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Full text of "Ueber den Begriff der Schönheit"

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^-otze,  Hermann 

Ueber  den  begriff  der 
Schönheit 


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ü  e  b  e  1' 


E]\    BEUHIFF    DER    SCHÖNHEIT. 


V  o  ti 


HEHM ANN     LOTZK 


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Abgedruckt  aus  den  Göttinger  Studien.     1845. 

G  ö  1 1  i  n  e;  e  n 

l)ei  VuHcIcnhoeck   und  Uuproclil. 

18  4  5. 

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DEM    BEGRIFF   DER    SCHÖNHEIT. 


Von 


HERM  ANN  LOTZL. 


Abgedruckt  aus  den  Gültins'er  Studien.     1845. 


G  ö  ( t  i  n  g  c  n 

bei  Vandenhoeck  und  nuprecht. 

1  8  4  5. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2009  witii  funding  from 

University  of  Toronto 


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littp://www.arcliive.org/details/ueberdenbegriffdOOIotz 


Ueber 

den  Begriff  der  Schönheit '"). 

Von 

H.  liOtze.  ^      ^^    ^ 

I. 

Jedem  Auge  zugänglich,  jedem  unbefangenen  Sinne  ver- 
ständlich berührt  in  den  Gebilden  der  Natur  die  Scliönheit 
unerschöpflich  das  lebendige  Gemüth;  und  doch  hat  nicht 
aus  ihr,  die  selbst  durch  mancherlei  Triebe  der  Sehnsucht 
oder  die  Wonne  der  Befriedigung  unterstützt  dem  Herzen 
sich  aufdrängt,  sondern  aus  der  Bewunderung  der  Kunst- 
schönheit die  wissenschaftliche  Betrachtung  des  Schönen 
ihre  ersten  Anregungen  erhalten.  Und  dieser  Gang  der  Er- 
eignisse ist  nicht  wunderbar.  Wo  die  Natur  durch  die 
Grösse  ihrer  Gestalten  und  die  Macht  ihrer  Kräfte  zu  über- 
wältigen droht,   da  ruft   sie  zuerst  den  Geist  zur  Selbstver- 


*)  Diese  Abhandlung,  durch  ihren  Platz  in  einer  Sammlung  vcr- 
schiedner  Arbeiten  räumlich  beschränkt,  und  bestimmt,  durch  keinen 
undeutschen  Ausdruck  der  Sache  eine  ihr  fremde  Schwierigkeit  zu  ge- 
ben, will  nur  eine  durchaus  elementare  Einleitung  zu  den  Kunstbe- 
traciitungen  sein,  die  in  neuster  Zeit  Iheiis  sehr  werthvoll,  theils  über- 
klug ausgebildet,  jedenfalls  auf  einem  Hoden  ruhn,  den  zu  betreten  die- 
sen Zeilen  nicht  gestattet  war. 

1* 


theidigung  auf,  in  deren  noch  frischem  Geräusch  und  Kampf 
die  Nachforschung  nach  den  stillwirkenden  unabänderlichen 
Gesetzen  ihrer  Bildungen  verstummt;  wo  der  beglückende 
Einklang  ihrer  feineren  Züge  das  Gemüth  trifft,  da  werden 
die  angeregten  Träume,  ihrer  eigenen  Seligkeit  gewiss,  lie- 
ber forlzuklingen  suchen,  und  in  eine  reichhaltige  Welt  von 
schönen  Gestaltungen  sich  ausspinnen ,  als  dass  sie  ihren 
eignen  Selbstgenuss  unterbrechend,  sich  zu  den  Quellen  zu- 
rückwendeten, aus  denen  sie  entsprangen.  Und  so  linden 
wir,  dass  wie  die  magnetischen  Ströme  sich  gegenseitig  her- 
vorrufen, so  auch  das  erste  Anschauen  und  Geniessen  der 
Schönheit  sogleich  in  eine  schöpferische  Fortbildung  umge- 
schlagen i=t,  U;  d  nicht  die  schöne  Natur  selbst,  weder  die 
des  Landes,  nocA  die  der  Bewohner,  sondern  die  Kunst- 
weit,  dieser  erste  Abglanz  und  W'iderschein  jener  innerlich 
erlebten  Naturbedeutung,  hat  zu  der  Anknüpfung  denkender 
Betrachtungen  geführt.  Gegenstand  ernsthafterer  Bestrebun- 
gen wird  für  uns  vorzugsweise  das,  was  wir  auf  irgend 
eine  Weise  an  oder  in  uns  selbst  erleben  können.  Man 
kann  zweifeln,  ob  selbst  die  wirkenden  Kräfte  der  äussern 
Welt  mit  ihren  Gesetzen  ein  Ziel  unserer  Untersuchungen 
geworden  wären,  wenn  wir  nicht  selbst  eine  Quelle  von 
Bewegungen  und  Veränderungen  dieser  Well  wären;  wenn 
wir  nicht,  indem  wir  künstliche  Vorrichtungen  bauen,  und 
auf  einander  berechnete  Räder  und  Getriebe  gegen  sich 
spielen  lassen,  uns  selbst  als  den  innerlich  wirkenden  und 
strebenden  Geist  in  diese  äusserlichen  Veranstaltungen  hin- 
einzufühlen vermöchten.  Auch  das  Schöne  wurde  dann  Ge- 
genstand des  Nachdenkens,  als  das  Gemüth  sich  selbst  auf 
seiner  Schöpfung  betraf  und  gleichzeitig  die  Ruhe  bewahren 
konnte,  die  der  Betrachtung  nothwendig  ist.  Wenn  der 
Trieb  künstlerischer  Darstellung  schon  gewaltet  hat,  und 
die  Leidenschaften  der  Furcht  und  Begehrung,  die  wohl 
dem  Urbilde  gelten  konnten,  von  dem  künstlerischen  Ab- 
bild nicht  mehr  erregt  werden ;  wenn  der  Gehalt  des  Schö- 


nen  nicht  mehr  als  ein  unvermitleites  Aeusseres ,  in  seiner 
fremden,  abgeschlosseneu  Fertigkeit  drückendes  erscheint, 
dann  Hegt  es  nahe ,  nicht  blos  die  Gesetze  des  Verfahrens 
zu  suchen,  nach  denen  der  Geist  Schönes  bildet,  sondern 
auch  den  Verhältnissen  nachzugehen,  auf  deren  Vorhanden- 
sein, abgesehn  von  dem  Hergange  der  Verwirklichung,  die 
Schönheit  des  Schönen  beruht. 

Dennoch  fehlte  auch  der  ersten  Ausbildung  des  mensch- 
lichen Geschlechts   eine  eigenthümliche  Deutung   der  natürli- 
chen Schönheit  nicht.     Unmöglich    musste  ih»'  nur  dies  sein, 
den  Grund  des  Schönen,  Erhabenen  oder  Grauenhaften,  das 
in  wechselnden   Erscheinuui'en    das  Geraüth    ergriff,    in  Ge- 
stalt  so  einfacher  und  nackter   Begriffe    auszuspr-^chei^,   wie 
sie  für  eine  wissenschaftliche  Ansicht  unserer  Zeit  die  Grund- 
lage  bilden   zu  müssen  scheinen.     Fern  von  solchen  Bestre- 
bungen   und   unfähig  zu  ihnen ,   deutete  jene  Zeit  das  Gege- 
bene, indem  sie  Neues  schuf,  was  sie  zu  deuten  vermochte. 
Sie  trennte  nicht   die   lebendige    Innigkeit   des    Gefühls,    die 
dem  Eindruck  des  Schönen  folgt,  von  den  leblosen  Formen 
des  Gegenstandes  ab,   der  jenes  hervorzubringen  im  Stande 
war;    alles   Aeussere    vielmehr   mit   verborgner  Lebendigkeit 
erfüllend,   konnte    sie   Weh   und    Seligkeit   des  geniessenden 
Geistes  auf  die  genossene  V^elt  übertragen.     Der  schöne  Ge- 
genstand war   nur   darum  schön,   weil  er   beseelt   dieselben 
Bewegungen  in   sich   geniessen    konnte ,    die    seine  Betrach- 
tung in   anderen   Gemüthern  anklingen  musste.     So    entging, 
schaffend  in  ihren  Deutungen,  die  alte  Sagenlehre  den  Zwei- 
feln  der   wissenschaftlichen   Ansicht,     die    w'ohl    auch   gern 
alles   Entzücken    des   angeregten  Gefühls   mit  in  den  schö- 
nen Gegenstand   verlegen   möchte   und  doch  sich  eingestehn 
muss,  dass   das    Schöne    in    dieser   Bedeutung    nur   in    dem 
geniessenden  Geiste,   aber  nicht  in  den  genossenen  Verhält- 
nissen  der  Dinge   liegen  kann,     die  den  unschuldigen  oder 
verdienstlosen  Anstoss   zur  Erzeugung   seliger   Lust   gewäh- 
ren.    Und  so  finden  wir,    dass  lebhaft  für  das  Schöne  be- 


geisterte  Ansichten   auch    in   neuester   Zeit  fast  immer  geeilt 
haben,    alles  Aeussere   mit  einer  durchdringenden  Lebendig- 
keit zu  begaben.     Ohne  sie  schien  es  unmöglich,  grade  das, 
was  von  dem  Schönen   allein  einer  übergreifenden  Giltigkeit 
würdig  wäre,  jenen  von  dem  Gefühle  unabtrennbaren  Werth 
und    Selbstgenuss ,    auch    ausser    uns    in  den   Gegenständen 
wiederzufinden.       Solche    Bestrebungen    werden    immer    die 
Frucht  haben ,    den  Sinn  für  das  Verständniss  der  einzelnen 
Schönheiten    zu    schärfen.       Denn    die    Bedeutung    und    der 
Werlh  innerer'. Regungen,    der  Kreis   von   Handlungen    und 
Aeusserungeu ,    zu  dem   sie  in  Liebe  und   Ilass ,    Sehnsucht 
und  Befi-iedigung  hindrängen,    selbst   die   feineren  Züge  der 
gesan'^tepg.ErsclTieinung ,  in  der  das  Innere  des  Gemülhs  zu 
Tage   kommt,    dies  alles  ist   dem   unbefangenen    Sinne  ver- 
sländlich.    Und  wenn  es  ihm  vergönnt  ist,    in  dem  Aeusse- 
ren  der  Natur  eine  ähnlich  strebende  und  empfindende  Seele 
vorauszuahnen,  so  wird  die  Sage,  die  dem  lieblichen  Natur- 
gebilde eine  ebenso  liebliche  Seele  inwohnen,    der  grauen- 
haften  oder    erhabnen   Erscheinung  einen   ebenso   gearteten 
Willen  unterliegen  lässt,  nicht  bloss  im  Allgemeinen  dadurch 
die  besondere  Weise  des   erregten  Gefühls   andeuten.     Viel- 
mehr,  indem   sie  jetzt  diese  einzelnen  Geister  zu  einem  le- 
bendigen Ganzen  gegenseitigen  Handelns  und  Leidens  verket- 
tet, wird  sie  durch  den  Gang  ihrer  Schicksale  oder  die  Her- 
vorhebung  weit    verfiochtner    Beziehungen   jedem    derselben 
eine  bestimmtere  Färbung   crtheilen,    und    so    deutlicher   die 
Züge  hervortreten  lassen ,    auf  deren  noch  unbcwusster  Auf- 
fassung  vorher  das   angeregte    Gefühl   beruhte.     Wir   folgen 
jedoch  der  Sagendichtung  nicht  weiter;  sie  fügte  noch  mehr 
hinzu ,    indem    sie   der  Reihe   der   Naturgeister  geschichtliche 
Ereignisse     und    allgemeine    Erfahrungen    des    menschlichen 
Lebens   einflocht;    für   uns   ist   nur  das    Eingeständniss    von 
Werlh,    das  in  allem  ihren  Thun  liegt,    dies  nämlich,    dass 
das  volle  Schöne  nirgends  anders,   als  in  der  Erschütterung 
des  geniessenden  Geistes,  zu  suchen  sei. 


Zwar  auch   die   einfachen  Empfindungen   der   Sinnlich- 
keit, der  Glanz  des  Lichtes  und  die  Pracht  der  Farben  sind 
Nichts,    was  .abgewandt    vom   Bewusstsein    an    den   Dingen 
selbst  haften  konnte,    sondern    sie  sind  Erscheinungen,    die 
an  äussern  und  Innern  Ei^eignissen  hangen,  ohne  von  diesen 
selbst   uns    eine   Vorstellung   zuzuführen.     Aber    wir   wissen 
nichts    unmittelbar    von    den   Wellen    der   Lichtströrae    und 
nichts  von  den  Zuständen,    die  sie  im  Innern  unsers  eignen 
Leibes  hervorbringen;    wir   sind  nicht  im  Stande,    den  Ge- 
genstand, wie  er  ohne  alle  Sinnlichkeit  für  u.^is  sein  würde, 
mit  dieser  seiner  sinnlichen  Erscheinung  zu  vergleichen;  wir 
fühlen  uns  endlich   in  diesem  Allen  hingegeben  an  eine  an- 
geborne   Nothwendigkeit  unserer  Natur.       Aus    allfjä    diesen 
Gründen   haftet   für    die   unmittelbare  Auffassung   alles  Sinn- 
liche viel  fesler  an  dem  Gegenstande,    zu  dessen  anhängen- 
den Eigenschaften  es  gerechnet  wird,  als  die  Schönheit  oder 
Hässlichkeit   an   ihnen  haften  kann.       Denn    durch   sie    wird 
uns  der  Gegenstand  nicht  gegeben,    sondern    bereits  festste- 
hend   erweitert    sich    durch    das    werthgebende    Urtheil    des 
Geschmackes   sein   Inhalt  nur   in   sofern,    als  ihm  die  Kraft 
zugetheilt   wird ,    in    seinem    zufälligen    Zusammenstoss    mit 
einem  empfänglichen  Gemüthe  einen  eigenthümlichen  Zustand 
der  Lust  zu  veranlassen.     Auch  hier  zwar  drängen  sich  die 
Gründe,    durch    deren   Vermittlung    die   Lust  dem  Eindruck 
folgt,     nicht    hervor,     sondern    das    beglückende    Ergebniss 
scheint  allein  über  dem  Spiegel  des  Bewusstseins  zu  treiben. 
Dennoch   ahnen    wir,    dass   nicht   uns    völlig    verschlossene, 
beständige  Einrichtungen  unsers  Innern,  sondern  mehr  oder 
minder   eines   deutlichen    Selbstbewusstseins  fähige  Strebun- 
gen und  Regungen  des  wahrhaft  eigenen  Geistes   durch  den 
Eindruck    des    Schönen   berührt    werden.     Wir  ahnen  über- 
haupt,   dass  Alles,    was  einen  Werth   vom  Bewusstsein  er- 
langen soll,   die  Seele  nicht  in  Ruhe,    sondern  in  einem  le- 
bendigen oder  zurückij;ehaltnen  Streben  antreffen  muss.     Dies 
theilt  das  Schöne  mit  dem   Angenehmen ,    und    schon    Kanf, 


8 

dem  die  denkende  Betrachtung  des  Schönen  mehr  verdankt, 
als  jetzt  anerkannt  zu  werden  pflegt,  fand  die  Schönheit  in 
einer  Angemessenheit  der  Verhältnisse  des  Gegenstands  zu 
dem  Spiele  unserer  Erkenntnissvcrmügen.  Während,  was 
den  nothwendigen  Gesetzen  unsers  Verstandes  allein  sich 
fügt,  keinen  besondorn  Dank  von  uns  verdient,  müssen  wir 
es  als  eine  freie  Gunst  des  Schicksals  betrachten,  wenn  das 
Gegebene  noch  ausserdem  Beziehungen  und  Zusammenhänge 
zeigt,  durch  die  es  unserm  Wunsch  nach  Zusammenfassung 
unter  wenigeiV  höhern  Gedanken  zuvorkommt.  Eine  Welt 
wäre  möglich,  in  der  keine  Gattungen  als  beherrschende 
Gestalten  der  Mannigfaltigkeit  sich  zeigten,  sondern  alles 
Einzelne vunverHcichbar  neben  einander  stände;  dass  aber 
anstatt'  dieser  für  alle  denkende  Betrachtung  spröden  Welt 
die  sich  selbst  zu  höhern  Gipfeln  zusammenschliessende 
Welt  der  Erfahrung  vorhanden  ist,  dies  ist  selbst  ein  Ge- 
genstand der  uneigennützigen  Lust,  die  in  ihrer  Beziehung 
auf  das  Einzelne,  Mannigfaltige  zu  dem  Gefühle  der  Schön- 
heit sich  umwandelt.  Nicht  also  in  dem  blossen  Zusam- 
menstimmen des  Eindrucks  mit  dem  gleichgiltigen  Ablauf 
eines  Erkenntnissvermögens  bestand  nach  Kant  das  Schöne, 
sondern  in  seinem  Einklang  mit  einer  strebenden,  einem 
Ziele  nachjagenden  Erkentniss. 

Verlassen  v^ir  die  Annahme  der  Seelenvermögen,  so 
sinkt  mit  ihnen  ihr  selbstständiger  fortwährender  Ablauf; 
und  nicht  mehr  dies  von  selbst  ewig  fliessende  Spiel  einer 
Thätigkeit,  sondern  eine  sich  entwickelnde  Heihe  von  Vor- 
stellungen, Gefühlen  oder  Strebungen  wird  es  jetzt  sein, 
mit  deren  Gefüge  und  Gliederung  der  neu  einfallende  Ein- 
druck zusammenstimmen  muss.  Eine  solche  Ansicht  scheint 
mir  jedoch  nachholen  zu  müssen,  was  in  Kants  Lehre  ver- 
sucht, wenn  auch  nicht  ausgeführt  war.  Hier  nämlich  lie- 
gen ohne  Zweifel  die  unterscheidenden  Grenzen  des  Schö- 
nen und  des  Angenehmen.  Reichte  es  zur  Schönheit  des 
Gegenstandes  hin,  dass  sein  Eindruck  mit  irgend  einer  Vor- 


Stellungsreihe  kampflos  sich  verschmelzen  könne,  so  würde 
die  Schönheit ,  auf  unsäglich  verschiedene  Vorstellungsreihen 
bezogen,  deren  Vorkommen  nur  für  den  einzelnen  Geist 
gerechtfertigt  ist,  in  dem  sie  sich  entwickeln,  einestheils 
demselben  Gegenstand  bald  zukommen  bald  nicht,  andern- 
theils  jederzeit  nur  für  jenen  einen  Geist  vorhanden  sein. 
Der  Schönheit  aber  schreiben  wir  Beständigkeit,  und  von 
unserer  Auflassung  unabhängige  Geltung  zu;  jene  Merkmale 
dagegen  gehören  dem  Angenehmen  wie  dem  Nützlichen. 
Dieses,  einem  Gefüge  der  Vorstellungs-  oder  Gefühlsreihen, 
den  Umständen  überhaupt  sich  anschliessend,  die  in  dem 
einzelnen  Falle  wohl  in  dem  einzelnen  Gemüthe  ibfe  hin- 
länglichen  Bedingungen  haben,  aber  derei^^4uftriet^n  idurch 
keinen  Zug  ihres  Wesens  in  die  allgemeine  Bestimmung  des 
Geistes  aufgenommen  ist,  wird  überall  ein  wechselndes  Mass 
ünden,  und  flüchtig  wie  die  Stellung  des  Geistes,  zu  der 
es  in  übereinstimmende  Beziehung  trat ,  geht  auch  diese 
Lust  des  Einklangs  selbst  vorüber.  Kant,  als  er  den  An- 
spruch auf  allgemeine  Giltigkeit,  den  unser  Geschmacksur- 
theil  nolhw  endig  machen  muss ,  deutlich  hervorhob ,  sah 
richtig,  dass  nicht  ein  zufälliges,  durch  die  allgemeinen  Ge- 
setze der  Seelenwirkungen  zwar  gestattetes ,  aber  nicht  ge- 
botenes Ereigniss  das  Ziel  sein  könne,  worauf  das  Schöne 
zu  beziehen  sei;  ihm  bot  das  Spiel  eines  Erkenntnissvermö- 
gens, allen  einzelnen  Geistern  durch  ihre  allgemeine  Natur 
eingegeben,  ein  festes  und  gemeinschaftliches  Muster  der 
Vergleichung  dar.  Aber  eben  so  sehr ,  als  er  jenen  fort- 
während gemachten  Anspruch  auf  Allgemeingiltigkeit  hervor- 
hob, hätte  er  die  nicht  weniger  fortwährende  Vereitelung 
seiner  Erfüllung  beachten  sollen.  Ist  die  wirkliche  Beur- 
theilung  des  Schönen  eine  vielfällig  verschiedene,  und  macht 
gleich  wohl  jedes  Urtheil  die  Anforderung,  für  allgemein  an- 
erkennungswerth  zu  gelten ,  so  kann  nicht  eine  wirklich 
unerschütterlich  vorhandene  Einrichtung  unseres  geistigen 
Wesens  der  Spiegel  sein,  von  dem  die  Strahlen  des  Gegen- 


10 


Standes  zurückgeworfen  werden.  Die  nämliche  AUgeinein- 
giltigkeit,  die  den  Gesetzen  des  Denkens  zukommt,  müsste 
auch  hier  sich  zeigen;  oder  das  Gefühl  des  Schonen  müsste 
mit  der  nämlichen  Unveränderlichkeit  sich  an  einen  gege- 
benen Eindruck  knüpfen ,  mit  der  bei  dem  gleichen  Gefüge 
der  Sinneswerkzeuge  dieselbe  Lichtwelle  überall  dieselbe 
Farbenempfindung  entstehen  lässt.  Aber  die  Beurlheilung 
des  Schönen  schwankt  mehr,  als  die  manches  sinnlich  An- 
genehmen, das  eben,  weil  es  sich  auf  die  hervorragenden, 
grösseren  Umrisse  leiblicher  Thätigkeit  und  Bedürfnisse  be- 
zieht, hoffen  darf,  in  allen  Einzelnen  dieselbe  Vorbereitung 
zu  seiner  Aufnahme  zu  finden.  Eine  allgemeine  gleiche  An- 
lage •.nitni?^  füi\^*die  Empfindung  des  Schönen  giebt  es  that- 
sächlich  nicht;  an  einzelne  Vorgänge  im  Geiste  soll  es  sich 
nicht  knüpfen,  um  mit  dem  Angenehmen,  das  so  eigensüch- 
tigen Bedürfnissen  schmeichelt,  nicht  widerrechtlich  zusam- 
menzufallen; was  scheint  näher  zu  liegen,  als  dass  es  sich 
überhaupt  auf  einen  nicht  allgemein  vorhandnen,  aber  vor- 
handen sein  sollenden  Zustand  unserer  Strebungen  bezieht, 
der  nur  in  einzelnen  Bruchstücken  verwirklicht,  doch  von 
allen  einzelnen  Gemüthern  als  ein  zu  erreichendes  Muster 
gewusst  wird  ?  Aber  dieser  Gedanke ,  der  Verwechselung 
des  Schönen  mit  dem  Angenehmen  ausweichend,  scheint  es 
zu  nahe  an  das  Gute  zu  rücken;  obwohl  genauer  betrach- 
tet, nicht  das  Schöne,  sondern  der  dieses  Schöne  genics- 
sendc  Geist  einer  engeren  Verwandtschaft  zum  Guten  durch 
ihn  genähert  scheint. 

