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Full text of "Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholera-frage und über die nächsten ..."

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iLIOTIIEEK 
S MUSEUM 



/^y 



tJeber den gegenwärtigen Stand 



der 



Cholera-Frage 



und über 



die nächsten Aufgaben 



zur 



weiteren ErgriLndnng ihrer Ursachen. 



Von 



Max V. Pettenkofer, 

Dr. med., Obermedioinalrath and o. o. Professor der Hygiene an der UniyersitSt Hfinohen. 




.^. 






! J 'i 






Mfinehen 1873. 
B. Oldenbourg. 






■-■- 4 



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Druck Ton 0« B. Schur ich in Hündien. 






uo oft ich auch schon das Wort in dieser Angelegen- 
heit ergriffen habe, dass ich endlich dessen wohl müde sein 
und die weitere Entwicklung sich selbst oder Anderen über- 
lassen könnte, so halte ich es doch für meine Pflicht, ge- 
rade jetzt wieder die Stimme zu erheben, wo uns in Europa 
eine grössere Invasion der Cholera neuerdings bevorsteht. 
Ich halte es für Pflicht, noch vor den möglichen Ereignissen 
schon des nächsten Jahres einen Yersuch zu machen, eine 
Klärung widerstreitender Ansichten herbeizuführen, um dann 
vielleicht mit vereinten Kräften neue bessere Bahnen als 
bisher verfolgen zu können« Der Mangel an Uebereinstimm- 
ung der Anschauungen in wesentlichen Punkten ist nicht 
nur ein Hinderniss für die Entwicklung und den Fortgang 
der Forschung im Allgemeinen, sondern zugleich eine Ver- 
anlassung zur Zerfahrenheit, zur nutzlosen Verschwendung 
der Kräfte des Einzelnen in allen beliebigen unfruchtbaren 
Richtungen. 

Ich knüpfe diessmal an einen concreten Fall an, an 
eine Schrift, welche die Bekämpfung meiner Anschauungen 
sich zum Ziele gesetzt hat« Die jüngst erschienene, in vieler 
Beziehung sehr gründliche Arbeit von Sander ^ enthält 



1) XJnterauohiiiigen über die Cholera in ihren Beziehungen zu 
Boden und Grundwasser, zu socialen und Beyölkerungsyerhältnissen. 
Yen Dr. Fr. Sander, Arzt des städtischen Krankenhauses zu Barmen. 
Köln 1872, Druck von du Mont-Sohauberg. 



ivi375527 



4 Ueber.den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

neben werthvollen Thatsachen auch eingehende Betracht- 
ungen über die Verbreitungsart der Cholera, über die Zuläs- 
sigkeit oder Unzulässigkeit der Annahme eines wesentlichen 
Einflusses von Boden und Grundwasser u. s. w. Dieser Theil 
der Arbeit enthält nichts Neues für mich, und erscheint mir 
nur als eine Fortsetzung jener vorwiegend skeptischen Kritik, 
wie sie auch von Andern schpn wiederholt geübt worden 
ist; aber während ich nun darüber mit ihrem Verfasser 
diskutire, bin ich mir wohl bewusst, dass ich nicht blos zu 
ihm, sondern zu einem grossen Theil der praktischen Aerzte 
überhaupt spreche, in deren Händen die öffentliche Meinung 
über diese Fragen fast ausschliesslich ruht. Ich betrachte 
daher Sander nicht im Geringsten als einen persönlichen 
Gegner, sondern nur als den Mandaten einer Gegenpartei, 
und auch er soll in mir ^ur den Anwalt einer Sache er- 
kennen, die ich für ebenso gerecht, als praktisch wichtig halte. 

Die Form der Streitschrift scheint mir für jetzt am 
geeignetsten zu sein und am kürzesten Wege zum Ziele zu 
führen, weil da jene Punkte, über die schon mehr oder 
weniger Uebereinstimmung besteht, gar nicht erwähnt zu 
werden brauchen, und eigentlich nur die streitigen Punkte 
zur Sprache kommen. 

Sander kom\nt nicht dazu, die Existenz einer ört- 
lichen und zeitlichen Disposition für Choleraepidemieen ent- 
schieden in Abrede zu stellen und die Cholera als gewöhn- 
liche ansteckende Krankheit zu betrachten, er bezweifelt 
nur, dass der Boden .einen wesentlichen Theil der ört- 
lichen, und die Grundwasserverhältnisse einen wesent- 
lichen Theil der zeitlichen Disposition ausmache, und 
glaubt ferner, dass die Cholera manchmal sich auch ohne 
diese Hilfsmittel epidemisch verbreite, und dann weder ört- 
liche noch zeitliche Disposition, sondern nur einen Cholera- 
keim und ansteckungsfahige Menschen oder individuelle Dis- 



u. üb. d. nftchsten Aufgab, z. weiteren ErgrAnduiig ihrer UrBachen. 5 

Position bedürfe, wie z. B. auf Schiffen, — kurz, er glaubt, 
dass sich die Cholera zeit- und stellenweise wie eine ge- 
wöhDÜche contagiöse Krankheit verhalte, und dann wieder 
auch nicht so. 

Sander hat seine Hauptbedenken gegen das Wesent- 
liche eines Einflusses von Boden und Grundwasser Seite 39 
seiner Schrift selbst zusammengestellt, und es wird wohl das 
beste sein, diese Zusammenstellung der nachfolgenden Be- 
sprechung zu Grunde zu legen. 

1) Sander hält unter Umständen eine Mitwirkung des 
Bodens bei der Verbreitung der Cholera allerdings 
für sehr wahrscheinlich, aber er kann nur nicht zu- 
geben, dass der Boden eine wesentliche, durch 
nichts zu ersetzende Rolle bei der Cholera spiele. 
Sander glaubt Thatsachen zu kennen, welche eine 
Epidemie aus einer Yervielfältigung des Cholerakeimes 
im menschlichen Körper und aus einer Ansteckung 
durch die Excremente der Kranken am natürlichsten 
erklären lassen. 

2) Sander nimmt an, dass ich behauptete, der .Cholera- 
keim vermehre sich nur im Boden. 

3) Sander tadelt, dass es mir noch nicht gelungen ist, 
für jeden einzelnen Fall giltige, ganz bestimmte und 
untrügliche Kennzeichen eines Cholerabodens auf- 
zustellen, und in einem solchen Boden auch jenen 
Grundwassergrad anzugeben, der erkennen lässt, wann 
es für den Ausbruch einer Choleraepidemie niclit zu 
feucht und nicht zu trocken, sondern gerade recht 
wäre. 

Nebenbei wird mir mehrfach in's Gedächtniss gerufen, 
dass ich 1856 manches noch anders angesehen und dar- 
gestellt hätte, als 10 Jahre später, dass ich dadurch in 
Widersprüche verfallen sei. 



6 Ueber den gegenwArtigen Stand der Cholerafrage 

In dem ersten Satze S anderes spricht sich jene üa- 
entschiedenheit und Unklarheit aus, welche in einer weit 
verbreiteten Meinung wurzelt, die ich aber thatsächlich nicht 
für begründet erachten kann* Diese Meinung besteht haupt- 
sächlich darin, dass man contagiose Krankheiten und ver- 
schleppbare Krankheiten für identisch hält, dass man folgert, 
wenn eine Krankheit durch den menschlichen Verkehr ver- 
breitbar, verschleppbar ist, dann ist sie auch contagios. Ich 
habe mich über diesen Punkt erst kürzlich bei einer Be- 
sprechung der Aetiologie des Typhoids oder Abdominal- 
typhus im Kreise des Münchner ärztlichen Vereines zu 
äussern Gelegenheit gehabt, l) Was ich dort mit Bezug auf 
das Typhoid gesagt habe, passt Alles auch auf die asiatische 
Cholera und das Gelbfieber, und ich erlaube mir, die wesent- 
lichsten Sätze hier zu wiederholen. 

Zwei Vorstellungen über die Ursachen und das Auf- 
treten epidemischer Krankheiten stammen aus uralter Zeit; 
das sind Contagium und Miasma. 

In diesen Vorstellungen lag anfänglich ein sehr richtiger 
sachlicher Sinn und Kern. Man bezeichnete mit beiden Aus- 
drücken specifische Ursachen von Volkskrankheiten, aber 
von verschiedener lokaler Abstammung; mit Contagium die- 
jenigen, welche ihr Entstehen innerhalb des Körpers des 
Kranken selbst haben, mit Miasma diejenigen, welche ausser- 
halb des Körpers des Kranken, in seiner Umgebung, ent- 
stehen. — Man war nie zweifelhaft, dass das impfbare 
Syphilis- und Blatterngift vom menschlichen Körper, von 
Syphilis- und Blatternkranken erzeugt werde, und ebenso 
war man nie zweifelhaft, dass das Malariagift nie vom Men- 



1) üeber die Aetiologie des Typhus. Vorträge, gehalten in den 
Sitzungen des ärztlichen Vereins zu München von Buhl, Friedrich> 
Y. Qietl, Y. Pettenkofer, Bänke, Wolfsteiner. Manchen, 1872 
bei J. A. Finster lin. 



.1 . ..sKjl ... -r i^aia^HK-. - - ' ■-'■ -'■ — ^ ' 



u. üb. d. nftohsten Aufgab, z. weiteren ErgrÜndung ihrer Ursachen. 7 

sehen stammt, sondern stets in dessen Umgebung von der 
Oertlichkeit erzeugt wird^ den Menschen nur vergiftet, wie 
ihn Arsenik oder ein anderes Gift vergiftet. 

Den Begriff Umgebung des Kranken oder Oertlichkeit 
beschränkt man im Hinblick auf die Malariakrankheiten 
gewöhnlich gerne ausschliesslich auf den Boden, was aber 
gewiss nur willkürlich und für viele Fälle irrig ist, denn 
es kann Infektionsstoffe geben, welche sich durchaus nicht 
im menschlichen Organismus, sondern nur in dessen Um- 
gebung fortpflanzen und vermehren, ohne dass das gerade 
im Boden geschehen muss. Der Boden ist nur ein Theil 
der Umgebung des Menschen. 

Ich halte es für wohlbegründet und nützlich, den alten 
Gegensatz zwischen Miasma und Contagium wieder aufzu- 
frischen und in dieser Weise festzustellen, dass man mit 
Contagium die innerhalb, und mit Miasma die ausser- 
halb des Organismus der Kranken entstehenden specifischen 
Infektionsstoffe bezeichnen soll, 

Nun ist möglich, dass irgend eine Bildung, irgend ein 
Prozess, dessen Produkt eine solche Krankheitsursache, ein 
Infektionsstoff ist, ebenso gut in uns, als ausser uns vor 
sich gehen kann ; aber möglich ist zuletzt Alles, und da kann 
nur die wirkliche Yerbreitungsart der Krankheit entscheiden, 
es muss nachgewiesen werden können, dass sie sich wirk- 
lich auf beide Arten verbreitet. Solche Krankheiten würde 
man mit Recht contagiös-miasmatische Krankheiten heissen. 

Wenn aber eine Krankheit diese doppelte Yerbreitungs- 
weise einmal besitzt, dann hört alle die Willkür auf, welche 
man sich gegenwärtig stets erlaubt und derentwegen allein 
man die Annahme von contagiös-miasmatischen Krankheiten 
gemacht zu haben scheint, nämlich beliebig zu sagen, in 
diesem Falle hat sich die Cholera auf contagiosem und nicht 
auf miasmatischem, in diesem Falle auf miasmatischem und 



3 Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

nicht auf contagiosem Wege verbreitet, oder die miasmatisch 
entstandene Krankheit ist nach einiger Zeit contagios ge- 
worden, hat auf der Hohe der Epidemie ein Contagium ent- 
wickelt u. s. w. Wenn eine Krankheit einmal eine contagios- 
miasmatische ist, dann steht es nicht mehr in ihrem und 
auch nicht mehr in unserm Belieben, sich bald den einen, 
bald den andern Weg zu wählen, sondern die Krankheit 
muss dann beide Wege zugleich gehen, so weit sie ihr offen 
stehen, sie muss sich sowohl nach Art der contagiosen, wie 
nach Art der miasmatischen Krankheiten zugleich yerbreiten* 
Als contagiose Krankheit darf sie an keine Jahreszeit, an 
keine Lokalität gebunden sein, sondern nur an das Vor- 
handensein disponirter Menschen, wie Blattern und Syphilis: 
an einem Orte, wo sich in der Umgebung des Menschen 
auch die Bedingungen zur Fortpflanzung des Infektionsstoffes 
auf miasmatischem Wege finden, muss sich eine solche 
Krankheit sowohl durch Miasma, als auch durch Contagium 
gleichzeitig fortpflanzen, mit andern Worten, eine Krank- 
heit, die einmal eine contagios-miasmatische ist, kann nicht 
blos in jenen Fällen contagios sein, wo sie keine Gelegen- 
heit findet, sich miasmatisch zu verbreiten, und nicht wieder 
aufhören contagios zu sein, sobald sie auch zu miasmatischer 
Verbreitung Gelegenheit bekommt, sondern sie muss dann 
beides immer zugleich bleiben. Da nun aber der Cholera nach 
der Beschaffenheit des menschlichen Verkehrs die Verbreit- 
ung auf contagiosem Wege immer offen steht, so könnte 
es keine immunen Orte und keine immunen Zeiten geben, 
welche thatsächlich doch so zahlreich sind. 

Man könnte zwar versuchen, die örtliche und zeitliche 
Immunität, welche sich bei der Ausbreitung der Cholera- 
epidemieen stets so deutlich in den Vordergrund gedrängt 
hat, aus dem Wechsel der individuellen Disposition der Be- 
wohner eines Ortes zu erklären, wie man es bei den zeit- 



n, üb. d. nächsten Aufgab* z. weiteren Ergründung ibrer Ursachen. 9 

s 

weise auftretenden Blatternepidemieen macht, aber jeder 
derartige Versuch scheitert an den Thatsachen. 

Cholera, Typhoid und Gelbfieber zeigen in ihrer Ver- 
breitung viele Analogieen. 

Wenn man z. B. eine Stadt wie Weimar betrachtet, 
so stellt sich der Unterschied im Verhalten contagioser und 
nicht contagioser Krankheiten recht deutlich heraus. Wir 
wissen durch die Untersuchungen von Pfeiffer, l) wie ört- 
lich scharf sich dort jederzeit die Typhusepidemieen begrän- 
zen, und dass sich die Choleraepidemie von 1866 dort in 
derselben Gränze gehalten hat. Weimar hat doch auch 
schon Blatternepidemieen gehabt, — haben aber diese sich 
je in solchen örtlichen Gränzen dort gehalten? 

Als München im Jahre 1854 ein Cholerainfektionsherd 
war, wurde die Krankheit von Besuchern zahlreich in Ort- 
schaften stromaufwärts und stromabwärts verschleppt. Mit 
Ausnahme von 5 am Hachingerbache gelegenen Ortschaften 
zeigten sich stromaufwärts keine Epidemieen, während strom- 
abwärts sich dieselben zahlreich entwickelten. Da kann 
man doch nicht annehmen , dass die Bewohner der Ort- 
schaften stromaufwärts keine, oder weniger individuelle Dis- 
position gehabt hätten, als die stromabwärts, denn die von 
beiden Richtungen nach München Kommenden holten sich 
da die Krankheit gleichmässig , mussten also individuelle 
Disposition besitzen, die stromaufwärts erkrankten und star- 
ben zu Hause in keiner andern Weise, als die stromabwärts, 
aber Epidemieen entwickelten sich nur in der Richtung 
stromabwärts. 

Ganz analoge Erfahrungen macht man bei jeder Typhus- 
Epidemie in München mit den zahlreich nach auswärts ver- . 



1) Zeitschrift f. Biologie Bd. III. S. 145. Die Choleraverhältniase 
Thüringens von Dr. L. Pfeiffer. 



10 Ueber den gegenwArtigen Stand der Cholerafrage 

schleppten Fällen. Wenn Personen aus solchen Ortschaften 
zur kritischen Zeit nach München kommen, so zeigen sie 
in hohem Grade individuelle Disposition, ja man hält es 
sogar für einen durch vielfache Erfahrung gestützten Satz, 
dass Auswärtige viel häufiger erkranken, also eine grossere 
individuelle Disposition besitzen, als Einheimische. Wenn 
aber diese hoch disponirten Menschen die Krankheit von 
München nach Hause schleppen, so bleibt sie sporadisch, 
und die in München Angesteckten vermögen somit daheim 
in der Regel Niemanden anzustecken, ^) Nur an gewissen 
Orten und zu gewissen Zeiten nehmen dann heftige Orts- 
Epidemieen von solchen eingeschleppten Fällen ihren Aus- 
gangspunkt, wofür naturnothwendig örtliche und zeitliche 
Ursachen angenommen werden müssen. 

Hirsch hat schon vor einigen Jahren aufmerksam ge- 
macht, dass das Gelbfieber ähnlichen Gesetzen folgt, und 
sich erst jüngst sehr eingehend wieder darüber geäussert.^) 

Nach den neuesten Untersuchung^en und Beobachtungen, 
welche in dem Gesundheits - Berichte von New -York von 
1871 3) enthalten sind, verhält sich das Gelbfieber genau wie 
Cholera und Typhoid, wie eine verschleppbare, aber nicht 
contagiose Krankheit Die Berichte von Dr. Moreau 
Morris und Dr. N o 1 1 darüber verdienen die grösste 
Beachtung. Im August 1870 erschien das Gelbfieber auf 
Governor's Island, einer zwischen Brooklyn und New-York 
gelegenen befestigten Insel. Die Bevölkerung dieser Insel 
bestand aus OfQcieren, Soldaten, Beamten und deren Fami- 



1) üeber die Aetiologie des Typhus. Vorträge im Sr Etlichen Yer- 
eifio zu München. . Finster li nasche Buchhandlung 1872. Hauptsäch- 
lich die Vorträge von Buhl, H. Bänke und Friedrich. 

2) Zeitschrift für öffentl. Gesundheitspflege Bd. IV. 8. 353. 

3) First annaal Beport of the Board of Health of the Health 
Departement of the Gitj of New-York. April 11, 1870 to April 10, 1871. 



u. üb d. nflohsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. 1 1 

lien, mit einigen Wäscherinnen etc. und betrug 774 an Zahl. 
Die Krankheit scheint durch ein aus dem Süden kommen- 
des Fahrzeug eingeschleppt worden zu sein. Der erste Fall 
auf der Insel ereignete sich am 13. August, der letzte am 
26. Oktober, während welcher Zeit 152 Fälle vorkamen, 
von denen 52 tödtlich endeten. Auf die letzte Woche des 
Septembers und die erste des Oktobers fällt die Akme 
der Epidemie. 

In New- York kamen während dieser Zeit 11 Qelbfieber- 
fälle vor, von denen 9 mit Tod endigten. Alle 11 Fälle 
müssen in ihrem Entstehen auf Oovernor's Eiland zurückge- 
führt werden. Die ersten 4 Fälle, welche vom 9.— 15. Sep- 
tember sich in New - York ereigneten , waren Personen, 
welche die Insel besuchten und dort dem Begräbniss eines 
Wm. Har rington beiwohnten, welcher am 1. September 
am gelben Fieber gestorben war und am 3. September be- 
graben ^wurdo. Der fünfte, sechste und siebente Fall waren 
nahe Verwandte eines Sergeanten* Herten, der auf der 
Insel erkrankte, und den sie besuchten und pflegten, Fall 5 
die Mutter, 6 der Schwager und 7 die Schwester. Der 8. 
Fall war die Frau eines Soldaten, welche auf der Insel 
wohnte, aber sich heimlich entfernt hatte, aus Furcht, in's 
Quarantänehospital gebracht zu werden. Sie kam nun in^s 
Bellevue - Hospital , wo ihre Krankheit anfangs unerkannt 
blieb, bis sie starb, wo sie der behandelnde Arzt aber nach 
dem Tode feststellte. Fall 9 war ein ausgedienter Soldat, 
der schon unwohl die Insel verlassend im Hause seines 
Vaters erkrankte. Die Fälle 10 und 11 waren beurlaubte 
Soldaten von der Insel. Es wird hervorgehoben, dass von 
diesen 11 Kranken, welche das gelbe Fieber auf der Insel 
sich holten und in New- York erkrankten, und von denen 
neun starben, in keinem einzigen Falle eine weitere 
Mittheilung der Krankheit ausging, obschon sie 



12 üeber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

in überfüllten schmutzigen Theilen der StadtNew- 
York wohnten. 

Als ein weiterer schlagender Beweis für die Nichtcon- 
tagiosität des Gelbfiebers wird mitgetheilt, dass am 1. Okt. 
83 Gelbfieberkranke von der Insel in das Quarantainespital 
dislocirt wurden, ohne dort die Krankheit einem ein- 
zigen Individuum mitzutheilen, während unter den 
auf der inficirten Insel zurückgebliebenen Personen darnach 
noch 29 Fälle von gelbem Fieber vorkamen. 

Bei dieser Einfachheit und Klarheit der Thatsachen 
wird man sich nicht wundern, dass man auch in New-Tork 
den Satz aufgestellt hat : „Das gelbe Fieber wird nicht i m 
menschlichen Organismus durch den Krankheitsprozess er- 
zeugt oder von Person zu Person übertragen, sondern sein 
Keim oder das Gift wird ausserhalb des menschlichen 
Organismus erzeugt, und nach Art des Malariagiftes (Miasma) 
aufgenommen. Aber ungleich dem letzteren ist sdn Keim 
verschleppbar, und kann in Schiffen, Kisten, - Gepäckwagen 
auf Eisenbahnen u. s. w. von einem Punkte zum andern 
getragen und so verbreitet werden."!) 



1) Es ist von Interesse, a. a. 0. p. 351 zu lesen, wie Dr. Nott 
contagiose und nichtcontagiose Krankheiten eintheilt: 

1) Descases like Syphilis, which are communioable by oontact 
or inoculation aloi^e. 

2) Those like small-pox, whioh are intensely contagious, and 
communicable by inoculation, by fomites, and through the air. 

3) Those like scarlet fever, whioh are inooulable with difficulty 
or not at all, and contagious in a less degree than small-pox, 
but communicable through the air, and portable by fomites, etc. 

Like Syphilis and small-pox, the poison is generated in the 
human System, and eliminated in the same form in which it 
entered. 

4) YöUow fever, which is not generated in the humaa System, 
or transmitted from one person to another in any way; but 
whose germ or poison is generated out aide of the. human 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ilirer Ursachen. 13 

Bei Cholera, bei Gelbfieber und bei Typhoid kommt 
also thatsächlich wirklich sehr viel auf Ort und Zeit an, 
man sieht viel deutlicher, viel regelmässiger von inficirenden 
Oertlichkeiten, als von inficirten Menschen eine Wirkung 
oder Weiter Verbreitung der Krankheit ausgehen. Man könnte 
nun sagen: diese Wirkung von Ort und Zeit steht zunächst 
in keinem Zusammenhange mit der specifischen Krankheits- 
ursache, welche contagioser ü^atur ist und vom Kranken 
erzeugt wird, sondern mit der individuellen Disposition, 
welche ja ebenso noth wendig ist, um an Blattern, wie an 
Typhus oder Cholera zu erkranken. Hiernach wäre die 
individuelle Disposition abhängig von Ort und Zeit, das 
Wesentliche des örtlichen und zeitlichen Einflusses bliebe 
bestehen, nur die nächste Beziehung wäre eine andere. 
Damit ist aber für die Oontagibnisten nicht das geringste 
gewonnen, wenn sie auf diese Art den Unterschied zwischen 
contagiosen und verschleppbaren Krankheiten verwischen 
zu können glauben, denn sie werden durch diese Annahme 
nicht im geringsten der Mühe überhoben, die unbekannten 
Grössen, aus denen der wesentliche örtliche und zeitliche 
Einfluss sich zusammensetzt, aufzusuchen und näher zu 
definiren. 

Man findet allerdings, dass auch contagiose, impfbare 
Krankheiten, wie die Blattern, ihre wechselnde zeitliche 
Frequenz haben, aber es gehört auch bei diesen viel dazu, 
ohne weiteres zu glauben, dass ihre Frequenz wesentlich 
nur von der individuellen Disposition und unabhängig von 



System, and is taken in after the manner of marsh malaria 
poison. But, unUke the latter, its germ is portable, and 
may be carried in yessels, trunks, baggage cars of railroads, 
eto. from one point to another, and thus propagated. 
5) Marsh malaria fevers, which are strictly endemic— of local 
origin — not contagious and not portable. 



14 



Üeber den gegenwärtigen Stand d«t Cbolerafrage 



allen aDdem örtlichen UBd zoitlicben VerhäUnissen bedingt 
>)ei. Es scheint mir nicht unpassend, an dieser Stelle und 
bei dieser Gelegenheit etwas an einigen althergebrachten 
Meinungen und Yorstellungen zu rütteln, welche Ton Vielen 
für imumstössUch gehalten werden, um zu probiren, wie 
feüt sie stehen. 

