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über das sogenannte
Erkenntnis Problem.
Von
Leonard Nelson.
,fBi lit lehon ein gtoüM und nötiger Beweii der Klogbeit
odw ändcht, ni wiaen, wm man TtmÜnfUger Welae fingen
loUe. Denn wenn die Frage an lifh nngereimt iit, vnd nnnAnge
Antworten Terluigt, to hat aie, außer der Beeehlmang de«en,
der sie aufwirft, bisweilen noch den Nachteil, den anbehntaamen
Anhörer derselben ra angereimten Antworten in Terleiten, und
den belaelienswerten Anblick sn geben, daS Einer (wie die Alten
sagten) den Bock melkt, der Andere ein Sieb nnterh</*
KANT, Kritik der reinen Yemnnft. (Trannendeatal«
Logik, Elnleitang m.)
Göttingen
Vandenhoeck & Buprecht
1908.
V --J
Sonderdruck aus den „Abhandlungen der Fria'schen Schule", II. Band, 4. Heft
h^^^
^;
„Die Yttnianft muß tleh in aUen Üirea ÜBtanMhnumgeil
der Kritik unterwerfen nnd kenn der Freiheit denelben doreh
kein Verbot Abbmeh tnn, ohne doh eelbet n lehaden nnd einen
ihr nachteiligen Verdacht aaf sieh an liehen. Da irt nnn niehto
ao -wichtig in Ansehanff doe Nntiena, niehta ao helÜg, daa aidi
dieeer prüfenden and mnaternden Darehanchnnff, die kein An-
aeben der Peraon kennt, entalehen dürfte. Anf dieeer Freiheit
beraht aosar die Eziatena der Vemonft, die kein dlktatoriaehe«
Anaehen hat, aondem deren AnaBpmeh jedeneit niehta ala die
Einatimmnnff freier Bürger iat, deren Jeglicher aeine Bedenk-
lidikeiten, Ja aogar aein Teto, ohne Zurückhalten mnß iofiem
können.**
KANT, Kritik der reinen Vernunft. (Die DlaalpUn der
reinen Vemonft in Anaehnng ihiee polemlaehen Gebnuieha.)
Vorworte
Die vorliegende Schrift geht in ihren G-nmdgedanken nicht
über das in meiner Abhandlung über „die kritische Methode* Dar-
gelegte hinaus. Was sie bietet, ist lediglich die ausführlichere
Erläuterung einiger dort aufgestellter Sätze, an deren objektiver
Begründung und Formulierung ich zwar nichts zu ändern habe,
die aber infolge der Kürze der Darstellung, die mir im Interesse
der Geschlossenheit und Übersichtlichkeit der Beweisführung ge-
boten schien, noch nicht den wünschenswerten Grrad der Deutlich-
keit und Überzeugungskraft erhalten zu haben scheinen. Dies gilt
insbesondere von dem Satze, den ich in die Behauptung der
Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie zusammengefaßt habe. Von derj
Beurteilung dieses Satzes hängt die Entscheidung über alle weiteren^
noch strittigen Punkte ab.
Es war freilich vorauszusehen, daß dieser Satz nicht so leicht
Zustimmung finden würde. Stürzt er doch, wenn es mit ihm seine
Bichtigkeit hat, das ganze stolze Gebäude einer Wissenschaft
27*
416 L- Nelson: Über das sogenannte £rkenntnisproblem. [4
nm, die sich rühmt, hinsichtlich der Festigkeit und Tragfähigkeit
ihrer Grondlagen allen sonstigen Schöpfungen des Menschengeistes
überlegen zu sein. Gegen jenen Satz haben denn auch mit sel-
tener Einmütigkeit die Vertreter der angegriffenen Wissenschaft
ihre Polemik gerichtet. Dabei ist indessen, wie ich feststellen
mxxßj eine Widerlegung des von mir gegebenen Beweises bisher von
keiner Seite auch nur versucht worden. Entrüstung, daß ich es
„gewagt" habe, die „Meister" der in Frage gezogenen Wissen-
schaft anzugreifen, psychologische Betrachtungen über mein „Un-
vermögen", mich „auch nur vorübergehend in den Standpunkt und
die Fragestellung der modernen Erkenntniskritik zu versetzen^ ^
oder endlich vornehmes Stillschweigen bei den „Meistern" selbst,
diese und noch gewisse andere, besser auch meinerseits mit Still-
schweigen zu übergehende Kampfesmittel sind es, auf die sich
meine Gegner bisher beschränkt haben.
Ich habe keinen Anlaß, in der vorliegenden Schrift auf diese
Polemik zurückzukommen. Ich wende mich an diejenigen, die die
Rechte der formalen Logik und Mathematik anerkennen und denen
die „sozial-ethische Humanität" auch in der Wissenschaft nicht
eine Sache der Beteuerung, sondern der Betätigung ist. Ich wende
mich an diejenigen, die es „wagen^, selbst zu denken und Gründen
* Vielleicht bietet die vorliegende Schrift meinem Kritiker, dem die Frage
Kopfzerbrechen macht, „woher" mein besagtes Unvermögen „stamme", einen
Fingerzeig zur Auflösung derselben. Übrigens ist dieses Unvermögen nicht „so
stark", wie er annimmt, wenn er meint, daß es mich hindere, mich „auch, nur
vorübergehend" in die erkenntnistheoretische Fragestellung zu versetzen. Vielmehr
gestehe ich, mich früher selbst sehr lebhaft, wenn auch allerdings „nur vorüber-
gehend", in diese Fragestellung „versetzt" zu haben und noch heute die kostbare
Zeit zu bedauern, die ich damals vernünftigen Studien zu Gunsten fruchtloser
Spekulationen über ein Scheinproblem entzogen habe.
6] Vorwort. 417
höhere Aatorität beizulegen als den Worten eines noch so geprie-
senen ^jMeisters**, —
Der breite Raom, den im Folgenden, trotz des eben Gesagten,
die Polemik einnimmt, erfordert noch einige Worte der Erläntemng.
Der Irrtnm, ge^en den sich diese Schrift wendet, hat seinen Nähr-
boden nicht in einer historisch zufälligen, vorübergehenden Zeit-
erscheinnng, sondern, analog einer optischen Täuschung, erzeugt
er sich mit psychologischer Notwendigkeit und Natürlichkeit immer
von neuem, wo die philosophische Reflexion zu einer gewissen
Stufe der Bildung entwickelt ist. Und so, wie man gewisser op-
tischer Täuschungen nur Herr werden kann auf Grund mannig-
facher, oft wiederholter und ermüdender Versuche, so wird es auch
nicht gelingen, in unserem Falle die Quelle des Irrtums zu ver-
stopfen, wenn man sich mit einer einmaligen Feststellung des
Fehlers begnügt, sondern es ist erforderlich, ihn in zäher Arbeit
in alle die vielfachen Erscheinungsformen zu verfolgen, unter denen
er sich in seinen Folgen leicht auch dem geschärften Blicke des
durch Kritik Gewarnten entzieht.* Im Dienste einer solchen
kritischen Reinigungsarbeit stehen die polemischen Kapitel der
vorliegenden Schrift. An keiner Stelle ist mir die Polemik Selbst-
zweck, vielmehr dienen die beurteilten Lehren ausschließlich als
epische Repräsentanten der verschiedenen möglichen Gestaltungen,
denen der erkenntnistheoretische Proteus sich darstellt. Dabei
bin ich, um die immanente Methode der Kritik möglichst zu ihrem
Rechte konmien zu lassen, bestrebt gewesen, eine jede typische
Form der Erkenntnistheorie für sich einer besonderen Prüfung zu
unterwerfen und dabei die eigene Grundansicht nicht vorauszu-
' So fällt F. Bon, nachdem er Angriff auf Angriff gegen die „Dogmen der
Erkenntnistheorie^ gehäuft hat, am Ende selbst wieder in die biologische Form
der Erkenntnistheorie zurück.
418 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. 6]
setzen, sondern jedesmal erst wie ein neues Ergebnis ans der
Untersuchung hervorgehen zu lassen. Die einzelnen Kapitel bilden
daher größtenteils selbständige, von dem Zusammenhang mit dem
Ganzen unabhängige und daher auch für sich verständliche Ab-
handlungen.
Demselben Zwecke wie diese polemischen Kapitel dienen auch,
wennschon in etwas anderer Weise, die im dritten Teile nieder-
gelegten historischen Untersuchungen. Durch die Mitteilung der-
selben hoffe ich zugleich auch den Historikern der Philosophie
einen Dienst zu leisten. Sie enthalten den Nachweis, wie sich an
der Hand eines höchst einfachen methodischen Leitfadens Licht
und Ordnung in eine der chaotischsten Perioden der Philosophie-
geschichte bringen läßt. Aber freilich, so fruchtbar eine solche
von methodischen und kritischen Maximen geleitete Betrachtungs-
weise für die Greschichte der Philosophie ist, so steht ihr doch
das noch immer unbesiegte Vorurteil entgegen, als sei umgekehrt
die Einsicht in die philosophische Wahrheit erst aus der Kenntnis
der Geschichte der Philosophie zu schöpfen, und als verlange die
historische ObjeJctivität, daß der Geschichtsschreiber sich aller kri-
tischen Bewertung seines Gegenstandes enthalte. Allerdings setzt
jede solche Bewertung schon den Besitz einer eigenen philoso-
phischen Ansicht seitens des Geschichtsschreibers voraus; aber
den durch diesen Umstand bedingten Gefahren für die Objektivität
der historischen Darstellung entgeht man nicht dadurch, daß man
sich des eigenen philosophischen Urteils enthält, sondern allein,
indem man sich und dem Leser von den maßgebenden eigenen An-
sichten gewissenhafte Rechenschaft ablegt. Denn einerseits ist
die Anwendung solcher subjektiven Maßstäbe überhaupt unvermeid-
lichj weil ohne sie der Historiker nicht einmal zu einer Auswahl
seines Stoffes gelangen könnte, und weil ferner eine Einsicht in
7] Vorwort 419
die Fortschritte der bisherigen Entwickelong das einzige Ziel ist|
das unser toissenschaftUehes Interesse an der Geschichte bestimmt«
Andererseits bleibt ja bei einem solchen beurteilenden Verfahren
die Objektivität der Darstellung vollkommen gewahrt, wenn der
Geschichtsschreiber sich nur bescheidet, seinem histariseJ^en Urteil
keine weitere Verbindlichkeit beizumessen als dem zu Grunde lie«
genden phihsophischen. Das erste hat in dem Maße Objektivität,
als das zweite auf Objektivität, d. h. auf wissenschaftliche Be«
gründung Anspruch machen kann. Eine über diese hypothetische
G^tung hinausgehende historische Objektivität giebt es nicht. Es
.wird deshalb, dem gewöhnlichen Vorurteil ganz entgegen, gerade
diejenige Art der Geschichtsschreibung die objektivste sein, die
am bestimmtesten die subjektive Ansicht des Darstellers hervor-
treten läßt. Oder welchen wissenschaftlichen Wert hätte eine
historische Darstellung, deren „Objektivität nur in einer Ver-
schweigung und Verschleierung der subjektiven Prinzipien besteht,
von deren Wahrheit oder Falschheit auch die Verbindlichkeit oder
Nichtverbindlicbkeit der gesamten Darstellung abhängt? ^ Wer
sich also nicht schon eine eigene Kenntnis der philosophischen
Wahrheit zutraut, wer nicht mit Spinoza, sagen kann: ;,äcio me
veram intelligere philosophiam^, der enthalte sich aller Bemühun-
gen um die Geschichte der Philosophie.
^ In seiner Abhandlung über „Geschichte der Phüosophio*' (Festschrift fiUr
E. Fischer, Heidelberg 1904, Bd. II, S. 198) schreibt Windeldand, nachdem er
(S. 184 ff.) die Geschichte der Philosophie für das „Organen" und die „Quelle^
des philosophischen Wissens erklärt hat: „Je ausgesprochener und schärfer dio
maßgebende Meinung ist, um so parteiischer, ungerechter und unbrauchbarer wird
die geschichtliche Darstellung als solche.^ Mir scheint das Gegenteil dieser Be-
hauptung richtig zu sein: Je ausgesprochener und schärfer die maßgebende
Meinung ist, um so unparteiischer, gerechter und brauchbarer wird die geschicht-
liche Darstellung als solche.
420 L- Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [g
Was nan aber die Art der Kritik selbst betrifft, so giebt es
überhaupt zwei Methoden, nach denen sich eine kritische oder
polemische Untersnchong führen läßt. Entweder man fragt nach
der Zolässigkeit der Voranssetzangen^und Methoden, nach der Kon-
sequenz und inneren Haltbarkeit eines Lehrgebäudes, oder aber
man prüft es an seinen Ergebnissen und äußeren Leistungen, an
seiner Fruchtbarkeit für die Losung bestimmter, in ihrer Bedeu-
tung anerkannter Probleme. Ich habe mich in den folgenden
Untersuchungen ausschließlich der ersten Methode der Kritik be-
dient. Sie ist die in einem wissenschaftlichen Streite allein ent-
scheidende, da der anderen stets nur die Bedeutung einer argu-
mentatio ad hominem zukommt.
Es ist indessen nicht ohne Interesse und Nutzen, nach Voll-
endung jener ersten Art der Prüfung auch die zweite anzuwenden
und sich also in unserem Falle die Frage vorzulegen : Welches
sind die gesicherten Ergebnisse der mehr als hundertjährigen Arbeit
der Erkenntnistheoretiker? Was hat die auf Erkenntnistheorie
gegründete Philosophie geleistet zur Lösung der eigentlichen philo-
sophischen Probleme, der Probleme der Ethik und Religionslehre,
der Pädagogik und Politik ? Ja auch nur der Grrundprobleme der
theoretischen Wissenschaften, der Physik, der Biologie und der
Psychologie ? Es genügt, diese Frage zu stellen, um die Verlegen-
heit und Ohnmacht ins Licht zu setzen, in der sich die Erkenntnis-
theorie gegenüber allen ernsten die denkende und handelnde Mensch-
heit bewegenden Problemen befindet. Mag der Erkenntnistheore-
tiker diese Probleme als „metaphysische? von sich weisen: sie
werden durch eine verächtliche Benennung nicht aus der Welt ge-
schafft, und die Menschheit wird nicht aufhören nach ihrer Lösung
zu suchen. Kann sie dabei von der Erkenntnistheorie noch irgend
9] Vorwort. 421
welche Hilfe erwarten?^ Kann man sich noch länger darüber
täuschen, daß die auf diese Disziplin gesetzten HofFnnngen auf das
kläglichste gescheitert sind?'
Die Geschichtsschreiber der Philosophie erzählen uns, daß eben
darin der große Fortschritt der Philosophie seit Kant bestehe,
daß die Metaphysik verlassen nnd an ihre Stelle die Erkenntnis-
theorie gesetzt worden sei. Ich gestehe, in diesem angeblichen
großen Fortschritt nichts anderes zu finden als die Ersetzung alter
Scheinprobleme durch ein neues, und ich lasse mich auch durch
den magischen Klang des Namens „Erkenntnistheorie*' hierüber
nicht in die Irre leiten. Wann wird dieses Zauberwort endlich
aufhören, seine faszinierende Wirkung auf die G-eister auszuüben?
In wunderlicher Selbsttäuschung hat man den Verzicht auf
alles Metaphysische, diese sogenannte „Selbstbescheidung^ der
Erkenntnistheorie, als einen heroischen Akt der Resignation und
als eine wissenschaftliche Großtat gepriesen. Man berauscht sich
an der eigenen Erhabenheit über metaphysische Vorurteile, und
' Das überaus lYenige, was hinsichtlich dieser Probleme seit der Herrschaft
der Erkenntnistheorie geleistet worden ist, das ist nicht dank dem erkenntnis-
theoretischen Prinzip)' sondern dank der Inkonsequenz der Erkenntnistheoretiker
zu Stande gekommen. Selbst die Ethik ist, so paradox es erscheinen mag, in
eine unfruchtbare Wüste leerer, aller Anwendung auf das Leben sich versagender
Spekulationen verwandelt worden. Die nach erkenntnis theoretischer Methode ver-
fahrende Ethik muß sich ja, um nicht etwa in Metaphysik zu verfallen, auf die
Untersuchung der Frage beschränken, welches der Grund der Verbindlichkeit sitt-
licher Pflicht überhaupt sei ; eine Frage, von der jeder Unbefangene einsehen muß,
daß, da alle Verbindlichkeit ein Pflichtgebot schon voraussetzt, ihre Auflösung
nur durch Vollendung eines unendlichen Begressus möglich, die Aufgabe selbst
also unlösbar und widersprechend ist.
* Dieses Argument soll kein Beweis der Verfehltheit der erkenntnistheore-
tischen Methode sein, wohl aber sollte es uns gegen diese Methode mifltrauisch
machen und uns veranlassen, einer gründlichen Prüfung ihrer inneren Haltbarkeit
unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
422 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [10
während man sich immer tiefer in die Sklaverei des erkenntnis-
theoretischen Dogmas verstrickt, wähnt man den höchsten Gipfel
geistiger Freiheit erstiegen zu haben. Traurige Verblendung
des sich selbst allen Anforderungen des Lebens entfremdenden
Gelehrtenstolzes ! Wohl hat, wie jede wissenschaftliche Wahrheit,
so auch die philosophische ihren Wert in sich selbst, unabhängig
von aller praktischen Anwendung. Aber welches ist denn die
Wahrheit, deren Erforschung die Aufgabe der Philosophie bildet?
Ist und bleibt es nicht, solange dieser Name nicht zum Spott
werden soll, die Wahrheit über Wert und Ziel des menschlichen
Lebens, freilich auch der Wissenschaft, soweit sie im Ganzen
dieses Lebens ihre Stelle hat? Was ist also jene vermeintliche
wissenschaftliche Resignation in Wahrheit anderes als die endgül-
tige Absage der Philosophie an die schon in der Bedeutung ihres
Namens eingeschlossenen und durch die Geschichte geheiligten
Rechte und Pflichten?
Zu welchen verhängnisvollen Folgen für die Gesamtkultur
diese Verblendung führen muß, darauf habe ich an anderer Stelle
aufmerksam gemacht. ^ Diese Folgen werden aber der Wissen-
schaft selbst verderblich werden. Während die wissenschaftliche
Forschung das Gebiet der für das Schicksal unserer Kultur be-
deutungsvollsten Fragen mehr und mehr vernachlässigt, während
Zeit, Kraft und Aufmerksamkeit der besten Kopfe spekulativen
Scheinproblemen und Hirngespinsten zugewendet ist, bemerkt man
nicht, wie die von der Philosophie verlassenen Gebiete von ande-
ren Mächten in Besitz genommen werden, wie Schritt für Schritt
der zurückweichenden Wissenschaft Vorurteil und Aberglaube auf
^ In meiner Abhandlung: „Ist metaphysikfreie Naturwissenschaft möglich?^
Kapitel X.
11] Vorwort. 423
dem Fuße folgen. Wir stehen am Anfange einer Entwickelung,
die das Werk der mehrhnndertjährigen wissenschaftlichen Be-
freiungsarbeit wieder rückgängig macht. An die Stelle der
wisscnsclmfilichen Metaphysik wird die ntcA^ - wissenschaftliche,
d. h. der Mystizismus treten, und die der wissenschaftlichen Füh-
rung beraubte Kultur wird d^m Despotismus der Vorurteile und
des Aberglaubens zur Beute werden. Und wenn dann später ein-
mal die Erkenntnistheoretiker aus ihrem Rausche erwachen sollten,
dann werden sie erkennen, daß sie nicht das Fundament der Metü"
physikj sondern das der Wissenschaft zerstört haben.*
' Ich bin, wie ich aas einer schon vor fünfzig Jahren erschienenen Schrift
ersehe, nicht der erste, der vor diesen Gefahren warnt In seinem geistvollen
Werke über Bacon hat Charles de Be^^usat, freilich ohne gerade die Er-
kenntnistheorie im Auge zu haben, die Kulturfeindlichkeit der sich selbst mißver-
stehenden antimetaphysischen Aufklärungsbestrebangen seiner Zeitgenossen mit
scharfem Blicke erkannt und gegen ihre verderblichen Folgen seine warnende
Stimme erhoben. Was er vorausgesagt hat, das hat längst begonnen sich zu ver-
wirklichen. Ich kann es mir nicht versagen, seine eigenen Worte hier anzuführen :
„Si la raison, si la science d^sertc ces plages vastes et brillantes oü la
Philosophie a marquä ses traces, le gros de Thumanitä ne les abandonne pas.
Toutes ces choses, que par Pexamen et la m^ditation nous cherchions k connattre
en les d(^gageant de Terreur et de l'iUusion, ne disparaissent pas k volonte de
Tesprit humain. EUes y restent du fait de la tradition, si ce n'est plus du droit
de la science. Elles s'y conservent et s'y d^veloppent sous la forme que leur
donnent l'imagination, Tirr^flexion, la passion et Phabitude ; le präjugd renaft k la
place de la vdrit^. Dans ce champ dont Part d^aisse la culture, repoussent k
l'^tat sauvage, priv^es peu k peu de leurs fleurs perfectionnäes et de leurs fruits
les meilleurs, toutes ces plantes qu^on n'extirpe pas en les ndgligeant, et la tra-
dition des si^cles de t^nöbres reprend de l'audace et de Tempire devant une
science qui s' intimide, devant une raison qui abdique. L'empirisme sans Philo-
sophie rend le sceptre et la vie au dogmatisme sans philosophie; Tautorit^ se
rel^ve \k oü avait triomph^ l'examen, et l'oeuvre de la renaissance est d^truite. —
Tel est le terme fatal vers lequel marche cette ^cole scientifique qui se croit
Textröme gauche de la science." („Bacon", Livre IV, Chap. IV.)
424 L- Nelson : über das sogenannte Erkenntnisproblem. [12
Wie wenig Grund die heatige Erkenntnistheorie hat, sich über
die vorkantische Metaphysik zu erheben, kann wohl nicht treffen-
der bewiesen werden als durch die Tatsache, daß sich die von
Kant über die letztere ausgesprochenen Urteile Wort für Wort
auch auf die erstere anwenden lassen:
„Meine Absicht ist, alle diejenigen, so es wert finden, sich
mit Erkenntnistheorie zu beschäftigen, zu überzeugen, daß es un-
umgänglich notwendig sei, ihre Arbeit vor der Hand auszusetzen,
alles bisher Geschehene als ungeschehen anzusehen und vor allen
Dingen zuerst die Frage aufzuwerfen, ,ob auch so etwas, als Er-
kenntnistheorie, überall nur möglich sei^
„Ist sie Wissenschaft, wie kommt es, daß sie sich nicht, wie
andere Wissenschaften, in allgemeinen und dauernden Beifall setzen
kann? Ist sie keine, wie geht es zu, daß sie doch unter dem
Scheine einer Wissenschaft unaufhörlich groß tut, und den mensch-
lichen Verstand mit niemals erlöschenden, aber nie erfüllten Hoff-
nungen hinhält ? Man mag also entweder sein Wissen oder Nicht-
wissen demonstrieren, so muß doch einmal über die Natur dieser
angemaßten Wissenschaft etwas Sicheres ausgemacht werden ; denn
auf demselben Fuße kann es mit ihr unmöglich länger bleiben. Es
scheint beinahe belachenswert, indessen daß jede andere Wissen-
schaft unaufhörlich fortrückt, sich in dieser, die doch die Weisheit
selbst sein will, deren Orakel jeder Mensch befragt, beständig auf der-
selben Stelle herumzudrehen, ohne einen Schritt weiter zu kommen.
„Auf die Auflösung jener Aufgabe nun kommt das Stehen und
Fallen der Erkenntnistheorie, und also ihre Existenz gänzlich an.
Es mag jemand seine Behauptungen in derselben mit noch so
großem Schein vortragen, Schlüsse auf Schlüsse bis zum Erdrücken
aufhäufen, wenn er nicht vorher jene Frage hat genugtuend be-
antworten können, so habe ich Recht zu sagen: es ist alles eitle
grundlose Philosophie und falsche Weisheit.
13] Vorwort. 425
„Alle Erkenntnistheoretiker sind demnach von ihren Geschäften
feieirlich und gesetzmäßig so lange suspendiert, bis sie die Frage:
Wie ist Erkenntnistheorie möglich? genugtuend werden beant-
wortet haben. Denn in dieser Beantwortung allein besteht das
Ejreditiv, welches sie vorzeigen müssen, wenn sie im Namen der
reinen Vernunft etwas bei uns anzubringen haben. In Ermange-
lung desselben aber können sie nichts anderes erwarten, als von
Vernünftigen, die so oft schon hintergangen worden, ohne alle
weitere Untersuchung ihres Anbringens abgewiesen zu werden.
„Es ist aber eben nicht so was Unerhörtes, daß nach langer
Bearbeitung einer Wissenschaft, wenn man Wunder denkt, wie
weit man schon darin gekommen sei, endlich sich jemand die Frage
einfallen läßt, ob und wie überhaupt eine solche Wissenschaft
möglich sei. Denn die menschliche Vernunft ist so baulustig, daß
sie mehrmalen schon den Turm aufgeführt, hernach aber wieder
abgetragen hat, um zu sehen, wie das Fundament desselben wohl
beschaffen sein möchte. Es ist niemals zu spät, vernünftig und
weise zu werden ; es ist aber jederzeit schwerer, wenn die Einsicht
spät kommt, sie in Gang zu bringen.
„Zu fragen, ob eine Wissenschaft auch wohl möglich sei, setzt
voraus, daß man an der Wirklichkeit derselben zweifle. Ein
solcher Zweifel aber beleidigt jedermann, dessen ganze Habseligkeit
vielleicht in diesem vermeinten Kleinode bestehen möchte; und
daher mag sich der, so sich diesen Zweifel entfallen läßt, nur
immer auf Widerstand von allen Seiten gefaßt machen. Einige
werden in stolzem Bewußtsein ihres alten und eben daher für
rechtmäßig gehaltenen Besitzes, mit ihren erkenntnistheoretischen
Kompendien in der Hand, auf ihn mit Verachtung herabsehen;
andere, die nirgend etwas sehen, als was mit dem einerlei ist, was
sie schon sonst irgendwo gesehen haben, werden ihn nicht ver-
426 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [14
stehen, and alles wird einige Zeit hindurch so bleiben, als ob gar
nichts vorgefallen wäre, was eine nahe Veränderung besorgen oder
hoffen ließe.
„Soviel ist gewiß: wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt
aof immer alles dogmatische Gewäsche, womit er vorher ans Not
vorlieb nahm, weil seine Yemnnft etwas bednrfte nnd nichts
Besseres zn ihrer Unterhaltung finden konnte. Die Kritik ver-
hält sich zur gewohnlichen Schal-Erkenntnistheorie gerade wie
Chemie zar Alchemie, oder wie Astronomie zar wahrsagenden
Astrologie. Ich bin dafür gut, daß niemand, der die Gnmdsätze
der Ejritik durchgedacht and gefaßt hat, jemals wieder zn jener
alten and sophistischen Scheinwissenschaft zurückkehren werde;
vielmehr wird er mit einem gewissen Ergötzen auf eine Meta-
physik hinaussehen, die nunmehr allerdings in seiner Gewalt ist,
auch keiner vorbereitenden Entdeckungen mehr bedarf, und die
zuerst der Vernunft dauernde Befriedigung verschaffen kann."
Inhalt
Erster Teil: Die ünmSglichkeit der Erkenntnistheorie.
Einleitimgr.
1. Der Streit um die Fortbildung der Kantischen Philosophie.
2. Vorschlag, die Wurzel dieses Streits in der den Streitenden gemeinsamen
erkenntnistheoretischen Problemstellung zu suchen.
I. Allgemeiner Beweis der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie.
3. Beweis der Unlösbarkeit des erkenntnistheoretischen Problems.
4. Unmöglichkeit, aus der Unbegründbarkcit der Objektivität auf die Subjektivität
zu schließen. Unmöglichkeit einer teilweise positiven, teilweise negativen Ent-
scheidung.
5. Unmöglichkeit, aus dem Widerspruch der Leugnung irgend welchen Wissens
auf das Vorhandensein irgend welchen Wissens zu schließen.
Anmerkung zam I. Kapitel. Über den Untersehled der analytiseh^
und synthetischen Urteile.
6. Einfuhrung der Unterscheidung. Begriff und Wesen.
7. Begriff und Wortbedeutung. Unveränderlichkeit des Inhalts der Begriffe. Un-
möglichkeit der Verwandlung synthetischer Urteile in analytische. Vollstän-
digkeit der Einteilung.
8. Analytische Natur der Definitionen und Schlüsse.
9. Sind sämtliche Prämissen eines Urteils analytisch, so ist das Urteil selbst
analytisch, und umgekehrt.
n. Das Gesetz als erkenntnistheoretisches KjitfiriniQ.
10. Zweck der folgenden Untersuchungen.
11. Natorps Argument gegen die psychologische Methode der Erkenntnistheorie
beweist zu viel.
12. Unzulässigkeit des Versuchs, von der JErJcenntnia auszugehen, wenn die
Gegenständlichkeit überhaupt in Frage gestellt ist.
13. Unmöglichkeit, die Beziehung der Erkenntnis auf den Gegenstand aus einem
Abstraktionsakt zu erklären. Ursprünglichkeit dieser Beziehung.
14. Unterschied des Verhältnisses der Erkenntnis zum Gegenstande vom Verhältnis
der Erscheinung zum Gesetz. Gesetzmäßigkeit ist lediglich ein negatives
Kriterium der Wirklichkeit. Das positive Kriterium der Wirklichkeit ist die
Anschauung. Das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande ist nicht das
Verhältnis der unvollständig bestimmten Erkenntnis zur vollständig bestimmten.
15. Mittelbarkeit aller Erkenntnis durch Begriffe. Urteil und Vergleichongsformel.
428 ^' Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [16
III. Der transzendentale Beweis als erkenntnistheoretlsehes Kriterinm«
16. Zergliederung des von £. Marcus versachten Beweises der Analogieen der
Elf abrang.
17. Petitio principii des Beweises. Zweideutigkeit des Ausdrucks „Möglicbkeit der
Erfabrung**.
18. Der Satz vctn der Gesetzmäßigkeit der Erfabmngsobjekte ist analytiscb; der
Satz von der Gesetzmäßigkeit der Realitäten der Wabmebmung ist syntbetiscb
und aus dem ersten unableitbar.
19. Der Begriff der Erfabrung als transzendentaler Beweisgrund. Das metapby-
siscbe Element des allgemeinsten ErfabrungsbegrifFs. Willkürlicbkeit der
Determination jedes engeren ErfabrungsbegrüSs.
20. Unmöglicbkeit, von den metapbysiscben Bedingungen der g^d>enen Er-
fahrung auf die metapbysiscben Bedingungen aller möglichm Erfabrung zu
scbließen.
IT. Die Erldenz als erkenntnistheoretlsehes Kriterium.
21. Petitio principii der Argumentation Meinongs für die EWdenz als Wabrbeits-
kriterium.
22. Die Evidenz der Halluzinationen und Träume.
23. Der Ausweg einer objektiven Definition der Evidenz bebt die Anwendbarkeit
des Begriffs der Evidenz auf.
24. Die Unmöglichkeit, jedes Urteil auf ein anderes Urteil zurückzufahren, beweist
nicht die Zulässigkeit von Urteilen, die sich nicht auf eine andere Erkenntnis
gründen.
T. Der blologisehe Torteil als erkenntnistheoretlsehes Kriterium.
26. Der biologische Torteil als Kriterium und als Bedeutung der Wahrheit.
SiMMELs Argumentation zu Gunsten der zweiten Annahme.
26. Die Möglichkeit dieser Annahme widerspricht ihrem Inhalt
27. Unmöglichkeit, mit den Worten „Wahrheit ist Nützlichkeit ** einen Sinn zu
verbinden.
28. Relativität des Nützlichkeitskriteriums. Unabhängigkeit der Wahrheit von der
Zeit.
29. Widerspruch des biologischen Wahrbeitskriteriums.
Tl. Das ,,transzendente Sollen** als erkenntnistheoretisehes Kriterium.
30. Die teleologische Erkenntnistheorie.
81. Zweifache Interpretation: Das Gefordertsein eines Urteils als Kriterium und
als Bedeutung seiner Wahrheit
82. RiCKEBTs Erkenntnistheorie als Beispiel der zweiten Annahme. Konsequenzen
dieser Annahme.
17] Inhalt. 429
83. Widersprach in Bicesbts Begriff des „Bewußtseins überhaupt". Begriff und
Gegenstand.
84. Das Verhältnis des Erkennens zum Erkannten ist von dem Verhältnis des
Erkennenden zum Erkannten zu unterscheiden. Die notwendige Verschieden-
heit der Erkenntnis von ihrem Gegenstande steht daher mit der Möglichkeit
der Selbsterkenntnis, d. h. der Identität von Subjekt und Objekt, nicht in
Widerspruch.
85. Die Lehre von den „Forderungen" als Bedeutung der Wahrheit beruht auf
einer Zirkeldefinition.
36. Die Lehre von den „Forderungen'* als Kriterium der Wahrheit enthält einen
Widerspruch.
37. Die teleologische Erkenntnistheorie hat zur Voraussetzung die psychologische
Annahme der Identität von Erkenntnis und Urteil. Die Abhängigkeit des
Urteils vom Willen ist eine Tatsache der inneren Erfahrung. Es giebt aber
Erkenntnisse, die nicht in Urteilen bestehen, z. B. die Wahrnehmungen.
38. Der Bestimmungsgrund Tür das Fällen eines Urteils ist von der Richtschnur
für den Inhalt des Urteils zu unterscheiden. Weder das eine noch das andere
besteht in einer Forderung. Die Richtschnur für den Inhalt des Urteils Uegl^
in der unmittelbaren Erkenntnis. Aus dem Verbot eines Urteils läßt sich
nicht auf das Gebot des widersprechenden Urteils schließen.
39. Die Annahme der Identität von Erkenntnis und Urteil hat die Unerkennbarkeit
des teleologischen Wahrheitskriteriums zur Folge.
40. Die Annahme eines vom Urteil verschiedenen „Gefühls" oder „Erlebens" der
Forderung kann diese Schwierigkeit nicht beseitigen, hebt vielmehr die Mög-
lichkeit der teleologischen Erkenntnistheorie auf.
ABmerlnisg zum VI. Kapitel. Der erkenntnistheoretlsehe Idealismiis.
41. Verbalmethode der Rickertschen Lösung des „Problems der Transzendenz".
42. Der „Satz der Immanenz" beruht auf einer Verwechslung von Inhalt und
Gegenstand.
43. Inhaltlosigkeit des Begriffs des „Bewußtseins überhaupt".
44. Widerspruch des methodischen Prinzips, „nichts unbewiesen hinzunehmen".
45. Analoge Fehler bei Liffs.
AbhaadlufftB der FriM*ieheB 8ch«le. IL Bd. 28
430 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [lg
Zweiter Teil: Das Problem der Vemuiiftkritik.
TU. Der Batz des Omndes. (Erkenntnlstlieorie und Do^niatlsmaB.)
46. Scheinbare Alternative zwischen Erkenntnistheorie and Dogmatismus.
47. l'nvollständigkeit dieser Disjunktion. Der Satz des Grandes gilt lediglich von
Urteilen, nicht von Erkenntnissen überhaupt. Das Postulat der Begründung
widerspricht daher nicht der Annahme von Erkenntnissen, die keiner Be-
gründung bedürfen.
48. Vemunftwahrheit und Verstandeswahrhcit Das Faktum des Selbstvertrauens
der Vernunft ist die entscheidende Instanz gegen den Skeptizismus, die selbst
einer Begründung weder fähig noch bedürftig ist
Till. Das Hiime-Kaiitlselie Problem. (ErkenntniBtheorie nnd Yernanft-
kritlk.)
49. Die Begründung der Verstandeswahrheit als alleinige Aufgabe der Wissen-
schaft. Bcgriif der Metaphysik.
60. Unvermeidlichkeit und Bedeutung des IIume-Kantischen Problems: Der Grund
der metaphysischen Urteile liegt weder in der Anschauung noch in der
Reflexion. Die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft. Ihre faktische
Aufweisung als Aufgabe der Kritik der Vernunft.
51. Zurückfuhrung des erkenntnistheoretischen Vorurteils auf die Annahme der
Vollständigkeit der Disjunktion zwischen Anschauung und Reflexion als Er-
kenntnisqnellen.
52. Die beiden kritischen Maximen.
IX. Die Modalität der krltlsehen Erkenntnis.
53. Unmöglichkeit einer demonstrativen Begründung der metaphysischen Urteile.
Notwendigkeit, die den Grund der metaphysischen Urteile enthaltende Er-
kenntnis zum Gegenstande einer wissenschaftlichen Untersuchung zu machen.
Psychologische Natur dieser Untersuchung.
54. Modalische Ungleichartigkeit von Grund und Begründung im Falle der Meta-
physik. Die kritische Begründung enthält nicht den Grund der metaphysischen
Urteile.
X. Daa transzendentale and das psyehologlstisehe Torarteil.
55. Die Erkenntnistheorie muß den Grund der durch sie zu begründenden Urteile
enthalten.
56. Erkenntnis und Erkenntnisgrund sind hinsichtlich der Modalität gleichartig.
Die psychologische Natur der Erkenntnistheorie ist daher mit der Apriorität
der durch sie zu begründenden Sätze unvereinbar. Auf Grund des erkenntnis-
theoretischen Vorurteils ist folglich der Widerspruch zwischen Transzenden-
talismus und Psychologismus unvermeidlich.
19] Inhalt. 431
67. Mit der Beseitigong des erkenntnistheoretisrhen Vorarteils verschwindet dieser
Widerspruch. Der Satz Ton der modalischen Gleichartigkeit von Erkenntnis
und Erkenntnisgrund ist zufolge § 54 auf die Kritik unanwendhar. Schematische
Darstellung der Entstehung des Widerspruchs und seiner Auflösung.
58. Terminologische Bemerkungen.
XL Beispiele der „dogmatiselieii Prftmisse^* in der antipsyehologiBtisehen
Ar^unentation bei Natobp, Fbiqi und üussebl.
59. Verwechslung von Grund und BegrOndung hei Natorp.
60. Derselbe Fehler bei Frege. Angeblicher Zirkel der „psychologischen Logik".
61. Derselbe Fehler bei Husserl. Beweis und Deduktion.
XII. HuBBEBLs phänomenologriselie Methode und die intellektuelie An-
sehauang.
62. Die phänomenologische Methode verfährt tatsächlich psychologisch.
63. Anerkennung der modalischen Ungleichartigkeit von Inhalt und Gegenstand
der Kritik bei Husserl. Unzulässigkeit der Beschränkung der Kritik auf
bloße Deskription. Der Gegenstand der Kritik läßt sich (zufolge § 53) nicht
durch unmittelbare Selbstbeobachtung, sondern nur vermittelst einer psycho-
logischen Theorie aufweisen.
64. Weitere Gründe gegen Husserls Beschränkung der Kritik auf bloße Deskription.
65. Die Annahme der Anschaulichkeit der unmittelbaren philosophischen Erkenntnis
macht zwar ein theoretisches Verfahren der Kritik entbehrlich, hebt aber zu-
gleich die Notwendigkeit der Kritik überhaupt auf.
XIII. BICKKBT8 TranszeudentaUsmaB als Beispiel eines yersteekten
Psyeholoslsmiis.
66. Transzendentalismus ist notwendig versteckter Psychologismus.
67. Beispiel: Rickerts Lehre vom Willen als logischer Voraussetzung aller
Wahrheit.
XIV« Lipps' „Omndwlssensehaft^^ Der Begriff des Denkgesetzes.
68. Verwechslung von Grund und Begründung in Lipfs* Begriff der „Grund-
wissenschaft**.
69. Psychologistische Konsequenzen dieses Fehlers, erläutert an Lipfs' ästhetischem
Subjektivismus.
70. Die logischen Gesetze sind nicht „psychische Naturgesetze". Naturgesetz und
Norm. Hypothetische Form und exakte Geltung der Naturgesetze.
71. Die logischen Gesetze sind nicht Normen. Es lassen sich zwar auf die logischen
Gesetze Normen für das Denken gründen, aber in diesem Sinne haben nicht
nur alle mathematischen und naturwissenschaftlichen Gesetze, sondern auch
alle To^ffoc^enwahrheiten normative Bedeutung.
28*
432 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [20
72. Die ßestimmnngsgründe des logischen Denkens liegen nicht in den logischen
Gesetzen, sondern in unserer Erkenntnis dieser Gesetze.
73. Die logischen Gesetze können mit Recht „Denkgesetze** heißen, weil wir uns
ihrer nur durch Denken bewußt werden. Folgen dieser Erklärung für die
richtige Bestimmung des Verhältnisses der Psychologie zur Philosophie.
74. Inhalt und Gegenstand der metaphysischen Erkenntnis. Reflexion und Vernunft.
Stumpfs Ansicht über das Verhältnis der Psychologie zur Erkenntnistheorie.
75. Selbsttätigkeit und Willkürlichkeit. Rezeptivität und Spontaneität.
Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie.
XV. Die erkenntnistheoretisclieii Voraassetziingreii des fornmlen Idea-
llsmiu.
76. Die beiden Kantischen Beweise des transzendentalen Idealismus.
77. Die vier Voraussetzungen des ersten Beweises.
78. Die metaphysische Natur dieser Voraussetzungen.
79. Der introjizierte Widerspruch dieser Voraussetzungen.
XVI« Die Aussehliessangr des PrSformationssystems.
80. Die zweite Voraussetzung. Der FiscHER-TBENDELENBURGschc Streit.
81. Kants Verwechslung des Verhältnisses der Erkenntnis a priori zur Erfahrung
mit ihrem Verhältnis zum Gegenstande.
82. Das Argument von der Möglichkeit des Irrtums und das Argument von der
„Notwendigkeit** der Kategorieen.
83. Introjizierter Widerspruch des formalen Idealismus. Doppelsinn des Terminus
„Präformationssystem** bei Kant. Das Argument vom „Zirkel** des Präfor-
mationssystems beweist zu viel und trifft jede Erkenntnistheorie als solche.
84. Grafenoiessers Wiederholung des Kantischen Fehlers.
XVII. Form und Ctogenstand.
85. Der Unterschied des Empirischen und Rationalen betrifft nicht das Verhältnis
der Erkenntnis zum Gegenstande. Zweideutigkeit des Wortes „Gegenstand**.
86. Kants Beantwortung der Frage: Wie ist reine Mathematik möglich? Zwei-
deutigkeit des Terminus „Form**.
XVin. Die dogrmatisehe Disjunktion der Wahrheitskriterien.
87. Ursprung des formalen Idealismus aus der Disjunktion zwischen Logik und
Empirie als Wahrheitskriterien.
88. Zweideutigkeit des Ausdrucks „Objektivität** bei Kant.
21] Inhalt. 433
X£K. Der tnasieHdentele Beweif.
89. Das Kriterium der „objektiven" Deduktion.
dO. Zirkel des transzendentalen Beweises.
91. Logizistische Voraussetzung des Beweises.
XX. Die subJektiYe Dednlction.
92. Kants Schluß von der Nicht-Anschaulichkeit der metaphysischen Erkenntnis
auf ihren logischen Ursprung. Becks „Standpunkt des ursprünglichen Vor-
stellens".
93. Zweideutigkeit des Terminus „synthetisches Urteil aus bloßen Begriffen".
XXI. Der Begriff der transzendentalen Logik.
94. Die Annahme, die Kritik beweise die metaphysischen Grundsätze, schließt
die Behauptung der Apriorität der Kritik ein und ft'hrt zur Hineinziehung
der Kritik in das System.
95. Der Begriff der transzendentalen Logik enthält eine Verwechslung des In-
halts der kritischen Erkenntnis mit ihrem Gegenstande.
96. Dieser Fehler hat zur Konsequenz die Preisgabe der kritischen Methode.
97. Der methodische Standpunkt der Preisschrift vom Jahre 1763 und der Grund
von Kants späterer Meinungsänderung.
XXn. Zusammenfassende Kritik der Yon Kart Tersuehten AoflSsung des
numesehen Problems.
98. Tatsächliche Übereinstimmung Kants mit Humes metaphysischem Skepti-
zismus. Maimons „kritischer Skeptizismus^.
99. Eigentliche Bedeutung ?on Kants „empirischem Realismus^.
XXnL Die Antinomieen- und Ideenlehre.
100. Kritische Formulierung des Problems der Objektivität.
101. Die vollständige Bestimmung des Gegenstandes und das Ding an sich.
102. Kants zweiter Beweis des transzendentalen Idealismus durch die Auflösung
der Antinomieen und sein Verhältnis zum ersten Beweise.
103. Der negative Ursprung der Ideen.
104. Kants Ableitung der Ideen aus der Form der Yemunftschlüsse. Der „trans-
zendentale Schein".
105. Kants Auflösung der kosmologischen Antinomie.
106. Kants Lehre vom regulativen Gebrauch der Ideen in der Naturwissenschaft.
XXIY. Die mSgliehen Fortbildungen der Kantiselien Plülosophie«
107. Aufgaben für die Fortbildung der kritischen Philosophie.
108. Die psychologischen Prämissen der Kantischen Spekulation. Widerspruch
434 L* Nelson: Über das sofi^enannte Erkenntnisproblem. [22
zwischen je einer dieser Prämissen and der Konsequenz aas den übrigen.
Schema.
109. Ableitang der hieraus sich ergebenden Fortbildungsmöglichkeiten.
XX Y. Das MlssYerstllndnis Jacobib.
110. Jacobts Kritik des formalen Idealismus.
111. Konsequenz dieser Kritik.
112. Jacobis Verkennen der kritischen Methode.
113. Methode und Weltansicht. Kritizismus und Idealismus.
114. Der von Jacobi übersehene wirkliche Grund des Kantischen Fehlers.
XXYI. Das Relnholdsche MissrerstSndiils.
115. Reinholds Bedeutung für die Geschichte der Erkenntnistheorie.
116. Die „Elementarphilosophie".
117. Unmöglichkeit eines gemeinschaftlichen Grundsatzes der Logik und Metaphysik.
118. Unmöglichkeit einer Zurückführung der metaphysischen Grundsätze auf logisch
höhere Prinzipien.
119. Logisches und konstitutives Fundament einer Wissenschaft. Das logische
Fundament der Metaphysik liegt in den Grundsätzen der Metaphysik selbst;
ihr konstitutives Fundament liegt nicht in einer anderen Wissenschaft, son-
dern in der unmittelbaren Erkenntnis. Weder das logische noch das kon-
stitutive Fundament der Metaphysik liegt also in der Kritik.
120. Das Verkennen dieser Tatsache führt zur logischen Überordnung der Kritik
über die Metaphysik. Ursprung der Reinholdschen „Elementarphilosophie''
aus diesem Fehler.
121. Beispiele für das Verkennen der modalischen Ungleichartigkeit von Kritik
und System bei Reinhold. Seine Verwechslung von Inhalt und Gegenstand
der Kritik. Psychologistische Konsequenz dieses Fehlers.
122. Das erkenntnistheoretische Vorurteil bei Reinhold. Logischer Dogmatismus
der „Elementarphilosophie''.
123. Die Reinholdsche Elementarphilosophie als erster Versuch einer Systemati-
sierung des bei Kant stehen gebliebenen Vorurteils.
XXTH. Die Konseqaenzen des Beinholdsclien MissYerstSndnlsses«
124. Die beiden entgegengesetzten Auflösungen des Widerspruchs in der metho-
dischen Idee der Reinholdschen Elementarphilosophie: Die transzendentale
und die psychologische Erkenntnistheorie.
125. Die psychologischen Prämissen dieser entgegengesetzten methodischen Maximen.
Vergleichung mit § 109.
23] Inhalt 436
XXYIII. Die Systematisierimg des transzendentBleB Yonirteils bei
Fichte.
126. Ursprang der Methode der Wissenschaftslehre aus dem Reinholdschen Miß«
Verständnis. Ursprung ihres Inhalts aus dem Jacohischen Mißverständnis.
127. FiCHTEs Argumentation für die Apriorität der Kritik. Verwechslung von
Grund und Begründung in dieser Argumentation.
128. Verwechslung von Kritizismus und Idealismus. Proklamierung der dogma-
tischen Methode.
129. Weitere Fehler in Fichtes idealistischer Argumentation.
130. Verwechslung des Verhältnisses von Erkenntnis und Gegenstand mit dem
Verhältnis von Geist und Materie.
131. Fichtes Fiktion der Einerleihcit des Seins und Angeschautwerdens hei Be-
stimmungen der Intelligenz.
132. Verwechslung von Inhalt und Gegenstand in Fichtes Begründung des
Idealismus.
133. Der logische Dogmatismus als stillschweigende methodische Voraussetzung
der Fichteschen Spekulation. Konsequenzen dieser Voraussetzung: die Be-
hauptung der Abhängigkeit der Erkenntnis vom Willen und die teleologische
Wendung der Erkenntnistheorie. Versteckter Psychologismus der Fichteschen
Philosophie.
134. Fichtes Ausweg aus dem Psychologismus: die Fiktion der intellektuellen
Anschauung. Ursprung dieser Fiktion aus der Voraussetzung, daß das kon-
stitutive Prinzip der Philosophie in der Selbsterkenntnis liege. Stellung dieser
Fiktion zur Kantischen Lehre.
135. Das erkenntnistheoretische Vorurteil. Angebliche Identität von Erkenntnis
und Gegenstand in der Selbsterkenntnis.
136. Weitere Beispiele der Verwechslung des Verhältnisses von Erkenntnis und
Gegenstand mit dem Verhältnis von Intelligenz und Materie.
137. Kritik der Fichteschen Lösung des erkenntnistheoretischen Problems.
138. Nichtigkeit des erkenntnistheoretischen Idealismus.
139. Die erkenntmstheoretische VerbaLnethode, erläutert an Beispielen.
140. Fichtes Nachfolger. Die „neukantische^ Schule.
XXDL Die SystemfttiBleniiig des psyeliolosristifclien Vorurteili bei
Behiki.
141. Ursprung des Empirismus Benekes aus der dogmatischen Disjunktion zwischen
anschaulicher und reflektierter Erkenntnis.
142. Ursprung des Psychologismus Benekes aus dem Reinholdschen Mißverständnis.
143. Benekes Urteilstheorie. Verwechslung von Inhalt und Gegenstand, sowie
von Vergleichongsformel and Urteil.
436 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [24
144. Widerlegung der Argumentation, alle Erkenntnis gr&nde sich auf innere
Wahrnehmung.
145. Benekes empiristischer Begründungsversuch der Möglichkeit allgemeiner
Urteile beruht auf der Verwechslung von Begriff und Wortbedeutung.
146. Introjizierter Widerspruch dieser Begründungsweise.
147. Der Versuch, die mathematischen Urteile auf Induktion 2U gründen, scheitert
an der Unendlichkeit des Umfangs der mathematischen Subjektsbegriffe. Die
strenge Allgemeinheit eines Satzes beweist seinen nicht-empirischen Ursprung,
und zwar auch dann, wenn der Umfang des Subjektsbegriffs ein endlicher ist.
Aller Induktion liegen als Bedingung ihrer Möglichkeit gewisse allgemeine
Obersätze zu Grunde, die ihrerseits nicht auf Induktion beruhen. Introji-
zierter Widerspruch dos Empirismus.
148. Kritik der Annahme, die Allgemeinheit philosophischer Urteile beruhe auf
der Unmöglichkeit ihr Gegenteil zu denken. Die Ausschließung eines dem
allgemeinen Urteil widersprechenden Fürwahrhaltens aus dem Umfang des
Begriffs „ Denken ** verschiebt das Problem, ohne es zu lösen.
149. Kritik der Erklärung des „Seins** durch die Möglichkeit des Wahrgenommen-
werdens.
150. Bestätigung des in § 57 aufgestellten allgemeinen Schemas durch die Er-
gebnisse des dritten Teils.
XXX. Die Beseitigangr des erkenntnlstheoretlselieii Torarteils durch
Fries* psychologiBehe Yernunftkritik.
151. Geschichtliche Bedeutung von Fries' Abhandlung „Über das Verhältnis der
empirischen Psychologie zur Metaphysik".
152. Die Unbeweisbarkeit der metaphysischen Prinzipien.
153. Die Schranken des regressiven Verfahrens.
154. Psychologische Natur der Kritik.
155. Kritik und System.
156. Unentbehrlichkeit metaphysischer Voraussetzungen für die Kritik und der
dadurch entstehende Schein des Zirkels. Deduktion und Induktion.
157. Grund der Überlegenheit der psychologisch-kritischen Methode über jede dog-
matische: „Der einzige Standpunkt der Evidenz für spekulative Dinge**.
158. Erkenntnistheoretische Einwände. Der „gesunde Menschenverstand".
159. Das Humesche Problem und die assoziationspsychologische Theorie.
160. Unzulänglichkeit der Kantischen Kriterien der Apriorität für die Theorie der
Vernunft
161. Beweis der Unmöglichkeit, das Gesetz der Erwartung ähnlicher Fälle auf das
Gesetz der Assoziation zurückzuführen.
162. Fries' Auflösung des Humeschen Problems durch den psychologischen Beweis
der Existenz einer nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis.
25] Inhalt. 437
163. Der Grundsatz des Selbstvertrauens der Vernunft. Die Widerlegung des
metaph3r8ischen Skeptizismus.
164. Die Beseitigung des formalen Idealismus. Kritik der Eantischen Lehre von
den praktischen Postulaten und vom Primat der praktischen Vernunft
165. Fkies' Deduktion des Prinzips der Idecnlehre.
Sehliiss. Torschlag, dareh eine geeignete Methode die philosophlsehen
Streitigkeiten in wissensehaftliehe Bahnen za lenken.
166. Folgerungen aus den historischen Ergebnissen des dritten Teils: 1) Ab-
weisung aller Versuche, auf die Eantische Philosophie in ihrer historisch
vorliegenden Form zurückzugehen; 2) Abweisung aller Versuche, den bereits
vorliegenden Fortbildungen der Eantischen Philosophie eine neue hinzuzufügen.
Notwendigkeit, zwischen den vorliegenden Fortbildungsweisen eine Entscheidung
zu treffen.
167. Vom Gebrauch der Sprache in der Philosophie.
168. Forderung einer von den metaphysischen und psychologischen Überzeugungen
des Einzelnen unabhängigen Untersuchung, welche Voraussetzungen zur Be-
gründung eines fraglichen Satzes notwendig und hinreichend sind. Analogie
mit der axiomatischen Methode in der Mathematik. Beispiele für die Wich-
tigkeit einer solchen axiomatischen Behandlung der Philosophie.
169. Forderung, die nach der Lösung dieser Aufgabe bleibenden metaphysischen
Probleme an der Hand der äquivalenten psychologischen Probleme zu erörtern.
Bedeutung der hiermit geforderten Untersuchungsweise als negativen Erite-
riums. Unabhängigkeit ihres Wertes für die Philosophie von der hier vor-
getragenen Ansicht über die positive Bedeutung der psychologischen Eritik
für die Philosophie.
Anhang I. Über die Definition der Logik und eine gewisse Schwierigkeit
in der Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile.
170. Mängel der Eantischen Definition des analytischen Urteils.
171. Unzulänglichkeit der bisherigen Verbesserungs versuche.
172. Definition durch die Urteilsform.
173. Leitfaden für die Deduktion der logischen Grundsätze.
174. Die logischen Grundsätze als positive Eriterien aller analytischen Urteile.
Anhang H. Üher den formalen Idealismas in der Kantischen Ethik
und Ästhetik.
175. Gemeinschaftlicher Ursprung der Eantischen Erkenntnistheorie und Ethik
438 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. |26
aas der dogmatischen Disjunktion zwischen Logik und Empirie als Kriterien
der Objektivität.
176. Logizistische Konsequenz der dogmatischen Disjunktion der Objektivitäts-
kriterien für die Kantische Ethik.
177. Ausgleichung des logizistischen Fehlers durch die Einführung der „Typik".
178. Ursprung des ästhetischen Idealismus Kants aus dem allgemeinen formalen
Idealismus. Grund des Fehlens des immanenten Objektivitätskriteriums in
der Kantischen Ästhetik.
Anhang III. Über einige Mängel der kritisehen Methodenlehre bei Fbibs.
179. Fries' Verhältnis zum Psychologismus im allgemeinen.
180. Notwendigkeit, bei dem Streit um die kritische Methode auf die Frage der
Möglichkeit der Erkenntnistheorie zurückzugehen.
181. Sinn der Friesschen Bezeichnung der Reflexion als „künstlicher Selbst-
beobachtung*'.
182. Zweideutigkeit dieser Friesschen Terminologie.
188. Folgen dieser Zweideutigkeit: ein fehlerhafter Beweis bei Fries.
184. Psychologistische Konsequenzen dieses Fehlers.
185. Notwendigkeit einer strengen begrifflichen Trennung zwischen dem regressiven
Verfahren der Abstraktion und der psychologischen Deduktion.
186. Überblick über die notwendigen Verbesserungen.
Erster Teil:
Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie.
„Wo die Sohiuken nnMrar mögUchen Erkeniitnii aelir
eng», der Anrelx tum Urtoiton nofi, der Sokeia, der sich dar-
bietet, iehr betrfl(;lioh ind der loehlÄU ans dem Irrtum erheblich
irt, dähetdu Neg^atire der Untenreieang, welohee bloB dam
dient, um iina Tor Irrtflmem xa Teirwabren, noch mehr Wiehti^eit
ali manche podtite Belehrung, daduch unser Erkonntnis Zawaeha
bekommen könnte.**
KANT. Kritik der reinen Yemonft, naanendentale Me-
thodeniehre, 1. nanpstOck.
Emleitong.
1. Es ist ein von den Geschichtssclireibern der Philosophie
schon oft hervorgehobenes Verhängnis, daß gerade diejenige Lehre,
die in den Angen ihres Urhebers sowohl als anch in denen seiner
Zeitgenossen wie noch keine andere dazn berafen schien, den ewigen
Frieden in der Philosophie herbeizuführen, mehr als irgend eine
vor oder nach ihr aufgetretene dahin gewirkt hat, die Anarchie
der Schnlmeinnngen zu fördern und anabsehbaren Streit zu stiften.
Nicht minder merkwürdig aber muß die Tatsache erscheinen, daß
fast ein jeder, der an diesen nicht endenden Streitigkeiten teil-
genommen hat und noch teilnimmt, von dem unzweifelhaften Rechte
durchdrungen ist, mit dem die kritische Philosophie ihren Beruf
als Friedensstifterin verkündete. So viel besprochen dieses histo- ^
rische Schauspiel sein mag, so wenig scheint es bisher eine befrie-
digende Erklärung gefunden zu haben. Und doch muß es offenbar
einen tiefliegenden, mit dem eigentümlichen Wesen der Eantischen
Philosophie auf das Innigste zusammenhängenden Grund haben.
Während der die Kantische Philosophie um die Wende des
18. Jahrhunderts auf lange Zeit hinaus betreffende Streit sich
wesentlich -auf die aus den Resultaten der Vemunftkritik zu zie-
henden Eonsequenzen, insbesondere auf die Frage des „Dinges an^
sich*', bezog, so liegt der Kernpunkt des heute herrschenden Streits
442 L- Nelsou: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [30
in der Frage der Methode. Ohne Zweifel äußert sich in dieser
Verschiebnng der Streitfrage ein Fortschritt der wissenschaftlichen
Entwickelang; denn es liegt auf der Hand, daß die Entscheidung
der Resultate von der für ihre Gewinnung einzuschlagenden
Methode ganz und gar abhängig sein muß.
So wie nun die gegenwärtige Verfassung der Wissenschaft
sich darstellt, zeigt sie uns eine deutliche Scheidung zweier großer
methodischer Ansichten, die wir nach der üblichen Benennung als
„Transzendentalismus" und „Psychologismus" einander gegenüber-
stellen können. Was mit diesen Namen gemeint ist, weiß ein jeder,
der die philosophische Litteratur unserer Tage auch nur ober-
flächlich kennt : auf eine nähere Charakteristik beider werden wir
später eingehen.
2. Ein Versuch, die Quelle dieses Streits in einer beiden Par-
teien gemeinschaftlichen Voraussetzung zu suchen, ist meines
Wissens bisher nicht unternommen worden oder doch jedenfalls
noch nicht gelungen. Und doch wäre es, gelänge dieser Versuch,
nicht das erste Mal, daß die Auflösung eines heftigen und anhal-
tenden wissenschaftlichen Streits gerade in der Aufdeckung eines
von den Streitenden gemeinsam begangenen Irrtums zu finden ist. >
Überall, wo zwei widerstreitende Ansichten sich gegenüberstehen,
die, so oft auch dem einen oder anderen Teile eine Widerlegung
des G-egners gelungen zu sein scheint, mit der gleichen Folge-
richtigkeit ihre Behauptungen aufrecht zu erhalten vermögen,
überall da kann man auf G-rund des bloßen Faktums des Streits
einen verborgenen beiden Teilen gemeinschaftlichen Fehler ver-^
muten. Ein solcher wird in allen den Fällen zu Grrunde liegen,
wo die einander widerstreitenden Ansichten nur unter einer ge-
wissen, von beiden zugestandenen Voraussetzung in wirklichem
31] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 443
Widerspruche stehen; denn überall da muß mit der Aufhebung
der Voraussetzung auch der Widerspruch ihrer Folgen ver-
schwinden.
Es entsteht also die Frage, ob sich nicht eine den entgegen-
gesetzten methodischen Ansichten in der heutigen Philosophie ge-
meinschaftlich zu Grunde liegende Voraussetzung auffinden läßt.
Dies scheint bei der herrschenden Anarchie und der völligen
Divergenz in den ersten Schritten auf den ersten Blick aussichts-
los. Allein, so unversöhnlich sich die beiden genannten metho-
dischen Grundansichten gegenüberzustehen scheinen, so können
doch die zunächst in die Augen fallenden Differenzen dem tiefer
Blickenden eine beiden gemeinschaftliche Eigentümlichkeit nicht
verbergen. Diese besteht in der zugleich mit der Entstehung des
Streits, nämlich durch das Auftreten Kants herrschend gewordenen
Richtung des Phüosophierens, die man allgemein als die „ erkenntnis-
theoretische ^ bezeichnet. So heftig auch der Streit im einzelnen
geführt wird, das eine gilt von allen Streitenden als zugestanden :
daß einer jeden im engeren Sinne philosophischen Untersuchung
die Bearbeitung der „Erkenntnistheorie" vorauszugehen habe. Nur
darüber besteht Meinungsverschiedenheit, ob diese Erkenntnistheorie
als eine der Psychologie angehörige Disziplin zu gelten habe oder
nicht.
So paradox es also auf den ersten Blick erscheinen mag, einen
herrschenden Streit dadurch beilegen zu wollen, daß man das ein-
zige von dem Streit unberührt Gelassene und als unerschütterlich
feststehend Angenommene in Zweifel ziehen und womöglich als
verfehlt erweisen will, so ist doch gerade dies hier unsere Absicht,
und der Erfolg der Untersuchung mag zeigen, mit welchem
Rechte.
444 L- Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem« [32
I.
Allgemeiner Beweis
der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie.
3. Die ErJcenntnistlieorie ist — nach allgemeinem Sprachge-
brauch — die Wissenschaft, die die Untersuchung der objektiven
Gültigkeit der Erkenntnis überhaupt zur Aufgabe hat. Die Stellung
dieser Aufgabe setzt voraus, daß man an der objektiven Gültig-
keit der Erkenntnis zweifelt, d. h. daß ihr Vorhandensein ein
Problem bildet. Ich behaupte nun, daß eine wissenschaftliche Auf-
lösung dieses Problems unmöglich ist.
Angenommen nämlich, es gäbe ein Kriterium, das zur Auf-
lösung des Problems dienen könnte. Dieses Kriterium würde ent-
weder selbst eine Erkenntnis sein, oder nicht.
Nehmen wir an, das fragliche Kriterium sei eine Erkenntnis.
Dann gehörte es gerade dem Bereiche des Problematischen an,
über dessen Gültigkeit erst durch die Erkenntnistheorie entschieden
werden soll. Das Kriterium, das zur Auflösung des Problems
dienen soll, kann also keine Erkenntnis sein.
Nehmen wir also an, das Kriterium sei nicht eine Erkennt-
nis. Es müßte dann, um zur Auflösung des Problems dienen zu
können, bekannt sein; d. h. es müßte selbst Gegenstund der Er-
kenntnis werden können. Ob aber diese Erkenntnis, deren Gegen-
stand das fragliche i^jriterium ist, eine gültige ist, müßte ent«
schieden sein, damit das Elriterium anwendbar ist. Zu dieser Ent-
scheidung müßte aber das Kriterium schon angewendet werden.
Eine Begründung der objektiven GiiUiglceit der Erkenntnis ist also
unmöglich.
4. Aber läßt sich nicht aus dieser Unmöglichkeit auf das
Nicht- Vorhandensein der objektiven Gültigkeit schließen und auf
331 Erster Ted: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 44%
solchem Wege eine negative Entscheidung des Prohlems herbei-
führen ? Keineswegs ; denn von der Unmöglichkeit, die Gültigkeit
eines Satzes (hier der Behauptung der objektiven Gültigkeit der
Erkenntnis) zu erweisen, kann nicht auf die Ungültigkeit dieses
Satzes geschlossen werden.
Aber vielleicht ließe sich zeigen, daß unserer Erkenntnis teiU
weise objektive Gültigkeit zukommt und teilweise nicht? Auch dies
ist unmöglich. Denn man nehme an, es gäbe ein Kriterium zur
Entscheidung, ob eine Erkenntnis (z. B. die fragliche Behauptung
von der teilweisen Gültigkeit unserer Erkenntnis) in die Klasse
der gültigen oder in die der ungültigen gehört. Dies Kriterium
müßte, um anwendbar zu sein, erkannt werden können. Um aber
zu wissen, daß diese Erkenntnis des Kriteriums eine gültige ist,
müßte ich das Kriterium schon angewendet haben.
Wollte man, um diese Widersprüche zu vermeiden, vorschlagen,
zur Prüfung der Erkenntnis des Kriteriums ein neues, d. h. von
ihm verschiedenes Kriterium anzuwenden, so wäre damit nichts
gewonnen. Denn auch dieses Kriterium müßte, um anwendbar zu
sein, erkannt werden, und diese Erkenntnis würde, um als gültig
angenommen zu werden, wieder ein weiteres Kriterium voraus-
setzen, so daß wir auf einen unendlichen Regreß geführt wären.
Dieser Regreß müßte vollendet vorliegen, ehe irgend eine Er-
kenntnis als gültig angenommen werden könnte. Die Annahme
der Vollendung eines unendlichen Regressus schließt aber einen
Widerspruch ein.
B. Man hat versucht, die objektive Gültigkeit wenigstens
einiger unserer Erkenntnisse dadurch zu erhärten, daß man in der
Annahme ihrer Unmöglichkeit einen Widerspruch suchte : Wer be-
hauptet, keine gültige Erkenntnis zu besitzen, der spricht mit dieser
Behauptung eine Erkenntnis aus, für die er objektive Gültigkeit
AbbABdluageii d«r Friii*«diMi Sditüe. U. Bd. ^^9
446 ^* Nelson: Über das sogenannte ErkenntnIsproblenL [34
in Ansprach nimmt, nnd widerspricht insofern sich selbst. — Aber
die Annahme
A. X besitzt keine gültige Erkenntnis
hat nnr znr Folge, daß X selbst von der Geltung dieser Annahme
keine Erkenntnis haben kann; denn hätte er diese Erkenntnis, so
besäße er in ihr eine objektiv gültige Erkenntnis. Nicht die An-
nahme A, sondern die Annahme
B. X besitzt eine gültige Erkenntnis von A
enthält einen Widerspruch. Und ans diesem Widerspruch folgt
nicht, daß der die Ungültigkeit seiner Erkenntnis Behauptende
eine gültige Erkenntnis besitzt; es folgt nicht die Falschheit des
Satzes A, sondern lediglich die Falschheit des Satzes B. — Anders
ausgedrückt : Wer zu wissen behauptet, daß er nichts wisse, wider-
spricht sich allerdings; aber hieraus läßt sich nicht schließen, daß
er irgend etwas wisse, sondern nur, daß er dieses^ was er zu wissen
vorgiebt, nicht wisse.
Und wie sollte es anders sein, da doch aus dem Prinzip des
Widerspruchs nie andere als analytische Sätze ableitbar sind, der
Satz aber, wir besäßen objektiv gültige Erkenntnis, da er ein
Faktum behauptet, offenbar synthetischer Natur ist.
Anmerkung zum I. Kapitel:
Über den Unterschied der analytischen und synthetischen
Urteile.
6. Da sich die folgenden Ausführungen mehrfach auf die eben
herangezogene Unterscheidung der analytischen und synthetischen
Urteile stützen, wird es zweckmäßig sein, einige Bemerkungen zur
35] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 447
Reehtfertigang dieser heute noch nicht allgemein anerkannten
Unterscheidung einzufügen.^
Ein Urteil, dessen Prädikat schon im Begriff des Subjekts ent-
halten ist, heißt analytisch; jedes andere Urteil heißt synthetisch.
Wenn ich von einem Dreieck sage, daß es drei Seiten hat, so
spreche ich ein analytisches Urteil aus; denn das Merkmal der
Dreiseitigkeit liegt bereits im Begriff des Dreiecks, und ein Dreieck,
das nicht drei Seiten hätte, kann ohne inneren Widerspruch nicht
gedacht werden. Sage ich hingegen von einem Dreieck, daß es
gleichseitig ist, so spreche ich ein synthetisches Urteil aus; denn
das Merkmal der Gleichseitigkeit liegt nicht im Begriff des Dreiecks,
sondern kommt als etwas Neues zu ihm hinzu, xmd ein ungleich-
seitiges Dreieck kann sehr wohl als möglich gedacht werden.
Kant führt als Beispiel eines analytischen Urteils an: Alle
Körper sind ausgedehnt; als Beispiel eines synthetischen aber:
Alle Körper sind schwer. Da hat man nun gefragt, ob denn nicht
die Schwere eine ebenso allgemeine und notwendige Eigenschaft
der Körper sei wie die Ausdehnung. Wenn sie dies nämlich sei,
so gehöre sie offenbar ebenso notwendig zum Wesen des Körpers
wie diese. Das Urteil: „Alle Körper sind schwer" sei also in
genau demselben Maße analytisch wie das Urteil: ;,Alle Körper
sind ausgedehnt^. Hierauf antworten wir, daß es sich nicht um
die Frage handelt, was als allgemeine und notwendige Eigenschaft
zum „Wesen" des Körpers gehört, sondern allein, was zu seinem
Begriff gehört. Der Begriff aber ist weit weniger als die Gesamt-
heit aller dem Subjekt notwendig zukommender Eigenschaften ; er
enthält vielmehr allein diejenigen dem Subjekt notwendig zu-
^ Ich schließe mich dabei an die denselben Gegenstand behandelnden Aos-
führongen meiner Abhandlang „Kant und die Nicht-Euklidische Geometrie^ an.
(13. Sonderheft der astronomischen Zeitschrift „Weltall", Kapitel m.)
29*
448 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [36
kommenden Eigenschaften, die zu dessen eindeutiger Bestimmnng
erforderlich und hinreichend sind, d. h. diejenigen, durch die es
definiert ist. Zu solchen definierenden Merkmalen des Körpers
gehört aher seine Schwere nicht. Wäre die Schwere ein den
Körpern als solchen vermöge ihres Begriffs zukommendes Merkmal,
so hätte sie sich von selbst verstehen müssen xmd hätte nicht erst
im Laufe der wissenschaftlichen Erfahrung entdeckt zu werden
brauchen. In der Tat besaßen die Alten noch keine Vorstellung
von der Schwere der Himmelskörper, vielmehr hat man dieselbe
erst durch Newtons Entdeckung der allgemeinen Gravitation kennen
gelernt. Auch kommt die Schwere einem Körper nicht an und
für sich zu, wie es doch sein müßte, wenn sie ein schon im Begriff
des Körpers enthaltenes Merkmal wäre ; sondern sie ist eine rela-
tive Eigenschaft und findet nur statt, sofern mehrere Körper in
Wechselwirkung mit einander treten.
7. Man hat fernerhin behauptet, die Unterscheidung zwischen
analytischen und synthetischen Urteilen sei schwankend und unbe-
stimmt, indem dasselbe Urteil bald als analytisch, bald als synthe-
tisch betrachtet werden könne ; ein Urteil, das für den einen ana-
lytisch sei, könne sehr wohl für den anderen synthetisch sein; ja
derselbe Mensch könne ein und dasselbe Urteil heute als synthe-
tisch, morgen als analytisch ansehen.' Man ist sogar soweit ge-
gangen, zu behaupten, bei der gehörigen Entwickelimg unserer
Begriffe verwandelten sich alle Urteile in analytische, so daß es
für eine vollkommene Erkenntnis überhaupt keine synthetischen
Urteile mehr geben könne. — Wir wollen diesen Einwand an einem
Beispiel prüfen. Betrachten wir das Urteil: Der Walfisch ist ein
' So soll es sich z. B. nach Wellstein mit den Axiomen der Geometri«
verhalten. (Enzyklopädie der Elementar-Mathematik, Band II, Seite 181.)
37] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 44g
Säugetier. Für den Zoologen, der etwa auf einer Naturforscher-
Yersammlong seine XJntersnchongen über die anatomische Be*
schaffenheit der Walfische vorträgt, ist das Merkmal Säugetier
bereits analytisch im Begrijff des Walfischs enthalten. Nehmen
wir aber etwa an, unter den Zuhörern des Zoologen befinde sich
ein Bauer, der, auf dem Lande aufgewachsen, sich bisher bei dem
Worte Walfisch stets eine Art Fisch vorgestellt hat, nun aber
erfahrt, daß der Walfisch, gerade wie andere Säugetiere, lebendige
Junge zur Welt bringt. Diese Erfahrung ist für ihn etwas Neues,
und das Urteil „Der Walfisch ist ein Säugetier^ ist für ihn, indem
er es hört, synthetisch. Damit aber, so argumentiert man weiter,
hat sich zugleich sein Begriff vom Walfisch verändert, es ist ein
neues Merkmal hinzugetreten ; der Begriff hat sich also erweitert,
und in Zukunft ist auch für den Bauern das Urteil ein analytisches.
Der hieraus gegen die Kantische Einteilung abgeleitete Ein-
wand ist sehr leicht zu widerlegen, wenn man sich nur die Mühe
nimmt, das Urteil von seinem sprachlichen Ausdrucke, dem Satee,
zu unterscheiden. Die Kantische Einteilung spricht von Urteilen
und den in ihnen auftretenden Begriffen, nicht aber von dem
grammatischen Satze und den ihn bildenden Worten. Ein xmd der-
selbe Satz kann natürlich sehr verschiedene Urteile ausdrücken,
je nachdem, welche Begriffe man mit den Worten verbindet. Die
Ausdrücke : Ein Begriff verändert, entwickelt oder erweitert sich,
sind im übrigen höchst ungenau und zum mindesten irreführend.
Nicht ein Begriff, sondern xmsere Erkenntnis erweitert sich; ein
Begriff ist, wenn er einmal gebildet ist, etwas absolut Feststehen-
des und Unveränderliches. Wohl aber können Worte ihre Be-
deutung ändern, indem sie nämlich bald für den einen, bald für
den anderen Begriff, bald für einen engeren, bald für einen weiteren,
als Ausdruck dienen. Je nachdem also das Wort „ Walfisch^ einen
450 L* Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [38
engeren oder weiteren Begriff bezeichnet; kann der Satz ;,Der
Walfisch ist ein Säugetier^ bald ein synthetisches, bald ein ana-
lytisches Urteil ausdrücken. Die angebliche Verwandlung von
synthetischen Urteilen in analytische ist also eine Fabel. ^
8. Alle Definitionen sind nach dem Vorangehenden analytische
Urteile. Denn die Definition ist nichts anderes als die vollständige
Zergliederung des Begriffs. Aber auch alle Schlüssej durch die
^ Einen noch schlimmeren Fehler soll die Kantische Einteilung nach Coutu&at
enthalten. („La philosophie des math^matiqaes de Eant^ in der Revue de m^ta-
physique et de morale, 1904, S. 323.) Dieser Logiker behauptet nämlich entdeckt
zu haben, daß die fragliche Einteilung überhaupt nicht vollständig sei Er hat
aber dabei übersehen, daß er, um diesen Einwand zu erheben, erst den logischen
Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten hätte widerlegen müssen. Nach diesem
Satze läßt sich neben den beiden Fällen, daß ein Prädikat im Subjektsbegriff
enthalten ist, und dem, daß es nicht in ihm enthalten ist, keine weitere Möglich-
]|:eit denken. Vielmehr muß die Einteilung als ebenso vollständig angesehen werden
wie die, daß ein Punkt entweder auf einer gegebenen Geraden liegt oder daß er
nicht auf ihr liegt. Nach Coütürat soll der Fall der partikulären Urteile, also
der Urteile von der Form: Einige S sind P, das Gegenteil beweisen. Sie sollen
einen Fall darstellen, wo das Prädikat weder im Subjektsbegriff liegt noch außer
ihm. Betrachten wir das Schulbeispiel: Einige Menschen sind tugendhaft. Daß
der Begriff der Tugend nicht in dem des Menschen enthalten ist, dürfte klar sein ;
denn wäre er in ihm enthalten, so wären eben nicht nur einige, sondern alle
Menschen tugendhaft. Oder sollte Couturat der Ansicht sein, daß der Begriff
der Tugend im Begriff einiger Menschen enthalten, im Begriff anderer Menschen
aber nicht enthalten ist ? Ich wenigstens muß gestehen, daß ich mit einer solchen
Behauptung keinen Sinn verbinden könnte. Denn es giebt nicht einen Begriff
einiger Menschen und einen anderen Begriff anderer Menschen, sondern es giebt
nur einen einzigen, nämlich allgemeinen, Begriff des Menschen^ außerdem aber
alle die Einzelwesen, die unter den allgemeinen Begriff des Menschen fallen, d. h.
denen der Begriff Mensch als Merkmal zukommt, die, wie man sagt, den Umfang
des Begriffs Mensch bilden. Unter diesen Einzelwesen, den Menschen, zeichnen
sich nun einige dadurch aus, daß ihnen uußer dem Merkmal Mensch auch noch
das Merkmal Tugendhaft zukommt, während es den anderen fehlt. Einem Wesen
als Merkmal zukommen heißt aber nicht : im Inhalt eines Begriffs enthalten sein.
Es ist also hier dem Logiker passiert, daß er den Inhalt mit dem Umfang des
Begriffs verwechselt hat .
39] Erster Teil: Die Unmöglichkeit dex Erkenntnistheorie. 451
wir zam Beweise eines Satzes gelangen, sind analytische urteile,
Der Schloß ist ein hypothetisches Urteil, nämlich die Ableitnng
eines Urteils aus anderen Urteilen, und zwar mn£ diese Ableitnng
so bescha£Pen sein, daß die in dem abgeleiteten Urteil enthaltene
Behauptung ihren hinreichenden Grund in den Prämissen hat, aus
denen sie abgeleitet wird. Ein Schluß, der dieser Bedingung nicht
genügte, dessen Schlußsatz also mehr behauptete, als in den Prä-
missen enthalten war, wäre ein Trugschluß. Die Ableitung, d. h.
der Schluß selbst, ist also ein analytisches Urteil, nämlich ein
solches, in dem die Prämissen das Subjekt und die Abfolge des
Schlußsatzes aus ihnen das Prädikat bilden.
9. Da jeder Schluß Prämissen voraussetzt, so müssen, damit
überhaupt ein Schluß möglich sein soll, irgend welche Prämissen
als nicht wieder beweisbarer Ausgangspunkt gegeben sein. Sind
die Prämissen eines Lehrsaiees analytische Urteile^ so ist der Lehr*
Satz selbst ein analytisches ürteü} Kommt aber unter den Prämissen
eines Lehrsaiees auch nur ein synthetisches ürteü vor, so ist der Lehr-*
satB synthäisch. Denn wenn die Lehrsätze auch durch rein ana-
' Hieraus folgt, daß es unmöglich ist, ein synthetisches ürteü auf analytische
surüekzuführen. Es ist vielleicht nicht übermässig, für diesen Satz, dessen
Wichtigkeit aus dem Inhalt der folgenden Kapitel erhellen wird, einen förmlichen
Beweis zu g^ben.
Sollte ans bloß analytischen Urteilen ein synthetisches ableitbar sein, so
müßte an irgend einer Stelle in der Beweiskette ein Schloß auftreten, dessen beide
Prämissen noch analytisch, dessen Schlußsatz aber synthetisch wäre. Daß es
einen solchen Schluß nicht geben kann, läßt sich so zeigen. Jeder Schluß er-
fordert einen Mittelbcgriff, d. h. einen Begriff, der im Obersatz als Subjektsbegriff,
im Untersatz als Prädikat auftritt, und vermittelst dessen im Schlußsatz das Sub-
jekt des Untersatzes unter das Prädikat des Obersatzes subsumiert wird. Sind
nun beide Prämissen analytisch, so ist nicht nur der Oberbegriff (das Prädikat
des Obersatzes) im Mittelbegriff, sondern auch der Mittelbegriff im Untejbegriff
(dem Subjekt des Untersatzes) enthalten. Folglich ist auch der Oberbegriff im
Unterbegriff entbluten '^ d. h. der Schlußsatz muß selbst ein analytisches Urteil sein.
452 li. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [40
lytische Urteile erschlossen werden, so dienen doch diese analy-
tischen Urteile nur zur Vermittelang ; und der Grand der Gültig-
keit der Lehrsätze liegt nicht in den Schlüssen, vermütelst deren
sie abgeleitet werden, sondern einzig und allein in den Prämissen,
aus denen sie abgeleitet werden.
n.
Das Qesetz als erkenntnistheoretisches Kriterium.
10. Den im I. Kapitel geführten Beweis der Unmöglichkeit
der Erkenntnistheorie wird man vielleicht für trivial erklären.
Mit dieser Erklärung wäre ich völlig einverstanden. Doch wird
man nicht leugnen können, daß die bewiesene Trivialität von den
bisherigen Erkenntnistheoretikern ohne Ausnahme übersehen worden
ist. Daß der dem Beweise zu Grunde gelegte Begriff der Er-
kenntnistheorie kein willkürlich erdachter ist, sondern in der Tat
dem entspricht, was die Vertreter der gleichnamigen Wissenschaft
im Sinne haben, mag an der Hand einer Kritik mehrerer Beispiele
aus der neueren erkenntnistheoretischen Litteratur dargelegt
werden. Die Einzelheiten dieser Kritik werden zagleich zur Er-
läuterung und Bestätigung des Eillgemeinen Beweises dienen.
Daß noch niemand das erkenntnistheoretische Problem in seiner
Reinheit zum Thema einer wissenschaftlichen Untersuchung ge-
macht haben kann, das ist, eben infolge der dargelegten Unmög-
lichkeit einer solchen Untersuchung, selbstverständlich. Aber daß
dies „Problem" durch Mißverständnisse in die Bearbeitung anderer,
an sich berechtigter Fragen von den Erkenntnistheoretikern hin-
eingezogen worden ist und dadarch den Wert ihrer Arbeiten mehr
41] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 463
oder weniger illosorisch gemacht hat und noch macht, das wird
ans dem Folgenden hervorgehen.
Ich wähle als erstes Beispiel die Abhandlung: ,, Über objek-
tive und subjektive Begründung der Erkenntnis*^ von Natorp, einem
der Entschiedensten unter den Vertretern der Forderung einer
objektiven Begründung der Erkenntnis*.
11. „Logik, als die Theorie der Erkenntnis,* so charakterisiert
Natorp die Aufgabe dieser Wissenschaft, „will die gesetzmäßige
Verfassung darlegen, wodurch Erkenntnis eine innere Einheit
bildet. Diese Einheit ist noch nicht gewährleistet durch die bloße
innere Widerspruchslosigkeit . . . , sondern sie muß den Gregen-
stand, genauer: das allgemeine Verhältnis der Erkenntnis zum
Gegenstande betreifen.*'
Natorp wendet sich von vornherein gegen die Möglichkeit
einer psychologischen Lösung dieser erkenntnistheqretischen Aufgabe.
Er hat aber nicht bemerkt, daß seine gegen eine psychologische
Bearbeitung der Erkenntnistheorie gerichteten Argumente nur in-
soweit stichhaltig sind, als sie — seiner Absicht entgegen — die
Möglichkeit aller Erkenntnistheorie überhaupt treffen.
„Im^ Gegenstande soll dasjenige liegen, was die Wahrheit der
Erkenntnis ausmacht."' — Wie anders soll ich denn den Gegen-
stand mit der Erkenntnis vergleichen, als indem ich ihn erJcenne,
wie also soll ich etwas über die Wahrheit der Erkenntnis aus-
machen, wenn ich sie nicht schon von vornherein voraussetzen
will? Hierauf haben wir bei Natorp keine Antwort gefunden.
„Wissenschaft erhebt nicht nur, sondern rechtfertigt mit der
Tat den Anspruch einer durchaus autonomen Geltung and Be*
> PhUosophische Monatshefte, Band XXIII, 1887, S. 2579.
« S. 267. » S. 266.
454 L. Nelson : Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [42
gründung, indem sie ihre objektiven Fundamente in Grestalt von
Grundbegriffen und Grnindsätzen bloßlegt. Der Mathematiker, der
Physiker, der die Natur seiner Wissenschaft recht begreift, wird
es nicht bloß entbehrlich finden, sondern grundsätzlich ablehnen,
den Gres etzes grond der Wahrheit seiner Erkenntnisse in der Psycho-
logie zu suchen; er wird über -dieselbe nur seine eigene, nicht eine
fremde Wissenschaft als Richterin anerkennen. ***
Wird nach diesen Worten der Mathematiker und Physiker
keine fremde Wissenschaft als Richterin über die Wahrheit seiner
Erkenntnisse anerkennen, so auch nicht die Erkenntnistheorie.
Und in der Tat muß diese Erkenntnistheorie entbehrlich sein,
wenn auch ohne sie die Wissenschaft „den Anspruch einer durch-*
aus autonomen Geltung nicht nur erhebt, sondern rechtfertigt".
Was soll es unter diesen Umständen heißen, daß die „Theorie der
Wahrheit** diese „autonome Gresetzgebung der objektiven Wahr-
heit, welche die Wissenschaften behaupten,** y^gewiß machen^
solle ?^ Ist die behauptete Selbstgewißheit der wissenschaftlichen
Prinzipien ein Beweis der Entbehrlichkeit und Verfehltheit ihrer
psychologischen Begründung, so ist sie auch ein solcher für die
Entbehrlichkeit und Verfehltheit ihrer Begründung überhaupt.
Oder welchen Sinn sollen wir mit der Forderung verbinden, etwas
„autonom** Geltendes, also durch sich selbst Gewisses, „gewiß**, zu
j^machen^ ?
Nehmen wir jedoch an, daß die autonome Geltung der Grund-
lagen einer Wissenschaft nicht hinreicht, um diese Grundlagen
einer erkenntnistheoretischen Begründung zu überheben, so gilt
dies auch von den Grundlagen der „Erkenntnistheorie** genannten
Wissenschaft. Es bedürfte also einer Erkenntnistheorie höherer
» S. 266. « S. 266.
43] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 465
Ordnung. Eine Konsequenz^ die, da von dieser Erkenntnistheorie
höherer Ordnung dasselbe gilt, auf einen Regressus /ührt, dessen
UnvoUendbarkeit zur Folge hätte, daß es überhaupt keine objektiv
begriindete Erkenntnis geben konnte.
12. Weiterhin lesen wir: „Objektive Gültigkeit bedeutet eine
Gültigkeit, unabhängig von der Subjektivität des Erkennens.*
jjWas diese Geltung positiv bedeute, und wie sie zu begründen
sei, das ist die Frage. "^ Also die Frage, wie die objektive Gül-
tigkeit zu begründen sei, wird erörtert. Die Frage, ob sie zu be-
gründen sei, wird nicht erst aufgeworfen. Daß diese Frage zu
bejahen sei, wird vielmehr ohne Erwähnung als selbstverständlich
vorausgesetzt. Daß etwa unmittelbar angenommen werden könnte,
daß die Gegenstände unabhängig von unserem Erkennen bestehen,
diese Annahme erscheint für Natorp von vornherein ausgeschlossen :
„Das Ansichsein des Gegenstandes ist selber ein Rätsel.*** Und
er begründet dies folgendermaßen : „Verständen wir, was es heißt:
der Gegenstand ist an sich da, unabhängig von aller Subjektivität,
mid wird dann, durch das Erkennen, imserer Subjektivität ange-
ei^et, so läge in der Erkenntnis der Gegenstände, in der Gegen-
ständlichkeit der Erkenntnis eben kein Problem. **' Also das ist
das Erste, aller Untersuchung voratis als feststehend Angenom-
mene: Das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande ist ein
Problem.
Ist aber das „Ansichsein des Gegenstandes** für Natorp ein
„Rätsel", so ist offenbar das Erkennen selbst kein Rätsel für ihn.
Denn vom Gegenstande, „der ja eben in Frage ist**, soll der Aus-
gang nicht genonmien werden, wohl aber von der Erkenntnis.
„Anders als in der Erkenntnis ist uns ja kein Gegenstand ge-
* S. 267. « S. 268. » 5. 26$.
456 L. Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [44
geben.''' Dieser Satz ist gewiß richtig, sofern er das analytische
Urteil ausspricht: Anders als durch unsere Erkenntnis yermogen
wir keinen Gegenstand zu erkennen. Aber verhält es sich denn,
wenn wir die Eriefintnis erkennen wollen, hierin anders? Ist uns
die Erkenntnis andos gegeben als in einer (natürlich von der ge-
gebenen verschiedenen) Erkenntnis? Ist diese Frage zu verneinen,
SQ ist nicht einzusehen, warum die Erkenntnis weniger ein Rätsel
sein soll, als irgend ein anderer ^^ Gegenstand^. Wird andererseits
überhaupt irgend eine Erkenntnis als möglich und gültig zuge-
standen, — wie hier die Erkenntnis der Erkenntnis selbst, —
warum soll es dann nicht angehen, sich zur Lösung des im ;,G^gen*
stände^ liegenden Rätsels geradezu an eine Erkenntnis des Gegen-
standes selbst zu machen, statt erst den Umweg über die Er-
kenntnis seiner Erkenntnis einzuschlagen? Dem Unbefangenen
wenigstens liegt wohl nichts näher als die Annahme, daß die im
Gegenstande steckenden Rätsel nicht anders als durch das Er-
kennen des Gegenstandes gelöst werden können, da dieses Erkennen
eben das einzige ist, wodurch die uns bisher unbekannten Eigen-
schaften des Gegenstandes bekannt werden können. Nichts
anderes als gerade dieses Erkennen ist ja aber die von allen ein-
zelnen "Wissenschaften — von jeder in ihrem Gebiete — geleistete
Arbeit. Warum nun sollen diese Wissenschaften zur Ergründung
der Wahrheit nicht genug sein? Und wenn sie hierzu unver-
mögend sind, warum soll die ;,Erkenntnistheorie*^ hier mehr ver-
mögen ?
13. Natorps Antwort auf diese Frage soll offenbar in den fol-
genden Überlegungen enthalten sein:
„Es wurde gesagt, Erkenntnis stelle den Gegenständ sich
» S. 268.
45] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 457
gegenüber als unabhängig von der Subjektivität des Erkennens.
Darin, wie diese ünabkängigkeit zu verstehen and wie sie zu be-
gründen sei; muß offenbar die Angel des Problems liegen.
„Zu verstehen ist sie allein vermöge einer Abstraktion, soviel
wird sofort klar sein. j^Gegenstände sind ja wirklich uns nur ge4
geben in der Erkenntnis, die wir von ihnen haben. Wird gleich-
wohl, eben in dieser Erkenntnis, der Gregenstand angesehen als
unabhängig von der Subjektivität des Erkennens, so ist dies auf
keine andere Weise verständlich, als indem von der Subjektivität,
vom Verhältnisse des Vorgestellten zum Vorstellenden, als dem
Inhalt seines subjektiven^ Erlebens, abstrahiert wird.^^
„Indessen kann die bloße, durch den tatsächlichen Vollzug
bewiesene Möglichkeit der Abstraktion von der Subjektivität nicht
auch schon das Recht und die Notwendigkeit derselben begründen
sollen. Der Anspruch der objektiven Greltung ist durch sie wohl
in seiner tatsächlichen Bedeutung erklärt, aber nicht auch schon
als zu Recht bestehend erwiesen. Es fragt sich also weiter : durch
welche bestimmenden Gründe die Abstraktion von der Subjektivität
in derjenigen Erkenntnis, die man gegenständlich nennt, nicht allein
möglich, sondern notwendig ist."*
In diesen Darlegungen handelt es sich zunächst um die Frage
der Erklärung, und ferner um die der Begründung eines vorher
festgestellten Sachverhalts. Dieser Sachverhalt wird durch den
Satz ausgesprochen, „Erkenntnis stelle den Gegenstand sich gegen-
über als unabhängig von der Subjektivität des Erkennens." Offen-
bar kann Natorp mit diesem Satze nichts anderes aussprechen
wollen als eine Tatsache der Seljbstbeobachtung. Es ist nicht un-
wichtig dies zu bemerken; denn in^em Natorp die Selbsbeobach-
» S. 269. > S. 270.
458 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [46
tnng als ein Kriterium der Wahrheit in Anspruch nimmt, betritt
er bereits das vorher yon ihm selbst ausgeschlossene Gebiet der
Psychologie. Lassen wir indessen einmal dieses Kriterium zu, so
ist gewiß gegen den eben genannten Satz nichts einzuwenden. —
Anders steht es mit der Art, auf die Natorp diese Tatsache ^ver-
ständlich'' machen will. Diesem Erklärungsversach liegt offenbar
eine falsche Selbstbeobachtung zu Grunde.
Daß nämlich die Erkenntnis sich Gegenstände gegenüberstelle
als unabhängig von der Subjektivität des Erkennens, das ist eine
durchaus wesentliche Eigentümlichkeit einer jeden Erkenntnis als
solcher. Von Abstraktion kann aber erst da die Rede sein, wo
bereits irgend welche Erkenntnis vorliegt; es wäre andernfalls un-
verständlich, wovon eigentlich abstrahiert werden sollte, und was
eigentlich durch diese Abstraktion gefunden werden sollte, da
doch der mit dem Worte „Abstraktion^ bezeichnete Akt nicht in
einem Schaffen irgend welcher Inhalte besteht, sondern nur in dem
Absondern und Herausheben schon gegebener.
Daß es mit dieser angeblichen Abstraktion eine eigene Be-
wandtnis hat, scheint Natorp übrigens selbst gefühlt zu haben, da
er gesteht, daß sich „diese Abstraktion tatsächlich auf ganz un-
reflektierte Weise vollzieht".' Eine Abstraktion, die nicht Sache
der Reflexion ist, wäre doch jedenfalls eine ganz eigenartige und
von allem, was man sonst unter dem Worte „Abstraktion" zu ver-
stehen gewohnt ist, verschiedene Abstraktion; woraus ersichtlich
ist, daß durch die Bezeichnung des fraglichen Sachverhalts als
„Abstraktion" nur der Bedeutungsumfang eines Wortes erweitert,
nicht aber etwas zur Erklärung des Sachverhalts geleistet sein
kann.
> S. 269.
47] Enter Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 469
Was ans die Selbstbeobachtimg als ursprünglich in jeder Er-
kenntnis als solcher enthalten zeigt, das kann nicht durch die
Annahme eines Abstraktionsaktes erklärt werden, und so verhält
es sich mit der Assertion der Gegenständlichkeit des beim Er-
kennen Vorgestellten. Dcls Problem, wie eu der Subjektivität des
JErkennens der Gegenstand hineuTcomme, ist also für eine richtige
Selbstbeobachtung gar nicht vorhanden. Folglich beruht auch das
Problem, wie der zur Erklärung dieses Hinzukommens angenom-
mene Abstraktionsakt zu rechtfertigen sei, auf bloßer Täuschung.
Denn das Faktum, dessen Recht begründet werden soll, existiert
nicht. Natorp ist also hier durch eine falsche Selbstbeobachtung
zu einer falschen Problemstellung veranlaßt worden. —
14. Wenn dennoch im weiteren Verlaufe seiner Untersuchung
eine Lösung der gestellten Frage geboten zu werden scheint, so
entsteht dieser Schein nur dadurch, daß der ursprünglich vorge-
setzten Frage eine inhaltlich ganz andere untergeschoben wird.
Mit ßecht unterscheidet Natorp zweierlei, das in jeder Er-
kenntnis mit einander gegeben und mit einander verbunden vor-
kommt: das Erkennen, als die Tätigkeit des Subjekts der Er-
kenntnis, imd das durch die Erkenntnis Ernannte oder jsu Erkennende.^
Es ist klar, daß es eben dieses zweite ist, was nach dem allge-
meinen Sprachgebrauch das „Objekt^ oder der „Gregenstand" der
Erkenntnis genannt wird. Sonach wäre es die Aufgabe der Er-
kenntnistheorie, das Verhältnis des zu Erkennenden zum Erkennen
zu ermitteln. Aber Natorp gibt dem Worte „G-egenstand" alsbald
einen anderen Sinn : „Die Beziehung der Erscheinung zum Gesetze
muß die in aller Erkenntnis ursprüngliche Beziehung auf den
Gegenstand erklären ^'^ „Der Gegenstand bedeutet positiv dasGe-
> S. 260. « S. 259.
460 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [48
setz.**^ Aber hier müssen wir fragen, ob denn niclit bei der Er-
kenntnis beider, des Gesetzes sowohl als auch der nnter dem Ge-
setze stehenden Erscheinung, jene zwei Stücke: Erkennen als
Tätigkeit, und das durch diese Erkannte oder zu Erkennende, zu
unterscheiden seien. Es gibt ein Erkennen des fallenden Steines
ganz ebenso wie es ein Erkennen des Fallgesetzes gibt. Das Ver-
hältnis des Erkennens zum Erkannten ist also offenbar ein ganz
anderes als das der Erscheinung zum Gesetze.
Indem Natorp Bestimmungen dieses zweiten Verhältnisses auf
das erste überträgt, entsteht die Illusion, als sei durch seine Dar-
legungen irgend etwas zur Lösung des erkenntnistheoretischen
Problems geleistet.
Der Anlaß zu dieser Froblemverschiebung liegt in der falschen
Verwertung einer an sich richtigen Beobachtung. Es ist nämlich
allerdings wahr, daß in unserem Erkennen eine Subsumtion des
Besonderen, nämlich der Tatsachen der sinnlichen Wahrnehmung,
unter das Allgemeine, nämlich die Gesetze, stattfindet. Wir be-
gnügen uns nicht mit einem regellosen Aneinanderreihen der uns
bei dieser oder jener Gelegenheit kommenden Wahrnehmungen,
sondern wir suchen, insbesondere in der Wissenschaft, den Zu-
sammenhang der Tatsachen als einen gesetzmäßigen zu begreifen.
Und insofern \^ir die Gesetzmäßigkeit aller Gegenstände der Wahr-
nehmung voraussetzen, bedienen wir uns dieser Gesetzmäßigkeit
als eines Kriteriums, indem wir einer Erscheinung, die sich dieser
allgemeinen Gesetzmäßigkeit nicht einfügt, objektive Realität ab-
sprechen.' Aber eine positive Ableitung des Individuellen der Er-
» S. 271.
' Um Mißverständnissen vorzubeugen, bemerke ich ausdrücklich, daß es
sich hier lediglich um eine Beschreibung des psychologischen Tatbestandes
handelt.
49] Enter Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 461
BcheinuDgen aas dem allgemeinen Gesetz ist mmiöglich, mid in der
Tat bedienen wir uns — im Leben wie in der Wissenschaft —
der vorausgesetzten Gresetzmäßigkeit lediglicb als eines negativen
Kriteriums aller Erkenntnis von Erscbeinungen. Das positive
Kriterium der Wirklichkeit suchen wir jederzeit nur in der An-
schaüung; wobei wir das Kennzeichen der Anschauung nie in das
Verhältnis zum Gegenstande, sondern allein in gewisse subjektive
Beschaffenheiten der Vorstellung setzen, nämlich in das von be-
grifflicher Vermittelung unabhängige Bewußtsein ihrer ursprüng-
lich assertorischen Natur. Jede Vorstellung, die diese subjektive
Beschaffenheit zeigt, gilt uns als objektiv gültig, wofern sie nicht
mit der anderweitig gegebenen Gesetzeserkenntnis unverträg-
lich ist^
* Diese Bemerkung kann dazu dienen, einen neuerdings von Scheleb gegen
E[ant erhobenen Einwand zu beseitigen, der, wenn er zuträfe, nicht allein die
Kantische Philosophie, sondern auch die gesamte Naturwissenschaft und alles
menschliche Denken überhaupt vernichten müBte. (»Die transzendentale und die
psychologische Methode**, S. 65, 82.) Schelers Einwand, der sich gegen das
Postulat der Gesetzmäßigkeit alles Wirklichen richtet, beruht auf der Yerwechs-
Itmg dieses Postulats mit einem allgemeinen positiven Kriterium der Wirklichkeit.
Das positive Kriterium der Wirklichkeit liegt jedoch auch für Kant lediglich in
der Wahrnehmung. Allerdings „unterscheidet nicht der besondere Inhalt oder die
Intensität das durch eine Halluzination oder durch einen Traum erregte Bild von
einer Wahrnehmung** (S. 50), sondern dieser Unterschied wird erst durch das
verschiedene Verhältnis beider zum Gesetze bestimmt. Aber hieraus folgt nicht,
daß Jede Beobachtung ihren Anspruch auf Objektivität und Realität solange zu-
rückzustellen hat, bis sich ihr Inhalt aus schon gefundenen Naturgesetzen heraus
erklären läßt.** (S. 82.) Träfe dies zu, so wäre freilich „die Auffindung eines
neuen Naturgesetzes unmöglich**, da in diesem Falle aller Beobachtungsinhalt so
hmge „für Fiktion zu gelten** hätte, als er nicht schon auf gegebene Gesetze zu-
rückgeführt ist. In der Tat findet gerade das Umgekehrte statt: daß nämlich
jede Beobachtung ihren Anspruch auf Objektivität und Realität so lange be-
wahrt, bis sich ihre Unvereinbarkeit mit schon gefundenen Naturgesetzen heraus-
stellt.
Der Fehler beruht auch hier nur auf dem Vorurteil, als sei die Assertion
etwas erst mittelbar zur Subjektivität der VorsteUung Hinzuzubringendes.
Abhudlangen dar FriM*ickMi Schale. IL Bd. 30
462 ^* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [50
^Die gesetzmäßige Anffassmig des Erscheinenden gilt als die
gegenständlicli wahre'' sagt Natorp\ and er hat darin recht, falls
er hier unter „gelten** ;,als gültig angeno mmen werden** versteht.
Ob nämlich, was als gültig oder wahr angenommen wird, auch
gültig oder wahr seij das ist eine Frage für sich, nämlich gerade jene
Frage, die durch die Erkenntnistheorie erst entschieden werden sollte.
— Auf keine Weise aber folgt aus dem eben Festgestellten, daß
„der Gegenstand das Gesetz bedeutet**, solange wir unter „Gegen-
stand^ das im Erkennen Erkannte verstehen. Wir können wohl
die Erkenntnis der einzelnen Erscheinungen als eine unvollständige
bezeichnen, insofern sie noch nicht ihre Unterordnung unter die
Erkenntnis des„(ifiaetzes gefunden hat, und wir können dement-
sprechend die vermittelst dieser Unterordnung gewonnene Er-
kenntnis des gesetzmäßigen Zusammenhangs der Erscheinungen als
die vollständige und insofern eigentliche Erkenntnis bezeichnen.
Auch können wir in Analogie hierzu den Gegenstand dieser voll-
ständigen Erkenntnis den eigentlichen, nämlich durch vollständige
Erkenntnis bestimmten, Gegenstand nennen, im Gegensatze zu der
unvollständigen Bestimmtheit des Gegenstandes der bloßen Wahr-
nehmungserkenntnis. Aber wir dürfen dann nicht übersehen, daß
die Erkenntnis des allgemeinen Gesetzes für sich, sofern sie ihre
Anwendung auf die Wahrnehmungserkenntnis noch nicht gefunden
hat, ebensowenig als eine vollständige Erkenntnis zu gelten hat
wie die bloße Wahrnehmungserkenntnis. Und wir dürfen dement-
sprechend auch den Gegenstand dieser isolierten Gesetzeserkenntnis,
d. h. das Gesetz selbst, ebensowenig einen bestimmten oder eigent-
lichen Gegenstand nennen wie den Gegenstand der isolierten
Wahmehmungserkenntnis, d. h. wie die Erscheinung. In der
» S. 269.
51] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 463
wecliselseitigen Bestimmung von Wahrnehmungs- und Gesetzes-
erkenntnis liegt für uns das Kriterium der Gegenständlichkeit der
Erkenntnis. Aber das EriteriuiDi der Gegenständlichkeit ist nicht
zu verwechseln mit dem Gegenstande selbst. Das Verhältnis der
unvollständig bestimmten Erkenntnis zur vollständig bestimmten
Erkenntnis ist nicht zu verwechseln mit dem Verhältnis der Er-
kei^tnis zum Gegenstande. Und der Zusammenhang der Erschei-
nungen nach dem Gesetze ist nicht zu verwechseln mit dem Ge-
setze selbst. Nur wer diese Verwechslungen begeht, kann meinen,
durch eine Untersuchung der „Beziehung der Erscheinung zum Ge-
setze^ „die in aller Erkenntnis ursprüngliche Beziehung auf den
Gegenstand erklären** zu können.^
„Subjektivität**, so erklärt Natorp, „bedeutet das Verhältnis
des Vorgestellten zum Vorstellenden, sofern es von ihm vorge-
stellt wird, .... sie bedeutet das unmittelbare Verhältnis eum Ich.^^
Aber schon vier Sätze später heißt es: „Es giebt überhaupt nichts
Anderes, wodurch der Begriff der Subjektivität sich positiv be-
stimmen ließe, als das Erscheinen.^ Wer sieht nicht, daß dies zwei
ganz heterogene Definitionen der Subjektivität sind und daß was
von der Subjektivität im zweiten Sinne gilt, darum noch keines-
wegs auf die Subjektivität im ersten Sinne Anwendung findet.
„Steht dies fest,** so schließt Natorp aus dem zuletzt genannten
Satze, ;,so ist wohl unmittelbar ersichtlich, wiefern im Begriff des
Gesetzes die Subjektivität überwunden ist.** Gewiß, es ist un-
mittelbar ersichtlich, daß das Gesetz kein Erscheinen ist; eine
Entdeckung, zu der wir freilich des Umwegs über die Definition
« S. 259. Vgl. auch S. 275 : „Somit ist das Verhältnis des Subjektiven und
Objektiven in der Erkenntnis ubtrhau]^ zu erklären durch das Verhältnis des
Eingtlnen und Aügemeinm,*^
» S. 273.
30*
464 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [52
der Subjektivität nicht bedurft hätten. Aus dem analytischen Satze
aber, daß das Gesetz kein Erscheinen ist, wird man nicht im Ernste
schließen wollen, daß das Gesetz ein anderes Verhältnis zum Ich
hat als die Erscheinung.
15. Indessen, Natorp macht noch einen weiteren Versuch, die
Objektivität des Wahrnehmungsgegenstandes zu vernichten. „Das
Einzelne^, sagt er^, „ist jederzeit nur zu charakterisieren durch
allgemeine Bestimmungen.*' Und: „Zu fassen ist es, wenn über-
haupt, doch nur, indem es in Begriffen bestimmt wird ; jede solche
Bestimmung aber geschieht aus dem Standpunkte des Allgemeinen.^'
Diesen Sätzen liegt wieder eine mangelhafte Selbstbeobachtung zu
Grunde. Ohne Zweifel Mnnen wir das Einzelne durch Begriffe,
bestimmen, aber wir tun dies nur, wenn wir urfei/en.-^ Das Urteil
aber ist stets eine mittelbare Erkenntnis, der eine unmittelbare Be-
stimmung des Gegenstandes schon vorhergehen muß. Der Begriffe
durch den wir im Urteil erkennen, ist eine für sich problematische
allgemeine Vorstellung. Diese allgemeine problematische Vorstel-
lung kann zwar durch Verbindung anderer ebenfalls allgemeiner
und problematischer Vorstellungen gebildet sein; aber jede der-
artige synthetische Begriffsbildung (Determination) setzt in letzter
Linie irgend welche nicht wieder synthetisch gebildete Begriffe
als ursprüngliche Elemente der Determination voraus; und diese
sind, wie die Selbstbeobachtung lehrt, durch Abstraktion aus irgend
welchen nicht allgemeinen und nicht problematischen, sondern indi-
viduellen und assertorischen Vorstellungen abgeleitet. Eine solche
nicht allgemeine und nicht problematische Vorstellung ist die un-
mittelbare Erkenntnis, die man Anschauung nennt. Diese An-
schauung und die eigentümliche Art der Bestimmung des Gegen-
» S. 280. « S. 281.
53] Enter Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 466
Standes darch sie ist von Natorp völlig verkannt worden. Wenn
er sagt: „Gegeben ist das Konkrete äet Erscheinung nur als erst
ßu bestimmendes, bestimmbares X^\ so ist dies zwar insofern richtig,
als der G-egenstand eine Bestimmung durch allgemeine Gesetze er-
fordert ; aber die Erscheinung ist darum doch nicht etwas schlecht-
hin unbestimmtes, sondern nur etwas unvollständig, nämlich nur
durch Anschauung, Bestimmtes, Natorp aber meint, die Erscheinung
sei „gegeben nur im Sinne einer gestellten Aufgabe, nicht aber
als 'ein Datum der Erkenntnis, woraus Anderes, noch unbekanntes
sich bestinmien ließe'' ^ „Es giebt*' für ihn „überhaupt kein anderes
Organen der Erkenntnis'' als den Begriff.' Ist diese Behauptung
psychologisch gemeint, so widerspricht sie, wie wir gesehen haben,
dein offenkundigen Tatsachen der Selbstbeobachtung. Mit diesen
letzteren ist sie nur zu vereinen, wenn man sie auf den (§ 14,
Schluß) erwähnten Satz zurückführt, durch den alle Vorstellung
von Erscheinungen aus der Sphäre des objektiv Gültigen durch
Definition ausgeschlossen wurde. Sie besagt aber in diesem Falle
nichts anderes, als daß wir das Wort „Erkenntnis" nicht auf indi-
viduelle, sondern nur auf allgemeine Bestimmungen anwenden
sollen, sinkt also zum Range einer bloßen terminologischen Fest-
setzung herab. Soll der Satz einen Inhält haben, soll er etwas
hedeuten^ so kann er nur einen psychologischen Sachverhalt be-
zeichnen wollen. Alsdann aber entsteht die gewichtige Frage,
wie wir in den Besitz von Begriffen, als des einzigen Organons
der Erkenntnis, kommen können, oder, wenn die Begriffe als etwas
ursprünglich Gegebenes angenommen werden sollen, tvie Erkenntnis
aus bloßen Begriffen möglich sei. Eine Frage, die Natorp keiner
Erwähnung, geschweige denn einer Antwort gewürdigt hat. Aus
* S. 282. « S. 282. • S. 283.
466 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [54
bloßen Begriffen entspringen nur analytische Urteile, darch diese
ist aber keine positive Bestimmung des Gegenstandes möglich.
Solange also nicht die Kunst erfunden ist, aus bloß analytischen
Urteilen synthetische abzuleiten, sind wir berechtigt, jeden Versuch
einer Erkenntnis aus bloßen Begriffen als ein in sich widersinniges
Unternehmen von der Hand zu weisen.^
^ Vielleicht ist Natorp der Ansicht, daB es überhaupt keine (in dem von
uns definierten Sinne) synthetischen Urteile gibt. Das maß in der Tat so
scheinen, wenn er in seiner „Logik'' (S. 20) als synthetisches Urteil die Begriffs-
determination definiert und als analytisches deren Umkehrung. Hierbei ver-
wechselt er jedoch das, was wir als synthetische Begriffsbildung bezeichneten, mit
dem, was man seit Kant synthetisches Urteil nennt. Auch die Determination ist
ein analytisches Urteil Wenn es richtig wäre, daß, wie Natorp an derselben
Stelle behauptet, „das verneinende Urteil das UrteU der Verschiedenheit bedeutet, wie
das bejahende die einfache Identitätssetzung'', so könnte es in der Tat keine syn-
thetischen Urteile geben; eine Konsequenz, die freilich die Möglichkeit einer Er-
kenntnis durch Urteile überhaupt aufheben müßte. Das verneinende Urteil be-
deutet indessen so wenig das Urteil der Verschiedenheit, wie das bejahende die
Identitätssetzung. Wenn ich urteile, „7 ist eine Primzahl", so will ich damit
sagen, daß die Zahl 7 in die Sphäre des Begriffs Primzahl gehört, nicht aber, daB
die Begriffe 7 und Primzahl identisch seien, denn das wäre falsch und würde zur
Folge haben, daß der Begriff der 3, die ja auch eine Primzahl ist, mit dem der 7
identisch wäre. Ebenso bedeutet das Urteil „10 ist nicht eine Primzahl **, daß die
Zahl 10 nicht in die Sphäre des Begriffs Primzahl gehört, nicht aber, daß die Be-
griffe 10 und Primzahl verschieden seien, denn dies würde zur Folge haben, daß
alle Begriffe, die von einem bestimmten Begriff verschieden sind, als Prädikate von
den Gegenständen aus der Sphäre dieses Begriffs vemeifU werden müßten, so daß
z. B. aus der Verschiedenheit der Begriffe 3 und Primzahl das falsche Urteil
folgte: „3 ist nicht eine Primzahl". — Natorps Fehler besteht also in der Ver-
wechslung der Urteile mit bloßen Vergletchungsformeln.
Diese Verwechslung hat von jeher die größte Verwirrung in die Nach-
kantische Philosophie gebracht. Das ganze dialektische Spiel der Fichteschen
Wissenschaftslehre mit dem „Ich" und der Schelling-Hegelschen Identitätsphilo-
sophie mit dem „Sein = Nichts" beruht auf diesem Fehler. In der Tat: „Ich
= Ich", denn jedes Ding ist mit sich selbst identisch. „Ich" bin aber „Philo-
soph". „Philosoph" ist aber nicht = Ich. Und so kann man folgerichtig, wenn
man Urteil und Vergleichungsformel nicht zu unterscheiden versteht, neben den
56] Enter Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 467
m.
Der transzendentale Beweis
als erkenntnistheoretisches Kriterium.
16. Wir gehen zur Prüfang eines anderen erkenntnisiheore-
tischen Versachs über. Ich wähle den von E. Mabcüs angestellten
Yersnch, den £antischen Gredanken eines „transzendentalen Be-
weises^ der sogenannten metaphysischen Grandsätze auszu-
führen.^
Der Anspruch auf Exaktheit, den dieser Beweis erhebt, ver-
anlaßt uns, ehe wir an seine Prüfung gehen, festzustellen, welche
Bedingungen wir überhaupt an einen „Beweis^ zu stellen haben.
Ein Beweis ist kein Plausibelmachen irgend welcher Art, sondern
verdient nur dann seinen Namen, wenn der zu beweisende Satz
vermittelst rein syllogistischer Operationen auf eine bes tinrn jite
Zahl angebbarer Prämissen zurückgeführt ist. Es ist nicht erfor-
derlich, daß diese syllogistischen Operationen bei der Beweisfüh-
rung sämtlich explicite ausgesprochen werden, aber es muß mög-
Ikh sein, den Beweis syllogistisch zu zergliedern, derart, daß die
genannte Bedingung erfüllt wird.
Die Sätze, die Mabcüs zu beweisen unternimmt, sind die
Satz „Ich bin Ich*< den anderen „Ich bin Nicht-Ich'' stellen und daraus mit Hegel
fden Schloß ziehen, daß die formale Logik im Irrtum ist
Vkx^i^io^ „Kants Revolutionsprinzip. Eine exakte Lösung des Eant-Humeschen £r-
* Kenntnisproblems, insbesondere des Problems der Erscheinung und des Ding an
sich.« Herford, 1902.
468 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [56
„apriorischen Sätze, welche die Organisation der Natur zum G-egen-
stände haben, ^^ nämlich das Kausalgesetz, das Substanzialgesetz
und das £ommerzialgesetz, d. h. die drei Eantischen „Analogieen
der Erfahrung". Es entsteht also zunächst die Frage: Welches
sind die Prämissen, auf die die genannten Sätze durch den
Beweis zurückgeführt werden? Eine Formulierung dieser Prä-
missen treffen wir bei Marcus nicht an. Wir müssen also ver-
suchen, sie durch Zergliederung der Beweisführung selbst aufzu-
suchen.
Der Beweis ist, wie Seite 50 und an anderen Stellen aus-
drücklich hervorgehoben wird, indireJct. Wir sollen also von der
Annahme ausgehen, der zu beweisende Satz sei falsch, um die
Konsequenzen aus dieser Annahme zu ziehen. Um dann den in-
direkten Beweis schlußkräftig zu machen, ist es erforderlich, zu
zeigen, daß diese Konsequenzen auf einen Widerspruch führen.
Dieser Widerspruch kann cntjsLßder ein innerer, in diesen Konse-
quenzen selbst gelegener Widerspruch sein : in diesem Falle genügt
die formale Logik als Kriterium der Wahrheit des zu beweisenden
Satzes; odej aber der Widerspruch liegt nicht in diesen Konse-
quenzen selbst, sondern in ihrer Unvereinbarkeit mit irgend einer
anderweit feststehenden, dem Beweise zu Grunde gelegten Voraus-
setzung, sagen wir z. B. mit einem mathematischen Axiom oder mit
irgend einer Tatsache der Erfahrimg. In diesem Falle ist die for-
male Logik kein hinreichendes Kriterium der Wahrheit des zu
beweisenden Satzes, oder, was dasselbe besagt, die in Frage
stehende ;,Grewißheit", auf die der Satz zurückgeführt wird, ist
synthetischen Charakters. — Wir haben zu prüfen, welcher dieser
möglichen Fälle vorliegt.
S. U.
57] Enter Teil: Die ÜDmöglichkeit der ErkeDntnistheorie. 469
Das Beweisthema wird unter dem Namen des „Gesetzes der
Erlialtong des dynamischen Charakters^ in den Satz zusammen-
gefaßt, daß Realitäten unter festen ausnahmslosen Regeln stehen,
d. h. daß sie das einmal beobachtete Verhalten unter gleichen Um-
ständen stets wieder betätigen.^ Welches ist nun die Konsequenz,
die aus der Annahme der Falschheit dieses Satzes gezogen wird?
Diese Konsequenz lautet:
„Gresetzt, die apriorische Regel von der Erhaltung des dyna-
mischen Charakters hätte in der Natur keine Gültigkeit, so
würde kein Wissen von einem Naturdinge, d. h. keine Erfahrung
möglich seih.***
Was haben wir hier unter „Wissen" zu verstehen?
;,Von einem Dinge etwas unsseUf bedeutet so viel wie, von
einem Dinge eine Aussage machen können, die zu jeder Zeit, da
ich sie mache, richtig ist.*" Demgemäß unterscheidet Marcus den
Wahmehmungsbegriff vom Erfahrungsbegriff. Die Wahrnehmung
geht nur auf individuelle Fälle, die Erfahrung lehrt Allgemein-
gültiges.
Nach dieser Definition des Wissens oder der Erfahrung ist
die angeführte Konsequenz zweifellos richtig; ich fürchte aber
sehr, daß sie uns einem Beweise des Gesetzes von der Erhaltung
des dynamischen Charakters schwerlich näher bringen wird: denn
der Nachsatz wiederholt nur in anderen Worten den Inhalt des
Vordersatzes. Wir haben damit nichts weiter gewonnen als eine
Umschreibung für den analytischen Satz: Gesetzt, die Realitäten
ständen nicht unter allgemeinen Regeln, so ließen sich keine all-
gemeinen Regeln über die Realitäten aufstellen.
Gehen wir indessen weiter zu der Frage über: Welcher
» S. 16. » S. 17. » S. 17.
470 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [58
Widersprach läßt sich ans der aufgestellten Konsequenz ableiten?
Welchen inneren (logischen) Widersprach schließt die Annahme
ein, daß wir za keinem ,, Wissen^ gelangen können, daß wir nnsere
Wahrnehmungen nicht zur Bildung von Erfahrungen verwerten
können? Oder, falls diese Annahme keinen inneren Widerspruch
einschließt, welche „Gewißheit^ läßt sich dann anfuhren, mit der
diese Annahme unvereinbar wäre? Giebt es vielleicht irgend ein
Axiom der Mathematik, oder etwa eine Erfahrungstatsache, wo-
durch sich die genannte Annahme widerlegen läßt?
Die Möglichkeit eines inneren (logischen) Widerspruchs der
betrachteten Annahme zieht Mabcüs, soviel wir sehen, nicht in Be-
tracht. Und mit Recht; läge nämlich ein solcher innerer Wider-
spruch vor, so wäre der zu beweisende Satz analytisch, er wäre
also ein logischer, nicht aber ein metaphysiscJier Satz.^ — Es bleibt
also nur die zweite Möglichkeit zu erwägen. Aber gerade hier
lassen uns die Ausfährungen von Mabcüs gänzlich im Stich.
Es ist, wie gesagt, zuzugeben, daß wenn der zu beweisende^
Satz falsch wäre, wir keine Erfahrung (in dem vorhin definierten
Sinne) machen könnten. Es ist ferner zuzageben, daß sich dies
1 Man könnte vielleicht geneigt sein, auf Grund des folgenden Gedankens
einen logischen Widerspruch in der fraglichen Annahme zu suchen: Wer (wie
z. B. Ostwald in den Annalen der Naturphilosophie, Band I, S. 61) die Mög-
lichkeit allgemeiner Aussagen bestreitet, wer also behauptet, daß keine allgemeine
Aussage möglich sei, der stellt mit dieser Behauptung selbst eine allgemeine Aus-
sage auf und widerspricht insofern sich selbst. — Aber der Fall liegt hier nicht
anders als bei dem in § 5 erörterten „Widerspruch". Nicht die Annahme
A. Allgemeingültige Aussagen sind für X unmöglich,
sondern die Annahme
B. X stellt die allgemeingültige Aussage A auf
enthält einen Widerspruch. Und aus diesem Widerspruch folgt wiederum nicht
die Möglichkeit allgemeingültiger Aussagen für X, sondern nur die Unmöglichkeit
der allgemeingültigen Aussage A für X.
59] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 471
^gänzlich a priori einsehen^ läßt^, denn diese Einsicht ist ein
analytisches Urteil, und als solches selbstverständlich a priori
gewiß. Es darf also mit Recht behauptet werden, daß der zu be-
weisende Satz durch Erfahrung niemals widerlegt werden kann;
denn nur, wenn er gilt, ist überhaupt Erfahrung möglich. Wenn
es also bei Mabcus heißt':
ijErgo läßt sich einsehen, daß es keine Natur giebt, die unsere
apriorischen Sätze widerlegt. Folglich werden sie stets bestätigt
oder es wird überhaupt nichts erkannt",
so können wir auch hier noch zustimmen, vorausgesetzt, daß das
Wort „erkennen** in demselben Sinne gebraucht ist wie das vor-
her definierte Wort „wissen" oder „erfahren". Wenn es aber
unmittelbar darauf heißt:
„Diese Einsicht ist der Grund unserer Vorstellung von ihrer
Notwendigkeit",
so können wir diese Schlußfolge nicht als zwingend an-
erkennen. Hier fehlt ja noch der Nachweis, daß etwas erkannt
wird, oder, nach der obigen Formulierung, daß wir v^irklich ein
Wissen haben, oder d<Jiß Erfahrung möglich ist. Dieser Satz ist
die versteckte Prämisse, unter deren Voraussetzung allein die
Folgerung, und somit der Beweis überhaupt, stattfindet.
17. Wir haben also die Natur dieser Voraussetzung zu prüfen.
Ihre Gewißheit gründet sich entweder auf Erfahrung, oder sie
steht a priori fest, wenn sie überhaupt etwas gelten soll. Offen-
bar muß die Voraussetzung a priori feststehen, wenn der zu be-
weisende Satz selbst a priori gelten soll. Das Prinzip, das der
Beweisführung a priori zu Grunde liegen müßte, wäre also der Satz :
;,Erfahrung ist möglich."
» S. 19. « S. 26.
472 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [60
Wenn wir in diesem Satze an Stelle des Wortes „Erfahrung^
seine Definition einsetzen, so lantet er:
„Es ist möglich. Aussagen von allgemeiner Grültigkeit za machen.'
Nun war aber vorher festgestellt worden, daß dieser Satz das
Gresetz der Erhaltung des dynamischen Charakters zar logischen
Voraussetzung hat. Die Prämisse, auf die der Beweis dieses Gre-
setz zurückfiOirt, schließt also die Voraussetzung der Grültigkeit
eben dieses Gesetzes bereits in sich. Der Beweis beruht also auf
einer petitio principii.
Wollte aber Marcus, um diesem Mißstand zu entgehen, auf die
Apriorität des Prinzips der Möglichkeit der Erfahrung verzichten
und sich statt dessen auf die mrkliche Erfahrung berufen^, so wird
ein empirisches Faktum zur höchsten Instanz in der transzenden-
talen Beweisführung gemacht.^ Alsdann aber tritt der Einwand
in Eraft, daß aus empirischen Prämissen keine apodiktischen
Schlußsätze folgen; womit gezeigt ist, daß in diesem Falle die
Apodiktizität des zu beweisenden Satzes nicht begründet, sondern
aufgeboben würde.
Was hier das Triftige dieses Einwandes so leicht verkennen
läßt, ist dieses. Aus der Wirklichkeit einer Sache läßt sich aller-
dings anf ihre Möglichkeit schließen. Eine Anwendung dieser
Schlußweise auf den vorliegenden Fall, um die Möglichkeit der
Erfahrung zu erhärten, ist indessen, so unverfänglich sie erscheinen
mag, nur vermöge einer quaternio terminorum möglich. Wenn
wir nämlich vom Faktum der Erfahrung sprechen, so kann damit
nur gesagt sein, daß wir wirklich Aussagen machen, die auf all-
gemeine Gültigkeit Anspruch machen. Ob aber dieses Faktum
^ Wozu er S. 54 geneigt scheint.