Der  Verlauf  unserer  Vorstellungen  wird  ohne  Zweifel 
durch  allgemeine,  glcichgiltig  über  jeder  besondern  Gestalt 
des  Erfolges  schwebende  Gesetze  bedingt;  aber  eben  diese 
bestimmte  Endgestalt  seiner  Verwicklungen,  die  Geschwin- 
digkeit seines  Flusses  und  die  Richtung,  nach  welcher  hin 
die  einzelnen  Vorstellungen  und  Strebungen  einander  her- 
vorrufen oder  hindern,  diess  alles  kann  nur  von  dem  Wer- 
Ihe  abhängen,   den  wir  einzelnen  derselben  zugestehn ,    und 


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durch  welchen  sie  erst  jene  Stärke  und  jenen  Gegensatz  er- 
halten, durch  den  sie  später  allgemeinen  Gesetzen  zufolge 
ein  Spiel  des  Verdrängens  und  Hervorlockens  beginnen  kön- 
nen. Es  ist  unnüthig ,  hier  die  Quellen  jener  Werthverthei- 
lung  besonders  zu  betrachten ;  sie  mögen  zum  Theil  selbst 
in  leiblichen  Bedingungen  liegen,  noch  mehr  aber  in  dem 
ursprünglich  sittlichen  Gehalt  des  Geistes,  den  wir  nicht 
umgekehrt  aus  einer  zufallig  gewordenen  Verschlingung  der 
Vorstellungen  ableiten  dürfen,  endlich  in  einär  selbst  schon 
dem  Gebiet  freier  Schönheit  angehörigen  Färbung  und  Nei- 
gung der  Thätigkeiten ,  die  als  Keim  in  dem  Wesen  der 
Seele  liegen  mag,  um  an  jedem  spätem  äussern  Anstoss 
sich  folgerichtig  zu  entwickeln.  Solche  Bew/;ggründe  v;»erden 
an  sich  den  Geist  verleiten ,  zunächst  das ,  als  das  ihm 
Aehnhche,  schön  zu  finden,  in  dessen  Zusammenhangswei- 
sen er  die  nämliche  Stetigkeit  oder  Zerrissenheit,  die  näm- 
liche Weichheit  oder  Strenge,  Flüchtigkeit  oder  in  sich  zu- 
rückkehrende Erinnerung,  dieselbe  Raschheit  oder  zögernde 
Entwicklung  der  Uebergänge  wahrnimmt,  die  dem  Ablauf 
seiner  eigenen  Vorstellungen,  Gefühle  und  Bestrebungen 
eigenthümlich  sind.  Und  in  der  That  wird  auch  bei  den  ge- 
bildetsten Gemüthern  die  wirkliche  Beurthcilung  des  Schö- 
nen, der  Geschmack  in  den  Künsten  immer  den  Einfluss 
solcher  Bedingungen  in  der  eigenthümlichen  Vorliebe  für 
manche  einzelne  Gattungen  der  Darstellung  verrathen ;  ja 
noch  mehr  werden  die  volksthümlichen  Ausbildungen  der 
Kunst  sich  auf  eine  solche  in  herrschenden  Sitten  und  zur 
Gewohnheit  gewordnen  Ansichten  der  Dinge  gegebene  Grund- 
lage stützen. 

Was  so  eigenthümlichen  Vorurtheilen  des  Geschmackes, 
die  aus  angeborner  Stimmung  des  Gemüthes  (liessen ,  sich 
zuvorkommend  anbequemt,  kann  im  Allgemeinen  nur  für 
ein  Angenehmes  gelten.  Allein  in  vielfältigen  Abstufungen 
dürfen  wir  jenen  Stimmungen  selbst  einen  höhern  oder  nie- 
deren Werth  beilegen ;  und  während  wir  uns  gern  beschei- 


12 


den,  dass  manche  Vorliebe  für  besonders  geartete  Kunstge- 
nüsse auf  einer  zufälligen,  vielleicht  selbst  übel  geleiteten 
Neigung  unsers  Geinüths  beruhe,  fühlen  wir  dagegen,  dass 
in  andern  Fällen  ein  umfassenderes  und  werlhvolleres ,  un- 
bedingte Anerkennung  verlangendes  Streben  in  unserer  Be- 
urtheilung  des  Schönen  mitgesprochen  hat.  So  scheint  sich 
uns  nun,  während  die  gewohnten  Bewegungen  unsers  Ge- 
mülhes  mehr  und  mehr  sich  jener  Gestalt  und  Fügung  an- 
nähern ,  in  dtr  sie  der  höchsten  und  in  der  weitesten  Be- 
deutung heiligen  Beslininiung  des  Geistes  zu  dienen  vermö- 
gen, allmählich  auch  der  Werth  des  Gegenstandes,  dessen 
Eindrucke  dem  Ablauf  solcher  innern  Ereignisse  sich  an- 
schlibisst,  von  'Öem  einfachsten  Angenehmen  bis  zu  der 
Würde  der  höchsten  und  unbedingten  Schönheit  zu  stei- 
gern. 

Berühren  wir  jedoch  auf  diese  Weise  einen  der  Be- 
trachtung der  Kunst  auch  früher  nicht  fremden  Gedanken, 
dass  nämlich  alles  Schöne  seinen  Werth  und  sein  Wesen 
vom  Sittlichen  oder  Guten  erhalte,  so  soll  weder  dieser 
Salz  in  der  Beschränktkeit  seiner  Bedeutung ,  noch  in  der 
Unbestimmtheit  gelten,  in  der  er  oft  gelassen  worden  ist. 
Wie  kann  das  Schöne,  so  häufig  in  räumlichen  und  zeitli- 
chen Verhältnissen  aufblitzend,  denen  selbst  keine  bestimmte 
vorbildliche  Bedeutung  zu  geben  ist,  überhaupt  einen  Zu- 
sammenhang mit  Gesinnung  und  That  des  sittlichen  Gemüths 
haben '/ 

Gehen  wir  zunächst  von  demjenigen  Guten  aus,  auf 
welches  unsere  Betrachtung  zuerst  hinführte,  so  wird  man 
nicht  läugncn,  dass  von  der  mehr  oder  weniger  gleichmäs- 
sigen  Ausbildung  sittlicher  Vollkommenheilen  in  dem  ein- 
zelnen Gemüthe  sich  auch  eine  entsprechende  Art  des  Ver- 
laufes der  Vorstellungen  und  des  Wechsels  der  Gefühle  und 
Strebungen  entspinnen  wird.  Je  weniger  vielleicht  die  äus- 
sern Umstände  des  Lebens  einer  so  eigenthümlichen  Anlage 
Veranlassung  zur   Entfaltung  und  zum  übenden  Selbstgenuss 


13 


geben,  desto  mehr  wird  das  Gemüth  das  willkührliche 
Reich  der  Kunst  aufsuchen  ,  um  an  selbstgeschaffenen  Krei- 
sen von  Bedingungen  die  Macht  seiner  Stimmung  und  Hal- 
tung zu  prüfen'  und  sie  sich  zur  Anschauung  'zu  bringen. 
Und  so  mögen  auch  rückwärts,  wo  sie  sich  irgend  zeigen, 
die  Erscheinungen  jeder  Regsamkeit,  des  stetigen  Flusses  der 
Veränderungen  oder  des  plötzlichen  Abbruchs  und  eines  neu 
aufstürmenden  Anfangs,  kurz  alle  jene  Gestalten  des  üeber- 
ganges,  der  Verschmelzung  und  der  Gegensätze,  die  sich  als 
wichtige  Mittel  der  Darstellung  durch  alle  Künste  ziehen,  die 
Erinnerung  an  einen  eigenthümlichen  sittlichen  Zustand  der 
Seele  und  seinen  Werth  wiedererwecken.  Die  Go^S'alt  der 
herrschenden  Strebungen  trifft  jedoch  nicht  allein  den  Ab- 
lauf der  Vorstellungen  und  Gefühle ;  sie  zeigt  sich  auch  durch 
angeborne  Nothwendigkeit  in  äussern  leiblichen  Bewegun- 
gen, die  eine  Brücke  von  dem  geistigen  Werthe  des  Gedan- 
kens zu  der  sinnlichen  Darstellung  schlagen.  Zwar  auch 
ohne  dies  würden  einfache,  strenge  Zeichnungen  im  Räume, 
an  sich  bedeutungslos,  durch  den  wohlthuenden  Wechsel  der 
Anspannung  und  Ruhe,  den  sie  dem  umlaufenden  Auge  ge- 
währen, die  ersten  Spuren  einer  noch  spielenden  Schönheit 
verrathen ;  aber  wer  einmal  seine  eigene  Stimme  vom 
Schmerz  gebrochen  fand  und  die  bebende  Anspannung  der 
Glieder  in  unterdrücktem  Zorne  fühlte,  für  den  ist  das  sinn- 
lich Anschaubare  redend  geworden,  und  was  er  selbst  äus- 
serlich  kundzugeben  genölhigt  war,  wird  er  unter  jeder 
ähnlichen  fremdher  dargebotenen  Erscheinung  wieder  ver- 
muthen.  Man  darf  glauben,  dass  auf  solchen  Erfahrungen 
am  meisten  unsere  Beurtheilung  schöner  räumlicher  Umrisse 
beruht.  Wenn  es  immer  vergeblich  gewesen  ist,  für  die 
Schönheit  eines  solchen  Umrisses  eine  wissenschaftlich  be- 
rechenbare Bedingung  zu  finden,  so  rührt  es  daher,  weil 
er  nicht  durch  sich  selbst,  sondern  durch  unsere  Erinne- 
rungen wirkt.  Wer  einmal  eine  theure  Gestalt  unter  dem 
Gewicht  des  Grams   in  wehmüthiger  Ermattung  sich  beugen 


14 


und  sinken  sah ,  dem  wird  der  ümriss  solches  Neigens  und 
Bengens,  dem  Innern  Auge  vorschwebend,  die  Ausdeutung 
unendlicher  räumlicher  Gestalten  vorausbeslimmen ,  und  er 
wird  sich  fruchtlos  besinnen ,  wie  so  einfache  Züge  der 
Zeichnung  so  innerliche  Gefühle  in  ihm  anregen  konnten. 
In  den  Verschlingungen  der  Klänge  findet  jeder  sein  Gcmülh 
wieder  und  überschaut  seine  Bewegungen.  Schwerlich  ge- 
schähe dies,  triebe  nicht  eine  Vorherbestimmung  unserer 
leiblichen  Einrichtung  uns  an,  durch  Laute  unsern  Gefühlen 
einen  an  sich  unnützen  äussern  Ausdruck  zu  geben.  Mit 
den  Klängen  und  ihrem  Wechsel  verknüpft  sich  so  die  Er- 
innerung^ an  üebergänge  in  Grösse  und  Art  der  Strebungen 
und  (Tefühle ,  dilrch  die  getrieben  wir  dieselben  Laute  bil- 
den würden.  Ja  selbst  das  Andenken  an  das  Mass  und 
die  Anspannung  leiblicher  Thäligkeit  in  der  Jlervorbringung 
der  Töne  lehrt  uns  in  diesen  selbst,  und  ihrer  Höhe  und 
Tiefe  eine  Andeutung  grösserer  oder  geringerer  Kraft,  mu- 
thigcj'cn  oder  nachlassenderen  Strebens  zu  suchen.  Die 
räumlichen  Verhältnisse  der  Baukunst,  ihre  strebenden  Pfei- 
ler und  die  breitgelagerten  Lasten  über  ihnen  würden  uns 
nur  halb  verständlich  sein ,  wenn  wir  nicht  selbst  eine  be- 
wegende Kraft  besässen,  und  in  der  Erinnerung  an  gefühlte 
Lasten  und  Widci-stände  auch  die  Grösse,  den  Werth  und 
das  schlummernde  Selbstgefühl  jener  Kräfte  zu  schätzen 
wüssten,  die  sich  in  dem  gegenseitigen  Tragen  und  Getra- 
genwerden des  Bauwerks  aussprechen.  So  bildet  also  das 
leibliche  Leben,  mit  Noth wendigkeil  Inneres  durch  äussere 
Erscheinungen  auszudrücken  treibend,  einen  Uebergang  zum 
Verständniss  sinnlicher  Gestalten  und  Umrisse,  und  selbst 
das  Sittliche,  zunächst  ein  Gleichgewicht  der  Slrcbungen, 
dann  eine  bestimmte  Weise  des  Ablaufs  innerer  Ereignisse 
bedingend ,  wird  zuletzt  in  jenen  sinnlichen  Bildern  Ver- 
wandtes und  Aehnliches  auffinden  können. 

l'nd  eben   so   finden   wir    auf  der  andei'n   Seite,    dass 
die  Erinnerung  den  Inhalt  eines  allgemeinen  BegrifTes  weder 


15 


seiner  Geslalt  noch  seinem  Werlhe  nach  anders  festhalten 
kann,  als  indem  sie  irgend  ein  einzelnes  Beispiel  versinnli- 
chend  an  seine  Stelle  setzt,  das  freilich  ebenso  sehr  in  sei- 
ner Einzelheit  wieder  aufgehoben  werden  muss.  Nach  dem 
vorwiegenden ,  zugänglichen  Beobachtungskreise  wird  der 
Begriff  des  Thieres  dem  Einen  diese,  dem  Andern  eine 
andere  einzelne  Thiergestalt  annehmen,  und  nicht  minder 
werden  wir  die  Vorstellung  irgend  eines  Guten,  Heiligen  und 
WerthvoUen  nie  anders  fesseln  können,  als  dass  wir  un- 
serer Erinnerung  das  Bild  irgend  einer  erhabenen  oder  se- 
ligen Begehung  darbieten,  in  deren  erneutem  Anschauen 
jene  Gefühle  eine  verjüngende  Quelle  finden^ 

So  führen  uns  mannigfaltige  Ueberlegungen  dahin,  schön 
das  zu  nennen .  dessen  Eindruck  nicht  überhaupt  nur  mit 
irgend  einer  Innern  Ereignissreihe ,  sondern  wesentlich  mit 
demjenigen  Gefüge  des  Ablaufs  übereinstimmt,  das  unsere 
Vorstellungen  und  Strebun^en  unter  der  alleinigen  Herrschaft 
unserer  sittlichen  Bestimmung  annehmen.  Und  diese  Mei- 
nung erläutert  noch  einen  Umstand,  der  ihr  selbst  zur  rück- 
wirkenden Ergänzung  dient.  Weit  allgemeiner  und  jedem 
Menschen  zuzumuthen  ist  die  richtige  Beurtheilung  des  Sitt- 
lichen als  die  des  Schönen.  Denn  die  letzlere  setzt  jene 
Beweglichkeit  des  Gemüthes  und  der  Einbildungskraft  vor- 
aus, die  nicht  nur  im  Stande  ist,  den  nackt  ausgesprochenen 
sittlichen  Wahrheilen  sich  zu  unterwerfen,  sondern  die  auch 
in  der  Verhüllung  äusserlicher  sinnlicher  Gestalten  und  Be- 
gebenheiten mit  feinfühlender  Erkenntniss  jene  Anklänge 
aufzuspüren  vermag,  die  durch  mancherlei  Vermittlungen 
auf  das  strenge  Sittliche  zurückdeuten.  Eine  solche  Beweg- 
lichkeit und  Empfänglichkeit  rechnen  wir  nicht  zu  den  Pflich- 
ten des  Menschen.  Von  seiner  Sittlichkeit  verlangen  wir 
nur,  dass  sie  seine  Handlungen  durch  eine  vernünftige  Lei- 
tung des  Willens  beherrsche:  nicht,  dass  sie  auch  wisse, 
wie  in  allem  Seienden  Verhältnisse  wirken  und  aufblühn, 
die   von   einem   seienden  Guten,  nicht  blos    von  einem  Ziele 


16 


der  Handlungen,  Zeugniss  geben.  Doch  urtheilcn  wir  nicht 
allein  so.  Vielmehr,  wenn  ^\ir  auch  dem  Willen  der  mit 
der  Erfüllung  jener  Vorschriften  sein  Ziel  erreicht  zu  haben 
meint,  keinen  Vorwurf  machen,  so  schätzen  wir  doch  den 
Werth  eines  Lebens  selbst,  das  recht  und  schlecht,  den  an- 
kommenden Gelegenheiten  folgend,  einzelne  sittliche  Hand- 
lungen erzeugte,  geringer  als  ein  anderes,  das  ausserdem 
seine  Stellung  ,in  der  Welt  und  ihrer  umfassenderen  Ord- 
nung begriff,  und  selbständig  ausblickend,  auch  die  Ereig- 
nisse, einem  Ziele  gemäss,  zu  gestalten  strebte,  das  in 
jener  einfachen  inneren  Gesetzgebung  nicht  verkündigt  ist. 
So  meJRen  wir  denn,  dass  es  für  eine  höhere  Bedeutung 
des  geistigen  Lebens  nicht  hinreiche,  den  allgemeinen,  ge- 
genstandlosen Anforderungen  der  Sittlichkeit  allein  zu  genü- 
gen, selbst  nicht  ihre  vereinzelten  Züge  in  einen  gemeinsamen 
Einklang  des  Gemüths  zu  vereinigen;  vielmehr  gilt  es  uns 
selbst  für  einen  höhern  Ernst  der  Sittlichkeit,  zugleich  auf  das 
zu  achten ,  was  in  den  Ereignissen  und  dem  Seienden  lebt 
und  webt  und  einem  späteren  Ziele  enlgegenreift ;  und  ein 
leiser  Schalten ,  wenn  auch  kein  Tadel ,  fällt  in  unserer  Be- 
urtheilung  auf  das  Gemüth  zurück,  das  nach  den  W^orten 
eines  alten  Dichters  gut  zu  leben  glaubt,  wenn  es  still  ver- 
borgen lebte,  ohne  den  Selbstgenuss  seines  innern  Frie- 
dens mit  dem  Bewusstsein  seiner  Stellung  zu  dem  Ganzen 
der  Wirklichkeit  zu  vereinigen.  Was  wir  hier  dem  thätigen 
Geiste,  das  werden  wir  ähnlich  auch  dem  empfänglichen  zu- 
muthen  dürfen  ,  und  eine  völlige  Unfähigkeit  zur  Auffassung 
der  Schönheit,  dieses  Widerscheins  des  Sittlichen  im  Seien- 
den, wird  nur  eine  ähnliche  ungleichmässigo  Ausbildung 
des  sittlichen  Geistes  selbst  zu  verrathen  scheinen. 

Lassen  wir  nun  diese  erweiterte  Ansicht  vom  Sittlichen 
gelten,  so  wird  es  uns  deutlich  werden,  dass  nicht  allein 
dasjenige  uns  schön  erscheint,  das  durch  seine  Gestalt  Er- 
innerungen an  Handlungen  und  ihren  sittlichen  Gehalt  in  uns 
erweckt,  sondern  auch  das,  was  harmlos  ein  durchdringen- 


17 


des  Walten  natürlicher  Kräfte  und  enie  höheren  Gesetzen  oder 
seiner  eigenen  Natur  treue  Entwickelung  darstellt.  Nicht 
nur  das  Handeln  füllt  die  menschliche  Bestimmung  aus; 
auch  der  Erkenntniss  mag  ein  Urbild  vorschweben ,  in  dem 
die  Mannigfaltigkeit  des  Gegebenen  unter  Beziehungen  verei- 
nigt ist,  auf  die  selbst  in  unserer  gewöhnhchen  Beurtheilung 
wenigstens  ein  Streiflicht  der  sittlichen  Werthgebung  fällt.  Der 
Gedanke  der  Einheit  ist  so  einer  jener  Begriffe,  von  dem  wir 
einen  gewissen  Werth  nicht  trennen  können,  der  ihm  vielleicht 
freilich  eben  so  wenig  an  sich  zukommen  mag,  als  andern 
Tbeilen  der  Erkenntniss,  sondern  der  uns  vielmehr  nur  den 
Abglanz  einer  höheren  Bedeutung  vorführt_^  Ist  d-5ch  Ein- 
heit selbst  ein  für  sich  leerer  und  anwendungsloser  Begriff, 
der  seinen  Sinn  erst  durch  Angabe  der  Ganzheit,  oder  der 
Beziehung,  oder  des  Zweckes  oder  des  Ursprungs  erhält, 
wodurch  das  Verschiedene  vereinigt  sein  soll.  Dies  aber 
eben  ist  die  Natur  des  Schönen,  dass  es  den  bestimmten 
Inhalt,  von  dem  aus  auf  manche  Gestalten  und  Verbindungs- 
weisen ein  hoher  Werth  übergieng ,  verschweigt,  und  oft 
mit  den  Formen  allein  spielend,  uns  unvermerkt  verlockt, 
ihnen  denselben  Gehalt  und  die  Würde  desjenigen  zuzule- 
gen, dessen  Erinnerung  sie  in  uns  anregen.  Kunst  und 
Natur  reizen  daher  auch  durch  Mittel,  die  an  sich  nur  der 
Erkenntniss  anzugehören  scheinen,  durch  Verknüpfung  der 
Mannigfaltigkeit  zu  durchblickenden  Einheiten,  durch  den 
Gang  der  Gesetze  über  dem  hinfälligen  Einzelnen ,  durch 
die  stille  und  unbefangene  natürliche  Entwicklung  jedes 
Keimes;  und  oft  mag  hier  der  nachsinnende  Verstand  die 
Gründe  in  dem  schönen  Gegenstande  nicht  mehr  finden,  die 
in  ihm  die  Lust  erregen:  oft  auch  versetzt  sich  ein  ahnen- 
des Mitgefühl  in  diese  Triebe  der  Entwicklung  und  macht 
das  fremde  Ereigniss  zu  einem  eignen ,  an  dem  es  ohne 
Theilnahme  nicht  mehr  vorübergehn  kann. 

