Starke  als  die  des  Ganzen  gelten,  bei  ungleicber  Starke  wird 
der  starkste  Teil  als  Trager  der  Klangstarke  aufgefasst  werden. 
So  nennen  wir  aucb  ein  Gemalde  beller  bei  Tage  als  in  der 
Dammerung,  oder  beller  als  ein  anderes  Gemalde.  Wer  den 
Farben  iiberbaupt  keine  eigentlicbe  Intensitat  zuerkennen  will, 
mag  an  die  Temperatur  eines  Vollbades  denken.  Wenn  man 
bineinsteigt,  empfindet  man  an  verscbiedenen  Korperteilen  ver- 
scbiedene  Warmegrade,  je  nacb  dem  Gegensatz,  in  welcbem  die 
augenblicklicbe  Eigentemperatur  eines  jeden  zu  derjenigen  des 
Wassers  stebt.  Man  scbatzt  trotzdem  das  eine  Bad  im  Ganzen 
als  warmer  oder  kiibler  gegeniiber  einem  anderen.  Ein  solcbes 
Collectivurteil,  wie  man's  nennen  konnte,  braucbt  nicbt  erst  aus 
einer  zergliedernden  Gegeuiiberstellung  der  Teile  bervorzugeben, 
sondern  kniipft  sicb  scbon  an  den  ersten  Gesammteindruck. 
Besonders  massgebend  wird  dabei  allerdings  die  Starke  der 
starksten  Teilempfindung  sein.  Leicbter  und  bestimmter  tritt 
natiirlicb  das  Urteil  ein,  weim  die  iibrigen  Umstande  in  zwei 
zu  vergleicbenden  Fallen  moglicbst  unverandert  bleiben  (die 
Qualitat  der  Farben  und  ibre  Verteilung  auf  der  Flacbe,  die 
Hobe  und  Anzabl  der  Tone  eines  Zusammenklangs);  docb  ist 
aucb  bei  einer  Veranderung  derselben,  wie  wir  beziiglicb  der 
Bilder  scbon  angedeutet  baben,  eine  Starkevergleicbung  nicbt 
notwendig  ausgescblossen.  Es  scbeint  mir  sogar,  um  dies  neben- 
bei  zu  bemerken,  dass  man  unter  Umstauden  die  Intensitat 
eines  Empfindungsganzen,  welcbes  aus  Empfindungen  verscbie- 
dener  Sinne  zusammengesetzt  ist,  gegen  die  eines  anderen  eben- 
falls  zusainmengesetzten  abscbatzt.  Man  scbatzt  die  Gesammt- 
erregung  in  einem  Augenblick  grosser  oder  geringer  als  in 
einem  anderen. 

Wir  konnen  daber  der  oben  gestellten  Frage  von  jedem 
Standpunct  aus  einen  Sinn  beilegen  und  sie  dem  Versucb  unter- 
werfen.    Es  wird  dieser  Versucb  und  sein  Ergebnis  gerade  ein 


und  seine  Teile.  425 

neues  Mittel  zur  Priifung  der  Principienfrage  selbst  abg,eben, 
ob  mebrere  oder  ob  nur  Ein  Ton  in  der  Empfindung  vor- 
handen  ist.  Wenn  mehrere,  so  kann  ein  Zusammenklang  bei 
genauer  Beobacbtung  nicht  starker  gescbatzt  werden  als  der 
starkste  Teil.  Wenn  dagegen  die  mebreren  objectiven  Tone 
sich  subjectiv  zu  Einer  Empfindung  vermiscben,  so  muss  die 
Starke  dieses  empfundenen  Tones  mit  jedem  neuen  objectiven 
Ton  wacbsen.  (Fiir  die  Hypotbese  des  Wettstreites  wiirde  sicb 
ebenfalls  die  erstere  Consequenz  ergeben:  daher  wiirde  der 
Versucb  zwiscben  ibr  und  der  Mebrbeitsansicbt  nicbt  ent- 
scheiden.) 

Stellen  wir  den  Versucb  zunacbst  so  an,  dass  wir  einen 
Ton  isolirt  und  dann  obne  Veranderung  seiner  Reizstarke  mit 
anderen  Tonen  zusammen  angeben,  z.  B.  auf  dem  Clavier: 


_S!_K|_5_-|_B| -^_ 

-0-     -»■    -0-     -0-     -0-     -0- 


po  sempre 


=ijz::l^=:]z:1: 


-d—^—^—^—Ti--i- 


zzl=:^z:::li=il: 


^_j_^_^_^_^ 


:jz::t=:j=:ti:l=zt: 


-^—^—t—T^—^—Ti- 


wobei  also  sorgfaltig  darauf  zu  acbten  ist,  dass  die  Basstaste 
immer  mit  gleicber  Starke  angescblagen  wird.  Icb  babe  den 
Fall  guten  Musikern  ebenso  wie  Nichtmusikern  vorgelegt  und 
einstimmig  die  Antwort  erbalten,  dass  eine  eigentlicbe  Ver- 
starkung  des  Eindrucks  nicbt  stattfinde.  Er  werde  reicber, 
voller,  aber  nicbt  kraftiger.  Besonders  klar  wird  dies,  wenn 
man  den  Eindruck  dagegen  bait,  den  wirklicbo  Verstarkung 
eines  einzelnen  Tones  macbt,  wie  wenn  wir  in  obigem  Beispiel 
den  Discant  weglassen  und  den  Bass  dafiir  im  2.  Tacte  forte 
angeben.  Niemand  wird  bebaupten  wollen,  dass  der  2.  Tact 
dann  in  Hinsicbt  der  Starke  einen  abnlicben  Eindruck  macbt, 
wie  im  vorberigen  Fall. 

"Wir  diirfen  dieses  Sinnesurteil  daber  unbedenklicb  als  der 
Wabrbeit  entsprecbend  annebmen,  das  beisst:  Das  Hinzu- 
kommen   anderer,   selbst   einer  grossen  Zabl   anderer, 


426     §  26.  Intensitatsurteile  tiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

Tone  bedingt  keine  Verstarkung  des  Empfindungs- 
ganzen. 

Nach  dem  Vorangehenden  (2.)  miissen  wir  sogar  fiir  den 
Basston  eine  geringe  Abschwachung  beim  Hinzutritt  der  iibrigen 
erwarten,  und  man  wird  sie  bei  genauem  Hinhoren  auf  diesen 
einzelnen  Ton  auch  bemerken.  Aber  das  Ganze  wird  nicht 
geradezu  als  scbwacher  beurteilt  im  zweiten  gegeniiber  dem 
ersten  Tacte,  da  die  Aufmerksamkeit  hiebei  voraussetzungs- 
gemass  eben  nicht  auf  den  Bass  concentrirt  bleiben,  sondern 
auf  das  Ganze  als  solches  gerichtet  werden  soil,  mag  es  analy- 
sirt  oder  unanalysirt  wabrgenommen  werden.  In  Folge  dessen 
entgeht  uns  die  geringe  Abschwachung. 

Wegen  der  Wichtigkeit  der  Sache  will  ich  im  Folgenden 
einige  Einwendungen  besprechen,  die  vielleicht  noch  gegen 
unsre  Behauptung  gerichtet  werden  und  Manchen  verhindern 
konnten,  derselben  sogleieh  beizustimmen.  Man  wird  erstlich 
sagen,  ein  Orchester  klinge  doch  starker  als  ein  einzelnes  In- 
strument. Zweitens,  wenn  sechs  lustrumente  bald  in  verschie- 
denen  Tonen,  bald  im  Unisono  spielen,  so  erscheine  die  Starke 
des  Gesammteindrucks  nicht  wesentlich  verandert,  wahrend  sie 
nach  unsrer  Behauptung  beim  Unisono  stets  erheblich  wachsen 
miisste.  Speciell  die  Hinzufiigung  der  Octave  gelte  allgemein 
auch  als  Verstarkung.  Man  betrachte  es  als  im  Wesentlichen 
gleich  wirksam,  wenn  zu  50  Sangern  50  andere  in  der  Octave 
und  wenn  sie  im  wirklichen  Unisono  hinzutreten. 

Dass  nun  kein  wesentlicher  Unterschied  sei,  wenn  sechs 
Instrumente  gelegentlich  wahrend  des  Stiickes  auf  Einem  Ton 
zusammentreffen,  ist  einfach  unrichtig.  Freilich  darf  man  nicht 
die  sechsfache  Starke  erwarten;  das  FECHNEE'sche  Gesetz  gibt 
die  Kegel. 

Beim  Hinzutreten  der  Octave  hilte  man  sich,  grossere  Fiille 
oder  grossere  Scharfe  (Helligkeit)  mit  grosserer  Starke  zu  ver- 
wechseln;  was  hier  besonders  nahe  liegt,  weil  Octaven  musika- 
lisch  gewissermassen  als  Ein  Ton  gelten,  oft  auch  wirklich  nicht 
auseinandergehalten  werden.  Sodann  achte  man  genau  darauf, 
ob  nicht  der  hohere  Ton,  wenn  dieser  der  hinzukommende  ist, 


und  seine  Teile.  427 

schon  an  sicli  starker  ist  als  der  tiefere.  Ferner  lasse  man 
sich  nicht  durch  den  Umstand,  dass  jetzt  mehr  Stimmen  oder 
Instrumente  zusammenwirken,  im  Urteil  beeinflussen.  Wenn 
man  dann  in  gewissen  Fallen  gleichwol  eine  geringe  Verstar- 
kung  bemerkt,  so  riihrt  sie  vom  Differenzton  her,  welcher 
mit  dem  tieferen  Octaventon  zusammenfallt,  und  vom  ersten 
Oberton  des  tieferen  Tones,  der  mit  dem  hoheren  Octaventon 
zusammenfallt;  wodurch  denn  freilich  eine  leichte  Verstarkung 
beider,  aber  nicht  durch  verschiedene,  sondern  durch  gleiche 
Tone  eintritt.  Abgesehen  davon  aber  wird  man  keine  wirkliche 
Verstarkung  bei  der  „Verdoppelung"  in  der  Octave  beobachten, 
ganz  anders  als  beim  Unisono.  Gleich  oder  ahnlich  wirksam 
konnen  beide  immerhin  unter  Umstanden  sein,  namlich  in  Hin- 
sicht  ihrer  asthetischen  Wirkung. 

Aus  den  eben  angefiihrten  Umstanden  erklart  sich  u.  A, 
die  Verstarkung  des  hoheren  wie  des  tieferen  Tones,  welche 
Ohm's  Freund  (o.  240 — 1)  bei  Octaven  auf  der  Violine  beob- 
achtete,  und  zugleich  begreift  sich,  warum  diese  Verstarkung  bei 
Unreinheit  des  Intervalls  sowie  bei  anderen  Klangfarben  und 
sonstigen  Umstanden,  die  auf  Differenz-  und  Obertone  Einfluss 
haben,  nicht  oder  nicht  in  gleichem  Masse  beobachtet  wurde. 

Was  den  Fall  des  Orchesters  betrifft,  so  ist  vor  Allem  zu 
bedenken,  dass  ein  Teil  der  Instrumente  Unisono  spielen.  So 
muss  uatUrlich  grossere  Starke  herauskommen  als  bei  Einem 
Instrument.  Ferner  schatzt  man  die  Starke  des  Gesammtein- 
drucks  nach  dem  starksten  Teil;  sodass  wiederum  natUrlicher- 
weise  Ein  Instrument  schwacher  erscheint,  wenn  es  nicht  gerade 
selbst  dieses  starkste  im  Ganzen  ist.  Beseitigt  man  jegliches 
Unisono  (auch  innerhalb  Finer  Stimme)  und  vergleicht  man 
dann  den  Gesammteindruck  mit  dem  des  starksten  Instrumentes 
fiir  sich  allein,  so  zweifle  ich  nicht,  dass  man  nurmehr  einen 
Unterschied  der  Fiille,  nicht  einen  der  Starke  finden  wird. 
Auch  sind  die  aus  der  Orchestermusik  erinnerlichen  Falle  fiir 
unsren  Zweck  vielfach  schon  darum  ungenau,  weil  die  Spieler 
beim  Ensemble  und  besonders  bei  polyphonen  StUcken  leicht 
starker  spielen  als  wenn  sie  allein  zu  spielen  batten,  um  ihrc 


428     §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

Stimme  neben  den  iibrigen  zur  Geltung  zu  bringen;  ferner 
weil  in  der  Kegel  bei  zunehmender  Stimmenzahl  zugleich  ein 
Crescendo  in  der  Tongebung  vorgescbrieben  oder  vorausgesetzt 
ist,  aucb  wol  die  hinzukommenden  Instrumente  an  sicb  starker 
sind  als  die  frliberen  (man  beginnt  eine  Steigerung  nicbt  mit 
der  Posaune,  urn  etwa  die  Viola  als  letzten  Trumpf  dazuzu- 
fiigen). 

Bei  Vermehrung  von  Tonen,  die  an  sicb  schon  stark  sind, 
darf  man  aucb  nicbt  iiberseben,  dass  Nebenwirkungen  auf  den 
Tastsinn  damit  verbunden  sein  konnen,  in  deuen  sicb  dann 
allerdings  die  verscbiedenen  Tone  zu  gemeinsamer,  also  star- 
kerer  Wirkung  vereinigen,  obne  dass  docb  die  Tonstarke  selbst 
wiichse  ^). 

Ich  habe  in  verschiedenen  Fallen  bei  guten  Auffiihrungen  be- 
sonders  auch  auf  diesen  Fragepunct  geachtet.  Was  die  Octaven  be- 
trifft,  so  gebraucht  z.  B.  Mendelssohn  in  der  ^-raoll-Symphonie 
(Orig.-Part.  Breitkopf  149  f.)  Verdreifachung  in  der  Octave  beim 
Piano.  In  Beahms'  Requiem  II.  Satz  beginnt  das  ganze  Orchester  fo 
imd  verbleibt  dabei  langere  Zeit  mitsammt  dem  Chor.  Der  Ein- 
druck  hat  nicht  die  mindeste  Verwaudtschaft  mit  dem  einer  einzigeu 
Trompete  im  Forte.  Und  wenn  dann  wirklich  das  Forte  eintritt 
(„Denn  alles  Fleisch"),  so  ist  es  mir  vollkommen  deutlich,  dass  die 
Posaune  die  namliche  Starke  hat,  wie  das  Ganze,  innerhalb  dessen 
ich  sie  hore,  und  dass  dieses  Ganze  nicht  starker  ist  als  wenn  ich 
die  Posaune  allein  horte.  Aber  es  begreift  sich  leicht,  dass  das 
Ganze    fiir  Jemand,    der    es    nicht  analysirt,    beim  Hinzutritt    der 


')  Nebenbei  beraerkt,  darf  man  auch  schon  physikalisch  die  Ampli- 
tude einer  aus  zwei  Sinuswelleu  von  ungleicher  Lange  zusammengesetzten 
Welle  nicht  etwa  gleich  der  Summe  der  einzelnen  Amplituden  setzen. 
Sie  ist  stets  kleiner  als  diese  Summe  und  weicht  bei  gleicher  Amplitude 
der  Primarwellen  um  so  mehr  von  der  Summe  ab,  je  mehr  die  Wellen- 
langen  von  einander  abweichen.  Eine  allgemeine  Formel  dafiir  besitzen 
wir  nicht.  Fur  den  Fall  der  Octave  habe  ich  durch  Annaherung  (Auf- 
suchung  des  Punctes  der  Abscisse,  fiir  welchen  cost  =  — 2  cos  2 1,  von 
beiden  Seiten  her)  ausgerechnet,  dass,  wenn  beide  einfache  Wellen  die 
gleiche  Amplitude  1  haben,  die  Amplitude  der  zusammengesetzten  Welle 
1,7601725  . . .  betragt  und  zwischen  53°  37'  297^  und  ^V'  Hegt. 


und  seine  Teile.  429 

Posaune  starker  zu  werden  scheint.  Bei  einer  Auffiihrung  der 
9.  Symphonie  Beethoven's  im  Leipziger  Gewandhaus  bemerkte  ich 
Seite  20 — 22  der  Partitur  (Petees)  nur  in  dem  Moment  eine  ge- 
ringe  Verstarkung,  wo  die  Basshorner  und  die  beiden  Fagotte  dazu- 
treteu,  was  teils  ihre  an  sich  grossere  Starke,  teils  der  Umstand 
bewirkt,  dass  einer  der  Tone  schon  vertreten  ist  (a  im  Cello). 
Analog  S.  68  f.,  S.  81.  Auch  Mendelssohn's  Ouverture  zum  Sommer- 
nachtstraum  ist  hier  wieder  lehrreich.  (Ich  citire  dieses  geniale 
Werk  mit  Vorliebe;  es  ist  auch  in  rein  akustischer  Hinsicht  eine 
wahre  Fundgrube.)  Zu  den  anfanglichen  zwei  Floten  treten  Oboen 
und  andere  Instrumente,  ohne  dass  das  Piano  wesentlich  alterirt 
wurde.  Was  etwa  an  Starke  hinzukommt,  stammt  wieder  von  der 
grosseren  Schallkraft  der  neuen  Instrumente  (Fagotte,  Horner)  auch 
schon  im  isolirten  Zustand.  Doch  ich  fiirchte,  Sachverstandigen 
Trivialitaten  zu  sagen. 

Fur  Diese  sind  gerade  Ausnahmefalle  interessanter.  So  konnte 
man  sogleich  Stellen  wie  den  Anfang  des  Hochzeitsmarsches  in  dem- 
selben  Werke  entgegenhalten,  wo  zuerst  drei  Trompeten  unisono, 
dann  nur  zwei  unisono,  eine  aber  in  der  Terz,  dann  alle  drei  in 
verschiedenen  Tonen  (Dreiklang)  blasen.  Man  mtisste  erwarten, 
dass  nach  unseren  Principien  der  Gesammteindruck  hier  zuerst  am 
starksten,  zuletzt  am  schwachsten  ware,  wahrend  entschieden  eine 
Steigerung  bemerkbar  und  auch  beabsichtigt  ist.  Indessen  eine  ge- 
wisse,  wenn  auch  nicht  intensive,  Steigerung  liegt  schon  in  der 
Vermehrung  der  Stimmenzahl  und  in  der  aufsteigenden  Dreiklangs- 
melodie.  Ausserdem  blasen  vielleicht  die  Trompeter  unwillkiirlich 
entsprechend  starker.  Aber  ich  konnte  mir  auch  denken,  dass 
Mendelssohn,  der  sich  gut  auf  dynamische  Effecte  verstand, 
geradezu  die  leichte  Tonschwachung,  die  doch  wegen  der  sonstigen 
Steigerungen  nicht  bemerkt  wird,  benutzt,  um  dann  das  gesammte 
Orchester  mit  der  brillanten  Dissonanz  um  so  raachtiger  aufs  Ohr 
fallen  zu  lassen.  Bei  der  Wiederholung,  wo  dieser  Effect  ja  nicht 
mehr  so  vollwirksam  sein  kann,  hat  er  ein  Crescendo  fiir  die  Trom- 
peten hingeschrieben. 

Ich  will  hier  noch  einen  Fall  anschliessen,  wo  selbst  ein  guter 
Akustiker  Verstarkung  behauptete.  Der  Prager  Orgelbauer  Schipfner 


430     §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  zusaramengesetztea  Klang 

zeigte  mir  eine  Pfeifenreihe ,  welche  das  C  mit  seinen  Obertonen 
bis  zum  7.  Teilton  einschliesslich  gab  und  durch  gemeinscliaftlicbes 
Geblase  zum  Tonen  gebracbt  werden  konnte.  Ihm  schien  nun  bie- 
bei  das  C  starker  zu  werden  als  beira  isolirten  Ertonen,  mir  hin- 
gegen  schwacher.  Es  diirfte  in  der  Tat  schon  pbysikalisch  schwacher 
geworden  sein,  da  sich  der  Wind  auf  die  vielen  Pfeifen  verteilen 
musste,  abgeseben  von  der  physiologiscben  Scbwacbung,  die  wir  be- 
haupten.  Aber  Schipfner  hatte  sicb  formlicb  daran  gewohnt,  den 
Klang  als  Einbeit  aufzufassen,  weil  er  sich  den  Apparat  zu  Ver- 
suchen  iiber  Orgelmixturen  gebaut  hatte.  So  fasste  er  das  Ganze 
als  C  von  scharferer  Klangfarbe  und  mochte  es  um  der  grdsseren 
Scharfe  willen  starker  taxiren. 

Der  Fall  war  mir  auch  darum  iuteressant,  weil  er  ausnahms- 
weise  sich  jener  alteren  HELivraoLTz'schen  Theorie  der  Analyse 
fugt,  wonach  fortschreitende  Erfahrung  in  Klangwabrnehmungen 
imraer  grossere  Schwierigkeit  des  Analysirens  bedingen  musste 
(o.  71).  Aber  liier  war  eben  eine  besondere  Intention  des  Horenden 
massgebend. 

Vielleicht  wird  uns  auch  entgegengehalten,  dass  es  hienach 
beim  Rufen  Nichts  helfen  wurde,  gleichzeitig  zu  Zweien  oder  Dreien 
zu  rufen,  ausser  wenn  man  genau  in  der  gleichen  Tonhohe  riefe. 
Aber  das  ist  auch  nicht  fiir  alle  Falle  ausgemacht.  Wo  es  hilft, 
beruht  dies  vielleicht  darauf,  dass  verschieden  hohe  Tone  sich  un- 
gleich  fortpflanzen  und  so  die  Chancen  fiir  den  Horer  vermehrt 
werden  (I  208).  Auch  kann  die  Aufmerksamkeit  des  Horers  ein- 
mal  leichter  durch  hohere,  ein  anderesmal  durch  tiefere  Tone  er- 
regt  werden,  je  nach  der  augenblicklichen  zufalligen  Richtung  der 
Aufmerksamkeit;  und  so  wird  auch  darum  die  Vereinigung  vorteil- 
haft  sein.  . 

4.  Dieselben  Fragen  bei  Verteilung  der  Tone  an 
beide  Ohren. 

Wir  setzten  bisher  voraus,  dass  die  melirereu  Tone  ent- 
weder  nur  von  Einem  Ohr  oder  gleichmassig  von  beiden  zu- 
gleich  gehort  werden.  Es  konnen  aber  die  nanalichen  Fragen  — 
„Bei  welcher  Starkedifferenz  scbeinen  die  Tone  noch  gleich  stark? 
Bei  welcher  wird   der  starkere    als  solcher  erkannt?     Scheint 


and  seine  Telle.  43]^ 

sich  die  Starke  eines  Tons  durch  einen  hinzutretenden  zu  ver- 
andern?  Scheint  das  Ganze  starker  als  jeder  Teil?"  —  auch 
fiii-  den  besonderen  Fall  untersucht  werden,  dass  von  zwei  Ton- 
empfindungen  die  eine  dem  rechten,  die  andere  dem  linken  Ohr 
angehort. 

Abgesehen  jedoch  von  ohrenarztlichen  Erfahrungen,  so- 
wie  von  solchen  iiber  minimale  Eindriicke,  iiber  welche  beiden 
wir  in  besonderen  Nummern  berichten,  gibt  vorlaufig  nur 
die  letzte  der  genannten  Fragen  hier  noch  Stoff  zur  Dis- 
cussion. 

Wenn  ich  zwei  Stimmgabeln  mittlerer  Region  von  un- 
gleicher  Tonhohe  aber  gleicher  Tonstarke  rechts  und  links  ver- 
teile,  sodann  eine  derselben  entferne,  so  bemerke  ich  auch  hier 
keine  eigentliche  Schwachung  des  Gesammteindrucks.  Aber  der 
Doppeleindruck  ist  hier  nicht  bios  qualitativ  reicher,  voller, 
sonderu  auch  raumlich;  und  so  kann  noch  leichter  die  Tau- 
schung  entstehen,  als  ware  er  starker.  Es  ist  ahnlich,  wie  wenn 
ich  die  eine  Hand  in  warmeres,  die  andere  in  kalteres  Wasser 
tauche  und  dann  eine  Hand  herausziehe;  ich  habe  ein  Mehr 
und  ein  Weniger  von  Temperaturempfindungen,  aber  nicht  eine 
starkere  und  eine  schwachere. 

Selbst  im  Falle  der  Nichtanalyse  scheint  es  mir  nicht 
anders  zu  stehen.  Dieser  Fall  ist  in  der  einfachsten  Weise 
bei  gesunden  Menschen  fortwahrend  dadurch  verwirklicht,  dass 
sie  einen  und  denselben.  objectiven  Ton  doppelohrig  horen.  Wir 
sind  0.  326  f.  zu  der  Ansicht  gekommen,  dass  wenigstens  von 
Solchen,  deren  Ohren  denselben  Ton  bei  successiver  Einwirkung 
merklich  ungleich  horen,  auch  bei  gleichzeitiger  Einwirkung 
nicht  Ein  sondern  zwei  sogar  qualitativ  verschiedene  Tone  gehort 
werden,  obgleich  dann  der  Unterschied  und  die  Zweiheit  nicht 
bemerkt  wird.  Selbst  solche  Psychologen,  die  die  Moglichkeit 
eines  gleichzeitigen  Bestehens  mehrerer  Tonempfindungen  sonst 
leugnen,  pflegen  fiir  den  Fall  der  localen  Trennung  die  Zwei- 
heit anzunehmen.  Auch  sie  miissten  daher  fiir  diesen  Fall 
theoretisch  keine  Verstarkung  erwarten.  Dennoch  wird  man 
gerade  hier  nach   den  Erinnerungen   des  Lebens  zunachst  ge- 


432     §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

neigt  sein  zu  sagen:  Wir  horen  mit  zwei  Ohren  besser  als  mit 
Einem. 

Genauer  zugesehen,  muss  man  aber  auch  hier  Mancherlei 
auseinanderlialten.  Vor  Allem  ist  die  grossere  Leichtigkeit  der 
objectiven  Orientirung  iiber  Bescliaffenbeit  und  Richtung  einer 
Schallwelle,  die  wir  ja  auch  mit  Recht  als  „besseres  Horen" 
bezeiehnen,  nicht  identisch  mit  grosserer  Inteusitat  des  Eiu- 
druckes  und  hangt  auch  nicht  etwa  bios  von  dieser  ab.  Der 
einseitig  Taube  oder  ein  Ohr  Zuhaltende  muss,  um  das  Maxi- 
mum der  Schallstarke  von  einer  festliegenden  Schallquelle  zu 
erhalten,  seinen  Kopf  in  den  meisten  Fallen  ausgiebiger  herum- 
drehen.  Er  „hat  es  schwerer".  Dies  gilt  fiir  jede  Art  von 
Orientirung  (iiber  lautliche  Nuancen,  iiber  den  Sinn  einer  Rede 
u.  s.  f.),  besonders  aber  fiir  die  raumliche. 

Sodann  kommt  wieder  das  doppelte  subjective  Raummoment 
p  und  q  (o.  52  f.)  in  Betracht,  welches  auch  im  Fall  der  Nicht- 
analyse  dem  Empfindungsganzen  einen  s.  z.  s.  umfangreicheren 
Charakter  gibt. 

Endlich  ist  zu  beachten,  dass  die  Versuche,  durch  welche 
man  die  Sache  leicht  zu  entscheiden  denkt,  in  Wahrheit  nur 
unter  ausgesuchten  Vorsichtsmassregeln  rein  durchzufiihren  sind. 
Verteilt  man  zwei  Gabeln  rechts  und  links,  so  verbreiten  sich 
die  Schallwellen  bei  einiger  Starke  des  Anschlages  nicht  un- 
betrachtlich  durch  den  Kopf^).  Wir  erhalten  dann  bei  objectiv 
gleicher  Tonhohe  im  rechten  Ohr  einen  Hauptreiz  a  plus  einem 
von  links  heriiber  kommenden  Nebenreiz  a,  links  analog  ein 
^1  H~  ^h '  Gleiche  Reize  im  gleichen  Ohr  verstarken  sich  natiir- 
lich.  Dagegen  bei  bios  einseitiger,  z.  B.  rechtsseitiger  Ein- 
wirkung  einer  ebenso  stark  angeschlagenen  Gabel  erhalten  wir 
nur  a  rechts  und  a^  links,  welch'  letzteres  aber  nach  unserer 
Voraussetzung    die    dem    a    entsprechende    Empfindung    nicht 


^)  Bei  starker  und  langer  Einwirkung  einer  Stimmgabel  auf  das 
Eine  Ohr  habe  ich  regelmassig  sogar  eine  Nachempfindung  im  anderen 
Ohr,  welche  eine  ganze  Minute  lang  andauern  kann.  Es  ist  damit  zu- 
gleich  ein  eigentiimliches  Gefiihl  im  Kopf  und  Ohr  verbunden,  welches 
oifenbar  ebenfalls  von  den  Nachschwingungen  herriihrt. 


und  seine  Teile.  433 

verstarken  kann.  Die  doppelseitige  Einwirkung  wird  also  in 
diesem  Fall  zu  etwas  starkerer  Empfindung  fUhreii,  aber 
nicht  wegen  einer  centralen  Verbindung  der  beiderseitigen  Er- 
regungsstarken,  sondern  wegen  Intensitatserhohung  auf  jeder 
Seite. 

Man  muss  daher  schwacbe,  wenn  auch  nicht  gerade  mini- 
male  Reizstarke  wahlen.  Und  bier  scheint  mir  in  der  Tat 
nicht  eine  Verstarkung  sondern  hochstens  eine  Art  von  Ver- 
breiterung  des  Eindrucks  bemerkbar. 

Bei  der  gewohnlichsten  Versuchsweise:  eine  einheitliche 
Schallquelle  auf  beide  Ohren  gleichmassig  wirken  zu  lassen, 
das  eine  aber  abwechselnd  zu  offnen  und  zu  sperren,  macht 
sich  der  aus  so  vielen  Griinden  bedauerliche  Mangel  eines 
guten  Ohrverschlusses  geltend.  Der  beste  bleibt  immer  die 
Verstopfung  mit  dem  Finger.  Aber  dann  setzt  der  brummende 
Muskelton  ein  und  stort  die  genaue  Vergleichung.  Auch  eine 
Anderung  der  Klangfarbe  des  Gesammteindruckes  findet  beim 
Schliessen  des  einen  Ohres  statt,  die  nicht  ganz  leicht  von 
einer  Intensitatsanderung  zu  unterscheiden  ist. 

Doch  scheint  mir  folgendes  Verfahren  auch  bier  zu  einem 
Urteil  zu  fiihren.  Wir  verstopfen  zuerst  beide  Ohren  und 
horchen  auf  einen  nicht  zu  schwachen  constanten  Ton.  Im 
ersten  Augenblick  hort  man  nur  den  tiefen  Muskelton,  dann 
tritt  der  objective  deutlich  hervor.  Wir  merken  uns  den  Starke- 
grad  a,  den  er  zu  haben  scheint,  offnen  dann  das  eine  Ohr 
und  beobachten  die  nunmehrige  Starke  b;  dann  bei  Offnung 
auch  des  anderen  Ohres  die  Starke  c.  Man  wird  b  entschieden 
grosser  als  a,  aber  c  kaum  grosser  als  b  finden.  Von  a  zu  b 
fallt  ein  Teil  der  subjectiven  Storung  hinweg,  von  b  zu  c  der 
andere,  insoweit  sind  die  Bedingungen  annahernd  gleich.  Von 
a  zu  b  erfolgt  aber  wirkliche  Verstarkung  auf  dem  geoffneten 
Ohr  durch  grossere  Reizstarke.  Durch  den  Gegensatz  gegen 
diese  wirkliche  Verstarkung  unter  sonst  gleichen  Umstanden 
wird  der  Schein  der  Verstarkung  beim  zweiten  Ubergang 
zerstort.  Ist  Dies  doch  nicht  ganz  der  Fall,  glaubt  Jemand 
eine    geringe  Verstarkung    urileugbar    zu    erkennen,    so    diirfte 

Stumpf,  Tonpsychologie.   II.  28 


434    §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

sich  dies  Wenige  hinreichend  durch  die  Knochenleitung  er- 
klfiren  ^). 

Endlicli  ist  wol  auch  folgende  einfache  Erfahrung  ein 
Zeichen,  dass  keine  irgend  erhebliche  Verstarkuiig  beim  zwei- 
ohrigen  Horen  stattfindet.  Wenn  wir  einen  Schall,  besonders 
einen  scbwachen,  recht  gut  horen  wollen,  wenden  wir  der  Schall- 
quelle  nicht  das  Gesicht,  sondern  eines  der  Obren  zu.  Bel 
feinen  Unterscheidungen  von  Tonbohen  und  beim  Horcben  aiif 
Obertone  und  Combinationstone  hat  Dies  besondere,  schon  er- 
wahnte  Griinde.  Aber  bei  sonstigen  Tonbeobachtungen  und 
beim  Horcben  auf  Gerausche  fallen  diese  Motive  hinweg.  Wenn 
nun  beide  Ohren  (bez.  ihre  Centra)  sicb  verstarkten,  so  wiirden 
wir  durch  Hinwendung  des  Einen  Ohres  zur  Schallquelle  den 
Ton  zwar  fUr  dieses  Ohr  starken,  fiir  das  andere  aber  schwachen, 
und  fiir  das  Ganze  der  Empfindung  schwerlich  einen  Vorteil  er- 
zielen.  Dass  wir  dennoch  unwillkiirlich  ein  Ohr  der  Schallquelle 
zuwenden,  scheint  mir  also  ein  Zeichen,  dass  die  empfindungs- 
erzeugenden  Nervenprocesse  beider  Ohren  sich  nicht  verstarken. 

Wir  setzten  bisher  ungleiche  Hohe  rechts  und  links,  min- 
destens  die  geringe  Ungleichheit,  wie  sie  durch  die  gewohnliche 
Differenz  der  Ohren  bedingt  wird,  voraus.  Wenn  nun  aber 
selbst  diese  durch  Darbietung  entsprechender  (in  umgekehrter 
Richtung  verschiedener)  Gabeln  kiinstlich  getilgt  wird,  sodass 
bei  abwechselndem  Horen  des  rechten  und  linken  Tones  kein 
Unterschied  mehr  erkennbar  ist:  findet  nicht  wenigstens  dann 
eine  gegenseitige  Verstarkung  statt? 

Wenn  wir  die  namlichen  Vorsichten  anwenden,  besonders 
also  nicht  zu  grosse  absolute  und  genau  gleiche  relative  Starke, 

^)  Ein  Physiker  sagte  mir,  dass  er  den  Schall  einer  Pfeife  beim 
Verschluss  eines  Ohres  sogar  starker  wahrnehme  als  wenn  beide  Ohren 
offen  sind,  und  fixhrte  Dies  auf  die  durch  das  Zuhalten  geanderten  sub- 
jectiven  Resonanzverhaltnisse  zuriick. 

Naturlich  kommt  bei  diesen  Versuchen  auch  die  Ungleichheit  in 
der  Horscharfe  des  rechten  und  linken  Ohres  in  Betracht,  die  bei  man- 
chen  Personen  erheblich  sein  kann,  ohne  dass  sie  etwas  davon  wissen. 
Von  solchen  Fallen  muss  auch  fiir  die  Beweiskraft  der  im  Text  folgenden 
Erfahrung  abgesehen  werden. 


und  seine  Telle.  435 

so  scheint  mir  cler  Erfolg  auch  hier  kaum  ein  anderer.  Eine 
Veranderung  wird  natiirlich  wahrgenommen,  aber,  soviel  mir 
scheiut,  nicht  eine  Verstarkung.  Das  Urteil  stellt  sich  nicbt 
ganz  leicht  fest.  Schon  daraus  geht  aber  bervor,  dass,  wenn 
iiberbaupt  eine  Verstarkung  stattfindet,  sie  nur  ausserst  gering 
sein  kann. 

Der  Mangel  einer  Verstarkung  wiirde  darauf  binweisen, 
dass  audi  in  dieseni  Falle  zwei  Empfindungen  vorliegon.  Da- 
gegen  wiirde  icb  nicbt  umgekebrt  aus  der  Zweibeit  der  Em- 
pfindungen, wenn  wir  sie  aus  anderen  Griinden  annebmen 
miissen,  auf  die  Unmoglicbkeit  einer  Verstarkung  scbliessen. 
Man  kann  iiber  die  Wecbselwirkung  centraler  Erregungen  Nicbts 
apriori  sagen,  Alles  nur  uacb  besonderen  Erfabrungen. 

Soviel  stebt  jedenfalls  nacb  der  Beobacbtung  fest,  dass 
zwei  Tone  recbts  und  links,  mogen  sie  gleicb  oder  ungleicb 
sein,  sicb  wenigstens  nicbt  gegenseitig  scbwacben;  wie  dies  bei 
mebreren  Empfindungen  Eines  Obres  der  Fall  ist.  Deswegen 
miissen  zwei  ungleicb  bobe  Gabeln,  auf  ein  Obr  wirkend,  um 
ein  Weniges  scbwacber  empfunden  werden  als  dieselben  Gabeln, 
wenn  wir  sie  mit  gleicber  Empfindungsstarke  an  beide  Obren 
verteilen.  Aber  dieser  Versucb  ist  wieder  ausserst  scbwer  ge- 
nau  auszufiibren.  — 

A.  J.  DocQ  behauptet  in  einer  Specialuntersuchung  iiber  das 
Zusammenwirken  beider  Ohren  ^)  nicht  bios  eine  Verstarkung,  son- 
dern  glaubt  dieselbe  gemessen  und  fur  seine  Ohren  und  die  seines 
Assistenten  etwa  =  2,7  gefunden  zu  haben.  Er  gibt  jedoch  selbst 
zu  (S.  20,  35 — 6),  dass  der  unmittelbare  Eindruck  des  Bewusstseins 
diesem  Ergebuis  durchaus  widerspricht,  dass  der  zweiohrige  Ton 
kaum  starker  als  der  einohrige  zu  sein  scheint.  Das  was  er  ge- 
messen babe,  sei  daher  nur  die  organische  (physiologische)  Starke. 
Aber  lasst  sicb  annehraen,  dass  eine  fast  dreifache  Starke  der 
physiologischen  Erregung  sich  im  Bewusstsein  fast  gar  nicht  gelteud 
mache? 


')  Recherches  physico-physiologiques  sur  la  Fonction  collective  des 
deux  Organes  de  I'Appareil  auditif.  Mem.  cour.  de  I'Acad.  royale  de 
Belgique  T.  34  (1870). 

28* 


436    §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

In  der  Tat  beruhen  Docq's  Messungen  auf  mehreren  teils 
zweifelhaften  teils  sicher  unhaltbaren  Voraussetzungen.  Er  be- 
stimmte  die  Entferuuugen  d  und  D,  in  welchen  eine  objectiv  un- 
verandert  tonende  Schallquelle  eiuohrig  und  zweiolirig  gleichstark 
vernommen  wurde.  Unter  der  Voraussetzung,  dass  die  physikalische 
Schallstarke  im  umgekehrten  Verhaltnis  des  Quadrates  der  Ent- 
fernung  abnimmt,  war  dann  zunachst  das  Verhaltnis  der  physika- 
lischen  Starke,  mit  welcher  der  zweiohrig  und  der  einohrig  geborte 
Schall  zum  Obr  gelangte,  gegeben  durch  i:J  =  D2:d^  Aber 
dieses  Gesetz  ist  durcb  neuere  Untersucbungen  Viekordt's  er- 
schiittert,  wonacb  (wenigstens  bei  Gerauscben)  die  Intensitat  an- 
nahernd  reciprok  der  Entfernung  ware.  Unter  dieser  Annabme 
wird  die  gefundene  Zabl  scbon  auf  etwa  1,6  herabgedriickt.  Wei- 
ter  setzt  Docq  voraus,  dass  die  physiologiscbe  Starke  der  pby- 
sikaliscben  (abgeseben  von  den  Grenzen)  parallel  gebe,  was  aucb 
bestreitbar  und  jedenfalls  ungenau  ist.  Endlich  wird  man  nicht 
beistimmen  konnen,  wenn  er  das  Gerauscb,  welches  durch  An- 
pressung  des  Tragus  behufs  Ohrverschliessung  entsteht,  als  ein 
sehr  geringes  bezeichnet.  Vielmehr  scheint  es  mir  ungefahr 
gerade  auszureichen,  um  den  Unterschied  des  zweiohrigen  vom 
einohrigen  Horen,  welchen  die  directe  Beobachtung  zeigt,  zu  er- 
klaren. 

5.  Gibt  es  eine  Wechselwirkung  minimaler  akusti- 
scher  Erregungen? 

Was  fiir  iibermerkliche  Eindriicke  gilt,  gilt  nicht  notwendig 
fUr  ebenmerkliche  und  eben  untermerkliche.  Wollte  man  apriori 
vorgehen,  so  liessen  sich  bier  teleologiscbe  Griinde  fiir  eine 
gegenseitige  Verstarkung  geltend  macben.  Der  Umfang  der 
nocb  borbaren  ScbaUreize  wUrde  dadurcb  erweitert  und  be- 
sonders  solcbe  Gerausche,  die  aus  zablreicben  scbwachsten 
Tonen  bestelien,  nocb  bei  geringerer  Intensitat  als  ausserdem 
wabrnebmbar  bleiben.  Bei  starkeren  Tonen  liegt  dagegen  eine 
wechselseitige  Scbwacbung  im  Interesse  des  Organismus. 

Jedenfalls  also  muss  die  Frage  bier  besouders  gepriift 
werden.  Aber  es  ist  wieder  sehr  schwer,  den  Versuch  rein 
berzustellen.     Nimmt  man   zunachst  wieder  eine  Mebrheit  von 


und  seine  Teile.  437 

Tonen  in  Einem  Ohr  (gleichmassige  Darbietung  derselben  an 
beide  Ohren,  die  fiir  starkere  Tone  als  dem  einseitigen  Horen 
aequivalent  betracbtet  wurde,  wird  sich  bier  von  vornberein  nicbt 
empfeblen),  so  muss  die  Reizstarke  ausserst  genau  regulirt  und 
langere  Zeit  constant  erbalten  werden,  es  miissen  ferner  zusam- 
menfallende  Obertone  sowie  Scbwebungen  zwischen  den  Gruud- 
tonen  und  zwiscben  den  Obertonen  ausgescblossen  werden.  Gal- 
vaniscb  erregte  Stimmgabehi,  die  im  Octavenverbaltnis  standen 
(aucb  Quinten  der  Octaventone  konnten  bei  bobcren  Regionen 
darunter  sein),  wiirden  wol  am  Besten  diesen  Bedingungen  ge- 
niigen.  Man  miisste  jede  fiir  sicb  allein  eben  uoter  die  Scbwelle 
bringen  und  dann  alle  mit  diesem  Starkegrad  zugleicb  tonen 
lassen,  um  zu  ermitteln,  ob  sie  sich  iiber  die  Scbwelle  beben. 
Vielleicbt  reizt  die  Untersucbung  einmal  Solcbe,  die  zur  Her- 
stellung  feinster  Experimente  nicbt  bios  die  Lust  sondern  aucb 
die  Mittel  baben.  Bisber  scbeint  noch  Niemand  an  die  so  in- 
teressante  Frage  berangetreten  zu  sein. 

Einen  nur  vorlaufigen  Versucb  babe  ich  in  Jena  (1889) 
mit  den  Herren  Prof.  W.  Biedermann  und  Dr.  K.  Schafer  ge- 
macht,  indem  wir  Tone  eines  Zungenapparates  telepboniscb  in 
ein  anderes  Zimmer  leiteten,  wobei  sich  durch  ein  eingescbaltetes 
Rheocbord  die  Starke  leicbt  reguliren  liess.  Bei  C  und  c  be- 
merkte  icb  keine  gegenseitige  Verstarkung.  Mocbte  C  oder  c 
zuerst  angegeben  werden:  das  Ganze  blieb  unwahrnebmbar,  wenn 
jeder  Teil  es  war,  und  erfubr  keine  Verstarkung,  wenn  der  zu- 
erst angegebene  Ton  eben  wahrnebmbar  war.  Bei  Ccc^g^  be- 
merkte  icb,  als  die  Tone  in  dieser  Folge  zu  einander  gefiigt 
wurden,  erst  den  letzten,  (/S  und  zwar  ibn  allein.  Er  war  eben 
fiir  sicb  allein  schon  entweder  objectiv  starker  (da  die  Zungen 
nicbt  genau  gleicb  stark  scbwingen)  oder  im  Ohr  begiinstigt. 
Ubrigens  sind  bei  Zungen  Quintenintervalle  schon  durch  Ober- 
tonscbwebungen  dem  Versuch  gefahrlicb. 

Vielleicbt  argumentirt  nun  Einer:  jedeufalls  finde  bei  der 
Combination  ebenmerklicber  Tone  keine  gegenseitige  Schwacbung 
statt,  da  sie  sich  sonst  ausloschen  miissten,  was  doch  entschieden 
nicht  der  Fall  sei. 


438    §  26.  Intensitatsurteile  liber  einen  zusammengesetzten  Klang 

Wir  wollen  davon  absehen,  ob  dies  ganz  „entscbieden"  ist. 
Aber  auch  dann  wiirde  der  Schluss  nicht  ohne  Weiteres  giiltig 
sein.  Die  Empfindungsstarke  kann  immerliin  noch  herabgedriickt 
werden,  sodass  jeder  der  Tone  fiir  sich  allein,  wenn  er  diese 
Intensitat  hatte,  unwahrnehmbar  ware.  Aber  es  ist  denkbar 
und  nach  sonstigen  Erfahrungen  nicht  einmal  unwahrscbeinlich, 
dass  mehrere  Empfindungen  Eines  Sinnes,  deren  jede  fiir  sicb 
allein  eben  nicht  mehr  bemerkt  wird,  bei  gleichzeitigem  Auf- 
treten  wahrnehmbar  werden,  ohne  irgend  an  Starke  zu  ge- 
winnen;  indem  eben  Mehreres  an  und  fiir  sich  leichter  wahr- 
genommen  wiirde  als  Eines.  Das  eben  nicht  mehr  Bemerkte 
liegt  ja  zunachst  noch  nicht  unter  der  Empfindungsschwelle, 
sondern  nur  unter  der  Wahrnehmungsschwelle,  und  es  ist  keines- 
wegs  gesagt,  dass  die  Wahrnehmungsschwelle,  wie  sie  fiir  iso- 
lirte  Eindriicke  ermittelt  ist,  dieselbe  sein  muss  wie  die  fiir 
gleichzeitig  verbundene. 

Es  bliebe  daher  immer  noch  denkbar,  dass  auch  schwachste 
akustische  Nervenerregungen  sich  gegenseitig  nicht  bios  nicht 
verstarken  sondern  geradezu  noch  weiter  schwachen.  Was 
fiir  die  Wahrnehrabarkeit  der  Tone  dadurch  verloren  ginge, 
konnte  durch  die  Vermehrung  wieder  gewonnen  werden.  Die 
Empfindungen  wiirden  schwacher  und  doch  nicht  weniger  merk- 
lich  werden. 

Dieselbe  Frage  kann  nun  auch  wieder  beziiglich  der  Tone 
des  rechten  und  linken  Ohres  untersucht  werden,  und  hier 
liegen  auch  bereits  Versuche  und  bestimmte  Behauptungen  vor. 
Taechanow^)  leitete  einen  Schall  telephonisch  an  seine  beiden 
Ohren  und  schwachte  ihn  so  ab,  dass  er  mit  jedem  Ohr  kaum 
oder  gar  nicht  mehr  horbar  war.  Er  erhielt  dann  doppelohrig 
einen  deutlichen,  wenn  auch  schwachen,  Ton,  und  zwar  in  der 
verticalen  Mittelebene  des  Kopfes  localisirt.  Preyer^)  besta- 
tigte  diese  Beobachtungen  und  schloss  daraus  mit  Tarchanow, 
dass    eine  „centrale  Summation    der  subliminalen  monotischen 


^)  Petersburger  medicinische  Wochenschrift  1878  Nr.  43. 

2)  Sitz.-Ber.  d.  Jenaischen  Gesellsch.  f.  Medicin  u.  Naturwiss.  1879. 


und  seine  Teile.  439 

Erregungen  stattfinde",  das  heisst,  dass  die  uuter  der  Schwellc 
befindlichen  Erregungeu  dos  eiuen  und  anderen  Ohres  sich  im 
Gehirn  verstarken.  Dr.  Korting^)  fand  dann  an  283  Personen 
nach  dieser  Methode  die  grossere  Feinhcit  des  zweiohrigen 
Horens  und  an  267  unter  diesen  Personen  auch  die  Verlegung 
in  die  Schadelmitte. 

Ich  war  bemiiht,  bei  meinen  akustischen  Studien  im  Jenenser 
physiologiscben  Institut  sowie  auch  bei  Herrn  Prof.  Kessel  da- 
selbst,  welcher  sebr  gute  Telephone  und  Vorrichtuugen  zur 
Regulirung  der  Stromstarke  besitzt,  diese  Beobachtungen  zu 
wiederholen.  Aber  wahrend  sich  die  Angaben  iiber  die  Locali- 
sation bei  iibermerklichen  Eindrilcken  leicht  und  deutlich  be- 
statigten,  wollte  es  weder  mir  noch  drei  wolgeschulten  Mit- 
beobachtern  gelingen,  uns  davon  zu  iiberzeugen,  dass  eben  nicht 
mehr  wahrnehmbare  Schalleindriicke  beider  Ohren  durch  ihre 
Vereinigung  iiber  die  Schwelle  gehoben  wiirden.  Es  sind  ja 
diese  Versuche  ohnedies  ausserst  heikler  Natur,  da  der  genaue 
Punct  des  Verschwindeus  schwer  zu  j&nden  und  auch  wirk- 
lichen  Schwankungen  ausgesetzt  ist.  Jedesmal  aber,  wenn 
wir  zweiohrig  etwas  vorher  Unhorbares  zu  ho^en  glaubten, 
zeigte  sich  bei  Wegnahme  des  einen  Telephons,  dass  es  doch 
auch  schon  einohrig  horbar  war.  Hatten  wir  den  Ton  des 
Stromunterbrechers,  welcher  als  Horobject  beniitzt  wurde  (/?s^ 
bei  Kessel)  fiir  beide  Ohren  deiinitiv  und  unzweifelhaft  un- 
ter die  Schwelle  gebracht,  so  vernahmeu  wir  auch  zweiohrig 
Nichts  mehr. 

Aber  auch  wenn  Taechanow's  und  Preter's  Angaben  in 
dieser  Hinsicht  sich  bestatigten,  so  wiirde  ich  daraus  noch  nicht 
ohne  Weiteres  auf  eine  gegenseitige  Verstarkung  schliessen,  aus 
ahnlichen  Griinden  wie  oben.  Hier  kommen  auch  noch  die 
quasi-raumlichen  Momente  p  und  q  hinzu,  wir  haben  statt  pa 
oder  qa  jetzt  pa-[-  qa  in  der  Empfindung,  und  fiir  dieses  Em- 
pfindungsganze  braucht  die  Schwelle  des  Wahrnehmens  nicht 
dieselbe  zu  sein  wie  fiir  jeden  seiner  Teile. 


')  Ebendaselbst. 


440    §  26.  Intensitatsurteile  uber  einen  zusammengesetzten  Klang 

6.  Ohrenarztliche  Beobachtungen. 

Maucherlei  zum  Teil  recht  seltsame  Berichte  iiber  die  vor- 
her  besprochenen  Fragepuncte  liegen  von  Seiten  der  Ohrenarzte 
vor.  Da  sie  hauptsachlich,  wenn  auch  nicht  durchgaugig,  patho- 
logische  Falle  betreffen,  und  teilweise  auf  besondere  Ursachen 
zuriicTiZufiihren,  teilweise  iiberhaupt  noch  nicht  zu  erklaren  sind, 
stellen  wir  sie  unter  besondere  Rubrik.  '  Bei  einigen  daruuter 
notigen  uns  die  vorigen  Betrachtungen  allerdings  auch  zu 
Zweifehi  iiber  das  Tatsachliche  oder  liber  die  Auslegung  des- 
selben  durch  den  Berichterstatter. 

Es  werden  sowol  gegenseitige  Verstarkungen  als  Schwach- 
ungen  von  Tonen  oder  Gerauschen  erwahnt  und  beiderlei  Ein- 
fliisse  wiederum  sowol  innerhalb  Eines  Ohres  als  von  Ohr  zu 
Ohr.  Wir  wollen  mit  diesen  kurzen  Bezeichnungen  nicht  so- 
gleich  die  Behauptung  aussprechen,  dass  die  Wirkungeu  in  alien 
zu  erwahnenden  Fallen  lediglich  in  den  peripherischen  Organen 
vor  sich  gehen  (obgleich  dies  fiir  zahlreiche  Falle  sehr  wahr- 
scheinlicli  zutrifft);  sondern  zunachst  nur,  dass  die  anzugebendeu 
Beziehungen  sich  zwischen  den  Eindriicken  finden,  die  den  be- 
treffenden  Ohren  geboten  werden  oder  die,  wenn  es  sich  um 
subjective  Empfindungen  handelt,  deutlich  in  denselben  locali- 
sirt  erscheinen. 

a)  Verstarkung  innerhalb  Eines  Ohres. 

Nach  PoLiTZER^)  kauu  man  das  Uhrticken,  wenn  es  beiden 
Ohren  unhorbar  bleibt,  mitunter  dadurch  zur  Wahruehmung  bringen, 
dass  man  eine  tdnende  Gabel  auf  die  Kopfknochen  aufsetzt.  Ukban- 
TSCHiTSCH  gibt  an,  Gehorzuuahme  fiir  schwache  Schallreize  gefundeu 
zu  haben,  wenn  gleichzeitig  oder  unmittelbar  vorher  dasselbe  Ohr 
einera  anderen  Schalleiufluss  ausgesetzt  war,  der  doch  nicht  so 
stark  war,  dass  or  den  ersteren  unterdrtickte '^).  Man  kann  wol 
auch  die  Aussagen  von  Robert  Fkanz  I  415  hieherziehen.  Be- 
sonders  aber  die  vielfach  besprochenen  Falle  der  sg.  Parakusis 
Willi  si  ana.    Willis   erzahlte  (1680)  von  einer  tauben  Frau,  die 

^)  A.  f.  0.  XVI  (1880)  307. 

-)  Uber  die  Wechselwirkung  der  iunerhalb  eines  Sinnesgebietes  ge- 
setzten  Erregungen.   Pflug.  Arch.  Bd.  31  (1883)  S.  280  f. 


und  seine  Teile.  44 1 

sich  mit  ihrem  Manne  unterhalten  konnte,  wenn  der  Bediente  die 
Trommel  schlug.  Ebenso  erwahnt  Fielitz  einen  Knaben,  der  in 
einer  stark  klappernden  Muhle  sehr  gut  horen  konnte,  draussen 
aber  nicht.  Ahnliches  scheint  bei  Schwerhorigen  nicht  sclten  (beim 
Eisenbahnfahren  u.  dgl.)  vorzukommeu^). 

Diese  Paradoxic,  dass  ein  schwacherer  Gehorsreiz  durch  einen 
gleichzeitigen  starkeren  erst  horbar  gemacht  wird,  lost  sich,  wie 
schon  altere  Autoren  bemerkt  haben,  nur  durch  die  Annahme,  dass 
durch  die  kraftige  Einwirkung  irgeud  ein  Hindernis  des  Horens 
momentan  beseitigt  wird.  Manche  verlegen  diesen  Vorgang  in  das 
Labyrinth,  Andere  mit  mehr  Wahrscheinlichkeit  in  das  Mittelohr, 
indem  z.  B.  eine  geringe  pathologische  Unterbrechuug  der  Leitung 
in  den  Gehorkndchelchen,  etwa  eine  Trennung  des  Steigbiigels  vom 
Ambos,  durch  den  starken  Eindruck  gehoben  werde  (Tkoltsch), 
Oder  indem  bei  adhasiven  Mittelohrentziindungen  die  Starrheit  der 
Kndchelchen-Gelenke  momentan  beseitigt  werde  (Politzer).  Dass 
dagegen  eine  gesteigerte  Perceptionsfahigkeit  der  akustischen  Nerven 
durch  den  starken  Schall  bewirkt  werde  (Urbantschitsch)  ,  diirfte 
sich  schwer  rait  den  sonstigen  Tatsachen  vereinigen. 

Natiirlich  muss  in  solchen  Fallen  der  Hilfsschall  von  der  Art 
sein,  dass  er,  obgleich  starker,  doch  vom  gleichzeitigen  schwachereu 
auch  fiir  normales  Gehor  noch  unterscheidbar  ist.  Denn  eine  ver- 
mehrte  Fahigkeit  der  Analyse  anzunehmen,  liegt  vollends  kein 
Grand  vor.  Doch  ist  damit  nicht  gesagt,  dass  das  Verhaltnis  der 
Reizstarken,  welche  noch  gleichzeitig  unterscheidbare  Eindriicke 
liefern  (die  Schwelle,  von  der  0.  220  die  Rede  war)  fitr  Schwer- 
horige  dasselbe  sein  musste  wie  fiir  Normalhorige. 

b)  Verstarkung  von  Ohr  zu  Ohr. 

Le  Roux  behauptete  1875,  dass  eine  stark  tonende  Gabel,  vor 
einem  Ohr  vorbeigefiihrt,  den  Ton  einer  anderen  gleichgestimmteu, 
aber  wegen  Verklingens  nicht  mehr  horbaren  Gabel  vor  dem  an- 


^)  Tiber  die  alteren  Falle  s.  Gehler's  Worterbuch  d.  Physik,  Art. 
„Gelior"  S.  1220.  Spatere  ahnliche  Beobachtungen  und  Erklarungsver- 
suche  in  den  Lehrbuchern  der  Ohrenheilkunde  (Troltsch,  Politzer, 
Urbantschitsch),  A.  f.  0.  XXIII  214,  Berliner  kliu.  Wochenschr.  1885 
No.  27  u.  s.  f. 


442    §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

deren  Ohr  plotzlich  wieder  horbar  machte.  Urbantschitsch  fand 
dies  bestatigt  (a.  a.  0.).  Selbst  ein  tiefer  Ton  rechts  konne  einen 
hohen  links  verstarken  und  umgekehrt.  Die  Erscheinung  sei  nament- 
lich  bei  Schwerhorigen  gut  zu  beobachten,  weil  hier  die  Verstarkung 
nicht  augenblicklich,  sondern  etwas  uachher  erfolge.  Zuweilen  aller- 
dings  zeige  sich  auch  Herabsetzung  der  Perceptionsfahigkeit  auf 
diesem  Wege,  und  zwar  auch  gelegentlich  bei  demselben  Individuum. 
Auch  Pbeyee  fand  bei  seinen  Telephonversuchen  (o.  438)  den  Ton 
eines  Ohres  erheblich  verstarkt,  wenn  die  audere  Telephonplatte 
dem  anderen  Ohre  genahert  wurde. 

Ich  glaube  jedoch  auch  hier  nicht  an  eine  „Steigerung  der 
Perceptionsfahigkeit".  Man  konnte  wol  bei  gleichen  Tonen  an  ein 
Hiniiberdringen  des  starkeren  Tons  in  Folge  der  Knochenleitung 
denken.  Aber  ich  halte  die  Sache  nach  eigeneu  Versuchen  —  und 
Jeder  kann  sie  wenigstens  mit  Stimmgabein  leicht  wiederholen 
—  vielraehr  nur  fiir  eine  Urteilstauschung.  Man  hat  im  ersten 
Moment  wol  ofters  einen  solchen  Eindruck.  Aber  bei  genauerer 
Beobachtung  wird  man  linden,  dass  dabei  nur  die  Starkezunahme 
der  dem  einen  Ohr  genaherten  Hilfsgabel  auf  das  andere  Ohr,  dem 
die  Aufmerksamkeit  des  Horchenden  zugewandt  ist,  iibertragen  wird. 
Sonst  besteht  ja  das  durch  norraale  wie  pathologische  Erscheinungen 
reichlich  bestatigte  Gesetz,  dass  der  Schall  (bei  Nichtanalyse)  auf 
die  Seite  des  starkeren  Eindruckes  verlegt  wird.  Aber  hier  ist 
die  Aufmerksamkeit  so  sehr  dem  Einen  Ohr  zugewandt,  dessen 
Ton  man  beobachten  will,  dass  man  momentan  die  Schallzunahme 
in  diesem  selbst  wahrzunehmen  glaubt.  Bei  hinreichender  Auf- 
merksamkeit auf  den  Ort  der  Tonanschwellung  verschwindet  diese 
Tauschung  und  ist  kaum  wiederherzustellen. 

Ubbantschitsch  gibt  auch  an  ^),  dass  er  durch  t)bung  eines 
Ohres  Besserung  des  anderen  erzielt  habe.  Auf  seine  Veranlassung 
hat  EiTELBERG  dicsolbe  Behandlungsweise  vielfach  versucht.  Er 
fand  in  sehr  vielen  Fallen  Besserung,  in  seltenen  Fallen  Ver- 
schlimmerung;    die   Besserung   jedoch    oft    nicht  sogleich,    sondern 


1)  PFLtJGER's  Arch.  Bd.  30  (1883)  129  f.    „Uber   den  Einfluss  von 
Trigemiuusreizen  auf  Sinnesempfindungen"  (speciell  153). 


und  seine  Teile.  443 

spater.  Als  Vermittler  der  Einwirkuiig  denken  sich  Beidc  den 
Trigeminus  ^). 

Dies  gehort  zu  dem  dunklon  Capitel  der  „Mitubung",  dunkel 
besonders  in  Hinsicht  Dessen,  was  davon  eiucr  gesteigerten  Fahig- 
keit  in  der  Concentration  und  Lenkung  der  Aufmerksamkeit  zuzu- 
schreiben  ist^). 

c)  Schwachung  innerhalb  Eines  Ohres.    - 
Ubbantschitsch  gibt  an  (a.  a.  0.  Bd.  31),  dass  Ohrenklingen 

durch  akustische  Eiuwirkung  auf  das  betreffende  Ohr,  namentlich 
durch  tiefe  Tone,  zeitweilig  vermindert  werden  konne.  Lucae  ver- 
drangte  ebenfalls  hohe  subjective  Tone  durch  tiefe  objective  und 
umgekehrt,  wenn  auch  uur  filr  Stunden,  hochstens  Tage^).  Hiebei 
handelte  es  sich  offenbar  uicht  um  jene  allgemeine  gegenseitige 
Schwachung  gleichzeitiger  Tone  Eines  Ohres,  die  in  centralen  Pro- 
cessen  grundet,  sondern  um  die  Verminderung  eines  pathologischen 
Zustandes  im  Mittelohr,  in  welchem  die  subjectiven  Tone  wurzelten*). 
Der  objective  Ton  mochte  als  mechanischer  Reiz  wirken,  wie  Luft- 
eintreibung  in's  Mittelohr  oder  Anpressung  des  Tragus.  Das  Er- 
klarungsprincip  ware  also  dasselbe  wie  bei  der  Parakusis  Willisii; 
wie  denn  auch  Ubbantschitsch  geltend  macht,  dass  die  Ver- 
besserung  der  objectiven  Horfahigkeit  mit  der  Abnahme  der  sub- 
jectiven Empfindungen  gleichen  Schritt  halt. 

d)  Schwachung  von  Ohr  zu  Ohr. 

Das  auffallendste  Beispiel  bietet  hier  der  sg.  Transfert,  der 
zuerst  von  Chaecot  an  Krauken,  dann  von  Rumpf  (1879)  auch 
an  Gesunden  beobachtet  wurde:  das  Herilber-  und  Hintiberwanderu 
der  Empfindlichkeit  bei  Naherung  eines  Magneton.  Auch  Ukban- 
TSCHiTSCH    constatirte    Dies    in    Gemeinschaft   mit   Rosenthal    an 


»)  Z.  f.  0.  XII  (1883)  162  f.,  258.  Gradbnigo  fand  auch  bei  Gal- 
vanisirung  des  einen  Ohres  einen  Einfluss  auf  das  andere,  obwol  dieses 
nicht  mit  einer  Schallempfindung  darauf  antwortete.  Allgem.  Wiener 
medicin.  Zeitung  1889  No.  1. 

2)  Vgl.  I  81  f. ;  sowie  unteu  447. 

^)  Zur  Entstehung  und  Behandlung  der  subjectiven  Gehorsempfin- 
dungen.  1884. 

*)  Subjective  Tone  konnen  allerdings  auch  im  Labyrinth  oder  gar 
im  Centrum  entstehen.    Daruber  ist  noch  wenig  Bestimmtes  zu  sagen. 


444    §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

einer  einseitig  taubeii  Person  ^).  Bei  Annaherung  des  Magncten  an 
das  taube  Ohr  wurde  dieses  horfahig,  wahrend  auf  dem  bis  dahin 
horfiihigen  voUige  Taubheit  eintrat;  und  so  auch  wieder  riickwarts. 
(Gleichzeitig  wanderte  auch  die  Gesichts-  und  Hautempfindlichkeit 
immer  auf  dieselbe  Seite.)  Die  hohen  Tone  wanderten  stets  zuerst 
hiniiber,  die  tiefen  zuletzt.  (Die  Farben  erstarben  in  der  Reihen- 
folge  von  Violett  gegen  Rot  und  erwachten  in  der  umgekehrten 
Reihenfolge.)  Dem  Transfer!  der  Tone  ging  immer  ein  sehr  tiefes 
Brummen  in  dem  bis  dahin  unempfindlichen  Ohr  voraus. 

Diese  Erscheinungen,  die  auch  ohne  magnetische  Einwirkung 
beim  Hypnotismus  vorkommen,  sind  noch  ganz  unerklarlich,  Aber 
jedenfalls  wurde  man  sie  falsch  deuten,  wcuu  man  sie  auf  einen 
Antagonismus  der  beiderseitigen  Empfindungen  beziehen  wollte,  von 
dem  wir  sonst  keine  Spur  beobachten  konnen,  Es  liegt  vielmehr 
sicherlich  nur  an  den  besonderen  eimvirkenden  Ursachen,  dass  sie 
gleichzeitig  auf  der  einen  Seite  die  Emplinduug  begiinstigen,  auf 
der  anderen  sie  hemmen. 

Nach  Angabe  von  Magnus  (A.  f.  0.  XVI  283)  wird  ferner 
nicht  selten  beobachtet,  dass  ein  lange  Zeit  sehr  schlecht  horendes 
Ohr  besser  hort,  wenn  das  bisher  gute  durch  eine  Entziindung 
schlecht  hort.  Auch  hier  also  scheinbarer  Antagonismus.  Aber 
Magnus  vermutet  wol  rait  Recht  darin  nur  eine  Wirkung  „ge- 
spannter  Seelentatigkeit,  welche  einen  friiher  vernachlassigten  Ein- 
druck  zum  Bewusstsein  bringt".  Also  nur  ein  Antagonismus  oder 
Wechsel  in  der  Richtung  der  Aufmerksarakeit;  vielleicht  auch  eine 
geringe  Verstarkung  in  Folge  der  Aufmerksarakeit.  Vgl.  I  377  uber 
Beethoven. 

Eine  eigentiimliche  „functioneIle  Synergic"  beider  Ohren,  die 
auch  auf  eine  gegenseitige  Schwachung  hinausliefe,  behauptete  Gelle 
(A.  f.  0.  XXII  99  Ref.).  "Wenn  man  einem  Ohr  durch  einen  Gumrai- 
schlauch  einen  Gabelton  zufuhrt,  das  andere  Ohr  mit  einem  Gummi- 
ballon  anblast,  so  trete  jedesraal  eine  Schwachung  des  Tones  ein. 
Gelle    meint,    dass    die    Biunenmuskeln    sich    beiderseits    zugleich 


*)  A.  f.  0.  XVI  171  „Beobachtungen  uber  centrale  Acusticus-Aflfec- 
tioneu".  , 


und  seine  Telle.  445 

contrahireu;  was  ja  Aiialogien  beim  Auge  hatte  und  fur's  Ohr 
direct  von  Stricker  uach  Versuchen  behauptet  wird^).  Bezold 
fand  jedoch  jene  Erscheinung  nur  bei  der  ^^-Gabel,  nicht  bei  A 
und  niclit  bei  a^\  und  halt  es  fur  wahrscheinlich,  dass  physikalische 
Ursachen  im  Apparat  Schuld  siud.  Denu  auch  wenn  der  Ballon 
nur  in  die  Nahe  des  Ohres  gehalten  werde,  konne  man  den  Gabel- 
ton  bis  zum  Verschwindon  schwachen  (Z.  f.  0.  XVIII  198,  209). 

Was  PoLiTZER  (Lehrb.  ^  I  226)  erwahnt:  dass  bei  einseitig 
Schwerhorigen  durch  Verschluss  des  norraalen  Ohres  haufig  ein  sub- 
jectives  Gerausch  von  grosster  Intensitat  im  kranken  Ohr  hervor- 
gebracht  werde  und  beim  Offnen  des  normalen  Ohres  wieder  ver- 
schwinde  —  kounte  auf  gleichzeitige  reflectorische  Muskelcontrac- 
tionen  gedeutet  werden.  —  Wir  mussen  uus  begniigen,  durch  diese 
Beispiele  die  Manichfaltigkeit  moglicher  indirecter  Beziehungen 
von  Ohr  zu  Ohr  erlautert  zu  haben. 

7.  Analoge  Fragen  bei  andereu  Sinnen. 

Vergleichungen  des  Gehors  mit  anderen  Wahrnehmungsgebieten 
Ziehen  wir,  um  die  Untersuchung  sich  nicht  noch  weiter  ausbreiten 
zu  lassen,  nur  an  einzelnen  Puncten  heran,  wo  es  methodisch  not- 
wendig  oder  bei  noch  wenig  ausgebauten  Fragen  fiir  die  Weiter- 
forschung  anregend  erscheint.  Aus  dem  letzteren  Grunde  besprechen 
wir  hier  noch  Eiuiges,  was  tiber  die  vorher  behandelten  Fragen 
fiir  andere  Sinne  behauptet  worden  ist. 