' S. 74 erklärt Mabcus selbst den Satz von der WtrklkhkeU der Erfahrung
für einen empirischen.
61] Enter TeO: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 473
unter den von Marcus definierten Begriff der Erfahmng fallt, d. h.
ob diese Aussagen wirklich allgemeingiiltig sind, hierüber kann
uns kein Faktum belehren; denn Fakta können für sich überhaupt
nicht als Erkenntnisgrund allgemeiner Wahrheiten dienen. Um
also von dem Faktum der gegebenen Erfahrung auf die Möglichkeit
der von Marcus definierten Erfahrung schließen zu können, müßten
wir zuvor die Gültigkeit der gegebenen Erfahrung sichergestellt
haben. Diese hängt aber, nach dem früher Festgestellten, von der
Gültigkeit des Gesetzes der Erhaltung des dynamischen Cha-
rakters ab. Sie schließt mithin gerade das Problem ein, das durch
den transzendentalen Beweis erst gelöst werden sollte. Der Zirkel
im Beweise kann also auch hier nicht fraglich sein.^
18. Wenn wir hiernach nochmals den Gang der Beweisführung
überblicken, so*finden wir das eigentlich Irreführende schon in der
Darstellung des Beweisthemas selbst. Dieses wird nämlich (Seite 14)
folgendermaßen formuliert:
„Jene apriorischen Sätze, welche die Organisation der Natur
zum Gegenstande haben, sind in der Tat absolut richtig.^
Diese Formulierung muß von vornherein unser Mißtrauen er-
wecken. Wenn der Mathematiker einen Satz beweist, so ist sein
' In der Tat hätte Maecus bei genauer syllogistischer Zergliederung seiner
Beweisführung mehrfach die Voraussetzung nicht nur des Gesetzes von der Er-
haltung des dynamischen Charakters, sondern sogar besonderer metaphysischer
Gesetze, so z. B. der Analogieen der Erfahrung selbst, angetroffen. Ich will hier
nur auf zwei solche Fälle aufmerksam machen, die Seite 24 vorkommen. Dort
tritt der Schluß auf: „Wenn das Gesetz der Erhaltung des dynamischen Charak-
ters auch nur in einem Falle ungültig wäre, so müßte das ganze übrige Gefüge
der jenem Gesetz untertoarfenefi Natur, durch eine solche Revolution beeinflußt
werden." Dieser Schluß ist nur zulässig unter Voraussetzung der dritten Analogie
der Erfahrung. — Gleich darauf wird daraus, daß das Auftreten ungesetzlicher
Elemente der Kontinuität der Erfahrung widersprechen würde, auf die Unmög-
lichkeit ihres Auftretens geschlossen, — ein Schluß, der natürlich nur unter
Voraussetzung des Prinzips der Kontinuität zulässig ist. *
474 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [62
Beweisthema dieser Satz selbst nnd nicht der Satz, daß dieser
Satz richtig ist.^ In der Tat, wenn wir weitei; prüfen, was hier
„absolut richtig" heißen soll, so finden wir, daß durch den Zusatz
dieser Worte nicht nur, wie es scheinen könnte, eine terminolo-
gische Variation des zu beweisenden Satzes eingeführt ist, sondern
daß damit dem ursprünglich vorgesetzten Beweisthema ein inhalt-
lich ganz anderer Satz untergeschoben wird. So wird z. B.
(Seite 25) das Resultat des Beweises dahin ausgesprochen, daß
jene „apriorischen Sätze** „evident richtig sind in Relation zur
Erfahrung**. Hiernach haben wir unter der ^jRichtigkeit** jener
Sätze ihre Gültigkeit für alle Erfahrung zu verstehen. Es genügt
aber, auf das in § 16 über den Erfahrungsbegriff Festgestellte zu
verweisen, um ersichtlich zu machen, daß in der genannten For-
mulierung wirklich eine Verschiebung des Beweisthemas statt-
findet, indem durch diese Formulierung den synthetischen Grund-
sätzen der Metaphysik (den Analogieen der Erfahrung) ein leerer
analytischer Satz untergeschoben wird. Da bei Marcus dieser
analytische Satz nirgends von den eigentlich zu beweisenden Sätzen
unterschieden wird, so entsteht der Schein, als ob mit dem Be-
weise dieses in Wahrheit analytischen Satzes ein Beweis für die
Analogieen der Erfahrung geliefert wäre. Und da der Beweis
dieses analytischen Satzes sich durch eine bloße Zergliederung des
Erfahrungsbegriffs, also a priori, führen läßt, so scheint es schließ-
lich, als ob die Analogieen der Erfahrung selbst a priori abge-
leitet wären.
Diese Zweideutigkeit des Beweisthemas zieht sich durch die
^ Wäre nämlich das letztere, so müßte zur Vollständigkeit des Beweises
auch der Satz bewiesen werden : Der Satz, daß dieser Satz richtig ist^ ist richtig.;
nnd so fort ohne Ende.
631 Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 475
ganze Darstellung. Hierfür nur ein Beispiel. Seite 22 wird das
Resultat des Beweises so ausgesprochen:
;,E8 ist also keineswegs Zufall oder eine verhärtete Gewohnheit
(Dogma), wenn wir an die Natur mit der bestimmtesten Voraus«
Setzung herangehen, daß in ihr das Verhalten eines jeden Dinges
unter festen ausnahmslos gültigen Regeln steht. ^
Was haben wir hier unter „Natur* zu verstehen? Seite 54
wird ;,Natur** definiert als der Inbegriff der Realitäten, von denen
wir Erfahrung machen. Erfahrung sollte sich aber von der bloßen
Wahrnehmung gerade dadurch unterscheiden, daß in ihr über die
Kenntnis einzelner Realitäten die Einsicht in die Regeln hinzutritt,
unter denen das Verhalten dieser Realitäten steht. Also schließt
auch der Begriff- der Natur den der Regelmäßigkeit bereits in sich,
und der obige Satz ist insofern analytisch. Als solcher läßt er
sich allerdings auf „logische Einsicht* gründen.
Daß wir aber irgend einen Grund haben, an die RealUäten der
Wahrnehmung mit der Voraussetzung heranzugehen, daß ihr Ver-
halten unter festen Regeln steht, das ist durch den Beweis des
obigen Satzes noch keineswegs dargetan und läßt sich auch auf
keine Weise aus ihm ableiten. Denn der Satz von der Gesetz-
mäßigkeit der Realitäten der Wahrnehmung ist synthetisch, wäh-
rend der Satz von der Gesetzmäßigkeit der Erfahrungsobjekte
analytisch ist ; und synthetische Sätze können aus bloß analytischen
niemals folgen. — Trennt man jedoch nicht sorgfaltig genug diese
beiden Sätze, so verleiht die Selbstverständlichkeit dieses formalen
(nämlich tautologischen) Satzes jenem in Wahrheit logisch unab-
leitbaren (nämlich metaphysischen) Satze eine trügerische logische
Evidenz, die ihm, seinem richtig verstandenen Inhalt nach, durch-
aus nicht zukommen kann. —
476 L- Nelson : Über das sogenannte Erkenntnisproblem. rg4
19. Ich schließe an diese Kritik eine Bemerkung allgemeinerer
Natnr, die zur Beurteilung transzendentaler Beweise überhaupt
nützlich sein kann.
Ich hatte gesagt, der Satz:
;,Die Gresetzmäßigkeit der Realitäten der Wahrnehmung ist
eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung^
sei ein richtiger, nämlich analytischer Satz, da er den Grrund
seiner Gültigkeit im Begriffe der Erfahrung selbst habe. Der
Satz enthält also eine logische Zergliederung des Erfahrungsbe-
griffs. Es liegt nun der Versuch nahe, durch eine analoge, aber
weitergehende Zergliederung auch für die besonderen metaphysischen
Gresetze den Nachweis zu führen, daß sie Bedingungen der Mög-
lichkeit der Erfahrung sind. Einen solchen Versuch macht Marcus
fiir die drei Analogieen der Erfahrung. Es leuchtet ein, daß die
Beurteilung eines derartigen Versuchs wesentlich von der Frage
abhängen wird, welchen Erfahrungsbegriff man der Zergliederung
zu Grunde zu legen hat, d. h. wie man die Erfahrung definieren
solle. Hier steht nun zunächst soviel fest, daß, wenn wir über-
haupt einen vom bloßen Wahmehmungsbegriff verschiedenen Er-
fahrungsbegriff bilden wollen, zu seinem Inhalt der Begriff einer
allgemeinen Gesetzmäßigkeit notwendig gehören muß, da sein In-
halt ohne dies mit dem des Wahrnehraungsbegriffs zusammenfallen
würde. Der Begriff der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Reali-
täten der Wahrnehmung ist aber nicht nur notwendig, sondern
auch hinreichend^ um einen vom bloßen Wahrnehmungsbegriff ver-
schiedenen Erfahrungsbegriff* zu konstituieren. Da jedoch alle
■wirkliche Erfahrung nicht nur auf der Voraussetzung einer allge-
meinen Gesetzmäßigkeit der Realitäten der Wahrnehmung, sondern
auf der Voraussetzung besonderer metaphysischer Gesetze beiruht,
die aus jenem allgemeinen Prinzip der Gesetzmäßigkeit-überhaupt
66] Enter Tefl: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 477
logiscli nnableitbar sind, so können wir in den Inhalt des Erfahrongs-
begrifPs auch derartige besondere metaphysische Gesetze aufnehmen
und dadurch den Begriff der Erfahrang individualisieren.
Zur Abkürzung des Ausdrucks will ich das zur Definition des
ersten, allgemeinsten Erfahrungsbegriffs erforderliche Prinzip der
allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Realitäten der Wahrnehmung als
das metaphysische Element des „allgemeinsten^ Erfahrungsbegriffs,
oder, kürzer noch, als das „metaphysische Minimum des Erfahrungs-
begriffs ^ bezeichnen.
Nunmehr ist klar, daß keins der besonderen metaphysischen
Gesetze durch logische Zergliederung des allgemeinsten Erfahrungs-
begriffs als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung abgeleitet
werden kann. Vielmehr muß der zur Ableitung eines solchen be*
sonderen Gesetzes vorausgesetzte Erfahrungsbegriff hinreichend
individualisiert sein, um in seinem Inhalt das abzuleitende G-esetz
bereits zu enthalten. Mit anderen Worten: Man muß das frag-
liche Gesetz schon vorher in die Definition des Erfahrungsbegriffs
hineingelegt haben, um es durch logische Zergliederung nachträg-
lich aus ihm herausziehen zu können. Verhält es sich aber so,
so können wir uns die Ableitung und Zergliederung sparen, denn
wir müssen ja von vornherein wissen, was wir auf solche Weise
ableiten können und was nicht, da es nur von unserem eigenen
Belieben abhängt, wie weit wir bei der Determination des Er-
fahrungsbegriffs in der Individualisierung gehen wollen.
Was wir eigentlich suchten, war nun aber offenbar nicht etwas,
dessen So- oder Anderssein in unserem Belieben steht, sondern
etwas von unserem Belieben schlechterdings Unabhängiges, nämlich
die Antwort auf die Frage, welches die metaphysischen Gesetze
seien, unter denen die Realitäten der Wahrnehmxmg stehen. Der
Entscheidungsgrund für diese Frage kann offenbar nicht in einer
AbkaadloBfMi dar Fiie8*Mk«i Sohale. IL Bd. 31
478 L. Kelson: Über das sogenannte firkenntnisproblem. Ißß
willkürlichen Definition liegen, sondern wir müssen über die De^
finition hinaasgehen zu einem der Willkür entzogenen Kriterium,!
nach dem sich unsere Definition vielmehr ihrerseits zu richten hat.
20. Hier bietet sich nun der Versuch an, dies Kriterium in
der wirklichen Erfahnmg zu suchen. Wir kommen damit auf die
Aufgabe, die metaphysischen Voraussetzungen der uns historisch
vorliegenden Naturerkenntnis aufzusuchen. Diese Aufgabe hat es
nicht mehr mit der Zergliederung eines willkfirUch gebildeten Be-
griffs zu tun, sondern mit der Zergliederung faktisch gegebener Er-
kenntnisse. Zu einem Beweise der metaphysischen Gesetze kann
indessen auch dieses Verfahren nicht taugen. Denn die fraglichen
metaphysischen Gesetze sind die logischen Voraussetzungen der
Daten, die den Ausgangspunkt dieses Verfahrens bilden ; sie können
also nicht ihrerseits als logische Folgen aus diesen Daten abge-
leitet werden. Wir konmien vielmehr auf diesem Wege in der
y Tat nur zu einer regressiven Aufweisung der fraglichen meta-
physischen Voraussetzungen.
Aber selbst bei solchem Vorbehalt werden wir die Ansprüche
dieser Methode noch sehr einzuschränken haben. Denn es ist
offenbar, daß eine bloße, wenn auch noch so weitgehende Zer-
gliederung der gegebenen Erfahrung nicht zu einer Erweiterung
des Gültigkeitsbereichs der aufgewiesenen metaphysischen Gesetze
über die gegebene Erfahrung hinaus berechtigen kann. Zwischen
der Aufweisung der metaphysischen Bedingungen der wirklich
gegebenen Erfahrung und der gesuchten Einsicht in die Bedingun-
gen aller überhaupt möglichen Erfahrung liegt daher noch eine
Kluft, die durch keine logische Schlußfolgerung überbrückt werden
kann. Was sollte auch wohl alle überhaupt mögliche Erfahrung
an die Bedingungen binden, an die wir die uns historisch, also
zufällig gegebene, wirkliche Erfahrung gebunden finden? Aus
67] Enter Tefl: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 479
dem Umstand, daß gewisse Prinzipien Bedingungen der gegebenen/
Erfahrung sind, läßt sich weder schließen, daß sie hinreichende,}
noch anch nur, daß sie notwendige Bedingungen aller möglichen |
Erfahrung sind. In dßc Ableitung allgemeingültiger, d. h. von
der Beziehung auf die gegebene Erfahrung unabhängiger Erfahrungs-
bedingungen gelangen wir auch auf diesem Wege nicht über das
metaphysische Minimum des Erfahrungsbegriffs hinaus. —
Hiermit haben wir ein ganz allgemeines Kriterium zur Be-
urteilung transzendentaler Beweisversuche gewonnen. Wird uns
nämlich ein beliebiger derartiger Beweis vorgelegt, so brauchen
wir ihn nur an der Hand der vorstehenden Bemerkung durchzu-
gehen, um mühelos den wunden Punkt zu finden. Denn dieser
wunde Punkt muß allemal in dem Übergang von den Bedingungen
der gegebenen Erfahrung zu denen der überhaupt möglichen Er-
fahrung liegen. Der salto mortale dieses Übergangs kann sich
aber nur durch eine versteckt zu Grrunde gelegte willkürliche De-
finition des Erfahrungsbegriffs verbergen. Es gilt also im beson-
deren Falle nur, diese Definition aus den Elementen der Beweis*
führung herauszuziehen, um den Zirkel des Beweises in die Augen
springen zu lassen.
IV.
Die Evidenz als erkexintnistheoretisches Kriterium.
21. Unter den von psychologischer Seite unternommenen er-
kenntnistheoretischen Versuchen nimmt die auf Descabtes zurück-
gehende und von der „common sense^-Philosophie der schottischen
Schule verteidigte Lehre von der Evidenz als dem Ejriterium der
31*
480 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. |68
Wahrheit noch heute die wichtigste Stelle ein« Es sei daher anf
einen der neuesten Versache, dieses Kriterium zn rechtfertigen,
mit einigen Worten eingegangen. Diesen Yersnch finden wir bei
Meinonq. Meinonq geht von dem Satze ans, alle Erkenntnis be-
stehe in Urteilen.^ Da ihn nun die Tatsache des Vorkommens
falscher urteile darauf hinweist, daß wir eines besonderen Krite-
riums für die Wahrheit eines Urteils bedürfen, so wird er auf die
Frage geführt, woran sich erkennen läßt, ob es überhaupt wahre
Urteile giebt, und ob, wenn dies der Fall ist, ein gegebenes Urteil
zu der Elaase der wahren gehört. Es muß, so argumentiert er,
erstens Urteile geben, „in deren Natur es liegt, wahr zu sein*',
und wir müssen eweitens fähig sein, „solchen Urteilen diese ihre
Wahrheitsnatur mit Hülfe von Urteilen von eben solcher Natur
anzusehen^, falls wir nicht auf alles Erkennen überhaupt ver-
zichten wollen.'
Wie will nun Meinonq entscheiden, ob diese Bedingungen er-
füllt sind? Er beruft sich hier auf die „Erfahrung", die uns
lehren soll, daß die erste Bedingung ganz, die zweite nahezu er-
füllt ist. Aber ehe wir uns hierauf einlassen, können wir schon
im voraus folgende allgemeine Bemerkung machen. Mkinong defi-
niert: „Wahr ist ein Urteil, dessen Objektiv Tatsache ist**', wobei
er unter „Objektiv** dasjenige versteht, was im Urteil von einem
Objekt ausgesagt wird. Aus dieser Definition folgt, daß man,
um sich von der Wahrheit eines Urteils überzeugen zu können,
sein Objektiv kennen müßte. Diese Kenntnis kann aber nach
^ „Es giebt kein Erkennen und kann keines geben, das nur Vorsiellen und
nicht auch oder vielmehr zunächst Urteüen wäre.** („Über die Erfahrungsgrund-
lagen unseres Wissens**, Berlin 1906, S. 18.)
> A. a. 0. S. 82. > Ebenda.
69] Enter Teil:- Die ünmögliehkeit der Erkeimtiiistheorie. 481
Heikokg nur durch das Urteil erlangt werden.^ Man müßte also
schon wissen, daß das Urteil wahr ist, nm es mit seinem Objektiv
vergleichen zu können. Die Feststellung der Wahrheit eines
Urteils wäre folglich unmöglich.
Die Berufung auf ein anderes Urteil würde hier nichts nützen;
denn sie würde nur auf die Frage nach der Wahrheit dieses Urteils
fuhren, eine Frage, deren Losung an der eben dargelegten Un-
möglichkeit scheitern muß, falls man nicht wiederum auf ein
anderes Urteil zurückgreifen will, womit man auf einen unend-
lichen Regreß geführt würde.
Man kann sich dies auch so klar machen: Damit es möglich
sein soll, die erste der beiden von Meinonq aufgestellten Bedin-
gungen als erfüllt nachzuweisen, muß die zweite bereits als er-
füllt varausgeseM werden. Die zweite kann aber offenbar nur
dann als erfüllt vorausgesetzt werden, wenn die erste bereits als
erfüllt vorausgesetzt wird; woraus ersichtlich ist, daß die Auf-
gabe, auch nur die erste als erfüllt nachzuweisen, schlechterdings
unlösbar ist. Wenn also Meinonq dennoch eine solche Nachweisung
versucht, so wissen wir im voraus, daß dieselbe nur auf eine
petitio principii hinauslaufen kann. —
Meinono beruft sich nun auf die psychologische Tatsache, daß
gewisse Sachverhalte ihrer Einfachheit wegen „einleuchten^, kom-
pliziertere hingegen dies nicht tun. Urteile über einen Sachver-
halt der ersten Art nennt er evidente, und er erklärt es für ein
evidentes Urteil, daß ein evidentes Urteil nicht falsch sein kann.
Hieraus zieht er den Schluß, daß die erste der genannten Bedin-
gungen im evidenten Urteüe erfüllt ist.
1 A. a. 0. 8. 32.
482 ^' Nelson: Über das sogenumte Erkenntnisproblem. [70
Betrachten wir diesen Gedankengang etwas naher. Wie be-
gründet Meinong den Satz, daß ein evidentes urteil nicht falsch
sein kann? Durch die Behauptung, daß dieser Satz selbst ein
evidentes Urteil sei. Nehmen wir — unter Vorbehalt — an, diese
Behauptung sei richtig. Wir haben dann, wenn wir den zu er-
weisenden Satz
A. Ein evidentes Urteil kann nicht falsch sein
mit A bezeichnen, den Satz
B. Der Satz A ist ein evidentes Urteil.
Folgt hier nun der Satz A aus dem Satze B? Offenbar nicht;
denn zu dieser Schlußfolgerung fehlt die zweite Prämisse. Diese
zweite Prämisse konnte nur in der Voraussetzung bestehen, daß
evidente Urteile nicht falsch sein können, in dem Satze also, der
gerade erst erwiesen werden soll. Das Vorliegen einer petitio
principii kann also nicht zweifelhaft sein.
22. Meinono kommt zu diesen Feststellungen bei seinen er-
kenntnistheoretischen Untersuchungen über die „Wahrnehmung^.
Er bedarf hier eines Ejriteriums der Wahrheit, weil er die Wahr-
heit zu den definierenden Merkmalen der „Wahrnehmung* zählt.
Ohne dieses Merkmal nämlich, meint er, lasse sich die Wahrneh-
mung nicht von den Halluzinationen der gewöhnlichen Art unter-
scheiden. Da er nun das psychologische Kriterium der Wahrheit
in der Evidenz findet, so sieht er sich zu der Behauptung ge-
zwangen, daß Halluzinationen evidenzlos seien,^ und er schebt
dieselbe Eonsequenz auch auf die Träume ausdehnen zu wollen.'
Aber eben diese Konsequenz hätte ihn an der zu Grunde liegen-
den Voraussetzung irre machen sollen ; denn diese Konsequenz
widerspricht den Tätsachen. Sagt er doch selbst, daß die normale
» S. 36. « S. 42.
71] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 483
Halluzination, von der psychologischen Seite betrachtet^ mit der ge«
wohnlichen Wahrnehmung durchaus auf gleiche Linie zu stellen
sei.^ Über diesen Satz mag man sonst denken wie man wolle;
gerade in Bezug auf das „Evidenz^ genannte psychologische Er-
lebnis kann seine Richtigkeit keinem Zweifel unterliegen. Denn:
daß der halluzinierte Sachverhalt sich dem Bewußtsein unmittelbar
aufdrängt, daß sich das Bewußtsein um diesen Sachverhalt nicht
etwa „erst mit Hilfe von einfacheren oder komplizierteren Be-
gründungen oder Beweisen ergiebf *, — das ist durchaus erforder-
lich, wo überhaupt von einer Halluzination gesprochen werden soll.
Und beim Traume verhält es sich nicht anders. — Es ist also
nicht nur unrichtig, daß die Evidenz ein notwendiges, sondern
auch, daß sie ein hinreichendes Kriterium der Wahrheit bildet. —
23. Wenn man, wie mitunter geschieht^, das Merkmal der
Wahrheit, d. h. der Tatsächlichkeit des Objektivs, bereits in den
BegrüF der Evidenz aufnimmt, dann entfällt natürlich die hier ge-
gebene Kritik. Aber man darf alsdann nicht übersehen, daß ein
solcher Begriff der Evidenz psychologisch unanwendbar ist. Denn
da sich ja die Tatsächlichkeit des Objektivs nicht unabhängig von
unserer Erkenntnis ermitteln läßt, ist es unmöglich, jemals zu
entscheiden, ob ein Urteil evident ist oder nicht.
Es steht also jedenfalls Folgendes fest : Entweder der Begriff
der Evidenz schließt das Merkmal der Wahrheit ein: dann ist es
unmöglich, zu entscheiden, ob ein Urteil evident ist. Oder aber
gEvidenz^ bedeutet lediglich ein psychologisch konstatierbares
Bewußtseinserlebnis: dann ist es unmöglich, festzustellen, daß ein
evidentes Urteil wahr ist. — In keinem Falle kann die Evidenz
als ein Kriterium der Wahrheit gelten.
* S. 17. ' S. 35. > So z. B. bei Hüssebl, „Logische Untersuchon-
gen«, Band I, S. Uf., 190 f., 238 ; Band II, S. 649, 699.
484 L- Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [72
24. Wie kann man sich aus diesen Schwierigkeiten heraus-
finden ? Nur dadnrch, daß man das Vorurteil aufgiebt, Erkenntnis
könne nur in Urteilen bestehen. Meinong erklärt sich gegen die
Annahme, ;,daß Überzeugungskraft und Berechtigung eines Urteils
nicht in ihm selbst, sondern in einem anderen Urteil liege^.^ Nun,
diese Annahme muß natürlich schon daran scheitern, daß sie auf
den (in § 21 angedeuteten) unendlichen Regressus führt und somit
zur Folge hätte, daß es überhaupt kein berechtigtes Urteil geben
könnte. Aber folgt hieraus, daß es Urteile geben muß, die ihre
Berechtigung ans sich selbst nehmen; Urteile, ;,in deren Natur es
liegt, wahr zu sein^? Unter der Voraussetzung, das Urteil sei
die einzige Art der Erkenntnis, allerdings. Aber solche Urteile,
die ihre Berechtigung ans sich selbst nehmen, giebt es gar nicht.
Jedes Urteil enthält eine zu einer bloßen Vorstellung hinzutretende
Assertion, wie dies Meinong auch von seinem sogenannten Wahr-
nehmungsnrteil fordert. Und da muß man jederzeit die Frage zu-
lassen: worauf gründet sich diese Assertion? woher nehmen wir
das Recht zu solcher Assertion? Ohne ein hier maßgebendes
Kriterium bliebe es ja unserer Willkür überlassen, ob wir eine
bestimmte Vorstellung mit einer Assertion verbinden oder nicht.
Auch lehrt schon die Erfahrung, daß selbst das Gebiet der best-
bewährten und anscheinend evidentesten Urteile der Möglichkeit
des Irrtums ausgesetzt ist. Giebt es ein Urteil, das dem Unbe-
fangenen gewisser und einleuchtender scheinen könnte, als daß
jede Fläche zwei Seiten hat? Wer das Urteil für wahr halten
würde, würde sich dennoch irren. Und in diesem Irrtum hat sich
die Mathematik bis vor nicht langer Zeit befunden.
Wir müssen also für jedes Urteil einen Grund seiner Berech-
tigung fordern. Andererseits hatte sich gezeigt, daß dieser Grund
^ S. 41.
73] Erster Tefl: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 486
nicht immer wieder in anderen [Jrteilen gesncht werden kann.
Es bleibt also nnr übrig, Erkenntnisse anzunehmen, die nicht in
Urteilen bestehen. — Darin hat also Meinonq recht, daß die Be-
rechtigang eines Urteils nicht notwendig in anderen Urteilen liegen
müsse; aber er hat Unrecht, wenn er hieraas schließt, daß es Ur-
teile geben müsse, die ihre Berechtigung nicht %iner anderen Ur-
kenntnis entlehnen. Die unmittelbare Erkenntnis und nichts
anderes bildet den von Meinono vermißten |,Ersatz für die Evidenz
in der Erkenntnistheorie''; sie bildet das Korrektiv gegen den
Irrtum, über das, wie er meint, „positive Vorschläge noch aus-
stehen^.^
Der biologische Vorteil
als erkenntnistheoretisches Kriterium.
26. Neben der im engeren Sinne psychologischen Erkenntnis-
theorie tritt in neuerer Zeit mehr und mehr eine Bichtung in der
Philosophie hervor, die darauf ausgeht, die Ergebnisse der allge-
meinen Biologie und Entwickelungsgeschichte für das Erkenntnis-
problem nutzbar zu machen. Der konsequenteste Versuch in dieser
Bichtung ist ohne Zweifel der von Simmel unternommene. SupiEL
will den Wahrheitsbegriff restlos auf biologische Elemente zurück-
führen. Die Nützlichkeit, der Vorteil im Kampf ums Dasein soll
nach ihm nicht nur eine Begleiterscheinung des wahren Denkens
sein; sondern, was man Wahrheit des Denkens nennt, soll im
Grunde selbst nichts anderes bedeuten, als die Eigenschaft ge-
wisser Vorstellungen, die darin besteht, daß die durch diese Vor-
486 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [74
stellimgeii veranlaßten Handlimgen uns im Kampf tims Dasein
forderlich sind. „Wahre^ Yorstellongen sind Idemach solche,
die sich den praktischen Interessen der Lebenserhaltung forderlich
erweisen.
SnocEL geht von einer Erörterung der Auffassung aus, nach
der der biologisch^ Vorteil nur eine begleitende Eigenschaft des
auch an und für sich „wahren'' Yorstellens sein soll, und legt
sich die Frage vor, ob man nicht für die in dieser Hypothese
„enthaltene Zweiheit: einerseits die praktischen vitalen Bedürfnisse,
andererseits die ihnen gegenüberstehende, objektiv erkennbare
Welt — ob man für diese nicht ein einheitliches Prinzip finden
könnte''; ob sich nicht für „diese beiden anscheinend gegenseitig
unabhängigen Elemente, die äußere Realität und die subjektive
Nützlichkeit" eine gemeinschaftliche . „tiefer gelegene Wurzel"
finden läßt.^ Dieses einheitliche Prinzip, diese tiefer gelegene
Wurzel entdeckt er in dem Selektionsprozeß, durch den diejenigen
Vorstellungen, die sich als Motive nützlicher Handlungen erweisen,
gezüchtet und erhalten und eben dadurch zu „wahren" Vorstellungen
gemacht werden.*
Worin besteht aber eigentlich der „Dualismus"', den die
Simmelsche Hypothese beseitigen will? G-ehören etwa die „prak-
tischen vitalen Bedürfnisse" nicht zur „objektiv erkennbaren Welt" ?
Ist die „subjektive Nützlichkeit" unserer Handlungen nicht eben-
sogut ein Gegenstand unseres Vorstellens wie alle andere „Realität" ?
Man mag immerhin die dem individuellen und gattungsmäßigen
' „Über eine Beziehung der Selektionslehre zur Erkenntnistheorie." (Archiy
für systematbche Phüosophie, Band I, S. 35.)
* Eine ausführliche Kritik dieser Ansicht findet man in meiner Abhandlung
über „metaphysikfreie Naturwissenschaft'S Kapitel YIII: „Das Prinzip der Denk-
(^konomle**. * S. 86.
75] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 487
menfichlichen Leben angehorigen und seine Bedürfnisse regelnden
Umstände zusammenfassend als „innere Realität^ bezeichnen und
ihnen alles Übrige als „äußere Realität^ gegenüberstellen. Beide
Klassen dieser Einteilung bleiben ganz innerhalb des Gebietes der
den Gegenstand unseres Yorstellens und Denkens ausmachenden
Welt ; denn auch unsere Bedürfnisse und deren Befriedigung lernen
wir auf keine andere Weise kennen als dadurch, daß sie zum
Gegenstande unseres Yorstellens oder Denkens werden. Es ist
also nicht einzusehen, wie die von Simmel konstatierte „Zweiheit''
in erkenntnistheoretischer Hinsicht von Belang werden könnte.
Der Dualismus, an dem Simmel Anstoß nimmt, ist vielmehr, scheint
uns, gar nicht vorhanden.
26. Wenn nun Simmel die Frage, „ob der Wahrheitsbegriff es
verträgt, die dem Vorstellen gegenüberstehende Objektivität ab-
zustreifen,^^ durch seine Hypothese in bejahendem Sinne beant-
worten zu können meint, so übersieht er, daß diese Hypothese
ohne die Voraussetzung einer solchen Objektivität selbst nicht
möglich wäre. Der angebliche Dualismus, der durch diese Hypo-
these beseitigt werden sollte, tritt vielmehr in dem Inhalt dieser
Hypothese auf, und zwar hier in der Form eines Widerspruchs.
Die Welt, „wie sie logisch-theoretisch für uns existiert,** soll durch
die Denkformen erzeugt sein, die durch unsere „nach evolutio-
nistischer Notwendigkeit" geformte „Konstitution" bestimmt wer-
den; „die Nützlichkeit erzeugt für uns die Gegenstände des Er-
kennens", und zu diesen Erzeugnissen der Nützlichkeit sollen auch
die logischen Gesetze gehören.' — Woher weiß denn Simmel von dem
Zuchtwahlprozeß, der die logischen Gesetze schafft; woher weiß
er von der „Konstitution", die imsere Denkformen bestimmt; wo-
» S. 86. « S. 46,
488 L* Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [76
her weiß er von der Nützlichkeit, die die Gegenstände des Er-
kennens erzengt; woher weiß er von dem Nerven- nnd Mnskel-
yorgang^, der die Willenshandlnng ermöglicht nnd znr Befriedigung
der subjektiven Triebe nnd Bedürfiiisse führt; woher endlich weiß
er von den „nntermenschlichen physisch-psychischen Organisa-
tionen^, von den „Nervenapparaten^ und der j^Sinnesausstattnng''
der verschiedenen Tierarten ?* Woher anders weiß er alles dieses
als eben darch sein Erkennen? Setzt nicht seine Hypothese, die
durch den Inhalt alles dieses Wissens „wahrscheinlich" gemacht
werden soll', die Objektivität dieses Wissens und Erkennens vor-
aus? Sind die biologischen Betrachtungen, auf die sich seine
Hypothese stützt, keine „logisch-theoretischen", und setzen diese
Betrachtungen nicht die „logischen Gesetze" voraus? Was be-
gründet den Vorrang, den das Vorstellen und Denken des biolo-
gischen Erkenntnistheoretikers vor dem Vorstellen und Denken
eines Geometers oder Astronomen beansprucht?
27. Oder soll vielleicht die Wahrheit, auf die die biologische
Erkenntnistheorie Anspruch macht, selbst nur in der Nützlichkeit
besteheui die sie für die Befriedigung unserer praktischen Be-
dürfnisse hat? Will SiMMEL mit seiner Hypothese nichts weiter
sagen, als daß er sich, indem er sie niederschreibt, „in der für seine
Umstände günstigsten Weise verhält"*?
In diesem Falle haben wir es nicht mehr mit einer erkenntnis-
theoretischen Lehre zu tun, sondern lediglich mit einer persönlichen
Mitteilung aus der Individualpsychologie des Autors. Als solche
könnte man sie sich gern gefallen lassen, wenn nicht der mißliche
Umstand bestände, daß sie auch noch in dieser Form mehr be-
hauptet, als nach ihrem eigenen Inhalt für zulässig gelten kann.
» S. 37. • S. 40. » S. 40. * S. 41.
77] Enter Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 489
Nach der fraglichen Theorie bedeutet nämlich ein Satz von
der Form „J. ist B^ soviel wie „Es ist nützlich, zu denken, Ä
sei B.^ Wenden wir dies auf die Simmelsche Hypothese „Wahr-
heit ist Nützlichkeit^ an, so ergiebt sich als die Bedeutung dieser
Hjrpothese der Satz : Es ist nützlich, zu denken, Wahrheit sei
Nützlichkeit. Nun kann aber dieser letztere Satz, um mit der
Theorie in Einklang zu bleiben, selbst nichts anderes bedeuten,
als daß es nützlich sei, seinen Inhalt zu denken ; daß es also nütz-
lich sei, zu denken, es sei nützlich, zu denken, Wahrheit sei
-Nützlichkeit. Dieser nunmehr ausgesprochene Satz aber kann
wiederum nach der Theorie nur den Sinn haben, daß es nützlich
sei, seinen Inhalt zu denken. Man sieht ohne weiteres, daß dies
Verfahren, da es sich bei jedem Satze wiederholt, auf eine unend-
liche Seihe von Aussagen führt, die vollständig vorliegen muß,
wenn es möglich sein soll, mit der Behauptung der Simmelschen
Hypothese einen Sinn zu verbinden. Ehe diese Aeihe nicht voll-
endet ist, haben wir zwar eine bestimmte Reihe von Worten, aber
keinen Gedanken vor uns. Da aber die Vollendung einer unend-
lichen Reihe einen Widerspruch einschließt, so folgt, daß es un-
möglich ist, mit den Worten „Wahrheit ist Nützlichkeit^ einen
Sinn zu verbinden.^
^ In seiner neueren Schrift „PhUosophie des Geldes** (2. Aufl. 1907) legt sich
SiMMEL selbst Bedenken vor, die den hier erhobenen sehr ähnlich sind. Ich
kann aber in seiner Beantwortung derselben nichts finden, was die hier vorge-
gebrachten Einwände entkräften könnte. Zweierlei indessen von diesen neueren
Ausftkhmngen Simmels erscheint erwähnenswert Einmal nämlich findet sich
onter den behandelten Bedenken auch das uns sehr treffend erscheinende gegen
die Möglichkeit einer Erkenntnistheorie überhaupt. (S. 82.) Stmmel hält dieses
Bedenken jedoch nicht für stichhaltig; gerade sein „relatiyistisches Erkenntnis-
prinsip'', meint er, werde von ihm nicht getroffen, denn „der Relativismus könne
das radikale Zugeständnis machen, daß es dem Geiste allerdings möglich sei, sich
jenseits seiner selbst zu stellen**, — eine Behauptung, für die Simmel freilich
490 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [78
28. Und wie steht es mit der weniger radikalen Behauptung,
nach der Nützlichkeit mit Wahrheit nicht identisch sein, sondern
nur, als eine begleitende Eigenschaft wahrer Vorstellungen, das
Kriterium der Wahrheit bilden soll? Dieser Ansicht stehen von
vornherein mehrere Bedenken im Wege. Zunächst ist diese ;,Nätz-
lichkeit*^ etwas völlig Unbestimmtes, theoretisch gar nicht Faß-
bares. Nützlich kann ein Ding nur sein in Beziehung auf einen
Zweck, zu dessen Realisierung es ein Mittel bildet Es hängt also
von der Willkür des einzelnen Erkenntnistheoretikers ab, was er
als Zweck, und infolgedessen auch, was er als Nützlichkeit defi-
nieren will. Damit wäre aber auch die Entscheidung darüber, was
wahr und was falsch ist, der Willkür des Einzelnen überlassen«
Was für den einen nützlich ist, kann ferner für den anderen
schädlich sein. Die Annahme, daß das Gebet eines Priesters Kranke
heilen könne, kann dem Priester sehr vorteilhaft, dem Kranken
aber höchst gefährlich werden. Es bedarf auch keiner besonderen
Begründung, daß, was heute nützlich ist, morgen schädlich, ja daß
unter Umständen zu einer bestimmten Zeit dieselbe Sache derselben
Person in einer Hinsicht schädlich, in anderer forderlich sein kann.
Ist aber, was nützlich ist, wahr, was schädlich ist, falsch, so folgt.
keinen anderen Grund beibringt, als daß unserem Geiste die Fähigkeit gegeben
sei, „sich selbst zum Objekt zu machen, sich selbst wissen zu können**. (S. 83.)
Femer aber ist bemerkenswert die Deutlichkeit, mit der Simmel erkennen l&ßt,
wie seine gesamte Theorie aus der einen Grundvoraussetzung hervorgeht, daß £r^
kenntnis nur in Urteüen möglich sei. Es ist nach ihm eine „unserem Geiste
eigene Notwendigkeit, die Wahrheit durch Beweise zu erkennen" (S. 68), die
„Axiome** haben „nicht die logische Dignität des Bewiesenen, sie sind nicht in
demselben Sinne für uns wahr, wie dieses es ist** (S. 67), „über jedem Urteil, das
wir fallen, steht ein höheres, das entscheidet, ob jenes recht hat**. (S. 83.) Da
für das Ganze der durch die logische Beweiskette zusammenhängenden Urteile
nach dieser Voraussetzung nicht wieder eine logische Beurteilung möglich ist, so
wird die Eonsequenz unvermeidlich, daß für die Beurteilung dieses Ganzen kein
anderer Maßstab bleibt als der des praktischen Wertes.
79] Enter Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 491
daß dieselbe Annahme heute wahr und morgen falsch, ja zu der-
selben Zeit wahr und falsch sein kann. Anch muß es, entsprechend
den Graden der Nützlichkeit oder Schädlichkeiti Grade der Wahr-
heit geben. Die Wahrheit eines Satzes kann zn verschiedenen
Zeiten und an verschiedenen Orten verschieden groß sein, sie kann
zu- und abnehmen wie der Barometerstand.
Wendet man etwa ein, wahr sei nur dasjenige, was nicht nar
zu dieser oder jener Zeit, sondern immer, nicht nar diesem oder
jenem, sondern jedem Menschen, nicht nur in dieser oder jener,
sondern in aller Einsicht nützlich ist, so verwickelt man sich nur
in noch viel größere Absurditäten. Macht man nämlich selbst die
Fiktion, daß es ein derartig universelles Nützliches überhaupt giebt,
so bliebe doch die Entscheidung darüber, was als dieses Nützliche
anzusprechen sei, jederzeit der Zukunft überlassen, und der letzte
Mensch müßte gestorben sein, ehe es möglich wäre, daß sich
irgend etwas als wahr erweisen könnte, ehe sich also auch nur
das Eine als wahr behaupten ließe, daß, was wahr ist, nütz-
lich seL^
^ „Absard" sind alle diese Konsequenzen deshalb, weU sich schlechterdings
kein Sinn mit ihnen yerbinden läßt. Es l&ßt sich aber kein Sinn mit ihnen yer-
binden, weU dem Begriff der Wahrheit die Zeitlosigkeit wesentlich ist. Man sagt
wohl im täglichen Leben, eine Aassage über ein Ereignis sei „noch nicht** oder
„nicht mehr** wahr, und diese Aosdracksweise hat ihren guten Sinn, wenn man
sie nar recht versteht. Sagt man z. B., der Satz „Straßburg ist eine französische
Stadt** sei zwar vor dem Jahre 1871 wahr gewesen, seitdem aber falsch, so ist
eine solche Aussage nur ein ungenauer Ausdruck dafür, daß dem genannten Satze
die 2ieitbe8timmung fehlt. Jede Aussage über einen in der Zeit stattfindenden
Sachverhalt muß eine Zeitbestimmung enthalten; wo eine solche nicht explicite
ausgesprochen wird, ist im allgemeinen zu ergänzen: „zu jeder Zeit**. Enthält
eine Aussage diese erforderliche Zeitbestimmung, so ist diese Aussage entweder
wahr schlechthin oder falsch schlechthin, nicht aber zu einer Zeit wahr, zu einer
anderen falsch. Streng genommen darf man daher nicht einmal sagen, ein Urteü
sei „za jeder Zeit wahr". Man kann mit einer solchen Redeweise viehnehr nur
492 L' Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [80
29. Aber es bedarf nicht einmal derartiger Erwägungen zur
Widerlegung der Möglichkeit eines biologischen Wahrheitskriteriams.
Denn anch für denjenigen, der in der Nützlichkeit nicht die Wahr-
heit selbst, sondern nur ihr Eriterinm sieht, würde die Anwend-
barkeit dieses Kriteriums die YoUendong eines anendlichen Re-
gressus voraussetzen. Wer nämlich nach diesem Kriterium die
Wahrheit einer Annahme feststellen wollte, der hätte die Auf-
gabe, sich von der Nützlichkeit dieser Annahme zu überzeugen.
Wie kann er das aber, da er, um diese Überzeugung zu gewinnen,
nur vor die weitere Aufgabe gestellt wäre, sich von der Nütz-
lichkeit dieser Überzeugung zu überzeugen, was wieder nur durch
die Losung der entsprechenden weiteren Aufgabe geschehen konnte,
imd so fort ins Unendliche. An der widersprechenden Forderung
der Vollendung einer unendlichen Ercihe scheitert also unter allen
Umständen das biologische Wahrheitskriterium.
VL
Das „transzendente Sollen"
als erkenntnistheoretisches Kriterium.
30. Der eben aufgedeckte Widerspruch ist nicht nur der biolo-
gischen Form der Erkenntnistheorie eigentümlich; an ihm muß viel-
mehr jeder Versuch scheitern, der darauf ausgeht, die Selbständig-
keit und Eigenart der Objektivität des Erkennens aufzulösen und
auf irgend etwas Sonstiges zurüchsuführen. Das liegt in der Natur
sagen wollen, entweder, das Urteil sei wahr: dann ist diese Wahrheit etwas
schlechthin Zeitloses; oder aher, der im Urteil aasgesagte Sachverhalt finde zu
jeder Zeit statt: dann betrifft diese Zeitbestimmung nicht die Wahrheit des Ur-
teils, sondern seine Materie.
81] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 493
der Sache, und keine noch so künstliche Dialektik wird jemals
etwas daran ändern. Wir wollen, om dies ganz deatlich za machen,
noch einen anderen Versuch dieser Art besprechen. Es ist dies
der Versuch, die Begriffe der Wahrheit und des Seins auf die
praktischen Begriffe von Zweck und Wert zurückzuführen; ein
Versuch, der von dem zuletzt besprochenen der biologischen Er-
kenntnistheorie nur dadurch unterschieden ist, daß er an die Stelle
der individuellen und gattungsmäßigen Triebe und Bedürfnisse
allgemeine, der Zufälligkeit der Lebensumstände entzogene Forde-
rungen setzt, die, als kategorisch geltende Normen, nicht mit der
Unbestimmtheit imd Relativität des Nützlichkeitskriteriums be-
haftet sind.
Dieser Versuch liegt für denjenigen, der einmal in der er-
kenntnistheoretischen Fragestellung befangen ist, sehr nahe. Man
kommt zu ihm durch den folgenden Gedankengang:
Urteilen ist nicht lediglich Vorstellen, wenngleich Vorstellungen
dem Urteil zu Grunde liegen. Zum Urteil gehört außer einer
Verbindung von Vorstellungen noch eine zu dieser Vorstellungs-
verbindung hinzutretende Assertion. Diese Assertion ist es, die
auf „Wahrheit" Anspruch erhebt, und nur sofern dieser Anspruch
zu Recht besteht, erkennen wir durch das Urteil. Wie wir aber
im Urteil die Vorstellungen verbinden, das hängt zunächst ledig-
lich von unserer eigenen Willkür ab. Es muß also, wenn wir
durch das Urteil erkennen wollen, irgend ein Prinzip geben, durch
das der Wille bestimmt wird, gewisse Vorstellungsverbindungen
zu bevorzugen und unter allen möglichen Urteilen eine Einschrän-
kung zu treffen, derart, daß den einen die Assertion zuerteilt, den
anderen aber verweigert wird. Ein solches den Willen bestim-
mendes Prinzip kann aber nur eine Forderung sein. Forderungen
sind also das Elriterium der Wahrheit der Urteile, und, da wir
jkbhudlniigeii d«r FxiM*flcbea Sohnle. IL Bd. 32
. 494 L« Nelson : Ober cUia sogenannte Erkenntnisproblem. [82
nur dnrcli diese letzteren die Wirklichkeit erkexmesy mittelbar auch
der Wirklichkeit.
31. Dieses Ergebnis — wir wollen es, der Kürze halber, als
die „teleologische Erkenntnistheorie^ bezeichnen — läßt nun weiter-
hin eine zweifache Interpretation zu. Man kann näsüich, ähnlich
wie wir dies beim biologischen Walirheitskriteriam gesehen haben,
entweder dabei stehen bleiben, in dem Gefordertsein eines Urteils
ein bloßes Kennzeichen seiner Wahrheit zu sehen, ohne die von der
Forderung unabhängige Existenz der durch das Urteil erkannten
Objekte in Zweifel zu ziehen imd in dem Urteil selbst etwas
anderes zu sehen als das Mittel, dieses an und für sich vorhandene
Objekt zu erkennen. — Oder aber man kann den weiteren Schritt
tun und die Behauptung aufstellen, die Wahrheit eines Urteils
bedeute nichts anderes, als daß die Forderung bestehe, das Urteil zu
fällen. Der in einem Urteil „4 ist ^^ ausgesagte Sachverhalt
besteht hiernach gar nicht unabhängig von dem Gefordertsein des
Urteils; sein Stattfinden bedeutet vielmehr für den konsequenten
Vertreter dieser Lehre gar nichts weiter, als daß die Forderung
besteht, zu urteilen, Ä sei B. Ein Gegenstand Ä existiert, das
soll lediglich heißen: das Urteil „^ existiert^ ist gefordert.
Existenz ist somit ein Urteilsprädikat und nichts anderes; eine
von den Urteilsforderungen unabhängige Existenz giebt es nicht.
Beide Auffassungen finden wir in der gegenwärtigen Litteratur
vertreten. Wir werden kaum fehlgehen, wenn wir Lipps als Ver-
treter der ersten, Rickert als Vertreter der zweiten nennen. Frei-
lich fehlt es, wie wir hinzufügen müssen, bei Lipps nicht an er-
heblichen Eonzessionen an die radikalere Auffassung.
32. Dieser letzteren giebt Rickert unzweideutigen Ausdruck,
wenn er sagt:
aWahrheit ist nichts anderes als die Anerkennung de»
g3] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Er&enntnistheorie. 495
Sollens.*^* »Das ,Seiende* oder die , Wirklichkeit* sind lediglich
zusammenfassende Namen für das als so oder so seiend Beor-
teilte. . . • Das Sein ist nichts, wenn es nicht Bestandteil eines
Urteüs ist."
Hier darf billig folgende Frage anfgeworfen werden: Wer
,soll^ denn eigentlich arteilen? An wen richtet sich die Porde-
nmg des Sollens? Wir wollen nicht so weit gehen, zn behaupten,
daß es keinen Sinn habe, von einer Forderung zu sprechen, wenn
nicht die Existenz irgend welcher Subjekte feststeht, an die die
Forderung ergeht.* Das aber wird man schwerlich leugnen wollen,
daß wenigstens die Möglichkeit solcher Subjekte nicht ausgeschlossen
werden darf, wenn es Sinn haben soll, von dem Bestehen einer
Forderung zu sprechen. Oder welchen Sinn hätte eine Forderung,
in deren Natur es läge, sich an niemand zu richten ? Es muß also
wenigstens die Denkbarkeit der Existenz eines Subjekts feststehen,
ehe es Sinn hat, von einer Forderung zu sprechen. Die Existenz
eines solchen Subjekts kann nun aber nach den eben angeführten
£ickertschen Sätzen nichts anderes bedeuten als das Prädikat des
Urteils „urteilende Subjekte existieren". Wer soll nim dies Urteil
fallen? Offenbar niemand, da die Existenz eines urteilenden Sub-
jekts selbst erst durch das Urteil möglich wird. Das Rickertsche
Sollen ist also in der Tat eine Forderung, zu deren Begriff es ge-
hört, von niemand etwas zu fordern.
< „Der Gegenstand der Erkenntnis/ (Tübingen und Leipzig, 2. Auflage, 1904,
S. 118.)
• S. 120.'
' Man vergleiche die Sätze von Lipps : .,Eine Forderung ist jederzeit einmal
die Forderung von etwaSf d. h. da, wo eine Forderung besteht, giebt es jederzeit
etwas, das fordert, oder einen fordernden Gegenstand. Zum anderen ist sie
jederzeit eine an jemand ergehende Forderung.' (Archiv für die gesamte
Psychologie, Bd. IX, S. 94 f.)
32*
496 L* l^elson: Über das sogenannte Erkemitnisproblem. [84
33. Schwierigkeiten solcher Art gegenüber sucht Riceert sich
zu helfen mit der Einfuhrnng seines Begriffs des ^Bewußtseins
überhaupt*'. Aber mit diesem Begriff verwickelt er sich nur in
neue Widersprüche. „Das Bewußtsein überhaupt ist das Subjekt,
das bleibt, wenn wir das individuelle theoretische Ich ganz als
Objekt denken."^ Es soll also durch diesen Ausdruck „nicht mehr
das Individuum, sondern lediglich das^ bezeichnet werden, „was
von keinem Standpunkte aus Objekt werden kann".* Hier wird
natürlich jedermann fragen, wie Bickkbt ein Wissen von etwas
haben und gar ein ganzes Buch über etwas schreiben kann, was
per definitionem „von keinem Standpunkte aus Objekt werden
kann". Und er legt sich diese Frage gelegentlich selbst vor.
Aber was antwortet er? „Nicht das erkenntnistheoretische Sub-
jekt selbst, sondern nur sein Begriff" werde in diesen erkenntnis-
theoretischen Erörterungen zum Objekt gemacht.' Nun betont
zwar RicKERT wiederholt, daß sein „Bewußtsein überhaupt" „keine
Realität", sondern nur eine „Abstraktion", nur ein „Begriff" sei.^
Aber der Unterschied, der jederzeit zwischen einem Gegenstande
und dem Begriff dieses Gegenstandes besteht, verschwindet auch
dann nicht, wenn der Gegenstand selbst ein Begriff ist, und es ist
daher genau zu unterscheiden, ob eine bestimmte Aussage sich auf
einen Begriff Ä oder auf den Begriff des Begriffs A bezieht.
Riceert vergleicht seinen Begriff des Bewußtseins überhaupt mit
den mathematischen Begriffen, indem er hervorhebt, daß auch
„deren Inhalt sich auf keine Wirklichkeit bezieht".* Nun wohl,
ein gleichschenkliges Dreieck z. B. ist gewiß nichts Wirkliches in
dem Sinne, daß es sich mit den Sinnen wahrnehmen ließe, sondern
ein nur vermöge gewisser Abstraktionen vorzustellendes Gebilde.
' S. 144. * S. 45 f. Ebenso S. 25 unten. > S. 154.
* S. 29. 149. » S. 155
861 Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 497
Nichtsdestoweniger aber sind die Eigenschaften des gleichschenk-
ligen Dreiecks auf das strengste zu unterscheiden von den Eigen«
Schäften des Begriffs des gleichschenkligen Dreiecks. Der Mathe-
matiker beweist den Satz: Die Basiswinkel des gleichschenkligen
Dreiecks sind gleich. Hat es aber einen Sinn, zu sagen: Die
Basiswinkel des Begriffs des gleichschenkligen Dreiecks seien
gleich? Offenbar so wenig, wie ein Begriff überhaupt dreieckig
sein kann. — Nun ist es gewiß erlaubt, auch über den Begriff
eines Begriffs Aussagen zu machen, etwa die Aussage, daß er
widerspruchsfrei ist, oder daß er einen anderen Begriff als Merk-
mal enthält, oder daß er einen erfüllten oder leeren Umfang hat.
Wenn aber Sickert beispielsweise sagt, das Bewußtsein überhaupt
sei ein urteilendes, nicht ein bloß vorstellendes Bewußtsein^ so ist
der Gregenstand dieser Aussage das Bewußtsein überhaupt, nicht
der Begriff des Bewußtseins überhaupt, und es wird daher mit
dieser Aussage in der Tat das zum Objekt gemacht, was als
dasjenige definiert war, das nriemdls zum Objekt gemacht werden
kann.
34. Der Fehler, der Rickebt zu seiner Einführung des „Be*
wußtseins überhaupt^ veranlaßt hat, ist übrigens leicht zu über-
sehen. Er kommt hierzu durch die Fragestellung: „Was bleibt
als Subjekt übrig, wenn das individuelle Ich als Objekt angesehen
wird?"* Bei der Beantwortung dieser Frage macht er ohne
weiteres die Voraussetzung, daß das individuelle Ich sich nicht
selbst als Objekt erkennen könne, daß also dasjenige Subjekt, das
das individuelle Ich zum Objekt hat, ein von diesem individuellen
Ich verschiedenes sein müsse. „Selbstwahmehmung oder Selbst-
beobachtung im strengen Sinne sind widerspruchsvolle Be-
» 8. 147. • S. 146.
498 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [8g
griffe. ^^ Diese Annahme aber ist völlig nngerechtfertigt und nur
durch folgende Verwechslung entstanden. Die Erkenntnis eines
Objekts ist jederzeit von dem Objekt der Erkenntnis verschieden,
und zwar auch in dem Falle, wo das Ich selbst Objekt der Er-
kenntnis wird. Unterscheidet man nun nicht scharf genug zwischen
der Erkenntnis und dem Subjekt der Erkenntnis, verwechselt man
den Gegensatz des Erkennens und des Erkannten mit dem Gegen-
satz des Erkennenden und Erkannten, so muß man folgerichtig zu
der Behauptung der notwendigen Verschiedenheit von Erkennendem
und Erkanntem, von Subjekt und Objekt der Erkenntnis gelangen,
also zu der Behauptung der Unmöglichkeit der Identität von Sub-
jekt und Objekt, zur Leugnung der Möglichkeit einer Selbster-
kenntnis. Und so scheint dann die Möglichkeit, das individuelle Ich
zum Gegenstande der Erkenntnis zu machen, ein überindividuelles
Ich vorauszusetzen. Die Verwechslung des Erkennens mit dem
Erkennenden aber vollzieht sich bei Rickert durch die Zweideutig-
keit, in der er das Wort „Bewußtsein" gebraucht.*
35. Der Widersinn in den ersten Grundlagen dieser Lehre
läßt sich am einfachsten folgendermaßen darlegen. Riceerts vor-
hin zitierter Satz: „Wahrheit ist nichts anderes als die Anerken-
nung des Sollens^ kann, sofern er selbst auf Wahrheit Anspruch
erhebt, nichts anderes bedeuten als das Urteil: „Es soll ge-
urteilt werden: Wahrheit ist nichts anderes als die Aner-
^ „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildong.** (Tübingen o.
Leipzig, 1902.) S. 171.
^ Derselbe Fehler kommt bei Lipps vor: „Das gegenwärtige Ich ist nicht
Gegenstand. ... Es kann nicht Objekt sein, da es das Subjekt ist für alle Ob-
jekte." (Psychologische Untersuchungen, 1. Band, 1. Heft, Leipzig 1905, S. 43.)
— Umgekehrt wird Seite 17 geschlossen: „Fällt demgemäß hier das Erlebte in
das erlebende Ich hinein, so fällt eo ipso auch das Erleben und das Erlebte im
Ich zusammen.''
87] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 499
kennnng des Sollens.^ Was aber heißt: „Es soll genrteilt
werden^? Nach Rickert offenbar nichts anderes als: „Es soll
gearteilt werden: ,Es soll gearteilt werden/^ Und so fort
in einer anendlichen Keihe, die wiederom vollendet vorliegen
möBte, ehe es möglich wäre, mit dem Satze „Wahrheit ist nichts
anderes als die Anerkennang des SoUens" einen Sinn zn ver-
binden.
Der Grand der ünvermeidlichkeit dieses anendlichen Regressos
läßt sich leicht einsehen. Der Aasdrack j,A existiert^ wird von
Bjckert darch den Satz definiert: i^Es soll gearteilt werden: A
existiert.^ Es maß aber immer möglich sein, für einen definierten
Aasdrack seine Definition einzasetzen; denn nar vermöge dieser
Definition hat ja der Aasdrack einen Sinn. Nnn kommt in dem
Satze: „Es soll gearteilt werden: A existiert^ der Aasdrack
„existieren*' vor. Setzen wir also, am ans den Sinn des Satzes
klar zn machen, für den Aasdrack „existiert^ seine Definition ein.
Wir erhalten dann den Satz: „Es soll gearteilt werden: ,Es soll
gearteilt werden: A existiert/" Indem wir dieses Verfahren
wiederholen, erhalten wir darch fortgesetzte Einsetzung der De-
finition in den zaletzt gewonnenen Satz eine nnvoUendbare Reihe
von Aassagen, deren jede erst darch die nächstfolgende ihren Sinn
erhält. Die UnvoUendbarkeit dieser Reihe hat zur Folge, daß der
Versach, sich den Sinn der Rickertschen Erklärung der Existenz
klar zn machen, xmaasführbar ist. Und dies rührt daher, daß die
Erklärung keinen Sinn hat Sie hat aber keinen Sinn, weil sie
eine Zirkeldefinition ist, d. h. eine solche, in der der zu erklärende
BegrifP selbst vorkommt.
36. Und wie steht es mit der Auffassung, nach der die Wahr-
heit eines Urteils in der Forderung nicht ihre Bedeutung, sondern
nur ihr Kriterium hat? Um zu wissen, daß ein Sachverhalt S
500 L- Nelson: Über das sogenannte ErkenntnisproUenu [gg
stattfindet, mnß ich hiernach wissen, daß die Forderung besteht,
zn arteilen, S finde statt. Um also beispielsweise za wissen, daß
das Kriterinm der Wahrheit eines Urteils in einer Forderung be-
steht, muß ich wissen, daß die Forderong besteht, zn nrteilen: ^Das
Kriterium der Wahrheit eines Urteils besteht in einer Forderung.*
Wie aber kann ich dieses wissen? Woher weiß ich, daß der eben
ausgesprochene Satz über das Bestehen der Forderung wahr ist ? Nor
daher, daß ich weiß : es besteht die Forderung, diesen Satz als wahr
zu beurteilen. Von dem Bestehen dieser Forderung aber kann ich
wiederum nur wissen, insofern ich weiß, daß die Forderung be-
steht, zu urteilen, es bestehe diese Forderung. Und so fort wieder-
xmi in einem unendlichen Regressus, der vollendet vorliegen mfißte,
wenn es möglich sein sollte, zu wissen, daß das Kriterium der
Wahrheit eines Urteils in einer Forderung besteht. —
37. Wir wollen vorerst noch etwas bei dem (in § 30 darge-
legten) beiden Auffassungen gemeinschaftlichen Grrundgedanken ver-
weilen. Dieser Gedanke hat zur wesentlichen Voraussetzung die
— bewußt oder unbewußt zu Grunde gelegte — Annahme, Er-
kenntnis könne nur in Urteilen bestehen.^ Und wer diese Annahme
zugiebt, der wird sich in der Tat den dargelegten Konsequenzen
schwerlich entziehen können. Das Urteil hängt nämlich in zwei-
facher Hinsicht vom Willen ab. Erstens, insofern es im Bereiche
unserer Willkür steht, welche Vorstellungen wir im Urteil mit-
einander verbinden. Und zweitens, weil wir nur insofern wahre
Urteile fällen, als es in unserer Absicht liegt, nicht nur dieses
oder jenes zu denkettj sondern durch das Urteil zu erkennen. Er-
kenntnis durch Urteile ist nur dadurch möglich, daß wir erkennen
» Vgl. Ltpps: Psychologische Untersuchungen, Band 1, Heft 1, S. 62, 121;
RiCKERT: Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 103, 106, 164, 169.
89] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 501
wollen^ setzt also in der Tat einen Willen zur Wahrheit als Be-
dingong ihrer Möglichkeit voraus.
Aber die Frage ist: worauf gründet sich unser Wissen von
der Abhängigkeit des Urteils vom Willen? Niemand kann dieses
Wissen aus einer anderen Quelle schöpfen als aus seiner eigenen
inneren Erfahrung. Wir finden diese Abhängigkeit des Urteils vom
Willen als eine Tatsache in unserem Innern. Niemand kann eine
logische Notwendigkeit oder ein metaphysisches Argument nam-
haft machen, das uns zu ihrer Annahme zwingen könnte. Es ist
wichtig, dies festzuhalten, um sich nicht darüber zu täuschen, daß
es eine psychologische Beobachtung ist, die man der Erkenntnis-
theorie zu Grunde legt, wenn man diese auf die Behauptung der
Abhängigkeit des Urteils vom Willen gründet. Wer aber die
Psychologie als zuständige Instanz in erkenntnistheoretischen Din-
gen anerkennt, darf nicht zugleich von der Annahme ausgehen,
daß Erkenntnis nur in Urteilen bestehen könne. Ja wer auch nur
soviel zngiebt, daß die Erkenntnistheorie sich mit den Tatsachen
der inneren Erfahnmg nicht in Widerspruch setzen darf, wird diese
Annahme fallen lassen müssen. Denn die innere Erfahrung zeigt
uns als Tatsache das Vorkommen von Erkenntnissen, denen die
erwähnten dem Urteil wesentlidien Eigenschaften fehlen. Solche
Erkenntnisse sind z. B. die sinnlichen Wahrnehmungen. In der
sinnlichen Wahrnehmung liegen nicht verschiedene Vorstellungen,
die schon vor der Wahrnehmung vorhanden waren und in der
Wahrnehmung nur mit einander verbunden werden, wie es doch
sein müßte, wenn die Wahrnehmung ein Urteil sein sollte. Und
in der Wahrnehmung läßt sich nicht eine bloße Vorstellungsver-
bindung von einer zu dieser hinzutretenden Assertion unterscheiden,
was doch auch der Fall sein müßte, wenn die Wahrnehmung ein
Urteil wäre. Auch hängt die Wahrnehmung nicht vom Willen ab.
502 ^' Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [90
— Daß aber trotzdem die Wahmehmnng eine ErJcenntnis ist, das
ist daraus ersichtlicli, daß sie sieh von „bloßen Vorstellnngen^ aufs
deutlichste durch den ihr eigentümlichen assertorischen Charakter
unterscheidet. Bloße Erinnerungsbilder und Phantasievorstellungen
sind problematisch und weder wahr noch falsch; Wahrnehmungen
dagegen enthalten eine Assertion, wenngleich es nicht möglich ist,
diese Assertion, wie beim Urteil, von dem übrigen G-ehalt der
Wahrnehmung zu isolieren.^
38. Die Verwechslung von Erkenntnis und Urteil ist also der
fundamentale Fehler auch der teleologischen Erkenntnistheorie. Denn
mit dem Satze, Erkenntnis sei nur in Urteilen möglich, fallt auch
der Satz von der Abhängigkeit alles Erkennens vom Willen. Wir
werden, wenn vnr dies beachten, auch dem „Gefühl der Urteils-
notwendigkeit", wie es Rickert, und dem „Erleben der Forderun-
gen", wie es Lipps nennt, eine ganz andere Bedeutung geben müssen.
Das angebliche Gefühl des Sollens, das angebliche Erleben von
Forderungen ist nur das Ergebnis einer mangelhaften Selbstbe-
obachtung. Bei genauerer Beobachtung finden wir vielmehr Fol-
gendes. Angenommen, ich blicke aus dem Fenster hinaus und
werde gefragt, ob der Himmel augenblicklich bewölkt sei, und ich
^ Wer es vorzieht, die Wahrnehmong auch als „Urteil'' zu hezeidhneti^ kann
natürlich daran nicht gehindert werden. Nor wird er aus dieser Bezeichnung
nicht schließen dürfen, daß der Wahrnehmung irgend eine Eigenschaft zukommt,
die dasjenige Gebilde charakterisiert, das der sonst übliche Sprachgebrauch als
Urteü bezeichnet. Vielmehr wird er streng zwischen zwei gänzlich verschiedenen
Klassen von „Urteilen*' zu unterscheiden haben; nämlich zwischen solchen, die
eine willkürliche Verbindung von Begriffen und eine zu dieser Verbindung hinzu-
tretende Assertion enthalten, und solchen, die weder vom Willen abhängen, noch
Begriffe enthalten und zu denen z. B. die Wahrnehmungen zu rechnen sind. —
Es ist aber jederzeit ratsam, eine schon im gewöhnlichen Sprachgebrauch liegende
Unterscheidung nicht ungenutzt zu lassen, statt ohne Not zu Mißverständnissen
und Verwechslungen Anlaß zu geben.
91] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 603
antworte mit dem Urteil: Ja, der Himmel ist bewölkt. Was er-
kbe ich hierbei? Zimächst die darch die Frage in mir angeregte
Absicht, zn antworten, d. h. den Willensentschlaß, den dem Fra-
genden problematischen Sachverhalt darch ein wahres Urteil za
entscheiden. Hierbei fühle ich mich genötigt, der Yerbindong der
Vorstellimgen des Himmels nnd der Bewölktheit die Assertion zn
erteilen. Und was nötigt mich hierzn? Die in meiner sinnlichen
AnschannDg enthaltene unmittelbare Erkenntnis des fraglichen
Sachverhalts in Verbindung mit meiner Absicht, der Wahrheit ge-
mäß zn urteilen. Denn dieses „der Wahrheit gemäß urteilen" ist
nicht anders möglich als durch die Assertion derjenigen Vor-
Stellungsverbindung, die eine mittelbare Wiederholung dessen ent-
hält, was mich die unmittelbare Anschauung als wahr erkennen läßt.
Von einer „Forderung" kann hierbei nur insofern die Rede
sein, als mein Entschluß, ein wahres Urteil über einen Gegenstand
zu fällen, zufolge des eben G-esagten nur durch die Vollziehung
und Assertion einer ganz bestimmten Vorstellungsverbindung
ausführbar ist, also die Forderung dieser Vollziehung und Assertion
in sich schließt. Aber diese Forderung ist nicht^ die kategorische
Forderung, ein bestimmtes Urteil zu fällen, sondern die nur hypo-
thetische Forderung, die sich etwa formulieren läßt: Wenn ich
ein wahres Urteil über einen Gegenstand fällen will, so bin ich
genötigt, eine Assertion derjenigen Vorstellungsverbindung zu voll-
ziehen, durch deren Assertion meine unmittelbare Erkenntnis des
Gegenstandes mittelbar wiederholt wird. Die in diesem Satze
formulierte Notwendigkeit kann nur in sehr übertragenem Sinne
als eine „Forderung" bezeichnet werden. Denn diese Notwendig-
1 Wie BiCKEBT (Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildong, S. 697)
behauptet
504 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [92
keit ist keine praktische, sondern eine rein logische, nämlich ana-
lytische, da der Nachsatz nichts weiter enthalt als eine Explizie-
rang dessen, was darch den Vordersatz bereits gegeben ist. Aller-
dings wird durch den Vordersatz ein Zweck bezeichnet; aber dieser
Zweck ist ein solcher, den ich mir durch einen eigenen Willens-
entschluß vorsetze, nicht ein unabhängig von meinem Willen ge-
forderter. Daß ich also überhaupt urteile, ist lediglich Sache meiner
Willkür, nicht Sache einer durch eine Forderung oder ein Sollen
begründeten Pflicht.^ Und die Richtschnur dafür, toie ich urteile,
^ Man yergleicbe bierzn die folgenden S&tze von Lipps (Archiv für die ge-
samte Psychologie, Band IX, S. 94):
„Ich ,kannS wenn ich die UrteUe fUle, die ich als Prämissen eines Schlosses
bezeichne, das Schlaßurteil f&Uen, ich ,kann' es aber auch unterlassen. Aber ich
darf nicht ein gegenteUiges SchloßorteU f&llen. Statt nun zu sagen, ich darf das-
selbe nicht fäUen, sage ich auch, es ist mir verboten, es zu fällen. Jedes Ver-
bot aber ist eine Forderung oder ein Gebot, oder genauer gesagt, es ist die Kehr-
seite einer Forderung oder eines Gebotes; ist mir verboten, mich zu bewegen, so
ist mir geboten oder es ist von mir gefordert, daß ich in Ruhe bleibe. So nun
ist auch, wenn mir verboten ist, ein UrteU zu fällen, das einem anderen Urteüe
widerspricht, von mir gefordert, daß ich jenes erstere UrteU fälle. **
Diese Sätze enthalten mehrere Fehler der Selbstbeobachtung. Warum „darf^
ich „nicht** ein gegenteUiges Schlußurteü fällen? Auf diese Frage kann offenbar
nur geantwortet werden: weü das gegenteilige SchlußurteU falsch wäre. Diese
Antwort läßt sogleich erkennen, daß das „Nicht-Dürfen" nur hypothetisch gflt,
nämlich nur fiir demjenigen, der richtig urteilen toill.
Femer ist jedes Verbot allerdings eine Forderung; nämlich die Forderung,
das nicht zu tun, was verboten ist. Die Forderung, etwas zu unterlassen, d. L
es nicht zu tun, schließt aber an sich niemals die Forderung ein, etwas anderes
zu tun. Um die positive Forderung einer Handlung h aus dem Verbot einer
Handlung a abzuleiten, dazu gehört stets noch die weitere Voraussetzung, daß
überhaupt eine von beiden Handlungen, a oder &, stattfinden solle. In unserem
Falle also: Ist mir verboten, ein Urteü a zu fällen, so enthält dieses Verbot
zwar die Forderung, das UrteU a nicht zu fäUen, nicht aber die Forderung, das
dem Urteil a widersprechende Urteil h zu fällen. Diese letzte Forderung setzt
vielmehr, um aus dem Verbot des UrteUs a abgeleitet werden zu können, die
weitere Forderung voraus, daß überhaupt über den fraglichen Sachverhalt gewrteUt
93] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 505
wird ebensowenig durch eine Forderung oder durch ein Sollen ge-
geben, sondern vielmehr ausschließlich durch den Inhalt meiner
unmittelbaren Erkenntnis. Auch hängt dieser Inhalt nach dem
bereits Erörterten nicht von meinem Willen ab. Von meinem
Willen hängt lediglich ab: einmal, daß ich überhaupt urteile, und
femer, daß ich mich in meinem Urteile nach meiner unmittelbaren
ioerden 8olL Ohne Voraussetzung der Forderung, hier überhaupt zu urteilen
l&fit sich aus dem Verbot des Urteils a schlechterdings nicht das Gebot des
Urteils b ableiten; denn das fragliche Verbot wird auch im Falle der Urteils-
efUhaÜung nicht übertreten.
Das Irrefuhrende, das im Falle des Urteilens so leicht dazu verleitet, von
dem Stattfinden eines Verbots auf das Stattfinden eines positiven Gebots zu
schließen, liegt in folgendem Umstand. Zwei Urteile von der Form „S ist P*'
und nS ist nicht P'* stehen allerdings in kontradiktorischem Gegensatze, so daß
aus der UngüUigheit des einen auf die OüUigkeit des anderen geschlossen werden
kann und umgekehrt. Die Handlung a aber, die im Fällen des Urteils „iS ist P**
besteht, steht keineswegs in kontradiktorischem Gegensatze zu der Handlung &,
die im Fällen des widersprechenden Urteils besteht. Aus dem Unterlassen der
Handlung a kann nicht auf das Tun der Handlung h geschlossen werden, sondern
es können beide Handlungen unterbleiben. Und so ist es auch unstatthaft, aus
der Forderung der Unterlassung von a die Forderung des Tuns von b abzuleiten.
Ein Widerspruch besteht auch hier stets nur zwischen dem Gefordertsein von a
und dem Kicht-Gefordertsein von a ; nicht aber zwischen dem Gefordertsein von a
und dem Gefordertsein von b. Dies wird leicht übersehen, und so wird man dazu
geführt, den kontradiktorischen Gegensatz zweier Urteile für einen kontradikto-
rischen Gegensatz des Gefordertseins dieser Urteile zu nehmen und so aus dem
Verbot der Fällung eines Urteils das Gebot der Fällung des widersprechenden
Urteils ableiten zu wollen. Ist mir verboten, mich zu bewegen, so ist mir freilich
geboten, mich nicht zu bewegen; und ist mir geboten, mich nicht zu bewegen,
so ist von mir gefordert, in Ruhe zu bleiben; denn dies sind alles nur verschie-
dene Ausdrücke für dieselbe Sache. Analog müssen wir sagen: Ist mir verboten,
ein Urteil zu fällen, das einem anderen Urteil widerspricht, so ist mir geboten
oder es ist von mir gefordert, das Urteil nicht zu fallen; nicht aber: es ist von
mir gefordert, das widersprechende Urteil zu fällen. Wer auf die letztere Weise
schließt, könnte ebensogut folgendermaßen schließen : Ist mir verboten, im Nicht-
Bancher-Wagen zu rauchen, so ist mir geboten, im Raucher- Wagen zu rauchen.
Tertium non daturl
506 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [94
Erkenntnis richte, daß ich in Über einstimm ang mit dem in ilir
Enthaltenen urteile. Ich tue aber dieses letztere danmii weil
^wahr urteilen^ für mich nichts anderes heißen kann als: so
urteilen, daß das Urteil eine Erkenntnis ausspricht, d. h. also,
daß es den Inhalt einer unmittelbaren Erkenntnis wiederholt.
Indem diese zwei Dinge : einerseits der Bestimmungsgrund
zum Urteilen überhaupt, andererseits die Richtschnur für den Inhalt
des Urteils, nicht gehörig unterschieden werden, kommt die Ver-
wechslung zu stände, durch die der Wert des Urteils zum Krite-
rium seiner Wahrheit gemacht wird. Allerdings hat das Urteil
einen Wert für den Urteilenden. Aber das Kriterium der Wahr-
heit des Urteils liegt nicht in diesem Werte, sondern in der
unmittelbaren Erkenntnis, die durch das Urteil wiederholt wird.
Der Wert des Urteils ist daher ein für seine Wahrheit völlig
unwesentliches Moment.
39. Dieser Fehler aber ist eine notwendige Folge jenes anderen
der Verwechslung von Erkenntnis und UrteiL Denn wenn die
Richtschnur für den Inhalt des Urteils nicht immer wieder in
anderen Urteilen liegen soll, — was auf den schon früher erör-
terten unendlichen Regreß führen würde, — so kann, unter der
Voraussetzung, daß Erkenntnis nur in Urteilen besteht, diese
Richtschnur zuletzt nur eine solche sein, die nicht selbst in einer
Erkenntnis liegt. Es bleibt daher nichts übrig, als sie in dem
den Willen bestimmenden Wert des Urteils zu suchen.
Aber hier muß die Frage gestellt werden: Woran erkennen
wir denn diesen Wert, der ein Urteil vor seinem kontradiktorischen
Gegenteil auszeichnet ? Offenbar nicht wieder durch Urteile ; denn
dies würde uns nur auf den unendlichen Regreß zurückführen. Giebt
es aber keine andere Erkenntnis als das Urteil, so folgt, daß wir
diesen Wert überhaupt nicht zu erkennen vermögen. Können wir ihn
95] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 507
aber nicht erkennen, so kann er auch nicht als Kriterium der
Wahrheit dienen. An dieser Stelle liegt der innere Widerspruch
der teleologischen Erkenntnistheorie.
40. Diesem Widerspruch sucht der teleologische Erkenntnis-
theoretiker zu entgehen, indem er das fingierte „Gefühl des SoUens"
oder das „Erleben der Forderung^ einführt. Dieses Gefühl oder
Erleben soll eingestandenermaßen kein Urteil sein.^ Aber mit
diesem Zugeständnis ist bereits der ganzen Theorie der Boden ent-
zogen. Denn entweder dieses Gefühl oder Erleben soll eine Er-
kenntnis sein: dann fallt der Satz, daß Erkennen nur in Urteilen
möglich ist; der Satz also, der der ganzen Theorie als Ausgangs-
punkt gedient hat und ohne dessen Zugrundelegung diese Theorie
gar nicht hätte zu stände kommen können. Oder aber dieses Ge-
fühl oder Erleben soll Jceine Erkenntnis sein: dann ist das Sollen
oder die Forderung unerkennbar, und es fällt daher der Satz, daß
das Kriterium der Wahrheit im Sollen oder in der Forderung
liegt; der Satz also, der den wesentlichen Inhalt der in Frage
stehenden Theorie ausmacht.
Dieser Widerspruch bleibt bestehen, mag man in dem Ge-
fordertsein eines Urteils nur das Kriterium oder auch die Be-
deutung seiner Wahrheit sehen.
Anmerkung zum VI. Kapitel:
Der erkenntnistheoretische Idealismus.
41. Noch in einer weiteren Hinsicht kann uns die Kritik der
ßickertschen Erkenntnistheorie lehrreich sein. Die typischen Trug-
schlüsse nämlich, die zu allen Zeiten idealistische Lösungsversuche
* Man vgl. z. B. Lirrs, Psychologische Untersachuogen, Bd. 1, Heft 1, S. 85.
508 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [96
des „Erkenntnisproblems^ begünstigt haben, sind bei Rickebt nicht
wie sonst so häufig durch eine verschwommene und unklare Dar-
stellungsweise verschleiert, sondern treten bei ihm in so durch-
sichtiger Form hervor, daß es sich lohnt, an dem Beispiel seiner
Erkenntnistheorie auch diesen Fehler zu erörtern.
Als das „Grundproblem der Erkenntnistheorie" definiert Rickebt
natürlich das „Problem der Transzendenz".^ Er geht dabei aus
von dem Satze : „Die transzendente Existenz der Dinge ist nicht un-
mittelbar gewiß, sondern, wenn sie angenommen wird, erschlossen."'
„Wenn sie aber erschlossen ist, so muß die Erkenntnistheorie
prüfen, auf welche Gründe dieser Schluß sich stützt."' Worauf
stützt aber Rickert die Behauptung, daß die transzendente Existenz
der Dinge „nicht unmittelbar gewiß" sein könne? Wir finden
hierfür keine andere Begründung als die im folgenden Satze aus-
gesprochene: „Wir stellen fest, daß alle ,Dinge' aus Bestandteilen
zusammengesetzt sind, die man als Zustände des Bewußtseins auf-
fassen kann, und daß ohne weiteres nichts verbürgt, daß die Dinge
noch etwas anderes sind."* „Wir finden", sagt er an anderer
Stelle, „daß aUes, was wir erfahren oder erleben, aus Bewußtseins-
vorgängen besteht."*
Was versteht Rickert in diesen Sätzen unter „Bewußtsein"?
Es ist wichtig, zu beachten, daß er sich auf das Entschiedenste
dagegen verwahrt, mit diesem Ausdruck etwas Psychisclies be-
zeichnen zu wollen. „Von dem psychologischen Subjekt ist dieses
Bewußtsein sorgfältig zu unterscheiden."* „Das individuelle Ich
ist mit dem erkenntnistheoretischen Subjekt und deni Bewußtsein,
als dessen Inhalt die Welt gelten kann, so wenig identisch, daß
» Der Gegenstand der Erkenntnis, S. 16. ' S. 19. » S. 19. * S. 19.
^ Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begrifisbüdong, S. 165.
• Grenzen d. n. B. S. 172.
97] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 509
es für dieses Subjekt lediglich ein Objekt unter anderen Objekten
ist."^ »Aas dem Satze, nach dem jede uns bekannte Wirklichkeit
ein BewußtseinsYorgang ist, darf nicht geschlossen werden, daß
sie ein psychischer Vorgang ist.''*
Was ist denn nun aber das „Bewußtsein^, als dessen Inhalt
die Welt zu gelten hat? Es ist nach Eicejcbt „nur der Name für
alle in der Erfahrung gegebene Wirklichkeit"*, es ist „nichts
anderes als das allen immanenten Objekten Gremeinsame. Es ist
gewissermaßen [?] nur ein anderer Name für das einzige uns un-
mittelbar bekannte Sein.'^^
Setzen wir also diese Definition in den vorhin angeführten
Satz ein, der die G-rundlehre des erkenntnistheoretischen Idealismus
ausspricht. Dieser Satz lautet dann:
„Wir stellen fest, daß alle ,Dinge* aus Bestandteilen zu-
sammengesetzt sind, die man als Zustände der in der Erfahrung
gegebenen Wirklichkeit auflFassen kann, und daß ohne weiteres
nichts verbürgt, daß die Dinge noch etwas anderes sind. Wir
finden, daß alles, was wir erfahren oder erleben, aus Vorgängen
des einzigen uns unmittelbar bekannten Seins besteht."
Bei dieser Formulierung — die sich von der Eickertschen
lediglich dadurch unterscheidet, daß wir die von Eickebt gegebene
Definition an die Stelle des definierten Wortes gesetzt haben —
wird die idealistische Tragweite des Satzes einigermaßen proble-
matisch. Was „stellen*^ wir denn eigentlich in diesem Satze „fest"?
Was „finden" wir in ihm? Wir „finden" in der Tat nichts
anderes als einen neuen Namen für eine alte Sache: nämlich den
Namen „Bewußtsein", der im gewöhnlichen Sprachgebrauch etwas
Psychisches bezeichnet, für etwas Nicht-Psychisches. Wir sprechen
» Grenzen d. n. B. S. 174. « Ebenda S. 174. » Ebenda S. 175.
* Gegenstand d. K S. 29.
AbhudlutMi d«r Friw*ic)iaB Scknlt. n. Bd. 33
510 L- Nelson : Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [98
den idealistisch klingenden Satz aus, daß alles nns bekannte Sein
nur Bewußtseinsinhalt ist, verstehen aber dabei unter „Bewußt-
sein'* das uns bekannte Sein. Wir „finden" also wirklich nichts
anderes, als daß alles uns bekannte Sein nur das uns bekannte
Sein ist. Sollte mit dieser „Feststellung" wirklich eine Lösung
der „erkenntnistheoretischen Grundfrage" angebahnt sein?
RiCKERTs „idealistische" Lösung des Erkenntnisproblems ist
nichts als ein Spiel mit Worten. Es wird die Frage gestellt:
„Existiert eine vom erkennenden Bewußtsein unabhängige Wirk-
lichkeit?"^ Die Antwort lautet: „Wird der Begriff des Bewußt-
seins so gefaßt, wie er in der Transzendentalphilosophie allein
gefaßt werden darf, so giebt es keinen Grund, der uns zur An-
nahme einer transzendenten Wirklichkeit zwingen könnte."^ Be-
weis : Wir stellen fest, daß es keinen Grund giebt, der uns zu der
Annahme zwingen könnte, es gäbe ein anderes Sein, als dasjenige,
zu dessen Annahme wir einen Grund haben. Dieses Sein, zu dessen
Annahme wir einen Grund haben, d. h. alles erkennbare oder be-
kannte Sein, möge „Bewußtsein" genannt werden. Dann folgt un-
mittelbar, daß es keinen Grund giebt, der uns zu der Annahme
eines vom Bewußtsein unabhängigen (transzendenten) Seins zwingen
könnte; und der Satz: „Die Welt ist Bewußtseinsinhalt"' ist un-
widerleglich bewiesen.
Auf solche Weise läßt sich mühelos alles Beliebige beweisen.
Ein Geograph werde gefragt, ob es in der Gegend des Nordpols
bewohnbares Festland gebe. Die erkenntnistheoretische Methode
nachahmend, wird er etwa antworten können: Die bisher unter-
nommenen Expeditionen, die den Zweck hatten, die Gegend des
Nordpols zu erforschen, haben kein Ergebnis zu Tage gefördert,
Gegenstand d. £. S. 8. < Ebenda S. 86. ' Ebenda S. 86.
99] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 511
das zu einer bejahenden Beantwortung der Frage berechtigen
könnte. Aber diese Expeditionen waren völlig überflüssig, denn
die Frage läßt sich ohne alle Mühe auf dialektischem Wege ent-
scheiden. Wird nämlich der Begriff des bewohnbaren Festlandes so
gefaßt, wie er in der Polarforschung allein gefaßt werden darf,
.80 giebt es keinen Grrund, der uns zum Zweifel an der Tatsache
zwingen könnte, daß es in der Gegend des Nordpols bewohnbares
Festland giebt. Wir setzen zu diesem Zwecke einfach fest, daß
unter dem Ausdruck „bewohnbares Festland^ nicht das verstanden
werden soll, was nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch dar-
miter zu verstehen ist, sondern vielmehr jeder Teil der Erdober-
fläche. Aus dieser Festsetzung folgt unmittelbar und unwider-
leglich, daß es in der G-egend des Nordpols bewohnbares Festland
geben muß. —
42. Der eigentliche Fehler, der der Rickertschen Argumenta-
tion zu Grunde liegt, ist aber noch ein anderer. Erst aus ihm
läßt sich verstehen, wie Rickert auf den dargelegten Trugschluß
verfallen ist. Rickert stellt den „Satz der Immanenz'^ auf, „wo-
nach alles, was für mich da ist, unter der allgemeinsten Bedingung
steht, Tatsache meines Bewußtseins zu sein," und er schließt daran
die Frage, mit welchem Rechte man einen Gegenstand annimmt,
„der nicht Bewußtseinstatsache oder Bewußtseinsinhalt ist*.^ »Daß
jedes unmittelbar gegebene Objekt, also auch die Körperwelt, so
weit wir sie erfahren haben, notwendig zu denken ist in Bezug
auf ein Subjekt, das ist ein Satz, der in keiner Erkenntnistheorie
gänzlich fehlt, und gegen den sich auch kaum etwas wird einwenden
lassen. Wird nun aber dieses Subjekt, wie üblich, mit dem Be-
wußtsein gleichgesetzt, so folgt daraus auch, daß die gegebenen
' Ebenda S. 19 f.
33^
512 L. Nelson: über das sogenannte Erkenntnisproblem. [IQO
Körper nur für ein Bewußtsein oder als Vorgänge ,im' Bewußtsein
existieren."^ — Man beachte das in beiden Zitaten vorkommende
„oder**. Lassen wir die Worte „oder Bewußtseinsinhalt" und „oder
als Vorgänge ,im' Bewußtsein" weg, so behalten wir lediglich eine
Tautologie übrig. Was kann der Satz: Etwas ist „für mich da"
anderes heißen als: Etwas ist Tatsache meines Bewußtseins. Und
was enthält der Gedanke: „Ein Objekt ist mir unmittelbar ge-
geben" oder: „Ich habe es erfahren" anderes als eine Art, das
fragliche Objekt in Bezug auf ein Subjekt zu denken. Keines-
wegs aber bedeutet der Ausdruck: „Etwas ist Tatsache meines
Bewußtseins", daß dieses Etwas Inhalt meines Bewußtseins sei.
Und keineswegs hat die Aussage : „Mir ist ein Objekt unmittelbar
gegeben" oder „Ich habe etwas erfahren" denselben Sinn wie die
Aussage: Etwas geht in meinem Bewußtsein vor. Wenn jemand
sagt: „Daß die Sonne jetzt scheint, ist Tatsache meines Bewußt-
seins", so meint er damit nicht, daß der Sonnenschein ein Vor-
gang in seinem Bewußtsein sei. Sondern er will damit sagen, daß
er einen Gegenstand, (den Sonnenschein,) auf eine bestimmte
Weise erkennt, nämlich so, daß ihm der Besitz dieser Erkenntnis
unmittelbar gewiß ist. Will man hier den (ursprünglich räum-
lichen Verhältnissen entnommenen) Ausdruck „in" anwenden und
von einem Inhalt des Bewußtseins sprechen, so kann man, wenn
man sich klar ausdrücken will, nur das Erkennen des Sonnen-
scheins, nicht aber den Sonnenschein selbst, einen „Inhalt^ des Be-
wußtseins nennen.
Der Satz also, daß alles, was für ein Bewußtsein da ist, nur
ein Vorgang in dem Bewußtsein sei, dieser Satz ist so wenig tau-
tolologisch, daß er vielmehr eine rein dogmatische Behauptung
Grenzen d. n. B., S. 166 f.
101] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 513
ausspricht, die sich nur scheinbar, nämlich nur durch Verwechslung
mit jenem als tautologisch erwiesenen und daher allerdings unbe-
zweifelbaren Satze rechtfertigen läßt. Diese Verwechslung aber
ist keine andere als die von Gegenstand und Inhalt der Erkenntnis.
43. Hat man einmal diese Verwechslung begangen, so drängt
die Eonsequenz freilich sogleich zu dem folgenden weiteren Schritte.
Auch die psychischen Vorgänge sind ja, soweit wir sie erkennen,
für unser Bewußtsein da. Sind aber auch sie, wie nach der An-
nahme alles, was Objekt der Erkenntnis werden kann, nur Inhalt
des Bewußtseins, so folgt, daß die Möglichkeit der Erkenntnis des
Psychischen ein erkennendes Subjekt voraussetzt, das selbst nicht
ein Psychisches sein kann. Denn dasjenige Bewußtsein, dessen
Inhalt die als Objekt erkennbare Welt ist, kann nicht selbst dieser
als Objekt erkennbaren Welt angehören. Es kann daher weder
durch physische noch durch psychische Prädikate bestimmt werden;
und so bleibt schließlich kein noch so leerer Begriff zur Bestim-
mung des „erkenntnistheoretischen Subjekts" oder des „Bewußt-
seins überhaupt" im Gegensatze zum Objekt oder „Bewußtseins-
inhalt" übrig. Die einzige Konsequenz hieraus ist aber die, daß
der Begriff dieses erkenntnistheoretischen Subjekts überhaupt
keinen Inhalt haben kann, daß also, deutlicher gesprochen, der
Ausdruck „erkenntnistheoretisches Subjekt" oder ^Bewußtsein über-
haupt" gar kein Ausdruck für einen Begriff, sondern ein sinnloses
Wort ist
44. RicKERTs Formulierung des „Grundproblems der Erkennt-
nistheorie": mit welchem Rechte man einen Gegenstand der Er-
kenntnis annimmt, „der nicht Bewußtseinstatsache oder Bewußt-
seinsinhalt ist*', vereinigt also durch das „oder" zwei ganz ver-
schiedene Fragen. Die erste Frage, die sich nach Riceebt auch so
aussprechen läßt: ;,Mit welchem Rechte nimmt man einen Gegen-
514 ^- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [102
stand an, der nicht für ein Bewußtsein Gregenstand ist?'' — diese
Frage wird man nicht im Ernst als das G-nindproblem einer
Wissenschaft betrachten wollen, da, wie nicht mehr des näheren
gezeigt zn werden braucht, der Satz „einen Gegenstand annehmen''
ja bereits dasselbe besagt wie der andere: „etwas zum Gegenstand
für ein Bewußtsein machen".
Die andere Frage aber, die von Bickebt mit dieser ersten ver-
mengt worden ist, und die man mit ihm auch so aussprechen kann:
„Existiert eine vom erkennenden Bewußtsein unabhängige Wirk-
lichkeit?"* — diese Frage bedarf, wenn man nur Inhalt und
Gegenstand der Erkenntnis zu unterscheiden weiß, ebensowenig
einer besonderen Wissenschaft zu ihrer Beantwortung wie die
erste. Die Beziehung auf etwas, was nicht selbst Inhalt der Er-
kenntnis ist, sondern von dem Erkanntwerden unabhängig existiert,
diese Beziehung ist dem Begriff des Erkennens wesentlich, xmd
das Recht ihrer Annahme leugnen wollen, hieße : die Tatsache des Er-
kennens selbst leugnen. Allerdings, beweisen läßt sich dieses Recht
nicht ; aber es ist ein dogmatisches Vorurteil, daß der Beweis ein
notwendiges, oder auch nur, daß er ein hinreichendes Kriterium
der Wahrheit sei, — ein Vorurteil, das freilich überall da unver-
meidlich ist, wo man von der Annahme ausgeht, Erkenntnis könne
nur in Urteilen bestehen. In dem Rickertschen „Prinzipe", „nach
dem die Erkenntnistheorie nichts unbewiesen hinnehmen darf"',
spricht sich dieses widersinnige Vorurteil unzweideutig aus.
„Widersinnig" deshalb, weil jeder Beweis zu seiner Möglichkeit
xmbeweisbare Prämissen voraussetzt, so daß, wenn nur das wahr
wäre, was sich beweisen läßt, überhaupt nichts wahr wäre, also
auch nicht der Satz, daß nur das wahr sei, was sich beweisen läßt.
Gegenstand d. £. S. 3. * Ebenda S. 132.
103] Erster Teil: Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 515
Übrigens giebt ja gerade Riceebt die Unabhängigkeit der
Existenz der erkannten G-egenstände für das Erkennen des indivi-
dnellen Bewußtseins zu xmd bestreitet sie nur für das überindi-
vidnelle Bewußtsein. Wir haben aber bereits gesehen, daß er
nur durch Mißveirständnisse und Verwechslungen veranlaßt
worden ist, dieses überindividuelle Bewußtsein überhaupt einzu-
führen-^ —
45. Ganz ähnlich finden wir es bei Lipps. Lifps untersucht
die Frage, wie die logischen G-esetze (zu denen er das Kausalgesetz
rechnet) „gefunden** werden*, und er giebt die Antwort, die lo-
gischen G-esetze werden nicht in ;,denkender Betrachtung", son-
dern durch ;, unmittelbares Erleben** gefonden^ Diese Antwort
führt ihn zu der weiteren Frage, wie es überhaupt möglich sei,
G-esetze zu erleben. ;, Jedes Erlebnis ist ein einzelnes; und Ge-
setze sind etwas Allgemeines. Wie nun kann das in einem Mo-
mente Erlebte etwas Allgemeines sein oder allgemeine Giltigkeit
haben? Ich mache auf die Wichtigkeit dieser Frage aufmerksam.
Ohne ihre Beantwortung giebt es keine Logik. **^ Diese Frage nun
soll gelöst werden durch die Einführung des „reinen** oder „über-
individuellen^ Ichs. Die Erlebnisse des individuellen Ichs sollen
nichts weiter sein als eine Stelle der „Selbstentfaltung oder Selbst-
objektivierung*' des überindividuellen Ichs oder „Weltbewußtseins**.*
Lipps sagt:
„Giebt es nun aber nichts außer diesem Ich, dann sind auch die
Gegenstände, die es setzt, nicht außerhalb seiner gesetzt, sondern
^ Auf eine weitere in der Rickertschen Problemstellung enthaltene folgenreiche
Verwechslung gehe ich hier nicht ein. Vgl. darüber E. Blumenthal: „Über den
Gegenstand der Erkenntnis^ in den Abhandlungen der Friesschen Schule, Bd. 1,
S. 346 ff., 367 f.
* ,,Inhalt und Gegenstand; Psychologie und Logik'*, S. 641.
> Ebenda S. 542. « Ebenda S. 542. » Ebenda S. 667.
516 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [104
es setzt sie in sich Hiermit ist die Frage, was Denkgesetze
seien, wie sie G-esetze der Gregenstände und zugleich Gesetze des
G-eistes sein können, erst eigentlich beantwortet. Sie sind Gesetze
des überindividnellen Ich, das als solches alle Gegenstände in sich
faßt. Darum sind sie zugleich Gesetze der Gegenstände. Meint
man, es sei nicht so, die Identität von G-egenständen und ,Be-
wußtsein^ die ich damit statuiere, finde nicht statt, dann beant-
worte man die Frage, wie das G-esetz der G^enstände mit den
G-esetzen des G-eistes identisch sein, und wie der Geist über die
Natur entscheiden oder der Gesetzgeber der vom individuellen Be-
wußtsein unabhängigen Wirklichkeit sein könne. ''^
Mit diesen Erklänmgen scheint uns überaus wenig zur
Lösung der aufgeworfenen „Frage" geleistet zu sein. Wir finden
als Tatsache die Erlebnisse unseres individuellen Ichs vor, und
unter diesen Erlebnissen auch solche von Gesetzen. Ein Problem
vermögen wir in diesem Sachverhalt nicht zu erblicken. Sieht
man indessen in dem Erleben von G-esetzen ein Rätsel, will man
seine Möglichkeit zum Thema eines wissenschaftlichen Problems
machen, so ist es gewiß kein geringeres Bätsei oder Problem, wie
es möglich sei, daß durch Selbstentfaltung eines überindividuellen
Ichs das zu stände kommt, was uns als das Erleben eines Gesetzes
erscheint. Die Frage, wie das uberindividuelle Ich der vom indi-
viduellen Ich unabhängigen Wirklichkeit G-esetze vorschreiben
könne, mag immerhin (wenn man überhaupt eine derartige Frage
aufwerfen will) damit beantwortet werden, daß diese Wirklichkeit
mit dem überindividuellen Ich identisch sei. Durch eine solche
Antwort wird das Rätsel, wie die Gesetze dieser Wirklichkeit
vom individuellen Ich erkannt werden können, nicht im mindesten
' Ebenda S. 664 f.
105] Erster Teil; Die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. 517
begreiflich; denn die Wirklichkeit hört darum^ weil sie mit einem
aberindividuellen Ich identisch ist, nicht auf, vom individuellen Ich
unahhänfjig zu sein. Und gerade die Erkenntnis des individaellen
Ichs war die Tatsache, die zn der ursprünglichen Fragestellung
Anlaß gegeben hatte und deren Möglichkeit erklärt werden
sollte.*
1 Vgl. auch S. 645,
Es ist vielleicht nicht ohne Interesse, darauf hinzuweisen, daß der Begriff
des „erkenntnistheoretischen Suhjekts** (wie schon der mit ihm identische des
«reinen Ich*' bei Fichte) von dem Typus der paradoxen Begiffsbildungen Büssells
ist und daß sich daher die aufgewiesenen, in seinem Gefolge auftretenden Sinn-
losigkeiten und Widersprüche auf jene allgemeine Form von Widersprüchen zu-
rückführen lassen. (Vgl. K. Grellino und L. Nelson: „Bemerkungen zu den
Paradoxieen von Russell und Bürali-Forti*' in den Abhandlungen der Fries'schen
Schule, Bd. 11, S. 301 ff., S. 314 Anmerkung.) Das erkenntnistbeoretische Subjekt
ist nämlich definiert als dasjenige Subjekt, das alle Subjekte erkennt, die sich nicht
selbst erkennen. Angenommen also, es erkennt sich selbst: dann gehört es, nach
der Definition, zu den Subjekten, die sich nicht selbst erkennen; es erkennt sich
also nicht selbst. Angenommen aber, es erkennt sich nicht selbst : dann gehört es,
nach der Definition, zu den Subjekten, die es erkennt ; es erkennt sich also selbst.
Ich verdanke diese „artige Bemerkung*' einem mündlichen Hinweis meines
Freundes Grellino.
Zweiter Teil:
Das Problem der Vemunftkritik.
.flu philoaophia pon, qults «rt Metaphjaiea, in qo«
nsns intelleetaa drea prüwipia «rt realia, h. e. eonoeptos
renim et relationiim piimitiTi atque ipsa axiomaia per ipsnin
inteDeetam punun primitiTe dantar, et, qaoniam non annt inhütiiat
ab erroribu non sunt immnnia, Methodaa anterertit om-
nem aoientiam et qnidqnid tentatnr ante haiaa pneoept», probe
exeuaa et ilnnlter atabUita, temere ooneeptnm et inter Taoa mentia
Indibria xeiietendtun Yidetor.**
KANT, De mnndi eenMbUii atqoe IntelUgibiUa forma et
prisetpiia, { 28.
vn.
Der Satz des Qrundes.
CErkenntnistheorie und DogmatismnsO
46. Das Ergebnis des ersten Teiles legt xms zwei Fragen
nahe. Erstens die Frage, welches der Umstand ist, der immer
von neuem in der G-eschichte der Philosophie zu der erkennt-
nistheoretischen Fragestellung Anlaß gegeben hat und noch
giebt. Und zweitens die Frage, welche Konsequenzen sich für
die Philosophie aus unserer Ablehnung der Erkenntnistheorie er-
geben. Die Antwort auf die zweite Frage scheint sich von
selbst aufzudrängen. Bedeutet die Ablehnung der Erkenntnis^
theorie nicht die Proklamierung des offenbaren Dogmatismus?
Es ist in der Tat höchst charakteristisch, daß von derjenigen
Seite, von der gegenwärtig am lebhaftesten an der tradi-
tionellen erkenntnistheoretischen Behandlung der Philosophie ge-
rüttelt wird, bereits ganz unbedenklich die Rückkehr zur dogma-
tischen Spekulation als einzig konsequentes Verfahren gefordert
wird.^ Diese so naheliegende und scheinbar unabwendbare Konse-
^ Vgl. Ludwig Busse, Philosophie and Erkenntnistheorie, 1. Abteilung,
Leipzig, 1894.
522 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [HO
qnenz führt uns sogleich zur Beantwortung der ersten der eben
aufgeworfenen Fragen. Die durch die gesamte Geschichte des
menschlichen Denkens bestätigte Erfahrungstatsache der Trüglich-
keit aller dogmatischen Spekulation ist es, was immer wieder die
Berechtigung eines allgemeinen Mißtrauens gegen die Baulust einer
ohne Selbstkritik philosophierenden Vernunft zur Evidenz bringt
und die Erkenntnistheorie als ein unentbehrliches wissenschaft-
liches Erfordernis erscheinen läßt. Und diese Forderung erscheint
so natürlich, daß sie den Widerspruch, den sie in sich birgt, über-
sehen läßt. Was bleibt uns also, wenn wir diesen Widerspruch
einmal erkannt haben, übrig, als in die Arme des Dogmatismus
zurückzukehren, so wenig dieser auch zu größeren Hoffnungen be-
rechtigt als sein Widerpart, die Erkenntnistheorie?
47. Revidieren wir noch einmal die Disjunktion, auf die sich
diese Alternative gründet. Was ist es, ganz allgemein gesagt, was
den Dogmatismus unannehmbar macht? Offenbar die keiner Dis-
kussion unterliegende Möglichkeit des Irrtums. Und wie will uns
die Erkenntnistheorie gegen den Irrtum schützen? Offenbar indem
sie keine Erkenntnis zuläßt, ohne sie zu begründen. Und so beruft
sich von jeher die Erkenntnistheorie gegen den Dogmatismus auf
den Satz des G-rundes und das aus ihm fließende Postulat der Be-
gründung aller Urteile. Der Dogmatiker aber beruft sich hier-
; gegen auf die unwiderlegliche Behauptung, daß die Forderung, alle
j Erkenntnis zu begründen, auf einen Eegreß führt, dessen UnvoU-
! endbarkeit die Möglichkeit aller Begründung aufheben muß.
Worauf beruht also der Widerspruch beider Maximen? Auf nichts
anderem als auf der von beiden Seiten stillschweigend gemachten
Annahme der Identität von Erkenntnis und Urteil^ einer Annahme,
deren Irrigkeit wir wiederholt dargetan haben. Diese Annahme
111] Zweiter Teil: Das Problem der Vernunftkritik. 523
führt zu einer Verkennung der eigentlichen Bedeutung des Satzes
vom Grunde, indem sie den Geltungsbereich dieses Satzes über die
Urteile hinaus auf die Erkenntnis überhaupt ausdehnt. Das Ur-
teil ist eine mittelbare Erkenntnis, setzt also eine andere Er-
kenntnis als seinen Grund voraus : das liegt im Begriff des Ur-
teils. Identifiziert man jedoch Erkenntnis und Urteil, so bleibt
nur übrig, den letzten Grund aller Urteile im Gegenstande zu
suchen, und/man erhält an Stelle der Aufgabe der Zurückführung
der Urteile auf die unmittelbare Erkenntnis^ das Problem des Ver-
hältnisses der Erkenntnis zum Gegenstande.
Berichtigen wir diese Mißdeutung des Satzes vom Grunde, so
gewinnen wir die Möglichkeit eines Verfahrens, das uns gestattet,
kein Urteil ohne Begründung anzunehmen, ohne uns doch in den
unmöglichen unendlichen Regreß der Begründung zu verwickeln.
Denn mit der Zurückführung der Urteile auf die ihnen zu Grunde!
liegende unmittelbare Erkenntnis ist dem Postulat der Begrün-/
düng Genüge geleistet; unser Verfahren wird also von dem dog-l
matischen Bedenken ebensowenig getroffen wie von dem erkenntnis-l (
theoretischen.^
Am übersichtlichsten läßt sich der logische Zusammenhang
dieser verschiedenen methodischen Maximen durch das folgende
Schema darstellen.
^ Sieht man nicht sowohl auf die methodische Forderung als auf die Aus-
fahrung der Erkenntnistheorie, prüft man sie also an ihren Leistungen^ so ist
klar, daß alle Erkenntnistheorie selbst nur ein verkappter Dogmatismus sein
kann. Denn da die Erkenntnistheorie die Annahme der Identität von Er-
kenntnis und ürteü mit dem Dogmatismus teüt, die aus dieser Annahme ent-
springende Forderung eines unendlichen Regressus der Begründung aber unmög-
lich erfnUen kann, so muß sie, wenn auch ohne Bewußtsein, jederzeit irgend
welche Urteüe ohne Begründung voraussetzen, d. h. sie muß allemal auf, wenn
auch versteckten, dogmatischen Annahmen, beruhen.
524
L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
[112
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JOm DitoU ad tiara Qmi hibw.
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(EfktaDtniilbeoriel
Nu dte aittolban Erktutab b«tatt ta OiteUn.
48. Bezeichnen wir die unmittelbare Erkenntnis knrz als Ver-
nunfterkenntnis, die mittelbare Erkenntnis durch Urteile als Re-
flexions- oder Verstandeserkenntnis, ^ und entsprechend die Über-
* Diese Terminologie rechtfertigt sich durch den Sprachgebrauch. Jeder-
mann, der ein einigermaßen gebildetes Sprachgefühl besitzt, macht einen Unter-
schied im Gebrauche der Worte „Vernehmen** und ,, Verstehen** ; er wendet das
erste an, um den Akt eines unmittelbaren Au£fassens von Gegenständen zu be-
zeichnen, einen Akt, den er bestimmt von jeder begri£flichen Verarbeitung des
Aufgefaßten unterscheidet. Man spricht von „Verstandesbildung**, um damit einen
höheren oder geringeren Grad der Kunst dieser begrifflichen Verarbeitung zu be-
113] Zweiter Teil: Das Problem der Vernunftkritik. 525
einstimmung der nnmittelbaren Erkenntnis mit dem Gegenstande
als VemunflwahrheU , die Übereinstimmmig der mittelbaren Er-
kenntnis mit der unmittelbaren Erkenntnis als Verstandesioahrheit,
so können wir den gemeinscbaftlichen Fehler der erkenntnistheo-
retischen and der dogmatischen Methode auch so bezeichnen: er
bemht auf der Verwechslung der Verstandeswahrheit ^mit der
Vemonftwahrheit. Das Kriterium; das uns zur Exitik unserer I
Erkenntnisse zur Verfügung steht, liegt in letzter Linie in der!
unmittelbaren Erkenntnis; diese kann nicht mit dem Gegenstande
verglichen werden. Aller Rede über Irrtum und Wahrheit liegt
die unmittelbare Erkenntnis als letzte Voraussetzung zu Grunde;
alle Versuche, diese unmittelbare Erkenntnis des Irrtums zu ver-
dächtigen oder ihre objektive Gültigkeit zu begründen, sind daher
gleich unmöglich. Denn aller Zweifel sowohl wie alle Begründung
ist selbst nur auf Gnmd der unmittelbaren Erkenntnis möglich.
Das Faktum des Selbstvertrauens der Vernunft ist die entschei-
dende Instanz gegen allen Skeptizismus , die selbst einer
Begründung nicht nur nicht fähig, sondern auch gar nicht be-
dürftig ist.
Die Unterscheidung von Reflexion und Vernunft befreit uns
somit von dem Fehler der Erkenntnistheorie, ohne uns in den
anderen des Dogmatismus zurückfallen zu lassen.
zeichnen; Vernunft hingegen schreibt man einem Wesen schlechthin zu oder
spricht sie ihm schlechthin ab, ohne ein Mehr oder Weniger derselben anzu-
nehmen. „Vernunft*' hat jeder Mensch und unterscheidet sich eben dadurch von
dem „unTemünftigen Tiere'', „Verstand" dagegen „ist stets bei wenigen nur
gewesen". Man sagt : jemand habe „den Verstand verloren", wenn man ihm das
Vermögen des klaren Denkens absprechen will; niemals aber: jemand habe „die
Vernunft yerloren". (Die BiefUigkeU der hier als Beispiele angeführten S&tze
kommt für uns natürlich nicht in Frage, es handelt sich allein darum, den ver-
schiedenen Sinn festzustellen, in dem die Worte „Verstand** und „Vernunft** tat-
sftchlich gebraucht werden.)
Abkttdhag •& im Trte*aeb«n 8«kBl«. U. Bd. 34
526 L. Ndson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [114
vm.
Das Hmne-Kantische Froblem*
(Erkenntnistheorie und VemonftkritikO
49. Fassen wir nonmehr die so gestellte Aufgabe der Be-
gründung der Verstandeswahrheit näher ins Auge, so muß so-
gleich auffallen^ daß es gerade diese Aufgabe ist, deren Bearbeitung
von jeher das Thema dller menschliehen Wissenschaft gebildet hat.
Wissenschaft, sei es mathematische oder empirische oder sonst eine,
ist ja nichts anderes als systematische Begründung von Urteilen,
d. h. Zurückführung der einem Wissensgebiet angehSrigen Urteile
. auf Grundurteile und, vermittelst dieser, auf unmittelbare Er-
;' kenntnis. Eine Begründung dieser unmittelbaren Erkenntnis selbst
aber kann, wie wir dargetan haben, kein Thema irgend einer
V Wissenschaft bilden. Was bleibt also für die Philosophie übrig?
Soviel steht nach unseren bisherigen Betrachtungen von vorn-
herein fest: einen höheren Grad von Gewißheit, von „Voraus-
setzungslosigkeit^ als irgend eine Einzelwissenschaft kann auch
Philosophie nicht beanspruchen, und wenn sie sich nicht bescheidet,
innerhalb des allgemeinen Bereiches der Verstandeswahrheit eben-
falls nur den Rang einer Einzelwissenschaft einzunehmen, so wird
sie auf den Titel einer Wissenschaft verzichten müssen. Wo läßt
I sich aber innerhalb des BereicEes der !EIinzelwissenschaften ein
/ Sondergebiet ausfindig machen, das die Philosophie für sich in An-
; sprach nehmen könnte?
Die Geschichte der Philosophie kann uns diese Frage beant-
115] Zweiter Tefl: Das Problem der Yemniiftkritik. 627
Worten. Die altere Philosophie wenigstens, die noch nicht voni
der Anmaßung der Erkenntnistheorie erfüllt war, alle Wissen- \
Schaft zu meistern, hatte jederzeit ein gesondertes Teilgebiet unter '
den Wissenschaften für sich in Anspruch genommen. Dieses G-e-
biet, das von jeher den Namen Metaphysik geführt hat, existiert
auch heute noch xmd bedarf der wissenschaftlichen Bearbeitung,
so wenig auch hinsichtlich der begrifflichen Formulierung und Ab-
grenzung seines Inhalts Einigkeit bestehen mag. Der Nam e zwar
ist heute allgemeiner Mißachtung verfallen, aus dem alleinigen
Grunde jedoch, daß man mit ihm den Begriff einer dogmatischen
Wissenschaft zu verbinden sich gewohnt hat und dabei die Voll-
ständigkeit der Alternative zwischen dogmatischer und erkenntnis-
theoretischer Spekulation nicht in Zweifel zog. Indessen,, der
Name ^Met aphysik " bezeichnet ursprünglich gar nicht, eine metho-
dische Maxime, sondern den Inhalt einer Wissenschaft; und ehe
nicht eine bessere Bezeichnung für diesen Inhalt vorgeschlagen
wird, wird man gut tun, sich des alten Namens zu bedienen.
Dieser Inhalt nun ist zu verschiedenen Zeiten verschieden be-
schrieben worden. Die präziseste Definition, die historisch vor-
liegt, ist ohne Zweifel die von Kant herrührende: Metaphysik ist!
das System der synthetischen urteile a priori aus reinen Begriffen,
Das Merkmal „synthetisch" unterscheidet die Metaphysik von der
formalen Logik (dem System der analytischen Urteile), das Merk-
mal „a priori^ von der Erfahrungswissenschaft, und das Merkmal
„aus reinen Begriffen*' von der Mathematik (dem System der syni
thetischen Urteile 'aus der Konstruktion der Begriffe). Diese
E^antische Definition bedarf hier um so weniger einer ausdrück-
lichen Rechtfertigung, als gerade die Erkenntnistheorie, solange
sie nicht selbst ihre wissenschaftliche Selbständigkeit preisgeben
will, sich ihrem Inhalte nach weder der formalen Logik, noch der
34*
528 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [Hg
Erfahrüngswissenschaft, noch auch der Mathematik nnterordnen
lassen kann, mithin sich notwendig der durch Aosschließong dieser
Wissenschaften definierten Disziplin beizählen maß, sie mag den
Namen ;,Metaphysik" billigen oder nicht.
50. Wenden wir das Postulat der Begründung der Urteile auf
den so bestimmten Inhalt der Metaphysik an, so erhalten wir die
Aufgabe: den Grrund der den Inhalt dieser Wissenschaft bildende n)
Urteile aufzuweisen. Es ist dies das von Hume gestellte Problem, '
das von Kant in die Formel gebracht worden ist: Wie sind
synthetische Urteile aus reinen Begriffen möglich? Dies Problem
hat denn auch mehr oder weniger deutlich im Mittelpunkte des
Interesses aller neueren Spekulation gestanden^ und es ist nur
durch Mißverständnis mit der Aufgabe einer Begründung der ob-
jektiven Gültigkeit der Erkenntnis, dem sogenannten „Erkenntnis- 1
problem", verwechselt worden.
Die eigentümliche Bedeutung dieser Kantischen Fragestellung
und die Schwierigkeit ihrer Auflösung ist leicht deutlich zu machen.
(Das Problem fordert, recht verstanden, die Zurückführung der
\ metaphysischen Urteile auf eine unmittelbare Erkenntnis. Als
I unmittelbare Erkenntnis gilt im allgemeihen die Anschauung. Die
anschauliche Erkenntnis hat den Vorzug unmittelbarer Klarheit und
Evidenz, und diese unmittelbare Klarheit und Evidenz sichert den
mathematischen und empirischen Wissenschaften alle die Vorteile,
die ihnen jederzeit der Metaphysik gegenüber zugestanden worden
sind. Denn die Metaphysik kann sich für die Begründung ihrer Ur- 1
teile auf keine Anschauung berufen. Andererseits sollen die Urteile
der Metaphysik synthetische sein, d. h. sie sollen eine Verb^dung /
von Begriffen enthalten, können also ihren Grund nicht in bloßen
Begriffen haben. Denn Urteile, die ihren Grund in bloßen Begriffen
haben, sind analytische, und aus analytischen Urteilen lassen sich
117] Zweiter Teil: Dm Problem der Vemanftkritik. 529
synthetische nicht ableiten.^ Die eigentümliche. Schwierigkeit, mit
deren AoflSsnng die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft y ^
steht und fällt, liegt also in der Aufgabe, dne Erkenntn is aufzu-^v"^
weisen, die nicht anschaulich u nd doch unmittelbar ist^ — E ine
solche Erkenntnis würde zum unterschiede von der unmittelbaren
Erkenntnis der Anschauung und von der mittelbaren Erkenntnis
der Reflexion ein e un mitülbare^£ iimtfMiß..der reinen Vernunft heißen
können. Da sie den letzten G-rund alles metapliysischen Wissens
enthalten muß, bedarf sie selbst keiner weiteren Begründung; ^ ^
vielmehr würde mit ihrer faktischen Aufweisung das Geschäft der
Begründung aller metaphysischen Erkenntnis abgeschlossen sein.
Die Begründung metaphysischer urteile hat von Kant den Namen
„Kritik der reinen Vernunft" erhalten. Wir wollen diesen Namen
der kürzeren Bezeichnung wegen beibehalten, obgleich er unserer
Unterscheidung von Vernunft und Reflexion keine Rechnung trägt.
51. Der Fehler, der der erkenntnistheoretischen Problemstel-
lung zu Grunde liegt, läßt sich jetzt vollständig aufklären. Er
besteht in dem Vorurteil, alle Erkenntnis entspringe entweder der *^ ^
Reflexion oder der Anschauung. In der Tat entzieht sich der
^ Der Orund der metaphysischen Urteile liegt also weder in der Anschauung
-^Mch in Begriffen. Es scheint daher kein anderes bestimmendes Prinzip dieser
/ Art Ton Urteilen übrig zu bleiben als die WiUiyxli^ieit der BegrifTsverbindung.
Auf dieser Schwierigkeit beruht eigentlich der philosophische Skeptizismus. Seine
Konsequenz ist, daß es überhaupt keine metaphysische Wahrheit giebt, daß viel-
mehr, was sich als solche ausgiebt, lediglich ein Produkt willkürlicher Satzung
(Konvention) ist, — eine Konsequenz, die bekanntlich schon von den griechischen
Sophisten gezogen worden ist
Die hier zu Grunde liegende Schwierigkeit ist in der Tat dieselbe, die dem
Hnme-Kantischen Problem zu Grunde liegt. Wir können dieses Problem geradezu
so formulieren: Die Begriffsverbindung im Urteil ist willkürlich. Was aber Er-
kenntnis sein soll, kann nicht von unserer Willkür abhängen. Wie ist also durch
iciükürliche Begriff werbindung Erkenntnis möglich? Dies ist die Formulierung,
die Fbiss in seiner Yemunftkritik dem Problem gegeben hat.
532 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [120
Hierin liegt nichts Paradoxes, wenn nor gehörig zwischen der
Begründung der metaphysischen Urteile und ihrem Gründe unter-
schieden wird. Der Grund einer Erkenntnis a priori kann in der
Tat nur wieder in einer Erkenntnis a priori liegen. Und so liegt
auch der G-rund der metaphysischen Urteile nicht in der Erfah-
rung, sondern in einer Erkenntnis a priori, nämlich in der un-
mittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft. Die Begründung der
metaphysischen Grundurteile enthält diesen Grund nicht in sich,
sondern sie weist nur sein Vorhandensein auf. Und diese Auf-
weisung ist nur durch innere Erfahrung möglich.
Die metaphysische Erkenntnis ist eine Erkenntnis allgemeiner
Gesetze, und allgemeine Gesetze werden a priori erkannt. Die
Erkenntnis der allgemeinen Gesetze ist aber nicht selbst wieder
ein allgemeines Gesetz, sondern ein individuelles Faktum. Indivi-
duelle Fakta aber werden a posteriori erkannt. Also wird auch
das Faktum der unmittelbaren metaphysischen Erkenntnis nicht
a priori, sondern a posteriori — und zwar als ein inneres Faktum
nur durch innere Erkenntnis a posteriori, d. h. durch innere Er-
fahrung — erkannt.
X.
Das transzendentale und das psychologistische Vorurteil.
55. Nach diesen Feststellungen sind wir im Stande, den in
der heutigen Philosophie herrschenden Streit um die transzenden-
tale und die psychologische Methode zu beurteilen und zu ent-
scheiden.
Eine empirische Begründung rationaler Erkenntnisse, so hatten
121] Zweiter Teil: Das Problem der Yerounftkritik. 533
wir eben gesehen, ist in der Kritik der Vernunft darom möglich,
weil die Kritik den Grand der zu begründenden Erkenntnisse
nicht zum Inhalt, sondern zum Gegenstande hat. Ganz anders
stellt sich dies Verhältnis bei der Erkenntnistheorie dar. Es
folgt notwendig aas dem Begriffe der Erkenntnistheorie, daß diese
Wissenschaft den obersten Erkenntnisgrnnd aller darch sie za
begründenden Erkenntnisse selbst enthalten maß. Angenommen
nämlich, die ersten Erkenntnisgründe irgend welcher von der Er-
kenntnistheorie za begründenden Erkenntnisse gehörten nicht der
Erkenntnistheorie selbst an. Dann wäre es die Aufgabe der Er-
kenntnistheorie, diese ihr nicht angehörigen Erkenntnisgründe zu
begründen. Eine solche Begründang ist aber unmöglich; denn
wäre sie möglich, so wären diese Erkenntnisgründe nicht die
ersten. Soll also überhaupt eine Erkenntnistheorie möglich sein, so
muß sie auch die ersten Erkenntnisgründe aller von ihr eu begründen-
den Erkenntnis enthalten,
56. Es ist eine unmittelbare Folge dieses Satzes, daß die Er-
kenntnistheorie, sofern sie die Begründung von Erkenntnissen
a priori enthalten soll, selbst eine Wissenschaft aus Erkenntnissen
a priori sein muß. Denn Erkenntnis und Erkenntnisgrund müssen
hinsichtlich der Modalität gleichartig sein.^ Ist aber die Erkennt-
nistheorie eine Wissenschaft aus Erkenni^sen a priori, so kann
ihre Quelle nicht in der inneren Erfahrung liegen. Verwechselt
man also Kritik mit Erkenntnistheorie, so wird man schließen
müssen, daß die Kritik keine Wissenschaft aus innerer Erfahrung
sein könne. („Transzendentales Vorurteil.^)
^ Dieser Satz folgt analytisch aas dem Begriff der Modalit&t. Die Aposte-
rioritftt oder Aprioritftt eines Urteüs hängt nach der Definition dieser Begriffe
dayon ab, ob das Urteil seinen Erkenntnisgrand in der Erfahrung hat oder
niclit.
534 L* Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [122
Geht man andererseits von der Erwägung aus, daß die Kritik
Erkenntnisse znm Gregenstande hat, so wird man nicht nmhin
können, ihr den Charakter einer Erkenntnis aas innerer Erfahrung
zuzuschreiben. Man wird daher, die Kritik mit der Erkenntnis-
theorie verwechselnd, den Grund der zu begründenden philoso-
phischen Erkenntnis in innerer Erfahrung suchen. Liegt aber der
Grund einer Erkenntnis in der inneren Erfahrung, so kann diese
Erkenntnis nicht selbst eine rationale Erkenntnis sein. Die ge-
samte Philosophie verwandelt sich daher nach dieser Schlußweise
in empirische Psychologie. („Psychologistisches Vorurteil.")
57. Hiermit haben wir den eigentlichen Ursprung des Streits
um den ;, Psychologismus" aufgedeckt. Es ist der Nachweis er-
bracht, daß dieser Streit seine letzte Wurzel im Begriff der Er-
kenntnistheorie selbst hat. Und es ist damit zugleich der Nach-
weis erbracht, daß der Widerspruch zwischen Transzendentalismus
und Psychologismus eine auf dem Boden des erkenntnistheoretischen
Vorurteils unauflösbare Antinomie enthält. Wer den inneren
Widerspruch in der Aufgabe der Erkenntnistheorie einmal durch-
schaut hat, den kann das Phänomen dieses nun schon so lange
währenden Streites nicht verwundem, und er begreift zugleich,
daß alle Mühe, ihn zum Austrag zu bringen, vergeblich bleiben
muß, solange die den beiden streitenden Teilen gemeinschaftliche
Grundvoraussetzung nicht aufgegeben wird. Läßt man aber die
fehlerhafte Problemstellung der Erkenntnistheorie fallen, beschränkt
man sich auf die Aufgabe der Kritik der Vernunft, so ist ohne
weiteres ersichtlich, daß die Kritik durch die beiderseitigen Schluß-
folgerungen gar nicht berührt wird. Denn da die kritische Be-
gründung der philosophischen Urteile den Grund dieser Urteile
nicht selbst enthält, so findet der Satz von der modalischen Gleich-
artigkeit von Erkenntnis und Erkenntnisgrund auf die Kritik
123] Zweiter Teil: Dm Problem der VernuDftkritik. 535
überhaapi keine Anwendung. Mithin kann ebensowenig von der
Apriorität der zn begründenden Sätze aaf die Apriorität der
Kritik geschlossen werden, wie von der Aposteriorität der Kritik
auf die Aposteriorität der za begründenden Sätze. Und so ist
mit der Aufhebung der Verwechslung von Grund und Begründung
dem Streite jeder Boden entzogen. —
Wir können die gegebene Ableitung und Auflösung dieser
„erkenntnistheoretischen Antinomie^ durch das folgende Schema
veranschaulichen.
Df» IiMk wlkllt tai
Dw Of«B4 4«r philoMpUMktB Otui-
- w Utlt ia 4«r iaawtB kMn—
(PivSohicMMiMi ▼•nrtaU.)
Rkktfa« Kmhmmu:
Di« Irttfk «Btkilt ■kkk 4«B ana4 4w pka«M»klMh» QnakUm,
(SyüMi «ad bltUt da4 «agl«tokutlc.)
586 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [124
68. Zur Verhütung von Mißverständnissen können die folgenden
terminologischen Bemerkungen dienen. Versteht man unter ;, Trans-
zendentalismus" die Maxime einer Begründung der Philosophie von
der Art, daß der Grund der zu begründenden Urteile nicht in der
Psychologie gesucht wird, so ist der Transzendentalismus im B.echte.