Wenn    dies    Spielen   mit  Gestalten,    die   einem    höhern 
Inhalte   des   Guten   an   sich  zugehören,    das  Eigenthümliche 


18 


des  Schünen  ist,  so  erscheint  es  in  einer  niedrigeren  Stel- 
lung dem  Ernste  des  Guten  selbst  gegenüber.  Während 
die  Urbilder  des  Letzten  zugleich  Mahnungen  und  Forderun- 
gen an  das  Bewusstsein  stellen,  lädt  das  Erste  nur  zum 
Genüsse  ein.  Dennoch  ist  die  Seligkeit  des  Schünen  keine 
eigensüchtige;  aber  es  ist  mehr  mit  dem  Heiligen  als  mit 
dem  Guten  verwandt.  Das  Gute,  in  einzelnen  Handlungen 
sich  erschöpfend,  hat  seinen  Werth  der  Gesinnung  zwar  in 
sich  selbst ;  aber  es  erscheint  auf  ein  einzelnes  Verhältniss 
bezogen,  in  dessen  Festhaltung  oder  Aenderung  der  Ge- 
winn ruht,  den  die  sich  vollziehende  gute  That  der  Ge- 
saramthelit  des  Oaseins  zubringt.  Diese  Nebenrücksicht  hat 
das  Schöne  von  sich  abzuhalten;  ohne  auf  irgend  einen 
Zweck  bezogen  zu  sein,  dessen  Erfüllung  trotz  aller  Güte 
der  Gesinnung  oft  zu  unbedeutend  dem  Ganzen  der  Welt 
und  dem  Sinne  des  Weltlaufs  gegenüber  sein  würde,  hat 
es  nur  eben  die  Gesinnung  selbst,  theils  in  der  Bewegung 
eines  Gemüths,  theils  in  den  Gestalten  des  Seienden  zu  ei- 
nem ruhenden  Ergebniss  gekommen  darzustellen.  W^ie  die 
älteste  schöne  Kunst  der  Griechen  ihre  Götter  bildete,  herr- 
lich durch  ihr  eignes  Wesen  und  Dasein,  in  sich  versun- 
ken, und  von  allem  Lärm  strebender,  ausdrucksvoller  Be- 
ziehungen nach  der  übrigen  Welt  abgewandt,  so  verschmilzt 
auch  das  Schöne  in  seiner  höchsten  Gestalt  nicht  mit  dem 
kämpfenden  in  einzelnen  Thaten  ringenden  Guten,  sondern 
mit  dem  ruhenden  Heiligen ,  das  über  der  Erreichung  aller 
einzelnen  Zwecke  schwebend  in  ewiger  Entfaltung  nur  die 
Fülle  seines  eignen  seligen  Wesens  entwickelt.  Darum  ist 
die  Pein  des  Sollens  und  der  Zwecke  von  dem  Schönen 
genommen ,  und  wenn  es  uns  einerseits  durch  sein  Spiel 
an  die  Handlungen  erinnert,  in  denen  unsere  kämpfende 
Tugend  sich  bewähren  kann,  so  ist  es  anderseits  dieses  be- 
stehende Gute,  das  aus  der  Welt  nie  verschwindet,  wie 
lief  auch  ihre  innern  Gegensätze  seiner  aligegenwärtigen  Er- 
scheinung widerstreben  mögen. 


19 


II. 

Der  Flüchtigkeit  wechselnder  Stimmungen  ,  der  Unbe- 
ständigkeit vorübergehender  Ereignisse ,  die  das  einzelne 
Gemüth  zufällig  bewegen ,  haben  wir  das  Schöne  bis  jetzt 
entreissen  können;  allein  das  Bedürfniss,  das  uns  auf  diese 
Weise  das  Schöne  vom  Angenehmen  trennen  hiess ,  treibt 
uns  noch  weiter  ,  auch  hierin  keine  Befriedigung  zu  finden. 
Muss  alle  Seligkeit  und  aller  Genuss  und  Werth  des  Schö- 
nen in  den  geniessenden  Geist  gelegt  werden  ,  was  bleibt 
dem  schönen  Gegenstande?  Nur  die  Möglichkeit,  in_  einem 
ihm  seihst  zufälligen  Zusammenstoss  mit  den^  Geiste  die  un- 
schuldige Veranlassung  zu  dem  Ablauf  einer  Gefühlsreihe  zu 
werden.  Nicht  der  Gegenstand  mehr  wird  schön  sein  in 
dem  Sinne ,  dass  die  Innigkeit  des  Werths ,  die  wir  bei 
diesem  Namen  empfinden ,  ihm  selbst  zukäme  ;  sondern  Ei- 
genschaften und  Verhältnisse  von  Eigenschaften,  an  sich  so- 
wohl als  vor  dem  blos  erkennenden  Verstände  völlig  gleich- 
giltig  ,  bilden  sein  Wesen  ,  und  erst  wenn  ein  äusserliches 
Schicksal  dieses  Gleichgiltige  in  Berührung  bringt  mit  dem 
lebendigen  Geiste,  mag  dieser  so  angeregt,  die  eigene  Wär- 
me seines  Gefühls  täuschend  auch  über  das  kalte  Licht  der 
anregenden  Gestalt  verbreiten.  Zweierlei  ist  es  ,  was  hier 
uns  beleidigt,  beides  mit  ungleichem  Rechte.  Zuerst  näm- 
lich ist  es  eine  häufig  wiederkehrende  Erscheinung  ,  dass 
der  Gedanke  einer  geringern  Würde  sich  mit  alle  dem  ver- 
knüpft, was  sein  Dasein  nur  im  Geiste  hat:  fast  rechnen 
wir  es  nicht  mehr  zu  dem  Thatbeslande  des  Gegebenen  mit. 
Allein  wenn  wir  auch  unvermögend  sind ,  unsern  Vorstellun- 
gen dieselbe  Festigkeit  und  Unabhängigkeit  des  Daseins  zu 
geben  ,  die  den  Dingen  zukommt ,  so  fällt  doch  das  Gedachte 
damit  nicht  ausserhalb  des  Weltalls,  weil  der  Ort  seines 
Daseins  das  Bewusslsein  ist ,  das  sich  aus  andern  Gründen 
freilich  der  Welt,  in  der  es  mitbefasst  ist,  gegenüberzustel- 
len  pflegt.       Wünschen    wir   daher   unserer  Vorstellung    der 

2* 


20 


Schönheit  Giltigkeit.  so  ist  es  nicht  nölhig,  sie  dadurch  er- 
zwingen zu  wollen ,  dass  wir  sie  als  eine  anhaftende  Eicen- 
Schaft  wirklicher  Dinge  betrachten  ,  sondern  das  Bedürfniss, 
dessen  Befriedigung  wir  mit  Recht  in  jenem  Wunsche  ver- 
langen, ist  das  einer  Ablösung  des  Schönen  von  den  zu- 
fälligen Ereignissen  unserer  einzelnen  Wirklichkeit  und  seiner 
Zurückfuhrung  auf  ein  im  Laufe  der  Dinge  an  und  für  sich 
wcrthvolles  Yerhältniss.  Wird  der  das  Schöne  geniessende 
Geist  innerlich  zum  Genüsse  selbst  durch  ein  allgemeines 
Schicksal  der  Geister  gelenkt,  das  diese  Erscheinung  einer 
uneigennützig  seligen  Lust  in  ihm  hervorhebt,  so  ist  diese 
Gilligke'it  der  Schönheit  von  nicht  minderem  Werth,  als 
wäre  sie  in  einer  wirklichen  Beschaffenheit  der  äussern 
Welt  zu  suchen.  Ansichten  solcher  Art,  die  den  Werth 
alles  Innerlichen  verkennen,  beruhen  auf  jener  abgöttischen 
Verehrung ,  die  so  Viele  dem  an  sich  werthlosen  Begriffe 
der  Wahrheit  zollen,  anstatt  dem  Inhalte  der  Wahrheit;  und 
die  deshalb  auch  im  Stande  ist,  eine  letzte  allem  zu  Grund 
liegende  Wahrheit  zu  denken,  deren  Aussage  jeder  Würde 
und  Bedeutung  entbehrt,  ihrer  Thatsächlichkeit  und  Unverän- 
derlichkeit  allein  sich  freuend.  Von  so  verworrenen  Anfän- 
gen an  kann  man  die  dann  fast  von  selbst  sich  verstehende 
Voraussetzung  machen,  dass  alles  Erkennen  dazu  bestimmt 
sei,  der  Wahrheit  oder  dem  Wesen  der  Dinge  nachzujagen; 
ein  Satz,  der  richtig  ist,  so  lange  Wahrheit  und  Wesen  jenen 
selbst  schon  werthvollen  Kern  der  Wirklichkeil  bezeichnen, 
aus  dem  alles  Gefüge  der  Welt  allein  bcgiiffen  werden 
kann,  der  aber  widersinnig  wird,  indem  er  befiehlt,  dasje- 
nige, was  da  denke,  solle  sein  Ziel  darin  sehn,  ein  Spie- 
gel zu  sein  für  dasjenige,  was  nicht  denkt.  So  werden 
denn  zwei  verschiedene  Ansichten  unsere  Beurtheilungen 
überhaupt  beherrschen;  die  eine,  die  den  Werth  aller  Ge- 
danken nicht  in  ihrem  Inhalte,  sondern  in  der  Gewissheit 
richtiger  Nachahmung  eines  andern  sucht,  die  zweite,  die 
unbekümmert  darum,    ob   ihre  Begriffe   ausser  dem  lebendi- 


21 


yeu  Dasein  im  Geiste  noch  des  todten  Vorliandenseins  der 
Wirklichkeit  geniessen,  sich  ihres  Inhaltes  und  ihres  Sinnes 
erfreut,  wie  sie  in  eine  für  die  lebendige  Erkenntnlss  aller 
Geister  bedeutungsvolle  Reihe  eintreten.  So  mag  der  Na- 
turforscher immerhin  uns  das  Dasein  der  Farben  aus  der 
äussern  Wirklichkeit  hinwegstreiten  und  sie  in  das  empfin- 
dende Auge  allein  versetzen:  unsere  Sinnlichkeit  wird  sich 
ihrer  Täuschung  nicht  schämen;  aus  den  Wellenbewegun- 
gen des  äussern  Lichts  bringt  sie  allerdings  mit  neuem  An- 
fange die  Pracht  der  Farben  hervor,  aber  überzeugt,  in 
ihrem  Spiel  und  Einklang  ein  Höheres  erreicht  zu  haben,  als 
die  farblosen  Bewegungen,  die  ausser  uns  der^unermesslichen 
Raum  durchkreuzen.  Und  so,  möchten  die  Verhältnisse  des 
Gegenstands  noch  so  gleichgiltig,  noch  so  unähnlich  dem 
Eindrucke  sein,  den  sie  auf  uns  machen,  so  wird  doch  die 
genossene  Schönheit  auch  als  blosses  Ereigniss  im  Geiste, 
ihre  eigenthümliche  Wahrheit  und  Berechtigung  in  sich  tragen. 
Mit  anderem  und  besserem  Rechte  drängt  sich  uns  der 
zweite  Zweifel  auf.  Ist  nicht  unsere  Lust  an  der  Schönheit 
und  unsere  Vorstellung  über  sie  von  der  Art,  dass  die  Ge- 
sammtheit  unserer  Weltansicht  in  unheilbare  Verwirrung  gerie- 
ihe,  wenn  wir  sie  nur  als  ein  Ereigniss  in  uns,  nicht  als  in  den 
Dingen  ihrem  Wesen  nach  vorherbestimmt  ansehn  dürften  ? 
Können  wir  die  Seligkeit  des  Genusses  der  übrigen  Welt 
entziehn,  und  welches  eigenthümliche  an  sich  werthvolle 
Ziel  sollte  wohl  das  Seiende  verfolgen,  wenn  es  gegen 
alle  Schönheit  gleichgiltig,  diese  nur  vorübergehend  in  ei- 
nem zufälligen  Zusammenstoss  mit  dem  empfindenden  Geiste, 
selbst  dann  noch  scheinbar,  erlangte?  Gewiss,  hängen  wir 
dem  Gedanken  der  Schönheit  nach ,  so  meinen  wir  in  ihr 
das  zu  fassen ,  was  als  eigentlich  belebender  Kern  alles 
Seiende  durchdringt,  und  nicht  nur  sie  selbst  würde  in  ih- 
rem Werthe  leiden,  wenn  sie  diese  Allgegenwärtigkeit  nicht 
besässe ,  sondern  auch  die  Welt  der  Dinge  w  iderstreitet  un- 
scrm  Gefühle,  die  aller  inncrn  regsamen  Schönheit  ledig  wäre. 


22 


Auch  hier  zeigt  sich  eine  schon  früher  bemerkte,  und 
später  noch  weiter  zu  betrachtende  Erscheinung.  Für  uns 
hat  nur  das  nachhaltigen  wahren  Werlli,  worein  wir  uns  zu 
versetzen ,  dessen  Dasein  wir  mitfühlend  nachzugeniessen 
im  Stande  sind.  So  sehr  ist  unser  Begriff  von  Schönheit 
auf  ein  ahnendes  und  liebendes  Mitgefühl  fremder  Entwick- 
lung bezogen,  dass  uns  eine  Welt  widersinnig  erscheint,  die 
selbst  trocken  und  bedeutungslos  nur  den  künstlichen  Vor- 
kehrungen hinter  den  Wänden  der  Bühne  zu  vergleichen 
wäre,  durch  die  wir  uns,  wenn  wir  sie  sorgsam  verhüllen, 
eine  flüchtige,  gern  geglaubte  Täuschung  schaffen.  Und 
doch  vv^rde  eiije  solche  Ansieht  noch  dem  Seienden  mehr 
zugestehn  als  jene,  die  ohne  alle  weitere  Ableitung  Ur- 
theile  der  Billigung  und  Missbilligung  auf  Verhältnisse  fallen 
lassen,  in  deren  Thatbestand  keine  Erkenntniss  einen  An- 
spruch auf  solche  Beurtheilung  nachweisen  kann.  Wir  würden 
wenigstens  den  Dingen  nicht  erst  durch  einen  ihrer  Natur 
unwesentlichen  Zufall  der  Berührung  mit  dem  Geiste  einen 
Anflug  der  Schönheit  zuschreiben,  sondern  von  Anfang  an 
wäre  ihre  Gestalt  und  Einrichtung  dazu  geschaffen,  wenig- 
stens als  Mittel  zu  einem  Erfolge  zu  dienen,  dessen  Selig- 
keit sie  mitzuempfinden  nicht  vermöchten.  Allein  eine  sol- 
che Zusammcnschliessung  der  Dinge  mit  der  Schönheit  gc- 
wiihrt  kaum  eine  halbe  Befriedigung;  denn  immer  würde 
ein  fremder  Geist  und  seine  Gedanken  über  diesen  leblosen 
Mitteln  schweben,  und  was  sie  leisteten,  würde  nicht  ihrer 
Natur  freiwillig  entquellen ,  noch  jene  liebevolle  Thcilnahme 
des  Gemülhs  auf  sich  ziehn ,  die  so  gern  auf  dem  Gegen- 
stande des  schönen  Gefühls  verweilt. 

Wir  veilangen  vielmehr  ein  Doppeltes.  Nicht  allein, 
dass  die  Kräfte,  die  dem  Gegenstande  die  schönen  Verhält- 
nisse geben,  als  seine  eignen,  ihm  Dasein,  Wesen  und  Ent- 
wi(-kelung  bestimmenden  Thätigkeiton  gelten,  sondern  auch, 
dass  die  Schönheit,  die  in  der  unendlichen  Mannigfaltigkeit 
der  Dinge  ebenso  mannigfach  erscheint,    doch  als  Eine,    sie 


23 


alle  belebende  betrachtet  werde ;  so  dass  nicht  zersplitterte 
Uebereinstimmungen  zwischen  den  Dingen  und  uns  eben  so 
einzelne  Schönheiten  ergeben,  wie  etwa  die  Nützlichkeit  der 
Gegenstände  jeder  Vereinigung  in  einen  gemeinsamen  Be- 
griff widersteht,  da  sie  eben  nur  auf  zufällige,  vereinzelte 
Beziehungen  begründet  ist. 

Solche  Bedürfnisse  geben  den  Schein,  als  wären  sie 
am  besten  und  leichtesten  durch  den  dunklen  Begriff  eines 
Ewigen  und  Unbedingten  zu  befriedigen,  das  in  sich  für  die 
Erkenntniss  dit  Merkmale  eines  über  Gedanken  und  Wirk- 
lichkeit gleichmässig  übergreifenden  Daseins ,  der  durch  die 
mannigfaltigsten  Erscheinungen  nicht  gebrochenen  Einheit  in 
sich,  und  zugleich  für  das  werthsetzende  Gefühl  die  Be- 
zeichnung der  höchsten  Würde  zu  vereinigen  scheint.  So 
erschiene  die  Schönheit  als  einer  der  Züge,  durch  die  sich 
dies  Unbedingte,  ohne  überall  sich  selbst  zu  verlieren,  doch 
in  unendlich  mannigfaltiger  Gestaltung  ausspricht,  und  Nichts 
würde  diesem  Gedanken  weiter  fehlen  als  die  Beairünduna; 
seiner  möglichen  Giltigkeit  und  die  Hinwegräumung  der 
Schwierigkeiten,  die  die  Erkenntniss  einem  solchergestalt 
gefassten  Begriffe  entgegensetzt.  Es  ist  jedoch  nicht  nöthig, 
alle  diese  Schw  ierigkeiten  hier  zu  berühren ,  denn  es  zeigt 
sich  sogleich,  dass  jenes  Unbedingte,  auf  die  Schönheit  be- 
zogen, weder  als  ein  unendliches  Seiende  in  Gestalt  eines 
Stoffes,  noch  als  eine  anhaftende  Eigenschaft,  ja  selbst  nicht 
einmal  als  eine  belebende  und  wirkende  Kraft  zu  fassen 
sein  würde.  Das  Schöne  zeigt  sich  überall  nicht  als  Ge- 
schehen selbst,  sondern  als  die  Gestalt  eines  Geschehens, 
sei  es  nun,  dass  das  Ereigniss  selbst  noch  in  seinem  Wer- 
den vor  uns  tritt,  oder  dass  zum  Gleichgewicht  und  zur 
Ruhe  gekommne  Verhältnisse  in  unserer  Auffassung  sich  w  ie- 
der  in  eine  bewegte  Zeitreihe  auflösen  oder  uns  veranlas- 
sen, den  Geschichten  nachzudenken,  deren  Ablauf  auf  dem 
ruhigen  Spiegel  der  Erscheinung  seine  Spuren  zurückgelas- 
sen hat.     Diese  Betrachtung  mildert  die  Schwierigkeiten  un- 


24 


scM'cr  Aufgabe.  .Icdos  eine  Urbild  des  Schönen,  jene  Schön- 
heit selbst,  die  ewig  sich  gleich,  doch  in  der  Mannigfaltig- 
keit der  schönen  Gegenstande  unendlich  verschieden  ist, 
wird  weder  selbst  ein  Gegenstand,  noch  eine  Eigenschaft, 
noch  eine  Kraft  sein,  sondern  ein  Ereigniss  oder  Schicksal, 
das  dem  Verscbiedncn  auf  höchst  vcrschiednc  Weise  zu- 
stosscn  kann,  ohne  doch  in  dein,  was  seine  eigenthümlichc 
Natur  ausmacht,  in  seinem  Sinne  und  in  der  Bedeutung, 
die  ihm  in  der  Reihe  der  Ereignisse  zukommt,  je  verändert 
zu  werden.  So  wie  die  verschiedensten  Stoffe  der  Natur, 
ohne  Widerspruch  gegen  ihr  eigenthümliches  Wesen,  ge- 
meinschaftlich di,',nselben  Gesetzen  der  Bew'egung  unterwor- 
fen sind,  so  wird  auch  dieselbe  Eine  Schönheit  sich  über 
die  unbegrenzte  Verschiedenheit  der  durch  keine  Gleichheit 
der  Merkmale  oder  der  Verhältnisse  zusammengehaltenen  Dinge 
erstrecken  können,  ohne  als  Schicksal  gefasst,  die  Wider- 
sprüche in  sich  zu  hegen  ,  die  jeder  andern  Fassung  unver- 
meidlich anhaften.  Soll  daher  das  Wesen  der  Schönheit 
der  Erkenntniss  näher  gerückt  werden,  so  muss  man  be- 
denken ,  dass  ihr  Wesen  in  ihrer  Bedeutung  beruht.  Darum 
wird  es  von  ihr  keinen  Begriff  geben ,  der  durch  Merkmale 
und  deren  Verknüpfungen  ein  unfehlbares  Gesetz  ihrer  Ver- 
zeichnung darböte,  denn  Merkmale  sind  gleichgiltig  für  sie; 
es  wird  von  ihr  keine  Vorstellung  geben,  welche  sie  als 
eine  unveränderliche  Beschaffenheit  eben  so  festhielte,  wie 
andere  Vorstellungen  etwa  der  sinnlichen  Farben  unwandel- 
bar feststehn,  denn  jeder  Hintergrund  an  dem  sie  er- 
scheint, ist  ihr  gleichgiltig;  sie  wird  selbst  in  der  Anschau- 
ung eines  Verhältnisses  nicht  gefunden  werden,  denn  aller 
berechenbaren  Verhältnisse  spottet  sie.  Sie  kann  nur  als 
Gedanke  gefasst  werden;  mit  diesem  Namen  bezeichnet 
die  deutsche  Sprache  besser  als  mit  dem  fremdher  entlehn- 
ten Namen  der  Idee  einen  Inhalt,  dessen  einziger  zusam- 
menhaltender Kern  in  dem  Sinne,  der  Bedeutung  oder  dem 
Werthc  besteht,   der  in  unendlich  verschiedenen  durch  keine 


25 


Gleichheit  des  äussern  Ansehns  oder  der  Entstehung  zusam- 
mengehaltenen Erscheinungen,  in  ihnen  allen  wesentlich 
gleich  bleibend,  sich  ausdrücken  mag;  einen  Inhalt  ferner, 
der  nicht  ein  ruhendes  Dasein,  aber  auch  nicht  eine  Bezie- 
hung mit  einem  unveränderlichen  Thatbestande,  sondern  ein 
Schicksal  ist  oder  ein  Ereigniss ,  das  um  seines  eignen  We- 
sens willen  werthvoll,  seine  Bedeutung  nicht  von  dem  er- 
hält, dem  es  zustüsst.  Den  Gedanken  Gottes  vermögen  wir 
von  dem  Begriff  Gottes  zu  trennen ,  in  dem  ersten  den 
Sinn,  den  Werth  und  die  Bedeutung  der  Beweggründe  zu- 
sammenfassend, die  diesen  Aufschwung  unsers  Gemüths  zu 
dem  Höchsten  veranlassen,  und  es  selbst  m  seineir  durch- 
dringenden Gegenwart  und  dem  Werth  seiner  Bedeutung 
erfassend ,  mit  dem  letzten  aber  diesen  Gehalt  durch  Mittel 
der  Erkenntniss  so  stützend ,  dass  die  Art  seiner  Wirklich- 
keit und  das  feststehende  Ganze  unveränderlicher  Eigen- 
schaften daraus  hervorgeht. 