In  einem  scherzhaften  Aufsatz  uber  das  Luftbad  bemerkt 
LiCHTENBERG  ^) ,  „dass  die  Kiilte  nicht  zunehme,  wenn  man  sich 
nackend  ausziehe,  wenigstens  nicht  in  dem  Verhaltnis  wie  man  es 
erwarten  sollte".  Dagegen  hob  bekanntlich  E.  H.  Weber  hervor^), 
dass  eine  Fliissigkeit  uns  warmer  (kalter)  erscheint,  wenn  wir  die 
ganze  Hand  oder  gar  den  ganzen  Korper,  als  wenn  wir  bios  einen 
Finger    eintauchen.     „Es    scheinen    sich    deranach   die   durch   viele 


^)  „Pfeift  man  dem  Hunde  in's  Ohr  hinein,  so  reagirt  auch  der 
Tensor  tympani  des  anderen  Ohres.  Nach  Durchschneidung  der  Medulla 
oblongata  hort  diese  reflectorische  Action  auf."  Wiener  medic.  Presse 
1886  S.  650. 

2)  Vermischte  Schriften  V  192. 

3)  Wagner's  Hdw.  d.  Physiol.  Ill,  2,  S.  553. 


446    §  2G.  Intensitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

erapfindliche  Puncte  aufgenommenen  Temperatureindriicke  im  Ge- 
hirn,  Avohin  sie  fortgepflanzt  werden,  zu  summiren  und  einen  Ge- 
sammteindruck  hervorzubringen." 

Diese  anscheinend  entgegengesetzten  Bebauptungen  lassen  sich 
docb  vereinigen,  insofern  Weber  iiber  das  Mass  der  Verstarkung 
Nicbts  aussagt  und  Lichtenbeeg  nur  cine  Verstarkung  im  Ver- 
haltnis  zur  Vergrosserung  der  erapfindlicben  Flacbe  leugnet. 

Nun  diirfte  es  wirklicb  scbwer  fallen,  anzugeben,  um  wieviel  die 
Warme-  oder  Kalteempfindung  in  solchem  Falle  zunimmt;  und  dies 
nicbt  bios  wegen  der  Scbwierigkeit  solcher  quantitativen  Bestim- 
mungen  uberbaupt.  Diese  Scbwierigkeit  ware  nicbt  uniiberwindlicb. 
Man  konnte  an  sicb  recbt  wol  ein  Urteil  dariiber  gewinnen,  ob 
bei  objectiv  gleicber  Zunabme  der  empfindlichen  Flacbe  die  In- 
tensitat  der  Temperatur  um  gleicben,  grosseren,  geringeren  Betrag 
zunimmt  (vgl.  I  392  f.)  Aber  es  diirfte  vielmebr  auch  bier  nur  eine 
scheinbare  Verstarkung  vorliegen,  die  natiirlicb  solcber  Grossen- 
scbatzung  nicbt  zuganglicb  ist,  da  sicb  bei  genauerer  Betracbtung 
der  Scbein  eben  auflost.  Dieser  Scbein  kann  auf  abniicbe  Weise 
wie  bei  den  Tonempfindungen  entsteben.  Es  wird  Vermebrung  der 
Empfindungen  oder  grossere  raumlicbe  Ausbreitung  als  Verstarkung 
gedeutet.  Ferner  wird  die  als  einbeitlicb  aufgefasste  Warmeempfin- 
dung  in  Bezug  auf  ihre  Intensitat  nach  den  empfindlicbsten  Stellen 
beurteilt;  und  da  es  am  Korper  Stellen  gibt,  die  fiir  Tempera- 
turen  nocb  empfindlicber  sind  als  die  Fingerspitzen,  so  scheint  uns 
in  dem  unzergliederten  Empfindungsganzen  eine  Steigerung  der 
Temperatur  einzutreten.  Endlicb  findet  eine  Steigerung  des  an- 
genehmen  oder  lastigen  Geftibls  statt,  das  an  die  Empfindung  ge- 
kniipft  ist',  und  dieses  Lust-  oder  Unlustgefiihl,  resultirend  aus  den 
sammtlicben  gleicbzeitigen  Temperaturempfindungen,  wiicbst  in  der 
Tat  auch  mit  der  blossen  Ausdehnung  des  Reizes.  Da  liegt  es 
denn  wiederum  nabe,  gerade  bei  Temperaturempfindungen,  die  von 
sebr  lebhaften  Gefiiblen  begleitet  (man  raocbte  sagen  durcbdrungen) 
sind,  Gefiiblssteigeruug  mit  Verstarkung  der  Empfindung  zu  ver- 
wecbseln. 

In  Handscbuben  scbwitzend  hatte  ich  oft  den  Eindruck,  als 
ob   durcb  Ausziehen   des   einen  von  beiden   eine  Abkiibluna  beider 


und  seine  Teile.  447 

Hande,  ja  sogar  eine  gewisse  allgemeine  Abkuhlung  erzielt  wurde. 
Wenn  dagegen  ein  Glied  kalt,  das  andere  warm  ist,  wie  dies  manclie 
Personen  ofters  an  ihren  Fiissen  erleben,  so  sclieint  das  kaltere 
durch  den  Gegensatz  noch  kalter,  das  warmere  noch  warmer  zu 
werden,  also  simultaner  Contrast  stattzufiuden.  Icli  lasse  dahin- 
gestellt,  ob  auch  bier  blosse  Tauschung  waltet. 

Gewiss  ist  es  nicbt  ausgescblossen,  dass  Veranderungen  in 
der  Temperatur  eines  Korperteils  durcb  nervose  Zusammenhange 
aucb  wirklicbe  Veranderungen  in  bomologen  Gliedern,  ja  sogar 
in  sonstigen  Teilen  des  Korpers  bervorrufen;  wie  wir  ja  auch  von 
Ohr  zu  Obr  gewisse,  mebr  indirecte,  Einwirkungen  anerkennen 
mussen.  So  fanden  Franqgis-Fkanck,  Brown -S^quard  u.  A., 
dass  Kaltereize  auf  eine  Extremitat  Gefasscontraction  in  der 
anderen  bewirken,  und  nacb  Istamanofp  wird  durcb  ein  kaltes 
Handebad  aucb  die  Temperatur  des  ausseren  Geborganges  er- 
niedrigt  ^). 

Von  Auge  zu  Auge  wird  meistens  eine  leicbte  Verstarkung 
der  Helligkeit  bebauptet  (von  Mancben  aucb  bestritten),  wenn  man 
zuerst  nur  Ein  Auge,  dann  beide  offnet.  Dass  man  den  Eindruck 
erbobter  Helligkeit  bat,  ist  gewiss.  Valerius  bat  das  Verbaltnis 
sogar  pbotometriscb  zu  bestimmen  gesucbt  (wie  Docq  das  beim 
Horen)  und  etwa  gleicb  1 :  1,15  gefunden,  vermutet  aber  wegen 
nachtraglicb  entdeckter  Feblerquellen  einen  noch  geringeren  Wert^). 
Es  ist  aber  aucb  tbeoretiscb  bier  eine  Verstarkung  nur  zu  er- 
warten,  wenn  anders  man  mit  den  Nativisten  annimmt,  dass  beide 
Netzbautgruben  zusammen  nur  Eine  Empfindung  geben^).  Ob  auch 
die  Angabe  von  Urbantschitsch  (a.  a.  0.  Bd.  31),  wonach  eine 
Stunde  lang  fortgesetzte  Sehiibungen  des  recbten  Auges  eine  Stei- 
gerung  des  Sehvermogens  im  linken  Auge  bewirkt  baben,  eine  Stei- 


^)  PPLtGER's  Arch.  Bd.  38  (1886)  114.  Adamkiewicz  setzte  durch 
Auflegung  von  Senfteig  auf  einen  Arm  die  Empfindlichkeit  der  sym- 
metrisch  gelegenen  Stelle  des  anderen  Armes  hei'ab  (erwahnt  bei  Heiden- 
HAiN,  Der  sg.  tierische  Magnetismus  S.  37;  woselbst  auch  allgemeinere 
Betrachtungen  iiber  solche  Zusammenhange). 

2)  PoGG.  Ann.  Bd.  150  (1873)  317. 

^)  M.  „Psychol.  Ursprung  der  Raumvorstellung"  247  f. 


448    §  26.  Intensitatsurteile  iiber  einen  zusammengesetzten  Klang 

gerung  des  Empfindungsvermogens  oder  nur  der  Fahigkeit  des 
Fixirens,  Aufraerkens,  Erkennens  bedeutet,  muss  hier  wieder  dahin- 
gestellt  bleiben  ^). 

Ferner  sind  von  Auge  zu  Auge  Farbenmischung,  Contrast  und 
Nachbilder^)  bebauptet  worden;  und  obgleich  aucb  bierin  nicht  alle 
Beobacbter  iibereinstimmen,  lassen  sicb  gewiss  nicbt  alle  Einflusse 
dieser  Art  in  Abrede  stellen. 

Untersucbungen  iiber  den  gegenseitigen  Einfluss  verscbiedener 
Stellen  Eines  Auges  sind  mehrfacb,  und  speciell  bei  minimalen 
Reizen,  angestellt  worden.  Dabei  bat  sicb  immer  ergeben,  dass 
bei  gleicber  Intensitat  des  Reizes  die  Grosse  der  Netzbautbilder 
einen  Einfluss  bat  auf  die  Merklicbkeit,  dass  durcb  blosse  Ver- 
grosserung  ein  nocb  nicbt  raerklicber  Reiz  raerklicb  werden  kann; 
wenn  aucb  dieser  Einfluss  mit  wacbsender  Grosse  des  Feldes  rascb 
abnimmt^).  Diese  Beobacbtungen  sind  jedocb  nicht  notwendig  auf 
eine  gegenseitige  Verstarkung  zuriickzufiibren;  die  Merklicbkeit  kann 
erboht  werden  obne  Erbobung  der  Intensitat  (bez.  Helligkeit),  wie 
oben  beziiglicb  der  akustiscben  Eindriicke  betoiit  ist.  Dass  dagegen 
in  Gestalt  des  „simultanen  Contrastes"  ein  wirklicber  Einfluss  der 
Netzhautstellen  auf  einander  stattfindet,  ist  seit  Mach's  und  Heking's 
Versuchen  nicbt  mebr  zu  bezweifeln. 

Veranderung  der  Starke  einer  Empfindung  durcb  eine  gleich- 
zeitige  andere  bebauptet  endlicb  Ubbantschitsch  aucb  ftir  andere 
Sinne  und  zwar  im  Allgemeinen  Steigerung,  in  einzelnen  Fallen 
aucb  Herabsetzung;   ja  selbst  Einwirkung   eines   Sinnes  auf  einen 


^)  In  Hermann's  Hdb.  II,  2.  350  sagt  allerdings  Exner,  dass  bei 
ihm  sich  nicht  einmal  die  Ubung  im  Mikroskopiren  vom  rechten  Auge, 
mit  dem  er  ausschliesslich  zu  mikroskopiren  gewohnt  sei,  auf  das  linke 
iibertragen  babe.  Es  storten  ihn  bei  Anwendung  des  linken  die  mouches 
volantes,  der  Anblick  der  eigenen  Wimpern  u.  dgl.,  wovon  er  soust  langst 
abzusehen  gelernt  habe. 

2)  letztere  kiirzlich  von  Ebbinghaus,  Pflug.  Arch.  Bd.  46,  S.  498. 

^)  FoRSTER,  Uber  Hemeralopie  1857  (bei  Fechner,  Rev.  159). 
A.  W.  Volkmann,  Physiol.  Unt.  auf  dem  Gebiete  d.  Optik  I  60  f.  Aubert, 
Physiol,  der  Netzhaut  83,  Grundzg.  der  physiol.  Optik  494.  Eug.  Fick 
Ppluger's  Arch.  Bd.  17  (1878)  152,  Bd.  39  (1886)  18,  Bd.  43  (1888)  445. 
Dobrowolsky  das.  Bd.  35,  S.  536. 


und  seine  Telle.  «  449 

anderen  Sinn  ^).  Wir  haben  an  dem  Beispiel  der  Tfine  gesehen, 
wie  schwer  oft  bei  solchen  feinsten  lutensitatsfragen  Tauschungen 
zu  vermeiden  sind,  mussen  daher  den  Aussagen,  besonders  wenn 
sie  von  nicht  durch  und  durch  gcschulten  Personen  stammen,  mit 
einiger  Zuruckhaltung  gegenuberstehen.  Die  an  letzter  Stelle  er- 
wahuten  ruhren  ohnedies  bereits  an  das  Capitel  vom  Farbenhoren 
und  Tonsehen,  worin  Viel  gesiindigt  worden  ist  und  worauf  wir 
zweckraassiger  erst  bei  der  Discussion  der  Gefuhle  eingeheu. 

Im  motorischen  Gebiet  sind  gegenseitige  Hemmungen  eine 
bekannte  Tatsaclie.  Aber  aucb  Summation  in  der  Reflexwirkung 
elektrischer  Hautreize  auf  verscbiedene  Teile,  auch  von  Pfote  zu 
Pfote,  wird  erwahnt;  ebenso  eine  gewisse  Begiinstigung  des  Ablaufes 
einer  Erregung  durch  eine  zweite,  welchen  Vorgang  S.  Exner  als 
„Bahnung"  bezeichuet  ^). 


§  27.   Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile. 

Die  theoretische  Bedeutung,  welche  den  Schwebungen  teils 
mit  Recht  teils  mit  Unrecht  zuerkannt  worden  ist,  die  beson- 
deren  Schwierigkeiten  in  der  Beurteilung  Dessen,  was  hier 
eigentlich  den  Inhalt  unsrer  Empfindung  bildet,  die  in  beiden 
Umstanden  wurzelnden  zahlreiclien  neueren  Untersuchungen 
machen  eine  gesonderte  Darstellung  notwendig.  Docli  scheiden 
wir  hier  noch  alle  Fragen  ab,  die  den  durch  Schwebungen  er- 
zeugten  Gefiihlseindruck,  namentlich  ihre  angebliche  Beziehung 
zum  Harmoniegefiihl,  betreffen;  wahrend  eine  andere  Frage, 
nach  ihrer  Beziehung  zu  den  Combinationstonen,  schon  beriihrt 
ist.  Dessenungeachtet  drangt  sich  hier  noch  eine  grosse  Fiille 
von  Fragen,  die  wir  in  Gruppen  ordnen. 


»)  Pflugeb's  Arch.  Bd.  42  (1888)  S.  154.  Vgl.  auch  oben  121, 
Anm.  2. 

2)  Pfluger's  Arch.  Bd.  28  (1882)  487.  Von  Summation  wird  ge- 
sprochen,  —  sagt  Exner  — ,  wenn  an  sich  unwirksame  Reize  zusammen 
eine  merkbare  Wirkung  auslosen.  Der  Ausdruck  ,,Bahnung"  dagegen 
bezieht  sich  auf  den  Zustand  der  Centralteile  nach  Ablauf  eines  Reizes, 
der  fiir  sich  schon  eine  motorische  Wirkung  hervorgerufen  hat. 

Stumpf,  Tonpsyehologie.  IT.  29 


450  §  27.  Schwebungen  und  darauf  bezugliche  Urteile. 

I.  Definition,  Entstehung  und  Bedingungen  der  Merk- 
lichkeit  von  Schwebungen. 

1,  Wesen  und  begleitende  Ersclieinungen. 

Zunachst  eine  Vorbemerkung  iiber  den  allgemeineren  Be- 
griff,  dem  Helmholtz  die  Scbwebungen  unterordnet.  Er  bringt 
sie  unter  den  Titel  „Storungen  des  Zusammenklangs"  ge- 
meinscbaftlich  mit  den  Combinationstonen.  Diese  nennt  er  in- 
sofern  Storungen  des  Zusammenklangs,  als  sie  nach  ihm  dann 
entstehen,  wenn  die  Superposition  der  Schwingungen  nicht  mehr 
eine  ungestorte  ist.  Nicht  also  im  Zusammenklang  als  solchem, 
als  empfundenem,  macht  sich  hier  eine  Storung  geltend:  hier 
erscheint  jene  physische  „ Storung"  nur  als  Erganzung,  Be- 
reicherung,  als  ein  dritter  Ton  neben  den  zweien.  Bei  den 
Schwebungen  konnte  man  von  einer  physischen  Storung  nur 
etwa  dann  reden,  wenn  man  die  gemeinsame  Wirkuug  zweier 
objectiver  Schwingungen  auf  Ein  Teilchen  eine  Storung  nennen 
wollte.  Aber  Helmholtz  denkt  hier  vielmehr  an  eine  Storung 
der  Empfindung  als  solcher  (277):  „Erst  wenn  die  Schwingungen 
(der  CoRTi'schen  Bogen)  Empfindungen  in  den  Nerven  erregen, 
tritt  die  Abweichung  von  dem  Gesetze  ein,  dass  je  zwei  Tone 
und  je  zwei  Tonempfindungen  ungestort  nebeneinander  bestehen." 

Worin  nun  auch  diese  Empfindungsstorung  bestehe:  soviel 
ist  offenbar,  dass  Combinationstone  und  Schwebungen  bei  Helm- 
holtz nicht  unter  einen  gemeinsamen  Begriff,  sondern  nur  un- 
ter einen  gemeinsamen  Namen  gebracht  sind.  Das  eine  Mai 
soil  es  sich  um  eine  ausschliesslich  physische  Storung  handeln, 
die  psychisch  in  keiner  Weise  als  Storung  zur  Erscheinung 
kommt,  das  andere  Mai  um  eine  Storung  der  Empfindung. 

Fragen  wir,  worin  Helmholtz  die  Storung  des  empfundeuen 
Zusammenklangs  bei  den  Schwebungen  erblickt,  so  ist  wol  kein 
Zweifel,  dass  er  die  Intensitatsschwankungon  im  Auge  hat  (eine 
Schwankung  in  der  Tonhohe  erwahnt  er  nur  nebenbei  und  erst 
in  den  spateren  Auflagen).  Aber  da  wir  doch  im  Allgemeinen 
Intensitiitsschwankungen  eines  qualitativ  unveranderten  Zu- 
sammenklanges,  z.  B.  eines  Dreiklanges,  nicht  als  Storungen 
des  Zusammenklanges  bezeichnen  konneu,  so  bezieht  sich  der 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  bezugliche  Urteile.  451 

Ausdruck  wahrscheinlich  genauer  aiif  die  Storungen  in  der  Auf- 
fassung  und  in  der  Aunelimlichkeit  des  Klanges,  wie  sie  spe- 
ciell  bei  raschen  Inteusitatsschwankungen  eintreten.  Dies'  sind 
jedoch  wieder  nicht  Storungen  der  Empfiuduug  als  solcher,  des 
Zusammenklanges  als  eines  Empfindungsinhaltes.  Und  wieder 
leuchtet  ein,  dass  von  Storung  in  diesen  Bedeutungen  bei  Com- 
binationstonen   nicht  die  Rede  sein  kann. 

Wir  konnen  indessen  von  dieser  nicht  ganz  gliicklichen 
VerallgemeineruDg  absehen  und  uns  an  den  concreten  Begi'iff 
von  Schwebungen  halten,  der  Helmholtz'  sonst  so  vorzUglicher 
Darstellung  zu  Grunde  liegt,  indem  wir  sagen: 

Schwebungen  sind  regelmassige  Inteusitatsschwan- 
kungen von  Tonen,  hervorgerufen  durch  gleichzeitige 
Einwirkung  zweier  Tonwellen  von  verschiedener  Wel- 
lenzahP). 

Als  sinnlichfe  Erscheinung  sind  also  Schwebungen  ihrem 
Wesen  nach  in  keiner  Weise  unterschieden  von  irgend  welchen 
anderen  regelmassigen  Inteusitatsschwankungen  von  Tonen,  z.  B. 
denen,  die  durch  Interferenz  zweier  Wellenziige  von  gleicher 
Wellenzahl  und  nur  verschiedener  Wellenphase,  oder  durch 
blosse  Intermittenz  eines  Tones  (mittelst  einer  vor  der  Ton- 
quelle  rotirenden  durchbrochenen  Scheibe  oder  durch  einfaches 
Herumdreheu  einer  Stimmgabel  vor  dem  Ohr  u.  s.  f.  ^))  ent- 
stehen.  Nur  eben  die  Entstehung  ist  verschieden;  auch  natiir- 
lich  das  Tonmaterial  in  der  Empfindung,  welches  schwebt;  nicht 
aber  das  Phanomeu  selbst,  das  wir  Schwebung  nennen.  Dies 
hat  auch  Helmholtz  hervorgehoben  (266  f.)  Halten  wir  es  fest. 

Wenn  die  Schwebungen  sehr  langsam  erfolgen,  bemerkt 
man   eine   stetige   Ab-  und  Zunahme  der  Intensitat,  wie  sie 


*)  Vgl.  Helmholtz  273.  Einiges  zur  Gescliichte  des  Schwebungs- 
begriffes  gibt  De  Morgan,  Transact.  Cambridge  Phil.  Soc.  1857  Nov. 
S.  130,  sowie  Bosanquet  PMlos.  Magazine  XII  (1881)  S.  270. 

2)  Auch  wenn  ich  eine  ausschwingende  c^-Gabel  mit  sehr  breitem 
Fuss  auf  den  umgestlilpten  Tragus  setze,  wird  der  Ton  intermittirend, 
rollend.  Zugleich  bore  ich  den  tiefen  Muskelton,  und  wahrscheinlich 
bewirkt  der  Muskeltetanus  auch  das  lutermittiren  des  Gabeltones. 

29* 


452  §  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile. 

der  stetigen  Ab-  und  Zunahme  der  objectiven  Amplitude  ent- 
spricht.  Erfolgen  aber  die  Schwebungen  rascher,  so  bemerkt 
man  durch  Pausen  unterbrochene  scharf  abgegrenzte  Schlage 
oder  Stosse.  Der  Grund  dieses  Unterschieds  muss  im  Mechanis- 
mus  des  Ohres  liegen,  ist  aber  nocli  nicht  hinreicbend  auf- 
gedeckt^).  Der  Unterscbied  der  Erscheinung  selbst  fallt  noch 
voUstandig  in  die  Grenzen  der  angegebenen  Definition. 

Auch  wenn  wir  den  Eindruck  schneller  Schwebungen  als 
ein  Rollen,  Kollern,  Schnattern,  Knattern,  Schnarren,  Rasseln, 
Schwirreu  (Rauhigkeit) ,  Zwitschern  charakterisiren  —  lauter 
Ausdriicke,  die  man  je  nach  Umstanden  vollkommen  zutreffend 
finden  wird  — ,  so  kann  man  darin  den  ebenerwahnten  Unter- 
scbied, der  natiirlich  zahllose  Grade  zulasst,  wiederfinden  (z.  B. 
Rollen  bezeichnet  das  tjbergangsstadium  zwischen  den  stetigen 
und  den  discreten  Schwankungen,  wahrend  die  folgenden  Aus- 
driicke sich  alle  auf  das  letztere  Stadium  beziehen);  ausserdem 
aber  auch  Unterschiede  in  der  Empfindungsstarke  der  Schwe- 
bungsmaxima  (z.  B.  Schwirren  und  Zwitschern  gegeniiber  dem 
Knattern).  Insoweit  batten  wir  es  also  nur  mit  Modificationen 
in  der  Weise  des  Anschwellens  zu  tun,  mit  solchen,  die  streng 
unter  den  eigentlichen  Schwebungsbegriff  fallen. 

Aber  ich  zweiHe,  ob  hiemit  die  Beschreibung  des  Ein- 
druckes  crschopft  ist.  Helmholtz  scheint  dieser  Meinung  zu 
sein  (vgl.  279  —  286).  Er  nennt  zwar  das  Knarren  eine  Art 
Gerausch,  fiihrt  es  aber  auf  weiter  Nichts  als  die  Schnelligkeit 
der  Stosse  zuriick  (281).  AUein  es  scheint  mir,  dass  in  den 
Fallen  starkerer  oder  schnellerer  Schwebungen  noch  gewisse 
Nebenerscheinungen  dazutreten.  Erstlich  ausserst  hohe  Tone, 
durch  welche  sich  namentlich  das  Schwirren  und  Zwitschern 
von  den  in  obiger  Reihe  vorherstehenden  Eindriicken  unter- 
scheidet.  Zweitens  und  hauptsachlich  Geriiusche,  welche  nach 
meiner  Meinung  nicht  vollstandig  auf  Tonempfindungen  oder 
Modificationen  solcher  zuriickfiihrbar  sind.  Die  Sprache  ist 
hier   in  hohem  Grade   onomatopoetisch,   indem   sie   in   obiger 


1)  Hensen,  Heem.  Hdb.  Ill,  2,  98. 


§  27.   Schwebungen  unci  darauf  beziigliche  Urteile.  453 

Reihe  von  Ausclriicken  sowol  die  Vocale  immer  heller  werdoi 
lasst  —  was  dem  Hinzutreteu  immer  hoherer  Tone  bei  rascheren 
Schwebungen  entspricht  — ,  als  auch  immer  scharfere  Conso- 
nanten  eiufiigt,  durch  welche  die  Art  der  begleitenden  Gerausche 
mit  den  unsrer  Sprache  verfiigbaren  Lauten  am  bestcn  nach- 
geahmt  wird.  Wie  es  kommt,  dass  durch  die  Veriinderung  der 
Schnelligkeit  und  Starke  von  Intensitatsschwankungen  ton- 
erzeugender  Reize  nebenbei  jene  hohen  Tone  und  diese  Ge- 
rausche miterzeugt  werden,  dariiber  miissen  wir  auch  erst  von 
einer  Weiterentwickelung  der  median ischen  Theorie  des  inneren 
Ohres  Aufschluss  erwarten.  Unabhangig  von  Starke  und  Schnellig- 
keit der  Schwebungen  scheint  aber  auch  die  Hohe  der  schwe- 
benden  Tone  Einfluss  darauf  zu  haben.  Ein  Zwitschern,  wie 
ich  es  bei  dem  Doppelgriff  c^  fP  (schwacher  auch  noch  bei 
h^  d^)  auf  der  Violine  und  viel  starker,  ja  geradezu  bosartig, 
bei  Zungen  von  gleicher  Hohe  und  Tondistanz  in  den  Ohren 
localisirt  vernehme,  kommt  bei  gleicher  Anzahl  der  Schwebungen 
und  beliebiger  Starke  in  den  tieferen  Regionen  nicht  zu  Stande. 
Bei  diesem  Zwitschern  sind  nun  allerhochste  Tone  beteiligt, 
die  wie  auf  Glas  geritztc  klingen,  ferner  Schwebungen  der 
Obertone  von  ausserster  Schnelligkeit,  wie  sie  eben  nur  bei 
hohen  Tonen  noch  merklich  sind  (s.  u.)  Aber  der  Eindruck 
scheint  mir  nicht  damit  erschopft.  Es  scheinen  noch  eigent- 
liche  unauflosbare  Gerausche  dabei  zu  sein. 

Soviel  hebt  auch  Helmholtz  hervor  (286),  dass  die  gleiche 
Anzahl  von  Schwebungen  (bei  gleicher  Starke  der  Tone)  immer 
weniger  rauh  klingt,  je  tiefer  die  schwebenden  Tone,  und  dass 
eine  bestimmte  Erklaruug  dafiir  sich  einstweilen  nicht  geben  lasse. 

Unter  besonderen  Umstanden,  bei  sehr  starken  Schwe- 
bungen, hat  man  wol  auch  noch  eine  dritte,  gar  nicht  akustischc, 
Classe  begleitender  Empfindungen,  namlich  Tastempfindungon 
von  der  heftigen  Bewegung  des  Trommelfells  ^).    Die  Ausdriicke 


*)  Preyer,  Ak.  Unt.  33  sagt,  dass  er  dasselbe  Gefubl  auch  bei  der 
tiefsten  Stimmgabel  habe,  deren  Pendelschwingungen  die  starksten  jemals 
hergestellten  und  einzeln  als  Schallstosse  horbar  seien  (18,6  Schwingungen 


454  §  27.   Schwebungen  iind  darauf  beziigliche  Urteile. 

jjStosse,  Schlage,  pulsus,  battemens,  beats"  ^)  fiir  die  discreten 
Schwebungen  diirften  damit  zusammenhangen. 

Alls  diese  Nebenersclieinuugen  sind  iibrigens  wiederum 
den  Schwebungen  im  AUgemeinen  mit  den  durch  Interferenz 
oder  Intermittenz  orzeugten  Stiirkeschwankungen  gemeinsam 
und  konnen  im  einzehien  Fall  durch  solche  ganz  ebenso  her- 
gestellt  werden.  Man  denke  nur  z.  B.  an  die  schrillen  Signal- 
Pfeiftone,  wenn  eine  Erbse  im  Pfeifchen  liegt:  es  ist  derselbe 
Eindruck  wie  wenn  wir  zwei  Pfeifchen  von  nahe  gleicher  Ton- 
hohe  combiniren. 

Zahlreiche  kurze  aber  treffeude  Angabeu  iiber  den  verschie- 
denen  Charakter  der  Schwebungen  unter  verschiedeuen  Umstanden 
findet  man  bei  R.  Konig,  Pogg.  Ann.  157,  S.  177  f.  in  den  Tabellen. 
Das  fiirchterlichste  Schnarren  und  Schnatteru  babe  ich  bei  den 
tiefsten  Tonen  der  AppuNN'scheu  Zungeuapparato  veruommen,  wo 
noch  die  Schwebungen  der  vielen  und  starken  Obertone  mit  denen 


in  der  Secunde),  wenn  er  das  Ohr  dicht  an  die  Zinke  halte;  nicht  min- 
der bei  tiefsten  Oombinationstonen. 

')  Den  Ausdruck  „pulsus"  gebraucht  Mersenne,  der  wol  zuerst  der 
Schwebungen  ixberhaupt  Erwahnung  tut.  ,,Battements"  ist  seit  Sauveur 
(1702)  die  tecbnische  Bezeicbnung  im  Franzosischen,  wie  „beats"  im 
Englischen  (vermutlich  seit  Young,  wiihrend  Robert  Smith  1749  sie  — 
ebenfalls  sehr  anschaulich  —  „flutterings"  nannte).  „St6sse"  ist  Scheib- 
ler's  stehender  Ausdruck,  dem  franzosischen  nachgebildet  (von  Chladni 
nur  voriibergehend  gebraucht,  wahrend  Dieser  ,, Schwebungen"  als  bereits 
gebrauchlichen  Ausdruck  hinstellt,  Akust.  §  37). 

Von  Interesse  ist  die  besonders  drastische  Beschreibung  Wm.  Hol- 
der's, der  als  einer  der  Ersten  den  Schwebungen  seine  Aufmerksamkeit 
schenkte  (1694),  nach  De  Morgan  1.  c.  131:  Man  konne  Trommel  und 
Pfeife  durch  die  Orgel  nachahmen,  wenn  man  zwei  benachbarte  tiefe 
Tasten  nehme.  „Though  these  of  themselves  should  be  exceeding  smooth 
and  well  voyced  Pipes,  yet,  when  struck  together,  there  will  be  such  a 
Battel  in  the  Air.,  such  a  Clatter  and  Thumping,  that  it  will  be  like 
the  beating  of  a  Drum,  while  a  Jigg  is  played  to  it  with  the  other  hand." 
Er  pfiff  zu  einer  Glocke,  etwas  hoher  als  diese:  „its  cross  Motions  were 
so  predominant,  that  my  Breath  and  Lips  were  chek'd,  that  J  could 
not  whistle  at  all.  After,  J  sounded  a  shrill  whistling  Pipe,  which  was 
out  of  Tune  to  te  Bell,  and  their  Motions  so  clashed,  that  they  seemed 
to  sound  like  switching  one  another  in  the  Aii'."' 


§  27.   Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile.  455 

der  Gruudtdne  zusammemvirken.  Vor  Larm  ist  da  kaum  noch  cin 
Ton  zu  horeii.  (Diese  tiefsteu  Zungen,  bis  etwa  zum  E^  geben 
aber  auch  schon  Stdsse,  wenngleich  nicbt  so  gewaltige,  wcnii  eine 
derselbeu  fiir  sich  allein  in  Beweguug  gesetzt  wird:  eine  Disconti- 
nuitat,  die  nicht  oder  nur  zum  geriugsten  Teile  an  der  Tonregion 
als  solcher,  an  den  physiologischen  Bedingungen  fur  tiefste  Tone, 
haftet,  da  ja  Pfeifen  und  Saiteu  in  der  Contraoctave  schone  stetige 
Tone  geben,  sondern  die  hauptsachlich  in  der  Scbwerbeweglichkeit 
dieser  Zungen  und  teilweise  wol  aucb  in  Schwebungen  ihres  Grund- 
tons  mit  ihrem  ersten  Oberton  wurzelt.)  Ahnliches  beim  Harmonium. 

Fldtcnpfeifen  geben  im  Allgemeinen  mildere  Schwebungen  als 
Zungen  oder  Zungeupfeifen.  Als  ich  eine  Floten-  mit  einer  Zungen- 
pfeife  zusaramen  schweben  liess,  hdrte  ich  eine  doppelte  Art  von 
Schwebungen  von  gleicher  Schnelligkeit  aber  verschiedenem  Cha- 
rakter:  in  der  Nahe  der  Flotenpfeife  waren  sie  mehr  rollend,  in 
der  Nahe  der  Zungenpfeife  scharfer  stossend.  Starke  Schwebungen 
kann  man  jedoch  auch  mit  Stimmgabeln  erzeugen,  welche  man  vor 
ein  und  dasselbe  Ohr  halt  und  zwar  rechtwinklig  gegen  einander. 
Man  wird  iibrigens  finden,  dass  solche  Versuche  immer  nach  einiger 
Zeit  das  Ohr  angreifen, 

2.  Entstehung  und  Sitz  der  Schwebungen. 

Was  iiber  die  Entstehung  in  der  Definition  selbst  gesagt 
ist,  betrifft  ebenso  wie  das  Merkmal  der  Intensitatsschwankung 
etwas  rein  Tatsachliches,  unmittelbar  zu  Beobachtendes,  das 
objective  Vorhandensein  und  Zusammenwirken  von  Tonwellen 
verschiedener  Lange.  Des  Weiteren  pflegt  man  nach  Anleitung 
der  HELMHOLTz'schen  Lehre  das  Zustandekommen  von  Schwe- 
bungen aus  dem  Princip  des  Mitschwingens  abzuleiten.  Es 
folgt  aus  diesem  Princip,  dass  durch  eine  objectiv  einfache 
Schwingung  ein  einzelnes  abgestimmtes  Teilchen,  wie  wir  solche 
in  der  Schnecke  voraussetzen,  am  intensivsten  zum  Mitschwingen 
angeregt  wird,  ausserdem  aber  in  abnehmendem  Grade  auch 
eine  gewisse  Anzahl  benachbarter  Teilchen;  dass  also  zwei 
Wellenziige,  deren  Langendifferenz  eine  gewisse  (empirisch  zu 
bestimmende)  Grosse  nicht  iiberschreitet,  die  zwischenliegenden 
Teilchen   gemeinsam   erregeu  miissen.     Die  resultirende  Be- 


456  §  27.   SchwebuDgen  mid  daranf  bezUgliche  Urteile. 

wegiing  dieser  Teilclioii  ciitspriclit  dann  der  ubjectiveu  Re- 
sultaute  aiis  bcidcn  Wcllenziigcn.  Es  entstehcn,  da  dio  Wellen- 
phaseii  abweclisclnd  iu  glcicliem  und  entgogeiigesctztem  Siiinc 
zusaminentrcffcn,  vcrinclirte  und  vorraindcrtc  Amplituden.  Die 
Zahl  der  ersteren  (Maxima)  ist  glcich  der  Differenz  der  Schwin- 
gungszablen.  Da  wir  nun  wirklicb  Scbwcbungen  von  dieser 
Anzabl  vernebmen,  so  bestiitigt  sicb  obiges  Princip  und  bilden 
die  Schwebungon  geradc  eine  seiner  Hauptstiitzen.  Gleicliwol 
werden  wir  gut  tun,  diesen  Toil  der  Entstehuugsgeschicbte  als 
Hypotbese  von  der  eigentlicben  Definition  nocb  zu  scbeidcn. 

Unter  dem  Entstebungsort  oder  Sitz  der  Scbwebungen 
versteben  wir  nicbt  den  Ort,  wo  die  Umsetzang  der  pbysiolo- 
giscben  Processe  in  die  Emptindungen  vor  sicb  gebt,  sondern 
wo  die  Modificationen  des  pbysiologiscbcn  Processes,  welcbo 
den  bescbriebenen  Eigcnscbaften  tier  Tonempfindungen  bei 
Scbwebungen  entsprecben,  zuerst  ointreten.  Jeue  Umsetzung 
(oder  wie  man's  nennen  will)  kann  immerbin  anderwtirts  und 
tiefer  im  Gebirn  erfolgen,  wenn  nur  diese  Modificationen  bis 
dabin  erbalten  bleiben. 

Mancbe  baben  nun  fiir  die  Scbwebungen  ein  besonderes 
Organ  im  Obr  vermutet,  einen  Apparat  ausserbalb  der  Scbnecke, 
sodass  Tiere,  welcbe  letztere  nicbt  besitzen,  keine  Tone,  aber 
Scbwebungen  boren  konnten  ^).  Wenn  es  sicb  nur  um  die  mit 
den  Scbwebungen  vielfacb  verbundenen  Gerauscbe  bandelt,  muss 
allerdings  aucb  meiner  Meinung  nacb  ein  besonderes  Aufnabms- 
organ  im  Obr  vorausgesetzt  werden.  Wenn  wir  dagegen  un- 
ter Scbwebungen  Intensitatsscbwankungen  der  Tone  versteben, 
konnen  sie  unmoglicb  einen  anderen  Entstebungsort  baben  als 
die  Tone  selbst.  Und  zwar  miissen  sie  da  entsteben,  wo  die 
objectiv  zusammengesetzte  Welle  in  pendelformige  Bewegungen 
aufgelost  wird;  wenn  anders  die  obige  Tbeorie  ibrer  Entstebung 
zutrifft,  die  einzige,  unter  der  es  bisber  cine  Erklarung  der 
Scbwebungen  gibt.  Denn  nur  da,  wo  eine  Reibe  stufenweiso 
abgestimmter,  scbwingungsfabiger  Teilcben  vorhanden  ist,  kann 


»)  Preyer,  Akust.  Unt.  30.    Hensen,  Herm.  Hdb.  Ill,  2,  99. 


§  27.   Schwebungen  iind  darauf  l)oziif5li{he  Urtcilc.  457 

Ein  Teilchcii  (lurch  molum-c  niclit  zu  verschiedcne  Schwin- 
gungen,  die  in  ciuer  zusamraengcsetzteu  Welle  vorluiiulen  siiid, 
gemcinsam  erregt  werdcii.  Obgloicli  also,  wie  Politzeu  nach- 
gevviesen,  die  Bewcgung  dos  Trumraelfells  und  der  Geliorkiiocbel- 
chcn  oiii  treues  Abbild  der  zusammengesetzten  Welle  ist,  ihrc 
Maxima  und  Minima  wiederliolt,  so  haben  diesc  Teile  mit  der 
Entstehung  der  Schwebungen  als  solcher  nicht  Mchr  zu  tun 
als  die  objective  Luftwelle  selbst:  sie  liefern  diese  unveriindert 
weiter,  ebenso  wie  die  Luft  die  Schwingungen  des  toncndeu 
Korpers  weiterliefert. 

Da  die  Anschauung  iibcr  Entstehung  und  Sitz  der  Schwe- 
bungen, wie  wir  sehen,  in  unaufloslicher  Verbindung  steht  mit 
der  Lehre  vom  Mechanismus  und  Sitz  des  analysirenden  Appa- 
rates,  so  konnen  wir  auch  diese  Lehre  bier  ciner  ncucn  Prii- 
fung  unterziehen.  Einige  besondere  Consequenzen  und  Er- 
schcinungen  kommen  hiebei  in  Betracht. 

Vor  Allem  ist  es  eine  Folgcrung  aus  der  Theoric,  dass  die 
Zabl  der  Schwebungen  nicht  in  einer  unveranderlichen  Bezieh- 
ung  steht  zu  den  empfundenon  Tonen  und  ihrem  Unterschiedj 
sondern  dass  sie  lediglich  und  unbedingt  von  den  olijectiven 
Schwingungszahlen  abhaugt  (anders  als  dies  beim  Verschmel- 
zungsgrade  nach  S.  138,  214  der  Fall  ist).  Deshalb  muss  die 
Schwebungszahl  z.  B.  unverandert  bleiben,  wenn  eine  Gabel 
ausschwingt,  wahrend  eine  andere  constant  tont,  obgleich  der 
Ton  der  ersten  Gabel  sich  hiebei  fiir  unsre  Empfindung,  nicht 
bios  fiir  die  Schatzuug,  in  die  Hohe  zieht  (I  259).  In  der  Tat 
ist  keine  Verauderung  in  der  Schnelligkeit  der  Schwebungen 
bemerkbar.  Es  konnen  wirklich,  so  paradox  dies  Manchem  er- 
scheinen  mag,  bei  Anderung  des  Empfindungsunterschiedes  die 
Schwebungen  ungeandert  bleiben ,  und  konnen  umgekehrt  die 
niimlichen  zwei  Tone  unter  Umstiinden  eine  verschiedene  Schwe- 
bungszahl ergeben;  wenn  auch  die  Abweichungen  der  Tone  im 
ersten  und  der  Schwebungszahl  im  zweiten  Fall  nur  geringc 
sein  werden. 

Ferner  ergibt  sich  aus  der  Theorie,  dass  bei  Nachempfin- 
dungen,  wenn  die  beiden  ausseren  Tonreize  weggefallen  sind, 


458  §  27.   Schwebungen  unci  darauf  bezuglichc  Urteile. 

audi  die  Schwebungen  wegfallen  werden;  da  ja  dann  nicht 
mehr  die  mittleren  Fasern  gemeinsam  durcli  die  verschiedeneii 
Tonwellen  errcgt  werden  und  die  Schwebungen  nach  der  Theorie 
nicht  etwa  durch  gegenseitige  Einwirkung  der  Fasern  sondern 
nur  durch  objective  Erregung  zu  Stande  kommen.  Auch  diese 
Folgerung  scheint  nach  einer  Bemerkung  von  Uebantschitsch 
zuzutreffen  (s.  o.  359). 

Dagegen  ist  es  wol  denkbar,  dass  ein  bios  nachkhngender, 
also  subjectiver,  Ton  mit  einem  objectiv  erzeugten  Schwe- 
bungen bildet,  wenn  der  letztero  in  das  Fasergebiet  des  er- 
steren  iibergreift.  Eine  solche  Beobachtung  erwahnt  gelegent- 
lich  S.  P.  Thompson^). 

Weiter  kommt  hier  in  Betracht  die  bereits  mehrfach  er- 
wahnte  Tatsache,  dass  Schwebungen  auch  bci  ungleichseitigem 
Horen  zu  Stande  kommen.  Dove  hat  dies  bei  Verteilung  nahezu 
gleichgestimmter  Gabeln  an  beide  Ohren  zuerst  bemerkt;  dann 
Mach,  S.  p.  Thompson,  Graham  Bell,  W.  Thomson,  Alle  unab- 
hangig  von  einander^);  und  leicht  kann  es  ein  Jeder  bestatigen. 
Dies  konnte  nun  auf  Entstehung  der  Schwebungen  im  Gehirn 
gedeutet  werden.  Aber  einfacher  ist  es  doch  erklarbar  durch 
die  Knochenleitung  von  Ohr  zu  Olir,  deren  Existenz  im  All- 
gemeinen  ja  feststeht,  Und  so  ordnet  es  sich  in  die  sonst  be- 
wahrte  Theorie  ein  und  wird  sofort  verstandlich ,  wahrend  die 
Verlegung  in's  Gehirn  das  Verstandnis  nur  hinausschiebt  ^). 
Auch    begreift    sich  so  die   grosse  Abschwachung   und   andere 


1)  Philosophical  Magazine  XII  (1881)  354. 

2)  Dove,  Repertorium  d.  Physik  III  (1839)  404.  Optische  Stiidieu 
(1859)  50.  Mach,  A.  f.  0.  IX  (1874)  72  f.  Die  Ubrigen  bei  S.  P.  Thomp- 
son a.  a.  0.  351. 

^)  Nachdem  Dove  auf  diese  beiden  Moglichkeiten  hingewiesen,  ent- 
schied  sich  bereits  Seebeck  (Repert.  d.  Physik  VIII,  1849,  S.  107)  nach 
Versuchen  mit  der  Sirene,  wobei  er  den  Kopf  zwischen  zwei  Sirenen 
brachte,  fiir  die  zweite  Annahme.  Dove  hatte  beim  Gesichtssinn  eine 
centrale  Verbindung  der  Eindriicke  beider  Organe  geleugnet,  wahrend 
er  geneigt  war,  sie  beim  Gehorsinn  anzunehmen.  Seebeck  meinte,  gerade 
das  Umgekehrte  erschliessen  zu  miissen. 


§  27.   Schwebungen  unci  darauf  bcziiglichc  Urteilc.  459 

Modificationen  bei  vcrteilten  Gabeln,  von  rlcncn  unten  mehr 
die  Rede  sein  wird. 

Auch  bestatigt  die  Bcobachtung  boi  vertciltcii  Gabclii  unsre 
obigeu  Folgerungeu  in  Hinsicht  der  Zahl  der  Schwebungen,  Sie 
erfolgen  trotz  der  gewohnlichen  Differenz  dev  Ohren  mit  der 
gleicben  Schnelligkeit  wie  beim  einseitigeu  Horcn,  und  auch  mit 
der  gleichen  Schnelligkeit,  mag  ich  die  hohere  Gabel  rechts  oder 
links  halten,  wahrend  in  Folge  jener  Differenz  der  Tonunter- 
schied  ein  ungleicher,  das  einemal  (gegeniiber  dcm  einseitigen 
Horen)  verringert,  das  anderemal  vergrossert  ist.  Die  Differenz 
der  Tonhohe  beider  Ohren  ist  ja,  wie  wir  o.  326  ausfiihrten, 
auch  beim  gleichzeitigen  Horen  nicht  aufgehoben. 

Wenn  die  Schwebungen  unverauderlich  an  bestimmte  Tone 
und  ihre  Unterschiede  gebunden  waren,  so  miisste  bei  den  moi- 
sten Menschen  sogar  schon  ein  einzelner  objectiver  Ton,  da  er 
beiderseits  ungleich  gehort  wird,  Schwebungen  machen;  wovon 
man  bei  aller  Aufmerksamkeit  Nichts  wahrnehmen  wird.  Die 
Erfahrungen  mit  beiden  Ohren  sprechen  also  durchweg  zu 
Gunsten  der  Theorie. 

Nur  Thompson  berichtet  (a.  a.  0.)  einen  abweichendcn  selt- 
saraen  Fall  auf  die  Autoritat  eines  „eminenten  Akustikers"  bin. 
Eine  Person,  welche  an  Mumps  auf  der  einen  Seite  des  Kopfes 
gelitten  hatte,  horte  in  dem  bezuglichen  Ohr  alle  Tone  um  einc 
Halbstufe  hoher,  und  soil  nun  beim  Erkliugeu  eines  Tones  der 
tieferen  Region  Schwebungen  vernommen  haben,  durch  Collision 
der  Tone  beider  Ohren.  Einseitige  Verstimmung  (Doppelthoren) 
ist  uns  aus  I  266  f.  bekannt,  und  gerade  Verstimmungen  um  einen 
Halbton  sind  durch  zahlreiche  Beobachtungen  gut  beglaubigt.  Aber 
in  keinem  dieser  Falle  (und  ich  babe  alle  mir  zugauglichen  Be- 
richte  genau  studirt)  ist  etwas  uber  Schwebungen  berichtet.  In 
der  Tat  waren  Schwebungen  nach  der  bisherigen  Anschauuug  unter 
diesen  Umstanden  absolut  unmoglich.  Demi  sie  konuten,  weuu  sie 
im  Ohr  zu  Stande  kommen,  hier  wieder  nur  durch  Knochenleitung 
entsteheu.  Nun  aber  wenn  vera  kranken  Ohr  die  Schwingung  zum 
gesunden  hinuber  geleitet  wird,  so  ist  cs  ja  nicht  eine  erhohte 
Schwingung,  soudern  genau  dieselbe,  mit  derselben  Schwingungs- 


460  §  27.   Schwebungen  unci  darauf  beziigliche  Urteile. 

zahl,  wic  sic  ohnedies  dera  gesunden  Ohr  von  ausseu  zugeftihrt 
wird.  Ebenso  weun  vom  gesunden  Ohr  zum  kranken  die  Schwin- 
gungen  hiniiberwirken,  so  sind  es  geuau  dieselben,  durch  welche 
dieses  Ohr  ohnedies  von  aussen  erregt  wird.  Wie  und  wo  also  sollen 
Schwebungen  zu  Stande  kommen?  Nur  im  Gehirn  konnte  es  gc- 
schehen,  an  einer  Stelle,  wo  die  Nervenerreguugen  von  beiden 
Ohren  her  zusammentrafeu :  denn  die  Nervenerreguugen  allerdings 
miissen  in  Folge  der  krankhaften  Veranderung  des  einen  Ohres 
ungleich  sein.  Indessen  wird  man,  che  wir  den  Schluss  Ziehen, 
eine  Bcstatigung  dieser  vereinzelten  Angabe  durch  ahnliche  Beob- 
achtungen  verlangen  miissen. 

Acht  Tage  nachdem  Vorstehendes  niedergeschrieben  war,  hattc 
ich  das  Gliick  —  wenn  ich  es  so  nenneu  soli  — ,  einen  Fall  des 
Doppelthorens  an  mir  selbst  zu  erleben.  Eine  schmerzhafte  Ent- 
zundung  des  linken  Mittelohres  war  plotzlich  und  heftig  aufgetreten. 
Herr  Dr.  Hesslee  in  Halle  hatte  Paracentese  des  Trommelfells 
vorgenommcn.  Zwei  Stunden  nach  der  Operation  hatte  ich  beim 
Clavierspielen  meines  Sohnchens  den  Eindruck  abscheulicher  Ver- 
stimmung,  die  ich  im  ersten  Moment  auf  das  Clavier  bezog,  dann 
aber  als  subjectiv  crkannte.  Das  kranke  Ohr  horte  alle  Tone 
zwischen  c  und  c*  tiefer,  und  zwar  betrug  in  der  Mitte  dieser 
Zone  die  Differenz,  wie  ich  mit  einer  abwechselnd  rechts  und 
links  gehalteneu  Stimmgabel  {a^)  feststellte,  ^/4  Ton,  wahrend  sie 
nach  den  Greuzen  bin  abnahm.  Beim  Anschlag  einer  Claviertaste 
kamen  daher  zwei  Tone  zum  Vorschein,  der  „Pseudoton"  tiefer, 
schwacher  und  bei  genauer  Aufmerksamkeit  im  linken  Ohr  locali- 
sirt.  Von  Schwebungen  konnte  ich  aber  Nichts  bemerkeu,  ob- 
gleich  meine  Aufmerksamkeit  begreiflicherweise  (auch  wegen  der 
Consequenzen  fur  die  Dissouanzlehre)  ganz  besonders  darauf  ge- 
richtet  war.  Auch  nicht,  als  ich  die  Gabel  auf  verschiedene  Teilo 
des  Schadels  aufsetzte  (wobei  sie  nur  an  gewisseu  Stellen,  besonders 
an  der  rechten  Schlafe,  einen  Finger  breit  vom' Tragus  nach  vom, 
doppelt  gehort  wurde,  wahrend  sonst  einer  der  beiden  Tone  oder 
ein  mittlerer  allein  auftrat).  Vorziiglich  lehrreich  war  mir  die 
Beobachtung  mit  einem  Zungenpfeifchen  («^),  welches  ich  selbst 
anblies    und    dabei    auch    gelegentlich    mit    den    Zahnen   festhielt: 


§  27.  Schwebungen  unci  darauf  beziigliche  Urteile.  461 

hier  waren  die  beiden  Tone  voUkommen  deutlich  nebeneinander  zu 
horen,  und  zwar  als  entscbiedenste  Dissonanz,  aber  ohne  Schwe- 
bungen. Ich  balte  daher,  da  individuelle  Verschiedenheiten  hierin 
doch  kaum  anzunehmen  sind,  die  vereinzelte  Angabe  des  obigen 
Patienten  fur  eine  Tauscbung,  vielleicbt  darin  begrundet,  dass  die 
Gabel  in  der  Hand  zitterte,  wie  mir  dies  ebenfalls  einmal  be- 
gegnete  und  momentau  dieselbe  Tauscbung  erzeugte. 

3.  Grenzen  der  Scbnelligkeit  fiir  Schwebungen. 

Von  Wichtigkeit  ist  die  hochste  Zabl  der  Schwebungen  in 
der  Secunde,  bei  welcher  eben  noch  eine  Rauhigkeit  des  Klanges 
wabrgenommen  werden  kann.  Helmholtz  gibt  an,  dass  bis  zu 
132  in  der  Secunde  nocb  bemerkbar  seien,  vermutet  aber,  dass 
danait  die  obere  Grenze  noch  nicht  erreicht  sei,  dass  viel  hohere 
und  hinreichend  starke  Tone  noch  mehr  horen  lassen  wiirden 
(288).  Hingegen  behauptet  Wundt  (I  ^  438),  dass  schon  bei 
60  Schwebungen  der  intermittirende  Charakter  der  Empfindung 
ganzlich  verschwunden  sei,  und  fiihrt  die  Angabe  von  Helm- 
holtz auf  eine  Verwechselung  des  Eindrucks  der  Rauhigkeit 
mit  dem  der  Dissonanz  zuriick,  welche  letztere  Wundt  nicht 
wie  Helmholtz  mit  den  Schwebungen  selbst  identificirt.  Aber 
hier  ist  Wundt's  eigene  Angabe  ganz  entschieden  die  irrtiim- 
liche.  Die  Zahl  der  wahrnehmbaren  Schwebungen  ist  allerdiugs 
verschieden  je  nach  der  Tonregion;  man  kann  in  der  Tiefe  nicht 
so  viele  horen  wie  in  der  Hohe  (was  auch  noch  der  Erklarung 
bedarf).  Aber  wenn  von  der  grossten  Zahl  iiberhaupt  die 
Rede  ist,  so  miissen  wir  etwa  400  dafiir  setzen,  also  sogar 
das  Dreifache  derjenigen  Anzahl,  die  Helmholtz  noch  wabr- 
genommen hat. 

Ich  bin  hierauf  zuerst  bei  den  Orgelpfeifenversuchen  mit 
den  unmusikalischen  Herren  aus  §  19  S.  157  aufmerksam  ge- 
worden.  Als  ich  fiir  die  damaligen  Versuchszwecke  die  Schwe- 
bungen durch  die  Wahl  von  Tonen  der  dreigestrichenen  Octtive 
auszuschliessen  gedachte,  fanden  Einige  (Gkube,  Lehmann  u.  A.) 
auch  hier  noch  bei  den  Terzen  c^e^  -jj^jj  e^  g^,  die  in  der  da- 
mals  angewandten  natiirlichen  Stimmung  beide  264  Schwebungen 
geben,  eine  merkliche  Rauhigkeit,  und  ich  konnte  dies  nur  be- 


462  §  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile. 

statigen.  Wenn  man  den  Eindruck  vergleicht  mit  dem  eines 
einzelnen  der  genannten  Tone,  so  ist  der  Unterschied  in  der 
Glatte  unverkennbar.  Auch  iiberzeugt  man  sich  durcli  successive 
Beobachtung  von  c^e^  c^e^,  c^e^,  dass  eine  graduelle  Ab- 
nahme  der  Rauhigkeit,  aber  nicht  ein  volliges  Verschwinden  im 
letzteren  Falle  eintritt.  Von  Verwechselung  des  Eindrucks  mit 
dem  der  Dissonanz  kann  natiirlich  bei  grossen  Terzen  nicht 
die  Rede  sein. 

Es  fand  sicli  also  die  obige  Vermutung  von  Helmholtz 
bestatigt,  nur  dass  nicht  einmal  eine  ungewohnliche  Hohe  mid 
Starke  der  Tone  erforderlich  war.  Noch  schnellere  Schwebungen 
kann  man  aber  mit  Stimmgabeln  der  vier-  und  fiinfgestrichenen 
Octave  vernehmen,  wenn  sie  kraftig  angeschlagen  vor  das  Ohr 
gehalten  werden.  Ich  habe  dies  mit  genau  abgestimmten  Ap- 
puNN'schen  Gabeln  vom  c^  bis  zum  c^  Stufe  fUr  Stufe  verfolgt 
und  unter  diesen  Umstanden  fiir  mein  Ohr  die  Greuze  zwischen 
427  und  512  gefunden.  An  den  Versucheu  haben  sich  auch 
die  Herren  Prof.  W.  Biedermann  und  Dr.  K.  Schafer  in  Jena 
beteiligt.  Bei  c^tZ^  oder  d^e^  (=256  Schwebungen),  aber  auch 
noch  bei  f'^g^  oder  g^  a'^  oder  e^p  (=341)  fanden  wir  iiber- 
stimmend  die  Rauhigkeit  noch  sehr  stark  und  auffallig.  Bei 
a^h^  (=427)  war  sie  fiir  mich  auch  noch  deutlich  und  zwar 
fasste  ich  sie  als  Rauhigkeit  des  Differenztons.  Die  Gabeln 
mussten  aber  sehr  stark  angeschlagen  und  schnell  an's  Ohr 
gehalten  werden.  Die  beiden  Mitbeobachter  bemerkten  hier 
Nichts  mehr.  Bei  c^e'^,  c^cP,  h^c'^  (=512)  konnte  auch  ich 
Nichts  von  Rauhigkeit  mehr  finden.  Bei  f^g^  (=683)  war 
weder  Rauhigkeit  noch  auch  die  Zweiheit  der  Tone  mehr  er- 
kennbar. 

In  den  tieferen  Lagen  ist  die  Grenze  nicht  so  leicht  fest- 
zustellen,  weil  man  zu  weite  Intervalle  nehmen  muss,  um 
grossere  Schwebungszahlen  zu  bekommen,  und  dann  der  erste 
Oberton  der  tieferen  Gabel  mit  dem  Grundton  der  hoheren 
Schwebungen  von  geringerer  Anzahl  macht,  welche  die  beab- 
sichtigte  Beobachtung  storen  (s.  u.).  Aber  soviel  ist  sicher, 
dass  die  Maximalzahl  nach  unten  hin  immer  geringer  wird. 


§  27.  Schwebuiigen  und  darauf  bezugliche  Urteile.  463 

Man  kann  nun  auch  in  diesem  Puncte  die  durcli  einfache 
Intermittenz  erzeugten  Schwankungen  mit  den  Schwebungen 
vergleichen.  R,  Konig  gibt  an,  dass  er  bei  solclien  die  namliche 
Maximalzahl  wie  bei  Schwebungen  (unter  den  besonderen  Ver- 
suchsumstanden)  gefunden  habe,  namlich  128^).  A.  Mayer 
fand  auch  hier  Unterschiede  je  nach  der  Tonhohe,  bei  C  war 
die  Grenze  schon  25,  bei  c^  dagegen  180  ^j.  Gewiss  wiirde 
sich  auch  diese  Zahl  fiir  Intermittenz  en  (die  Mayer  selbst 
der  friiher  gefundenen  geringeren  Zahl  130  bei  genauerer 
Untersuchung  substituirte)  bei  starkeren  Tonen  ails  denen  von 
Stimmgabeln  noch  erhohen^). 

Von  der  Schnelligkeit  der  Schwebungen  in  Verbindung  mit 
der  Tonregion  ist  die  Grosse  des  Intervalls  abhangig,  wel- 
ches noch  Schwebungen  horen  lasst.  Es  ist  ein  weitverbreiteter 
und  fiir  die  Musiktheorie  verhangnisvoller  Irrtum,  als  ob  Schwe- 
bungen nur  bei  den  kleinsten  Intervallen  (Secunden  und  un- 
reinen  Primen)  stattfanden.  In  der  grossen  Octave  kann  ich, 
wenn  C  als  tieferer  Ton  genommen  wird,  mit  an's  Ohr  ge- 
haltenen  Stimmgabeln  directe  Schwebungen  mit  Sicherheit  und 
vollkommener  Deutlichkeit  noch  bis  iiber  die  Quinte  vernehmen. 
R.  Konig  behauptet   sogar  (a.  a.  0.)  bei  Intervallen  iiber  die 


1)  PoGG.  Ann.  Bd.  157  S.  228  f. 

2)  S.  die  Tabelle  o.  I  213. 

^)  Beim  Auge  wird  diese  Zahl  langst  nicht  erreicht.  Dagegen  lie- 
fert  der  Tastsinn  noch  mehr  getrennte  Eindriicke  in  der  Secunde,  nach 
Valentin  640,  nach  Wittich  1000  (Herm.  Handb.  II,  2,  259).  Peeyer 
fuhrt  an,  dass  man  das  Erzittern  einer  tonenden  Gabel  mit  den  Finger- 
spitzen  als  eigentiimliches  Kitzelgefiihl  noch  bei  1500  bis  1800  Schwin- 
gungen  wahrnimmt  (Akust.  Unt.  3.  Dagegen  wiirden  punctuelle  Reizungen 
der  Haut  nach  friiheren  Schriften  Preyer's  nur  bis  zu  etwa  36  getrennt 
empfunden.  Grenzen  des  Empfindungsvermogens  1868,  Die  fiinf  Sinne 
1870,  S.  73).  ExNER  erwahnt,  dass  bei  elektrischer  Reizung  der  Haut 
bereits  36,  auf  der  Stirnhaut  60  Inductionsschlage  eine  continuirliche 
Empfindung  geben,  die  aber  bei  gesteigerter  Reizstarke  wieder  discret 
wird  (Herm.  Handb.  1.  c).  Die  Angabe  Preyer's  beziiglich  der  Stimm- 
gabeln finde  ich  an  mir  bestatigt,  wenn  ich  die  Lippen  anwende,  indem 
ich  dann  1760  Schwingungen  (a^)  noch  entschieden  als  Kitzel  empfinde. 


464  §  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile. 

Octave  hinaus  directe  Schwebungen  der  Grundtone.  Bei  tiefen 
elektromagnetiscli  bewegten  Gabeln  babe  er  solche  bis  zu  1 :  10, 
bei  gedackten  Pfeifen  sogar  bis  1  :  14  verfolgen  konnen  ^).  Allein 
es  wiirde  schwer  sein,  Dies  mit  der  Lehre  von  der  Entstehung 
der  Schwebungen  zu  vereinigen,  da  man  nicht  annehmen  kann, 
dass  bei  so  grossen  Tondistanzen  noch  zwischenliegende  Fasern 
durch  beide  Schwingungen  gemeinschaftlich  erregt  wiirden.  So- 
lange  wir  daher  an  dieser  Lehre  und  speciell  an  der  Erregung 
der  Fasern  durch  Mitschwingung  festhalten,  sehe  ich  keinen 
anderen  Weg  der  Erklarung  von  Konig's  Beobachtungen ,  als 
entweder  den  von  Helmholtz  (263)  eingeschlagenen:  dass  nam- 
Hch  Obertone  der  tieferen  Gabel  mit  dem  Grundton  der  hoheren 
schweben  (obgleich  Konig  die  Beteiligung  von  Obertonen  auf 
Grund  scharfsinniger  Argumente  mit  Bestimmtheit  in  Abrede 
stellt),  oder  den  von  Bosanquet  eingeschlagenen,  wonach  Com- 
binationstone  diese  Schwebungen  verursachten  (s.  u.  III). 

Je  hoher  die  Tonregion,  um  so  kleiner  das  Intervall,  inner- 
halb  dessen  noch  directe  (Grundton-)Schwebungen  stattfinden. 
In  der  dreigestrichenen  Octave  ist  nach  dem  Obigen  ungefahr 
die  grosse  Terz,  in  der  viergestrichenen  die  grosse  Secunde,  in 
der  fiinfgestrichenen  die  kleine  Secunde  das  weiteste  schwebende 
Intervall. 

Man  kann  auch  nach  den  langsamsten  wahrnehmbaren 
Schwebungen  fragen.  Bei  sehr  langsamen  ist  die  Zu-  und  Ab- 
nahme  ganz  stetig,  daher  schwer  zu  bemerken,  wenn  sie  nicht 
zugleich  sehr  bedeutend  ist.  A.  Mayer  hat  eine  Schwebung 
von  8  Secunden  Dauer,  Rayleigh  sogar  solche  von  24  Secunden 
Dauer  noch  wahrgenommen,  und  Letzterer  glaubt,  dass  man 
noch  langsamere  beobachten  konne^).  Fiir  die  Musik  haben 
solche  Schwebungen  naturlich  keine  Bedeutung  mehr.  Die 
Fahigkeit    der  Wahrnehmung    langsamster    Schwebungen    wird 


^)  Letztere  Angabe  in  der  zweiten  Abhandlung  Wied.  Ann.  XII 
(1881)  335,  wo  auch  die  Ergebnisse  und  Schliisse  der  ersten  verteidigt 
werden. 

2)  A.  Mayer,  Americ.  Journ.  of  Sc.  and  Arts  VIII  35.  Eayleigh, 
Philos.  Mag.  1882,  S.  343. 


§  27.  Schwebungen  und  tlarauf  beziiglicbc  Urteile.  465 

iibrigens  individuell  sehr  verschieclen  seiii,  jo  nach  der  Genauig- 
keit  des  unmittelbaren  Gedachtnisses  fiir  Intensitaten. 

4.  Starke  der  Schwebungen. 

Wenn  von  der  Empfindungsstarke  von  Schwebungen  die  Rede 
ist,  so  ist  darunter  strenggenommen  nicht  eine  Empfindungs- 
starke ini  gewohnlichen  Sinn  zu  verstehen,  sondern  der  Abstand 
zweier  solcher  Empfindungsstarkon.  Helmholtz  hat  daher 
bei  seiner  Berechnung  der  liauhigkeits-(Dissonanz-)Tabelle  als 
Mass  der  Schwebungsstarke  die  Differenz  zwischen  der  hochsten 
und  geringsten  lebendigen  Kraft  in  der  von  beiden  objectiven 
Schwingungen  gemeinsam  erregten  mittleren  Faser  angenom- 
men^).  Indessen  fragt  es  sich,  ob  hiemit  auch  das  Mass  der 
Schwebungsstarke  als  einer  Empfindungstatsache  gegeben  ist. 
Zwischen  der  lebendigen  Kraft  bewegter  Schneckenfasern  und 
der  Empfindung  liegen  manche  Glieder  in  der  Mitte;  und  es 
kommt  darauf  an,  ob  unter  alien  diesen  Gliedern  directe  Pro- 
portionalitat  stattfindet,  oder  ob  nicht  z.  B.  das  logarithmische 
Verhaltnis,  welches  das  FECHNER'sche  Gesetz  zwischen  Reiz  und 
Empfindung  annimmt,  seine  eigentliche  Stelle  irgendwo  inner- 
halb  dieser  physiologischen  Kette  hat.  In  diesem  Fall  wiirde 
der  Abstand  der  Empfindungsstiirken  beim  Minimum  und  Maxi- 
mum nicht  der  Differenz  sondern  dem  Quotienten  der  lebendigen 
Krafte  in  der  Faserschwingung  proportional  gehen. 

Aber  nicht  bios  milssen  wir  die  physiologische  Starke  (ira 
Organ)  und  die  Empfindungsstarke,  sondern  auch  wiederum 
diese  und  die  Auffassung  derselben  auseinanderhalten.  Wir 
beurteilen  die  Schwebungsstarke  nach  einer  verschiedenen  Me- 
thode,  jenachdem  es  sich  urn  langsame  oder  schnelle  Schwe- 
bungen handolt.  Man  konnte  denken,  wenn  Schwebungsstarke 
als  Empfindungstatsache    einen    Abstand    zweier    Empfindungs- 


*)  Beilage  XV.  Die  Gescbwiudigkeitsmaxima,  welcbe  zwei  objective 
Welleiiziige  in  dem  mittleren  Teilcheu  erzeugen,  seien  B^  und  B.,,  also 
seine  grosste  Gescbwindigkeit  =  Bj  -}-  B,,.  Somit  ist  (Bj  -}-  B.^)^  die  le- 
bendige  Kraft  beim  Maximum,  {By  —  B^^i^  die  beim  Minimum  der  Schwe- 
bung.  Der  Unterscbied  bcider  Werte  (Bj  +  B.^V2  —  (B,  —  B^)'^  =  4  B,  Bj 
ist  die  Starke  der  Scbwebung. 

Stumpf,  Tonpsychologie.    II.  30 


466  §  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliclie  Urteile. 

starken  bedeutet,  so  mlisse  die  Scliatzung  derselben  immer  auf 
einer  Vergleichung  dieser  Starken  beruhen.  Dies  trifft  aber 
nur  fiir  ganz  langsame  Schwebuugen  zu,  wo  die  Empfindung 
beim  Minimum  noch  eiue  endliche  Starke  besitzt  und  aucb 
Zeit  zur  Vergleichung  gelassen  ist,  Dagegen  bei  rascheu  und 
discreten  Schwebungen  (Stossen)  kommt  iiberhaupt  nur  das 
Maximum  fiir  unsre  Auffassung  in  Betracht,  mag  beim  Minimum 
noch  eine  Empfindung  iiberhaupt  da  sein  oder  nicht.  Auch  der 
letztere  Fall  kann  als  Grenzfall  unter  die  obige  Definition  der 
Schwebungsstarke  als  einer  Empfindungstatsache  gebracht  wer- 
den.  Aber  die  Schatzung  derselben  beruht  hier  nicht  auf 
einer  Vergleichung  des  Maximums  und  Minimums  der  Empfin- 
dung, sondern  nur  auf  der  Wahrnehmung  des  Maximums  oder 
vielmehr  der  aufeinanderfolgenden  Maxima.  Die  Schwebungs- 
starke fallt  daher  fiir  die  Auffassung  des  Horenden  hier  in  der 
Tat  unter  den  Begriff  der  Empfindungsstarke  im  gewohnlichen 
Sinn,  nicht  unter  den  des  Abstandes  zweier  Empfindungs- 
starken.  Vermutlich  erscheint  uns  die  so  aufgefasste  Schwe- 
bungsstarke in  Folge  der  Wiederholung  der  zu  schatzenden 
Eindriicke  grosser  als  die  Empfindungsstarke  bei  gleichstarker 
constanter  Reizung;    vielleicht  ist  sie  auch  wirklich  grosser^). 