Aber es ist wichtig, darüber klar zu sein, daß die hiermit gekenn-
zeichnete Maxime nicht, wie bisher allgemein angenommen worden
ist, mit der psychologischen Natur der geforderten Begründung
im Widerspruch steht. Versteht man daher unter „Psychologis-
mus '^ die Behauptung der psychologischen Natur der Kritik, so
sind Transzendentalismus und Psychologismus keine G-egensätze,
sondern stehen durchaus im Einklang. — Aber es erscheint rat-
sam, diese Bezeichnungsweise zu vermeiden, da es heute allgemein
üblich ist, die beiden Termini zur Bezeichnung entgegengesetzter
methodischer Maximen zu benutzen.^ Wenn wir uns auch in der
gegenwärtigen Litteratur vergeblich nach einer präzisen Definition
der fraglichen Termini umsehen, so ist doch soviel klar, daß die sich
zum Transzendentalismus bekennenden Autoren mit diesem Worte
die Behauptung der Unmöglichkeit einer psychologischen Begrün-
dung der Philosophie, also die in unserem Schema als „transzen-
dentales Vorurteil" definierte Konsequenz zum Ausdruck bringen
' Bei Kant ist der Ausdruck „transzendental" mehrdeutig. Von den beiden
hier in Betracht kommenden Eantischen Definitionen dieses Terminus geht die
eine (Kritik der reinen Vernunft, Einleitung) auf das, was wir durch das Wort
„kritisch" bezeichnet haben, ohne über die Modalität dieser kritischen Erkenntnis
etwas auszusagen. Die andere (Transzendentale Logik, Einleitung, U) enthält
über den Inhalt der ersten hinaus die Behauptung der Apriorität der kritischen
Erkenntnis und schlieBt daher die Voraussetzung ein, die wir als „transzenden-
tales Vorurteil" bezeichnet haben. — Näheres hierüber findet man in meiner
Schrift „J. F. Fries und seine jüngsten Kritiker", insbesondere Kapitel V,
S. 288 und 297. (Im 2. Heft des I. Bandes der Abhandlungen der Friesschen
Schale.) Vgl. auch im dritten Teil dieser Schrift Kapitel XXI.
125] Zweiter Teil: Das Problem der Vemunftkritik. 637
wollen; während andererseits nach dem herrschenden Sprachge-
brauch das Wort „Psychologismus^ zugleich die Konsequenz der
Einordnung der gesamten Philosophie in die Psychologie andeuten
soll und infolgedessen von denjenigen, die sich einer klaren Aus-
drucksweise befleißigen, nur zur Bezeichnung der in unserem
Schema als „psychologistisches Vorurteil^ definierten Eonsequenz
verwendet werden sollte.
XL
Beispiele der „dogmatischen Prämisse" in der antipsycho-
logistischen Argumentation bei Natorp, Frege und Husserl.
59. Das Fehlen der eben gemachten Unterscheidungen ist der
Hauptmangel der gegenwärtigen philosophischen Litteratur, soweit
sich diese überhaupt mit einer Behandlung methodologischer Fragen
befaßt. Dieser Mangel verbirgt sich durch den unverfänglich er-
scheinenden Grebrauch von Schlagwörtern, deren Zweideutigkeit
dem Leser meist so wenig bemerkbar wird, wie dem Autor. Wir
brauchen, um dies durch Beispiele zu belegen, nur die bereits
kritisierte AbhandluDg von Natorp aufzuschlagen. G-leich zu An-
fang wird hier diese Zweideutigkeit in die Fragestellung hinein-
gelegt, durch die Formulierung: „ob die Methode jener Grund-
legung der Erkenntnis objektiv oder subjektiv sein müsse". ^ Was
wir hier unter „Grundlegung" zu verstehen haben, darüber sagt
uns Natorp nichts. Indessen läßt sich bald aus dem unterschieds-
losen Gebrauch der Worte „Grund" und ;,Begründung" ersehen,
> A. a. 0. S. 260.
538 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [126
daß wir es hier mit gar keinem irgend wie klaren Begriffe zn
tun haben. Unbestimmte, teils bildliche Ansdruckei wie „Wurzel^ ^
„Dependenz'', „Grundlage"*, „Prinzip"', „Fundament*, „Grnmd-
wissenschaft"^, verschleiern diese Unklarheit. Besonders instruktiv
als Beleg für unsere Behauptung erscheint Natorps Äußerung, daß
bei der Beantwortung der „Frage nach dem G-rund der Gegen-
ständlichkeit" „jeder B.ekurs auf das Subjekt des Erkennens, auf
die Art der Beteiligung des Bewußtseins dabei, . . . von vornherein
als iistißaöig sig &XXo ydvog erscheinen" müsse.* Warum Natorp
eine solche (ißxißaöig für unstatthaft hält, wird sogleich ersicht-
lich: „Das Begründende muß nicht nur nicht, sondern kann gar
nicht einem anderen ydvog angehören, wie das, was begründet
wird."' Was ist hier mit dem „Begründenden" gemeint? Der
Grund oder die Begründung? Meint Natorp den Grund, so ist der
Satz zweifellos richtig; denn Grund und Begründetes müssen aller-
dings demselben ydvog der Modalität angehören. Aber die Konse-
quenz, die Natorp aus dem Satze zieht, bezieht sich vielmehr auf
die Begründung] und sein Beweis, daß diese Begründung nicht
psychologisch verfahren könne, beruht daher auf einer quatemio
terminorum.^
» S. 261. « S. 262. » S. 264. * S. 266. » S. 262.
• S. 263.
' £s ist beachtenswert, daß Natobp die fragliche (iBtdßacig, wenn er sie
auch für die erkenntnistheoretische Begründung ablehnt, doch an und für sich
für möglich erklärt. In seiner „Einleitung in die Psychologie^ (Freiburg,
1888, S. 119 ff.) fordert er eine der „objektiven Grundwissenschaft** oder „Funda-
mentalphilosophie** entsprechende psychologische Untersuchung der subjektiven
Qrundlagen der in jener „objektiven Grundwissenschaft** abgeleiteten Erkennt-
nisse. Ja er geht so weit, von der hiermit geforderten „subjektiven Grundwissen-
schaft** (S. 124) eine „Bestätigung der durch die objektive Kritik herausgestellten
Grundgestalt des wissenschaftlichen Bewußtseins** zu erwarten. (S. 129.) Die
geforderte «psychologische Nachweisong erbringt eine unverftchtUche subjektive
127] Zweiter Teil: Das Problem der Vemunftkritik. 539
60. Selbst Freoes im aUgemeinen einwandfreie Polemik gegen
das, was er die ,, psychologische Logik^ nennt, bleibt nicht frei
von diesem Fehler.^ Frege kommt bei dieser Polemik folgerichtig
zur Proklamiemng einer rein dogmatischen Methode, — einer Me-
thode, deren bereits zn Tage getretene Mißerfolge gerade recht
geeignet erscheinen, die Unentbehrlichkeit der Kritik (einer not-
wendigerweise psychologischen Wissenschaft) darzutnn.^ Fregk
sagt': „Ich halte es für ein sicheres Anzeichen eines Fehlers, wenn
die Logik Metaphysik and Psychologie nötig hat, Wissenschaften,
Yergewissening der Vollzähligkeit der in objektiver Kritik heraasgestellten Grund-
gestalten'. (S. 128.) — So nahe Natorp hier dem von uns begründeten metho-
dischen Standpunkt der psychologischen Vernunftkritik kommt, so verhindert ihn
doch das oben widerlegte Vorurteil, die Bedeutung und Fruchtbarkeit des ihm
vorschwebenden Gedankens zu erkennen. Die Rolle einer Begründung der „ob-
jektiven Grundgesetze' soll nach wie vor allein der angeblichen rein objektiven
Kritik vorbehalten bleiben (S. 119 f.), wobei er nicht bedenkt, daß ja jede objek-
tive Begründung eines Gesetzes nur in der Angabe eines allgemeineren Gesetzes
besteht, daß also die Forderung einer objektiven Begründung von Grundgesetzen
•einen klaren Widerspruch einschließt. Und auf der anderen Seite unterscheidet
Natobp wiederum nicht scharf genug zwischen subjektiver und objektiver Be-
gründüng, um den Fehlschluß auf die modalische Gleichartigkeit beider zu ver-
meiden und so wenigstens für die „subjektive Grundwissenschaft' zu einer rich-
tigen Problemstellung zu gelangen. Vielmehr glaubt er, „einen reinen apriorischen
Teil der Psychologie absondern, und diesen der PkUosophie^ als subjektive
Korrelatanfgabe zur reinen, objektiven Kritik der Erkenntnis, zuweisen' zu müssen.
(S. 124.)
Übrigens hat der methodische. Vorschlag einer solchen „subjektiven Grund-
wissenschaft' als einer „Probe' und „Ergänzung' (S. 128) der „objektiven Ana-
lyse der faktisch gegebenen wissenschaftlichen Erkenntnisse' (S. 120) nicht die
von Natorp angenommene „Neuheit' (S. 124). Vielmehr ist dieser Vorschlag, wie
wir im dritten Teile zeigen werden, in weit klarerer Weise von Fbies im Jahre
1798 gemacht und in seiner „Neuen oder anthropologischen Kritik der Vernunft'
(1807) auch ausgefüJirt worden.
* Grundgesetze der Arithmetik, (Jena, 1893, 1903,) Band I, Vorwort, S. XIV flf,
' Man vergleiche das Nachwort zum II. Bande, S. 253 ff.
» Band I, Vorrede S. XK.
540 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [128
die selber der logischen G-randsätze bedürfen. Wo ist denn hier
der eigentliche IJrboden, auf dem alles mht?'' — Der Satz: „die
Logik hat Psychologie nötigt ist zweideatig. Denn die Frage ist:
Wofür hat die Logik Psychologie nötig? Für die Begründung
oder für den Grund ihrer Sätze? Diese Zweideatigkeit versteckt
sich hinter dem bildlichen Ansdrack ;,Urboden".
Freoe sieht offenbar in dem Versuch einer psychologischen
Begründung der Logik einen Zirkel. Und in der Tat setzt die
Psychologie bereits ihrerseits die logischen Grrundsätze voraus.^
Dieser Umstand würde jedoch nur dann einen Zirkelschluß in der
Begründung zur Folge haben, wenn diese Begründung ein
Beweis sein sollte ; denn nur in diesem Falle würde der Grund der
logischen Sätze in der Psychologie liegen, und die logischen Ge-
setze würden zu Folgesätzen der Psychologie gemacht.
61. Auch in Hüsserls Polemik gegen den „Psychologismus**
beeinträchtigt das Fehlen dieser Unterscheidung die Strenge der
Beweise. Husserl erklärt die „psychologische Begründung der
Logik** für „absurd**.^ Das Hauptargument hierfür entnimmt er
dem Umstände, daß die Sätze der Psychologie empirische sind, die
der Logik aber apodiktische. Es sei eine „Unzuträglichkeit**, „daß
Sätze, welche sich auf die bloße Form beziehen, erschlossen werden
sollen aus Sätzen eines ganz heterogenen Gehalts*^.' Aber dieses
Argument träfe nur den, der die logischen Sätze aus psycholo-
gischen beweisen wollte ; denn allerdings würde ein solcher Beweis-
versuch, da er die psychologischen Sätze als Gründe der logischen
^ Das hier und im Folgenden über die logischen Grundsätze Gesagte bleibt
auch richtig, wenn man den Terminus „logisch^ nicht auf seine formale Bedeu-
tung einschränkt, sondern auch das von uns „metaphysisch" Genannte darunter
befaßt.
' Logische Untersuchungen (Halle 1900, 1901) Bd. I, S. 63.
* Ebenda S. 166. Vgl auch S. 169 und 178.
129] Zweiter Teil: Das Problem der Vemanftkritik. 541
in Anspruch nehmen müßte; an der modalischen üngleichartigkeit
der angeblichen Prämissen und Schlußsätze scheitern. Damit ist
jedoch die Möglichkeit einer psychologischen Begründung der lo-
gischen Grrundsätze noch keineswegs ausgeschlossen. Grrundsätze
können nicht bewiesen werden, das liegt in ihrem Begriff; also ist
ein solcher Beweis auch mit psychologischen Mitteln nicht zu
führen. Wohl aber giebt es eine kritische Deduktion der logischen
Grundsätze, und diese ist, da sie den Grrund der zu begründenden
Sätze nicht enthält, sehr wohl auf psychologischem Wege
möglich.
Man vergleiche hierzu auch die folgende Stelle bei Husserl:
^Hier gilt es vielmehr darauf hinzuweisen, daß das sozusagen
Tatsächliche der Tatsache zur Sinnlichkeit gehört, und daß der Ge-
danke, durch Hilfe der Sinnlichkeit rein kategoriale Gesetze zu
begründen — Gesetze, die von aller Sinnlichkeit, also Tatsächlich-
keit eigens abstrahieren und bloß über Vereinbarkeit, bezw. Un-
vereinbarkeit der kategorialen Formen generelle und evidente Aus-
sagen machen — die klarste (lerdßccöig slg &XXo yivog darstellt.^^
Was ist hiermit anderes gesagt, als daß Inhalt und Gegen-
stand einer empirischen Begründung rationaler Erkenntnisse hin-
sichtlich der Modalität ungleichartig sind? Eine Widerlegung
eines solchen Begriindungsverfahrens kann man in dieser Fest-
stellung nur dann suchen, wenn man die stillschweigende Voraus-
setzung hinzunimmt, daß die Begründung einer Erkenntnis mit
dieser Erkenntnis gleichartig sein müsse. Eine Begründung dieses
Satzes aber ist bei Hüsserl nicht zu finden. Jedenfalls genügt es
nicht, sich zur Entscheidung dieser Frage auf Sätze zu berufen
wie den, daß „Wahrheiten, die rein im Inhalt" gewisser „Begriffe
' Band H, S. 671.
AklmdluffMi dar MM*ieb«B B«k«le. IL Bd. 35
542 . L* NelBon: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [130
gründen, . . . ihren Heimaisort nicht hahen können in den Wissen-
schaften vom matter of fact, also anch nicht in der Psychologie*'.^
Soll hier anter dem ,, Heimatsort ^ der Grund verstanden werden,
so ist der Satz völlig einwandfrei, aher er kann in diesem Falle
nicht als Argument gegen die Möglichkeit einer psychologischen
Begründung der Logik gelten. Soll aber der „Heimatsort^ die
Begründung bedenten, so ist der Satz eine unbegründete Be-
hauptung, die nur die dogmatische Bestreitung der Möglichkeit
einer psychologischen Begründung der Logik mit anderen Worten
wiedergiebt.
xn.
Husserhs phänomenologische Methode und die intellektaelle
Anschauung.
62. Infolge des Fehlens dieser Unterscheidung zwischen Grund
und Begründung einerseits, Beweis und Deduktion andererseits,
bleibt schließlich der Begriff des „Psychologismus" bei Hüsserl
ziemlich unbestimmt. Warum — so muß man nach den erwähnten
„antipsychologistischen^ Darlegungen fragen — warum ist es
nicht „Psychologismus*^, wenn Hüssebl selbst im zweiten Bande
seiner „Logischen Untersuchungen* eine „Phänomenologie der
Denk- und Erkenntniserlebnisse" als „Voraussetzung für die zu-
verlässige und letzte Festlegung der allermeisten, wo nicht aller
objektiv-logischen Unterscheidungen und Einsichten" in Anspruch
nimmt?* Man mag den „Deskriptionen" der Denk- und Erkennt-
niserlebnisse, die den Lihalt der „Phänomenologie" bilden sollen,*
1 Band I, S. 160. » Band H, S. 8f. » Ebenda, S. 18.
131] . Zweite; Teil: Das Problem der Vernonftkritik. 543
den Namen „Psychologie'' verweigern^; hören sie daxnm auf, der
inneren Erfahmng anzugehören, — also einer Erkenntnisart, die
nach den angeführten Argumentationen Husserls infolge ihrer Un-
gleichartigkeit mit der rein logischen Erkenntnis für eine Begrün-
dung dieser letzteren nnbraachbar sein sollte?
Die „phänomenologische Fnndiemng der Logik'' oder die „Er-
kenntnistheorie" hat nach Husserl znr Aufgabe eine „deskriptive
Analyse der Erlebnisse nach ihrem reellen Bestände".* Woher
also erhalten wir die Sätze der Phänomenologie, wenn nicht aus
der Selbstbeobachtung oder der inneren Wahrnehmung? Hüssebl
selbst sagt: „Während Gegenstände angeschaut, gedacht, mitein«
ander in Beziehung gesetzt, unter den idealen Gesichtspunkten
eines Gesetzes betrachtet sind u. dgl., sollen wir unser theore-
tisches Interesse nicht auf diese Gegenstände richten . . ., sondern
im Gegenteil auf eben jene Akte, . . . und diese Akte sollen wir
nun in neuen Anschauungs- und Denkakten betrachten, sie analy-
sieren, beschreiben, zu Gegenständen eines vergleichenden und
unterscheidenden Denkens machen."' — Also die Akte, in denen
sich die logischen Erkenntnisse vollziehen, sollen hier zum Gegen-
stände der Erkenntnis gemacht werden, und zwar hinsichtlich ihres
j^reellen Bestandes*^. Man vergleiche hierzu die andere Erklärung :
„Es ist ein wesentlicher, schlechthin unüberbrückbarer Unterschied
zwischen Idealwissenschaften und Realwissenschaften. Die ersteren
sind apriorisch, die letzteren empirisch. '^^ Mögen also auch die
Erkenntnisakte, die den Gegenstand der phänomenologischen Unter-
^ Obgleich dies mit Hussebls eigenem Sprachgebrauch schwer zu vereinen
w&re, da er bei seiner Polemik gegen die psychologische Begründung der Logik
unter „Psychologie^ „die empirische Wissenschaft von den psychischen Tatsachen
aberhaapt'' Tersteht (Band I, S. 170.)
« Bd. n, S. 17, 20 f. » S. 10. * Bd. I, S. 178.
35*
644 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblenu [132
snchung bilden, rein rationaler Natur sein, so sind doch diejenigen
Erkenntnisakte, die den Inhalt der phänomenologischen Unter-
suchnng bilden, da sie nicht wie jene auf allgemeine Gesetze, son-
dern auf individuelle Tatsachen (den „reellen Bestand^ gewisser
„ Erlebnisse '') gerichtet sind, durchaus empirischen Charakters,
nämlich der inneren Wahrnehmung angehorig.
63. Diese Konsequenz der modalischen üngleichartigkeit
zwischen der logischen Erkenntnis selbst und der „phänomenolo-
gischen Fundierung der Logik '^ ließe sich nur umgehen, wenn man,
wie dies Fichte tat, den empirischen Charakter der inneren An-
schauung leugnen und zu der Annahme einer intellektuellen Selbst-
anschauung greifen wollte. Und in der Tat findet man bei Hussebl
die Annahme einer der sinnlichen koordinierten, „kategorialen An-
schauung^ vertreten.^ Aber uns ist keine Stelle begegnet, an der
er eine solche intellektuelle Anschauung für die phänonienologisclie,
d. h. auf die Erkenntnisakte gerichtete Erkenntnis in Anspruch
nimmt. Vielmehr sagt er ausdrücklich: „Die Vorstellung als psy-
chisches Erlebnis, gleichgiltig, ob sie sinnlich oder kategorial ist,
gehört in die Sphäre des ,inneren Sinnes*." Er weist mit klaren
Worten das Vorurteil zurück, daß die innere Anschauung, die einen
nicht-sinnlichen Erkenntnisakt zum G-egenstande hat, selbst eine
nicht-sinnliche Erkenntnis sein müsse: „Das Wahrnehmen eines
wie immer beschaffenen Aktes oder Aktmomentes oder Aktkom-
plexes heißt ein sinnliches Wahrnehmen. . . . Die Materie des
Wahrnehmens steht in keinem Notwendigkeitszusammenhang mit
der Materie des wahrgenommenen Aktes. . . . Dieselben psychischen
Momente, welche in innerer Wahrnehmung sinnlich gegeben sind,
können .... eine kategoriale Form konstituiren.^'
* Bd. n, S. 476 ff., 614 flf., 684. « Bd. II, S. 649ff.
133] Zweiter Tefl: Das Problem der Yemmiftkritik. 545
Diese Worte sprechen den Unterschied von Inhalt nnd Gegen^
stand der kritischen Erkenntnis nnzweideutig aus. Was Hussebl
von der psychologischen Kritik noch trennt, ist lediglich der Um-
stand, daß bei ihm der Begriff der Deduktion fehlt und daß ihm
infolgedessen in Ermangelung einer dem Beweise koordinierten
Begriindungsmethode die bloße Berufung auf die innere Wahrneh-
mung übrig bleibt. Daß ein solches Verfahren sich nicht selbst
genug ist, ergiebt sich aus der Tatsache, daß der Grund der von
HtJSSKBL „logisch^ genannten Urteile (zu denen die von uns „meta-
physisch* genannten gehören), obgleich eine unmittelbare Erkennt-
nis, doch ursprünglich dunkel ist, d. h. nicht für sich, sondern nur
durch Vermittelung der Beflexian zum Bewußtsein kommt und in-
folgedessen kein Gegenstand direkter Selbstbeobachtung werden
kann. Vielmehr bedarf es einer psychologischen Theorie^ um die
Existenz und Beschaffenheit jener unmittelbaren philosophischen
Erkenntnis festzustellen. Hüsserl aber erklärt ausdrücklich, seine
Phänomenologie solle keinerlei theoretische Wissenschaft sein^ und
gerade auf diese Erklärung beruft er sich, um den Verdacht des
Psychologismus abzuwehren : Nicht die Psychologie als theoretische
Wissenschaft, sei das „Fundament der reinen Logik", sondern ledig-
lich gewisse ;,Deskriptionen, welche die Vorstufe für die theore-
tischen Forschungen der Psychologie bilden". „Die Notwendigkeit
einer solchen psychologischen Fundierung der reinen Logik, nämlich
einer streng deskriptiven, kann uns an der wechselseitigen Unab-
hängigkeit der beiden Wissenschaften^ der Logik und Psychologie,
nicht irre machen."*
64. Gegen diese Einschränkung der Kritik auf bloße Deskrip-
tion lassen sich noch weitere Einwendungen erheben.
1) Ich erwähne nur kurz das Bedenken, ob eine solche Ein-
« 8. 20. ' S. 18.
546 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [134
schränkang überhaupt durchführbar ist, ob nicht vielmehr jeder
Satz der Phänomenologie bereits eine Anwendung der zu ,,fundie-
renden^ Gesetze auf das bloße Material der inneren Wahrnehmung
einschließt, und dies um so mehr, wenn die Phänomenologie nicht
nur eine „Betrachtung**, sondern auch eine „Analyse**, »Ver-
gleichung** und ^Unterscheidung** der Erkenntnisakte enthalten
soll. (Man vergleiche den in § 62 zitierten Satz aus Band 11,
Seite 10.)
2) aber bemerken wir, daß die „Unabhängigkeit** der Logik
von der Psychologie, wenn sie im streng logischen Sinne verstanden
wird, durchaus nicht zur Voraussetzung hat, daß die Kritik (oder
Phänomenologie) frei von aller Theorie und auf bloße Deskription
eingeschränkt bleibt. "Worauf es, um diese Unabhängigkeit auf-
rechtzuerhalten, ankommt, ist lediglich dies, daß die allgemeinen
logischen Gesetze nicht selbst als Folgesätze der Kritik (oder
Phänomenologie) abgeleitet werden. Und diese Bedingung ist
auch dann erfüllt, wenn die Kritik die logischen Gresetze aus einer
psychologischen Theorie der Vernunft dedueiert (nach dem von uns
in den Kapiteln VIII und IX angegebenen Verfahren).
3) Setzt man freilich, wie dies Hüsserl offenbar tut, voraus,
alle psychologische Theorie sei notwendig genetisch^ so ist aller-
dings klar, daß eine psychologische Theorie in diesem Sinne für
die Lösung der Aufgabe der Kritik durchaus unbrauchbar sein
muß. Aber diese Voraussetzung ist unbegründet. Warum soll sich
die Theorie aus innerer Erfahrung hierin anders verhalten als die
Theorie aus äußerer Erfahrung? Es mag in der Psychologie
schwieriger sein, aber auch sie vermag sich über eine bloß ent-
wickelungsgeschichtliche Betrachtung der Assoziation und Reflexion
zu einer Theorie der Vernunft zu erheben, gerade so wie in der
136] Zweiter TeO: Das Problem der Yemunftkritik. 547
Astronomie die Gravitationstheorie unabhängig ist von der Eüt^
wickelongsgeschichte des Sonnensystems.
4) HüssERL sagt:
„Die reine Phänomenologie stellt ein Gebiet neutraler For-
schungen dar, in welchem verschiedene Wissenschaften ihre
Wurzeln haben. Einerseits dient sie zur Vorbereitung der
Psychologie als empirischer Wissenschaß. Sie analysiert und be-
schreibt die Yorstellungs-, Urteils-, Erkenntniserlebnisse, die in
der Psychologie ihre genetische Erklärung, ihre Erforschung nach
empirisch-gesetzlichen Zusammenhängen finden sollen. Anderer-
seits erschließt sie die ,Quellen', aus denen die Grundbegriffe und die
idealen Gesetze der reinen Logik ,entspringenS und bis zu welchen
sie wieder zurückverfolgt werden müssen, um ihnen die für ein er-
kenntniskritisches Verständnis der reinen Logik erforderliche
,Elarheit und Deutlichkeit' zu verschaffen.^^
Wird in diesen Sätzen nicht das Wort „Wurzel" in zwei
ganz verschiedenen Bedeutungen gebraucht? Wie sollen wir den
Ausdruck, die Phänomenologie „erschließe" die „Quellen", aus denen
die Prinzipien der reinen Logik „entspringen", verstehen, wenn
nicht in dem Sinne, daß die Phänomenologie den Erkenntnisgrund
der logischen Prinzipien zum Gegenstande habe? Hat aber die
Phänomenologie diesen Grund der logischen Prinzipien zum Gegen-
stände, so kann sie nicht selbst den Grund der logischen Prinzipien
enthalten. Gerade in dieser Beziehung des Grundes steht aber die
Phänomenologie zu dem, was Husserl an dieser Stelle Psychologie
nennt. Und gerade und ausschließlich zufolge dieser Beziehung
der Phänomenologie zur Psychologie gilt es, daß die Psychologie
eine empirische Wissenschaft ist. Denn eine Wissenschaft ist em-
pirisch, wenn sie ihren Grund in der (sinnlichen) Wahrnehmung
' S. 4.
548 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [136
hat; mcht aber, wenn sie „gesetzliche Zusammenhänge'' zu er-
forschen hat. Denn gesetzliche Zusammenhänge bilden den Gegen-
stand der Mathematik und Logik so gut wie den der Psychologie.
Nicht also, wieHüsSERL meint, durch Beschränkung der Kritik auf
bloße Deskription and durch Ausschließung aller Theorie läßt sich
die systematische Unabhängigkeit der Logik von der Empirie mit
der Möglichkeit der Kritik in Einklang bringen, sondern allein durch
den Hinweis, daß die kritische Begründung den Grund der logischen
Prinzipien nicht zum Inhalt hat.
65. Der Umstand aber, der vor allen Dingen gegen die Be-
schränkung der Kritik auf bloße Deskription entscheidend ist, liegt,
wie schon hervorgehoben, in der Nicht-Anschaulichkeit der den
Grund der philosophischen Urteile bildenden Erkenntnis, d. h. in
ihrer ursprünglichen Dunkelheit. Es ist ein Vorurteil, daß der
Unmittelbarkeit der Erkenntnis die Unmittelbarkeit des Bewußt-
seins um die Erkenntnis entsprechen müsse. Dieses Vorurteil aber
ist kein anderes als die bereits § 50 f. von uns als falsch erkannte
Voraussetzung, alle Erkenntnis entspringe entweder der Reflexion
oder der Anschauung. Diese Voraussetzung wird von Husskrl aus-
drücklich vertreten.
HussERL erkennt die Unterscheidung zwischen dem Urteil und der
Anschauung (die er mit der „Wahrnehmung" identifiziert) deutlich
an: „Die Wahrnehmung, welche den Gegenstand giebt und die Aus-
sage, die ihn mittelst des Urteils . . . denkt und ausdrückt, sind völlig
zu sondern."^ Auch die Mittelbarkeit aller derjenigen Urteile, die
sich nicht auf sinnliche Wahrnehmung gründen, findet bei ihm An-
erkennung. Jedes Urteil weist zurück auf eine unmittelbare Er-
kenntnis, in der es seine „Erfüllung" findet. Soweit besteht volle
S. 493.
137] Zweiter Teil: Das Problem der Yernunftkritik. 549
Übereinstimmung zwischen Hüssbhls Phänomenologie und der psy-
chologischen Kritik: „Wenn ... die neben den stofflichen Mo-
menten vorhandenen, ,kategorialen Formen' des Ausdrucks nicht in
der Wahrnehmung, sofern sie als bloße sinnliche Wahrnehmung
verstanden wird, terminieren, so . . . muß jedenfalls ein Akt da
sein, welcher den kategorialen Bedeutungselementen dieselben
Dienste leistet, wie die bloße sinnliche Wahrnehmung den stoff-
lichen.*** Aus dieser Feststellung schließt aber Husserl unmittelbar
auf die Existenz einer nicht-sinnlichen, „kategorialen Anschauung** :
„In der Tat können wir auf die Frage, was das heißt, die
kategarial geformten Bedeutungen fänden Erfüllung, . . . nur ant-
worten: es heiße nichts Anderes, als . . . der Gregenstand mit diesen
kategorialen Formen sei • . « nicht bloß gedacht, sondern eben
angeschaut, bezw. wahrgenommen.^^ »Wir werden daher ganz all-
gemein zwischen sinnlicher und Jcategorialer Anschauung unter-
scheiden . . . müssen.**' „In solchen Akten liegt das Kategoriale
des Anschauens und Erkennens, in ihnen findet das aussagende
Denken, wo es als Ausdruck fungiert, seine Erfüllung ; die Mög-
lichkeit vollkommener Anmessung an solche Akte bestimmt die
Wahrheit der Aussage als ihre Richtigkeit.***
Man sieht ohne weiteres, daß dem in diesen Sätzen ausge-
sprochenen Schlüsse die stillschweigende Voraussetzung zu G-mnde
liegt, alle unmittelbare Erkenntnis sei Anschauung.
Nun konnte man allerdings geneigt sein, den Widerspruch, in
den sich die zuletzt zitierten Sätze mit der Tatsache der Nichi-
» S. 614. « S. 614 f. • S. 616.
< S. 618 f. Vgl. auch S. 634, sowie S. 21 die folgende Formalierang der
Aafgabe der Phänomenologie : „Die reinen Erkenntnisformen and Gesetze will sie
dorch Rückgang aaf die adäqaat erfüllende Anschaaang zor Klarheit and Deut*
lichkeit erheben.*
560 li- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [138
anschaalichkeit der philosophischen Erkenntnis verwickeln, ledig-
lich im Wortlaut zu suchen. Man könnte versuchen, das in ihnen
vorkommende Wort ,, Anschauung" als ein Synonym für das zu
betrachten, was wir „unmittelbare Erkenntnis" nennen, so daß
diese Sätze nur auf eine Umschreibung für unsere Behauptung der
Existenz einer nicht-sinnlichen (intellektuellen) unmittelbaren Er-
Jcenntnis hinausliefen. Nach einem solchen Sprachgebrauch könnte
man mit Eecht sagen, jede Erkenntiiis sei entweder Urteil oder
Anschauung.^ Dann aber hätte man außer dem Unterschiede sinn-
licher und nicht-sinnlicher (oder intellektueller) Anschauung noch
den weiteren Unterschied zu berücksichtigen zwischen unmittelbar
bewußten Anschauungen und solchen, die uns nur durch Reflexion (im Ur-
teil) jsum Bewußtsein kommen. Leider findet aber dieser letztere, über-
aus wichtige Unterschied bei Hussebl, soweit wir sehen, keine Be-
achtung ; und schon dieser eine Umstand, sowie auch seine früher^
erwähnte Lehre von der Evidenz aller wahren Erkenntnis, sprechen
gegen diese Auslegung. Was aber diese letztere vollends unan-
nehmbar macht, ist Hussbrls Beschränkung der Kritik auf bloße
Deskription unter Ausschließung aller Theorie. Diese Beschrän-
kung setzt, wie wir (§ 63) gezeigt haben, notwendig die Anschau-
lichkeit (in dem von uns definierten Sinne) der philosophischen Er-
kenntnis voraus. Diese Voraussetzung hat aber nicht nur die Ent-
behrlichkeit eines theoretischen Verfahrens der Kritik zur Folge,
sondern muß in ihrer Konsequenz jegliche Kritik der Vernunft über^
haupt illusorisch machen und auf einen uneingeschränkten Dogma-
tismus zurückführen, da eine Erkenntnis, die uns unmittelbar be-
* In dieser Weise ließe sich z. B. ungezwungen die Äußerung Hussekls
interpretieren, da.ß, „wenn wir dem Denken das Anschauen gegenübersetzen, nnter
dem Anschauen nicht das bloße sinnliche Anschauen verstanden werden^ könne.
(S. 638.)
•§ 23.
139] Zweiter Teil: Das Problem der Vemanftkritik. 551
Wüßt ist; nicht einer besonderen Wissenschaft zu ihrer Aafweisnng
bedarf. Und endlich müßte sogar die Frage aufgeworfen werden,
ob oder warum denn nicht, wenn alle unmittelbare Erkenntnis
Anschauung sein soll, die Reflexion überhaupt entbehrlich sei. Kommt
uns alle Erkenntnis unmittelbar zum Bewußtsein, so bedürfen wir
keiner Reflexion mehr^ um uns irgend welcher Erkenntnisse bewußt
zu werden.
xnL
Rickerts Transzendentalismas als Beispiel eines versteokten
Psychologismus.
66. Wenn ein Forscher wie Freoe aus Abneigung gegen die
psychologische Methode selbst wieder ein rein dogmatisches Ver-
fahren einschlägt, so ist ein solches Vorgehen durchaus folgerich-
tig. Das Verfahren aber, das gewöhnlich von den Antipsycholo-
gisten eingeschlagen wird: die Möglichkeit psychologischer Kritik
zu bestreiten und dann, statt alle Kritik überhaupt zu verwerfen,
eine nie W-psychologische Kritik zu unternehmen,* — dieses Ver-
fahren entbehrt durchaus aller logischen Konsequenz. Denn aus |
unseren Darlegungen (Kapitel IX) geht hervor, daß es nicht eine
Alternative zwischen psychologischer und nicht-psychologischer
Kritik, sondern nur eine solche zwischen psychologischer Kritik]
und Dogmatismus geben kann. Die notwendige Folge hiervon ist,
daß alle Begründungsversuche einer nicht-psychologischen Kritik,
wie sie den sogenannten Transzendentalismus kennzeichnen, genau
^ Dieses Verfahren findet bei Husserl nur scheinbar statt. Die „phänomeno-
logische'' Methode ist, wie wir gesehen haben, seiner eigeneq Se^chireibang zu*
folge, eine in onserem Sinne psychologische.
562 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [140
betrachtet stets nur durch versteckte Einfühning psychologischer
Erkenntnismittel möglich sind, so daß der vorgebliche Antipsycho-
logismus der TranszendentaJisten selbst nichts anderes als ein ver-
kappter Psychologismns sein kann. Eine Tatsache, die durch die
kritischen Ausführungen unseres ersten Teiles vollauf bestätigt
wird. Der Naditeil, der mit der Verkennung der psychologischen
Natur solcher „transzendentalen^ Argumentationen verbunden ist,
trat in den dort besprochenen Beispielen deutlich zu Tage: Wo
die Beobachtung nicht bewußt als Kriterium anerkannt wird, ihre
Ergebnisse vielmehr mit spekulativen Einsichten vermengt werden,
da wird naturgemäß eine methodische Anwendung dieses Kriteriums
erschwert, wo nicht unmöglich gemacht. Man verliert die Mög-
lichkeit, Fehler der Selbstbeobachtung zu erkennen und zu berich-
tigen. Unter dem Vorwande, gar nicht psychologisch genieint zu
sein, werden fehlerhafte Sätze eingeführt, die in der Tat nur
insofern nicht als psychologisch gelten können, als sie mit den
Tatsachen der Selbstbeobachtung nicht in Einklang zu bringen
sind.
Wir erinnern zum Beweise hierfür nur an die im VI. Kapitel
besprochene Erkenntnistheorie Rickerts. Dieser verfährt so, daß
er von einem ausgesprochenermaßen das individuelle Bewußtsein
betreffenden und somit offenbar psychologischen — übrigens fal-
schen — Satze ausgeht, daß er dann diesem Satze das Gepräge
einer logischen Notwendigkeit zu geben sucht, um ihn schließlich
mit Berufung auf diese Notwendigkeit auf das überindividuelle
„Bewußtsein überhaupt" zu übertragen und auf solche Weise zu
einer „logischen Voraussetzung** alles Wissens zu stempeln. Wir
wollen, um hierüber jeden Zweifel zu zerstreuen, noch mit einigen
Worten auf ßiCKERTs Lehre vom Willen als logischer Vorausset;sung
aller Wahrheit eingehen.
141] Zweiter Teil: Das Problem der Vemanftkritik. 553
67. RiCKERT sagt: »Von dem Begriff der Wahrheit ist der Ge-
danke, daß das wahr Genannte das ist, was . . . für das erkennende
Subjekt Wert hat, begrifflich nicht loszulösen, und so schließt die
Konstatierung einer jeden Tatsache in einem Urteil, das auf Wahr-
heit Anspruch macht, bereits die Stellungnahme zum Wahrheits-
wert und seine Anerkennung durch das erkennende Subjekt ein.^^
Das Richtige, was diesem Satze zu Grunde liegt, besteht in der
Beobachtung, daß die Anerkennung des Wahrheitswertes des Ur-
teils eine psychologische Bedingung für das wirkliche Zustande-
kommen des Urteils ist. Aber diese psychologische Bedingung der
Entstehung des Urteils verwechselt Rickeet mit einer logischen
Bedingung der Gültigkeit des Urteils. Für ihn bildet der Begriff
eines „wertenden Subjekts*' „die logische Voraussetzung jedes Für-
wahrhaltens". „Die Anerkennung des Wahrheitswertes ist die
logische Voraussetzung jeder Wissenschaft." Der Wille zur Wahr-
heit „ist daher das letzte ,a priori* jeder Wissenschaft".* „Das
Wort Sein hat nur als Urteilsprädikat einen Sinn, und insofern
ist der Wille, der den Wahrheitswert überhaupt anerkennt, die
logische Voraussetzung aller Existenzialurteile."' Nach Riceurt
„zwingt uns eine rein theoretische Unter suchxmg des Erkennens,
wie des logischen Denkens überhaupt, noch hinter die logische
Notwendigkeit zurückzugehen und in dem ein Sollen anerkennenden
Willen das zu sehen, worin die logische Notwendigkeit selbst
erst ihren ,Grund* hat." „Erst in dem das Sollen seiner selbst
wegen anerkennenden Willen" können wir nach Riceebt „das letzte
Fundament des Erkennens sehen, für das dann keine Begründung
mehr möglich ist".*
^ Die Grenzen der naturwissenschaftlichen BegriffshUdong, S. 665.
• 8. 669ff. » S. 683. * 8. 69a
664 L. Nelson: Über das sogenannte firkenntnisproblem. [142
Die Trugschlüsse, die diesen Sätzen zu Grunde liegen, sind
offensichtlicli. Indem Rickest die psychologischen Bealgriinde des
Urteilens mit den logischen Gründen der Wahrheit des Urteils
verwechselt, treibt er selbst den Fehler auf die Spitze, den er zu
widerlegen vorgiebt: die Yermengnng psychologischer Gesichts-
punkte mit logischen. Der Wille zur Wahrheit ist nicht mehr
und nicht weniger eine „logische Voraussetzung jeder Wissen-
schaft^ wie etwa das Essen und Trinken nnd alle übrigen leib-
lichen und seelischen Verrichtungen, deren Ausbleiben die Unmög-
lichkeit, Urteile zu fallen und Wissenschaft zu treiben, zur Folge
haben würde, weil ohne sie der Mensch überhaupt nicht leben, ge-
schweige denn sich wissenschaftlich betätigen könnte. Wer wird
aber von der Möglichkeit Hunger und Durst zu stillen die Wahr-
heit irgend welcher Urteile abhängig machen wollen. — Natürlich
sträubt sich Riceert aufs lebhafteste gegen die Zumutung, seine
Argumentationen hätten es in irgend einer Hinsicht mit psycho-
logischen oder psychophysischen Fragen zu tun. „Der Wille, der
das transzendente Sollen anerkennt^ und der selbst der Grund
aller logischeu Notwendigkeit sein soll, „hat mit irgend welchem
Wünschen oder individuellen Wollen nichts gemein".* „Es kann
sich hier nicht etwa um die Aufstellung einer psychologischen
Theorie handeln, da jede derartige Theorie bereits das voraussetzen
muß, was durch sie erst begründet werden soll."* Gewiß: jede
psychologische Theorie muß bereits die logische Notwendigkeit
sowie die Möglichkeit des Erkennens überhaupt voraussetzen. Aber
man muß schon sehr gutgläubig sein, um auf Rickerts Behauptung
einzugehen, daß die „Erkenntnistheorie" oder „Wissenschaftslehre"
» S. 683.
« S. 672. Vgl. auch S. 666 und 685, sowie S. U: „Wir müssen vor AUem
darauf hinweisen, daß Erkenntnistheorie in unserem Sinne nkht Psychologie ist**
143] Zweiter TeO: Das Problem der Vernonftkritik. 565
dieser Yoraussetzimg entraten kann. Sagt doch Rickert selbst:
„Das einzige den Intellekt absolut zwingende Eriterinm, das wir
bei dem Versuch einer logischen Deduktion der überempirischen
wissenschaftlichen Voraussetzungen haben, ist die Aufzeigung des
Widerspruchs, der in jeder Leugnung dieser Voraussetzungen
steckt. **!
Das Kriterium der Eickertschen Erkenntnistheorie soll also
in der Unmöglichkeit des Widerspruchs liegen; d. h. doch wohl
in der logischen Notwendigkeit, also in demjenigen, was durch
diese Theorie erst begründet werden soll. Grerät also nach Rickkst
der „Psychologismus" notwendig in einen Zirkel*, so tut dies erst
recht der Fsychologismus Rickerts. Denn die Rickertsche Er-
kenntnistheorie ist Psychologismus, wenn man recht hat, die Ver-
wechslung der Realgründe der Entstehung eines Urteils mit den
logischen Gründen seiner Wahrheit „Psychologismus" zu nennen.
Ohne die psychologische Beobachtung der Abhängigkeit des Ur-
teils vom Willen hätte Rickert nie dazu gelangen können, den
Willen in seine Erkenntnistheorie einzuführen; wenngleich er
natürlich hinterher, um den Schein des Psychologismus zu vermei-
den, die psychologische Natur dieser Beobachtung leugnen mußte.
Denn auch der an sich richtige Satz von der Abhängigkeit des
Urteilens vom Willen läßt sich durchaus nicht auf das von Rickert
angegebene Elriterium gründen, daß „in seiner Leugnung ein Wider-
spruch steckt"^ Die Leugnung dieses Satzes ist ohne jeden Wider-
spruch durchführbar; der Satz läßt sich schlechterdings nicht auf
eine angebliche logische Notwendigkeit, sondern ausschließlich auf
psychologische Beobachtung gründen. Was aber hier die psycho-
logische Beobachtung zeigt, ist nicht eine Abhängigkeit des Er-
Jcennens überhaupt vom Willen, sondern nur eine solche des Erkennens
» S. 693. * S. 686.
566 ^- Nelson: Über das sogenannte £rkenntnisproblem. [144
durch Urteile; und schon aus diesem Grunde ist der Satz von dem
Willen als „letztem Fundament des Erkennens^ falsch*
RicKEBTS Begründung dieses Satzes enthält also eine drei-
fache Verwechslung : 1) begeht er die psychologische Verwechslung
der Abhängigkeit des Urteils vom Willen mit der angeblichen
Abhängigkeit alles ErJcennens vom Willen; 2) verwechselt er die
faktisch-psychologische Natur des Satzes von der Abhängigkeit
des Urteils vom Willen mit einer logischen Notwendigkeit; und 3)
verwechselt er die Ursache der Entstehung des UrteUs mit dem
Grunde seiner Gültigkeit.
XIV.
Lipps' „Ghnindwissenschaft". Der Begriff des Denkgesetzes.
68. Schließlich dürfen wir die neuerdings von Lipps angestellten
Betrachtungen über die uns beschäftigende Frage nicht übergehen.
In seiner Schrift: „Lihalt und Gegenstand, Psychologie und Logik'
stellt sich Lipps die Aufgabe, den Begriff der Logik zu bestimmen
und ihr Verhältnis zur Psychologie klarzulegen. Das Wort ,,Logik^
wird dabei in einem sehr weiten Sinne gebraucht und, wie es
scheint, als gleichbedeutend mit dem Ausdruck „Metaphysik".
„Logik" soll die „Wissenschaft vom Denken^ sein \ trotzdem aber
nicht zur empirischen Psychologie gehören'. Logik soll es mit
der „Frage nach den Erkenntnisquellen" zu tun haben, sie soll
erkennen, „wie Erkenntnis entsteht und was ihr Wesen ist".'
Wie können wir aber das Denken und Erkennen anders erkennen
als durch innere Erfahrung? „Logik'^, sagt Lipps, ist „ Wissen-
^ Inhalt und Gegenstand, Psychologie und Logik, S. 556.
» 8. 662. » 8. 667.
145] Zweiter Tefl: Das Problem der Yemanftkritik. 557
Schaft vom Apriorischen", sie „weist die apriorische Gesetzmäßig-
keit anf^.^ Diese Erklärung ist zweideutig. Was soll hier der
Gregenstand der Logik sein? Die a priori erkennbaren Gesetze?
Oder die apriorische Erkenntnis der Gresetze? Man muß wohl
das letztere vermuten, wenn man liest: »Logik ist die Wissen-
schaft, die aus allem Denken und Erkennen das Apriorische
herauslöst.*** Wenn aber die Wissenschaft vom apriorischen Er-
kennen die Logik sein soU, welcher Wissenschaft gehört dann
das apriorische Erkennen selbst an? Ist andererseits die Unter-
scheidung apriorischen und empirischen Erkennens nicht eine psy-
chologiscJie? Greht sie auf den Gegenstand der Erkenntnis oder
nicht vielmehr auf den Ursprung oder die ErkenntnisgueJte? Wie
anders also soll die Herauslösung des Apriorischen aus dem Er-
kennen vor sich gehen als durch psychologische Untersuchung des
tatsächlich in der inneren Erfahrung vorzufindenden Erkennens?
Oder folgert Lipps aus der Apriorität der Erkenntnis, die nach
seiner Definition den Gegenstand der Logik bildet, die Apriorität
der Erkenntnis, die ihren Inhalt bildet?
Aber Lipps hat wiederum mit dem „Denken** und „Erkennen**
gar nicht das im Auge, was nach dem gewöhnlichen Sprach-
gebrauch unter diesen Ausdrücken zu verstehen ist, sondern viel-
mehr das Denken und Erkennen des „überindividuellen Ich**.' Nun
wohl, wird man sagen, dann versteht es sich, daß, da wir durch
innere Erfahrung stets nur unser individtielles Ich erkennen, die
Logik, als Wissenschaft vom ü&mndividuellen Ich, nicht zur
empirischen Psychologie gehören kann. Doch fast scheint es mit-
unter, als solle der Ausdruck, „überindividuelles Ich** bei Lipps
nur den Wert einer anderen Bezeichnung für das ^^Apriorische**
* S. 667. • S. 667. » S. 567.
IbkaBdliBfftB dtr M«*fekM Schalt. H. B4» < 36
558 ^- Nelson: Über das sogenannte Srkenntnisproblem. tl4ß
habeiiy so daß der Gegensatz des Empirischen and Apriorischen
identisch wäre mit dem des Individuellen und Überindividaellen.
Den Satz, daß Logik „ans allem Denken und Erkennen das
Apriorische herauslöst", setzt Lipps fort mit den Worten: „und
damit aus dem denkenden individuellen Ich das äberindividuell
und überzeitlich denkende Ich'. Und nachdem Lipps erklärt hat,
Logik stelle die apriorischen Quellen und die apriorische Gesetz-
mäßigkeit der Erkenntnis auf, fährt er fort: „Die Logik, so
können wir dies auch ausdrücken, zeigt den von der Zufälligkeit
des Individuums unabhängigen denkenden Geist oder sie ist die
Darstellung des reinen Verstandes/ Hiernach scheinen in der
Tat die Ausdrücke „a priori" und „überindividuell" Synonyma zu
sein, ebenso wie die entsprechenden „empirisch" und „individuell".
Verhält es sich aber so, dann giebt es ja für das, was „über-
individuell" ist, gar kein anderes Eriterium als die Apriorität;
und sofern diese ein psychologischer Begriff ist, wird auch die
Wissenschaft vom Überindividuellen eine psychologische sein müssen.
Lipps findet es anders:
„Die Wissenschaft von dem, was alle Erkenntnis erst zur Er-
kenntnis macht, dürfen wir die reine Wissenschaft nennen. . . .
Diese ,reine* Wissenschaft ist, als solche, zugleich die erste
Wissenschaft, die fjtQcatri q>do6oq>uc^. Dann sind die Logik und
weiterhin die reine normative Ästhetik und Ethik Disziplinen
dieser ,reinen' oder ,ersten' Wissenschaft. Ihnen stehen gegenüber
die empirischen Wissenschaften."^
Hier hat Lipps offenbar Folgendes verkannt. Logik soll aus
allem Erkennen das Apriorische „herauslösen". Die „logische"
Erkenntnis, die das Apriorische aus der Erkenntnis herauslite^,
^ S. 558.
147] Zweiter Tefl: Das Problem der Temnnftkritik. 559
darf hier nicht verwechselt werden mit der apriorischen Erkenntnis,
die dnrch die „logische^ Erkenntnis herausgelöst wird. Die aprio-
rische Erkenntnis bildet nach Lipps' Definition den Gegenstand der
Logik. Offenbar hat er diese apriorische Erkenntnis im Auge, wenn
er von dem spricht, was alle Erkenntnis erst zor Erkenntnis macht.
Und offenbar vermengt er dieses, was alle Erkenntnis erst zur
Erkenntnis macht, mit der Erkenntnis von dem, was alle Erkennt-
nis erst zur Erkenntnis macht, d. h. er verwechselt das, was er
als den Gregenstand der Logik definiert hat, mit dem Inhcdt dieser
Wissenschaft, wenn er die Wissenschaft „von" dem, was alle Er-
kenntnis erst zur Erkenntnis macht, als die „reine^ und „erste^
Wissenschaft bezeichnet. Er halt die Wissenschaft, die die apri-
orischen Grründe der Erfahrungswissenschaften zum Gegenstande
hat, selbst für den apriorischen Grund dieser Wissenschaften.
Diese Verwechslung zeigt sich schon darin, daß er die fragliche
Wissenschaft einerseits als „Logik^ und weiterhin auch als „Meta-
physik" bezeichnet, während er ihr an anderer Stelle geradezu
den Namen „Kritik der Vernunft** giebt.* „Metaphysik" soll die
fragliche Wissenschaft heißen, weil sich ihr Begriff mit dem
Aristotelischen der XQantj fpiXoöotpCa decke; weil sie „die Wissen-
schaft vor allen anderen Wissenschaften", weil sie die j^Grund-
Wissenschaft' sei ' In diesem letzten Ausdrucke verrät sich wieder
aufs deutlichste die fehlerhafte Identifizierung von Grrund und
Begründung. Wird die kritische Begründung der Erfahrungs-
wissenschaften, d. h. die Aufweisung ihrer apriorischen Grründe,
mit diesen Gründen selbst verwechselt, so muß die Kritik als
eine apriorische Wissenschaft erscheinen und kann daher natürlich
nicht der Psychologie zugerechnet werden. Diese Konsequenz
1 8. 669. < 8. 6681
36*
568 ^- Nebon: Über das sogenannte Srkenntnisproblem. M4g
habeiiy so daß der Gegensatz des Empirischen and Apriorischen
identisch wäre mit dem des Individuellen und Überindividnellen.
Den Satz, daß Logik „aus allem Denken und Erkennen das
Apriorische herauslöst", setzt Lipps fort mit den Worten: „und
damit aus dem denkenden individuellen Ich das überindividuell
und überzeitlich denkende Ich**. Und nachdem Lipps erklärt hat,
Logik stelle die apriorischen Quellen und die apriorische Gesetz-
mäßigkeit der Erkenntnis auf, fährt er fort: „Die Logik, so
können wir dies auch ausdrücken, zeigt den von der Zufälligkeit
des Individuums unabhängigen denkenden Geist oder sie ist die
Darstellung des reinen Verstandes/ Hiernach scheinen in der
Tat die Ausdrücke „a priori" und „überindividuell" Synonyma zu
sein, ebenso wie die entsprechenden „empirisch" und „individuell".
Verhält es sich aber so, dann giebt es ja für das, was „über-
individuell" ist, gar kein anderes Kriterium als die Apriorität;
und sofern diese ein psychologischer Begriff ist, wird auch die
Wissenschaft vom Überindividuellen eine psychologische sein müssen.
Lipps findet es anders:
„Die Wissenschaft von dem, was alle Erkenntnis erst zur Er-
kenntnis macht, dürfen wir die reine Wissenschaft nennen. . . .
Diese ,reine' Wissenschaft ist, als solche, zugleich die erste
Wissenschaft, die ^xgcatri q>iXo6oipia^. Dann sind die Logik und
weiterhin die reine normative Ästhetik und Ethik Disziplinen
dieser ,reinen' oder ,ersten' Wissenschaft. Ihnen stehen gegenüber
die empirischen Wissenschaften."^
Hier hat Lipps offenbar Folgendes verkannt. Logik soll aus
allem Erkennen das Apriorische „herauslösen". Die „logische"
Erkenntnis^ die das Apriorische aus der Erkenntnis herauslcte^,
^ S. 558.
147] Zweiter TeÜ: Das Problem der Vemanftkritik. 559
darf hier nicht verwechselt werden mit der apriorischen Erkenntnis,
die durch die „logische^ Erkenntnis herausgelöst wird. Die aprio-
rische Erkenntnis bildet nach Lipps' Definition den Gegenstand der
Logik. Offenbar hat er diese apriorische Erkenntnis im Auge, wenn
er von dem spricht, was alle Erkenntnis erst zur Erkenntnis macht.
Und offenbar vermengt er dieses, was alle Erkenntnis erst zur
Erkenntnis macht, mit der Erkenntnis von dem, was alle Erkennt-
nis erst zur Erkenntnis macht, d. h. er verwechselt das, was er
als den Gegenstand der Logik definiert hat, mit dem Inhalt dieser
Wissenschaft, wenn er die Wissenschaft „von*' dem, was alle Er-
kenntnis erst zur Erkenntnis macht, als die „reine" und „erste"
Wissenschaft bezeichnet Er hält die Wissenschaft, die die apri-
orischen Gründe der Erfahrungswissenschaften zum Gegenstande
hat, selbst für den apriorischen Gnmd dieser Wissenschaften.
Diese Verwechslung zeigt sich schon darin, daß er die fragliche
Wissenschaft einerseits als „Logik" und weiterhin auch als „Meta-
physik" bezeichnet, während er ihr an anderer Stelle geradezu
den Namen „Kritik der Vernunft" giebt.^ „Metaphysik" soll die
fragliche Wissenschaft heißen, weil sich ihr Begriff mit dem
Aristotelischen der tcqAxi^ fpiloöofpia decke; weil sie „die Wissen-
schaft vor allen anderen Wissenschaften", weil sie die j,Grund-
Wissenschaft^ sei. ' Li diesem letzten Ausdrucke verrät sich wieder
aufs deutlichste die fehlerhafte Identifizierung von Grund und
Begründung. Wird die kritische Begründung der Erfahrungs-
wissenschaften, d. h. die Aufweisung ihrer apriorischen Gründe,
mit diesen Gründen selbst verwechselt, so muß die Kritik als
eine apriorische Wissenschaft erscheinen und kann daher natürlich
nicht der Psychologie zugerechnet werden. Diese Konsequenz
' 8. 669. > 8. 6681
36*
660 I«* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [148
zieht Lipps, indem er sagt: ;,Wie die Grondlage aller Wissen-
schaften, so ist diese Wissenschaft insbesondere auch die G-rond-
lage der empirischen Psychologie."^ "Wie ist es dann aber mög-
lich, daß die fragliche Wissenschaft, „ausgehend vom individuellen
Bewußtsein" „zum reinen Bewußtsein führt" ?^ Wenn sie vom
individuellen Bewußtsein ausgeht, so geht sie von psychologischen
Feststellungen aus. Was führt sie dann aber über das psycho-
logische Ausgangsgebiet hinaus'i Lipps operiert häufig bei seinen
„psychologischen Untersuchungen" mit . „metaphysischen Folge-
rungen"'. Wie ist es aber möglich, aus psychologischen Sätzen
metaphysische zu folgern? Sollte dies geschehen können, so
würde ja umgekehrt die Psychologie zur „Grundwissenschaft" der
Metaphysik gemacht, und es würde nicht die Metaphysik die
Grundwissenschaft der Psychologie sein können.
69. In der Tat finden wir diese umgekehrte — unzweifelhaft
psychologistische — Auffassung in der jüngsten methodologischen
Publikation von Lipps wieder in den Vordergrund gerückt. Euer
wird die „normative Ästhetik", die nach dem vorhin Zitierten
eine Disziplin der Metaphysik sein sollte, ausdrücklich als eine
Disziplin der Psychologie in Anspruch genommen. Das haupt-
sächliche Argument hierfür entnimmt Lipps seiner teleologischen
Erkenntnistheorie.* Wie nämlich die Wahrheit eines Urteils
darauf beruhen soll, daß das Urteil von uns gefordert sei, so soll
die Schönheit eines Gegenstandes darauf beruhen, daß von uns
' S. 669.
' Man beachte auch den Satz: ,,Und das indimdtMt Bewustsein ist es, in
dem das reint gefunden wird." (S. 669.)
' So z. B. Psychologische Untersuchungen, Bd. I, Heft 1, S. 125.
* Vgl. das yr. Kapitel des ersten Teils dieser Schrift.
149] Zweiter Teil: Das Problem der Yemnnftkritik. 561
gefordert sei, den Q-egenstand auf gewisse Weise zu werten.^ Ist
also Ästhetik „die Wissenschaft vom Schonen" *, so hat sie die
Frage zu beantworten, worin das ästhetische Werten bestehe.
Da aber das Werten nur „im Bewußtsein*^ vorkommt, also nur
auf Grund psychologischer Betrachtung erkannt werden kann, so
folgt, daß die Ästhetik zur Psychologie gehört.
Diese Argumentation hat den Fehler, daß sie zu viel beweist.
Denn auf dieselbe Weise ließe sich beweisen, daß jede Wissen-
schaft zur Psychologie gehört. Die Berechnung einer Kometen-
bahn beispielsweise ist nach Lipps „wahr", wenn sie von uns
gefordert ist. Da aber das Rechnen nur im Bewußtsein vorkommt,
so würde folgen, daß das Berechnen von Kometenbahnen eine
Aufgabe der Psychologie ist.
Der Ursprung des Fehlers läßt sich leicht angeben: Setzen
wir mit Lipps voraus, die Schönheit eines Gegenstandes bestehe
in der Forderung, von uns auf gewisse Weise gewertet zu werden,
so kommt zwar das Werten nur im Bewußtsein vor, ist also „ein
psychisches Vorkommnis und als solches ganz gewiß Gegenstand der
Psychologie"', nicht aber gilt dies von der Forderung^ zu werten,
von dem also, was (nach Lipps) die Schönheit, und mithin den
Gegenstand der Ästhetik, ausmacht.
Lipps selbst sagt: „An sich gewiß sind diese Forderungen
nichts als eben Forderungen."* Aber indem diese Forderungen
* „Psychologie und Ästhetik", im Archiv für die gesamte Psychologie,
Bd. IX, 8. 96.
' S. 99. — Wir lassen hier die Frage dahingestellt, ob eine solche Wissen-
schaft überhaupt möglich ist. ' S. 97.
* S. 97. Man beachte aof derselben Seite den folgenden Satz : „Das Schöne
ist dasjenige, was fordert, in bestimmter Weise ästhetisch gewertet za werden.
Und daß es dies fordere, dies sagt nicht, daß die ästhetische Wertung geschehe,
daß diese psychologische Tatsache zustande komme."
562 ^' Nelson: Über das «ogenannte Erkeimiaisproblem. |160
,erlebt" werden, sollen sie aufhören, „bloße Forderungen zu sein",
sollen sie zu „Bestimmungsgründen für das tatsächliche ästhetische
Werten" werden, wenn auch „nicht zu den einzigen Bestimmungs-
gründen".^ Wir mögen dies — unter Vorbehalt — zugeben,
mögen also unmerhin mit Lipps sagen : „Die Psychologie hat auch
mit den Gegenständen zu tun, freilich nur sofern sie eben das
individuelle Bewußtsein mitbestimmen, oder von dieser Seite her
letracktä*' *, — so ist doch diese „Betrachtung" des schonen Gregen-
standes eine andere als die der Ästhetik zur Aufgabe gemachte.
„Die ästhetische Frage lautet ja : Was macht den schonen Gregen-
stand schon?"' Was aber den G-egenstand schön macht, ist nach
Lipps die Forderung y ihn auf gewisse Weise zu werten; eine
Forderung, die nach Lipps' ausdrücklicher Erklärung von dem
wirklichen Stattfinden der Wertung unabhängig besteht und an
und für sich das individuelle Bewußtsein nicht zu bestimmen
braucht. Den Gegenstand betrachten, sofern er das individuelle
Bewußtsein bestimmt, ist also etwas anderes, als den Gegenstand
betrachten, sofern er schön ist. Und nur diese letzte Betrachtungs-
weise sollte die ästhetische, nur jene sollte die psychologische sein.
Die psychologistischen Konsequenzen des dargelegten Fehlers
machen sich bei Lipps selbst unverkennbar geltend. Lidern der
Inhalt des ästhetischen Wertens mit seinem Gegenstande ver-
wechselt wird, wird Lipps folgerichtig zu der Behauptung gefuhrt,
daß das ästhetische Objekt erst durch die ästhetische Wertung
geschaffen werde, also gar nicht außerhalb des menschlichen Geistes
bestehe.* Es ist hier nicht der Ort, das Recht oder Unrecht des
ästhetischen Subjektivismus zu entscheiden, aber wir müssen aus
der vorstehenden Erörterung den Schluß ziehen, daß die ihm von
> S. 97. « S. 99. • S. 99, * 8. 101 £
151] Zweiter Teil: Das Problem der Vemonfikritik. ^3
Lipps gegebene BegrBndtmg fehlerhaffc ist.^ Begeht man aber ein-
mal die dargelegte psychologistische Verwechslnng von Inhalt and
Gegenstand, so ist die Konsequenz eines aneingeschränkten psycho-
logischen Sabjektiyismas allerdings anabwendbar.'
> Lipps versncht übrigens noch eine andere Begründang, die indessen ihr
Ziel ebensowenig erreicht. Er argumentiert hier folgendermaßen:
„Was ist das ästhetische Objekt? Ist es der von mir onterschiedene Gegen-
stand? Ein solcher ist das mir Gegebene .... Wenn eine Melodie schön ist,
ist diese Melodie das von mir Gehörte? Wenn eine Dichtung, ein plastisches
Bildwerk schön ist, ist diese Dichtung, dies plastische Bildwerk das von mir
sinnlich Wahrgenommene? Darauf lautet die Antwort: Gegeben sind mir, wenn
ich eine Melodie höre, die Töne und ihre zeitlichen Intervalle. Aber die Melodie
ist weder die Töne, noch die zeitlichen Intervalle, sondern sie ist das Ganze, das
ich aas dem mir sinnlich gegebenen Material geistig schaffe; zu dem ich die
Töne zusammenfasse and verwebe. Ebenso entsteht das dichterische oder plastische
Kunstwerk in mir durch ein mannigfaches geistiges Tun, in welchem ich das
sinnlich gegebene Material /ormef^ .... Dieser so geschaffene Gegenstand erst
ist schön. Nicht einen mir gegebenen, sondern einen von mir geschaffenen
Gegenstand .... meine ich also, wenn ich von einem ästhetischen Objekt rede.^
(S. 101.)
Da Lipps hier unter „gegeben'^ „sinnlich-wahrgenommen** versteht, so besagt
die Behauptung, der schöne Gegenstand sei mir nicht gegeben, lediglich: er sei
nicht sinnlich wahrgenommen. Hieraus kann man nicht schließen, daß der schöne
Gegenstand nicht außer mir besteht; es sei denn, daß man die Voraussetzung
macht, daß das ausschließliche Kriterium der Objektivität in der sinnlichen Wahr-
nehmung liege. Diese Voraussetzung wird in der Lippsschen Argumentation still-
schweigend eingeführt, indem dem Terminus „gegeben^ anstelle der erst festge-
setzten Bedeutung die der objektiven Existenz substituiert wird. Nur durch diese
unerlaubte Substitution erhält die Entgegensetzung „nicht gegeben, sondern ge-
schaffen** einen Sinn. — Der tiefere Grund dieses Fehlers liegt in einem psycho-
logischen Irrtum, der uns später (§ 75) noch zu beschäftigen haben wird.
' Ln»ps bleibt daher auf halbem Wege stehen, wenn er, um dem Widersinn
dieser Konsequenz zu entgehen, gewisse realistische Einschränkungen seines
Idealismus festzuhalten sucht Er will nämlich daran festhalten, daß ein Kunst-
werk auch dann weiter besteht, wenn kein Mensch in der Lage ist, es ästhetisch
zu werten, und dies wird dadurch begründet, daß zur Möglichkeit eines Kunst-
werks zweierlei gehöre: erstens das sinnlich Gegebene, und zweitens der mensch-
liche Geist Das Zusammenwirken beider lasse das Kunstwerk aktuell entstehen.
562 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [160
,erlebt" werden, sollen sie aufhören, „bloße Forderungen zu sein",
sollen sie zu „Bestimmungsgriinden für das tatsächliche ästhetische
Werten" werden, wenn auch „nicht zu den einzigen Bestimmungs-
gründen".^ Wir mögen dies — unter Vorbehalt — zugeben,
mögen also immerhin mit Lipps sagen : „Die Psychologie hat auch
mit den Gegenständen zu tun, freilich nur sofein sie eben das
individuelle Bewußtsein mitbestimmen, oder von dieser Seite her
hetrachtd^*y — so ist doch diese „Betrachtung" des schonen Gregen-
standes eine andere als die der Ästhetik zur Aufgabe gemachte.
„Die ästhetische Frage lautet ja : Was macht den schonen Gregen-
stand schon?"' Was aber den G-egenstand schon macht, ist nach
Lipps die Forderung^ ihn auf gewisse Weise zu werten; eine
Forderung, die nach Lipps' ausdrücklicher Erklärung von dem
wirklichen Stattfinden der Wertung unabhängig besteht und an
und für sich das individuelle Bewußtsein nicht zu bestimmen
braucht. Den Gegenstand betrachten, sofern er das individuelle
Bewußtsein bestimmt, ist also etwas anderes, als den Gegenstand
betrachten, sofern er schön ist. Und nur diese letzte Betrachtungs-
weise sollte die ästhetische, nur jene sollte die psychologische sein.
Die psychologistischen Konsequenzen des dargelegten Fehlers
machen sich bei Lipps selbst unverkennbar geltend. Lidem der
Lihalt des ästhetischen Wertens mit seinem Gegenstande ver-
wechselt wird, wird Lipps folgerichtig zu der Behauptung gefuhrt,
daß das ästhetische Objekt erst durch die ästhetische Wertung
geschaffen werde, also gar nicht außerhalb des menschlichen Geistes
bestehe.* Es ist hier nicht der Ort, das Recht oder Unrecht des
ästhetischen Subjektivismus zu entscheiden, aber wir müssen aus
der vorstehenden Erörterung den Schluß ziehen, daß die ihm von
> S. 97. • S. 99. • S. 99. * 8. 101 £
151] Zweiter Teil: Das Problem der Vemonftkritik. ^3'
LiPFS gegebene Begr&ndtmg fehlerhaft ist.^ Begeht man aber ein-
mal die dargelegte psychologistische Verwechslnng von Inhalt und
Gregenstand, so ist die Konsequenz eines uneingeschränkten psycho-
logischen Subjektivismus allerdings unabwendbar.'
> Lipps versncht übrigens noch eine andere Begründang, die indessen ihr
Ziel ebensowenig erreicht. Er argumentiert hier folgendermaßen:
„Was ist das ästhetische Objekt? Ist es der von mir unterschiedene Gegen-
stand? Ein solcher ist das mir Gegebene .... Wenn eine Melodie schön ist,
ist diese Melodie das von mir Gehörte? Wenn eine Dichtung, ein plastisches
Bildwerk schön ist, ist diese Dichtung, dies plastische Bildwerk das yon mir
sinnlich Wahrgenommene? Darauf lautet die Antwort: Gegeben sind mir, wenn
ich eine Melodie höre, die Töne und ihre zeitlichen Interyalle. Aber die Melodie
ist weder die Töne, noch die zeitlichen Intervalle, sondern sie ist das Ganze, das
ich aus dem mir sinnlich gegebenen Material geistig schaffe; zu dem ich die
Töne zusammenfasse und verwebe. Ebenso entsteht das dichterische oder plastische
Kunstwerk in mir durch ein mannigfaches geistiges Tun, in welchem ich das
sinnlich gegebene Material /omte' .... Dieser so geschaffene Gegenstand erst
ist schön. Nicht einen mir gegebenen, sondern einen von mir geschaffenen
Gegenstand .... meine ich also, wenn ich von einem ästhetischen Objekt rede.^
(S. 101.)
Da Lipps hier unter „gegeben'^ „sinnlich-wahrgenommen'^ versteht, so besagt
die Behauptung, der schöne Gegenstand sei mir nicht gegeben, lediglich : er sei
nicht sinnlich wahrgenommen. Hieraus kann man nicht schließen, daß der schöne
Gegenstand nicht außer mir besteht; es sei denn, daß man die Voraussetzung
macht, daß das ausschließliche Kriterium der Objektivität in der sinnlichen Wahr-
nehmung liege. Diese Voraussetzung wird in der Lippsschen Argumentation stiU-
schweigend eingeführt, indem dem Terminus „gegeben^ anstelle der erst festge-
setzten Bedeutung die der objektiven Existenz substituiert wird. Nur durch diese
unerlaubte Substitution erhält die Entgegensetzung „nicht gegeben, sondern ge-
schaffen** einen Sinn. — Der tiefere Grund dieses Fehlers liegt in einem psycho-
logischen Irrtum, der uns später (§ 75) noch zu beschäftigen haben wird.
' Lipps bleibt daher auf halbem Wege stehen, wenn er, um dem Widersinn
dieser Konsequenz zu entgehen, gewisse realistische Einschränkungen seines
Idealismus festzuhalten sucht Er will nämlich daran festhalten, daß ein Kunst-
werk auch dann weiter besteht, wenn kein Mensch in der Lage ist, es ästhetisch
zu werten, und dies wird dadurch begründet, daß zur Möglichkeit eines Kunst-
werks zweierlei gehöre: erstens das sinnlich Gegebene, und zweitens der mensch-
liche Geist Das Zusammenwirken beider lasse das Kunstwerk aktuell entstehen.
564 L- Nelson: über das sogenannte Erkenntnisproblem. [i&2
70. Lipps will die Tragweite der angeführten Argumentationen
nicht auf die Ästhetik beschränken. Diese dient ihm vielmehr nur
als Beispiel ; das behauptete Verhältnis, in dem sie zur Psychologie
stehen soU, will er in gleicher "Weise für die Logik und für die
Ethik gelten lassen. Betrachten wir daher dies Verhältnis noch
einmal bei der Logik, von der Lipps hier ausdrücklich erklärt, daß
er sie nicht im formalen Sinne verstanden wissen will.* Wir lesen :
Die „Existenz des Kunstwerks^ soll darin bestehen, „daß etwas gegeben ist, das
fordert zum Kunstwerk gestaltet zn werden und daß der menschliche Geist da
ist, der fordert, daß aus diesem Gegebenen dies Kunstwerk gestaltet werde. **
(S. 103.) — Die Inkonsequenz dieser Argumentation springt in die Augen. Die
Existenz einer Melodie besteht in der Forderung einer gewissen Folge von Tönen^
vom menschlichen Geiste auf gewisse Weise gewertet zu werden. Aber wie steht
es mit dem „Gegebensein'' dieser Töne? Und wie mit dem „Dasein** des „mensch-
lichen Geistes*^? Besteht die Existenz der Melodie nur in einer Forderung, be-
stehen dann die Töne und der menschliche Geist auf andere Weise als vermöge
analoger Forderungen? Oder welchen Vorzug haben die Töne und der mensch-
liche Geist in dieser Hinsicht vor der Melodie? Lipps selbst scheint einen solchen
Vorzug keineswegs behaupten zu wollen, wenn er sagt: das Urteil „Die Rose ist
rot, auch wenn ich nicht an sie denke** gebe lediglich „zu verstehen, die Rose
fordere, als rot gedacht zu werden**. „Die Tatsächlichkeit des Rotseins einer
Rose . . . besteht ... in einer Forderung.** (S. 102.) Was bleibt aber von der
„Rose**, wenn ich von ihrem Rotsein absehe, — was ist also dasjenige, was
„fordert, als rot gedacht zu werden**? Etwa die Gestalt, Masse oder Größe des
Gegenstandes? Aber deren Tatsächlichkeit kann ja nach Lipps auch nichts
anderes bedeuten, als daß die Forderung besteht, sie zu denken. Und nicht anders
steht es mit der Tatsächlichkeit der Töne, und nicht anders mit der des mensch-
lichen Geistes. Entweder also man nimmt Gegenstände an, deren Tatsächlichkeit
unabhängig von dem Gefordertsein gewisser Urteile oder Wertungen besteht :
dann hat Lipps keinen Grund angegeben, warum nicht auch ästhetische Gegen-
stände von dieser Art sein können. Oder aber Lipps gründet seinen ästhetischen
Subjektivismus auf die allgemeine erkenntnistheoretische Behauptung, Gegenstände
existierten nur vermöge der Erfüllung gewisser Forderungen, so fuhrt dies auf
einen uneingeschränkten Subjektivismus, der keinen Raum läßt für irgend ein
Gegebenes, das im Unterschiede von ästhetischen Gegenständen objektiv existieren
könnte. (Daß diese erkenntnistheoretische Lehre auf Widersprüche fuhrt, ist im
VI. Kapitel gezeigt worden.)
» S. 108.
X53] Zweite Teil: Das Problem der Ternanftkritik. Sgg'
„Logik ist die Lelire von den Gresetzen des Denkens, d. h. des
TJrteilens. Aber wir wissen von dem, was das Wort Urteilen be-
sagt, nur ans uns, d. h. aus unserem individuellen Bewoßtsein. Die
Logik ist demnach nichts ohne die Feststellung, was denn das
einzig im individuellen Bewußtsein auffindbare Urteilen sei. Und
diese Feststellung ist zweifellos eine Aufgabe der Psychologie.*
Was sollen wir uns unter diesen „Gesetzen des Denkens" vor-
stellen, die den Gegenstand der Logik bilden? Etwa Gesetze,
nach denen unser Denken abläuft, so wie die Bewegungen der
Planeten nach den Gesetzen der Himmelsmechanik? Anscheinend
meint es Lipps nicht so; denn er hebt selbst hervor, daß die
logischen Gesetze „JVbrwen" seien, „wie wir urteilen sollen^^
Freilich macht Lifps diese Charakteristik der logischen Gesetze
(und allgemeiner der „Gesetze der reinen Vernunft"* überhaupt,
also auch der ethischen und ästhetischen) als „Normen" dadurch
sofort wieder illusorisch, daß. er die Behauptung hinzufügt, auch
die Naturgesetze der Physik und Psychologie seien Normen. Er
gründet diese Behauptung auf den Satz: „Solche Naturgesetze
sagen nicht, was in der physischen Welt geschieht oder zu ge-
schehen pflegt. Kein Korper ist je absolut so gefallen, wie es das
Fallgesetz vorschreibt." ' Diesem Satze liegt eine heute sehr all-
gemein verbreitete Verwechslung zu Grunde. Ein Naturgesetz
sagt in der Tat nicht aus, was irgend wo oder irgend wann tat-
sächlich geschieht. Das FaUgesetz bliebe auch dann gültig, wenn
nie und nirgend in der Welt das Fallen eines Körpers stattfände.
Trotzdem aber gilt das FaJlgesetz für jeden wirklich vorkommen-
den Fall, und zwar mit absoluter Genauigkeit. Jedes Naturgesetz
ist ein hypothetischer Satz, der aussagt, daß unter bestimmten
» S. 108. « S. 110. » S. 113.
g66 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [154
Bedingungen bestimmte Folgen eintreten. Die Geltmig des Ge-
setzes ist also von dem Eintreten oder Nicht-Eintreten dieser
Folgen anabhängig; denn es behauptet nur die Eonsequenz des
Nachsatzes, der die Folgen angiebt, (tus dem Vordersätze, der die
Bedingungen angiebt. So sagt das Fallgesetz aus, daß der von
einem Körper in einem konstanten Eraftfelde zurückgelegte Weg
dem Quadrat der Zeit proportional ist; oder, wenn man sich so
ausdrucken will, es „schreibt" dies „vor". Und von dieser „Vor-
schrift" kann, wenn sie überhaupt besteht, kein Körper jemals im
mindesten abweichen. — Ob jemals der von einem Körper zurück-
gelegte Weg dem Quadrat der Zeit proportional ist, das ist eine
völlig andere Frage; denn dies hangt davon ab, ob die Bedingung
(die Konstanz des Kraftfeldes) erffiUt ist, und hierüber sagt das
Fallgesetz gar nichts aus.
Indem Lipps auf solche Weise den Unterschied zwischen Natur-
gesetzen und Normen aufhebt, kommt er schließlich wieder zu der
Folgerung, daß die logischen Gesetze als Normen des Denkens
(und ebenso die ethischen und ästhetischen Normen) „psychische
Naturgesetze" seien.^ Nun kann man allerdings mit einem gewissen
Recht sagen, daß ein Gesetz wie das des Widerspruchs oder auch
das Kausalgesetz ein Naturgesetz des Denkens sei; in dem Sinne
nämlich, in dem alles in der Natur — also auch das zur psychischen
Natur gehörige Denken — diesen Gesetzen unterworfen isi Keinem
Gegenstande kommen widersprechende Merkmale zu: also auch
keinem Gedanken. Jede Veränderung hat eine Ursache : also auch
jede Veränderung in unserem Denken. Hiervon ist aber eine
andere Bedeutung dieses Ausdrucks genau zu unterscheiden; die-
jenige nämlich, in der man darunter die Behauptung versteht : wir
* & 113.
166] Zweiter Teil: Das Problem der Yemanftkritik. 567
können keinen Gregenstand denken, dem widersprecbende Merkmale
zukommen; wir können keine Veränderong denken, die keine Ur-
sache hat. In diesem Sinne sind die logischen G-esetze gewiß nicht
Naturgesetze des Denkens. Denn wären sie es, so wäre ein Ver-
stoß gegen sie unmöglich, wie er doch in jedem Falle vorkommt,
wo ein Mensch Widersprechendes behauptet oder wo jemand an
ein Wunder glaubt.
71. Sind also die logischen G-esetze Nonnen des Denkens?
Wir haben bereits früher^ gezeigt, daß die Geltung einer Wahr-
heit sich nicht auf eine Forderung, wie wir urteilen sollen, redu-
zieren läßt. Dies gilt ohne weiteres auch von der Geltung der
logischen Gesetze. Diese sind also gewiß nicht Normen, wie wir
urteilen sollen. — Natürlich bestreiten wir damit nicht, daß sich auf
die logischen G-esetze solche Normen gründen lassen, nämlich fiir
denjenigen, der richtig denken tvilL Aber eine solche Norm ist
nicht das logische Gesetz selbst, sondern die Vorschrift, nichts zu
denken, was dem logischen Gesetze nicht gemäß ist. Und, wie
wir bereits betonten, entsprechen Normen in diesem Sinne nicht
etwa vorzugsweise den logischen G-esetzen, sondern in völlig gleicher
Weise allen G-esetzen fiberhaupt. Auf jedes mathematische, physi-
kalische, chemische oder sonstige G-esetz läßt sich eine entsprechende
Vorschrift für das Denken gründen. Und nicht nur von allen Ge-
setzen gilt dies, sondern ganz allgemein von jeglicher Wahrheit als
solcher, also auch von den To/^ocAen- Wahrheiten. Die Tatsache,
daß der Westfälische Friede im Jahre 1648 geschlossen worden
ist, darf von keinem Denken, das auf Wahrheit Anspruch erheben
will, negiert werden : hierin haben wir eine Norm, die der anderen
völlig entspricht, daß ein Denken, das auf Wahrheit Ansprach
1 Im YI. Kapitel
S68 ^' Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [1&6.
erheben will, einem Gegenstande nicht widersprechende Merkmale
zuschreiben darf.
In dem übertragenen Sinne also, in dem sich der normative
Charakter der logischen Gesetze behaupten läßt, ist jede Wahrheit
eine Norm, ein „Gesetz des Denkens"; denn ein Urteil, das ihr
gemäß ist, ist richtig, ein solches, das ihr widerspricht, falsch.
Lipps' Beweis für die psychologische Natur der Logik beweist also
wieder zu viel : Wäre er richtig, so würde er die Konsequenz ein-
schließen, daß jede "Wissenschaft ein Zweig der Psychologie sei.
Der Satz z. B., daß Quecksilber das spezifische Gewicht 13 hat,
ist genau ebenso ein Gesetz des Denkens im Lippsschen Sinne wie
der Satz des Widerspruchs oder das Kausalgesetz. Denn jedes
Urteil, das ihm widerspricht, ist falsch. Folgt aber daraus, daß
man, um den Sinn jenes Satzes zu verstehen oder um sich von
seiner Wahrheit zu überzeugen, eine psychologische Untersuchung
über das Wesen des Denkens anstellen muß?
72. Aber Lipps will nicht nur beweisen, daß die Logik eine
psychologische Untersuchung des Urteilens voraussetze, sondern
auch umgekehrt, daß eine psychologische Untersuchung des Urteilens
eine Untersuchung der logischen Gesetze voraussetze :
„Die logischen Gesetze sind Normen, wie wir urteilen sollen.
Aber auch dies ,Sollen' hat in uns zugleich treibende Kraft. Und
diese ist die eine der Komponenten in unserem tatsächlich vor-
kommenden Urteilen. Es ist darum unmöglich, daß diese Seite
des psychischen Lebens, die wir das im Individuum vorkommende
Urteilen nennen, verstanden werde, ohne daß wir die Gesetze der
Logik kennen. Dies heißt : die Psychologie schließt die Logik als
notwendigen Bestandteil in sich."^
> S. 108.
157] Zweiter Teil: Das Problem der Yemunftkritik. 569
Hier gilt derselbe Einwand wie vorher. Was Lipps von den
logischen Gesetzen sagt, läßt sich nach derselben Argamentations-
weise ohne weiteres auf alle Gesetze der Mathematik und Natnr-
wissenschaft, ja, wie gezeigt, auch auf aJle Tatsachenwahrheiten
übertragen. Nach dieser Argnmentationsweise sind die genannten
Tatsachen, daß Quecksilber das spezifische Gewicht 13 hat und daß
der Westfälische Friede im Jahre 1648 geschlossen worden ist,
„Komponenten in unserem tatsächlich vorkommenden Urteilen".
Es wäre also unmöglich, daß die „Seite des psychischen Lebens,
die wir das im Individuum vorkommende Urteilen nennen," ver-
standen werde, ohne daß wir wissen, daß Quecksilber das spezifische
Gewicht 13 hat und daß der Westfälische Friede im Jahre 1648
geschlossen worden ist; d. h. die Psychologie schlösse die Chemie
und Geschichte als notwendigen Bestandteil in sich.
Mag man übrigens die logischen Gesetze für Normen halten
oder nicht, so dürfen wir doch in keinem Falle diesen Gesetzen
eine „treibende Kraft" zuschreiben und sie als „Komponenten in
unserem tatsächlich vorkommenden Urteilen" betrachten. Einem
Gegenstande eine Kraft oder reale Wirksamkeit irgend welcher
Art zuschreiben, das, heißt: diesen Gegenstand als Ursache der
Yerändung eines anderen Gegenstandes denken. Dieser Gedanke
schließt die Annahme eines Gesetzes ein, dem gemäß die Ver-
änderung des zweiten Gegenstandes von dem ersten abhängt. Ein
solcher Gedanke ist daher auf Gesetze selbst nicht anwendbar,
denn er führt die widersinnige Konsequenz bei sich, nach der das
Gesetz zu einem realen Dinge hypostasiert würde. Das Gesetz
ist nicht selbst eine Ursache von Veränderungen, sondern (wenn
es ein Naturgesetz im physikalischen Sinne ist) nur die allgemeine
Form der Wirksamkeit solcher Ursachen.
Auch bei Gesetzen unzweifelhaft noimativen Charakters wie
570 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [168
den ethiscilen verhalt es sich nicht anders. Nicht ein ethisches
Gebot als solches, sondern allein unsere Anerkennung des Gebotes
vermag unseren Willen zu bestimmen. Analog ist der Bestimmimgs-
gmnd des ästhetischen Wertens nicht der schone Gegenstand oder
die Forderung, ihn auf gewisse Weise zu werten ; und ebensowenig
liegt der Bestimmnngsgnmd des logischen Denkens in den logischen
Gesetzen oder in irgend welchen Forderungen, logisch zu denken.
Sondern dieser Bestimmungsgrund liegt allemal in unserer Erkenntnis
der Gesetze oder Forderungen. Je nach dem Grade der Deutlich-
keit dieser Erkenntnis einerseits und je nach der Zahl und Stärke
entgegenwirkender Bestimmungsgründe andererseits wird unser
tatsächliches Denken, Wollen und Werten in größerer oder
geringerer Übereinstimmung mit den entsprechenden logischen,
ethischen und ästhetischen Gesetzen stehen. — Diese Erkenntnis
kann, da sie eine Erkenntnis allgemeiner Gesetze ist, nicht der
Erfahrung entnommen sein. Als Kriterium der Richtigkeit des
tatsächlichen Denkens kann sie andererseits nicht diesem tat-
sächlichen Denken entnonmien sein. Sie muß also unabhängig von
aller Erfahrung sowohl als auch von allem tatsächlichen Denken
ursprünglich in unserem Yorstellungsvermogen als solchem gegründet
sein. D. h. dieses Kriterium ist das, was wir die unmittelbare
Erkenntnis der reinen Vernunft nannten.^
73. Die logischen Gesetze sind also weder Normen des Denkens,
noch sind sie Naturgesetze des Denkens in dem spezifischen Sinne,
daß das Denken ihnen in irgend einer anderen Weise unterworfen
wäre als die Gegenstände der physischen Natur. Trotz alledem
hat die Bezeichnung dieser Gesetze als „Denkgesetze^ ihren guten
Sinn. Die von Lifps „logisch^ genannten Gesetze — die wir, um
' YgL § 60.
169] Zweiter Teil: Das Froblem der Vemunftkritik. S71
mit unserer Terminologie in Übereinstimmung zu bleiben, lieber
„metaphysische^ nennen wollen — sind nämlich solche, deren wir
uns nur im Denken (durch Reflexion) bewußt werden^ d. h. die nur
G-egenstand einer nicht-anschaulichen Erkenntnis sein können. Dies
nnd nichts anderes ist die eigentümliche Beziehimg der fraglichen
Gresetze zum Denken. Haben wir diesen Gesichtspunkt einmal
erfaßt, so werden wir auch das Verhältnis der Psychologie zur
Metaphysik richtiger beurteilen. Die Erkenntnis, die den Inhalt
der metaphysischen Urteile bildet, hat ihren G-rond nicht in der
Anschauung, ist also hinsichtlich ihrer Gültigkeit auch von aller
inneren Anschauung und mithin von aller psychologischen Er-
kenntnis unabhängig. Da aber eine nicht-anschauliche Erkenntnis
eine solche ist, die uns nicht unmittelbar zum Bewußtsein kommt,
so können die fraglichen Urteile nicht dadurch begründet werden,
daß wir sie unmittelbar mit der ihnen zu'G-runde liegenden Er-
kenntnis vergleichen, sondern wir müssen, um eine solche Yer-
gleichung anzustellen, die den G-rund der zu begründenden Urteile
bildende Erkenntnis erst zum Gegenstande einer wissenschaftlichen
Untersuchung machen. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die
Erkenntnisse zum Gegenstande hat, ist aber eine psychologische.
Dieser Umstand allein ist es, der der Psychologie ihre Be-
deutung für die Metaphysik (und für die Philosophie überhaupt)
giebt: Nicht der Grund, sondern die Begründung der Metaphysik
gehört der Psychologie an.
74.. Auf diesen Satz geht im Grunde auch Lipps' Darstellung
aus, aber infolge der dargelegten Fehler gelingt es ihm nicht, eine
klare Formulierung des Sachverhalts zu gewinnen. Die Identi-
fizierung von Erkenntnis und Urteil läßt ihn die unmittelbare Er-
kenntnis verfehlen und veranlaßt ihn dadurch, den Grund der
metaphysischen Urteile im Gegenstande (oder indessen „Forderungen^)
572 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [160
zu suchen nnd so die allgemeinen metaphysischen Gesetze mit der
unmittelbaren Erkenntnis dieser Gesetze zu verwechseln. Daher
die mystische Vorstellung, nach der diesen Gesetzen eine reale,
den Ablauf der psychischen Begebenheiten mitbestimmende Wirk-
samkeit („treibende Kraft") zukommen soll. Daher femer die
mystische Vorstellung von einer „überindividuellen Vernunft" oder
einem „reinen Ich", das einerseits eine dem individuellen Ich
„immanente Tatsache" und als solche ein Gegenstand der Psycho-
logie sein soU^, andererseits aber zugleich mit dem Inbegriff der
allgemeinen Gesetze identisch sein soll, die den Gegenstand der
Metaphysik bilden.* Und daher endlich die Bezeichnung der meta- ,
physischen Gesetze als „Gesetze des Geistes"' oder als „psychischer
Naturgesetze".*
Wie nahe Lipps trotz dieser Fehler gelegentlich der richtigen
Losung kommt, kann man aus der Stelle ersehen, an der er den
folgenden Einwand behandelt: „Besteht nicht ein absoluter Unter-
schied zwischen der Frage nach dem, was ist, und der Frage nach
dem, was sein soll, also zwischen Tatsache und Norm? Wie kann
dann die Psychologie, die doch Wissenschaft von Tatsachen ist,
normative Wissenschaft sein?"* Lipps antwortet: „Gewiß sagt die
Psychologie nicht, was sein soll, in dem Sinne, daß sie selbst
normierte, d. h. daß sie oder daß der Psychologe irgend jemand in
der Welt Vorschriften machte Aber ... so gewiß die Psycho-
logie nicht normiert, d. h. Vorschriften giebt, so gewiß berichtet
sie von den Tatsachen, die den Namen ,Norm' tragen. . . Das
Normieren überläßt die Psychologie . . . der Vernunft. Und die
Psychologie ist ja nicht etwa die Vernunft. Aber sie ist eine
> 8. 109, 112. • Ebenda. » S. 107. * S. 113 f. Aucli als
„reine" oder „aligemeine" „Tatsachen'' werden diese Gesetze bezeichnet (S. 114.)
* S. 112.
161] Zweiter Teil: Das Problem der Yemunftkritik. 573
Wissenschaft von der Vernunft, obzwar nicht von der Vernunft
allein; und eben damit ist sie Wissenschaft von Normen. ^^
Hierzu ist zunächst zu sagen, daß, wenn man zugiebt, daß die
Psychologie nicht normiert, man die Psychologie nicht „normativ"
nennen sollte, da diese Benennung nach dem üblichen Sprachge-
brauch gerade die hier von Lipps abgelehnte Ansicht ausdrückt,
nach der die Psychologie „selbst normierte".
Im übrigen aber wird in diesen Worten deutlich die Vernunft
als Gegenstand der Psychologie bezeichnet und als solcher vom
Inhalt dieser Wissenschaft unterschieden. Es bleiben nur zwei
wesentliche Mängel, die der richtigen Verwertung dieser Einsicht
im Wege stehen. Erstens fehlt die Unterscheidung zwischen der
ErJcefintnis der „Vemunftgesetze" und diesen Gesetzen selbst,
und so bleibt der Gebrauch der Worte „Vernunft" und „Norm"
zweideutig. Besonders das letzte Wort kann ebensowohl auf
die metaphysischen Gesetze selbst als auch auf die Erkenntnis
dieser Gesetze gehen.* Nur in dieser zweiten Bedeutung darf
man „die Vernunft und ihre Normen" als „Tatsache" bezeichnen
und sagen, daß die Psychologie eine „Wissenschaft von der
Vernunft" oder eine „Wissenschaft von Normen" sei. Lipps
unterscheidet diese beiden Bedeutungen nicht, und so bleibt er
trotz der Trennung von Inhalt und Gegenstand der Psychologie
in der psychologistischen Verwechslung des Gegenstandes der
Psychologie mit dem Gegenstande der Metaphysik befangen.
Damit hängt eng der aweite Mangel zusammen, der in dem
Fehlen der Unterscheidung von Urteil und Erkenntnis (oder von
» S. 112.
' Auf die „Erkenntnis dieser Gesetze**, wenn man diese Erkenntnis als
unmittelbare Yom Urteü unterscheidet und als Kriterium oder Erkenntnisgnmd
der Gültigkeit der Urteile betrachtet.
▲bhudlnasea dar FriM*ich«]i Bobnle. IL Bd. 37
574 L« Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. . [162
mittelbarer nnd unmittelbarer Erkenntnis) besteht. Dieser Mangel
hat znr Folge, daß es Lifps an jedem Kriterium fehlt, um die*
jenigen Tatsachen unter den Gegenständen der Psychologie, denen
er den Namen „Norm^ giebt, von den anderen zu unterscheiden,
die durch die ersteren normiert werden sollen. Ohne ein solches
Kriterium aber bleibt in der Forderung psychologischer Kritik
(oder, wie Lipps es nennt, eines psychologischen Berichts über die
Tatsachen, die den Namen Norm tragen,) eine schlechthin unlös-
bare Faradoxie: Einerseits wird gefordert, die Gültigkeit aller
Urteile an der Hand gewisser Normen zu prüfen, die sich unter
den dem individuellen Ich immanenten Tatsachen psychologisch
auffinden lassen sollen; andererseits wird vorausgesetzt, alle Er-
kenntnis bestehe in urteilen. Die Normen sollen also einerseits
psychische Tatsachen sein, andererseits aber können sie weder
dem tatsächlichen Erkennen noch dem tatsächlichen Wollen und
Werten angehören, — denn alles dieses soll ja erst durch die
Normen normiert werden, — können also überhaupt nicht unter
den psychischen Tatsachen vorkommen. Die genannte Forderung
und die genannte Voraussetzung schließen sich also gegenseitig
aus. Nur durch Unterscheidung von Reflexion und reiner Vernunft
ist diese Faradoxie zu lösen, nur auf Grund dieser Unterscheidung
besteht die Möglichkeit einer psychologischen Kritik und damit
einer Kritik überhaupt.^
75. Diese Unterscheidung wird nicht eher Anerkennung finden,
als bis der heute noch allgemein herrschende Fehler verbessert
^ Auch die Darlegungen Stumpfs über ^Psychologie und Erkenntnistheorie''
(Abbandlungen der phüologisch-philosophischen Klasse der Königl. Bayerischen
Akademie der Wissenschaften, IX. Band, S. 465 ff.) gründen sich auf die fehler-
hafte Identifizierung Yon Erkenntnis und Urteil. Nach Stumpf ist die ,,Unter-
Buchung des Ursprungs der Begrifft*^ eine Aufgabe der Psychologie, ,,die Auf-
suchung der allgemeinsten unmittelbar einleuchtenden Wcihrheittn dagegen Sache
der Erkenntnistheorie'*. (8. 501.) Diese unmittelbaren Wahrheiten sollen (nach
163] Zweiter Teil: Das Problem der Vemanftkritik. 575
sein wird, der in der Verwechslung von Selbsttätigkeit und Will-
kürlichkeit besteht. Willkürlichkeit ist nur eine besondere Art
der Selbsttätigkeit; freilich diejenige, die am unmittelbarsten ins
Bewußtsein fallt. Der reinen Vernunft gehört die ursprüngliche
Selbsttätigkeit im Erkennen; die Willkürlichkeit im Erkennen
durch Urteile ist das ausschließliche Eigentum der Reflexion. Lipps
dagegen schließt unmittelbar von der Selbsttätigkeit auf Willkür-
licbkeit. So sagt er z. £. : „Das überindividuelle Ich an sich weiß
nichts von Bezeptivität. Es ist reine Aktualität, oder reine Tätig-
keit. Wir können diese auch, wie alle bewußte Tätigkeit, Willens-
tätigkeit nennen. Dann ist das reine Ich Wille. "^
Seite 508) Urteile sein. Folgerichtig erklärt daher Stumpf die „Frage nach den
Bedingungen der Möglichkeif^ dieser Urteile für unstatthaft:
„Jede weitere Untersuchung könnte sich nur auf die psychologischen Be-
dingungen erstrecken, unter welchen UrteUe dieser Art im Bewußtsein auftreten.
Die bezüglichen Vorstellungen müssen da sein, die Fähigkeit der Abstraktion
allgemeiner Begriffe muß vorhanden sein, die Aufmerksamkeit muß die erforder-
liche Intensität und Richtung haben u. s. w. Aber keine noch so sorgfaltige
Beschreibung aller Glieder des psychologischen Mechanismus wird uns die Evidenz
noch evidenter, die unmittelbare Erkenntnis noch unmittelbarer machen, keine
uns auch nur eine Einsicht gewähren, wie und warum sie und zwar gerade diese
und keine anderen als Grundlage unsres Denkens möglich sind. Entweder man
liefert Prämissen zur logischen Begründung des Urteilsinhalts — dann waren jene
Erkenntnisse nicht wirklich unmittelbare — oder man liefert psychologische Be-
dingungen des Urteilsprozesses, dann hat man das Feld der Erkenntnistheorie
verlassen und ist im eigentlichsten Sinne in ein &IX0 yivog von Untersuchungen
übergegangen. Ein Drittes giebt es nicht.** (S. 503.)
Diese Sätze lassen erkennen, daß Stumpf keine andere Begründung anerkennt
als den Beweis und daß er andererseits keine andere psychologische Untersuchung
anerkennt als die genetische. Es giebt aber allerdings ein „Drittes**, nämlich eine
Untersuchung, die sowohl eine Begründung ist als auch psychologisch verfährt,
die aber weder ein Beweis ist, noch genetisch verfährt, nämlich die psychologische
Deduktion, d. h. die Aufweisung einer dem unmittelbaren Urteil zu Grunde liegenden
unmittelbaren Erkenntnis,
^ Inhalt und Gegenstand; Psychologie und Logik. S. 664.
37*
576 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [164
Dieser Irrtum hat bei Lipps sehr wichtige Folgen. Erstens
macht er -- aus dem angegebenen Grunde — die Lippssche Psycho-
logie zu einer Verwertung für die Zwecke der Vernunftkritik von
vornherein unfruchtbar. Zweitens aber giebt er noch zu einem
weiteren rein psychologischen Fehler Anlaß. Dieser Fehler besteht
in der Identifizierung des Gregensatzes von Denken und Wahrnehmen
mit dem Gegensatze von Spoi^taneität und Rezeptivität. Die
Selbstbeobachtung zeigt uns in dem „Haben von Empfindungs-
inhalten" so wenig ein „rezeptives" Verhalten, ein „Affiziert-Sein"*
wie im „Denken". Der Unterschied ist nur der, daß das Haben
von Empfindungsinhalten kein Akt der WillJcür ist. Lipps aber
setzt von vornherein voraus, daß alle „Tätigkeit" im Erkennen
„Tätigkeit der Zuwendung der Aufmerksamkeit" oder, wie er sagt,
„Auffassungstätigkeit" ist.* Damit ist das Gebiet der „Tätigkeit"
natürlich auf die bloße Reflexion eingeschränkt, und der Schluß
wird unvermeidlich, daß die Sinnes Wahrnehmung ein „rezeptives
Erlebnis" ist. Denn allerdings „trägt das Haben von Empfindungs-
inhalten nichts von Aktualität in sich", wenn man unter Aktualität
lediglich Willkürlichkeit versteht.^
Allerdings müssen wir nach dem Kausalgesetze, wie für jede
Veränderung, so auch für das Eintreten der Sinneswahmehmungen
eine Ursache voraussetzen. Und da wir diese Ursache i\icht nur
nicht in unserer Willkür, sondern überhaupt nicht unter den
Gegenständen der inneren Erfahrung antreffen, so können wir sie
nur in einer äußeren Anregung suchen. Dieses Angeregtwerden
» Ebenda, S. 617.
< Ebenda, S. 521.
' Einen besonders deutlichen Ausdruck findet diese fehlerhafte Disjunktion
zwischen Passivität und Willkürlichkeit bei Wvndt: „Nicht unmittelbar durch
WillensYcrgänge beeinfluBt werden . . . eben dies ist uns das Ejriterium eines
passiven Erlebnisses. ** (Grundriß der Psychologie, § 17, 5. Aufl. S. 301.)
165] Zweiter Teil: Das Problem der Yemanftkritik. 577
zu der wahrnehmenden Tätigkeit, nicht die Wahrnehmung selbst,
ist ein rezeptives Verhalten. Und so setzt allerdings die Möglich-
keit der Sinneswahmehmung eine Rezeptivität des Greistes, eine
Empfänglichkeit für äußere Anregungen voraus; aber wir finden
diese Eezeptivität nicht in der unmittelbaren Selbstbeobachtung
vor, sondern nehmen sie nur im Zusammenhange der Erfahrung
auf Grund eines Schlusses aus dem Kausalgesetze an.
Daraus nun, daß Lipps den Irrtum begeht, einerseits die "Wahr-
nehmung selbst für ein rezeptives Verhalten, für ein „Affiziert-
Sein" durch den „Gregenstand" zu halten, andererseits die Spon-
taneität der Erkenntnis a priori auf die Willkürlichkeit der Re-
flexion einzuschränken, erklärt sich seine (§ 69 besprochene) An-
nahme von der ausschließlichen Objektivität der sinnlichen Wahr-
nehmung, eine Annahme, die wir nach Kant kurz als „formalen
Idealismus" bezeichnen können. In der Tat, wenn man von der
Voraussetzung ausgeht, alle Erkenntnis a priori sei ein Produkt
unserer Willkür, alle Erkenntnis a posteriori hingegen ein Produkt
des affizierenden Gegenstandes, so wird der von Lipps zur Be-
gründung seines ästhetischen Subjektivismus benutzte Schluß von
der Apriorität auf die Subjektivität unvermeidlich. Diese Voraus-
setzung erscheint für Lipps infolge des dargelegten Irrtums so
selbstverständlich, daß er sie geradezu zur Definition der Apriorität
benutzt: „Das, was in der Erfahrung uns zuteil wird, ist das
Aposteriorische, das von der Erfahrung Verschiedene, aus dem
denkenden Ich oder dem Geiste zu ihr £[inzutretende müssen wir
dann das Apriorische nennen."*
Ebenda, S. 552.
Dritter Teü;
Die Geschichte der Erkenntnistheorie.
,,W«iiii diees Be1iiitHMi1t«it immer gebmueht wird, wenn
man, ehe der Beweit noeb r^antht wird, luror weialieh bei lich
SV Rate geht, wie und mit welehem Grande der Hoffkinng man
wohi eine solehe Brweiterang dueh reine Yernonft erwarten
könne, nnd wober man, in dervleiohen Falle, dieee Einsioliten,
die nieht aas B^grilfen entwiekeit werden können, denn her-
nehmen wolle: 80 kann man «leh riel irhweie nnd dennoch
fhwhtlose Bemflhnnfen eraparen, indem man der Yernonft
nichts lomntet, waa olfenbar über ihr Yeimögen geht, oder
vielmehr lie, die, bei Anwandhingen ihrer apekiüatiTen Er-
ireiteningmacht rieh nieht gerne einaohriaken liftt, der Dia-
lipUn der EnthaMiamkelt nnterwirft.''
KANT, Kritik der reinen Yernnnft. (Die Diasiplin der
reinen Yernnnft in Aneehnng ihrer BeweiN.)
XV.
Die erkenntnistheoretisGhen
Voraussetzungen des formalen Idealismus.
76. Wir kommen auf die in der Einleitung aufgeworfene
Frage zurück. Es handelt sich darum, in der Eigentümlichkeit
der Kantischen Philosophie die Erklärungsgründe für die Divergenz
ihrer mannigfachen Fortbildungsversuche zu finden. Diese Gründe
lassen sich insgesamt auf den einen zurückführen, daß Kant, der
Erfinder der Kritik der Vernunft, die Aufgabe dieser Wissenschaft
nicht hinreichend scharf gefaßt hat, um eine Verwechslung mit
der Aufgabe der Erkenntnistheorie (einer Theorie der Möglichkeit
der Erkenntnis überhaupt) auszuschließen. Der Beweis dieser
Behauptung soll den Inhalt der folgenden E^apitel bilden.
Die Hauptlehre der Kantischen Philosophie bildet der ^trans-
zendentale Idealismus", d. h. die Lehre von der Unmöglichkeit
einer positiven Erkenntnis der Dinge an sich. Für diese Lehre
hat Kant zwei ganz verschiedene Begrfindungsmittel. Das eine,
das zur eigentlichen Einführung der Lehre dient und von Kant
überall an die Spitze gestellt worden ist, beruht auf dem Ge-
danken, daß wir „von den Dingen nur das a priori erkennen, was
wir selbst in sie legen^.^ Da nämlich aller Erfahrung gewisse
> Kritik der reinen Vomunfty Vorrede zwt iweiien Ausgabe.
582 L« Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [170
Erkenntnisse a priori als ihre Farm, d. L als eine Bedingung ihrer
Möglichkeit, zn G-rande liegen, so folgt nnter Yoraassetznng des
eben angeführten Satzes, daß die Gregenstande aller möglichen
Erfahrung keine Dinge an sich sein können.
Das andere Begründnngsmittel, das neben dem ersten oft über-
sehen worden ist, liegt in der Anflösong der Antinomieen. Die
Antinomieen entstehen durch die Voraussetzung, die G-egenstände
der Erfahnmg seien Dinge an sich. Indem nämlich auf G-rund *
dieser Voraussetzung den G^enständen der Erfahrung gewisse
Prädikate beigelegt werden, die mit dem Begriffe eines Dinges an
sich notwendig verbunden sind, gerät man in Widersprüche mit den-
jenigen Eigenschaften der Gegenstände der Erfahrung, die ihnen
auf Grund ihrer rein-anschaulichen oder mathematischen Form
zukommen. Die Auflösung dieser Widersprüche führt daher auf
den Satz, daß die Gegenstände der Erfahrung keine Dinge an sich
sein können.
77. Fassen wir die erste Beweismethode näher ins Auge. Es
leuchtet ohne weiteres ein, daß sie eine bestimmte Theorie über
das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande voraussetzt. Diese
Theorie ist, wie man leicht findet, in den Eantischen Sätzen ent-
halten:
„Es sind nur zwei Fälle möglich, unter denen synthetische
Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentreffen, sich auf
einander notwendiger Weise beziehen, und gleichsam einander
begegnen können. Entweder wenn der Gegenstand die Vor-
stellung, oder diese den Gegenstand allein möglich macht.
Ist das Erstere, so ist diese Beziehung nur empirisch, und
die Vorstellung ist niemals a priori möglich.''^
< Kritik der reinen Vemonft, § 14 (Übergang zur transzendentalen Deduktion
der Kategorieen).
Um yer^^leiclie hiersa aacb die fo]|;enden S&tse ans dem Briefe an Mabcxjs
171] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 588
Diese Sätze vorausgesetzt, folgt die za beweisende Lehre
onwiderleglich. Dinge an sich sind Dinge, die unabhängig von
jeder Art, wie sie erkannt werden, bestehen. Hängt also bei Er-
kenntnissen a priori der Gegenstand, seiner Möglichkeit nach, von
der Erkenntnis ab, so folgt, daß die Q-egenstände von Erkennt-
nissen a priori keine Dinge an sich sein können.
Aber wie steht es mit diesen Sätzen selbst ? Mehrere Voraus-
setzungen sind in ihnen enthalten. Zunächst die Annahme, daß
die Beziehung zwischen Erkenntnis und Gregenstand von der Art
ist, daß entweder der Gegenstand die Erkenntnis oder die Er-
kenntnis den Gegenstand möglich macht. Diese Annahme enthalt
eigentlich wieder zwei Voraussetzungen:
1) die Voraussetzung, daß das Verhältnis der Erkenntnis zum
Gegenstande ein katisales ist;
2) die Voraussetzung, daß dieses Eausalverhältnis ein unmittd-
bares ist, d. L daß keine gemeinschaftliche Ursache fdr die
Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand mög-
lich ist.
H£RZ vom 21. Februar 1772 :
„Ich frag mich nämlich selbst: auf welchem Grande berohet die Beziehung
desjenigen, was man in uns VorsteUung nennt, aaf den Gegenstand? Enthält die
Vorstellaog nar die Art, wie das Sabjekt von dem Gegenstande affiziert wird, so
ist's leicht einzusehen, wie sie diesem als eine Wirkung ihrer Ursache gemäß sei
und wie diese Bestimmung unsres Gemüts etwas vorstellen d. i. einen Gegenstand
haben könne." [Kant schreibt „er" statt „sie" und „seiner" statt „ihrer" ; ein
offenbares Versehen, wie ich mit 0. Meterhof (Yierte^ahrsschrift für wissen-
schaftliche Philosophie, 1907, S. 437) annehme.] „Die passiven oder sinnlichen
Vorstellungen haben also eine begreifliche Beziehung auf Gegenstände . . . Ebenso :
wenn das, was in uns Vorstellung heißt, in Ansehung des Objekts aktiv wäre,
d. i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde, so würde auch
die Konformität derselben mit den Objekten verstanden werden können,"
(Kants gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Band X, S. 124 f.)
584 ^' ^^011 : Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [172
Wie kommt nim Eant von diesen beiden Yoranssetznngen zu
dem Satze, daß bei Erkenntnissen a posteriori der Gegenstand die
Erkenntnis, bei Erkenntnissen a priori die Erkenntnis den Gegen-
stand möglich mache ? Zu diesem Schritte gehören weitere Voraus-
setzungen. "Wir finden sie in Kants Lehre vom Verhältnisse der
Sinnlichkeit zum Verstände:
„Unsre Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen
des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen
(die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite, das Vermögen,
durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen:
(Spontaneität der Begriffe) . . . Wollen wir die Bejseptivität
unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, sofern es auf
irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen, so ist
dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen,
oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand.^^
Kaih* sieht also in der Sinnesanschauung ein passives Verhalten,
eine Vorstellungsweise, die „nur die Art enthält, wie wir von
Gegenständen affiziert werden". Er nennt sie daher „eine Vor-
stellung, so wie sie unmittelbar von der Gegenwart des Gegen-
standes abhängen würde''.' Erkenntnisse a priori hingegen sind
nach ihm von der Art, daß sie „vor dem Gegenstande selbst vor-
hergehen".' — Die gesuchten, zu den Sätzen (1) und (2) noch
hinzukommenden Voraussetzungen sind also die folgenden beiden :
3) Bei Erkenntnissen a posteriori geht der Gegenstand der
Erkenntnis vorher.
> Transzendentale Logik, Einldtong, I.
' Prolegomena, § 8.
> Ebenda. — Für die Kritik der Lehre TQn der Passivität der sinnlichen
Yorstellongen verweise icb auf § 75.
173] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 585 .
4) Bei Erkenntnissen a priori geht die Erkenntnis dem Gegen-
stande vorher.
78. Fragen wir nun zuerst: Wie verhalten sich diese Voraus-
setzungen zu einander? Offenbar kommt die zweite zu der ersten
und ebenso jede der beiden übrigen zu den vorhergehenden als
etwas völlig TJnableitbares hinzu. "Wir können femer feststellen,
daß keine dieser Voraussetzungen sich auf eine analytische Not-
wendigkeit gründen kann. (1) und (2) enthalten Aussagen über
das Stattfinden eines Kausalverhältnisses^ und Kausalverhältnisse
können — nach Kants eigenen Nachweisungen — niemals durch
analytische Urteile erkannt werden. Ebenso gründet sich (3) auf
das Kausalgesetz.^ Was (4) betrifft, so kann diese Voraassetzong
deshalb nicht analytisch sein, weil die Erkenntnis a priori lediglich
negativ, als die nicht-empirische Erkenntnis definiert ist* und sich
aus dieser Definition, die auf die ErkenntnisgueZZe geht, kein Schluß
auf das Verhältnis zum Gegenstande ziehen läßt. — Aber diese
Voraussetzungen können aach keine empirischen Urteile sein. Denn
die Allgemeinheit, in der sie aufgestellt werden und für den
Kantischen Beweis auch in Anspruch genommen werden müssen,
kann — ebenfalls nach Kants eigenen Nachweisungen — nicht
auf Erfahrung gegründet werden. Alle vier Voraussetzungen sind
also synthetische Urteile a priori. Und zwar müssen sie, da sie
sich offenbar nicht auf Anschauung gründen lassen, metaphysiscJie
Urteile sein.
79. Wir wollen nicht den Einwand erheben, daß die Kritik
der Vernunft eine petitio principii begeht, indem sie sich von
vornherein auf metaphysische Urteile stützt, deren Möglichkeit
> Vergl. § 75.
' Kritik der reinen Vemonft, Einleitung, I.
586 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [174
sie doch erst untersuchen will. Aber da es die Aufgabe der
Kritik ist, die metaphysischen Urteile zu begründen, so müssen
wir die Frage aufwerfen, ob denn die fraglichen metaphysischen
Yoraussetzxmgen von der Kritik begründet werden. Es bedarf
nur eines Blicks auf die Tafel der von der Kritik begründeten
metaphysischen Urteile, — es sind deren acht, die sogenannten
Grundsätze des reinen Verstandes oder die Prinzipien der Mög-
lichkeit der Erfahrung, — um sich zu überzeugen, daß die Frage
verneint werden muß. Die fraglichen Voraussetzungen sind hier-
nach unzulässig. — Aber noch mehr: sie führen auf einen Wider-
spruch. Sie enthalten nämlich Aussagen über das Verhältnis der
Dinge an sich zu unserer Erkenntnis^, setzen also, da sie sich
nicht auf Erfahrung gründen können, die Möglichkeit voraus, über
Dinge an sich a priori etwas auszusagen. Grerade diese Möglich-
keit wird aber durch die Annahmen (1), (2) und (4) ausgeschlossen.^
Dieser Widerspruch ist oft bemerkt worden. Die reinen
Verstandesbegriffe oder Kategorieen liegen, als Bedingungen der
* Dies könnte bei (3) zweifelhaft erscheinen. Daß aber auch hier der
affizierende Gegenstand das Ding an sich bedeutet, geht aus vielen Erklärungen
Kants hervor. Ich nenne nur die folgenden: „Das sinnliche Anschauungsvermögen
ist eigentlich nur eine Rezeptivität, auf gewisse Weise mit Vorstellungen affiziert
zu werden . . . Die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gänzlich
unbekannt (Kritik der reinen Vernunft, Kehrbachsche Ausgabe, S. 403.) „Die
Gegenstände, als Dinge an sich, geben den Stoff zu empirischen Anschauungen,
(sie enthalten den Grund, das Vorstellungsvermögen, seiner Sinnlichkeit gemäß zu
bestimmen).** („Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Ver-
nunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll.** S. 56.) Vgl. ebenda
S. 64, wo die Sinnlichkeit erklärt wird als die „Art, wie wir von einem an sich selbst
uns ganz unbekannten Objekt affiziert werden." Ähnlich Prolegomena, § 82 und 36.
Was die Voraussetzung (4) betrifft, so werden wir sie im XVII. Kapitel
einer besonderen Prüfung unterziehen.
* Die Annahme (3) ist nur erforderlich, um den Kantischen Idealismus als
„formalen'* einzuschränken und um den Satz zu begründen, daß die Gegenstände
unserer Erkenntnis in transzendentaler Hinsicht Erscheinung und nicht Schein sind*
175] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 587
Möglichkeit aller Urteile, auch jedem Urteile über die Dinge an
sich zn Grunde. Sprechen wir von einem Dinge an sich, so wenden
wir damit schon die Kategorie der Substanz an; nennen wir es
die Ursache unserer Empfindungen, so unterwerfen wir es der
Kategorie der Kausalität; schreiben wir ihm Existenz zu, so
wenden wir die Kategorie der Existenz an. Die Behauptung, alle
Vorstellungen a priori seien nicht auf Dinge an sich anwendbar,
führt also notwendig auf Widersprüche.
Zur Beseitigung dieses Widerspruchs scheinen zwei Wege
ofPen zu stehen. Die Annahme des formalen Idealismus hat zur
Folge die Unvereinbarkeit der Annahme von Dingen an sich mit
dem Satze der Kritik, daß gewisse Prinzipien a priori Bedingungen
der Möglichkeit aller Urteile sind. Man hat daher, wenn man
diesen Satz der Kritik aufrechterhalten will, die Wahl, entweder
die Annahme von Dingen an sich (und damit natürlich, bei Auf-
rechterhaltung von (3), auch von Erkenntnissen a posteriori * ) oder
aber den formalen Idealismus fallen zu lassen. Die meisten Nach-
folger EüLNTS haben den ersten Weg eingeschlagen. Aber aus
unseren Untersuchungen geht deutlich hervor, daß auf solche
Weise der Kantische Fehler nicht beseitigt, sondern nur in seine
Konsequenzen verfolgt wird.* Wir werden hierauf im XXV.
Kapitel zurückkommen.
^ Hieraus erklärt sich der nachkantische Rationalismus.
' Streng genommen müssen wir sagen: Die genannten Sätze (1) bis (4)
stehen nicht unter einander in Widerspruch, sondern nur die Annahme unseres
Wissens um den Inhalt dieser Sätze enthält einen Widerspruch. Nicht daß Dinge
an sich a priori unerkennbar seien, sondern nur, daß wir wissen^ die Dioge an
sich seien a priori unerkennbar, widerspricht sich. Denn : hätten wir ein solches
Wissen, so besäßen wir in ihm eine Erkenntnis a priori der Dinge an sich, näm-
lich die, daß eine Erkenntnis a priori der Dinge an sich unmöglich sei
Hieraus ergiebt sich, daß sich aus dem konstatierten Widerspruch nichts
588 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [176
XVL
Die AnsBchliessung des Pr&formationssystems.
80. Von den vier anf^ezählten Voraossetzaugen des formalen
Idealismns ist die zweite dnrch den bekannten Streit zwischen
Trendei^enbürq lind Euno Fischer Gegenstand vielfacher Diskussionen
geworden. Wir wollen ihr einige Betrachtangen widmen, die,
wie uns scheint, zur Beilegung der tatsächlich unausgetragen ge-
bliebenen Streitfrage dienen können.
Der Vorwurf Trekdelenburgs, Kaut habe bei seiner Begründung
des formalen Idealismus die Möglichkeit einer prästabilierten
weiter schließen l&ßt, als daß es anmöglich ist, zu wissen, die Dinge an sich seien
a priori unerkennbar. Es folgt also aus jenem Widersprach nichts anderes, als
daß der formale Idealismas ein anbegründbares Dogma ist.
Es verhält sich mit dem hier festgestellten Widersprach nicht anders als in
den § 5 and § 16 Anmerkung (S. 470 des ersten Teils) erörterten Fällen. Auch
der § 33 aufgedeckte Widerspruch ist von derselben Art. (Das bekannte Paradoxon
des lügenden Kreters gehört ebenfalls hierher.) Wir stoßen in allen diesen Fällen
auf eine besondere Art von Widersprüchen, deren Eigentümlichkeit ich noch
nirgends in der Litteratur hervorgehoben finde, obgleich es, wie die betrachteten
Beispiele zeigen, zur Vermeidung naheliegender und oft wiederholter Irrtümer
äußerst wichtig ist, sie als solche zu erkennen and von dem Sachverhalt, den
man sonst schlechtweg als „Widerspruch <* bezeichnet, sorgfältig zu unterscheiden.
Zur Erleichterung dieser Unterscheidung empfiehlt es sich, eine besondere Be-
zeichnung für die in den genannten Fällen auftretende Art von Widersprüchen
einzuführen. Ich nenne sie, in Ermangelung eines passenderen Namens, „introjizierte
Widersprüche^. Eine Aussage A über ein Subjekt X enthält dann und nur dann
einen introjizierten Widerspruch, wenn die Möglichkeit der Aussage .^ für X
einen gewöhnlichen Widerspruch enthält. — Wir werden im Folgenden noch
weiteren Beispielen derartiger introjizierter Widersprüche begegnen.
Man konnte geneigt sein, Widersprüche dieser Art dadurch zu beseitigen^
177] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 689
Harmonie übersehen, war nnzatrefPend. Sowohl in dem, damals
freilieh noch wenig bekannten Briefe an Mabcüs Herz vom 21. Fe-
bruar 1772 als auch in der Kritik der reinen Yernonft selbst,
sowie in den Prolegomenen geht Kakt auf diese Möglichkeit ein.
Wir wollen zaerst die Stelle ans der Kritik der reinen Vernunft
ins Auge fassen. Sie befindet sich im § 27 der zweiten Ausgabe.
Dort heißt es von den Kategorieen:
„Nim sind nur zwei Wege, auf welchen eine notwendige
Übereinstimmung der Erfahrung mit den Begriffen von ihren
Gegenständen gedacht werden kann: entweder die Erfahrung
macht diese Begriffe, oder diese Begriffe machen die Erfahrung
möglich. Das Erstere findet nicht in Ansehung der Kategorieen
(auch nicht der reinen sinnlichen Anschauung) statt; denn
sie sind Begriffe a priori, mithin unabhängig von der Er-
fahrung (die Behauptung eines empirischen Ursprungs wäre
daß man jedesmal die fragliche Aussage A mit einer Einschränkong versieht,
wonach die Aussage A selbst von den in ihr für unzulässig erklärten Aussagen aus-
genommen wird. Z. B. : „Alle aUgemeinen Sätze mit Ausnahme dieses Satzes sind
unzulässig.** Hier entsteht aber die Frage: welcher Satz soll hier der ausge-
nommene sein? Der ursprüngliche, der zu dem Widerspruch Anlaß gab, oder
der neue, schon mit der Ausnahme versehene ? Im ersten Falle wäre der ursprüng-
liche Satz Ä, als ausgenommener, richtig, gälte also ohne Ausnahme. £s wäre
folglich der neue Satz falsch, und wir hätten denselben Widerspruch wie vorher.
— Im zweiten FaUe kämen wir auf einen Satz von der folgenden Form: „Alle
Sätze der angegebenen Art mit Ausnahme des Satzes : ,alle Sätze der angegebenen
Art mit Ausnahme dieses Satzes sind unzulässig* sind unzulässig." Man sieht
hier leicht, daß bei fortgesetzter Einsetzung des auszunehmenden Satzes an stelle
des Wortes „dieses" eine unendliche Reihe von Ausnahmen zu bilden ist. Die
Unvollendbarkeit dieser Reihe beweist die Unmöglichkeit, mit dem in Frage stehenden
Einschränkungsverfahren einen Sinn zu verbinden. ~ (Vgl E. Grelling und
L. Nelson: „Bemerkungen zu den Paradozieen von Russell und Bu&ali-Fobti"
§ 9 bis 12, in den Abhandlungen der Fries'schen Schule, Band n, S. 318 ff., wo
man ähnliche Beispiele introjizierter Widersprüche angegeben findet.)
AbhandloogM der FriM*KlMii Sehale. U. Bd. 38
690 ^' Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [178
eine Art von generatio aequivoca). Polglich bleibt nur das
Zweite äbrig (gleichsam ein System der Epigenesis der reinen
Vernunft): daß nämlich die Eategorieen von Seiten des Ver-
standes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt
enthalten."
Gleich darauf spricht Eant von dem Vorschlage eines „Mittel-
weges" „zwischen den zwei genannten einzigen Wegen". Nach
diesem Mittelwege, dem „Präformationssystem der reinen Vernunft",
wären die fraglichen Prinzipien „subjektive, uns mit unserer
Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zum Denken, die von
unserm Urheber so eingerichtet worden, daß ihr Gebrauch mit
den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahrung fortläuft,
genau stimmte^. — Man sieht, daß die Ablehnung dieses Mittel-
weges mit der zweiten der oben von uns formulierten Voraus-
setzungen der Kantischen Erkenntnistheorie identisch ist.
81. Wer aber hier genauer zusieht, wird finden, daß die zwei
j^genannten^ Wege solche waren, die nicht eine Erklärung des
Verhältnisses der Erkenntnis a priori zum Gegenstände^ sondern eine
Erklärung ihres Verhältnisses zur Erfahrung enthalten, daß also
Kant bei seiner Ausschließung des Präformationssystems, ohne es
zu bemerken, einem wohlbegründeten Urteile über das Verhältnis
der Erkenntnisse untereinander ein dogmatisches Urteil über das
Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande unterschiebt.
Daß Kant diesen Fehler ¥rirklich begeht, läßt sich noch deut-
licher aus einer entsprechenden Stelle der Prolegomena ersehen.