Das  Bedürfniss  ,  der  Schönheit  eine  Wirklichkeit  zu  si- 
chern, grösser  als  diejenige,  die  sie  als  eine  Erscheinung 
in  dem  einzelnen  Geiste  geniesst,  hat  uns  auf  diese  Betrach- 
tungen geführt.  Wir  können  nicht  ein  Schönes  an  sich  oder 
die  Schönheit  selbst  in  Gestalt  eines  Gegebenen  ausser  uns 
suchen,  sondern  dieses  Eine,  das  in  unendlicher  Mannigfal- 
tigkeit nie  sich  selbst  verliert ,  konnte  nur  der  Sinn  eines 
Geschehens  ,  ein  Gedanke  sein.  Zu  diesem  inhaltlosen  Um- 
riss ,  der  nur  fremdartige  Voraussetzungen  abwehren  kann, 
haben  wir  jetzt  den  eigenthümlichen  Gehalt  hinzuzusuchen. 
Kein  gleichgiltiges  Ereigniss  kann  der  Schönheit  zu  Grunde 
liegen  ,  sondern  ein  solches  ,  dessen  Gedanke  selbst  sich  au 
einer  bedeutungsvollen  Stelle  unter  jenen  Urbildern  alles  Ge- 
schehens vorfindet,  die  das  Letzte  und  Höchste  unserer  ge- 
sammten  Erkenntniss  bilden.  Können  wir  zeigen  ,  wie  die 
schönen  Gestalten  und  die  schönen  Begebenheiten  dazu  be- 
rufen sind  ,  einen  jener  Zwecke  zu  erfüllen ,  die  der  ganzen 
Welt  gestellt   sind ,    und  ist  so  das  Schöne  noch  in  anderer 


26 


als  der  fi  ülier  belracbteteD  Weise  mit  dem  Guten  zusammen- 
zuscliliessen ,  so  hat  es  in  dieser  seiner  Bedeutung  für  das 
Ganze  der  Welt  jene  übergreifende  Giltigkeit  und  Wirklich- 
keit ,  die  ihm  ein  abgesondertes  äusseres  Dasein  noch  nicht 
verschafTt  hätte. 


III. 

Betrachtungen  über  das  Schöne  bedürfen  in  einer  Zeit, 
die  wie  die  unsrige,  genährt  von  den  Anschauungen  des 
Alterthunis  und  durch  eine  eigne  grosse  Kunstenlwicklung 
gehoben ,  von  ^er  Bedeutung  der  Schönheit  auch  wissen- 
schaftlich durchdrungen  ist,  einer  doppelten  Nachsicht.  Sie 
vermögen  einestheils  nirgend  ein  Land  aufzuschliessen ,  des- 
sen Schätze  noch  ungeahnt  wären ,  sondern  müssen  sich 
begnügen  ,  auf  einem  aus  andern  Gründen  liebgewordenen 
Wege  zu  einer  Aussicht  auf  den  Gegenstand  zu  führen ,  die 
dann  doch  immer  nur  dem  schon  Sehenden  geöfTnet  sein 
wird.  Denn  dies  ist  das  Zweite,  was  jede  wissenschaftliche 
Betrachtung  über  das  Schöne  bitten  muss  ;  dass  man  ihre 
Aufgaben  nicht  mit  denen  der  Kunst  selbst  verwechsle.  Jede 
BegrifTsbestimmung  der  Schönheit  wird  ihren  Zweck  erfüllt 
haben,  wenn  sie  von  mancherlei  Seiten  her  jenem  Standorte 
zustrebt  und  zuführt ,  von  dem  aus  sich  die  Bedeutung  der 
Schönheit  überblicken  lüsst.  Aber  die  Innigkeit  und  der 
Werth  der  Schönheit  wird  in  solchen  Begriffen ,  da  er  selbst 
über  alle  Begriffe  hinausgeht ,  ebensowenig  enthalten  sein 
können,  als  wir  anderseits  im  Stande  sind,  das  was  unter 
dem  Begriffe  bleibt ,  die  sinnliche  Anschauung  z.  B.  der  Far- 
ben anders  als  dadurch  zu  verdeutlichen,  dass  wir  die  Reihe 
der  Bedingungen  aufzählen,  unter  denen  sie  erscheint,  und 
so  den  Andern  in  den  Stand  setzen,  das  sonst  Unmittheil- 
bare  zu  eigner  Anschauung  in  sich  vviederzuerzeugen. 

Uebcrlegen  wir  nun ,  wie  das  Seiende  durch  Theilnah- 
ine   an   einem    allgemeinen  Zuge  weltbeherrschender  Schick- 


27 


sale  schön  sein  könne,  so  scheint  diesem  die  Frage  über 
den  Zusammenhang  der  Dinge  und  den  Inhalt  jenes  Schick- 
sals vorauszugehn.  Und  hier  gehen  wir  denn  von  der  Ue- 
berzeugung  aus ,  dass  jede  Ansicht  von  einem  schlechthin 
Seienden  oder  einer  Mehrheit  wirklicher  Wesen,  aus  deren 
einmal  vorhandener  Natur  alle  Erscheinungen  als  Folgen  zu 
erklären  w-ären  ,  unhaltbar  sei  und  dass  wir  vielmehr  nur 
demjenigen  die  Würde  einer  unbedingten  Setzung  und  W^irk- 
lichkeit  zugestehen  dürfen ,  das  die  beiden  Forderungen 
gleichzeitig  erfüllt ,  sowohl  unabhängig  von  uns  seiend  vor- 
gefunden, als  auch  durch  einen  an  sich  werthvollen  Gedan- 
ken als  noth wendiges  Mittel  seiner  VerwJl-klichung  voraus- 
gesetzt zu  werden.  Ueberzeugt  also  ,  dass  es  keine  Wirk- 
lichkeit giebt,  die  nicht  mit  ausdrücklicher  Rücksicht  auf  an 
und  für  sich  werthvolle  Zwecke  alles  Seins  angeordnet  wäre, 
sehen  wir  in  allem  Dasein  und  Geschehen  eine  Zweckvollen- 
dung ;  und  wenn  auch  unser  reines  theilnahmloses  Denken 
den  Begriff  eines  von  aller  höhern  Beziehung  entblössten  nur 
thatsächlich  vorhandenen  Daseins  bilden  kann,  so  verbieten 
uns  doch  Beurtheilungsgründe ,  die  jenem  Denken  freilich 
nicht  angehören ,  einem  solchen  BegrifTe  Giltigkeit  zuzuschrei- 
ben. Jene  Zweckvollendung  aber  hat  drei  Glieder;  das  er- 
ste ist  der  werthvolle  Sinn  des  Gedankens ,  der  seiner  ihm 
nie  ganz  entgehenden  Verwirklichung  zustrebt;  das  zweite 
die  Reihe  der  wirkenden  Ursachen ,  die  jenen  Sinn  vollzie- 
hen ;  das  dritte  das  Reich  allgemeiner  Gesetze  ,  die  gkich- 
giltig  für  alle  Gestalt  bestimmter  Erfolge ,  nur  durch  die 
bestimmte  Anordnung  der  wirkenden  Kräfte ,  die  ihnen  ge- 
horchen ,  zu  diesem  Ziele  einer  sinnvollen  Erscheinung  hin- 
gelenkt-.werden.  Zur  Erfüllung  eines  Zweckes  mag  nun  un- 
ser Öönken  wohl  die  nothwendigen  Bedingungen  ohne  eine 
fremde  Zuthat  feststellen  ;  wo  aber  der  Zweck  in  Wirklich- 
keit vollzogen  werden  soll ,  wird  er  nicht  alle  Eigenschaften 
seiner  Mittel  benutzen  können,  sondern  diese  werden  Seilen 
haben ,   die  in  die  Zweckbeziebung  nicht  eingehen ,  vielmehr 


28 


dieser  yleichgiltig ,  doch  nicht  abgchallen  worden  können, 
nach  dem  blossen  Gebote  der  allgemeinen  Gesetze  in  zufäl- 
lige, selbst  /Avcckwidrige  Nebenwirkungen  auszugehn.  Dass 
nun  die  Dinge  jenen  allgemeinen  Gesetzen  gehorchen ,  oder 
dass  sie  mit  denjenigen  ihrer  Eigenschaften ,  mit  denen  sie 
in  einer  Zweckbezichung  zu  wirken  berufen  sind,  sich  die- 
ser auch  wirklich  unterthan  zeigen  ,  dies  ist  Nichts ,  was 
wir  ihnen  besonders  danken;  diese  Uebereinslimmung  viel- 
mehr zwischen  Stoff  und  Gedanken  ist  die  erste  Voraus- 
setzung ,  ohne  welche  die  Welt  uns  widersinnig  erscheinen 
würde.  Wo  dagegen  jene  von  der  Zweckbezichung  unab- 
hängigen Eigensoüaflen ,  Kräfte  und  Ereignisse ,  die  ganze 
Seitenverbreilung  des  Zufälligen ,  obwohl  ihr  keine  Aufgabe 
gestellt  ist,  dennoch  sich  in  ihrer  Gestalt,  ihrem  Benehmen 
und  ihrem  Erfolge,  dem  Sinne  jener  höchsten  Gedanken  an- 
schliesst,  da  linden  wir  überall  den  freien  Genuss  einer  die 
Nothweudigkeit  überbietenden  Schönheit.  In  ihr  ist  diese 
vollständige  Bändigung  des  Widerspruchs  zwischen  Stoff  und 
Gedanken  eingetreten  ,  die  uns  andeutet ,  dass  selbst ,  wo 
die  Welt  den  innerlichen  Zwiespalt  des  Seienden  und  des 
Sollenden  gefahrlos  ertragen  könnte,  doch  eine  innigere  Ver- 
söhnung beider  sich  gebildet  hat.  Bedarf  daher  in  der  That 
jeder  Gedanke  zu  seiner  Verwirklichung  die  Vermittlung  ei- 
nes unabhängig  von  ihm  Seienden  ,  so  ist  es  die  Schönheit, 
die  diese  abhängige  Schwäche  verhüllt,  und  indem  sie  alle 
Stützen  der  Verwirklichung  mit  dem  Sinne  des  Gedankens 
selbst  verklärt ,  den  letzten  Erfolg  als  einen  widerstandslos 
aus  sich  selbst  quellenden  Trieb  der  Entwicklung ,  eine  auf 
sich  selbst  ruhende  Gestalt  darstellt.  So  wie  die  Baukunst 
nun  die  Gebälke,  die  der  Aufrichtung  ihres  Werks  nöthig 
sind,  nicht  verläugnet,  sondern  vielmehr  andeutet,  aber  sie 
SU  in  freien  zwecklosen  Gebilden  sich  verklären  lässt,  dass 
das  Ganze  den  Schein  cjucllendor,  lebendiger  und  natur- 
wüchsiger Entwicklung  annimmt,  so  wird  jede  Schönheit 
überhaupt  nur  dann    uns  empfindbar  werden ,     wenn  ausser 


29 


dem  Einklänge  ihrer  Verhältnisse,  obwohl  vielleicht  nur  durch 
einen  leise  nebenherschwebenden  Gedanken,  die  Erinnerung 
an  die  Gefahr  des  überwundenen  Zwiespaltes  der  unterwor- 
fenen Mittel  festgehalten  wird. 

Unsere  Ansicht  des  Schönen  scheint  sich  mithin  auf  die 
Vorausanerkennung  eines  unbedingten  Gegensatzes  zwischen 
Sein  und  Gedanken  zu  gründen ,  der  eben  um  seiner  Un- 
mittelbarkeit willen  eine  besondere  Versöhnung  nöthig  macht. 
Und  in  der  That  sind  der  Betrachtung  des  Schonen  Ansich- 
ten nicht  förderlich ,  die  entweder  durch  Läugnung  der  selbst- 
ständigcn  Wirklichkeit  des  Stoffes  das  eine  Glied  dieses  Ge- 
gensatzes tilgen  ,  oder  die  Versöhnung  beider  vergessend, 
sie  in  eine  zu  weite  Entfernung  auseinander  rücken.  Ist 
die  ganze  erscheinende  Welt  selbst  nur  eine  Ausstrahlung 
des  denkenden  Geistes ,  so  kann  die  Schönheit  nur  noch 
auf  einem  andern  in  dem  Gebiete  dieser  allumfassenden 
Geistigkeit  selbst  eingeschlossenen  Gegensatze  beruhen.  Man 
wird  die  schaffende  Einbildungskraft  des  einzelnen  Geistes 
in  ihrer  natürlichen  endlichen  Bestimmtheit  an  die  Stelle  des 
Seienden  und  einer  allgemeinen  geistigen  Weltordnung  ge- 
genüber setzen  und  so ,  indem  man  in  der  Uebereinstimmung 
dieser  beiden  die  Quelle  einer  schönen  Lust  findet,  im  Gan- 
zen zu  der  Beziehung  zurückkehren  müssen ,  die  der  obigen 
Auffassung  zu  Grunde  liegt.  Allein  eine  solche  Weltordnung, 
nur  von  sittlichem  Gehalte,  und  kein  ursprünglich  unabhän- 
giges Dasein  sich  gegenüber  erblickend ,  hat  die  Unbequem- 
lichkeit der  zweiten  Ansicht.  Auch  unser  Begriff  von  Gott 
ist  für  die  Betrachtung  der  Schönheit  insofern  nicht  weit 
genug  ausgebildet,  als  sich  aus  seiner  Heiligkeit  zwar  eine 
sittliche ,  aber  nicht  die  natürliche  Welt  vorausahnen  lässt. 
So  überwiegend  sind  die  Eigenschaften  des  göttlichen  We- 
sens nach  dieser  einen  Seite  hin  dargestellt  worden,  dass 
man  jeden  Grund  vermisst ,  der  von  ihm  als  dem  Schöpfer 
grade  zu  diesen  Gesetzen,  grade  zu  diesen  Erscheinungen 
und  Gestalten   der  Natur   überführt ,    durch  deren  Schönheit 


30 


und   ahnungsvolle  Fülle  wir  doch  umgekehrt  7ai   seiner  An- 
schauung zurückgeleitel  werden. 

Dürfen  aber  nun  die  Voraussetzungen,  die  wir  dieser 
Betrachtung  des  Schönen  vorausschickten  ,  für  mehr  gelton, 
als  für  eine  zufällige  Ansicht ,  geschickt  vielleicht ,  die  Ent- 
stehung einer  schönen  Lust  in  uns  zu  beleuchten;  dürfen 
sie  eine  übergreifende  Giltigkeit  als  Beziehungen  des  wirkli- 
chen Seienden  für  sich  in  Anspruch  nehmen?  Vielleicht 
nicht,  vielleicht  auch,  dass  dies  überhaupt  ihre  Absicht 
nicht  war.  Sprechen  wir  aus ,  dass  ein  Urgegensalz  zwi- 
schen dem  Stoffe  und  dem  Gedanken,  der  sich  in  ihm  ver- 
wirklichen soll,  "stattfindet,  so  meinen  wir  nur  diejenige 
Ueberzeugung  ausgesprochen  zu  haben ,  die  menschlichem 
Erkennen  zunächst  hegt,  und  an  jenes  Gefüge  der  Welt  er- 
innert zu  haben ,  das  allen  Blicken  umfassender  Erfahrung 
offen  vorliegt.  Mit  überwältigender  Deutlichkeit  springt  die- 
ser Thatbestand  im  Zusammenhange  der  Dinge  in  die  Augen, 
dass  nirgends  .  der  Gedanke  selbstthätig  sich  verwirklicht, 
sondern  hingegeben  ist  dem  Treiben  der  Ursachen  und  dem 
Glück  ihrer  angemessenen  Vereinigung;  dass  jene  Ursachen 
ferner  nicht  aus  den  höchsten  Zwecken  selbst  ihrem  Sein 
und  Wesen  nach  fliessen  können ,  obw  ohl  ihre  Verbindungs 
weise  denselben  zustreben  mag;  dass  endlich  auch  die  Ur- 
sachen nicht  mit  zweckmässig  wirkenden  und  der  Lage  der 
Umstände  sich  anbequemenden  Kräften ,  sondern  allgemeinen 
Gesetzen  gehorsam  thätig  sind  ,  die  keine  Theilnahme  für  die 
Gestalt  des  Erfolges  zeigen ,  den  man  ihnen  abgewinnen  kann. 
Auf  diese  Züge  im  Zusammenhange  der  Dinge  leitet  uns  die 
Erfahrung  aller  Wissenschaften  und  des  Lebens  selbst;  aber 
diese  vorhandene  Verflechtung  anerkennen  ist  noch  ein  An- 
deres ,  tils  sie  mit  den  Bedürfnissen  einer  abgeschlossenen 
Weltansicht  in  Verbindung  bringen,  oder  den  Wiegen  nach- 
spüren ,  auf  denen  Gedanke  und  Stoff  sich  zuerst  begegnet 
haben  und  in  diese  unauflösliche  Verkettung  zusammenge- 
gangen sind.     Das  erste  allein  ist,  was  unsre  Betrachtungen 


31 


erheischen;   dies  vorausgesetzt,  wird  uns  die  Schönheit  ver- 
ständlich  sein ;     das   zweite   ist   eine  Aufgabe   höherer   Art, 
der  Lehre  von  den  göttlichen  Dingen  vorzubehalten  und  kei- 
ner  andern  Entscheidung   hier   bedürftig    als   der,    die  eben 
in  der  Erscheinung   der  Schönheit  selbst  liegt.       Unser  Er- 
kennen   nämlich   mag   wohl   Fragen  der  Art   aufwerfen,    ob 
denn    in   der    That    die    Zwecke    das    Vorangehende ,     der 
Stoff   und   seine  Beziehungen    das  Nachfolgende  sei ,    woher 
und  w  ie  der  Gedanke   zum  Stoffe  getreten  sei ,    und  warum 
überhaupt  dieses  menschlichen  Zwecken ,  den  ohnmächtigen, 
zunächst  entlehnte  Verhältniss  des  Zusammenhangs    auch   auf 
die  Gestalt  des  Weltalls   übergetragen  sei.       Eine  Verständi- 
gung  über  die  Schöpfung  der  Welt   ist  es ,    die  solche  Fra- 
gen  zu   lösen   hat :     in    unserm   Zusammenhange   ist   es   die 
Schönheit  selbst,    die  darauf  eine  Antwort  gibt,    indem  sie 
den    tiefen    seligen    Werth    solcher    Verhältnisse    hervorhebt, 
der  unmöglich  wäre  ,  wo  nicht  Zwiespalt  und  in  dem  Zwie- 
spalte  Versöhnung  gegeben  wäre  ;    der  unmöglich  sein  wür- 
de ,   wo  jeder  Gedanke ,   jeder  Zweck  der  Welt  widerstand- 
los sich  selbst  vollzöge  ,  und  so  alles ,    einer  allmählig  voll- 
ziehenden Geschichte  ebensow^ohl  als  einer  zerstreuten  man- 
nigfachen Erscheinungswelt  ganz  unbedürftig,   in  das  selbst- 
genügsame   Kreisen    eines    von   Ewigkeit    erfüllten    Zweckes 
und  Begriffes  übergienge.     Die  Schönheit  ist  so  ein  Vorbote 
jener  geahnten  Versöhnung  zwischen  ßeziehungsgliedern,  die 
unserer  Erkenntniss  feindlich  auseinanderstehen  ,    und  deren 
Gegensatz   doch   nicht   aufgegeben  werden   kann,     ohne   zu- 
gleich die  Quelle  der  Seligkeit  zu  vernichten,  die  aus  seiner 
Einigung  entspringt. 

Dürfen  wir  nun  hier  bei  der  Aufsuchung  des  Wesens 
der  Schönheit,  wie  billig  auch  der  Stellung  gedenken,  in 
der  der  geniessende  Geist  zu  ihr  steht,  so  finden  wir  ja, 
dass  wir  nicht  eine  wohlerkannte  Lösung  aller  Räthsel  in 
ihr  noch    einmal  dargestellt  sehn,    sondern   dass  in  ihr  erst 


32 


die   Gewissheit    einer   wirklichen,     aber    grossentheils   noch 
unbekannten  Lösung  uns  erquickt. 