Maophersoni) hat die BlattemtodesföUe zusammen- 
gestelll, welche in Calcutta während 29 Jahren in den ein- 
zelnen Monaten registrirt sind. Die Abhängigkeit von der 
Jahreszeit tritt bei den Blattern noch auffallender, als bei 
der Cholera hervor: dort sind in 29 NoTembermonaten die 
wentgstet), im Ganzen 132 Menschen, an Blattern gestorben, 
in den Här.zmonaten die meisten, im Ganzen 4934, wäh- 
rend im selben Zeiträume an Cholera die wenigsten in den 
ÄuguMfraonaten 3440, die meisten in den Aprilmonaten 
193^2 starben. Bei den Blattern verhält sich das monat- 
liche Minimum zum Maximum wie 1 zu 37, bei der Cholera 
wie 1 zu öVz- 

Aber nicht nur die unterschiede der Monatsmittel, 
äondoi-D auch die Unterschiede der einzelnen Jahre sind 
bei den Blattern viel grösser, als bei der Cholera. Mac- 
phei'son thcilt die Jahreasummen der Todesf^le an Cholera 
und Blattern in Calcutta von 1841 bis 1860 mit. 





Todesfälle an 




Cholera 


fibttero 


1841 


5177 


56 


1842 


6545 


32 


1848 


3739 


335 


1844 


6811 


2840 


1845 


6240 


67 


1846 


6427 


78 



I) Cholera in ita home p. 4 and 15. 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. 15 



Jahr 


Todesfälle in 


M^ 9^ *A A 


Cholera 


Blattern 


1847 


8041 


38 


1848 


2502 


107 


1849 


3867 


1724 


1850 


3848 


4430 


1851 


4374 


32 


1852 


4189 


59 


1853 


5632 


19 


1854 


3082 


113 


1855 


3744 


61 


1856 


4540 


178 


1857 


883^ 


3177 


1858 


5195 


123 


1859 


4676 


54 


1860 


6553 


64 



Hienach beträgt für die Todesfälle an Cholera das 
jährliche Minimum 2502 im Jahre 1848, das Maximum 
6553 im Jahre 1860; für Blattern das Minimum 19 im 
Jahre 1853, das Maximum 4430 im Jahre 1850, also für 
Cholera ein Yerhäliniss zwischen Minimum und Maximum 
annähernd von 1 zu 2^/2, für Blattern hingegen von 1 zu 
233. Der Unterschied in der jährlichen Frequenz ist somit 
bei den Blattern in Calcutta fast hundertmal grösser, als 
bei Cholera. 

Ich bewundere Jeden, der Angesichts dieser Tabelle 
die wechselnde Frequenz der Blattern ohne weiteres Be- 
sinnen blos aus dem stets vorhandenen Contagium und 
dem üblich angenommenen Wechsel' in der individuellen 
Disposition der Bevölkerung zu erklären den Muth hat. 
Mein Glaube ist nicht stark genug, das auszusprechen zu 
wagen, ich würde befürchten, eine grosse Unwahrscheinlich- 
keit zu behaupten. Dem felsenfesten Glauben der meisten 
Aerzte, dass in diesen beiden Momenten die ganze Er- 



16 Ueber den gegenwftrtigen Stand der Cholerafrage 

klärung zu suchen sei, liegen nur. zwei Thatsachen zu 
Qrunde: 1) dass die Blattern yon einem Organismus auf 
einen andern durch Impfung übertragbar sind, 2) dass die 
Impfung nicht bei allen Geimpften gleich anschlägt und 
dass ein überstandener Blatternanfall für längere Zeit, oft 
für das ganze Leben, die individuelle Disposition dafür tilgt, 
oder Nicht-Disposition herstellt. Diese beiden Thatsachen 
(Contagium und individuelle Disposition) bleiben übrigens 
un verrückt stehen, auch wenn man annimmt, dass die Blat- 
tern möglicherweise nicht blos eine contagiose, sondern 
auch eine miasmatische Krankheit (Contagium und Miasma 
in dem Eingangs erläuterten Sinne genommen), also eine 
contagios-miasmatische Krankheit sind, d* fa* dass dem spe- 
cifischen Infektionsstoffe nicht blos der menschliche Orga- 
nismus, sondern zeitweise auch seine Umgebung als Wirth 
dient. Daraus würde sich noch ungezwungener erklären, 
warum zeitweise die Blatternfälle so vereinzelt bleiben, zu 
andern Zeiten aber zu grossen Epidemieen anwachsen ; 
ersteres würde eintreten, solange die Blattern nur auf con- 
tagiosem Wege sich fortpflanzen können, letzteres, sobald 
ihnen auch der miasmatische Weg sich öffnet. Die An- 
schauung der contagios - miasmatischen Krankheiten passt 
viel ungezwungener auf die Blattern, als auf Cholera und 
Gelbfieber, denn dass die Blattern impf bar sind, ist kein 
Grund zur Annahme, dass sich der Infektionsstoff nur im 
menschlichen Organismus, und zeitweise nicht auch ausser- 
halb desselben, in Substraten seiner Umgebung (d« i. mias- 
matisch) fortpflanzen und vermehren könnte. 

Man könnte einwerfen, ich verweise da auf etwas ganz 
Unbekanntes in der Umgebung des Menschen, während die 
individuelle Disposition doch eine bekannte Thatsache sei, 
an die man sich vorläufig allein halten dürfte. Darauf 
liesse sich erwidern, dass der unbekannte nur zeitweise 



-^ — "^»i 1 1—1— I r 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. ] 7 

vorhandene miasmatische Blattern wir th in der Umgebung 
des Menschen nicht dunkler ist, als der dunkle Grund der 
auch nur zeitweise gegebenen individuellen Disposition uns 
vorläufig auch noch ist. Die Annahme einer individuellen 
Disposition bleibt unverändert stehen und ist immer noch 
nothwendig, es mögen sich die Blattern nur contagios, oder 
auch miasmatisch fortpflanzen. 

Ich, wenn ich die Blatternfrequenz in Calcutta nach 
allen Richtungen hin überblicke, komme in grosse Verlegen- 
heit, sie aus der blossen Thatsache der Contagiosität und 
Impfbarkeit allein, auch nur annähernd zu erklären. Dem 
menschlichen Verkehr, welcher die Contagion vermittelt, 
bleibt jedes Jahr so ziemlich der gleiche Spielraum offen, 
, und doch diese gewaltigen Unterschiede ! Nach unseren 
bisherigen Vorstellungen bleibt zur Erklärung nichts übrig, 
als ein Wechsel in der individuellen Disposition, die Durch- 
seuchung. Hienach wäre das zeitweise Vorhandensein der 
individuellen Disposition, die doch auch wieder von örtlichen 
und zeitlichen Momenten abhängig gedacht werden müsste, 
ein viel mächtigerer Faktor, und spielte eine viel grössere 
Rolle, als das beständige Vorhandensein des Contagiums. 
"Wenn es in Calcutta Jahre gibt, in welchen nur 20 Per- 
sonen, und solche, in welchen 4000 an Blattern sterben, 
und man annimmt, dass nur die Gegenwart von nicht 
schon durchseuchten Individuen dem Blatterngifte zeitweise 
diese Kraft verleiht, so darf man sich nicht verhehlen, dass 
dieser Annahme ganz erhebliche Bedenken entgegen stehen. 
Für die Zeit, welcher die Blatternstatistik von Macpher- 
son entnommen ist, muss die Einwohnerzahl von Calcutta 
wenigstens zu 400,000 durchschnittlich angenommen werden. 
Dazu kommt eine ab- und zugehende, sogenannte flottirende 
Bevölkerung, welche bei der Grösse des Platzes und des 
Verkehrs jährlich wohl mindestens 50,000 beträgt. Auf die 



13 Ueber den gegen wältigen Btaud der Cholerafffigc 

sesshafte Bevölkerung darf man jährlich mindesten? 2 Procent 
Zuwachs durch Geburten rechnen. Wenn man also nach 
einem Jahre mit 4000 Blattern todten auch alle Einwohner 
als völh'g durchseucht annimmt, so liefert der Zuwachs und 
die äottirende Bevölkerung doch jedes Jahr eine so grosse 
Anzahl noch nicht Durchseuchter, dass es unerklärlich bleibt, 
wie es Jahre gehen kann, in denen nur 20 bis 30 Personen 
an Blattern sterben, vtrenn die Gegenwart des Contagiunis 
und der Verkehr disponirter Menschen die zwei alleinigen 
Haupterfordernisse der Blatternfrequenz sind. 

Wenn ich darauf aufmerksam mache, dass sich aus 
unseren Begriffen von Contagium, Durchseuchung und Dis- 
position keine Erklärung für die Blattern frequenz construiren 
lässt, welche nur annähernd zu d«n Thatsachen passt, so 
will ich damit weder gesagt haben, dass die Blattern nicht 
contagios seien, noch dass die individuelle Disposition nicht 
eine grosse Rolle spiele, oder dass diese durch einen Blatfl^rn- 
anfall und durch Vaccinationen nicht wesentlich abgeschwächt 
werde; ich gebe sogar zu, dass bei weiterer und näherer 
Erforschung des Wesens der individuellen Disposition für 
Blattern sich möglicherweise herausstellt, dass die wechselnde 
Frequenz durch sie allein zu erklären ist; — ich behaupte 
nur, dass man das beim gegenwärtigen Stand unseres 
Wissens noch nicht kana, und dass man jetzt auch noch 
nicht verneinen kann, dass die Blattern eine auch con- 
tagios-miasmatische Krankheit sein könnten. ' 

Hingegen bin ich der bestimmten Ansicht, dass Cholera, 
Gelbfieber, Typhoid u. s. w. weder contagiose noch contagios- 
miasmatische Krankheiten sind, sondern transportfähige, 
verschleppbare miasmatische Krankheiten. Wenn wir das 
Merkmal festhalten, welches allein die Blattern mit Sicher- 
heit zu einer contagiosen Krankheit stempelt, die Impfbar- 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergrun^ung ihrer Ursachen. 19 

keit, 80 müssen wir von vornherein sofort zugestehen, dass 
dieses Merkmal der Cholera mangelt. Die Cholera ent- 
wickelt sich zwar mit Hilfe des menschlichen Verkehrs 
aber nur die sorgloseste und oberflächlichste Beobachtung 
und Betrachtung kann diese Verschleppbarkeit für gleich- 
bedeutend mit Contagiosität halten. Wenn man die Ver- 
breitungsweise der Cholera weiter verfolgt und näher be- 
trachtet, so verleugnet gerade sie in der grossen Mehrzahl 
der Thatsachen auf das Entschiedenste den Charakter der 
contagiosen Krankheiten. Es giebt cholerainficirte Orte und 
choleraimmune Orte und diese Thätsache ist weder aus dem 
persönlichen Verkehr, noch aus der individuellen Disposition 
der Menschen zu erklären. So oft z. B. die Cholera schon 
nach Lyon geschleppt worden ist, noch nie hat sie dort 
eine grössere epidemische Verbreitung gewinnen können. 
Die Thätsache von örtlicher Immunität ist von viel grösserer 
fundamentaler Bedeutung, als die der zeitlichen Immunität« 
Zeitweise Immunität kann, wie es bei Blattern üblich ist und 
geschieht, immer noch zur Noth von der individuellen Dis- 
position, von den Folgen einer vorausgegangenen Durchseuch- 
ung abgeleitet werden; aber nicht so die reine örtliche. 
Wann sind die Einwohner von Lyon oder anderer immuner 
Orte je von Cholera so durchseucht gewesen, dass ihre 
Disposition dafür hätte als vesloren oder erschöpft ange- 
sehen werden können? Nie! Aber wenn die Einwohner 
von Lyon zur Zeit einer Choleraepidemie nach Marseille 
oder^ Paris kommen, dann zeigen sie sich nicht minder 
empfänglich für Cholera als die Pariser und Marseiller, 

Aus den Untersuchungen von mir über die Verbreitung 
der Cholera in Bayern, von Pfeiffer in Thüringen, von 
Günther in Sachsen etc. geht mit aller Bestimmtheit her- 
vor, dass die epidemisch ergriflfonen Orte eines Landes sich 
nicht nach den Verkehrslinien aneinander reihen und grup- 

9* 



20 lieber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

piren, sondern lediglich nach Drainagegebieten und Boden- 
beschaffenheit. i) 

Die Erfahrung hat ferner von jeher gezeigt, dass die 
Behandlung und Pflege Cholerakranker nicht die Gefahr 
für Aerzte und Wärter hat, wie bei ansteckenden Krank- 
heiten gewöhnlich. Es giebt Choleraspitäler, in denen hie 
und da auch Wärter zahlreich erkranken, aber es wäre 
ein Trugschluss, zu glauben, weil sie von den Cholera- 
kranken angesteckt werden, sondern sie erkranken, weil 
sie in einem Hause leben, welches zu einem Infectionsheerde 
geworden ist. Diesen Choleraspitälern steht eine viel grössere 
Zahl anderer gegenüber, in welchen die Wärter trotz der 
Pflege von zahlreichen Cholerakranken nicht inficirt werden. 
Das schlagendste Beispiel ist wohl das allgemeine Kranken- 
haus zu Caicutta, welches trotz beständiger Gegenwart von 
Cholerakranken noch nie zu einem Infectionsheerde für 
Wärter und andere Patienten geworden ist. — Ebenso ist es 
mit dem Vorkommen der Cholera auf Schiffen. 2) Die ge- 
naueste und unbefangenste Prüfung derselben ergiebt, dass 
die Cholera auf Schiffen eigentlich keine Heimath findet, 
so oft sie auch dahin gebracht wird, und so sehr auf über- 
füllten Schiffen alle Umstände für eine Ausbreitung auf 
dem Wege der Ansteckung von Person zu Person, durch 
Excremente u. s. w. günstig wäre. Die Erfahrung lehrt 
im Gegentheil, dass in den ostindischen Gewässern die 
schmutzigsten und überfülltesten Kulischiffe nicht mehr 
von Cholera zu leiten haben, als die vortrefflich einge- 



1) Hauptberioht über die Cholera 1854 in Bayern 8. 307— 3S2. 
Die Gholeraverbältnisse Thüringens von Pfeiffer. — Zeitschrift für Bio- 
logie. Bd. III. S. 145. — Die indische Cholera in Sachsen 1866 Ton 
Günther. Leipzig bei Brockhaus 1869. 

2) Ueber Cholera auf Schiffen. Vierteljahresschrift fQr öffentl. 
Ges.-Pflege, Bd. IV. S. 1. — Zeitschrift für Biologie. Bd. VIII. S. 1. 



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u. üb. d. näohstea Aufgab, z. weiteren Ergrfindoiig ihrer Ursachen. 21 

richteten, sauberen und geräumigen Schiffe der englischen 
Marine« Aber ausnahmsweise, hie und da erfolgt ein hef- 
tiger Choleraausbruch, eine wirkliche Epidemie sowohl auf 
Kulischiffen, wie auf englischen Truppenschiffen. Durch 
diese Ausnahmsfälle nun lassen sich Manche zu der un- 
logischen Schwäche hinreissen, zu glauben, in diesen Fällen 
dürfe der Bequemlichkeit der Erklärung halber ein Moment 
herbeigezogen werden, was gar nicht erst in diesen Fällen 
auftritt, oder neu hinzukommt, sondern was bereits auch 
schon in der grossen Mehrzahl aller entgegenstehenden 
Fälle ebenso vorhanden ist, aber ohne dass es da für ge- 
wohnlich die geringste Wirkung auszuüben im Stande ist. 
Jedem, der sich näher und eingehender mit dem Yorkommen 
der Cholera auf Schiffen beschäftigt, drängt sich eine Frage 
auf, auf welche der Contagionist nicht die geringste Ant- 
wort zu geben vermag, nämlich warum für gewöhnlich 
cholerakranke Kuli und Matrosen auch auf den überfiilltesten 
Schiffen Andere nicht anstecken? Wenn nach der Mein- 
ung Sand er 's der Kohlenarbeiter auf dem Franklin in 
Halifax nicht nur selbst von einem Stoffe angesteckt wurde, 
welcher auf dem Schiffe von Cholerakranken erzeugt war, 
sondern wenn er diesen Stoff auch in sich selbst wieder 
Vervielfältigte, so dass er 22 Meilen von Halifax entfernt, 
in Chezet Cook damit seine Pflegerin und ausser dieser 
auch noch zwei seiner Schwestern anstecken konnte, so 
muss man doch fragen, woher gerade dieser Kohlenarbeiter 
sein ausnahmsweises persönliches Privilegium zur Selbst- 
bereitung von Cholerainfectionsstoff hatte, welches doch er- 
fahrungsgemäss sowohl auf dem Lande wie auf Schiffen 
gewöhnlichen Sterblichen versagt ist. Sander führt blos 
an, dass es ihm natürlicher, er hätte richtiger gesagt, be- 
quemer scheine, diesen Fall durch die Annahme zu er- 
klären, „dass der Cholerakeim sich im menschlichen Körper 



22 Üeber den gegenwärtigen Stand der Gholerafrage 

vervielfältiget und an die Excremente (im frischen oder 
nur im zersetzten Zustande muss dahingestellt bleiben) g'e- 
bunden ist/^ 

Wenn Sander fortfahren wird, sich mit den That- 
Sachen der Gholeraverbreitung noch länger ernstlich zu be- 
schäftigen, so bin ich überzeugt, dass es ihm ergehen wird, 
wie es mir ergangen ist ; auch er wird zuletzt die Annahme 
der Contagiosität der Cholera nicht blos in der Mehrzahl 
der Fälle, sondern überhaupt als unbegründet erkennen 
und sie dann auch nicht mehr für einzelne Fälle behaupten 
wollen, wo es ihm gerade zur Erklärung passen würde. 

Ich habe im Laufe der Zeit, d. h. im Laufe der Erfahr- 
ungen und Beobachtungen, meine Ansichten mehrfach ändern 
müssen, um wieder Fortschritte machen zu können. Ich stand 
anfangs gleich so vielen Anderen mit Vorliebe auf con- 
tagionistischer Seite, wurde aber allmälig durch den Druck 
•der Thatsachen immer weiter davon entfernt, es wurde mir 
immer klarer, dass gerade die gewöhnliche contagionistische 
Anschauung das grösste Hinderniss in der Erkenntniss der 
Natur der Cholera ist, dass diese Theorie unsere Blicke 
nicht auf die rechten Punkte fallen lässt, sondern sie nach 
Richtungen ablenkt, in welchen das nicht liegt, was wir 
suchen; es wurde mir immer klarer, dass die Cholera wohl 
eine durch den Verkehr verschleppbare, aber deshalb durch- 
aus noch nicht eine contagiose Krankheit sei, dass die 
Ursache der Vermehrung des Cholerainfectionsstoffes in der 
Umgebung des Menschen zu suchen sei, und nicht im 
Menschen selbst. 

Warum ich aus der ganzen Umgebung des Menschen 
gerade dem Boden eine wesentliche Bolle beimesse, hat 
folgende Gründe. Die Thatsachen wiesen mich unausgesetzt 
darauf hin, dass nicht jede beliebige Umgebung des Men- 
schen den Cholerakeim zu entwickeln und zu vervielfältigen 



u. üb. d. nScIisten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. 23 

vermag, wenn er wohin gebracht wird. Unter allen Mo- 
menten sprach sich zuerst und am deutlichsten der Unter- 
schied zwischen Orten aus, welchen der Verkehr mit Cholera- 
orten heftige Epidemieen bringt, und zwischen solchen, 
welchen gleichzeitig der nämliche Verkehr keine bringt. 
Das zwang zunächst zur Annahme örtlicher Hilfsursachen, 
und zwar nicht blos zußllliger, sondern wesentlicher. Dazu 
gesellte sich später auch noch die Nothwendigkeit der An- 
nahme zeitlicher Momente, zeitlicher Hilfsursaehen. 

Da ich sah, dass die für Cholera empfänglichen Orte, 
die ich mit a bezeichnen will, sich nicht durch eine andere 
Bauart, oder anderes Baumaterial, nicht durch andere häus- 
liche Einrichtungen oder eine andere Art der Benützung 
derselben von den für Cholera unempfänglichen Orten, welche 
b heissen sollen, unterschieden, dass sie auch keine andere 
Klasse von Menschen mit anderen Gewohnheiten oder an- 
derer individueller Disposition beherbergten, indem sich oft 
zeigte, dass die Einwohner von b ebenso an Cholera er- 
krankten, wie die von a, sobald sie sich von b nach a be- 
gaben, während da die Krankheit herrschte, aber ohne sie 
dann in b verbreiten zu können, wenn sie auch krank nach b 
zurückkehrten und da starben, so blieb für mich kein an- 
derer Schluss zulässig, als der, an dem ich auch gegenwärtig 
noch festhalten muss, dass nämlich bei der Epidemie in a 
etwas Wesentliches mitwirken muss, was im Boden liegt 
oder wenigstens vom Boden stammt. 

Dafür giebt es grosse Reihen der unzweideutigsten That- 
Sachen, aber vielleicht kein einziger einzelner Fall lässt das 
deutlicher hervortreten, als einer, welchen ich*) schon vor 
ielen Jahren mitgetheilt habe. Im Krimmkriege bei der Be-. 




1) Cholera und Bodenbeschaftenheit in Krain. Aerztliches In- 
'telligenzblatt. München 1861. Nr. 7—9. 



JL:- 



24 üeber don gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

lagerung von Sebastopol zeichnete sich im eDglischen Lager 
eine Reihe von Hütten, welche nacheinander von Theilen des 
79. Hochländerregimentes, dann des 31. Regimentes und zu- 
letzt eines Artillerieregimentes bezogen wurden, stets durch 
eine unyerhältnissmässig grosse Anzahl von Oholerafallen 
aus. In dem Berichte darüber heisst es: „Da man auf 
diese Weise fand, dass die Cholera keine Neigung zeige, 
diese Hütten zu verlassen, so wurden sie abgebrochen 
und in einer höheren Lage wieder aufgeschlagen. 
Sie wurden in dieser neuen Lage von der Mannschaft 
wieder bezogen, es ereignete sich noch ein Cholerafall, 
worauf die Krankheit ganz aufhörte." Viele geben auch gerne 
zu, dass eine Mitwirkung des Bodens unter Umständen für 
die Verbreitung von Cholera von hoher Wichtigkeit sein 
könne, aber sie vermögen nicht anzuerkennen, dass die 
Rolle des Bodens eine wesentliche, durch nichfs Anderes 
zu ersetzende sei, d. h. mit andern Worten, sie können sich 
noch nicht von der contagionistischen Anschauung los machen. 
Dass die Rolle des Bodens immer nothwendig und 
durch nichts zu ersetzen sei, fasse ich ganz in dem Sinne 
auf, wie man etwa zu sagen pflegt, dass der Boden für un- 
seren Ackerbau und unsere Getreidepflanzen wesentlich und 
unentbehrlich sei. Dieser Satz bleibt richtig, trotzdem dass 
die neuere Agrikulturchemie bewiesen hat, dass man Mais 
und anderes Getreide ohne jede Spur Ackererde, ganz im 
Wasser keimen, wachsen und reifen lassen kann, wenn man 
dem Wasser alle Nahrungsstoffe, welche sonst der Acker- 
boden den Wurzelfasern abliefert, regelmässig beimischt, 
und die saure Reaktion, welche die Wurzeln dem Wasser 
ertheilen, täglich neutralisirt. Nur der Gedankenlose kann 
dameinen, es sei dadurch bewiesen, dass auch das Wasser 
die Rolle der Ackererde übernehmen könne und diese 
keine wesentliche sei; der Denkende sieht sofort ein, dass 



u. üb* d. nilchsten Aufgab, z. weiteren Ergründuog ihrer Ursachen. 25 

das Wasser für sich diese Rolle nie übernehmen kann, 
wenn nicht alle wesentlichen Bedingungen des Wachs- 
thums, welche sonst gewöhnlich in der Ackererde liegen, 
jede einzeln und sämmtlich zuvor in's Wasser hineingethan 
werden. 

Man nehme statt Mais- oder Roggen-Eörnern Cholera- 
keime X, anstatt fruchtbarer Ackererde örtliche und zeitliche 
Disposition y, anstatt Wasser, in welchem Getreide wächst und 
Frucht bringt, ein Schiff, auf dem die Cholera epidemisch 
wird, und man versteht mich vielleicht besser als bisher. 
So wenig eine Roggenpflanze an und für sich im Wasser 
wächst und reift, wie im Boden, so wenig vervielfältigt sich 
der Cholerakeim auf einem Schiffe, und wenn es geschieht, 
so ist nur der eine Schluss gerechtfertigt und vernünftig, 
dass dann auch die Bedingungen, welche für gewöhnlich 
vom Boden ausgehen, in allen wesentlichen Einzelheiten — 
wenn vielleicht auch unter ganz anderen Formen — vom 
Lande auf's Schiff gelangt sein oder gebracht worden sein 
müssen. Wenn Choleraexcremente und disponirte Menschen 
zum Entstehen von Choleraepidemien auf dem Lande nicht 

ausreichen, dann können sie auch auf dem Meere und auf 

* 

Schiffen nicht ausreichen. 