^)  Helmholtz  wenigstens  ist  der  Ansiclit  (281),  dass  intermittirende 
Reize  stets  intensiver  wirken  als  constante  von  gleicher  Starke.  Die 
Belege  scheinen  mir  jedoch  nicht  ganz  iiberzeugend.  Helmholtz  beruft 
sicb  tails  auf  die  Ermiidungstatsachen ,  tails  auf  die  Widerwartigkeit 
intermittirender  Eindriicke.  Aber  die  letztere  kann  noch  andere  Griinde 
haben  als  eine  erhohte  Reizstarke,  und  die  Ermiidung  ist  doch  gerade 
beim  Ohr  nur  minimal  und  innerhalb  weniger  Secunden  so  gut  wie  Null. 
Wenn  gleichwol  langer  fortgesetzte  Versuche  mit  raschen  und  starken 
Schwebungen  das  Organ  mehr  angreifen  als  solche  mit  starken  Tonen 
gleicher  Hohe,  so  mochte  ich  den  Grund  weniger  in  der  Ermiidung 
suchen  als  in  der  Miterregung  hochster  Tone  und  heftiger  Gerausche. 
Denkbar  ist  wol  auch,  dass  die  uugleichfdrmige  Erregung  fur  die  Ton- 
ganglien  anstrengender  ware,  da  sie  sich  der  gleichformigen  Erregungs- 
weise  iiberwiegend  angepasst  haben.  Aber  dies  AUes  wiirde  noch  nicht 
eine  grossere  Intensitat  der  schwebenden  Tone  beweisen.  Vgl.  auch 
E.  GuRNEY,  Power  of  Sound,  1880,  Appendix  C. 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile.  467 

Weiterliin  kornien  wir  nun  freilich  auch  hier  je  zwei 
Schwebungsstarken  dieser  Classe  untereinander  vergleichen  und 
fragen,  ob  sie  uns  in  gleichem  Masse  verschieden  erscheinen, 
wenn  die  pbysiologisclien  Schwebungsstarken,  hier  also  die 
grossten  Amplituden  der  durch  je  zwei  Schwingungen  gemein- 
sam  bewegteu  mittleren  Faser,  um  den  gleichen  Betrag  verschie- 
den sind;  oder  ob  nicht  auch  hier  das  FECHNER'sche  Gesetz  mass- 
gebend  bleibt.  Wahrscheinlich  wiirde  sich  doch  das  Letztere 
herausstellen.  Keinesfalls  also  dlirfen  wir  ohne  Weiteres  jenen 
physiologischen  Wert  als  Mass  der  Schwebungsstarke  betrachten. 

Lassen  wir  daher  in  Ermangelung  von  hierauf  bezUglichen 
directen  Versuchen  das  physiologische  Mass  der  Schwebungs- 
starke bei  Seite  und  fragen  wir  nur  nach  den  Umstanden,  von 
welchen  sich  dieselbe  rein  empirisch  nach  Aussage  des  Bewusst- 
seins  abhangig  zeigt,  so  gehort  dazu  die  absolute  Starke  der 
Tone,  mit  welcher  auch  die  Schwebungsstarke  wachsen  muss. 
Ferner  aber  das  Starkeverhaltnis;  und  zwar  sind  die  Schwebungen 
am  starksten  bei  gleicher  Starke  der  Tone^).  Sodann  kommt 
es  sehr  auf  die  Schnelligkeit  der  Schwebungen  an;  was  auch 
Helmholtz  mit  in  Rechnung  zieht  (318,  657).  Sehr  langsame 
und  sehr  schnelle  Schwebungen  erreichen  nicht  dieselbe  Starke 
wie  solche  mittlerer  Schnelligkeit.  Die  grosste  Starke  pflegt 
man  etwa  30  in  der  Secunde  zuzuschreiben.  Doch  trifft  Dies 
nur  fiir  die  mittleren  Tonlagen  zu,  und  auch  da  ist  es  nicht 
leicht,  die  Zahl  genauer  anzugeben,  weil  sich  zugleich  mit  der 
Starke  auch  der  Charakter  der  Schwebungen  andert. 

Bei  langsameren  Schwebungen  scheint  die  Tonregion  keinen 
Unterschied  in  der  Starke  zu  machen,  wenn  nur  die  Zahl  der 
Schwebungen  und  die  Empfindungsstarke  der  Tone  sich  gleich 
bleibt  (soweit  man  eben  die  Tonstarke  in  verschiedenen  Re- 
gionen  vergleichen  kann)^).    Besonders  bequem  lasst  sich  Dies 


1)  Ebenso  R.  Konig  Wied.  Ann.  XII  335  f. 

^J  Die  Betrachtung  der  Wellenformen,  die  durch  Combination  zweier 
Sinusschwingungen  entstehen,  lehrt,  dass  die  bdchste  Amplitude  der  Ge- 
sammtwelle  und  ihre  Differenz  von  der  geringsten  Amplitude  nicht  etwa 
von  der  Differenz  der  Schwingungszahlen  sondern  von  ihrem  Verhaltnis 

80* 


468  §  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliclie  Urteile. 

am  Obertonapparat  untersuchen,  wo  je  zwei  benachbarte  Zungen 
gleichviele  Schwebungen  miteinander  erzeugen,  so  viele  als  die 
tiefste  Zunge  Schwingungen  macht.  Bei  einem  Apparat,  dessen 
tiefste  Zunge  16  Schwingungen  gab,  fand  ich  keinen  merk- 
lichen  Unterschied  der  Schwebungsstarke  in  verschiedenen  Ton- 
regionen^).  Die  Schwebungen  schienen  uur  etwas  discreter  zu 
werden  und  wurden  immer  mehr  in  den  Kopf  bez.  das  zuge- 
wandte  Ohr,  bei  den  hoheren  Toneu  in  die  Schadeldecke  verlegt. 

Dagegen  bei  schnelleren  Schwebungen  macht  die  Tonregion 
einen  Unterschied  in  der  Starke;  begreiflicherweise,  weil  die 
Schwebungen  in  hohereu  Regionen  erst  bei  viel  grosserer  An- 
zahl  verschwinden,  also  die  Ausgleichung  zwischen  Maximum 
und  Minimum,  der  Tetanus  des  Nerven,  die  Stetigkeit  der  Em- 
pfindung  sich  auch  erst  bei  grosserer  Anzahl  vorbereitet.  Ich 
habe  eine  Reihe  von  Fallen  verglichen,  in  denen  die  Schwe- 
bungen jedesmal  genau  100  in  der  Secunde  betrugen,  mit  ab- 
gestimmten  Stimmgabeln  der  ein-  und  der  dreigestrichenen  Oc- 
tave. Je  hoher  die  Tone,  um  so  scharfer  fand  ich  hier  die 
Schwebungen,  und  bin  sicher,  nicht  etwa  die  zunehmende 
Scharfe  der  Tone  selbst  mit  derjenigen  der  Schwebungen  ver- 
wechselt  zu  haben.     Beides  lasst  sich  sehr  gut  unterscheiden. 

5.  Merklichkeit  von  Schwebungen. 

In  der  Schnelligkeit  und  Starke  der  Schwebungen  haben 
wir  zwei  Bedingungen  ihrer  Merklichkeit  kennen  gelernt,  die 


abhangt.  So  gibt  z.  B.  7  :  9  bei  gleicher  Amplitude  der  einfachen  Wellen 
doch  eine  hohere  Gesammtwelle  und  eine  grossere  Differenz  ihres  Maxi- 
mums und  Minimums,  als  4:5.  Da  nun  in  der  Tiefe  bei  gleicher  Differenz 
der  Schwingungszahlen  ein  grosseres  Verbaltnis  derselben  gegeben  ist, 
so  konnte  man  hienach  erwarten,  dass  bei  gleichbleibender  Starke  der 
Tone  und  gleichbleibender  Differenz  ihrer  Schwingungszahlen  die  Schwe- 
bungen in  der  Tiefe  starker  waren.  Allein  es  ist  eben  in  der  Tiefe  die 
empfundene  Tonstarke  bei  gleichbleibender  Amplitude  eine  geringere. 
^)  Nur  muss  man  von  den  etwa  acht  tiefsten  Zungen  absehen,  deren 
jede  fur  sich  allein  schon  schnattert,  ferner  von  denjenigen,  die  zufolge 
der  Anordnung  des  Apparates  raumlich  weiter  als  die  anderen  von  ein- 
ander  getrennt  sind  (No.  16  und  17,  48  und  49).  Denn  auch  die  ob- 
jective Nachbarschaft  der  Tonquellen  erhoht  hier  die  Schwebungsstarke. 


§  27.   Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile.  469 

aber  selbst  von  eiuander  nicht  ganz  uuabhaugig  sind.  Beziig- 
lich  der  Starke  als  Bedingung  der  Merklichkeit  entsteht  nun 
sogleicli  die  Frage,  ob  mit  zu-  oder  abnehmender  Starke  audi 
die  Merklichkeit  eiufacli  zu-  oder  abnimmt.  Es  scheint  dies 
nicht  der  Fall  zu  sein.  Wenn  zwei  schwebende  Gabein  aus- 
schwingen,  so  werden  die  Schwebungen  deutlicher,  auf- 
fallender,  wenigstens  eine  Zeit  lang,  bis  sie  sich  dem  Ver- 
schwinden  nahern  ^).  Ob  nun  der  Abstand  des  Maximums  und 
Minimums  der  Empfindung  in  diesem  Falle  wirklich  wachst,  ist 
schwer  zu  sagen.  Dem  FECHNER'schen  Gesetzo  wiirde  es  nicht 
widersprechen.  Es  fehlt  aber  hier  schon  an  der  Einsicht  in 
das  objective  Verhalten.  Die  Differenz  des  Reizmaximums  und 
-Minimums  wird  natiirlich  immer  geringer,  aber  das  Verhaltnis 
beider  Werte  konnte  dabei  doch  wachsen.  Eine  notwendige 
Annahme  ist  aber  weder  das  objective  noch  das  subjective 
Wachstum  der  Schwebungsstarke.  Die  Schwebungen  konnen 
merklicher  werden,  auch  ohne  starker  zu  werden,  ja  sogar 
wahrend  sie  schwacher  werden.  Denn  es  werden  nun  auch  die 
Tonqualitaten  schwacher  und  lenken  die  Aufmerksamkeit  we- 
niger  auf  sich;  es  ist  leichter,  von  ihneu  zu  abstrahiren  ^). 

Auch  die  Klangfarbe  hat  einen  gewissen  Einfluss  auf  die 
Merklichkeit  von  Schwebungen.  Sie  sind  bei  railderen  Klaugen 
zuweilen  auffalliger  als  bei  scharferen.  Dies  liegt  nicht  an 
grosserer  Starke.  Vielmehr  scheinen  mir  bei  Stimmgabeln  von 
16  Schwingungen  Differenz  die  Schwebungen  sowol  ebenso  discret 
als  auch  ebenso  stark,  wie  bei  Zungen  von  gleicher  Differenz, 
gleicher  absoluter  Tonhohe  und  gleicher  Starke,  soweit  sich  der 
letztere  Punct  control iren  lasst.  Dagegen  konnen  die  Schwe- 
bungen auffalliger  sein  bei  milderen  Klangen,  weil  eben  den 
scharfen  ohnedies  auch  schon  einzelu  in  Folge  der  unter  sich 
schwebenden  Obertone  Rauhigkeit  anhaftet  und  so  der  Gegen- 


*)  Ahnlich  imterscheidet  Fechnbr  Binoc.  Sehen  541  die  Starke  iind 
die  Deutlichkeifc  von  Schwebungen;  letztere  werde  grosser,  erstere  ge- 
ringer, wenn  man  bei  zweiohrigen  Versuchen  die  eine  Gabel  vom  Ohr 
auf  den  Scheitel  setzt,  wahrend  die  andere  vor  dem  anderen  Ohr  bleibt. 

"^)  Hienach  wiirde  ich  jetzt  das  I  394  Gesagte  genauer  fassen. 


470  §  27.  Schwebungeii  und  darauf  bezugliche  Urteile. 

satz  dort  grosser  ist.  Auch  unterscheiden  sich  die  weiten  Inter- 
valle  scharfer  Klange,  wo  secundare  Schwebungen  durcli  colli- 
dirende  Obertone  eintreten,  weniger  von  den  engen,  wo  die  Grund- 
tone  selbst  schweben,  als  dies  bei  den  milden  Klaugen  der  Fall  ist. 

Endlicli  hangt  die  Merklicbkeit  auch  von  Umstanden  ab, 
die  gar  nicbt  in  der  Bescbaffenbeit  des  Empfindungsmateriales 
selbst,  sondern  in  der  gewohnbeitsmassigen  Richtung  der  Auf- 
merksamkeit  und  dergleicben  psycbiscben  Dispositionen  griinden; 
wie  wir  denn  z.  B.  bei  verscbiedenen  Gelegenbeiten  bemerkt 
baben,  dass  Kinder  und  Unmusikaliscbe  Scbwebungen  oft  relativ 
(gegeniiber  den  eigentlicb  tonalen  Merkmalen)  und  oft  sogar 
absolut  leicbter  wabrnebmen  als  Erwacbseue  und  Musikaliscbe. 
Dazu  kommen  zufallige  augenblicklicbe  Umstande.  Es  ist  also 
klar,  dass  wir  Merklicbkeit  von  Starke  wol  unterscbeiden  miissen. 

6.  Scbwebungen  verteilter  Gabeln. 

Dass  bei  Verteilung  zweier  Gabeln  an  beide  Ohren  Scbwe- 
bungen entsteben  konnen,  wurde  als  ein  interessantes  Factum 
erwabnt.  Nun  lassen  sicb  alle  Fragen  liber  Cbarakter,  Starke, 
Scbnelligkeitsgrenzen,  Merklicbkeit  der  Scbwebungen  auch  fiir 
diesen  besonderen  kiinstlicben  Fall  untersucben,  und  da  zeigt 
sicb  das  nocb  Wicbtigere,  dass  sie  auf  diese  Art  docb  ausser- 
ordentlicb  verringert  und  baufig  ganz  beseitigt  werden  konnen, 
und  dass,  wo  sie  nicbt  ganz  verscbwinden,  nicbt  bios  die  Starke 
sondern  auch  der  Cbarakter  ein  anderer,  milderer,  weniger  dis- 
continuirlicber  wird.  Etwaige  Scbwebungen  der  Obertone  konnen 
auf  diesem  Wege  ganz  beseitigt  werden.  Bei  e'  und  cUs^  z.  B.  ist 
so  keine  Spur  von  Raubigkeit  vernebmbar,  wahrend  vor  Einem 
Obr  die  Scbwebungen  von  dis^  mit  dem  Oberton  e^  sicb  nocb 
geltend  macben.  Fiir  die  Beurteilung  der  HsLMHOLTz'scben 
Dissonanz-  und  Disbarmonielehre  sind  diese  Erscbeinungen  von 
einscbneidender  Bedeutung,  denn  die  Dissonanz  wird  durcb 
dieses  Verfabren  nicbt  beseitigt,  nicbt  einmal  verringert;  worauf 
wir  bier  nur  vorlaufig  binweisen. 

Die  Grenze  der  Scbnelligkeit  bei  verteilten  Gabeln  bilden 
in  der  grossen  Octave  16  bis  20  Scbwebungen  in  der  Secunde 
(grosse  Terz  in  der  unteren,  kleine  in  der  oberen  Halfte  der 


§  27.   Schwebungcn  and  clarauf  beziigliche  Urteile.  471 

Octave).  In  der  kleinen  Octave  32  bis  40  (Intervalle  ebeiiso; 
doch  sind  sie  schon  bei  Ganztonen  sehr  wenig  bemerkbar)  ^). 
In  der  eingestrichenen  Octave  etwa  50  (kleine  Terz  in  der  un- 
teren,  Ganzton  in  der  oberen  Halfte).  In  der  zweigestrichenen 
etwa  70  (Ganzton  in  der  unteren,  Halbton  in  der  oberen  Halfte). 
In  der  dreigestrichenen  sind  die  Schwebungen  verteilter  Gabeln 
in  alien  Fallen  nur  undeutlich.  und  schwer  vernehmbar. 

Man  kann  hier  auch  besonders  gut  beobachten,  wie  die 
Schwebungen  mit  abnebmender  Tonstarke  deutlicber,  wenn  nicht 
sogar  relativ  starker,  werden.  Bei  kraftigem  Anschlag  von  Ga- 
beln der  mittleren  Octave  werden  sie  erst  nach  ein  bis  zwei 
Secunden  deutlicb  und  dann  immer  deutlicher,  bis  sowol  Tone 
als  Schwebungen  wegen  zu  grosser  Schwache  verschwinden.  An- 
fangs  dagegen  glaubt  man  keine  Schwebungen  zu  horen,  ausser 
etwa  die  ganz  langsamen  (vier  in  der  Secunde).  Schlagt  man 
die  Gabeln  sogleich  nur  schwach  an,  so  konnen  Einem  die 
Schwebungen  leicht  iiberhaupt  entgehen,  obgleich  sie  nicht 
schwacher  sind  wie  im  ontsprechenden  Stadium  des  Verklingens. 
Die  Aufmerksamkeit  ist  in  diesem  Falle  noch  zu  sehr  durch 
die  Auffassung  der  Tone  selbst  absorbirt. 

II.    Tonhohe  bei  Schwebungen. 

Auch  die  Frage  nach  den  Tonqualitaten,  die  bei  Schwe- 
bungen vernommen  werden,  muss  als  eine  eigentiimlich  ver- 
wickelte  und  fiir  die  Theorie  der  gleichzeitigen  Tonempfindungen 
und  ihrer  Entstehung  sowie  fiir  die  Dissonanzlehre  nicht  un- 
wichtige  ausfiihrlicher  untersucht  werden.  Es  fragt  sich:  Hort 
man  stets  beide  Tone  und  zwar  beide  schwebend,  oder  nur 
einen  schwebend,  den  anderen  stetig  andauernd,  oder  hort  man 
statt  ihrer  einen  einzigen  und  zwar  einen  der  Hohe  nach  gleich- 
bleibenden,  etwa  mittleren,  oder  einen  der  Hohe  nach  verander- 


^)  Wahrsclieiulich  beruht  hierauf  die  Angabe  von  Docq  in  seiner 
0.  435  erwahnten  Specialuntersuchung  S.  34,  dass  bei  verteilten  Gabeln 
keine  Schwebungen  entstanden.  Die  Angabe  ist  jedenfalls  ein  sprechendes 
Zeugnis  fiir  ihre  ausserordentlicbe  Abschwachung,  wenn  auch  nicht  gerade 
fiir  die  Genauigkeit  dieses  Beobachters. 


472  §  27.   Schwebungen  mid  darauf  beziigliche  Urteile. 

lichen,  etwa  zwischen  beideii  oder  in  weitereu  Grenzen  hin- 
iind  hergehenden? 

1.  Bisherige  Bcobaclitungen  und  Theorion. 

Helmholtz  bemcrkte^),  dass  bei  Schwebungen  zwoier  sehr 
wenig  verschiedener  Klange,  die  uns  gleichzeitig  niir  als  Ein 
Klang  erscheinen,  wlihrend  des  Schwcbungsminimums  die  Ober- 
tone  relativ  hervortroten  und  so  eine  Veranderung  (Erhellung) 
der  Klangfarbe  erzeugcn,  welche  leicht  falschlich  als  eine 
kleine  Erhohung  des  schwebenden  Klanges  aufgefasst  wird  (vgl. 
0.  I  242).  Diese  bios  scheiubare  Erhohung  hangt  nicht  mit 
den  Schwebungen  als  solchen,  nicht  mit  dor  Combination  zweier 
verschiedener  Tone  zusammen.  sondern  mit  Interferenz  und 
dem  Vorhandensein  von  Obertouen.  Liisst  man  einen  einzelnen 
obertonhaltigen  Klang  mit  sich  selbst  interferiren,  so  trcten  in 
den  Pausen  dessen  Obertone  ebenfalls  hervor,  er  schlagt  in  die 
Octave  um  (Helmholtz  daselbst). 

Wir  fragcn  aber  nicht  nach  einer  bios  scheinbaren  son- 
dern nach  einer  wirklichen  Veranderung  der  empfundenen  Ton- 
hohe  und  einer  solchen,  die  auch  ohne  jede  Beteiligung  von 
Obertonen  durch  Combination  zweier  verschiedener  Grundtone 
entstande. 

Eine  den  Tatsachen  evident  zuwiderlaufende  und  darum 
vorab  bei  Seite  zu  setzende  Behauptung  stellt  hier  wieder 
WuNDT  auf.  Er  sagt,  bei  etwa  30  Schwebungen  in  der  Secunde, 
wo  die  Rauhigkeit  am  starksten  sei,  sei  eine  deutliche  Auf- 
fassung  der  Tonhohe  nicht  mehr  moglich  und  der  Klang  werde 
zum  Gerausch.  Aber  der  Zweiklang  ce  macht  33  Schwebungen 
—  und  hier  soil  eine  deutliche  Auffassung  der  Tonhohe  un- 
moglich  sein,  soil  der  Klang  zum  Gerausch  werden?  Man  hort 
ja  c  und  e  vollkommen  klar.     In  dem  ganzen  Accord 


m 


^)  Tonempf.  1.  Aiifl.  (1863)  S.  246,  4.  Aufl.  S.  274  (Versuche  mit 
der  Sirene).  Ebeuso  Mach,  Sitz.-Ber.  d.  Wiener  Ak.  1864,  S.  14.  Als 
Mach  zwei  Stimmgabelii  vor  Eiiiem  Ohr  schwebeu  liess,  schien  ihm  zu- 


§  27.  Schwebungen  uml  darauf  beziigliche  Urteile.  473 

raacht  jecler  Ton  mit  jedem  nachsthoheren  und  nachsttieferen 
33  Schwebungen  —  und  das  Ganze  ware  ein  blosses  Gerausch? 
Auch  c^  mit  d^  gibt  dieselbe  Anzahl  —  und  sie  waren  nicht 
deutlich  aufzufasson?  Was  sollte  aus  der  Musik  word  en  oder  wo 
ware  unsre  Musik  iiberhaupt  geblieben,  wenn  sich  alle  diese 
Tonpaare  nicht  mehr  unterschoiden  liessen?  Nicht  cinmal  am 
Harmonium  mit  soiucn  vielen  untereinander  schwebenden  Ober- 
tonon  entsteht  bei  obigem  Accord  ein  blosses  Gerausch,  sondern 
auch  da  ein  herrlicher  markiger  Zusammenklang.  Und  behauptet 
nicht  WuNDT  selbst,  dass  ceg  (4:5:6)  am  Obertonapparat  als 
ein  Zusammenstimmen  mchrerer  Tone  aufgefasst  werdo  (s.  o.  331)? 
Er  muss  wol  hier  ganz  specielle  Fallo  vor  sich  gehabt  haben, 
vielleicht  Viertelton - Intervalle  aus  der  Gegend  des  c^,  welche 
ebenfalls  etwa  30  Schwebungen  liefern  und  die  beiden  Tone 
allerdings  nicht  mehr  deutlich  unterscheiden  lassen.  Aber  ein 
Gerausch  statt  des  Klangos  hort  man  auch  hier  keineswegs. 
Uberdies  ist  die  Behauptung  ohnc  jedc  Andeutung  einer  solchen 
Beschrankung  ausgesprochen,  und  nicht  gelegentlich  sondern 
als  der  Mittelpuuct  der  Theorie  der  Schwebungen^). 

Sehen  wir,  was  theoretisch  aus  den  Principien  folgt,  die 
sich  sonst  bewahren.  Nach  dem  Princip  der  Erregung  durch 
Mitschwingen  werden  in  alien  Fallen,  wo  sich  Schwebungen 
zeigen,  ausser  den  beiden  am  Meisten  erregten  Fasern  alle 
zwischenliegenden  durch  die  Tonwellen  erregt.  Nach  dem  Prin- 
cip der  specifischen  Energien  in  der  Ausdehnung,  die  ihm  Helm- 


erst  bald  die  hohere  bald  die  tiefere  zu  iiberwiegen.    Aber  er  erkannte 
dies  als  eine  Tauschung,  beruhend  auf  obigen  Umstanden. 

^)  I  "  438.  Gleich  darauf  steht  noch  zu  lesen:  „Bei  Schwebungen, 
welche  die  Zahl  30  erheblich  iibersteigen,  vermag  unser  Ohr  die  ein- 
zclnen  Tone  nicht  mehr  auseinanderzuhalten."'  Hier  konnte  man  mm 
einen  blossen  Druckfehler  vermuten,  der  durch  die  drei  Auflagen  stehen 
geblieben  ware,  namlich  „T6ne"  statt  „St6sse".  Denn  Wxjndt  fahrt  fort : 
„Schon  bei  50  Schwebungen  wird  der  intermittirende  Charakter  der  Em- 
pfindung  sehr  undeutlich,  und  bei  60  ist  er  ganzlich  verschwunden." 
Aber  freilich  ist  in  dem  ganzen  Passus  bald  von  der  Unterscheidung  der 
Tone  bald  von  der  der  Stosse  die  Rede,  was  doch  Zweierlei  ist.  Er 
scheint  mir  daher  kurz  gesagt  an  einer  unheilbaren  Confusion  zu  leiden. 


474  §  '^^-  Schwcbungon  uiul  ilarauf  beziigliche  Urteilc. 

HOLTZ  gegeben,  muss  jede  erregte  Faser,  gleichvicl  auf  welchem 
Wegc  uiid  mit  wclclier  (ob  coustanter  oder  schwankender)  Iii- 
tensitJit  sie  errogt  ist,  ihren  bestimmteu  Ton  in  der  Empfindung 
crgeben.  Gilt  also  dieses  Princip  auch  liier,  so  wcrden  erstens 
die  beiden  primaren  Tone  *)  gebort  werden,  zweitens  aber  alle 
dazwiscbenliegenden,  soweit  sie  durch  besondore  Fasern  (und 
Ganglion)  vertreten  sind.  Die  beiden  primaren  Tone  werden 
rubig  gebort  wcrden,  da  bier  der  Voraussetzung  gemass  die 
Zone  der  gemcinsameu  Erregung  ibr  Ende  bat,  die  iibrigen  in 
verscbiedenem  Masse  scbwebend,  am  starksten  scbwebend  der 
in  der  Mitte  gelegene  Ton. 

Helmholtz  erwabnt  diese  Consequenz  nicbt.  Er  erwabnt 
aber,  durcb  Gueroult  aufmerksam  gemacbt,  in  der  dritten  und 
vierten  Auflage  seines  Werkes  eine  Erscbeinung,  welcbe  mit 
derselben  im  Widersprucb  steben  wiirde.  Es  werde  namlicb 
bei  wenig  verscbiedenen  Wellenlangen  nur  Ein  Ton  gebort, 
dieser  aber  mit  einer  zwiscben  gewissen  Grenzen  bin- 
und  berscbwankenden  Hobe  (4.  Aufl.  274).  Also  nicbt 
bios  die  Intensitat  soli  periodiscb  wecbseln  —  was  Helmholtz 
frliber  allein  bervorgeboben  —  soudern  aucb  die  Hobe.  Helm- 
holtz gibt  in  der  Beilage  XIV  aucb  eine  Berecbnung  dieser 
Scbwankung,  worin  er  voraussetzt,  dass  die  empf undone  Ton- 
bobe  der  jeweiligen  Gescbwindigkeit  eines  unter  dem  Einflusse 
zweier  Tonwellen  scbwingeuden  Scbneckenteilcbens  entsprecbe. 
Diese  Voraussetzung  batte  er  aber  jedenfalls  nicbt  stillscbweigend 
zu  Grunde  legen  sondern  sebr  bervorbeben  miissen,  da  sie  dem 
sonst  durcbgefiibrten  Princip  der  specifiscben  Energie  direct 
widerspricbt,  wonacb  die  Tonbobe  nur  abbangig  ist  von  der 
Individualitat  des  Teilcbeus  (oder  seines  centralen  Ganglions), 


*)  So  woUen  wir  im  Folgenden  der  Klirze  halber  die  beiden  auf 
Pendelschwingungen  der  Fasern  bernhenden  Tone  nennen,  wclche  den 
beiden  scbwebiingserzeugenden  objectiven  Tonen  entsprechen.  Es  soil 
natiirlich  nicht  damit  gemeint  sein,  dass  der  oder  die  etwaigen  Schwe- 
bungstone  neben  diesen  beiden  durch  dieselben  psycliologisch  oder.physio- 
logisch  bedingt  waren.  Sie  haben  vielmehr  mit  denselben  gemeinsame 
objective  Ursachen. 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  Ijczugliche  Urteile.  475 

iinabhangig  dagegen  von  dcr  Art  und  Geschwindigkeit  seiner 
Erregung.  Helmholtz  berechnet  speciell  den  Fall,  in  welchem 
die  Primartoue  von  ungleicher  Intensitat  sind,  und  erhalt  als 
Schwingungszahl  des  rosultircnden  Tones 

(m  —  n)  A 


beim  Maximum  der  Schwebung:  n-\- 
beim  Minimum   der  Schwebung:  n-\- 


A  +  B   ' 

(m  —  n)A 


worin  m  und  n  die  (wenig  verscbicdeuen)  Schwingungszahlen 
der  gleichzeitig  einwirkendcn  Scbwingungen,  A  und  B  die  zu- 
gehorigen  Amplituden,  A'^B. 

Beim  Maximum  liegt  hienach  die  Tonhohe  zwiscben  den 
beiden  Primartouen,  beim  Minimum  liegt  sie,  wenn  der  stiirkere 
Ton  zugleich  der  bobere  ist,  iiber  den  beiden  Primartonen, 
wenn  er  dagegen  der  tiefero  ist,  unter  denselben.  Helmholtz 
fiigt  bei,  dass  man  mit  gedackten  Pfeifen  diesc  Unterscbiede 
gut  bore,  auch  mit  zwei  Stimmgabeln,  wenn  man  abwecbselnd 
die  bobere  oder  tiefere  der  Resonanzrohre  naber  bringe. 

Sedley  Taylor  hat  dasselbe  Resultat  auf  anderem  Wege 
abgeleitet  und  auch  den  Fall  gleicher  Intensitat  der  Primar- 
tone    in  Betracht   gezogen  ^).     Fiir    diesen   Fall   kommt    er   zu 


^)  Philosophical  Magazine  Bd.  44  (1872)  S.  56.  Taylor  erwahnt 
hier,  dass  vor  Gu^iroult  bereits  1857  De  Morgan  in  der  o.  451  citirten 
Abhandliing  Hohenveranderungen  mit  Bestimmtheit  als  eine  bekannte 
und  vou  ihm  selbst  beobachtete  Tatsache  bezeichnet  habe.  Dies  ist 
nicht  genau.  De  Morgan  sagt  S.  137  seiner  Abhandlimg,  bei  verstimmten 
Consonanzen,  etwa  Sexten,  sei  die  Erscheimmg  fiir  verschiedene  Ohren 
verschieden.  Fiir  manche  bestehe  sie  im  Intensitatswechsel.  Fiir  andere 
in  abwechselnder  Wahrnehmung  (perception)  der  beiden  Tone 
des  consonanten  Intervalls.  Fiir  sein  eigenes  Ohr  im  Wechsel 
der  Klangfarbe  (u-a-u-a,  vowel -sounds,  as  pronounced  in  the  Italian 
way).  Der  zweite  dieser  Falle,  an  welchen  Taylor  zu  denken  scheint, 
deckt  sich  keineswegs  mit  der  Gu^roult  -  HELMHOLTz'schen  Behauptung 
und  kann  weiter  Nichts  bedeuten,  als  dass  die  beziiglichen  Personen 
ihre  Aufmerksamkeit  bald  dem  unteren  bald  dem  oberen  Ton  des  Inter- 
valls (der  grossen  Sext)  schenkten,  was  mit  den  Schwebungen  schlechter- 
dings  Nichts  zu  tun  hat. 


476  §  27.   Schwebungen  and  darauf  beziigliche  Urteile. 

dcm  Ergebnis,  dass  die  Schwingungszahl  des  rosultirendon  Tones 

beim  Maximum  und  Minimum  die  namliche  und  zwar  =-—^ — 

sei.  Und  diose  Formel  sei  exact,  wLihrcnd  die  fiir  ungleiche 
Intensitaten  nur  approximative  Ableitung  gestatte.  Auch  Taylor 
bchauptet,  die  Tonhohenschwaukung  bei  ungleicher  Intensitat 
der  Primartone  sclbst  wahrzunehmen,  und  crblickt  in  dieser 
Erscbeinung,  die  Helmholtz  nur  als  beilaufige  betracbtet  und 
nicbt  weiter  verwertet,  ein  wesentlicbes  Morkmal  der  Dis- 
sonanz.  Denn  die  blosso  Intensitatsscbwankung  und  Rauhig- 
keit  finde  sich  ebenso  bei  einem  einzebien  bios  intermittironden 
Ton,  dagegen  diese  Hobenschwankung  bringe  erst  jene  „eigen- 
tiimlicbo  Bitterkeit"  (peculiar  sourness)  in  den  Eindruck,  die 
fiir  ein  dissonantes  Intervall  cbarakteristiscb  sei.  Bei  grosseren 
verstimmten  Intervallen,  z.  B.  einer  unreinen  Octave,  ergebe 
sicb  eine  solcbe  Hobenscbwankung  durch  Collision  des  Grund- 
tones  mit  dem  ersten  Combinationston,  der  diesem  ganz  nahe 
liegt,  u.  s.  w.^).  Man  wird  zugesteben,  dass  Taylor  bier  eine 
sebr  bedeutende  Erganzung,  ja  Umbildung  der  HELMHOLTz'schen 
Dissonanzlebre  zur  Discussion  gestellt  bat. 

Hensen,  dem  dies  unbekannt  zu  sein  scbeint,  spricbt  sicb 
iibcr  den  Schwebungston  so  aus^):  „Scbweben  a  und  li  mit- 
einander,  so  wUrde  die  Faser  fiir  &  am  starksten  in  Scbwe- 
bungen  versetzt  werden   miissen....   und  es  scbeint,  dass  wir 


^)  Alfred  Mayer  bemerkt  (Americ.  Journ.  of  Science  VIII  253) 
gegen  Taylor,  er  vernehme  bei  einer  einzelnen  in  der  Drehbank  rapid 
gedrehten  Stimmgabel  gleichfalls  eine  Erhohung  des  Tones  bis  zu  einer 
kleincn  Terz.  Aber  diese  fortschreitende,  nicht  periodische,  Erhohung 
muss  andere  Griinde  haben  (vgl.  Beetz,  Pogg.  Ann.  Bd.  128  S.  490, 
Bd.  129  S.  313,  587).  In  unsrera  Fall  handelt  es  sich  um  periodische 
Erhohung  beina  Minimum:  und  wie  wollte  man  bei  rapider  Drehung 
die  Tonhohe  des  Minimums  von  der  des  Maximums  unterscheiden? 
Taylor  hatte  dieses  Experiment  bios  dazu  angefiihrt,  um  die  Ent- 
stehung  der  Rauhigkeit  durch  einen  einzelnen  Ton  daran  zu  erlautern. 
Dagegen  dass  keine  Tonerhohung  bei  blosser  Intermittenz  eintritt,  e 
wies  er  durch  langsame  Drehung. 

2)  Heem.  Handb.  Ill,  2  (1880)  96. 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile.  477 

den  Ton  h  miissten  schwebend  horen  konnen,  wahrend  wir  in 
der  Tat  wechselnd  a  und  h  horen."  Hensen  legt,  wic  wir 
sehen,  seinen  Folgerungen  zunachst  das  Princip  der  spccifischen 
Energien  zu  Grunde,  und  findet  in  der  Beobachtuiig  ebenfalls 
eine  Abweichung  davon,  aber  keineswegs  die  von  Helmholtz 
angegebene  Erscheinung  (deren  er  an  anderer  Stelle  Erwahimng 
tut,  ohne  den  Widersprucb  zu  heben  ^)). 

BosANQUET  gibt  Folgendes  an^).  Bei  nahezu  gleich  hohen 
Primartonen  wird  nur  Ein  Ton  vernommen,  der  zwischen  beiden 
liegt,  diese  selbst  aber  nicbt.  Bei  grosserem  Unterschiede  der 
Primartone  kommt  ein  Punct,  wo  zwei  verschiedene  Tone,  aber 
aucb  immer  noch  Schwebungen  gehort  werden.  Dieses  „kri- 
tische  Intervall",  wo  der  Eine  Ton  in  zwei  auseinandorgeht,  be- 
tragt  in  der  mittleren  Region  etwa  zwei  Komma's,  variirt  jedoch 
nach  Personen.  Etwa  von  der  kleinen  Terz  an  verschwinden 
die  Schwebungen  und  hort  man  zwei  gleichmassig  dauernde 
Tone.  Von  einer  Schwankung  der  Tonhohe  erwahnt  Bosan- 
QUET  in  alien  Fallen  Nichts. 

2.  Priifung  dor  aus  don  objectiven  Schwingungs- 
verhaltnissen  abgeleiteten  Folgerungen. 

Ich  kann  nun  zunachst  die  von  Helmholtz  und  Taylor 
fiir  den  Fall  ungleicher  Intensitat  der  Primartone  angegebenen 
Erscheinungen  nicht  bestatigt  finden.  Machen  wir  den  Fall 
concret.  Zwei  Gabeln  C°  =  64  und  C^  =  66  miissten  beim 
Stark everhaltnis  0°:  O'^  =  11 :  10  nach  den  obigen  Formeln  um 
eine  voile  Quarte  nach  oben,  also  zwischen  C  und  F,  und  bei  um- 
gekehrtem  Starkeverhaltnis  10:11  um  eine  Quinte  nach  unten, 
also  zwischen  C  und  F^  schwanken.  Denn  der  Maximumton 
ware  ein  C=65,  der  Minimumton  ware  ein  F=8Q,  boz.  ein 
F,  =  44. 

Bei  den  Tonen  400  und  401  (g'^)  und  dem  Starkeverhaltnis 
50:51  wiirde  fiir  das  Minimum  der  Ton  451  (^ais^)  bez.  350 
(etwa  f^)  resultiren. 

^)  S.  84.    Vielleicht  wiirde    er   ihn    so  losen,    dass    er  selbst  bei 
gleichen,  Helmholtz  bei  uugleichen  Intensitatea  beobachtet  habe. 
•')  Philos.  Mag.  XI  (1881)  420-1. 


478  §  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile. 

Man  miisste  also  eine  Art  Trilier  lioren  zwischen  dem 
Maximum-  und  Minimumton,  wenn  auch  einen  sg.  Bockstriller, 
wie  der  Musiker  sagt,  wenn  die  Intensitat  ungleich  und  die 
Tone  melir  als  einen  Ganzton  entfernt  sind. 

Moge  nun  Jeder  zuhoren,  ob  er  diese  Erscheinungen  wahr- 
nimmt.  Man  wird  seinen  Ohren  zelinmal  mistrauen,  ehe  man 
die  Aussage  eines  Beobachters  wie  Helmholtz  in  Zweifel  zieht. 
Ich  kann  aber  schliesslich  nur  sagen,  dass  ich  bei  aller  Auf- 
merksamkeit  an  alien  moglichen  Instrumenten  diese  Schwan- 
kungen  niclit  habe  beobachten  konnen,  und  dass  mir  ihr  Nicht- 
vorhandensein  nur  um  so  evidenter  wurde,  je  ofter  und  auf- 
merksamer  ich  die  Erscheinungen  studirte. 

Dass  man  zuerst  glauben  kann,  wenn  nicht  solch'  be- 
deutende,  doch  wenigstens  ilberhaupt  ^ine  Schwankung  zu  horen, 
zumal  wenn  man  nach  der  Berechnung  eine  erwartet,  ist  immer- 
hin  begreiflich.  Denn  beim  Maximum  soil  ja  der  Ton  sich  nur 
sehr  wenig  von  den  Primartonen  unterscheiden;  beim  Minimum 
aber  ist  eben  die  Tonstarke  so  gering,  dass  man  jenachdem 
sowol  eine  Erhohung  als  eine  Vertiefung  darin  finden  kann: 
eine  Erhohung  wegen  des  oben  472  nach  Helmholtz  selbst  er- 
wahnten  Tauschuugsmotivs  —  eine  Vertiefung,  weil  schwachere 
Tone  leicht  tiefer  scheinen  (I  237).  Vielleicht  konnte  man  so- 
gar  willkiirlich,  jenachdem  man  mehr  die  Erhellung  oder  mehr 
die  Schwachung  beachtet,  die  eine  oder  andere  Tauschung  her- 
vorrufen.    Ferner  vgl.  u.  481  Anm. 

Fiir  den  Fall  gleicher  Amplitude  ist  schon  das  Rechnungs- 
ergebnis  S.  Taylor's  beziiglich  der  resultirenden  Schwingungs- 
dauer  unrichtig.  Es  liegt  ja  in  der  Natur  der  Sache  und  springt 
bei  Betrachtung  der  Wellenfiguren  (vgl.  o.  28)  sofort  in's  Auge, 
dass  sich  auch  hier  die  Wellenlange  vom  Maximum  der  Re- 
sultirenden zum  Minimum  und  umgekehrt  verandert  und  beim 
Maximum  grosser  als  beim  Minimum  ist.  Ich  habe  mir  die 
Frage  nicht  bios  fiir  kleine  Tonunterschiede  sondern  allgemein 
vorgelegt,  nach  welchem  Gesetz  bei  der  Superposition  zweier 
Sinuswellen  die  Lange  der  resultirenden  Welle  zwischen  dem 
Maximum  ihrer  Amplitude  und  dem  Minimum  wechselt;  und  da- 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile.  479 

bei  die  bereits  o.  27 — 28  erwalmten  Formelu  gefunden.  Nennen 
wir  L  und  I  die  Langen  der  grosseren  und  kleineren  Sinus- 
welle,  L'  die  grosste  und  V  die  kleinste  Lange  der  Resultirenden, 

so  ist  fiir   y^^S,  d.  h.  fiir  alle  Intervalle  innerhalb  der  Duo- 

decime,  also  audi  fiir  alle  Falle  von  Schwebungen 

t'—^Jl  r—~— 

L-\-l  L+l 

Die  grosste  Lange,  welche  zugleich  beim  Maximum  der  Ampli- 
tude stattfindet,  ist  das  liarmonische  Mittel  der  beiden  ur- 
spriinglichen  Wellenlangen,  die  kleinste,  die  beim  Minimum  der 
Amplitude  stattfindet,  ist  die  Halfte  der  grossten.  Man  muss 
also,  wenn  und  solange  nur  Ein  Ton  geliort  wird  und  dessen 
Hohe  durch  die  Lange  der  resultirenden  Welle  bedingt  ist, 
den  Ton  zwischen  den  Endpuncten  einer  vollen  Octave 
wechseln  horen.  Beim  Maximum  der  Schwebungsstarke  muss 
er  zwischen  den  Primartonen,  beim  Minimum  eine  Octave  hoher 
liegen.  Wenn  auch  vielleicht  der  Minimumton  wegen  seiner 
Schwache  nicht  deutlich  vernommen  wiirde,  der  Maximumton 
miisste  doch  vollkommen  deutlich  sein. 

Dass  dies  nun  nicht  allgemein,  in  alien  Fallen  von  Schwe- 
bungen, zutriift,  ist  offenbar.  Es  sind  ja  z.  B.  bei  Anwendung 
einer  C-  und  einer  G-Gahel  noch  deutlich  Schwebungen  zu 
horen,  33  in  der  Secunde.  Hier  wiirde  der  berechnete  einfache 
Ton  zwischen  E  und  e  abwechseln,  C  und  G  dagegen  nicht 
gehort  werden.  Factisch  hort  man  nur  das  unveranderte  C 
und  G.  Bei  C  und  E  (16  V2  Schwebungen)  miisste  der  Ton 
zwischen  D  und  d  wechseln,  C  und  E  dagegen  wieder  nicht 
gehort  werden;  was  wiederum  nicht  zutrifft. 

Lassen  wir  die  Differenzen  der  Primarwellen  immer  kleiner 
werden,  so  miisste  allerdings  der  Maximumton  zuletzt  so  wenig 
von  den  Primartonen  verschieden  sein,  dass  er  schwer  oder 
nicht  mehr  als  verschieden  und  zwischen  ihnen  liegend  erkannt 
werden  konnte.  In  diesem  Falle  wiirde  es  nun  darauf  an- 
kommen,  ob  der  Ubergang  von  der  tieferen  zur  hoheren  Octave 


480  §  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile. 

innerhalb  der  Resultirenden  stetig  oder  sprungweise  erfolgt. 
Im  ersteren  Fall  miisste  man  einen  zwischen  diesen  Eudpuncten 
rulielos  auf  und  ab  heulenden  Ton  statt  der  Primartone  ver- 
nehmen,  und  diese  stetige  Anderung  wiirde  sich  bei  kleineren 
Differenzen  der  Primiirwellen  immer  langsamer  vollziehen,  konnte 
also  unsrer  Walirnelimung  um  so  weniger  entgehen.  Auch  hie- 
von  ist  absolut  Nichts  zu  bemerken.  Im  zweiten  Fall  (und 
dieser  entspricht,  soviel  icli  seho,  den  geometrischen  Verhalt- 
nissen)  konnte  uns  der  Minimumton  allerdings  wegen  seiner 
Kiirze  und  Schwache  entgehen  und  wiirde  dann  bios  ein  zwi- 
sclien  den  Primartonen  in  der  Mitte  liegender  statt  ihrer  ver- 
nommen  -  werden. 

Nur  also  fiir  selir  kleine  Differenzen  der  Primartone  konnte 
sicli  eine  leidliche  tJbereinstimmung  der  auf  die  objectiven 
Schwingungsverhaltnisse  gegriindeten  Berechnung  mit  den  Be- 
obachtungen  ergeben.  Aber  die  Scbwebungen  sind  eben  nicht 
auf  solche  Falle  beschrankt. 

Verlassen  wir  daher  einstweilen  den  theoretiscben  Leit- 
faden  und  fragen  wir  mit  um  so  besserer  Beriicksichtigung  der 
verschiedenen  Umstande  die  Beobachtung. 

3.  Neue  Beobachtungen. 

Es  finden,  soweit  ich  meinen  Ohren  in  wesentlicher  t)ber- 
einstimmung  mit  mehreren  anderen  von  guter  Qualification 
trauen  darf,  je  nacb  Umstanden  verscbiedene  Ersclieinungen 
statt.  Man  kann  dieselben  auch  unbedenklich  an  oberton- 
haltigen  Klangen  studiren,  da  die  Aufmerksamkeit  ja  auf  die 
Grundtone  und  ihre  Umgegend  concentrirt  wird. 

a)  Wenn  ich  in  mittlerer  Region  zwei  um  etwa  einen 
Halbton  verscbiedene  Tone  zusammen  angebe,  z.  B.  gis^  und 
a^  der  Yioline,  so  hore  ich  die  beiden  Primartone,  ausser 
diesen  aber  einen  dritten,  der  zwischen  ihnen  liegt,  etwas 
naher  an  dem  tieferen  als  an  dem  hoheren.  Derselbe  besitzt 
eine  sehr  weiche  Farbe,  wird  bei  starker  Aufmerksamkeit 
nnerhalb  des  Ohres  localisirt;  und  er  ist  es,  welcher 
schwebt,  wahrend  die  Primartone  ruhig  bleiben.  Diese  beiden 
ausseren  Tone   sind   dabei  nach  meinem  Urteil   merklich  ab- 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  beztigliche  Urteile.  481 

geschwacht,    mehr    als    sonst  die  Abschwachung  bei  gleich- 
zeitigem  Erklingen  zweier  Tone  betragt. 

b)  Nebme  icli  in  derselben  Region  weiter  auseinander- 
liegende  Tone,  wie  p^  und  a^,  so  hore  ioh  nichts  mehr  von 
dem  mittleren  Ton  sondern  nur  die  beiden  Primartone;  und 
diese  beiden  scheinen  selbst  zu  schweben.  Wenn  ich  jedocli 
die  Aufmerksamkeit  vorzugsweise  einem  von  ihnen  zuwende, 
scheint  immer  dieser  der  scliwebende. 

c)  Nehme  ich  umgekebrt  zwei  Tone,  die  viel  naher  an- 
einander  liegen  als  eine  Halbtonstufe,  so  dass  sie  der  Unter- 
scheidungsschwelle  fUr  gleichzeitige  Tone  nahekommen,  so  ver- 
nehme  ich  Einen  Ton,  und  diesen  schwebend.  Es  ist  schwer 
zu  sagen,  ob  er  in  der  Mitte  der  primaren  Tone  hegt. 

Auch  Herr  Prof.  Joachim  war  so  gutig,  zu  dergleichen 
Versuchen  sein  Ohr  zu  leihen.  Er  spielte  selbst  auf  seiner 
Violine  die  Tone,  die  er  mit  allbekannter  Reinheit  der  In- 
tonation, Ruhe  und  Gleichmassigkeit  des  Striches  wahrend  lan- 
gerer  Zeit  festhielt  und  wiederholte.  Das  Ergebnis  war  ein 
ahnliches.  Ich  berichte  aber  nicht  bios  die  Endurteile,  zu  denen 
er  gelangte,  sondern  auch  die  anfanglichen  davon  abweichenden, 
da  dies  fiir  Solche,  die  die  Beobachtungen  wiederholen,  in- 
structiv  sein  wird. 

(a)  Bei  gzs'^  a'^   glaubte   er   anfiinglich  „eiue  Art  Triller"  wahr- 
zunehmen  ^).     Dann    fiel  ihm   eiu   gewisses  Knistern  auf  — 


^)  Diesen  Eindruck  hatte  auch  eine  andere  musikalische  Person,  die 
ich  nur  vorubergehend  einmal  fragte ;  obgleich  man  beim  Musikhoren  doch 
den  Zusammenklang  gis^  a^  sehr  wol  unterscheidet  von  dem  Triller  zwi- 
schen  diesen  Tonen.  Die  Ursache  liegt  oifenbar  darin,  dass  man  in  der 
Musik  eben  nicht  auf  Schwebungen  hort  und  dass  nun,  wenn  dieses 
Phanomen  zum  deutlichen  Bewusstsein  kommt,  das  Kollern  und  Stossen 
zunachst  unter  den  musikalisch  gewohnlichen  und  nachstliegenden  Be- 
griff  des  Trillers  zwischen  den  gehorten  Tonen  gebracht  wird.  Der 
rasche  Intensitatswechsel  wahrend  der  Tone  wird  als  gleichrascher  Wech- 
sel  der  Tone  selbst  gedeutet.  Die  schnelle  periodische  Abwechselung 
ist  das  Tertium  comparationis.  Bei  schwebenden  Terzen  findet  diese 
Verwechselung  nicht  mehr  Statt,  weil  eben  auf  Terzen  der  musikalische 
Begriff  des  Trillers  nicht  mehr  anwendbar  ist. 

Stumpf,  Tonpsychologie.    II.  31 


482  §  27.  Schwebungen  und  darauf  bezUgliche  Urteile. 

er  verglich   es   dem   elektrischen  Knistern   — ,   dem   er  die 
Tonhohe  c^  zuscbrieb.    Es  zeigte  sich,  dass  man  diesen  Ton 
auch  beim  Hineinblaseu   in  die  Schalllocher  des  Instruments 
leise  vernehmeu  konnte.     Es  war  also  eine  zufiillige  Neben- 
erscheinung,   die   aber  seine  Aufmerksamkeit  ganz  besonders 
abzog,  wahrend  ich  sie  zuerst  nicht  wahrgenomraen  hatte  ^). 
Die  Tone  gis^  und  a'^  selbst  vernahm  J.  ihrer  Hdhe   nach 
vollig  unverandert.     Als  das  Subject  der  Schwebungen,  des 
Rollens,  erschien  ihm  der  Knisterton. 
(|3)  e^  dis'^    (auf  der  g-  und  <^^-Saite;    der    Halbtou  absichtlicli 
etwas  kleiner  genommen):  Hier  nahm  J.  ausser  den  Primar- 
tonen  einen   dritten  mittleren  Ton  wahr,   welcher  dem  tie- 
feren  Primarton  naher  lag. 
(/)  gis^ a^  wiederholt:  Jetzt  glaubte  J.  auch  hier  einen  mittleren 
Ton  zu  horen  und  zwar  von  „hohler,  weicher,  trommelartiger 
Klangfarbe".     Vielleicht   deutet  letzterer  Ausdruck  zugleich 
darauf,  dass   er  die   Schwebungsstosse  jetzt  auf  diesen  Ton 
bezog,  doch  habe  ich  versaumt,  iiber  diesen  Punct  ausdriick- 
lich  zu  fragen  oder  die  Antwort  zu  notiren. 
Versuche  in  Gemeinschaft  mit  Herrn  Prof.  Gustav  Engel 
in  Berlin  (3.  I.  85)  an  dessen  „mathematischem  Harmonium", 
welches  Differenzen  von  einem  oder  zwei  Komma's  anzugeben 
gestattet^),  lieferten  besonders  ergiebige  Bestatigungeu  und  zu- 
gleich Erweiterungen  dieser  Beobachtungen  durch  Ausdehnung 
auf  verschiedene  Tonregionen. 

E^G^:  Beide  Tone   deutlich  zu  horen ;  im  Ubrigen   stort   das 

Schnarren  die  Beobachtuug. 
CE:  Beide  Tone  deutlich. 

CCis:  Ebenso.     Beide  Tone  werden  schwebend  gehort,  jeder 
sobald  man  die  Aufmerksamkeit  auf  ihn  wendet.     Ausser- 


^)  Die  Gewohnheit,  auf  Harmonien  zu  achten  —  meinte  Joachim 
wol  mit  Recht  — ,  habe  ihm  diesen  durch  ein  grosseres  Intervall  von 
den  Primartonen  getrennten  Ton  besonders  auffallig  gemacht. 

^)  Vgl.  G.  Engel,  Das  mathematische  Harmonium,  ein  Hiilfsmittel 
zur  Veranschaulichung  der  reinen  Tonverhaltnisse,  1881.  EinKomma  = 
der  81.  Teil  eines  Ganztons. 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  bezugliche  Urteile.  483 

dem  hort  man  zwar  ebenfalls  beide,  bezieht  aber  das  Schwe- 

ben  auf  das  Ganze. 
ccis:  Zunachst  war  auch  bier  nicbts  weiter  an  Tonqualitaten 

wabrzuiiebmen  als  die  beiden  Ttiue  selbst   (vgl.  u.  o  des). 
cc^  (ein  Kreuz  bedeutet:  eiu  Komma  hober):  Hier  hort  man 

ebenfalls  beide  Tone  mit  der  scharfen  Klangfarbe  der  Zungen, 

daneben  aber  einen  mittleren  weicben  Ton,  schwebend  und 

im  Ohr  localisirt.    Ich  vernahm  diesen  sogleich;  Engel  erst 

nacbdem  ich  ibn  aufmerksam  gemacht. 
g2^2x.   Ebenso,   nur  dass   die   beiden  Primartone   noch   deut- 

licher  von  einander  geschieden  werden. 

*  c2^2xx  (z^ei  Komma's  hoher):  Ebenso,  nur  der  mittlere  Ton 

weniger  deutlicb,  zu  scbnell  schwebend, 
*gigixx.   Dieselben  Wahrnehmungen  besonders  deutlicb.     Der 
Zwischenton  schien  mir  dem  tieferen  entschieden  naher  zu 
liegen  als  dem  hoheren. 
Hierauf  wurden  grossere   Intervalle   in  dieser  Gegend  unter- 
sucht,  Halbtonintervalle  und  dariiber:   hier  wurden  wieder  nur  die 
beiden  primareu  Tone,  kein  dritter  vernommen. 

Darauf  ging  ich  mit  den  Versuchen  wieder  in  tiefere  Regionen: 

*  cAes:  Ich  bemerkte   nun   auch  hier  den  mittleren  Ton  ausser 

den  primaren,   und  dem  tieferen  derselben  naher  liegend. 
Engel  konnte  den  mittleren  nicht  bemerken.     Hier  schien 
also  eine  Grenze  zu  liegen  (vgl.  o.  ccis). 
cd:  Nur  die  primaren  Tone. 

*  ce'^'^:  Auch   der  mittlere,  mit  dem  tieferen  fast  zusammen- 

fallend,    gleichwol    noch    deutlicb    von    ihm    unterscheidbar 
(vgl.  0.  cc^). 

*  CC^'^:  Ebenso,   nur  alle  Tone  nicht  mehr  so  scharf  unter- 

scheidbar. 
CCis:   Jetzt  schien  mir  auch  hier  nach  inzwischen  erlangter 
Chung  ein  mittlerer  vorhanden,  aber  dem  tieferen  ausserst 
nahe  und  sehr  undeutlich. 
Bei  diesen  Versuchen  war  stets  zuerst  jeder  der  beiden  Primar- 
tone  einzeln  angegeben    und    dem   Gedachtnis    eingepragt  worden. 
Der  Zusammeuklang  wurde   so  oft  wiederholt,   bis  das  Urteil  sich 

31* 


484  §  27.  Schwebungen  unci  darauf  bezixgliche  Urteile. 

moglichst  festgesetzt  hatte,   und  dazwisclieu  immer  die  Primartone 
einzeln  verglichen. 

Nach  obiger  Reihe  macbte  icb  nocb  Versuche  in  der  Art,  dass 
ich  die  mit  *  bezeicbneten  Falle  wiederbolte  und  jedesmal  einen 
mittleren  Ton  uuter  den  auf  dem  Instrument  disponiblen  aufsuchte, 
welcber  dem  geborten  mittleren  Ton  moglichst  gleicbkam.  Da- 
durcb  wurde  wiederura  das  Urteil  bedeutend  befestigt,  indem  der 
nun  objectiv  angegebene  als  identisch  mit  dem  vorber  geborten 
vviedererkannt  wurde.  So  wurde  bei  c^c^^^  der  mittlere  schwe- 
bende  Ton  als  gleich  oder  nabezu  gleich  dem  c^^  gefunden;  analog 
bei  c^c'^^^.  Bei  cdes  wurde  ein  erbobtes  c  zur  Controle  beniitzt, 
und  bier  kounte  icb  deutlicb  bemerken,  dass  der  mittlere  Scbwe- 
bungston  etwas  bober  war  als  dieses.  Sebr  entscbieden  gestaltete 
sich  das  Urteil  auf  diese  Weise  auch  bei  cc^^  und  CC^^. 

4.  Physiologische  Theorie. 

Suchen  wir  uns  nun  vom  Zustandekommen  clieser  Er- 
scheiniingen  Rechenschaft  zu  geben,  so  ist  uach  dem  Voran- 
gegangenen  klar,  dass  in  den  Eigentiimliclikeiten  der  Scliwe- 
bungswellen  die  Erklarung  niclit  gefunden  warden  kann.  Aber 
die  objectiven  Schwingungen  sind  ja  audi  nur  entferntere  Ur- 
sachen  der  Tonempfindungen,  die  nilheren  sind  die  pbysiolo- 
gischen  Processe.  Diese  betreffend  haben  wir  bereits  mit  Grund 
angenommen,  1)  dass  eine  objectiv  unzerlegte  aber  in  Sinus- 
schwingungen  zerlegbare  Schwingung  im  Ohr  in  seiche  zerlegt 
wird,  2)  dass  umgekehrt  eine  objectiv  einfache  Schwingung  im 
Ohr  eine  gewisse  Anzahl  beuachbarter  Fasern  erregt,  denen 
verschiedene  Endgebilde  (sagen  wir  Ganglienzellen)  und  ver- 
schiedeue  specifische  Energien  entsprechen;  dass  aber  dennoch 
in  diesem  Falle  vermoge  einer  gegenseitigen  Beeinflussung  eine 
einzige  Gesammtenergie  entsteht,  ein  einziger  Ton  gehort  wird 
(o,  lllf,),     Lassen  wir  nun 

(Zu  a)  gis'^  und  a^  einwirken,  so  werden  durcli  jede  dieser 
Schwingungen  eine  Anzahl  (sagen  wir  60)  Fasern  erregt  und 
zwar  ein  Teil  derselben  gemeinsam,  wodurch  Schwebungen  ent- 
stehen.  Bei  einer  mittleren  Faser  muss  diese  Erregungsweise  am 
kraftigsten  eintreten,  bei  derjenigen,  die  von  beiderlei  Schwin- 


§  27.  Schwebungen  unci  darauf  beziiglichc  Urteile.  485 

gungen  gleichstark  erregt  wird.  Nun  ist  es  bios  eine  weitere 
Anwendung  des  obigen  Princips  der  Bildung  einer  Gesammt- 
enei'gie,  wenn  wir  annehmen,  dass  diese  Faser  (bez.  Ganglion) 
die  ihr  bynachbarten  in  ihre  specifische  Energie  hineinzwingt, 
dass  sie  das  Centrum  einer  besonderen,  qualitativ  einlieitlich 
erregten  Gruppe,  die  physiologisclie  Unterlage  eines  besonderen 
Tones  wird.  Es  wird  also  ausser  a^  und  gis''^  ein  zwischen 
bciden  liegender  dritter  Ton  gehort.  Und  dieser  muss 
sell  web  end  gehoit  werden,  dagegen  gis''^  und  a^  nicht  schwe- 
bend,  da  diese  Tone  eben  nur  solchen  Fasern  (Ganglieu)  ent- 
sprecheu,  die  ausserhalb  der  gemeinsamen  Erregungszone  liegen. 
Ferner  folgt,  dass  gis^  und  a^  scbwacber  gehort  werden  als 
wenn  sie  isolirt  mit  gleicher  Reizstarke  angegeben  werden,  weil 
nicht  so  viele  Fasern  auf  jeden  der  Tone 
kommen  wie  im  letzteren  Fall,  sondern 
ein  Teil  durch  die  mittlere  Gruppe  ab- 
sorbirt  wird. 

Fiir  diese  selbst  konncn  wir  die  Starke 
nach  der  HELMHOLTz'schen  Tabelle  liber 
die  Intensitat  des  Mitschwingens  (238,  vgl.  287)  ungefahr  be- 
rechnen.  Setzt  man  die  Schwingungsintensitat  einer  primar 
erregten  Faser  (d.  h.  einer  solchen,  deren  Eigenschwingung  mit 
der  objectiven  iibereinstimmt)  :=  100,  so  wird  eine  Faser,  welche 
von  der  primar  erregten  um  0,2  Ganzton  absteht,  hienach  durch 
dieselbe  objective  Schwingung  beilaufig  (von  genaueren  Be- 
stimmungen  kann  natiirlich  noch  keine  Rede  sein)  mit  der  In- 
tensitat 41,  eine  welche  um  0,3  absteht,  mit  der  Intensitat  24 
miterregt.  Wir  konnen  also  fiir  die  Differeuz  eines  Vierteltons, 
um  welche  in  unsrem  Falle  die  mittlere  Faser  von  den  beiden 
primar  erregten  absteht,  die  Intensitat  30  annehmen.  Da  sie 
von  beiden  Seiten  zugleich  miterregt  wird,  so  wird  ihre  Schwin- 
gungsintensitat beim  Maximum  der  Schwebungen,  wo  sich  beide 
Wirkungen  summiren,  2  X  1%%  =  I  von  der  Schwingungsinten- 
sitat jeder  der  beiden  primar  erregten  Fasern  sein.  Der  mitt- 
lere schwebende  Ton  wird  also  schwacher  sein  als  die  Primar- 
tone,  aber  sehr  wol  noch  neben  ihnen  horbar  sein. 


486  §  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile. 

Dieses  Alles  ist  clenn  auch  clurch  die  Beobachtung  be- 
statigt. 

Dass  der  Zwischenton  im  Ohr  localisirt  wircl,  begreift  sich. 
Die  Aufmerksamkeit  ist  eben  von  vornherein,  sobald  er  Uber- 
haupt  wahrgenommen  wird,  auf  ihii  als  auf  eine  subjective  Er- 
scheinung  gerichtet.  Unter  ahnlichen  Bedingungen  werden  aucb 
Differenztone,  Ohrenklingen  und  die  bohen  durcb  die  Construction 
des  Obres  begiinstigten  Obertone  vorzugsweise  in's  Ohr  verlegt. 

Die  besonders  weiche  Klangfarbe  (Tonfarbe)  hangt  damit 
zusammen  und  findet  sich  darum  ebenso  in  den  ebengenannten 
Fallen  bei  Tonen  gleicher  Region.  Nur  unanalysirten  Klangen 
mit  Obertonen  wird  die  von  diesen  und  ihren  Schwebungen 
herriihrende  Helligkeit  und  Scharfe  als  Eigentiimlichkeit  des 
Ganzen  zugeschrieben.  Auch  die  Nebengerauscho  bei  der  Ton- 
erzeugung  werden  nur  bei  unanalysirten  Primarklangen  als 
Eigenschaften  derselben  aufgefasst;  sobald  und  soweit  die 
Grundtone  der  Primarklange  (gis'^  und  a^)  von  den  iibrigen  Be- 
standteilen  gesondert  wahrgenommen  werden,  verlieren  auch 
diese  Tone  ihre  Scharfe.  Aber  die  gesonderte  Wahrnehmung 
ist  hier  eben  schwerer,  schon  weil  die  beziiglichen  Obertone, 
die  nachsten  wenigstens,  mit  den  Grundtonen  stark  verschmelzen ; 
wahrend  andrerseits  der  Zwischenton  durch  seine  Schwebungen 
sich  von  vornherein  als  ein  von  alien  iibrigen  Klangbestand- 
teilen  wolgesondertes  Moment  darbietet  (vgl.  o.  337),  sobald 
nur  einmal  die  Aufmerksamkeit  von  den  Primarklangen  ab- 
und  diesem  subjectiven  Ton  zugewandt  ist. 

Dass  der  Zwischenton  dem  tieferen  Primiirton  naher  liegt 
als  dem  hoheren,  konnte  man  als  eine  Tauschung  der  Auf- 
fassung  bezeichnen,  insofern  einfache  weiche  Klange  uns  leicht 
zu  tief  scheinen.  Da  aber  das  Urteil  bei  genauerer  Controle 
Stand  hielt  und  nur  bestimmter  wurde,  so  mochte  ich  doch 
hierin  eine  Tatsache  der  Empfindung  erblicken.  Vielleicht  lasst 
sie  sich  auf  eine  grossere  Mitschwingungsfahigkeit  der  hoheren 
gegeniiber  den  tieferen  Fasern  zuriickfiihren  (worauf  ja  auch  die 
grossere  Empfindungsstarke  der  hoheren  Tone  hinweist).  Diese 
muss  zur  Folge  haben,  dass  der  hohere  Primarton  bei  gleicher 


§  27.   Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile.  487 

objectiver  Starke  mehr  Fasern  fiir  sich  in  Ansprucli  nimmt  und 
so  die  mittlere  Gruppe,  die  im  Allgemeinen  zwischen  beiden  pri- 
mar  erregten  Fasern  liegt,  mebr  nacb  der  tieferen  zu  drangt. 
Die  maximal  schwebende  Zwischenfaser  liegt  dann  also  nicht 
ganz  in  der  Mitte  sondern  naher  an  der  tieferen  primar  er- 
regten. Freilicb  ist  die  Frage,  ob  die  Mitschwingungsfahigkeit 
schon  von  gis^  nach  a^  so  viel  wachst,  dass  eine  merkliche  Ver- 
schiebung  des  Zwischentons  eintreten  kann.  Man  mlisste  vor 
Allem  die  Reizstarke  auf's  Genaueste  reguliren  konnen,  um 
dariiber  zu  entscheiden.  Eine  dritte  Moglichkeit  ware  die,  dass 
durch  die  beiden  primaren  physiologischen  Processe  (oder  durcli 
einen  von  ihnen)  der  mittlere  im  Sinne  der  Vertiefung  beein- 
flusst  wiirde;  wovon  allerdings  unter  gewohnlicben  Umstanden 
d.  h.  bei  Tonen,  die  nur  auf  Pendelschwingungen  der  Fasern 
beruhen,  Nichts  zu  bemerken  ist. 

Endlich  mag  auch  eine  eigentiimlicli  durchdringende  Wir- 
kung  des  ganzen  Eindrucks  auf  der  gescbilderten  Entstehungs- 
weise  beruhen^).  Bei  einem  sehr  starken  Ton  diescr  Region 
sind  unter  gev^^ohnlichen  Umstanden  voraussetzlich  mindestens 
60  Fasern  erregt,  wahrend  die  sehr  beftige  Erregung  beim 
Scbwebungsmaximum  nur  auf  wenige  Fasern  kommt.  Man  ver- 
gleiche  einen  spitzen  und  einen  breiten  Eindruck  auf  die  Haut 
bei  gleicher  lebendiger  Kraft  der  Einwirkung.  Es  sind  wol 
auch  wirklich  Tastempfindungen  des  Trommelfells  hier  beteiligt. 

(Zu  b)  Riicken  wir  nun  die  Primartone  weiter  auseinander, 
so  werden  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  noch  zwischenliegende 
Fasern  (Ganglien)  gemeinsam  erregt.  Aber  schon  ehe  diese 
Grenze  eintritt,  ist  die  Erregung  des  Centrums  dieser  Gruppe 
nicht  mehr  kraftig  genug,  um  die  iibrigen  ihr  angehorigen 
Teilchen  in  dessen  specifische  Energie  hineinzuzwingen.  Die- 
selben  werden  vielmehr,  obgleich  die  Intensitat  ihrer  Erregung 
durch  beide  objective  Schwingungen  gemeinschaftlich  bestimmt 
wird    und  daher   Schwebungen    entstehen,    doch  in  Bezug  auf 


^)  Die  oben  erwahnte  musikalische  Person  verspiirte,  wie  sie  sich 
ausdriickte,  die  Wirkung  „bis  in  die  Fussspitzen". 


488  §  27.  Schwebungen  unci  darauf  beziigliche  Urteile. 

die  Art  der  Ganglienerregung,  also   die  Qualitat  des  geborten 
Tones,  sich  teils  der  recbton  toils  der  linken  Gruppe  anpassen, 

derjenigen  welcher  sic  zunachst  liegen. 
Und  selbst  wenn  sie  noch  cine  beson- 
dere  mittlere  Gruppe  bildeten,  wiirde 
der  Ton  ausserordentlicb  scbwacb  sein, 
wegen  der  geringen  Anzabl  der  Fasern 
und  der  Schwacbe  der  Erregung.  Man 
wird  daber  keinen  mittleren  Ton  mebr  boren,  sondern  nur 
die  beiden  Primartone,  diese  aber  starker  als  im  vorigen 
Falle,  da  mebr  Fasern  auf  jeden  kommen.  Die  Scbwebungen  wer- 
den  als  solcbe  der  Primartone  vornommen  werden,  da  eben  die 
scbwebenden  Teilcben  nicbt  mebr  einen  selbstandigen  Ton  liefern 
sondern  an  der  Erzeugung  dor  Primartone  mitbeteiligt  sind. 