Dass  eine  solche  höhere  und  innigere  Verschmelzung 
des  Stoffes  und  des  Gedankens  in  einer  gemeinschaftlichen 
Wurzel  stattfinde,  dies  ist  eine  der  thcuersten  und  unaus- 
tilgbarsten Hoffnungen  des  Geistes  und  auch  sie  beruht 
nicht  auf  einer  Nothwendigkeit,  die  in  dem  Gange  unserer 
reinen  Erkenntniss  gegeben  wäre,  sondern  in  jenen  werth- 
gebenden  Gefühlen,  die  einer  unmittelbaren  Offenbarung  ver- 
gleichbar, auch  dann  noch  eine  Meinung  verdammen,  wenn 
sie  allen  Anforderungen  des  reinen  Denkens  Genüge  gelei- 
stet hat.  Aber  diese  Hoffnung  ist  nicht  der  deutlichste 
Theil  unserer  Erkenntniss,  vielmehr,  wie  viele  Bedürfnisse 
des  Geistes,  sucht  er  noch  seine  Befriedigung,  die  nicht  in 
einer  blossen  Versicherung  solcher  höhern  Einheit  liegen 
kann.  Jenen  deutlichsten  Theil  bildet  vielmehr  grade  jener 
Zusammenhang  der  Weltordnung ,  den  wir  dem  Schönen 
zu  Grund  legen ,  jene  wenn  auch  nicht  unbedingte ,  wenn 
auch  nur  scheinbare  Trennung  des  Seienden  von  dem  Ge- 
danken und  die  Verwirklichung  des  Letztern  durch  die 
nach  allgemeinen  Gesetzen  zusammenstimmenden  Ursachen. 
Dass  nun  überall  in  dem  Ganzen  der  Welt  jene  Ueberein- 
stimmung  der  Zwecke  mit  den  Erscheinungen  und  der  Zu- 
sammenfassung der  Ursachen  herrsche,  dies  allein  ist  un- 
sere beständige  Voraussetzung,  allein  sie  muss  vorläufig  als 
eine  durch  ihre  eigne  Klarheit,  mit  der  sie  aus  der  Ge- 
sammtheit  unserer  Erfahrungen  hervorspringt,  glaubhaft  ge- 
machte, aber  ihrem  Zustandekommen  nach  unerklärte  That- 
sache  betrachtet  werden ,  deren  weitere  Aufhellung  nur 
einer  Verständigung  über  die  göttlichen  Dinge  vorzubehalten 
ist.  Zu  der  Anerkennung  dieser  Thatsache  aber  hat  die 
Geschichte  der  Gedanken  bis  jetzt  in  verschiedenen  Gestal- 
ten hingedrängt,  und  die  gesammte  Ausbildung  der  Natur- 
wissenschaften würde  sie ,  ohne  fremdartige  Einwirkung 
längst   ausser  Zweifel   gesetzt  haben.     Aber  die   Schwierig- 


33 


keiten,  die  sich  erhoben,  als  man  solche  Ansichten  mit 
jenen  Bedürfnissen  des  Geistes  nach  umfassender  Einheit 
des  Höchsten  vereinigen  wollte,  führten  dahin,  lieber  wegen 
dieses  Bedürfnisses  den  Thatbestand  zu  verkennen,  als  ihn 
mit  demselben  zu  versöhnen. 

Fragen  von  so  weitgreifendem  Inhalte  können  hier  nicht 
ihre  Erledigung  finden.  Sie  würden  genau  genommen ,  nichts 
weniger  umfassen,  als  jene  Untersuchungen  über  Ursprung 
und  Sinn  des  Bösen  und  Unvollkommnen  in  der  Welt,  auf 
die  so  viel  geistige  Kräfte  bisher  ohne  nachhaltige  Wirkung 
verwandt  worden  sind.  Das  allgemeine  Verhängniss ,  das 
jeden  werthvolien  Zweck  der  Welt  sich  nur  in  endlichen  Er- 
scheinungen und  in  jener  Verkettung  ursächlichen  Geschehens 
verwirkhchen  lässt,  begründet  die  Möglichkeit,  ja  die  Un- 
ausbleiblichkeit störender  Nebenwirkungen  und  eines  theil- 
weisen  Misslingens.  Haben  wir  der  Schönheit  diesen  Beruf 
zuertheilt,  Stoff  und  Gedanken  in  einer  unmittelbaren  Ver- 
söhnung aufzuweisen ,  so  wird  doch  auch  sie  nicht  ein  all- 
gemeines, sondern  ein  glückliches  Ereigniss  in  der  Welt 
sein  und  die  Hässlichkeit  wird  nicht  fehlen ,  die  uns  zeigt, 
wie  Kräfte ,  die  nur  unter  einem  höhern  Gedanken  bezwun- 
gen, ein  Recht  zum  Dasein  hatten,  von  diesem  Zügel  befreit 
sich  in  selbständigen  Wucherungen  ihrer  Macht  ergehen. 
Allein  noch  über  den  Nachweis  dieser  unausl)leiblichen  Wirk- 
lichkeit des  Hässlichen  hinaus  hat  man  in  neuerer  Zeit  auch 
in  einem  andern  Sinne  von  der  Nothwendigkeit  der  Häss- 
lichkeit gesprochen,  als  läge  es  in  dem  Begriffe  der  Schön- 
heit, in  dieses  ihr  Gegentheil  umzuschlagen.  Ich  weiss 
nicht,  in  wiefern  diese  Ansichten  mit  dem  eben  Erwähnten 
übereinstimmen,  in  wieweit  sie  noch  einen  andern  Gedan- 
ken einschhessen  mögen.  Schwerlich  meinen  sie  jedoch  die 
Nothwendigkeit  des  Daseins  hässlicher  Gegenstände  zu  er- 
weisen, sondern  durch  einen  jener  Scheine,  die  sich  so  oft 
zeigen ,  wenn  mau  Begriffe  ablöst  von  dem ,  das  ihr  Träger 
ist,   hat   sich    die    Täuschung    einer   innern    Verwandtschaft 


34 


und  eines  gegenseitigen  Zusammengehörens  zweier  Begriffe 
gebildet,  die  nur  durch  das  eigenthUmliche  Wesen  ihrer  Trä- 
ger zu  einander  in  Beziehung  slehn.  Da  wir  nicht  von  ei- 
ner Geschichte  der  Begriffe,  werde  sie  selbst,  wie  sich  ver- 
steht, in  dem  widersprechenden  Sinne  einer  zeitlosen  Ge- 
schichte gewonnen ,  sprechen  können ,  so  müssen  wir  das 
geheimnissvolle  Licht,  das  solche  Ansichten  auf  dies  Ver- 
hültniss  fallen  lassen ,  durch  eine  andere  weniger  tief  ein- 
gehende Beteachtung  zu  ersetzen  suchen.  Hässlichkeit  kann 
keine  Aufgabe  des  Weltinhaltes  sein ,  eben  so  wenig  jene 
Selbständigkeit  der  Mittel  den  Zwecken  gegenüber ,  aus  der 
sie  hervorging.  Aber  dies  Widerspenstige  kann  eine  noth- 
wendige  Vorbedingung  des  Höheren  sein.  Wir  finden  die 
Schönheit  in  solchen  Uebereinstimmungen,  die  uns  als  glück- 
licher Zufall  erscheinen.  Wäre  sie  allgemein ,  so  würde  sie 
den  Gegensatz  gänzlich  verdecken,  in  dessen  Versöhnung  sie 
besteht.  Allein  eine  so  harmlose ,  durchaus  von  keinem 
Widerspruch  wissende  Schönheit  mag  zwar  in  unbefangner, 
unschuldiger  Anmuth  entzücken,  aber  nur,  weil  unser  Be- 
wusstsein  die  Erinnerung  an  überwundene  Gefahren  und 
die  Bitterkeit  des  Kampfs  mit  ihr  zusammenhält.  Alles  Le- 
bendige aber  besteht  weder  in  der  Unwissenheit  des  Aeus- 
sern ,  noch  in  der  theilnahmlosen  Stumpfheit,  die  ein  todter 
Stoff,  seines  ewigen  Beharrens  in  jeder  Gestalt  immer  gewiss, 
den  äussern  Einflüssen  entgegensetzt,  sondern  in  der  thäti- 
gen  Abwehr  und  der  siegenden  Festhaltung  seiner  Entwick- 
lungen mitten  im  Kampfe.  So  soll  auch  das  Schöne  die 
Wunde  aufzeigen,  die  es  heilt,  und  durch  Ueberwindung 
einer  innern  Anlage  zur  Hässlichkeit  sich  selbst  den  Glanz 
der  Erhabenheit  geben ,  der  der  unbefangenen  kampflosen 
Schönheit  nicht  zusteht. 

Hierdurch  wird  die  Hässlichkeit  nicht  zu  einem  Ver- 
neinten, zu  einem  blossen  Mangel  herabgedrückt.  Im  Ge- 
gentheile  bietet  auch  nach  unserer  Ansicht  das  Hässliche 
viel  leichter   als   das   Schöne  sich  zu   einer  solchen  inneren 


35 


Zusammenfassung  seines  Wesens  dar,  durch  die  es  als  eine 
geschlossene,  und  in  sich  zusammengehörige  Macht  und 
Thätigkeit  erscheint. 

Denn  die  Schönheit,  nur  in  dem  Sinne  eines  Schicksals 
bestehend,  das  an  Verschiedenem  in  durchaus  ungleich- 
artiger Weise  sich  vollzieht,  wird  schwer  in  eine  anschau- 
hche  Einheit  der  Vorstellung  zusammenschmelzen;  die  blind 
wirkenden  Kräfte  der  Natur  aber,  oder  die  eigensüchtigen 
Regungen  der  Seele,  aus  deren  selbständigem  Treiben  die 
Hässlichkeit  entspringt,  lassen  so  leicht  sich  in  die  Anschau- 
ung einer  strebenden  auf  Zerstörung  und  zerstörende  Schö- 
pfungen siunenden  Gesammtmacht  vereinigen,  dass  wir  nicht 
wunderbar  finden,  wenn  die  Zeichnung  dieses  widerspensti- 
gen Reiches  oft  gelungener  sich  zeigt  als  die  des  Guten, 
und  w-enn  selbst  wissenschaftliche  Ansichten  mit  Vorliebe 
dem  Hässlichen  mehr  Bedeutung  zugestehn,  als  ihm  zu- 
kommt. Ist  nun  die  Erhabenheit  die  Ueberwindung  einer 
innern  Gefahr  der  Hässlichkeit,  so  wird  doch  die  erhabene 
Erscheinung  nicht  selbst,  sondern  nur  der  geniessende  Geist, 
der  seine  Erinnerungen  und  seine  eignen  Voraussetzungen 
mit  ihr,  der  gegebenen,  zusammenhält,  die  Beziehung  der 
Gegensätze  und  ihre  Versöhnung  vollziehen.  Noch  mehr  als 
das  Schöne,  wird  daher  das  Erhabene  nur  in  dem  Geiste 
als  Stimmung  auftreten,  obwohl  nicht  überall  dies  Gefühl 
der  Erhabenheit  bloss  in  dem  Rückstoss  bestehen  wird,  den 
das  Bewusstsein  sittlicher  unbedingter  Befreiung  von  aller 
Gefahr  eines  bedrohenden  Missverhältnisses  hervorbringt. 

Auch  dies  jedoch  bedarf,  wie  aller  Inhalt  des  Schönen, 
noch  einer  weitern  Betrachtung.  Bisher  haben  wir  den  Be- 
ruf ins  Auge  gefasst,  den  die  Schönheit  als  einen  der  ewi- 
gen Gedanken  der  Weltordnung  erfül^len  soll.  Aber  diese 
Bestimmung  ist  so  in  den  einfachen  Rahmen  eines  Begriffs 
gespannt ,  während  ihre  Verwirklichung  grade  in  der  über- 
quellenden Seligkeit  ihren  Werth  hat,  durch  die  sie  mehr 
ist,   als    Begriff.     Grade   weil   die   Schönheit   nicht  eine  Er- 


36 


scheinung,  sondern  der  Sinn  eines  allgemeinen  Ereignisses 
ist,  wird  der  ganze  Reichtbuin  ihrer  Tiefe  erst  dann  er- 
schöpft, wenn  wir  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  ihrer 
Aeusserungsweisen  betrachten.  So  wie  jeder  äussere  Um- 
stand, der  eine  Seele  zur  Entwicklung  einer  Thütigkeit 
zwingt,  diese  Seele  nicht  ändert,  aber  doch  sie  durch  die 
Wirklichkeit  und  die  Erinnerung  an  eine  That  bereichert, 
deren  Möglichkeit  in  ihrem  Innern  lag,  so  besteht  auch  das 
Schöne  der  Schönheit ,  wenn  wir  so  sagen  dürfen ,  nicht 
sowohl  in  dem  einfachen  Begriffe  ihrer  Bestimmung  ,  als  in 
der  unendlichen  Mannigfaltigkeit  ihrer  Bewährung  ,  die  der 
Lauf  der  Erscheinungen  hervorlockt. 


IV. 


Lassen  wir  nun  diesen  Beruf  der  Schönheit  gelten ,  eine 
Versöhnung  zwischen  dem  eigensinnigen  Stoffe  und  dem 
herrschenden  Gedanken  darzustellen ,  so  zeigt  sich  auch, 
dass  in  einer  weiten ,  allmählich  aufsteigenden  Reihe  von 
Gestalten  diese  Bestimmung  in  sehr  verschiedner  Stärke  und 
Vollendung  erfüllt  werden  mag.  Wir  meinen  wohl  gewöhn- 
lich ,  wenn  wir  vom  Schönen  sprechen  ,  es  mit  durchaus 
reinlich  abgeschnittenen  Grenzen  als  etwas  einzig  in  sich  Zu- 
sammengehöriges zu  bezeichnen ;  allein  bei  näherer  Betrach- 
tung zeigt  sich,  dass  es  vielmehr  den  höchsten  Gipfel  einer 
Reihe  bildet,  die  sich  nach  verschiednen  Seiten  in  das  an- 
grenzende Gebiet  des  blos  Angenehmen  und  des  Guten  ver- 
liert. In  der  That,  indem  wir,  die  Schönheit  als  eine  der 
Aufgaben  der  wirklichen  Welt  ansehend,  die  Gestalten  der 
Wirklichkeit,  in  denen  sie  sich  zeigen  kann,  überblicken, 
finden  wir  bereits  vor  aller  Zusammensetzung  der  Eindrü- 
cke die  einfachen  sinnlichen  Empfindungen  der  Farben  und 
der  Klänge  auf  diesem  zweifelhaften  Gebiete.  Dass  beide 
selbst   den  Bedingungen  des   leiblichen  Lebens   bald  günstig 


37 


sich  anschmiegen,  bald  entgegeustehn ,  ist  gewiss;  dennoch 
mag  der  Eindruck,  den  eine  reine,  lichtvolle,  gesättigte 
Farbe  ohne  bestimmten  räumlichen  Umriss  auf  uns  hervor- 
bringt, mit  Recht  für  mehr  gelten,  als  ein  bloss  Angeneh- 
mes. Indessen  scheint  in  diesen  Fällen  allen  die  Wirkung, 
die  vielleicht  die  reine  Bläue  des  Himmels  auf  unser  Ge- 
müth  macht,  weniger  in  dem  zu  liegen,  was  der  Gegenstand 
ist,  als  in  dem,  woran  er  erinnert;  ja  selbst  in  den  Gesän- 
gen der  Vögel  wird  uns  mehr  der  Ausdruck  strebender  Le- 
bendigkeit gew  innen ,  als  die  eigne  Schönheit  der  grossen- 
theils  so  reizlosen  Klänge  selbst.  Gewiss  liegt  nun  schon 
in  dieser  Pracht  der  Sinnlichkeit  die  erste  Ueberwindung 
des  todten  Stoffes  durch  das  Reich  des  Gedankens  im 
weitesten  Sinne,  allein  diese  Empfindungen,  nur  das  ein- 
fachste Mittel  darbietend,  durch  welches  jener  Stoff  dem 
geistigen  Leben  unterworfen  werden  mag,  bleiben  zu  sehr 
mit  ihm  selbst  verschmolzen,  als  dass  sie,  die  zu  versöh- 
nenden Gegensätze  deutHch  zeigend,  das  Gefühl  unzweifel- 
hafter Schönheit  erwecken  könnten. 

Dreierlei  aber  giebt  es  in  aller  Wirklichkeit,  worauf 
unsere  Betrachtung  achten  muss.  Zuerst  jene  allgemeinen 
Anschauungen  des  Raumes,  der  Zeit  und  der  Bewegung, 
in  die  alles  wahrnehmbare  Geschehn  der  Erscheinungen 
eingeschlossen  ist.  Sie  stehn  als  ein  verfeinerter  Stoff  den 
wahrhaft  werthvollen  Gedanken  der  Welt  gegenüber,  und 
so  weit  sie  durch  die  Verbindungsweise  ihrer  Theile  die  Be- 
ziehungen jener  Gedanken  abzubilden  wissen,  werden  sie 
auch  der  Schönheit  und  zwar  jener  freien  Schönheit  fähig 
sein ,  die  ohne  einem  bestimmten  Zwecke  genügen  zu  müs- 
sen, sich  des  wechselreichen  Spieles  ihrer  Angemessenheit 
zum  Ausdruck  jedes  höheren  Gedankens  freut.  Aber  die 
Natur  hat  nicht  nur  diesen  allen  Erscheinungen  gemeinsa- 
men Boden;  sie  lässt  auf  ihm  vielmehr  die  bestimmten, 
durch  innere  Verwandtschaften  geheimnissvoll  bezogenen 
Gestalten   der   einzelnen   Gattungen  auftreten;    und  so    wer- 


38 


Jen  ihre  Erzeugnisse  zugleich  jener  freien  Schönheit  hul- 
digen ,  die  in  allseitigen  Andeutungen  spielt  ,  zugleich 
aber  der  Stelle  angemessen  sein  müssen ,  die  ihr  wesentli- 
cher BegrKf  in  der  Entwicklungsreihe  alles  Seienden  ein- 
nimmt. So  bildet  sich  die  anhängende  Schönheit ,  um 
einen  einfachen  Ausdruck  Kants  zu  benutzen.  Aber  ebenso 
wenig  wird  endlich  die  Welt  aus  der  gcschichtslosen  Auf- 
häufung dieser  Gattungen  bestehn ,  sondern  der  eigentliche 
Kern  ihres  Werthes  wird  sich  in  der  Gesammtheit  der  Er- 
eignisse finden,  die  zwischen  ihnen  unerschöpflich  geschehn ; 
und  an  ihnen  wird  die  Schönheit  eine  dritte  Veranlassung 
zur  Entfaltung  haben.  In  diesen  verschiedenen  Trägern  der 
Schönheit  lassen  sich  leicht  auch  die  Beziehungen,  die  sie 
zu  einzelnen  Arten  derselben,  ja  selbst  zu  verschiedenen  Ar- 
ten der  Kunstschöpfung  haben,  voraus  erblicken. 

In  der  freien  Schönheit,  zu  denen  er  freilich  auch  die  Ge- 
stalten der  Blumen  rechnete,  sah  Kant  die  eigentliche,  von  kei- 
nem Einflüsse  der  verständigen  Urtheilskraft  getrübte  Schön- 
heit. Wir  haben  oben  ihren  Begrifl"  enger  beschränkt,  und 
zählen  zu  ihr  nur  räumhche  Gestalten  und  zeitliche  Verbin- 
dungsweisen, die  noch  durch  keinen  Begriff  einer  Gattung 
zu  einem  bestimmten  Gliede  der  beabsichtigten  Entwick- 
lungsreihe des  Seienden  zusammengefasst,  nur  die  unend- 
liche Fähigkeit  jener  Anschauungen,  dem  Ausdruck  der  höch- 
sten Gedanken  zu  dienen ,  darstellen.  Sehen  wir  zu  irgend 
einer  weitgreifenden  Unternehmung  der  Menschen  noch  ge- 
staltlose Mittel  zusammengebracht,  noch  in  keine  Ordnung 
verbunden ,  die  uns  den  nächsten  w  irklichen  Gebrauch  ver- 
anschaulichte, so  erfreut  sich  doch  unsere  Einbildungskraft 
vorgreifend  an  dem  fliegenden  Ueberblick  möglicher  Ergeb- 
nisse, die  diese  Mittel  ahnen  lassen,  und  ohne  noch  Ziel 
und  Zweck  deutlich  zu  sehen,  fühlen  wir  uns  doch  in  einer 
Welt,  in  der  überhaupt  Mittel  einem  Zwecke  sich  ahnungs- 
voll zudrängen.  So  wie  vor  dem  Beginnen  eines  Lieds 
einzelne   versuchende   Grilfe   uns   zuerst  von  der  begefiwart 


39 


eines  Reiches  der  Klänge  überzeugen,  die  geordnet  schlum- 
mernd einer  Unermesslichkeit  reichen  Ausdrucks  enlgegen- 
harren,  so  wird  auch  die  freie  Schönheit  in  den  Spielen 
räumlicher  Gestalt  und  zeitlicher  Verknüpfungen  uns  durch 
diese  aUgemeine  Versicherung  von  der  Versöhnung  zwischen 
Grundlagen  und  Zwecken  erquicken. 

An  räumlichen  Zeichnungen  mag  uns  deshalb  zwar  auch 
dies  ergreifen,  dass  sie  in  ihrer  eigenthümlichen  Gestalt  als 
bildliche  Darstellungen  von  Beziehungen  sich  zeigen,  ohne 
die  auch .  ein  höherer  Gedanke  keine  Erscheinung  gew  innen 
könnte,  und  sie  werden  dadurch  hauptsächlich  sich  zu  ein- 
fachen Bildern  des  Unsinnlichen  verwenden  lassen;  allein 
diese  Bedeutung  beruht  zu  sehr  auf  den  Erinnerungen  und 
dem  zufälligen  Gedankengange  des  Gemülhs,  als  dass  sie 
näher  mit  der  gezeichneten  Gestalt  selbst  zusammenfiele. 
Im  Ganzen  wird  daher  die  freie  Schönheit  nicht  die  Herr- 
schaft eines  bestimmten  Gesetzes  über  den  Stoff  darstellen, 
sondern  vielmehr  durch  Ebenmass  überhaupt  nur  die 
Herrschaft  des  Gesetzes  im  Allgemeinen. 