Das ist meine einstweilige Grundanschauung vom Wesen 
des Choleraprozesses und vom Einfluss des Bodens dabei, 
der ich schon lange huldige und über die ich noch nie 
hinauszukommen vermochte. Lediglich durch Thatsachen, 
über die ich vielleicht etwas mehr als Andere nachgedacht 
habe, wurde ich schon früh zu dieser Anschauung gezwungen, 
welche ich auch bei der Cholera-Conferenz in Weimar im 
April 1867 schon mit aller Bestimmtheit ausgesprochen habe, 
wenn auch in einer damals für die Meisten, wie es scheint, 
noch unverständlichen Weise. Ich sagte gegen den Schluss 



26 lieber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

der Verhandlungen:^) „Ich habe die volle Ueberzeugung, dass 
das, was im Allgemeinen uothwendig und richtig ist, 
auch in jedem einzelnen Falle so sein muss, es hängt 
nur oft auf Umwegen zusammen. Wir wissen , dass die 
Cholera durch den Verkehr verbreitet werden kann , >Yir 
wissen/ dass auch noch andere Umstände dazu nothwendig 
sind, damit eine Epidemie entsteht und mehrere Menschen 
an einem Orte erkranken. Wenn nur in einem einzigen 
Falle die Mitwirkung des Bodens etwas Gleichgiltiges ist, 
80 muss man es auch für alle übrigen Fälle zugeben« Ich 
denke mir nun, dass diese Fälle, die so aussehen, als wäre 
der Boden entbehrlich, nicht gehörig analysirt sind .... 
Wenn wir in einem einzigen Falle den Einfluss 
des Bodens preisgeben, so brauchen wir ihn für 
alle übrigen Fälle auch nicht mehr.'^ 

Meiner Grundanschauung von Cholera und Bodeneinfluss 
entspricht von allen contagionistischen Theorien nur die 
Trinkwasserhypothese, welche in vielen Beispielen so weit 
passt, als man überhaupt pars pro toto, einen Tdeil der 
Oertlichkeit für's Ganze nehmen kann. Ich wandte mich 
derselben daher gleich anfangs mit Vorliebe zu, sie liess mich 
aber bei näherem und längerem Studium wegen ihrer falschen 
contagionistischen Grundlage bald gänzlich im Stiche. Ich fand 
zahlreiche und heftige Ortsepidemieen, bei welchen das Trink- 
wasser unmöglich als betheiligt angenommen werden konnte, 
welche anders erklärt werden mussten, aus noch unbe- 
kannten örtlichen Einflüssen. Wenn ich mich nun in die- 
sen Fällen zu einer anderen Erklärung als durch Trink- 
wasser gezwungen sah, so verlor ich damit auch alle Be- 
rechtigung, in jenen Fällen, wo der Einfluss des Trink- 
wassers nicht geradezu ausgeschlossen erschien und einer 



1) Verhandlungen der Choleraconferenz in Weimar S. 88. 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergrundung ihrer Ursachen. 27 

Herbeiziehung zur Erklärung nichts im Wege gestanden 
hätte, mehr Gewicht darauf zu legen, als in den Fällen, 
welche unter sonst gleichen Umständen ohne jeden Einfluss 
des Trinkwassers stattgefunden hatten und ohne Trinkwasser- 
Einfluss erklärt werden mussten. Immer sah ich mich zu- 
letzt nur auf den jßoden als Sitz des örtlichen Momentes 
verwiesen. 

Und so vermag mich auch gegenwärtig das Vorkommen 
der Cholera auf Schiffen nicht im geringsten in meiner 
Ueberzeugung von der Nothwendigkeit des Bodens für 
Choleraepidemieen zu erschüttern, im Gegentheil, mich be- 
stärkt gerade das Verhalten der Cholera auf Schiffen, mit 
dem ich mich mehr vertraut gemacht habe, als alle meine 
contagionistischen Gegner, in meiner Ansicht. Gerade wer 
die Cholera auf Schiffen genauer studirt, findet, dass sie 
keine contagiose Ifrankheit sein kann, weil ihre Verbreitung 
nirgend eine grössere Seltenheit ist, als auf Schiffen, ob- 
schon gerade da die Verhältnisse zur Verbreitung auf con- 
tagionistischem Wege günstiger sind, als irgendwo. Ich bin 
allerdings vorläufig noch nicht im Stande, anzugeben, wie 
die in jenen seltenen Fällen und so ausnahmsweise vor- 
kommenden Schiffsepidemieen entstehen, oder die Gegen- 
stände zu bezeichnen, mit denen der Cholerainfektionsstoff 
vom Lande auf's Schiff gebracht wird, wie er sich dort er- 
hält und vertheilt wird, und so kann ich auch nicht sagen, 
wie der Kohlenarbeiter in Halifax auf dem Franklin inficirt 
wurde, und wie er auch noch Infektionsstoff 22 Meilen 
weiter tragen konnte; diese Dinge müssen eben erst noch 
erforscht und aufgedeckt werden: aber die Pflicht und die 
Mühe des Suchens vermag uns keine beliebige Annahme, und 
wenn sie zur Erklärung von Ausnahmsfällen noch so bequem 
wäre, zu ersparen, selbst die Annahme nicht, dass die Cho- 
lera in jenen Fällen, wo ihr Beobachter keinen Boden unter 



28 Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

seinen Füssen f&hlt, zur contagionistischen Krankheit werde. 
Wenn sie das wäre, so müsste ihre Verbreitung auf den 
Schiffen die Regel und nicht eine so seltene Ausnahme sein. 

Die Contagiosität der Cholera blos deshalb anzunehmen 
oder beizubehalten, weil sie in gewissen noch dunklen Fällen 
zur Erklärung bequem wäre, halte ich nicht blos für ganz 
ungerechtfertigt, sondern sogar für sehr schädlich. So lange 
man sich, dieses erlaubt, bleibt die Forschung in dem alten 
unfruchtbaren Stillstande. Wie es Sander ergangen ist, 
wird es Allen gehen , man wird sich über einzelne Fälle 
nicht lange den Eopf schwer machen, verwickelte Fäden 
durch mühsame und zeitraubende Untersuchungen verfolgen 
und zu entwirren suchen, sondern man wird immer einfach 
die Excremente der Menschen als Yerbreiter der Krankheit 
im Rückhalte haben. Und nichts ist ja den Meisten lieber 
und bequemer und scheint ihnen daher auch praktischer zu 
sein, als ein Mittel, zu dem man zuletzt jederzeit greifen 
kann, was nie im Stiche lässt. Ein solches promptes Mittel 
der Erklärung ist die Annahme, dass der Cholerainfektions- 
stoff hie und da sich auch unabhängig von örtlicher und 
zeitlicher Disposition im menschlichen Körper vervielfältigt 
und an die Excremente gebunden ist. Damit reicht man 
in allen Nothfällen aus, man wird nie die Antwort schuldig 
bleiben ; denn wohin käme die Cholera ohne Menschen und 
wo gäbe es l^enschen ohne Excremente? 

Auch scheint mir Sander im grossen Ganzen und für 
gewöhnlich von der Contagiosität der Cholera nicht sehr 
überzeugt zu sein, wenn er die Immunität von Lyon und 
von vielen andern Orten unbedenklich zugibt. Mir scheint, 
auch er hält die Cholera im Grunde doch nur sehr aus- 
nahmsweise für contagios und will sich diese ausnahmsweise 
Contagiosität nur für Erklärungsnothfalle , namentlich für 
die Cholera auf Schiffen, reserviren. Das Vorkommen der 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. 29 

Cholera auf Schiffen scheint auch der wesentlichste Umstand 
zu sein, der ihn über den wesentlichen Einfluss des Bodens 
stutzig macht ; denn wo findet sich auf einem Schiffe Boden 
und Grundwasser P während Menschen und ihre Excremente 
nie fehlen. Hier komme ich wieder auf den Punkt zu 
sprechen, in welchem ich mich von den Voll- und Halbblut- 
Contagionisten schon seit länger wesentlich unterscheide. 

Ich glaube, am deutlichsten zu werden, wenn ich noch- 
mal unter ganz besonderem Hinblick auf das Yorkommen 
der Cholera auf Schiffen meinen Standpunkt, gegenüber 
dem contagionistischen, entwickle. 

Ich betrachte es vor Allem als einen Grundsatz, der 
keines Beweises bedarf, dass die Cholera auf den Schiffen 
wesentlich dieselben Ursachen hat, wie auf dem Lande. 
Die specifische Ursache der Cholera wird durch den mensch- 
liehen Verkehr von Indien oder anderen endemischen Sitzen 
aus zeitweise nach Europa verbreitet, wiep ist noch nicht 
gefunden. Bei Verbreitung der Cholera auf dem Lande 
macht sich neben der individuellen Disposition auch noch 
eine örtliche und zeitliche Disposition geltend, denn es gibt 
Orte,, welche sich bei jeder Einschleppung von Cholera, 
deren noch unbekannten Eeim ich der Kürze wegen x nenne, 
bis jetzt unempfänglich erwiesen haben; aber auch die für 
Cholera empfänglichen Orte haben stets gezeigt, dass sie 
nur zu gewissen Zeiten empfanglich sind. 

Was sich auf dem Lande als örtliche und zeitliche 
Disposition kundgibt, und was ich der Kürze halber y nenne, 
ruht im Boden, oder geht vom Boden aus, oder hängt in 
irgend einer Weise jedenfalls mit dem Boden zusammen 
oder vom Boden ab. Die Art und den Ort der Wechsel- 
wiskung zwischen x und y kennt man vorläufig noch eben 
so wenig, wie die beiden Faktoren selbst, man weiss nicht, 
wie weit sie sich im Boden, oder über dem Boden, ob im 



-^ 



1 



30 Uebcr den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

Hause oder im Menschen selbst begegnen, aber ohne y yer- 
ursacht x keine Epideibieen. 

Es ist selbstverständlich, dass alle Momente, welche an 
infektionsfahigen und immunen Orten wesentlich die gleichen 
und nämlichen sind, die Rolle von y nicht übernehmen können. 

Auf die Schiffe wird die Cholera immer vom Lande 
aus gebracht Man kann die Schiffe auf der See gleich 
Orten auf dem Lande betrachten. Eine nähere Unter- 
suchung der Cholera auf Schiffen ergibt' nun , dass in der 
überwiegend grossen Mehrzahl der Fälle die Schiffe auf 
der See, wenn Cholerafälle, die von Infektion auf dem 
Lande stammen, darauf vorkommen, sich wie die cholera- 
'f immunen Orte auf dem Lande verhalten , also wie Orte, 

welche kein y besitzen oder erzeugen. Dass nach Abfahrt 
eines Schiffes aus einem inficirten Hafen oder nach Verkehr 
eines Schiffes mit einem solchen einige Cholerafälle ^uf dem 
Schiffe vorkommen, wird häufig beobachtet, aber in der 
Regel beschränken sich die Fälle auf Personen, welche 
aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf dem Schiffe, sondern 
auf dem Lande inficirt worden sind, welche schon inficirt 
das Schiff bestiegen haben und da erkranken. Die Krank- 
heit verbreitet sich in diesen Fällen aber nicht in der übri- 
gen Schiffsmannschaft, sondern begränzt sich oft in der aller- 
auffallendsten Weise auf diejenigen, welche zuvor mit be- 
stimmten Lokalitäten auf dem Lande in Berührung waren ; 
sie geht z. B. häufig nicht von den Matrosen auf die Ma- 
rinesoldaten oder Truppen , oder Passagiere ein- und des- 
selben Schiffes, oder umgekehrt, über, ja selbst nicht von 
einer Abtheilung Soldaten auf eine andere, wenn die Ab- 
theilungen unmittelbar vom Lande von verschiedenen Oert- 
lichkeiten her auf's Schiff gekommen sind. So etwas wider- 
streitet der Contagiosität einer Krankheit, denn für die Ver- 
breitung derselben auf contagiosem Wege ist gerade 



u. üb. d. nächsten Aufgab, i, weiteren ErgrOndung ihrer Ursachen, ß] 

wegen der beständigen, unmittelbaren Nähe des Contagiums 
und wegen der innigen Berührung und des innigen^ Ver- 
kehrs zwischen den ergriffenen und frei bleibenden Ab- 
theilungen der SchifiPsbeTÖlkeruDg das Schiff günstiger, als 
jeder Ort auf dem Lande. 

Ausnahmsweise kommen aber auf Schiffen doch auch 
wirkliche epidemische Ausbrüche von Cholera von grosser 
Heftigkeit und langer Dauer vor und es fragt sich, wenn 
man consequent bleiben und nicht den allerersten ätiolo- 
gischen Satz von der Identität der Choleraursache auf dem 
Lande und auf den Schiffen wieder preisgeben will, wie in 
diesen seltenen Ausnahmsfiällen der aus x und y entstehende 
Infektionsstoff vom Lande auf's Schiff kommt, an welchen 
Dingen er haftet, wie er sich da erhält und mittheilt. 
Solche seltene Fälle von Schiffsepidemieen Hessen sich aller- 
dings am leichtesten als Folgen der persönlichen Ansteckung 
auf dem Schiffe erklären , wenn der Cholera die Eigen- 
schaft der Contagiosität überhaupt zukäme und sich auch sonst 
auf den Schiffen geltend machte» Da sich aber gerade das 
gewöhnliche und durchschnittliche Verhalten der Cholera 
auf den Schiffen durchaus nicht mit der Annahme der Con- 
tagiosität verträgt, so mangelt jeder vernünftige Grund, 
diese Eigenschaft zur Erklärung der Ausnahmsfalle herbei- 
zuziehen. Ehe man die Verbreitung d^r Cholera auf Schiffen 
genauer kannte, und so lange man nur von den epidemischen 
Ausbrüchen darauf hörte , konnte man noch an die Ver- 
breitung auf contagiosem Wege glauben, aber Angesichts 
der jetzt bekannten Thatsachen kann man die Cholera weder 
auf dem Lande, noch auf der See mehr für contagios halten. 

Ich verstehe gar nicht, wie Sander Seite 32 seiner 
Schrift zu der Behauptung kommt, dass ich für die Ver- 
breitung der Cholera auf Schiffen eine besondere Verbreit- 
ungsweise geltend zu machen suchte während das gerade 



32 Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

Gegentheil der Fall ist I^iemand hält 'fester an der Einheit 
des Prozesses als ich, und meine Gegner sind es, die glauben, 
ihn bald so, bald so erklären zu dürfen, wie es eben besser 
passt und leichter geht, ohne gegen herkömmliche und ein- 
gefleischte Annahmen und Yorurtheile zu Verstössen. Mit unse- 
rem winzigen Wissen schon Alles erklären zu wollen, darauf 
müssen wir vorerst verzichten; wir kennen vorläufig keinen 
einzigen Faktor des Choleraprozesses isolirt für sich, wir kennen 
weder x noch y, noch individuelle Disposition, wir schliessen 
blos auf sie, als auf unbekannte Grössen, aus ihren Wirk- 
ungen. Wir wissen, dass x an den menschlichen Verkehr 
sich heftet, dass j vom Boden stammt und die individuelle 
Disposition im Menschen liegt. Wir wissen auch, dass es 
nur sehr selten und ausnahmsweise vorkommt, dass einem 
Schiffe der Verkehr mit einem cholerainficirten Orte eine 
Epidemie verursacht, dass in der Regel die Schiffe zu den 
cholerasichersten Orten gehören. Alles Weitere ist erst 
noch durch genaue und umfassende Untersuchungen zu er- 
mitteln , und gerade die Schiffe halte ich für die dank- 
barsten Objekte , um gewisse Erkenntnisse über die Ver- 
breitungsart der Cholera zu erwerben, die von fundamenta- 
ler , praktischer Bedeutung sein werden. Wissen wir einmal, 
wie in seltenen Fällen der Cholerainfektionsstoff auf Schiffe 
kommt, dann lässt sich dieses Wissen auch auf dem Lande 
unmittelbar verwerthen. Denn so, wie die Cholera auf einzelne 
Schiffe gebracht wird, wird sie gewiss auch in manches 
Haiis und in manche Anstalt auf dem Lande gebracht. 
Auch auf dem Lande hat es von jeher Fälle gegeben, wo 
das epidemische Auftreten der Cholera ebenso ausnahms- 
weise erfolgte und nicht weniger von Boden und Grund- 
wasser unabhängig zu erfolgen schien, wie auf Schiffen. 
Durch ein genaueres Studium der Cholera auf Schiffen 
werden auch viele dunkle Fälle auf dem Lande ihre Auf- 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. •SS 

klärung finden. Man wird dann nicht blos verhindern, 
dass die Cholera auf ein Schiff gebracht wird, sondern 
auch auf dem Lande die entsprechende Nutzanwendung 
machen. 

Ich begreife nicht, woher man den Muth nehmen kann, 
das Resultat einer genaueren Zergliederung alles dessen, 
wodurch sich jene Schiffe, welche ausnahmsweise Cholera- 
infeklionsstoff an Bord führen, von jener grossen Mehrzahl 
unterscheiden , welche dieses unter anscheinend gleichen 
Umständen nicht thut, von vorneherein als hoffnungslos hin- 
zustellen. Welche Versuche sind denn schon gemacht 
worden, aus welchen die Unmöglichkeit oder auch nur die 
Schwierigkeit eines entscheidenden Resultates hervorgeht? 
Ich wage es nicht, so hoffnungslos zu sein, sondern ich 
fühle mich in meinem Gewissen verpflichtet, neuerdings 
mit allem Nächdruck es auszusprechen, dass gerade eine 
genaue Beobachtung der Cholera auf Schiffen zu den Auf- 
gaben gehört, welche die Forschung zunächst in Angriff 
zu nehmen hat, und welche allerdings viel genauer und 
schärfer behandelt werden muss, als solche Dinge bisher 
besorgt worden sind, welche aber auch naheliegende, und 
für die Praxis wichtigste Resultate in Aussicht stellt. Dieser 
Ueberzeugung bleibe ich, wenn man auch wiederholt ver- 
sichert, in der von mir vorgeschlagenen Richtung sei weder 
etwas Absonderliches zu suchen, noch zu finden. Dass ein 
Schiff hie und da eine Epidemie erleidet, ist einmal etwas 
Ausnahmsweises und Besonderes, und muss' auch besondere 
Gründe haben, die sich nie von selber anmelden werden, 
sondern die aufgesucht werden müssen , und wofür man 
nicht schon bekannte Dinge nehmen darf, die auch auf allen 
übrigen Schiffen regelmässig und ohne Ausnahme vorkommen. 

Um nochmals auf den Irrthum aufmerksam zu machen, 

in dem noch so Viele befangen sind, frage ich — vielleicht 

* 3 



34* Veber den ge^enwltrtigfen ^tand der Clioleraffng© 

• 

zum letzten Male: Wenn die Cholera auf einem Schiffe 
ausnahmsweise eine contagiose Krankheit ist, wenn z. B. 
die Cholerakranken auf dem Franklin selber Infektionsstoff 
erzeugten, was hindert die Cholera, auf allen Schiffen immer 
oder doch in der Regel contagios zu sein? 

Sehr kurz kann ich mich über den zweiten Einwurf 
fassen, der mir gemacht wird, dass nach meiner Ansicht der 
Cholerakeim sich nur im Boden vermehren könnte. Gegen 
diese Ansicht habe ich mich schon so oft verwahft, dass 
mir ganz und gar unbegreiflich ist, wie man immer wieder 
damit daherkommen mag. Von Sander ist es mir umi so 
unbegreiflicher, als er selber mehrfach meine Erwiderung 
gegen Virchow citirt, in der ich mich gerade darüber, 
wie ich meine, deutlich ausgesprochen habe,^) wo ich sagte: 
„Zwar bei der Unbestimmtheit meines Wissens und des- 
halb auch meiner zufälligen Aeusserungen über die noeh 
völlig dunkle Art des Zusammenhanges zwischen Boden, 
Grundwasser und Cholerakeim kann ich mir viel gefallen 
lassen, weil da ja allerlei- möglich ist; aber Yirchow 
scheint mir sich doch eine etwas sehr unwahrscheinliche 
Vorstellung zu machen, der ich nie beipflichten möchte . . . 
Man kann sagen, dass ich darüber besser ganz geschwiegen 
hätte; aber nie habe ich gesagt, dass der Cholerakeim ins 
Grundwasser gelangen müsse, es war stets nur meine An- 
sicht, dass organische Prozesse im Boden auf irgend eine 
Art die örtliche und zeitliche Disposition veranlassen und 
bedingen, dass, so bestimmt die Thatsachen der Verbrei- 
tung der Cholera mich einen wesentlichen Einfluss des 
Bodens und seiner Grundwasserverhältnisse anzunehmen 
zwingen, sie uns noch gar nichts darüber sagen, wo x und 
y zusammentreffen, ob in oder ausserhalb des Organismus, 



-1) Zeitschrift für Biologie Bd. V. S. 191. 



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u. üb. d. nächsten Aufgab, z weiteren Ergründung ihrer Ursachen. 35 

ob im Haus, oder im Boden, viel weniger in welcher 
Schichte, und so ist es unmöglich, dass ich je die Vorstel- 
lung gehabt habe, die V i r c h o w an die Spitze seiner Kritik 
stellt/^ Ich brauche nur den Namen Sander an die Stelle 
von Virchow zu setzen, dann ist auch der Einwurf des 
ersteren widerlegt. 

Ich habe übrigens auch in neuester Zeit in meiner 
Verbreitungsart der Cholera in Indien, Seite 113, erst 
wieder mit der nämlichen Unzweideutigkeit das Gleiche 
gesagt: „Ich möchte namentlich warnen, sich über die Be- 
ziehung des Cholerakeiraes zum Boden schon jetzt zu be- 
stimmte Vorstellungen zu machen, z. B. dass der importirte 
Cholerakeim ein Pilz sein müsse, erst von der Oberfläche 
mehrere Fuss tief in den Boden, vielleicht gar bis ins 
Grundwasser hinabzusteigen, sich dort zu vermehren habe, 
dann vertausendfacht wieder aus dem Boden heraussteigen 
soll, um die Menschen anzufallen und zu erwürgen. , . . 
y kann ein organisch.es Ding seiq, wie x selbst, dem es zur 
Nahrung dient; es kann verschiedene Stadien der Entwick- 
lung durchlaufen müssen, und dann in einem reifen oder 
unreifen Zustande an die Oberfläche und was auf ihr steht, 
gelangen oder abgeliefert werden. Die menschlichen Woh- 
nungen sind vielleicht Sammelplätze, eine Art von Scheunen 
dafür, in denen sich stellenweise mehr oder weniger y 
anhäuft, und wo dann auch der Cholerakeim x mehr oder 
weniger Nahrung vorräthig findet u. s. w. wenn er ge- 
bracht wird." 

Diese Nachweise dürften hinreichend sein, um mich 

von der Anklage freizusprechen, dass ich gesagt hätte, der 

Cholerakeim könne sich nur im Boden vermehren. . lieber 

die Art des Zusammenhanges und den Ort der Begegnung 

von X und y können nur weitere Beobachtungen und 

3» 



HP 



36 üeber den gegenwärtigen Stand der Cholerafragc 

Studien entscheiden. Einstweilen ist der Spielraum auch 
für die lebhafteste und unruhigste Phantasie leider noch 
weit und breit genug* 

Mehr habe ich über einen dritten. Punkt zu sagen. 
Man macht mir den Vorwurf, dass ich noch nicht bestimmf- 
tere und untrüglichere Kennzeichen für einen Choleraboden 
aufgestellt, und auch jenen Grund wassergrad noch nicht 
genauer angegeben habe, wann ein bestimmter Boden die 
für eine Epidemie gerade nöthige Menge Wasser hat, 
wann es zu trocken, und wann zu feucht ist, und wann 
nicht. Leider, dass ich nicht sagen kann, dass dieser Vor- 
wurf ebenso ungerecht sei, wie die vorigen. Es ist wirk- 
lich so wie man sagt, und da hilft auch die von Sander 
mir viel zu freigebig nachgerühmte logische Schärfe der 
lutherischen Dogmatiker des 17. Jahrhunderts nichts, — 
da bleibt mir nichts übrig, als mit Pio IX. zu sprechen: 
Non possumus. Ich rede da etwa nicht im Pluralis Ma- 
jestatis, wie es bei grossen Schriftstellern hie und da noch 
üblich ist, sondern ich meine wirklich, dass wir, sowohl 
ich, als auch Sander und all unsere Freunde und Feinde 
zusammen das noch nicht können, dass wir bis dahin noch 
viel zu lernen und viel zu vergessen haben. Ich weiss 
nicht, ob man damit sagen will, dass man von Dingen, die 
man noch nicht strenge definiren kann, überhaupt gar nicht 
reden soll; oder dass man sich mit solchen Dingen wissen- 
schaftlich nicht' früher beschäftigen soll, als bis sie definirbar 
sind? Das wäre ein grosser Irrthum, und müsste zu einer 
chinesischen Stagnation unseres Wissens führen. 

Nichts kommt fertig auf die Welt, und wer die hilf- 
losen Kinder nicht pflegen und aufziehen will, der verdient 
auch die Stütze und den Schutz nicht, welchen die Er- 
wachsenen zu gewähren im Stande sind. Die Kenntnisse 
über den Einfluss von Boden und Grundwasser auf Krank- 



u. üb. d. nRchsten Aufgab. 2. weiteren ErgründuDg ihrer Ursachen. 37 

heiten sind erst im Entstehen begriffen und daher nätur- 
gemäss noch sehr unentwickelt und wachsen langsam. Die 
Hauptfrage bleibt immer, ob dieser Einfluss überhaupt 
thatsächlich besteht, und so lange diese Frage bejaht wer- 
den muss, darf man das Kind nicht mit dem Bade aus- 
schütten, man darf die Unvollkommünheiten der Entwick- 
lung und den Mangel praktischer Anwendbarkeit nicht für 
einen Beweis der Nicht-Existenz oder Gleichgiltigkeit einer 
Sache nehmen und brauchen. 