Dies  ist  nacb  unseren  obigen  Beobacbtungen  der  Fall  bei 
g^  und  a^.  Dass  die  Scbwebungen  je  nacb  der  Ricbtung  der 
Aufmerksamkeit  bald  dem  einen  bald  dem  anderen  Ton  zu- 
gescbrieben  werden,  begreift  sicb  leicbt  und  bildet  nur  einen 
besonderen  Fall  eines  allgemeinen  Verbaltens,  das  wir  weiter 
unten  besprecben.  Die  Intensitat  des  Scbwebungsmaximums 
fiir  die  mittlere  Faser  berecbnet  sicb  in  der  obigen  Weise  bier 
=  ^/5  von  derjenigen  der  primar  errogten;  wodurcb  es  voll- 
komraen  erklarlicb  wird,  dass  man  den  entsprecbenden  Zwiscben- 
ton,  aucb  wenn  ein  solcber  in  dem  Klangganzen  nocb  entbalten 
sein  sollte,  nicbt  berausbort. 

(Zu  c)  Riicken  wir  umgekebrt  die  beiden  Primartone  von 
gis^  a^  beginnend  einander  naber,  so  werden  zuletzt  die  ge- 
meinscbaftlicb  erregten  und  scbwebenden  Teil- 
cben in  die  Mebrzabl  kommen  und  immer 
weniger  fiir  die  Primartone  auf  beiden  Seiten 
iibrig  bleiben;  und  diese  wenigen  sind  scbwacb 
erregt,  weil  sie  scbon  den  Grenzen  der  je- 
weiligen  Erregungszone  nabeliegen.  Sie  werden 
also  entweder  in  die  specifiscbe  Energie  der  mittleren  Gruppe 
bineingezogen  oder  wenigstens  die  ibrige  so  scbwacb  zur  Geltung 
bringen,    dass  die  entsprecbenden  Tone,    also  die  Primartone, 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile.  489 

durch  den  mittleren  fiir  die  Wahrnehmung  uiiterdriickt  werden. 
Man  wird  also  nur  den  mittleren  Ton  vernehmon  und  diesen 
stark  schwebend.     Auch  dies  entspricht  der  Beobachtung. 

Es  ergibt  sich  also  Alles  aus  den  bereits  friiher  ange- 
nommenen  Principien.  Das  Princip  der  specifischen  Energien 
in  der  Fassung,  die  ihm  Helmholtz  fiir  das  Ohr  gegeben, 
unterliegt  zwar  einer  Beschrankung,  aber  nicht  etwa  einer 
neuen  Beschrankung  im  Fall  der  Schwebungen,  sondern  nur 
derselben,  die  wir  bereits  fiir  die  Falle  einzelner  einfacher 
Tone  angenommen  haben:  es  wird  erganzt  durch  das  Princip 
der  gegenseitigen  Beeinflussung  benachbarter  schwingender  oder 
sonstwie  erregter  Teilchon,  durch  das  Princip  der  Accom- 
modation, wie  wir  kurz  sagen  konnen.  Dagegen  bediirfen  wir 
nicht  der  Annahme,  dass  die  Tonhohe  in  irgend  einem  Falle 
durch  die  Form  der  zusammengosetzten,  periodisch  verander- 
lichen  Welle  bedingt  wiirde;  woraus  sich  vielmehr  flagrante 
Widerspriiche  gegen  die  Beobachtung  ergeben  wiirdon.  Die 
Tonhohe  ist  auch  im  Falle  der  Schwebungen  lediglich  bestimmt 
durch  die  Natur  der  erregten  nervosen  Gebilde,  und  unterliegt 
darum  keiner  period ischen  Schwankung. 

Zu  erwarten  ist  danach,  dass  in  alien  Tonregionen  analoge 
Classen  von  Erscheinungen  auftreten,  aber  auch,  dass  die  Gren- 
zen  der  drei  Falle  gegeneinander  verschieden  sein  werden,  da 
man  ja  in  der  Tiofe  Schwebungen  noch  mit  Leichtigkeit  bis 
zur  Quinte  wahruimmt  und  zugleich  innerhalb  eines  und  des- 
selben  Intervalles  weniger  Fasern  liegen  (geringere  relative 
Unterschiedsempfindlichkeit),  sodass  z.  B,  die  Fasern  fiir  Tone 
vom  Unterschied  eines  Komma's  unmittelbar  benachbarte  wer- 
den, wahrend  sie  in  den  hoheren  Regionen  noch  eine  Menge 
Fasern  zwischen  sich  haben. 

III.    Zuteilung  der  Schwebungen  an  das  Ganze  oder 
bestimmte  Tcile  eines  Klanges. 

Fragten  wir  vorher,  welche  Tonqualitat  den  Schwebungen 
zugeschrieben  wird  bez.  wirklich  zukommt,  so  ist  jetzt  die 
Frage,    welchem  Ton  die  Schwebungen  zugeschrieben  werden. 


490  §  2^-  Schwebungen  and  darauf  beziigliche  Urteile. 

Auch  diese  Frage  musste  zwar  schon  teilweise  mitbesprochen 
werden,  gestattet  und  verdient  aber  eine  allgemeinero  Fassung 
uiid  Erorterung;  wobei  auch  erheblich  ungleiche  Inteusitat  der 
Tone,  Nichtanalyse  des  Klanges,  feruer  Schwebungen  von  Bei- 
tonen  in  einem  Klange  und  Schwebungen  einzehier  Teile  in 
einem  Zusammenklang  in  Frage  kommen  und  in  dieser  Be- 
ziehung  die  regelmassigen  Tiiuschungen  der  Auffassung  be- 
sonders  hervorzuheben  sind. 

Haben  wir  nur  zwei  objective  Tone  (oder  auch  zwei  Klange, 
bei  denen  die  Schwebungen  der  Obertone  gegen  die  der  Grund- 
tone  verschwinden),  so  erledigt  sich  die  Frage  ziemlich  einfach. 
Bei  Nichtanalyse  Averden  naturlich  die  Schwebungen  als  Eigen- 
tiimlichkeit  des  Ganzen  aufgefasst.  Bei  Analyse  werden  sie  im 
Falle  genauesten  Hinhorens  und  hinreichender  tJbung  den 
Tonen  zugeschrieben,  denen  sie  wirklich  zukommen,  also  unter 
Umstanden  keinem  der  beiden  Primartone,  sondern  einem 
zwischenliegendeu.  Bei  weniger  genauem  Hinhoren  aber  ent- 
weder  den  beiden  Primartonen  oder  demjenigen  von  ihnen, 
welchem  etwa  die  Aufmerksamkeit  besonders  zugewandt  ist. 
Die  Aufmerksamkeit  vereinigt  dann  die  beiden  Momente,  die 
sie  zugleich  zu  erfassen  strebt,  diesen  Ton  und  die  Schwebungen, 
zu  einem  engeren  Ganzen.  Manche  glauben  dann  auch,  wie 
schon  erwahnt,  die  beiden  Tone  selbst  abwechselnd  zu  horen 
(nicht  bios  abwechselnd  zu  beachten),  indem  sie  den  Intensitats- 
wechsel  und  den  Aufmerksamkeitswechsel  mit  Tonwechsel  ver- 
wechseln  und  eben  die  bestandige  Unterbrechung  jedes  Tones 
ihnen  die  genauere  Beobachtung  erschwert. 

Ob  mit  einer  gewissen  Regelmassigkeit  dem  tieferen  oder 
dem  hoheren  Primarton  (bei  gleicher  Starke  derselben)  die 
Schwebungen  zugeschrieben  werden,  dariiber  bin  ich  zu  keinem 
festen  Ergebnis  gelangt,  und  gerade  dies  ist  hier  auch  ein  Er- 
gebnis.  In  manchen  Fallen  schien  mir  das  Erste,  in  anderen 
das  Zweite  eine  fast  zwingende  Auffassung.  Sie  mag  aber  jedes- 
mal  besondere  augenblickliche  Ursachen  gehabt  haben. 

Wenn  einer  der  beiden  Tone  erheblich  starker  ist,  so  wird 
regelmassig  dieser  als  der  schwebende  aufgefasst;  wie  mir  Herr 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile.  491 

Dr.  K.  ScHAFEE  mitteilt,  welcher  hieriiber  eingehendere  Versuche 
gemacht  hat  ^).  Fragmentarische  Beobachtungon,  die  icb  dariiber 
zu  verscliiedenen  Zeiten  notirte,  stimmen  liiermit  uberein.  Am 
auffallendsten  tritt  cs  hcrvor,  wenn  man  zwoi  Gabebi  rechts 
und  links  verteilt  und  die  Entfernungon  von  don  Ohren  variirt. 
t)ber  scbeinbare  Ausnahmen,  wo  nur  der  tiefere  Ton  schwebt, 
s.  u.  Diese  regelmassige  Auffassungsweise  nun  konnte  man 
darauf  zuriickfiibren ,  dass  die  Aufmerksamkeit  sicb  dem 
starkeren  Ton  zuwendet,  auch  wenn  der  schwacbere  daneben 
unterschieden  wird.  Da  wir  jedocb  auch  auf  den  schwacberen 
willkiirlich  borcben  konnen,  so  diirften  hiebei  noch  andere  und 
kraftigerc  Motive  mitwirken,  namentlich  Gewobnheiten  der  Lo- 
calisation, auf  die  wir  bier  nicbt  oingeben  konnen. 

Nun  kann  es  weiter  geschehen,  dass  mebr  als  zwei  Tone 
in  gleicber  Starke  combinirt  sind,  von  denen  docb  nur  zwei 
untereinander  scbweben,  z.  B.  c  g  gis  cA.  Es  kann  ferner  ge- 
scbehen,  dass  scbwacbe  Beitone,  besonders  Obcrtone,  Schwe- 
bungen bilden,  wahrend  ein  oder  auch  mebrere  gleicbzeitige 
Grundtone  unter  sich  keine  bilden.  So  wenn  ein  Einzelklang 
gehort  wird,  innerbalb  dessen  zwei  Obertone  merklicb  scbweben 
(wie  beim  G  des  Claviers  die  Obert(3ne  c^  und  d^)',  oder  ein 
Accord,  dessen  Tone  weit  auseinander  liegen,  aber  mit  Ober- 
tonen  versehen  sind,  die  nabe  genug  zusammen  liegen. 

In  alien  diesen  Fallen  bestebt  zunacbst  die  Neigung,  die 
Schwebungen,  so  lange  ibnen  die  Aufmerksamkeit  nicbt  be- 
sonders zugewandt  ist,  als  eine  Eigentiimlicbkeit  des  ganzen 
Klanges  oder  Zusammenklanges  aufzufassen,  d.  b.  diesen,  wenn, 
sie  langsam  erfolgen,  als  wiegend,  scbwebend,  wenn  scbneller 
als  rollend,  wenn  noch  scbneller,  als  raub  oder  markig  aufzu- 
fassen gegeniiber  einem  anderen,  der  keine  oder  weniger  starke 
Schwebungen  bat  ^). 


^)  Dieselben  werden  in  der  „Zeitschr.  f.  Psychologic  u.  Physiologic 
der  Sinnesorgane"  1890  veroffentlicht. 

^)  Vgl.  Helmholtz,  Popul.-wiss.  Vortrage  I  88:  ,.SchwebiingeD  der 
Obertone  werden  als  Rauhigkeit  des  Gesammtklanges  empfunden". 


492  §  27.  Schwebnngen  unci  darauf  beziigliche  Urteile. 

Selbst  wenn  man  weiss,  class  das  Rollen,  die  Raiihigkeit 
nichts  Auderes  ist  als  ein  rascher  Intensitatswechsel  eiiizelner 
Tone,  ist  man  insolange  geneigt,  sie  dem  Ganzen  zuzuschreiben, 
als  man  nicht  diesen  einzelnen  Tonen  besondere  genaue  Auf- 
merksamkeit  zuwendet.  Erst  dann  (bei  Obertonen  freilich  fast 
immer,  sobald  sie  liberhaupt  berausgehort  werden,  da  dies  eben 
nur  bei  genauer  Aufmerksamkeit  zu  gescbebeu  pflegt)  erkennt 
man  diejeuigen  Tone  als  Trager  der  Schwebungen,  welcbe  wirk- 
licb  Intensitatsscbwaukungen  erleiden,  iind  die  iibrigeu  als  ruhend 
und  glatt.  Ich  vermutc,  dass  die  obige  Tauschung  begiinstigt 
wird  durcb  die  den  eigeutlichen  Intensitatswechsel  begleitenden 
Gerauscbe  (unter  Umstanden  auch  Tastempfindungen),  welcbe 
ja  in  der  Tat  jedem  Ton  des  Ganzen  mit  gleichem  Recht  und 
Unrecbt  zugeteilt  werden  konnen. 

Ein  belebrender  Versuch  ergibt  sick,  wenn  wir  vor  einem 
Ohr  zwei  Stimmgabeln  Schwebungen  machen  lassen,  und  zu- 
gleich  dem  anderen  Ohr  eine  von  diesen  beiden  hinreichend 
verschiedene,  mit  keiner  von  ihuen  schwebende,  Gabel  bieten. 
Auch  hier  werden  die  Schwebungen  zunachst  bei  nicht  einseitig 
concentrirter  Aufmerksamkeit  dem  Ganzen  zugeschrieben ,  auch 
hier  aber  konnen  wir  uns,  und  zwar  leichter  als  gewohnlich, 
von  der  Ruhe  des  nichtschwebenden  Tones  bei  genauerem  Hin- 
horen  iiberzeugen.  Analogc  Versuche  hat  Fechnee  angestellt, 
indem  er  vor  dem  eineu  Ohr  nicht  Schwebungen  aber  Inter- 
mittenzen  erzeugte,  durch  Bewegung  einer  Gabel,  wahrend  die 
vor  dem  anderen  Ohr  ruhte;  und  hat  im  AUgemeinen  auch 
analoge  Ergebnisse  gefunden^). 

Zu  den  Fallen  nun,  wo  in  einem  Zusammenklang  zwei 
schwebende  und  ein  ruhender  Ton  enthalten  sind,  gehort,  wie 
es  scheint,  auch  das  (fast?)  ausschliessliche  Schweben  des 
tieferen  Tones  bei  verstimmten  Consonauzen  vom  Ver- 
haltnis  l:Ji,  wo  h  nur  wenig  von  emer  ganzen  Zahl  differirt, 
also  der  verstimmten  Octave  (1:2  +  ^}?  Duodecimo  (1:3  +  6), 
Doppeloctave  (1 : 4  +  (^)  u.  s.  f.  Bosanquet  hat  diese  Erscheinung 


')  tJber  einige  Verb.  d.  binoc.  Sehens,  Sacbs.  Ak.  1860,  S.  550. 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile.  493 

besonders  verfolgt  ^)  unci  selir  plausibel  daraus  erkliirt,  dass  die 
Schwebungen  bier  durcb  das  Hinzutreten  eines  dem  tieferen 
Ton  sebr  nabe  liegenden  Differenztons  der  beiden  Primartone 
entsteben  (eines  Differenztons  erster  Ordnung  bei  der  Octave, 
zweiter  Ordnung  bei  der  Duodecime  u.  s.  f.).  Es  liegen  also 
nacb  dieser  Erklarung  bier  drei  Tone  vor,  von  deneu  nur  die 
zwei  tieferen  Schwebungen  biklen.  Diese  beiden  aber  liegen 
einander  zu  nahe,  um  gesondert  zu  werden.  Daher  begreift  es 
sich,  dass  nur  der  tiefere  Primarton  schwebend  erscheint. 

R,  KoNiG,  welcher  in  seiner  mehrerwahnten  Versuchsreihe 
auch  zuerst  liber  das  Schweben  des  tieferen  Tones .  Einiges  be- 
merkt  hat^),  gibt  allerdings  an,  dass  die  Erscheinung  nur  dann 
eintrete,  wenn  der  hohere  Primarton  schw^ach  genommen  werde, 
oder  wenn  die  Schwebungen  bei  Yergrosserung  von  6  eine  ge- 
wisse  Schnelligkeit  erreichen.  Bei  gleicher  Starke  der  Primar- 
tone und  langsamen  Schwebungen  beobachtete  er,  dass  diese 
beiden  Tone  im  Rhythmus  der  Schwebungen  abwechsehid  her- 
vortreten.  Indessen  erklart  sich  auch  Dieses:  beim  Maximum 
wird  durch  die  gegenseitige  Verstarkung  der  beiden  tiefen 
Schwingungen  der  hohere  Primarton  fiir  die  Wahrnehmung 
unterdriickt,  beim  Minimum  kann  er,  da  sich  die  tiefen  Schwin- 
gungen gegenseitig  schwachen,  hervortreten,  wenn  er  nicht  an 
sich  zu  schwach  ist.  Dieser  Tonwechsel  ruht  also  auf  analogen 
Ursachen,  wie  die  0.  472  erwahnte  Erscheinung  des  Hervor- 
tretens  der  Octave,  nur  dass  dort  die  zwei  primaren  Klange 
selbst  miteinander  schweben  und  die  hohere  Octave  nur  als 
Oberton  in  ihnen  enthalten  ist. 

Auf  eine  briefliche  Anfrage  bin  schrieb  mir  Herr  R.  Konig 
noch  Folgendes:  „Man  kaun  immer  mit  eiuem  Gruudtou  von  einiger 
Starke    und    harmomscben   Tonen    (worunter  K.   bier  die  boberen 

^)  Pbilos.  Magazine  VIII  (1879)  S.  293;  XI  (1881)  420  f.,  492  f.:  XII 
(1881)  270  f.,  434.  Ferner  S.  P.  Thopmson  daselbst  XII  351  f.  (bestatigt 
es  bei  Scbwebungen  verteiltei'  Gabeln).  Weitere  Artikel  beider  Forscher 
(XII  434,  XIII  68,  131)  betreffen  wesentlich  nur  Misverstaudnisse  und 
Prioritatsfragen ,  indem  Thompson  die  erste  Entdeckuug  R.  Konig  zu- 
schrieb  (s.  im  Text  weiter). 

•-)  PoGG.  Ann.  Bd.  157,  S.  188. 


494  §  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile. 

Priraartone,  verstiramte  Multipla  des  tieferen  Primartons  versteht) 
bis  zu  einer  gewissen  Grenze  Stosse  hervorbringen,  bei  denen  nur 
der  Grundton  allein  borbar  pulsirt.  1st  jedocb  der  Grundton  sehr 
scbwach,  so  wird  es  tiber  eine  schon  weit  niedrigere  Grenze  hinaus 
nicht  mehr  gelingen,  nocb  Stosse  mit  harmoniscben  Tonen  von 
solcher  Scbwache  zu  erzeugen  als  notig  sein  wurden,  um  den  Grund- 
ton allein  borbar  pulsiren  zu  lassen.  Man  ist  dann  gezwungen,  um 
die  Stosse  uberhaupt  noch  hervortreten  zu  lassen,  den  harmoniscben 
Tonen  eine  verbaltnismassig  weit  grossere  Intensitat  zu  geben,  bei 
der  ibr  abwecbselndes  Hervortreten  praedominirend  wird.  Also 
z.  B.  bei  dem  sehr  schwachen  Grundton  der  gedackten  Pfeife  A^, 
mit  der  als  Grundton  ich  Stosse  bis  zum  Intervall  1 :  14  gehort 
(s.  0.  464),  erhalt  man  bis  zu  1 : 6  und  1:7  die  deutlichsten  Stosse, 
wenn  die  relative  Intensitat  der  beiden  primaren  Tone  der  Art  ist, 
dass  man  nur  den  Grundton  allein  pulsiren  hort-,  aber  iiber  diese 
Grenze  hinaus  muss  man  den  harmoniscben  Tonen  Intensitaten 
geben,  bei  denen  ibr  periodisches  Hervortreten  immer  starker  wird, 
wahrend  die  geringen  periodischen  Intensitatsveranderungen  des  so 
sehr  schwachen  und  tiefen  Grundtones  sich  dann  immer  schwerer 
beobachten  lassen.  —  Als  ich  die  Experimente  mit  dieser  gedackten 
Pfeife  A^  machte,  war  mein  Augenmerk  hauptsachlich  nur  auf  die 
Hdrbarkeit  der  Stosse  uberhaupt  gerichtet,  und  ich  babe  da  denn 
leider  in  der  Bescbreibung  der  Erscheinungen  eine  kleine  Lucke 
gelassen,  auf  welche  Ibr  wertes  Schreiben  mich  aufmerksam  ge- 
macht  hat." 

Es  bleibt  aber  immer  noch  die  Diflferenz,  class  iiacli  Bo- 
SANQUET  auch  bei  gleicher  Intensitat  der  Primartone  der  tiefere 
allein  schweben  soli.  Unter  meinen  Notizen  aus  alterer  Zeit 
finds  ich  die  folgende:  „Wenn  ich  die  Gabel  Fis  an's  Ohr  halte 
und  mit  der  Gabel  g  demselben  Ohr  von  der  Feme  naher 
riicke,  so  entstehen  Schwebungen  von  g  mit  fis,  dem  ersten 
Oberton  von  Fis.  Mir  scheint  hier  aber  nur  Fis  selbst  zu 
schweben,  obgleich  ich  g  uuterscheiden  kann.  Wenn  ich  um- 
gekehrt  die  (/-Gabel  vor  das  Ohr  halte  und  die  i^^'s-Gabel  von 
der  Feme  naher  riicke,  so  scheint  wieder  nur  Fis  zu  schweben, 
welches  an  den  Schwebungen  doch  ganz  unbeteiligt  ist."     Ich 


§  27.  Schwebungen  und  darauf  beziigliche  Urteile.  495 

hatte  damals  noch  keine  Kenntnis  von  der  Erklarung  Bosan- 
quet's  und  betrachtete  die  Sache  als  eine  merkwurdig  constante 
Tauschung.  Um  so  melir  diirfte  die  Beobachtung  in's  Gewicht 
fallen.  Nun  habe  ich  solche  Versuche  mit  frei  angeschlagenen 
Gabeln  wiederliolt,  auch  mit  hoheren  und  bei  geringerer  Ver- 
stimmung,  und  finde  das  Namliche.  Besonders  deutlich  iramer 
dann,  wenn  die  bohere  vor  das  Ohr  gebalten  und  die  tiefere 
genabert  wird.  Sobald  diese  Uberbaupt,  sei  es  aucb  nocb  so 
scbwacb,  vernommen  wird,  erscbeint  sie  mir  meistens  bereits 
als  die  scbwebende;  und  sobald  Schwebungen  vernommen  wer- 
den,  erscbeinen  sie  als  Schwebungen  der  tieferen.  Auch  im 
umgekehrten  Fall  tritt  das  Schweben  der  tieferen  am  klarsten 
hervor,  und  sie  beginnt  schon  rauh  zu  werden,  ehe  man  noch  die 
hohere  unterscheidet;  doch  fand  ich  bier  auch  diese  zuweilen 
schwach  discontinuirlich,  und  zwar  mit  gleicher  Zahl  der  Schwe- 
bungen. Diese  Schwebungen  der  hoheren  sind  leicht  erklarbar 
durch  den  ersten  Oberton  der  tieferen  und  miissen  in  der  Tat 
die  namliche  Schnelligkeit  haben  wie  die  der  tieferen  mit  dem 
Combinationston.  Man  muss  sicli  nur  wundern,  dass  sie  nicht 
deutlicher  sind. 

BosANQUET  scheint  mir  also,  soweit  ich  hienach  urteilen 
darf,  im  Tatsachlichen  Recht  zu  haben;  ja  es  wird  sogar  bei 
viel  geringerer  Starke  des  tieferen  Tones  hauptsachlich  dieser 
als  schwebender  vernommen.  Indessen  tut  die  zufallige  oder 
willkiirliche  Richtung  der  Aufmerksamkeit  auch  bier  Vieles  und 
ist  Fortsetzung  der  Beobachtungen  erwiinscht.  Theoretisch  blei- 
ben  drei  Fragen:  1.  Kann  man  in  unsren  Fallen  eine  hin- 
reichende  Starke  des  Combinationstones  voraussetzen ,  um  so 
merkliche  Schwebungen  zu  erzeugen?  2.  Warum  sind  die 
Schwebungen  der  hoheren  Gabel  mit  dem  ihr  zunachstliegenden 
Oberton  der  tieferen  nicht  mindestens  eben  so  merklich?  3.  Sind 
die  sg.  Combinationstone  hoherer  Ordnung,  welche  die  Durch- 
fUbrung  der  BosANQUET'schen  Erklarung  (bei  Duodecimen  u.  s.  w.) 
verlangt,  wirklich  direct  aus  den  Primartonen  ableitbar? 

Sehr  merkwUrdig  ist  aber  auch,  dass  dieses  Schweben  der 
tieferen   Gabel   bei  verstimmten  Consonanzen  h :  1    auch  dann 


496  §  27.  Schwebungen  und  darauf  bezugliche  Urteile. 

auftreten  kaiin,  wenn  die  Gabeln  rechts  und  links  verteilt 
werden.  S.  P.  Thompson  hat  dies  beobachtet  und  ich  kann  es 
im  Allgemeinen  bestatigen.  Am  besten  gebraucht  man  dazu 
Gabeln  auf  Resonanzkasten,  etwa  c  und  ein  verstimmtes  c^, 
weil  diese  langer  kraftig  tonen.  Man  bringt  den  Kopf  zwischen 
die  Offnungen  beider  Kasten  und  kann  so  leicht  jedes  beliebige 
Starkeverlialtnis  erzeugen.  Die  Schwebungen  sind  unverkenn- 
bar,  haben  dieselbe  Schnelligkeit  wie  beim  einohrigen  Horen 
und  finden  sich  nur  auf  der  Seite  der  tieferen  Gabel.  Wenn  nun 
wirklich  der  Combinationston  daraii  Schuld  ist,  so  haben  wir 
hier  einen  Beweis  fiir  die  Bildung  von  Combinationstonen  bei 
verteilten  Gabeln,  welche  man  direct  bis  jetzt  nicht  hat  beob- 
achten  konnen.  Allerdings  diirfte  hier  nicht  die  Knochenleituug 
sondern  die  Luftleitung  vermittelu.  Aber  auch  diese  ist  sonst 
nicht  im  Stande,  Combinationstone  von  Ohr  zu  Ohr  fiir  sich 
wahrnehmbar  zu  erzeugen^). 

Dass  Schwebungen  der  hoheren  Gabel  hier  gar  nicht  be- 
merkt  werden  (wenigstens  konnte  ich  mich  nicht  mit  Sicher- 
heit  von  solchen  iiberzeugen),  begreift  sich,  da  Gabeln  auf 
Resonanzkasten  nur  schwache  Obertone  haben  und  dieselben 
auf  dem  Wege  zum  anderen  Ohr  noch  schwacher  werden. 

Bei  frei  angeschlagenen  verteilten  Gabeln  konnen,  soweit 
iiberhaupt  Schwebungen  wahrzunehmen  sind,  die  der  hoheren 
Gabel  eben  so  merklich  und  merklicher  werden  als  die  der  tie- 
feren.   Hier  wird  die  Bildung  des  Combinationstones  eben  nicht 


^)  S.  0.  256  Anm.  2.  Nachtriiglich  teilt  mir  Herr  Dr.  K.  Schafer 
als  weiteres  Ergebnis  der  oben  erwahnten  Studien  mit,  dass  es  ihm  ge- 
lungen  sei,  wirklich  wahrnehmbare  Combinationstone  bei  verteilten  Ga- 
beln zu  erzeugen,  und  zwar  sowol  durch  Luft-  als  Knochenleitung.  Man 
diirfe  den  Gabeln  nicht  maximale  und  nicht  die  gleiche  Starke  erteilen. 
Der  starkere  Ton  dringe  dann  zum  anderen  Ohr  hintiber  und  erzeuge 
hier,  schwacher  geworden,  mit  dem  von  vornherein  schwacheren  dieses 
Ohres  den  Diiferenzton,  der  daher  stets  auf  der  Seite  der  leiseren  Gabel 
gehort  werde.  Doch  sei  das  richtige  Intensitatsverhaltnis  schwer  zu 
finden.  Ich  habe  augenblicklich ,  in  Ferien  weilend,  nicht  Gelegenheit, 
diese  interessante  Beobachtuug,  wodurch  eine  wundersame  Liicke  aus- 
gefiillt  wird,  zu  wiederholen,  zweifle  aber  nicht  an  ihrer  Richtigkeit. 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  497 

durch  die  Luftleitung  unterstutzt  (ausser  etwa  in  den  hohen 
Regionen),  Dagegen  sind  hier  kraftigere  Obertone  vorhanden, 
welche  auch  durch  die  Knochenleitung  hintiberdringen. 

Docli  ist  von  Schwebungen  verstimmter  Consonanzen  h :  I 
unter  diesen  Umstanden  Uberhaupt  nur  sehr  wenig  in  besonders 
ausgesuchten  Fallen  zu  bemerken. 

§  28.    Gerauscb  und  Klangfarbe. 

Zwei  schwierige  Begriffe  und  die  damit  zusammenhangenden 
Urteilstatsachen  bleiben  uns  nocli  zu  besprechen;  Begriffe,  bei 
deren  richtiger  Auffassung  der  Begriff  der  Auffassung  selbst 
eine  Rolle  spielt.  Beide  gehoren  wie  die  Scbwebungslehre  in 
diesen  Abschnitt  unsres  Werkes  und  in  unmittelbare  Niihe  zu 
einander.  Denn  dass  die  Klangfarbe  wesentlich  auf  einer  Mehr- 
lieit  gleicbzeitiger  Tone  beruht,  ist  anerkannt;  fiir  Gerauscbe 
wild  das  Gleiche  von  Vielen  beliauptet.  In  beiden  Fallen  wird 
aucb  die  Nichtunterscbeidung  der  Bestandteile  meistens  als 
etv?as  Wesentliches  hervorgeboben.  Da  iiberdies  Klangfarben 
zugleich  vielfach  durcb  die  Anwesenbeit  von  Gerauscben  cba- 
rakterisirt  sind,  andererseits  manche  „Gerauscbe"  ebensogut  als 
kurze  Tone  von  dumpfer  Klangfarbe  bezeichnet  werden  konnen, 
so  werden  die  Untersucbungen  iiber  diese  beiden  Begriffe  und 
die  darauf  beziiglichen  Auffassungserscbeinungen  manche  Be- 
riibrungspuncte  bieten,  um  deren  willen  wir  sie  in  Einem  Para- 
graphen  zusamnienfassen. 

I.   Gerausche  und  ihr  Verhaltnis  zu  Tonen. 

1.  Stand  der  Frage. 

In  neueren  Darstellungen  wird  ein  Gerausch  vielfach  als 
eine  grosse  Anzahl  benachbarter  nichtunterschiedener  Tone  de- 
finirt^).    Helmholtz  sagt  in  dieser  Hinsicht  (S.  14):  „Man  kann 

^)  Unter  den  alteren  Definitionen  sind  die  von  Rameau  und  von 
CoNDiLLAc  merkwiirdig.  Nach  Rameau  (Demonstr.  du  Princ.  de  I'Harm. 
1750,  p.  12)  ist  das  Gerausch  eine  einfache,  der  Ton  eine  raehrfache 
Empfindung  (wegen  der  Obertone).    Er  bestimmt  den  Unterschied  also 

Stumpf,  Tonpsychologle.    U.  32 


498  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

Gerausche  aus  musikalisclien  Klangeu  zusammensetzeu ,  wenn 
man  z.  B.  sammtliclie  Tasten  eines  Claviers  inuerhalb  der  Breite 
von  einer  ocler  zwei  Octaven  gleiclizeitig  anschlagt."  Jedoch 
scheint  Helmholtz  in  der  vorausgeliendeu  Beschreibung  nocli 
mehr  Gewicht  zu  legeu  auf  den  „sclinellen  Weclisel  verschieden- 
artiger  Schallempfindungen",  „stossweise  aufblitzeuder  verscliie- 
denartiger  Laute".  Er  zogert  wol  nur  darum,  geradezu  von 
„Tonen"  zu  sprecben,  well  er  diesen  Ausdruck  den  langereu, 
gleicbmassig  dauernden  Scballempfindungen  vorbebalt;  doch 
nennt  er  die  Elemente  der  Gerausche  weuigstens  auch  „Klang- 
empfindmigeu".  Da  er  solcbergestalt  die  Gerauscbe  auf  die- 
selben  Elemente  wie  die  Klauge  zuriickfiihrt,  so  ist  es  auch 
nur  folgericbtig,  wenn  er  in  der  letzten  Auflage  (247  f.)  die 
Gerauscbe  nicbt  mebr  wie  in  den  ersten  durcb  ein  besonderes 
Organ  im  Ohr  vermittelt  sein  lasst.  Er  vermutet  wol,  dass  die 
Horbarchen  in  den  Ampullen  einzelne  (quiekende,  ziscbende, 
scbrillende,  knirpsende)  Gerauscbe  vermitteln;  aber  er  denkt  sie 
in  ibrer  Reaction  auch  nur  gradweiso  von  den  Scbneckenfasern 
verschieden. 

Dass   die  Gerauscbe  durcb  die  Scbneckenfasern  vermittelt 
seien,  batte  1876  S.  Exnee  aus  dem  Umstand  gescblosseu,  dass 

dem  Wortlaut  nach  ungefahr  umgekehrt  wie  er  jetzt  meistens  bestimmt 
wird.  Er  leitet  daraus  auch  die  individuellen  Unterschiede  in  Hinsicht 
der  Musik  ab:  die  Obertone  seien  eine  nicht  leicbt  zu  fassende  Er- 
scheinung;  Menschen  mit  weniger  feinem  Ohr  nahmen  daher  bios  den 
Grundton  wahr,  fur  sie  sei  also  Musik  bios  Gerausch.  Sehr  consequent! 
CoNDiLLAc  dagegen  fiihrt  im  ,, Traits  des  Sensations"  das  Gerausch  auf 
eine  Mehrheit  gleichzeitiger  Tone  zuruck,  die  keine  gemeinsamen  Ober- 
tone haben  und  darum  incommeusurabel  seien.  Zehn  Geigen,  welche  alle 
ein  etwas  verschiedenes  c^  angeben,  machen,  meint  er,  ein  blosses  Gerausch. 
Man  sieht  hier  die  sogleich  im  Text  zu  erwahnende  Ansicht  vorgebildet. 
Chladni  bezeichnet  als  unterscheidendes  Merkmal  der  Tone  die 
Bestimmbarkeit  der  Hohe  und  physikalisch  die  Gleichartigkeit  der 
Schwingungen  (Akust.  §  5  und  §  43,  mit  Berufung  auf  Lagrange). 

Nach  Milne-Edwaeds  Legons  de  Physiol.  XII  65  soil  bereits  Duges 
(Traite  de  Physiol,  comp.  1838)  nach  Beobachtungen  mit  Wahrscheinlich- 
keit  die  Schnecke  fiir  die  Tone,  den  Vorhof  fiir  die  Gerausche  in  An- 
spruch  genommen  haben. 


§  28.  Gerausch  unci  Klangfarbe.  499 

an  Gerauschen,  selbst  wenn  man  keine  Tone  darin  wahrnimmt, 
doch  Tonerhohungen  wahrgenommen  werden  kiinnen  (so  beim 
Uberspringen  zweier  elektrischer  Funken,  wenn  das  Zeitintervall 
immer  mehr  verkiirzt  wird).  Der  Unterschied  schien  ihm  phy- 
siologisch  teils  in  der  geringeren  Amplitude  zu  liegen,  mit 
welcher  die  Scbneckenteilchen  bei  Gerauscben  schwingen,  teils 
und  besonders  in  der  Plotzlicbkeit  der  Erregung^), 

BntJCKE  hat  sich  dieser  Anschauung  augescblossen  und  sie 
durcb  zablreicbe  Versucbe  iiber  Knallimpulse  gestiitzt^).  Die 
Qualitat  oder  Hohe  des  Gerausches  ricbte  sich  dabei  nach  der 
Lange  dieser  einfachen  Welle.  Die  continuirlichen  Gerausche, 
das  Rauschen,  Zischen,  Wehen  u,  dgl.  lassen  sich  nach  seiner 
Ansicht  aus  den  momentanen  ableiten,  indem  dabei  sehr  viele 
kleine  Explosivgerausche,  aufs  Schnellste  intermittirend,  auf- 
einanderfolgen.  Beim  Zischen  sind  sie  besonders  hoch,  beim 
Wehen  und  Hauchen  besonders  leise.  Wenn  man  die  Zahl 
dieser  Einzelimpulse  so  vermehrte  und  sie  so  rasch  intermittiren 
liesse,  dass  gleichviele  Anstosse  entstehen,  wie  sie  zu  einem  be- 
stimmten  Tone  erforderlich  sind,  so  wiirden  wir  nach  Brucke 
(S.  227)  gleichwol  nicht  diesen  Ton  sondern  ein  Kreischen 
horen,  well  zu  einem  Ton  Nachschwingungen  des  Gebildes  ge- 
horen,  die  nicht  durch  kurzdauernde  Einzelimpulse  hervor- 
gebracht  werden  konnen.  Schliesslich  halt  BeIjcke  aber  doch 
die  Moglichkeit  nicht  ganz  fiir  ausgeschlossen,  dass  noch  Nerven 
vorhanden  seien,  mit  welchen  bios  Gerausche  und  nicht  Tone, 
auch  nicht  verschiedene  Hoheu  der  Gerausche,  empfunden  wiirden. 

Auch  Mach,  der  sich  schon  friiher  viel  mit  der  Frage  be- 
schaftigte,  aussert  sich  in  gleichem  Sinne  mit  BrUcke  und  Exner. 
Eine  aperiodische  Luftbewegung  errege,  wenn  sie  schwacher  und 
kiirzer  ist,  alle,  vorzugsweise  aber  die  kleineren  leichter  be- 
weglichen  Endorgane;  wenn  sie  starker  und  langerdauernd  ist, 
die  grosseren  massigeren.  Qualitativ  scheint  ihm  die  Empfin- 
dung  eines  tiefen   oder  hoheu  Knalles  dieselbe    wie  die  beim 


1)  Pflug.  Arch.  XIII  228  f. 

2)  Sitz.-Ber.  d.  Wiener  Akad.  Ill  Abt.  1884,  Bd.  90,  S.  199. 

32* 


500  §  28.  Ger^usch  und  Klangfarbe. 

Niederdriicken  einor  grossen  Anzahl  benachbarter  Claviertasten, 
iiur  intensiver  und  kiirzer   (darum  audi  ohne  Scliwebungen)  ^). 

Auf  der  anderon  Seite  niramt  Peeyer^),  mit  Hinweis  auf 
die  Tiere,  welche  keine  Schnecke  im  Obr  besitzen,  die  Vorbofs- 
nerven  (und  darnit  wol  aucb  eine  besondere  Qualitat  der  Scball- 
empfindung)  fiir  Gorauscbo  in  Anspruch. 

Hensen  bespricbt  die  Frage  ohne  ganz  bestimmte  Ent- 
scbeidung,  neigt  aber  ebenfalls  zur  Annabme  eines  besonderen 
Gerauscbapparates  ^).  Wenn  Empfindungen  in  der  Schnecke 
erregt  werden,  so  miissen,  folgert  ur,  nicbt  bios  Tonbohen 
sondern  Tone  empfunden  werden.  Ferner  miisste  nacb  der 
BRUCKE'scben  Lebre  jeder  plotzlicb  entstebende  starke  Ton  im 
Beginne  der  Empfindung  einen  Knall  geben. 

Die  Frage  ist  nur  auf  Grund  viel  eingebenderer  Versucbe, 
als  sie  bis  jetzt  angestellt  sind,  ganz  zu  losen.  Das  Folgende  will 
nur  als  eine  vorlaufige  Orientirung  Uber  die  in  Betracht  kom- 
nieuden  Einzelfragen,  Standpuncte  und  A.rgumente  gelten.  Vor 
Allem  fragt  es  sicb: 

2.  Gibt  es  Gerauscbe  obne  Tone  und  Tone  ohne 
Gerauscbe? 

a)  Soviel  scheint  mir  unbestreitbar,  dass  jedem  nicbt  allzu 
leisen  Gerausch  objectiven  Ursprunges  Tone  beigemischt  sind; 
wenn  aucb  in  einzelnen  Fallen  die  Tone  schwer  herauszuhoren, 
nachzusingen  oder  namhaft  zu  macben  sind.  Man  bebe  die 
Dampfung  eines  Claviers  vorsichtig  auf  und  erzeuge  ein  be- 
liebiges  nicbt  zu  leises  Gerausch,  man  rauspere  sicb,  fauche, 
pruste,  brumme,  rufe  Brrr  u.  dgl.:  stets  hort  man  den  tonalen 
Teil  im  Saitenraume  nachklingen;  ausgenommen  bei  den  ziscben- 
den  und  ahnlicben  Gerauschen,  deren  Tone  zu  bocb  und  unter 


')  Beitr.  z.  Analyse  d.  Empf.  117  f.  Zu  ahnlichem  Ergebnis  kommt 
auch  Barth,  Zur  Lehre  von  den  Tonen  imd  Gerauschen,  A.  f.  0.  XVII,  81  f. 

2)  Akust.  Unt.  32. 

3)  Herm.  Hdb.  Ill,  2,  96—99.  A.  f.  0.  XXIII  69  f.  (hier  mit  Bezug 
auf  Brucke).  Auch  Wundt  (I  240)  erklart  sich  gegen  die  Zuriickfiihrung 
auf  Tone  und  fur  einen  besonderen  Apparat,  ohne  jedoch  naher  in  die 
Discussion  einzutreten. 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  501 

den  Claviersaiteu  nicbt  niehr  vcrtrotcii  sind.  Man  kann  sodann 
audi  die  Taste,  welche  dem  vorzugsweise  nachkliugenden  Ton 
entspricht,  allein  aufheben  und  den  Versuch  wiederholen.  Dies 
ist  nun  zunaclist  nur  ein  Beweis,  dass  objectiv  in  dor  Luft- 
bcwegung  beim  Gcriiuscb  die  Scbwingung  entbaltcn  ist,  wclcbe, 
wcnn  sie  allein  und  nicbt  zu  kurz  und  schwacb  auf  unser  Obr 
wirkt,  die  bcziiglichc  Tonempfindung  in  ibm  erzeugt.  Doch  os 
ist  kein  Grund  abzusebeii,  warum  diese  Erapfindung  nicbt  aucb 
bier  erzeugt  wcrden  sollte;  dcnn  der  Reiz  wirkt  stark  und  lang 
genug,  wofiir  ja  cben  die  Mitschwingung  der  Saite  ein  Beweis 
ist.  Und  es  wird  dem  einigermassen  Geiibten  aucb  nicbt 
scbwer,  nacbdem  er  so  den  Ton  fUr  sicb  allein  vernommen 
bat,  ibn  aucb  als  Bestandteil  der  Empfindung  wabreiid  des  Ge- 
rauscbcs  wirklicb  wabrzunebmen.  In  vielen  Fallen  wird  man 
ibn  scbon  vorber  darin  finden  und  durcb  den  Versucb  die  Con- 
trole  macben  konnen. 

Wenn  das  Gerauscb,  dem  ein  Ton  beigemiscbt  ist,  sebr 
kurz  dauert,  ist  der  Ton  gcwobnlicb  nicbt  berauszuboren.  Er 
kann  aber  aucb  in  solcbem  Falle  wabrnebmbar  wcrden,  sobald 
mcbrere  Gerauscbe  iibnlicber  Art  aufeinanderfolgen,  welcbo  ver- 
schiedene  Tone  entbalten.  „Man  bort  bei  nacbeiuander  hin- 
gcworfenen  Holzbrettcben  die  Melodic,  wabrend  die  Tonbobe 
eines  einzelnen  nur  von  einem  besouders  geiibten  Obr  erkannt 
wird."')  Es  wird  eben  das  Verscbiedene  Jiun  leicbt  vom  Ge- 
meinsamen  getrennt. 


^)  R.  KoNiG  WiEDEM.  Ann.  XIV  375.  Konig  hat  Holzbrettcben  im 
Auge,  die  auf  eine  Tonleiter  abgestimmt  sind.  Wirft  man  diese  in  der 
Folge  der  Leitertone  auf  den  Boden,  so  erleicbtert  uatiirlich  auch  die 
Erwartung  der  gewohnten  Fortsetzung  das  Heraushoren  der  spateren 
Tone.  Aber  es  werden  auch  bei  beliebiger  Aufeinauderfolge  die  Tone 
herausgehort. 

Konig  fiihrt  dies  als  Analogic  zur  Beurteilung  von  Klangfarben  an, 
wo  man  z.  B.  den  Unterschied  in  der  Klangfarbe  zweier  Geigen  sehr  wol 
bemerkt,  wenn  einc  Melodie  successive  auf  beiden  gespielt  wird,  wahrend 
man  ihn  beim  einzelnen  Ton  vielleicht  kaum  bemerkt  hat.  Hier  wird  in 
dem  manichfachen  Wechsel  der  Tonhohe  das  Gemeinsame  der  einem  In- 
strument eigenen  Klange  leichter  abstrahirt. 


502  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

Manchen  Gerauschen,  die  anscheinend  gleichmassig  und 
unverandert  andauern,  sind  Tone  beigemischt,  die  mit  kurzen, 
mehr  oder  weniger  regelmassigen  Pausen  wiederkehren,  teil- 
weise  auch  einander  nahe  liegen,  sodass  eine  Art  von  raschem 
Lauten  stattfindet.  Bei  hinreichender  Aufmerksamkeit  konnen 
die  Haupttone,  die  hieran  beteiligt  sind,  herausgehort  werden. 
Gewohnlich  werden  sie  es  niclit;  aber  gerade  dieser  nichtana- 
lysirte  ton  ale  Teil  bestimmt  gewiss  mit  Das,  was  wir  den  Cha- 
rakter  solcher  Gerausche  nennen.  „Dein  Singen,  Dein  Klingen, 
mein  rauscbender  Freund"  —  heisst  es  in  den  Miillerliedern. 
In  einem  Gebirgsbach  borte  ich  am  starksten  und  bestandigsten 
fis^,  aber  immer  umspielt  von  benachbarten  Tonen.  Dazu  ein 
Glucksen  und  Gurgeln,  aus  momentanen  tieferen  Tonen  be- 
stehend,  Ausserdem  aber  iioch  das  eigentliche  gar  nicht  ana- 
lysirbare  Rauschen. 

Subjective  Gerausche  scheinen  weniger  deutlich  Tone  zu 
enthalten  als  objective.  Wenigstens  konnte  icb  in  einem  an- 
baltonden  Gerausch  dieser  Art  wahrend  einer  Entziindung  des 
Mittelohres  nur  zuweilen  mit  einiger  Bestimmtheit  einen  Ton 
entdecken  (gis^),  ausserdem  nur  etwa  mit  einer  gewissen  Will- 
kiir  verschiedene  hohere  Tone  zu  horen  glauben.  Sicher  lag 
das,  was  an  Tonen  darin  war,  alles  oberhalb  des  c^.  Aber  das 
Gerausch  schien  mir  in  diesem  Fall,  wie  gesagt,  iiberhaupt 
einen  sehr  wenig  tonalen  und  fast  rein  gerauschigen  Charakter 
zu  haben. 

Lasst  sich  nun  schliessen,  dass  auch  in  denjenigen  Gerau- 
schen, in  denen  wir  auf  keine  Weise  einen  Ton  wahrzunehmen 
vermogen,  doch  noch  Tone  der  Empfindung  beigemischt  sind? 

Wenn  man  iiber  einen  gerippten  Buchdcckel  ganz  langsam 
mit  dem  Finger  streicht,  hort  man  zuniichst  oin  so  gut  wie  ton- 
loses  Gerausch;  und  wenn  auch  Einer  dasselbe  als  „hohes"  oder 
„tiefes"  Gerausch  bezeichnen  will,  ist  er  doch  nicht  im  Stande, 
einen  Ton  von  bestimmter  Hohe  als  darin  enthalten  anzugeben. 
Bei  schnellerem  Streichen  tritt  aber  immer  deutlicher  ein  Ton 
hervor,  der  zugleich  immer  mehr  in  die  Hohe  geht.  Dies  legt 
den  Schluss  nahe,  dass  vorher  ebenfalls  ein  Ton  vorhanden  war, 


§  28.  Gerausch  and  Klangfarbe.  503 

fler  uns  nur  wegen  sein'er  Schwache  und  Tiefe  entging.  Aber 
zwingend  ist  dieser  Schluss  nicht.  Wer  uicht  von  vornherein 
geneigt  ist,  Gerausche  ganzlich  mit  Tonen  zu  identificiren,  kann 
annehmen,  dass  die  Empfinduiigsschwelle  fiir  reine  Gerausche 
eine  andere  ist  als  fiir  Tone,  und  dass  wir  bei  periodischen  Im- 
pulsen  erst  von  einer  gewissen  Schnelligkeit  der  Wiederholung 
an  Tone  empfinden,  vorber  tonlose  Gerauscbe. 

b)  Viel  bestimmter  sprechen  die  Beobachtungen  in  Bezug 
auf  die  umgekebrte  Frage,  ob  Tone  ohne  Gerauscbe  moglich 
sind.  Wabrend  man  immerbin  nocb  glauben  kann,  mit  geringer 
Deutlicbkeit  ein  tonales  Element  aucb  bei  leisen  Gerauscben 
wabrzunebmen ,  gibt  es  Tone  und  gerade  sebr  laute  Tone,  bei 
denen  jede  Spur  eines  Gerauscbes  ausgeschlossen  ist.  So  z.  B. 
bei  einer  vor  dem  Obr  scbwingeuden  Gabel.  Die  Bebauptung, 
dass  es  keine  gerauscbfreien  Tone  gebe,  ist  ein  blosses  Vor- 
urteil.  Man  kann  iiber  das  Wabrgenommene  binaus  nocb  Em- 
pfindungselemente  annebmen,  wenn  zwingende  allgemeinere 
Griinde  vorliegen,  oder  aucb  wenn  die  Aussagen  der  Wabr- 
nebmung  nicbt  so  ganz  entscbieden  sind  und  dem  Verdacbt 
der  Unvollstiindigkeit  irgend  Raum  geben.  Aber  bier  scbeint 
mir  Beides  nicbt  zuzutreffen  und  keinerlei  Handbabe  fiir  eine 
solcbe  Annabme  geboten  zu  sein. 

Im  Ubrigen  ist  es  eine  ziemlicb  gleichgiiltige  Frage,  ob  in 
diesen  Fallen  nocb  unwabrnebmbare  Empfindungsteile  gerau- 
scbiger  Art  da  sind.  Genug,  dass  wir  in  weitem  Umfang  reine 
Tone  berstellen  konnen,  die  als  solcbe  aucb  fiir  die  scbarfste 
Wabrnebmung  Stand  balten. 

3.  Besprecbung  der  Ansicbten  iiber  den  Begriff 
des  Gerauscbes. 

Wenn  wir  nun  in  einem  Falle  Alles,  was  irgend  als  Ton 
sich  erkennen  lasst,  in  der  Vorstellung  abscbeideu  oder  von 
vornberein  ein  Gerauscb  vor  uns  baben,  welcbes  keinerlei 
tonale  Bestandteile  erkennen  lasst,  so  fragt  es  sicb,  ob  nicbt 
aucb  ein  solcber  Eindruck  durcb  irgend  eine  Definition  als  ein 
tonaler  in  Ansprucb  genommen  werden  kann  und  ob  er  sich 
den  Bestimmungen  fiigt,  die  wir  in  alien  vorangebenden  Unter- 


504  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

suchungen  fiir  Tone  gliltig  gefunden  habeu,  besonders  den- 
jenigeii  liber  die  Bedingungeu  der  Analyse.  Wir  haben  ver- 
schiedene  Ansichten  in  der  einleitenden  Umschau  erwahnt,  die 
wir  nun  systematisch  auseinanderhalten  und  besprechen  wollen. 
Dabei  mtissen  wir  aber  auch  die  Moglichkeit  in  Acht  behalten, 
dass  „Gerausch",  selbst  wenn  wir  von  den  erkennbaren  to- 
nalen  Bestandteilen  absohen  (wie  dies  jetzt  geschieht),  immer 
noch  ein  mehrdeutiger  Name  ware,  fiir  den  je  nach  Umstanden 
verschiedene  Definitionen  zutrafen. 

a)  „Gerauschc  sind  nichts  Anderes  als  zahlreiche 
gleichzeitige  Tone  von  weuig  verschiedener  Hohe." 

Die  grosse  Zahl  der  Tone  wUrde  an  sich  nicht  die  Un- 
moglichkeit  der  Analyse  erklaren.  Der  C-dur- Accord,  in  den 
sechs  Octaven  vom  C  bis  c^  zugleich  angegeben,  enthalt  19  Tone 
(abgesehen  von  den  Obertonen),  die  keineswegs  alle  dadurcli 
unerkennbar  werden.  Die  gcringe  Verschiedenhoit  ist  daher 
das  Hauptmerkmal  dieser  Definition. 

Man  hat  einen  Beweis  fiir  diese  Auffassung  in  dem  Helm- 
HOLTz'schen  Versucb  gesehen,  wonach  durch  Niederdriicken 
einer  ganzen  Clavieroctave  ein  gorauscliartiger  Eindruck  ent- 
steht.  Aber  was  hier  die  Analyse  erschwert,  ist  weder  die  Zahl 
noch  die  Nachbarschaft  der  Tone  (da  kleine  Secunden  an  sich 
noch  recht  gut  unterschieden  werden),  noch  auch  beides  zu- 
sammen,  sondern  hauptsachlich  die  hochst  wirr  durcheinander- 
wogenden  Schwebungen.  Und  diese  erschweren  nicht  bios  die 
Analyse,  sondern  es  scheint,  dass  sie  in  Folge  eiues  noch  un- 
erforschten  Zusammenhanges  Gerausche  hinzubringeu,  die 
ausserdem  nicht  in  dem  Klauge  enthalten  waren.  Denn  auch 
die  Schwebungen  sind  ja  nicht  Gerausche. 

Ich  kann  aber  nicht  einmal  zugeben,  dass  die  Gehors- 
empfindung  in  diesem  Fall  ihren  toualen  Charakter  und  ihre 
Analysirbarkeit  ganzlich  verlore.  Im  Gegenteil,  sie  bleibt  im 
Wesentlichen  ein  Klang,  aus  welchem  auch  eine  grossere  oder 
geringere  Anzahl  von  Klangteilen  herauszuhoren  ist. 

Bei  der  tiefen  Region  allerdings  verhalt  sich's  anders. 
Derselbe  Versuch  fiihrt  hier  wirklich  zu  einem  beinahe  reinen 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  505 

Gerausch;  hochstens  wird  man  Einen  tiefen  Klang  darin  er- 
kennen,  aber  nicbt  eine  Mehrheit  von  Tonen.  Das  rein  Ge- 
rauschigG  an  dem  Eindruck  kann  man,  wenn  auch  schwacher, 
fiir  sich  allein  erbaltcn,  wenn  man,  obne  die  Tasten  niederzu- 
driicken,  nur  kraftig  und  rascb  die  Dampfung  aufbebt:  das 
dann  entstebende  Gerauscb  riibrt  von  den  tiefen  Saiten  ber, 
da  es  binwegfallt,  wenn  diese  zugedeckt  warden. 

Dass  nun  bier  Analyse  unmoglicb  wird,  begreift  sicb;  es 
sind  selbst  Quinten  und  Sexten  in  der  tiefsten  Region  gleicb- 
zeitig  kaum  analysirbar.  Dass  aber  sogar  der  tiefe  Klang  liber- 
baupt  durcb  das  Gerauscb  iiberdeckt  wird,  dass  das  Ganze  nicbt 
entfernt  einen  so  lebbaften  und  deutlicben  Eindruck  des  Tiefen 
macbt,  wie  ein  einzelner  Ton  dieser  Region,  begreift  sicb  nicbt, 
wenn  es  sicb  bier  wirklicb  bios  um  Tone  bandelt.  Dieses  ist  nur 
dann  zu  begreifen,  wenn  die  Summe  der  tiefen  Tone  nicbt  an 
sicb  scbon  ein  Gerauscb  ist,  sondern  wenn  ein  solcbes  binzu- 
kommt,  und  wenn  es  bedeutend  starker  ist  als  die  in  dieser 
Region  verbaltnismassig  scbwacben  Tone  (die  ja  aucb  durcb 
ibre  Vereinigung  nacb  §  26  nicbt  starker  werden).  Die  Ur- 
sacbe  fiir  die  Starke  des  Geriiuscbes  aber  liegt  jedenfalls  zum 
Teil  wieder  in  den  Scbwebungen,  da  sowol  die  Grundtone  als 
die  Obertone  bier  besonders  starke  Scbwebungen  macben. 

Kebren  wir  nun  zur  mittleren  Region  zuriick,  so  kann  man 
sicb  sebr  gut  vorstellen,  wie  c  und  cis  obne  Scbwebungen  klingt, 
da  man  ja  meistens  die  Scbwebungen  gar  nicbt  bemerkt  und 
sie  durch  verteilte  Gabeln  aucb  ausserst  abscbwacben  kann. 
Ebenso  kann  icb  nocb  ziemlicb  gut  etwa  e,  fis,  g  in  der  Vor- 
stellung  binzufiigen.  Und  so  kann  man  sicb  wenigstens  An- 
naherungen  an  den  Eindruck  vorstellen,  welcben  die  siimmt- 
licben  Tone  der  cbromatiscben  Leiter  obne  Scbwebungen  zu- 
sammenklingend  geben  miissten.  Soviel  scheint  mir  klar,  dass 
der  Eindruck  nicbt  die  mindeste  Abnlicbkeit  batte  mit  einem 
Gerauscb.     Er  ist  und  bleibt  ein  tonaler. 

Wie  nun  aber,  wenn  die  Verscbiedenbeit  der  Tone  nocb 
geringer  als  eine  Halbstufe  ist?  —  Man  siebt  nicbt  ein,  wie  da- 
durcb  das  Wesen  des  Eindrucks  irgend  geandert  werden  soil. 


506  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

Es  wird  daun  freilich  eiue  Grenze  kommen,  bei  welcher  die 
Analyse  je  zweier  benaclibarter  Klangteile  nicht  mehr  moglich 
ist.  Aber  warum  sollten  nicht  weiter  entfernte  Glieder  dieser 
zusammenklingenden  Tonreihe  analysirbar  und  einzelne  fiir  sich 
heraushorbar  sein?  zumal  wenn  wir  die  Fahigkeit  der  subjec- 
tiven  Verstarkung  durch  die  Aufmerksamkeit  bedeuken? 

Brucke  erinnert  (a.  a.  0.  224),  dass  wir  die  Empfindung 
nicht  kennen,  welche  eiue  dauernde  gleichmassige  Erregung 
sammtlicher  Nervenfasern  einer  Schneckenzone  erzeugen  wUrde, 
die  breiter  ware,  als  die  Zoneu  siud,  die  durch  einzelne  Tone 
in  Action  versetzt  werden;  da  wir  kein  Mittel  haben,  eine 
dauernde  Erregung  hervorzurufen,  ohne  zugleich  Schwebungen, 
also  Ungleichmassigkeiten  hervorzurufen.  Aber  die  verteilten 
Gabeln,  denen  wir  jede  kleinste  Differenz  geben  konnen,  lehren 
uns  in  der  Tat,  wie  eine  solche  Empfindung  sich  etwa  aus- 
nehmen  wUrde;  und  wenn  wir  in  gleicher  Weise  12  Gabeln  an 
12  Ohren  verteilen  konnten:  wie  sollte  dadurch  der  Eindruck 
des  Gerausches  entstehen?  Im  Gegenteil,  er  muss  durch  den 
Wegfall  der  Schwebungen  nur  reiner  tonal  werden. 

Auch  wenn  man  zu  den  genannten  Bedingungen  etwa  uoch 
die  fiigen  woUte,  dass  die  zahlreichen  benachbarten  Fasern  nur 
sehr  schwach  erregt  wUrdcn,  scheinen  mir  nicht  die  Voraus- 
setzungen  eines  Gerausches  gegeben.  Unterhalb  einer  gewissen 
Starke  der  Erregung  wird  gar  Nichts  empfunden  werden,  da 
eine  gegenseitige  Verstarkung  ungleicher  Tonprocesse  nicht, 
auch  nicht  bei  minimaler  Erregung,  stattfindet.  Ist  die  Em- 
pfindungsschwelle  iiberschritten,  so  konnte  die  Menge  der  gleich- 
zeitigen  schwachen  Tone  doch  nie  ganz  unanalysirbar  sein,  viel- 
mehr  konnten  diejenigen,  die  weiter  auseinanderliegen,  durch 
Concentration  der  Aufmerksamkeit  herausgehort  werden. 

Oder  liegt  vielleicht  das  Entscheidende  und  Unterscheidende 
darin,  dass  bei  Gerauschen  nicht  jene  Accommodation  benach- 
barter  specifischer  Energien  stattfindet,  die  wir  bei  einem  Ton 
voraussetzen?  —  Auch  Dies  wiirde  die  psychologische  Sachlage 
und  die  vorangehenden  Betrachtungon  nicht  vcrandern.  Ausser- 
dem  lasst  sich  die  Annahme  auch  physiologisch  schwer  durch- 


I 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  507 

fiihren.  Man  miisste  annehmen,  class  jeder  Reizteil  eine  einzelne 
Schneckenfaser  zum  Mitschwingen  brachte,  ohne  die  benach- 
barten  mit  (und  zwar  in  gleicher  Schwingungsdauer)  zu  erregen. 
Ein  solcher  Reiz  miisste  ungeheuer  scbwacb  sein,  er  miisste 
unter  der  Reizschwelle  fiir  Tone  liegen,  d.  h.  unter  derjenigen 
Reizstarke,  bei  welcher  in  Folge  des  Mitschwingens  mehrerer 
Fasern  ein  fiir  sich  und  als  solcher  wahrnehmbarer  Ton  gehort 
wird.  Nun  ist  es  vielleicht  noch  denkbar,  dass  durch  eine 
minimale  Faserschwingung  eine  and  ere  specifische  Energie  aus- 
gelost,  also  eine  andere  Empfindungsqualitat  erzeugt  wiirde,  als 
durch  starkere  Schwingungen  einer  und  derselben  Faser;  und 
dass  die  specifischen  Energien  dieser  Classe  sich  gegenseitig 
verstarkten,  was  die  tonalen  nicht  tun.  Aber  dann  ware  ebeu 
das  Gerausch  als  Empfindungsinhalt  besonderer  Classe  und 
nicht  mehr  als  eine  Summo  von  Tonen  definirt.  Nur  auf 
physiologischem  Gebiet  und  zwar  im  Organ  wiirde  der  Unter- 
schied  sich  als  ein  bios  gradueller  erweisen;  dagegen  im  Ge- 
biet der  Empfindungen  selbst  ware  er  ein  qualitativer  und 
specifischer. 

Schliesslich,  um  zusammenzufassen :  warum  sollte  Undeut- 
lichkeit  der  Teile  eines  Zusammenklanges,  mag  sie  nun  beruhen 
worauf  sie  will,  den  Klang  als  ein  Gerausch  erscheinen  lassen? 
Sollen  wir  den  beliebten  Witz  Unmusikalischer,  dass  ihnen  die 
Musik  nur  eines  der  weniger  unangenehmen  Gerausche  sei,  ganz 
wortlich  nehmen?  Vielleicht  trifft  er  fiir  einzelne,  im  strengen 
Sinne  tontaube  Individuen  wirklich  zu,  wenigstens  im  Tierreich: 
aber  in  den  tausend  und  abertausend  Fallen,  wo  Zusammen- 
klange  von  Nicht-  oder  Halbmusikern  nicht  oder  unvollkommen 
analysirt  werden,  werdeu  sie  um  deswillen  doch  noch  lange 
nicht  als  Gerausche  aufgefasst,  mogen  sie  auch  im  Punct  der 
Annehmlichkeit  denselben  gleichgestellt  werden. 

Hienach  halto  ich  die  obige  Definition,  wenu  sie  allgemein 
gelten  soil,  nicht  fiir  zutreffend.  Sie  konnte  es  hochstens  sein 
in  Bezug  auf  eine  besondere  Classe  von  Gerauschen,  die  wir 
dann  freilich  nicht  in  gleichem  Sinne  mit  den  iibrigen  als  Ge- 
rausche bezeichnen   diirften.     Bei   den  hohen  zischenden,  sau- 


508  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

selnden,  regenartigen  Gerauschen  wiirde  ich  es  fiir  moglich  halten, 
dass  sie  hauptsachlich  aus  einer  grosseren  Anzahl  schwacher 
hochster  Tone  bestelien.  Die  Unmoglichkeit  vollcr  Analyse 
wiirde  sich  ja  hier  begreifen,  Schwebungen  komnien  nicht  mehr 
in  Betracht,  und  der  Gesammteindi'uck  ist  demjenigen  einzelner 
schwacher  Tone  dieser  Region  ahnlich  genug.  Aber  die  Viel- 
heit  der  Tone  ist  dabei  wol  auch  weniger  wesentlich,  dagegen 
sehr  wesentlich  das  Intermittiren.    S.  c). 

b)  „Gerausche  sind  sehr  zahlreiche  sehr  schnell 
aufeinanderfolgendo  Tone  verschiedener  Hohe". 

Diese  Ansicht  erscheint  ganz  undurchfiihrbar.  Wir  konnen 
ja  den  schnellsten  Wechsel  von  Tonen  herstellen,  wenn  wir  mit 
dem  Finger  iiber  die  Tasten  streichen  (gute  Diimpfung  des 
Claviers  vorausgesetzt)  oder  auf  einer  Violinsaite  stetig  hinauf- 
rutschen  oder  den  eine  gedackte  Pfeife  verschliessendeu  Pfropfen 
hin-  und  herschieben.  In  den  letzteren  Fallen  werden  geradezu 
alle  zwisclien  den  Grenztonen  liegenden  Wellenliingen  durch- 
laufen,  alle  beziiglichen  Fasern  orregt,  aber  wir  horen  kein  Ge- 
rausch, sondern  eben  eine  rasche  Tonveranderung.  Nicht  ein- 
mal  wenn  sie  so  rasch  ist,  dass  durch  das  subjective  Nach- 
schwiugen  eben  vergangene  Tone  noch  mit  folgenden  gleichzeitig 
werden,  nicht  cinmal  daun  wird  ein  Gerausch  daraus.  (Neben- 
bei  bemerkt,  ist  in  diesem  Falle  auch  wieder  eine  annaherndo 
Verwirklichung  von  Beucke's  obigcm  Desiderat  gegcben). 

Wenn  man  will,  kann  man  freilich  jede  stetig  veranderlichc 
Tonhohe  ein  Gerausch  nennen,  entgcgen  dem  gewohnlichen 
Sprachgebrauch  ^) ;  ebenso  wie  manche  Vertreter  der  voran- 
gehenden  Definition  kurzweg  jede  unanalysirte  Vielheit  von 
Tonen  ein  Gerausch  nennen,  auch  wenn  der  gewohnliche  Mensch 
flagegen  protestirt,  und  ebenso  wie  Alfr.  Mayer  einmal  die 
blosso  Intermittenz  eines  einzigen  Tones  dem  Musiker  zum  Trotz 
als  Dissonanz  bezeichnet,  da  ja  Intermittenzen  ganz  ebenso  wie 
Schwebungen  periodische  Starkeveranderungen  sind  und  die 
Dissonanz  als  Schwebungen  definirt  wird.     Consequenz  ist  eine 


1)  Dies  tut  z.  B.  Sedley  Taylor  Phil.  Mag.  Bd.  44  (1872)  S.  63. 


§  28.  Gerauscli  und  Klangfarbe.  509 

schone  Sache.  Aber  solche  notgedrungene  Consequenzen  zeigcii 
auch,  dass  man  vom  Ausgangspunct  abgekommen  ist  und  alles 
Andere,  nur  niclit  Dasjenige  definirt  hat,  was  gemeinhin  mit 
dem  Namen  bezeichnet  wird, 

c)  „Gerausche  sind  Tone  von  einer  bestimmten  und 
nicht  notwendig  wechselnden  Hohe,  aber  dadurch  von  Tonen 
im  gewohnlicheu  Sinne  unterschieden,  dass  sie  entweder  nur 
momentan  sind  (Knalle)  oder  eine  rascbe  Aufeinander- 
folge  iutermittirender  momentaner  Toneindriicke  dar- 
s  tell  en;  wobei  sicli  auch  eine  Mehrheit  solcher  Successionen 
zugleich  vollziehen  kann." 

Der  Wechsel  der  Tonhohe,  der  fiir  b)  wesentlich  war,  ist 
hier  im  ersten  Fall  geradezu  ausgeschlossen ,  im  zweiten  Fall 
(bei  den  intermittirenden  Gerauschen)  wenigstens  nicht  ein- 
geschlossen;  ein  solches  Gerausch  konnte  eine  eben  so  con- 
stante  Hohe  besitzen  wie  ein  gewohnlicher,  als  solcher  erkenn- 
barer,  Ton. 

Diese  Ansicht,  wesentlich  diejenige  Brucke's,  diirfte  viel 
Richtiges  enthalten,  d.  h.  es  diirften  viele  als  Gerausche  be- 
zeichnete  Erscheinungen  in  der  Hauptsache  dadurch  definirt 
sein.  Sie  ist  ja  schon  darum  im  Vorteil,  weil  sie  weniger  ein- 
seitig  ist  und  auch  sogleich  eine  Mehrheit  von  Classen  zugibt, 
wahrend  sich  die  vorigen  im  besten  Fall  nur  auf  Eine  Classe 
beziehen  konnteu,  von  der  sie  freilich  nicht  einmal  das  wesent- 
liche  Merkmal  erfassten. 