Der  Eindruck,  den  alles  Ebenmässig- begrenzte  im  Ge- 
gensatz hässlicher  Verwirrung  der  Umrisse  macht,  bedeutet 
uns  überhaupt  nur  die  Thatsache,  dass  der  unenlschiedne, 
nirgend  von  selbst  sich  abschliessende  Stoff  durch  die  hö- 
here Gewalt  des  Gedankens  in  zusammenhaltende,  scharfkan- 
tige Begrenzungen  gegossen  ist,  und  nur  so  weit,  als  das 
Regelmässige  nicht  bloss  im  Begriff  zu  erfassen  ist,  sondern 
sich  auch  dem  Anblick  als  entsprechendes  Ebenmässiges 
zeigt,  wird  es  überhaupt  die  Lust  des  Schönen  erwecken. 
Dann  aber  um  so  mehr,  je  vielfacher  die  Theile  sind,  über 
die  sich  beherrschend  dieselbe  Gestalt  ebenraässiger  Verbin- 
dung erstreckt,  und  so  wie  die  Schönheit  eines  einfachen 
scharfgezeichneten  Vielecks  durch  die  einer  Gruppe  sich  ver- 
schlingender Vielecke  überboten  wird,  so  steigert  und  be- 
festigt  auch   die   Baukunst   und    die   Kunst  der  Klänge  den 


40 


einmal  gewonnenen  Eindruck  durch  die  immer  reicher,   im- 
mer tiefer  in  sich  gegliederte,  in  sich  selbst  unendlich  theil- 
bare   Wiederholung    desselben    Satzes    oder    des   Schmuck- 
werks,  das   zuerst   einzelne  Theile   des    Gebäudes    verziert, 
dann   zur   belebenden   Seele  des   Ganzen  wird.     Indess  wie 
alle   Schönheit   einen    überwundenen  innern   Gegensatz   ver- 
langt,  so  wird  auch  jedes  ungestörte  einfache  Ebenmass  zu 
sehr  die   unbedingte  Herrschaft   aligemeiner    Gesetze ,    nicht 
jene  zuvorkommende   Einfügung    eines   selbständigen   Stoffes 
verrathen.     Ohne    daher  in  die  Verwirrung  der  Gesetzlosig- 
keit   zurückzufallen ,     zeigen    doch    die    lebenden    Gestalten 
nicht  mehr  jenes  Ebenmass  des  Gesetzes,    sondern   das  des 
Sinnes.      Verschiedenwerthig   werden   die    äussern   Umrisse, 
und  anstatt  gleichlaufender  Begrenzungen    treten  jene  entge- 
gengesetzten von  rechts  und  links  zusammenstrebenden  oder 
auseinanderweichenden  Beugungen  ein,  die  mit  aller  Gleich- 
heit   der    Gestalt   doch    den    entschiedensten    Gegensatz  der 
Richtungen    verbinden.      Auch   nicht   nach    allen    Seiten  hin 
beherrscht  dasselbe   Gesetz   die   Ausdehnung,    sondern   ver- 
schiedene Regeln,    von  dem  hineinspielenden  Sinne  der  Er- 
scheinung abhängig,    haben  sich  vereinigt,    um  in  scheinba- 
rer Unregelmässigkeit   dennoch   ein   leicht  wieder   hervortre- 
tendes,   doch   nicht  allseitiges  Ebenmass  zu  begründen.     So 
zeigt  sich   die  freie    Schönheit  lebendiger  ^Yesen;    auch  die 
Kunst  hat  ihr  nachgeahmt;  und  wenn  sie  in  früheren  Zeiten 
einfach    gleichlaufende    Begrenzungen    ihren    Gebäuden    gab, 
so  hat  sie  später   in  Grundriss,  Seitenansicht  und  Höhe  die- 
ses Ebenmass  zerstört,   um  es  aus  einer  Anordnung  wieder 
zu    gewinnen ,    welche   die    einzelnen    Theile   des    Gebäudes 
aus    einer    gemeinsamen    Mitte    nach    aussen    streben    Hess, 
jeden  in   Richtung  und  Grösse  seinem  eignen  Sinne  gemäss, 
die    hohen   Bedachungen    über   der   lebendigen    Mitte,     dem 
Herzen  des  Gebäudes,    die  Thürme,    nach  oben  aufrichtend, 
ausser   der    Mitte ,    wie   das   Haupt  des    lebendigen   Leibes, 


41 


nicht  für  das  Leben  des  Ganzen ,    sondern  für  eine  hinaus- 
deutende Beziehung  auf  ein  jenseitiges  Ziel  bestimmt. 

Für  die  Deutung  dieses ,  so  wie  alles  andern  Eben- 
masses  sind  die  Erscheinungen  zeitlicher  Bewegung  noth- 
wendig ,  und  in  ihnen  hat  Natur  und  Kunst  eines  der  höch- 
sten Mittel,  freie  Schönheit  zu  entfalten.  Wie  die  Erfüllung 
jedes  Zweckes ,  wie  jedes  Geschehen  nur  möglich  ist  durch 
den  ewigen  leisen  Fluss  der  Zeit,  indem  jeder  verschwin- 
dende Augenblick  der  Gegenwart  einen  Theil  der  unendli- 
chen Zukunft  verwirklicht  und  dem  Reiche  der  Vergangen- 
heit zuweist,  so  liegt  in  allem  Entstehen  und  Vergehen  über- 
haupt diese  allseitige  Hindeutung  auf  den  Gang  der  Welt 
und  aller  Seligkeit  und  Schmerzen  ,  die  er  in  sich  schliesst. 
Räumliche  Bahnen  mit  dem  zeitlichen  Wechsel  verbindend 
lässt  die  Natur  die  himmlischen  Körper  allen  Zauber  eines 
aufwachenden  und  allmählich  schwindenden  Glanzes ,  eines 
ewigen  Suchens  und  Findens  über  die  irdische  Welt  aus- 
strahlen ,  und  hüllt  diese  in  die  Pracht  ineinanderklingender 
Farben ,  oder  lässt  in  grösseren  Zwischenräumen  ,  nur  der 
Erinnerung  bemerkbar ,  mit  ihren  Jahreszeiten  auch  das 
Blühen  und  Keimen  der  Gewächse  kommen  und  gehen.  Und 
hierin  hat  die  Kunst  nicht  durch  die  Unmöglichkeit  der  Sa- 
che ,  sondern  durch  ihre  Unausführbarkeit  gezw  ungen ,  ihr 
nicht  folgen  können.  Kaum  dass  der  Tanz  einen  schwachen 
Versuch  enthält ,  die  ahnungsvollen  Reize  der  verschlunge- 
nen Bewegungen  darzustellen;  mit  Farben  aber  bedeutungs- 
voll zu  spielen ,  wie  mit  den  Klängen ,  müsste  doch  selbst 
unserer  Kunst  möglich  sein,  wenn  sie  im  Feuerwerk  nicht 
Farben ,  haftend  an  einem  gleichgiltigen  Stoff  und  ebenso 
fremder  räumlicher  Form  ,  sondern  farbige  Lichter ,  gestalt- 
los aus  dem  Dunkel  anschwellend  und  wieder  verklingend, 
in  allen  jenen  Verhältnissen  sich  suchenden  Eniklangs  dar- 
stellte ,  die  Farben  wie  Tönen  zukommen  ,  und  wenn  sie 
dies  Spiel ,  was  der  Musik  unmöglich  ist ,  durch  eben  so 
sinnige   räumliche  Bahnen   des   Kommens  und   Gehens   vei- 


42 


stärkte.  Töne  sind  der  iXatur  keine  Mittel  zur  Entfaltung 
freier  Schönheit ;  aber  in  ihrer  reichen  Gesammterscheinung 
langen  die  Stimmen  des  säuselnden  Laubes  zur  Erweckung 
der  Gefühle  hin.  Dagegen  bemächtigt  sich  der  Töne  die 
Kunst ,  und  in  ihren  Verwandscliaften ,  ihrem  Aufsteigen 
und  Niedersinken  und  allen  jenen  eilenden  oder  zögernden 
Uebergängen  und  zauberischen  Aehnlichkeiten  wiederholt  auf- 
tauchender Verknüpfungen  weiss  die  Musik  die  freie  Schön- 
heit des  geistigen  Lebens  zur  Erscheinung  zu  bringen.  Man- 
ches werthvolle  Ereigniss  des  Innern  Lebens  wird  gewiss 
nur  begriffen  werden  Jvönnen ,  wo  der  Mensch  nicht  seiner 
selbst  allein,  sondern  auch  seiner  bestimmten  Stellung  zu 
allem  Aeussern  mitgedenkt.  Allein  eben  so  sehr ,  wie  die 
scharfe  Zeichnung  unserer  eignen  Gattung  und  die  bestimm- 
ten Umrisse!  unserer  Lebensverhältnisse  uns  eigenthümliche 
Genüsse  schaffen ,  ebenso  hindern  sie  uns ,  mitzugeniessen, 
was  in  fremdartigen  Kreisen  des  Lebens  sich  gestalten  mag. 
Wir  wissen  nicht  wie  Fischen  ist  so  wohlig  auf  dem  Grund, 
und  die  eigene  Färbung,  die  andern  Geschöpfen  in  ihrer 
bestimmten  leiblichen  Einrichtung  den  Gesichtskreis  ihres 
Dichtens  und  Trachtens  umzieht,  ist  uns  undurchdringlich. 
Diesen  Bann  weiss  die  Musik  zu  lösen.  Unfähig,  wie  sie  ist, 
durch  ihre  allgemeinen  Mitte!  ein  bestimmtes  Ereigniss  in 
bestimmter  Umgebung  zu  malen ,  befreit  sie  uns  anderseits 
von  der  Beschränktheit  des  Lebens ,  das  durch  Gattungsbe- 
griffe unwiderruflich  begrenzt  ist,  und  in  freier  Schönheit 
lehrt  sie  uns  die  Seligkeit  und  den  Schmerz  kennen  ,  wie 
beide  als  ein  allgemeiner  dahinschmelzender  Geist  alle  Ge- 
biete des  Daseins  durchwehn,  und  statt  uns  an  die  scharf- 
kantig begrenzte  Welt  des  Menschen  zu  binden ,  führt  sie 
uns  vielmehr  unendlich  wechselnd  in  das  Leben  alles  Le- 
bendigen ,  ja  selbst  in  die  dumpfen  Bebungen  des  Bewusst- 
loscn  mitfühlend  ein.  Die  Natur  schafft  jedoch  nicht  nur 
diese  freien  ,  sondern  in  dem  Gebiete  des  Lebens  auch  an- 
hängende Schönheiten  ,   wenn  gleich  das  Urbild  der   letztem 


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nicht  überall  selbstständig  durch  einen  Begriff  der  Erkennt- 
niss  zu  fassen  ist.  Nicht  dies  allein  war  ihre  Aufgabe ,  dass 
Leben ,  diese  thatsächliche  Versöhnung  des  herrschenden  Ge- 
dankens mit  dem  widerstehenden  Stoffe,  in  irgend  einem 
Winkel  der  Welt  neben  andern  Erscheinungen  nur  auch 
verwirklicht  werde :  sondern  welche  Kreise  äusserer  Um- 
stände auch  dasein  mögen  ,  ihnen  allen  soll  diese  Lebendig- 
keit abgewonnen  werden.  Und  so  bildet  sich  eine  unendli- 
che Mannigfaltigkeit  der  lebenden  Geschöpfe ,  damit  nirgend 
eine  Lage  sei  ,  deren  Inhalt  nicht  durch  irgend  eine  Weise 
des  Lebens  genossen  werde.  Aber  nicht  alle  äussern  Ver- 
hältnisse werden  seiner  Ausbildung  gleich  günstig  sein,  und 
die  Mannigfaltigkeit  der  Geschöpfe  wird  in  einer  Reihe  all- 
mählich erst  durch  viele  Stufen  der  vollen  Lebendigkeit  sich 
nähern.  Ja  selbst  einzelne  Gattungen  der  Gewächse  und 
Thiere  wird  es  geben ,  in  denen  der  Gedanke  des  Lebens, 
zwischen  zwei  entschiedenen  Gestalten  schwankend ,  sich 
noch  nicht  der  Ungunst  des  Stoffes  vollkommen  entzogen 
hat ,  sondern  eine  Hässlichkeit  hervorbringt ,  die  zwar  im- 
merhin ihre  Bedeutung  in  der  Verkettung  der  ganzen  Reihe 
hat ,  aber  nicht  desw  egen  abgeläugnet  w-erden  sollte ,  damit 
man  alles  für  schön  erklären  könne ,  was  den  Anforderun- 
gen seiner  Gattung  vollkommen  entspricht.  W^ohl  kann  alles 
nur  in  seiner  Art  schön  sein  ,  aber  nicht  deswegen  ist  es 
schön,  weil  es  diese  Bestimmung  seiner  Art  erfüllt.  Der 
Werth  der  Gattungen  hängt  selbst  von  der  Kraft  ab,  mit  der 
sie  die  höheren  allein  werthvoUen  Gedanken  des  Lebens  in 
der  äussern  Erscheinung  zu  verwirklichen  verstehen.  Weit 
entfernt  daher ,  dass  Naturtreue  und  Richtigkeit  der  Gestal- 
ten die  einzige  Aufgabe  künstlerischer  Nachbildung  sein 
könnte ,  hat  vielmehr  die  Kunst  die  Pflicht ,  über  die  unbe- 
dingte Schönheit  der  Naturgeschöpfe  selbst  bei  der  Wahl 
ihrer  Gegenstände  zu  richten,  und  so  wenig  sie  leibliche  Ver- 
richtungen, deren  die  Natur  sich  bei  der  Verwirklichung  ihrer 
Gebilde  nicht  entschlagcn   kann  .    nachahmt ,    so  wenig  darf 


44 


überhaupt  die  Wirklichkeil  mancher  Gallungsformen  sie  ver- 
blenden, die  dem  Fortschritt  der  Naturentwickelung  wesent- 
lich, aber  dennoch  nicht  schön  sind.  Ebenso  sehr  aber  wird 
es  der  Kunst  Ireistehn,  Gegenden  zu  betreten,  die  der  Natur 
um  der  Beständigkeit  ihrer  verwirklichenden  Ursachen  willen 
unzugänglich  sind.  So  wenig  es  für  eine  unberechtigte  Aus- 
schreitung gilt,  von  dem  Gegebenen  erkennend  überzugehn 
zu  dem  Uebersinnlichen ,  der  Richtung  nachfolgend ,  in  der 
das  Sinnhche  über  sich  hinausdeutet,  so  kann  auch  die 
Betrachtung  der  wirklichen  Naturgestalten  eine  Richtung  ent- 
decken, nach  welcher  hin  alle  ihre  einzelnen  Verhältnisse 
streben,  ohne  doch  das  höchste  Ziel  einer  solchen  Reihe  zu 
erreichen.  Warum  sollte  die  Kunst ,  die ,  nichts  wirklich 
belebtes  schaffend ,  über  viele  Hindernisse  des  Naturganges 
hinwegschweben  kann,  dieses  nirgends  gefundene  Urbild 
nicht  in  ihrer  Weise  zu  verwirklichen  suchen?  Ja  selbst 
zusammensetzen  wird  sie,  was  nie  die  Natur  vereinigt,  und 
in  jenen  der  alten  Kunst  so  oft  vorschwebenden  Gestalten 
der  Hermaphroditen ,  in  den  mährchenhaftcn  Thieren ,  ja 
selbst  in  den  geflügelten  Engeln  wird  sie  Wesen  schaffen, 
die  der  Natur  völlig  fremd  und  unmöglich  sind;  und  doch 
wird  in  jeder  gelungenen  Darstellung  sich  sogleich  eine  ge- 
wisse Naturnothwcndigkeit  der  Bildung  aufdrängen,  die  kei- 
ne andere  Art  der  Verschmelzung  der  Gliedmassen,  kei- 
nen andern  Ansatzort  der  Flügel  gestattet,  als  wie  beide 
der  Künstler  gewählt  hat. 

Indessen  die  blosse  allgemeine  Gestalt  der  Gattung  will 
weder  die  Natur  noch  die  Kunst;  sie  wollen  Einzelnes,  le- 
bendig Wirkliches  bilden.  Und  hier  ist  wie  die  Natur,  in- 
dem sie  ihren  Gattungsbegriff  den  wirkenden  Kräften  zur 
Darstellung  überlässt,  so  auch  die  Kunst,  indem  sie  das 
Eigenthümliche  der  lebendigen  Einzelheit  nachahmt,  in 
Gefahr,  Hässliches  statt  des  Schönen  zu  bilden.  Die  Be- 
stimmung alles  Lebendigen  ist  nicht  allein  diese,  den  ge- 
meinschaftlichen allgemeinen   Begriff  seiner  Gattung  auf  das 


45 


Vollkommenste  zur  Erscheinung  zu  bringen,  sondern  überall 
bildet  die  Leiblichkeit  nur  die  nolhwendige  Grundlage,  die 
die  von  der  Seele  vorausgesetzt,  benutzt  und  in  sich  auf- 
genommen wird.  Daher  wird  keine  bildende  Kunst  den 
Menschen  im  Allgemeinen  darzustellen  streben;  sie  würde 
damit  nicht  ein  Urbild  liefern  in  dem  Sinne,  dass  dies  das 
letzte  zu  erreichende  GHed  in  der  ^eihe  menschlicher  Ent- 
wicklungen wäre,  sondern  nur  in  dem,  dass  es  die  erste 
unerlässliche  Bedingung  wäre,  ohne  welche  alles  Höhere 
unerreichbar  bliebe.  Eben  so  würde  sie  irren,  wenn  sie 
einen  Zug  dieser  höheren  geistigen  Bestimmung  einseitig 
hervortreten  und  das  gesammte  Bild  der  Gestalt  nur  von 
ihm  durchdrungen  sein  liesse.  Frömmigkeit,  Treue,  Gerech- 
tigkeit und  Standhaftigkeit  finden  sich  nicht  wie  verschiedno 
Thierarten  neben  einander  in  verschiedenen  Gattungen  der 
Geschöpfe  verwirklicht,  sondern  sind  gemeinsame  Aufgaben 
eines  einzigen  Geschlechts ,  das  schon  früher  mit  mannigfal- 
tigen natürlichen  Richtungen  der  Gefühle  und  Neigungen 
ausgestattet  ist,  ehe  es  jene  Gipfel  der  Bildung  zur  vorherr- 
schenden Beleuchtung  seines  Gemüths  macht.  Daher  sind 
alle  jene  Bildsäulen  oder  Gemälde,  die  auf  den  nackten 
Umriss  menschlicher  Gestalt  sogleich  jenen  höchsten  Schim- 
mer einer  vollendeten  Tugend  übertragen,  immer  nur 
Werke  der  von  fremdartigen  Bedürfnissen  des  Gemüths  auf- 
geforderten Kunst.  Sich  selbst  überlassen  wird  die  wahre 
Kunst  zwar  auch  nach  einem  Urbild  der  Menschheit  in  ei- 
ner dieser  bestimmten  Richtungen  streben,  aber  sie  wird  es 
so  mit  natürlichen,  angebornen  Zügen  ausstatten,  dass  we- 
nigstens eine  Erinnerung  an  die  Richtung,  in  der  der  Geist 
sich  seiner  nie  fehlenden  Naturbestimmlheit  entrang,  um 
dem  Höchsten  seiner  Bestimmung  allein  zu  dienen ,  die 
vollendete  Gestalt  noch  umschwebt  und  so  das  ursprüng- 
lich Natürliche,  das  wirklich  Lebendige  zum  Urbild  verklärt 
wird,  dieses  aber  aus  jenem  die  Lebenskräfte  zieht,  mit 
denen  es  sich  an  die  wirkliche  Welt  anschliesst.     Diese  Auf- 


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j^abe  haben  die  grossen  Maler  überall  zu  lösen  gestrebt, 
und  selten  zeigt  die  Mutter  Gottes  in  ihren  Bildern  dem  Be- 
trachtenden ein  Antlitz,  das  nie  und  nirgend  entstanden, 
von  allein  Anfang  an  eine  naturnothwendige  Heiligkeit  be- 
sessen hätte,  sondern  die  Züge,  unwillkührlich  an  einen 
Stamm,  eine  Familie  erinnernd,  deuten  auf  die  Natürlich- 
keit zurück,  die  zu  vollkommner  Verklärung  gelangt  ist. 
Diese  Forderung,  die  an  die  Bildhauerei  streng  zu  richten 
ist,  deren  schwere  Stoffe,  und  deren  Unfähigkeit,  durch 
Hinzufügung  einer  erläuternden  Umgebung  die  einzelne  Ge- 
stalt zu  heben,  sie  von  jeder  Darstellung  allzu  leichter  und 
einfacher  Gegenstände  abhalten  muss,  darf  auch  an  die 
Malerei  gerichtet  werden.  Nicht  die  erste  beste  scharf  ge- 
zeichnete Natürlichkeit,  nicht  die  Darstellung  überhaupt  ei- 
nes gesunkenen  Lebens  kann  ihre  Aufgabe  sein,  obgleich 
alles  Hässliche  und  Verzerrte  einer  selbstgefälligen  Kunstfer- 
tigkeit leichteren  Spielraum  zur  Spiegelung  ihrer  Geschick- 
lichkeit gibt ;  überall  vielmehr  wird  der  Keim  des  Besseren 
und  die  Trefflichkeit  gleichmässiger  innerer  Ausbildung  in 
diese  verkümmerten  Gestalten  hinein  zu  verfolgen  sein,  und 
die  Hebung  des  Gewöhnlichen  wenigstens  so  weit,  dass  die 
Möglichkeit  schöner  Entwicklung  hervorbricht ,  muss  das 
Ziel  auch  dieser  Kunst  bilden.  Da  indess  überhaupt  Ueber- 
windung  des  Stoffes  durch  den  Gedanken  die  Schönheit  be- 
gründet, so  ist  es  nicht  ganz  zu  verdammen,  wenn  Kunst- 
kenner besonders  in  der  Malerei  oft  eben  so  grossen  Werlh 
auf  die  Eigenthümlichkeiten  der  Pinselführung  und  Farben- 
gebung  legen,  als  auf  die  Schönheit  der  Erfindung.  In  der 
Malerei  mehr  als  in  andern  Künsten  gibt  es  eine  Mannigfal- 
tigkeit der  Wege,  den  gestaltlosen  Stoff  zur  Endwirkung  zu 
verbinden:  und  so  mag  die  Grossartigkeit  des  Handhabens 
der  Mittel,  selbst  eine  schöne  Entwicklung  des  schaffenden 
Gemüths,  auch  einen  Theil  der  Bewunderung  neben  der 
Schönheit  des  Bildes  selbst  für  sich  gewinnen. 