Das embryonale Stadium unserer Kenntnisse über die 
Aetiologie der epidemischen Infektionskrankheiten lässt sich 
mit den ersten skizzenhaften Versuchen eines Kindes ver- 
gleichen, welches etwas nachbilden oder abzeichnen will. 
Alles ist höchst unvollkommen im Einzelnen, höchstens 
im Ganzen betrachtet errathet man, was ein Mensch, ein 
Pferd, ein Baum sein soll, und mit wenig Strichen lässt 
sich oft eine solche Zeichnung von einem Pferde in die 
eines Vogels verwandeln und doch ist dieses unvollkom- 
mene Stadium der Anfang aller Kunst und Kunstfertigkeit. 
Ganz in der Nähe besehen ist Alles falsch und unvollkommen^ 
und wer ein solches Machwerk gar mit der Lupe oder dem 
Mikroskop betrachtet, der siebt gar nichts mehr von dem, 
was es darstellen soll, für den löst sich Alles in indiffe- 
rente gleichwerthige Punkte aut — So ist es auch Sander 
ergangen, der selber angibt, dass im Verlaufe der Arbeit 
seine Stellung zu meinen Untersuchungen aus einer zu- 
stimmenden sich in eine zweifelnde umgewandelt hat, und 
das lässt mich hoffen, dass er seine alte Stellung wieder 
einnehmen wird, wenn er entweder noch mehr in die Sache 
sich vertieft, oder wenn er meine Untersuchungen wieder 
etwas mehr aus der Ferne und in etwas günstigerer Be- 
leuchtung sieht. 

Ich wage dies um so zuversichtlicher zu hoffen, als 



38 lieber den gegenwärtigen Stand der Gholerafrage 

Band er selbst bereits sehr lebhaft das Unangenehme semer 
Situation empfunden hat, für sein kritisches Bestreben, mit 
der Bodentheorie tabula rasa zu machen, nicht durch ein 
bestimmtes Resultat belohnt worden zu sein. Dieser Zu-' 
stand wird von gesunden Menschen nicht lange ertragen, 
man muss immer etwas haben, auch wenn man nicht das 
Beste, was man wünscht, haben kann. Sander hat nun 
die Cholerazeichnungen, welche ich mir mit kindischer Hand 
mühsam auf meine ätiologische Schiefertafel hingekritzelt 
hatte, allerdings mit seinem reich genetzten und stellen* 
weise fest aufgedrückten Schwämme überfahren, aber er 
hat mich nichts Neues gelehrt, mir nichts Besseres vor- 
gezeichnet. Wenn ich mich nun wieder hinsetzen muss, um 
neuerdings die vor mir stehende Cholera besser abzuzeich- 
nen, so wird so ziemlich wieder das alte Bild herauskommen, 
das Mancher schon so schlecht gefunden hat, das er aber 
doch nicht besser machen kann. 

Vieles in der Weit, und namentlich in der Medizin, 
ist Oeschmacksache, oft findet einer gut, was dem andern 
widerlich ist, und so scheint es mir mit der Bodentheorie 
auch nicht einmal so schlimm zu stehen, wie sich so Yiele 
einbilden, denen Alles wackelig vorkommt. Sie hat ihre 
fixen Punkte, auf die man jederzeit wieder sicher zurück- 
treten kann, wenn man auch von ihnen ausgehend und 
weiterschreitend vielfach auf Stellen gelangt, die vorläufig 
noch unter den Füssen schwanken* Zwei der festesten 
Punkte sind wohl die unzweifelhaften Thatsachen von der so 
ungleichen Empfänglichkeit verschiedener Orte für Öholera- 
epidemieen und von der Beschränkung dieser Empfänglich- 
keit auf gewisse Zeiten. 

Jeder Yersuch der Erklärung dieser beiden Thatsachen 
wird mit einer unbarmherzigen Consequenz durch die That- 



B. üb, d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergrflndung ihrer Ursachen. 39 

bestände auf einen noch nicht näher bekannten Einfluss des 
Bodens hingewiesen. Ich habe schon S. 19 u. 23 erwähnt, wie 
wenig diese beiden Thatsachen aus der Contagiosität der 
Krankheit und aus der individuellen Disposition erklärt wer- 
den können, d.h. aus der Einschleppung der Krankheit durch 
den Verkehr und aus den Menschen, welche einen gewissen 
Ort zu dieser Zeit bewohnen. Ebensowenig kann aus den 
"Wohnstätten und den häuslichen Gewohnheiten und Ein- 
richtungen eine Erklärung versucht werden, denn diese sind 
in cholerabefallenen Orten die nämlichen, wie in cholera- 
freien. Kein Mensch weiss anzugeben, wodurch sich die Häu- 
ser auf der Sebalder Seite in Nürnberg von denen auf der 
liOrenzer Seite unterscheiden, oder die Häuser von Nürnberg 
von denen von Fürth u. s. w., um die Empfänglichkeit und 
Unempfänglichkeit für Cholera zu erklären. Man kann auch 
nicht sagen, so gut ein unbekannter Einfluss im Boden zur 
Erklärung herbeigezogen wird, ebenso könnte auch ein un- 
bekannter Eintiuss von Wohnungen, Schiffen, Menschen u. s. w. 
abgeleitet werden. Diese Annahme ist deshalb unzulässig, 
weil die Häuser auf der Sebalder und Lorenzer Seite in 
Nürnberg, die Häuser in Nürnbierg und Fürth u. s. w. aus 
den gleichen Materialien, nach denselben Plänen, von den- 
selben Arbeitern hergestellt worden und gleich eingerichtet 
von derselben Menschenart bewohnt sind, so dass ihr ver- 
schiedenes Verhalten gegen die Choleraverbreitung doch 
wieder nur aus der verschiedenen geographischen Oertlich- 
keit, aus dem Grund und Boden erklärt werden kann, auf 
dem sie stehen. Selbst wenn man annehmen oder zugeben 
würde, dass gewisse häusliche Einrichtungen, schlechte Ab- 
tritte, Kanalisirung etc. das Zustandekommen des entschei- 
denden örtlichen und zeitlichen Momentes im Hause selbst 
oder einem Theil desselben besonders begünstigen und gleich 
dort der importirte Krankheitskeim damit in Wechselwirkung 



40 Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage. 

trete — eine Annahme, die vorläufig gar nicht unstatthaft 
wäre, — so würde man für das Haus oder den besonderen 
Theil des Hauses doch wieder das örtliche und zeitliche 
Moment nur von der geographischen Oertlichkeit, von dem 
Grund und Boden ableiten können, auf dem es steht, weil 
die nämlichen Einrichtungen z. B. in Fürth und Nürnberg 
sind, aber nicht die gleichen Folgen haben. 

Wenn nun die Cholera in Nürnberg auf dem linken 
und rechten Pegnitzufer so verschieden auftritt, wenn in 
den Menschen rechts und links der Pegnitz, ihren Häusern, 
ihren Gewohnheiten u. s. w. gar kein wesentlicher Unter- 
schied aufzufinden ist, wenn aber die BodenbeschafFenheit 
grosse Unterschiede zeigt, z» B. das linke befallene Ufer 
aus losem Sande, das rechte Ufer vorwaltend aus festem 
Eeupersandstein besteht, so liegt es doch weit näher an- 
zunehmen, der Fels- und Sandboden habe irgend einen 
noch näher zu definirenden Einfluss, als anzunehmen, links 
der Pegnitz sei die Cholera eine ansteckende Krankheit und 
rechts der Pegnitz nicht. 

Die beiden Ufer unterscheiden sich allerdings auch 
noch durch viele andere Umstände von einander, das linke 
sandige Ufer ist eine ebene Fläche, das rechte felsige eine 
steile Anhöhe, auf deren Gipfel die Burg steht. Nicht blos 
wegen verschiedener Bodenbeschaffenheit, sondern auch wegen 
verschiedener Niveauverhältnisse wird manches anders sein, 
z. B. die Imprägnirung des Bodens mit Wasser und Luft 
und anderen Stoffen. Also wenn auch nicht die Boden- 
beschaffenheit für sich das entscheidende ist, so könnte sie 
es in Yerbindung mit anderen Yerhältnissen sein, die gleich- 
falls am Boden haften, einen Theil der Bodenbeschaffenheit 
ausmachen, — im Boden muss unter allen Umständen die 
Erklärung der örtlichen Disposition gesucht werden. 



u. üb. d. nftchsten Aufgab, z. weiteren Ergründiuig ihrer Ureachen. 41 

Die Bodenverhältnisse sind etwas vielfaches und ver- 
wickeltes, und ein einziges Moment derselben, z. B. der 
Qrad der Porosität, gewiss nicht die einzige Bedingung zur 
Entwicklung der örtlichen Disposition für eine Choleraepi- 
demie, und so etwas ist von mir auch nie behauptet worden. 

Yiele meinen ferner, weil in einigen Fällen, die ich für 
den Einfluss gewisser Bodenverhältnisse angeführt habe, der 
Boden ein anderer ist, als ich ursprünglich angenommen hatte, 
so falle damit auch der Bodeneinfluss überhaupt. Sander 
wählt als ein Beispiel Fürth, *) dessen Bodenbeschaifenheit 
ich im Jahre 1854 folgendermaassen schilderte : 2) „Fürth ist 
auf einer Sandsteinplatte gelegen und viele Häuser haben 
dort, obwohl sie auf einer Ebene ruhen, Felsenkeller. Nach 
einer Mittheilung des Bektors Beg geht der Sandstein in 
Fürth durchschnittlich bis gegen zwei Fuss unter das Pflaster 
herauf, — die oberste Schichte soll jedoch so zerreiblich 
sein,- dass sie nicht als Baustein benützt werden kann, was 
aber bei tieferen * Lagen der Fall ist»" Dr. Langhans 
gibt hingegen 3) in seiner Abhandlung zur Hydrognosie der 
Stadt Fürth an: „Die Bodenschichten haben nach von an- 
derer Seite angestellten Beobachtungen folgende ungefähre 
Mächtigkeit : 

obere humushaltige Erde . . 1 1/2 Fuss, 

Sand 10 „ 

Lehm . ♦ 2 „ 

Keuperfelsen. 

Weder ich noch Junghans haben eigene Untersuch- 
ungen über den Boden von Fürth angestellt, sondern jeder 
hat sich auf die Angaben anderer verlassen. 



1) a. a. O. S. 33. 

2) Untersuchungen etc. S. 91. 

3) Vierteljahrsschrift für öflFentl. Gesundheitspflege Bd. IIL S. 18. 



42 üeber den gegenwärtigen Stand der Oholerafrage 

Ich habe 1854 meinen Oewährsmann genannt — der 
von Junghans ist nicht bekannt. Ich nehme aber an, Jung« 
bans hat einen richtigen, ich einen falschen Bericht em« 
pfangen. Was folgt daraus P Dass die Immunität von Fürth 
nicht von seiner geographischen Oertlichkeit abhing, dass 
die Bodentheorie in eine falsche Richtung führt? Gewiss 
nicht. Es folgt nur daraus, dass zur Erklärung der Immu- 
nität von Fürth von mir nicht das richtige örtliche Moment 
erkannt wurde, deren es noch mehrere giebt, ausser einer ver- 
bal tnissmässigen Impermeabilität des Baugrundes für Wasser 
und Luft.— Gleichwie ich für Lyon bereits zwei örtliche Gründe 
der Immunität annehme, so könnte das auch per analogiam 
für Fürth geschehen, welches ganz ähnlich zwischen zwei 
Flüssen am Yereinigungspunkt der ßednitz und Pegnitz 
liegt, wie Lyon zwischen Rhone und Saone. Und so kann 
es noch viele andere örtliche Gründe der Immunität geben, 
ohne dass die beiden genannten aufhören, es zu sein. 

Dass aber Fürth im Jahre 1854 wirklich wegen Mangels 
an örtlicher und zeitlicher Disposition trotz mehrfacher Ein- 
schleppungen keine Choleraepidemie bekommen hat, geht 
aus den Thatsachen auf das Schlagendste hervor, denn alles, 
worauf sonst Gewicht gelegt wird, wenn man Choleraepi- 
demieen ohne Bodeneinfluss erklären will, war in Fürth in 
reichlichster Menge vorhanden. 

Ich erlaube mir zur Bequemlichkeit des Lesers einiges 
aus meinen Untersuchungen und aus dem Hauptberichte zu 
wiederholen: „Der Verkehr zwischen Fürth und München 
im Monate Juli und August (1854) ist nicht geringer ge- 
wesen als zwischen Nürnberg und München; der Verkehr 
zwischen Nürnberg und Fürth ist aber Jahr aus Jahr ein 
ein ganz ungewöhnlich lebhafter. (Stündliche Eisenbahnzüge.) 
In Fürth sind viele Fabriken mit ihrem sehr zahlreichen 
Proletariate, ferners zahlreiche Judenfamilien, der ärmeren 



a. üb. d. nftchsien Aufgab, z. weiteren Ergri&ndung ihrer ürBaohen. 43 

Klasse angehörig; die socialen und diätetischen Verhältnisse 
sind in Fürth der Art, dass die Cholera dort eine zahl* 
reichere Ernte erwarten liess als in München: aber siehe 
da, es entsteht keine Epidemie. Vier der in Fürth vor- 
gekommenen Fälle sollen nachweisbar aus Nürnberg und 
München eingeschleppt gewesen, zwei ohne nachweisbare 
derartige Ursache entstanden sein. Die Häuser, in denen 
die beiden letzteren vorgekommen waren, besuchte ich in 
Begleitung des dortigen Gerichtsarztes (Dr. Wolf ring). 
Diese Häuser sind allerdings ungünstig situirt, das eine am 
Abhänge hinter dem Armenhause, nach der Pegnitz zu, -i— 
das andere (einem Bäcker gehörig und nicht fern vom 
ersteren) hatte einen hochgelegenen Hof mit Abtritt und 
Schwindgrube nebst einem Schweinstalle auf dem höchsten 
Punkte. — Man möchte annehmen, dass es dem nach Fürth 
gebrachten Cholerastoffe an allen Lebensbedingungen ge- 
mangelt haben müsse, weil er sich von diesem Bäckerhofe 
aus nicht weiter entwickelt hat/^ 

„Interessant war mir in Fürth auch eine eben schwe- 
bende sanitätspolizeiliche Tagesfrage, nämlich: ob man das 
auf den nächsten Sonntag fallende Fürther Eirchweihfest 
abhalten soll oder nicht. Dieses Fest ist ein Erntetag von 
grossßr Bedeutung und Tragweite für viele kleinere Fami- 
lien der Stadt: es versammelt mehrere Tage lang einen 
grossen Theil der umliegenden Bevölkerung, auch von Nürn- 
berg, auf diesem Platze, wo dann das der Lebsucht und' 
Heiterkeit geopferte Geld- in vielen bedürftigen Händen 
zurückbleibt. Es wäre ein harter Schlag für Viele gewesen, 
das Fest nicht abzuhalten. — Von der andern Seite aber 
musste hervorgehoben werden, dass Fürth durch einen solchen 
Zusammenfluss von Menschen möglicherweise die Cholera 
als Epidemie bekommen konnte, und dass auch die Sani- 
tätsinteressen von Nürnberg gefährdet erschienen, indem die 



44 Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholerafr»ge 

Bewohner dieser Stadt, in deren einer Hälfte die Cholera 
als Epidemie herrschte, verleitet würden, ihrer jährlichen 
Gewohnheit zu folgen und sich in Fürth Diätfehlern und 
Erkältungen auszusetzen. — Zuletzt überwog das Lokal- 
interesse, Fürth beschloss, sich als eine Stadt ohne Cholera- 
epidemie zu geriren und keine Furcht* vor der Krankheit 
zu zeigen, das Eirchweihfest wurde in üblicher Weise in 
aller Heiterkeit abgehalten, Fürth erhielt auch danach 
keine Epidemie und der Zustand in Nürnberg, dessen Be- 
wohner gleichfalls sehr zahlreich sich eingefunden hatten, 
blieb völlig unalterirt durch die Vorgänge in Fürth." 

Dr. Wolf ring, damals Gerichtsarzt in Fürth, be- 
richtete: 1) 

„Unsere engen, sehr ungesunden Wohnungen, schlechten 
Brunnenwässer, da die Brunnen in den engen Gehöften 
häufig nahe bei Senk- und Abtritt - Gruben angelegt sind, 
die noch ziemlich mangelhafte Strassenreinigungspolizei, die 
grosse Armuth eines Theils der Bevölkerung und ziemlich 
grosser Leichtsinn von Seiten des andern Theiles, die häu- 
figen Strassenpromenaden bis tief in die Nacht, Excesse im 
sexuellen Umgange, kümmerliche, oft schlechte Obst- und 
KartofFelnahrung, die geistigen Bedrängnisse des Kummers, 
die leiblichen einer exorbitanten Anstrengung der physischen 
Kräfte — waren gewiss veranlassende Ursachen genug, welche 
starke Breschen für das Eindringen der Cholera darbieten 
'konnten. Und doch . . . war es der günstige Sandboden, 
welcher alles in sich aufnimmt und schnell begräbt, war 
es die freie Lage unserer Stadt, ihre von der Atmosphäre 
leicht durchdringbarefh offenen Strassen, oder waren es diese 
Momente vereint? — unsere Stadt blieb so gut wie ver- 
schont. Die Vorläufer der Krankheit waren angelangt, in 



1) Hauptbericht S. 131. 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. 45 

wenigen Fällen erhob sie ihr deutlich kennbares livides Ge- 
sieht, zum verheerenden Gange vermochte sie sich aber nicht 
zu erheben." 

Erankenhausarzt Dr. Fronmüller berichtet: 
^, Fürth steht zunächst auf feinem Eeupersande und mit- 
telbar auf Sandstein. Ersterer saugt alle Flüssigkeiten rasch 
ein, daher auch eine Ansammlung und Aufstauung schäd- 
licher Flüssigkeiten auf die Dauer unmöglich ist. Fürth 
hat eine den Winden stark ausgesetzte Lage auf einer 
zwischen zwei Flussthälern liegenden Höhe. * Der. Mangel 
einschHessender Mauern kommt ihr hiebei zu Gut.^^ 

Auch die gute Trinkwasserversorgung hat Fürth 1854 
gewiss nicht vor Cholera behütet. Junghans schreibt noch 
im Jahre 1871 darüber: l) „Es besteht hier die Eigenthüm- 
lichkeit) dass die sogenannte untere Stadt mit ihren roman- 
tischen Höfen und Winkeln vorzugsweise der Sitz des Klein- 
handwerks und des Proletariats, eine Menge von öffentlichen 
Pumpbrunnen besitzt, während diese in der von der wohl- 
habenderen Klasse bevölkerten oberen Stadt fast gänzlich 
fehlen, dagegen durch zahlreiche Privatpumpbrunnen ver- 
treten sind. Man werfe nun einen Blick in das von der 
Kultur noch wenig* beleckte Gewinkel der unteren Stadt, 
wo Miststätte und Pumpbrunnen, durch eine dünne poröse 
Erdschichte getrennt, in traulicher Eintracht nebeneinander 
existiren ; man sehe sich aber auch in der oberen Stadt um, 
wo man in den feinsten Krystallgefässen ein Trinkwasser 
Torgesetzt bekommen kann, das der allerersten Anforderung, 
trinkbar zu sein, eben nicht entspricht ..." 

Em ganz lokaler Einfluss irgend einer Art bleibt hier 
jedenfalls zu suchen, — und von Allem, was vorläufig denk- 
bar ist, — bleibt nur der Boden, die geographische Oertlichkeit. 



1) Vierteljahraschrift etc. Bd. III. S. 18. 



4ß Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

Die Bodenverhältnisse sind etwas sehr Vielfaches, Ver- 
wickeltes, uns noch grösstentheils Unbekanntes. Da ihr Ein- 
fluss auf die Ausbreitung der Cholera sich von jeher so auf- 
fallend bemerkbar gemacht, schien es mir längst an der Zeit, an 
eine Untersuchung darüber zu gehen. Um vorwärts zu kommen, 
muss man mit irgend etwas anfangen, mit irgend einer Eigen- 
schaft unter den vielen, welche die geographische Oertlich- 
keit zusammensetzen. Man beginnt am besten mit dem, 
was einem zunächst und wiederholt auffällt, ohne zu glauben, 
dass dieses die einzige Bedingung zur Entwicklung der ört- 
lichen Disposition sei« In nur theilweise ergriffenen Orten 
ist das Zusammentreffen eines Unterschiedes in der Boden- 
beschaffenheit zwischen den ergriffenen und freigebliebenen 
Ortstheilen vor und nach mir so oft beobachtet worden, 
dass man vernünftigerweise an einem causalen Nexus nicht 
zweifeln kann. Unter diesen Fällen macht sich wieder sehr 
häufig )mn Unterschied zwischen lockerem Alluvialboden und 
festem Felsen bemerkbar. Die Begränzung der Epidemieen 
in Traunstein, Kienberg, Nürnberg, Weimar, Gotha und 
anderen Orten nach diesen Oesichtspunkten ist doch etwas 
so Beacfatenswerthes, dass es trotz mancher Ausnahmen fest- 
gebalten und weiter verfolgt zu werden verdient. Jeden- 
falls spricht sich eine fast immer zutreffende Regel aus, und 
jede. solche Regel ist Folge eines Gesetzes und auch Aus- 
nahmen von der Regel vermögen das Gesetz nicht aufzu- 
heben , die Regel und deren Ausnahmen können uns ver- 
nünftigerweise nur eine Aufforderung sein, in der Richtung 
weiter zu forschen, um die Ursachen sowohl der Regel, als 
der Ausnahmen zu finden. 

Ich habe den unbestreitbaren schützenden Einfluss der 
felsigen Lage weiter zu zergliedern gesucht und habe den 
Unterschied der Permeabilität für Wasser und Luft zwischen 
Geröllboden und compaktem Felsboden zum Ausgangspunkte 



■wMa 



mn 



1 



u. üb. d. Tiifchsten Aufgab z. weiteren lürg^ündnog ihrer ÜMftcben. 47 

und zur Richtschnur genommen. Das hat für eine Anzahl 
von Fällen in überraschender Weise gepasst, so z. B. auch 
auf die so häufig gegen mich angeführten Orte Malta und 
Gibraltar. Viele haben zwar schon gemeint, es sei ganz über- 
flüssig gewesen, dass ich mir die Mühe gegeben habe, nach 
Malta und Gibraltar zu reisen, aber ich erlaube mir doch, 
gegentheiliger Ansicht zu sein. Abgesehen von dem Nutzen 
und der Belehrung, die ich aus der unmittelbaren An- 
schauung von Choleraorten in einem ganz anderen Klima 
und in ganz anderer geographischer Lage gezogen, habe 
ich doch 80 viel bewirkt, dass Malta und Gibraltar nicht 
mehr länger als Beweise gegen die Giltigkeit der Boden- 
theorie angeführt werden können. Wäre ich nicht in Malta 
und Gibraltar gewesen, so hätte Sander sich wohl schwer- 
lich auf Anführung des Sandsteines und des trockenen Lösses 
im Tauberviertel in Wertheim und des compakten Kalk- 
steines der Klippe in Barmen als seine einzigen zwei Gegen- 
beweise beschränkt. 

Ich halte die von Sander über jeden Zweifel erhobene 
grössere Empfänglichkeit der von der Stadt Barmen einge- 
nommenen Seitenthäler der Wupper für eines der schönsten 
Kesultate seiner auch sonst verdienstvollen Arbeit, aber 
nicht, weil ich in der Bodenbeschaffenheit der Klippe eine 
abschliessende Thatsache gegen weitere Verfolgung des 
Bodenein Husses erkenne, sondern im Gegentheil eine sehr 
lockende Aufforderung, die begründete Thatsache in dieser 
Richtung weiter zu verfolgen. So wenig, als mich das Vor- 
kommen der Cholera auf Schiffen gegen den wesentlichen 
und unentbehrlichen Einfluss des Bodens bei der Cholera- 
genese zweifelhaft macht, Tioch viel weniger ihr Vorkommen 
in der Klippe zu Barmen. Solche Ausnahmen von der Regel 
werden von einem vermehrten Wissen über Bodeneinflüsse 
früher oder später in der einfachsten Weise aufgeklärt 



48 Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

werden. Vielleicht ist die örtliche Disposition der Klippe in 
jenen Erdschichten zu suchen, welche die Wände der 
Schlucht überlagern, so dass das y schon von oben mit dem 
Wasser in die Schlucht herabkommt. 