Eine  Reihe  sg.  Gerausche  sind  intermittirende  Tone  der 
tiefsten  oder  hochsten  Region  (Brummen,  Zischen  u.  Dgl.).  Hier 
ist  es  auch  keineswegs  unmoglich,  durch  genauere  Aufmerksam- 
keit  die  Tone  als  solche  zu  erkennen,  z.  B.  wenn  man  ein  S 
so  leise  als  moglich  flustert.  Dennoch  mochte  ich  nicht  einmal 
in  diesen  Fallen  entschieden  behaupten,  dass  nicht  noch  ein 
Erdenrest  als  eigentliches  Gerausch  librig  bliebe.  Pathologische 
Beobachtungen  kommen  hier  in  Betracht,  indem  nach  der 
Voraussetzung  mit  den  Tonen  der  bezliglichen  Region  zugleich 
diese  Classe  von  Gerauschen  hinwegfallen  oder  benachteiligt 
sein  muss.    Vgl.  I  402.    An  mir  selbst  habe  ich  bei  der  oben 


510  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

erwahnten  Ohreuentzunclung  beobachtet,  dass  das  kranke  Ohr 
hohe  Tone  und  gleicbzeitig  auch  das  Uhrticken  sehr  scblecht 
horte,  wahrend  das  Gerausch,  wenn  ich  ein  rauhes  Tuch  vor 
dem  Ohr  zwischen  den  Fingern  rieb,  nicht  viel  scbwacher  und 
nicht  viel  anders  empfunden  wurde.  Dieses  macht  denn  auch 
nicht  ganz  den  hohen  Eindruck  \ne  das  Uhrticken. 

Was  die  Knallgerausche  betrifft,  so  scheint  mir  das  Be- 
denken  Hensen's  (o.  500)  schwerwiegend.  Auch  hier  ist  wol 
mit  dem  tonalen  Element  noch  etwas  qualitativ  Anderes  ver- 
kniipft.  Die  blosse  Kiirze  und  Starke  scheint  es  nicht  allein, 
was  den  „Ton"  vom  „Knall"  unterscheidet.  Nur  die  dumpfen 
und  schwachen  Knalle  sind  wirklich  nichts  Anderes  als  eben 
dumpfe  und  schwache  momentane  Tone. 

Endlich  ist  aber  auch  die  Frage,  ob  auf  alle  Gerausche 
eines  der  in  der  Definition  genannten  zwei  Merkmale  passt. 
Viele  scheinen  doch  weder  momentan  noch  intermittirend,  son- 
dern  constant,  wie  z.  B.  manche  subjective  Ohrgerausche. 

d)  „Gerausche  sind  Empfindungen  besonderer  Art, 
insoweit  zwar  von  einer  allgemeinen  Ahnlichkeit  mit  den  Tonen, 
dass  wir  sie,  auch  abgesehen  vom  physikaHschen  Ursprung  und 
vora  gemeinsamen  Eindringen  in  die  Ohrmuschel  und  das  innere 
Ohr,  mit  den  Tonen  unter  Eine  Hauptclasse  von  Empfindungen 
rechnen  miissen,  aber  innerhalb  dieser  doch  qualitativ  eine  selb- 
standige  Elementargruppe." 

Von  diesem  Standpuncte  aus  konnte  man  Hohe  und  Tiefe 
den  Gerauschen  absprechen  und  diese  Unterschiede  nur  auf  die 
beigemischten  Tone  zuriickfiihren.  Doch  ware  dies  nicht  die 
notwendige  Consequenz  des  Standpuuctes.  Es  liesse  sich  immer- 
hin  auch  annehmen,  dass  gewisse  Gerausche  den  hohen,  andere 
den  tiefen  Tonen  ahnlicher  seien  und  um  dessen  willen  eben- 
falls  hoch  und  tief  genannt  werden.  Es  wiirde  insofern  auch 
die  ofters  gebrauchte  Wendung,  es  sei  ein  Tonhohenunterschied 
und  doch  kein  Ton  bemerkbar  (o.  499),  einen  Sinn  erhalten. 
Elben  darin,  in  diesem  der  Tonhohe  und  Tontiefe  ahnlichen 
Unterschied,  in  einer  entsprechenden  Reihenbildung,  wiirde  dann 
auch  eine  der  Ahnlichkeiten  bestehen,  um  deren  willen  sie  den 


§  28.  Gerausch  iind  Klangfarbe.  511 

Tonen  iiberhaupt  so  nahe  gestellt  werden.  Eine  dritte  zu  be- 
riicksichtigende  Form  der  Grundansiclit  aber  wai'e,  dass  es  qua- 
litativ  nur  zwei  Classen  gebe,  namlich  bohe  und  tiefe  (den  hoben 
mid  tiefen  Tonen  abnlicbe)  Gerauscbe,  obne  Mittelglieder  und 
obne  Reibeubildung,  dass  die  anscbeinend  mittleren  ibre  Hobe 
nur  den  beigemischten,  bier  besonders  bervortretenden  Tonen 
verdankten  (vgl.  o.  119  u.). 

Diese  Unterfrage  will  icb  bier  nicbt  weiter  verfolgen.  Die 
Hauptanscbauung  aber  ist  gegeniiber  Dem,  was  Alles  in  Bausch 
und  Bogen  Gerauscb  genannt  wird,  zwar  gewiss  nicbt  erscbopfend, 
da,  wie  erwabnt,  einige  sg.  Gerauscbe  bauptsacblicb  Tone  sind, 
viele  andere,  wie  das  Rauscben  des  Bacbes,  wenigstens  zu  einem 
erbeblicben  Teil:  aber  fiir  die  Gerauscbe  im  eigentlicben  und 
engeren  Sinne,  bez.  fiir  den  eigentlicb  gerauscbigen  Teil  der 
iibrigen,  scbeint  nacb  dem  Vorangebenden  diese  Auffassung  als 
die  ricbtige  iibrig  zu  bleiben;  wie  sie  denn  aucb  Brucke  als 
Erganzung  der  seinigen  im  Auge  bebalt.  Man  konnte  sie  die 
nativistiscbe  gegeniiber  den  empiristiscben  nennen. 

Aucb  pbysiologiscb  bleibt  bienacb  scbwerlicb  eine  andere 
Annabme,  als  dass  besondere  Teilcben  im  Obr  und  nicbt  minder 
im  Centrum  (mit  besonderen  specifiscben  Energien)  die  Ver- 
mittler  der  Gerauscbempfindungen  sind.  Da  es  moglich  ist, 
zwei  gleicbzeitige  Gerauscbe  auseinauderzubalten,  wenn  sie  nicbt 
zu  abnlicb  sind,  z.  B.  Scbwirren  und  Summen^),  so  konnte  man 
aucb  wieder  einen  analysirenden  Apparat  notig  finden.  Docb 
scheint  mir  die  Forderung  bier  weniger  bindend,  da  es  vielfacb 
die  Intermittenz  der  Gerauscbe  oder  des  einen  von  ibnen  ist, 
welcbe  die  Trennung  erm(3glicbt,  und  es  sicb  in  den  iibrigen 
Fallen  vielleicbt  docb  nur  um  die  Beurteilung  einer  an  sicb 
einheitlicben  Empfindungsqualitat  auf  Grund  friiberer  Er- 
fahrungen  iiber  die  objectiven  Ursacben  und  iiber  die  jeder 
derselben  entsprecbenden  Einzelgerauscbe  bandelt. 


^)  PoLiTZER  sagt  auch  von  den  subjectiven  Gerauschen,  nachdem 
er  deren  erstaunliche  Manichfaltigkeit  geschildert:  „Es  konrien  mehrere 
Gerauscbe  gleicbzeitig,  sogar  in  demselben  Ohr,  wahrgenommen  und 
dentlich  unterscbieden  warden. '•    (Lebi'b.  *  I  224.) 


512  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

Fiir  solche  physiologische  Trennung  sprechen  im  Ganzen  auch 
die  pathologischen  Beobachtuugen.  S.  I  402.  Nelierdings  berichtet 
Steinbeugge  (Z.  f.  0.  XIX,  1889,  S.  328)  iiber  eineu  bysterischen 
Kranken  (eiuen  453abrigen  Landmann),  der  regelmassig  Krampf- 
anfalle  erlitt,  Avenu  er  Instrumentalmusik  irgend  welcber  Art  borte, 
scbon  beim  Blasen  auf  einer  Kindertrompete ;  nicbt  aber  bei  Ge- 
rauscben.  Selbst  Kuall  und  Scbuss,  Trommel-,  Strassen-  und  Eisen- 
babnlarm  iibteu  keine  unangenebme  Wirkuug. 

Bruckner  (Arcb.  f.  patbol.  Anat.  Bd.  114,  2.  Heft)  ftibrt  an, 
dass  er  mebrmals,  wenn  er  gerade  wabrend  des  Scblagens  seines 
Regulators  erwacbte,  die  ersten  Scblage  als  zusammenbangenden 
gleicbmassigen  musikaliscben  Ton  und  erst  die  letzten  als  einzelue 
Gerauscbe  vernommen  babe,  dass  also  das  Organ  friiber  aufwacbe 
fur  Tone  als  fur  Gerauscbe.  Dies  bedurfte  doch  nocb  der  Be- 
statigung.  Buffon  erlebte  an  sicb  ziemlicb  das  Umgekebrte:  im 
Halbscblaf  borte  er  die  Ubr  scblagen  und  zablte  fiinf  Scblage,  ob- 
gleicb  es  nur  Einer  war.  Er  zog  daraus  den  freilicb  nocb  kubneren 
Scbluss,  dass  man  im  urspriinglicben  Zustand  des  Bewusstseins  die 
einzelnen  Scbwingungen  vernebme,  die  man  spater  nur  aus  Gewobn- 
beit  zu  Einem  Ton  verbinde,  und  dass  der  Halbscblaf  uns  in  jenen 
Zustand  zuruckversetze.  (Bei  Condillac,  Traite  des  Auimaux  1755 
Cb.  VI ;  Oeuvres  T.  Ill  p.  494). 

Eine  fur  die  Tbeorie  der  Anlagen  nicbt  unwicbtige  Unter- 
sucbung  ware  dariiber  zu  macben,  ob  die  relative  Starke  von  Ge- 
rauscben  gegeniiber  Tonen  dieselbe  ist  fiir  Musikaliscbe  und  Un- 
musikaliscbe,  ob  nicbt  die  Letzteren  Gerauscbe  relativ  starker 
horen.  Dass  ibre  Aufmerksamkeit  gewobnbeitsmassig  mebr  nacb 
dieser  Ricbtung  gebt,  baben  wir  ofters  erwabnt.  Aber  es  konnte 
sicb  aucb  um  grossere  sinnlicbe  Intensitat  bandeln  und  dadurch 
zugleicb  die  gewobnbeitsmassige  Ricbtung  der  Aufmerksamkeit  mit- 
verursacbt  sein.  Einzelne  Beobacbtungen  scbeinen  mir  biefur  zu 
sprecben.  Die  Versucbe  waren  anzustellen  teils  durcb  Vergleicbung 
der  Schwellen  fur  Tone  und  fur  Gerauscbe  bei  denselben  Individuen, 
teils  durcb  Aufsucbung  des  Intensitatsverbaltnisses,  bei  welcbem  ein 
bestimmtes  Gerauscb  durcb  einen  bestimmten  gleicbzeitigen  Ton 
Oder  umgekebrt  eben  unterdriickt  wird  (o.  229). 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  513 

Auch  hieruber  konnten  pathologische  Beobachtungen  mitsprechen, 
wenn  die  Aussageu  der  Kraiiken  z.  B.  bei  Mittelohrkatarrhen  iu 
dieser  Riclituug  classificirt  warden.  Ein  hochst  unmusikalischer 
College  horte  iu  solchem  Fall  eiu  ungeheuer  starkes  Sausen;  ich 
selbst  dagegen  bei  der  erwalinten  beftigen  Eiitzundung  nur  ein 
ganz  massiges  Gerausch.  Wurde  es  gelegentlich  starker,  so  traten 
zugleicb  Tone  hervor.  Im  tFbrigen  bore  ich  sehr  oft  subjective 
Tone.  Vgl.  auch  I  265,  sowie  die  Angaben  uber  Rob.  Fbanz,  Schu- 
mann, Smetana  I  411  f.:  die  beiden  Ersteren  horten  wesentlich 
Tone,  der  Letztere  auch  ausserdem  ein  starkes  Sausen.  Eine  aus- 
nahmslose  Kegel  wird  sich  natiirlich  hier  nicht  herausstellen,  da  die 
Musikbegabung  nicht  bios  auf  der  relativen  Intensitat  der  Tone  ruht ; 
aber  eine  gewisse  Regelmassigkeit  ware  nicht  unwahrscheinlich. 

Physikaliscli  endlich  pflegt  man  Gerausche  auf  aperiodische 
Luftschwingungen  zu  beziehen.  Hier  verschwindet  nun  freilich 
der  specifische  Unterschied ,  insofern  man  eine  solche  ansehen 
kann  als  Aufeinanderfolge  von  Bruchstiicken  periodischer  Be- 
wegungen:  aber  objectiv  verschwindet  ja  der  specifische  Unter- 
schied  sogar  zwischen  Licht  und  Warme. 

Eine  wirkliche  Schwierigkeit  liegt  hingegen  darin,  dass  tat- 
sachlich  nicht  bios  aperiodische  sondern  auch  complicirt-perio- 
dische  Bewegungen  Gerausche  erzeugen,  wie  in  dem  besprochenen 
Clavierversuche  (wo  wir  eine  indirecte  Erzeugung  annahmen), 
und  dass  umgekehrt  gewisse  aperiodische  Bewegungen,  wie  die 
bei  einer  stetigen  Tonveranderung,  Tone  erzeugen.  Der  physi- 
kalische  Unterschied  muss  also  in  etwas  anderer,  genauerer 
Weise  bestimmt  werden. 

Eine  weitere  Frage  ist  die,  ob  beide  Bewegungsarten,  welche 
doch,  wie  immer  man  sie  abgrenze,  graduell  in  einander  iiber- 
gehen  konnen,  nicht  auch  jedesmal  beiderlei  Teilchen  im  Ohr 
erregen  miissen.  Darauf  wird  die  Antwort  sein,  dass  sie  es 
wirklich  tun;  nur  werden  die  Schneckenfasern  viel  leichter  durch 
periodische  (oder  wie  sie  genauer  bestimmt  werden  mogen),  die 
gerauschvermittelnden  Teilchen  viel  leichter  durch  die  nicht- 
periodischen  Bewegungen  erregt.  Aus  dieser  Vorstellungsweise 
wiirde  ich  aber  nicht  etwa  zuriickschliessen ,  dass  darum  Ge- 

Stumpf,  Tonpsychologie.  n.  33 


514  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

rausche  und  Tone  jederzeit  auch  in  der  Empfindung  verkniipft 
sein  miissen.  Denn  die  Erregung  der  Teilchen  der  einen  Art 
kann  unter  Umstanden  so  scliwach  sein,  dass  sie  unter  der 
Empfindungsschwelle  bleibt. 

Man  hat  die  Luftbewegung  bei  Gerauschen  und  besonders  bei 
Consonanten  durch  Phonogramme  untersucht.  R  gab  die  zu  er- 
wartenden  Stosswellen,  S  eine  lange  Reihe  kleiner  einfacher  Wellen, 
M,  N,  L  regelmiissige  periodiscbe  Curven  complicirter  Art,  weswegen 
man  diese  geradezu  als  Vocale  in  Anspruch  nahra.  (S.  Wieb.  Ann. 
Beibl.  1888,  S.  29.)  Aber  die  physikalische  Definition  kann  psycho- 
logisch  nicht  massgebend  sein.  Dass  Consonanten  zum  Teil  hohe 
Tone  entbalten  (0.  Wolf,  Sprache  und  Ohr),  baben  sie  mit  an- 
deren  Gerauschen  geraein. 

II.    Klangfarbe. 

1.  Manichfaltigkeit  der  Praedicate.  Klangcbarak- 
ter  durcb  Associationen. 

Die  Eigenschaften ,  welche  man  unter  dem  Begriff  und 
Namen  der  Klangfarbe^)  zusammenfasst,  bilden  eine  so  bunte 
Menge,  dass  man  beim  tjberblick  scbier  verzweifeln  muss,  sie 
wirklicb  unter  Einen  Begriff  zu  bringen.  Wir  finden  als  solche 
erwahnt:  angenebm  und  unangenebm  im  Allgemeinen;  dann 
mild,  siiss,  weich,  schmelzend  gegeniiber  sebarf,  hart,  rauh; 
dann  voll,  breit,  pastos  gegeniiber  leer,  spitz,  diinn,  naselnd; 
dann  bell,  glanzend,  metallisch,  silberu  gegeniiber  dunkel,  dumpf, 
triib,  verscbleiert,  bolzern;  dann  kraftig,  scbmetternd,  drobnend, 
edel,  praehtig,  feurig,  majestatiscb,  romantisch  gegeniiber  sanft, 
trocken,  gemein,  diister,  melancboliscb,  elegisch,  idylliscb  u.  s.  w. 
Man  kann  diesen  Schatz  von  Beiwortern,  mit  welcbem  sicb  nur 
derjenige  der  Weinhandler  einigermassen  vergleicben  lasst,  aus 
den  Werken  iiber  Instrumentatiouslebre  leicbt  nocb  vervollstan- 

^)  Der  Ausdruck  ist  neueren  Datums.  Chladni  sagt  noch  (Akustik 
1802  §  44  Anm.):  „Im  Deutschea  hat  man  kein  eigenes  Wort  fiir  diese 
Modificationen  eines  Klanges."  Er  gebraucht  ., Timbre".  Dieses  selbst 
findet  sich  bei  Roxjsseatj  auch  noch  nicht.  Im  Englischen  wird  heute 
noch  gewohnlich  von  ..Quality"  in  diesem  Sinne  gesprochen.  Tyndall 
sagt  „Clangtint". 


§  28.  Gerausch  iind  Klangfarbe.  515 

digen;    dock   haben  wir  an   dieseii  Beispielen  schon   mehr  als 
genug  Erldaruiigsmaterial. 

Auf  der  Hand  liegt,  dass  liier  vielfach  Folgen  der  Ton- 
empfindungen,  associirte  Vorstellungen  und  Gefuhle,  den 
eigentlichen  Grund  der  Bezeicbnung  abgeben,  und  dass  diese 
Associationeu  teilweise  etwas  zufalliger  Art  sind.  Die  Ver- 
wendung  der  Trompete  und  Posaune  zu  festlichen  Aufzugen, 
wozu  sie  sich  schon  ihrer  Starke  wegen  eignen  (abgesehen  von 
anderen  natiirlichen  und  liistorischen  Griinden),  ruft  unbestimmte 
Erinnerungeu  an  solclie  Anlasse  wach;  spater  wird  ein  feier- 
liches  Gefiihl  durch  diesen  Klang  auch  ohne  Vermittelung  von 
Erinnerungeu  erweckt,  ein  tJbertragungsvorgang,  den  wir  tau- 
sendfach  im  Gefiiblsleben  beobachten.  Natiirlich  kommt  das 
so  iibertragene  Gefiihlsmoment  nicht  unter  alien  Umstanden,  in 
jedem  Zusammenhang,  bei  jeder  Verwendungsart  des  Klanges 
zum  Vorschein,  sondern  nur  unter  bestimmten ,  dem  urspriing- 
lichen  Zusammenhange  einigermassen  ahnlichen  Umstanden,  bei 
stark  accentuirten  und  melodiscli  bestimmt  charakterisirten 
Phrasen  u.  s.  f.  Es  ist  nicht  auf  das  Instrument  oder  den 
Klang  desselben  schlechthin  iibergegangen,  sondern  auf  den 
Klang  in  diesen  Umstanden  und  Verbindungen.  Ahnliches  gilt 
vom  „romantischen"  Hornklang^),  dessen  Romantik  nicht  ein- 
mal  so  alten  Datums  ist  (nach  Spitta^)  liat  das  Horn  in  musi- 
kalischer  Verwendung  erst  seit  Weber's  Freischiitz  diesen  Bei- 
geschmack,  jedenfalls  bangt  er  aber  damit  zusammen,  dass  das 
Horn  jahrhundertelang  vor  der  orchestralen  Verwendung  zu 
Jagdfanfaren  und  Signalen  diente).  Ahnliches  auch  von  der 
„idyllischen"  Oboe  und  Flote.  Nicht  weil  sie  den  schaferlichsten 
Klang  gab,  blies  Damon  die  Flote,  sondern  weil  er  kein  anderes 


^)  Gevaert  spricht  in  seinei*  .,Neuen  Instrumentenlehre"  (iibers. 
von  H.  RiEMANN  1887,  S.  215)  sogar  von  einem  .,gewissermassen  meta- 
physischen  Charakter  des  Horns".  So  lacherlich  Mancliem  dieser  Aus- 
druck  scheinen  mag,  kann  man  ihu  doch  wol  verstehen  in  Erinueriing 
an  musikalische  Zusammenhange,  wo  jenes  Romantische  durch  besondere 
(dynamische,  modulatorische)  Mittel  noch  weiter  gesteigert  ist. 

2)  Die  alteste  Faust-Oper,    Deutsche  Rundschau  1889  S.  394. 

33* 


516  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

Instrument  hatte  als  dieses,  welches  er  sich  aus  Rohr  schneiden 
konnte;  und  well  Damon  und  seine  Genossen  Schafer  waren, 
darum  ist  die  Flote  schaferlich. 

Allerdings  wird  die  Verschiedenheit  regelmassig  und  dauernd 
associirter  Vorstellungen  und  Gefiihle  meistens  auch  in  Ver- 
schiedenheiten  der  Tonempfindungen  selbst  griinden,  auf  deren 
Zergliederung  wir  also  zuriickgefiihrt  werden.  So  hat  die  Oboe 
zugleich  auch  einen  dem  Gesang  der  Schafe  und  der  Hahne 
nicht  ganz  unahnlichen  Klang,  und  hat  deshalb  auch  zum  Ofteren 
in  der  alteren  Musik  bloken  und  krahen  miissen,  wenn  diese 
Tiere  darzusteUen  waren. 

Wir  wollen  Das,  was  mit  vorstehenden  Bemerkungen  vor- 
laufig  abgetan  sein  soil  und  uns  erst  in  der  Gefiihlslehre  wieder 
interessiren  wird,  als  Klangcharakter  von  der  eigentlichen 
Klangfarbe  unterscheiden  und  unter  der  letzteren  nur  solche 
von  den  obigen  Eigenschaften  verstehen,  die  nicht  in  bios  asso- 
ciirten  Vorstellungen  und  GefUhlen  ihren  Sitz  haben. 

2.  Klangfarbe  als  das  Unterscheidende  der  Instru- 
mente. 

Auch  nach  dieser  Absonderung  bleibt  ein  engerer  und  ein 
weiterer  Begriff  von  Klangfarbe  zu  scheiden;  und  bereits  Helm- 
HOLTz  hat  diese  Scheidung  gemacht.  Im  weiteren  Sinn  nennt 
er  Klangfarbe  Das,  was  gleichhohe  und  gleichstarke  Tone  noch 
fiir  unsre  Empfindung  unterscheidet,  wenn  sie  von  verschiedenen 
Instrumenten  hervorgebracht  werden.  (Nicht  ausdriicklich  zwar 
gibt  er  diese  Definition,  aber  sie  entspricht  ohne  Zweifel  seiner 
Absicht.)  Diesen  an  sich  bios  negativen  Begriff  bestimmt  er 
naher  dahin,  dass  dazu  vor  Allem 

a)  die  Zusammensetzung  des  Klanges  aus  Teiltonen 
gehore;  und  diese  nennt  er  musikalische  Klangfarbe.  Wir  wollen 
sie  Klangfarbe  im  engeren  Sinne  nennen.  Ausserdem  aber  ist 
in  der  Klangfarbe  im  weiteren  Sinne  noch  inbegriffen  eine 
Reihe  charakteristischer  Merkmale  der  Instrumente,  welche  Helm- 
HOLTz  bereits  annahernd  vollstandig  aufgefUhrt  hat,  namlich: 

b)  die  eigentiimliche  Art  und  Dauer  des  An-  und  Aus- 
klingens,    welche    abhaugig    ist   von    der    Erzeugungsart    des 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  517 

Klanges  und  eine  andere  ist  bei  der  Flote,  bei  Blechinstru- 
menten  (die  relativ  schwerfallig  einsetzen),  beim  Clavier,  der 
Violine,  und  hier  wieder  beim  Streichen  und  beim  Zupfen,  u.  s.  f. 
Spricht  man  von  einem  trockenen,  kurzen,  klanglosen  (und  doch 
oft  durchdringenden)  Ton,  so  ist  grosstenteils  eine  solche  Eigen- 
tiimlichkeit  gemeint,  wie  andererseits  der  gleichmassig  anhal- 
tende  Ton  schon  darum  etwas  „Volleres"  hat.  Es  gleicben  diese 
Unterschiede  einigermassen  den  Consonanten  (Mediae,  Teuues), 
mit  denen  wir  einen  und  denselben  Vocal  ein-  oder  auslauten 
lassen  konnen.     Ein  wichtiges  Merkmal  bieten  ferner 

c)  die  begleitenden  Gerausche.  Bei  den  Blasinstru- 
menten  das  Sausen  und  Zischen  der  Luft,  bei  der  Geige  das 
Reibegerausch  des  Bogens  (zumal  in  hoheren  Regionen).  Auch 
die  Vocale  sind,  wie  Bonders  zuerst  bervorhob,  nicht  frei  von 
solchen  Geriiuschen.  In  diesem  Umstand  liegen  die  Eigenheiten 
des  Klanges,  zum  Teil  wenigstens,  begriindet,  die  wir  als  rauh, 
pelzig,  streichend  u.  dgl.  bezeichnen  (durch.  welcbe  auch  bei 
gewissen  Orgelregistern  der  Klang  jener  Instrumente  kiinstlich 
nachgeahmt  wird).  Diese  begleitenden  Gerausche  sind  sehr 
wichtig  fiir  die  Unterscheidung  der  Instrumente.  Sie  verschwin- 
den  mit  der  Entfernung,  weshalb  die  Instrumente  in  grosserer 
Entfernung  viel  weniger  leicht  unterschieden  werden.  Ritz  be- 
hauptet  angesichts  der  von  ihm  erwiesenen  Veranderlichkeit  in 
der  Teiltonstructur  des  Violinklanges  (der  je  nach  der  Bogen- 
fiihrung  und  der  Lange  des  schwingenden  Saitenstucks  bald  10, 
bald  nur  4  oder  noch  weniger  Teiltone  umfasst),  dass  die  be- 
gleitenden Erzeugungsgerausche  geradezu  das  Hauptmerkmal 
bilden,  welches  einen  Klang  als  den  eines  bestimmten  Instru- 
mentes  kennzeichnet.  ^) 

Ausser  diesen  Hauptmerkmalen  dienen  noch  eine  Reihe 
anderer  unter  Umstanden  zum  Erkennen  eines  Instrumentes. 
So  kann  schon  die  Ho  he  gelegentlich  ein  deutliches  Kenn- 
zeichen  oder  wenigstens  einen  Leitfaden  abgeben.  Ein  Instru- 
ment,  das  sich  in  der  fiinfgestrichenen  Octave  tummelt,  kann 

^)  Unters.  iiber  die  Zusammensetzung  der  Klange  der  Streichinstr. 
(1883)  36  f. 


518  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

kaum  ein  anderes  als  Piccolo  sein.  Eines,  dessen  Bewegungen 
unter  a  hinabgehen,  kann  jedenfalls  nicht  die  Flote  sein.  So 
dient  iiberhaupt  der  Umfaiig  der  Instrumente  (wenn  Jemand 
dariiber  orientirt  ist)  und  die  gewohnliche  Region  seiner  Ton- 
gebung  mit  zu  seiner  Charakteristik  oder  wenigstens  zur  Ein- 
schrankung  der  Mogliclikeiten,  an  die  man  in  einem  Falle 
denken  kann. 

Ebenso  dient  die  Starke.  Wir  wissen  z,  B.,  dass  nur 
durch  Blechinstrumente  Klange  niittlerer  Hohe  von  machtigster 
Kraft  erzeugt  werden  konnen.  „ Viola,  Bass  und  Geigen,  die 
mlissen  alle  scliweigen  vor  dem  Trompetenton."  In  der  Ent- 
fernung  freilich  ist  auch  dieser  schwach;  wenn  wir  aber  wissen, 
dass  im  anstossenden  Zimmer  musicirt  wird,  kann  die  gewohn- 
liche ebenso  wie  die  extreme  Starke  eines  Instrumentes  ganz 
wol  mit  als  Erkennungszeichen  dienen. 

Auch  Hohe-  und  Starkeschwankungen  wahrend  des 
Einzelklauges  sind  charakteristisch.  So  z.  B.  das  sentimentale 
(weil  an  das  geriihrto  Singen  erinnernde)  Vibriren,  womit  Zither- 
spieler  den  Ton  ihres  Instrumentes  zu  beseelen  streben;  welches 
zugleich  eine  Hohe-  und  Starkeschwankung  ist.  Ebenso  das 
ostensible  Hinaufrutschen  auf  der  Saite,  welches  der  Hand- 
habung  desselben  Instrumentes  vorzugsweise  eigentiimlich  ist 
(und  es  z.  B.  von  der  ebenfalls  gezupften  Harfe  unterscheidet), 
in  geringerem  Grade  aber,  und  doch  schon  zu  viel,  auch  bei 
Streichinstrumenten  geiibt  wird.  Durch  die  Leichtigkeit  des 
Anschwellens,  die  feine  Beweglichkeit  in  Hinsicht  der  Starke 
iiberhaupt,  ist  besonders  die  Oboe  ausgezeichnet,  wodurch  sie, 
wie  Gevaert  sagt,  ein  unmittelbarer  Dolmetsch  der  Empfin- 
dungen,  besonders  der  weiblichen  Seele,  wird^)  (letzteres  unter 
Mitwirkung  ihrer  Hohe).     Andere  Instrumente   wiederum  sind 


')  Neue  Instrumentenlehre  S.  145.  Bernhard  Scholz  bemerkt  iu 
seiner  Besprechung  (Viertelj.-Schr.  f.  Musikwiss.  1889),  die  Oboe  werde 
doch  auch  in  so  maucher  lustigen  Musik  verwendet.  Gewiss;  aber  dann 
nicht  mit  gehalteuen,  lang  auschwelleuden  Tonen.  tJberhaupt  gibt  es 
ja  keinen  Instrumentalcharakter  abgesehen  von  den  Umstanden  (s.  c). 
Aber  diese  selbst  entziehen  sich  nicht  ganz  der  Classification. 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  519 

gar  keiner  Starkeschwaukungeu  tahig,  so  besonders  die  Orgel, 
wenn  man  nicht  zwischen  verschiedenen  Registern  wechselt,  imd 
dann  ist  die  Veranderung  (vom  Schwellregister  abgeseheu)  keine 
stetige.  Dadurch  erhalt  der  Orgelklaug,  zumal  im  langeren  Zu- 
sammenhang,  etwas  Starres  (man  moclite  sagen  Dogmatisches), 
was  in  Verbindung  mit  der  Starke  und  der  Tiefe,  wenn  die 
entsprechenden  Register  angewandt  werden,  die  sinnliche  Grund- 
lage  fiir  die  Gefiihle  des  Majestatischen  u.  s.  w.  abgibt,  die  hier 
freilich  auch  durch  Associationen  genahrt  sind. 

Ferner  sind  gewisse  melodische,  rhythmische,  auch 
wol  harmonische  oder  modulatorische  Wendungen  fiir 
bestimmte  Instrumente  mehr  oder  weniger  charakteristisch.  Die 
Flote  ist  das  beweglichste  unter  den  Orchesterinstrumenten. 
Sie  hat  aber  auch  wieder  anderes  Passagenwerk  als  das  Clavier. 
Der  unvermeidHche  Doppelschlag  der  Dorfclarinettisten  kehrt 
sogar  in  R.  Wagner's  altereu  Opern,  wie  Hanslick  zu  be- 
merken    nicht  versaumt,    mit    einer  fatalen  Haufigkeit  wieder. 


r-ti »- :^ 

Die  rhythmische  Figur  :fez:?zit^E^Ed  ist    charakteristisch 


fiir  die  Trompete.  Sie  kommt  auf  dem  Horn,  der  Posaune 
nicht  so  scharf  heraus^).  Die  Unmoglichkeit,  zwei  Klange  auf 
Einmal  hervorzubringen,  scheidet  die  sammtlichen  (modernen) 
Blasinstrumente  von  anderen.  Die  Violine  kann  nur  Doppel- 
griffe  genau  gleichzeitig  hervorbringen  u.  s.  f.  Wissen  wir 
daher  aus  anderen  Quellen  etwas  iiber  die  Zahl  der  tatigen 
Instrumente,  so  dienen  auch  solche  Kriterien  zur  naheren  Be- 
stimmung.  Modulatorisch  endlich  (wir  verstehen  unter  Modu- 
lation hier  allgemein  eine  Aufeinanderfolge  von  Zusammen- 
klangen)  sind  z.  B.  die  „Hornquinten",  eine  aus  der  Zeit  der 
Naturhorner  stammende  Wendung,  gelegentlich  mit  fiir  dieses 
Instrument  charakteristisch. 

Alle  diese  Kriterien  sind  in  ihrer  Wirksamkeit  natiirlich 
abhangig  von  der  Erfahrung  des  Einzelnen.  Einige  darunter 
sind  jedoch  durch  das  gewohnliche  Musikhoren  Allen  so  sehr 


')  Jadassohn,  Lehrbuch  der  Instrumentation  1889, 


520  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

in  Fleisch  und  Blut  iibergegangen ,  dass  danach  auch  Unmusi- 
kalische  die  grossen  Hauptclassen  der  Instrumente  zu  erkennen 
vermogen. 

Es  unterscheidea  sicli  aber  niclit  bios  die  Classen  der  In- 
strumente durch  solche  Kennzeiclien,  sondern  auch  die  indi- 
viduellen  Instrumente  einer  Classe;  die  beigemischten  Gerausche 
sind  verschieden  u.  s.  f.  Und  noch  mehr  uuterscheiden  sich 
die  Tonregionen  eines  und  desselben  Instrumentes.  Hauptsach- 
lich  allerdings  liegen  diese  Unterschiede  in  dem  ersten  und 
sogleich  naher  zu  behandelnden  Merkmal,  der  Klangfarbe  im 
engeren  Sinne. 

3.  Klangfarbe  im  engeren  Sinne. 

Von  den  vorher  aufgezahlten  Momenten  bietet  nur  dieses 
theoretisch  zu  naherer  Untersucliung  Anlass:  die  „musikalische" 
Klangfarbe,  welche  Helmholtz  als  die  Art  der  Zusammen- 
setzung  des  Klanges  aus  Teiltonen  definirt. 

Dass  die  Unterschiede  im  Klange  der  Instrumente.  wenn 
man  von  den  unter  2.  b)  f.  erwahnten,  mehr  ausserlichen ,  wie 
auch  immer  wichtigen,  Merkmalen  absieht,  von  der  Form  der 
Wellen  bedingt  seien,  hat  man  bereits  vor  Helmholtz  aus  dem 
Umstande  crschlosscn,  dass  die  Tonhohe  von  der  Lange  und 
die  Tonstarke  von  der  Hohe  der  "Wellen  abhangt,  wonach  fiir 
die  Klangfarbe  eben  nur  die  Form  iibrig  blieb.  Aber  erst  Helm- 
holtz hat  ganz  bestimmt  die  Art  und  Weise  angegeben,  in 
welcher  die  Form  Einfluss  gewinnt,  indem  er  die  OnM'sche  An- 
nahme  zu  Grunde  legte,  dass  nur  Sinuswellen  Tone  erzeugen; 
wonach  die  iibrigen  Wellenformen  nur  dadurch  den  Klang  mo- 
dificiren  konnen,  dass  das  Ohr  sie  in  Sinuswellen,  den  Klang 
also  in  Teiltone  zerlegt.  Nicht  direct  also,  sondern  durch  Ver- 
mittelung  der  empfundenen  Obertone  gewinnt  die  Wellenform 
Einfluss^).    Dies  bestatigt  sich  auf  vielfache  Weise.    Wenn  man 


*)  Von  Helmholtz  ermuntert  veroffentlichte  Brandt  in  Pogg.  Ann. 
Bd.  112  (1861)  S.  324  einen  1855  entstandenen  Aufsatz,  worin  dieselbe 
Grundidee  vorgetragen  war.  Dem  Glanz  der  HELMHOLTz'schen  Leistung 
tnt  dies  keinen  Eintrag,  wie  ja  auch  der  Verfasser  anerkennt.  Es  zeigt, 
wie    dieselbe    durch   den  Streit  Ohm's  und  Seebeck's  unmittelbar  vor- 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  521 

kiinstlich  gewisse  Teiltone  vor  anderen  verstarkt,  verandert  sich 
die  Klangfarbe;  z.  B.  wenn  man  bei  einem  Zungenklang  einen 
Resonator  an's  Ohr  halt,  der  den  Grundton  verstarkt,  wird  der 
Klang  weicher,  und  umgekehrt  wird  ein  weiclier  Klang  durch  Ver- 
starkung  von  Obertonen  scharfer  (vgl.  o.  239  Anm.,  352).  Die 
Ergebnisse  seiner  Einzoluntersucliungen  fasst  Helmholtz  so  zu- 
sanimen:  (1)  Einfaclie  Tone  klingen  sehr  weicli  und  angenehm, 
ohne  alle  Rauhigkeit,  aber  unkraftig  und  in  der  Tiefe  dumpf. 
(2)  Klange,  welche  von  einer  Reihe  ihrer  niederen  Obertone 
bis  etwa  zum  seclistcn  hinauf  in  massiger  Starke  begleitet  sind, 
sin<J  klangvoller,  musikalischer,  reicher,  praclitiger.  (3)  Wenn 
nur  die  ungeradzahligen  Teiltone  da  sind,  bekommt  der  Klang 
einen  hohlen  oder  bei  einer  grosseren  Zahl  einen  naselnden 
Charakter.  (4)  Wenn  der  Grundton  an  Starke  hinreicliend 
iiberwiegt,  ist  der  Klang  voll,  ausserdem  leer').  (5)  Wenn  die 
hoheren  Teiltone  jenseits  des  sechsten  oder  siebenten  sehr  deut- 
lich  sind,  wird  der  Klang  scharf  und  rauh.  Der  Grund  liegt 
in  den  Dissonanzen  (Scliwebungen)  der  hoheren  Obertone  mit- 
einander. 

Spatere  Einzelforschungcn  bestatigten  nur  immer  mehr  den 
Zusammenhang  der  Obertone  mit  der  Klangfai'bc.  Auch  die 
einzelnen   Regionen    und  Klange    Eines  Instruments,    auch   die 

bereitet  war.  Aber  erst  mit  der  Durchfiihrung  in's  Einzelnste  konnte 
sie  Leben  und  Uberzeugungskraft  gewinnen.  In  den  OnM-SEEBECK'schen 
Abhandlungen  selbst  ist  besonders  eine  Stelle  von  historischem  Interesse, 
wo  Seebeck  sagt:  Da  aus  der  Sinusform  die  Klangfarbe  nicht  erklarlich 
sei,  so  miisste  man  „alle  dicse  Verschiedenheiten  entweder  der  Bei- 
mischung  von  Gerauschen  oder  dem  unvermerkten  Mitklingen  von  Ober- 
tonen ....  zuschreiben,  was  gewiss  nicht  fiir  alle  jene  Unterschiede, 
namentlich  nicht  fiir  die  der  Vocale,  ausreichend  ist".  (Pogg.  Ann. 
Bd.  139,  S.  364.)  Eben  dies,  dass  es  dennoch  ausreiche,  hat  Helmholtz 
zu  erweisen  gesucht. 

*)  Diese  Kegel  erwahnt  Helmholtz  mit  unter  3,  versteht  sie  aber 
als  eine  selbstandige ,  nicht  bios  auf  den  Fall  ungeradzahliger  Teiltone 
beschrankte,  wie  namentlich  die  zur  Erlauteruug  beigefiigten  Beispiele 
zeigen.  Auch  spricht  er  von  ungeradzahligen  Obertonen,  wofiir  ich  hier 
Teiltone  gesetzt  habe,  well  bei  der  Numerirung  der  Grundton  mitge- 
zahlt  wird  (o.  S.  2—3). 


522  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

Klauge  einzelner  Instrumente  gleicher  Gattung  zeigten  sicli  ver- 
schieden  in  der  Zusammensetzung  und  ordneten  sich  unter  die- 
selben  Regeln^). 

Wenn  das  Material  die  Klangfarbe  beeinflusst,  wortiber  die 
Acton  noch  nicht  geschlossen  scheinen^),  so  wird  wol  auch 
dieser  Einfluss  auf  die  Verschiedenheit  der  Obertone  zuriick- 
gefiihrt  werdeu. 

Sehr  eng  liaugt  mit  Helmholtz'  Auffassung  der  Klang- 
farbe die  Frage  zusammen,  ob  dieselbe  durcli  die  Pbasenunter- 
schiede  der  Teilwellen  mit  bedingt  ist.  Man  kann  sich  leicht 
iiberzeugen,  dass  die  objective  Wellenform  durch  Verschiebung 
der  Phasen  bedeutende  Veranderungen  erleidet.  Wenn  aber  die 
zusammengesetzte  Welle  im  Ohr  zerlegt  wird  und  die  Klang- 
farbe nicbts  Andercs  ist  als  die  dadurch  entstehonde  Zusammen- 
setzung des  Empfindungsganzen,  so  muss  immer  das  namliche 
Empfinduugsganze  und  die  namliche  Klangfarbe  herauskommen, 
welche  Phasenverschiebungen  auch  objectiv  stattfinden.  Die 
Klangfarbe,  sagt  dahor  Helmholtz,  kann  nur  abhangen  vom 
Vorhandensein  (der  Hohe  und  Anzahl)  und  von  der  Starke  der 
Obertone.  Nach  Helmholtz'  beriihmten  Versuchen  iiber  kiinst- 
liche  Klangzusammensetzung  sind  nun  in  der  Tat  Phasenunter- 
schiede  in  der  Hauptsache  einflusslos.    Doch  hat  er,  was  haufig 

^)  Vgl.  0.  240  und  die  517  erwahnte  Schrift  von  Ritz.  Eci  Violinen 
entstehen  hienach  immer  weniger  Obertone,  je  weiter  man  mit  dem 
Bogen  gegen  das  Griffbrett  riickt  und  ferner  je  hoher  der  Ton  auf  der 
Saite  gegriifen  wird,  je  kiirzer  also  das  schwingende  Stiick  ist.  In  ent- 
sprechender  Weise  andert  sich  auch  die  Klangfarbe,  wie  dies  alien  Spie- 
lern  bekannt  ist.  Nach  Lewis  Wright,  Tone  of  Violins,  schwingen  die 
Saiten  guter  alter  Violinen  in  cinfacheren  Curven  als  die  von  Violinen 
geringerer  Qualitat,  d.  h.  der  Grundton  hat  relativ  grossere  Starke  (Na- 
ture XXII.  No.  567,  nach  Fortschr.  d.  Phys.  Bd.  36  S.  1118). 

^)  ScHAFHATTTL  behauptete  nach  seinen  Versuchen  solchen  Ein- 
fluss, Gevaert  leugnet  ihn  auf  Grund  der  Erfahrungen  von  Sax  und  will 
darum  gar  nicht  mehr  von  Blech-  und  Holzinstrumenten  als  naturlichen 
Classen  gesprochen  wissen  (Neuc  Instr.-Lehre  S.  5).  Boutet  untersuchte 
neuerdings  die  Frage  in  Bezug  auf  die  Mundstiickc  und  fand  den  Klang 
je  nach  dem  Material  der  Flatten  verschieden,  am  sanftesten  bei  solchen 
aus  Holz  Oder  Kork  (Wied.  Ann.  Beibl.  1888,  319  Ref.). 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  523 

iibersehen  wird,  von  Anfang  an  Einschrankungen  beigefiigt.  Es 
konnten  Ausnahmen  vorkommen,  erstlich  indem  Combinations - 
tone  sich  bildeu,  welche  die  primaren  Tone  teils  schvvachen 
teils  verstarken,  zweitens  indem  hohere  Obertone  untereinander 
schweben,  wobei  es  wahrschoinlich  nicht  gleichgultig  sei,  ob 
ihre  Phasen  zusammenfallen  oder  nicht,  iiberdies  audi  Ge- 
rausche  erzeugt  werden  konnten^).  R.  Konig  behauptet  nun 
nach  Versuclien  mit  der  von  ihm  gebauten  „Wellensirene"  mit 
Bestimmtheit,  dass  Phasenverschiebungen  merkliche  Verande- 
rungen  der  Klangfarbe  bedingen,  wenn  auch  nur  von  der  Art, 
wie  wenn  ein  und  derselbe  Vocal  von  verschiedenen  Personen 
gesungen  oder  ein  Ton  von  zwei  Instrumenten  gleicher  Gattung 
angegeben  wird'^).  Es  bleibt  zu  priifen,  ob  diese  Verschieden- 
heiten  innerhalb  der  von  Helmholtz  angedeuteten  Erklarungs- 
griinde  fallen,  die  mir  allerdings  nicht  vollkommen  klar  ge- 
worden  sind.  Jedenfalls  werden  durch  Unterschiede,  die  nur 
von  Schwebuugen  herriihrcn,  in  keiner  Weise  die  von  Helm- 
holtz durchgeflihrten  allgemeincn  Voraussetzungen  betroifen,  da 
ja  vielmehr  die  Schwebungen  selbst  Zerlegung  der  zusammen- 
gesetzten  Welle  im  Ohr  voraussetzen.  Auch  miisste  man,  wenn 
wir  zur  alten  Anschauung  zuriickkehrend  irgend  eine  directere 
Abhangigkeit  der  Klangfarbe  von  der  Form  der  objectiven 
Welle  annehmen  wollten,  doch  wol  grossere  Unterschiede  als 
Folge  von  Phasenverschiebungen  erwarten. 

Endlich  hot  sich  zur  Erprobung  der  Klangfarbenlehre  die 
Vocaltheorie.  Hier  war  der  massgebende  Einfluss  mitklingender 
Tone  bereits  friiher  erkannt^),  ist  aber  durch  Helmholtz  ge- 
nauer    bestimmt   und    wiederum    durch    annahernde   kiinstliche 

1)  PoGG.  Ann.  Bd.  108  (1859)  S.  289.     Tonempf.  -*  207. 

=2)  WiED.  Ann.  XIV  (1881)  369,  XXXIX  (1890)  403.  Ber.  d.  Heidel- 
berger  Versammlung  d.  deutschen  Naturforscher  u.  Arzte  1889  S.  199. 

^)  Vielleicht  der  Erste,  welcher  davon  eine  Ahnung  hatte,  war  der 
bekannte  Automatenverfertiger  Kempelen,  nach  einer  „sonderbaren"  Be- 
merkiing,  welche  Willis  (Pogg.  Ann.  Bd.  24  S.  415)  von  ihm  citirt:  „Weun 
ich  die  verschiedenen  Vocale  auf  demselben  Ton  spreche,  haben  sie  doch 
Etwas  an  sich,  was  eine  Veranderung  fiir  mein  Ohr  ergibt  und  mich 
glauben  macht,  dass  eine  gewisse  Melodie  vorliegt,  welche  doch.  wie  ich 


524  §  28.  Gerausch  unci  Klangfarbe. 

Zusammensetzung  controlirt  worden;  wenn  auch  iiber  die  Frage, 
ob  ein  bestimmter  Vocal  hauptsachlich  durch  die  absolute  oder 
durch  die  relative  Hobe  der  Beitone  bestimmt  wird,  noch  nicht 
tlbereinstimmung  erzielt  ist^). 

4.  Principielle  Schwierigkeiten.  Farben  einfacber 
Tone. 

Der  tatsacblicbe  Zusammenbang  der  Klangfarbe  mit  den 
Obertouen,  und  zwar  als  empf'uudenen,  ist  ausser  allem  Zweifel. 
Aber  man  kann  nicht  sagen,  dass  derselbe,  wie  er  in  obigen 
fiinf  empirischen  Regeln  ausgesprochen  ist,  psychologisch  voll- 
kommen  durchsichtig  und  verstandlich  ware.  Er  bedarf  selbst 
wieder  der  Erklarung.  Man  fragt  sich:  Warum  und  wodurch 
bewirken  die  ungeradzabligen  Teiltone  einen  hohlen,  naselnden 

sehr  wol  weiss,  nur  durch  eine  Veranderung  von  Tonea  in  Bezug  auf 
Tiefe  und  Hohe  erzeugt  werden  kann." 

')  Helmholtz  vertritt  die  erste,  Geassmann  Wied.  Ann.  I  606  die 
zweite  Anschauung.  Vgl.  F.  Auerbach  das.  Ill  152,  IV  508.  Lahe,  Die 
GRAssMANN'sche  Vocaltheorie ,  Jenenser  Diss.  1885,  abgedr.  Wied.  Ann. 
XXVII  94.  Graham  Bell  (Americ.  Journ.  of  Otol.  I  1879)  hat  den  Phon- 
autographen,  Lahr  den  Phonographen  zur  Priifuug  beniitzt.  tJber  eine 
neuere  Untersuchung  auf  objectivem  Wege  von  Doumer  s.  Wied.  Ann- 
Beibl.  1888  S.  318.  Eichhoen  priifte  Lahr's  Ergebnisse  durch  kiinst- 
liche  Zusammensetzung  mit  einer  .,Vocalsirene"  uach  Art  von  Konig's 
Wellensirene  Wied.  Ann.  XXXIX  (1890)  148. 

Dass  iibrigens  Helmholtz  selbst  die  relative  Hohe  der  Teiltone 
nicht  fiir  ganz  einfiusslos  halt,  versteht  sich,  wie  ich  meine,  von  selbst, 
und  geht  z.  B.  aus  der  o.  352  erwahnten  Bemerkung  hervor  (wozu  auch 
die  meinige  I  260  unten,  sowie  Sievers'  Grundziige  der  Lautphysiologie 
S.,39  unten). 

Geassmann  ordnete  nach  seiner  Analyse  alle  Vocale  in  ein  Drei- 
eck,  analog  dem  bekannten  Farbendreieck ,  etwa  mit  den  Grundvocalen 
All  I.  SiEVEES  spricht  von  dieser  Idee,  welche  auch  Wundt  sich  an- 
geeignet  hat,  bereits  1876  als  einer  alteren,  findet  aber  die  Darstellung 
auf  einer  Geraden  zwischen  U  und  /  (Winteler  1876)  angemessener. 
Nachher  ordnet  er  mit  Riicksicht  auf  feinere  Unterschiede  die  Vocale 
in  conceutrische  Kreise  um  den  Mittelpunct  A,  wobei  jedoch  der  Durch- 
messer  A  U I  besonders  ausgezeichnet  bleibt.  Nicht  uninteressant  ist 
es  fiir  uns,  wie  Sievers  die  Idee  der  Distanzschatzungen  bei  Vocalen 
durchfiihrt,  indem  er  auf  dieser  Geraden  zuuachst  bestimmte  Vocale 
(Kategorien)  fixirt,  dann  die  tibrigen  zwischen  ihnen  eintragt. 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  525 

Klang?  Warum  wird  ein  Klaiig  durch  Obertone  kraftiger, 
prachtiger?  Warum  auch  nur  reicher?  Denn  wer  ihn  nicht  ana- 
lysirt,  fasst  ilin  als  eben  so  einfach  wie  den  wirklich  einfacheu 
Ton.     Besonders  aber:  Warum  wird  er  heller? 

Helmholtz  sagt  ausdriicklich:  „Einfaclie  Tone  konnen  nur 
Unterschiede  der  Starke,  nicht  der  musikalischen  Klangfarbe 
darbieten"'  (120).  Hienach  sollte  man  erwarten,  dass  durch  den 
Hinzutritt  von  eiufachen  Tonen,  wenn  iiberhaupt  Etwas,  auch 
nur  die  Starke,  nicht  aber  die  musikalische  Klangfarbe  geandert 
Oder  gar  erst  geschaffen  wUrde.  Kame  dem  einzelnen  Ton  keine 
Starke  zu,  so  wiirde  doch  erst  recht  auch  dem  Ganzen  keine 
zukommen.  Ebenso  wenn  dem  einzelnen  Ton  keine  Farbe  zu- 
kommt,  wie  soil  sie  dem  Ganzen  eignen?  Aus  Nichts  wird  Nichts. 
Wenn  wir  einen  dunklen  Raum  erhellen  wollen,  sagt  G.  Engel 
mit  Recht,  so  miissen  wir  etwas  Helles  hineinbriugen;  wollen 
wir  ein  bitteres  Getrank  versiissen,  so  miissen  wir  einen  Stoff 
hinzumischen,  der  an  sich  selber  siiss  ist.  1st  auch  der  Begriff 
der  Mischung  hier  wol  nicht  ganz  derselbe  wie  der  der  Ver- 
einigung  von  Tonen,  so  gilt  doch  der  analoge  Schluss. 

Die  unabweisbare  Consequenz  also  und  die  Vorbedingung 
zur  Losung  obiger  Schwierigkeiten  ist  die,  dass  wir  auch  den 
einfachen  Tonen  schon  eine  Farbe  zuerkennen,  die  wir  Ton- 
far  be  nennen  wollen,  wahrend  wir  unter  Klangfarbe  im  Fol- 
genden  die  aus  den  Tonfarben  resultirende  Eigentiimlichkeit 
der  obertonhaltigen  Klange  (Einzelklange)  verstehen  ^). 


*)  Ich  habe  den  Ausdruck  Tonfarbe  in  diesem  Siiine  und  zum  Un- 
terschiede von  der  Klangfarbe  zuerst  in  der  Revue  philos.  XX,  1885, 
S.  618  und  in  der  Z.  f.  Philos.  u.  phil.  Krit.  Bd.  89  S.  46  gebraucht.  Der 
Begriff  der  Tonfarbe  als  eines  mit  der  Hohe  veranderlichen  Elementes 
und  als  der  Grundlage  der  Klangfarbe  stand  mir  langst  fest  und  ist 
I  202 — 3  schon  in  Anwendung  gebracht;  aber  ich  fasste  damals  Ton- 
und  Klangfarbe  als  identisch  mit  Ton-  und  Klanggefiihl,  woriiber  sogleich 
naher  zu  sprechen  ist.  Unabhangig  von  mir  hat  G.  Engel  die  namliche 
Consequenz  gezogen  und  den  einfachen  Tonen  eine  mit  ihrer  Hohe  ver- 
anderliche  Farbe  zuerkannt  in  seiner  sehr  verdienstlichen  Studie  „Uber 
den  Begriflf  der  Klangfarbe"  Philos.  Vortrage  d.  phil.  Gesellsch.  zu  Ber- 
lin, N.  F.  12.  Heft  1887  (der  Vortrag  ist  1885  gehalten). 


526  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

Das  Namliche  ergibt  sich  auch  daraus,  dass  zwischen  ein- 
fachen  und  zusammengesetzten  Klangen  doch  nur  ein  gradueller 
Unterscliied  ist.  Lassen  wir  die  Obertone  schwaclier  und 
schwacher  werden,  so  geht  eben  der  zusammengesetzte  in  den 
einfaclien  iiber.  Es  ist  nicht,  wie  sich  mancbe  den  Erschei- 
nungen  Fernerstehende  vorstellen,  der  einfache  Ton  etwas  ganz 
Unerhortes,  specifisch  Anderes,  irgend  ein  unvorstellbares  Ding 
an  sicb. 

Auch  die  directe  Beobachtung  bestatigt  dies,  und  sie  lehrt 
des  Naheren,  dass  die  Tonfarben  eine  mit  der  Tonhohe 
fortschreitende  Reihe  bilden  von  der  dunkelsten  bis  zur 
hellsten.  Und  Helmholtz  selbst  aussert  sich  entsprechend, 
wenn  er  z.  B.  einfache  Tone  in  der  Tiefe  dumpf  nennt  (Kegel  1). 
Dagegen  ist  es  nicht  genau,  wenn  einfache  Tone  schlechthin 
als  weich,  angenehm,  aber  unkraftig  bezeichnet  werden.  Sie 
werden  in  den  hoheren  Regionen  immer  scharfer,  spitziger  und 
bei  objectiver  Erzeugung  meistens  auch  intensiver  und  durch- 
dringeuder.  Und  hiemit  niihern  wir  uns  der  Einsicht,  warum 
ein  Klang  um  so  heller,  scharfer  werden  muss,  je  mehr  und 
je  hohere  Obertone  dem  Gruudton  zugefUgt  werden. 

Freilich  ist  die  Sache  damit  noch  nicht  erledigt.  Worin 
besteht  Das,  was  wir  hier  Tonfarbe  nennen?  Ist  es  ein  nicht 
weitor  dcfinirbares  Moment,  welches  neben  der  Hohe  (Qualitat) 
und  Starke  der  Tonempfindung  als  drittes  aufzufUhren  ist?  Von 
welch  er  EigentUmlichkeit  des  Reizes  ware  dieses  abhangig,  da 
doch  Sinusschwingungen  sich  nur  durch  Liinge  und  Amplitude 
unterscheiden?  Was  berechtigt  uns  psychologisch,  dieses  Mo- 
ment von  der  Qualitat  der  Tone  noch  zu  unterscheiden,  wenn 
es  doch  derselben  parallel  veranderlich  sein  soil:  lasst  sich 
jeder  Einfluss,  den  es  iiben  soil,  nicht  ebensogut  auf  die  Qualitat 
zuriickflihron,  und  wie  kann  man  zwei  strong  parallel  ver- 
anderliche  Momente  in  der  Wahrnehmung  sondern  oder  fiir  Un- 
glaubige  als  zwei  nachweisen?  Was  heisst  es  endlich,  dass  die 
Tonfarben  sich  zur  Klangfarbe  mischen?  Haben  wir  hier  doch 
einen  Fall  jener  Chemie  der  Empfindungen,  die  sonst  nirgends 
vorkommt?     Und    miissten    sich    dann    nicht    eben   die    ganzen 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  527 

Empfindungen  eiuschliesslich  ihrer  Starke  und  Qualitat  mischeii, 
was  doch  uach  alien  unsren  Feststellungen  entschieden  nicht 
der  Fall  ist? 

5.  Versucli,  Tonfarbe  mit  Tongefiihl  zu  identifi- 
ciren. 

Bis  vor  nicht  langer  Zeit  glaubte  ich  liierauf  eine  ge- 
niigende  Antwort  zu  besitzen.  Die  Tonfarbe  schien  mir  nichts 
Anderes  als  das  Tongefiihl  und  die  Klangfarbe  also  das  Klang- 
gefiihl  zu  sein.  An  jede  Empfindung  kniipft  sich  ja  ein,  sei 
es  auch  schwaches,  Element  der  Lust  oder  Unlust.  Speciell  an 
jede  Tonempfindung  ist  im  normalen  Zustand  ein  gewisses  Lust- 
gefiihl  gekniipft,  wenn  dasselbe  auch  in  den  hochsten  Regionen 
durch  stechende  Schmerzen  in  Folge  von  Nebenwirkungen  auf 
den  Tastsinn  paralysirt  sein  kann  und  ausserdem  individuell 
verschieden  ist.  Dieses  Lustgefiihl  wachst  mit  der  Tonstarke 
(abgesehen  von  Nebenwirkungen)  und  variirt  qualitativ  mit  der 
Tonhohe.  Es  gleicht  bei  tiefen  Tonen  dem  Gefiihl,  welches  mit 
dunklen  Farben  verkniipft  ist,  bei  hohen  dem  bei  lichten  Farben. 
Wir  haben  also  hier  eine  regelmassige  Begleiterscheinung  und 
doch  nicht  ein  eigentliches  Moment  des  Empfindungsiuhaltes 
selbst,  wie  Qualitat  und  Starke.  Und  ebensowenig  wie  wir  fiir 
die  Lust  an  einer  Farbe  eine  besondere  Eigentiimlichkeit  der 
Atherschwingung  neben  ihrer  Lange  und  Amplitude  als  phy- 
sisches  Antecedens  in  Anspruch  nehmen,  ebensowenig  haben 
wir  notig,  hier  nach  einer  entsprechenden  Eigentiimlichkeit  der 
Touwellen  zu  suchen.  Ein  physiologischer  Grund  im  Central- 
nervensystem  muss  wol  vorhanden  sein,  ist  aber  in  beiden  Fallen 
gleich  unbekannt. 

Aber  auch  die  psychologischen  Schwierigkeiten  schienen 
mir  erledigt,  sobald  Tonfarbe  mit  Tongefiihl  identificirt  wird. 
Denn  bei  Gefiihlen  schien  es  unleugbar,  dass  sie  sich  mischen. 
Selbst  fiir  entgegengesetzte  Gefiihle,  Lust  und  Unlust,  und  gerade 
fiir  solche  zuerst,  wurde  dies  angenommen  (Moses  Mendelssohn's 
„vermischte  Empfindungen"),  und  Hume  sprach  auch  geradezu 
von  einer  „Chemie"  der  Gefiihle.  Ferner  schienen  mir  die 
Klangfarbenpraedicate,  wie  wir  sie  zu  Anfang  aufzahlten,  gerade- 


528  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

wegs  auf  diese  Auffassung  hinzuweisen;  denn  z.  B.  als  „an- 
genehm,  mild"  bezeicbnen  wir  Sinneseindriicke  doch  gerade 
nach  ihrer  Gefuhlsseite.  Und  da  die  durch  Associationen  be- 
dingten  Klangpraedicate,  wie  ,,inelancholisch"  u.  s.  f.  von  vom- 
hereiu  unzweifelhaft  Gefiihlspraedicate  sind,  so  wurde  die  ge- 
sammte  Reihe  der  Praedicate  auf  diese  Weise  unter  einen  ge- 
meinsamen  Begriff  gebracht.  Aucb  fiir  den  Unterschied  in  der 
Wirkung  der  gerad-  und  ungeradzabligen  Teiltone  und  noch 
fiir  mancbe  andere  Frage  (vgl.  o.  351)  glaubte  ich  auf  diesem 
Wege  eine  Erklarung  gewinnen  zu  konnen. 

6.  Griinde  gegen  diese  Ausicbt. 

Ein  storender  Umstand  ist  es  nun  zunachst,  dass  Unmusi- 
kaliscbe,  denen  Tone  iiberbaupt  kaum  eine  merklicbe  Lust  er- 
wecken,  doch  Unterscbiede  der  Klangfarbe  verbaltnismassig  gut 
auseinderbalten.  Allerdings  bandelt  es  sicb  dabei  grossenteils 
um  die  Klangfarbe  im  weiteren  Sinne,  es  wirken  die  zahlreicbeu 
unter  2,  b)  f.  erwabnten  Keunzeichen  mit,  und  bliebe  nocb  zu 
priifen,  ob  bei  Beseitigung  dieser  Hilfen,  z.  B.  wenn  eine  Flote, 
dann  eine  Violine,  dann  eine  Trompete  dieselbe  Melodie  spielen, 
jede  in  einer  solcben  Entfernung,  dass  die  Gerausche  unborbar 
und  die  Starke  die  gleiche  wiirde,  ob  dann  noch  der  Unterschied 
mit  einiger  Sicherheit  von  Unmusikalischen  bemerkt  wurde. 
Doch  offnet  dieses  Bedenken  durchschlagenderen  den  Weg. 

Auf  das  Klanggefiihl  kann  nicht  wol  die  Analyse  Einfluss 
haben.  Ein  Accord  aus  drei  bestimmten  Tonen  c^e'^y^  erweckt 
das  naraliche  Klanggefiihl,  mogen  wir  die  Tone  darin  unter- 
scheiden  oder  nicht,  mogen  wir  sie  deutlicher  oder  weniger 
deutlich  unterscheiden  ^).    Ebenso  ist  es  bei  einem  Einzelklang 

^)  Ich  trenne  jedoch  Klanggefiihl  und  Harmoniegeftihl.  Das  letztere 
setzt  allerdings  meiner  Meinuug  nach  Analyse  des  bezixglichen  Zusammen- 
klanges  voraus.  Harmonie  kann  nur  zwischen  Mehrerem  gefunden  wer- 
den.  Ein  Klanggefiihl  ist  also  in  jedem  Fall  vorhanden.  als  unmittel- 
bare  Folge  der  Tonempfindungen ;  ausserdem  aber  kann  im  Fall  der 
Analyse  noch  das  eigentliche  Harmoniegefiihl  vorhanden  sein.  Ob  es 
wirklich  vorhanden  ist,  hangt  noch  von  manchen  anderen  Bedingungen 
ab,  wie  man  ja  schon  daraus  schliessen  kann,  dass  Accorde  gar  nicht 
allezeit  angenehm  gefunden  wurden. 


§  28.  Gerausch  unci  Klangfarbe,  529 

mit  Obertonen.  Auf  die  Klangfarbe  dagegen  hat  die  Analyse 
Einfluss.  Nicht  dass  sie  dadurch  verandert  wiirde.  Aber  es 
gibt  iibeihaupt  eine  Klangfarbe  nur  unter  der  Bedingung,  dass 
keine  Analyse  oder  wenigstens  keine  vollkommen  deutliche  Ana- 
lyse stattfindet.  Sie  zerfliesst  sozusagen  in  dem  Masse  als  die 
Analyse  deutlicher  und  vollstandiger  wird.  Es  verhalt  sich  da- 
mit  ahnlich  wie  mit  der  Hohe  und.  Starke  eines  Klanges  oder 
Zusamnaenklanges.  Wir  schreiben  wol  aucb  einem  analysirten 
Zusammenklang  unter  Umstanden  eine  Hohe  und  eine  Starke 
zu,  wie  oben  erlautert  wurde;  aber  erst  im  Falle  der  Nicht- 
analyse  tritt  diese  Auffassung  in  ihre  voile  Kraft,  So  kann 
man  nun  auch  einem  Zusammenklang  und  ebenso  einem  Einzel- 
klang  eine  Klangfarbe  im  vollen  Sinne  nur  zuschreiben,  wenn 
und  soweit  er  nicht  analysirt  wird.  Damit  hangt  es  auch  zu- 
sammen,  dass  eine  tiefere  Gabel  durch  Annaherung  einer  hoheren, 
solange  diese  noch  nicht  unterschieden  wird,  in  ihrer  Klang- 
farbe verandert  wird.  Wird  die  hohere  unterschieden,  so  hat 
jede  ihre  eigene  Klangfarbe.  Umgekehrt  ist  eine  Klangfarben- 
anderung  der  hoheren  bei  Naherung  der  tieferen  kaum  zu 
beobachten:  die  tiefere  ist  eben  schon  bei  ausserst  geringer 
Starke  unterscheidbar  (o.  353,  356). 

Kurz  die  Klangfarbe  ist  nicht  wie  das  Klanggefiihl  eine 
directe  Function  der  Empfindungen,  sondern  der  Auffassung 
der  Empfindungen.  Helmholtz  hat  diesen  Punct  meines  Wissens 
nicht  principiell  hervorgehoben ,  obgleich  er  ihn  in  der  o.  352 
citirten  Beobachtung  beriihrt.  Dagegen  hat  ihn  Mach  aus- 
driicklich  erwahnt^). 

Besteht  nun  die  Klangfarbe  nicht  im  Klanggefiihl,  so  kann 
auch  die  Tonfarbe  nicht  im  TongefUhl  bestehen,  und  wir  miissen 
nach  einer  anderen  Fassung  suchen.  Der  Weg  ist  durch  die 
letzte  Betrachtung  nahegelegt.  Es  wird  sich  mit  der  Klang- 
farbe  ahnlich  verhalteu   wie   mit   der  Klanghohe   und  Klang- 


1)  Einleitung  in  die  Helmh.  Musiktheorie  35:  „Eine  Klangfarbe 
gibt  es  nur  solange  als  man  die  Klangbestandteile  ausser  dem  Grundton 
undeutlich  hdrt." 

Stumpf,  Tonpsychologie.   n.  34 


530  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

Starke,  Der  scheinbaren  Hohe  und  Starke  des  Klangganzeii 
liegt  die  wirkliche  der  Klangteile  zu  Grunde.  Und  so  werden 
wir  auch  die  Basis  der  Klangfarbe  oder  die  Tonfarbe  docb  in 
den  Empfindungsmomenten  sucben  miissen,  welcbe  den 
Tonen  eigen  sind. 

Zu  gleicber  Folgerung  fUbrt  eine  andere  Betracbtung.  Wenn 
wir  die  Anfangs  aufgezablten  Praedicate  durcbmustern  und  die 
durcb  blosse  Association  bedingten  sowie  die  auf  die  Starke 
des  Klanges  und  die  Klangfarbe  im  weiteren  Sinne  beziig- 
licben  abscheiden,  so  liegen  nocb  drei  Gegensatze  vor:  dunkel  — 
hell,  stumpf  (weicb)  —  scharf  (rauh),  voll  (breit)  —  leer  (diinn). 
Mit  denselben  drei  Gegensatzen  werden  Empfindungen  anderer 
Sinne  bezeichnet,  aber  nicbt  nach  ihrer  Gefiihlsseite,  sondern 
nacb  Momenten  der  Empfindungen  selbst.  Bei  Ubertragung 
eines  solcben  Praedicates^  wie  sie  auch  sonst  stattfindet,  erhalt 
dasselbe  allerdings  einen  Gefiihlsbeigeschmack.  So  wenn  wir 
von  stumpfen  Farben  rcden.  Gleichwol  meinen  wir  auch  in 
diesen  Fallen  nicht  die  Gefiihlsseite  als  solche,  sondern  eine 
Eigenschaft  des  Empfindungsinhaltes  als  solchen,  der  zufolge 
an  ihn  ein  ahnliches  Gefiihl  gekniipft  ist,  wie  an  einen  stumpfen 
Tasteindruck.  Und  so  ist  anzunehmen,  dass  auch  bei  t)ber- 
tragung  obiger  Gegensatze  auf  Klange  gewisse  sinnliche  Eigen- 
schaften  der  Klange  oder  Klangteile  bezeichnet  sein  sollen.  Die 
Gefiihlsseite  mag  es  immerhin  auch  hier  sein,  welche  durch 
ihre  Ahnlichkeit  mit  den  Gefiihlswirkungen  anderer  Sinnesein- 
driicke  zur  Ubertragung  der  Ausdriicke  gefiihrt  hat;  ein  dunkler 
Ton  mag  so  genannt  worden  sein,  weil  er  uns  ahnlich  „au- 
mutet"  wie  eine  dunkle  Farbe.  Aber  was  wir  seine  Dunkelheit 
nennen,  ist  nicht  diese  Gefiihlsreaction  selbst,  sondern  deren 
Ursache  im  Empfindungsinhalt. 