An dieser Stelle (§ 36) heißt es :
„Selbst der Hauptsatz, der durch diesen ganzen Abschnitt
ausgeführt worden, daß allgemeine Naturgesetze a priori er-
kannt werden können, führt schon von selbst auf den Satz,
daß die oberste Gesetzgebung der Natur in uns selbst, d. i. in
179J Dritter Teil: Die Geschiclite der Erkenntnistheorie. 591
unserm Verstände liegen müsse, and daß wir die allgemeinen
Gesetze derselben nicht von der Natnr vermittelst der Er-
fahrung, sondern umgekehrt, die Natur ihrer allgemeinen
Gesetzmäßigkeit nach, bloß aus den in unserer Sinnlichkeit
und dem Verstände liegenden Bedingungen der Möglichkeit
der Erfahrung suchen müssen ; denn wie wäre es sonst möglich,
diese Gesetze, da sie nicht etwa Segeln der analytischen Er-
kenntnis, sondern wahrhafte synthetische Erweiterungen der-
selben sind, a priori zu erkennen? Eine solche und zwar
notwendige Übereinstimmung der Prinzipien möglicher Erfahrung
mit den Gesetzen der Möglichkeit der Natur kann nur aus
zweierlei Ursachen stattfinden: entweder diese Gesetze werden
von der Natur vermittelst der Erfahrung entlehnt, oder um-
gekehrt die Natur wird von den Gesetzen der Möglichkeit
der Erfahrung überhaupt abgeleitet und ist mit der bloßen
allgemeinen Gesetzmäßigkeit der letzteren völlig einerlei. Das
erstere widerspricht sich selbst, denn die allgemeinen Natur-
gesetze können und müssen a priori (d. i. unabhängig von aller Er-
fahrung) erkannt und allem empirischen Gebrauche des Verstandes
zum Grunde gelegt werden, also bleibt nur das zweite übrig,*'
Daraus also, daß es sich widerspricht, daß die Erkenntnis der
allgemeinen Gesetze der Natur aus der Erfahrung entlehnt wird,
wird hier geschlossen, daß die oberste Gesetzgebung der Natur
„in uns selbst^ liegen müsse. Es ist klar, daß Eant bei diesem
Schlüsse von der Aprioritäi auf die Idßdlität das Verhältnis der
Erfahrung zur Erkenntnis a priori mit dem Verhältnis des Gegen-
standes zur Erkenntnis identifiziert hat.
82. Ziehen wir nun die Gründe in Betracht, aus denen Kant
gegen das Präformationssystem entscheidet. Diese Gründe sind:
erstens^ „daß bei einer solchen Hypothese kein Ende abzusehen ist,
38*
592 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [180
wie weit man die Yoranssetzang vorbestimmter Anis gen zu finf-
tigen Urteilen treiben möchte^; nnd etoeitenSj „daß in solchem
Falle den Eategorieen die Notwendigkeit mangeln würde, die ihrem
Begriffe wesentlich angehört**.*
Das erste dieser beiden Argumente finden wir noch deutlicher
ausgesprochen in der Anmerkung zu der eben zitierten Stelle der
Prolegomena :
„Da sich doch oft auch trügliche Grundsätze einmischen, . . .
so sieht es bei dem Mangel sicherer Kriterien, den echten Ur-
sprung von dem unechten zu unterscheiden, mit dem Gebrauche
eines solchen Grundsatzes sehr mißlich aus, indem man niemals
sicher wissen kann, was der Geist der Wahrheit oder der Vater
der Lügen uns eingeflößt haben möge."
Es ist also die Möglichkeit des Irrtums, auf die sich dieses
Kantische Argument stützt. Nun ist allerdings klar, daß die
fragliche Annahme, wenn sie nicht die Möglichkeit des Irrtmns
überhaupt ausschließen will, für sich noch kein Kriterium enthält,
um „den echten Ursprung von dem unechten zu unterscheiden".
Aber dieser Umstand kann, solange die Annahme nicht den An-
spruch erhebt, ein solches Kriterium zu enthalten, kein Grund
ihrer Verwerfung sein. Daß übrigens die Kantische Annahme ein
solches Kriterium ebensowenig zu liefern vermag, werden wir im
XIX. Kapitel zeigen.
Das zweite Argument wird folgendermaßen begründet:
„Z. B. der Begriff der Ursache, welcher die Notwendig-
keit eines Erfolgs unter einer vorausgesetzten Bedingung
aussagt, würde falsch sein, wenn er nur auf einer beliebigen
uns eingepflanzten subjektiven Notwendigkeit, gewisse empi-
Kritik der reinen Vemonft, 2. Ausgabe, § 27.
181] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 593
rische Vorstellimgen nach einer solchen Begel des Verhält-
nisses zu verbinden, beruhete. Ich würde nicht sagen können:
die Wirkung ist mit der Ursache im Objekte (d. i. notwendig)
verbxmden, sondern ich bin nur so eingerichtet, daß ich diese
Vorstellung nicht anders als so verknüpft denken kann . . .^^
Hierzu ist Folgendes zu bemerken. Wenn ich, nach der frag-
lichen Annahme, so organisiert bin, daß ich einen Satz „Ä ist J5^
für wahr halten muß, so schließt diese Annahme zugleich ein, daß
ich den Satz „ J. ist JB* tatsächlich für wahr halte. Die Kantische
Behauptung : Ich würde nicht sagen können, Ä sei JB, sondern ich
sei nur so eingerichtet, denken zu müssen, Ä sei B, schließt also
einen Widerspruch ein.
Man vergleiche zu diesem „nur* das „bloß" im Schlußsatze
desselben Paragraphen : „Zum wenigsten konnte man mit niemandem
über dasjenige hadern, was bloß auf der Art beroht, wie sein
Subjekt organisiert ist.* Dieses „nur* und „bloß* widerspricht
der vorausgesetzten Annahme, daß der Gebrauch der fraglichen
Prinzipien „mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahnmg
fortläuft, genau stimmte.* Kants Schluß: „Alsdann ist alle unsere
Einsicht, durch vermeinte objektive Gültigkeit unserer Urteile,
nichts als lauter Schein* ist also falsch.
Konnte ich übrigens nicht wissen, wie das Objekt beschaffen
ist, so wäre nicht einzusehen, wie ich wissen könnte, wie ich „ein-
gerichtet* bin; denn auch dieses letztere Wissen enthielte einen
Satz, der auf objektive Gültigkeit Anspruch erhebt. Man müßte
^ Dieses Argument gegen die „Zuflucht zu einer prästabilierten Harmonie*'
findet sich übrigens auch schon in der Vorrede zu den „metaphysischen Anfangs-
gründen der Naturwissenschaft" (S. XIX, Anmerkung) : ,,Denn auf diese kommt
doch jene dtjektwe Nottoenddgkeit nicht heraus» welche die reinen Verstandes-
b^;riffe clianÜEterisiert'* u. s. w.
594 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [182
yiBlmehr nach Kants Argomentationsweise sagen : Ich konnte nicht
sagen : Ich bin so eingerichtet, denken zu müssen, Ä sei J5, sondern
nur: Ich bin nur so eingerichtet, denken zu müssen, ich sei so
eingerichtet, denken zu müssen, A sei B. und so fort in einer
unendlichen Beihe, so daß überhaupt keine Aussage möglich wäre.^
Man könnte nun vielleicht noch in EjLirrs Sinne antworten:
Der bloße Umstand, daß wir genötigt seien, unsere Erkenntnis
als gültig zu denJceUj erlaube nicht den Schluß, daß sie auch
wirklich gültig seij und wenn auch unter den angenommenen um-
ständen eine objektive Gültigkeit unserer Erkenntnis durchaus
möglich sei, so beruhe sie doch, wo sie etwa stattfinde, nur auf
einer zufälligen Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit den
Gegenständen ; Eakt habe daher insofern recht, als sich im frag-
lichen Falle die objektive Notwendigkeit der Eategorieen nicU
einsehen ließe. — An dieser Argumentation ist soviel richtig, daß
aus der subjektiven Notwendigkeit, eine gewisse Sache zu denken,
nicht auf die objektive Notwendigkeit dieser Sache geschlossen
werden kann. Den Eategorieen würde daher im angenommenen
Falle allerdings eine gewisse Notwendigkeit fehlen; aber diese
vermißte Notwendigkeit ist lediglich die analytische Notwendig-
^ Der Satz : „Ich bin nur so eingerichtet, daß ich nicht anders denken kann,
als A sei 3*% enthält einen introjizierten Widerspruch .
Ein besonders charakteristisches Beispiel eines solchen Widerspruchs giebt
Kant selbst in seiner Lehre vom „transzendentalen Schein'' der Ideen. Ich führe
nur folgende Stelle ans der Kritik der UrteUskraft (§ 76, Anmerkung) an:
„Man wird bald inne: daß ... der Verstand ... die Gültigkeit jener
Ideen der Vernunft nur auf das Subjekt, aber doch allgemein für alle yon dieser
Gattung, d. i. auf die Bedingung einschränke, daß nach der Natur unseres (mensch-
lichen) ErkenntnisTermögens oder gar überhaupt nach dem Begriffe, den toir uns
Yon dem Vermögen eines endlichen vernünftigen Wesens überhaupt madien
können, nicht anders als so könne und müsse gedacht werden: ohne doch zu
behaupten, daß der Grund eines solchen Urteils im Objekt liege." . ^^
L83] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 596
keit des Beweises. Die objektive Notwendigkeit der Eategorieen
iiräre damit durchans nicht aufgehoben; ihre Greltung wäre zwar
mie logisch-eufällige, könnte aber nichtsdestoweniger eine meta"
ihysisch-yiotwendige sein nnd als solche auch ohne Beweis, unmittelbar
eingesehen werden. Wir werden im XIX. Kapitel zeigen, daß diese
netaphysische Notwendigkeit der Eategorieen in der Tat die
dnzige ist, die „ihrem Begriffe wesentlich angehört". Die Einsicht
Ji die objektive Notwendigkeit der Eategorieen wäre nnmöglich
lur unter der Voraussetzung des empirischen Ursprungs derselben.
Mehr als dieser negative Satz vom nicht-empirisehenVvs^vxmg der
Eategorieen läßt sich aus der Berufung auf jene Notwendigkeit
licht gewinnen; für die positive Bestimmung dieses Ursprungs
3edarf es anderer Eriterien.
83. Die Annahme, daß unserer Erkenntnis, wenigstens teil-
weise, transzendentale Wahrheit zukommt, muß in einem bestimmten
[Jmfange jeder Erkenntnistheorie zu Grrunde liegen. Und so muß
luch die idealistische Erkenntnistheorie Eants diese Voraussetzung
nachen, um nur ihren ersten Ausgangspunkt festhalten zu können.
3enn, wenn Eant den formalen Bedingungen der Erfahrung trans-
^ndentale Bealität abspricht, so muß er, zwar nicht für die for-
nalen Bedingungen der Erfahrung, wobl aber für die diesem Urteil
(6er die formalen Bedingungen der Erfahrung zu Grunde liegen-
1^1 erkenntnistheoretischen Voraussetzungen uneingeschränkte
;ranszendentale Wahrheit in Anspruch nehmen. Bezeichnet man
lie Annahme der transzendentalen Wahrheit solcher Voraus-
letzungen als „Präformationssystem", so liegt also das Präfor-
nationssystem dem formalen Idealismus selbst zu Grunde.^
^ Die Bestreitung des Präformationssystems schließt daher (nach dieser
{edentong des Wortes) einen introjizierten Widersprach ein.
596 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. |^184
Etwas anderes freilich als diese nnvermeidliche Inansprach-
nähme transzendentaler Wahrheit für irgend welche Annahmen ist
das unternehmen, diese Behanptong der transzendentalen Wahr-
heit auf den Satz zu gründen, „daß ein Geist, der nicht irren
noch betrügen kann," uns diese Annahmen „ursprünglich einge-
pflanzt habe'^.^ Bezeichnet man — nicht die Inanspruchnahme
transzendentaler Wahrheit für unsere Erkenntnis, sondern diese
Begründungsweise der transzendentalen Wahrheit als „Präformations-
system", so muß das Präformationssystem allerdings zurückge-
wiesen werden. Denn dies System bewegt sich in einem offen-
baren Zirkel. Woher anders sollen wir von dem Geiste, der uns
die Erkenntnis ursprünglich eingepflanzt hat, sowie von seiner
Unfehlbarkeit wissen, wenn nicht vermöge unserer Erkenntnis,
deren Verläßlichkeit also schon von dem Präformationssystem
vorausgesetet werden muß und nicht erst durch dieses System he-
gründet werden kann.
Dieses Argumentes bedient sich auch Ejlnt in dem mehrfach
erwähnten Briefe an Mabcüs Herz, um die theologische Begründung
der Erkenntnistheorie zu widerlegen. Er spricht hier von Crusius*
Annahme „gewisser eingepflanzter Segeln zu urteilen und Begriffe,
die Gott schon so, wie sie sein müssen, um mit den Dingen za
harmonieren, in die menschliche Seele pflanzte, von welchen
Systemen man . . . das letzte die harmoniam praestabilitam
intellectualem nennen konnte*', und er fügt hinzu: „Allein der
Dens ex Machina ist in der Bestimmung des Ursprungs und der
Gültigkeit unsrer Erkenntnisse das Ungereimteste was man nur
wählen kann, und hat außer dem betrüglichen Zirkel in der
Schlußreihe unsrer Erkenntnisse noch das Nachteilige, daß er jeder
^ Prolegomena/.§ 36, Anmerkung.
186] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 597
Grille oder andächtigem oder grüblerischem Hirngespinst Vorschnb
giebt."
So richtig diese Bemerkung ist, so beweist sie doch für Kants
Zwecke zn viel. Wer sich die Darlegungen unseres I. Kapitels
zu eigen gemacht hat, wird nämlich leicht bemerken, daß der von
Kamt hervorgehobene Zirkel der theologischen Begründung der
Erkenntnistheorie seinen Grand nicht, me Kant meint, in der
theologischen Form dieser Begründung hat, sondern aus der Natur
der Aufgabe einer erkenntnistheoretischen Begründung überhaupt
entspringt. Nicht sowohl eine besondere Form der Erkenntnis-
theorie, sondern vielmehr jede Erkenntnistheorie als solche, also
auch die von Kant versuchte, muß an diesem Zirkel scheitern.^
^ Diese allgemeine Bedeutung des erkenntnistheoretischen Zirkels und also
die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie als solcher scheint Kant sp&ter selbst
bemerkt zu haben. Man lese die folgende Stelle ans der „Logik*' (Einleitung VU) :
„Wahrheit, sagt man, besteht in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit
dem Gegenstande. Dieser bloßen Worterklärung zufolge soll also mein Er-
kenntnis, um als wahr zu gelten, mit dem Objekt übereinstimmen. Nun kann
ich aber das Objekt nur mit meinem Erkenntnisse yergleichen, dadurch daß ich
es erkenne. Meine Erkenntnis soll sich also selbst bestätigen, welches aber zur
Wahrheit noch lange nicht hinreichend ist. Denn da das Objekt außer mir und
die Erkenntnis in mir ist, so kann ich immer doch nur beurteilen : ob meine Er-
kenntnis Yom Objekt mit meiner Erkenntnis Yom Objekt übereinstimme. Einen
solchen Zirkel im Erklären nannten die Alten Ditüele. Und wirklich wurde
dieser Fehler auch immer den Logikern yon den Skeptikern vorgeworfen, welche
bemerkten: es verhalte sich mit jener Erklärung der Wahrheit ebenso, wie
wenn jemand vor Gericht eine Aussage tue und sich dabei auf einen Zeugen
berufe, den niemand kenne, der sich aber dadurch glaubwürdig machen wolle,
daß er behaupte, der, welcher ihn zum Zeugen aufgerufen, sei ein ehrlicher
Mann. — Die Beschuldigung war allerdings gegründet. Nur ist die Auflösung
der gedachten Aufgabe schlechthin und für jeden Menschen unmöglich.^
Auf den ersten Blick scheint es, als hätten wir hier einen klaren Beweis für
die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie vor uns. Und es erscheint rätselhaft,
wie Kant die Konsequenz, die sich aus dieser Unmöglichkeit für seine eigenen
erkenntnistheoretischen Spekulationen ergiebt, übersehen konnte. Allein, bei
592 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [180
wie weit man die Yoranssetzang vorbestimmter Anlagen zu ünf-
tigen Urteilen treiben mocbte*'; und zweitens, „daß in solchem
Falle den Eategorieen die Notwendigkeit mangeln würde, die ihrem
Begriffe wesentlich angehört*'.*
Das erste dieser beiden Argumente finden wir noch deutlicher
ausgesprochen in der Anmerkung zu der eben zitierten Stelle der
Prolegomena :
„Da sich doch oft auch trügliche Grundsätze einmischen, . . .
so sieht es bei dem Mangel sicherer Kriterien, den echten Ur-
sprung von dem unechten zu unterscheiden, mit dem Gebrauche
eines solchen Grundsatzes sehr mißlich aus, indem man niemals
sicher wissen kann, was der Geist der Wahrheit oder der Vater
der Lügen uns eingeflößt haben möge.^
Es ist also die Möglichkeit des Irrtums, auf die sich dieses
Kantische Argument stützt. Kun ist allerdings klar, daß die
fragliche Annahme, wenn sie nicht die Möglichkeit des Irrtums
überhaupt ausschließen wiU, für sich noch kein Kriterium enthält,
um „den echten Ursprung von dem unechten zu unterscheiden".
Aber dieser Umstand kann, solange die Annahme nicht den An-
spruch erhebt, ein solches Kriterium zu enthalten, kein Grund
ihrer Verwerfung sein. Daß übrigens die Kantische Annahme ein
solches Kriterium ebensowenig zu liefern vermag, werden wir im
XIX. Kapitel zeigen.
Das zweite Argument wird folgendermaßen begründet:
„Z. B. der Begriff der Ursache, welcher die Notwendig-
keit eines Erfolgs unter einer vorausgesetzten Bedingung
aussagt, würde falsch sein, wenn er nur auf einer beliebigen
uns eingepflanzten subjektiven Notwendigkeit, gewisse empi-
Kritik der reinen Vemonft, 2. Ausgabe, § 27.
181] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 593
rische Vorstellimgen nach einer solchen Regel des Verhält-
nisses zu verbinden, beruhete. Ich würde nicht sagen können:
die Wirkung ist mit der Ursache im Objekte (d. i. notwendig)
verbunden, sondern ich bin nur so eingerichtet, daß ich diese
Vorstellung nicht anders als so verknüpft denken kann . . ."*
Hierzu ist Folgendes zu bemerken. Wenn ich, nach der frag-
lichen Annahme, so organisiert bin, daß ich einen Satz j,A ist B^
für wahr halten muß, so schließt diese Annahme zugleich ein, daß
ich den Satz „^ ist B^ tatsächlich für wahr halte. Die Kantische
Behauptung : Ich würde nicht sagen können, A sei J5, sondern ich
sei nur so eingerichtet, denken zu müssen, A sei J5, schließt also
einen Widerspruch ein.
Man vergleiche zu diesem „nur'' das „blöß^ im Schlußsatze
desselben Paragraphen : „Zum wenigsten könnte man mit niemandem
über dasjenige hadern, was bloß auf der Art beroht, wie sein
Subjekt organisiert ist." Dieses »nur" und „bloß" widerspricht
der vorausgesetzten Annahme, daß der Gebrauch der fraglichen
Prinzipien „mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahrung
fortläuft, genau stimmte.^ Kants Schluß : „Alsdann ist alle unsere
Einsicht, durch vermeinte objektive Gültigkeit unserer Urteile,
nichts als lauter Schein" ist also falsch.
Könnte ich übrigens nicht wissen, wie das Objekt beschaffen
ist, so wäre nicht einzusehen, wie ich wissen könnte, wie ich „ein-
gerichtet^ bin; denn auch dieses letztere Wissen enthielte einen
Satz, der auf objektive Gültigkeit Anspruch erhebt. Man müßte
^ Dieses Argament gegen die „Znflacht zu einer prästabilierten Harmonie*'
findet sich übrigens auch schon in der Vorrede zu den „metaphysischen Anfangs-
gründen der Naturwissenschaft" (S. XIX, Anmerkung) : ,,Denn auf diese kommt
doch jene a^tktwt Nottßenddgkeit nicht heraus» welche die reinen Verstandes-
begriffe chanücterisiert'* u. s. w.
594 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem, [182
viBlmehr nach Kants Argomentationsweise sagen : Ich könnte nicht
sagen : Ich bin so eingerichtet, denken zn müssen, Ä sei B, sondern
nur: Ich bin nur so eingerichtet, denken zu müssen, ich sei so
eingerichtet, denken zn müssen, Ä sei B. und so fori^ in einer
unendlichen Beihe, so daß überhaupt keine Aussage möglich wäre.^
Man könnte nun vielleicht noch in EjLirrs Sinne antworten:
Der bloße Umstand, daß wir genötigt seien, unsere Erkenntnis
als gültig zu denken, erlaube nicht den Schluß, daß sie auch
wirklich gültig sei, und wenn auch unter den angenommenen Um-
ständen eine objektive Gültigkeit unserer Erkenntnis durchaus
möglich sei, so beruhe sie doch, wo sie etwa stattfinde, nur auf
einer zufälligen Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit den
Gegenständen ; Kant habe daher insofern recht, als sich im frag-
lichen Falle die objektive Notwendigkeit der Kategorieen nicht
einsehen ließe. — An dieser Argumentation ist soviel richtig, daß
aus der subjektiven Notwendigkeit, eine gewisse Sache zu denken,
nicht auf die objektive Notwendigkeit dieser Sache geschlossen
werden kann. Den Kategorieen würde daher im angenommenen
Falle allerdings eine gewisse Notwendigkeit fehlen; aber diese
vermißte Notwendigkeit ist lediglich die analytische Notwendig-
^ Der Satz : „Ich bin nur so eingerichtet, daß ich nicht anders denken kann,
als A sei B**, enthält einen introjizierten Widerspmch.
Ein besonders charakteristisches Beispiel eines solchen Widerspruchs giebt
Kant selbst in seiner Lehre Yom ,, transzendentalen Schein'* der Ideen. Ich führe
nur folgende Stelle ans der Kritik der Urteüskraft (§ 76, Anmerkung) an:
„Man wird bald inne: daß . . . der Verstand ... die Gültigkeit jener
Ideen der Vernunft nur auf das Subjekt, aber doch allgemein für alle von dieser
Gattung, d. i. auf die Bedingung einschränke, daß nach der Natur unseres (mensch-
lichen) Erkenntnisvermögens oder gar überhaupt nach dem Begriffe, den wir uns
von dem Vermögen eines endlichen vernünftigen Wesens überhaupt machen
können, nicht anders als so könne und müsse gedacht werden: ohne doch zu
behaupten, daß der Grund eines solchen Urteils im Objekt liege." < ^
183] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 596
keit des Beteeises. Die objektive Notwendigkeit der Eategorieen
wäre damit dnrchans nicht aufgehoben; ihre G-eltong wäre zwar
eine logisch-zufällige, könnte aber nichtsdestoweniger eine meta"
physisch-'notwendige sein und als solche auch ohne Beweis, unmittelbar
eingesehen werden. Wir werden im XIX. Kapitel zeigen, daß diese
metaphysische Notwendigkeit der Eategorieen in der Tat die
einzige ist, die „ihrem Begriffe wesentlich angehört". Die Einsicht
in die objektive Notwendigkeit der Eategorieen wäre unmöglich
nor nnter der Voraussetzung des empirischen Ursprungs derselben.
Mehr als dieser negative Satz vom nicht-empirischen Ursprung der
Eategorieen läßt sich aus der Berufung auf jene Notwendigkeit
nicht gewinnen; für die positive Bestimmung dieses Ursprungs
bedarf es anderer Eriterien.
83. Die Annahme, daß unserer Erkenntnis, wenigstens teil-
weise, transzendentale Wahrheit zukommt, muß in einem bestimmten
Umfange jeder Erkenntnistheorie zu Grunde liegen. Und so muß
auch die idealistische Erkenntnistheorie Eants diese Voraussetzung
machen, um nur ihren ersten Ausgangspunkt festhalten zu können.
Denn, wenn Eant den formalen Bedingungen der Erfahrung trans-
zendentale Eealität abspricht, so muß er, zwar nicht für die for-
malen Bedingungen der Erfahrung, wohl aber für die diesem Urteil
über die formalen Bedingungen der Erfahrung zu Grunde liegen-
den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen uneingeschränkte
transzendentale Wahrheit in Anspruch nehmen. Bezeichnet man
die Annahme der transzendentalen Wahrheit solcher Voraus-
setzungen als „Präformationssystem^, so liegt also das Präfor-
mationssystem dem formalen Idealismus selbst zu Grunde.^
* Die Bestreitung des Präformationssystems schließt daher (nach dieser
Bedeutong des Wortes) einen introjizierten Widersprach ein.
596 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [184
Etwas anderes freilich als diese unvermeidliche Inanspruch-
nahme transzendentaler Wahrheit für irgend welche Annahmen ist
das Unternehmen, diese Behauptung der transzendentalen Wahr-
heit auf den Satz zu gründen, „daß ein Greis t, der nicht irren
noch betrügen kann,^ uns diese Annahmen „ursprünglich einge-
pflanzt habe^.^ Bezeichnet man — nicht die Inanspruchnahme
transzendentaler Wahrheit für unsere Erkenntnis, sondern diese
Begründungsweise der transzendentalen Wahrheit als ;,Präformations-
system^, so muß das Präformationssystem allerdings zurückge-
wiesen werden. Denn dies System bewegt sich in einem offen-
baren Zirkel. Woher anders sollen wir von dem Geiste, der uns
die Erkenntnis ursprünglich eingepflanzt hat, sowie von seiner
Unfehlbarkeit wissen, wenn nicht vermöge unserer Erkenntnis,
deren Verläßlichkeit also schon von dem Präformationssystem
vorausgesetzt werden muß und nicht erst durch dieses System be-
gründet werden kann.
Dieses Argumentes bedient sich auch Eai^t in dem mehrfach
erwähnten Briefe an Marcus Herz, um die theologische Begründung
der Erkenntnistheorie zu widerlegen. Er spricht hier von Crusius'
Annahme „gewisser eingepflanzter Regeln zu urteilen und Begriffe,
die Gott schon so, wie sie sein müssen, um mit den Dingen zu
harmonieren, in die menschliche Seele pflanzte, von welchen
Systemen man . . . das letzte die harmoniam praestabilitam
intellectualem nennen konnte'', und er fügt hinzu: ^Allein der
Deus ex Machina ist in der Bestimmung des Urspnmgs und der
Gültigkeit unsrer Erkenntnisse das Ungereimteste was man nur
wählen kann, und hat außer dem betrüglichen Zirkel in der
Schlußreihe unsrer Erkenntnisse noch das Nachteilige, daß er jeder
Prolegomena,'.§ S6| Anmerkung.
186] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 597
Grrille oder andächtigem oder grüblerischem Hirngespinst Vorschub
giebt.«
So richtig diese Bemerkung ist, so beweist sie doch für Kants
Zwecke zu viel. Wer sich die Darlegungen unseres I. Kapitels
zu eigen gemacht hat, wird nämlich leicht bemerken, daß der von
Kant hervorgehobene Zirkel der theologischen Begründung der
Erkenntnistheorie seinen Grrund nicht, wie Kant meint, in der
theologischen Form dieser Begründung hat, sondern aus der Natur
der Aufgabe einer erkenntnistheoretischen Begründung überhaupt
entspringt. Nicht sowohl eine besondere Form der Erkenntnis-
theorie, sondern vielmehr jede Erkenntnistheorie als solche, also
auch die von Kamt versuchte, muß an diesem Zirkel scheitern.^
^ Diese dllgemeine Bedeutung des erkenntnistheoretischen Zirkels und also
die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie als solcher scheint Kant später seihst
bemerkt zu haben. Man lese die folgende Stelle aus der „Logik" (Einleitung VII) :
„Wahrheit, sagt man, besteht in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit
dem Gegenstande. Dieser bloßen Worterklärung zufolge soll also mein Er-
kenntnis, um als wahr zu gelten, mit dem Objekt übereinstimmen. Nun kann
ich aber das Objekt nur mit meinem Erkenntnisse vergleichen, dadurch daß ich
es erkenne. Meine Erkenntnis soll sich also selbst bestätigen, welches aber zur
Wahrheit noch lange nicht hinreichend ist Denn da das Objekt außer mir und
die Erkenntnis in mir ist, so kann ich immer doch nur beurteilen: ob meine Er-
kenntnis vom Objekt mit meiner Erkenntnis yom Objekt übereinstimme. Einen
solchen Zirkel im Erklären nannten die Alten Bialele, Und wirklich wurde
dieser Fehler auch immer den Logikern von den Skeptikern vorgeworfen, welche
bemerkten: es verhalte sich mit jener Erklärung der Wahrheit ebenso, wie
wenn jemand vor Gericht eine Aussage tue und sich dabei auf einen Zeugen
berufe, den niemand kenne, der sich aber dadurch glaubwürdig machen wolle,
daß er behaupte, der, welcher ihn zum Zeugen aufgerufen, sei ein ehrlicher
Mann. — Die Beschuldigung war allerdings gegründet. Nur ist die Auflösung
der gedachten Aufgabe schlechthin und für jeden Menschen unmöglich. **
Auf den ersten Blick scheint es, als hätten wir hier einen klaren Beweis für
die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie vor uns. Und es erscheint rätselhaft,
wie Kant die Konsequenz, die sich aus dieser Unmöglichkeit für seine eigenen
erkenntnistheoretischen Spekulationen ergiebt, übersehen konnte. Allein, bei
598 ^- Nelson. Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [186
Unterscheiden wir also genau zwischen jenen beiden Begriffen
des Präformationssystems, — der Behauptung transzendentaler
Wahrheit einerseits und der theologischen Begründung dieser Be-
hauptung andererseits, — so zeigt sich, daß wir nicht aus der Un-
gereimtheit des zweiten auf die Verfehltheit des ersten schließen
dürfen. Denn man kann — ohne allen Widerspruch — die trans-
zendentale Wahrheit irjend welcher Erkenntnisse behaupten und
zugleich jeden Versuch einer Begründung dieser transzendentalen
Wahrheit abweisen. Und dies Verhalten ist nicht nur widerspruchs-
frei, sondern erweist sich als unumgänglich notwendig, sobald man
sich nur darüber klar ist, daß die transzendentale Wahrheit eine
erste und notwendige Voraussetzung alles Erkennens überhaupt ist.
näherer Prüfung hinterlassen diese Kantischen Sätze doch eine gewisse Unklarheit
über den Inhalt dessen, vas Kant eigentlich als das thema probandi betrachtet
wissen wollte. Der Zirkel einer jeden erkenntnistheoretischen Begründung, d. h.
eines jeden Beweisversuchs für die ÜbereinsHtntnung der Erkenntnis mit dem
Gegenstande, wird in ihnen zwar deutlich anerkannt: es ist hingegen nicht be-
stimmt ersichtlich, welchen Schloß Kamt aas der Feststellung dieses Zirkels ziehen
will. Er scheint den Ursprung des Zirkels in „jener Erklärung der Wahrheit"
selbst zu suchen, während er doch in der Tat nur in der Verwechslung jener
Erklärung (Definition) mit einem Kriterium der Wahrheit zu finden ist Kamt
scheint, selbst noch in dieser Verwechslung befangen, aus der Untauglichkeit
jener Erklärung ofo eines erkenntnistheoretischen Kriteriums auf die UnStatt-
haftigkeit der Erklärung zu schließen. Er scheint den Fehler jener „Skeptiker**
zu wiederholen, die aus der ünbeweisbarkeU der Übereinstimmung von Erkenntnis
und Gegenstand auf ihr Nicht-Vorhandensein schlössen. Während der aufge-
wiesene Zirkel in Wahrheit die Bedeutung hat, die Unlösbarkeit des erkenntnis-
theoretischen Problems überhaupt zu beweisen, benutzt Kamt ihn nur, um die
Unmöglichkeit einer positiven Entscheidung des Problems, einer ^.Bestätigung'^ der
Erkenntnis durch sich selbst, zu beweisen. Und gerade, weU Kamt hier die volle
Tragweite seiner eigenen Sätze nicht erkennt und also zu wenig beweist, bekommt
seine Argumentation auf der anderen Seite den Fehler, zu viel zu beweisen, indem
sie die Unmöglichkeit, die Realität des aufgestellten Begriffs der transzendentalen
Wahrheit zu beweisen, schon für die Nichtigkeit dieses Begriffs selbst nimmt und
so zum erkenutnistheoretischen Idealismus führt, in diesem abe^ selbst eine —
nämlich negoHve ^ Lösung des Problems zu gebep beansprucht.
187] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 599
Dadurch, daß Kant es unterließ, diese beiden Lehrbegriffe des
Präformationssystems zn unterscheiden, ist er veranlaßt worden,
auf Grund des Widersinns des zweiten den ersten ungeprüft mit
zu verwerfen. Trendelenbürgs Behauptung der Lückenhaftigkeit
der Kantischen Beweisführung besteht also zu Recht, so sehr auch
sein eigener Versuch, diese Behauptung zu rechtfertigen, als miß-
lungen zu betrachten ist.
84. Die ünvollständigkeit der Kantischen Disjunktion, daß
„nur zwei Falle möglich^ seien, indem „entweder der Gegenstand
die Yorstellong oder diese den Gegenstand allein möglich mache'',
ist übrigens schon lange vor Trendelenbürg von Fbies erkannt
worden. Fries sagt in der Vorrede zur zweiten Auflage seiner
„Neuen Kritik der Vernunft **:
„Woher wissen wir denn, ob nicht irgend eine dritte höhere
Ursache möglich sei, welche die IJbereiiistimmung zwischen Vor-
stellung und ihrem Gegenstand bestimmt, indem sie beide mögUch
macht? Wäfe aber dies, so könnten allerdings die Dinge a priori
so angeschaut werden, wie sie an sich sind. Dieser Kantische
Beweisgrund für die Idealität von Raimi und Zeit wird also
wohl verworfen werden müssen."
Und im § 102 der Neuen Kritik heißt es:
„Kant setzt in seinem ersten Beweise, daß wir durch Sinnes-
anschauungen die Dinge nicht erkennen, wie sie an sich sind,
voraus : die Unmöglichkeit, Dinge an sich durch reine Anschauung,
oder überhaupt durch Erkenntnisse a priori zu erkennen, weil
wir damit Ansprüche darauf machen, den Gegenstand zu be-
stimmen, ohne daß er uns als gegenwärtig in der Erkenntnis
gegeben ist. Wir müssen aber vielmehr sagen, wenn es Dinge
giebt, deren Existenz an sich selbst allgemeinen Gesetzen unter-
worfen ist, wie wir es in der Natur finden, so kann es ja auch.
600 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [188
wohl eine Vernonfk; wie die nnsrige, geben, welche dieses Gresetz
antizipiert, ehe sie alle FäUe der Anwendung kennt.''
GrRAFENGiEssER, ein Schüler von Fries, hat versucht, in dieser
Frage für die Kantische Beweisführung einzutreten und die Ein-
würfe von Fries zu widerlegen. Es lohnt sich, mit einigen Worten
auf diesen Versuch einzugehen, weil er das Bestechende des
Eantischen Gredankens in besonders hellem Lichte erscheinen läßt.
GrRAFENGiESSKRs Argumentation stellt sich nämlich bei näherer Be-
trachtung als eine bloße Wiederholung des Kantischen Fehlers
heraus. Über die eben an erster Stelle zitierten Sätze von Fries
äußert er sich folgendermaßen:
„Hier erscheint mir die Ansicht von Fries nicht zutreffend. . •
Kant meint nämlich, um über die Beschaffenheit eines Dinges
an sich oder über sein Verhältnis zu anderen Dingen etwas zu
bestimmen, dazu sei seine Gregenwart, seine Existenz notig.
Diese erkennen wir aber nicht a priori.'' „Dies, meine ich,
kann ihm doch nicht bestritten werden.''^
In dieser Argumentation ist offenbar der entscheidende Satz
„Diese erkennen wir aber nicht a priori'' eine petitio principii.
Grapengiesser argumentiert weiter:
„Was für eine dritte höhere Ursache sollte denn das sein?
Wo sollten wir sie suchen ? In uns oder außer uns ? Wenn außer
uns, so wäre unsere Bestimmung nicht a priori und notwendig;
wenn aber in uns, so bliebe die Sache dieselbe, denn wir wären
es wieder, welche die Beschaffenheit des Gegenstandes bestimmten.
Aber möchte jemand sagen: die dritte Ursache könnte über uns
sein. Über uns? Wie ist das zu verstehen? Wird damit nur
1 Kants Lehre von Raum und Zeit ; Kuno Fischer und Adolf Trenoelenburg.
Jena, 1370, S. «1.
189] Dritter Teil: Die Geschiclite der Erkenntnistheorie. 601
eine andere Stelle im Baum, in der Außenwelt gemeint, dann
ist das ,über uns' nichts Anderes, als ,außer uns^ Ist das ,über
uns' aber im idealen Sinne gemeint, soll die dritte, höhere
Ursache die göttliche sein; so emiddere ich: diese Annahme
gehört nicht hierher; wir wollen hier eine natürliche Er-
scheinung auch natürlich erklären ; aus göttlicher Ursache können
wir gar nichts erklären, wir dürfen hier nicht gleichsam den
deus ex machina herbeirufen. Die Annahme einer solchen dritten
höheren Ursache käme auf den sogenannten Occasionalismus oder
des Leibniz prästabilierte Harmonie hinaus; aber diese beiden
Hypothesen hat Fries selbst anderer Orten verworfen,"^
Hier wird wieder in dem Satze ;,Wenn außer uns, so wäre
unsere Bestimmung nicht a priori und notwendig'' das zu Be-
weisende vorweggenommen. Wenn aber Gtbapekgikssek sagt : „Wir
wollen hier eine natürliche Erscheinung auch natürlich erklären",
so ist darauf zu erwidern, daß zuvor die Frage zu erwägen ge-
wesen wäre, ob eine solche Erklärung des Verhältnisses der Er-
kenntnis zum Gregenstande überhaupt möglich ist. Legt man ein-
mal mit Kam die Voraussetzung der kausalen Natur dieses Ver-
hältnisses zu Grunde, so bleibt jedenfalls die Annahme einer
gemeinschaftlichen Ursache der Über ein Stimmung von Erkenntnis
und Gregenstand eine den beiden anderen Fällen logisch gleich-
wertige Möglichkeit; und ehe nicht die Entscheidbarkeit dieser
Disjunktion überhaupt feststeht, kann daher auch nicht von der
Unerkennbarkeit einer gemeinschaftlichen Ursache auf ihr Nicht-
Vorhandensein geschlossen werden. Wenn Fries „anderer Orten"
einen idealen Erklärungsgrund für die Übereinstimmung von Er-
kenntnis und Gregenstand verworfen hat, so hat er dies nicht getan,
> A. a. 0., S. 63.
602 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [190
um einen natürlichen Erklärongsgrund an seine Stelle zn setzen,
sondern weil er das Verhältnis von Erkenntnis und Gegenstand
überhaupt nicht als ein kausales betrachtet wissen wollte.
Zu der zweiten der vorhin zitierten Stellen der Friesschen
Kritik bemerkt Gtrapengiesser:
„Aber dies wäre ja der Weg der Induktioni den wir mit
Recht in Erforschung der Naturgesetze verfolgen. Die Induktion
führt für sich doch nicht zur Notwendigkeit und Allgemeinheit.''^
Auch dieses Argument beruht auf einer petitio principii. Denn
welchen Grrund haben wir, anzunehmen, daß allgemeine Gresetze,
unter denen das Dasein der Dinge an sich stände, nicht a priori
erkannt werden könnten? Diese Behauptung galt es ja gerade
zu beweisen.
XVIL
Form und Gegenstand.
85. Die Eantischen Voraussetzungen (1) und (2) enthalten für
sich noch kein Kriterium, um zu entscheiden, ob im besonderen
Falle die Erkenntnis Ursache des Gregenstandes oder der Gregen-
stand Ursache der Erkenntnis ist. Nach dem metaphysischen
Grundsatze der Kausalität kann dies Kriterium nur im Zeitver-
häUnis liegen. In der Tat bedient sich Kant, ohne hiervon aus-
* A. a. 0., S. 64.
191] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 603
dräcklich ßechenschaft abzulegeo, dieses Kriteriums. Seine Art,
dieses Eriterinm anzuwenden, haben wir in den Voraussetzungen
(3) und (4) formuliert. Für den Beweis der Idealität des Raumes
und der Zeit, wie er in der transzendentalen Ästhetik geführt
wird, ist hier die Voraussetzung (4) entscheidend. Um ein Urteil
über die Gründe zu gewinnen, die BIant zu dieser Voraussetzung
gefuhrt haben, wollen wir die Erklärung der Möglichkeit der
Mathematik betrachten, wie sie in den Paragraphen 8 und 9 der
Prolegomena dargestellt wird. Um uns aber diese Beurteilung zu
erleichtern, wird es gut sein, einige Bemerkungen vorauszuschicken.
Der Unterschied des Empirischen und Rationalen geht auf
den Erkenntnisgrund der Urteile und betrifft nicht das Verhältnis
zum Gegenstande. Man sagt wohl: Eine Erkenntnis a priori ist
eine solche, die wir haben, auch ohne daß uns der Gegenstand
gegeben ist. Aber dieses „Gegebensein^ des Gegenstandes darf
nur so verstanden werden, daß es das Wahrgenowmenwerden be-
deutet, und die Erklärung besagt daher nichts anderes, als daß
Erkenntnisse a priori solche seien, die uns unabhängig von der
Wahrnehmung zukommen oder die nicht auf Wahrnehmung ge-
gründet sind.
Es ist hier wichtig, die Erkenntnisse rein a priori von ihrer
Anwendung auf den einzelnen, empirisch gegebenen Fall zu unter-
scheiden, um sich durch eine gewisse Zweideutigkeit des Wortes
„Gegenstand" nicht irreführen zu lassen. Dieses Wort bezeichnet
nämlich einmal das empirisch bestimmte Einzelding, dann aber
auch, in allgemeinerer Bedeutung, das in einer Vorstellung Vor-
gestellte überhaupt, was also, im Falle der Erkenntnisse a priori,
auch ein allgemeines Gesetz sein kann. Nehmen wir das Wort in
der ersten Bedeutung, so ist die Erkenntnis a priori in der Tat
eine solche, die uns vor der Vorstellung des Gegenstandes zukommt;
304 ' L. Nelson: Über das sogenannte firkenntnisproblem. [192
nehmen wir es aber in der zweiten Bedeutung, so hat auch jede
Erkenntnis a priori unmittelbar ihren Gegenstand bei sich.
Nach der ersten Bedeutung des Wortes hat das Problem:
Wie ist es möglich^ Gegenstände a priori zu erkennen? die Be-
deutung der Frage: Wie ist es zu verstehen, daß die Einzeldinge,
die wir a posteriori erkennen, den Gesetzen gemäß sind, die wir
unabhängig von der Erfahrung (a priori) erkennen? Und auf
diese Frage kann nur die Antwort erteilt werden: Darum, weil
die Erkenntnis a priori selbst erst Erfahrung möglich macht.
Jeder Gegenstand möglicher Erfahrung steht unter den Bedingungen
der Gesetze, die wir a priori erkennen, weil er, ohne diesen Be-
dingungen gemäß zu sein, gar nicht Gegenstand der Erfahrung
werden könnte. Dies können wir auch so ausdrücken: Die Er-
kenntnis a priori kann sich darum auf Gegenstände der Erfahrung
beziehen, weil wir durch sie in der Tat nichts anderes erkennen,
als die notwendige Fwm der Gegenstände der Erfahrung.
Was wir hier die Form eines Gegenstandes nennen, das ist
nach der zweiten Bedeutung des Wortes „Gegenstand^ seihst ein
Gegenstand, nämlich der Gegenstand der Erkenntnis a priori. Es
kann also sehr wohl etwas, was in der einen Bedeutung des Wortes
ein Gegenstand ist, in der anderen Bedeutung des Wortes die bloße
Form eines Gegenstandes sein.
Kant hat bei der Erörterung seiner Frage : „Wie ist Erkenntnis
a priori möglich?^ diese beiden Bedeutungendes Wortes „Gegen-
stand^ nicht scharf genug auseinandergehalten und ist dadurch
veranlaßt worden, den vorhin (§ 81) dargelegten Fehler zu be-
gehen und eine Frage, die im Grunde nur das Verhältnis der
Erkenntnisse untereinander betrifft, mit einer Frage zu verwechseln,
die auf das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande geht.
Ohne es zu bemerken, schiebt er der Auflösung der einen Frage
193] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 605
die der anderen unter. Auf die Frage: Wie ist die Überein-
stimmimg der Erfahrimg mit der Erkenntnis a priori möglich?
antwortet er richtig: Dadurch, daß die Erkenntnis a priori den
Grnnd der Möglichkeit der Erfahmng enthalt. Aber die in
diesem Satze festgestellte Abhängigkeit der Erfahrung von der
Erkenntnis a priori verwechselt Kant mit der Abhängigkeit der
Katur, d. h. des Gegenstandes der Erfahrung, von der Erkenntnis
a priori.
86. Daß dieser Fehler in der Tat nur durch die Zwei-
deutigkeit des Wortes „Gegenstand" veranlaßt worden ist, läßt
sich deutlich aus der schon erwähnten Stelle der Prolegomena
ersehen. Auf die Frage: Wie ist reine Mathematik möglich?
antwortet Kant hier mit der Aufweisung der reinen Anschauung,
in der die mathematischen Begriffe konstruiert werden. Er fahrt
dann fort:
„Allein die Schwierigkeit sc^int bei diesem Schritte eher
zu wachsen, als abzunehmen. Denn nunmehr lautet die Frage:
wie ist es möglich^ etwas a priori anguschauen? Anschauung ist
eine Vorstellung, so wie sie unmittelbar von der Gegenwart
des Gegenstandes abhängen würde. Daher scheint es unmöglich,
a priori ursprünglich anzuschauen, weil die Anschauung, als-
dann ohne einen weder vorher, noch jetzt gegenwärtigen Gegen-
stand, worauf sie sich bezöge, stattfinden müßte, und also nicht
Anschauung sein könnte. Begriffe sind zwar von der Art, daß
wir uns einige derselben, nämlich die, so nur das Denken
eines Gegenstandes überhaupt enthalten, ganz wohl a priori
machen können, ohne daß wir uns in einem unmittelbaren
Verhältnisse zum Gegenstande befanden. . . Allein wie kann
Anschauung des Gegenstandes vor dem Gegenstande selbst
vorhergehen?
AbhudlnngtB dtr FriM*fektB Seknle. H. Bd. 39
304 ' L. Nelson: Über das sogenannte £rkenntnisproblem. [192
nehmen wir es aber in der zweiten Bedeutung, so hat auch jede
Erkenntnis a priori unmittelbar ihren Gegenstand bei sich.
Nach der ersten Bedeutung des Wortes hat das Problem:
Wie ist es möglich, Gegenstände a priori zu erkennen? die Be-
deutung der Frage: Wie ist es zu verstehen, daß die Einzeldinge,
die wir a posteriori erkennen, den Gesetzen gemäß sind, die wir
unabhängig von der Erfahrung (a priori) erkennen? Und auf
diese Frage kann nur die Antwort erteilt werden: Darum, weil
die Erkenntnis a priori selbst erst Erfahrung möglich macht.
Jeder Gegenstand möglicher Erfahrung steht unter den Bedingungen
der Gesetze, die wir a priori erkennen, weil er, ohne diesen Be-
dingungen gemäß zu sein, gar nicht Gegenstand der Erfahrung
werden könnte. Dies können wir auch so ausdrücken: Die Er-
kenntnis a priori kann sich darum auf Gegenstände der Erfahrung
beziehen, weil wir durch sie in der Tat nichts anderes erkennen,
als die notwendige Fwm der Gegenstände der Erfahrung.
Was wir hier die Form eines Gegenstandes nennen, das ist
nach der zweiten Bedeutung des Wortes „Gegenstand^ selbst ein
Gegenstand, nämlich der Gegenstand der Erkenntnis a priori. Es
kann also sehr wohl etwas, was in der einen Bedeutung des Wortes
ein Gegenstand ist, in der anderen Bedeutung des Wortes die bloße
Form eines Gegenstandes sein.
Kant hat bei der Erörterung seiner Frage : „Wie ist Erkenntnis
a priori möglich?^ diese beiden Bedeutungendes Wortes „Gegen-
stand^ nicht scharf genug auseinandergehalten und ist dadurch
veranlaßt worden, den vorhin (§ 81) dargelegten Fehler zu be-
gehen und eine Frage, die im Gnmde nur das Verhältnis der
Erkenntnisse untereinander betrifiPt, mit einer Frage zu verwechsalii,
die auf das Verhältnis der Erkenntnis zum Gegenstande geht.
Ohne es zu bemerken, schiebt er der Aaäösung der einen WwBgß
193] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 605
die der anderen unter. Auf die Frage: Wie ist die überein-
stimmnng der Erfahrung mit der Erkenntnis a priori möglich?
antwortet er richtig: Dadurch, daß die Erkenntnis a priori den
Grrand der Möglichkeit der Erfahrung enthalt. Aber die in
diesem Satze festgestellte Abhängigkeit der Erfahrung von der
Erkenntnis a priori verwechselt Eant mit der Abhängigkeit der
Natur, d. h. des Gegenstandes der Erfahrung, von der Erkenntnis
a priori.
86. Daß dieser Fehler in der Tat nur durch die Zwei-
deutigkeit des Wortes „Gegenstand^ veranlaßt worden ist, läßt
sich deutlich aus der schon erwähnten Stelle der Prolegomena
ersehen. Auf die Frage: Wie ist reine Mathematik möglich?
antwortet Kant hier mit der Aufweisung der reinen Anschauung,
in der die mathematischen Begriffe konstruiert werden. Er fährt
dann fort:
„Allein die Schwierigkeit sc^int bei diesem Schritte eher
zu wachsen, als abzunehmen. Denn nunmehr lautet die Frage:
wie ist es möglich, etwas a priori ansuschauen? Anschauung ist
eine Vorstellung, so wie sie unmittelbar von der Gegenwart
des Gegenstandes abhängen würde. Daher scheint es unmöglich,
a priori ursprünglich anzuschauen, weil die Anschauung, als-
dann ohne einen weder vorher, noch jetzt gegenwärtigen Gegen-
stand, worauf sie sich bezöge, stattfinden mußte, und also nicht
Anschauung sein könnte. Begriffe sind zwar von der Art, daß
wir uns einige derselben, nämlich die, so nur das Denken
eines Gegenstandes überhaupt enthalten, ganz wohl a priori
machen können, ohne daß wir uns in einem unmittelbaren
bV^erbältnisse zum Gegenntande befanden. . . Allein wie kann
Anschaimnff des Gegenstandes vor dem Gegenstande selbst
^vorhergehen?
606 L. Nelson : Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [194
^Müßte nnsere Anscbauung von der Art sein, daß sie Dinge
vorstellte, so wie sie an sich selbst sind, so würde gar keine An-
schaumig a priori stattfinden, sondern sie wäre allenial empirisch.
Denn was in dem Gregenstande an sich selbst enthalten sei,
kann ich nur wissen, wenn er mir gegenwärtig und gegeben
ist. ... so würde doch dergleichen Anschauung nicht a priori
stattfinden, d. i. ehe mir noch der Gregenstand vorgestellt würde ;
denn ohne das kann kein Grund der Beziehung meiner Vor-
stellung auf ihn erdacht werden. . .^^
Versteht man hier unter dem „Gregenstande'' das empirisch
bestimmte Einzelding, so ist es allerdings richtig, daß die reine
Anschauung sich in keinem „unmittelbaren Verhältnisse zum Gregen-
stande'' befindet, sie muß vielmehr, „vor dem Gregenstande selbst
vorhergehen", sie findet statt, „ehe mir noch der Gegenstand
vorgestellt" wird. „Was in dem Gegenstande an sich selbst ent-
halten sei", kann ich daher nach dieser Bedeutung des Wortes
„Gegenstand" in der Tat nicht durch reine Anschauung wissen.
Hiermit ist aber die Frage, wie unsere Anschauung beschaffen
sein müßte, um die Dinge vorzustellen, „so wie sie an sich selbst
sind", gar nicht berührt. Diese Frage betrifft das Verhältnis der
Erkenntnis zum Erkannten als solchem. Bezeichnet man dieses
in einer Erkenntnis Erkannte als den Gegenstand der Erkenntnis,
so befindet sich auch die reine Anschauung „in einem unmittel-
baren Verhältnisse zum Gregenstande", sie muß durchaus nicht „vor
dem Gegenstande vorhergehen", sie findet keineswegs statt, „ehe
mir noch der Gegenstand vorgestellt" wird, und es liegt daher in
ihrer Apriorität kein Grund, die Beziehung auf den Gegenstand
anders zu beurteilen als im Falle der empirischen Erkenntnis.
> Prolegomena, § 8 f.
196] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 607
Diese Zweidentigkert übertragt sich bei Kant auf den Terminus
„Form^. Einerseits bezeichnet Eiüt den Raum als die Form der
äußeren Erscheinungen oder als den „Grund der Möglichkeit aller
äußeren Erscheinungen ihrer Form nach^^, andererseits aber heißt
ihm auch die reine Anschauung des Raumes eine „Form der
Sinnlichkeit^ oder eine „formale Anschauung^'. Indem nun diese
beiden Begriffe der „Form", der objektive und der subjektive,
nicht genügend unterschieden werden, entsteht der Schein, als
beweise die Abhängigkeit aller äußeren Erscheinungen von einem
„formalen" Grrunde ihrer Möglichkeit (den a priori erkannten
allgemeinen Gesetzen der Mathematik und reinen Naturwissen-
schaft) eine Abhängigkeit der Natur von den subjektiven Bedin-
gungen unseres Erkennens, und die Apriorität erscheint als ein
Kriterium der Idealität.^
^ Prolegomena, § 13. ' Ebenda.
' Daß die speziellen geometrischen Argumente, die [Kant zur Bestätigung
seines formalen Idealismus hinzufügt, (Prolegomena, § 12 f.) in der Tat nur Be-
weise für die Anschaulichkeit, nicht aber für die Idealität der mathematischen
Erkenntnis enthalten, ist schon von Gauss bemerkt vorden. (Vgl. Gauss' Werke,
Bd. n, S. 177.)
Trotzdem übrigens Gauss die Eantische Lehre von der Idealität des Raumes
ablehnt, so ist er doch selbst auch ein Anhänger des formalen Idealismus. In
einem Briefe an Bessel (vom 9. April 1830, Briefwechsel, S. 497) schreibt er:
„Nach meiner innigsten Überzeugung hat die Raumlehre zu unserm Wissen
a priori eine ganz andere Stellung wie die reine Größenlehre; es geht unserer
Kenntnis von jener durchaus di^enige vollständige Überzeugung von ihrer Not-
wendigkeit (also auch von ihrer absoluten Wahrheit) ab, die der letzteren eigen
ist; wir müssen in Demut zugeben, daß wenn die Zahl bloß unseres Geistes
Produkt ist, der Raum auch außer unserm Geiste eine Realität hat, der vrir
a priori ihre Gesetze nicht vollständig vorschreiben können."
Indem Gauss hier den geometrischen Idealismus ablehnt, bekennt er sich
doch zugleich zu der Lehre von der Idealität der Zahl. Er lehnt aber jenen ab,
weil wir, wie er meint, dem Räume seine Gesetze nicht vollständig a priori vor-
schreiben können; er nimmt diese an, weil sich die reine Größenlehre vollständig
a priori begründen lasse. Er ist also geometrischer Realist nur darum, weil er
39*
608 L* Kelson : Über das sogenaDnte ErkenntnisprobleiiL [196
XVHL
Die dogmatische Disgunktion der WahrheitskriteriexL
87. Der Fehler, der Kamt zu seinem formalen Idealismus ge-
führt hat, hat aber noch einen anderen nnd tieferen Grund. Um diesen
zu verstehen, muß man die historische Stellung Kants zu seinen
Vorgängern berücksichtigen. Diese hatten — wenn wir die
Kantische Terminologie anwenden wollen — sämtlich angenommen,
daß alle Urteile a priori analytisch, also alle synthetischen Urteile
empirisch seien.^ Sie hatten somit die Disjunktion zwischen Logik
und Empirie als Kriterien der Wahrheit für eine vollständige
gehalten. Der entscheidende Schritt Kamts über seine Vorgänger
hinaus war nun die Entdeckung, daß sich die Urteile der Mathe-
matik diesem überlieferten Schema nicht einordnen lassen, die Ent-
geometrischer Empirist ist, und er ist arithmetischer Idealist nur darum, weü er
arithmetischer Apriorist ist. Das Kriterium der Idealität liegt also für ihn, gerade
vie für Kant auch, in der Aprioritat-, d.h. er übernimmt den formalen Idealismus
als solchen.
^ Es ist dies der wissenschaftliche Ausdruck für die Annahme, die seit der
Aristotelischen Einteilung der Erkenntnisse in solche des vo^£ und solche der
ata^ai£ die Geschichte der Philosophie beherrscht. Es ist dieselbe Annahme,
die in der Leibnizschen Klassifikation der Wahrheiten in viritis de raison und
vtrües de faxt ihren klassischen Ausdruck gefunden hat und die auch der
Humeschen Unterscheidung von relcUions of ideas und matters offact zu Grunde liegt.
Man vergleiche Kants Brief an Beinhold vom 12. Mai 1789: „Es wird
mehrmalen von den Gegnern gesagt: die Unterscheidung synthetischer Urteile
von analytischen sei sonst schon bekannt gewesen. Mag es doch! Allein, daß
man die Wichtigkeit derselben nicht einsähe, kam daher, weil man alle Urteile
a priori zu der letzteren Art und bloß die Erfahrungsurteile zu den ersteren
gerechnet zu haben scheint; dadurch denn aller Nutze verschwand.*
197] Dritter Tefl: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 609
decknng also, daß es synthetische urteile a priori giebt.^ Er
fand femer, daß solche synthetischen Urteile a priori aller Erfahrung
als Bedingungen ihrer Möglichkeit zu Grunde liegen, blieb
aber bei dieser Entdeckung stehen, ohne bestimmt genug aus
ihr die Konsequenz auf die ünvoUständigkeit der überlieferten
Disjunktion der Wahrheitskriterien zu ziehen. Dies hatte zur
unmittelbaren Folge, daß er den — weder auf Empirie noch auf
Logik zurückführbaren — synthetischen Prinzipien a priori die
Anwendbarkeit auf Dinge an sich abstreiten mußte. Andererseits
aber zwang ihn die Tatsache der in aller wirklichen Erfahrung
stattfindenden Unterscheidung zwischen Schein und Wahrheit zu
dem Versuche, diese Unterscheidung von der Beziehung auf den
Begriff des Dinges an sich loszulösen und auf eine nur immanente
Beziehung der Erkenntnisse auf einander zu gründen. Die dieser
Unterscheidung zu Grrunde liegenden Kriterien fand er nun in
den von ihm entdeckten synthetischen Prinzipien a priori.* „Als-
dann sagen wir: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in
dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt
haben.**«
^ Für die Würdigung dieser Entdeckong^yerweise ich auf meine „Bemer-
kungen über die Nicht-Euklidische Geometrie und den Ursprung der mathe-
matischen Gewißheit^. (Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge, Band I>
Heft 2 und 3.)
* Man vergleiche etwa den Satz der Prolegomena '-„... daß, da Wahrheit
auf allgemeinen und notwendigen Gesetzen, als ihren Kriterien beruht, die Erfah-
rung bei Bebklet keine Kriterien der Wahrheit haben könne, weil den Erschei-
nungen derselben (von ihm) nichts als a priori zum Grunde gelegt ward, woraus
denn folgte, daß sie nichts als lauter Schein sei, dagegen bei uns Raum und
Zeit (in Verbindung mit den reinen Verstandesbegriffen) a priori aller möglichen
Erfahrung' ihr Gesetz vorschreiben, welches zugleich das sichere Kriterium ab-
giebt, in ihr Wahrheit von Schein zu unterscheiden.^ (Reclamsche Ausgabe, S. 166.)
' Kritik der reinen Vernunft, Kehrbachsche Ausgabe, S. 119.
610 L* Nelson: Über du sogenannte Erkenntnisproblem. [198
88. BSerans ergiebt sich, daß man sorgfältig zwischen zwei
ganz verschiedenen Betrachtangsweisen der Erkenntnis bei Kant
unterscheiden maß, die in seinen Schriften ohne deutliche Scheidung
neben einander hergehen. Dies zeigt sich vielleicht am klarsten
in der Doppeldeutigkeit, mit der er Ausdrücke wie „subjektiv"
und „objektiv", besonders aber den Terminus „Erscheinung" ge-
braucht. Auf der einen Seite haben die formalen Bedingungen
der Erfahrung, und mit ihnen die Erfahrungsurteile selbst, „nur
subjektive*' Grültigkeit und erstrecken sich „nur" auf „Erschei-
nungen^, insofern sie keine Anwendung auf Dinge an sich zulassen.
Auf der anderen Seite aber sind es dieselben formalen Bedingungen
der Erfahrung, ;, welche es eben machen, daß das Erfahrungsurteil
objektiv gültig ist."^ Von dieser Seite betrachtet, bedeutet der
Terminus „Erscheinung" nicht wie vorher einen Gegensatz zum
Dinge an sich; sondern „der unbestimmte Gegenstand einer empi-
rischen Anschauung heißt Erscheinung"*, im Gegensatze zu dem
durch synthetische Prinzipien a priori bestimmten Gegenstände
der Erfahrung. Wir haben also bei Kant zwei ganz verschiedene
und einander entgegengesetzte Kriterien der Objektivität zu unter-
scheiden. Einerseits die Beziehung der Vorstellungen auf die der
Empfindung zu Grunde liegenden Dinge an sich, andererseits die
Bestimmung der Vorstellungen durch die formalen Bedingungen
der Erfahrung. Was von dem einen Gesichtspunkte als das
eigentlich Subjektive zu betrachten ist, gerade das ist es, was von
dem anderen aus betrachtet Objektivität ermöglicht. Und umgekehrt.
* Prolegomena, § 18, S. 77. » Kritik der reinen Vernunft, S. 48.
199] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 611
Der transzendentale Beweis.
89. Wir wollen anf diese Verhältnisse noch etwas naher ein-
gehen. Kamts eigentliches Problem ist die Möglichkeit synthetischer
Urteile a priori. Dieses Problem hat zwei ganz verschiedene
Seiten. Einmal handelt es sich dabei am die Möglichkeit im
Sinne der objektiven Gültigkeit. Andererseits handelt es sich
nm die subjektive Möglichkeit im psychologischen Sinne. Dem-
entsprechend unterscheidet Kint selbst^ bei der Anflosong seines
Problems eine objektive und eine subjektive Deduktion. Bleiben
wir zunächst bei der objektiven.
Welches ist für Kjlnt das Kriterium der ^objektiven Möglich-
keit"? Das einzige Kriterium der Objektivität synthetischer
Vorstellungen ist ihm auf Grund der übernommenen Disjunktion
die Empirie. „Was in dem Gegenstande an sich selbst enthalten
sei, kann ich nur wissen, wenn er mir gegenwärtig und gegeben
ist.^* Dieses ,,könnte aber nur empirisch geschehen".' Der einzig
bändige Schluß aus dieser Voraussetzung ist die Verneinung der
Möglichkeit synthetischer Urteile a priori — das Wort „Möglich-
keit^ im objektiven Sinne genommen. Und so schließt auch Kant:
^Die ganze reine Vernunft enthält in ihrem bloß spekulativen
> K. d. r. y., Vorrede zur ersten Ausgabe. * Prolegomena, § 9.
« K. d. r. V., S. 126.
612 li- Nelson: Über das sogenannte Erkennimsproblem. [200
G-ebrauche nicht ein einziges direkt synthetisches Urteil aus
Begriffen.«^
Wenn nnn Kant dennoch eine objektive Begründung seiner
synthetischen Prinzipien a priori unternimmt, so kann dieses
Unternehmen bei ihm nur auf den Versuch hinauslaufen, die
Geltung der zu begründenden Prinzipien auf das logische Kriterium
zurückzuführen. Die Gültigkeit der fraglichen Prinzipien soll
nach Kant darauf beruhen, daß nur vermittelst ihrer Erfahrungs-
urteile möglich sind. Von dem Erkenntniswert dieser Ehrfahrungs-
urteile wird dabei abgesehen: unsere gesamte Erfahrung hat —
eben zufolge ihrer Abhängigkeit von synthetischen Prinzipien
a priori — keine Gültigkeit für Dinge an sich, wohl aber ist
innerhalb des Erfahrungsgebietes eine Scheidung zwischen Wahr-
heit und Schein möglich. Die zu dieser Scheidung erforderlichen
Kriterien liefern uns gerade die synthetischen Urteile a priori,
als „Prinzipien der Möglichkeit der Erfahrung ''. Diese können
also deshalb nicht als Schein verworfen werden, weil vermittelst
ihrer allein der Begriff der wissenschaftlichen Wahrheit definiert
werden kann. ;,Erkenntnis a priori hat nur dadurch Wahrheit,
» K. d. r. V., S. 664.
In demselben Sinne ist es, wenn Kant (E. d. r. V., S. 580) sagt, Hume habe
von dem Grandsatze der Kausalität „ganz richtig" bemerkt, „daß man seine
Wahrheit auf gar keine Einsicht, d. i. Erkenntnis a priori fuße, daß daher auch
nicht im Mindesten die Notwendigkeit dieses Gesetzes, sondern eine bloße all-
gemeine Brauchbarkeit desselben in dem Laufe der Erfahrung und eine daher
entspringende subjektive Notwendigkeit, die er Gewohnheit nennt, sein ganzes
Ansehen ausmache.^ Vgl. auch Prolegomena § 27, wo es heißt, Hume beliaupte
„mit Becht^y „daß wir die Möglichkeit der Kausalität durch Vernunft auf keine
Weise einsehen''. Die reinen Yerstandesbegriffe und Grundsätze sind „für sich
gar keine Erkenntnisse, sondern bloße Gedankenformen ^ (K. d. r. Y., S. 217)',
„willkürliche Verbindungen, ohne objektiTe Realität*' und ohne „die mindeste
Bedeatung**. (Prolegomena, § 30 ff.)
2011 Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 618
daß sie nichts weiter enthält, als was znr synthetischen Einheit
der Erfahrung überhaupt notwendig ist."^ „Die Möglichkeit der
Erfahrnng ist also das, was allen unseren Erkenntnissen a priori
■objektive Realität giebt."* Und so sind die synthetischen Grund-
sätze des reinen Verstandes „nicht allein a priori wahr, sondern
sogar der Quell aller Wahrheit".'
90. Dies ist der Grrnndgedanke, auf dem Kants „transzenden-
taler Beweis" der metaphysischen G-rundsätze beruht. Wir haben
bereits im III. Kapitel eine allgemeine Kritik dieses Verfahrens
gegeben. Wir entnehmen den dortigen Ausführungen das Resultat,
daß der „transzendentale Beweis" nur als eine regressive Äufweisung,
nicht aber als eine Begründung der metaphysischen Grundsätze
betrachtet werden darf, daß er vielmehr, wenn er mit d^m Anspruch
einer solchen auftritt, auf einen Zirkel hinausläuft. Nehmen wir
den Terminus „Möglichkeit" in dem Ausdruck „Bedingungen der
Möglichkeit der Erfahrung^ im logischen Sinne, so liegt das
Kriterium dieser Möglichkeit in der Definition des Erfahrungs-
begriifs, und das Resultat des Beweises kann lediglich in einer
analytischen Wiedergabe dieser Definition gefunden werden. In
der Fassung dieser Definition muß daher schon die petitio principii
des Beweises liegen. Nehmen wir aber den Terminus „Möglich-
keit^^ im synthetischen Sinne, d. h. im Sinne der Kategorie der
Möglichkeit, so liegt das Kriterium der Möglichkeit in den Erkennt-
nissen a priori, zu denen die abzuleitenden metaphysischen Grrund-
sätze selbst gehören. Diese müssen also für den Beweis schon
vorausgesetzt und können nicht erst durch ihn abgeleitet werden. —
In keinem Falle liefert der Beweis mehr als den analytischen
K. d. r. V., S. 155. » K. d. r. V., S. 154.
K. d. r. V., S. 222.
614 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [202
Satz, daB gewisse Prinzipien in einem G-ebiet gelten, das selbst
erst durch diese Prinzipien definiert ist.^
Diese Verlegenheit scheint übrigens Eakt selbst gefühlt zu
haben; ja er spricht sie geradezu aus, wenn er von dem metaphy«
sischen Grundsätze der Kausalität sagt:
„Er heißt aber Grundsat b und nicht Lehrsatz^ ob er gleich
bewiesen werden muß, darum, weil er die besondere Eigenschaft
hat, daß er seinen Beweisgrund, nämlich Erfahrung, selbst zuerst
möglich macht und bei dieser immer vorausgesetzt werden
muß.«« —
91. Nehmen wir — unter Vorbehalt — einmal an, es gäbe
ein einwandfreies Verfahren, von gewissen G-rundsätzen zu
beweisen, daß sie Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung
sind. Was würde aus einem solchen Beweise für den Geltungs-
wert dieser Sätze folgen? Kant sagt von ihnen, sie seien
„sichere Grundsätze, aber gar nicht direkt aus Begriffen,
sondern immer nur indirekt durch Beziehung dieser Begriffe
^ In dieser Weise ist auch die cbarakteristiscbe Darstellung zu beurteUen,
die Kant selbst in einem Brief an Garve (vom 7. August 1783) von seiner
Methode giebt. Es sei, sagt er hier, der Kritik eigentümlich,
„aus dem bloßen Begriffe eines Erkenntnisvermögens (wenn er genau be-
stimmt ist) auch alle Gegenstande, alles was man von ihnen wissen kann, ja
selbst was man über sie auch unwillkürlich, obzwar trüglich zu urteilen ge-
nötigt sein wird, a priori entwickeln zu können/
Eine solche Entwicklung wird allerdings a priori möglich sein, „wenn**
zuvor der „Begriff des Erkenntnisvermögens'' hinreichend „genau bestimmt ist^.
Ist nämlich diese Bedingung einmal erfüllt, so ist jene Entwickelung auf rein
logischem Wege möglich; denn sie beschränkt sich auf die analytische Wieder-
holung dessen, was durch Definition schon in den „Begriff des Erkenntnis-
▼ermögens** hineingelegt war. In dieser Definition sind ja bereits alle Entschei-
dungen der Kritik antizipiert; wir würden also, wollten wir das Geschäft der
Kritik auf jene Entwickelung a priori beschränken, das eigentliche Problem schon
vor Beginn unserer Arbeit als gelöst annehmen.
» K. d. r. V., S. 664.
Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 616
aaf mögliche Erfahrung; da sie denn, wenn diese vorausgesetzt
wird, allerdings apodiktisch gewiß sein, an sich selbst aber
(direkt) a priori gar nicht einmal erkannt werden können.
So kann niemand den Satz: alles, was geschieht, hat seine
Ursache, aus diesen gegebenen Begriffen allein gründlich ein-
sehen. Daher ist er kein Dogma, ob er gleich in einem
anderen Gesichtspunkte, nämlich dem einzigen Felde seines
möglichen Grebrauchs, d. i. der Erfahrung, ganz wohl und
apodiktisch bewiesen werden kann,***
In diesen Worten verrät sich aufs deutlichste die Tendenz,
die metaphysischen Urteile dem traditionellen Schema von Logik
und Empirie als Wahrheitskriterien einzuordnen. Die Empirie
versagt als Kriterium gegenüber der Apodiktizität der metaphy-
sichen Sätze. Und so versucht Eai^ das andere, logische Kri-
terium zu ihrer Begründung nutzbar zu machen. In der Tat,
wenn es gelingt, die metaphysischen Grrundsätze als logische Be-
dingungen der Erfahrung zu erweisen, so ist der hiermit bewiesene
Satz: ^Die metaphysischen Grundsätze sind logische Bedingungen
der Erfahrung^ ein apodiktisch gewisser Satz. Aber dieser Satz
ist ein analytischer, nicht selbst ein metaphysischer Satz. Durch
seinen Beweis werden also auch nicht, wie Kant sich ausdrückt,
die metaphysischen Grundsätze „apodiktisch gewiß". Die Gewiß-
heit der metaphysischen Sätze wird durch diesen Beweis gar nicht
berührt; nur ihre „Beziehung auf mögliche Erfahrung" wird durch
den Beweis ;,gewiß", nur das Stattfinden dieser „Beziehung" wird
„apodiktisch bewiesen", nicht die Grundsätze selbst. — Der Satz
„Alles, was geschieht, hat seine Ursache^ kann freilich „aus diesen
gegebenen Begriffen allein" nicht ;,gründlich eingesehen^ werden.
> Ebenda.
616 L. NeUion: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [204
Aber nicht deshalb, weil er eines Beweises bedürfte, am gewiß
zu sein, sondern daram, weil er ein synthetischer Satz ist, synthe-
tische Sätze aber niemals aas den in ihnen enthaltenen Begriffen
allein eingesehen werden können. Eakts Argamentation schließt
offenbar die logizistische Voraassetzang ein, nur analytische Urteile
könnten ohne Beweis a priori gewiß sein. Wäre aber diese Voraas-
setzang richtig, so könnten synthetische Urteile a priori aach
durch einen Beweis niemals Gewißheit erlangen. Denn dieser Be-
weis müßte irgend welche erste Prämissen haben, deren Gewißheit
nicht wieder aaf Beweisen berahen konnte. Sind non diese Prä-
missen, als anbeweisbare and doch gewisse Sätze, nicht synthetisch,
so können es aach nicht die aas ihnen za beweisenden Schlaßsätze
sein. Denn aas bloß analytischen Sätzen folgen niemals synthe-
tische.^
* YgL Kritik der Urteilskraft, g 65 Anmerkung, wo Kant seine logizistische
Voraassetzang geradezu ausspricht:
„Ein vernünftelndes Urteil (Judicium ratiocinans) kann ein jedes heißen,
das sich als allgemein ankündigt ; denn sofern kann es zum Obersatze in einem
Yemunftschlusse dienen. Ein Yemunfturteil (Judicium ratiocinatum) kann da-
gegen nur ein solches genannt werden, welches als der Schlußsatz von einem
Yemunftschlusse, folglich als a priori gegründet, gedacht wird.**
Hiermit ist unzweideutig Folgendes gesagt : Ein Yemunfturteil unterscheidet
sich von einem vernünftelnden dadurch, daß es „gegründet" ist Da nun ana-
lytische Urteile ihren Grand jederzeit in ihrem eigenen Subjektsbegriffe bei sich
führen, so kann der Unterschied nur bei synthetischen Urteilen in Betracht
kommen. Sofem diese nun auf Allgemeinheit Ansprach machen, können sie nicht
empirisch gegründet sein. Sollen sie also, als Yemunfturteile, überhaupt ge-
gründet sein, so ist dies nur dadurch möglich, daß sie betoiesen werden. D. h. sie
können keine Grandurteile sein, sondem müssen „als Schlußsatz in einem Yer-
nunftschlnsse** gedacht werden.
206] Dritter tefl: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 617
XX.
Die Bubjekttve Dedtiktion.
92. Nan bleibt es freilich richtig, daß wir metaphysische Ur-
teile niemals „für immittelbar gewiß ausgeben^ dürfen. „Wenn
zu dem Begriffe eines Dinges eine Bestimmung a priori synthetisch
hinzukommt, so muß von einem solchen Satze, wo nicht ein Beweis,
doch wenigstens eine Deduktion der Rechtmäßigkeit seiner Be-
hauptung unnachlaßlich hinzugefügt werden,"^ „weil der Satz sonst
gleichwohl den größten Verdacht einer bloß erschlichenen Behaup-
tung auf sich haben würde".' Denn einem synthetischen Urteile
kann „an ihm selbst weder die Wahrheit, noch der Irrtum ange-
sehen werden^.' Es entsteht also die Frage:
„Wo ist hier das Dritte, welches jederzeit zu einem syn-
thetischen Satze erfordert wird, um in demselben Begriffe, die
gar keine logische (analytische) Verwandtschaft haben, mit
einander zu verknüpfen?"*
Auf diese Frage (die den eigentlichen Inhalt des Humeschen
Problems ausmacht) können wir nicht antworten: Dieses Dritte
ist die Möglichkeit der Erfahrung.^ Denn wenn es wahr ist, daß
die metaphysischen Grrundsätze den Grrund der Möglichkeit der
Erfahrung enthalten, so kann nicht umgekehrt die Möglichkeit
der Erfahrung den Grund der metaphysischen Grrundsätze ent-
halten. — Nach unseren Untersuchungen kann der fragliche Grund
» K. d. r. V., S. 215 f. « S. 160. » S. 153. * S. 238.
» S. 165, 221.
61g L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [206
oder das „Dritte^, das jederzeit zur Möglichkeit synthetischer
Sätze erfordert wird, nur eine unmittelbare Erkenntnis, nnd zwar,
als Grnnd metaphysischer Sätze, eine nicht- anschauliche unmittelbare
Erkenntnis sein.^ Diese nicht- anschauliche unmittelbare Erkenntnis
mußte Kant verfehlen, da er an der Disjunktion, alle Erkenntnis
sei entweder Anschauung oder Urteil, festhielt. Er mußte auf
Grund dieser Disjunktion die metaphysische Erkenntnis, da sie
als metaphysische sich nicht auf Anschauung gründen ließ, auf
die bloße Reflexion zu gründen suchen und so zu seinem trans-
zendentalen Beweisversuche kommen.
93. Hieraus erklärt sich zugleich eine gewisse Zweideutigkeit,
die dem Terminus „synthetisches Urteil aus bloßen Begriffen^^ bei
£ant anhaftet. Unterscheidet man nicht scharf zwischen der Er-
* Am n&chsten scheint dieser Auflösung des Problems unter Kants unmittel-
baren Schülern Sigismtjnd Beck gekommen zu sein. Der „Standpunkt des ur-
sprünglichen Yorstellens", den Beck als letzes Kriterium aller philosophischen
Wahrheit geltend macht, ist in der Tat recht verstanden der Standpunkt der
unmittelbaren Erkenntnis. Aber so klar auch Beck seinen „Standpunkt des ur-
sprünglichen Yorstellens" von dem Standpunkte der Reflexion zu unterscheiden
weiß, 80 hindern ihn doch zwei Fehler, diese Einsicht für eine wirkliche Fort-
bildung der Yemunftkritik fruchtbar zu machen. Erstens nämlich verfällt er, in
der traditionellen Disjunktion der Erkenntnisquellen befangen, dem dem Logizis-
mus entgegengesetzten Fehler: er übersieht die ursprüngliche Dunkelheit der un-
mittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft, er behandelt sie wie eine Art An-
schauung, auf deren Standpunkt man sich nur zu „versetzen" brauche, um nach
Belieben dieses oder jenes philosophische Urteil einzusehen. Er bleibt also an
dem Punkte stehen, wo die schwierigste Aufgabe der Kritik erst anfängt, nämlich
die Aufgabe, den Bestand jener unmittelbaren Erkenntnis vermittelst einer Theorie
der Vernunft abzuleiten. — Zweitens aber fehlt ihm die strenge Trennung der
Sätze, die dem philosophischen System angehören, von den Sätzen der Kritik] so
daß es bei ihm zu keiner Klarheit darüber kommt, ob sein „ursprüngliches Vor-
stellen" den Qrund der Prinzipien des Systems oder den der Prinzipien der Kritik
enthalten soll. (Vgl. 8. Beck: „Einzig möglicher Standpunkt, aus welchem die
kritische Philosophie beurteilt werden muß" und „Grundriß der kritischen Philo-
sophie", 1796.)
207] Dritter Tefl: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 619
kenntnis selbst und dem Bewaßtsein um die Erkenntnis, so scheint
ein synthetisches urteil aas bloßen Begriffen ein solches zu sein,
das seinen Grund in bloßen Begriffen hat, was einen offenbaren
Widerspruch einschlösse, da alle Urteile, deren Grund in bloßen
Begriffen liegt, analytische sein müssen. In der Tat bedeuten die
Worte „aus bloßen Begriffen'^ recht verstanden lediglich, daß die
metaphysischen Urteile ihren Grund nicht in der Anschauung haben,
d. h. daß uns die metaphysische Erkenntnis nur durch Begriffe^
nämlich nur im Urteil, zum Bewußtsein kommt.
Aus dieser bei Ejlnt nicht aufgeklärten Zweideutigkeit er-
klären sich die gewöhnlichen Mißverständnisse, auf Grund deren
noch gegenwärtig gegen den Eantischen Begriff des synthetischen
Urteils aus bloßen Begriffen polemisiert wird.* Es ist, wie man
aus dem hier Dargelegten ersieht, nichts weiter nötig, als diesen
Begriff von seiner Zweideutigkeit zu befreien, um die Tatsache
einer nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis als die Be-
dingung der Möglichkeit metaphysischer Urteile sicher zu stellen.
Die Aufgabe der Zurückführung der metaphysischen Grund-
urteile auf die unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft weist
uns offenbar auf das Problem der „subjektiven Deduktion'^ zurück.
Diese subjektive Deduktion, die bei Kant nur eine mehr vor-
bereitende und untergeordnete Kolle spielt, rückt somit in den
eigentlichen Mittelpunkt der Vernunftkritik.*
^ Man vergleiche z. B. L. Busse: „PhUosophie und Erkenntnistheorie"
S. 148 ff.: „Synthetische Urteile a priori sind, weü in sich widerspruchsvoll, un-
mögUch.« (S. 154.)
* Eine ausführlichere Kritik der Eantischen Deduktionenlehre habe ich in
meiner Schrift „J. F. Fries und seine jüngsten Kritiker" gegeben. Ich verweise,
um Wiederholungen zu vermeiden, auf das dort Ausgeführte. (Abhandlungen der
Friesischen Schule, Neue Folge, Band I, S. 276 bis S. 313, insbesondere S. 279
—297 und S. 307—313.)
620 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [208
XXI.
Der Begriff der transzendentalen Logik.
94. Unter der Yoraussetzung, die Kritik enthalte einen
Beweis der metaphysischen Grandsätze, wird die Annahme unver-
meidlich, die Kritik enthalte zugleich den Grund der metaphy-
sischen G-rondsätze. Diese Annahme aber zieht die weitere nach
sich, daß die Kritik hinsichtlich der Modalität mit den dnrch sie
begründeten Prinzipien gleichartig, also selbst eine rationale
Wissenschaft sein müsse. Der Unterschied von Kritik und System
wird dadurch verwischt, und Erkenntnisse, die tatsächlich der
inneren Erfahrimg entstammen, selbst also nur einer der Philosophie
in systematischer Hinsicht untergeordneten Sphäre angehören,
werden als die höchsten Gründe des philosophischen Wissens in
Anspruch genommen.
95. Dieser Fehler, der auf die Gestaltung der nachkantischen
Philosophie bestimmend gewirkt hat, mußte durch K^nts trans-
zendentale Beweisversuche veranlaßt werden. Er kommt bereits
in dem Kantischen Terminus der „transzendentalen Logik'^ zum
Ausdruck. Diese Wissenschaft soll sich hinsichtlich ihrer Aufgabe
in zweifacher Weise von der formalen — oder, wie Kant sagt,
„allgemeinen reinen^' Logik unterscheiden. Einmal, insofern sie
nicht wie diese „von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert"',
und femer, insofern sie „auch auf den Ursprung** der Erkenntnis
geht, „dahingegen die allgemeine Logik mit diesem Ursprünge der
» K. d. r. V., S. 79.
209] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 621
Erkenntnis nichts zn tnn hat^.^ Diese beiden unterscheidenden
Merkmale werden in dem Aasdmck ,,transzend6ntal^' zusammen^
gefaßt.
Hiermit kommt in den Terminus der transzendentalen Logik
eine verhängnisvolle Zweideutigkeit. Auf der einen Seite soll
die transzendentale Logik eine „Wissenschaft des reinen Ver-
standes- und Yemunfterkenntnisses, dadurch wir Gegenstände
völlig a priori denken," sein* und die ^^Elemente der reinen Ver-
standeserkenntnis" vortragen'. Sie soll also, wie die formale
Logik, eine rationale Wissenschaft sein, mit dem Unterschiede
jedoch, daß die formale Logik lediglich analytische, die transzen-
dentale aber Hur synthetische Urteile aus reinen Begriffen enthält.
Die transzendentale Logik wäre hiemach identisch mit der Meto-
physik. — Auf der anderen Seite aber soll die transzendentale
Logik den Ursprung „des reinen Verstandes- und Vemunfterkennt-
nisses'^ bestimmen. „Nur die Erkenntnis, daß diese Vorstellongen
gar nicht empirischen Ursprungs sein, und die Möglichkeit, wie
sie sich gleichwohl a priori auf Gegenstände der Erfahrung
beziehen können, kann transzendental heißen."^ Hiemach wäre
die transzendentale Logik eine Wissenschaft, die metaphysische
Erkenntnisse nicht zum Inhalt, sondern zum Gegenstande hat. Sie
enthielte eine Erkenntnis nicht der metaphysischen Gesetze,
sondern der Erkenntnis der metaphysischen Gesetze, wäre selbst
also eine Wissenschaft aus innerer Erfahrung.
Daß Kjlst die Heterogeneität dieser Begriffsbestimmungen
seiner transzendentalen Logik verkannt hat, geht schon daraus
hervor, daß er bei der Einfuhrung des Terminus „transzendental"
die Erkenntnis, „daß und wie gewisse Vorstellungen lediglich
> S. 80. . « S. 80. » S. 84. * S. 80.
AbhftBdliugai d« Irtoi^Mhn Sehnle. U. Bd. ^
622 L* NelBon: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [210
a priori angewandt werden oder möglich seien", selbst als ein«
^Erkenntnis a priori" bezeichnet.^
96. Es ist leicht einzusehen, daß dieser Fehler in seinen Kon-
sequenzen auf eine völlige Preisgabe aller Vorteile der kritischen
Methode führen muß. Diese Methode ist dadurch charakterisiert,
daß sie nicht von der Aufstellung der Grundsätze der gesuchten
Wissenschaft ausgeht, sondern ein vorbereitendes Verfahren ein-
schlägt, das sich die Auffindung und Begründung der Griundsätze
des Systems erst zum Ziele macht. Die Kritik ist daher der
systematischen Darstellung der kritisierten Wissenschaft gerade
entgegengesetzt. Wird nun die Kritik, indem man ihre Methode
mit einem Beweisverfahren verwechselt, selbst für eine rationale
Wissenschaft gehalten, die sich von der kritisierten nur dadurch
unterscheidet, daß sie deren höhere logische Grründe enthält, so
tritt unvermerkt der Inhalt der Kritik an die Spitze des Systems ;
es wird die Aufgabe der Kritik, aus einem „obersten Grundsatz"
den Inhalt des Systems nach dogmatischer Methode abzuleiten.
97. Daß durch ein solches Verfahren der eigentliche Zweck
der Kritik durchaus verfehlt werden muß, hat Kant selbst ge-
legentlich ausgesprochen. In der „Einleitimg" zur „Untersuchung
über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie
und der Moral^ findet sich die merkwürdige, bisher, wie es scheint,
wenig beachtete Stelle:
„Welche Lehrart wird aber diese Abhandlung selber haben
sollen, in welcher der Metaphysik ihr wahrer Grad der Gewiß-
heit, samt dem Wege, auf welchem man dazu gelangt, soll ge-
wiesen werden? Ist dieser Vortrag wiederum Metaphysik, so
ist das Urteil desselben ebenso unsicher als die Wissenschaft bis
S. 80.
211] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntniatheorie. 62ä
dahin gewesen ist, welche dadurch hoffet, einigen Bestand und
Festigkeit zu bekommen, und es ist alles verloren. Ich werde
daher sichere Erfahrungssätze und daraus gezogene unmittelbare
Folgerungen den ganzen Inhalt meiner Abhandlung sein lassen/
Man wird diese Stelle nicht mit der Bemerkung für abgetan
halten, daß sie einer „vorkritischen^ Schrift angehört. Denn gerade
in dieser Schrift wird zum ersten Male die kritische Methode gegen
die dogmatische ins Feld geführt, und man wird sogar finden,
daß Kant erhebliche Partieen aus ihr mit fast wortlicher Über-
einstimmung in die entsprechenden Kapitel der transzendentalen
Methodenlehre herübergenommen hat. G-erade vom Jahre 1763 an
sollte man die kritische Periode der Kantischen Schriften datieren.
Es erhebt sich aber die Frage, welche Gründe Kant bewogen
haben mögen, die an der zitierten Stelle ausgesprochene und be-
gründete Überzeugung wieder fallen zu lassen. (Denn an der
Tatsache dieser Meinimgsänderung kann kein Zweifel sein.) Die
Antwort auf diese Frage ergiebt sich, wenn man beachtet, daß
in der Preisschrift vom Jahre 1763 als wesentliches Merkmal der
kritischen Methode nur das regressive Verfahren der logischen
Zergliederung beschrieben wird, -^ ein Verfahren also, das über
die faktische Aufweisung der metaphysischen Grundsätze nicht
hinauszugehen gestattet. Daß durch eine solche regressive Auf-
weisung die quaestio juris der fraglichen Grundsätze nur mehr
vorbereitet als beantwortet wird, daß also die Aufgabe, den Grund
der Gewißheit dieser Sätze zu ermitteln, noch eine andere Methode
erfordert, dieser Einsicht konnte sich Kant auf die Dauer nickt
verschließen. Insbesondere mögen es die Angriffe Humes gegen
die Metaphysik gewesen sein, aus deren Studium Kant die Über-
zeugung geschöpft hat, den Empiristen einen Beweis der meta-
physischen Grundsätze schuldig zu sein. Denn da er an der von
40*
624 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
HuM£ vorausgesetzten Disjunktion festhielt, alle Erkenntnis sei
entweder Anschauung oder Urteil, so muBte er offenbar den Grrund
der Gewißheit einer Erkenntnis, deren nicht-anschaulichen Ur-
sprung er erkannt hatte, in der Reflexion, und dementsprechend
ihr Begründungsmittel im Beweise suchen. Die Einsicht aber, daß
Erkenntnisse a posteriori nicht Prinzipien eines solchen Beweises
werden können, zwang ihn dazu, die Ansicht von der empirischen
Natur der Eriük fallen zu lassen.
xxn.
Zusammenfassende Kritik der von Kant versuchten
Auflösung des Humeschen Problems.
98. Legen wir uns, um das Bisherige zusammenzufassen, die
Frage vor: Worin besteht eigentlich die Kantische „Auflösung
des Humeschen Problems '^P Diese Frage ist keineswegs einfach
zu beantworten. Wir haben nämlich gesehen, daß Eant unbe-
denklich an der traditionellen Disjunktion der Wahrheitskriterien
festgehalten hat. In dieser Disjunktion sind aber die Prämissen
des Humeschen metaphysischen Skeptizismus so vollständig ent-
halten, daß Ejlnt, ohne eine Inkonsequenz zu begehen, nicht zu
einer Ablehnung dieses Skeptizismus gelangen konnte. Der Hu-
mesche Skeptizismus besteht nämlich, auf die Form eines logischen
Schlusses gebracht, in dem folgenden Argument:
Alle Wahrheit beruht entweder auf empirischen oder auf
logischen Kriterien.
Nun lassen sich aber metaphysische Urteile weder auf Em-
pirie noch auf Logik gründen.
Folglich sind alle metaphysischen Urteile grundlos. —
213] Dritter Tefl : Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 625
Wenn also E[ant, der den Obersatz stillschweigend von Hühe
übernimmt nnd den Untersatz durch seine Einfühmng des Begriffs
des „synthetischen Urteils a priori* nur noch scharfer formuliert,
trotzdem „weit entfemf ist, Hüme „in Ansehung seiner Folge-
rungen Grehör zu geben ''^ wenn er vielmehr die Humesche Folge-
rung für ;,übereilt und unrichtig^ erklärt^, so erscheint diese
paradoxe Stellungnahme zunächst als ein psychologisch schwer
verständliches Rätsel.' Die Lösung dieses Rätsels liegt in dem
bereits (§ 91) erörterten Irrtum Bjlnts, als habe man es nach der
Reduktion der Allgemeingültigkeit der metaphysischen Grundsätze
auf ihre Grültigkeit für Gegenstände möglicher Erfahrung in den so
entstehenden reduzierten Sätzen noch mit metaphysischen Urteilen
zu tun. Durch diesen Irrtum veranlaßt konnte er beispielsweise
glauben, in dem Satze: „Der Grundsatz der Kausalität ist eine
Bedingung der Möglichkeit der Erfahrmig* oder: „Jede Verände-
rung, als Gegenstand möglicher Erfahrung beurteilt, hat eine Ur-
sache^ ein hinreichendes Äquivalent für den metaphysischen Grund-
satz der Kausalität zu finden. Und er konnte so zu der paradoxen
Vorstellungsweise kommen, wonach ein und derselbe Satz in der
einen Hinsicht als grundlos und willkürlich, in der anderen als
notwendig wahr und apodiktisch bewiesen gilt. In Wahrheit
haben wir es hier mit zwei ganz verschiedenen Urteilen zu tun.
Das eine, nach dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung redu-
zierte Urteil ist, als analytisches^ allerdings apodiktisch beweisbar,
kann aber, wie wir gesehen haben, eben darum nicht als ein Aqui-
' Prolegomena, Einleitung.
' Der Widersprach in dieser SteUongnahme Kants tritt dadurch noch schärfer
hervor, daß Kant wiederholt ausdrücklich das Recht und die ünvermeidlichkeit
der Humeschen Schlußfolgerung anerkennt. (Vgl. die in § 89 Anmerkung S. 612
angeführten Stellen.)
626 L> Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [214
valent des metaphysischen Urteils gelten. Das andere, metaphy-
sische Urteil, anf das allein sich die Hnmesche Argumentation
bezog, bleibt auch bei Kant dem Skeptizismus preisgegeben; die
Folgerang Hühes ist also keineswegs aufgehoben, sie kann viel-
mehr auch nach Eant weder als „übereilt'' noch als „unrichtig''
gelten.
Betrachten wir, zur Bestätigung dieser Darstellung, Kants
ausführliche Auseinandersetzung mit Hüme in der Kritik der
praktischen Vernunft.^ Der entscheidende Satz ist hier der
folgende*:
„Aus meinen Untersuchungen aber ergab es sich, . . . daß,
obgleich bei Dingen an sich selbst gar nicht abzusehen ist, ja
unmöglich ist einzusehen, wie, wenn A gesetzt wird, es wider-
sprechend sein solle, By welches von A gaxiz verschieden ist,
nicht zu setzen, (die Notwendigkeit der Verknüpfung zwischen
A als Ursache und B als Wirkung,) es sich doch ganz wohl
denken lasse, daß sie als Erscheinungen in einer Erfahrung auf
gewisse Weise (z. B. in Ansehung der Zeitverhältnisse) not-
wendig verbunden sein müssen und nicht getrennt werden können,
ohne derjenigen Verbindung zu widersprechen, vermittelst deren
diese Erfahrung möglich ist, in welcher sie Gregenstände und
uns allein erkennbar sind.''
Der Gegensatz, der hier zwischen dem Grundsatze der Kausa-
lität als einem Gesetze für Dinge an sich und demselben Grund-
satze als einem Gesetze für Erscheinungen festgestellt werden
soll, ist nur den Worten nach vorhanden. Im ersten Falle, heißt
es, enthalte die Annahme der Ungültigkeit des Gesetzes keinen
Widerspruch; im zweiten aber widerspreche sie einer Bedingung
' S. 61ff. * S. 64f.
216] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 627
der Möglichkeit der Erfahrimg. Dies ist kein G-egensatz; denn
das Eriterimn der Unmöglichkeit der fraglichen Annahme ist in
beiden Fällen ein verschiedenes : das eine Mal wird es in den Satz
des Widerspruchs gesetzt, das andere Mal in die Möglichkeit der
Erfahrung. Es ist also nichts weiter gesagt, als daß das Kausal-
gesetz, auf Dinge an sich bezogen, nicht logisch notwendig, auf
Erscheinungen bezogen aber eine Bedingung der Möglichkeit der
Erfahrung sei. Bei dieser Fassxmg des Satzes fällt aber sofort
in die Augen, daß die Worte „bei Dingen an sich selbst*' und
„als Erscheinungen'* ganz belanglos sind; denn der Satz bleibt
auch richtig, wenn man diese Worte wegläßt.
Sehen wir aber näher zu, welches die Bedingung ist, der,
nach dem zweiten Teile des Satzes, die Annahme der Ungültigkeit
des Kausalgesetzes widersprechen soll, so zeigt sich, daß es keine
andere sein kann als das positive Eoinsalgesetz selber. Denn nnr
sofern dieses selbst zu den Bedingungen der Möglichkeit der Er-
fahrung gehört, ist keine Erfahrung möglich, die ihm widerspräche.
Der zweite Teil des Satzes sagt also im Grrunde nur aus, daß die
Annahme der Ungültigkeit des Kausalgesetzes der Annahme seiner
Gültigkeit widerspreche. Dieser Satz ist analytisch und als solcher
nach dem Satze des Widerspruchs einzusehen. Wollen wir also
den Inhalt des Kantischen Gedankens auf einen logisch korrekten
Ausdruck bringen, so müssen wir dem metaphysischen Grundsatze
der Kausalität den nach dem Prinzip der Möglichkeit der Erfah-
rung reduzierten Satz gegenüberstellen und können dann mit Recht
behaupten, daß nur der erste, nicht aber der zweite ohne Wider-
spruch verneint werden könne. Und da ist denn klar, daß durch
diese Feststellung die Humesche Schlußfolgerung in keiner Weise
erschüttert wird.
Der von Ejlnt gegen Hukbs schottische Gegner gerichtete
628 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [216
Vorwurf, daß sie „den Punkt seiner Aufgabe verfehlten", muß
daher in dem dargelegten Sinne auch gegen Kant selbst erhoben
werden. Es läßt sich Wort für Wort als eine Kritik auf seinen
eigenen Losungsversuch anwenden, wenn wir bei ihm lesen:
„Es war nicht die Frage, ob der Begriff der Ursache . . .
in Ansehung der ganzen Naturerkenntnis unentbehrlich sei, denn
dieses hatte Hüme niemals in Zweifel gezogen." „Es war ja
nur die Rede von dem Ursprünge dieses Begriffs, nicht von der
Unentbehrlichkeit desselben im Gebrauche; wäre jener nur aus-
gemittelt, so würde es sich wegen der Bedingungen seines Ge-
brauches und des Umfangs, in welchem er gültig sein kann,
schon von selbst gegeben haben. "^
Die Kantische Auflösung beschränkt sich, wie wir gesehen
haben, auf den Beweis des Satzes, von dem Kant hier erklärt,
daß HuME ihn niemals in Zweifel gezogen habe. Der transzenden-
tale Beweis bezieht sich ja ausschließlich auf die „Unentbehrlich-
keit in Ansehung der ganzen Naturerkenntnis ^ und läßt die Frage
„von dem Ursprünge" voUig unberührt.* — Die Ansätze zu einer
^ Prolegomena, Einldtang.
' Eine klare Einsiclit in diesen noch heute so vielfach verkannten Sachverhalt
findet sich schon hei Salomon Maimon. Maimon, der sich seihst einen ,,kritischen
Skeptiker^ nennt, erkennt die Sätze der reinen Mathematik als synthetische Urteüe
a priori an, hält aber den metaphysischen Grundsätzen der reinen Naturwissen-
schaft gegenüber die Position Hümes aufrecht. Ich führe einige Stellen an:
„Wenn auch Herr Kant bewiesen hat, daß wir diese Formen nicht von
der Erfahrung haben abstrahieren können, weü nämlich Erfahrung erst dadurch
möglich wird: so kann ihm David Hume (oder sein Stellvertreter) dieses alles
gerne zugeben. Er wird sagen : der Begriff von Ursache ist nicht in der Natur
unsers Denkens überhaupt, . . . auch nicht in der Erfahrung . . . gegründet ;
folglich giebt es auch keine eigene Erfahrungssätze (die Notwendigkeit aus-
drücken)." (Versuch über die TranszendentalphUosophie, 1790, S. 73. Vgl.
ebenda S. 42 und 47, sowie S. 418: „Gesetzt, daß eine synthetische Regel über-
217] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 629
wirklichen Auflösung des Problems befinden sieb vielmehr an der
Stelle, wo Kant selbst sie am wenigsten suchte, nämlich in der
haupt in den Wahrnehmungen zu ihrer chjektiven Realität notwendig wäre, so
ist doch keine bestimmte Begel dazu notwendig. **)
,,Die kritische Philosophie kann also hier nichts mehr ton, als zeigen,
daß zur Möglichkeit der Erfahrung überhaupt, in dem Sinne worin sie das
Wort Erfahrung nimmt, allgemeine synthetische Grundsätze und hinwiederum
zur Bealität (Beziehung auf ein Objekt) dieser Grundsätze, Erfahrung als Fak-
tum vorausgesetzt werden müsse. D. h. sie muß sich im beständigen Zirkel
herumdrehen." („Über die Progressen der Philosophie", 1793, S. 61.)
„Kant legt in seiner Philosophie die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt
zum Grunde. Die Prinzipien der Transzendentälphiloaqphie haben nur als Be-
dingungen des Erfahrungsgebrauchs ihre Bealität Er setzt also Erfahrung als
Faktum voraus. Ein Skeptiker aber, der Erfahrung selbst in Zweifel zieht,
wird auch die Bealität dieser Prinzipien bezweifeln." (Philosophischer Brief-
wechsel, S. 191.)
,,Eant setzt Erfahrung (den Gebrauch synthetischer Sätze, die Notwendig-
keit und Allgemeingültigkeit ausdrücken) von Gegenständen der Wahrnehmung
voraus, und beweist die Realität der reinen Begriffe und Sätze als Bedingungen
der Erfahrung. Diese haben also bloß eine hypothetische BeäHtät*^ (Ebenda,
S. 203.)
„Durch alles, was Sie aufgestellt und bewiesen haben, haben Sie nichts
mehr getan, als daß Sie die Merkmale des Begriffs von objektiver Erfahrungs-
erkenntnis, wodurch sie von subjektiver Erfahrungserkenntnis unterschieden
wird, bestimmt angegeben haben. Ob aber dieser bestimmte Begriff objektive
Bealität^ d. h. einen Gebrauch hat? ist eine andere Frage, die Sie ganz unbe-
rührt gelassen haben. ... Sie zeigen z. B. daß eine Veränderung in der Er-
scheinung^ nur dem Gesetze der Kausalität gemäß gedacht, objektiv heißen kann.
Dieses hat allerdings seine Richtigkeit. Aber die Frage ist : giebt es eine solche
Veränderung? Ja, sagen Sie, weil wir im Denken die objektive von der siib-
jektiven Veränderung, durch das PrädikcU der Kausalität (was in jener gedacht
wird, in dieser aber nicht) unterscheiden. Aber damit ist die von mir aufge-
worfene Frage ganz und gar nicht beantwortet. Wir haben noch immer mit
einem bloß gedachten Objekte und der sich darauf beziehenden Erkenntnis zu
tun." (Kritische Untersuchungen über den menschlichen Geist, 1797, S. 153 f.)
„. . . so bestehet Alles, was Herr Kant bewiesen hat, also bloß darin, daß
sich diese beide wechselweise voraussetzen, d. h. um ein wirkliches Entstehen zu
denken, muß man das zu entstehende Ding in Ansehung eines andern Dinges
in einer Folge nach einer Regel denken^ and auch umgekehrt, und dieses wird
630 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [218
^subjektiven Deduktion'', von der er erklärt, sie „gebore nicbt
wesentlicb zu seinem Hauptzwecke*'.^
99. Durcb diese Betracbtung rückt aucb die Kantiscbe Lebre
von der zweifacben Objektivität in ein belleres Liebt. Kant unter-
scbeidet „transzendentale'' und „empiriscbe" Realität Die for-
malen Bedingungen der Erfabrung baben transzendentale Ideali-
tät, aber empiriscbe Realität. Sie gelten, wie Kant es darstellt,
nicbt für „Dinge an sieb", wobl aber für „Erscbeinungen". Jenes
babe Hume eingeseben, dieses aber verkannt und daber falscblicb
auf die Ungültigkeit der fraglicben Prinzipien überbaupt gescblossen.
Greben wir dem Gedanken, den Kant bier zum Ausdruck bringen
wollte, auf den Grund, so läßt er sieb auf eine andere, sebr viel
einfacbere Formel bringen, wobei allerdings seine Tragweite eine
wesentlicbe Einscbränkung erfäbrt. Wir baben es nämlicb bier
zunäcbst gar nicbt mit zwei Bereicben von Objekten zu tun, die
sieb, als Erscbeinung und Ding an sieb, durcb ibren Realitätswert
unterscbieden und in deren einem ein Satz wabr sein könnte, der
im anderen falscb wäre. Sondern wir baben es mit zwei inbaltlicb
verscbiedenen Säteeii zu tun, von denen der eine scblecbtbin grund-
los ist, der andere aber scblecbtbin objektiv gilt. Dies ist Kant
ihm Niemand streitig machen. Die Frage ist aber hier nicht nach der logischen
Beziehung dieser Gedanken aufeinander, sondern nach ihrem reellen Gebrauche,
und dieses ist eben, was nicht zugegeben werden kann. Und da also der Be-
griff von Ursache in Beziehung auf bestimmte Gegenstände der Erfahrung keine
Realität hat, so hat auch der Begriff von Ursache überhaupt, als eine Abs-
traktion davon keine Realität.^ (Philosophisches V^örterbuch, 1791, S. 167.
Vgl. auch „Philosophisches Journal", 1797, S. 167 ff.)
Es muß als ein entschiedenes Verdienst Maimons um den Fortschritt der
kritischen Metaphysik bezeichnet werden, zuerst mit Schärfe und Nachdruck auf
diesen wesentlichen Mangel in der Eantischen Behandlung des Problems hinge-
wiesen zu haben.
> E. d. r. V., Vorrede zur ersten Ausgabe.
219] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 631
nicht klar geworden. Nicht zwei verschiedene Begriffe der Ob-
jektivität sind es, nach denen ein Urteil bewertet wird, sondern
zwei Urteile sind es, die nach einem und demselben Objektivitats-
begriff bewertet werden. Und zwar hat diese Objektivität ihr
£j*iteriam nach wie vor in der dogmatischen Disjunktion von Logik
und Empirie. Nach diesem Kriterium ist das metaphysische Urteil
ungültig, das nach dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung
reduzierte Urteil aber logisch-notwendig.
Man kann zwar, um der Kantischen Darstellung einen mög-
lichst klaren Sinn unterzulegen, den Ausdruck „empirische Reali-
tät'' überall, wo er in dem hier erörterten Zusammenhange vor-
kommt, im Sinne der folgenden Festsetzung interpretieren: Von
einem metaphysischen Prinzip, das als solches schlechthin ungültig
ist, soll gesagt werden, es habe „empirische Realität'', wenn das
entsprechende, nach dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung
reduzierte Urteil gültig, nämlich logisch-notwendig ist. Aber es ist
wohl zu beachten, daß wir hiermit lediglich eine terminologische
Festsetzung getroffen, nicht aber etwa einen neuen Begriff der
Objektivität eingeführt oder gar ein von den Dingen an sich ver-
schiedenes Gebiet der Realität entdeckt haben. Um einem solchen
Mißverständnisse vorzubeugen, empfiehlt es sich, die Anwendung
der Ausdrücke „Idealismus" und „Realismus" — obgleich wir
ihnen den eben angegebenen zulässigen Sinn unterlegen können
— in diesem Zusammenhange lieber völlig zu vermeiden.
630 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [218
^subjektiven Deduktion*', von der er erklärt, sie „gebore nicbt
wesentlicb zu seinem Hauptzwecke '^.^
99. Durcb diese Betracbtung rückt aucb die Kantiscbe Lebre
von der zweifacben Objektivität in ein beileres Liebt. Kant unter-
scbeidet „transzendentale" und „empiriscbe" Realität Die for-
malen Bedingungen der Erfabrung baben transzendentale Ideali-
tät, aber empiriscbe Realität. Sie gelten, wie Kant es darstellt,
nicbt für „Dinge an sieb", wobl aber für „Erscbeinungen". Jenes
babe Huhe eingeseben, dieses aber verkannt und daber Mscblicb
auf die Ungültigkeit der fraglicben Prinzipien überbaupt gescblossen.
Greben wir dem Gedanken, den Kant bier zum Ausdruck bringen
wollte, auf den G-rund, so läßt er sieb auf eine andere, sebr viel
einfacbere Formel bringen, wobei allerdings seine Tragweite eine
wesentlicbe Einscbränkung erfäbrt. Wir baben es nämlicb bier
zunäcbst gar nicbt mit zwei Bereicben von Objekten zu tun, die
sieb, als Erscbeinung und Ding an sieb, durcb ibren Realitätswert
unterscbieden und in deren einem ein Satz wabr sein könnte, der
im anderen falscb wäre. Sondern wir baben es mit zwei inbaltlicb
verscbiedenen Sateeii zu tun, von denen der eine scblecbtbin grund-
los ist, der andere aber scblecbtbin objektiv gilt. Dies ist Kant
ihm Niemand streitig machen. Die Frage ist aber hier nicht nach der logischen
Beziehung dieser Gedanken aufeinander, sondern nach ihrem reellen Gebrauche,
und dieses ist eben, was nicht zugegeben werden kann. Und da also der Be-
griff von Ursache in Beziehung auf bestimmte Gegenstände der Erfahrung keine
Realität hat, so hat auch der Begriff von Ursache überhaupt, als eine Abs-
traktion davon keine Realität^ (Philosophisches Wörterbuch, 1791, S. 167.
Vgl auch „Philosophisches Journal^, 1797, S. 167 ff.)
Es muß als ein entschiedenes Verdienst Maimons um den Fortschritt der
kritischen Metaphysik bezeichnet werden, zuerst mit Schärfe und Nachdruck auf
diesen wesentlichen Mangel in der Eantischen Behandlung des Problems hinge-
wiesen zu haben.
1 E. d. r. V., Vorrede zur ersten Ausgabe.
219] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 631
nicht klar geworden. Nicht zwei verschiedene Begriffe der Ob-
jektivität sind es, nach denen ein Urteil bewertet wird, sondern
zwei Urteile sind es, die nach einem und demselben Objektivitäts-
begriff bewertet werden. Und zwar hat diese Objektivität ihr
£[riteriam nach wie vor in der dogmatischen Disjunktion von Logik
und Empirie. Nach diesem Kriterium ist das metaphysische Urteil
ungültig, das nach dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung
reduzierte Urteil aber logisch-notwendig.
Man kann zwar, um der Kantischen Darstellung einen mög-
lichst klaren Sinn unterzulegen, den Ausdruck „empirische Reali-
tät" überall, wo er in dem hier erörterten Zusammenhange vor-
kommt, im Sinne der folgenden Festsetzung interpretieren: Von
einem metaphysischen Prinzip, das als solches schlechthin ungiätig
ist, soll gesagt werden, es habe „empirische Realität", wenn das
entsprechende, nach dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung
reduzierte Urteil gültig, nämlich logisch-notwendig ist. Aber es ist
wohl zu beachten, daß wir hiermit lediglich eine terminologische
Festsetzung getroffen, nicht aber etwa einen neuen Begriff der
Objektivität eingeführt oder gar ein von den Dingen an sich ver-
schiedenes Gebiet der Realität entdeckt haben. Um einem solchen
Mißverständnisse vorzubeugen, empfiehlt es sich, die Anwendung
der Ausdrücke „Idealismus" und „Realismus" — obgleich wir
ihnen den eben angegebenen zulässigen Sinn unterlegen können
— in diesem Zusammenhange lieber völlig zu vermeiden.
632 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [220
xxm.
Die Antinomieen- und Ideenlehre.
100. Im XV. Kapitel hatten wir zwei verschiedene Kantische
Beweise für den transzendentalen Idealismus angeführt. Es bleibt
uns daher noch die Aufgabe, unsere Kritik der ersten Beweisart
mit dem Inhalt der zweiten Beweisführung zu vergleichen.
Fassen wir zunächst die Aufgabe eines solchen Beweises in
ihrer Allgemeinheit ins Auge. Diese Aufgabe betrifft das Ver-
hältnis unserer Erkenntnis zu den Dingen an sich. Nun ergab
sich aus dem ersten Teil xmserer Untersuchungen, daß die An-
nahme von Dingen an sich nicht wissenschaftlich begründä werden
kann. Aber aus unseren Untersuchungen ging zugleich hervor,
daß eine solche Begründung gar nicht erforderlich ist, da vielmehr
die Voraussetzung einer Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge
an sich Qine aller Erkenntnis als solcher zu Grunde liegende
faktiscJie Voraussetzung ist. Wissenschaftlich diskutierbar bleibt
allein die Frage, ob diese Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge
an sich von der Art ist, daß wir nicht nur über die Existens,
sondern auch über die Beschaffenheit der Dinge an sich positive
Aussagen zu machen vermögen. Freilich läßt sich diese Frage,
so wenig wie irgend eine andere, durch Vergleichung unserer Er-
kenntnis mit den Dingen entscheiden, sondern auch für ihre Be-
antwortung sind wir auf eine nur innere Vergleichung unserer
Erkenntnisse untereinander angewiesen. Die in dieser Frage ge-
stellte Aufgabe scheint hiemach die paradoxe Forderung einzu-
schließen, durch eine nur innere Vergleichung der ErkentUnisse
221] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 633
etwas über das Verhältnis des Erkenntnis znm Gegenstände aosza-
macben, also auf kritischem Wege eine Frage zu beantworten, die
gänzlich aoßerhalb des Bereichs der Kritik der Yemnnft liegt.
Wenn nun aber auch eine Elritik unserer Erkenntnis-über-
haupt unmöglich ist, so ist doch die Gültigkeit einer Erkenntnis
insofern einer Begründung fähig, als diese Erkenntnis auf eine
andere, unmittelbare Erkenntnis zurückgeführt werden kann, deren
Objektivität unabhängig von aller Begründung vorausgesetzt wird.
Wenn es also möglich sein soll, irgend ein Urteil über das Ver-
hältnis unserer Erkenntnis zu den Dingen an sich zu fallen, so
muß es in unserer unmittelbaren Erkenntnis irgend eine wenn
auch noch so allgemeine Vorstellung von dem, was ein Ding an
sich ist, geben. Eine solche Vorstellung giebt es in der Tat: es
ist die Vorstellung von der vollständigen Bestimmtheit alles
Mannigfaltigen der empirischen Anschauung durch synthetische
Einheit. Diese für sich ganz formale und allgemeine Vorstellung
ist die Grundvorstellung der reinen Vernunft selbst. Sie enthält
daher das oberste Kriterium der Objektivität für alle anderen
möglichen Vorstellungen. Dieses Kriterium dient daher auch zur
kritischen Entscheidung unserer Frage; wir sind also für die Be-
antwortung dieser Frage nicht auf die unmögliche Vergleichung
mit dem Gegenstande angewiesen. Auch zur Auflösung des
scheinbar höchsten objektiven Problems vergleichen wir nur unsere
Vorstellungen untereinander; wobei allerdings diejenige Vor-
stellung, die uns bei dieser Vergleichung als oberstes Kriterium
dient, selbst jeder weiteren Begründung entbehren muß, aber,
kraft des Faktums des Selbstvertrauens der Vernunft, auch ent-
behren kann.
Die kritisch gestellte Frage lautet also: Ist eine vollständige
634 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [222
Bestimmung des Gehalts unserer Erkenntnis durch die Grundvor-
stellung der reinen Vernunft möglich?
101. In § 88 hatten wir zwei Bedeutungen des Worts ;, Ob-
jekt^ bei Kant unterschieden: den Begriff des der Empfindung zu
Grunde liegenden affizierenden Objekts, und den Begriff des durch
synthetische Einheitsprinzipien bestimmten Gegenstandes der Er-
fahrung. Legen wir den zweiten dieser Begriffe zu Grunde, so
erhalten wir, je nachdem wir die „Bestimmung" des Gegenstandes
als eine mehr oder weniger fortgeschrittene betrachten, ver-
schiedene Stufen der Objektivität der Erkenntnis. Diese Stufen
können wir uns in eine Reihe gebracht denken, derart, daß wir
von dem noch durch keinerlei synthetische Einheitsprinzipien be-
stimmten Material der Sinnesanschauung ausgehend zu immer
weitergehender Bestimmtheit dieses Materiales fortschreiten. Der
Begriff des Endgliedes dieser Reihe wäre der Begriff einer voll-
ständigen Bestimmung des Gegenstandes. Ob sich dieser Begriff
realisieren läßt, d. h. ob eine vollständige Bestimmung des Gegen-
standes durch unsere Erkenntnis möglich ist, das ist eine Frage,
die durch die bloße Widerspruchslosigkeit des Begriffs eines solchen
Endgliedes noch keineswegs entschieden ist. Eine Erkenntnisi die
bis zu dieser vollständigen Bestimmung des Gegenstandes durch-
gedrungen wäre, hätte die höchste denkbare Stufe der Objektivität
erreicht, sie wäre die einzige keinerlei subjektiven Beschränkungen
mehr unterworfene, sondern unbeschränkte oder „absolute" Er-
kenntnis. Der Gegenstand, als Gegenstand einer solchen absoltden
Erkenntnis, kann im engeren und eigentlichen Sinne „Gegenstand^
heißen und im Unterschiede von allem, was sich als Gegenstand
einer irgend wie subjektiv beschränkten Erkenntnis darstellt,
„Ding an sich" genannt werden. Die eben aufgeworfene Frage
223] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 635
ist daher identisch mit der Frage, ob ans eine Erkenntnis von
Dingen an sich möglich seL
102. Die Beantwortung dieser Frage ist in dem zweiten
Kantischen Beweise des transzendentalen Idealismus enthalten, der
in der Anflösang der Antinomieen besteht. Die Äntinomieefi sind
Widersprüche, die dadurch entstehen, daß man, unter der Voraus-
setzung, eine positive Erkenntnis der Dinge an sich zu besitzen,
die Gegenstände der Erfahrung nach Prinzipien beurteilt, die nur
auf Dinge an sich Anwendung finden. Diese Prinzipien, die
i,Ideen'', sind keine anderen als die der uttbeschränkten syntheti-
schen Einheit. Jeder Gegenstand möglicher Erfahrung ist, als
solcher, an die reinanschaulichen mathematischen Formen des
Raumes und der Zeit gebunden und steht dadurch in einer Reihe
von Bedingungen, deren Unendlichkeit die Möglichkeit einer Vol-
lendung des empirischen Regressus ausschließt. In diesem Wider-
spruch zwischen der durch die mathematische Form der Sinnes-
anschauung geforderten UnvoUendbarkeit der Reihe der Bedingungen
und der durch die Grundvorstellung der reinen Vernunft geforderten
Vollendung der Reihe besteht die Antinomie. Und so kann die
Auflösung der Antinomie nur dadurch erfolgen, daß man die ihr
zu Grunde liegende Voraussetzung einer positiven Erkenntnis der
Dinge an sich aufhebt.^
* Wir können hier die von Kant fiir die einzelnen Thesen *and Antithesen
gesehenen Beweise außer Betracht lassen. Man erkennt nämlich leicht, daß der
angegebene allgemeine Grund der Antinomie von der Schlüssigkeit dieser Beweise
unabhängig ist und daß daher auch seine Beurteilung nicht von einer Prüfung
dieser Beweise abhängig gemacht werden darf. Die hinreichende Voraussetzung
für das Zustandekommen der Antinomie liegt in der dem unkritischen Denken
geläufigen Verwechslung der Begriffe „Natur" und „Welt". Natur ist der Inbe-
griff der Gegenstände möglicher Erfahrung; Welt ist das absolute Ganze aller
existierenden Dinge. Durch die Verwechslung dieser Begriffe entsteht die An-
636 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [224
Diese Losung hat Kant gegeben, wenngleicli er den Ursprung
der Antinomie nicht bis auf ihre letzten, hier angedeuteten Gründe
verfolgt hat.^ Kants zweiter Beweis des transzendentalen Ideaüs-
mus bleibt also frei von dem erkenntnistheoretischen Fehler des
ersten, oder er läßt sich wenigstens von diesem Fehler befreien,
und es bleibt zu bedauern, daß er diesen Beweis nicht allein ge-
nahme einer „Sinnenwelt" als eines absoluten Ganzen aller existierenden Dinge
in Raum und Zeit. Ans dieser Annahme entspringen notwendig eine Reihe
einander widersprechender Aassagen, jenachdem man die Folgerangen aas der im
Natorbegriffe enthaltenen Voraassetzong der UnencUiehkeit oder aas der im Welt-
begriffe enthaltenen Voraassetzong der TotaJität zieht. Der Ursprang der An-
tinomie liegt also weder, wie es häafig dargesteUt wird, in dem mathematischen
Begriffe der Unendlichkeit, noch, wie andere mißverständlich meinen, in der Idee
der Welt, sondern allein in der Anwendung dieser beiden Begriffe auf einen and
denselben Gegenstand. Läge der Widersprach wirklich in einem jener Begriffe,
so würde er allerdings nicht dadurch gelöst werden können, daß wir mit Kant
annehmen, die Natur sei nur Erscheinang. Da er aber in der Tat nur in der
Verwechslung jener Begriffe liegt, so wird er durch diese Kantische Annahme
nicht etwa nur (wie man in den Darstellungen und Kritiken der Kantischen An-
tinomieenlehre zu lesen pflegt) „aus den Dingen in deren Erscheinung yerlegt**,
sondern wirklich aufgeh(^en] denn diese Annahme t^ nichts anderes als die Auf-
hebung jener Verwechslung.
^ Da Kamt die reine Vernunft nicht bestimmt von der Reflexion unter-
scheidet, so scheint es nach seiner Darstellung zuweilen, als seien die Antinomieen
Widersprüche in der reinen Vernunft selbst. Aber schon die Tatsache ihrer Aaf-
lüsung darch die Kantische Kritik beweist, daß dem nicht so sein kann; denn
für die Aaflösung eines Widerspruchs in der anmittelbaren Erkenntnis der reinen
Vernunft selbst besäßen wir gar kein Kriterium. Und so entscheidet schließlich
auch Kant selbst, daß bei den Antinomieen „kein wirklicher Widerspruch der
Vernunft mit ihr selbst« vorliegt. (K. d, r. V., S. 667.) Vgl auch S. 668: „Auf
solche Weise giebt es eigentlich gar keine Antithetik der reinen Venmnft'' und
S. 520: „Die Ideen der reinen Vernunft können nimmermehr an sich selbst dia-
lektisch sein, sondern ihr bloßer Mißbrauch muß es allein machen, daß uns von
ihnen ein trüglicher Schein entspringt; denn sie sind uns durch die Natur unserer
Vernunft aufgegeben und dieser oberste Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche
unserer Spekulation kann unmöglich selbst ursprüngliche Täuschungen und Blend«
werke enthalten. <*
Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 637
braucht, daß er ihm vielmehr nur die Bolle einer far das Ganze
seiner Lehre unwesentlichen Bestätigong des anderen, falschen
Beweises znerteilt hat.^ Es ist wichtig, sich dies vor Angen zu
halten, da, genau zugesehen, die Beweisgründe der beiden Beweis-
arten einander gegenseitig ausschließen, so daß die erste Beweisart
in ihren Konsequenzen den Grundgedanken der zweiten aufheben
muß, wie sich dies auch bei den meisten Nachfolgern Eants gezeigt
hat. Ist nämlich, wie die erste Beweisart annimmt, Apriorität
ein Kennzeichen der transzendentalen Idealität, so muß diese
Idealität auch von den der Antinomieenlehre zu Grunde liegenden
idealen Prinzipien behauptet werden, womit das für die zweite
Beweisart erforderliche Kriterium hinfallig wird.
103. In der Tat fehlt es bei Kant an einer kritischen
Begründung der Ideen. „Ideen^ sind notwendige Vorstellungen,
deren Gegenstände in keiner möglichen Erfahrung gegeben werden
können. Wollen wir nun den Ursprung der Ideen richtig beur-
teilen, so müssen wir genau unterscheiden zwischen der meta-
physischen Grundvorstellung der synthetischen Einheit, wie sie
der unmittelbaren Erkenntnis angehört, und der Art, wie wir
uns dieser Vorstellung vor der Reflexion bewußt werden. Jene
Grundvorstellung erscheint vor dem Bewußtsein unter der Form
der metaphysischen Grundbegriffe oder Kategorieen. Der positive
Gebrauch dieser Kategorieen in der Erfahrung ist aber beschränkt
^ Wie sehr bei Kant der falsche erkenntnistheoretische Gesichtspunkt vor-
waltet, kann man aus der Stelle der Prolegomena ersehen, an der er seinen
Idealismus als den „formalen'' dem des Bebkelet gegenüberstellt und Ton ihm
sagt, er sei „lediglich dazu, um die Möglichkeit unserer Erkenntnis a priori von
Gegenständen der Erfahrung zu begreifen, welches ein Problem ist . . ." (S. 166.)
„Der Idealismus . . . war nur als das einige Mittel, jene Aufgabe aufzulösen, in
den Lehrbegriff aufgenommen worden (wiewohl er denn auch noch aus andern
Gründen seine Bestätigung erhielt)/ (S. 168.)
Abhudhuicni dar FriM^ieliai S«k«le. IL Bd. 41
638 L« Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [226
durch die UnvoUendbarkeit der mathematischen Form der Er-
fahrung. Wollen wir uns daher der metaphysischen Grundvor-
stellung selbst, so wie sie unabhängig von der Beschränktheit
ihres empirischen Grebrauchs in der Vernunft liegt, bewußt werden,
so kann das nur dadurch geschehen, daß wir die Schranken, die
in der mathematischen Form des empirischen Gebrauchs der Kate-
gorieen bestehen, aufgehoben denken. Die Begriffe, die wir da-
durch erhalten, sind die Ideen.
104. Aus dem Fehlen der für eine richtige Begründung der
Ideen unentbehrlichen Unterscheidung zwischen Reflexion und
unmittelbarer Erkenntnis erklären sich die Mängel der Kantischen
Ideenlehre. Wir müssen zunächst zwischen der von Kant ver-
suchten Ableitung der Ideen aus der Form der Yemunftschlüsse
und seiner E^ritik des Geltungsanspruchs der durch diese Ableitung
gewonnenen Begriffe unterscheiden. "Was das erste betrifft, so
wird Kant durch die Analogie mit dem Parallelismus der Tafeln
der Urteilsformen und der Kategorieen geleitet. Wie er das
System der Kategorieen durch ein regressives Verfahren an der
Hand des Systems der Urteilsformen auffindet, so will er durch
ein analoges Verfahren das System der Ideen vermittelst des
Systems der Schlußformen ableiten. Gegen diesen Versuch muß
von vornherein geltend gemacht werden, daß der Schluß nur eine
besondere Form des Urteils darstellt, nämlich das analytische
hypothetische Urteil, und daß deshalb der Leitfaden der Schluß-
formen auf keine Begriffe führen kann, die nicht bereits im System
der Kategorieen durch den Leitfaden der Urteilsformen aufgewiesen
sind. Wenn dennoch eine solche Aufweisung bei Kant zu gelingen
scheint, so beruht dies, wie man bei näherer Betrachtung findet,
vielmehr auf dem selbständigen Hinzukommen eines neuen Prinzips.
227] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 639
Dieses Prinzip, das »oberste Prinzip der reinen Vernunft** \ ist
der G-randsatz von der Totäliiät der Reihe der Bedingungen^ oder
von der Unmöglichkeit eines unendlichen Regressus.
Was aber die objektive Gültigkeit der Ideen betrifft, so kann
diese nach Eant nur vermöge eines Schlusses behauptet werden,
der sich als dialektisch erweist und seinerseits aus einem unver-
meidlichen ,, transzendentalen Schein** entspringen soll. Diese Dar-
stellung ist fehlerhaft. Beruhte nämlich die Annahme der objek-
tiven Gültigkeit der Ideen wirklich auf einem transzendentalen
Schein, so besäßen wir ja gar kein Mittel, diesen Schein auf-
zudecken. £[ants Lehre vom transzendentalen Schein und seine
darauf gegründete £ritik der Ideen enthält daher einen introji-
zierten Widerspruch.'
105. Ich will mich hier auf den Abschnitt der transzenden-
talen Dialektik beziehen, der „Kritische Entscheidung des kosmo-
logischen Streits der Vernunft mit sich selbst** überschrieben ist.
Kant argumentiert dort* folgendermaßen:
Gegenstände der Sinne sind uns als bedingt gegeben; mithin
ist die regressive Reihe der Bedingungen zum gegebenen Bedingten
der Erfahrung aufgegeben. Der Schluß hieraus auf das Gegebensein
der Reihe der Bedingungen und somit auf die Realität der Idee
der absoluten Totalität des Regressus ist unzulässig; denn er
würde voraussetzen, daß die Gegenstände der Sinne als Dinge
an sich gegeben sind, was gegen den in der transzendentalen
Ästhetik aus der Apriorität von Raum und Zeit geführten Beweis
der Idealität der Sinnenwelt ist.
Diesen Beweis der transzendentalen Ästhetik müssen wir
^K. d.r.V., 8.271. « S. 270, 286, 841 f., 346 f.
» Vgl § 82, letzte Anmerkung. * K. d. r. V., S. 405 ff.
41*
640 L. Nelson : Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
aber verwerfen; wir können nicht eine Vergleichung unserer Er-
kenntnis mit dem Gregenstande anstellen, um etwas über dessen
Realität oder Idealität auszumachen, sondern wir können nur
durch Vergleichung unserer Erkenntnis mit unserem Begriff von
einem Dinge an sich entscheiden, ob dieser Begriff auf unsere
Erkenntnis Anwendung findet oder nicht. Diesen Begriff von
einem Dinge an sich haben wir aber nur durch die Idee; wir
haben also gar kein von der Idee unabhängiges Kriterium dafür,
ob wir es in der Erfahrung mit Dingen an sich zu tun haben
oder nicht, um nach Anwendung dieses Kriteriums — wie Kant
will — erst die Anwendbarkeit der Idee auf unsere Erkenntnis
zu entscheiden. Kant schließt so : Die Gegenstände der Erfahrung
sind nur Erscheinungen; folglich ist die regressive Reihe der
Bedingungen nicht gegeben,* sondern nur aufgegeben; es findet
also keine Totalität des Regressus statt. Wir müssen aber viel-
mehr umgekehrt schließen : In der Erfahrung findet keine Totalität
des Regressus statt; also ist in der Erfahrung die regressive
Reihe der Bedingungen nicht gegeben, sondern nur aufgegeben,
und folglich hat es die Erfahrung nur mit Erscheinungen zu tun.
106. Kant ist bei dieser negativen Kritik der Ideen nicht
stehen geblieben. In seiner Lehre vom regulativen Gebrauch
der Ideen versucht er, ihnen eine positive Bedeutung für die
Erfahrungserkenntnis wiederzugeben. Aber das Verkennen des
Unterschiedes der Reflexion von der unmittelbaren Erkenntnis
hat ihn hier wieder zu einem eigentümlichen Fehler verleitet.
Indem er nämUch die positive Grundlage der Ideen in der un-
mittelbaren Erkenntnis, wie sie in der Tat der Möglichkeit der
Naturwissenschaft zu Grunde liegt, mit den Ideen selbst ver-
wechselte, wie sie lediglich der Reflexion angehören und zufolge
ihres negativen Ursprungs aller Naturwissenschaft entgegengesetzt
229] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 641
sind, geriet er anf seine Darstellang der Ideen als regulativer
Prinzipien der Naturwissenschaft Kant giebt hier dem „Grundsatz
der reinen Vernunft" die Bedeutung einer „Regel, welche in der
Reihe der Bedingungen gegebener Erscheinungen einen Regressus
gebietet, dem es niemals erlaubt ist, bei einem schlechthin Unbe-
dingten stehen zu bleiben".* Die Synthesis in der Reihe der
Erscheinungen ist unvollendbar, und die Annahme, den Ideen der
vollendeten Synthesis entspreche ein Objekt, entsteht für die
spekulative Vernunft nur durch einen „transzendentalen Schein".
Aber es ist die Aufgabe der Wissenschaft, so zu forschen, „oZä 06"
die Synthesis in der Reihe der Erscheinungen vollendbar wäre,
und unsere Naturerkenntnis der Vollständigkeit (in der Be-
stimmung des Gegenstandes), die die Idee fordert, „so nahe wie
möglich zu bringen".' — Der Grundsatz der reinen Vernunft
erscheint schließlich bei Kant als eine logische Maxime, zu
gegebenen Urteilen die Prämissen zu suchen und auf diese Weise
systematische Vollständigkeit hinsichtlich der Prinzipien in der
Wissenschaft anzustreben.
Hierbei hat Kant offenbar die metaphysischen Prinzipien der
synthetischen Einheit der unmittelbaren Erkenntnis mit den
logischen Prinzipien der analytischen Einheit des Systems ver-
wechselt. So vereinigt seine Lehre von den Ideen als Prinzipien
der systematischen Einheit ganz Heterogenes und einander Wider-
sprechendes. Die Regel, die gebietet, die empirische Synthesis
der Vollständigkeit „so nahe wie möglich" zu bringen, fordert
etwas Widersinniges, da die Form dieser empirischen Synthesis
die Vollständigkeit geradezu ausschließt, so daß sich gar kein
Abschluß der empirischen Synthesis denken läßt, dem man mehr
* K d. r. V., S. 413. « Prolegomena, S. 116, 136.
642 ^' Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblera. [230
oder weniger nahe kommen könnte. Die Kegel aber, die gebietet,
den Regressus über jede empirische Grenze hinaus fortzusetzen,
entspringt gerade ans der XJnvoUendbarkeit der mathematischen
Form der Erfahrung und ist also der Idee gerade entgegengesetzt.
Die Metaphysik bedarf der Ideen, wie Kant selbst einmal
bemerkt, „nicht zum Behufe der Naturwissenschaft, sondern um
über die Natur hinauszukommen".* Für die unmittelbare Erkenntnis
liegt allerdings der positive Grundgedanke der durchgängigen
objektiven synthetischen Einheit der Möglichkeit seines beschränkten
Gebrauchs in der Naturwissenschaft zu Grunde : die Beschränkung
der Kategorie durch das mathematische Schema wäre nicht möglich
ohne Voraussetzung der unbeschränkten Kategorie selbst. Für
die Reflexion gilt aber gerade das umgekehrte Verhältnis: die
Bildung der spekulativen Idee ist nur möglich durch den Gedanken
der Negation der Schranken der wissenschaftlichen Erkenntnis.
Vor der Reflexion muß deshalb die Wissenschaft der Möglichkeit
der Idee schon zu Grunde liegen. Kant nun, der den der unmittel-
baren Erkenntnis angehörigen Grund der metaphysischen Prinzi-
pien gleichsam selbst in die Reflexion verlegte, mußte beides ver-
mengen und erhielt so ideale Prinzipien an die Spitze der Natur-
wissenschaft; eine logische Teleologie mußte sich in sein System
einschleichen. Zu dem ursprünglichen Grund und der von aller
Reflexion unabhängigen Selbständigkeit der idealen Überzeugungs-
weise konnte er sich nicht hindurchfinden. Dadurch aber verfehlte
er zugleich den Mittelpunkt der ganzen Kritik der Vernunft
Seine Lehre führte so nur auf einen kritisch unauflösbaren Zwie-
spalt; es steht bei ihm der Anspruch der spekulativen Vernunft
an naturgesetzliche Bedingtheit dem der praktischen Vernunft an
1 E. d. r. y., S. 290, Amnerkong.
231] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 643
Freiheit gegenüber, ein Zwiespalt, den er nnr dogmatisch, durch
den Machtspmch vom Primat der praktischen Vernunft, entscheiden
kann.
XXIV.
Die möglichen Fortbildangen der Eantischen Philosophie.
107. Überblicken wir die dargelegten Mängel der Kantischen
Kritik, so finden wir, daß es eigentlich drei Fehler sind, die einer
Verbesserung bedürfen: erstens, logisch j die mangelhafte Durch-
bildung der Methode, zweitens, psychologisch, die falsche Beurteilung
der Reflexion, und drittens, metaphysisch, die fehlerhafte Begrün-
dung des transzendentalen Idealismus und die damit zusammen-
hängenden Fehler der Ideenlehre. Der erste Fehler beruht auf
der ungenügenden Durchführung der Trennung des kritischen vom
systematischen Gesichtspunkt, der zweite auf der dogmatischen
Disjunktion der Erkenntnisquellen, der dritte auf dem Vorurteil
des formalen Idealismus. Eine richtige Fortbildung der Kantischen
Philosophie hat daher zur Aufgabe erstens die strenge Durchführung
der kritischen Methode im Sinne der subjektiven oder psycholo-
gischen Deduktion, zweitens, für diese Deduktion selbst, eine
befriedigendere Auflosung des Humeschen Problems durch eine
erfahrungsmäßig begründete Theorie der Vernunft, und drittens
die Beseitigung des formalen Idealismus und seine Ersetzung durch
die Lehre von der nur schrankenverneinenden Bedeutung der
Ideen.^
^ In der Tat betraf der Anstoß, den schon anter Kants Zeitgenossen die
Tieferblickenden an seinem Phüosopheme nahmen, gerade die hier gekennzeich-
644 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [232
Die angefahrten Fehler lassen sich, wie ans unserer Zer-
gliederung der Yoranssetzongen der Elantischen Spekulation hervor-
geht, zuletzt alle auf den einen zurückführen, daß Kant die
Reflexion nicht von der unmittelbaren Erkenntnis zu unterscheiden
wußte. Und doch führt gerade der Verfolg seiner eigenen Ent-
deckung, der Entdeckung der synthetischen Urteile a priori aus
reinen Begriffen, notwendig auf diese Unterscheidung. Vor dieser
Entdeckung konnte man mit Recht meinen, mit der Disjunktion
der Erkenntnisquellen in Anschauung und Reflexion auszukommen.
Ist aber einmal die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori aus
reinen Begriffen festgestellt, so führt die Frage nach dem Grunde
dieser Möglichkeit von selbst auf die Annahme einer weder der
Reflexion noch der Anschauung gehörenden Erkenntnisart, d. h.
auf die Annahme einer unmittelbaren Erkenntnis der reinen Ver-
nunft.
108. Dieser Schluß auf die Existenz einer nicht-anschaulichen
unmittelbaren Erkenntnis ruht, genau betrachtet, auf drei von
einander unabhängigen Voraussetzungen. Diese Voraussetzungen,
deren jede eine psychologische Tatsache ausspricht, lassen sich
kurz in folgender "Weise formulieren:
1) "Wir sind im Besitz metaphysischer Urteile.
neten Momente. Wir haben schon (§ 92 und 98 Anmerkung) auf die Verdienste
Maimons und Becks hingewiesen, yon denen der erste die Unzulänglichkeit der
Methode des transzendentalen Beweises klar erkannte und auf diese Erkenntnis
seine Fortbildungsbestrebungen gründete, während der zweite die Eantische Theorie
der Synthesis durch die Lehre Tom „ursprünglichen Vorstellen^ zu ergänzen
suchte und damit in der Tat den Punkt traf, hinsichtlich dessen die Kritik einer
psychologischen Fortbildung bedurfte. Was das dritte, metaphysische Moment
betrifft, so war es Jacobi, der zuerst die Unhaltbarkeit des formalen Idealismus
durchschaute. Wir werden auf die Argumentation Jacobis noch ausführlich ein-
zugehen haben.
233] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 646
2) Die reflektierte Erkenntnis ist mittelbar. (Die Reflexion
enthält nicht den Grund synthetischer Urteile.)
3) Das Bewußtsein um die metaphysische Erkenntnis ist nur
durch Reflexion möglich. (Wir besitzen keine intellektuelle
Anschauung.)
Aus Satz (2) folgt, daß die Reflexion nicht den Grund der
metaphysischen Urteile enthalten kann. Aus Satz (3) folgt, daß
die in den metaphysischen Urteilen ausgesprochene Erkenntnis
keine Anschauung sein kann. Steht also, nach Satz (1), die Tat-
sache metaphysischer Urteile fest, so folgt, daß dieselben ihren
Grund nur in einer weder reflektierten noch anschaulichen Er-
kenntnis haben können. Es folgt also der Satz
4) Der Ghnmd der metaphysischen Urteile liegt in einer nicht-
anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis.
Die Sätze (1), (2) und (3) sind von Kaitt bestimmt anerkannt
worden. Dies ergiebt sich für (1) aus seiner Lehre von den Grund-
sätzen der reinen Naturwissenschaft^, für (2) aus seinem Beweise
der Unmöglichkeit eines logischen Kriteriums materialer Wahrheit ^
für (3) aber aus seiner ausdrücklichen Leugnung einer intellek-
tuellen Anschauung.' Wenn Kant dennoch bei der Disjunktion,
alle Erkenntnis sei entweder Anschauung oder Urteil, stehen
^ „Wir sind wirklich im Besitz synthetischer Erkenntnis a priori, wie dieses
die Yerstandesgrondsätze, welche die Erfahrung antizipieren, darton.^ (K. d. r. Y.,
S. 581.)
* K. d. r. V., S. 81 f.; Logik, Einleitung Vn. Vgl. auch die Streitschrift
gegen Eberuabd („Üher eine Entdeckung^ u. s. w.) S. 108: „Die Aufgabe wird
nie aafgelöset, wenn man die Bedingungen der Erkenntnis, wie die Logik tat, bloß
von Seiten des Verstandes in Anschlag bringt.^ Und E. d. r. V., S. 266 . „Synthe-
tische Erkenntnisse aus Begriffen kann der Verstand also gar nicht yerschaffen.^
3 Man sehe z.B. E. d. r. V., S. 661, 663 f.; 685 f.; die Streitschrift gegen
Ebebhakd, S. 54 („Alle unsere Anschauung ist sinnlich^); die Preisschrift über
die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz, S. 28 f.
646 L. Nelson: Ober das sogenannte I^rkenntnisproblem. [234
geblieben ist, so hat dies, wie wir gesehen haben, seinen Grand
lediglich darin, daß er nicht streng genng an dem Satze (2) fest-
gehalten hat. Neben den faktischen Voraussetzungen (1) bis (3)
steht also bei Eant die dogmatische Voraussetzung:
4 a) Alle Erkenntnis ist entweder Anschauung oder Urteil.'
Von den Sätzen (1), (2), (3), (4 a) führen je drei auf eine Kon-
sequenz, die mit «dem jeweils vierten in Widerspruch steht, wie
dies durch das folgende Schema veranschaulicht wird. Der Versuch,
das historisch vorliegende Kantische Lehrgebäude von seinen
inneren "Widersprüchen zu befreien und aus seinen eigenen Voraus-
setzungen heraus weiter zu entwickeln, ist daher nur unter Ver-
zicht auf irgend einen dieser vier Sätze möglich.
109. Will man also an der dogmatischen Disjunktion (4 a)
festhalten, so ist es notwendig, eine der drei faktischen Voraus-
setzungen aufzugeben. Man muß also entweder Kants eigentliche
Entdeckung (1) preisgeben und zu dem, vorkantischen Empirismus
zurückkehren. Oder aber man sucht den Empirismus zu vermeiden
und hat dann die Wahl, einen der Sätze (2) oder (3) fallen zu
lassen : d. h. man muß entweder den Versuch des logiscJien Dog-
^ Man yergleiche die in § 77 zitierte SteUe: „Unsere Erkenntnis entspringt
ans zwei Grundquellen des Gemüts^ a. s. w. Und noch deutlicher K. d. r. Y.
S. 88 : „Es giebt aber, außer der Anschauung, keine andere Art zu erkennen, als
durch Begriffe^ und: „Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht,
als bloß die Anschauung«. Vgl. auch K. d. r. V., 8. 261 : „Weil wir nun außer
diesen beiden Erkenntnisquellen [Sinn und Verstand] keine andere haben''. Ebenso
in der Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik seit Leibniz S. 81:
„Weil es schlechterdings unmöglich ist, sein Erkenntnis über den gegebenen Begriff
zu erweitem, ohne irgend eine Anschauung unterzulegen.« Und in der Streitschrift
gegen Eberhard S. 106: „Das Prinzip synthetischer Urteile überhaupt, welches
notwendig aus ihrer Definition folgt, . . . nämlich : Daß sie nicht anders möglich
sind, als unter der Bedingung äner dem Begriffe ihres Subjekts untergelegten
Anschauung.*^
235]
Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie.
647
matistnus^ ans bloßer Logik Metaphysik zu machen, erneuern oder
aber mit dem Mystizismus den Besitz intellektueller Anschauung
behaupten.
Will man sich jedoch mit den Tatsachen (1), (2), (3) nicht in
Widerspruch setzen, so ist es notwendig, die dogmatische Dis-
jimktion (4a) aufzugeben; d. h. man ist gezwungen, die Existenz
einer nicht-anschaulichen unmittelbaren Erkenntnis als konstitutiven
Prinzips der Metaphysik anzuerkennen. — Es leuchtet ein, daß
das Schicksal der Kritik der Vernunft an diese vierte Möglichkeit
gebunden ist.
648 L« Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [236
Hiermit haben wir die logisch möglichen nnd damit zugleich
auch die historisch aofgetretenen Fortbildongsversnche der Kant-
ischen Philosophie abgeleitet. Es ist bekannt, daß der erste,
empiristische von Gt. E. Schulze, Beneee nnd ihren Nachfolgern,
der zweite logizistische, in seiner reinsten Form von Heoel, der
dritte, mystische, von Schellino, nnd endlich der vierte, kritische,
von Fbies nnd seinen Schülern ausgebildet worden ist.
XXV.
Das Missverständnis Jacobis.
110. Es war natürlich, daß der erste Anstoß zn einer Um-
bildong der Eantischen Philosophie von einer Ej*itik desjenigen
Bestandteils derselben ausging, der sowohl in der litterarischen
Erscheinungsform dieser Philosophie am augenfälligsten zur G-el-
tung kam als auch der Weltansicht des Philosophen ihr charakte-
ristisches Grepräge aufgedrückt hatte und daher am unmittel-
barsten die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf sich ziehen mußte.
Das Verdienst, die Unzulänglichkeit des formalen Idealismus
zuerst erkannt zu haben, gebührt Friedrich Heinrich Jagobi. In
seiner Abhandlung „Über den transzendentalen Idealismus ^^ setzt
Jacobi an der Hand einer vergleichenden Erörterung verschiedener
Stellen aus der Kritik der reinen Vernunft mit unübertrefflicher
Klarheit auseinander, daß es dem „Geiste des Kantischen Systems
zuwider' sei, Dinge an sich als Ursachen unserer Empfindungen
1 Beilage zu der Schrift „David Hume über den Glauben, oder Idealismus
und Realismus", 1787.
237] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 649
voranszusetzen. „Ich frage :^, sagt er, ^wie ist es möglich, die
Voraussetzung von G-egenständen, welche Eindrücke auf unsere
Sinne machen, und auf diese Weise Vorstellungen erregen, mit
einem Lehrbegriffe zu vereinigen, der alle Gründe, worauf diese
Voraussetzung sich stützt, zu nichte machen will?"* Das Gewicht
dieser Frage ist von den meisten Kantianern damaL'ger und gegen-
wärtiger Zeit unterschätzt worden. Man hat gewöhnlich geant-
wortet : Wenn Kant von den Eindrücken der Dinge auf das Gemüt
spreche, so sei dies lediglich eine an die populäre Auffassungs-
weise anknüpfende Ausdrucksweise, die für den philosophischen
Gehalt seiner Lehre belanglos bleibe; übrigens seien diese Dinge
nicht die „Dinge an sich", denn auf diese sei die Kategorie der
Kausalität allerdings nicht anwendbar, sondern die Gegenstände
der physischen Natur, die, im Zusammenhange der Erfahrung
beurteilt, allerdings als Ursachen unserer Empfindungen zu be-
trachten seien.' Wie sehr diese Antwort das Triftige des Jacobischen
Einwandes verfehlt, ist aus den Erörterungen unseres XV. Kapitels
ersichtlich. Wie haben dort gezeigt, daß die Annahme einer
kausalen Beziehung der Dinge an sich zu unseren Vorstellungen
eine integrierende Voraussetzung der Kantischen Beweisführung
bildet, so daß ohne die buchstäbliche Geltung dieser Voraussetzung
dem formalen Idealismus eine wesentliche Prämisse fehlen würde.
Jacobi behält also recht mit seiner Behauptung, der von ihm
aufgedeckte Widerspruch sei für den ICantischen Philosophen un-
» Werke, Band II (1815), S. 307.
' So schon J. Schultz: „Prüfaog der Kantischen Kritik der reinen Ver*
nunft" (2. Teil, 1792, S. 288), S. Maimon: „Versuch über die Transzendental-
philosophie^ (1790, S. 419), „Versuch einer neuen Logik oder Theorie des
Denkens'' (1794, S. 346 f., 354 f., 877) und S. Beck (im Brief an Kant Tom
20. Juni 1797; Kants Schriften, Akademie- Ausgabe, Bd. XU, S. 164). Ähnlich
auch Afelt: „Ernst Reinhold und die Kantische Philosophie*^ (1840, S. 16)»
650 ^' Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [238
venneidlich, weil man j^ohne jene Voranssetzung in das System
nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darin nicht
bleiben" könne^ ; — er behält recht mit dieser Behauptung, voraus*
gesetzt f daß man mit ihm als den eigentlichen „ Geist ^ des Kantischen
„Systems" den formalen Idealismus betrachtet. Gerade an dieser
stillschweigenden Voraussetzung Jacobis haben die Anhänger Kants
fast ohne Ausnahme festgehalten.
111. Was bleibt also übrig, wenn man an dem formalen
Idealismus festhalten will? Es bleibt nichts übrig, als diese Lehre
von der Kantischen Begründung unabhängig aufzustellen, d. h. sie
nicht mit Kant als einen Lehrsatz der Kritik zu betrachten,
sondern als selbständigen Ausgangspunkt, als Axiofn, dem ganzen
Lehrgebäude jsu Grunde zu legen. Läßt man aber die jener Be-
gründung wesentliche Voraussetzung der Dinge an sich als Ursachen
der Empfindung fallen, so fällt zugleich die Voranssetzung jeg-
licher Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge an sich. Eine
solche Beziehung darf nicht einmal mehr problematisch angenommen
werden, will man nicht mit dem zu Grunde gelegten Satze in
Widerspruch geraten. Der Idealismus hört damit auf, ein ledig-
lich formaler zu sein; er muß sich auch auf die gesamte Materie
der Erkenntnis erstrecken. Auf diese Konsequenz hat Jacobi
bereits aufmerksam gemacht: ;,Der transzendentale Idealist muß
also den Mut haben, den kräftigsten Idealismus, der je gelehrt
worden ist, zu behaupten."*
112. Worin die wirkliche Schwäche der Jacobischen Argu-
» S. 304.
^ S. 810. — Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, daß Jacobi selbst mit
der Hinweisung auf diese Konsequenz nur eine argumentatio ad hominem gegen
den Eantischen Idealismus beabsichtigte, und nicht etwa eine Aufforderung, diese
Konsequenz wirklich durchzuführen.
239] Dritter Teil : Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 661
mentation liegt, kann nach unseren früheren Darlegungen nicht
zweifelhaft sein. Sie liegt in Jacobis Ansicht von dem, was er
als den eigentlichen „Geist" der Kantischen Philosophie bezeichnet.
Dieser ,,6eist" einer Philosophie liegt niemals in einem einzelnen,
wenn auch noch so wichtigen und für die Weltansicht entschei-
denden Eesultate, sondern zunächst ausschließlich in der metho-
dischen Grundansicht, die der Einzelne von der Aufgabe des
Philosophierens überhaupt hat und die ihn bei diesem Philosophieren
leitet. Und mehr als bei irgend einem anderen Philosophen gilt
dies bei Kant. Der leitende Grundgedanke und der wahre „Geist"
der Kantischen Kritik ist die von Kant erfundene Methode des
Philosophierens. Jacobi aber sucht diesen „Geist" in einem ein-
zelnen — rücksichtlich der Methode zufalligen — Resultat des
Kantischen Philosophierens. Und indem er die Konsequenzen aus
diesem Resultate entwickelt, gelangt er zu einer Wendung, die
dem wahren Geiste der Kritik der reinen Vernunft ganz zuwider
ist. Diese Wendung kommt, wir wir sahen, auf die Forderung
zurück, von einem bestimmten Satze axiomatisch auszugehen, auf
eine Forderung also, die der Eßtischen Forderung des kritischen
Verfahrens gerade entgegengesetzt ist.
113. Indessen liegt hier noch ein besonderer Grund vor, der
schon viele verleitet hat, den von Jacobi beschriebenen Weg zu
betreten, und der wohl auch für Jacobi selbst der Anlaß seines
Mißverständnisses geword^a ist. Der Kritizismus der Kantischen
Methode schließt nämlich die Forderung ein, die Wahrheit der zu
begründenden] Erkenntnisse niemals in ihrem Verhältnisse zum
Gegenstande zu suchen-, er fordert eine durchaus subjektive Be-
gründung, in dem Sinne, daß die Kritik sich auf eine Vergleichung
der Erkenntnisse untereinander zu beschränken habe. Diese aus-
schließliche Subjektivität des der Kritik eigentümlichen Stand-
652 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [240
pnnktes der Benrteflasg verleitet nmi leicht zu der Meinmig, als
sei der Idealismas der Eantischen Weltansicht nicht ein rfick-
sichtlich der Eantischen Methode zufälliges Ergebnis ihrer An-
wendung, sondern eine bereits in der Forderung der kritischen
Methode eingeschlossene Yoranssetzang. Man verwechselt die
methodische Forderung, den Grrund der Wahrheit einer Erkennt-
nis nicht in der Bealität ihres Gegenstandes zu suchen, mit dem
idealistischen Satze, daß den Gregenständen die von der Erkennt-
nis unabhängige Bealität abzusprechen seL Und so muß auf
Grrund dieser Verwechslung von Methode und Weltansicht die
Annahme von Dingen an sich von vornherein mit der Befolgung
eines kritischen Verfahrens unvereinbar erscheinen. Aus dieser
Verwechslung erklären sich im letzten Grunde alle die Angriffe,
die — auch xmabhängig von den Einwendungen Jacobis — wieder
und wieder gegen den Eantischen Begriff des Dinges an sich
gerichtet worden sind und die insgesamt darauf hinauslaufen, die
Zulassung dieses Begriffs als eine Inkonsequenz und einen Abfall
von dem wahren Geiste der Eritik darzustellen.
Wer sich einmal von der diesen Angriffen zu Grunde liegenden
Verwechslung von Methode und Weltansicht befreit hat, wird
leicht einsehen, daß die beliebte Bestreitung der Dinge an sich
so weit entfernt ist, eine Eonsequenz des kritischen Verfahrens
zu bedeuten, daß sie vielmehr umgekehrt mit ihrer axiomatischen
Postulierung einer idealistischen Weltansicht nur auf die Prokla-
mierung des offenbarsten Dogmatismus hinausläuft. Wenn dieser
den Namen des Eritizismus usurpierende Idealismus vor irgend
einem sonstigen Dogma etwas vorauszuhaben scheint, so hat dieser
Anschein schlechterdings keine andere Ursache als die von uns
dargelegte Verwechslung.
114. Wenngleich also Jacobi einen von Eam« begangenen Wider-
241] Dritter Teil: Die Geschiclite der Erkenntnistheorie. 663
sprach richtig erkannt hat, so hat er doch den Ursprung dieses
Widerspruchs an einer falschen Stelle gesucht. Der eigentliche
Grund des Kantischen Fehlers liegt, wie wir im XV. Kapitel
gezeigt haben, darin, daß Kant sein kritisches Verfahren mit einer
falschen erkenntnistheoretischen Problemstellung bemengt hat und
dadurch auf das Vorurteil des formalen Idealismus geführt worden
ist. Wollen wir also den Kantischen Fehler beseitigen, so dürfen
wir nicht nach Jacobis Forderung den formalen Idealismus in seine
Konsequenzen verfolgen, sondern wir müssen vielmehr diesen
formalen Idealismus selbst verwerfen. Zu dieser Verbesserung
hat uns Kant selbst das Mittel an die Hand gegeben : wir brauchen
nur seine kritische Methode rein anzuwenden, um zu erkennen,
daß einerseits nicht die Annahme der Dinge 'an sich den Wider-
spruch erzeugt, sondern vielmehr die Annahme des verschieden-
artigen kausalen Verhältnisses der Dinge an sich zur Form und
zur Materie unserer Erkenntnis, und daß andererseits die Ver-
werfung dieser Annahme durchaus nicht die Aufhebung der Lehre
des transzendentalen Idealismus, sondern nur die Aufhebung eines
falschen Begründungsmittels dieser Lehre zur Folge hat.
XXVL
Das Beixiholdsche Missverst&ndiiis.
115. Ich wende mich nun zu einer Betrachtung derjenigen
Schrift, die neben der eben besprochenen Jacobischen mehr als
irgend eine andere die Gestaltung der nachkantischen Philosophie
entscheidend beeinflußt hat. Es ist dies die Schrift Karl Leonhabd
Beinholds „Über das Fundament des philosophischen Wissens^
Abluuidliing«B dtr FriM*fc]i«n Schule. IL Bd. 42
666 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [244
solcJie keine Erklärung zuläßt, durch sich selbst einleuchtet, und
eben in dieser Eigenschaft geschickt ist, das letete angebliche
Fundament alles Erklärens abzugeben."^ — Vermöge dieses Fun-
damentes soll es denn auch möglich werden, „die Übereinstimmung
der Vorstellungen mit den realen Objekten" streng zu beweisen.
Der in der Kantischen Kritik versuchte „Beweis der objektiven
Wahrheit^ bedarf nämlich der Ergänzung, da er von dem Prinzip
der Möglichkeit der Erfahrung ausgeht, dieses Prinzip aber
seinerseits einer Zurückführung auf höhere Prinzipien bedarf.
So ist die ;, Wissenschaft des Vorstellungsvermögens" nicht allein
„die wissenschaftliche Quelle der Prinzipien für alle Teile der
abgeleiteten Philosophie", der reinen und angewandten, der speku-
lativen und praktischen, der formalen und der materialen,* sondern
es erscheinen unter ihren streng erwiesenen Lehr- und Folgesätzen
auch „die Kantischen Begriffe von der Erfahrung und ihrer Mög-
lichkeit und dem syntlietischen Urteile a priori^, „und die Grund-
Sätze der Kritik werden zu wissenschaftlichen Folgesätzen der
Elementarphilosophie".' —
117. Die Fehler in der hier skizzierten Idee der „Elementar-
philosophie" treten bei der Klarheit der Reinholdschen Darstellung
deutlich zu Tage. Ein solcher Fehler ist zunächst die Forderung
eines gemeinschaftlichen Grundsatzes der Logik und der Meta-
physik. Ein solcher Grundsatz müßte entweder analytisch oder
synthetisch sein. Analytisch kann er nicht sein; denn aus einem
analytischen Urteile lassen sich keine synthetischen ableiten und
* S. 78. — Man vgl auch Reinholds „Versuch einer neuen Theorie des
menschlichen Vorstellungsvermögens*', S. 258 : „Nachdem ich meinen Satz aus der
in der Theorie des Vorstellungsvermögens einzig gültigen Prämisse, nämlich dem
Beumßtaein^ erwiesen habe. . . ."
« S. 117 f. • S. 136.
246] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 657
folglich aach nicht die Grnmdsätze der Metaphysik. Er kann
aber auch nicht synthetisch sein; denn jeder Folgesatz, unter
dessen Prämissen auch nur ein synthetisches Urteil vorkommt, ist
selbst synthetisch; die Gmndsätze der Logik sollen aber analy-
tische sein. Es kann also Iceinen gemeinschaßlichen GrundsaU der
Logik und der Metaphysik gAen.
Aüch ist die Forderung eines einzigen Grrundsatzes der Philo-
sophie schon aus dem einfachen Grunde nichtig, daß jeder SchluB
zwei Prämissen erfordert, aus einem einzigen Q-rundsatze sich also
gar nichts ableiten, geschweige denn eine ganze Wissenschaft ent-
wickeln läßt.
118. Es giebt aber nicht nur keinen gemeinschaftlichen Grund-
satz der Metaphysik und der Logik, sondern es ist überhaupt
keine Zurückführung der Grundsätze der Metaphysik auf logisch
höhere Prinzipien möglich. Freilich kommt es vor, daß ein Satz,
der in einer bestimmten Wissenschaft ein Grundsatz ist, im
Gebiete einer anderen Wissenschaft bewiesen werden kann. Aber
bei den Grundsätzen der Metaphysik findet diese Möglichkeit
nicht statt. Denn von welcher Art sollten die Prämissen sein,
aus denen ein Beweis metaphysischer Grundsätze geführt werden
könnte? Diese Prämissen wären entweder analytische oder
synthetische Urteile. Analytisch können sie nicht sein; denn aus
analytischen Urteilen folgen nur wieder analytische, die Grund-
sätze der Metaphysik sollen aber synthetische Urteile sein. Die
fraglichen Prämissen müßten also (wenigstens zum Teil) selbst
synthetische Urteile sein. Als solche wären sie entweder rational
oder empirisch. Rational können sie nicht sein; denn unter den
rationalen synthetischen Urteilen sind die metaphysischen Grund-
sätze selbst die allgemeinsten. Empirisch können die Prämissen
aber auch nicht sein; denn kein Folgesatz aus empirischen
666 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [244
solclie keine Erklämng zuläßt, dnreh sich selbst einleuchtet, und
eben in dieser Eigenschaft geschickt ist, das Utete angebliche
Fundament alles Erklärens abzngeben."* — Vermöge dieses Fon-
damentes soll es denn auch möglich werden, „die Übereinstimmung
der Vorstellungen mit den realen Objekten" streng zu beweisen.
Der in der Eantischen Kritik versuchte „Beweis der objektiven
Wahrheit^ bedarf nämlich der Ergänzung, da er von dem Prinzip
der Möglichkeit der Erfahrung ausgeht, dieses Prinzip aber
seinerseits einer Zurückführong auf höhere Prinzipien bedarf.
So ist die ;, Wissenschaft des Vorstellungsvermögens" nicht allein
„die wissenschaftliche Quelle der Prinzipien für alle Teile der
abgeleiteten Philosophie", der reinen und angewandten, der speku-
lativen und praktischen, der formalen und der materialen,* sondern
es erscheinen unter ihren streng erwiesenen Lehr- und Folgesätzen
auch „die Eantischen Begriffe von der Erfahrung und ihrer Mög-
lichkeit und dem synthetischen Urteile a priori^, „und die Grund-
sätze der Kritik werden zu wissenschaftlichen Folgesätzen der
Elementarphilosophie".' —
117. Die Fehler in der hier skizzierten Idee der „Elementar-
philosophie" treten bei der Klarheit der Reinholdachen Darstellung
deutlich zu Tage. Ein solcher Fehler ist zunächst die Forderung
eines gemeinschaftlichen Grundsatzes der Logik und der Meta-
physik. Ein solcher Grundsatz müßte entweder analytisch oder
synthetisch sein. Analytisch kann er nicht sein; denn aus einem
analytischen Urteile lassen sich keine synthetischen ableiten und
^ S. 78. ^ Man vgl. auch Reinholds j^Yersuch einer neuen Theorie des
menschlichen Vorstellongsvermögens*', S. 258 : „Nachdem ich meinen Satz aas der
in der Theorie des Vorstellungsvermögens einzig gültigen Prämisse, nämlich dem
Bewvßtsein, erwiesen habe. . . ."
« S. 117 f. • S. 136.
246] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 657
folglich auch nicht die Grundsätze der Metaphysik. Er kann
aber auch nicht synthetisch sein; denn jeder Folgesatz, anter
dessen Prämissen auch nur ein synthetisches urteil vorkommt, ist
selbst synthetisch; die Grundsätze der Logik sollen aber analy-
tische sein. Es kann also keinen gemeinschaftlichen Grundsatz der
Logik und der Metaphysik gAen.
Auch ist die Forderung eines einzigen Grundsatzes der Philo-
sophie schon aus dem einfachen Grunde nichtig, daß jeder SchluB
zwei Prämissen erfordert, aas einem einzigen Grundsatze sich also
gar nichts ableiten, geschweige denn eine ganze Wissenschaft ent-
wickeln läßt.
118. Es giebt aber nicht nur keinen gemeinschaftlichen Grund-
satz der Metaphysik und der Logik, sondern es ist überhaupt
keine Zurückfiihrung der Grandsätze der Metaphysik auf logisch
höhere Prinzipien möglich. Freilich kommt es vor, daß ein Satz,
der in einer bestimmten Wissenschaft ein Grundsatz ist, im
Gebiete einer anderen Wissenschaft bewiesen werden kann. Aber
bei den Grundsätzen der Metaphysik findet diese Möglichkeit
nicht statt. Denn von welcher Art sollten die Prämissen sein,
aus denen ein Beweis metaphysischer Grundsätze geführt werden
könnte? Diese Prämissen wären entweder analytische oder
synthetische Urteile. Analytisch können sie nicht sein; denn aas
analytischen Urteilen folgen nur wieder analytische, die Grund-
sätze der Metaphysik sollen aber synthetische Urteile sein. Die
fraglichen Prämissen müßten also (wenigstens zum Teil) selbst
synthetische Urteile sein. Als solche wären sie entweder rational
oder empirisch. Rational können sie nicht sein; denn unter den
rationalen synthetischen Urteilen sind die metaphysischen Grund-
sätze selbst die allgemeinsten. Empirisch können die Prämissen
aber auch nicht sein; denn kein Folgesatz aus empirischen
658 L. Nelson: Über das sogenannte Erkonntnisproblem. [246
Prämissen kann ein rationales Urteil sein. Die Grundsätze der
Metaphysik sind also auch in keiner anderen WissenscJiafl beweisbar.^
119. Wie ist nun aber Reinhoij) auf die widersprechende
Forderung seiner „Elementarphilosophie" gekommen? Der Grmnd
hierzu liegt in seinem Mißverständnis dessen, was er das „analy-
tische" Verfahren der Kritik nennt. Allerdings gehört es zur
Aufgabe der Kritik, durch eine logische Zergliederung die höchsten
und allgemeinsten Voraussetzungen aller philosophischen Sätze
aufzufinden, derart, daß nach dieser Auffindung das System der
Philosophie nach progressiver Methode, d. h. vom Allgemeinsten
zum Besonderen fortschreitend, aufgestellt werden kann. Versteht
man daher unter dem Ausdruck „Fundament der Philosophie^ den
Inbegriff derjenigen Grundsätze, die die allgemeinsten Voraus-
setzungen bilden, von denen alle übrigen philosophischen Sätze
logisch abhängen, so kann man mit Recht sagen, die Kritik habe
auf analytischem Wege zu dem Fundamente der Philosophie auf-
zusteigen. Der Ausdruck ;,Fundament der Philosophie" hat aber
noch eine andere Bedeutung, die auch bei Rkinhold eine Rolle
spielt, von ihm aber mit der eben angegebenen verwechselt worden
ist. Der Ausdruck bedeutet nämlich nicht nur den Inbegriff der
höchsten logischen Voraussetzungen philosophischer Urteile, —
^ Es mag immerhin, wie Reinhold annahm, möglich sein, diejenigen Sätze,
die Kant als Grundsätze der Metaphysik aufgestellt hat, aus höheren Prinzipien
abzuleiten. Gelänge dies, so wäre jedoch nicht ein Beweis der metaphysischen
Grundsätze geliefert, sondern es hätte sich nur gezeigt, daß die bewiesenen Sätze
fälschlich für metaphysische Grundsätze gehalten worden sind.
Man erkennt übrigens leicht, daß die dargestellten methodischen Fehler und
Rückschritte bei Reinhold nur auf Grund eines völligen Nichtverstehens des
Unterschieds der analytischen und synthetischen Urteile möglich waren. Vergleicht
man die yon Reinhold in seiner „Theorie des Vorstellungsyermögens" (S. 439 f.)
gegebene Darstellung dieses Unterschieds, so zeigt sich in der Tat, daß er das
synthetische Urteil mit der synthetischen Begriffsbildung yerwechselt.
247] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 659
welche Yoranssetzangen nichts anders sind als die philosophischen
Grundarteile selbst, — sondern auch den G-rund der Gewißheit philo-
sophischer Urteile überhaupt. Dieser Grund der Gewißheit philo-
sophischer Urteile überhaupt kann natürlich nicht selbst in philo-
sophischen Urteilen bestehen, er muß vielmehr den allgemeinsten
philosophischen Urteilen schon zu Grunde liegen. Nach § 118
kann er auch nicht unter den Urteilen einer anderen Wissenschaft
zu suchen sein. Er muß daher der unmittelbaren Erkenntnis
angehören. Nach dem so verstandenen ;,Fundament" des philo-
sophischen Wissens kann deshalb bei der Aufgabe des vorhin
betrachteten logischen Regressus der Kritik gar nicht die Frage
sein. Denn dieser Regressus ist mit der Auffindung der allgemeinsten
philosophischen Urteile abgeschlossen, und erst wenn nach dem
Grunde der Gewißheit dieser letzteren gefragt wird, kommt das
„Fundament^ in der zweiten, eben erklärten Bedeutung des Wortes
in Betracht. In der logischen Bedeutung des Wortes gehört das
Fundament der Metaphysik selbst zum System der Metaphysik,
und ebenso das Fundament der Logik zum System der Logik. In
der anderen Bedeutung aber, in der man es passend zur Unter-
scheidung von dem logischen Fundament das konstitutive nennen
kann, gehört das Fundament der Metaphysik nicht selbst zum
System der Metaphysik, das der Logik nicht selbst zum System
der Logik. Denn das ;,Fundament" einer Wissenschaft liegt
in dieser Bedeutung des Wortes überhaupt in keiner Wissenschaft,
sondern jederzeit nur in der unmittelbaren Erkenntnis. Und nur
in dieser Bedeutung des Wortes ist die Frage nach einem Fundamente
metaphysischer Grundsätze statthaft; denn der Begriff eines
logischen Fundaments metaphysischer Grundsätze schließt (nach
§ 118) einen Widerspruch ein.
In der Tat ist die Frage nach dem konstitutiven Fundament
660 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [248
des philosophischen Wissens das eigentliche Problem der Kritik
der Vernunft; sie ist nichts anderes als die Elantische Frage
nach dem Grunde der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori.
Aber es ist wohl zu beachten, daß tcedcr das logische noch das
konstitutive Fundament der Metaphysik in der Kritik liegt. Das
logische gehört, wir wir gesehen haben, dem System der Meta-
physik selbst an, das konstitutive aber liegt in gar keiner Wissen-
schaft, sondern gehört der unmittelbaren Erkenntnis an.
120. Dieser Unterschied des logischen und des konstitutiven
Fundaments ist von Reinhotj) übersehen worden, und dieses Über-
sehen ist der wesentliche Grund aller der fehlerhaften Problem-
stellungen, die sein Begriif der Elementarphilosophie in sich ver-
einigt. Die erste und wichtigste Folge dieses Fehlers ist das Ver-
kennen der Ungleichartigkeit des Verhältnisses, in dem die beiden
Aufgaben der Kritik: die Auf Weisung des logischen und die des
konstitutiven Fundaments der Metaphysik, zum System der Meta-
physik stehen. Die Lösung der ersten dieser beiden Aufgaben
geschieht in der Tat durch eine Umkehrung der logischen Ordnung,
die den Sätzen im System der Metaphysik zukommt. Die Lösung
der zweiten aber unterscheidet sich vom System nicht sowohl
durch die andersartige Richtung des Fortschreitens im Zusammen-
hang der einzelnen Sätze, als vielmehr hinsichtlich des Gehalts
der Sätze selbst. Das erste Verfahren nimmt seinen Ausgang
von einzelnen gegebenen philosophischen Gesetzen und geht von
diesen zu den allgemeinen logischen Bedingungen ihrer Gültigkeit
fort. Das zweite Verfahren hingegen setzt nicht etwa den
logischen Regressus über die durch das erste aufgefandenen all-
gemeinsten philosophischen Gesetze hinaus fort, (denn wäre eine
solche Fortsetzung des logischen Regressus möglich, so wären
jene Gesetze ja noch nicht die allgemeinsten,) sondern es fragt
249] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 661
nach dem GrruTide der Möglichkeit der Urteile, die die Erkenntnis
jener allgemeinsten Gesetze enthalten. Der Übergang von dem
ersten Verfahren zum zweiten ist daher zngleich ein Übergang
in das Gebiet einer ganz anderen Erkenntnisart. "Während
nämlich die erste TJntersnchnng philosophische Gesetze zum Gegen-
stande hat, hat die zweite Untersuchung die Erkenntnis dieser
Gesetze zum Gegenstände, gehört also selbst nicht einer philo-
sophischen Erkenntnisart, sondern der inneren Erfahrung an. Die
Sätze der inneren Erfahrung aber sind nicht den philosophischen
Grundurteilen iibergeordnete, sondern, in systematischer Hinsicht,
weit untergeordnete Sätze, da sie, wie alle Erfahrungssätze, selbst
erst einem Anwendungsgebiete der philosophischen Grundsätze
angehören.
Das Übersehen der Ungleichartigkeit dieser beiden Unter-
suchnngsarten mußte Reinhold zu dem Vorurteil verleiten, als
hätte es die Kritik bei ihrer Begründung der Möglichkeit der
synthetischen Urteile a priori mit einer Fortsetzung des logischen
Regressus über die Grundsätze der Metaphysik und Logik hinaus
zu tun. Durch dieses Mißverständnis der Aufgabe der Kritik
aber mußte er veranlaßt werden, den Begriff einer neuen Wissen-
schaft zu bilden, die in systematischer Hinsicht noch über den
Systemen der Metaphysik und der Logik steht; und die meta-
physischen und logischen Grundsätze mußten ihm als logische
Folgesätze dieser gemeinschaftlichen Fundamentalwissenschaft oder
„Elementarphilosophie" erscheinen. Er mußte den Fehler begehen,
in der Wissenschaft, die das konstitutive Fundament der Philo-
sophie zum Gegenstande hat, und deren Erkenntnisart tatsächlich
der inneren Erfahrung angehört, das konstitutive Fundament der
Philosophie zu suchen.
121. Um sich davon zu überzeugen, daß Reinhold diesen Fehler
662 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [250
wirklich begeht, braucht man nar die Erklänmg anzasehen, die
er selbst von seiner Elementarphilosophie giebt. Da heißt es:
„Diese durch Kant nicht aufgestellte Wissenschaft müßte sich
von der durch ihn aufgestellten Metaphysik dadurch unter-
scheiden, daß diese die Wissenschaft der a priori bestimmten Merk-
male eigentlicher Objehte; jene aber Wissenschaft der a priori
bestimmten Merkmale bloßer Vorstellungen wäre."^
Hier wird ganz deutlich eine Wissenschaft, die Vorstellungen
zum Gregenstande hat, also der inneren Erfahrung angehört, als
eine Erkenntnis a priori beschrieben. Es wird völlig übersehen,
daß die „bloßen Vorstellungen" nur eine besondere Art „eigent-
licher Objekte" bilden, selbst also der Klasse dieser Objekte nicht
übergeordnet, sondern vielmehr untergeordnet sind. Am deut-
lichsten aber geht das Verkennen dieser fistdßaö^g slg £AAo yevog
aus Folgendem hervor. Reikhold erklärt, man habe früher immer
den Begriff des Dinges, inwiefern man darunter das Denkbare
überhaupt verstand, für den allgemeinsten gehalten. Diese Annahme
sei jedoch irrig; denn der Begriff des Denkens sei ein zusammen-
gesetzter Begriff, das Denken sei nur eine besondere Art des
Vorstellens, der allgemeinste Begriff sei daher vielmehr der einer
Vorstellung oder eines Bewußtseins.' Es ist offenbar, daß hier
eine Verwechslung von Inhalt und Gregenstand vorliegt, eine Ver-
wechslung, die durch die Zweideutigkeit des Wortes „Vorstellung"
begünstigt wird. Das Denken mag nur eine besondere Art des
Vorstellens sein; ist nicht das Vorstellen selbst wieder nur eine
Art psychischer Tätigkeit, also nur ein der Sphäre des Denkbaren
oder der Dinge überhaupt ganz' untergeordnetes Ding? In dem
Übergang vom Begriffe eines Dinges zu dem einer Vorstellung
» S. 70. « S. 92 f.
251] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 663
findet nicht, wie Ricinhold meint, ein Rückgang zum Allgemeineren
statt, sondern umgekehrt eine wesentliche Einschränkung der
Allgemeinheit des Begriffs auf einen engen Teil seiner Sphäre.
Es wird dabei nicht ein philosophischer Begriff auf einen all-
gemeineren zurückgeführt, sondern, durch die unvermerkte Ver-
wechslung von Inhalt und Gregenstand, ein allgemeiner philoso-
phischer Begriff auf einen besonderen empirischen.
Daß auf diese Weise das „Fundament" der Philosophie in das
Gebiet der inneren Erfahrung verlegt wird, findet sich implicite
anerkannt in Reinholds Behauptung, das Fundament der Elemen-
tarphilosophie liege in einer „Tatsache des Bewußtseins", die
„durch sich selbst einleuchtet" und die „durch Vergleichung des-
jenigen, was im Bewußtsein vorgeht," erkannt werde.* Berück-
sichtigt man dies, so stellt sich die Reinholdsche Idee der Ele-
mentarphilosophie als ein unzweideutiger Psychologismus dar, — ein
Psychologismus, dessen empiristischen Konsequenzen man nur
solange auszuweichen hoffen kann, als man die empirische Natur
der inneren Anschauung verkennt, d. h. als man die mystische
Voraussetzung einer intellektuellen Anschauung macht.*
122. Daß der tiefere und eigentliche Grund der aufgedeckten
Reinholdschen Fehler in der Verwechslung der Aufgabe der Ejitik
mit der unmöglichen Aufgabe der Erkenntnistheorie zu suchen
* S. 78. — Ganz unzweideutig äußert sich Reinhold hierüber in seinen
„Briefen über die Kantische Philosophie" (Bd. ü, 1792, S. 25): Der kritische
Philosoph halte sich „an die bloße Zergliederung der notwendigen and aUgemeinen
Gesetze der vorstellenden Kraft, die er durch Reflexion über die zur innem
Erfahrung gehörigen Tatsachen des Bewußtseins kennt.*'
2 Auf diese Voraussetzung werden wir später (§ 133 f.) genauer eingehen.
Reinhold selbst verfährt insofern noch ganz naiv, als er sich keinerlei Bedenken
über die genannten Konsequenzen seines Verfahrens hingiebt.
gg4 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [252
ist, läßt sich aus seiner eigenen Darstellung leicht nachweisen.^
In dieser Beziehung ist sehr charakteristisch, was Reinhou) im
Anschluß an Hubie sagt Er erkennt hier an, daß „jeder mögliche
Beweis der objektiven Wahrheit eine Vergleichung der Vorstellung
mit dem von ihr verschiedenen Objekte voraussetzen würde, die
gleichwohl nur durch Vorstellungen geschehen müßte" und die
„folglich nie zwischen Vorstellung und einem solchen Objekte,
das keine Vorstellung ist, angestellt werden könnte".* Aber was
schließt Reinhold aus diesem richtig erkannten Widerspruch eines
solchen Beweises? Nicht etwa, wie man erwarten sollte, auf die
Verkehrtheit der Forderung eines j,Beweise$ der objektiven Wahr-
heit^, d. h. auf die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie, sondern
vielmehr auf die Unmöglichkeit der objektiven Wahrheit selbst.
D. h. er stellt selbst eine Erkenntnistheorie auf, die von der Un-
möglichkeit, die Annahme eines vom Vorstellen unabhängigen
Objekts zu beweisen, auf die Falschheit dieser Annahme schließt.
Er fährt nämlich fort:
„In wiefeme also unter Wissen das Bewußtsein der Über-
einstimmung der Vorstellung mit den von bloßen Vorstellungen
verschiedenen Objekten verstanden wird, in sofeme ist kein
Wissen möglich."'
Dieser Schluß setzt offenbar stillschweigend als zweite Prä-
misse die Annahme voraus, daß ein Wissen um etwas Unbeweis-
bares unmöglich ist; es liegt ihm also die widersinnige Voraus-
setzung des logischen Dogmatismus zu G-runde, daß nur das wahr
^ Daß die Aufgabe der OBrkenntnistheorie die Forderung einschließt, die
Erkenntnistheorie müsse das konstitutive Fundament aller zu begründenden Ur-
teile in sich enthdUent ist in § 55 bewiesen worden.
« S. 45f.
' S. 47. Vgl. auch die Formuliehung des Problems der Kritik S. 63.
253] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 665
sei, was sich beweisen läßt. Berücksichtigt man diese methodische
Yoraassetzimg, so stellt sich die Idee der Elementarphilosophie
als der Versuch dar, ans bloßer Logik Metaphysik zu machen.
Nun ist das Wissen eine TatsacJie der inneren Erfahrung und
mithin etwas auf logischem Wege Unableitbares. Eine logizistische
Metaphysik muß daher, wenn sie konsequent verfährt, die Mög-
lichkeit jeglichen Wissens bestreiten und also notwendig idealistisch
ausfallen. Und so sieht sich Reuchold in der Tat durch seine
methodische Voraussetzung zu der eigentümlichen Konsequenz
gedrängt, den Begriff des Wissens oder des Erkennens als einen
in sich widerspruchsvollen Begriff darzustellen. Nur durch will-
kürliche TJmdeutungen des Ausdrucks wird es möglich, diese Kon-
sequenz zu verschleiern. Sie liegt bestimmt anerkannt in dem
Reinholdschen Satze : „Durch die sinnliche Vorstellung, den Begriff
und die Idee ist nicht darum kein Ding an sich erkennbar, weil
die sinnliche Vorstellung, der Begriff und die Idee ihrer Eigen-
iümlichkeiten wegen zur Erkenntnis des Dinges an sich untauglich
sind, sondern weil durch keine Vorstellung^ in wiefeme sie eine
Vorstellung überhaupt ist, ein Ding an sich erkennbar ist."^
123. Zusammenfassend können wir sagen, daß die Reinholdsche
Elementarphilosophie sich als der erste Versuch einer Systemati-
sierung des bei Kant stehen gebliebenen Vorurteils (4 a) erweist.*
Bei Kant selbst steht dieses Vorurteil noch im Hintergrunde seiner
Untersuchungen, ohne daß der Widerspruch, in dem es zu den
großen Entdeckungen der Kritik steht, klar hervortritt. Bei
» S. 76. — Vgl. „Theorie des VorsteUungsvermögenB« § XVII (S. 244): „Dem
Begriffe einer Vorstellung überhaupt widerspricht die Vorstellung eines Dinges
an sich; d. h. kein Ding an sich ist Yorstellbar.*' Und S. 488: „Das Ding an sich
ist dasjenige außer uns, . . . das sich weder anschauen noch denken läßt"
« Vgl. § 108.
666 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [254
Reinhold kommt zwar dieser Widerspruch auch noch nicht deutlich
zum Bewußtsein, macht sich aber bereits als treibendes Moment
seiner Spekulation geltend, indem in seiner Elementarphilosophie
nicht mehr, wie bei Kant, ein Widerstreit kritischer und dog-
matischer Spekulation stattfindet, sondern nnr noch ein solcher
der verschiedenen Formen des Dogmatismus untereinander; eines
Dogmatismus, der, als methodisches Prinzip, den bei Eant neu
hervortretenden Kritizismus bereits wieder völlig verdrängt hat.
Ist also bei Reinhold die Systematisierung des dogmatischen Vor-
urteils soweit fortgeschritten, daß das eigentliche Unternehmen
der Kritik der Vernunft wieder rückgängig gemacht worden ist,
so zeigt uns die Greschichte bei seinen Nachfolgern das weitere
Fortschreiten dieser Systematisierung in ihren verschiedenen,
möglichen Einzelformen, die — als Empirismus, Mystizismus und
logischer Dogmatismus — von der ;,Elementarphilosophie", in der
sie alle im Keime enthalten sind, wie einzelne Fäden von einem
Verknotungspunkte auslaufen.
Wie sich diese Entwickelung in ihren verschiedenen Stadien
übersehen läßt, soll im Folgenden näher gezeigt werden.
xxvn.
Die Eonsequenzen des Beinholdschen Missverständnisses.
124. Der Widerspruch in der methodischen Grundidee der
Eeinholdschen Elementarphilosophie, der ihrem Erfinder selbst ent-
gangen war, konnte seinen Nachfolgern nicht verborgen bleiben.
Die Beseitigung dieses Widerspruchs konnte, solange man an jener
Grundidee überhaupt festhalten wollte, ~ allgemein betrachtet —
266] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 667
auf zwei Wegen versucht werden. Unter der Voraussetzung, die
Elementarphilosophie enthalte den Grund der von ihr zu be-
gründenden Erkenntnisse, kann man, nach dem Prinzip der
modalischen Gleichartigkeit von Erkenntnis und Erkenntnisgmnd,
entweder von der Feststellung der Apriorität der abzuleitenden
metaphysischen Grundsätze ausgehen und von hier aus die
Konsequenz auf die Apriorität der Elementarphilosophie weiter
entwickeln. Oder aber man kann von der Feststellung der
psychologischen Natur der „Wissenschaft des Yorstellungs Vermögens"
ausgehen und von hier aus die Konsequenzen auf die Aposteriorität
der durch sie zu begründenden Sätze weiter entwickeln. Der
erste Weg ist der von Fichte in seiner „Wissenschaftslehre*
betretene; den zweiten haben besonders Beneee, der jüngere
Reinhold und ihre Nachfolger eingeschlagen. Die Verfolgung des
ersten Weges führt uns auf die Geschichte des transzendentalen
Vorurteils, die des zweiten auf die Geschichte des Psychologismus.
Beiden einander entgegengesetzten Fortbüdungsversuch&n aber liegt als
gemeinscliafüiche Voraussetzung die Beinholdsche Frcblemstellung einer
EtenientarphUosophie als Erkenntnistheorie zu Grunde, d. h. die Idee
einer Wissenschaft, die das konstitutive Fundament der PhilosopJde
zum Inhalt hat.^
125. Vergleichen wir hiermit die im XXIV. Kapitel gegebene
TJbersicht der Fortbildungsmoglichkeiten der Kantischen Philosophie
hinsichtlich ihrer psychologischen Voraussetzungen. Die eben
genannte erkenntnistheoretische Problemstellung hatten wir (in
§ 51) auf das Verkennen der unmittelbaren Erkenntnis der reinen
Vernunft zurückgeführt und somit auf die psychologische Hypo-
these, alle Erkenntnis sei entweder Anschauung oder Urteil. Wir
' Man vergleiche das Schema in § 57.
668 ^' Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [266
hatten drei verschiedene mit dieser Hypothese (4 a) vereinbare
Fortbildongsweisen der Kantischen Philosophie unterschieden.
Die eine, empiristisehe, deckt sich mit dem zweiten eben ange-
gebenen Wege, dem des Psychologismus. Der andere eben ange-
gebene Weg, der in der Verfolgung des transzendentalen Vor-
urteils besteht, läßt zwei verschiedene Formen zu, die in der Tat
in der Fichteschen Wissenschaftslehre noch ungetrennt neben
einander hergehen und erst von Fichtes Nachfolgern in ihrer
Eigenart ausgebildet worden sind. Das transzendentale Vorurteil
besteht nämlich nur in der Behauptung der Apriorität der die
metaphysischen (und logischen) Grundsätze begründenden Wissen-
schaft und läßt es daher für sich noch unbestimmt, welcher der
nach der Disjunktion (4 a) zulässigen Erkenntnisquellen (der An-
schauung oder der Reflexion) diese Wissenschaft zugewiesen
werden soll. Die Entscheidung hierüber kann daher auf dem
Boden des transzendentalen Vorurteils entweder nach der Maxime
des Mystizismus oder nach der Maxime des logischen Dogmatismus
getroffen werden. Dieser zweifachen Möglichkeit entsprechen die
Fortbildungen, die die Fichtesche Philosophie einerseits bei
ScHELUNO, andererseits bei Hegel gefunden hat.^
> Wir können daher an der Hand der in § 57 und § 108 aufgestellten
Schemata den Stammbaum der von Kant ausgehenden PhUosopheme in folgender
Weise darstellen.
Kant
Reinhold
(Erkenntnistheorie)
Fries
(Kritizismus)
Fichte
(Transzendentalismus)
Beneee
(Psychologismos)
SCHELLWO
(Mystizismus)
Hegel
(Logiseher Dogmatismns)
257] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 669
xxvm.
Die Systematisierazig des transzendentalen Vorurteils
bei Fichte.
126. Bei dem erneuten Ansehen, zu dem die Fichtesche
Philosophie bei den Transzendentalisten unserer Tage gelangt ist,
erscheint es nicht überflüssig, das im Vorangehenden über diese
Philosophie ausgesprochene urteil im einzelnen zu begründen.
Es bedarf nur einer geringen Kenntnis der Schriften Fichtes,
um zu erkennen, daß seine Lehren, die er selbst überall als die
Durchführung des recht verstandenen Kantianismus bezeichnet^,
vielmehr nur auf eine Entwickelung der Konsequenzen aus dem
von Reinhold übernommenen Mißverständnis hinauslaufen. Das
Selbständige liegt bei ihm lediglich in dem Bemühen, den naiven
Psychologismus des Reinholdschen Ausgangspunktes zu ver-
schleiern und transzendental zu verkleiden. Kritiklos nimmt
er die Reinholdsche Forderung eines obersten Grundsatzes der
gesamten Philosophie auf*, sucht aber den analytischen Rückgang
zu demselben noch über den von Reinhold aufgestellten „Satz des
Bewußtseins" hinaus fortzusetzen. Mit Recht bemerkt er nämlich,
^ „Ich habe von jeher gesagt, und sage es hier wieder, daß mein System
kein anderes sei als das Kantische. ** (Werke, Bd. I, S. 420. Yergl. auch S. 419).
^ „Nach Kant machte Reinhold sich das unsterbliche Verdienst, die
philosophierende Yemunft darauf aufmerksam zu machen, daß die gesamte
Philosophie auf einen einzigen Grundsatz zurückgeführt werden müsse.^ (Werke^
Bd. I, S. 20.)
▲bkaBdlniigM d«r VriM^MlitB Sckils. IL Bd. 43
670 I'* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [258
daß der Begriff der Vorstellung „nicht der höchste Begriff aller
in nnserm Gremüte za denkenden Handinngen sei^.^ Er sucht
daher das fragliche Prinzip noch höher, nämlich im Begriffe einer
„Tathandlung" überhaupt, die jedoch, da von der „ Wissenschafts-
lehre ^ die Kategorieen erst abzuleiten, nicht aber schon voraus-
zusetzen sind, nur als ein bloßes Tun ohne Tuendes, als ein
Handeln ohne Handelndes, also ohne alle Beziehung auf ein zu
Grunde liegendes Subjekt, verstanden werden soll. Dieses „Tun"
identifiziert Fichte mit dem ^Ich". Im Ich aber fallen Subjekt
und Objekt der Erkenntnis zusammen. Aus dieser Identität von
Subjekt und Objekt im Ich „geht die ganze Philosophie hervor;
durch sie wird die Frage vom Bande des Subjekts und Objekts
auf einmal für immer beantwortet, indem sich zeigt, daß sie gleich
ursprünglich in der Ichheit verbunden sind." * Der oberste
Grundsatz ist daher der Satz „Ich = Ich".* Vermöge dieses
höchsten Prinzips soll es der Wissenschaftslehre gelingen, „allen
möglichen Wissenschaften^ „nicht die Form allein, sondern auch
den Gehalt" zu geben.* Und so erscheint, wie schon bei
Eeinhold, auch die Logik als eine erst aus der Wissenschafts-
lehre abzuleitende Disziplin: „Es muß jeder logische Satz, und
die ganze Logik aus der Wissenschaftslehre bewiesen werden. . .
Also entlehnt die Logik ihre Gültigkeit von der Wissenschafts-
lehre."* — Und wie Fichte sich in methodischer Hinsicht durch
das Eeinholdsche Postulat eines obersten Grundsatzes der ge-
samten Philosophie bestimmen läßt, so wird andererseits das
' Ebenda, S. 9. ' Bd. n, S. 442.
* „Durch den soeben aufgestellten Grandsatz aller Philosophie ist die
ganze Phüosophie selbst gegeben: die letztere ist nichts anderes als eine yoU-
ständige Analyse des ersteren." (II, S. 443.)
* I, S. 66. * I, S. 68.
259] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 671
ResultcU seiner Philosophie durch die blinde Unterwerfung unter
das idealistische Postulat Jacobis bestimmt. Aus der Vereinigung
dieser beiden Postulate erklärt sich die Gestaltung der „Wissen-
schaftslehre" hinsichtlich ihrer Methode und ihres Inhalts. Dies
ergiebt sich am einfachsten aus einer Betrachtung der ersten
„Einleitung in die Wissenschaftslehre'' aus dem Jahre 1797.
127. Fichte geht hier von folgendem Gedanken aus. Die
„Selbstbeobachtung" läßt uns einen unterschied zwischen zweierlei
Yorstellungsarten „wahrnehmen". Es giebt Vorstellungen, die
von unserer Freiheit abhängig erscheinen, xpiä es giebt solche, die
vom Gefühle der Notwendigkeit begleitet sind. Die zweiten sind
diejenigen, die wir auf eine von uns unabhängige Wahrheit beziehen.
Die ersten sind von dieser Beziehung frei; zu ihnen gehören z.B.
die Phantasievorstellungen. Es erhebt sich nun die Frage:
„Welches ist der Grund des Systems der vom Gefühle der
Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen, und dieses Gefühls der
Notwendigkeit selbst? Diese Frage zu beantworten ist die
Aufgabe der Philosophie." „Das System der von dem Gefühle
der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen nennt man auch
die Erfahrung." „Die Philosophie hat sonach den Grund aller
Erfahrung anzugeben." ^
Bleiben wir zunächst bei diesen Sätzen stehen. Es ist ohne
weiteres klar, daß das Wort ;,Erfahrung" hier in einem sprach-
widrigen Sinne gebraucht wird. Nach dem üblichen Sprachgebrauch
wird die Erfahrung der apodiktischen oder notwendigen Erkenntnis
entgegengesetzt. Die Notwendigkeit aber, von der Fichte an der
angeführten Stelle spricht, bedeutet lediglich den Gegensatz zur
Willkür und sagt über die Modalität der Erkenntnis gar nichts
1 I, S. 423.
43*
672 L. Nelson : Über das sogenannte Erlenntnisproblem. [260
aus. Was er „Erfahrung^ nennt, umfaßt daher alle Erkenntnis
überhaupt, die apodiktische so gut wie die empirische. Dieser
Umstand wäre für die Richtigkeit der Resultate belanglos, wenn
sich nicht bald aus dem weiteren Fortgange der Untersuchung
zeigte, daß Fichte wirklich diese verschiedenen Wortbedeutungen
verwechselt. Während nämlich nach der sprachüblichen Wort-
bedeutung Apriorität und Aposteriorität kontradiktorische Gegen-
sätze sind, findet Fichte es durchaus nicht anstößig, eine und
dieselbe Erkenntnis sowohl a priori als auch a posteriori zu
nennen. ^ Vorläufig haben wir nur zu beachten, daß nach Fichtks
bisherigen Festsetzungen der Begriff der Erfahrung alle Vor-
stellungen umfaßt, deren Inhalt nicht willkürlich bestimmbar,
sondern auf Wahrheit bezogen ist, kurz alle Erkenntnis als solche.
Das von Fichte der Philosophie gestellte Problem ist also : den
Grund edler Erkenntnis anzugeben.
„Der Grund", so argumentiert nun Fichte weiter, „fallt
außerhalb des Begründeten; beides, das Begründete und der
Grund, werden, wiefern sie dies sind, einander entgegengesetzt,
an einander gehalten, und so das erstere aus dem letzteren
erklärt.« 2
Sehen wir hier ab von der Zweideutigkeit des Ausdrucks
„erklären", der es unbestimmt läßt, ob die Ableitung aus dem
„Grunde" kausal oder logisch verstanden werden soll, so ist doch
jedenfalls an dieser Bemerkung soviel richtig, daß der Grund
einer Erkenntnis von dieser Erkenntnis selbst unterschieden
werden muß. Was folgt aber hieraus für unsere Frage ? Offenbar
dies, daß der anzogebende Grund aller Erkenntnis nicht selbst
» I, S. 447. Vergl. auch II, S. 474 ff.
• I, S. 424 f.
261] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 673
eine Erkenntnis sein kann. Diesen Schloß zieht aber Fichte
keineswegs, sondern er schließt ans dem Worte „Erfahrnng*^ :
„Nnn hat die Philosophie den Grnnd aller Erfahrung anzu-
geben ; ihr Objekt liegt sonach notwendig außer aller Erfahrung^ ;
wobei er, ohne es zn bemerken, der von ihm definierten Wort*
bedeutung die sprachübliche unterschiebt, so daß sein Schluß
vielmehr auf die Modalität der philosophischen Erkenntnis geht. ^
Aber selbst wenn wir von der Fehlerhaftigkeit dieser
quatemio terminorum absehen, so würde doch für die Modalität
der Erkenntnis, die nach Fichtes Definition der Philosophie
eigentümlich ist, noch gar nichts folgen. Es würde vielmehr nur
folgen, daß das Objekt der philosophischen Erkenntnis (der anzu-
gebende ;.Grund^) nicht in einer empirischen Erkenntnis gesucht
werden darf. Fichte aber schließt auf die Apriorität der philo-
sophischen Erkenntnis selbst:
„Der Weg dieses Idealismus geht von einem im Bewußtsein
Vorkommenden zu der gesamten Erfahrung. Was zwischen
beiden liegt, ist sein eigentümlicher Boden. Es ist nicht
Tatsache des Bewußtseins, gehört nicht in den Umfang der
Erfahrung; wie könnte so etwas je Philosophie heißen, da ja
' Daß dem so ist, ergieht sich unzweideutig aus den unmittelbar folgenden
YTorten :
„Dieser Satz gilt für alle Philosophie und hat auch, bis auf die Epoche
der Kantianer und ihrer Tatsachen des Bewußtseins, und also der inneren Er-
fahrung, wirklich allgemein gegolten.'^
Offenbar will Fichte hier den Kantianern nicht vorwerfen, daß ihre Philo-
sophie Erkenninis (im Gegensatze zu willkürlicher Erdichtung), sondern daß sie
empirische Erkenntnis (im Gegensatze zu rationaler) ist. — Vgl. auch S. 428,
wo vom ,,System des Idealismus^ gesagt wird, daß es nicht „einen Teil der Er-
fahrung'' bilde.
g74 ^' Nelson: Ober das sogeoannte Erkenatnisproblem.
diese den G-rand der Erfahrung aufzuweisen hat, aber der
' Grund notwendig außerhalb des Begründeten liegt/**
Die in diesen Worten hervortretende Vermengung des Objekts
der Philosophie mit ihrem Inhalt ist die zweite quaternio termi-
norum des für die Fichtesche Methode entscheidenden Fehl-
schlusses. Die Wurzel des transzendentalen Vorurteils, die Ver-
wechslung von Grund und Begründung, tritt in ihr offen zu
Tage.
128. Zur Lösung des gestellten erkenntnistheoretischen
Problems stehen nun nach Fichte zwei Wege offen. „In der Er-
fahrung ist das Ding, dasjenige, welches unabhängig von unserer
Freiheit bestimmt sein, und wonach unsere Erkenntnis sich richten
soll, und die Intelligene, welche erkennen soll, unzertrennlich ver-
bunden.^ ^ Je nachdem vm nun von dem einen oder dem anderen
abstrahieren, erhalten wir eine „Intelligenz an sich" oder ein
^Ding an sich" als Erklärungsgrund der „Erfahnmg''. Nach
diesen beiden Erklärungsarten unterscheidet Fichte „Idealismus"
und „Dogmatismus". „Nach dem ersten Systeme sind die von
dem Gefühle der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen Produkte
der ihnen in der Erklärung vorauszusetzenden Intelligenz; nach
dem letzteren, Produkte eines ihnen vorauszusetzenden Dinges
an sich."* Man sieht deutlich, daß hier der methodische Begriff
des Kritizismus völlig verloren gegangen und durch die Postu-
lierung eines bestimmten philosophischen „Systems" verdrängt
worden ist. Daß dieses „System" nur axiomatisch postuliert und
nicht kritisch begründet werden kann, führt Fichte selbst des
weiteren aus: Zwischen den beiden genannten Erklärungsweisen
* I, S. 448. • I, S. 426. » S. 426.
263] Dritter Teil: Die Qeschichte der Erkenntnistheorie. 675
„ist kein Entscheidungsgrund aus der Yemnnft möglich ; denn es
ist nicht von Anknüpfang eines Gliedes in der Reihe, wohin allein
Vemnnftgründe reichen, sondern von dem Anfange der ganzen
Reihe die Rede, welches, als ein absolut erster Akt, lediglich von
der Freiheit des Denkens abhängt. Er wird daher durch Willkür,
und da der Entschluß der Willkür doch einen Grund haben soll,
durch Neigung und Interesse bestimmt.^ ^
129. Indessen, bei dieser Erklärung bleibt Fichte nicht stehen,
sondern er sucht doch nach einer theoretischen Begründung des
„Idealismus^. Er beruft sich hier zuerst auf einen „merkwürdigen
Unterschied", der zwischen dem „idealistischen" und dem „dog-
matischen" Erklärungsgrunde bestehen soU^:
»•*■
„Alles, dessen ich mir bewußt bin, heißt Objekt des
Bewußtseins. Es giebt dreierlei Verhältnisse dieses Objekts,
zum Vorstellenden. Entweder erscheint das Objekt als erst
hervorgebracht durch die Vorstellung der Intelligenz, oder, als
ohne Zutun derselben vorhanden: und, im letzteren Falle, ent-
weder als bestimmt auch seiner Beschaffenheit nach; oder als
vorhanden lediglich seinem Dasein nach, der Beschaffenheit nach
aber bestimmbar durch die freie Intelligenz."
Das erste Verhältnis soll stattfinden bei lediglich erdichteten
Gegenständen, das zweite bei „einem Gegenstande der Erfahrung",
das dritte bei dem „Ich an sich".
In dieser Bestinunung kommen wieder mehrere Fehler vor.
Erstens sind hier von neuem die vorhin unterschiedenen Be-
> S 432 f. > S. 427.
ß76 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [264
dentungen des Wortes Erfahrung verwechselt. Verstehen wir,
nach PicHTEs ursprünglicher Erklärung, unter ;,Erfahrung^ alle
Erkenntnis als solche, so ist auch das „Ich an sich^, sofern es
^Objekt des Bewußtseins" oder der „Vorstellung^ ist, entweder
eine Erdichtung oder ein Gegenstand der Erfahrung. Soll es also
keine Erdichtung sein, so kann das Verhältnis des Ich an sich
zur Vorstellung nicht ein anderes sein als bei Gegenständen der
Erfahrung überhaupt. "Wenn Fichte dies dennoch annimmt, so
liegt der Grund dafür nur in einem zweiten Fehler, und zwar
einem Fehler der Selbstbeobachtung. Er beruft sich nämlich für
diese Annahme darauf, daß ich ;,mich mit Freiheit bestimmen
kann, dieses oder jenes zu denken."
„Daß ich mir gerade so bestimmt erscheiue und nicht
anders, gerade als denkend, und unter allen möglichen Gredanken
. gerade das . . . denkend, soll . . . abhangen von meiner Selbst-
bestimmung: ich habe zu einem solchen Objekte mit Freiheit
mich gemacht. Mich selbst an sich aber habe ich nicht
gemacht. . . Ich selbst also bin mir Objekt, dessen Beschaffen-
heit unter gewissen Bedingungen lediglich von der Intelligenz
abhängt, dessen Dasein aber immer vorauszusetzen ist.''^
Man sieht ohne weiteres, daß, was Fichte hier die Freiheit
der Selbstbestimmung nennt, nichts anderes ist als die Wül-
Jcürlichkeit. Die Willkürlichkeit der Reflexion erlaubt mir, bald
dieses, bald jenes zu denken; ich bestimme mich also z. B. durch
Willkür zu dem Gedanken A. Stelle ich mich nun vor als eine
den Gedanken A denkende Intelligenz: welches der drei nach
Fichte möglichen Verhältnisse des Objekts zur Vorstellung liegt
» S. 427.
265] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 677
dann vor? Das Objekt der Vorstellung ist die den Gedanken A
denkende Intelligenz. Ist hier die vorgestellte Beschaffenheit des
Objekts, nämlich der Gedanke Ä^ durch die Vorstellung hervor-
gebracht, deren Objekt sie ist? Offenbar so viel oder so wenig,
wie die Viereckigkeit des mir vor Augen liegenden Papiers, auf
dem ich schreibe, durch mein Vorstellen seiner Viereckigkeit
hervorgebracht wird. Fichte hat sich hier durch die Unbestimmt-
heit des Ausdrucks „Abhängigkeit von der Intelligenz" verleiten
lassen, die Abhängigkeit einer inneren Beschaffenheit vom Willen
mit einer Abhängigkeit derselben vom Vorgestelltwerden zu
verwechseln.
130. Aus allediesem zieht nun Fichte den Schluß, daß das
„Objekt des Idealismus", nämlich das „Ich an sich", vor dem
Objekt des „Dogmatismus" (dem Dinge an sich) den Vorzug habe,
„als etwas Reales wirklich im Bewußtsein" vorzukommen, daß es
„im Bewußtsein nachzuweisen ist"\ aber „nicht als Gegenstand
der Erfahrung", sondern „als etwas über alle Erfahrung Er-
habenes". Unter dem Ausdruck „Gegenstand der Erfahrung"
kann hier nur der Gegenstand der äußeren Erfahrung gemeint
sein; die Entgegensetzung von „Intelligenz" und „Ding" wäre
sonst unverständlich, da die Intelligenz so gut wie jedes äußere
Ding zum Gegenstand der Vorstellung gemacht werden kann und
z. B. in FiCHTEs Ausführungen wirklich gemacht wird. Und in
der Tat substituiert Fichte bald der Entgegensetzung von Ich
und Ding die von „Geist" und „Materie", und er zieht den
Schluß: „Der konsequente Dogmatiker ist notwendig auch Mate-
rialist."^ Was ist also der eigentümliche „Vorzug'^', den Fichte
» S. 428. « S.;431. » a 428.
678 ^* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [266
dem „idealistisclien^ Erklamngsgrnnde gegenüber dem ^^dogma-
tischen^ nachrfilunt ? Es bleibt an diesem ;, Vorzug^ nichts anderes,
^ daß der idealistische Erklärongsgrond in der Intelligenz, der
andere nicht in der Intelligenz, sondern in der Materie liegt.
Die Behauptung des Vorzugs des idealistischen Erklärungsgrundes
giebt also, genau zugesehen, nur die Behauptung dieses Erklarungs-
grundes selbst mit anderen Worten wieder und fügt ihr nicht
das Greringste an Gründen hinzu. — In der Tat ist der Satz von
der Kachweisbarkeit des idealistischen Erklärungsgrundes „im
Bewußtsein^ in jeder anderen als tauiologischen Bedeutung falsch.
Daß Fichte diesem Satze eine höhere Bedeutung beimessen zu
dürfen glaubt, hat keinen anderen Grund als die Verwechslung
des Gegensatzes zwischen Intelligenz und Materie mit dem Gegen-
satze zwischen Erkenntnis und Gegenstand. Man beachte die Axt
seiner Begründung des Satzes ^^Das Ding an sich ist eine bloße
Erdichtung^ :
„Es kommt nicht etwa in der Erfahrung vor: denn das
System der Erfahrung ist nichts Anderes als das mit dem
Gefühle der Notwendigkeit begleitete Denken."^
Was besagt dieser Satz anderes als die Trivialität, daß das-
jenige, was Gegenstand eines gewissen Denkaktes ist, nicht Inhalt
dieses selben Denkaktes sein kann? Verhalt es sich denn in
dieser Hinsicht mit dem „Ich an sich" irgend wie anders? Das
„Ich an sich" ist ein gewisser Gegenstand unseres Denkens, es
ist also nicht Inhalt dieses Denkens und folglich, wenn man unter
^ S. 428. — „Das Ding an sich", heißt es weiter, „wird zur völligen
Chimäre; es zeigt sich gar kein Grund mehr, warum man eins annehmen sollte;
und mit ihm f&llt das ganze dogmatjiiche Qeb&ade zusammen." (S, 431.)
267] Dritter Teil: Die Qeschichte der Erkenntnistheorie. 679
„Bewußtsein^ dieses Denken versieht, ebenso wenig „im Bewußt-
sein nachzuweisen'^ wie das „Objekt des Dogmatikers^. Wenn
also nach Fichtes Annahme alles . nicht „im Bewußtsein^ Nach-
weisbare „bloße Erdichtung^ ist, so ist auch das „Ich an sich^
bloße Erdichtung.
131. Aber es soll noch einen weiteren Grund geben, weshalb
der „Idealismus^ dem „Dogmatismus* vorzuziehen ist. Wer näm-
lich nur einmal den richtigen philosophischen Standpunkt ein-
genommen hat, der „findet^ nach Fichte „nichts weiter, als daß er
sich vorstellen müsse^ er sei frei und es seien aoßer ihm bestimmte
Dinge". ^ Bei diesem Gedanken der „bloßen Vorstellung" könne
man aber nicht stehen bleiben, es müsse vielmehr etwas vom Vor-
stellen unabhängiges hinzugedacht werden. Dieses sei der „Grund
der Vorstellangen" oder „das ihnen Entsprechende". Nun könne
dieser Grund entweder im „Ich" oder im „Dinge" gesucht werden,
immer aber nur in einem dieser beiden. Eine Begründung dieser
Behauptung ist bei Fichte nicht zu finden. Nach ihrer dogmatischen
Aufstellung wird nun weiter der Versuch gemacht, zu zeigen, daß
„der Dogmatismus gänzlich unfähig ist, zu erklären, was er zu
erklären hat". „Und dies entscheidet über seine üntauglichkeit."^
Fichte beruft sich hier auf das, „was das unmittelbare Bewußt-
sein" über die Vorstellung „aussagt", auf das, „was sich nur
innerlich anschauen läßt", auf das, „was jeder, der nur einen festen
Blick in sich geworfen, schon längst gefanden haben muß". Und
was ist dieses?
„Die Intelligenz, als solche, sieht sich selbst zu; und dieses
sich selbst Sehen ist mit allem, was ihr zukommt, unmittelbar
vereinigt, und in dieser unmUtelharen Vereinigung des Seins und
> S. 432. • S. 436.
680 ^ Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [268
des Sehens besteht die Natur der Intelligenz.^ ^^Bestlmmimgen^
„sind in mir nur, inwiefern ich ihnen zusehe: Zusehen und Sein
sind unzertrennlich vereinigt."*
Also die innere Anschauung soll uns lehren, daß alle Be-
stimmungen, die der Intelligenz zukommen, auch unmittelbar von
der Intelligenz angeschaut werden. — Nun ist klar, daß sich der
inneren Anschauung niemals andere Bestimmungen der Intelligenz
zeigen können als solche, die, indem sie sich ihr zeigen, angeschaut
werden. Aber dies besagt nicht, daß es keine anderen Bestimmungen
der Intelligenz giebt als solche, die unmittelbar dadurch, daß sie der
Intelligenz zukommen, angeschaut werden. Gerade diese unbegrün-
dete und durch innere Anschauung unbegrundbare Annahme aber ist
der Inhalt der Fichteschen Behauptung. Aber diese Annahme ist nicht
nur unbegründbar durch innere Anschauung, sondern sie ist nachweis-
lich falsch, weil in sich widersinnig. Das innere Anschauen soll mit
allem, was der Intelligenz zukommt, unmittelbar vereinigt sein; Be-
stimmungen sollen nur in mir sein, wiefern ich ihnen zusehe. Nun
ist aber offenbar dieses innere Anschauen oder Zusehen selbst
eine der Intelligenz zukommende Bestimmung; das innere An-
schauen fände also nur unter der Bedingung statt, daß es selbst
innerlich angeschaut würde. Und da von diesem wie von jedem
inneren Anschauen wieder dasselbe gilt, so müßte eine unvollend-
bare Reihe von Anschauungsakten, deren jeder seiner Möglichkeit
nach durch das Stattfinden des nächstfolgenden bedingt wäre,
vollzogen sein, ehe auch nur die Möglichkeit einer einzigen der
Intelligenz zukommenden Bestimmung realisierbar wäre, unter
der Fichteschen Voraussetzung wären folglich überhaupt keine
der Intelligenz zukommenden Bestimmungen möglich.
' S. 486 f.
269] DriUer Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 681
132. Diese Fiktion von der Einerleiheit des Seins und des
Angeschantwerdens in der Intelligenz drückt Fichte so aus, daß
die Intelligenz, was sie sei, yfür sich selbst^ sei.^ Von einem
^Dinge'^ dagegen könne man nicht sagen, daß es „fiir sich selbst"
sei, was es sei, „sondern es muß noch eine Intelligenz hinzugedacht
werden, für welche es sei; dahingegen die Intelligenz notwendig
für sich selbst ist, was sie ist, und nichts zu ihr hinzugedacht zu
werden braucht."*
Diese Begründung ist wiederum nichts als eine Erschleichung.
Die Frage, „/u> wen*^ ein Ding sei, kann dem Zusammenhange
nach nur den Sinn der Frage haben, für wessen Erkenntnis das
Ding da sei, d. h. wem es erkennbar sei. Natürlich kann auf diese
Frage nur geantwortet werden: „Für Erkennende", oder: „Nur
für Intelligenzen*'. Um aber hieraus mit Fichte schließen zu
können, daß Dinge nicht unabhängig von Intelligenzen existieren
können, müßte zuvor gezeigt sein, daß jedes Ding notwendig für
irgend etwas sein müsse, d. h. daß nichts existieren könne, ohne
erkannt zu werden. Diese Nachweisung fehlt bei Fichte. Sein
Satz, Dinge seien nur für Intelligenzen da, sagt also nur insofern
etwas Richtiges aus, als er den Sinn der Tautologie hat: Dinge
können erkannt werden nur von Erkennenden. Fichte jedoch meint
mit dieser nichtsbesagenden Tautologie einen Beweis für den idea-
listischen Satz geliefert zu haben, daß alle Dinge hinsichtlich
» S. 435.
* S. 436. — „Den Gedanken", sagt Fichte an anderer Stelle (I, S. 19),
„von einem Dinge, das nicht nur von dem menschlichen Yorsteliungs -Vermögen,
sondern von aller und jeder Intelligenz unabhängig, Realität und Eigenschaften
haben soll, hat noch nie ein Mensch gedacht, so oft er es auch vorgeben mag,
and es kann ihn keiner denken; man denkt allemal sich selbst ais Intelligenz, die
das Bing zu erkennen strebt, mit hinzu,^
682 L« Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem/ [270
ihrer Existenuf yon dem Yorgestelltwerden dnrch eine Intelligenz
abhängig seien oder daß es keine Dinge an sieb giebt.^
133. Überblicken wir die hier benrteilten ilchteschett Lehren
hinsichtlich ihrer methodischen Voranssetzongen, so finden wir in
* Man yergleiche auch die .Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre",
wo es (I, S. 500 f.) Ton den „Dingen" heißt:
„Wie sollen sie denn für sich selbst sein; da es im Begriffe des Dinges
liegt, daß es bloß sei, nicht aber für dasselbe sei?*' „Man kann vom Ich nicht
abstrahieren ... Zu allem, was im Bewußtsein vorkommend gedacht wird, muß
das Ich notwendig hinzugedacht werden; in der Erklärung der Gemütsbe-
stimmungen darf nie Tom Ich abstrahiert werden, oder, wie Kant es ausdrückt:
alle meine Vorstellungen müssen begleitet sein können, als begleitet gedacht
werden von dem : Ich denke . . . H&tte man ihn [diesen Satz] nur eher bestimmt
gedacht, so würde man des Dinges an sich l&ngst entledigt sein; denn man
würde gesehen haben, daß, was wir auch denken mögen, wir in ihm das Denkende
sind, daß sonach nie etwas unabhängig Ton uns vorkommen könne, sondern
alles notwendig sich auf unser Denken beziehe.**
Der erste der eben zitierten Sätze enthält nichts weiter als eine willkürliche
Einschränkung des Gebrauchs des Wortes „Ding** auf den Umfang desjenigen,
was nicht von sich selbst erkannt wird; so daß sowohl die Behauptung, das Ich
sei kein Ding, als auch die andere, Dinge seien „nur für ein Ich** da, lediglich
eine terminologische Festsetzung wiedergeben. Der Rest des Zitierten macht den
Grundfehler Fichtes, die Verwechslung von Inhalt und Gegenstand, besonders
deutlich: Daraus, daß alles im Bewußtsein Vorkommende nur durch Beziehung
auf ein Ich möglich sei, wird geschlossen, daß alle Gegenstände des Bewußtseins
nur durch Beziehung auf ein Ich möglich seien. — In noch plumperer Gestalt
tritt derselbe Trugschluß in der „Bestimmung des Menschen** zu Tage (II, S. 239) :
„Von dir also habe ich keine Einwendungen zu fürchten gegen die ent-
schlossene Aufstellung des Satzes, daß das Bewußtsein eines Dinges außer uns
absolut nichts weiter ist als das Produkt unsers eignen Vorstellungsvermögens,*^
„Keine Einwendungen gegen den kühneren Ausdruck desselben Satzes : daß wir
bei dem, was wir Erkenntnis und Betrachtung der Dinge nennen, immer und
ewig nur uns selbst erkennen und betrachten, und in allem unserm Bewußtsein
schlechterdings von nichts wissen, als von uns selbst, und unsem eignen Be-
stimmungen.**
Der erste, „entschlossen** aufgesteUte Satz ist eine leere Tautologie. Der
zweite dagegen ist nicht ein „kühnerer Ausdruck desselben Satzes**, sondern ent*
steht aus dem ersten lediglich durch das Wortspiel, daß an Stelle des ,Bewufit«
Beins eines Dinges außer uns** das „Ding außer uns** selbst gesetzt wird.
271] Dritter Teü: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 688
ihnen zunächst einen unverkennbaren logischen Dogmatismus.
Dieser äußert sich schon in dem Postulat, aus einem einzigen,
und zwar analytischen Satze das gesamte Wissen abzuleiten;
sodann aber auch besonders deutlich darin, daß die dem logischen
Dogmatismus unvermeidliche Konsequenz, nach der der Willkür
der Reflexion die letzte Entscheidung über die Grundsätze des
Systems überlassen bleibt ^ von Fichte ausdrücklich anerkannt
und vertreten wird.* Aber, wie wir gesehen haben, bleibt er doch
bei dieser Konsequenz nicht stehen. Schon die Einsicht in diese
alles Wissen aufhebende Konsequenz selbst nötigt ihn, sich alsbald
nach einer unmittelbaren Erkenntnis umzusehen, als nach einem
Begründungsmittel, ohne dessen Vorweisung er auch nicht zu
seinen ersten Voraussetzungen den Eingang finden könnte.' Weit
> Vgl. § 50 Anmerkung.
' Man vergleiche hierzu außer dem in § 128 Zitierten auch die „Zweite £in-
leitong** (I, S. 508 f.), wo aosdrückUch als einziges Begründongsmittel der Beweis
hingestellt und alle Möglichkeit einer Verständigung über die ersten Prämissen
des Beweises abgelehnt wird, sowie die „Bestimmung des Menschen^ (II, S. 253 ff.),
wo aus der Unbeweisbarkeit dieser ersten Prämissen geschlossen wird, daß „im
bloßen Wissen kein Grand liegt, unsere Vorstellungen flir mehr zu halten, als fOr
bloße Bilder*', nnd daß der Grund, warum wir sie dennoch fOr mehr halten und
„ihnen etwas unabhängig Ton aller Vorstellung Vorhandenes zu Grande legen,**
nicht in „Vemunftgründen**, sondern nur in einem „Interesse** liegen könne. Es
„ist kein Wissen, sondern ein Entschluß des Willens, das Wissen gelten zu lassen.**
' Fichte geht in diesem Gedankenzusanunenhange so weit, die Leerheit der
Reflexion unzweideutig anzuerkennen:
„Ich weiß, daß jede Torgebliche Wahrheit, die durch das bloße Denken
herausgebracht, nicht aber auf den Glauben gegründet sein soll, sicherlich
falsch und erschlichen ist, indem das durchaus durchgeführte bloße und reine
Wissen lediglich zu der Erkenntnis führt, daß wir nichts wissen können; weiß,
daß ein solches falsches Wissen nie etwas Anderes findet, als was es erst
durch den Glauben in seine Vordersätze gelegt hat.** (II, S. 254.)
Da aber Fichte, wie aus diesen Worten hervorgeht, das „Denken** (oder
„Wissen**, als welches er es hier, der Jacobischen Darstellongsweise folgend, dem
„Glauben** entgegensetzt,) auf den Umfang der heweisbann Urteile einschränkt.
684 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [272
entfernt, den von ihm selbst geforderten logischen Dogmatismos
durchzuführen y maß er sich gleich zu Beginn anf die „Selbst-
beobachtnng^ berufen, die uns einen bestimmten Unterschied
zwischen zweierlei Vorstellungsarten ;, wahrnehmen^ lassen solL
so gelangt er auch mit seiner Lehre Tom „Glauben^ nicht über die Willkürlichkeit
der Reflexion hinaus. Denn da dieser Glaube das Gebiet der „Vordersätze" des
beweisenden „Denkens*' umfaßt, kann er keine unmittelbare Erkenntnis enthalten,
sondern bleibt ein Produkt der Willkür; vir kommen mit ihm nur auf die wider-
sinnige Fiktion, nach der ein Satz wahr wäre, weil wir wünschen, er möchte wahr
sein. (Vgl. II, S. 256 : «Ich nehme es nicht an, weil ich muß, sondern ich glaube
es, weil ich will'' oder IV, S. 26: „Ich ioiU selbständig sein, darum halte ich
mich dafür. **)
Zwar sucht Fichte den relativistischen Eonsequenzen dieser Lehre dadurch
auszuweichen, daß er den Willen, von dem jener „Glaube** abhängt, durch all-
gemeine praktische Gesetze bestimmt sein läßt:
„Die praktische Vernunft ist die Wurzel aUer Vernunft. Die Handels-
gesetze für vernünftige Wesen sind unmittelbar gewiß : ihre Welt ist gewiß nur
dadurch^ daß jene gewiß aind^ (II, S. 263.)
„Ohne was es überhaupt keine Pflicht geben könnte, ist absolut wahr;
und es ist Pflicht, dasselbe für wahr zu halten . . . Das Kriterium aller theore-
tischen Wahrheit ist nicht selbst wieder ein theoretisches, sondern es ist ein
praktisches, bei welchem zu beruhen Pflicht ist . . . Die einzige feste und letzte
Grundlage aller meiner Erkenntnis ist meine Pflicht.** (IV, 165 ff.)
Aber er bemerkt nicht, daß mit diesem Schritte alle vorhergegangenen Be-
mühungen seiner Erkenntnistheorie wieder illusorisch gemacht werden und das
ursprüngliche Problem nur verschoben wird. An die Stelle der Frage: Wie
kommen wir zum Wissen um das Dasein von Dingen? tritt nunmehr die Frage:
Wie kommen wir zum Wissen um Handelsgesetze? Es ist somit durch alle
Bemühung nichts weiter gewonnen, als daß an die Stelle einer spekulativen Kate-
gorie eine praktische gesetzt ist. Das Problem lag nach Fichte gar nicht im
Begriffe des „Dinges**, oder dies doch nur insofern, als das Ding etwas außer
unserer Vorstellung sein, das Wissen jedoch auf den Bereich der Vorstellungen
eingeschränkt sein sollte. Dieses „außer unserer Vorstellung** findet aber bei den
„Handelsgesetzen** ebenso statt wie vorher bei den Dingen, und es ist daher
keinerlei Grund vorhanden, weshalb von jenen eher als von diesen ein unmitUl-
bares Wissen möglich sein soll. Das eigentliche Problem steht also am Ende der
Untersuchung genau so ungelöst da wie am Anfang.
273] Dritter Teil: Die Gesc&icEte der Erkenntnistheorie. 685
(§ 127.) Und auch im weiteren Fortgange trägt er kein Bedenken,
sich auf das Zeugnis des „unmittelbaren Bewußtseins^ zu berufen;
auf das, „was sich nur innerlich anschauen läßt^, auf das, „was
jeder, der nur einen festen Blick in sich geworfen, schon längst
gefunden haben muß^. (§ 131.) Wie ist es aber möglich, der
Philosophie die geforderte Apriorität (§ 127) zu wahren, wenn
gleich die ersten Sätze, von denen sie ausgeht, der „Selbstbeob-
achtung^ oder der „inneren Anschauung^ entnommen werden
müssen? Offenbar kann Fichte der Eonsequenz eines radikalen
Psychologismus und Empirismus auf keinem anderen Wege zu
entgehen hoffen, als indem er die empirische Natur jener Selbst-
beobachtung bestreitet; d. h. nur durch die mystische Fiktion
einer intelleJctuellen Anschauung. Diese Fiktion führt Fichte mit
Entschlossenheit durch in seiner „Zweiten Einleitung in die Wissen-
. Schaftslehre". ^
134. Achtet man hier auf die Begründungsweise, mit der Fichte
seine Behauptung des „Faktums*' ^ einer intellektuellen Anschauung
einführt, so wird man unsere Darstellung des Weges, der ihn auf
diese Fiktion führen mußte, bestätigt finden. Die Anschaulichkeit
der fraglichen Erkenntnisweise wird nämlich überall ohne weiteres
als die der unmittelbaren Selbsterkenntnis eigentümliche voraus-
gesetzt,' ebenso wie andererseits die Behauptung ihres intellektuellen
Charakters ohne weiteres als durch den Begriff einer philosophi-
^ „Diese intellektuelle Anschanong ist der einzige feste Standpunkt für alle
Philosophie. . . Meine Philosophie wird hier ganz anabhängig von aller Willkür.^
(S. 466 f.) » S. 465.
' „Dieses dem PhUosophen angemutete Anschauen seiner selbst im Voll-
ziehen des Aktes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellektuelle An-
schauung. . . Jeder, der sich eine Tätigkeit zuschreibt, beruft sich auf diese
Anschauung.^* (S. 463.)
▲bhandlnogcB der Fzi«i*MhtB Sebsl«. IL fi4. 4A
686 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [274
sehen Erkenntnis bedingt angenommen wird.^ Der ganzen Argu-
mentation, die die Vereinigung des Anschanlichen mit dem In-
tellektuellen in einer Erkenntnisweise bezweckt, liegt also die
stillschweigende Voraussetzung des transzendentalen Vorurteils
zu Grunde, daß die philosophische Erkenntnis ihr konstitutives
Prinzip in der Selbsterkenntnis hat. Ist dieses Vorurteil einmal
zu Grunde gelegt, so bedarf es in der Tat nur der Hinweisung
auf die tatsächliche Anschaulichkeit der unmittelbaren Selbst-
erkenntnis einerseits und auf die tatsächlich intellektuelle Natur
der philosophischen Erkenntnis andererseits, um eine intellektuelle
Anschauung als das konstitutive Prinzip der Philosophie geltend
zu machen. Das Resultat widerspricht freilich den psychologischen
Tatsachen. Denn diese lehren, daß die anschauliche Selbsterkennt-
nis eine sinnliche, und das Bewußtsein xmi die unmittelbare philo-
sophische Erkenntnis kein unmittelbares, sondern ein durch JRe-
flexion vermitteltes ist. Aber durch das zu Grunde liegende
transzendentale Vorurteil werden diese Tatsachen der Beobachtung
des Philosophen entrückt, und an ihrer Stelle erscheint die Fik-
tion einer besonderen die Anschaulichkeit der Selbsterkenntnis
mit der intellektuellen Natur der philosophischen Erkenntnis ver-
einigenden Erkenntnisart.^
^ So z. B. wenn Fichte sich (S. 465) darauf beruft, daß sinnlieh nur die
zeitliche Folge der Vorstellungen, nicht aber die reale Abhängigkeit der einen
von der anderen erkennbar sei, oder wenn er sich (S. 467 f.) auf den ratlonakn
Ursprung der Begrifife von Tugend und Recht beruft und auf die Unmöglichkeit,
die „Unterlage der Konstruktion dieser BegrifTo^ in einer anderen als rationalen
Erkenntnis zu suchen. Die „unmittelbare** Erkenntnis, die die Unterlage jener
Begriffe bilden soll, denkt er sich aber sofort als eine „unmittelbare Afisdiauung^,
— Ebenso, wenn er Ton dem Bewußtsein um den kategorischen Imporati? sagt:
„Dieses Bewußtsein ist ohne Zweifel ein unmittelbares, aber kein sinnliches*'
(S. 472), um dieses „Bewußtsein** als eine intellektuelle Anschauung zu erweisen.
' Was Fichte anführt, um zu zeigen, daß seine Annahme einer intellek*
275] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 687
135. Die erkenntnis theoretische Fragestellung, durch die
dieses Vorurteil zuletzt veranlaßt ist, tritt bei Fichte klar zu
Tage. Auf sie wollen wir noch etwas naher eingehen. Sie zeigt
sich gleich zu Anfang in seiner Formulierung der Aufgabe der
Wissenschaftslehre :
tuellen Anschaumig mit der Kantischen Verwerfung dieser Annahme dorchaos im
Einklang stehe, and um so die Behauptung der Identität seiner Philosophie mit
der Kantischen aufrechterhalten zu können, ist durchaus sophistisch. Er be-
hauptet, daß „in beiden Systemen mit demselben Worte ganz Terschiedene Be-
griffe ausgedrückt werden**:
„In der Kantischen Terminologie geht alle Anschauung auf ein Sein;
intellektuelle Anschauung wäre sonach das unmittelbare Bewußtsein . . . des
Dinges an sich. . • Die intellektuelle Anschauung, von welcher die Wissen-
schaftslehre redet, geht gar nicht auf ein Sein, sondern auf ein Handeln.**
(S. 471 f.)
Woraus folgt denn aber, daß das „Handeln** nicht auch ein „Sein** im
Kantischen Sinne sein kann? Wenn Fichte freilich die Worte „Sein** und „Ding**
willkürlich auf die Bedeutung eines ät^eren Seins und eines äußeren Dinges
einschränkt, so geht die von ihm behauptete intellektuelle Anschauung allerdings
nicht auf ein Sein und auf Dinge. Dadurch hört diese intellektuelle Anschauung
aber nicht auf, unter den Ton Kant mit demselben Ausdruck bezeichneten Begriff
zu fallen. Kant sagt:
„Das Bewiißtsein seiner Selbst (Apperzeption) ist die einfache Vorstellung
des Ich, und, wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im Subjekt selbst-
tätig gegeben wäre, so würde die innere Anschauung intellektuell sein.**
(Allgemeine Anmerkungen zur transzendentalen Ästhetik, ü.)
Gerade dies aber, daß durch die einfache Vorstellung des Ich allein aUes
Mannigfaltige im Subjekt selbsttätig gegeben werde, gerade dies ist es, was
Fichte behauptet. Er sagt z. B.:
„Welches ist denn der Inhalt der Wissenschaftslehre in zwei Worten?
Dieser: die Vernunft ist absolut selbständig. Alles sonach, was sie ist, muß
in ihr selbst begründet sein und nur aus ihr selbst . . . erklärt werden.** (S. 474.)
Die Wissenschaftslehre giebt „eine systematische Ableitung des gesamten Be-
wußtseins vom reinen Ich.** Nur was der Philosoph „so als Bewußtsein ab-
gdeitet hat, ist für ihn Bewußtsein, und alles übrige ist und bleibt nichts.
Sonach bestimmt ihm die Ableitbarkeit vom Selbstbewußtsein den Umfang
dessen, was ihm als Bewußtsein gilt.** (S. 477.)
44*
ggg L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [276
„Die Frage, die die Wissenschaftslehre zu beantworten hat,
ist folgende: woher das System der vom Gefühle der Notwen-
digkeit begleiteten Yorstellongen? oder: wie kommen wir daza,
dem, was doch nor subjektiv ist, objektive Gültigkeit beizu-
messen? . . . Wie kommen wir dazu, ein Sein anzunehmen?^
„Sie fragt nach dem Grunde des Prädikats vom Sein überhaupt.^ ^
Eine Fragestellung, der offenbar die fehler];Lafte psychologische
Annahme zu Grunde liegt, als seien uns unmittelbar nur unsere
eigenen Vorstellungen gegeben, zu denen die Objektivität erst
mittelbar durch die Reflexion hinzugebracht werde.^ Und nichts
als ein weiterer psychologischer Fehler ist die Weise, in der
Fichte das gestellte Problem aus einer Betrachtung des Verhält-
nisses der Erkenntnis zum Gegenstande in der Selbsterkenntnis
zu lösen unternimmt. In der Selbsterkenntnis nämlich soll die
dem Problem zu Grunde liegende Schwierigkeit wegfallen, da, wie
er meint, hier Identität zwischen Erkenntnis und Gegenstand
bestehe :
Wer sich selbst denkt, „wird dieses Handeln hoffentlich
von dem entgegengesetzten j wodurch er Objekte außer sich denkt,
unterscheiden können und finden, daß in dem letzteren das
Denkende und das Gedachte entgegengesetzt sein, sonach seine
Tätigkeit auf etwas von ihm selbst verschiedenes gehen soll,
da hingegen in dem Geforderten das Denken und das Gedachte
dasselbe sein, und sonach seine Tätigkeit in sich selbst zurück-
gehen soll."'
Allerdings sind in der Selbsterkenntnis Subjekt und Objekt,
Denkendes und Gedachtes, identisch; der Akt des Denkens aber
ist von dem Gedachten (die Erkenntnis von ihrem Objekt) ebenso
1 S. 455 f. ' Man vgl. das ZiUt zu Anfang des § 131. > S. 462.
277] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 689
verschieden wie im Falle einer äußeren Erkenntnis. Einzig and
allein durch die Verwechslung des Verhältnisses des DenJcenden
zum Gedachten mit dem Verhältnis des Denkens zum Gedachten
entsteht für Fichte der Schein, als sei das Verhältnis der Erkennt-
nis zum Gegenstande im Falle der Selbsterkenntnis ein anderes
und begreiflicheres als in irgend einem anderen Falle,^
136. Diese Verwechslung ist zugleich der Grund der schon
erörterten Identifizierung des Verhältnisses der Erkenntnis znm
Gegenstande mit dem Verhältnis der Intelligenz zur Materie oder
des Ich zum Nicht-Ich. Das Ich kann Gegenstand der Erkenntnis
werden so gut wie jedes Außending, und es ist daher unrichtig,
wenn Fichte behauptet, daß wenn von allen Gegenständen der
Erkenntnis abstrahiert werde, das Ich als ein „Nicht-Objekt**
übrig bleibe.' Diese Fichtesche Behauptung selbst macht ja das
Ich zu ihrem Gegenstande und widerlegt sich daher selbst.'
Dieser Fehler äußert sich schon darin, daß Fichte seine er-
kenntnistheoretische Fragestellung, ohne den Unterschied zu be-
merken, bald auf das Verhältnis der Vorstellung zu ihrem Objekt,
^ Die hier von Fichte begangene Verwechslung ist dieselbe, die wir (§ 84)
bei RiCKEBT gefunden haben. Während aber Fichte aus der Identität des
Denkenden und Gedachten in der Selbsterkenntnis auf die Identität von Erkennt-
nis und Qegenatand schließt, macht Rickert den entgegengesetzten Fehlschluß,
indem er aus der Verschiedenheit von Erkenntnis und Gegenstand auf die Un-
möglichkeit der Selbsterkenntnis schließt
' „Das, was nach dieser Abstraktion übrig bleibt, ist das Ich überhaupt,
d. h. das Nicht-Objekt. ** „Wenn gesagt wird: ich bin das Denkende in diesem
Denken ; setze ich mich ' dann etwa nur anderen Personen außer mir entgegen ;
setze ich mich nicht vielmehr allem Gedachten entgegen? . . . Indem ich mich als
das Vorstellende vom Vorgestellten unterscheide, unterscheide ich mich dann bloß
von anderen Personen, oder unterscheide ich mich von allem Vorgestelltem, als
solchem? (S. 502 f.)
> Die Behauptuhg enthält einen introjizierten Widersprach.
690 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [278
bald auf das Verhältnis des Ich zu den „Dingen außer ons^ be-
zieht. Man vergleiche z. B. mit den schon zitierten Stellen die
folgende :
„Meines Erachtens ist die Frage, welche die Philosophie za
beantworten hat, folgende: wie hangen unsere Vorstellungen
mit ihren Objekten zusammen? ... In jeder Wissenschaft wird
vorausgesetzt, daß unseren Vorstellungen Dinge außer uns ent-
sprechen; und diese Voraussetzung ist die Bedingung der Mög-
lichkeit aller Wissenschaft: die Philosophie soll diese Voraus-
setzung erhärten; durch sie sonach wird unser Vorstellen erst ein
Wissen.^ „Welches ist der Grund unserer Behauptung, daß
unseren Vorstellungen etwas außer uns entspreche ? Diese Auf-
gabe, die eigentliche Aufgabe aller Philosophie, nimmt die
Wissenschaftslehre auf."* „Dos Ding soll etwas sein außer mir
dem Wissenden. Ich bin das Wissende selbst, Eins mit dem
Wissenden. — Es entsteht über das Bewußtsein des erstem die
Frage: wie kann, da das Ding nicht von sich weiß, ein Wissen
vom Dinge entstehen; wie kann, da ich nicht selbst das Ding
bin, noch irgend eine seiner Bestimmungen, da alle diese Be-
stimmungen desselben lediglich in den Umkreis seines eigenen
Seins fallen, keineswegs aber in den des meinigen, ein Bewußt-
sein des Dinges in mir entstehen? Wie kommt das Ding herein
in mich? Welches ist das Band zwischen dem Subjekte, Mir,
und dem Objekte meines Wissens, dem Dinge? Diese Frage
findet in Absicht meiner nicht statt. Ich habe das Wissen in
mir selbst, denn ich bin Intelligenz. . . Es bedarf hier keines
Bandes zwischen Subjekt und Objekt; ... ich bin Subjekt und
Objekt.««
» II, S. 435. « U, S. 440. » ü, S. 226.
279] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 691
137. Wie lost nnn Fichte das gestellte Problem? Diese
Losung liegt in dem Satze:
„Das Bewußtsein des Gegenstandes ist nur ein nicht dafür
erkanntes Bewußtsein meiner Ereeugung einer Vorstellung vom
Gegenstände.*^ ^
Der Begriindang dieses Satzes wollen wir noch etwas genauer
nachgehen. Wir finden sie am deutlichsten dargestellt im „zweiten
Buche" der „Bestimmung des Menschen". Die für diese Begrün-
dung wesentlichen Sätze sind die folgenden:
(1) „Du hast ein Bewußtsein deines Sehens, Fühlens u. s. w.
und dadurch nimmst du den Gegenstand wahr."
(2) „Konntest du ihn nicht wahrnehmen auch ohne dieses
Bewußtsein? — Keinesweges • , . du weißt etwas, nur in wiefern
du weißt — daß du dieses etwas weißt: — es kann in dem
letzteren nichts vorkommen, was nicht in dem erster en liegt."*
(3) „Ich fühle mich affiziert auf diejenige Weise, die ich
rot, blau, glatt, rauh, nenne ; du solltest . . . nicht für Eigen-
schaften des Gegenstandes ausgeben, was doch nur deine eigene
Modifikation ist." „Ich empfinde sonach nur mich selbst, und
meinen Zustand, nicht aber den Zustand des Gegenstandes."
(4) „Wenn es ein Bewußtsein des Gegenstandes giebt, so
ist dasselbe wenigstens nicht Empfindung, oder Wahrnehmung;
so viel ist klar." •
(5) „Fassen wir daher gleich diese Frage . . . : wie magst
du überhaupt dazu kommen, mit deinem Bewußtsein, das doch
unmittelbar nur Bewußtsein deiner selbst ist, aus dir heraus-
zugehen, und zu der Empfindung, die du wahrnimmst, ein Em-
1 II, S. 221. » n, S. 201, » n, 8.204.
692 L. Nelson: Über da« sogenannte Erkenntnisproblem.
pfandenes und Empfindbares hinzuzusetzen, das du nicht wahr-
nimmst?"
(6) „Ich bin affiziert, dies weiß ich schlechthin : diese meine
Affektion muß einen Grand haben: in mir liegt dieser Grund
nicht) sonach außer mir. So schließe ich schnell, xmd mir un-
bewußt; und setze einen solchen Grund, den Gegenstand.^ ^
(7) „Aber woher die Notwendigkeit und Allgemeinheit, mit
der du deine Sätze, so wie hier den Satz vom Grunde, aus-
sagst ?** „Alles Zufallige, dergleichen hier meine Affektion war,
hat einen Grund, heißt: ich habe von jeJier einen Grund hinzu-
gedacht^ xmd jeder, der nur denken wird, wird gleichfalls genötigt
sein, einen Grund hinzuzudenken,^
(8) „Du siehst sonach ein, daß alles Wissen lediglich ein
Wissen von dir selbst, . . • und daß dasjenige, was du für ein
Bewußtsein des Gegenstandes hältst, nichts ist als ein Bewußt-
sein deines Setzens eines Gegenstandes.^* —
Satz (1) ist zweideutig, indem das Wort „dadurch" sowohl
auf „Bewußtsein", als auch auf „Sehen, Fühlen u. s. w." bezogen
werden kann. In der Tat nehme ich den Gegenstand wahr, indem
ich ihn sehe, fühle u. s. w., nicht aber durch das Bewußtsein um
das Sehen, Fühlen u. s. w.
Satz (2) schließt den bereits in § 131 widerlegten Fehler ein.
Wenn ich etwas nur weiß, inwiefern ich weiß, daß ich dieses etwas
weiß, so kann ich auch das Wissen, daß ich dieses etwas weiß,
nur haben, inwiefern ich weiß, daß ich weiß, daß ich dieses etwas
weiß, und so fort; so daß ich überhaupt zu keinem Wissen ge-
langen könnte, weil diese Reihe kein Ende hat.
Satz (3) widerspricht der Selbstbeobachtung. Ich fühle nicht
» U, S. 212. « 8. S. 221 f.
281] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 693
mich rot; blaa, glatt oder ranh, sondern den Gegenstand dranßen.
Mich selbst fühle ich dabei entweder gar nicht, oder aber, im
Falle, daß ich das Bewußtsein anf mich selbst lenke, finde ich
mich dabei beteiligt lediglich als wahrnehmend, nämlich den roten,
blanen, glatten oder rauhen Gegenstand wahrnehmend, nicht aber
als „affiziert^. Hinterher, wenn ich mich als wahrnehmend ge-
funden habe, kann ich, da ich den Zustand der Wahrnehmung als
einen ohne mein Zutun eingetretenen erkenne, diesen Zustand als
einen von außen her bewirkten denken, und dadurch zum Begriffe
des Affiziert-Seins kommen. Bie bloße Wahrnehmung des Roten,
Blauen, Glatten oder Rauhen enthält von alledem nichts.^
Die Behauptung (4) beruht folglich auf ungenügender Selbst-
beobachtung.
Die in (5) ausgesprochene Frage läßt sich daher gar nicht
stellen ; denn die Voraussetzung, von der sie ausgeht, ist lediglich
Fiktion.
Satz (6) soll nun erklären, wie wir zu der Vorstellung des
Gegenstandes außer uns kommen. Diese Erklärung begeht aber
eine petitio principii, indem sie durch die Annahme, der Grund
der angeblich vorgefundenen Affektion liege „außer mir", das
Abzuleitende vorwegnimmt.
Satz (7) soll die idealistische Behauptung (8) rechtfertigen,
nach der der angeblich erschlossene Gegenstand kein Ding an sich
ist. Dieser Zweck wird aber nicht erreicht. Denn etittoeder ich
(und ebenso „jeder" andere)* bin wirklich genötigt, den Grund
der Affektion zu denken : dann denke ich (und jeder andere) diesen
» Vgl. § 75.
' Woher weiß dies Fichte, wenn er nur den Zustand seines eigenen Be-
wußtseins wahrnehmen kann ? Wir haben hier wieder einen introjizierten Wider-
sprach vor uns.
694 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
Grund tatsächlich^ und denke nicht etwa nnr, ich sei genötigt^
diesen Grund zu denken. Das in (6) beschriebene Denkverfahren
läßt sich also auch von dem Philosophen nicht umgehen, und dieser
wird wohl oder übel das Dasein Jlußerer Gegenstände denken
müssen und sich nicht über die Annahme des verhaßten Dinges
an sich erheben können. — Oder aber der Satz in (6) „Diese meine
AflFektion muß einen Grund haben" j^heißt^ wirklich nichts anderes
als „Ich habe von jeher einen Grund hinzugedacht u. s. w.", ich
denke also, indem ich jenen Satz denke, wirklich nnr das in diesem
Ausgesagte: dann führt der in (6) beschriebene Prozeß nicht zn
dem Resultat des „Setzens^ eines Gegenstandes außer mir. Dieser
Denkprozeß würde vielmehr folgendermaßen ausfallen: „Ich bin
affiziert, dies weiß ich schlechthin. Ich habe von jeher einen
Grund zu meinen Affektionen hinzugedacht und habe schnell und
unbewußt geschlossen, daß diesen Affektionen ein Gegenstand
außer mir entspreche. Jetzt, wo ich einsehe, daß ich nur vor-
schnell so geschlossen habe, — wo ich weiß, daß mein Bewußtsein
des Gegenstandes nur ein nicht dafür erkanntes Bewußtsein meiner
Erzeugung einer Vorstellung vom Gegenstande war, werde ich
nicht mehr für Eigenschaften des Gegenstandes halten, was doch
nur meine eigene Modifikation ist. Ich weiß also schlechthin: ich
bin affiziert, aber diese Affektion hat ihren Grund nicid in einem
Gegenstande außer mir." ^
^ Man vergleiche hierzu die folgende Stelle aus der „Zweiten Einleitung in
die Wissenschaftslehre"* (S. 491):
„Es ist ohne Zweifel unmittelbares Faktum des Bewußtseins : ich fühle
mich so und so bestimmt. Wenn nun die oft belobten Philosophen dieses Gte-
fühl erklären wollen, sehen sie denn nicht ein, daß sie dann etwas daran
hängen wollen, das nicht unmittelbar im Fakto liegt; und wie können sie dies,
ohne durch Denken, und zwar durch Denken nach einer Kategorie; hier nach
dem Satze des Bealgrundes? Wenn sie nun nicht etwa eine unmittelbare
2831 Dritter Teil: Die Geschichte der ErkenDtnistheorie. 695
138. Die Nichtigkeit der idealistischen Losung des erkenntnis-
iheoretischen Problems läßt sich übrigens ganz allgemein durch
eine höchst einfache Betrachtung einsehen. Unter dem »reinen
Ich^^y als dessen Erzeugnis das Seih gelten soll, dürfen wir nach
Fichte nicht das persönliche Ich des Individuums verstehen. Ganz
natürlich, denn die sonst unvermeidliche psychologistische Kon-
sequenz mit ihren solipsistischen Absurditäten liegt offen zu Tage.
Auch der Gedanke der „Persönlichkeit**, auch der Gedanke
.Meines Seins** entsteht also nach dieser Lehre auf keinem anderen
Anschauung des Dinges an sich und seiner Verhältnisse haben, was wissen sie
denn über diesen Satz anderes, als daß sie genötigt sind, nach ihm zu denken?
Sie sagen sonach nichts weiter aus, als daß sie genötigt sind, ein Ding als
Grund hinzuzudenken. . . Ihr Ding ist durch ihr Denken hervorgebracht . ."
Ist denn das „Tun" und „Handeln** des Ich nicht etwas durch Kategorieen
Gedachtes ? Steht sonach Fichtes Erklärung der Yom Gefühle der Notwendigkeit
begleiteten Vorstellungen aus dem Handeln des Ich nicht ganz auf einer Stufe
mit der von ihm verspotteten Annahme des Dinges an sich ? Dann kann auch er
seine Erklärung nicht für wahr halten, sondern er dürfte nur sagen, er sei ge-
nötigt, sie für wahr zu halten. Vielmehr nicht einmal dies, sondern er müßte
sagen, er sei nur genötigt^ zu denken, er sei genötigt, so zu denken. Und so fort
ohne Ende, so daß überhaupt keine Aussage zulässig wäre. (Fichtes Behauptung
enthält den in § 82 erörterten introjizierten Widerspruch.)
Wenn Fichte Einwänden dieser Art dadurch zu entgehen hofft, daß er sein
Ich als ein bloßes Tun ohne Tuendes, als ein Handeln ohne Handelndes erklärt,
so übersieht er, daß diese Erklärung nicht, wie er will, ein Denken des Ich ohne
Kategorieen ist, sondern der widersinnige Versuch, das Ich nach einer Kategorie
zu denken, die in eben diesem Gedanken aufgehoben gedacht werden soll Ein
Versuch, der sich wohl in Worte fassen und hinschreiben, bei dem sich aber
schlechterdings nichts denken läßt. Der Begriff des Tuns enthält die Kategorie
des Accidcns, und diese Kategorie gehört dem Moment der BeUUion an und
schließt analytisch die Beziehung auf ein Subjekt ein. Entweder also man be-
stimmt das Ich überhaupt nicht durch Kategorieen, dann ist man gezwungen, bei
der bloßen Anschauung stehen zu bleiben; oder aber man denkt es durch den
Begriff des „Tuns**, dann hat man es eo ipso durch einen Belationsbegriff als
„Tätiges ** bestimmt: man täuscht sich also mit Worten, wenn man nach Auf-
hebung dieser Relation noch einen Gedanken übrig zu behalten glaubt
696 L. Nelson: Über dM sogenannte Erkenntnisproblem. [284
Wege als der einer äußeren Realität S nnd es folgt, daß „der Zu-
sammenhang dieses Außer-nns mit uns selbst nur ein Zusammenliang
in unseren Gedanken ist". * Im Gesamtgebiete des durch das
,,reine Ich'' erzeugten „Seins'' haben wir sonach gewisse „denkende
Wesen"' von gewissen nicht-denkenden Wesen oder „Dingen" zu
unterscheiden.^ Nicht von diesen selbst erst durch das Denken
des reinen Ich erzeugten individuellen denkenden Wesen hängen
sonach die äußeren „Dinge" ab, sondern allein von jenem nicht-
individuellen „reinen" Ich. — Macht man sich dies klar, so ist
ohne weiteres ersichtlich, daß das ursprüngliche Problem, das zur
Aufstellung dieser idealistischen Lehre Anlaß gegeben hatte und
durch sie gelost werden sollte, sich nunmehr in anderer Form
von neuem erhebt. Es erhebt sich nämlich die Frage: Wie
hängen die Vorstellungen des durch das reine Ich erzeugten
„denkenden Wesens" mit ihren Objekten, den außer ihnen
befindlichen Dingen, zusammen? Das Ding soll etwas sein außer
dem Vorstellenden; es entsteht über das Bewußtsein des ersteren
die Frage: wie kann, da das Ding nicht von sich weiß, ein
Wissen vom Dinge in dem vorstellenden Wesen entstehen; wie
kann, da das vorstellende Wesen nicht selbst das vorgestellte
Ding ist noch irgend eine seiner Bestimmungen, ein Bewußtsein
des Dinges in dem vorstellenden Wesen entstehen? wie kommt
das Ding in das vorstellende Wesen herein?* — Die Schwierigkeit
ist hier dieselbe wie im Falle der ursprünglichen Problem-
stellung.
1 II, S. 244 f, « n, S. 238. » D, S. 243.
* „Jenes denkende, geistige Wesen, jene IntelUgenz, . . . was kann sie selbst
nach diesen Grundsätzen sein, als ein Produkt meines Denkens, etwas bloß und
lediglich Erdachtes.** (U, S. 242.)
■ Vgl. die in § 136 zitierte Formulierung des Fichteschen Problems.
286] Dritter Teil: Die Gesciüchte der Erkenntnistheorie. 697
Nach der Schlnßweise des erkenntnistheoretischen Idealismus
ließe sich dies „Problem" nicht anders lösen als dnrch den Satz, daß
das Bewußtsein des vom vorstellenden Wesen vorgestellten Dinges
nur ein nicht dafür erkanntes Bewußtsein der Ereeugung einer
Vorstellung vom Dinge ist.^ Der Zusammenhang des vorgestellten
Dinges mit dem vorstellenden Wesen erwiese sich also als ein
Zusammenhang innerhalb der Gedanken des vorstellenden Wesens ;
und wir hätten wieder im Gesamtgebiete des durch das denkende
Wesen Erzeugten denkende Wesen höherer Ordnung und nicht-
denkende Dinge höherer Ordnung zu unterscheiden.
Diese Lösung unseres Problems aber giebt sofort wieder
Anlaß zu dem weiteren Problem: Wie hangen die Vorstellungen
des durch das denkende Wesen erzeugten denkenden Wesens
höherer Ordnung mit ihren Objekten, den außer ihnen befindlichen
Dingen höherer Ordnung, zusammen? Wie kann, da das Ding
höherer Ordnung nicht von sich weiß, ein Wissen von diesem
Dinge in dem vorstellenden Wesen höherer Ordnung entstehen?