Von den Bodenverhältnissen ist aber bisher nicht blos 
Felsen und Nicht - Felsen , durchlässig und undurchlässig, 
sondern auch bereits manches andere nicht ohne Erfolg in^s 
Auge gefasst worden: z. B. die Lage auf Lehm über Kies, 
die Lage an Steilrändern, in Mulden etc., wie aus den 
Untersuchungen über den Verlauf der Cholera in Bayern 
von mir, in Sachsen von Günther, in Thüringen von 
Pfeiffer, in Wien von Creutzer, in Lübeck von Cor- 
des etc. oft so deutlich hervorgeht. Ich fürchte, die Leser 
zu ermüden, wenn ich die hier einschlägigen Beobacht- 
ungen von mir und Andern auch nur kurz der Reihe 
nach rekapituliren wollte. Wer nach dem, was ich -bis jetzt 
vorgetragen habe, den Einfluss des Bodens bei der Cholera- 
genese entbehrlich findet, der würde ihn auch dann noch 
nicht unentbehrlich finden, wenn ich noch viel mehr Beweise 
dafür beibrächte, und wer in Folge der bis jetzt gemachten 
Beobachtungen von dem Einfluss des Bodens überzeugt ist, 
für den ist jeder weitere Beweis ohnehin überflüssig und 
der wird ohnehin nur mehr bestrebt sein, unser noch so 
dürftiges und unsicheres Wissen darüber durch eifrige und 
ernste Studien zu vervollständigen und zu vervollkommnen, 
um nicht immer die Antwort auf so viele naheliegende 
Fragen schuldig bleiben zu müssen. 

Ich will nun zu einigen Bemerkungen über das Grund- 
wasser und die zeitliche Disposition für Cholera übergehen. 
Sander zählt seinen Lesern eine grosse Beihe darauf bezüg- 
licher Angaben und Beobachtungen von mir und Andern auf, 
bespricht aber merkwürdigerweise bei dieser Gelegenheit ge- 
rade jene Beobachtung nicht näher, welche mich zur Annahme 



— I 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründang ihrer Uriaehen. 49 

eines Einflusses des Grundwassers überhaupt bestimmt hat, 
nämlich die Yertheilung der Ortsepidemien in Bayern im Jahre 
1854 nach Fluss- und Entwässerungsgebieten. Wer die diese 
Yertheilung zeigende Landkarte vor sich hinlegt i) und vor- 
urtheilsfrei betrachtet, dem kann nichts anderes einfallen, 
als dass die Erscheinung mit den Wasserverhältnissen der 
Gegenden in irgend einer Weise zusammenhängen müsse. 
Da von allen Bestandtheilen des Bodens keiner so grossen 
Schwankungen unterliegt, als das Wasser, so lag der Ge- 
danke sehr nahe, den wechselnden Wassergehalt des Bodens 
zum Ausgangspunkt für Aufsuchung der örtlich wechselnden 
zeitlichen Disposition zu wählen. Ich versuchte nun auch 
hier, die ersten Schritte zu einer weiteren Zergliederung 
und Beobachtung zu thun. Da es sich nicht um das Wasser 
für sich, oder um das Wasser in Flüssen und Bächen handelte, 
sondern um das Wasser im Grunde und Boden, auf dem die 
menschlichen Wohnorte stehen, so nannte ich es Grundwasser 
und betrachtete 'den Wechsel in der Menge desselben als 
ein wechselndes zeitliches Moment, wie mir die Boden- 
beschaffenheit als ein gleichbleibendes örtliches Moment galt. 
Es können nun meine einzelnen "Versuche, den Grund- 
wassereinfluss zu formuliren, verfehlt und alle meine Sätze 
grundfalsch sein, deshalb bleibt die Thatsache, von der ich 
ausgegangen bin, doch unverändert stehen und verlangt ihre 
Erklärung aus den Wasserverhältnissen des Bodens. Man 
kann wohl meine Anschauung über die Art des Einflusses 
bekämpfen, aber nicht die Thatsache selbst in Abrede stellen. 
Es wird mir eine grosse Freude sein, wenn ein Anderer 
die Sache richtiger und schärfer ansieht, als ich, — aber 
sie gar nicht anzusehen, als ob sie gar nicht existirte, kann 
keinen Nutzen bringen. Eine Aufgabe ignoriren ist nicht 
gleichbedeutend mit Ansfrengungen zu ihrer Lösung, 

1) Hauptberioht S. 307 bis 332 nebst Atlas. 



50 Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

Sander handelt beim Qrundwasser zuerst von der 
Arbeit von Buhl über Grundwasser und Typhoid in Mün- 
chen ; für deren ursächlichen Zusammenhang Seidel die 
Wahrscheinlichkeit von 36000 zu 1 berechnet hat. Sander 
meint nun, dass daraus für die Cholera zunächst nichts folge, 
und hat ebenso unrecht, als wenn ein hyperkritischer Land- 
wirth oder Oärtner behaupten wollte, aus dem, was der 
Gerste oder dem Apfel nützt oder schadet, folge nichts für 
den Weizen und die Birne. Buhl hat mit seinem richtigen 
diagnostischen Blicke früher als Andere erkannt, dass Cho- 
lera und Abdominaltyphus oder Typhoid verschiedene Species 
ein und derselben Gattung, von Krankheiten sind ui)d des- 
halb, in diesem Falle für ihr Entstehen vieles gemeinsam 
haben müssen, gleich Gerste und Weizen, und Aepfeln und 
Birnen. Die Sätze von Buhl und Seidel über Typhoid 
und Grundwasser in München haben sich nun schon 16 Jahre 
hindurch unter den wechselndsten Umständen stets gleich 
bewährt. Ich weiss daher nicht, warum Sander seine Be- 
trachtungen über den Typhus mit einer Bemerkung von 
Jessen schliesst: „erst längere und an vielen verschiedenen 
Orten angestellte Beobachtungen können allgemeiner giltige 
Prooentsätze ergeben," und nicht lieber mit dem Satze, mit 
welchem auch Jessen seine Abhandlung i) wirklich ge- 
schlossen hat: „Wer hätte vor wenigen Jahren geglaubt, 
dass der Zusammenhang einer Krankheit mit meteorolo- 
gischen Verhältnissen sich mathematisch würde beweisen 
lassen? Und doch ist dieser Beweis durch die gemeinsame 
Thätigkeit der Münchener Forscher jetzt wirklich und un- 
zweifelhaft gelungen." Welche Stelle man citiren will, wird 
immer Liebhaberei bleiben, aber bemerken will ich doch, 
dass Jessen damals, als er seinen Aufsatz schrieb, blos 



1) Zeitschrift für Biologie Bd. III. S. 136. 



u. üb. d. nftchsten Aufgab, z. weiteren Ergrundung ihrer Ursachen. 51 

8 Jahre vorlagen, während es jetzt, wo Sander sohreibt, 
bereits 16 Jahre mit unverändertem Ergebniss sind. Wenn 
also Jessen schon damals schliesslich den Zusammenhang 
für erwiesen hielt, so muss er ihm jetzt nach den Gesetze der 
Wahrscheinlichkeit viel mehr als doppelt erwiesen erscheinen. 

Den Leser, der sich näher für Typhoid interessirt, 
verweise ich auf die Reihe von Vorträgen, welche die 
letzte Epidemie in München 1872 im Kreise des ärzt- , 
liehen Vereins veranlasst bat, wo namentlich auch in einem 
populären Beispiele von Sei de 11) gezeigt ist, was eine 
Wahrscheinlichkeit von 36,000 gegen 1 sagen will. Ebenso 
verweise ich auf die gleichzeitig mit dieser meiner Schrift in 
der Zeitschrift für Biologie erscheinende, genaue und lehr- 
reiche Darstellung des Vorkommens von Typhoid im bayeri- 
schen Heere, welches Stabsarzt Dr. Port zum Gegenstand 
eingehender Studien nach den einzelnen Garnisousorten 
und Kasernen gemacht hat. In dieser vortrefflichen Arbeit 
findet man neben der Mortalität auch die Morbilität be- 
rücksichtiget, und kann daraus die Beruhigung schöpfen, 
dass in München das Bild von der wechselnden Typhoid- 
frequenz wesentlich kein anderes wird, man mag die Mor* 
talität oder die Morbilität zu Grunde legen. 

Die Anwendung der Grundwasserbewegung zur Er- 
klärung der zeitlichen Disposition für Cholera wird nun 
noch viel mehr angezweifelt, als für Typhoid, weil noch 
für keinen Ort, in dem die Cholera so endemisch ist, wie 
das Typhoid in München, Beobachtungen für längere Zeit 
vorliegen. — Beobachtungen, wie sie in München über 
Typhoidfrequenz und Grundwasserbewegung angestellt wor- 
den sind, können für Cholera nur in Indien, und auch dort 
nur in den Distrikten angestellt werden , in welchen die 
Cholera endemisch ist. Da man nicht hoffen kann, dass 

1) a. a» O. Seite 44, 

4* 



I — l'l 



52 Ueher den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

in Bezug auf Cholera das Yonirtheil gegen neue Anschau- 
ungen und das Festhalten am Hergebrachten schwächer 
sein wird, als in Bezug auf Typhoid, oder dass die Aerzte in 
Calcutta leichter zu überzeugen sein werden, als in deutschen 
Städten, so muss ich mich jedenfalls noch einige Jahre ge- 
dulden, bis der Einfluss des Grundwassers auf die Cholera- 
frequenz in Calcutta und anderen Orten Indiens ebenso als 
eine Thatsache anerkannt wird, wie beim Typhoid in München. 

Die Beobachtungen an verschiedenen Orten mit ver- 
schiedenen Cholera -Zeiten (Calcutta und Lahor) werden 
auch allmälig Aufscbluss über die Frage geben, wann und 
wo es zu trocken und zu feucht für die Cholera ist, über- 
haupt darüber, warum im Panjab der Regen die Cholera 
bringt und warum er sie in Bengalen verscheucht und 
warum Madras zwei Cholerazeiten im Jahre hat. 

In Indien ist vorläufig noch eine Schwierigkeit zu 
überwinden, nämlich sich den geeignetsten und besten 
Maassstab für den Wechsel in der Durchfeuchtung des 
Bodens zu suchen. Bisher schienen mir die Regenmengen 
eines Ortes im Zusammenhalt mit der BodenbeschafFenheit 
noch die besten Anhaltspunkte zu sein. Am zuverlässigsten 
aber wäre vielleicht der Vergleich der örtlichen Regenmengen 
mit der örtlichen Yerdunstungsmenge. So wenig einstweilen 
aus Indien noch bekannt ist, so viel sieht man doch schon, 
dass auch dort der Einfluss des Bodens und seiner Orund- 
wasserbewegung sich nicht anders als bei uns verhält. Auch 
dort findet man in. nur theilweise ergriffenen Orten zwischen 
den freien und befallenen Ortstheilen fast nur Unter- 
schiede in der Bodenbeschaifenheit, wie z, B. in dem Falle 
von Kassim Bazaar und Naya Bazaar in Rajmahal, den 
Douglas Cunningham mitgetheilt hat. Bei Besprechung 
dieses Falles habe ich angeführt, i) dass nach meiner An- 

1) Yerbreitungsart der Cholera in Indien S. 84. 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründnng ihrer Ursachen. 53 

sieht Naya Bazaar nur einer sogenannten Monsun - Cholera 
fäUg sein würde/^ Diese Möglichkeit ist schneller zur 
Wirklichkeit geworden, als ich gedacht hatte.i) Im Septbr« 
1871 brach die Cholera wieder aus in Bajmahal. Diesmal 
und zu dieser Zeit kamen in Kassim Bazaar nur 2 Fälle 
vor, hingegen 22 in l^aya Bazaar, welcher ein Jahr vorher 
nur 2 Fälle hatte. Die Bodenuntersuchung von Dr. Cun- 
ningham wurde diesmal von dem Assistenzarzte des Ge- 
fängnisses wiederholt, welcher darüber berichtet: „Der 
Boden der beiden Orte wurde untersucht und wesentlich 
in demselben Zustande befunden, wie er von Dr. Cunning- 
ham in seinem Berichte beschrieben ist, der einzige Unter- 
schied ergab sich im Stande des Grundwassers, welches 
etwa 4V2 Fuss unter der Oberfläche in Naya Bazaar und 
51/2 Fuss in Kassim Bazaar war. Das Lager von undurch- 
lässigem Thone, welches als 5 Fuss unter der Oberfläche 
liegend zu Naya Bazaar angegeben wird, war daher unter 
dem Spiegel des Grundwassers zu dieser Zeit. Zu Kassim 
Bazaar fand sich, wie Dr. Cun ningham angibt, kein 
Thonlager selbst bis zur Tiefe von 7 oder 8 Fuss unter 
der Oberfläche, sondern der Boden war locker und sandig 
und zum grössten Theil aufgefüllt/' 

Aenderungen in der Zeit und Reihenfolge der atmo- 
sphärischen Niederschläge coiucidiren auch in Calcutta mit 
entsprechenden Aenderungen in der Cholerafrequenz, ähn- 
lich, wie ich es schon in meiner Verbreitungsweise der 
Cholera in Jndien für Bombay aus den Mittheilungen von 
Macpherson nachgewiesen habe. Gleichwie in Zwischen- 
räumen München typhusimmune Zeiten hat,' so haben Calcutta 
und Bombay solche choleraimmune Zeiten. Namentlich das 
Jahr 1871 war ein solches für Calcutta, und auch noch das 



1) The Indiau Annais of Medioal Science Bd. XXIX. p. 258. 



54 



Deber den gegenwBrtigen St«nd' der Cholerarrage 



gegenwärtige Jahr 1872. lob will die mittlere Sterblichkeit 
an Cholera in Caleutta und die der Jahre 1870 und 1871 
nach Monaten nebeneinander stellen. 





"" 


Chol 
"Mittel" " 


Bratodes 


»lle 


» 


187« 


1871 


Jann&r . . . 


275 


171 


53 


Febiaar 




359 


259 


98 


März . 




see 


257 


07 


April . 




745 


381 


76 


Hai . . 




513 


166 


29 


Juni . . 




243 


118 


28 


Jnli . . 




153 


50 


19 


AugMt . 




132 


40 


38 


September 




151 


30 


74 


Oktober 




239 


37 


83 



Die geringe Frequenz hat aich auch bis zum September 
des Jahres 1872 ziemlich unTerändert fortgesetzt. Die Begen- 
verhältniaae der Jahre 1870 und 1871 waren unregelmässige, 
und führten dem Boden mehr Feuchtigkeit als gewöhnlich 
zu, theils durch ungewöhnliche Tertheilung, theile durch 
ungewöhnliche Stärke der Niederschläge. 







Regen 


in engl. 


Zollen 




Mittel 


1870 


1871 


Januar . . . 


0.21 


0.77 


„ 


Februar 




0.42 


— 


0.76 


März . 




1.13 


0.03 


Ml 


April . 




2.40 


4.30 


5.65 


Mai . , 




4.29 


0.92 


11.15 


Juni . . 




10.1 


16.2 


25.35 


Juli . . . 




13.9 


lO.SO 


16.93 


Anguft . 




14,4 


12.92 


12.11 


September 




10,4 


9.01 


9.93 


Oktober 




4.1 


3.95 


7.03 






0,9 


l.fiß 


— 


Dezember 




0.1 




- 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. 55 

Im Jahre 1870 erstreckte sich die Begenzeit schon 
von Anfang April bis November, anstatt wie gewöhnlich 
von Mitte Mai bis Oktober, und die Begenzeit des Jahres 
1871 begann ausnahmsweise gar schon im März, wo es 
sonst am trockensten und heissesten ist, und erreichte eine 
ganz abnorme Höhe. Ja, dem Jahre 1870 war ein Ereigniss 
im Jahr 1869 schon vorausgegangen, was nach meiner An- 
sicht in das Jahr 1870 hinüberwirkte. Für Orte in Indien 
wird es nicht genügen, blos die monatlichen Regenmengen 
in's Auge zu fassen, sondern es wird nöthig sein, auch die 
täglichen Begenmengen in Betracht zu ziehen, weil dort 
an einem Tage oft Dinge vorkommen, die unmöglich gleich- 
giltig sein können. Am 9. «liuni 1869 fielen dort 11 Zoll 
Bogen binnen 24 Stunden. Acht bis zehn Tage nach diesem 
Wolkenbruch ging die Cholera auf einen sehr niedrigen 
Stand herab und hielt sich darauf bis Januar 1870, von 
wo an sie wieder stieg bis April. Der in diesem Monat 
vorzeitig sich einstellende Bogen trieb sie aber leicht wie- 
der herab auf den niedrigen Grad, den ich vorhin schon 
erwähnt habe. 

Schon im Jahre 1868 war ein sehr heftiger Begenfall 
(8 Zoll an einem Tage) am 12. August gewesen, der aber 
noch nicht diese Wirkung zu äussern vermochte, wie der 
im Juni 1869. Dem Bogen im August 1868 folgte sogar eine 
Steigerung der Cholera für einige Tage. Die Contagionisten 
werden natürlich darin einen Widerspruch mit der be- 
haupteten Wirkung des 11 Zoll betragenden Niederschlages 
am 9. Juni 1869 erblicken, aber vielleicht mit nicht mehr 
Becht, als wenn man behaupten wollte, wenn nach mehreren 
Hammersehlägen etwas beim letzten Schlage zerspringt, so 
könne das nicht Ursache des Zerbrechens sein, weil voraus- 
gehende Schläge nicht dieselbe Wirkung gehabt hätten. Die 
Wirkung der Grundwasserverhältnisse scheint oft nicht nur 



•-«•»>- 



T 






56 



Ueber den gegenwärtigen Stand der Gholerafrage 



keine momentane, sondern eine sehr lang sich erstreckende 
zu sein. In Bombay tritt dasselbe, wie in Calcutta hervor. 
Das choleraimmune Jahr 1853 in Bombay folgte da nicht der 
unmittelbar vorausgehenden grössten Begenmenge von 1851 
mit 97 Zollen, sondern dem Jahr 1852, dessen Regenmenge 
70 Zoll d. i. wenig über dem Mittel betrug. Ferner ist zu be- 
denken, dass eine so plötzliche und kurz dauernde Zunahme 
der Frequenz, wie sie nach dem 12. August 1868 vorge- 
kommen ist, durchaus nicht immer ihren Grund in einer 
Vermehrung der specifischen Krankheitsursache haben muss, 
sondern ebenso gut in einer Vermehrung oder Steigerung 
der individuellen Disposition, oder in von aussen kommen- 
den Zuzügen oder Einwand^ungen und anderen Disloka- 
tionen und ihren Folgen begründet sein kann. Ehe man 
die Zunahme der Frequenz vom 19. bis zum 26. August 
1868 auf Rechnung einer Vermehrung der specifischen Ur- 
sache durch den Regen schreiben dürfte, müsste zuvor noch 
manches andere näher untersucht und festgestellt werden. 
Ich stelle zur Veranschaulichung die monatliche !Fre- 
quenz von Choleratodesfällen in Calcutta für die Jahre 1869 
und 1870 und 1871 nebeneinander. 





1869 


1870 


1871 


Januar . . . 


1 
264 ' 


171 


53 


Februar 




428 


259 


98 


März . . 




760 ; 


257 


07 


April 




746 


381 


76 


Mai . . 




698 , 


165 


29 


Juni . , , 




331 


UÖ 


28 


Juli ♦ . 




78 ' 


50 

1 


. 19 


August . 




53 ; 


40 


38 


September . 




41 i 


30 


74 


Oktober 




57 , 


37 i 


83 


November . 




78 


22 




Dezember . 




58 r 


30 





u. üb. d. xrftohsteu Aufgab, z. weiteren Ergründang ihrer Ursaoheu. 57 

Dem Wolkenbruch im JudI 1869 folgt eine ungewöhn- 
liche Abnahme der Cholerafrequenz. In der heissen und 
trocknen Zeit des Jahres 1870 von Januar bis April ver- 
mehrt sie sich zwar wieder, aber die hier schon eintretenden 
Regen treiben sie auf einen noch niedrigeren Grad herab 
und die vorzeitig und in ungewöhnlicher Stärke fallenden 
Regen des Jahres 1871 lassen sie nicht wieder aufkommen 
und wirken auch noch in das Jahr 1872 hinüber, welches 
sich wiedejp durch geringe Regenmenge auszeichnet. 

Aller Wahrscheinlichkeit nach wird in der kommenden 
trocknen und heissen Zeit des Jahres (März und April) 
1873 wieder eine gesteigerte Cholerafrequenz folgen. Ich 
bin allerdings noch nicht jpi Besitz von genauen Zahlen 
vom Jahre 1872, es ist mir aber mit aller Bestimmtheit 
mitgetheilt, dass in der ersten Hälfte des Jahres während 
der Haupt-Choleramonate sehr wenig Cholera in Calcutta 
gewesen sei, die nur am Schluss der heissen Witterung 
oder im Beginn der Regenzeit sich wieder zu zeigen an- 
fing. Sie hat sich in diesem geringen Grade die Regen- 
zeit des Jahres 1872 hindurch fortgesetzt. Die Regen- 
menge von 1872 war bis zu Anfang September, von wann 
meine letzten Nachrichten sind, unbedeutend (very deficient) 
und man ist jetzt sehr gespannt darauf, was nach Schluss 
der Regen und während des nächsten heissen Wetters 
(März und April 1873) geschehen wird. 

Die schon 2 Jahre dauernde vergleichsweise Immunität 
von Calcutta ist um so auffallender, als in anderen Theilen 
Indiens die Cholera mit ungewöhnlicher Heftigkeit auftritt. 
Der Norden von Indien ist in diesem Jahre 1872 so arg von 
Cholera heimgesucht, wie schon seit längerer Zeit nicht 
mehr. Bryden wurde von der Regierung in Calcutta 
dahin beordert und er hat von Simla aus unterm 7. Sep- 
tember 1872 einen vorläufigen Bericht erstattet, der mir 



58 Ucber den gegonwftrtigen Stand der Cholcrafrugc 

bereits am 2. November in München zukam und von 
grossem Interesse ist. Das starke Auftreten der Cholera 
im Pandschab während der Sommermonate 1872 stimmt 
ganz mit dem sonstigen Gegensatze zwischen dieser Gegend 
und Nieder bengalen überein. Dem trocknen und heissen 
Pandschab bringt der Monsun die Cholera, während er sie 
in dem nassen und heissen Niederbengalen gleichsam er- 
säuft Bryden theilt die Menge der Niederschläge mit, 
welche an mehreren Orten des nordwestlichen Indiens vom 
April bis Mitte August 1872 gefallen sind und vergleicht sie 
mit dem Durchschnitt für diese Orte und Zeiten, und da ergibt 
sich, dass z. B. in Umbällah 38.4 Zoll Bogen gefallen sind, 
während der Durchschnitt \l% ist, in Ludiänah 37.4 bei 
einem Durchschnitt von 13.8, in Eohät 18.2, wo der Durch- 
schnitt 8.3 und in PesBäur 11.8, wo gewöhnlich in dieser 
Zeit nur 4.2 Zoll fallen. Die einzige Conclusion, welche 
Bryden einstweilen in seinem Berichte gezogen hat, lautet: 
„Durch ganz Oberindien ist der Monsun übermässig ge- 
wesen und von, demselben Charakter, welcher in früheren 
Jahren, wie 1856 und 1861, mit dem allgemeinen Herr- 
schen der epidemischen Cholera verbunden war." 

Solche verhältnissmässig cholerafreie Zeiten, wie sie 
von Macpherson in Bombay nachgewiesen worden sind, 
kommen also auch in Calcutta zeitweise ebenso vor, und es 
ist natürlich, dass sich auch die Leute in Calcutta ihre 
Gedanken darüber machen, woher das komme. Ich kann 
constatiren, dass die grosse Mehrzahl der Aerzte in Cal- 
cutta nicht im geringsten an Boden und Grundwasser denkt, 
oder bereits der Bodentheorie anhinge, sondern wie bei 
uns auch entweder Contagium, Abtritte, Kanalisirung und 
Trinkwasser herbeiziehet, oder ein Miasma in der Luft und 
Cholerawellen in der Atmosphäre annimmt Die Boden- 
theorie findet in Indien bei der Mehrzahl denselben leiden* 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. 59 

schaftlichen Widerstand, den sie auch in Europa noch nicht 
überwunden hat Dr. Douglas Cunningham, über dessen 
Untersuchungen in der Präsidentschaft Madras kürzlich ein 
Bericht in der Zeitschrift für Biologie erschienen ist, tritt 
gewiss nicht als mein unbedingter Anhänger in Indien auf, 
seine höchst vorsichtig gestellten, sehr abwartenden Schluss- 
folgerungen beweisen es, — aber nur, dass er zu dem Re- 
sultate gelangt ist, man dürfe die Bodentheorie nicht von Torn- 
herein verwerfen, sondern müsse sie noch weiter verfolgen, 
hat ihn schon missliebig gemacht. In der von Macnamara 
redigirten Indian Medical Gazette i) schliesst eine Bespre- 
chung der Arbeit von Cunningham mit den Worten: 
„Wir hoifen in allem Ern^e, dass dies die letzte Probe 
von dieser Art von Cholerauntersuchung sein wird*', und 
man spöttelt auch dort über x, y und z, da jene Klasse 
von Geistern natürlich auch in Indien ihre Vertretung hat, 
denen jede ihnen unbekannte Grösse gleich Null ist.' 