Jedes  wahrhaft  schöne  Werk  der  bildenden  Kunst,  wie 


47 


jede  schöne  Gestalt  der  Natur  weist  uns  aber  hinaus  auf 
die  Gesammtheit  der  Welt,  in  der  die  Beziehungspunkte  lie- 
gen für  alle  jene  geistigen  Kräfte ,  die  der  Gestalt  inwohnen, 
so  wie  die  Auflösungen  der  Missk.län£;e ,  die  sie  in  sich 
fühlt.  Das  wahre  und  höchste  Feld  der  Schönheit  ist  die 
Welt  der  Ereignisse ,  nicht  die  der  Gestalten.  Beobachtun- 
gen der  Natur  im  Kleinen  lassen  theils  die  ahnungsvollen 
Reize  freier  Schönheit,  theils  die  in  sich  beruhigte  Vollkom- 
menheit einzelner  Gestellten  erscheinen ;  ihre  Betrachtung  im 
Grossen  führt  überall  zunächst  zu  dem  Gefühle  der  Erha- 
benheit ,  das  sich  immer  an  die  Einfachheit  der  Gesetze  und 
Mittel  knüpft,  durch  welche  grosse  Missklänge  ausgeglichen, 
oder  eine  unabsehbare  Verwirrung  der  Mannigfaltigkeit  in 
ihrem  scheinbaren  Auseinanderweichen  dennoch  zusammen- 
gelenkt wird.  So  haftet  dieses  Gefühl  schon  an  dem  An- 
blick des  Einförmigen  und  Grossen  ,  hier  fast  immer  durch 
die  Ahnung  begründet ,  dass  eine  mannigfaltige  Welt  ihren 
Untergang  in  diese  Ruhe  gefunden  habe ;  so  knüpft  es  sich 
noch  mehr  an  die  fortschreitende  Erkenntniss  der  Gewalt, 
mit  welcher  im  Haushalt  der  Natur  die  verschiedenartigsten 
Kämpfe  widerstreitender  Ereignisse  zu  einem  einfachen  und 
bedeutungsvollen  Ergebnisse  zusammengezogen  werden.  Und 
wo  diese  Einheit  nicht  zur  Erscheinung  wird  ,  begleitet  die- 
selbe Erhabenheit  die  Voraussetzungen  der  Wissenschaft, 
die  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  überall  quellenden  Lebens 
auf  einen  Grundstoff,  ein  ursprünglich  Seiendes,  einen  ein- 
zigen Alles  durchströmenden  Gedanken  zurückführt.  Allein 
grade  diese  vollkomrane  Alles  umfassende  Erhabenheit  hat 
die  gefährliche  Spitze ,  in  ein  höchstes  Hässliches  überzuge- 
hen. Eine  Zeitlang  wohl  wird  sich  mit  jedem  Fortschritt 
der  Erkenntniss,  der  scheinbaren  Zwiespalt  durch  ein  höhe- 
res Gesetz  bändigt ,  ein  Gefühl  der  Befriedigung  verbinden  ; 
verfolgen  wir  aber  diese  Bahn ,  sehen  wir ,  wie  selbst  un- 
sere eigenen  Schicksale,  die  Bestrebungen,  in  denen  wir 
frei  zu  sein  glauben  ,  wie  alle  Verhältnisse  unsers  Geschlechts, 


48 


innerhalb  deren  für  uns  ein  unerschöpfliches  Spiel  ahnender 
Sehnsucht  und  Wonne    aufging,    wie  Alles    dies  durch  eine 
verborgene  Macht   ebenfalls    an   unabänderliche ,    gleichgiltig 
waltende  Gesetze   geknüpft  ist ,    dann  beginnt  allmählich  die 
Stille  der  Erhabenheit  uns  zu  still  zu  werden ,  und  aus  den 
schönen  Zügen ,    die  die   mit  sich  einige  Natur  uns  zukehrt, 
tritt   durch    einen  plötzlichen  Wechsel   der  Beleuchtung   das 
starre  Gerippe  der  Nothwendigkeit  hervor ,    auf  das  sie  sich 
stützen.       Erfahrungen  dieser  Art  hat  wohl  Jeder  gemacht ; 
es  bedarf  bei   dem   allen  immer  einer  besondern  Stimmung 
des  Gemüths,  um  sich  auf  dem  Gipfel  der  Erhabenheit  fest- 
zuhalten  und  nicht    in  den  Abgrund  des  Grauens  zu  fallen, 
der  daneben  gähnt.     Die  Naturwissenschaften  führen  auf  je- 
nen ,   so  wie  an  diesen ,    und  selbst  jene  Weltansichten ,  die 
in  der  Begeisterung    für  den  unbedingten  Urgrund  der  Welt 
schwelgen  ,    erscheinen   oft  plötzlich  dem  Gemüthe   als   eine 
trostlose  Oede,  in  der  mit  einer  unerschöpflichen  Triebkraft, 
wie  die  wuchernden  Gewächse  in  Sümpfen,  oder  das  wilde 
Fleisch  in  Geschwüren   sich  eine  unendliche  Mannigfaltigkeit 
zwar  entwickelt,     aber   in   gährender  Rastlosigkeit   nur  von 
unten  getrieben  ,  ohne  von  aussen  oder  oben  durch  ein  Ziel 
gehoben   und   erlöst  zu   werden  ,    dem  diese  bange  Unruhe 
zustrebte.       Die    Gründe    so    seltsamer    Gemülhsbewegungen 
sind  nicht  schwer  zu  finden.       Es  ist  einestheils  die  Bangig- 
keit ,    die  das  Bewusstsein  erzeugt ,    das  Letzte  gefunden  zu 
haben ,   was  hinter  allen  Erscheinungen   ruht ,    und    wonach 
die  Sehnsucht  lauge ,   ihres  eignen ,   jetzt  ersterbenden  Stre- 
bens   froh ,   gerungen  hat.       Ist  nun  das  endlich  Bekanntge- 
wordne    nicht   von    so    hohem  Werthe,    dass   auch  ohne  die 
Aufstachelung   eines   noch   unvollendeten   Strebens   die  Seele 
ihm  ewige  Theilnahme  widmen  kann ,  was  bliebe  ihr  übrig, 
als  mit  ihrem  Streben  auch  selbst   zu  vergehn?       Sie  fühlt 
diese  Nothwendigkeit   ihres   eignen  Unterganges,    wo    sie   in 
der  Betrachtung  der  Welt  nichts  als  jene  Erhabenheit  ewiger 
und   unerschütterlicher  Gesetze   im  Strudel  verworrener  Er- 


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scheinungen  findet.  Sie  findet,  dass,  wo  nicht  mehr  in  der 
Welt  wäre ,  dieser  Anbh'ck  die  Mühe  des  Suchens  täuscht, 
die  einer  ganz  andern  Befriedigung  für  tiefere  Bedürfnisse 
nachging.  Zu  der  Welt  der  Bewegungen  und  der  Ereignisse 
inuss  eine  Welt  der  Schmerzen  und  der  Wonne  kommen  : 
und  nie  wird  jener  Uebergang  vom  Erhabenen  zum  Grauen- 
haften vermieden  werden  ,  wo  jene  einfache  Welt  des  Be- 
griffs und  des  Daseins  als  das  letzte  Wirkliche  dasteht,  das 
nicht  noch  ausser  sich  selbst  ein  Ziel  hat,  dem  es  mit  aller 
seiner  Erhabenheit  dienen  muss.  Denn  davor  ergreift  uns 
ein  gerechtes  Grauen ,  dass  irgend  ein  Seiendes ,  irgend  ein 
Gesetz ,  irgend  ein  kalter  Gedanke  allein  das  Letzte  und 
Erste  sei ,  das  in  aller  Welt  zu  Grunde  liegt  und  sich  ver- 
wirklicht ;  viel  lieber  geben  wir  dem  Dasein ,  allen  letzten 
Abschluss  fürchtend,  ein  fremdartiges  Ziel  noch  ausser  ihm, 
damit  es  nach  dem  Masse  seines  Strebens ,  jenem  Ziele  sich 
zu  nähern  ,  einen  Werth  erhalte ,  der  in  ihm  selbst  jiicht 
gefunden  wird. 

Schon  früher  haben  wir  zugegeben ,  dass  alles  Schöne 
sich  auf  die  Fähigkeit  des  Geistes,  Lust  oder  Unlust  zu  em- 
pfinden beziehe.  Aber  damals  hätten  wir  uns  an  dem  Schö- 
nen und  allen  werthNollen  Gedanken  der  Welt  zu  versün- 
digen geglaubt,  wenn  wir  diesen  Erfolg  für  den  Zweck  der 
Schönheit  angesehn,  und  ihren  Beruf  nur  in  die  Befrie- 
digung unserer  eignen  Sehnsucht  gesetzt  hätten.  Viel- 
leicht haben  wir  hiermit  zu  viel  gethan  und  die  Berech- 
tioun"  der  Gefühle  verkannt.  Lassen  wir  ein  Weltall  in 
höchst  wechselnden ,  mannigfaltigen  Erscheinungen  jenen 
erhabenen  unerschütterlichen  Gang  befolgen,  der  geregelt 
durch  allgemeine  ewige  Gesetze  in  der  Gestalt  seiner  Er- 
gebnisse einem  einzigen  Gedanken  wankellos  entspricht, 
doch  nehmen  wir  zugleich  an ,  dass  wohl  ein  Geist  die 
Mannigfaltigkeit  dieser  Beziehungen  denkend  zu  der  Einheil 
eines  Bildes  zusammenfasse,  aber  dass  kein  Herz  in  der 
Welt  sei,    für  welches   das  All  lebendig  sich  bewege,    wie 


50 


sollte  in  dieser  Welt  der  Walirboit  noch  die  Schönheit  einen 
Plnlz  finden  ?  Gedanke  und  Sein  würde  so  zusammenfallen, 
dass  zwar  ein  müssiger  Vorstand  vielleicht  die  Müglidikeit 
des  Andersseins  ahnte,  ohne  diese  Verschiedenheit  bis  zu 
einem  Gegensatze  steigern  zu  künnen,  dessen  Begi'iir  nicht 
hloss  die  erkannte  Weile,  sondern  die  gefühlte  Bitterkeit  des 
Unterschiedes  cinschliesst.  So  wie  die  seiende  Welt  den 
Geist  voraussetzt,  dessen  selbsthewusstes  Weben  und  Leben 
die  zerstreuten  Beziehungen  in  eine  stetige  helle  Anschau- 
ung zusammenfasst  und  dadurch  erst  ihnen  Wirklichkeit 
gibt,  so  setzt  die  Schönluüt  auch  überall  den  fühlenden 
Geist  voraus,  nicht  um  von  ihm  als  schon  vorhanden,  nach- 
erkannt zu  werden ,  sondern  um  in  seiner  Berührung  zu 
cntstehn.  Ist  die  Schönheit  überhaui)t  die  Versöhnung  des 
Gedankens  mit  dem  Seienden,  so  ist  die  wahrhafte  höchste 
Schönheil  die  Versöhnung  des  Seienden  mit  dem  lebendigen, 
freien  Gedanken  des  fühlenden  Geistes.  Dieses  Gemüth 
aber,  an  das  alles  Schöne  sich  wendet,  ist  nicht  das  na- 
türliche mit  seinen  ihm  frcmdhcr  angebornen  Neigungen  und 
Leidenschaften,  noch  auch  das  allgemeine  mit  seinen  bestän- 
digen Galtungsmerkma  en ,  sondern  jenes  wirkliche,  das 
wohl  die  eigenthümliche  Kraft  leidenschaftlicher  Strebungen 
in  sich  empfindet,  aber  auch  den  höchsten  werthvollen  bi- 
hall  als  in  seiner  besondern  Thätigkeit  gegenwärtig,  von 
ihm  sich  durchdrungen  fühlt.  Und  so  indem  das  Gemüth 
sich  selbst  als  einen  Theil  der  werthvollen  Welt  weiss,  kann 
es  verlangen,  dass  das  Dasein  seinen  Wünschen  sich  beuge, 
und  dass  sich  als  letztes  Ziel  und  als  Kern  aller  Krhaben- 
heit  im  Ablaufe  der  Dinge  nicht  der  Begriff  irgend  einer  Zu- 
sammenstimmung und  Ausgleichung,  sondern  die  inhaltvolle 
Seligkeit  zeige,  die  aus  dem  Einklang  der  nolh wendigen 
Weltordnung  mit  ewig  berechtigten  Wünschen  und  Strebun- 
gen des  Gemülhes  hervorgeht.  Nicht  also ,  wie  jene  Erha- 
benheit, betrachten  wir  irgend  etwas  als  letzten  Inhalt  der 
Well,    dem   nicht    von   selbst  ein  Werlh  zukäme,    der  jede 


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weitere  Nachforschung  nach  einem  höheren  Ziele  ausschliesst. 
Und  diesen  Inhalt  meinen  wir  nicht  in  irgend  einem  Ge- 
danken zu  finden,  der  träumend  sich  nur  in  der  seienden 
Welt  entwickelte,  sondern  in  dem  Glücke  besteht  er,  das 
der  Versöhnung  dieses  Seienden  selbst  mit  dem  lebendigen 
Herzen  entspringt.  An  mancher  Nebenfrage  wollen  wir 
hier  vorübergehen,  helfend,  dass  kein  Gemüth  dieses  Glück 
mit  dem  vergänglichen  Reize  des  Angenehmen  verwechselt, 
und  überzeugt,  dass  nur  deshalb  manches  Herz  über  die  Se- 
ligkeit selbst  zu  einem  noch  Höheren  gelangen  möchte,  weil 
es  im  Genüsse  selbst  durch  die  leise  Erinnerung  der  Un- 
reinheit seines  Glücks  überrascht  wird,  oder  weil  es  vergisst, 
dass  neben  der  Betrachtung  der  Schönheit  noch  andere  Bah- 
nen des  Gedankens  laufen ,  denen  dasselbe  Ziel  vielleicht 
ernster,  doch  nicht  minder  werthvoU  erscheint.  Die  wahre 
höchste  Versöhnung  des  Daseins  mit  dem  Gedanken  wird 
nicht  in  der  äussern  Natur,  sondern  im  Geiste  vollzogen, 
und  er  feiert  sie,  geniessend  sowohl  die  Schönheit,  als  sie 
schaffend.  Für  beides  hat  man  oft  eine  eigenthümliche  Fä- 
higkeit des  Geistes  verlangt  und  geheimnissvoll  angedeutet. 
Dieses  Geheimniss  scheint  offenbar  zu  sein  und  beruht  in 
jener  engen  Verschmelzung  werthbestiinmender  Gefühle  mit 
Begriffen  der  Erkenntniss ,  die  uns  oft  selbst  überrascht, 
wo  wir  im  reinen  Denken  zu  sein  glauben,  und  die  in  der 
schönen  Einbildungskraft  gewohnte  Wirkungen  nur  stärker 
entfaltet.  Entgegengesetzte  Bewegungen  im  Räume  werden 
ausgeglichen,  nicht  versöhnt;  und  doch  trägt  schon  hier  die 
Anschauung  in  den  Begriff  des  Gegensatzes  die  Nebenbe- 
slimmung  einer  nur  fühlbaren  Feindseligkeit  hinein.  Aller- 
dings nun  unterscheidet  sich  die  Thätigkeit  jener  schönen 
Einbildungskraft  von  dem  Thun  der  gemeinen,  die  im 
Dienste  des  Verstandes  und  sinnlicher  Anschauung  denselben 
Namen  trägt.  Wenn  die  letztere  das  Weltall  denkt,  du  ver- 
bindet sie  Mannigfaltiges  unter  Gesetzen  zu  einer  Einheit 
eines  Gesammlbildes ;    wo   die   erstere    aber  so  anschauliche 

4* 


52 


Geslallcn  schafft,  da  empfindet  sie  zugleich  den  Schmerz 
oder  die  Lust  des  Schaffens,  wiederholt  im  Bilden  selbst 
die  strebende  Kraft  der  Mächte,  die  in  Wirklichkeit  Ihätig 
sind,  und  wo  sie  wie  jene,  das  Einzelne  auf  einander  be- 
zieht, fühlt  sie  den  Druck  und  die  Last  mit,  die  jede  lie- 
ziehung  auf  diese  Einzelnen  wirft,  die  Spannung  der  Ein- 
heit, die  Lust  uncrschüpilicher  Ausbreitung,  die  Bitterkeit 
der  Gegensätze,  die  Seligkeit  ihrer  Uoberwindung.  Und  so 
bildet  sich  im  Geiste  eine  zurückgespiegelte  urbildliche  Welt 
aus,  in  welcher  das  Gemülh  alle  ewigen  und  unverlierba- 
ren Bedürfnisse  mit  dem  erkennbaren  Gange  der  erhabenen 
Nothwendigkeit  ausgeglichen  hat;  und  diese  Wellansicht  ist 
nicht  nur  die  Beleuchtung,  die  jeden  Genuss  einer  gegebe- 
nen Schönheit  vermittelt,  sondern  auch  der  lebendige  Quell, 
aus  dem  alle  unsterblichen  Gebilde  schaffender  Kunst  her- 
vorü;ehn. 


Y. 


Spricht  man  von  der  Schönheit  im  Allgemeinen ,  so 
scheint  es  zuerst  schwierig,  dem  Gedanken  eines  Urbilds 
aller  Schönheit,  das  wir  in  einzelnen  Erscheinungen  hin- 
durchleuchten sehen,  einen  bestimmten  Inhalt  anzuweisen. 
Denn  die  schonen  Gestalten,  ja  selbst  die  Stoffe,  in  denen 
sie  ausgebildet  sind,  so  wie  die  Ereignisse,  sind  so  unver- 
gleichbar verschieden,  dass  das  in  ihnen  lebende  Urbild 
wenigstens  nicht  selbst  eine  eigenlhümliche  Gestalt  unter 
einer  Erscheinung  verhüllen  und  zugleich  offenbaren  kann. 
Die  letzten  Betrachtungen  werden  diese  Schwierigkeit  ge- 
mindert haben.  Die  Schönheit  an  sich  ist  weder  ein  ei- 
genlhümlich  Seiendes,  das  als  verhüllter  Kern  aus  der 
Schale  der  scheinbaren  Dinge  abgelöst  werden  könnte,  noch 
eine  Eigenschaft,  die  dem  Verschiedenartigsten  mit  immer 
gleicher  Anknüpfbarkeit  sich   darböte,    sondern    sie   ist   der 


53 


Siun  des  ganzen  Weltalls  mit  aller  seiner  Seligkeit,  zur  Er- 
scheinuug  plötzlich  ]\ommend  an  irgend  einem  Einzelnen, 
das  durch  sprechende  Züge  sich  entschieden  in  den  Zusam- 
menhang dieser  Welt  einreiht  und  allseitig  durch  leise  aber 
der  Ahnung  wenigstens  erkennbare  Beziehungen  die  Ge- 
sammtheit  der  Fülle  und  des  Reichthums  anklingt,  dessen 
einer  Theil  es  selbst  ist.  Und  eben  so  wesentlich,  als  der 
Schönheit  dieser  das  Ganze  umfassende  Werth  ist,  ist  ihr 
auch  dieses  Eingehn  in  das  Einzelne,  das  der  grösste  am 
schwersten  zu  überwindende  Feind  des  Gedankens  ist ;  ja 
wir  können  sagen,  dass  zwar  ein  Reich  der  Wahrheit  und 
der  ewigen  Gesetze  auch  an  sich  gedacht  werden  möge, 
ohne  in  eine  unermessliche  Einzelheit  der  Erscheinung  ein- 
zugehn;  dass  aber  das  Schöne  an  sich  selbst  nicht  ein 
Schönes,  sondern  nur  ein  Wahres  sein  würde,  wenn  nicht 
sein  Inhalt,  sein  Beruf  sich  in  die  Zersplitterung  endlicher 
Ereignisse  und  Gestalten  dahingäbe,  um  hier,  wo  allein  ein 
wahrhafter  Zwiespalt  wahrhafte  Versöhnung  erheischt,  eine 
überall  quellende  Beseligung  des  vollendeten  Sieges  zu  er- 
werben. 

Dass  der  wahrhafte  Genuss  der  Schönheit  erst  von  die- 
ser gewonnenen  Höhe  einer  ausgebildeten  Weltansicht  mög- 
lich sei,  wird  am  leichtesten  dann  zugegeben  werden,  wenn 
wir  die  Verschiedenheit  des  erscheinenden  Schönen  berück- 
sichtigen ,  in  der  auf  äusserst  mannigfaltige  Weise  auf  die- 
sen umfassenden  Hintergrund  hingedeutet  wird ,  der  allein 
die  einzelnen  abweichenden  Genüsse  zusammenhält.  Ebenso 
er^ibt  sich  leicht,  dass  ein  stufenweiser  Fortschritt  des 
Schönen  möglich  sei,  und  dass  nicht  alle  Erscheinungen 
mit  gleicher  Kraft  und  Eindringlichkeit  und  in  ebenso  aus- 
gebreiteter Ausdehnung  dieses  Urbild  hervorrufen,  das  ih- 
rer Auffassung  überall  entgegenkommt. 