Wir  sehen  uns  also  auf  die  Eigenschaften  der  Tonempfin- 
dungen  als  solcher  zuriickgefiihrt,  und  zwar  auf  die  der  ein- 
fachen  Tone,  und  wollen  zunachst  zusehen,  ob  nicht  schon  aus 
den  allgemein  zugestandenen  Eigenschaften  der  Hohe  und  Starke 
die  Unterschiede  der  Tonfarbe  und  die  der  Klangfarbe  abge- 
leitet  werden  konnen. 


§  28.  Gerausch  uiul  Klangfarbe.  531 

7.  Anteil  der  Tonhohe  an  der  Tonfarbe  und  Klang- 
farbe. 

Kanu  man  nicht  ganz  einfacli  Tonfarbe  mit  Tonhohe 
identisch  setzen?  Der  Gegensatz  von  Duukel  und  Hell  bei 
Tonen  kann  in  der  Tat  auch  den  Unterschied  der  Tonquali- 
taten  als  soldier  bedeuten.  Tief  und  Hoch  sind  ja  auch  nur 
metaphorische  Ausdriicke.  Wir  erinnern  mis,  dass  Mach  die 
Elemente,  aus  denen  er  sich  die  Tonqualitaten  ihrer  Hohe  nach 
zusammengesetzt  denkt,  als  Dumpf  und  Hell  bezeichnet  (o.  273). 
Einer  der  o.  380  erwahnten  Knaben  frug  mich,  als  ich  von  ihm 
wissen  wollte,  welchen  von  zwei  Tonen  er  fiir  den  hohereu 
halte:  „Meinen  Sie:  welcher  dumpf  und  hell  ist?"  Das  S^/aJahrige 
Kind  hatte  von  seinen  ganz  unmusikalischen  Eltern  nie  unsre 
technischen  Ausdriicke  Hoch  und  Tief  vernommen  und  war  von 
selbst  auf  die  MAcn'schen  Ausdriicke  verfallen.  Ahnlich  sagte 
ein  4^/2Jahriges  Kind,  mein  Solin  Rudolf,  als  er  zwischen  zwei 
Trompetchen  wahlen  sollte,  die  um  einen  Ton  verschieden  waren: 
„Ich  will  die  dunklere  haben." 

Lassen  wir  nun  zu  einem  gegebenen  Grundton  Obertone 
treten,  ohne  dass  sie  von  demselben  unterschieden  werden,  so 
wird  zwar  nicht  eine  Mischung,  nicht  ein  mittlerer  Ton  die 
Folge  sein,  wol  aber  wird  der  qualitative  Charakter  der  schein- 
bar  einheitlichen  Empfindung  irgendwie  fiir  unser  Urteil  ver- 
iindert  werden.  Und  zwar  werden  wir  diesem  Empfindungs- 
ganzen  etwas  von  den  Eigenschaften  der  Teilempfindungen  zu- 
schreiben,  so  wie  wir  dem  Geschmack  des  Senfs,  des  Pfeffers, 
dem  Geruch  des  Ammoniaks  etwas  Beissendes,  Stechendes  zu- 
schreiben,  obschon  Dies  Eigenschaften  der  damit  verbundenen 
aber  nicht  unterschiedenen  Tastempfinduugen  des  Trigeminus 
sind,  wie  sie  durch  Einwirkuiig  des  Senfs  auch  an  anderen 
Korperstellen  ohne  Geschmacksempfindungen  zu  Stande  kommen. 
So  geschieht  es  denn  audi:  ein  Grundton  mit  Obertonen  scheint 
uns  hoher  als  ein  gleichhoher  ohne  Obertone. 

Aber  diese  scheinbare  Verschiebung  auf  der  Tonlinie  ist 
doch  nicht  ganz  identisch  mit  der  eintretenden  Klangfarben- 
anderung.    Wir  konnen  uns  ja  bei  genauerer  Aufmerksamkeit 

34* 


532  §  28.  Gerausch  nnd  Klangfarbe. 

iiberzeugen,  dass  eine  wirkliche  Erhohung  niclit  stattfindet. 
Wir  konnen  obertonarme  Pfeiftone  als  gleichhoch  mit  bestimm- 
ten  Claviertonen  erkennen.  Dann  fallt  also  das  Zuhoch-  oder 
Zutiefscheinen  hinweg;  trotzdem  konnen  wir  nicht  umhin,  die 
einen  dunkler,  die  anderen  heller  zu  finden.  Es  ist  also  doch 
noch  ein  Unterschied  zwischen  Hoherwerdeu  und  Hellerwerden. 
Beides  deckt  sich  wenigstens  niclit  unbedingt. 

Ferner  konnen  wir  auf  diesem  Wege  nicht  die  iibrigen  Prae- 
dicate  der  Ton-  und  Klangfarbe,  den  Gegensatz  des  Stumpfen 
und  Scharfen,  Vollen  und  Leeren  erklaren. 

8.  Anteil  der  Tonstarke  an  der  Ton-  und  Klang- 
farbe. 

Vielleicht  gelingt  es  besser,  wenn  wir  Intensitatsunter- 
schiede  der  hohen  und  tiefen  Tone  mit  in  Betracht  ziehen. 
Zwar  eignet  Tonen  von  bestimmter  Hohe  nicht  regelmassig  nur 
eine  bestimmte  Starke.  Doch  besteht  eine  Parallelitat  insofern, 
als  einfache  Tone,  je  tiefer  sie  sind,  um  so  schwacher  ange- 
geben  werden  mlissen,  wenn  nicht  Obertone  sich  einstellen 
sollen.  In  den  hochsten  Regionen  sind  einfache  Tone  auf  ob- 
jectivem  Wege  selten  anders  als  sehr  stark  und  durchdringend 
zu  erzielen  (von  ihrem  Vorkommen  in  Gerauschen  und  von  sub- 
jectiven  Empfindungen  konnen  wir  hier  absehen).  Man  kann 
also  sagen,  dass  die  grosste  erreichbare,  sowie  auch  die  grosste 
gewohnliche  Intensitat  einfacher  Tone  mit  ihrer  Hohe  zunimmt. 
Ausserdem  wissen  wir,  dass  bei  gleicher,  also  auch  bei  gleich- 
massig  mittlerer,  Reizstarke  die  Empfindungsstarke  mit  der 
Hohe  der  Tone  zunimmt. 

Hieraus  begreift  sich  nun  in  der  Tat  wieder  Einiges  in 
Hinsicht  der  Ton-  und  Klangfarbe.  Wenn  wir  einfache  Tone 
(die  wir  natiirlich  nicht  als  einfache  zu  erkennen  brauchen) 
weich,  mild  nennen,  so  bedeutet  dieses  Praedicat,  wenn  nicht 
ausschliesslich ,  doch  grossenteils  ihre  relativ  sehr  geringe  In- 
tensitat. Man  wird  sogleich  einwenden,  dass  wir  nicht  alle 
leisen  Klange  als  weich  und  mild,  sondern  z.  B.  einen  Oboen- 
klang  auch  im  Pianissimo  nur  als  diinn  bezeichnen.  Aber  daraus 
folgt  nur,  dass  hiebei  irgend  ein  anderes  Motiv  bestimmend  und 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  533 

iiberwiegend  ist,  worauf  wir  auch  noch  kommen,  nicht  aber, 
dass  das  angegebene  Motiv  bei  den  einfachen  Tonen  nicbt 
massgebend  ware. 

Wenn  wir  gewisse  Tone  aucb  dumpf  nennen,  so  ist  da- 
mit  ihre  Schwache  zusammen  mit  ihrer  Tiefe  ausgedriickt.  Ein 
dumpfer  Ton  ist  immer  ein  scbwacher  tiefer  Ton.  Dieses  Wort 
braucht  nicbt  einmal  als  eine  Ubertragung  von  einem  anderen 
Sinnesgebiet  ber  gedeutet  zu  werden.  Es  mag  auf  verschiedenen 
Gebieten  eine  gleich  urspriingliche  Bedeutung  haben. 

Wenn  wir  sodann  sehr  bobe  einfacbe  Tone  scbrill,  durch- 
dringend  nennen,  so  sind  dies  wieder  nur  Ausdriicke  fiir  ibre 
gewobnlicbe  und  cbarakteristiscbe  Intensitat  bei  objectiver  Er- 
regung.  Sie  konnen  unter  Umstanden  aucb  leise  sein  (wie  die 
meisten  subjectiven  Tone  dieser  Region,  aucb  die  des  Maus- 
pfiffes  oder  der  Galtonpfeife),  dann  nennen  wir  aber  auch  ihre 
Farbe  nicbt  eine  schrille. 

Aus  der  Intensitat  in  Verbindung  mit  der  Tonhohe  lassen 
sich  also  schon  mancbe  Eigenschaften  begreifen,  die  man  als 
solcbe  der  Klangfarbe  (Tonfarbe)  ansiebt. 

Es  tragen  aber  auch  die  Nebenemptindungen  bei  sehr 
hohen  und  starken  Tonen  zu  den  letztgenannten  Bezeichnungen 
bei,  die  stecbenden,  ja  schmerzhafteu  Reizungen  des  Trigeminus 
im  Ohr,  ofters  sogar  durch  Reflex  in  anderen  Korperteilen.  Das 
„Durchdringend"  bezieht  sich  gewiss  mit  auf  diese  Wirkungen. 

Welchen  Einfluss  miissen  nun  diese  Umstande  bei  ober- 
tonbaltigen  Klangen  haben?  Wir  wissen,  dass  eine  Mehrzahl 
von  Empfindungen,  welche  nicht  analysirt  wird,  leicht  als  starker 
aufgefasst  wird  gegeniiber  einem  ihrer  Telle.  In  Folge  Dessen 
nennt  man  den  obertonhaltigen  Klang  kraf tiger,  auch  wenn 
der  Grundton  nicht  starker  als  bei  einfachen  Tonen  erklingt. 
Oft  wird  dabei  aber  der  Grundton  selbst  wirklich  starker  sein, 
als  ein  einfacher  von  gleicher  Hohe  es  jemals  werden  kann, 
well  eben  nur  unter  der  Bedingung  von  Obertonen  kraftigere 
Tongebung  moglich  ist.  Gehoren  ferner  Obertone  von  betracht- 
licher  Starke  den  hochsten  Regionen  an,  so  muss  der  Klang 
dadurch    das   Gellende,   Stechende    erbalten,    welches  jenen 


534  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

eignet.  Gehoren  sie  der  ersten  Halfte  der  viergestriclienen  Oc- 
tave an,  so  sind  sie  ohnedies  durch  die  subjective  Resonanz  be- 
giinstigt,  und  ich  kann  den  bedeutenden  Einfluss  auf  die  Klang- 
farbe, welch  en  Helmholtz  solchen  Tonen  zuerkeunt,  nur  be- 
statigen. 

Aber  noch  eiu  Erklarungsmittel,  das  unter  den  Begriff  der 
Intensitat  fallt,  tritt  bei  obertonhaltigen  Klangen  hinzu:  die 
Schwebungen  der  Obertone  unter  einander.  Helmholtz  hat 
dasselbe  wol  noch  zu  wenig  ausgeniitzt,  schon  darum  well  er 
die  Grenze  fiir  die  Geschwindigkeit  merkbarer  Schwebungen  zu 
niedrig  setzte;  aber  auch  weil  er  nur  die  Schwebungen  der 
hoheren  Obertone  heranzieht.  Nun  machen  aber  in  der  Reihe 
der  harmonischen  Teiltone,  wenn  wir  sie  voUstandig  vorhanden 
denken,  je  zwei  beuachbarte  notwendig  gleichviele  Schwebungen 
und  zwar  soviele  als  der  Grundton  objectiv  Schwingungen  hat. 
Also  auch  niedrigere  Obertone  konnen  sich  durch  Schwebungen 
geltend  machen.  Und  der  Charakter  dieser  Schwebungen  ist 
nicht  immer  Rauhigkeit,  sondern  je  nach  ihrer  Zahl  und  der 
Lage  der  Tone  Brummen,  Rollen,  Knarren  u.  s.  f.  Alle  diese 
Eigenschaften  miissen  dem  Klaug  (in  entsprechender  Abschwach- 
ung,  da  es  sich  ja  nur  um  Obertone  handelt)  mitgeteilt  wer- 
den,  d.  h.  wir  werden  sie  als  Eigenschaften  desselben  auffassen. 

Zunachst  entsteht  bei  30  bis  100  Schwebungen  in  der  Se- 
cunde,  z.  B.  bei  den  66,  welche  die  Obertone  von  C  erzeugen' 
eine  intensive  Rauhigkeit  (bei  etwas  rascheren  Scharfe) 
des  Klanges,  vorausgesetzt  dass  die  Obertone  zahlreich  und 
stark  sind. 

Weiter  wird  durch  Schwebungen  das  Markige  gewisser 
Klange  entstehen,  was  noch  etwas  mehr  ist  als  blosse  Kraftig- 
keit.  So  machen  z.  B.  alle  unmittelbar  benachbarten  Teiltone 
des  c  132,  die  des  c^  264  Schwebungen,  und  selbst  diese  An- 
zahl  konnte  sich  nach  dem  Obigen  (S.  461)  wenigstens  bei  den 
in  der  dreigestricheuen  Octave  liegenden  Obertonen  noch  geltend 
machen,  wenn  sie  nur  stark  genug  ira  Klange  vertreten  sind. 
Noch  zahlreichere  Schwebungen,  z.  B.  die  352,  welche  die  Teil- 
tone des  P  untereinander  machen,  werden  bei  blossen  Obertonen 


§  28.  Gerausch  unci  Klangfarbe.  535 

nicht  mehr  empfunden  werden,  obgleich  sie  bei  Grundtonen 
noch  merklich  sein  konnen. 

R.  KoNiG  betont  neuestens^)  besonders  den  Umstaud,  dass 
die  harmonischen  Obertone  nie  absolut  genau  ihren  theoretischen 
Werten  entsprechen,  und  betrachtet  die  dadurch  (indirect)  ent- 
stehenden  Schwebungen  als  Hauptursache  des  Schmetterns 
von  Trompetenklangeu. 

Auch  die  mit  starken  Schwebungen  verkniipften  Gerausche 
spielen  eine  Rolle.  Sie  gehoren  im  Unterschied  von  den  Rei- 
bungsgerauschen  bei  der  Klangerzeugung  zur  Klangfarbe  im 
engeren  Sinne,  sind  an  die  Zusammensetzung  des  Klanges  ge- 
bunden  und  verschwinden  auch  nicht  so  schnell  mit  der  Ent- 
fernung.  Auch  ihr  Einfluss  diirfte  noch  nicht  geniigend  her- 
vorgehoben  sein.  Ein  gewisses  feines  Zischen  bildet  eine 
wesentHche  Beimischung  mancher  Klangfarben.  Wenn  man  eine 
angeschlagene  a^-Gabel  auf  ein  den  Tisch  nur  lose  bedeckendes 
oder  sich  wulstformig  dariiber  erhebendes  Blatt  Papier  aufsetzt, 
so  wird  der  Ton  naselnd,  leicht  schnarrend,  und  nahert  sich 
dem  einer  Oboe  oder  eines  gevv^ohnlichen  Zungen  -  Stimmpfeif- 
chens.  Man  kann  auch  einen  Auflug  von  Rauhigkeit,  Heiserkeit 
darin  finden.  Ich  schliesse,  dass  ein  Gerausch,  wie  es  hier  durch 
440  Schwingungen  bei  ihrer  tJbertragung  auf  das  Papier 
entsteht  (mag  man  es  zu  den  Gerauschen  im  engsten  Sinne 
rechnen  oder  nicht),  auch  durch  440,  in  sich  unmorkliche, 
Schwebungen  hinreichend  starker  Obertone  im  Ohr  zu  Stande 
komme,  und  dass  ein  feineres,  vielleicht  durch  noch  schnellere 
Schwebungen  bewirktes  Gerausch  derselben  Art  jenes  Zischen  ist. 

9.  Anteil  der  Tongrosse  an  der  Ton-  und  Klang- 
farbe. 

Waren  wir  im  Vorangehenden  alien  Unterschieden  gerecht 
geworden,  die  man  als  solche  der  Klangfarbe  zu  bezeichnen 
pflegt,  so  wiirde  sie  sich  fiir  uns  aufgelost  haben  in  die  Merk- 
male  der  Hohe  und  Starke  der  Teiltone  (nur  die  zuletzt  er- 
wahnten  Gerausche  waren    noch    daneben   zu   nennen).     Diese 

^)  „Klange  mit  ungleichformigen  Wellen"  Wied.  Ann.  XXXIX 
(1890)  403. 


536  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

beiden  Merkmale  zusammen  wurclen  zunachst  die  Tonfarbe 
ausmachen,  die  entsprechenden  Eigentiimlichkeiten  aber  gemass 
dem  oben  erwahnten  psychologiscben  Princip  dem  nichtanaly- 
sirten  Klangganzen  zugeschrieben. 

Allein  ich  muss  gestehen,  dass  mir  die  Analyse  hiemit 
noch  nicht  vollstandig  scheint.  Es  gibt  Klaugfarbenpraedicate, 
welche  eine  entschieden  quantitative  Bedeutung  habeu.  Wir 
reden  von  einem  grossen,  breiten,  dicken,  voUen,  massigen 
gegeniiber  einem.  kleinen,  diinnen,  spitzigen,  feinen,  atheriscben 
Klang.  Handelt  es  sicb  nun  biebei  um  einfache  Tone,  so  kann 
man  diese  Unterschiede  zur  Not  auf  bios  associirte  Raumvor- 
stellungen  (des  Gesicbt-  und  Tastsinnes)  zuriickfiibren ,  da  mit 
tieferen  Tonen  in  Folge  von  Erfabrungen  liber  ihre  objective 
Entstehung  oder  in  Folge  von  Nebenwirkungen  die  Vorstellung 
grbsserer  Ausdehnung  sicb  verkniipft  bat  (I  207). 

Dagegen  konnen  wir  zur  Erklarung  der  Klangfarbe  diese 
bios  associirten  Raumvorstellungen  nicbt  beranzieben.  Denn 
die  Obertone  konnen,  solange  sie  nicbt  vom  Grundton  unter- 
scbieden  werden,  unmoglicb  von  den  ibnen  sonst  associirten 
Raumvorstellungen  begleitet  sein.  Die  einem  Sinneseindruck 
associirten  Vorstellungen  v^^erden  von  demselben  nur  dann  re- 
producirt,  wenn  er  selbst  von  anderen  Sinneseindriicken  unter- 
scbieden  wird,  nicbt  aber  solange  er  als  unbemerktes  Glied 
eines  Empfindungsganzen  bios  da  ist.  Die  vielen  organischen 
Empfindungen,  die  Beriibrungs-,  Gerucbs-,  Geschmacksempfin- 
dungen  u.  s.  f.,  die  wir  ununterbrochen  baben,  obne  sie  von 
einander  zu  unterscheiden ,  sind  im  Einzelnen  von  keinerlei 
Nebenvorstellungen  begleitet.  Nur  das  Ganze  derselben,  die 
augenblicklicbe  Gemeinempfindung  (Gemeingefiibl) ,  reproducirt 
Vorstellungen,  nicht  jedes  seiner  Glieder. 

Somit  konnen  die  an  die  einfacben  Tone  associirten  Raum- 
vorstellungen keine  Wirkung  tun,  wenn  diese  Tone  als  ununter- 
schiedene  Obertone  eines  Klanges  auftreten;  konnen  also  Nichts 
zur  Erklarung  der  Klangfarbe  helfen. 

Nun  sind  freilicb  diese  Raumvorstellungen  mebr  an  Klange 
selbst  als  an  einfache  Tone  associirt,  da  die  letzteren  nur  selten 


§  28.  Gerausch  unci  Klangfarbe.  537 

in  unsrer  Erfahrung  fur  sich  allein  vorkommen.  Aber  daraus 
folgt  erst  recht,  dass  sic  iins  hier  Nichts  helfen  konnen.  Nicht 
einmal,  wenn  die  von  solchen  Raumassociationen  begleiteten 
Klange  als  solche,  nur  entsprechend  geschwacht,  in  einen  un- 
analysirten  Klang  als  Teile  aufgenommen  wiirden,  konnten  sie 
nach  dem  vorher  Gesagten  ihre  Associatiouen  mitbringen.  Noch 
weniger  also  wenn  nur  ihro  Grundtone  als  Teile  in  einem  un- 
analysirten  Klange  vorkommen. 

Wir  miissen  daher  auf  jenes  raumliche  oder  raumverwandte 
Moment  zuriickgreifen,  von  welchem  o.  56  als  einer  immanenten 
Eigenschaft  der  einfachen  Tone  neben  ihrer  Hohe  und  Starke 
gesprochen  wurde,  und  welclies  sich  im  Allgemeinen  parallel 
mit  der  Hohe,  doch  an  den  Grenzen  des  Tonreiches  starker 
und  im  tlbrigen  schwacher  als  die  Tonhohe  verandert,  eben 
deshalb  auch  als  ein  selbstandiges  Moment  aufzeigbar  ist. 
Ubrigens  spricht  der  Kindermund,  den  wir  oben  fiir  „Hell  und 
Dunkel"  citirten,  auch  fiir  diese  Eigenschaft  der  Tone.  Manchc 
Kinder  unterscheiden  die  tiefen  und  hohen  Tone  als  „grosse 
und  kleine".  Zwei  Briider  von  vier  und  fiinf  Jahren  nannten 
die  tiefen  „alt"  und  die  hohen  „jung",  was  sich  jedenfalls  auch 
auf  das  quantitative  Moment  bezieht;  wahrend  ihnen  die  Aus- 
driicke  Hoch  und  Tief,  Hell  und  Dunkel  nicht  zu  passen  schienen. 
Bei  den  ganz  hohen  brachen  sie  in  ein  Gelachter  aus;  diese 
mochten  ihnen  gar  zu  winzig  vorkommen. 

Diese,  mit  den  Unterschieden  der  Tonhohe  gleich  urspriing- 
lichen,  Unterschiede  der  immanenten  Tongrosse  sind  es 
sicherlich,  auf  denen  in  erster  Linie  die  obigen  Raumpraedicate, 
die  wir  so  wesentlich  mit  zur  Klangfarbe  rechnen,  beruhen. 
Zunachst  wieder  bei  den  einfachen  Tonen.  Wir  nennen  solche 
breit,  vol!  —  diinn,  spitz  nicht  bios  weil  sie  es  in  Folge 
von  Nebenvorstellungen  zu  sein  scheinen,  sondem  hauptsachlich 
weil  sie  es  wirklich  sind.  Wiederum  aber  erfolgen,  wenn  sie  als 
Obertone  im  Klange  vorkommen,  entsprechende  Praedicirungen 
auch  gegeniiber  dem  Klangganzen.  Freilich  zeigt  sich  hier  wie- 
der, dass  es  sich  nicht  um  raumliche  Eigenschaften  im  optischen 
oder    haptischen   Siune    handeln  kann.     Denn  in  diesom  Falle 


538  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

miisste  durch  das  Hinzukommen  von  Obertonen.  deren  jeder 
seine,  wenn  audi  geringere,  Ausdehnung  mitbrachte,  uns  der 
Klang  immer  breiter  scheineu.  Tatsachlich  erhalt  er  aber  da- 
durch  etwas  Spitzeres,  Scharferes,  er  scheint  sozusagen  be- 
grenzter  und  bestimmter  gegeniiber  einem  einfachen  Ton  von 
gleicher  Hohe  ^).  Wir  praediciren  also  hier  in  derselben  Weise 
vom  Ganzen  die  quantitativen  Eigentiimlichkeiten  darin  ent- 
haltener  nichtanalysirter  Teile,  wie  wenn  es  sich  um  qualitative 
Merkmale  handelte,  in  derselben  Weise,  wie  wir  einem  Ge- 
schmack  das  Stechende  der  beigemischten  Tasteindrlicke  zu- 
schreiben. 

Unter  Umstanden,  wenn  vereiuzelte  sehr  hohe  Tone  be- 
sonders  stark  im  Klang  enthalten  sind,  ohne  doch  deutlich  fUr 
sich  wahrgenommen  zu  werden,  diirfte  der  Eindruck  des  „Na- 
selnden"  sich  auch  auf  solche  quasi- quantitative  Umstande  be- 
ziehen,  Es  macht  sich  etwas  Diinnes,  Feines  mehr  als  in  an- 
deren  Klangen  gleicher  Hohe  geltend.  Vielleicht  ist  die  Unter- 
scheidungsschwelle  fiir  das  quantitative  Moment  hier  wirklich 
schon  iiberschritten,  wahrend  die  Qualitaten  als  solche  nicht 
geschieden  werden? 

Auch  die  Praedicate  „Weich,  Mild"  sind  nicht  ohne  Zu- 
sammenhang  mit  der  Tonbreite.  Setzt  doch,  was  wir  beim 
Tastsinn  weich  nennen,  immer  eine  gewisse  raumliche  Breite 
voraus.  Ja  es  diirfte  auch  die  grbssere  „Helligkeit",  die  wir 
obertonreicheren  Klangen  zuschreiben,  mit  in  diesem  Moment 
griinden,  insofern  die  grossere  „Scharfe",  die  wir  bereits  daraus 
ableiteten,  an  die  scharferen,  bestimmteren  Umrisse  des  Helleren 
erinnert.  Doch  stammt  dieser  Ausdruck  in  erster  Linie  gewiss 
von  dem  qualitativen,  ausserdem  auch  von  dem  intensiven  Mo- 
ment, sodass  er  also  eine  dreifache  Wurzel  besitzt. 

Wenn  man  seiner  Gehorsanschauung  das  Quantitative  in 
der  Klangfarbe  recht  deutlich  vorfiihren  will,  hore  man  nur 
eine   und  dieselbe  Note,    etwa  in  der   eingestrichenen  Octave, 

*)  Eine  Art  von  Verbreiterung  scheint  nur  beim  zweiohrigen  gegen- 
iiber dem  einohrigen  Horen  einzutreten,  wo  ja  auch  ungleiche  Locali- 
sation stattfindet,  wahrend  sich  die  Tone  Eines  Ohres  durchdriugen. 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  539 

vom  Horn  (besonders  dem  Naturhorn)  und  von  der  Oboe,  Der 
Hornklang  ist  ohne  alle  Frage  dicker.  Das  ist  nicht  blosse 
Association, 

10.  Riickblick  und  Anwendung. 

Auf  diese  drei  Momente  gehen,  abgesehen  von  den  Neben- 
empfindungen  und  Vorstellungen,  alle  Praedicate  der  Tonfarbe 
und  damit  der  sg.  Klangfarbe  im  engeren  Wortsinne  zuriick: 
Hohe,  Starke,  Grosse.  Alle  drei  sind  im  Grosseu  und  Ganzen 
(die  Starke  freilich  nur  sehr  bedingt)  parallel  veranderlich. 
Weil  die  hoheren  einfachen  Tone  hoher  (heller),  starker  und 
spitzer  sind,  darum  scheinen  uns  auch  die  Klange,  in  denen  sie 
unanalysirt  enthalten  sind,  gegcniiber  anderen  von  gleicher 
Hohe,  Starke  und  Breite  des  Grundtons  hoher  (heller),  starker, 
scharfer;  und  dieser  Unterschied  muss  um  so  betrachtlicher  sein, 
je  zahlreichere  und  je  hdhere  Obertone  dabei  sind  ^). 

Wir  sehen,  dass  die  Klangfarbe  im  engeren  Sinne 
(Helmholtz'  „musikalische  Klangfarbe")  ebensowenig  eiu 
einheitlicher  Begriff  ist,  wie  die  Klangfarbe  im   wei- 

')  Im  Wesentlichen  scheiut  mir  das  Ergebnis  G.  Engel's  in  der 
obenerwahnten  Abhandlung  hiemit  iibereinzustimmen.  Auch  er  findet, 
„dass  jeder  hohere  Ton  an  Intensitat  zii-  und  an  Extensitat  abnimmt" 
(S.  321).  Ja  er  scheint  die  qualitativen  (Hohen-)  Unterschiede  selbst  in 
diese  beiden  Eigenschaften  zii  setzen,  was  ich  freilich  nicht  billigeu 
kaun.  Besonders  wertvoll  ist  die  Auerkennung  des  extensiven  Momentes. 
Auch  die  Ansicht,  dass  dasselbe  an  den  Grenzen  sich  starker  verandere 
als  das  qualitative,  konnte  man  an  einer  Stelle  ausgesprochen  finden: 
,,Gabe  es  keine  tiefsteu  und  hochsten  Tone,  so  wilrden,  wie  mir  scheint, 
Tonfarbe  und  Tonhohe  in  der  Tat  ganz  identisch  sein"  (326).  Doch  denkt 
Engel  hier  zunachst  an  die  Tatsache  der  Tongrenzen,  welche  er  er- 
klaren  will;  die  untere  Grenze  scheint  ihm  in  der  Abnahme  der  In- 
tensitat. die  obere  in  der  der  Extensitat  begriindet.  Ich  ergreife  diese 
Gelegenheit,  die  Puucte  der  Ubereinstimmung  hervorzuheben,  um  so 
lieber,  als  ich  in  meiner  Besprechung  dieser  Abhandlung  (Viertelj.-Schr. 
f.  Musikwiss.  1888  S.  146)  von  meinem  damaligen  Standpiinct  aus  ihr 
nicht  voUstandig  gerecht  geworden  bin.  Auch  iiber  Gerausche,  besonders 
der  menschlichen  Stimme ,  gibt  Engel  lehrreiche  Bemerkungen  (344  f.) 
und  fuhi-t  u.  A.  mit  Recht  die  sg.  verschleierte  Klangfarbe,  die  bei 
geringen  Graden  oft  als  besonderer  Reiz  empfunden  wird  (Jenny  Lind), 
auf  leise  Luftgerausche  zuriick. 


540  §  28.  Gerausch  imd  Klangfarbe. 

teren  Sinne,  unci  dass  es  durchaus  unberechtigt  ist,  von  ihr 
als  einem  der  Hohe  und  Starke  coordinirten  Moment  der  Ton- 
empfindungen  zu  sprechen,  wie  dies  allgemeiu  geschieht.  Der 
Klang  als  eine  Verbindung  von  Tonen  hat  fiir  Den,  der  ihu 
analysirt,  weder  Hohe  noch  Starke  noch  Farbe.  Wer  ihn  nicht 
analysirt,  schreibt  ihm  alles  Dieses  zu,  aber  er  konnte  es  nicht 
zuschreiben,  wenn  nicht  die  einfachen  Tone  es  besassen.  Und 
bei  diesen  selbst  ist  die  Tonfarbe,  wenn  wir  das  Wort  nach 
Massgabe  der  Epitheta  fassen,  die  unter  Klangfarbe  vereinigt  zu 
werden  pflegen,  nicht  etwas  neb  en  der  Starke  und  Hohe,  son- 
dern  teils  Starke,  teils  Hohe,  teils  Grosse. 

Wollen  wir  aber  unter  Tonfarbe  etwas  neben  Starke  und 
Hohe  verstehen,  dann  mUssen  wir  sie  eben  mit  Grosse  iden- 
tisch  setzen.  Dann  miissen  wir  auch  unter  Klangfarbe  nur  die- 
jenigen  Praedicate  rechnen,  die  ausschliesslich  durch  die  Grosse 
bedingt  sind.  Eine  solche  Verengerung  der  iiblichen  Bedeu- 
tung  wiirde  dem  Wort  einen  einheitlichen  Begriff  unterlegen, 
ware  aber  praktisch  gewiss  unbequem.  Bleiben  wir  also  bei 
dem  alten  Gebrauch,  nachdem  wir  unser  theoretisches  Gewissen 
salvirt  habeu. 

Der  in  dieser  Untersuchung  (ebenso  wie  in  den  §§  25,  26 
und  27  HI.)  hervorgehobene  Zug,  dass  auf  ein  nichtanaly- 
sirtes  Ganzes  scheinbar  in  gewissem  Grade  die  Merk- 
male  darin  enthaltener  Teile  iibergeheu,  ist  Dasjenige, 
was  an  tatsachlicher  Wahrheit  von  jener  „Chemie  der  Empfin- 
dungen"  iibrig  bleibt,  die  wir  ofters  bekampften.  Falsch  bleibt 
es,  dass  eine  Anderung  im  Empfindungsinhalte  eintritt,  noch 
falscher,  dass  ein  mittlerer  Inhalt  entstande,  und  am  falschesten, 
dass  eine  neue  Gattung  von  Inhalten  entstehen  konnte.  Wenn 
wir  aber  obige  Weise  der  Auffassung  eines  Ganzen  unter  dem 
Begriff  eines  seiner  Teile  zum  Ofteren  als  Schein,  als  Tauschung 
bezeichnet  haben,  iiisofern  mehrere  Empfindungen  nicht  Eine 
Hohe  u.  s.  f.  haben  konnen,  so  ist  sie  doch  insofern  keine 
Tauschung,  als  das  Ganze  unzweifelhaft  mit  Recbt  jedem  darin 
enthaltenen  Teil  in  gewissem  Masse  ahnlich  genannt  werden 
darf  (I  113).     Findet    es  Einer  gleichwol  noch  paradox,  dass 


§  28.  Gerausch  iind  Klangfarbe.  541 

Etwas,  was  keine  Hohe  u.  s.  f.  hat,  einem  Etwas,  was  eine  Hohe 
hat,  m  Bezug  auf  die  Hohe  ahnlich  sein  soil,  so  wollen  wir  uns 
dieses  Wortspiel  in  Gottes  Nameii  gefallen  lassen  und  wieder 
zur  Einzelerklarung  iibergehen. 

Denn  man  wird  fragen,  ob  auch  die  von  Helmholtz  em- 
pirisch  hingestellten  Regeln  (o.  521)  aus  diesen  Principien  ab- 
leitbar  seien.  Die  erste  nun  bedarf  keiner  weiteren  Erorterung; 
nur  ist  hinzuzufiigen ,  dass  sie  fiir  die  einfachen  Tone  der 
hochsten  Octaven  nicht  gilt  und  iiberhaupt  die  Farbe  einfacher 
Tone  durchweg  mit  ihrer  Hohe  variirt.  Die  iibrigen  Regeln 
begreifen  sich  insoweit  sofort,  als  mit  Beifiigung  immer  zahl- 
reicherer  Obertone  ein  Klang  immer  heller,  kraftiger,  markiger 
erscheinen,  unter  Umstanden  auch  rauh  und  scharf  werden  muss. 
In  Hinsicht  der  zweiten  und  fiinften  Kegel  kommt  es  aber 
auch  sehr  auf  den  Gruudton  an.  Ein  Klang  mit  gleichvielen 
und  relativ  gleichstarken  Obertonen  klingt  notwendig  voUer, 
prachtiger  in  der  Tiefe  als  in  der  Hohe.  Ferner  kann  ein  Ton 
mittlerer  Region  von  Obertonen  jenseits  des  sechsten  in  be- 
trachtlicher  Starke  begleitet  sein,  ohne  dadurch  rauh  zu  wer- 
den (wie  z.  B.  auf  meinem  Clavier  a,  welches  noch  den  10.  Teil- 
ton  cis^  kraftig  mit  sich  fiihrt);  weil  eben  die  Schwebungen 
der  Obertone  hier  schon  zu  rasch  erfolgen,  um  als  Rauhigkeit 
empfunden  zu  werden.  Helmholtz  scheint  hiebei  nur  an  tie- 
fere  Grundtone  gedacht  zu  haben. 

Wenn  in  der  vierten  Regel  von  „Voll"  und  „Leer"  ge- 
sprochen  wird,  so  kann  natiirlich  nicht  gemeint  sein,  dass  wir 
eine  Fiille  von  Tonen  fanden  oder  vermissten,  da  dies  ja  Ana- 
lyse von  Seiten  der  Horenden  voraussetzen  wUrde,  sondern  die 
Ausdriicke  sind  etwa  gleichbedeutend  mit  (relativ)  Breit  und 
Spitz,  und  damit  begreift  sich  die  Regel  aus  den  Principien. 
Denn  jeder  Teil  wird  massgebend  fiir  die  Auffassung  des  Ganzen 
gemass  seiner  relativen  Intensitat.  Je  starker  also  der  Grund- 
ton  im  Verhaltnis  zu  den  Obertonen,  um  so  mehr  tritt  die  ihm 
eigentiimliche  Breite  oder  Fiille  hervor. 

In  der  dritten  Regel  endlich  ist  ein  eigentiimlicher  Unter- 
schied   erwahnt,  der  damit  zusammenhangen  konnte,  dass  die 


542  §  28.  Geraiisch  nnd  Klangfarbe. 

Obertone  mit  dem  Grundton  in  verschiedenem  Grade  ver- 
schmelzen.  Geradzahlige  Teiltone  sind  die  Octave,  die  Doppel- 
octave,  deren  Quinte,  die  dreifache  Octave  u.  s.  f.;  migerad- 
zahlige  die  Quiute  der  Octave,  die  grosse  Terz,  natiirliche 
Septime  der  Doppeloctave,  die  grosse  Secunde  der  dreifachen 
Octave  u.  s.  f.  Iiii  ersten  Fall  sind  also  die  lioheren,  im  zwei- 
ten  die  mittleren  und  niederen  Verschmelzungen  iiberwiegend 
vei-treten  ^).  Nun  konnte  man  annebmen,  dass  im  letzteren  Fall 
der  Klang,  wenn  er  aucb  nicbt  deutlich  analysirt  wird,  uns 
docb  nicbt  so  einbeitlicb  vorkommt,  oder  dass  wenigstens  die 
Unterscbeidungsscbwelle  fUr  das  quantitative  Moment  bereits 
iiberscbritten  ist,  wabrend  die  Qualitateu  ununterschieden  blei- 
ben,  wie  scbon  oben  angedeutet  wurde.  Wir  wiirdeu  dann  im 
Klange  ausser  einem  breiten  ein  diinnes  Element,  wenu  aucb 
undeutlicb,  bemerken;  und  darum  ibn  als  ,,bobl"  oder  (bei 
hoheren,  feineren  Obertonen)  als  „naselnd"  bezeichnen.  Auf 
diese  sozusagen  halbwabrgenommene  Doppelbeit  wiirde  auch 
recbt  gut  jener  Ausdruck  „Clair-obscur"  passen,  mit  welcbem 
Gevaert^)  das  Eigentiimliche  des  hiebergeborigen  Clarinetten- 
klanges  bezeicbnet.  Zur  Annaberung  an  die  Analyse  konnte 
auch  der  Umstand  beitragen,  dass  die  ungeradzahligen  Ober- 
tone einen  beziehungsweise  grosseren  Abstand  vom  Grundton 
besitzen;  der  erste  ungeradzablige  (3)  einen  grosseren  als  der 
geradzahlige  (2)  u.  s.  f.^)  Dennoch  scheint  mir  die  Erklarungs- 
weise  nicbt  ganz  unbedenklich. 

Vermutlich  hangt  der  Unterschied  (welcher  iibrigens  auch 
wol  noch  eine  experimentelle  Einzeluntersuchung  verdiente)  gar 
nicht  mit  den  Verschmelzungsstufen  zusammen,  sondern  mit  den 

*)  Auch  in  der  zvreiten  Kegel  ist  dieser  Unterschied  einigermassen 
eingeschlossen.    Denn  der  7.  Teilton  ist  die  erste  Dissonanz. 

-)  Traite  d'lnstrumentation  1863. 

^)  In  der  eben  erschienenen  Abhandlung  (Wied.  Ann.  XXXIX  ^3) 
sagt  auch  R.  Konig  auf  Grund  kiinstlicher  Klangzusammensetzungen : 
„Befinden  sich  in  der  Reihe  (der  harmonischen  Obertone)  grosse  Liicken 
oder  haben  einzelne  dieser  Tone  eine  betrachtlich  grossere  Intensitat 
als  die  anderen,  so.verliert  das  Tongemisch  dadurch  mehr  oder 
weniger  seinen  einheitlichen  Charakter.'" 


§  28.  Gerauscli  niul  Klangfarbe.  543 

entstehenden  Differenztonen.  Nehmen  wir  an,  dass  die  Ober- 
tone  unter  sich  Differeuztone  bilden,  so  miissen  die  gerad- 
zahligeu  Teiltone  2,  4,  G ...  Differenztone  geben,  welche  sammt- 
lich  schon  in  der  Reihe  enthalten  sind,  also  die  vorbandenen 
Tone  verstarken;  und  hauptsacblicb  muss  dies  dem  Tone  2  zu 
Gute  kommen,  denn  wenn  wir  die  Differenzen  der  Differenzen 
mit  beriicksicbtigen ,  ergibt  sich  zuletzt  immer  diese.  Dei- 
Ton  2  kann  dadurcb  stark  genug  werden,  um  nun  aucb  mit  1, 
dem  Grundton,  einen  Differenzton  1  zu  bilden,  der  jenen  merk- 
lich  verstarkt,  Ungeradzablige  Teiltone  dagegen  miissen,  da  die 
Differenzen  ungerader  Zahlen  gerade  sind,  Tone  geben,  die 
nicbt  in  der  Reihe  vorhanden  sind  und,  da  sie  fiir  sich  allein 
zu  schwach  sind,  ganz  unwirksam  bleiben.  Speciell  der  Ton  2, 
der  aucb  bier  uberall  resultirt,  findet  doch  nicbt  einen  gleichen 
bereits  vor,  den  er  verstarken  konnte.  Auf  diese  Art  lasst 
sich  vielleicbt  Regel  3  auf  Regel  4  zuriickfUhren, 

Abgesehen  von  dem  letzten  Punct,  iiber  den  wir  uns  etwas 
bypotbetisch  ausdriicken  mussten,  konnen  wir  also  nicbt  bios 
iiber  die  Griinde  der  einzelnen  Regeln  Rechenschaft  geben,  son- 
dern  sie  auch  genauer  fassen,  Und  besonders  sei  noch  hervor- 
gehoben,  weil  es  bisber  besonders  unbeacbtet  geblieben  ist,  dass 
die  Klangfarbe  keineswegs  nur  von  der  relativen  sondern  in 
erster  Linie  von  der  absoluten  Hobe  der  Teiltone  (ein- 
schliesslicb  des  Grundtones)  abbangt;  eine  Einsicht, 
welche  wol  auch  fiir  die  Ausgestaltung  der  Vocaltbeorie  un- 
entbehrlicb  ist.  Schon  Willis  bemerkt,  dass  der  Vocallaut  sich 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  an  einfacben  musikaliscben  Tonen 
wabrnehmen  lasse;  wobei  er  freilicb  unter  den  letzteren  Einzel- 
klange  verstebt,  aber  die  Abhangigkeit  ihrer  Farbe  von  der 
absoluten  Hohe  des  Grundtons  richtig  erkannt  bat.  „Die  hoben 
Tone  der  Orgel  oder  Geige  geben  offenbar  ein  I  an,  die  Bass- 
tone  ein  U,  und  wenn  man  schnell  die  ganze  Tonreibe  hinauf 
und  binab  durcblauft,  glaubt  man  die  Reihe  U  0  A  E  I  — 
I EAO  U  zu.  horen;  sodass  es  den  Anschein  hat,  als  sei  in 
einfachen  Tonen  ein  jeder  Vocallaut  unzertrennlich  von  einer 
gewissen  Tonbobe'^  (Pogg.  Ann.  Bd.  24,  S.  415).    Das  U  ist  in 


544  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

der  Tat  nicht  bios  durch  den  Mangel  lioherer  Beitone  sondern 
auch  durch  einen  nicht  zu  hohen  Grundton  bedingt  und  schon 
darum  in  den  hochsten  Gesangsregionen  nicht  hervorzubringen. 
Innerhalb  der  tiefen  und  mittleren  Region  aber  ist  es  gleich- 
falls  nicht  das  namliche  U,  wenu  man  den  Grundton  tiefer  und 
wenn  man  ihn  hoher  legt.  Dass  es  dennoch  im  gewohnlichen 
Gebrauch  als  das  namliche  aufgefasst  wird,  liegt  wol  zum  Teil 
an  psychologischen  Momenten;  wie  denn  wiederum  schon  Kem- 
PELEN  und  Willis  betont  haben,  dass  die  Erkenntnis  der  Vo- 
cale  ausserordentlich  durch  den  Contrast  bedingt  ist  und  dass 
sie  ihre  voile  Deutlichkeit  nur  in  ihrer  Verbindung  zu  Wortern 
und  Satzen  erlangen^).  Doch  mochte  ich  den  Anteil  fester 
Beitone  hiemit  nicht  in  Abrede  stellen  und  diese  verwickelte 
Frage  hier  iiberhaupt  nur  gestreift  haben. 

Auch  fur  die  Instrumente  gilt  es,  dass  sie  in  verschie- 
denen  Regionen,  ja  strenggenommen  auf  jeder  einzelnen  Ton- 
hohe  verschiedene  Klangfarbe  haben.  FUr  manche  Instrumente 
ist  Dies  auch  in  den  Handbiichern  der  Instrumentation  aner- 
kannt.  So  pflegt  man  der  Clarinette  vier  sehr  verschiedene 
Register  zuzuschreiben,  die  an  bestimmte  Zonen  ihres  gi'ossen 
Umfanges  gekniipft  sind  ^).  Der  Unterschied  griindet  nur  zum 
Teil  in  der  Anzahl  und  Ordnungszahl,  zum  Teil  aber  auch  in 
der  absoluten  Hohe  der  Teiltone,  einschliesslich  des  Grundtones. 

Verbinden  sich  mehrere  Eiuzelklange  von  ungleicher  Klang- 
farbe zu  einem  Zusammenklang  (Klangmischung),  so  erklart 
sich  die  resultirende  Klangfarbe  aus  den  namlichen  Principien. 
Die  Gesammtmasse  der  Teiltone  bestimmt  durch  die  ihnen 
eigenen  Beschaffenheiten  uach  Hohe,  Starke  und  Grosse  (sowie 

*)  a.  a.  0.  400.  So  ist  es  ja  auch  bei  feineren  Unterschieden  an- 
derer  Art  (o.  501).  Beide  Autoren  weisen  auf  den  Umstand  bin,  dass 
ein  Vocal  unkenntlich  wird,  wenn  man  ihn  langere  Zeit  anhalt.  Die  be- 
sondere  Deutlichkeit  in  den  ersten  Momenten  hat  aber  auch  einen  phy- 
siologischen  Grund  (Helmholtz  184). 

2)  Jadassohn  (Lehrb.  d.  Instrum.  1889  S.  217)  nennt  das  tiefste  Re- 
gister {d  —  d^)  ernst,  das  nachste  schwacher  und  nicht  von  dem  vollen, 
weichen  Klange  des  dritten  (e" — c"),  das  hochste  (bis  P)  endlich  hart, 
spitz,  durchdringend.    Auch  das  Fagott  hat  ziemlich  ungleiche  Register. 


§  28.  Gerausch  iind  Klangfarbe.  545 

durch  die  Schwebungen)  die  Farbe  der  Mischung^).  Ausser- 
dem  sind  aber  auch  die  Bestaiidteile  der  Klangfarbe  im  wei- 
teren  Sinne  nicht  zu  vergessen,  die  bei  solchen  Mischungen  oft 
ebenfalls  eine  grosse  Rolle  spielen. 

Hier  liegen  keine  neuen  principiellen  Schwierigkeiten.  Da- 
gegen  entsteht  in  Bezug  auf  solche  Falle  eine  ganz  andere 
Frage,  die  uns  auf  das  Problem  der  Uuterscheidung  beim  gleicli- 
zeitigen  Horen,  wovon  wir  in  diesem  Bande  ausgingen,  in  einer 
besonderen  Form  zuriickfiihrt:  „Wie  ist  es  moglich,  in  einer 
Klangmiscbung  zwei  oder  mehrere  Klangfarben  auseinanderzu- 
halten?" 

11.  Unterscheidung  von  Instrumenten  ungleieher 
Klangfarbe  in  einem  Zusammenklang. 

Wenn  zwei  Instrumente  zusammenspielen ,  so  konnen  wir 
oft  nicht  bios  sagen,  dass  wir  z.  B.  c^  und  e^  horen,  sondern 
auch  dass  eine  Violine  und  eine  Flote  beteiligt  sind,  und  sogar 
dass  c^  von  der  Violine,  e^  von  der  Flote  angegeben  wird.  Nun 
aber  ist  Das,  was  wir  hiebei  horen,  nichts  Anderes  als  eine 
grosse  Reihe  verhaltnismassig  schwacher  hoherer  neben  zwei 
verhaltnismassig  starken  tieferen  Tonen.  Wie  kommen  wir  da- 
zu,  einen  Teil  der  ersteren,  ehe  und  ohne  dass  wir  sie  iiber- 
haupt  heraushoren,  mit  c^,  den  anderen  Teil  mit  e^  zu  einer 
engeren  Einheit  in  unsrer  Auffassung  zu  verbinden?  Und  warum 
gerade  diese  mit  e^,  jene  mit  c^  und  nicht  ebensogut  umge- 
kehrt?  Selbst  wenn  wir  die  Obertone  heraushoren;  woran 
merken  wir,  zu  welchem  der  Grundtone  sie  gehoren?  Man 
sollte  zunachst  erwarten,  dass  die  Gesammtmasse  der  Obertone 
gleichmassig  ihren  Einfluss  auf  die  Auffassung  des  Klanges  iiben 
miisste,    dass   wir    also  hier  einen  Klang  von  mittlerer  Farbe 


^)  Beispielsweise  wenn  Jahn  (Mozaet  *  IV  625)  vom  Marsch  in  der 
Zauberflote  sagt:  „Die  Verbindung  der  Bassethdrner  mit  den  Fagotts 
bringt  einen  weichen,  gedampften  Klang  hervor,  der  durch  eine  Flote 
heller  und  milder  wird.  wahrend  die  vollen  Accorde  der  Horner  und 
Posaunen  demselben  Macht  und  Fulle  geben,  ohne  ihn  laut  und  hart  zu 
machen"  —  so  ist  uns  dies  Alles  nun  voUkommen  auf  seine  letzten 
Griinde  zuriickfiihrbar. 

Stumpf,  Tonpsychologie.  n.  35 


546  §  28.  Gerausch  unci  Klangfarbe. 

statuiren  miissten,  in  welchem  nur  eben  zwei  Tone  von  ein- 
ander  unterschieden  wiirden. 

Die  Frage  scheint  Anfangs  heikel  genug.  Man  hat  sie 
sogar  nur  unter  der  Voraussetzung  losbar  erachtet,  dass  das 
gleichzeitige  Horen  iiberhaupt  Tauschung  sei  und  wir  in  Wirk- 
lichkeit  die  Tone  nur  miteinander  abwechselnd  horten.  Indessen 
kehrt  die  Schwierigkeit  fiir  diesen  Standpunct  nicht  bios  wieder 
sondern  vermehrt  sich.  Wenn  wir  nicht  zwei  Tone  gleichzeitig 
horen  konnen,  so  werden  wir  keineswegs  abwechselnd  Flote 
und  Violine  horen,  denn  jeder  dieser  Klange  ist  schon  wieder 
durch  eine  Mehrzahl  von  Teiltonen  charakterisirt,  sondern  wir 
werden  die  Grundtone  abwechselnd  horen  und  dazwischen  viel- 
leicht  zu  noch  grosserer  Abwechselung  auch  Obertone  des  einen 
und  anderen  Instrumentes.  Und  nun  wird  es  erst  recht  schwierig 
sein,  in  diesem  wilden  Heer  Ordnung  zu  halten  und  jeden 
Grundton  mit  seinen  zugehorigen  Obertonen  irgendwie  zu  ver- 
binden.  Aber  wir  haben  ja  gesehen  (o.  30  —  31),  dass  schon 
die  Klangfarbe  eines  einzelnen  Instrumentes  fiir  diesen  Stand- 
punct unerklarlich  wird. 

Ehe  wir  erklaren,  miissen  wir  bedenken,  dass  man  die 
fragliche  Fahigkeit  nicht  unter  alien  Umstanden  besitzt.  Es 
gibt  Falle,  wo  es  auch  Geiibten  schwer  oder  unmoglich  wird, 
zwei  verschiedene  Instrumente  im  Zusammenklang  zu  erkennen, 
wahrend  man  zwei  Tone  recht  wol  heraushort.  Beispielsweise 
ist  es  mir  so  ergangen  mit  den  Octaven  von  Cello  und  Oboe 
in  Schumann's  D- moll -Symphonic  2.  Satz,  als  ich  sie  zum 
ersten  Male  in  einer  hochstvollendeten  Weise  aufgefiihrt  horte 
und  diese  beiden  Instrumente  auf's  Genaueste  zusammenspielten. 
Zuerst  konnte  ich  ein  Unisono  zu  horen  glauben,  dann  wol  er- 
kennen, dass  es  Octavengange  waren,  aber  es  schien  als  wiirden 
sie  von  Einem  Instrument  vorgetragen,  welches  weder  Cello  noch 
Oboe  noch  ein  sonst  bekanntes  ware.  Gegeniiber  complicirteren 
oder  origin  elleren  Klangmischungen  mag  sich  auch  der  Fach- 
musiker  ofters  in  diesem  Falle  befinden. 

Wo  wir  aber  zur  Unterscheidung  fahig  sind,  dienen  uns 
verschiedene  Mittel.    In  manchen  Fallen  schon  ungleiche  Lo- 


§  28.  Gerausch  nnd  Klangfarbe.  547 

calisation;  wenn  namlich  zwei  Instrumente  rechts  und  links 
verteilt  sind.  Tont  die  Clarinette  rechts,  die  Geige  links,  so 
werden  mit  dem  rechts  localisirten  Grundton  zugleich  die  Ober- 
tone  der  Clarinette,  mit  dem  links  localisirten  die  der  Geige 
besonders  stark  gehort  und  erzeugen  die  charakteristische  Far- 
bung  des  auf  jeder  Seite  gehorten  Klangganzen.  Allerdings 
werden  auf  jeder  Seite  auch  die  Obertone  des  entgegengesetzten 
Instrumentes  gehort,  aber  unter  Umstanden  so  viel  schwacher, 
dass  sie  die  Klangfarbe  auf  dieser  Seite  nur  wenig  verandern 
und  nicht  ganz  unkenntlich  machen. 

Sind  wir  bei  ruhiger  Kopfhaltung  noch  im  Zweifel,  so  ge- 
niigt  ofters  eine  Drehung,  um  eine  hinreichende  Verstarkung 
des  von  einem  Instrument  kommenden  Klangganzen  herbeizu- 
fiihren  und  so  die  Trennung  zu  erleichtern.  Selbst  im  eigent- 
lichen  Unisono  konnen  wir  so  zwei  Instrumente  auseinander- 
halten,  wenn  sie  raumlich  weit  genug  rechts  und  links  stehen. 

Psychologisch  miissen  wir  aber  beachten,  dass  der  Vorgang 
schon  unter  den  ebengenannten  Voraussetzungen  nicht  ganz 
derselbe  ist  wie  beim  Unterscheiden  und  Heraushoren  zweier 
Tone.  Denn  auch  im  giinstigsten  Fall  findet,  wie  gesagt,  auf 
jeder  Seite  eine  leichte  Modification  der  bekannten  Klangfarbe 
durch  das  andere  Instrument  statt,  und  es  ist  ein  Act  der 
Deutung  notwendig,  um  die  Klangfarbe  auf  die  gewohnte  der 
Violine  zu  beziehen,  wenn  auch  in  solchen  Fallen  die  Deu- 
tung fiir  Alle,  die  den  Klang  sonst  kennen,  nicht  die  geringsten 
Schwierigkeiten  hat. 

Das  Namliche  gilt,  und  in  weiterer  Ausdehnung,  fiir  die 
nun  zu  erwahnenden  Hilfsmittel,  zunachst  das  der  zeitlichen 
Durch kreuzung.  Wo  der  Componist  beabsichtigt,  dass  wir 
zwei  Instrumente  als  verschiedene  Individualitaten  auseinander- 
halten  sollen,  da  pflegt  er  sie  eben  nicht  genau  gleichzeitig  zu 
gebrauchen.  Das  eine  geht  in  Achteln,  das  andere  in  Vierteln, 
das  eine  setzt  etwas  spater  ein,  wahrend  das  andere  momentan 
pausirt  oder  eine  langere  Note  hat  u.  s.  w.  Man  erhalt  so  Ge- 
legenheit,  jedes  zuerst  fiir  sich  oder  wenigstens  als  selbstandig 
bewegten  Teil  des  Klangganzen  zu  horen.     Vereinigen  sie  sich 

35* 


548  §  28.  Gerausch  und  Klangfarbe. 

dann  zeitweilig  zu  strenger  Gleichzeitigkeit,  so  beziehen  wir 
den  entstehenden  Zusammenklang  auf  beide,  obgleich  dann  eine 
wirklich  einheitliche  Klangfarbe  entstebt. 

Es  besteben  aber  aucb  obne  solcbe  vom  Componisten  vor- 
geschriebene  Zeitunterschiede  charakteristiscbe  Ungleicbbeiten 
in  Ansatz  und  Haltung  des  Klanges,  die  wir  unter  der  „Klang- 
farbe  im  weiteren  Sinne"  erwahnten.  Die  Obertone  macben 
natUrlicb  diese  kleinen  Nuancen  mit.  Wir  sagten  o.  350,  dass 
diese  Ungleicbbeiten  als  partielle  Veranderungen  die  Analyse 
eines  beispielsweise  aus  meuscblicber  Stimme  und  Orgel  ge- 
bildeten  Zusammenklanges  erleicbtern.  Die  Erkennung  der 
Klangquellen  selbst  aber  erleicbtern  sie  nicbt  bios,  sondern  er- 
moglicben  sie,  und  zwar  nur  in  der  vorbin  definirten  Weise. 

In  gleicber  Weise  dienen  die  cbarakteristiscben  Erzeu- 
gungsgerauscbe,  das  Blasen,  Scblagen,  Streichen,  aucb  wol 
Kratzen.  Aucb  diese  konnen  uns  sogar  ein  eigentlicbes  Uni- 
sono  auf  mebrere  Instrumente  deuten  lassen,  wenn  wir  ver- 
scbiedene  bekannte  Gerauscbe  wabrend  des  Klanges  vernehmen  ^). 

Endlicb  ist  die  durcb  die  Obertonscbwebungen  bedingte 
Rauhigkeit  tieferer  Klange  dienlich.    Reine  barmonische  Ober- 


^)  RiTZ,  der,  wie  wir  horten,  diese  Gerausche  iiberhaupt  als  das 
wesentlichste  Merkmal  der  Instrumente  bezeichnet,  erblickt  darin  auch 
das  einzige  Mittel,  zeitlich  zusammenfallende  Instrumentalklange  ausein- 
anderzuhalten.  „In  der  wirklichen  Musik  begleitet  das  Reibegerausch 
des  Bogens  den  Violinklang  als  Ganzes,  aber  es  begleitet  auch  alle  zu- 
gehorigen  Obertone  in  gleicber  Weise;  ebenso  begleitet  das  Blasegerausch 
der  Oboe  den  Oboeklang  in  alien  seinen  Obertonen."  (Unters.  41.)  Frei- 
lich  ist  die  Schwierigkeit  damit  nicht  gelost,  solange  man  ein  wirkliches 
Heraushoren  der  Klangfarben  als  solcher  annimmt;  denn  wenn  Oboe  und 
Violine  zusammenspielen ,  begleiten  eben  beide  Gerausche  beide  Ton- 
gruppen,  und  ich  wiisste  nicht,  woran  wir  die  Zugehorigkeit  eines  Ge- 
rausches  erkennen  sollten.  Wir  konnen  aus  diesem  Kriterium  fiir  sich 
allein  nur  schliessen,  dass  die  beiden  Instrumente  an  dem  Zusammen- 
klang beteiligt  sind,  nicht  aber.  dass  die  Violine  z.  B.  c^,  die  Oboe  g"- 
angibt.  Aber  es  ist  Ritz  nachzuriihmen ,  dass  er  allein  die  vorliegende 
Schwierigkeit  iiberhaupt  bemerkt  hat,  ausgenommen  F.  Beentano,  wel- 
cher  sie  im  Zusammenhang  mit  dem  Problem  der  Analyse  in  seinen  Vor- 
lesungen  besonders  zu  betonen  pflegt. 


§  28.  Gerausch  und  Klangfarbe.  549 

tone  schweben  in  gleichem  Rhythmus  mit  dem  Grundton  und 
bei  luckenlosem  Vorhandensein  auch  mit  gleicher  Geschwindig- 
keit.  Gibt  das  Cello  ein  C,  so  schwebt  die  ganze  Klangmasse 
in  der  Weise,  die  wir  als  das  Markige  dieses  Klanges  kennen. 
Wenn  nun  zugleich  eine  Flote  deu  Ton  e^  blast,  welcher  voll- 
kommen  glatt  ertont,  so  konnen  wir  diesen  in  der  Auffassung 
vom  Gesammtklang  trennen  und  seinen  sonstigen  Kennzeichen 
gemass  auf  dieses  Instrument  beziehen.  Freilich  ist  wieder  eine 
Art  Abstraction  notwendig,  wie  mehr  oder  weniger  in  alien  ge- 
nannten  Fallen. 

Negative  Kriterien,  wodurch  wir  das  Bereich  moglicher 
Deutungen  wenigstens  einschranken,  gibt  es  ohnehin  genug. 
Der  Instrumentenkenner  kennt  auch  den  Umfang  der  Instru- 
mente,  wird  also  z.  B.  nicht  in  Gefahr  kommen,  ein  c  in  einem 
Zusammenklang  auf  die  Flote  zu  beziehen.  Dadurch  wird  den 
positiven  Kriterien  die  Arbeit  erleichtert. 

Die  Theorie  also,  die  wir  in  Bezug  auf  die  Unterscheidung 
gleichzeitiger  Tone  als  irrig  erkannten,  dass  es  sich  nur  um 
die  Beziehung  einer  subjectiven  Einheit  auf  eine  objective 
Mehrheit  handle,  erweist  sich  als  richtig  in  Bezug  auf  das  Er- 
kennen  mehrerer  Instrumente  in  einem  Zusammenklang;  wes- 
halb  hier  auch  anders  als  dort  die  Erfahrung  eine  durchaus 
unerlassliche  Vorbedingung  ist  und  zwei  Instrumente  im  Zu- 
sammenklang nicht  bios  nicht  benannt  sondern  auch  gar  nicht 
unterschieden  werden  konnen,  wenn  sie  nicht  einzeln  irgend- 
einmal  vorher  gehort  wurden. 


Berichtignngen  und  Zns&tze  zum  I.  Band. 

Zu  S.  167,  Anm.:  tJber  die  Nichtexistenz  von  Innervationsempfin- 
dungen  vgl.  nun  auch  Munsteebeeg  (Willenshandlung  1888,  S.  75  f.),  der 
sie  ebenso  wie  ich  auf  Muskelvorstellungen  zuriickfuhrt,  und  be- 
sonders  G.  E.  Muller  und  F.  Schumann,  Pflug.  Arch.  Bd.  45  (1889) 
S.  80  f. 

Zu  S.  180  oben.  Aristoxenus  lehrt  nicht,  wie  hier  nach  unvoll- 
Btandigen  Ausziigen,  die  ich  mir  gemacht  hatte,  angegeben  ist,  die  End- 
lichkeit  des  Tongebietes  sans  phrase  (in  welcher  Hinsicht  ich  nach 
Natorp's  Urteil  mit  Unrecht  von  dem  Griechen  abgewichen  ware),  son- 
dern  aussert  sich  vielmehr  ganz  in  der  Richtung  meiner  eigenen  Aus- 
ftihrungen:  „Wenn  von  der  Stimme  und  dem  Gehor  die  Rede  ist,  ist  der 
Abstand  des  Tiefen  und  Hohen  (//  rov  fSaQaog  re  xal  o^eoq  Siaatttaig) 
endlich.  Wenn  aber  die  Tonreihe,  das  System  der  Hohe  (^  rov  fjii^ovq 
avoraaiq)  an  und  fiir  sich  {avn)  xaQ^^  airtjv)  in's  Auge  gefasst  wird, 
dtirfte  die  Entscheidung  anders  lauten."    (Marquardt's  Ausg.  S.  20.) 

Diese  Stelle  beweist  nebenbei  auch  deutlich  {zu  II  390  Anm.  2) 
die  Verwendung  von  f^eXoq  im  Sinne  von  Tonh5he. 

Zu  S.  210Schluss  des  1.  Absatzes:  Wie  II  56  ausgefiihrt  ist,  scheint 
mir  jetzt  Hering's  Annahme  einer  Tongrosse  berechtigt  und  damit 
auch  die  griechischen  Ausdrucke  „Schwer  und  Spitz"  mit  der  Natur  der 
Tone  viel  enger  zusammenzuhangen  als  I  194  angenommen  wurde.  Vgl. 
auch  die  I  224  erwahnten  Ausdriicke  des  Ptolemaeus. 

Zu  S.  231,  nach  dem  1.  Absatz:  Nach  Wolfe's  Untersuchungen  iiber 
das  Tongedachtnis  (Wcndt's  Phil.  Stud.  Ill  534  f.)  nimmt  die  Zahl  der 
richtigen  Urteile  iiber  die  Frage,  welcher  von  zwei  Tonen  der  hohere,  mit 
der  Zwischenzeit  zuerst  rasch,  dann  langsamer  ab.  Doch  scbien  die  Ab- 
nahme  nicht  continuirlich,  sondern  unter  gewissen  Schwankungen  einzu- 
treten.  (Ubrigens  dtirften  die  in  Stanley  hall's  American  Journal  ot 
Psychology  I  185  erwahnten  Mangel  dieser  Untersuchung  ihren  Wert 
in  der  Tat  sehr  beeintrachtigen.) 


Berichtigungen  und  Zusatze  zum  I.  Band.  551 

Zu  S.  251  vor  c):  Nun  hat  gleichwol  Lorenz,  wie  es  scheint  ohne 
Beachtung  dieser  Ausfiihrungen,  Versuchsreihen  mit  der  Fragestellung 
gemacht,  welcher  Ton  zwischen  zwei  gegebenen  in  der  Mitte  liege. 
Die  Unbrauchbarkeit  dieser  bis  zu  ungeheurer  Anzahl  ausgedehnten 
Versuche,  welche  in  Wundt's  Phys.  Ps.  ^  I  428  vorlaufig  erwahnt  und 
soeben  in  Wundt's  Phil.  Stud.  IV  (1890)  26  ausfuhrlich  veroffentlicht 
wurden,  werde  ich  demnachst  in  der  Zeitschr.  f.  Psychologie  ganz  im 
Einzelnen  erweisen.  Sie  liefern  nur  die  schlagende  Bestatigung  fiir  das 
Vorausgeeagte.  Nur  wo  das  Intervallbewusstsein  sichtlich  bestimmend 
war,  zeigte  sich  hervorragende  Bestimmtheit  der  Urteile,  in  den  anderen 
Fallen  arge  Schwankungen. 

MtJNSTBEBBRG  gibt  (Beitf.  z.  exp.  Psych.  Heft  S  S.  37,  41)  als 
Ergebnis  ahnlicher  Versuche  an,  dass  Unmusikalische  einen  Ton  fiir  die 
Mitte  zwischen  zwei  anderen  erklaren,  wenn  er  von  beiden  um  die  gleiche 
Schwingungszahl  verschieden  sei,  „wahrend  der  Musikalische  natiirlich  den 
Ton  als  Mitte  bezeichnet,  dessen  Schwingungszahl  die  mittlere  Proportio- 
nale  zwischen  den  Zahlen  der  beiden  anderen  Tone  ist."  Die  arith- 
metische?  Dann  ware  kein  Gegensatz  zu  den  Unmusikalischen  und  miisste 
z.  B.  c  als  Mitte  zwischen  C  und  g  bezeichnet  werden,  was  ich  wenigstens 
entschieden  irrig  fande.  Die  geometrische?  Dann  musste  ein  etwas  ver- 
tieftes  e  (4 :  4,89)  als  Mitte  zwischen  c  und  g  erscheinen.  Die  harmonische? 
Dann  f  als  Mitte  zwischen  c  und  c^  Belege  sind  Uberhaupt  nicht  bei- 
geffigt;  man  muss  also  zimachst  auf  die  in  Aussicht  gestellten  warten, 
um  diese  Angaben  zu  beurteilen.  Fiir  sehr  ungenau  und  viel  zu  unbe- 
dingt  hingestellt  hatte  ich  sie  in  jedem  Fall. 

Zu  S.  264,  2.  Absatz:  Wundt  meint  in  der  3.  Aufl.  seines  Werkes, 
dass  die  untere  Tongrenze  sogar  auf  8  Schwingungen  gesetzt  wer- 
den diirfe,  und  bezieht  sich  auf  eine  Mitteilung  der  1.  Aufl.,  wo  er 
den  Differenzton  von  C^  mit  G^,  namlich  Cg  =  8  Schwingungen,  ge- 
h6rt  haben  woUte.  Uber  die  Unzuverlassigkeit  dieser  Angabe  s.  meine 
Besprechung  der  3.  Aufl.  in  der  „Viertelj. -Sch.  fUr  Musikwiss."  1888 
S.  540  f. 

Zu  S.  269,  Schluss  des  1.  Absatzes:  Uber  weitere  FS,lle  von  Dop- 
pelthoren,  wobei  die  Verstimmung  nahezu  einen  Ganzton  betrug,  s. 
Knapp's  Z.  f.  0.  XV  (1886)  107  —  ein  Musikdirector  horte  rechts  alle 
T6ne  von  a—f^  um  soviel  hoher  —  und  meine  Selbstbeobachtung  o.  II 460. 
Wahrscheinlich  sind  solche  Verstimmungen  bei  alien  Mittelohrentziin- 
dungen  vorhanden,  werden  aber  nur  von  Musikalischen  bemerkt. 

Zu  S.  292  Schluss  des  1.  Absatzes:  Vgl.  A.  East  „Uber  StOrungen 
des  Gesangs  und  des  musikalischen  Gehors  bei  Aphasischen"  Mtinchener 
Med.  Wochenschr.  (Arztl.  Intelligenzbl.)  1885  No.  44,  sowie  East,  Wbst- 
phal's  Arch.  f.  Psychiatrie  XX  (1889)  588.  Die  mitgeteilten  Falle  erlau- 
tern  die  Unabh^ngigkeit  des  Gehors  vom  Singen  und  Spielen. 