Wie kommt das Ding höherer Ordnung in das vorstellende Wesen
höherer Ordnung herein?
Man sieht, daß die Lösung dieses Problems auf die Annahme
eines durch das denkende Wesen höherer Ordnung erzeugten
denkenden Wesens dritter Ordnung führt, dessen Verhältnis zu den
von ihm verschiedenen Dingen wieder dasselbe Problem einschließt.
Und so muß jede „Lösung" eines derartigen „Problems" zu der
Erneuerung desselben Problems in dem durch die Lösung definierten
Gebiete höherer Ordnung Anlaß geben. Es ist nicht nötig, diese
Reihe von ;,Lösungen" hier weiter zu verfolgen. Jede dieser
Lösungen giebt uns das zu lösende Problem rein zurück, und es
Vgl. FiCHT£s Lösung § 137.
700 I^* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [288
begleiteten Vorstellungen bezeichnet. Um nnn die gestellte Auf-
gabe zu losen, wird festgesetzt, daß das System der vom G-efüble
der Notwendigkeit begleiteten Vorstellungen „Erfahrung'' genannt
werden soll. Da nun offenbar der Grund außerhalb des Begründeten
liegt, so ist nichts weiter notig, als der durch Definition fest-
gesetzten Bedeutung des Wortes „Erfahrung'' die von ihr gänzlich
verschiedene sprachübliche Bedeutung zu substituieren, um den
gesuchten Satz zu erhalten, daß dem Objekt der Philosophie
Apriorität zukomme.
Oder es sei der idealistische Satz zu beweisen, daß es keine
Dinge an sich geben könne. Zu diesem Beweise genügt die Vor-
aussetzung, daß ein Ding nur dann erkannt werden kann, wenn
eine erkennende Intelligenz vorhanden ist. Diesen keinem Zweifel
unterliegenden analytischen Satz kann man nämlich in der Form
aussprechen, daß ein Ding nur „für" eine Intelligenz dasein könne.
Nun verbindet der Sprachgebrauch mit dem Ausdruck „nur für
eine Intelligenz dasein" den Begriff der ÄbhängigJceü von einer
Intelligenz. Die Substitution dieser sprachüblichen Bedeutung des
Ausdrucks an Stelle der vorher eingeführten genügt, um ohne
weiteres aus dem vorausgesetzten Satze den zu beweisenden
hervorgehen zu lassen, daß es keine Dinge an sich geben könne.
Oder schließlich, es handle sich darum, zu beweisen, daß die
Persönlichkeit frei, d. h. nicht von der Natur abhängig ist. Nun
war vorher der Satz abgeleitet worden, daß die Natur kein Ding
an sich, sondern ein bloßes Produkt der Intelligenz ist, ein Satz,
in dem der Ausdruck „Intelligenz" als etwas Nicht- Persönliches
definiert war. Da nun nach dem Sprachgebrauch derselbe Ausdruck
die Persönlichkeit bezeichnet, ist es nur erforderlich, von der fest-
gesetzten Bedeutung des Ausdrucks zu der sprachüblichen über-
zugehen, um den gewünschten Beweis zu erhalten, daß die Natur
Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 701
lediglich ein Produkt der Persönlichkeit, diese letztere also von
der Natur unabhängig oder frei ist. —
140. Ich würde mich bei diesen Wortspielen nicht aufhalten,
wenn nicht die Tatsache bestünde, daß ihnen noch heutigen-
tages von hochgeachteten Männern eine „vollendete Klarheit"^
und „eine überragende und für absehbare Zeit unvergängliche Be-
deutung^ zugeschrieben wird.' Die Bücksicht auf diese Tatsache
ließ es angezeigt erscheinen, dem Gregenstande dieses Kapitels eine
ausführlichere Behandlung zu widmen als seinem wahren Werte
angemessen wäre. Das Ergebnis unserer Prüfung rechtfertigt es,
wenn wir über diejenigen, die auf der von Fichte eingeschlagenen
Bahn weiter fortgeschritten sind, desto kürzer hinweggehen und
unsere Betrachtungen über die Greschichte des transzendentalen
Vorurteils abbrechen, auch ohne dasselbe in seine weiteren Aus-
prägungen zu verfolgen. Die Wülkürlichkeit der Dialektik, die
schon das Fichtesche Philosophieren in so hohem Maße charakteri-
siert, steigert sich bei den Nachfolgern zu solcher Schrankenlosig-
keit, daß diese ein wissenschaftliches Interesse nicht mehr bieten
und eine auf die fortschreitende Klärung der Probleme gerichtete
» W. Windelband, Geschichte der Philosophie, 2. Aufl. 1900, S. 472.
> II. RiCKERT, S. 124 des 2. Bandes der Festschrift für Kuno Fischer :
„Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts''.
In der Tat heraht z. B. Bickerts vielbewunderte Widerlegung des Natura-
lismus ausschließlich auf einer Wiederholung des zuletzt dargelegten Fichteschen
Sophismas. Man vergleiche z. B. die eben genannte Schrift oder auch seine
„Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung''. Hier heißt es S. 681:
„uns Individuen muß jedes Naturgesetz als etwas von uns schlechthin Unab-
hängiges erscheinen, das so wenig in seiner Geltung an uns gebunden ist, daß
wir vielmehr von ihm abhängen, und wir denken in keiner Weise daran, das
Recht dieser Überzeugung in Frage zu stellen. Im Gegenteil, diese Voraussetzung
soll die erkenntnistheoretische Deduktion begründen.** Das BesuUcU der „erkennt-
nistheoretischen Deduktion** lautet: „Unter philosophischen Gesichtspunkten ist
die ,Natnr* selbst nur ein Ergebnis menschlicher Kulturarbeit** (S. 692.)
AUudlnngMi dtr Fiiit*ic]i6B Bekvl«. IL B4. 45
702 li* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [290
Greschichtsschreibung an ihnen vorübergehen daxf.^ — Was aber
die anfänglich im Gegensatze gegen diese Dialektik erfolgte soge-
nannte Bückkehr zur Kantischen Philosophie betrifft, so läuft
dieselbe auf nichts weiter als eine Wiederholung des Keinholdschen
Mißverständnisses hinaus und schließt daher (infolge der Beibe-
haltung des erkenntnistheoretischen Vorurteils) bei einer konse-
quenten Entwickelung alle jene dialektischen Lehren in sich, von
denen sie uns zu befreien vorgiebt. Was also den angeblichen
,, Neukantianismus" von der nachkantischen Dialektik unterscheidet,
ist nichts weiter als Inkonsequenz. In der Tat hat dieser „Neu-
kantianismus" längst einer Erneuerung des schon einmal abgehan-
delten Streits zwischen Transzendentalismus und Psychologismus
Platz machen müssen, und sein Name hat heute keine andere
Bedeutung mehr, als die Unsicherheit auch des historischen Urteils
seiner Vertreter an den Tag zu legen. Diese Schule hat nichts
geleistet als längst verworfene Scheinlösungen zu erneuern und
längst erkannte Wahrheiten zu verschleiern. Sie hat keine Stelle
in der Geschichte der Elärung der Probleme, sondern nur in der
Geschichte ihrer Verdunkelung. Die durch sie eingeleitete Be-
wegung bietet nichts grundsätzlich Neues, sie gleicht vielmehr
einer Kreisbewegung, in der jeder scheinbare Fortschritt nur dazu
dient, uns wieder auf den Ausgangspunkt zurückzuführen.*
^ Ich freue mich, in diesem Punkte mit einem der enthusiastischsten Verehrer
dieser Dialektik, A. Drews, übereinzustimmen, der in der Einleitung zur Neu-
ausgabe von ScHELLiNGs Werken (Leipzig, 1908) ausführlich erklärt, daß hier an
die Stelle einer „rein yerstandesmäßigen*' Bearbeitung der Phüosophie das Ideal
getreten sei, „die Phüosophie als Kunst zu üben**.
' Man vergleiche zur» näheren Erläuterung dieses Urteüs meine „kritische
Methode*', § 27 und Anhang, sowie meine Rezension von Cohens „Logik** in den
Göttingischen gelehrten Anzeigen, 1905, Nr. 8. Da bisher noch keine Gegengründe
gegen die dort mitgeteüten ausführlichen Beweise vorgebracht worden sind, so
kann ich darauf verzichten, dieselben hier um neue zu vermehren.
Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 701
lediglich ein Produkt der Persönlichkeit, diese letztere also von
der Natur unabhängig oder frei ist. —
140. Ich würde mich bei diesen Wortspielen nicht aufhalten,
wenn nicht die Tatsache bestünde, daß ihnen noch heutigen-
tages von hochgeachteten Männern eine „vollendete Klarheit^ ^
tmd „eine überragende nnd für absehbare Zeit unvergängliche Be-
deutung" zugeschrieben wird.* Die Bücksicht auf diese Tatsache
ließ es angezeigt erscheinen, dem Gregenstande dieses Kapitels eine
ausführlichere Behandlung zu widmen als seinem wahren Werte
angemessen wäre. Das Ergebnis unserer Prüfung rechtfertigt es,
wenn wir über diejenigen, die auf der von Fichte eingeschlagenen
Bahn weiter fortgeschritten sind, desto kürzer hinweggehen und
unsere Betrachtungen über die Geschichte des transzendentalen
Vorurteils abbrechen, auch ohne dasselbe in seine weiteren Aus-
prägungen zu verfolgen. Die Willkürlichkeit der Dialektik, die
schon das Fichtesche Philosophieren in so hohem Maße charakteri-
siert, steigert sich bei den Nachfolgern zu solcher Schrankenlosig-
keit, daß diese ein wissenschaftliches Interesse nicht mehr bieten
und eine auf die fortschreitende Klärung der Probleme gerichtete
* W. Windelband, Geschichte der Phüosophie, 2. Aufl. 1900, S. 472.
> H. RiCKERT, S. 124 des 2. Bandes der Festschrift für Kuno Fischer :
„Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts''.
In der Tat beruht z. B. Rickerts vielbewunderte Widerlegung des Natura-
lismus ausschließlich auf einer Wiederholung des zuletzt dargelegten Fichteschen
Sophismas. Man vergleiche z. B. die eben genannte Schrift oder auch seine
^Grenzen der naturwissenschaftUchen Begriffsbildung**. Hier heißt es S. 681:
„uns Individuen muß jedes Naturgesetz als etwas von uns schlechthin Unab-
hängiges erscheinen, das so wenig in seiner Geltung an uns gebunden ist, daß
wir vielmehr von ihm abhängen, und wir denken in keiner Weise daran, das
Recht dieser Überzeugung in Frage zu stellen. Im Gegenteil, diese Voraussetzung
soll die erkenntnistheoretische Deduktion begründen.*' Das Resultat der „erkennt-
nistheoretischen Deduktion** lautet: „Unter philosophischen Gesichtspunkten ist
die ^atur' selbst nur ein Ergebnis menschlicher Kulturarbeit** (S. 692.)
AMndh»f«i dir Fiiit*ic]i6B Bekvl«. IL B4. 45
704 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [292
Aus dieser Anerkennung der Leerheit der Reflexion ergiebt sich
für Bkneke unmittelbar, daß, wie jede wahre Wissenschaft, so
auch die Spekulation, „weil aus nichts auch nichts werden kann",
„zuletzt aus der Erfahrung schöpfen^ müsse und „daß eine Philo-
sophie a priori, in der Form von Begriffen wie in der Form von
Anschauungen, ein leeres Phantom^ sei.^ Eine Schlußweise, die,
wie man leicht bemerkt, die Vollständigkeit der Disjunktion
zwischen Empirie und Reflexion als Erkenntnisquellen zur still-
schweigenden Voraussetzung hat.
Diese Schlußweise wiederholt sich mehrfach. So wird z. B.
in der „Logik"* ausdrücklich aus der Unmöglichkeit, einen neuen
Inhalt des Vorstellens durch bloßes Denken zu gewinnen, gefolgert,
ein solcher Lihalt müsse „in einer unmittelbaren Anschauung oder
Wahrnehmung gegeben sein". Hier haben wir also unzweideutig
neben den beiden richtigen Voraussetzungen der Mittelbarkeit der
Reflexion und der sinnlichen Natur der Anschauung die dogma-
tische Disjunktion zwischen Reflexion und Anschauung, und als
Konsequenz aus der Vereinigung dieser dogmatischen mit jenen
beiden faktischen Prämissen den Empirismus.
Diesem Empirismus entspricht es, wenn Beneke, Reflexion und
Vernunft verwechselnd, die Annahme einer reinen Vernanft für
gleichbedeutend mit der Annahme angeborener Begriffe oder Sätze
hält. Indem er sich daher mit vollem Recht gegen diese letzte
Annahme wendet, glaubt er zugleich jene erste Annahme widerlegt
zu haben. Durch diesen Trugschluß wird Bkneke der Begründer
des Satzes, daß der Mensch keine Vernunft besitze, jenes Dogmas,
Denkens" (Berlin, Posen und Bromberg, 1832) S. XIV: „daß durch o/Zm Denken,
als solches, nur eine Zergliederung oder Aufklärung, aber durchaus kein neuer
Inhalt des Vorstellens gewonnen werden könne. **
* S. 66 f. » Logik, S. 68.
293] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnifitheorie. 705
das noch heute von den meisten Psychologen als die wichtigste
Entdeckung ihrer Wissenschaft gepriesen and als unantastbares
Heiligtum verteidigt wird.*
142. Was nun Benekes methodische Verbesserungsvorschläge
betrifft, so lassen diese als ihren G-rand das Beinholdsche Miß-
verständnis, die Verwechslung des Inhalts der kritischen Erkennt-
nis mit ihrem Gregenstande, deutlich wiedererkennen. ),Nur unalh
hängig von der Erfahrung also konnte Kai^^t zur Erkenntnis der
reinen Anschauungsformen und der Kategorieen gelangt sein"*,
sagt Beneke mit Berufung auf Kants Behauptung des rationalen
Ursprungs aller philosophischen Erkenntnis. Offenbar verwechselt
er hier die Erkenntnis, die den Inhalt der reinen Anschauungs-
formen und Kategorieen ausmacht, mit derjenigen Erkenntnis, die
diese letzteren zum Gegenstande hat. Die erstere ist allerdings
unabhängig von der Erfahrung, nicht aber darum auch die zweite.
Nur die erstere kann im strengen Sinne philosophisch genannt
werden, die zweite gehört ausschließlich der Elritik an.'
^ „Man hat bisher fast dnrchgehends angenommeD, die metaphysischen Be-
griffe and Sätze seien in dieser oder jener Art schon ursprünglich fertig im
menschlichen Geiste gegeben. . . . Aber diese Annahme ist dorchaos unhaltbar.
Eine urspriknglich gegebene Vernunft ist in keiner Art psychologisch zu recht-
fertigen. Die Vernunft ist überall nicht am Anfange, sondern am Ende: sie ist
die Gesamtheit der höchsten normal entioickellen psychischen GebildCy oder eigent-
lich das Ideal derselben, zu welchem die geistige Entwickelung hinstrebt, ohne
doch dasselbe jemals zu erreichen. ** („Systeih der Metaphysik und Religions-
phüosophie'', Berlin 1840, S. 28 f.)
„Qegen Kant haben wir schon früher bemerkt, daB der ganze angeborene
Verstand mit seinen Kategorieen ein bloß Erdichtetes ist. ursprünglich hat der
Mensch gar keinen Verstand." (Ebenda, S. 282.)
Vgl. über die Nicht-Existenz der Vernunft auch Benekes „Neue Psychologie**
(Berlin, Posen und Bromberg, 1845) S. 248 f.
3 „Kant und die philosophische Aufgabe unserer Zeit**, S. 80.
> Besonders deutlich kommt diese Verwechslung von Inhalt und Gegenstand
706 ^* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [294
Auf Grund dieser Yerwechslong mnßte Beneke, da er als die
Quelle der Kritik die innere Erfahrung erkannte, einen Wider-
spruch in dem Kantischen Unternehmen finden, Erkenntnisse a priori
durch Kritik zu begründen. So referiert er über Kants Kritik:
„Die philosophischen Prinzipien sollen rein a priori gefunden werden,
und doch stützt sich die Deduktion der Kategorieen auf die . . .
Erfahrung . . ."^ Der Ausdruck „Die philosophischen Prinzipien
sollen rein a priori gefunden werden** enthält die dem Beinhold-
sehen Mißverständnis zu Grunde liegende Zweideutigkeit, indem
er sowohl die richtige Behauptung der Apriorität der philosophischen
Erkenntnis selbst ausdrücken kann als auch die falsche Behauptung
der Apriorität derjenigen Erkenntnis, deren Gegenstand die philo-
sophische Erkenntnis ist. Indem Beneke infolge der Verwechslung
dieser beiden Bedeutungen des Ausdrucks den Versuch einer empi-
rischen Begründung rationaler Erkenntnisse widersprechend findet,
schließt er folgerichtig aus dem Umstände, daß die Begründung
der philosophischen Erkenntnis der inneren Erfahrung angehört,
auf den falschen Satz, daß die philosophische Erkenntnis selbst
eine Erkenntnis aus innerer Erfahrung sei.^ Das diesem Schlüsse
zu Grunde liegende Vorurteil liegt klar zu Tage: es ist das Vor-
an der folgenden Stelle der „Neuen Psychologie'' (S. 91 f) zum Aosdmck:
«Der metaphysische Begriff ist ja auch Phänomen für die Seelenlehre. . .
Welchen metaphysischen Begriff man uns auch entgegenbringen mag; immer
stellen wir die Frage, ob nicht derselbe ein psychickta Phänomen sei Ganz
dasselbe macht sich denn auch in Hinsicht aUer iihfigen philosophischen Wissen-
schaften geltend: die Psychologie ist eben so Grundwissenschaft für die Logik,
die Moral, die Rechtsphilosophie, die Religionsphilosophie a. s. w. : aus dem ein-
fachen Grande, weil auch die Gegenstände aller dieser in der menschlichen Seele
sich finden und erzengt werden, and also auch nicht anders, als nach deren
Entwickelungsgesetzen, tiefer erfaßt und begriffen werden können. '^
^ „Kamt und die philosophische Aufgabe unserer Zeit**, S. 65.
' „Die Metaphysik darf keine andere Grundlage erhalten als die innere
Erfahrung, Die philosophische Spekulation muß ganz und gar ausgetrieben
295] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 707
urteil, daß die kritische Begründung der plulosophischen Erkennt-
nis den Grund dieser Erkenntnis entliaUe.^
Und 80 glaubt denn Bekeke mit dieser empiristischen Kon-
sequenz aus seiner psychologistischen Interpretation der Kant-
ischen Kritik* nur den „Kantianismos in seiner vollen Reinheit^
herausgestellt zu haben: „die wahre Kantisclie Lehre **, „KA^'TS
Lehre, nicht seinem Buchstaben nach, sondern seinem Geiste nach^.'
werden, wo es wahre Wissenschaft gilt . . . Gewiß wird zuletzt die jetzt unter-
drückte J^a^ru9}^^hilosophie den Sieg davon tragen . . . Die Psychologie ist
zum Mittelpunkte zu machen für die gesamte Philosophie. ** (S. 88f.) „Die ge-
samte Philosophie ist also nichts anderes als eine angewandte Psychologie . . •
Die einzig gültige Methode der Philosophie ... ist ihre Begründung auf Erfah-
rung.*' (S. 91.) „Das ist es ehen, was wir wollen, daß die Philosophie ebenfalls
J^o^run^^wissenschaft werde: nicht Wissenschaft der äußeren Erfahrung . . .,
sondern Wissenschaft der inneren Erfahrung." (S. 98.) — VgL Benekes „Neue
Psychologie** S. 94 : „Die Logik ... ist eine angewandte Psychologie,*^
^ Man vergleiche über diesen „höchst verhängnisvollen Selbstwiderspruch**
Kants auch Benekes „System der Metaphysik** S. 20 ff.:
„Ohne Zweifel kommt es auch für diese [die Kritik der Vernunft] auf
tatsächliche Wahrheiten an. Die Grundkräfte des Geistes, die Grenzen und
Quellen der menschlichen Erkenntnis sollen nicht, wie sie unter diesen oder
jenen Voraussetzungen gedacht werden könnten, sondern wie sie wirklich sind,
dargestellt werden; und so hätte also Kant, wenn er hätte konsequent bleiben
wollen, seine Aufgabe nur auf der Grundlage der inneren Erfahrung, oder
durch die empirische Psychologie ausführen können. Aber im Widerspruche
hiemit hält er auf der anderen Seite eben so fest an der zu seiner Zeit fast
allgemein verbreiteten Ansicht, daß die Philosophie die ,Vemunfterkenntnis aus
Begriffen* sei Dieselbe soll also in keiner Art auf Anschauungen oder auf
Erfahrungen begründet werden dürfen: auf innere eben so wenig als auf
äußere/* „Die Kritik der Vernunft also, welche die tiefste Grundlage auch
für die metaphysische Erkenntnis bildet, soll lediglich ,au8 Begriffen* abgeleitet
werden. Aber wie sind wir denn im Stande, der Existenz des in ihr Behaup-
teten gewiß zu werden?**
' Gerade wie Fichte mit der entgegengesetzten rationalistischen Konsequenz
des transzendentalen Vorurteils.
' S. 89. — „Kants Philosophie war, ihrem tiefsten Grunde nach, ein kräf-
tiger Anlauf hiezu.** (Ebenda.) — „Wir müssen also, im Gegensatze mit Kants
708 L* Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [296
143. Eine ausführliche, von historischen Betrachtungen un-
abhängige Darstellung seiner Erkenntnistheorie giebt Beneke in
der Schrift „Erkenntnislehre nach dem Bewußtsein der reinen
Vernunft".^ Er geht hier von einer allgemeinen Untersuchung
des Urteils aus, als deren Ergebnis er den Satz gewinnt, das
Urteil sei eine Gleichsetzung gleicher Geistestätiglieiten. Sein Aus-
gangsbeispiel ist das Urteil „Diese Lilie ist weiß"; die wesent-
lichen Sätze seiner Argumentation sind folgende:
(1) „Zuerst: Was ist das Subjekt des vorliegenden Urteils?
Wir antworten : eine völlig einzelne Anschauung , . . wie ich,
, als Urteilender, sie in diesem Augenblicke in mir trage. "^
(2) „Was ist femer das Prädilcat des Urteils? Offenbar
auch eine Anschauung . . . Das Wort ,weiß* bedeutet eine be-
stimmte Art der anschauenden Tätigkeit des menschlichen Greistes,
und ich sage im Grunde durch das Urteil ,diese Lilie ist weiß'
nichts weiter aus, als: indem ich die Anschauung dieser Lilie
in mir habe, ist mit und in ihr die Anschauung weiß in mir."'
(3) „Diese beiden Tätigkeiten setze ich nun zwar nicht
völlig, aber doch zum Teil, nämlich insofern gleich, als die eine
in der anderen enthalten ist, xmd dies sage ich in dem Urteile
ans: diese Lilie ist weiß.^^
Li diesen Sätzen kommen mehrere Fehler der Selbstbeobach-
tung vor. Das Subjekt des fraglichen Urteils ist eine gewisse
weiße Lilie. Da aber offenbar, wenn man nicht Lihalt und Gregen-
stand der Erkenntnis vermengen will, die Tätigkeit meines An-
eigener Ausführung, an der Grundtendenz der Kantischen Kritik festhalten.**
(Metaphysik, S. 22.)
> Jena, 1820. » S. 10. » S. 11. * S. 12.
297] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 709
schauens der weißen Lilie nicht selbst als eine weiße Lilie zu
betrachten ist, so folgt, daß Satz (1) falsch ist.
Ebenso werden in Satz (2) Lihalt und Gegenstand verwechselt.
Das Wort „weiß" bedeutet eine bestimmte Farbe und nicht eine
anschauende Tätigkeit des menschlichen Geistes. — Wenn ich
femer eine weiße Lilie anschaue, so sind in mir durchaus nicht
zwei zu vergleichende Geistestätigkeiten: eine Anschauung der
Lilie und eine Anschauung des Weiß, sondern eine ungeteilte An-
schauung der weißen Lilie. Am Gegenstande kann ich wohl unter-
scheiden und vergleichen: die weiße Farbe und das übrige der
Lilie Zukommende, nämlich ihre Gestalt, Größe u. s. w. ; aber
diesen verschiedenen Bestandtdlen des Gegenstandes entsprechen
nicht etwa ebenso viele anschauende Tätigkeiten in mir. Wenn ich
z. B. eine anders gefärbte Lilie anschaue, so habe ich nicht neben
einer der früheren gleichen Anschauung der lAlie eine von der
früheren verschiedene Anschauung der Farbe, sondern ich habe
eine einzige, von der früheren verschiedene Anschauung eines
Gegenstandes, unter dessen Bestandteilen ich allerdings die mit
den entsprechenden des früher angeschauten Gegenstandes iden-
tischen von den mit den früher angeschauten nicht-identischen
unterscheiden kann. Lidem ich aber eine derartige Unterscheidung
und Vergleichung der Bestandteile des Gegenstandes vornehme,
höre ich bereits auf, ihn lediglich anzuschaffen. Eine solche
Unterscheidung und Vergleichung setzt Abstraktion voraus und
gehört lediglich der Reflexion an. Durch Abstraktion gelange ich
zur Unterscheidung der weißen Farbe von den übrigen Eigen-
schaften der Lüie, und ich kann dann, nach Vollziehung dieser
Abstraktion, eine Vergleichung der durch die Abstraktion ge-
wonnenen Begriffe vornehmen. Aber eine Vergleichung der Be-
griffe ist bei weitem noch kein Urteil. Das ßesoltat der Ver-
708 L* Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [296
143. Eine ausführliche, von historischen Betrachtungen un-
abhängige Darstellung seiner Erkenntnistheorie giebt Benkee in
der Schrift , Erkenntnislehre nach dem Bewußtsein der reinen
Vernunft".* Er geht hier von einer allgemeinen Untersuchung
des Urteils aus, als deren Ergebnis er den Satz gewinnt, das
Urteil sei eine Gleichsetzung gleicher Geistestätigheiten. Sein Aus-
gangsbeispiel ist das Urteil ^ Diese Lilie ist weiß"; die wesent-
lichen Sätze seiner Argumentation sind folgende:
(1) „Zuerst: Was ist das Subjekt des vorliegenden Urteils?
Wir antworten : eine völlig einzelne Anschauung . . . wie ich,
. als Urteilender, sie in diesem Augenblicke in mir trage. "^
(2) „Was ist femer das Prädilcat des Urteils? Offenbar
auch eine Anschauung . . . Das Wort ,weiß* bedeutet eine be-
stimmte Art der anschauenden Tätigkeit des menschlichen Greistes,
und ich sage im Grunde dnrch das Urteil ,diese Lilie ist weiß'
nichts weiter aus, als: indem ich die Anschauung dieser Lilie
in mir habe, ist mit und in ihr die Anschauung weiß in mir."'
(3) „Diese beiden Tätigkeiten setze ich nun zwar nicht
völlig, aber doch zum TeU, nämlich insofern gleich, als die eine
in der anderen enthalten ist, und dies sage ich in dem Urteile
aus: diese Lilie ist weiß."*
Li diesen Sätzen kommen mehrere Fehler der Selbstbeobach-
tung vor. Das Subjekt des fraglichen Urteils ist eine gewisse
weiße Lilie. Da aber offenbar, wenn man nicht Lihalt und Gegen-
stand der Erkenntnis vermengen will, die Tätigkeit meines An-
eigener Ausführung, an der Grundtendenz der Eantischen Kritik festhalten.**
(Metaphysik, S. 22.)
' Jena, 1820. » S. 10. » S. 11. * S. 12.
297] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 709
schauens der weißen Lilie nicht selbst als eine weiße Lilie za
betrachten ist, so folgt, daß Satz (1) falsch ist.
Ebenso werden in Satz (2) Inhalt und Gegenstand verwechselt.
Das Wort „weiß" bedeutet eine bestimmte Farbe und nicht eine
anschauende Tätigkeit des menschlichen Geistes. — Wenn ich
femer eine weiße Lilie anschaue, so sind in mir durchaus nicht
zwei zu vergleichende Geistestätigkeiten: eine Anschauung der
Lilie und eine Anschauung des Weiß, sondern eine ungeteilte An-
schauung der weißen Lilie. Am Gegenstande kann ich wohl unter-
scheiden und vergleichen: die weiße Farbe und das übrige der
Lilie Zukommende, nämlich ihre Gestalt, Größe u. s. w. ; aber
diesen verschiedenen Bestandtdlen des Gegenstandes entsprechen
nicht etwa ebenso viele anschauende Tätigkeiten in mir. Wenn ich
z. B. eine anders gefärbte Lilie anschaue, so habe ich nicht neben
einer der früheren gleichen Anschauung der lAlie eine von der
früheren verschiedene Anschauung der Farbe, sondern ich habe
eine einzige, von der früheren verschiedene Anschauung eines
Gegenstandes, unter dessen Bestandteilen ich allerdings die mit
den entsprechenden des früher angeschauten Gegenstandes iden-
tischen von den mit den früher angeschauten nicht-identischen
unterscheiden kann. Lidern ich aber eine derartige Unterscheidung
und Vergleichung der Bestandteile des Gegenstandes vornehme,
höre ich bereits auf, ihn lediglich anzuschaffen. Eine solche
Unterscheidung und Vergleichung setzt Abstraktion voraus und
gehört lediglich der Reflexion an. Durch Abstraktion gelange ich
zur Unterscheidung der weißen Farbe von den übrigen Eigen-
schaften der Lilie, und ich kann dann, nach Vollziehung dieser
Abstraktion, eine Vergleichung der durch die Abstraktion ge-
wonnenen Begriffe vornehmen. Aber eine Vergleichung der Be-
griffe ist bei weitem noch kein Urteil. Das ßesoltat der Ver-
710 I>- Nelson : Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [298
gleicliimg der Begriffe „Lilie" und „weiß" wäre nicht eine Gleich'
Setzung, sondern, im Gegenteil, eine Unterscheidung. Wenn das
Urteil „Die Lilie ist weiß" eine Gleicbsetzung der Begriffe „Lilie"
und „weiß" sein sollte, so wäre es fälsch, denn diese beiden Begriffe
sind sehr wesentlich verschieden; das Urteil müßte also viel-
mehr lauten : Die Lilie ist nickt weiß. — In Wahrheit handelt das
fragliche Urteil so wenig von dem Begriff wie von der Änschau--
ung der Lilie, sondern vielmehr von einem Gegenstände, der unter
den Begriff „Lilie" fällt oder dem der Begriff „Lilie" als Merkmal
zukommt; und das Urteil sagt aus, daß dieser Gegenstand auch
unter den Begriff „weiß" fallt oder daß ihm der Begriff „weiß"
als Merkmal zukonmit.^
Benekes Behauptung, das Urteil sei eine Gleichsetzung gleicher
Geistestätigkeiten, enthält also zwei Fehler: erstens eine Ver-
wechslung von Inhalt und Gegenstand, und zweitens eine Ver-
wechslung von Urteil und Vergleichungsformel.
Daß die Benekesche Erklärung auf Widersinn fuhrt, läßt
sich auch schon durch folgende Erwägung einsehen. Beneke sagt*:
j, Bejahung ist die Eigenschaft eines Urteils, insofern es eine Gleich-
setzung gleicher Geistestätigkeiten bezeichnet ; Verneinung, insofern
in ihm ungleiche Geistestätigkeiten als ungleich neben einander
gestellt werden." Nun sagt Beneke selbst an anderer Stelle',
„daß keine Gleichsetzung vollkommen sein kann", da es auf die
„Gesichtspunkte" der Vergleichung ankomme. Die Folge hiervon
wäre, daß es gradweise Abstufungen der Gleichheit geben müßte ;
und man käme auf diese Weise zu der absurden Vorstellung eines
stetigen Übergangs zwischen bejahendem und verneinendem Urteil. —
Auch müßte, wenn der Sinn des Urteils in einer Aussage über
Vgl. § 15 Anmerkung, 8, 466. » S. 178. » S. 74.
299] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 711
Gleichheit oder Ungleichheit bestünde, aus der Richtigkeit eines
Urteils notwendig die seiner Umkehrong folgen, was eine offenbare
Ungereimtheit ist.
144. Ans seiner Erklärung des Urteils folgt für Beneke ohne
weiteres die Notwendigkeit einer psychologistischen Wendung der
Erkenntnistheorie, d, h. einer Lehre, nach der alle Erkenntnis
ihren Grund letzten Endes in der inneren Wahrnehmung hat.
Sein Beweis ist hier, genau betrachtet, folgender:
(1) „Alles Urteilen besteht in Gleichsetzung gleicher Geistes-
tätigkeiten. "^
(2) „Nun ist aber jede Erkenntnis ein Urteil.***
(3) Folglich besteht alle Erkenntnis in Gleichsetzung gleicher
Geistestätigkeiten.'
(4) Um Geistestätigkeiten gleich zu setzen, muß ich sie
erkannt haben.*
(5) Das Erkennen von Geistestätigkeiten geschieht durch
innere Wahrnehmung.*
(6) Folglich giebt es keine Erkenntnis „t;or der inneren
Wahrnehmung** . ®
Man sieht leicht, einmal, daß der ganze Beweis — abgesehen
von der nachgewiesenen Irrigkeit des Satzes (1) — mit der bereits
mehrfach von uns widerlegten Annahme (2) hinfällig wird, nach
der jede Erkenntnis ein Urteil ist; dann aber auch, daß die dem
Beweise zu Grunde liegende Argumentation auf einen Zirkel
hinausläuft, da, was von jeder Erkenntnis gelten soll, auch von
der inneren Wahrnehmung gelten müßte, so daß jede innere Wahr-
nehmung zu ihrer Möglichkeit bereits eine andere innere Wahr-
nehmung voraussetzen würde, womit wir auf den alle Erkenntnis
» 8 61, 73. 2 S. 61. » 8. 61. * 8. 62. » 8. 60.
• 8. 62 ff.
712 L* Nelson: Über das sogenannte Erkcnntnisproblem. [300
aufhebenden unendlichen Regreß gefuhrt wären. — Der Beweis
läßt sich hiemach am einfachsten aas seinen eigenen Prämissen
folgendermaßen widerlegen :
Alle Erkenntnis besteht in Grleichsetzong gleicher Geistes-
tätigkeiten. (Nach 3.)
Die innere Wahrnehmung ist Erkenntnis. (Nach 5.)
Folglich besteht die innere Wahrnehmung in Gleichsetzung
gleicher Geistestätigkeiten.
Um Geistestätigkeiten gleich zu setzen, muß ich sie erkannt
haben. (Nach 4.)
Folglich gieht es Erkenntnisse j^vor der inneren Wahr-
nehmung^. —
146. Wahmehmungsurteile sind stets singulare Urteile. Ist
also die Wahrnehmung die einzige Art der unmittelbaren Er-
kenntnis, so entsteht für die empiristische Erkenntnistheorie das
Problem, die Möglichkeit allgemeiner Urteile zu erklären. Beneke
hebt diese Schwierigkeit hervor: ,,Der Grund, warum man ge-
wöhnlich die Annahme einer von der Wahrnehmung unabhängigen
Erkenntnis ... für notwendig hält, ist vorzüglich der, daß man
die Entstehung eines absolut allgemeinen Urteils auf dem Wege
der Erfahrung für unbegreiflich ansieht."* Diese Schwierigkeit
will Beneke mit Hülfe seiner Urteilslehre heben. Nach dieser soll
der allgemeine Satz auf einer vorhergegangenen Vergleichung
aller Einzelfälle beruhen und sich so in der Tat auf lauter sin-
gulare Urteile zurückführen lassen.
Die Begründung dieser Behauptung liegt in folgender Argu-
mentation. Angenommen, ein Mensch, der no6h keine anderen als
weiße Lilien kennen gelernt hat und auf Grund seiner bisherigen
8. 53 f.
301] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 713
Erfahrung das Urteil fällt „Alle Lilien sind weiß", lernt später
eine Feuerlilie kennen. Hält er nun an der bis dahin dem Worte
^Lilie^ gegebenen Bedeutung fest, wonach dieses lediglich auf die
Gestalt, nicht aber auf die Farbe des Gregenstandes geht, so wird
er allerdings sein Urteil einschränken und auf die Allgemeinheit
desselben verzichten müssen. Er kann aber auch die Allgemeinheit
seines Urteils aufrechterhalten: indem er nämlich die Bedeutung
des Wortes „Lilie" dahin einschränkt, daß dieselbe nicht nur die
Gestalt, sondern auch die weiße Farbe umfaßt; denn in diesem
Falle kann eine Pflanze, die nicht weiß ist, überhaupt nicht als
Lilie gelten, und das Urteil behält daher absolute Allgemeinheit.
Nach der Kantischen Bezeichnung — meint Bexeke — erhält also
ein Urteil dadurch absolute Allgemeinheit, daß wir sein Prädikat
in die „Vorstellung** seines Subjekts unveränderlich aufnehmen,
d. h. daß wir „das Urteil aus einem synthetischen zu einem ana-
Ifftischen machen".* Die Gültigkeit der allgemeinen Urteile beruht
hiemach wirklich auf einer Vergleichung edler Fälle; der FoH-
ständigjceit der Reihe der verglichenen Einzelfälle sind wir darum
gewiß, weil wir selbst diese Reihe tcillkürlich abschließen und dabei
festsetzen, daß von den noch nicht verglichenen Fällen „nur die
in den so begrenzten Kreis noch aufuehmbar*' sein sollen, „welche
mit den schon verglichenen übereinstimmen**.^
* S. 22 ff.
' S. 26 f. — „Wir schUeßen, nachdem wir in einer Anzahl geistiger Tätig-
keiten zwei Elemente stets mit einander verbunden gefunden haben, zum Behuf
der Bildung eines allgemeinen Urteils alle Tätigkeiten, welche diesen ungleich sein
sollten, willkürlich aus; und das absolut allgemeine Urteil ist nichts anderes,
als die analytische Wiederholung der Handlung, vermöge welcher wir die Ver-
bindung zweier Geistestätigkeiten mit dem Namen bezeichnen, welchen wir früher
nur der Einen von ihnen gaben.** (S. 28 f.)
Man erkennt leicht die nahe Verwandtschaft dieser nominalistischen
Erklärongsweise Benekes mit den Lehren gewisser modemer Empiristen. Ich
714 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
Wir bemerken dieser Argumentation gegenüber znnächBt, daß
sie auf der Verwechslang der Woribedeutung mit dem Begriffe
bemht. Wir können wohl die Bedeutnng eines Wortes willkürlich
ändern, nicht aber den Inhalt eines Begriffs; wir können durch
einen und denselben sprachlichen Satz erst ein synthetisches, dann
ein analytisches Urteil aasdrücken, niemals aber ein „urteil aus
einem synthetischen za einem analytischen machen^.^
146. Der Prozeß, der Bkneeb vorgeschwebt hat, müßte richtig
vielmehr so beschrieben werden, daß wir sagen: An die Stelle
eines in allgemeiner Form falschen syntJietischen Urteils („Alle
Pflanzen von lilienartiger Gestalt sind weiß") kai^ ein richtiges
atudytisdies Urteil treten („Alle weißen Pflanzen von lilien-
artiger Grestalt sind weiß"). Dies ist in der Tat immer mög-
lich; aber es bleibt ein großer Irrtam, in dem hiermit be-
schriebenen Prozeß die Grandlage aller wirklich allgemeinen
Urteile za suchen. Denn die auf solche Weise entstehenden
„allgemeinen Urteile" erweisen sich, wenn man sich nicht
durch sprachliche Einkleidungen täuschen lassen will, insgesamt
als leere Tautologieen. Beruhten wirklich alle allgemeinen Ur-
teile, wie es nach dieser Ansicht sein müßte, auf bloßen Wort-
Definitionen, so wäre es nicht nur überflüssig, sondern sogar
widersinnig, sich bei dem Versuche aufzuhalten, ein allgemeines
Urteil zu begründen. Habe ich ein allgemeines Urteil von der
Form „Alle Ä sind £", so beruht seine Gültigkeit nach Benekes
Ansicht einfach darauf, daß ich nichts „^" nenne j was nicht B
ist, und jede Induktion, wie sie auch Beneee selbst weiterhin for-
dert, wäre entbehrlich.
erinnere nur an die Darstellung der geometrischen Axiome als „däfinitions d^goiste*'
bei PoiNCARt.
^ Man Yergleiche die ausführlidie Widerlegung dieses Irrtums in 9 7.
303] Dritter Teil: Die Geschichte der ErkenDtnistheorie. 715
Beachtet man dies, so sieht man sofort, daß die fragliche von
Benkke vorgetragene Lehre den TcUsachen widerspricht. Wenn
z. B. Beneke seinen Satz aufstellt:
Alle allgemeinen Urteile entstehen durch willkürliche Aus-
schließung aller noch nicht verglichenen Fälle aus der Subjekts-
sphäre,
so will er mit diesem (allgemeinen !) Satze eia synthetisches Urteil
aussprechen, d. h. ein Urteil, in dem das Subjekt (eine gewisse
Klasse von Urteilen) nicht erst durch das Prädikat definiert ist.
In der Tat sind die Urteile, von denen der Satz spricht, durch
die Form ihrer Quantität (die Allgemeinheit) definiert, und keines-
wegs durch die Art ihrer Entstehung.^ Wollte er wirklich unter
„allgemeinen Urteilen" nur solche verstehen^ die auf die im Prä-
dikat angegebene Art entstanden sind, warum bemüht er sich dann,
seinen Satz durch Berufung auf Beispiele und weitläufige Induk-
tionen aus naturwissenschaftlichem, mathematischem und philo-
sophischem Gebiete zu begründen? Es würde ja genügen, zu
sagen, er wolle nur solche Urteile „allgemein" nennen, von denen
die aogegebene Entstehungsweise schon feststehe. Und entsprechend
bei seinen aaderen allgemeinen Behauptungen, wie z. B., daß alle
Urteile auf Gleichsetzung gleicher Geistestätigkeiten beruhen oder
daß alle Urteile ihren Grund in der Wahrnehmung haben.'
147. In der Tat führt Beneke diese Erklärnngsart der Ent-
^ Die fragliche Behauptung Benekes enthält also einen introjizierten Wider-
spruch.
' Vgl. S. 52: ^^Auf Wahrnehmung also gründet sich in diesem FaUe unsere
Erkenntnis . . . Wie sollen wir nun dazu kommen, zu entscheiden, oh Wahr-
nehmung eben so alle anderen Erkenntnisse oder vielleicht gerade nur diese zu
Erkenntnissen macht? Offenbar nur dadurch, daß wir alle Erkenntnisse in uns
wie diese untersuchen. Finden wir sie durch Wahrnehmung bedingt: so können
wir das bisher nur einzelne Urteü allgemein aussprechen . . ."
716 L' Nelson Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [304
stehung allgemeiner Urteile gar nicht durch, sondern er beruft
sich schon bei dem ersten Beispiel aus geometrischem Gebiete, das
er heranzieht, auf die „Induktion". Die Allgemeinheit des Urteils,
daß in jedem Dreieck die Winkelsumme zwei Rechte beträgt,
gründet er nicht etwa auf eine Wort-Definition des Dreiecks,
sondern auf eine angeblich wirkliche Vergleichung aller Fälle,
Er behauptet nämlich, daß wir erst an einem speziellen Dreieck
den Satz mit Hülfe der Konstruktion der Parallelen zu einer Seite
durch eine Ecke beweisen, dann aber dieses Verfahren in Gredanken
;,an allen möglichen Dreiecken mit absoluter Vollständigkeit voll-
ziehen", indem wir z. B. „die Endpunkte der Grundlinie festhalten
und die Spitze des Dreiecks von der einen Seite zur anderen im
Halbkreise herumbewegen, zugleich für jede auf diese Weise ent-
stehende Lage der Schenkel die den Beweis anschaulich machende
Parallellinie ziehen",^ so daß die Allgemeinheit des Urteils „auf
absoluter Vollständigkeit der Induktion" beruht.*
Die Unzulänglichkeit dieser Erklärung ist leicht zu erkennen.
Wenn wir auch von den uns heute geläufigen Bedenken gegen
den Beweis aus der Parallelenkonstruktion absehen, (die nur
auf die versteckte Berufung auf einen anderen allgemeinen Satz
hinausläuft,) wenn wir weiterhin auch davon absehen, daß die
durch „Herumbewegen" der Dreiecksspitze entstehende Reihe von
Lagen der Schenkel eine stetige, also der sinnlichen Wahrnehmung
schlechterdings unzugängliche ist, so ist doch klar, erstens, daß
die Aufgabe, für „jede" auf diese Weise entstehende Lage der
Schenkel die Parallellinie zu ziehen, unendlich viele Konstruktionen
fordert, also unausführbar ist; so daß, wenn wir für die Auf-
stellung des allgemeinen Satzes auf die Ausführung aller dieser
» S. 36 f. ' S. 38.
306] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 717
Eonstruktionen angewiesen wären, es niemals zur Bildung jenes
Satzes hätte kommen können.^ Zweitens aber ist klar, daß, selbst
wenn diese Aufgabe lösbar wäre, damit der Satz noch keineswegs
allgemein begründet wäre, sondern nur für eine eng beschränkte
Klasse von Dreiecken, — beschränkt erstens hinsichtlich der Größe
des Flächeninhalts, zweitens hinsichtlich der Ltige im Raum und
drittens hinsichtlich der Zeit, während der die Induktion angestellt
wird. Die Unabhängigkeit des Betrages der Winkelsumme vom
Flächeninhalt des Dreiecks könnte auf induktivem Wege nur durch
Vollendung einer weiteren unendlichen Reihe von Beobachtungen
festgestellt werden. Ebenso würde die Erweiterung des für einen
bestimmten Ort Festgestellten auf jeden beliebigen Ort eine dritte
unendliche Reihe von Beobachtungen erfordern; und schließlich
wäre auf induktivem Wege eine Ausdehnung der bisherigen Beob*
achtungsergebnisse nicht einmal auf eine endliche Zukunft, ge-
schweige denn auf alle Zeit, möglich, da sich Zukünftiges nicht
sinnlich wahrnehmen oder beobachten läßt.
Die strenge ÄUgenieinheit eines Satzes beweist also seinen nicht*
empirischen Ursprung.^ Man. könnte zwar noch einwenden, daß
^ Dies hat Beneke in einem anderen Falle sehr wohl eingesehen. S. 109
(Es ist hier Yon der Aufgabe die Rede, zu beweisen, daß der Mittelpunkt einer
Kreissehne, die auf einer anderen Sehne desselben Kreises in deren Mittelpunkt
senkrecht steht, der Kreismittelpunkt ist) heißt es:
„Nun würde es gar keine Schwierigkeit haben, durch Anschauung dar-
zutun, daß alle vom gefundenen Punkte gezogenen Linien in dem vorliegenden
Falle einander gleich sind; und für jeden gegebenen Fall ließe sich . . . die-
selbe auf Anschauung gegründete Sicherheit hervorbringen. Aber hierdurch
erhielten wir immer nur komparative Allgemeinheit: der möglichen Sehnen in
einem Kreise sind unendlich viele, und es läßt sich kein Mittel angeben, die
Induktion für die Anschauung absolut zu vollenden."
' Ist dies einmal festgestellt, so ist ohne weiteres klar, daß die empiristische
Orundbehanptung, alle Erkenntnis gründe sich auf Wahrnehmung, die Möglichkeit
allgemeiner Erkenntnisse aufhebt, also einen introjizierten Widerspruch einschließt
A bhaBdlnogen der Fricfl^Mlien Sehole. IL Bd. 46
718 li* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [306
nach nnseren Nacliweisimgen dies nur für solche Sätze be-
hauptet werden dürfe, in denen die Sphäre des Subjektsbegriffs
eine unendliche Menge von Gegenständen umfaßt. In der Tat ist
es möglich, alle Fälle eines allgemeinen Satzes zu beobachten,
wenn diese Allheit eine endliche ist. Aber es ist wichtig, zu be-
achten, daß auch in einem solchen Falle die Beobachtung für sich
nicht zu dem allgemeinen Satze berechtigt und daß daher jede
Induktion über den Bereich der bloßen Beobachtung notwendig
hinausgeht. Denn woher wissen wir, daß wir schon alle Gegen-
stände aus der Sphäre des Subjektsbegriffs beobachtet haben?
Dieses Wissen, ohne das der allgemeine Satz immoglich wäre,
kann nicht ans der Beobachtung stammen; denn diese läßt stets
nur einzelne Fälle erkennen, durch sie können wir daher nie
wissen, ob es außer den beobachteten Gegenständen nicht noch
weitere geben kann, die unter denselben Subjektsbegriff fallen.
Will ich z. B. den Satz „Alle Planeten bewegen sich in derselben
Richtung um die Sonne ^ durch Induktion begründen, so genügt es
nicht, die Bewegung der einzelnen Planeten zu beobachten, sondern
ich muß zu den einzelnen Beobachtungen noch als Obersatz der In-
duktion die Voraussetzung hinzanehmen, daß die beobachteten Plane-
ten die Sphäre des Begriffs „Planet" erschöpfen. Je nach dem Gewiß-
heitsgrad einer solchen der Induktion zur Gewährleistung ihrer Voll-
ständigkeit unvermeidlichen Voraussetzung hat auch das Resultat der
Induktion einen höheren oder geringeren Grad der Gewißheit. —
Wir bemerken noch, daß die Mathematik ohne die strenge
Allgemeinheit ihrer Sätze als Wissenschaft unmöglich wäre. Denn
die Möglichkeit der mathematischen Wissenschaften beruht auf
dem Verfahren, gewisse allgemeine Sätze, z. B. über Punkte und
Linien, auf spezielle Fälle, z. B. auf bestimmte einzelne Punkte
und Linien, anzuwenden. Gelten nun jene Sätze nicht in strenger
307] Dritter Teü: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 719
Allgemeinheit für den gan/sen Umfang ihres Subjektsbegriffs, so
können wir ans ihnen keinen Schluß ziehen. Denn wir können
dann nicht wissen, ob die bestimmten einzelnen Punkte und Linien
zu demjenigen Teil der Sphäre des Subjektsbegriffs des allgemeinen
Satzes gehören, für den der Satz erfüllt ist, oder zu demjenigen
Teil, für den der Satz nicht erfüllt ist. Es wäre also keine
Unterordnung des Einzelfalles unter die Obersätze, und daher
überhaupt keine Wissenschaft aus den Obersätzen möglich.
148. Noch anders schließlich sucht sich Bexeke bei den philo-
sophischen Urteilen zu helfen. Die Allgemeingültigkeit soll hier
in der subjektiven Notwendigkeit, das im Urteil Ausgesagte zu
denken, ihren Grund haben. Hier heißt es:
„Fällen wir z. B. das Urteil : Alles Seiende ist in der Zeit:
so ist das eben so nur ein identisches Urteil. Die Berufung
auf die Unmöglichkeit, ein andres Sein als eben in der Zeit im
anschaulichen Denken zu voUziehn, ist nichts anderes als die
Steigerung des einzelnen Urteils . . . zum allgemeinen durch
die absolute Vollständigkeit in Vergleichung aller Fälle, die
uns dadurch möglich wird, daß wir es nur mit Tätigkeiten des
menschlichen Geistes zu tun haben. ^ ^
Diese Erklärung vereinigt widersprechende Behauptungen,
Wenn die Bedeutung des Satzes „Alles Seiende ist in der Zeit"
auf den anderen zurückgeht, daß es dem menschlichen Geiste un^
möglich ist, das Gegenteil zu denken, so kann das ausgesprochene
Urteil nicht ein „identisches" sein. Denn was der menschliche
Geist über das Sein zu denken genötigt ist, können wir nach
Bexekes eigenen Darlegungen nur aus der Erfahrung wissen.* Im
* S. 39 f.
' Die Erklärung beruht femer auf einer Zirkeldefinition, analog der in § 85
besprochenen, enthält aber überdies einen introjizierten Widerspruch. Vgl. § 82.
46*
720 L« Nelson: Über das sogenannte Crkenntnisproblem.
übrigen bleibt es unerfindlich, mit welchem Rechte Beneke die
Unfähigkeit des menschlichen Geistes, eine Sache zu denken,
als ein Kriterium der Unmöglichkeit dieser Sache betrachtet.
Und noch mehr, auf welche Weise können wir denn dieser Un-
möglichkeit, das Gegenteil des fraglichen Satzes zu denken, gewiß
werden? Alle Erkenntnis vom menschlichen Geiste ist zunächst
eine durchaus innere] woraus soll nun folgen, daß was mir zu
denken versagt ist, auch jedem anderen Menschen zu denken un-
möglich sein wird? Haben sich nicht tatsächlich Philosophen ge-
funden, die das Gegenteil des Benekeschen Satzes nicht nur zu
denken für möglich gehalten, sondern es wirklich selbst gedacht
haben? Und woraus folgt, daß, was uns bisher zu denken nicht
möglich war, uns auch in alle Zukunft zu denken unmöglich
sein wird?
Nach der (in § 145) beschriebenen, von Beneke angegebenen
Yerbalmethode der Bildung allgemeiner Sätze hat dies alles frei-
lich keine Schwierigkeit: Wir beschränken einfach die Bedeutung
des Wortes „Denken" auf diejenigen Fälle, die dem Satze „Das
Denken eines nicht-zeitlichen Seins ist anmöglich" genügen. Sollte
also ein Philosoph, wie z. B. Eant, ein nicht-zeitliches Sein den-
noch für möglich halten, so würden wir einem solchen Philosophen
das „Denken" absprechen, und die Allgemeinheit des Benekeschen
Satzes bliebe aufrechterhalten. Freilich wäre damit für unser
eigentliches Problem nicht das Geringste gewonnen; denn das
Urteil, um das es sich für Beneke handelt, ist dieses: „Es ist
unmöglich, ein nicht-zeitliches Sein anzunehmen.^ Dieses Urteil
ist falsch^ wenn es irgend jemand giebt, der die Annahme eines
nicht-zeitlichen-Seins macht, und daran wird nichts geändert, wenn
wir dieser uns unbequemen Annahme den Natnen „Denken" ver-
weigern.
309] Dritter Teil : Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 721
Vielleicht wäre es mehr in Benekes Sinn, den fraglichen
Satz anf eine Definition des ^^menschlichen Geistes^ zurückzuführen.
Wir hätten uns dann mit der Erklärung zu helfen, daß derjenige,
der ein nicht-zeitliches Sein annähme, (wie Platon und Kaot,) kein
Mensch wäre; und es wäre also mit dem Satze „Alles Seiende
ist in der Zeit'' weder etwas über das Seiende ausgesagt, noch
auch nur entschieden, ob es überhaupt so etwas wie das hier als
„menschlicher Geist" Definierte giebt; es wäre vielmehr nur die
Festsetzung getroffen, daß diejenigen Wesen, die alles Seiende als
zeitlich denken, den Namen „Mensch" erhalten sollen. — Die
ganze Philosophie wäre nach dieser Auffassung nichts anderes als
eine Sammlung sonderbarer Namengebungen. Und aller Streit in
der Philosophie wäre nur ein Streit um Worte.
149. Es ist nichts als eine Konsequenz aus der im Vor-
stehenden kritisierten psychologistischen Grundauffassung, wenn
Beneke den Begriff des „Seins" durch den des Erkanntwerdens
und somit, da alle Erkenntnis auf Wahrnehmung beruhen soll,
durch den des Wahrgenommenwerdens ersetzen zu können glaubt.
Er sagt:
„Diesen [den räumlich und zeitlich ausgedehnten] Dingen
nun und den Tätigkeiten des Geistes, insofern sie wahrgenommen
werden, schreibt die menschliche Vernunft ein Sein zu, . . . sie
versteht unter einem Seienden nichts als was wahrgenommen
wird oder doch sich wahrnehmen läßt."^ „Wirklichkeit ist die
Eigenschaft, welche dem Substrat einer Wahrnehmung beigelegt
wird, eben insofern es als Substrat einer (wirklichen oder mög-
lichen) Wahrnehmung gedacht wird.^'
Offenbar hat Beneke selbst dunkel die Undurchführbarkeit
»S.66f. «S. 180.
722 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [310
des rein empiristischen Standpunktes gefühlt; er wäre sonst bei
dem alten Satze „esse = percipi** stehen geblieben und hätte
seine Erklärung nicht durch den Zusatz eingeschränkt : ;;Oder doch
sich wahrnehmen läßt^ und „einer wirklichen oder möglichen^. In
der Tat ist mit diesem Zusatz der Empirismus bereits im Prinzip
durchbrochen. Denn wo finden wir die Kriterien der „Möglichkeit"
des Wahrgenommen Werdens ? Diese Kriterien können offenbar
nicht in der wirJdichen Wahrnehmung liegen. Sie können aber
auch nicht in der Existenz des Gegenstandes liegen, denn diese soll
ja selbst erst durch die Möglichkeit des Wahrgenommenwerdens
definiert sein. Es sei z. B. gefragt, wie viele Monde der Erde
existieren. Nach dem Zeugnis der wirMichen Wahrnehmung
müßten wir bald sagen: einer, bald auch: keiner. Wir müssen
uns also zwecks einer eindeutigen Antwort an die mögliche Wahr-
nehmung wenden. Auf die Frage aber, wie viele Monde wahr-
genommen werden iönnen, dürfen wir nicht antworten: so viele,
wie existieren, nämlich einer; denn wie viele existieren, das soll
ja erst festgestellt werden, und zu dieser Feststellung fehlen uns
noch die Kriterien. Wir sind also in der Tat an irgend eine
Erkenntnisart verwiesen, die nicht in der Wahrnehmung besteht,
wenn wir mit dem Ausdruck „Möglichkeit des Wahrgenommen-
werdens" einen Sinn verbinden sollen. Diese nicht-empirische Er-
kenntnis, die uns als Kriterium der Möglichkeit dienen soll, müßte
entweder analytisch oder synthetisch sein, und im zweiten Falle
entweder anschaulich oder nicht-anschaulich. D. h. wir können
diese Kriterien entweder in der Logik oder auch in der Mathe-
matik und Metaphysik suchen. Nun widerspricht es weder einem
logischen noch irgend einem mathematischen oder metaphysischen
Satze, anzunehmen, daß sich null, eins, zwei, drei oder irgend
eine andere beliebig große oder kleine Zahl von Monden wahr-
311] Dritter Teil: Die Geschlclite der Erkenntnistheorie. 723
nehmen lassen. Sollte also das existieren; dessen Wahmehmnng
im logischen, mathematischen oder metaphysischen Sinne m5glich
ist, so existieren sowohl null als auch jede andere Zahl von
Monden der Erde; das heißt es existiert Widersprechendes. Oder
aber, falls nichts Widersprechendes existieren soll, so existiert
nichts ; denn es fehlt jedes Einschränkungsprinzip, durch das unter
den unendlichen einander ausschließenden Möglichkeiten eine als
„wirklich^ bestimmt würde; es sei denn, daß wir wieder aus dem
Gebiete der bloßen formalen Gesetze der Logik, Mathematik und
Metaphysik hinausgehen und uns an die toirkliche Wahrnehmung
zurückwenden wollen. In diesem Falle aber kämen wir auf eine
der in § 131 angeführten analoge Absurdität zurück. Wenn die
Wirklichkeit eines Dinges das Wahrgenommenwerden dieses Dinges
bedeutet, so kann auch von einer wirklichen Wahrnehmung nur
geredet werden, insofern darunter das Wahrgenommenwerden der
Wahrnehmung zu verstehen ist, und so fort in einer unendlichen
Reihe, in der jedes Glied erst durch das nächstfolgende definiert ist,
wie dies die Natur einer Zirkeldcfinition notwendig mit sich bringt.^
150. Die Ergebnisse der beiden letzten Kapitel zusammen-
fassend können wir sagen : Wie wir bei Fichte (§ 127) den Fehl-
schluß von der Apriorität des Grundes auf die Apriorität der
Begründung fanden, so finden wir bei Bexeke (§ 142) den ent-
gegengesetzten Fehlschluß von der Aposteriorität der Begründung
auf die Aposteriorität des Grundes. Beiden entgegengesetzten
Fehlschlüssen liegt dasselbe von Reikhold übernommene erkennt-
^ Der Fehler, den Beneke hier begeht, läßt sich sehr einfach angeben: er
besteht in der Verwechslung des Krüeriums für ein Merkmal mit der Definition
dieses Merkmals. Das Kriterium der Existenz üegt aUerdings in der Wahr-
nehmung, aber Existenz bedeutet darum doch nicht Wahrgenommenwerden. Wir
haben bereits mehrfach Beispiele dafür angetroffen, daß der Versuch einer De-
/initton der Existenz auf Widersinn führt, und wir erkennen hier, daß dies auch
dann gut, wenn zu der Definition das Kriterium benutzt wird.
724 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [312
nistheoretische Vorurteil zu Grunde, daß die kritische Begründung
den Grund der zu begründenden Sätze enthalte. Die dem trans-
zendentalen und dem psychologistischen Vorurteil gemeinschaft-
liche Behauptung der modaüschen Gleichartigkeit von Kritik und
System (Begründung und Begründetem) ist eine unausweichliche
Konsequenz dieses erkenntnistheoretischen Vorurteils.^
Aber der Rationalismus Fichtes beschränkte sich nicht allein
auf seine Kritik und System vermengende „Wissenschaftslehre",*
und ebenso beschränkte sich der Empirismus Bexekes nicht auf
seine Kritik und System gleicherweise vermengende „Erkenntnis-
lehre" ; sondern es zeigte sich bei Fichte ein schlechthin allgemeiner
Eationalismas, bei Bekeke ein schlechthin dllgemeiner Empirismus.
Auch diese Erscheinung hat ihren tieferen Grund: man braucht,
um ihn zu finden, nur den Satz, daß die Erkenntnistheorie den
Grund aller von ihr verschiedenen Erkenntnis enthalten müsse',
mit dem anderen zu verbinden, wonach jede Erkenntnis mit ihrem
Grunde hinsichtlich der Modalität gleichartig sein muß.* Es ist
eine notwendige Folge dieser Sätze, daß aUe transzendentale Er-
kenntnistheorie, wenn sie in konsequenter Form auftritt, schlecht-
hin rationalistisch, alle psychologische Erkenntnistheorie, wenn sie
in konsequenter Form auftritt, schlechthin empiristisch verfahren
muß. Dieses Gesetz wird durch die Geschichte der Erkenntnis-
theorie bei den unmittelbaren Nachfolgern Kants ebenso bestätigt
wie durch die erkenntnistheoretischen Lehren der Gegenwart.*
^ Vgl. § 124 f., sowie das Schema in § 57. Unsere historischen Darlegungen
bUden eine genaue Verifikation dieses Schemas.
« Vgl. § 126. » Vgl. § 55. * Vgl. § 56.
' So erklärt sich das historische Phänomen, daß der in der nachkantischen
Philosophie entstandene Streit zwischen Transzcndentalismus und Psychologismus
eine Erneuerung der vorkantischen Streitfrage zwischen Rationalismus und Empi-
rismus mit sich gebracht hat.
313] Drittes Kapitel: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 725
XXX.
Die Beseitigung des erkenntnistheoretischen Vorurteils
durch Pries' psychologische Vernunftkritik.
151. Es bleibt uns noch übrig, einen Blick auf die historische
Erscheinungsform zu werfen, in der zuerst der geläuterte Kriti-
zismus das erkenntnistheoretische Vorurteil im Prinzip überwanden
und dadurch den Widerstreit der transzendentalen und der psy-
chologischen Erkenntnistheorie aufgelöst hat.
In seiner philosophischen Erstlingsschrift, der im Jahre 1798
im dritten Bande von Carl Christian Erhard Schmids „Psychologi-
schem Magazin^ ^ erschienenen Abhandlung „Über das Verhältnis der
empirischen Psychologie zur Metaphysik" hat Jakob Friedrich Fries
diese Aufgabe gelöst. Durch ihr Thema, sowie durch ihre philo-
sophiegeschichtliche Bedeutung reiht sich diese Abhandlung un-
mittelbar als eine Fortsetzung und Ergänzung an die Kantischen
„Untersuchungen über die Deutlichkeit der Grundsätze der natür-
lichen Theologie und der Moral" an: sie bildet ein vollwertiges
Seitenstück zu dieser Kantischen Preisschrift. Ja, ich glaube mich
keiner Übertreibung schuldig zu machen, wenn ich behaupte, daß
eine unparteiische und gründliche Geschichtsschreibung diese Fries-
sche Abhandlung als das Bedeutsamste anerkennen wird, das über-
haupt in der Geschichte der Philosophie seit dem Erscheinen der
Kantischen Schriften bis auf den heutigen Tag geleistet wor-
den ist.
^ Wie alle in diesem Magazin enthaltenen Arbeiten anonym.
726 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [314
Wenn man, wie dies in den exakten Wissenschaften üblich
ist, auch den Beweis der ünlosbarkeit eines Problems als einen
möglichen Fall seiner Lösnng gelten läßt, so muß gesagt werden,
daß in der in Rede stehenden Friesschen Abhandlung das „Er-
kenntnisproblem" seine Lösung gefunden hat. Denn, wollen wir
die heutige Ausdrucksweise anwenden, so müssen wir, um den In-
halt jener Arbeit zu bezeichnen, sagen : sie erbringt den Beweis der
Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie. Sie beweist und erklärt
die ünlosbarkeit einer Aufgabe, an deren Lösung sich die heutige
Philosophie noch ebenso hartnäckig, aber auch ebenso vergeblich
müht wie die damalige.^
152. Mit bewunderungswürdigem Scharfblick faßt Fbies so-
gleich den für alle methodischen Streitigkeiten in der Philosophie
entscheidenden Punkt ins Auge: das Verhältnis der Kritik zum
System. Er unterscheidet drei Möglichkeiten:
A) Die Prinzipien der Metaphysik werden entweder als Lehr-
sätze aus einer anderen systematischen Wissenschaft ent-
lehnt und werden also in dieser progressiv bewiesen; oder
B) sie werden regressiv, d. h. „durch einen Übergang vom Be-
sonderen zum Allgemeinen bewiesen" und sind also durch
Induktion erweislich; oder endlich
^ Ich kann mich in diesem Kapitel kurz fassen, da ich mich bereits mehr-
fach über das hier zu behandelnde Thema geäußert habe. Um mich möglichst
wenig zu wiederholen, ziehe ich es Yor, den Leser auf meine früheren Dar-
stellungen zu verweisen und mich auf eine genauere Betrachtung derjenigen
Punkte zu beschränken, auf die ich bisher noch nicht mit der für die Zwecke
dieser Schrift erforderlichen Ausführlichkeit eingehen konnte. Ich bitte mit dem
Folgenden zu vergleichen : den Anhang meiner Abhandlung über die „kritische
Methode", sowie die Abhandlung „Jakob Friedrich Fries und seine jüngsten
Kritiker^ (Abhandlungen der Fries'schen Schule, Neue Folge, Band 1, Heft 2)
und den Aufsatz „Inhalt und Gegenstand, Grund und Begründung^, Kapitel YII
bis Schluß. (Im 1. Heft des 2. Bandes derselben Abhandlungen.)
316] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 727
C) sie sind nnerweislich und lassen sich nur nach einer Eegel
aM/weisen, die für die logische Unabhängigkeit nnd Voll-
ständigkeit ihres Systems die Gewähr enthalten mnß.^
Daß der erste Fall nicht statt finden kann, wird folgender-
maßen bewiesen. Die metaphysischen Prinzipien könnten, da sie
selbst rationale Erkenntnisse sind, nnr in einem System ans ratio-
Fialen Erkenntnissen bewiesen werden. Nun sind aber die meta-
physischen Prinzipien schon die allgemeinsten rationalen Erkennt-
nisse überhaupt. Sie sind folglich in keiner anderen systemati-
schen Wissenschaft beweisbar.
Daß auch der zweite Fall nicht statt finden kann, wird so
bewiesen. Der Schluß vom Besonderen auf das Allgemeine ist nur
dann anwendbar, wenn das Besondere für sich unmittelbar gültig
ist. Dies ist aber nur bei empirischen Erkenntnissen der Fall;
denn bei Erkenntnissen a priori liegt der Gültigkeit des Beson-
deren jederzeit schon die des Allgemeinen zu Grxmde. Die Prin-
zipien der Metaphysik müßten also im Falle B auf empirische Er-
kenntnisse zurückgeführt werden. „Aus einer empirischen Er-
kenntnisart läßt sich aber überhaupt keine Erkenntnis a priori
ableiten: denn aus bloß assertorischer Gewißheit folgt niemals
eine apodiktische; alle Erkenntnis a priori muß aber apodiktisch
gewiß sein."* Die Prinzipien der Metaphysik können also nicht
durch Induktion begründet werden.
Es bleibt also nur die Möglichkeit, die metaphysischen Prin-
zipien als unerweisliche anzuerkennen und sie als solche nach einer
Begel aufzuweisen.
153. Woher erhalten wir aber eine solche Regel?
Bei Erkenntnissen a priori liegt, wie bemerkt, der Gültigkeit
A. a. 0. S. 169. 2 8. 170 ff.
728 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [316
des Besonderen stets die des Allgemeinen zu Grande. Wenn es
sich aber nicht um den Erweis der Gültigkeit, sondern nm die
Anfweisting des Inhalts von Erkenntnissen a priori handelt, so
können wir nicht vom Allgemeinen anfangen, sondern wir müssen
umgekehrt nur vom Besonderen ausgehen, das sich dem Bewußt-
sein zuerst darbietet, um durch Zergliederung seiner Voraus-
setzungen regressiv zum Allgemeineren aufzusteigen. Dies war
das sichere Ergebnis von Kants methodologischen Untersuchungen
gewesen, das durch die Erkenntnis der ursprünglichen Dunkelheit
der metaphysischen Prinzipien ein für allemal festgestellt war.
Aber diese Kantische Entdeckung bedarf einer Ergänzung. Denn
„die bloße Zergliederung für sich setzt sich keine Grenzen, es ist
immer ungewiß, ob ich darin nicht noch weiter fortgehen kann.
Ja noch mehr, man nehme sogar an, das Urteil sei ein solches
letztes, also unerweislich ; so fragt sich, worauf beruht die Gültig-
keit desselben, wodurch kann es sich bewähren? Als philosophi-
sches Prinzip soll es ganz auf Begriffen beruhen, es findet also
keine Berufung auf Anschauung statt. Wodurch will man es denn
aber rechtfertigen, wenn es angefochten wird?^*
154. „Hier ist der Ort, wo xms die psychologische Unter-
suchung unsrer Erkenntnisse allein weiter helfen kann."* Natür-
lich; denn da eine objektive Begründung von Grundurieüen unmög-
lich ist, so bleibt nur übrig, entweder auf alle Kritik der frag-
lichen Prinzipien überhaupt zu verzichten, oder aber sie hinsicht-
lich ihres subjektiven Ursprungs in der Vernunft aufzuweisen.
„Erkenntnisse a priori sind nämlich, indem sie unabhängig von
allem aus Wahrnehmung Entsprungenen statt finden, subjektiv
im Gemüt nur möglich, wiefern sie aus solchen Bestimmungen
> S. 174. • S. 175.
317] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 729
desselben entspringen, welche für onsre Erfahrungen anmittelbare
Grundbeschaffenheiten des Gemüts sind; die ihm daher schlecht-
hin und beharrlich zukommen. Die Prinzipien der Erkenntnis
a priori müssen sich daher aus den Beschaffenheiten des Gemütes
als des erkennenden Subjektes allein, unmittelbar und vollständig
erklären und ableiten lassen."*
„Hierdurch erhalten wir nun alles, was gesucht wurde. Können
wir nämlich die Natur des erkennenden Gemütes hinlänglich er-
gründen, so muß sich daraus eine Regel ergeben, durch welche
sich nicht nur bestimmt, was Prinzipien der philosophischen Er-
kenntnis sind, sondern nach welcher wir dieselben vollständig in
einem System darstellen können. ""^
Die gesuchte „Eegel" liegt also in der Psychologie, und die
Kritik der Vernunft muß als eine Wissenschaft aus innerer Er-
fahrung bearbeitet werden. Dies folgt notwendig daraus, daß der
Gegenstand der Kritik in Erkenntnissen besteht, wiefern diese
nämlich „subjektiv als zu Gemütszuständen gehörig^ betrachtet
werden', und daß Erkenntnisse als solche nur durch innere Er-
fahrung erkennbar sind.^
IBB. Das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie ist durch
diese Unterscheidung von Inhalt und Gegenstand der Kritik klar
und eindeutig festgestellt: „Ihr Gegenstand sind Erkenntnisse
a priori, ihr Inhalt aber meist empirische Erkenntnisse. Die Urteile,
» S. 175.
' S. 176. — Fries läßt bereits die ganze Tragweite seiner Entdeckung
durchblicken, indem er hinzufügt: ^, Dabei läßt sich endlich noch bemerken, daß,
indem wir nur von Betrachtung der metaphysischen Erkenntnisse ausgingen, die
letztem Resultate doch meist von aller Erkenntnis a priori überhaupt gelten, also
auch auf Logik oder wohl gar Mathematik anwendbar, vieUeicht ersterer auch
nützlich wären.'' (S. 176j
» S. 101. * S. 177 f.
730 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [318
welche den Inhalt der Ej*itik ausmachen, sind nur assertorisch:
apodiktische gehören zum Gegenstand derselben. So erkenne ich
z. B. a priori und mit apodiktischer Gewißheit, daß alle Ver-
änderungen eine Ursache haben: allein das Dasein dieses Grund-
satzes unter meinen Erkenntnissen und die Art, wie er im Sub-
jekt gegründet ist, welches letztere in den Inhalt der Kritik
gehört, kann ich doch nur assertorisch aus innerer Erfahrung er-
kennen."* „Eigentlich philosophisches Erkenntnis ist jederzeit
apodiktisch: das assertorische, psychologische gehört nur in die
Kritik, nicht in das System der Philosophie."*
Man bemerkt leicht, wie durch den angeführten Beweis der
Unmöglichkeit eines rationalen Beweisgrundes metaphysischer Prin-
zipien der Transzendentalismus, und wie durch den analogen
Beweis der Unmöglichkeit einer induktorischen Kritik der Psycho-
logismus beseitigt wird.
Und so gelingt es Fiues, in einer meisterhaften Analyse der
zeitgenössischen Philosophie die in dieser herrschende Yermengung
psychologischer und metaphysischer Prinzipien aufzudecken und den
Irrweg zu beleuchten, der mit Notwendigkeit auf diese Vermen-
gung hatte führen müssen.* Es gelingt ihm mit ebenso wenigen
wie klaren Worten die Wurzel des transzendentalen Vorurteils
bei Fichte bloßzulegen, es als eine Konsequenz aus dem Reinhold-
schen Mißverständnis abzuleiten und dieses wieder bis auf seinen
ersten Anlaß, die Zweideutigkeit der Begriffsbestimmung des Trans-
zendentalen in der Kritik der reinen Vernunft zurückzuführen.*
»S. 181. « S. 182. »S. 187 ff.
* S. 184 ff. — Fries faßt diese Gedanken später einmal folgendermaßen zu-
sammen :
;,Kants Entdeckung der kritischen Methode für die Phüosophle bezeichnet
die £poche, in der die subjektive Wendung der Spekulation zuerst gelang. Sie
319] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 731
166. Fries kommt schließlich seinen Kritikern zuvor und
antizipiert selbst den häufigsten Einwand, mit dem man später
seine Lehren zu bestreiten gesucht hat:
„Allerdings ist es ein schwieriges Verhältnis, welches daraus
entsteht, daß ich mich, nach meiner Erkenntnis a priori, empi-
bedarfte als Vorbereitung, mehr noch als Kant es selbst erkannte, die moderne,
▼orzüglich von Locke ausgehende Ausbildung der Psychologie, welche wir den
Engländern verdanken. Diese Psychologen wandten die Untersuchung zuerst mit
Erfolg auf das Innere des Geistes zurück, aber ihr ganz empirisches Verfahren
vernichtete alle Philosophie, wie Hume dies deutlich ausgesprochen hat. Kant
dagegen gelang es zuerst bei dieser subjektiven Wendung doch das Philoso-
phieren selbst im Auge zu behalten, die Philosoplde durch jene Psychologie
auszubilden. So geschickt Kant aber auch diesen Vorteil zu benutzen wußte, so
sah er doch den Grund desselben nicht ganz durch. Er fand seine kritische Me-
thode nur durch eine logische Rückrechnung, indem er aus der Vcrgleichung der
Philosophie mit Mathematik abnahm, daß die synthetische Methode der letztern für
Philosophie gar nichts tauge, daß in der Philosophie vielmehr alles auf geschickte
Zergliederungen der analytischen Methode ankomme. Dies setzte ihn allein schon
in den Stand ein Verfahren in Anwendung zu bringen, dessen Kegeln er selbst
noch nicht auf den einfachsten Ausdruck zu bringen wußte. Durch diesen Vor-
teil der zergliedernden Methode der Kritik ist es in die Gewalt der Schule ge-
kommen, die Philosophie regelmäßig nach und nach auszubilden, ohne bei jedem
Fortschritt auf gut Glück ein neues System wagen zu müssen. Mögen in Kants
metaphysischen Behauptungen noch so viel einzelne falsche Ansichten sein, so ist
das doch nur Nebensache. Die unfehlbare Methode haben wir durch ihn ge-
wonnen, und eine immer ausgebildetero Anwendung derselben wird uns allmählich
auch von jenen Fehlern befreien.
„Auf die genaue Kenntnis der Methode kommt hier also alles an. Darin
findet sich aber bei Kant noch ein bedeutender Mangel. Durch seine nur logi-
schen Vergleichungen der Methoden ist ihm die anthropologische Bedeutung seiner
eignen Methode nicht klar geworden, in seinem Ausdruck des Transzendentalen
hat er vielmehr das Metaphysische der objektiven Spekulation wieder mit dem
Psychologischen einer bloßen Kenntnis der menschlichen Vernunft und ihrer Erkennt-
niskraft verwechselt, wodurch denn leicht der dem Englischen gerade entgegen-
gesetzte Fehler der Reinholdisch-Fichtischen Spekulation veranlaßt werden konnte :
die empirische Psychologie in Philosophie, d. h. in Metaphysik zu verwandeln.'*
(„Tradition, Mystizismus und gesunde Logik, oder über die Geschichte der Philo*
Sophie." In Daub und Cbeüzers „Studien**, Bande, S. IS ff.)
732 L* Nelson: Über das sogenannte £rkenntnu»p4«,.
risch erkenne. Ich setze hier voraas nicht etwa bloß die lo-
gischen Regeln des Denkens, sondern, da ich nnr aus der
Erfahrung schöpfen kann, notwendig auch die metaphysischen
Gesetze einer möglichen Erfahrung überhaupt, von denen es
doch eben scheint, als sollten sie erst bewiesen werden. Die
Erkenntnis a priori ist aber hier nicht nach ihrer Gültigkeit in
Urteilen, sondern nach ihrer Beschaffenheit als meiner Erkennt-
nis, als zu den Zuständen meines Gemüts gehörig, psychologischen
Grundsätzen unterworfen.* Es wird also in der Tat hier nicht
unternommen, die Prinzipien und Grundsätze unsrer notwendigen
und allgemeinen Erkenntnis zu erweisen: denn das könnte nur
dadurch geschehen, daß sie von noch höheren und allgemeineren
Gesetzen abgeleitet würden, welches bei Prinzipien gar keine
Anwendung fände, außer dem daß aus empirischen Obersätzen
wohl niemand einen apodiktischen Schlußsatz zu ziehen hoffen
wird.««
Die Behauptung eines Zirkels' in der kritischen Deduktion
^ Man vergleiche hierzu die folgenden Stellen aus der „Neuen Kritik der
Vernunft** :
„Es giebt für jede Erkenntnis einen zweifachen Standpunkt der Betrach-
tungi ... ich kann jede Erkenntnis einmal subjektiv, wiefern sie meine Tätigkeit
ist| und dann objektiv, in Bücksicht ihres Gegenstandes betrachten.** „Auch
unser philosophisches Wissen wird also . . . von einem anthropologischen Qe-
sichspunkt aus betrachtet werden können. Ja diese anthropologische Ansicht der
philosophischen Erkenntnis ist eben für Philosophie von entscheidender Wichtig-
keit** (Einleitung, 2. Aufl. S. 87 f.)
„ Vorstellung und alle ähnlichen Worte . . . sind darin zweideutig, daß man
unter Vorstellung eben so wohl das Vorstellen, die Tätigkeit des Geistes, als
das Vorgestellte, den Gegenstand des Vorstellens, versteht .... Wir müssen
also das Vorgestellte, das Objektive der Vorstellung, immer genau vom Vor-
stellen, als der Tätigkeit des Geistes, unterscheiden.** (§ 10, 2. Aufl. S. 70.)
• S. 182 f.
' Man vergleiche über diesen Schein des Zirkels auch „Reinhold, Fichte
321] Dritter Teil: Die Geschic&te der ErkenntniBtheorie. 733'
beraht also auf der irrigen Yoraussetzung, als bezwecke diese
Deduktion einen Beweis der metaphysischen Grandsätze ; sie beruht
auf der Verwechslung der DeduJction mit der Induktion^ oder, wie
wir es auch ausdrücken können, auf der Verwechslung der Kritik
mit der Erkenntnistheorie. Mit der Abweisung dieser Verwechs-
lung wird der wieder und wieder gegen die Friessche Kritik er-
hobene Vorwurf des Psychologismus hinfällig.^ Nichts zeigt evi-
denter, wie fern Fmes der psychologistischen Denkweise steht, als
der lakonische Nebensatz, in dem er diese Denkweise als eine
keiner näheren Erörterung mehr bedürftige Illasion streift: „außer
dem daß aus empirischen Obersätzen wohl niemand einen apodik-
tischen Schlußsatz zu ziehen hoffen wird." Durch die in der
Eütik vorkonmienden Untersuchungen, sagt er an anderer
Stelle, wird „auf keine Weise ein Teil der Seelenlehre in die Philo-
sophie hinübergezogen."' — Man kann sagen: Frees bedient sich
selbst des gegen ihn gerichteten Arguments, um durch dasselbe
den Psychologismus zu widerlegen.
157. Allein, hier erhebt sich eine neue Schwierigkeit. Man
kann nämlich auf Grund des Zugeständnisses der ünentbehrHchkeit
metaphysischer Voraussetzungen für die Kritik die Frage auf-
werfen, warum es unter solchen Umständen noch des Umwegs über
die psychologische Kritik bedürfe, um zum System der Meta^
physik zu gelangen. Läßt sich die Zugrundelegung metaphy-
und Schelling'' S. 211 f.; „Polemiscbe Schriften'' S. 326 f.; „Neue Kritik der Yer*
nunft«, Einleitung, 2. Aufl. S. 26 f.
» Vgl. auch „System der Metaphysik", § 11, S. 43: „Die psychische An-
thropologie oder Wissenschaft von der Natur des menschlichen Geistes steht dem
System nach nur durch die unten zu bezeichnende metaphysische innere Natur-
lehre mit der Philosophie in Verbindung und tritt so in das System der ange-
wandten Philosophie ein. Allein der Methode nach sind die Verhältnisse anders.''
» S. 239.
AbhuidliuigMi der AriM^fokea Sckvl«. H. Bd. 47
734 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [322
sischer Yoraussetzimgen doch nicht umgehen, warom soll es dann
nicht erlaubt sein, das System dieser Voraussetzungen frei von
aller empirischen Beimischung unmittelbar aufzustellen? Die Mög-
liclilceit der fraglichen psychologischen Untersuchungen mag zuge-
geben werden; die Behauptung aber, daß sie für die Metaphysik
notwendig seien, scheint sich nicht aufrechterhalten zu lassen.
Von einer klaren Beantwortung dieser Frage hängt in der
Tat das ganze Schicksal des Exitizismus ab. Eine solche Ant-
wort suchen wir in der Kantischen Kritik vergeblich. So sehr
man die Vorteile anerkennen muß, die die Kantische Kritik der
Philosophie gebracht hat, so bleiben doch nach E^ants eigener Dar-
stellung diese Leistungen seiner Methode ein Rätsel. Bei Fiues
finden wir die Erklärung dieses Rätsels. Sie besteht in dem ein-
fachen Hinweis auf die Tatsache, daß alle eigentlichen Schwierig-
keiten der Spekulation nicht sowohl den Gehalt des philosophi-
schen Wissens betreffen, als vielmehr nur die systematische Form,
die dieses Wissen erhalten muß, um zur Wissenschaft zu werden.
Und so führt Fries die Notwendigkeit der psychologischen Kritik
auf die schon von Kant in anderem Zusammenhange wohl be-
merkte Tatsache zurück, daß man jene Schwierigkeiten umgehen
kann, wenn man an die Stelle der abstrakten Handhabung der
metaphysischen Prinzipien ein Verfahren setzt, das von diesen
Prinzipien nur einen Gebrauch in concreto macht, so wie ein
solcher in der gewöhnlichen Erfahrung jederzeit vorkommt.
„Darin liegt eigentlich alle Schwierigkeit der Philosophie,
daß sich über das, wonach sie zu oberst fragen muß, nur durch
die künstlichsten Abstraktionen sprechen läßt, bei denen fast
jedem das sichere Urteil ausgeht und nur willkürliche Ge-
danken-Assoziation übrig bleibt. Doch findet sich der Vorteil
dabei, daß nur die isolierte Behandlung jener metaphysischen
323] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 736
Gegenstände so schwierig ist, in der Anwendung gehen wir im
Leben täglich damit um ohne alle Schwierigkeiten. Nur das
macht die Schwierigkeit, daß m^ gerade abgesondert von
solchen Gresetzen sprechen will. Nur das Abstrahieren und Aus-
sondern bringt unser Urteil ins Schwanken. Es könnte uns
also hier geholfen werden, wenn man ein Mittel fände, uns in
Rücksicht dieser metaphysischen Überzeugungen zu orientieren,
ohne daß wir uns bei ihrer Berichtigung einzig auf das Ge-
lingen des schweren Experimentes verließen, jene Abstraktionen
zu bilden und unter einander zu kombinieren. Wenn wir näm-
lich einen Weg fänden, auf dem wir uns in Bücksicht jener Abs-
traktionen und ihrer Verhältnisse orientieren könnten, ohne
diese Abstraktionen selbst zu behandeln. Ein solcher Weg zeigt
sich in der durchaus subjektiven Wendung der Spekulation.
Anstatt objektiv durch den Verstand die allgemeinsten Formen
der Vemünftigkeit unserer Erkenntnis aus dieser heraus zu
skelettieren, bleiben wir nur subjektiv bei der innem Selbstbe-
obachtung unserer Vernunft, und sehen zu, wie die Erkenntnis
als ihre Tätigkeit notwendig organisiert sein muß. An die
Stelle jener schweren Abstraktionen stellen wir also nur eine
einfache Erfahrungswissenschaft, die ein wenig besser als bisher
bearbeitet werden müßte. Dieser unser Vorschlag macht den
Erfolg unserer Spekulationen gar nicht vom Gelingen oder Miß-
lingen einzelner Abstraktionen und ihrer Kombination abhängig
und gewährt uns den großen Vorteil, daß wir unsere Ansichten
vorsichtig durch allmähliche Korrektionen vollkommen machen
können, dagegen bei der andern Art zu philosophieren jeder
einzelne bedeutende Fehler in der Abstraktion gleich das ganze
47^
736 L* Nelson : Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [324
System verfälscht und jede Aufweisung eines solchen Fehlers
das ganze System umwirft.^ ^
„Die Theorie der Vernunft, welche wir hier aus anthropo-
logischen Prinzipien entwickeln, gewährt den Vorteil, daß sie
in Sachen der höchsten Spekulation Entscheidung liefert, ohne
daß wir uns auf die größten Schwierigkeiten des Spekulierens
selbst einzulassen brauchen. Sie ist physikalische Theorie, und
gründet sich also auf Erfahrung und innere Anschauung, die,
wenn sie gleich als innere Anschauung schwer mitteilbar ist,
doch immer weit festere Beurteilungen zuläßt, als die höchsten
Abstraktionen der Spekulationen selbst. Wenn wir uns ohne
anthropologische Beihülfe daran wagen, über ganz allgemeine .
spekulative Dinge zu urteilen, über das Wesen und die Not-
wendigkeit in den Dingen überhaupt, über die Freiheit, oder ob
die Gottheit mit Spinoza, als das letzte Seiende, oder mit Leibniz
als das letzte Denkende vorauszusetzen sei, so werden wir dar-
über unmittelbar wenig festes Urteil haben. Wiewohl wir uns
auf einer Seite wohl bewußt sind, solche Dinge seien gar nicht
nach Wahrscheinlichkeit zu entscheiden, so fühlen wir doch auf
der andern Seite, daß wir uns mehr in Worten verwirren als
urteilen, und können leicht bemerken, daß die widerstreitenden
Urteile des einen und anderen eben daher kommen, weil mehr
unbestimmte Assoziationen als die Wahrheit unser Urteil leiten.
Dies rührt natürlich daher, weil jene hohen Abstraktionen so
schwer zu schematisieren sind, und der innere Sinn in ihnen
so wenig Stoff behält, den die Eeflexion sicher fassen könnte,
daß unsere Kombination hier leicht mehr Spiel mit Worten als
Urteil aus Begriffen wird. Das Unsicherste ist hier die Korn-
^ „Tradition, Mystizismus und gesunde Logik", a. a. 0. S. 8 ff.
325] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 737
bination der einzelnen Abstraktionen, and eben diese wird nns
durch die anthropologische Behandlung ungemein erleichtert, wir
erhalten hier in der Theorie der Vernunft, welche den Ursprung
jeder einzelnen abstrakten Form nachweist, eben durch diesen
Ursprung eine feste Stelle für sie und können nun ihre Ver-
hältnisse zu andern Abstraktionen erfahrungsmäßig bestimmen,
so daß die allgemeinen Urteile selbst dann nur leichtes Resultat
werden. Es wird z. B. nach dem Gesetz der IQiusalität: jede
Veränderung ist eine Wirkung, gefragt, so vergleiche ich nicht
beide Begriffe, um die Wahrheit des Gesetzes auszumittejn,
sondern die Theorie zeigt mir schon im Großen, in welchem
Verhältnis reine Zeitbestimmungen und Kategorieen in unsrer
Vernunft stehen, und daraus ergiebt sich die Gültigkeit und
der Fall der Anwendung der einzelnen Gesetze dann von
selbst«^
* Neue Kritik § 96. (Bd. 11, 2. Aufl. S. 72 f.) Fries fährt fort:
,,Üherhaapt ist die Behandlung der höchsten Abstraktionen so unbestimmt
und schwankend, daß fast kein Philosoph zu einem bestimmten System anders
gelangt, als daß er (oft sich selbst unbewußt) eine psychologische Hypothese über
die Theorie der Vernunft voraussetzt, nach der er die Wahrheit in spekulativen
Dingen in oberster Instanz prüft und aburteilt. Diese Hypothesen sind am Ende
alle von zweierlei Arten; einseitiger Empirismus und einseitiger Bationalismus.
Im Streite gegen diese beiden sind wir dann auch eigentlich genötigt worden,
die höchsten Prinzipien unserer Theorie der transzendentalen Apperzeption durch
Induktionen aus innerer Erfahrung abzuleiten."
Man vergleiche hierzu auch noch die folgende Stelle:
„Mit den abstrakten Formen ist am schwersten zu denken, unvermeidlich
wird die Philosophie immer das Spielzeug leerer Spitzfindigkeiten oder mystischer
Träumereien bleiben, wenn ihr nicht eine eigne Hülfe geleistet wird, um sie die
Bedeutung der AhstrakUanen verstehen zu lehren. Diese Hülfe kommt ihr von
der gehörig ausgebildeten Anthropologie. Die Selbsterkenntnis der Vernunft
leitet allmählich eine Kenntnis ihrer eigenen innem Tätigkeiten ein, wodurch uns
auch für die Gedankenformen eine Stelle ihres Urspi-ungs in unserm Geiste ge-
zeigt wird. Dadurch erhalten wir eine philosophische Topik, durch die uns die
738 ^* Nelson: Über das sogenannte Erkcnntnisproblem. [326
Voreilig genug hatte Herbart gemeint, durch den bloßen Hin-
weis auf jene Abhängigkeit der Psychologie von metaphysischen
Voraussetzungen die Kritik der Vernunft widerlegt zu haben:
„Was nun vollends das Unternehmen anlangt, erst die Grenzen
des menschlichen Erkenntnisvermögens auszumessen, und dann die
Metaphysik zu kritisieren: so setzt dieses die ungeheure Täuschung
voraus, als ob das Erkenntnisvermögen leichter zu erkennen sei,
denn das, womit Metaphysik sich beschäftige. Es liegt aber vor
Augen, daß alle Begriffe, durch die wir unser Erkenntnisver-
mögen denken, selbst metaphysische Begriffe sind.*'* ;,Die zer-
gliedernde Methode der Blritik", so antwortet ihm Fries, „wird
durch diese metaphysischen Begriffe im Gebrauch der Tatsachen
Mühe erspart wird, mit den allgemeinsten Begriffen selbst erst reflektierend die
philosophischen Grandurteile zn erzengen, indem wir diese Abstraktionen schon
nach ihrer Stelle in unserer Vernunft allein gesetzmäßig zu verbinden im
Stande sind."
„Dieses Verhältnis der Anthropologie zur Philosophie wurde erst in neuerer
Zeit seit Locke und Leibniz besser verstanden, und uns ist es aufbehalten ge-
blieben, zu versuchen, ob wir ihm vollständige Deutlichkeit zu geben vermöchten.
Psychologie ist freilich seit jeher in der Philosophie mit behandelt worden, aber
nie auf diesen Zweck hin. . . . Doch liegt auch dies anthropologische Verhält-
nis der Spekulation, dem Einzelnen gleichsam unbewußt, wenigstens seit der
Eleatischon Schule mit in der Geschichte der Philosophie. Dahin gehört aller
Streit darüber, ob man dem Sinne zu trauen habe, oder dem Verstände, oder
keinem von beiden ; dahin gehören alle Versuche, zu einer Theorie des Erkennens
zu gelangen. Aber . . . erst die neuere Zeit hat die richtige Stelle dieser Unter-
suchungen, daß sie nämlich psychologischer Art wären, einsehen lernen. Die alte
Philosophie hielt diese Untersuchungen immer für metaphysisch, selbst Kant hat
diesen Irrtum noch nicht ganz vermieden. Von der Vermeidung desselben hängt
aber alle Klarheit in der Philosophie ab, denn diese Anthropologie ist es allein,
in der die Philosophie durch wirkliche Erweiterung unsrer Erkenntnis Fortschritte
macht, indem die Abstraktion hier selbst wieder Gegenstand der Beobachtung,
nämlich der innem Erfahrung, wird." („Tradition, Mystizismus und gesunde
Logik", a. a.O. S. 37 f. Ähnlich auch „Geschichte der Philosophie", Bd. I, S. 22 ff.]
^ Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie.
327] Dritter Teü: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 739
der philosophischen Anthropologie so wenig gehindert, als der ge-
meine Menschenverstand in der Bearteilnng des leichtesten Ge-
schäftes dadurch, daß er in seinen Urteilen beständig die Kate-
gorieen anwendet." ^
In eben diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Fries in der
Einleitung zu seiner „Neuen oder anthropologischen Kritik der
Vernunft^ ' erklärt, der Standpunkt dieser anthropologischen Kri-
tik sei „der einzige Standpunkt der Evidenz für spekulative Dinge*^.
158. Wer sich freilich von dem erkenntnistheoretischen Vor-
urteil durchaus nicht losmachen kann, der wird auch hier noch
den Einwand erheben: eine solche kritiklose Berufung auf die
„Erfahrung" sei dem Philosophen durchaus nicht gestattet, denn
sie laufe darauf hinaus, den „gesunden Menschenverstand" zum
obersten Richter in spekulativen Dingen einzusetzen. Allein, wer
so spricht, täuscht sich durch die Unklarheit seiner eigenen
"Worte ; für die wissenschaftliche Diskussion müssen wir eine weit
bestimmtere Sprache verlangen. Der Grund der Gültigheit unserer
philosophischen Behauptungen soll keineswegs in der Erfahrung
oder in den Urteilen des „gesunden Menschenverstandes" gesucht
werden; darin sind wir mit jenen Erkenntnistheoretikern einig.
Aber worin liegt denn nun positiv dieser Grund? Das ist ja
eben erst die Frage. Eine Frage, deren Beantwortung wir nicht
voreilig durch einen philosophischen Machtspruch vorwegnehmen
dürfen. Um aber die Antwort auf diese Frage zu suchen^ haben
wir ja gar nichts anderes, wovon wir ausgehen konnten, als die
gewöhnliche und unphilosophische Erfahrung, und wir können,
wenn wir die philosophische Bildung unserem Verstände erst zu
* Polemische Schriften, Anhang I, S. 327.
• 2. Aufl., S. 37.
740 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [328
geben saclien, nicht so verfahren, als ob wir sie schon besäßen;
-wir haben also zunächst noch gar kein anderes Denkmittel als
unseren mehr oder weniger gesund entwickelten Verstand. Es
steht uns ja noch immer frei, hinterher diese erfahrungsmäßige
Untersuchung selbst wieder der Kritik zu unterwerfen und zu
prüfen, welches die ihr stillschweigend und ohne Bewußtsein zu
Grunde gelegten philosophischen Voraussetzungen sind, und ob
dieselben sich mit denen decken, die die Deduktion aufgewiesen
hat. Mehr vermögen wir in der Wissenschaft überhaupt nicht,
als die innere Widerspruchslosigkeit zwischen unseren Erkennt-
nissen zu sichern: wer von der Philosophie darüber hinaus noch
etwas fordert, der setzt voraus, daß es für den Philosophen einen
Standpunkt außer unserer Erkenntnis gebe, von dem aus sich
ein Urteil über die Objektivität derselben fällen ließe. Er bedenkt
aber nicht, daß dieses Urteil ja auch wieder Erkenntnis sein
müßte, daß er sich also mit seiner Forderung selbst widerspricht. ^
^ Vgl. Neue Kritik § 70 f. und besonders aus § 127 die folgende Stelle:
„Aber dieses angebliche Thema der Phüosophie [das Verhältnis der Er-
kenntnis zum Gegenstande] ist gar kein Thema für eine Theorie, überhaupt nicht
für eine Wissenschaft. Vielmehr gehört alle Theorie und alle wissenschaftliche
Form nur den Abstufungen der subjektiven Gültigkeit und der empirischen Wahr-
heit ; jenes höchste modalische Verhältnis in unsrer Erkenntnis hingegen kann gar
keiner Theorie unterworfen werden. . . . Dieses Verhältnis ist subjektiv ein erstes
Vorausgesetzes bei allem Erkennen; es ist aber gerade das keiner Entwickelung
Fähige, was an die Spitze keines Systems gehört. Wo erkaunt wird, wird ein
Gegenstand erkannt, das liegt in der Natur des Erkennens; wir können aber
durchaus nie gleichsam Erkenntnis und Gegenstand zur Vergleichung neben ein-
ander stellen, um zu beurteilen, ob die Realität des einen der Vorstellung in der
andern Wahrheit gebe oder nicht. Selbst in dem einfachen Bewußtsein : Ich bin,
bleibe ich nur der Gegenstand, dessen ich mir durch meine subjektive Tätigkeit
bewußt werde, ohne hier das Verhältnis des Einen zum Andern überwinden zu
können. Ja es läßt sich sogar zeigen, daß wir, wie wir uns auch wenden, nicht
einmal im Stande sind, uns eine Vernunft auszudenken, wenn sie auch noch so
viel vollkommner wäre als die unsrige, wenn sie auch |in der Tat das wahre
329] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 741
Was an dem angeführten Einwände richtig ist, kommt auf
die triviale Bemerkung zurück, daß das kritische Verfahren durch
die Anknüpfung an die Erfahrung nicht vor Irrtum gesichert ist.
Aber werden wir wohl besser vor der Gefahr des Irrtums ge-
schützt sein, wenn wir uns mit der Spekulation blindlings über
alle Erfahrung erheben? Der Möglichkeit zu irren ist das mensch-
liche Donken in keiner seiner Äußerungen überhoben; es bleibt
uns also nichts übrig, als unter den zur Lösung einer Aufgabe
möglichen Verfahrungsweisen diejenige anzuwenden, bei der wir
hoffen können, der Gefahr des Irrtums im geringsten Grade aus-
gesetzt zu sein. In dem uns angehenden Falle haben wir aber
nur die Wahl, entweder kritiklos aufs Geratewohl ein metaphy-
sisches System aufzubauen oder aber von der gemeinen Erfahrung
ausgehend uns erst allmählich zu den philosophischen Abstrak-
tionen zu erheben. Welchem von diesen Wegen aber wohl der
Vorzug zu geben ist, dafür könnte uns schon die Geschichte einen
deutlichen Fingerzeig geben. Wer nicht in dem anmaßlichen
Wahne lebt, durch die bloße Kraft des eigenen Denkens das leisten
zu können, was die mehrtausendjährige Arbeit der größten Denker
nicht zu leisten vermocht hat, der wird entweder alle Philosophie über-
haupt aufgeben oder er wird es auf dem zweiten Wege versuchen.^
Wesen der Dinge, wie sie an sich sind, erkennte, welche sich selbst dessen zu
versichern im Stande wäre. . . . Für jede einzelne £rkenntnistätigkeit ist das
Sein des Gegenstandes ein solches Äußeres, mit dem wir also nur durch diese
Tätigkeit in Berührung kommen, ohne es je neben dieselbe zur Vergleichung
stellen zu können. Die ganze Aufgabe also, die objektive Gültigkeit unsrer Er-
kenntnis nur durch die Übereinstinmiung des Gegenstandes mit der Erkenntnis
nachzuweisen, ist unrichtig gestellt, und alles Pochen darauf: man solle und wolle
in der Philosophie von keiner andern als einer höchsten, absoluten Wahrheit und
ihrem Gesetze hören, entspringt nur aus Unkunde der Theorie der menschlichen
Vernunft." (Bd. D, 2. Aufl. S. 190 ff.)
^ „Worauf wollen wir uns berufen, wenn wir hoffen, in unsern Arbeiten
742 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [330
159. So viel von der Fortbildung der philosophiBchen Me-
thode bei Frus.
Wir hatten (§ 107) gefunden, daß sich die Aufgaben für eine
glücklicher zu sein als jene ganze Vorzeit? Doch wohl nicht auf unsere stär-
kere Denkkraft, mit der wir allen Denkern früherer Zeiten überlegen sein wollen ?
Doch wohl noch weniger auf unsorn bessern, frommen Willen, wie einige be-
schränkte Köpfe voraussetzen? Einzig eine neue Methode, welche wir dem Miß-
lingen der frühem Versuche ablernen können, kann uns zu bessern Erwartungen
berechtigen, und warum soll diese gerade die kritische sein? Weil jede andere
Methode das Bilden der Abstraktionen als etwas voraussetzt, das sich von selbst
giebt, da dies doch eben im philosophischen Wissen das allein Schwierige ist.
Das ist eben das Eigentümliche der kritischen Methode, daß sie dieses Ausbilden
des Abstrahierens zu ihrem Hauptgeschäft macht und daß sie sich am Ende doch
noch von der Gefahr befreit, durch Fehler im Abstrahieren dem Irrtum preis-
gegeben zu bleiben, indem die Probe ihrer Deduktionen nicht auf philosophischen
Abstraktionen, sondern nur auf der Selbsterkenntnis der Vernunft, d. h. auf Be-
obachtungen beruht." (System der Logik, § 126, 3. Aufl. S. 423. Vgl. auch
Neue Kritik § 103 (2. Aufl. Bd. II, S. 103), wo die Deduktion als das „Kunst-
stück" beschrieben wird, „welches gleichsam als Rechenprobe der vorhergehenden
Analysis folgt«.)
„Werfen wir noch einmal die Frage auf: Was wollen wir denn mit unserm
ganzen Philosophieren? Die erste Antwort war: Der Philosophie ihre Form geben
und sichern. Der Inhalt derselben liegt zerstreut und oft genug verkannt in den
gemeinsten Erfahrungen, in dem Verstandesgebrauch des gemeinen Lebens. Dieser
soll aber durch das Philosophieren und mit der wissenschaftlichen Form Sicher-
heit und Festigkeit erlangen. Woher nehmen wir nun die ersten Gründe dieser
Festigkeit und Sicherheit? Indem wir erst anfangen zu philosophieren, haben
wir nichts als eben diese gemeine Erfahrung, woraus wir schöpfen können, in ihr
müssen diese letzten Gründe schon vorhanden sein, wenn sie gleich sehr verbor-
gen liegen, und eben sie aus dieser Dunkelheit heraus zu heben, um sie nachher
brauchen zu können, damit das ganze Gebäude durch sie Haltung bekomme, dies
ist die einzige Bemühung der Kritik der Vernunft.
„Die ganze Absicht unsers PhUosophierens kann nur die sein, eine allge-
meine Erklärung der in der gemeinen Erfahrung vorkommenden Phänomene
des philosophischen Wissens zu geben. Für diese Erklärung haben wir aber
auch wieder keinen andern Standpunkt als den der gemeinen Erfahrung; was in
dieser unmittelbar gewiß ist, davon können wir allein ausgehen, denn aus dem
Kreise unsers eignen Wissens werden wir uns nie heraus zu heben vermögen,
331] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 743
wissenschaftliche Fortbildung der Kantischen Philosophie auf diese
drei zurückführen ließen: Erstens die psychologische Wendung
der Kritik der Vernunft und die strenge Trennung von Kritik
sondern mit allen unsem Erklärungen nur so viel erlangen, dieses Wissen mit
sich selbst in Übereinstimmung zu bringen." (^^R^inhold, Fichte und Schelling",
S. 269 f.)
„Der Kritizismus besteht in dem Vorschlag, von der gemeinen Erfahrung
selbst aus sich das Gebiet der Spekulation erst zu erringen, den gemeinen Ver-
standesgebranch erst zum spekulativen zu erheben, ehe man sich des letzteren
bedient. Auf dem Gebiete des gemeinen Verstandesgebrauches sind wir ja aber
alle einig, und seine Wahrheit, sie mag nun absoluter Schein oder Wahrheit oder
was sonst sein, gilt uns allen als empirische Wahrheit. Hier ist also Skep-
tizismus gar nicht anzubringen, und somit ist durch den Kritizismus der Weg
gezeigt, den jeder zur Spekulation selbst gehen kann; bloße Skepsis gegen einen
einzelnen Versuch der Art ist sehr unbedeutend, da es eines jeden Sache wäre,
wenn er sich damit beschäftigen will, einen bessern Weg anzuzeigen. Denn daß
der Vorschlag des Kritizismus überhaupt tunlich sei, folgt unmittelbar daraus,
daß wir ja nichts außer dieser gemeinen Erfahrung besitzen, woraus auch irgend
eine unabhängige Spekulation gebildet werden könnte, und folglich irgend ein
richtiges Resultat über Spekulation auf diesem Wege notwendig erhalten werden
muß. Meistenteils prahlt der Skeptizismus nur mit der Kunst sich nicht über-
zeugen zu lassen, ohne zu bedenken, daß er diese mit jedem gemein hat, der
nicht denken kann, oder nicht denken will, und daß an Tatsachen zu zweifeln,
nur ein Beweis von Unwissenheit sein kann. Kritik aber ist Erfabrungswissen-
schaft, und beruft sich nur auf Tatsachen der innem Erfahrung, welche jeder
selbst nachbeobachten oder berichtigen kann, wenn er die Mühe nicht scheut."
(Ebenda S. 218.)
Vgl. hierzu Neue Kritik § 80 (I. Band, 2. Aufl., S. 389 f.):
„Die meisten Philosophen halten es für Unrecht, ihre Spekulation öffentlich
mitzuteilen, sie meinen, es zieme sich nur, das vollendete System der öffentlichen
Prüfung vorzulegen. Dadurch aber wird gerade der richtige Gesichtspunkt der
Beurteilung ganz verschoben. Evidenz fehlt den Anfängen eines philosophischen
Systems unvermeidlich, weil sie die höchsten Abstraktionen sind, das Publikum
kann also nur entweder die handwerksmäßige Brauchbarkeit der Resultate für
Theologie, Politik oder Medizin zum Maßstab der Beurteilung nehmen, oder die
sogenannte Konsequenz, nach der man oft das lächerliche Lob austeilen hört:
der Mann behauptet freilich die größten Absurditäten, aber er bleibt sich doch
konsequent."
742 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblera. [330
159. So viel von der Fortbildnng der philosophischen Me-
thode bei Fehs.
Wir hatten (§ 107) gefunden, daß sich die Aufgaben für eine
glücklicher zu sein als jene ganze Vorzeit? Doch wohl nicht auf unsere stär-
kere Denkkraft, mit der wir allen Denkern früherer Zeiten überlegen sein wollen ?
Doch wohl noch weniger auf unsern bessern, frommen Willen, wie einige be-
schränkte Köpfe voraussetzen? Einzig eine neue Methode, welche wir dem Miß-
lingen der frühem Versuche ablernen können, kann uns zu bessern Erwartungen
berechtigen, und warum soll diese gerade die kritische sein? Weil jede andere
Methode das Bilden der Abstraktionen als etwas voraussetzt, das sich von selbst
giebt, da dies doch eben im philosophischen Wissen das allein Schwierige ist.
Das ist eben das Eigentümliche der kritischen Methode, daß sie dieses Ausbilden
des Abstrahierens zu ihrem Hauptgeschäft macht und daß sie sich am Ende doch
noch von der Gefahr befreit, durch Fehler im Abstrahieren dem Irrtum preis-
gegeben zu bleiben, indem die Probe ihrer Deduktionen nicht auf philosophischen
Abstraktionen, sondern nur auf der Selbsterkenntnis der Vernunft, d. h. auf Be-
obachtungen beruht" (System der Logik, § 1261, 8. Aufl. S. 423. Vgl. auch
Neue Kritik § 103 (2. Aufl. Bd. II, S. 103), wo die Deduktion als das „Kunst-
stück" beschrieben wird, „welches gleichsam als Rechenprobe der vorhergehenden
Analysis folgt".)
„Werfen wir noch einmal die Frage auf: Was wollen wir denn mit unserm
ganzen Philosophieren? Die erste Antwort war: Der Philosophie ihre Form geben
und sichern. Der Inhalt derselben liegt zerstreut und oft genug verkannt in den
gemeinsten Erfahrungen, in dem Verstandesgebrauch des gemeinen Lebens. Dieser
soll aber durch das Philosophieren und mit der wissenschaftlichen Form Sicher-
heit und Festigkeit erlangen. Woher nehmen wir nun die ersten Gründe dieser
Festigkeit und Sicherheit? Indem wir erst anfangen zu philosophieren, haben
wir nichts als eben diese gemeine Erfahrung, woraus wir schöpfen können, in ihr
müssen diese letzten Gründe schon vorhanden sein, wenn sie gleich sehr verbor-
gen liegen, und eben sie aus dieser Dunkelheit heraus zu heben, um sie nachher
brauchen zu können, damit das ganze Gebäude durch sie Haltung bekomme, dies
ist die einzige Bemühung der Kritik der Vernunft.
„Die ganze Absicht unsers Philosophierens kann nur die sein, eine allge-
meine Erklärung der in der gemeinen Erfahrung vorkommenden Phänomene
des philosophischen Wissens zu geben. Für diese Erklärung haben wir aber
auch wieder keinen andern Standpunkt als den der gemeinen Erfahrung; was in
dieser unmittelbar gewiß ist, davon können wir allein ausgehen, denn aus dem
Kreise unsers eignen Wissens werden wir uns nie heraus zu heben vermögen,
331] Dritter Teil: Die Gescliichte der Erkenntnistheorie. 743
wissenschaftKche Fortbildung der Kantischen Philosophie anf diese
drei zurückführen ließen: Erstens die psychologische Wendung
der Kritik der Vernunft und die strenge Trennung von Kritik
sondern mit allen unsern Erklärungen nur so viel erlangen, dieses Wissen mit
sich selbst in Übereinstimmung zu bringen." (,,Reinbold, Fichte und Schelling",
S. 269 f.)
„Der Kritizismus besteht in dem Vorschlag, von der gemeinen Erfahrung
selbst aus sich das Gebiet der Spekulation erst zu erringen, den gemeinen Ver-
standesgebrauch erst zum spekulativen zu erheben, ehe man sich des letzteren
bedient. Auf dem Gebiete des gemeinen Verstandesgebrauches sind wir ja aber
alle einig, und seine Wahrheit, sie mag nun absoluter Schein oder Wahrheit oder
was sonst sein, gilt uns allen als empirische Wahrheit Hier ist also Skep-
tizismus gar nicht anzubringen, und somit ist durch den Kritizismus der Weg
gezeigt, den jeder zur Spekulation selbst gehen kann; bloße Skepsis gegen einen
einzelnen Versuch der Art ist sehr unbedeutend, da es eines jeden Sache wäre,
wenn er sich damit beschäftigen will, einen bessern Weg anzuzeigen. Denn daß
der Vorschlag des Kritizismus überhaupt tunlich sei, folgt unmittelbar daraus,
daß wir ja nichts außer dieser gemeinen Erfahrung besitzen, woraus auch irgend
eine unabhängige Spekulation gebildet werden könnte, und folglich irgend ein
richtiges Resultat über Spekulation auf diesem Wege notwendig erhalten werden
muß. Meistenteils prahlt der Skeptizismus nur mit der Kunst sich nicht über-
zeugen zu lassen, ohne zu bedenken, daß er diese mit jedem gemein hat, der
nicht denken kann, oder nicht denken will, und daß an Tatsachen zu zweifeln,
nur ein Beweis von Unwissenheit sein kann. Kritik aber ist Erfabrungswissen-
schaft, und beruft sich nur auf Tatsachen der innem Erfahrung, welche jeder
selbst nachbeobachten oder berichtigen kann, wenn er die Mühe nicht scheut."
(Ebenda S. 213.)
Vgl. hierzu Neue Kritik § 80 (I. Band, 2. Aufl., S. 389 f.):
„Die meisten Philosophen halten es für Unrecht, ihre Spekulation öffentlich
mitzuteilen, sie meinen, es zieme sich nur, das vollendete System der öffentlichen
Prüfung vorzulegen. Dadurch aber wird gerade der richtige Gesichtspunkt der
Beurteilung ganz verschoben. Evidenz fehlt den Anfängen eines philosophischen
Systems unvermeidlich, weil sie die liöchsten Abstraktionen sind, das Publikum
kann also nur entweder die handwerksmäßige Brauchbarkeit der Resultate für
Theologie, Politik oder Medizin zum Maßstab der Beurteilung nehmen, oder die
sogenannte Konsequenz, nach der man oft das lächerliche Lob austeilen hört:
der Mann behauptet freilich die größten Absurditäten, aber er bleibt sich doch
konsequent."
744 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [332
und System, zweitens die Anflostmg des Hnmeschen Problems
durch die erfahrungsmäßige Aufweisung einer nicht-anschaulichen
unmittelbaren Erkenntnis, und drittens die Beseitigung des for-
malen Idealismus xmd die spekulative Begründung der Ideen, Wir
werden im Folgenden zeigen, daß Fries nicht nur die erste dieser
Aufgaben, sondern auch die beiden anderen gelöst hat.
Durch die Anwendung seiner veränderten Methode ist es
Fries gelungen, den psychologischen Grundfehler der Kantischen
Kritik aufzudecken und zu verbessern. Diese Verbesserung, der
größte Fortschritt, der in der Philosophie nach Kakt gemacht
werden konnte, besteht in der Entdeckung der nicht-anschaulichen
unmittelbaren Erkenntnis. Auf diese Entdeckung kommt für die
Beurteilung der Friesschen Kritik alles an, auf sie müssen wir
daher etwas näher eingehen.^ — Wir betreten damit das Gebiet
der Psychologie selbst.
Die Anschauung erklärt Fries als diejenige unmittelbare Er-
kenntnis, deren wir uns unmittelbar^ d. h. ohne Beihülfe der Re-
flexion, beun^ßt werden.^ Eine nicltt-anschavliche unmittelbare Er-
kenntnis wäre daher eine solche, die zwar ihren Grund nicht in
der Reflexion hat, uns aber doch nur durch Yermittelung der Re-
flexion zum Bewußtsein kommen kann. Wie kann man sich von
dem Vorhandensein einer solchen Erkenntnisart überzeugen? Eine
solche Erkenntnis kann es jedenfalls dann nicht geben, wenn die
noch heute herrschende psychologische Theorie im Rechte ist, die
von der Annahme ausgeht, daß Anschauung und Reflexion die ein-
zigen dem menschlichen Geiste möglichen Erkenntnisarten sind.
' Vgl. zum Folgenden zunächst Neue Kritik § 54 f.
' Neue Kritik § 52. — Diese Erklärung deckt sich mit dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch.
333] Dritter Teil : Die Gescbicbte der Erkenntnüstheorie. 745
Daß diese Theorie auf Schwierigkeiten führt, hat freilich schon
HuME bemerkt. Er findet diese Schwierigkeiten in der Tatsache
gewisser metaphysisch genannter Urteile, die sich ohne weiteres
nicht auf die nach der Theorie möglichen Erkenntnisqaellen za-
rückführen lassen. In dieser Schwierigkeit besteht das Hnmesche
Problem. Wenn es sich also beweisen ließe, daß das Hnmesche
Problem mit den Mitteln der herrschenden psychologischen Theo-
rie unlösbar ist, so wäre damit die Existenz einer weder anschaa-
liehen noch reflektierten, also einer nicht-anschaulichen unmittel-
baren Erkenntnis erwiesen.
Die zu prüfende psychologische Theorie darf keine anderen
Vorstellungen kennen als solche, die entweder unmittelbar den
Sinnen angehören oder durch Vermittelxmg von Assoziation und
Eefiexion aus den ersteren hervorgegangen sind. Die Reflexion
darf aber hier nicht als ein selbständiges und von der Assoziation
unabhängiges Erkenntnisvermögen betrachtet werden, sondern sie
besteht in der tviükürlichen Leitung des Vorstellungsverlaufs, wo-
bei der Wille nicht gesetzlos in die Assoziation eingreift, sondern
selbst nur als ein nach den Gesetzen der Assoziation wirkender
Paktor auftritt.* Die Erklärungsgründe der fraglichen Theorie
beschränken sich also zuletzt auf zwei : Sinn und Assoziation, und
^ In diesem Punkte finden wir Fries ganz auf dem Boden der modernen
Theorie. Man vergleiche Neue Kritik § 55:
„Diese Willkürlichkeit ist nur in sehr uneigentlicher Bedeutung Freiheit;
sie . . . ist ehenso notwendig bestimmt als jede Tätigkeit der innern Natur."
(2. Aufl. Bd. I, S. 258.) „Das Grundgesetz des willkürlichen Vorstellens . . . ist
nämlich nur ein besonderer Fall des allgemeinen Gesetzes der Assoziation, dessen
Einfluß durch Gewohnheit erhöht worden ist.' Vermöge der Einheit der Handlung
in aller meiner innern Tätigkeit assoziiert sich auch das Wollen mit dem Vor-
stellen, und der Grad der Stärke einer Vorstellung hebt sich, sobald der Wille
sich auf sie richtet, und sie mir zum Zwecke macht.*' (S. 268 f.)
746 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [334
es ist die Aufgabe der Theorie, anf diese beiden Prinzipien alle
Tatsachen der inneren Erfahrung zurückzuführen.
160. Die Kantische Kritik hat hier ein einfaches Kriterium,
um sich des nicht-sinnlichen Ursprungs einer Erkenntnis zu ver-
sichern: ,, Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit sind sichere
Kennzeichen einer Erkenntnis a priori."^ In der Tat, hierin
stimmen wohl noch alle überein, daß die Sinne für sich nicht
mehr erkennen lassen als zufällige und einzelne Tatsachen und
daß daher allgemeine und notwendige Wahrheiten, d. h. Gesetze
im strengen Sinne des Wortes, nicht a posteriori erkannt werden
können.* Aber die Frage ist: Gielt es solche allgemeinen und
notwendigen Erkenntnisse? Läßt es sich zeigen, daß wir im Be-
sitze auch nur einer solchen Erkenntnis sind, so wäre damit der
Beweis der Existenz einer eigenen nichtsinnlichen Erkenntnis-
quelle, der Existenz einer „reinen Vernunft" erbracht. Diesen
Beweis meinte EIant in der Tat führen zu können: „Daß es der-
gleichen notwendige und im strengsten Sinne allgemeine, mithin
reine Urteile a priori, im menschlichen Erkenntnis wirklich gebe",
sei „leicht zu zeigen^. Es genüge hierfür, sich auf die Sätze der
Mathematik zu berufen oder auf den selbst im gemeinsten Ver-
standesgebrauche vorkommenden Grundsatz der Kausalität. „Auch
könnte man, ohne dergleichen Beispiele zum Beweise der Wirk-
lichkeit reiner Grundsätze a priori in unserem Erkenntnisse zu
bedürfen, dieser ihre Unentbehrlichkeit zur Möglichkeit der Er-
fahrung selbst, mithin a priori dartxm."'
» Kritik der reinen Vernunft, 2, Aufl. Einleitung II,
« Vgl. § 147 dieser Schrift.
' Kritik der reinen Vernunft, a. a. 0. Vgl auch Kritik der praktischen
Vernunft, S. 110:
„In Ansehung der theoretischen [Vernunft] konnte das Vermögen eines reinen
336] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 747
Die Tragweite dieser Argamentation ist gewöhnlich sehr
überschätzt worden. Die Behauptung, die es zu beweisen gilt,
ist eine psychologische; wir werden also auch einen psychologisch
strengen Beweis für sie fordern müssen. Als ein solcher kann
aber die Kantische Argumentation nicht betrachtet werden. Das
van Yjim benutzte Kriterium der ÄprioritcU kann in der TJworie der
Vernunft nicht zugelassen werden. Allgemeinheit und Notwendig-
keit eines Urteils sind nämlich keine empirisch konstatierbaren
Tatsachen. Was sich durch innere Beobachtung feststellen läßt,
ist lediglich der Anspruch eines Urteils auf Allgemeinheit und
Notwendigkeit. Die Behauptung beispielsweise, der Grundsatz
der Kausalität sei ein allgemeines und notwendiges Urteil, giebt
lediglich die Behauptung der Gültigkeit dieses Urteils wieder, ist
also selbst nicht ein psychologisches, sondern ein metaphysisches
Urteil.
Diese Schwierigkeit muß man wohl beachten, wenn man sich
das Geschäft der Kritik nicht zu leicht machen und zu berech-
tigten Einwänden Anlaß geben wilL Mit Recht hat man gegen
das Verfahren der Kantischen Kritik den Einwand eines Zirkels
erhoben. Kant begründet die Apodiktizität der Mathematik durch
den Satz, daß die mathematischen Urteile sich auf eine „reine
Anschauung" gründen, die als solche eine formale Bedingung aller
möglichen sinnlichen Erkenntnis sei. Aber auf die Annahme der
Existenz einer solchen reinen Anschauung kommt er ja erst durch
einen Rückschluß aus der schon vorausgesetzten Apodiktizität der
mathematischen Urteile. — Die Selbstbeobachtung kann hier nie
mehr zeigen als den Anspruch des mathematischen Urteils auf
Vemunfterkenntniases a priori durch Beispiele aus Wissenschaften ganz leicht
und evident bewiesen werden."
748 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [336
apodiktische Geltung, und von der Feststellung dieses Anspruchs
ist kein Rückschlaß auf den rationalen Ursprung des Urteils mög-
lich. Ob dieser Anspruch zu Recht besteht, das ist erst die Frage,
durch deren Beantwortung sich das Urteil begründen ließe; die
Apodiktizität darf also für seine Begründung nicht vorausgesetzt
werden.
Was aber das Argument von der Unentbehrlichkeit der Grund-
sätze a priori zur Möglichkeit der Erfahrung betrifft, so liegt
auch hier eine Täuschung vor. Kant bemerkt selbst, daß dies ein
Argument „a priori" sei; die Apriorität desselben beruht jedoch
nur darauf, daß es analytisch aus dem Begriff der Erfahrung ge-
zogen ist. Und als analytisches Urteil mag die Argumentation
zugegeben werden; sie verschiebt aber nur die Frage, denn sie
stützt sich auf eine willkürliche Definition der ,jErfabrung", wäh-
rend doch erst gezeigt werden müßte, daß wir wirJcUch so
etwas wie das hier j^Erfahrung^ GenamUe hesiisen. Diese Frage
läßt sich psychologisch nicht entscheiden, da eine solche Ent-
scheidung wiederum ein Urteil über die apodiktische Geltung der
nach jenem Sprachgebrauch zur Erfahrung gehörigen „Kegeln"
einschließen würde. ^
1 Vgl. § 17 ff. dieser Schrift.
In scharfsinniger Weise hat bereits Maimon die Schwäche dieser Eanti-
schen Beweisführung erkannt. In seinen „Kritischen Untersuchungen über den
menschUchen Geist" (S. 55) sagt er:
,, Absolute Notwendigkeit und Allgemeinheit . . . sind keine Kriterien,
woran wir Erfahrung in der strengen . . . Bedeutung, als Objekt erkennen,
sondern bloße Merkmale, woran wir ihren Begriff erkennen, und von andern
unterscheiden können. Denn da die nicht absolute Notwendigkeit und Allge-
meinheit, die mit Erfahrung in der andern Bedeutung verknüpft ist» einer Ver-
steigerung fähig ist, so können sie zu einem solchen Grade steigen, daß ihre
Folgen (in Bestimmung des Erkenntnisvermögens) mit den Felgen der absoluten
Notwendigkeit und Allgemeinheit einerlei, und also auch ihre Gründe mit ein-
3371 Dritter Teil: Die GescMchte der Er&enntnistEeorie. 749
161, Es bleibt uns also für die psychologische Prüfung der
Frage kein anderer Ausgangspunkt übrig als die Untersuchung
des faktischen Anspruchs gewisser Urteile auf apodiktische Gel-
tung. Hier giebt nun gewöhnlich ein weiteres Mißverständnis der
Untersuchung eine schiefe Richtung. Hüme hatte den Versuch ge-
macht, unsere Kausalurteile auf die Erklärungsgründe der empi-
ristischen Theorie zurückzuführen, indem er sie aus einer gewohn-
heitsmäßigen Erwartung ähnlicher Fälle ableitete und so als ein
Produkt der Assoziation erklärte. Indem man nun über die Rich-
tigkeit dieser Erklärung streitet, sind doch Freunde und Gregner
in der Voraussetzung einig, daß wenn es mit der Humeschen Zu-
rückführung der Kausalurteile auf das Gesetz der Erwartung
ähnlicher Fälle seine Richtigkeit habe, auch dem Postulat einer
empiristischen Erklänmg Genüge geleistet sei; daß also umge-
kehrt der Apriorismus mit der Behauptung stehe und falle, daß
aus dem Gesetz der Erwartung ähnlicher Fälle die Möglichkeit
der Kausalurteile nicht erklärt werden könne. So allgemein diese
Voraussetzung angenommen worden ist, so leicht läßt sich/ doch
zeigen, daß sie falsch ist. Ich behaupte nämlich, daß noch
niemand das Phänomen der Erwartung ähnlicher Fälle in einer
dem empiristischen Postulat genügenden Weise erklärt hat.