Die Anhänger der Trinkwassertheorie sind natürlich 
^ch in Indien ziemlich zahlreich, namentlich in officiellen 
Kreisen. Diese suchen die gegenwärtige geringe Cholera- 
frequenz in Calcutta, welche schon seit 1. Juni 1870 anhält, 
damit in Verbindung zu bringen, dass zu Anfang dieses 
Jahres einige Theile von Calcutta mit gutem Trinkwasser 
versorgt worden sind. Das erklärt aber nicht, warum die 
Cholera auch in allen jenen Theilen von Calcutta so nach- 
gelassen hat, welche ihr altes Trinkwasser aus Teichen und 
Flussarmen fortgebrauchen, und dass auch im übrigen Nieder- 
bengalen und in Centralindien so wenig Cholera vorkommt. 
Wenn im kommenden Jahre 1873 wieder mehr Cholera in 
Calcutta vorkommt, wird hoffentlich das Trinkwasser der 
neuen Leitungen nicht schlechter geworden sein. Mich 
erinnert's viel an Trinkwasser und Typhoid in München. 

1) VoL VII. Nr. 1. p. 23. 



60 lieber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

Dem sei nun, wie ihm wolle, die Zukunft wird manches 
lehren und aufklären , wenn man nicht die Hände in den 
Schooss legt und sich mit Annahmen begnügt, welche jede 
weitere Forschung und Beobachtung ausschliessen oder über- 
flüssig erscheinen lassen. So weit ist die Boden theorie jeden- 
falls doch schon entwickelt und thatsächlich begründet, dass 
sie, trotz all' ihrer Schwächen und Mängel, welche ihr vor- 
läufig noch anhaften, mit der contagionistischen und der 
Trinkwasser - Theorie kühn in die Schranken treten kann. 
Ich rechte nicht mit den Gegnern der Bodentheorie, wenn 
sie darauf aufmerksam machen, wie viel noch fehlt, bis 
einmal alles so fest steht und so bekannt ist, dass man 
nirgend mehr ein Hinderniss der Erklärung findet, oder über 
gar nichts mehr nachzudenken und zu forschen braucht; 
ich verwahre mich nur dagegen, dass es mir mit der Wahr- 
heit nicht ebenso Ernst sei, wie meinen Herren Gegnern. 
Letzteres könnte so scheinen, wenn man liest, was mir 
Sander bezüglich Zürich und Lyon vorhält, nämlich dass 
ich einmal etwas für giltig, das anderemal für ungiltig e^ 
klärte, geradeso wie es mir passtf^-wie ich^s brauchen kann, 
also ganz willkürlich.. 

Bei Zürich handelt es sich darum, ob der Epidemie 
von 1867 abnorme Durchf euch tungs Verhältnisse vorausge- 
gangen sind, oder nicht. Diese Grundwasserverhältnisse sind 
gemessen 1) an dem Wasserstande einer Anzahl von Brun- 
nen, deren Stand vom See und der Limat abhängt, dann 
2) an einigen Brunnen, welche höher liegen, um vom See 
und der Limat beeinflusst zu werden, 3) an der Wassermenge 
einiger Quellen, welche Zürich mit Trinkwasser versorgen, 
und endlich 4) an sogenannten Lysimetern. Da habe ich 
nun den ersten Maassstab ganz verworfen und Sander 
meint, das bringe mich nothwendig in Collision mit einer 
früheren Annahme bezüglich Lyon und des Bhaneistandes. 



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u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. 61 

Ich habe die Stimmfähigkeit der Brunnenspiegel in Zürich 
übrigens nicht weiter beanstandet, als ich das von jeher 
auch in München in Bezug auf die Typhoidfrequenz gethan 
habe. Ich habe in München die Erfahrung gemacht, dass 
alle jene Brunnen, deren Spiegel im Bereich der Stauhöhe 
des Isarflusses liegen, die Coincidenz mit der Typhoidfre- 
quenz nicht entfernt so deutlich und fortlaufend anzeigen, 
wie diejenigen, deren Spiegel wesentlich höher liegt, als 
der Spiegel des Flusses. Der Grund ist einfach der, dass 
die Brunnen der ersteren Kategorie nicht blos in Folge der 
örtlichen Durchfeuchtung und Austrocknung des Bodens, 
sondern auch mit dem Flusse steigen und fallen. So weit 
also der Stand des Flusses nicht von dem Grade der 
nächsten örtlichen Drainageverhältnisse abhängig ist, oder 
dmnit harmonirt, so weit sind auch die davon abhängigen 
Brunnenstände keine richtigen Anzeigen für letztere. Die 
Grundwasserverhältnisse von Zürich sind insoferne denen von 
München ganz analog, als dort der See und sein Ausiluss 
den Ufern, d. h. dem Boden und der wasserdichten Unter- 
lage von Zürich gegenüber genau dieselbe Stellung ein- 
nehmen, wie der Isarfluss den Isarufern, dem Boden des 
Isarthales gegenüber in München. See und Limat sind der 
tiefste Punkt der Drainage des Bodens, von beiden Ufer- 
seiten her fällt das Grundwasser gegen den Fluss und den 
See. Wenn also der Fluss steigt, so steigt das Wasser in 
diesen Brunnen, aber nicht weil das Wasser des Flusses in 
sie eindringt, oder weil der Fluss eine wesentliche Menge 
seines Wassers an die Uferseite verliert, sondern weil der 
Fluss das Grundwasser, welches nicht vom Fluss6 kommt, 
zurückstaut und dieses nicht abfliessen lässt. In Lyon sind 
ganz andere Yerhältnisse. Da empfangt der Fluss eigentlicli 
von keiner Seite Grundwasser. Rechts sind die Granitberge, 
links di^ Ebene von Lyon, deren Grundwasserspiegel, so- 



02 üeber den ^genwBrtigen Sttuid der Cholerafrage 

weit Lyon darauf steht, constant tiefer liegt, als äer Spiegel 
der Rhone. Die Bbone muss daher beständig Waaser an 
das linke Ufer in Lyon verlieren, sie mag steigen oder 
fallen. Bas Grundwasser von Lyon, ganz abgesehen von 
den örtlichen Niederschlägen, ist sozusagen ein Ann oder 
Altwasser der Rhone, während das ron Zürich und München 
Quellen oder Nebenflüssen gleich zu achten ist, welche sich 
in Litnat und Isar ergiessen. In München ist der Fluas ein 
Mittel der Entwässerung, in Lyon der Bewässerung des 
Bodens. 

Ich glaubte, dieses Yerhältniss in meiner Abhandlung 
über Lyon durch Holzschnitte S. 454 und 480 meiner Ab- 
handlung hinreichend versinnlicht zu haben. Ich werde mich 
gleich weiter darüber aussprechen, warum ich ein Recht 
zu haben glaubte und es noch zu haben glaube, den Rhone- 
pegel auch als Maassstiib für das Grundwasser einiger Stadt- 
theilo von Lyon zu nehmen, ich will zuerst nur noch einige 
Worte über die zeitliche Disposition von Zürich im Jahre 
18ß7 sagen. 

Die Maassstäbe 2, 3 und 4 für Grundwasser in Zürich 
widersprechen meinen Ansichten nicht mehr, sind aber we- 
niger dazu geeignet, zu entscheiden, ob man es wirklich 
mit ungewöhnlichen Grundwasserverhältnisaen im Jahre 1867 
zu thun hatte, weil die betreffenden Beobachtungen erst im 
Jahre 1867 ihren Anfang genommen haben. Ich habe mir 
deshalb noch einen andern Maassstab zu verschaffensgesucht. 
Herr Bezirksarzt Dr. Zehnder war so freundlich, mir auf 
meine Bitte die Regenmengen in Zürich von 1864 bis 1868 
mitzuth eilen. 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergrfindang ihrer Ür3«chen. 63 



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64 Ueber den gegenwKrtigen Stand der Cholerafrage 

Daraus geht auf dos Deutlichste hervor, daes die Jahre 
1864 und 1865 ebenso weit unter, wie die beiden folgenden 
Jahre 1866 und 1867 über dem Regen-Mittel waren und 
daas erat das Jahr 1868 aich wieder dem Mittel nähert. 
Für die Durchfeuchtung des Bodens kommen bekanntlich 
am meisten die Niederschläge in Betracht, welche in den 
kälteren Monaten mit gei-inger Yerdunetung fallen. Aus 
eirunden, welche ich bei Besprechung der Lyoner Verhält- 
nisse namhaft machen werde , stelle ich die Regenmengen 
in Zürich vom November 1866 bia April 1867 zusammen, 
um sie mit dem Mittel zu vergleichen. 



November 


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Dezember 


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April 


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7C.7 



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Daraus geht hervor, dass die der Cholera vorausgehende 
Periode, welche für die Orundwaaserverhältnisse von 1867 
entscheidend ist, 78 Procent über dem Mittel Niederschlüge 
hatte. Der üchluss, den ich aus der Ergiebigkeit der Quellen 
zog, erscheint daher jetzt gewiss vollkommen berechtigt. 

Für diejenigen, welche mehr verlangen, als unsere 
Kenntnisse von Boden und Grundwasser verschiedener 
Länder, Gegenden und Orte gegenwärtig schon zu lei- 
sten vermögen, liegt es sehr nahe, wieder zu sagen, dass 
hier nur ein Widerspruch mit sonstigen Behauptungen vor- 
liege, dass das vereinzelte epidemische Auftreten derCholern 
18G7 in Zürich mohr gegen als. für einen Einflu^s von Bo- 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren firgrilndung ihrer Ursachen. 65 

den und Grundwasser spräche, dass namentlich die grosse 
Durchfeuchtung des Bodens in Zürich v^m November 1866 
bis April 1867 gerade als eine Ursache angesehen werden 
könnte, derentwegen Zürich von der Cholera noch eine 
Zeit lang hätte verschont bleiben sollen u. s. w., wenn 
man in andern Fällen z. B. in Lyon annimmt, dass dort 
die Cholera wegen zu grosser Durchfeuchtung des Bodens 
nicht aufkommen könne. Basel, welche Stadt etwa ähnlich 
im westlichen Theile der Schweiz am Rhein, wie Zürich 
östlicher davon am See und an der Limat liege, und früher 
auch schon für Cholera sich empfänglich gezeigt habe, sei 
verschont geblieben. Man könnte versucht sein, die Epi- 
demie von 1867 in Zürich einfach dadurch zu erklären, 
dass das spezifische Contagium eben nur nach Zürich ge- 
bracht worden sei, und sich dort mit einem gewissen Theil 
der Bevölkerung begnügt habe u. s. w. — Dagegen be« 
merke ich, dass das so vereinzelte Auftreten der Cholera 
1867 am Nordabhang der Alpen auch durchaus nicht die 
Grundlage gewesen ist, auf welcher die Ansicht vom Ein- 
fluss von Boden und Grundwasser entstanden ist, oder 
hätte entstehen können, dass aber aus diesem Ausnahms- 
falle auch kein Recht abgeleitet werden kann, jene That- 
sachen gering zu schätzen, oder unbeachtet zu lassen, auf 
welchen die Ansicht ruht und entstanden ist. Gerecht finde 
ich nur, in solchen Ausnahmsfällen eine Aufforderung zu 
erblicken, weiter und näher zu forschen, wie die Ausnahme 
mit der Regel zusammenhängt. Es ist allerdings eine 
höchst merkwürdige Thatsache, welche dringend eine Er- 
klärung fordert, dass 1867 die Cholera von Zürich aus weder 
über die nächste Umgebung hinaus in der Schweiz, noch 
im Süden und Westen von Deutschland trotz ungehinderten 
Verkehrs und mehrfacher Yerschleppungen Epidemieen ver- 
ursacht hat, aber dieses Yerhalten genügt auch noch nicht, 

6 



Olj tTeber den geg«nwSrligon Stftnd der Cbolerofragd 

ilio Cholera als contagiose Krankheit zu betrachten, wo- 
gogcn nicbta mehr spricht, als gerade die Thatsache selbst, 
tlitsa sie von Zürlob aus nicht weiter verbreitet werden 
kunnto. Ich befürchtete damals ernstlich, Zürich möchte 
1S67 für Süddoutschland ein ebenso unheilverkündender 
Vorbote sein, wie ea 18G5 Älfenburg und Wordau für 
Norddeutschland im Jahre 1866 gewesen waren. Solche 
l'Villo, warum 1866 von ganz London nur Ostlondon, warum 
1SG7 auf dem ganzen Nordabhang der Alpen nur Zürich, 
warum 1871 in ganz Nord- und Ost - Deufachland nur 
Königsberg Epidemieen hatten, verdienen künftig schärfer 
ins Auge gefasst zu werden, als es bisher geschehen ist. 
F. 3 braucht nicht überall ein und dieselbe Ursache zu 
haben; gleichwie es mehrere Gründe der Immunität, so 
^ibt es auch mehrere Gründe der Disposition, und da k.inn 
flio Summe der Faktoren an einem Orte durch diesen, an 
einem andern durch einen andern Faktor vollzählig werden, 
wenn auch die Summe der wesentlichen Faktoren immer 
und überall gleich ist. Bisher aber hat man geglaubt, es 
brauche nichts, als die Einschlcppung eines Cholorafalles ; 
alles übrige sei schon vorhanden. Die Bedingung der Ein- 
sdileppung ist 1871 in Berlin so oft erfüllt worden, dass 
CS zum Entateheu der grossten Epidemie hingereicht hätte, 
und doch entwickelte sich keine. 

Wenn man sich um eine Erklärung für das Auftreten und 
(be Entwicklung der Epidemie 1867 in Zürich zu der be- 
stimmten Zeit umsieht, so bietet sich der Anhaltspunkt, dass 
diu Cholera Ende Juli (25. Juli) von Rom, vielleicht gleich- 
zeitig auch vom Tessin aus eingeschleppt wurde und sich 
h\ der zweiten Hälfte des August zur Epidemie entwickelte. *) 
Dvr ganze Monat Juli zeichnete sich in Zürich durch eine 



1) Bericht aber die Cbolera 1S07 in ZQricIi von Dr. Zebnder. 



u. üb. d. näcbsten Auf|g;ab. z. weiteren Ergründung ihrer Ursoclien. G7 

abnorme Trockenheit aus, und es ist nicht undenkbar, dass 
dieser Umstand eine wesentliche Rollo für die im August 
folgende Epidemie gespielt hat und dass die Epidemie nicht 
ausgebrochen wäre, wenn im Juli einige Gewitter mehr über 
Zürich niedergegangen wären. Es wäre interessant, die 
gleichzeitigen Regenverhältnisse anderer schweizerischer 
Städte von ähnlicher Lage und Bodenbeschaifenheit mit 
Zürich daraufhin zu vergleichen. In Zürich fielen im Juli 
nur 52 Millimeter Regen, während das Mittel aus mehreren 
Jahren 121 ist. In München, dessen durchschnittliche Regen- 
menge viel kleiner, als die von Zürich ist, fielen im Juli 18G7 
84 Millimeter ^Niederschläge. Dass in Zürich die im August 
und September das Mittel wieder überschreitenden Nieder- 
schläge das im Juli möglicherweise erzeugte y nicht sofort 
wieder zerstört haben, wie sich viele der Gegner der Boden- 
theorie so gerne vorstellen und einbilden, ist gar kein Grund 
gegen meine Annahme. 

Es ist ja überdies auch möglich, und ich habe darauf 
auch schon wiederholt aufmerksam gemacht, dass das unter 
Mitwirkung des Bodens entstehende y im Hause oder ge- 
wissen Theileh desselben abgelagert und aufgespeichert 
sein kann, so dass darnach die Verhältnisse in der Um- 
gebung des Hauses sich für das Entstehen von y sehr un- 
günstig gestalten können, während es im Hause doch bereits 
vorhanden ist, darin allmälig weiter sich entwickelt und 
verwandelt, gleich wie manche Frucht erst im Keller reift, 
wann sie schon vom Baume gepflückt ist. — Ich will mit 
diesem Gleichniss durchaus nicht sagen, dass es so ist, aber 
nach unserem vorläufigen Wissen kann es so oder ähnlich 
sein, und ich möchte nur darauf aufmerksam machen, was 
uns.nqth thut. Wenn wir mehr wissen wollen, als bisher, 
so müssen wir auch auf viel mehr aufmerken, als bisher. 

Wenn wir blos immer annehmen, die Cholera ist contagios 

5* 



ßg Üeber den gegonwSrllgen Stand de^ Choleiatrege 

■ani\ verbreitet sicli durch die Excremoote, so kommen wir 
in unserer Einsicht auch in tausend Jahren nicht weiter, 
ala wir aeit 1830 gekommen sind und da die Maassregeln 
gegün Cholera von der Einsicht in ihre Verbreitungaweise 
itijhiingen, so werden wir auch praktisch keinen Schritt 
vorwärts machen. 

Lyon betreffend, werde ich zun|chst aufmerksam ge- 
mnclit, dass ich für diese Stadt den Stand des Flusses als 
Miiassstab für die Grundwasscrverhältnisae des Alluvialbodena 
gL-Itcn lasse, in Zürich aber nicht. Ich habe den eigent- 
liclii^n Qrund bereits mitgetheilt, und habe nun nur noch 
wenig beizufügen, wie ich mir den Einflusa der Rhone in 
Lyun vorstelle. Entsprechend dem Gofäl) des Orauits, 
weloher dort die wasserdichte Unterlage der Saone und 
Rhone bildet, wird die Ebene von Lyon durch die Rhone 
licwäseert, ähnlich wie man durch oberflächlich gezogene 
Grüben eine "Wiese bewässert, nämlich dadurch, dass man 
das Wasser zum Versitzen bringt. Je dürrer und trockner 
die Wiese ist, oder wird, desto mehr Waaaer werden die 
IJuwääserungsgräben verlieren, desto mebr wird daa Wasser 
in den Gräben sinken. Und ao dachte ich mir, je weniger 
Grundwasser von den atmosphärisohen Niederschlägen her- 
riilireod im Boden der Lyoner Ebene sich 6ndet, desto 
mcilir wird bei den eigenthflmlichen, ausnahmsweisen Qefälls- 
verliilltn lasen dem Flusse entzogen. Wann in München die 
Isiir oder in Zürich die Limat steigt, so bewusscrn diese 
FlüFtse nicht ihre Umgebung mit ihrem Wasser, sondern 
sie lassen nur das Gb-undwasscr der Umgebung nicht mehr 
aliHiossen, stauen dieses zurück und bringen es dadurch 
zum Steigen, Ebenso wenn sie sinken, ist es kein untrüg- 
liciies Zeichen, dass die über dem Grundwasser liegende 
Bodensobichte wesentlich trockener geworden ist, sondern es 
Hiebst nur das durch den Flusa zurückgestaute Grundwasser 



u, üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergründang ihrer Ursachen. g9 

in den Fluss ab. Bei der Rhone in Lyon ist es ganz 
anders. Diese mag steigen oder fallen, nie staut sie das 
Grundwasser der Lyoner Ebene zurück, noch empfängt sie 
je Wasser von dieser Seite her, sondern der Bhonefluss 
gibt beständig Wasser nach der Lyoner Ebene hin ab. 
Ich konnte also mit demselben Rechte den Rhonestand 
bei der Brücke Morand als Index für den Grundwasser- 
stand der linken Uferseite nehmen, soweit Lyon darauf 
steht, als man etwa den Wasserstand eines Flusses auch 
als Index für den Stand seiner Arme und Altwasser 
nehmen kann» 

Wollte man diese Betrachtungsweise auf München oder 
Zürich anwenden, so würde man den Fehler begehen, 
welchen derjenige beginge, welcher aus dem Wasserstande 
eines Hauptstromes auch auf die Wassermenge einzelner 
besonderer Nebenflüsse oder Zuflüsse schliessen wollte. 

Was mich fast in Erstaunen gesetzt hat, sind die drei 
Gründe, welche Sander gegen die Richtigkeit meiner Auf- 
fassung der Lyoner Verhältnisse überhaupt vorbringt. Er 
sagt.-i) „Dieser Auffassung steht meines Erachtens entgegen 
einmal, dass Pettenkofer den Beweis schuldig geblieben 
ist, dass wirklich die Bodenfeuchtigkeit Lyons die anderer 
von der Cholera häufig befallener Städte auf Alluvialboden 
und mit einem von benachbarten Flüssen abhängigen Grund- 
wasser erheblich übertrifft, und sodann, dass in dem einzi- 
gen Cholerajahre 1854 zwar Winter und Frühling trockener 
waren, als gewöhnlich, der Pegelstand des Monates Juli 
aber, in welchem die Cholera anfing, höher ist (nämlich 
1.96 Meter) als das 10 jährige Mittel (von 1.58 Metern); 
unerklärt lässt er ferner, dass von 1857 — 1866 sich der 
Spiegel der Rhone im Mittel um einen Meter gesenkt hat 

1) S. 37. 

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70 üober den gcgenwüriigen Stand der Cholerafrage- 

und trotzdem 1865 und 1866 die Cholera nicht um sich 
griflf, während ihm ein geringeres Fallen im Jahre 1854 
genügt, um die eingetretene Choleraempfänglichkeit zu be- 
gründen." 

Den ersten Vorwurf anlangend, glaube ich, kann ich 
mich sehr kurz fassen. Ich bitte meinen Gegner, mir eine 
Stadt zu bezeichnen, die wie Lyon gelegen, solche Boden- 
und Grundwasserverhältnisse hat und häufig von Cholera 
befallen ist. Wenn die Stadt nicht gerade auf der andern 
Erdhälfte, sondern in Europa liegt und nicht allzuschwer 
hinzukommen ist, kommt mir^s nicht darauf an hinzureisen 
und ebenso wie in Lyon Erhebungen an Ort und Stelle zu 
machen. Jeder könnte sich ein Verdienst erwerben, der so 
ein zweites Lyon, aber mit wiederkehrenden Choleraepi- 
demieen, ausfindig machte. 

Nicht viel länger werde ich über den zweiten Vorwurf 
sprechen, dass der abnorm trockene Winter und Frühling 
von 1854 nichts zu bedeuten gehabt habe, weil der Rhone- 
stand im Juli, als die Cholera in Guillotiere und Perrache 
ausbrach, schon wieder 0.38 Meter über dem Mittel stand. 
Darauf genügt es, mit einem Gleichniss zu antworten. Wie 
die Cholera mit dem Grundwasser im Boden, so hängt etwa 
der Wein mit der Wärme der Luft zusammen, es ist auch 
eine von vielen wesentlichen Bedingungen. Man stelle sich 
vor, es wäre nicht schon immer als Erfahrungssatz anerkannt 
gewesen, dass je heisser der Sommer, desto besser der Wein, 
und es träte unter den Weinbauern einer zuerst mit dieser 
Behauptung hervor. Auch er würde viele Gegner finden, 
der eine würde sagen; „Warum nicht gar! Der Mist macht 
den Wein; in den Jahren, wo ich gut gedüngt habe, habe 
ich auch viel Trauben bekommen.'* Ein anderer würde es 
wieder besser wissen und sagen: „Alles kommt auf den 
Boden und die Lage an." Es würde unter den Weinbauern 



u. üb. d. nSchsten Aufgab, z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. 71 

natürlich auch kritische I^aturen geben, die sagten: „Gar 
nichts weiss man, wovon ein gutes Weinjahr herkommt, 
jeder bildet sich was anderes ein« Aber eines kann ich euch 
beweisen, aus meiner eigenen Erfahrung, was ich mit eige- 
nen Sinnen wahrgenommen habe und .was ich mir von euch 
Allen nicht abstreiten lasse: von der Wärme kommt's 
nicht her. Ich habe im Juli und August zur Zeit der 
grössten Hitze die Trauhi^n gekostet, — sie waren ganz 
sauer. Im September wurde es schon kühl, aber die Trau- 
ben fingen an süss zu werden. Im Oktober hatten wir 
schon ganz kalte Tage, trotzdem wurden die Trauben immer 
noch süsser, und Ende Oktober und Anfangs iNfoyember, als 
es schon reifte und schneite, da wurden sie erst ganz aus- 
gezeichnet. Wie mögt ihr so einfältig sein und glauben, 
die Süssigkeit der Trauben komme von der Wärme her, 
da ihr euch doch selber leicht überzeugen könnt, dass die 
Trauben jedes Jahr um so süsser werden, je mehr die 
Wärme abnimmt?" 

Was endlich den dritten Vorwurf anlangt, so wird die 
Zurückweisung auch dieses nicht viel Zeit in Anspruch 
nehmen, denn ich habe diesen bei einer früheren Gelegen- 
heit schon sehr eingehend besprochen, in meinen Bemerk- 
ungen zu einem Vortrage Dr. Buchanan's^) über Ver- 
breitung der Cholera und des Abdominaltyphus. Alles, was 
ich dort mit Bezug auf „Tieferlegung des Grund- 
wassers durch Eanalisirung^' gesagt habe, ist auch 
auf Tieferlegung des Grundwassers von Lyon 
durch Flusscorrektion anzuwenden; In beiden Fällen 
ändert sich an den eigentlichen Grundwasserverhältnissen, 
wie sie aus der Beobachtung des Steigens und Fallens dazu 
geeigneter Brunnen bemessen werden, eigentlich gar nichts 



1) Zeitschrift für Biologie Bd. VI. S. 526. 