552  Berichtigungen  und  Zusatze  zum  I.  Band. 

Zu  S.  295  Schluss  des  2.  Absatzes:  Durch  ein  zu  erstaunlicher 
Fertigkeit  entwickeltes  reflexartiges  Nachbilden  von  Tonen  und  Ge- 
rJiuschen  erregte,  wie  mir  von  amerikanischen  Collegen  berichtet  wird, 
ein  halb  Blodsinniger,  „blind  Tom",  vor  einigen  Jahren  dort  vieles 
Aufsehen. 

Zu  S.  301  vor  No.  2:  Neuerdings  untersuchte  E.  Luft  die  Unter- 
schiedsempfindlichkeit  ftlr  Tonhohen  (Wtjndt's  Phil.  Stud.  IV 
511).  Er  beniitzte  Stimmgabeln  auf  Resonanzkasten.  Es  wurde  dem 
Urteilenden  jedesmal  vorher  mitgeteilt,  dass  der  erste  bez.  zweite  Ton 
im  Laufe  einer  Versuchsreihe  eine  Erhohung  bez.  eine  Vertiefung  er- 
fahi'en  werde;  er  hatte  anzugeben,  bei  welchem  der  Versuche  er  einen 
Unterschied  bemerkte.  Ltjft  erhielt  folgende  Unterscheidungsschwellen 
(Differenzen  der  Schwingungszahlen)  je  nach  den  Tonregionen: 

C  c  c^  c^  c^  c* 

0,149        0,159        0,232        0,251        0,218        0,862 

Eb  ist  nicht  ganz  richtig,  wenn  Luft  und  Wundt  behaupten,  dass  die 
gefundenen  Werte  bedeutend  geringer  seien  als  die  Pbeyee's.  Peeyee 
und  Apponn  untersuchten  eben  nur  die  Gegend  des  c^  und  c^  und  fan- 
den  in  der  ersteren  (bei  a*)  die  Schwelle  ebenfalls  =  0,25  (Peeyee 
Grenzen  d.  Tonw.  28).  Bei  c"  allerdings  =  0,5  bez.  0,4.  Aber  gerade 
hier  sind  Luft's  Versuche  nach  seinen  eigenen  Bemerkungen  (S.  527 — 8) 
die  weniger  vertrauenerregenden,  da  sie  hier  die  starksten  Schwankungen 
zeigen.  Auch  kann  man  schwer  glaubeu,  dass  das  Gehor  eines  G.  Ap- 
PUNN,  das  „empfindlichste,  geiibteste  und  zuverlassigste  Gehor",  welches 
„trotz  der  grossten  Obung  wahrend  eines  langen  Lebens"  in  der  Gegend 
des  c*  die  Differenz  0,25  nicht  mehr  sicher  erkannte  (Peeyee  31),  dem- 
jenigen  Luft's  nachstehen  soUte.  Die  von  Luft  gefundene  Zahl  0,218 
ist  also  wahrscheinlich  zu  klein,  womit  auch  die  seltsame  Ausbiegung 
der  sonst  regelmassig  fortschreitenden  Zahleureihe  verschwinden  wiirde. 
Gleichwol  bin  auch  ich  nach  Versuchen,  die  G.  Engel  an  Joachim  und 
einem  anderen  vorzliglichen  Geiger  gemacht  hat,  der  Meinung,  dass  die 
ausserste  Schwelle  bei  einzelnen  Individuen  noch  herabgedriickt  werden 
kann  (Engbl's  Aesthetik  d.  Tonkunst  294  f.  Viertelj.-Schr.  f.  Musikwiss. 
II,  1886,  S.  513).  Jedenfalls  kann  ich  nicht  einsehen,  warum  es  sich 
empfehlen  soil,  solche  Versuche  an  Personen  anzustellen,  die  nicht  her- 
vorragend  musikalisch  geschult  sind  (Luft  S.  519,  vgl.  Wundt  427). 

Fiir  die  relative  Unterschiedsempfindlichkeit  ergibt  sich  aus  obigen 
Zahlen,  dass  sie  bis  c*  einfach  zunimmt: 

C  c  c^  c^  c^  c* 

430        805        1103        2040        4697        5657 

Somit   stimmen   die  Ergebnisse  hierin  vortrefflich  mit  denen  Peeyee's 

und  den  meinigen  in  §  14  (299,  333);  nur  batten  wir  zunachst  Zunahme 


Berichtigungen  und  Zusatze  ziim  I.  Band.  553 

bis  c^  erschlossen,  da  fur  hohere  Regionen  nicht  geniigende  Anhalts- 
puncte  in  den  Versuchen  vorlageu.  Die  Zunahme  von  c^  bis  c*  ist  aber 
bei  LxJFT  gering  und  mit  Riicksicht  auf  die  obigen  Bedenken  hinsicht- 
lich  der  c^-Versuche  auch  verdachtig;  wahrscheinlich  ist  doch  eine  ge- 
ringe  Abnahme  das  Richtigc.  Ebeuso  verdachtig  ist  einc  Zunahme  von 
C  abwarts,  wie  sie  sich  aus  Luft's  nachtraglichen  Versuchen  mit  C, 
(S.  534)  ergeben  wiirde.  Diese  liefcrten  die  Schwelle  0,44,  was  fiir  die 
relative  Unterschiedsempfindlichkeit  den  Wert  727  ergabe. 

Zu  S.  313  vor  No.  4:  Ich  habe  inzwischen  auch  einige  Kinder, 
die  der  Erkenntnis  absoluter  Tonhohcn  fahig  waren,  dariiber 
gepriift. 

a)  In  besonders  auffalleudem  Masse  besass  ein  8V4Jahriges  Madchen, 
die  II  380  erwahnte  Elisabeth  W.,  diese  Fahigkeit.  Sie  hatte  sich  nach 
Aussage  der  Mutter  bereits  mit  4  Jahren  Melodien  am  Clavier  aufge- 
sucht,  spater  auch  die  Begleitung  zu  einer  Melodie.  Sie  ist  im  Stande, 
vom  Blatt  zu  singen  und  zwar  mit  reiner  Intonation.  Ihr  Clavierspiel 
land  ich  raerkwiirdig  holzern  und  ausdruckslos.  Die  Frage  nach  der 
absoluten  Tonhohe  wurde  in  39  gleichmassig  zwischeu  C  und  c*  verteil- 
ten  Fallen  23  mal  sofort  und  8  mal  durch  nachtragliche  Selbstcorrectm* 
richtig  beantwortet.  Verwechselt  wurde  Gis  mit  G,  a  mit  cis^  (das  Kind 
sagtc  eis,  weil  ich  naturlich  nur  die  Buchstabenbezeichnung  verlangte), 
dis^  mit  cis^,  dis^  mit  cis^,  fis^  mit  <//s*,  g^  mit  d^  und  mit  e*,  c*  mit  h^. 
Diese  Fehlgriffe  fanden  sich  sammtlich  am  Eude  je  einer  der  drei  durch 
Pausen  unterbrocheneu  Versuchsabteilungen,  beruhen  also  sicher  auf 
Ermiidung;  die  meisten  liegen  ausserdem  in  der  dreigestrichenen  Octave, 
also  an  der  Greuze,  bis  zu  welcher  die  musikalische  Erfahruug  des  Kin- 
des  reichte;  auch  gab  das  Versuchsclavier,  ein  alteres  und  dem  Kinde 
ungewohntes  Instrument,  hier  unangenehme  Nebengerausche.  Man  kanu 
also  sagen,  dass  das  Urteil  zwischen  C  und  c^  fast  ausnahmslos  richtig 
war.  Die  meisten  Fehlurteile  (wenn  ich  auch  die  nachtraglich  corrigirteu 
mit  vergleiche)  wurden  bei  schwarzen  Tasten  abgegeben  und  dann  aUe- 
mal  der  Ton  einer  anderen  schwarzen  Taste  mit  dem  angegebenen  ver- 
wechselt z.  B.  4  mal  Cis  mit  Fis  und  umgekehrt. 

Gegeniiber  den  I  305  f.  erwahnten  Fallen  bei  Erwachsenen  fand 
hier  die  giinstige  Bedingung  statt,  dass  die  Tone  nicht  an  einer  anderen 
Gattung  von  Instrumenten  angegeben  wurden  als  der  am  Meisten  ge- 
wohnten.  An  den  gewohnten  (Streich-)  Instrumenten  waren  die  dort  ge- 
nannten  Personen  unfehlbar. 

Elisabeth  kann  auch  Tone  nach  der  Benennung  singend  angeben, 
doch  nicht  so  sicher  als  sie  dieselben  erkennt,  wenn  sie  angegeben  war- 
den, und  nur  wenn  sie  vorher  gerade  wochenlang  viel  gesungen  hat. 

Ein  Unterschied  des  Kindes  gegenuber  erwachsenen  musikalischeu 
Personen  liegt  darin,  dass  das  Kind  weniger  leicht  absolute  Tonhoheu 


554  Berichtigungen  und  Zusatze  zum  I.  Band. 

innerhalb  eines  Accords  erkannte  als  an  einzelnen  Tonen  (s.  o.  II  380), 
wahrend  bei  Erwachsenen  das  Umgekehrte  stattfindet.  (I  306.  Auch 
Robert  Franz  sagte  mir  inzwischen,  dass  er  die  Tonart,  C-diir,  Des-dur  etc., 
bei  einem  Accord  auf  dem  Clavier  oder  im  Orchester  stets  sicher  erkannt 
babe,  eigentiimlicher  Weise  aber  nicht  bei  der  Orgel.  Uber  die  absolute 
Hohe  einzelner  Tone  sei  er  nie  sicher  gewesen).  Dieser  Unterschied  des 
Kindes  von  Erwachsenen  lasst  sich  vielleicht  aus  der  vorwiegenden 
Richtung  des  musikalischen  Interesses  erklaren:  Accorde,  und  zu- 
mal  weniger  gewohnte,  mochten  fiir  das  Kind  noch  etwas  Verwirrendes 
haben. 

Von  Interesse  ist,  dass  nach  Mitteilung  des  Vaters  auf  Grund  der 
Erinnerungen  der  Familie  der  Grossvater  dieses  Kindes  miitterlicherseits, 
der  beriihmte  Philologe  Ritschl,  dieselbe  Fahigkeit,  die  Tone  nach  ihrer 
absoluten  Hohe  zu  erkennen,  in  ungewohnlich  hohem  Grade  besessen 
hat.  Der  Grossvater  vaterlicherseits  hatte  ein  .,sehr  musikalisches  Ohr", 
und  die  Mutter  ist  eine  gute  Glavierspielerin. 

b)  Welter  habe  ich  meinen  Sohn  Rudolf  auch  in  dieser  Richtung 
untersucht,  als  er  7^4  Jahre  alt  war,  einige  Stunden  Unterricht  im  Noten- 
lesen  und  dann  einige  Stunden  Cavierunterricht  im  Spielen  der  zuge- 
horigen  Tone  der  eingestrichenen  Octave  gehabt  hatte.  Da  ihm  die  |f- 
und  b-Tone  noch  nicht  vorgestellt  waren,  beniitzte  ich  zur  Priifung  nur 
weisse  Tasten  dieser  Octave. 

Es  fanden  sich  unter  18  Fallen  6  ganz  richtig  (darunter  3  mal  c^), 
in  den  ubrigeu  betrug  der  Fehlgriff  nur  einen  Ganzton.  Auch  mit 
anderen  Klangen  machte  ich  hier  einzelne  Versuche,  besonders  mit  ge- 
sungenen,  und  fand  wiederum  ein  auffallend  richtiges  Urteil;  so  wurde 
das  gesungene  c  richtig  benannt,  das  a^  eines  scharfen  Zungenpfeifchens 
als  g  bezeichnet.  Der  Knabe  gab,  ohne  dariiber  befragt  zu  sein,  an, 
dass  er  sich  irgend  ein  Lied  denke,  worin  der  Ton  vorkomme,  und  sang 
zum  Belege  aus  einem  der  vielen  Lieder,  die  er  im  Kindergarten  er- 
lernt  hatte,  irgend  ein  Wort,  welches  auf  den  bezuglichen  Ton  zu  stehen 
kam.  Wahrscheinlich  hatte  er  sich  die  entsprechcnden  Melodien  am 
Clavier  gelegentlich  zusammengesucht,  sodass  er  nun  mit  Hilfe  des 
Wortes  die  dazu  gehorige  Taste  im  Gedachtnis  auffand.  Doch  kann  er 
wol  nur  bei  den  zuletzt  erwahnten  Fallen  einen  solchen  Umweg  genom- 
men  haben. 

In  den  folgendeu  Monaten,  als  Clavier-Unterricht  und  Ubungen 
fc.eltener  und  zuletzt  ganz  unterbrochen  wurden,  nahm  auch  diese  Fahig- 
keit alsbald  merklich  ab. 

c)  Eine  als  vorzugliche  Sangerin  in  Wien  bekannte  Dame  berichtet 
mir,  dass  sie  einen  ihrer  Sohne  mit  4  Jahren  formlich  abrichtete,  die 
Tone  nach  den  Buchstabenbezeichnungen  zu  singen  und  dass  er  auch 
bald  darauf,  unter  dem  Clavier  liegend,  jeden  Ton  traf.    Mit  4Va  Jahren 


Berichtigungen  und  Zusatze  zum  I.  Band.  555 

konnte  er  nach  dem  Tagebuch  des  Vaters  den  C-dur-Accord  ganz  genau 
angeben,  mit  5  Jahren  alle  Tone  und  Intervalle  singen  und  erraten, 
ausser  in  der  hochsten  und  tiefsten  Region.  Ein  anderer  Sohn  konnte 
schon  mit  18  Monaten  auf  Befehl  das  c'  singen  und  zwar  genau  in  der 
Stimmung,  welche  das  Clavier  hatte.  „Ich  machte  mir  (schreibt  die 
Mutter)  ganz  kurze  Zeit  den  Spass  und  sagte:  Karl,  singe  c,  und  sang 
es  ihm  vor.  Bald  lernte  er  es  allein  singen.  Da  geschah  es,  dass  mich 
Weinwurm  (Dirigent  des  Mannergesangvereins)  einmal  besuchte.  Ich 
hatte  gerade  den  kleinen  Kerl  auf  dem  Arm  und  sagte  aus  Spass: 
„Sehen  Sie,  wie  ich  meine  Kinder  erziehe.  Karl,  singe  das  c!"  Als  er 
es  ohne  Zogern  auf  ein  Haar  traf,  fuhr  Weinwurm  fast  erschreckt  zu- 
riick,  da  er  nicht  wusste,  dass  der  Kleine  uur  fiir  das  c  abgerichtet 
war.  tjbrigens  sangen  Beide,  Fritz  und  Karl,  die  Melodie  des  Schlafliedes, 
das  ich  ihnen  immer  vorsang,  im  Alter  von  18  Monaten  nach."  (Dies 
auch  zu  I  293.)  Karl  sang  mit  5  und  6  Jahren  zu  ScHUBERT'schen  Lie- 
dern  eine  zweite  Stimme  aus  dem  Stegreif,  componirte  spater,  lernte 
aber  wegen  Kranklichkeit  kein  Instrument.  Fritz  lernte  mit  Leichtig- 
keit  Violine,  ist  aber  der  Musik  nicht  gerade  i^it  Leidenschaft  er- 
geben. 

Die  musikalischen  Talente  sind  in  dieser  Familie  in  hervorragendem 
Masse  erblich,  aber  auch  in  gleichem  Masse  gepflegt.  Der  Urgrossvater 
dieser  Knaben  miltterlicherseits  war  ein  sehr  musikalischer  Schullehrer, 
der  Grossvater  als  Knabe  „Hofsanger''  (wie  Schubert),  und  spater,  obgieich 
Arzt  von  Beruf,  tiichtiger  Violinist,  Arrangeur  und  Componist;  dessen 
Bruder  ausserordentlicher  Violinspieler.  Zwei  Briider  der  Mutter  mussten 
schon  mit  2  und  3  Jahren  Tone  und  Accorde  singen  und  wurden  dazu 
vom  Grossvater  oft  in  der  Nacht  geweckt,  obschon  sie  nicht  sehr  musik- 
begabt  waren.  Der  altere  konnte  nicht  die  kleinste  Melodie  behalten. 
WoUte  er  eine  auswendig  lernen,  so  musste  er  zuerst  die  Namen  der 
betreffenden  Noten  auswendig  lernen.  (!)  Als  er  als  Sangerknabe  in  die 
Hofkapelle  kam,  war  dort  die  Stimmung  hoher  oder  tiefer  als  zu  Hause; 
er  aber  sang  unbekiimmert  in  der  Stimmung  des  heimatlichen  Clavieres 
entsetzlich  falsch  fort.  Er  musste  sich  dann  langerfe  Zeit  jeden  Ton 
transponiren ,  um  rein  singen  zu  konnen.  (Das  Namliche  erzahlte  mir 
einmal  Prof.  G.  Adler  von  einer  bedeutenden  Wiener  Kirchensangerin, 
die  ausgezeichnet  vom  Blatt  sang,  aber  ihre  Sicherheit  einbiisste,  wenn 
das  Stuck  auch  nur  um  einen  halben  oder  ganzen  Ton  transponirt 
wurde.  Dies  sind  sehr  seltene  Ausnahmen.  Gewohulich  ist  das  Intervall- 
gedachtnis  weit  sicherer  als  das  absolute  Tonbewusstsein ;  ja  es  kann 
unfehlbar  sein,  wenn  das  letztere  ganz  mangelt.) 

Die  Mutter  selbst  ebenso  wie  ihre  Schwester  zeichnen  sich  durch 
grosse  Treffsicherheit  (fiir  Intervalle)  aus.  Eine  Schwester  obiger  Knaben 
war  vor  ihrer  Verheiratung  Opernsangerin  und  besitzt  ebenfalls  ein  vor- 


556  Berichtigungen  und  Zusatze  zum  I.  Band. 

ziigliches  Gehor.  Der  Vater  ist  ein  guter  Cellist,  componirt  und  hat  ein 
erstaunliches  Melodiengedachtnis,  und  der  Grossvater  vaterlicherseits  war 
ebenfalls  gut  musikalisch. 

Die  Dame  fiigt  ihren  dankenswerten  Mitteilungen  noch  folgende 
Bemerkung  bei:  ,,Ich  habe  in  meinem  Lebeu  viele  Sanger  kennen  gelernt, 
aber  wenige  wareu  unfehlbar  im  Treflfen  der  Tone  (der  absoluten  Hohe). 
. . .  Merkwiirdig  ist,  dass  ich  nie  in  meinem  Leben  eine  Sangerin  ge- 
troifen  habe,  die  ganz  unfehlbar  im  Treffen  (der  Intervalle)  gewesen 
ware."  tjber  die  Seltenheit  des  absoluten  Tonbewusstseins  bei  Frauen 
vgl.  1  286. 

Zu  S.  313,  Schluss  des  2.  Absatzes:  Dass  die  blosse  Verschiedenheit 
zweier  Tone  leichter  erkannt  wird  als  ihr  Hohenverhaltnis,  haben  auch 
Wolfe  (in  der  o.  zu  231  erwahnten  Untersuchung)  und  Munsteeberg 
(Beitr.  3.  Heft  S.40)  bestatigt.  Ein  vielerfahrener  Geiger  macht  mich  auch 
auf  das  haufige  Vorkommnis  beim  Quartettspiel  aufmerksam,  dass  man 
sich  noch  fragt:  „Stimmt  mein  Instrument  zu  hoch  oder  zu  tief?",  nach- 
dem  man  schon  erkannt  hat,  dass  es  uicht  stimmt. 

Zu  S.  329  vor^o.  5:  Auch  eiuer  der  II  157  erwahnten  Unmusi- 
kalischen  (Hr.  Thiel),  welcher  schon  in  der  Vorpriifung  auf  die  Frage, 
welcher  Ton  hoher,  auffallend  schlecht  in  der  hohen  Region  urteilte, 
ergab  uuter  je  30  Fallen  mit  Ganztonintervall  in  der  Tiefe  21,  Mitte 
24,  Hohe  20  richtige  Urteile;  also  wenigstens  nicht  besser  in  der  Hohe 
als  in  der  Tiefe.  Er  gab  auch  an,  sich  in  der  Tiefe  sicherer  zu  fiihlen. 
Vielleicht  gehdrt  diese  Abnormitat  mit  zu  denjenigen,  welche  fiir  Musik 
besonders  untauglich  machen. 

Zu  S.  330,  1.  Absatz:  Diese  von  mir  zuerst  festgestellte  Tatsache,  dass 
stark  Unmusikalische  ohne  ausdriicklich  darauf  gerichtete  I) bung  ganz  ge- 
wohnlich  erst  bei  Intervallen  iiber  eine  Quinte  in  mittlerer  Tonregion 
sicher  sagen  konnen,  welcher  Ton  der  hohere  ist,  bestatigt  nunmehr 
auch  MtJNSTERBERG  (a.  a.  0.  41).  Zu  denken  gibt  in  dieser  Hinsicht  die 
offene  Selbstbeschreibung  einer  EnglS,nderin  im  Mind  III  401  f.,  welche 
sich  in  der  namlichcn  Verfassung  befindet  und  doch  „  Musik  lernen" 
und  sogar  Generalbass  mit  praktischen  Ubungen  betreiben  musste.  Man 
kann  sich  nur  mit  einigem  Gruseln  vorstellen,  wie  oft  bei  der  AUge- 
meinheit  des  „  Musiklemens "  und  besonders  des  Clavierspielens  solche 
Faile  vorkommen  mogen. 

Zu  S.  335  vor  No.  G:  Gegeu  meine  Versuche  hat  Luft  in  der 
0.  erwahnten  Abhandlung,  obgleich  er  die  daraus  gezogenen  Schluss- 
folgerungen  bestatigte,  unberechtigte  und  teilweise  unverstandliche  Ein- 
wande  erhobeu,  worauf  ich  in  der  Viertelj.-Schr.  f.  Musikw.  IV  (1888) 
542  f.  antwortete.  Lorenz  kritisirt  sie  in  der  eben  erschienenen  Ar- 
beit (s.  0.)  wegen  zu  geringer  Anzahl.  Es  kann  mir  nur  erwiinscht  sein, 
wenn  Jemand    sie  in  grosserer  Anzahl  durchfiihren  mdchte.     Bis  jetzt 


Berichtigungen  und  Zusatze  zum  I.  Band.  557 

sind  sie  doch  eben  die  einzigen,  die  mit  dieser  Fragestellung  in  Bezug 
auf  verschiedene  Tonregionen  tabellarisch  veroffentlicht  wurden.  Auch 
ist,  wie  ich  an  Lorenz'  eigenen  Versuchen  zu  zeigen  gedenke,  die  genaue 
vorgangige  und  begleitende  Uberlegung  der  psychologischen  Versuchs- 
bedingimgen  mindestens  ebenso  wichtig  als  die  Anzahl  der  Versuche.  Ich 
habe  selbst  mehrfach  erwahnt,  dass  einige  Anomalien  in  meinen  Tabellen 
vielleicht  bei  grosserer  Anzahl  verschwunden  waren.  Aber  Lorenz'  Ta- 
bellen zeigen  trotz  der  grossen  Zahlen  viel  grossere  Schwankungen  und 
Spriinge,  und  schliesslich  muss  er  sich  fiir  einige  derselben  doch  auch 
darauf  berufen,  dass  die  Versuche  noch  hatten  vermehrt  werden  mussen 
(S.  83  f.  93),  wahrend  er  andererseits  S.  49  behauptet,  dass  das  allge- 
meine  Versuchsergebnis  sich  mit  Wahrscheinlichkeit  schon  aus  wenigen 
Versuchen  habe  erschliessen  lassen,  und  einen  strengen  Beweis  auch 
zuletzt  aus  den  110000  nicht  entnehmen  kann  (S.  87). 

Wtjndt's  Einwand  gegen  meine  Beobachtimgen ,  dass  sie  nicht 
durchweg  mit  einander  im  Einklang  standen  (Ph.  Ps.''  I  426,  ebenso 
Lorenz  S.  40),  muss  ich  zuriickweisen,  solange  er  nicht  specificirt  wird. 
Meine  Beobachtungen  in  dieser  Sache  bestanden  in  der  getreuen  Wieder- 
gabe  der  Aussagen  Unmusikalischer.  Wenn  diese  nicht  in  alien  Puncten 
untereinander  iibereinstimmen ,  vielmehr  charakteristische  Unterschiede 
zeigen,  die  ich  selbst  als  seiche  und  als  theoretisch  bemei'kenswert 
hervorgehoben  habe,  so  kann  man  dies  doch  nicht  ohne  starke  Zwei- 
deutigkeit  in  obiger  Weise  ausdriicken.  Ebensogut  konnte  man  Einem, 
der  fiir  zwei  verschiedene  Berge  zwei  verschiedene  Hohen  gefunden  hat, 
vorwerfen,  dass  seine  Beobachtungen  nicht  mit  einander  stimmten. 

Ich  muss  schliesslich  die  Voraussetzung  ablehnen,  von  welcher  meine 
Kritiker  auszugehen  scheinen,  als  ob  mir  wie  ihnen  selbst  die  Un- 
terschiedsempfindlichkeit  und  das  WEBER'sche  Gesetz  das  Alpha  und 
Omega  der  Versuche  und  dagegen  die  Ermittelung  der  durchschnitt- 
lichen  Urteilszuverlassigkeit  Unmusikalischer  in  verschiedenen  Regionen 
nur  etwa  das  Mittel  dazu  gewesen  ware.  Diese  hat  fiir  mich  ein  selb- 
standiges  Interesse,  da  sie  ein  wesentliches  Glied  in  der  Reihe  der  Be- 
schreibungen  bildet,  durch  welche  der  Zustand  des  unmusikalischen  Be- 
wusstseins  aufgeklart  werden  soli.  Weiterhin  wird  sie  uns  auch  fiir 
die  Lehre  von  den  Tongefiihlen  wichtig.  Die  Zuriickfuhrung  dieser 
Urteilstatsachen  auf  ein  gewisses  Verhalten  der  Unterschiedsempfind- 
lichkeit  (welches  seinerseits  doch  auch  wieder  nicht  als  letzte  Tat- 
sache  gelten  darf ,  sondern  physiologisch  erklart  werden  muss)  betrachte 
ich  als  eine  wahrscheinliche  Hypothese,  die  ich  als  einen  weiteren  Ge- 
winn  gem  mitnehme,  und  die  ja  auch  durch  Lupt  nur  bestatigt  ist. 
Mag  sie  sich  aber  sogar  als  falsch  erweisen,  so  behalt  gleichwol  jede 
der  mitgeteilten  Urteilstatsachen,  imd  jeder  weitere  Beitrag  dazu,  gross 
Oder  klein,  seine  ganz  unabhangige  Bedeutung. 


55,c^  Berichtigungen  unci  Zusatze  znm  I.  Band. 

Zii  S.  339  vor  No.  7:  Nunmehr  hat  sich  doch  auch  Wundt  (I*  224  f.) 
auf  Grund  der  Versuche  von  Luft  und  von  Lorenz  der  Erkenntnis  nicht 
mehr  verschliessen  konnen,  dass  das  Weber' sche  Gesetz  fiirTonquali- 
taten  ungiiltig  ist.  Gegeniiber  den  LoRENz'schen  Versuchen  freilich,  die 
er  als  reine  Distanziirteile  betrachtet,  ohne  den  offenbaren  Einfluss  der 
musikalischen  Intervallurteile  auch  nur  zu  erwahnen,  ware  diese  Ande- 
rung  seiner  Uberzeugung  gerade  nicht  notig  gewesen.  Auch  ist  mir  nicht 
klar,  wie  Wundt  dabei  noch  das  „Gesetz  der  Beziehung"  als  ein  all- 
gemeines  festhalten  kann,  da  das  WsBER'sche  Gesetz  doch  nur  ein  spe- 
cieller  Fall  davon  seiu  soil. 

Im  vorigen  Jahre  hat  nun  aber  wieder  Kerr  Love  (Journ.  of  Anat. 
and  Physiol.  XXIII,  1889.  S.  336)  nach  Versuchen  mit  gedackten  Pfeifen 
(hauptsachlich  c^  c^,  c^,  e*)  die  Giiltigkeit  des  WEBER'schen  Gesetzes,  ab- 
gesehen  von  den  Grenzen  des  Tonreiches,  behauptet.  Unmusikalische 
erkannten  iiberall  bei  '/g — V40  Halbton  den  hoheren  Ton  als  solchen,  ge- 
wohnlich  bei  etwa  V24'  musikalisch  Geschulte  (Geiger  u.  dergl.)  mit 
einiger  Sicherheit  bei  V04 — Vso-  Erhohung  wurde  allgemein  leichter  als 
Vertiefung  erkannt.  (Vgl.  0.  II  344.)  Es  liegt  indessen  nur  eine  vor- 
laufige  Mitteilung  der  Ergebnisse  dieser  Untersuchung  (Glasgower  Dis- 
sertation) vor,  ohne  Tabellen,  so  dass  ein  tJrteil  ilber  ihre  Zuverlassig- 
keit  und  Bedeutung  nicht  moglich  ist. 

Zu  S.  351  nach  dem  1.  Absatz:  Th.  Lowy  leugnet  denn  wirklich  in 
der  Schrift  „Die  Vorstellung  des  Dinges  auf  Grund  der  Erfahrung"  1887 
S.  52  f.  ebenso  die  Reihenbildung  der  Intensitaten  wie  die  der 
Qualitaten  (48)  der  Tone.  „Ein  intensiver  Schmerz  ist  nicht  starker  als 
ein  milder,  dem  Inhalt  nach.  Es  ist  auch  kein  Ton  lauter  als  der  an- 
dere.  Die  Starke  eines  Tons  ist  nur  eine  andere  Gruppirung  der  In- 
halte,  ein  Auftreten  von  bestimmten  anderen  Inhalten,  etwa  auch  von 
mehr  Inhalten  ....  Die  Starke  des  Tons  liegt  z.  B.  in  Begleiter- 
scheinungen  der  Ai't,  dass  ein  starkerer  Ton  in  weitere  Entfernung  reicht." 
Ich  fuhre  dies  nur  als  eine  der  Wunderlichkeiten  an,  zu  denen  die 
Extreme  des  Empirismus  verleiten. 

MtJNSTERBERG  kommt  (a.  a.  0.  S.  8  f.)  auf  eine  von  mir  bereits  fruher 
(Urspr.  d.  Raumvorst.  §  6)  ausgesprochene ,  aber  als  unfruchtbar  wieder 
verlassene  Idee  zuriick:  dass  namlich  Intensitat,  Qualitat  u.  s.  f.  nur 
Veranderungen  eines  an  sich  einheitlichen  Empfindungsinhaltes  in  ver- 
schiedener  Richtung  seien.  Man  muss  doch  eben  zugeben,  dass  wir  die 
verschiedenen  Veranderungsrichtungen  in  gewisse  Classen  zu  bringen 
nicht  bios  im  Stande,  sondern  gezwungen  sind;  und  die  Moglichkeit  und 
Notwendigkeit,  sich  in  diesen  Richtungen  zu  verandern,  muss  man  dem 
Eindruck  doch  als  etwas  Immanentes  zuschreiben.  Gewiss  sind  Intensitat 
und  Qualitat  nur  Abstractionen ,  aber  als  solche  berechtigt  und  unent- 
behrlich. 


Berichtigungen  und  Zusatze  zum  I.  Band.  559 

Weiter  lehrt  MtJNSTERBERG,  dass  die  qualitativen  Unterschiede,  die 
wir  Inteusitatsunterschiede  nennen,  erst  durch  ihre  Verbindung  mit 
Muskelempfindungen  fahig  werden,  eine  Reihe  zu  bilden.  Also  ebenfalls 
Intensitatszeichen.  Den  Muskelempfindungen  komme  eine  voUig  excep- 
tionelle  Stellung  zu,  hier  sei  wirklich  die  schwache  in  der  starken  ent- 
halten  u.  s.  f.  Mir  scbeinen  die  Intensitaten  der  Muskelempfindungen 
nicht  besser  und  nicht  schlechter  reihenbildungsfahig  als  alle  ubrigen. 
Der  Metaphysik  der  Spannungsempfindungen  —  anders  kann  ich's  nicht 
nennen  — ,  die  Munsterberg  dann  aufbaut,  nur  um  der  vermeintlichen 
„Metaphysik"  zu  entrinnen,  die  in  der  Unterscheidung  des  Urteils  von 
der  Empfindung  liegen  soil,  stehe  icb  als  ein  voUkommen  Unglaubiger 
gegentiber;  obschon  ich  begreife,  dass  die  WuNDT'sche  Apperceptions- 
lehre  einen  kritischen  Schtiler  zum  Versuch  einer  Auflosung  des  ganzen 
Apperceptionsbegriff'es  fiihren  kann. 

Zu  S.  355  vor  dem  letzten  Absatz :  Neuerdings  fanden  auch  Lorenz 
(Wunbt's  Phil.  St.  II  394)  und  Starke  (das.  Ill  264)  das  FECHNER'sche 
Gesetz  fur  Schallstarken  bestatigt,  Wien  (Wied.  Ann.  Bd.  39,  1889, 
S.  834)  annahernd  auch  fiir  einen  musikalischen  Ton  (a^). 

Zu  S.  356,  Schluss  des  Kleingedruckten :  Weiteres  hieriiber  in  den 
vorher  erwahnten  Arbeiten  von  Lorenz  und  Starke  (auch  in  einer 
neueren  von  Starke  ,  Wundt's  Phil.  St.  V,  1888 ,  worin  die  Schallstarke 
einfach  proportional  der  lebendigen  Kraft,  bei  constanter  Fallhohe  pro- 
portional dem  Gewicht,  gefunden  wird),  dann  bei  Grimsehl,  Wied.  Ann. 
Bd.  34,  S.  1028.  Das  genaueste  Verfahren  zur  objectiven  Darstellung  von 
Schallstarken  beschreibt  A.  Raps,  Wied.  Ann.  Bd.  36,  S.  273  f. 

Zu  S.  364  vor  e):  Lorenz  gibt  an  (Wundt's  Ph.  Stud.  II),  dass 
gleiche  objective  Schallstarken  geringer  geschatzt  wurden  im  Vergleich 
zu  einem  nachfolgenden ,  grosser  im  Vergleich  zu  einem  vorausgehenden 
Schalleindruck ;  dass  ferner  der  „Gleichheit8punct"  bei  aufsteigender 
Verauderung  in  der  Fallhohe  der  kleineren  Kugel  hoher  lag  als  bei  ab- 
steigender. 

Zu  S.  369  (grossere  Starke  hoherer  Tone)  und  385  (mechanische 
Arbeit  des  Schallreizes)  vgl.  auch  Wien  in  der  obigen  Abhandlung  (wo- 
nach  man  wirklich  einen  Grashalm  kdnnte  wachsen  horen,  wenn  nam- 
lich  die  dabei  verrichtete  Arbeit  in  Form  von  Schallreizen  das  Ohr  trafe). 

Zu  S.  392  vor  4.:  Uber  die  Tragheit  der  Aufmerksamkeit  auch 
Feohner,  Binoc.  Sehen.  895  Rev.  283.  F.  Auerbach,  Wied.  Ann.  IV  509. 
Schumann,  Nachr.  d.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Gdttingen  1889,  No.  20,  S.  2. 

Zu  S.  395  f.  Die  hier  vermutete  Ungultigkeit  des  Gesetzes  der 
nmgekehrt  quadratischen  Abnahme  der  Schallstarke  mit  der  Ent- 
fernung  wurde  von  K.  Vierordt  (Die  Schall-  und  Tonstarke,  Nachgel. 
Werk,  1885,  235 — 245)  durch  Versuche  dargetan.  Die  Schallstarke  nimmt 
hienach  in   der  Tat   viel  weniger  ab,   ungefahr   einfach    mit  der  Ent- 


560  Berichtigungen  unci  Zusatze  zum  I.  Band. 

fernung.  Wien  behauptet  (a.  a.  0.  853),  dass  ein  Unterschied  sei  zwischen 
geschlossenen  und  freien  Raumen;  fiir  die  letzteren  treffe  das  alte  Ge- 
setz  zu.  ViEROEDT  hatte  indessen  auch  auf  freiem  Felde  experimentirt. 
Die  Frage  muss  wol  nock  naher  untersucht  werden,.  auch  niit  Riicksicht 
auf  den  Unterschied  von  Tonen  und  Gerauschen,  welche  letzteren  mir 
allerdings  rascher  abzunehmen  scheinen. 

Zu  S.  399  Z.  2:  Bereits  Helmholtz  hat  gelegentlich  seiner  Klang- 
zusammensetzungen  praktisch  Starkedistanzvergleichungen  ausge- 
fiihrt  (Tonempf.  *  203) ,  indem  er  10  Classen  der  Resonanzstarke  unter- 
schied und  eine  gegebene  nach  dem  Gehor  in  dieselben  einordnete. 
BosANQUET  (Phil.  Magazine  1879,  S.  299)  construirte  eine  voUstandige  In- 
tensitatsscala  aus  10  Graden,  5  lauten  und  5  leisen.  Als  starksten  Schall 
nahm  er  den  einer  Glocke  oder  Kanone  oder  Dampfpfeife.  wenn  man 
daneben  steht,  als  schwachsten  das  Ticken  einer  Taschenuhr  in  1  Meter 
Entfernung.  Das  physikalische  Starkeverhaltnis  der  aufeinanderfolgenden 
Grade  glaubt  er  dabei  nach  Versuchen  etwa  =3:1   setzen  zu  konnen. 

Zu  S.  399  vor  No.  5:  Auf  ganz  die  namliche  Auffassung  der 
FECHNER'schen  Massformel  sah  sich  Ebbinghaus  in  seinen  Unter- 
suchungen  uber  ,,Die  Gesetzmassigkeit  des  Helligkeitscontrastes"  gefiihrt 
(Sitz.-Ber.  d.  Berliner  Akad.  Bd.  49,  1887,  S.  995  f.  Vgl.  Ppltjg.  Arch. 
Bd.  45,  S.  122). 

Zu  S.  408,  2.  Zeile  (auch  zu  S.  40  und  360):  Wahrend  eines 
katarrhalischen  Zustandes  vernahm  ich,  mit  der  Prufung  der  Reinheit 
von  Intervallen  auf  der  Orgel  beschaftigt,  starke  und  deutliche  Inter- 
mittenzen,  genau  wie  Schwebungen.  Der  Puis  ging  in  Folge  einer 
raschen  Bewegung  gerade  sehr  stark  und  schnell,  und  die  Inter mittenz en 
gingen  genau  isochron  mit  demselben,  wurden  auch  mit  ihm  langsamer, 
sodass  jeder  Zweifel  ixber  den  Ursprung  der  vermeintlichen  Schwebungen 
ausgeschlossen  war. 

A.  Raggi  beobachtete  (nach  der  Naturwiss.  Rundschau  1886,  S.  200) 
an  sich  und  Anderen,  dass  in  tiefer  Nacht  das  Uhrticken  periodisch 
verschwindet.  Das  positive  Stadium  schwankt  etwa  zwischen  4  und  11, 
hCchstens  15  Secunden,  das  negative  zwischen  7  und  22.  Weder  objec- 
tive Ursachen  noch  der  Puis  konne  daran  Schuld  sein,  sondern  wahr- 
scheinlich  handle  es  sich  um  Schwankungen  der  Aufmerksamkeit,  weni- 
ger  wahrscheinlich  um  physiologische  Empfindlichkeitsschwankungen. 
Ich  mochte  das  Letztere  doch  filr  wahrscheinlicher  halten. 

S.  410  3.  Zeile:  Mozart's  ungewohnlich  grosse  Ohrmuschel  neben 
einer  gewohnlichen  ist  in  Nissen's  Biographie  des  Meisters  abgebildet. 
Die  Breite  des  Gehorganges  hat  nach  Burckhardt-Merian's  Erfahrungen 
(Resultats  compares  des  differentes  Methodes  d'exploration  de  la  fonction 
auditive  1885,  S.  5)  wie  nach  0.  Wolf  (das.)  keinen  Einfluss  auf  die  Hor- 
fahigkeit  iiberhaupt.    Von  Schumann  sind  die  Gehorkndchelchen  und  das 


Berichtigungen  unci  Zusatze  zum  II.  Band.  561 

Labyrinth  noch  erhalten;  die  ersteren  sind  ausserordentlich  stark 
(ScHAAFFHAUSEN,  Ubcr  Beethoven's  und  Schumann's  Schiidel,  Corresp.-Bl. 
der  deutschen  Gesellsch.  f.  Anthropol.  Sept.  1885,  S.  147,  im  Arch.  f. 
Anthr.  XVI).  Freilich  werden  eben  so  starke  Knochelchen  wie  Schumann 
und  eben  so  grosse  Ohren  wie  Mozart  Tausende  haben,  die  gleichwol 
keine  Symphonien  im  Kopfe  tragen. 

Kurze  Correcturen  zum  I.  Band. 
S.  187  Z.  G  V.  u.  statt  „der  Membrana  basilaris"  zu  lesen  „des  Acusticus". 
S.  197  Z.  G  V.  u.  lies  „dazwischen"  statt  „dazu"  (sinnstorend!) 
S.  214  Mitte  statt  „dieselbe  plus  der"  setze  bios  „die",  und  in  der  vor- 

letzten  Textzeile    schalte    vor   „gr6sser"  ein:    „vom  Beginn    des 

Reizes  gerechnet". 

Die  im  I.  Bande  citirten  Paragraphenzahlen  des  II.  Bandes  treffen 
in  Folge  einer  etwas  veranderten  Ordnung  teilweise  nicht  mehr  genau 
zu.  Man  wird  die  beziiglichen  Stellen  des  II.  Bandes  nunmehr  mit  Hilfe 
des  Registers  finden. 


Berichtigungen  und  ZusUtze  zum  II.  Band. 

Zu  S.  17  unten:  Nach  Rousseau's  Dictionnaire  de  Musique  (erschie- 
nen  1767,  im  Manuscript  fertig  1750)  Art.  „Son"  scheint  die  Frage  der 
Moglichkeit  der  gleichzeitigen  Mehrheit  von  Tonen  daraals  viel  verhan- 
delt  worden  zu  sein.  De  Mairan  liess  durch  verschiedene  Tone  ver- 
schiedene  Teile  des  Ohres  afficirt  werden  (eine  auch  von  Condillac 
erwahnte  Ansicht).  Mengoli  liess  die  Tone  nur  successiv  zur  Empfin- 
dung  kommen.    Rousseau  findet   in   beiden  Ansichten  Schwierigkeiten. 

Zu  S.  55,  2.  Absatz,  1.  Zeile:  Statt  „ausgesprochen"  lies  „vertreten" 
(ausgesprochen  hatte  ich  die  Idee  selbst  friiher,  vgl.  S.  101). 

Zu  S.  112  Anm.:  Uber  gegenseitige  Beeinflussung  zweier  Pendel 
auch  Ellicot,  Trans.  Royal  Soc.  Bd.  41  (1739)  No.  453  S.  126,  128. 
Laplace  und  Chladni  in  Gilbert's  Ann.  Bd.  57  S.  229,  Bd.  60  S.  63. 
Isenkrahe  in  Carl's  Repert.  f.  Exp.  Physik  XVI  (1880)  110.  Oberbeck 
WiED.  Ann.  Bd.  34  (1888)  1041. 

Zu  S.  138  vor  f):  statt  „24a)"  zu  lesen  ,,24,1". 

Zu  S.  183  Z.  9:  Ferner  in  Mach's  Einleitung  in  die  Helmh.  Musikth. 
S.  28  („Leichter  ist  dies  —  die  Tone  eines  Accords  herauszuhdren  — 
bei  Dissonanzen,  schwieriger  bei  Consonanzen"). 

Zu  S.  199  Anm.:  Probl.  p.  918,  b,  34—39  sagt  Aristoteles,  der  tie- 
fere  Octaventon  sei  das  Analogon  des  hdheren,  er  sei  zugleich  derselbe 
und  ein  anderer;  bei  der  Quinte  und  Quarte  dagegen  finde  solches  Ver- 

Stumpf,  Tonpsychologie.    11.  36 


562  Berichtigungen  imd  Zusatze  zum  II.  Band. 

haltnis  nicht  statt.  (In  der  ersten  Zeile  dieses  Problems  ist  vor  nevTs 
natlirlich  to  5lu  oder  etwas  Aequivalentes  einzusclialten.) 

Zu  S.  229  vor  2.:  Sehr  bemerkenswert  ist  die  Tatsache,  die  mir 
friiher  bei  Studien  tiber  Localisation  nicht  eutging,  auf  die  mich  aber 
erst  Herr  Dr.  K.  Schafer  wieder  aufmerksam  gemacht  hat,  dass  die 
Unterdriickung  des  schwacheren  Tones  bei  Verteilung  zweier 
verscbiedener  Tone  (Gabeln)  an  beide  Ohren  erst  unit  viel  bedeuten- 
derem  Starkeunterschied  eintritt,  als  innerhalb  eines  und  desselben  Ohres. 
Es  ist  ja  iiberhaupt  solche  Verteilung  giinstig  filr  die  Analyse  (335); 
doch  mogen  hier  noch  direct-physiologische  Ursachen  mitwirken,  ■welche 
auch  die  Empfindungsschwelle  herabdriicken.  Auch  Scott  Alison  hat 
bei  Versuchen  mit  verteilten  Glocken  (freilich  einem  schlechten  Object) 
bemerkt,  dass  keine  Unterdriickung  stattiinde,  sobald  nur  beiderseits 
ein  geringer  Unterschied  des  ..Charakters",  worunter  er  anscheinend  die 
Hohe  versteht,  vorhanden  sei  („the  louder  and  graver  sound  does  not 
render  the  other  ear  insensible  to  the  weaker  sound  of  the  weaker 
bell").    Proc.  Roy.  Soc.  IX  No.  31,  S.  204,  bei  Fechner  Bin.  Sehen  548. 

Zu  S.  235  vor  dem  Kleingedruckten:  F.  Auerbach  sagt  Wied. 
Ann.  IV  (1878)  510  gelegentlich  der  Vocaltheorie:  „Man  hort  Obertone 
desto  leichter,  je  verscbiedener  ihr  Charakter  von  demjenigen  des  Grund- 
tons  ist  ...  .  Ein  Oberton  markirt  sich  desto  scharfer,  je  grosser  die 
grosste  der  Primzahlen  ist,  in  welche  man  seine  Schwingungszahlen  zer- 
legen  kann,  diejenigen  des  Grundtons  =  1  gesetzt". 

Der  grossere  Abstand  eines  hoheren  Teiltons  vom  Grundton  muss 
natiirlich  auch  die  Analyse  erleichtern  (gemass  II  319).  Aber  der  Unter- 
schied zwischen  dem  9.  und  8.  Teilton  in  dieser  Beziehung  ist  doch  sehr 
gering,  und  tiberdies  wird  nicht  bios  der  9.,  sondern  auch  der  7.  besser 
als  der  8.  vernommen. 

Zu  S.  239  Anm.:  „sowie  I  419  tiber  besondere  Empfindlichkeit  in 
der  Gegend  des  c^." 

Zu  S.  356 :  Im  2.  Absatz  ist  der  Satz :  „Dies  hangt  .  .  ."  nebst  dem 
Folgenden  zu  streichen. 

Zu  S.  401  Anm.:  In  der  „Neuen  Instrumentationslehre"  (deutsch 
1887)  fiihrt  Gevaert  ein  Beispiel  aus  Herold's  Zampa  dafiir  an. 

Zu  S.  410  3.  Z.:  Auch  meine  I  261  erwahnte  Beobachtung  bestatigt 
den  Schluss. 

Zu  S.  411  vor  dem  letzten  Absatz:  Die  Octaventauschung  bei 
Einzelklangen  in  Folge  der  Obertone  ist  in  Gevaert's  Traite  d'lnstru- 
mentation  1863  S.  193  geradezu  als  Kegel  der  musikalischen  Praxis  aus- 
gesprochen,  indem  er  sagt,  man  miisse  bei  einer  Melodie,  welche  stiick- 
weise  an  verschiedene  Instrumente  verteilt  wird,  den  tieferen  Klang  der 
mildereu  Klangfarben  in  Rechnung  ziehen.  Beispielsweise  die  melodi- 
sche  Phrase : 


Berichtigungen  iind  Zusatze  zum  II.  Band. 


563 


*EEEl: 


l^^fe1^3^^^m=^J 


durfe  man  an  Fagott,   Clarinette  und  Flote  nicht  so  verteilen,  wie  sie 
hier  geschrieben  ist,  sondern  immer  nur  eine  Octave  hoher: 


Erst  dann  wird  die  Melodic  so  verstanden,  wie  sie  gemeint  ist. 

Ich  muss  gestehen,  dass  mir  auch  einige  Stellen  in  classischen 
Stiicken  fiir  Violine  und  Clavier,  wie  in  Beethoven's  Senate  op.  23 
2.  Satz  die  beiden  Instrumenten  stiickweise  zugeteilten  auf-  und  ab- 
steigenden  Gange,  allemal  ein  wenig  unnatiirlich  vorkommen.  Die  Fort- 
setzung  der  Leiter  durch  das  andere  Instrument  hat  etwas  Sprunghaftes, 
Gezwungenes. 


36* 


Register  zuin  I.  uiid  II.  Baud. 


A.  nach  einer  Ziffer  =  Anmerkung.    a.  =  aufeinanderfolgend.    f.  =  Ausfiihrung  von  mehr 

als  zwei  Seiten.    g.  =  gleichzeitig.    i.  A.  =  im  Allgemeineu.    o.  =  oben.     s.  d.  =  siehe 

dortselbst.     T.  =  Ton ,  Tone.     u.  =  unten.     *  =  eine  Worterklarung  (bei   f.*   findet  sich 

dieselbe  im  Laufe  der  Ansfuluning). 


Abkliugen  s.  Anklingen. 
Absolutes  Tonbewusstseiu   s. 

Hohenurteile  a). 
Accent  I  366.  372.  375.  Vgl.Rhyth- 

mus. 
Accommodation  a)  d.  Ohres  an 
die  Hohe  I  168  f.  405:  an  die 
Starke  I  363. 

b)  d.  Aufmerksamk.  I  309. 

c)  scheinbare  A.  der  T.   an  eiu- 
ander  II  114  A.  396  f. 

d)  d.  specifischen  Energien  II  95. 
lllf.  484  f. 

e)  schwingender  Korper  II  112. 
354  A.  361. 

Active  Versuchsmethode  I  63. 

64. 
Adaptation  I  17  A.*. 
Addition,   Keine  A.  d.  Empfind.- 

Starke  I  42.  121.  350.  399. 
Keine  A.   der  Aufmerksamkeits- 

starke  I  75  o.    II  313. 
Keine  A.  d.  Tongrosse  II  58.  537. 
Ahnlicbkeit  (u.  A.-Urteile)  a)i.A. 

I  96.  lllf.  II  272.  Vgl.Distanz, 

Reibenbildung. 

b)  bei  T.   und  Klangen    I  114  f. 
142  f.  425.    II  194  f.  408. 

c)  bei  Farben  I  145.  Vgl.  Misch- 
ung. 

d)  zwischen    Empf.    heterogener 
Sinne  I  113.  348.    II  47.  530. 

Analyse  a)  i.  A.  I  96*.  106  f.  II 
3f.*  22.  60  f.  78.  Vgl._  Auf- 
merks.  1)  (3,   Unterscheidung. 

b)  bei  a.  T.  I  137.  184.  229.  232. 
'  234.    II  1. 

c)  bei  g.  T.  II  1  f.  Vgl.  Heraus- 
horen. 


Richtigkeit    und    Zuverlassig- 
keit  d.  A.  g.  T.  II  318  f.*. 

d)  bei  Gerauscben,  Klangfarben, 
Klangmiscbungen  s.  d. 

e)  Nacbtragliche  A.  I  107.  II  8. 
277.  358  f. 

f)  Mittelbare  (scbeinbare)  A.  I 
108.  II  5.  81  f.  344.  545  f. 
Vgl.  Einheitslehre,  Mittelbare 
Kriterien,  Schwebungen  (Ein- 
fluss  d.  Scbw.  a)). 

g)  Objective  (physikalische)  A. 
I  107.    II  4.  238.  501. 

b)  Physiologische  II  70.  87  f.  520. 

S.  auch  Scbnecke. 

Anatomiscbe     Grundlagen     s. 

Ilorsphare,     Korperliche     Gr., 

Scbnecke,  Specif.  Energien. 

Anatomiscbe    Souderung     der 

Touprocesse,  Postulat  II  87  f. 
Anklingen  u.   Abklingen    (objec- 
tives u.  subjectives)  1 16.  211  f. 
220.  277  f.  360.   391.     II  237. 
263.  266  A.  329  A.  364.  516  u. 
Vgl.  Nachempfindungen. 
Anlagen  a)  Allgemeineres  I  36.  37. 
71.  77.  91.  262  u.  279.    II  347. 
Speciell:  a)  d.  Aufmerksamk. 
171.  74.  245.  263  0.  II  345. 
/?)    d.   Gedacbtnisses  (d.  Vor- 
stellungfabigk.)  I  77.   279. 
II  347. 
y)   d.  Urteils  als  solcben  I  37, 
52.  262. 
b)  im  Tongebiet  I  262  f.  330.  408. 
II 116.  345.  347.  382.  512.  556. 
560  u.  Vgl.  Individuelle  Unter- 
schiede,  Kinder,  Musikaliscbe, 
Unmusikalische,  Vererbung. 


Register  zum  I.  unci  II.  Band. 


565 


Anpassung  II  120.  S.  Accommo- 
dation, Adaptation. 
Apperception  I  5*.  II  76*.  132. 

211. 
Aeistoteles'  Musikalische  Pro- 

bleme  I  195  A.  (wozu  II  267  u). 

224.    381  A.    II   199  A.    390  f. 

(wozu  550).    5(J1  u. 
Associationen  a)  zur  Theorie  d. 

A.  178.  92.  201.  290  u.  II  208  f. 

360.  536. 
b)  an  Tone    I  153  f.    189  f.   207. 
221  f.  239.  309  u.  366.    II  515. 

518.  Vgl.Muskelempfindungen. 
Auffassuug  15*.  42.    S.  Urteil. 
A.  eines  Ganzen  unter  dem  Be- 

griff   eines    seiner   Teile   II  7. 

383  f.   423  f.   486.   489  f.   531  f. 

540. 
Aufmerksamkeit  a")  Wesen,  Ur- 

sachen,Wirkungen  i.  A.  I  67  f.*. 

II  276  f.*.  Vgl.  Interesse.  Spe- 

ciell : 

b)  Accommodation,  Anlage,  Con- 
centration, Ermiidung,  Maxi- 
mum, Messung,  Ubung,  Wett- 
streit  d.  A.  s.  d. 

c)  Willkiirliche  A.  I  69  *.  249. 
308.  II  39.  114  A.  162.  283  *. 
478.  502.     S.  n). 

d)  Gleichzeitige  A.  auf  Mehreres 
(gleich  u.  ungleich  verteilte  A.) 
II  308  f.  345.  361.  490, 

e)  Nachtragl.  A.  I  389.  II  29. 
277.  360.    Vgl.  Analyse  e). 

f)  Intensitatsschwankungen  d.  A. 

I  70.    II  317.  353.  360. 

g)  Beweglichk.  d.  A.  II  317. 

h)  Tragheit  d.  A.  I  244.  386.  391. 

II  318.  358.  559. 

i)  Erregung   der    A.    durch    Be- 

wegtes,  Schwinden  d.  A.  gegen- 

iiber  Constantem  I  18.   388  f. 

II  338. 
k)  Gewohuheitsmassige   Richtun- 

gen  d.  A.  I  236.  331.  371.  388. 

390.    II  161  A.  232.  236.  239. 

249.  338.  344.  346.  417.  482  A. 

491.     512.     554.     558  (2.  Ab- 

satz). 
(Wirkungen     u.     Begleiter- 

scheinungen  d.  A.:) 
1)  A.  als  Bedingung  der  Zuver- 

lassigkeit  von  Urteileu 


a)  iiber  a.  T.  I  245,  speciell 
tlber  absolute  T.  -  Hohe 
I  309,  liber  relative  T.- 
Hohe  I  331,  iiber  T.-Starke 

I  373  f. 

/?)  iiber  g.  T.-Mehrheit  (Ana- 
lyse u.  Heraushoren)  1 107. 

II  19.   29.  77.   78  f.  286  f. 
344  f.  360. 

m)  BeziehungzumGedaclitnis  I  73. 

288.  289.    II  347.  361. 
n)  Verstarkung,  Veranderung,  Er- 

zeugung  V.  Emptindungen  durch 

A.  (besonders   durch   willkiirl. 

A.)  I  71.  243,  260.  261  u.  373  f. 

427  XX.    II  290  f.    314.    316  A. 

354.  419.  444. 
0)  Innervation   durch  'A,   I  375  f. 

II  305  f. 
p)  A.  u.  Muskelaction  1 153  f.  168. 

II  301  f. 
q)  Einfluss  d.  A.  bei  Schwebungen 

s.  das.  m). 
Augenmassurteile  125.  27.  57 f. 

117.  129. 
Ausdehnung,  A.  d.  Tone  I  207  f. 

426.    II  51.  56  f.  228  u.  336  A. 

386  f.  432.  433.  535  f.  550. 
A.    u.   Farbe    beim    Gesichtssinn 

I  92  A.    II  65.  210. 
Aussenwelt  1 23. 101.  II  70f.  213. 

Beachten  II  282*. 

BedinguugenderZuverlassig- 
keit  s.  Zuv. 

Beitone  II  3*.  229  f.  Vgl.  Com- 
binations-, DitFerenz-,  Ober-, 
Summations-,  Variations-T. 

Bemerken  I  96*.    II  278.  282. 

Benennungsurteile  i.  A.  I  5.  25. 

II  8.   B.  bei  Tonen  vgl.  Hohen- 
urteile  a). 

Bewegtes  (Verandertes),  Einfluss 

auf  die   Auffassung    II  239  A. 

337  f.    393  f.   413.  490  f.   547  f. 

Vgl.   Schwebungen   1),    Veran- 

derungen. 
Bewegungena) willkiirliche  1 158. 

162  f.   167.    241.   293.    II  295. 

296.  Vgl.  Muskelempf.,  Singen. 
b)  unwillkiirliche   und  Reflex -B. 

I  92.    154  f.    342.   363.   400  A. 

II  89  A.    95.    96.   297  f.  302  f. 
445.  512. 


566 


Register  zum  I.  unci  II.  Band. 


c)  Tonbewegung  I  184.    II  340. 
Vgl.  Stetigkeit. 
Bewegungsempfindungen  siehe 
Muskelempfindungen. 
Optische  B.  II  340. 
Bewusstsein  I  8 A.  12*    34.  72. 
lOB  u.  389.    II  30.  76.  361. 
Unmittelbares  B.    (primares   Ge- 
dachtnis)  I  98.   279.  283.  389. 
II  277.  360. 
Vgl.  Merklichkeit,  Unbewusstes. 
Beziehen  I  96*. 
Beziehung,  Gesetz  d.  Bez.,  s.  Re- 

lativitat. 
Beziehungen,  Anffassung  von  B. 
als  Bedingimg  der  gleichzeitigen 
Aufmerksamk.  II  309  f. 
Breite  d.  T.  s.  Ausdehnung. 
B.  des  T.  bei  den  Alten  I  188  *. 

Charakter  d.   Klange  u.   Instru- 

mente  11  515  f. 
Chemie  d.  Vorstellungen  1107. 

II 10.  131  f.  208  f.  275.  526.  540. 
Coexistenz     von     Merkmalen 

I  92. 

Bewirkt   haufige   C.    Verschmel- 

zung?    II  208. 
Combinationstone    II  3*.    243. 

450.    Vgl.  Differenz-,   Summa- 

tions-T. 
Concentratiou    der  Aufmerk- 
samk.  I  73.    II  29  f.   78.   141. 

162.    232.   236.   248.  .289.  304. 

Vgl.   Aufm.   d) — i).    Ubung  d). 
Consonanten  I  397.  423.    II  453. 

509.  514. 
Consonanz  (consonante  Intervalle) 

u.  Verwandtschaft  I  101.   339. 

417.    II  231.  333*.   Vgl.  Inter- 

vall.  Reinheit.  Verschmelzung. 
Dualistische  Theorie  d.  C.  II  252. 

265.  389  u. 
Wahrnehmung  des   Unterschieds 

von  G.  u.  Dissonanz  I  48.  265  u. 

II  365.  369.    Vgl.  Kinder,  Uu- 
musikalische  (passim). 

Schwebungen    verstimmter   C.-en 

II  492  f. 
Continuitat  s.  Glatte,  Stetigkeit. 
Contrast  I  11.  20.  39.  II  398.  447. 

448.  543  u. 
CoRTi'schesOrgan  1301.  II90f. 

94. 


Dauer  der Urteilsbildung  I  4. 

65  u.    214  f.    309.    II  37.    236. 

335.  372. 
D.  d.  unmittelbaren  Bewusstseins 

I  72  u.  98  A.  283.  309.    II  277. 

278. 
D.  d.  Empfindung  gegeniiber  dem 

Reiz  s.  An-  u.  Abklingen,  Nach- 

empfindungen. 
Einfluss  der  Reiz-  u.  Empfindungs- 

D.  s.  Zeit. 
Deutlichkeit   II  6*.  287*.  288. 

306  A.  307.  332.  334.  469.  507. 
Differenztone  I  204.    II  228  A. 

229  f.   243  f.*  260  A.  292.  342. 

348.  351.  354.  364.  385  u.  427. 

493  f.  542. 
Dimensionen    a)    bei    Tonquali- 

taten  I  140  f.    II  10.  23.  198. 
b)  bei  Farbenqualitaten  I  29. 144. 
Diplakusis  s.  Doppelthoren. 
Discontinuitat  a)  der  Tonreihe 

I  184.    II  95.    116. 

b)  d.  Intensitatsreihe  I  351.  427. 

c)  d.  tiefenT.  oder  Klange  I  173. 
203.    II  455.  468  A. 

Dissonanz  (diss.  Intervalle)  s.  Con- 
sonanz. 
D.  und  Schwebungen  II  460.  465. 

470.  508  u. 
D.  und  Hohenschwankung  II  476. 
Auflosungsbestreben  d.  D.  I  14. 
Distanz  und  D.-Urteile   a)  i.  A. 

I  57  f.*.  122  f. 

b)  bei  Tonqualitaten  I142f.  247 f. 
259.  260.  II  385.  397  u.  403  f. 
551. 

c)  bei  Tonstarken  I  392  f.  II  226. 
418.  433.  465.  467.  560. 

d)  bei  Verschmelzungsstufen 

II  173  f. 

e)  bei  Vocalen  II  524  A. 
Einfluss  d.  Hohen-,  Starke-,  Zeit- 

D.  s.  Hohe,  Starke,  Zeit. 
Divisionston  II  252*. 
Doppelseitigkeit     des     Tonge- 

bietes  I  143. 
Doppelthoren  I266f.424.  II 109. 

221.  459.  460.  551. 
Doppeltsehen  II  75.  372  A. 
Dreiklang  (Analysirbarkeit)  II  9. 

69.    302.    331.    367.    376.   380. 

Vgl.  Dur-  und  Molldreikl. 
Dualism  us  s.  Monismus. 


Register  zum  I.  unci  II.  Band. 


567 


Dualistische  Consonanzlehre 

I  150.     195  A.     II   252.    265. 
389  u. 

Dumpf  (Dunkel)   unci  Hell   a)   als 

Elements  d.  T.  II  272  f. 
b)  als  Bezel chnungen  d.  Tonhohe 

(u.  Starke)   II  531.  533.     Vgl. 

Helligkeit,  Klangfarbe. 
Dur-  u.  Molldreiklange  a)  Un- 

terscheidungszeit  II  335. 

b)  Schatzung  der  Tonzahl  bei  Kin- 
dern  II  376.  380. 

c)  Unterschied  ihrer  Annehmlich- 
keit  fiir  Unmusikalische ,  fiir 
Kinder  II  158.  364  u.  378. 

Durchdringung  g.  T.  II  55.  58. 
130. 

Ebenmerkliche     Empfindun- 
gen  a)  i.  A.  I  40.  49  u. 
b)  im  Tongebiet    I   263.     373  f. 

II  220  f.  348.  436  f.  500  f.  538. 
542. 

Ebenmerkliche  Unterschiede 
(und  Urteile  dariiber) 

a)  i.  A.  I  25.  27.  30  A.  51.  55.  56  f. 
76.  78.  119.  123  f.  Vgl.  Be- 
merken,  Merklichk.,  Schwelle, 
Unterscheidungsfahigk.,  Unter- 
schiedsempfindlichk. 

b)  bei  T.-Qualitaten  I  138.  296  f. 
313.    II  163.  319  f.  396.  552. 

c)  bei  T.-Distanzen    I   248  f. 
II  403  f. 

d)  bei  T.-Starkeu  I  349.  354. 
371.  II  416  u.  430  u.  Vgl.  auch 
Schwebungen. 

e)  bei  T.-Starkedistanzen  I  392  f. 

f)  bei  T.-Verschmelzungen  (Rein- 
heit  V.  Intervallen)  II  137. 

g)  bei  Gei  auscbtonen  und  Klang- 
farben  II  501. 

Einfacbe  Tone  II  257  f. 
Farben  e.  Tone  II  524  f. 
E.  Farben  s.  Mischung. 
Einfacbheit  d.  Seele   bei  Her- 

BART  II  68.  186.  192. 
Einheitslehre  hinsichtlich  g.  T. 

H  12  *.   14.   17  f.  (histor.)    23  f. 

40.  68.  425. 
Einzelklang   II  2*. 
Elektriscbe  Reizung  des  Hor- 

nerven  I  368.    404.     II  118  A. 

443  A. 


Empfindlicbkeit  (Umfangs-,  Un- 
terscbieds-)  i.  A.  I  28  *.  49  f. 
(Messung). 
Vgl.  Gedachtnis  c),  Grenzen,  Hor- 
scbarfe ,  Individuelle  Unter- 
schiede, Pathologisches,  Unter- 
schiedsempfindl. ,  WEBER'sches 
Gesetz. 
Veranderung  d.  E.  durch  indivi- 
duelle u.  generelle  organ.  Ent- 
wickelung,  durch  Ubung,  durch 
physiol.  Einfliisse  wahrend  der 
Reizwirkung  s.  Entwickelung. 
Schwankungen,  Ubung. 

Emp  fin  dung  i.  A.  a)  E.  u.  Urteil 

I  If. 

b)  Momente  d.  E.  I  36  A.  238. 
240  A.  347  f.  II  65.  558.  Vgl. 
Ausdehnung,  Helligkeit. 

c)  Reiue  E.  I  10.  34.  306.     . 

d)  Negative  u.  unbewusste  E.  I  34. 

172.  386. 

e)  Keine  Addition  von  E.  s.  Ad- 
dition. 

f)  E.-Ganzes  u.  -Telle  II  64. 

g)  Einheit  u.  Mehrheit  von  E. 
(Kriterium)  II  66*. 

h)  Verhaltnisse  v.  E.  I  96  f. 

i)  Kann  man  sich  iiber  seine  E. 

tiiuschen?  I  31  f. 
k)  E.  als  Zeichen  von  Objecten 

II  70  f. 
1)  Neben-  u.  Mit-  (Reflex-)  E.  u. 

Einfluss    derselben   I  34.    50. 

92*.    203.    400  A.    421.    422. 

II  63.  89  A.  121  A.  329.  533. 
Vgl.  Bewegungen,  Muskel-, 
Tast-E. 

S.  ferner  Anklingen,  Aufmerk- 
samk.  n),  Empfindlichk. ,  Ent- 
wickelung. Ermiidung,  Locali- 
sation, Merklichk.,  Sinne,  Star- 
ke, Urteil  u.  A. 

Empfindungskreis,  akustischer 
n  115*. 

Empirismus  u.  Nativismus  I  95*. 

173.  175.  331.  350.  II  44.  51  f. 
71  f.  511.  558. 

Entfernuug  a)  Schallschwachung 
mit  der  E.  I  395.  II  559  u. 
Vgl.  b). 
b)  Verschiedenes  Verhalten  von 
Gerauschen  u.  Tonen,  Conso- 
nanten  u.  Vocalen,   hohen  u. 


568 


Register  zum  I.  und  II.  Band. 


tiefen  Tonen  bei  d.  E.  I  208. 
242.  396.  397.  426  (histor.) 
II  430.  517.  559  u. 
c)  Anderung  der  Klangfarbe  bei 
d.  E.  I  208.  242.  II  355.  517. 
Entwickelung  a)  Individuelle  u. 
generelle  organische  E.  d.  Ton- 
empfindlichkeit  I  84.  92.  264. 
339  f.  342.  378.  400.  II  9.  92. 
116  f.  (der  specif.  Energien). 
Vgl.  Ubung. 

b)  Generelle  E.  der  Verschmel- 
zungsstufen  II  215  f. 

c)  Indiv.  u.  generelle  E,  d.  Ton- 
auffassung  I  91.  279.  331. 
II  11  u.  68  u.  117.  177.  215  f. 
297  u.  382.  417.  S.  auch  Auf- 
merksamk.  k),  Erfahrung,  Ge- 
wohnh.  Auff.,  Kinder,   Ubung. 

d)  Generelle  E.  d.  Reactionszeit 
bei  T.  I  378;  der  Merklichkeit 
des  Bewegten  II  339. 

Erfahrung  I  87*. 

Einfluss  d.  E.   a)  auf  d.  Analyse 

II  14.  69  f.  430. 
b)  auf  d.  Unterscheidung  zusam- 
menklingender       Instrumente 
II  545  f. 
Vgl.  Empirismus,  Gewohnh.  AufF., 
Mittelb.  Kriterien,  0bung. 
Er  ho  hung    ausschwingender    Ga- 
beln  s.  Stimmgabeln. 
E.  der  Orchesterstimmung  I  303. 
Erholung  I  86.  361.  362. 
Erkennen     I    96*.       Wiederer- 

kennen  s.  d. 
Er  mil  dung   a)  Sinnes-    I   16.    18. 
85.  360  f.  389.    II  466  A. 
b)  d.  Aufmerksamkeit  I  18  u.  85. 
361  A.    II  237.  381.  Vgl.  Auf- 
merks.  f),  i). 
Erscheinung  u.  Schein   I  32. 
Erziehung  des  Gehors    II  382. 
Ethnologisches     I    192  f.     340. 
II  85.  179.  215.  402. 