Es  ist  aus  den  vorigen  Bemerkungen  klar,  dass  nun 
jene  Weltansicht,  von  der  Genuss  und  Erzeugung  des  Schö- 
nen  ausgeht,    nicht   selbst   die  wahre   und  vollständige  Lö- 


54 


suny  aller  Hlilhsol  der  Welt  enlballen  luuss ;  genug,  wenn 
sie  eine  Versländigung  des  Gemülbs  ist,  das  sich  die  ge- 
wisse Zuversicht  ihrer  vorhandenen  Lösung  gerettet  und  be- 
festigt hat,  wie  seltsam  auch  die  Beleuchtung  sein  mag,  die 
sie  über  das  Ganze  der  Welt  wirft,  und  wie  abgelegen  der 
Ort,  an  dem  sie  den  Schlüssel  aller  Geheimnisse  vermu- 
thet.  Indess  wie  mannigfaltig  auch  die  Weltansichten  ver- 
schiedner  Zeiten  und  Volker  sein  mögen;  so  lassen  sich 
doch  aus  dem  Hegriffc  ihrer  Aufgabe  drei  verschiedene  Fär- 
bungen der  Ansichten  hauptsächlich  hervorheben ,  in  denen, 
entsprechend  den  Gestalten  der  Schönheit  selbst,  der  Geist 
bald  unbefangen  sich  mit  der  Welt  und  ihrem  Gange  zu- 
frieden und  durch  ihn  selig  getragen  fühlt,  bald  den  Wi- 
derspruch hervorhebt,  der  in  vielfachen  Beziehungen  Be- 
stimnmng  und  Wirklichkeit  trennt,  sich  sehnend  nach  sei- 
ner Schlichtung ,  bald  endlich  mit  dem  Bewusstscin  solcher 
Gegensätze  auch  den  Trost  ihrer  nicht  jenseitigen ,  sondern 
ewig  sich  vollziehenden  Ausgleichung  verschmilzt.  Diese 
Lagen  des  Gemüths  der  Völker  gehören  tbeils  der  Geschichio, 
theils  werden  sie  noch  erwartet  und  zeigen  sich  nur  in  ein- 
zelnen, ungeordnet  vorauseilenden  Anklängen.  Aber  auch 
in  der  Geschichte  sind  sie  weder  einer  strengen  Zeitfolge, 
noch  einer  folgerechten  Entwicklung  nach  aus  einander  her- 
vorgegangen, sondern  wie  ursprüngliche  Anlage,  äussere 
Umgebung,  Gewohnheiten  des  Lebens  und  Schicksale  die 
Völker  bewegt,  haben  sich  auch  diese  Standpuncte  in  un- 
endlicher Mannigfaltigkeit  der  Schattirungen  bald  da  bald 
dort  gezeigt.  Aber  nur  sehr  selten  haben  sich  glückliche 
Umstände  zu  ihrer  so  ebenmässigen  Ausbildung  vereinigt, 
dass  sie  alle  Gebiete  des  Lebens  und  der  Kunst  beherr- 
schend, in  so  hoher  Vollendung,  wie  in  der  griechischen 
Welt,  bis  zu  entfernten  Zeiten  hell  und  sprechend  herüber- 
leuchten. 

Wie  die  Griechen  geworden  sind  ,    was  sie  waren  ,    ist 
unscrn  Blicken  fast  ganz  entzogen.      Bevölkert  durch  Ansie- 


55 


delungeu  der  verschicdenarligsleu  Menschen ,  halle  Griechen- 
land im  Gegensatze  zu  jenen  Ländern ,  wo  Völker  von  scharf 
umschriebner  Slammeigenthümlichkeit  eben  so  zäh  wie  das 
Gepräge  der  Nalur  auch  die  einmal  errungene  ersle  Stufe 
der  Bildung  festhielten  ,  einen  Keim  steten  Fortschritts  und 
im  Widerstreit  sich  entwickelnder  Kräfte  gehegt.  Einge- 
schlossen in  ein  kleines  überall  vom  Meer  umströmtcs  Gebiet 
empfanden  die  Bewohner  weder  die  Schrecken  der  Wüste, 
noch  die  Unhehnlichkeit  jener  masslosen  Bevölkerung  der 
asiatischen  Länder ,  in  denen  die  unerschöpfliche  Zeugungs- 
kraft des  Geschlechtes  W^erth  und  Streben  des  Einzelnen  in 
seiner  Schätzung  herabsetzt.  Die  Geringfügigkeit  des  Völ- 
kerverkehrs hatte  die  Räume  der  Erde  noch  nicht  aufge- 
schlossen ,  und  das  unermessliche  Aussen  ,  das  in  unserer 
Zeit  bald  bang ,  bald  erhebend  über  unsern  Gedanken 
schwebt ,  war  dort  noch  eine  enge  Begrenzung ,  nach  de- 
ren nachbarlichen  Küsten  die  Sagen  die  Spuren  der  ersten 
Ansiedelungen  verfolgten ,  auch  sie  so  in  den  heimischen 
Verband  mit  aufnehmend.  Und  so  ruhte  denn  damals  die 
Erde  als  eine  flache  Scheibe  unter  dem  heitern  Himmel, 
dessen  glänzende  Gestirne  nicht  Zeichen  einer  thcilnahmlosen 
Unermesslichkeit ,  sondern  der  ewig  waltenden  Güte  waren, 
mit  der  der  Kreis  der  Götter  das  Leben  der  Erde,  das  ein- 
zige Leben,  zu  schützen  und  zu  schmücken  nicht  müde  ward. 
Solche  Zustände  des  Lebens  und  der  Kenntnisse  ,  wo  freund- 
liche Täuschungen  die  Fernen  der  Welt  begrenzen ,  damit 
das  Gemüth  ungeblendet  von  ihrem  zweifelhaften  Lichte, 
bei  sich  traulich  weile,  können  zu  jenem  eigenthümlichen 
Selbstgenuss  des  Daseins  mitgewirkt  haben,  der  in  allen 
Theilen  der  Griechischen  Weltansicht  erheiternd  hervorscheint. 
Während  andere  Völker  zum  Theil  tiefsinnige  Gedanken  über 
den  Zusammenhang  der  Welt,  der  Bedeutung  des  Begrifl's 
allein  folgend ,  in  fratzenhaften  Gestalten  ausprägten ,  bilden 
zwar  einzelne  Ungeheuer  auch  noch  in  dem  Griechischen 
Sacenkreise   halb  verschwimmende  Randverzierungen ,    aber 


55 


alles  wahilialt  Wcrllnolle  der  gülUiehcii  Welt  ist  in  luensch- 
liche  Erscheiming  und  Gefühlsweise  übergegangen  ,  und  er- 
hebt theils  die  Menschheit  zur  Würde  des  Göttlichen ,  theils 
nähert  sie  dieses  jener  überall  herrschenden  lleimallichkeit 
der  Auffassung.  So  \vie  die  Pflanze  aus  ihrem  Keime  alle 
Theile  ihrer  Gestalt  mit  eigner  inuohnender  Triebkraft  ent- 
wickelt, und  Wolken  und  Winde  sie  nie  zu  etwas  anderm 
machen,  als  ihre  Beslinunung  war,  so  ruht  auch  jedes  ein- 
zelne Gemüth  völlig  auf  sich  selbst ,  ein  aus  dem  Ganzen 
gegossenes  Ganze ,  das  zwar  äussere  Einflüsse  in  ihren  Stru- 
del reissen  können,  aber  nicht  in  seinem  wesentlichen  Kerne 
verändei'n.  Mrgend  hat  die  Griechische  Kunst,  was  uns  so 
nahe  liegt,  versucht,  den  stufenweisen  Einlluss  äusserer  Ge- 
Avalten  auf  die  Ausbildung  des  Gemütbs  und  Geistes  ihrer 
handelnden  Gestalten  nachzuweisen ,  sondern  so  wie  sie  sind, 
sind  sie  immer  gewesen  und  keine  fremde  Kraft  hat  andere 
Spuren  an  ihier  Sinnesart  zurückgelassen  als  die  des  Schmer- 
zes oder  Zornes  über  vereitelte  Bestrebungen,  deren  Missge- 
schick doch  die  angeborne  Neigung  nicht  von  gewohnten 
Bahnen  zurückschreckt.  In  diesen  Schranken  angeborner 
Natur  liegt  die  Festigkeit  der  einzelnen  Gestalten,  und  neid- 
los finden  Homers  niedere  Geister  es  ganz  natürlich  ,  dass 
der  schlechtere  Mann  dem  Besseren  gehorche.  Diese  Stim- 
mung ist  ohne  Zweifel  bald  in  den  Bestrebungen  des  Ehr- 
geizes untergegangen  ,  die  auch  die  Griechische  Welt  zu 
bewegen  begannen  ,  aber  inmier  hat  diese  Ruhe  einer  frü- 
heren Weltansicht  wenigstens  als  Erinnerung  auch  über  der 
späteren  Welt  geschwebt ,  und  die  Händel  des  gewöhnlichen 
Lebens  haben  nie  einen  Zugang  in  das  Reich  Griechischer 
Kunst  gefunden.  Dieser  gemeinsame  Zug  nun  einer  voll- 
ständigen unbefangnen  Befriedigung  mit  den  natürlichen 
Grenzen  und  Schicksalen  des  eignen  Wesens  und  die  Furcht- 
losigkeit vor  aller  Veränderung  desselben  durch  den  Lauf 
des  Lebens  durchzieht  alle  übrigen  reichen  Einzelheiten  jener 
Kunstanschauungen.       Er  zeigt   sich,    wenn  selbst  die  Alles 


56 


in  seinem  Innersten  umwandelnde  und  neu  erschaffende  Lie- 
be dem  Griechen  nur  als  eine  flüchtige  Herabneigung  eines 
in  sich  wankellosen  Gemüths  zu  dem  Gegenstand  heiterer 
und  freundlicher  Begehrung  erscheint,  und  nicht  minder  zeigt 
er  sich  in  allen  jenen  Begriffen  der  Verschuldung ,  die  nicht 
gestatten ,  Schuld  der  Absiebt  und  Unglück  in  der  Verket- 
tung der  Ereignisse  zu  trennen,  sondern  die  Gesammtheit 
der  Uebel  überhaupt  dem  zurechnen ,  dessen  Fuss  arglos 
auf  dem  Wege  des  Lebens  einen  unheimlichen  Ort  betrat, 
aus  dem  dichtgesätes  Elend  mit  unwillkührlicher  Federkraft 
craporsprang.  Er  zeigt  sich  endlich  selbst  in  der  Einfach- 
heit der  alles  Reizes  der  Neuheit  entbehrenden  äussern  La- 
gen ,  in  denen  die  Dichter  ihre  Gestalten  uns  vorführen ,  als 
in  sich  werthvolle,  der  Aufregung  durch  ungewöhnliche  An- 
spannung unbedürftig. 

Ja  selbst  die  Leerheit  jenes  vielgefeierlen  und  dunkel 
angedeuteten  Schicksals ,  das  über  allem  Geschehen  schwebt, 
bezeichnet  den  Geist  der  gesammten  Ansicht ,  die  befriedigt 
von  dem  Leben  und  seinem  Inhalt,  nicht  unruhig  wurde, 
wenn  es  immer  so  war ,  wie  es  in  einem  Augenblicke  ist, 
und  die  dem  Gegenwärtigen  nicht  erst  durch  die  Ahnung 
eines  fernen  Zieles  Werth  geben  zu  müssen  glaubte ,  dem 
ein  unergründliches  Schicksal  in  gewaltigen  Schwingungen 
die  Welt  zuführt. 

Die  Gew  alt ,  die  es  uns  über  unsere  Neigungen  und 
Vorstellungen  kostet ,  wenn  wir  uns  in  diese  anspruchslose 
Heiterkeit  des  Griechischen  Lebens  zurückdenken  wollen, 
überzeugt  uns  am  besten  ,  wie  viele  zurückgedrängte  Wün- 
sche und  Bewegungen  des  Gemüths  allmählich  den  starken 
Bau  dieser  Weltansicht  untergraben  musstcn.  Diese  neue 
Richtung ,  das  Bewusstsein  eines  nicht  von  selbst  versöhnten 
Bruches  des  Daseins  mit  seiner  Bestimmung ,  und  zugleich 
die  ewig  mit  eingeschlossene  Hoffnung  der  Erlösung  hat  eine 
lange  Zeit  Leben  und  Kunst  beherrscht.  Man  hat  sich  ge- 
wöhnt, sie  unter  dem  Namen  der  romantischen  Weltansicht 


58 


bald  mit  dem  C^hristcntlium  ,  bald  mit  dem  neuen  Loben, 
das  aus  den  Trümmern  der  Römischen  Herrschaft  erwuchs, 
zusammenzustellen ;  allein  in  weit  früherer  Zeit  zeigen  die 
Gesüni^c  der  Hebräer,  und  jene  indischen  Träume,  die 
durch  seltsame  Büssungen  das  menschliche  Geschlecht  gött- 
liche Natur  wiedererwerben  Hessen,  dieselbe  Masslosigkeit 
übergreifender  Sehnsucht  und  das  wechselvolle  Zwielicht, 
das  von  dem  Gefühl  eines  zu  versöhnenden  Abfalls  über 
alle  Erscheinungen  ausfloss.  Solchen  Zeitaltern  gehört  die 
Furcht  der  Verführung  ;  ein  dem  tageshellen  Leben  der 
Griechen  unbekannter  Gedanke.  Hier  schlummern  in  dieser 
zweideutigen  Welt  der  Gewalten  viele,  die  unbedacht  und 
arglos  aufgerufen ,  nicht  blos  Schicksal  und  Elend ,  sondern 
innere  Vernichtung  und  Verdammniss  über  den  Geist  brin- 
gen, der  sich  ihnen  selbst  willenlos  ergab.  Verschwunden 
ist  jene  strenge  und  doch  so  milde  Selbstständigkeit  des 
Geistes ,  die  bei  den  Griechen  keiner  besondern  Gewähr 
bedurfte ,  sondern  einfach  aus  dem  gediegenen  Einklänge 
der  Welt  hervorging ;  hier  muss  sie  wiedergew  onnen  wer- 
den durch  die  einzelnen  glücklichen  Zauber ,  die  an  irgend 
einem  vergessenen  Orte  der  Welt  ruhen ,  und  zu  denen 
man  hinabsteigen  muss  ,  um  auf  dunklen  Irrwegen  zu  der 
Anschauung  des  freudigen  Tages  zurückzukehren.  So  ist 
hier  weder  Natur  noch  Leben  mehr  eine  otrene  Gegend, 
sondern  Alles  hat  Hinterhalte;  und  verlorne  Stimmen,  bald 
der  Angst ,  bald  nahender  Erlösung ,  schweifen  vielfarbig 
über  diesem  dunkeln  Hintergründe.  Vergangen  ist  die  Freu- 
de an  dem  gegenwärtigen  Dasein  und  seiner  heimischen 
Breite ,  eine  Hast  der  Entwicklung  nach  einem  fernen  Ziele 
zu  lehrt  über  die  einzelnen  Zierden  des  Lebens  hinwegeilen, 
und  in  der  Bedeutung  der  Ereignisse,  in  denen  das  eigent- 
lich werlhvoUe  Schicksal  der  Welt  zu  Tage  kommt ,  geht 
der  Antheil  zu  Grunde,  der  an  der  festgorundelen  menschli- 
chen Entwicklung  abgeschlossener  Gestalten  genommen  wer- 
den könnte.     Eine  so  kämpfende  Ansicht  mussle  sich  daher 


59 


auch  dem  Ghristenlhunie  und  seiner  ruhigeren  und  gefasste- 
ren  Sehnsucht  anschliessen ,  und  nicht  weniger  angemessen 
war  es  ihr,  die  heiligen  Begebenheiten,  die  jenes  feiert,  zu 
der  stehenden  göttlichen  Welt  ihrer  KunstschOpfungen  zu  ge- 
stalten ,  der  nun  noch  die  Liebe  sich  anschloss ,  die  zaube- 
risch alle  natürlichen  und  sittlichen  Reize  und  Gegenreize 
des  Lebens  in  sich  verbindet. 

Das  Zeitalter  solches  Glaubens  w»r  kein  Zeitalter  der 
Naturkennlniss ;  als  diese  begann ,  halj^n  jene  Ansichten 
grossentheils  aus  dem  Glauben  sich  in  die  Kunstwelt  zurück- 
gezogen ,  und  selbst  hier  erscheint  ihr  farbiges  Spiel  dem 
nüchternen  Geiste  naturwissenschaftlicher  und  geselliger  Auf- 
klärung schon  zu  ^Yillkührlich ,  um  noch  lange  mit  dem 
Geiste  der  Zeit  getragen  zu  werden.  Aber  das  dritte  Glied 
in  der  Entwicklung  aller  Weltansichten  scheint  der  Geschichte 
noch  zu  fehlen  ,  und  selbst  die  grossarligsten  Kunstleistun- 
gen der  letzten  Zeiten  beruhen  mit  ihrem  grösseren  Gewichte 
auf  dem  Geiste ,  den  Alterthum  und  Mittelalter  uns  überlie- 
fert haben. 

Die  Unendlichkeit  des  Raumes  und  der  Zeit,  die  unsere 
Anschauungen  durchdringt  ,  erlaubt  uns  nicht  mehr  jene 
Häuslichkeit  der  Sage ,  die  das  ganze  erscheinende  Leben 
an  besondern  Stellen,  zu  besondern  Zeiten  mit  dem  höhern 
Leben  ewiger  Bedeutung  zusammenhangen  lässt ,  und  zwi- 
schen zwei  begrenzten  Endpuncten  alle  Geschichte  einschal- 
tet ,  unbekümmert  um  die  Oede  des  Anfangs  und  des  En- 
des. Wir  fühlen  uns  vielmehr  genöthigt,  diesen  Zusammen- 
hang und  die  Rückkehr  des  Irdischen  zum  Göttlichen  als  ei- 
nen in  Wahrheit  ewigen  und  alle  Wirklichkeit  erfüllenden  zu 
denken ;  was  in  früheren  Ansichten  als  einmalige  Thatsache 
den  wirren  Weltlauf  unterbrach ,  das  wird  zwar  in  seiner 
Würde  und  Heiligkeit  auch  uns  gelten  können ,  aber  nicht 
ohne  dass  in  dem  scheinbar  verwahrlostesten  Treiben  der 
Wirklichkeit  auch  ein  stetiges  Band  sich  hindurchziehe ,  je- 
dem einzelnen  Gemülhe  fortwährend  ergreifbar.    Was  früher 


59 


als  gespeiislerhafter  Trug  ,  als  eine  verführende  Gewalt  des 
Aeussern  erschien  ,  wird  sich  iiullüsen  in  die  ruhige  Be- 
trachtung der  unzähligen  notürlichen  Bedingungen  ,  von  de- 
nen das  Leben  des  Einzelnen  so  wie  das  der  Gesellschaft 
abhängig  ist ,  und  so  werden  uns  diese  Aussichten  in  eine 
klarere  Unerinesslichkeit  hinausweisen,  als  die  war,  in  der 
die  Zeiten  der  Sehnsucht  schwärmten.  Jene  bange  Angst 
des  Gefallenseins  wird  deutlicher  sich  in  die  Schuld  des 
Gewissens  und  in  jene  Mängel  natürlicher  Bildung  trennen, 
die  nur  durch  eine  selbstlhätige  Erhebung  des  Geistes ,  der 
im  Gefühl  seiner  Kraft  ihrer  spottet,  ohne  sie  zu  fürchten, 
wahrhaft  überwunden  werden.  Nach  dieser  Seite  hin  wird 
die  Kunst  einem  zärtlichen  GemUthe  die  Ueberwindung  eines 
unredlichen  Ekels  zumuthen  ,  der  uns  so  oft  sehnsuchtsvoll 
nach  einem  höhern  Ziele  jagend ,  vergessen  lässt ,  dass  die 
Lage ,  in  der  wir  wirklich  uns  befinden ,  in  der  That  von 
tausend  Einflüssen  beherrscht  wird  ,  die  zunächst  weit  von 
jenem  Ziele  abzuführen  scheinen.  Aber  indem  sie  diese  An- 
nmthung  stellt,  wird  die  Kunst  auch  mit  dem  tiefen.  Glänze 
des  Humors ,  dessen  Auftauchen  schon  in  früheren  Zeiten 
eine  Vorherverkündigung  dieser  Weltansicht  war ,  in  dem 
scheinbar  Gemeinen  die  Spuren  des  edlen  Gehaltes  zu  be- 
leuchten wissen ,  so  wie  sie  anderseits  die  dunkeln  Schatten 
nicht  verbirgt ,  die  jedes  irdische  Licht  dennoch  im  Strahl 
einer  höheren  Flamme  wirft.  So  wie  die  Geschichte  der 
neueren  Zeit ,  unähnlich  der  traulichen  Beschränktheit  jedes 
Stammes  in  seinen  Grenzen ,  wie  sie  oft  das  Alterthum  dar- 
bietet ,  besonders  durch  den  allseitigen  Yölkerverkehr  und 
die  Beziehungen  einen  sprechenden  Zug  erhält ,  die  die 
Schicksale  der  entlegensten  Gebiete  mit  einander  verknüpfen, 
so  strebt  auch  die  Kunst  einer  Auffassung  des  Lebens  zu, 
in  der  keiner  der  Umstände,  die  auf  seine  Gestaltung  wenn 
auch  entlegen  und  unscheinbar  einwirken ',  vergessen  wird. 
Nicht  das  Gcmülh ,  das  unbefangen  sich  wie  eine  Pflanze  in 
seiner  schönen  Natürlichkeit  entwickelt,   nicht  das  Herz,  das 


60 


an  verzehrender  Sehnsucht  aus  einer  träumerisch  ahnungs- 
vollen abgefallnen  Welt  in  den  Ilimmel  rathlos  emporzuran- 
ken sucht ,  sondern  der  Geist ,  der  seiner  Kräfte ,  seiner 
Ziele ,  seiner  Mittel  sich  ebenso  bewusst  ist ,  als  der  Welt, 
der  er  sie  zuwenden  will ,  und  der  Stellung ,  die  ihm  viel- 
fache Beziehungen  in  ihr  anweisen ,  wird  vorzugsweise  der 
Held  des  Lebens  wie  der  Kunst  sein  müssen.  Eine  wahre 
und  edle  Kunst  freilich  wird  keine  einzige  Schönheit  aus 
sich  verbannen  ,  und  so  werden  auch  Gestalten  der  früheren 
Wtltansichten  fortleben  und  aufgenommen  in  diese  umfas- 
senderen Betrachtungen  die  gewohnte  bald  beschwichtigende 
und  mildernde,  bald  sanft  aufregende  Gewalt  über  alle  Ge- 
müther behaupten. 

Die  Erfüllung  dieser  Geschichten  ist  noch  fern.  Was 
wir  jetzt  an  Kunsterzeugnissen  besitzen  ,  die  Natur  ,  Staat, 
Gesellschaft  und  wirkliches  Leben  in  ein  gemeinsames  Bild 
zusammenfassen  ,  reicht  an  ^^  ahrer  Tüchtigkeit  des  Sinnes 
und  der  Gestaltung  meist  kaum  bis  an  die  Grenzen  der 
Kunst,  und  doch  mag  selbst  dies  mehr  für  die  wüste,  ge- 
setzlose Verwirrung  von  Kräften  gelten ,  die  einem  Werden 
erst  zustreben ,  als  für  ein  Zeichen  des  gänzlichen  Verfalls 
und  Unvermögens  zur  Ausbildung  künstlerisch  bedeutsamer 
Wel  lausichten. 


Druck  von  E.  A.   llutli   in  (Jüttingen. 


«aa^pI 


3293 


Lotze,   Hermann 

lieber  den  begriff  der 
Schönheit 


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