72 lieber den gegenwärtigen Stand der Cbolerafrege 

ddcL' (loch nur sehr wenig, wie ich an einem Beispiele aus 
München nachgewiesen habe, wo im Winter I8^^/to der 
GriindwafiscrBpiegel eines Stadttheiles durch eine Flusscor- 
i'i'ktion um mehr als einen Meter tiefer gelegt wurde, ohne 
(I.ass diese Verrückusg des Nullpunktes sich ii^endwie in 
der Typhusfrequenz auegeeprochen hatte. Und eo ist durch 
dio Senkung des Rhonespiegela von 1857 bis 1866 an der 
W.assermasse der Rhone und an der Menge, welche davon in 
dji' Ebene von Lyon hineinflieest, nichts geändert worden, als 
di'i Fispunkt, von dem aus die Schwankungen erfolgen und 
geinossen werden. Dieser Ausgangspunkt der Messung liegt 
Hin einen Meter jetzt tiefer, als vor der Correktion. Etwas 
stnderes wäre es, wenn sich der Fluss nicht tiefer einge- 
gralitin hatte, sondern wenn das Wasser der Bhone um 
<?iiii II Meter Wasserhöhe in Folge grosser und anhaltender 
TiDckenheit abgenommeD hätte; — aber das kann keinen 
Mesontlicheu Einfiuss haben, wenn dieselbe Wassennenge 
wie sonst, nur um einen Meter tiefer, an Lyon vorbeige- 
fiihi'l wird. Nach wie vor ei^ieest sich ein Theil der Rhone 
in {lio Ebene von Lyon hinein und je trockner diese wird, 
nni so mehr, In Folge der Correktion hat die Rhone am 
l'iMir Morand, wo der Pegel steht, einen Meter Geröll aus 
iht'L'iii Bette fortgeführt und kann jetzt einen Meter höher 
an »eil wellen, als sonst, ehe sie über ihre Ufer tritt; das ist 
reche wichtig für Ueberechwemmungen, aber aller Wahr- 
tjchcinlichkeit nach ebenso gleichgiltig für die Grundwasser- 
vot'h^iltnisse der Lyoner Ebene, als ob man längs dem be- 
kcfTonden Ufer der Rhone einen Damm von 1 Meter Höhe 
aufgeführt hätte. Ich habe in meiner Abhandlung über 
Lyon des Umstandes nur erwähnt, um diejenigen aufmerk- 
EHia zu machen, welche nach 1860 den Pegel am Pont 
Morand zum selben Zweck benutzen wollen, wozu ich ihn 
von 1826 bis 1858 benützt habe. Ich habe deshalb in 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergrfindung ihrer ür?achen. 73 

einer Anmerkung Seite 481 meiner Abhandlung deutlich 
gesagt: „Vom Jahre 1858 beginnt in Folge grosser Fluss- 
correktionen eine Senkung des Nullpunktes am Pegel von 
Pont Morand um etwa 1 Meter, welcher von da an den Ables- 
ungen beizuzählen ist, wenn man die Wassermenge der Rhone 
mit vorausgehenden Zeiten richtig vergleichen will.^' Sander 
hat diesen meinen wohlweisen Rath unbeachtet gelassen. 
So leicht diese drei Vorwurfe von Sander abzuweisen 
sind, in so grosse Yerlegenheit hätte mich eine andere 
Frage bringen können, wenn er sie gestellt hätte. Das 
Unke Ufer der Rhone wird auf zweifache Art bewässert, 
einmal vom Wasser des Flusses, dann von den örtlichen 
Niederschlägen. Meine Auffassung setzt voraus, dass der 
Rhonestand im Winter 1853 auf 54 so niedrig war, nicht 
blos weil so wenig Wasser aus dem Genfer See und den 
Alpen kam, sondern hauptsächlich auch weil die Ebene 
von Lyon, welche eine Aufschüttung des Flusses ist, durch 
die er sich selber aufgestaut, seinen geraden Weg aus den 
Alpen von Nord nach Süd sich verlegt hat, und um die 
er jetzt in westlicher Richtung einen weiten Bogen machen 
muss, bis er mit der Saone vereint seine Richtung wieder 
von Nord nach Süd zu nehmen vermag, — ich sage, dass 
damals der Rhonestand auch deshalb so niedrig war, weil 
die Ebene von Lyon so trocken und durstig war. Es wäre 
aber ja auch denkbar, dass es ausnahmsweise auf der 
Ebene von Lyon viel geregnet hätte und nur in den 
Alpen nicht, dass sich in Folge davon trotz des niedrigen 
Rhonestandes im Boden der Ebene von Lyon viel Grund- 
wasser gebildet hätte. Dieses wäre natürlich nicht berg- 
auf in die Rhone abgeflossen, dass es der Pegel am Pont 
Morand hätte anzeigen können, es wäre also immer mög- 
lich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass ich aus 
dem einen Faktor, aus dem niedern Rhonestand, einen 



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74 Ueber den gegenwärtigen Stond der Cholerafrage 

falschen Schluss auf die geringe Durchfeuchtung des Bodens 
von . Brotcaux , Quilloti^re und Perracho gemacht hätte. 
Obwohl diese Frage nicht gestellt wurde, so halte ich sie 
doch für wichtig genug, eine Antwort darauf zu suchen. 

Wenn man sich nach Beweismitteln in dieser Richt- 
ung umsieht, so bietet sich wohl nichts dar, als die atmo- 
sphärischen Niederschläge in Lyon selbst. Wenn diese vom 
Jahre 1853/54 und einige Jahre zavor und danach auf- 
zutreiben sind, so muss sich zeigen, ob der dem Cholera- 
jahre 1854 vorausgegangene Winter und Frühling ähnliche 
Abnormitäten und in einem ähnlichen Sinne zeigt, wie der 
Rhonepegel. Im bejahenden Falle würde es einer Probe 
über meine Rechnung gleichkommen. Ich fand nun in den 
Memoires de l'Academie de Lyon auf der Staatsbibliothek 
in München regelmässige Beobachtungen der dortigen meteo- 
rologischen Station, welche Regenmenge und Verdunst- 
ungsmenge von 1852 bis 1868, also von 16 Jahren, ent- 
halten. Leider fand ich für frühere Jahre keine Angaben. 

(Siehe beiliegende Tabelle.) 

Man kann auf dieser Tabelle 16 Jahre hindurch ver- 
gleichen, wie viel Wasser in Lyon auf eine horizontale 
Fläche (Ombrometer) gefallen ist, und wie viel davon 
wieder verdunstet wäre, wenn diese Fläche (Atmidomcter) 
stets mit Wasser bedeckt gewesen wäre. Diese beiden 
Voraussetzungen sind allerdings ideale, nicht in der Wirk- 
lichkeit erfüllte, denn der Boden von Lyon ist weder eine 
ebene horizontale Fläche, noch vollständig mit Wasser be- 
deckt, sondern es wird der fallende Regen von einer sehr 
unregelmässigen Oberfläche und sehr verschiedenem Boden 
aufgenommen und dem Gefälle entsprechend sehr verschie- 
den vertheilt. Ein grosser Theil dringt in den Boden ein, 
und was im Boden bleibt und darin nicht weiter fliesst, 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren ErgrilDdung ihrer Urtftchen. 75 

verdiinstet daraus in ganz anderer Weise, als wenn das 
Wasser auf der Oberfläche stehen bliebe. Aber selbst 
wenn diese idealen Bedingungen erfüllt wären, so wurde 
— die Richtigkeit der beiden Bestimmungen vorausgesetzt — 
Lyon jedes Jahr aus der Atmosphäre mehr Wasser em- 
pfangen, als an sie abgeben , was auch die zahlreichen 
Weiher und Sümpfe von la Brease ausserdem thatsächUch 
beweisen. Die Differenz zwischen dieser Einnahme und 
Ausgabe, von Niederschlag und Yccdunstung kann man als 
relativen Maassstab für Nüsse und Trockenheit der Jahre 
und Jahreszeiten nehmen. 

Man sieht, dass sich die einzelnen Jahre in dieser Be- 
ziehung sehr TOD einander unterscheiden. Das Maximum 
fallt ins Jahr 1852, in welchem 2213.78 Millimeter mehr 
AVasser auf dem Ombrometer fiel, als vom Atmidometer 
verdunstete, das Minimum ins Jahr 1863 mit einer Differenz 
von nur 3.9 Millimetern. Im Mittel fallen im Jahre auf 
dem Ombrometer etwa 150 Millimeter (genau 148.9) Wasser 
mehr, als vom Atmidometer verdunsten. 

Die letzte Rubrik der Tabelle enthält die Mittel des 
beobachteten Niederschlags und der Verdunstung in den 
einzelnen Monaten, und daraus lässt sich der durchschnitt- 
liche jährliche Gang der beiden Faktoren erkennen. Dezem- 
ber bis März überwiegt der Niederschlag über die Ver- 
dunstung. Im April, Mai und Juni herrscht fast Gleich- 
gewicht, aber im Juli und August und namentlich im Juli 
überwiegt beträchtlich die Verdunstung. Der, Mehrbetrag 
der Niederschläge im September und Okiober gleicht das 
Deficit der heissen Monate vollständig wieder aus, ja liefert 
sogar einen kleinen Ueberschuss. 

Es wird daher gerechtfertigt erscheinen und befindet 
sich auch ganz in Ucbereinstimmung mit den Erfahrungea 
der Landwirthe, wenn ich die Differenz zwischen Nieder- 



76 Ueber den gegenwärtigen Stand der Cholerafrage 

schlag und Verdunstung vom November bis April, also das 
Winterhalbjahr, als entscheidend für die Bodenfeuchtigkeit 
des Jahres und auch des Sommerhalbjahres annehme. Für 
das Jahr 1852 fehlt die Beobachtung für den vorausgehen- 
den November 1851 , und für das Jahr 1868 fehlt die 
Beobachtung der Verdunstungsmenge, es kommen daher 
nur die Jahre 1853 bis 1867 in Betracht. Diese aber er- 
geben folgendes merkwürdige Resultat: 



Jahr 






Niederschlag 


Verdunstung 


Differenz 
Niederschlag 




vom November bis April 


plus oder minus 


1853 . 

1854 . . 

1855 . . 

1856 . 

1857 . 

1858 . 

1859 . . 

1860 . , 

1861 . . 

1862 . . 

1863 . . 

1864 . 
18(i5 . . 
1866 . . 
Ifc67 . . 




\ 


241.9 
131.6 
290.4 
324.2 
368.9 
186.9 
292.1 
273.5 
322.6 
233.9- 
267.1 
196.9 
281.8 
• 333.4 
311.5 


• 

100.3 
144.4 
125.2 
109.4 
112.6 
114.6 
116.1 

86.6 
126.3 
126.6 
129.1 
107.3 

93.9 
101.8 

78.9 


+ 141.6 
— 12.8 
+ 165.2 
+ 214.8 
+ 256.3 
+ 72.3 
+ 176.0 
4- 186.9 
+ 196.3 
+ 107.3 
+ 138.0 
+ 89.6 
+ 187.9 
+ 231.6 
+ 232.6 


Mittel . . 


r 1 


• 


264.4 


111.4 


+ 153.0 



Man sieht, wie sehr die verschiedenen Winterhalbjahre 
sich von einander unterscheiden, wenn man die Verdunst- 
ungsmenge von der Niederschlagsmenge abzieht. In allen 
Jahren bleibt ein plus auf Seite des Niederschlags, nur das 
ominöse Jahr 1854 allein macht eine Ausnahme und zeigt 



L- 



ti. üb. d. nächsten Aufgub. z. weiteren türgründung ihrer Ursachen. 77 

ein minus. Die Abnormität des Jahres 1854, welche sich 
schon im Stand der Rhone so deutlich ausgesprochen hat, 
spricht sich in dem Niederschlag und der Verdunstung, 
gemessen auf der Ljoner Ebene selbst, noch viel deutlicher 
aus. Ich glaube dadurch den Beweis zu liefern, dass mein 
früherer Maassstab zur Beurtheilung der Lyoner Orund-^ 
wasserverhältnisse, wenn auch kein untadelhafter, so doch 
kein unbrauchbarer war, dass wirklich von 1826 bis 1868 
kein Jahr so abnorm trocken war, als das kritische 1854. 

Wichtig und lehrreich scheint mir ausserdem die mitt- 
lere Differenz zwischen Niederschlag und Verdunstung von 
I^ovember bis April zu sein: sie beträgt 153 Millimeter. 
Nimmt man die mittlere Differenz aller Jahre (694.1 — 544.5), 
so erhält man 148.9, oder wie ich oben schon sagte, 150 
in runder Zahl. Die Zahlen 150 und 153 liegen sich so 
nahe, dass man darin unbedenklich eine volle Bestätigung 
des alten Erfahrungssatzes erblicken darf, dass in unserer 
Zone die Regen- und Verdunstungsmengen von November 
bis April wirklich entscheidend für die Feuchtigkeit des 
ganzen Jahres sind. 

Ueber den Schluss der San dorischen Arbeit: Maass- 
regeln gegen die Cholera, habe ich vorläufig nichts zu 
sagen. Jeder Arzt und jede Gemeindeverwaltung wird mit 
Sander und Scharnhorst übereinstimmen, dass, so oft 
eine Epidemie ausbricht, etwas geschehen muss, und dass es 
nicht gerade immer nöthig ist, dass das Beste geschehe, 
gleichwie jeder einzelne Kranke nach Hilfe verlangt und 
Heilung sucht,^und auch nicht immer den besten Arzt da- 
für haben kann. Mögen also immer noch die alten Mittel 
in Qebrauch bleiben, bis die Ausbildung unseres Wissens 
uns auf neue und bessere leitet. Ich habe hier nur eine 
historische XJngenauigkeit zu berichtigen, welche bei San- 
der vorkommt. Er stellt die Haus-zu-Haus-Besuehe durch 



78 TTcber den gegen würti gen Stanü der Choleratrage 

angestellte Aerzto als eine engÜache Erfindung aua den 
Jahren 1848 — 19 hin, während eio eine äclit deutsche 
ist, dii3 meines Wisäciia zuerst bei der Choleraopidemie von 
1836—37 in München in voller Wirksamkeit war, und zwar 
mit dem besten Erfolge. In dem Generalbericht über die 
Cliolcraepidemie in München im Jahre 183C/iJ7, verfasat 
von Dr. Frana Xaver Kopp, kgl. bayeriachem Kreia- 
lind Stadtgorichtaphysikua und Polizeiarzte der Haupt- und 
Kesidenzatadt Manchen — mit zwei illuminirten Karten und 
zehn Uehersichtatabellen , gedruckt in München 1837 — 
heisst ea Seite 55: „Zweck und Wirkungskreis der ärzt- 
lichen Besuchs-Anstaltcn. Ihre Aufgabe .war: 1) Die recht- 
zeitige Entdeckung der Krankheitsvorboten, sowie der ersten 
Stadien der Brechrubr selbst, durch den täglichen Besuch 
der Aerzte in den Wohnungen der Gesunden ihres 
Diatrikt«s, namentlich in Fabrikhäusern, in den Hüusern 
lind Familien der ärmeren und dürftigen Klaaao, wie nicht 
Illinder in jenen, die eines eigenen Hausarztes entbehrten 
II. B. w." In dem Berichte wird die Erfindung „der Weis- 
heit 8r. Durchlaucht des Herrn Füraten von Oettingon- 
Walleratein, kgl. Btaataminister dea Innern" zugeschrieben, 
.ludenfalls also existirte diese Einrichtung in Bayern schon 
12 Jahre früher als in England. 

Das Wichtigste schemt mir jetzt, dass man sich dar- 
über klar werde und einige, was zu thun sei, um wieder 
doch eine kleine Stufe höher in unserm ätiologischen Wis- 
sen zu steigen. Nach meiner Ansicht kann man sich 
wesentlich nach drei Hauptrichtungen hiu beschäftigen, 
wülche bestimmte Reihen von Tbatsachen wie natürliche 
Wegweiser una kenntlich machen. In der ersten Reihe 
stehen alle Thatsachen, in welchen der Einfluas des mensch- 
lichen Verkehrs auf die Verbreitung der Cholera sich kund 
gibt. Wir wissen einstweilen darüber noch gar nichts, als daaa 



Q. fib« d. nriehsten Anrgab. z. weiteren ErgrflndoDg ihrer Ursachen. 7<J 

sich der Cholerakeim x^ eine gewisse Menge Infektionsstoff 
an den menschlichen Verkehr heftet oder heften \ann. An 
welchem Theile, oder an welchen Thcilen er haften kann, 
darüber wissen wir, etwa mit Ausnahme der Cholerawäsche, 
noch gar nichts, wir haben blos Yermuthungcn und haben 
auf diese hin einstweilen, aber wie ich fürchte sehr vor- 
schnell und irrig, den wesentlichen Einfluss des Verkehrs 
in den Darmentleerungen lokalisirt« Wir müssen uns in 
Zukunft die Frage etwa in der Art stellen: Was bringt 
der Mensch, welcher aus einem Choleraorte a nach einem 
bisher von der Krankheit freien Orte b kommt, und von 
dem in b die nächstfolgenden Choleraerkrankungen sich 
ableiten lassen, ausser seiner Person noch alles mit, oder 
was hat er noch alles an sich, woran der Infektionstoff 
haften könnte? Das wird sich ergeben, wenn man unter- 
sucht, wodurch sich dieser Mensch, und was er aus a mit 
fortnimmt, von andern Fällen unterscheidet, in denen auch 
andere Personen a verlassen, aber ohne an andern Orten in 
ihrer nächsten Umgebung infictrend zu wirken. Zu Unter- 
suchungen der Art werden sich am besten jene Verschlepp- 
ungen von einem Choleraheerde a aus eignen, welche an 
andern Orten 6 keine Epidemieen, sondern nur einzelne 
Fälle hervorrufen, ähnlich wie 1854 in Stuttgart und im 
Krankenhause zu Erlangen, in Carisbrook und Wührenlos: 
aber weitaus die beste und sicherste Ausbouto dafür ver- 
spreche ich mir von genauen Untersuchungen der Ver- 
breitung der Cholera auf Schiffen bei ihrem Verkehr mit 
inficirten Seehäfen. Ich verweise in dieser Beziehung auf 
meine 1872 erschienene Abhandlung über die Cholera auf 
Schiffen. Aber ich wiederhole und hebe laut hervor, dass 
man bei künftigen Untersuchungen sich vor einem einge- 
fleischten Fehler hüten muss, nämlich nur immer an solche 
Fälle zu denken und in den Kreis der Untersuchungen zu 



80 üeber den gegenw&rtigen Stand der Ctiolerafrage 

ziehen, in welchen der Verkehr mit Choleraortcn Folgen 
hatte : auch alle andern Fälle, in denen der nämliche Ver- 
kehr keine Folgen hat, gehören zur Sache, auch darüber 
muss man sich klar werden. Es wird Gründe haben, wann 
der Verkehr Folgen hat, und ebenso wann er keine hat. — 
Eine bessere Zergliederung und schärfere Beobachtung des- 
sen, was wir bisher unter der Bezeichnung Einfluss des 
Verkehrs zusammengefasst haben, ist eine der dringlichsten 
Nothwendigkeiten für den Fortschritt, eine der brennend- 
sten Fragen, Mir ist geradezu unbegreiflich, mit welcher 
Zuversicht sich Manche mit unserm gegenwärtigen Wissen 
über die Verschleppung der Cholera und namentlich über 
die Cholera auf Schiffen zufrieden geben und auszusprechen 
wagen, dass man da nach nichts Absonderlichem zu suchen 
brauche, dass man da das !Nöthige schon wisse. 

Nach dem Einfluss des Verkehrs kommt in zweiter 
Richtung der Einfluss der geographischen Oertlichkeit oder 
des Bodens in Betracht. Hier ist ein genaues Studium, 
eine genauere Zergliederung der Constanten und der Va* 
riabeln im Boden, womit zusammenhängt, was ich einst- 
weilen y genannt habe, unsere nächste Aufgabe. Was ich 
bisher in dieser Richtung gethan, betrachte ich nur als 
Vorstudien und wir können wahrscheinlich noch eine Zeit 
lang angestrengt zu arbeiten haben, bis wir über daa 
Stadium der Vorstudien hinauskommen werden. Als lehr- 
reiche Objekte für solche Versuche betrachte ich namentlich 
möglichst genaue Vergleiche von Oertllchkeiten , sowohl 
von solchen, welche sich für Cholera sehr empfänglich, 
als auch von solchen, welche sich unempfänglich erwiesen 
haben. Sander beklagt sich mit Recht, dass bei all sei- 
ner Neigung, für die Immunität örtliche Ursachen anzu* 
nehmen, er irgend ein greifbares Moment, worin diese 
örtlichen Ursachen bestehen, überall nicht sehe. Er fragt: 



u. üb. d. näohsten Aufgab, s. weiteren Ergrflndong ihrer UrsacheD. gl 

• 

,,Worin unterscheidet sich der alluviale Boden des immu- 
nen Frankfurt a. M. von dem Eöln's? Was bedingt die 
Immunität Grefelds und anderer bevölkerten Städte in der 
Rheinniederung P Münster, die Hauptstadt Westfalens, blieb 
trotz der durch die Truppenbewegungen gesteigerten Möglich- 
keit einer Infektion frei, auch bei dem allgemeinen Zuge 
der Cholera im Jahre 1866." 

Ich frage entgegen, was hat man bisher gethan, um 
den Unterschied zwischen empfanglichen und unempfäng- 
lichen Orten herauszubringen P Sander hat nach Münster 
einen Brief geschrieben an Professor Ho sius, der die Freund- 
lichkeit hatte zu antworten, dass es auch in Münster ver- 
schiedenerlei Boden und auch Grundwasser gebe : aber wei- 
ter konnte er ihm auch nichts \nittheilen. 

Diese Topographie und Hydrographie von Münster 
aber findet Sander hinreichend, um ein absprechendes 
Urtheil über meine Untersuchungen von Lyon zu fallen. 

Wenn wir auf das Eichtige des Bodeneinflusses kom- 
men wollen, so müssen wir beständig und systematisch 
suchen. Der Boden besteht aus mineralischen, organischen 
und atmosphärischen Bestandtheilen, wir haben diese in 
ihrer Wechselwirkung zu beobachten. Die Bodenbeschaflfen- 
heit setzt sich ferner aus constanten und variablen Grössen 
zusammen, wir müssen unser Augenmerk auf beide Reihen 
richten. Zu den Constanten gehört neben geognostischer 
Formation chemische Beschaffenheit und physikalische 
Aggregation des Bodens sowie Niveau der Oberfläche, zu 
den Variablen gehört Temperatur, organische Substanzen, 
Wasser und Luft im Boden. Ich glaube vorläufig, dass 
die Constanten von keinem oder nur von geringem Eii^fluss 
an und für sich sein werden, sondern nur insoferne sie von 

Einfluss auf die Variablen sind. Die Cholera kommt auf 





82 tJeber den gegenwäi tigan Siand der Cholerafrogd 

Kalkboden und auf Quarzboden vor, aber vielleicbt in dem 
Grade yerschiedcn, als manche organische Prozesse , die 
von Organismen abhängen, durch die Gegenwart ron Kalk 
odör Quarz becinflusst worden. Es ist bereits beobachtet 
worden, dass z. B. ein eisenschüssiger Quarzsand die Ver- 
wesung viel mehr begünstiget, als Kalksand vom gleichen 
oder selbst gröberem Korn. Professor Fleck in Dresden 
theilt mir mii;, dass der Dresdener Sand gewisse Mengen 
Sauerstoff auf seiner Oberfläche condensirt halte. Wenn 
wir den Thonboden bei der Cholera eine Rolle spielen 
sehen, so sind aller Wahrscheinlichkeit nach nicht sowohl 
die chemischen Bestandtheilo dabei betheiliget, sondern 
seine Eigenschaften gegenüber den Variabein Wasser und 
Luft. Dieselben mineralischen Stoffe in der Form eines 
compakten Gesteines werden eine ganz andere Wirkung 
haben. 

Von grossem Einfluss unter den Variablen im Boden halte 
ich auch die Temperatur, deren Beobachtung Delbrück und 
Pfeiffer neuerdings angeregt haben. Nach den Untersuch- 
ungen über die Boden- oder Grundluft in München und 
Dresden fallt die grösste Menge Kohlensäure mit der höch- 
sten Temperatur des Bodens zusammen. Ausserdem haben 
aber auch noch andere Umstände Einfluss, denn es ist auch 
bei gleicher Temperatur der Kohlensäuregehalt der Örund- 
luft in den gleichen Monaten verschiedener Jahre ein sehr 
verschiedener. 

Analogo Differenzen hat Fleck in neuester Zeit 
auch für den Sauerstoffgehalt der Grundluft constatirt, die 
oft 5 und 6 Procent weniger Sauerstoff enthält, als die 
atmosphärische Luft. Die Untersuchungen in dieser Richt- 
ung haben erst begonnen, verdienen aber nicht nur fort- 
gesetzt, sondern noch ausgedehnt zu werden. Wir haben 



Q. fib. d, nächsten Aufgab, z. weiteren firgrundong Ihrer ÜrBacheo. g3 

bisher immer von Imprägnirung des Bodens, von ver- 
schiedener Imprägnirung in verschiedenen Theilen eines 
Ortes mit organischen Substanzen ge:.prochen, ohne dass 
wir unsere Annahmen experimentell prüfen konnten. Durch 
Eohlensäurebestimmungen der Grundluft allein schon kann 
man auf die mit Kohlensäurebildung verbundenen Pro- 
zesse der Fäulniss und Verwesung im Boden jetzt einen 
Schluss machen, ähnlich, wie man aus dem vermehrten 
Kohlensäuregehalt einer Zimmerluft auf die Ueberfüllung 
des Wohnraumes mit Menschen schliesson kann. Wie 
sehr die Bodenverhältnisse in diese Prozesse eingreifen, 
ersieht man aus der alten Erfahrung, wie verschieden 
lang eine Leiche in verschiedenem Boden zur Verwes- 
ung braucht. 