Farben  I  29.  144.  183.  282.  344. 

381.   416.     II  212.     Vgl.  Aus- 

dehnung,  Mischung,  Sinne  c). 
Ton-  und  Klang-F.  s.  d. 
Fechneb's   Gesetz   I  51.    395  f. 

II    418.    465.    559.    560.     Vgl. 

Weber's  Gesetz. 
Frauen  1 161.  278.  286.  II  380.  556. 


Ganglien  als  Trager  der  specif. 

Energien   II  108  f.   Ill  f. 

Anzahl  d.  Ton-G.  s.  Zahl  a). 

Ganzes  gegeniiber  Summe  II  64. 

Vgl.  Auffassg.,  Verschmelzg. 
Gedachtnis  a)  Begriff  u.  Einfluss 

i.  A.  I  75  f. 

b)  Unmittelbares  (primares)  I  98. 
279.  283.  309.  389.  II  277. 
347.  360. 

c)  Beziehung  d.  G.  zur  Vollkom- 
menh.  d.  Sinnes  I  166.  287. 
312.  414  f.    II  416. 

d)  Periodicitat  (Schwankungen)  d. 
G.  I  285.    II  550. 

e)  Ubertragung  d.  G.  I  82. 

f )  G.  fiir  Tonhohen  I  154  f.  230. 
245  u.  279  f.  311.  414  f.  II  346. 
550.    Vgl.  Hohenurteile  a). 

g)  G.  fiir  Toustarken  I  346.  372. 
399  u.  400  A.    II  464  u. 

h)  G.   fiir  Intervalle  u.  Melodien 
s.   Intervall,   Melodie,   Singen. 
i)  G.  fiir  Klangfarben  1157  f.  166. 
420.  424.    II  416.  Vgl.  Instru- 
mente. 
k)  G.    fiir    Muskelempfindungen 
I  158.    162.    166.    291  f.    346. 
424  u.    II  553  u. 
Vgl.     ferner    Anlagen,     Hyper- 
mnesien,    Korperliche    Grund- 
lagen,    Minimales    e),    Maxi- 
mum,   Phantasievorstellungen, 
Ubung. 

Gefiilil  u.  Einfluss  desselben  1 16 A. 
87.  177.  202.  227.  240.  289. 
295  u.  304.  415  f.  II  81  f.  141. 
151.  204.  345.  Vgl.  Aufmerk- 
samk.,  Harmonic-,  Klang-,  Ton- 
gefiihl. 

GehoT  s.  Anlagen  b),  Consonanz, 
Dreiklang,  Ebenmerkl.  Unter- 
sch.,  Entwickelung,  Erziehung, 
Gedachtnis,  Gefuhl,  Heraus- 
horen,  Hohenurteile,  Intervalle, 
Melodie,  Patholog.,  Prufung, 
Schwelle,  Singen  (nebst  den  je- 
weiligen  Verweisungen). 

Gehorgang  I  370.  560  u. 

Gehorknochelchen  I  369.  404  u. 
409.     II  104.   106.   441.  560  u. 

Geistesstorungen  in  Folge  von 
Gehorleiden  I  284. 

Gemeingefiihl  I  10.  70.  285.  389. 


Register  zum  I.  und  II.  Band. 


569 


Genauigkeit  I  27*.  76. 

Gerausche  a)  Weseu,  Classen, 
qualitatives  Verhaltnis  zu  To- 
nen,  Hohe  u.  Tiefe  II  497  f. 

b)  Organ  f.  G.  I  205  A.  II  105  A. 
498  f.  511.  513. 

c)  Physik.  Definition  (ReizUI  498. 
499.  513. 

d)  Schwelle  fur  G.  I  384.  II  503. 
Vgl.  g). 

e)  Ermiidung  u.  Nachempfinduug 
bei  G.  I  360. 

f )  Relative  Zuverlassigk.  (rel.  Un- 
terschiedsempfindl.)  fiir  G.- 
Stilrken  I  357. 

g)  Relative  Starke  (auch  Aufmerk- 
samkeit)  fiir  G.  gegeniiber  T. 

I  265.   365  0.   396.     II  161  A. 
232.  512.  513. 

Ungleiche  Abuahme    mit    der 

Entfernung  I  396. 
Ungleiche     Herabsetzung      in 
pathol.  Fallen  I  402.  415. 
h)  Gegenseitige  Beeiuflussung  g. 
T.  u.G.  (Unterdruckg.)  II  105  A. 
229.  332.  455  0.  505. 
i)  Heraushoren    von    T.    aus    G. 

II  266.  292.  500  f.  504. 

k)  Uuterscheiduug   und    g.    Auf- 

merksamk.   auf  mehrere  g.  G. 

II  316.  511. 
1)  G.  der  Instrumente  II  266.  332. 

455  0.  482.  AlsTeil  ihrerKlang- 

farbe  u.  alsKennzeichen  II  266. 

482.    504.     517.    535.    539  A. 

548. 
m^  Schwebungs-G.    II  452.    454. 

472.  504. 
n)  Diffuses  Tages-G.  I  380. 
0)  Subjective  G.  I  255.  382.  420. 

II    104.    223.    296.    502.    510. 

511.  513. 
Geschichtliches    liber    Theo- 

rien  I  8  A.   39  A.   51  A.  90  A. 

224  f.  380  A.  II  17  f.  99  f.  181  f. 

232  A.  235.  247.  454  A.  497  A. 

520.    561.     Vgl.    Akistoteles, 

Griechische  Musik,  Ohm. 
Gesichtssinu  s. Augenmassurteilc, 

Ausdehnung ,       Bewegungsem- 

pfindungen,  Farben,  Indirectes 

Sehen,  Mischung,  Sinne. 
Gewohnheitsmassige   Auffas- 

sungen  I  5.  10.  12.  189.  239. 


II  70  f.  195.  387.  Vgl.  Auf- 
merksamk.  k),  Erfahrung,  Tau- 
schungen. 
Glatte  s.  Discontinuitat,  Ober- 
tone  b)  }'),  Schwebungeu  (Ein- 
fluss  d.  S.  d)). 
Gleichheit  I  111*. 

Keine    absolute    G.    bei    Sinnes- 

inbalten  I  25.  51.  119. 
G.  d.  Ebenmerklichen?  I  51.  353. 
G.-Urteile   s.   Ebenmerkl.  Unter- 
schiede.  Unterscheidung. 
Gleichzeitiges  Aufmerken 
11  308  f.  490. 
G.  Horen  s.  Mebrheitslehre. 
Gleicbzeitigkeit,   G.  des  Beur- 
teilten  im  Bewusstsein  I  98. 
Einfluss  d.  G.  des  Empfundenen 
auf  das  Urteil    I   100.     II  22. 
60  f. 
Gradverhiiltnis  s.  Steigerung. 
Grenzen  a)  der  Empfindung  i.  A. 

I  28*.  49. 

b)  des  Tongebietes  I  178  f.    263. 

II  539  A.  551.     Vgl.  Ton. 
Vgl.  Schwelle,  Stctigkeit,  Unend- 

lichkeit. 
Griechische  Musik  u.   Musik- 
theorie  I  136  A.  139  u.  162  u. 
186.  187  u.  193  f.  221.  224.  341. 
II  17.  241.  390.  417.  550.  Vgl. 
Akistoteles. 
Grosse,    Begriff   d    G.    uicht   auf 
Qualitiiten  und  Intensitaten  an 
sich,    dagegen    auf  Distanzen 
solcher  anwendbar  s.  Addition, 
Distanz,  Starkenurteile  a). 
Grosse   der  Tone   siehe  Ausdeh- 
nung. 
Grossenschatzung     s.     Distanz. 
Optische   G.    s.  Augenmassur- 
teile. 
G.  iu  Beziehung  zur  Unterschieds- 
empfindlichkeit  I  61.  250. 
Grundmembran  s.  Schnecke. 
Grundton  a)  akustischer  II  2*. 
Angebl.   einigende  Kraft  des- 

selben  II  330. 
Bedeutung    fiir  d.  Auffassung 

der  Klanghohe  II  7.  407. 
Bedeutung  fiir  die  Klangfarbe 
II  543. 
b)  musikalischer    II    203.     368. 
386  f. 


570 


Register  zum  I.  iind  II.  Band. 


Haarzellen    I    301.     11    91.    94. 

102  f . 
Hallucinationen     I    284.      376. 

411  f.    II  121  A. 
Harmoniegefiihl  II  31.  32.  135. 

158.     212  A.     364.     374.     378. 

528  A. 
Helligkeit  a)  von  T.    I  203.  221. 

II  199  f.  531  f. 

b)  von  Klangfarben  II  520  f. 

c)  von  Farben  I  145*.  221. 
Helmholtz'  Theorie  der  Ana- 
lyse II  20.  24  f.  70  f. ;  der 
Combinationstone  II  243  A. 
250  A.  255  f. ;  der  Gerausche 
II  497;  der  Klangfarbe  II  516; 
der  Schnecke  s.  d.;  der  Schwe- 
bungen  II  450  f. 

Heraushoren    II  6*.    23  f.    70f. 

219  f.  276  f.  318  f.  362  f.  500  f. 

Speciell:  H.  von  Beitonen  s.  Dif- 

ferenztone,  Obertone  a). 
H.   d.   ausseren  T.   eines  Zusam- 
menklanges  II  346.    364.    368. 
370.  380. 
HEEBART'scbes     s.     Eiufachbeit, 

Octaven  a),  Wecbselwirkung. 
Ho  be  a)  Begriff  f=Qualitat)  I  135*. 
II    199.     Vgl.    Reihenbildiing, 
Steigerung. 

b)  H.  u.  Tiefe,  Ursprung  dieser 
Raumsymbolik  I  189  f.;  bei 
anderen  Sinnen  I  225. 

c)  H.  u.  Tiefe  von  Gerauscben 
I  365.  II  119  A.  4.53.  499. 
507  u.  509.  510. 

d)  H.  eines  Klangganzen  II  7. 
383  f.  406  f.  Vgl.  Octaven- 
tauscbung. 

e)  H.  d.  Scbwebungstones  II  471  f. 

f)  H.  u.  Klangfarbe  II  531.  Vgl. 
Klangf.,  Vocale. 

g)  Ungleicbe  H.  in  beiden  Obreu 
I  234.  II  320.  Vgl.  Doppelt- 
horen. 

h)  Merkmale,    die    sich   mit  der 

H.  verandern    I  202  f.    231  u. 

232.    II  56.  532.  537.  538  u. 
i)  Parallelitat    der    H.    mit    den 

Schwingungszahlen  I  152.  174. 

181.  225. 
(Einfluss  d.  H.  u.  H.-Distanz:) 
a)  Einfluss  auf  Urteile 

a)  uber  a.  T.  I  227.  29G  f. 


/?)  uber  Tonstarken  I  365  f. 
371.    II  417. 

Y)  liber  Mebrbeit  g.  T.  (Ana- 
lyse) II  136.  139.  154.  319  f. 
542  A.  562. 

6)  iiber  Klangbobe  II  384  f. 

b)  Einfl.  auf  die  Klangfarbe  II531. 
538.  539  f. 

c)  Einfl.  auf  die  Verschmelzung 
II  136.  139.  196  f.  218. 

Hobengedacbtnis  s.Gedacbtn.f). 
Hohenurteile    a)    iiber    absolute 

T.-H6be  I  25.   139.   157.   159. 

280.  305  f.    II  369.  380.  553  f. 

b)  iiber  relative  T.-Hohe  (welcber 
T.  boher)  I  140  f.  229.  235. 
237  f.  313  f.  II  157.  363.  381. 
396.  556. 

c)  iiber  Gleichheit  d.  Hohe  and 
Hohendistanz  s.  Ebenmerkl. 
Unterscbiede  b)  und  c). 

Mittelbare  H.  s.  Mittelbare  Kri- 

terien  b),  c). 
Scbwankungen  d.  H.   I  244.  260. 

II  114  A.  326  f. 
Zuverlassigkeit  d.  H.  s.  d. 
Abbangigkeit    d.    H.    a)    von 

der   Hobe   u.  Hobendistanz  s. 

Hohe  (Einfluss  a)  a)  und  d)). 

b)  von  d.  Starke  I  236  f.  254  f. 
265.  315.    II  478. 

c)  von   d.  Ausdebnung    II   386  f. 

d)  von  d.  Klangfarbe  I  157.  159. 
176.  235.  240  f.  253  f.  309. 
426  u.  II  406  f.  486.  531.  553. 
554.  562  u.    Vgl.  a)— c). 

e)  von  d.  Anwesenbeit  anderer  T. 
II  396  f.     Vgl.  d). 

Horen  (bez.  Horcben)  a)  doppel- 
ohriges  gegeniiber  einobrigem 
H.  I  235.  385.  II  236.  315. 
319  u.  430  f.  438.  441  u. 

b)  Ungleichseitiges  gegeniiber 
gleichseitigem  H.  I  234.  364. 
II  245.  547.  Vgl.  Doppelt- 
boren,  Oliren.     Speciell: 

c)  H.  mit  verteilten  Gabeln 
(bez.  Telepbonen): 

a)  Analyse  und  Localisation 
II  45.  52.  60.  336.  363. 

/?)  Unterdriickung  II  562. 

y)  Verscbmelzung  II  138. 

S)  G.  Scbwelle  II  320.  323  u. 
326  u. 


Register  zum  I.  and  II.  Band. 


571 


e)  G.  Aufmerksamk.  II  315. 

^)  Hohenurteil  iiber  Klange  u. 

ihre  Telle  II  384.  396.  397. 

/;)  Starkeurteil  I  254.    II  431. 

432.    438  (Teleph.).    441  u. 

442  (Teleph.) 

&)  Combinationstone  II  256  A. 

496. 
/)  Schwebungen  II  458.  469  A. 
470.  491.  492.   493  A.  496. 
Horhaare  II  93.  102.  498. 
Horscharfe  I  377  f.  400  f.  408  f. 
H.   fiir  Gerausche  gegenilber  T. 
s.  Gerausche  d),  g). 
Horsphare  I  289. 
Horstorungen  s.  Pathologisches. 
Horzellen  I  301.   II  91.  94.  102  f. 
Hyperaesthesie      (Hyperakusie) 

I  359.  402.  406.    II  89.  93. 
Hypermnesie  I  285. 

Indirectes   Sehen    I   17  A.    71. 

II  312  A.  340.  372  A. 
Individuelle  Unterschiede 

a)  i.  A.  I  37.  47.  71.  74.  77.  91. 

b)  der  T.-Empfindung.,  T.-Vor- 
stellung,  T.-Auffassung 

a)  bezugl.  d.  qualitativen  Seite 

(u.Analyse)I147. 148. 153f. 

201.  228.  262  f.  308.  327  f. 

330f.II9.20.72.  82.84. 116. 

326.335.347.  362 f.  477.  507. 
/?)  bezugl.  d.  T.-Starke  I  358. 

384.  399  f.  512. 

c)  heziigl.  d.willkiirl.Verstarkung 
I  377.    II  292.  294.  307. 

Vgl.  Frauen,  Kinder,  Musikalische, 
Unmusikalische. 
Innervation,  centrale  I.  sensibler 
Nervenelemente  I  375.    II  305. 
Innervationsempfindungen 

I  166.   176.   426.     II  259.  306. 
550. 

Instrumente,    Charakter   der    I. 

II  515.  518. 

Klangfarbe  eiues  I.  in  verschie- 

denen   Regionen   II  240.    520. 

521  u.  544. 
Unterscheidungsmerkmale  der  I. 

II  516  f. 
Unterscheidung  d.  I.   im  Zusam- 

menklang  II  545  f. 
Vgl.    Klangfarbe,     Obertone    d), 

Stimmen. 


Intensitat  s.  Starke. 
Interesse     (=  Aufmerksamk  eit) 

I  68*.  II  280*.  309.  312.  361. 
Interferenz  II  4.  451.  454.  472. 
Intermittirende    Empfindun- 

gen  (bes.  T.-Empf.)  II  463  A. 

466  A. 
I.  Tone  I  212.    II  256.  451.  452 

(Stosse).    454.    463.    466.    508. 

509  (Gerausche).  560. 
Vgl.  Puis,  Schwankungen  b),  c). 
Intervall  II  135*. 

I.-Urteile  I  24.  26.  II  244  A.  366. 

369.     VgirSingen.  ' 

I.  u.  Distanz  I  249.  337  f.  II  403. 

409. 
Einfluss  des  I.-Urteils  auf  aadere 

T.-Urteile  I  48.  139.  249.  306. 

308.  337  f.  II 141.  188.  203.  551. 
Relative  Haufigk.    verschiedener 

I.   unter  den   harm.   Teiltonen 

II  209.  216. 
Schwebungen  verschiedener  I.  in 

verschied.  Regionen  II  461  f. 
492. 
Vgl.  Consonanz,  Dissonanz,  Oc- 
tave, Qnintenparallelen,  Rein- 
heit. 
Isolirung  d.  T.  im  Gehirn  I  289. 
423.  II  87  f.;  in  der  Schnecke 
s.  d. 

Kanonikeru.  Harraoniker  1 136  A. 
II  241. 

Kehlkopfempfindungen  u.  ihr 
Einfluss  I  153  f.  175  f.  222. 
291 f    II  297  A. 

Kinder  I  280.  293  f.  312.  342.  400. 
II  30.  52.  239  A.  303  u.  370  f. 
531.  537.  553  f. 

Klang  I  135.    II  2*. 

Klangcharakter  II  514.  516  f.*. 

Klangeinheit  s.  Analyse,  Empfin- 
dung  g),  Verschmelzung. 
K.  durch  den  Grundton?  II  330. 

Klangfarbe  a)  Wesen  1203.  210. 
II  31.  497.  514  f.*.  Vgl.  In- 
strumente. 
b)  Anderung  d.  K.  a)  durch  In- 
tensitatsanderung  der  Schall- 
quelle  (Entfernung,  Auskliugen 
etc.)  I  236.  242.  254  f.  II  104. 
109.  237.  327.  341.  Vgl.  Ent- 
fernung. 


572 


Register  zum  I.  unci  II.  Band. 


^)  durch  Interferenz  II  472. 
y)  durch  subject.  Bewegungeu 

II  237.  Vgl.  Ohrmuschel. 
d)  durch  einohriges  gegeniiber 

zweiohrigem  Horen    I  254. 

II  431  f.  538  A. 

c)  Analyse  vonK.  in  einemKIaug- 
gemisch  II  544  f. 

d)  Wahrnehmung  feiner  K.-Uu- 
terschiede  II  501  A. 

e)  Gediichtnis  fiir  K.  s.  Gedacbt- 
uis  i). 

Einfluss  d.  K.  auf  Hoheuurteile 
u.  Starkenurteile  s.  d.;  auf  Ana- 
lyse u.  Heraushoren  II  150. 
249.  348  f. ;  auf  Merklichk.  von 
Schwebungen  II  469. 

Klanggefuhl  I  203.  II  83.  158. 
207.  515.  518  u.  519.  527.  528. 

Klanghohe  I  135.  II  7.  383f.  406 f. 
Vgl. Octave  h),  Octaventauschng. 

Klangmischungen  II  416.  544f. 

Klangvertretung  II  330. 

Klirren  im  Ohr  II  104. 

Klirrtone  II  268. 

Knack  en  im  Ohr  II  296. 

Knall  I  2.34.    II  499.  509. 

Knochenleitung  II  221.  327. 
432.  440.  458.  459  u.  496. 

Korperliche  Bedingungen  oder 
Grundlagen 

a)  der  Tonempfindungen  a)  nach 
qualitativer  Seitc :  s.  Horspharc, 
Schnccke,  Specif.  Energien; 
;?)  nach  intensiver  Seite  s.  An- 

klingen,  Ermiidung,  Patho- 
logisches,   Stilrkc  d),  g^,  I), 
u.  A.; 
y)  nach  quantitativer  Seite  II 57. 

b)  der  Coordination  von  T.  mit 
Kehlkopfempfindungen  I  295. 

c)  der  Aufmerksamkeit  I  69  u. 

d)  des  Gcdachtnisses  i.  A.  I  77, 
d.  T.-Gedachtnisses  I  289. 

e)  des  Urteils  I  100  f.  247. 
Korperliche    Wirkungen    s.  Be- 

wegungen,  Innervation. 

liOcalisation  d.  T.,  bewusste  a)  i. 
A.  I  190.  207.  II  50  f.  101  A. 
103  A.  125  A.  274  A.  363.  432. 
438.  442.  Im  Besonderen: 
b)  L.  d.  Beitone  I  207.  II  236. 
245.  496  A. 


c)  L.  d.  Schwebungen  II  453.  468. 
491.  492.  496. 

d)  L.  d.  mittleren  Schwebungs- 
tones  II  480.  486. 

e)  L.  subjectiver  T.  s.  Subj.  T. 

f)  Doppelte  L.  Eines  Tones  I  273. 
II  396  A. 

Einfluss  d.  L.  a)  auf  d.  Analyse 
des  Gleichzeitigen  iiberhaupt 
II  46  f. 

b)  auf  d.  T.-Analyse  II  22.  43  f. 
336.  350.  363. 

c)  auf  d.  Unterscheidung  zusam- 
menklingender  Instrumente 
II  546. 

Sg.  unbewusste  L.  in  d.  Schnecke  = 

Erkenntnis   d.  Tonhohe  I  171. 

Physiologische  L.  s.  Korperliche 

Bedingungen. 

Localzeichen    I    168.    172.    174. 

350.    II  53.  131.  210.  334. 

Masscnversuche     i.    A.    I    316. 

II  144.  156. 
Maximum  a)  der  Aufmerksamkeit 

I  33.  70.  73.  78.  331. 

b)  d.  Gedachtnisses  I  279.  291. 

c)  d.  tjbung  und  subj.  Zuver- 
lassigkeit  1  47.  80.  279.  297. 

Mehrheit    u.  Wahrnehmung  der- 

selben  i.  A.  I  96.    106.     II   5. 

Unterscheidung  zweier  M.  bei  T. 

II  332.    371  f.      Vgl.  Analyse, 
Ziihlen. 

Mehrheitslehre  bei  g.  T.  II  12*. 

13.  17  (histor.)  22.  43  f. 
M  c  1 0  d  i  e ,  Erfassen  u.  Heraushoren 

einer    M.    II    6.    29.    33.    202. 

290  f.  314.  337.  393.  411  f.  417. 
Nachsingen   von  M.  I  285.     Vgl. 

Kinder,  Singen. 
M.-Gedachtnis     I     154  f.     280  f. 

291  f.  II  297. 

M.- Horen  im  patholog.  Sinn  I  284. 

411  f. 
M.-Traller  I  295.  II  552  o. 
Melodram  II  403. 
Merklichkeit  (Principielles)  I  33 

34.  37.  50.  51.  179.  228  u.  379  f. 

II  222.   270.    326.    337  f.    371. 

438.   446.   448.   469.   501.    503. 

Vgl.  Bemerken,  Ebenmerkliche 

Unterschiede. 
Mess  end e  Urteilslehre  I  54. 


Register  zum  I,  imd  II.  Band. 


573 


Messung  a)  i.  A.  I  43*.  112. 

b)  von  Ahnlichkeiten  (Distanzen) 
i.  A.  I  112.  120.  122  f. 

c)  von  Hohe-  u.  Starkedistanzen 
d.  T.  s.  Distanz. 

d)  d.  objectiven  u.  subj.  Zuver- 
lassigk.  i.  A.  I  43  f. 

e)  d.  Aufmerksamk.  u.  d.  Gedacht- 
nisses  i.  A.  I  73.  76. 

f)  d.  Umfangs-  und  Unterschieds- 
empfindlichkeit  i.  A.  I  49  f. 

g)  Physikal.,  pliysiolog.,  psychol. 
M.  der  Toustarke  s.  Reiz  e), 
Starke  n),  Starkenurteile  a). 

Metaphern,  zurTheorie  d.M.  1199. 
Methoden  der  Psychophysik  I54f. 

124.  392  f.     Vgl.  Distanz. 
Minimales  a)  M.  Erregungen,  ver- 
starken  sie  sich?  s.  Starke  1). 
Geben  m.  E.  des  Acusticus  e. 

Gerilusch?    I  255.    II  50G. 
Sind    m.   E.   durch    Aufmerk- 
samk. iiber  die  Empfindiings- 
schwelle  zu  heben?  I  375  f. 
Vergl.  Schwelle. 

b)  M.  Empfindungen  II  258  f.  S. 
Ebenmerkl.  Empf.,  Merklichk., 
Schwelle,  Starke  m). 

c)  M.  Unterscbiede  s.  Ebenmerkl. 
Unt. 

d)  M.  Aufmerksamk.  II  361. 

e)  M.  Gedachtnis  fur  T.  I  155. 
279.  328.    II  297. 

Mischung,  Sg.  M.  von  Empfindun- 
gen II  17.  61.  05.   Vgl.  Chemie. 
Klang-M.  II  544. 
Farben-M.  (und  -Analyse)  I  145. 
II  15.  79.  107.  124.  274  A.  303. 

Mischungsscbwelle  II  224  *. 

Mitbewegungen  s.  Bewegungen. 

Mitempfindungen  s.  Empf.  1). 

Mitklingen  u.Mitschwingen  1 118. 
195  A.  (bistor.)  255.  425.  II  112. 
113.  233  A.  257.  262.  265  f. 
455.  485.  486  u.  513  u.  Vgl. 
Schneoke.     Scbwingungen. 

Mitte  des  Tonreiches  I  251.  334. 

Mittelbare    Kriterien   u.  Urteile 

a)  i.  A.  I  87  f.  173.  331. 

b)  bei  a.  T.  (Qualitaten)  I  153  f. 
291  f.  345. 

c)  bei  g.  T.  (Mehrh.  und  Quali- 
tat)  II  81  f.  151.  169.  321.334. 
336.  546  f. 


d)  bei   T.-Starken    I    345.    350. 

II  558.  559. 
Mitiibung  I  81.    II  442.  448. 
Mitvorstellungen  s.  Associatio- 

nen,  Nebenvorstellungen. 
Mixturen  II  180. 
Moment e,  M.  d.  Empfinduug  i.  A. 

s.  Empfiudung  b). 
.     M.  d.  Tonempfindung  1 134.  238  A. 

II  51  f.  199  f.  526.  539. 
Monism  us    und  Dualismus    I   39. 

100  f.  152.  387.    II  57.  272  A. 
Multiplicationston  II  252*. 
Musikalische  a)  Auffassungswei- 

sen  u.  Urteilsleistungen  von  M. 

I  148.  157  f.  253.  279  f.  296  f. 
303.    305  f.    313.    334  u.    376. 

II  9.  20.  29.  33.  37.  38.  72. 
290  f.  322.  346.  369.  404.  406. 
409.  429  u.  480  f.  546  f.  551. 
552.  554.     Vgl.  Kinder. 

b)  M.  Anlagen  s.  Anlagen  b). 

c)  M.  Fahigkeiten  Aphatischer, 
Blodsinniger.  Epileptischer, 
I  293.  295. 

d)  Horstorungen  bei  M.  und  Ein- 
fluss  derselben  I  166.  377. 
411  f.  II  117  A.  416.  Vgl. 
Doppelthiiren. 

Musikalisches  I  191.  223.  258. 
304.  393.  395.  II  399  f.  411  f. 
417.  422.  S.  Consonanz,  Disso- 
nanz,  Dreiklang,  Dualistiscbe 
Theorie,  Dur,  Griechische  Mu- 
sik,  Grundton,  Harmoniegeftihl, 
Hohenurteile  a),  Klangcharak- 
ter,  Klangfarbe ,  Instrumente, 
Musikalische,  Octave,  Quinten- 
parallelen,  Singen,  Stimmen 
u.  A. 

Muskel-Empfindungen(M.-Vor- 
stellungen)  u.  ihr  Einfluss  I  58. 
82.  91.  92.  123.  139  u.  153  f. 
282  A.  285.  291  f.  331.  345  f. 
372.  II  296.  297.  301  f.  559. 
Vgl.  Innervationsempfindungen, 
Kehlkopfempfindungen,  Singen, 
Unterschiedsempfindlichk.  e). 

Musk  el  ton  II  102.  296.  433.  451  A. 

Nachempfindungen.  akustische 
I  213.  278.  360.  368.  II  358. 
432  A.  457  u.    Vgl.  Anklingen. 

Nativismus  s.  Empirismus. 


574 


Register  zum  I.  imd  II.  Band. 


Nebenvorstellungen,  Einfluss 
auf  (1.  Urteil  i.  A.  I  36.  47.  67. 
Vgl.  Associationen,  Mittelbare 
Krit.  Empfindi;ng  1). 

Obertone  II  2  * 

a)  Heraushoren    von    0.    II    24. 
70  f.  229  f.  341.  562. 
Gleichzeitiges  H.  mebrerer  0, 

II  314. 
Nachtragliches  H.  II  360  u. 
H.  von  Seiten  Unmusikalischer 

I  315.    II  41.  232. 

b)  Starkeanderungen  der  0.: 

a)  Verstarkung  durch  Resona- 
toren,  Kopf  haltung  etc.  II  2. 
237;  durch  einen  zweiten 
Grundton  II  419  A.;  subj. 
V.    durch    Aufmerksamkeit 

II  291  f.  305  u.  314.  316  A. 
^)  Schwaukungen  d.  0.  I  236. 

II  341. 

y)  Schwebungen  d.  0.  (Rauhig- 
keitdurchO.)I203f.  II  464. 
.  470.  491.  495.  496.  521.  534. 
541. 

6)  Hervortreten  d.  0.  bei  Schwe- 
bungen der  Grundtone  II 472; 
bei  Interferenz  II  234;  beim 
Ausklingen  I   242.    II  237. 

c)  Intervalle  unter  den  0.  II  209. 
216. 

d)  0.  des  Claviers  II  25  u.  234. 
237;  gedackt.  Pfeifen  II 161  A.; 
d.  menschl.  Pfeiftone  II  299  A.; 
der  menschl.  Stimme  I  371  A. 
II  238  A.;  der  Stimmgabeln 
II  233;  der  Violine  I  240. 
II  267.  517.  522;  der  Vocale 
II  521.  544. 

e)  Unreine  0.  I  254.  11  535. 

f)  Subjective  0.  II  260  f. 
(Einfluss  der  0.;) 

a)  Ahnlichk.  zweier  Klange  durch 
0.  I  113.    II  194.  408. 

b)  Klangfarbe  durch  0.  II  520  f. 
Vgl.  oben  b)  y). 

c)  Einfluss  auf  die  Verschmel- 
zung?  II  137.  194.  215  f. 

d)  Einfl.  auf  die  Analyse  II  150. 
249.  348  f. 

e)  Einfl.  auf  Hohen-  und  Starken- 
urteile  s.  Hohenurt.  (Abhiiug. 
d.  H.  d)),  Starkenurteile. 


f)  scheinbarer  Contrast  durch  0. 
II  398. 

g)  scheinb.  Doppelthoren  durch 
0.  I  270. 

Objecte,   Beurteilung  d.  0.  i.  A. 
I  23.    II  70  f.    (Vgl.  II  5451) 
Objective  Zuverlassigkeit 

I  23*. 
Octaven  a)  Ahnlichkeit  der  Com- 
ponenten  der  0.  II  194  f.  408. 
Gegensatzlichkeit       derselben 
nach  Herbart  II  186  f. 

b)  Verschmelzung  II  135.  139. 

c)  Analyse  durch  Unmusikalische 
und  Kinder  II  143  f.  362  f. ; 
durch  Musikalische  II  233. 
352  f.  410  f. 

d)  Verschwinden  des  hoheren  0.- 
Tones  II  352  f.  364. 

e)  Einfluss  zahlreicher  0.  im  Zu- 
sammenklang  II  330. 

f)  Haufigkeit  unter  den  harmon. 
Teiltonen  II  209.  216. 

g)  Sind  0,  starker  als  ihre  Com- 
ponenten?  II  426. 

h)  Auffassung  einer  Componente 

als  Tragers  der  Hohe  II  384. 

410.  411  f. 
Octaventauschung  (in  d.  Hohen- 

schatzung)  1 242.  310  u.  II  407  f. 

562  u. 
OHM-SEEBECK'scherStreit  II 183. 

240  f.  353.  427.  520  A. 
Ohren,  Unterschied  beiderO.  hin- 

sichtl.  d.  T.-H6he  I  234.   II  320 

(vgl.  Doppelthoren);    hinsichtl. 

d.  T.-Starke  I  364. 
Im  Ubrigen  vgl.  Horen,  Schnecke 

u.  A. 
Ohrmuschel   I  409.    II  238.   302. 

560  u. 
Organ   a)  i.  A.,    nicht  wesentlich 

durch  tJbung  verandert    I  84. 

Vgl.  Entwickelung,  Ubung. 

b)  fiir  Tone  s.  Schnecke  u.  A. 

c)  fiir  Gerausche  s.  Gerausche  b). 

d)  fiir  Schwebungen  I  205  A.  II 
456  f. 

Parakusis   Willisiana    I   417. 

427  (Urbant.).    II  440. 
Parallele    Reihen    I  92.     Vgl. 

Coexistenz,  Hohe  h),  i),  Zei- 

chen. 


Register  zum  I.  imd  II.  Band. 


575 


Parallelismus,    Princip    des    P. 

II 272  A.  Vgl.  Monismus,  Schwiu- 

gungszahlen. 
Pathologisches    a)  P.  Sinneser- 

scheinungen  s.  Doppelthoren, 
Hallucinationen,  Hyperaesthe- 
sie,  Musikalisches,  Nachempf. 
(passim),  Parakusis,  Puis,  Sub- 
jective Tone,  Taubheit,  Traus- 
fert.     Speciell: 

b)  P.  betreifend  Differenztone  II 
250  A.  256;  Schwebungen  II 
459.  460;  gegenseitige  Ver- 
starkung  oder  Schwachung  von 
T.  I  427.    II  440  f. 

c)  P.  Reflexwirkungen  I  421.  422. 
II  89  A.  95.  121  A.  303.  512. 
552  0. 

Pauke  (scheinbare  Accommodation) 

II  399  f. 
Pfeiftone  11  298.  409. 
Phantasievorstellungen    I    1. 

75.  154  f.  178.  185.  260.  279  f. 

353.   372.  376.  377.  414  f.  420. 

424.    II  47.  114.  138.  297.  305. 

311  A.    316.    360.    416.    417  u. 

505.    Vgl.  Gedachtnis. 
Phasenunterschiede,     Einfluss 

der  P.  II  26.  88.  522. 
Phonometer  II  225. 
Physiologische  u.  psychologische 

Forschung  I  48.     II  86.    (Vgl. 

Vorwort  zu  I.) 
Physiologische   und  psychol.  Er- 

klarung    I    38.      Vgl.    Monis- 
mus. 
Primartone  II  3*.  474 A*. 
Prime  II  178.  435.    (Vgl.  54  u.) 
Priifung  des  Gehors  a)  in  musik. 

Hins.  II   157.  370.   381.     Vgl. 

Kinder,  Unmusikal. 
b)  hins.  d.  Horscharfe  s.  d. 
Psychophysik    I  43.    52  A.    53. 

54  A.*. 
Innere  P.  I  104. 
Psychophysisches  Gesetz  s.  Fech- 

ner's  Gesetz. 
Psychophysische  Repraesentation 

I  100  f.    Vgl.  Monismus. 
Psychophysische  Versuchsmetho- 

den  I  54  f.  124.  392  f. 
Puis,  Einfluss  des  P.  auf  Empfin- 

dungen  I  40.  360.  407.  II  250  A. 

560. 


Qualitat  d.  EmpfindungenimVer- 
haltnis  zum  Reiz  i.  A.  I  19. 
Vgl.  Specifische  Energie. 
Q.  der  T.  (=  Hohe)  I  135.  190  u, 
II  199.  Vgl.  Momente.  Im 
Einzelnen  s.  Hohe. 

Quintenparallelen  II  82.  179  f. 
365  (3.  und  4.) 

Raumliche    Eigenschaften    d.  T. 

s.  Ausdehnung,  Localisation. 
Rauhigkeit  siehe  Discontinuitat, 

Schwebungen,   Obertone  b)  y). 
Raumsymbolik  I  189. 
Reactionszeiten  I  65  u.  215.  378. 

II  335. 
Reflex-Bewegungen    u.    -Em- 

pfindungen     s.     Bewegung, 

Empfindung  1). 
Reihenbildung  128.  115  f.  140  f. 

168  f.  173.  202  f.  350  u.  425.  II 

272  f.  511.  526.  558.  559.  Vgl. 

Steigerung. 
Reinheit  u.  Reinheitsurteil  I 

24  f.   34  0.     II  137.    342.     Vgl. 

Singen,  Stimmen. 
R.  von  Obertonen  I  254.    II  24. 

535. 
R.  des   primaren  Intervalls  von 

Einfluss  auf  die  Starke  d.  Dif- 

ferenztons  II  245  f. 
Reiz  a)  Verhaltn.  zur  Empfindung 

i.  A.    I   15  f.   28  f.     Vgl.   An- 

klingen.  Contrast,  Fechner's 

Gesetz,  Parallelismus,  Schwelle, 

Stetigkeit,  Weber's  Gesetz,  Zeit 

u.  A. 

b)  Inadaequate  R.  II  118  A.  214. 
513. 

c)  R.  fur  Tone  gegeniiber  Ge- 
rauschen  II  497  f.  513. 

d)  Geringste  Impulszahl  des  Ton- 
R.  I  214.  232.  277. 

e)  R.-Starke  bei  T.,  Definition  u. 
Messung  derselben  I  355  *. 
370*.     II  225.  257.  436.  599. 

Relativitat  d.  Empfindungen 

I  7f.     67.     126  A.     136.     140. 

152  u.  336.  338.     II  339.  558. 
Resonanz  s.  Mitklingen. 
Resonanztone  des  Ohres  I  370. 

419.    II  239. 
Resonatoren    II   4.    238.     255. 

266. 


576 


Register  zum  I.  und  II.  Band. 


Rhythmus  1 135.  340.  375.  II  314. 

Vgl.  Accent. 
Richtung   innerhalb   einer  Reihe 

I  110.  141.  180. 
Schall-R.  s.  Localisation. 

Schlaginstruraente  (scheinbare 

Accommodation)  II  399  f. 
Schliisse  in  Beziehung  zu  Sinnes- 

urteilen  I  25.  89. 
Unbewusste  S.  I  89  u.    Vgl.  Un- 

bewusst. 
Schnecke    (Claviatur)    im    Ohr    I 

352.   184.  225.  255  f.  275.  301. 

362.    403  f.    413.     II    70.    88  f. 

117.    125  A.   450.    455  f.   484  f. 

498.  506.  513. 
Schnelligkeitsgrenze  a)  von  a. 

T.  I  212.  219.    II  89. 

b)  V.  Schwebungen  II  461  f.  470  u. 

c)  von  (einzelnen)Hohe-u.Starke- 
schwankungen  II  343. 

Schwankungen  a)  des  Reizes  in 
einer  Versuchsreihe  I  66.  236. 

b)  der  Empfindungsstarke  i.  A.  I 
17  A.  40.  50.  360. 

c)  d.  Tonstarke  I  40.  359.  360. 
362.  376.  385.  407.  II  270. 
317  A.  439.  Vgl.  Interferenz, 
Intermittirende  Empf. ,  Puis, 
Schwebungen. 

d)  d.Tonhohe  1 187;  speciell  beim 
Sprechen,  Singen,  Spieleu  I 
164.  188.  II  343;  bei  Schwe- 
bungen II  474  f. 

e)  d.  Klangfarbe  (Obertone),  der 
Aufmerks. ,  d.  Gedachtnisses, 
des  Urteils  siehe  Klangf.  b), 
Aufm.  f),  Gedachtn.  d),Urteil  h). 

(Einfluss  d.  S.:) 

a)  S.  d.  Hohe  u.  Starke  erleich- 
tern  das  Heraushoren  II  337  f. 
350;  die  Erkennung  der  In- 
strumente  II  518.  350. 

b)  S.  d.  Klangfarbe  u.  Starke  be- 
eintrachtigen  die  Hohenurteile 
uber  a.  T.  I  236. 

Schwebungen   a)  Wesen   u.  be- 
gleitende   Erschein.    II  450  f. 

b)  Entstehimg  und  Sitz  II  32.  89. 
455  f. 

c)  Grenzen  der  Schnelligkeit  II 
461  f.  470. 

d)  Starke  I  394.    II  465  f. 


e)  Merklichkeit  II  468.  Vgl.  unt. 
Einfluss  d.  S.  a). 

f)  bei  Nachbildern  wegfallend  II 
359.  427  u. 

g)  S.  von  Obertonen  s.  Obert.  b)  y) ; 
von  Differenztdnen  II  260;  von 
Beitonen  mit  Primartonen  II 
260.  464.  493  f. 

h)  S.  der  Intervalle  in  verschie- 

denen  Regionen  II  463. 
i)  S.  verteilter  Gabeln  II  458.  470. 
k)  Tonhohe  bei  S.  II  471  f. 
1)  Zuteilung  der  S.  in   der  Auf- 
fassung  II  480  f.  489  f. 
m)  Einfluss   d.  Aufmerksamk.  bei 
d.  Auffassung  von    S.   II  469. 
471.  475  A.  481  f.  488.  490  f. 
(Einfluss  d.  S.)  a)  S.  als  mittel- 
bares  Kriterium   d.  Tonmehr- 
heit  (auch  Wahrnehmung  von 
S.   durch  Unmusikalische   und 
Kinder)  II  84.   151.   154.  161. 
169.  363  u.  373.  379. 

b)  S.  erschweren  die  (wirkliche) 
Analyse  II  332.  472.  321  f.  481. 
504. 

c)  S.  und  Gerausche  II  504  f.  452. 

d)  S.  u.  Klangfarbe  (Instrumente) 
II  521.  534.  548.  Rauhigk. 
tiefer  Klange  durch  S.  I  203. 
II  534.    Vgl.  Discontinuitat  c). 

e)  S.  u.  Verschmelzung  II  206  f. 
Schwelle    (Empfindungs-,   Wahr- 

nehmungs-): 

a)  i.  A.  I  33.  37.  52.  119.  379.  II 
222  A.    Vgl.  Merklichkeit. 

b)  Intensitats-S.  fiir  einzelne  T. 
(u.  Gerausche)  I  379  f.  II  340. 
512;  fiir  Componenten  eines 
Klangganzen  II  220  f. 

c)  S.  der  Analyse  a)  bei  a.  T. 
(qualitativ  und  zeitl.)  I  137. 
212.  232. 

/?)  beig.T.  1.  intensive  II220f. 
329.  562. 

2.  qualitative  II  163.  319  f. 
363.  364.  472.  477.  180  f. 

3.  S.  der  Anzahl  II  334.  358. 

4.  S.  der  Schwankungen  II 
343. 

d)  Unterscheidgs.-  (Unterschieds-) 
S.  s.  Ebenmerkl.  Unterschiede, 
Unterschiedsempfindlichkeit. 

e)  Zeit-S.  s.  d. 


Reeister  zum  I.  uud  II.  Band. 


577 


Schwingungen,  Beschaffenh.  zu- 
sammengesetzter  S.  II  27  u.  87. 
428  A.  467  A.  474.  478. 
Lebendige  Kraft  der  S.  bei  uu- 

gleicher  T.-Hohe  I  370. 
Vgl.    Accommodation     e),     Mit- 
schwing.,  Schnecke. 
Schwingungszahlen.  Tabelle  d. 
S.  vor  dem  Text  d.  I  Bds. 
Parallelitat  mit  den  T.-H6ben  s. 
Hohe  i). 
Selbstbetrug    I  46  u.    260.    297. 

304.    Vgl.  Aufmerksamk.  c). 
Sing  en  (u.  Spielen)  a)  in  Bez.  zum 
T.-Urteil  u.   T.-Gedachtnis    I 
139  u.  153  f.   175.  291  f.    II  8. 
551  u.  552  0.     Vgl. : 

b)  Treffen  I  158.  164.  305.  424. 
II  8.  555.     Siehe  ferner: 

c)  S.  u.  Treffen  von  Unmusikali- 
schenI265.  291.  II  157.  362  f.; 
von   Kindern    I  293.     II  371. 

373  f.  553.  554  u. ; 
in  pathologischen  Zustanden  I 
285.292.295.  II  551  u.  552  o. 

d)  S.  kleinster  Intervalle  I  163. 
260. 

e)  Schwankungen  beim  S.  I  164. 
188.    II  342. 

f)  „Inneres  S."  I  155.  176. 

g)  S.  mit  dem  Ohre  II  291. 

h)  Herabsinken  d.  Stimmlage  u. 
Einfluss  d.  S.  auf  die  Unter- 
schiedsempfindlichk.  in  versch. 
T.-Regioneu  I  339  f. 
Sinne  a)i.  A.  1135.  II  46  u.*(Einh. 
u.  Mehrh.) 

b)  Lassen  sich  Empf.  verscbied. 
S.vergleichen?  I  113.  135.  348. 
II  47.  530. 

c)  Analogienu.Verschiedenheiten 
d.  S.  I  11.  18.  20.  181.  225. 
281  f.  331.  360  A.  381.  399. 
II  47.  49.  61  f.  70  f.  123  f. 
311  A.  337  f.  424.  431.  445  f. 
463  A.  466  A.  530.  531. 

d)  Wecbselwirkung  d.  S.  I  407. 
422.  II  121  A.  448  u.  Vgl. 
Empfindg.  IV  Bewegungen  b), 
Mittelb.  Kriterien. 

e)  Sog.  Vicariren    d.   S.  I  414  u. 
'  II  121  A. 

Vgl.  Empfindung,  Specif.  Energie. 
Sinnesinhalte  I  1.  96. 
S  t  u  m  p  f ,  Tonpsychologie .  II. 


Sinnestauscbung   I    31  f.    38*. 

Vgl.  Tauschung.  Urteil. 
Sinnesurteil    I    1*.     Vgl.    Tau- 
schung, Urteil,  Zuverlassigkeit. 
Spannungsempfindungen  s.Iu- 

nervationsempf.,  Muskelempf. 
Specifische  Energien  1275.425. 

II  105  A.  106  f.  266.  473  u.  484 f. 

511.  Vgl.  Accommodation  d). 
Specifische  Synergien  II  214*. 
Sprachliches    I  96.    115.    192  f. 

221.  225.    II  452  u.  514  A. 
Sprachstorungen    und    musikal. 

Fahigkeiten    I    289.   295.   404. 

423.  II  551  u. 
Sprachverstandnis   I  386.    402. 

403.    II  300.  316. 
Starke  a)  Empfindungs-S.  i.  A.  I 
19  (im  Verb.  z.  Reiz).    I   238. 

349.   II  558  (im  Verb.  z.  d.  ub- 

rigen  Empf.-  Momenten). 

b)  Gibt  es  reine  S.-Anderungen? 
I  349. 

c)  Vergleicbung  d.  S.  verschiede- 
ner,  selbst  heterogener  Quali- 
taten  I  347. 

d)  Erfolgt  die  S.-Zunahme  stetig? 
I  341  f.  427. 

e)  S.  eines  Empf.-Ganzen  i.  A.  II 
423. 

f)  S.  von  g.  Tonen  II  219*;  be- 
sonders  S.  von  Beitonen  II  231. 
236  f.  240  f.  244  f.  254.  257. 

g)  Grossere  Empf.-S.  boherer  T. 
I  206.  342.  365  f.  II  93.  417. 
559. 

h)  S.  von  T.  gegeniiber  Gerauscben 
s.  Gerausche  g). 

i)  Empf.-S.   von  Schwebungen    I 

394.  465  f. 
k)  S.  des  Zusammenklangs  gegen- 
iiber den  Componenten  II  41. 
423  f. 

1)  g.  T.  (Eines  Obres)  schwachen 
sich  II  220  f.  231.  242.  418  f. 
Der  starkere  kann  den  schwa- 
cheren  unterdriicken  II  220  f. 
Verstarkung  der  physiolog.  Er- 
regungen  innerhalb  e.  akustisch. 
Empf.-Kreises  II  423.  485.  488. 
Keine  gegenseitige  Verstarkung 
schwachster  Erregungen  (aus- 
serbalb  e.  akust.  E.-Kreises)  II 
436  f.  Keine  Vereiuigung  der- 
37 


578 


Register  zum  I.  und  II.  Band. 


selben  zu  e.  Gerausch  I  255. 
II  506.  Verstarkung  d.  Ein- 
drucke  beider  Ohren?  II  430  f. 
Ohrenarztliches  ixber  gegensei- 
tige  Verstarkung  von  T.  II  440  f. 
Analoge  Fragen  bei  anderen 
Sinnen  II  445  f. 
m)  S.- Minimum  vou  isolirten  T. 
(u.  Gerauschen)  I  379  f.  II 340. 
512;  von  g.  T.  II  220  f. 

n)  Starkemesser  der  Empfindung 
I  398.  II  226;  der  physiolo- 
gischen  S.  II  225. 

o)  Reiz-S.  s.  Reiz  a),  e). 

Einfliisse  auf  die  Empf.-S.  s. 
Accommodation  a\  Anklingen, 
Aufmerks.  n),  Ermiiduug,  H6- 
ren,  Ohren,  Pathologisches, 
Puis ,  Schwankungen  b)  c), 
Ubung. 

Einfluss  d.  S.  auf  d.  Hohenurteil 
8.  d.;  auf  Analyse  u.  Heraus- 
horeu  II  219  f.  328;  auf  Com- 
binations-T.  II  248;  auf  die 
Klangfarbe  II  532. 
Starkegedachtnis     s.    Gediicht- 

nis  g). 
Stiirkenurteile  a)  iiber  Starke  u. 
St.-Distanzen  von  T.  (oder  Ge- 
rauschen) I  345  f. 

b)  liber  g.  T.  II  416  f.  560. 

c)  iiber  Starke  verschiedener, 
selbst  heterogener  Qualitaten 
I  347.  365  0. 

Mittelbare  S.  s.  Mittelb.  Kriter.d). 

Schwankungen  d.  S.  I  375  f. 

Zuverlassigk.  d.  S.  s.  Zuv. 

Vgl.  Starke. 
Standpunct    bei    Auffassungen   I 

131  f.  149.  331.  II  384  f. 
Steigerung  I  96  f.  109  f.*.  121. 
140.  149.  399.  II  58.  135.  Vgl. 
Reihenbildung. 
Stetigkeit  (Stetige  Veranderun- 
gen)  im  T.-Gebiet  I  138.  142. 
183  f.  426.  II  95.  116.  122. 
197.  340. 

S.  der   Combinationstone  II  252. 

Stetige  T.- Anderung  nicht  =  Ge- 
rausch II  508. 

S.  kein  Einwand  gegen  die  Helm- 
HOLTz'sche  Lehre  v.  d.  Ton- 
perception  I  184.  II  95.  116. 
122  u. 


Stille  I  380  f. 

Stimme    in  ■  a.  Zusammenklangen 

II  314.  318.  337.  393  *. 
Menschliche    S.   s.    Consonanten, 

Obertone  d),  Singen,  Vocale. 
Stimmen,  das  S.  von  Instrumenten 

I  63.  301  f.  426  u.    II  309.  317  A. 

322.  556. 
Stimmfuhruug    I    197.    220.     II 

400  f.  411  f.  417. 
Stimmgabeln,  Obertone  d.  S.    II 

233. 
Erhohung  (und   Erhellung)    aus- 

schwingender.  Vertiefung  (und 

Verdunkelung)       angedriickter 

oder  sonst  verstarkter  S.  I  242. 

254  f.    II  104.   109.  327. 
Stimmung,  Erhohung  d.  S.  I  303. 
Storungen  d.  Gehors    s.  Patholo- 
gisches. 
„S.  d.  Zusammenklangs"  II  450*. 
Strecken,    Keine    Ton-S.   I    142. 

Keine  Intensitiits  -  S.  I  394. 
Subjective  Tone  (u.  Gerausche) 

I   40.   241.  255.  269.  368.  373. 

377.  382.  410  f.   II  260  f.  (Subj. 

Ober-T.)    296.    409.   433.   436. 

443.  445.  502.  511  A.  513. 
S.  T.  bei  Schwebungen    II  452. 

480  f.  (Zwischen-T.)  535. 
Subjective  Zuverlassigkeit  s. 

Maximum  c).  Zuverlass. 
Summationstone  II  254. 
Synergic,  specif.  II  214*. 

S.  beider  Ohren?    s.  Horen   (mit 

verteilten  Gabeln). 
Synthese,  psychische   s.  Chemie. 

Tatigkeit  d.  Urteilens  I  104. 

Tauschuugen,  AUgemeineres  iib. 
Sinnes-  u.  Urteils-T.  (uniiber- 
windliche  oder  sonst  theoret. 
bemerkenswerte)  I  25.  31  f.  38. 
130.  184.  230.  235.  237  f.  303. 
380.  388.  II  34  f.  258  f.  326. 
383  f.  393  f.  396  f.  490  f.  540. 
559  (4.  Absatz). 
Vgl.  Bemerken,  Merklichk.,  Zu- 
verlassigk. 

Tastempfindungen  des  Trom- 
melfells  u.  anderer  Korperteile 
bei  T.  1  206.  207.  419.  II  53. 
105  A.  121.  245.  329  u.  428. 
453  u.  463  A.  487. 


Register  zum  I.  iind  II.  Band. 


579 


Taubheit  a)  Partielle  T.  I  401  f. 
4J4f.    II  89.  95  f.  117. 

b)  ob.  T.  besonders  haufig  bei 
Musikalischen?   I  410. 

c)  Einfluss  d.  T.  auf  die  Ton- 
vorstelliingen  Musikaliscber  I 
166.  377.  414  f.  420.  424.  II 
416. 

Sog.  ,,Tontaubheit"  8.  d. 
Teile  der  Empfindung  II  65*;  d. 

Aufmerksamk.  II  312.  361. 
Teilerscheinungen  im  weitereu 

Sinn    (Verhaltuisse    einschlies- 

send)  I  97.    II  278. 
Teilklang  II  2*. 
Teilton  II  2*.    Im   Einzelnen  s. 

Obertone. 
Teilwahrnebmung  II  6*. 
Tensor  tympani  1  168f.  II294f. 

444  u. 
Tie  re  I  342.  385  A.  410.    II  82. 

91.  93  0.  95  f.  102  f.  298  f. 
Ton  I  135*.    II  2*. 
Immanente  Eigenschaften    d.   T. 

s.  Momente. 
Merkmale,  die  sicb  mit  d.  Ton- 

Qualitat  verandern  s.  Hohe  h). 
Hochste  und  tiefste  T.  I  205.  263. 

II  551. 
Einfache  T.  II  257  f. 
Beitone  etc.  siehe  unter  den  betr. 

Titebi. 
Tonbewegung  I  184.    II  340. 
Tonbreite  als  Moment  d.  T.-Empf. 

s.  Ausdehnung. 
T.  bei  den  Alten  I  188. 
Tonfarbe  II  525*. 
TongefUhl  u.  Einfluss  dess.  I  177. 

202.    420.    II    527.    530.     Vgl. 

Harmonie-,  Klanggeftihl. 
Tonmitte  (Mitte  d.  Tonreiches)  I 

251.  334. 
Tonqualitat    I    135*.     II    199*. 

514  A*.    S.  Hohe. 
Tonregionen,  Unterschiede  nach 

den  T. 

a)  absol.  Tonbewussts.  I  310  f. 

b)  Schwelle  a.  T.  I  298  f.  333  f. 
II  552. 

c)  Schwelle  g.  T.  II  323. 

d)  Zuverlassigkeit  des  relativen 
Hohenurteils  I  315  f.  324  f.  II 
556  f.  558. 

e)  Distauzen  I  252.    II  403. 


f)  Verschmelzuug  II  136.  218. 

g)  Obertone  II  239. 

h)  Schwebungen  II  461.  463.  467. 

470  u.  489. 
i)  DififerenzbeiderOhren  II 320  A. 
k)  Aufmerksamk.  II  239.  346. 
S.  ferner  Anklingen,  Ausdehnung, 
Hohe  h),  Starke  g),  Taubheit 
a)    Triller. 
Tonre'ihe  I  115  f.  140  f.    II  196  f. 
Paiallelitat  mit  d.  Schwingungs- 
zahlen  s.  Scliwing. 
Tontaubheit  sg.  (abnorme  Unter- 
schiedsempfiudl).  I    184.    265. 
327.  335.    II  197.     Vgl.  Anla- 
gen.  Unmusikalische. 
Topogene  Energien  II  124  f. 
Transfert  II  443.     (Vgl.  I  404). 
Treffen  s.  Singen. 
Triller  in  der  Tiefe  II  89. 
Trommelfell,    Bedeutung   d.  Tr. 
fur  d.  Horen   I  402.  403.  405, 
408.    422.     II    105.    256.    300. 
457.    Vgl.  Tastempfindungen. 

iibergangs-Empfindungen(U.- 
Vorstellungen)  I  62.  126.  151. 
175  u.     0.-Gefiihl  I  88. 

Uberhoren  I  18.  388.    II  30. 

Uberlegte  Urteile  I  6.  106. 

Ubertragene  Urteile  I  94. 

tjbertragung   des    Gedachtnisses 

I  82;  der  Ubung  iiberh.  II  239. 
Siehe  Mitiibung. 

Ubung  a)  i.  A.  tWesen,  Elemente, 
Gang,  Maximum,  Mit-U.,  Sitz 
der  U.)  1  75  f. 

b)  bei  a.  {n.  einzelnen)  T.  I  245. 
246.  279.  297.  312.  321  o.  323. 
327.  332.  377.  398. 

c)  bei  g.  T.  II  75.  80.  162.  164. 
166.  171.  172.  239.  249.  325. 
346.  347.  442.   S.  auch  Kinder. 

d)  d.  Aufmerksamk.  I  77  f.  331. 
II  322.  346. 

e)  d.  Vorstellungsfahigkeit  (Ge- 
dachtnis)  I  75.  82.  83.    II  347. 

f)  des  Urteils  als  solchen  I  75. 
II  347. 

U.  verandert  hauptsilchl.  d.  Auf- 
fassung,  nicht  d.  Empf.  u.  d. 
Organ  I  84.  228.  264.  377.  378. 

II  9f.  68  u.  117. 

Vgl.    Entwickeluug,     Erfahrung, 
37* 


580 


Register  zum  I.  und  II.  Band. 


Gediichtnis,     Gewohnh.    Auff., 

Maximum,  Mitiibung. 
Unbewusstes     (Empf.,    Schliisse, 

Einfliisse)  I  34.  89  u.  172.^  iJl8. 

225.    247.    386.    II    177.     Vgl. 

Bewusstsein,  Merklichk.,  Tilu- 

schungen. 
Unendlichkeit    des   Tongebietes 

I  178  f.    II  550;  des  Starkege- 
bietes  I  351. 

Umfangsemi^findlichkeit  i.  A, 

128*.  49.   U.  bei  T.  1263;  bei 

T.-Starken  I  379. 
Unmerkliches     s.     Bewusstsein, 

Merklichkeit,  Tauschungen. 
Unmusikalische        Personeu, 

Heranziehung  solcher  i.  A.  I  48 

(u.  Vorwort). 
Prufung  von  U.  II  157. 
Beschreibungen    von    U.    I    155. 

160.   265.  291.  313  f.    II  9.  20. 

41.  72.  82.  84.  142  f.  197.  232. 

297  u.  362  f.  404.  410.  461.  470. 

520  0.  528.  551.  556. 
Vgl.  Anlagen,  Dur,  Obertone  a), 

Piiifung,  Schwebungen  (Einfluss 

d.  S.  a)). 
Unterdriickung  eines  T.  durch  e. 

anderen    (oder    ein    Gerausch) 

II  105  A.  220  f.  562. 
Unterscheidung  i.  A.  I  12.  108*. 

217.    II   5.   22.    60  f.    78.     Vgl. 

Analyse,  Bemerken,Ebenmerkl. 

Unterscli.,  Gleichheit. 
Unterscheidungsfahigkeit, 

nicht  Unterschiedsempfindlicli- 

keit,  wird  direct  gemessen  I49f. 

297.  330.    II  57.  325.    Im  Ein- 

zelnen  s.  Ebenmerkl.  Untersch. 
Unterscheidungsschwelle      s. 

Ebenmerkl.  Untersch. 
Unters  cheidungszeit      I     216. 

426  (histor.).    II  335. 
Unterschiedsempfindlichkeit 

a)  i.  A.  (absolute,  relative)  I  30*. 
50  f.  266.  298  A.  353.  II  63. 
Vgl.  Weber's  Gesetz. 

b)  U.  fiir  T.-Qualitaten  I  220. 
296  f.  333  f.  II  63.  326.  480  f. 
552. 

Individuelle  Verschiedenheiten 
derselben  I  264.  330.  335. 
II  116.  326.  Vgl.  Tontaub- 
heit. 


c)  U.  fiir  T.-Starken  I  354  f.  400. 
Vgl.  auch  Schwebungen. 

d)  U.  fur  T.-Ausdehnung    II   57. 

336  A.  537. 

e)  U.  des  Muskelsinnes  I  91.  161  f. 
170.  293.  295.  346. 

Vgl.  Ebenmerkl.  Unterschiede. 
„Unterschiedsempfindung'" 
(=  Wahrnehmuug)    gegeniiber 
,,Empfindungsunterschied"  I  30 
A.  40.  104.    II  68  u. 
Untertone  I  117.    II  218.  264  f. 
Urteil  a)  U.  u.  Empf.  I  If. 

U.    begleitet    alle   Empf.    des 

Erwachsenen  I  7.  22.  306. 
U.  verandert  uicht  die  Empf., 
kann  ungleich  sein  bei  glei- 
cher,  gleich  bei  ungleicher 
Empf.  I  11.  15.  21.  31.  38. 
40.  67.  99.  107  etc,  II  11. 
68  u.  128  etc.  Vgl.  Merk- 
lichkeit. 

b)  Spontane,  gewohnheitsmassige, 
iiberlegte,  Benennungs-U.  I  4f. 
Mittelb.  u.  iibertragene  I  87  f. 
Distanz-U.  I  122  f.  U.  von 
einem  Standpunct  I  131  f.  Vgl. 
die  betr.  Titel. 

c)  Zwei  Classen  von  U.  nach  d. 
Begriff  der  Zuverlassigkeit 
I  24  f. 

d)  Classen  nach  den  beurteilten 
Materien,  speciell  Verhiiltnis- 
sen  I  96  f. 

e)  U.  verschiedener  Ordnung  I  98. 
110.  111.  122. 

f)  U.  als  Tatigkeit  I  104. 

g)  Korperl.  Grundlage  I  100  f. 
h)  Schwankungen  d.  U.  (zweifelh. 

U.)  i.  A.  I  44  A.  50. 
Urteils-Anlage,  -Dauer,  -Schwelle, 
-Ubung,  -Zuverlassigkeit  s.  un- 
ter  den  betr.  Titeln. 

Variationstone  II  348.  476  A. 
Veranderungen,     partielle,    er- 
leichtern   d.  Analyse   II  239  A. 

337  f.  350.  351.  547. 
Vererbung     I     266.     294.     329. 

II   302  A.   377  u.   554.  555.     S. 
Entwickelung. 
Vergleichung  i.  A.  I  96*.   104. 
109  f.    II   22.   61  f.     Vgl.  Ahn- 
lichkeit. 


Register  zum  i .  und  I  i    Band. 


581 


Verhaltnisse  zwischen  Si.nnosin- 

halten  I  96  f. 
Verschiedenheit    I    111*.      S, 

Gleichheit,  j    . 

Verschmelzung  a)  Wesen.   Stu- 

feii,   Gesetze   d.  V.  I  Ob.   101. 

122.    II  65*.  127  f.*. 

b)  Ursache  d.  V.  I  101.    II  184  f. 

c)  Folgen  d.  V.  II  69.  232.  242. 
248.  251.  325.  328.  329.  332. 
334.  335.  358.  364.  369.  371. 
376.  385.  387.  405.  406.  541. 

d)  v.,  auch  vou  Unmusikalischeu 
bemerkt  II  152.  172.  364. 

Versuchsclassen,    psychophysi- 

sche  I  54  f. 
Verteilte  Gabeln  s.  Horen. 
Verteilung  d.  Aufmerks.  s.  Auf- 

merks.  d). 
Verwandtschaft  s.  Consonauz. 
Vicariren   s.  Sinne  e). 
Vocale  I  114.  397.  II  299  u.  316. 

453  0.  523  u.  543. 
Vorhof    des    Labyrinths     I    403. 

II  498.  500.  511. 
Vorstellung  I  1*.  S.  Empfindung, 

Phantasie  -V. 
Vorstellungsilbung     I    75.      S. 

Gedachtnis,  Ubung  e). 

Wahrnehmen  i.  A.  I   96*. 
W.  eines  Einzelnen  in  d.  Mehrh. 
(TeilWahrn.)     II  5*. 

Wahrscheinlichkelt  e.  Sinnes- 
urteils  I  25.  26. 

Weber's  Gesetz  (bez.  Formel) 
I  8  A.  51  A.  299.  335  f.  354. 
357.  395  u.  II  224.  226.  417. 
418.  558.  Vgl.  Fechner's  Ge- 
setz. 

Wechselwirkung,W.  vonVorstel- 
lungen  nach  Herbart  II  185  f., 
nach  WuNDT  u.  A.  II  131  f. 
208  f. 
W.  von  Nervenprocessen  s.  Ac- 
commodation d),  Sinne  d),  Spe- 
cif. Synergien,  Starke  1). 
W.  schwingender  Korper  s.  Ac- 
commodation e). 

Wettstreit  a)  W.-Lehre    bezixgl. 

g.  T.  II   12*.   15.  17  (histor.). 

29  i.  42.  68.  173  o.  335  A.  365. 

.  374.     481  A.     490.    545.    561 

(histor.) 


1)1  W.   d.  Aufmerksamk.    II    315. 
475  A.  490. 
Widerspriiche   in   d.  Auffassung 

II  384.  396. 
Wiedererkennen   I  5.  103.  139. 
II  7*.  134  n.  408. 
Vgl.  Benennungsurteile,     Hohen- 
urteile  a). 
Wille  a)  Willkiirl.   Aufmerksamk. 
s.  Aufm.  c),  n). 

b)  Willkiirl.  Bewegung  s.  Be- 
wegiingen  a). 

c)  W.  und  Gedachtnis  I  279. 

Zahlen   u.  Zahlbegriff  i.  A.  I  25. 

II  5.  7.    Vgl.  Mebrheit. 
Erkenntnis  d.  Zahl  g.  T.  II  334. 

363  f.       Vgl.     Mehrheitslehre. 

Mittelb.  Kriterien  c). 
Zahl  a)   d.  akustischen  Fasern  u. 

Zellen  im  Vergleich  zur  Unter- 

schiedsempf.  u.  zum  Gedachtn. 

I  290.  301.    II  94.  115  u.  Vgl. 
Stetigkeit. 

b)  d.  zwischenliegenden  Empf.  in 
Bez.  zur  Distanzschatzung  I  61. 
127.  353. 

c)  d.  g.  T.  von  Einfluss  auf  d. 
Analyse?  II  329.  504. 

d)  hochste  oder  geringste  der 
Einzelimpulse,  Scbwingungen, 
Schwebungen ,  Intermittenzen 
s.  Grenzen,  Reiz  d),  Schwe- 
bungen c). 

Zeichen    u.    Zeichentheorien    s. 
Empirismus,  Localzeichen,  Mit- 
telb. Kriterien. 
Empfindung  als  Z.  von  Objecten 

II  70  f. 

Zeit,  Einfluss  zeitlicher  Umstaude 

a)  auf  die  Beurteilung  a.  (u.  eiu- 
zelner)  T.  I  214  f.  229  f.; 

b)  auf     die     Starke vergleichung 

I  346.  363.    II  559; 

c)  auf  d.  Analyse  II  37.  334  u. 
358  f. ; 

d)  auf  d.  Unterscheidung  d.  lu- 
strumente  II  516  u.  547; 

e)  auf  d.  Gedachtnis  I  230.  309. 
311.     346.     372.     414.      416. 

II  371  f.  550. 
Vgl.  Gleichzeitigkeit. 
Urteils-Z.  s.  Dauer. 

ZeitschwelleI232.  1135.37.335. 


582 


Register  zum  I    und  II.  Band. 


Zeitvorstellungeu ,      as 
I  218;  urspriiiigliche  II 
Zusammenklang  II  2*. 
Zusatzempfindungen  II  259. 
Zuverlassigkeit      von      Sinnes- 
urteilen 
a'l  i.  A.  (absolute,  relative,  objec- 
tive, subjective)  I  22  f.  *.  Mes- 
sung  derselbeu  I  43  f.     Maxi- 
male   subj.  Z.  I  47. 
Classen  v.  Sinnesurteilen  nach 

d.  Z.  I  24  f.  56  f. 
Bedingungen  d.  Z.  fiir  Distanz- 
urteile  i.  A.  I  128  f. 
b)  Bedingungen    der    Z.  fiir    T.- 
Urteile 

a)  iiber  Mehrheit  a.  T.  I  137; 
/?)  iiber   a.   T.   bins.    d.   Hohe 
I  227  f.; 


;  lioer  Distanzverhaltnisse  a 
T.  I  247  f.; 

6)  uber  Starken  a.  T.  I  353  f. 

e)  iiber  Starkedistauzen  a.  T 
I  392  f.  • 

l;)  uber  Mebrheit  g.  T.  II  318f. 

//)  iiber  Hohe,  Hohedistanzeu 
Starke,  Starkedistanzen  g 
T.  II  383  f.  416  f.  (pas- 
sim'); 

&)  iiber  Scbwebungen  u.  Klang- 
farben  II  449  f.  516  f.  (pas- 
sim). 
c)  Z.  Musikalischer,  Unmusikali- 

scher  s.  d. 
Zweifelhafte  Urteile  i.  A.  I  44 

A.  50. 
Zwischenton    bei    Schwebungen 

II  480  f. 


Di'uck  von  Pose h el  A  Trepte  in  Leipzig. 


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^e    A  Kin  n 


University  of  California 

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