Ja ich behaupte, daß eine solche Erklärung schlechterdings un-
ander verwechselt werden können, so daß wir ein quid pro quo (subjektive
zur objektiven Notwendigkeit, und komparative zur absoluten Allgemeinheit)
machen: und so lange dieser Zweifel nicht gehoben wird, können wir dieses
Faktum bloß problematisch annehmen/'
In der Tat geht Maimon hinsichtiich der metaphysischen Prinzipien wieder
auf HuMEs assoziationspsychologischen Erklärungsversuch zurück. Vgl. „Versuch
über die Tranzendentalphilosophie" , S. 72 if.; „Philosophisches Wörterbuch",
S. 166 f., 173 f.; „Ober die Progressen der Philosophie", S. 51 ff.; „Versuch einer
neuen Logik oder Theorie des Denkens", S. 419, 432.
Abhudlimgu d«r MM^ieken Seliide. DL Bd. 48
760 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [338
möglich ist. Der Beweis für diese Behauptimg ist sehr leicht za
fahren.*
Das Q-esetz der Erwartung ähnlicher Fälle soll ein Q-esetz
der Assoziation sein. Was ist Assoziation? Ohne uns hier auf
eine sabtile Erörterung der Assoziationsvorgänge einzulassen,
können wir doch Folgendes als allgemein zugestanden annehmen :
Assoziation ist eine Verbindung der Vorstellungen von der Art,
daß wenn die Vorstellung eines Gegenstandes Ä in einer gewissen,
näher zu definierenden Beziehung zu der Vorstellung eines Gegen-
standes B steht, das Eintreten der Vorstellung von Ä das Ein-
treten der Erinnerung an B zur Folge hat. So soll nun durch
die häufig wiederholte Beobachtung der Aufeinanderfolge zweier
Erscheinungen Ä und B zwischen den Vorstellungen beider Er-
scheinungen eine Assoziation gestiftet werden, die dazu führt, daß
wir bei einer erneuten Beobachtung von A auch das Eintreten
von B erwarten. Allein, das Eintreten einer Erscheinung er-
warten heißt nicht: sich an diese Erscheinung erinnern. Die Er-
wartung enthält die Annahme der Realität eines wenn auch künf-
tigen Ereignisses. Die Gewißheit dieser Annahme mag noch so
gering sein, so xmterscheidet sie sich doch wesentlich von der nur
problematischen Vorstellung, wie sie die bloße Erinnerung kenn-
zeichnet.
Der hier entscheidende Unterschied läßt sich nicht, wie Hüme
wollte, in einen bloß graduellen verwandeln. Hüme suchte das
Merkmal, das die Erkenntnis von bloßen Vorstellungsbildern unter-
scheiden sollte, in der Intensität der Devilichkeit der Vorstellun-
^ Vgl. zum Folgenden meine Abhandlung „Ist metaphysikfreie Naturwissen-
schaft möglich?**, Kapitel I bis VI und VUI. (Abhandlangen der Friesischen
Schule, Bd. ü, Heft 3.)
339] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 761
gen. Nach dieser Erklärung könnte man denn meinen, einen
Übergang von der einfachen Erinnerung zor Erwartung herstellen
zu können, indem man eine mit der Wiederholung der beobach-
teten Aufeinanderfolge wachsende Deutlichkeit des Erinnerungs-
bildes annimmt. Aber diese Hypothese widerspricht den Tat-
sachen der Selbstbeobachtung. Das Erinnerungsbild kann zu be-
liebiger Intensität der Deutlichkeit gesteigert werden, ohne den
Erwartungscharakter anzunehmen, und es kann umgekehrt das un-
deutlichste Erinnerungsbild mit dem Charakter der Erwartung be-
haftet sein. — Davon ganz zu schweigen, daß selbst das wirk-
liche Bestehen einer solchen Beziehung noch nichts für die Iden-
tität der in dieser Beziehung stehenden Erscheinungen beweisen
konnte.^
Das Gesetz der Erwartung ähnlicher Falle läßt sich also auf
das Gesetjs der Ässojsiaiion nicht eurückführen.
» Vgl. Neue Kritik § 94 (2. Aufl. Bd. U, S. 71 f.):
„Beide Verbindungswelsen , die subjektive der Assoziation und die objek^»
tive synthetische Einheit der Vernunft sind aber doch durchaus verschiedener
Natur: so eng Wort und Gedanke assoziiert sein mögen, so wird doch dadurch
nie die entfernte synthetische Vereinigung ihrer Gegenstände mehr angenähert
werden. Worte werden diesem Verhältnis keine große Deutlichkeit geben, weil
wir keine anschauliche Form für die Vereinigung des zugleich Gegebenen in
unsem innem Tätigkeiten haben; ^wer sich aber selbst beobachtet, der wird
finden, daß die Einheit unsrer innem Tätigkeit in beiden Fällen sich auf ganz
verschiedene Weise anwendet. Bei der Einheit der Erkenntnis der Vernunft ist
gleichsam von dem Ganzen ihrer extensiven Größe die Rede, wie alle Teile in
einer Form des Ganzen zusammenfallen müssen, wobei auf den Grad der Leb-
haftigkeit der Vorstellungen gar nichts ankommt, sondern alles nur auf ihr neben
einander liegen in dem Ganzen. Das Spiel der Assoziationen hingegen hat es
gerade nur mit der intensiven Größe und ihrer Einheit zu tun, indem ein Ganzes
des Grads der Lebhaftigkeit sich in jedem Augenblick an alle innem Tätigkeiten
verteilt, die Assoziationen haben es denn auch nur mit diesem Wechsel der
Lebendigkeit und seiner Verteilung an die einzelnen gleichzeitig lebhaften Tätig-
keiten zu tun."
Afi*
762 L* Nelson : Über das sogenannte Erjkenntnisproblem. [340
Auch die entwickelimgsgeschichtliche Betrachtungsweise ver-
mag an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Denn die Tatsache
der Yererbxmg irgend welcher Eigenschaften kann für sich nicht
das Entstehen einer völlig neuen Eigenschaft erklären, und auch
das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl dient wohl zur Erklärung
der Steigerung der Intensität einer einmal vorhandenen Eigen-
schaft, aber in keinem Falle kann es das Auftreten einer spe-
jsißsch neuen Qualität erklären. Für alle Entwickelungsgeschichte
ist die qualitative Variation ein erstes Vorauszusetzendes, für die
Theorie selbst Zufälliges und ünableitbares.
Diese Erörterung wird es deutlich gemacht haben, daß durch
das Pochen auf die Zurückführbarkeit der Kausalurteile auf das
Gesetz der Erwartung ebenso wenig für den Empirismus geleistet
wird wie durch das Bestreiten dieser Zurückführung für den
Apriorismus. Die Möglichkeit der Erivartung setzt selbst bereits die
ÄnnaJime einer objeJUiven Verknüpfung voraus. Diese Annahme liegt
der gewohnheitsmäßigen Erwartung ähnlicher Fälle zwar nur
dunkel zu Grrunde, aber diese Tatsache genügt doch, um auch das
abstrakte wissenschaftliche Kausalurteil als eine nur dem Grrade
der Deutlichkeit nach von jener Annahme unterschiedene und also
aus ihr entwickelte Vorstellungsweise erkennen zu lassen; sie ge-
nügt aber auch andererseits, um die Belanglosigkeit dieser Zurück-
führung für die Behauptung des empirischen Ursprungs unserer
Verknüpfungsurteile zu erweisen. ^
» Vgl. Neue Kritik § 95 (2. Aufl. Bi II, S. 74 f.):
„Sonst verteidigt sich der Empirismus großenteils nur apagogisch gegen die
Ansprüche der Vernunft, wo dann oft beide TeUe in der gemeinschaftlichen Vor-
aussetzung unrecht haben. . . . Hume streitet hauptsächlich damit, da£ er
zeigt: alle unsre Anwendung allgemeiner Gesetze entlehnt sich durch Induktion
nur aus der Erfahrung ; man könne also alle Voraussetzung der Notwendigkeit, wie
sie in unserm Geiste vorkonunt, eben so gut nur durch Gewohnheit erklären (wir
3411 Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 763
Der Grund, der es unmöglich macht, das Gesetz der Erwar-
tung auf das Gesetz der Assoziation zurückzuführen, läßt sich
nunmehr sehr einfach bezeichnen. Das Gesetz der Assoziation ist
nur ein Gesetz für die Verbindung der Vorstellungen; die Erwar-
tung enthält aber die Vorstellung einer Verbindung. Und es ist
klar, daß die Vorstellung der Verbindung zweier Gegenstände
etwas völlig anderes ist als die bloße Verbindung der Vorstellun-
gen dieser Gegenstände.^
Hiermit ist bewiesen, daß das Hmiesche Problem mit den Mitteln
der herJUhnmlichen psychologischen Theorie nicht lösbar ist.
setzen yorans, das werde erfolgen, was wir gewohnt sind, erfolgen zu sehen).
Diese Einwendung psychologisch aasgedrückt sagt: Was ihr mit eurer Theorie
der Vernunft zu erklären sucht, das läßt sich ehen so gut durch bloße EinbU-
dungskraft erklären, die doch bekanrUlich ein war sinnlichts Vermögen ist. Hier
liegt der Fehler, auf den ich aufmerksam machen will, in der letzten Voraus-
setzung. Hätte HuME richtiger beobachtet, so hätte er bemerken müssen, daß
seine von Impressionen belebte Erkenntniskraft entweder nicht einmal Einbil-
dungskraft (intensive Einheit ihrer Tätigkeit), oder zugleich auch Vernunft als
Quell der Notwendigkeit (extensive Einheit ihrer Tätigkeit) besitzen müsse. Dies
konnte ihm aber freilich (so lange Vernunft und Reflexion nicht gehörig ge-
schieden werden) nicht klar werden/'
^ „Notwendige objektive synthetische Einheit ist die ursprüngliche Vereini-
gung mannigfaltiger Erkenntnisse zu einer Erkenntnis selbst, sie ist die Identität der
Apperzeption in mannigfaltigen Vorstellungen. Wir müssen zuerst diesen Begriff
noch näher entwickeln. Verschiedene Vorstellungen können in zufälliger sub-
jektiver Verbindung sein, ohne dadurch zu einer Vorstellung zu werden. Der-
gleichen subjektive Verbindungen giebt es sehr viele; ein geläufiges Beispiel ist
die bloße Assoziation von Vorstellungen, etwa Wort und Gedanke in der Sprache,
welche beide für mein Bewußtsein zwar immer verbunden sind, aber doch ohne
irgend in eine Vorstellung zusammen zu gehen, ohne zu einer identischen Apper-
zeption vereinigt zu werden. Wenn ich hingegen nach einander die verschiedenen
Anlagen, die Gebüsche, Rasenplätze u. s. w. eines Gartens betrachte, und nun in
die ganze Vorstellung des Gartens zusammenfasse, so ist dies objektive Verbin-
dung. Durch bloße subjektive Verbindung kommt nie objektive synthetische
Einheit zu stände, letztere soll nämlich nicht nur eine Verbindung in meinen
754 ^* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [342
162. Man sieht leicht, daß diese Beweisführang von der me-
taphysischen Voraussetzung der objektiven Grültigkeit unserer
Urteile über notwendige Verknüpfung keinerlei Gebrauch macht.
Wir gehen lediglich von der Tatsache des in jenen Urteilen ent-
haltenen Anspruchs auf Apodiktizität aus und untersuchen die
Q-ründe seiner psychologischen Möglichkeit ohne alle Rücksicht
auf die Frage seiner objektiven Gültigkeit. Wir finden dann, ent-
gegen der herkömmlichen Auffassung der Psychologen, daß Sinn
und Assoziation zur Erklärung dieses Anspruchs nicht hinreichen,
daß vielmehr die Möglichkeit der bloßen Vorstellung einer not-
wendigen Verknüpfung (welche Möglichkeit durch das FaJctnm
feststeht und also nicht bezweifelt werden kann) nicht stattfinden
könnte, wenn es nicht in unserer Erkenntnis eine eigene vom
Sinn verschiedene Quelle für diese Vorstellung gäbe.^
Daß nun aber die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung
nicht etwa auf einer (von der sinnlichen verschiedenen, also in-
tellektuellen) Anschauung beruhen kann, folgt daraus, daß sie uns
ja nicht unmittelbar zum Bewußtsein kommt, daß wir vielmehr
der Reflexion bedürfen, um sie von ihrer ursprünglichen Dunkel-
Vorstellungen, sondern eine Vorstellung verbundener Objekte enÜuUten. Dieses
fordert denn nicht nur Hinzukommen der einen Erkenntnis zur andern, sondern
wirkliche Einheit des Erkennens, Vereinigung zu einer Erkenntnis, so daß jede
einzelne Erkenntnis nur als Teüerkenntnis in die ganze Erkenntnis fällt.'* (Neue
Kritik § 91, 2. Aufl. Bd. II, S. 48 f.)
' „Wir weisen aus dem Vorkommen der Vorstellungen in unserm Geiste
auf, daß diese Hypothese: alle unsre Erkenntnis nur durch sinnliche Eindrücke
zusammenfließen zu lassen, gar nicht erklärt, was wirklich da ist. Nicht nur die
in Anspruch genommene Notwendigkeit in der Anwendung, sondern selbst der
leere Begriff der Notwendigkeit, der leere Gedanke des Ist, als der Kopula im
Urteil nur im A ist A aufgefaßt, wäre in einer solchen nur sinnlichen Erkenntnis-
kraft unmögUch." (Neue Kritik § 95, 2. Aufl. Bd. II, S. 74.)
343] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 7&6
heit zu befreien.^ Daß sie aber auch nicht aus der Reflexion
entspringen kann, folgt daraus, daß die Reflexion nur in der will-
kürlichen Trennung und Wiederverbindung anderweit gegebener
Vorstellungen besteht, selbst also keine neuen Erkenntnisse er-
zeugen kann.^
^ „Im Gegensatze gegen diese Organisation können wir uns eine Yemonft
denken, welche den ganzen Inhalt ihrer Wahrheit, ihre transzendentale Apper-
zeption ohne Dunkelheit übersähe, für welche das Ganze ihrer Erkenntnis eine
Anschauung w&re, und die nicht erst, wie wir, das Gesetz der Notwendigkeit
ihrer Erkenntnis durch Reflexion zu erraten nötig hätte. Eine solche Vernunft
brauchte keinen diskursiyen Verstand, sie wäre rein intuitives Vermögen, ihre
Erkenntnis wäre intellektuelle Anschauung. Das Gesetz unsrer Wahrheit: die
Einheit der transzendentalen Apperzeption, welche wir erst mühsam suchen
müssen, läge ihr mit einem Blicke offen, ihre Erkenntnis wäre das Vorbild der
Wahrheit, wovon unser Verstand nur ein Nachbild besitzt. Es ist aber Irrtum,
wenn Rationalisten in der Philosophie uns selbst diese intellektuelle Anschauung
zumuten wollen, denn dies forderte Vernichtung des dunkeln Vorstellens über-
haupt." (Neue Kritik § 96, 2. Aufl. Bd. II, S. 79.)
' „In jedem Urteil . . . setzen wir willkürlich Begriffe als Subjekt und Prä-
dikat zusammen, und verbinden sie; nachher fragen wir erst, ob das Urteil wahr
oder falsch sei. Hier enthält das Fürwahrhalten die abgeleitete Synthesis der
Reflexion, die auf Apodiktizität Anspruch macht, die unmittelbare Einheit und
Verbindung hingegen enthält das Gesetz der WährTieitf nach dem unser Fürwahr-
halten richtig oder Irrtum ist." (Neue Kritik § 93, 2. Aufl., S. 67.)
„Sowohl Analysis als Synthesis sind Funktionen des reflektierenden Ver-
standes; allein zur Analysis ist sich die Reflexion selbst genug, Synthesis hin-
gegen kann sie sich selbst nicht geben, deswegen läßt sich das Rätsel der Spe-
kulation aussprechen: wie ist Synthesis a priori möglich? . . . Die beiden
Gmndhandlungen der Reflexion sind Abstraktion und Kombination, d. h. Trennung
und Wiederzusammensetzung des Getrennten, vor beiden voraus muß uns aber
erst die ursprüngliche Verbindung der unmittelbaren Erkenntnis gegeben werden,
ohne die weder Abstraktion noch Kombination möglich wäre. (Ebenda S. 70.)
„Man kann leicht bemerken, daß die Kantische Theorie hier nicht leistet,
was von ihr gefordert werden sollte. . . . Worin liegt nun die Unvollständig-
keit der Kantischen Ansicht? ... Er verwechselte den denkenden Verstand
als Reflexionsvermögen mit der unmittelbaren Vernunft, er kannte das nur wie-
derholende Wesen der Reflexion nicht. . . . Kants Fehler in dieser ganzen
Ansicht unsrer Vernunft läßt sich auch durch das charakterisieren, was wir an
766 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [344
So haben wir denn in der Tat ein „ganz erfahrangsmäßiges,
von allem Verdacht spekulativer Täuschungen befreites Krite-
rium ''^y um die Existenz einer nicht-anschaulichen unmittelbaren
Erkenntnis zu beweisen und dadurch das Faktum der reinen Ver-
nunft sicher zu stellen.* Dieser Beweis enthalt die Auflösung des
Hunieschen Problems,
163. Was ist nun aber mit dieser psychologischen Entdeckung
für die Philosophie gewonnen? Für die objektive Gültigkeit irgend
welcher metaphysischer Urteile folgt aus der dargestellten Unter-
suchung gar nichts. Aber wer ihr das zum Vorwurf macht, der
hat ihren Zweck noch nicht verstanden. Mit der objektiven Gül-
tigkeit haben wir es in der Kritik überhaupt nicht zu tun, und
von einer „Begründung" irgend welcher Urteile durch Kritik kann
nur insofern die Rede sein, als die objektive Gültigkeit der un-
mittelbaren Erkenntnis, auf die die fraglichen Urteile durch die
Kritik zurückgeführt werden, bereits unabhängig von dieser Zu-
mehreren Orten gerügt haben, Selbsttätigkeit der Erkenntniskraft ist ihm immer
Willkürlichkeit derselben, d. h. Reflexion. (So z. B. K. d. r. Y. S. 130.)
„Die Kantische Synthesis, so wie er sie in ihren Formen aufstellt, und in
den Grundsätzen des Verstandes entwickelt, ist nichts als ein Akt des Re-
fiexionsvermögens, eine Wiederholung, deren Original er nicht kennt. Seine Syn-
thesis ist die Handlung des Verstandes, eine Vorstellung zu der andern hinzu zu
setzen, und beide in einem Bewußtsein zu vereinigen (E. d. r. V. S. 133), was
nur die Reflexion tut. Was in der unmittelbaren Erkenntnis unsrer Vernunft
nicht schon verbunden ist, das wird sich durch jene Synthesis nicht als objektive
synthetische Einheit der Erkenntnis vorstellen lassen. £[ant aber versucht seine
Theorie der Verbindung, ohne auf diese unmittelbare Erkenntnis Rücksicht
zu nehmen.^ (Ebenda, S. 63 if.)
» Neue Kritik § 90. (2. Aufl. Bd. II, S. 43.)
' Vgl. § 108 dieser Schrift. Eine genauere Vergleichung dieser Fries-
schen Theorie der Vernunft mit Kants „subjektiver Deduktion'' findet man in
meiner Abhandlung „Jakob Friedbich Fbies und seine jüngsten Kritiker.*
Vgl. in dem Kapitel VI „Fries' Theorie der Vernunft und der psychologische
Tatbestand« S. 307 bis 313.
345] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkennt nistheorie. 757
ruckfülirüiig vorausgesetzt wird. Für das Recht dieser Voraus-
setzung hat die Kritik nicht einzustehen. Sie geht von der psy-
chologischen Feststellung aus, daß diese Voraussetzung faktisch
and untrennbar mit dem Inhalt der unmittelbaren Erkenntnis ver-
knüpft ist und daß aller Zweifel, den die nachträgliche Reflexion
etwa an der Geltung der unmittelbaren Erkenntnis anbringt, sich
selbst nur durch seine Übereinstimmung mit der unmittelbaren
Erkenntnis legitimieren könnte, also die Wahrheit dieser letzteren
schon voraussetzen müßte. Nur der Inhalt, nicht die Objektivität
der unmittelbaren Erkenntnis bildet den Gegenstand der Kritik
Der Hinweis auf jenes Faktum des „Selbstvertrauens der Ver-
nunft*' ist daher der oberste Grundsatz, den die Kritik stillschwei-
gend allen ihren Deduktionen zu Grunde legt und durch dessen
Zugrundelegung sie sich das Recht sichert, ihre Aufgabe auf eine
Vergleichung der Urteile mit der unmittelbaren Erkenntnis zu be-
schränken. Diese unmittelbare Erkenntnis selbst wieder einer
Kritik zu unterwerfen, das überläßt sie getrost denen, die mit
dieser Aufgabe einen Sinn zu verbinden wissen.*
^ „Der höchste subjektive Grundsatz aller menschUchen Beurteilangen ist der
Grundsatz des Selbstvertrauens der menschlichen Vernunft: jeder Mensch hat das
Vertrauen zu seinem Geiste, daß er der Wahrheit empfänglich und teUhaft sei. . . .
Er ist als subjektiver höchster Grund aller menschlichen Behauptungen nur ver-
kannt worden durch das Yorurteü einer objektiven Begründung unsrer Erkenntnis.
. . . Indessen auch die . . . geforderte, gänzlich subjektive Begründung aller
menschlichen Erkenntnis zugegeben, könnte doch scheinen, als ob wir durch das
Vorkommen skeptischer Philosopheme unmittelbar widerlegt wären, da in diesen
ja die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, zur Wahrheit zu gelangen, |;eleugnet
wird. Wir weisen aber diese Skeptiker aus demselben Grunde zurück. ... In
der Tat giebt dieser Skeptizismus eigentUch die zwei richtigen Nachweisungen,
daß die Anschauung keine objektive Begründung der Wahrheit einer Erkenntnis
gewähre, und daß das Reflexionsvermögen aus sich selbst keine Erkenntnis geben
könne; allein dabei beachtet er nicht, daß er das Vertrauen der denkenden Er-
758 L. Nolson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [346
Hiernacli können wir beurteilen, was wir mit dem psycholo-
gischen Existenzbeweis der unmittelbaren Erkenntnis der reinen
kenntniskraft auf ihre eigne Wahrhaftigkeit 'selbst voraussetze, indem er es
leugnet.« (Neue Kritik § 89, 2. Aufl. Bd. H, S. 37 ff.)
„Die Wahrheit, welche durch die Begründung unsrer Erkenntnisse erst ge-
wonnen wird, besteht gar nicht unmittelbar in der objektiven Gültigkeit der Er-
kenntnisse, sie ist nicht jene transzendentale Wahrheit derselben, sondern wir
müssen sie von der letztem unterscheiden und können sie Wahrheit des Bewußt-
seins oder empirische Wahrheit nennen. Diese Wahrheit . . . vergleicht nicht
die Erkenntnisse mit ihren Gegenständen, sondern nur unsre Yorstellnngen unter
einander. Wenn wir Gründe von Erkenntnissen in Anschauung, Erinnerung oder
Urteil angeben, so zeigen wir damit nur, daß gewisse Verbindungen unsrer Vor-
stellungen wirklich Erkenntnisse seien. Dabei aber setzen wir die eigentüm-
lichen Merkmale einer Erkenntnis nicht in ihre objektive Gültigkeit, sondern in
gewisse subjektive Beschaffenheiten derselben als unsrer Vorstellungen, welche
durch die Selbstbeobachtung bestimmt werden können.
„Demgemäß gebe ich ... zu, daß alle dogmatische Metaphysik und auch
die Kantische Kritik den Fehler gemacht habe : eine Begründung der transzenden-
talen Wahrheit oder der objektiven Gültigkeit unsrer Erkenntnisse zu suchen.
Ich sage . . .: eine solche Begründung ist für den Menschen ganz unmöglich.
„Allein ich sage weiter, dieses Ergebnis darf nicht skeptisch, nicht Zweifels-
lehre und nicht Aufschiebung unsers Urteils genannt werden. Sondern im Gegen-
teil, unsre Selbstbeobachtung weist aus, . daß es die unbedingte allem vorausge-
nommene Entscheidung unsers Urteils sei.
„In jedem vernünftigen Geist lebt das unbedingte Selbstvertranen an die
Wahrhaftigkeit seiner erkennenden Urteilskraft, durch welches allein ich mich
selbst zum Zweifeln und zum Aufschieben eines Urteils berechtigt halten kann.
„Dem Verdacht, daß der gesunde menschliche Geist verrückt oder ein bloßer
Träumer sei, steht einzig der ursprüngliche Glaube an unsre Wahrhaftigkeit ent-
gegen, von dem sich kein Mensch los machen kann. Die Begründung der objektiven
Gültigkeit unsrer Erkenntnisse ist also gar keine taugliche Aufgabe für den Men-
schen und hat nur durch Irrtum für die Aufgabe der Metaphysik gehalten werden
können. Und dieser Irrtum lag in der Verwechselung der transzendentalen
Wahrheit mit der empirischen.^ (Polemische Schriften, Anhang II : „Über die
Aufgabe der anthropologischen Kritik der Vernunft^, S. 852 ff.)
„Der Grund dieser skeptischen Einwendungen liegt immer in der Verwech-
selung des Irrtums mit Unvernunft. Das Geschäft der Philosophie ist, die Vernunft
in der Selbsttätigkeit ihres Denkens vor Irrtum zu sichern, sie hat aber keines-
weges vor, ein Narrenhaus in eine Akademie der Wissenschaften umzuwandeln.
347] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 759
Vemanft eigentlich gewonnen haben. Wir haben zwar nicht ein
«nzelnes metaphysisches Urteil, wohl aber die Möglichkeü der
Metaphysik überhaupt deduziert. — Was hiermit geleistet ist, ist
nicht mehr und nicht weniger als eine allen Anforderungen wis-
senschaftlicher Strenge genügende Beseitigung der eigentlichen
Quelle des philosophischen Skeptizismus. Der eigentliche philoso-
phische Skeptizismus ist nämlich durch den Hinweis auf den (intro-
jizierten) Widerspruch des allgemeinen Skeptizismus noch keines-
wegs widerlegt. Der philosophische Skeptizismus kann die Mög-
lichkeit wahrer Urteile im allgemeinen zugeben, dabei aber die
Möglichkeit der Metaphysik bestreiten; er erkennt die demon-
strierbare Wahrheit an, aber er bestreitet die Möglichkeit meta-
physischer Urteile, indem er sich auf das Fehlen einer ihnen zu
Grunde liegenden Anschauung beruft und auf die Unmöglichkeit,
durch willkürliche Reflexion notwendige Wahrheiten zu erkennen.^
Dieser Skeptizismus ist daher nur durch die faktische Aufweisung
einer nicht-anschaulichen und zugleich von der Willkür der Re-
flexion unabhängigen Erkenntnis zu widerlegen. — Es kann sich
Aller Streit der Philosophen setzt für den, der daran TeU nehmen will, eine
richtig organisierte Vernunft voraus und sucht diese vor Irrtum zu wahren: Irr-
tum aher ist nur ein Fehler der Reflexion, ein Fehler im Gebrauch der gesunden
Yemunft, Narrheit dagegen ist ein Fehler der unmittelbaren Organisation der
Vernunft selbst, Krankheit der Vernunft. Das Spiel des Skeptizismus beschäftigt
sich nun beständig mit der Wahrheit: man kann für den Einzelnen nicht a priori
beweisen, daß er wache, für das Menschengeschlecht überhaupt den Verdacht
nicht a priori widerlegen, daB es von Narrheit befallen sei, sondern darüber ist
ein Jeder de facto seiner eignen Überzeugung überlassen. So lange die Vernunft
sich nicht kund gegeben hat, wäre es nicht unmöglich, daß sich Narrheit an ihrer
Stelle fände. Dieser Punkt kann es von allen am meisten klar machen, wie keine
Philosophie mit ihren Wahrheiten rein a priori zu völliger Evidenz kommen kann,
wenn sie sich nicht auf eine erfahrungsmäßige anthropologische Untersuchung
gründet.« (Neue Kritik § 128, 2. Aufl. Bd. II, S. 198 f.)
* Vgl. den zweiten Teil dieser Schrift, § 50 Anmerkung.
758 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [346
Hiernacli können wir beurteilen; was wir mit dem psycholo-
gischen Existenzbeweis der anmittelbaren Erkenntnis der reinen
kenntniskraft auf ihre eigne Wahrhaftigkeit 'selbst voraussetze, indem er es
leugnet.« (Neue Kritik § 89, 2. Aufl. Bd. H, S. 37 ff.)
„Die Wahrheit, welche durch die Begründung unsrer Erkenntnisse erst ge-
wonnen wird, besteht gar nicht unmittelbar in der objektiven Gültigkeit der Er-
kenntnisse, sie ist nicht jene transzendentale Wahrheit derselben, sondern wir
müssen sie von der letztem unterscheiden und können sie Wahrheit des Bewußt-
seins oder empirische Wahrheit nennen. Diese Wahrheit . . . vergleicht nicht
die Erkenntnisse mit ihren Gegenständen, sondern nur unsre Vorstellungen unter
einander. Wenn wir Gründe von Erkenntnissen in Anschauung, Erinnerung oder
Urteil angeben, so zeigen wir damit nur, daB gewisse Verbindungen unsrer Vor-
stellungen wirklich Erkenntnisse seien. Dabei aber setzen wir die eigentüm-
lichen Merkmale einer Erkenntnis nicht in ihre objektive Gültigkeit, sondern in
gewisse subjektive Beschaffenheiten derselben als unsrer Vorstellungen, welche
durch die Selbstbeobachtung bestimmt werden können.
„Demgemäß gebe ich ... zu, daß alle dogmatische Metaphysik und auch
die K<mHsehe Kritik den Fehler gemacht habe : eine Begründung der transzenden-
talen Wahrheit oder der objektiven Gültigkeit unsrer Erkenntnisse zu suchen.
Ich sage . . .: eine solche Begründung ist für den Menschen ganz unmöglich.
„Allein ich sage weiter, dieses Ergebnis darf nicht skeptisch, nicht Zweifels-
lehre und nicht Aufschiebung unsers Urteils genannt werden. Sondern im Gegen-
teil, unsre Selbstbeobachtung weist aus, , daß es die unbedingte allem vorausge-
nommene Entscheidung unsers Urteils sei.
„In jedem vernünftigen Geist lebt das unbedingte Selbstvertrauen an die
Wahrhaftigkeit seiner erkennenden Urteilskraft, durch welches allein ich mich
selbst zum Zweifeln und zum Aufschieben eines Urteils berechtigt halten kann.
„Dem Verdacht, daß der gesunde menschliche Geist verrückt oder ein bloßw
Träumer sei, steht einzig der ursprüngliche Glaube an unsre Wahrhaftigkeit ent-
gegen, von dem sich kein Mensch los machen kann. Die Begründung der objektiven
Gültigkeit unsrer Erkenntnisse ist also gar keine taugliche Aufgabe für den Men-
schen und hat nur durch Irrtum für die Aufgabe der Metaphysik gehalten werden
können. Und dieser Irrtum lag in der Verwechselung der transzendentalen
Wahrheit mit der empirischen.^ (Polemische Schriften, Anhang II : „Ober die
Aufgabe der anthropologischen Kritik der Vernunft^, S. 852 ff.)
„Der Grund dieser skeptischen Einwendungen liegt immer in der Verwech-
selung des Irrtums mit Unvernunft. Das Geschäft der Philosophie ist, die Vernunft
in der Selbsttätigkeit ihres Denkens vor Irrtum zu sichern, sie hat aber keines-
weges vor, ein Narrenhaus in eine Akademie der Wissenschaften umzuwandeln.
347] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 759
Vemanft eigentlich gewonnen haben. Wir haben zwar nicht ein
•einzelnes metaphysisches Urteil, wohl aber die Möglichkeit der
Metaphysik überhaupt deduziert. — Was hiermit geleistet ist, ist
nicht mehr und nicht weniger als eine allen Anforderungen wis-
senschaftlicher Strenge genügende Beseitigung der eigentlichen
Quelle des philosophischen Skeptizismus. Der eigentliche philoso-
phische Skeptizismus ist nämlich durch den Hinweis auf den (intro-
jizierten) Widerspruch des allgeineinen Skeptizismus noch keines-
wegs widerlegt. Der philosophische Skeptizismus kann die Mög-
lichkeit wahrer Urteile im allgemeinen zugeben, dabei aber die
Möglichkeit der Metaphysik bestreiten; er erkennt die demon-
strierbare Wahrheit an, aber er bestreitet die Möglichkeit meta-
physischer Urteile, indem er sich anf das Fehlen einer ihnen zu
Grunde liegenden Anschauung beruft und auf die Unmöglichkeit,
durch willkürliche Reflexion notwendige Wahrheiten zu erkennen.^
Dieser Skeptizismus ist daher nur durch die faktische Aufweisung
einer nicht-anschaulichen und zugleich von der Willkür der Re-
flexion unabhängigen Erkenntnis zu widerlegen. — Es kann sich
Aller Streit der Philosophen setzt für den, der daran TeU nehmen will, eine
richtig organisierte Vernunft voraus und sucht diese vor Irrtum zu wahren: Irr-
tum aber ist nur ein Fehler der Reflexion, ein Fehler im Gebrauch der gesunden
Vernunft, Narrheit dagegen ist ein Fehler der unmittelbaren Organisation der
Vernunft selbst, Krankheit der Vernunft. Das Spiel des Skeptizismus beschäftigt
sich nun bestandig mit der Wahrheit: man kann für den Einzelnen nicht a priori
beweisen, daß er wache, für das Menschengeschlecht überhaupt den Verdacht
nicht a priori widerlegen, daB es von Narrheit befallen sei, sondern darüber ist
ein Jeder de facto seiner eignen Überzeugung überlassen. So lange die Vernunft
sich nicht kund gegeben hat, wäre es nicht unmöglich, daß sich Narrheit an ihrer
Stelle fände. Dieser Punkt kann es von allen am meisten klar machen, wie keine
Philosophie mit ihren Wahrheiten rein a priori zu völliger £videnz kommen kann,
s^enn sie sich nicht auf eine erfahrungsmäßige anthropologische Untersuchung
gründet« (Neue Kritik § 128, 2. Aufl. Bd. II, S. 198 f.)
^ Vgl. den zweiten Teil dieser Schrift, § 50 Anmerkung.
760 L- Nelson : Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [348
im übrigen nur noch daram handeln, zu untersuchen, welches die
einzelnen Prinzipien sind, die vermöge der Gresamtorganisation un-
serer Erkenntnis aus der aufgewiesenen Grrundvorstellung der
reinen Vernunft — Fries nennt sie die „formale Apperzeption"
— entspringen. Die Grewißheit der Geltung dieser Prinzipien er-
giebt sich, wenn sie einmal deduziert sind, von selbst, indem das
Selbstvertrauen der Vernunft sich ohne alles Zutun der Speku-
lation auf alle in der unmittelbaren Erkenntnis gegründeten Prin-
zipien überträgt.^
^ „Die Annahme einer solchen ursprünglichen formalen Apperzeption ist
der oberste Punkt einer Theorie der Spontaneität der Erkenntniskraft, und somit
das höchste Prinzip der Anthropologie, von dem die Theorie der Vernunft aus-
gehen muß.'' (Neue Kritik § 92, 2. Aufl. Bd. II, S. 60.) — „Diese Verhältnisse
sind das höchste Resultat der subjektiven Untersuchung des Erkennens, durch
sie müssen wir die Geheimnisse aller Spekulation entschleiern; sie sind schwer
yerständlich zu machen, weil das Vorurteil der objektiven Begründung so leicht
den Blick von unserer Untersuchung wieder abzieht." (Ebenda § 98, Bd. II, S. 62.)
„Welche Modifikationen müssen diese Einheitsvorstellungen vermöge der be-
sonderen Natur der menschlichen Erkenntniskraft erhalten? Hierauf antwortet
die Ausführung der Lehre, indem sie aus der Natur der menschlichen, erkennenden
Vernunft alle spekulativen Formen der Eategorieen und Ideen ableitet (§ 89,
S. 42.) — „Unsre wirkliche Erkenntnis entsteht so, daß einzelne materiale Er«
kenntnis zur formalen Apperzeption hinzukommt; der letzteren können wir uns
für sich nicht bewußt werden, weil sie nur eine Bedingung für jedes zu gebende
Material ist ; sobald aber wirklich Gehalt der Erkenntnis gegeben ist, so muß ihr
die formale Apperzeption anhängen, sich an ihr zeigen. ** „Jede einzelne Er-
kenntnis ist eine materiale Bestimmung der transzendentalen Apperzeption, und
giebt eine materiale Bestimmung der formalen, aber nicht jede ist eine Ursprung^
liehe rMxUriale Bestimmung^ denn dazu gehört, daß sie durch das Wesen der Ver«
nunft selbst gegeben sei, also zu ihren unveränderlichen beharrlichen, aber eben
darum auch immer nur formalen Tätigkeiten gehöre, welche eben so wenig als
die formale Apperzeption selbst für sich bestehen können, sondern nur bei Ge-
legenheit sinnlicher Anregungen sich zeigen. Dies sind die Erkenntnisse a priori
Diese können also nur dadurch entstehen, daß mit dem Vermögen der ursprüng-
lichen formalen Apperzeption andere ursprüngliche Vermögen der Vernunft zu-
sammenkommen, welche ihm dann, sobald die Tätigkeit der Vernunft einmal an-
349] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 761
164. Wir können die psychologische Kritik hier nicht in ihre
einzelnen Aasführnngen verfolgen. Es bleibt nns nnr noch übrig,
den Weg anzuzeigen, anf dem Fbqs von den Grundsätzen seiner
Theorie der Vernunft ans zur Verbesserung des Grundfehlers der
S^antischen Metaphysik gelangt. Dieser Fehler, der formale Idea-
lismus, war, wie wir (§ 87) gezeigt haben, für EIant eine unver-
meidliche Konsequenz seines Festhaltens an der traditionellen An-
nahme der Vollständigkeit der Disjunktion zwischen Logik und
Empirie als Wahrheitskriterien. Mit der Aufweisung der unmittel-
baren Erkenntnis der reinen Vernunft ist die Unvollständigkeit
dieser Disjunktion bewiesen und damit zugleich das metaphysische
Dogma des formalen Idealismus hinfällig gemacht.^ Die Kantische
geregt ist, durchgängige materiale Bestimmungen geben. ** (§ 97, S. 85 £f.) —
„Diese unabhängige Erkenntnis a priori enthält demnach alle Prinzipien der Ein-
heit in unsrer Erkenntnis, ihr müssen alle Formen der mathematischen anschau-
lichen, der analytischen logischen und der synthetischen Einheit in Kategorie
und Idee gehören ; und es wird die weitläufigste Aufgabe der Deduktion, aus dem
Verhältnis des sinnlichen Materials zur formalen Grundvorstellung in der Ein-
heit der transzendentalen Apperzeption alle jene Formen abzuleiten.'' (§ 100,
S. 91.)
^ Vgl. hierzu die in § 84 besprochenen Einwendungen Grapengiessers.
Wenn Vaihinger (Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Bd. II,
S. 307) Fbies' Äußerung (Neue Kritik, 2. Aufl., Bd. I, S. XXIV), er finde den
Kantischen Fehler bei niemand noch richtig beurteilt, mit dem Hinweis berichtigen
zu müssen glaubt, daß schon vierzig Jahre vor Fries von Anderen der Kantische
Fehler richtig beurteilt worden sei, so scheint er übersehen zu haben, daß Fries
selbst schon 23 Jahre vor der genannten Äußerung den Kantischen Beweisfehler
nicht nur berichtigt, sondern auch die Unzulänglichkeit der von den Früheren an
dem Beweise geübten Kritik dargelegt hat. („Wissen, Glaube und Ahndung",
1805, S. 41 bis 47.)
Man vergleiche über diesen Gegenstand auch Fries' Neue Kritik, § 102
(2. Aufl., Bd. II, S. 97 if.) ; „Tradition, Mystizismus und gesunde Logik**, a. a. 0.
S. 16; Polemische Schriften, S. 321; Geschichte der Philosophie Bd. II, S. 583.
Man lasse sich übrigens dadurch nicht irre führen, daß Fries die Bezeich-
nung „idealistisch** bisweilen auch für die kritische Methode beibehält. Dieser
760 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [34g
im äbrigen nur noch darnm handeln, zu nntersnchen, welches die
einzelnen Prinzipien sind, die vermöge der Gresamtorganisation un-
serer Erkenntnis aus der aufgewiesenen Grrundvorstellung der
reinen Vernunft — Fries nennt sie die „formale Apperzeption"
— entspringen. Die Grewißheit der Geltung dieser Prinzipien er-
giebt sich, wenn sie einmal deduziert sind, von selbst, indem das
Selbstvertrauen der Vernunft sich ohne alles Zutun der Speku-
lation auf alle in der unmittelbaren Erkenntnis gegründeten Prin-
zipien überträgt.^
^ „Die Annahme einer solchen ursprünglichen formalen Apperzeption ist
der oberste Punkt einer Theorie der Spontaneität der Erkenntniskraft, und somit
das höchste Prinzip der Anthropologie, von dem die Theorie der Vernunft aus-
gehen muß.'' (Neue Kritik § 92, 2. Aufl. Bd. II, S. 60.) — „Diese Verhältnisse
sind das höchste Resultat der subjektiven Untersuchung des Erkennens, durch
sie müssen wir die Geheimnisse aller Spekulation entschleiern; sie sind schwer
verständlich zu machen, weil das Vorurteil der objektiven Begründung so leicht
den Blick von unserer Untersuchung wieder abzieht." (Ebenda § 93, Bd. II, S. 62.)
„Welche Modifikationen müssen diese Einheitsvorstellungen vermöge der be-
sonderen Natur der menschlichen Erkenntniskraft erhalten? Hierauf antwortet
die Ausführung der Lehre, indem sie aus der Natur der menschlichen, erkennenden
Vernunft alle spekulativen Formen der Eategorieen und Ideen ableitet.'' (§ 89,
S. 42.) — „Unsre wirkliche Erkenntnis entsteht so, daß einzelne materiale Er«
kenntnis zur formalen Apperzeption hinzukommt; der letzteren können wir uns
für sich nicht bewußt werden, weil sie nur eine Bedingung für jedes zu gebende
Material ist; sobald aber wirklich Gehalt der Erkenntnis gegeben ist, so muß ihr
die formale Apperzeption anhängen, sich an ihr zeigen. ** „Jede einzelne Er-
kenntnis ist eine materiale Bestimmung der transzendentalen Apperzeption, und
giebt eine materiale Bestimmung der formalen, aber nicht jede ist eine ursprüng-
liche maUriale Bestimmung, denn dazu gehört, daß sie durch das Wesen der Ver«
nunft selbst gegeben sei, also zu ihren unveränderlichen beharrlicben, aber eben
darum auch immer nur formalen Tätigkeiten gehöre, welche eben so wenig als
die formale Apperzeption selbst für sich bestehen können, sondern nur bei Ge-
legenheit sinnlicher Anregungen sich zeigen. Dies sind die Erkenntnisse a priori.
Diese können also nur dadurch entstehen, daß mit dem Vermögen der Ursprung«
liehen formalen Apperzeption andere ursprüngliche Vermögen der Vernunft zu-
sammenkommen, welche ihm dann, sobald die Tätigkeit der Vernunft einmal an-
349] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 761
164. Wir können die psychologische Kritik hier nicht in ihre
einzelnen Aasführnngen verfolgen. Es bleibt ans nur noch übrig,
den Weg anzuzeigen, anf dem Fbies von den Grundsätzen seiner
Theorie der Vernunft aus zur Verbesserung des Grundfehlers der
Somtischen Metaphysik gelangt. Dieser Fehler, der formale Idea-
lismus, war, wie wir (§ 87) gezeigt haben, für Kant eine unver-
meidliche Konsequenz seines Festhaltens an der traditionellen An-
nahme der Vollständigkeit der Disjunktion zwischen Logik und
Empirie als Wahrheitskriterien. Mit der Aufweisung der unmittel-
baren Erkenntnis der reinen Vernunft ist die Unvollständigkeit
dieser Disjunktion bewiesen und damit zugleich das metaphysische
Dogma des formalen Idealismus hinfällig gemacht.^ Die Kantische
geregt ist, durchgängige materiale Bestimmungen geben. ** (§ 97, S. 85 £f.) —
„Diese unabhängige Erkenntnis a priori enthält demnach alle Prinzipien der Ein-
heit in unsrer Erkenntnis, ihr müssen alle Formen der mathematischen anschau-
lichen, der analytischen logischen und der synthetischen Einheit in Kategorie
und Idee gehören ; und es wird die weitläufigste Aufgabe der Deduktion, aus dem
Verhältnis des sinnlichen Materials zur formalen Grundvorstellung in der Ein-
heit der transzendentalen Apperzeption alle jene Formen abzuleiten." (§ 100,
S. 91.)
^ Vgl. hierzu die in § 84 besprochenen Einwendungen Grapenoiessbrs.
Wenn Yaihikoer (Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Bd. II,
S. 307) Fbies' Äußerung (Neue Kritik, 2. Aufl., Bd. I, S. XXIV), er finde den
Kantischen Fehler bei niemand noch richtig beurteilt, mit dem Hinweis berichtigen
zu müssen glaubt, daß schon vierzig Jahre vor Fries von Anderen der Kantische
Fehler richtig beurteilt worden sei, so scheint er übersehen zu haben, daß Fries
selbst schon 23 Jahre vor der genannten Äußerung den Kantischen Beweisfehler
nicht nur berichtigt, sondern auch die Unzulänglichkeit der von den Früheren an
dem Beweise geübten Kritik dargelegt hat. („Wissen, Glaube und Ahndung",
1805, 8. 41 bis 47.)
Man vergleiche über diesen Gegenstand auch Fries' Neue Kritik, § 102
(2. Aufl., Bd. II, S. 97 if.) ; „Tradition, Mystizismus und gesunde Logik**, a. a. 0.
S. 16; Polemische Schriften, S. 321; Geschichte der Philosophie Bd. II, S. 583.
Man lasse sich übrigens dadurch nicht irre führen, daß Fries die Bezeich-
nung „idealistisch** bisweilen auch für die kritische Methode beibehält. Dieser
762 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [350
Lehre von den Ideen und von den Dingen an sich bedarf hiernach
einer wesentlichen Umgestaltung.
Das Hauptproblem der kritischen Metaphysik ist die Auflo-
sung des Widerstreits zwischen dem notwendigen Naturalismus
der theoretischen Vernunft und den Ansprüchen der praktischen
Vernunft an die Realität der Ideen. Zur Auflösung dieses Wider-
streits bietet sich der transzendentale Idealismus der Kantischen
Antinomieenlehre an. Aber dieser transzendentale Idealismus
führt für sich nicht weiter als bis zu dem Satze, daß die Natur-
form unserer Erkenntnis nur die Form einer subjektiv beschränk-
ten Erkenntnisweise ist und für die Dinge an sich keine Realität
haben kann. Dieser Satz läßt die Realität der Ideen noch völlig
unausgemacht; es folgt aus ihm nur soviel, daß die Annahme der
letzteren den Grundsätzen der theoretischen Vernunft nicht wider-
spricht.^
Sprachgebraacb steht bei ihm nicht in Widersprach mit der ünterscbeidong von
Kritizismus und Idealismus, sondern er ist ihm nur eine andere Art, die ,,8ub-
jektivc Wendung der Spekulation" zu bezeichnen. In diesem metiMdischen Sinne
ist es zu verstehen, wenn Fries von dem „notwendigen Idealismus aller Spe-
kulation" („Wissen, Glaube und Ahndung", S. 119) oder von „einer richtigen
idealistischen Wendung der Spekulation" (Neue Kritik § 71, Bd. I, 2. Aufl., S. S54;
ähnlich auch § 70, S. 348) spricht
^ „Dieser erste Schritt [der Beweis des transzendentalen Idealismus] dient
nur, um der natürlichen Ansicht der Dinge ihr Unrecht zu beweisen, wenn sie
sich für die vollständige Wahrheit geben will; wir müssen noch ... die Rechte
der Idee selbst sichern." (Neue Kritik § 129, 2. Aufl., Bd. II, S. 201.)
„So aber sind die Ideen der Freiheit und Ewigkeit nur mögliche Gedanken,
welche die Vernunft sich gleichsam mit willkürlicher Reflexion entwirft, nur um
ihre eignen Schranken zu erkennen, sie erzeugt sie nur durch Negation des-
jenigen, was ihre Erkenntnis beschränkt, wiefern sie an einen Sinn gebunden
ist. und diese Negation der Schranken in der Idee der absoluten Realität ist
in der Tat der einzige Inhalt, den wir unsrer spekulativen Idee Yenchaffen
können. Wie kommen wir nun dazu, diesen willkürlich entworfenen Gedanken
SU hypostasieren, und dem, was wir uns selbst ausgedacht habeui einem bloßen
361] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 763
Zur Begründung der Ideen verweist nns die Kantische Philo-
sophie auf die Kritik der praktischen Yemnnft. Hier soll die
Realität der Ideen als ein praktisches Postulat, d. h. als eine zwar
theoretisch unerweisliche, aber in praktischer Hinsicht notwendige
Voraussetzung erwiesen werden. Dieses Verfahren kann indessen
nur als regressive Äufweisuvg der Ideen betrachtet werden. Ohne
eine vorhergehende spekulative Begründung der Ideen ließe sich aus
dieser Aufweisung vielmehr nur umgekehrt schließen: Wenn die
Gültigkeit unserer praktischen Überzeugungen wirklich von der
Annahme der Eealität der Ideen abhängt, und diese Annahme ist
grundlos, so werden wir auch die Grundlosigkeit unserer prakti-
schen Überzeugungen einräumen müssen. Dieser skeptischen Kon-
sequenz hat Kant nichts entgegenzusetzen als die Behauptung vom
Frimat der praJUiscJien Vernunft Diese Behauptung aber ist bei
ihm ein Dogma, das sich weder auf spekulative noch auf prak-
tische Vernunftgründe stützen läßt, da zu seiner Begründung ein
dritter Standpunkt außer oder über aller Vernunft erforderlich
wäre, von dem aus sich der Rangstreit zwischen spekulativer und
praktischer Vernunft entscheiden ließe. ^
165. Eine kritische Beseitigung dieses Zwiespalts kann also
nur in einer spekulativen Begründung der Ideen gesucht werden.
Diese Aufgabe — Fries bezeichnet sie selbst einmal als „das Mei*
sterstück aller Philosophie"* — löst Fries im zweiten Bande seiner
Kritik der Vernunft. Er entdeckt hier den von Kant übersehenen
Unterschied zwischen der negativen Form der Ideen selbst und
Noamen eines Daseins über die Natur hinaus Realität zu geben ?'' (Wissen,
Glaube und Ahndung, S. 129.)
^ Zur Kritik von Kants „moralischen Beweisen'' vergleiche man „Wissen,
Glaube und Ahndung"", S. 67 ff., 72 ff., 155 ff., 164 f.
' Wissen, Glaube und Ahndung, S. 180.
764 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [352
der positiven Grundlage der Ideen in der nnmittelbaren Erkennt-
nis.* Wir können uns der positiven Grundvor Stellung der objek-
tiven synthetischen Einheit, so wie sie unmittelbar der reinen
Vernunft angehört, nur unter der Form einer doppelten Vernei-
nung bewußt werden, indem wir die Schranken, an die der posi-
tive Gebrauch der Kategorieen in der Erfahrung gebunden ist,
nämlich TJnvollendbarkeit und Stetigkeit, aufgehoben denken. Da-
durch gelangen wir zu der Idee der unbeschränkten oder voll-
endeten Einheit, der „Idee des Absoluten**, welche die Grundform
aller einzelnen Ideen ist.^ Es ist also eine und dieselbe Grundvor-
^ „Wir müssen in Rücksicht der Deduktion der Ideen genau unterscheiden
die positive Grundlage unsrer ganzen idealen Ansicht und die Formen des Aus-
spruchs der Ideen vor der Beflexion, Jene positive Grundlage ist der Glaube an die
Realität schlechthin , welcher das innerste Eigentum jeder vernünftigen Erkennt-
niskraft ist; die Formen, unter denen wir uns vor der Reflexion allein die ideale
Ansicht aussprechen können, entspringen hingegen nur aus der Negation der
Beschränkung unsers sinnlichen Wissens. Wir wollen mit den Ideen das schlecht-
hin Positive unsrer Erkenntnis fassen; der menschlichen Vernunft ist dies aber
nur unter der Form einer doppelten Verneinung möglich.'' (Neue Kritik § 121|
Bd. II, 2. Aufl., S. 173.)
„Das Verhältnis ist gerade das Umgekehrte jener Frage; wir entwerfen
uns nicht willkürlich die Ideen der Freiheit und Ewigkeit, und glauben nachher
an die Realität des Phantoms, welches wir selbst geschaffen haben, sondern die
Vernunft glaubt rein aus ihrem Wesen an die höchste Realität, und entwirft
sich nachher jene Ide^ nur, um ihren Glauben aussprechen zu können.** „Der
Glaube und die Realität der Idee geht im Wesen der Vernunft der Idee selbst
vorher, und wir brauchen diese nur, um jene auszusprechen.** (Wissen, Glaube
und Ahndung, S. 129 ff.)
' „Die notwendige Einheit der Grundvorstellung legt sich an jede Erregung
unsrer Erkenntnis, kann aber, so viel oder wenig der umfang der Anregung
betragen mag, doch nie erfüllt werden. Das erste Gesetz der Einheit in unsrer
Erkenntnis wird also ein Gesetz der Vollständigkeit schlechthin; hingegen die
Form der Einheit an dem gegebenen Material muß immer eine Beschränkung
zeigen. Durch diese Vollständigkeit stellen sich also die Formen der Idee denen
der Natur gegenüber; dies kann aber nach dem Bewiesenen nur durch Vemei-
353] Dritter Teü: Die Geschichte der Erkenntoistheorie. 765
Stellung der reinen Vernunft, ans der die Natnrbegrüfe wie die
Ideen entspringen; nnr sind die ersten von positivem Gebranche
und hierbei durch die TJnvollendbarkeit der mathematischen Form
ihres Schemas beschränkt, während die zweiten nur negative Be-
griffsbildungen sind, durch die wir uns in Gredanken über die
Schranken der Natur erheben.^
mmgen geschehen. Wir können die Vollständigkeit der idealen Einheit nur
durch Verneinung der Beschränkungen an den Kategorieen denken.
„Die oberste Form aller transzendentalen Ideen ist also die Idee der Ne-
gation der Schranken, die Idee des Absoluten , und das Charakteristische der
ideellen Vorstellungsweise wird Vorstellung des Realen durch verdoppelte Ver-
neinungen.** (Neue Kritik, § 124, Bd. 11, 2. Aufl., S. 180 f.)
' „Wir haben gesehen, daß die einzelnen Formen der Ideen, Totalität, das
Absolute, Freiheit und Ewigkeit nur aus Verneinung der Schranken in den For-
men der Kategorieen entstehen; es fragt sich jetzt, wie erhalten sie ihre An-
wendbarkeit? Dadurch, daß in unsrer Vernunft eine GrundvorsteUung der ab-
soluten Realität des Ewigen liegt, welche durch diese Formen des Unbeschränkten
im Verhältnis gegen das Endliche, welches nur seine Erscheinung ist, ausge-
sprochen wird. Wie aber läßt sich jene GrundvorsteUung des Seins an sich, als
dem Endlichen zu Grunde liegend, in der Theorie der Vernunft ableiten? Ganz
einfach aus dem obersten Verhältnis der anthropologischen Theorie der Vernunft.
Jede Yemünftige Erkenntniskraft, welche die Form der ursprünglichen Einheit
und Notwendigkeit in sich hat (wie wir dies erfahrungsmäßig von unsrer Ver-
nunft nachgewiesen haben), muß jede Realität der Erkenntnis, welche sie aner-
kennt, auf die vollständige Einheit und Notwendigkeit beziehen, es bildet sich
also in ihr selbst jedem sinnlich gegebenen noch so beschränkten materialen Be-
wußtsein die Form einer unbedingten Realität desselben an, durch die höchste
Bedingung der Einheit der Vernunft selbst. Die Vernunft Ifat durch ihre eigen-
t&mliche Form immer die vollendete Einheit in jeder ihrer Erkenntnisse liegen;
wenn also gleich der nur sinnlich angeregte Gehalt der wirklichen Erkenntnis
jene Form der UnvoUendbarkeit an sich hat, so fällt er doch in die ursprüng-
liche Einheit jener Grundvorstellung, und muß daher als Erscheinung einer
Beälität sMecMhin angesehen werden.
„Es ist das oberste Verhältnis des formalen Grundbewußtseins unsrer Ver-
nunft zu irgend einer materialen Erkenntnis, wodurch diese jederzeit die höchste
Realität, wenn gleich nur als erscheinend und nicht rein als an sich gegeben
Ab]iaiidlii]ig«B dtr MM*ioli«n Sebnle. O. Bd. 49
766 L* Nelson : Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [354
Das Kantische Gesetz der Immanenz aller menschlichen Er-
kenntnis wird also dnrch diese Deduktion nicht durchbrochen. Es
wird nicht eine positive Erkenntnis der Dinge an sich gefordert,
es wird nicht eine Welt des Übersinnlichen neben oder über die
Welt der Erfahrung gestellt, sondern es ist eine und dieselbe
Welt der Gegenstände der Sinne, die wir das eine Mal positiv
unter Naturgesetzen erkennen und das andere Mal negativ durch
Ideen denken.^ Wenn wir aber die natürliche Ansicht eine sub-
darin anerkennt, und so einen spekulativen Glauben in ihrem innersten Wesen
hat an die bedingungsweise absolute Gültigkeit ihrer Erkenntnisse.
„Kraft ihrer Yemünftigkeit liegt in jeder Vernunft ein spekulativer Glaube
an das Sein ihrer Gegenstände an sich und die transzendentale Wahrheit ihrer
Erkenntnis. Dieser spekulative Glaube ist das erste Vorausgesetzte jeder ver-
nünftigen Erkenntnis, welches ihr mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit un-
mittelbar zukommt.« (Neue Kritik § ISO, Bd. II, 2. Aufl., S. 205 f.)
„Gemeinhin setzen wir den Erscheinungen (Ph&nomenen) die Noumene oder
Gedankendinge entgegen, erstere sind Gegenstände der Sinnesanschauung, Dinge
in Raum und Zeit, letztere sind Gegenstände der Idee, welche nur der Verstand
denkt, wie das Weltganze oder die Gottheit, wir nennen die Weltordnung der
erstem Natur als Ordnung der Sinnenwelt, die der andern Ordnung der inteUi-
gibein Welt, und da kommen diese Gedankendinge mit ihrer intelligibeln Welt
nicht unmittelbar als die Dinge an sich vor. Vielmehr finden wir sie in nnserm
Bewußtsein zunächst nur nach ganz willkürlichen Reflexionen, von denen noch
die Frage wäre, ob sie irgend Bedeutung haben? Es sind nämlich die Noumene
der Philosophen jene reflektierten Formen transzendentaler Ideen, von denen wir
gezeigt haben, daß wir sie uns willkürlich bilden, indem wir in den gegebenen
Verhältnissen der Natur die Schranken verneint denken. Jetzt können wir aber
bemerken, daß die Idee des Seins an sich eben nur eine von diesen Formen ist,
und daß wir mit ihr eben den Gebrauch dieser Formen überhaupt nachgewiesen
und damit die Deduktion unsrer idealen Ansicht der Dinge vollendet haben. Die
Ideen des Absoluten sind nämlich allerdings Eigentum der Reflexion, diese bildet
sie sich nur durch Verneinung der Schranken ; sie sind aber eben in der Reflexion
von notwendiger Anwendbarkeit, weil wir uns durch sie vor der innem Wieder-
beobachtung die Verhältnisse des spekulativen Glaubens, das innerste Gesetz der
Wahrheit unsers Geistes aussprechen.** (Ebenda, S. 207 f.)
^ „Wenn es Realität in menschlicher Erkenntnis giebt, so ist diese nur
355] Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 767
jektiv beschrankte nennen und als solche der idealen unterordnen
und so in der Tat einen „Primat der praktischen Vernunft" über
die theoretische anerkennen, so berufen wir uns doch nicht auf
eine Vergleichung von Erkenntnis und Gregenstand, sondern wir
entscheiden auch hier noch nach kritischer Methode, indem wir
eine jede Ansicht, natürliche wie ideale, auf ihre Gründe in der
Vernunft selbst zurückführen und hier ihre Ansprüche einander
selbst ausgleichen lassen.^ Mit der Realität der Ideen haben wir
durch die Anschauung gegeben. Die Welt also, welche Gegenstand unsrer Er-
fahrung ist, ist die einzige, von der wir auch nur Ideen haben können. . . .
Wenn die Gedankenformen der Idee sich auch über das Gegebene der einzelnen
Anschauungen erheben, so geschieht dies doch nur, um ein Ganzes derselben
überhaupt zu denken, ohne sich je völlig von ihnen loszusagen, oder etwa das
Übersinnliche als eine andere Welt zu erkennen; vielmehr ist das Höchste immer
nur, daß wir eine ändert Ordnung derselben Welt denken.^ (Neue Kritik § 123,
Bd. U, S. 179.)
„Unsre Theorie der Vernunft zeigte uns, daß wir gar keinen andern Inhalt
der Erkenntnis haben, als den aus der Sinnesanschauung ; wir haben keine andere
Erkenntnis als die Erfahrung, alle unsre Erkenntnis bleibt immanent, und was
wir über jene Sinnesanschauung besitzen, ist nur die Form der Notwendigkeit
und Einheit, welche ohne jenen Inhalt eine leere, bedeutungslose Form wäre.
Die Sinnesanschauung bleibt also doch unvermeidlich der Quell aller Realität in
unsrer Erkenntnis; . . . Diese bedingte Realität unsrer Naturansicht muß also
doch der Quell aller Wahrheit in unsrer Vernunft sein. Sollen wir von einem
Ewigen, einem Sein der Dinge an sich sprechen können, so müssen wir auch
dazu durch die Realität der Erfahrungserkenntnis gelangen." (Neue Kritik § 129,
Bd. II, S. 201 f.)
^ „Wie soll nun aber unser Standpunkt gewählt werden, um zu zeigen, daß
unsre Naturerkenntnis nicht bloßer Schein sei, sondern daß ihr die höchste Rea-
lität zu Grunde liege? So viel wissen wir, daß wir nicht im Stande sind, un-
mittelbar das Ewige in seiner Reinheit zu erkennen, um geradezu durch Ver-
gleichung den Streit zu entscheiden. Wir wissen, daß es unsrer Vernunft un-
möglich ist, gleichsam aus sich selbst heraus zu treten zum Gegenstand und ihre
Erkenntnis so mit diesem zu vergleichen. Der objektiv gemeinte Standpunkt der
Untersuchung, die Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstande hilft
uns auch hier noch eben so wenig, als er uns irgend in einer positiven Unter-
49*
768 ^ Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [366
es auch hier unmittelbar nicht za tun, sondern nur mit der Nach-
weisung, daß der Griaube an die Realität der Ideen faktisch in der
unmittelbaren Erkenntnis gegründet sei. —
Fries beschließt seine Deduktion der Ideen mit den folgenden
Worten, mit denen auch wir unsere Darstellung dieses „Meister-
stücks aller Philosophie'^ abschließen wollen:
,^iese unsre Lehre von den Ideen unterscheidet sich von der
Kantischen darin, daß er keinen spekulativen Grlauben kannte, und
er konnte diesen nicht finden, wegen der Unvollständigkeit seiner
Lehre von der Begründung der Urteile, in welcher er nie über
den Beweis hinausging. Er verwarf die spekulative Gültigkeit
der Ideen, weil sich aus spekulativer Vernunft kein Beweis über
sie führen läßt; er blieb damit nur bei der Eeflexion stehen, und
drang nicht zu dem durch, was durch diese Reflexion beobachtet
wird. . . . Wir hingegen können hier unsre subjektive Theorie
snchnng der Wahrheit gevorteilt hat. Wir kamen zur Erfahmngserkenntnis, nnd
konnten die Prinzipien ihrer Notwendigkeit in den Grundgesetzen der Natur auf-
weisen, nicht dadurch, daß wir ihr Verhalten zu den Dingen selbst erhärteten,
sondern dadurch, daß wir zeigten, jede menschliche Vernunft weiß ihrer Natur
nach diese und diese Gesetze und muß nach ihnen urteilen. Eben so werden wir
in Rücksicht der Gültigkeit der Ideen denselben Gang der Deduktion einschlagen
müssen, indem wir zeigen: jede endUche Vernunft glaubt kraft der Organisation
ihres Wesens notwendig an die ewige Realität des Seins an sich. . . . Unsre
Stellung für die Deduktion der Ideen ist also die, daß wir zeigen, ein Jeder glaube
notwendig an die ewige ReaUtät der Ideen. Es liegt nämlich unvermeidlich in
der unmittelbaren Erkenntnis seiner Vernunft dieser Glaube, dessen wird er sich
aber erst durch Reflexion mittelbar wieder bewußt; dabei kann er dann Fehler
der Selbstbeobachtung begehen, und so selbst meinen und lebhaft meinen, er
glaube von dem allen nichts, wiewohl dieser Glaube unmittelbar in ihm, wie in
jedem Andern liegt. Kraft dieser Deduktion müssen wir uns also anheischig
machen, jedem, der die Realität der Ideen leugnet, geradezu aufzuweisen, nicht
etwa nur, daß sie dennoch wirklich Realität haben, sondern daß er selbst, er mag
sagen, was er will, in der Tat doch auch ihre Realität glaube, und sich mit dem
GegenteU doch nur selbst täusche. "^ (Neue Kritik § 130, Bd. U, S. 203 ff.)
3671 Dritter Teil: Die Geschichte der Erkenntnistheorie. 769
dorcfaaas vollenden, und zugleich jede objektive Wendung der Sache
ablehnen. Jede Vernunft glaubt die Dinge an sich zu erkennen,
nicht auf die Gefahr hin, sich zu irren, denn in Rücksicht dessen
giebt es keinen Irrtum, sondern auf die G-efahr hin, kein Narr
zu sein.
„Das Resultat unsrer ganzen Lehre von der transzendentalen
Wahrheit ist dann das höchste Lob der kritischen Methode in der
Iliilosophie. Philosophieren heiße die willkürliche Tätigkeit im
Selbstdenken; es werde gefragt: was wollt ihr mit diesem selbst-
tätigen Denken? Wer sich auf die Antwort einläßt, sagt: Wahr-
heit, die höchste Wahrheit, Übereinstimmung der Erkenntnis mit
ihrem Gegenstande, des Objekts mit dem Subjekt! Gehen wir
aber kritisch dem nach, was ihr wirklich tut oder auch nur tun
könnt, so finden wir, daß ihr diese Wahrheit keinesweges wollt,
sondern nur Ausbildung eurer Erkenntnis, möglichste Annäherung
an das Ideal logischer Vollkommenheit im Erkennen, welches
durch Beweisen, Demonstrieren und Deduzieren eurer Sätze er-
reicht wird. Was ihr überdies zu suchen meint, das scheint euch
nur so durch Verwechselimg der empirischen Wahrheit aus dem
Verhältnis der Erkenntnis zur Vernunft mit transzendentaler
Wahrheit aus dem Verhältnis der Erkenntnis zu ihrem Gegen-
stande.
„Wir haben den logischen Satz vom Grunde auf die Formel
gebracht: jeder Satz muß einen zareichenden Grund in der un-
mittelbaren Erkenntnis haben, denn er ist nur mittelbare Wieder-
holung eines unmittelbar Gegebenen, man denkt ihn sich insge-
heim nach transzendentaler Bedeutung aber eigentlich so: Jede
wahre Erkenntnis muß ihren zureichenden Grund haben, denn das
Sein des Gegenstandes ist der Grund, Wahrheit der Erkenntnis
doch nur die Folge. Mit diesem Postulat aber können wir gar
770 L« Nelson: Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [358
nichts anfangen, diese Abhängigkeit der Erkenntnis von ihrem
Gegenstande ist gar kein Thema einer wissenschaftlichen Unter-
snchnng. Wer das Gegenteil behauptet, der fordert eine Theorie
der Möglichkeit des Erkennens. Habt ihr euch denn aber auch
gefragt, ob die Möglichkeit des Erkennens ein Thema für irgend
eine Theorie sei? Wohl nicht! Denn sonst würdet ihr finden,
daß das Erkennen nur als Qualität vor der inneren Erfahrung vor-
kommt; für Qualitäten aber giebt es ja überhaupt keine Theorie,
und am wenigsten für innere Qualitäten; nur quantitative Ver-
hältnisse können Thema einer Theorie werden; ein solches ist aber
das einer Erkenntnis und ihres Gegenstandes nicht/ ^
' Neue Kritik § 131. (Bd. U, S. 211 ff.)
S c h 1 u s s.
Vorschlag, durch eine geeignete Methode die philoso-
phischen Streitigkeiten in wissenschaftliche Bahnen
zu lenken.
£^ yccQ Ttf^t, & &Qi,6tB KgitatVf tb (lii naX&g
liytiv oi it4vov ilg a'btb toi^co nlrififiiligf &XXä
xal Ttanöv ti ifinoist taig ipvxaCg.
PlaTON, PhMdon 116 K
166. Zum Schlüsse wird es gut sein, einige Folgerungen, die
sich an die vorstehenden Darlegungen knüpfen und die für die Be-
urteilung der gegenwärtigen Lage der Philosophie von Nutzen sein
können, ausdrücklich zu ziehen.
Das erste Ergebnis, das ich hier als festgestellt betrachte
und dessen vollgültige Begründung in den Elapiteln XV bis XXIV
zu finden ist, fasse ich in die Behauptung zusammen, daß das
Philosophem Kants in seiner historisch vorliegenden Form auf
Voraussetzungen beruht, deren innere Unvereinbarkeit es unmög-
lich macht, bei diesem Philosopheme stehen zu bleiben. Zweitens
aber behaupte ich, daß die Einteilung, die der im Vorangehenden
gegebenen Übersicht über die verschiedenartigen Fortbildungs-
versuche des Kantischen Philosophems zu Grunde liegt, eine voll-
ständige und ausschließende ist.^
> Vgl. besonders Kapitel XXIV.
772 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [360
Aas diesen Feststellangen ergiebt sich einerseits die Abwei-
sung der vielfach ausgegebenen Parole „Zarück zu Kant", d. h.
die Abweisung des Versuchs, auf die Kantische Philosophie zurück-
zugehen, ohne diese Philosophie wieder im Sinne eines ihrer Nach-
folger umzubilden, — eines Versuchs, von dem schon die Ge-
schichte lehrt, daß er, so oft er auch angestellt worden ist, noch
jedesmal nur von völlig ephemerem Erfolge war.*
Andererseits aber ergiebt sich die Abweisung jeglichen Ver-
suchs, die bereits aufgetretenen Fortbildungen der Kantischen
Philosophie um eine neue zu vermehren oder auch zwischen den
aufgetretenen, historisch vorliegenden Versuchen dieser Art irgend
eine Vermittelung herzustellen. Alle Bemühungen, auf diesem
Felde noch einen Ruhm der Originalität zu ernten, sind vergeb-
lich, da alle hier möglichen Versuche bereits ihre Verwirklichung
in der Geschichte gefunden haben und also alle Möglichkeiten er-
schöpft sind. So sehr deshalb auch die Erfolglosigkeit aller bis-
herigen Bemühungen, eine Einigung herbeizuführen, die Erwartung
nahe legen mag, daß der Streit, der das beginnende Jahrhundert
noch ebenso beschäftigt wie das vergangene, seine Schlichtung nur
durch eine erst noch zu entdeckende, die alten Gegensätze in einer
höheren Einheit aufhebende Philosophie finden werde, so ist doch
aus unserer Darstellung gewiß, daß dieser Streit zwischen den
schon bestehenden Parteien ausgetragen werden muß und nur
durch den völligen Sieg der einen unter ihnen und die damit ver-
bundene gänzliche Vernichtung aller übrigen sein Ende finden
wird.
Ohne also hier noch einmal zwischen diesen Parteien eine
Entscheidung treffen zu wollen, können wir behaupten, daß von
1 Vgl. § 140.
361] Schluß. 773
jeder Philosophie, die eine Fortbildang der Elantischen oder auch
nnr eine Rücksichtnahme auf das Kantische Problem beabsichtigt,
gefordert werden mnß, daß sie sich für einen der aufgezählten
Standpanlcte entscheide, die nach ihren geschichtlich aasgeprägte-
sten Formen durch die Namen Schellixq, Hegel, Beneke nnd Fries
bezeichnet werden können. Wer dieser Forderung nicht Grenüge
leistet, wird bereits durch die bloße Logik abgewiesen. —
167. Sollte die Hoffnung, die gewiß ein jeder teilt, der irgend
einen der hier zuletzt aufgeführten Standpunkte einnimmt, keine
trügerische sein, — die Hoffnung, daß durch eine gesunde Fort-
bildung der Kantischen Philosophie ihre Friedensverheißung in Er-
füllung gehen werde, so sollte uns doch schon ein Rückblick auf die
bisherige Greschichte dieser Philosophie (wie wir ihn hier gegeben
haben) warnen, das erhoffte Ziel nicht durch unsere — der Philoso-
phierenden — eigene Schuld noch fernerhin ohne Not hinauszurücken.
Zweierlei könnte hier, nächst dem im vorigen Paragraphen Greforder-
ten, geschehen, um nicht sowohl geradezu eine Verständigung herbei-
zuführen, als vielmehr zunächst die einer solchen entgegenstehenden
Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Unter diesen Hindernissen
sind nämlich einige, die nicht eigentlich aus der grundsätzlichen Ver-
schiedenheit der philosophischen Überzeugungen, sondern aus der
Nichtachtung höchst einfacher und naheliegender Q-ebote entspringen
und denen entgegenzuarbeiten einem jeden an seinem Teile möglich
ist, ohne dabei seinen Parteigrundsätzen irgend etwas zu vergeben.
Ein solches Hindernis liegt, wie schon oft bemerkt worden
ist, in dem Mangel eines feststehenden und einheitUchen Sprach-
gebrauchs. So oft sich die Einsicht in die schlimmen Folgen
dieses Fehlers bei unseren philosophierenden Schriftstellern geltend
macht, so schnell wird sie meist wieder vergessen, so schnell
macht sie wieder der Vorliebe für eine originelle Terminologie
774 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [362
und den mannigfachsten Vergewaltigungen der Sprache Platz. Ich
will hier nur auf den folgenden, bei den Erörterungen über diese
Frage bisher nicht gehörig berücksichtigten Umstand aufmerksam
machen.
So nützlich in vielen Fällen die Neubildung eines Terminus
sein mag, wo die der bisherigen Sprache zur Yerlügung stehenden
Ausdrücke nicht zu genügen scheinen, so gefahrlich ist sie doch,
wo sie nicht wirklich unentbehrlich ist, namentlich, wenn dabei
ein Ausdruck Verwendung findet, der bereits in dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch vorkommt und in diesem eine ihm durch das Her-
kommen gegebene Bedeutung besitzt. Führt man für einen solchen
Ausdruck eine Definition ein, und sei es auch nur, um sich gegen
die Unbestimmtheit zu sichern, die durch die dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch anhängenden Assoziationen erzeugt wird, so setzt
man sich der Grefahr aus, bei dem späteren Grebrauch des defi«
nierten Ausdrucks die ihm durch die Definition gegebene Bedeu-
tung mit der ihm nach dem üblichen Sprachgebrauch zukommenden
Bedeutung zu verwechseln und so unbemerkt Bestimmungen, die
dem Gregenstande nach der einen Bedeutung des Wortes zukommen,
auf den Gregenstand zu übertragen, dem sie nach der anderen Be-
deutung des Wortes keineswegs zukommen. Eine wie reiche
Quelle philosophischer Irrungen dieser Umstand bildet, wird man
durch eine Vergleichung der in der vorliegenden Schrift behan-
delten Beispiele ermessen.^ — Selbst das von dem feinsten Sprach-
gefühl geleitete Bestreben, nur in vollster Übereinstimmung mit
dem Sprachgebrauch zu definieren, schützt nicht vor der in dieser
Fehlerquelle begründeten Grefahr. Denn welches Kriterium haben
wir, um zu beurteilen, ob die Definition alle und nur alle die
> Vgl. besonders die in § 139 angegebenen Beispiele.
363] Schluß. 775
Merkmale enthält, die der durch den Sprachgebrauch mit dem-
selben Worte bezeichnete Begriff enthält? In anderen Wissen-
schaften hat es hiermit keine Schwierigkeit, denn dort können
wir jederzeit auf die Anschauung verweisen and dadurch jeden
Zweifel darüber zerstreuen, von welchem Gegenstande die Bede
ist. In der Philosophie aber, und auch in der Psychologie, ver-
sagt dieses Yerständigungsmittel gänzlich. Denn die philosophi-
sche Erkenntnis ist ihrem Wesen nach nicht-anschaulich, und der
Psychologe kann sich zwar für die Richtigkeit seiner Sätze auf
die Selbstbeobachtung berufen, die aber, eben weil sie /Selbstbeob-
achtung ist, ein jeder nur in sich selbst findet, ohne ihren Inhalt
einem anderen anders mitteilen zu können als vermittelst der
Sprache. Halten wir uns nun hier nicht auf das Strengste an
den allgemeinen Sprachgebrauch, so geben wir unbedacht das ein-
zige Mittel der Verständigung preis. Dies geschieht aber not-
wendig, sobald wir, statt dem Sprachgefühl zu folgen, von will-
kürlichen Definitionen ausgehen.
Den allgemeinen Sprachgebrauch also gilt es zu achten. Ge-
rade unsere Sprache ist so reich und bietet so feine Abstufungen,
daß schon allein derjenige, der über ein gebildetes Sprachgefühl
verfügt, vor allerlei Begriffsverwechslungen geschützt ist, denen
ein anderer leicht zum Opfer fällt, der in bloßem Vertrauen auf
seinen eigenen Scharfsinn in einer eigens zu diesem Zweck ge-
schaffenen Privat-Terminologie philosophiert. Ich erinnere, um
dies mit Beispielen zu belegen, an die Anmerkung des § 48 über
die Ausdrücke ;, Vernunft'' und „Verstand", sowie an die ebenso
schon in unserer gewöhnlichen Sprache liegende Unterscheidung
im Gebrauche der Worte ;,Grund" und „Begründung^, deren Be-
achtung allein hingereicht hätte, um auf den Unterschied der ent-
sprechenden Begriffe aufmerksam zu werden und dadurch den
776 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [364
Hauptfehler der in dieser Schrift widerlegten Irrtümer zu ver-
meiden. Ich erinnere femer auch an die Unterscheidung, die ein
gesundes und philosophisch unbeirrtes Sprachgefühl zwischen „Gre-
fiiW und ;,Empfindung^ macht, mit welcher Unterscheidung der
Geist unserer Sprache gleichsam die grundlegende Entdeckung der
Kantischen Ästhetik vorwegnimmt.^
Weiter aber sollte man sich in einer auf Wissenschaftlichkeit
Anspruch erhebenden Darstellung nach Möglichkeit aller Bilder
enthalten. Ich weiß wohl, daß ursprünglich die meisten, wo nicht
alle Ausdrücke bildliche Bedeutung haben. Aber es ist ein großer
Unterschied zwischen dem Grebrauch eines Ausdrucks, von dessen
Bildlichkeit wir das Bewußtsein längst verloren haben, und einem
bewußtertveise bildlichen Gebrauche eines Ausdrucks.* Nur diesen
letzten gilt es zu vermeiden. Bekanntlich hinkt nämlich notwen-
dig jedes Bild. So zweckmäßig daher auch ein Bild zur ErlätUe*
rung einer anderweit gegebenen Begriffsbestimmung sein mag, so
kann es doch diese letztere niemals ersetzen, wenn sie von Viel-
deutigkeiten frei bleiben soll. Derartige Vieldeutigkeiten führen
nicht nur den Leser, sondern oft genug auch den Autor selbst in
die Irre; sie nicht aufkommen zu lassen, ist ein einfaches Gebot
der Wahrhaftigkeit schon im alltäglichen Gebrauche der Sprache,
wie viel mehr also im wissenschaftlichen.
Aus dem Gesagten erhellt zugleich, daß wo ivirklkh die Ein-
> Man erkennt aus Überlegungen dieser Art die tiefe Bedeatang jener
wenig beachteten nnd noch seltener verstandenen Warnungen, die Kant in
der transzendentalen Methodenlehre (wie auch schon in den „Untersuchungen
über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral**)
über den Gebrauch der Definitionen in der Philosophie gegeben hat.
' Man vergleiche z. B., um sich diesen Unterschied deutlich zu machen,
das Wort „Grund" mit den Worten „Wurzel", „Urboden" nnd „Heimatsort".
(Vgl. § 59, 60 und 61.)
365] Schluß. 777
führtuig einer neuen Terminologie erforderlich ist, man sich nicht
scheuen sollte, zu Fremdwörtern zu greifen, da mit diesen noch
keine störenden, aus einem früheren Gebrauche herstammenden
Nebenbedeutungen verbunden sind.^ Es ist aber klar, daß solche
Neubildungen nur dann erlaubt sind, wenn sich der fragliche Be-
grifip aus Merkmalen zusammensetzt, die ihrerseits mit den Mitteln
des allgemeinen Sprachgebrauchs bezeichnet werden können, da in
letzter Linie alle Verständigung und Mitteilung nur mit seiner
Hülfe möglich ist und wir also auch bei allen Definitionen schließ-
lich auf ihn zurückgehen müssen.^
Zwar hat wirklich die allgemeine Sprachverderbnis in philoso-
phischem Gebiete bereits einen so bedrohlichen Umfang angenommen,
> Aas diesem Grunde erscheint mir z. B. der Vorschlag Calkers, an Stelle
der von Kant geprägten Termini deutsche Ausdrücke einzuführen, nicht glück-
lich. („Denklehre" für „Logik**, „Urgesetzlehre** für „Metaphysik**, „Vorweisung**
für „Demonstration**, „Grundweisung** für „Deduktion**, „verbindendes ursprüng-
liches Urteil** für „synthetisches Urteil a priori**, „einheitliche Vernehmung" für
„formale Apperzeption**, „ewige Selbsttümlichkeit** für „intelligibler Charakter**
u. s. w.) Vgl. F. Calker, Urgesetzlehre, Berlin, 1820.
' Ein typisches Beispiel eines Verstoßes gegen die letzte Regel ist der in
der erkenntnistheoretischen Litteratur immer mehr um sich greifende und schon
heute geradezu epidemisch gewordene Mißbrauch des Ausdrucks: „das Apriori**.
Da dieser Ausdruck noch niemals definiert worden ist, so hat er bisher überhaupt
keine Bedeutung ; aber desto größer ist die Beliebtheit, deren er sich bei unseren
erkenntnistheoretischen Schriftstellern erfreut. Der Grund dieser Beliebtheit ist
leicht zu entdecken: es giebt keinen anderen Ausdruck, der so geeignet ist wie
dieser, um das für die Sache Wesentliche zu verschleiern und dem Leser aus
den Augen zu rücken. Sagte man nämlich: „Erkenntnis a priori**, so würde
jeder Hörer und Leser wissen, daß es sich nicht um den Gegenstand, sondern
um den Inhalt der Erkenntnis handelt. Da aber für die Erkenntnistheorie alles,
auf die Nicht-Unterscheidung dieser Begriffe ankommt, so empfiehlt sich der un-
bestimmtere Ausdruck: „das Apriori**. Denn bei diesem kann niemand wissen,
was eigentlich gemeint ist, man kann also nach Belieben bald das eine, bald
das andere hineindeuten und so alles beweisen und alles widerlegen, was sich
nur irgend durch eine quatemio terminorum beweisen oder widerlegen läßt.
780 L. Nelson : Ober das sogenannte Erkenntnisproblem. [368
Geometrie und Arithmetik so mächtig gefordert und übrigens
auch längst in der Physik erfolgreiche Anwendung gefunden hai.^
Mit so viel Recht wir nämlich von Kant gewarnt worden
sind, uns nicht durch das Beispiel der Mathematik verleiten zu
lassen, die in ihr damals allein bekannte und auch heute noch
ihre systematischen Teile beherrschende Methode in der Philo-
sophie nachahmen zu wollen, so hat sich doch infolge eines
eigenartigen historischen Prozesses das Verhältnis der beiden
Wissenschaften seit Kants Zeiten dadurch sehr verschoben, daß
das von Kant für die Philosophie als unentbehrlich geforderte
zergliedernde Verfahren zwar bis auf den heutigen Tag von der
Mehrzahl der Philosophen verschmäht worden ist, dafür aber den
Beifall der Mathematiker gefunden hat und in deren Händen ein
zu solcher Vollkommenheit durchgebildetes wissenschaftliches
Werkzeug geworden ist, daß nunmehr wiederum die methodisch
vernachlässigte Philosophie bei ihrer Schwesterwissenschaft in die
Lehre gehen kann xmd aus der Nachahmung der in den kritisch
bearbeiteten Teilen derselben erprobten und bewährten Methoden
den reichsten Gewinn ziehen würde.
Wir wollen dies an einigen Beispielen erläutern. Neben dem
schon gerügten Mißbrauch der Definitionen ist ein Kardinalfehler
des unkritischen Philosophierens der durch leichtfertigen Gebrauch
der indirekten Beweise entstehende Schluß aus unvollständigen Di^-
junktionen. Nicht wenige der erkenntnistheoretischen Streitig-
Weise klarzulegen sucht, daß sich sicher angeben läßt, welche Voraussetzungen
zur Begründung jener Wahrheit notwendig und hinreichend sind.^ Man vergleiche
auch die Charakteristik dieser Methode im „Schlußwort« der Hilbertschen Schrift
> So beruht z. B., worauf ich an anderer Stelle hingewiesen habe, Helmholtz'
Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie ausschließlich auf einer
Anwendung derselben Methode. (Vgl. „die kritische Methode«, § 7.)
369] ScMuß. 781
keiten wären bald beseitigt, wollte man, durch die geforderte
logiscljie Zergliederung veranlaßt, mißtrauischer gegen die Anwen-
dung der indirekten Beweisart werden. Diese Beweisart ist nur
da zulässig, wo man einen sicheren Überblick über alle Glieder
der ihr jedesmal zu Grunde liegenden Disjunktion voraussetzen
kann. Ein solcher Überblick ist aber erfahrungsgemäß in der Phi-
losophie meist sehr schwer zu erlangen. Will ich eine Behauptung
dadurch begründen, daß ich in der ihr entgegengesetzten Annahme
einen Widerspruch aufzeige, so muß ich die Gewahr haben, daß
die Sphäre der Möglichkeiten durch die zu widerlegende Annahme
und die zu begründende Behauptung erschöpft ist. Insbesondere
muß ich wissen, daß diejenige Voraussetzung^ gegen die das wider-
legte Gegenteil verstößt, bereits unabhängig von der indirekten
Beweisführung aus irgend welchen anderweit gegebenen Gründen
feststeht. Widrigenfalls aus dem konstatierten Widerspruche mit
demselben Eechte wie auf die vorgesetzte Behauptung, auf die
Falschheit jener Voraussetzung geschlossen werden könnte. Die
Nachfrage, inwieweit diese Bedingungen erfüllt sind, wird, wie
unsere kritischen Untersuchungen zeigen, nur allzuleicht verab-
säumt. Dies hat dann zur Folge, daß sich das Gegenteil der be-
wiesenen Behauptung mit gleich gewichtigen Gründen verteidigen
läßt. Beweist z.B. der Transzendentalist ^ Aiq Aprioriiät der Er-
kenntnistheorie unter Berufung auf den unvermeidlichen Zirkel
aller psychologischen Erkenntnistheorie, so bedenkt er nicht, daß
der Psychologist mit derselben Bündigkeit die Notwendigkeit em-
pirischer Erkenntnistheorie beweisen kann, indem er sich auf den
notwendigen Zirkel aller rationalen Erkenntnistheorie beruft.
Beide bemerken nicht, daß der Zirkel, den sie ihrem Gegner vor-
» Vgl. z. B. § 67.
Abhtndliingwi d«r Friw*Mh«n Schule. H. Bd. 50
782 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [370
werfen, der Erkenntnistheorie als solcher eigentümlich nnd von
der Modalität ihrer Erkenntnisweise vöUig unabhängig ist, daß
also der ganze Streit nichtig ist, ehe nicht über die Möglichkeit
der Erkenntnistheorie überhaupt etwas aasgemacht ist. Man mag
also die Möglichkeit der Erkenntnistheorie annehmen oder nicht,
so zeigt doch die logische Zergliederong der Beweise, daß ohne
Heranziehung weiterer Kriterien zwischen Transzendentalismus
und Fsychologismus keine eindeutige Entscheidung möglich ist;
mit welcher Einsicht denn allen übereilten Schlußfolgerungen der
Boden entzogen ist.
Man vergleiche auch, um weitere Beispiele zu haben, § 108 f.,
sowie den in § 16 ff. kritisierten indirekten Beweis. Auch die in
§ 83 erörterte Kantische Argumentation gegen das Präformations-
system bietet ein lehrreiches Beispiel.
Oder man nehme den berühmten Streit über das Ding an
sich. Der Idealist will die Annahme von Dingen an sich wider-
legen, indem er zeigt, daß diese Annahme, wie jedes Urteü, auf
der Anwendung von Prinzipien a priori beruht; ein Beweis, der
natürlich nur unter der stillschweigenden Voraussetzung der Sub-
jektivität aller Prinzipien a priori gilt. Der Widerspruch liegt also
nicht in der Annahme der Dinge an sich, sondern nur in ihrer Un-
vereinbarkeit mit dem Satze , daß Prinzipien a priori Bedingungen
aller Urteile sind ; und auch dies nur unter der Voraussetzung des
formalen Idealismus. Die Konstatierung dieses Widerspruchs ge-
nügt folglich keineswegs zur Widerlegung der Annahme von Din-
gen an sich; vielmehr ist diese Konstatierung hinsichtlich ihrer
metaphysischen Konsequenzen durchaus vieldeutig, da ohne Zuhilfe-
nahme anderer als rein logischer Kriterien auf Grrund des konsta*
tierten Widerspruchs ebenso gut auf die Falschheit des Satzes,
daß Prinzipien a priori Bedingungen aUer Urteile sind, also auf
371] Schluß. 783
den Empirismus, geschlossen nnd die Annahme der Dinge an sieh
als za Recht bestehend angenommen werden kann, — nns aber auch
nichts hindert, mit demselben Rechte beides: die Annahme der
Dinge an sich und den Satz von der Bedingtheit aller Urteile durch
Prinzipien a priori, aufrechtzuerhalten und dafür die Voraussetzung
des formalen Idealismus fallen zu lassen. Alle drei Schlußweisen
sind logisch gleichwertig, und ein Streit ist hier, solange nicht
andere als logische Mittel herangezogen werden, unmöglich. Was
uns die Logik hier lehren kann, ist dies und nur dies: daß die
Annahme der Dinge an sich, der Satz von der Bedingtheit aller
Urteile durch Prinzipien a priori und der formale Idealismus drei
einander logisch gleichwertige Sätze sind, deren je einer mit
der Eonsequenz aus den beiden anderen in Widerspruch steht, daß
wir also, um ein widerspruchsfreies System zu erhalten, einen dieser
Sätze fallen lassen müssen. Welchen wir aber fallen zu lassen
haben, darüber entscheidet die Logik gar nichts.^
Die Vereinigung zu einer solchen axiomatischen Arbeitsweise
wäre ein wesentlicher Schritt zur Verständigung auch über die
Frage der inneren, formalen Übereinstimmung der einzelnen Phi-
losopheme hinaus. Ist man einmal so weit, bei jedem der Dis-
kussion vorliegenden Philosopheme übersehen zu können, welche
Voraussetzungen ihm zu Grunde liegen, läßt sich genau angeben,
welche Sätze zur Begründung eines bestimmten seiner Sätze not-
wendig und hinreichend sind, so ist wenigstens so viel gewonnen,
daß der Streit in geordnete und methodische Bahnen gelenkt ist.
Auf diesem und keinem anderen Wege ist ein gegenseitiges Ver-
stehen der Streitenden erreichbar, — ein Verstehen, das es jedem
^ Wir vollen der Übersichtlichkeit wegen, auch dieses Beispiel durch ein
50*
?84
L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
[372
möglicli macht, nicht nur, wie heute üblich, über den anderen ab-
zusprechen, sondern sich bestimmt sagen zu können, hinsichtlich
Schema Teranschaolichen.
ter OUc« 4B tUh.
Bartnitaa«
B«4iacClMtt «UcrDit
PriuipiM a priwi.
lit «Uw Dit«ll« iMnt
Der Leser wird leicht bemerken, daß wir in diesem Schema das metaphy-
sische Analogon zu dem methodischen Schema des § 57 and dem psychologischen
des § 108 vor uns haben ond daß diese Schemata sich, historisch betrachtet,
decken, in dem Sinne, daß der konsequente Transzendentalist zugleich der Ver-
treter der „rationalistischen Eonsequenz'', der konsequente Psychologist zugleich
der Vertreter der „empiristischen Konsequenz" ist, und umgekehrt, während der
konsequente Kritizismus, wie wir ausführlich gezeigt haben, mit dem formalen
Idealismus überhaupt unverträglich ist. (Man vergleiche den historischen Stamm-
baum § 126 Anmerkung.)
373] Schluß. 785
welcher genau formnlierbarer Sätze er von dem anderen abweicht
und welche Voraassetzangen er daher, wenn er den anderen wider-
legen will, anzugreifen hat. Dieser Vorteil ist nicht gering ein-
zuschätzen. Denn weiß man einmal klar und deutlich, worüber
man eigentlich streitet, vermag man erst das Problem in eine
präzise Formel zu bringen, so ist die erheblichste Schwierigkeit
bereits überwunden. Die noch übrig bleibende, scheinbar schwerste
Aufgabe erscheint nicht mehr unlösbar, wenn es gelingt, die Dis-
kussion auf ein Gebiet zu übertragen, dessen Bearbeitung zwar
nicht mehr mit rein logischen Mitteln möglich, aber doch auch
nicht den eigentümlichen Schwierigkeiten einer unmittelbaren In-
angriffnahme metaphysischer Probleme unterworfen ist.
169. Daß und wie diese Forderung erfüllbar ist, ist in den
Kapiteln VHI und IX dargelegt worden.^ Es ist dort gezeigt
worden, daß es zu jedem metaphysischen Satze einen äquivalenten
psychologischen Satz geben maß, nämlich einen Satz über die Gründe
der Möglichkeit der in dem metaphysischen Satze ausgesprochenen
Erkenntnis. Dieser psychologische Satz steht hinsichtlich seiner
Gültigkeit zu seinem metaphysischen Äquivalent in einem Wechsel-
Verhältnis von der Art, daß beide Sätze nur miteinander Anspruch
auf gegründete Wahrheit erheben können oder miteinander als
Vorurteil verworfen werden müssen. Ist dies richtig, so ist damit
ein Mittel gewonnen, die Diskussion auf einen rücksichtlich meta-
physischer Fragen neutralen Boden zu übertragen. Ist nämlich ein-
mal ein metaphysisches Problem auf seinen präzisen logischen Aus-
druck gebracht, so braucht man nur das äquivalente psychologische
Problem zu formulieren, um die Streitfrage aus dem Bereiche will-
kürlicher Machtsprüche und dialektischer Spitzfindigkeiten an die
VgL besonders auch § 157 f.
786 ^' Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [374
Instanz der jedermann znr Beobachtong offen liegenden Tatsachen
zn verweisen. —
Aber selbst diejenigen, die die hier vorgetragene Ansicht
über die positive Bedentnng der Psychologie für die Philosophie
nicht teilen, werden sich zu gemeinschaftlicher Arbeit vereinigen
können, soweit sie nur darüber einverstanden sind, daß der Philo-
soph die Tatsachen der Erfahrung zu achten habe und ihnen
wenigstens nicht widersprechen dürfe. Verhält es sich so, wie ich
mich auf Grrmd des Inhalts der vorliegenden Schrift zu behaupten
berechtigt glaube, daß nämlich die Lehren der gegenwärtigen
Philosophie nicht frei von Widersprüchen gegen die Tatsachen
der inneren Erfahrung sind und an diesen Widersprüchen scheitern
müssen, so erwächst aus der Einsicht in diesen Sachverhalt die
unerläßliche Aufgabe einer methodischen Klärung des Tatsachen-
gebietes der inneren Erfahrung, dessen Kenntnis allein vor Fehlem
bewahren kann, die, so unscheinbar sie in den Augen des Philo-
sophen sein mögen, doch die wissenschaftliche ünbrauchbarkeit
aller von ihnen beeinflußten Resultate zur notwendigen Folge
haben. Und so erweist sich der negative Nutzen solcher Unter-
suchungen, indem sie uns ein Mittel bieten, unter den Voraus-
setzungen der einander widerstreitenden Philosopheme noch eine
weitere Einschränkung zu treffen, als dies mit lediglich formal-
logischen Mitteln möglich ist. Ein Mittel, dessen gewissenhafte
Nutzbarmachung wenigstens so lange unumgänglich gefordert
werden muß, als es an einem anerkannten positiven Rat zur Bei-
legung der philosophischen Streitigkeiten noch fehlt. —
Die kritischen Ausführungen der vorliegenden Schrift haben
den Zweck, die Durchführbarkeit und Fruchtbarkeit dieser Methode
an einer Reihe von Beispielen zu zeigen, die für den gegenwärtigen
Stand der Philosophie von besonderem Interesse sind. Jedesmal
375] Schluß. 787
sind wir bei der !Eritik eines Philosophems so vorgegangen, daß
wir dasselbe zimäclist einer axiomatiseben Untersuchung unter-
warfen, die darauf abzielte, seine — sei es ausdrücklich oder
stillschweigend — angenommenen Voraussetzungen zu zergliedern
und die diesen zu Grrunde liegenden psychologischen Annahmen
aufzudecken, um sodann diese letzteren durch eine Vergleichung
mit den Tatsachen der Selbstbeobachtung hinsichtlich ihrer Zu-
lässigkeit zu prüfen und dadurch eine zwar oft sehr mittelbare,
aber desto zuverlässigere Entscheidung über den wissenschaftlichen
Wert der betrachteten philosophischen Lehren zu gewinnen. Und
so geben wir uns der Hoffnung hin, daß von unseren Ausführungen
gerade die kritischen und polemischen dazu beitragen werden, dem
philosophischen Farteiwesen zu steuern und uns dem Ziele einer
planmäßigen, methodischen Arbeitsweise, wie sie längst in anderen
Disziplinen üblich ist, auch in unserer Wissenschaft näher zu
bringen.
Anhang L
Über die Definition der Logik
und eine gewisse Schwierigkeit in der Unterscheidung
der analytischen und synthetischen Urteile.
170. Neben den im Texte (§ 6 ff.) widerlegten Bedenken gegen
die Eantische Unterscheidung der analytisclien nnd synthetischen
Urteile läßt sich noch ein anderer, tiefer gehender Einwand gegen
diese Unterscheidung geltend machen. Ich bin in der Abhandlung
selbst auf die diesem Einwand zu Grunde liegende Schwierigkeit
nicht eingegangen, teils weil sie in der Litteratur meines Wissens
keine Rolle spielt, teils auch, weil ihre Auflösung eine gewisse
Kenntnis der psychologischen Biitik erfordert, wie ich sie in der
Abhandlung nicht voraussetzen wollte. Es sei daher hier nach-
träglich jene Schwierigkeit kurz besprochen.
Kant definiert: Ein Urteil ist analytisch, wenn sein Prädikat
schon im Sabjektsbegriff enthalten ist. ^ Was heißt hier „ent-
halten", und was ist das Kriterium für dieses ;,Enthaltensein" ?
Man konnte sagen: Im Subjektsbegriff „enthalten" sind alle die-
jenigen und nur diejenigen Merkmale, die zu seiner Definition
gehören. Allein, wenn man diese Erklärung genau nimmt, so
müßten alle analytischen Urteile identische oder doch teilweis
Kritik der reinen Yemonft^ Einleitung, lY. Prolegomena, § 2.
790 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [378
identische Urteile sein; gegen den offenbaren Sinn der Eantischen
Einteilnng.*
Kant selbst nennt als das „Prinzip aller analytischen Ur-
teile" den Satz des Widerspruchs.* Aus diesem Satze lassen sich
jedoch nur negative Urteile ableiten. Auch ist Kant im Irrtum,
wenn er den Satz des Widerspruchs als den allein zureichenden
Grundsatz der Logik betrachtet.' Weder der Satz der Identität
noch der Satz der Bestimmbarkeit oder des ausgeschlossenen
Dritten noch auch der Satz der doppelten Verneinung lassen sieb
auf ihn zurückführen. Sollen wir alle diese Sätze als synthetische
betrachten? Und noch mehr, wie verhält es sich mit dem Satze
des Widerspruchs selbst, ist er analytisch oder synthetisch? Wenn
er als Kriterium der fraglichen Disjunktion zu Grunde liegen
soll, so kann er dieser Disjunktion nicht selbst unterworfen
werden; die Disjunktion zwischen analytischen und synthetischen
Urteilen wäre also unvollständig,
171. Man mochte nun vielleicht, um diesen Übelständen ab-
zuhelfen, die folgende Definition vorschlagen: Analytische Urteile
sind diejenigen, die sich auf die Qrundsätze der Logik zurückfuhren
^ Kants Satz (Prolegomena, §2b): „Weil das Prädikat eines bejahenden
analytischen Urteils schon vorher im Begriffe des Subjekts gedacht wird, so . . .
wird sein Gegenteil, in einem analytischen, aber verneinenden Urteile, notwendig
von dem Subjekte verneint^ ließe sich dann nicht mehr aufrechterhalten.
' K. d. r. y., Analytik der Grundsätze, zweites Hauptstück, erster Ab-
schnitt : „Von dem obersten Grundsatze aller analytischen Urteile. ** — Wir müssen,
heißt es da, „den Satz des Widerspruchs als das allgemeine und völlig hinreichende
Prinzipium aller analytischen Erkenntnis gelten lassen.** — Analog Prolegomena,
§2b.
* K. d. r. y., an der zuletzt genannten Stelle. — In seiner „Logik** fögt
Kant allerdings dem Satze des Widerspruchs als weitere „Grundsätze** den „Sats
des zureichenden Grundes** und den „Satz des ausschließenden Dritten' hinzu.
(Einleitung, yu.)
379] Anhang I: Über die Definition der Logik u. s. w. 791
lassen.^ Mit dieser Erklärnng verwickeln wir uns jedoch in einen
handgreiflichen Zirkel. Denn wir haben für die Logik keine
andere Definition als die des Systems der analytischen Urteile.
Wir Latten also die analytischen Urteile durch die Logik und
diese wieder durch die analytischen Urteile erklärt.
Allerdings sind auch andere Definitionen der Logik vorge-
schlagen worden.* Insbesondere hat neuerdings die folgende Bei-
fall gefunden: Die Logik, sagt man, sei „die Wissenschaft von
allen Dingen." ' Diese Erklärung ist jedoch entweder geradezu
falsch oder nichtssagend. Es ist gewiß wahr (und eben keine
neue- Entdeckung), daß die Gesetze der Logik nicht allein von
wirklichen, sondern auch von nicht - wirklichen Dingen gelten.
Gelten sie aber auch, wie die Verteidiger der fraglichen Er-
klärung behaupten, von den unmöglichen Dingen? Von den
mathematisch und metaphysisch unmöglichen mag dies zugegeben
werden; aber auch von den „logisch" unmöglichen, z. B. den
widerspruchsvoll definierten? Off^enbar nicht. Vielleicht wendet
man jedoch ein, diese letzteren seien eben darum keine eigent-
lichen „Dinge". Das Nichtssagende dieser Antwort springt in
die Augen. Denn wie entscheiden wir denn, ob etwas ein „Ding"
ist oder nicht? Hier bleibt uns ja kein anderes Kriterium, als
daß ein „Ding" alles das ist, was den Forderungen der Logik
genügt. Wir bewegen uns also wieder im Zirkel, denn wir
* So z. B. Fkege, „Grundgesetze der Arithmetik", S. 4. Ebenso Coütürat,
„La Philosophie des math^matiques de Kant** in der Bevue de mötaphysiqne et
de morale, 1904, S. 330.
» Vgl. z.B. §70 ff.
* Vgl. Itelson in der Bevue de m^taphysique et de monJe, 1904, S. 1038:
„La Logiqae est la science de tous les objets räels ou non, possibles on im-
possibles . . ."
792 ^' Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [380
müssen den Begriff der Logik schon voraussetzen und können
ihn nicht erst auf den des Dinges zurückführen.
Nun hat man zwar auch vorgeschlagen, auf eine Definition
der Logik lieber zu verzichten und als „logische^ G-rundsätze die
als solche in den Lehrbüchern überlieferten Prinzipien aufzu-
stellen. Aber ein Blick in diese Lehrbücher sollte genügen, um
die hoffnungslose Vieldeutigkeit und also auch Unbranchbarkeit
dieses Leitfadens erkennen zu lassen.
172. Die folgende Überlegung kann dazu dienen, uns auf
den richtigen Weg zu leiten. Alle sind darüber einig, daß
die Grundgesetze der Logik die allgemeinsten Wahrheiten über-
haupt sein sollen, d. h. daß sie Bedingungen bilden, denen jedes
auf Wahrheit Anspruch erhebende Urteil genügen muß. Aber
auch darüber besteht Einigkeit, daß diese Bedingungen nicht hin-
reichende, sondern nur notwendige sind. Die logischen Grrund-
sätze sind also die negativen Kriterien der Wahrheit für jedes
Urteil als solches. Ihr Ursprung kann folglich nur in demjenigen
gesucht werden, was zu den wesentlichen Merkmalen des Urteils
als solchen, d. h. zum Begriff des Urteils gehört, nicht in den
Eigentümlichkeiten einer besonderen Urteilsgattung. Der Libegriff
dessen, was erfordert wird, damit wir etwas dem Begriff des
Urteils überhaupt unterordnen, d. h. das, was die definierenden
Merkmale des Urteils ausmacht, ist aber die bloße Form des
Urteils. Die analytischen Urteile werden also diejenigen sein, die
aus der bloßen Form des Urteils entspringen. Und die allgemeinsten
analytischen Urteile werden die Grundsätze der Logik sein.^
Zu demselben Ergebnis führt auch die folgende Überlegung.
^ Durch diese Erklärung werden auch die von Frege, Grundlagen der Arith-
metik, S. 100 herrorgehohenen Schwierigkeiten beseitigt.
381] Anhang I: Über die Definition der Logik n. s. w. 793
Die logischen Gesetze sollen „Denkgesetze" sein; d.h. der Ur-
sprung der logischen Urteile soll im bloßen Denken liegen.
Durch bloßes Denken läßt sich aber, wie wir wissen, der Grehalt
der Erkenntnis nicht erweitern. Soll also trotzdem eine eigen-
tümliche Yorstellnngsweise aus bloßem Denken möglich sein, so
&ann der Ursprung derselben nur in demjenigen liegen, was der
Reflexion unabhängig von allem Gehalt der Erkenntnis eigen-
tümlich ist. Dies ist aber nichts anderes als die bloße Form des
Urteils. Der ursprüngliche Grund der logischen Prinzipien kann
also nur in der Urteilsform enthalten sein.
173. Zur praktischen Anwendung dieser Erklärung bedarf
es nun freilich einer genauen Kenntnis der Urteilsformen. Ohne
mich hier auf eine nähere Begründung der Theorie der Urteils-
formen einzulassen, will ich noch bemerken, daß die aufgestellte
Erklärung zugleich den Vorzug hat, unmittelbar den Leitfaden
für die Deduktion der logischen Grundsätze an die Hand zu geben.
Die kritische Logik zeigt, daß das Urteil die Erkenntnis der Gegen-
stände durch Begriffe ist. Zur vollständigen Urteilsform gehören
daher die folgenden Momente: eine Form der Beziehung des Sub-
jektsbegriffs auf Gegenstände (Quantität), eine Form des Prädi-
katsbegriffs (Qualität), eine Form der Verknüpfung von Subjekt
und Prädikat (Relation) und eine Form der Beziehung des Ge-
halts des Urteils auf die unmittelbare Erkenntnis (Modalität).*
Die Deduktion wird daher die Aufgabe haben, den Ursprung der
^ Das Fehlen des hier angedeuteten Ableitongsprinzips bei Kant erklärt
den Schein der Willklirlichkeit, den die Eantische Tafel der Urteilformen in den
Augen der meisten seiner Kritiker bisher behalten hat. — Die beste mir bekannte
Darstellung der Lehre von den Urteilsformen ist die in Apelts „Metaphysik**
(§ 25 bis 30) gegebene. (Ich mache darauf aufmerksam, daß es dort S. 111 Zeile 18
glimitierenden** statt „verneinenden** heißen muß.)
794 L* Nelson: Über das sogenannte firkenntnisproblem. [382
logischen Grandsätze aus je einem dieser Momente aufzuweisen.
Wie dies geschehen kann, mag die folgende Übersicht andeuten.
Das Moment der Quantität betrifft das Verhältnis des Allgemeinen
zum Besonderen; der analytische dieses Verhältnis betreffende
Grundsatz ist das dictum de omni et nullo. Das Moment der
Qualität betrifft das Verhältnis der Position zur Negation; der
analytische dieses Verhältnis betreffende Grundsatz ist der Satz
der Bestimmbarkeit.^ Das Moment der Relation betrifft das Ver-
hältnis des Subjekts zum Prädikat; der analytische dieses Ver-
hältnis betreffende Grundsatz ist der Satz der Identität.* Das
Moment der Modalität betrifft das Verhältnis des Urteils zur
unmittelbaren Erkenntnis; der analytische dieses Verhältnis be-
treffende Grundsatz ist der Satz des Grundes.*
174. Man übersieht leicht, welche Bedeutung diese Sätze
als die hinreichenden (positiven) Kriterien aller analytischen Ur-
teile haben: der Satz der Identität als Prinzip der kategori-
schen analytischen Urteile, das dictum de omni et nullo als
Prinzip der hypothetischen analytischen Urteile (d. h. der Schlüsse)
und der Satz der Bestimmbarkeit als Prinzip der disjunktiven
analytischen Urteile.
Der Satz des Grundes endlich ist (wie das Moment der Mo-
dalität überhaupt) nicht von objektiver (philosophischer), sondern
^ Der Satz des Widerspruchs und der Satz der doppelten Vemeinang sind
als Folgesätze in dem Satze der Bestimmbarkeit enthalten.
^ Dieser entspringt also aus dem Grundgedanken, daß was im Begriffe des
Subjekts gedacht wird, im Prädikat wiederholt werden kann. Der gewöhnlich so
genannte Satz der Identität ist also nur ein besonderer Fall dieses Satzes, näm-
lich derjenige, in dem das im Subjektsbegriff Gedachte im Prädikat vollständig
wiederholt wird.
* Der methodische Grandgedanke dieser Deduktion findet sich schon bei
Fbies: System der Philosophie, § 110 ff
383] Anhang I : Über die Definition der Logik a. 8. w. 795
nur von psychologischer Bedeutnng. £r könnte im Unterschied
von den anderen logischen Grandsätzen ein Postulat genannt
werden.^
* Die hier gegebene Auflösung der diskutierten Schwierigkeit bestätigt eine
von Kehrt (Vierteljahrsschrift für wissenschaftiiche Philosophie, Bd. 11, S. 253f.)
geäußerte Vermutung. Kerry bemerkt, daß der Satz des Widerspruchs nicht
das hinreichende Kriterium für alle analytischen Urteile sein kann. £r will viel-
mehr auch jedes Urteil analytisch genannt wissen, das „in derselben Weise, wie
es sich Kant auf dem Satze des Widerspruchs beruhend denkt, von dem Gesetze
der Identität abhinge.** Diesem letzteren wird femer noch der Satz des aus-
geschlossenen Dritten angereiht, sowie einige weitere Sätze „von der Art wie der
Satz des Widerspruchs**. Indem Kerry so die „logischen** Grundsätze durch
einzelne Aufzählung einführt, vermeidet er den oben gekennzeichneten Zirkel,
aber er erkauft diesen Vorteil durch den Mangel einer Definition der Logik
und eines Prinzips, das die systematische Vollständigkeit der aufgezählten Grund-
sätze gewährleisten könnte. Dieser Mangel tritt deutlich zu Tage, wenn Kerry
(a. a. 0. S. 257) definiert : analytisch seien „alle diejenigen Urteile, welche aus
den in ihnen zur Verwendung gelangenden Begriffen bloß mit Benützung der an-
geführten logischen Gesetze sich ergeben**. Wie nahe trotzdem gerade Kerry
der von uns gegebenen Auflösung kommt, zeigt seine Bemerkung, daß die „ange-
führten** Sätze „ganz abgesehen von der Beschaffenheit des beurteilbaren Inhalts
bloß das Beurteilen selbst . . . charakterisieren** und „demnach in psychologischer
Beziehung sowohl untereinander, als mit dem Satze des Widerspruchs innig
zusammenhängen**. Er nimmt eine „Verwandtschaft der Grundlagen** aller ana-
lytischen Urteile an, und es „scheint** ihm „eine starke Präsumption dafür zu
bestehen, daß mit den richtigen psychologischen auch die wertvollen logischen
Distinktionen harmonieren werden**.
Anhang IL
Über den formalen Idealismus in der Eantischen Ethik
und Ästhetik.
175. Unsere Znrückfiihning des formalen Idealismas der
Kantischen Erkenntnistheorie anf die Disjunktion zwischen Logik
nnd Empirie als Wahrheitskriterien bewährt sich dadurch, daß
sie geeignet ist, auch anf die praktische Philosophie Kants ein
neues Licht zu werfen. Es muß zunächst einem jeden Kenner
der Kantischen Ethik auffallen, daß sich in ihr dieselbe Zwei-
deutigkeit des Terminus ;, Objektivität" wiederfindet, die den Ge-
brauch dieses Wortes in der Kritik der reinen Vernunft charak-
terisiert. Während nämlich Kant einerseits die für den moralisch
guten Willen notwendige Bestimmung durch die bloße Form des
G-esetzes jedem auf ein Oljekt gerichteten Literesse entgegensetzt^
gilt sie ihm andererseits als die allein objektive^ weil sie durch
ihren apodiktischen Charakter allen sinnlichen und insofern sub-
jektiven Triebfedern entgegengesetzt ist.
Daß diese Analogie keine bloß zufallige ist, erkennt man
leicht, wenn man sein Augenmerk auf die Begründungs weise
richtet, durch die Kant seine Ausschließung aller vom Interesse
an einem Objekt hergenommenen Triebfedern aus den moralisch
zulässigen Bestimmungsgründen rechtfertigt. Das hier für ihn
ausschlaggebende Argument besteht in der Behauptung, daß, wenn
385] Anhang U: Über den formalen Idealismus in der Eantischen Ethik a. s. w. 797
das Interesse an einem Objekt znm Grund der Willensbestimmnng
gemacht würde, der „Bestimmnngsgrnnd der Willkür jederzeit
empiriscli sein" müßte. Es könne nämlich „von keiner Vorstellung
irgend eines Gregenstandes , welche sie auch sei, a priori erkannt
werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent
sein werde." ^ Dieser Argumentation liegt deutlich die Annahme
zu Grunde, daß ein jedes auf ein Objekt bezogenes Werturteil empi^
tisch sein müsse. Fragt man nun, wie Kant zu dieser Annahme
gelangt, so findet man die Antwort in dem Satze:
„Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache,
so fem sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache
sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts,
weil sie von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt; mithin
gehört sie dem Sinne und nicht dem Verstände an." ^
Dieser Satz ist offenbar nichts anderes als die Übersetzung
der von uns in § 77 aufgewiesenen Voraussetzungen des formalen
Idealismus ins Praktische. Wie dort die Möglichkeit der jEr-
kenntnis, so soll hier die Möglichkeit des Interesses (der „Lust")
auf einem Kausalverhältnisse zum Gegenstande beruhen, und wie
dort das theoretische, so soll hier das praktische Urteil ein empi-
risches sein, wenn der Gegenstand „vor der praktischen Kegel
vorhergeht." * Der formale Idealismus ist also die Grundvoraus-
setzung nicht nur für die theoretische, sondern auch für die prak-
tische Philosophie Kants. Aus der Anwendung der Disjunktion
^ Kritik der praktischen Venunft, § 2, Lehrsatz I. — Vgl. auch § 4, Lehr-
satz III : „Die Materie eines praktischen Prinzips ist der Gegenstand des Willens.
Dieser ist entweder der Bestimmongsgrund des letzteren, oder nicht. Ist er der
Bestimmungsgrand desselben, so würde die Begel des Willens einer empirischen
Bedingung . . . unterworfen, folglich kein praktisches Gesetz sein.**
> Kritik der praktischen Vernunft, § 3, Lehrsatz II.
» K, d. p. V., § 2, Lehrsatz L
AkkuidluftA d« riiM*iekMi 8«h«l«. IL Bd. 51
Anhang IL
Über den formalen Idealismus in der Kantischen Ethik
und Ästhetik.
175. unsere Zurückfuhrnng des formalen Idealismus der
Kantischen Erkenntnistheorie auf die Disjunktion zwischen Logik
und Empirie als "Wahrheitskriterien bewährt sich dadurch, daß
sie geeignet ist, auch auf die praktische Philosophie Kants ein
neues Licht zu werfen. Es muß zunächst einem jeden Kenner
der Kantischen Ethik auffallen, daß sich in ihr dieselbe Zwei-
deutigkeit des Terminus ;, Objektivität" wiederfindet, die den Ge-
brauch dieses "Wortes in der Kritik der reinen Vernunft charak-
terisiert. "Während nämlich Kant einerseits die für den moralisch
guten "Willen notwendige Bestimmung durch die bloße Form des
Gesetzes jedem auf ein Oljekt gerichteten Literesse entgegensetet^
gilt sie ihm andererseits als die allein objektive, weil sie durch
ihren apodiktischen Charakter allen sinnlichen und insofern s%^-
jektiven Triebfedern entgegengesetzt ist.
Daß diese Analogie keine bloß zufallige ist, erkennt man
leicht, wenn man sein Augenmerk auf die Begründungsweise
richtet, durch die Kant seine Ausschließung aller vom Interesse
an einem Objekt hergenommenen Triebfedern aus den moralisch
zulässigen Bestimmungsgründen rechtfertigt. Das hier für ihn
ausschlaggebende Argiunent besteht in der Behauptung, daß; wenn
385] Anhang U : Über den formalen Idealismus in der Eantisclien Ethik o. s. w. 797
das Interesse an einem Objekt zum Grund der "Willensbestimmung
gemacht würde, der „Bestimmungsgrund der Willkür jederzeit
empirisch sein" müßte. Es könne nämlich „von keiner Vorstellung
irgend eines Gregenstandes , welche sie auch sei, a priori erkannt
werden, ob sie mit Lust oder Unlust verbunden, oder indifferent
sein werde." ^ Dieser Argumentation liegt deutlich die Annahme
zu Grunde, daß ein jedes auf ein Objekt belogenes Werturteil empi-
risch sein müsse. Fragt man nun, wie Kant zu dieser Annahme
gelangt, so findet man die Antwort in dem Satze:
„Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache,
so fem sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache
sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts,
weil sie von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt; mithin
gehört sie dem Sinne und nicht dem Verstände an." *
Dieser Satz ist offenbar nichts anderes als die Übersetzung
der von uns in § 77 aufgewiesenen Voraussetzungen des formalen
Idealismus ins Praktische. Wie dort die Möglichkeit der Er-
kenntnis^ so soll hier die Möglichkeit des Interesses (der „Lust")
auf einem Kausalverhältnisse zum Gegenstande beruhen, und wie
dort das theoretische, so soll hier das praktische Urteil ein empi-
risches sein, wenn der Gegenstand „vor der praktischen Regel
vorhergeht." ® Der formale Idealismus ist also die Grundvoraus-
setzung nicht nur für die theoretische, sondern auch für die prak-
tische Philosophie Kants. Aus der Anwendung der Disjunktion
^ Kritik der praktischen Venonft, § 2, Lehrsatz I. — Vgl. auch § 4, Lehr-
satz III: „Die Materie eines praktischen Prinzips ist der Gegenstand des Willens.
Dieser ist entweder der Bestimmungsgrand des letzteren, oder nicht. Ist er der
Bestimmongsgrund desselben, so würde die Regel des WiUens einer empirischen
Bedingung . . . unterworfen, folglich kein praktisches Gesetz sein.^
' Kritik der praktischen Vernunft, § 8, Lehrsatz IL
» K. d. p. V., § 2, Lehrsatz L
Abhaadluiffii dar rri«*iek«ii S«h«le. IL Bd. 61
798 L* Nekon: Über dAs sogenannte Erkenntnisproblem. [386
zwischen Logik und Empirie als Kriterien der Objektivität auf
das praktische Gebiet ergiebt sich als unmittelbare Folge die
Unmöglichkeit einer Beziehung praktischer synthetischer Urteile
a priori auf Objekte, und in dieser Folgerung ist bereits der
Grundgedanke der Kantischen Ethik ausgesprochen: ^Alle prak-
tischen Prinzipien, die ein Objekt (Materie) des Begehrungsver-
mögens, als Bestimmungsgrund des Willens, voraussetzen, sind ins-
gesamt empirisch und können keine praktische Gesetze abgeben.^ ^
176. Diese Analogie läßt sich noch weiter verfolgen. Wie
nämlich^ Kant in der Kritik der theoretischen Philosophie den
Versuch macht, die synthetischen Urteile a priori mit Hülfe des
logischen Objektivitätskriteriums zu begründen, so unternimmt er
denselben Versuch in der Kritik der praktischen Philosophie.
Hier wie dort glaubt er aus dem bloßen Begriffe der Gesetz-
mäßigkeit seine Prinzipien ableiten zu können. Das Kriterium
der Moralität einer Maxime soll nämlich nach ihm darin liegen,
daß sie, als allgemeines Gesetz gedacht, „mit sich selbst zusam-
men stimmen könne. ^ ' Die Unzulänglichkeit dieses Kriteriums
ist oft genug hervorgehoben worden. Die Widerspruchslosigkeit
einer als allgemeines Gesetz gedachten Maxime ist für sich allein
nur ein notwendiges, nicht aber ein hinreichendes Kriterium; und
auch wenn man diese Widerspruchslosigkeit nicht auf die logische
Möglichkeit der zum Gesetz verallgemeinerten Maxime beschrankt,
sondern, wie Kai^t bei der Beurteilung der sogenannten unvoll-
kommenen Pflichten^, auf die Übereinstimmung des Willens mit
sich selbst ausdehnt, so giebt doch auch das so gefaßte Ejriterium
^ Ebenda. ' Vgl Kapitel XIX.
' Grundlegung zur Metaphysüc der Sitten, 2. Abschnitt. Reclamsche Axuh
gäbe, S. 57. Vgl. K. d. p. V., § 4, Anmerkung.
' Grundlegung, 2. Abschnitt, S. 59.
387] Anhang II : Über den formalen Idealismus in der Eantischen Ethik a. s. w. 799
für sich noch keine Entscheidung: denn es fehlt die Entscheidung
darüber, welcher Maxime im Falle des Widerstreits zweier zum
Gesetz verallgemeinerter Antriebe — und jeder Fall der An-
wendung des Prinzips setzt einen solchen "Widerstreit voraus —
wir zu folgen haben. Die Bedingung der Widerspruchslosigkeit
(der Einstimmung des Willens mit sich selbst) fordert nur eine
Entscheidung zwischen den (zum Gesetz verallgemeinerten) strei-
tenden Maximen, giebt aber kein Kriterium an die Hand, zu Gunsten
welcher von diesen entschieden werden soll,^
177. Tatsächlich ist E^ant selbst bei der leeren Form der
Gesetzmäßigkeit auch in der Ethik nicht stehen geblieben. Ohne
sich dessen bewußt zu sein, gleicht er den im Ausgangspunkte
seiner Ableitung enthaltenen Fehler durch eine eigentümliche In-
konsequenz im weiteren Fortgange wieder aus, wenn er in der
„Typik der praktischen Urteilskraft" * die moralische Zulässig-
keit einer Maxime auf die Bedingung einschränkt, daß wir sie als
allgemeines Naturgesetz wollen können. Mit dieser Formulierung
kommt in zweifacher Hinsicht eine Malerie in das Kantische
Moralprinzip, im Widerspruch gegen die ursprüngliche Fest-
^ Soll ich z. 6. y wenn ich in der Lage dazu bin , einem ohne Schuld Not»
leidenden Hülfe leisten? Die Maxime der Verweigerung der Hülfeleistnng , als
allgemeines Gesetz gedacht, widerstreitet meinem Bedürfnis, im Falle eigener Not
die Hülfe anderer in Ansprach zu nehmen. Die entgegengesetzte Maxime der
Hülfeleistung widerstreitet aber bereits an sich (falls sie nicht schon aus sinn-
lichen Antrieben, etwa um den Anderen zu einer Gegenleistung zu verbinden,
ausgeführt wird, von welchem Falle hier nicht die Rede ist) meiner sinnlichen
Neigung, also gewiß auch dann, wenn sie als allgemeines Gesetz gedacht wird.
Zum allgemeinen Gesetz erhoben schließen sich die beiden Maximen aus; aber
als allgemeines Gesetz ist die eine so gut möglich wie die andere. Wie sollen
wir also ohne ein weiteres Kriterium zwischen ihnen entscheiden?