Von hervorragendem Einflüsse erscheint mir bekannt- 
lich auch der Wechsel im Wassergehalte des Bodens, was 
ich mit Grundwasser- bezeichnet habe. Aber das Grund- 
wasser ist nur ein einzelner Faktor, wie die Wärme auch 
nur ein einzelner ist, während ausserdem noch mehrere zu 
einem- Prozesse nothwendig und wesentlich sind. Es kön- 
nen in einem Falle die nöthigen Temperatur- und Grund- 
wasserverhältnisse gegeben sein und doch geht der Prozess 
nicht vor sich, weil es an andern wesentlichen Beding- 
ungen fehlt. — Die Grundwasserverhältnisse eines Ortes 
lassen sich durch Beobachtung der atmosphärischen Nieder- 
schläge, dann durch Beobachtung der Verdunstungsmenge 
und durch Beobachtung des Wasserstandes geeigneter Brun- 
nen bestimmen. Am besten ist es, wo möglich die drei 
Beobachtungen an jedem Orte fortlaufend nebeneinander 
zu machen» 

Was die Anstellung von Qrundwasserbeobachtungen 
betrifft^ verweise ich auf die Arbeit von Dr. Schnitzer 



im 



g4 üeber den gogcnwSrtigen Stand der Cholerafragd 

„Zur Hydrographie der Stadt Erlangen", welche bei Besold 
in Erlangen eben erscheint. 

Dass die Grundwasserverhältnissp mit der zeitlichen 
Frequenz des Typhoid in München in irgend einer Weise 
zusammenhängen, kann jetzt wohl als erwiesen betrachtet 
werden ; dass die zeitweise in Gegenden auftretenden Orts- 
epidemieeu von Cholera sich mehr nach Fluss- und Drainage- 
gebieten, als nach irgend andern Momenten natürlich grup- 
piren, ist die noch immer unverändert dastehende That- 
sache, welche auf die Grundwasserverhältnisse als zeitliches 
Moment überhaupt zuerst aufmerksam gemacht hat ; ebenso 
zeigt die zeitliche Frequenz der Cholera in ihrer Heimat, 
in Indien, von allen bisher der Untersuchung zugänglichen 
Yerhältnissen noch am meisten eine Abhängigkeit von den 
Regenverhältnissen, welche im Verein mit der Bodenbe- 
schaffenheit die Grundwasserverhältnisse zunächst bedingen. 
Die Annahme eines Einflusses derselben dürfte daher nicht 
mehr voreilig erscheinen, wenn sie auch die Aetiologie der 
Cholera noch lange nicht abzuschliessen , und uns alles 
weitere Bemühen uird Nachdenken zu ersparen vermag. 
Obwohl das Grundwasser nur ein einziges Moment ist, mit 
dem man für sich allein ebenso wenig eine Choleraepidemie 
hervorrufen kann, als etwa mit der nöthigen Wärme allein 
ein Getreidekorn oder eine Weintraube, so ist sein Einfiuss 
doch ein sehr allgemeiner und wesentlicher. Es ist z. B. 
eine Thatsache, die sich aus den Grundwasserverhältnissen 
erklären wird, dass in jedem Lande Choleraepidemieen 
in den Ebenen weit häufiger, in den Gebirgen und schon 
in der Nähe derselben und in der Nähe des Ursprungs 
von Gewässern viel seltener sind, als ferner davon. Aus 
der Bodenbeschaffenheit allein lässt sich dieses constante 
Verhalten, welches auf der ganzen Erde sich gleich bleibt, 
nicht erklären. Viel besser stimmt damit der meteoro- 



^1 
t 



u. üb. d. nächsten Aufgab« z. weiteren Ergründung ihrer Ursachen. g5 

logische Satz, den ich Mal 1er 's kosmischer Physik ent- 
nehme: yJDie Begenmenge nimmt mit der Höhe der Orte 
über der Meeresfläche zu, weil die Berge einen Nieder- 
schlag veranlassen, wenn sie von einem Strome feuchter 
Luft getroffen werden: daher die bedeutende Regenmenge 
in den Alpen.** In München z. B. fallen jährlich im Durch- 
schnitt 380 Pariser Linien Regen, in Tegernsee bereits 538, 
d. i. 46 Prozent mehr. 

Es ist auffallend, dass Städte wie Salzburg und Inns- 
bruck, welche grossentheils auf Flussall uvionen liegen, wie 
sie in der Ebene nicht anders vorkommen, bisher noch 
immer gleich Lyon von Choleraepidemiecn verschont ge- 
blieben siod. Das ist um so auffallender, da beide Städte 
nicht unbeträchtliche Garnisonen haben, und Garnisonen 
zur Einschleppung und zur Entwicklung der Cholera sonst 
überall leicht Veranlassung geben. Ausnahmsweise könnten 
aber Theile von Salzburg oder Innsbruck wahrscheinlich 
ebenso eine Epidemie haben, wie 1837 Mittenwald im 
Oberisarthale oder 1854 ein Theil von Lyon eine hatte, 
und seither keine mehr. In diesen 'Fällen wird nicht blos 
die Menge Regen im Jahre, sondern in den einzelnen Monaten 
entscheidend sein, also auch die Zeit, zu welcher sie 
fällt, und der Boden, auf den sie fällt. Es wäre interes- 
sant, nur einmal die Regenmengen nach Monaten von einer 
Reihe von Jahren von Elberfeld und Barmen einerseits, 
und von Münster und Crefeld anderseits zu vergleichen ; es 
stellen sich vielleicht schon da nicht uiibeachtenswerthe 
Unterschiede heraus, welche Fingerzeige für fernere Unter- 
suchungen geben. Aber allen derartigen Unternehmungen 
tritt vorläufig noch der Unglaube an den Einfluss des 
Grundwassers hindernd entgegen. Man macht zwar vielleicht 
zu kritischen Zwecken wieder einige derartige Zusammen- 
stellungen, um zu beweisen, dass die Zusammenstellungen nicht 



gfi UebeT den ge^CDwBrrigen Btsnd der Cbolemfrage 

mit der theoretiecUen Annahme stimmen, — denn um eine 
Disliarmonie auf einem Instrumente hervorzubringen, brauchte 
iiiclit viel TJehung erst, — aber das MissÜDgen der ersten 
Versuche und Anstrengungen darf nie als ein Beweis gegen 
i]\e Möglichkeit des Gelingens angesehen werden, so lange 
bonst eine Anzahl von Gründen dafür spricht. 

Eine dritte Richtung, in welcher man mit systemati* 
sehen Beobachtungen und Untersuchungen vorgeben sollte, 
ist die individuelle Disposition, welche auch hei der Cholera- 
Irequenz eine so grosse EoIIe spielt, wie bei fast allen 
Krankheiten. Eine feststehende Thatsache ist 'bereits die 
grosse Verschiedenheit der Empfänglichkeit verschiedener 
Altersklassen, und dann auch wieder verschiedener Indi- 
\iduen ein und derselben Altersklasse. Die AVissenschaft 
JKit die Aufgabe, nicht nur darnach zu fragen, warum so 
viel Menschen an Cholera erkranken, sondern auch, warum 
80 viele nicht erkranken, obschon sie ganz den nämlichen 
EinBQssen ausgesetzt sind, wie diejenigen, welche erkranken. 
Die Untersuchungen in dieser Kichtung sind auch von 
grosser praktischer Bedeutung, und die Resultate wahr- 
prheinlicb sofort praktisch zu verwerthen. Das Verhalten 
der Blattern in dieser Hinsicht kann unsern Eifer anspor- 
nen. Die Erfahrung hat gelehrt, dass, um den Blattern 
oiitgegon zu treten, es vorläufig noch kein besseres Mittel 
gibt, als auf die individuelle Disposition zu wirken, und 
dass ihre Verheerungen durch keine Sperrmaassregeln, welche 
gegen die Verbreitung des Giftes zielen, wohl aber durch 
Vaccination and Kevaccination eingeschränkt werden kön- 
nen, welche nur auf die individuelle Disposition wirken. 
Die grosse Verschiedenheit in der Empfängliohheit ver- 
schiedener Altersklassen, ebenso der verschiedenen Standes- 
V: lassen (arm und reich) in epidemisch ergriffenen Orten 
geben da sehr gute sachliche Ausgangspunkte für Unter- 



u. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergrundung ihrer Ursachen. Q^ 

suchungen der verschiedensten Art (Ernährung, Haut- 
pficge etc.). Ich habe schon früher darauf aufmerksam ge- 
macht, dass Alles, was den Wassergehalt der Organe über 
das Normale erhöht, zur Cholera zu disponiren scheint. 
Wir müssen die Körperzustände genau zu definiren suchen, 
welche im einzelnen Individuum den Ausbruch der Krank- 
heit, das Zustandekommen eines Anfalles begünstigen oder 
verhindern. Wenn in einer Oarnison, in einem Gefängnisse, 
in einer Erziehungsanstalt ein Theil der unter sonst gleichen 
Verhältnissen Lebenden erkrankt, der andere nicht, so 

* 

muss man sich mehr als bisher bemühen, herauszubringen, 
was die Disponirtcn von den Nichtdisponirten wesentlich 
unterscheidet. Die Steigerung der Anzahl der Cholera- 
anrälle unter inficirten Truppen in Indien, sobald sie sich auf 
dem Marsche befinden, ist eine höchst merkwürdige That- 
sache, die sich wahrscheinlich durch Veränderungen im 
peripheren Kreislauf und durch Störungen in der Wärme- 
ökonomie des Körpers erklären wird. 

Neuere Untersuchungen machen es immer zweifelhafter 
und unwahrscheinlicher , dass der Choleraanfall durch eine 
im Darme sitzende Ursache ausgelöst wird, sein Wesen 
scheint mehr in einer abnormen Thätigkeit vasamotorischer 
Nervenparthien zu liegen und von Nervencentralorganen 
auszugehen, so dass die Wirkung des Choleragiftes auf die 
Durchschwitzung im Darme vielleicht ebenso sekundär ist, 
wie die des Malariagiftes auf den Gefässkrampf in der 
Haut beim kalten Fieber. 

'^ In den drei genannten Kichtungen gibt es so viel zu 
beobachten, festzustellen und weiter zu untersuchen, dass 
die Kraft und der Ueberblick Einzelner dazu nicht mehr 
ausreicht, die Arbeit sollte organisirt und getheilt werden. 
Was kann der Einzelne denn thun, wenn es sich um eine 



gg Ueber den gegenwärtigen Stand der Cbolernfrage 

systematische , fortlaufende BeobaohtuDg z. B. des Scbiffs- 
verkebrs gewisser Distrikte und Linieo handelt? was kann 
er thun, um gewisse topographische, hydrographische, me- 
teorologische und statistische Erhebungen in einer auszu- 
wählenden Zahl von Orten verschiedener Gegenden (wir 
wollen vorläufig nur an Deutschland denken) zu sammeln, 
oder gar erst einzurichten oder vorzuschreiben!'' Wir werden 
aller Wahrscheinlichkeit nach schon nächsten Sommer in 
einem grösseren Tbeile Europas wieder Gelegenheit haben, 
mit der Cholera in ausgedehntere Berührung zu kommen. 
Dann wird der ärztliche Stand und die Staatsverwaltung 
auch wieder mit derselben Opferwilligkeit und Berufstreue, 
wie bisher , in allen Gboleraorten thatig sein , es werden 
Ton den Erkrankten dann wieder durchschnittlich die Hälfte 
genesen , die Hälfte sterben , gleichviel ob gar nicht, oder 
alle-, oder homöopathisch bebandelt, und endlich wird auch 
diese Choleraheimsucbung wieder vorübergehen. Die Ueber- 
lebenden werden sich zum Scbluss auch diesmal wieder 
beglückwünechen und beloben, froh, so viel Notb und Elend 
hinter sich zu haben, 

Eine ausgebrochene Cboleraepidemie kann von den 
Aerzten nach dem gegenwärtigen Stande unseres Wissens 
ebenso wenig unschädlich gemacht werden , als eine vor 
sieb gehende Schlacht auch durch die besten Ambnlancen 
wesentlich unblutiger wird. Eine solche Epidemie rafft, 
wie der Krieg die Soldaten, tausende von Uenscben jeden 
Alters und Geschlechts in ihrer vollen Thätigkeit und 
Schaffen dahin, tauscndo von Kindern, Jünglingen und Jung- 
frauen in ihrer schönsten Blütbe, und die Gesellschaft wird 
der Frfiobte ihrer viel versprechenden Zukunft ohne jeden 
denkbaren ^Nutzen beraubt. Das Leben ist allerdings der 
Güter höchstes nicht, aber doch eines der höchsten, welches 
wir nie unter seinem Wertbe, daher nur für noch höhere 



u. üb. d. nftch&ten Aufgab, z. weiteren Ergrfinduog ihrer Ursachen. g9 

ideale Güter hingeben dürfen. Das Sterben in der Schlacht 
hat einen Zweck, wir opfern unser Leben für die Unsrigen, 
für Interessen des Vaterlandes, der Menschheit: aber was 
hat die Welt für einen Gewinn, wenn noch soviel Tausende 
an Cholera oder andern Krankheiten sterben ? So wenig 
dem Arzte politischer und strategischer Einfiuss auf das 
Entstehen und den Verlauf einer Schlacht zukommt, son- 
dern nur die Blessirten, sp gross wäre sein Einfluss, wenn 
er wüsste und angeben könnte, wie Choleraepidemieen ent- 
stehen und was auf ihren Verlauf Einfluss hat. Hier läge 
im Wissen auch allein schon eine Macht. 

Was thut man aber, um dieses Wissen zu erwerben 
und zu vermehren? Soviel wie nichts: man überlässt — 
abgesehen von der sorgfaltigen Behandlung und Pflege 
der Kranken (der Blessirten) — lieber Alles sIBh selbst, 
der Zukunft und dem Zufall, und handelt dadurch nicht 
viel besser, als der Proletarier, welcher um seinem Noth- 
stand zu entkommen, spielt oder in die Lotterie setzt, anstatt 
dass er anfängt, mehr zu arbeiten und zu verdienen. In andern 
Fächern macht man's anders. Die Astronomen veranlassen 
gegenwärtig alle civilisirten Eegierungen des Erdkreises zu 
einem Aufwand von Millionen, blos um den nächsten 
Durchgang der Venus durch die Sonnenscheibe auf ver- 
schiedenen Punkten der Erde genauer zu beobachten, als 
das sonst schon geschehen ist. Die Regierungen gewähren 
in richtiger Erkenntniss des hohen Werthes exakter, wissen- 
schaftlicher Ergebnisse gerne die grossen Mittel für einen 
Forschungszweck, der durch ungünstige Witterung zur be- 
stimmten Stunde leicht vereitelt werden kann, und der 
ihnen schwerlich näher liegt, als die Cholera; man setzt 
Commissionen zusammen, welche voraus eingehend zu be- 
rathen und festzustellen haben, was geschehen kann und 
soll, wenn die Erscheinung am Firmamente eintritt. War- 



r 



I ■ 



90 Uebcr den gegenwartigen Stand der CholerAfr.ige 

um thuu das die Regierungen? Weil es nicht ein Einzelner, 
sondern die Fachleute insgesammt verlangen, und ihr Ver- 
langen zu begründen wissen. Wenn einer oder zwei Astro- 
nomen auf den Gedanken kämen, eine Expedition auszu- 
rüsten, die übrigen aber sich gleichgiltig dazu verhielten, 
so würde wohl keine Regierung auch nur einen Pfennig 
dafür bewilligen. Die Cholera ist ein grosses, humanes 
und sociales Interesse, sie bei ihrem Durchgang durch die 
Länder wissenschaftlich genauer zu beobachten und zu er- 
forschen .als bisher, ist gewiss ebenso wichtig, wie der 
Durchgang der Venus durch die Sonnenscheibe, oder wie 
eine Nordpolexpedition, die man ausrüstet, um Punkte im 
Eismeer zu erreichen, die vorher noch kein Schiff erreicht hat. 
Aber es scheint, die Cholera muss noch ebenso oft durch 
Europa ziehen, ah schon die Venus durch die Sonne ge- 
gangen ist, bis man es einmal der Mühe werth findet, auch 
dafür Observatorien einzurichten und zwar schon bevor der 
Durchgang beginnt. Die nächste Choleraheimsuchung 
Europa^s wird unserm Wissen nicht mehr einbringen, a!s 
die bisherigen, wenn man nicht mehr dafür thut, als bis- 
her. Leider muss ich bezweifeln, ob diesmal mehr vor- 
bereitet werden und geschehen wird, als sonst, und ich 
spreche aus Erfahrung. Ich habe zu Anfang dieses Jahres 
den Vorschlag gemacht, man möchte wenigstens sich einst- 
weilen einen Plan über die Beobachtung der Cholera auf 
Schiffen machen, — habe aber keinen Anklang gefunden. 
Das Einzige, was ich erzielt habe, ist der Bescheid einer 
hohen Stelle, dass dieselbe zur Zeit nicht in der Lage sei, 
etwas in dieser Richtung zu thun. Ob diese Zeit wohl 
kommen wird? Am guten Willen der Regierungen ist 
gewiss nicht zu zweifeln, aber die Zeit kann nicht kommen, 
wenn von den Vertretern der Medicin nichts geschieht, 
um sie herbeizuführen. 



n. üb. d. nächsten Aufgab, z. weiteren Ergrfindung ihrer Uraachen. gl 

Was lässt sieb aber tbun, um diese Zeit berbeizufübren? 
Sie kann nur kommen, wenn die Vertreter der Medicia 
ihren Regierungen gegenüber mit einem motivirten Pro- 
gramme auftreten, welches diejenigen Punkte bezeicbnet, 
auf deren Feststellung es zunächst ankommt, und welches 
angiebt, was weiter zu bearbeiten ist. Und das ist nicht 
möglich ohne vorausgehende Berathung durch Commissionen 
von Sachverständigen. Die internationale Choleraconferenz in 
Konstantinopel hat ihrerzeit nach vielen Seiten hin nützlich 
gewirkt, manche Arbeiten und Beobachtungen hervorgerufen 
und an vielen Punkten neues Leben erweckt. Auch die 
Choleraconferenz in Weimar war nicht ohne alle Wirkung, 
aber beide beschäftigten sich viel zu wenig mit dem ätio- 
logischen Theile, den sie eigentlich schon vorausgesetzt 
haben, um ihr Hauptziel zu erreichen, Maassregeln zur 
Abwehr der Cholera aufzustellen. So lange die Aetiologie 
so unentwickelt ist, wird man mit den Mitteln zur Abwehr 
stets Gefahr laufen, die Rechnung ohne den Wirth zu 
machen, während aus der Entwicklung der Aetiologie die 
rechten Mittel sich wie von selbst ergeben werden. 

Warum aber macht man die Cholerafrage nicht schon 
längst auch von Seite der Regierungen zum Gegenstände 
eines bestimmten, wissenschaftlichen Untersuchungs- Pro- 
grammesP Aus dem Grunde, weil wir schon alles Nöthige 
wissen und uns nichts mehr abgeht, gewiss nicht. Auch aus 
dem Grunde nicht, dass man den Gegenstand für zu gleich- 
giltig hält. Ich kann mir nur zwei Gründe denken: ent- 
weder glaubt man, alle Wege, welche die Forschung bis- 
her betreten hat und zunächst betreten könnte, führen zu 
keinem Ziele, seien lauter Irrwege und keiner werth, weiter 
und mit grösseren Mitteln als bisher verfolgt zu werden ; oder 
man glaubt an die Unmöglichkeit, auf diesen Wegen mit 
den gegenwärtig zu Gebote stehenden Mitteln der Forschung 



92 Ueber den gegenwärtigen Stand der Ckolerafrage 

weiter als bisher zu kommen und häU deshalb vorläufig 
allen ferneren und besonderen Aufwand für hoffnungslose 
Kraft- und Zeitverschwendung. Ob Jemand das Recht und 
den Muth hat, den. ersten Qrund geltend zu machen, will 
ich einstweilen dahingestellt sein lassen« Bei aller Bescheiden- 
heit, mit welcher unsere Epidemjologie noch aufzutreten 
hat, kann man ihr doch kein so vollständiges Armuths- 
zeugniss ausstellen. Wenn auch nur weniges, aber einiges 
steht doch unzweifelhaft fest, und wenn es weiter nichts 
wäre, als dass sich die Cholera durch den Verkehr ver- 
breitet, dass Ort und Zeit auf das Entstehen von Epidemieen 
einen grossen Einfluss haben, ebenso dass sich die einzelnen 
Menschen der specifischen Choleraursache gegenüber sehr 
verschieden verhalten, die einen daran schwer, die andern 
leicht, und die Mehrzahl gar nicht erkranken. Diese drei 
feststehenden Thatsachen bilden ebenso viele Ausgangspunkte 
oder Angelpunkte für die Forschung, und müssen in An- 
griff genommen werden , dürfen nicht unbeachtet liegen 
bleiben, so wenig als man einen Kranken liegen lassen darf, 
selbst wenn man ihn unheilbar, ja sogar sterbend auf der 
Strasse findet. Manche scheinen zu denken, dass alle Be- 
mühungen, diese drei Cardinalpunkte weiter zu zerlegen, 
vorläufig erfolglos seien, dass man von allen weiteren Ver- 
suchen abstehen müsse, weil doch nichts dabei herauskomme. 
Damit träfe die Cholerafrage ein schweres Geschick, der Fluch 
der Thatlosigkeit, unter dem alles verkümmert Gleichwie 
Sander vom Standpunkt des praktischen Arztes aus es für 
nothwendig hält, zu sagen: „Uebertriebener Skepticismus 
darf nicht lähmend in den Weg treten, es ist ja nicht immer 
nöthig, dass gerade das Beste geschieht, die Hauptsache 
ist, dass nur überhaupt etwas geschieht," — so darf man 
gewiss auch vom ätiologischen Standpunkte aus mit dem- 
selben Rechte sich gegen eine solche Stagnation verwahren, 



u. üb. d. näcliBten Aufgab, z. weiteren SrgrÜndung ibrer tJrsacbett. 93 

wie sie der Skepticismus auch auf diesem Gebiete herbei- 
führen würde. Dazu haben wir nicht die geringste Ver- 
anlassung. Wenn Einem nach den bereits vorliegenden 
Erfahrungen der Muth nicht zu sinken braucht, in den 
Excrementen der Gholerakranken noch immer das Haupt- 
mittel der Verbreitung der Krankheit zu erblicken, und 
deshalb die Excremente noch immerfort wie bisher zu 
desinficiren, dann darf man noch viel mehr auf den Ein- 
fluss des Bodens pochen; — wenn schon die blosse Mög- 
lichkeit, dass Trinkwasser- ,und Bodenverunreinigungen zur 
Choleraverbreitung beitragen konnten, zur Eechtfertigung 
hinreicht, um in den Städten so viele Millionen für Eana- 
lisirung und Wasserleitungen auszugeben, dann dürfen auch 
Boden-, Grundwasser- und Grundluft- Verhältnisse einen klei- 
nen Bruchtheil der Aufmerksamkeit und der Pflege für 
sich von den Behörden und Gemeinden beanspruchen ; wenn 
sich die Regierungen einmal dazu hergeben, auf den blossen 
Glauben an die Gontagiosität der Cholera hin Maassregeln 
durchzuführen, welche z. B. den Verkehr in einer Weise 
belasten und so theuer sind, wie die Quarantänen, dann ist 
es auch Pflicht dieser Regierungen, alles aufzubieten, um 
den Beweis zu liefern, dass dieser Glaube kein falscher ist, 
auf den sich so viele Maassregeln gründen ; dass die Cholera 
sich wirklich durch die Excremente der Kranken verbreitet, 
und dass jede weitere Zergliederung des menschlichen Ver- 
kehrs überflüssig ist; denn sonst würden sie ja durch ihre 
Autorität und Macht nur dazu beitragen, Irrthümer zu ver- 
ewigen, falsche Standpunkte festzuhalten, anstatt neue, 
bessere aufsuchen zu helfen* Mir scheint, es sei Pflicht 
der Regierungen, sich ebenso nach Kräften daran zu bethei- 
ligen, was uns in der Erkenntniss der Ursachen einer Epi- 
demie fordert, als sie sich betheiligen, um deren Wirkungen 
entgegen zu treten, und das um so mehr, als die Mittel 



94 Ücbrr den gcgCnwSi tigeo Stanil der Cholerafrage e(<i. 

dagegen, die sogenannten praktischen Uaasaregeln, ganz vom 
jeweiligen Stande des theoretischen Wissens abhängig sind, 
wie namentlich die Erfahrungen bei der Cholera seit mehr 
ab 40 Jahren gelehrt haben. Die Regierungen versäumen 
ihre Pflicht, wenn sie die Entwicklung unseres ätiologischen 
Wissens nuch ferner so ganz, wie bisher sich selbst, d. h. 
dorn Zufalle überlassen, in dem ralsclion Qla|iben, die Theorie 
sei in solchen Dingen glcichgiltig für die Praxis. 



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