' E. d. p. y., S. 82 ff. Ebenso schon in den Formulierungen der „Grund-
legong«' S. 81 ff., 55 ff.
51*
800 L* Nelson: Über das sogenannte £rkenntnisprobIem. [388
Setzung. Erstens nämlich, insofern in dem ^wöllefi Jcönnen^ ein
Eriteriom eingefäkrt wird, auf Grrond dessen die vorher offen ge-
lassene Entscheidung möglich wird, und zwar ein Eriteriam, das
uns zu dieser Entscheidung an unsere empirischen, von morali-
schen Reflexionen unabhängigen Triebfedern verweist. Und zwei-
tens insofern, als es jetzt nicht mehr lediglich auf die Möglich-
keit einer praktischen Gesetzmäßigkeit , d. h. der Allgemeinheit
einer Forderung, ankommt, sondern auf die Möglichkeit der allge-
meinen Erfüllung oder Befolgung dieser Forderung. Denn dies
liegt im Begriffe des Naturgesetjses.^
Der Gegensatz dieser Formulierung gegen die ursprüngliche
Beschränkung des kategorischen Imperativs auf die bloBe Form
der Apodiktizität fällt in die Augen, wenn man daran denkt, daß
wohl mancher mit einem allgemeinen praktischen Gesetze zu-
frieden sein würde, von dem er annehmen kann, daß es doch
nicht allgemein befolgt werden würde, in das er aber keinesfalls
einwilligen würde, wenn er mit Sicherheit zu erwarten hätte, daß
es ausnahmslos Befolgung finden würde. Nun verwahrt sich zwar
Eant mit Recht dagegen, daß durch diese „Typik" der Bestim-
tnungsgrund des Willens in ein empirisches Prinzip gesetzt werde.^
Aber wenn auch die Reflexion darüber, was ich als allgemeines
Naturgesetz wollen könne, nicht der Bestimmungsgrund, sondern
allein das Kennjsfeichen der Moralität einer Maxime ist, so ist doch
mit dieser Typik eine Bedingung eingeführt, der eine jede Maxime
^ Wir würden also, am dieses Eriteriam auf den Fall des vorhin ange-
führten Beispiels anzuwenden, nunmehr vor die Frage gestellt sein, ob wir, wenn
uns die Wahl überlassen wäre, das Bestehen eines Naturgesetzes, wonach den
ohne Schuld Notleidenden geholfen wird, oder das Bestehen eines Naturgesetzes,
wonach den ohne Schuld Notleidenden die Hülfe versagt wird, vorziehen würden.
» K. d. p. V., S. 8ö f. Vgl auch S. 41.
389] Anhang II: Über den formalen Idealismus in der Kantischen Ethik u. s. w. 801
genügen muß, um als moralisch zulässig zu gelten. Eine Be-
dingung, die nicht allein in der bloßen Widerspmchslosigkeit der
Maxime als eines allgemeinen praktischen Gresetzes besteht, son-
dern, wie leicht einzusehen ist, bereits das von Kant als ein
Äquivalent seiner ursprünglichen Formulierung angenommene Prin-
zip der Würde der Person als eigene Materie in sich schließt.
Erkennt man es also mit Kant als eine Bedingung der Mora-
lität einer Handlung an, daß sie aus Achtung vor dem Gesetz
geschieht oder daß sich der Wille durch die bloße Form der Ge-
setzmäßigkeit bestimmen läßt, — welche Bedingung im Grunde
nichts anderes ist als die Definition des moralisch guten Willens,
— so ist es doch unmöglich, diese Bedingung selbst schon als
den Inhalt des Gesetzes zu betrachten, das den Gegenstand der
Achtung bilden soll. Vielmehr setzt diese Bedingung, wenn sie
nicht auf eine Zirkeldefinition hinauslaufen soU, zu ihrer Möglich-
keit bereits einen eigenen Inhalt für das Gesetz voraus, das sie
zu achten gebietet. —
178. Man könnte auf Grxmd dieser Analogie erwarten, jene
zweifache Beurteilungsweise der Objektivität auch in der Kanti-
schen Ästhetik durchgeführt zu finden. Allein, eine Betrachtung
der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" lehrt, daß dieser Teil
der Lehre ausschließlich von dem Gesichtspunkt des formalen
Idealismus beherrscht bleibt und daß Kant die Paradoxie in der
Annahme eines trotz der transzendentalen Idealität seines Gegen-
standes objektiven Geschmacksurteils nicht zu überwinden vermocht
hat. — Daß aber in der Tat der Kantische „Idealismus der ästhe-
tischen Zweckmäßigkeit" nur eine unmittelbare Anwendung des
allgemeinen formalen Idealismus enthält, geht klar daraus hervor,
daß er bei Kant als ein einfacher Folgesatz des Prinzips des
„ästhetischen Eationalismus" erscheint:
802 li* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [390
„Was aber das Prinzip der Idealität der Zweckmäßigkeit
im Schönen der Nator . • . geradezu beweiset, ist, daß wir in
der Beurteilung der Schönheit überhaupt das Richtmaß der-
selben a priori in uns selbst suchen, . . . welches bei Anneh-
mung des Realismus der Zweckmäßigkeit der Natur nicht statt
finden kann; weil wir da von der Natur lernen müßten, was
wir schön zu finden hätten und das Geschmacksurteil empiri-
schen Prinzipien unterworfen sein würde." ^
„So wie die IdeoHUät der Gegenstände der Sinne als Er-
scheinungen die einzige Art ist, die Möglichkeit zu erklären,
daß ihre Formen a priori bestimmt werden können, so ist auch
der Idealismus der Zweckmäßigkeit, in Beurteilung des Schönen
der Natur und der Kunst, die einzige Voraussetzung, unter der
allein die Kritik die Möglichkeit eines Geschmacksurteils, wel-
ches a priori Gültigkeit für jedermann fordert, (ohne doch die
Zweckmäßigkeit, die am Objekte vorgestellt wird, auf Begriffe
zu gründen), erklären kann."*
Daß Kant diesem formalen Idealismus in der Ästhetik nicht
ebenso wie in der theoretischen Philosophie einen „empirischen
Realismus" an die Seite gesetzt hat, daß er vielmehr die Apodik-
tizität des Geschmacksurteils auf die Bedeutung einer bloß sub-
jektiven Allgemeingültigkeit einschränkt und so als Ästhetiker in
einem ;, empirischen Idealismus '^ befangen bleibt, dies hat seinen
Grund darin, daß er das von ihm zunächst nur an der Hand
theoretischer Beispiele gewonnene immanente Objektivitätskrite-
rium, statt in die synthetischen Urteile a priori als solche, nur
in diejenigen von ihnen gesetzt hatte, die von theoretischem Ge-
1 Kritik der ästhetischen Urteüskraft, § 58.
> Ebenda.
391] Anhang 11 : Über den formalen Idealismus in der Eantischen Ethik a. 8. w. 803
brauche sind, d. h. die „in bestimmte Begriffe gefaßt werden
können^. Auf Grund dieses Kriteriums mußte für Kant die An-
nahme der Objektivität des Gescbmacksurteils gleichbedeutend mit
der Annahme erscheinen, das Geschmacksurteil lasse sich theore-
tisch begründen.^ Da nun für Kant die Falschheit dieser An-
nahme feststand, so sah er sich gezwungen, die Unmöglichkeit
eines ^^objektiven Prinzips des Geschmacks^ zu behaupten.
Es ist bekanntlieh das Verdienst Schillers, zuerst diesen
Mangel der Kantischen Ästhetik erkannt und zu ergänzen ge-
sucht zu haben.^
> VgL K. d. ü., § 34 f.
' Vgl. aber diesen Gegenstand meinen Vortrag: „Über wissenschaftliche
und ästhetische Naturbetrachtong". (Göttingen, 1908.)
Anhang m.
Über einige Mangel der kritischen Methodenlehre bei Fries.
179. Auf die in § 156 angeführten umd ähnliche Stellen muß
man sein Augenmerk richten, wenn man Fries' Verhältnis zum
Psychologismus an der Hand seiner ausdriicklichen Erklärungen
prüfen will.^ Solche Stellen sind freilich nicht zahlreich, und sie
treten sehr zurück gegenüber den vielfachen und höchst ausfüh^
liehen Auseinandersetzungen mit dem Transzendentalismus. Es
liegt im Charakter der Zeitgeschichte begründet, daß die Beur-
teilung des letzteren die für Fries weitaus näherliegende und
wichtigere Aufgabe sein mußte. Kaxts Hinneigung zum transzen-
dentalen Vorurteil hatte bei den Nachfolgern die Entwickelung
im Sinne desselben begünstigt und den Psychologismus vorderhand
zurückgedrängt. Zu der Zeit von Fries' Auftreten herrschte der
Transzendentalismus so sehr vor, daß zu einem polemischen Ein-
gehen auf das psychologistische Vorurteil kein Anlaß bestand.
Diese Tatsache muß man wohl beachten, um sich durch Fries' ein-
seitige Gegnerschaft gegen das transzendentale Vorurteil und den
mit diesem notwendig verbundenen Rationalismus nicht zu einer
falschen Beurteilung hinsichtlich seiner Stellung zum Psychologis-
mus verleiten zu lassen. In der Tat dürfte diese in Fries' kriti-
* Eine ausführliche Prüfung solcher Art findet man in meiner Abhandlung
„Jakob ("biedrich Fries und seine jüngsten Kritiker^, Kapitel I und IL
393] Anhang III: Übor einige M&ngd der kritischen Methodenlehre u. 8. w. 805
sehen Schriften zunächst ins Auge fallende and bis znletzt fast
aasschließlich beibehaltene einseitige Polemik den Irrtum derer
erklären^, die daneben die wesentlichen Unterschiede übersehen
haben, die die Friessche Lehre von aUem Fsychologismns and
Empirismus scheiden.
180. Diese falsche Beorteilnng ist solange unvermeidlich, als
man Eriks' Polemik gegen den Transzendentalismus einzig aus
dem Gesichtspunkte des erkenntnistheoretischen Vorurteils be-
trachtet. Denn dieses Vorurteil ist , wie wir (§ 55 f.) erkannt
haben, mit der Annahme der AusschlieBlichkeit der Alternative
zwischen Transzendentalismus und Psychologismus untrennbar
verknüpft. Zu den Umständen, die den mangelnden historischen
Erfolg der Friesschen Polemik veranlaßt haben, gehört daher
vielleicht auch dieser, daß Pries selbst die Kritik des erkenntnis-
theoretischen Vorurteils nicht nachdrücklich genug in den Vorder-
grund gestellt hat, um dem aus diesem Vorurteil entspringenden
grundsätzlichen Gegenargument von vornherein den Boden zu ent-
ziehen. Sein Streit gegen den Transzendentalismus mußte so dem
erkenntnistheoretisch eingestellten Blick als der Versuch einer
Wiederholung des genugsam widerlegten Empirismus erscheinen.'
* Ich sage „erklären," und nicht „entschuldigen^.
^ Daher denn auch heute noch in den Lehrbüchern der Geschichte der Phi-
losophie Fries, falls sein Name überhaupt Torkommt, unter dem Titel „Psycho-
logismus" abgefertigt zu werden pflegt. Eine Auffassung, die dann freilich nicht
ohne Grund zu geringschätzigen Urteilen über die Inkonsequenz Anlaß giebt,
durch die der „Eklektiker" Fries weit hinter den „großen Systematiken!" zurück-
bleibt und die seine Lehre als ein höchst unphilosophisches Mixtum compositum
aus Kantschen, Jacobischen und ich weiß nicht welchen anderen Reminiszenzen
erscheinen läßt. (Das Versagen der herkömmlichen geschichtlichen Klassifikationen
gegenüber einer Lehre wie der Friesschen hat zu der Erfindung des Verlegen-
heitsausdrucks „Halbkantianer" Anlaß gegeben, unter dem man, nach der neuesten
authentischen Definition, „eine Reihe anbedeutenderer Denker" zusammenfaßt,
j
Anhang m.
Über einige Mängel der kritischen Methodenlehre bei Fries.
179. Auf die in § 156 angeführten umd ähnliclie Stellen muß
man sein Augenmerk richten, wenn man Fries' Verhältnis zum
Psychologismus an der Hand seiner ausdrücklichen Erklärungen
prüfen will.^ Solche Stellen sind freilich nicht zahlreich, und sie
treten sehr zurück gegenüber den vielfachen und höchst ausführ-
lichen Auseinandersetzungen mit dem Transzendentalismus. Es
liegt im Charakter der Zeitgeschichte begründet, daß die Beur-
teilung des letzteren die für Fries weitaus näherliegende und
wichtigere Aufgabe sein mußte. Kants Hinneigung zum transzen-
dentalen Vorurteil hatte bei den Nachfolgern die Entwickelung
im Sinne desselben begünstigt und den Psychologismus vorderhand
zurückgedrängt. Zu der Zeit von Fries* Auftreten herrschte der
Transzendentalismus so sehr vor, daß zu einem polemischen Ein-
gehen auf das psychologistische Vorurteil kein Anlaß bestand.
Diese Tatsache muß man wohl beachten, um sich durch Fries' ein-
seitige Gegnerschaft gegen das transzendentale Vorurteil und den
mit diesem notwendig verbundenen Rationalismus nicht zu einer
falschen Beurteilung hinsichtlich seiner Stellung zum Psychologis-
mus verleiten zu lassen. In der Tat dürfte diese in Fries' kriti-
^ Eine ausführliche Prüfung solcher Art findet man in meiner Abhandlung
„Jakob FRiEDRicn Fries und seine jüngsten Kritiker^, Kapitel I und II.
393] Anhang III: Über einigo Mängel der kritischen Methodenlehre u. s. w. 805
sehen Schriften zunächst ins Auge fallende and bis znletzt fast
aasschlieBIich beibehaltene einseitige Polemik den Irrtum derer
erklären*, die daneben die wesentlichen Unterschiede übersehen
haben, die die Friessche Lehre von allem Psychologismus und
Empirismus scheiden.
180. Diese falsche Beurteilung ist solange unvermeidlich, als
man Friks' Polemik gegen den Transzendentalismus einzig aus
dem Gesichtspunkte des erkenntnistheoretischen Vorurteils be-
trachtet. Denn dieses Vorurteil ist , wie wir (§ 55 f.) erkannt
haben, mit der Annahme der Ausschließlichkeit der Alternative
zwischen Transzendentalismus und Psychologismus untrennbar
verknüpft. Zu den Umständen, die den mangelnden historischen
Erfolg der Friesschen Polemik veranlaßt haben, gehört daher
vielleicht auch dieser, daß Fries selbst die Kritik des erkenntnis-
theoretischen Vorurteils nicht nachdrücklich genug in den Vorder-
grund gestellt hat, um dem aus diesem Vorurteil entspringenden
grundsätzlichen Gegenargoment von vornherein den Boden zu ent-
ziehen. Sein Streit gegen den Transzendentalismus mußte so dem
erkenntnistheoretisch eingestellten Blick als der Versuch einer
Wiederholung des genugsam widerlegten Empirismus erscheinen.'
* Ich sage „erklären," und nicht „entschuldigen".
^ Daher denn auch heute noch in den Lehrbüchern der Geschichte der Phi-
losophie Fries, falls sein Name überhaupt Torkommt, unter dem Titel „Psycho-
logismus" abgefertigt zu werden pflegt. Eine Auffassung, die dann freilich nicht
ohne Grund zu geringschätzigen Urteilen über die Inkonsequefiz Anlaß giebt,
durch die der „Eklektiker" Fries weit hinter den „großen Systematikem" zurück-
bleibt und die seine Lehre als ein höchst unphilosophisches Mixtum compositum
aus Kantschen, Jacobischen und ich weiß nicht welchen anderen Reminiszenzen
erscheinen läßt. (Das Versagen der herkömmlichen geschichtlichen Klassifikationen
gegenüber einer Lehre wie der Friesschen hat zu der Erfindung des Verlegen-
heitsausdrucks „Halbkantianer" Anlaß gegeben, unter dem man, nach der neuesten
authentischen Definition, ,eine Reihe unbedeutenderer Denker" zusammenfaßt,
g06 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntaiisproblem. [394
Der Grand dieses Mangels liegt darin, daß Fries, wie es
scheint, niemals den engen Zasammenhang bemerkt hat, in dem
die Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie mit der Notwendigkeit
der Trennung von Kritik und System steht. So begnügte er sich
seinen Gegnern gegenüber mit dem Vorwurfe der Verwechslung
von Deduktion und Beweis, statt diesen Fehler auf seinen tieferen
Grund, die Verwechslung von Grund und Begründung zurück-
zuführen und so an der eigentlichen "Wurzel zu bekämpfen. So
genau er selbst in der Anwendung diese Begriffe unterscheidet,
so hat er doch ihren unterschied niemals ausdrücklich angegeben.
Er hat dadurch dem Fehler, um dessen Widerlegung ihm zu tun
war, eine Art Hintertür offen gelassen, durch die dieser sich,
wenn er auf der einen Seite ausgetrieben war, von der anderen
her immer wieder einschleichen konnte.
Es ist, wie unsere axiomatischen Untersuchungen^ zeigen,
durchaus notwendig, um hier etwas Sicheres auszumachen, zunächst
auf die allgemeine Frage der Möglichkeit der Erkenntnistheorie
zurückzugehen. Nur von der Entscheidung dieser Frage aus
kann es dann möglich werden, diesem ganzen Streite ein Ende zu
machen.
181. Es kommt hinzu, daß Fries selbst in seiner Darstellungs-
und Ausdrucksweise nicht immer diejenige Vorsicht beobachtet
hat, zu der er wohl durch eine stärkere psychologistische und
empiristische Gegnerschaft gezwungen worden wäre und durch
die er sich vor aller Mißdeutung leichter hätte schützen können.
Ich glaube mich nicht dem Vorwurf einer kleinlichen Tadelsucht
„die zwar auch vom Kritizismns mehr oder weniger ausgehen, dann aber nach
▼erschiedenen Seiten hin abschwenken und eine geeignete Oberleitong tat Dar«
Stellung FiCHTEs büden^.)
1 Vgl besonders § 168.
395] Anhang III : Über einige Mängel der kritischen Methodenlehre u. s. w. 807
auszusetzen, wenn ich auf diese Tatsache etwas näher eingehe.
Kann es doch nur durch eine sorgfältige Hervorhebung und Aus-
scheidung solcher Mängel verhütet werden, daß einmal auf Grund
einer Einsicht in dieselben auch die scheinbar eng mit ihnen ver-
knüpften, in Wahrheit aber von ihnen völlig unabhängigen Resul-
tate der Lehre preisgegeben werden.^
Es finden sich nämlich in Fries* Schriften wirklich Äußerungen,
die eine psychologistische Deutung nicht nur zulassen, sondern
sogar zu fordern scheinen.^ Auf eine solche Ausdrucksweise habe
ich bereits an anderer Stelle aufmerksam gemacht.^ Es ist die
regelmäßig wiederkehrende Bezeichnung der Beflexion als einer
Art der Selbstbeobachtung oder der inneren Erfahrung^
Diese Ausdrucksweise bedarf einer näheren Erläuterung. Sie
hängt aufs engste zusammen mit Fries' Entdeckung des Verhält-
nisses der Reflexion zur Vernunft. Einer mehrfach vorkonunenden
irrtümlichen Auffassung gegenüber muß zunächst gesagt werden,
daß Fries zu der genannten Bezeichnungsweise nicht gelangt, in-
dem er von einer Untersuchung des Wesens der Selbstbeobachtung
ausgeht und etwa dazu kommt, die Erkenntnisart dieser letzteren
als eine nicht der Anschauung, sondern der Reflexion angehörige
^ Ich gestehe, daß mir selbst die hier bezeichneten Mängel lange Zeit das
Studium der anthropologischen Kritik sehr erschwert haben. Wenn ich daher
diese Schwierigkeiten hier einer eigenen Prüfung unterziehe und die Art mitteile,
wie ich mich mit ihnen abgefunden habe, so hoffe ich dadurch zugleich zukünf-
tigen Lesern der Friesschen Schriften die Arbeit zu erleichtem.
' Es ist merkwürdig, daß noch niemand von denen, die den Vorwurf des
Psychologismus gegen Fries fortgesetzt aufrechterhalten, auf den Gedanken ge-
kommen ist, von diesen überaus auffallenden Stellen Gebrauch zu machen und
also die einzige Tatsache zu benutzen, die diesem Vorwurf wenigstens einen Schein
des Rechtes geben konnte.
' „Inhalt und Gegenstand, Grund und Begründung", § 1. (Abhandlungen der
Fries'schen Schule, Bd. II, S. 86ff.)
808 L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [396
zu erklären; vielmehr nimmt Fries aasdrücklich eine der Reflexion
nicht bedürftige Selbstbeobachtong, nämlich die Anschannng des
inneren Sinnes, an^ und gelangt zu der fraglichen Behauptung
gerade auf dem umgekehrten Wege, indem er das Wesen der Re-
flexion zum Gegenstande seiner Untersuchung macht.^ Er findet,
daß alles Reflektieren keine Erkenntnis erzeugt, sondern nur eine
anderweit gegebene verdeutlicht, daß also die Reflexion, soweit
sie nicht bloß die schon unmittelbar bewußte , d. h. anschauliche
Erkenntnis in die Form von Urteilen bringt, nur ein Mittel ist,
die fiir sich dunkle Erkenntnis der reinen Vernunft zum Bewußt-
sein zu erheben. Der Gehalt, der über die Anschauung hinaus im
Urteil sich findet, wird also durch das Urteil nicht sowohl er-
zeugt als vielmehr nur zum Bewußtsein gebracht. Jedes Urteü
toiederhöU nur eine, sei es unmittelbar bewußte, sei es ursprünglich
dunkle Erkenntnis. Besäßen wir also keine andere unmittelbare
Erkenntnis als die Anschauung, so bedürften wir keiner Re-
flexion, denn diese würde nur die Wiederholung einer uns schon
für sich selbst klaren Erkenntnis liefern.^ Es giebt aber eine
» Vgl Neue Kritik § 22 (Bd. I, 2. Aufl., S. 112 f.): „Uns gehört zum innem
Sinne ... die innere Selbstanschauung des Geistes in seinen veränderlichen Tätig-
keiten." „Aufierdem wird der innere Sinn leicht mit der Keflexion' überhaupt,
und besonders mit dem Gefühl verwechselt. Von beiden sprechen wir aber hier
noch nicht. Die Reflexion ist eine willkürliche V orstellungsart , ... die eigent-
lichen innem Sinnesanschauungen müssen unwillkürliche, sie müssen solche Vor-
stellungen sein^ zu denen wir genötigt werden, welche also auf Empfindung be-
ruhen. Mit der Reflexion liaben wir es also hier nicht zu tun." — Fries wendet
sich also ausdrücklich gegen die ihm untergeschobene/Identifizierung der Selbst-
beobachtung mit einer Art der Reflexion.
* Nicht also ist, wie behauptet wird, für Fries „die Selbstbeobachtung
selbst ein Werk der Reflexion", sondern es ist ihm umgekehrt die Reflexion eine
Art der Selbstbeobachtung.
? Vgl. Neue Kritik § 70 (Bd. I, S. 341) und § 87 (Bd. II, S. 8 f.)
397] Anhang III : Über einige Mängel der kritischen Methodenlehre n. s. w. 809
nicht-anscliauliche , für sich dunkle unmittelbare Erkenntnis, und
um diese aufzuklären, bedarf es der Reflexion. In diesem Sinne
nennt Fries die Reflexion das Vermögen der „künstlichen Selbst-
beobachtung" S nämlich der Beobachtung — d. h. Bewußtmachung
— derjenigen in uns liegenden Erkenntnis, die für sich dunkel ist
und nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, sondern zu
ihrer Aufhellung der Vermittelung des begrifflichen Denkens bedarf.
Hält man sich streng an diesen ebenso klaren wie unanfecht-
baren Sinn der Friesschen Bezeichnungsweise, so wird man sich
leicht vor allen Mißdeutungen schützen können. Die Reflexions-
erkenntnis ist keineswegs als solche eine psychologische oder
überhaupt empirische, wie es die Friessche Bezeichnung bei Nicht-
beachtung der eben gegebenen Erklärung nahe legen muß.
182. Um dies noch genauer zu zeigen, will ich versuchen,
das Zweideutige der Friesschen Bezeichnung an einigen Beispielen
deutlich zu machen. An einer Stelle seiner Neuen Kritik der
Vernunft* erklärt Fries, daß die philosophischen Erkenntnisse
„nicht in der Reflexion, im Urteilen selbst bestehen, sondern
diesem in der Vernunft als der Gegenstand zu Grunde liegen,
der nur durch das Urteil beobachtet werden soll."
Diese Darstellung erscheint mir mißverständlich und irreführend.
Die in der Vernunft zu Grunde liegende philosophische Erkennt-
nis ist als solche eine Erkenntnis a priori] ihr Gegenstand, d.h.
das, was darch sie erkannt wird, sind die allgemeinen Gesetze
der objektiven synthetischen Einheit im Dasein der Dinge über-
haupt. Das Urteil kann folglich, sofern es diese philosophische
Erkenntnis wiederholt, nicht eine empirische Erkenntnis sein, und
sein Gegenstand kann kein anderer sein als der der unmittelbaren
' Neue Kritik § 54 f. > § 54. (Bd. I, S. 256.)
810 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [398
philosophischen Erkenntnis selbst, die ja ihrem Gehalte nach mit
dem im Urteil Ausgesagten identisch ist. Der „Gregenstand", der
durch das Urteil erkannt wird, besteht also in gewissen allge-
meinen Gesetzen, keineswegs aber in der unmittelbaren philoso-
phischen Erkenntnis dieser Gesetze. Diese Erkenntnis ist nicht
der Gegenstand, sondern der Inhalt des Urteils.
Man vergleiche hierzu auch Stellen wie die folgenden:
„In der Wissenschaft ist diese unmittelbare Erkenntnis nur
der Gegenstand, welchen wir erst künstlich in uns beobachten,
und uns mittelbar wieder aussprechen.^ ^
„Das Urteil ist eine bloße Formel des Wiederbewußtseins
unsrer Erkenntnisse, wodurch wir aber von den einzelnen Be-
stimmungen des Assertorischen der innern Wahrnehmung zum
Apodiktischen der vollständigen Selbstbeobachtung gelangen." *
Hier wird also eine „apodiktische Selbstbeobachtung" ange-
nommen, und da ist denn klar, daß, wenn wir es nicht mit einer
contradictio in adiecto zu tun haben sollen, der Ausdruck „Selbst-
beobachtung" in diesem Zusammenhange nur in einer sehr über-
tragenen Bedeutung zu verstehen ist.
Hierzu kommt noch Folgendes. Der Hauptsatz der Fries-
schen Theorie der Reflexion ist: Die Reflexion ist für sich leer
und dient nur zur Wiederholung anderweit gegebener Erkenntnisse.
„Das Reflexionsvermögen kann für sich allein nichts zur
Erkenntnis geben, aller Gehalt wird ihm nur durch ein anderes,
nämlich durch die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft.^*
Dieser Satz ließe sich nicht aufrechterhalten, wenn wir wirk*
lieh die Reflexion als eine Art der Selbstbeobachtung betrachten
wollten. Denn in dieser Selbstbeobachtung erhielten wir ja einen
§ 63. (Bd. I, S. 310.) 2 § 62. (Bd. I, S. 296.) « § 54. (Bd. I, S. 254.)
399] Anhang DI : Über einige Mängel der kritischen Methodenlehre n. s. w. 811
eigenen Gehalt zu der schon anderweit gegebenen unmittelbaren
Erkenntnis hinzu; sie wäre selbst eine weitere unmittelbare Er-
kenntnis, nämlich eine solche, durch die unsere sonst schon vor-
handene Erkenntnis erkannt würde. Dieser Widerspruch kommt
den Worten nach bei Fries selbst zum Ausdruck, wenn er an einer
Stelle^ schreibt:
„Das Denken ist also allerdings eine willkürliche Ausbil-
dung unsers geistigen Lebens, • . . aber dem Vermögen nach
wird dadurch nur das Vermögen der Selbsterkenntnis selbst
fortgebildet, während alle andere Vermögen nur Gegenstände
dieser Beobachtung bleiben.**
Hier erscheint die Reflexion wirklich als ein eigenes Erkennt-
nisvermögen, als die Quelle einer unmittelbaren Erkenntnis. Wie
vereinigt es sich damit, wenn Fries* erklärt: „In alle diesen
Dingen kann man durchaus zu keinem scharfen Endurteil kommen,
wenn man nicht zuvor versteht, das bloß Instrumentale unsrer
Reflexion von der unmittelbaren Erkenntnis zu trennen."
(Mit alledem ist natürlich in keiner Weise die Möglichkeit
einer Selbsterkenntnis durch Reflexion bestritten. Vielmehr giebt
es eine innere Erfahrung im Unterschiede von bloßer innerer
Wahrnehmung gerade so, wie es eine äußere Erfahrung giebt.
Aber diese innere Erfahrung ist, eben wie die äußere auch, ein
„Produkt des Verstandes aus Materialien der Sinnlichkeit" ', d. h.
sie muß ihre Materie der Beobachtung des inneren Sinnes ent-
lehnen und enthält eine Verknüpfung dieser Materie nach meta-
physischen Gesetzen. Mit der bloßen Reflexion als solcher haben
wir es daher hier gar nicht zu tun.)
' § 65. (Bd. I, S. 274.) « § 64. (Bd. I, S. 314.)
Kant, Prolegomcna § 34.
3
812 L- Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [400
183. In der Tat scheint sich Fries selbst der Zweideutigkeit
seiner Ausdrucksweise nicht hinreichend deutlich bewußt gewesen
zu sein und durch dieselbe veranlaßt worden zu sein, einen über
die formale Bedeutung seiner Bezeichnung hinausgehenden Gre-
brauch von ihr zu machen. Er fügt nämlich dem oben (§ 164)
wiedergegebenen Beweise der psychologischen Natur der Kritik,
um das Resultat „noch einleuchtender zu machen^, einen anderen
Beweis hinzu, der, wie er sich ausdrückt, „dasselbe nur allge-
meiner sagt."^ „Alles Philosophieren," sagt er, „ist empirisches
Denken, ja die Philosophie selbst ist Produkt desselben.* Und er
begründet diesen Satz folgendermaßen:
„Alle wissenschaftliche Darstellung besteht in Schlußketten
und Unterordnungen von Begriffen. Begriffe und Schlüsse ge-
hören aber zur mittelbaren logischen Vorstellungsart durch
Merkmale oder Teilvorstellungen. Dieses Erkennen durch Merk-
male setzt Reflexion und diese setzt innere Wahrnehmung der
Vorstellungen voraus. Also beruht alle wissenschaftliche Er-
kenntnis auf der innem Wahrnehmung der Vorstellungen,
welche im empirischen Denken enthalten ist. Auch das Philo-
sophieren ist also eigentlich nichts als ein inneres Wahrnehmen,
ein Beobachten der im Gremüt verhandenen Erkenntnisse a priori,
welche (die Prinzipien der analytischen Erkenntnisart ausge-
nommen) selbst für sich ganz zur unmittelbaren, und nicht un-
mittelbar der logischen, Erkenntnisart gehören.*
Hier liegt das entscheidende Argument in den Worten: ^^Re«
flexion setzt innere Wahrnehmung der Vorstellungen voraus."
^ Über das Verhältnis der empirischen Psychologie zur Metaphysik, a. a. 0.
S. 178.
> Ebenda, S. 178 f.
401] Anhang III: Über einige Mängel der kritischen Methodenlehre n. s. w. 813
Der Zusammenhang macht es deutlich, daß Fries diese Behauptong
auf die Tatsache der nur wiederholenden Natur der Reflexions-
erkenntnis gründet und also in dem von uns dargelegten Sinne
verstanden wissen will. Aber so verstanden schließt sie keines-
wegs den psychologischen Charakter aller ßeflexionserkenntnis
ein und läßt sich daher auch nicht für den von Fries versuchten
Beweis in Anspruch nehmen.
184. Das Bedenkliche dieser Beweisart läßt sich schon daraus
erkennen, daß mit ihr zu viel bewiesen wäre. Es wäre nämlich
nicht nur das „Philosophieren", sondern, nach Fries' eigenen
Worten, „aKe wmenscJuifiliche JErJcennfnis^ überhaupt in psychologi-
sche Erkenntnis verwandelt. Das Mißliche des Beweises liegt also
gerade darin, daß er, wie Fries bemerkt, „dasselbe nur allgemeiner
sagt". Denn diese Verallgemeinerung schließt den Psychologis-
mus ein.
Worauf es in diesem Zusammenhang besonders ankommt, ist,
daß die scharfe Unterscheidung von Ejritik und System der Phi-
losophie, von Inhalt und Gegenstand der Ejitik, durch die Kon-
sequenzen dieser Beweisart wieder hinfällig gemacht würde. Das
System der Philosophie besteht in Urteilen, diese sind ein Pro-
dukt der Reflexion und müßten als solches auf innerer Wahr-
nehmung beruhen. Nicht nur die Kritik, sondern die Metaphysik
selbst gehorte hiemach in die Psychologie und würde zu einer
empirischen Wissenschaft, in geradem Widerspruch zu den voran-
gehenden Beweisen. — Der dem Beweise zu Grunde liegende irre-
führende Gedanke ist dieser : Wir werden uns unserer Erkenntnis
erst bewußt durch innere Wahrnehmung; folglich müssen wir, um
zur Philosophie zu gelangen, unsere philosophische Erkenntnis
zum Gegenstande innerer Wahrnehmung machen, d. h. wir müssen
psychologisch verfahren. Aber in dem übertragenen Sinne, in
Abhukdlniif 0B d«r Frtei^fehm Sekole. U. Bd, 62
814 L* Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [402
dem hier im Vordersatz das Wort „innere Wahrnehmung*' ge-
braacht wird, würde ja schon das rein dogmatische Verfahren der
Forderung einer psychologischen Methode genug tun: jedes philo-
sophische Urteil beruhte ja als solcJies auf innerer Wahrnehmung,
es genügte also, das System der philosophischen Urteile geradezu,
ohne alle kritische Vorbereitung aufzustellen, um eine auf innerer
Wahrnehmung beruhende Darstellung der Philosophie zu erhalten.
Dieser zweite von Fries gebrauchte Beweis ' würde also nicht
nur zu einem schrankenlosen Fsychologismus führen, sondern
durch seine Konsequenz sogar die Forderung der kritischen Me-
thode überhaupt illusorisch machen.^ Der andere (§ 15 i ange-
führte) Beweis hingegen ist von diesem Fehler frei, er enthält
allein die richtige Begründung der psychologisch -kritischen Me-
thode. Er zeigt uns, daB diejenige Art von „Selbstbeobachtung'',
die im bloßen Beflektieren enthalten ist, (faUs man hier überhaupt
von einer solchen sprechen will,) für sich gerade nicld hinreicht,
um zu einem begründeten System der Philosophie zu gelangen,
daß diese Aufgabe es vielmehr erforderlich macht, die immittel-
bare philosophische Erkenntnis im strengsten Sinne des Wortes
zum Gegenstand einer anderen Erkenntnis zu machen.
185. Durch die Verbesserung dieses Fehlers wird auch eine
strengere begriffliche Trennung des regressiven Verfahrens der
Abstraktion von der kritischen Deduktion notwendig als bei Fries
anzutreffen ist.' Infolge des dargestellten Fehlers erscheint bei
Fbies mehr oder weniger deutlich auch die Aufgabe der regres-
^ Er wird anch sp&ter noch wiederholt. Yg]. „Reinhold, Fichte und Schel-
ling"" S. 261; System der Metaphysik S. 105.
' Es braucht wohl kaum noch ausdrücklich hervorgehoben zu werden, daß
Fries niemals Konsequenzen dieser Art aus seiner Beweisführung gezogen hat
» Vgl. § 163.
403] Anhang III : Über einige Mängel der kritischen Methodenlehre n. s. w. 815
siven Zergliederung als eine psychologische, wodurch die Grrenzen
beider Verfahrungsarten sich verwischen. Man vergleiche in der
Abhandlung: „Über das Verhältnis der empirischen Psychologie
zur Metaphysik" den Satz: „AUe regressive Untersuchung ist
also kritisch^, wo die „kritische" Untersuchung als eine solche
definiert ist, deren Gegenstand Erkenntnisse sind, „wiefern sie
subjektiv dem Gemüt gehören^. Und:
„Diese vorläufige kritische Untersuchung ... ich nenne sie
die Propädeutik einer Wissenschaft ... ist nun jederzeit eine
empirische Wissenschaft." ^
Dieses Argument beweist wiederum zu viel, denn es würde
auch die Induktion in ein psychologisches Verfahren verwandeln.
Das regressive Verfahren der Abstraktion ist vielmehr seiner
Aufgabe nach ein rein logisches. Sein Gegenstand sind nicht „Zu"
stände des Gemüts^, sondern dieselben allgemeinen und notwen'
digen Gesetze, von denen auch das System handelt; nur daß die
regressive Untersuchung diese Gesetze nicht wie das System nach
progressiver Methode ableitet, sondern „zergliedernd fortschreitet,
von jedem Schluß zu seinem Prosyllogismus; sie sucht für das
gegebene Besondere ein Allgemeines, und folglich für gegebene
mannigfaltige Erkenntnisse Prinzipien, von denen die Wissen-
schaft erst ausgehen kann."* — Man wird Fries' „Mathematische
Naturphilosophie" oder Hilbebts „Grundlagen der Geometrie**
nicht eine psychologische Untersuchung nennen können.'
* A. a. 0. S. 160 ff. — So heißt es noch im „System der Metaphysik^ § 22
(S. 104 f.): „Mit unsrer Nachweisong, daß beim Philosophieren nur die zerglie-
dernde Methode förderlich sein könne, ist also zugleich entschieden, daß hier
alles von dem Glück einer solchen anthropologischen Untersuchung der philo-
sophischen Erkenntnis abhänge. **
' „Über das Verhältnis der empirischen Psychologie zur Metaphysik/ a. a. 0.
S. 162 f.
* Hiermit hängt es auch zusammen, daß Fbiss nicht überall den in § 160
52*
816 L- Nelson: Über das sogeDannte Erkenntnisproblem. [404
186. Überblicken wir diese kritischen Betrachtungen, so zeigt
sich, daß die Friessche Darstellung in zweifacher Weise einer Er-
gänzung oder auch Verbesserung bedarf. Einmal ist es not-
wendig, die Theorie der Reflexion von der ihr bei Feibs anhaf-
tenden Zweideutigkeit zu befreien und die Folgen dieser Zwei-
deutigkeit, insbesondere den angeführten fehlerhaften Beweis der
psychologischen Natur der Kritik, zu beseitigen. Dann aber gilt
es, den Widerstreit zwischen Transzendentalismus und Psycho-
logismus als eine unmittelbar aus dem Begriff der Erkenntnis-
theorie hervorgehende Antinomie abzuleiten und durch den Satz
von der Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie aufzulösen. Bei
dieser Darstellungsweise treten Transzendentalismus und Psycho-
logismus von vornherein nur in Korrelation zu einander auf, und
ßs wird dadurch zugleich auch die Einseitigkeit der Friesschen
Darstellung vermieden.
Nach diesen Grrundsätzen habe ich in meiner Abhandlung
erörterten methodischen Fehler vermeidet. So, wenn er (Psychologisches Magazin,
Bd. III, S. 215; System der Metaphysik, § 82, S. 416) das System der Prinzipien
a priori als einen Leitfaden zur Übersicht über die geistigen Grundvermögen
darstellt.
Es mag übrigens darauf hingewiesen werden, daß die Aufgabe, zu gegebenen
Schlußsätzen die Prämissen zu suchen, in dieser allgemeinen Form gar keine ein-
deutige Lösung zuläßt. Logisch eindeutig ist nur die Aufgabe, eine Prämisse zu
suchen, wenn außer dem Schlußsatz auch die andere Prämisse gegeben ist Jene
Vieldeutigkeit pflegt bei der tatsächlichen Anwendung des regressiven Verfahrens
durch die stillschweigende Hinzufügung gewisser einschränkender Bedingungen
beseitigt zu werden : Die gesuchten Prinzipien sollen z. B. möglichst aUge-
meiner Natur sein; sie sollen aber auch von uns für tcahr gehalten werden.
Unter diesen einschränkenden Bedingungen können denn auch solche psycho-
logischer Art vorkommen. So ist in der Tat das Kriterium des Fürwahrgehalten-
werdens ein rein psychologisches. Durch die Anwendung solcher psychologischer
Kriterien wird jedoch der grundsätzliche Unterschied der Abstraktion von der
Deduktion nicht aufgehoben; denn während jene bei der bloßen Reflexion stehen
bleibt, geht diese auf die unmittelbare Erkenntnis zurück.
405] Anhang m : Über einige Mängel der kritischen Methodenlehre u. s. w. 817
über „die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie
zur Philosophie" den Versuch gemacht, durch eine neue Dar-
stellung der fraglichen Lehren die Mängel der Friesschen Beweis-
führung zu ergänzen und, wo es nötig war, zu verbessern, ohne
doch an den Grrundgedanken und Ergebnissen dieser Beweisführung
irgend etwas zu ändern. Das Verständnis dieser vielleicht etwas
schwierigen methodischen Lehren hoffe ich durch die in der vor-
liegenden Schrift gegebenen Erläuterungen wesentlich erleichtert
zu haben. Diesem Zwecke dient einmal die in den Paragraphen
51 und 62 sowie 55 bis 57 enthaltene sehr vereinfachte Ableitung
und Auflosung der „erkenntnistheoretischen Antinomie"; dann
aber auch die hinzugefügten umfangreichen polemischen und histo-
rischen Ausführungen, die die Wichtigkeit und Fruchtbarkeit
jener allgemeinen methodischen Grundsätze durch die Nachwei-
sung erläutern sollen, wie alle bedeutenden Entdeckungen oder
Irrtümer, Fortschritte und Rückschritte in der Philosophie im
letzten Grunde nur aus methodischen Einsichten oder Fehlern
hervorgehen. Zugleich hoffe ich durch die im historischen Teile
durchgeführte Koordination von Transzendentalismus und Psycho-
logismus die aus der erwähnten Einseitigkeit hervorgehenden
Mängel des Schlußkapitels von Fries' Geschichte der Philosophie
zu ergänzen.
Wenn man mich also durch den Vorwurf zu widerlegen ge-
sucht hat, daß ich in gevTissen Stücken von Fries abmclie^ und
wenn man mir auf der anderen Seite gewisse bis ins Einzelne
gehende, „nahezu wörtliche" Anlehnungen an Fries zur Last ge-
legt hat, so hat es mit den behaupteten Tatsachen in beiderlei
Hinsicht seine Richtigkeit. Aber der Hinweis auf diese Tatsachen
trifft mich gar nicht. Ich habe nie den Anspruch erhoben, mit
meiner Arbeit eine historische Darstellung der Friesschen Lehre
818 L« Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem. [406
zu geben, und ich bestreite das Vorhandensein bestimmter Ab-
weichungen so wenig, daß ich vielmehr der Überzeugung bin, eine
strengere und von gewissen bei Fries nicht vermiedenen Fehlem
freie Beweisführung geliefert zu haben. Aber ich bestreite eben-
sowenig die behaupteten Anlehnungen, da es vielmehr meine Ab-
sicht war, durch eine möglichst enge Anlehnung an Fries' Dar-
stellung den Beweis zu erbringen, daß die wesentlichen Grrund-
gedanken der Friesschen Lehre durch die erforderlichen Berichti-
gungen in keiner "Weise berührt werden.
Wenn ich in meiner früheren Abhandlung diese Änderungen
— die übrigens mehr in Weglassungen als in Hinzufügungen be-
standen — nicht ausdrücklich als solche kenntlich gemacht, son-
dern mich mit dem allgemeinen Hinweis auf die Übereinstimmung
der Grundgedanken begnügt habe, so geschah das einmal, weil
ich bei der damals noch herrschenden völligen Vergessenheit der
Friesschen Lehren kein Interesse für derartige relativ unwesent-
liche Differenzen bei den Lesern voraussetzen konnte, und zwei-
tens, um die schon an sich nicht geringen sachlichen Schwierig-
keiten nicht noch durch eingehende historische Exkurse zu ver-
vieKachen. — Es kann aber mit Recht eine nachträgliche Älit-
teilung darüber verlangt werden, inwieweit und aus welchen
Gründen meine Darstellung von derjenigen abweicht, die den
fraglichen Lehren von ihrem ersten Urheber gegeben worden ist.
Eine solche Rechenschaft abzulegen ist der Zweck dieses Anhangs.
Register.
(Die Zahlen bezeichnen die Seiten, nach der fortlaufenden Zählang der „Abhand-
lungen^. — Man wird gebeten, sich beim Zitieren ebenfalls dieser allgemeinen
Paginierung zu bedienen und nicht der am Innenrande der Seiten eingeklammerten
Paginiemng des Sonderdrucks.)
Absolute Erkenntnis 634.
— Realität 764 if., 767 f.
— Idee des A. 764 flf.
Abstrakter und konkreter Gebrauch der
metaphysischen Prinzipien 734 £f., 739 ff.,
778.
Abstraktion als Bedingung des Urteilens
709.
— als Erklärungsgrund der Objektivität
der Erkenntnis bei Natorp 457 ff.
— und Deduktion 814 ff.
s. a. Regressive Aufweisung.
— und Determination 464.
— und Induktion 815.
— und Kombination 755.
Ästhetik Kants 801 ff.
— und Psychologie 560 ff.
--- transzendentale 603, 639.
Ästhetischer Idealismus (Subjektivismus)
562 ff, 577, 801 f.
— Objektivität 563 f., 801 ff.
— Rationalismus 801 f.
— Urteil 801 ff.
— Zweckmäßigkeit 801 f.
Affektion 576 f., 583 ff., 586, 649, 692 ff.
Aktualität und Willkürlichkeit 575 f.
— s. a. Selbsttätigkeit.
Allgemeines und Besonderes 794.
— und Einzelnes 459 ff.
— Urteil 712 ff., 715 ff.
— Widerspruch der Leugnung a. Wahr-
heiten 470, 589, 717, 719.
Allgemeing<igkeit als Kriterium der
Apriorität 717 f., 746 ff.
— objektive und subjektive 719 ff., 802.
— Reduzierte A. metaphysischer Sätze:
s. Reduktion.
Analogieen der Erfahrung 468.
Analysis und Synthesis 755 f.
Analytische Methode der Kritik der Ver-
nunft 654, 658, 669 f., 731.
s. a. Regressive Methode.
— Natur der Reflexion 755.
s. a. Mittelbarkeit der Reflexion.
Analytische und synthetische Einheit 641.
— und synthetische Möglichkeit : s. Mög-
lichkeit.
— und synthetische Notwendigkeit 594 f.
— und synthetische Urteile 446 ff., 466,
608, 658, 713 f., 789 ff., 792 ff.
Unmöglichkeit der Zurückführung
synthetischer Urteile auf analytische
451, 466, 475, 616, 657.
Unveränderlichkeit der s. oder a.
Natur eines Urteils 448 ff.
Vollständigkeit der Einteilung der
Urteile in a. und s. 450.
— Kategorische, hypothetische und divi-
sive a. Urteile 794.
— Die Grundsätze der Logik als posi-
tive Kriterien aller a. Urteile 794 f.
Angeborene Begriffe 704 f.
Anregung 676 f., 760.
Anschauung: Begriff der A. 744.
L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
[408
Anschauung: innere 663, 680, 685 ff., 808.
— intellektuelle 542, 544, 548 ff., 645,
647, 663, 685 ff, 754 f.
— reine 605 ff., 635, 747.
— sinnliche 767.
s. a. Wahrnehmung.
— sinnliche Natur der A. 544, 550, 645,
647, 686, 704.
— als positives Kriterium der Wirklich-
keit 461.
— und Begriff 464.
— und unmittelbare Erkenntnis 528 f.,
548 ff., 618, 685 f., 704, 744.
— und Urteil (Reflexion) 464 f., 528 f.,
548 ff., 618 f., 624, 644, 704, 709 f.
— Evidenz der A. 528.
— Fehlen der A. als Verst&ndigungs-
mittels in Philosophie und Psychologie
775, 778.
— des Baumes: s. Baum.
Anthropologie: s. Psychologie.
Antinomie, erkenntnistheoretische 534 f.,
816 f.
— Kamts Auflösung der A. 582, 632 ff.,
635 ff., 762.
— Ursprung der A. 635 f.
Antipsychologistische Argumentation bei
Natorp, Freoe und Husserl 637 ff.,
551.
Apelt, E. f. 649, 793.
Apodiktisch: Unmöglichkeit a. Schluß-
sätze aus empirischen Prämissen 472,
657 f., 727, 732 f.
— s. a. Allgemein.
— s. a. A priori.
Apodiktizität des Geschmacksurteils 802.
— s. a. Apriorität.
Apperzeption 687, 737, 753, 755, 760 f.
A priori und a posteriori 531 ff., 577,
582 ff., 590 f., 603, 606, 672, 728 f.,
746 ff., 760 f., 777.
— Prinzipien a priori der Möglichkeit
der Erfahrung: s. Erfahrung.
— Problem der Möglichkeit der Er-
kenntnis a priori von Gegenständen
604 f.
— Synthetische Urteile a priori : s. Urteil.
Apriorismus 749, 752.
Apriorität der allgemeinen Naturgesetze
590 f.
— und IdeaHtät 591, 599 ff., 606 ff., 637.
Apriorität: Kriterien der A. 717, 746 ff.
Aristoteles' Disjunktion der Erkennt-
nisquellen 608.
Arithmetik : Axiomatische Methode in der
A. 780.
Assertion: Unmittelbarkeit der A. der
Gegenständlichkeit beim Erkennen 459,
461.
— im Urteil 484, 493, 501 ff.
— in der Wahrnehmung 501 ff.
Assertorische und apodiktische Gewiß-
heit: s. Empirisch.
Assoziation 750.
— und Erwartung 749 ff.
— und Beflexion 745.
— und Sinn als einzige firklärungsgründe
der empiristischen Theorie 745 f.
Assoziationsgesetze 745.
Assoziationspsychologischer Erklärungs-
versuch der Möglichkeit der Kausal-
urteile 749 ff., 754.
Aufweisung unbeweisbarer Prinzipien
727 f.
— s. a. Begressiv.
Ausgangspunkt des Philosophierens 739 ff.
Axiomatische Methode in Mathematik
und Philosophie 779 ff., 783, 787, 806.
Beck, S. 618, 644, 649.
Bedeutung und Kriterium: s. Kriterium.
Bedingung: Prinzip der Totalität der
Beihe der B. 639.
s. a. Totalität.
Begriff: als allgemeine problematische
Vorstellung 464.
— und Anschauung 464.
— und Gegenstand 496 f.
— und Wesen 447 f.
— und Wortbedeutung 449 f., 714.
— eines Begriffs 496 f.
— Bildung der B. durch Abstraktion
und Determination 464.
— Mittelbarkeit aller Erkenntnis durch
B. 464 fi*.
— Unmöglichkeit synthetischer Erkennt-
nis aus bloßen B. 465 f., 619, 645.
— Unveränderlichkeit des Inhalts der
B. 449.
Begriffsschrift 778.
Begründung und Beweis 540 f., 575, 683.
— und Grund: s. Grund.
409]
Register.
Begründung und regressive Aufweisung
(Abstraktion) 478, 613, 623, 728, 814 ff.
— objektive und subjektive 453, 530,
537 ff., 728, 757 ff., 760, 767 f., 768 f.
— Notwendigkeit der B. aller Urteile
484 f., 617.
— Postulat der B. 522 ff., 526, 769 f.
— Unmöglichkeit einer B. der objektiven
Gültigkeit (transzendentalen Wahrheit)
der Erkenntnis 444 ff., 522 f., 596, 598,
756 ff., 769 f.
— erkenntnistheoretische : s. Erkenntnis-
theorie.
— Möglichkeit empirischer B. rationaler
Sätze : s. Modalische Ungleichartigkeit.
— metaphysischer Urteile: s. Metaphy-
sisch.
— der Ideen 637 f., 744, 763 ff.
Bejahung und Verneinung im Urteil 466,
710, 794.
Beneke, f. E. 648, 667 f., 703 ff., 773.
Beobachtung: Unzulänglichkeit zur Be-
gründung allgemeiner Urteile 717 f.
Berkeley 609, 637.
Beschränktheit unserer Erkenntnis 634 ff.,
642, 762, 764 ff.
Bessel 607.
Bestimmbarkeit: Satz der B. 790, 794.
Bestimmtheit: Vollständige und unvoll-
ständige B. der Erkenntnis 462 ff., 634.
Bestimmung, materiale der formalen
Apperzeption 760 f.
Bestimmungsgrund des logischen Denkens,
ethischen Wollens und ästhetischen
Wertcns 570.
— des moralisch guten Willens 796 ff.
Beweis: Anforderungen eines B. 467.
— und kritische Deduktion 540 f., 546,
575, 732 f.. 806.
s. a. Deduktion.
— Demonstration und Deduktion 769.
— indirekter: s. Indirekt.
— progressiver 726, 778.
— regressiver (Induktion) 726 f.
— transzendentaler: s. Transzendental.
— Unmöglichkeit eines B. metaphysischer
Grundsätze 657 f., 726 f.
— Vorurteil der Beweisbarkeit alles
Wissens 514, 616, 664 f., 683 f.
Bewußtsein und Erkenntnis 530, 545,
548 ff., 619, 645, 808 f.
Bewußtsein, mittelbares und unmittel-
bares 530, 545, 548 ff., 571, 645, 686,
744, 754, 808 f.
— des Gegenstandes 512 ff., 682 ff., 691.
— als Prinzip der Elementarphilosophie
bei Reinuold (Satz des B.) 655 f.,
663, 669.
— Tatsache des B. : s. Tatsache.
— überhaupt 496 ff., 508 ff., 513, 515 ff.,
552.
— s. a. Ich.
— Zweideutigkeit des Wortes bei Rickbbt
498.
Bild: Verwerflichkeit der B. bei philo-
sophischen Begriffsbestimmungen 776.
Biologische Erkenntnistheorie 417, 485 ff.
Blumenthal, E. 515.
Bon, f. 417.
Busse, L. 521, 619.
Calker, f. 777.
Cohen 702.
Common-sense-Philosophie 479.
COUTURAT 450, 791.
Crusius 596.
Deduktion und Abstraktion (regressive
Aufweisung) 728 f., 814 ff.
— und Beweis 541, 546, 675, 732 f., 740,
742, 757, 760 f., 769, 806.
— und Induktion 733.
— der Grundsätze der Logik 793 f.
— der Ideen 764 ff., 767 f.
— objektive und subjektive bei Ej^nt
611, 617, 619, 630, 643, 755.
Definition : Analytische Natur der D. 450.
— und Kriterium: s. Kriterium.
— durch unendliche Satzreihen : s. Sinn-
losigkeit.
— der Existenz 499, 721 ff.
— Allgemeine Urteile als versteckte D.
714 f., 720 f.
— Fehlerquelle willkürlicher D. in der
Philosophie 774 ff.
Demonstration 759, 769.
Denken: s. Reflexion.
Denkgesetz: als Gesetz, dessen wir uns
nur im Denken bewußt werden 570 f.,
793.
— als Norm des Denkens 565, 567 f.
-— als Naturgesetz des Denkens 566 f.
L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
[410
Denkgesetz: Lipps' Begriff des D. 656 ff.
Denknotwendigkeit 590, 594, 693 f., 719 ff.
— s. a. Notwendigkeit.
Descartes 479.
Deskriptive Methode bei Husserl 542 ff.,
548.
Unzulänglichkeit der d. M. für die
Kritik 545 ff., 550.
Determination (synthetische Begriffsbil-
dung) 464, 466.
— des Erfahrungsbegriffs 476 f.
Deutlichkeit : Intensität der D. als unter-
scheidendes Merkmal der Erkenntnis
nach HUME 750 f.
Dialektik, nachkantische 701 f.
— transzendentale 639.
Dialektischer Schein der Ideen 639.
Dictum de omni et nuUo 794.
Ding: Logik als Wissenschaft von allen
D. 791.
— an sich: Kants Beweise der üner-
kennbarkeit der D. a. s. 581 ff., 762.
Verhältnis unserer Erkenntnis zu
den D. a. s. 632 ff.,. 639 f., 649 ff., 665,
762, 766 f.
Affektion durch das D. a. s. 586,
649 f.
und Erscheinung: s. Erscheinung.
Streit über das D. a. s. 782 ff.
AngeblicJier Widerspruch in der
Annahme von D. a. s. 652 f., 665,
681 f., 782 f.
Widerspruch der Annahme, D. a. s.
seien a priori unerkennbar 587, 649 f.
s. a. Idealistisch.
Disjunktion von Anschauung und Urteil
als Erkenntnisarten: s. Erkenntnis.
— von Logik und Empirie als Wahr-
heitskriterien : s. Kriterium.
— Schluß aus unvollständigen D. 780 ff.
Disjunktives analytisches Urteil 794.
Dogma: s. Vorurteil.
Dogmatismus 521 ff., 530, 551, 622, 652,
666, 734 ff., 741, 814.
— logischer (Logizismus) 514, 646 ff.,
664 f., 666, 668, 683 f.
Drews, A. 702.
Dunkelheit: Ursprüngliche D. der meta-
physischen Erkenntnis 531, 545, 548,
550 f., 618, 728, 742, 754 f., 808 f.
— 8. a. >Iittelbarkeit des Bewußtseins.
Eindruck: s. Affektion.
Einheit: Gmndvorstellung (metaphysi-
sche) der synthetischen £. 633 ff., 637 f.,
642, 764 f., 809.
— analytische (des Systems) und syn-
thetische (der unmittelbaren Erkennt-
nis) 641.
— intensive und extensive 753.
— objektive der Vernunft und subjektive
der Assoziation 751, 753 f.
— unbeschränkte (vollendete) 764 f.
Einzelnes und Allgemeines 459 ff.
Elementarphilosopliie 655 ff., 666 f.
Empfindung 576, 649 f., 691 ff.
— und Gefühl 776.
Empirische und rationale Erkenntnis 603 f.
— und transzendentale Realität (Ideali-
tät) bei Kant 630 f., 801 f.
— Werturteil 797 f.
— Wahrheit: s. Wahrheit.
— Möglichkeit e. Begründung rationaler
Sätze : s. Modalische Ungleichartigkeit
— Unmöglichkeit rationiJer (apodikti-
scher) Schlußsätze aus e. Prämissen:
s. Apodiktisch.
— Unmöglichkeit e. Urteile von strenger
Allgemeinheit 716 ff.
Empirismus 646 ff., 663, 666, 685, 703 f.,
712 f., 717, 721 ff., 724, 737, 745 f.,
749, 752, 754, 783 f.
— als Konsequenz des Psychologismus
724, 784.
Energie: Gesetz der Erhaltung der £.
780.
Entwickelungsgeschichte : Unableitbarkeit
der qualitativen Variation für alle £.
752.
Entwickelungsgeschichtliche Psychologie
546 f., 752.
— s. a. Genetisch.
Erfahrung und Wahrnehmung 469, 475 f.,
SU.
— innere 531 f., 729 ff., 738, 743, 770,
786 f., 81L
und Reflexion: s. Reflexion.
— wirkliche (gegebene) und mögliche
478 f.
— Möglichkeit der E. 471 ff., 613 ff^.,
746, 748.
— Wirklichkeit der E. 472 f., 478,
748 f.
411]
Register.
Erfahrung: Prinzipien der Möglichkeit
der E. 586 f., 604 f., 609 f., 612 ff.,
617, 625 ff., 655, 746, 748.
— Der Begriff der E. als transzeüden-
taler Beweisgrund 476 ff., 613 f., 748.
— Metaphysisches Minimum des Erfah-
rimgsbegriffs 476 f., 479.
— Übereinstimmung der E. mit den Prin-
zipien a priori 589 ff., 604 f.
— Mißbrauch des Worts bei Fichte
671 ff., 675 f., 700.
Erinnerung und Erwartung 750 f.
Erkenntnis: Assertion in der E. : s.
Assertion.
— Intensität der Deutlichkeit als angeb-
liches Unterscheidungsmerkmal der E.
gegenüber bloßen Vorstellungen 750 f.
— als unauflösliche Qualität der inneren
Erfahrung 770.
— Tatsächlichkeit der E. 514, 632, 665,
757 ff.
s. a. Wissen.
— Objektive und subjektive Betrach-
tungsweise der E. 732.
— absolute 634.
— a priori und a posteriori : s. A priori.
— empirische: s. Empirisch.
— rationale: s. Rational.
— unmittelbare 464 f., 485, 503 ff., 523 ff.,
528 ff., 575, 659 f., ()83, 685 f., 755 ff.,
769, 794, 808 ff.
der reinen Vernunft (nicht-anschau-
liche, metaphysische) 529 ff., 545, 548,
550 f., 570, 574 f., 618 f., 637 f., 642,
644 ff., 667, 686, 704 f., 744 ff., 755 f.,
758 ff., 808 ff.
— Vernunft- und Reflexions- (Verstandes-)
E. 524 f.. 529 f.. 574 f., 636 ff., 704,
755 ff., 764 ff., 769.
— und Urteil 464 f., 480 f., 484 f., 490,
500 ff., 522 ff., 555 f., 571 f., 573 ff.,
711, 769, 793 f., 808 ff.
— Mittelbarkeit aller E. durch Begriffe
(Reflexion, Urteü) 464 ff., 645, 647.
— Unmöglichkeit synthetischer E. aus
bloßen Begriffen 465 f., 619, 645.
— UnVollständigkeit der Disjunktion
zwischen Anschauung und Urteil als
Erkenntnisarten 528 ff., 548 ff., 618,
624, 644 ff., 667, 704, 744 ff., 754 ff.
-— und Bewußtsein: s. Bewußtsein.
Erkenntnis und Ding an sich: s. Ding
an sich.
— und Gegenstand 453 ff., 459 ff, 508 ff.,
523 ff., 582 ff., 602 ff, 633, 664, 691 ff.,
740 f., 769 f., 797.
Angebliche Identität von E. und
G. 516 f.
in der Selbsterkenntnis 497 f.,
688 ff.
Unterschied des Verhältnisses der
E. zum Gegenstande vom Verhältnis
der Erkenntnis a priori zur Erfahrung
590 f., 603 ff.
vom Verhältnis der Erschei-
nung zum Gesetze 459 ff.
vom Verhältnis des Geistes zur
Materie 677 f.
vom Verhältnis des Subjekts
zum Objekt 497 f., 688 ff., 740.
Unmittelbarkeit der E. äußerer
Gegenstände 688, 691 ff.
— Inhalt und Gegenstand der £.: s.
Inhalt.
— Angebliche Unmöglichkeit der Iden-
tität von Subjekt und Objekt der E.
497 f., 689.
— Ideal logischer Vollkommenheit im
Erkennen 769.
— Unvollständig und vollständig be-
stimmte E. 462 ff.
— Vorurteil, alle E. beruhe auf innerer
Wahrnehmung 711 f.
— s. a. Objektivität.
Erkenntnisgrund: s. Grund.
Erkenntnisproblem 413 ff.
— s. a. Erkenntnistheorie.
Erkenntnistheoretische Antinomie 534 f.,
816 f.
— Idealismus 507 ff., 598, 695 ff.
— Kriterien: s. Kriterium.
— Methode in der Ethik 421.
— Subjekt: s. Subjekt.
— Voraussetzungen des formalen Idea-
lismus 581 ff.
— Vorurteil: n. Vorurteil.
Erkenntnistheorie : Problem der E. 444 ff.,
459, 508, 513 ff., 528 ff., 667, 687 f.,
695 ff., 726, 769 f.
— als Wissenschaft, die den Grand aller
Erkenntnis enthalten soll 533, 664.
8. a. Grund.
L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
Erkenntnistbeorie als Wissenscbaft, die
das konstitutive Prinzip der Pbilo-
sophie zum Inhalt hat 667.
— Allgemeiner Beweis der Unmöglichkeit
der £. 444.
— Ursprang der E. aus dem Vorurteil,
alle Erkenntnis gehöre entweder der
Anschauung oder der Reflexion an
629 f.
— Unendlicher Regreß der E.: s. Re-
gressns.
— Zirkel der E.: s. Zirkel.
— Ergebnislosigkeit der bisherigen E.
420.
— Der Streit um die Methode der E.
442 f.
— Der Streit um die Möglichkeit der
E. 415 fif.
— und Dogmatismus 521 ff., 530.
— und Metaphysik 420 ff., 527 ff.
— und Psychologie: s. Psychologie.
— und Vemunftkritik 626 ff., 630, 533 ff.,
681, 663. 668 f., 733, 756 ff., 769 f.
~ s. a. Objektivität.
— Geschichte der E. 679 ff.
— Kants E. 682 ff.
— Begründung der modernen E. durch
Rbinhold 654, 668.
— Benekes 708 ff.
— FiCHTES 691 ff.
— Fries' Beweis der Unmöglichkeit der
E. 726 f., 729 f., 758 f., 769 f.
Erscheinung und Ding an sich 626 f.,
630, 686, 639 f., 766 ff.
— und Gesetz: s. Gesetz.
— und Schein 686, 767 f.
— Doppelsinn des Worts bei Kant 610.
Ersdüeichung: Yerbalmethode der E.
699 ff.
Erwartung ähnlicher Fälle 749 ff.
— und Assoziation 750 ff.
— und Erinnerung 750 f.
Ethik: Prinzip der Kantischen E. 796 ff.
— Zirkel der erkenntnistheoretischen
Methode in der E. 421.
Etiiisch: s. Praktisch.
Evidenz als erkenntnistheoretisches Eii-
terium 479 ff.
— der anschaulichen Erkenntnis 628.
— der Halluzinationen und Träume 482 f.
— irriger Urteile 484.
[412
789,
Evidenz in spekulativen Dingen
743, 759.
— subjektiver und objektiver Begriff
der E. 483.
Existenz des ästhetischen Objekts 668 f.
— der Dinge an sich 632.
— transzendente 508 ff.
~ als UrteUsprädikat 494 f., 499, 553.
— Zirkel in der Definition der E. 499,
723.
— r Fiktion der Einerleiheit von Existenz
und Angeschaut- (Wahrgenommen-)
Werden (esse = percipi) 680 f., 721 ff.
— für ein Bewußtsein: s. Für.
Faktische Natur des Erkennens 614, 632,
665, 757 ff.
Faktum der Erfahrung 472 f., 478, 748 f.
Fallgesetz 666 f.
Fehlerquelle des Ausgehens von willkür-
lichen Definitionen 774 ff.
— des Gebrauchs indirekter Beweise
780 ff.
Fichte: Abhängigkeit von Jacobi 671,
688.
— Abhängigkeit von Reinhold 654,
667, 669 f., 728 f.
— Begriff der Philosophie 671 ff.
— Reines Ich (Ich an sich) 617, 670,
675 ff.. 689, 695 ff., 699.
— Intellektuelle Anschauung 544, 685 ff.
— Pflicht als Wahrheitskriterium 684.
— Idealistische Trugschlüsse 675 ff.,
698 ff.
— Angebliche Lösung des Erkenntnis-
problems 691 ff.
— Fiktion der Einerleiheit des Seins
und Angeschautwerdens bei Bestim-
mungen der Intelligenz 679 ff.
— Mißbrauch des Wortes „Erfahrung*
671 ff., 676 f., 700.
— Proklamierung der dogmatischen Me-
thode 674.
— Logischer Dogmatismus 688 f.
— Erkenntnistheoretisches Vorurteil 667,
674, 686 ff., 724.
— Transzendentales Vorurteil 667 ff.,
674, 686, 707, 723 f., 730 f.
— Psychologismus 685.
— Rationalismus 707, 724.
.— Verbalmethode 699 ff.
413]
Register.
Fichte : Verwechslung des Verhältnisses
von Erkenntnis und Gegenstand mit
dem von Geist und Materie 677 f.^
689 f.
— Verwechslung von Inhalt und Gegen-
stand 673 f., 682.
— Verwechslung von Kritizismus und
Idealismus 674.
— Verwechslung von Urteil und Ver-
gleichungsformel 466 f.
Fischer, K. 688.
Forderung zu urteilen als Kriterium der
Wahrheit 493 ff., 503 ff.
— zu werten als Kriterium der Schön-
heit 660 ff.
Form und Gegenstand 602, 604 f., 607.
— und Materie praktischer Gesetze
796 ff., 801.
— im objektiven und subjektiven Sinn
607.
^- der ursprünglichen Einheit und Not-
wendigkeit 765.
s. a. Grundvorstellung.
— des Urteils 638, 792 ff.
— systematische, des philosophischen
Wissens 734, 742.
— Unvollendbarkeit der mathematischen
F. der Sinnesanschauung 636, 638, 642.
Formale Apperzeption 760.
— Bedingungen der Erfahrung : s. Prin-
zipien.
— Idealismus: s. Idealismus.
Formelsprache 778.
Fortschritt in der Geschichte der Phi-
losophie 419.
Frege 637, 639 f.. 551, 791 f.
Freiheit des Willens 698 f., 700 f.
Fremdwörter in der philosophischen
Terminologie 777.
Fries' Beseitigung des erkenntnistheo-
retischen Vorurteils 725 ff., 729 f.,
740 f., 768 ff., 769 f., 805.
— Beweis der Unbeweisbarkeit meta-
physischer Prinzipien 726 ff.
— Deduktion der Ideen 763 ff.
— Deduktion der logischen Grundsätze
794.
— Entdeckung der nicht-anschaulichen
unmittelbaren Erkenntnis 744, 764 ff.
*- Entdeckung des Unterschieds von
Beweis und Deduktion 732 f., 806.
Fries' Formulierung des Problems der
Vemunftkritik 529.
— Geschichte der Philosophie 817.
— Grundsatz des Selbstvertrauens der
Vernunft 757 ff.
— Kritizismus 648, 668, 725 ff., 734 ff.,
773.
~ Mängel der kritischen Methodenlehre
bei F. 804 ff., 816 f.
— angeblicher Psychologismus (und Em-
pirismus) 733, 804 f., 807.
— Theorie derBeflexion als künstlicher
Selbstbeobachtung 807 ff.
— — psychologistische Konsequenzen
813 ff.
— Theorie der Verbindung 761 ff., 756 f.
— Trennung von Inhalt und Gegenstand
der Kritik (Kritik und System) 729 ff.
— ungenügende Trennung von Abstrak-
tion und Deduktion 814 f.
— Widerlegung des formalen Idealismus
599 ff., 761.
— Widerlegung des Psychologismus 727,
780, 732 f.
— Widerlegung des Transzendentalismus
727, 730 ff., 804 f.
— Übersehen des Zusammenhangs der
Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie
mit der Notwendigkeit der Trennung
von Kritik und System 806.
— und Herbart 738 f.
— und HuME 752 f.
— und Kant 725, 728, 730 f., 738, 743 f.,
765 f., 758, 761 ff., 768 f.
— Abweichungen Nelsons von F. 816 ff.
Für ein Bewußtsein dasein 511 ff., 681 f.,
700.
Fundament des philosophischen Wissens
655 ff., 658 ff.
— logisches und konstitutives 658 ff.,
664, 667.
Fundamental Wissenschaft 655, 661.
— s. a. Grundwissenschaft.
— s. a. Erkenntnistheorie.
Oarve 614.
Gauss 607 f.
Gefühl der Urteilsnotwendigkeit 502 ff.,
507, 671, 688, 695.
— und Empfindung 776.
Gegenstand der Erkenntnis : s. Erkenntnis;
L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
[414
Gegenstand und Begriff 496 f.
— und Form: s. Form.
— und Inhalt: s. Inhalt
— Bewußtsein des G. : s. Bewußtsein.
— Zweideutigkeit des Wortes 603 ff.
Geist (Intelligenz) und Materie 677 f.
GemeinschaftUche Ursache der Überein-
stimmung von Erkenntnis und Gegen-
stand 588, 599 ff.
s. a. Präformationssystem.
Genetische Psychologie und Theorie der
Vernunft 546 f., 575.
— s. a. Entwickelungsgeschichtlich.
Geometrie : Axiomatische Methode in der
G. 780.
Geometrische Axiome als versteckte De-
finitionen 714.
— Idealismus und Realismus 607 f.
— Induktion als Begründungsmittel geo-
metrischer Sätze nach Beneke 716 f.
Geschichte der Erkenntnistheorie 579 ff.
— der Philosophie in ihrem Verhältnis
zur Philosophie 418 f.
Geschmacksurteil 801 ff.
Gesetz, logisches: s. Logisch.
— praktisches 570, 797 ff.
8. a. Normativ.
— des Denkens: s. Denkgesetz.
— als erkenntnistheoretisches Kriterium
452 ff.
— als negatives Kriterium der Wirklich-
keit 460 f.
— Unerkennbarkeit von G. durch die
Sinne 746.
— und Erscheinung 460 ff.
— und Ursache 569 f.
— Erkenntnis der G. nach Lipps 515 f.
— der Erhaltung des dynamischen Cha-
rakters bei Marcus 469.
Gesunder Menschenverstand 739 f.
Glaube, spekulativer 766, 768 f.
— und Wissen nach Jacobi und Fichte
683 f.
Gleichartigkeit: s. Modalisch.
Grad der Lebhaftigkeit von Vorstel-
lungen: s. Deutlichkeit.
Grapenoiesser 600 ff., 761.
Grelling, K. 517, 589.
Grund und Begründung 582, 534 ff., 538 ff.,
559, 571, 674, 706 f., 723 f., 775, 806.
— Satz des G. 484 f., 521 ff., 769, 794 f.
Grund, logischer und realer 554 ff.
— der Gewißheit philosophischer Urteile
659 ff.
— metaphysischer Urteile 528 ff., 531 f.,
545 ff., 571 f., 617 ff., 644 ff., 657 ff.,
739, 745 ff., 749 ff.
— aller Erkenntnis überhaupt (als Thema
der Erkcnr.tnistheorie) 522 ff., 533,
553 f.. 558 f., 672 ff., 769 f.
— Modalität des G. einer Erkenntnis
533, 620, 667.
s. a. Modalische Gleichartigkeit.
s. a. Schlußsatz.
— s. a. Bestimmungsgrund.
Grundsatz der reinen Vernunft (der
Ideenlehre) 639, 641.
— der reinen Naturwissenschaft 645.
— der Logik: s. Logik.
— metaphysische (des reinen Verstandes)
586, 613 ff., 617 ff., 645, 657 f.
— des Selbstvertrauens der Vernunft
530, 757 f.
— oberster, der Philosophie bei Rein-
hold und Fichte 654 ff., 669 f.
— Unmöglichkeit eines gemeinschaft-
lichen G. für Logik und Metaphysik
655 ff.
Grundvorstellung der synthetischen Ein-
heit (der reinen Vernunft) 633 ff., 637 f.,
760, 764 f.
Grundwissenschaft 538 f., 556, 559 f.
— s. a. Fundamentalwissenschaft.
— s. a. Erkenntnistheorie.
Gültigkeit: s. Objektiv, Objektivit&t,
Wahrheit.
Ualbkantiancr 805.
Halluzination 461, 482 f.
Harmonie, prästabilierte 588 f., 593, 596,
601.
Hegel 466 f., 648, 654, 668, 773.
Helmholtz 780.
Herbart 738.
Herz, M. 582 f., 589, 596.
HiLBERT 779 f., 815.
Historische Objektivität 418 f.
HuME-KANTisches Problem 526 ff., 617,
624 ff, 643, 744 f., 749 ff., 756.
— Annahme des nur graduellen Unter-
schieds zwischen Erkenntnissen und
bloßen Vorstellungen 750 f.
415]
Register.
Hume: Assoziaiionspsychologischer Er-
klärungsversuch der Möglichkeit der
Kausalurteile 749 ff.
— Empirismus 731, 749, 752 f.
— metapliysischcr Skeptizismus 624, 628.
~ Unterscheidung von relations of ideas
und matters of fact 608.
— und Kant: s. Kant.
— und Reinhold 664.
HussERL 483, 537, 541 ff.
Hypothetisches analytisches Urteil: s.
Schluß.
Ich, individuelles und überindividuelles
496 ff., 508 ff., 515 ff., 557 f.. 572,575,
695 ff., 699.
s. a. Bewußtsein-überhaupt.
— an sich 675 ff.
— reines 517, 572, 695 ff.
s. a. Fichte.
— als Tathandlung bei Fichte 670,
695.
Ideale und natürliche Weltansicht 766 f.
Idealismus, erkenntnistheoretischer 507 ff ,
598, 695 ff.
— formaler 577, 581 ff., 607 f., 637,
643 f, 649 ff., 744, 761, 782 ff.
— — Erkenntnistheoretische Voraus-
setzungen des f. I. 581 ff.
Ursprung des f. I. aus der dog-
matischen Disjunktion zwischen Logik
und Empirie als Wahrheitskriterien
608 f., 761.
Widerspruch des f. I. 586 ff.
— — in der Kantischen Ethik und
Ästhetik 796 ff., 801 f.
— transzendentaler 581, 632, 635 ff.,
653, 762.
— und Kritizismus 652, 674, 761 f., 784.
Idealistische Trugschlüsse bei Fichte
675 ff., 693 ff.
bei RiCKERT 507 ff.
Idealität und Apriorität: s. Apriorität.
— empirische und transzendentale bei
Kant 630 f., 801 f.
Idee: Begriff der I. 635. 637.
— Negativer Ursprung der I. 637 f., 640,
642, 762, 764 ff.
— Schrankenverneinende Bedeutung der
I. 643.
— Positive Grundlage der I. in der un-
mittelbaren Erkenntnis 637 f., 640, 642,
764 ff.
Idee: Spekulative Begründung (Deduktion)
der I. 637 f., 744, 763 ff.
— Realität der I. 762 ff., 767 f.
— des Absoluten 764 ff.
— transzendentale 766.
— und Kategorie 637 f., 764 f.
— und Natur 642, 762 ff., 766 f.
— Kants Ableitung der I. aus der Form
der Vemunftschlüsse 638.
— Kants Lehre vom regulativen Ge-
brauch der L 640 ff.
— Kants Lehre vom transzendentalen
Schein der I. 594, 639, 641.
— Kants Begründung der I. als prak-
tischer Postulate 763.
Ideenlehre 632 ff., 762 ff.
Identität: Satz der L 790, 794.
— der Apperzeption 753.
— von Erkenntnis und Gegenstand: 8.
Erkenntnis.
— und Bejahung im Urteil 466, 710.
Identitätsphilosophie 466.
Immanentes Wiüirheitskriterium bei Kant
609, 802.
Immanenz: Gesetz der I. der mensch-
lichen Erkenntnis 766 f.
— Satz der I. bei Rickert 511.
Imperativ, kategorischer 800 f.
Indirekter Beweis der Analogieen der
Erfahrung bei Marcus 468 f.
Fehlerquelle des Gebrauchs der
i. Beweisart in der Philosophie 780 ff.
Individuell: Unableitbarkcit des I. aus
dem Gesetz 460 f.
— Ich: 8. Ich.
Induktion 602, 714, 716 ff., 726 f., 762.
— und Abstraktion 815.
— und Deduktion 733.
— Unmöglichkeit induktorischer Begrün-
dung apodiktischer Urteile 716 ff.,
727.
— Unmöglichkeit induktorischer Begrün-
dung der Metaphysik 727, 730 ff.
Inhalt und Gegenstand 512 ff., 531 f., 541,
543 ff., 547, 557, 569 ff., 673, 662 f.,
673 f., 678, 682, 705 f., 708 ff., 777,
809 f^ 813 f.
des ästhetischen Wertens 562 f.
der Kritik : s. Kritik und System«
L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
[416
Inhalt und Gegenstand der Kritik : s. a.
Modalische Ungleichartigkeit
— and Umfang eines Begriffs 450.
— ünyer&nder&chkeit des I. der Be-
griffe 449.
Innere Anschauung: s. Anschauung.
— Erfahrung: s. Erfahrung.
— Sinn : s. Sinn.
— Wahrnehmung: s. Wahrnehmung.
Intellektuelle Anschauung : s. Anschauung.
Intelligenz: s. Geist.
Interesse 796 f.
Introjizierte Widersprüche 688 f.
— s. a. Widerspruch.
Irrtum und Wahrheit 525, 741, 755.
— und Unvernunft 758 f., 769.
— trotz Evidenz 484.
Itelson 791.
Jacobi, f. H. 644, 648 ff., 671, 683.
Kant: Kritische Methode 622 f., 651 f.,
730 f., 734.
— Entgegensetzung mathematischer und
philosophischer Methode 780.
— Regeln über den Gebrauch der De-
finitionen in der Philosophie 776.
— UnVollständigkeit der Lehre von der
Begründung der Urteile 768.
— Methodischer Standpunkt der Preis-
schrift über die Deutlichkeit der Grund-
sätze der natürlichen Theologie und
der Moral 622 ff.
— Vermischung der Aufgaben der Ver-
nunftkritik und der Erkenntnistheorie
581, 653, 758.
— Begünstigung des transzendentalen
Vorurteils 804.
— Unterscheidung analytischer und syn-
thetischer Urteile 447 ff.
— Mängel der Kantischen Definition des
analytischen Urteils 789 ff.
— Lehre vom Satz des Widerspruchs als
Prinzip aller analytischen Urteile 790.
— Hume-Kantisches Problem 526 ff., 617,
624 ff., 643, 744 f, 749 ff., 756.
— Entdeckung der synthetischen Urteile
a priori 608 f., 644.
— Beantwortung der Frage: Wie ist
reine Mathematik möglich? 605 ff.
— Definition der Metaphysik 527.
Kant : Zweideutigkeit des Terminus „syn-
thetisches Urteil aus bloßen BegräTen**
618 f.
-=- Definition der transzendentalen Er-
kenntnis 536, 621, 731.
— Transzendentale Logik 620 ff.
— Transzendentaler Beweis 611 ff.
— Logizistische Begründung der Meta-
physik 612, 615 f.
— Leitfaden der Urteilsformen zur Auf-
findung des Systems derKategorieen 638.
— Tafel der Urteilsformen 793.
— Beweis der Unmöglichkeit eines lo-
gischen Kriteriums materialer Wahr-
heit 645.
— Kriterien der Apriorität 746 ff.
— Theorie der Synthesis 755 f.
— Einteilung aller Erkenntnis in An-
schauung und Urteil (Dogmatische Dis-
junktion der Erkcnntnisquellen) 618,
624, 644 ff., 665 f., 667.
— Verfehlen der unmittelbaren Erkennt-
nis der reinen Vernunft 618, 638,
640 ff., 644, 667, 755 f., 768.
— Leugnung intellektueller Anschauung
645, 687.
— Psychologische Voraussetzungen 645 f.
— Zirkel in der Begründung der Apo-
diktizität mathematischer Urteile 747.
— Mängel der Kantischen Kritik der
Vernunft 643, 731, 755 f., 768.
— Dogmatische Disjunktion der Wahr-
heitskriterien (Logik und Empirie)
608 ff., 624 f., 631, 643, 761, 796 ff.
— Unterscheidung von Schein und Wahr-
heit 609 f., 612.
— Immanentes Wahrheitskriterium 609,
802.
— Gesetz der Immanenz der mensch-
lichen Erkenntnis 766.
— Unterscheidung empirischer und trans-
zendentaler Realität 630 f.
— Zweideutigkeit des Terminus „Objek-
tivität« 610, 630 f, 796.
— Zweideutigkeit des Ausdrucks „Gegen-
stand«" 604 ff.
— Erkenntnistheoretische Voraussetzun-
gen 582 ff.
in der Ethik 797 f.
— Beweis des Zirkels der erkenntnis-
theoretischen Begründung 597 f.
417]
Register.
Kant: Zweifache Begründung des trans-
zendentalen Idealismus 681 f. , 682,
635 flf., 653, 761 f.
— Formaler Idealismus 577, 581 ff.,
607 ff., 637, 643, 761.
in der Ethik u. Ästhetik 796 ff., 801 f.
— Ausschließung des Pr&formationssy-
Sterns 588 ff., 782.
— Antinomieen- und Ideenlehre 632 ff.,
762 f., 768.
Auflösung der Antinomieen 635 f.
Ableitung der Ideen aus der Form
der Vernunftschlüsse 638.
Lehre vom transzendentalen Schein
der Ideen 594, 639, 641.
Lehre vom regulativen Gebrauch
der Ideen in der Naturwissenschaft
640 ff.
Praktische Begründung der Ideen
(Moralische Beweise) 763.
— — Prinzip vom Primat der prak-
tischen Vernunft 643, 763.
— Ethik 796 ff.
— Ästhetik 801 ff.
— Der Streit um die Fortbildung der
Kantischen Philosophie 441 ff., 646 ff.,
667 f.
Notwendigkeit, diesen Streit zwi-
schen den schon bestehenden Parteien
auszutragen 772.
— Unmöglichkeit, bei Kamts Philosophem
stehen zu bleiben 646 f., 771 f.
— Die möglichen Fortbildungen der Kan-
tischen Philosophie 643 ff., 646 ff., 667 f.
— Aufgaben einer kritischen Fortbildung
der Kantischen Philosophie 643, 647,
742 ff.
— Stammbaum der von K. ausgehenden
Philosopheme 668.
— und Beneke 648, 668, 703 ff., 707.
— und Fichte 668 f., 687.
— und Fries: s. Fries.
— und Gauss 607 f.
— und HuME 612, 623 ff.
— und Jacobi 648 ff.
— und Reinhold 654 ff.
— und Schiller 803.
Kategorieen als Bedingungen der Mög-
lichkeit aller UrteUe 586 f., 590.
— Anwendung der K. in der Kritik der
Vernunft 738 f.
AbhAAdlaasta dar FriM*iehta Sclmle. IL Bd.
Kategorieen: Schranken des Erfahrungs-
gebrauchs der K. 637 f., 642, 764 f.
— Übereinstimmung mit der Erfahrung
589 ff
— Ursprung der K. 589 ff., 595, 637.
■— der Relation 695.
— und Ideen: s. Idee.
— und Urteilsformen (Leitfaden zur Auf-
findung des Systems der K.) 638.
Kategorischer Imperativ 800 f.
— analytisches Urteil 794.
Kausalgesetz 468, 515, 585, 614 f., 625 ff.,
737.
Kausalurteil 749 ff.
Kausalverhältnis zwischen Erkenntnis und
Gegenstand nach Kant 583 ff., 601 f.,
602 f., 649 f., 797.
Kerry 795.
Konsequenz : Unzulänglichkeit als Wahr-
heitskriterium 743.
Konstitutives Fundament : s. Fundament.
— Prinzip: s. Prinzip.
Konventionalismus 529, 713 ff.
Kosmologische Antinomie 639 f.
Kraft und Gesetz 569 f.
Kriterium und Bedeutung (Definition)
463, 485, 490, 494, 507, 598, 723.
— erkenntnistheoretisches 444 f.
Die Evidenz als e. K. 479 ff.
Das Gesetz als e. K. 452 ff.
Der transzendentale Beweis als e.
K. 467 ff.
Das transzendente Sollen als e.
K. (Teleologisches Wahrheitskriterium)
492 ff.
8. a. Pflicht.
Der biologische Vorteil als e. K.
485 ff.
— Gesetzmäßigkeit als negatives K. der
Wirklichkeit 460 f.
— Anschauung als positives K. der Wirk-
lichkeit 461.
— Die Grundsätze der Logik als nega-
tive K. aller Wahrheit überhaupt 792.
als positive K. aller analytischen
Urteile 794 f.
— Unmöglichkeit eines logischen K. ma-
terialer Wahrheit 645.
— Dogmatische Disjunktion zwischen Lo-
gik und Empirie als K. der Wahrheit
608 ff., 611 f, 615, 624, 631, 761, 796 ff.
53
L. Nelson : Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
[418
Kriterium: Fehlen eines K. der Wahr-
heit bei der Annahme des Präforma-
tionssystems 592.
— der Moralität einer Maxime 798 if.
Kritik der Vernunft 441, 619 flf., 629,
619, 633, 647, 651 f., 658 ff., 725 ff.,
742 f.
Zweifache Aufgabe der K. d. V.,
Aufweisung des logischen und des kon-
stitutiven Fundaments der Metaphysik
660 f.
s. a. Abstraktion und Deduktion.
Notwendigkeit derK. d. V. 734 ff.,
738 ff., 814.
Psychologische Natur der K. d. V.
631 ff., 551 f., 559 f., 571, 574, 621 ff.,
643, 706, 728 ff., 814.
Paradoxie der Forderung psy-
chologischer K. (empirischer K. einer
rationalen Wissenschaft) 574, 706 f.,
731 f.
Unentbehrlichkeit metaphysischer
Voraussetzungen für die K. d. V. 732 ff.
als theoretische (nicht deskriptive)
Wissenschaft 545 ff., 550.
und Erkenntnistheorie : s. Erkennt-
nistheorie.
und System (Inhalt und Gegen-
stand der K.) 618, 620, 622, 660 f.,
726 ff., 729 ff, 806, 813, 815.
s. a. Modalisch.
Kritische Deduktion 541.
s. a. Deduktion.
— Logik 729, 793.
— Mathematik 729, 780.
— Metaphysik 762.
— Maximen 530.
— Methode: s. Methode.
— Formulierung des Problems der Ob-
jektivität 633 ff.
— Skeptizismus Maimons 628.
Kritizismus 530, 647 f., 666, 725 ff., 743,
784.
— und Idealismus: s. Idealismus.
Künstliche Selbstbeobachtung: s. Selbst-
beobachtung.
Leerheit der Reflexion: s. Mittelbarkeit.
Leibniz 601, 608, 736, 738.
Leitfaden der Urteilsformen und der
Schlußformen 638.
LiPPS 494 f., 498, 500, 502, 504 f., 507,
516 ff., 556 ff.
Locke 731, 738.
Logik: Definition der L. 789 ff.
— Grundsätze der L. 790, 792 ff.
— formale und transzendentale 620 f.
— kritische 729, 793.
— u. Metaphysik 527, 621, 645ff., 656f.,
778.
— und Psychologie 539 ff., 566 ff., 564 ff.,
668 ff., 729, 794 f., 554 ff.
nach LiPPs 556 ff.
Logische und metaphysische Möglichkeit :
s. Möglichkeit.
Notwendigkeit: s. Notwendigkeit.
— und psychologische Notwendigkeit: s.
Psychologisch.
— und metaphysische Sätze 470.
— Dogmatismus 614, 646 ff., 664 f., 666,
668, 683 f.
s. a. Logizismus.
— Fundament: s. Fundament
— Gesetze als Naturgesetze des Denkens
666 f., 570.
als Normen des Denkens 565, 567 f.
als Gesetze, deren wir uns nur im
Denken bewußt werden 570 f., 793.
— Grundsätze: s. Logik.
— Teleologie bei Kamt 642.
— Unmöglichkeit eines 1. Kriteriums ma-
terialer Wahrheit 645.
— Zergliederung : s. Regressive Methode.
Logizismus 616, 648, 666.
— ethischer 798 ff.
— s. a. Logischer Dogmatismus.
Maimon, S. 628 ff., 644, 649, 748 f.
Marcus, E. 467 ff.
Materiale Bestimmungen der formalen
Apperzeption 760 f.
Materie des moralischen Gesetzes 797 ff.
— 8. a. Geist.
Mathematik als Wissenschaft aus syn-
thetischen Urteilen a priori 608 f.
— und Metaphysik (Philosophie) 627,
731, 778 ff.
— kritische 729, 780.
— Strenge Allgemeinheit der Sätze der
M. 718 f.
— Kants Erklärung der Möglichkeit
reiner M. 605 ff.
419]
Register.
Mathematik : Zirkel in Kants Begründung
der Apodiktizität der M. 747.
Mathematische Methode: s. Methode.
Maximen, kritische 530.
Meinono 480 flf.
Metaphysik: Begriff der M. 527.
— Konstitutives Prinzip der M. 647.
s. a. Fundament.
— Deduktion der Möglichkeit der M. 759.
— Hauptproblem der kritischen M. 762.
— der inneren Natur 733, 811.
— und Erkenntnistheorie 420 ff., 527 ff.
— und Kritik der Vernunft: s. Kritik.
— und Logik: s. Logik.
— und Mathematik: s. Mathematik.
— und Psychologie 540 ff., 556 ff., 571 ff.,
706 f., 728 ff., 733, 738 ff., 785 f., 812 ff.
Metaphysische und logische Möglichkeit:
s. Möglichkeit.
— und logische Notwendigkeit: s. Not-
wendigkeit.
— Begründung m. Urteile 528 ff., 531 f.,
540, 545 ff., 613ff., 617 ff., 622ff., 706f.,
726 ff., 756 f.
Unmöglichkeit eines Beweises m.
Grundsätze 657 f., 726 f.
s. a. Transzendentaler Beweis.
— Grund der m. Urteile: s. Grund.
s. a. Unmittelbare Erkenntnis der
reinen Vernunft.
— Grundvorstellung : s. Grundvorstellung.
— unmittelbare m. Erkenntnis 528 ff.
s. a. Erkenntnis.
— Mittelbarkeit des Bewußtseins um
die m. Erkenntnis 530, 548 ff., 645,
686, 744, 754, 808 f.
s. a. Dunkelheit.
— Psychologisches Äquivalent eines m.
Satzes 785.
— Beduktion der Allgemeingültigkeit m.
Sätze durch das Prinzip der Möglich-
keit der Erfahrung: s. Reduktion.
— Minimum des Erfahrungsbegriffs 476 f.,
479.
— Skeptizismus: s. Skeptizismus.
Methode, axiomatische 779 ff., 783, 787.
— kritische 622, 651 ff., 725 ff., 734 ff.,
738ff., 741 ff., 761 f., 767, 769, 804 ff.,
814 f.
Die beiden Maximen der k. M.
530.
Methode, axiomatische: s. a. Regressiv.
— mathematische und philosophische 731.
— phänomenologische bei Husserl 542 ff.
— transzendentale und psychologische
(der Erkenntnistheorie) 442 f.
s. a. Psychologismus und Trans-
zendentalismus.
— der Begründung von Urteilen 523 f.
— der Polemik 420.
— und Weltansicht 651 f.
Methodenlehre, transzendentale : s. Trans-
zendental.
Meyerhof, 0. 583.
Mittelbarkeit des Bewußtseins um die
metaphysische Erkenntnis: s. Meta-
physisch.
s. a. Dunkelheit.
— aller Erkenntnis durch Begriffe (Leer-
heit der Reflexion) 464 ff., 645, 647,
683, 703 f, 755, 757, 769, 808 ff.
Modalische Gleichartigkeit von Erkenntnis
und Erkenntnisgrund 533, 620, 667, 724.
s. a. Schlußsatz.
— Ungleichartigkeit von Inhalt und Gegen-
stand der Kritik (Kritik und System,
Grund und Begründung) 532 ff., 541 f.,
544 f., 547 f., 559 f., 620 ff., 660 ff.,
705 f., 724, 729 ff.
Modalität der kritischen Erkenntnis 531 f.,
541.
— eines Urteils 793 f.
Möglichkeit: Kriterien der M. 722 f.
— analytische (logische) und synthetische
(metaphysische) 613, 722 f.
— objektive und subjektive 611, 720.
— Zweideutigkeit des Ausdrucks „M.
der Erfahrung" 471 ff.
s. a. Erfahrung.
— des Wahrgenommenwerdens 722 f.
Moralität : Kriterium der M. einer Maxime
798 ff.
Moralprinzip, Kantisches 798 ff.
Mystizismus 647 f., 666, 668, 685.
Natorp, P. 453 ff., 537 ff.
Natürliche und ideale Weltansicht 766 f.
Natur und Idee 642, 762 ff.^ 766 f.
— und Welt 635 f., 766.
Naturgesetz und Norm 565 f.
— und Sittengesetz 799 f.
— Apriorität der allgemeinen N. 590 f.
L. Nelson: Über das sogeoannte Erkenntnisproblem.
[420
Naturgesetz : Exakte Geltung der N. 565 f.
— Hypothetische Form aller N. 565 f.
— Unabhängigkeit vom Individuum 701.
— Die logischen Gesetze als N. des
Denkens 566 f., 570.
Naturwissenschaft und Idee 640 ff., 762.
Negation: s. Verneinung.
Nelson, L. 517, 589.
— Abweichungen von Fries 816 ff.
Neukantische Schule 702.
Nominal istische Erklärung der Möglich-
keit allgemeiner Urteile 712 ff., 720 f.
Norm und Naturgesetz 565 f.
— Logische Gesetze als N. des Den-
kens: s. Logisch.
Normative Ästhetik 560 ff.
— Psychologie 572 ff.
— s. a. Praktisch.
Notwendige Verknüpfung : S.Verknüpfung.
Notwendigkeit : analytische (logische) und
synthetische (metaphysische) 594 f.
— logische und psychologische 501, 554 ff.
— objektive und subjektive 590, 592 ff.,
719 ff., 748 f.
— und Willkürlichkeit 671.
— als Kriterium der Apriorität 746 ff.
— Gefühl der Urteilsnotwendigkcit 502 ff.,
671.
— Unmöglichkeit des Begriffs der N.
in einer nur sinnlichen Erkenntnis-
kraft 754.
— der Übereinstimmung der Erfahrung
mit den Prinzipien a pnori 589, 592 ff.
— 8. a. Denknotwendigkeit.
Noumen 763, 766.
Nützlichkeit als Wahrheitskritcrium : s.
Biologisch.
Objekt des Willens (Begehrungsvcrmö-
gens^ 796 ff.
— una Subjekt: s. Subjekt.
Objektiv, das 480 f., 483.
Objektive Gültigkeit bei Kant 610, 758,
796 ff., 801 ff.
Unmöglichkeit einer Kritik der
0. G. der Erkenntnis 444 f., 740,
756 ff., 769 f.
s. a. Objektivität.
— und subjektive Allgemeingültigkeit:
s. Allgemeingültigkeit.
Begründung: s. Begründung.
Objektive und subjektive Betrachtungs-
weise der Erkenntnis: s. Erkenntnis.
Deduktion: s. Deduktion.
Einheit: s. Einheit.
Möglichkeit: s. Möglichkeit.
Notwendigkeit: s. Notwendigkeit
Objektivität, ästhetische 563 f., 801 ff.
— ethische 796 ff.
— historische 418 f.
— der Kategoriecn 592 ff.
— Unauflösbarkeit der 0. des Erkennens
492 f., 688, 769 f.
— Dogmatische Disjunktion zwischen
Logik und Empirie als Kriterien der
0. : s. Kriterium.
— Vorurteil der ausschließlichen 0. der
apodiktischen (rationalen) Erkenntnis
462 ff.
— Vorurteil der ausschließlichen 0. der
sinnlichen Wahrnehmung 563, 577.
— Unmöglichkeit, aus der Unbegründ-
barkeit der 0. auf die Subjektivität
zu schließen 444 f., 598, 664.
— Oberstes Kriterium der 0. 633 f.
— Kritisches Problem der 0. 633 ff.
— Stufen der 0. 634.
— Doppelsinn der 0. bei Kant 610,
630 f., 796.
— s. a. Wahrheit.
Occasionalismus 601.
Ostwald 470.
Paradoxe Begriffsbildungen vomRüSSELL-
schen Typus 517.
Paradoxon des lügenden Kreters 588.
— des Subjekts, das alle Subjekte er-
kennt, die sich nicht selbst erkennen
517.
Parallelismus zwischen den Tafeln der
Urteilsformen und der Kategorieen 638.
Passivität und Willkürlichkeit 576.
— der sinnesanschaulichen Erkenntnis
nach Kant 584.
Persönlichkeit 695, 699 ff.
— s. a. Würde.
Pflicht: Frage nach dem Grunde der
Verbindlichkeit sittlicher Pflicht 421.
— als Wahrheitskriterium bei Fichte 684.
— s. a. Sollen.
Phänomenologische Methode bei Husserl
542 ff., 551.
421] Register.
Philosophie: Aufgahe der Ph. und ihr
Verhältnis zu anderen Wissenschaften
526 f.
— Grund der Schwierigkeiten der Ph.
734 if., 742.
— als Wissenschaft und als Kunst 702.
— Geschichte der Ph. : s. Geschichte.
— s. a. Metaphysik.
Philosophieren: Ausgangspunkt des Ph.
739 if.
— Zw eck und Aufgahe des Ph. 742, 7G9.
Physik: Axiomatische Methode in der
Ph. 780.
POTNCARE 714.
Polemik: Methoden der P. 420.
Position: s. Bejahung.
Postulat des Grundes 795.
— praktisches 763.
Prädikat und Subjekt im Urteil 794.
Präformationssystem 588 ff.
— Widerspruch der Bestreitung des P. 595.
— Zweideutigkeit des Ausdrucks bei
Kant 596, 598 f.
Prämisse: Aufgabe, zu gegebenen Schluß-
sätzen die Prämissen zu suchen 816.
Prästabilierte Harmonie : s. Harmonie.
Praktische Gesetze : s. Gesetz.
— Postulate 763.
— Urteile (WerturteUe) 797 f.
— und theoretische Vernunft : s.Vemunft.
Primat der praktischen Vernunft 643,
763, 767.
Prinzip des Geschmacks 802 f.
— der Möglichkeit der Erfahrung : s. Er-
fahrung.
— der reinen Vernunft (der Idecnlehre)
639 ff.
— konstitutives, der Metaphysik (Philo-
sophie) 647, 686.
— 8. a. Fundament.
Problem der Erkenntnistheorie: s. Er-
kenntnistheorie.
— der Kritik der Vernunft 519 ff., 528 f.,
660 f.
— der kritischen Metaphysik 762.
— Hume-Kantisches 526 ff., 617, 624 ff.,
643, 745, 749 ff., 756.
— der Möglichkeit allgemeiner Urteile
712 ff.
— der Möglichkeit metaphysischer Ur-
teile 745 ff., 749 ff.
Problem der Möglichkeit synthetischer
Urteile a priori 611, 660.
— der Möglichkeit der Erkenntnis a
priori von Gegenständen 604 f.
— der Transzendenz 508.
— Kritische Formulierung des P. der
Objektivität 633 ff.
Progressiver Beweis 726, 778.
— und regressive Methode 815.
Psychologie, deskriptive und theroetische
545 ff.
— genetische und Theorie der Vernunft
546 f., 575.
8. a. Entwickelungsgeschichtliche.
— normative 572 ff.
— Stellung im System 733.
— und Ästhetik 560 ff.
— und Erkenntnistheorie 453 f,, 457 f.,
501, 532 ff., 538 ff., 554 ff., 574 f.
— und Logik: s. Logik.
— und Metaphysik : s. Metaphysik.
Psychologische Natur der Kritik der Ver-
nunft: s. Kritik.
— und logische Notwendigkeit 501, 554 ff.
— Äquivalent eines metaphysischen Satzes
785.
— Kriterien bei der regressiven Auf-
weisung der Prämissen zu gegebenen
Schlußsätzen 816.
— Unlösbarkeit des Humeschen Problems
mit den Mitteln der herkömmlichen
ps. Theorie 745, 749 ff., 753 f.
Psychologismus 534 ff., 663, 667 ff., 685,
702, 707, 711, 721, 724, 730, 733, 813 ff.
— versteckter (des Transzendentalismus)
551 f., 555.
— Zirkel des P. 554 f., 781.
— und Empirismus: s. Empirismus.
— und Transzendentalismus 442 f., 534 ff.,
667 f., 702, 724 f., 730, 781 f., 784,
804 f., 816 f.
Psychologistische Logik und Ästhetik
bei Lipps 560 ff.
— Vorurteil: s. Vorurteil.
Quaestio facti und quaestio juris 623.
Qualität : Theoretische Unauflöslichkeit
innerer Qu. 770.
— des Urteils 793 f.
Quantität des UrteUs 793 f.
L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblein.
[422
Rationale und empirische Erkenntnis 608 f.
— s. a. A priori.
— 8. a. Empirisch.
Rationalismus 724, 737, 765.
— ästhetischer 801 f.
— als Konsequenz des Transzendentalis-
mus 724, 784, 804.
— Ursprung des nachkantischenR. 587,724.
Raum als Form der äußeren Erschei-
nungen 607.
— Anschaulichkeit und Idealität 607.
— Realität des R. nach Gauss 607 f.
— Unendlichkeit 636.
Realismus, empirischer 681, 802.
Realität, ahsolute 764 ff., 767 f.
— empirische und transzendentale 630 f.
— der Ideen: s. Idee.
— Kriterien der R. : s. Wirklichkeit.
— Sinnesanschauung als einziger Quoll
der R. in unserer Erkenntnis 767.
Reduktion der Allgemeingultigkeit meta-
physischer Sätze durch das Prinzip der
Möglichkeit der Erfahrung 625 ff.
Reflexion : Analytische Natur der R. 755.
— Leerheit und Mittelbarkeit der R.:
s. Mittelbarkeit.
— Willkürlichkeit der R. : s. Willkürlich-
keit.
— Unentbehrlichkeit der R. 545, 650 f.,
645, 754 f., 809.
— und Assoziation 745.
— und Selbstbeobachtung (innere Erfah-
rung, Wahrnehmung) 807 ff., 812 ff.
— und Vernunft: s. Vernunft.
s. a. Erkenntnis. (Erkenntnis und
Urteü.)
— Fries' Theorie der R. 807 ff.
— s. a. Urteil.
Regressive Auf Weisung der metaphysischen
Grundsätze als Bedingungen der Mög-
lichkeit der Erfahrung 478 f., 613, 623.
der Ideen als praktischer Postu-
late 763.
der Kategorieen am Leitfaden der
Urteilsformen 638.
und kritische Begründung (Abs-
traktion und Deduktion) 623, 728, 814 ff.
s. a. Begründung.
— Beweis (Induktion) 726 f.
— Methode der Kritik der Vernunft 658 ff.,
728, 731, 814 ff.
Regressive Methode: s. a. Analytische Me-
thode.
s. a. Zergliedernde Methode.
Regressus: Totalität des R.: s. Totalität
— unendlicher, der erkenntnistheoreti-
schen Begründung 445, 454 f., 481, 484,
506, 522 f.
der biologischen Erkenntnistheorie
489, 492.
der teleologischen Elrkenntnistheorie
498 ff.
der idealistischen Lösung des Er-
kenntnisproblems 695 ff.
der Annahme, alle Erkenntnis be-
ruhe auf innerer Wahrnehmung 711 f.
der Annahme der Identität von
Sein und Angeschaut- (Wahrgenommen-)
Werden („esse = percipi") 680, 723.
der Annahme der Notwendigkeit
des Wissens um das Wissen 692.
der Frage nach dem Grunde der
Verbindlichkeit sittlicher Pflicht 421.
Reine Anschauung: s. Anschauung.
— Ich: s. Ich.
— Mathematik: s. Mathematik.
— Vernunft: s. Vernunft.
Reinhold, K. L. 608, 653 ff., 668 ff., 702,
705, 723, 730 f.
— der Jüngere 667.
Relation des Urteils 793 f.
— Kategorieen der R. 695.
Relativität des biologischen Wahrheits-
kriteriums 490 f., 493.
Remusat, Gh. de 423.
Rezeptivität 575 ff., 584.
Richtigkeit: Identität der Behauptung
eines Satzes mit der Behauptung seiner
Richtigkeit 474.
RiCKERT 494 ff., 507 ff., 551 ff., 689, 701.
Russell 517.
Satz und Urteil 449.
Schein, transzendentaler 594, 639, 641.
— und Wahrheit 609, 612.
— s. a. Erscheinung.
SCHELER 461.
SCHELLING 466, 648, 654, 668, 702, 773.
Schema der möglichen Annahmen über die
Erkenntnisquelle der Metaphysik 647.
— zur Ableitung und Auflösung der er-
kenntnistheoretischen Antinomie 535.
423]
Schema zur Ableitung and Auflösung dos
Widerspruchs zwischen Erkenntnis-
theorie und Dogmatismus 524.
— zum Streit über das Ding an sich 784.
— mathematisches (der Kategorie) 642,
765.
SCHILLEB 803.
Schluß: als analytisches hypothetisches
UrteU 450 f., 638, 794.
— vom Besonderen auf das Allgemeine 727.
s. a. Induktion.
— aus unvollständigen Disjunktionen 780 ff.
Schlußsatz: Abhängigkeit der Modalität
des Schlußsatzes von der der Prä-
missen 472, 657 f., 727, 732 f.
s. a. Modalische Gleichartigkeit.
— s. a. Prämisse.
ScHMiD, C. Chr. E. 725.
Schottische Schule 479, 627.
Schranken unserer Erkenntnis 634 ff.,
638, 642, 762, 764 ff.
Schultz, J. 649.
Schulze, G. E. 648.
Sein: s. Existenz.
Selbstbeobachtung: Angeblicher Wider-
spruch im Begriff der S. 497 f., 689.
— als Begründungsmittel der Kritik der
Vernunft 735 ff., 742.
— künstliche 809 f.
— und Reflexion: s. Reflexion.
— s. a. Innere Wahrnehmung.
Selbstbewußtsein 687.
Selbsterkenntnis 497 f., 685 f., 688 ff., 737,
742.
— und Reflexion: s. Reflexion.
Selbsttätigkeit 667.
— und Willkürlichkeit 575 ff., 756.
Selbstvertrauen der Vernunft: s. Ver-
nunft.
SiMMEL 485 ff.
Singulare Urteile 712.
Sinn und Assoziation als einzige Er-
klärungsgründe der empiristischen
Theorie 747, 754.
— Unmöglichkeit, allgemeine und not-
wendige Wahrheiten durch die S. zu
erkennen 746.
— innerer 808, 811.
Sinnenwelt 636, 766.
Sinnesanschauung: s. Realität.
— 8. a. Wahrnehmung.
Sinnliche Anregung: s. Anregung.
— Anschauung: s. Anschauung.
— Beschränkti^eit unserer Erkenntnis
765.
s. a. Beschränktheit
— Wahrnehmung: s. WaJimehmung.
— Natur der anschaulichen Selbster-
kenntnis 686 f.
Sinnlichkeit und Verstand 584.
Sinnlosigkeit von Definitionen durch un-
endliche Satzreihen 489, 492, 498 ff.,
589, 723.
Skeptizismus 525, 597 f., 743, 757 ff.
— kritischer, Maimons 628.
— metaphysischer (philosophischer) 629,
624, 628, 759.
— praktischer 763.
Sollen, transzendentes, als erkenntnis-
theoretisches Kriterium 492 ff., 553 f.
Sophisten 529.
Spekulation : Subjektive (idealistische)
Wendung der S. 730, 734 ff., 743, 761 f.
Spekulativer Glaube 766.
— Verstandesgebrauch: s. Abstrakt.
— und praktische Vernunft 642 f.
Spinoza 419, 736.
Spontaneität 584.
— s. a. Selbsttätigkeit.
Sprache : Regeln über den Gebrauch der
S. in der Philosopliie 773 ff.
Stumpf 574 f.
Subjekt, erkenntnistheoretisches 497 f.,
513, 517.
8. a. Bewußtsein überhaupt.
~^ — g^ 9l Xch.
— und Objekt 497 f., 670, 688 ff.
— und Prädikat 794.
Subjektive Wendung des Philosophierens
durch die Kritik der Vernunft 651 f.,
730 f., 735 ff.
— und objektiv: s. Objektiv.
Subjektivismus, ästhetischer 562 ff., 677.
Subjektivität 463.
Synthesis: Theorie der S. bei Kant 644,
755 f.
— abgeleitete und ursprüngliche 755 f.
Synthetische und analytische Urteile: s.
Analytisch.
— Begriffisbildung (Determination) 464.
466.
— Einheit: s. Einheit
L. Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
[424:
Synthetiscbe Urteile a priori: s. Urteil.
— Unmöglichkeit s. Erkenntnis ans
bloßen Begriffen 465 f., 619, 645.
System und Kritik: s. Kritik.
— Analytische Einheit des S. 641.
Systematische Form: s. Form.
— Vollständigkeit 727, 729.
Tätigkeit: s. Selbsttätigkeit.
— s. a. Tun.
Tatsache des Bewußtseins 655, 663, 673.
Tatsächlichkeit des Erkenncns: s. Er-
kenntnis.
Teleologie: logische, bei Kant 642.
Teleologische Erkenntnistheorie: s. Er-
kenntnistheorie.
Terminologie: Regeln für die philoso-
phische T. 773 ff.
Theoretische und ästhetische Urteile 802 f.
— und deskriptive Psychologie: s. Psy-
chologie.
— und praktische Vernunft : s. Vernunft.
Theorie der Vernunft: s. Vernunft.
— Unmöglichkeit einer Th. für innere
Qualitäten 770.
Topik 737.
Totalität der Reihe der Bedingungen
635 f., 639 ff.
— Idee der T. 765.
Transzendentale Ästhetik 603, 639.
— Apperzeption 737, 755, 760 f.
— BeWtis 467ff., 611ff., 618, 620, 622 ff.,
644.
— Dialektik 639.
— Erkenntnis 536, 621 f.
— Idealismus: s. Idealismus.
— Idee 766.
— Logik 620 f.
— Methodenlehre 623.
— und empirische Realität (Idealität) 630 f.
— Schein: s. Schein.
— Vorurteil: s. Vorurteil.
— Wahrheit: s. Wahrheit.
Transzendcntalismus und Psychologis-
mus : s. Psychologismus.
T- und Rationalismus: s. Rationalismus.
Transzendentes Sollen als erkenntnis-
theoretisches Kriterium 492 ff., 553 f.
Transzendenz: Problem der T. 508.
Traum und Wirklichkeit 461.
— Evidenz der T. 482 f.
Trendelenbuko 588, 599.
Tun : Begriff des T. 695.
Typik der praktischen Urteilskraft 799 f.
Überindividuell : s. Ich.
Übersinnlich 766 f.
Unabhängigkeit des Gegenstandes von
der Erkenntnis 457 f., 508 ff.
— des ästhetischen Objekts von seiner
Wertung 563 f.
— der Naturgesetze vom Individuum 701.
— der Logik von der Psychologie 546.
— logische, eines Systems von Grund-
sätzen 727.
Unbeschränkte synthetische Einheit 635,
638, 642.
Unendlicher Regressus: s. Regressus.
— Definitionen durch u. Satzreihen: s.
Sinnlosigkeit
— Unmöglichkeit empirischer Urteile mit
u. Subjektsumfang 716 ff.
Unendlichkeit der mathematischen Formen
635 f., 764 f.
— Widerspruchslosigkeit des mathemati-
schen Begriffs der U. 686.
Unlösbarkeit des erkenntnistheoretischen
Problems 444, 597 f.
— des Humeschen Problems mit den
Mitteln der herkömmlichen psycholo-
gischen Theorie 745, 749 ff., 758.
Unmittelbare Erkenntnis: s. Erkenntnis.
Unmittelbarkeit der Assertion der Gegen-
ständlichkeit beim Erkennen 459, 461.
— der Erkenntnis äußerer Gegenstände
688, 691 ff.
— der Erkenntnis und des Bewußtseins
530, 548, 550 f., 686, 744.
Ursache und Gesetz 569 f.
— der Empfindung 576 f.
Ursprüngliche Synthesis 755 f.
— Vorstellen 618, 644.
— materiale Bestimmungen der formalen
Apperzeption 760 f.
UrsprüDglichkeit : s. Unmittelbarkeit
Urteil: Begriff des U. 793.
— ästhetisches (Geschmacksurteil) 801 ff.
— allgemeines 712 ff., 715 ff.
Problem der Möglichkeit allge-
meiner U. 712.
— — Nominalistische (Konventionalisti-
sche] Begründung a. U. 712S,, 715.
426]
Regtetor.
Urteil, analytisches und synthetisches:
8. Analytisch.
— bejahendes und verneinendes 466, 710.
— evidentes: s. Evidenz.
— praktisches (Werturteil) 797 f.
— singuläres 712.
— synthetisches a priori 608 ff., 611 f.,
614 ff., 618 f., 765, 802.
— Urteile, die ihren Grund weder in der
Anschauung noch in Begriffen haben
528 ff., 617 ff., 644 ff., 745.
— Wahmehmungsurteil 712.
— Abhängigkeit des U. vom Willen 484,
493, 500 ff., 529, 555 f., 575, 755 f.
— Abhängigkeit aller U. von Prinzipien
a priori 586 f., 782 ff.
— Assertion im U. 484, 493, 601 ff.
— Begründung der U.: s. Begründung.
— Unterschied zwischen dem Bestim-
mungsgrund zum Fällen eines U. und
der Eichtschnur für den Inhalt des
U. 504 ff
— als Gleichsetzung gleicher Geistes-
tätigkeiten nach Beneke 708 ff.
— und Anschauung: s. Anschauung.
— und (unmittelbare) Erkenntnis : s. Er-
kenntnis.
— und Satz 449.
— und Vergleichungsformel 466, 709 f.
— und Vorstellung 493, 500 ff.
— und Wamehmung: s. Wahrnehmung.
Urteilsformen: s. Form.
Urteilsnotwendigkeit 502 ff.
— s. a. Forderung.
Vaihinger 671.
Variation: s. Entwickelungsgeschichte.
Verbahnethode 699 ff., 720 f.
— der Bildung allgemeiner Sätze 713 ff.,
720 f.
Verbindung: objektive and subjektive
751, 753.
— ursprüngliche 755 f.
— der Vorstellungen im Urteil 493,
500 ff., 528 ff., 617, 765 f.
— Theorie der V. 763 ff.
— s. a. Einheit
Vergleichungsformel und Urteil : s. UrteiL
Verknüpfung, objektive (notwendige) 762,
764.
— s. a. Einheit
AbhAAdlaBfra der FriM*ick«i Behito. IL Bd.
Verneinung: Satz der doppelten Y. 790,
794.
•— s. a. Bejahung.
Vernunft: Existenz der (remen) V. 704 f.,
746, 749 ff., 756, 758.
— und Reflexion (Verstand) 624 f., 529 f.,
574 f., 636 ff, 704, 765 ff., 764 ff., 775,
808 ff.
— Grundvorstellung der reinen V. 633 ff.,
637 f., 760.
— Unmittelbare Erkenntnis der reinen
V.: s. Erkenntnis.
— Kritik der V.: s. Kritik.
— Oberstes Prinzip der reinen V. 639 ff.
— Selbstvertrauen der V. 525, 530, 633,
757 ff
— Theorie der V. 646, 618, 643, 736 f.,
741, 747, 755 f., 760, 765.
— Widerstreit zwischen theoretischer
und praktischer V. 642 f., 762 f.
— Primat der praktischen V. : s. Primat.
Vemunftwahrheit 625.
Verstand 624 f.
•— und Sinnlichkeit: s. Sinnlichkeit
— und Vernunft: s. Vernunft
— Kants Begriff des V. 584.
— als Gesetzgeber der Natur nach Kant
591.
— Gesunder Menschenverstand 739 f.
Verstandeswahrheit 525 f.
Vollständige Einheit und Notwendigkeit :
s. Absolut.
Vollständigkeit der Bestimmung des
Gegenstandes 634, 641.
— der Reihe der Bedingungen 636 f.
— s. a. Totalität.
— eines Systems von Grundsätzen 727, 729.
Vorstellung und Erkenntnis : s. Erkenntnis.
— und Gegenstand: s. Erkenntnis.
— und Urteü 493, 600 ff.
— und Wahrnehmung 601 f.
— Zweideutigkeit des Wortes 662, 732.
Vorurteil der Beweisbarkeit alles Wissens:
s. Beweis.
— alle Erkenntnis bestehe im Urteil
464 f., 480 f., 484 f., 490, 600 ff., 622 ff.,
656 f., 671 f., 673 ff., 711.
— alle Erkenntnis gehöre entweder der
Reflexion oder der Anschauung an
528 ff., 648 ff., 618, 624, 644 ff., 666 f.,
I 667 f., 704, 744 ff„ 764 ff.
64
L. Nelson: Über das sogenanate Erkenntnisproblem.
[426
Yorarteil: alle Erkenntnis beruhe auf
innerer Wahrnehmung 711 f.
— der Mittelbarkeit der Erkenntnis
äußerer Gegenstände 688, 691 IT., 694 f.
— der ausschließlichen Objektivität apo-
diktischer (rationaler) Erkenntnis 462 flf.
— der ausschließlichen Objektivität der
sinnlichen Wahrnehmung 563, 577.
— der Ausschließlichkeit von Logik und
Empirie als Wahrheitskriterien 608 f.,
611 f., 615, 624, 631, 761, 796 ff.
— erkeuntnistheoretisches (Annahme
einer Wissenschaft, die das konsti-
tutive Fundament der Philosophie ent-
hält) 533 ff., 663 ff., 667, 686 ff., 690 ff.,
702, 706 f., 724 ff., 739 f., 756 ff., 769 f.,
781 f., 805 f.
— das konstitutive Prinzip der Philo-
sophie liege in der Selbsterkenntnis
(die kritische Begründung enthalte den
Grund der Philosophie) 661 ff., 667,
686, 706 f.
8. a. Grund und Begründung.
— der modalischen Gleichartigkeit von
Kritik und System (Grund und Begrün-
dung): s. Modalische Gleichartigkeit
s. a. Grund und Begründung.
— psychologistisches 532, 534 ff., 702,
724, 781, 805 f.
s. a. Psychologismus.
— transzendentales 532 ff., 535 f., 620 ff.,
667 ff, 686, 701, 707, 724, 781, 804 f.
Die beiden Formen des t. V.,
Mystizismus und logischer Dogmatis-
mus 668.
s. a. Transzendentalismus.
Wahrheit : Klassifikation der W. bei Ari-
stoteles, LEifiNiz und HuME 608.
— empirische 743, 758, 769.
— transzendentale 595 f., 598, 758, 766,
769.
— Vernunft- undVerstandes-W. 52öf ., 769.
— als Gefordertsein von Urteilen 494 ff.,
498 f.
— biologische Erklärung der W. 485 ff.
— Kriterien der W. : s. Kriterium.
— Wert der W.: s. Wert
— Zdtlosigkeit der W. 491 f.
— und Intum: s. Irrtum.
— und Schein: s. Schein.
Wahrheit: s. a. Objektivität.
— s. a. Richtigkeit
Wahrnehmung, innere 543 f., 7ll f.
— und Reflexion: s. Reflexion.
— wirkliche und mögliche 721 ff.
— Assertion der W. 501 f.
— Erkenntnischarakter der W. 502.
— Unmittelbarkeit der W. äußerer Gegen-
stände 492 f.
— Unterschied von Halluzinationen und
Träumen 461, 482 f.
— Vorurteil der ausschließlichen Objek-
tivität der sinnlichen W. : s. Vorurteil.
— und Erfahrung: s. Eh'fahrung.
— und Rezeptivität 576 f., 584.
— und Urteil 501 ff.
s. a. Anschauung.
— und Vorstellung 501 f.
Wahrnehmungsurtäle 712.
Wellstein 448.
Welt und Natur 635 f., 766.
Weltansicht, natürliche und ideale 766 f.
— und Methode 651 f.
Wert, als Kriterium der Wahrheit von
Vorstellungen oder Urteilen 490, 493,
506, 553 ff.
Werten, ästhetisches 561 ff.
Werturteil 797 f.
Widerspruch: Satz des W., als Prinzip
aller analytischen Urteile bei Kant 790.
als Folge des Satzes der Bestimm-
barkeit 794.
als positives Kriterium der Wahr-
heit bei Rickert 555.
— logischer und metaphysischer 468, 470.
— der Behauptung des Nicht- Wissens
445 f.
— der Lengnung der Möglichkeit ob-
jektiv-allgemeingültiger Aussagen 470,
589, 717, 719.
— des biologischen Wahrheitskriteriums
492.
— des teleologischen Wahrheitskrite-
riums 506 f.
— des Begriffs des erkenntnistheoreti-
schen Subjekts 496 f., 517.
— introjizierter 588 f., 693.
— — des Empirismus 717.
der nominalistischen (konventiona-
listischen) Erklärung der Möglichkeit
allgemeiner Urteile 715.
427J
Register.
Widersprach, introjizierter , der Lehre
vom transzendentalen Schein bei Kant
594, 639.
des formalen Idealismus 586 f.
— der Bestreitung des Pr&formations-
sy Sterns 595.
der Leugnung objektiven Wissens
594, 60-4 f.
Wille : Bestimmungsgrund des moralisch-
guten W. 796 ff., 800 f.
— als Voraussetzung der Wahrheit bei
Fichte 675, 683 f.
bei RiCKERT 552 ff.
— Widerspruchslosigkeit des W. (Über-
einstimmung des Sv. mit sich selbst)
als Kriterium der Moralit&t bei Kant
798 f., 801.
Willktlrlichkeit der Heflexion (des Ur-
teüs) 484, 493, 500 ff., 529, 555 f.,
676 f., 683 f., 745, 755 f., 808.
— der Bildung allgemeiner Urteile 713,716.
— und Freiheit 745.
— und Selbsttätigkeit (Aktivität, Spon-
taneität) 575 ff., 756.
— Grundgesetz des willkürlichen Yor-
stellens 745.
Windelband, W. 419, 701.
Wirklichkeit : Positive und negative Kri-
terien der W. 460 f.
— der Erfahrung: s. Erfahrung.
Wissen 469.
— des Nicht- Wissens 446.
— Tatsächlichkeit des W. 665.
— Angebliche Notwendigkeit des Wissens
um das Wissen 692.
Wortbedeutung und Begriff 449, 714.
Würde der Person 801.
WUNDT 576.
Zahl : Idealität der Z. nach Gauss 607 f.
Zeit: Unendlichkeit der Z. 636.
Zeitlosigkeit der Wahrheit 491 f.
Zergliedernde Methode 780, 815.
— s. a. Methode.
Zirkel der Erkenntnistheorie 444 f., 597 f.,
740, 781 f.
— der erkenntnistheoretischen Methode
in der Ethik 421.
— der Annahme, alle Erkenntnis gründe
sich auf innere Wahrnehmung 711.
— der Definition der Existenz 499, 723.
— des formalen Moralprinzips bei Kant
801.
— in Kants Begründung der Apodikti-
zität der Mathematik 747.
— angeblicher, der psychologischen Kritik
540, 732 f.
— des Psychologismus 554 f.
— des transzendentalen Beweises 472 f.,
479, 613 f., 629.
— der theologischen Begründung der
transzendentalen Wahrheit 596 f.
— der Zurückfahrung einer Wahrheit
auf die Denknotwendigkeit ihres In-
halts 719.
Zweckmäßigkeit, ästhetische 801 f.
Zweifel 525, 757 ff.
— 8. a. Skeptizismus.
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